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Full text of "1848; Ein weltgeschichtliches Drama"

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1848. 


Zweiter Band. 





1848. 


Sin weltgeichichtliches Drama. 


Yon 
Sohannes Sderr. 


Savoir accepter des verites sévères dites 
sans m&nagement, sera toujours la marque 
d’un grand peuple. 

Quinet, 


Zweite werbeiferte und vermehrte Auflage. 


Zweiter Band. 


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DR 
au 
Verlag von Otto Wigand. 


1875. 


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33 

546 
1875 
Bd. 2 





11. 


Die Verwickelung. 


Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 


Quivi sospiri, pianti, ed alti guai 
Risonavan —— 
Diverse lingue, orribili favelle, 
Parole di dolore, accenti d'ira, 
Voei alte e fioche, e suon di man con elle 
Facevano un tumulto, il qual s'aggira 
Sempre in quell’ aria senza tempo tinta, 
Come la rena, quando il turbo spira. 

Dante, Inf. III, 22, 


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Das „wilde“ Parlament. 
11; 


Weltſchlange Zeit beißt ſich befanntlic) in den eigenen Schwanz. 
Daneben tft fie in einem beftändigen Häntungsprocefie begriffen, aber 
Stoff und Färbung der Schlangenhaut bleiben doch ewig diejelben. 
Ob ein Tacitus zürnend oder ein Nabelais lachend fie fchreibe, die 
„Comoedia humana* iſt immer die nämliche und fie verläuft mit 
der langweiligeerhabenen Monotonte, womit unſer Sonnenſyſtem im 
unendlichen Raume ſich umwälzt. 

Als am 20. März von 1848 die Bürger von Köln die ſchwarz— 
vothgoldene Fahne auf ven Dom ihrer Stadt ftecten, da mochte der 
alte Gejelle ſich erinnern, daß er vor Zeiten ja aud) die franzöftiche 
Trifolore getragen. So ein Dom hatte ja ſattſame Gelegenheit, die 
Ueberzeugung ſich anzueignen, daß es mit dem ſtrohfeurigen Glauben 
an jolche Fegeriiche Dreifarbigfeiten nicht weit her ſei, daß es bie 
orthodore Dreifaltigkeit Krone, Kapuze und Kanone doc immer wieder 
über jene Davontragen und die ſchwarze Fahne der Unvernunft allgeit 
die größte Bekennermaſſe um ſich verfammeln werde. 

Ja, die Schlange häutet ſich, aber Stoff und Färbung der 
Schlangenhaut bleiben diejelben. Des Unfinns ſüße Gewohnheit 
war jhon vor Jahrtaufenden gerade jo mächtig, wie fie nach Jahr— 

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4 Die Verwidelung, I. 


taufenden es noch fein wird. Scheinbar grellite Gegenſätze und 
Widerſprüche find in Wahrheit nur leicht modulirte Variationen des 
Thema's Menjhenthorheit, welches unftillbar ift wie bairiſcher Bier— 
durſt und dehnbar wie eine Schafſehne oder wie die Ueberzeugungs- 
treue eines Viberalen von der ordinären Sorte. Wo iſt denn Der 
Unterjchied zwijchen den Sansfulotten und Ohnehemdinnen von 1793, 
welche in Notre-Dame um den Altar der „Deesse de la raison“ 
herumkankanirten, und ihren Enfeln und Enfelinnen, welde in der 
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor der ſchwarzen Göttin won 
Mariä-Einſiedeln ſcharenweiſe Inierutfchten? Die Formen ändern 
fih, die Dummheit bleibt; Dekorationen und Koſtüme wechſeln, das 
Spiel ift immer das gleihe: — Sifyphusarbeit, Danaidengeſchäft, 
Schattenjpiel an der Wand. Wir ftoßen und quälen ung eine Weile 
herum auf diefer ſchönen Erde, und nachdem wir das bißchen Yeben 
einander möglichſt ſauer gemacht haben, wijcht uns der Tod alle mit- 
jammen weg, wie man Müll wegfehrt. Milliarden haben es jo vor 
ung getrieben, Milliarden werden es nad) ung jo treiben, bis einmal 
etwa ein unverjehens unjern Ball antaumelnder Komet das kleine Erden— 
nichts im großen Univerfalnichts verſchwinden madıt. . . 

Borverhand jedoch laſſt uns den Vorſchritt unjeres weltgejchicht- 
lihen Drama’s mitanjehen. 

Die gute Stadt Köln am Rhein ift von jeher ein bevorzugter 
Karitätenfaften gewejen. Sind darin doch nicht nur drei heilige 
Könige, ſondern aud) elftaujend heilige Jungfern und zwar auf einem 
Haufen zu jehen gemejen. ine richtige Rarität konnte man in 
Köln aud) am 22. März 1848 erbliden, falls man fid mit den 
beiden neuejtgebadenen Befehligern der neugebadenen Bürgerwehr 
der Stadt, mit den Herren Wittgenftein und Raveaux in das „Kom— 
mandanturgebäude” begab, allwo der Herr Graf, Divijionsgeneral 
und Feftungstommandant von Kanit refidirte. Die beiven famen, 
den General zu erfuchen, daß er befühle, die Bürgerwehr mit Ge- 
wehren aus dem Stantszeughaufe zu verfehen — ein ungeheuerliches 
Geſuch in den Ohren eines Generals des abjoluten Soldatenſtaates 


Das „wilde“ Parlament. 5 


Preußen. Die Gejuchiteller fanden das Haus öde und verlafjen und 
hatten Mühe, jemand aufzufinden, welcher fie dem Feſtungskomman— 
danten meldete. Endlich trat der Herr Graf in voller Uniform in 
das Zimmer, wo die zwei Bürgerwehroffiziere jeiner harrten. 
Gegenfeitige jtumme Begrüßung. Der Herr Graf und General 
icheint nur für etwas Gefiht und Stun zu haben: für das ſchwarz— 
rothgoldene Band, welches die Befucher im Knopflodhe tragen. Was, 
die Farben der Revolution, das Ordensband der Nebellion jo zu 
jagen, jogar hier, im Quartiere des Kommandanten einer königlich 
preußiſchen Stadt und Feſtung offen zur Schau getragen ? Spiegel— 
fechterei ver Hölle! Die hochbeleivigten, geradezu attentäterijch bes 
helligten Augen des Generals wollen vor VBerwunderung und Ent- 
jegen fchter aus ihren Höhlen jpringen. Erlehnt ſich mit dem Rüden 
an eine Spiegelfonjole und ſtützt ſich dabei mit den flachen Händen 
auf diejelbe. Die beiven beginnen ihren Sermon. „ALS neugewählte 
Befehliger der neuen Bürgerwehr fommen wir, Sie, Herr General, 
aufzufordern, uns etwa 4000 Gewehre aus dem Zeughauſe verab- 
folgen zu laſſen“. Der arme Herr von Kanit, ſtupifizirt, petrefizirt, 
ihnappt nad) Luft. „So? So? Ja wohl! So? Sn?" ſtößt er 
endlich mühjam heraus. Der Blid, womit ev unverwandt auf die 
jchreeflichen dreifarbigen Bänder ftarrt, wird tier, fahle Bläſſe über- 
zieht jein Geficht, frampfhaft klammern fid) jeine Hände an die Kon— 
jole; dann bricht er plötzlich zuſammen und jtürzt lautlos der ganzen 
Länge nad) rüdlings zu Boden, ftürzt zu Boden wie eine an die 
Wand gelehnte Mumie, welche unverjehens ein heftiger Windſtoß ges 
troffen hat... . 

Die Mumie war die deutjche Fürftenmacht, welche ver März— 
jturm von 1848 umgeworfen hatte. Starrframpfgeläihmt, wehr- 
(08 lag fie am Boden. Der Liberalismus hob fie auf, beſtrich ihr 
die Schläfen mit Eau de mille servilites, brachte ſie wieder in eine 
anftändige Stellung, leimte ihr die Majchine der fonftitutionellen 
Doktrin an die Hinterfeite und fette Diefe Maſchine mit Vertrauens— 
Dampf in Bewegung. Etliche Monate darauf war die Mumie 


6 Die Berwidelung, I. 


glücklich wieder zu ſolcher Yebenskraft gelangt, daß fie hoc) herab zum 
dienftbeflifienen Liberalen Muley Haffan jagen konnte: „Erinnern 
Sie ſich gefälligft, daß es in Deutſchland noch Fürſten gibt!“ 

Ein wifiender Mann batte im Wonnemond des liberalen 
Schwindels gut reden: „Eine rechte Revolution muß entweder bie 
moraliiche Ordnung der Dinge ändern, d. h. die Neligion, over aber 
die materielle, d. h. die Eigenthumsverhältniffe‘. Mit andern 
Worten: eine rechte Revolution muß eine ſolche fein, wie das Chriften- 
thum, oder eine folche, wie die Völkerwanderung jie gemacht hat. 
Wie hätte man aber der deutſchen Gemüthlichkeit auch mer die blafje 
Idee einer ſolchen Radikalkur zumuthen dürfen, gejchmeige die roth- 
badige That? Die Nerven der modernen Gejellihaft halten über- 
haupt jo etwas gar nicht mehr aus. 

Statt einer ganzen wurde demnach eine halbe evolution bes 
liebt: — die dümmſte der Dummheiten! Denn eine halbe Revolution 
rüttelt an allem, ohne etwas umzuwerfen, bringt alles ins ſchwanken 
und bejeitigt nichts. Sie reizt und erbittert durch ihre Zerſtörungs— 
gelüfte die Nutznießer des Beſtehenden; aber jte kann nichts ſchaffen, 
weil fie nichts zu zeritören wagt. Eine halbe Revolution ijt nur 
eine ganze Infolenz und Impotenz. Der deutjche Liberalismus hat 
im Frühling von 1848 den armen Schiller jo häufig, bis zur Miß— 
handlung häufig eitirt; aber gerade an das bejte Wort, welches der 
große Idealiker wie vorahnend geſprochen, dachte der Liberalismus 
nicht, an den prächtigen Wahrſpruch: — 

„Leicht bei einander wohnen die Gedanten, 

Doch hart im Raume ftoßen fih die Saden. 

Wo eines platznimmt, muß das andre weichen; 
Wer nicht vertrieben fein will, muß vertreiben ; 
Da herrſcht der Streit und nur die Stärke ſiegt.“ 


Es find vollwichtige Grimde zu der Annahme vorhanden, daß 
die Piberalen, von ihrem Scheinfiege beraufcht, einfältig genug ge— 
weſen, ihre Scheinftärfe für eine wirkliche, ihre Märzminiſterſchaft 
für eine dauernde zu halten. Viele von diefen Eifen- und fonjtigen 


Das „wilde“ Parlament. 7 


Biedermännern, Schwachföpfe von Haus aus, waren aud) ſchon in 
die Kindſchaft des Alters eingetreten und nicht mehr zurechnungsfähig, 
alſo unzweifelhaft zu dumm, um die Unmöglichkeit zu begreifen, dat 
die alten Dynaſtieen „aufrichtig konſtitutionell“ werden fünnten. 
Anderen verwehrte ihre angejtanımte Knechtichaffenheit, es für mög- 
lich zu halten, daß ein „deutiher Mann“ ſich als etwas anderes denn 
als Unterthan fühlen und venfen fönnte. Dritte — und dieje bil- 
deten die überwiegende Mehrzahl der Liberalen Leithämmel — ſchloſſen 
mit Bewufitjein, mit fühlen Borbedacht ihren Bund mit der heiligen 
Dreifaltigkeit Krone, Napıze und Kanone. Sie jagten zu Der wer- 
denden Demofratte: Ab, dur willit nicht gleich uns jothun, als htelteit 
du die Chimäre Montesquiew’s für eine Wirklichkeit? Du erfühnft 
dich, ung hindern zu wollen, daß wir, die Herren von der Börſe, 








vom Korpus Juris und von Katheder, uns nad) der Weiſe der eng- 
lichen zur deutſchen Dligarchte machen? Bedenke wohl, was du 
thuſt! Man muß nur das mögliche anftreben. Die inte, auf der 
wir jtehen, zu erreichen, iſt möglich. Dieje Yinte einhaltend find 
nämlid wir möglich, d. h. hier Fünnen wir Kommerzien-, Juſtiz-, 
Konſiſtorial-, Hof-, Geheime- und andere Näthe werden, ordentliche 
Brofefjoren, Staatsjefretire, Gefandte, Minifter. Was alio über 
unjere Yinie hinausliegt, nur einen Schritt, nur eine Spanne weit 
binausliegt, das iſt Utopie, Anarchie, Felonie, Blafphemie. Daber 
hübſch Die Linie des liberalen Möglichfeins eingehalten! Wo nicht, 
jo rufen wir: Vivat Abſolutismus! . . . 

In dent Bolfe ſahen dieje Beſt- und Biedermänner nur eine 
wiſſen- und willenloje Schafheerde, welche höchſtens drehend, nicht 
aber verjtändig und menfchlich gemacht werden fünnte. War nun 
das Volf wirflih eine ſolche Heerde, jo würde jie ja wohl ihren 
(tberalen Leithämmeln auch in die Republik hinein nachgeiprungen 
jein. Aber die Leithämmel hüteten ſich ſorgſam, nach jener Nichtung 
hin zu wandeln. Ste wußten ja, daß es dort feine Titel und Orden, 
feine hochbeſoldeten Aemter, Feine liebenswürdigen Sinekuren, feine 
fetten Penſionen für junge Greiſe, keinen zweierleituchenen Müſſig— 


3 Die Verwidelung, I. 


gang, feine Verjorgung von Vettern und Baſen auf Staatsfoften 
gäbe, und hätten fie das einmal vergefjen wollen, jo würden fie von 
ihren holden Yeitihäfinnen alsbald jehr daran erinnert worden jein. 
Es kommt hierbei in Betracht, daß die Hauptfite des liberalen 
Hammelthums die Kefidenzitädte der deutſchen Mittel- und Klein— 
ſtaaten geweſen find, zu jeder Zeit Brutnefter aller Gemeinheit und 
Niedertracht. Der Weichjelzopf höfiſcher Lakaienſchaft werzweigte 
ſich pejtilenziich über dDiefe Orte und es gab nur noch ein gemeineres 
als dieje Reſidenzler, nämlich die Nefivenzlerinnen. Solchem Ge- 
ztefer, Männlein und Weiblein, von Menſchenwürde und Bürger- 
tugend fprechen, hieß Vierfüßlern die Schönheit einer rafael'ſchen 
Madonna, eines göthe'ſchen Yiedes oder einer beethoven'ſchen Sym— 
phonte begreiflic) machen wollen. 

Daß dieje Peſt der Bevientenhaftigfeit auch die liberalen Mas 
tadore, wenigſtens in ihrer überwiegenden Mehrzahl, nicht unberührt 
lafjen fonnte, liegt am Tage. Daher war für jchärfere Augen hinter 
der oppofitionellen Grimafje der Herren die angeborene, anerzogene, 
mit der Luft eingeathmete Fürſtenfurcht und Unterthänigkeit leicht 
erkennbar. Dazu kam bei vielen, ſehr vielen derſelben noch eine 
dicke Unwiſſenheit, namentlich eine fajt unglaubliche Unfenntnif der 
Geſchichte. Eine Folge hiervon ift unter anderen die gemejen, daß 
die Lügen-Jeremiaden über die große franzöfiiche Revolution, welche 
die Rückwärtſer warnend herichluchzten, nicht allein von Schafen, 
jondern auch won Peithämmeln geglaubt wurden. Wir willen 5. B. 
ganz bejtimmt, daß verſchiedene der won ihren Parteigenofjen und 
mehr noch von ihnen jelbit als „Stantsmänner” hochverehrten 
liberalen Größen überzeugungsvoll die kläglichdumme Lüge nach— 
plapperten, der franzöftiche Konvent jei kommuniſtiſch geſtimmt ge— 
wejen und habe das Eigenthum abſchaffen wollen: — derſelbe Kon— 
vent, welcher im Auguft von 1793 jenes berühmte Geſetzbuch („code 
eivil“) annahm, das ihm nachmals Bonaparte ſchamlos gejtohlen 
hat, um es fir fein Werk auszugeben, jenes Gejetsbuch, welches die 
Eigenthumsbeftimmungen des römischen Rechts jo ftreng und ftrift 


Das „wilde“ Parlament. 9 


aboptirte, — derjelbe Konvent, welcher ven Hobespierre mit Beifall über— 
ihüttete, als diejer am 24. April von 1793 den Kommunismus als 
ein Phantom brandmarkte, welches Spitsbuben erfunden hätten, um 
damit Dummföpfe zu ängſtigen *). 

Apoftaten, Nenegaten und Verräther bat man die liberalen 
Führer, wenigitens die Mehrheit verjelben, mit Unrecht gejcholten. 
Sie hatten früher nur gethan, was fie auch jpäter thun wollten, näm— 
ih unter Anwendung aller juriſtiſch-möglichen Vorſichtsmaßregeln 
gefahrlos auf dem jchlaffen Seile des Konftitutionalisunus gaufeln, 
und falls fie in ihren Deflamationsübungen hier und da über dieſes 
Seil linfshin weggeſprungen waren, jo war es ja nit ihre Schuld, 
daß man diefe Deflamationsfprünge für Ernft gehalten hatte. Wenn 
fie aber ihren als Seilgaufler und Deflamirer gewonnenen Ruf und 
Einfluß zu verwerthen trachteten und demnad) damit dort, wo Anno 
1848 Nachfrage nad) Diefer Waare war, d. h. an den Höfen hauſiren 
gingen, jo fönnte ihnen das nur verübeln, wer thöricht genug wäre, 
zu verlangen, daß die Diftel Trauben tragen follte. 

Dagegen trifft die liberalen Bejtmänner deutjcher Nation, wenn 
auch ebenfalls wieder nur der großen Mehrzahl nad, Der gerechte 
Borwurf, daß fie, nachdem fie einmal als Schutzſchilde wor die Throne 
ſich gejtellt und das Umfallen dieſer Möbeln verhindert batteı, 
dennoch ſich nicht ſchämten und ſcheuten, aus jämmerlicher Bopularitäts- 
haſcherei noch für eine geraume Weile die Chimäre von der Volks— 
jouveränttät dem armen Michel als Narrenfeil dur die Nafe zu 
ziehen, um ihn daran in dem Nebelheim ihrer „Stantsmänntichfett” 
herumzuführen, beziehungsweije den guten Vertrauensduſeler unver- 


*) „Vous devez savoir, que cette loi agraire, dont vous avez tant 
parle, n’est qu’un fantöme créé par les fripons pour &epouvanter les imbe- 
eiles; il ne fallait pas une revolution pour apprendre à l’univers que l’ex- 
treme disproportion des fortunes est la source de bien des maux et de bien 
des crimes. Mais nous n’en sommes pas moins convaincus que l’egalite 
des biens est une chimere. Il s’agit bien plus de rendre la pauvreté hono- 
rable que de proscrire l’opulence.* Rede Robespierre's vom 24. April 1793. 


10 Die Berwidelung, I. 


merkt in den Zwangitall des Polizeiftantes zurüdzugängeln. Oper 
follte die Stumpfheit der „Edelſten und Beſten“ ſoweit gegangen 
fein, daß fie die Unſittlichkeit ihrer Volksſouveränitätslüge gar nicht 
fühlten? Vielleicht. Im diefem Falle wären aber aud) wieder weniger 
die Piberalen als der Liberalismus anzuflagen. Denn diefe Doftrin 
der richtigen Mittelmäßigfeit hat etwas nivellivendes, ja geradezu 
etwas verdummendes, vwerfimpelndes, und daher ijt es nur logiſch, 
daß der richtige Liberale Bievermann alles und alle, was und melde 
im anschauen, fühlen und venfen über das allerheiligite Mittelmaß, 
über das ordinäre hinausreicht und hinwegragen, mit giftigen Arg- 
wohn, mit blindem Haſſe betrachtet, verläftert und verfolgt. Weil 
dieſe „Staatsmänner“ nie und nimmer die große Göttin Begeifterung 
geliebt, jondern ſtets nur mit der kleinen Aeffin derſelben, mit der 
Bhrafe gebuhlt hatten, wuſſten fie nicht und wollten nicht wiſſen, daß 
nicht der Elngfeige Rechner Egoismus, jendern der jorgloje Held 
Enthufiasmus immer und überall auf Erden die großen Dinge, Die 
wahrhaft großen, Welt- und Menſchengeſchicke beſtimmenden Thaten 
vollbracht hat und vollbringt. Wäre der arme Rabbi Jeſus ein 
„Nealpolitifer” von dem allermodernten Kleiderordnungsſchnitte 
geweſen, jo hätte er es wohl bis zum Leibleviten beim Kaiphas over 
zum Hofrath beim Herodes gebracht. ALS der radikale Idealpolitiker, 
der er war, wurde er von den „beiten und evelften“ Männern Judäa's, 
ſonſt auch Phariſäer und Sadduzäer genannt, als Utopiſt, Anarchiſt, 
Blaſphemiſt und Atheiſt, als Hochverräther und Rebell verfolgt, ver— 
klagt, an den Galgen gebracht; aber von ſeinem Kreuze herab hat er 
eine Welt aus ihren Fugen gehoben... .. 

Auf der andern Seite unterliegt das kleine Fähnlein der deut- 
ichen Nepublifaner von 1848 dem ernften Tadel, daß aud) | te wie 
gedanfenlofe Knaben durch die Liberale Tafchenfpielerei mit dem Worte 
Volksſouveränität fih täuſchen und zu närriſchen Hoffnungen bethören 
ließen. Und doch hätten fie nur Die Augen aufmachen dürfen, um 
die ernüchternde Wahrnehmung zu machen, daß dieſem blauen Wort- 
dunſte die ftehengebliebenen Throne als greifbare Thatfachen gegen- 


Das „wilde“ Parlament. 11 


überjtanden. Wir hatten ja in dem Märzſturme feines unjerer an— 
geſtammten Kleinodien verloren. Ja — 

„Wir hatten auch nicht einen 

Zaunkönig eingebüßt“ . .. 
nicht einen einzigen Meiſenherzog, keinen Spatzenfürſten. Wir 
konnten die Häupter unſerer geliebten Landesväter dutzendweiſe zählen 
und, ſiehe, es fehlte keines der theuren, mit Ausnahme des Selbſt— 
herrſchers aller Reußen, Lobenſteiner und Ebersdorfer, welchen unter— 
haltlichſten ſeiner Herren Kollegen leider eine „Sturmpetition“ aus 
allen 6 Quadratmeilen ſeiner ſämmtlichen Staaten hinauskatzenmuſi— 
zirt hatte*). Wenn der revolutionäre Sturm die Throne nicht weg— 
gefegt hatte, wie fonnte man wähnen, der flaue Wind des Parlamen- 
tarismus würde diefelben zur Beveutungslofigfeit herabfächeln ? Nur 
Deutihlands „edelſte und beſte“ Männer konnten jo vernagelt fein, 
zu wähnen, die deutſchen Fürften würden mit ſich handiren laſſen, 
als wären jie nur noch ausgejtopfte, ftatt leibhaftige und lebende 
zu fein. 

Als der deutsche Nepublifanismus merken mußte, wie ver 
Liberalismus eigentlich die Volksſouveränität verſtand und verjtanden 
wifjen wollte, hat er freilich — wir werden es mit anjehen — dieſer 
liberalen Realpolitif gegenüber Verſuche einer wirklichen und wahr- 
haftigen, einer radikalen Idealpolitik gemacht. Aber — 

„Bas man von der Minute ausgeichlagen, 
Bringt feine Ewigkeit zurück“ ... 


) „Der Fürſt von Doppelhafeniprung 

Sah wütbend vom Altane, 

Dat dicht vor feiner Naſe hung 

Die Ihwarzrotbgoldne Fahne. 

Doch wie er nun mit eigner Hand 

Am Kloben zerrt und reißt, 

Da läuft jein Volk ins Nachbarland, 

Bon wo e8 Steine wutbentbrannt 

Ihm in die Fenſter ſchmeißt“ u.ſ.w. Demiurgos, I, 85. 


12 Die Verwidelung, I. 


und was zu Anfang des März hätte gelingen können, mußte, wie bie 
Sachen lagen, zu Ende Aprils fehlichlagen. Um jo gewiljer, als 
die republifanifche Ivealpolitif feinen Träger fand, der auch nur 
annähernd das Zeug gehabt hätte, fie mit genialer Kraft und tod- 
verachtender Entjchlofjenheit über die dDumpfe Atmoſphäre der All- 
tüglichfeit in jene Slanımenregton emporzubheben, von wo herab das 
eleftriiche und elektriſirende Fluidum ver Leidenſchaft die Menjchen 
überjchauert und fie unwiderſtehlich mitfortreißt. 

Das eben ift der große Jammer von 1848 geweſen, daß nir- 
gends ein Held und Heiland aufftand; weder in Deutſchland, noch 
in Frankreich, nod) in Italien, nirgends! Die liberale Doktrin hatte 
ihre demoraliſirende Wirkung gethan: ver feige, blafirte, impotente 
Ungeift ver Mittelmäßigfeit, Philifterei und Biedermaierei hielt alles 
in feinem Bann und Zwang. Nirgends ein Nummer-Eins-Mann, 
nirgends ein. ſouveräner Genius, nirgends ein überwältigender 
Koloß. Ueberall nur Mittelgut und ordinärer Zuſchnitt. Die 
wunderbar große Gelegenheit fand erſchreckend kleine Menſchen vor. 


2. 

Der deutiche Liberalismus hatte am 5. März von 1848, wo 
er, durch feine Spiten vertreten, in Heibelberg die Zeitlage verhan— 
delte und zuwörberft ein „Vorparlament“ zu berufen beſchloß (vergl. 
Br. I, ©. 253), ſehr merklich mit der nicht hoffähigen Frau Revo— 
lution fofettirt. Aber jo ein kokettiren paßte eben damals in feinen 
Kram und verhalf aud) nebenber zum farrieremachen. Das letstere 
den liberalen Matadoren verübeln zu wollen, wäre ganz einfältig. 
Warum ſollten fie, nachdem fie ſich — etliche allerdings unanſtändig 
plötzlich — entihhloffen hatten, das Lied der Monarchie zu fingen, 
nicht aud) das Brot der Monarchie effen? Die heivelberger Ber- 
jammlung hatte einen Ausſchuß von Sieben beftellt, um ihre Be- 


Das „wilde“ Barlament. 13 


ihlüffe zur Ausführung zu bringen, und von diefen Steben fanden 
drei jofort Gnade vor allerhöchſten Augen: Herr von Gagern wurde 
nod) am 5. März jelbjt darmheſſiſcher, Herr Römer am 3. wirten- 
bergiiher Minijter, Herr Welder am 14. badiſcher Bundestagsge— 
jandter. Streng genommen, wären jolche hiermit eingeleitete Per— 
jonenwechjel in den deutſchen Miniſterien freilich nicht vonnöthen 
gewejen. Denn jelbjt die urreaftionärften vormärzlichen Miniſter 
betheuerten und bewiejen eine wahrhaft rührende Bereitwilligfett, dem 
„Zeitgeift” won 1843 zu huldigen und zu gehorchen, jo lange der- 
jelbe in der Move wäre, und gerade jo haben es, wie jedermann 
weiß, die Herren Märzminijter ihrerjeits auch gemacht. Man wird 
bei Betrachtung diefer Perſonalveränderungen recht deutlich an die 
alte urtriviale Seſſelgeſchichte erumert: „Steh' du auf, damit ic) 
ſitzen kann“ — oder auch daran, daß Göthe in feinem „Ewigen 
Juden“ von der Neformation gejagt hat: — 


„Sie nahm den Pfaffen Haus und Hof, 
Um wieder Pfaffen "ein zu pflanzen, 
Die nur, in allem Grund der Saden, 
Mehr ſchwätzen und Grimalfen maden.“ 


Der Siebener-Ausſchuß lieg die Einladungen zu einen „Vor— 
parlament“ , welches zu Frankfurt a. ME. zufanmentreten follte, auf 
ven 31. März ergehen. Sie jollten zunächſt an ſolche gerichtet wer— 
den, welche Mitglieder einer gejetgebenden Verſammlung waren oder 
gewejen waren. Da aber gerade im den beiden deutſchen Groß— 
ſtaaten bislang geſetzgebende Berfammlungen nicht bejtanden hatten 
— ven Vereinigten Yandtag in Preußen wird wohl niemand eine Jolche 
nennen wollen — jo ergab ſich jchon hieraus, daß die Zuſammen— 
jegung des jogenannten Borparlaments eine ganz willfürliche jein 
mußte und war. Haben dod Herr von Gagern und jeine Hand- 
langer ſchließlich ganze Schods beliebiger Bhilifter aus Darmheſſen 
und Naſſau verjchrieben, um mittels jolher Stimmen die konſtitu— 
tionellen Beichlüffe in der Berfammlung durchzudrücken. Daß von 


14 Die Berwidelung, I. 


einem nationalen Mandat diefer Berfammlung gar feine Rede fein 
fonnte, beweifen ſchon die Ziffern ihrer Zuſammenſetzung: — es 
waren da 2 Deftreicher, aber 141 Preußen (der Mehrzahl nad) 
Kheinländer und „Stadtverordnete“); 9 Hannoveraner, aber 
84 Darmheſſen; aus dem Königreihe Sachſen und aus den ſäch— 
fiihen Herzogthümern mitfammen 47, aber aus Baden 72, aus den 
vier „freien“ Städten 26, aus Würtemberg 52, aus Schlefwig- 
Holftein 7, aus Kurheſſen 26, aus Baiern 44, u. ſ. w. Summa: 574. 
Der Zufammentritt des VBorparlaments war ganz unzweifelhaft ein 
revolutionärer Alt. Die Berfammlung hatte gar feine Vollmacht 
außer der, welche fie jelber fi gab. Man konnte als Abgeoroneter 
von Ständen, von Vereinen, von Bolfsverfammlungen, man konnte 
auch als jein eigener Abgeordneter am Borparlamente jich betheiligen. 
Es war nichts als eine Volksverſammlung im Cylinder ftatt in der 
Mütze und im Schlapphut. Willkürlich und zufällig zufammen- 
gejetst, ſchlecht geleitet und tumultuariſch verlaufen, tjt diefe Verſamm— 
lung nicht unpaſſend das „wilde“ Parlament genannt worden. Es 
war der würdige Vorſchwatz zum nachfolgenden jammerſäligen Haupt— 
klatſch. 

Zwei Gegenſätze von übler Vorbedeutung klafften dabei ſogleich 
auf: der Gegenſatz zwiſchen Liberalismus und Radikalismus und 
der zwiſchen Süd- und Norddeutſchen. Jener hätte ſich won geſchickten 
Händen — wenn welche da geweſen wären — noch leichter über— 
brücken und übertünchen laſſen als dieſer. Es ſtellte ſich als eine 
leidige Thatſache heraus, daß die Norddeutſchen in politiſcher An— 
ſchauung und Bildung unverhältnißmäßig weit hinter den Süddeut— 
ſchen zurückgeblieben waren. Dieſe ſchleppten freilich noch auf Schritt 
und Tritt die Eierſchalen des zerbrochenen Polizeiſtaates mit ſich 
herum, aber jene das Halseiſen des Feudalismus. Das Volks- und 
Freiheitsbewuſſtſein in Süddeutſchland war erft ein Kind, aber in 
Norddeutſchland war es noch ein Embryo. 

Dentende Menfchen hätten ſchon aus dieſem Umftand einen 
übeln Ausgang der ganzen deutſchen Bewegung prophezeien müſſen. 


Das „wilde“ Parlament. 15 


Allein eritens gab es dazumal, wie allzeit, jehr wenig denkende Menſchen 
und zweitens würde man ihre Brophezeiungen als Narretheien verlacht 
haben. Die liberale Staats- und Biedermänntichfeit trug eine Zu— 
verficht zur Schau, welche ven Philifter — deſſen Zahl Legion hier 
— entzückte und ihn im jedem einen Tollhäufler oder gar einen 
Frevler an dem Fretintichen Dogma „evolution auf gejetlichen 
Boden“ erbliden ließ, welcher die glorioſen „Märzerrungenſchaften“ 
das nannte, was fie waren, Spielzeug für politiiche Kinder, welches 
man denjelben wieder wegnehmen würde, jobald fie in ihrem Wer- 
trauensrauſch eingedufelt wären. Die Dummheit war, ift und wird 
jtetS das mächtigfte auf Erden ſein. Wenn fie einmal jo recht in 
Zug und Fluß, iſt es ganz eitel, ja lächerlich, gegen fie anzu— 
fümpfen. 

Die gute Stadt Frankfurt, Die es in ihrer Art recht ehrlich 
mit der nationalen Sache meinte — dieſe alte Kaiſerſtadt mit ihrer 
intelligenten, thätigen und gaftfreien Bevölkerung, in deren Mitte die 
erite Landsgemeinde deutſcher Nation tagen ſollte, ſchwamm in Immer— 
grün und Feſtjubel. Ueberall Freiheirsbäume, Chrenpforten, ſchwarz— 
tothgoldene Fahnen und Flaggen, überall Baterlandsworte, hochſinnige 
Lofungen, hoffnungsvolle Begrüßungen, Freudenſchüſſe, freiheitlicher 
Sang und patriotiſcher Kaang. Durch die Strafen der Stadt wan— 
delnd, befeuert durch die freudeſtralenden Blicke ſchöner Frauen- und 
Mädchenaugen, mittrunken in der allgemeinen Trunkenheit, konnte 
man wenigſtens für Augenblicke wähnen, alles müßte und würde gut 
gehen. Es war der letzte Märztraum. 


2 
27 


Diefer Traum mußte ſchon in den Vorverfammlungen zum 
Vorparlamente zerrinnen; wenigftens bei allen, welche überhaupt den 
Willen und die Kraft hatten, fih die Träume aus den Augen und 


16 Die Berwidelung, I. 


ven Rauſch aus dem Schädel zu wiſchen. Denn die jeit einem Monat 
bis zum Efel hergeleierte Vitanet won der deutihen Cinigfeit und 
Brüderlichkeit verſchwand wie Rauch und unter jchneidenden 
Diſſonanzen hob der Babelthurmbau des deutſchen Verfaſſungs— 
werkes an. 

Die Frage, die auf allen Zungen zitterte, ſprang ſofort hervor: 
— Republik oder Monarchie? Heutzutage muß es uns wunderlich, 
ja urkomiſch erſcheinen, daß ſie überhaupt noch aufgeworfen werden 
konnte; denn fie war ja thatſächlich bereits entſchieden. Der heidel— 
berger Siebener-Ausſchuß hatte ſie zum voraus zur Entſcheidung ge— 
bracht, indem er als Wegleitung für das Vorparlament ein Programm 
mit nad) Frankfurt nahm, worin die Grundlinien der ſpäteren Reichs— 
verfaffung mehr oder weniger deutlid) worgezeichnet waren. Nur 
vom Kaiſerthum oder gar vom preußiichen Kaiſerthum war darin nod) 
feine Nede. Die kinftige Verfaſſung Deutſchlands jollte dieſem 
Programm zufolge den Loderen deutſchen Staatenbund in einen feit- 
geglieverten Bundesſtaat ummandeln, an deſſen Spige ein „Bundes— 
oberhaupt“ mit verantwortlichen Miniftern geftellt wirbe. Die 
Nation follte ihre fonftitutionellen Nechte ausüben mittels eines 
Barlaments in zwei Kammern (Senat der Einzelſtaaten und 
Volkshaus; Letzteres duch Urwahlen zu beftellen, jo daß je auf 
70,000 Seelen 1 Abgeoroneter käme). Die einzelnen Staaten 
ſollten duch die Verzichtleiftung auf die meiften ihrer Somveränitäts- 
rechte die Bundesmacht und Neichsgewalt erhöhen und Fräftigen, jo 
zwar, daß Deutſchland fortan nur ein Heerweien, mut eine Ber- 
tretung gegenüber dem Auslande, ein nationales Shften des Handels, 
des Berfehrs- und Zollweiens, der Wafferftragen, Eiſenbahnen und 
Boten, ferner die Einheit von Maß, Gewicht und Münze bejüße. 
Ebenſo müßte die gefammte Civil- und Strafgejesgebung, ſammt 
dem Gerichtsverfahren vereinheitlicht und ein höchſter Nationalgerichts- 
hof („ Bundesgericht”) geichaffen werden. „Die Treiheitsrechte” der 
Nation müßten mit feften Bürgſchaften verjehen werden — (aus 
welcher Nedensart dann die unendliche Schraube der Grundrechte— 


Das „wilde“ Parlament. 17 


debatte hervorwuchs). Schließlich zeichnete Das Programm dem Vor— 
parlamente dejjen Beftimmung und Aufgabe vor. Dieje jollte jein, 
auf Grundlage der angegebenen Bejtimmungen die Einberufung einer 
fonjtituirenden Nationalverfammlung zu bejchliegen. Die Einbe- 
rufung jelbjt müßte aber durch die bisherige Bundesbehörde, d. h. durch 
den Bundestag geichehen, welcher jedoch durch „VBertranensmänner “ 
zu verſtärken wäre. Außerdem jollte das Vorparlament einen Aus- 
ſchuß bejtellen, welcher, zu Frankfurt in Bermanenz tagend, die Voll- 
ztehung der Beſchlüſſe der Verſammlung zu überwachen hätteumd jo zu 
jagen dem Bundestag, welcher zwar nicht jo Flug, aber doc jo 
ihmerfüllig wie ein Elephant war, als lenkender und ſtachelnder 
Kornaf auf den Naden geſetzt werden follte. (Das arme Bieft hat 
dann aud richtig ganz gelehrig die von ihm verlangten Kunſtſtücke 
gemacht.) 

Man wird zugeben müffen, daß der Grund-, Um- und Aufriß 
des babyloniſchen Thurmes, d. h. das Programm der Sieben, gar 
nicht übel ſich anſah. Leider hatte das Ding die bedenklichſte Aehn— 
lichkeit mit dem berühmten Pferde von Arioſto's verrücdtem Roland, 
welches Pferd bekanntlich alle vortrefflichen Eigenſchaften beſaß, mur 
war es tobt. Das Fundament von den liberalen Reichsverfafjungs- 
thurm jollte und mußte ja der gute Wille, der erleuchtete Freifinn, 
die patriotiſche Opferfreudigkeit der deutſchen Fürften jein. Auf 
was das in Wirklichkeit bauen hieß, darüber konnten ſich nur die 
„beiten und edelſten“ Männer deutſcher Nation verblenden und täu- 
jben. Soweit. fonnte man nur kommen, wenn man vor lauter 
Klugheit ganz dumm geworden war. Aber die Herren wollten ihren 
Willen haben. Da half feine Erinnerung, feine Thatſache. Der 
ganze Verlauf der deutſchen Geſchichte lieferte den Gegenbemeis — 
und was für einen jchmerzlichen Gegenbeweis! — von dem, was 
die Beit- und Biedermaier glaubten und glauben machen wollten ; 
aber was hatte das zu jagen? Vergeblich war es auch, diefen Matt- 
herzen unter anderen Argumenten das entgegenzuhalten, die tau- 
jende, die hunderttaufende, die Millionen von deutſchen Handwerkern 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 2 


18 Die Verwidelung, I. 


und Bauern fünden ſich drüben in Amerika doc immerhin jehr leicht 
und raſch in das erjchredliche Unglück der Fürftenlofigfeit ; ſie woll= 
ten aus naheliegenden Gründen in dieſem Unglüd den Weltunter- 
gang ſehen und logen ſich jelbjt und anderen vor, die beutjchen 
Fürften hätten gar feine andere Wahl und aud) feinen anderen Willen 
mehr, als nad) ihrem, ver Beſt- und Biedermaier, konſtitutionellem 
Dudelſack zu tanzen. Die Folge ift gewejen, daß die als jo beveit- 
willig vorausgeſetzten Tänzer, d. h. in Wahrheit Nichttänger den 
Dudelſack ergriffen und venjelben den Mufifanten unjanft um bie 
Vertrauensöufelföpfe ſchlugen. 

