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Presented to the LIBRARY of the

UNIVERSITY OF TORONTO

by

PROFESSOR R. ?• McRAE

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ZUR EINFÜHRUNG

IN DIE PHILOSOPHIE

DER GEGENWART

ACHT VORTRÄGE VON

ALOIS RIEHL

LEIPZIG

VERLAG VON B. G. TEUBNER

1903

Druck von Theodor Hofmann in Gera.

DEM ANDENKEN AN MEINE SCHWIEGERELTERN

ALEXANDER UND SOFIE REYER

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VORWORT.

Von den üblichen Einleitungen in die Philosophie unterscheidet sich die vorliegende Schrift durch ihre Form. Sie ist aus freien Vorträgen entstanden, die der Verfasser im Herbst 1900 in Hamburg gehalten hat, und sucht, wo der Gegenstand es gestattete, den Ton der Rede festzuhalten. Der Verfasser denkt sich auch den Leser als Hörer, seine Vorträge sollen mehr an- regen als belehren; sie sollen der Philosophie unter den wissenschaftlich Gebildeten neue Freunde gewinnen und zum Verständnis der philosophischen Bestrebungen der Gegenwart beitragen. Der Weg zu ihrem Ver- ständnis führt durch die Geschichte. Denn die Philo- sophie ist ihrem Wesen nach überall eine und dieselbe, wie der menschliche Geist, aus dem sie entspringt, alle- zeit einer und derselbe ist. Die großen Gestalten der Vergangenheit, Systeme und Persönlichkeiten, waren da- her vorzuführen ; der Werdegang der Philosophie mußte von ihrer Entstehung bis zu ihrer Gegenwart durch die entscheidenden Wendepunkte hindurch verfolgt werden.

Bei der Darstellung von Robert Mayers philo- sophischer Bedeutung (V. Vortrag) konnte sich der Ver- fasser auf seine frühere Veröffentlichung über „die Ent- deckung und den Beweis des Energieprinzip es" stützen, und in den Abschnitten über Nietzsche (VII. und VIII. Vortrag) mußte er sich selber wiederholen, da die inzwischen erschienenen Fragmente des Hauptwerkes: „der Wille zur Macht" an seiner Gesamtauffassung Nietzsches nichts geändert haben.

Halle, im November 1902.

Der Verfasser.

INHALTS-ÜBERSICHT.

Seite

ERSTER VORTRAG. Wesen und Entwicklung der Philosophie. Die Philosophie im

Altertume i

ZWEITER VORTRAG. Die Philosophie in der neueren Zeit. Ihr Verhältnis zu den

exakten Wissenschaften 25

DRITTER VORTRAG. Die kritische Philosophie 52

VIERTER VORTRAG. Die Grundlagen der Erkenntnis 86

FÜNFTER VORTRAG. Der naturwissenschaftliche und der philosophische Monismus . 128

SECHSTER VORTRAG. Probleme der Lebensanschauung 169

SIEBENTER VORTRAG. Schopenhauer und Nietzsche. Zur Frage des Pessimismus . . 200

ACHTER VORTRAG. Gegenwart und Zukunft der Philosophie 236

Berichtigungen. Es ist zu lesen:

S. 16, Z. 9 V. o. unsichtbar (statt unscheinbar)

S. 64, Z. 1 1 und 13 V. u. es (statt er)

S. 105, Z. 16 V. u. individuellen

S. 107, Z. II V. u. das Gegebensein

S. 171, Z. 2 V. u. den Gesichtspunkt

ERSTER VORTRAG.

WESEN UND ENTWICKLUNG DER PHILOSOPHIE. DIE PHILOSOPHIE IM ALTERTUME.

Wer sich etwa um die Mitte des vorigen Jahr- hunderts die Aufgabe gestellt hätte, öffentlich über Philo- sophie zu reden, würde mit seinem Vorhaben gewiß gescheitert sein. Auch unter den Höchstgebildeten seiner Zeitgenossen würde er die Hörer für seine Rede nicht gefunden und sich überdies dem Verdachte aus- gesetzt haben, im Zeitalter der Naturwissenschaften etwas wie Alchemie anpreisen zu wollen.

Aber niemand hätte sich damals diese Aufgabe ge- stellt, niemand sie sich stellen können. Nach der all- gemein herrschenden Überzeugung der Wissenschaft jener Zeit hatte sich die Philosophie überlebt. Sie erschien wie eine ausgestorbene Lebeform, die einer früheren Epoche der geistigen Entwicklung angehörte, und höch- stens als Sache bloßer Gelehrsamkeit, als Angelegenheit historischer Erinnerung und Forschung ließ man sie gelten. Damals auch konnte das Wort fallen: die Ge- schichte der Philosophie sei eben selbst die Wissenschaft der Philosophie, ein Wort, das wohl jener augen- blicklichen Lage der Philosophie angemessen war, ihr aber im Grunde Leben und Zukunft abspricht.

Die Beschäftigung mit den allgemeinen Fragen der Erkenntnis und Weltanschauung galt nicht mehr für wissenschaftlich vollwertig, und jeder Spezialist in einem

Riehl, Philosophie der Gegenwart. I

2 Erster Vortrag.

Zweige oder Zweiglein der exakten Forschung, der Philologie und Geschichte glaubte mit Geringschätzung auf die Wissenschaft Piatos und Kants blicken zu dürfen. Umsonst, daß aus der Mitte der Naturforschung selbst vereinzelte Stimmen laut wurden, welche vor der Ver- wechslung der Philosophie mit den damals jüngsten Systemen metaphysischer Spekulation warnten und ver- langten, man solle über der Zurückweisung der unbe- rechtigten Ansprüche der Philosophie nicht auch ihre berechtigten verkennen. Sie blieben verkannt, nicht zum Heile der Wissenschaft selbst. Diese, aus Furcht, sich von neuem in naturphilosophische Abenteuer verstrickt zu sehen, verbot sich das Denken. Es gibt dafür ein klassisches Beispiel, oder, wie ein Mediziner sagen würde, einen „schönen Fall". Robert Mayer, der erste Entdecker des Satzes der Erhaltung der Energie, der Kraft, wie man damals sagte, wurde des Liebäugeins mit der Metaphysik beschuldigt, bloß aus dem Grunde, weil er sich für den Beweis seines Satzes außer auf die Erfahrung und das Experiment auch auf die Denk- gesetze berief.

Zwar, man hatte eine Philosophie, redete aber von ihr nicht als einer solchen, denn man hielt sie gar nicht für Philosophie. Und doch war jene dualistische, zu deutsch zwiespältige Lehre von „Stoff und Kraft", als den Wirklichkeiten an sich, so gut Metaphysik, vielmehr sie war schlechtere Metaphysik als irgend eine von der philosophischen Spekulation zu einem Systeme ausge- sponnene.

Seither hat sich die Lage völlig geändert. In weiten Kreisen ist wieder die Teilnahme und das Verständnis für philosophische Fragen und Untersuchungen erwacht, nicht zuletzt im Kreise der Naturwissenschaft selbst.

Wesen und Entwicklung der Philosophie. «

Was noch kurz zuvor unerhört gewesen wäre, ließ sich jetzt vernehmen: ein hervorragender Physiologe redete von „Grenzen des Naturerkennens" und sogar das verpönte und in der Tat leicht mißzuverstehende Wort a metaphysisch* taucht in dem Werke eines Phy- sikers auf. Heinrich Hertz, dem wir die experimentelle Begründung der elektromagnetischen Lichttheorie, den Nachweis der Gleichheit der elektrischen Strahlen und der Lichtwellen verdanken, äußert in seiner Mechanik: „kein Bedenken, welches überhaupt Eindruck auf unseren Geist macht, kann dadurch erledigt werden, daß es als metaphysich bezeichnet wird; jeder denkende Geist hat als solcher Bedürfnisse, welche der Naturforscher meta- physisch zu nennen gewohnt ist."

Im Fortschritt des Naturerkennens sind von selbst auch die alten Fragen der Philosophie, die höchsten und umfassendsten Fragen des menschlichen Denkens, wieder in Sicht gekommen und fordern zu erneuter Untersuchung heraus. Und so mußte es sein. Je mehr die wissenschaftliche Erkenntnis, gleichviel von welchem Gebiete aus, ihrem Ziele sich nähert, in eben dem Maße wird sie philosophisch. Ein Zeitalter der Wissenschaft, das mit dem Prinzip der Unzerstörlichkeit der Energie ein sämtliche Vorgänge in der äußeren Natur beherr- schendes und verbindendes Gesetz entdeckt und mit der Lehre der Abstammung und Entwicklung der Arten die philosophische Idee der Einheit des organischen Lebens in die biologische Wissenschaft hineingetragen hat, ein solches Zeitalter der Synthese ist, man mag dies Wort haben, oder nicht, ein philosophisches Zeitalter. Wissen- schaft und Philosophie sind heute nicht mehr zu trennen.

Die Bewegung der Gegenwart zur Philosophie zu- rück hat noch eine andere Quelle. Lange Zeit hat man

A Erster Vortrag.

sich an den erstaunlichen Erfolgen der Naturwissenschaften begeistert, vielleicht dürfen wir sagen berauscht. Die technischen Erfindungen, ein Ruhmestitel des neunzehnten Jahrhunderts, haben das materielle Leben umgestaltet, das geistige in ähnlicher Weise umzugestalten und weiter zu entwickeln vermochten sie nicht. Immer deut- licher empfinden wir vielmehr die Lücke, die durch An- häufung von Reichtum und Macht nicht auszufüllen ist; zum Beweis, daß alle äußeren Mittel der Civilisation nicht ausreichend sind, wahre Kultur zu schaffen und den Menschen seiner ganzen Bestimmung näher zu führen. Aus der großen Zeit des Krieges, der uns die Ein- heit des Vaterlandes brachte, ist ein Geschlecht hervor- gegangen, gährend wie es die Art der Jugend ist und nach Neuem verlangend. Im Drang nach anderen Zielen, nach einem neuen geistigen Gehalt für sein Dasein sah es sich vor die wesentlichen Fragen des Lebens gestellt, mit denen unter anderen, mit denen vor allem die Philo- sophie sich beschäftigt. Daher die plötzliche und aus- gebreitete Erregung, die von den Schriften Fr. Nietzsches ausging. Wie ein Gewittersturm brausten die Aphorismen des tragischen Denkers aus dem letzten Drittel des ver- gangenen Jahrhunderts über die Zeit hinweg, und rüttelten an den Grundfesten unserer ganzen bisherigen Kultur. Sie sollten aber nicht bloß zerstören und die alten Werte zerbrechen, sondern neue Werte schaffen und eben in dem, was Nietzsche verkündete, in den Idealen, wahren oder falschen, die er aufrichtete, lag das Ge- heimnis seines Erfolges. Nietzsche glaubte der Seher einer übermenschlichen Zukunft des Menschen zu sein; in Wahrheit war er „die Stimme eines Rufenden in der Wüste", und die Sehnsucht der Zeit nach Kultur- emeuerung horchte auf diese Stimme.

Wesen und Entwicklung- der Philosophie. c

In diesem, den philosophischen Bestrebungen von allen Seiten günstigen Augenblicke, in einer Zeit, nach philosophischer Aufklärung suchend und fragend wie keine, darf ich zu Ihnen reden. Ich empfinde ganz die Gunst dieser Lage, aber auch die mit ihr verbundene Verantwortung.

Die Zeit ist eine andere geworden, und auch die Philosophie ist eine andere geworden. Sie hat umge- lernt, oder wird, wo sie es noch nicht getan, umlernen müssen, Sie hat für immer dem Wahne zu entsagen, als könne es ihre Aufgabe sein, , Welträtsel " zu lösen und dies noch dazu auf dem mühelosen Wege der Phan- tasie. Statt Erkenntnissen, die den Geist nähren und unseren Willen stählen, darf sie nicht wieder nur Opiate darbieten und den Verstand mit der Einbildung einer überschwänglichen Einsicht betäuben. Mit einem Worte, sie hat es aufzugeben, metaphysisch zu sein und hinter den Dingen Dinge zu suchen. Um aber der Verlockung dazu künftighin widerstehen zu können, mufs sie sich vor allem ein deutliches Bewußtsein von ihrer wahren Bestimmung bilden. Das erste philosophische Problem ist heute die Philosophie selbst als Problem. Was will und soll, was war und ist sie?

Um die Beantwortung dieser Fragen dürfen wir uns nicht an irgend welche Äußerung irgend eines Philo- sophen wenden; wir würden so nur eine vielstimmige Auskunft erhalten, deren Zusammenklang zu vernehmen, den Begriff der Philosophie schon voraussetzte. Sondern, es ist augenscheinlich, welchen Weg wir zu nehmen haben: nur aus der Geschichte der Philosophie läßt sich erkennen, was sie selbst sei und bedeute. Hier liegen die großen Aufgaben und Verdienste des Historikers der Philosophie. Die Geschichte der Philosophie ist die

6 Erster Vortrag. ^

Geschichte der Entwicklung und der Verwandlung des Begriffs der Philosophie.

Ich versuche daher, das Verständnis für die Auf- gaben der Philosophie durch eine im wesentlichen ge- schichtliche Betrachtung zu vermitteln; um aber selbst verstanden werden zu können, muß ich die hauptsäch- lichen Ergebnisse dieser Betrachtung vorausschicken, nicht als Sätze, woran Sie glauben sollen, sondern als Zielpunkte, wohin meine Untersuchung Sie führen möchte.

Name und Sache der Philosophie sind, schon das Wort verrät es, eine Schöpfung des griechischen Geistes, Es gab ursprünglich nur eine griechische Philosophie, das Werk eines noch mehr künstlerisch als wissenschaft- lich veranlagten Volkes. Darauf müßte sich berufen, wer die Philosophie überhaupt für etwas rein Historisches halten wollte, für etwas, das abgetan ist. Denn jene Philosophie, die Philosophie „an sich" ist wirklich zur Geschichte geworden, und wir können sie daher als ein Ganzes überschauen, als abgeschlossenen Tatbestand untersuchen und zum Verständnis bringen. Unsere all- gemeine Frage nach dem Wesen der Philosophie hat sich damit zunächst in die besondere nach dem Wesen der griechischen Philosophie verwandelt. Was war, so fragen wir jetzt, was bedeutete die Philosophie in dem klassischen Zeitalter ihrer Entstehung, ihrer ersten Blüte und Frucht.

Die Antwort, die die Geschichte auf diese Frage erteilt, ist so einfach und bestimmt, daß es unmöglich erscheint, sie nicht richtig zu vernehmen. Philosophie, lautet ihre Antwort, war im Altertume eines und das- selbe wie Wissenschaft. Es gab im Altertume bis zur alexandrinischen Zeit keine Wissenschaft außer oder

Wesen und Entwicklung der Philosophie. n

neben der Philosophie. Die Philosophie ist der gemein- schaftliche Urgrund und Mutterschooß, woraus im Laufe der Zeit alle Einzelwissenschaften hervorgegangen sind; und vielleicht ist sie auch das höchste Ziel, worauf diese hinweisen, zu dem sie alle bei ihrer Vollendung wieder zurückfuhren; vielleicht ist sie das antecipierte System der Wissenschaften.

Daß es im Altertume aufser der Philosophie keine Wissenschaft gab, ist aus dem Verfahren und aus dem Zeugnis der alten Denker leicht zu erweisen. Nicht einmal die Mathematik galt als selbständige Disziplin; Plato machte sie zur Vorstufe, ja zu einem Teile der Philosophie. Und an der nämlichen Gleichsetzung von Philosophie und Wissenschaft hielt auch der Denker fest, in dessen Werken sich, vermöge des Reichtums seiner empirischen Kenntnisse, die Grundwissenschaft oder Philo- sophie zuerst in einzelne Disziplinen zu gliedern begann. Aristoteles hat unter Philosophie nie etwas anderes ver- standen, als was wir unter Wissenschaft verstehen. Er bediente sich sogar des Ausdruckes Philosophie nicht selten in der Mehrzahl; „Philosophien", das bedeutete für ihn so viel als Wissenschaften. Die antike Philosophie, so weit sie rein theoretische Zwecke verfolgte, ist die antike Wissenschaft; sie ist die Wissenschaft selbst in ihrem griechischen Zeitalter. Also, könnten wir weiter folgern, wird auch die neuere Philosophie nicht anderswo zu suchen sein, als in der neueren Wissenschaft, diese als Ganzes genommen, und die für das Altertum giltige Gleichung von Philosophie und Wissenschaft muß auch für unsere Zeit giltig geblieben sein. Und so hätte sich einfach die antike Philosophie in die moderne Wissen- schaft umgewandelt, wie sich eine ältere weniger ent- wickelte Form in eine jüngere, reicher entwickelte ver-

8 Erster Vortrag.

wandelt. Wir empfinden sogleich, daß damit der Philo- sophie die Existenzfrage gestellt ist.

Niemals aber hat es der Philosophie genügt, blose Wissenschaft zu sein. Nicht nur der Kosmos so, von der schönen in ihr waltenden Ordnung nannte der ästhetische Sinn der Griechen die Welt, nicht der sicht- bare Kosmos allein in dem Schmuck seiner Erscheinungen, auch das Innere des Geistes war schon im Altertume Gegenstand der philosophischen Betrachtung. „Im Inneren ist ein Universum auch" und dieses Universum hat zuerst Sokrates der Philosophie erschlossen. Ein neuer Begriff der Philosophie war damit gefunden, ihr platonischer Begriff, wie wir ihn nach dem großen Nachfolger des Sokrates nennen wollen, die Philosophie der geistigen Dinge. Diese würde ihr Wesen mißverstehen und sich um ihre eigentiiche Wirkung bringen, wollte sie sich selbst wieder als Wissenschaft ausgeben.

Man kann den menschlichen Geist nicht wie ein beliebiges anderes Objekt betrachten. Wenn die Psy- chologie in Verbindung mit der Physiologie seine Fähig- keiten und die Bedingungen ihrer Äußerung analysiert und die Gesetze seiner Entwicklung, der individuellen wie der sozialen, erforscht, so stellt sie ihm gegenüber lediglich theoretische Fragen. Diesen aber ist es eigen- tümlich, daß sie gerade das Wesentliche des Geistes nicht berühren. Die Wissenschaft als solche kennt den Begriff des Wertes nicht. Sie erkennt, aber sie be- urteilt nicht. Wie für den Pathologen Gesundheit und Krankheit physiologische Vorgänge von der gleichen Gesetzlichkeit sind, so unterscheiden sich wahre oder falsche Urteile, gute und schlechte Handlungen, als Ob- jekte einer rein psychologischen Untersuchung, nur in ihren Bedingungen und ihren Folgen. Es gibt aber noch

Wesen und Entwicklung der Philosophie. q

einen anderen als den rein wissenschaftlichen Blick auf das geistige Leben, und erst dieser zweite Blick, der die Werte entdeckt, dringt in die eigentliche Welt des Geistes ein, Werte entdecken heißt aber zugleich Werte er- leben, Werte in sich neu erschaffen. Und darum ist die Philosophie, die von den Werten ausgeht, nicht reine Wissenschaft; sie ist, wenn wir ein Urteil aussprechen wollen, mehr als Wissenschaft sein kann, oder, um es ohne Urteil zu sagen, etwas anderes als Wissenschaft: die Kunst der Geistesführung. Als eine „Form des Lebens* bezeichnete Plato die Philosophie.

Wir verstehen nun, warum in dem Werke der Philo- sophie die Persönlichkeit des Philosophen von so ent- scheidender Bedeutung ist und so lebendig hervortritt, gleichsam aus dem Mittelpunkt der Lehre heraus ge- staltend und aus ihr redend. Zur Geistesführung gehören führende Geister, die den Weg vorangehen, den sie weisen. Wohl ist auch in dem Werke der Wissenschaft der persönliche Anteil des Forschers, des großen Forschers, nicht gering zu achten; er tritt aber doch völlig hinter die Sache zurück; und wenn wir von Galileis Fallge- setzen, von Newtons Gravitationsgesetz reden und Natur- gesetze und Theorien über die Natur nach den Namen ihrer Entdecker und Urheber benennen, so wollen wir mehr uns dankbar gegenwärtig halten, wer zuerst den klaren und tiefen, den poetischen Blick in die Natur getan, der erforderlich war, um aus ihr ein neues Ge- setz herauszuschauen, als daß wir dabei an eine persön- liche Fortwirkung jener Forscher dächten. In jeder Philosophie dagegen, die noch etwas anderes als Wissen- schaft ist, lebt ihr Schöpfer in gewisser Weise fort. Wer nur den wissenschaftlichen Begriff der Philosophie kennt, kennt nicht ihr ganzes Wesen und mag daher leicht

10 Erster Vortrag.

dazu kommen, sie zu unterschätzen und in ihrer Ge- schichte nur eine Reihe vergeblicher Versuche zu sehen. Er vergißt, daß die philosophischen Persönlichkeiten nicht aus der Geschichte zu streichen sind, jene mächtigen Persönlichkeiten, deren Wirkung mit dem Einfluß auf ihre Zeit nicht erloschen ist, wie Sokrates und Plato im Altertume und in der neueren Zeit Kant mit seiner Lehre von der Autonomie des Willens, der Freiheit und Selbstgesetzgebung der Vernunft, dieser wahren „Herrenmoral". In der Tat ist die Persönlichkeit die eigentlich schöpferische Macht in der Philosophie, und es ist dies jedesmal eine Persönlichkeit von allgemein- menschlicher Bedeutung, erfüllt von allgemein-mensch- lichen Zwecken; sie kann daher auch allgemein ver- standen werden und so die Führung der Geister an sich nehmen.

Zwei Begriffe also sind von Alters her, ohne daß man dies deutlich erkannt hat, mit dem Namen Philo- sophie verbunden gewesen und es entsteht die Aufgabe, die Einheit ihrer Verbindung zu zeigen. Für's erste jedoch müssen wir die wissenschaftliche Aufgabe der Philosophie für sich und ohne Beziehung auf ihren nicht- wissenschaftlichen Beruf betrachten. Denn so bringt es die Natur eines jeden Vortrages mit sich, daß dieser trennen mufs, was in der Wirklichkeit des Lebens und der Geschichte verbunden ist, und nur im Nacheinander vorführen kann, was ineinander wirkt.

Unterschätzen wir die alte Wissenschaft, die alte Philosophie nicht. Es wäre ungerecht, ihr Werk nach dem Maße der erweiterten, und um so vieles genaueren Kenntnisse zu beurteilen, die wir hauptsächlich der Ver- besserung der wissenschaftlichen Methoden verdanken. Wohl mag der Satz, mit welchem jener jonische Denker

Wesen und Entwicklung der Philosophie. 1 1

über die Natur, der Ahnherr unserer Naturforscher, die Philosophie begonnen hat, auf den ersten Blick wie ein ungereimter Einfall erscheinen, oder doch als die Äußerung eines noch unbeholfenen Denkens, bei dem es sich nicht lohne zu verweilen. Geschichtlich erwogen aber bedeutet der Satz des Thaies von der Entstehung des All aus dem Wasser nichts Geringeres als den vollzogenen Bruch mit der vorangegangenen, rein mythologischen und alle- gorischen Naturbetrachtung, nichts Geringeres also als den Beginn eines sich auf sich selber stellenden Denkens. Der Mensch will sich nicht länger Geschichten erzählen, wie Götter und Welt und alle Dinge erzeugt wurden. Theogonien und Kosmogonien verschwinden vom Plan und machen der Wissenschaft Platz. Statt auf einen von der Phantasie ersonnenen werden die Bildungen in der Natur auf einen den Sinnen gegebenen und er- forschbaren Grund, einen Grundstoff, zurückgeführt. Der rein theoretische Trieb des Geistes ist erwacht. Nicht um eines anderweitigen Nutzens, um ihrer selbst willen, erklärt Aristoteles^ suchten Thaies und die ihm Folgen- den die Wissenschaft. Darum sei auch diese Wissen- schaft allein unter allen frei und mit Recht möchte man ihre Erwerbung für übermenschlich halten und sie gött- lich nennen, weil sie unnütz ist.

Wie es dem Jugendalter der Wissenschaft entsprach, erfaßte Thaies ihre Aufgabe noch als ein ungeteiltes Ganzes. Die Notwendigkeit, die Gesamtaufgabe der Forschung in einzelne Fragen zu zerlegen, jede von diesen für sich zu bearbeiten und die Ergebnisse ihrer Bearbeitung zu verbinden, konnte erst einer viel späteren Zeit bewußt werden. Bei seinem ersten Aufschwünge richtete sich das Denken sogleich auf das Ganze der Dinge, das Sein und das All, und: alle Dinge sind dem

12 Erster Vortrag.

Ursprung und Grundstoffe nach Eins, lautete seine erste, verheißungsvolle Botschaft. Dabei ist jedoch ein Wesentliches nicht zu übersehen. Das Problem, von welchem die früheste Wissenschaft ausging, war dieser in den Mythen des vorwissenschaftlichen Denkens über- liefert; sie nahm es aus den Fabeleien darüber, wer das All gemacht habe: Erebos, des Chaos Sohn, Zeus, der sich in den Eros verwandelt, die Welt zu bilden, oder Okeanos und Thetis, die „Eltern des Werdens". Nicht also das Problem als solches, die Antwort, die Thaies auf die überlieferte Frage gab, ist das Neue und Be- deutsame in seiner Anschauung. Okeanos und Thetis wurden der Persönlichkeit entkleidet; Thaies vertauschte das Symbol mit der Sache und damit stellte er sich an die Spitze der Philosophen und Naturforscher, während er, wie Nietzsche bemerkte, mit der Fragestellung selbst noch in der Gemeinschaft mit den Mythologen blieb. Daher erweiterte sich ihm seine neue Erkenntnis gleich in die Gesamterkenntnis der Dinge, und die Philo- sophie, die am Anfang der Wissenschaft stand, glaubte schon am Ende derselben zu stehen.

Alle geschichtlichen Anfänge sind anziehend und reizvoll gleich den Erinnerungen aus der Kindheit und selbst das Unzulängliche, das ihnen anhaftet, empfinden wir mit Rührung und Sympathie. Auch die ersten Schritte und Fortschritte des philosophischen Denkens gewinnen für uns eine ganz andere Bedeutung, wenn wir sie eben als Anfänge betrachten, als die Anfänge der heutigen Wissenschaft. Nicht leicht ist es dem Menschen geworden, sein Denken aus der ursprünglichen mythologischen Hülle zu befreien; immer wieder fallen die alten „Physiologen", die Vorgänger unserer Natur- forscher, in die Sprache des Mythos zurück. So

Wesen und Entwicklung der Philosophie.

gleich der gewaltigste unter ihnen, der durch Ab- stammung und Gesinnung vornehme Denker, den das Altertum um seiner Gleichnisreden und Rätselsprüche willen den „Dunkeln" nannte, Heraklit von Ephesus.

Was er erschaute, ist das Gesetz im Werden, die Notwendigkeit und das Maß im Geschehen. Mit dem Blicke seines Geistes erfaßte Heraklit durch das schein- bare Beharren der Dinge hindurch den beständigen Fluß des Werdens: „alles fließt, nichts bleibt stehen". Zwar redete Heraklit auch vom Feuer, durch dessen Wand- lungen das Werden sich vollziehe, aber dieses Feuer ist selbst wesentlich Bewegung und Energie. An die Stelle der Beharrlichkeit eines Stoffes tritt die Beharrlichkeit des Gesetzes. Das Gesetz ist der Logos, das „Wort, nach dem alles geschieht, das allem gemeinsam ist": sein Vollzug ist das Recht, „die Dike, der die Erinnyen als Helferinnen zur Seite stehen, jede Überschreitung der Mafse zu richten". Wir verstehen den nicht- mythischen Sinn dieser mythischen Rede. Was Heraklit mit seinen Aphorismen über das Werden und dessen beständig gleiche Bahnen meinte, trifft der Sache nach mit dem, was Schopenhauer lehrte, zusammen: „das Sein der Materie ist ihr Wirken, nur als wirkend füllt sie den Raum, füllt sie die Zeit". Es trifft auch zu- sammen mit einer neuesten Strömung in der Physik, dem Versuch, die Materie in eine Verbindung von Energieformen aufzulösen. Einer der denkendsten Natur- forscher unserer Zeit hat am Abend seines Lebens ein Wort geäußert, das selbst wie ein Heraklitisches Rätsel lautet. „Dauernde Bewegungsformen und scheinbare Substanzen" sollte ein Vortrag heißen, den Helmholtz kurz vor seinem Tode angekündigt hatte. So ist es wirklich nach der Anschauung des alten jonischen Natur-

jj. Erster Vortrag.

Philosophen: der Schein beharrlicher Dinge entsteht nur dadurch, daß einander entgegenstrebende Kräfte sich vorübergehend ins Gleichgewicht setzen; verborgene Be- wegungstendenzen werden so zu scheinbaren Substanzen. Das Naturgesetz ist das Weltgesetz. Auch die Ge- setze der menschlichen Vereinigung, die ethisch-poli- tischen Gesetze sind nach Heraklit eine Verzweigung des allgemeinen Naturgesetzes. „Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem einen göttlichen." Der Mensch mit seinem Willen und den Schöpfungen seines Willens in Staat und Recht unterbricht nicht die Ver- kettung und Notwendigkeit des Naturzusammenhanges; er ist mitsamt seinem Willen in diese Verkettung ein- geschlossen. — Tiefsinnig fürwahr und einheitlich zu- gleich ist diese früheste Erfassung der Naturgesetzlich- keit mit ihren beständig gleichen Maßen, dem „Logos" im Werden.

Und nun das Historische, das Persönliche in der Philosophie Heraklits. Nur ein Grieche, der die kultur- schaffende Bedeutung des „Agon", des Wettkampfes lebendig vor Augen hatte, konnte einen Gedanken wie diesen finden: Grund aller Dinge ist der Streit des Ent- gegengesetzten; der Krieg ist aller Dinge Vater und König; nur ein Grieche diesen Gedanken zum Aus- gangspunkte einer Rechtfertigung der Weltordnung, zur Grundlage einer „Kosmodicee", machen. Auch wir reden vom „Kampf ums Dasein" und kennen und schätzen die edlere Form des Kampfes, den Wetteifer um das Gute und Hohe. Aber, der Agon als Prinzip der Dinge, als Grundform des Geschehens das ist das Geschicht- liche, das national Bedingte bei Heraklit und gehört der Vergangenheit an, die wir begreifen können, nicht dem Leben, das wir mitleben.

Wesen und Entwicklung der Philosophie. ig

Ich wiederhole: unterschätzen wir die alte Wissen- schaft oder Philosophie nicht. Mit Staunen treffen wir bei Anaxagoras auf den Satz: „die Gesamtheit der Dinge kann nicht vermehrt oder vermindert werden, immer ist ihre Größe die gleiche". Die Unveränder- lichkeit des Gegebenen seiner Größe nach, die dieser Satz behauptet, gilt uns als die allgemeine Prämisse, als die Gedankenform für das umfassendste Naturgesetz, das Prinzip der Erhaltung von Materie und Energie. Ein Wesentlicher Teil des Prinzipes, der flir den vollständigen Beweis desselben nicht zu entbehren ist, war also schon den Alten bekannt. Nach dem Zeugnis des Aristoteles teilten die Naturphilosophen oder „Physiologen" der vor- sokratischen Zeit die Überzeugung, „daß nichts aus nichts entstehe, nichts in nichts vergehe", wie Demokrit den Satz des Anaxagoras ausdrückte. Die Naturforschung ferner geht an die Gegenstände ihrer Untersuchung mit einer Voraussetzung heran, die durch die Erschei- nungen fortv/ährend bestätigt wird, aber durch keine entgegenstehende Tatsache widerlegt werden könnte, weil jeder anscheinende Widerspruch gegen sie für den Forscher nur ein Antrieb, ein Stachel mehr wäre, den Widerspruch zu heben. Es ist dies die Voraussetzung oder das Gesetz der notwendigen Verknüpfung der Ver- änderungen, das uns anweist, Ursachen in der Natur zu suchen. Der Erste aber, so viel wir wissen, der dieses Gesetz mit klaren Worten ausgesprochen hat, ist Demokrit: „nichts geschieht von ungefähr, sondern Alles aus einem Grunde und durch Notwendigkeit" Wie die Voranstellung des Wortes Grund beweist, bedeutet hier Notwendigkeit nicht einen den Dingen auferlegten Zwang; es bedeutet im Sinne Demokrits, der auch der Sinn unserer Naturwissenschaft ist, daß das Geschehen

i6 Erster Vortrag.

gesetzlich und darum begreiflich ist, weil seine Form der Form des Denkens entspricht. Diese geläutertste Idee von Notwendigkeit tauchte also bereits in dem Bewußtsein des alten Philosophen, eines Zeitgenossen des Sokrates, auf. Von Leukipp übernahm Demokrit eine Hypothese über den Aufbau der Materie, die auch uns noch für die beste „Arbeitshypothese" gilt, das beste, weil anschaulichste Modell, die Zusammenhänge im un- scheinbar Kleinen für den Geist sichtbar und für die Mathematik darstellbar zu machen: die Hypothese der Atome. Freilich wußte Demokrit nicht, was auch mancher Naturforscher der Gegenwart noch nicht zu wissen scheint, daß er es nur mit einer Hypothese zu tun habe; er hielt vielmehr seine Annahme für eine ausgemachte Sache und das Abbild der Dinge selbst. Man kann kühn behaupten, wie weit das Denken für sich allein in der Erkenntnis der Dinge reicht, so weit hat das Denken der Griechen tatsächlich gereicht, und was das Denken ohne Hilfe des Experimentes zu ergreifen, was es aus sich selbst zu entwickeln vermag, das haben schon die Griechen ergriffen und aus ihm entwickelt, nämlich die Form für alle Erfahrung, wenn sie es auch nicht unter diesem Namen kannten, wenn sie es auch in seiner wahren Bedeutung verkannten. Das Denken verwechselte sich noch mit den Dingen, es nahm seine Gesetze, ohne Einschränkung, für die Gesetze der Dinge selbst; es war, so können wir dies mit einem Worte sagen, noch nicht kritisch geworden, das heißt, es hatte sich noch nicht auf sich selbst be- sonnen und gelernt, sich als das Instrument der Forschung von dem Inhalt der Forschung zu unterscheiden. Aber, es wäre unbillig, einem so altertümlichen, das ist in Wahrheit so jugendlichen Denken daraus einen Vorwurf zu machen.

Wesen und Entwicklung der Philosophie. 17

Mit der Aufstellung des Rahmens für die künftige, exakte Naturerkenntnis, mit der Entdeckung der Grund- begriffe für diese Erkenntnis, ist das Werk der alten Philosophie, soweit sie Wissenschaft war, im wesent- lichen abgeschlossen. Wohl lagen in der Methode Piatos und den mathematischen Tendenzen seiner Philosophie Keime zu einer weiteren Entwicklung der Wissenschaft vorgebildet; Aristoteles hat sie aber nicht zur Entfaltung gebracht. Seine Naturphilosophie steht vielmehr, dies dürfen wir mit Sicherheit sagen, im Prinzip hinter derjenigen Demokrits und Piatos zurück. Daß damit die Wissen Schaft auch im Altertum nicht erloschen war, ist bekannt und wird jedem zugerufen durch den Namen Archimedes. Dies ist aber schon Wissenschaft in unserm Sinne und fällt überdies aus dem Rahmen der alten Philosophie heraus.

Durch das Verfahren allein, nicht in ihren Gegen- ständen, unterscheiden sich alte und neue Wissenschaft, oder, was für uns zunächst dasselbe ist, alte und neue Philosophie. Zwar wurde schon im Altertume von ärzt- licher Seite, von der Schule des Hippokrates, der Ver- such gemacht, der Methode der Begriffe eine Methode der Forschung gegenüberzustellen, welche die Begriffe aus den Erscheinungen herleitet und durch diese beweist; dieser Versuch scheiterte aber an der besonderen Aus- stattung des griechischen Geistes, seiner vorwiegend künstlerischen Natur und Denkart.

Der griechische Denker überträgt die Ideen des Geistes unmittelbar auf die Anschauungen der Sinne. Er verhält sich zu den Dingen spekulativ und gleicht wirklich einem Spiegel, dessen Glanz sich mit dem Lichte der Dinge vermischt. Wie er die den Zahlen und Raum- verhältnissen innewohnende Gesetzlichkeit als etwas seinem künstlerischen Sinn Verwandtes empfindet, so

Riehl, Philosophie der Gegenwart. 2

l8 Erster Vortrag.

scheint ihm die Welt draußen in der Harmonie ihrer Verhältnisse, der Schönheit ihrer Maße jene innere Ge- setzlichkeit wiederzuspiegeln, und mit einer ihm eigen- tümlichen Kunst, einer Architektonik der Begriffe, sucht er ihren Bau nachzuschaffen, Bilder der Welt zu gestalten. Für ihn ist das Erste die Synthese.

Anders unsere Wissenschaft. Sie geht dem Probleme der Naturerkenntnis nicht gleich in dessen höchster Allgemeinheit zu Leibe. Sie sucht die Erscheinungen im Einzelnen zu begreifen und bevorzugt dabei gerade die unscheinbaren, alltäglichen Vorgänge in der Natur, die sich immer wieder in gleicher Weise vor unseren Augen abspielen. Hier, wenn irgendwo, ist sie über- zeugt, müssen die fundamentalen Gesetze der Natur zu finden sein. Aber nur methodisch lassen sie sich finden und aus der konkreten Erscheinung, in der sie, mit den Wirkungen anderer Gesetze verwickelt, enthalten sind, herausstellen. Die Wissenschaft sucht daher die Er- scheinungen zunächst zu analysieren, das. heißt, sie in Gedanken zu vereinfachen, sie entwickelt sodann die Folgen dieses vereinfachten Bildes, um schließlich, lieh, wie Hertz es ausdrückt, nachzusehen, ob die denk- notwendigen Folgen des Bildes auch die Bilder der naturnotwendigen Folgen der Gegenstände selbst seien. Wo es irgend angeht, werden diese Folgen nach Maß- gabe der theoretischen Annahme willkürlich hervorge- rufen und die in Betracht kommenden Größen gemessen.

Diese Analyse der Erscheinungen, Entwicklung der daraus hergeleiteten Begriffe und Prüfung der Begriffe durch Beobachtung oder Versuch bezeichnen wir als experimentelles Verfahren. Mit seiner Entdeckung erst Ist eine Wissenschaft in unserem Sinne möglich geworden. Seine Einführung aber mußte zugleich die Auflösung der ursprünglich einheitlichen Gesamtwissenschaft oder

Wesen und Entwicklung der Philosophie. jg

Philosophie in eine immer mehr wachsende Anzahl spezieller oder positiver Wissenschaften mit sich bringen.

Es war von ganz entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Philosophie, daß diese seit dem 17. Jahrhundert eine Wissenschaft außer sich, eine Wissenschaft sich gegenüber hatte. Denn erst nachdem sie aufgehört hatte, die Alleinwissenschaft zu sein, konnte ihr Verhältnis zur Wissenschaft in Frage kommen.

Unmittelbar nach der Schöpfung der modernen Wissenschaft schien sich dieses Verhältnis sehr einfach zu gestalten. Die neue Wissenschaft betrachtete sich selbst als Fortsetzung, als Ersatz der alten Philosophie. Die griechische Wissenschaft erschien als die Vorstufe der modernen, jene als die Verheißung, diese als die Erfüllung. Und auf den ersten Blick scheint es gar nicht möglich zu sein, dieser Auffassung zu wider- sprechen. Was Gegenstand der alten Philosophie war, ist zum Gegenstand der modernen Wissenschaft ge- worden; was jene erstrebte, die Erkenntnis der Außen- welt, die Erkenntnis des Geistes, hat diese erreicht, oder sie befindet sich doch auf dem Wege, es zu erreichen. Die Naturphilosophie der Alten ist wirklich, wer könnte dies bestreiten, von der Naturwissenschaft der Neuern, ihrer Physik, Chemie, Biologie abgelöst worden; die Psychologie des Aristoteles erfährt ihre Fortsetzung in der physiologischen Psychologie der Gegenwart. Die neue Wissenschaft, in ihrer Gesamtheit genommen, muß die alte Philosophie, wie es scheint, völlig ersetzt haben, so gewiß es über die nämlichen Gegenstände nicht zwei Wissenschaften, nicht zwei Wahrheiten geben kann. Also, hätten diejenigen Recht ich selbst habe eben für sie geredet , welche behaupten, daß die Philo- sophie sich überlebt, richtiger, daß sie sich in die moderne

20 Erster Vortrag.

Wissenschaft umgewandelt habe. Wozu sie also noch suchen? Haben wir sie doch in den Hörsälen unserer Hochschulen und den Arbeitsräumen unserer Natur- forscher; die Philosophie Demokrits, Piatos, Aristoteles ist heute in unsere Physik- und Chemiepaläste ein- gezogen und herrscht hier in moderner Gestalt.

Die Möglichkeit und das Recht der Philosophie, als Wissenschaft weiter zu bestehen, ist somit fraglich ge- worden. Von der Philosophie als Geistesführung sehen wir vorläufig ab; wir haben uns diese Abstraktion er- laubt und mußten sie uns zum Zwecke der Deutlich- keit erlauben. Unsere Frage lautet demnach: gibt es noch neben den positiven Wissenschaften und verschieden von diesen eine wissenschaftliche Philosophie? Soll es eine solche geben, so darf sie nicht weniger bestimmt, nicht minder exakt sein als irgend eine andere wissen- schaftliche Disciplin; sie darf nicht hinter dem Maße, das wir seit Galilei an wissenschaftliche Erkenntnis an- zulegen gelernt haben, zurückbleiben. Legen wir aber an sie diesen strengen Maßstab an, so wird die Frage, was sie nun noch sei und bedeute, nur umso dringender. Die Philosophie müßte Einzelwissenschaft sein, sie stünde sonst an Strenge hinter den übrigen Wissenschaften zurück, und sie müßte zugleich Allgemeinwissenschaft sein können, sonst wäre sie nicht Philosophie.

Wollten wir gleich die Gesamtheit oder das System der positiven Wissenschaften Philosophie nennen, und wirklich ist dies ihr Begriff in seinem weitesten Sinne verstanden, so kämen wir zu dem wunderlichen Resultate, daß es zwar eine Philosophie gibt, aber keinen Philo- sophen geben kann. Denn es liegt nicht in dem Ver- mögen irgend eines Menschen, sämtliche Wissenschaften zu umfassen. Auch würde ein bloßes Aneinanderreihen

Wesen und Entwicklung der Philosophie. 21

und Verknüpfen der wissenschaftlichen Erkenntnisse noch immer erst ein encyklopädisches Wissen von dem augen- blicklichen Stande dieser Erkenntnisse geben, nicht viel anders als ein solches auch in einem Wörterbuche auf- gespeichert werden kann. Der Versuch aber, die Wissen- schaften dadurch zur Einheit zu bringen, sie „eins zu machen", wie Herbert Spencer sagen würde, daß nur das Allgemeinste von ihnen auf eine Formel gebracht wird, führt, wie eben das Beispiel der „Synthetischen Philosophie" Spencers zeigt, nur zu ganz oberflächlichen Analogien oder Gleichnissen, nicht aber zu strengen Gleichheitsbegriffen,

Die Geschichte selbst hat die Antwort auf unsere Frage erteilt. Im Fortgang und in Folge der Entwicklung der positiven Wissenschaften selbst ist aus diesen ein Problem hervorgegangen, das zwar auch dem Altertume nicht gänzlich unbekannt war, aber in seiner ganzen Bedeutung erst in der neueren Zeit erkannt werden konnte: das Problem der Wissenschaft als solcher, die Frage nach ihren Voraussetzungen und ihren Grenzen. Was Wissenschaft sei und wie weit sie reiche, ist die philosophische Grundfrage, ist der Gegenstand der theo- retischen Philosophie. Mit dieser Frage tritt die Philo- sophie in Zusammenhang mit allen übrigen Wissenschaften und braucht sich doch nicht in das Geschäft einer einzigen unter ihnen zu mengen. Während die positiven Wissen- schaften sich in die Gegenstände der Erfahrung teilen, die eine, indem sie aus den allgemeinen Gesetzen der Bewegung die physikalischen Vorgänge erklärt, eine zweite, indem sie die von der besonderen Natur der Elemente abhängigen Wirkungen erforscht, die dritte, indem sie die Prozesse des Lebens auf ihre physikalischen und chemischen Ursachen zurückführt, während sie

22 Erster Vortrag^.

also Erfahrungen zur Grundlage haben und Erfahrungen machen, ist die Erfahrung selbst und als solche der Gegenstand der wissenschaftlichen Philosophie.

Neben der forschenden Wissenschaft gibt es eine kritische, welche die Quellen des Wissens prüft und seinen Umfang bestimmt. Und daß dies eine Aufgabe von der höchsten wissenschaftlichen und praktischen Bedeutung sei, haben Forscher, die zugleich philo- sophische Denker waren, stets und ausdrücklich aner- kannt. Helmholtz nennt die Kritik der Erkenntnisquellen „das Geschäft, welches immer der Philosophie verbleiben wird und dem sich kein Zeitalter wird ungestraft ent- ziehen können." Ohne den Kompaß der Kritik geraten die wissenschaftlichen Erkenntnisse leicht über ihr Ziel hinaus. Ohne ihn zu Rate zu ziehen, wird man immer wieder versucht sein, aus der Wissenschaft allein eine Weltanschauung zu gestalten, als ob der Mensch nichts als reiner Verstand wäre und hätte seine Bestimmung im bloßen Erkennen und nicht zugleich, ja vor allem im Fühlen und Handeln. Weil der Wissenschaft die Kritik fehlte, das ist die Selbsterkenntnis, konnte es im Zeit- alter der Alleinherrschaft der Naturwissenschaften dahin kommen, daß der Mensch vor lauter Dingen sich selbst nicht sah und sich vergaß, indem er sich gewöhnte, sich als ein Stück abstrakter Materie, ein Spiel mathe- matischer Kräfte zu betrachten. Ein Teil der Erkennt- nis gab sich für das Ganze aus und so war es möglich, daß die Naturwissenschaft zeitweilig einer materialistischen Metaphysik Vorschub zu leisten schien.

Es ist eines der wichtigsten, für die Weltanschauung des Menschen bedeutsamsten Ergebnisse der Kritik der

Wesen und Entwicklung der Philosophie. 23

Erkenntnis, daß die Sinnenwelt, so wie sie zur An- schauung kommt, keine unbedingte, sondern eine be- dingte Existenz hat, daß sie ein Inbegriff von Erscheinungen ist und in der Art und Form des Erscheinens abhängig von der Empfindungsweise der Sinne und den Formen des Anschauens. Nicht hinter den Erscheinungen oder jenseits derselben, wo sie der Metaphysiker sucht: in. uns selbst ist noch eine andere Welt gegeben als die physische, die Welt geistiger Werte.

Die kritische Philosophie bereitet der Philosophie als Geistesführung die Wege; sie schafft Raum und Recht für die idealen Mächte in unserem Leben, die uns, ich sage nicht: in's Übersinnliche, sondern ins Nichtsinnliche erheben. Ohne sie wäre es möglich, daß wir von dem Dasein der Werte, dem Wert der Werte nichts wüßten, oder den Glauben daran verlören und zugleich damit den Trieb zu einer fortschreitenden geistigen Kultur.

Sehr wesentlich ist der doppelte und dennoch ein- heitlich verbundene Beruf der Philosophie. Sie sucht dem Menschen eine lebensvolle Weltanschauung zu geben, die sich an alle Seiten seiner Natur wendet. Dies ist nicht ihr Gegenstand, wohl aber ihr Ziel, dem sie sich im Bunde mit der Wissenschaft nähert," indem sie zugleich den Forderungen des Gemütes Rechnung trägt. Sie befaßt sich mit den höchsten Interessen des Geistes und ist die wahre Wissenschaft und Weisheit des Menschen. Sie entdeckt dem Menschen seine wahren Ziele und weist ihn an, den Willen nach ihnen zu steuern und zu richten. Alle großen Philosophien bisher, und das sind die Philosophien der großen Denker, haben an den Idealen der Menschheit mitgeschaffen.

Auch Kant unterscheidet einen doppelten Begriff der Philosphie. In seiner etwas veralteten Ausdrucks-

24 Erster Vortrag.

weise nennt er den einen ihren „Schulbegriff'. Darnach ist Philosophie die Idee von einem System der Erkennt- nis und hat die Einheit des Wissens zum Zwecke; sie ist insbesondere die Wissenschaft, welche die Grundlagen der Erkenntnis untersucht und zur Beurteilung aller Ver- suche zu erkennen und zu philosophieren dient. Über diesen Begriff hinaus, aber im Anschluß an ihn, erhebt sich der „Weltbegriff" der Philosophie, wie Kant ihn nennt. In dieser Absicht ist Philosophie die Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der Ver- nunft und ein Philosoph in diesem Sinne „der Gesetz- geber der Vernunft und ein Lehrer im Ideal." Aber die Größe dieser Aufgabe fordert zugleich zur Bescheiden- heit auf. „Es wäre sehr ruhmredig, meinen wir mit Kant, sich selbst einen Philosophen in solcher Bedeutung zu nennen und sich anzumaßen, dem Urbilde, das nur in der Idee liegt, gleich gekommen zu sein". Sondern, Kenner der Philosophie wollen wir uns nennen. Strebende nach ihrem Ziele sein; und wir werden es in dem Maße zu sein vermögen, in welchem wir befähigt sind, in der eigenen Person die Selbstgesetzgebung der Vernunft zu verwirklichen und uns zu Herren zu machen über uns und unser Geschick.

Damit ist das Thema angegeben, das die folgenden Vorträge aufzunehmen und zu entwickeln haben. Ihr Gang führt uns zunächst durch das Gebiet theoretischer Erwägungen: diese durch Anknüpfung an die Persönlich- keiten ihrer Urheber so anschaulich wie möglich zu machen, soll mein Bestreben sein.

ZWEITER VORTRAG.

DIE PHILOSOPHIE IN DER NEUEREN ZEIT. IHR VERHÄLTNIS ZU DEN EXAKTEN WISSENSCHAFTEN.

Im Jahre 1543, dem Todesjahre des Nikolaus Kopernikus, erschien dessen Werk: „de revolutioni- bus", von den Umwälzungen, „orbium coelestium": der Himmelskreise, fügte der Herausgeber von sich aus hinzu. Eine neue Epoche der menschlichen Erkenntnis war damit eröffnet und man sollte in der Geschichte der Wissenschaft nur mit einer vorkopemikanischen und einer kopernikanischen Aera rechnen.

Die Beobachtung der Regelmäßigkeit, womit sich die Himmelskörper bewegen, hat ohne Zweifel die ersten Regungen des wissenschaftlichen Denkens wachgerufen; an dieser Beobachtung zuerst hat sich der Begriff der Naturgesetzlichkeit entwickelt. Auch die Wissenschaft der Zahl knüpfte an das natürliche Zeitmaß in dem Kreislauf von Sonne und Mond an. Wir begreifen, wie gerade jene antike Naturphilosophie, die an dem Beispiel der musikalischen Intervalle die Abhängigkeit der Be- schaffenheit der Sinneseindrücke von Zahlen und Größen erkannte und mit dieser Entdeckung den ersten Schritt zur quantitativen Erforschung der Natur zurücklegte, wir begreifen, wie die pythagoreische Philosophie an der Ausbildung der Theorie über die Bewegungen der Himmelskörper mit Erfolg arbeiten konnte. Aristarch von Samos, ein pythagoreischer Philosoph des zweiten

26 Zweiter Vortrag.

Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung, erfaßte sogar den Gedanken der Erdbewegung um die Sonne; er lehrte das heliocentrische System. Aber, wie alle wissen- schaftlichen Gedanken, die zu früh geboren werden, blieb auch dieser kühne Gedanke nicht am Leben. Erst der deutsche Domherr aus Thorn mußte ihn wieder erneuern, er tat es mit bewußter Anlehnung an seine antiken Vorgänger. Kopernikus wollte nur die pythagoreische Philosophie, wie man bis zu Keplers Zeit die Astronomie nannte, wieder in's Leben gerufen haben.

Was war geschehen? Die neue Lehre, die all- mählich zum Siege geführt wurde, mit den edelsten Opfern, an die wir noch zu erinnern haben, bedeutete sie nichts weiteres als ein Mittel, die astronomischen Gleichungen bequemer anzuordnen, als es nach dem verwickelten ptolomäischen Systeme geschehen konnte? Gewiß, dies war ihre nächste und bei dem damaligen Stande des Wissens vielleicht auch ihre einzige sichere Folge. Aber damit kann ihre universelle Bedeutung nicht erklärt, nicht erschöpft sein. Der heliocentrische Gedanke trägt unendlich weiter als alle seine rein astro- nomischen Konsequenzen.

Was war geschehen? Die naive Anschauung der Sinne ist von der Wissenschaft berichtigt, ja wider- legt worden; das Denken feierte den ersten stolzen Tri- umph über die bloßen Tatsachen. Mehr noch: die Erde war aus ihrer centralen Stellung in der Welt heraus- genommen, Menschenart und Menschenschicksal hatten mit einem Male die ungeheuere Wichtigkeit eingebüßt, die sie aus nächster Nähe gesehen und für den Menschen selbst zu haben scheinen. Und doch: alle Philosophien, alle Religionen der Welt bisher waren auf die einzig- artige, bevorzugte Stellung des Menschen in der Natur

Die Philosophie in der neueren Zeit. 27

eingerichtet, auf sie als ihren Grundton gestimmt. Gleich- wie das Festeste von allem, ja das Urbild des Festen, die Erde plötzlich unter den Füßen zu wanken und fortzufliegen begann, so schienen auch alle menschlichen Werte schwankend und relativ geworden zu sein: nur menschliche Werte. Die neue Lehre hat zunächst etwas an sich, das den Menschen, die Geschichte des Menschen und die Schaubühne seiner Geschichte un- endlich herabzudrücken scheint und den Menschen de- mütigt.

Aber, man kann es auch anders sehen. Koperni- kus hat einen neuen Stern entdeckt; er hat die Erde in den Himmel versetzt. Der alte, von Aristoteles ge- lehrte, vom Mittelalter geglaubte Gegensatz zwischen Himmel und Erde, himmlischer und irdischer Physik, ist mit Eins verschwunden. „Wie der Mond zum Himmel der Erde gehört, so, nicht anders gehört die Erde zum Himmel des Mondes; wie wir zum Monde emporblicken, blicken die Bewohner des Mondes zur Erde empor." Die Einheit der Sinnenwelt ist vor dem geistigen Auge des Menschen aufgegangen; der erste wissenschaftliche Beweis für ihre Einheit erbracht worden. Und selbst diese theoretischen Folgen erschöpfen noch nicht die ganze Bedeutung der neuen Anschauung. Zugleich mit der einheitlichen Betrachtung der Welt muß von innen her, im Menschen, die Teilnahme an allem Sein erwachen.

„Dies ist die Philosophie, welche die Sinne auftut, den Geist befriedigt, den Verstand verherrlicht und den Menschen auf die wahre Glückseligkeit, die er als Mensch erreichen kann, hinweist, indem sie ihn von der mühe- vollen Sorge um Vergnügungen und der blinden Furcht vor Schmerzen befreit."

Es sind Worte Giordano Brunos, die ich ent-

28 Zweiter Vortrag.

lehnt habe. So hat Bruno die neue Lehre erfaßt; so wurde Bruno von ihr erfaßt. Dieser Märtyrer der neuen Weltanschauung steht am Eingang der neueren Philo- sophie als Prophet der modernen Wissenschaft. Zwar in seinen philosophischen Spekulationen zeigt er sich noch abhängig von der Renaissance, oder bestimmter, abhängig von den Ideen des Neuplatonismus, dieser eigentlichen Philosophie der Renaissance; auch teilte er bis zu einem gewissen Grade die Neigung seines Zeitalters zu abergläubischen, okkultistischen „Wissenschaften". In seinen kosmologischen Anschauungen dagegen ist er durchaus originell und sein eigener Gewährsmann; hier leitet ihn ein angeborener Sinn für das Wirkliche und Wahre, Er verallgemeinert die kopernikanische An- schauung. Im unermeßlichen Räume sieht er zahllose Sonnen leuchten, jede von Planeten, oder wie er ein- drucksvoller sagt: von „Erden" umkreist, die nur des- halb für uns nicht sichtbar seien, weil ihre Entfernung zu groß und ihr Körper zu klein ist. Gibt es doch auch, so erklärt er, in unserem Sonnensysteme mehr Planeten, als die, welche bisher sichtbar geworden sind. Was aber heute für die Meisten nur ein Objekt des Wissens ist, war für Bruno Gegenstand eines feurigen Affektes, einer religiösen Stimmung und Ergriffenheit. Bruno ist der Philosoph der Astronomie und wollen wir sehen, wie eine wissenschaftliche Wahrheit zu einer philosophischen wird, dies große Beispiel kann es uns zeigen: dadurch, daß sie unser ganzes Wesen an- spricht und erfüllt, daß sie sich nicht blos an den Ver- stand wendet, sondern mit dem ganzen Leben des Ge- müts erfaßt wird.

Schon im Kloster (das Kloster war damals noch die Hauptstätte für wissenschaftliche Bildung), als Novize

Die Philosophie in der neueren Zeit. 20

des Dominikaner-Ordens wurde Bruno, als Jüngling, mit der Lehre des Kopernikus bekannt. Sogleich fühlte sich sein Geist wie von Fesseln entledigt und befreit aus jenen erdichteten Sphären, die gleich Kerkermauern die Welt des Mittelalters umschlossen hielten. Die kristallnen Schalen, die Wölbungen droben, schwanden in ihr Nichts, und „hell aufglänzte ihm nun die Schön- heit der Welt". So lautet ein an Kopernikus gerichteter Vers, Und noch zu einer w^eiteren und kühneren Verallgemeinerung dringt Brunos Denken vor. Wenn überall im Universium die nämliche stoffliche Natur vor- handen, überall dieselbe Kraft am Werke ist, muß dann nicht auch überall organisches Leben zur Entwicklung gelangen, zur Entwicklung gelangt sein? Schaue hinauf zu den Sternen, nein! Welten, und wisse, daß jede von ihnen Formen des Lebens trägt, ähnlich den irdischen und auch höher als diese, übermenschhche Formen, ja, daß jede als Ganzes selbst ein Lebewesen, ein erhabener Organismus ist.

Es ist die Lehre von den unzähligen bewohnten Welten, die Bruno verkündet. Sie erst bedeutete den Zusammenbruch der mittelalterlichen Weltanschauung, welche in Trümmer fällt vor der Wirklichkeit, ja schon der Möglichkeit außerirdischen, organischen Lebens. Ließ sich mit der Theorie der Erdbewegung um die Sonne das offizielle, katholische Glaubenssystem zur Not noch vereinbaren, so gab und gibt es mit der Lehre von der Mehrheit der bewohnten Welten für das wört- lich verstandene Christentum überhaupt keine Aus- gleichung, keine Aussöhnung: daher die Tragik im Leben Brunos.

Nicht nur die physische, auch die moralische Welt beruht auf gleichen Elementen und Gesetzen. Wie

20 Zweiter Vortrag,

die Entwicklung in der gesamten Natur als wesent- lich gleichartig vorauszusetzen ist und das organische Leben, wo immer es erscheinen mag, als von gleichen oder ähnlichen Gesetzen beherrscht, so müssen auch die Gesetze des geistigen Lebens überall von gleicher oder ähnlicher Art sein; sind sie doch der Sache nach von den Gesetzen des organischen nicht zu trennen. In Brunos Philosophie nimmt auch die Betrachtung des sittlichen Lebens die Wendung auf das Kosmische, Uni- verselle. So ist seine großartige Allegorie: „die Reform des Himmels durch die „Austreibung der triumphierenden Bestie" zu deuten. Die sittlichen Gesetze sind allgemein geistige Naturgesetze, nicht Willkürsatzungen des Menschen, die sittlichen Werte allgemeingiltige, nicht rein menschliche Werte. Mit dieser Anschauung durch- bricht Bruno die anthropologischen Schranken der Ethik. Und dies ist der Art der Begründung nach etwas Neues und auch der Sache nach bis dahin kaum Erhörtes. Nur Plato hat sich zu gleicher Höhe der Betrachtung erhoben und erst in Kant's Moral der reinen Vernunft treffen wir wieder auf Ansätze zur nämlichen großen Verallgemeinerung.

Kopernikus verlegte den Mittelpunkt der Welt und nicht bloß des Planetensystems in die Sonne, seine Lehre ist ganz eigentlich heliocentrisch. Bruno erkannte, daß es eine absolute Ortsbestimmung im Universum nicht geben kann, jedes Gestirn also Mittelpunkt der Welt ist; seine Lehre ist kosmocentrisch, und mehr als dies: sie ist theocentrisch. „Wir sind im Himmel und der Himmel ist in uns!" ruft er aus: wo immer wir sein mögen, überall sind wir unserem wahren Mittelpunkt, der Gott- heit gleich nahe; ja, diese ist uns innerlicher gegen- wärtig, als wir uns selbst innerlich gegenwärtig sind.

Die Philosophie in der neueren Zeit. 5 I

Gott ist die Wesenheit in allem Sein, die Natur an sich; die schaffende Natur ist Gott in den Dingen. „Natura est deus in rebus." In Worten, die einen Hymnus gleichen, feiert Bruno die Einheit von Gott und Natur:

„Wir suchen Gott in dem unveränderlichen, unbeug- „samen Naturgesetze, in der ehrfurchtsvollen Stimmung „eines nach diesem Gesetze sich richtenden Gemütes; „wir suchen ihn im Glanz der Sonne, in der Schön- „heit der Dinge, die aus dem Schöße dieser unsrer „Mutter Erde hervorbrechen, in dem wahren Abglanz „seines Wesens: dem Anblick unzähliger Gestirne, die „an dem unermeßlichen Saume des einen Himmels „leuchten, leben, fühlen, denken und dem All-Gütigen, „AU-Einen und Höchsten lobsingen."

Gedanken, wie diese, Empfindungen gleich diesen nennt man pantheistisch; es sind die Empfindungen und Gedanken, die viele der erleuchtetsten Geister teilen. Auch Goethe bekannte sich zum Glauben Bruno's an „Gott-Natur".