Das prophezeiten den Herren Liberalen die Sprecher, melde 
der Radifalismus in Frankfurt vorihidte, um Die Sache der Re— 
publik zu führen, ſchon am 29. Märzabend im „Weidenbuſch“, in 
defien großem Sal aud etlihe Bundestagsgefandte unter ber 
bunten Menge von „Volfsvertretern” ſich herumbrüdten. Diejen 
armen Schludern von Diplomaten muß, als fie Die Frage: Monarchie 
oder Republik? in jehr undiplomatiichen Tiſchreden, d. h. nom den 
Tiſchen herab erörtern hörten, ungefähr zu Muthe gewejen jein, als 
wandelten fie durd ein Märchen von Kallot-Hoffmann. In der 
Vorderreihe der Nepublifaner reveten Guftan von Struve und 
Friedrich Heer, welche beide in den Oppofitionsfämpfen ihres Hei— 
matlandes Baden ſich die Sporen verbient hatten; jener mehr als 
Publiziſt, dieſer als Klubb- und Kammerrevner. Daß Struve und 
Heder Männer von Aufrichtigteit und Ueberzeugungstreue waren, 
haben jelbit ihre giftigiten Feinde, d. h. ihre früheren badiſchen Mit— 
vepublifaner und ſpäteren monarhiichen Gegner nicht zu beftreiten 
gewagt. Beide waren aber auch, was Schillers Philipp von Spa— 
nien „ſonderbare Schwärmer“ zur nennen pflegte, obzwar fie auf 
verichiedenen Wegen zu ihrer Schwärmerei gelangt waren: Struve 
anf dem Wege logiſcher Abftraftion, Heder auf dem Stege phan- 
taftischer Intwition. Wunderlicher Weije iberphantafirte ver trodene 
Abſtraktor Struve, welcher von Pflanzenkoſt lebte wie ein indiſcher 
Jogi, dann doch wieder den Heißſporn Heder, in welchem langen 


Das „wilde“ Barlament. 19 


Menihen, phyſiſch und moraliſch angeſehen, das Ideal eines flotten 
Burihen, der Typus eines renommiſtiſchen Korpsſenior verkörpert 
war. Seine Begeifterung für die Republik gab ſich als eine 
glühende und fie war es; aber — und das vollendet das Bild des 
Komantifers — durch die rothen Phraſen feiner Rede ſchlängelte ſich 
häufig und plötzlich die blaſſe Skepſis. Struve, welcher in dem 
Glauben an ſein Ideal ganz aufging, bis zum Fanatismus aufging 
und bis in ſeine Fingerſpitzen hinaus überzeugt war, daß das Vor— 
parlament die deutſche Republik nicht allein dekretiren müßte, ſon— 
dern auch mit vollem Erfolge dekretiren könnte, iſt viel weniger 
auf der Erde und unter den Menſchen heimiſch geweſen als Hecker, 
der aus einem Bürger von Wolkenkukuksheim ohne allzu große Be— 
mühung mitunter wieder ein kalkulirender mannheimer Advokat 
wurde, welcher nicht anſtand, zu ſagen, daß es ein eitel und vergeblich 
wagen, den deutſchen Philiſter zum Republikaner machen zu wollen. 
Er hat ſich auch nur ſo zwiſchenhinein der Illuſion hingegeben, 
daß vom Vorparlament ein Wahrſpruch zu Gunſten der Republik zu 
erwarten ſei, oder der Hoffnung, daß jetzt, zu Ende des März, in 
Deutſchland für das republikaniſche Princip überhaupt noch etwas 
Belangreiches zu thun ſei. Aber er hielt es für ſeine Pflicht, unter 
dieſen und unter allen Umſtänden für ſein Ideal einzutreten, und 
dieſes Pflichtgefühl, welches mit einer ungeheuren Doſis von Eitelkeit 
recht wohl ſich vertrug, hat ihn dann zu jener verſpäteten republi— 
kaniſchen Schilderhebung getrieben, deren Erfolgloſigkeit er ſelber viel— 
leicht ſo deutlich vorausſah wie irgendeiner. 

Unendlich viel beſſer als Hecker und Struve eignete ſich zu einem 
Führer und Leiter der Demokratie auf parlamentariſchem Boden 
Kobert Blum aus Leipzig, der häſſlichſte Mann feiner Zeit und 
zweifelsohne einer der beiten — natürlich nicht im Sinne der Beit- 
und Biedermater. Diele bafiten im Blunt den geborenen Tribun, 
bafiten ihn um jo mehr, als fie wuſſten, daß er alle die liberalen 
Kniffe und Pfiffe aus dem Grunde fannte, ımd die „Beten und 
Edelſten“ haben dann auch bei jeiner Ermordung ihre Befriedigung, 


2* 


20 Die Verwidelung, I. 


ja ihr Entzüden nur ſchlecht oder gar nicht verhehlt. Blum verband 
mit dem Ausfehen und Gebaren des Proletariers die Anſchauungen 
und Weberzeugungen der demokratiſch gejtimmten Fraktion des deut- 
ihen Bürgerthums. Ueber das Durchſchnittsmittelmaß, welches die 
Menſchen von 1848 fennzeichnete, ragte auch Blum nicht empor; 
aber wenn man die herben Hindernifje bevenft, welche fich dieſem 
Broletarierfind auf feiner Yebens- und Bildungsbahn entgegengejtellt 
hatten, jo wird man namentlidy den feinfühligen und feinhörtgen 
Takt bewundern müſſen, womit er fid) in dem Getriebe ver Politik 
zurechtfand. Seine Nednergabe war jehr bedeutend; nicht ganz phra- 
jenlos, aber doc) immer jo, daß fie ein gebilvetes Ohr anſprach, ven 
erfahrenen Verſtand beſchäftigte und zugleich das Volksherz ſym— 
pathiſch berührte. Republikaner aus Neigung und Ueberzeugung, 
glaubte er den Konſtitutionellen von vornherein das Zugeſtändniß 
machen zu müſſen, daß die Republik, wenn überhaupt erreichbar, nur 
auf konſtitutionell-monarchiſchen Umwegen zu erreichen ſei. Für 
ſeinen Werth als Menſch und Bürger, für ſeine Treue und Hinge— 
bung zeugt unwiderſprechlich ſein Grab in der Brigittenau. Selbſt 
Fürſt Windiſchgrätz, welcher doch gar nicht nahe dabei geſtanden, als 
das Pulver erfunden worden, begriff, daß er in der Perſon Blums 
einen Hauptmann umbringen zu laſſen Gelegenheit hätte. 

Wie die drei genannten radikalen Führer redliche Männer 
waren, jo fünnte nur die Parteiverbohrtheit bejtreiten wollen, daß 
auch die Führer der Liberalen ver Mehrzahl nad) redlich und umeigen- 
nüßig gefinnt gemwejen jeten. Der Mehrzahl nah! Denn ed gab 
ſolche darunter, welche ihre Staatsmännifchkeit doch ſehr privatge— 
ſchäftlimacheriſch betrieben und es ſehr gut verſtanden, die arme 
Patria zu einer volleuterigen Privatmilchkuh zu machen. Auf den 
Platz des erſten Führers der Konſtitutionellen haben beim Zuſam— 
mentreten des Vorparlaments die Umſtände den Herrn Heinrich von 
Gagern geſtellt, Sohn jenes Herrn Hanns von Gagern, welcher als 
„deutſcher Patriot“ berühmt geworden, weil er beim wiener Kon— 
greſſe ſeinem damaligen Dienſtherrn, dem Könige von Holland, mög— 


Das „wilde“ Parlament. 21 


lichſt viel deutiches Land zuzuſchaufeln eifrigit befliſſen geweſen war. 
Herr Heinrich) von Gagern konnte nach Begabung, Bildung, Stim- 
mung und Haltung als der vollendete Ausdrud des patentirten Libe— 
ralismus gelten, weldyen er aber vornehm zu repräjentiren verſtänd. 
Hinter diejem vornehmen Schein war des Mannes Sein das der 
entſchiedenſten Alltäglichfeit und großes iſt niemals an ihm geweſen, 
ausgenommen jeine Augenbrauen. Zum „großen“ Mann hat ihn 
vornehmlich der deutſche Profeſſorenreſpekt vor ſeinem freiherrlichen 
Titel und Wappen gemacht. Der liberale Philiſter ſodann war 
allum ganz glücklich darüber, dieſes Großmannspatent anzuerkennen 
und das ſtattliche Urbild ſeines eigenen Weſens als den „allerbeſten 
und alleredelſten der Beſten und Edelſten“ verehren zu ſehen und ge— 
räuſchvoll mitverehren zu dürfen. 

Das Selbſtvertrauen des Herrn Heinrich von Gagern und da— 
mit die An- und Aufſpannung ſeiner an ſich beſcheidenen Kräfte 
mußte natürlich unter dem Anhauch des unermeſſlichen Vertrauens, 
welches ſeine Partei in ihn ſetzte, beträchtlich zunehmen, und ſo war 
er eine Zeit lang, wofür er galt. Er gebärdete ſich als General und 
man gehorchte und folgte ihm. Der erſte, welcher ein Stück Land 
einzäunte und zu den andern ſagte: „Das iſt mein!“ hat ja be— 
kanntlich auch Narren gefunden, die ihm glaubten. Die ganze Kunſt, 
Menſchen zu beherrſchen, beſteht darin, den Kommandoſtab mit einer 
Zuverſichtlichkeit zur Hand zu nehmen, als ſei die Berechtigung dazu 
ſelbſtverſtändlich. Dieſe Kunſt verſtand Herr von Gagern aus dem 
Fundamente. Im übrigen gereicht es ihm zur Ehre, daß er wenigſtens 
daheim und im Hauskleide den großen Mann nicht ſpielte. Am 
2. April morgens 9 Uhr ſchrieb der alte Herr Hanns von Gagern 
von Frankfurt aus an ſeinen älteſten und bedeutendſten Sohn Friedrich: 
„Im ganzen find die Söhne (Heinrich und Mar) mit dem Gang 
von gejtern zufrieden ; jeder in feiner Art. Heinrich, ſich waichend, 
jehr ruhig, fam ex abrupto zu der Aeuferung: „„Welche Zeiten! 
Welche Armuth, daß ein jo mittelmäßiger Kopf wie ich zu ſolcher 
Kolle kommt!““ Widerſpruch wäre unhöflich, volle und herzliche 


22 Die Verwidelung, I. 


- 


Zuftimmung demnad. Aber es zeugt für die urfprünglic gute und 
gerade Sinnesweiſe des Mannes, daß er dieſes aus redlicher Selbſt— 
erkenntniß erflofjene Armuthszeugniß in einem von ihm berausge- 
gebenen Buche zu veröffentliben nicht auſtand*). D, das geſchah 
mm, um den Widerſpruch berauszufordern, jpottlaht Mephiſto. 
Nein! und dieſe ehrliche Selbjtbezengung jeiner Nichtgröße ehrt in 
den Augen von Urtheilsfähigen Herru von Gagern mehr, unendlich 
viel mehr, erweiſ't unwiderſprechlicher den „vir integer“*, als es die 
einfältigen Schmeicheleten jeiner Fartcatchers thaten, deren Unver— 
jtand den Liberalen Freiherrn recht body hinaufichraubte, damit weit- 
bin fidtbar würde, wie geringfügig jeines Yichtes Leuchtkraft jet. 
Nun, er hat den keckſten jeiner „kühnen Griffe“, d. h. die Selbtüber- 
bebung, mehr voritellen zu wollen, als er zu fein vermochte, ſchwer 
gebüßt. Er, der eine Weile für den erften Mann feiner Nation ge- 
gelten hatte, ſah ſich jchlieglih im Falle, von einem Dalwigf mit 
dem Sinekürchen eines darmheſſiſchen Geſandtſchaftspöſtleins ſich be- 
ſchenken zu laſſen. Ach, das Leben mit ſeinen gemeinen Anforde— 
rungen iſt ein harter Treiber und in unſerem Zeitalter einer be— 
quemen Realpolitik, die alles anzunehmen und alles zu rechtfertigen 
weiß, iſt es nicht mehr Mode, daß öffentliche Charaktere auch dann, 
wann fie zu glänzen aufgehört haben, noch,als Gold ſich erweiſen. 
Das horaziſche: — 
„Et euncta terrarum subacta 
Praeter atrocem animum Catonis* — 


it heutzutage unſeren vealpolitiichen Gelehrten unverſtändlicher als 
die altperfiiche Keil- und die altperuaniſche Quipus-Schrift, und 
närriiche „Principienreiter“ wie Demojthenes und Kato find in den 
Augen einer ebenfalls realpolitiichen Jugend nur noch Lächerliche 
Figuren. Herr von Gagern hat demnach recht gethan, wenn er bie 


*) Das Leoben des Generals Friedrich von Gagern, von Heinrid von 
Gagern, II, 668. 


Das „wilde“ Parlament. 23 


Lächerlichfeit der „Principienreiterei“ nicht an und auf ſich fommen, 
jondern vielmehr für jeine Verdienſte um das deutſche Vaterland von 
Herrn von Dalwigk jih zum Gejandten machen lief. Hornau iſt 
nicht Kalauria und Darmſtadt iſt nicht Utika. 


4. 


Im Kaiſerſale des, Römer“ wurde am 31. März das „wilde“ 
Parlament unter dem Alterspräſidium des bremer Bürgermeiſters 
Smidt frühmorgens eröffnet. So die Bilder der alten Kaiſer rings 
an den Wänden hätten fühlen und reden können, ſie würden zu den 
Verſammelten gejagt haben: „Gebt euch feine Mühe! Ihr bringt 
ja Doch nichts zu ftande, wie wir zu unſerer Zeit aud) nichts zu jtande 
gebracht haben. Germania eonfusione regitur“. 

Die deutſche Konfuſion offenbarte fih auch richtig jofort, als es 
galt, das Bureau der Verſammlung zu bejtellen. Herr Smidt ſchlug 
den Heren von Gagern zum Vorfiger vor. Murren links: „Wollen 
feine Miniſter!“ Bemerkung rechts: „Die Siebener find übereinge— 
fommen, daß feiner von ihnen den Vorfit übernehmen dürfe“. Höchſt 
unerquickliches Wahlgeihäft überhaupt, die Abſtimmungsverſuche 
mittels rechts- und linkstretens im dem nicht ſehr geräumigen Sale 
ganz wirrſälig, endlich mit Ach und Krach Herr Mittermaier zum 
Präſidenten und die Herren Itzſtein, Blum, Dahlmann und Jordan 
zu Vicepräſidenten gewählt. Mittermaier war ein vortrefflicher Pro— 
feſſor, welcher, wenn er dornige oder übelduftende Parteien des Kri— 
minalrechts zu erörtern hatte, eine friſche Roſe mit auf's Katheder 
zu bringen und damit, während er mörderiſche Beſtimmungen der 
Karolina citirte, anmuthige Schwenkungen auszuführen pflegte. Auch 
ein guter Menſch und Patriot war er, aber ein ſchlechter Präſident. 
Als ſolcher würde er, wo möglich, ſeine Sache noch ſchlechter gemacht 
haben, hätte ihm nicht der einzige ſeiner Beiſtänder, welcher ſo ein 


24 Die Berwidelung, I. 


Geihäft verftand, zeitweilig helfend unter die rathlofen Arme ge— 
griffen, Robert Blum. 


Gegen 10 Uhr zog das „Stegreifparlament”, wie man e8 eben- 
falls pafjend genannt hat, vom Römer durch die Reihen der franf- 
furter Bürgerwehr unter Glodengeläute und Geſchützdonner, unter 
Halloh und Hurrah zu feinem eigentlichen Sitzungsort, in die fänlen- 
umſäumte, hochbefuppelte, ſchwarzrothgolden geſchmückte Rotunde der 
Paulskirche, allwo Herr Mittermaier, ein feiner Kathedermann mit 
Silberhaar und Silberbart, ſeinen Vorſitzerſpruch that. Darin war 
viel vom „Rieſen Volksgeiſt“, mehr von den „Millionen unſerer 
deutſchen Brüder“, am meiſten von der „Freiheit“ und von den 
„Volkswünſchen“ die Rede, aber von den Fürſten gar nicht. Das 
miſſfiel ſichtbarlich der Mehrheit der Verſammlung und verſtimmte ſie 
gegen den Präſidenten, was für dieſen ſein ſchwieriges Amt noch be= 
deutend ſchwieriger machte. Die liberalen Leiter ver Mehrheit hatten 
unter ſich abgefartet, daß vor allem die brennende Frage: Monarchie 
oder Kepublif ? gelöfcht werden müßte. Die Anmefenheit der Hals- 
eifenmänner aus dem Norden und der rheinländiichen Lebemänner 
aus dem Weiten, jammt der mafjenhaften Einfuhr darmheſſiſcher 
Angftphilifter, verbürgte ihnen die Durchſetzung ihrer monarchiſchen 
An- und Abjicht. 


Die radikale Minderheit in der Verfammlung führte alsbald 
die Gelegenheit hierzu herbei, indem fie ihr Programm, das repu— 
blifanijche, vorbrachte, als der Vorſitzende das monarchiſche Pro— 
gramm des Siebener-Ausſchuſſes auf die Tagesordnung ſetzte. Struve 
betritt die Nepnerbühne und entwidelt das in.15 Punkte gefaßte 
Manifeit ver Demokratie, weldes an Beitimmtheit und Deutlichkett 
jo ganz und gar nichts vermifjen läſſt, daß jedes Mitglied ver Mehr- 
beit, zumal jedes norddeutſche mit dem frommen Helven Bergils im 
2. Gejange von fi jagen fann: 

„Schreden befüllt mi, aufbäumt fih das Haar und die Stimme 

verſagt mir“. 


Das „wilde“ Parlament. 35 


Denn die Eſſenz des ſtruve'ſchen Antrags tft feine andere als die, 
die halbe Revolution zu einer ganzen zu machen, die Monarchie ab- 
zuthun und Deutichland in eine Föderativrepublif umzujchaffen, wo— 
mit jofort der praftiiche Anfang gemacht werden jollte und zwar da— 
durch, daß das Vorparlament bis zum Zujammentreten eines „frei 
gewählten“ Parlaments in Frankfurt beifanmenbliebe und jo zu 
jagen als deutſcher Konvent die Führung der öffentlichen Angelegen- 
heiten in die Hand nähme, namentlich mittels der Wahl eines „Voll— 
ziehungs-Ausſchuſſes“. 

Es war Sinn, Logik und Folgerichtigkeit in dieſem Programm, 
gar keine Frage. Aber einen ſolchen Antrag und zwar hoffnungs— 
voll vor eine Verſammlung bringen, deren ungeheure Mehrheit von 
vornherein entſchloſſen geweſen iſt, die Monarchie, d. h. die deutſchen 
Fürſtenherrſchaften zu halten, weil ſie dabei nicht nur perſönlich viel— 
fach intereſſirt war, ſondern auch, weil ſie die Republik aufrichtig 
fürchtete — das hieß denn doch als einen richtigen Wolkenkukus— 
heimer ſich darſtellen und ausweiſen. Gegenüber einer ſolchen Nebelei 
waren diejenigen badiſchen Republikaner, welche gemeint hatten, ſtatt 
nach Frankfurt zu gehen, ſollte man lieber verſuchen, die Republik in 
Freiburg oder Offenburg oder Mannheim auszurufen, immerhin noch 
praktiſche Leute geweſen. Hecker ſelbſt war in jenen Tagen doch wieder 
Phantaſt genug, wunderwas vom Vorparlament zu hoffen. „Was 
zum Teufel — hatte ihm zu Offenburg einer der wenigen ſüddeut— 
ſchen Demokraten geſagt, welchem der Märzſturm das Gehirn nicht 
wirbelig gemacht — erwarten Sie denn von einer Verſammlung, 
deren Mehrzahl aus Hof- und andern Unräthen, Profeſſoren, Man— 
darinen und Bonzen zuſammengeſetzt ſein wird? Wie können Sie 
von ſolchem Geziefer etwas mannhaftes, von ſolchen Philiſtern etwas 
Revolutionäres hoffen?“ — „Ich werde ſie terroriſiren“, hatte 
Hecker geantwortet. 

Terroriſiren? Was ſich die Menſchen nicht alles einbildeten! 
Da bildete ſich nun ſo ein gemüthlicher Mannheimer ein, er hätte 
das Zeug zu einem Wohlfahrtsausſchüſſler à la 1793. Terrori— 


26 Die Berwidelung, I. 


firen? Wenn Heder und Struve alles, was von Terrorismus in 
ihnen, zufammengethan hätten, es wide nicht ausgereicht haben, 
aud) nur einen Floh zu terrorifiren . . . | 

Herr Schaffrath aus Sachſen beantragte einen Ausihuß zur 
Prüfung des republifantichen Programms. Die Fürftenfücchtigen 
merften, daß damit gemeint jet, dieſes Programm follte dem mo- 
narchiſchen als ein gleichberechtigter Berathungsgegenftand gegenüber— 
gejtellt werden. Die „brennende” Frage brannte alſo wieder auf wie 
ein rechter Feuerteufel. Herbet mit den Löjchgeräthichaften! Ce. 
Ereellenz von Gagern führte nicht ungeſchickt jein Miniſter-Wend— 
rohr, um daraus das kalte Angjtwafjer des Liberalismus auf ven 
ſtruve'ſchen Antrag zu ſpritzen. Er dofumentirte ſich recht als einen 
Mann nad dem Herzen der Bourgevifie, indem er mit Nachdruck be- 
tonte, daß die Verkündigung von Grundſätzen, wie Herr von Struve 
jie entwidelt habe, unmöglich zur „Wieverhebung des Kredits“ bei- 
tragen fünnte. Daneben verfhlug es ihm aber auch nichts, ein 
bißchen volfstyumfarbig zu ſchillern. Mit jenem Biedermaier-Pa— 
tho8, in welchem er jtarf war, beihwor ex Schließlich die VBerfamm- 
lung: „Spreden Sie e8 aus, daß wir an der Monarchie fejthalten. 
Sagen Sie, daß es fi beim ſtruve'ſchen Antrag nur um Borjchläge 
jeitens einer Minderheit handelt, die nad) Problemen haſcht und un— 
erreichbare Dinge anftrebt. Sprechen Sie es aus, daß wir zwar eine 
Verſammlung bilden, welche die Freiheit will und um des Volkes 
und der Volksſouveränität willen befteht, aber dem Princip der Mo- 
narchie im Staate treu bleibt und zugleich der Nothwendigfeit der 
Durchführung einer Einheit huldigt“. 

Liberalismus locutus est. Zwar ſchlägt der geſunde Men— 
ſchenverſtand ob diefer Stantsmänntjchfeit die Hände über dem Kopfe 
zujammen und fragt voll Stumen: Wie kann ein Menſch won fünf 
richtigen Stimmen in einem Athem von VBolsfouveränität und von 
Monarchie reden? Diefer darmheſſiſche Minifter ſchwatzt ja genau 
wie jener darmheſſiſche Bauer: — „Republik wollen wir und unfern 
Großherzog wollen wir auch“. Aber was thut das? Wer hat fi) 


Das „wilde“ Parlament. 237 


bet ſolchen Vorfallenheiten um jo ein Ding, wie der arme geſunde 
Menſchenverſtand ift, zu kümmern? Eine richtige Realpolitik hat 
nicht auf die Klugheit, jondern auf die Dummheit zu jpefuliren. 
Tiefjter Blödfinn wird höchſte Weisheit, wird Offenbarung, ſobald 
die Menſchen daran glauben. Vgl. die hriftliche und andere Dog— 
matifen. Die Mehrheit des Vorparlaments und mit ihr die unge- 
heure Mehrheit deutiher Nation glaubte an ven gagern’shen Galli- 
matthias, folglic hatte Herr von Gagern recht und war ein großer 
Mann. Hatte recht und war ein großer Mann in den Augen eines 
Bolfes, welches ji „mit wenig Wit und viel Behagen“ als eine 
„Nation von Denfern und Kritifern“ anjchmeicheln ließ. Stünde 
dieſe ganze Volksſouveränitäts- und Monarchie-Geſchichte nicht akten— 
mäßig feſt, man müßte ſie für ein albernes Märchen halten. Im 
„tollen“ Jahre iſt eben alles möglich geweſen, nur nichts ge— 
ſcheides. 

Neben dem Herrn von Gagern ſprachen mit beſonderer Er— 
hitzung noch die Herren Welcker und Eiſenmann für die Monarchie. 
Der letztere brachte in Erinnerung, daß die konſtitutionelle Monarchie 
ihn ſchnödwiderrechtlich 15 Jahre lang im Kerker feſtgehalten habe, 
und rief dann begeiftert aus: „Ich lebe und fterbe für die fonftitir- 
tionelle Monarchie!“ Schade, daß die fonftitutionelle Monarchie 
diejen Mikrokephalos nicht noch durch weitere 15 Sterferjahre von 
ihrer VBortrefflichkeit zu überzeugen fortfuhr. Wie lange war es denn 
aber her, daß Herr Welder in Heidelberg in einem Anfall demokra— 
tiſcher Wuthekſtaſe geichrieen hatte: „Herunter müſſen die Kerle von 
ihren Thronen, herunter jest gleih!"? D, gar nicht lange war es 
ber. Aber jo konnte anjtandshalber doch ein neufreirter Herr Bun— 
destagsgejandter nicht mehr reden. Vogt aus Gießen wollte in höf- 
Lichter Weife auf diefe Unmöglichkeit hinweiſen, indem er anhob: 
„Der Herr Abgeordnete oder vielmehr der Herr Bundestagsgefandte 
Welcker“ — — Wilder Tumult, gemiſcht aus lachenver Zuftimmung 
und grollendem Tadel. Wahrheit wirft befanntlich auf Barteien wie 
Scharlach auf Bullen. Die fürftenfürchtige Mehrheit im „wilden“ 


238 (Die Verwidelung, I. 
Parlament wüthete daher aus Yeibesfräften gegen die Anjpielung 
Vogts auf das liberale Windfahnenthbum. Der Präfident wuſſte den 
Wirrwar nur dadurd) zu ftenern, daß er die Sitzung für eine halbe 
Stunde aufhob. Bei der Wiedereröffnung ſprach Blum wohlge— 
wogene verjöhnliche Worte, die Berfammlung zum Bewuſſtſein ihrer 
Stellung und zur Wahrung ihrer Würde zurückrufend. Die fühleren 
Köpfe unter den Radikalen juchten einer fofortigen Entſcheidung der 
Hauptfrage vorzubeugen. Boat hatte bereits beantragt, daß für 
ichleunige Berufung des wirklichen Parlaments gejorgt und demnach 
von dem Borparlament vor allem der Wahlınodus berathen und feit- 
gejtellt werden jollte. Wejendond führte das näher aus: — „Es tft 
gleich verwerflich, dieſer Verſammlung die Nepublif oder die Mo— 
narchie aufzwingen zu wollen. Wir haben gar fein Mandat, die eine 
oder Die andere zu defretiren. Die wirkliche, vom ganzen Bolfe ge- 
wählte Nationalverfammlung wird diefe Frage enticheiden. Stellen 
Sie daher den eriten Paragraph des Siebener- Programms einft- 
weilen beiſeite. Man fann doch nicht den Baur mit dem Dache be- 
ginnen, nicht die Fürftenrechte vor den Volksrechten berathen. Aljo 
vor allem die Nationalverfammmlung. Will diefe dann die Republik, 
io nehmen wir fie an; will fie die Monarchie, jo nehmen wir fie 
ebenfalls an. Denn darüber wenigſtens werden wir wohl einig jein, 
daß wir unfere perjönlichen Anfichten dem durch die Nationalver- 
ſammlung repräjentirten Willen des deutſchen Volfes unterwerfen 
müſſen“. 

Dieſe Anſchauung drang durch, inſofern beſchloſſen wurde, daß 
die Geſtaltung der konſtituirenden Nationalverſammlung der erſte 
Berathungsgegenſtand ſein ſollte. Bei Anhandnahme der Berathung 
malte die deutſche Gemüthlichkeit allerlei Phantaſmagorieen auf den 
phraſenblauen Hintergrund weltbürgerlicher Illuſionen. Schließlich 
kam man dann zu dem Beſchluſſe, daß je 50,000 Deutſche 1 Ver— 
treter zum Nationalparlament abordnen, ſowie daß die Bewohner 
von Schleſwig, Oſt- und Weſtpreußen, welche Länder bislang nicht im 
deutſchen Bundesverbande geweſen waren, dies ebenfalls thun ſollten. 


Das „wilde“ Parlament. 29 


Der Gefammterndrud der eriten Situng auf Urtheilsfühige 
war unzweifelhaft diefer, daß die Republik verjpielt und die Mo— 
narchie gewonnen hätte. Es war demnach eine bare Thorheit, daß die 
entſchiedenen Republikaner, welche ihr Ideal unter allen Umſtänden 
und um jeden Preis verwirkliden wollten, noch fernermweit an einer 
Verſammlung ſich betheiligten, von welder jie nad den Erfahrungen 
vom 31. März nichts mehr erwarten konnten. Wenn jie überhaupt 
thun wollten, was fie nachher thaten, jo mußten fie es auf der Stelle 
thun. Allein am Abend und in der Nacht brachten die Huldigungen, 
welche jubelnde Turnerſcharen und feurigblidende Schikſelchen in der 
„Mainluſt“ und anderwärts der Republik und den republikaniſchen 
Führern zollten, brachten die Worte von Arndts Vaterlandslied und 
die Weiſe der Marſeillaiſe, brachten urdemokratiſche Schoppenſtecher— 
reden von ſeiten frankfurter Kouponsſchneider und ururdemokratiſche 
Händedrücke von ſeiten ſachſenhäuſer Proletarier, brachten rother 
Ingelheimer und weißer Nierſteiner, brachten Fahnenſchwenken und 
Fackelſchwingen die guten Bürger von Wolkenkukuksheim zu dem 
Wahnglauben, ſie würden ihre am 31. März erlittene Niederlage 
am 1. April rächen und gutmachen können. Am 1. April? Es iſt 
das, wie bekannt, der große Fopptag für alle, die ſich foppen laſſen. 


Zuvörderſt ließ ſich jedoch dieſer 1. April nicht übel an. Des 
„wilden“ Parlaments embryoniſch-chaotiſcher Zuſtand ſchien über— 
wunden zu ſein und die zur 10. Morgenſtunde eröffnete zweite 
Sitzung in zahmer Regelrichtigkeit verlaufen zu wollen. Es herrſchte 
an dieſem Vormittag eine recht angenehm-friſche Temperatur in der 
Verſammlung, als wäre eine demokratiſche Zugluft aus den erſten 
Märztagen bis heute irgendwo hängen geblieben und von dort un— 
verſehens in die Paulskirche hineingeſchlüpft. Man verhandelte die 


30 Die Berwidelung, I. 


Frage, wie zur Nationalverfammlung gewählt werden jollte, und 
raſch und merkwürdig glatt umd leidlich einmüthig folgten einander 
die Beichlüffe. Oberſter Grundſatz: Direkte Wahl. Die Wahlart 
jet dem Ermeſſen der einzelnen Staaten anheimzugeben, jedoch unter 
diefen bindenden Beringungen: Wahlberechtigt und wählbar jeder 
nad) dem Geſetze feines Heimatlandes Volljährige, die Wählbarkeit 
gänzlich unabhängig von Glaubens-, Standes- und Bermögensver- 
hältniffen; der zu Wählende braucht niht dem Einzelftaat anzuge- 
hören, in welchem er gewählt wird; endlich ſollen die politiichen 
Flüchtlinge, welche heimfehren und ihr heimiſches Bürgerrecht an- 
iprechen wollen, wahlfähig und wählbar fein. Durchmeg freifinnig 
und national, diefe Erledigung der Parlamentswahlftage. 

Aber am Nachmittage fnifterte Die „brennende“ Frage doc) 
wieder auf, nicht zu zündenden Flammen ausſchlagend, jondern die 
Paulskirche nur mit häfflihen Qualm und Raud) erfüllend. 

Einmüthig hatte man noch bejchlofjen, daß die Stadt Frank— 
furt der Sit des fonftituirenden Barlaments fein und dieſes ım Mai, 
wo möglich am 1. Mai, zufanmtentreten jollte. Alles gut joweit. 
Weiterhin jedoch kamen häfelige Dinge zur Sprache. Die Liberalen 
wollten jo raſch als möglich mit dem „wilden“ Parlament ein Ende 
machen. Daher jollte aus der Mitte deſſelben ein Ausſchuß von 
15 over 50 Mitgliedern beftellt und dieſer Ausjhuß mit dem Bunz 
destag in Beziehung gefest werden, um gemeinjchaftlic mit dem— 
ſelben die oberfte Yeitung der nationalen Angelegenheit bis zur Er— 
Öffnung der Nationalverfammlung zu handhaben. Der Bundestag, 
argumentirten die Ropaliften, jet ganz handirlich und manierlich, 
auch gar nicht mehr „gefährlich“, da die „Epuration“ deſſelben be— 
reits begonnen hätte und ihm auch von ſeiten der Regierungen ge— 
ſandte „Vertrauensmänner“ — Ludwig Uhland war ein ſolcher — 
als Ueberwacher zur Seite ſtänden. Die Abſicht der Liberalen hier— 
bei war klar: fie wollten ihren Kretinismus „Revolution auf geſetz— 
lihem Boden“ praftiziven, indem jie ſich der Bundestagsmajchine 
hedienten. Und zwar zu zweierlet Zweden: denn evftens jollte Dieje 


Das „wilde“ Parlament. 31 


Maſchine dem Parlament eine „legale” Bafis bereiten; zweiten 
folkte die Verwendung diefer Maſchine den Fürften und ihren ge= 
fammten Anhange die Garantie geben, daß der Liberalismus voll 
unterthänigen Nejpefts vor allen beftehenden ſei. Dieje ganze 
Machenſchaft machte es nun auch handgreiflih, daß alle die Zuge- 
ſtändniſſe, wozu die Mehrheit des VBorparlaments in der Wahlfrage 
ſich hexbeigelafien hatte, nur eine ſpaniſche Wand waren, hinter 
welcher man ſchon jett die Lahmlegung der Souveränität der Na— 
tionalverfammlung vorbereitete, indem man dieſelbe als einen Aus— 
fluß der bisherigen Bundesverfaffung, fo zu jagen als eine Schöpfung 
des Bundestages eriheinen ließ. Alfo die Yeitung der deutichen „Re— 
volution“ der Rückwärtſerei in die Hände zu Iptelen, dem Parlaments- 
findlein den Bundestag zur Amme zu geben, — e8 war rührend un— 
verſchämt. 

Die Radikalen, hinſichtlich der Anzahl und Stimmung ihrer 
Gegner noch immer nicht gehörig aufgeklärt, verwarfen die Abſicht, 
den Bundestag wieder zu Ehren zu bringen, mit der gebührenden 
Verachtung und ſtellten der Ausſchuß-Idee den Antrag entgegen, das 
Vorparlament ſolle ſich permanent erklären, um bis zur Eröffnung 
der Nationalverſammlung die Geſchicke Deutſchlands zu leiten. Es 
lag darin die Hoffnung ausgeſprochen, daß es auf dieſem Wege ge— 
lingen könnte, die vergeckte deutſche Bewegung doch noch ins rechte 
Geleiſe zu bringen. 

Natürlich fröſtelte der Antrag auf Permanenzerklärung den 
ſämmtlichen Beſt- und Biedermaiern der Verſammlung ſchauerlich 
den Rücken hinauf. Auch empfindſamen Ein- oder Zweiachtelsdemo— 
kraten von der Farbe Venedey kam es ſo vor, als ſollte mit dieſem 
Antrag ein Schreckensregiment A la Konvent inaugurirt werben und 
als hörten fie in der Ferne ſchon die Mordkläpſe des fallenden 
Guillotinemefjers. 

Die Liberalen jchicten den Herrn Welder vor, um ihre An— 
und Abficht zu begründen, und er that es mit ſolchem Eifer, als wäre 
er nicht exit jeit 17 Tagen, fondern feit doppelt jo vielen Jahren 


33 Die Verwidelung, I. 


Bındestagsgejandter. Gegen jeine Behauptungen jprachen mit bejon- 
derem Feuer der alte Itzſtein, Heder, Raveaux und Jakobi. Raveaux 
warf der liberalen Mehrheit die Wahrheit ins Geſicht: „Sie find 
eine revolutionäre Verſammlung!“ und meinte, dieſe mühte 
doch den Willen und den Muth haben, die Konjequenzen ihrer eigenen 
Eriftenz zu ziehen. Hecker ſchloß jeine fenrige Begründung des An- 
trags auf Permanenzerflärung damit, daß er den Konftitutionellen 
zurief: „Wer Alpha gejagt bat, muß auch Omega jagen!“ Darin 
irrte er. Dem Hereneinmaleins des Konftitutionalismus — was für 
ein Bandwurm von Wort! — zufolge muß, wer A gejagt hat, 
feineswegs B, gejchweige Z jagen; denn dieſes Hereneinmaleins 
macht es ja auch glaublich, daft 2 mal 2 nicht gleich 4, ſondern gleich 
3 oder 5 oder 7 ſei. Von der abſoluten Unlogif muß man feine 
Folgerichtigfeit verlangen oder erwarten. Gegen Welders Darle- 
gung, daß der vom VBorparlamente zu bejtellende Ausſchuß vecht wohl 
des Bundestags als eines „beitehenvden Organs “ ſich bedienen fünnte, 
bemerkte Heder: „Wenn der Ausſchuß eine ver beiten Mafregeln in 
Vorſchlag bringt und der Bundestag fanftionirt fie oder er geht Arm 
in Arm mit dem Ausſchuß, To ift die beſte Mafregel nicht bloß ver- 
dächtigt, ſondern geradezu in die Acht erklärt”. Auch das war ein 
Irrthum. Der arme gute Michel begehrte ja in jeiner Vertrauens— 
jeligfeit nichts jehnlicher als allem umd jedem zu vertrauen, was feine 
„beiten und edelſten“ Männer ihm als vertrauenswürbig bezeich- 
neten. Nomantifer Heder jollte bald genug zu jeinem eigenen Schaden 
erfahren, wie jehr das deutſche Volk auf die Weifung feiner „Beten 
und Edelſten“ hin jogar dem mehr oder weniger „epurirten“ Bundes— 
tage vertraute. Herr von Gagern gab jchlieglih den Ausichlag 
wider die Bermanenz, welche mit 368 Stimmen gegen 143 abge- 
worfen wurde. 

Die Radikalen waren alfo an diefem 1. April, auf welchen ſie 
geftern thörichte Hoffnungen geſetzt hatten, jo recht in den April geſchickt 
worden. Ste hätten jetst ihr Bündel ſchnüren fünnen und jollen, falls 
fie fich nicht unbedingt dem Willen der Mehrheit unterorpnen wollten, 


Das „wilde“ Parlament. 33 
Aber fie blieben, klammerten ſich nod an einen leisten Hoffnungs— 
ſtrohhalm und wunderlicher Weife jollten fie zu allerletst won jeiten 
der Konftitutionellen noch eine Konceifion oder Scheinkonceſſion er 
halten, welche man unbegreiflih finden müßte, jo man nicht wüßte, 
daß eben Pogif ein Ding it, welches für den Konſtitutionalismus 
nicht exiſtirt. 


6. 