„Verehrer des Unendlichen", so hat Bruno sich selbst genannt. Die Unendlichkeit der Welt ist die Grundan- schauung, die leitende Idee seiner Philosophie. Eine endliche Welt könnte Gottes Geschöpf sein, zu der un- endlichen Welt kann sich Gott nur verhalten wie die Ursache zu ihrer Wirkung. Und wie Ursache und Wirkung Eines sind, soferne sich die Ursache in der Wirkung erhält, so sind Gott und Welt Eines, so ist Gott das innerlich wirkende und in der Wirkung be- harrende Prinzip von Welt und Natur. Das Universum in seiner äußeren, räumlichen und zeitlichen Grenzen- losigkeit erscheint so als das Abbild, das Ebenbild der inneren Unendlichkeit einer in ihm waltenden, schöpfe- rischen Kraft, der wirkenden Kraft Gottes. Die Welt

32

Zweiter Vortra?.

ist Gottes Offenbarung und von seinem Wesen nicht zu trennen.

Mit solchen Gedanken und dem Feuer, womit er sie verkündet, hat Bruno der ihm folgenden meta- physischen Spekulation vorangeleuchtet. Wir begegnen ihnen namentlich bei Spinoza wieder, nur abstrakter in der Form des Ausdrucks. Bruno redet die Sprache der Empfindung und Poesie, Spinoza sucht für philosophische Glaubenssätze „geometrische" Beweise. Auch läßt Bruno das individuelle Sein nicht untergehen in die Einheit des Allgemeinen. Die Eine schaffende Kraft, die ihre Wesensfülle in Welten ohne Zahl zur Erscheinung bringt, ist auch in jedem Individuum der Quellpunkt einer in's Unendliche gehenden Entwicklung. So aufgefaßt, heißt sie die Monade. „Nichts wird zu nichts; Alles wird zu Allem. Wir selbst und die Dinge, die wir unser nennen, kommen und schwinden und kehren wieder, und es ist kein Ding, das uns nicht fremd wird, kein fremdes, das nicht unser eigen wird," Die Einheit im Sein und Wesen schließt Vielheit und Entwicklung nicht von sich aus.

Bruno's Kosmologie, das Bild der Welt, das sein Geist zuerst erschaute, wurde von der Wissenschaft bei- nahe Zug für Zug bestätigt; Bruno's Philosophie ist gleich- sam das innere Leben, von dem sich alle weitere, dog- matische Philosophie der neueren Zeit, bewußt oder unbewußt, nährte. Die geistige Größe dieses Sehers einer neuen Welt und Apostels einer neuen Zeit ist selbst damit noch nicht erschöpft. Die Erinnerung an jenen am 17. Februar 1600 auf dem Campo di Fiore in Rom entflammten Scheiterhaufen wird in der Ge- schichte fortleuchten, als Mahnung und Vorbild, als un- übertroffenes Zeugnis einer den Tod nicht achtenden Liebe zur Wahrheit.

Die Philosophie in der neueren Zeit. ■2'^

Das Problem des wahren Weltsystemes stand im Mittelpunkt der weiteren Entwicklung der modernen Wissenschaft, eine Zeit lang galt dieses Problem gerade- zu als die Frage der Wissenschaft überhaupt. Kopemi- kus verbieten, schrieb Galilei, heißt die Wissenschaft selbst verbieten.

Auch Galilei hat für die neue Wahrheit gelitten, Verfolgung und Gefangenschaft um ihretwillen erduldet. Wir sollten nie vergessen, daß jede wissenschaftliche Wahrheit von allgemeiner, philosophischer Bedeutung bisher sich nur im Kampfe durchzusetzen vermochte, daß sie Opfer erheischte, aber auch jede Aufopferung verdiente; und vielleicht war dies notwendig, um uns ihren ganzen Wert eindringlich zum Bewußtsein zu bringen. Wir feiern Galilei als den eigentlichen Schöpfer der Naturwissenschaft, denn er hat dieser ihre Methode ge- geben; wir feiern ihn als den Entdecker der Fallgesetze, der mit dieser Entdeckung die Dynamik, die Wissen- schaft der Bewegung begründet und so „die erste Pforte zur gesamten Physik aufgetan" hat; mit Bewunderung denken wir an seine astronomischen Beobachtungen, vor allem die Auffindung der Jupiters-Trabanten, der „mediceischen" Sterne, dieser kopernikanischen Welt im Kleinen: er selbst lebte und litt für die Lehre des Ko- pemikus, für die Erkenntnis der wahren Verfassung der Welt. „Denn es gibt eine solche Verfassung, erklärt er, und es gibt sie auf eine einzige, wahre und so not- wendige Art, daß sie nicht anders sein kann als sie ist." Galileis Kampf für die neue Weltanschauung, seine äußere Niederlage, der innere Sieg sind für die Ge- schichte der Befreiung des menschlichen Geistes in mehr als einer Hinsicht von größter Bedeutung und denk- würdig für alle Zeiten. Diesmal war es kein dem Kloster

Riehl, Philosophie der Gegenwart. 2

24 Zweiter Vortrag.

entwichener Mönch, an welchem Rom sich vergriflf, sondern eine erlauchte Persönlichkeit, ein Fürst der Wissenschaft, von der Welt geehrt, von dem Hofe mit den höchsten Auszeichnungen bedacht, ehrwürdig durch sein Alter, wehrlos durch seine Krankheit, von dessen körperlicher Schwäche Rom schließlich den Widerruf erzwang. Aber ganz unbezwinglich ist die Wahrheit und ihrer Macht bleibt der Sieg. Es besteht, äußerte Galilei, ein gewaltiger Unterschied zwischen jenen dok- trinären, blos wahrscheinlichen Disziplinen, in denen Rhetorik und Überredungskunst am Platze sein mögen, und den exakten, völlig genauen und sicheren Wissen- schaften, deren Lehrsätze dem Beweise zugänglich sind und worüber man die Meinungen nicht nach Belieben oder auf Befehl ändern kann. „Denn es steht nicht in der Macht irgend eines Menschen oder einer mensch- lichen Institution, zu bewirken, daß sie wahr oder falsch werden, oder anders, als sie von Natur und de facto sind." Nie ist ein stolzeres, nie ein berechtigteres Wort über die wissenschaftliche Wahrheit und ihre Würde ge- sprochen worden.

Die Methode Galileis: die experimentelle Methode, welche Induktion und Deduktion, Erfahrung und Denken vereinigt, bedeutet, wie dies namentlich Kant betont hat, eine Revolution der wissenschaftlichen Denkart. Sie hat die antike Naturphilosophie für immer durch die moderne, die Naturwissenschaft ersetzt. Der ganze Gegensatz zwischen der alten und der neuen Wissen- schaft, die Weite des Fortschrittes von jener zu dieser lassen sich an einem einzigen kleinen Worte ermessen. Statt zu fragen: warum fallen die Körper, von welcher Art inneren Antriebes getrieben, aus welcher geheimen Ursache fragt Galilei: wie fallen sie, in welcher Form,

Die Philosophie in der neueren Zeit. 2C

nach welchem Gesetze? Diese anscheinend so gering- fügige Änderung in der wissenschaftlichen Fragestellung scheidet in Wahrheit zwei Zeitalter des menschlichen Erkennens. Sie. setzte an die Stelle der vergeblichen und trügerischen Nachforschung nach dem Wesen der Ursachen die allein lösbare Aufgabe der Nachforschung und Ermittlung der Gesetze der Ursachen. Nicht aus Resignation, aus Einsicht in die Natur des Wissens haben wir auf den Traum verzichten gelernt, es liege im Ver- mögen unseres Geistes, in das Wesen der „Dinge an sich" einzudringen. Sind wir doch selbst von diesem Wesen getragen, ist doch dieses Wesen unserer eigenen Existenz vorausgesetzt; wie also sollten wir es mit unserem Denken erfassen, wie es in den Bezirk unserer Begriffe gleichsam einfangen können? Als Gipfel der Vermessenheit erschien Galilei, die menschliche Fassungs- kraft zum Maße dessen zu machen, was die Natur in's Werk zu setzen vermag. Denn es gebe keine einzige Wirkung in ihr, sie sei so unscheinbar als man will, die vollständig zu erkennen, nicht das Vermögen, auch des erleuchtetsten Geistes überstiege. Innerhalb der Grenzen aber, die der Wissenschaft gesetzt sind, die die Wissen- schaft sich selbst setzt, wenn sie sich selbst begreift, ist das Wissen absolut oder vollkommen, nicht relativ; es gelangt zur Einsicht in die Notwendigkeit, und darüber hinaus ist nichts mehr zu erkennen, darüber hinaus ver- liert jede weitere Nachfrage einen angebbaren Sinn. Durch die Kenntnis der Gesetze der Ursachen be- herrschen wir die Wirkungen und machen uns theoretisch wie praktisch zu Herren über die Kräfte der Natur.

Eine einzige ununterbrochene Entwicklung führt von Galilei zu Newton; die Stetigkeit der wissenschaftlichen Forschung, nachdem einmal ihr Weg gefunden war.

36 Zweiter Vortrag.

kommt dadurch unmittelbar zur Anschauung. Dasselbe Jahrhundert, in dessen Anfang mit den Untersuchungen und Berechnungen Keplers über die Planetenbahnen der Abschluß der mathematischen Astronomie fällt, sah an seinem Ende noch den Ausbau der physischen, das Werk Newtons. Um aber diesen Ausbau zu ermöglichen, mußte inzwischen Galilei die Wissenschaft der Bewegung geschaffen und Huyghens, der würdige Nachfolger Gali- leis, dessen Werk fortgesetzt haben. Erst mußten die Gesetze des Fallens der irdischen Körper ermittelt sein, ehe das Fallen der himmlischen dem Gesetz der allge- meinen Schwere untergeordnet werden konnte. Nichts anderes nämlich als die Interpretation der Keplerschen Regeln der Planetenbahnen mit Hilfe der Fallgesetze Galileis und Huyghens Gesetze der Kreisbewegung ist die Gravitationstheorie Newtons. Der früheste Glaube der Wissenschaft: die Gesetzlichkeit des Kosmos war jetzt zur Anschauung geworden, das Problem, um das sich die Philosophie des Altertums unablässig bemüht hatte, gelöst und zwar in der erhabensten Gestalt; denn alles Erhabene ist einfach. Ein einziges Gesetz von einfacher mathematischer Form verbindet die Massen zur Einheit der Welt und beherrscht zugleich die Be- wegungen aller Himmelskörper, aus diesem einzigen Ge- setze sind alle ihre vergangenen und künftigen Stellungen im Weltraum zu berechnen.

Wir wissen, welche Bedeutung für die Philosophie die Schöpfung einer selbständigen, positiven Wissenschaft hatte. Das Verhältnis zur Wissenschaft bestimmt fortan den Charakter der Philosophie; nach diesem Verhältnis allein gliedern sich sachgemäß die Perioden ihrer neueren Geschichte.

Die Philosophie in der neueren Zeit. iy

In der ersten Zeit steht die Philosophie in Abhängig- keit von der Wissenschaft; sie indentifiziert sich mit dieser und will nur ihr Werk fortführen und vollenden. Noch ergreift sie keine neue Aufgabe, sie verallgemeinert nur die Aufgabe der Wissenschaft, indem sie deren neue, mathematisch-mechanische Denkart auf alle Probleme des Erkennens auszudehnen sucht. Sie ist daher selbst universelle Mechanik, Mechanik als Universalwissenschaft. Es ist die Zeit der großen Systeme des siebzehnten Jahr- hunderts; typisch für diese Zeit ist Descartes. In ihrer zweiten Epoche dagegen, die mit Locke beginnt, entdeckt die Philosophie das ihr eigentümliche Untersuchungsge- biet. Sie erfaßt den Gegenstand, dessen Natur sie be- fähigt, Einzelwissenschaft zu werden und die Strenge und Genauigkeit einer solchen zu befolgen und zugleich die Allgemeinwissenschaft zu bleiben, sofern sich ihr Gegen- stand auf alle Wissenschaften in gleicher Weise bezieht und durch jede von ihnen gegeben wird. Sie wissen es bereits, dieses Untersuchungsgebiet der Philosophie ist die Erkenntnis selbst, ihr Gegenstand der Begriff des Wissens: die Erfahrung, nicht die Erfahrungen. Die Philosophie, soweit sie Wissenschaft ist, ist Wissenschafts- lehre, die Prüfung des Wissens, die Selbsterkenntnis der Vernunft. Sie handelt von der Wahrheit unserer Vorstellungen der Dinge, nicht von dem Wesen der Dinge und setzt die Wissenschaft, die ihr Objekt ist, voraus. Wie also sollte sie diese ersetzen wollen?

Was sich zwischen diese endgiltige Epoche der Philosophie und ihre Wiedererneuerung in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eingeschoben hat, be- deutet, von rein wissenschaftlichem Standpunkt aus be- urteilt, keinen Fortschritt, sondern viel eher eine Hemmung der Entwicklung. Der deutsche, sogenannte „Idealismus"

qg Zweiter Vortrag,

setzte die Spekulation wieder an die Stelle von Forschung und Kritik und meinte, die Wissenschaft nicht etwai bloß meistern zu können, sondern sie ersetzen zu müssen. Es war dies eine Philosophie, die sich rühmte, die Er- fahrung nicht zu brauchen : der Philosoph, erklärt Fichte, bedarf zu seinem Geschäfte durchaus keiner Erfahrung, er treibt es ohne Rücksicht auf irgend eine Erfahrung und schlechthin a priori. Und wenn dieser Verzicht auf die Erfahrung bei der praktischen Bestimmung der Lehre Fichtes noch eine gewisse Berechtigung haben mochte, für die theoretische Forschung bedeutet er die Verleitung zu Irrtum und Phantasterei. Schelling fand die Naturwissenschaft Newtons „ideenlos"; die Wissen- schaft fand dafür Schellings ideenreiche Naturphilosophie sinnlos. Man konnte sich auf beiden Seiten mcht ver- stehen; denn während man auf der einen nach „Ideen", das heißt Wertbegriffen dort suchte, wo sie nicht hin- gehören, war man auf der anderen nur zu gerne geneigt, den Wert der Ideen überhaupt zu verneinen. Und so stellt sich uns jene ganze Philosophie, soferne sie sich als Wissenschaft ausgab, als ein einziges großes Miß- verständnis heraus. Sie ist damit von ihrer ursprüng- ichen, der ethisch schöpferischem Richtung abgekommen, die ihr Fichte, einer der Erzieher unseres Volkes, geben, wollte.

Wie sich in der ersten Periode ihrer neueren Ent- wicklung die Philosophie mit der Wissenschaft verbunden hat, zeigt die Geschichte der großen Systeme jener Zeit.

Hobbes, ein Zeitgenosse und Rivale Descartes, der erste exakte Denker über politische Dinge, läßt die neue Philiosophie mit Kopernikus beginnen und zählt Galilei und Harvey, den Entdecker des Kreislaufes des Blutes, zu ihren Begründern; er verstand also unter der

Die Philosophie in der neueren Zeit. 2^

neuen Philosophie die neue Naturwissenschaft. Und eben dies ergibt sich auch aus seiner Erklärung: Philosophie sei die gewisse Erkenntnis der Wirkungen oder Phänomene aus den bekannten Ursachen oder Erzeugnisweisen und die wahrscheinliche Erkenntnis der Ursachen aus den be- kannten Wirkungen. Der erste Teil dieser Erklärung, die den doppelten Weg der wissenschaftlichen Forschung an- gibt, bezieht sich auf die Mathematik, deren Prinzipien durch innere Anschauung gegeben werden, während der zweite die Gesamtheit der empirischen Wissenschaften umfaßt, für welche die Erscheinungen gegeben und die Prinzipien oder Ursachen zu suchen sind. Mathematik und Naturwissenschaft machen demnach für Hobbes die Philosophie aus, Gegenstand der Philosophie, sagt Hobbes, ist jeder Körper; das Wort Körper wird hier in einem sehr allgemeinen Sinn genommen: es steht für alles, was zusammengesetzt ist und eine Entstehung hat, vornehmlich für das, was wir selbst zusammen- setzen, nach Prinzipien, die aus uns stammen, wie den geometrischen Körper, und den politischen „Körper", den Staat, sofern dieser durch den Willen des Menschen geschaffen und aus Verträgen und Gesetzen erzeugt wird. So ordnet Hobbes die Lehre vom Staate der deduktiven oder mathematischen Betrachtung unter, um das was vom Staate a priori zu erkennen ist von dem Historischen abzusondern, und indem er die Philosophie als Körperlehre auffaßt, macht er sie zu einer universellen, alle Erkenntnisprobleme umfassenden Naturwissenschaft. Doch finden sich auch Gedanken bei ihm, die bereits Keime der Kritik der Erkenntnis enthalten; und in der Lehre vom Räume ist Hobbes ein Vorgänger Kants.

Unter der Philosophie Descartes' hat man im acht- zehnten Jahrhundert bei Anhängern wie Gegnern nie

40 Zweiter Vortrag.

etwas anderes verstanden als die Physik Descartes', insbe- sondere die berühmte Wirbel-Hypothese, die der Lehre Newtons weichen mußte, weil die astronomischen Be- obachtungen gegen sie entschieden, aber als Versuch die Schwere physikalisch zu erklären, geschichtlich überaus merkwürdig ist. Und auch Descartes selbst schätzte nicht seine metaphysischen Betrachtungen, die man gewöhn- lich allein unter seiner Philosophie versteht, am höchsten, sondern seine physikalischen Forschungen. Nur für diese nahm er objektive Giltigkeit in Anspruch. Von jenen Spekulationen dagegen meinte er, sie gefielen ihm zwar ganz wohl, doch andere hätten auch welche, und diese gefielen ihnen vielleicht noch besser. Als er aber zu einigen allgemeinen Begriffen in der Physik gelangt war, glaubte er nicht länger im Verborgenen bleiben zu dürfen. Denn sie hätten ihm die Möglichkeit zu Ansichten gezeigt, die für das Leben fruchtbar und ge- eignet seien statt der theoretischen Schulphilosophie eine praktische Philosophie zu gewinnen, die uns zu Herren und Eigentümern der Natur mache. Descartes denkt an die Anwendung der Prinzipien der Mechanik auf alle Vorgänge in der äußeren Natur; er denkt, um Einzelnes hervorzuheben, an die Entdeckung und physikalische Erklärung des Brechungsgesetzes des Lichtes, an die Ableitung der Schwere aus der Fliehkraft und dem Drucke der Wirbel, und vor allem an die seiner Zeit vorauseilenden Vorstellungen von der mechanischen Natur der Prozesse des Lebens. Descartes hat eine Revolution ebenso in der Physiologie und Medizin her- vorgebracht wie in der Physik und Metaphysik. Er ward zum Haupte einer medizinischen Schule, die sich die iatromechanische nannte, weil sie aus dem Studium der Lebensvorgänge nach mechanischen Gesichtspunkten

Die Philosophie in der neueren Zeit. ai

Mittel zur Heilung der Krankheiten gewinnen wollte. Die physiologischen Kenntnisse, über welche er ver- fugte, sind für seine Zeit von überraschender Genauig- keit. Er machte anatomische Beobachtungen, ein zerlegtes Tier nannte er gelegentlich seine Bibliothek , er stellte Tierversuche an und studierte die Ent- wicklungsgeschichte der Organismen. Er beschreibt die Reflexbewegung an Menschen und Tieren und weiß, daß die Wärme die einzige Quelle der tierischen Be- wegung ist. Auf diese physiologischen Forschungen legte er selbst das Hauptgewicht; sie in ihrer Anwendung auf die Medizin erschienen ihm als das eigentliche Ziel seiner „Philosophie". Er habe beschlossen, schrieb er 1637, seine ganze noch übrige Lebenszeit dem Studium der Natur in der von ihm gefundenen Methode zu weihen, um dadurch zu sichereren Regeln für die Medizin zu ge- langen, als es die bisherigen sind.

Wer es nicht wüßte, dafs Descartes in erster Reihe Naturforscher war, könnte sich allein schon durch eine Übersicht des Inhalts seiner Werke davon überzeugen Die Schrift über die Methode, keine Abhandlung, eine „Unterredung", von der Kuno Fischer sagt, man erwarte einen Wegweiser und lerne einen Menschen kennen, bildet die Einleitung zu einer Reihe von Arbeiten physikalischen und mathematischen Inhalts, die unter dem gemeinsamen Titel „philosophische Versuche" erschienen. Es sind dies die Dioptrik, die Lehre von den Meteoren, die Geometrie und alle diese Arbeiten nennt Descartes ohne Unter- schied: philosophische. Eines weiteren Beweises, daß für ihn forschende Wissenschaft und theoretische Philo- sophie ein und dasselbe bedeuteten, daß er, wie seine ganze Zeit, beides völlig gleich setzte, bedarf es nicht. . Und was schon die „philosophischen Versuche"

42 Zweiter Vortrag.

zeigten: das Übergewicht der physikalischen und mathe- matischen Forschungen Descartes über seine im engeren Sinne des Worts philosophischen bestätigen die „Prinzipien der Philosophie". Dieses Hauptwerk Descartes' ist die Ausführung eines älteren, unter dem Eindruck von Galileis Verurteilung zurückgelegten Werkes und sollte den Titel: „die Welt" führen. Von den vier Büchern desselben beschäftigen sich drei mit naturwissenschaft- lichen Fragen. Descartes gibt darin eine Gesamtdar- stellung, das System seiner Physik. Der leitende Ge- danke ist die mechanische Entwicklung der Körperwelt. „Mit Hilfe der Gesetze der Bewegung muß die Materie alle Gestalten, deren sie fähig ist, nach und nach an- nehmen und wenn wir diese Gestalten der Reihe nach betrachten, werden wir endlich zu derjenigen gelangen) welche die der gegenwärtigen Welt ist." Die Vorgänge in der Natur erscheinen sonach als eine geschlossene Kette von Bewegungen, dabei wird die Summe der Be- wegung im Ganzen als unveränderlich vorausgesetzt; es ist der erste, wenngleich noch unvollkommene Ausdruck des Prinzipes der Erhaltung der Energie. Und indem Descartes den Begriff der Kraft mit der Annahme ver- borgener Massen und Bewegungen umgeht, betritt schon er den Weg, den in unseren Tagen H. Hertz wieder eingeschlagen hat. Auch die Hypothese der Wirbel, der kyklischen Bewegungen lebt in der Physik der Gegenwart wieder auf

Descartes' Geist durchschweift die Welt in den „Prinzipien". Von den allgemeinen Gesetzen der Be- wegung erhebt sich seine Betrachtung zur Physik des Himmels, sie steigt von da zur Physik der Erde herab und dringt zu den Bewegungen in Nerv und Hirn vor, die die Empfindung begleiten. Hier aber macht sie

Die Philosophie in der neueren Zeit. a^

Halt; ihr ableitendes Verfahren muß hier enden, da sie unvermerkt an den Ausgangspunkt aller Erfahrung zu- rückgelangt ist. Die Empfindung ist der unaufgeklärte Rest für Descartes, für Du Bois Reymond, für jede Naturauffassung, die aus der mechanischen Erscheinungs- seite der Dinge das Wesen der Dinge macht. Es ist lehrreich zu sehen, wie Descartes mit der Empfindung verfährt, mit ihr verfahren muß. Sie, das Element des für uns Wirklichen, sollte eigentlich nach den Grund- sätzen seiner Philosophie gar nicht existieren. Denn weder aus der Seele, deren Wesen im reinen Denken bestehen soll, läßt sie sich herleiten, noch ist sie aus dem Körper zu begreifen, dem keine anderen Wesens- bestimmungen zugeschrieben werden als Ausdehnung und Bewegung. Descartes will sie daher aus der Ver- einigung von Körper und Seele ableiten; es bleibt aber völlig unverständlich, wie aus der Verbindung von Fak- toren ein Produkt hervorgehen soll, das in keinem ent- halten, ja aus jedem, für sich genommen, als seinem Wesen wiedersprechend ausgeschlossen ist.

Mit den physikalischen Forschungen Descartes' stehen auch seine grundlegenden Betrachtungen zur Meta- physik und Erkenntnislehre in unlösbarem Zusammen- hange und erhalten erst in diesem Zusammenhange ihren eigentlichen authentischen Sinn. So vor allem das berühmte, nicht ebenso oft richtig verstandene als nachgesprochene: cogito, ergo sum, ich denke, also bin ich. Descartes will mit diesem Satze zu der Voraus- setzung aller, auch der naturwissenschaftlichen Erkennt- nis: dem denkenden Subjekte zurückgreifen, um von da aus in methodischem Fortschritte und auf dem Wege einer lückenlosen Deduktion zu den Grundbegriffen des Wissens und den Elementen des Seins zu gelangen.

jjA. Zweiter Vortrag.

Das Sein des Denkens erscheint nach seiner Lehre allein von unmittelbarer Gewißheit: cogitatio est. Hier sollen wir den archimedischen Punkt haben, von dem aus auch das Wissen von den Objekten in Bewegung zu versetzen ist; hier das Prinzip, in welchem Wahrheit und Wirklichkeit zusammentreffen, sofern es Existenz in sich einschließt und zugleich begreiflich, ja das Be- greifen selbst ist. „Das Denken ist die Regel der Wahr- heit der Dinge." Ein Maßstab soll uns damit gegeben werden für jegliche Erkenntnis, die zugleich wahr und wirklich ist; insbesondere aber die Naturerkenntnis er- hält von da aus ihre Beglaubigung. Es ist der ausge- sprochene und alleinige Zweck, den Descartes mit seinen metaphysischen Erwägungen verfolgt : die Realität der Be- griffe zu beweisen, aus denen die Physik ihre Hypothesen bildet. Nur was begreiflich ist, argumentiert Descartes, ist wirklich, nur das Mathematische ist von der äußeren Natur begreiflich; also ist auch nur das Mathematische in ihr an sich wirklich. Die Natur handelt mathe- matisch, daher ist sie gesetzmäßig, also klar und deut- lich erkennbar und darum wirklich. Leicht erkennen wir in dieser Schlußweise einen Überrest des mittel- alterlichen (und antiken) „Realismus" der Begriffe, von dem sich auch Descartes' freier Geist nicht völlig frei zu machen vermochte. Statt wie es in der Ordnung gewesen wäre, die Begreiflichkeit zum Maße der Er- kenntnis der Dinge zu machen, machte sie Descartes zum Maße ihrer Wirklichkeit. Nur das Rationelle ist ihm auch das Reelle; die Dinge sollen nur so weit reell sein, als sie zugleich rationell sind. Und so ver- wandelte sich in seinem Geiste diese sinnenfällige Welt mit ihrem unendlichen Reichtum an Qualitäten und Stufen von Qualitäten in ein bares mathematisches

Die Philosophie in der neueren Zeit. 4 c

Objekt. Er sah nicht, daß dieses Objekt nichts als den Niederschlag seiner eigenen Abstraktion darstellte und daß nur als Abstraktion genommen sein Verfahren be- rechtigt war. Statt bloß die Begriffe zu unterscheiden, trennte er die Dinge und kam so zu der Entgegen- setzung seiner beiden „Substanzen", einer rein denkenden und einer nur ausgedehnten, zwischen welchen Ab- straktionen die ganze konkrete Natur zu Boden fällt. Aber selbst dieser „Dualismus" des Philosophen zeigt sich noch beherrscht von Gesichtspunkten der exakten Forschung und durchdrungen von dem Geiste der reinen Naturwissenschaft, welche Descartes gleichsam mit ent- deckt hat. Doch ist sein Gegensatz zu Galilei nicht zu übersehen. Während Galilei nach den mathematischen Gesetzen der Naturvorgänge forschte, entwirft Descartes Bilder oder Modelle, welche die Vorgänge anschaulich machen sollen. Er besaß daher für Galileis anders ge- richtetes Verfahren kein rechtes Verständnis und tadelt sogar, daß dieser Gesetze der Schwere aufstellte, ehe er das Wesen der Schwere bestimmt, das ist eine rein physikalische Theorie derselben gegeben habe. Wenn daher Descartes von seinen Landsleuten als der „Vater der Physik" gefeiert wird, so gebührt dieser Ehren- name Galilei mit weit größerem Rechte und sicher in anderer Bedeutung. Schuf Galilei die Physik der Ge- setze, so gab Descartes das erste, moderne Beispiel einer Physik der Hypothesen.

Der Metaphysiker in der Reihe der großen Systems- philosophen des 17. Jahrhunderts ist Spinoza. Liegt nicht, wie schon die Form der Einkleidung seiner Ge- danken, die „geometrische Ordnung" der Beweise zeigt, auch auf seinem Systeme der Reflex der mathematisch- mechanischen Wissenschaft seiner Zeit? Es ist die

^6 Zweiter Vortrag.

Stellung Spinozas in der Geschichte der Philosophie, daß er mit der neu gewonnenen Einsicht in die Not- wendigkeit alles Geschehens die höchsten Forderungen und Aspirationen des menschlichen Gemütes nicht bloß verbindet und versöhnt, sondern eben jene Einsicht selbst zur Grundlage der wahren Gotteserkenntnis und Quelle des Seelenfriedens macht. Man weiß wie entschieden Spinozas Geist auf Goethe wirkte, welchen Einfluß er auf Goethes ganze Denkweise nahm. Heine fand dafür das anmutige Wort: „die Lehre Spinozas hat sich aus ihrer mathematischen Hülle entpuppt und umflattert uns als Goethe'sches Lied". Eine Friedensluft schien Goethe aus der Ethik des lange verkannten Denkers entgegen- zuwehen, hier fand er eine Beruhigung seiner Leiden- schaften; eine große und freie Aussicht über die sinn- liche und sittliche Welt schien sich ihm aufzutun.

Wir zählen die Lehre Spinozas zu den Grundge- stalten der philosophischen Weltanschauung und wie wir von Piatonismus reden als einer typischen Art, Welt und Leben zu betrachten, die in ihrer Bedeutung über die historische Ausprägung im Systeme Piatos hinaus- reicht, ebenso reden wir auch von Spinozismus, gleich unpersönlich und das Wesentliche über das Geschicht- liche stellend. Und wir haben dazu noch ein besonderes Recht. Die Selbstlosigkeit des Philosophen, die „grenzen- lose Uneigennützigkeit", die Goethe besonders an ihn fesselte, wollte nicht zugeben, daß die Lehre, die er hinterließ, von ihm den Namen führe. Nicht er, war seine Meinung, Gottes Denkkraft in ihm, durch ihn habe sein Werk geschaffen. Nur mit den Initialen seines Namens, und auch dies nicht mit seinem Willen, erschien posthum die Ethik,

Der leitende Begriff bei Spinoza ist der Begriff" des Naturgesetzes, Nach der Analogie mit der Naturge-

Die Philosophie in der neueren Zeit. 47

setzlichkeit denkt sich Spinoza die Abhängigkeit der Einzeldinge von dem unendlichen göttlichen Sein. „Gott handelt nach den Gesetzen seiner Natur". Und da Gott allein an sich wirklich ist, und es außer ihm keine „Substanz" gibt noch eine solche begriffen werden kann, so sind die Gesetze der Natur Gottes, die Gesetze der Natur überhaupt. Gott ist die Natur an sich (deus sive natura). Er offenbart sich daher in den Naturgesetzen. Diese sind eine Form, Gottes Wesen zu erkennen. Denn sie erstrecken sich auf Unendliches, nämlich alle die zahllosen Fälle, in denen sie gelten, gegolten haben, gelten werden, auch werden sie von uns „unter einer gewissen Form der Ewigkeit" gedacht, soferne sie das Unveränderliche und von aller Zeit Unabhängige im Veränderlichen ausdrücken und heute nicht anders sind, als sie von je gewesen sind und immer sein werden; und „so zeigen sie selbst uns auf gewisse Weise die Unendlichkeit, Ewigkeit und Unveränderlichkeit Gottes an". Zwar kennt Spinoza noch eine höhere Stufe der Erkenntnis. Hier aber wird er zum Mystiker. Er denkt an eine Vernunftanschauung, ein unmittelbares Bewußt- werden des Menschen mitsamt allen Dingen ewig in Gottes Wesen enthalten und gegründet zu sein. Das ist jene von ihm so hoch gepriesene, aber niemals klar gemachte, noch klar zu machende „dritte Erkenntnisart", die er die intuitive nennt. Wo er als Philosoph redet und nur der Denker, nicht der Mystiker in ihm zu Worte kommt, da kann es seiner ausdrücklichen Erklärung nach „nur eine Weise geben, die Natur irgend welcher Dinge zu erkennen, nämlich durch die allgemeinen Ge- setze und Regeln der Natur". „Denn die Natur ist immer dieselbe und ihre Kraft und Macht zu wirken überall eine und dieselbe, d. i. die Gesetze und Regeln der Natur, denen gemäß alle Dinge geschehen und aus

^8 Zweiter Vortrag.

den einen Formen in die anderen verwandelt werden, sind überall und immer die nämlichen." Diese Erkennt- nisart durch die Naturgesetze heißt bei Spinoza ratio, und dies bedeutet in seiner Zeit so viel als Erkennen nach dem Muster der Mathematik, in der Weise der mathematischen, daher „rationellen" Naturwissenschaft. „Wie aus dem Begrifif des Dreiecks von Ewigkeit zu Ewigkeit folgt, daß die drei Winkel des Dreiecks gleich sind zwei rechten, so folgt aus der unendlichen Natur Gottes unendlich Vieles, in unendlich vielen Weisen, nämlich Alles", nämlich die Gesamtheit der Dinge, die nichts sind, als die Besonderungen oder Afifektionen des einen und höchsten Seins. Dieses unendliche, durchaus tätige Wesen, die „actuosa essentia" Gottes ist ununter- brochen schaffend am Werke und die Ordnung seines Schaffens ist fest und unabänderlich. Nichts kann zu den Naturgesetzen hinzugefügt, nichts von ihnen genommen werden. „Die Dinge konnten auf keine andere Weise, in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden. als sie von ihm hervorgebracht worden sind." Sollte die Naturordnung eine andere sein können, als sie ist, so müßte Gott ein anderer sein können, als er ist: eine andere Natur ein anderer Gott. Annehmen, daß eine zweite Ordnung der Natur außer der tatsächlich gegebenen möglich sei, hieße Gottes Wesen verdoppeln, hieße an zwei Götter glauben; jene Annahme ist daher an sich widersinnig und bedeutet überdies einen Abfall von dem wahren Glauben an das alleinige göttliche Wesen und Sein. So folgt für Spinoza aus der Einheit und Einzigkeit Gottes die Einheit und Einzigkeit der Natur. Die mathematische Notwendigkeit, mit der die Naturgesetze gelten, schließt Zweck und Zufall von dem Wesen der Dinge aus. Die Natur hat keinen ihr vor- gesteckten Zweck, noch handelt sie um eines inneren

Die Philosophie in der neueren Zeit, aq

Zweckes willen. Die Zweckbetrachtung reicht nicht bis zu dem Grunde der Naturvorgänge hinab; sie ist eine oberflächliche und relative, eine rein menschliche Be- trachtungsweise, ein Geschöpf der Einbildungskraft des Menschen, der damit eine Folge seiner Natur, seine Triebe und sein Verlangen, zur Ursache der Natur macht. „Gott regiert die Natur wie es deren allgemeine Gesetze, nicht wie es die besonderen Gesetze der menschlichen Natur erfordern." Zufall aber bedeutet nichts als einen Mangel unserer Erkenntnis ; zufällig erscheinen uns Dinge, deren Ursachen wir nicht kennen, aus demselben Grunde erscheint uns unser Wille frei. „In der Natur der Dinge selbst gibt es nichts Zufälliges (in rerum natura nullum datur contingens) ; alles vielmehr ist aus der Notwendig- keit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise zu sein und zu wirken." Kein Ding, das nicht von Gott bestimmt ist, etwas zu wirken, kann sich selbst zum Wirken bestimmen; keines, das von Gott dazu be- stimmt ist, sich selbst unbestimmt machen.

Diese Lehre nun hat bei Spinoza einen anderen als rein wissenschaftlichen „Zweck", so wollen wir sagen, einen anderen, zur Lebensführung gehörenden Sinn. Sie soll die Anleitung zur Seelenstärke sein, zur Macht des Menschen über sich und die Dinge. Sie ist eine Frei- heitslehre, sie weist den Menschen auf den Weg zu seiner wahren Freiheit, welche die innere Notwendigkeit des Handelns nicht aufhebt, sondern voraussetzt Sie ist die Lehre vom höchsten Gut und darum heißt sie auch nicht Physik oder Metaphysik, sondern Ethik.

„Alles, wovon der Mensch selbst die wirkende Ur- sache ist, das ist alles, was durch die bloßen Gesetze seiner eigenen Natur begriffen werden kann, ist not- wendig gut, und es kann dem Menschen kein Übel

Riehl, Philosophie der Gegenwart. 4

50 Zweiter Vortrag.

widerfahren als nur von äußeren Ursachen, sofern er nämlich ein Teil der ganzen Natur ist, deren Gesetzen die menschliche Natur zu gehorchen und der sich der Mensch auf fast unendliche Weisen anzupassen genötigt ist" Böse kann nur die Überwältigung des mensch- lichen Geistes durch Affekte genannt werden, welche Leidenschaften (passiones) sind und die tätigen Affekte des Menschen, seine Handlungen, beschränken. Wäre der Mensch frei geboren, könnte er von Anbeginn an kraft seines eigenen Wesens handeln, ohne von Leiden- schaften getrieben zu werden, so würde er keinen Begriff von gut oder böse bilden; er wäre in gewissem Sinne „jenseits von Gut und Böse". Notwendig gut ist also das absolut Machtvolle. Tugend und Macht sind ein und das- selbe, — dasselbe ist: vollständig aus eigener Tatkraft handeln und gut handeln. Die Glückseligkeit ist daher nicht der Lohn der Tugend, sondern die Kraft der Tugend selbst. Also lehrte Spinoza. Seine Lehre weist uns an, das doppelte Antlitz des Schicksals, Gutes und Schlimmes, mit Gleichmut zu ertragen und nicht etwa nur resignierend zu ertragen, sondern ja sagend dazu, übereinstimmend damit; denn überall ist die nämliche Macht und Kraft Gottes im Werke. Wir handeln nur auf den Wink des höchsten, allwirksamen Seins, in ihm leben, weben und sind wir: dies die Essenz der Lebensweisheit Spinozas. Daß dieses vollkommenste Muster irgend welcher dogmatischen Philosophie, die wir kennen, daß Spinozas Ethik, so lange man noch keine kritische Philosophie be- saß und nachdem man sie wieder vergessen hatte, den mächtigsten Einfluß ausüben mußte, kann uns nicht auffallend erscheinen. Und nicht Kant, sondern Spinoza ist, wie die Geschichte bezeugt, der Vater der deutschen idealistischen Spekulation, deren wesentlichste Ideen eine

^ Die Philosophie in der neueren Zeit. ci

Nachbildung, öfter auch eine Abschwächung Spinozis- tischer Gedanken sind.

Am Schlüsse dieser Betrachtung ist wohl die Frage nach dem wahren Werte der großen philosophischen Systeme des siebzehnten Jahrhunderts (zu denen auch dasjenige von Leibniz gehört) dem Werte der philoso- phischen Systembildung überhaupt am Platze. Hätten diese Schöpfungen großer Denker auch nichts weiteres bewirkt, als das Bewußtsein vom Endziele, nach welchem die Wege der Forschung weisen und wohin ihre Linien sich neigen, wach erhalten oder erneuert zu haben; ihr Verdienst wäre auch dann nicht gering, und, was sie damit geleistet, durch positive Forschung allein nicht zu ersetzen. Die Wissenschaften insgesamt, sagt Descartes, sind nichts anders als die menschliche Erkenntnis und diese ist immer eine und dieselbe, auf wie verschiedene Gegenstände sie auch angewandt werden mag; so bleibt das Licht der Sonne immer eines, wie verschieden auch die Dinge sind, die es erleuchtet. Was uns aber in jenen von der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgehenden, aber deren Grenzen überschreitenden Versuchen als das Wert- vollste erscheint, was im Wechsel der philosophischen Systeme, dem Wandel ihrer Lehren, der Entwicklung ihrer Anschauungen das Bleibende darstellt, ist nicht das Finden oder das angebliche Gefundenhaben des Systems, sondern das Suchen selbst: das Streben nach einer Gesamtauf- fassung der Dinge und des Lebens, weit genug, um uns unsere Stellung in der Welt überblicken zu lassen, tief und lebendig genug, um unser ganzes Wesen zu ergreifen, unsere Gesinnung zu veredeln und unser Handeln zu leiten, das Streben, um es zusammenfassend zu sagen, nach einer Erkenntnis, die sich in Weisheit verwandeln kann, wovon eben die Philosophie ihren Namen führt.

DRITTER VORTRAG.

DIE KRITISCHE PHILOSOPHIE.

Weniger glanzvoll als die moderne Wissenschaft und die ihrer Bahn folgenden philosophischen Systeme hat sich die kritische Philosophie, wie wir sie nach dem Vorgange Kants nennen, in die Geschichte eingeführt. Ihre Fragen sind nicht geeignet, Sinn und Einbildungs- kraft gefangen zu nehmen; sie erscheinen wie dem Leben abgewandt und der Wirklichkeit fremd. Diese Philo- sophie verheißt uns weder, uns in die Weiten kosmischer Räume zu fuhren, noch uns einen Einblick in das Wesen der Natur zu eröffnen. Sie richtet die Betrachtung auf das erkennende Subjekt, und indem sie es der Wissen- schaft überläßt, die Dinge zu erforschen, untersucht sie den Verstand, der die Dinge begreifen will. Sie be- reichert nicht den Inhalt unserer Kenntnisse, sie sucht Form und Wert der Erkenntnis als solcher zu bestimmen. Darum ist sie auch nicht eigentlich forschend, sondern beurteilend, das heißt eben kritisch. Die sokratische Weisheit des Nichtwissens, in Fragen die den Umkreis der Erfahrung überschreiten, ist ihre Maxime. Sie will das Wissen von der Beimischung metaphysischer Konzeptionen reinigen, von seinem Bereich diese überschwänglichen Begriffe ausschließen. Und wie die Einsicht in das Nichtwissen nach Sokrates den ersten Schritt zur Selbst- erkenntnis für den Einzelnen bedeutet, so bedeutet die kritische Philosophie den ersten und entscheidenden

Die kritische Philosophie.

Schritt zur Selbsterkenntnis für die Vernunft im All- gemeinen.

Das Erkennen erkennen wollen 1 Ist dies nicht wider- sinnig, widerspricht dieses Vorhaben nicht sich selbst? Es scheint, wir müßten einen anderen, höheren Verstand voraussetzen, um unseren Verstand untersuchen zu können. Oder, soll der Verstand in seiner eigenen Sache Richter und Partei zugleich sein? Der Verstand, sagt Locke, gleicht dem Auge, das während es alle anderen Dinge für uns sichtbar macht, sich selbst nicht sieht; daher er- fordere es eine besondere Kunst und Mühe, ihn sich selbst gleichsam gegenüberzustellen und zum Objekt seiner Untersuchung zu machen. Auch das Auge sieht sich selbst, wenn es sein Bild im Spiegel betrachtet. Der Spiegel des Verstandes aber ist das Werk des Ver- standes: die menschliche Erkenntnis und Wissenschaft. Hier wird der Verstand, ein inneres Vermögen, offenbar und in dem was er bewirkt, lassen sich seine Fähig- keiten erkennen. Doch einem begründeten Bedenken ist nicht mit einem Gleichnis zu begegnen; an dem Werke der Kritik der Erkenntnis selbst soll gezeigt werden, wie diese Kritik möglich ist, was sie soll und was sie vermag.

Wir gehen dabei von der gewöhnlichen Anschauung aus, die uns allen natürlich ist: dem Bewußtsein der un- mittelbaren Gegenwart des Objektes in der Wahrnehmung der Sinne. Dieses sinnliche Bewußtsein, mit dem die Erfahrung beginnt, kennt keinen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Gegenstand; es weiß nur vom Gegen- stand und nichts von seiner Wahrnehmung. Die An- schauung der Sinne ist nach außen, nicht auf sich selbst gerichtet. Wie wir die Sonne auf- und untergehen sehen, die Bewegung der Erde aber nicht fühlen, weil wir uns

54 Dritter Vortrag.

mit ihr bewegen; so erscheinen uns, solange wir wahr- nehmen, unsere Wahrnehmungen selbst als die Dinge und wir werden uns der Tätigkeit unseres Wahrnehmens nicht bewußt. So natürlich uns jene erste Auffassung ist, die von der Bewegung der Sonne, welche die Wissen- schaft berichtigt hat, so zwingend und natürlich erscheint uns die zweite, die wir nun zu prüfen haben.

Es bedarf nicht vieler Vorbereitungen dazu; schon die alltägliche Beobachtung überzeugt uns, daß die Gleich- heit von Wahrnehmung und Wahrnehmungsgegenstand nicht richtig sein kann. Mag in der einzelnen Wahr- nehmung der Gegenstand noch so leibhaftig enthalten, ja mit ihr eins zu sein scheinen, die Wahrnehmung ändert sich, auch wenn wir nur unsere Lage zum Gegen- stand, oder die Entfernung von ihm ändern. Wir er- langen dann neue Wahrnehmungen, die von der früheren mehr oder minder verschieden sind. Und doch sagen wir in diesem Falle nicht: der Gegenstand hat sich ge- ändert oder er ist aus Einem Vieles geworden, weil die Wahrnehmung sich geändert und vervielfacht hat, was wir sagen müßten, wenn Wahrnehmung und Gegen- ständ wirklich ein und dasselbe wären. Wir beginnen vielmehr, die erste Wahrnehmung durch die folgende zu berichtigen und zu ergänzen, und endlich erklären wir, der Gegenstand ist nicht gleich dieser oder irgend einer einzelnen Wahrnehmung, er ist auch nicht gleich der Summe der Wahrnehmungen, die wir von ihm er- langen: richtiger auf ihn beziehen; er ist die gemein- schaftliche Ursache, der Grund aller durch ihn gegebenen und möglichen Wahrnehmungen, oder von uns aus be- trachtet, die Regel, aus welcher sie sich alle mit an- schaulicher Folgerichtigkeit entwickeln lassen. Ich wähle ein Beispiel, wo dies besonders deutlich wird. Wir

Die kritische Philospohie. ti

sprechen von der wahren Gestalt, der wahren Größe der Sonne und wissen, daß diese Gestalt und Größe nie zur Wahrnehmung kommen, daß kein Auge sie sieht oder je sehen könnte; wir wissen, daß ihre Kenntnis durch Vorstellungsprozesse vermittelt wird, durch Be- rechnung und Schlußfolgerung, und sie selbst bleiben für uns Vorstellungen. Wir nennen sie aber die wahre Gestalt und Größe der Sonne, weil mit ihrer Annahme allein alle unsere Erfahrungen über die Sonne, die sinn- lichen wie die daraus hergeleiteten wissenschaftlichen, übereinstimmen. Was in diesem Beispiel offenkundig ist, gilt in ähnlicher Weise von jedem beliebigen Gegen- stand unserer Anschauung. Der Tisch vor uns, was unserer Anschauung wirklich von ihm gegeben wird, ist eine Reihe je nach unserem Standpunkt unterschiedener perspektivischer Bilder, deren genauere Beschaffenheit in Farbe und Modellierung überdies abhängig ist von der Umgebung des Tisches und den wechselnden Ver- hältnissen seiner Beleuchtung. Diese Bilder fassen wir durch ein unwillkürliches, der bewußten Verallgemeinerung und Begriffsbildung verwandtes Verfahren unseres Geistes zur Vorstellung der Gestalt des Tisches zusammen. Jeder Mensch hat in seiner sinnlichen Erscheinung eigent- lich unzählige Gesichter, unzählige Nasen; der Künstler, der ein Porträt machen will, hebt durch eine Art von Abstraktion aus dieser unbestimmbaren Mannigfaltigkeit die eindrucksvollste Erscheinungsform hervor, die als solche das Gesetzliche sämtlicher Wahrnehmungsbilder enthält, und eben daher in keiner einzelnen Wahrnehmung gegeben ist, und seine Darstellung erscheint umso wahrer, je voUkommner sie das Abbild der Vorstellung der Form ist, im Unterschied von ihrer bloßen Wahrnehmung. Dieses künstlerische Verfahren der Auslese und Kon-

c6 Dritter Vortrag.

centration auf das Wesentliche ist nur die Weiterbildung der natürlichen Vorstellungstätigkeit, die wir jedem Komplexe von Wahrnehmungen gegenüber absichtslos ausüben. Stets entwickeln wir durch Verschmelzung und Zusammenfassung der Wahrnehmungen die Vor- stellung des Gegenstandes und diese Vorstellung selbst ist nicht mehr rein anschaulicher Natur. Sie ist nach der richtigen Bezeichnung von Helmholtz ein Begriff, denn sie umfaßt alle möglichen einzelnen Wahr- nehmungen, die das Objekt in uns hervorrufen kann. So hat sich der Gegenstand immer weiter von dem sinnlichen Bewußtsein entfernt, mit welchem er anfäng- lich verflochten zu sein schien; aus einer Wahrnehmung ist er zur Vorstellung geworden, zum Begriff, der als Regel dient, die einander folgenden Wahrnehmungen zu- sammenzuhalten und einheitlich zu verknüpfen. Dies soll aber nicht heißen: der Gegenstand selbst ist ein bloßer Begriff; es bedeutet nur: ein Begriff vertritt für unser Bewußtsein die Stelle des Gegenstandes.

Kehren wir zur Wahrnehmung zurück, um sie noch in anderer Hinsicht zu betrachten. Die Wahrnehmung ist zusammengesetzt und wie sie als Ganzes für das sinnliche Bewußtsein den Gegenstand bildet, so erscheinen diesem Bewußtsein ihre Bestandteile als Teile und Eigen- schaften des Gegenstandes. Blätter und Blüten einer Pflanze z. B. nennen wir Teile der Pflanze, während das Grün der Blätter, das Rot der Blüten zu ihren Eigenschaften gehören. Nun entdecken wir bald einen Unterschied unter den Eigenschaften eines Objektes, wonach einige unmittelbarer und beständiger dem Ob- jekte anzuhaften scheinen, als andere, die wir daher auch statt als Eigenschaften lieber als Wirkungen des Objektes bezeichnen. Das Rot scheint uns der Rose viel un-

Die kritische Philosophie. 57

mittelbarer eigen zu sein, als ihr Duft; wir sagen daher activ: die Rose duftet, sie verbreitet Wohlgeruch, nicht sie ist Duft, wie wir sagen, sie ist rot. Bei tieferer Be- trachtung sehen wir freilich diesen Unterschied ver- schwinden. Wie der Duft der Rose in der Fähigkeit der Rose besteht, gewisse Riechstoffe zu entsenden, so besteht ihre Farbe in der Fähigkeit, bestimmte Licht- strahlen zu reflektieren. Und wie der Duft der Rose entsteht, nicht an sich besteht, so wird auch ihr Rot unter gewissen Bedingungen nur beständig wiedererzeugt. Alle Eigenschaften eines Objekts erscheinen uns jetzt als Wirkungen, und das worauf gewirkt wird, ist jedes- mal das Sinnesorgan eines empfindenden Wesens. Was wir laut dem Zeugnis der Wahrnehmung Eigenschaften des Objektes nennen, sind zunächst Empfindungen von Sinneseindrücken, die durch das Objekt erregt werden. Von dieser wahren Natur ihrer Bestandteile verrät uns die bloße Wahrnehmung nichts, und auch nachdem wir sie entdeckt haben, fahren wir fort, unsere Empfindungen als Eigenschaften der Dinge selbst anzuschauen. Auch würden wir bei der Unmöglichkeit, die Empfindungen in uns von der Eigenschaften der Objekte außer uns wirk- lich zu trennen, nie dazu gelangt sein, beides zu unter- scheiden, hätten wir nicht eine Mehrheit von Sinnen. Dadurch sind wir in den Stand gesetzt, dasselbe Objekt auf mehrfache Weise zu untersuchen und die Aussage eines Sinnes an der Aussage eines anderen zu prüfen. Wir können einen Gegenstand betasten, ohne ihn zu sehen, oder ihn sehen, ohne ihn zugleich zu betasten. Wenden wir das Auge von ihm ab, so verschwinden seine optischen Eigenschaften: Farbe und sichtbare Ge- stalt, ziehen wir die Hand zurück, so verschwinden wieder die Beschaffenheiten seiner Oberfläche aus der

58 Dritter Vortrag.

Empfindung und der Widerstand, den er dem Druck der Hand entgegensetzt. Indem wir so mit unseren Wahrnehmungen experimentieren, erproben wir die Ab- hängigkeit der Eigenschaften des Objektes, so wie wir sie wahrnehmen, von der Empfindungsweise unserer Sinne ; wir erkennen, daß zu ihrer Verwirklichung wesent- lich die Tätigkeit der Sinne gehört. Was ist das Rot, ehe es durch ein Auge gesehen wird und nachdem es aufgehört hat gesehen zu werden? Ätherwellen von bestimmter Länge und Schwingungszahl mögen fort- fahren, vom Gegenstand zurückgeworfen zu werden; erst ihre Wirkung auf das Auge ist Licht und Farbe. Eine Empfindung kann sich ändern, auch wenn sich nichts im Objekte selbst geändert hat; dasselbe Licht, das auf die Netzhautgrube fallend farbig empfunden wird, erscheint farblos, wenn es auf den Rand der Netz- haut fällt.

Schon allein die Tatsache, daß zwischen den Dingen und der Empfindung und Wahrnehmung der Dinge die Sinneswerkzeuge und Centralorgane eines empfindenden Wesens eingeschaltet sind, macht es unmöglich, in den Empfindungen etwas anderes zu sehen, als Wirkungen der Dinge. Diese nächstliegende Betrachtung genügt bereits, den naiven Glauben an die unmittelbare Wirk- lichkeit der Elemente unserer Wahrnehmung zu zerstören. Wir bleiben dabei auf dem Standpunkt des common sense, der gemeinen naturwüchsigen Anschauung stehen , und es ist immer mißlich, sich zu weit von diesem Standpunkt zu entfernen. Diese Dinge vor uns, die den Raum erfüllen und im Räume ihre Bewegung verbreiten, sollen die wahren Dinge sein, die Dinge selbst; gewiß aber ist, daß zwischen ihnen und uns, ehe wir zu ihrer Wahrnehmung gelangen, ein sehr verwickelter

Die kritische Philosophie. to

Prozeß sich abspielt, dessen Hauptstadien und Stufen die Physiologie beschreibt. Das Erste sind Bewegungen von bestimmter Form und Beschaffenheit, Schallwellen, Lichtwellen u. dgl., die vom Objekte ausgehen, wir nennen sie Reize, die dadurch ausgelösten Ver- änderungen in den peripherischen Sinnesorganen, z. B. der Ausbreitung des Sehnerven auf der Netzhaut, sind das Zweite; diese Veränderungen, die bei einigen Sinnen sicher, und wahrscheinlich bei allen, chemischer Natur sind, werden durch die Sinnesnerven zu den primären Sinnescentren (in den subcortikalen Ganglien) geleitet und von da zu den Endstätten in der Großhirnrinde, mit deren Erregung erst bewußte Empfindung und Wahr- nehmung verknüpft sind. Muß nicht auf diesem weiten und verschlungenen Wege die Beschaffenheit der Ursache, mit der der Vorgang beginnt, eine tief greifende Um- wandlung erfahren? Allgemein hängt die Beschaffenheit einer Wirkung nicht von der Natur des einwirkenden Faktors allein ab, sie wird immer zugleich durch die Natur des Gegenstandes mitbestimmt, auf welchen ge- wirkt wird. Mit Helmholtz werden wir daher sagen, die Sinneseindrücke und Empfindungen sind nicht Bilder der Objekte, sondern Zeichen derselben; mit Spinoza erklären: die Vorstellungen, die wir von äußeren Körpern haben, zeigen mehr die Konstitution unseres Körpers an, als die Natur der äußeren Körper selbst.

Aber wir dürfen hierbei nicht stehen bleiben. Von einer Anzahl von Bestandteilen der Wahrnehmung läßt sich ein Dasein außer der Empfindung nicht vorstellen; so völlig scheint ihr Sein mit ihrem Erlebtwerden zu- sammenzufallen. Der Ton z. B., der so eindringUch subjektiv ist, kann in der Qualität, in der wir ihn em- pfinden, nicht auch in der objektiven Welt bestehend

60 Dritter Vortrag.

gedacht werden; er ist ganz offenbar ein Vorgang, der erst im Hören aktuell wird. Schallwellen, seine physi- kalische Bedingung, gehören gewissermaßen einer anderen Ordnung der Dinge an; sie sind mit der Tonempfindung als solcher unvergleichbar, der ganzen Gattung nach von dieser verschieden. Und ähnliches gilt von der Farbe, wenn wir von ihrer Ausdehnung absehen, von der Wärme und Kälte, dem Geschmack und Geruch, Eindrücken, die so entschieden auf das Gefühl des Sub- jektes wirken, und so wenig von dem Objekte zu er- kennen geben; es gilt mit einem Worte von allen spezifischen Empfindungen, die des Tastsinnes nicht ausgenommen. Bei ihnen allen wird schon durch ihre Natur die Annahme einer Doppelexistenz in und außer der Empfindung ausgeschlossen. Anders dagegen bei den folgenden Bestandteilen der Wahrnehmung. Die Gestalt eines Körpers, von der wir träumen oder deren Bild wir in der Phantasie erzeugen, kann so, wie wir von ihr träumen oder sie uns einbilden, auch außer uns in der Wirklichkeit gegeben sein. Wir können sie vor- stellen und zugleich als außer unserer Vorstellung exi- stierend denken; hier also könnte die Vorstellung das Bild der Sache selbst sein. Und gleiches wie von der Wahrnehmung der räumlichen Eigenschaften der Ob- jekte, gilt auch von der Wahrnehmung ihrer zeitlichen Verhältnisse, ihrer Bewegung, ihrer Menge oder Zahl. Alle diese Bestimmungen unserer Wahrnehmung lassen sich zugleich als Bestimmungen der Gegenstände selbst denken, und wir sind gewohnt, sie so zu denken. Freilich sind dies nicht mehr reine Empfindungen, sondern An- schauungen von Verhältnissen der Dinge und von Formen der Verknüpfung ihrer Teile, und in Bezug auf diese Formen und Verhältnisse nehmen wir an, daß sich bei

Die kritische Philosophie. 6l

ihnen Wahrnehmung und Gegenstand völlig decken; mit anderen Worten: wir schreiben ihnen eine doppelte Existenz zu, in und außer unserer Wahrnehmung.

Auf diesen Unterschied unter den Bestandteilen, der Wahrnehmung gründete schon Demokrit den Gegen- satz seiner beiden Erkenntnisarten, der echten, die die wahre Natur der Körper erfaßt, und der unechten oder scheinbaren ihrer sinnlichen Eigenschaften, die nur nach menschlicher Meinung und Feststellung als solche gelten sollen. Diese demokritische Auffassung ist, seit Galilei sie erneuert hat, in der Naturwissenschaft herrschend geblieben. Auch die Naturwissenschaft gewinnt somit ihre Gegenstände durch eine Kritik der sinnlichen Er- kenntnis. Sie betrachtet die objektive Welt als ein System bewegter Massenteile, das heißt: sie benützt zu dem Aufbau ihres Weltbildes nur die formalen Bestand- teile der Wahrnehmung und macht die Empfindungen zu spezifischen Energien der Sinnesnerven, indem sie den Ursprung dieser Energien ausschließlich in die Sinnesapparate des Menschen und der Tiere verlegt.

Nehmen wir Augen, Ohren und Nase weg, so sind zugleich Farben, Töne, Gerüche vernichtet, erklärt Galilei, und ebenso hat die Empfindung von Wärme oder Kälte ihren Sitz nur im Temperatursinne, wie auch Härte oder Weichheit eines Körpers verschwinden müßten, wenn der Tastsinn weggedacht wird; übrig bleiben allein Raum- erfüllung, Zahl, Bewegung und Ruhe der Körper. Diese „ersten Accidentien" müssen wir denken, so oft wir Materie vorstellen. Und so wie Galilei dachte, denkt noch heute die Mehrzahl der Physiologen. Johannes Müllers Lehre von den spezifischen Energien, diese in's Physiologische übersetzte Unterscheidung zwischen „pri- mären und sekundären Qualitäten" hat für sie fast die

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Geltung eines Glaubenssatzes erlangt. Und doch hat Helmholtz, der diese Lehre in unübertrefflich klarer Form darstellte und weiter entwickelte, bereits auch die Richtung angedeutet, in welcher sie modifiziert werden muß. Helm- holtz bezeichnet den tiefer greifenden Unterschied zwischen den Empfindungen verschiedener Sinne, z. B. zwischen Farbe und Geschmack, als den Unterschied in der Mo- dalität einer Empfindung, während er den weniger tief greifenden zwischen den Empfindungen desselben Sinnes, z. B. zwischen Rot und Blau, den Unterschied der Qualität nennt; er behauptet nun, daß die Mo- dalität ganz und gar durch den Sinnesnerv bestimmt wird, das Hören durch den Hörnerv, das Sehen durch den Sehnerv, wogegen die Qualität, also ein Ton von bestimmter Höhe, eine Farbe von bestimmter Stufe, durch den äußeren Reiz mitbestimmt wird. Das letztere lehrten ihn seine klassischen Untersuchungen über die Tonempfindungen. Das die Reize perzipierende Organ des Ohres, die Grundmembran, ist in den einzelnen Teilen auf Töne von verschiedener Höhe, d. i. auf ein- fache Tonwellen von verschiedenen Schwingungszahlen abgestimmt gleich den Saiten eines Klaviers. Den spe- zifischen Qualitäten, den Unterschieden der Tonhöhe, entsprechen also beim Ohr spezifische Reize. Ist aber nicht auch der peripherische Sinnesapparat im Ganzen seinem normalen oder adäquaten Reize angepaßt, für seine Aufnahme eingerichtet? muß also nicht auch von der Modalität seines Empfindens gelten, daß sie in ge- setzlicher Weise zusammenhängt oder abhängig ist von einer bestimmten Reizgattung? Das Ohr ist gegen andere Reize geschützt und wesentlich nur für Schallwellen zu- gänglich, das Auge nur den Lichtwellen geöffnet. Was Helmholtz dennoch bestimmte, für die Modalität, und nur

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für diese, an dem Satze Johannes Müllers von der Gleich- giltigkeit der Natur der Reize für den Erfolg in der Empfindung festzuhalten, war das zu große Gewicht, das er auf die Tatsache einer anomalen oder inadä- quaten Reizung legte. Der Sehnerv z. B. kann außer durch Licht, auch durch den galvanischen Strom, durch mechanische Erschütterung, durch Zerren erregt werden und beantwortet jede Erregung in der ihm eigentüm- lichen Modalität von Licht und Farbe. Dieser Tat- sachenbeweis kann jedoch nicht als völlig triftig erachtet werden; denn augenscheinlich soll hier die Regel: die adäquate, durch die Ausnahme: die anomale Reizung, umgestoßen werden, während es eine Maxime der Methode ist, die Ausnahme vielmehr aus ihren besonderen Um- ständen zu erklären. Ist es wirklich so verwunderlich, daß ein Organ auf ungewöhnliche Reize hin in der ge- wohnten und durch seine ganze Entwicklungsgeschichte befestigten Weise reagiert, das Auge z. B. auf einen Schlag mit Licht und Farbe. Eine anomal erregte Em- pfindung ist auch für das Bewußtsein keineswegs völlig gleich einer normal erregten; wir empfinden deutlich, daß sie erzwungen ist. Man vergleiche nur die ruhige, so erfreuliche Tätigkeit des Auges in seinem Zusammen- wirken mit dem objektiven Licht mit der brüsken, un- gewohnten Erscheinung einer Druckfigur. Nicht bloß der Schlag auf das Auge ist schmerzlich, auch das Blendungsbild, das dadurch erweckt wird, ist peinlich. Und ähnliches gilt von dem galvanisch erregten Ton, der ganz richtig ins Innere des Gehörorganes verlegt wird und mit einem adäquat erregten nicht verwechselt werden kann. Er gleicht in seiner Klangfarbe einem sehr hohen durch das Zupfen einer Metallsaite erzeugten Ton und hat entschieden etwas Unangenehmes. Sehr mög-

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lieh ferner, daß es dem Anscheine zuwider überhaupt nur eine adäquate Erregung der Sinne gibt. Die Reizung des Sehnerven durch den galvanischen Strom wird man heute kaum noch für eine inadäquate gelten lassen können, seit die Gleichartigkeit der elektrischen, und der Licht- wellen erkannt ist; ein Schlag auf das Auge aber kann ganz wohl die Sehsinnsubstanz zu chemischer Dissimila- tion anregen, in welch letzterer wir den adäquaten Reiz für das Sehen zu erblicken haben. Aus der stets zusammengesetzten Ursache, die wir als Reiz Vorgang bezeichnen, mag der Sinn vermöge seiner Adaptation an spezifisch bestimmte Reize denjenigen Teil auswählen, der seinen adäquaten Reiz enthält. Endlich ist noch auf ein prinzipielles Bedenken aufmerksam zu machen, das der Annahme des ausschließlichen Ursprungs der Modalitäten aus den Sinnesnerven, d. i. der Lehre der spezifischen Energien im Wege steht. Der Sinnesapparat ist nämlich selbst ein Teil der objektiven Welt, und wenn diese wirklich an sich nur aus Masse und Bewegung bestehen soll, so kann auch das Sinnesorgan nur der Träger und Vermittler von Bewegungen sein; er kann nicht außerdem noch spezifische Wirkungen hervor- bringen, er müßte sie denn aus nichts erzeugen. Auch die Seele oder das Bewußtsein schafft die Empfindungen nicht, sie wird sich nur ihrer als ihr gegeben bewußt; nicht das Sehen selbst ist blau oder rot, der gesehene Gegenstand erscheint in dieser oder jener Farbe, nicht das Hören ist laut oder still, es empfindet den Lärm oder die Stille. Wir sind also genötigt, die An- nahme, von welcher die Naturwissenschaft für ihre Be- rechnungen ausgehen muß, zu ergänzen. Statt in dem Mechanismus der Massenteile das vollständige Bild der Welt zu erblicken, sehen wir in ihm nur das Bild der

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Umrisse der Welt. Außer quantitativen oder meßbaren Wirkungen müssen die Dinge auch qualitative Wirkungen austauschen, so gewiß es spezifische Empfindungen gibt; und die Empfindung stellt sich uns als die voll- endete Entwicklung der Beschaffenheit der Reize dar; sie ist durch die Beschaffenheit der Sinne mitbestimmt aber nicht durch diese allein erzeugt. Doch liegt diese ganze Betrachtung, die nur die Richtung zeigen sollte, in der die Lösung des Problemes zu suchen sein dürfte, außerhalb unseres Weges und wir kehren zu unserer Aufgabe zurück, indem wir versuchen, die Kritik der sinnlichen Erkenntnis weiterzuführen.

Gestalten sind nur im Räume möglich, Bewegungen nur im Räume und in der Zeit; folglich hängt die Art der Wirklichkeit der Gestalten und Bewegungen von der Art der Wirklichkeit des Raumes und der Zeit über- haupt ab; sollen also jene an sich selbst wirklich sein, so müssen es umso gewisser diese sein. Wie, wenn nun schon die Grenzenlosigkeit, die wir dem Räume und der Zeit notwendig zuschreiben müssen und die doch in keiner Erfahrung gegeben sein kann, es unmög- lich machte, jene selbst für etwas absolut Gegebenes und für sich Bestehendes zu denken; wenn also Kant im Rechte wäre mit der Lehre, daß Raum und Zeit überhaupt, (nicht die in ihnen wahrgenommenen oder wahrnehmbaren Dinge, sondern die allgemeinen Formen, in denen Dinge wahrgenommen werden). Formen des Anschauens sind, Gesetze der anschauenden Tätigkeit eines Sinnenwesens, z. B. des Menschen? Ist dies richtig, dann hat die Welt für uns mit einem Male eine völlig andere Bedeutung bekommen; dann zeigt sich die Sinnenwelt noch einmal und in tieferer Weise abhängig, nämlich außer von der Empfindungsweise der Sinne, die zur vollen Entwicklung

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ihrer Beschaffenheiten gehört, auch von den Gesetzen der Anschauung, die die Form ihres Seins für uns be- stimmen. Dies ist die Lehre von der Sinnenwelt als einem Inbegriff von Erscheinungen für ein empfindendes und anschauendes Wesen, ein Sinnenwesen; die große Lehre von der bedingten Existenz der Welt unserer Anschauung und Erfahrung. Sie sehen sogleich und ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, daß diese Lehre, ihre Richtigkeit vorausgesetzt, einen wesentlichen Bestandteil der wissenschaftlichen Weltanschauung bildet. Wir sind von verhältnismäßig einfachen Erwägungen ausgegangen, um Sinn und Berechtigung des kritischen Nachdenkens über die Erkenntnis anschaulich zu machen; den tieferen Fragen müssen wir uns erst noch zuwenden. Da ist es nun eine Tatsache unseres Denkens, daß wir einen weit größeren Zusammenhang unter den Gegenständen der Wahrnehmung annehmen, als es durch die Wahr- nehmungen selbst gerechtfertigt erscheint. Wir nehmen an, daß es in den Dingen etwas schlechthin und durch alle Zeit Beharrliches gebe, oder in der Sprache der Philosophie: daß ihre Eigenschaften und Zustände in der Einheit der Substanz zusammenhängen. Wir setzen ferner voraus, daß die Veränderungen der Dinge in notwendiger Abhängigkeit von einander stehen, wir sagen, daß sie einen Zusammenhang durch Kausalität besitzen. Wird auch der erste Ausdruck wenig in der positiven Wissenschaft gebraucht, die statt von Substanz von Materie redet, so ist der zweite: Kausalität auch in ihr allgemein üblich. Kausalität, oder was dasselbe bedeutet, ein zureichender Grund der Veränderung ist ein Postulat der Wissenschaft, eine Forderung, welche die Forschung an die Vorgänge in der Natur stellt und stellen muß, um Forschung zu sein. Mit beiden An-

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nahmen, die sich nur in der Anwendung nicht im Wesen unterscheiden, geht das Denken ohne Zweifel über die in der Wahrnehmung gegebenen Tatsachen hinaus. Eine „Substanz" kann nicht gesehen werden; auch die Materie, die Substanz des Physikers, wird nicht gesehen, sondern gedacht. Was die Beobachtung allein zeigen kann, ist die Wiederkehr einer gleichen Erscheinung, der Raum- erfüllung, oder einer gleichen Größe, der Masse, nicht die Erhaltung desselben Dinges, oder ein und derselben Größe. Und ebenso wenig läßt sich Kausalität sinnlich wahrnehmen; die Ursächlichkeit als solche ist weder in dem Vorgang der vorangeht, noch in dem, welcher nachfolgt, noch endlich in dem Folgen selbst den Sinnen gegeben. Und doch sind diese Annahmen nicht bloß, wie es sich beinahe von selbst versteht, Grundbegriffe der wissenschaftlichen Erkenntnis, schon die gewöhnliche Erfahrung richtet sich nach ihnen. Wir können dies leicht an dem Begriffe der Substanz zeigen.

So oft wir etwas als Gegenstand der Wahrnehmung auffassen, glauben wir, so wollen wir uns bescheiden zu sagen, daß der Gegenstand nicht erst durch die Wahrnehmung entsteht, oder mit ihr vergeht und von neuem geschaffen wird, wenn die Wahrnehmung sich erneuert. Wir glauben an die Unabhängigkeit des Gegenstandes von der Wahrnehmung und sein unver- ändertes Fortbestehen nach derselben, wenn er nicht durch äußere Ursachen verändert wird; und wir glauben dies nicht bloß oder hauptsächlich aus dem Grunde, weil er fortfährt, den Sinnen anderer Menschen gegenwärtig zu bleiben und wir uns durch Befragen derselben davon überzeugen können. Die Objekte in der Um- gebung des Nordpols hat noch kein menschliches Auge erblickt; niemand aber zweifelt an ihrer Existenz.

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Dieser Glaube an die Unabhängigkeit der Objekte von ihrem Wahrgenommenwerden und an ihre Beständigkeit ungeachtet des Wechsels der Wahrnehmungen ist der Glaube, den wir mit dem Begriffe der Substanz aus- drücken. Ohne diesen Glauben keine Erfahrung, denn ohne ihn würde das Objekt fehlen, von dem irgend etwas ausgesagt werden könnte, das Objekt für ein Urteil über die Wahrnehmung; und weil keine Erfahrung auch keine Wissenschaft, keine Möglichkeit der Über- einstimmung der Urteile Aller in Bezug auf ein und dasselbe Objekt. Kein Chemiker, der eine bestimmte Menge Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff von be- stimmten Gewichtsverhältnissen zerlegt und durch Wieder- vereinigung dieser Elemente eine gleiche Menge Wasser erhält, zweifelt im geringsten, daß es dieselben Elemente sind, die er erst im verbundenen dann in getrenntem Zustande vor sich hatte. Wollte er seine Überzeugung lediglich auf Beobachtung stützen, so wäre sie nicht zu begründen; denn seine Wahrnehmungen sind zeitlich getrennt und verschieden und sie können ihm immer nur gleiche d. i. in ihren Eigenschaften übereinkommende Objekte zeigen; gleiche Objekte aber sind nicht die- selben Objekte. Dennoch bleibt er bei seinem Glauben an das Fortbestehen derselben Elemente, oder um es ohne atomistische Hypothese zu sagen, das Fortbe- stehen von Etwas, das diesen Elementen entspricht; und er muß an diesem Glauben festhalten, weil allein durch ihn seine Beobachtungen mit dem Gegenstande und dadurch auch untereinander verknüpft werden können. Eine rein „phänomenologische" Physik oder Chemie, an die man etwa denken könnte, müßte für ihre „Be- schreibungen" der Tatsachen mindestens Allgemeingiltig- keit in Anspruch nehmen, das heißt sie müßte fordern,

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daß ihre Beschreibungen von einem uns und dem Forscher gemeinschaftlichen Objekte gelten sollen.

So können wir das Denken nicht entbehren, auch nicht bei unseren alltäglichen Erfahrungen. Das Denken ergänzt die Wahrnehmung. Immer wieder setzen wir einen weit größeren Zusammenhang voraus, als in den bloßen Tatsachen gegeben ist. Nennen wir den Inbegriff der Tatsachen in der Wahrnehmung: reine Erfahrung, so kommen wir schon hier zum Schlüsse, daß reine Erfahrung keine Wissenschaft begründen kann, daß sie ungeeignet ist, Erkenntnis eines Objektes zu werden. Schon hieraus erhellt die Notwendigkeit einer Kritik der Erfahrung, der Prüfung und des Beweises der Annahmen, von denen, wie wir gezeigt haben, Erfahrung und Wissenschaft tatsächlich ausgehen.

In weniger abstrakter Weise läßt sich diese Not- wendigkeit durch ein Gleichnis anschaulich machen. Was für den Physiker die genaue Kenntnis seines In- strumentes bedeutet, mit welchem er messen und ex- perimentieren will, bedeutet für die Forschung überhaupt die Kritik der Erkenntnis. Das Instrument aller Erfahrung ist der menschliche Geist selber, und wer den mensch- lichen Geist nicht kennt, kennt sein Produkt: die Er- fahrung nicht; er weiß nicht was dazu die Wahrnehmung hergibt und was dafür der Verstand zu leisten hat. Den Verstand, das Instrument der Instrumente, wie Descartes hn genannt hat, kennen zu lernen und so der Wissen- schaft den Maßstab ihrer Forschung zu geben, ist die Aufgabe der kritischen Philosophie, Die Gewißheit der Dinge kann nie größer sein, als die Gewißheit der Er- kenntnis.

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Die kritische Philosophie ist eine Schöpfung der Aufklärungszeit. Indem sie deren Tendenzen auf klare und bestimmte Begriffe brachte, wurde sie selbst zur wesentlichsten geistigen Macht jener Zeit. Das „Zeitalter der Vernunft, das philosophische Zeitalter", so bezeichnete Voltaire die Epoche der Aufklärung. Es ist die Zeit „des Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", der Befreiung seines Denkens von dem Druck der Gewohnheit und aus den Fesseln der Über- lieferung: das „sapere aude!" wage zu denken! ist nach Kant ihre Maxime. Erst durch uns selbst ge- prüfte Erkenntnis ist lebendige Erkenntnis, sie erst kann mit unserem ganzen Wesen Eins werden; auch geistiges Erbe müssen wir erwerben, um es zu besitzen. Wir sind heute gewohnt, über die Aufklärung etwas vornehm zu denken. Wir sehen ihren Mangel an historischem Sinn. Zwar kannte die Aufklärungszeit die Geschichte, sie begann sie sogar in großem Stile darzustellen; aber sie abstrahierte von ihr; sie wollte die Geschichte durch Vernunft ersetzen, die Geschichte „neu anfangen". Im Grunde widerspricht diese geringe Bewertung des Historischen in Staat und Gesellschaft, die zu hohe der individuellen Vernunft dem Prinzipe der Aufklärung selbst. Es liegt oft mehr Kritik und aufl<lärende Kraft im Gang der geschichtlichen Tatsachen, als in den Be- griffen des Rationalismus, vorausgesetzt, daß die Ge- schichte mit freiem Geiste betrachtet wird. Wie jede Kulturepoche ist auch die Aufklärungszeit ein Moment in der Erziehung des Menschengeschlechtes, und eben darum auch in der Erziehung des Einzelnen. Einmal im Leben muß jeder eine Zeit der Aufklärung erfahren, einmal im Leben die überkommenen Anschauungen in Frage stellen. Er wird sonst nicht wahrhaft zum Ver-

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nunftwesen, sondern bleibt ein Automat der Erziehung und der ihn in Bewegung setzenden autoritativen Meinungen anderer. Freilich, die Aufklärung ist kein Standpunkt, sie ist ein Durchgangspunkt, ihre Bestimmung ist, den Menschen zur Selbstgesetzgebung, zur Selbsttätig- keit und Selbständigkeit zu führen, worauf die Würde seiner Natur beruht.

Locke, der erste kritische Philosoph, stellt in seiner Person auf das Schlichteste und wie wir sagen können als etwas Selbstverständliches den Geist der Aufklärung dar. Wie seine Freunde von ihm berichten, ließ er sich ebenso in allen Angelegenheiten des Lebens wie in seinen wissenschaftlichen Ansichten allein von der Ver- nunft leiten und war beständig willig und fähig, ihren Ratschlägen zu folgen. Das Recht der freien Prüfung zunächst religiöser, dann aber auch der wissenschaftlichen Anschauungen, wie er es für sich selbst in Anspruch nimmt, gesteht er auch jedem Anderen zu und wie er ein Selbstdenker ist, so wünscht und fordert er, daß auch die anderen, auch die Leser seiner Schriften selbst denken sollen. In Dingen, worüber allein der eigenen Vernunft die Entscheidung zusteht, sich an anderer Meinungen halten, hieß ihm so viel als mit dem Ver- stände anderer denken zu wollen, was nicht weniger töricht sei, als zu meinen, man könne mit den Augen eines Anderen sehen. Ein sokratischer Zug geht durch Lockes ganze Philosophie und Persönlichkeit. „Unsere Aufgabe erklärt er, ist nicht, alle Dinge zu kennen, sondern die, welche unser Handeln angehen. Wir brauchen, um die Zwecke unseres Lebens zu erreichen, keine andere Erkenntnis als die der natürlichen, er- fahrungsgemäßen Wirkungsweise der Dinge und die Er- kenntnis unserer Pflicht; jene in Bezug auf unser Ver-

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hältnis zu den Dingen, diese für unsere Handlungen". Wir wundern uns nicht, daß dieser klare, maßvolle Denker, bei dem der Verstand zum Charakter geworden, alle Aufklärungs-Ideen bereits ausgesprochen hat. Seine Schriften: außer dem Essay über den menschlichen Ver- stand, besonders die Toleranzbriefe, die Schrift über die Vernünftigkeit des Christentums, die beiden Abhandlungen über die Regierung, die Gedanken über die Erziehung geben das vollständige Programm der Philosophie der Aufklärung. Sie enthalten alle wesentlichen Gedanken, die durch die großen französischen Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts, Voltaire an der Spitze, als kurante Münze durch die Welt verbreitet wurden. Voltaire brachte zugleich mit der Philosophie Newtons die Philosophie Lockes nach Frankreich. J. J. Rousseau nahm in seinen „Emile" Locke'sche Erziehungsgedanken herüber.

Es ist nun gewiß sehr bezeichnend und merkwürdig, daß der Denker, der zuerst die leitenden Ideen der Auf- klärung gefunden und damit so wirksamen Anteil an der Entwicklung jener Epoche genommen hat, der Sache nach zugleich der Urheber der kritischen Philosophie ist, wenn er sie auch nicht so nannte sondern unter dem bescheidenen Namen eines „Versuches über den menschlichen Verstand" einführte. Und nicht minder charakteristisch ist der unmittelbare Anlaß der dieser Philosophie die Entstehung gab. Locke liebte es, von Zeit zu Zeit einige seiner Freunde bei sich zu sehen, und sich mit ihnen über wissenschaftliche Dinge zu unter, halten. Eines dieser Gespräche nun blieb trotz aller aufgewandten Bemühung und obgleich die Unterredner zu den gebildetsten und kenntnisreichsten Männern ihres Landes zählten, deren Namen zum Teil die Geschichte

Die kritische Philosophie. yi

aufbewahrt hat, ohne jedes Ergebnis. Es soll sich dabei, nach dem späteren Zeugnis eines Teilnehmers an jener Unterhaltung um Fragen der natürlichen Religion und Moral gehandelt haben, von denen wir wenigstens die ersteren zu den metaphysischen zählen. Als die Schwierigkeiten und Zweifel sich nur immer mehr häuften und die Lösung ferner rückte, kam Locke plötzlich auf den Gedanken, daß man einen falschen Weg ein- geschlagen und die Sache am unrechten Ende angefaßt habe: denn, ehe man sich auf Fragen solcher Art ein- lasse, müsse man zuvor die Fähigkeiten des menschlichen Verstandes prüfen, um zu erkennen, ob dieser für so entlegene Dinge auch eingerichtet sei. Damit war die Untersuchung des Verstandes als eines Erkenntnisver- mögens, eines Vermögens Wahrheit und Wirklichkeit zu erkennen, im Prinzipe an die Spitze aller philo- sophischen Untersuchungen gestellt, die Frage nach dem Erkenntniswert der Wissenschaft aufgeworfen und in ihrer maßgebenden Bedeutung erfaßt.

Locke hatte von der Neuheit und Tragweite seiner Aufgabe, der Aufgabe der theoretischen Philosophie als solcher, das deutlichste Bewußtsein. „Wird das Ver- mögen unseres Verstandes richtig geschätzt, schreibt er in der Einleitung zum „Essay", ist der Umfang unseres Erkennens einmal entdeckt und die Gesichtslinie be- stimmt, die den erleuchteten Teil der Dinge von dem dunkeln scheidet, so wird der Mensch sich vielleicht mit weniger Bedenken bei der eingesehenen Unwissenheit hinsichtlich des einen Teiles beruhigen und seine Nach- forschungen mit umso größerem Gewinn auf den anderen Teil richten." Auch nach Locke hat die kritische Philo- sophie die rechte Mitte zu treffen „zwischen der Ein- bildung eines alles umfassenden Wissens und der aus

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Enttäuschung entspringenden Verzweiflung, irgend etwas wissen zu können", die rechte Mitte, wie dies Kant ausdrückte: zwischen Dogmatismus und Skeptizismus. Sie hat „den beständigen Streitigkeiten über Dinge, die unsre Fähigkeiten übersteigen ein Ende zu machen", da- durch, daß sie die Grenze zieht zwischen Wissen und Meinen. Die Absicht Lockes mit seiner Kritik des Ver- standes ist keine andere als die Absicht Kants mit der Kritik der Vernunft.

Die Gewißheit und den Umfang der Erkenntnis zu bestimmen ist das Ziel der Untersuchung Lockes; den Weg dazu schien ihm die Erforschung des Ursprungs und der Entwicklung des Erkennens zu eröffnen. Hier trifft er nun auf die Annahme angeborener Begriffe und Grundsätze, und wenn er diese Annahme in jeder Form, in der sie in der Philosophie aufgetreten ist, bekämpft und widerlegt, so treibt ihn dazu nicht lediglich und auch nicht vorzugsweise ein rein wissenschaftlicher Be- weggrund. Der Glaube an angeborene Ideen beschränkt und unterdrückt das Selbstdenken des Menschen. An- geborene Ideen wären unveränderliche Ideen. Sie würden den Geist fesseln und knechtisch machen; und es war „kein geringer Vorteil für alle die, welche sich zu Meistern und Lehrern aufwarfen, es zum Grundsatz der Grund- sätze zu machen, daß Grundsätze nicht in Frage gezogen werden dürfen". Vorstellungen scheinen angeboren zu sein, nur weil wir ihren Ursprung nicht kennen, nur weil unsere Erinnerung nicht in die Zeit zurückreicht, in welcher sie uns eingeprägt wurden. „Nichts ist gewöhn- licher, als daß Kinder Vorstellungen und Lehren, ins- besondere in religiösen Dingen, von ihren Eltern, Wärte- rinnen und Lehrern in ihren Geist aufnehmen," so daß die Quelle dieser vermeintlich angeborenen und dadurch

Die kritische Philosophie. 75

sanktionierten Vorstellungen in vielen Fällen der Aber- glaube einer Amme oder das hohle Geschwätz eines Schulmeisters ist." Locke verneint das Angeborensein irgend welcher Vorstellungen und Grundsätze, weil er das Recht der Prüfung aller bejaht; auch hier redet der Geist des Selbstdenkers aus ihm. Vielleicht findet mancher diese Verwerfung des Angeborenen zu radikal. Ist nicht das Angeborene das Historische, durch Vererbung auf das Individuum Übertragene, seine Verwerfung durch Locke also eine Unterschätzung des Historischen in der Art der Aufklärung? Es war keineswegs die Meinung Lockes, alles Angeborene des Geistes zu leugnen, als er und gewiß mit Recht das Angeborensein von Vorstellungen leugnete. Fähigkeiten oder Kräfte des Geistes lassen sich im Gegensatze zu angebornen Ideen entwickeln und steigern, sie sind der Bildung zugänglich und durch Erfahrung zu verändern; sie also können auch im Sinne Lockes angeboren oder dem Geiste natürlich sein, ohne dessen Selb- ständigkeit zu hemmen und daß sie es sind ist die aus- drückliche Lehre Lockes. Er selbst zählt zu diesen angeborenen Fähigkeiten und Operationen des Geistes das Bemerken und Behalten, Unterscheiden und Ver- gleichen, das Abstrahieren; aber eben nur die Fähigkeit des Percipierens, nicht Wahrnehmungen, die Fähigkeit des Abstrahierens, nicht Begriffe, geschweige denn Grund- sätze, theoretische oder praktische, sind angeboren. Auch nach Locke ist der Geist in gewißem Sinne sich selbst angeboren und mit Unrecht zitiert man immer wieder jenen „intellectus ipse", den „Verstand selbst", um da- mit den Gegensatz zwischen Leibniz und Locke zu kennzeichnen. Leibniz selbst wußte dies besser und erklärte ausdrücklich, der Satz: „nichts sei im Verstände,

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was nicht zuvor in den Sinnen war, außer der Verstand selbst" sei vollständig auch im Sinne Lockes, der ja die eine der beiden Quellen der Ideen in der Wahrnehmung der Operationen des Geistes finde. Seit Lockes Angriff ist die Theorie der angebornen Vorstellungen aus der Philosophie verbannt; kein Denker hätte sie auch er- neuern können, so gründlich und entscheidend war jener Angriff. Auch die Kategorien oder die „reinen Ver- standesbegriffe" Kants sind keine angeborenen Begriffe. Wer sie dafür nehmen wollte, versteht eben Kant nicht, der es Locke zu besonderem Verdienste rechnete, daß dieser auch die „intellectualia", die reinen Begriffe des Verstandes nicht für angeboren hielt, sondern nach ihrem Ursprung suchte. Der Zeit Lockes erschien die Bestreitung der angebornen Ideen wie ein Umsturz der Philosophie. Die Gegner griffen den „Essay" an diesem Punkte an; vielmehr sie verdammten das Buch um dieses Punktes willen, noch ehe sie es gelesen hatten. Hat die Seele keine angebornen Ideen, so scheint ihr Be- griff völlig leer und sie selbst ohne Wesen zu sein; sie scheint beinahe nichts zu sein, wie leicht also ist es dann zu behaupten, daß sie nicht sei. Wir urteilen heute anders. Eine falsche Theorie ist beseitigt und ihre Wertlosigkeit für die Frage nach der Gewißheit der Er- kenntnis dargetan, das genügt uns und wir halten uns dabei nicht länger auf. Für uns, wie für Locke selbst, liegt das Schwergewicht seiner Untersuchung nicht in dem ersten Buche des Essay gegen die angebornen Ideen und Grundsätze, sondern im zweiten, das von dem Ur- sprung der Ideen handelt und im vierten, das den Begriff der Erkenntnis entwickelt und ihre Grenzen be- stimmt.

Was immer Inhalt oder Gegenstand des Bewußt-

Die kritische Philosophie. 77

seins ist oder sein kann, alles, womit der Geist sich be- schäftigt wenn er wahrnimmt und denkt, nennt Locke: Idee. Dieser Ausdruck kann also ebensogut die bloße Empfindung eines Sinneseindruckes bedeuten, wie den abstraktesten Gedanken und man muß sich dies gegen- wärtig halten, um Lockes Lehre vom Ursprung der Ideen richtig zu erfassen. Nur von den „einfachen Ideen", den Elementen der zusammengesetzten, gilt sein Satz von ihrem Ursprung aus der doppelseitigen Erfahrung, aus Sensation und Reflexion, oder äußerem und innerem Sinn. Nur auf den Inhalt, das Material unseres Denkens bezieht sich das Prinzip des Empirismus, das Locke mit den Worten ausspricht: auf Erfahrung ist alle unsere Erkenntnis gegründet, und von ihr im letzten Grunde herzuleiten. Locke weiß und er selber lehrt es, daß alle zusammengesetzten „Ideen" durch die Operationen des Geistes, die dieser an den Sinnesein- drücken oder den einfachen Ideen vornimmt, entstehen oder doch durch sie entdeckt werden. Sind die Sinne die Quelle der einfachen Ideen, so sind die Tätigkeits- weisen des Geistes die Quelle der zusammengesetzten; aus dieser Quelle stammen jene unendlich vielen, aus Modifikationen der einfachen Ideen von Ausdehnung, Dauer, Einheit entspringenden mathematischen An- schauungen und Begriffe, aus ihr die Vorstellungen der Verhältnisse und alle abstrakten oder allgemeinen Ideen, einschließlich des allgemeinen Begriffs der Substanz. Was also Locke über den Ursprung der Erkenntnis wirklich lehrte, ist nur dies: äußere und innere Wahr- nehmung liefern den Stoff zu allen Ideen, auch zu jenen, die der Geist selbst bildet, wie sie auch die Veranlassung zu ihrer Entwicklung geben. Wir müssen diese Lehre als Voraussetzung nehmen, um die wichtigste Leistung

78 Dritter Vortrag.

der Verstandeskritik Lockes in seinem Sinne zu .ver- stehen. Dies aber ist seine Kritik eines Hauptbegrififes aller metaphysischen Philosophie, ich habe ihn schon genannt: des Begriffes der Substanz.

Die Frage nach der „Substanz" der Dinge ist die Grundfrage der philosophischen Systeme des sieb- zehnten Jahrhunderts; an dieser Frage entwickelte, mit ihr befaßt sich der ganze spekulative Teil jener Systeme. Diese Frage in ihrer metaphysischen Gestalt hat Locke aus der Wissenschaft verbannt, diesen Begriff kritisch zerlegt, man möchte sagen, ihn so zersetzt, daß gerade dadurch erst seine wahre Bedeutung und das wirklich mit ihm verbundene Problem hervortreten konnten. Wir zählen seit Lockes Kritik die Substanz nicht mehr zu den inhaltlichen Begriffen unseres Erkennens; die Be- seitigung ihrer materialen Auffassung, das Werk Lockes, hat unmittelbar ihre formale vorbereitet.

Der gewöhnlichen Anschauung nach unterscheiden wir körperliche und geistige Dinge als die beiden Arten von Substanzen, von denen wir glauben, Erfahrung zu haben. An diese Unterscheidung knüpft Locke an und zeigt, daß weder das allgemeine Wesen einer Substanz zu erkennen ist, noch die besondere Natur ihrer Arten, des Körpers und des Geistes. Die Substanz im allge- meinen, der Begriff der den körperlichen und geistigen Dingen gemeinsam ist, sofern sie als Substanz gedacht werden, ist leer an Inhalt, eine Idee, und zwar nach Locke die einzige, welche weder aus der äußeren noch aus der inneren Wahrnehmung stammt, also nicht gleich den übrigen Ideen auf einem dieser Wege in unseren Geist gelangt sein kann. Sie muß also ihren Ursprung in einer gewissen Auffassung des durch Erfahrung Gegebenen haben. Dies ist auch die Meinung Lockes, da er sie

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aus einer gewohnheitsmäßigen Beurteilung der Eindrücke der Sinne hervorgehen läßt. „Weil wir keine Vorstellung davon haben, erklärt er, wie diese einfachen Ideen an sich selbst bestehen können, gewöhnen wir uns, ihnen irgend etwas unterzulegen, in welchem und durch welches sie bestehen und dies nennen wir dann ihre Substanz." So ist die Substanz nichts als eine unbestimmte An- nahme von etwas, wovon wir nicht wissen, was es sei; von etwas, wovon wir keine besondere, bestimmte und positive Vorstellung haben, die uns zeigte, was es ist, sondern nur eine dunkle von dem, was es zu leisten hat: nämlich Träger der sinnlichen Erscheinungen zu sein, die dadurch zu seinen Eigenschaften oder Accidentien werden. Oder, wie dies Locke durch ein Gleichnis dar- stellt, das mehr als ein Scherz sein sollte. Jener arme indische Philosoph, der die Erde von einem Elefanten und den Elefanten von einer Schildkröte getragen sein ließ, wußte, durch die weitere Frage nach dem Träger der Schildkröte in Verlegenheit gebracht, nur zu er- widern: irgend etwas, er wisse aber nicht, was es sei. Ein europäischer Metaphysiker hätte dies ohne verlegen zu werden und bequemer mit einem einzigen Worte aus- gedrückt: die Substanz. „Denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein" und be- sonders, wenn es ein gelehrtes Wort ist, ein Wort von vornehmem Klange, gilt es ohne weiteres für eine echte Münze und von gediegenem Gehalte. Der allgemeine Begriff der Substanz ist überall derselbe, mag er auf den Körper oder auf den Geist angewandt werden. Die Vorstellung der Substanz des Körpers ist daher um nichts klarer als die der Substanz des Geistes; beide sind gleich klar, das heißt gleich dunkel und ebenso weit von allem, was wir begreifen, entfernt.

8o Dritter Vortrag-,

Und wie die allgemeine Natur der Substanz, ist auch die spezifische der Substanzen oder der Dinge der Erfahrung der Erkenntnis entzogen. Gegeben von diesen Dingen ist nur das erfahrungsgemäße Zusammenbestehen, die Coexistenz von Teilen und Eigenschaften; das Band, das die Teile zur Einheit eines Dinges verknüpft, wird hinzugedacht. Wir nennen Wasser eine Substanz, weil wir beständig eine gleiche Gruppe sinnlicher Eigen- schaften vorfinden, oder durch Versuche entdecken: ein bestimmtes spezifisches Gewicht, flüssigen Aggregat- zustand innerhalb gewisser Grenzen der Temperatur, Farblosigkeit, Durchsichtigkeit, größte Dichte bei 4 Grad des hundertteiligen Thermometers, Verwandlung in einen festen Körper beim Nullpunkt der Wärmeskala u. s. w. Alle diese Eigenschaften treten mit einander auf, so daß es möglich ist, aus der einen die andere zu folgern; wir bezeichnen daher ihre Gruppe mit einem und demselben Namen: Wasser. 1 Vergebens aber würden wir die Natur der Verbindung der Eigenschaften dieser oder irgend einer anderen körperlichen Substanz über den erfahrungs- gemäßen Zusammenhang hinaus zu erforschen suchen; ist doch auch der Zusammenhang der Tätigkeiten unseres Geistes nur durch innere Wahrnehmung gegeben und das Wesen der Seele, und wie sie denkt und will, un- bekannt. So sind unsere Vorstellungen von Substanzen nichts als Vorstellungen einer bestimmten Verbindung einfacher Ideen, die wir von den Dingen erlangen und. welche nur dadurch die Einheit eines Gegenstandes aus- machen, daß sie mit einander existieren; und diese Coexistenz selbst wird nicht weiter erkannt, als sie wahr- genommen wird. Die Substanz ist nicht die Vorstellung des Wesens eines Dinges, sondern der Beständigkeit eines Dinges und des Zusammenseins seiner Eigenschaften, die

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Vorstellung der Beständigkeit eines Verhältnisses. Selbst die Kohäsion der Teile eines Körpers entzieht sich dem genaueren Verständnis. Zwar sollen wir, wie Locke mit der Wissenschaft seiner Zeit annimmt, die allgemeinen Eigenschaften der Körper: Lage, Gestalt, Bewegung, auf adäquate Weise erkennen, das heißt so, wie sie im Körper selbst sind; damit ist aber nicht auch schon die Erkenntnis ihres Zusammenhanges im Körper als Körper gegeben. Ein Körper nimmt einen bestimmten Raum ein, und kann in Teile zerlegt, in Einheiten gespalten werden: in physikalische oder Moleküle, in chemische oder Atome. Wie aber werden die Teile zusammen- gehalten, was ist der Kitt, fragt Locke, der sie an- einander heftet. Antworten wir: der Druck des um- gebenden Mediums oder Stoffes, so entsteht nur die neue Frage, was die Teile dieses Mediums zusammen- drückt, und abermals die Teile des nächsten Mediums und so immer weiter, ins Unendliche. Durch diese An- nahme, könnte man meinen, ließe sich die Kohäsion der Teile erklären; wäre nicht die Ausflucht ins Un- endliche die Ausflucht zu dem, was wir nicht erfassen, nicht einheitlich zusammenfassen können. Sprechen wir aber von anziehenden Kräften zwischen den Molekülen, so bleiben wir so klug wie zuvor; wir machen es wie Molieres Gelehrter, der die einschläfernde Wirkung des Opiums aus der einschläfernden Kraft dieser Substanz erklären wollte. Wir möchten den Zusammenhang der Teile erklären, und führen ihn auf anziehende, das heißt den Zusammenhang bewirkende Kräfte zurück. Zwischen den mechanischen Eigenschaften der Teile eines Körpers und der Körper unter sich und ihren Wirkungen ist bis zu einem gewissen Grade ein Zusammenhang noch er- kennbar. Daß Lage, Gestalt und Bewegung eines

Riehl, Philosophie der Gegenwart. 6

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Körpers eine Veränderung in Lage, Gestalt und Be- wegung eines anderen bewirken, scheint nicht über unser Verständnis zu gehen. Ursache und Wirkung sind hier gleicher Art und dies ist auch der Grund, weshalb wir der Erklärung der Naturvorgänge aus mechanisch wirken- den Ursachen den Vorzug vor jeder anderen Erklärungs- art einräumen. Völlig begreiflich ist uns freilich auch das Wesen des mechanischen Wirkens nicht. „Die Be- wegung bewegt", wodurch sie aber bewegt, durch Stoß, Femwirkung, oder aus irgend einer Ursache sonst, warum sie hier aufhört, dort erscheint, für dieses innere Prinzip haben wir zwar ein Wort: Mitteilung der Be- wegung; die Sache selbst ist aber dadurch nicht einge- sehen. Unsere Hoffnung, das Verständnis der natürlichen Verknüpfung der Dinge noch weiter auszudehnen, ver- schwindet jedoch gänzlich, wenn wir von dem Verhältnis der mechanischen Affektionen unter einander zu ihrem Verhältnis zu den spezifischen Eigenschaften der Sinnes- eindrücke, zu Lockes „sekundären Qualitäten" übergehen, „Unser Geist ist nicht fähig, irgend einen begreiflichen Zusammenhang zu entdecken zwischen den primären Qualitäten der körperlichen Dinge und den Empfindungen, welche durch sie in uns hervorgerufen werden; auf keine Weise läßt es sich verstehen, wie irgend eine Lage, Ge- stalt oder Bewegung irgend welcher Partikeln der Materie in uns die Empfindung einer Farbe, eines Geschmackes, eines Tons erzeugen kann; es besteht keinerlei Ver- wandtschaft zwischen jenen mechanischen Vorgängen und irgend einer dieser Vorstellungen in uns." Diese Grenze des Naturerkennens hätte Du Bois Reymond nicht zu entdecken gebraucht; bei Locke konnte er sie finden. Da wir sonach zwischen den Empfindungen und den vorauszusetzenden Eigenschaften der äußeren

Die kritische Philosophie. ga

Dinge selbst eine Übereinstimmung, die uns ihr Ver- hältnis begreiflich machte, nicht aufzufinden vermögen, werden wir dann zweifeln können, daß die Wechsel- wirkung zwischen Körper und Geist noch um vieles un- begreiflicher sein muß. „Wie ein Gedanke den Körper bewegen soll, liegt dem Vermögen unseres Begreifens so ferne, wie, daß irgend eine Bewegung des Körpers im Geiste einen Gedanken erzeugen soll.*' Die Be- trachtung der Ideen selbst von Körper und Geist würde uns dies niemals zeigen können, nur die Erfahrung über- führt uns davon, daß es so ist, meint Locke. Die Beseitigung des hier vorliegenden Problems durch Spinoza war ihm entweder nicht bekannt, oder sie erschien ihm zu metaphysisch.

In zwei Hauptsätze ist das Ergebnis der Lockeschen Kritik des Substanzbegrififes zusammenzufassen. Das Wesen der Substanz als solcher ist unbekannt, denn die Substanz ist die Annahme von etwas Unbekanntem. Das Wesen des Zusammenhanges der Eigenschaften in einer Substanz ist nicht zu verstehen, denn die Er- fahrung gibt uns nur Zusammenbestehen nicht Ab- hängigkeit oder notwendige Verknüpfung der Eigen- schaften zu erkennen. Aber trotz ihrer Unerkennbarkeit ist die Voraussetzung einer Substanz für die Erfahrung nicht zu entbehren. Das Problem, das damit gestellt wird, hat erst Kant gelöst.

Wie für das Zusammensein oder die Coexistenz der Eigenschaften, fehlt auch für die Aufeinanderfolge der Wirkungen der Dinge die Einsicht in die Notwendigkeit der Verknüpfung. Auch das Problem der ursächlichen Verknüpfung, das Problem Humes, hat bereits Locke berührt. Die Erfahrung, erklärt er, zeigt in dem ge- wöhnlichen Verlauf der Dinge zwar Beständigkeit und

84 Dritter Vortrag.

Regelmäßigkeit der Folge; aus den Vorstellungen der Dinge, die sich folgen, läßt sich aber die Notwendigkeit der Folge nicht herleiten. Finden wir, daß Dinge, so weit unsere Beobachtung reicht, beständig einander folgen, so mögen wir schließen, daß sie nach einem Gesetze wirken, nach einem Gesetze aber, das wir nicht kennen.

Ziehen wir die Summe. Ohne einfache Ideen, die durch die Einlaßpforten der Sinne in den Geist gebracht werden, keine zusammengesetzten Ideen; ohne Erfahrung der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Ideen keine Erkenntnis. Der Umfang der Erkenntnis kann also sicher nicht weiter sein, als der Umfang der Ideen; er muß sogar enger sein als dieser, denn Er- kenntnis beruht auf Vergleichung und Verbindung der Ideen. Wo die Übereinstimmung der Ideen nicht un- mittelbar oder intuitiv zu erkennen ist, muß sie, falls Erkenntnis möglich sein soU^ mittelbar oder demonstrativ erkannt Werden. Fehlt es also an vermittelnden Ideen, so fehlt es an Beweisgründen. Bei der Verknüpfung der sinnlichen Eigenschaften und der Wirkungen der Dinge fehlt es aber an vermittelnden Ideen; also, erklärte Locke, kann die Naturwissenschaft keine demonstrierte Wissenschaft sein. Sie ist auf beständig erneute Er- fahrung angewiesen und Sache der Induktion und daraus zu gewinnender praktischer Beurteilung. Gewißheit und Beweis darf sie für ihre Gegenstände nicht beanspruchen. Nicht bloß die Metaphysik, von der sich dies von selbst versteht, da ihre Objekte, wenn sie existieren, den Sinnen nicht gegeben sind, auch die Physik ist nach Locke keine Wissenschaft im strengen Sinne des Wortes.

Doch enthält diese Behauptung des „Essay" einen ungeprüften Punkt. Von der einzigen Methode, den Zu-

Die kritische Philosophie. 3 5

sammenhang der Erscheinungen über die Grenzen der reinen Erfahrung hinaus zu verfolgen, der Methode Galileis und Newtons, durch mathematische Analyse der Erscheinungen sichere und gewisse Gesetze der Natur abzuleiten, hatte Locke, als er den Essay schrieb, keine ausreichende Kenntnis. Er war zu wenig mit der Mathe- matik vertraut, um Newtons Werk eher zu verstehen, als bis ihm dieser einen Auszug daraus angefertigt hatte; sein „Versuch über den menschlichen Verstand" war aber lange vollendet, als er so von Newton in die wahre Methode des Naturerkennens eingeführt wurde. Jetzt sah er, daß es noch andere Erklärungsgründe der phy- sischen Vorgänge geben könne, als Stoß und Bewegung durch Stoß, die einzigen, die er früher bei der „Schwäche unseres Verstandes" für begreiflich gehalten hatte. Jetzt erkannte er, daß durch die Anwendung der Mathematik auf die Naturerscheinungen die Grenzen des Natur- erkennens doch viel weiter vorgeschoben werden können, als es der bloßen Empirie für möglich erscheint. Er wollte den Essay in diesem Punkte verbessern, konnte aber diese Absicht nicht mehr ausführen.

Ich erwähne dies, um schon hier auf die so viel tiefere Kritik Kants hinzuweisen, die auf vollständiger Kenntnis und Durchdringung der Wissenschaft Newtons aufgebaut ist. Der Weg aber von Locke zu Kant führt uns vorerst zu Hume.

VIERTER VORTRAG.

DIE GRUNDLAGEN DER ERKENNTNIS.

Wer von den Grundlagen der Erkenntnis nach dem gegenwärtigen Stand dieser Frage reden will, findet sich ganz von selbst den Lehren Hu m es und Kants gegen- übergestellt. Die Anschauungen der beiden größten kritischen Denker sind noch nicht geschichtlich geworden, sie gehören noch nicht der Vergangenheit an, leben viel- mehr in der Philosophie der Gegenwart fort und be- stimmen zwei entgegengesetzte Denkrichtungen in der Wissenschaft unserer Zeit.

In dem Satze Lockes von der Abstammung aller Erkenntnis aus der Erfahrung sollte der Ursprung aus Erfahrung den Beweis der Giltigkeit der Erkenntnis be- deuten. Die Erfahrung erschien hier wie selbstverständ- lich als die sichere Basis und die echte Beglaubigung des Wissens, und wer im Sinne Lockes und des Em- pirismus Erfahrung sagte, glaubte damit auch Wahrheit gesagt zu haben, nicht anders, als wer im Sinne Des- cartes von angebornen Begriffen redete. Es bedeutet daher den wesentlichsten Fortschritt über Locke hinaus und ist ein Beweis ungemeinen Scharfsinns, daß Hume in der Erfahrung ein Problem sah, nicht eine Lösung. Die Erfahrung, wenn darunter mehr verstanden wird, als die blosen Sinneseindrücke, ist nichts, was sich von selbst versteht, oder worauf man sich ohne weiteres be- rufen kann. Auf den Boden der Erfahrungsphilosophie

Die Grundlagen der Erkenntnis. 87

selbst das Problem der Erfahrung gestellt zu haben, ist das Verdienst Humes und bezeichnet seinen Platz in der Geschichte der Philosophie. Die Prüfung der Er- fahrung, soferne für sie der Anspruch erhoben wird, Erkenntnis zu sein: genau dies ist die Aufgabe Humes; was ist die Grundlage aller Schlüsse aus Erfahrung, was also die Grundlage der Erfahrung selber? lautet die Frage, von der er wußte, daß sie vor ihm Niemand ge- stellt habe.

Das Problem der Erfahrung kann von zwei Seiten in Angriff genommen, seine Lösung auf zwei Wegen gesucht werden. Der eine führt durch die Entwicklungsgeschichte der Erfahrung; wir suchen die Frage zu beantworten: wie wir zur Erfahrung gelangen. Offenbar kann dieser psychologisch-genetische Weg nicht zum Ziele führen; der Erkenntniswert der Erfahrung läßt sich dadurch nicht bestimmen. Etwas anderes ist, die Erfahrung beurteilen, etwaä anderes ihre Entstehung erklären. Auch können wir ihrer Entstehung nicht nachgehen, ohne zu wissen, was Erfahrung sei. Unsere Erinnerung reicht zu den An- fängen unserer Erfahrung nicht zurück; wir müssen daher den Gang ihrer Entwicklung durch Hypothesen nach- schaffen, woher anders aber sollten wir diese Hypothesen nehmen, als aus dem Begriff der Erfahrung selbst.

Es gibt also noch einen zweiten Zugang zu unserem Probleme; es ist der Weg, den schon Locke angedeutet, aber erst Hume mit dem vollen Bewußtsein seiner Richtigkeit betreten hat. Die Untersuchung richtet sich auf diesem Wege statt auf den Ursprung auf den Ge- halt der Erfahrung; sie fragt, woraus die Erfahrung be- steht, nicht wie sie entsteht und ordnet diese zweite Frage der ersten unter. Sie sucht die Bedingungen der objektiven Giltigkeit der Begriffe zu ermitteln, und schließt

38; Vierter Vortrag.

erst daraus auf die Abstammung der Begriffe zurück. Die ganze Kritik der Erfahrung bei Hume nimmt diese Wendung auf die Erforschung der Bedeutung der Be- griffe und den Inhalt der Erfahrung. Und Kant ist hierin Hume gefolgt. Auch bei ihm ist nicht die Rede davon wie die Erfahrung entstanden sein mag, sondern allein die Rede von dem, was die Erfahrung enthält. Gegenstand seiner Untersuchung ist die „Möglichkeit", das heißt der Begriff der Erfahrung, nicht das Vermögen zur Erfahrung.

Nun gelangen aber beide Denker zu entgegenge- setzten Ergebnissen. Muß dies nicht an der Richtigkeit des Weges, den sie eingeschlagen, zweifelhaft machen? Wir bemerken indeß leicht, daß nur in der allge- meinen Richtung ihre Wege übereinstimmen, der Richtung auf den Begriff der Erfahrung. Der Ausgangspunkt Kants liegt viel höher und ist demjenigen Humes überlegen. Dieser kam ganz anders vorbereitet und mit entschiedenen Neigungen für Literatur und Geschichte, die ihn zum hervorragenden Schriftsteller machten, zur Philosophie; die exakten Wissenschaften kannte er kaum aus eigener Anschauung und die zu geringe Würdigung ihres ex- perimentellen Verfahrens ließ ihn die Aktivität des Geistes überhaupt unterschätzen. Kant dagegen, der Schüler Newtons, hat sich mit eigenen Forschungen am Werke der Naturwissenschaft beteiligt; und diese Ver- schiedenheit in den Ausgangspunkten beider Denker reicht völlig aus, die Verschiedenheit in ihren Ergeb- nissen zu erklären. Ich stelle diese Ergebnisse zunächst in ihrem schroffen Gegensatze einander gegenüber.

Nach Hume beruht die Erfahrung auf Gewohnheit in Folge der "Anpassung des Ablaufes unserer Vor- stellungen an den Verlauf der Wahrnehmungen oder

Die Grundlagen der Erkenntnis. gn

Sinneseindrücke; sie ist daher eine Art des Instinktes oder natürlichen Triebes und ihr Prinzip ein Glaube, der durch Vernunft nicht zu begründen ist. Nach Kant beruht die Erfahrung auf Grundsätzen, sie ist daher keine Sache bloßer Gewöhnung und daraus folgender Erwartung, sondern Objekt des Verstandes und der Ein- sicht. Sie ist Erkenntnis, weil ihre Grundlagen oder Voraussetzungen Erkenntnisprinzipien und Gesetze des Denkens sind. Die Dinge der Erfahrung, das was wir die Wirklichkeit nennen, sind nach Hume an sich ge- trennte und verschiedene Wahrnehmungen, d. i. Kom- plexe von Sinneseindrücken, die nur durch die Ein- bildungskraft zu größerer Einheit verbunden werden, als dies durch die Tatsachen selbst zu rechtfertigen ist. Auch Kant kennt die Rolle der Einbildungskraft, schon bei dem Zustandekommen einer Wahrnehmung; er ordnet sie aber den Gesetzen des Denkens unter, der Einheit des denkenden Bewußtseins, und darum ist sie nach ihm keine blinde, sondern eine sehende Funktion« Das an sich Wirkliche erscheint daher in der Erfahrung notwendig als Natur, d. i. als gesetzlich geordnetes Dasein der Dinge, weil schon die Anschauung der Dinge unter den Gesetzen des Denkens steht.

Um Humes Theorie der Erfahrung zu verstehen, müssen wir zuvor wissen und feststellen, was in ihr als Erfahrung bezeichnet wird. Eine unseren Sinnen gegen- wärtige Wahrnehmung, oder eine in der Erinnerung an- wesende Vorstellung sind für sich genommen keine Er- fahrungen; sie werden unmittelbar erfaßt und verbürgen sich gleichsam selbst durch ihr Dasein und dazu brauchen wir keine Erfahrung. Erfahrung ist ein Vorgang in unserem Geiste, durch welchen wir über die unmittel- baren Eindrücke der Sinne und Vorstellungen des Ge-

gO Vierter Vortrag.

dächtnisses hinausgeführt werden zu Vorstellungen, die den Sinnen nicht gegenwärtig sind; sie ist eine Folgerung auf Tatsachen. Immer dann, und nur dann, wenn wir von einer dem Bewußtsein gegebenen Wahrnehmung durch Schlußfolgerung zur Vorstellung einer nicht ge- gebenen übergehen, haben oder machen wir Erfahrung. Um aber eine gegenwärtige Wahrnehmung mit einer abwesenden zu verbinden, und diese aus jener zu folgern, bedürfen wir eines Bandes, das beide verknüpft, eines Prinzipes, das unsere Folgerung vermittelt. Dieses Prinzip nun ist in allen Fällen eines Schlusses auf Tat- sachen ein und dasselbe: die Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Gegebenen und dem Gefolgerten, oder das Prinzip der Kausalität. Die Erfahrung prüfen heißt mithin die Kausalität prüfen: das Prinzip aller unserer Erfahrungen oder Folgerungen auf Tatsachen. Aus diesem Grunde steht die Prüfung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung im Mittelpunkt der Hume'schen Kritik der Erfahrung.

Wir wollen zunächst an Beispielen zeigen, daß die Beziehung von Ursache und Wirkung in der Tat, wie Hume lehrt, der allgemeine Leitfaden ist, der uns über einen wahrgenommenen Tatbestand hinausführt zu dem, welcher ihm voranging, oder dem, der ihm folgt, daß also alle unsere Erfahrungsschlüsse kausale Schlüsse sind. Wir finden eine menschliche Spur, etwa den Abdruck eines Fußes in dem Sande einer einsamen Insel, sogleich ver- gegenwärtigt sich unserem Geiste die Vorstellung von der früheren Anwesenheit eines Menschen, aus keinem anderen Grunde, als weil wir den gegenwärtigen Ein- druck als Wirkung aufTassen und auf ihre vergangene Ursache schließen. Selbst das Verhältnis der Ähnlich- keit schließt, wenn es nicht unmittelbar durch Ver-

Die Grundlagen der Erkenntnis. gi

gleichung gegenwärtiger Wahrnehmungen erfaßt, sondern gefolgert wird, das der Ursächlichkeit ein. Ein Porträt erinnert uns durch seine Ähnlichkeit an einen abwesenden Freund; gewiß hängt hier die Vorstellung der Ähnlich- keit von der Vorstellung ihrer Verursachung, der Por- trätierung des Freundes, ab. Und so läßt sich überhaupt zeigen, daß unser Denken nur vermittelst der Beziehung von Ursache und Wirkung über das unmittelbare Zeug- nis der Sinne hinausgelangt; diese Beziehung verknüpft die Gegenwart mit der Vergangenheit und Zukunft zur Einheit der Erfahrung.

Aber diese Beziehung selbst! Woher stammt sie? Ist sie durch Erfahrung gegeben oder durch Denken zu begründen? Die Wirkung, so glauben wir, folgt nicht bloß auf ihre Ursache, sie ist abhängig von ihr, mit ihr notwendig verknüpft. Kausale Folge ist notwendige Folge; ist diese Notwendigkeit zu beweisen?

Wir wollen den Sinn dieser Fragen uns erst an einem einzelnen Falle anschaulich machen. Wir ver- setzen durch die Bewegung unseres Arms einen Hammer in Schwung und lassen ihn auf den Amboß fallen, die Bewegung hört auf und wir vernehmen einen Ton. Die Momente dieses Vorganges erscheinen uns untereinander ursächlich verknüpft; wir erklären den Willen als die Ursache der Bewegung des Arms und des Hammers und glauben den Aufwand der Muskelkraft zur Hervor- bringung der Bewegung zu fühlen, desgleichen be- zeichnen wir das Auffallen des Hammers, genauer die dadurch erzeugten vibrierenden Bewegungen als Ursache der Tonempfindung. Es scheint uns ganz unzweifelhaft, ja selbstverständlich zu sein, daß jeder frühere Teil des Vorganges den nächstfolgenden hervorgebracht habe. Was ist hier durch die Tatsachen selbst gegeben, was

Q2 Vierter Vortrag.

in sie hineingelegt, hinzugedacht? Wir haben gewiß nicht wahrgenommen, wie oder wodurch der Wille den Arm bewegt, oder wodurch es geschieht, daß sich eine einheitliche Massenbewegung, wie die des Hammers, in schwingende Bewegungen der Teile zerplittert, geschweige wie aus diesen Bewegungen die Empfindung des Tones hervorgeht. Die Wissenschaft mag die Wahrnehmung durch Beobachtung ergänzen, die Armbewegung in ihre einzelnen Momente (Innervation und Formveränderung des Muskels, Mitziehen des Gliedes durch die an den Muskel gehefteten Bänder) zerlegen und außer Ton- schwingungen auch Wärme infolge des Auffallens des Hammers nachweisen: das Wie des Vorganges, seine in die Sinne fallende Erscheinung, wird uns dadurch ge- nauer bekannt, dem Warum desselben kommen wir nicht näher. Auch nicht durch Hypothesen über mole- kulare Bewegungen. Durch solche Hypothesen könnte der Vorgang immer nur genauer beschrieben werden, gleichsam für schärfere Sinne als die unseren; eine Er- klärung wäre auch damit nicht gegeben. Aber trotz dieser Unkenntnis des Wesens der Verursachung fahren wir ohne Bedenken fort, Verursachung zu behaupten. Den Grund dieser Behauptung wollen wir wissen; ist sie grundlos, wie kommen wir dann dazu? Stützt sie sich auf unsere bisherige Erfahrung, wie soll dann die Zuversicht und Gewißheit erklärt werden, mit der wir sie auf die künftige anwenden? Es sind die Fragen Humes, auf die uns die Analyse unseres Beispiels geführt hat. Es ist das Eigentümliche des Verfahrens Humes bei der Lösung dieser Fragen, daß er die Kausalität, die Grundlage der Erkenntnis aus Erfahrung, an der reinen Erfahrung prüft, nachdem er sich zuvor überzeugt hatte, daß ihre Annahme durch Vernunft nicht zu beweisen

Die Grundlagen der Erkenntnis. gj

ist. Sein erster Satz ist daher ein negativer: die not- wendige Verknüpfung von Ursache und Wirkung ist in keinem einzigen Falle aus bloßen Begriffen, oder wie schon Hume es ausdrückt: a priori zu erkennen. Ur- sache und Wirkung sind verschieden, zum mindesten zeitlich verschieden; also sind ihre Vorstellungen trenn- bar, oder, was dasselbe ist, nicht notwendig verbunden, also enthält die Vorstellung, daß Ursache und Wirkung selbst getrennt existieren könnten, keinen Widerspruch. Es ist aber das Kennzeichen aller rein begrifflichen Wahrheiten, der Wahrheiten a priori, daß ihr Gegenteil unvorstellbar ist. Die Verknüpfung irgend einer Ursache mit ihrer Wirkung ist nicht a priori zu erkennen, weil die NichtVerknüpfung vorstellbar ist. Die Vorstellung, daß, populär geredet, morgen die Sonne nicht mehr aufgehen werde, enthält keinen Widerspruch, wie un- wahrscheinlich, weil aller bisherigen Erfahrung wider- streitend, sie auch erscheinen mag. Muß ein elastischer Ball, der mit centralem Stoße auf einen zweiten gleich großen und elastischen trifft, diesem seine ganze Be- wegung mitteilen; sehen wir die Notwendigkeit davon durch bloße Betrachtung der Erscheinung ein? Könnte nicht der Ball bei der Berührung zurück- oder seitlich ausweichen, oder über den zweiten Ball hinwegsetzen? In allen Fällen, wo wir nicht aus früherer Erfahrung wissen, was unter bestimmten Umständen geschieht, müssen wir abwarten, was geschehen wird. Aus bloßer Vernunft läßt sich nicht beweisen, „daß, wenn etwas gesetzt ist, dadurch auch etwas anderes notwendig ge- setzt werden müsse", formuliert Kant den Satz Humes. Die notwendige Verbindung verschiedener Begriffe ist nicht aus Begriffen zu erkennen; sie ist keine Erkenntnis aus reiner Vernunft.

Q4 Vierter Vortrag.

Also, weil nicht aus Vernunft, so aus Erfahrung, da es ein Drittes nicht gibt, folgert der Empirismus. Locke hielt es für tatsächlich, daß wir die ,.Kraft" in der Ursache, das Vermögen der Ursache zu wirken, beobachten, und dies entspricht auch völlig unserer ge- wohntesten Überzeugung. Zu sehen, was, weil es zu nahe liegt, von allen übersehen wird, ist nur einem vor- urteilsfreien und subtilen Geiste gegeben. Hume zwingt uns, den gemeinen Glauben an die Wahrnehmung von Kraft, Hervorbringung, Erzeugung, den Glauben an die Wahrnehmung des Umstandes, wodurch eine Ursache wirkt, fahren zu lassen. Er zeigte unwidersprechlich, daß es für den vermeintlichen Begriff, den wir mit diesen oder ähnlichen Worten bezeichnen, an einer „Impression" oder, was für ihn dasselbe bedeutete, an einem Objekte fehle, und in diesem Nachweis liegt das größte und bleibende Verdienst seiner Kausalitätstheorie. Hier er- weist er sich, ich wiederhole es, als Kritiker der Er- fahrung durch die reine Erfahrung. Auch nachdem die Erfahrung uns gezeigt hat, welche Wirkung auf eine bestimmte Ursache folgt, läßt sie uns in völliger Un- wissenheit über die „Kraft", oder das innere Prinzip, durch welches die Ursache ihre Wirkung herbeiführt. Dies Prinzip bleibt uns in allen möglichen Fällen, allen Arten ursächlicher Verbindung, verborgen. „Gesicht und Gefühl liefern uns eine Vorstellung von der tat- sächlichen Bewegung der Körper, von der wunder- baren Kraft oder Macht aber, die einen in Bewegung begriffenen Körper in beständiger Veränderung des Orts erhält und die er nur verliert, um sie an andere Körper mitzuteilen, können wir uns nicht den entferntesten Be- griff bilden." Wir verstehen nicht, wodurch Bewegung bewegt. Wir verstehen auch nicht, wodurch der Wille

Die Grundlagen der Erkenntnis. nC

bewegt; ist uns doch selbst der Einfluß, den er auf den Verlauf unserer Vorstellungen ausübt, seiner inneren Natur nach unerkennbar. Gewiß ist es die Erfahrung der willkürlichen Bewegung unserer Glieder, von der ursprünglich der Begrifif der Kraft ausgegangen ist, und nicht erst in der Philosophie Schopenhauers, schon in der Philosophie des Fetisch- Gläubigen ist alle Kraft „willensartig". Innere und äußere Erfahrung erscheinen hier durch ein Prinzip verknüpft, das wir, wenn irgend eines, unmittelbar zu erfassen meinen; hier scheinen wir die Kausalität an ihrem Werke zu sehen, die „Kausalität von innen" zu sehen, gleichviel, ob wir mit Schopen- hauer die Bewegung als Erscheinung des Willensaktes oder nach der populären Meinung als dessen Wirkung betrachten. Auch die Sonne scheint vor unseren Augen auf- und unterzugehen, und wir wissen doch, daß sie im Verhältnis zur Erde ruht. Wir wissen so wenig, wie der Wille den Arm oder einen Finger der Hand bewegt, daß wir nicht einmal sehen, was er bewegt; denn nicht mehr als die Ursache der Veränderung der Innervation des Muskels und der Richtung der Bewegung könnte er sein. Und wenn wir auch nicht zweifeln können, daß der Wille Einfluß auf den Verlauf und die Ordnung unserer Gedanken nimmt, so verhält er sich auch hier nur als auslösende Bedingung; der Gang der Gedanken im einzelnen bleibt dabei dem „Mechanismus" der Vor- stellungen überlassen. Auch kommen die Gedanken, oder bleiben aus , sehr häufig wider unseren Willen. Sie kommen nicht, wenn wir wollen, sondern, wenn sie wollen und nicht wir geben den Gedanken Audienz, die Gedanken geben uns Audienz.