Es ift ſogar von liberaler Seite her zugejtanden worden, daR, 
nachdem der Mehrheitsbeſchluß: „Ein Ausſchuß von Fünfzig ſoll 
mit dem Bundestag ins Vernehmen treten und denſelben bei Wahrung 
der nationalen Intereſſen berathen“ — herauswar, die Mehrheit 
ihren Sieg „weder großmüthig noch ſtaatsmänniſch“ zu benutzen ver— 
ſtand. Sie konnte und mußte den Riß zwiſchen Liberalismus und 
Radikalismus verkleiſtern und letzteren ſogar nöthigen, ihr Geſchäft 
mitzuthun, indem ſie ſeine „gefährlichſten“ Häuptlinge unter die Fünfzig 
einreihte. Statt deſſen verfuhr ſie mit der gewohnten Ausſchließlichkeit 
herrſchender Parteien, indem ihre Führer die — ſpäter wieder halb 
zurückgenommene — Loſung ausgaben, die Minderheit ſei bei der 
Ausſchußwahl nicht zu berückſichtigen. War das bloß eine liberale 
Dummheit oder wollte man boshaft-pfiffig mittels dieſer brutalen 
Herausforderung die Heißſporne der Demokratie zu verzweifelten 
Schritten treiben, um aus dieſen die Berechtigung zu ziehen, allen 
Hinderniſſen der liberalen Herrlichkeit raſch und gewaltſam ein Ende 
zu bereiten? Die Frage iſt mit Beſtimmtheit weder zu bejahen noch 
zu verneinen; doch iſt zu ſagen, daß nachmals in Frankfurt die Sage 
ging, die Herren Mathy und Baſſermann, welche ja in der 2. Hälfte des 
März von 1848 aus dem radikalſten Radikalismus in den treuunter— 
thänigſten Liberalismus ſich hinübergemauſert hatten und bei denen in 
den erſten Apriltagen ſchon der erſte Flaum des Miniſter- und Staats— 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 3 


34 Die Verwidelung, I. 


fefretäre-Gefievers anſetzte, — ja, Die Herren Mathy und Baſſermann 
hätten Gagern und Konſorten den Rath gegeben, die „Eitelkeit“ Heders 
durch Nichtberiickjichtigung bei dev Ausſchußwahl tödtlich zu beleidigen 
und dadurch Die „Hederlinge“ zu irgendeinem tollen Streiche aufzu— 
reizen, damit man die „ganze republikaniſche Blaſe“ mit einmal zer- 
drücken könnte. Protokolle pflegen über derartige Machenſchaften be= 
fanntlich nicht aufgenommen zu werden und jo müffen wir diefe Sage 
als hiſtoriſch ungreifbar in ihre Nebelregion zurücflattern lafjen. 

War die Schlinge wirklich gelegt, jo zeigte die dritte Situng des 
Borparlaments in ihrem Verlaufe, daß die, welchen fie gelegt war, 
wohl bineingehen würden. Die übelberathenen Radikalen machten 
einen Verſuch, im parlamentariichen Kuiffen und Pfiffen mit ihren 
Gegnern zu wetteifern, indem fie durch Zi aus Mainz den Antrag 
einbringen ließen: „Die Berfammlung möge erflären, bevor der 
Bundestag die Angelegenheit der Gründung einer konſtituirenden 
Nationalverfammlung an die Hand nehmen kann, ſoll ſich derjelbe 
von den verfaffungswidrigen (faulsbader und wiener) Ausnahme— 
beihlüfien losjagen und aus feiner Mitte die Leute entfernen, melde 
zur Hervorrufung und Ausführung ſolcher Beſchlüſſe mitgewirkt haben“. 
Die Abficht dieſes Antrags ging deutlich genug dahin, entweber die 
Mehrheit zu nöthigen, eine neue Bundesbehörde zu fordern, oder 
aber die Mehrheit als mit dem alten Bundestag einverjtanden dem 
öffentlichen Abſcheu zu ſignaliſiren. 

Herr Baſſermann unternahm es, den Sinn des geftellten An⸗ 
trags zu eſkamotiren mittels eines jener Taſcheuſpielerſtückchen, welche 
der konſtitutionellen Gaukel- und Schaukeldoktrin immer bequem zur 
Hand find. „Keine Hexerei, pure Geſchwindigkeit!“ Dieſe pure Ge- 
ihwindigfeit beftand an dieſem 2. April darin, dag Herr Baſſermann 
vorſchlug, den zitiichen Antrag anzunehmen, aber an die Stelle des 
Wörtchens „bevor“ das Wörtchen „indem“ zu jegen und au die 
Stelle der Worte „nehmen kann“ das Wort „nimmt“. Bürger Kapp 
aus Heidelberg, der alte ehrliche Rapp, welcher vordem den roman— 
tiſchen Dunkeler Schelling aus der Philoſophenmaſke heraus geprügelt 


Das „wilde“ Parlament. 35 


hatte, merfte die Abficht und wurde jo verftimmt, daß er murzel- 
männtich-rüdfichtslos den „logenannten Bund ımd Bundestag als ein 
Berbündnig wälſchen Hocdverraths mit ruſſiſchem Knutenthum“ be— 
zeichnete, „mitten im Herzen Deutſchlands vom Auslande geſchmiedet“, 
und, wider alle diplomatiſche Kleiderordnung rebellirend ausrief: „In 
dieſer Frage wird ſich zeigen, wer es mit Lichte hält oder mit der 
Teufelei“. Die Herren Liberalen lächelten aus der Höhe ihrer Staats— 
männiſchkeit herab mitleidig über den „alten Polterer“, welcher von 
der edeln Kunſt, ſich möglich zu machen, augenſcheinlich nicht die ent— 
fernteſte Vorſtellung hatte. Der Freiherr von Kloſen aus Baiern 
meinte, er „kämpfe nicht gerne mit Todten. Der metternichtige Bun— 
destag ſei in den Märztagen von Wien geſtorben“. Was der gute 
Freiherr wohl am 2. September von 1850, als der in den „glor— 
reichen Märztagen“ von 1848 metternichtig verſtorbene Bundestag 
ſchwarzenbergiſch wieder auferſtand, für ein Geſicht gemacht haben 
mag? Auf die Möglichkeit einer ſolchen Wiederauferſtehung wies 
Blum prophetiſch-warnend hin, aber ſelbſtverſtändlich war ſeine 
ahnungsvolle Weisheit in den Augen der biedermaier'ſchen Dahl- und 
Duſelinge nur ſchwarzſichtige Thorheit. Biel mehr Gehör und An— 
flang fand das blonde Votum des Herrn Venedey: „Der Bundestag 
wird unſer Briefträger werden and darum haben wir ihn nöthig“. 
Bürger Struve traf den Nagel auf den Kopf, als er ſagte: „Der 
bafjermanniiche Antrag unterſcheidet ſich von dem zittichen wie dag 
Wort von der That. Wir verlangen eine That. Wir haben bittere 
Erfahrungen genug gemacht, um uns nicht wieder mit Worten be- 
ſcheiden zu lafjen“. Aber es war findlich, von der liberalen Biever- 
maierei eine „hat“ zur verlangen, melde ja mır eine revolutionäre 
jein fonnte; und es war noch findlicher, die ohnehin ſchon jieges- 
beronfite liberale Mehrheit noch ſiegesbewuſſter zu machen mittels der 
leeren Drohung: „Der Antrag von Zit iſt der leiste won unferer 
Seite gemachte Verſuch, ob wir noch weiter mit diefer Verſammlung 
zufammenbleiben und wirken können“. Balladenmeiſter Uhland ſprach 


vertrauensvoll-dichteriſch für Das baſſermanniſche „Inden“, verwies 
3* 


36 Die Berwidelung, I. 


auf die „glühend im Dften (m Wien) aufgejtiegene Morgenröthe” 
und ſchloß: „Ih glaube, daß, wenn der Frühling Sprofjen treibt, 
das alte Yaub von jelbit abfällt“. Wohl, Meifter Ludwig wird nad 
Berflug von 14 Monaten und etlihen Tagen recht ficht- und merfbar 
erfahren, von welder Sorte Yaub das nad dem Abfall des „alten“ 
aufgeiprojite Liberale 48ger Yaub, das Märzminifterlaub eigentlich 
war. Herr von Gagern erinnerte, die „ Epuration“ des Bundestags 
babe ja bereits begonnen, indem mehrere der mifjliebiaften Gejandten 
von ihren Regierungen abberufen und durch vertrauenswirdige Männer 
erjetst worden ſeien. Gegen dieſen Beſchwichtigungsverſuch redete dann 
Heder mit jchneidender Leidenſchaftlichkeit. Den während ver Ver— 
handlungen dieſes Tages von jeiten der Yiberalen ausgemworfenen 
Köder, man müſſe Männer von allen politiihen Farben in den Fünf— 
ziger-Ausſchuß wählen, trat er mit Füßen. „Wir wollen nicht ge- 
wählt jein um ven Preis, daß man Männer von der republifantichen 
Partei neben die alten Bundestagsgeſandten jetst und damit das Volk 
fangen will“. Aber der greife Stein erkannte mit der richtigen 
Witterung des wohlerfahrenen Debatters, daß das tajchenjpieleriiche 
„Indem“ mit ungeheurer Mehrheit obenauf jei, und wollte daher, 
indem er ſich jelber für dieſes unvermeidliche Indem erflärte, jeinen 
Barteigenojjen eine abermalige Abjtimmumgsniederlage eriparen. Der 
jehr veutlihe Winf wurde nicht verftanden oder nicht beachtet. Die 
Abjtimmung fand ftatt und hatte ein leicht vorauszuſehendes Kejultat: 
das „Bevor“ wurde mit großer Mehrheit verworfen. Die Zuſammen⸗ 
berufung der „konſtituirenden“ Nationalverſammlung war demnach 
in die Hände des Bundestags gelegt und die Reinigung deſſelben dem 
Zufall und dem Belieben anheimgegeben. 

Sowie der Beſchluß herauswar, ging ein großer Rumor in der 
Paulskirche los. In der Verſammlung wogte und brauſete der Zorn 
der geſchlagenen Minderheit, auf den Galerieen raſaunete und tram— 
pelte die „öffentliche Meinung“. Hecker und Struve ſtanden auf und 
führten ihr Fähnlein hinaus, — eben nur ein Fähnlein; denn es 
wurde nun handgreiflich offenbar, wie ſehr das ſogenannte „wilde“ 


Das „wilde“ Parlament. 37 


Parlament im Grunde ein zahmes war: den republifaniichen Gene- 
ralen folgte eine Armee von ganzen 40, höchſtens 50 Mann. Es 
wäre doch ein gar zur ftarfes Stück Wolkenkukuksheimerei gemweien, ſo 
ſich Heder und Struve eingebildet hätten, die Mehrheit der Verſamm— 
lung oder auch nur eine bedeutende Anzahl von Mitgliedern mit ſich 
hinausreißen zu können. Wenn fie aber jchlechterdings austreten 
wollten, jo hätten fie, nachdem fie einmal draußen waren, aud) 
draußen bleiben jollen. Cs war geradezu knäbiſch, durch einen Mehr- 
heitsbeſchluß erit zu einem „Setzt thun wir nicht mehr mit!“ fich ver- 
jtimmen und hernach mittels Phraſen, von welchen die Radikalen ja 
wiſſen muſſten, daß es nur Phraſen, zu einem „Jetzt thun wir wieder 
mit !* ſich umſtimmen zu laſſen. Heute der Licherlichen Illuſion nach— 
geben, man fünnte mittels eines barjchen Austritts Berufung an das 
„Bol“ einlegen, mittels des „Bolfes“ den ganzen vorparlanen- 
tariihen Schwindel wegblajen, die fürſtenfürchtige Mehrheit in alle 
Winde zerftiuben, an deren Stelle als ein Quaſi-Konvent ſich auf- 
thun, und dann morgen, auf eine VBerfiherung von feiten des Bundes- 
tags hin — ja, des Bundestags! — den parlamentariichen Schwindel 
wieder mitſchwindeln, was war denn das für eine Politik? Die Po— 
litik ſolcher, von denen gejchrieben fteht: „Puerilia tractant!* 

Die Blum, Itzſtein, Jakobi, Raveaux und Vogt waren zu ge- 
iheid, als dar fie das Austrittsmanöver ihrer Gefinnungsgenoffen 
mitgemacht hätten. Die beiden erftgenannten bemühten ſich eifrig und 
geſchickt, den Wiedereintritt derſelben zu vermitteln, weil ſie guten 
Grund zu der Befürchtung hatten, das beharren bei der Seceſſion 
würde nur die Machtloſigkeit der Seceſſioniſten aufdecken. Mitten in 
dem Trubel, welcher durch die Austrittsſcene veranlaſſt worden, iſt 
eine Frage zur Sprache gekommen, deren Behandlung denkenden 
Leuten klarmachen mußte, daß es der Liberalismus bei ſeinen parla— 
mentariſchen Evolutionen, jetzt und ſpäter, durchaus nur auf den 
Schwatz, nicht auf die That abgeſehen hätte. Der Mainzer Glaubrech 
brachte nämlich den Antrag vor, die Verſammlung wolle beſchließen, 
daß der von ihr zu beſtellende Ausſchuß als eine ſeiner erſten Auf— 


38 Die Berwidelung, I 


gaben die Herſtellung einer vollitindigen Volksbewaffnung zur Hand 
nähme. In dieſem Vorſchlag prägte ſich der ganz richtige Gedanfe 
der Demofraten aus, der Parlamentsidee die jolide Unterlage einer 
orgamifirten Volkswehr zu geben oder, mit anderen Worten, den durch 
die künftige Nationalverſammlung repräjentirten idealen Willen des 
deutihen Volkes zu einer realen Macht zu gejtalten. Jedem, der 
wicht ein liberaler Plattſchädel und eine doktrinäre Dreipfeimigjeele 
war, mußte der praftiiche Werth, mußte die abjolute Nothwendigkeit 
einleuchten, daß, wenn aus der deutichen Reform etwas werden jollte, 
ſchlechterdings eine Waffenmacht geichaffen werden müßte, welche den 
Heerfräften, Die man ja den Fürſten zur Verfügung gelafien hatte, 
die Stange halten könnte. Aber was half es, dämiſchen und dünkel— 
baften Doftrinären, welche mit den Spinngeweben ver fonftituttonellen 
Theorie die drei gewaltigen Iſmen, Bartifularismus, Dynaftieismus 
und Abſolutismus, feijeln zu können wähnten, Vernunft, Praris und 
Muth zu predigen? Als Glaubrech jenen Antrag ganz ſachgemäß 
begründet hatte, ließ ſich die erwähnte blonde Fiſtelſtimme vernehmen : 
„Das nothwendigſte it, eine Erklärung der Nechte des deutſchen 
Volkes zu erlafjen. Alles andere kann dann jpäter fommen“. Der 
dümmſte in der Paulskirche fitende Schwabe ſänerſeits greinte: 
„Nehmen wir den Antrag Glaubrechs an, jo handeln wir als pro- 
viſoriſche Regierung, was gewiß micht gerechtfertigt wäre”. Ein Herr 
Aſſmann aus Braunſchweig weinte: „Yeitet der Ausihuß Volks— 
bewaffnung ein, jo entreißt er den Kürften das wichtigfte Hecht, Das 
noch im ihren Händen ift, das Recht, die Ordnung in Deu land 
von fih aus berzuftellen“. Wan ſieht, der Wackere trug jein Knechts⸗ 
balsband mit Bewufitjein. Der Yiberalismus benahm ſich übrigens 
and) bei dieſer Gelegenheit echtliberal: er kaufte jid) mit Worten von 
der Verpflichtung, zu handeln, (os. Die Mehrheit beſchloß nämlich, 
der Ausſchuß jollte auf Volksbewaffnung in allen deutſchen Landen 
hinwirken — und damit war die Sache abgethan. Erwähnenswerth 
aber iſt um der hiftoriichen Gerechtigkeit willen, daß bei dieſer Ge- 
legenheit vie Stimme des Herrn Mathy im Sinne feines vormärz- 


Be 


Das „wilde“ Parlament. 39 


lichen bejjeren Selbjt zum letztenmal eriholl, inden er für die „Be- 
ſchleunigung der jo nothwendigen und dringenden Volksbewaffnung“ 
ſprach. „Wir müſſen die Volksbewaffnung haben, mie nad außen, 
jo auch als die einzigsfichere Garantie gegen Reaktion im Innern“. 
Wenn in der Volfsmehr- Debatte der vulgäre Liberalismus 
jeinen Unverjtand und jeine Feigheit breit und did ſehen ließ, To ließ 
er jeine Unwiſſenheit und Herzlofigfeit glänzen, ſobald die Verhand- 
lungen über den Umfreis der Schablone liberafer Bolitif hinaus und 
in das Gebiet der jocinlen Fragen hinein ftreiften. Dies fonnte nicht 
ausbleiben, als die dur Herrn Jaup aus Darmitadt im Namen von 
68 Mitgliedern beantragten 12 Punkte einer deutichen „Volkscharte“ 
hin= und hergeworfelt wurden. Blum und andere nahmen fich warn 
der arbeitenden Klafjen, dev „armen Leute“ an und empfahlen, in ven 
Entwurf der „Grundrechte aufzunehmen „ern volfsthimliches Kredit— 
ſyſtem mit Aderbau- und Arbeiterfaffen; Schut der Arbeit durch 
Einrichtungen und Maßregeln, um Arbeitsunfühige vor Mangel zu 
bewahren, Erwerbslojen Beihüftigung zu verschaffen, die Verfaſſung 
des Gemerbe- und Fabriksweſens den Bedürfniſſen der Zeit anzır- 
paſſen; Schulunterricht für alle Klafjen, Gewerbe und Berufe aus 
Staatsmitteln“. Der Yiberalismus, als politiiher Ausdruck der 
Bourgesijie im ſchlechteſten Sinne des Wortes, ſuchte einſtweilen 
mittel$ der allzeit beveitwilligen Springitange ver Phraſe iiber die 
unbequeme Kluft, welche die ſocialen Fragen vor ihm aufthaten, hin— 
wegzukommen. Daber war es freilich fatal, daß er ſelbſt jo viele 
Jahre hindurch, alle die Zeit von 1815 her die Arbeiter, die Prole— 
tarier im Namen der Freiheit und Gleichheit, im Namen des Natur 
rechts und des Hungers gegen die beſtehenden Gewalten aufgehetzt 
und aufgerufen hatte. Aber der Liberalismus, der nichts von Logik 
weiß, wuſſte ſich zu helfen. Der Herr Miniſter Römer aus Stuttgart 
erſchien auf der Rednerbühne und ſprach: „Meine Herren, Sie alle 
theilen gewiß die Sympathie für dieſe Leute und ich bitte durch anf— 
ſtehen den Beweis zu geben“. Der Liberalismus ſtand auf wie 400 
von einem Draht gezogene Marionetten und damit — Punktum. 


40 Die Verwickelung, I. 


Die ſociale Frage war in ſeinen Augen gelöſ't ... „Dieſe Leute!“ 
So lange es gegolten hatte, die Wälle und Mauern des Feudalſtaats 
und des abſoluten Polizeiſtaats niederzuwerfen, damit über die 
Trümmer hin die liberalen Matadore den Weg zu den Regierungs— 
ſeſſeln finden könnten, da hatten die Proletarier den liberalen Beſt— 
und Biedermaiern „liebe Brüder“ und „wackere Mitbürger“ geheißen. 
Jetzt aber, als ſich die lieben Brüder und wackeren Mitbürger hinter 
den zerriſſenen Wällen und zertrümmerten Mauern in voller Leibhaf— 
tigkeit aufrichteten und zu fragen begannen: „Wo ſind denn unſere 
Märzerrungenſchaften?“ da waren ſie für den Liberalismus nur noch 
„dieſe Leute“, welche man mit wohlfeiler, durch „aufſtehen“ kund— 
zugebender „Sympathie“ abſpeiſen wollte, unter Vorbehalt, daß, 
wenn dieſe Abſpeiſung nicht klecken ſollte, die Bajonnette und Kartätſchen 
des Belagerungszuſtandes gegen die weiland „lieben Brüder“ und 
„wackeren Mitbürger“ zur Hilfe gerufen werden müßten. ... 

Inzwiichen hatte der „hohe“ Bundestag ganz jo erbärmlich ſich 
benommen, wie es von diejer „erlaucdhten” Behörde erwartet werden 
mußte. Nod am Abend vom 2. April hielt er Sitzung in jenem 
thurn⸗ und taxis'ſchen Palaft in der ejchenheimer Gaſſe, welcher das 
Ziel unzähliger Flüche gewejen ift. Das Nejultat der Berathung war 
ein jo ſchmachvoll-feiges, daß es allein ſchon hinreichte, zu beweiſen, 
wie ſchändlich der Yiberalismus ſich beſudelte, indem er mit einer 
ſolchen Spott- und Dredgeburt von Behörde Arm in Arm ging. Der 
Herr Graf Kolloredo, dazumal Bundestagspräfident, hinterbrachte 
Herren Mittermaier, daß die Bundesverfammlung den Beſchlüſſen des 
Borparlaments fih fügen und den Fünfziger-Ausſchuß anerkennen 
werde; jowie, daß Diejenigen Gejandten, welche fühlten, der vom Vor— 
parlament am 2. April gefafite Beſchluß zielte auf jte, ihre Entlafjung 
bereits genommen hätten oder Dod) unverzüglich nehmen würden; end- 
(ch, dar ſämmtliche Gefandtichaften ihren Negierungen dringlichſt ge— 
rathen hätten, ven Bundestag ungeſäumt jo neuzubilden, daß derjelbe 
das allgemeine Vertrauen erwedte. 

Ber Eröffnung der Sitzung vom 3. April gab der Vorſitzer 


# 


Das „wilde“ Parlament. 41 


dem VBorparlamente diefe Schlugnahmen der Herren im thurn- und 
taris’schen Balafte fund. „Papa“ Itzſtein, welcher ſich geſtern ſchon 
abgemüht hatte, die Ausgetretenen wieder in die Berfammlung zurüd- 
zuführen, knüpfte an dieje Präſidialeröffnung die Bemerkung, daß die 
vernommenen Bundestagsbeihlifie „jeden Grund aufheben, welcher 
jene Männer veranlafit hat, aus umjerer Mitte zu ſcheiden“. Aus 
dem wirren Hin- und Herrevden, welches folgte, glaubte Itzſtein das 
Ergebniß ziehen zu Dürfen, daß ihn die Berfammlung, obzwar nicht 
ausdrücklich, bevollmächtigte, die Secefjioniften zum Wiedereintritt 
einzuladen. So faſſte auch Heder die Sache, als er, durch Itzſtein 
gerufen, mit jeinen Parteigenoſſen wieder in der Paulskirche erichten 
und von der Rednerbühne herab erklärte: „Weil die Verſammelten 
den Beſchluß gefafit haben, ums einzuladen, an der Berfammlung 
wieder theilzunehmen, und weil die ſeit geitern erfolgten Beſchlüſſe des 
Bundestags den Grund unſeres Austritts hinwegräumten, haben wir 
uns um des Baterlandes willen für verpflichtet erachtet, in die Ver— 
jammlung wieder einzutreten ®. 

Dieje hatte die Wiederfehr der Demokraten mit Beifall begrüßt ; 
aber jei es, daß die Mehrheit an der allerdings etwas jelbitgefällig 
lautenden Erklärung Heders ſich ftieß, jet e8 aus bloßen Partei— 
Umverftand, genug, die Liberalen machten den dummen Streich, bei 
der jetzt erfolgenden Wahl des Fünfziger-Ausſchuſſes die Heifiporne 
des Kadifalismus zu übergehen, ftatt diefelben mit in diejen Ausſchuß 
einzuwickeln und dadurch ebenfo „unſchädlich“ zu machen, wie fie, den 
früher gefafiten Vorſatz, die Minderheit bei der Wahlhandlung gar 
nicht zu berückſichtigen, pfiffiger Weiſe aufgebend, die eigentlichen 
Strategen und Taftifer der Demokratie, die Blum, Itzſtein, Raveaux 
und Jakobi, durch Einwickelung in den Ausſchuß „unſchädlich“ mach— 
ten. Hecker kam mit knappen 171 Stimmen als der einundfünfzigſte 
Struve mit nur 100 Stimmen als der zweiundſechzigſte aus der 
Wahlurne hervor. Den leicht erregbaren Hecker muß es wie der 
bitterſte Spott getroffen haben, gerade als der einundfünfzigſte der 
fünfzig gewählt worden zu ſein. Es iſt, wie die Menſchen im all? 


42 Die Berwidelung, I. 


gemeinen nun einmal find umd wie der Fritz Hecker im bejonderen 
war, jehr fraglih, ob ohne diefen Spott der Fritz jemals Veran 
lafjung gegeben hätte, daß von ihm gejungen würde: 

„Hecker blus im bellen Zorn 

In fein großes Putſcher-Horn.“ 

Wunderlich fontraftirte mit der feindſeligen Ausſchließlichkeit, 
welche die liberale Mehrheit bei ver Ausſchußwahlhandlung gegen die 
„urchigen“ Demokraten fundgab, der jcheinbar ſcharf-demokratiſche 
Windſtoß, welcher plößlicd in die Berhandlumgen dieſer 4. und letzten 
Situng des VBorparlaments vom 3. April hereinbrauf’te, noch dazu 
(osgelafjen von Einem, welder ſich ebenfalls gleich verſchiedenen an- 
deren jeiner badischen Yandsleute in dieſen Tagen aus dem verpönten 
Radikalismus in den patentirten und brevetirten Liberalismus hinüber— 
manjerte. Herr von Soiron aus Mannheim nämlich, welchem es in 
jeinen feimenden neuen Gefieder noch nicht vecht behaglich war und 
dem auch die Erinnerung im Kopfe jpufen mochte, daß er erft wor 
14 Tagen noch, am 19. März, zu Offenburg feurige Toafte auf die 
Republik ausgebracht hatte, — Herr von Soiron beantragte nämlich: 
„Die Berfammlung wolle erklären, daß Die Berathung und Beſchluß— 
nahme über die fünftige Verfaſſung Deutichlands einzig und allein 
der vom Volke zu erwählenden Nationalverfammlung zu überlafjen 

. Fehlte etwa noch etwas zur Deutlichfeit dieſes Antrags, jo that 
es a Motivirung des Antragitellers jofort hinzu. „Ih bin — jagte 
er — der Anficht, dag endlid das deutſche Volf auf fi vertrauen 
muß und vertrauen darf in dieſer kritiſchen Lage. Ich bin der Anſicht, 

daß wir heute laut und offen vor dem deutſchen Volke den Grundſatz 
der Volksſouveränität im höchſten Maße ausſprechen ſollen“. Ein 
ehrlicher Halsbandträger aus Hannover, Herr Siemens, entſetzte ſich, 
wie billig, über dieſen revolutionären Vorſchlag, von welchem er ſagte, 
derſelbe „paſſe nicht für Norddeutſchland. Für uns paſſt nur, was 
auf Vereinbarung zwiſchen Fürſt und Volk beruht“. Herr Aſſmann 
aus Braunſchweig ſtellte den Gegenantrag: „Die konſtituirende Na— 
tionalverſammlung hat die Grundzüge der deutſchen Verfaſſung zu 


Das „wilde“ Parlament. 43 


entwerfen und über deren Annahme mit den Fürſten Deutihlands zu 
unterhandeln“. 

Sp war dem Prineip der Volksſouveränität das Vereinbarungs- 
princip deutlih gegeniiber geftellt. Herr Welder wollte in jeiner 
täpptihen Weiſe den Gegenſätzen die Spiten abbrechen und verftieg 
ſich bis zu der Yächerlichkeit, zu jagen: „Das jind Dinge, um die 
fi) nur die Gelehrten itreiten“. Er machte aber damit das Wirrjal 
nur hitiger und die Verſammlung brodelte und ſtrudelte wieder ein- 
mal recht anarchiſch durcheinander. Herr von Soiron erichraf, vergaß 
in jenem Schreden jeine offenburger Toafte vom 19. März gänzlich 
und beeilte jich, den Beweis zu liefern, daß ſein erichredlicher Antrag, 
genau angejehen, weiter nichts jet als eine zweideutige Phraſe von der 
patentliberal-fautihufigen Sorte. „Ich bitte Ste — erläuterte er — 
überjehen Sie nicht, daß es in meinen Antrage heißt, der National- 
verfammlung jei die Berathung und Beſchlußfaſſung einzig und allein 
zu überlaſſen, und denken Sie fih das Wort überlajjen mit ganz 
großer Schrift gedrudt. Sie werden dann finden, daß diefer Antrag 
feinen Zwang gegen die Nationalverfammlung üben will, jondern 
ihr durchaus überläſſt, nachden fie mit ihrem Gejchäfte fertig ge- 
worden ift, dariiber Verträge mit den Fürften abzujchliefen oder 
nicht“. Der ganze Yirm war demnach ein Streit um des Kaijers 
Bart, eine liberale Schnurre, eine onftitutionelle Spiegelfechterei. 
Mit dieſer Motivirung konnte jelbjt der ausbündigſte Rückwärtſer 
dem Antrage zuſtimmen und die Zuſtimmung der Verſammlung er— 
folgte denn auch unter großem hallohen und jubiliren. Die Menſchen 
ſind ja ungeheuer froh, wenn ſie mit etlichem Anſtand ſich als erbärm— 
lich erweiſen können. 

Um 4 Uhr Abends that Herr Mittermaier ſeine Abſchiedsrede 
und ſchloß die Sitzungen des „wilden“ Barlaments. 


44 Die Verwidelung, I 


3 


Einer der Shärfftzangigen Krebje, welche in dem Parteigeflüfte 
der Baulsfirhe damals und fpäter aus= und einjchlüpften, Herr 
Jürgens aus Stadtoldendorf, hat geurtheilt: „In der Berufung und 
dem Verhalten des Vorparlaments war Sinn und Konfequenz nur 
dann, wenn es entweder durch Einfegung einer probiforifhen Ne 
gierung eine Revolution im großen Stile begann oder aber jid) feft 
und unentweglich den geſetzlichen Gewalten zur Seite ſtellte“. 

Das iſt ganz unbeftreitbar richtig. Was wollte, was that ftatt 
deſſen die Mehrheit im VBorparlament, wie fpäter in der National- 
verfammlung? Sie wollte zwiſchen dieſem Entweder und dieſem 
Oder einen Mittelweg ausfindig machen und wandeln, einen Mittel- 
weg, welden eben nur die liebe liberale Mittelmäßigkeit für den beiten 
Weg halten fonnte. Ste wollte den Belz waſchen, ohne ihn naß zu 
machen; fie wollte ein Mefier ohne Heft handhaben, dem die Klinge 
fehlte; fie wollte ihren Kretinismus verwirklichen: eine Revolution 
zu machen ohne Nevolution. 

Daher das ſchnöde, unheilvolle, die efelhafte Unfittlichfeit des 
Konftituttonalismus handgreiflich veranfchaulichende Lug- und Trug- 
ſpiel, in welches die Yiberalen ſich verjtridten. 

Sie jpielten mit Yegalität und Illegialität, mit Volfsrechten 
und Fürjtenprivilegien wie Jongleurs mit Gummibällen. Sie pro- 
flamirten die Volksſouveränität laut und wifperten den Fürſten, 
Junkern und Pfaffen leife zu: Das ift nur Spaß, nur facon de 
parler. ie verletsten die Fürften durch großwortige Befehle und 
liegen den verlegten alle Mittel, fi) zu rächen. Cie thaten fo, als 
führten fie das Kommando in Deutichland, und liefen doch dei 
Fürſten die Berfügung über die Heere und die Finanzen. Sie jchalten 
den Bundestag einen Yeichnam, geftatteten aber demſelben, weiter zu 
handiren, und traten mit ihm in Gejchäftswerbindung. Kurz, eine 
ſolche Verlogenheit und Unredlichkeit, wie der Yiberalismus fie im 
Vorparlament und fpäter entwidelte, eine ſolche aus Unverſtand und 


Das „wilde“ Barlament. 45 


Anmaßung zuſnmmengemantſchte Monſtruoſität, ein ſolcher Natten- 
könig von Dünkel und Ohnmacht, von Pfiffigkeit und Blödſinn, von 
Pralhanſerei und Feigheit hat fürwahr ſelten die Augen denkender 
Menſchen beleidigt. 

Aber auch die radikale Minderheit des Vorparlaments trifft 
der Schuldigſpruch der Geſchichte. Die Komödie des austretens und 
wiedereintretens war kindiſch. Da aber in dieſer Komödie ſelbſt die 
Anerkennung der Berechtigung der Verſammlung lag, ſo durfte, nach— 
dem ſie einmal geſpielt und der Wiedereintritt der Republikaner ge— 
ſchehen war, dieſe Berechtigung nicht ſofort wieder in Frage geſtellt 
werden, — auch dann nicht, als die Häuptlinge der „urchigen“ De— 
mokratie in dem Fünfziger-Ausſchuß keinen Platz gefunden hatten. 
Hecker vor allen hätte ſeines eigenen Wortes vom Alpha und Omega 
ſich erinnern ſollen. Wer parlamentariſch A gejagt hatte, mußte 
auch parlamentariſch B ſagen u. ſ. w. bis zum Z. Wer den Parla— 
mentarismus anerkannt hatte, durfte nicht, wenn der Parlamentaris— 
mus that, wie es ſeine Natur und Art war, vom Parlamentarismus 
an den Putſchismus appelliren. Das war nicht ehrlich, es war auch 
nicht politiſch, ſondern, mildeſt geſagt, knäbiſch-launenhaft, burſchikos— 
romantiſch. 

Es geſchah aber doch und zwar hauptſächlich deſſhalb, weil Hecker 
kein Charaktermann, ſondern ein Stimmungsmenſch war, welcher 
ſich als ſolcher allzeit und überall gezeigt hat. Er war unzweifelhaft 
rein und edel von Natur, voll Seelenſchwung und durchpulſ't von 
inniger Vaterlandsliebe. Nie, ſelbſt im Traume nicht, hätte er die 
Möglichkeit begriffen, daß man, um Miniſter zu werden, an ſeinem 
beſten Freunde zum Mouchard werden könnte, oder daß man, um eine 
ordentliche Profeſſur oder dergleichen zu ergattern, über eine beſiegte 
und geſtandrechtete Partei, welcher man früher ſelber angehörte, unter 
dem Titel von „Denkwürdigkeiten“ mit ſchlechtverhehlter Freude über 
die Standrechtsmorde ein ſerviles Läſterbuch zu ſchreiben im ſtande 
wäre. Aber ebenſo wenig wie dieſe Möglichkeit vermochte er die Un— 
räthlichkeit zu begreifen, den Maßſtab der eigenen ſturm- und drang— 


46 Die Berwidelung, 1. 


vollen Perſönlichkeit an die Durchſchnittsmenſchen — und dieſe 
machen die menjchliche Gejellichaft aus — zu legen. Wer fi) zu 
einem Führer unter den Menjchen aufwirft, muß dieſe fennen; das 
ift feine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Hecker fannte fie nicht. 
Mit einer wahrhaft verblüffenden Naivität hat er nad dem Mif- 
lingen feiner Scyilverhebung erzählt: „Täglich Tangten (zu Anfang 
Aprils) Briefe, Adreſſen, Deputationen bei Heder und Struve an, 
von welchen man überzeugt war, daß fie nicht bloß zu reden, jondern 
auc zu handeln entſchloſſen ſeien. Man forderte fie auf, die Re— 
publif auszurufen und mit den Waffen in der Hand vorwärts zu 
rücken. Stündlich mehrten ſich die feierlichen Zufagen entichloffener 
Mitwirfung von fetten der Birger und Soldaten; ſtündlich mani— 
fejtirte jich der Volkswille energiicher und wurde erklärt, daß, wenn 
ſich jene nicht an die Spitze jtellten, das Volk für ſich handeln werde, 
da e8 nicht länger zurüczuhalten jei. Und — jollte man e8 glauben ? 
— von jenen Adrefjanten, Briefichreibern und perſönlich erfchtenenen 
Aufforderern zogen fich die meisten im Momente des handelns feige 
zurüc oder arbeiteten geheim und offen der Erhebung entgegen” . . 
AW ihre Götter, als ob das verwunderlic wäre? Diejer naive 
Menſch hatte doch ſchon jahrelang in einer Deputirtenfammer gejeffen, 
hatte jahrelang den fonititutionellen Humbug mitgemacht und wuſſte 
noch nicht, Daß derjelbe die Menſchen und die Völker demoralifirt ; 
wuſſte auch noch nicht, dag vom Worte zur That, vom wünſchen 
zum handeln ein unendlich weiter Weg tft, welchen die ungeheure 
Mehrzahl der Leute gar nicht zurüclegen fan, ja nicht einmal zurück— 
legen will. Man fieht, Heder war ein Träumer und Illufionär, 
und diefe find nicht zum weltgefchiehtlichen handeln gemadt. Dazır 
find die großen Helden und die großen Spitzbuben da, was beides fie 
häufig, meiftens jogar in einer und derfelben Perſon vorftellen. 
Während der Strudeltage des Borparlaments hatte fid) das um 
Heder und Struve gejcharte Fähnlein der „Urchigen“, deren ganze 
Politik in dem Zauberworte „losſchlagen“ ſich zufammenfaffte, durch 
fortwährende Reibung unter einander und mit der liberalen Staats- 


Das „wilde“ Parlament. 47 


männijchfeit mehr und mehr erhist. Nach geichehener Wahl des 
Fünfziger-Ausſchuſſes war vollends im „Wolfseck“, dem Hauptquartiere 
der Losſchlägerei, gar kein Zweifel mehr, daß es jetzt „losgehen“ 
müſſte. Wer in den vertrauten, vertrauteren und vertrauteſten Be— 
rathungen der „Heckerlinge“ und „Struvelpeter“, wie die Beſt- und 
Biedermaier die Anhänger der Republik verunnamſeten, einiges Be— 
denken gegen den Wahn, bei Aufpflanzung der republikaniſchen 
Fahne im Felde würde ſich in Südweſtdeutſchland das „Volk“ maſſen— 
haft für dieſelbe erheben, lautwerden ließ, muſſte ſchon als ein in der 
Wolle gefärbter Republikaner bekannt ſein, um nicht ſcheel angeſehen 
zu werden. Als in einer dieſer Berathungen die Frage aufgeworfen 
ward, wo man zuerſt losſchlagen ſollte, wurde Wirtemberg genannt. 
Ein anweſender Schwabe glaubte ſeinen Ohren nicht trauen zu dürfen. 
Er ſetzte, um ſein Heimatland wenigſtens wor die ſem Schwaben— 
ſtreiche zu bewahren, auseinander, daß und warum es in Wirtemberg 
unmöglich „losgehen“ könnte. Seine lieben Landsleute ſeien gerade 
vollauf damit beſchäftigt, an dem vergoldeten und verzuckerten Firle— 
fanz der „Märzerrungenſchaften“ ſich zu erluſtiren wie Kinder am 
Chriſtbaumströdel. Sie befänden ſich im höchſten Stadium, im 
Delirium ſo zu ſagen des Vertrauens zu ihren neugebackenen „März— 
miniſtern“. Eine republikaniſche Schilderhebung in Wirtemberg 
. würde und müſſte unfehlbar ſchmählich vergecken; denn — ſchloß der 
Mann aus Schwaben — „ meine lieben Landsleute merfen es ge= 
wöhnlich etwas jpät, wenn fie angeführt und angefchmtert werden, 
und es wird deſſhalb noch etliches Waſſer den Nedar hinabflieffen 
müſſen, bevor fie dahinterfommen, was es mit Märzerrungenjchaften 
und Märzminijtern eigentlich für eine Bewandtnig habe“. 
Daraufhin lautete die Fragejtellung: „Soll die republifantiche 
Fahne im Odenwald oder aber im badischen Seefreis erhoben werben ? * 
Die Entſcheidung fiel für den Seefreis und allerdings war dieſe Yand- 
ſchaft die geeignetite Stätte, falls es nämlich für einen von Anfang 
an hoffnungsloſen Verſuch überhaupt eine geeignete Stätte gab. 
Denn dort, in dem an der Schweizergränze langgeftredt ſich hin— 


48 Die Verwidelung, I. 


ziehenden badiſchen Seekreiſe war ſchon ſeit längerer Zeit im republi— 
kaniſchen Sinne der Mann thätig gewejen, welcher die Volksbear— 
beitungskunſt in ganz Deutſchland am beiten verjtand und dieſe Kunſt 
mittels des Wortes und der Schrift mit ganzer Hingebung und hödjiter 
Ausdauer ausübte. Joſeph Fiedler, ein geborener „Wühler“, ver, 
falls jeine Anſchläge gelungen wären, jest ein großer Mann heißen 
und von denjelben verjtandespürren und herzenstrodenen Propheten 
der richtigen Mittelmäßigfeit, welche jego von ihm nur wegwerfend 
als von einem „Wirthshausagitator” reden, als ein großer Mann 
gepriejen würde, — Joſeph Fiedler beſaß einen jcharfen Verſtand und 
ein warmes Herz. Es hat im ganzen Bereiche der deutſchen Be- 
wegung feinen zweiten Mann gegeben, welcher im fühlen und venfen, 
im reden und thun jo ganz und gar volfsmännifh war wie er. 
Aus der Anihauung und Sinnesweiſe des Volfes heraus wirkte er 
auf dafjelbe von jeinem Wohnorte Konftanz aus durch feine „See= 
blätter”, ſowie durch feine häufigen Mifjionsreifen. Seine Popu— 
larität im ganzen Seekreiſe, im Schwarzwalve, bis hinab ins Wiejen- 
thal und hinüber in den Breisgau, war eine außerordentliche. Wenn 
vie beabfichtigte republikaniſche Schilderhebung irgendeine Ausficht 
auf Erfolg haben jollte, jo muſſte die oberjte Führung bei Fidler 
jein, welcher hierfür ganz andere Eigenihaften und Fähigkeiten mit- 
gebracht hätte, als fie dem Romantiker Heder und dem Doktrinär 
Struve zu Gebote jtanden. Der geſcheide Streber Mathy wuſſte 
daher recht wohl, was er that, als er jeinen Freund und Wohlthäter 
Fickler an die großherzogliche Polizei verrieth und überlieferte, zur 
Stunde, als der Berrathene von Karlsruhe nad) Konſtanz heimfehren 
wollte, um — was ihm freilich nahmals, nad dreizehnmonatlicher 
Haft und Procedur vor Gericht nicht bewiejen werden fonnte — die 
mit feinen Parteigenofjen verabrederen Rüftungen zum Aufjtand 
ernftlic in die Hand zu nehmen... . 