Die Induktion Humes ist vollständig und ein Zweifel an der Richtigkeit ihres Ergebnisses nicht möglich.

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vierter Vortrae.

Weder der Zusammenhang physischer Ursachen mit ihren physischen Wirkungen, noch der Zusammenhang einer psychischen Ursache mit ihrer tatsächlichen oder scheinbaren physischen Wirkung und umgekehrt, noch endlich das innere Band, das physische Ursachen mit psychischen Wirkungen verknüpft, ist in seiner Notwendig- keit zu begreifen. Wir haben also schlechterdings keinen positiven oder inhaltlichen Begriff von „Kraft"; dieser Punkt ist durch Hume ein für alle Male erledigt.

Was die Erfahrung wirklich lehrt, ist die beständige Verbindung gleicher Dinge. Auf gleiche vorangehende Erscheinungen sehen wir beständig Folgeerscheinungen eintreten, die den früheren gleich sind, und diese Be- ständigkeit ist nach Hume der einzige Umstand, der auf der Seite der Objekte ursächliche Folge von bloßer Folge unterscheidet. Aber, nur so weit als sie selber reicht, kann Erfahrung diese Gleichförmigkeit in der Natur beweisen, also immer nur bis zum gegenwärtigen Augenblick; für die vergangene Erfahrung mögen wir sie zugeben, für die künftige müssen wir sie voraussetzen. Und wir tun dies auch jeder Zeit ohne Zögern oder Bedenken. Weil ein bestimmtes Objekt bisher beständig diese oder jene Wirkungen mit sich brachte, so werde, behaupten wir, auch jedes ihm gleiche Objekt immer wieder mit eben solchen Wirkungen verbunden sein. Beide Sätze sagen offenbar verschiedenes aus ; der zweite ist in dem ersten nicht enthalten, er wird aus ihm ge- folgert. Wie aber ist diese Folgerung zu begründen? ist sie zu begründen? An einen Beweis aus reiner Vernunft ist von vornherein nicht zu denken. Was in einem erstmaligen Falle unverständlich ist: die Not- wendigkeit in der Verbindung verschiedener Dinge kann durch die Wiederholung noch so vieler Fälle der gleichen

Die Grundlagen der Erkenntnis. 07

Art um nichts verständlicher werden; die Vernunft schließt aus einem Fall auf alle, oder es ist nicht die Vernunft, welche schließt. Ebenso wenig läßt sich der Satz: die Natur müsse gleichförmig bleiben, weil sie gleichförmig war, durch Erfahrung beweisen; jeder Ver- such, ihn auf diesem Wege beweisen zu wollen, müßte sich im Zirkel bewegen. „Kein Beweisgrund, der aus der Erfahrung stammte, kann die Gleichheit des Künftigen mit dem Vergangenen beweisen; denn alle Beweise aus Erfahrung stützen sich auf die Annahme dieser Gleichheit." Das heißt: die Erfahrung hängt von dem allgemeinen Kausalsatze ab, nicht dieser Satz von der Erfahrung. Wir müssen uns hier immer gegen- wärtig halten, daß Erfahrung bei Hume nicht bloße Wahrnehmung, oder reine Erfahrung bedeutet, sondern Erweiterung der Wahrnehmung durch Folgerung auf eine mit ihr verknüpfte, aber nicht wahrgenommene Tat- sache; das Prinzip dieser Folgerung und eben damit der .„Erfahrung" ist die Kausalität.

Auch Hume betrachtete somit die Kausalität als Grundlage der Erfahrung, und einen Beweis der All- gemeinheit dieses Prinzipes durch Erfahrung oder In- duktion hielt auch er für ausgeschlossen. Mit diesen Gedanken greift er bereits der Anschauung Kants vor, wenn auch ihre weitere Entwicklung bei ihm ganz anders gerichtet ist. In gewissem Sinne nämlich gründet er das Prinzip doch auf die vergangene Erfahrung, nicht um es aus ihr, was er selbst als unmöglich und wider- sprechend gezeigt hatte, als Folgesatz abzuleiten, sondern, indem er sich auf eine mit ihr verbundene Tatsache der inneren Erfahrung beruft, die den Mangel eines eigent- lichen Beweises des Prinzipes ersetzen soll. Durch die beständige Wiederholung gleicher Fälle hat sich zwar in

Riehl, Philosophie der Gegenwart, 7

q8 Vierter Vortrag.

den Objekten nichts geändert, was zur intimeren Er- kenntnis ihrer Verknüpfung beitragen könnte, aber im Subjekte und in seiner Auffassung hat sich etwas ge- ändert. Die Wiederholung hatte eine Gewöhnung, eine Anpassung des Verlaufs unserer Gedanken an den Ver- lauf der Dinge zur Folge. An die Stelle der fehlenden Einsicht in den Grund einer ursächlichen Verbindung tritt die Gewohnheit, an die Stelle der objektiven Not- wendigkeit, welche unerkannt bleibt, die subjektive eines Vorstellungstriebes. Wie Gewohnheit entsteht, wissen wir nicht und ihre letzte Ursache brauchen wir nicht zu kennen; daß sie infolge der Wiederholung entsteht, erfahren wir. Und ebenso erfahren wir auch ihre Wirkungen. Von ihr rührt die Neigung, die Leichtigkeit her, mit der wir von einer Wahrnehmung sogleich zur Vorstellung, es sei der Ursache oder der Wirkung, über- gehen; aus ihr ist der „Glaube" an die Tatsächlichkeit der gefolgerten Ursache oder Wirkung herzuleiten. Denn etwas von der Eindrucksstärke, Lebendigkeit und Festig- keit, mit der wir die Wirklichkeit einer Wahrnehmung erleben, muß sich von dieser auf die durch Gewohnheit mit ihr verknüpfte Vorstellung übertragen. Endlich werden wir den Zwang oder die Notwendigkeit, die durch Ge- wohnheit entsteht, fühlen, so oft wir das Gegenteil einer gewohnten Verbindung unserer Vorstellungen zu denken versuchen; das Gegenteil einer solchen Verbindung er- scheint uns dann als unvorstellbar oder unmöglich, ob- gleich seine Vorstellung keinerlei Widerspruch in sich einschließt.

Unser Begriff von Notwendigkeit und Verursachung entspringt demnach lediglich aus der wahrgenommenen Gleichförmigkeit in der Natur, wodurch der Verstand durch Gewohnheit bestimmt wird, von dem einen Dinge auf

Die Grundlagen der Erkenntnis. qq

das andere zu schließen. Außer der beständigen Ver- bindung gleicher Dinge und der Folgerung des einen aus dem andern haben wir keinen Begriff von Notwendig- keit und Verknüpfung. Die Verschiedenheit der Ursache und Wirkung, die Beständigkeit ihrer Folge und die sich daran knüpfende Gewohnheit des Geistes, von der einen zu der anderen überzugehen, diese drei Punkte machen das Wesentliche in der Kausalitäts-Theorie Humes aus. Und so beruht nach dieser Theorie alle Natur- erkenntnis im letzten Grunde auf einer unbeweisbaren und niemals von vorne herein sicheren Annahme, da das Prinzip der Erfahrung selbst kein Grundsatz des Er- kennens ist, sondern die Folge einer bloßen Ideen- association durch Gewohnheit?

Es war nicht die Absicht Humes, die Schlüsse aus Erfahrung und somit die Erkenntnis von Tatsachen da- durch unsicher oder zweifelhaft erscheinen zu lassen, daß er sie auf die Gewohnheit zurückführte, nachdem er Vernunftgründe für sie nicht auffinden konnte. „Ist der Geist nicht durch einen Grund bestimmt, diese Folgerung (auf Tatsachen) zu ziehen, so muß er dazu durch ein Prinzip von gleichem Gewicht und gleicher Autorität bestimmt sein." „Die Natur hat uns mit einer absoluten, durch keinen Zweifel zu beirrenden Not- wendigkeit ebenso zum Urteilen bestimmt, wie zum Atmen und Empfinden." Es war dies für sie, mensch- lich zu reden, eine zu wichtige Sache, denn die Er- haltung unserer Existenz hängt davon ab, um sie der Vernunft und ihren weitläufigen und trügerischen Argu- menten zu überlassen, die dafür auch immer zu spät kommen würden; sie benützte dazu die mechanische Tendenz eines Instinktes. Die Gewohnheit, diese zweite Natur, wirkt mit der Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit

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100 Vierter Vortrag.

eines Instinktes oder natürlichen Triebes, ja man kann sie selbst als einen erworbenen Instinkt bezeichnen. Die Erfahrungsschlüsse auf die Gewohnheit gründen heißt daher im Sinne Humes, sie sicherer begründen, als es durch die Vernunft geschehen könnte. Die Folgerungen aus Vernunft und die Folgerungen aus Erfahrung sind zwar nach Wesen und Ursprung verschieden, aber ihre Gewißheit ist die gleiche, sie ist nur von anderer Art. Durch eine Folgerung der ersten Art wird eine Be- ziehung von Ideen auf Grund der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung ihres Inhaltes erkannt; bei einer Folgerung der zweiten wird eine Tatsache mit einer Idee verknüpft und die Existenz oder Wirklichkeit des Objektes der Idee erschlossen ohne das Dazwischen- treten eines Grundes und allein durch die Wirksamkeit eines natürlichen Prinzipes. Die Prinzipien der Wirklich- keit und des Lebens sind früher als alle Grundsätze der Vernunft, sie sind da und wirken, noch ehe diese ihr Werk beginnt; und unsere Verwunderung darüber, daß die Erkenntnis von Tatsachen und Existenz auf einen Instinkt, wie die Gewohnheit, gegründet sein soll, wird aufhören, wenn wir bemerken, daß die Vernunft selbst auf einem Instinkte beruht. Unsere natürlichen Über- zeugungen, die uns bei der Erkenntnis der Dinge leiten» sind eine Wirkung mehr des sinnlichen als des ver- nünftigen Teiles unserer Natur, erklärt Hume; sie gehen allen Reflexionen voran und sind daher durch Gründe der Vernunft weder zu beweisen, noch zu widerlegen. Dies gilt vor allem von der ursprünglichsten unter ihnen, dem Glauben an die Existenz von Dingen außer uns. ,,Wir können wohl fragen: welche Gründe bestimmen uns, an das Dasein von Dingen zu glauben; vergebens aber würden wir fragen: existieren Dinge oder nicht?

Die Grundlagen der Erkenntnis. lOl

Dies ist ein Punkt, den wir bei allen unseren Er- wägungen und Zweifeln für ausgemacht nehmen müssen." Die Natur hat die Kraft aller skeptischen Argumente dagegen schon gebrochen, noch ehe sie Einfluß ge- winnen können. Ist die Realität der Erkenntnis logisch nicht zu begründen, so ist sie dafür bereits biologisch gegründet. Eine der möglichen Formen das Erkenntnis- problem zu lösen, hat Hume damit entdeckt und in ihre Konsequenzen entwickelt; Hume ist der erste, der eine biologische Erkenntnistheorie begründet hat, indem er noch hinter die Vernunft zurückgreift auf etwas, woraus diese selbst entsteht, wovon sie selbst getragen wird. Eine in letzter Zeit öfters genannte „Kritik der reinen Erfahrung'* hat diese Anschauungen Humes in origineller Weise erneuert.

Was uns abhält, ihnen zuzustimmen, ist nicht bloß der Dualismus zwischen Wirklichkeit und Vernunft, der hier noch bestehen bleibt, sondern ein allgemeinerer Grund. Die Gewißheit, die natürlichen Prinzipien der Erfahrung aufgefunden zu haben, kann nie größer sein, als die Gewißheit der Erfahrung selbst, denn wir brauchen Erfahrung, um jene Prinzipien zu entdecken.

Man wird gegen Humes Kausalitätslehre sagen, und ich habe es bereits gesagt, sie lasse unseren Geist weit passiver erscheinen, als er in Wirklichkeit ist, und unter- schätze den Anteil seiner Tätigkeit bei der Erzeugung von Erfahrung. Wir suchen Ursachen in der Natur, weil wir selbst Ursachen in ihr sind, wenn wir auch nicht wissen, wie; wir erwarten Wirkungen, weil wir selbst Wirkungen herbeiführen, erkennen wir auch nicht wodurch. Die Praxis der wissenschaftlichen Forschung bei ihrem experimentellen Verfahren wartet nicht erst ab, ob sich in der Natur gleiche Ursachen wiederholen, gleiche

102 Vierter Vortrag.

Wirkungen wieder eintreten werden; sie macht die Ur- sachen gleich und führt gleiche Wirkungen herbei. Sie antecipiert die Natur durch den Geist und prüft an der Erfahrung, die sie selbst hervorruft, die Giltigkeit dessen, was sie für sie vorausgesetzt und berechnet hat. Die Vorstellung ungefährer Gleichförmigkeit, wie sie die Tatsachen in der Wahrnehmung allein zu erkennen geben, wird dadurch zu dem Begriffe strenger, quantitativ bestimmter Gesetzlichkeit gesteigert. Auch zeigt schon die tatsächliche Verknüpfung mehr und wichtigeres, als Hume sie zeigen läßt. Überall, wo Ursachen und Wirkungen meßbare Objekte sind, auf dem gesamten Gebiete der äußeren Naturvorgänge also, findet Über- einstimmung der Größe der Ursache mit der Größe der Wirkung statt. Hume hat diese Tatsache berührt, da aber der Wissenschaft seiner Zeit ihre Allgemeinheit noch nicht bekannt war, vermochte er nicht, ihre prinzipielle Bedeutung zu erkennen. Die Gewöhnung an den Verlauf der Dinge mag erklären, warum wir in einem gegebenen Falle gerade diese bestimmte Ursache voraussetzen, oder diese bestimmte Wirkung erwarten; erklärt sie aber auch die allgemeine Voraussetzung einer Ursache für alles was geschieht? Ist diese Voraus- setzung wirklich nur die Verallgemeinerung der Gewohn- heit („general habit"), kein Prinzip, das einem be- sonderen Gedanken Ausdruck gibt? Warum wenden wir auf eine tatsächliche Folge gerade den Begriff des Grundes der Folge an, und nicht den der Ähnlichkeit der Folge, oder einfacher noch den der bloßen Wieder- holung? Wir sagen nicht: so oft eine Ursache A ge- gegeben wird, folgt die Wirkung B, wir sagen: weil A ist, folgt B; nach Hume bliebe das völlig willkürlich. Richten sich diese Bemerkungen mehr gegen Kon-

Die Grundlagen der Erkenntnis. 103

Sequenzen der Humeschen Lehre, so hat sich die folgende Betrachtung gegen ihre Grundlagen selbst zu wenden. Hume setzt überall voraus, daß Sinneseindrücke oder „Impressionen" in ihrer gegebenen Mannigfaltigkeit, z. B. diese oder jene bestimmte Verteilung farbiger Punkte im Räume, an sich selbst Objekte sind, die Folge unserer Impressionen und Wahrnehmungen mithin die Folge der Objekte selbst. Darum läßt er den objektiven Teil des Kausalitätsgesetzes mit der Folge der Sinneseindrücke zusammenfallen. Sind Impressionen Objekte? Gegeben werden sie uns als Änderungen des Zustandes unserer Sinnesnerven und wir erleben diese Änderungen als Empfindungen; aber wir fassen sie niemals so auf, wie sie uns gegeben werden und erst durch Reflexion müssen wir uns überzeugen, daß sie an sich nichts als Modifikationen der Erregung und Tätig- keit unserer Sinne sein können. Es muß also zu den Impressionen eine ursprüngliche Art ihrer Auffassung, ihrer Beurteilung hinzukommen, damit es möglich wird, sie, oder richtiger durch sie die Objekte vorzustellen. Impressionen für sich genommen sind nicht einmal An- schauungen. Zu Anschauungen werden sie erst dadurch, daß sie Raum und Zeit bestimmen, als Teile von Raum und Zeit erscheinen. Was immer nun Raum und Zeit sein mögen, so sind sie doch jedenfalls zu dieser Be- stimmung vorausgesetzt. Wie also werden aus Impressionen Anschauungen, wie aus Anschau- ungen Objekte? Denn auch Anschauungen sind an sich nicht Objekte, sie werden auf Objekte bezogen. Nennen wir die Anschauungen selbst Objekte, so sind es Objekte nur für unser individuelles Bewußtsein und wir können diese von den Objekten für ein Bewußtsein über- haupt, für ein Gemeinschaftsbewußtsein unterscheiden.

104 Vierter Vortrag.

Der Tisch, den ich wahrnehme, ist derselbe Tisch, den andere wahrnehmen können, er ist das gemeinschaftliche Objekt unserer Wahrnehmungen.

Sinneseindrücke mögen sich noch so oft in gleicher Weise wiederholen, die Verbindungen, in denen sie ge- geben werden, noch so regelmässig wiederkehren, sie allein könnten uns niemals aus dem Banne unserer Subjektivität, über den Kreis unseres individuellen Be- wußtseins hinausführen; denn sie sind selbst subjektiv und individuell. Und mögen sie auch durch den Zwang, mit dem sie auftreten, die Ixbhaftigkeit und Stärke, wo- mit sie uns affizieren, noch so deutlich von bloßen Vor- stellungen, ihren Nachwirkungen und Kopien, sich unter- scheiden, — ein Zwang, den wir fühlen, ist noch keine Erkenntnis eines bestimmten, um so weniger die Er- kenntnis eines uns und anderen Sinnenwesen gemein- schaftlichen Objektes. Um zur Vorstellung, zum Begriffe eines solchen Objektes zu gelangen, müssen wir die Sinneseindrücke benutzen, sie in Beziehung zu etwas setzen, wovon sie ausgehen und das, wie es von unserer Wahrnehmung unabhängig ist, auch von der Wahr- nehmung anderer unabhängig sein muß. Dazu aber reicht nicht, wie Hume meinte, die bloße Wahrnehmung und ihre Unterscheidung von einer Vorstellung aus. „Es geht ein Urteil voraus, ehe aus Wahr- nehmung Erfahrung werden kann." Mit diesem Satz geht Kant über Hume hinaus.

Erfahrung ist beurteilte, verstandene Wahrnehmung; sie ist das Produkt des Denkens in die Anschauung, die Einheit von Anschauung und Begriff, also nichts Einfaches, das schon durch die bloße Wahrnehmung gegeben sein könnte. Das Denken ist eine Bedingung der Erfahrung, Erfahrung nicht ohne Denken möglich. Wir sagen:

Die Grundlagen der Erkenntnis. IOC

der Stein ist hart, das Wachs ist weich; das heißt wir machen einen Teil des Inhaltes unserer Wahrnehmung zum Prädikate der übrigen, durch eben diesen Akt des Prädicierens einheitlich verbundenen Teile und dadurch erkennen wir etwas vom Gegenstande. Alle Wahr- nehmung steht als Erfahrung unter Regeln oder Formen der Beurteilung. Ein Bewußtsein, das auf Sinnesein- drücke und deren Perception beschränkt wäre, (und wir brauchen nicht zu glauben, daß das tierische Be- wußtsein sich viel über diese Lage erhebe,) könnte den Übergang von seiner Wahrnehmung zur Vorstellung eines von der Wahrnehmung verschiedenen und unab- hängigen Gegenstandes nicht vollziehen. Es bliebe in seine Wahrnehmungen, als rein individuelle Erlebnisse, eingeschlossen. Zwar vermöchte sich der Träger dieses Bewußtseins den seinen Sinnen gegebenen Eindrücken und damit dem objektiven Gang der Dinge anzupassen; er würde dadurch im Laufe seines inviduellen Lebens klüger werden, wie wir dies ja an alten Tieren im Vergleich mit jungen beobachten können; es fehlte ihm aber an der Möglichkeit über diese gleichsam praktische Erfahrung zu einer theoretischen hinauszu- gehen, denn es fehlte ihm dazu unserer Annahme nach das Vermögen des eigentlichen, reflexiven Denkens, der Quelle der AUgemeingiltigkeit und des einzigen Leit- fadens, der über das individuelle Bewußtsein und dessen Schranken hinaus zur Erkenntnis von Objekten der Wahrnehmung fuhrt.

Abermals finden wir uns einer Aufgabe gegenüber, die sich anscheinend auf doppeltem Wege lösen läßt. Wir sollen die Bedingungen ermitteln, unter welchen Empfindungen zu Anschauungen, Anschauungen zu Vorstellungen von Objekten werden, und der nächste

I06 Vierter Vortrag.

Weg -dazu scheint der empirische der psychologischen Beobachtung zu sein. Genügt es nicht, die einzelnen Schritte und Stadien zu beschreiben, die ein Individuum zurücklegen muß, um von seinen Empfindungen aus zur Erfahrung zu gelangen? Erfahrungen sind doch unserem Geiste nicht angeboren, sie müssen erworben und ent- wickelt werden. Wir sind überzeugt, daß kein Kind gleich bei der Geburt Erfahrungen mit in die Welt bringt. Wir sehen ja, wie es seine Sinneseindrücke zu verwerten, sie zu vergleichen, und zu kombinieren beginnt und allmählich lernt, durch willkürliche Ver- änderungen in der Umgebungswelt, ein Ding von neuen Seiten zu betrachten. Wir sehen in dem zunehmenden Intelligent werden seines Blickes, der immer größer werdenden Zweckmäßigkeit seiner Bewegungen das Wachsen seines Objekt-Bewußtseins und gleichen Schrittes damit die Steigerung des Bewußtseins seiner Selbst sich gleichsam spiegeln. Aber das Verständnis dieser Tat- sachen hängt von Gesichtspunkten ab, die allein aus dem Begriff der Erfahrung, der also dafür vorausgesetzt ist, zu gewinnen sind. Die Psychologie kann ihr Vor- haben, die Erfahrung zu erklären nur unter beständiger Kontrolle durch eine Theorie der Erfahrung ausfuhren. Und gesetzt, ihr Ziel wäre erreicht und die Entwicklung der Erfahrung dargelegt, so stünden wir noch erst vor der entscheidenden Frage: der kritischen Frage nach der objektiven Notwendigkeit unserer Erkenntnisse. Die Organisation unseres Geistes wäre wohl aufgedeckt, das Spiel seiner Kräfte gezeigt und der Anteil des Subjektes an der Erwerbung von Erfahrung bestimmt. Wir hätten die subjektive Notwendigkeit kennen gelernt, unsere Vorstellungen auf gewisse Art zu verknüpfen, ein Beweis für die objektive Giltigkeit der Verknüpfung aber wäre

Die Grundlagen der Erkenntnis. 107

damit nicht erbracht. Im Gegenteil: wir würden z. B. „nicht sagen können, die Wirkung ist mit der Ursache im Objekte, d. i. notwendig verknüpft, sondern: ich bin nur so eingerichtet, daß ich diese Vorstellungen nicht anders verknüpfen kann". Wenn dies ein Grund der Wahrheit unserer Vorstellungen, ihrer Übereinstimmung mit den Objekten sein soll, so müßte „unser Unvermögen, uns eine Sache auf eine andere Art fasslich zu machen", eine Quelle der Einsicht sein.

Die Kritik und Theorie der Erkenntnis hat den Beweis der objektiven Giltigkeit unserer Erkenntnisse ungeachtet ihres subjektiven Ursprungs zu ihrem Gegenstande, und dazu würde uns auch die vollständige Kenntnis ihrer Entstehung nicht helfen können. Nicht dies ist die Entdeckung Kants, daß es in unserer Er- kenntnis Elemente a priori gibt, Elemente von nicht- empirischem Ursprung. Dies wußte auch Locke, da er für die mathematischen (und moralischen) Begriffe die „Arche- typen" im Geiste erzeugt werden und auch den allge- meinen Begriff der Substanz nicht von der sinnlichen Erfahrung abstammen ließ; Hume wußte es, weil er für den allgemeinen Begriff des ursächliche Verhältnisses jede Grundlage in der reinen Erfahrung, des Gegeben- sein irgend einer Impression verneinte. Es ist das Werk Kants, gezeigt zu haben, wie jene Elemente a priori und gleichwohl objektiv giltig sein können und müssen; gezeigt zu haben, wodurch und wie weit wir berechtigt sind, sie als von der Natur der Dinge selbst geltend anzunehmen. Seine Frage lautete: wie können Erkennt- nisse und Urteile a priori und doch zugleich syn- thetisch d. i. von den Objekten giltig sein?

Wie werden aus Impressionen und ihren gegebenen Verhältnissen Anschauungen, oder, um anders, nämlich

108 Vierter Vortrag.

im Sinne der Erkenntnistheorie zu fragen: unter welchen Voraussetzungen ist eine Anschauung von Dingen möglich ?

Zu den Wahrheiten, die, nachdem sie einmal ge- funden und begründet worden sind, der Wissenschaft nicht mehr verloren gehen können, ist die Lehre Kants zu zählen, daß Raum und Zeit Formen des Anschauens sind und eben darum Formen der Dinge selbst, sofern diese zur Anschauung gelangen: die Lehre von dem subjektiven Ursprung und der objektiven Bedeutung des Raumes und der Zeit. Kant kam zu dieser Lehre nicht durch Reflexion auf das menschliche Anschauungsver- mögen, sondern durch Untersuchung der Begriffe von Raum und Zeit. Als Grundlage für diese Betrachtung diente ihm die Unterscheidung Newtons zwischen dem mathematischen oder absoluten Räume, der mathe- matischen oder absoluten Zeit und den relativen Räumen und Zeiten, welche von den Dingen erfüllt werden. Mit Newton bejaht Kant die Notwendigkeit, Raum und Zeit im absoluten Sinne vorauszusetzen; denn Lagen und Gestalten der Dinge sind Bestimmungen und Teile des Raumes, wie Dauer und Folge der Dinge Teile und Be- stimmungen der Zeit sind. Gegen Newton verneinte er die an sich gegebene oder absolute Realität des allgemeinen Raumes, der reinen Zeit. Der absolute Raum (und ebenso die absolute Zeit) ist nicht ein Begriff von einem wirklichen Objekte, sondern eine Idee, welche zur Regel dienen soll, alle Bewegung in ihm bloß als relativ zu betrachten. D. h. er ist notwendig, um relative Räume vorstellen zu können. Die wesentlichen Bestimmungen, die wir den Begriffen von Raum und Zeit mit anschau- licher Gewißheit zuschreiben und worauf wir die von der Erfahrung unabhängigen Wissenschaften der Geometrie

Die Grundlagen der Erkenntnis. IO9

und Bewegungslehre gründen, sind von solcher Be- schaffenheit, daß sie aus sinnlicher Erfahrung nicht be- kannt sein können. Wäre der absolute Raum, wie Newton glaubte, selbst eine Sache, gehörte er zu den Dingen der Welt als das allumfassende Ding, woher könnten wir von seiner Unendlichkeit wissen? wir schließen doch nicht induktiv: weil wir bisher auf keine Grenzen des Raumes gestoßen sind, werden wir auch künftig nie auf solche treffen. Grenzen der Raumer- füllung sind denkbar, Grenzen des Raumes nicht; der Raum ist notwendig als grenzenlos, er ist als unendlich gegeben zu denken. Nur wenn solche Bestimmungen der Begriffe von Raum und Zeit wie Unendlichkeit, Stetigkeit, Einzigkeit u. s. w. aus den Gesetzen oder Formen unserer anschauenden Tätigkeit hervorgehen und aus ihnen abstrahiert sind, ist es zu verstehen, wie wir zu ihrer Erkenntnis gelangen und sie zugleich als notwendig von den Dingen unserer Anschauung geltend behaupten können. „Denn man kann a priori wissen, wie und unter welcher Form die Gegenstände der Sinne werden angeschaut werden, nämlich so, wie es die sub- jektive Form der Sinnlichkeit, das ist der Empfänglich- keit des Subjektes für die Anschauung jener Objekte mit sich bringt". Raum und Zeit sind also nicht Gegen- stände unserer Anschauung; ihre wesentlichen Eigen- schaften werden unabhängig von den Gegenständen erkannt, auch können Raum und Zeit selbst nicht an- geschaut werden; sie sind Formen des Anschauens und deshalb notwendig giltig von allen angeschauten Dingen.

Dies ist der formale Idealismus Kants, der Idealis- mus der allgemeinen Formen (und nur dieser), der An- schauung oder Erscheinung der Dinge für unser 'Ann-

HO Vierter Vortrag.

liches Bewußtsein; Kant selbst betrachtete diese seine Lehre als den Gegensatz und die Überwindung des raaterialen Idealismus, des Idealismus der Dinge selbst, Kants sogenannter Idealismus, der ebenso gut, ja noch besser kritischer Realismus heissen könnte, begründet die Realität der Erkenntnis: Raum und Zeit sind Formen der Erscheinung der Dinge; weil sie Formen unserer Anschauung der Dinge sind; der eigentliche Idealismus in der „rezipierten Bedeutung des Wortes" hebt die Realität der Erkenntnis auf; er erkennt z. B. nur Impressionen als wirklich an, kein Reales, das die Im- pressionen gibt, kein Reales, das sie durch die Afifektionen seiner Sinne empfängt. „Die Welt als Vorstellung" wird dadurch zu einem Traume herabgewürdigt; ja sie ist weniger als ein Traum, denn selbst zum Träumen brauchen wir noch einen wirklichen Körper, und von Wahrheit der Vorstellungen, d. i. Übereinstimmung mit Dingen kann dann in keinem begreiflichen Sinne des Wortes mehr die Rede sein. Nur der absolute Raum, die absolute Zeit, ich muß dies wiederholen, sind nach der Lehre Kants, für sich genommen bloße „Ideen", denen als solchen kein Gegenstand entspricht, nicht die relativen Räume, die relativen Zeiten. Für diese be- sonderen und bestimmten Formen der Dinge, die in der empirischen Anschauung gegeben werden, also die Lage, Gestalt, Ausdehnungsgröße, die bestimmte und bemessene Dauer und Folge der Dinge, muß es nach Kants aus- drücklicher Lehre in den Dingen selbst einen Grund geben. Denn aus der allgemeinen Form ihrer An- schauung, die allein aus der Vorstellungsart des Sub- jektes stammt, sind sie nicht herzuleiten. Verhältnisse der Dinge selbst entsprechen den Verhältnissen in der empirischen Anschauung oder Wahrnehmung der Dinge

Die Grundlagen der Erkenntnis. III

und erscheinen in dieser, den allgemeinen Formen unseres Anschauens gemäß, als räumliche und zeitliche Ver- hältnisse. „Dinge als Erscheinungen bestimmen den Raum, d. i. unter allen möglichen Prädikaten desselben (Größe und Verhältnis) machen sie es, daß diese oder jene zur Wirklichkeit gehören." In der notwendigen Be- ziehung der allgemeinen Formen des Anschauens zu den in ihnen (nicht durch sie) gegebenen empirischen An- schauungen, welche durch die Dinge selbst gegeben werden, liegt der Beweis für die Realität jener Formen, d. i. dafür, daß sie Erkenntnis von Dingen ermöglichen. Darum sind „die mathematischen Begriffe für sich nicht Erkenntnisse, außer sofern man voraussetzt, daß es Dinge gibt, die sich nur der Form jener reinen sinn- lichen Anschauung gemäß uns darstellen können". Die Dinge an sich mit ihren Verhältnissen, die in den be- sonderen Formen der Anschauung und den empirischen Gesetzen der Natur zum Ausdruck kommen, sind für Kant eine gleich wesentliche Voraussetzung wie es für ihn die Elemente a priori der Erkenntnis sind. Die not- wendige Verbindung beider, ihr Zusammenschluß in der Erfahrung ist das Resultat seiner Lehre. Unsere Erkenntnis ist eine mittelbare Erkenntnis der Dinge selbst durch die Erscheinungen der Dinge für unsere Sinne. Der Aus- druck: „Dinge an sich" (Kant gebraucht in der Regel die Mehrzahl), hinter welchem man sich allerlei Mystisches oder Transcendentes zu denken gewöhnt hat, ist die Übersetzung von Lockes „things themselves"; für die kritische Theorie der Erfahrung bedeutet er nicht höhere Wesenheiten oder übersinnliche Dinge, sondern vorsinn- hche Dinge, die Dinge vor und außer ihrer Erscheinung für ein Sinnenwesen, oder, um es mit den Worten Kants zu sagen: „ein Ding, das auch ohne die Beschaffenheit

112 Vierter Vortrag.

unserer Sinnlichkeit etwas, nämlich ein von der Sinnlich- keit unabhängiger Gegenstand ist."

Anschauungen und Begriffe müssen bei jeder Er- fahrung zusammenwirken. In der Erfahrung wird durch Wahrnehmung ein Objekt bestimmt. Schon hieraus erhellt, daß zu dieser Bestimmung und damit zur Er- fahrung mehr erfordert ist, als bloße Wahrnehmung: nämlich der Begriff von einem Objekte überhaupt, nach welchem Begriffe jene Bestimmung der Wahrnehmung allein erfolgen kann. Das, was wir wissen müssen, um etwas als Gegenstand vorstellen zu können, kann nicht aus der Vorstellung des Gegenstandes, die dadurch aller- erst zu Stande kommt, abgeleitet werden. Gegenstände mögen in der empirischen Anschauung gegeben sein (und gewiß ist in ihr der Einfluß der Gegenstände auf unsere Sinne gegeben), aber dadurch allein sind sie noch nicht als Gegenstände erkannt. Wie werden gegebene Gegenstände zu erkannten Gegenständen?

Es gibt, wie die Begriffe von Raum und Zeit, als die Begriffe von den Formen des Anschauens beweisen, ein ursprüngliches Anschauen, und die Erscheinung der Dinge empfängt von ihm das Gesetz ihrer anschaulichen Form. Es muß aber ebenso auch ein ursprüngliches Denken geben, von welchem die intellektuelle Form der Erfahrung der Dinge herrührt, so gewiß Erfahrung und bloße Wahrnehmung verschieden sind. Es muß Be- griffe geben, die zwar nur durch Veranlassung der Wahr- nehmungen entwickelt werden und ohne sie nicht ent- stehen würden, die aber jiicht aus den Wahrnehmungen abstammen, weil sie zur Beurteilung derselben dienen, zur Bestimmung eines Objektes, daher dieser Bestimmung zum Grunde liegen müssen. Daß es solche ursprünglich gedachte Begriffe geben müsse, läßt sich mithin a priori,

Die Grundlagen der Erkenntnis. 1 1 ^

aus dem Begriff der Erfahrung erkennen; welche es seien, kann nur aus dem ermittelt werden, was sie zu leisten haben, nämlich die Bedingungen der Vorstellung eines Objektes zu sein. Kant bediente sich der Logik der Urteile als Leitfadens zur Auffindung dieser Begriffe, die er von ihrem Ursprung aus dem Denken „reine Verstandesbegriffe" nannte; er legte auf die systema- tische Vollständigkeit ihrer Aufzählung Gewicht, viel- leicht zu großes Gewicht. Wir brauchen ihm auf diesem Wege nicht zu folgen, da es uns wesentlich um den Beweisgrund ihrer Realität oder objektiven Giltigkeit zu tun ist. Auch kennen wir bereits die wichtigsten von diesen Begriffen. Eine bestimmte Wahrnehmung mag uns noch so regelmäßig in dem Komplexe von Sinneseindrücken, aus denen sie besteht, neben wechseln- den Bestandteilen beharrliche zeigen, z. B. die Raum- erfüllung oder das Gewicht eines Körpers; daß aber dieses Beharrliche das Objekt bedeute, die wechselnden Be- standteile dagegen Zustände oder Accidentien des Ob- jektes kann keine Wahrnehmung uns zeigen. Auch Kausalität kann nicht wahrgenommen werden. Hume zeigte, daß sie in keiner Wahrnehmung fiir sich ge- nommen, aber auch in keiner, noch so regelmäßigen Aufeinanderfolge von Wahrnehmungen gegeben ist. Zugleich wußte er, daß wir den allgemeinen Kausalsatz bei allen Erfahrungen, d. i. aller Erkenntnis von Tat- sachen auf Grund von Wahrnehmungen, voraussetzen müssen; da er aber den Grund eines solchen die Er- fahrung antecipierenden Gesetzes nicht auffinden konnte, setzte er die Gewohnheit an die Stelle des Grundes.

Wie können und müssen sogar die Bedingungen unseres Denkens eines Gegenstandes Bedingungen der Gegenstände selbst sein? wie läßt sich beweisen, daß es

Riehl, Philosophie der Gegeuwart. 8

114 Vierter Vortrag.

Dinge geben müsse, die notwendig mit ihnen überein- stimmen? So lautet unsere Frage in Bezug auf diese Begriffe und die Realität ihrer Verknüpfungen.

Unmittelbar oder aus ihnen selbst ist diese Realität nicht zu beweisen. Könnten sie nicht Einbildungen sein, wie Hume meinte, oder Eingebungen, wie derjenige eigentlich behaupten müßte, der sie für angeboren hält. Es muß ein Drittes geben, das tatsächlich besteht^ aber nur durch sie allein möglich, das ist als bestehend zu begreifen ist; nur so ist ihre objektive Giltigkeit zu verstehen. Dieses Dritte ist die Erfahrung oder die empirische, auf Wahrnehmung beruhende Erkenntnis der Dinge. Wenn wir zeigen können, daß die reinen Ver- standesbegriffe die Bedingungen einer durch sie allein möglichen Erfahrung sind, so haben wir auch schon ge- zeigt, daß sie zugleich die Bedingungen der in der Er- fahrung möglichen Gegenstände sein müssen; denn nur in der Erfahrung werden uns Gegenstände gegeben. „Dasjenige, ohne welches die Erfahrung von einem Gegenstande nicht möglich ist, ist auch notwendig giltig von den Gegenständen der Erfahrung." Daraus und daraus allein, daß sich die Erfahrung der Dinge nach reinen Verstandesbegriffen richtet, ist es zu verstehen, daß sich auch die Dinge der Erfahrung nach diesen Begriffen richten müssen. „Zu aller Erfahrung und deren Möglichkeit gehört Verstand, und das erste, was er dazu tut, ist nicht, daß er die Vorstellung der Gegenstände deutlich macht, sondern daß er die Vorstellung eines Gegenstandes überhaupt möglich macht." Ohne Ver- stand keine Erfahrung, kein Objekt der Wahrnehmung, keine Erkenntnis eines Objektes.

Diesen Beweis der objektiven Gültigkeit reiner Be- griffe und ihrer Verknüpfungen a priori, welcher zeigt

Die Grundlagen der Erkenntnis. 1 1 1

daß die Erfahrung selbst, mithin das Objekt der Er- fahrung ohne solche Verknüpfungen nicht möglich wäre, nennt Kant ihren transcendentalen Beweis. Bei dem Worte transcendental ist nicht an ein Überfliegen der Grenzen der Erfahrung zu denken, sondern an das Zurückgehen auf die Grundlagen der Erfahrung. Trans- cendental ist die Erklärung, wie sich Begriffe oder Sätze a priori auf Gegenstände beziehen können, wie sie a priori und doch von Objekten gelten sollen. Nicht die Erkenntnis a priori ist transcendental, nur die Recht- fertigung ihrer objektiven Gültigkeit und das Verfahren dieser Rechtfertigung will Kant mit diesem Worte be- zeichnet wissen. Dasjenige, was nicht aus der Erfahrung stammt, f ü r die Erfahrung zu beweisen ist die Aufgabe der transcendentalen Methode. Das Wesen dieser Methode Kants und ihr Unterschied von Humes Methode der reinen Erfahrung soll zunächst an ihrer An- wendung auf das Problem der Kausalität gezeigt werden. Hume leitete die Regel der Kausalität aus der ob- jektiven Folge der Impressionen oder Wahrnehmungen ab; Kant zeigt, daß erst in Rücksicht auf eine Regel der Kausalität erkannt werden kann, ob eine Folge von Wahrnehmungen eine objektive Folge sei. Es ist nicht dasselbe zu sagen, etwas folge in der bloßen Wahr- nehmung, und zu urteilen, es folge im Gegenstande selbst. Wir sehen aus der Ferne die Bewegung einer Truppe und hören hierauf das Kommandowort äes Offiziers. Wir wissen, daß die Aufeinanderfolge unserer Wahrnehmungen in diesem Falle die umgekehrte ist von der Aufeinanderfolge der objektiven Vorgänge; und wir wissen dies in Rücksicht auf eine Regel der Er- fahrung, die uns belehrte, um wie vieles schneller sich Lichtwellen im Räume fortpflanzen als Schallwellen.

8*

Il6 Vierter Vortrag.

Und was in diesem Falle gilt, gilt in allen Fällen. Überall ist es die Rücksicht auf irgend eine Regel, wodurch wir die Aufeinanderfolge unserer Wahr- nehmungen von der Aufeinanderfolge der Objekte unterscheiden und beide erst in richtigen Zusammen- hang bringen. Was voran geht, zeigt die Erfahrung durch Wahrnehmung, daß etwas vorangehen muß, wenn die Folge eintreten soll, kann die Erfahrung nicht lehren, weil erst unter dieser Voraussetzung die Wahrnehmung der Folge zur Erfahrung der Folge wird. »Vor einer Begebenheit kann allerlei vorher gehen, eines aber ist unter diesem, worauf sie jeder- zeit folgt. Wenn vorher fest gewesenes Wachs schmilzt, so kann ich a priori erkennen, daß etwas vorangegangen sein müsse (z. B. Sonnenwärme), worauf dieses nach einem beständigen Gesetze erfolgt ist, ob ich zwar aus der Wirkung weder die Ursache, noch aus der Ur- sache die Wirkung a priori und ohne Belehrung der Er- fahrung bestimmt erkennen könnte. Nur auf irgend eine Bedingung gibt eine Begebenheit sichere An- weisung und dadurch erkenne ich sie als Begebenheit." Darauf allein also, daß etwas vorangegangen sein muß, worauf die eingetretene Veränderung nach einer be- ständigen Regel, d. i. notwendig folgt, zielt der Beweis Kants. Grundloses Geschehen wird damit aus dem Be- reiche der möglichen Erfahrung ausgeschlossen; mag ein solches Geschehen denkbar sein, sicher ist es nicht erfahrbar; wenn es keinen inneren oder unmittelbaren Widerspruch einschließt, so widerspricht es doch gewiß dem Begriff der Erfahrung. Nicht die Folge der Er- scheinungen wird durch den Kausalsatz erkannt, ge- schweige erst hervorgebracht, sie ist in der empirischen Anschauung durch die Erscheinungen selbst gegeben;

Die Grundlagen der Erkenntnis. 1 1 7

die Objektivität der Folge wird durch jenen Satz erkannt und nur die allgemeine Form des Satzes ist a priori, der Fall seiner Anwendung muß gegeben werden. Wo nichts geschieht, nichts sich verändert, hat das Prinzip keine Anwendung.

Kausalität ist Grund einer Veränderung. Wir denken uns im Vorhergehenden den Grund für das Folgende, und obgleich wir von der Ursache selbst und wodurch sie die Wirkung herbeifuhrt, keine Erfahrung haben und was der Erscheinung einer Veränderung von Seiten der Dinge selbst entspricht, nicht kennen; so haben wir doch einen Begriff davon, was das Gesetz der Ursäch- lichkeit für unsere Erfahrung bedeutet. Die Veränderung ist mit ihrer Ursache notwendig verknüpft; denn wir denken uns in ihrer Ursache den Grund ihres Eintretens und wir müssen dies denken, so gewiß wir allein durch dieses Denken zur Unterscheidung der subjektiven Folge unserer Wahrnehmungen von der Folge in den Gegen- ständen der Erfahrung gelangen können.

Diese Kantischen Gedanken und damit das Prinzip der Kausalität selbst lassen sich noch bestimmter fassen; und was erst zum Gegenstande unseres folgenden Vor- trages gehört, darf schon in dem gegenwärtigen Zu- sammenhange angedeutet werden. Wir unterscheiden heute zwei Klassen von Ursachen in der Natur: Aus- lösungen und Ursachen im engeren Sinne. Durch die Bewegung eines Hebels werde eine Maschine in Gang gebracht ; die Bewegung ist hier die auslösende Ursache der Arbeit der Maschine, die Form der Arbeit hängt von der Konstruktion der Maschine, der Anordnung und dem Ineinandergreifen ihrer Teile ab, die Größe der Arbeit oder der mechanische Effekt steht in Über- einstimmung mit der Größe der Triebkraft, die die

1 1 8 Vierter Vortrag.

Maschine in Gang erhält, z. B. der Spannkraft des Dampfes; und diese Ursache des mechanischen Effektes bezeichnen wir in unserem Falle als Ursache im engeren Sinne. Das allgemeine Kausalgesetz gilt von beiden Klassen von Ursachen. Es schließt von der Natur und Erfahrung ebenso die Möglichkeit aus, daß eine „Aus- lösung" von selbst entstehe, oder daß ein körperliches System von selbst aus der Ruhe in Bewegung über- gehe, wie es ausschließt, daß etwas in der Größe der Wirkung entsteht, was nicht von der Größe der Ursache vergangen ist, oder von der Größe der Ursache vergeht» was nicht in der der Wirkung unvermindert fortbesteht, kürzer: daß ein Teil der Wirkung aus nichts entsteht, ein Teil der Ursache in nichts vergeht. Kant hat diese Unterscheidung nicht völlig übersehen; er hat für den allgemeinen Kausalsatz die Formel: „alles, was geschieht, anhebt zu sein, setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt" und knüpft zugleich die Veränderung an ein beharrliches Substrat an mit der Erklärung: Ver- änderung ist eine Art zu existieren, welche auf eine andere Art zu existieren eines und desselben Objektes folgt; und ganz deutlich spricht er das Gesetz der Er- haltung der Ursachen in den Wirkungen in einer Auf- zeichnung aus: „eine jede Veränderung in der Welt ist nur eine Fortsetzung einer schon vorhandenen Reihe und es hört ebenso viel auf, als anfängt zu sein." Auch nennt Kant in demselben Sinne den Begriff der Substanz den „prinzipialen".

Der Grundsatz der Beharrlichkeit ist allgemeiner als das Prinzip der Kausalität; denn Kausalität schließt Beharrlichkeit in sich ein. Unsere Betrachtung führt uns daher zum Substanzprinzipe zurück, und vom Ver- hältnis Kants zu Hume zum Verhältnis Kants zu Locke.

Die Grundlagen der Erkenntnis. 11^

Es ist das Verdienst Lockes, gezeigt zu haben, daß das „Wesen" der Substanz unerkennbar ist, daß es sich nicht verstehen lasse, wie etwas Substanz sei. Es fehlt dafür in der Erfahrung an jeder „einfachen Idee", jedem inhaltlichen Elemente; der Begriff der Sub- stanz stammt nicht von dem Inhalte der Erfahrung ab. Damit hat Locke die formale Auffassung dieses Begriffes vorbereitet; damit ist aber auch sein Anteil an der Theorie desselben erschöpft. Die Substanz drückt nicht das „Wesen" irgend eines Dinges aus, sondern ein all- gemeines Verhältnis der Dinge zur Erfahrung; ihr Be- griff gehört zur Form der Erfahrung.

Locke nahm an der Vorstellung einer Entstehung von Substanzen keinen Anstoß; denn er redet gelegent- lich von der Möglichkeit ihrer Vermehrung in der Welt. Wenn wir diese Annahme unbedingt von der Natur und Wirklichkeit ausschließen, so geschieht es nicht deshalb, weil die Erfahrung eine solche Vermehrung bisher nicht gezeigt hat, sondern, weil die Vorstellung davon dem Begriff der Erfahrung widerspricht. Schon im frühesten Zeitalter der Wissenschaft und viele Jahrhunderte vor Beginn der exakten Forschung wurde der Satz: daß nichts aus nichts entstehe und nichts in nichts vergehe, der unmittelbare Folgesatz des Satzes der Substanz, als Axiom des Naturerkennens aufgestellt. Und doch waren die alten Denker, die zuerst dieses Axiom aussprachen, für ihre Behauptung desselben nur auf das logische Denken angewiesen, da die ungenauen Wahrnehmungen der Sinne dafür nicht in Betracht kommen konnten. Denn diese scheinen viel eher das Gegenteil jenes Axioms zu lehren; neben relativer Beharrlichkeit zeigen sie ebenso häufig scheinbares Vergehen und Entstehen der Dinge. Wenn also die alten Philosophen dem Sinnen

120 Vierter Vortrag,

scheine zum Trotze die Beharrlichkeit und quantitative Unzerstörlichkeit des Gegebenen behaupteten (Demonax leitete sogar schon aus dem Prinzipe der Beharrlichkeit die Konstanz des Gewichtes der Körper ab), so mußten sie sich dabei auf eine Denknotwendigkeit stützen, die zugleich eine Notwendigkeit für alle Erfahrung ist. Auch die Versuche mit der Wage können das Prinzip der Be- harrung nur innerhalb gewisser Grenzen als ein induktiv allgemeines nachweisen. „Wenn Gewichtsänderungen bei chemischen Vorgängen eintreten sollten, müßten sie weniger als ein Milliontel des Gesamtgewichtes aus- machen; bis zu dieser Genauigkeit kann man das Gesetz der Erhaltung des Gewichtes als bewiesen ansehen." Jeder derartige „Beweis" muß sich übrigens außer auf seine induktive Grundlage auf eine hypothetische Ver- allgemeinerung berufen. Man kann nicht alle Materie wägen ; fällt ein Tropfen ins Meer, so ist es nicht mög- lich, sich durch den Versuch zu überzeugen, daß die Menge des Wassers des Meeres wirklich um diesen Tropfen vermehrt wurde. Niemand zweifelt aber, daß der Tropfen nicht zu nichts geworden ist, auch nicht wenn er verdampft, oder in seine Atome gespalten wird. „Man kann, sagt Kant, die Materien bei allen ihren Veränderungen und Auflösungen nicht so weit verfolgen, um den Stoff immer unvermindert anzutreffen, und ersetzte daher den Mangel eines Beweises (für seine notwendige Unzerstörlichkeit) durch ein Postulat." Ein Beweis dieser Unzerstörlichkeit aus Erfahrung ist in der Tat noch nie geliefert worden und kann auch nie ge- liefert werden. Gesetzt, die dem Gewichte proportionale Masse eines Köpers zeigte sich tatsächlich veränderlich, so würden wir nicht schließen: also gibt es in der Natur nichts absolut Beharrliches, wir würden schließen:

Die Grundlagen der Erkenntnis. 121

also ist nicht die Masse die Substanz, sondern irgend etwas anderes, z. B. die Raumerfüllung durch die Materie. „Die Beobachtung muß zeigen, welches die Substanz ist", daß es aber in jeder Erscheinung etwas Beharrliches geben müsse, ist dabei immer vorausgesetzt. Oder, es anders zu wenden, daß die Masse beharrt ist ein durch Erfahrung gefundener und dadurch allein niemals absolut sicher zu stellender Satz; daß die Substanz beharrt d.i. in aller Erscheinung irgend etwas Beharrliches enthalten sein muß, ein die Erfahrung ermöglichender Satz.

Das Prinzip der Beharrlichkeit ist ein Gesetz des Daseins der Erscheinungen, sofern sie Gegenstände der Erfahrung sind. „Wir können nur in dem, was beharrt, das Wechseln bemerken; wenn alles fließt, so kann das Fließen selbst nicht wahrgenommen werden. Die Er- fahrung also vom Entstehen und Vergehen ist nur durch das, was beharrt, möglich; also ist etwas in der Natur, was bleibt: Substanz." Kant fugt diesem Beweis die Erläuterung hinzu: das Vergehen schlechthin und ebenso das Entstehen aus nichts, ohne daß es bloß eine Be- stimmung des Beharrlichen betreffe, ist darum unerfahr- bar, weil eine leere Zeit kein Gegenstand möglicher Wahrnehmung sein kann, „Wird aber das Entstehen an Dinge angeknüpft, die vorher waren und bis zu dem, das entsteht, fortdauern, so war das letztere nur eine Bestimmung des ersteren, als des Beharrlichen. Ebenso ist es auch mit dem Vergehen." Alle Vergangenheit und alle Zukunft, die sich in der Gegenwart berühren^ bilden eine einzige Zeit. Nun ist die Zeit die Form oder das Gesetz der Erscheinungen und an Erscheinungen allein kann sie selber wahrgenommen werden und zu unserer Erfahrung gelangen. Es muß also in den Er- scheinungen selbst etwas gegeben sein, das die Einheit

122 Vierter Vortrag.

und den durchgängigen Zusammenhang der Zeit selbst darstellt und Vergangenheit und Zukunft verknüpft. „Dasjenige aber, woran alles Dasein in der vergangenen, sowohl als der künftigen Zeit einzig und allein bestimmt werden kann, muß ein Dasein zu aller Zeit haben"; es muß in jeder Zeit anzutreffen, mithin beharrlich und sich selbst gleich sein, während seine Zustände sich ändern und unsre Wahrnehmungen wechseln. Und so kann jeder Anfang eines Zustandes „immer nur ein Übergang aus einem vorigen sein, denn sonst würden wir nicht erfahren, daß er angefangen habe; daher gilt immer dasselbe Objekt von dem einen Zustand sowohl als dem anderen und auch die Grenze beider ist gemeinsam". „Die Einheit der Erfahrung würde nicht möglich sein, (die Wahrnehmungen hätten kein einheitliches Objekt), wenn wir neue Dinge der Substanz nach entstehen lassen ; denn alsdann fiele dasjenige weg, welches die Einheit der Zeit allein vorstellen kann, nämlich die Identität des Substrates, woran aller Wechsel allein durchgängige Einheit hat."

Kant leitete also das beharrliche Dasein nicht aus der Erfahrung ab, die es auch niemals mit Sicherheit zeigen könnte; er leitet die Erfahrung von der Voraus- setzung eines beharrlichen Daseins ab. Sein Beweis ist „transcendental" ; er wird weder aus dem bloßen Begriff einer Substanz geführt, noch aus der Erfahrung, sondern in Beziehung auf Erfahrung ihrer Möglichkeit nach, so also, daß er durch die Wirklichkeit der Erfahrung be- stätigt wird. So gewiß Erfahrung besteht, so gewiß gelten die Voraussetzungen, ohne welche sie nicht be- stehen würde.

Man konnte in dem Beweis der allgemeinsten Naturgesetze, zu denen die Prinzipien der Erhaltung der

Die Grundlagen der Erkenntnis. I23

Substanz und der Kausalität der Veränderungen gehören, niemals weiter kommen, als zu zeigen, daß, ohne diese Prinzipien gelten zu lassen, die Naturerscheinungen nicht begreiflich wären. Daß es Dinge geben müsse, die not- wendig mit jenen Gesetzen übereinstimmen, und von welcher Art diese Dinge seien, konnte man nicht be- weisen. Man begnügte sich daher, jene Prinzipien als Postulate des Naturerkennens aufzufassen, von denen man aber nicht wie von Postulaten der Mathematik zugleich be- haupten konnte, daß sie notwendig durch die Objekte er- füllt werden müssen. Durfte man sie allenfalls durch die bisherige Erfahrung, so weit die Kenntnis davon reicht und innerhalb der Grenzen der Beobachtung, als tatsächlich bestätigt ansehen; der Grund dieses glücklichen Zu- sammentreffens der Tatsachen mit Forderungen unseres Denkens blieb ebenso verborgen, wie das Recht un- erwiesen, sie auf alle weitere Erfahrung anzuwenden. Kant löste diese Bedenken und Fragen durch eine „Umänderung der Denkart", die er mit jener des Kopernikus verglich: er machte jene Prinzipien zu Grundsätzen der Erfahrung. Sie drücken nach ihm die Bedingungen aus, unter denen ein Gegenstand überhaupt stehen muß, um zu unserer Erfahrung zu gelangen. Nicht darum also gelten sie, weil ohne sie Wissenschaft nicht möglich wäre, denn dies versteht sich von selbst, sondern weil ohne sie Erfahrung, mithin das Objekt der Wissenschaft nicht möglich ist.

„Es sind viele Gesetze der Natur, die wir nur ver- mittelst der Erfahrung wissen können, aber die Gesetz- mäßigkeit in Verknüpfung der Erscheinungen, d. i. die Natur überhaupt, können wir durch keine Erfahrung kennen lernen, weil Erfahrung selbst solcher Gesetze bedarf, die ihrer Möglichkeit a priori zum Grunde liegen."

124 Vierter Vortrag.

Die obersten Gesetze der Natur sind die Gesetze der Erfahrung der Natur, und in Bezug auf sie ist Natur und mögliche Erfahrung ein und dasselbe. Wir verstehen unter Natur „das Dasein der Dinge, sofern es nach all- gemeinen Gesetzen bestimmt ist," oder, da uns die Dinge als Erscheinungen gegeben sind, die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen. Dasselbe aber ver- stehen wir unter Erfahrung; denn nur durch allgemein giltige Verknüpfung der Erscheinungen besteht Er- fahrung. Natur überhaupt und mögliche Erfahrung sind mithin Wechselbegriffe; daher Kant sagen konnte: „die Sinnenwelt ist entweder gar kein Gegenstand der Er- fahrung oder eine Natur". Die Gesetze des Denkens, die in Verbindung mit den Gesetzen unseres An- schauens Erfahrung ihrer allgemeinen Form nach be- gründen, sind zugleich die Gesetze, die das Dasein der Gegenstände der Erfahrung auf allgemeingiltige Weise bestimmen, und folglich die Gesetze der Natur über- haupt. So ist das „anfangs befremdliche" Wort zu ver- stehen: „der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor". Er ist mit seinen nicht-empirischen Begriffen und Grund- sätzen nur der Urheber „der allgemeinen Ordnung der Natur", weil er Urheber der Erfahrung ist; die be- sondere Ordnung, die empirische Gesetzlichkeit der Natur ist allein aus der Erfahrung zu erkennen; ihre Urheber sind die Dinge selbst vermittelst ihrer Erschei- nungen für unsere Sinne. „Die Naturerscheinungen sind Gegenstände, die uns unabhängig von unseren Begriffen gegeben werden, zu denen also der Schlüssel nicht in uns und unserem reinen Denken, sondern außer uns liegt. Fangen wir nicht von Erfahrung an oder gehen wir nicht nach Gesetzen des empirischen Zu-

Die Grundlagen der Erkenntnis. 125

sammenhanges der Erscheinungen fort, so machen wir uns vergeblich Staat, das Dasein irgend eines Dinges erraten oder erforschen zu wollen."

Die obersten formalen Gesetze der Erfahrung und dadurch der Natur sind als Folge eines einzigen Prinzipes zu betrachten; sie drücken die Einheit des denkenden Bewußtseins in aller Anschauung und Erfahrung aus; in diesem Punkte treffen der empirische und der reine Faktor des Erkennens zusammen.

Erscheinungen sind Vorstellungen, die durch Dinge gegeben werden. Als Vorstellungen stehen sie unter der Bedingung, je zu einem einzigen, numerisch identischen Ich zu gehören, d. i. möglicher Inhalt eines Selbst- bewußtseins zu sein. Es kann keine Einheit des Objektes es kann kein Objekt vorgestellt werden, ohne absolute Einheit des vorstellenden Subjektes. „Das: ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können, sonst wären es nicht meine Vorstellungen", und ich könnte nichts von ihnen wissen. Durch das Ich aber als ein- fache Vorstellung ist nichts Mannigfaltiges gegeben. Aus dem «Ich gleich Ich", das nur die Identität des vor- stellenden Subjektes und damit die Form eines Bewußt- seins überhaupt ausdrückt, läßt sich kein Inhalt hervor- zaubern, wie dies Fichte wollte; nur in der Anschauung kann ein Inhalt, ein Mannigfaltiges gegeben werden. Also ist die Einheit, welche die Beziehung auf ein Ich für jede seiner Vorstellungen notwendig macht, eine Einheit durch Verknüpfung, eine „synthetische" Einheit. Die Erscheinung selbst muß daher in einer Form ge- geben werden, vermöge welcher sie verknüpf bar ist, d. i. Gegenstand eines Selbstbewußtseins sein kann. „Die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer Anschauung gegeben werden, müssen der Bedingung notwendig

126 Vierter Vortrag.

gemäß sein, unter der sie allein in einem möglichen Selbst- bewußtsein zusammen bestehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden. Synthetische Einheit des Mannigfaltigen als a priori gegeben, ist der Grund der Identität der Apperception selbst (d. i. des Selbstbewußtseins), die a priori allem meinem bestimmten Denken zum Grunde liegt." Die allgemeine Form des Objektes also ist aus der Beziehung seiner Vorstellung zu einem Ich-Bewußtsein zu erkennen. Die „Synthesis", oder die Verknüpfung des Gegebenen zu einem einheit- lichen Bewußtsein wird zwar nur durch das Denken voll- zogen; aber in dem Gegebenen selbst sind die Be- dingungen für die Möglichkeit dieser einheitlichen Ver- knüpfung vorauszusetzen. In diesem Sinne heißt es: „die synthetische Einheit des Bewußtseins ist eine objektive Bedingung der Erkenntnis, nicht deren ich bloß selbst bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen muß, um für mich Ob- jekt zu werden." Sehr klar und faßlich drückt Kant diesen tiefsten Gedanken seiner theoretischen Philosophie in dem ersten Entwürfe desselben aus: „die Dinge, die uns a posteriori (d. i. durch empirische Anschauung) gegeben werden mögen, müssen ebenso wohl ein Ver- hältnis zum Verstände haben, d. i. eine Art der Er- scheinung, dadurch es möglich ist, von ihnen einen Begriff zu bekommen, als ein Verhältnis zur Sinnlichkeit." Die Dinge sind daher nicht bloß tat- sächlich „associabel", d. h. es lassen sich von ihnen wirklich empirische Begriffe bilden, sie sind notwendig associabel, sie stehen in ursprünglicher „Affinität" oder Gemeinschaft zu einander; ihre Form entspricht der Form des Denkens. Dinge, die mit der Einheitsform des Denkens nicht übereinstimmen würden, könnten auch

Die Grundlagen der Erkenntnis. 127

keine Gegenstände für ein Bewußtsein bilden; sie wären keine Gegenstände möglicher Erfahrung. Die Form des Bewußtseins überhaupt ist auch die Form eines Gegen- standes überhaupt; Subjekt- und Objekt Bewußtsein stimmen in der ihnen wesentlichen Form der Einheit überein. So notwendig einheitlich das Denken, so not- wendig einheitlich ist der Gegenstand des Denkens. Wenn es außer der zu unserer Erfahrung gelangenden Wirklichkeit noch eine chaotische und regellose geben würde, Gegenstand des Denkens könnte sie niemals werden. Soweit die Dinge Gegenstände des Denkens sind, oder bildlich gesprochen nach ihrer uns zuge- kehrten Seite müssen sie ihrer eigenen Form nach denk- bare Dinge sein; soweit sind die Gesetze des Denkens zugleich die Gesetze der Dinge selbst. Die Dinge in der Erfahrung stehen unter den Denkgesetzen und darum ist Erfahrung Erkenntnis.