Ziehen wir, nochmals nad Franffırrt zurüchlidend, die Summe 
ver Verhandlungen des Borparlaments, fo ergibt ſich: — Konfufion. 
Dieje Verſammlung hatte nicht gewollt, was fie gefonnt, und jie 


Das „wilde“ Parlament. 49 


fonnte nicht, was fie wollte. Ihre rechte Seite wollte den Piberalis- 
mus und Konjtituttonalismus über den Feudalismus, Abfolutismus 
und Klerifalismus triumphiren machen, d. h. unter Vorſchützung demo- 
kratiſcher Phraſen der Bourgeotfie im engjten Sinne zu dauernder Herr- 
ſchaft verhelfen, und das alles, indem jie mit den Fürjten, dem Adel umd 
der Geiftlichfeit fich verband. Die linfe Seite wollte die von ihren 
Gegnern proflamirte „Revolution auf gejeglihem Boden“ zu Guniten 
der Demokratie wenden umd merkte nicht, daß fie ſich dadurch zur 
Mitſchuldigen eines volksbetrügeriſchen Kretinismus machte. Die 
linkſte Seite endlich hatte durch ihre bis zuletst fortgejetste Bethei- 
ligung an der Verfammlung anerfannt, daß diefe die legale „Volfs- 
jouveränität” repräjentirte, und doch wollte fie jett an eine illegale 
appelliren. Konfufion! Konfufion! Konfufion ! 


Scherr, 1848. 2, Aufl. II. 4 


II. 
Putich- Idyll. 
1. 


Am Abend vom 7. April hatten die Yente von der babifchen 
Yandtagsoppofition in ihrem gewohnten Kneiplokale zu Karlsruhe 
zum letstenmal gejellig beifammen geſeſſen. Die heute noch in füb- 
deutich-leichtlebiger, ftudentiich-geräufchvoller Weife mitfammen ge- 
trunken, geraucht und geplandert hatten, jollten ſich morgen ſchon als 
Todfeinde gegenüberfteben. 

Unzählige folder Riſſe find zu jener Zeit gewaltfam durd bie 
deutſche Gejellihaft gegangen. Menſchen, welde nodh im März 
einander achteten und berzlid) liebten, haben ſchon im April einander 
wie wilde Beitien angefnurrt. Der politiiche Parteihaß nahm jo ganz 
die giftige Norm des religiöjen an, daß man leicht hätte glauben 
können, man befände ſich unter lauter Pfaffen und vernähme ven 
fanatiſchen Zank um das nichts katholiſcher oder proteftantif 
Dogmen, das Gepfauche, Gegeifer und Gezeter der Mefjebuchlen 
und der Vibelbonzen. Hüben und drüben tummelten fidy die ge- 
meinten Inftinkte, die bösartigſten Leidenſchaften. Walls die Lügen, 
Leumundfälſchungen und Päfterungen, welche die Parteimuth damals 
erfand und ausgeben lief, zu einem Berge aufgethürmt werden könn- 
ten, der Berg würde bis zum Sirius emporreihen. Und das alles 
„um Hefuba“! Um Berjonen, um Meinungen, um Warben, um 


| 


Putſch⸗Idyll. 51 


Formeln, um Worte, um Buchſtaben, um nichts, — wenn nämlich 
die menſchliche Dummheit nichts wäre. Ja, die Menſchheit würde 
ſicherlich ein recht nettes Ding ſein, wäre ſie nur nicht aus Menſchen 
zuſammengeplätzt . .. 

Die Geſellſchaft im „Pariſer Hof“ brach auf. Die Mehrzahl 
ihrer Mitglieder war jhon zur Thüre hinaus, als ein Mann von 
gebrungenem, unterjegtem Gliederbau, auf deſſen breitem Naden ein 
runder Kopf mit dunkeln Augen und energiihem Geſichtsausdruck 
ſaß, etliche der nody Anweſenden in eine Fenftervertiefung zog. „Ich 
muß heute noch fort,“ jagte er raſch — „Warum denn ?* — „Ei, 
habt ihr denn nicht bemerkt, wie mid) der Mathy von der Thür- 
ihmelle des Nebenzinmers aus anjah, bevor er wegging? San’ 
euch), das war ein Judasblid! Der Mathy wird mich verrathen“. 
— „Bab, bah! Nicht aud) vollends! Was denkſt vu doch? Der 
Mathy ein Judas? Chimären! Geb’ zu Bett und ſchlaf' deinen 
närriſchen Argwohn aus“. Fickler ließ fich bereven ; allein Schon im 
Begriffe, in's Bett zu fteigen, jagte er noch einmal zu den Freunden, 
welche ihn auf fein Zimmer begleitet hatten: „Und id) ſag' euch, 
es wäre, beim Stral! geſcheider, wenn ic) heute noch abreiſ'te“. 

Als er am folgenden Morgen auf den Bahnhof kam, um mit 
dem um 8 Uhr nad) dem Oberlande gehenden Zug abzureiien, war 
Herr Mathy ſchon dort. Widler ſaß bereits im Waggon, als der 
verrätheriſche Freund mit Boliziften und Bahnbofbedieniteten an den 
Schlag herantrat und jeine Begleiter auffordert, den „Yandesver- 
räther“ zu verhaften. Die Yeute weigerten fi, zu gebordhen. „Wo 
Aft der gerichtliche Verhaftsbefehl?“ fragten fie. Herr Mathy hatte 
aud auf diejen Zwiſchenfall fid) vorgeſehen. Militär war in der 
Nähe. Er holte e8 herbei. „Auf meine Verantwortung als Mit- 
glied der Abgeorinetenfammer, verhaftet diefen Mann. Er ift ein 
Landesverräther!" Dies Wort that feine Wirkung. Fickler wurde 
aus dem Wagen geholt und als Gefangener in den Rathhausthurm 
abgeführt. 

Daß Herr Mathy mit diefem Stüdlein viel für das Mifflingen 

4° 


52 Die Berwidelung, I. 


der republikaniſchen Schilverhebung gethan hat, unterliegt feinem 
Zweifel. Die geihichtliche Wahrhaftigkeit fordert auch, daß gejagt 
werde, e8 habe ihm an einem gejetlichen Vorwand, den Shirren zu 
ipielen, nicht gefehlt. Das Hofgeriht in Bruchjal hatte nämlich 
eine Unterfuchung gegen Fidler angeordnet, weil derjelbe die am 
2. April zu Achern tagende Bolfsverfammlung zur Berjagung der 
Fürſten aufgefordert, jowie mit ven Deutſchen in Frankreich und in 
der Schweiz, welche einen bewaffneten Einfall in Deutſchland beab- 
fihtigten, Beziehungen unterhalten hätte. Der mathy'ſche Geſetzlich— 
feitseifer fonnte natürlich feinem Yohne nicht entgehen. Wenige Tage da- 
rauf hatten die Demokraten Beranlafjung, zu jagen: Der Herr Miniſter 
Mathy kann fid) bei vem Mouchard Mathy bedanken. Gegenüber 
diefer Verdammung erhoben die Piberalen ihrerjeits Mathy's Sbirren- 
that bis zu den Wolfen. Der liberale Bhilifter in ganz Süddeutſch— 
land jubelte darüber hochauf. Er votirte Herrn Mathy eine Bürger- 
frone, er pries ihn als einen „antiken Charakter”, welcher, um das 
Baterland vor Anarchie und Bürgerkrieg zu bewahren, jeinen 
„theuerjten Gefühlen Zwang angethan habe“. 

Nachdem Fiedler hinter Schloß und Riegel, eilte der neugebadene 
„antike Charakter“ und hoffnungsvolle Minifterfandivat in feine 
Heimatjtadt Mannheim hinüber, um die Bürgerfrone in Empfang 
zu nehmen. Der Auf feiner Großthat war ihm vorausgeflogen, 
allein das pfälzisch-lebhafte Volk in Mannheim verftand dieſelbe 
leider jo, daß es ernftlih Miene machte, ven Thäter in Stüde zu 
reißen, Die ganze Bürgerwehr mußte aufgeboten werden, ihn umd 
jeine Wohnung zu hüten; auch wurden zu dieſem Zwede Truppen 
aus Karlsruhe requirirt. Unter dem Schute der bewaffneten 
Bourgevifie verfuchte Herr Mathy vom Nathhausbalfon herab fich zu 
rechtfertigen. Auch der Berrath hat feine Logik, und wer A gejagt 
hat, muß B jagen. Herr Mathy that aljo feinen thenerjten Ge- 
fühlen nod) einmal Zwang an und redete beſt- und biedermänniſch 
auf den mannheimer Marktplat hinab: „Fickler war ein Landes— 
verräther! Er hat mit ven Fremden, mit den Franzoſen fonfpirirt, 


Putſch⸗Idyll. 53 


um ſie zu einem bewaffneten Einfall in Baden zu veranlaſſen. Ich 
habe die Aktenſtücke, welche dies unzweifelhaft darthun, bei Mitter— 
maier, dem Präſidenten der Abgeordnetenkammer, eingeſehen“. Na— 
türlich wurde jetzo dem muthigen Vaterlandsretter die Bürgerkrone 
feierlich aufgeſetzt. Aber — oh, unbegreifliche Querköpfigkeit eines 
deutſchen Profeſſors! — Präſident Mittermaier ging her und erklärte 
in öffentlichen Blättern, Herr Mathy hätte gelogen; er, Mittermaier, 
wüßte nichts von den erfabelten Aktenſtücken. Dieſe „taktloſe“ Wahr— 
heitsbezeugung erregte den Ingrimm des Herrn Beſt-, Bieder- und 
Baſſermann, welcher dem unglücklichen Profeſſor und Präſidenten 
auf die Stube rückte und ſo grob auf denſelben hineinſchimpfte, daß 
der alſo in der Staatsmänniſchkeit —— vor Aerger alles 
Ernſtes erkrankte. 

Zu ſeiner Vaterlandsrettungsrede war Mathy wahrſcheinlich 
begeiſtert worden durch die friſche Erinnerung an die vortrefflich— 
rückwärtſige Wirkung, welche der ſogenannte „blinde Franzoſenlärm“ 
— in der Nacht vom 25. auf den 26. März ausgeborſten — im 
ſüdweſtlichen Deutſchland gethan hatte. Männer mit ſehenden Augen 
und hörenden Ohren waren ſchon damals überzeugt und haben es 
laut ausgeſprochen, daß dieſer dumme Lärm, demzufolge die Franzoſen 
maſſenhaft über den Rhein gegangen ſein ſollten, um Deutſchland 
mit Brand und Raub und Mord heimzuſuchen, von Feinden der 
deutſchen Bewegung in Scene geſetzt worden ſei, um mittels dieſes 
Phantoms von franzöfiihem Ein- und Ueberfall, welches in dem 
ganzen Lande zwijchen Rhein und Donau ein jo Lächerliches veiten, 
rennen und rumoren veranlafte, dem Stadt- und Yandphiliiter 
Angft zu machen und den armen Michel ſchon jest mit Sehnjucht 
nad) der Ruhe und Ordnung der guten alten frommen Polizeiſtaats— 
zeit zurücdbliden zu laffen. Herr Bekk, ver badische Hauptminijter 
dazumal, hat die Wahrheit geſprochen, wenn er im jeiner Schrift 
über „die Bewegung in Baden“ jagte, der „blinde Franzojenlärm“ 
jet amtlic) aus Wirtemberg nad) Baden hinübergetragen worden; 
in der That, er war im erjtgenannten Yande fabrizirt. 


54 Die Berwidelung, I. 


Die erſte Idee dazu mag der Umſtand gegeben haben, daß nad 
der Februarrevolution die Deutihen in Paris, vorweg die deutjchen 
Arbeiter, unter dem Vorſitze von Georg Herwegh zu einem demo— 
kratiſch-⸗republikaniſchen Vereine fich zufammengethan und dann milt- 
täriſch fi organifirt hatten, zu einer 2 Bataillone ftarken Yegion, 
welche ven „Brüdern in Deutſchland“ zu Hilfe ziehen follte umd 
wollte. Wunderlicher Weife waren die Hauptmacher diefer Frei— 
ihärlerei mit Ausnahme Herweghs lauter Herren „von“: — Herr 
Adalbert von Bornftedt, Herr Neinhart von Schimmelpenninf, Herr 
Otto Julius Bernhart von Korvin. Während der Flitterwochen der 
Februarrepublik ift in Paris viel Völkerſolidaritätspolitikſchwindel 
geihwinvelt worden und jo unterjtütte denn auc die proviſoriſche 
Regierung das Projekt der Deutichen in Paris, wobei ihr Neben- 
oder vielmehr Hauptzwed geweſen ift, eine hübſche Anzahl beichäf- 
tigungslojer Arbeiter aus Paris und aus Frankreich abzuſchieben. 
Die Regierung ließ durch den Mund ihres Mitglieds Flokon den 
Hauptleuten das nöthige Geld zur Ausrüftung der deutſchen Legion 
anbieten und Herwegh beging die märchenhafte Bejcheivenheit, nicht 
mehr als 2000 Frances zu fordern, worüber jein praftiicherer Be— 
gleiter Korvin als über eine foloffale „Dummheit“ fi) entjeßte. 
Denn — meinte er mit Recht — „Herweghs Abneigung, überhaupt 
Geld von der franzöſiſchen Negierung zu nehmen, hatte zwar in einer 
ehrenhaften Regung ihren Grund; allein da er fich einmal entſchloß, 
überhaupt etwas zu nehmen, jo mußte es doc dem Zweck ent- 
ſprechen“. Mit 2000 Francs eine Yegion von mehr als 1000 Mann 
ausrüſten zu wollen, war allerdings jehr dichteriſch. Indeſſen, vie 
Leute hatten guten Willen und thaten für ihre Ausrüftung das meijte 
jelber, fo daß in den letzten Märztagen die Yegton in zwei Scharen von 
Paris nad Straßburg abrliden konnte. Schon auf dem Marſche machte 
ſich jedoch die gänzliche Unfähigkeit und Unerfahrenheit der metjten 
Führer, wie nicht minder die diſciplinloſe Handwerksburſchenbummelei 
der Mannſchaft jo unangenehm bemerkbar, daß der Flägliche Ausgang 
des ganzen Unternehmens mit Beitimmthert vorherzujehen und vor— 


Pputſch⸗Idyll. 55 


auszuſagen war. In Straßburg angelangt, erfuhr die Legion ſo— 
fort, daß die franzöſiſche Regierung ſich ganz und gar nicht mehr um 
ſie bekimmerte. „Hätten die Straßburger ſich unſer nicht freundlich 
angenommen — klagt der Homer dieſer traurigen Odyſſee, Herr von 
Koroin — wir hätten in diejer Stadt verhungern müſſen“. 

Die badiſche Negierung hatte natürlich alsbald ihre Augen 
auf diefen in Straßburg angefammelten „republifaniichen Horden“. 
Sie blickte mit derſelben Angſt auch nach der Schweiz hinüber, allwo, 
wie die Rede ging, in Bern und Biel deutſche Arbeiter ebenfalls zu 
einer Legion ſich Scharten, welche fich dem Bürger Heder als Obmann 
der badiſchen Volfsvereine oder aud) dem Kommando der von Paris 
herfommenden Freiſchar zur Verfügung ftellen jollte. Die liberale 
deutſche Angſtphiliſterei offenbarte ſich in der kindiſchen Furcht wor 
diejen „Legionen“, welche in der Wirflichfeit jo dünn und dürftig 
ausjahen, in ihrer ganzen Länge und Breite und ihr gegenüber hatte 
Herwegh ganz recht, zu jagen: „Dit es möglich, ein ſolches Geſchrei 
zu erheben um ein paar Taufend Deutſche“ — (e8 waren lange nicht 
jo viele) — „die aus der Fremde in ihr Baterland zurücfehren 
wollen und die zu diefem Zwede und im Intereffe der Ordnung thun, 
was alle Welt jet thut, d. h. ſich vereinigen, um, wie fie zufanmen 
gelitten haben, nun aud) in der Heimat, nicht gegen die Heimat zu— 
jammen zu kämpfen? Ihr wollt fie mit Flinten und Kanonen, mit 
Feuer und Schwert empfangen, weil jie bewaffnet ericheinen? Cole 
Sprache der jungen deutſchen Freiheit! Entweder it es euch ernſt 
mit der allgemeinen Bolfsbewaffnung und dann könnt ihr feinen 
eurer Brüder davon ausſchließen, oder ihr fürchtet das bewaffnete 
Volk und dann jetd ihr Heuchler, die nur von Volksbewaffnung reden, 
um einer ſchwankenden Popularität wieder auf die Beine zu helfen“. 
Natürlich war es jo. Die „Volksbewaffnung“ iſt ja nur eine Bhrafe 
gewejen, die von jeiten der Yiberalen gehandhabt wurde wie alle ihre 
übrigen großbrodigen Phraſen. Wirklich bewaffnet jollte neben den 
Soldaten und PBoliziften nur noch der Angitphilifter felber fein und 
die bis an die Zähne bewaffneten Gewatter Hof- und Geheimräthe, 


56 Die Berwidelung, I. 


Hofichneider und Hofköche haben denn auch unbedingt mit zu den 
heiterjten „Geſtalten“ des tollen Jahres gehört. Heulen war ihr 
Paßwort und Zähneflappern ihr Felpgejchrei. 

Daß die Rückwärtſer die Angſt der ſtädtiſchen und ländlichen . 
Bourgevifie vor dem Freiſcharenweſen bis zur höchſten Potenz ftei- 
gerten, ijt begreiflich ; es entiprad) das ganz ihrer Taftif. Daß man 
aber auf vemofratifcher Seite, wo man doch den jämmerlichen Aus- 
gang der noch dazu unter den günftigjten Umftänden zur Sonder— 
bundszeit in der Schweiz unternommenen Freiſcharenzüge noch ganz 
friſch im Gedächtniß haben mußte, von der Freiſchärlerei etwas be- 
deutendes oder überhaupt nur etwas erwarten fonnte, würde unbe— 
greiflich jein, jo man nicht wüßte, daß .gegen die Dummheit befannt- 
(ich jelbft Götter vergeblich kämpfen, gejchweige einzelne hellfichtige 
Menſchen. Wer zu jener Zeit verdammt war, in demofratiichen 
Verſammlungen als Demofrat gegen den ſouveränen Unverſtand an— 
kämpfen zu mifjen, wird Ja und Amen dazu jagen. 

Die badische Regierung hatte auf ihrem Stand- oder vielmehr 
Wadelpunkte vollauf Urſache, beim Bundestag in Frankfurt und 
anderwärts die Freiicharengefahrtrommel jo heftig zu.rühren, wie fie 
eben that. Sie fonnte fid) weder auf das ftehende nod auf das 
jitende Heer, weder auf ihre Beamten noch auf ihre Soldaten ver— 
laſſen. „Die gejeslihe Autorität war durch die Aufregung und 
Agitation faſt überall gelähmt, in vielen Gegenden beinahe ganz wir— 
kungslos“, bezeugt Hagend der Herr Minifter Bell. Das Armee- 
wejen war verrottet, die Bildungslofigfeit des Offizierforps wußte 
und wollte nur den Kamajchendienftichlendrian, Die im Heere von 
oben herab gepflanzte und begünftigte Junkerei und Flunkerei hatte 
die Soldaten erbittert und den von demokratischer Seite fommenden 
Belehrungen und Lodungen jehr zugänglich gemacht. Die badiſche 
Regierung jah ſich demzufolge anderweitig nad) Hilfe um. Sie er— 
wirkte in Frankfurt den Bundestagsbeihluß, daß das 7. und 8. Korps 
der Bundesarmee (Baiern, Wirtemberger, Darmheſſen und Badener) 
mobil gemacht würden, um nad) Bedarf im ſüdweſtlichen Deutjch- 


Putſch⸗Idyll. 57 


land verwendet zu werden. Der Beſchluß kam zur Ausführung und 
demnach waren ſchon in den erſten Tagen des Aprils Truppenauf— 
ſtellungen getroffen, welche mehr als hinreichend geweſen ſind, jedes 
von „Putſch und Kompagnie“ unternommene Geſchäft ſofort zu einem 
bankerotten zu machen. Die karlsruher Regierung, auf die Nullität 
ihrer eigenen, den Soldaten verhaſſten Generale aufmerkſam gemacht, 
trug auch Sorge, das Kommando über die badiſchen Truppen einem 
Nichtbadenſer zu übertragen, welcher für einen Mann von Talent 
und Energie galt, nämlich dem Herrn General Friedrich von Gagern, 
der bislang in holländiſchen Dienſten geſtanden hatte. 


2 


ir 


Illuſionär Heder war derweil am 8. April von Karlsruhe heim 
nad) Mannheim gegangen, an demſelben Samftag alfo, wo Herr 
Mathy vom Nathhausbalfon herab den guten Mannheimern eine 
Bürgerfrone abgel . . . idert hatte. Die Stadt ſchwamm in trium- 
phirender Angſtmaierei. Keine angenehme Temperatur demnach da- 
jelbft für Einen, der die Fahne der Nepublif aufzupflanzen im Be- 
griffe war. ° Quer, diefe Mathy-Atmofphäre, jehr quer! Der Plan 
der badischen Nepublifaner war gewejen, daß Fidler im Seefreis und 
Schwarzwald, Struve im Breisgau, Heder in der Nhein- und Nedar- 
landſchaft ven Aufjtand entfachen und fommandiren follten. Nun ſaß 
aber Ficler hinter Schloß und Niegel und die Stadt Mannheim 
ſammt Umgegend war zur Stunde ein Boden, auf welchem ein Mann 
in einer republikaniſchen Bluſe, mit Flößerftiefeln an ven Beinen 
und mit einer rothen Feder auf dem „Hederhut“ nicht ungeführdet 
jtehen konnte. 

Daher — erzählt uns Heder*) — „verabichiedete ich mid) 

*) Heder: Die Erhebung des Volkes in Baden für die deutiche Re— 
publif, 2. Aufl. Straßburg 1848. Wo weiterhin im Tert Aeußerungen 


58 Die Verwidelung, I. 


Sonntags am 9. April mit Tagesanbruh von meinen Weibe, 
welches in Freud’ und Leid treu und innig bei mir gejtanven, bei der 
ich in ungetrübtem häuſlichem Glücke jo oft Ruhe und Erſatz nad) 
den Kämpfen des öffentlichen Yebens gefunden, drückte einen Kuß auf 
die Stirnen meiner drei jchlafenden Kleinen und verließ mit der Zu- 
verficht, welche der Glaube an eine gerechte Sache gewährt, ein glän- 


Heders angezogen werden, find jte diejen jeinen Aufzeihnungen entnommen. 
Um das vorliegende Kapitel zu jchreiben, babe ich mich durch einen ganzen 
Haufen von ungedrudten Privatmittheilungen und von gedrudtem Quellen— 
material bindurchgearbeitet, wie jolhes von beiden Parteien über den April- 
gang der badiſchen Republifaner geliefert worden ift. Die wertboollften 
Berichte von diejer Seite find die, welche Heder, Struwe, Sigel und Mög— 
ing unmittelbar nach dem fjcheitern der Inſurrektion niedergejchrieben 
baben. Auf Möglings Relation und auf jeine Denkwürdigfeiten („Briefe 
an meine Freunde“, Solothurn 1858) lege ich ein jehr großes Gewicht, 
weil ich den braven „Hannes“ all jein Yebenlang als einen durch und durch 
wahrhaftigen Dann gefannt babe. Auch Korvins Bericht (über die ber- 
wegh'ſche Expedition von 1848, wie iiber den badifhen Aufftand von 1849) 
ift von Belang („Aus dem Leben eines Volkskämpfers,“ Amfterdam 1861, 
Bd. 3). Den weitaus wichtigften Beitrag zur Geidhichte der „Bewegung in 
Baden 1848— 49” (Mannheim 1850) von royaliftifcher Seite her bat unter 
diefem Titel der badische Minifter 3. B. Bekk geliefert. Auch das „Leben 
des Generals Friedrid von Gagern” von feinem Bruder Heinrih von 
Gagern (Bd. 2, Abthlg. 2) ift zu Rathe zu ziehen. Die „Denkwürdigkeiten 
zur Geſchichte der badiſchen Revolution“ von 8. Häuffer (Heidelberg 1851) 
find die grelle Barteifchrift eines „Liberalen“ Profeffors. Im übrigen bleibe 
ich meinem im 1. Bande durchgeführten Entſchluſſe, diejes mein Bud nicht 
mit Noten-Ballaft zu belaften, getreu und werde daher, wo nidt ein 
zwingender Grund, eine Ausnahme zu machen, vorhanden, nur die dent 
ſchweizeriſchen Bundesarhiv entnommenen Originalmittheilungen unter 
dem Terte anführen. Wiffende und rechtliche Urtbeiler werden auch obne 
Beifügung von Belegen und Citaten erfennen und anerfennen, daß ich ge- 
wiffenhaft Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit erftrebte, unmwifjende und unebr- 
liche dagegen würden auch durch Quellenangaben , Belege und Citate weder 
weiſer gemacht, noch zu einem redlichen und gerechten Verhalten gegen den 
Berfaffer vermocht werden. 


Putſch⸗Idoll. 59 


zendes Loos, getragen und gehoben von der Idee, zu kämpfen, zu 
ſiegen oder unterzugehen für die Befreiung unſeres herrlichen Volkes 
und mitzuwirken bei ſeiner Erlöſung aus tauſendjähriger Knechtſchaft“. 
Gewiß glaubte der Mann an das, was er ſagte, und ſeine Abſicht 
war ehrlich und edel. Ueberhaupt hat nur ſtupide Parteiwuth den 
Demokraten von 1848—49 Lauterkeit und Uneigennützigkeit abzu— 
ſtreiten gewagt. Allerdings war der Bodenſatz der Partei trübe — 
ach, ſehr trübe! — aber wo und wann hat es denn jemals, ſeit es 
Parteien gibt, eine gegeben, welche keinen trüben Bodenſatz gehabt 
hätte? Selbſt der gemeinſte Lump unter den Demokraten hatte 
übrigens noch weit bis zu jener Gemeinheit der Selbſtſucht und 
Eigennützigkeit, worin ſich mehr als ein Führer der liberalen „Re— 
ipeftabilität“ hervorgethan hat. Dieje Neipeftabilität hat es vielfad) 
ganz vortrefflich veritanden, ihre Vaterlandsliebe zu einem guten 
Gefhäfte zu machen. Wenn dod einmal diefe Sache zur Sprache 
fommen joll, jo darf man billig fragen: Was und wo waren denn 
die perjönlihen Vortheile, welhe die Führer der Demofratie davon— 
‚getragen haben? Ihr Theil waren Standrechtstod, Proceßqual, 
Kerferpein, Verbannung, Verleumdung und Beihimpfung, Mühſal 
und Entbehrung, Nummer und Noth aller Art. Die Herren Yibe- 
ralen haben ſich wohl gehütet, ihren PBatriotismus bis zu einem 
Grade zu ſpannen, wo Rififo oder gar Gefahr eintrat. Sie 
mußten „utile cum dulei* zu verbinden, mohlbejoldete und ange- 
jehene Aemter mit dem Hochgefühle, die „beiten und edelſten Männer “ 
zu jein. Ihr Theil waren Minifter-, Staats und Hofrätheitellen, 
Staatsjefretariate, Präſidentſchaften und Gejandtichaften, Profeſſuren 
und Afademiejejjel, ſchamlos hohe Diätenanſätze, Sinefuren und 
Penſionen. Dod warum ſich ereifern? Es war ja ganz tu der 
Ordnung, daf es die Pfiffigfeit über die Begeiiterung und die Falich- 
heit über die Treue davontrug. Es iſt das ein ewiger Paragraph 
ver Magna Charta das Menſchendaſeins. .. . . 

Heders Verblendung war jo harthäutig, dar ihm jelbit der 
Hägliche Ausgang jeines Unternehmens nicht ven Staar zu jtechen 


60 Die Verwidelung, I. 


vermochte. Er jehrieb diefen Ausgang einzig und allein den Machen— 
ſchaften feiner ins Negierungslager übergelaufenen ehemaligen Par- 
teigenofjen auf Rechnung und beharrte dabei, daR er zur rechten 
Stunde losgejhlagen, daß er die Sachlage richtig angejehen hätte, 
als er, am 9. April von Mannheim aus jeitwärts in die bairiſche 
Pfalz fid) wendend und dann durch den Eljaß und die Schweiz gen 
Konjtanz hinaufreifend, überzeugt war, daß „der rechte Moment ge= 
fommen jet, weldyer nicht vorübergelajjen werden dürfte“, und ver 
„Teiten Zuverſicht lebte, daß es feines Schwertftreichs, Feines Schuifes 
bedürfen, daß der Zug ein wahrer Fejtzug fein und ganz Deutjchland 
dem Beijpiele Badens, das immer vorangegangen, folgen würde”. 
Was find alle „Phantafiejtüde” des Kater-Murr- und Meifter-Floh- 
Hoffmanns gegen diejes ? Und doch mußte Das ganze tolle Nebelbild, 
daß es möglich fein würde, die republifantiche Fahne aud) nur vom 
Bodenſee bis nad Karlsruhe ungefährdet zu tragen, wor Heders 
Augen zerrinnen, wenn er fie nad) feiner am 11. April erfolgten 
Ankunft in Konftanz aufthun und Dinge und Menſchen anfehen 
wollte, wie fie waren. Sa, er mußte erfennen, daß es in der alten 
Koncilitadt ausſah, wie anderwärts, d. b. jo, daß der deutſche Phi— 
lifter jtetS bereit war, hundert und jogar tauſend Freiheitsſchlachten 
auf der Bierbanf oder am Weintiiche ſchoppenmörderiſch mitzuſchwatzen, 
nicht aber, im freien Felde auch nur eine mitzufchlagen. 

Hecker traf im „Badiſchen Hof" zu Konftanz jeine Freunde und 
Mitunternehmer Struve, Willich, Mögling, Sigel, Bruhn und Doll 
ſchon jeiner harrend und man ging nod) am Abend des 11. Aprils 
friſch ins Zeug, „obgleih ih — erzählt er — die Stimmung in 
Konftanz nach den öffentlichen Blättern, nady mündlichen und jchrift- 
lichen Aufforderungen , nad) dem Seefreife zu fommen und die Fahne 
der Nepublif aufzupflanzen, feuriger und begeifterter erwartet hatte”. 
Natürlich! Iett, wo man, was man jo häufig phraſeologiſch gethan 
hatte, thatſächlich thun jollte, haperte und hinkte es fofort jämmerlid). 
Hter in Konftanz, wie allenthalben, gab es eine neue Variation des 
weltberühmten Thema's vom „Krapülenſki und Waſchlapſki“. 


Putſch⸗Idyll. 61 


Amüller wollte mitthun, wenn Bemüller mitthäte, Cemüller wollte 
mitgehen, wenn Demüller mitginge, und — 


„Und weil keiner wollte leiden, 
Daß der andre ohn' ihn ginge, 
Ging dann keiner von den beiden.“ 


Am folgenden Morgen reiſ'te Struve nach Ueberlingen ab, um 
dort und weiterhin zu Engen und Donaueſchingen Volksverſamm— 
lungen zu veranſtalten und die Bevölkerung zu mahnen, dem republi— 
kaniſchen Banner bewaffnet zuzuziehen. Nach Struve’s Abreiſe 
hatten Heder und Genojjen zunächit eine Zufammenfunft mit ven 
Matadoren der fonjtanzer Demokratie und dieſe, die Herren Hüetlin, 
Würth, Kuenzer, Peter, Zogelmann und Vanotti, bemühten fid), die 
Unmöglichkeit des Gelingens einer vepublifanishen Schilverhebung 
klarzulegen. Hecker, weldyer glaubte, in den Genannten nur feige 
Abtrünnige vor fi zu haben, jagte: „Das Volk iſt beſſer und 
tapferer als ihr. Auf Wiederſehen in der Volfsverfammlung heute 
Nachmittag“. Dieje Volksverſammlung fand wirflid um 4 Uhr 
Nachmittags ftatt. Die dabei von Hüetlin und Kuenzer gegen die 
Zwedmäßigfeit des beabfichtigten Unternehmens vorgebradhten Ein- 
würfe Fonnten gegen das von Heder mit dem ganzen Feuer jeiner 
Beredſamkeit angeſtimmte republifanifche Kredo nicht auffommen. 
Die Fahne der deutſchen Nepublif ward demnach aufgepflanzt und 
die bewaffnete Volkserhebung dafür umter dem jubelnden Zuruf der 
Menge beſchloſſen. Selbſtverſtändlich jubelte ſie auch der Ankündi- 
gung des Redners zu, am folgenden Tage mit ven Waffen in ver 
Hand von Konftanz auszuziehen, überall das Volk zum Zuzug auf- 
zufordern, vorwärts zu dringen und jo, von Tag zu Tag verftärkt, 
„mit ungeheurer Maſſe und vielleicht ohne Schwertjtreich in ver 
Hauptitadt anzufommen“. 

Wie viele Hoch und Heil der alſo auf dem Marktplate von 
Konftanz zur Welt geborenen Homunkula von deutiher Republif am 
Abend jenes Tages in der Stadt ausgebracht, wie viele Schoppen 


62 Die Berwidelung, I. 


auf ihr Geveihen ausgeblafen worden find, ift nicht einmal annähernd 
feitzuftellen. Das aber iſt aftenmäßig feitgeftellt, daß am folgenden 
Morgen, Donnerstags den 13. April, der Bannerherr befagter Ho— 
munfula, Bürger Friedrid) Hecker, an der Spite von 57 Mann, 
General und Offiziere eingerechnet, — jage an der Spite von ganzen 
57 Mann aus dem Thore von Konftanz 309, über die Rheinbrücke 
und Wollmadingen zu. „An einem trüben regneriſchen Morgen 
— berichtet Mögling, der ehrliche „ Hannes” — zogen wir, 57 Mann 
itark, unter Trommelihlag von Konftanz weg, begleitet von einer 
Menge Volfes, welches mit Staunen das feine Häuflein betrachtete. 
Ih muß geftehen, ich betrachtete mich jelbjt mit Verwunderung“. 
Er hatte Grund dazu, der arme Hannes. Hecker jelbjt melvet: 
„Donnerstags den 13. wurde in der Frühe Generalmarſch geſchlagen. 
Die Bemwaffneten ftellten fih auf vem Marktplatz auf; aber viele 
derjelben, die noch Tags zuvor gewaltig entſchloſſen ſich gebärdet 
hatten, ihlihen daven, andere verſprachen nadhzufommen, wieder 
andere jhüßten vor, man müßte erſt die Ausihußmitglieder des 
Baterlandsvereins zufammenfommen und über die Sache abjtimmen 
laffen, auf manche übte auch Das Negenwetter einen lähmenden Ein- 
fluß. Die Frauen und Mädchen zeigten ſich muthiger und begeifterter 
als die Männer“. Summa: es ftenmten nur 57 Mann ihre 
tapfere Bruft dem Morgenwind und den „Iyrannenfnechten “ ent- 
gegen. Auf den nächſten Dörfern empfing eine biverbe Bauer- 
ſame das republikaniſche Freiichärlein mit der Frage: „Isa, wo find 
denn die Konftanzer mit ihren Bürgerwehrfanonen? Die Konftanzer 
müfjen worangehen“. Als dies immer miederfehrte, hat ein munterer 
Burſche, der mitzog, lachend die urklaſſiſche Stelle aus dem ſchwäbiſchen 
Stammepos angejtimmt: 

„Hannſele, gang du vora, 

Du haft die längfte Wafferftiefel a, 

Daß di der Has nit beiße fa.“ 

Derweil hatten Wind und Regen nachgelaffen und guten Muthes 

marſchirten die Siebenundfünfzig am rechten Ufer des Unterfee’s hinab, 


Putſch⸗Idyll. 63 


dem Höhgau entgegen. Dem Romantifer Heder wurde erzromantiſch 
zu Sinne: — „Der blaue Himmel lachte aus den zerrifjenen Regen— 
wolfen, zur Seite der klare herrliche See, wor uns Hohenftoffeln, 
Hohenhöwen, Hohenfrähen und Hohentwiel, eine Welt voll alter Lieder 
und Sagen lag vor uns und wir zogen aus mit dem Banner der 
deutichen Nepublif, wir wollten vertilgen die deſpotiſchen Kefte dee. 
Mittelalters und gründen ven freien Volksſtaat“. 

Alſo hob das Aprill-Idyll des Hederputihes au. Grün, 
ſehr grün! 


Der Frühlingsföhn, welcher in den Alpen Yawinen zuſammen— 
ballt und ins rollen bringt, daß fie, alles vor ſich niederwerfend, 
mit Donnergebrauje zu Thale gehen, itreicht zwar itber den Rhein 
und den Bodan aud nad) Schwaben hinüber, aber nur, um daſelbſt 
auf dem letsten Loche zu pfeifen. 