FÜNFTER VORTRAG.

DER NATURWISSENSCHAFTLICHE UND DER PHILOSOPHISCHE MONISMUS.

Mechanistische Anschauungen man nennt sie gewöhnlich materialistische treffen heute im Kreise der Naturforschung selbst auf Widerspruch, oder man begegnet ihnen doch mit einer Zurückhaltung, die sehr verschieden ist von der Zuversicht, mit der sie noch bis vor kurzem behauptet wurden. Es waren nicht, wie man wohl denken könnte, erkenntnistheoretische Er- wägungen, die zu dem Zweifel führten: ob in den Be- griffen von Masse und Kraft oder Masse und Bewegung wirklich die ausreichenden Darstellungsformen für die Vorgänge in der Natur gegeben seien; obschon auch Erwägungen dieser Art in der Wissenschaft unserer Zeit immer mehr Gewicht und Einfluß gewinnen. Insbesondere handelte es sich, um gleich den wichtigsten Gegenstand zu nennen, nicht um die Frage nach der Entstehung von Bewußtsein, eine Frage, die für eine rein mecha- nistische Naturanschauung, wie es sich von selbst ver- steht, transcendent bleiben muß, und auf welche daher ein Wortführer dieser Anschauung ganz folgerichtig sein: ignorabimus zur Antwort gab. Die Kritik des mecha- nischen Weltbildes ist vielmehr zu einer inneren Ange- legenheit der Naturwissenschaft selbst geworden. Dieses Bild, übertragen von den sichtbaren Bewegungen der

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus, 129

Massen, vor allem der kosmischen, auf die unsichtbaren von Massenelementen, die zum Teil erst um des Bildes willen angenommen werden, erweist sich schon als un- geeignet oder doch unbequem, wenn es physikalische Vorgänge darstellen soll, die wie die thermischen und die elektrischen nicht unmittelbar mechanischer Be- schaffenheit sind, in die Sprache der Mechanik also erst übersetzt werden müssen. Wohl wird die Einbildungs- kraft des Naturforschers für solche Vorgänge mechanische Modelle ersinnen können und wer wollte ihr dies verwehren? , mehr aber an empirischem Gehalt kann sie in ihre Symbole nicht aufnehmen, als schon ohne sie durch die Tatsachen gegeben wird. Im Gegenteil, vieles von der Eigenart der Erscheinungen muß fallen gelassen werden, wenn sich die Zeichnung auf die äußeren Um- risse des Geschehens beschränkt. Dies soll uns jedoch nicht abhalten, den Wert solcher Mittel der Veranschau- lichung anzuerkennen, und an dem Bildersturm, den ein namhafter Naturforscher jüngst erregt hat, brauchen wir uns nicht zu beteiligen. Mit der nämlichen Notwendig- keit, mit welcher unser Geist Begriffe abstrahiert, schafft er auch Bilder für seine Begriffe. Und so werden wir fortfahren, in der mechanischen Symbolik ein „universelles Abbildungs verfahren" zu sehen, da ja jeder physikalische Vorgang in der Tat eine mechanische Seite hat^ wenn wir auch von ihr nicht länger ein „vollständiges Weltbild" erwarten.

Der Anstoß zu der antimechanistischen Bewegung in der theoretischen Naturwissenschaft ging von der größten wissenschaftlichen Entdeckung des neunzehnten Jahrhunderts aus, von der Entdeckung der Erhaltung der Energie. Hier war ein Prinzip gefunden, zu dessen

*

i\,uffindung und Beweis die Mechanik nichts wesentliches

Riehl, Philosophie der Gegenwart. g

I 00 Fünfter Vortrag.

beigetragen hat und das durch die nachträgliche mecha- nische Deutung an Sicherheit nichts gewinnen konnte, an Allgemeinheit dagegen verlieren mußte. Zu der von Lavoisier nachgewiesenen Unveränderlichkeit der Masse war jetzt eine zweite Invariante, eine zweite unveränder- liche Größe in der Natur hinzugekommen, die man anfangs „Kraft" nannte, die wir heute nach dem Vor- gang von William Thomson als Energie bezeichnen. Was lag nun näher, als zu versuchen, statt mit zwei Größen mit Einer auszulangen und als diese Eine Größe die Energie zu betrachten; entspricht doch dieser Ver- such dem Streben des Denkens nach möglichster Ver- einfachung und Einheit. Und so ist heute zu dem mechanischen Weltbilde in seinen beiden Formen, dem System der Beschleunigungen und dem System starrer Massenverbindungen, ein weiteres: das energetische hin- zugetreten, das als seinen Vorzug rühmt, alles Hypo- thetische auszuschließen und sich auf die meßbaren Erscheinungen zu beschränken, aber freilich dafür auf Anschaulichkeit im einzelnen verzichten muß. Dieses energetische Weltbild ist der naturwissenschaftliche Monismus.

Es gibt in der Geschichte der Wissenschaft viel- leicht kein zweites Beispiel, bei welchem der Erfolg des Zusammenwirkens von Erfahrung und Denken so un- mittelbar und augenfällig hervortritt, wie bei der Auf- findung und dem Beweis des Energieprinzipes und darum soll hier auf die erste Entdeckung dieses Prinzipes näher eingegangen werden.

Im Jahre 1842 erschien im Maiheft von Liebigs Annalen der Chemie ein kleiner Aufsatz unter der Über- schrift: Bemerkungen über die Kräfte der unbe- lebten Natur. Der Autor war ein damals noch unbe-

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus, 131

kannter Arzt in Heilbronn, Julius Robert Mayer. Die Schrift führte sich selbst als eine solche ein, die sich mit ihren Gedanken an „Freunde klarer hypothesen- freier Naturanschauung" wenden will und ihr Zweck war anscheinend nur, die herkömmlichen, mit dem Worte Kraft verknüpften Begriffe zu berichtigen und durch Beseitigung alles „Unbekannten, Unerforschlichen und Hypothetischen" aus dieser Benennung den Begriff der Kraft so präzis aufzufassen, wie den der Materie. Nur als eine praktische Folgerung und gleichsam als Resume erscheint zum Schlüsse die erste Berechnung des mechanischen Äquivalentes, oder des Arbeitswertes der Wärme. Was die kleine Abhandlung, mit deren Veröffentlichung ihr Verfasser sich nur die Priorität seiner Entdeckung sichern wollte, an grundlegenden Gedanken sonst noch enthielt, so den Begriff der Distanzenergie, die hier unter dem Namen „Fallkraft" zum ersten Male erscheint, konnte erst von einer späteren Zeit zum Verständnis gebracht werden. Mayer hatte bei seiner Rückkehr aus Ostindien, wohin er als Schiffsarzt in hoUändichen Diensten gekommen war, ein neues „System der Physik" mitgebracht, von dem er wußte und voraussagte, daß es, wenn es sich bewahr- heiten lasse, eine Umwälzung und Neugestaltung dieser Wissenschaft herbeiführen müsse. Und die Zeit hat seine Voraussage erfüllt. Den Grundgedanken der neuen Physik sprach Mayer sogleich in klarer Fassung in einem Artikel aus, der aber in der Zeitschrift, für die er be- stimmt war, nicht zum Abdruck gelangte. „Bewegung, Wärme, Elektrizität sind Erscheinungen, welche auf eine Kraft zurückgeführt werden können, einander messen und nach bestimmten Gesetzen ineinander übergehen. Bewegung geht in Wärme über dadurch, daß sie durch

9*

132

Fünfter Vortra?.

eine entgegengesetzte Bewegung oder durch einen festen Punkt neutralisiert wird, die entstandene Wärme ist der verschwundenen Bewegung proportional Die Wärme andererseits geht in Bewegung dadurch über, daß sie die Körper ausdehnt." Wir sind in den Stand gesetzt, die Entwickelung dieses Gedankens von seinem ersten Keime bis zu seiner Vollendung zu verfolgen, so schlicht und unmittelbar, schmucklos und aufrichtig sind Mayers briefliche Mitteilungen darüber und sein Bericht in den , Bemerkungen über das mechanische Äquivalent der Wärme" aus dem Jahre 185 1. Danach kann es nicht länger einem Zweifel unterliegen, daß Mayer bei seiner Entdeckung den nämlichen Weg eingeschlagen hat, der bei einer naturwissenschaftlichen Entdeckung noch jedes- mal eingeschlagen wurde: den Weg denkender Be- obachtung, unterstützt durch das Experiment. Eine ihm auffällige Beobachtung, oder wie Mayer es bescheiden ausdrückt: ein Zufall, brachte seine Gedanken auf die neue Bahn. Bei Aderlässen, die er nach der Therapie der damaligen Zeit auf Java an eben angekommenen Europäern vorzunehmen hatte, überraschte ihn die hell- rote Farbe des Venenblutes. Er deutete sich die Er- scheinung, die sogleich seine volle Aufmerksamkeit fesselte, nach der Theorie Lavoisiers, der zufolge die animale Wärme das Ergebnis des am Blute stattfindenden Verbrennungsprozesses ist. Der Größe des Farben- unterschiedes zwischen den beiden Blutsorten entspricht die Stärke der an dem Blute vorgegangenen Ver- brennung; bei dem viel geringeren Wärmebedarf in den Tropen muß aber ein entsprechend geringerer Oxydations- vorgang eintreten: daher die hellrote Färbung des venösen Blutes. An diese schöne Bestätigung der Theorie La- voisiers knüpfte sich für Mayer sogleich eine weitere

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. iß?

Frage an. Der Tierkörper vermag auf zwei Wegen Wärme zu erzeugen: unmittelbar in seinem Inneren durch Oxydation der dem Blute zugefiihrten Nahrungs- mittel und mittelbar an andern Körpern durch mecha- nische Arbeit, wie Stoß, Reibung, Kompression der Luft. „Nun ist zu wissen nötig: ob die direkt entwickelte Wärme allein, oder ob die Summe der auf direktem und indirektem Wege entwickelten Wärmemengen auf Rechnung des Verbrennungsprozesses zu bringen ist?" d. h., wir wollen wissen: ob sich bei gleichbleibendem Materialverbrauche die unmittelbar entwickelte Wärme- menge um den Betrag der mittelbar entwickelten ver- mindere, oder ob diese als Mehr zu jener hinzukomme. Schon aus der Stellung dieser Frage, die, wie man leicht sieht, die mechanische Wärmetheorie im Keime enthält, gibt sich die große Originalität Mayers zu erkennen: war es doch von jeher das Vorrecht des geborenen Forschers, des Forschers von Gnaden der Natur, an die Natur mit richtigen und bestimmten Fragen herantreten zu können. Mayer findet die Ant- wort auf seine Frage bereits in dem Hauptsatz der physiologischen Verbrennungstheorie gegeben. Nach diesem Satze ist die Wärmemenge, welche bei der Oxydation einer gegebenen Menge von Material ent- steht, eine unveränderliche, von den Umständen der Verbrennung unabhängige Größe. Sie kann also auch durch den Lebensprozeß keine Größenveränderung er- leiden, d. i. der lebende Organismus vermag nicht Wärme aus Nichts zu erzeugen; es bleibt also nur die Annahme zulässig, daß die gesamte, teils unmittelbar, teils auf mechanischem Wege vom Tierkörper ent- wickelte Wärme dem Verbrennungseffekte quantitativ gleich ist. Dann muß aber auch „die vom lebenden

l^A Fünfter Vortrag.

Körper erzeugte mechanische Wärme mit der dazu ver- brauchten Arbeit in einem unveränderlichen Größen- verhältnis stehen. Denn, könnten durch die nämliche Arbeit und bei gleichbleibendem organischen Ver- brennungsprozesse verschieden große Wärmemengen er- zielt werden, so würde ja die produzierte Wärme bei einem und demselben Materialverbrauche bald kleiner, bald größer ausfallen können, was gegen die Annahme ist." Und da endlich zwischen der mechanischen Leistung der Tierkörper und anderen anorganischen Arbeitsarten kein wesentlicher Unterschied besteht, so ist „eine un- veränderliche Größenbeziehung zwischen Wärme und Arbeit ein Postulat der physiologischen Verbrennungs- theorie". Gedanken wie diese erfüllten Mayer bei seiner Rückfahrt aus Java; das Ganze seiner Lehre stand in hellstem Lichte vor seinem Geiste und er hatte Stunden, in denen er sich gleichsam inspiriert fühlte. Von der Physiologie sah er sich zur Chemie, von dieser auf die Physik verwiesen und vor eine physikalische Aufgabe von prinzipieller Bedeutung gestellt: die Aufgabe, die vorausgesetzte Gleichung zwischen Arbeitsverbrauch und Wärmeerzeugung aufzulösen, d. h. die in Betracht kommenden Größen zu bestimmen. In der Lösung dieser Aufgabe sah er eine „Lebensfrage" für seine Theorie, so wenig genügte ihm für sie ein Beweis a priori, mochte sich ein solcher auch mit „mathe- matischer Gewißheit" führen lassen. Er forderte viel- mehr vor allem die Bestätigung durch den Versuch; seine Theorie, erklärt er, wäre widerlegt, wenn die Er- fahrung Gegenteiliges lehren würde. Auf höchst sinn- reiche und, wie heute nicht mehr bestritten wird, völlig einwandfreie Weise löste Mayer seine Aufgabe. Er ging von den Untersuchungen über die Wärmeverhältnisse

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 125

der Gase bei constantem Druck und bei constantem Volum aus und nahm so den einzigen Weg, der ohne neue Experimente zum Ziele führte, und zwar mit klarem Bewußtsein von der Richtigkeit dieses Weges. Die Ver- suche von Gay Lussac hatten gezeigt, daß die spezifische Wärme eines Gases keine merkliche Veränderung er- fährt, wenn das Gas in einen luftleeren Raum strömt, daß also zur Ausdehnung eines Gases an und für sich ein Wärmeaufwand nicht erforderlich ist. Mit Berufung auf diese Versuche und auf die Tatsache, daß ein Gas, das sich unter einem Drucke ausdehnt, eine Temperatur- verminderung erleidet, setzte Mayer die bei dem Zu- sammendrücken eines Gases verbrauchte Arbeit der bei der Kompression des Gases entbundenen Wärme gleich und berechnete^ so zum ersten Male den Arbeitswert der Wärme.

Diese naturwissenschaftliche Gedankenreihe ist bei Mayer getragen und verknüpft durch allgemein-wissen- schaftliche oder philosophische Anschauungen, deren Richtigkeit nicht erst durch den Erfolg erwiesen zu werden braucht, die vielmehr die Gewähr für ihre Wahr- heit in sich selber haben.

Arbeit und Wärme lassen sich unmittelbar nicht vergleichen; es gibt kein für beide gemeinschaftliches Maß. Sie können also nur unter gewissen Voraus- setzungen gleich gesetzt werden. Der Versuch kann niemals mehr zeigen als Proportionalität, d. i. ein direktes und bestimmtes Verhältnis ihrer Größen: einem be- stimmten Betrage von Arbeitsverbrauch entspricht jedes- mal ein gleichfalls bestimmter Betrag von Wärmegewinn und umgekehrt muß eine bestimmte Menge von Wärme verbraucht werden, um ein bestimmtes Maß von Arbeit zu leisten. Mayer schließt aber aus der Proportionalität

I^ö Fünfter Vortrag.

nicht bloß auf Äquivalenz oder Gleichwertigkeit, er schließt auf Gleichheit der Größen, genauer auf Identität der Größe. Es sind nicht zwei Größen da, es ist nur eine Größe da, nur erscheint sie in zwei Formen und muß daher nach verschiedenem Maße geraessen werden. „Was in einem Augenblick Wärme ist, ist im nächsten Bewegung und dasselbe gilt auch umge- kehrt." Hier nun greifen die allgemein-wissenschaftlichen Anschauungen ein, die sich Mayer von der Form des ursächlichen Zusammenhanges gebildet hatte und welche für seine Theorie nicht minder wesentlich sind als Be- obachtung und Experiment. Jedes richtig gedachte Kausalverhältnis muß eine Gleichung enthalten; denn Kausalität beruht auf dem Fortbestehen der Größe der Ursache als Größe der Wirkung; so gewiß ein Entstehen aus Nichts und ein Vergehen in Nichts ausgeschlossen ist von allem Denken und aller Erfahrung. „Ursache und Wirkung bezeichnen nichts als verschiedene Er- scheinungsformen eines und desselben Objektes." Die Anwendung dieses Satzes auf das meßbare Objekt, das wir nach Mayer „Kraft" zu nennen haben, ist der allgemeine Satz der Erhaltung der Kraft oder der Energie. Ein direkter Beweis ist so wenig von diesem Satze möglich, wie von dem parallelen der Erhaltung der Materie; ohne die Voraussetzung des Satzes aber wäre die Beobachtung richtungslos und der Beweis durch das Experiment unvollständig. Die Unzerstörlichkeit der „Kraft" mußte in Gedanken festgestellt sein, um auch nur die Frage aufwerfen zu können, was aus der ver- schwundenen Bewegung geworden sei und woher die entstandene Bewegung stamme. Ohne das Prinzip der Beharrlichkeit im voraus anzunehmen, kann der em- pirische Beweis desselben nicht begonnen werden, ohne

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. i^T"

dieses Prinzip ist er aber auch nicht zu vollenden. Es gibt Grenzen der messenden Beobachtung, ein voll- ständiger Beweis der quantitativen Unveränderlichkeit es sei der Energie, oder der Materie, läßt sich daher durch Beobachtung allein nicht liefern. Warum sollte nicht die Äquivalenzzahl bei irgend einer Umwandlung von Energie um äußerst weniges kleiner sein können als bei der Verwandlung in umgekehrter Richtung. Und gesetzt, wir lassen unsere Messungen für absolut genau gelten, warum sollte nicht die verschwundene Bewegung tatsächlich vernichtet, die entstandene Wärme aus nichts geschaffen sein, stünde nicht von vorne herein fest, daß nichts aus nichts entstehen, nichts in nichts vergehen kann? Ohne diesen verbindenden Gedanken fielen die Glieder unseres Beweises auseinander, der Faden würde reißen, der die auf einanderfolgenden Erscheinungen einheitlich verknüpft. Das Denken ergänzt die reine Erfahrung.

In wahrhaft mustergiltiger Weise wirken bei Mayers Entdeckung Erfahrung und Denken zusammen; der An- teil der Tatsachen und die Bedeutung ihrer begrifflichen Erfassung zur Herbeiführung des Schlußergebnisses treten auf das Klarste hervor. „Wir sehen in unzähligen Fällen eine Bewegung aufhören, ohne daß sie eine andere Be- wegung oder eine Gewichtserhebung hervorgebracht hätte; eine einmal gegebene Kraft kann aber nicht zu Null werden, sondern nur in eine andere Form übergehen und es fragt sich somit, welche weitere Form die Kraft,, die wir als Fallkraft und Bewegung kennen gelernt, an- zunehmen fähig sei? Nur die Erfahrung kann uns darüber Aufschluß geben." Das allgemeine Prinzip der Größenunveränderlichkeit der Energie gibt uns die An- weisung, nach der besonderen Erscheinungsform für die

1^8 Fünfter Vortrag.

verschwundene Bewegung zu suchen; die Erfahrung zeigt uns, was für eine Erscheinungsform es sei. Sie zeigt uns, daß in vielen Fällen an Stelle der aufhörenden Bewegung nichts anderes gefunden werden kann als die Wärme. Und „so ziehen wir die Annahme, Wärme entsteht aus Bewegung, der Annahme einer Wirkung ohne Ursache und einer Ursache ohne Wirkung vor, wie der Chemiker statt H und O ohne Nachfrage ver- schwinden und Wasser auf unerklärte Weise entstehen zu lassen, einen Zusammenhang zwischen H und O einer- und Wasser andererseits statuiert." Das Gefüge dieses Schlusses würde sich lösen, wollten wir den einen oder den anderen der beiden Pfeiler, die ihn tragen, herausnehmen; ohne Erfahrung bliebe das allgemeine Prinzip der Beharrlichkeit eine bloße Denkform für mögliche Dinge, ohne das Prinzip käme es zu keinem Verständnis der Erfahrung.

Enthielt Mayers erste Veröffentlichung, wie es ihrem Zwecke entsprach, außer der Angabe des mechanischen Wärmeäquivalentes nur einige Grundsätze der neuen Lehre, so bringt schon die zweite, 1845 erschienene Schrift: die organische Bewegung in ihrem Zu- sammenhange mit dem Stoffwechsel die Aus- führung der Lehre selbst. Dieses Hauptwerk Mayers ist zum Programme der heutigen Physik geworden. Der Titel Mayer selbst hat dies später empfunden ist nicht gut gewählt; er lenkt die Aufmerksamkeit von der Hauptsache, dem Physikalischen, auf das diesem Untergeordnete, das Physiologische, ab. Wenn gegen- wärtig die Physik als die Lehre von den Erscheinungen und insbesondere den Formänderungen der Energie aufgefaßt wird, so ist Mayer es gewesen, der ihr zuerst diese Aufgabe gestellt hat. „Was die Chemie in Be-

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 139

Ziehung auf Materie, das hat die Physik in Beziehung auf Kraft zu leisten. Die Kraft in ihren verschiedenen Formen kennen zu lernen, die Bedingungen ihrer Metamorphosen zu erforschen, dies ist die einzige Aufgabe der Physik. Es gibt in Wahrheit nur eine einzige Kraft. In ewigem Wechsel kreist dieselbe in der toten wie in der lebenden Natur; dort und hier kein Vorgang ohne Formänderung der Kraft." Sie erinnern sich, daß Mayer mit dem Worte Kraft dasselbe be- zeichnet, was wir heute Energie nennen. Als Haupt- formen der Kraft oder Energie zählt Mayer auf: Fall- kraft oder Distanzenergie, Bewegung, Wärme, Magnetis- mus und Elektrizität, chemische Differenz. Die Ver- wandlungen dieser Energieformen ineinander werden übersichtlich angegeben und an Experimenten erläutert. Es war dies keine „bloße Zusammenstellung bekannter Fakta", wie der Berichterstatter über die Mayersche Schrift in den Berliner „Fortschritten der Physik" noch 1850 behauptete, sondern eine völlig neue Verbindung bekannter und die Mitteilung wichtiger, für die damalige Wissenschaft neuer Tatsachen, so des Wärmekonsums bei der Arbeit einer Dampfmaschine, des Aufwandes von mechanischem Effekt bei der Erzeugung einer elek- trischen und einer magnetischen Spannung. Die Methode der Berechnung des mechanischen Äquivalentes der Wärme wird gezeigt und begründet, das Energieprinzip in seiner größten Verallgemeinerung dargestellt. Der weite Blick des Forschers umspannt die Erscheinungen der Natur von dem Licht der Sonne, das in Wärme verwandelt zur Quelle der Bewegung und des Lebens auf der Erde wird, bis zu den Vorgängen in den pflanz- lichen und tierischen Leibern; aus der Physik des Labora- toriums werden wir in die Physik der freien Natur geführt.

140 Fünfter Vortrag.

Man hat Mayer mit Galilei verglichen und wirklich war er gleich diesem Schöpfer der modernen Wissen- schaft „eine von den Einflüssen der Schule freie Natur". Aber seine Entdeckung war er selbst hat dies immer anerkannt weit mehr vorbereitet, als die Entdeckung Galileis, auch erforderte sie nicht wie diese eine besondere mathematische Erfindungsgabe. Ein oberstes Denkgesetz ließ sich unmittelbar auf die Tatsachen anwenden und die Anwendung durch den Versuch bestätigen. Wohl aber befolgte Mayer das von Galilei eingeführte analytische, oder induktiv-deduktive Verfahren. Auch er ging zu- nächst von einer Beobachtung aus und leitete aus ihr eine theoretische Annahme her, die er in ihre Kon- sequenzen entwickelte; diese Konsequenzen aus seiner Annahme prüfte er sodann an der Erfahrung und be- stimmte schließlich auf Grund eines Experimentes die in der Natur gegebene Konstante: den Arbeitswert der Wärme. In dieser Größenbestimmung sah er das Wesent- liche seiner Entdeckung; flir sie vor allem nahm er das Recht der Priorität in Anspruch. „Was Kraft, was Wärme ist, brauchen wir nicht zu wissen, aber das müssen wir wissen, wie man die Kraft oder Arbeit nach unveränderlichen Einheiten zählt und daß und welche unveränderliche Größenbeziehung zwischen dem Meter- Kilogramm und der Wärmeeinheit stattfindet. Dieses Wissen ist es, welches die Grundlage einer neuen Wissen- schaft bildet und welches eine Neugestaltung der Natur- wissenschaften hervorruft." „Zahlen sind die Fundamente einer exakten Naturforschung." Gegen „alles Hypo- thetisierte und eitel Spekulative" empfand Mayer, den seine Gegner zu einem Metaphysiker machen wollten, die entschiedenste Abneigung. Auch hierin hielt er sich genau auf der Linie, die Galilei der Naturforschung vor-

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 141

gezeichnet hatte; seine Physik ist gleich derjenigen Galileis eine Physik der Tatsachen und der Gesetze, nicht der Hypothesen, wie es die Physik Descartes* war. „In den exakten Wissenschaften hat man es mit den Er- scheinungen selbst, mit meßbaren Größen zu tun. Ist einmal eine Tatsache nach allen ihren Seiten bekannt, so ist sie auch erklärt und die Aufgabe der Wissen- schaft ist beendigt." Aus diesen Sätzen Mayers redet der Geist der Methode unserer heutigen Naturforschung. Als Hypothese betrachtet Mayer alles, „was sich weder beweisen, noch widerlegen läßt". Ausdrücklich erklärte er sich daher auch gegen die „nahe gelegte, aber unerwiesene und zu weit gehende Folgerung, als ob die Wärmeerscheinungen schlechthin als Bewegungs- erscheinung aufzufassen seien". Ihm schien vielmehr das Gegenteil gefolgert werden zu müssen: „daß um zu Wärme werden zu können die Bewegung sei sie die einfache oder eine vibrierende aufhören müsse, Be- wegung zu sein". Er lehnt es ab, den Vorgang der Verwandlung selbst zu erklären: „wie aus der ver- schwindenden Bewegung Wärme entstehe, oder wie die Bewegung in Wärme übergehe, darüber Aufschluß zu verlangen, wäre von den menschlichen Geist zu viel verlangt." Das Wort: umwandeln bedeutet ihm nie etwas anders als eine „konstante numerische Beziehung." ,,In unzähligen Fällen, schreibt er in der ,organischen Bewegung,' gehen die Umwandlungen der Materien und der Kräfte auf anorganischen und organischen Wegen vor unseren Augen vor, und doch enthält jeder dieser Prozesse ein für das menschliche Erkenntnisvermögen undurchdringliches Mysterium. Die scharfe Bezeichnung der natürlichen Grenzen menschlicher Forschung ist für die Wissenschaft eine Aufgabe von praktischem Werte,

142 Fünfter Vortrag,

während die Versuche in die Tiefen der Weltordnung durch Hypothesen einzudringen, ein Seitenstück bilden zu dem Streben des Adepten". Deutlicher gegen alle metaphysische Spekulation und zugleich gegen einen dogmatischen Positivismus kann man sich nicht erklären.

Mayer kam von der Chemie her zur Physik und statt mit Galilei muß man ihn mit Lavoisier vergleichen. Was dieser für die Chemie, hat Mayer für die Physik getan. Er hat den in der Chemie seit Lavoisier be- währten Grundsatz der Unzerstörlichkeit der Substanz auf die Physik übertragen; daher sein Axiom: „eine Kraft ist nicht weniger unzerstörlich als eine Substanz". Diese Übertragung mußte ihm durch die Beobachtung, daß die animale Wärme an einen Stofifverbrauch gebunden ist, besonders nahe gelegt worden sein; auch fand er eine Anknüpfung fiir sie in dem wissenschaftlichen Sprach- gebrauch seiner Zeit, welchem gemäß Wärme, elektrische und magnetische Energie als Imponderabilien, als un- wägbare Substanzen bezeichnet wurden. Daher die zunächst etwas befremdlich erscheinende Begriffsbe- stimmung: „Kräfte sind unzerstörliche, wandelbare, im- ponderable Objekte".

Auch die substantielle Auffassung der Kausalität, Mayers Verdienst um die erkenntnistheoretische Forschung, hat in dieser Verallgemeinerung der chemischen Gesichts- punkte ihre Quelle und nicht in einer bloßen Spekulation. Mayer denkt sich den Vorgang einer Verursachung in zwei Bestandteile zerlegt: der eine gehorcht dem Sub- stanz- oder Beharrungsgesetze, von ihm gilt daher der Grundsatz der Größenübereinstimmung, genauer der Konstanz der Größe von Ursache und Wirkung (causa sequat effectum), er allein soll auch unter dem Aus- druck Ursache zu verstehen sein; der zweite, Mayer

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 14^

nennt ihn Auslösung, hat kein quantitativ bestimmtes Verhältnis zur Wirkung und geht auch nicht in diese über. Für die Größe des mechanischen Effektes einer Explosion z. B. ist es gleichgiltig, ob die Pulvermenge durch einen Funken oder mit einer Fackel entzündet wird; der Funke verwandelt sich auch nicht in Explosion. Wie man sieht, handelt es sich um eine völlig sachge- mäße Unterscheidung und die Forderung Mayers, zwei so gänzlich verschiedene Beziehungen wie Veranlassung und Ursache eines Vorganges nicht mit einem und demselben Namen zu bezeichnen, erscheint durchaus berechtigt. Welche der beiden Beziehungen wir als Ursache bezeichnen wollen ist gleichgiltig, wenn wir nur konsequent verfahren; auch, was die Ursachenfrage angeht, können wir das Wort Mayers über die „Kräfte- frage" benützend sagen, so handelt es sich nicht darum, was Ursache für ein Ding ist, sondern darum, welches Ding wir Ursache nennen wollen. In der lebenden Natur gewinnen die „Auslösungen" gegenüber den „Ursachen" mehr und mehr an Bedeutung und vollends im Be- reiche der menschlichen Geschichte hat sich ihr gegen- seitiges Wertverhältnis umgekehrt. Hier, wo wir vor allem nach der Qualität der Vorgänge fragen, erscheinen uns die Auslösungen als das Wichtigste; sie allein schreiben wir dem Willen des Menschen zu und für sie allein machen wir die Menschen verantwortlich. Diese völlig andere Bedeutung der Auslösungen bildet vielleicht die wesent- lichste Differenz der Geschichte von den Naturwissen- schaften und man könnte versucht sein, die Auslösungen als die historischen Ursachen zu bezeichnen und sie so von den physikalischen zu unterscheiden. Für die letzteren zunächst, die ihrer Form nach quantitativ sind, gilt die Auffassung Mayers. Ursache und Wirkung erscheinen

T/j/j Fünfter Vortrag.

in dieser Auffassung durch den Substanzbegriff zur Ein- heit verbunden. Im Kausalgesetz ist das Substanzgesetz enthalten; die Identität der Größe ist das Band der ur- sächlichen Verknüpfung. Diese Anschauung war in der präzisen Form, in die Mayer sie gebracht, der Wissen- schaft vor ihm verborgen geblieben, wie nahe ihr auch Kant gekommen war. Humes Problem ist erst damit gelöst. Ursächliche Abfolge unterscheidet sich von zeit- licher Folge, auch wenn diese eine vollkommen regel- mäßige ist, durch die Konstanz der Größe, die das Vorangehende mit dem Folgenden einheitlich verbindet; und da diese Verbindung der Form alles Begreifens, dem Satze des logischen Grundes, d. i. der Identität des Grundes in der Folge entspricht, macht sie zugleich die Notwendigkeit im ursächlichen Verhältnis begreiflich. Zwischen den Denkgesetzen und der objektiven Welt besteht eine allgemeine Harmonie und diese nachzu- weisen ist, wie unser Forscher erklärt: „die interessanteste, aber auch die umfassendste Aufgabe, die sich finden läßt." Die Versuche, die Lehre von der Energie zu einer energetischen Naturphilosophie auszubauen, gehen über Mayers eigene Anschauungen hinaus. Zwar hatte Mayer nachgewiesen, daß ein oberstes Naturgesetz: die quanti- tative Unveränderlichkeit des Gegebenen sich auf gleiche Weise über „Kraft" und Materie erstreckt; wie nahe aber auch damit die beiden Begriffe gerückt werden mögen, ein wesentlicher Unterschied, worauf ihre Dualität beruht, das ist, daß es zwei Begriffe sind, nicht einer, bleibt bestehen. Es ist der Unterschied zwischen den Eigenschaften eines physischen Körpers, welche nicht ineinander übergehen, also kein Ausgleichungsbestreben zeigen, schon Mayer nannte sie Kapazitäten, und solchen Bestimmungen, welche allen Körpern zukommen

Nahirwissenschaftlicher und pMlosophischer Monismus. iac

und wieder allen fehlen können. Eine Last kann ge- hoben sein, sie hat in diesem Falle Distanzenergie oder „Fallkraft", deren Größe gleich ist der zur Erhebung der Last verbrauchten Arbeit; oder sie kann auf dem Boden ruhen, ihre Energie ist dann gleich Null, ihre Masse da- gegen, das ist, wie Mayer sie auffaßt, ihre „Bewegungs- kapazität" ist in beiden Fällen die nämliche. „Wärme- kapazität und Wärme, Schwere und Fallkraft, chemische Affinität und chemische Differenz sind, wie Präparieren und Operieren, ( sagt der Arzt) ganz verschiedene Dinge." „Zwei Abteilungen von Ursachen finden sich in der Natur vor, zwischen denen erfahrungsmäßig keine Übergänge stattfinden, Materien (Stoffe) und Kräfte (Energieformen). Auch hier also hält sich Mayer streng innerhalb der Grenzen der Erfahrung und für die Gegen- ständlichkeit seines Denkens liefern diese Aussprüche nur einen weiteren Beleg.

Seither kann der Philosoph wieder ihm wohlver- traute Worte vernehmen; diesmal aber aus dem Munde des Naturforschers. „Das Wesen der Substanz besteht in der Kraft," lehrte Leibniz. „Was wir von der Materie wissen, ist schon in dem Begriffe der Energie enthalten, die Materie ist nichts als eine räumUch zusammen- geordnete Gruppe von Energien," lautet das Bekenntnis des eifrigsten Anwaltes des energetischen Einheits- gedankens. Und wenn Kant die Körper, populär ge- redet, als krafterfüllte Räume betrachtet, sofern sich nach ihm die Materie als das Produkt von Anziehung und Abstoßung ergibt, die sich bei der Raumerfüllung im Gleichgewichte befinden, kleidet die moderne Energetik den nämlichen Gedanken in die Worte: „nur solche Energien können sich als räumlich gesonderte Er- scheinungen erhalten, welche durch Verknüpfung mit

Riehl, Philosophie der Gegenwart. lO

1^6 Fünfter Vortrag.

anderen ein zusammengesetztes Gleichgewicht ergeben". Der Unterschied der beiden sachlich übereinkommenden Äußerungen liegt nur darin, daß Kant das Gleichge- wicht durch seine dynamische Konstruktion der Materie erklären will, während der energetische Naturphilosoph bei der Tatsache räumlich koexistenter oder ver- bundener Energien stehen bleibt. In der Materie sind Energien dauernd kompensiert, ihre algebraische Summe ist gleich Null; die Bedingung des Geschehens oder der Entwicklung dagegen liegt in nicht kom- pensierbaren Intensitätsunterschieden der Energien, oder, wie schon Mayer sagte, in dem Fortbestand der Differenzen.

Diese Anschauungen sollen die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus herbeiführen, herbeigeführt haben, welche Wilhelm Ostwald, dem wir sie entlehnten, 1895 auf der Naturforscher- Versammlung zu Lübeck so nachdrücklich verkündet hat. Ich darf Ostwalds Rede als bekannt voraussetzen und brauche nur an die darin entwickelten Grundge- danken zu erinnern.

Alles, was wir von der Außenwelt wissen, besteht in der Kenntnis der Energieverhältnisse. Was wir „Materie" nennen, gibt sich uns nur in Wirkungen zu erkennen, also in Formen der Energie. Messen wir die Menge der körperlichen Substanz oder die Masse durch das Gewicht, so messen wir sie durch eine Energie. In dem Begriff der „Materie" steckt erstens die Maße, d. h. die Kapazität für Bewegungsenergie, ferner die Raumerfüllung, oder die Volumenergie, weiter das Ge- wicht, oder die in der allgemeinen Schwere zu Tage tretende, besondere Art von Energie der Lage und endlich die chemischen Eigenschaften, d. h. die chemische

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 147

Energie. Sagt man: aber die Energie muß doch einen „Träger" haben, denn sie ist doch nur etwas Gedachtes, während die Materie das Wirkliche ist, so erwidert Ost- wald: umgekehrt die Materie ist ein Gedankending, das wir uns konstruiert haben, um das Dauernde im Wechsel der Erscheinungen darzustellen. Die Erscheinungen sind uns in Gestalt von Empfindungen gegeben; denn offen- bar erfahren wir von der physischen Welt nur das, was uns unsere Sinneswerkzeuge davon zukommen lassen. Als gemeinsame Bedingung aber, damit eines dieser W^erkzeuge sich betätigt, lasse sich nur diese finden: „die Sinneswerkzeuge reagieren auf Energieunterschiede zwischen ihnen und der Umgebung." Nur Unterschiede der Temperatur der Umgebung von der Eigentemperatur unseres Körpers empfinden wir als Wärme oder Kälte; „in einer Welt, deren Temperatur überall die unseres Körpers wäre, würden wir auf keine Weise etwas von der Wärme erfahren können." Und ebenso haben wir von dem konstanten Atmosphärendrucke, unter dem wir leben, keinerlei Empfindung; erst wenn wir uns bewegen, oder wenn sonst aus irgendwelcher Ursache Änderungen dieses Druckes entstehen, gelangen wir zu seiner Kennt- nis. „W^as wir empfinden, sind Unterschiede der Energie- zustände gegen unsere Sinnesapparate". Dies soll aber nicht heißen: wir empfinden diese Unterschiede als solche; die Empfindungen selbst sind uns stets als etwas Elementares, inhaltlich Einfaches gegeben, mag auch die Bedingung ihres Eintretens in Energiedifferenzen zu suchen sein. Das Wirkliche, folgert Ostwald, d. h. das, was auf uns wirkt, ist nur die Energie, ihr allein kann das Prädikat der Realität zugesprochen werden. Sie ist neben den Anschauungsformen Raum und Zeit, „die einzige Größe, welche den verschiedenen Gebieten

1^8 Fünfter Vortrag.

der Erscheinungen, und zwar allen ohne Ausnahme, ge- meinsam ist; man kann also zwischen verschiedenen Gebieten überhaupt nichts anderes einander gleichsetzen, als die in Frage kommenden Energieformen. „Wir fragen nicht mehr nach Kräften, die wir nicht nach- weisen können, zwischen Atomen, die wir nicht be- obachten können, sondern wir fragen, wenn wir einen Vorgang beurteilen wollen, nach Art und Menge der aus- und eintretenden Energien."

Ob die Energetik, wie es in diesen Worten gefordert wird, bestimmt sei, an Stelle der Mechanik zur Grund- lage der Physik zu werden, kann nur der Erfolg lehren. Heinrich Hertz gab diesen Weg einer Umgestaltung der mechanischen Prinzipien, nachdem er ihn eine Zeit lang verfolgt hatte, wieder auf. Unabhängig von der Frage nach dieser wissenschaftlichen, ist die Frage nach der philosophischen Bedeutung der Energetik. Hat diese den Dualismus der Grundbegriffe des Naturerkennens wirklich überwunden, d. i, den Begriff der Materie neben dem der Energie entbehrlich gemacht?

Es muß als irreführend bezeichnet werden, wenn von der Energie als einer einzigen Größe neben Raum und Zeit geredet wird, da jede Energieform sich viel- mehr als das Produkt zweier Größen darstellt: eines Kapazitäts- und eines Intensitätsfaktors, die beide reelle Größen sind. Kapazität bedeutet Aufnahmefähigkeit für Energie und ist sicher von dieser begrifflich verschieden, wenn auch sachlich mit ihr verbunden. In den Kapa- zitäten aber, der Masse z. B. bei der kinetischen Energie, steckt der empirische Begriff der Materie, und statt diesen Begriff wirklich eliminieren zu können, hat die Energetik ihn nur anders benannt. Mag die Materie immerhin ein Abstraktum sein, darum ist sie noch kein bloßes Ge-

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. iaq

dankending; sie ist überhaupt kein Ding, sondern die Vorstellungsart von Dingen durch die äußeren Sinne. Auch die Energie ist ein Abstraktum; konkret sind die Formen der Energie, so wie sie sich der sinnlichen An- schauung an räumliche Dinge gebunden zu erkennen geben. Gehen wir nur dem Leitfaden der Erfahrung nach und von ihm darf am wenigsten eine „hypo- thesenfreie" Naturwissenschaft abgehen wollen , so treffen wir in jedem physikalischen Erscheinungsgebiete, z. B. dem der Elektrizität, auf besondere Größen, die wir von den Energiegrößen in den betreffenden Gebieten unterscheiden müssen und uns naturgemäß nur unter dem Bilde der Materie vorstellen können. Zwischen beiden Arten von Größen kann so wenig ein Übergang statt- finden, wie zwischen Raum und Zeit. Wir werden die Materie nicht los, wie wir den Raum nicht los werden, wie wir den Raum nicht in die Zeit verwandeln können; so real also, wie der Unterschied von Raum und Zeit, so real ist auch der Unterschied von Materie und Energie, beide aber: Raum und Zeit mit ihrer Verschiedenheit haben empirische Realität, Wirklichkeit in der Erfahrung, die in diesen beiden Formen des Anschauens gegeben ist. Wenn also Ostwald der Materie die Realität abspricht, so kann er unter Realität nicht die empirische verstehen, denn diese kommt der Materie in gleicher Weise zu wie der Energie; und wenn er die Energie zu dem Allein-Wirk- lichen macht, so muß er mit dem Worte Energie noch einen anderen Begriff verbinden, als den erfahrungs- mäßigen der Arbeit und der Arbeitsäquivalente. Der empirische Begriff Energie hat sich ihm in einen meta- physischen, der Größenbegriff in einen Wesensbegriff umgewandelt. Ist die Materie „Erscheinung" der Energie so muß die Energie „das Ding an sich" der Materie sein.

I^O Fünfter Vortrag.

Von den Dingen an sich aber denken wir mit Kant: wir wissen nicht, was sie sind, und brauchen es nicht zu wissen, weil uns doch niemals ein Ding anders vor- kommen kann als in der Erscheinung.

Es gibt einen ursprünglicheren Dualismus als den naturwissenschaftlichen von Materie und Energie und an ihn denken wir zunächst, wenn von Dualismus die Rede ist. Seine Aufhebung, die mit der Überwindung des naturwissenschaftlichen Dualismus keineswegs schon ge- geben ist, erscheint uns als ein wichtigeres Problem, das unmittelbar unsere geistigen Interessen berührt und den Charakter unserer Weltanschauung bestimmt. Es ist der Dualismus von Leib und Seele, den wir meinen, und das Problem, das sich daran knüpft, der Zusammen- hang des Physischen und des Psychischen. Die Frage nach der Natur dieses Zusammenhanges hat von je das Nachdenken des Menschen beschäftigt.

Eindrucksvolle Erlebnisse, Schlaf und Tod, Visi- onen Abgeschiedener im Traume haben den Menschen wohl zuerst auf den Gedanken einer Verdoppelung seines Wesens gebracht, auf die Annahme eines ,, anderen Ich", aus solchem Zeug gewebt, wie dem zu Träumen, Aus primitiven Anschauungen dieser Art ging der Dua- lismus hervor: die Trennung einer geistigen Substanz von der körperlichen, der Glaube an eine wesenhafte Verschiedenheit beider. Auch wir verstehen noch diesen Glauben, nicht bloß deshalb, weil er uns in unserer Kindheit eingeprägt wurde, sondern weil wir ihn selbst zu erleben meinen: immer dann, wenn wir unseren Geist frei und unabhängig fühlen, wenn unsere Gedanken willig strömen, unsere Handlungen mit unseren Be- strebungen übereinstimmen; daß immer dann auch

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. j c i

die organischen Prozesse unseres Leibes ungestört ab- laufen, bemerken wir nicht. Wir unterscheiden uns als denkende Wesen von den Dingen außer uns und zählen auch unseren Leib zu diesen äußeren Dingen, nicht zu unserem wahren Wesen, unserem eigentlichen Innern. Diesem Innern, der geistigen Natur in uns, schreiben wir eine fast unbegrenzte Macht und Herrschaft über den Körper zu. Wir sehen die Bewegung unserer Glieder, den Lauf und die Richtung unserer Gedanken dem Geheiß unseres Willens folgen, und selbst die Stim- mung unseres Leibes scheint uns in hohem Grade von unserem Willen abhängig zu sein; wovon der Wille selbst abhängt, daran denken wir nicht. Freilich, ebenso oft müssen wir auch das Gegenteil erfahren. Stim- mungen des Körpers färben unsere Gedanken, hemmen oder verändern unsere Entschließungen und wir ent- decken, daß nichts so wenig in unserem freien Belieben steht, wie unser Wollen. Und so gleicht unser Inneres dem Schauplatz eines beständigen Kampfes, in welchem bald der Geist über den Körper, bald der Körper über den Geist den Sieg behält. Die Tatsachen selbst also, unsere Erlebnisse, scheinen wie von der Verschiedenheit, so auch der Wechselwirkung des seelischen und des körperlichen Prinzips Zeugnis zu geben.

Für eine rein mechanische Naturanschauung ist der Dualismus unvermeidlich; schon durch die bloße Existenz von Bewußtsein in einer Natur, wie diese An- schauung sie voraussetzt, müßten wir ihn für erwiesen halten. Ist nichts in der Außenwelt an sich gegeben als bewegte Masse, so kommt mit der Innenwelt ein zweites, völlig anderartiges Prinzip hinzu. Es kann da- her nur einen Mangel an Konsequenz bedeuten, wenn ein überzeugter Materialist im Sinne dieser Anschauung

1^2 Fünfter Vortrag.

nicht zugleich dualistisch denkt. Wie es aber bei einer jeden falschen Hypothese geschieht, daß sie fortzeugend immer neue Hypothesen gebiert, so geschah es auch mit der Hypothese des Dualismus. Was für Annahmen sind nicht von der philosophischen Spekulation versucht worden, das Verhältnis von Leib und Seele aufzuklären, seit Descartes den Dualismus dogmatisiert hatte! von dem „physischen Einfluß", wobei sich die Seele jedesmal „materialisieren" müßte, wie die Spiritisten sagen, so oft sie Eindrücke vom Körper empfängt, oder den Körper bewegt, bis zu der verzweifelten Ausflucht zur Assistenz Gottes und der „prästabilierten Harmonie". Und endlich tauchte die Frage, nachdem ihr längst durch Kant in der Philosophie der Boden entzogen war, sehr verspätet also, in einer berühmt gewordenen Rede eines Physiologen wieder auf.

Es ist leicht zu sehen, daß die Frage, welche Du Bois Reymond aufwarf, verkehrt gestellt ist; und ihre Richtigstellung allein genügt schon, um jedes Rätsel aus ihr verschwinden zu machen. Wie aus irgend einer Verbindung oder Bewegung von Atomen Empfindung hervorgehen soll, kürzer: wie Atome sollen empfinden können, läßt sich gar nicht begreifen, wohl aber er- kennen, daß hier ein wirkliches Problem gar nicht vor- liegt und die Frage in dieser Form keinen Sinn hat. Nicht Atome sind uns gegeben, sondern die Empfin- dungen und statt von den Atomen zu Empfindungen, natürlich vergeblich, einen Weg zu suchen, hat unsere Frage vielmehr diese zu sein: wie kommen wir von den Empfindungen aus zu der Annahme von Atomen? Und in dieser Form ist die Frage beinahe so schnell gelöst, wie gestellt. Der Begriff der Atome ist ein Erzeugnis der Methode. Die exakte Wissenschaft sucht die Er-

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 152

scheinungen zu messen und darum läßt sie alles Spezi- fische und Qualitative in ihnen unberücksichtigt und beschränkt sich auf räumliche Größe und Bewegung; sie sucht die Erscheinungen zu berechnen und ersetzt sie daher durch Rechenpfennige. Atome sind Begriffe von den Elementen der räumlichen Dinge nach Ab- straktion von den Empfindungen der Dinge. Daß aber ein Begriff, ein Gedankensymbol für Empfindungen und das, was diesen zu Grunde liegt, nicht selbst empfinden kann, ist alles eher als rätselhaft. Die Atomistik ist eine Zeichensprache für Dinge, die für die Unterscheidung und Individualisierung der Erscheinungen Stützpunkte, für die Rechnung Ansatzpunkte liefert und einen abge- kürzten Ausdruck für bestimmte Seiten der äußeren Erfahrungen, insbesondere der chemischen, gibt. Zeichen aber bleiben Zeichen. Was die Differentiale, die un- endlich kleinen Größen in der Mathematik, sind in der Physik und Chemie die Atome; sie gehören der näm- lichen Klasse und Ordnung von Hilfsbegriffen an und sind, wie Mayer forderte, gleich den Differentialen stets nur als relativ aufzufassen und in Beziehung zu einem bestimmten Prozesse zu denken. Nur die beständige Gewohnheit des Naturforschers, in seinen Gedanken mit diesen Zeichen für Dinge zu verkehren, konnte über- haupt den Glauben erzeugen, die Atome selbst seien die Dinge, die Empfindungen dagegen eine mysteriöse Zugabe zu den Atomen.

Vielleicht aber hatte Du Bois Reymond ein anderes Problem im Sinne und seine Frage zielte eigentlich nicht auf die Empfindung als solche, sondern auf die Tat- sache des Subjektes. Dann aber müßte es uns erst recht seltsam berühren, wenn von einem „Tgnorabimus" geredet wird, wo es sich nicht um ein Nichtwissen-

154 Fünfter Vortrag.

werden oder -können handelt, sondern um die Voraus- setzung alles Wissens: die Beziehung von Subjekt und Objekt.

Alle Schwierigkeiten, erklärt Kant, die man in der Verbindung der denkenden Natur mit der Materie an- zutreffen glaubt, sind selbstgemachte und beruhen auf einem bloßen „Blendwerke". Sie entspringen ohne Ausnahme lediglich aus „jener erschlichenen dualistischen Vorstellung, daß Materie als solche nicht Erscheinung sei, der ein unbekannter Gegenstand entspricht, sondern der Gegenstand selbst, so wie er außer uns und unab- hängig von aller Sinnlichkeit existiert". „So lange wir nur innere und äußere Erscheinungen als Vorstellungen in der Erfahrung mit einander zusammenhalten, finden wir nichts Widersinniges und nichts, was die Gemein- schaft beider Art Sinne befremdlich machte. Sobald wir aber die äußeren Erscheinungen nicht mehr als Vorstellungen, sondern in derselben Qualität, wie sie in uns sind, auch als außer uns für sich be- stehende Dinge ansehen, haben wir einen Charakter der wirkenden Ursachen außer uns, der sich mit ihren Wirkungen in uns nicht zusammenreimen will", dort Bewegungen, hier Vorstellungen. „Aber wir sollten be- denken, daß die Körper nicht Gegenstände an sich sind, sondern eine bloße Erscheinung, wer weiß welches un- bekannten Gegenstandes; daß die Bewegung nicht die Wirkung dieser unbekannten Ursache^ sondern bloß die Erscheinung ihres Einflusses auf unsere Sinne sei, daß mithin nicht die Bewegung der Materie in uns Vor- stellungen wirke, sondern daß sie selbst (mithin auch die Bewegung, die sich dadurch kennbar macht,) bloße Vorstellung sei." Und so läuft endlich die ganze „be- rüchtigte" Frage darauf hinaus: wie und durch welche

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 155

Ursache die Vorstellungen unserer Sinnlichkeit so unter- einander in Verbindung stehen, daß diejenigen, die wir äußere Anschauungen nennen, nach empirischen Gesetzen als Gegenstände außer uns vorgestellt wer- den können" eine Frage, welche „ganz und gar nicht die vermeinte Schwierigkeit enthält, den Ursprung der Vorstellungen von außer uns befindlichen, ganz fremdartig wirkenden Ursachen zu erklären, indem wir die Erscheinung einer unbekannten Ursache außer uns für die Ursache selbst nehmen." Was hier gegen die Verdinglichung der äußeren Erscheinungen gesagt wird, gilt mit gleichem Recht und aus demselben Grunde auch gegen die Verdinglichung der inneren. In beiden Fällen hält man „die Verschiedenheit der Vorstellungsart von Gegenständen, die uns nach dem, was sie an sich sind, unbekannt bleiben, für die Ver- schiedenheit dieser Dinge selbst." „Das transcenden- tale Objekt (das Reale), welches den äußeren Er- scheinungen, ingleichen das, was der inneren Anschau- ung zum Grunde liegt, ist an sich selbst weder Materie noch ein denkendes Wesen, sondern ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen, die den empirischen Begriff von der ersten sowohl als zweiten Art (Dinge) an die Hand geben".

Damit ist die Grundlosigkeit des Dualismus gezeigt und die Frage, die uns beschäftigt, auf den Boden ver- pflanzt, wo sie allein hingehört, den Boden der Er- fahrung. Wir fragen nicht länger, in welcher Art Ge- meinschaft Leib und Seele, als zwei heterogene „Sub- stanzen" stehen mögen, wir fragen, welche funktionelle Beziehung oder Abhängigkeit zwischen den physischen Vorgängen und den psychischen Tätigkeiten tatsächlich stattfindet und welche Schlüsse aus ihrem empirischen

1^6 Fünfter Vortrag.

Verhältnis zu ziehen sind. Und die Antwort auf diese Frage muß heute bestimmter lauten, als es zur Zeit Kants noch möglich gewesen wäre.

Aus dem Energieprinzipe folgt, daß der Verlauf der Vorgänge in der äußeren Natur ein in sich geschlossener ist. Jede physische Wirkung ist nach diesem Prinzipe durch ihre physische Ursache völlig bestimmt, jede physische Ursache erschöpft sich durch ihre physische Wirkung. Unter physischer Ursache oder Wirkung ist einfach eine solche zu verstehen, welche meßbar ist; eine weitere Voraussetzung über ihre Beschaffenheit, z. B. ihre Bewegungsnatur, brauchen wir nicht zu machen. In diesen geschlossenen Naturverlauf nun kann eine nicht-physische Ursache nicht eingreifen, denn sie hätte nichts mehr zu bewirken, aus ihm eine nicht-physische Wirkung nicht hervorgehen, denn jede Wirkung ist be- reits völlig bestimmt. Psychische Funktionen also können in diesen Prozeß weder als Ursachen noch als Wirkungen eingeschaltet sein. Jede Vorstellung, die man sich da- von bilden könnte, erweist sich näher betrachtet als unzulässig. Man denkt vielleicht an die Auslösung, die jede Umwandlung von Energie einleiten muß. Aber auch die Auslösung ist eine physische Ursache; sie leistet Arbeit, indem sie das Gleichgewicht zwischen Energien aufhebt und kein noch so vollkommener Auslösungs- apparat kann in Bewegung versetzt werden, ohne daß an ihm Arbeit geleistet wird. Wenn man meint: der Wille brauche die Bewegung bloß zu lenken, aber nicht zu erzeugen, so muß erwidert werden, daß auch das Lenken von Bewegung Bewegung ist. Die Chemie kennt Reaktionsvorgänge, bei welchen die Gegenwart einer Substanz anscheinend nur den zeitlichen Verlauf der Reaktion beeinflußt, diese einleitet oder beschleunigt.

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 157

ohne daß dabei die Substanz selbst endgiltig verändert wird. Könnte nicht der Einfluß von Wille und Bewußt- sein ein solcher Kontaktvorgang sein, ein katalytischer Prozeß, wie die Chemie ihn nennt? Mayer scheint daran gedacht zu haben. Aber, fürs Erste ist es keineswegs erwiesen, daß die katalysierende Substanz wirklich an dem Prozeß selbst nicht beteiligt ist, wenn sie auch zum Schlüsse desselben in ihrem ursprünglichen Betrage wiederer- scheint. Und fürs Zweite ist Bewußtsein keine Substanz. Es bliebe also nur übrig, das Psychische als eine besondere Form der Energie in die Kette ihrer übrigen Formen eingereiht zu denken, und da wir nicht anzu- nehmen brauchen, daß alle Energieformen von derselben Art sein müssen, nämlich mechanische Energie, so scheint einen Augenblick dieser Ausweg in der Tat offen zu stehen. Daß wir auch damit der Eigenart des Psychischen nicht um den kleinsten Schritt näher kommen würden, wenn wir die Reihe der bekannten Energieformen um eine Anzahl neuer und ad hoc eingeführter, wie Nerven- energie, geistige Energie vermehren wollten, ist leicht zu zeigen. Unser Verfahren gliche nur allzusehr dem Bemühen jenes klugen Philosophen, welcher meinte, er brauche sich den Stoff nur immer feiner und feiner zu denken: endlich müsse doch ein Geist daraus werden. Energien gehören der Außenwelt an, der Welt der Ob- jekte. Wie soll es also zu verstehen sein, daß irgend eine von ihnen sich selber subjektiv wird? Zwischen und inmitten jener objektiven Größen, die Energien heißen und welche, sofern sie erscheinen, für das Subjekt da sind, kann doch das Subjekt selbst nicht Platz nehmen. Doch lassen wir dieses Bedenken, das man vielleicht für metaphysisch hält, obschon es nur erkenntnistheoretisch ist, auf sich beruhen. Das Be-

ic8 Fünfter Vortrag.

wußtsein ist tatsächlich keine Energie; denn es gibt kein Äquivalent des Bewußtseins. Wäre das Psychische eine Energieform, so müßte, so oft es hervortritt oder sich betätigt, ein bestimmter Betrag einer anderen Energie- form verschwinden, so oft es latent wird, Energie von anderer Art entstehen. Nichts davon lehrt die Er- fahrung; sie lehrt vielmehr das Gegenteil. Die Energie des chemischen Umsatzes im Gehirn wird nicht ver- mindert, sie wird, wie Mosso dies sogar experimentell zeigen konnte, gesteigert, wenn wir geistig tätig sind, herabgesetzt, wenn wir geistig ruhen. Es verschwindet also nicht Energie, wenn Bewußtsein entsteht, es ent- steht nicht Energie, wenn Bewußtsein verschwindet; der chemische Prozeß im Gehirn und die psychische Tätig- keit verwandeln sich nicht ineinander, sie gehen mit- einander. Was energetisch sein soll, muß eine meßbare Größe haben. Das Psychische als solches hat keine Größe; es ist der Art nach verschieden von allen meß- baren Objekten, es ist gewichtlos, raumlos, die ihm wesentliche Einheitlichkeit läßt sich nicht in Teile zer- legen, nicht aus Teilen zusammensetzen. Auch der Wille, den man gewohnt ist als den Typus für alle Kraft zu betrachten, ist keine Energie in der physikalischen Bedeutung dieses Wortes. Zwischen Wille und Be- wegung findet, wie schon Spinoza sagt, kein Verhältnis statt; daher „findet auch keine Vergleichung statt, zwischen den Kräften des Geistes und denen des Kör- pers" und die einen sind nicht durch die andern zu be- stimmen. Das psychische Geschehen ist das nicht- energetische Geschehen in der Natur.

Auf diesem Wege kommen wir also nicht weiter. Wir können auf demselben nur die Ungleichartigkeit des Psychischen und desPhysischen genauer erkennen, nicht

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 159

aber auch die Art und Notwendigkeit ihrer Verbindung sehen. Dagegen geben uns gewisse biologische Tat- sachen Anhaltspunkte, das Problem von einer anderen Seite anzufassen.

Wenn wir auch nicht wissen, wo zuerst in der or- ganischen Natur, auf welcher Stufe ihrer Entwickelung, Bewußtsein entsteht , so sehen wir doch das deutliche Hervortreten, die Steigerung und Zusammenfassung seelischer Fähigkeiten an die Ausbildung von Central- organen gebunden und an deren immer reichere Gliede- rung in zusammenwirkende Mechanismen. Psychische Entwicklung und Entwicklung des Nervensystems halten gleichen Schritt. Nicht irgend einer einzelnen Energie- form also entspricht das Bewußtsein; sein objektives Gegenstück ist eine Struktur, der Bau des Nervensystemes, genauer, die durch diese Struktur ermöglichte, durch sie geleitete Zusammenordnung von Energien. Auch hieraus erhellt, daß es nicht zulässig ist, von einer geistigen Energie in demselben Sinne zu reden wie beispielsweise von der chemischen. Es ergibt sich ferner daraus, daß der Be- griff eines „Atombewußtseins" ein sich selbst wider- sprechender Begriff ist. Denn nur der Zusammenhang des Lebens trägt und erhält das Bewußtsein, welches selbst wesentlich Zusammenhang ist, Einheit des Mannig- faltigen.

Wenn zwei Vorgänge, einander entsprechen und stets zugleich, also nicht in kausaler Folge eintreten, so können wir sagen: sie verlaufen parallel. Und so ist es üblich geworden, das Verhältnis des Psychischen zu seiner physischen Grundlage, d. i. zu bestimmten Nerven- prozessen als psycho-physischen Parallelismus zu bezeichnen. Dieser Ausdruck sollte immer nur als methodische Regel verstanden werden, die uns anweist.

l6o Fünfter Vortrag.

die psychologische Analyse der Bewußtseinserscheinungen als solcher mit der physiologischen ihrer körperlichen Begleiterscheinungen zu verbinden und so zu einer beider- seitigen Betrachtung derselben zu gelangen. Gibt man ihm dagegen, wie es meistens geschieht, die Bedeutung einer Theorie, so kann er leicht irreführend werden. Von zwei parallelen Linien wissen wir, daß in ihrem ganzen Verlauf jedem Punkt der einen ein Punkt gleichen Abstandes der anderen entsprechen muß. Die Tatsachen geben uns keinen Grund zur Annahme, daß in analoger Weise auch die physischen und die psychischen Prozesse verlaufen. Wir wissen vielmehr, daß sich beständig Vor- gänge nicht bloß in anderen Organen unseres Körpers, sondern in unserem Nervensysteme selbst abspielen, die nicht in unsere innere Wahrnehmung fallen und nur mittel- bar, durch äußere Erfahrung zu unserer Kenntnis gelangen. Unser bewußtes Leben ist nur ein kleiner Ausschnitt unseres Lebens; aus der breiten und tiefen Unter- strömung desselben heben sich nur einzelne wenige Wellen empor und werden vom Lichte getroffen. Der psycho - physische Parallelismus , besser : die Korre- spondenz des Psychischen und des Physischen ist ausschließlich auf jene Vorgänge in der Großhirnrinde zu beziehen, mit welchen, wenn sie gegeben sind, Be- wußtseinsphänomene wie Gefühl, Vorstellung, Wille mit- gegeben sind. Von ihnen allein gilt der Satz, daß sie und die gleichzeitigen Bewußtseinsvorgänge zusammen bestehen und nur der Erscheinung nach von einander zu unterscheiden, in Wirklichkeit aber nicht zu trennen sind. Ein so oder so beschaffener, so oder so weit aus- gebreiteter Erregungszustand des Großhirns und ein so oder so bestimmter Gedanke gehören derart zusammen, sie sind so weit eines, daß der Gedanke nicht fehlen

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. i6l

oder anders sein kann, ohne daß zugleich jener Gehirn- prozeß fehlt oder anders wird. Dies meint der psycho - physische Parallelismus.

Nicht aber kann es seine Meinung sein, daß zu jedem körperlichen Vorgang, ja zu jedem körperlichen Elemente in der Natur ein geistiger Vorgang, ein geistiges Ele- ment (eben das citierte Atombewußtsein) gehöre. Dieser Panpsychismus, der seltsamer Weise noch Liebhaber unter uns findet, ist eine reine Spekulation, für welche die psycho-physischen Tatsachen keine Handhabe bieten. Alles Psychische ist physisch fundiert, lautet der Satz des Parallelismus; alles Physische ist zugleich psychisch, es ist Gegenstand seiner eigenen Anschauung, oder erscheint sich selbst, behauptet der Panpsychismus und diese Umkehrung des psychophysischen Satzes müßte bewiesen werden. An unserem eigenen Körper erfahren wir nichts, was damit übereinstimmte; die menschlichen Körper wenigstens müßten daher von der Allbeseeltheit der körperlichen Natur eine Aus- nahme bilden. Oder, man wird doch nicht im Ernst zu jedem Stoffwechselprozesse in unserem Leibe ein Bewußtsein des Prozesses von sich selbst, von dem wir nichts wissen, hinzudenken wollen. Wer sich zur panpsychistischen Lehre bekennt, muß mehr behaupten, als er wissen kann; er muß behaupten, daß das Bewußt- sein nicht entstanden sein kann, auch nicht aus dem, was der Erscheinung der materiellen Dinge zum Grunde liegt und wovon er genau so wenig weiß, wie sein Gegner. Warum sollte das Bewußtsein nicht entstanden sein können? entsteht es nicht wirklich? Ja eigent- lich ist es in jedem Augenblicke neu entstehend, es ist ein Prozeß, eine Aktivität, kein Sein. Alles, was auf unsere Sinne wirkt und so zu unserer äußeren Wahr-

Riehl, Philosophie der Gegenwart. H

l62 Fünfter Vortrag.

nehmung gelangt, muß, so werden wir mit Recht sagen, auch für sich sein; daraus aber folgt noch nicht, daß es auch von sich wissen muß. Der Dichter mag die Dinge ringsum beseelen; als Denker aber sollten wir aufhören, von einem Lieben und Hassen der Elemente und von Atomempfindungen zu träumen. Auch von einem unbewußten „Willen in der Natur" wollen wir nicht reden; denn wir kennen nur bewußtes Wollen.

Der Panspychismus ist die Wiederbelebung eines spinozistischen Gedankens, aber losgelöst vom spino- zistischen Systeme. Spinoza erklärte das Denken, weil es in seiner Art unendlich sei, für eines der „Attri- bute" der göttlichen Substanz, oder der wirkenden Natur und machte die Ausdehnung, das Prinzip der körper- lichen Dinge, zu einem zweiten Attribute. Beide Attribute drücken dieselbe Natur aus und sie drücken beide die ganze Natur aus. Die Ordnung und die Verknüpfung der Ideen und der Dinge ist daher eine einzige Ord- nung, ein einziger Zusammenhang. Aber Spinoza meinte dabei ein einheitliches und unendliches Denken, er meinte die Natur der Dinge selbst als der Gegenstände dieses Denkens. Unter „Ideen" versteht er die „ewigen" Ideen, unter den Dingen die Wesenheiten der Dinge, nicht die zeitlichen Dinge und die sinnlichen oder Einbildungs- vorstellungen der Dinge. Und wenn es nach ihm für jedes Ding in der Natur eine Idee im göttlichen Denken geben muß, so ist deshalb noch nicht mit jedem Dinge auch eine „Idee seiner Idee", d. i. ein Akt des Selbst- bewußtseins, verbunden. Hierin liegt die stärkste Ab- weichung seiner Anschauung von der panpsychistischen. Metaphysische Hypothesen, wie die Spinozas, haben das Anziehende, daß sie Alles zu erklären, Alles zu er- gründen scheinen; sie haben aber auch das Mißliche, sich

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. ißß

selbst nicht erklären, sich selbst nicht begründen zu können. Von den beiden Attributen Spinozas ist nur das Attribut der körperlichen Natur ein in sich voll- ständiger Ausdruck der Natur. Nur der Kausalzusammen- hang auf der physischen Seite ist als ein lückenlos ge- gebener zu betrachten, den auf der psychischen Seite müßten wir hypothetisch, durch die Einschaltung „un- bewußter Vorstellungen" lückenlos machen. Ein Bewußt- seinsakt ist keineswegs in der Regel, er ist viel eher nur ausnahmsweise die Wirkung des bewußten Aktes, der ihm vorausging, wogegen jeder körperliche Vor- gang die bestimmte Folge des ihm vorangegangenen ist. Das Bewußtsein ist diskontinuierlich, es erfährt Unterbrechungen, während die physischen Prozesse stetig verlaufen; schon dieTatsache, daß es eine „Schwelle" des Bewußtseins gibt, ist ein Beweis gegen jede Vor- stellung von Allbeseelung.

Der psycho-physische Parallelismus enthält immer noch eine versteckte dualistische Vorstellung. Zu jeder „Begleitung" gehören zwei Dinge. Die beiden Vorgänge aber, die sich nach der psycho-physischen An- schauung begleiten sollen, kommen niemals zugleich in der Erfahrung vor, sie gehören nie der Erfahrung eines und desselben Subjektes an. Vielmehr, so oft der eine erscheint, d. i. in der Erfahrung gegeben ist, tritt der andere in die Vorstellung zurück. Was ich als mein Vorstellen und Wollen erlebe, kann ich zwar als cere- bralen Prozeß denken, es kann mir aber niemals als cerebraler Prozeß erscheinen, und selbst um es als solchen Prozeß vorstellen zu können, muß ich in Ge- danken erst meinen Standpunkt vertauschen, von der inneren Anschauung zur äußeren übergehen. Als Ge- hirnprozeß erscheint meine Vorstellungs- und Willens-

l^A Fünfter Vortrag.

tätigkeit oder sagen wir lieber: so könnte sie er- scheinen — immer nur einem außenstehenden Beobachter, der, was ich mit meinem inneren Sinn als Vorstellen oder Wollen erfasse, mit seinen äußeren Sinnen als be- stimmten Bewegungsvorgang anschaut. Wir schließen daraus, daß in Wirklichkeit nicht zwei Vorgänge, ein psychischer und ein physiologischer, gegeben sind, son- dern nur zwei verschiedene Betrachtungsweisen eines einzigen Vorganges, welche Betrachtungsweisen auch jederzeit auf zwei verschiedene Subjekte verteilt sind. Wir schließen auf die Identität des realen Vorganges, der dieser doppelseitigen Erscheinung zu Grunde liegt. Die Welt ist nur einmal da; aber sie ist dem objek- tiven, auf die äußeren Dinge bezogenen Bewußtsein als Zusammenhang quantitativer physischer Vorgänge und Dinge gegeben, während ein Teil derselben Welt einem bestimmten organischen Individuum als seine bewußten Funktionen und deren Zusammenhang gegeben ist. Diese Auffassung des Verhältnisses des Psychischen und des Physischen nenne ich den philosophischen Mo- nismus.

So viel ich sehe, stimmt dieser Monismus auch mit unseren natürlichen und unverschulten Überzeugungen überein. Denn es ist nach ihm ebenso richtig zu sagen: der Wille bewegt meinen Arm, als zu sagen, die centrale Innervation mit ihren Folgeerscheinungen setzt ihn in Be- wegung. Kein Zweifel ferner, daß Bewußtsein und Wille wirklich die Beziehungen unseres Körpers zu den Kör- pern der Umgebung regeln, daß Willensakte die Kom- bination jener äußeren Körper unseren Zwecken ent- sprechend ändern: dies aber leisten Bewußtsein und Wille nicht, sofern sie als Objekte der inneren Erfahrung betrachtet werden, sondern sofern sie Objekte der

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äußeren sind. Wir werden auch nicht sagen können: also könnten Wille und Bewußtsein fehlen, da ja die körperlichen Vorgänge ohne sie ihr Werk verrichten. Ein cerebraler Vorgang, bei welchem der Wille in der eigenen Erfahrung des Subjektes fehlte, wäre nicht der nämliche Vorgang, dessen sich das Subjekt als seines Willens bewußt ist; er könnte also auch nicht dasselbe leisten.

Endlich werden wir, wie es auch allein der unbe- fangenen Beobachtung entspricht, das psychische Leben als Produkt der organischen Entwicklung ansehen können.

Wäre der Mechanismus der vollständige Ausdruck des Geschehens in der Natur, so könnte sich auch die Entwicklung in ihr nur in rein quantitativen Übergängen vollzogen haben. Wir wissen aber, daß er nur das Symbol für die allgemeine Gesetzlichkeit des Geschehens ist und daß durch ihn allein nicht bestimmt wird, was geschieht. Es steht also nichts im Wege, wenn Tat- sachen uns dahin führen, anzunehmen, daß den quanti- tativen Übergängen qualitative Unterschiede entsprechen und der Stetigkeit auf der einen Seite Unstetigkeiten auf der anderen zugeordnet sind. Denn für Größen allein, nicht für Qualitäten gilt das Gesetz des stetigen Über- ganges. Nach jenen Tatsachen nun brauchen wir nicht weit zu suchen. Wir haben sie in den Modalitäten unserer Empfindungen vor uns, in den Unterschieden von Farbe und Ton, Geschmack und Temperatur u. s. w. Wollen wir nicht annehmen, daß die Empfindungen in dieser Ungleichartigkeit, ja Unvergleichbarkeit ihrer Beschaffen- heiten von allem Anfange an und schon a]^ Elemente der unbelebten Natur gegeben sind, und von ge- wissen Empfindungen, den Tönen z. B. ist dies durch

l66 Fünfter Vortrag.

ihre Natur ausgeschlossen; so bleibt nur übrig, sie aus einem allgemeinen, noch undifferenzierten Sinn, der Sensi- bilität der Haut, unter dem Einfluß der Reize entstanden zu denken. Dann aber ist ihre Entwicklung allein schon ein voUgiltiger Beweis für Unstetigkeiten im Fortschritte des Geschehens in der Natur. Man müßte denn die Entstehung jeder Empfindungsqualität für naturwidrig halten, bloß weil die Vorstellung davon wider die mecha- nistische Auffassung der Natur verstößt.

An diese qualitative Wirksamkeit in der Natur, die mit dem Hervortreten der Beschaffenheiten der Em- pfindungen zu Neuem fuhrt, denken wir uns auch die Ent- stehung der psychischen Affektionen und Tätigkeiten, des Fühlens, Vorstellens, WoUens geknüpft. Wie sie entstanden sind aus dem, was dem äußeren Mecha- nismus der Verhältnisse der Dinge zum Grunde liegt, wissen wir nicht; daß sie entstanden sein müssen schließen wir mit Sicherheit daraus, daß sie an bestimmte Organe gebunden sind, mit deren Ausbildung ihre eigene Entwicklung zusammengeht. Wohl bedeutet die erste Regung von Bewußtsein einen Sprung in dem Gange der Entwicklung und ein stetiger Übergang von dem vor- bewußten zum bewußtem Sein findet nicht statt; aber auch jede Entstehung einer Qualität ist ein Sprung.

Ist das Bewußtsein Entwicklung, so ist auch die Erscheinung der Welt, die nur für das Bewußtsein mög- lich ist, Entwicklung der Welt, und das Wertverhältnis zwischen den Erscheinungen und den Dingen kehrt sich durch diese Auffassung um. Das untermenschliche und gar das untertierische Sein ist nicht mehr, sondern viel weniger, ajs was sich davon dem Bewußtsein des Men- schen darstellt, zum Bewußtsein des Menschen erhöht und vollendet wird. Mit der Beschaffenheit und der

Naturwissenschaftlicher und philosophischer Monismus. 167

Entwicklung der Organe des Empfindens und des Denkens muß auch das Bild der Welt inhaltsreicher, farbiger, tiefer geworden sein. Und selbst den einzelnen Menschen wird sich dieselbe Welt, was die Fülle und Klar- heit ihrer Auffassung betrifft, verschieden zeigen. Könnte ein Mensch plötzlich sein Gehirn mit dem eines andern vertauschen, so würde er glauben, die Welt müsse sich in irgend einem Grade verändert haben; vielleicht er- schiene sie ihm flacher, unzusammenhängender als bisher, vielleicht auch wäre ihm zu Mute, als sei er mit einem Male in einen weiten, lichten Raum eingetreten, und er- blicke die Dinge in höchster Reinheit, Deutlichkeit und Tiefe: er hätte durch das Gehirn eines Genies gesehen. Nur der bloße Gedanke Ich, des Begriff des Subjekt- seins, ist immer und überall derselbe Gedanke, die näm- liche Form des Bewußtseins überhaupt; das empirische Selbstbewußtsein aber, das konkrete Ich, ist so reich und mannigfaltig, so verschieden an Ausdehnung und Gehalt, wie es die individuellen Unterschiede der Begabung und der Erlebnisse mit sich bringen.

Es ist dieselbe Wirklichkeit, aus der unsere Sinne stammen und die Dinge, die auf unsere Sinne wirken. Die nämliche schaffende Macht, die schon in den ein- fachsten Dingen am Werke ist, setzt ihr Werk in uns, durch uns fort. Sie ist die gemeinsame Quelle von Natur und Verstand. Sie hat den Dingen ihre begreif- liche Form gegeben und uns das Vermögen, zu be- greifen. So stiftete sie zwischen den Natur- und Denk- gesetzen jene Harmonie, welche im Einzelnen zu ver- nehmen, Ziel und Lohn aller Forschung ist. Aber nur bis zur Voraussetzung dieser Einheit dringt unser Denken.

l68 Fünfter Vortrag.

Sie selbst in ihrem Wesen bleibt transcendent. Das Geheimnis des Daseins ist durch das Denken nicht zu ergründen; das Prinzip des Daseins geht dem Denken voran: erst Sein, dann Denken. Und statt unsere Un- wissenheit mit Worten zu verdecken, sollten wir viel- mehr eingedenk sein des weisen Ausspruches Goethes: „der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten."

SECHSTER VORTRAG.

PROBLEME DER LEBENSANSCHAUUNG.

Die Erscheinungen der Außen- und Innenwelt zu begreifen ist Sache der Wissenschaft, die Voraus- setzungen für ihre Begreiflichkeit festzustellen und zu prüfen die Aufgabe der Philosophie der Wissenschaft. Beide: Wissenschaft und Wissenschaftslehre haben die Gewinnung von Allgemeinbegriffen zu ihrem Ziele; da- her erfassen sie auch die Objekte von vornherein nach deren allgemeiner Seite. Nicht das einzelne Ding, der einmalige Vorgang als solcher ist, wenn wir von der Geschichte absehen, ihr Gegenstand, sondern das Über- einstimmende der Dinge, das Wiederkehrende in den Vorgängen: die Klasse, das Gesetz. Unzähliche Wärme- mengen werden in jedem Augenblicke in der Natur hervor- gebracht und lassen sich in ihr hervorbringen; für jede aber, wie groß oder wie klein sie sein mag, gilt das Gesetz ihrer Gleichwertigkeit mit einem bestimmten Betrag von Arbeit und mit dieser gesetzlichen Beziehung, nicht mit der einzelnen Wärmeerscheinung, hat es die Mechanik der Wärme zu tun. Die zahllosen Vorgänge des freien Falles der Körper geschehen alle nach dem- selben Gesetz der Geschwindigkeitszunahme mit der Zeit; die wirklichen Größen der Geschwindigkeit da- gegen können je nach dem Einfluß des Widerstandes der Luft sehr verschieden sein; schwere Körper sehen

1^0 Sechster Vortrag.

wir daher schneller fallen als leichte, leichte unter Um- ständen aufsteigen statt fallen. Und so ist es überhaupt nicht die ganze und volle, die konkrete Wirklichkeit, welche den unmittelbaren Gegenstand der Wissenschaft bildet, sondern die unter abstrahierenden Gesichts- punkten aufgefaßte, daher selbst abstrakte Wirklichkeit. Keine Wissenschaft macht eine Ausnahme von diesem Verfahren. Die Psychologie z. B., oder wie Kant sie nennt: die Physiologie des inneren Sinnes, deren Objekten, den Bewußtseinsvorgängen, es eigentümlich ist, nur je für ein Individuum erfahrbar zu sein, be- trachtet diese Vorgänge nicht, soweit sie individuell, sondern sofern sie allgemein sind. Sie handelt nicht von diesem oder jenem bestimmten Willensakt, diesem oder jenem besonderen Vorstellungsverlauf; sie ermittelt die überall gleichartigen Momente des Wollens, die Ge- setze des Vorstellens. Nur die historischen Wissen- schaften im weiteren und im engeren Sinne des Wortes: die Geschichte des Sonnensystems und der Erde, die Geschichte der Staaten und Kulturen scheinen eine Sonderstellung einzunehmen. Ihr Interesse ruht auf dem Singulären und Einmaligen, wofür es eine Wiederholung in gleicher Weise nicht gibt. Aber auch sie können für die wissenschaftliche Darstellung ihrer Objekte der allgemeinen Begriffe nicht entbehren; nur werden ihr diese von anderen Wissenschaften geliefert. Theoretische Wissenschaften sind die Voraussetzung der historischen: Mechanik, Physik, Chemie die Voraussetzung der Ge- schichte der Erde und des Himmels, Psychologie und Anthropologie die Voraussetzung der Geschichte der Menschheit und ihrer Kulturentwickelung. Und obgleich nicht aus der Geschichte allgemeine Gesetze abzuleiten sind, so ist doch die Geschichte allgemeinen Gesetzen

Probleme der Lebensanschauung:,

171

unterworfen. Die historische Forschung geht dem kausal- genetischen Zusammenhang des Geschehens nach; sie sucht das, was geschehen ist, aus der bestimmten Kom- bination seiner Ursachen zu erklären und muß sie auch dabei mit dem Zufall rechnen, dem rein faktischen Zu- sammentreffen gewisser Ereignisse, einer Sonnenfinsternis z. B. und einer Schlacht, die geschichtliche Wirkung auch des Zufalls ist notwendig. Eine Geschichte, die sich auf die bloße Wiedergabe der Ereignisse beschränkte, wäre nicht Wissenschaft, sondern Geschichtskunde.

Es gibt keine „ideographische", das Einzelne als solches nur beschreibende Wissenschaft.

Außer allgemeinen Erkenntnisbegriffen umfaßt unser Bewußtsein noch andere Inhalte von allgemein giltiger Bedeutung. Wir wollen sie nach dem Vorgange Piatos, obschon nicht ganz in seinem Sinne, als Ideen be- zeichnen, um sie durch diese Bezeichnung von den Be- griffen zu unterscheiden. Werte nennen wir sie, sofern sie Objekte der Beurteilung durch Gefühl und Willen sind, und zu Zw^ ecken werden sie, sobald sich unser Schaffen und Handeln auf sie richtet.

Der Verstand erschöpft nicht das Wesen des Geistes und die Bestimmung des Menschen geht nicht im Er- kennen auf Nicht alles ist, nicht alles bedeutet die Er- kenntnis. Das Wirkliche, auf uns Wirkende wird nicht bloß mit dem Verstände erfaßt, es wird auch mit dem Gemüte erlebt, durch das Gefühl geschätzt, von dem Willen erstrebt. Solchergestalt entspringen Ideen oder Werte, und wie sie nicht aus dem reinen Verstände hervorgehen, so sind sie auch nicht Gegenstände nur des Wissens. Es ist uns gar nicht möglich, etwas unter dem Gesichtspunkte eines Wertes zu bringen, etwas in Beziehung auf einen Wert zu denken, ohne es dadurch

1^2 Sechster Vortrag.

auch schon bewertet zu haben; das Urteil: ein Gegen- stand sei ein Wert, er habe Wert ist niemals und kann niemals ein rein theoretisches Urteil sein. Was wir als schön, ich meine: als künstlerisch wertvoll erklären, muß unser Gefühl an sich gezogen haben, eben das Er- lebnis, hingezogen zu sein, ist die Voraussetzung, der Kern des ästhetischen Urteils. Ein solches Urteil reizt, es treibt zum Schaffen, mindestens zum Nachschaffen, und kein Genießen eines Kunstwerkes kann rein receptiv sein, ein bloßes Empfangen ästhetischer Eindrücke; es ist immer eigene, bis zu einem gewissen Grade erregte künstlerische Tätigkeit. Den Künstler verstehen heißt sein Werk im Geiste reproduzieren und auch Re- produktion ist Produktion, für welche das Werk des Künstlers nur die Motive gibt. Und in gleicher Weise ist das Urteil: etwas sei unserem Willen gemäß selbst schon ein beginnendes Wollen, ein Anfang inneren Handelns: daß wir nach dem Willensobjekte hinstreben, oder doch wünschen, es zu erreichen, macht das Geltungs- bewußtsein dieses Urteils aus. Gefühls- und Willens- urteile haben nicht bloß praktische Folgen, sie sind an sich selbst praktisch, nämlich Weisen der Selbstbe- tätigung.

Aus Werten erwächst, auf Werten beruht unser geistiges Leben, wie wir im Unterschiede nicht nur vom physischen, sondern selbst vom psychischen sagen. Alle Werte sind geistige Werte. Die materielle Wohl- fahrt ist nicht ein Wert, sie hat nicht Wert, sofern sie materiell ist, sondern sofern sie Wohlfahrt ist und nur aus Mißverständnis redet man von ökonomischem Mate- rialismus. Jene geschichtsphilosophische Theorie , die nichts als Wirtschaft kennt und Entwicklung und Fort- schritt in der Geschichte von der Entwicklung der Wirt-

Probleme der Lebensanschauung. 173

Schaftsformen abhängig denkt, ist im Grunde ökono- mischer Idealismus, ein kurzsichtiger und beschränkter Idealismus zwar, der die geistigen Mächte, die das wirt- schaftliche Leben selbst beherrschen, nicht sehen kann; doch aber Idealismus. Werte schaffen Kultur; aus Werten ist das Reich des Menschen mit allen seinen Institutionen aufgebaut auf dem Boden der Natur. Sie sind die Prinzipien, die innere gestaltende Form dessen, was wir als Lebensanschauung bezeichnen und von der wissenschaftlichen Weltbetrachtung unterscheiden. Die Probleme der Lebensanschauung sind Wert- probleme.

Kein Wertbegriff, keine Zweckvorstellung darf in das Werk der wissenschaftlichen Forschung eingemengt werden, deren Maxime vielmehr die Gleichwertigkeit der Erscheinungen ist. Der Zweck, ohne Frage das Prinzip des Wollens und Handelns selbstbewußter Wesen, ist kein Prinzip der Erklärung irgend einer Natur- erscheinung. Er ist ein „Fremdling" in der Natur- wissenschaft und höchstens uneigentlich darf er in ihr verwendet werden: als Formel, als abgekürzter Aus- druck für die Form des Zusammenwirkens physischer Prozesse, welche das Leben bedingt. Es gibt eine Wissenschaft von den Formen in der Natur, es kann aber keine Wissenschaft von Zwecken in der Natur geben; die Teleologie gehört nicht zur Erkenntnis der Natur, sondern zu ihrer Beurteilung, und selbst in der Geschichte müssen Forschung und Beurteilung ge- trennt bleiben. Wohl aber ordnet sich die Wissenschaft als Ganzes dem Gesichtspunkt des Wertes unter. Die Wissenschaft ist selbst einer der Werte, aus denen Kultur erwächst, von denen Kultur sich nährt. Man hat den Wert der Wissenschaft darin gefunden, daß sie

174 Sechster Vortrag.

es uns ermögliche, Erfahrungen zu ersparen. Dies ist ihr ökonomischer Wert, nicht der einzige, den sie be- sitzt, und auch nicht ihr höchster. In der Erkenntnis befriedigt sich zugleich der Einheitstrieb des Denkens. Daher bedeutet uns ein Naturgesetz immer noch mehr als eine Ableitungsformel für beliebig viele Erfahrungen, welche wirklich anzustellen wir uns dank des Gesetzes erlassen können. Es bedeutet uns einen weiteren Schritt zur geistigen Durchdringung und Aneignung der Tat- sachen. Das Reelle scheint uns wieder um einen Grad rationeller geworden zu sein; vielmehr: ,,die Vernunft in den Dingen", die Gesetzlichkeit der Natur hat sich an einem weiteren Punkte unserem Geiste entdeckt. Die Welt der Wissenschaft ist eine ideale Welt. Ge- setze und Tatsachen, obschon in der Wirklichkeit ver bunden, bleiben dem Begriffe nach verschieden und auch die vollständige Kenntnis der Tatsachen würde die Er- kenntnis der Gesetze nicht entwerten können. Der logische Wert der Erkenntnis erklärt allein die Hingabe des großen Forschers und Denkers an sein Werk und warum für ihn die Wissenschaft zum beherrschenden Lebenszwecke wird.

Die Kunst schafft Werte. Durch die Schönheit der Darstellung (was nicht dasselbe bedeutet wie Darstellung von etwas „Schönem") erhöht sie den Formenwert der Erscheinungen. Die Kunst ist produktive Tätigkeit, kein Spiel; auch nicht ein Spielen mit sich selbst im Genuß „bewußter Selbsttäuschung". Eine Nebenwirkung des künstlerischen Schaffens darf nicht zur Hauptsache ge- macht werden. „Nicht um die Täuschung handelt es sich, daß man das Bild für ein Stück Wirklichkeit hält, sondern um die Stärke des Anregungsgehaltes, welcher im Bilde vereinigt ist. Durch diese Konzentration und Zusammen-

Probleme der Lebensanschauung. 175

fassung im Bilde vermag die Kunst die zerstreuten An- regungen der Natur zu übertreffen." Und so wie Hilde- brand denkt, dem diese Worte angehören, dachte auch Goethe, „Die Kunst übernimmt nicht mit der Natur in ihrer Breite und Tiefe zu wetteifern, sie hält sich an die Oberfläche der natürlichen Erscheinungen; aber sie hat ihre eigene Tiefe, ihre eigene Gewalt, sie fixiert die höchsten Momente dieser oberflächlichen Erscheinungen, indem sie das Gesetzliche darin anerkennt, die Voll- kommenheit der zweckmäßigen Proportion, den Gipfel der Schönheit, die Würde der Bedeutung, die Höhe der Leidenschaft," Wie die Erkenntnis des Gesetzes mehr bedeutet als die Kenntnis des isolierten Faktums, so bedeutet die künstlerisch erfaßte und zur Höhe des Geistes herangehobene Erscheinung mehr als die natür- liche. Die Kunst ist ein Komplement des Lebens, „ohne Kunst kann man nicht leben".

Vor allem aber ist es die Ethik, diese eigenste Domäne der Philosophie als Lebensanschauung, welche Werte schafft. Wir müssen Ethik und Moralwissenschaft unterscheiden. Es ist der gleiche Unterschied wie der zwischen Kunst und Kunstwissenschaft, und der schöpfe- rische ethische Philosoph verhält sich zu dem wissen- schaftlichen Moralphilosophen wie der Künstler zu dem Theoretiker der Kunst. Auch Ethik und Moral be- deuten nicht dasselbe. Die Ethik gibt der Moral die Ziele, die Moral ist ein Weg zu diesen Zielen. Und vielleicht ist der Weg einer bestimmten Moral ein Irr- weg, oder die Entwicklung des geistigen Lebens bringt eine Erhöhung der Ziele mit sich und die alte Moral hört auf, ethisch zu sein. Sie wird zu einem Hemmnis des ethischen Fortschrittes, zu einer Schranke, die über- wunden werden muß. Die Geschichte kennt die Bei-

176 Sechster Vortrag-.

spiele eines solchen Konfliktes zwischen Ethik und Moral, zwischen den Mächten der Lebenserneuerung und der Überlieferung; das größte unter diesen Beispielen einer „Umwertung der Werte" ist das Christentum selbst. Alles Schaffen ist immer zugleich ein Wegschaffen und wer neue Tafeln aufrichtet, muß die alten Tafeln zer- brechen, können wir in einem Gleichnis Nietzsches sagen. Die „Guten" aber heißen den Brecher alter Werte Verbrecher. Nie ist es in der Geschichte anders her- gegangen, als daß der, welcher neue Ideale schuf und neue Normen geben wollte, die Moral des Herkommens überschritt, also verletzte. Es ist die Tragik im Leben der großen Führer und Helden des Geistes, daß sie mit den geheiligten Überzeugungen, Glaube und Moral, ihrer Zeit in innerlichen Zwiespalt geraten müssen. „Neues will der Edle schaffen und eine neue Tugend, Altes will der Gute, und daß Altes erhalten bliebe."

Werte schaffen heißt nicht Werte erfinden, oder beliebig ersinnen. Werte werden nicht anders geschaffen, als wissenschaftliche Erkenntnisse geschaffen werden; man erfindet sie nicht, sie werden entdeckt. Wie die Gestirne, jene fernen Sonnen, nacheinander aufleuchten aus dem Dunkel der Nacht, so treten die Werte nach und nach in den Gesichtskreis des Menschen, und wer sie zuerst sah, zuerst sie erlebte und vorlebte, der ist ihr Schöpfer, Er weist die Menschen auf eine höhere Bahn, er offenbart ihnen eine höhere Form des Lebens und gießt neuen Geist in die alten Wertbegriffe. Denn um wirken zu können, muß auch er das Produktive an das Historische anknüpfen.

Ohne Werte wäre unsere Lebensfahrt ohne Kompaß und auch die Sterne fehlten, um darnach zu steuern. Es ist dem Menschen notwendig, daß all seinem Handeln

Probleme der Lebensanschauung. 177

und Streben ein Bild seines Handelns, ein Ideal seines Strebens vorangeht; nur indem er emporblickt und vorausschaut, vermag der Mensch im geistigen Sinne des Wortes aufrecht zu gehen und fortzuschreiten. Er muß Lebensanschauungen gestalten, um sein Leben menschlich, geistig führen zu können. Lebensanschau- ungen aber sind immer selbst schon in gewissem Grade Lebensführungen; man kann, um es wiederholt zu sagen, Werte nicht als solche erkennen, ohne sie, innerlich wenigstens, zu erleben.

Die Philosophen der Lebensanschauung sind daher zugleich die Philosophen der Geistesführung und Erzieher der Menschheit.

Die Geschichte lehrt, daß dieser im höheren Sinne praktische Beruf ursprünglich und im Altertume auch vorwiegend der Beruf des Philosophen war. Thaies, den Begründer der Naturphilosophie, zählt die Legende zugleich zu den „Sieben Weisen", Männern der ethischen Reflexion und politischen Tätigkeit, und die Geschichte weiß von ihm zu berichten, daß er seinen Landsleuten, den Joniern die Bildung eines Föderativstaates empfahl. Sein Wahlspruch soll die Maxime der Selbsterkenntnis gewesen sein. Parmenides, der Lehrer des intelligiblen Seins, gab seiner Vaterstadt Elea Gesetze. Und es ist bekannt, daß der pythagoreische Bund nicht in erster Reihe der Pflege der Mathematik und Naturphilosophie gewidmet war, vielmehr eine ethisch-politische Lebensge- meinschaft bildete, auf der Grundlage der orphischen Theo- logie. Pythagoras selbst, der Stifter, lebt im Gedächtnis der Geschichte vor allem als Prophet und Reformator.

Der Weise des Altertums aber, an den jeder zuerst denkt, wo immer von Lebensphilosophie die Rede geht, ist Sokrates. Was Geistesführung bedeute und wie

Riehl, Philosophie der Gegenwart. 12

178 Sechster Vortrag.

ihre Macht über die Gemüter der Menschen sich un- vermindert durch die Jahrhunderte erhält, wird an der schlichten Größe dieses Mannes unmittelbar anschaulich.

Sokrates ist der pädagogische Genius in der Philo- sophie; eine unbegrenzte ethische Wirkung geht von ihm aus. Etwas völlig Neues tritt mit ihm in die geistige Geschichte und diese hatte seines Gleichen von Eigenart und ganz persönlicher Gestalt nicht mehr. Was er lehrte, läßt sich nur verstehen, wenn wir be- trachten, was er lebte; sein Leben, namentlich aber der höchste Akt seines Lebens, sein Sterben ist der Schlüssel zu seiner Lehre. Im übrigen ist diese unsicher über- liefert; Xenophon bleibt hinter dem Vorbilde, das er nachzeichnen wollte, zurück, Plato geht über dasselbe hinaus, wenn auch im tiefsten Sinne der sokratischen Gedanken. Darüber aber, was und wie Sokrates lebte, sind wir so genau unterrichtet, daß wir mit ihm wie einem Lebenden zu verkehren glauben; noch heute stehen wir daher unter dem Einfluß, unter dem Zauber dieses einzigen Mannes.

Seinen Beruf faßte Sokrates als göttliche Mission auf, bestärkt darin durch das Orakel von Delphi, das ihn für den weisesten der Menschen erklärt hatte. Fortan verbrachte er sein Leben ganz öffentlich. Tag für Tag konnte man ihn auf dem Markte treffen, wenn dieser am belebtesten war, in den Gymnasien, wenn sich die Jugend dort übte, in den Werkstätten der Künstler und Handwerker. Mit jedem, der ihn hören wollte und an jeden Anlaß wußte er eine Unterredung an- zuknüpfen und diese unvermerkt von den gewöhnlichsten Dingen aus zu den höchsten Fragen des Lebens zu leiten. Wer sich mit ihm einließ, mußte Rede stehen über sich und die Art des Lebens, das er führe, und

Probleme der Lebensanschauung. 170

kam nicht eher wieder los, als bis dies alles gut und gründlich untersucht war. Nicht als Lehrer trat er auf» mit dem Ansprüche, fertiges Wissen zu besitzen; er ist der Fragende, der Forschende, der auf dem Wege ge- meinsamen Suchens und Prüfens mit anderen das Wissen finden und erzeugen will. Sein Verfahren dabei ist ihm ganz eigentümlich, höchst populär, dazu in Scherz und Schelmerei gekleidet. Er gibt sich die Miene des Lernenden, als erwarte er Aufklärung und Belehrung von seinen Mitunterrednern; in Wahrheit deckt er durch seine Kreuz- und Querfragen, die kein ungeprüftes Wort durchlassen, deren eigene Unwissenheit auf und schließ- lich stehen die vermeintlich Wissenden selbst als die Nichtwissenden da. Dies ist seine viel genannte Ironie, nicht eine bloße Gesprächsform, die er beliebig gewählt hatte, sondern in seinem ganzen Wesen gegründet und Ausfluß seines hellen, überlegenen Geistes. Ironisch ist es gemeint, wenn er dem Wissenskram der Sophisten sein Nichtwissen gegenüberstellt. Wo er aber auf eine junge, empfängliche Seele traf, verhalf er mit der ihm eigenen pädagogischen Liebe und Kunst ihren Gedanken ans Licht und zur Klarheit über sich selber. Diese überführenden Gespräche, deren Dialektik kein hohles Wissen stand hielt und die keine Berühmtheit des Tages verschonten, mußten viele Empfindlichkeiten verletzen und wir wundern uns nicht, daß Sokrates alsbald wie zu den populärsten, so auch zu den am meisten ge- haßten Persönlichkeiten des damaligen Athen, des Athen des peleponesischen Krieges, gehörte. Den Aristo- kraten war er als Neuerer verdächtig, die Demokraten haßten ihn als den Kritiker ihres Staatswesens und weil zu denen, die mit ihm verkehrten, ein großer Teil der Oligarchen, darunter Kritias, gehört hatte. Die Sophisten

l8o Sechster Vortraf.

waren seine Gegner, die Athener aber hielten ihn selbst für den größten aller Sophisten. Den Komödiendichtern diente er schon um seines auffallenden Äußeren willen zur Zielscheibe ihres Spottes. Dieser durch Jahre hin- durch angesammelte Haß hat sich nachmals in dem Prozesse gegen ihn entladen.

Die Gespräche des Sokrates bewegen sich ohne Ausnahme um ethische Fragen; von diesen allein hielt er ein Wissen möglich, von diesen allein das Wissen notwendig. Und so prüfte er unablässig: was Frömmig- keit und Gottlosigkeit, Schönheit und Häßlichkeit, ge- recht und ungerecht in Wahrheit bedeuten, worin Be- sonnenheit und Tapferkeit bestehen, was ein Staat, ein Staatsmann sei, und wer der zur Herrschaft Berufene. Welche Begriffe stehen hinter diesen so gewichtigen Worten? Wir sind gewohnt, sie wie konventionelle Zeichen zu gebrauchen, ohne uns von ihrer Bedeutung Rechenschaft zu geben. Eben diese Gewöhnung an ihre Autorität, den ungeprüften Glauben an die moralischen Werturteile bekämpft Sokrates; er sieht darin den Feind alles selbsttätigen Wissens, selbstbewußten Wollens ge- rade in den wesentlichsten Fragen des Lebens. Wir glauben zu wissen, was mit jenen moralischen Werten und Worten gemeint sei, wüßten wir es wirklich, so müßten wir auch einen Begriff davon geben, d. i. er. klären können, was es ist. „Was gut und böse ist, das weiß noch niemand," hätte auch Sokrates sagen können; denn er zuerst hat die Moral ernstlich und nicht in der Weise der Sophisten zum Probleme gemacht. Daß es feste Normen, allgemeingiltige Begriffe für die sittlichen Urteile gibt, ist seine unerschütterliche Überzeugung und sein Suchen nach ihnen von der Gewißheit beseelt, daß sie zu finden sein müssen. Sie zu finden wendet er

Probleme der Lebensanschauung. i8l

sich an das tiefste Bewußtsein des Menschen; er er- forscht sich selbst und andere und ein Leben ohne Selbst- erforschung scheint ihm gar nicht zu verdienen, gelebt zu werden.

Die Würde des Menschen liegt darin, daß er nicht einer Neigung zu folgen braucht, daß die Einsicht ihn bestimmen kann, bestimmen soll, daß er die Gesetze für sein Wollen und Handeln sich selbst geben kann und soll. Einsicht ist Macht über sich, durch sich und solche Macht ist Tugend. Kein Satz des Sokrates ist so gut überliefert, keiner auch durch das ganze Leben des Sokrates so sicher zu bestätigen und anschaulich zu machen, wie der Satz: daß Erkenntnis und Tugend eines und dasselbe sind, daß Erkennen- und Sittlich-sein zusammenfallen. Die Erkenntnis ist nicht ein Weg zur Tugend, sie ist die Tugend selbst; mit der Erkenntnis hat der Mensch die Tugend; wer das Gute erkennt, muß auch das Gute vollbringen. Ist dies nicht paradox? so paradox, daß alle Welt von dem Gegenteil überzeugt ist, alle Welt mit Aristoteles den Satz des Sokrates als der Erfahrung widersprechend erklärt. Man hält also diesen Satz für widerlegt. Allein das Leben des Sokrates ist ein Beweis, daß es möglich ist, auch aus Erkenntnis allein das Gute zu tun und nicht aus Instinkt, auch nicht aus Pflicht; ein Beweis für die mögliche Einheit von Erkenntnis und Tugend. Das Leben des Sokrates ist die Widerlegung der Widerleger seines Satzes. Man kann so leben, weil Sokrates so lebte. Verstehen wir recht: nicht um das Moralische im gewöhnlichen Sinne des Wortes, um das Ethische, das das Moralische in jenem Sinne bereits voraussetzt, handelt es sich bei der sokratischen Unterweisung und Lebensführung. Daß die Triebe geregelt, die Begierden und Leidenschaften ge-

l82 Sechster Vortrag^.

zügelt, die Lüste gedämpft sind, oder wie der Grieche diese Gewalt über sich mit einem einzigen Worte aus- drücken kann: die Enkratie ist die Voraussetzung von der Sokrates ausgeht, von der aus er weiter geht. Das Moralische in diesem Sinne versteht sich für ihn von selbst. Dann aber bleiben nur Wissen und Einsicht übrig, das Handeln zu leiten und nichts kann mehr Wille und Erkenntnis scheiden, oder das Wollen von dem als richtig erkannten Ziele ablenken.

Nie haben sich Leben und Lehre eines Philosophen vollständiger gedeckt als bei Sokrates. Einen „musi- kalischen" Mann nennt ihn Plato um dieser Harmonie willen: er habe den schönsten Einklang gestimmt, sein eigenes Leben klinge zusammen, mit den Reden die Taten, echt dorisch, nach der wahren hellenischen Ton- art. Und wie Sokrates von der Erkenntnis dachte im Gegensatze zur Menge, wie souverän ihm die Macht der Erkenntnis erschien, können wir gleichfalls aus Piatos Worten oder sind es Sokrates' eigene Worte? vernehmen. „Die Meisten denken von der Erkenntnis ungefähr so, daß sie nichts Starkes, Leitendes, Be- herrschendes sei und achten sie gar nicht als solches; sondern meinen, daß gar oft, wenn auch Erkenntnis im Menschen ist, sie ihn doch nicht beherrsche, vielmehr irgend sonst etwas , bald der Zorn , bald die Unlust, manchmal die Liebe, oft auch die Furcht." „Uns aber erscheint sie als etwas Schönes, das wohl den Menschen regiert, und wenn einer Gutes und Böses erkannt hat, so wird er von nichts mehr gezwungen werden, etwas anderes zu tun, als was seine Erkenntnis ihm befiehlt sondern die richtige Einsicht ist stark genug, den Menschen zu führen."

Probleme der Lebensanschauung. 183

Das Wissen, das Sokrates lehrte und übte, ist kein bloßes Wissen; es ist wesentlich inneres Handeln, also schon seinem Ursprung nach praktisch; denn es beruht auf Einkehr in sich, auf Selbsterkenntnis, Selbstüber- windung. Man kann dieses Wissen nicht haben, es kann in uns nicht wirklich lebendig sein, ohne daß es auch das Wollen nach sich zieht. Vielmehr: es ist zugleich Wollen, die Einheit von Vernunft und Wille. Sokrates hat die praktische Vernunft entdeckt. Er hat den Willen entdeckt. Die tiefe Unterscheidung im plato- nischen Gorgias zwischen dem, was einem gefällt und dem, was einer wirklich will, geht gewiß auf ihn zurück. „In Jedem von uns," heißt es in demselben Sinne im Phaedrus, „gibt es zwei herrschende und führende Triebe: die eingebome Begierde nach dem Angenehmen und die erworbene Gesinnung, welche nach dem Besseren strebt." Und daß dies in der Tat die Anschauung des Sokrates war, erfahren wir aus Xenophon, der gleich- falls und wohl in den Worten des Sokrates selbst von der Gesinnung redet, die uns durch Vernunft zum Besten führt. Vernunft ist Wille und umgekehrt: alles wahrhafte Wollen vernünftig. So aufgefaßt verliert der Satz von der Identität der Erkenntnis und der vollendeten Tätig- keit alles Paradoxe. Und auch den Philosophen selber verstehen wir jetzt. Denn für ihn, der von sich sagen konnte: er gehorche immer dem Satze, der sich ihm bei der Untersuchung als der beste zeigte, war diese Identität kein bloßer Lehrsatz, sondern die persönlichste Erfahrung. Über die Vernunft hinaus gibt es keine Macht; es gibt keine Macht, welche die Vernunft be- herrschen könnte. „Die Gewalthaber des Staates," äußert Sokrates zu Krito, „können mir weder Gutes noch Übles zufügen; denn weder vernünftig können sie machen noch

184 Sechster Vortrag.

unvernünftig; sie tun nur, was sich eben trifft." Das heißt: ein wahres Übel vermögen sie nicht zu bewirken, denn sie können den Geist nicht treffen, dieser ist un- verletzbar, unüberwindlich, frei in sich selber beruhend und gebietend. Die ganze Folgezeit hat zu diesen sokratischen Gedanken von der Autonomie der prak- tischen Vernunft oder des Willens nichts wesentliches hinzugebracht; sie konnte sie nur wieder auffinden.

Erkenntnis ist Herrschaft. „Darüber, wovon wir uns richtige Einsichten erworben haben, wird jedermann uns schalten lassen; niemand kann uns daran hindern, sondern wir werden hierin ganz frei sein und auch ge- bietend über andere." In der Kunst des Wollespinnens herrschen sogar die Frauen über die Männer, denn sie verstehen jene Kunst, die Männer aber nicht. Und so ist es, oder sollte es doch sein in allen Angelegenheiten und Beschäftigungen des Lebens. Überall herrschen die Wissenden, die Erkennenden; ohne Erkenntnis keine Herrschaft, kein Recht zur Herrschaft. Es ist leicht zu sehen, wie einschneidend dieser Satz die demokratischen Einrichtungen Athens, mit ihrer Beamtenwahl durch das Los, treffen mußte.

Die Wirkung der Kritik, welche Sokrates an der ganzen Anschauungsweise seiner Zeit und der ihn um- gebenden Welt ausübte, war eine ganz außerordentliche und sie wurde noch gesteigert durch die Wirkung der Persönlichkeit des Philosophen. Schon das unschöne Äussere, die ganze satyrhafte Erscheinung, die an Bilder des Marsyas erinnern konnte, machte auf ihn aufmerk- sam; man empfand den Gegensatz zu der apollinischen, weisheitsvollen Seele. Der Eindruck der Gespräche des Sokrates mußte je nach dem Charakter und der Em- pfänglichkeit der Unterredner und Zuhörer ein sehr ver-

Probleme der Lebensanschauung. igc

schiedener sein; man hielt wohl ihre Absicht zunächst für eine skeptische, Sokrates verwirrt alle. Sokrates bringt alle zum Zweifeln. Er macht erstarren wie die Berührung eines Zitterrochens. Wer aber im Umgange mit ihm beharrte, wurde im Innersten ergriffen und um- gewandelt. Es mochte ihm ergehen wie es den am leichtesten empfänglichen unter den Gefährten des Sokrates, wie es Alkibiades geschah, bei dem sich freilich in den reiferen Jahren die Spuren der sokra- tischen Erziehung wieder verwischen sollten. „Bei dieses Mannes Rede pocht mir das Herz, Tränen werden mir ausgepresst; ich glaubte es lohne sich nicht mehr zu leben, wenn ich so bliebe wie ich wäre. Vor diesem allein schäme ich mich." Und im Grunde das Gleiche, nur höhnisch im Tone besagen die Worte, die Plato den Kallikles an Sokrates richten läßt: „wenn das wahr ist, was du sagst, so wäre wohl das menschliche Leben unter uns ganz verkehrt und wir täten in allen Dingen das gerade Gegenteil von dem, was wir sollten". Man muß sich, um das Bild des Sokrates zu vervollständigen die hohe Männlichkeit seines Charakters vergegen- wärtigen: wie er in drei Feldzügen sich durch seine Tapferkeit hervortut, bei Potidaea dem Alkibiades das Leben rettet und den Kampfpreis abtritt, auf der Flucht bei Delium als der Letzte das Schlachtfeld verläßt, ganz ruhig nach dem Feinde sich umsehend, so daß keiner ihm nahe zu kommen wagt. Wir müssen uns ihn vor- stellen, wie er als Prytane bei dem Prozeß gegen die Feldherren, die die Seeschlacht bei den Arginusen ge- wonnen hatten, der tobenden Menge gegenüber Einspruch erhebt gegen ein gesetzwidriges Verfahren; oder statt einen ungerechten Auftrag der Dreißig auszuführen, mit Gefahr seines Lebens ruhig nach Hause geht.

l86 Sechster Vortrag.

Zu weltgeschichtlicher Größe aber erhebt sich Sokrates durch sein Verhalten bei seinem Prozesse. Es ist die Besiegelung, der Triumph seiner Lehre und ein Ausgang aus dem Leben wie der des größten Helden. Nie kann die Wirkung davon erlöschen.

Keine Frage: Sokrates ist Revolutionär, nicht der Tat nach, aber doch durch seine Lehre, wenn sich auch seine Ankläger arg vergriffen, als sie ihn der nämlichen Tendenzen wegen vor das Gericht forderten, die er zeit- lebens auf das stärkste bekämpft hatte. Aber seine Kritik richtete sich doch grundsätzlich gegen das Staats- wesen, dem er durch Geburt angehörte. Seine Forde- rung der Herrschaft der Erkennenden, sein Staat aus Vernunft setzte ihn in Widerspruch zu der demokratischen Verfassung Athens, und wenn er auch die Gesetze seiner Vaterstadt treulich befolgte, ihre Institutionen hat er doch unablässig bestritten. Vergebens versuchten seine Freunde, den Athenern zu beweisen, er sei der frömmste, gerechteste und gesetzlichste der Menschen gewesen.

Sokrates ist freiwillig in den Tod gegangen. Sein Schicksal war in seine Hand gegeben; es hing von der Art seiner Verteidigung ab und eigentlich hat er das Todesurteil gegen sich herausgefordert durch seinen Gegenantrag auf Speisung im Prytaneion, wie er, als ein unvermögender Wohltäter der Stadt, sie verdient habe. Es war ihm deutlich geworden, daß der rechte Augen- blick zu sterben für ihn gekommen sei. Sein Leben er war an siebzig Jahre neigte sich dem Ende zu und konnte ihm nur eine Abnahme seiner Geistes- kräfte bringen; damit aber wäre ihm die Möglichkeit genommen gewesen, wie bisher sich und andere zu er- forschen und seinem apostolischen Berufe gerecht zu werden. Nun bieten ihm die Athener ohne sein Zutun

Probleme der Lebensanschauung. 187

die Gelegenheit, noch einmal und eindringlicher als je zuvor ihnen eine Lehre zu geben, der nachkommenden Welt ein Beispiel. Und so beschließt er, in seinem Be- rufe zu sterben, auf dem Platze, wo Gott ihn hingestellt hatte. Dies ist jene große, sittliche Tat, welche in ihrer Schlichtheit und erhabenen Einfachheit zu begreifen sich die folgenden Geschlechter bemüht haben. Er ver- teidigt sich nicht um seiner selbst willen, er verteidigt sich um der Athener willen; sie sollen nicht an sich selbst sündigen durch seine Verurteilung. Und was er zu den Athenern redet, war zugleich vor der Nachwelt gesprochen. Erst wendet er sich zu den Anklägern; in seiner gewohnten Weise und als handle es sich um eine Sache, die ihn persönlich nicht berühre, verstrickt er sie in ein Kreuzverhör, bis er sie ihres „Nichtwissens" in Bezug auf die Punkte ihrer Anschuldigung überführt und das Gewebe der Anklage aufgelöst hat. Hierauf redet er zu den Richtern die* Worte, die nie verhallen werden: „wolltet ihr mich lossprechen auf die Bedingung hin, daß ich diese Nachforschung nicht mehr betriebe, so würde ich euch sagen: ich bin euch Athenern zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gott mehr als euch. Nicht gut spricht der, welcher glaubt, Gefahr um Leben oder Tod müsse in Anschlag bringen, wer auch nur ein weniges taugt, und nicht vielmehr allein darauf sehen, wenn er etwas tut, ob es recht getan ist oder nicht. Den Tod fürchten, das ist nichts anderes, als sich dünken, man wäre weise und es doch nicht sein. Denn niemand weiß^ was der Tod ist, nicht einmal ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern. Gesetzwidrig handeln aber und dem Besseren ungehorsam sein, davon weiß ich, daß es übel und schändlich sei." „Doch es ist

l88 Sechster Vortrag.

Zeit, daß wir gehen," schließt er nach der Verurteilung die Rede, „ich um zu sterben, und ihr um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott."

So geht Sokrates in den Tod in voller Glorie, die Strahlen dieses Scheidens aber, wie Plato sie gesammelt, leuchten noch immer auf unser Leben.

Man kann die Lehre des Sokrates nicht verstehen, ohne auf diese ihre höchste Bestätigung, sein Sterben zu blicken. Von außen gesehen ist sie unscheinbar, nüchtern, beinahe pedantisch und birgt im Innern das Bild eines Gottes. Anscheinend handelt es sich bei ihr nur darum, für jeden einzelnen Fall das Richtige herauszufinden, das eben jetzt getan werden soll. Und da dies ungemein schwierig ist, sofern unter den vielen möglichen Handlungen in jedem gegebenen Fall nur eine einzige die richtige, oder beste sein kann, so ist, um diese herauszufinden, Selbstprüfung, Nachdenken er- fordert, so gehört ein Prozeß des Erkennens dazu. Dann, wenn wir weiter gehen, handelt es sich etwa noch darum, die einzelnen, als richtig erkannten Handlungen auf Begriffe zurückzuführen und diese zu leitenden Regeln für unser Tun zu machen. Dies alles aber wäre erst Verstandesmoral, Nützlichkeitsmoral. Ich widerspreche der Meinung, daß dies die Moral sei, die Sokrates lehrte, indem ich mich auf seinen Tod berufe. Was gut ist, steht an sich fest, mag es auch noch so schwierig sein, es zu erkennen. Es wird nicht erst durch seine Folgen zum Guten gemacht. Nicht also, weil es nützlich ist, ist es gut; weil es das Gute ist, muß es auch nützlich sein, sollte es dem Anschein nach noch so schädlich sein, sollte es selbst über unser eigenes Leben hinweg- sehen, hinweggehen. Und wenn es den Tod befiehlt.

Probleme der Lebensanschauung^. I8q

gut bleibt gut. Genau dies ist die Anschauung des Sokrates, der der Überzeugung lebte, „daß es für den guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode". Erst stellt Sokrates fest, was gut ist, dann be- weist er, daß dieses Gute auch nützlich ist, und zwar nützlich für den Handelnden selbst, mag der Anschein noch so laut dagegen sprechen. Es ist die gerade Um- kehrung der Nützlichkeitsmoral, Das hehrste Beispiel wie er über das Verhältnis von gut und nützlich dachte und was bei ihm Grund, was Folge ist, gibt Sokrates im Gefängnis. Als Krito ihn zur Flucht bewegen will, zeigt er diesem zunächst das Gesetzwidrige einer solchen Handlung: der Einzelne schulde den Gesetzen des Staates Gehorsam, ein Staat könne nicht bestehen, in welchem die abgetanen Rechtssachen keine Kraft haben ;

und damit ist für ihn die Hauptsache entschieden. Dann erst macht er geltend, gleichsam durch einen Beweis a posteriori, daß die Flucht ihm selbst keinen Gewinn, seinen Freunden und Angehörigen dagegen Schaden bringen würde: diese würden ihr Vermögen einbüßen, ihn aber würde man überall, wohin er auch flüchten möge, scheel ansehen, auch sei es lächerlich, wollte er als alter Mann mit solcher Gier am Leben hangen, er macht geltend, daß auch diesmal wie immer, daß das zuvor als gut erkannte sich hinterher auch als nützlich bewähre.

Jetzt verstehen wir auch, in wie weit Plato die Lehre des Sokrates fortgebildet hat, und sehen zugleich, wo er von ihr abweicht, wo er glaubte, über Sokrates hinausgehen zu müssen. Feste ethische Begriffe sind auch für ihn die Voraussetzung des sittlichen Handelns und ihre lebendige Erfassung fällt wie bei Sokrates mit der vollendeten Tätigkeit, die Erkenntnis mit der Tugend,

igO Sechster Vortrag.

zusammen. Gewiß, Plato ist der echte Erbe des Sokrates; von allen, die mit diesem verkehrten und sich seine Jünger nannten, hat er allein den Geist des Lehrers er- gründet und in das Innere seiner Philosophie Einblick getan. Aber die Entdeckung der ethischen Begriffe hatte für ihn etwas durch die Neuheit und Vorzüglich- keit der Sache Überwältigendes. Darum erweiterte er unter dem Namen der Ideen den Geltungsbereich der Wertbegriffe; alle Begriffe sind eigentlich bei ihm Wert- begriffe, alle Normen oder Musterbegriffe. Damit aber wird auch das Sein und Geschehen in der Natur unter den Gesichtspunkt des Sollens gerückt und sogleich erscheinen die sinnlichen Dinge, die Objekte der Er- fahrung, als unvollkommene Dinge, da es im Wesen der Werte liegt, daß immer nur eine Annäherung nach ihnen hin stattfinden kann. Gibt es für alle Gattungen der Dinge, wie Plato annimmt, Ideen oder Vorbilder, so kann jedes wirkliche Ding nur ein Nachbild, ein Schatten seiner Idee sein. Für's zweite schreibt Plato den Ideen ein Sein außer dem Geiste zu. Er machte aus Ideen Substanzen und verpflanzte diese in eine übersinnliche Welt. Ohne Zweifel ist dies ein unsokratischer Gedanke Piatos und auf das engste verbunden mit seinem unter orphisch- pythagoreischen Einflüssen entstandenen, oder doch durch diese befestigten Unsterblichkeitsglauben. Damit kam in sein System ein ungriechischer Zug hinein, ein Zug der Feindseligkeit gegen die Sinnenwelt. Sokrates wir wissen dies von Plato selbst hat über die Unsterblichkeit immer skeptisch gedacht; der Glaube daran erschien ihm für die sittlichen Zwecke des Menschen unwesentlich. Gäbe es ein Leben nach dem Tode, nun so werde er eben fortfahren, auch „dort" sich und andere zu erforschen und dort, meinte er,

Probleme der Lebensanschauung. IQI

werden sie einen um deswillen wohl nicht hinrichten. So äußerte sich auch dieser Frage gegenüber seine er- habene Ironie, seine Weisheit des Nichtwissens. Wie vieles ist, was wir nicht zu wissen brauchen. Ideen sind Aufgaben, Willensaufgaben und allein als Ziele des Schaffens und Handelns müssen sie verstanden werden. Sie gelten, aber sie sind nicht; nicht irgend ein Sein oder Geschehen in der äußeren Natur, einzig nur das Streben in uns, das zu einem Wollen werden soll, fällt in ihren Bereich.

Ganz im Geiste des Sokrates dagegen denkt Plato von der Bestimmung der Philosophie, ihrem Beruf zu ethisch-politischer Reform. Die Philosophie ist die Kunst der Könige: der Führer der Menschen, und vollendete Sittlichkeit nur in einem vollkommenen Staate möglich. Von Hause aus und es ist dies wörtlich zu nehmen: von seiner Abstammung und den Traditionen seiner Familie her hatte Plato den stärksten Trieb zu poli- tischer Tätigkeit, und nur weil er den Staat nicht regieren, nicht einrichten konnte, schrieb er über den Staat. Alles bei ihm ist wie bei Sokrates auf persön- liche Einwirkung angelegt. Seine Schriften, die wir zu dem Höchsten zählen, was die Weltliteratur besitzt, betrachtete er selbst für eine Art von Notbehelf, höchstens als Mittel der Erinnerung an wirklich ge- haltene Gespräche mochten sie gelten. Wir müssen ihm dies glauben, denn die ungemeine künstlerische Sorgfalt, die er auf sie verwendete, ließe viel eher das Gegenteil vermuten. Nur aus unmittelbarem geistigen Verkehre, aus gemeinschaftlicher Unterredung gehe die Erfassung der Idee hervor. Sie komme plötzlich wie ein Licht, das aus einem Funken entsteht, um sich dann von sich selber zu nähren. Als bloßes Objekt des

IQ2 Sechster Vortrag.

Wissens sei sie weder auszusprechen, noch zu überliefern; ist sie doch wesentlich ein Erleben des Geistes, die Er- hebung und Richtung des Gemütes zu seinen Zielen hin. Und so ist es auch in der Tat: Ideen sind Willens- begrifife, nicht Sachbegriffe.

Dem Wege folgend, den Sokrates gewiesen, hat Plato die Welt des Seinsollenden entdeckt. Ein Glanz unvergänglicher Jugend liegt auf seinem Werke, das dem wesentlichen Gehalte nach so wenig veralten kann wie ein Werk der hohen Kunst. So wie Raffael ihn im Bilde zeigte auf der „Schule von Athen", mit der nach oben weisenden Gebärde lebt Plato im Gedächtnis der Menschheit.