Der Freiheits- und Baterlandsbegeifterungsföhnfturm von 1848 
machte es nicht anders. Gr hatte jeine Kraft Schon im März ver- 
tobt und vermochte im April da droben im Seefreis und im Schwarz- 
wald feine Volfslawine mehr zufammenzuballen und ing rollen zu 
bringen. „Die „ungeheure Maſſe“, welche ſich Heders am 12. April 
zu Konftanz gethaner Prophezeiung zufolge um das republikaniſche 
Panier jharen und auf Karlsruhe loswälzen jollte, blieb Schnee, 
Schnee in des Wortes jchneeigitfalter Bedeutung, jpröder Schnee, 
der ſich ſchlechterdings nicht ballen wollte. Alle die verjchtevenen 
Freiſchärlerharſte, welche unter der Führung von Heder, Sigel und 
Weishaar da und dort ſich ſammelten, machten, die deutſch-republi— 
fanifche Yegion in Straßburg dazu gezählt, noch lange feine 
10,000 Mann aus. Und dieſe Stärke wechjelte buchitäblich wie 
Sonnenschein und Regen. So ſtieg, wie Mögling bezeugt, die An— 


64 Die Verwidelung, II. 


zahl ver Leute bei ver hecker'ſchen Kolonne bei guten Wetter bis auf 
2000 Mann, jhwand aber bei jchledhtem jofort wieder bis auf 
800 zujfammen. Den höchſten Stand hatte die Kolonne Sigels, 
welcher für einen Soldaten von Handwerk gelten fonnte, da er ja 
badifcher Leutnant gewejen war. Den Kern diefer Kolonne, welche bis 
zu 3000 Mann anſchwoll, bildeten Bürgerwehrmänner von Konftanz, 
von weldyen denn doch zwei Tage nad) Heders Auszug eine gehörige 
Anzahl qutgerüftet und mit 2 Kanonen unter Sigels Kommando 
ausmarihirt war. in löbliches Gefühl von Scham, Ehre und 
Parteitreue hatte fie den Borausgezogenen nachgetrieben. Es waren 
meift behäbige Bürger und der Anblid folder bürgerlichen Behäbig— 
feit z0g denn auch die hablichen Seefreis- und Schwarzwaldbauern 
in die Reihen. Die Kolonne, welche Weishaar, der ftattlihe Poſt— 
halter von Yottitetten, jammelte, hatte ebenfalls ganz das Aus- und 
Anjehen bänerlicher Hablichkeit. Dieje beiden Kolonnen waren auch 
am beiten mit Waffen gerüjtet und mit Proviant verfehen. Die 
hecker'ſche Kolonne, welche den beiden andern um 11/, Tagemärjche 
voraus und zumeiſt aus jungem Volk zufammengefetst war, bilvete 
jo zu jagen die Vorhut. Ihre Ausrüftung war die dürftigſte umd 
ihre milttärtiche Uebung gleich Null. Dem ganzen Unternehmen 
fehlte überhaupt jtrategiihe Planmäßigkeit und taftiihe Zucht. 
Keiner der Führer erwies militärifches Talent; am meiften militärt- 
ſchen Inftinft zeigte nod) der qute „Hannes“, obzwar er bislang ein 
friedlicher Defonomierath zu Hohenheim gewejen war und die Seide— 
raupenzucht betrieben hatte (daher fein nom de guerre „Seide— 
hannes“). Allein Mögling war viel zu phlegmatifch und gutmüthig, 
als daß er jeine Anficht, die gar oft als die richtige ſich herausjtellte, 
der Autorität Heders und der Übrigen badiſchen „Größen“ gegenüber 
hätte zur Geltung bringen fünnen. Am unglüdlichiten ging die 
Sache, wenn Abſtraktor Struve ſich berufen fühlte, den General zu 


jpielen. Cine himmelfchreiende Ungeſchicklichkeit aber ift es geweſen, 


dag die Freiſcharenführer nicht alle Nerven und Muſkeln anjpannten, 
um — was ganz gut möglich mar — bei guter Zeit ihre verſchiedenen 


wer? 


putſch⸗gdyll. 065 


Harfte zu vereinigen, ſtatt fie verzettelt zu halten und die verzettelten 
durch überlegene militäriiche Streitkräfte angreifen, ſchlagen und zer- 
iprengen zu laſſen. Dieje Berzettelung machte den Mangel eines 
Oberkommando's, welches wirklich ein ſolches war, jo recht fühl- und 
greifbar. 

Wenn jpäter die Meinung geltend gemacht worden tft, die 
badiſche Negierung habe den Hecker-Putſch abſichtlich zu einiger 
Bedeutung gelangen lajjen, um für die Rückwärtſerei einen anjtän- 
digen Vorwand zu ihaffen, jo muß das als eine Barteianficht abge— 
wieſen werben, die fi hiſtoriſch nicht halten läſſt. Dagegen tft 
hiſtoriſch, daß die Infurreftion nicht einmal den geringen Umfang, 
welchen jie wirklich gewann, zu gewinnen vermocdt hätte, falls die 
großherzogliche Beamtenſchaft nicht jo über alle maßen unfähig und 
feige gemwejen wäre, wie fie Durchichnittlic war. Nachmals, im 
Herbjte von 1849, hat fie ſich dann mittels ſerviler Tücke und herz— 
loſer Rohheit an ihrer in ven Krübjahren won 1848 und 1849 an 
ven Tag gelegten Erbärmlichfeit gerächt. Mit dieſer Erbärmlichkeit 
auf monarchiſcher Seite konnte ſich auf vepublifanifcher nur ver phan- 
taſtiſche Leichtſinn meſſen, womit eine ganz mittel-, bilf- und aus- 
fihtslofe Schilderhebung in einem Winfel Deutichlands vollzogen 
wurde, zu einer Zeit vollzogen wurde, wo außerhalb diejes Winkels 
der Parlamentsſchwindel überall mit unwiderſtehlicher Macht graſſirte 
und die deutſche Philifterfchaft ihre politiſche Nullität, ihre gänzliche 
Unfähigfeit, aus den „Märzerrungenſchaften“ etwas zu machen, hinter 
dem geräujchvollen Eifer verſteckte, womit fie die ſchäfige Vertrauens— 
litanei: „Märzminifter, denkt und handelt fir ung!“ herblöfte. 

Wäre bei dem Aprilgang von Heder und Kompagnie fein Blut 
gefloffen, wären nicht jo viele Menſchen dadurch unglüdlic geworden, 
hätte das Putſch-Idyll vom April 1848 nicht mit ſo viel Tragik fich 
verjegt, man wäre ftarf verſucht, Die ganze Geſchichte in der Manier 
von Butlers „Hudibras“ zu behandeln. Hecker ſelbſt, durch deſſen 
Romantif, wie wir wifjen, ein humoriftifch = jfeptiiher Zug ſich 
ſchlängelte, ift ſich jelber fiherlih mandhmal urkomiſch vorgekommen, 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 5 
‘ 


66 Die Verwidelung, I. 


wie er fo an der Spige feiner abenteuerlichen Schar dahinſchritt in 
feinem abentenerliben Aufzug, mit langem rothblondem Bart, in 
blauer Blufe, Piftolen im Gurt, einen Schleppfäbel umgeſchnallt, Die 
Hahnenfeder auf dem grauen Schlapphut: — 


„Seht, da geht der große Heder, 
Eine Feder auf dem Hut, 
Sebt, da gebt der Volkserwecker, 
Lechzend nad Tyrannenblut: 
„„Thut euch Schnell zufammenraffen, 
Gebt mir Mannjchaft, Pferde, Waffen, 
Oder ich bring’ alles um“ — 
Kumbidibum, dumbumdumbum.“ 


Bon Stodad aus erließ Heder am 14. April verjchiedene 
Defrete, um „die Nepublif zu organifiren”. Die Negierung des 
Seefreifes wurde für aufgelöf’t erklärt und durch eine republikaniſche 
Statthalterſchaft erfetst, mit welchem Amte mittels fanften Zwanges 
der bisherige Negierungspireftor Peter befleivet ward. Auf 24 Stun- 
den, maßen die alfo zu Konftanz „organifirte” Nepublif eine Ein- 
tagsfliegenrepublif im wörtlichen Sinne gewejen iſt. Als am Tage 
nach ihrer „Organiſirung“ die Nachricht Fam, daR batriiche Bundes- 
truppen im Anzuge jeien, hub ſich der arme Statthalter ‘Peter von 
dannen nad) der Schweiz, allwohin er ja nur etliche Schritte weit zu 
gehen hatte. Gleich kläglich-kurz verlief die Republifanifirung der 
Stadt Offenburg. Erwähnenswerth find dieſe Verſuche nur, weil 
fie darthun, welche Wirkung die Thatſache oder auch nur der Schein 
amtlicher Autorität auf die Menſchen übt und vollends auf die 
Deutichen. Denn es unterliegt feinen Zweifel, daß die unter amt- 
lichen Formen und Siegeln ergangenen Aufforderungen zum Zuzug, 
welche Heder „im Namen der provtjorifchen Regierung“ von Stodad) 
und Geifingen, ſowie die republikaniſchen Cintagsbehörden won Kon- 
tanz und Offenburg aus erließen, dem Aufſtand etwas auf die Beine 
halfen und die Zuzüge zur Nebellenfahne von feiten einzelner Männer 
wie von feiten der Gemeinden zahlreicher machten. Wunderlichit 


putſch⸗Idyll. 67 


kontraſtirte es dann freilich wieder mit der angehobenen offenen Re— 
bellion, daß Gewaltſamkeiten von den Rebellenführern mit einer 
bis zum komiſchen gehenden Aengſtlichkeit vermieden wurden. 
Wenn man das hyperhumane Gebaren anſieht, welches die Hecker— 
linge gegen widerhaarige Beamte, gegen heimtückiſche Gegner, 
gegen notoriſche Spione eingehalten haben, ſo kann man ſich 
des Eindrucks nicht erwehren, daß auch dieſe gemüthlichen Putſcher 
im Grunde ihres Herzens zu dem kretiniſchen Kredo: „Revolution 
anf gejetslihen Boden!” ſich befannten. Mit gejetlihen Mitteln 
macht man aber befanntlic, feine Revolution und mit Gemüthlichkeit 
macht man feinen Putſch. Nachdem man fi einmal entichloffen 
hatte, zu putichen, jo mußte man auch vecht putſchen, unerbittlich ein- 
und durchgreifen und, wo immer es noththat, geradezu terrorifiren. 
Das hätte nicht nur den Halb- und Ganz-Rüdwärtfern die gehörige 
Furcht eingejagt, jondern hätte auch den Mafjen imponirt und die- 
jelben viel mehr für den Aufitand gewonnen als alle Milde, Scho- 
nung und Großmuth; denn — jo hat einer der vielen in ihrem 
Vaterlande nicht beachteten deutſchen Bropheten tieffinnig gejagt: — 

„Denn es ehret der Knecht nur den Gemwaltiamen ; 

An das Göttliche glauben 

Die allein, die e8 jelber find“ — 
und Kraft zieht die Menge an wie der Magnet das Eifen, ganz 
gleichgiltig, ob die Kraft das gute oder das böfe wolle und fchaffe. 
Alle die kräftigen Wittheriche der Weltgefchichte find von den Völkern 
geehrt, beitaumt, geltebt und vergöttert worden; denn die Menjchen 
wollen nicht belehrt, jondern belogen, nicht emancipirt, ſondern tyran- 
nijirt fein, und mer fie beherrichen will, muß fie verrathen und 
mifihandeln. Der Heder-Butih war eine kraftloſe Halbhett: das 
ift das härtejte Verdammungsverdikt, welches denjelben treffen kann. 

Während des Vormarihes von Stockach nad Engen und mäh- 

rend des Haltes in diejem Städtchen wurden die dünnen Reihen der 
Freiſchar dichter, wurden jogar bis zur Stärfe von 1800 Mann 
verdichtet. Hier, im Engen, ſuchte nun Willich einige militärtiche 


g* 


19] 


65 Die Berwidelung, I. 


Dronung in das Ding zu bringen. Die Mannjchaft wurde in 
„Banner” von 120 bis 200 Dann eingetheilt, welche ſich ſodann 
ihre Führer wählten. Auch mit Geſchütz verjah man ſich an dieſem 
Orte, nämlich mit 2 Kleinen Karthaunen, welde unterwegs im 
Schloſſe eines Baftards des höchſtſeligen Großherzogs Ludwig „res 
quirirt“ worden waren. Was die Stavallerie betrifft, jo bejtand fie 
— meldet Mögling — „aus einem einzigen Pferde, welches jein 
Eigenthümer ritt“. Derweil alfo in Engen „organtfirt“ wurde und 
die Freifhärler auf den bergigen Gafjen des Höhgauftäntchens wohl- 
gemuth jangen: ö 

„Fürſten, gebt die großen 

Purpurmäntel her! 

Daraus macht man Hojen 

Für das Freiheitsheer — 


meldete ſich eine fremde Dame im Hguptquartier und gab ſich dem 
General als Frau Emma Herwegh zu erkennen, welche von Straß- 
burg herübergefommen war, um zu jagen, daß die im Eljaß ange- 
langte deutſch-republikaniſche Legion nur auf einen Befehl von Heder 
wartete, um den Rhein zu überjchreiten und ihre Vereinigung mit 
jeiner Schar zu bewerfitelligen. Unglaublicher Weiſe hatte ver Re— 
bellengeneral Sfrupel, dieſen Befehl zu geben, und gab ihn auch wirf- 
lich nicht, um alle die Angjtmaier im Lande, welchen man die Yeute 
der herwegh’ihen Yegton als eine Räuber-, Mörder- und Noth- 
züchtigerbande gejchildert hatte, nicht noch mehr zu Ängjtigen. Frau 
Herwegh mußte demnach mit dem Kanzleibeſcheid abziehen, Heder 
werde den verlangten Befehl erlaſſen, ſobald er jelbjt mit jeiner Ko— 
lonne in der Nähe des Rheins angelangt fein würde. 

Der Weitermaric der Freiihar, welche am 19. April Mit- 
tags Engen verließ, jollte in weſtnördlicher Richtung ſchwarzwald— 
wärts und zwar zunächſt auf Donaueſchingen gehen, wo man mafjen- 
hafte Berftärkungen vorzufinden erwartete. Allein daraus wurde 
nichts. Eine ftarfe wirtembergiſche Truppenmacht hielt die Schwarz- 
waldpäſſe bejetst und die Wirtemberger famen ven Freiſchärlern auch 


Putſch⸗Idyll. 69 


mit der Beſetzung von Donaueſchingen zuvor. „Als wir noch eine 
halbe Stunde von dem Städtchen entfernt waren — berichtet Mög— 
ling — ſahen wir wirtembergiſches Militär einrücken. Nach kurzer 
Berathung, ob wir Donaueſchingen angreifen oder umgehen ſollten, 
gewann letztere Anſicht die Oberhand, wodurch für die Einſichtigeren 
das Miſſlingen unſeres ganzen Unternehmens ausgeſprochen war“. 
Ein höchſt beſchwerlicher Nachtmarſch bei heftigem Schneegeſtöber 
brachte die Freiſchar mühſälig nach Riedböhringen, wo ſich am fol— 
genden Morgen die Thatſache herausſtellte, daß von den 1800 Strei— 
tern für die Republik, welche geſtern von Engen ausgezogen, nur 
noch etwa 800 vorhanden waren. Die, welche es nicht vorzogen, 
ſich ſtill zu verziehen, hatten beim weglaufen geſagt: „Das Wetter 
iſt uns zu ſchlecht; wird es beſſer, kommen wir wieder“. 

Da der Schwarzwald verſperrt war, beſchloſſen die Führer der 
hecker'ſchen Schar, dieſe aus dem Gebirge nach der Rheinebene hinab— 
zuführen, was ſchon darum räthlich erſcheinen mochte, weil man dort 
unten nur auf landsmänniſch-badiſche Truppen zu ſtoßen hoffte, von 
welchen man ſchlaffen Widerſtand, ja vielleicht ſogar Unterſtützung 
erwarten zu dürfen glaubte. In ſehr anſtrengenden und ziemlich plan— 
loſen Kreuz- und Querzügen ging es bei meiſt ſehr ſchlimmer Wit- 
terung nach Stühlingen und von da über Bonndorf nach Lenzkirch. 
In Bonndorf verließ Struve die Schar, zu welcher er bei Do— 
naueſchingen geſtoßen war, und machte ſich zu der Kolonne Weis— 
haars auf, welche er aus den Bezirken Jeſtetten, Waldshut und 
Säckingen zur Vereinigung mit der hecker'ſchen in der Rheinebene her— 
anbringen ſollte. Hecker beabſichtigte, von Lenzkirch aus einen Ver— 
ſuch auf Freiburg zu machen; allein die Wirtemberger verlegten den 
Weg durch's Höllenthal, und ſo mußte die Freiſchar von Lenzkirch 
weg ſeitwärts ſich wenden, um über rauheſte Bergpfade nach der 
Glashütte zu gelangen und von da über Bernau die Richtung nach 
dem Wieſenthal zu gewinnen. In der Nähe von Menzenſchwand 
wurde die Kolonne von einem reitenden Boten aus Lenzkirch einge— 
holt, welcher meldete, es ſeien an dieſem Orte zwei Abgeordnete des 


70 Die Berwidelung, U. 


in Frankfurt figenden Fünfzigerausſchuſſes angelangt, welche mit 
Heder zufammenzufommen verlangten. Dieje Zuſammenkunft hat 
dann am Abend des 17. Aprils im Gafthaufe zu Bernau jtattge- 
finden. Die Ffeiſcharenführer, welche ihre durchnäſſten leider mit 
Anzügen vertauſcht hatten, wie die Garderobe des Wirthes und feiner 
Knechte fie zu liefern vermochte, ſaßen beim Brot und Wein, als die 
Herren Fünfzigerausſchüſſlinge Spat und Venedey hereintraten, etwas 
verlegen über ihre Sendung und über die Scene vor ihnen, welche 
im Katechismus des patentirten Yiberalismus nicht vorgejehen war. 
Nachdem der Wunſch der beiden Senpboten, mit Heder unter vier 
Augen zu verhandelt, fehlgegangen war, brachten fie ihr Sprüchlein 
vor und eröffneten, daß fie im Namen und Auftrag des Fünfziger— 
ausihuffes die Mahnung an die Injurgenten brächten, abzujtehen 
von der Rebellion und von der waffenhaltenden Revolution zur reden— 
haltenden zurüdzufehren. In diefem Falle ficherte ihnen der Fünf— 
zigerausſchuß — woher nahm denn diejer Vollmacht und Recht 
hierzu? — für das geſchehene wolle Ammejtie. Heder gab zur Ant- 
wort, eine Gefälligfett jei der anderen werth und darum wollten jie, 
die Republikaner, ihrerjeits im Namen des deutſchen Volkes den 34 Lan— 
desvätern volle Amneſtie zufihern, falls fich diejelben binnen 14 Tagen, 
wohlausgejtattet mit Geld und Gurt, in das ftille Glüd des Privat- 
lebens zurüdziehen würden. „Im übrigen — fligte er hinzu — 
wär’ e8 das geſcheideſte, ihr bliebet, ftatt drunten in Frankfurt Stroh 
zu dreichen, gerade hier und zöget mit uns. Das wiirde und mühte 
auf ganz Deutſchland eine koloſſale Wirkung thun, wenn es hieße, 
der Spatz und der Venedey hätten die Freiſchärlerbluſe angethan. 
Was meint ihr, he?“ Den Herren Ausſchüſſlern ſchien eg bei dieſer 
Zumuthung „etwas unheimlich werden zu wollen“ und darım warf, 
den Spaf; weiterführend, einer der Freiicharenhäuptlinge die Bemer- 
fung hin: „Wie wär’ es, wenn wir die beiden Herren als Geiſeln 
bei uns behielten ?* — „Sa, das würde ganz praftiich fein“, jagte 
Heder lachend; „aber ich fürchte, wir find für die Herren Staats— 
männer nicht patent genug. Nun, nun, macht feine jo langen Ge— 


Putſch⸗Idyll. 11 


fihter! Kommt ber, ſtoßt mit uns an auf das Heil der Republik 
und dann geht hin, woher ihr gekommen“. So endete diejer Verſuch, 
den Aprilgang der ſüddeutſchen Republikaner aufzuhalten. 

Am folgenden Morgen brach, während der Nacht durch einen 
Zuzug ftattlicher ſchwarzwälder Bauernburſche verftärkt, die Frei— 
ihar von Bernau auf, jtieg auf fteilen Pfaden nach Breg hinab, um 
von dort das Wiejenthal entlang über Schönau und Zell nad) 
Schopfheim zu marſchiren. In Schönau und Zell wurden die Frei- 
ihärler herzlich begrüßt, in Schopfheim, dem reichen Fabrikort, mit 
einer aus Abneigung und Furcht gemifchten Zurückhaltung. Doc 
bewillfommte und bewirthete ver Fabrikant Gottſchalk, früher Kollege 
und Gefinnungsgenofje Heders in der badiſchen Abgeordnetenkam— 
mer, den Freifharenhauptmann und deſſen Offiziere in jenem Haufe 
und beihwor die Männer flehentlih, von ihren Unternehmen abzu= 
ftehen. Er war dem Heder aufrichtig zugethan und bedauerte, daß 
derjelbe Stellung und Eriftenz an einen Berfud wagte, welchen der 
nüchterne Rechner und Geſchäftsmann als einen verfehlten erkennen 
mußte. 

Wie hätte auch bei dieſer elenden Organiſation und Leitung des 
Unternehmens der Fehlihlag ausbleiben können? Die drei Frei— 
ſcharen jtanden einander ganz nahe und Feine richtete ſich nach der 
andern, feine wuſſte genau von der andern. Während Heder auf 
Schopfheim zog, marſchirte Sigel gen Sauft Blafien und Todtnau 
und famen Weishaar und Struve längs des Aheins gegen Lörrach 
und Steinen zu. Die Vereinigung der drei Scharen war demnach 
ganz leicht zu bewerfftelligen; denn der Feind, d. h. der General von 
Gagern, ftand weiter weſtnördlich, zwiichen dem Blauen und dem 
Rhein, und z0g mit 2 badifhen und einem heſſiſchen Bataillon, 
etlihen Schwadronen Neiterei und einem Halbdutzend Kanonen in 
der Richtung auf Schliengen und Kandern das Rheinthal aufwärts. 
Statt in Schopfheim jtehen zu bleiben und die Verbindung mit der 
figelihen und weishaar'ſchen Kolonne anzuſtreben umd zu erwarten, 
beſchloſſen aber die Führer ver Hederihar, auf Kandern zu mar- 


72 Die Berwidelung, I. 


ui 


ichiren. Allerdings wurden zugleich an Sigel und Weishaar Boten 
gefandt, um fie aufzufordern, in Eilmärjchen heranzukommen; allein 
man unterließ, ſich zu vergewiffern, ob dieſe Botſchaften an ihre 
Adrefien gelangten. - Ste gelangten aud) wirflic nicht an diefelben, 
wenigſtens nicht zur rechten Zeit. Sigel, der Führer des Haupt- 
harſtes, erfuhr erſt am Abend des 20. April in Gſchwend, daß die 
heder’iche Kolonne von Schopfheim gen Kandern marſchirt jet, und 
zugleich mit diefer Nachricht traf die Hiobspoft von der Zerjprengung 
der Kolonne ein. 

Mittwochs den 19. April um 2 Uhr Nachmittags brach die 
Hederihar in der Stärke von höchſtens 900 Mann von Schopfheim 
auf und rückte über Steinen gegen Kandern vor. Jenſeits des erjteren 
Ortes, wo die Freiſchärler gaftlich bewirthet, der Hauptmann jedoch 
abermals durch einen alten Freund und Kammerkollegen, Scheffelt, 
dringend von feinem Abentener abgemahnt wurde, — jenſeits Steinen 
alſo fteigt die Straße bergan bis hinauf zum waldigen Rüden ver 
„Scheideck“, von wo fie durch den Wald fteil gen Kandern ſich hin- 
abjenft. Die Abficht des Marſches auf diefen Ort war, won da weiter 
nad Schliengen zu ziehen, um dort ins Nheinthal herauszufommen 
und fi) den Thalweg nad) Freiburg zu öffnen. Als die Freiſchar 
die Steige von der Scheideck abwärts rücte, famen ihr Leute von 
Kandern entgegen, um die ungern gejehenen Gäfte mittel der Nach— 
richt, daß Truppen im Orte lügen, zur Umfehr zu bewegen. Eine 
durch Mögling und Doll ausgeführte Erkundung erwies aber bie 
Falſchheit diefer Angabe und die Freiſchar zog in das Städtchen ein, 
um Nachtquartier dafelbit zu nehmen. Der in Schliengen ſtehende 
General von Gagern erhielt noch am Abend des Tages hiervon Mel- 
dung und beſchloß, am folgenden Diorgen eine Angriffsbewegung auf 
Kandern zu machen und zwar mit feinen 3 Infanteriebatatllonen, 
jeinen 3 Dragonerſchwadronen und feinen 6 Geſchützen, mitfammen 
an 2400 Mann. Ein viertes, eiligft auf der Eifenbahn von Frei— 
burg bherangezogenes badiſches Bataillon follte als Reſerve in 
Schliengen ftehen bleiben. Der General hatte demnach eine nahezu 


Putſch⸗Idoll. 13 


dreifache Uebermacht zur Verfügung, welcher gegenüber die Hilfe 
mittel der durch mühſälige Kreuz- und Querzüge im Gebirge hart 
mitgenommenen, ungeübten und unzulänglid) bewaffneten Freiſchärler 
wahrhaft kläglich gewejen find. 

Heder war faum in andern angelangt, als Frau Emma Her- 
wegh abermals bei ihm erfchten, um von ihm einen Befehl auszu- 
wirken, daß die herwegh'ſche Freiſchar von Straßburg herüber kom— 
men ſollte. Hecker, welcher die allgemein in Baden verbreitete, ob— 
obzwar durchaus verlogene Meinung theilte, eine große Anzahl, ja 
ſogar die Mehrzahl diefer „deutſch-republikaniſchen Legion“ bejtände 
aus Franzofen, weigerte fich wiederum, den verlangten Befehl aus- 
zufertigen, und die muthige Frau Freiſchärlerin fuhr unverrichteter 
Dinge in der Nacht ab. Hierauf wurde Kriegsrath gehalten; dem 
man hatte aus dem Munde von zwei durch die Feldwachen gefangen 
eingebrachten badiſchen Dragonern über den Stand der Saden vor- 
wärts in Schliengen Kımde erhalten. Kennzeichnend für den idyl— 
lichen Charakter des Hederputiches ift, daß der „Terroriſt“ Heder, 
obgleich) er einſah, daß „man die Pferde und Waffen der beiden Ge- 
fangenen recht qut hätte brauchen fünnen”, die Dragoner mit Speiſe 
und Tranf erguiden und hierauf mit Pferden und Waffen zu ihrer 
Schwadron nad Schliengen zurüdkehren ließ, in der wolkenkukuks— 
heimifchen Ueberzeugung, mittels ſolcher Großmuth „die Sympa— 
thieen der Truppen“ noch mehr anfachen zu können. Während des 
Rathſchlags langte eine Depeſche von Sigel ein, welcher meldete, daß 
er mit ſeinem Harſt im Wieſenthal angekommen und daß die Ko— 
lonnen Weishaars und Struve's in ſeiner Nähe ſeien. Er, Sigel, 
rathe und wünſche demzufolge, daß Hecker ſchleunig umkehre, da— 
mit die Vereinigung der ſämmtlichen drei Freiſcharen dort vollzogen 
würde — 


„Wo mit lieblichem G'ſicht aus tief verborgene Chlüfte 
D'Wieſe luegt und check go Todtnau aben ins Thal ſpringt.“ 


Es blieb nur übrig, dieſem Rath und Wunſche Folge zu leiſten; 


74 Die Verwidelung, II. 


denn unmöglid konnte die Hederihar allein den Durchbruch bei 
Schliengen erzwingen oder das Vorgehen der Badenjer und Hefjen 
nad und über Kandern verhindern, jo fie nicht etwa das Defilee 
hinter dem Städtchen zu Thermopylen machen wollte. Thermopylen 
pafjen aber nicht recht zu den idylliſchen Dertlichfeiten, welche Hebels 
alemanniſche Muſe durchwandelt hat, und Thermopylenkämpfe find 
mit anderen nichtsnutzigen Kurioſitäten, wie z. B. Idealpolitik, 
Ueberzeugungstreue und Principhaftigkeit, in einen dunkeln Winkel 
der Weltgeſchichte-Rumpelkammer verwieſen. Leider drückte Hecker 
ſeinen Vorſchlag, ſchon um 2 Uhr Morgens den Rückzug auf Steinen 
anzutreten, nicht kräftig durch. Hätte eres gethan, jo würden die am 
folgenden Tage nad) andern vordringenden Truppen die Guerrillas 
daſelbſt nicht mehr eingeholt und würde demnach das Gefecht auf der 
Scheide nicht ſtattgefunden haben. 


4. 


Zur achten Morgenftunde fette ſich am 20. April die Heder- 
ſchar von Kandern nad) rüdwärts in March, gegen Steinen zu, Die 
zur Scheide aufjteigende Steige hinan. Hecker ſelbſt und Willich, 
Mögling und Bruhn marfchirten mit der Borhut und dem Mittel- 
treffen, während der Nachtrab unter Kaiſer und Doll noch im Orte 
zurüd war, beſchäftigt, die zwei kleinen Geſchütze und das Gepäd 
fortzufchaffen. Als endlich die hierzu nöthigen Pferde mit Mithe er- 
langt worden, begann aud) Kaifer mit feinen Yeuten abzuziehen. Es 
war die höchſte Zeit; denn frühmorgens hatte der General von 
Gagern jeine Streitmaht von Schliengen gen Kandern in Bewe— 
gung gejett und die Spite feiner Kolonne erreichte die weftliche Seite 
des Drtes in demjelben Augenblide, wo die Freiſchar zur öftlichen 
hinausmarſchirte. Den Truppen voran eilte der badiſche Negte- 
rungskommiſſär Stephani, durch einen heffiihen Trompeter als Par— 


Putſch⸗Idyll. 75 


lamentär ſignaliſirt. Er trat ven Nachhutführer Kaiſer an mit dem 
Begehren, den Heder zu ſprechen. „Der tft ſchon vorausmarſchirt“, 
fagt Kaifer. — „So? Darf ih zu Ihren Veuten reden?“ — 
„Nach Belieben“. — Der Herr Negierungsfommiffär jtellt ſich in 
Pofitur, verlieſ't die Aufruhrafte und ruft den Freiſchärlern zur: 
„Ihr ſeid dem Geſetze verfallen; aber ihr jeid zum Aufruhr ver- 
leitet, jeid nur Verführte. Alles wird gut gehen, jo ihr jofort die 
Waffen niederlegt. Wollt ihr?“ — „Nein!" — Mit diefer ein- 
müthig abgegebenen Weigerung ſchwenkten die Nachhütler und mar- 
Ihirten ihren vorangezogenen Kameraden nad). 

Diefe waren derweil hinter dem Städtchen jenſeits der Kander— 
bachbrücke auf beiden Seiten der waldumfäumten Steige durch Willich 
in eine Art Schlachtordnung geitellt worden, um den Aufgang zur 
Scheide zu vertheidigen. Die Bundestruppen brachen aus Kandern 
hervor und oröneten fi zum Angriff. Nur ein Zwiſchenraum von 
wenigen hundert Schritten trennte jie nod von der Freiſchar. In 
der Vorderreihe ritt ein jtattliher Mann von edelm Geſichtsſchnitt in 
braunem Bürgerrod und grüner Feldmütze gegen die Brüde heran: 
— der General Friedrih von Gagern, wohl werth, für eine beijere 
Sache zu fechten und zu fallen; mehr werth auch als von einer jo 
janmerfäligen Regierung, wie die damalige badische war, nad) jeinem 
Tode dadurch glorifizirt zu werden, daß man ihn offiziell zu einem 
Opfer „republifaniiher Meuchlertüde“ log, während er, wie die 
ehrenhaften feiner Offiziere ſelbſt bezeugt haben, einen „ehrlichen Sol- 
datentod“ ſtarb. Friedrich von Gagern war ein Mann von Getit, 
Kenntniffen, Erfahrung und Vaterlandsliebe. Er galt für einen ge- 
ſchickten Kriegsmann und durfte den Anfprucd erheben, aud) in der 
Literatur mitzuzählen*). Aber an jenem 20. April von 1848 war 

*) Unter jeinen jhriftftellerifchen Verſuchen findet fih ein meifterlich 
gelungener, das „Journal meiner Reife nad Rußland i. J. 1839“, mitge- 
theilt im „Leben d. Generals Fr. v. 6.“ III, 336 fg. In feiner Sprache 
ift über Rußland zur Zeit des Karen Nikolaus beſſeres gejchrieben worden 
als dieſes Tagebuch. 





76 Die Verwidelung, II. 


er nicht an feinem Plate; denn feinem Weſen ging der verföhnliche 
Zug ab, welcher einen blutigen Zufammenftoß abzuwenden vermocht 
hätte. Um fo leichter, als die Freiichärler, wie gar feinem Zweifel 
unterſteht, ihrerſeits einen ſolchen Zuſammenſtoß zu vermeiden fuchten 
und in feinem Falle venjelben hervorzurufen winjchten. Herr von 
Gagern hatte ſich aber in der Keitihule und auf den Erereirplägen 
jenen polternden Kafernenton und Korporalitil angewöhnt, wie fie 
num einmal zum Solvdatenhandwerf zu gehören ſcheinen, und Diejer 
Stil und Ton ſtach den Kepublifanern nicht jehr angenehm in die 
Dhren. Es fommt ja unter Menjchen befanntlic immer und überall 
nicht jo fajt darauf au, was gejagt, als wielmehr darauf wie es 
geſagt wird. 

Der General machte einen löblichen Verſuch, Vlawergiehen 
hintanzuhalten; freilich in ſeiner Weiſe. Er entſandte den Dra— 
gonerleutnant Kieffer über die Brücke und gegen die Stellung der 
Freiſcharen zu mit dem Auftrag, den Hecker zu einer Unterredung zu 
laden, welche auf der Kanderbachbrücke ſtattfinden ſollte. Hecker 
empfing dieſe Meldung, ſeitwärts am bewaldeten Abhange vor der 
Front eines der Freiſcharenbanner ſtehend, und entſprach derſelben 
ſogleich. Er trat auf die Straße heraus und ging dieſelbe abwärts, 


begleitet von Willich, Mögling und Kaiſer. Etwa 20 Schritte vor 


der Brücke ließ Hecker ſeine Begleiter zurück und ging allein vor— 
wärts. Dies that auf der andern Seite auch der General, indem er 
ſeinen Stab, worunter der Oberſt Hinkeldey und der Major Kuntz 
ſich befanden, halten ließ, vom Pferde ſtieg und auf die Brücke zu— 
ſchritt. Auf der Mitte derſelben trafen die beiden zuſammen. „Sie 
müſſen die Waffen niederlegen und Ihre Scharen auflöſen! Wollen 
Sie denn die Größe der deutſchen Bewegung durch ein ſolches Attentat 
kompromittiren? Ich fordere Sie auf, ſofort die Waffen niederzu— 
legen“. So der General, worauf Hecker dieſes Anſinnen „natürlich 
ablehnte“, wie er erzählt. Und wieder Gagern: „Herr Hecker, Sie 
ſind ein geſcheider Mann, ein braver Mann, aber ein Fanatiker“. — 
„Herr General, wenn die Hingebung für die Befreiung eines großen 


— nn m en 5 


Putſch⸗Idyll. 77 


Volkes Fanatismus it, dann mögen Sie diefe Handlungsweiſe aljo 
bezeichnen ; es gibt aber auch einen Fanatismus auf der andern Seite, 
dem Sie dienen. Uebrigens bin ich nicht bier, um hierüber zu 
ftreiten. Haben Sie mir ſonſt noch etwas mitzutheilen ? —“ „Nur 
diefes, daß ich ſogleich mit aller Strenge gegen Ste einjchreiten 
werde“. — „Wohl, wir werden einem Angriffe zu begegnen wijjen. 
Im übrigen werden Sie mid) und meine Offiziere dod wohl unge- 
fährdet zur unjeren Yeuten zurückkehren laſſen?“ — „Allerdings, ic) 
gebe Ihnen 10 Minuten Zeit“. Als Heder fid) zum gehen wandte, 
tief ihm der inzwijchen zur Brüde herangetretene Major Kung nod) 
die Worte zu: „Ich beſchwöre Sie, ftehen Sie ab!“ 

Während dieje unerjpriefliche Verhandlung vor fid) ging, ſtand 
die Nachhut der Freiſchar ungefähr SO Schritte weit öjtlid von der 
Brücke. Weiter zurück war die Mafje ver „Rebellen“ zu beiden 
Seiten der hohlwegartigen Straße an ven Hochwaldhängen vertheilt. 
Weitlih von der Brüde hatte zuvörderſt das heſſiſche Bataillon als 
Avantgarde der Bundestruppen Stellung genommen. Dahinter 
waren, gegen die Brüde Front machend, die zwei badiſchen Batail- 
Ione in Linie formirt und rechts von ihnen hielten die Dragoner- 
ſchwadronen und die reitende Artillerie mit 2 Stüden Geſchütz. Die 
Heſſen hatte der General ins Vordertreffen geitellt, Damit eine un— 
mittelbare Berührung zwifchen den badiſchen Truppen und ihren 
freiſchärlichen Landsleuten vermieden würde. 

Auf jeiten der Infurgenten gab fich nach der reſultatloſen Un— 
terredung auf der Brüde der Mangel einer jtraffeinheitlihen und all- 
gemein rejpeftirten Leitung jofort wieder einmal vecht auffällig kund. 
Willich nämlich, welcher jo zu jagen Oberjt war, befahl den Rückzug 
die Steige und den Wald aufwärts, während etliche der Führer, na= 
mentlih Mögling, das aufgeben ihrer verzeitigen Stellung für 
durchaus unräthlich hielten und dem weiteren vorſchreiten der Trup— 
pen zur Stelle und Stunde Widerſtand entgegenſetzen wollten. Erſt 
den wiederholten Befehlen Willichs — (Hecker ſpielte in den folgen— 
den Auftritten eigentlich gar keine Rolle mehr) — fügten ſie ſich miß— 


78 Die Berwidelung, I. 


muthig und jo zog fich der Freiharſt langjam zur Scheide hinauf. 
Sobald die von ihm bewilligte Zehn-Minutenfrift herum, ſetzte ver 
General jeinerjeitS die Truppen, die Hefjen immer voran, in Marſch. 
In einer Entfernung von 150 bis 160 Schritten folgte die Spike 
ihrer Vorhut, die Schütenfompagnie des heifiichen Bataillens, dem 
Nachtrab ver Freiihar die Steige und den Waldabhang hinan, vie 
Soldaten rauchend, plaudernd und lachend, der General in der zu— 
verfichtlihen Meinung, daß die „Rebellen“ jeden Gedanken, ftand- 
zubhalten, aufgegeben hätten. Cr hatte daher feiner Avantgarde aus— 
drüdlich verboten, unter jothanen Umſtänden von der Schießwaffe 
Gebrauch zu machen. Als aber die Avantgarde an den Höhenfamm 
der Scheideck bis auf ungefähr 600 Schritte herangefommen war, 
bemerkte der die Zugipise führende Offizier, Leutnant Beder, daß 
die Freiihar Halt machte, ſich rechts und Kinfs vom Wege zum 
Treffen ordnete und ihre Kanonen (d. h. Böller) ſchuſſgerecht her- 
richtete. 