Wer in der Geschichte der Philosophie Zusammen- hang und Folgerichtigkeit vermißt, weil er nur auf den Wandel der metaphysischen Systeme blickt, der den Wandel der wissenschaftlichen Anschauungen teils wieder- spiegelt, teils auch ankündigt, wird durch die Fortwirkung des Piatonismus eines Besseren belehrt, insbesondere, wenn er bemerkt, wie nahe sich die Gedankenkreise Piatos und Kants berühren. Laas hat ganz richtig ge- sehen, wenn er allen Idealismus in der praktischen Be- deutung des Wortes auf Plato zurückführt, von Plato ausgehen läßt, aber unrichtig daraus gefolgert, daß eben deshalb der Idealismus antiquiert und durch den „Positivismus" der Wissenschaft zu ersetzen sei. Wir schließen heute anders. In der wissenschaftlichen For- schung ist der Positivismus, der Weg der Erfahrung, an seinem Platze; wo aber die Lebensweisheit, welche nicht Wissenschaft ist, sondern Kunst, dem Willen neue Ziele entdeckt, hat alle bisherige Erfahrung keine ent-

Probleme der Lebensanschauung. 1^2

scheidende Stimme. Diese Kunst zeigt Möglichkeiten, die erst zu schaffen, erst zu verwirklichen sind. Zwar geht sie aus der Natur des Menschen hervor und auch die Ziele, die sie zeigt, liegen innerhalb der Grenzen der Menschheit; ihr Glaube aber ist, daß diese Grenzen noch nicht durchmessen, jene Möglichkeiten nicht erschöpft sind, daß die menschliche Natur mit einem Worte plastisch ist und darum gestaltet sie an dem Bilde des Menschen weiter. Auch haben wir uns überzeugt, daß reine Wissen- schaft nicht ausreichen kann, unser Leben zu erfüllen. Das Wissen vermehren, ohne den Willen zu bilden, den Charakter zu erhöhen, kann sogar nachteilig, kann kulturwidrig werden. Wir sind heute wieder geneigt, auf die Stimme der führenden Geister aus der Ver- gangenheit zu hören, denn wir haben die Empfindung an einem Wendepunkte der Zeit zu stehen und sehen nach dem Wege aus, der zur Erneuerung des geistigen Lebens führt.

Ideen sind nicht Erkenntnisbegriffe, sie fallen nicht in das Gebiet der theoretischen, sie gehören zum Bereich der praktischen Vernunft. Dort, wo die Erforschung von Objekten, die in der Erfahrung gegeben sind, unser Zweck ist, kann ihre Bedeutung nur eine „regulative" sein, sofern sie die Bedingungen oder Regeln angeben, unter denen Einheit oder systematische Vollständigkeit des Wissens zu erzielen ist. Für die praktische Vernunft dagegen sind sie „konstitutiv"; sie selbst konstituieren die praktische Vernunft, sie selbst sind die Vernunft, die zugleich Wille ist. . Mit diesem Gedanken hat Kant den Piatonismus wiederbelebt und zugleich auf das Gebiet beschränkt, worüber ihm in der Tat die Herrschaft zusteht. Doch ist sein Verfahren dabei nicht völlig konsequent. Für die Glaubensobjekte machte er

Riehl, Philosophie der Gegenwart, 12

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Sechster Vortra?.

die Ideen doch wieder zu Erkenntnisbegriffen, und da eine Erkenntnis aus Ideen, falls eine solche möglich ist, immer nur eine geforderte sein könnte, erklärte er die Glaubenssätze, die er durch sie begründen will, nur für Forderungen, für „Postulate" der praktischen Vernunft. Ideen sind niemals Realitäten, wie Plato glaubte, noch können durch sie Realitäten begründet werden, wie Kant meinte. Ihre Bestimmung ist das Schaffen von Reali- täten, die noch nicht sind. Auch die Freiheit, die Grund- lage der Ethik Kants, ist in diesem Sinne eine Idee; und statt mit Kant zu sagen: ein Wesen das unter der Idee der Freiheit handelt, ist frei, müssen wir vielmehr sagen : es wird frei, es macht sich frei, und zwar genau so weit, als es wirklich nach der Idee handelt. Der Wille geht nicht von der Freiheit, als einem ursprüng- lichen Besitze, aus, er führt zur Freiheit hin, er befindet sich zu ihr, mathematisch geredet, in assymptotischer Annäherung. Ideen sind Aufgaben, die ins Unendliche weisen und eben dadurch machen sie das Leben des Geistes aus.

Wenn von der Ethik Kants die Rede ist, so denkt man gewiß zuerst an den „kategorischen Imperativ", und da man mit diesem beinahe zu einem geflügelten Worte gewordenen Ausdruck nicht immer einen be- stimmten, aus dem Zusammenhang der Kantischen Lehre geschöpften Begriff verbindet, so hält man sich an den Wortlaut und stellt sich darunter etwas Befehlshabe- risches vor, das sich auf Gründe nicht einläßt, sondern schweigenden Gehorsam erheischt, so ungefähr wie das Kommando eines Unteroffiziers. Das Kategorische aber soll auch als Merkmal des Sittengesetzes nichts weiteres bedeuten, als es in der Logik als Name eines Urteils bedeutet: nämlich den Gegensatz zum Hypothetischen,

Probleme der Lebensanschauung. 195

etwas, das nicht hypothetisch ist, nicht unter einer Be- dingung steht, sondern schlechtweg gilt, einen Satz also ohne ein Wenn. Der kategorische Imperativ ist übrigens nicht das Prinzip der Kantischen Ethik, er ist die Formel der Kantischen Moral und trägt wie diese selbst das Gepräge der Aufklärungszeit an sich, aus der er stammt. Er soll das Erkennungszeichen für unsere Pflichten sein, wir sollen nach ihm die Probe machen können, ob eine Maxime unseres Handelns sittlich sei, dies aber bedeutet in der Kantischen Moral ob sie all- gemeingiltig sei, ganz so, als handelte es sich um einen rein theoretischen Satz. Nun werden wir zweifeln können ob es überall möglich, und noch mehr, ob es notwendig sei, jede Handlung erst auf eine Maxime zurückzuführen, diese sodann auf ihre AUgemeingiltigkeit hin (ihre Taug- lichkeit zu einem allgemeinen Gesetze) zu prüfen, um daraus den moralischen Wert der Handlung zu erkennen. Für die Auffindung des „richtigen Rechtes", der Rechts- pflichten, mag die Formel Kants ihre guten Dienste leisten; ihre Anwendbarkeit darüber hinaus ist zum mindesten fraglich und eine Notwendigkeit, sie allgemein anzuwenden, läßt sich nicht begründen. Das Handeln aus Pflicht und nur dieses ist unter den Gesichts- punkt eines Imperativs zu bringen ist nicht die ein- zige, es ist auch nicht die höchste Form des sittlichen Handelns. Eine andere Form ist das Schön- und Gut- Handeln, die „Kalokagathie" der Athener. So handelte Sokrates. Aber, welche Bedenken immer sich gegen die Formel der Moral Kants erheben lassen mögen unberührt davon bleibt das Prinzip seiner Ethik. Es ist aus dem Wesen des menschlichen Bewußtseins, ja des vernünftigen Bewußtseins überhaupt geschöpft. „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller

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Iq6 Sechster Vortrag.

moralischen Gesetze", lautet der Satz Kants. Unter Willensautonomie ist negativ die Unabhängigkeit des Wollens von dem Objekte des Begehrens zu verstehen, seine Unabhängigkeit von den Objekten überhaupt, auf die es sich bezieht. Denn jede Beziehung auf Gegenstände, die von den Gegenständen abhängig ist, kann nicht reiner Wille sein, sie muß auf Neigung beruhen, oder sonst einem sinnlichen Antrieb und obwohl dies keinen Tadel einzuschließen braucht, so bedeutet es doch jedenfalls einen nicht moralischen Bestimmungsgrund. „Neigungen wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen widerfahren läßt, und lassen immer ein noch größeres Leeres übrig, als man auszufüllen gedacht hat. Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht, und die Vernunft muß, wo es auf Sittlichkeit an- kommt, nicht bloß den Vormund derselben vorstellen, sondern, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, ihr eigenes Interesse ganz allein besorgen." Solche Worte hätte auch Sokrates sprechen können. Autonomie des Willens bedeutet positiv und dies ist ihr lebensvoller Begriff Selbstgesetzgebung. Darauf allein beruht die Würde oder der innere Wert eines vernünftigen Wesens, daß es keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zu- gleich selbst gibt. Autonomie des Willens, das ist nichts anderes als ethische Freiheit; auf Geistesherrschaft, auf geistige Freiheit hat Kant die Ethik gegründet.

Ethische Freiheit heißt nicht bloß Macht haben, Macht vor allem über sich selbst. Gewiß, auch dies gehört zu ihrem Begriffe, ist aber nicht dessen einziger, auch nicht dessen wertvollster Inhalt. Autonomie ist nicht gleichbedeutend mit „Willen zur Macht", den unser modernster Ethiker zum Prinzip e der Umschaffung des Menschen machen wollte. Autonomie oder ethische

Probleme der Lebensanschauung. igjr

Freiheit ist, ich erläutere dies aus Kants eigenen Worten: Persönlichkeit, Wille zur Persönlichkeit. „Was den Menschen über sich selbst, als einen Teil der Sinnenwelt erhebt, ist nichts anderes als die Persönlichkeit, d. i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem ganzen Mechanismus der Natur."

Das Sittengesetz ist das Naturgesetz des vernünftigen Wesens als solchen; nach dem Typus, dem Muster der Naturgesetzlichkeit haben wir die Selbstgesetzgebung der Vernunft oder des Willens aufzufassen. Wie zum Begriff, hier dürfen wir vielleicht sogar sagen: wie zur Idee des Naturgesetzes die Ausnahmslosigkeit gehört, so soll auch der Wille seiner Form nach ein im Sinne dieser Idee naturgesetzlicher sein, und zwar unser eigener Wille, der aus uns selbst hervorgehende, aus unserer Vernunft stammende, mit der Betätigung unserer Ver- nunft identische Wille. Bei allen unseren sittlichen Ent- scheidungen haben wir uns zu fragen, ob wir eine Natur, zu der diese Entscheidungen gehören, durch uns selbst hervorbringen wollten. Ethisch ist nur d i e Entscheidung, die mit unserem ganzen Willen übereinstimmt; sie ist zugleich die Entscheidung, die jedes vernünftige Wesen in gleicher Weise treffen würde, das unter den nämlichen Umständen zu handeln hätte. Wenn also Kant bei der Begründung der Ethik von allem nur Anthropologischen absieht, wenn er in der lesenswertesten seiner ethischen Schriften, in der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten"» geradezu fordert, den Grund der Verbindlichkeit für die Sittengesetze „nicht in der Natur des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist" zu suchen, so verstehen wir ihn recht, wenn wir ihn so verstehen: nicht der Mensch sofern er Mensch, sondern sofern er ein Vemunftwesen ist, ist das Subjekt und zugleich die

<L.

Iq8 Sechster Vortrag.

Quelle des ethischen Handelns. Hier erst sehen wir die Höhe zu der sich die Kantische Betrachtung erhebt. Das Sittengesetz, das Freiheitsgesetz ist das universelle Gesetz aller vernünftigen Naturen. Es hat kosmische Tragweite. Wie verschieden auch die äußeren Formen des Handelns anderer Vernunftwesen sein mögen, je „nach den Umständen in der Welt, darin sie gesetzt" sind, wie verschieden die Objekte, die innere Form, das Prinzip ihres Handelns kann überall in der Welt der Vernunft nur ein und dasselbe sein. Und wir dürfen dies mit derselben Sicherheit behaupten, mit welcher wir sagen: kein denkendes Wesen kann von sich selbst zu sich selbst in einem anderen Sinne: Ich sagen, als jeder von uns von sich Ich sagt. Die Quelle des Sitten- gesetzes ist die Apperzeption, die Tätigkeitsform des Selbstbewußtseins, das Selbstbewußtsein als Wille.

Es ist nicht mögUch den Empfindungen, die uns bei der Vertiefung in diese Gedanken notwendig ergreifen, vollständigen Ausdruck zu geben. Wenn uns die Wissen- schaft zeigt, daß die Natur begreiflich, daß sie unserem Verstände zugänglich und offen ist, dann erscheint uns die Ordnung der Dinge nicht mehr fremd, oder wohl gar feindlich, wir fühlen uns auch innerlich und nicht bloß tatsächlich zu ihr gehörig, und wie groß auch ihre Macht gegen uns als Einzelwesen sein mag, diese Macht, wenn sie selbst unsere liebsten Wünsche durchkreuzt, ja uns vernichtet, erscheint uns doch nicht wie ein blindes Verhängnis, wir erkennen sie als Ausfluß der nämlichen Ordnung, die auch alles für uns Heilsame herbeiführt. Und ebenso wie durch den Verstand mit der Sinnen- welt, fühlen wir uns durch die Vernunft mit einer geistigen Welt verbunden, nachdem wir eingesehen haben, daß es nur Ein Prinzip des Wollens für alle ver-

Probleme der Lebensanschauung. ign

nünftigen Wesen geben kann, daß die ethischen Werte nicht rein menschliche sondern allgemein geistige Werte sind. Die Teilnahme an allem Sein, die kosmische Em- pfindung, wird dadurch gleichsam zu einer doppelseitigen. Zwei Dinge sind es, sagen wir mit Kant, die das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht erfüllen, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns , zwei Dinge: die Grenzenlosigkeit der Sinnenwelt außer uns und die Unendlichkeit des geistigen Wesens in uns.

SIEBENTER VORTRAG.

SCHOPENHAUER UND NIETZSCHE. ZUR FRAGE DES PESSIMISMUS.

Das umfassendste Wertproblem, das irgend gestellt werden kann, die Frage nach dem Werte des Lebens, dem Werte des Daseins überhaupt hat Schopenhauer gestellt; die Verneinung der Frage : hat das Dasein einen Wert? macht ihn zum Philosophen des Pessimismus.

Wir wollen uns nicht bei der Gegenfrage aufhalten: Kann man so fragen ? Kann der Wert des Daseins, der Wert der Welt abgeschätzt werden? Müßte nicht das Maß für seine Schätzung aus eben der Welt, eben dem Leben genommen sein, die darnach geschätzt werden sollen? Ein Werturteil setzt die Möglichkeit einer Ver- gleichung voraus. Womit aber könnte das Sein, das alles ist, verglichen, wie sein Wert beurteilt werden, da es selbst jeden Wert und jeden Unwert in sich ein- schließt und aus sich hervorbringt? Eines ist von vorne- herein klar: soll das Leben als Ganzes geschätzt und die Summe seines Wertes bestimmt werden, so müßte das Ganze des Lebens gegeben und unveränderlich sein» Geschichte und Entwicklung, Werden und Schaffen machen jede feste und endgiltige Wertbestimmung des Lebens, also auch die pessimistische unmöglich. Mit einer Geschichte, die zugleich einen Fortschritt bedeutet, ist der Pessimismus als Theorie nicht zu vereinen und schon durch die bloße Möglichkeit künftigen Fortschrittes wird er aufgehoben.

Schopenhauer und Nietzsche. Zur Frage des Pessimismus. 201

Um den Pessimismus bejahen zu können, muß Schopenhauer die Geschichte verneinen. Seine Philo- sophie kennt keine Geschichte, sie erkennt die Ge- schichte nicht an. Diese darf kein wirkliches Ge- schehen bedeuten, nichts in ihr darf sich wahrhaft verändern, sie muß ein ewiges Einerlei sein, nur in immer anderer Verkleidung: eadem sed aliter so will es der Pessimismus. Die Geschichtslosigkeit des menschlichen Wesens, das Fehlen jeder eigentlichen Ent- wicklung im Leben der Menschheit ist ebenso ein Postulat der Philosophie Schopenhauers, wie der entgegengesetzte Glaube an beständigen und notwendigen Fortschritt, an ein Gesetz fortschreitender Entwicklung in der Geschichte, ein Postulat der Philosophie Hegels ist. Beides ist, so absolut hingestellt, gleich einseitig und der Erfahrung widersprechend. Diese weiß von keinem Gesetz des Fortschrittes, sie kennt den Fortschritt nur als Resultat, das je nach den Bedingungen eintreten oder ausbleiben kann. Beharrung und Veränderung zusammen und mit wechselseitiger Einschränkung bestimmen den Gang des Geschehens und die Zweifel an der Wirklichkeit eines Fortschrittes in einem gegebenen Falle sind berechtigt, sofern jeder Fortschritt immer nur relativ sein kann, und nützlich, denn sie treiben zum Weiterstreben und Handeln an. Hätte also Schopenhauer nur die Selbst- zufriedenheit einer jeden „Jetztzeit" stören wollen, den törichten Glauben, daß gerade sie, daß gerade wir es „so herrlich weit gebracht", wir würden ihm nicht widersprechen können. Aber er leugnet an sich und unbedingt die Möglichkeit alles Besserwerdens und darum ist seine Lehre lebensfeindlich. Sie verneint das Leben, sie will es verneinen und der Glaube an sie lähmt das Handeln.

202 Siebenter Vortrag.

Der Pessimismus ist Schopenhauers Apriori und gleichsam der „angeborene Begriff" seiner Philosophie. Die pessimistische Verurteilung des Lebens wir wissen dies aus den frühesten Aufzeichnungen des Philosophen selbst stand ihm bereits fest, ehe noch ein weiterer Bestandteil seiner Lehre gefunden war. Mehr noch: alle anderen Hauptgedanken seiner Philosophie ent- wickeln sich erst aus dem Pessimismus und schon ihre Auffindung, ihre Auswahl steht unter der Leitung des pessimistischen Grundmotives. Weil das Leben unselig ist, das Dasein verkehrt und ohne denkbares Ziel, des- halb muß der Grund des Lebens, das Princip des Daseins ein blinder, unaufhaltsamer Drang und „Wille" sein. Und soll es dennoch ein Heil geben können, eine Befreiung von der Qual des Verlangens, soll die Sehn- sucht des Geistes je Erfüllung, der Wille Befriedigung finden, so kann das Ziel dieser Erfüllung, die Stätte dieses Friedens nur in dem zu suchen sein, was die Welt nicht ist, in einem Jenseits von allen Erscheinungen. Dann aber darf diese Welt, in der wir leben, nicht die einzige Welt, nicht die letzte und unauf hebbare Wirk- lichkeit von absoluter Bedeutung sein, sie muß eine Scheinwelt sein, ein bedrückender Traum, in dem das Weltwesen befangen ist und welcher beim Erwachen des „besseren Bewußtseins", so hieß es zuerst, mit der „Verneinung des Willens zum Leben", heißt es später, von selber verschwindet. Dies wieder setzt vor- aus, daß die Vorstellungsformen, in denen uns die Welt gegeben ist, nicht Formen der Wahrheit und Erkenntnis sind, sondern Formen des Scheines und der Täuschung. So fordert der Pessimismus Schopenhauers die Annahme eines erkenntnislosen Willens, einer finstern, treibenden Macht im Wesen der Dinge, so fordert er die Herab-

Schopenhauer und Nietzsche. Zur Frage des Pessimismus. 20"?

Würdigung der Erscheinungswelt zu einer scheinbaren Welt, einem bloßen „Gehirnphänomen", wie Schopen- hauer sagt, damit die Möglichkeit einer Erlösung aus dem Dasein offen bleibe; er fordert endlich die Lehre dieser Erlösung, einer zeitweiligen durch die Kunst, der definitiven durch Askese und Willensverneinung. Alles bei Schopenhauer: die Willensmetaphysik, die nihilistische Erkenntnislehre, der Zweck, den er der Moral gibt, hängt mit dem Pessimismus zusammen, vom Pessimismus ab und selbst die Auffassung der Kunst wird von dem düsteren Geiste getrübt, der durch sein ganzes System geht.

Nicht dieses System selbst und wie sich in ihm Aufklärung und Romantik so seltsam kreuzen und ver- mischen, hat uns zu beschäftigen; wir erinnern nur an die leitenden Grundsätze des Systems, in welche der pessimistische Denker seine Lehre selbst zusammen- faßte und die schon die Überschrift seines Hauptwerkes zum Ausdruck bringt.

Die Welt, wie sie sich unseren Sinnen zeigt, mit allem, was sie enthält: der Erde, die wir bewohnen, der Sonne, die wir schauen, den Gestirnen, die über uns leuchten, ist Vorstellung des vorstellenden Subjektes: „die Welt ist meine Vorstellung," Vorstellung aber bedeutet für Schopenhauer soviel als Irrtum, soviel als Trug. Sie ist, erklärt er, die Maja, von der die Weisheit der alten Inder redet, der Schleier des Truges, der die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehen läßt, von der man weder sagen kann, daß sie sei, noch auch, daß sie nicht sei; denn sie gleicht dem Traume, gleicht dem Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von ferne für ein Wasser hält. Das sind nicht, wie Schopenhauer meinte, Kantische

204 Siebenter Vortrag.

Gedanken, bildlich ausgedrückt, noch richtige Folgerungen aus Gedanken Kants. Es sind nicht einmal Berkeleysche Gedanken; denn Berkeley glaubte wenigstens an die Realität einer Geisterwelt. Die Erscheinung, bei Kant der Gegenstand einer empirischen Erkenntnis, wird hier in Schein verwandelt, zum Scheine verflüchtigt; die Formen des Anschauens und die Begriffe des Denkens, welche, wie Kant zeigte, durch ihre Beziehung auf die Dinge selbst Erfahrung und Wissenschaft begründen, mithin die Quelle der Wahrheit sind, werden von Schopenhauer zur Quelle des Irrtums gemacht: das Subjekt soll in ihnen befangen sein, sie sollen uns Dinge vorspiegeln, wo keine Dinge sind. Die Welt eine Sinnestäuschung, für Sinne, die selbst nur eine Täuschung sind, die Welt ein Gehirnphänomen für ein Gehirn, das sein eigenes Phänomen ist, das ist nicht Kriticismus, das ist Illusionismus, ist Nihilismus der Erkenntnis und eine völlige Umbiegung der Kantischen Lehre. Und doch verdeckt Schopenhauers falsche Auffassung Kants für viele noch heute den wahren Sinn der kritischen Philosophie. Auch in der Erkenntnistheorie ist Schopen- hauer Pessimist.

Wie nach Schopenhauer die Welt von außen be- trachtet, durch und durch Vorstellung ist und ein Sein nur in ihrem Vorgestelltwerden hat, so soll sie innerlich erfaßt, durch und durch Wille sein: „die Welt ist mein Wille." Sie ist an sich eben dasselbe, was, wenn es, von der Erkenntnis begleitet ist, Wille heißt. Der Wille, lehrt Schopenhauer, ist unser Wesen, das innere Sein unseres Leibes und darum auch das innere Sein, das eigene Wesen aller anderen Dinge, soweit sie nicht in die Vorstellung aufgehen, soweit sie darüber hinaus noch etwas für sich sind. Als das

Schopenhauer und Nietzsche. Zur Frage des Pessimismus. 205

„Unmittelbarste" unseres Bewußtseins soll er nicht völlig in die Form der Vorstellung eingegangen, daher uns intim und besser als alles andere bekannt sein. Er ist frei von der Form des Raumes oder der Vielheit und erscheint nur noch in der Form der Zeit wie in einem durchsichtigen Schleier. Die Kausalität aber, das Wirkende in allen Wirkungen, ist er selbst: der Wille ist „die Kausalität von innen ge- sehen". — Ist es nötig, diesen Satz, das eigentliche Fundament der Naturphilosophie Schopenhauers, noch ausdrücklich zu widerlegen, nachdem ihn Hume schon im voraus widerlegt hat? Nicht der Wille ist uns ge- geben, Wille ist ein Abstraktum; wir kennen nur Akte unseres Wollens und von jedem dieser Akte er- fahren wir, daß er von einer Vorstellung abhängig ist, die wir als sein Motiv bezeichnen. Wie oder wodurch er aber von seinem Motive abhängt, das ist uns genau so bekannt und unbekannt, als es uns bekannt und zu- gleich unbekannt ist, wie eine Bewegung von einer anderen Bewegung abhängt. Auch die „Motivation", der Zusammenhang von Motiv und Willens entschluß lüftet das Geheimnis nicht, das der Metaphysiker hinter der Verursachung sucht. Was aber ist Schopenhauers Wille selbst ? was das Wesen dessen, was der Philosoph zum Wesen der Dinge macht? Mit Mißachtung des Sinnes und Gebrauches der Sprache des Lebens und der Psychologie nennt Schopenhauer: Wille, was vor ihm und außer ihm Niemand, es sei denn ein Anhänger seiner Lehre, Wille nannte oder nennen wird: den bloßen Instinkt oder Trieb, den Drang der Begierde, den Affekt der Leidenschaft, alles das also in unserem Bewußtsein und gerade das, von dessen unmittelbarer Wirksamkeit wir uns durch das Wollen befreien, worauf

2o6 Siebenter Vortrag.

und öfters selbst wogegen der wahre und echte Wille wirkt, worüber er Herr wird. Befragen wir nämlich Schopenhauer, wo sich der Wille am reinsten manifestiere, am offenkundigsten in die Erscheinung trete, so weist er nicht auf Beispiele aus dem Leben der Helden und Staatsmänner, der Lenker der Menschheit, er weist auf die Raserei eines Tobenden hin: hier zeige der Wille, was er los geworden von der Erkenntnis, seiner eigenen Natur nach sei, hier lasse er sich in seiner wahren Gestalt überraschen. Wir sagen vielmehr gegen Schopenhauer, und sagen es mit Recht, daß eben hier der Wille fehlt und nennen den, welcher seiner Triebe nicht mächtig ist, den geistig Gestörten, willenlos. Der Metaphysiker des Willens hat den Willen mißverstanden; Schopenhauer kannte den Willen nicht, er verwechselte ihn mit der Begierde. Das Wort, dem sich wie einem „Sesam öffne dich!" das Innere der Natur auftun soll, das Wort Wille, statt die Rätsel des Daseins lösen zu können, ist, so wie Schopenhauer es gebraucht, selbst zum Rätsel geworden. Ein Wille ohne Erkenntnis ist nicht der Wille, den wir allein kennen und betätigen; aus ihm die Welt „erklären", und dies soll nach Schopenhauer die Aufgabe der Philosophie sein, heißt für ein Unbekanntes ein anderes Unbekanntes setzen. Höchstens metaphorisch mag der „universelle Drang zum Dasein", welchen Schopenhauer in die Natur hineinlegt, in sie „einfühlt", ein „Wille" heißen können. Der „Wille in der Natur*' ist eine Metapher, besten- falls eine Analogie. Wird das „Wesen" der Naturkräfte dem Verständnis wirklich in irgend einem Grade näher gebracht, wenn wir den Begriff der Kraft auf den des Willens zurückführen, die Kräfte als Äußerungsformen eines unbewußten Willens deuten? Erst müßten wir

Schopenhauer und Nietzsche. Zur Frage des Pessimismus. 207

diesen „Willen" selbst verstehen können. Schopenhauer freilich meinte: daß das Wesen der Kräfte auch in der unorganischen Natur identisch mit dem Willen in uns ist, stelle sich Jedem, der ernstlich nachdenkt, mit völliger Gewißheit und als erwiesene Wahrheit dar; er hielt also diesen Satz für so selbstverständlich wie ein Axiom. Die Gravitation, um eine Probe zu wählen, soll die „aus dem eigenen Innern der Körper hervor- tretende Sehnsucht derselben nach Vereinigung" sein; „wie sie spielen nach den lockenden Zielen," sagt auch der Dichter vom Tanz der Gestirne. Ist dies Erklärung? Wo bleibt das Gesetz, nach welchem die Gravitation wirkt? Imaginiere sich, wer kann, eine quadratisch mit der Entfernung abnehmende Sehnsucht. Wohl ist es dem Menschen natürlich, sein Gemüt und dessen innere Regungen in das gleichsam Innere der Dinge um ihn her hineinzutragen, sich in die Dinge einzufühlen; wir nennen aber nicht Erklärung, was eine Deutung, eine Vermenschlichung der Natur ist, die Quelle ihrer mythischen Auffassung. Der „Wille in der Natur" ist ein philosophischer Mythos.

An sich brauchte eine Willensmetaphysik, gleich derjenigen Schopenhauers, nicht pessimistisch zu sein; ein erkenntnisloser Wille müßte nicht notwendig das- selbe bedeuten wie ein vernunftwidriger Wille. Schopen- hauers pessimistische Charakteristik des Willens muß daher andere Gründe haben als die Trennung des Willens von der Erkenntnis, und abermals zeigt sich uns, daß der Pessimismus das unabhängige Element und der ursprüngliche Bestandteil seiner Philosophie ist. Nehmen wir aus dieser den Pessimismus weg, und es bleibt ein naturphilosophischer Versuch zurück, geist- voller als andere Versuche der gleichen Art und durch

2o8 Siebenter Vortrag.

schriftstellerische Vorzüge ausgezeichnet, doch aber nur einer der Versuche, das Unerforschliche zu erforschen, eines der Systeme, die es erforscht zu haben glauben, wenn sie die Welt nach einer ihrer Erscheinungen aus- legen. — Unter allen Philosophen, die ein geistiges Prinzip im Wesen der Dinge annehmen, ist Schopen- hauer der einzige, der dieses Prinzip nicht in einer „Idee", nicht in Verstand oder Vernunft, sondern im Leben der Triebe und Affekte sucht. Er faßt die Grund- lage dieses Lebens in eine Einheit zusammen und nennt diese Einheit: Wille. Hierin, in dem Willensmonismus beruht das Eigentümliche seiner Naturphilosophie, die wir dem modernen Bewußtsein näher bringen, wenn wir an die Anschauungen der Wissenschaft von der Einen Kraft oder Energie denken, welche sich einem Proteus gleich, wie Helmholtz von ihr sagte, in immer neue Formen kleidet. Die metaphysische Hypothese Schopenhauers will das innere Wesen der Energie, die nur als unzerstörliche Größe bekannt und nachweisbar ist, erfassen; sie macht aus der Energie einen Allwillen in der Natur. Wie aber ordnet Schopenhauer diese naturphilosophische Hypothese seinem pessimistischen Glauben unter, wie rechtfertigt er den Pessimismus, der durch die Willenslehre allein nicht zu rechtfertigen wäre? So weit er empirisch verfährt, hat er anscheinend leichtes Spiel. Wer könnte sich auch der Erfahrung verschließen, daß die Welt nach menschlichem Maße gemessen, voll Unheil ist; wer wüßte nichts von tragischen Schicksalen im Leben anderer und hätte nicht in seinem eigenen Leben, wenn er nur alt genug geworden ist, ähnliche Schicksale erfahren? Und wird das Bild des Lebens so einseitig gezeichnet, wie es von Schopenhauer geschieht, der die Motive dazu von Schlachtfeldern und

Schopenhauer und Nietzsche. Zur Frage des Pessimismus. 209

Gerichtsstätten holt, uns durch chirurgische „Marter- kammern" und in „Sklavenställe" führt, so muß wohl das Leben in die nächtliche Farbe des Pessimismus getaucht erscheinen. Schopenhauer sammelt die Stimmen der Dichter, voran der griechischen, zum Zeugnis gegen das Leben und über das „beste Los, nicht geboren zu sein, nie den Tag erblickt zu haben und sein flammen- sprühendes Gestirn"; gegen die Aussprüche der Lebens- bejahung, Lebensfreudigkeit ist er taub. Keiner aber hat eindrucksvoller und mit einer solchen Mannigfaltig- keit von Wendungen und Gleichnissen von der Nichtigkeit und den Leiden des Lebens geredet; keiner, auch Leopardi nicht, von dem er rühmt, und es ist dies höchst bezeichnend für ihn selbst, daß er dabei durchweg erregend und unterhaltend wirke. Wir meinen ordentlich die Freude zu sehen, die er über die spannende Behandlung seines dunklen Gegenstandes empfindet, die Freude, nicht des bloßen Zuschauers, der von bequemem Platze aus ein Trauerspiel ansieht, sondern des tragischen Künstlers selbst, der sich vom Furchtbaren befreit, indem er ein Bild des Furchtbaren schafft. Schaffen, Darstellen heißt Sich-Befreien. Und so ist es verständlich, wie Schopenhauer vermochte, das Leben zu ertragen und dazu noch ein Pessimist zu sein, der „die Flöte spielte". Beweise wird man in seinen Klagen und Anklagen gegen das Leben nicht finden können; sind sie doch, wie er selbst sagt, überall leicht zu haben. Es ist kein Beweis, wenn er bemerkt: Dante habe den Stoff zu seiner Hölle aus dieser unserer wirk- lichen Welt genommen und es sei eine recht ordentliche Hölle geworden, für das Paradies aber, zu welchem die Welt gar keine Materialien darbiete, sei ihm nichts übrig geblieben als Belehrung durch Beatrice und verschiedene

Riehl, Philosophie der Gegenwart. 14

2IO Siebenter Vortrag.

Heilige, das heißt nichts als Langeweile und scholastische Theologie.

Aber Schopenhauer will zum Pessimismus nicht bloß überreden; er will ihn beweisen, sogar aus Gründen a priori beweisen. Die Nichtigkeit der Zeit, der all- gemeinen Form des Daseins, ist das erste, was gegen das Leben sprechen soll. Jeder Augenblick ist nur da- durch da, daß er den vorhergehenden vertilgt, um als- bald selbst von dem folgenden vertilgt zu werden. Und so scheint das Leben nur in einer beständig hinstürzenden Gegenwart enthalten zu sein, in einem ausdehnungslosen Punkte, der die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet. Die Gegenwart aber sei stets unbefriedigend. Das Glück liege in der Zukunft, oder auch in der Ver- gangenheit, während die Gegenwart einer kleinen Wolke zu vergleichen sei, welche über die besonnte Fläche treibt: vor ihr und hinter ihr ist alles hell, nur sie selbst wirft einen Schatten. Gehört nicht auch die Erinnerung, werden wir dem entgegenhalten, zu unserem gegen- wärtigen Leben, und wird die Gegenwart nicht ebenso durch Voraussicht und Erwartung erweitert? Unaus- gedehnte Zeitpunkte gibt es nur für das mathematische Denken, die anschauliche Zeit und jeder Teil in ihr ist, oder hat Dauer. Selbst für den einfachsten psychischen Akt ist die „Präsenzzeit", wie der Psychologe sie nennt, immer noch ausgedehnt. Aus dem beständigen Hin- schwinden der Zeit läßt sich daher die Nichtigkeit ihres Inhaltes nicht folgern, und statt zu sagen: nichts beharrt, alles ist ohne Dauer, müssen wir vielmehr sagen: nichts ist völlig vergänglich. Das Vergangene ist in seinen Wir- kungen, das Künftige in seiner Ursache da und das zurück- und vorgreifende Bewußtsein verbindet Succession und Beharren. Das zweite, was a priori für den Pessimismus

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entscheiden soll, ist die angebliche Negativität der Lust, die Nichtigkeit der Gefühle der Befriedigung, der Freude. Nur die Unlust soll ein positives Gefühl sein, alle Lust dagegen nichts als ein augenblickliches Stillestehen des Willensdranges und Begehrens. Je stärker der Drang, je stürmischer das Begehren, um so größer erscheine dann im Kontraste damit die nachfolgende Lust; diese entstehe erst aus einem solchen Kontraste und sei selbst nichts Ursprüngliches und Positives. „Nur Schmerz und Mangel können positiv empfunden werden; das Wohl- sein hingegen ist bloß negativ." Die unmittelbarste innere Erfahrung widerspricht dieser Behauptung Schopen- hauers. Lust ist nicht dasselbe wie Schmerzlosigkeit und nicht jede Lust Folge einer aufgehobenen Unlust, eines gestillten Verlangens. Niemand hat je im Ernste bezweifelt, daß die Beseligung im Betrachten, d. i. Nach- schaffen eines edlen Kunstwerkes ein Zustand hohen, positiven Glückes ist; Niemand, auch Schopenhauer nicht, obschon er es, nur um den Pessimismus nicht preiszugeben, in der Theorie fertig brachte, auch die Befriedigung durch die Kunst für eine negative zu erklären.

Diese Erwägungen allgemeiner Art, die den Pessi- mismus nicht beweisen, weil sie selbst der Prüfung nicht Stand halten, sollen eine empirische Bestätigung im Großen erfahren durch jeden Blick auf die organische Natur und den in ihr herrschenden Kampf um Leben und Tod. Im „Kampf ums Dasein", den eine moderne Schule der Biologie als ein Prinzip der Entwicklung des Lebens betrachtet, sah Schopenhauer ein Argument gegen das Leben. Er fand darin, vom Standpunkte seines abstrakten Monismus aus, der aus einem Begriff ein Wesen machte, den Beweis für die Entzweiung des

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„Willens" mit sich selbst. Ja, schon in der unorganischen Natur, einer Druse z. B., in der sich die anschießen- den Krystalle durchkreuzten, erblickte er die Anzeichen und Abbilder dieses inneren Streites. Der Wille zehrt an sich selber. „Alles drängt und treibt zum Dasein, womöglich zum organischen, d. i. dem Leben und da- nach zur möglichsten Steigerung desselben." Jedes Wesen nährt sich von einem anderen; jedes sucht dem anderen die „Materie" zu entreißen, denn es kann sein Dasein nur durch die Aufhebung eines fremden erhalten. Überall treffen wir so in der Natur auf Kampf und wechselnden Sieg. Nur durch Überwältigung der niederen Erscheinungsformen steigt der „Wille" zu den höheren Stufen des Daseins, der ,,Objektivation", auf; seine Be- dürfnisse wachsen, seine Organisation wird komplizierter, bis er sich endlich geistig und historisch im Menschen- geschlechte auslebt und in dessen Geschichte: dem ewigen Einerlei, wir wissen es schon, unter immer neuen Masken. So lautet Schopenhauers pessimistische Deutung des Entwicklungsganges in der organischen Natur, die Legende von dem mit sich entzweiten „Willen zum Leben". Um von einer Entzweiung im Wesen der Dinge reden zu können, muß man den Dingen erst ein einziges Subjekt zu Grunde gelegt haben, und nicht Streit und Vernichtung allein herrschen in der belebten Natur, sondern, um in dieser halb mythischen Redeweise fortzufahren, auch Eintracht und Sympathie.

Aus dem unseligen Drängen und Treiben der Dinge, dem Tumult des Lebens und seiner Angst und Wirrsal gibt es Befreiung, muß es Befreiung, Erlösung geben. Vorübergehend und auf Augenblicke befreit uns die Kunst von dem Drange und der Not des Willens; vollständig und für immer können wir uns

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selbst von der Welt befreien, aus ihr retten, durch Um- kehrung unseres Wesens, durch Abtötung des Willens. Die Kunst eine Erlösung und damit zugleich eine Rechtfertigung des Lebens! die Kunst eine meta- physische Tätigkeit! Diese Sätze haben sich dem jungen Nietzsche eingeprägt, den Geist, der aus diesen Sätzen redet, hat Nietzsche nie völlig überwunden. Das künstle- rische Anschauen ist willenloses Anschauen; beim Ein- treten der ästhetischen Auffassung verschwindet der Wille ganz aus dem Bewußtsein, lehrt Schopenhauer. Dieses Verschwinden geschieht plötzlich und wie durch ein Wunder. Wenn in außerordentlichen Momenten der Intellekt, das Geschöpf des Willens und ursprünglich diesem dienstbar, gehoben durch seine eigene Kraft, sich von dem Dienste des Willens losreißt, sich vom Willen isoliert und die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahren läßt, dennoch aber energisch tätig bleibt, und sich ganz der Anschauung hingibt, sich ganz in diese versenkt und verliert: dann hat sich mit einem Schlage das erkennende Subjekt in uns verwandelt und damit hat sich zugleich die Welt, sein Objekt verwandelt. Das Subjekt ist herausgehoben aus seinen individuellen Beziehungen zu den Dingen; es will nicht mehr, begehrt nicht mehr, es ist zeitlos geworden; denn nur in der Zeit lebt die Begierde. Und auch was es in solcher Contemplation, als klares ruhiges Sonnenauge, schaut, schaut es nicht mehr in endlichen Beziehungen und Verhältnissen, den Beziehungen zu seinem eigenen Leibe oder Willen, den Verhältnissen zu anderen Dingen; es schaut das reine Was des Dinges, uicht dessen Wo, Wann oder Warum. Die Er- scheinung tritt ihm jetzt völlig anders entgegen als in der Welt der Vorstellung „nach dem Leitfaden des

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Satzes vom Grunde." Das Wesen der Dinge offenbart sich der „willenlosen, anteilslosen und dadurch rein objektiven Anschauung" des künstlerischen Genius; was dieser erfaßt, in jedem Dinge erfaßt, ist wie sein An- schauen selbst nichts Individuelles mehr, sondern ein Ewiges, Zeitloses: die Idee des Dinges, Die Kunst schaut die Ideen. Das soll nicht heißen: Gedanken sind ihre Objekte, es soll heißen: der reine anschau- liche Gehalt der Dinge ist ihr Gegenstand. Von der Form der künstlerischen Darstellung spricht Schopenhauer, dessen Betrachtungen über die Kunst im einzelnen sehr oft tiefgehend und aus Sachkennt- nis geschöpft sind, auffallend wenig. Ihn beschäf- tigt mehr das wunderlich verkehrt gestellte Problem, er nennt es „das eigentliche Problem der Meta- physik des Schönen" : wie ist Wohlgefallen und Freude an einem Gegenstande möglich ohne irgend eine Beziehung desselben auf den Willen? Daß dies nicht möglich ist, wenn man wie Schopenhauer auch die Gefühle zum Willen zählt, die Gefühle aus dem Willen hervorgehen läßt, leuchtet ein. Schopen- hauer will auch die Kunst dem Pessimismus dienstbar machen; ihm liegt daher alles daran, ihre Verwandt- schaft mit der Willensverneinung zu zeigen, zu zeigen, daß die Kunst ein Weg der Erlösung sei. Eine pessimistische Kunst aber ist ein unmöglicher Begriff, ein Widerspruch in sich selber; alle Kunst, auch die tragische, bejaht das Leben.

Der Genius ist nur einer der „Erlöser", er bringt Trost ins Leben, erlöst im Leben; der andere ist der , Heilige" und dieser erst zeigt den Weg aus dem Leben, Wir nennen gut, erklärt Schopenhauer, den Menschen, welcher zwischen sich und anderen den

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wenigsten Unterschied macht. Die Teilnahme an dem Sein des Anderen ist die Quelle der moralischen Güte. In einer Welt aber, die durch und durch leidend ist, deren Freuden nur negativ sind, kann es keine andere Teilnahme geben, als die Teilnahme am Leiden, das Mitleiden. Das Mitleid ist daher das Fundament der Moral; auf Mitleiden und Erbarmen beruht alle moralische Gesinnung. Eine wahre Hospitaismoral! Damit sind wir wieder zur vorkantischen Gefühlsmoral zurückgelangt, der Moral des weichen, empfindsamen Herzens; der Unterschied ist nur, daß Schopenhauer aus einem psychologischen Instinkt: der Sympathie einen metaphysischen macht. Das Mitleid durchbricht die Schranken der Individualität, es hebt die Vielheit auf und ist praktischer Monismus. Der einzige Grund- satz dieser Moral, ihr oberster Pflichtsatz ist : niemanden zu verletzen, jedem vielmehr nach Kräften zu helfen, das heißt doch zu helfen, im Leben, also im Leiden zu beharren. Daß dieser Grundsatz, wenn wir ihn zur einzigen Richtschnur unseres Handelns machen wollten, dem Leben widerspricht, das Leben aufheben müßte, weiß Schopenhauer, und er will es so. Die Mitleids- moral verneint das Leben und darum ist sie für Schopenhauer Moral; denn das Leben soll vereint werden. Die Tugend ist der Übergang zur Askesis, zur Willensverneinung. „In den aufopfernden Tugenden der Gerechtigkeit und Liebe schlägt gleichsam der Wille bereits die Flügel, um davon zu fliegen." Und wer so empfindet und denkt, daß ihm kein Leid fremd, jedes gleich nahe ist wie seine eigene Person, wessen Herz erfüllt ist von dem Gefühle, eins zu sein mit allem, was lebt, also leidet, kann nicht weiter leben wollen. Sein Wille wendet sich vom Leben ab, ihn schaudert

2l6 Siebenter Vortrag.

vor dessen Genüssen, in denen er die Bejahung des- selben sieht und von welchen tausend nicht Eine Qual aufwiegen; die Erkenntnis des Leidens, das Mitgefühl mit dem Leiden der Welt wird ihm zum Quietiv seines Wollens, zur Ursache des Nicht- mehr- wollens; er gibt es auf, zu wollen, verneint in seiner Person den „Willen zum Leben". Auch das Quietiv, von dem hier die Rede geht, ist ein Motiv, nur unter anderem Namen, auch das Nichtwollen ein Wollen. Hier, wo gezeigt werden soll, wie sich der „Wille zum Leben" selbst aufhebt, erscheint sogar zum ersten Male bei Schopen- hauer ein wirklicher Wille: die Herrschaft über die Triebe, das Nein-sagen-können selbst zu den mächtigsten Instinkten. Doch wird, was nur der Anfang alles echten Wollens ist, zum Ende, ein Moment des Willens zum Ganzen gemacht; und statt die Triebe bloß zu regeln, bis sie mit Erfahrung und Vernunft in Übereinstimmung gebracht sind, vergreift sich der Schopenhauerische Wille an den Trieben und zerstört damit seine eigene Voraussetzung, sein Material.

Diese Moral ist eine Lehre des Nichthandeins, diese Philosophie der Askese eine Philosophie des Todes. Der freie Mensch aber, sagt ein weises Wort Spinozas, denkt an nichts so wenig wie an den Tod und seine Philosophie ist nicht eine Betrachtung des Todes, sondern das Studium des Lebens.

Wie kommt aber, werden Sie fragen, Schopenhauer dazu, das Sein überhaupt, das Leben als solches unter moralische Gesichtspunkte zu stellen? Gegenstand einer moralischen Beurteilung ist doch nur der individuelle Wille, in Schopenhauers Sprache: eine Erscheinung des „Willens" ; moralisch oder unmoralisch können nur Gesinnungen und Handlungen im Leben heißen, die

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Arten und Weisen, wie wir das Leben gebrauchen, das Leben selbst und als solches moralisch oder unmoralisch zu nennen hat dagegen keinen verständlichen Sinn. Die Gegensatzbegrifife gut und böse lassen sich ebenso wenig auf das Sein überhaupt anwenden, als es im Universum der Sinnenwelt ein oben oder unten geben kann. Die Eine wirkende Macht, die alles ist und be- gründet, alles, was wir auf ein , Exemplar" des Menschen bezogen gut und alles, was wir in solcher Hinsicht böse nennen, muß selber, auch dies hat schon Spinoza ge- sehen, erhaben über gut und böse sein. Auch die pessimistische Charakteristik dieser Macht, wenn sie selbst richtig wäre, würde noch immer nicht ihre „Ver- werflichkeit" begründen können. Das Leben könnte aus einem blinden Willensdrange hervorgehen, der Lebenswille könnte unheilvoll sein und stetes Leiden mit sich bringen, ohne eine endgiltige Befriedigung zu erreichen, müßte er deshalb , verwerflich* sein? Mit welchem Rechte, von welcher Autorität aus ergeht an ihn, der alles ist, ein Sollen, das in diesem Falle ein Nicht-SoUen ist? Denn der Unwert des Daseins ist im Grunde das einzige Werturteil, daß die Welt nicht sein soll, der einzige Imperativ der Moral Schopenhauers. Ein Recht zu diesem Imperativ, einen Grund für ihn kann es nicht geben. Mit ihm kommt ein mystischer Zug in das Denken Schopenhauers; er entstammt und entspricht einer Neigung des Philosophen zum Mysticis- mus. In seiner Jugend von Schwermut ergriffen und, wie es nicht selten gerade der edlen Jugend widerfährt, durch eine Periode des Weltschmerzes hindurchgehend, sehnte sich Schopenhauer nach einem höheren, reineren vollendeteren Dasein und alle Hoffnungen darauf faßte er in den Begriff des „besseren Bewußtseins" zu-

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sammen. In diesem Bewußtsein glaubte er eine Stimme von oben, eine Stimme von jenseitigem Ursprung und zeitloser Bedeutung zu vernehmen; in ihm fand er die Gewähr für die Wirklichkeit eines übersinnlichen, überzeitlichen Seins. Als er dann Philosoph geworden war, konnte und wollte er dieses Sein nicht näher kennzeichnen: er liebt von nun an, es mit dem buddhistischen Worte Nirväna zu benennen. Noch immer aber wirken in ihm jene früheren Gedanken fort ; noch immer ist jene Nicht- Welt, welche Nirvana heißt, mehr wert als diese wirkliche Welt. Wohl ist das Nirväna das Nicht-Sein; aber „es ist nur für uns nichts, denen noch dieses Dasein alles ist, welches hinwiederum auf jenes bezogen nichts ist." Hinter dem zweideutigen, „relativen" Nichts steckt ein zweites Sein und erst dieses ist das wahre Sein. Die Welt, in der wir leben, so wurde uns ja gesagt, ist Schein, muß also nicht, was die Welt nicht ist, Wahrheit sein? Schopenhauer hat uns übrigens seine eigentliche Meinung auch mit aus- drücklichen Worten verraten. In dieser unserer Welt ist Diversität, Getrenntsein, Streit, Identität nur in jener, zu welcher die Verneinung des Willens den Zu- gang erschließt. Und so endet diese Philosophie in einer „Epiphilosophie"; sie hat noch eine Nachschrift von mystischem Inhalt.

Schopenhauers Pessimismus ist im Grunde hedo- nistisch, ein Pessimismus aus Verzweiflung an der Mög- lichkeit des Genusses und darum ein genußsüchtiger Pessimismus. Weil das Leben kein „Geschenk zum Genuß" ist, deshalb soll es gleich verwerflich und objektiv betrachtet in einem „Wahn begriffen" sein. Weil die Bilanz bei der „Lust- und Leidrechnung " nicht heraus- kommt, muß die Welt an allen Stellen bankerott sein

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und das Leben „ein Geschäft, das seine Kosten nicht deckt." Wir ziehen daraus ein anderes Facit: nicht, daß das Leben nichts wert, sondern daß nach der Lust nicht der Wert des Lebens zu bestimmen ist. Wie der einzige pessimistische Philosoph des Altertums, Hegesias, der „zum Sterben Überredende" aus der Schule des Hedonismus hervorging, so wurde in der neueren Zeit Schopenhauer, weil er die Lust suchte und nicht fand, zum Pessimismus geführt. Ein glückliches Leben, erklärt Schopenhauer ist unmöglich, das Höchste was der Mensch erlangen kann ist ein heroischer Lebenslauf, und dies, dächte ich, wäre genug. Gegen das Große im Leben verhält sich Schopenhauer kleinlich, gegen das Starke darin schwächlich, gegen das Harte weichlich; schon jeder Wunsch erscheint ihm an sich als Schmerz, Wohlgeratenheit, ein glücklicher Zustand als ein Vor- wurf. Die Basis alles WoUens ist nach ihm Bedürftigkeit. Bedarf es noch eines weiteren Beweises, daß er den Willen mißverstanden hat. Er weiß nichts von der Fülle der aufgespeicherten Energie, die zum Handeln drängt und sich entladen will und daß dieser Drang nicht Unlust ist, sondern Reiz des Schaffens. Er kennt nur „erzwungene Tätigkeit", er „liebt sich gleich die unbedingte Ruh'" und sieht in Willenslosigkeit, Taten- losigkeit den idealen Zustand, Sogar die Kunst soll interesselos, anteilslos sein. Noch einmal: er lehrt die Philosophie des Todes; und wie er sie lehrt mit der erleuchtenden Kraft des Ausdrucks, der spannenden Darstellung, dem Reichtum der Bilder darin liegt ihre Gefahr, Betrachtungen wie diese haben Nietzsche über Schopenhauer hinausgeführt; mit Betrachtungen ähnlich diesen hat Nietzsche den Pessimismus über- wunden.

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Ich erzähle nicht die Leidensgeschichte Nietzsches und wie Krankheit und ein Übermaß von Produktion seinen Geist verzehrten, die angeborene Leidenschaftlich- keit seiner Natur zur Maßlosigkeit fortreißend und nach und nach sein Denken überschattend. Auch betrachte ich es nicht als meine Aufgabe, vor Mißverständnissen zu warnen, denen die Schriften des aphoristischen Denkers nur zu leicht ausgesetzt sind. Wir wissen heute das Gesunde in seinen Aussprüchen von dem Patho- logischen zu scheiden, erklären das zweite und halten uns an das erste. Im gegenwärtigen Zusammenhange soll indes wesentlich nur von der Stellung Nietzsches zum Pessimismus die Rede sein.

Nietzsche ist das gerade Widerspiel von Schopen- hauer, diesem zugleich verwandt und entgegengesetzt, darum erst sein Jünger und ganz unter seinem Banne stehend, dann sein Gegner. Alle ihm eigentümlichsten Gedanken gewinnen erst im Gegensatz zu Gedanken Schopenhauers Gestalt und sind nur aus diesem Gegen- satze heraus richtig zu verstehen, gerecht zu beurteilen. Gegen Schopenhauer ergreift er die Partei des Lebens; ergreift er Partei gegen alles, was das Leben verkleinert, es schwächt und untergräbt, gegen alle Decadence oder Entartung, die in ihm selber nicht ausgenommen. Er ist der zum Leben überredende Philosoph. Leiden- schaftliche, grenzenlose Liebe des Lebens bildet das eigentliche Thema, den Grundton seiner Philosophie; seine Sentenzen erscheinen öfters wie in die Farbe des Lebens selbst getaucht. Nietzsche verherrlicht das Leben und was in ihm groß, mächtig und aufsteigend ist, das Leben wie es war, wie es ist, vor allem aber, wie es werden kann, werden soll, durch uns werden soll. Eine vornehme Rede Zarathustras sagt: »was uns das

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Leben verspricht, das wollen wir dem Leben halten." Nichts vom Leben soll abzurechnen, nichts in ihm ent- behrlich sein; am wenigsten das große Schicksal, das große Leiden. „Die Zucht des Leidens, des großen Leidens wißt ihr nicht," ruft Nietzsche aus, „daß nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher ge- schaffen hat! Es bestimmt beinahe die Rangordnung, wie tief einer leiden kann." Der tapfere, stolze Mut, womit Nietzsche sein eigenes Leiden ertrug und bezwang, beweist, daß es ihm ernst war mit dieser Wertschätzung des Leidens in der Gesamtschätzung des Lebens. Amor fati: das Notwendige nicht bloß zu ertragen, noch weniger zu verhehlen, sondern es zu lieben, ist seine Maxime; „alles Notwendige ist aus der Höhe gesehen und im Sinne einer großen Ökonomie auch das Nützliche." Nietzsche bejahte das Leben und zugleich den pessimistischen Charakter desselben, wenn es nur nach der Lust ge- schätzt wird; er bejaht das Leben um der Gründe willen, auf welche hin der Pessimismus es verneint: dies ist die kürzeste Formel seiner Philosophie und sie rührt von ihm selber her. Er gibt dem Pessimismus die Tatsachen, worauf dieser sich beruft, zu, zieht aber daraus die ent- gegengesetzten Konsequenzen für den Wert des Lebens. Gerade in den pessimistisch gedeuteten, schlimmen Seiten des Daseins sieht er die stärksten Anreize, das Leben zu bejahen, tiefer zu erfassen, umfänglicher zu gestalten, und kehrt so den Pessimismus der Lebens- verneinung in den Heroismus der Lebensbejahung um. Darum ist er das äußerste Gegenteil eines pessimistischen Philosophen. Man verstehe recht, nicht von Optimismus ist die Rede im Sinne eines Übergewichts von Lust; „Lust ist nicht Ziel des Handelns." Die Freude, die „Zarathustra" auf Erden pflanzen will, ist nicht die Freude

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des Genießenden, sondern des Schaffenden, die Freude des Furchtlosen und Siegreichen, der das Leben dann am höchsten ehrt, wenn es ihm den größten Widerstand entgegensetzt. Trachten nach Behagen, Sucht nach Genuß, Hedonismus jeder Gestalt Hegen dieser Lebens -- auffassung völlig ferne, wie sie auch der Person Nietzsches fremd waren.

Als Grundtrieb des Lebens gilt Nietzsche der Trieb zur Macht; Leben ist ein Prozeß des beständig sich Steigerns , Überwindens , des Aufsteigens und der Er- höhung, oder, wie es im „Zarathustra" heißt: „in die Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen das Leben selber, in weite Ferne will es blicken und hinaus nach seligen Schönheiten, darum braucht es Höhe. Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und den Widerspruch der Stufen und Steigenden. Steigen will das Leben und steigend sich überwinden." Nur der große Mensch vermag das große Leben zu ertragen, vermag sein Leben groß zu fiihren. Und soll das Leben gesteigert werden, so ist die höchste Entfaltung des Individuums die Vorbedingung dazu. So erklärt sich die aristokratische Tendenz der Lebensphilosophie Nietzsches. Die Natur selbst ist aristokratisch. Sie bringt die Vielheit der Typen hervor, die Ungleichheit, den Unterschied des Ranges. Nicht ums Dasein, nicht um Wohlsein; um Macht und Rang werde der Kampf des Lebens gekämpft. Das „Problem des Ranges" er* schien Nietzsche eine Zeitlang als das wichtigste Problem» als das Problem des Lebens selbst. Er \till der „Lehrer der Rangordnung" sein. Man soll den Willen haben» „selbst zu sein, sich abzuheben"; man soll das „Pathos der Distanz haben". Nietzsche betont aber nicht bloß die Unterschiede der Rangordnung und fordert sie zu

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steigern, die Kluft zu erweitern; er übertreibt sie und verhält sich unduldsam gegenüber den niederem Typen. „Frohe Adelsmenschen" will Johannes Rosmer bei Ibsen „rund um sich her schaffen"; zur gleichen Zeit verkündet auch Nietzsche im Zarathustra das Heraufkommen eines neuen Adels, nicht des Standes, noch weniger des Be- sitzes, sondern des Geistes und des Charakters. „Das Beste soll herrschen, das Beste will auch herrschen! Und wo die Lehre anders lautet, da fehlt es am Besten," sagt im Zusammenhange damit „Zarathustra". Wir verstehen die Todfeindschaft Nietzsches gegen die demokratische Nivellierung; er sieht darin das Zeichen des Niedergangs, des Verfalls, nicht bloß des Staates, sondern des Menschen. Es heißt das Niveau des Menschen selbst beschränken, wenn man das Große er- niedrigt, das Große dem Kleinen gleich schätzt, oder wohl gar versucht, dem Kleinen gleich zu machen. Und da nun Nietzsche der Meinung war, daß die Grundsätze der herrschenden Moral die demokratische Bewegung fördern und sanktionieren, so bekämpft und verneint er diese Moral. Auch sein Kampf gegen die Moral ent- springt aus seiner Liebe zum Leben. Die Moral „ver- neint das Leben", so glaubt er, und damit ist für ihn die Moral gerichtet. Er sah in den moralischen Wert- urteilen nur Verurteilungen, Verneinungen, die „Urteile Erschöpfter" und indem er, was nur von der Moral Schopenhauers gelten kann, verallgemeinert, erklärt er die Moral als die Abkehr vom Willen zum Dasein. Der Glaube an die Wertlosigkeit des Daseins ist ihm die Folge der moralischen Wertschätzung.

In keinem Punkte ist Nietzsche so mißverstanden worden, in keinem so leicht falsch zu verstehen, wie in seinem „Immoralismus". Seine Ausfälle geraten auch

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wirklich über das Ziel und sind, namentlich die aus der späteren Zeit, verletzend und der ursprünglichen Vor- nehmheit seiner Natur unwürdig. Die Absicht dabei ist aber doch völlig klar. Nietzsche will die Moral nicht einfach nur verneinen, er will sie überbieten, durch eine, wie er dafürhält, höhere Lebensordnung ersetzen. Es war nicht die Meinung des aristokratischen Denkers» der die Autorität zur guten Sitte zählt und erklärte: jede Sitte sei besser als keine Sitte, den Menschen von Zucht und Autorität loszubinden, Sitte und Sittlichkeit überhaupt abzuschaffen. Nicht hinter die Moral zurück, über die bisherige Moral hinauf will sein Weg weisen. Zügellosigkeit und ungebundenes Leben können sich nicht mit Recht auf ihn berufen. „Dem wird befohlen", heißt es in Zarathustra, „der sich nicht selbst gehorchen kann. Bist du ein Solcher, der einem Joche entrinnen durfte? Es gibt Manchen, der seinen letzten Wert wegwarf, als er seine Dienstbarkeit wegwarf." Nietzsche will den Menschen groß und selbständig machen; er will die Tugend ins Vornehme übersetzen. Sein Ideal ist der vornehme Mensch, mit dem Willen zur Selbst- verantwortlichkeit, der Härte gegen sich, der Ehrfurcht vor sich, der Macht über sich und sein Geschick ein Bild wie aus Plutarch. Die beinahe sprüchwörtlich ge- wordene „blonde Bestie" dagegen ist nur sein Symbol für den Menschen vor der Kultur, den Menschen der Natur; das Symbol für eine prähistorische, prämoralische Tatsache, und was ihm daran so anziehend war, ist die noch ungebrochene Kraft der Natur, nicht das Bestia- lische dieser Natur. Wenn auch er, ein zweiter J. J. Rousseau und zugleich dessen Antipode, sein: zurück zur Natur! ruft, so bedeutet dies Wort in seinem Munde und Sinne: hinauf zur Natur! Was in ihr noch stark

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und mächtig geblieben, soll nicht ausgerottet, es soll umgeprägt, sublimiert, vergeistigt werden. Die mäch- tigsten Affekte betrachtet Nietzsche nur deshalb zu- gleich für die wertvollsten, weil sie die größten Kraft- quellen sind; er ordnet die Werte nach der Maßskala der Kraft. Jede Stärke hatte schon an sich etwas Labendes, Beseligendes für seinen Blick und so verstieg er sich bis zum Preise der Grausamkeit; er meinte freilich die vergeistigte Grausamkeit. Alle seine Ge- danken zielen auf die Erhöhung des Menschen und die Wertbestimmung der verschiedenen Typen des Menschen; von diesem Gesichtspunkte aus bekämpft er, was er unter Moral verstand. Er fühlt sich im Gegen- satz zu der Moral der Gleichheit, weil er in dem Glauben an die allgemeine Gleichheit, dem Handeln nach diesem Glauben ein Unrecht gegen die Ungleichen erkennt. Dieser Moral der Gleichheit, der Sklaven- moral, wie er sie taufte, stellt er seine Herrenmoral der Ungleichheit gegenüber und diese Moral der „Rasse und des Privilegiums" wendet sich nicht an die Menge, sondern an die Wenigen und Auserwählten, die sich von der Menge abheben, sich über sie erheben. Die Moral des Christentums hat er, wie Schopenhauer stets nur durch buddhistische Nebel und Schleier ge- sehen; er meinte, sie verneine das Leben ohne Rück- sicht, ohne Absicht, nur um des Verneinens willen, und wußte nichts von dem Worte, welches befiehlt und ver- heißt, sein Leben zu verlieren, um es zu gewinnen. Er kannte überhaupt nur die Mitleidsmoral, die das Leben schwächt, und den Utilitarismus, der es verflacht; daß die wahre Herrenmoral des autonomen Willens schon gefunden war, als er sie noch suchte, ist ihm entgangen. Zu dieser Moral der Selbstgesetzgebung aber ist jedes

Riehl, Philosophie der Gegenwart. IC

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Vernunftwesen als solches berufen, wenn es auch erst durch seine Handlungen beweisen muß, daß es auch für sie auserwählt sei.

Indem Nietzsche die Forderungen des Lebens immer höher trieb und den Blick auf künftige Möglichkeiten des Lebens hinaus schweifen ließ, mußte er zuletzt über die Grenzen der Menschheit selbst hinausgeraten. Der Philosoph und Moralist wird zum Propheten. Auch der größte Mensch mußte ihm zu klein erscheinen, jene aufs Höchste gespannten Forderungen zu erfüllen, den Reich tum jener Möglichkeiten auszuschöpfen. Nur ein über- menschliches Wesen vermöchte über alles Leid, alle Schwere des Lebens zu triumphieren und, was „der ganzen Menschheit zugeteilt ist", in seinem Selbst zu umfassen , ohne zu zerscheitern. Der „synthetische Mensch", der „Übermensch", von dem Nietzsche träumte, ist das Ideal des Menschen und nur die Kunst vermag sein Bild zu zeigen. Dort, von der Decke der Kapelle di San Sisto schauen sie nieder, die Über- menschen und Halbgötter, alles Große des Menschen erscheint in ihnen vergrößert, das Hohe gesteigert; aber auch sie sinnen dem noch Höheren, dem Göttlichen nach. Nietzsche aber will das Ideal in Fleisch und Blut verwandeln, er will den Übermenschen züchten. Doch, wie phantastisch dieser Gedanke sein mag, auch er stammt aus der Lebensliebe des Philosophen. Und so entwickeln in der Tat die wesentlichsten Gedanken Nietzsches: der aristokratische Individualismus, die neue Moral, das Übermenschentum, alle nur das eine Grund- thenia seiner Philosophie: die Verklärung, die Vergött- lichung des Lebens.

Werte entdecken und damit an den Idealen der Menschheit mitzuschaffen, ist der Beruf jener Philosophie,

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die nicht Wissenschaft ist, sondern Lebensanschauung und Geistesführung. „Unsere Wertschätzungen be- stimmen unsere Lebensweise." Veränderung der Wert- schätzungen ist Veränderung der Lebensweise, der Ge- fühlsweise, des Willens selbst. Werte „umwerten", neue Werte schaffen heißt die Kultur umschaffen, neue Kultur schaffen ; denn alle Kultur beruht auf einem System von Wertbegriffen. Nietzsche wurde zum Kritiker der moralischen Werte, weil er der Philosoph der Kultur sein wollte. Und mehr als dies. Er wollte der Be- fehlende und Gesetzgeber, der Schöpfer einer neuen Kultur sein. Da er mehr Dichter als Philosoph war, und in sich den Beruf des Propheten spürte, wollte er die Werte, die er entdeckt hatte, entdeckt zu haben glaubte, sogleich „einverleiben"; er wollte sie verkörpert vor sich sehen und ihr verkörpertes Bild ist eine Zeit- lang für ihn der „Übermensch". Der Name mag ihm aus einer verdunkelten Erinnerung an Goethes Gebrauch desselben gekommen sein; Goethe hat freilich zu dem Namen auch die Kritik des Begriffes selbst hinzugefügt : „wie viel bist du von anderen unterschieden?" sagt die Wahrheit zum Dichter, der sich schon Übermensch glaubte. Eine Art Begründung für seine Idee findet Nietzsche, wie zur selben Zeit für einen ähnlichen Ge- danken Guyau, im populären Darwinismus. Warum sollte die Entwicklung beim Menschen Halt machen müssen? „Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser Flut sein?" läßt Zarathustra sich vernehmen. „Die Entwickelung", meint auch Guyau, „muß das Vermögen haben, Arten und Typen hervorzubringen, höher, als es der Typus Mensch ist. Und wer weiß, ob sie nicht Wesen schaffen wird, oder schon geschaffen hat, die den Göttern der Alten

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228 Siebenter Vortrag.

entsprechen. Solche Wesen verwirklichen vielleicht unser Ideal." Der Übermensch ist für Nietzsche zunächst die Überart des Menschen, die aus dem Menschen zu züchtende Art: das Postulat der Zukunft des Menschen. Für unseren Philosophen ist aber dieses postulierte Wesen vor allem auch ein religiöser Wertbegriff. Der Glaube an den Übermenschen hat den Glauben an Gott zu ersetzen. .JEinst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte, nun aber lehre ich euch sagen: Übermensch." Nietzsche vermochte die „absolute Physik" nicht zu er- tragen — wer vermöchte dies auch? und darum baut er in die entgötterte Wirklichkeit das Reich seines Übermenschen. „Gott ist tot", der Positivismus der Wissenschaft hat ihn getötet; also lasset uns an seiner Stelle den Übermenschen schaffen. Ohne den Glauben an ihn, die Hoffnung auf ihn hätte das Leben, hätte die Erde keinen Sinn: „der Übermensch ist der Sinn der Erde."

Nach seiner Loslösung aus der Romantik seiner Jugend, der Loslösung von Schopenhauer und Wagner, hatte sich Nietzsche völlig in modern-positivistische, ja skeptisch-nihilistische Gedanken verstrickt; die dadurch nur zurückgedrängten Grundtriebe seines Wesens aber zogen ihn nach der entgegengesetzten Seite, bis aus der Vermischung so ungleichartiger Elemente eine neue Art von Schwärmerei und Romantik hervorging und das Bild des Übermenschen erzeugte. Doch auch diesen Götzen, zu seiner Ehre sei es gesagt, hat er selbst noch zertrümmert; er muß eingesehen haben, wie übereilt und falsch seine Folgerung aus der Darwinschen Theorie war. „Der Mensch ist ein Ende," heißt es im Antichrist, „nicht was die Menschheit ablösen soll in der Reihen- folge der Wesen, ist das Problem." An die Stelle des

Schopenhauer und Nietzsche. Zur Frage des Pessimismus. 220

Übermenschen tritt wieder der „stärkere Typus" Mensch ; an die Stelle des Göttlichen aber „Dionysos": das Sym- bol für die schaffende Natur, den Willen der Macht.

Die Entwickelung des Menschen zu einem höheren Typus soll durch die Kraft eines „großen züchtenden Gedankens" herbeigeführt werden: „Überwindung der Menschheit durch Lehren, an denen sie zugrunde geht, ausgenommen die, welche sie aushalten können", dies ist Nietzsches Weg zum Übermenschen, Der Gedanke aber, der die Menschheit überwinden soll und den Über- menschen züchten, ist der Gedanke der ewigen Wieder- kunft. In der unendlichen Zeit und dem Kreislauf aller Dinge kehrt auch dieses unser gegenwärtiges Leben immer wieder, dieses nämliche Leben: unser Leben ein ewiges Leben. Es ist Nietzsches zweiter Glaubens- satz, der neue Unsterblichkeitsglaube^ der die Zeit zur Ewigkeit macht. Als dieser Gedanke seinen Geist, wir müssen sagen in einem Augenblick krankhafter Über- reizung, wie ein Blitz durchfuhr, wie eine Eingebung in ihm aufleuchtete, hatte Nietzsche seine Quelle vergessen. Er hielt sich für den „Ersten, der diese Lehre lehren mußte," für den Urheber des „mächtigsten" Gedankens. Seine Philosophie bringe den siegreichen Gedanken, an welchem zuletzt jede andere Denkweise zugrunde geht. Auch in der Folge erinnerte er sich nie mehr daran, daß er selbst, in der zweiten „unzeitgemäßen Betrach- tung", nicht ohne Spott es als pythagoreisches Schul- dogma angeführt hatte: bei der gleichen Konstellation am Himmel müsse auch auf Erden das Gleiche und zwar bis ins Einzelne und Kleinste wiederkehren. Wir können den Ursprung der Lehre noch weiter zurückverfolgen, zu den Spekulationen der Chaldäer über das „Weltjahr", das „große Jahr", und in der griechischen Philosophie

230 Siebenter Vortrag.

taucht sie seit den Pythagoreern immer wieder auf; selbst bei Aristoteles lassen sich Spuren davon finden. Noch seltsamer muß uns die stürmische Erregung erscheinen, in welche Nietzsche durch den Gedanken der ewigen Wiederkunft versetzt wird. Erst ist er im Tiefsten erschüttert, dann bricht er in höchstes Ent- zücken aus ; erst ist es ein Dämon, der so zu ihm redet, dann ein Gott und nie hörte er Göttlicheres. Gewil^» hat der Gedanke des ewigen Einerlei, woraus es kein Entrinnen gibt, wenn er für wahr genommen wird, etwas Erdrückendes. „Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel aber unveränderlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: die ewige Wiederkehr das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts, das Sinnlose ewig!" „Ach, der Mensch kehrt ewig wieder!" klagt „Zarathustra". „Der kleine Mensch kehrt ewig wieder! Allzuklein auch der Größte!" Um der Last dieses Gedankens nicht zu erliegen , bedurfte Nietzsche des Trostes und Gegengewichtes einer be- glückenden, ihn erhebenden Vorstellung; er schuf sich, wie nach seiner Theorie der tragische Künstler, einen Mythos, eine lustvolle Vision; die Idee des Übermenschen hat hier ihren Ursprung. Und ebenso ist als Mittel, den Gedanken der Wiederkehr zu ertragen, die „Um- wertung aller Werte" geplant. Nietzsche will die ewige Wiederkunft beweisen, durch den Satz des Bestehens der Energie, meint er, werde sie gefordert. Denn die Energie sei eine endliche Größe, die Zeit, in der sie wirkt, unendlich; jede Kombination der Energieformen müsse also schon dagewesen sein, dann aber auch die, welche ihr voranging und die, welche ihr folgen wird, alles mithin vom Kleinsten bis zum Größten müsse in

Schopenhauer und Nietzsche. Zur Frage des Pessimismus. 23 1

genau gleicher Weise schon dagewesen, unendliche Male oft dagewesen sein und wieder ins Dasein kommen. In diesem „Beweise" wird die absolute Realität der Zeit angenommen, als hätte es noch keine Kritik der Anti- nomien des Unendlichen gegeben; die Zeit, die unab- hängige Variable in der Bewegung, wird zu einer un- abhängig Variablen von der Bewegung gemacht, als sei sie selbst etwas für sich Bestehendes. Auch könnte eine und dieselbe Kombination von Energieformen auf unendlich vielen Wegen erreicht werden und unendlich verschiedene Folgeerscheinungen nach sich bringen. Gleichviel aber, die ewige Wiederkunft sei wahr oder nur wahrscheinlich, sie sei zu beweisen oder nicht: „auch der Gedanke einer Möglichkeit," erklärt Nietzsche, „kann uns erschüttern und umgestalten." Wer sich „den Ge- danken der Gedanken" einverleibt hat, den wird er ver- wandeln. Die Frage bei allem, was wir tun: ist es so, daß wir es unzählige Male tun wollen? ist das „größte Schwergewicht", das auf unser Handeln gelegt werden kann. „So leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben, ist die Aufgabe. So leben, daß wir nochmals leben und in Ewigkeit so leben wollen! Unsere Auf- gabe tritt in jedem Augenblick heran. Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Lebenl Dieser Ge- danke enthält mehr als alle Religionen, welche nach einem anderen Leben hinblicken lehrten". Die Lehre der Wie- derkunft ist „der Wendepunkt der Geschichte, die Re- ligion der Religionen". Jedesmal, wenn in dem Ringe des Menschendaseins dieser mächtigste Gedanke auftaucht „ist für die Menschheit die Stunde des Mittags." Wir wissen, dieser Gedanke ist wiederholt aufgetaucht, die Stunde des Mittags für die gegenwärtige Menschheit wiederholt schon angebrochen, die erwarteten Folgen

232 Siebenter Vortrag,

aber sind noch immer ausgeblieben, Nietzsche da- gegen sieht schon im Geiste durch den neuen Glauben ein stärkeres Geschlecht gezüchtet werden und aus diesem den „Übermenschen" hervorgehen, „Wer nicht daran glaubt, hat ein flüchtiges Leben in seinem Be- wußtsein"; — die nicht daran Glaubenden, behauptet er, müssen ihrer Natur nach endlich aussterben. Der Glaube an die ewige Wiederkunft ist die Brücke zum Übermenschen; er schafft den Willen jedem Augenblick des Lebens ewigen Gehalt, den Wert und die Wünsch- barkeit ewiger Wiederholung zu geben: der Glaube an den Übermenschen hinwieder macht allein den Gedanken der ewigen Wiederkunft erträglich. So hängen bei Nietzsche die beiden Glaubenssätze zusammen.

Man wird Nietzsche schwerlich zugeben, daß gerade die, welche das Leben so ernst nehmen, daß sie an jeden Augenblick das Schwergewicht der ewigen Wieder- holbarkeit anhängen, übrig bleiben, daß sie die für das Überleben Auserwählten sein sollen und nicht vielmehr umgekehrt jene, welche rasch zugreifen, die Leichtherzigen, Frohgemuten und schnell Entschlossenen. Und wie viel hängt vom Gang der Dinge wirklich von unserem Willen ab? hängt auch nur der nächste Augenblick unseres Daseins von uns ab? An die Gebundenheit alles menschlichen Lebens zu denken, scheint der Philo- soph vergessen zu haben. ,.Das Schicksal ist unerbitt- lich, und der Mensch so wenig", klagte einer der „Mächtigsten der Erdensöhne", von dem auch das Wort kam: „mit Göttern soll sich nicht messen irgend ein Mensch," Kann femer ein Ziel heißen , was immer wieder überschritten werden muß? Auch der Über- mensch und was sonst für Götter der Erde ihm folgen mögen, „kehrt ewig wieder," wie der Mensch selbst ;^

Schopenhauer und Nietzsche. Zur Frage des Pessimismus. 233

der Weg nach oben und der Weg nach unten ist hier wie bei Heraklit ein und derselbe Weg. Muß endlich alles, die gesamte Entwickelung in der Natur auf den Menschen bezogen werden, im Menschen den Mittel- und Zielpunkt haben? Nietzsches Weltanschauung ist anthropocentrisch geraten und gehört damit eigentlich in die vorkopernikanische Aera.

Doch, lassen Sie uns nicht vergessen : es sind Visionen und Verkündigungen eines rehgiösen und prophetischen Dichters und als solche mit kritischem Maßstabe allein nicht zu messen. Niemand wird sich auch der religiösen Stimmung versagen, die aus einzelnen Sätzen des „Zara- thustra" und dem Geiste der ganzen Dichtung redet. Und vielleicht findet man selbst in diesen über- und gegenchristlichen Aussprüchen den christlichen nicht all- zuferne Gedanken, nur in positivistischer Verkleidung. Es ist doch wieder von Aufopferung des Menschen für ein höheres Sein die Rede, von dem Verlieren des Lebens um es zu gewinnen. Ein Reich des Jenseits wird er- richtet, obschon nur eines zeitlichen Jenseits, in das aber der Mensch nur geistig, nicht leiblich eingehen kann. Denn das Übermenschentum ist für uns nie erreichbar,' immer wieder werden wir dahin sterben, ohne es je zu schauen. Nietzsche war eben von Hause aus, d. i. seinem Wesen nach eine religiös gestimmte Natur; selbst sein Atheismus hat religiöse Farbe und Glut. Er leugnet Gott als Gott; die gewöhnliche Gottesvorstellung ge- nügt ihm nicht, in seinem „Übermenschen" glaubt er Besseres und Höheres zu besitzen. „Ist es nicht deine Frömmigkeit selber, die dich nicht mehr an Gott glauben läßt", sagt er von Zarathustra und meint sich selbst. Und vor allem, er kannte Ehrfurcht und opferte sich seinem Werke.

234 Siebenter Vortrag.

Es ist leicht, einem Denker, der sich stets zu wan- deln liebte, Widersprüche nachzuweisen; auch muß zu- gegeben werden, zu Nietzsches Natur gehörten die Widersprüche, Sein Vorstellungsleben ist in beständiger Dissociierung begriffen und dies ist das Pathologische bei ihm. Auch auf ihn findet das Gleichnis Anwendung von einem „von der Natur schön intentionierten Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen wäre," und es ist beinahe mehr als ein Gleichnis. Noch leichter ist es, sich über das Radikale seiner Anschauungen, die Schroffheit und das Verletzende in seiner Rede ent- rüstet zu zeigen. Aber er redete nur so laut, weil er von nirgend her ein Echo vernahm, nicht einmal Wider- spruch. Und das Krankhafte und Mißratene in seinem Werke wird doch vom Gesunden und Heilsamen über- wogen. Wie vieles in diesem Werke ist nicht in der Tat eine „Gesundheitslehre des Lebens!" Immer mehr lernen wir ihn in seinen Absichten verstehen, aus dem Ganzen der Mission, die er erfüllte, beurteilen als den, welcher seiner Zeit notwendig war. Ihren Mängeln stellte er seine Ideale gegenüber. Er stellte ihr vor allem den Grundwert der starken, selbsteigenen Persönlichkeit gegenüber und widersprach einer mehr konventionellen und herumgegebenen, als innerlich gefühlten Humanität, die Mensch und Mensch für gleich nimmt und das Große dem Kleinen gleich machen möchte. Den Gefahren dieses Gleichschätzens , Gleichmachens gegenüber ist seine zwar einseitig geratene Lehre der Ungleich- heit und des Ranges sicher im Rechte. Es ist für ihn die höchste Moral: aus sich eine Person zu machen. „Folge mir nicht nach, sondern dir, sondern dir! werde fort und fort der, der du bist, der Lehrer und Bildner deiner selbst!" Unsere Zeit krankt an ihrer Unruhe und

Schopenhauer und Nietzsche. Zur Frage des Pessimismus. 235

Hast, ein Nachlassen der Vitalität, eine große Ermüd- barkeit sind die Symptome ihrer Krankheit; lebensfeind- liche Lehren finden, wenn auch schon seltener, sogar in der Jugend Anklang und Zustimmung. Nietzsche, der Leidende, hat uns Liebe zum Leben gelehrt, zu allem, was darin stark und groß ist. Und nicht Worte hören wir bloß, flammende Worte, wir sehen die Tat. Die Tragik seines Schicksals wird überstrahlt durch seinen hochgesinnten Willen. Was er lebte ist uns auch von ihm das Bedeutungsvollste in seinem Wirken. All das „Negative und Empörte" in ihm schmolz doch in seiner Liebe des Lebens: „wirklich den Pessimismus über- winden, ein Goethescher Blick voll Liebe und gutem Willen als Resultat", diese seine Worte erklären den Sinn seines Streb ens. Aber das Leben soll nicht nur bejaht, es soll erhöht, gesteigert werden. In seiner „Argonautenfahrt" nach neuen Idealen ist dieser „Wage- und Versuchergeist" gewiß oft in die Irre geraten. Da- für hat er auch Probleme aufgeworfen, aufgegraben, wie die von Evolution und Entartung, welche die Philosophie der Kultur und Moral noch lange beschäftigen werden. Und so sind Nietzsches Schriften, eben durch das Apho- ristische und Abgerissene, das Suchende und Fragende, das aus ihnen redet, den Gegensatz der Stimmungen und Weltanschauungen, die darin ineinanderwogen und ihre Linien kreuzen, der Spiegel der modernen Seele. „Den ganzen Umkreis der modernen Sele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben'', war, er hat es selbst gesagt , „sein Ehrgeiz, seine Tortur und sein Glück". Nietzsche „resümiert die Modernität", er hat sie zugleich vollendet und überwunden.

ACHTER VORTRAG.

GEGENWART UND ZUKUNFT DER PHILOSOPHIE.

Mit dem Hinweis auf die wiedererwachte Teilnahme der Zeit an philosophischen Fragen und Untersuchungen konnte ich die Reihe dieser Betrachtungen beginnen; ich kehre nur zu ihrem Ausgangspunkte zurück, wenn ich am Schlüsse derselben einen Blick auf den gegen- wärtigen Stand jener Fragen richte und versuche, An- schauungen über die Zukunft der Philosophie zu ent- wickeln.

Wer sich allein nach den Werken der Fachphilo- sophen ein Bild von der gegenwärtigen Verfassung der wissenschaftlichen Philosophie machen wollte, würde Mühe haben, seinem Bilde Einheit und Geschlossenheit zu geben, so tiefgehend ist noch immer der Streit der Meinungen in der Philosophie, so weit gespannt der Gegensatz der Richtungen und es scheint, als solle die Anarchie auf diesem Gebiete nicht so bald enden- Eines zwar würde ihm sogleich auffallen, das starke Hervortreten der Philosophie - geschichtlichen Unter- suchungen vor den systematischen, die an der Fort- bildung der Philosophie selbst arbeiten wollen. Sehen wir von der Psychologie ab, die sich jedoch immer be- stimmter zu einer positiven Wissenschaft konstituiert, so hat die reproduktive Arbeit in der Philosophie auch heute noch das Übergewicht über die produktive.

Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 237

Freilich sind in gewisser Hinsicht auch jene historisch- kritischen Untersuchungen produktiv. Sie haben aus der Geschichte der Philosophie eine Wissenschaft ge- macht und Wesen und Aufgabe der Philosophie aus dem gesamten Prozeß ihrer Entwickelung bestimmt. Ihnen verdanken wir auch, daß das philosophische Denken trotz des Nachlassens des philosophischen Schaffens nicht unterbrochen wurde. Sie haben an dem Faden weiter gesponnen, der zeitweilig abgerissen schien, sei es, daß sie in mehr freier und gleichsam künstle- rischer Form die großen Gedankensysteme der Ver- gangenheit nachzuschaffen, oder in strengerer Methode den Inhalt jener Systeme im Einzelnen zu erschöpfen suchten.

Nicht von rein historischer, sondern zugleich un- mittelbar sachlicher Bedeutung ist das Studium Kants. Es beginnt um die Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, nachdem früher bereits Helmholtz auf Kant aufmerksam gemacht hatte, und heute gebührt ihm eine nach Umfang und Vertiefung entscheidende Stelle in der Philosophie der Gegenwart.

„Zurück zu Kant!" lautete die Forderung in jenen Jahren und sie war vollkommen berechtigt, ging sie doch aus einem richtigen Verständnis der Lage der Philo- sophie und ihres Verhältnisses zur Wissenschaft hervor. Kant war der letzte unter den deutschen Philosophen, der, mit der positiven Wissenschaft völlig vertraut, nicht nur deren Ergebnisse kannte, sondern sie auch mit seinen eigenen Forschungen bereicherte. Der Schöpfer der Kritik der reinen Vernunft ist auch der Verfasser der Naturgeschichte des Himmels. Und noch in dem Nachlasse Kants besitzen wir den Entwurf zu einem Werke: „Von dem Übergange von den meta-

238 Achter Vortrag.

physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik". So viel lassen die daraus veröffentlichten Proben schon jetzt erkennen, daß es sich dabei um die Entwickelung einer Hypothese handeln sollte, welche neuesten Anschauungen der Wissenschaft nicht sehr ferne steht. Kant sucht darin den Mechanismus in der Natur energetisch, wie wir heute sagen würden, zu er- klären, ihn aus einem beständig wirksamen Agens ab- zuleiten. Aber mehr als dieser vermutliche Inhalt der Schrift, die Kant zu seinen Hauptschriften zählte, erscheint uns die Tatsache von Wichtigkeit, daß der kritische Philosoph seine Lehre statt nach oben in das Abstraktere nach unten, zu dem Konkreten hin auszubauen, von der Metaphysik zur Physik überzugehen dachte. Zurück zu Kant! bedeutet die Wiederanknüpfung der Ver- bindung zwischen Wissenschaft und Philosophie, die, zum Nachteil beider, längere Zeit hindurch abgebrochen war. Nicht aber darf darunter die Forderung verstanden werden, bei Kant stehen zu bleiben. Das Werk Kants ist über ein Jahrhundert alt, und die Wissenschaft seit- her nicht stehen geblieben, und so darf auch die Philo- sophie nicht bei Kant stehen bleiben.

Außer den allgemeinen logischen und mathema- tischen Grundlagen der Erfahrung, die für alle Zeiten feststehen, weil sie die Definition der Erkenntnis selbst ausmachen, d. h. ihren Begriff bestimmen, sind alle übrigen Bestandteile und Aufgaben der Erkenntnislehre, oder Philosophie der Wissenschaft in Fluß und fort- schreitender Entwickelung begriffen. Mit der Wissen- schaft ändert sich auch ihre Philosophie, Die besonderen Probleme der Erkenntnistheorie, heute z. B. die Fragen nach den Prinzipien der Physik, werden der Philosophie von der forschenden Wissenschaft selbst geliefert, sie

Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 239

gehen aus dem Zusammenhange und dem Betriebe der wissenschaftlichen Arbeit hervor. Zum Beweis dafür brauchen wir uns nur noch einmal an den Satz der Erhaltung der Energie und sein« Bedeutung für eine philosophische Auffassung der Natur zu erinnern. Wie der verbindende Gedanke, den dieser Satz zum Aus- druck bringt, aus der Physik erst ein wirkliches System gemacht, ihre zerstreuten Erkenntnisse einheitlich wie zu einem einzigen Ringe zusammengeschlossen hat, so hatte er selbst wieder eine veränderte, völlig praecise Vor- stellung von dem ursächlichen Zusammenhang in der äußeren Natur zur Voraussetzung. Der Begriff der Größenübereinstimmung zwischen Ursache und Wirkung, der Konstanz der Größe der Ursache in der Wirkung ist die neue Anschauung von der Kausalität, welche alles, was der früheren Auffassung dieses Begriffs an Hypothetischem, Unbekanntem und Anthropomorphem anhaftete, endgiltig beseitigt hat. Sie hat die beiden Grundsätze der Beharrlichkeit und der Verursachung der Veränderungen in ein Prinzip verschmolzen; es ist der größte Fortschritt der allgemeinen Wissenschaftslehre seit der Kritik der reinen Vernunft.

Neben den Grundgedanken der kritischen Philosopie sind es auch Ideen Fichtes und namentlich, wenn auch in mehr mittelbarer Weise, Hegels, welche in der gegen- wärtigen Philosophie eine Art von Renaissance erleben. Ich denke dabei nicht an die Neu- Hegeische Bewegung in der englischen und amerikanischen Philosophie; denn diese verfolgt rein spekulative Interessen. Ich denke an die innere Verwandtschaft der modernen Geschichts- wissenschaft mit dem Geiste, mit welchem Hegel die Geschichte erfaßte. Bekanntlich ist das Gedankensystem Hegels an dem Ansprüche gescheitert, die ganze Welt

240 Achter Vortrag-.

und nicht bloß die im engeren Sinne des Worts histo- rischen Erscheinungen als Entwickehing des absoluten Geistes verstehen zu können. Sie ist gescheitert, wie jede so anspruchsvolle Philosophie immer wieder scheitern muß. Die Naturphilosophie Hegels ist als Irrweg er- kannt und niemand wird diesen Weg je wieder betreten; seine Geschichtsphilosophie dagegen, wozu auch seine Betrachtungen über die Entwickelung der Kunst zu zählen sind, ist auch für unsere Zeit noch von anregender Bedeutung. Zwischen dieser Philosophie und unserer Kulturwissenschaft besteht sogar ein analoges Verhältnis, wie es zwischen Kant und unserer Naturwissenschaft besteht; und eigentlich hat erst die Hegeische Auf- fassung der Geschichte die Möglichkeit einer Kultur- wissenschaft im Unterschiede von der Naturwissenschaft ersichtlich gemacht. Auch hier hat die Philosophie der nachfolgenden Wissenschaft Aufgaben gestellt, auch hier aber ist sie in den nämlichen Fehler verfallen, den sie bisher in ihren Systemen immer und immer wieder beging: die Aufgaben für die Lösung zu halten, den allgemeinen Gesichtspunkt, unter den sie die Probleme brachte, schon für die gewonnene Einsicht selbst zu nehmen. Zwar folgt die moderne Geschichtswissenschaft nicht bewußt den Spuren Hegels, aber sie befindet sich doch auf dem Wege, den die Gedanken des Philosophen zeigten und ungeduldig ans Ende durchlaufen wollten; sie ist Geist von seinem Geiste. Schon allein die Kühnheit, mit welcher der absolute Philosoph voraussetzte, nichts im Leben des Geistes könne sich dem eindringenden Ver- ständnis versagen, alles müsse sich dem Begriflfe er- schließen, mußte von mächtig erregender Wirkung sein. Hegel erstrebte dieselbe Objektivität dem historischen Stoffe gegenüber, welche der Positivismus den Tat-

Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 24 1

Sachen in der Natur gegenüber bewährt; er will die Ge- schichte begreifen, nicht sie meistern und hierin liegt ein Punkt der Berührung zwischen seiner Spekulation und der wissenschaftlichen Forschung. „Eine Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt", die Geschichte der Philosophie der Prozeß, worin der gedankliche Gehalt des menschlichen Kulturlebens zum Ausdruck gelangt, zum deutenden Worte, ein Satz wie dieser wird un- vergessen bleiben, wenn auch nichts sonst von dem Hegeischen Systeme übrig sein wird.

Die wissenschaftliche Philosophie der Gegenwart ist nur zu geringerem Teile in den Arbeiten der Fachphilo- sophen enthalten, in ihren Schriften niedergelegt. Wir haben sie vornehmlich auch in den allgemein-wissen- schaftlichen Anschauungen der großen Naturforscher unserer Zeit zu suchen: diese, die wahren Nachfolger der Naturphilosophen, sind unsere Philosophen. Und wer der Gegenwart eine maßgebende Bedeutung in der Geschichte der Philosophie abspricht, hat die Bäume gesehen aber nicht den Wald, er hat nicht gesehen^ wo gegenwärtig die Philosophie lebt, Sie lebt in den Werken von Robert Mayer, von Helmholtz, von Heinrich Hertz. Aus der kleinen, aber gedankenreichen Schrift R. Mayers: „Bemerkungen über das mechanische Äqui- valent der Wärme", lassen sich die ganze Aufgabe und das ganze Verfahren des Naturerkennens entwickeln und zugleich die Grenzen dieses Erkennens bestimmen. Und bis in die letzte Zeit seines umfassenden wissen- schaftlichen Wirkens hat H. Helmholtz den erkenntnis- theoretischen Fragen seine Aufmerksamkeit zugewendet. Er trennte die Voraussetzungen für die Begreiflichkeit der Tatsachen von den zu begreifenden Tatsachen selbst und suchte, erst auf dem Wege Kants, dann von diesem

Riehl, Philosophie der Gegenwart. l6

242 Achter Vortrag.

sich weiter entfernend, mit kritischem Verständnis, die theoretischen Grundlagen der Naturwissenschaft zu prüfen- Wir müssen ihn daher zugleich zu den Philosophen zählen, wie er einer der hervorragendsten Forscher war. Ein mustergiltiges Beispiel aber von der Art, wie Philosophie und Wissenschaft zusammenhängen und wie sie zusammenwirken sollen, hat H, Hertz in den „Prinzipien der Mechanik" aufgestellt, schon durch das Verfahren, das er in diesem Werke einhält. Er zerlegt dasselbe in zwei symmetrisch aufgebaute Teile. In dem ersten entwickelt er, ganz im Sinne Kants und unter ausdrücklicher Berufung auf diesen, alle zur Dar- stellung der Tatsachen, hier der Bewegungserscheinungen, erforderlichen Begriffe, welche, wie er sagt, schon durch innere Anschauung gegeben werden, oder, wie Kant es ausdrückt, aus reiner Anschauung hervorgehen. Aus diesen Begriffen entsteht ein in sich geschlossenes, rein logisch-mathematisches Lehrgebäude, an dessen Sicher- heit und absoluter Festigkeit ein Zweifel nicht möglich ist. Im zweiten Teile fiihrt sodann Hertz eine Hypothese ein, welche etwas über den Inhalt der Erfahrung aus- sagen soll, daher auch allein durch die Erfahrung ge- prüft werden kann und soll. Indem er nun diese Hypo- these: sein „Grundgesetz", demzufolge Jedes freie System in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung in einer geradesten Bahn beharrt", mit den zuvor definierten kinematischen Begriffen in Verbindung bringt, entsteht das, was wir Erklärung nennen, nämlich die einfachste und vollständige Beschreibung der Tat- sachen, welche Beschreibung zugleich Einsicht mit sich bringt, weil der notwendige Zusammenhang der Elemente, deren sie sich bedient, evident, d. i. von anschaulicher Gewißheit ist. Dies eben heißt wissenschaftliche

Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 243

Philosophie, dies ist Philosophie innerhalb der wissen- schaftlichen Forschung selbst.

Der Weg der Mechanik von Hertz ist der allge- meine Weg der theoretischen Naturwissenschaft, und Galilei hat ihn dieser eröffnet. Er hält die rechte Mitte von bloßer Spekulation und reiner Erfahrung. Tatsachen in der Wahrnehmung (sensate esperienze) genügen nach Galilei nicht, um Wissen zu erzeugen. Sie sind nur die eine Quelle des Erkennens, die andere nicht minder ursprüngliche, nicht weniger wesentliche ist „das Wissen, das der Geist von sich aus hat", das logisch-mathe- matische Wissen. Indem beide Quellen zusammenfließen, die Tatsachen der Sinne durch Induktion und Experi- ment unter Begriffe a priori gebracht werden, vereinigen sie sich zum Strome des Erkennens. Nicht anders dachte vom Wesen des Erkennens Mayer, nicht anders dachte davon Kirchhoff. Wenn Mayer eine Tatsache als erklärt betrachtet, sobald sie „nach allen ihren Seiten hin bekannt ist", so haben wir zu bedenken, daß diese allseitige Bekanntheit einer Tatsache nach Mayer die Kenntnis ihrer konstanten Größenbeziehungen zu den andern Tatsachen einschließt und damit ist in der Tat „die Aufgabe der Wissenschaft beendigt". Und wenn Kirchhoff es als die Aufgabe der Naturwissenschaft bezeichnet, die in der Natur vor sich gehenden Be- wegungen „vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben", so liegt schon in der Forderung der Einfachheit, der Vereinfachung der Beschreibung und zwar ihrer möglichsten Vereinfachung, das begrifflich Verallgemeinernde dieser Aufgabe. Auch konnte es nicht die Meinung Kirchhoffs sein, jede besondere Be- wegung in der Natur solle für sich genommen be- schrieben werden; sie sind alle mitbeschrieben, wenn die

244 Achter Vortrag.

Gesetze der Bewegung dargestellt, d. i. mathematisch ent- wickelt sind. Eine solche Beschreibung aber mit Hilfe mathematischer Begriffe ist Erklärung, und Erklärung kann nichts anderes sein als solche Beschreibung.

Aus reiner Erfahrung kann nie Wissenschaft ent- springen. Denn reine Erfahrung ist nichts Gegebenes; sie ist ein Produkt der Abstraktion, ein Edukt, ein Aus- zug aus der wirklich gegebenen Erfahrung. Diese aber ist empfangen in den Formen des Anschauens und entwickelt nach den Formen des Denkens. Sich auf reine Erfahrung zurückziehen heißt einfach den ver- bindenden Faden aller Tatsachen durchschneiden; übrig bleibt ein ungeordnetes Gemenge, ein Aggregat von Sinneseindrücken. Denn selbst die ihnen eigenen Ver- hältnisse, in denen die Tatsachen der Wahrnehmung gegeben werden, müssen, um erkannt zu sein, durch das Denken nachgeschaffen werden. Noch einmal: das Denken ist die Voraussetzung aller Erfahrung; eine Er- fahrung ohne Denken ist nicht möglich. Nehmen wir an, alle überhaupt vorkommenden Tatsachen seien uns bekannt und werden uns immer wieder bekannt, so- bald sie sich weiter entwickeln, in der Zeit vorrücken: wäre damit allein schon Wissenschaft gegeben, wäre Wissenschaft dadurch entbehrlich geworden? Soll die Aufgabe der Erkenntnis wirklich nur darin bestehen, die Tatsachen, die wir aus Un Vollkommenheit unserer Sinne nicht kennen, mit solchen zu verbinden, die wir kennen, um damit die Erfahrung jener zu ersetzen, oder weitere Erfahrung zu ersparen? Gewiß sind „Gesetze" der Natur auch Ableitungsformeln für Tat- sachen; aber sie sind dies nicht allein, noch ist dies ihre wichtigste, ihre wertvollste Funktion. Kenntnis und Er- kenntnis bleibt zweierlei und wer alle Tatsachen in der

Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 245

Welt kennte, wüßte dadurch allein noch nichts von den Gesetzen der Tatsachen, Das Gesetz der Gravitation ist mit allen Bewegungen der Himmelskörper und irdischen Fallerscheinungen noch nicht gegeben, ob- gleich es in jeder Fallbewegung enthalten ist. Kein Gesetz kann in eine Tatsache rein aufgehen, keines mit der bloßen Summe von Tatsachen gegeben sein, ob- schon es von allen Tatsachen gilt, die unter ihm stehen. Jedes Gesetz ist ein Satz mit einem Wenn: zwei Massen- punkte würden sich genau nach dem Gesetze der Gravi- tation annähern, wenn sie allein in der Welt wären. Würden also auch alle Tatsachen offen daliegen, unser Verstand könnte, um ihre allgemeingiltigen Beziehungen oder ihre Gesetze zu ermitteln, nicht anders verfahren, als er bei seiner unvollkommenen Kenntnis des Tatsäch- lichen verfährt. Wir suchen die Tatsachen der reinen Erfahrung durch das Denken zu ergänzen, um sie zu verstehen, wir suchen ihre Beziehungen mathematisch darzustellen, um Einsicht in die Form ihrer Verhältnisse zu gewinnen.

Es gibt eine Denkrichtung in der Philosophie der Gegenwart, die von Hume ausgeht und sich ihres Gegen- satzes zu der von Kant ausgehenden bewußt ist und diese bekämpft. Sie nennt sich den „Positivismus", sollte aber eigentlich „Impressionismus" heißen, denn das einzige Reale, das sie gelten läßt, sind die Sinneseindrücke. Ein merkwürdiges Buch, das sich selbst als „Kritik der reinen Erfahrung" einführte, in Wahrheit aber die Vernunft kritisiert, nämlich durch die reine Erfahrung wegkritisieren will, ist zu der nämlichen Zeit entstanden und veröffentlicht worden, in welcher auch in der Kunst eine Richtung vorübergehend zur Herrschaft gelangt war, die analog der in jenem Buche vertretenen Wissenschaft-

246 Achter Vortrag.

liehen das bloß Tatsächliche als solches wiedergeben zu sollen meinte. Dem künstlerischen Impressionismus entspricht auch der Zeit nach der wissenschaftliche Impressionismus, und auch unser Urteil über beide hat ein entsprechendes zu sein. So unmöglich es ist, in der künstlerischen Wiedergabe der Erscheinung die reinen Sinneseindrücke zu wiederholen und die Vor- stellung, die die Eindrücke ordnet, auswählt und klärt, auszuschließen und doch dabei künstlerisch zu wirken; so unmöglich und ohne allen Erkenntniswert ist es, von der wissenschaftlichen Darstellung der Tatsachen die Beherrschung der Tatsachen durch die Einheit des Denkens auszuschließen.

Überdenken wir, ohne hier auf Einzelnes eingehen zu können, die Gesamtlage der Wissenschaft unserer Zeit, so müssen wir, wie paradox dies auch klingen mag, sagen: nie hat es ein philosophischeres Zeitalter in der Wissenschaft gegeben, als das gegenwärtige. Denn es ist dies das Zeitalter der immer weiter fort- schreitenden wissenschaftlichen Arbeits- Vereinigung, des wahren Endzweckes und der Rechtfertigung der voraus- gegangenen unentbehrlichen Arbeits-Teilung. Es ist das Zeitalter der synthetischen Wissenschaft, und synthetisch ist nur ein anderes Wort für philosophisch. Die Bei- spiele solcher synthetischen Wissenschaften liegen uns nahe. Wir brauchen nur an die physikalische Chemie oder die physiologische Psychologie zu denken, zwei Schöpfungen dieses philosophischen Geistes der Wissen- schaft der Gegenwart.

Nie kann es wieder eine Zeit geben, in welcher die Wissenschaft ihr Ziel erreicht glaubte, wenn sie nur Tat- sachen über Tatsachen anhäufte, nie auch eine Zeit, in

Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 247

welcher die Philosophie auf diese notwendige Vorarbeit zur Wissenschaft wieder mit Geringschätzung herab- blicken wird. Das Formen und Herbeischaffen der Ziegel halten wir für die Herstellung eines Baues gleich wesentlich, wie das Werk des Architekten, der den Plan entwirft und die Ausführung des Baues leitet. Wie es der Erkenntnis ohne die geduldige und entsagungsvolle Arbeit der rein empirischen Forschung an Material gebrechen würde, so würde es ihrem Bau ohne das denkende Durchdringen des Tatsachenstoffes am Plane fehlen. Die Wissenschaft braucht die Philosophie; sie schafft sich daher eine, wenn sie keine vorzufinden glaubt. Dabei kann es ihr ge- schehen, daß sie dort Grenzen des Erkennens sucht, wo dessen Voraussetzungen liegen, oder Zeichen für Dinge mit den Dingen selbst verwechselt. Und ebenso kann auch die Philosophie die Wissenschaft nicht entbehren, soll sie sich nicht entweder in leere Spekulationen ver- lieren, oder auf rein formale Erkenntnistheorie beschränkt sehen, die den Kern des Wissens, die in der Erfahrung gegebenen Tatsachen, nicht zu ergreifen vermag. Das beständige Zusammenwirken von Forschung und Philo- sophie, ihre wechselseitige Ergänzung ist das Eine, das beiden not tut. Über dem Hörsaale Piatos stand, wie berichtet wird, zu lesen: Keiner, der nicht Geometrie versteht, oder, was für jene Zeit dasselbe bedeutete: der nicht exakte Wissenschaft getrieben hat, darf eintreten. Die analoge Überschrift über dem Eingang in unsere naturwissenschaftlichen Hörsäle und Laboratorien müßte lauten: dem ist der Eintritt verwehrt, der nicht Philo- sophie getrieben hat. Philosophische Bildung gehört zur Fachbildung jedes Naturforschers; sie lehrt ihn das In- strument seiner Instrumente verstehen und gibt ihm den Maßstab für seine Forschung.

248 Achter Vortrag.

Die Zukunft der wissenschaftlichen Philosophie ist die Erhebung der Wissenschaft zur Philosophie. Wie die Wissenschaften aus der Philosophie, ihrer anfäng- lichen Einheit, durch Auseinanderlegung derselben her- vorgegangen sind, so sehen wir sie auch in der Spirale alles geschichtlichen Werdens auf einer höheren Stufe ihrer Entwickelung zur Einheit zurücklenken. Sind sie doch nur die verschiedenen Ströme des Wissens und also bestimmt, in die Eine Wissenschaft, in das System der menschlichen Erkenntnis zurückzufließen. Die Wissen- schaft, äußert Van t'Hoff, ist wie die Natur, welche sie abspiegelt, ein großes Ganzes und alle Einteilungs- prinzipien haben im Grunde etwas Willkürliches. Nicht, daß wir glaubten, jene eine Gesamtwissenschaft werde an einem bestimmten Tage vollendet sein. Wir glauben nur, nie werde die wissenschaftliche Forschung die Richtung auf dieses Eine und höchste Ziel wieder verlieren, vielmehr mit Bewußtsein und nicht nur wie zufällig an dem werdenden Systeme des Wissens arbeiten,^ das heißt aber: sie werde sich mit philosophischem Geiste erfüllen. Auch dann brauchen wir noch „Spezia- listen des Allgemeinen" (so ungefähr nannte A. Comte die Philosophen); wir werden aber keine von der Wissen- schaft losgelöste Philosophie mehr kennen, keine der Philosophie entfremdete Wissenschaft.

Wird jemals ein Weltbild der Wissenschaft das- definitive sein? Wir müssen es bezweifeln. Darum aber gleicht das Werk der Wissenschaft noch nicht dem. „nächtlichen" Werke der Penelope; ihr Gewebe wird nicht immer wieder aufgelöst, ihre Arbeit nicht immer wieder zerstört. Die aufeinander folgenden Bilder der Welt, welche von der Wissenschaft entworfen werden. folgen auch auseinander. Kein Schritt in der Er-

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kenntnis der Welt braucht wieder zurückgetan zu werden. Keiner; was die Wissenschaft einmal ermittelt hat, hat sie für immer ermittelt; es ist zu einem unveränderlichen Bestandteil der Wahrheit geworden, welche selbst un- veränderlich ist. In diesem Sinne ist jedes ihrer Gesetze streng allgemeingiltig; keines hat, wie wohl behauptet wird, nur praesuraptive Allgemeinheit. Die Ausnahms- losigkeit gehört zum Begriff eines Naturgesetzes, und nicht, daß solche Gesetze gegeben sind, kann einem Zweifel unterliegen, sondern nur, ob wir in einem be- stimmten Falle das Gesetz wirklich erkannt haben. Nur wer sein Denken vorzugsweise an Sprachen erzogen und an die Regeln der Grammatik gewöhnt hat, mag auch von den Regeln des Geschehens in der Natur Aus- nahmen für möglich halten, oder die Naturgesetze bloß als Text-Interpretationen der Naturforscher betrachten. Prüfen wir selbst ein Gesetz, wie das der Gravitation noch an der Erfahrung, so wollen wir nur wissen, ob es nicht vielleicht Teil eines noch umfassenderen Gesetzes sei oder seine Wirkung durch andere Gesetze modi- fiziert werde, das heißt, ob nicht eine Erscheinung, die darunter fällt, noch anderen Gesetzen folge. Ein Natur- gesetz ist immer zugleich, nämlich seiner Form nach, eine mathematische Wahrheit. Unser Wissen von diesen Wahrheiten aber ist Einsicht in ihre Notwendigkeit und eine höhere Stufe der Gewißheit, als diese Einsicht, kann es nicht geben, erklärt der Schöpfer unserer Wissen- schaft. Hier komme sogar, fährt Galilei fort, die mensch- liche Erkenntnis der göttlichen gleich; unser Begreifen ist hierin vollkommen und so unbedingt gewiß, wie es nur die Natur selbst sein kann.

Das künftige System des Wissens erwächst aus Kritik und Forschung zugleich; es sucht daher die Wahr-

250 Achter Vortrag.

heit nicht in einem inneren Wesen der Welt, es findet sie in den beharrlichen Verhältnissen der Dinge, den Gesetzen ihrer Erscheinung.

Unsere Ausführungen haben gezeigt, daß unter Philosophie im ganzen Verlauf ihrer Geschichte niemals nur eine Wissenschaft allein verstanden worden ist; in- dem sich die Philosophie von ihrem Beginne an an das höchste Bewußtsein des Menschen wandte, an das Ganze seines Geistes, konnte sie nicht Wissenschaft allein sein. Auch das vollendet gedachte System des Wissens würde nirgends auf die „Werte" des geistigen Lebens treffen können; die Wissenschaft schließt schon ihrem Begriffe nach jedes Werturteil als solches aus ihrem eigensten Bereiche aus, obschon sie als Ganzes betrachtet selbst Gegenstand der Bewertung ist, ja einen der höchsten geistigen Werte bildet. Wissenschaft und wissenschaft- liche Philosophie können die Kunst nicht ersetzen, auch nicht die philosophische Kunst der Geistesführung, welche sich mit ihren Lebensanschauungen an den Willen wendet, an die praktische Vernunft, nicht an das theoretische Erkennen. Fragen wir nun nach der Gegenwart und Zukunft dieser anderen Philosophie, welche nicht selbst Wissenschaft ist, obschon sie diese voraussetzt und zur Basis nimmt, so ist die Antwort auf den zweiten Teil unserer Frage nicht zu verfehlen. Hier, wo es sich um Werte und Formen des Lebens handelt, kommt die Persönlichkeit des Philosophen ent- scheidend zur Geltung; seine Gesinnung, die Größe des Charakters, das Vorzügliche seiner Natur leben in seinem Werke: die Zukunft der Philosophie als Geistesführung ist der große Philosoph, und auf sein Kommen müssen wir warten.

Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 25 1

Einige unserer jüngeren Zeitgenossen glauben, er sei schon erschienen, sein Geist lebe mitten unter uns, in mächtiger Gegenwart. Was uns dagegen verwehrt in Friedrich Nietzsche einen Geistesführer zu sehen, ist der jähe Wandel seiner Anschauungen, das rastlose Fort- getriebenwerden seines Geistes, die unstäte Folge immer neuer , Loslösungen ", die ihn bei keiner Sache verweilen, auf keiner fest beruhen ließen. Man kann sich den nicht zum Führer wählen, der „stets ein andrer ward, sich selber fremd" und „sich selbst entsprungen" ist. Wer ihm folgen will, er sagt es selbst, muß sich beständig wandeln: „nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt." Nicht dies ist sein Mangel, daß es seinem Denken an einem „Systeme" fehlt, auch Sokrates hatte keines; wohl aber vermissen wir die sichere, feste Position seiner Gedanken, die Folgerichtigkeit in seinem Empfinden. Er zerstörte, was er eben gebaut, und lästerte, wo er eben noch angebetet hatte. Seine zwie- spältige Natur neigte zur Verehrung und zwang ihn zu- gleich zu zersetzender Kritik. Er ist der beständig Suchende, der große Fragende, ein Geschöpf und mehr noch: das Kompendium der Zeit, die selber eine fragende und suchende ist.

Überaus empfänglichen Geistes ließ sich Nietzsche von allen Strömungen, jeder Stimmung der Zeit ergreifen. Er hat jede durchlebt, an jeder gelitten und sich aus allen „losgelöst". Er beginnt mit Schopenhauer und sucht in der Kunst die Rettung vor der Verneinung des Willens. Gleich darauf schwärmt er für Wagner und sieht schon aus der Verbindung der Schopenhauerischen Philosophie mit dem „Kunstwerke der Zukunft" eine neue Kultur erstehen. Von dieser „Romantik" seiner Jugend wendet er sich, scheinbar unvermittelt, zu der

2C2 Achter Vortrag.

Aufklärung und dem Intellektualismus um; es war nur eine neue Art von Schwärmerei. „Der Blick durch das Tor der Wissenschaft" wirkte auf ihn wie der „Zauber aller Zauber" und er wird an der Wissenschaft zum „Phantasten". Auch in dieser „wissenschaftlichen" Periode blieb er, der er war, der trunkene, „dionysische" Dichter, und Prophet. Ihn ziehen nur die ästhetischen Seiten des Erkennens an, die Strenge der Form, das Persönliche in den „freien Geistern" und Denkern. Nicht lange und er empfindet, wie die Zeit selbst, Ungenügen am bloßen Wissen, am „Glück des Erkennenden". Er kommt dahin ^ den Wert der Wahrheit „umzuwerten", zu verneinen und stürzt sich in den Abgrund des Nihilismus. Alle bisherigen Werte schienen ihm ent- wertet zu sein, dem Leben jeder Sinn, jedes Wozu ge- nommen. Aber die Grundtriebe seiner Natur, die auf Bejahung des Lebens gerichtet waren, wollen auf allen Wegen ans Licht. Er will wieder ein Ziel, ein Warum, einen Glauben setzen: eine Gegenbewegung gegen den Nihilismus sollte der „Wille zur Macht", sollte die „Um- wertung aller Werte" zum Ausdruck bringen.

Nietzsches Entwicklung ist ohne Abschluß; wir haben eigentlich nicht sein Werk, sondern Ansätze, Bruch- stücke seines Werkes, die wie Trümmer eines großen Geistes, eines großen WoUens vor uns liegen. Auch diese aphoristische Form seines Schaffens, zu der ihn die Krankheit zwang, das Abgerissene, Blitzartige der Gedanken, ist wie ein Symbol der Zeit, ihrer Unrast, ihres Entbehrens einer einheitlichen, geschlossenen Lebens- anschauung. Nietzsches Schriften sind Dokumente ihres inneren Lebens; ihr Führer, ein Führer wollte er nicht sein. Er wollte nur den „züchtenden" Gedanken aus- säen, der Lehrer der „ewigen Wiederkunft" sein und

Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 253

die Entwickelung des „höheren" Menschen dann dem neuen Glauben überlassen. Einst, in seiner ersten Zeit, hatte auch er nach Genossen ausgeblickt und kein junges Gemüt kann, ohne sich begeistert zu fühlen, die Worte hören: „Ich sehe etwas Höheres, Menschlicheres über mir, als ich selber bin, helft mir alle, es zu erreichen, wie ich jedem helfen will, wer Gleiches erkennt und an Gleichem leidet." Dann aber wird sein Pfad immer einsamer, ferner von den Zeitgenossen; er geht nach „Abenteuern der Erkenntnis" aus, sucht das Abseits- Liegende auf, das gerade ihm Wehetuende, daher, wie er meint Nötige; er hatte den Weg zu sich selber ge- funden und gibt es auf, Anhänger zu werben, Proselyten zu machen: „das ist mein Weg, welches ist der eure? Den Weg nämlich gibt es nicht!"

Viele seiner Aussprüche im Einzelnen und seine Tendenzen im Ganzen haben auch dies will ich wiederholen gerade das, was der Zeit not tut: sein Ja-sagen zu allem, „was stärkt, was Kraft aufspeichert, das Gefühl der Kraft rechtfertigt", mit einem Worte sein „corroberierendes System" mußte auf eine willens- schwache Zeit stählend und wie ein frischer Zug aus der großen, freien Natur wirken. Alle seine Anschau- ungen aber verraten ein Grundgebrechen: den Mangel an historischem Sinn. Nietzsche meinte, man könne, er könne Kultur absichtlich schaffen, Kultur gleichsam improvisieren; man könne die Geschichte neu machen, überhaupt Geschichte machen. Daß das Produktive mit dem Historischen verbunden werden müsse, um wirklich produktiv zu sein, wie Goethe es forderte, beachtete er nicht. Neue Lebensanschauungen gehen hervor aus alten Lebensanschauungen und sie beseitigen diese niemals vollständig, sie entwickeln sie nur. Darum

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Achter Vortrag;.

ist die Aufgabe alle Werte umzuwerten, nicht bloß eine vermessene, verstiegene, sondern eine unmögliche Auf- gabe; denn sie ist durch und durch unhistorisch. In Wahrheit hat es sich auch bei Nietzsche nicht um die Schöpfung neuer, sondern um eine Neuordnung der alten Werte gehandelt.

Wozu aber auf den kommenden großen Philosophen warten? bereiten wir ihm die Wege, ihn zu em- pfangen, wenn er kommt. Das alte Gute, faß' es anl auch das neue Gute ist nur eine Entwicklung des alten.

Kunstwerke sind, so lange sie nur der Zeit wider- stehen, also für sich betrachtet, für immer da. Kein Fortschritt der bloßen Technik kann sie töten. Sie sind wie lebende Wesen und wie alles wahrhaft Geschicht- liche, in der Geschichte Wertvolle, geschehen sie fort- während; sie wirken fort, mit jeder neuen Zeit neue Verbindungen eingehend. Solchen Werken der Kunst gleichen die Lebensanschauungen der großen Denker; nie kann, so lange die Menschheit lebt und die Er- innerung an sie bewahrt, ihre Wirkung erlöschen. Sokrates lebt mit seiner Gesinnung fort; auch wir be- mühen uns noch, die Tat seines Sterbens zu begreifen und ihrer Größe würdig zu werden. Der Piatonismus, der Spinozismus sind nicht vergangen, sie gehören dem Leben an, das wir leben. Kants Gedanke, daß das Sittengesetz aus der vernünftigen Natur des Menschen stammt, nicht aus seiner besonderen, menschlichen Natur, daß das Sittengesetz das Naturgesetz vernünftiger Wesen als solcher ist, dieser große Gedanke seiner Ethik, der erst eine sittliche Weltanschauung begründet hat, ist noch nicht ausgeschöpft, kaum erst in seiner ganzen Höhe verstanden. Und wer nicht wüßte, wie heilsam

Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 255

auch der strenge Pflichtbegriff der Kantischen Moral gewirkt, kann es von Goethe erfahren. „Die Moral war gegen Ende des letzten Jahrhunderts schlaff und knech- tisch geworden, als man sie dem schwankenden Kalkül einer bloßen Glückseligkeitstheorie unterwerfen wollte; Kant faßte sie zuerst in ihrer übersinnlichen Bedeutung auf, und wie überstreng er sie auch in seinem kate- gorischen Imperativ ausprägen wollte, so hat er doch das unsterbliche Verdienst, uns von jener Weichlich- keit, in die wir versunken waren, zurückgebracht zu haben."

Lebensweisheit suchen wir nicht bloß bei den eigent- lichen Philosophen, in ihren Lehren, ihrem Vorbilde; wir finden sie auch bei den großen Dichtern, bei jedem Er- zieher der Menschheit. Auch sie zählen zu den Philo- sophen, wenn wir auch nicht gewohnt sind, sie Philo- sophen zu nennen. Ein solcher Philosoph und Erzieher der Menschheit ist Goethe, der Goethe der „Wander- jahre" und des zweiten Teiles Faust.

„Sinn und Bedeutung meiner Schriften und meines Lebens ist der Triumph des Reinmenschlichen," so faßt Goethe selbst Geist und Ziel seines Schaffens und Wirkens zusammen. „Ein innerlich bewahrtes, nach außen tätiges, höheres Menschentum" war sein eigentliches Lebensgeheimnis, Menschenbildung seine Lebenstendenz, Er sinnt beständig, wie man „vorzügliche Menschen zu vollendeter Bildung" bringen könne, so daß sie bis ans Ende eine immer höhere und reinere Tätigkeit entfalten. Die Bestimmung des Menschen ist Handeln, in seinem Denken dagegen soll er sich bescheiden, „das Erforsch- liche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren". Denn der Mensch ist kein lehrendes, er ist ein lebendes und wirkendes Wesen; nur in Wirkung

256 Achter Vortrag.

und Gegenwirkung erfreuen wir uns. Das erste und letzte am Menschen sei Tätigkeit, sein Leben sei Tat um Tat. „Dieweil ich bin, muß ich auch tätig sein." Handeln aber heißt: „die Mittel der äußeren Welt an sich heranziehen und unseren höheren Zwecken dienstbar machen". ,Jedes tüchtige Bestreben wendet sich aus dem Innern hinaus auf die Welt; wie man in allen großen Epochen sieht, die wirklich im Streben und Vor- schreiten begriffen und alle objektiver Natur waren". Es sind nach Goethes Bezeichnung die gläubigen Epochen. Wer handelt, darf nicht zweifeln, er muß vom Glauben an seine Zwecke, seine Ideale erfüllt und ge- trieben sein. Glaube ist unentbehrlich für die Zeiten wahrer Kultur; Glaube schafft selber Kultur. Diese Überzeugung Goethes ist auch die Lehre unserer Ge- schichtsphilosophie, und jeder tiefere Blick in die Kultur- geschichte sieht sie überall bestätigt.

Den Wert der Persönlichkeit hat keiner höher ge- schätzt, als Goethe, der sie als das höchste Glück der Erdenkinder preist; aber er kannte und verehrte auch ein Überpersönliches, Übermenschliches und achtete die Grenzen der Menschheit. „Das Wesen der Welt läßt sich nie in eine Formel fassen, wohl aber stellt es sich in großen Persönlichkeiten kräftig und deutlich dar." ,Gott ist fortwährend in höheren Naturen wirksam, um die geringeren heranzuziehen". ,,Es ist eigentlich die große Persönlichkeit, welche in die Kultur ihres Volkes übergeht." Und wie Goethe groß dachte von der großen Persönlichkeit, so wußte er zugleich, daß auch der höchste Mensch nichts durch sich selber ist, nicht für sich selbst allein lebt. „Was der Mensch auch angreife und handhabe, der Einzelne ist sich nicht hinreichend. Denn im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, wir

Gegenwart und Zukunft der Philosophie. 257

mögen uns stellen, wie wir wollen. Wie weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen. Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als von denen, die mit uns sind. Die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und Beharrlichkeit, es auszuführen." „Mache aus dir ein Organ!" dies Wort gilt allen, auch den höheren Naturen. ,,Es ist im Menschen auch ein Dienen- wollendes". Mag auch die große Persönlichkeit alles, was außer ihr ist, zu ihrer Selbstbildung, ihrer Selbst- vollendung gebrauchen, mögen ihr Gesellschaft, Staat, ja die übrige Menschheit selbst zu Mitteln und Werkzeugen werden, die ihrem höchsten Wohle dienen; sie kann nicht anders, als die „Seligkeit ihrer Natur auch auf andere" ausgießen, und indem sie so den Reichtum ihres Innern erschließt, wird sie selbst zum Organ des Ganzen und wie das Ganze in ihr lebt, lebt sie selbst für das Ganze. Zwischen dem aristokratischen Indivi- dualismus, den Nietzsche lehrte, und dem Kollektivismus, der die sozialen Lehren der Gegenwart beherrscht, hat bereits Goethe die reinste Aussöhnung gefunden, die schönste Verbindung gestiftet

Die Zeit ruft alle ihre geistigen Kräfte auf, um einen neuen inneren Gehalt des Lebens zu erringen. In diesem Kampfe um einen neuen Lebensinhalt muß sie sich mit den großen Geistesführern der Vergangen- heit verbünden. Und ihre Lebensanschauungen zu er- neuern, ihre Gesinnung lebendig zu erhalten, ihr Werk fortzuführen ist der nächste und wesentlichste Beruf der Philosophie als Geistesführung, ist die Gegenwart dieser Philosophie.

Riehl, Philosophie der Gegenwart. 17

258 Achter Vortrag.

Und SO ist die Philosophie keine Sache bloß der Schule, sie ist eine Angelegenheit der Menschheit selbst und darum hat sie sich nicht überlebt und wird sich nie überleben. Umsonst, daß der Mensch sich gleich- giltig verhalten wollte zu den Problemen der Philo- sophie; sind es doch die wahren und wesentlichen Probleme seines Wissens und seines Lebens. Stetig muß die Menschheit fortschreiten in der Selbsterkenntnis der Vernunft und der Erkenntnis der Welt, im Streben nach einer auf dieser doppelten Erkenntnis beruhenden Weisheit, fortschreiten in philosophischer Wissenschaft und philosophischer Gesinnung. Neben der Forschung, welche die Gesetze der Erscheinungen ermittelt, neben der Kunst, welche den Wert der Erscheinungen erhöht und zu anschauender Empfindung bringt, ist die Philo- sophie eine der geistigen Lebensmächte der Menschheit, eine der kulturschaffenden Mächte.

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B Riehl, Alois

793 Zur Einführung in die

R55 Philosophie der Gegenwart