Die „Rebellen“ wollten aljo doch jtandhalten? Ya, jo wollten 
fie. Dem als die Freiichar den Fleinen freien Raum auf ver Paf- 
höhe erreicht hatte, von wo der Weg gen Steinen zu abzufallen be- 
ginnt, legten Mögling und "andere Führer gegen die Fortjeßung des 
Rückzuges Proteft ein, welchen fie damit begründeten, daß der Feind, 
fo verjelbe erft die Scheived bejett hätte, von der Höhe hinab mit 
unwiderſtehlicher Kraft auf den republifantichen Rückzug drücken und 
denjelben bald in eine Flucht verwandeln fünnte. Der So-Zu-Sagen- 
Oberſt Willich konnte hiergegen mit feinen Bevenfen, die Fleine Frei— 
ihar einem Angriff von jeiten der großen militäriſchen Uebermacht 
bloßzuftelen, nicht auffonmen und orbnete demnach, obzwar mider- 
willig, die Mannjchaft zum Gefecht. In Wahrheit nicht ganz jo 
ungeichteft, wie man ihm lange ſchuldgegeben hat. Auf den rechten 
Flügel wurden die von Mögling und Willmann befehligten Schützen⸗ 
fähnlein poſtirt, das Centrum bildete ein Banner Muſtetire unter 
Bruhn. Vor dem Centrum waren zwei Böller aufgefahren, links 
vom Centrum, etwas zurück ſtand ein Banner Senſenmänner, welche 


Putſch⸗Idvll. 


nach den erſten Salven hervorbrechen und auf den Feind eindringen 
ſollten. Die Führung des aus Muffetiren und Scharfſchützen gebil— 
deten linken Flügels hatte der Doftor Kaiſer. Heders Stellung und 
Betheiligung im und am Gefecht auf der Scheide erſcheint nach jeiner 
eigenen und ſämmtlichen übrigen Nelationen ganz unbejtimmbar und 
nebelhaft. Vermuthlich hat er, auc als man ſich bereits zum ſchlagen 
fertig gemacht hatte, noch immer der Phantafie gelebt, die zweierlei— 
tuchenen „Brüder“, welche da zum Angriffe ven Berg heraufrüdten, 
würden ſich mittels etlicher Phrafen von den fürftlihen Fahnen zur 
republikaniſchen herüberziehen Lafjen. 

Diejes „vermuthlih“ abgerechnet, ift im der Geſchichte des 
Tages bis dahın alles beſtimmt und far. Im dem Wirwarr jedoch, 
welcher augenblidlih losbrach, als der wirklihe Zufammenftoß der 
beiden Parteien erfolgte, füllt der leitende Faden unzweifelhaft feit- 
jtehender, d. bh. von beiden Seiten übereinftimmend gemelveter That- 
jachen zu Boden und iſt nicht wieder aufzuraffen. Darım it es z. B. 
aller aufgewandten Mühe ungeachtet unmöglich, Feitzuftellen, mer auf 
der Scheide zuerjt geihofien habe, die Nepublifaner oder die Roya— 
liſten. Beide haben einander hartnäckig beihuldigt, es gethan zu 
haben. Das wahriheinlichjte aber dürfte jein, daß von hüben und 
drüben im gleihen Augenblide geſchoſſen wurde. Hohe Herrin Hiltoria, 
wie oft ſchiebt ſich dir das Kindermädchen Fabula als Doppeltgängerin 
unter oder vor! Wenn man ſchon daran verzweifeln muß, die Reihen— 
folge der Vorgänge im Gefechte bei Kandern am 20. April 1848 
mit mathematiſcher Genauigkeit zu beſtimmen, was können wir dann 
über jahrhunderte- und jahrtauſendealte Dinge zweifellos genaues 
wiſſen? Napoleon hatte doch wohl einigen Grund, zu ſagen, die 
Weltgeſchichte ſei eine „fable convenue*. Wäre nur die gute Fabula 
im Falle, dem alten Kinde Menſchheit anderes vorzuplaudern als die 
ewige Litanei von Blut und Thränen, das wüfte einerlei von thörichter 
Schuld und fruchtloſer Sühne .... 

Leutnant Becker ließ nach rückwärts dem General melden, daß 
die Freiſchärler auf der Paſſhöhe zum Gefechte ſich bereitſtellten, 


80 Die Berwidelung, I. 


worauf Herr von Gagern die Spitse jeiner Kolonne noc weiter vor— 
gehen ließ, bis jie im Begriffe war, auf das fleine Plateau hervor— 
zubrechen. Hier, alfo hart vor der Linie der Freiichar, ließ er halten. 
Die Truppen eine Gefechtitellung nehmen zu laffen, jcheint, er für 
itberflüffig erachtet zu haben. Er mochte glauben, mittels des bloßen 
VBorwärtsbewegungsdrudes jeiner Marſchſäule den ſchwachen Gegner 
ummerfen zu fünnen. 

„Schießt nicht, deutſche Brüder! Kommt in unfere Reihen!“ 
riefen die Republifaner den hart an ſie herangerüdten Soldaten ent- 
gegen. Dieſe ſtutzten. Das deutihe Blut vegte ſich Doc in ihnen und 
auch ſie hatten ja davon fernher läuten hören, was alles die da 
drüben flatternde ſchwarzrothgoldene Fahne zu bedeuten hätte. 

Ganz vorn, die ganze Breite der Strafe füllend, jtand der 
Halbzug des Yeutnants Beder. Dahinter zunächſt die Schütenfom- 
pagnie dejjelben heiftichen Batatllons unter Hauptmann Keim, eben— 
falls in Halbzugs-Marſchkolonne formirt. Dit angeſchloſſen folgten 
dann die früher namhaft gemachten Iruppengattungen, Infanterie, 
Kavallerie und Artillerie. 

Einer der Adjutanten Gagerns, der Oberleutnant Heiſler, will 
das Geſchrei der Freiihärler zuerit für „eine Nachahmung des alt- 
deutſchen Schlachtrufs“ gehalten, jodann den Ruf „General vor!“ 
unterſchieden und zu diefem gejagt haben: „Herr General, man ruft 
Ste!" Wirklich ftieg Gagern vom Pferde und ging, begleitet von 
dem Hauptmann Keim, bis zur äußerſten Spite der Truppen vor. 
Im jelben Moment machte ver Stabschef des Generals, Major Kuns, 
mit einer Kompagnie des badiichen Yeibinfanterteregiments eine Be— 
wegung von der Strafe nad) rechtshin, um die Republikaner zurid- 
zudrängen und eine freundliche Berührung derjelben mit den badiſchen 
Soldaten zu verhindern. 

Möglich weit aus den Reihen ver Republikaner vortretend, kam 
der Doktor Kaiſer in ferner biauen Bluje dem General und dem 
Hauptmann entgegen ımd rief laut nicht jo faft den beiven als viel- 
mehr den Solvaten zu: „Schießet nicht auf eure Brüder! Schießt 


Putſch-Idyll. 81 


nicht! Wir wollen ja das gleiche, was eure Väter und eure Brüder 
wollen; ihr würdet noch als Greiſe euch die grauen Haare ausraufen“. 
Darauf der General furz und barih: „Yegt die Waffen ab und 
geht nad) Haufe!” 

Die Zurufe der Freiichärler an die Soldaten werden allgemeiner, 
lebhafter, dringender und den Offizieren kann es nicht entgehen, daß 
jelbjt im den Reihen der Heſſen Ungewißheit und Schwankung einzur- 
eigen beginnen. Der General erfennt, daß raſch gehandelt werden 
müfje. Er geht zu der heſſiſchen Schütenfompagnie zurüd, wo ber 
Hauptmann Keim zu ihm jagt: „Die Kerle halten ſtand. Was 
befehlen Sie nun?“ Worauf Gagern: „Nun, un Gottes Namen, 
vorwärts!“ 

Wunderlich, jo oft die Menſchen dazu verjchreiten, einander 
mafjenhaft todtzuichlagen, ermuntern fie ich zu diefem Löblichen Ge— 
ihäfte „im Namen Gottes“. Dover vielmehr, das ift gar nicht wun— 
derlich, jondern ganz vegelrichtig. Hat ja die arme Menſchheit jeit 
vielen Jahrtauſenden vergeblid fi abgemüht, einen halbwegs an— 
ftändigen Gottesbegriff ſich anzufchaffen, ımd immer und überall noch 
thront Baal-Moloch als Obergott auf dem Blutopferaltar . . . . 

Der Major Kuntz fommt auf die Straße zurüd, gerade als der 
General jein Pferd wieder beitiegen hat. Auch er fragt, was mım zu 
thun jei. Der General zieht den Säbel, treibt fein Pferd an und 
befiehlt: „Vorwärts!“ Der Hauptmann bemerkt: „Herr General, 
Sie exponiren ſich“. Worauf Gagern zum Major: „Yieber Freund, 
wir gehören hierher“. 

Sofort ließ der Hauptmann jeine Nompagnie antreten und 
führte fie zum Angriff vor. Seine Ausjage über das, was folgte, 
lautet jo: — „Bis auf 25 Schritte an die Aufitellung der Rebellen 
gekommen, zog id) den Degen, fommandirte: Fällt's Gewehr! und 
die Kompagnie gung lebbafter vor. In diefem Augenblide ließ Ober- 
leutnant Beder die Scharfſchützen des Bataillons rechts Kette bilden. 
Ich war nun bis auf 8 Schritte an die Rebellen herangekommen und 
mit Leutnant Becker vor die Bajonnette getreten, um möglichſt zu ver— 


Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 6 


82 Die Berwidelung, U. 


hindern, dag die Mannſchaft, gegen den Befehl des Generals, früher 
als die Rebellen feuerte. Dieje riefen mir zu: „Salt, wir weichen 
wicht!“ Auf diefen Zuruf antwortete ih: Ich habe Befehl, vorzu- 
dringen, und diefen Befehl befolge ih — und nun bis an die Bajon- 
nette der Gegner herangefonmen rief ih: Die Waffen ab! und entrik 
denen, die mir zunächſt die Bajonnette entgegenhielten, die Gewehre. 
Da fiel der erſte Schuß rechts von mir aus den Reihen der Nebellen 
und traf meinen linken Oberarm. Zugleich hörten wir nod) einige 
Schüſſe linfs von uns. Ich vermuthe, daß der General von Gagern 
durch dieſe Schüffe tödlich getroffen wurde. Jetzt, nachdem Yeutnant 
Beder und ich uns in das erſte Glied unſerer Leute hatten aufnehmen 
(affen, feuerte die vordere Abtheilung unſerer Schüten und die ganze 
Kolonne der Nebellen fing an zu ſchwanken, ſich aufzulöfen und theil— 
weiſe eiligft zur entfernen. Wir drangen nun ein und durch den mei 
teren Angriff mit Degen, Bajonnett und Kolbe wurden die Rebellen 
in vollſtändigſte Klucht gejagt. Während dies im Centrum vorging, 
hatte es Oberleutnant Beder auf dem linfen Flügel des Feindes, der 
aus Senſenmännern und Jägern beitand, gleichfalls zu jchnellfter 
Entſcheidung gebracht“. 

Dieſem ehrenwerthen Zeugen, welcher klärlich darthut, daß der 
General nach ſchon begonnenem und z3war auf ſeinen Befehl ſeitens 
der Truppen begonnenem Gefechte getroffen, alſo keineswegs, wie 
man amtlich lügen ließ, vor dem Gefechte und während des Parla— 
mentivens „verrätheriich“ erichoflen wurde, — dieſem ehrenmwerthen 
ſoldatiſchen Zeugen ftellen wir einen ebenjo ehrenwerthen freiſchärlichen 
gegenüber, in der Berfon von Mögling, welcher, was er übrigens 
verichweigt, mitten im Trubel des Treffens auf der Scheide Ge- 
tegenheit fand, jene nie ſich verleugnende Gutherzigkeit zu erweiien. 
Es war nämlich zufällig eine arme Bauersfrau aus der Umgegend 
mitten in dieſen Trubel hineingerathen und der brave „Hannes“ 
ſuchte fie mit feinem viefigen Körper gegen die Kugeln zu decken, wo— 
von er jeitens feiner Freunde den Kriegsnamen „die lebendige Barri- 
kade“ erhielt. 


i Putſch-Idyll. 83 


Die Ausſage Möglings lautet jo: „Kaum war unſere Auf— 
ſtellung vollendet, als die Royaliſten auf der Höhe, Scheideck genannt, 
erſchienen. Wir Führer gingen ihnen ſogleich entgegen und forderten 
ſie auf, gemeinſchaftliche Sache mit uns zu machen, da es ſich hier 
um die Freiheit des ganzen Volkes handelte. Die Soldaten hielten 
zuerſt überraſcht ſtill, dann löſ'ten ſich die vorderen Reihen auf, wir 
gaben den einzelnen Leuten die Hand und ſuchten ſie mit uns zu ver— 
einigen. In dieſem entſcheidenden Momente beſtieg Gagern ſein Pferd, 
hieß die Offiziere ihre Leute zurückreißen, ſo daß wir uns einen 
Augenblick um die Soldaten riſſen, und rief Unteroffiziere und Frei— 
willige vor. Dieſe drängten die Soldaten zurück, ein Adjutant 
Gagerns ſtellte ſich an ihre Spitze und drang mit gefüllten Bajon— 
nette gegen unſer Centrum vor, welches ſie ebenfalls mit gefälltem 
Bajonnette erwartete. Die beiden Parteien ſtanden, mit den Bajon— 
netten ſich beinahe berührend, einander gegenüber; keine wollte an— 
greifen, denn wir hatten einfältigerweiſe unſerer Mannſchaft ſtreng 
eingeſchärft, nicht zuerſt anzugreifen, weil uns viele Soldaten erklärt 
hatten, wenn wir irgendwo zufammtenträfen und wir wicht zuerſt an— 
ariffen, wirden auch jie von ihren Waffen feinen Gebrauch machen. 
Jetzt führte Gagern durch raſches Handeln eine ſchnelle und blutige 
Entſcheidung herbei. Als er die Unentichloffenheit jener Yeute ſah, 
feierte er, hinter ihnen haltend, ſein Biltol auf unſer Centrum mit 
dem Ausruf ab: „Was Brüder? Geſindel ſeid ihr!” Sem Adju— 
tant hieb zu gleicher Zeit auf einen unſerer Artilleriften ein und die 
Soldaten, den Schuß hörend, gaben Feuer, welches der großen Nähe 
wegen eine aukerorventlihe Wirkung hatte. Sogleich jtürzten gegen 
zwanzig der Unſerigen. Wir erwiderten natürlich das Neuer mit 
großer Lebhaftigkeit. Ich jelbit hatte nie geglaubt, dag fein Kampf 
erfolgen werde, und hatte gleich bei unſerer Aufitellung meinen Yeuten 
eingejhärft, jowie das Feuer begänne, hauptſächlich auf die Offiziere 
zu feuern. Zwei gute Schüten hatte ich an meiner Seite und jagte 
ihnen, auf den General zeigend, der in Civil gefleivet war: Jener 
dort in dem brammen Node und der grünen Mütze ift der General, 

6* 


54 Die Verwidelung, II. 


haltet nur auf diefen! Kaum hatte das feuern begonnen, als auch 
wirflih der General, von emem meiner Schützen in die Bruft ge- 
troffen, ſchwankte. Sein Pferd bäumte fih in Folge ſcharfen An— 
ziehens des Zügels und erhielt ebenfalls einen Schuß in die Bruft. 
Mit dem Ausruf: Gerechter Gott! ſtürzte Gagern mit jeinem Pferde 
zujammen. Alle dieje Ereiguiffe waren das Werk einiger Sefunden 
und gingen raſcher vor ſich, als ich fie erzählen fan. Die Wirkung 
des eriten Feuers war großartig und für mid), der ich das erjtemal 
ein Treffen gejehen, jehr überraſchend. Gleich nachdem ver erjte 
Pulverdampf verflogen, ſah ic einen großen Menjchenfnäuel auf dem 
Boden liegen, Nepublifaner und Royaliſten durcheinander. Der 
General lag zu meinen Füßen unter jeinem Pferde; ich fühlte ihm 
ſogleich den Buls, dieſer hatte jedoch zu jhlagen aufgehört. Bon den 
zu Boden liegenden Wehrmänmern und Soldaten jtanden jedoch die 
meijten wieder auf. Auf der einen Seite liefen die Royaliſten, auf 
der andern umjere Leute, bejonders die Senfenmänner, davon. Dieſe 
batten nämlich die volle Salve eines Pelotons befommen, die Kugeln 
waren aber zu hoch gegangen, hatten bloß die Senjen getroffen, ein 
großes Geräuſch verurſacht und dadurch ihre Träger jo erſchreckt, daß 
diefe nicht nur ihre Senſen wegwarfen, jondern aud) entweder ſich zu 
Boden legten oder direft Davonliefen. Für einige Augenblide entitand 
auf dem Kampfplat ein fleines Getümmel und Handgemenge zwiſchen 
den ſich Aufraffenden und nach verſchiedenen Seiten Davongehenden. 
Ih war an der Leiche des Generals ftehen geblieben und dabei jo in 
das Handgemenge gefommen, daß ich einem Royaliſten jene Muſkete 
entreigen und einem anderen, der mir unterdeſſen mit feinem Bajon- 
nett ein Yo in meinen Burnus riß, dafür einen tüchtigen Säbel— 
ihlag über jeinen Tſchakko geben konnte. Bald trat ein Hauptmann 
der Royaliften vor, winkte mit einem weißen Tuche und vief mir zu, 
wir möchten das Feuer einjtellen*). Ich erwiderte, wir jeien bereit 


*) Diefer „Hauptmann der NRoyaliften”“ war der Hauptmann Keim, 
welcher jeiner eigenen Relation zufolge nach) eingetretener Kataftrophe den 


Putſch-Idyll. 85 


dazu, wenn ſie es auch einſtellten. Er gab ſofort den Befehl dazu, 
ich auch. Darauf trat er wieder vor und ſagte, es ſei Blut genug 
gefloſſen, wir wollten uns trennen; ſie, die Royaliſten, hätten nur 
Befehl, bis hierher auf die Scheideck vorzudringen; ſie wollten nun 
zurückkehren und wir ſollten unſern Marſch ebenfalls fortſetzen. Ich 
erklärte ihm, damit zufrieden zu fein. Nun wünſchte er die Leiche 
des Generals zurückzuhaben, welche auf unjeren Terrain lag. Dies 
ſagte ich jogleich zu, als mir einer unferer Hauptleute jagte, in dem 
Handgemenge habe ein Royalift dem Fahnenträger unferer Senjen- 
männer die Fahne entriffen, worauf ich die Zurüdgabe der Yeiche des 
Generals an die Bedingung der Zurücdgabe der Fahne knüpfte. Nur 
ungern gab ver Soldat die Fahne zurück und warf fie im Unmuth 
auf den Boden. Ich erflärte ſogleich, auf Diefe Art nähmen wir die 
Fahne nicht zurück; der Soldat mußte fie aufnehmen und ein Unter— 
offizier übergab fie einem unferer Wehrmänner, worauf wir Die Yeiche 
des Generals zurüdaaben *)“. 


Snfurgenten zurief: „Hört auf zu feuern; es hat Opfer genug gefoftet und 
bilft euch doch nichts“. 
*) „Briefe an meine Freunde”, S. 87 fg. Mögling hat dieje feine 
Ausjage unter Umftänden abgegeben, wo e8 fich für ihn um Leben oder Tod 
handelte, nämlich vor dem preußiſchen Standgerichte, wor welches der bei 
Wagbäufel durch eine preußiſche Kugel zum Krüppel Geſchoſſene am 20. Ok— 
tober 1849 zu Mannheim geichleppt wurde. Sein in diejer Yage eritarteter 
Bericht über das Gefecht auf der Scheide machte jo ganz den Eindrud der 
Wahrheit, daß der Vorfiter des Kriegsgerichts, der preußiſche Major Basz- 
kow, dem braven „Hannes“ erklärte, derjelbe „jolle werfichert ein, das ganze 
Standgericht jei von der Wahrheit aller jeiner Aeuferungen jo vollfommen 
überzeugt, daß es die bereitgehaltenen Zeugen gar nicht vorrufen würde, 
wenn dies nicht der Form wegen nöthig wäre“. Mögling ließ ſich vor dem 
Kriegsgerichte mit aller Entrüftung feiner ehrlichen Seele darüber aus, daß 
„die großherzoglich badiiche Regierung den Herrn Oberft Hinkeldey veran- 
(afit hatte, die grobe Verleumdung gegen Heder zu verbreiten, als babe 
diefer den General Gagern während einer friedlichen Beſprechung meuchlings 
niedergeſchoſſen“. „Wir hatten zwar jogleih — erzählt er — in allen ung 
zugänglichen Blättern die Unmwahrheit diejer ehrlofen Berleumdung nachge— 


86 Die Verwidelung, II. 


Was ift nun Wahrheit? würde angefichts dieſer beiden Zeug- 
niſſe der jelige Pontius Pilatus wieder einmal fragen. Wer aber 
nicht wie Se. Excellenz der weiland Dberpräfident von Judäa zu 
träge und gleichgiltig iſt, die Wahrheit zu juchen, wird dieſelbe aus 
den angeführten beiven Zeugnifjen unjchwer herausfinden. Denn 
dieje Bezengungen decken ſich in allem wejentlichen volljtändig. Das 
wejentliche aber iſt, daß General Gagern in dem durch ihn ange- 
hobenen Kampfe gefallen und daß nad) feinem Fall ein kurzer Waffen- 
jtillftand mit beiderſeitiger Einwilligung eingetreten ift. 

Das Rejultat des Zufammenftoßes auf der Waldhöhe hinter 
Kandern war eine nicht jo jehr militärifche als vielmehr politiiche 
Niederlage der Kepublifaner. Denn das kurze Treffen auf ver 
Scheideck ergab um den Preis von einem Dutend Menjchenleben das 
Facit, daß es mit der Illuſion, die Soldaten der fürjtlichen Heere 
zur Fahne der Nepublif herüberzuziehen, futſch und fertig jei. Die 
Gewohnheit militärticher Difeiplin erwies fich nicht weniger mächtig, 
als fi in dem Volke die Gewohnheit des monarchiſchen Köhler- 
glaubens mächtig erwies. Das Volk machte feine Miene, geſchweige 


wieſen; da aber die großherzogliche Regierung den Oberſt Hinteldey nicht 
nur an der Spitze jeines Dragonerregiments ließ, jondern auch das ge= 
ſammte badiſche Offizierkorps fortwährend einen Mann unter fi duldete, 
dem in öffentlichen Blättern nacdhgewiejen war, daß er wiljentlich fein Ehren- 
wort faljch gegeben batte, jo hielt ich es für nothwendig, bier wor mehreren 
hundert Zeugen die Wahrbeit als Augenzeuge und Veranlaſſer des beiproche- 
nen Ereignifjes zu befräftigen. Viele großberzogliche Offiziere waren an— 
wejend, feiner wagte meinen Behauptungen zu widerjpreden. Beihämt 
ichlugen fie die Augen nieder und wagten weder den Bliden ihrer preußifchen 
Kameraden, in denen auch nichts weniger als Achtung lag, noch den meinigen 
zu begegnen, als ich die Vorgänge auf der Scheided erzählte”. Selbſt Leib— 
biftorifer und Leibpubliziften des wulgären Liberalismus haben es nicht ge- 
wagt, Möglings mannbaftes Gebaren vor den Kriegsgerichte zu leugnen; 
aber fie ſuchten es mit gewohnter Ehrlichkeit todtzujchweigen. Auch dem 
Gegner gerecht zu werden, das liegt weit über dem Niveau „liberaler“ 
Plattföpfigfeit und Lederberzigkeit. 


Putſch⸗Idvll. 87 


irgend eine Anſtalt, in Maſſe für die Republik ſich zu erheben, und 
die Soldaten ihrerſeits ſchoſſen, ſobald ſie dazu kommandirt wurden, 
unbedenklich auf die Republikaner. Die Vorausſetzungen, unter 
welchen der Hecker-Putſch phantaſtiſcher Weiſe unternommen worden, 
hatten ſich demnach als total irrige herausgeſtellt und damit war die 
ganze republikaniſche Schilderhebung unwiderſtehlich vergeckt und 
verloren. 


Bei ſolchen ſtudentiſchen Improviſationen, wie der Aprilgang 
der deutſchen Republikaner i. J. 1848 eine geweſen iſt, kommt alles 
auf das gelingen oder miſſlingen des erſten Streiches an. Wäre 
der erſte Streich gelungen, d. h. hätten die Republikaner auf der 
Scheideck die heſſiſchen und badiſchen Truppen in ihre Reihen 
hinüberzuziehen oder aber dieſelben entſcheidend zu ſchlagen vermocht, 
ſo würde die Sache ein ganz anderes Geſicht bekommen haben. So 
jedoch, wie es auf der Scheideck hergegangen, hatte der erſte Fehl— 
ſchlag einen zweiten, dritten, vierten zur natürlichen Folge. Einer 
dummen oder ſchlechten Sache thut eine anfänglich erlittene Nieder— 
lage wenig oder gar nichts; denn die Menſchen, ohnehin ſchon aus 
Wahlverwandtſchaft ſympathiſch für ſie geſtimmt, ſpringen ihr nun 
auch noch aus Mitleid bei. Eine vernünftige und gute Sache dagegen 
erholt ſich von anfänglichem Miſſgeſchicke nur äußerſt ſelten, weil ſich 
durch ein ſolches jeder ſchäbige und ſchäfige Philiſter, alſo das liebe 
Durchſchnittspublikum, für bevollmächtigt hält, ihr auch ſeinerſeits 
einen Fußtritt zu geben, um ſie weiter bergab zu ſtoßen. . .. 

Der, von welden der ganze Putſch den Namen trägt, muß bei 
Kandern zu der unwiderſprechlichen Selbſterkenntniß gelangt jein, daß 
er nicht die Spur eines Schattens von Feldherrnberuf in ſich habe. 
Er verlor ſich mit den herzhaft fliehenden Senjenmännern von der 
Walſtatt, verirrte jih in den Wäldern und wurde in der nächſten 
Naht durch einen bilfreihen Bauer glüdlid über den Rhein auf 


88 Die Berwidelung, U. 


ſchweizeriſchen Boden hinüberbugſirt. Als richtiger Sanguimifer, der 
ex war, jprang er in Folge der Ereiguiffe vom 20. April plöglid) 
zum vollſtändigen Melandolifer um, welcher über die Befähigung 
des deutichen Volkes, Revolution zu machen, grämliche Wite riß, die 
jedem beffer anftanden als ihm, der noch vor wenigen Tagen an bieje 
Befähigung mit wahrhaft kindiſcher Zuwerficht geglaubt hatte. Im 
übrigen that Heder, nachdem er zu Muttenz in Bafelland die Un- 
erquicklichfeit des Flüchtlingslebens eine Weile gefoftet hatte, Das 
klügſte, was er unter jothanen Umftänden thun konnte: er verzichtete 
auf die undanfbare Rolle, ven Nepublifanifator der fürſtenfürchtigen 
Deutſchen zu machen, und ging nach Amerika, um im „fernen Weiten“ 
Farmer zu werden. Im folgenden Jahre, 1849, lieh er ji) ehren- 
hafter, aber unkluger Weiſe noch einmal durch einen Irrlichtſchein 
für etliche Tage nach Europa herüberlocken, iſt aber aus beweglichen 
Gründen nur bis Straßburg gekommen und hier wieder umgekehrt. 

Das verſchwinden Heckers von der Scene machte dem Putſch— 
Idyll ein Ende mit Schreden. Seine Perſönlichkeit war doch das 
zujammenhaltende Band des ganzen Unternehmens gewejen. Als 
jenes fehlte, fiel dieſes auseinander. 

Die Auflöſung der Heckerſchar hatte ſchon auf der Scheived be— 
gonnen. Was nod) zufammenhielt, zog ſich gen Steinen, um ſich 
mit der theilweiſe daſelbſt eingetroffenen weishaar-ſtruve'ſchen Kolonne 
zu vereinigen. Die Bundestruppen, unter dem Dberbefehl des an 
Gagerns Stelle getretenen Oberſts Hinkeldey, rüdten nad). Ihr 
Vortrab ſchoß ſich eine kurze Weile bei Steinen mit den Freiſchärlern 
herum, deren Führer mitten in dieſem Plänklergefecht durch die 
Meldung überraſcht wurden, Bürger Struve habe mit den Royaliſten 
alſo kapitulirt, daß dieſe ungeſtört gegen das Rheinthal hinab und 
die Republikaner hinter die Wieſe ſich zurückziehen ſollten. Damit 
barſt die helle Anarchie in der Freiſchav aus. Miſſmuth und Miß⸗ 
trauen machten die weishaar'ſche Kolonne auseinanderrinnen wie 
Regenſchauer den Aprilſchnee. Auf dem Fluchtweg nach der Schweiz 
fiel Struve in die Hände des Oberamtmanns von Säckingen, welchem 


Putſch-Idyll. 89 


der Umſtand, daß eine Schwadron wirtembergiſcher Ulanen in dem 
Städtchen lag, den Muth gab, ſeinen Gefangenen feſtzuhalten. Als 
aber der wackere „Hannes“ den Unfall Struve's erfahren hatte, 
wußte er durch eine artige, ſehr geſchickt in Scene geſetzte Kriegsliſt 
dem wirtembergiſchen Rittmeiſter eine ungeheure lange Naſe zu drehen 
und die Freigebung Struve's zu bewirken. Der alſo Befreite wandte 
ſeine Schritte der Kolonne Sigels zu, nicht zum Heile derſelben. 
Denn der begeiſterte Optimiſt und gewiſſenhafte Pflanzenkoſteſſer 
brachte es trotz des beſten Willens während des ganzen Aprilputſches 
nur dazu, die Rolle des Konfuſionarius Konfuſionariorum zu ſpielen. 
Auch fein Befreier aus den Krallen der Säckinger, der thatkräftige 
Möaling, machte fih zur figel’ihen Schar auf, deren Banner immer- 
hin noch mehr als 3000 Bewaffnete zufammenbielt. 

Sigel hatte am 20. April mit feinem Harfte gerade die Nacht— 
guartiere in Todtnau und Umgebung bezogen, als ihn die Meldung 
von dem auf der Scheide gejchehenen erreichte. Der Bote bat zu— 
gleich) dringend um Unterftütung der, wie er ausjagte, auf Zeil 
zurüdgegangenen Hederihar und Sigel ließ ſich, obzwar überzeugt, 
daß ein raſcher Vormarſch über Freiburg das gerathenfte wäre, hier- 
durch zu einem Rückmarſch auf Schopfheim und Zell bewegen, allıwo 
man doch nur die Auflöfung der hecker'ſchen und der weishaar'ſchen 
Kolonne erfuhr. Dieſe Nenigfeit, verbunden mit den Einwirkungen 
eines vielſtündigen Eilmarjches bet furchtbarem Negenwetter, konnte 
Das Vertrauen zu einer ohnehin Schon völlig problematiſch gewordenen 
Sache nicht eben ftärfen. Außerdem gab die Wiederabwendung von 
dem wichtigen Zielpunft Freiburg den fürftlichen Truppen Zeit und 
Kaum, von allen Seiten zur Wegnahme diejer Stadt herbeizufommen, 
deren Bürgerichaft zwiichen Republik und Monarchie ſchwankte wie 
Buridans befannter Eſel zwijchen feinen zwei Heubündeln, Die aber 
durd eine enthuficitiiche Jugend, die Turnerichaft voran, im Sinne 
der republikaniſchen Schilverhebung gehalten wurde. Schon lagerten 
fi) jedoch überlegene fürſtliche Streitkräfte vor der Stadt, badifche, 
naffaniihe und heitiiche Iruppen, etwa 3000 Mann Fußvolk, 


90 Die Berwidelung, II. 


1 Reiterregiment und Artillerie mit 4 Geſchützen. Auch die hinkel- 
dey'ſche Kolonne wandte ſich von Lörrach rheinthalabwärts auf Frei— 
burg. DVBom Schwarzwald rüdten die Wirtenberger durch dag Alb- 
thal und das Höllenthal ebenfalls gegen dieſe Stadt herab. 

Sigel, von Schopfheim nad) Todtnau zurüdgeeilt, empfing bier 
am Nachmittag des 22. April Meldungen, welche ihm über das 
verzweifelte einer Angriffsbewegung auf Freiburg wenig Zweifel 
lafjen konnten. Aber als muthiger Mann wollte er dieſe Bewegung 
dennod wagen, um wenigitens nod einen Schlag für die Republik 
zu thun und dann auch, weil er die Parteigenofjen in Freiburg, 
welche die Stadt gegen die fürjtliche Truppenmacht verbarrifadirt 
hatten, nicht bilfelos dev Rache ihrer Feinde preisgeben mochte. Sowie 
demnach jeine verſchiedenen „Banner“ von Zell und Schopfheim ber 
nad und nach wieder bet ihm eintrafen und jobald die durchnäſſten 
und abgehetsten Yeute jich nothpürftig erholt und ihre Kleider und 
Waffen getrocknet hatten, jetste er fie abermals in Mari, über die 
beſchneiten Bergkämme hinweg und Freiburg zu. 

Am Oſterſonntag dem 23. April jtand in den erſten Nach— 
mittagsjtunden der vepublifantiche Bortrupp, Sigels 1. Banner, bei 
welchem Struve ſich befand, beim Dorfe Güntersthal, alio etwa nod) 
eine Stunde won Freiburg entfernt, während der Nachtrab nob in 
Todtnau zurückwar und zwiſchen dieſen beiven Punkten die übrigen 
Banner im Marjche begriffen waren. Sigel, welder einen ſach— 
gemäßen Angriffsplan entworfen und demmad) alle verzettelten Vor— 
wärtsbewegungen entſchieden unteriagt hatte, wollte ganz verjtändiger 
Weiſe nicht nur jeine eigenen Streitfräfte ſämmtlich beranhaben, 
jondern auch die Sharfihütenzüge ver hecker'ſchen und weishaar’ichen 
Stolonne, welche, nad) ven Gefechten bei Kandern und Steinen ver- 
iprengt, jetzt — jo war ihm gemeldet worden — durch Beder und 
Bruhn, Doll und Mögling wieder gefammelt und ihm zugeführt 
wurden. Er hatte daher der Vorhut den gemejjenen Befehl zugeben 
lafien, im feinem Fall über Güntersthal hinaus vorzugehen, bevor 
er mit den andern Bannern herangefommten wäre. 


Putſch⸗Idyll. 91 


q 


Da jpielte das eingreifen Struve's dem Freiicharengeneral 
einen übeln Streih. Sei es von der firen Idee befangen, auch in 
ihm jtäfe ein verfanntes Feldherrngenie, jet es von der nod) fireren 
beherriht, mittels parlamentivens zum  fraternijiven mit ven 
zweterleituchenen „Lieben Brüdern“ zu gelangen, genug, der gute 
Fleiſchkoſtverächter gab dem Vortruppbanner Marjchbefehl und un— 
glücklicherweiſe fand er Gehorſam. So führte er das Banner mitten 
im Thale auf offener Strafe gegen Freiburg zu. Die unausweich— 
lichen Folgen diejes Geniejtreiches traten jofort ein. An der Mündung 
des Ihals, beim Gaſthauſe zum Waldhorn, ſtieß die Schar auf die 
in Schlachtordnung aufgejtellten Truppen, badiſche Infanterte und 
heſſiſche Artillerie. Dem armen Struve, der heftig ſein weißes Tud) 
ſchwenkte, wurde nicht einmal gegönnt, feine Bruderſchaftslitanei 
berzufagen. Der badiſche General Hoffmann jagte den von Struve 
vorgejandten Parlamentär Kuenzer zurück mit den Worten: „Sort, 
du Hund!“ und gleich darauf prafjelten die heſſiſchen Kartätſchen tır 
die Reihen der Freifhärler. Das Banner jtob auseinander, mit 
Ausnahme der Schütenfompagnie, welche, am Saume des Sternen- 
waldes Stellung nehmend, die Flucht der Senjenmänner zu Deden 
ſuchte. General Hoffmann führte feine Truppen bis Güntersthal 
vor, bier aber wurde er durch Den inzwijchen mit einem friichen 
Banner herangefommenen Sigel, weldyer das Gefecht herzhaft auf- 
nahm, int weiteren vordringen gehemmt und fand für gut, ven Rück— 
zug nad) Sankt Georgen anzutreten. Derweil iſt aud) ein ſchwäch— 
licher Verſuch der Nepublifaner in der Stadt, aus dieſer hervor- 
zubrechen und den Truppen in den Rücken zu fallen, mijjlungen. 
Struve's verkanntes Feldherrngenie hatte allen Plan und Zuſammen— 
bang im den Operationen der Nepublifaner zerjtört. 

Sigel verbrachte die Nacht in dem Dorfe Horben rüdwärts von 
Güntersthal, um den Zuzug Möglings abzuwarten, welcher dann 
aud richtig daſelbſt eintraf. Die ganze Freifchar betrug jetst aber 
faum noch ein Sechitel ihres gejtrigen Beltandes. Trotzdem unter- 
nahmen Sigel und Mögling am folgenden Morgen (24. April) noch 


92 Die Verwidelung, U. 


das Wagniß, ihren Parteigenofjen in Freiburg, welches an dieſem 
Tage von den fürftlihen Truppen berannt wurde, Hilfe zu bringen. 
Es gelang ihnen, in Horben 5—600 Mann zufammenzuraffen. 
Damit drangen ſie durch den Sternenwald bis vor das Schwaben- 
thor der Stadt. Allein diefe war nad) einem von der Handvoll 
freiburgischer Nepublifaner unter dem Kommando des Studenten 
Langsdorff jehr wader, befonders am Zähringerthor und am Brei— 
jacherthor wader gefämpften Barrifadenfampfe von den Truppen ge— 
nommen worden und jo wurde die anrücdende figel’ihe Schar vom 
Schwabenthor aus mit fürftlichen Kartätſchen- und Muſketenkugeln 
begrüßt. Sie trat unter der Führung von Doll den Nüdzug an und 
verlief ſich dann im Gebirge. Sigel, Mögling und vier ihrer Leute 
fonnten, zu weit vorgedrungen und abgejchnitten, dieſem Nüdzuge nicht 
ſich anfchliegen und hätten jchlechterdings gefangen werden müſſen, 
falls die Führung der Truppen nicht aud an diefem Oftermontag, 
wie überhaupt im ganzen Feldzug, eine jo erbärmliche gewejen wäre, 
wie fie war. Mögling und Sigel konnten e8 jogar wagen, iiber die 
unbewachte Stadtmauer zu flettern, um, wie der tapfere „Hannes“ 
ſich ausdrückte, „zu jehen, ob in der Stadt nicht vielleicht noch etwas 
zu machen ſei“. Da drimmen war aber jchlechterdings nichts mehr 
zu machen und die Freunde mußten froh fein, mit heiler Haut wieder 
herauszufommen. Site wandten ſich in die Berge, um die herwegh'ſche 
Kolonne aufzujuchen, von deren Nheinübergang fie hörten. Es ge- 
(ang aber nicht und nad Beftehung von allerhand Nöthen und Ge- 
fahren retteten fi) die beiden auf einem Schmugglerfahn iiber den 
Rhein an das franzöftiche Ufer. 

Durch die Straßen des eroberten Freiburg ging die jolvatische 
Siegesfurie und machte ihrem Hochgefühl, für Thron und Altar ge- 
fochten zu haben, durch Brutalitäten und Grauſamkeiten Luft, welche 
zu vertufchen oder ganz zu leugnen die fürftliche Leibhiſtoriographie 
natürlid) ſorgſam bemüht geweſen ift. Wüſſte diefe.Dirne, was 
Scham ift, fie hätte fich diefe Mithe nicht zu geben gebraucht. Sie 
hätte frifchweg die Thatſachen anerkannt und dieſen Trumpf daranf 


Putſch-Idyll. 93 


geſetzt: — Für den Sieger gibt es kein Geſetz und der Macht iſt 
alles erlaubt! . . . In Wahrheit jo war es, jo iſt es und jo wird es 
jein vom Anfang bis zum Ende der Tage. Denn der Durchſchnitts— 
Menſch, deſſen Anzahl ich zu der des Ausnahme-Menjchen verhält 
wie 1 31.1000 — der Durchſchnitts-Menſch tit eine weſentlich nieder- 
trächtige Kreatur, die es durchaus vegelreht und ordnungsmäſſig 
findet, daß die Völker in der Knechtſchaft ſtumpfer Gewohnheit ver- 
barren und mit ſchäfiger Ergebung alles hinnehmen, was die Gewalt 
über fie zu verhängen geruht. Fällt in dieſen Blödfinn der Sflaven- 
baftigfeit dann und wann ein „Lichter Moment“, jo zerbrechen wohl 
die Nationen ihre Feljeln und zertrümmern ihre Baitillen. Aber 
jowie ihnen die ſcharfe Yuft der Freiheit ins Geſicht bläſ't, ſehnen fie 
fi) in die dumpfe Baftillenluft zurück und bieten ihre Hände zum 
wiederfejjelt dem nächjten beiten Näuberhauptmann dar, welcher ſich 
mit dieſem Gejchäfte befafien will. 

Aber, jagt ihr, man muß die Beitte mit Gewalt aus dem 
Menſchen treiben; man muß die Bölfer, wie zu jedem Borjchritt, jo 
auch zur Freiheit zwingen. Wirklich? Muß man? Schade nur, 
daß das müſſen unendlich wiel leichter vefretirt als das können 
effeftuirt ift — — 

„Stlavenbändler jelber können mir ein Jod vom laden beben, 
- Aber das vermag fein Freier, SHave, Freiheit Dir zu geben. “ 

Die Begriffe Freiheit und Zwang ſchließen einander jo unbe— 
dingt,aus, daß ihre Zufammenfoppelung der pure, blanfe Wahnwit 
it. Was dabei herauskommt, die Gejchichte der franzöfiichen Terro- 
tiften lehrt es. Einer der wenigen venfenden Franzojen, Die es jeit 
der Byzantiniſirung Franfreihs durch Das zweite Empire noch gibt, 
hat das triftige Wort geſprochen: „Das tft eine der großen Schwiertg- 
feiten oder, wie andere jagen werden, der großen Schwachheiten der 
Freiheit, daß fie jchlechterdings human jein muß (quelle est obligée 
d’&tre humaine). Cie fann jih nicht aller und jeder Mittel be- 
dienen, wie die Tyranneien und die Neligionen es fünnen (elle ne 
peut se servir de tous les moyens, comme les tyrannies et les 


94 Die Verwidelung,, I. 


religions). Darum tft jie jo jelten auf Erden, darum haben jo 
wenige Nationen fie erlangt. Der Dejpotismus befitt zwanzig 
Hilfemittel, wo der Freiheit nur ein einziges zu Gebote ſteht“. Sehr 
wahr! Und diejes einzige Hilfemittel? Es heißt Selbitbefreiung des 
Individuums. Wer fid) nicht ſelbſt erzteht, bleibt ewig umerzogen. 
Wer ſich nicht jelbjt befreit, wird nie ein Freier, und da die Durch— 
ſchnitts-Menſchen, vie Völker, die Maſſen (die „gebildeten Stände“ 
miteingejchlofjen) jehon vor der Kühnheit des bloßen Gedanfens der 
Selbtbefreiung, geichweige vor der Arbeit und Mühſal verjelben zu— 
rückbeben, jo war, ift und wird fein das Verhältniß der Freien zu den 
Knechten allzeit Da8 einer winzigen Minderzahl zu einer erdrückenden 
Mehrheit. 


Die deutſchen Republikaner vom April 1848 machten es tn 
Baden genau jo wie die Preußen Anno 1806 bei Jena. Sie griffen 
mit einem ihrer Negimenter nad) dem andern an, ftatt ihre ſämmt— 
lichen Kräfte zu Maſſenſtößen zufammenzuthun, und darum iſt es 
ihnen von rehtswegen gerade jo ergangen wie wetland den Preußen 
bei Jena. 

Auf dent Standpunkt eines „Rebellen“ war es kindiſch gehan- 
delt, daß Hecker nicht bei guter Zeit und möglichft raſch die herwegh’- 
ſche Yegion aus Straßburg rheinüber berufen hatte. In ſolchen 
Fällen auf die Anſchauungen der Bhilifter Rückſicht nehmen heißt 
jeine Unfähigkeit zum revolutioniren und rebelliven glänzend dar— 
thun. Weil ein Dutzend franzöfifher Blufen in der herwegh'ſchen 
Kolonne mitmarfehirten, wurde die rechtzeitige Herbeiziehung dieſer 
Verftärfung verichmäht. Das war wieder einmal jo recht eine 
„Schwachheit“ des Freiheitsprincips. Haben Staatsftreicyler und 
Deipoten jemals ſich befonnen, Korfen, Turkos, Kafjuben, Baſchkiren 


Putſch-Idyll. 9 


und Sereſchaner auf die Völker loszulaſſen? Ad, Jungfrau Yibertas 
wird ſtets eine unpraftiiche Idealiſtin fein! 

Als endlih am 23. April eine von Sigel und Mögling er- 
laſſene direfte Aufforderung zum. Zuzug nad Straßburg gelangte, 
war es zu jpät und fonnte der herweah’ihen Schar nur beſchieden 
fein, was zuvor dem beder’ichen, dem weishaar'ſchen, dem ſigel'ſchen 
Harfte nacheinander beſchieden geweſen. Sie fonnte, wie die Um— 
ftände lagen, nur noch den legten Akt des ins tragiiche gewendeten 
Putſch-Idylls abfpielen. 

In der Nacht vom Diterfonntag auf den Oftermontag ging die 
Legion auf Kähnen über den Rhein und betrat das deutſche Ufer 
zwiſchen den Dörfern Rheinweiler und Kleinfembs. Sie zählte, als 
fie nad) der Landung in Reih' und Glied trat, nicht mehr als uns 
gefähr 650 Mann, jehr ungleich und unzulänglich bewaffnet und 
iiberhaupt Schlecht ausgerüstet. Börnſtein und Korvin ſollten, quasi 
als General und Generalftabschef, Die milttärtiche Oberleitung haben. 
Das „Regiment“ befehligte Yöwenfels und die 4 „Batnillone * fom- 
mandirten Schimmelpenninf, Bornitent, Hörter und Delaporte (ein 
Franzofe). Herwegh war „vorläufig politiicher Miſſionär ohne 
Beihäftigung“. Was bei Kandern vorgefallen war, wußten die 
Führer bereits ; von den Vorgängen bei Güntersthal und in Freiburg 
fonnten fie aber noch feine Kunde haben und hofften, am der auf die 
genannte Stadt zielenden vepublifantichen Unternehmung ſich bes 
theiligen zu können. Als die Schar, nothdürftig geordnet, aufbrad, 
um fo raſch wie möglich quer Durch die Rheinebene tn die Schwarz- 
waldberge hinüberzufommen, fügte es der Zufall, daß der Freiſchärler, 
welcher an ver Spitze der Vorhut marſchirte, Herrgott hieß. Das 
wurde lachend als ein gutes Vorzeichen begrüßt, erwies fid) aber jo 
trügerifch wie nur jemals irgendein Omen. 

Der Marid) der Freiſchar, in welder die Landbevölkerung als— 
bald feine „Franzöfiihen Mordbrenner“, ſondern qutartige Yandsleute 
erfannte und herzlich begrüßte, auch nad Kräften mit Spetie und 
Trank erquidte, — der Marſch richtete ſich zuvörderſt auf Kandern 


96 Die VBerwidelung; IL. 


und von da gen Todtnau. Unterwegs, im erjten Nachtquartiere, das 
in den Dörfern Bogelbah und Marzell genommen wurde, traf ein 
Sendling der franzöfiihen Regierung im Hauptquartier ein, um zur 
eripähen, wie ji) Das Unternehmen anließe. Das verhalten der 
proviſoriſchen Regierung der franzöfiihen Nepublif von 1848 zu 
diefem Freifcharenzug zeigt im Fleinen und beſondern viejelbe 
Jämmerlichkeit auf, welche die Majorität diefer Regierung im großen 
und allgemeinen fennzeichnete. Dieje Halbmänner, voran das lyriſche 
Zuckerrohr Yamartine, wollten halb und halb die Republikaniſirung 
Deutſchlands, wagten aber nichts dafür zu thun, ſondern lagen nur 
auf der Pauer, das Unternehmen zu approbiren, falls es gelänge, 
oder aber zu verleugnen, Falls es mifjlänge. 

Am folgenden Tage erhielten die Führer der bis Mutten vor- 
gerückten Legion fichere Nachrichten über das gänzliche Mifflingen 
des ſigel'ſchen Anſchlags auf Freiburg. Sigel jollte zwar nod an 
der Spitze von 3000 Mann anı nahegelegenen Berge Storen jtehen, 
allein dieſer Troſt erwies ſich bald als mythiſch. Dadurch nicht 
wenig verblüfft, durch die Marſchſtrapazen bei ſchlechter Witterung 
arg mitgenommen und mit ſchon beträchtlich gelockerter Ordnung ge— 
langte die Schar von Mutten nach Wieden, wo ſie unwiderſprechlich 
vergewiſſert wurde, daß fie ganz und gar auf ſich ſelbſt angewieſen 
jet, weil. die anderen Freiharſte völlig zeriprengt waren. Die re- 
publifaniiche Sahne konnte nicht länger im Felde gehalten werden, 
das war Klar; wenigitens für jeden mit fünf gefunden Sinnen Ver- 
jehenen. „Ber unferer numerischen Schwäche, dem mangelbaften 
Zuftande der Ausrüftung und den Geifte der Unordnung, die in der 
Legion eingeriffen war — berichtet Korvin — konnte es mir nicht 
entfernt in ven Sinn fommen, ein Gefecht herbeiführen zu wollen. 
Die Aufgabe, die ich mir ftellte, war im Gegentheil dieje, die Legion 
durch alle Feinde hindurch über vie ſchweizer Gränze zu bringen, 
ohne mit den Truppen einen Schuß zu wechſeln. Dieſe Aufgabe 
war um ſo ſchwieriger, als das Militär, unjere Schwäche jest ſicher— 
(ich) kennend, uns aufſuchte und, nicht mehr durch andere Inſurgenten— 


Putſch⸗Idyll. 97 


ſcharen gehindert, in größeren Maſſen gegen ung anrücken konnte“. 
Demnach Beſchluß, über den Belchen nach Zell im Wieſenthale zu 
marſchiren, um ſich den Weg nach der Schweiz zu öffnen. 


Gegenüber den ſchändlichen Verleumdungen, womit die After— 
hiſtoriker der Rückwärtſerei und des Liberalismus die republikaniſchen 
Freiſcharen überſchüttet haben, muß ſcharf betont werden, daß der 
„Geiſt der Unordnung“, von welchem wir einen Mitdabeigeweſenen 
ſo eben ſprechen hörten, nur im techniſch-militäriſchen Sinne zu ver— 
ſtehen iſt. Die durchnäſſten und durchfrorenen, müdegehetzten und 
halbverhungerten Freiſchärler haben auch auf ihrem Rückzuge noch 
gegen die Bevölkerung ein Betragen eingehalten, welches wahrhaft 
muſterhaft genannt werden darf. „Ich muß — erzählt unſer Ge— 
währsmann, welcher in ſeinem Berichte weit mehr gegen als für 
ſeine Schickſalsgenoſſen Partei nimmt — ich muß es unſern Leuten 
zu ihrem Ruhme nachſagen, daß ſie allem Hunger zum Trotz nicht 
einen Augenblick das Gelüſte hatten, plündernd in die Häuſer zu 
brechen, und als ein Marodeur mit einigen geſtohlenen Broten auf 
dem Bajonnett ſich ſeines Diebſtahls rühmte und die andern auf— 
forderte, es ebenſo zu machen, verlangten dieſe von mir, ich ſollte den 
Mann auf der Stelle erſchießen laſſen, wie es in Paris während der 
drei Februartage mit Dieben geſchehen war“. 


Unter allerlei Fährlichkeiten gelangte die Schar, ſehr zuſammen— 
geſchmolzen, am 26. April nach Zell und von da mittels eines müh— 
ſäligen, die Leute bis zum umfallen erſchöpfenden Nachtmarſches 
am folgenden Morgen nach Niederdoſſenbach, welches Dorf etwa 
eine Wegſtunde weit vom Rhein abliegt. Frau Emma Herwegh hat 
in ihrem Bericht über den Zug die Stimmung der Freiſchärler am 
Morgen des 27. April kurz und gut jo gezeichnet: „Bet dem größten 
Theile ver Mannſchaft hatte ſich Das Bedürfniß der Ruhe bis zu 
wahrer Leidenſchaft geiteigert. Sie wollten jchlafen, nichts als 
ihlafen ; alles andere war ihnen im Moment völlig einerlei“. Korvin 
jedoch, von der Nähe wirtembergiicher Truppen unterrichtet, traute 

Scherr, 1848. 2. Aufl. IT. 7 


98 Die Berwidelung, I. 


dem Frieden nicht und trieb energijch zum Wiederaufbruch, um den 
rettenden Gränzſtrom zu gewinnen. 

Ungefähr 10 Minuten hinter Doſſenbach beginnt ein Wald, 
von welchem ein breiter Streifen bis an den Rhein hinunterläuft. 
Als die Freiſchar diefen Streifen paffirt hatte, ließ Korvin auf einer 
großen Lichtung, an deren Linker Seite der Fahrweg ſich hinzieht, 
Halt machen, um die Nachzügler heranzuziehen und den Weitermarſch 
zu ordnen. Die meiften der Leute warfen ſich auf den Boden nieder, 
um jofort einzufchlafen, andere zogen ihr zerichliffenes Schuhwerk 
aus, um ihre Franken Füße zu unterfuhen. Da krachten Schüſſe 
vom Dorfe her und verjprengte Blujen jtürzten durd) das Gehölz 
auf die Pichtung mit dem Rufe: „Die Wirtemberger find da!“ 

Dieſer Auf machte alle „mir zu lebendig“, wie Korvin ſich 
ausprüdt. „Jeder vergaß jeine wunden Füße, jeinen Hunger und 
jeine Müdigkeit, um — fortzulaufen? Oh nein! Es macht mir 
Freude, anzuerkennen, daß troß all der niederdrüdenden Umftände 
der Muth ver Leute ſich in dieſem Augenblide bewährte. Mit lauten 
Jubelgeſchrei ariffen fie zu ven Waffen und jtürzten durch den Wald- 
itreifen, den wir durchſchritten hatten, auf das freie Feld, dem von 
Dofjenbady anriidenden Feind entgegen. Alles Rufen war vergeb- 
lich ; die Yeute waren jo erbittert und Fampfbegierig, daß viele die 
Dffiztere zu erſchießen drohten, welche fie aufzuhalten juchten, um 
Regelmäßigkeit in die Vertheidigung zu bringen“. 

Ja, an Muth fehlte es den Blujenmännern nicht, mit Aus— 
nahme des „Generals“ Börnftein, der ſich ganz jämmerlich benahm. 
Aber was fonnte dieſer ordnungsloſe Muth gegen einen Ueberfall 
ausrichten, welcher duch den wirtembergiichen Hauptmann Lipp an 
der Spige jeiner 300 Mann jtarfen, wohlausgeruhten, gutgerüfteten 
und qautdifeiplinirten Sompagnie mit Eifer und Geſchick geleitet 
wurde? Offenbar jo viel wie nichts. Dennocdy hielten die Frei- 
ſchärler, won denen etliche dreißig getödtet oder tödtlich verwundet 
wurden, das Gefecht anderthalb Stunden lang, aljo gerade jo lang, 
als ihr Schießbedarf ausreichte. Heldiſch ftritt und ftarb vor allen 


Putſch⸗Idyll. 99 


andern Reinhart von Schimmelpennink. Einen Trupp von Senſen— 
männern gegen die Wirtemberger vorführend, ſah er ſich, nur noch 
von etlichen ſeiner Leute gefolgt, auf Gewehrlänge den Feinden gegen— 
über. Er ſchwankt einen Augenblick, ob er ſich wohl ergeben ſollte, 
und ruft den Soldaten zu: „Wird man nach Kriegsgebrauch mit mir 
verfahren?“ Schimpfworte und Schüſſe antworten ihm. Da ſtürzt 
er ſich mit geſchwungenem Säbel in die feindlichen Reihen, den 
Anführer ſuchend. Der Hauptmann Lipp iſt auch ein tapferer Mann 
und läſſt ſich gerne finden. Die beiden kreuzen zum Zweikampfe die 
Waffen. Schimmelpennink iſt aber der Stärkere und Gewandtere. 
Er verwundet ſeinen Gegner an der Hand und iſt im Begriffe, den— 
ſelben zuſammenzuhauen, als ihm eine Muſketenkugel die linke Bruſt 
durchbohrt. Er fällt und dem im Todeskampf am Boden Zuckenden 
ſtößt ein Soldat das Bajonnett in den Mund. 

Korvin that das menſchenmögliche, die Verwundeten auf die 
Gepäckwagen ſchaffen zu laſſen und dann, als das Gefecht nicht mehr 
zu halten war, einen geordneten Rückzug in den Wald zu veranſtalten. 
Allein ſeine Bemühungen konnten nur einen geringen Erfolg haben, 
um ſo geringern, als die Wirtemberger Verſtärkung erhielten, worunter 
auch Reiterei. Das Loos der Freiſchar war entſchieden. Sie wurde 
bei Doſſenbach unrettbar zerſprengt; ihre Splitter gingen auf der 
Flucht zu Grunde, ertranken im Rhein oder wurden gefangen. Nur 
einer Minderzahl gelang es, an das ſchweizeriſche Ufer ſich hinüber— 
zuretten, zum Theil unter Abentenern, melche, objektiv angejehen, 
komiſch genug ausjahen, ſubjektiv beftanden jedoch feineswegs die 
Lachmuſkeln reisten. Herwegh und feine Frau entfamen als Bauer 
und Bäuerin, Korvin als Schmiedgejelle verkleidet, andere in anderen 
Maſken über ven Gränzſtrom. 

Sp endigte das Putſch-Idyll 1848 mit einer Mtaiferade, 
Und warum denn niht? hr jagt: Freiheitshelden in derlei Ver— 
mummungen Ferſengeld gebend, das tft doch zu niedrigkomiſch, zu 
lächerlich! Wirklich? Ei wie, jah es fich denn erhaben an, wenn in 


demjelben Jahre Helden des Dejpotismus und der Korruption daſſelbe 


ir 


100 Die Verwidelung, I. 


thaten? Warum habt ihr denn nicht aud) gelacht, ald Don Guizot 
am 24. Februar in Weiberfleivern davonging, als Haus-, Hof- und 
Staatskanzler Metternich am 14. März durch jeine Frau Gemahlin 
wie ein Waarenballen dur die Linien von Wien gejhmuggelt wurde 
und als am 25. November der Statthalter Chrifti den Finkenſtrich 
nahm, als Kammerlafai oder gar als Kammerzofe auf dem Kutjcher- 
bod der Gräfin Spaur fauernd ? Ab, darüber lachtet ihr wicht und 
zwar deſſhalb nicht, weil euere angeborene, auferzogene und ausge- 
bildete Niedertracht euch Feine Aeuferung der Schadenfreude dann 
geftattet, wann Dejpoten und Dejpotenfnechte im lächerlichen Lichte 
eriheinen. Hätten etwa Herwegh und jeine Frau zur Vermehrung 
der liberalen Biedermaterfreude im Walde von Doſſenbach ftehen 
bleiben und fi) von ihren Lieben wirtembergijchen Landsleuten 
fangen, verhöhnen, miſſhandeln oder gar todtſchießen laſſen jollen ? 
Ja, verhöhnen, mifjhandeln oder gar todtſchießen, verfteht ihr? 
Korvin erzählt: „Die Wirtemberger waren durdy ihren ziemlich be— 
deutenden Verluſt erbittert und benahmen ſich mit einer Grauſamkeit, 
die mir bei den ſonſt gutmüthigen Schwaben jehr auffallend war. 
Der eine Wagen mit den VBerwundeten fiel in ihre Hände. Sie er- 
mordeten nicht nur diefe, jondern auch den armen Bauer, welcher jie 
fuhr, und ſtachen jogar die ‘Pferde todt“. 

Aber die Flüchtlinge von Dofjenbad) würden als Märtyrer 
ihrer Sache doc) ganz anders genügt haben denn als Flüchtlinge ? 
Larifari! Die Erjpieflichfeit des Martyriums ift aud jo ein 
Ammenmärchen. Ueberall und allzeit, wo und wann die Verfolgung 
recht durchgegriffen hat, ift fie ſiegreich geweſen; denn immer und 
allwärts fügen ſich die Völfer feige der entſchloſſenen, thatkräftigen 
und fonjequenten Tyrannei. Zur Neformationszeit ließen fi in 
Italien, in Spanien, in Frankreich, in Belgien taujende, hundert— 
taujende für die Idee der Kirchenreform martyrijiren. Hat darum 
in diejen Ländern die religiöfe Stupidität etwa abgenommen, iſt die 
alleinſeligmachende Kirche befiegt oder ift nicht vielmehr ver Dlei- 
druck des Joches der Römelei noch verjchärft worden ?FFAh, die 


Putſch⸗Idyll. 101 


italiſchen und ſpaniſchen Inquiſitoren, König Philipp der Zweite, 
der Herzog von Alba, Katharina von Medici und ihre Söhne, nicht 
weniger der Dragonnaden-Pouis, fie alle haben die Eitelfeit des Mär— 
tyrerthums unwiderſprechlich dargethan. Ja, jeder entichloffenen 
und energiſchen Tyrannei fügen ſich feige die Völker und jede durch— 
greifende Verfolgung triumphirt. 


II. 
Batrachomyomachia. 
5 


Der jehluderig geplante, ſchwächlich begonnene und energielos 
geführte Verſuch, auf deutſchem Boden das Banner der Republik auf- 
zupflanzen, war aljo gejcheitert. Der Konftitutionalismus nahm den 
wohlfeilen Steg über diefen Verſuch als fein jpezielles Verdienft in 
Anspruch und brady in einen Jubel aus, weldhen man mitangehert 
haben muß, um ſich eine Borjtellung machen zu können, bis zu welder 
Tiefe der Infamie die Menſchen hinabzuftergen vermögen, jo es gilt, 
eine verlorene Sache zu ſchmähen. 

Damals, wie überhaupt vom Jahre 1848 ab, hat fid) aud) die 
Bevientenhaftigkeit, welche in der deutſchen Literatur allzeit einen jo 
breiten Raum einnahm und einnimmt, wiederum jehr maufig gemacht. 
Am widerlichiten trieben es um- und abgejtandene Dinterice vom 
weiland „Iungen Deutſchland“, von denen mehrere mit einem Sat 
aus dem Radikalismus in den Säbelbrutalismus hinüberjprangen. 
Es wurde aud offenbar, wie hohl und verlogen die „politiſche Poefie“ 
der 4Oger Jahre großentheils geweſen. Denn jo ziemlich alle die 
lyriſchen Prutzer und Trutzer, die widerköniglichen Wütheriche in 
Verſen und die Tyrannenfreſſer in Proſa wurden im Handumdrehen 
zu Judaſſen am republikaniſchen Kredo und tanzten, ſangen und 


Batrachomyomachia. 103 


räucherten vor dem zweiſchlächtigen Boviſt der „Monarchie auf 
breiteſter demokratiſcher Baſis“. Alle die literariſchen Oppofitions- 
bummler, Feſteſchmarotzer und Trinkſprücheſprecher fühlten ſich in 
ihren Gewohnheiten geſtört und in ihren Intereſſen verletzt, als die 
That Miene machte, an die Stelle der Phraſe zu treten. In wei— 
biſcher Angſt ſchrieen ſie nach der Polizei, damit dieſe ſie vor Geiſtern 
ſchützte, welche heraufzubeſchwören ſie jahrelang Dinte, Drucker— 
ſchwärze und Papier vernutzt hatten. Die ſchamloſeſten Lohnſchreiber 
des Abſolutismus und die geſchickteſten Affektirer des Demokratismus 
lagen in rührender Eintracht bäuchlings anbetend mitſammen vor dem 
genannten Boviſt. Die Salons-, die Kontor- und die Dorfnovelliftif 
machten jetst gleich eifrig in Konſtitutionalismus und Arm in Arm 
forderten fie die Nepublif in die Schranfen. 

Thöricht Übrigens, wer dieje Charafterlofigfeit der veutichen 
Literaten tadeln wollte. Die Yiteratur ift und war damals jchon 
durchaus nur noch ein Geſchäft. Das Geſchäft will und muß aber 
„machen“, unter allen Umſtänden und um jeden Preis. Co lange 
die Revolution in nebelgraner Ferne und im phrajeologiichen Stadium 
gewejen war, hatte man in vepublifanifcher Lyrik und demofratijcher 
Novelliftif ganz einträglic machen gekonnt; denn die „Söhne und 
Töchter gebilveter Stände“ waren auf den Einfauf jolher Waare 
förmlich erpicht gewejen. Bald nad dem An- ımd Ausbruch des 
„tollen Jahres“ merften aber die Fabrifanten von republikaniſcher 
Blechlyrik und demokratiſcher Zwillichnovelliſtik, daß die Nachfrage 
vollſtändig aufhörte. Warum? Das Volk kaufte und kauft über— 
haupt feine Bücher und die Bourgeoiſie ihrerſeits wollte feine Bücher 
mehr faufen, welche mit der Revolution und Demokratie fofettirten. 
Das Literaturgeſchäft — erft das Geſchäft, dann das patriotijche 
Vergnügen! — verlegte ſich daher auf andere Zweige der Fabrikation 
und machte in Liberalismus, Legitimismus, Korporalismus, Obſkuran— 
tismus und Philiftrismus. Es mußte jo jein; denn die Nachfrage 
tegelt den Markt und nur Bürger von Utopia fonnten etwas Dagegen 
haben, daß die Autoren fchrieben, wie ihre Käufer verlangten. Wie 


104 Die Verwidelung, IH. 


jolften fie jo unpolitiih fein, Charakter haben zu wollen? Wußten 
fie doch, daß der gebilvete wie der bildungslofe Pöbel alles, nament- 
(ih aud die Talentlofigfeit, eher verzeiht als Charafter ‚und 
Konjequenz. 

Wolfenwandler aus Utopia waren e8 aud), welche, durch ven 
ganzen bisherigen Gang der Bewegung verjtimmt, von diejer ſich 
abfehrten und eilenden Fußes in das Gebiet ver Hagia Eironeia fid) 
hinüberwandten, von wo aus fie den weiteren Verlauf der Ereignifje 
nur nod) mit bitterhumoriftiichen Gloſſen begleiteten. Beim Anblid 
der doch ganz regelrichtigen Thatfache, daß, nachdem der Republi— 
fanismus dem Konftitutionalismus erlegen war, die Mafjen dem 
Sieger zufielen, jagten fie zu den Demokraten: Da habt ihr euer 
Volk! In abstracto ein Ideal, ift es in conereto nichts als Pad. 
Später jagten fie faft gar nichts mehr, ſondern beſchränkten ſich auf ' 
achlelzuden und fpottläheln. Nur der genialfte der Ironiker ent— 
hielt fi) nicht des jprechens, jondern fuhr ohn’ Unterlaß fort, aus 
jeiner „Matragengruft” im Faubourg Poiſſonière in Paris jene hohn— 
prafielnden, in den prächtigiten Farben jpielenden Wit- und Blit- 
rafeten rheinherüber zu werfen, um auch Als „ſterbender Ariftophel‘ 
nod) die Bewohner von Deutſch-Philiſtäa geziemend zu ärgern. 

Dieſe waren aber jest obenanf, einftweilen jo ziemlich unbe— 
ftritten, wie [hen der Ausfall ver Wahlen zum Barlament deutlic) 
zeigte. Denn die aus den Wahlurnen hervorgegangene Mehrheit 
war unzweifelhaft ver Ausdruck der liberalen Bourgeoiſie, deren Ver— 
treter die demofratifche Minderheit um jo Leichter niederſtimmen 
fonnten, da fie in allen widerfreiheitlihen und unvolfsthümlichen 
Fragen auf die fejte Bundesgenoſſenſchaft einer zweiten, aus Junkern 
und Sefuiten, Abjolutiften und Wietiften bejtehenden Minderheit 
rechnen durften. 

Der Abjolutismus und Partifularismus, das Junkerthum, die 
Mandarinen- und Bonzenſchaft, furz die ganze Rückwärtſerei nahm 
den Stegesjubel und die Zuverficht, welche der Liberalismus kundgab, 
ſchweigend und ſcheinbar ergeben bin. Sie fand es gerathen, ſich 


Batrachomyomachia. 105 


einſtweilen todt zu ſtellen, mauſetodt, um den konſtitutionellen Kreti— 
nismus, wie derſelbe in den Märzminiſterien gipfelte, nicht vorzeitig 
merken zu laſſen, daß und wie ſehr er ihr Geſchäft verrichtete, daß 
er nur für ſie arbeitete. Unter der Hand und hinter der Wand 
wurde jedoch ſchon jetzt von den höfiſchen, bureaukratiſchen, hier— 
archiſchen und muckeriſchen Kreiſen aus eifrig gemunkelt und ge— 
mantſcht, die liberale Herrlichkeit zu unterwühlen. Daß hierbei ſelbſt 
die unſauberſten Ränke nicht verſchmäht, ſelbſt die unſittlichſten Mittel 
in Anwendung gebracht wurden, konnte nur Ideologen befremden, 
welche nicht bedachten, daß die Vertheidiger von Thron und Altar 
von uraltersher das Privilegium der Unſittlichkeit beſitzen. 

Völlig überſehen konnten aber die Liberalen dieſe von ſeiten 
derer, welchen ſie zum Schutz und Schirm gedient hatten und noch 
dienten, gegen ſie heimlich ins Werk geſetzten Wühlereien doch nicht. 
Aber ihre Eitelkeit verwehrte ihnen, einzugeſtehen, daß ſie ſich in 
den „charmanten“ Leuten bei Hofe, ſowie in den über Nacht patrio— 
tiſch und konſtitutionell gewordenen Machthabern der Kirchen, Kanz— 
leien und Kaſernen ſehr geirrt hätten, und ihre Bornirtheit und 
Volksfurcht verbot ihnen, große und durchſchlagende Gegenmittel in 
Anwendung zu bringen, welche — noch immer war es Zeit dazu — 
ausgereicht hätten, ihnen neben dem bloßen Schein und Namen auch 
das Sein und Amen der Macht zu verſchaffen. Dem kleinen Zu— 
ſchnitt ihrer Intelligenz und ihres Charakters gemäß wähnten ſie, 
der Intrike mittels der Intrike Meiſter werden, die im Dunkeln gegen 
ſie vorgetriebenen Minen mittels Gegenminen unſchädlich machen zu 
können. Statt große Schläge zu thun, unterhielten ſie einen jammer— 
ſäligen Froſchmäuſekrieg. In den Kniffen und Künſten des Froſch— 
mäuſekrieges waren ihnen aber die Höflinge und Mandarinen, die 
Bonzen und Mucker weit überlegen und ſo kam es, daß dem Libera— 
lismus, während er für die Erhaltung von Thron und Altar gegen 
das lächerliche Geſpenſt der „rothen Republik“ ankämpfte, durch die 
Inhaber und Nutznießer der Throne und Altäre der Boden unter den 
. Füßen weggeſchaufelt wurde. 


106 Die Berwidelung, II. 


Bei ihren Vorbereitungen, das Verderben ihres treugeborjamen 
Schaffners Yiberalismus herbeizuführen, jobald vderjelbe mit ver 
Demokratie aufgeräumt hätte, fam der Rüdwärtjeret vieles zu jtatten. 
Bor allem im nördlichen Deutſchland die erichredende politiide Un— 
kultur des Volkes und im jünlichen die wujelnde Begriffeverwirrung 
in den Köpfen. Jene Unkultur und dieje Begriffeverwirrung jicherten 
namentlicy auch den Saaten des Pietismus und des Ultramontanis- 
mus eine reiche Ernte. Sodann war die materielle Notb nicht Flein 
und trat die Sorge für die nächſten Lebensbedürfniſſe den iveellen 
Anſchauungen und Forderungen überall jehr ſtörſam und bemmend 
in den Weg. Das Kapital zog fich zitternd in die Tabernafel der 
Banken zurüd over barg ſich bebend in Privatichlupfiwinteln. Dem: 
zufolge traten Gewerbeftillitand und Hanvelsjtodung ein und drückten 
ſchwer im eriter Yinte auf das Proletariat, in zweiter. auch auf den 
Mittelitand. Der rüdwärtfigen Projelytenwerberei war da ein er- 
giebiges Feld aufgetban, und wer ſich nicht gerade zum Abjolutismus 
befehren laſſen wollte, der lie ſich doch zur liberalen Angjtpolitif 
verloden. Auch der ärgite Ruheheuler und ſtupideſte Ordnungs— 
fanatifer konnte ſich ja noch immer ſchmeicheln, zur ‘Partei der „beiten 
und edeljten Männer” zu gehören. 

Sehende Augen mußten frühzeitig erfennen, daß aus der kläg— 
lichen Halbheit, in weldyer die deutiche Bewegung ſtecken geblieben 
war, unmöglich etwas rechtes und ganzes, unmöglich die Wieder- 
geburt, Befreiung und Einigung der Nation hervorgehen könnte. 
Die Deutſchen waren ja der Veränderung überdrüfjig, bevor diejelbe 
recht begonnen hatte, und das Volk, joweit es überhaupt in Betracht 
fam, hatte ſich durchweg mit Scheinerfolgen zufrieden gegeben. Die 
Kleinbeit ver Anſchauung und die Yahmbeit der Thatkraft fetten 
überall, linfs und rechts, büben und drüben an die Stelle der Revo— 
Iution die Batrachomyomachia, den Froſchmäuſekrieg, in welchem 
Menſchen und Parteien ganz in der Manier der pſeudohomeriſchen 
Helven Yautguafer und Leckmann, Pausback und Sumpflieb, 
Vielſchrei und Kriechloch, Frißlauch und Käsnag einander bekämpften. 


Batrachomyomachia. 107 


2. 


Auch in Wien und Berlin wüthete dieſe Batrachomyomachie. 

In der Hauptſtadt der buntzuſammengeſetzten Deſpotie, welche 
man Oeſtreich nannte, währte der kindliche, um nicht zu ſagen, kindiſche 
Jubel über die gelungene Revolution, welche gar keine war, den 
ganzen März hindurch und bis in den April hinein fort. Erreicht 
war im Grunde nichts als der Sturz und die Flucht Metternichs, 
welchem jeine zwei getreueften Handlanger, der Polizeimintjter Sedl— 
nitzky und der wiener Bürgermeiſter Gzapfa, nachgeſchickt wurden. 
Aber der entflohene Staatsfanzler hatte die Metternichtigfeit hinter 
fi) zurückgelaſſen; denn es gab ja in Dejtreidh Feine andere ſtaats— 
männiſche Schule und Anſchauung, feine andere Negierungsroutine 
als eben Die metternichtige. Woher hätten denn die Männer kommen 
ſollen, welche im jtande geweien wären, die „neue Zeit“, das „neue 
Oeſtreich“, von welder und von welchem jo viel gejungen, gejagt 
und gefabelt wurde, aufzurichten und aufrecht zu erhalten? Etwa aus 
dem Hauptquartier der vormärzlichen Oppofitton, aus dem „juridiidy- 
politifchen Yejewerein“ ? An die Thüre deſſelben hatte freilich, als es 
um die Bildung eines neuen, eines „verantwortlichen“ Miniſterium 
fid) handelte, der wiener Wis das Plafat angeheftet: „Hier find gute 
Minifter zu erfragen“; aber als ſpäter „bier“ wirklich Nachfrage 
geſchah und der Herr Alexander Bad) zum Miniſter gemacht wurde, 
iſt es deutlich geworden, konkordätiſch deutlich, daß in dem Chef ver 
vormärzlic) = liberalen Oppoſition ein ärgerer Rückwärtſer ftedte als 
der alte Metternich jemals einer gewejen war. Die Früchte des vor- 
märzlichen Yiberalismus in Deftreic haben ſich überhaupt als von 
der faulften Sorte erwieſen; denn die Bad), Pillersporff, Schmer- 
ling und Konſorten haben ja unwiderſprechlich gezeigt, daß ihr ganzes 
ihauen und begreifen itber den engen Kreis eines pappelbhölzernen 
Bureaufratismus nicht um einen Zoll weit hinausreichte. 

Während man auf den Strafen Wiens die „Freiheit“, von 


108 Die Verwidelung, I. 


welcher niemand recht wußte, was fie war und was man daraus 
machen jollte, in allen möglichen Tonarten bejang und begaffenhauerte, 
war man bet Hofe ihlüffig geworden, ein „verantwortliches“ Mini 
ftertum einzufegen, da man doch etwas thun und, weil es mit dem 
abfolntiftiichen deipotifiren für den Augenblid aus war, in Gottes- 
oder in Tenfelsnamen „konſtitutionell“ regieren mußte. Aus der 
bodhleligen „ Staatsfonferenz * nahm man den Grafen Kolowrat her— 
iiber und machte ihn zum Premierminifter, die Finanzen übergab man 
dem Baron Kübeck, die Juftiz dem Grafen Taaffe, das Aeußere dem 
Grafen Ficquelmont und das Innere dem Freiheren von Pillersporff. 
Etwas jpäter übertrug man das Unterrichtsminifterium dem Herrn 
von Sommaruga und das Kriegsminifterium dem General Zanint, 
hinter welchem Strohmann aber bald als wirfliher Minijter der 
Graf Latour hervortrat, als es galt, die inzwiſchen gereiften Pläne 
des Hofes zu verwirklichen. Kolowrat und Kübel gingen in Bälde 
ab und der letztere wurde durch den Heren von Krauß erſetzt, welcher 
ſehr geihict auf feinem ſchwindeligen Boften balancirte, bis ver _ 
wieder zu Kräften gefommene Abjolutismus die fonftitutionelle Ma- 
rionettenbude in Trümmer jchlug. 

Aber wer regierte denn eigentlih an höchſter Stelle? Die 
Wahrheit zu jagen, im den erften Tagen und Wochen nad dem 
14. März eigentlich) niemand. Von dem armen Epileptifer Ferdinand 
fonnte natürlic) feine Nede fein. Der franfe Kaiſer war nach den 
fieberhaften Aufregungen der Märztage in feinen gewohnten Dämmer— 
zuftand zurüdgefallen und feine Geiftes- oder Ungeiftesthätigfeit war 
wieder fo wie vor Jahren, als er zum Profeſſor Enplicher, meldet 
die faiferliche Majeftät mit Botanik von ſtaatswegen „wifjenjchaftlich * 
behelligen mußte, eines Tages gejagt hatte: „Schauens, der König 
Ernft Auguft von Hannover gefallt uns gar nit, gar nit. Aber 
ſagens, wo liegt denn eigentlih Hannover?“ Selbſt der kühnſte 
Aufſchwung des monarchiſchen Köhlerglaubens konnte ſich demnach 
nicht bis zu der Fiktion verſteigen, daß Kaiſer Ferdinand regierte, 
obzwar derſelbe, wenigſtens noch den April hindurch, verhältnißmäßig 


Batrachomyomachia. 109 


geſunde und lichte Momente hatte, während deren Dauer er an den 
Aeußerlichkeiten des konſtitutionellen Weſens eine kindliche Freude 
bezeugte*). Der Erzherzog Ludwig ſeinerſeits fand, daß ſeine 
knöcherne Zähigkeit dem Freiheitstrubel doch nicht gewachſen wäre, und 
da er auch zu unbiegſam war, dem wehenden Märzwinde, wie andere 
thaten, mit ſcheinbarer Reſignation einſtweilen ſich zu beugen, ſo zog 
er ſich zurück. Es waren jedoch ſchon zwei Hände da, welche nach 
den oberſten Enden des Staatsleitſeiles begierig langten, Frauenhände. 
Die Erzherzogin Sophie, eine entſchloſſene Dame, mußte es als 
Mutter des präſumtiven Thronerben in ihrem eigenſten Intereſſe 
finden, die oberſte Staatsleitung an ſich zu bringen, und das iſt ihr 
denn bekanntlich für eine gute Weile gelungen. 

Die Erzherzogin, eine bairiſche Prinzeſſin, alſo in dickkatholiſcher 
und breitabſolutiſtiſcher Atmoſphäre herangewachſen, fühlte als die 
thatkräftige, mit einer zum austheilen von Ohrfeigen ſehr fähigen 
und willigen Hand ausgeſtattete Hausfrau, welche ſie war, den Beruf 
in ji, die Dynaftie Yorhringen-Habsburg auf alten Grundlagen neu 
zu befeftigen. Ste hatte den Erzherzog Ludwig und Metternich ge- 
haſſt, nicht wegen ihres Regierungsſyſtems, jondern weil dieſe Herren 
regierten, ftatt fie, Die Erzherzogin, regieren zu laſſen. Jetzt, als 
ihre Zeit gefommen, griff fie rüftig die Aufgabe an, das in allen 
jeinen Blanfen krachende und zitternde Staatsſchiff Dejtreichs über 
den tojenden Kevolutionsitrudel hinweg und in den Hafen eines 
ftraffen Mandarinenthums zurücdzulenfen. Nur jollte diejes mit 
nod mehr Pfaffismus durchſäuert und aud mehr feudal-romantiſch 
aufgepugt werden, als die franzmetternichtige Staatspraris hatte 


*) Depeſche Effingers vom 12. April 1848: „Die Minifter beftreben 
fih , nach beftem Wiſſen und Vermögen die Grundjäße der fonftitutionellen 
Regierungsmeije in Ausführung zu bringen. Hierbei ift ihnen der Kaijer 
jelber ungemein bebilflih, der an dem fonftitutionellen Gepränge mit 
Fahnen, Bivatrufen u. j. w. Gefallen findet und mehrmals geäußert haben 
foll, er jei früher irregeleitet gewejen und habe erft durch die Bürger von 
Wien die Wahrbeit erfahren.” S. B. A. 


110 Die Berwidelung, IH. 


(eiven wollen. Man hat um diejes ihres Wünfchens und Wollens 
willen die Prinzejfin von liberaler, geſchweige von demokratischer 
Seite her hart angefeindet, was ſehr thöricht war. Auch Pringeffinnen 
fönnen ja nicht aus ihrer Haut heraus und in der Haut der Erz— 
herzogin ftedte nun einmal eine von dem Gottes - Gnadenthums- 
Märchen als von einer Wahrheit und Wirklichkeit feit überzeugte, 
dabei leidenſchaftliche und herrjchgterige Frau, welche ganz forreft jo 
handelte, wie e8 von ihr erwartet werden muſſte. 

Demzufolge fammelten fi um die Erzherzogin, als um ihre 
Seele und Impulsgeberin, alle priefterlihen und joldatiichen, alle 
ariftofratiichen und bureaufratifchen Elemente der Rückwärtſerei und 
verſuchten und ftärften ihre Kräfte vorderhand in einem wohlorgani- 
firten Froſchmäuſekriege gegen das werdende neue, bis die Zeit ges 
fommen wäre, die dünne und doch fo läftige Maſke des Konftitutio- 
nalismus abzuthun und beifette zu werfen. 


3. 


Wer in Deftreich mit einem politifchen Denfapparat verfehen 
war und denfelben in Bewegung jegen wollte, muffte von vornherein 
verzweifelnd fich jagen, daß der Neubau des Staates auf freiheitlich- 
moderner Bafis, daß die „Konftitution des Vaterlandes“, , wie die 
Nebelphraſe in ver Faiferlichen ‘Proflamation vom 15. März lautete, 
ungeheuer ſchwierig, wenn überhaupt möglich jei. Denn kaum war 
der gemeinfame Yuftpumpedrud des franz - metternichtigen Syſtems 
von den widerhaarigen Völferbeftandtheilen des Staates hinweg- 
genommen, als die naturwidrige Zuſammenſetzung dejjelben, durch— 
aus nur auf dem mittelalterlihen Fauft-, Kauf- und Heiratsrecht 
fußend, centrifugalifc) offenbar wurde und zweierlei Hauptjünden 
der Yothringer-Habsburger, von weiteren und weiterher datirenden 
gar nicht zu reden, ſich furchtbar rächten. 


Batrademyomadia. al 


Erſtens die Sünde, alle die Bemühungen des aufgeflärten 
Deſpoten Iojeph des Zweiten, Deitreih aus dem Mittelalter in die 
‚ Neuzeit heriiberzuführen oder herüberzureißen, aufgegeben, ja ver- 
nichtet oder in ihr Gegentheil verfehrt zu haben. Zweitens die, 
mit allen möglichen Mitteln den befruchtenden Strom der deutſchen 
Kultur von den öftreichtichen Gebieten ferngehalten zu haben. Wären 
diefem Strome die Wege gebahnt oder wäre vemfelben auch nur freter 
Lauf gelaſſen worden, jo hätte fi) tn der Zeit von aud nur einem 
Jahrhundert die Germanifirung der ungehenren Mehrzahl der Be- 
wohnerihaft Deftreihs mit Naturnothwendigfeit vollzogen und wäre 
die deutſche Givilifatton, wären die deutiche Sprache, Anſchauungs— 
weile, Yiteratur und Kunſt zu einem unzerſtörbaren Kitt der Reichs— 
einheit geworden. Statt aber als eine Dynaftie von deutſchem 
Stamm und Namen dieje ihre Verdeutſchungspflicht und Germani— 
ſirungsſchuldigkeit zu thun, haben erit die Habsburger mittels 
ſpaniſch-italiſchen Jeſuitismus die deutſche Kultur in Deftreich unter— 
drückt und haben dann die Lothringer, immer Joſeph den Zweiten 
ausgenommen, alle die verſchiedenen halb oder ganz barbariſchen 
Völker ihres Reiches gegen den deutſchen Kulturgeiſt zur Hilfe gerufen, 
geſtachelt und gehetzt, um eben mit Hilfe der Barbarei die auf den 
Fittigen der deutſchen Literatur nach Oeſtreich hineingetragenen 
modernen Ideen abzuhalten oder die nicht abzuhaltenden zu knebeln. 

Wie kurzſichtig und unheilvoll dieſes Verfahren geweſen, iſt in 
dem gränzenloſen Wirrſal, welches nach den Märztagen in Wien und 
Oeſtreich einriß, ſinnbethörend kundgeworden. Jetzt merkten in 
Wien alle, welche überhaupt etwas merkten, die Politik nicht mit der 
Intrike verwechſelten und nicht allein an morgen und übermorgen, 
ſondern auch an die Zukunft dachten, — jetzt merkten ſie, daß 
Oeſtreichs Weltſtellung doch ganz weſentlich auf ſeinem Deutſchthum 
beruhte. Aber was half dieſe Einſicht der wenigen Denkenden und 
Redlichen? Die Sünden einer langen Vergangenheit ließen ſich nicht 
ungeſchehen machen, ſondern mußten gebüßt werden. 

Die Maſſe der Wiener Bevölkerung und die Maſſe der Deutich- 


112 Die Verwickelung, IH. 


Deftreicher überhaupt begriff wenigitens injtinftmäßig, daß es bei der 
in Ausſicht geitellten „Konſtitution des Vaterlandes“ um das Sein 
oder Nichtjein ihrer Nationalität ſich handelte. Die Deutſchen in 
Dejtreih machten daher den „innigen Anſchluß an Das gemeinjame 
deutſche Vaterland“ zu einem Hauptartifel des Märzfredo und ihr 
Berlangen, im deutſchen Nationalparlament vertreten zu jein, fand 
auch im Miniſterium und jogarbei Hofe einen lebhaften Widerhall 
und eine günftige Aufnahme. Selbſtverſtändlich nicht aus deutich- 
patriotijhen oder freiheitlihen Gründen, wohl aber aus dynaſtiſchen 
und großmachtpolitiichen. Man wollte in diejen Kreiſen Dejtreichg 
Stellung, Deftreihs obherrſchende Stellung zu und in Deutſchland 
nicht aufgeben und viefem Wollen verlieh die Eiferjucht auf Preußen 
einen Sporn mehr. Hatten doch die droben in Berlin ſchwankend 
und ſchwächlich fundgegebenen Begehrniſſe Friedrich Wilhelms des 
Vierten, die Hegemonie über Deutſchland an ſich zu nehmen, drunten 
in Wien in den Gemächern der Hofburg wie in den Vorſtädtekneipen 
gleichermaßen Zorn und Wirerjtandsneigung beroorgerufen. 

Die Betonung ihrer Deutſchheit durch die Deutſch-Oeſtreicher 
rief aber nun fofort won jeiten der Magyaren, Gzechen, Polen, Kroa— 
ten, Serben und Slovaken die lebhaftejten ‘Protefte hervor. Die Un- 
garn pochten auf die verfaflungsmäßige Autonomie ihrer heiligen 
Stephansfrone; die Böhmen jchrieen laut nach der Wiederheritellung 
der Selbjtherrlichfeit ihrer mindejtens ebenjo heiligen Wenzelsfrone ; 
die Polen meinten, jett enplich jet die Zeit gefommen, das große 
Verbrechen der TIheilung ihres Vaterlandes zu fühnen; die Süd— 
ilaven wollten von der drüdenden Zufammengehörigfeit mit Ungarn 
erlöf’t jein. Allen ſlaviſchen Völkerſchaften Deftreihs mitjammen 
wurde von Prag her, von der Studirſtube Palacky's aus, die Loſung 
gegeben: Wir Slaven find die weitaus zahlreichite Nationalität 
Oeſtreichs, folglich müſſen wir die herrichende und muß Deftreid) ein 
jlavischer Staat fein. Zwiſchen dieje Anfprüche ver Deutjchheit, des 
Magyarismus und des Slaventhums eingeflemmt, ſtand Das „ver- 
antwortliche” Miniſterium wie auf Nadeln und juchte ſich einftweilen 


Batrachomyomachia. 113 


mit Redensarten zu helfen. Als „achtbarſte“ Männer den Grafen 
Ficquelmont um eine Erklärung angingen, welche politiſche Stellung 
die Regierung einzunehmen gedächte, da gab der Miniſter — wie er 
in ſeinen „Aufklärungen über die Zeit vom 20. März bis 4. Mai 
1848“ berichtet — folgende „beſtimmte“ Erklärung: „Die Re— 
gierung Oeſtreichs iſt von jeher eine deutſche geweſen; ſie ſoll dieſen 
Charakter nicht ablegen. Da jedoch der öſtreichiſche Staatskörper 
von ganz eigenthümlicher Natur iſt, muß ſich die Regierung bei den 
Veränderungen, die jetzt in Deutſchland vor ſich gehen werden, ver— 
wahren, daß die politiſche Vereinbarung mit Deutſchland nicht die 
Stellung des Kaiſers zu ſeinem eigenen Reiche gefährde. Wir ſollen 
Deutſche bleiben und nicht aufhören, Oeſtreicher zu ſein“. Der letzte 
Satz iſt einer von jenen im „tollen“ Jahre ſo häufig ausgegebenen 
Drakelſprüchen — 


„Drinn das Hohle mit dem Leeren 
Sich ſo angenehm verbindet“. 


Jedoch barg ſich in einem Winkel dieſer W Fortpauke deutlich genug die 
Velleität, die deutſche Bewegung möglichſt von Oeſtreich fernzuhal— 
ten. Hof und Miniſterium ſahen namentlich die Betheiligung der 
deutihen Bundesländer Deftreihs am franffurter Parlamente mit 
jehr jheelen Augen an und hätten diejelbe gern verhindert, wenn nur 
nicht — wie ſich der Herr Graf Ficquelmont ausprüdte — „ein 
jolcher freiwilliger Abfall von Deutſchland als unwiderrufliche Tren- 
nung gedeutet worden wäre“, und wenn nur nicht, hätte er hinzu— 
fügen fünnen, Preußen die Wahlen zum Nationalparlament bereits 
zugejtanden und angeordnet hätte. Da muſſte man von öftreichticher 
Seite natürlicd auch mitthun. 

Am 9. April ordnete das Minifterium die Vornahme der 
Wahlen zum deutſchen Parlament in ſämmtlichen deutſchen Bundes- 
ländern Dejtreihs an. Freilih war das in der tn ges 
ihehen, das Dekret des Bundestags vom 30. März, Fraft deſſen 
„Die Wahlen von Nationalvertretern in allen deutſchen Bundesitaa- 
ten auf lu Wege vor fih gehen ſollten“ und ferner 

Scherr, 1848. 2. Aufl. IL 8 


114 Die Berwidelung, IH. 


diefe Nationalvertreter „Das deutiche Verfaſſungswerk zwijchen dem 
Bolfe und den deutjchen Regierungen vereinbaren jollten“, würde 
Geltung erlangen und behalten. Das war aber befanntlicy nicht der 
Fall, weil der Fünfzigerausihuß, jein jeſuitiſches Falſchſpiel mit dem 
Dogma der Volfsjouveränttät weiterjpielend, dieſes Bundestags- 
pefret verwarf und der hierüber in Angſtſchweiß ausbrechende Bun— 
destag am 7. April einen neuen Beſchluß faßte, Kraft dejjen ver 
fonftituirende Charakter des deutichen Parlaments ausprüdlich 
anerkannt und die Wahlberechtigung zur Nattonalverfammlung für 
unabhängig von ſtändiſchen Vorrechten oder Cenſusbeſtimmungen er— 
klärt war. Das öſtreichiſche Miniſterium konnte, wie die Sachen 
einmal lagen, nicht umhin, in dieſen ſauren Apfel zu beißen und 
ſetzte die Wahlen zur deutſchen Nationalverſammlung auf den 29. April 
feſt. Die zum deutſchen Bunde gehörigen Provinzen Oeſtreichs ſoll— 
ten 190 Abgeordnete nach Frankfurt ſenden, welche Zahl aber nie 
erreicht wurde, ſchon darum nicht, weil die Czechen in Böhmen nicht 
nur der Wahl ſich weigerten, ſondern auch unter den Deutſchböhmen 
das Wahlgeſchäft vielfach zu vereiteln wuſſten. 

Im übrigen brachte die Wahlbewegung es deutlich zu Tage, 
daß auch in den Kreiſen der öſtreichiſchen Liberalen das Schwarzgelb 
vor dem Schwarzrothgold kam. Die weit überwiegende Mehrzahl 
der Parlamentsfandidaten wollte von einem aufgehen Dejtreihs in 
Deutihland jchlechterdings nichts wiſſen und befannte ſich zu dem 
Sate: „Die Souveränität und Integrität Deftreichs kann und darf 
durch den Anſchluß an Deutichland nicht aufgegeben werden“. Auf 
Grund dieſes Glaubensbefenntniffes wurde auc die weit überwie— 
gende Mehrheit ver öftreihiihen Abordnung zum Parlament wirklid) 
gewählt und diefer Ausfall ver Wahlen war mit folder Beitimmt- 
heit vorherzuſehen geweſen, daß das Minifterium ſich ermuthigt 
fühlte, ſchon am 21. April in der „Wiener Zeitung” amtlich zu er= 
klären: „Bon dem Wunſche des innigen Anſchluſſes an Deutichland 
durchdrungen, wird Oeſtreich jeden Anlaß freudig ergreifen, welcher 
jeine Anhänglichkeit an die gemeinfame deutſche Sache zu bethätigen 


Batrachomyomachia. 118 


vermag. Es kann aber nie ein gänzliches aufgeben der Sonder- 
intereffen feiner verichiedenen, zum deutſchen Bunde gehörigen Ge- 
bietstheile, eine unbedingte Unterordnung unter die Bundesverjamm- 
lung, ein verzichten auf die Selbitftändigfeit der inneren Verwaltung 
mit feiner befonderen Stellung vereinbarlid finden und muß ſich die 
bejondere Zuftimmung zu jedem von der Bundesverſammlung gefaß- 
ten Beſchluſſe unbedingt vorbehalten. Inſofern leisteres mit der 
MWejenheit eines Bundesſtaates nicht vereinbarlich erkannt würde, 
wäre Deftreich nicht in der Yage, einem ſolchen beizutreten“. 

Es ift leicht begreiflich, daß die öftreichtiche Regierung im April 
von 1848 jo jprechen fonnte, jo ſprechen muſſte. Aber ohne Phraſe 
hieß das doch nur erklären: Wir find deutſch und gehen mit Deutich- 
land, jolange es im unferen öftreihtichen Kram paßt; feine Minute 
länger. 


4. 


Dies war jedoch dem in der Hofburg gottesgnadenthümlich— 
hofjunkerlich-loyolaitiſch thätigen Wohlfahrtsausihuffe immer nod) 
bei weitem nicht genug. Denn für diefe „Kamartlla“ war deutſch 
und revolutionär gleihbedentend und das Schwarzrothgold die Yeib- 
farbe religiöfer ſowohl als politischer Keterei. Aber man muſſte ſich 
vorderhand gedulden, ſelbſt die fromme Ungeduld der Erzherzogin 
Sophie und der Kaiſerin Anna mußte ji) vorderhand gedulden. 
Lombardo- Venetien abgefallen, Ungarn nur noch durch ein dünnes 
Band mit der Dynaftie verknüpft, die Slaven mit Rebellion drohenn, 
die Deutjchöftreicher fonftitutionell — in Wahrheit, die Sachlage 
war nicht dazu angethan, jid) Sofort wieder auf den höchſten Gaul 
der firhlichen und politiſchen Orthodoxie zu jegen. Man muffte in 
Wien wie in Beith den verhafiten Konftitutionalismus einftweilen 
jeine Hannswurſtſprünge machen laſſen und ſich beſcheiden, über ihn 

g* 


116 Die Berwidelung, II. 


hinweg die Fäden der Rückwärtſerei da anzufnüpfen, wo ſich bie 
ſicherſten Haft- und Haltpunfte darboten. 

War ein jolher Haft- und Haltpunft die Armee? Ste wurde 
im Berlanfe des Sommers in Folge der italifchen Siege Radetzky's 
zum erften und feitejten, allein im April und noch im Mat ehren auch 
ſie ganz aus Rand und Band gehen zu wollen. Es war nod) nicht 
die Zeit gefommen, wo der ſchwargelbe Grillparzer mit Fug dem greifen 
Marſchall zujubeln konnte: „In deinem Lager ift Oeſtreich!“ Vorerſt 
hielt er fih, das rathlofe Minifterium um Mannfchaft, Waffen und 
Geld beſtürmend, nach feinem Abzug aus Mailand mühſam hinter 
dem Mincto und der Etſch, weit mehr noch als der eigenen Geſchick— 
lichkeit und Standhaftigkeit, weit mehr noch auch als der Tapferkeit 
und Beharrlichkeit ſeiner Truppen der offenkundigen Unfähigkeit und 
Energieloſigkeit des Sardenkönigs Karl Albert es verdankend, daß 
die ſchwarzgelbe Fahne nicht gänzlich aus Italien wegſchwinden 
muſſte. 

Mit dem Magyarenthum war augenſcheinlich von ſeiten der 
Kamarilla nicht zu machenſchaften. Das mußte man, ſobald man 
konnte, auf Leben und Tod bekämpfen; denn Ungarn war ſeit dem 
10. April thatſächlich unabhängig und nur noch dynaſtiſch durch die 
Perſonalunion mit Oeſtreich verbunden. An dem genannten Tage 
hatte Kaiſer Ferdinand als König von Ungarn die Beſchlüſſe des un— 
gariſchen Reichstags, welcher zum letztenmal in Preßburg getagt, — 
feierlich beſtätigt, wahrhaft revolutionäre Beſchlüſſe. Denn die wich— 
tigſten derſelben gewährleiſteten die jährliche Wiederkehr der Sitzungen 
des Reichstags, die Bildung des Deputirtenhauſes durch ein quaſi 
allgemeines Wahlrecht, die Aufhebung ver Feudallajten und der 
grundherrlichen Gerichtsbarkeit, die Vereinigung Siebenbürgens mit 
Ungarn und endlich die Einjegung eines eigenen, unabhängigen, na— 
tionalungariſchen Miniftertums. Das lettere, in welchem Kofjuth, 
Batthyanyi und Szschenyi als Hauptleute die verſchiedenen magyari— 
ſchen Parteien vorftellten, "trat am 14. April in Funktion. Aller 
dings nun war die nee ungariſche Berfaffung, wie die ungariiche 


Batrachomyomachia. 717 


Bewegung überhaupt, auch dann und da, wann und wo ſie äußerlich 
in demofratifchen Farben jpielte, durchaus ariftofratticher Natur und 
allerdings hafiten die Magyaren, aller gelegentlich von Kofjuth und 
andern Ungarn Losgelafjenen VBerbrüderungsphrajen ungeachtet, Das 
Deutſchthum von ganzem Herzen. Aus beiden Gründen, jo fünnte 
man glauben, hätte fid) demnach der wiener Hofburg die Möglichkeit 
geboten, mit den Ungarn zu traftiren und zu paftiren. Allein e8 
ging nicht an, weil der magyariſche Ariftofratismus in den Augen 
der wiener Kamarilla unendlich viel zu freiheitlich ausjah. Die Un- 
garn, jo falfulirte man, würden fi allenfalls unter lohnenden Um- 
jtänden dazu brauchen laſſen, den fontitutionellen Schwindel in 
Deutſch-Oeſtreich vernichten zu helfen; aber auf der Erhaltung und 
Erweiterung ihrer eigenen Errungenichaften würden fie nur um jo 
fefter bejtehen. Wir, die Kamarilla, müſſen uns daher nad) anderen 
Bundesgenofjen und Helfershelfern umſehen, nach jolden, welche 
man, nachdem fie ihre Dienfte gethan, unſchwer um ihren Antheil 
an dem Ertrage der gemeinfamen Aftton prellen oder jonftwie unter— 
friegen kann. 

Sollte vielleicht mit den Polen etwas zu mantjchen oder zu 
pantichen jein? Nein! Dieje Polen haben allzeit nur die Wieder- 
heritellung ihrer polniſchen Republik im Sinne und jchen der bloße 
Gedanke daran fünnte uns bei dem Großmeiſter unjerer und aller 
Perreficirungspolitif, bei dem Garen, in übeln Geruch bringen. Sit 
es doc ſchon widerwärtig genug, daß diefer verbrecheriihe Gedanfe 
hier in Wien, jogar in offictellen Kreifen, lebhafte Sympathie ge— 
funden bat *). 

Der große Petreficirer an der Newa, der Hord und Heiland ver 
Stabilitätsreligion, jah freilid) feine Stellung und Aufgabe etwas 

*) Depeſche Effingers vom 2. April: „Die galiziihen Deputirten, 
den Fürften Georg Lubomirjfy an der Spite, find jeit mehreren Tagen in 
Bien. Die Wiederberftellung eines kräftigen, wohlorganiftrten Polens, 
das Ruſſland von Europa abtrennte, würde auch in Wien als ein Glück be- 
trachtet werden”. S. B. A. 


1135 Die Berwidelung, IH. 


anders an als die Köhlergläubigen des Carismus in Wien, Berlin 
und anderwärtd in Deutſchland. Aud er nämlich fühlte ſich als 
Träger der ruffiihen Staatsidee, wie fie durch Peter den Erjten ge- 
ihaffen und durch Katharina die Zweite großgezogen worden war; 
aud er glaubte jich berufen, an dem Werke einer mojfowitiichen 
Univerjalvdefpotie weiterzubauen. Darum jchien ihm jeßt, nachdem 
der gewaltige Frühlingsorfan Mittel-, Wejt- und Südeuropa in 
Verwirrumg geworfen hatte, die Gelegenheit günjtig, von langeher 
vorbereitete Ernten einzuheimjen und ein Geſchäft im Stile Peters 
und Katharina's zu machen. Zumächit mit der Türkei, d. h. gegen 
jie. Warum jollte man dem „kranken Mann“ nicht wieder einmal 
etliche Gliedmaren amputiren, 3. B. die Donaufürſtenthümer, welche 
man ja in St. Petersburg ſchon lange für ruſſiſche Provinzen anzu— 
jehen gewohnt war? Die dermalige Lähmung Deftreichs, welches 
jogar zu der Zeit, wo Herr von Metternid unter dem Titel, die 
Koften jeiner Korreſpondenz mit dem Garen zur deden, eine ruſſiſche 
Penſion bezogen, der auf die unteren Donauländer gerichteten rufji- 
ſchen Verſchluckungsgier janften Widerſtand geleiftet hatte, konnte dem 
Garen nur gelegen fommen. Es find aber ftarfe Anzeichen vorhan- 
den, daf die in Wien während des März und April von 1848 um— 
gegangene Beſorgniß, der Car beabfichtigte nicht etwa nur eine Weg- 
nahme der Moldau und Walachei, ſondern auch eine gewaltjame Ein- ° 
miſchung in die Angelegenheiten Deutjchlands und mehr nod) 
Oeſtreichs, feineswegs eine grundloſe gewejen jei. Dit es doch That- 
ſache, daß, während das ruffiihe Kabinet durd) jeinen Gefandten in 
Wien die bejtimmteften VBerficherungen von jeinen friedlichen und 
freundlichen Gefinnungen abgeben ließ *), zahlreiche ruſſiſche Agenten 
in den öftreihiichen Gränzlanden, jowie und am auffallenpjten in 


*) Depeſche Effingers vom 15. April: „Der ruffiihe Gefandte Graf 
Medem äußert fih auf's beftimmtefte, daß der ruffiiche Kaifer durchaus Feine 
Intervention in die Angelegenbeiten Deutichlands beabfichtige, und folange 
er jelber nicht angegriffen werde, die bisherigen friedlichen Beziehungen zu 
feinen Nachbarn aufrecht zu erhalten gefinnt jei”. ©. B. A. 


Batrachomyomachia. 119 


Krakau, das Geld mit vollen Händen verſtreuten, um revolutionäre 
Regungen hervorzurufen, welche den Vorwand zur militäriſchen Ein— 
miſchung der Moſtowiter liefern ſollten. 

Plötzlich jedoch machte die cariſche Politik ganze Wendung. Es 
zeigte ſich nämlich, daß es dem wahnwitzigen Hochmuth des Selbſt— 
herrſcherbewuſſtſeins zum Trotz, wie ja ſolchen Hochmuth Nikolaus 
in ſeinem Ukas vom 26. März kundgegeben hatte — mit den An— 
griffsmitteln Ruſſlands nicht ſehr weit her war. Um ſo weniger 
weit her, als ungeachtet aller Um- und Vergitterung der ruſſiſchen 
Gränzen mit Koſaken und Baſchkiren der große Frühlingsſturm von 
Weſten her da und dort, allen amtlichen Ableugnungen zum Trotz, 
doch auch über dieſe Gränzen hinwegfuhr und die Wipfel der Wälder 
Ruſſlands bis gen Kaſan hinüber rührte. Auf den Flügeln dieſes 
Sturmes wurde zu den Ohren der ruſſiſchen Bauern die Kunde ge— 
tragen, was für überſchwänglich reiche Gaben da drüben in den „Hei— 
denländern“ im Weſten der März ihren bäueriſchen Schickſalsge— 
noſſen gebracht hätte, und die Folge hiervon waren Bauernrebellionen 
in verſchiedenen polniſch-ruſſiſchen und reinruſſiſchen Statthalter— 
ſchaften, welche Aufſtände nur mittels Aufbietung bedeutender Mili— 
tärkräfte niedergeknutet werden konnten. Man hatte alſo im eigenen 
Hauſe hinlänglich zu thun. Sodann wurde der ſlaviſche Haß, die 
moſkowitiſche Todfeindſchaft gegen das Deutſchthum ein Agens ver 
ruſſiſchen Politik, welches derſelben eine andere Richtung gab. Der 
Carismus erkannte unſchwer, daß es eine Lebensfrage für ſeine Zu— 
kunft, die Wiederherſtellung des Reiches deutſcher Nation zu verhin— 
dern und ſchon der Einleitung zu dieſer Wiederherſtellung, d. h. der 
preußiſchen Hegemonie über Deutſchland, mit allen Mitteln entgegen— 
zuwirken. Um aber Preußen und Deutſchland aus der cariſchen Va— 
ſallenſchaft, wie ſolche ſeit 1815 anerkannt beſtanden hatte, nicht 
herauskommen zu laſſen, muſſte ein Handinhandgehen mit Oeſtreich, 
d. h. mit dem Wohlfahrtsausſchuß in der wiener Hofburg, als das 
wirkſamſte Mittel erſcheinen. Die öſtreichiſche Kamarilla ging na— 
türlich dem Caren mehr als halbwegs entgegen und jo kam jener 


120 Die Berwidelung, II. 


Bund Schöner Seelen zu Stande, welder 1.3.1849 zur Intervention 
Kufjlands in Ungarn geführt hat, aljo zur Rettung Deftreichs, welche 
Rettung freilich nicht aus cartiher Großmuth erfloffen ift, ſondern 
aus den angegebenen widerdeutſchen Motiven, verbunden mit der in 
St. Petersburg jehr gefühlten und wohlverftandenen Nothwendigkeit, 
das ungarifche Feuer erftiden zu müſſen, damit deffen Flammen nicht 
itber die Karpathen herüber und nad) Polen, ja in’s „heilige“ Ruß— 
land jelber zündend hereinſchlügen . . . . 

Die wiener Hofburg fonnte ſich zunächſt auf die in ver Wolle gefärb- 
ten „Schwarzgelben“ verlaffen, welche in Wien ſelbſt ziemlich zahlreich 
vorhanden, obzwar worderhand jehr jtill waren. Dieje Befenner der 
jtriften Obferwanz des Abjolutismus fanden fi in der Armee, in 
der Klerifei, im Adel, im Prozenthum und in der Beamtenwelt. Sie 
waren aber dermalen nur eine Hoffnung für die Zufunft, noch feine 
Stütze für die Gegenwart. Mehr jchon verjprachen das zu fein die 
von der Veit des Denkens noch wenig oder gar nicht heimgejuchten 
Tiroler, allzeit bereit, ihren kindlichen Glauben an die rothen Hoſen 
ihres „Koaſers“ durch viwatjodeln und durch ſchießen mit dem 
Stuten zu bethätigen. Allein man bedurfte nicht nur defenjiver 
Stüten, man bevurfte einer offenfiven Macht, um dem „Freiheits— 
ihwindel“ in Deutih-Deftreih und der Selbitjtändigfeit Ungarns 
an Leib und Yeben gehen zu fünnen. 

Eine ſolche Macht war noch nicht zur Hand; aber die Kama— 
villa verzweifelte nicht daran, ſich diejelbe zu ſchaffen, hinter den Ku— 
liſſen zu jchaffen, während fie vor venjelben das „verantwortliche“ 
Minifterium feine unfruchtbaren fonjtitutionellen Kapriolen machen 
ließ. As Material boten fi) ihr dar die Gzechen und die Süd— 
jlaven und das Werkzeug, womit fie dieſes Material für ihre Zwecke 
bearbeitete, war der wilde Gzechenhaß gegen das Deutſchthum und 
der nicht weniger wilde Südflavenhaß gegen ven Magyarismus. Die 
ſlaviſchen Bolitifer fühlten bald heraus, welcher gemeinfame Haß fie 
mit der wiener Hofburg verbände, und mit der ganzen Schlauheit 
ihrer Raſſe beſchloſſen fie das zwiſchen ihnen und der Kamarilla fid) 


Batrachomyomachia. 


anſpinnende Bündniß dahin zu benützen, das Slaventhum in dem 
ganzen Donaureiche zur herrſchenden Gewalt zu machen. Daß als 
letztes Endziel, bewuſſt oder unbewuſſt, den ſlaviſchen Führern ein 
panſlaviſtiſch-cariſches Univerſalreich vorſchwebte, kann gar feinem 
Zweifel unterliegen. Spätere Ereigniſſe haben dies unwiderlegbar 
dargethan. Die ganze ſlaviſche Welt ſollte ſich ſchließlich in die Arme 
der Mutter Moſkavia-Panagia ſtürzen, wie Ströme in den Ocean. 
Im Frühjahre von 1848 hatte man es jedoch mit näherliegenden 
Zielen und Zwecken zu thun, und fand es demnach für die Intereſſen 
der Slaverei am förderlichſten, die aus einem Hinterfenſter der Hof— 
burg lockend hervorgeſtreckten Hände zu ergreifen. Der dynaſtiſche 
Kulturhaß machte Hochzeit mit der Halbbarbarei. 

Ueber den Einleitungen und Anſchickungen zu dieſem Bunde 
liegt noch dichtes Dunkel, das vielleicht nie ganz gelichtet werden 
kann. Es iſt auch höchſt wahrſcheinlich, daß anfänglich weder von 
der einen noch von der andern Seite nach einem feſten Plane vorge— 
gangen wurde. Allein die Verhältniſſe ſelber führten die Hofburg 
und die Slaven — bei dieſen von den Polen immer abgeſehen — 
einander näher und einzelne Data und Fakta gewähren denn doch 
Stützpunkte für die Anſicht, daß ſchon im Monat März, obzwar viel— 
leicht vorerſt mehr nur inſtinkt- als planmäßig, an der Herſtellung 
eines gegen die Deutſchen und die Magyaren gerichteten Einverſtänd— 
niſſes zwiſchen der Dynaſtie einerſeits und den Czechen und Süd— 
ſlaven andrerſeits gearbeitet wurde. Am 13. März gab der aner— 
kannte oberſte Häuptling der Czechen, gab Palacky zu Prag im 
böhmischen Nationalausſchuß, deſſen deutſche Mitglieder, wie durch— 
ſchnittlich die Deutſchen in Böhmen den czechiſchen Anmaßungen gegen— 
über überhaupt, „um des lieben Friedens willen“ ganz erbärmlich 
ſich benahmen, die Loſung „Schwarzgelb!“ aus, indem er feierlich 
erklärte: „Wahrlich, exiſtirte der öſtreichiſche Kaiſerſtaat nicht ſchon 
längſt, man müſſte im Intereſſe Europa's ſich beeilen, ihn zu 
ſchaffen!“ und 10 Tage darauf, am 23. März, wurde mittels 
kaiſerlichen Kabinettſchreibens der Gränzer-Oberſt Joſeph Jellacic zum 


122 Die Verwidelung, ILL. 


Banus von Kroatien ernannt. Mar begamır in der wiener Hofburg, 
in Prag und in Agram einander gegenfeitig zır verftehen. 


5. 


Die Wahrheit zur jagen und gerecht zu jein, wer im März, April 
und Mai von 1848 im der Lage geweſen tit, in der Hofburg von 
Wien wohnen zu müfjen und zwar mit dem Bewuſſtſein des Gottes- 
gnadenthums im Leibe, der hatte ausreichende Gründe, jogar nach 
Böhmaken, Hannaten, Slovafen und Kroaten als nach Helfern und 
Erlöfern die Hände auszuftreden. 

Denn der revolutionäre Froſchmäuſekrieg nahm in der Donau- 
jtadt allmälig jehr unerquickliche Formen an und enthüllte die grüne 
politiſche Unreife und Unbildung der Bevölkerung in einer Weife, 
welche aus dem Fade des Naiven bald jehr entſchieden in das des 
Abſurden und Gemeinen hinüberrüdte. Freilih, wer war Schuld au 
diejer Unveife und Unbildung und allem hieraus mit Nothwendigkeit 
herworgehenden abjurden und gemeinen? Doch gewiß ohme Frage 
das Negierungsiyitem der Habsburger und Lothringer, welche jeit 
Jahrhunderten ein gutartiges, mit trefflihen natürlichen Anlagen 
ausgejtattetes Volk mittels Pfafferei, Solpaterei und Kanzleiflegelet 
methodiſch hinter ver Zeit zurüdgehalten hatten. Im Frühjahr von 
1848 jind in Dejtreih nur die Saaten aufgegangen, welche das 
„patriarchaliſche“ Regiment ausgeſtreut hatte. 

Alle die Sünden der Franz-Metternichtigkeit ſchlugen jetzt zu 
revolutionären Giftblüthen aus. Der Drud der Schafihurpolitif 
hatte jeit Menſchenaltern ven Volksgeiſt jo unerbittlic zuſammen— 
geprefit und niedergewuchtet, Daß er jetst, plötzlich freigegeben, un— 
möglich tiber das Niveau indischer Phantafmagorien, dunkler In— 
ftinfte und unklarer Vorftellungen fi zu erheben vermochte. Der 
ganze Bodenſatz von Unverſtand, Rohheit, Bosheit und Zuchtlofig- 


Batrachomyomachia. 123 


keit, welchen das „Syſtem“ angehäuft hatte, kochte und brodelte auf 
in wüſter Gährung und ſchleuderte nach allen Seiten hin ſeinen eckel— 
haften Schmutz, ſeine peſtilenzialiſchen Miaſmen. Wie dieſe auf— 
ſtanken in der Preſſe und in der Klubb- und Eckſteinrednerei! Klubbs 
und Zeitungen ſchoſſen wie Pilze aus dem Boden und wucherten 
wanzenhaft. Wien hatte ſeine hundert Blätter und Blättchen und 
alle wurden von gierigen Leſern förmlich verſchlungen. In dieſer 
Stadt, welche ein infames „Syſtem“ zu einem Orte gemacht, von 
welchem ſein genialſter Bewohner, Franz Grillparzer, geſagt hatte: 
Schön biſt du, doch gefährlich auch 

em Schüler wie dem Meiſter; 

Verderblich weht dein Sommerhauch, 

Du Kapua der Geiſter!“ — 


9° 


8 


ja, in dieſem Wien, das noch vor wenigen Wochen die Lieblings— 
heimat denkträger Muſikdudelei und geiſtloſer Theaterſpektakelei ge— 
weſen war, eine Stätte, auf welche alle Freſſkünſtler und Unzucht— 
virtuoſen Europa's ſchmunzelnd den horaziſchen Vers: 

„Ile terrarum mihi praeter omnes angulus ridet“ — 
anwandten, in demjelben Wien war über Nacht die Befriedigung 
einer zügellojen polittfchen Hör- und Leſewuth zum Hauptvergnügen 
für alle Bolksflafjen geworden. Es war nicht anders, als jollten und 
wollten die armen Wiener binnen wenigen Tagen und Wochen ein— 
bolen, was fie jo viele Decennien hindurch hatten verſäumen müjjen. 
Die Beihäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten, won welchen 
jie mittels Yit und Gewalt Jahrhunderte lang ferngehalten worden, 
wurde ihnen zu einem täglichen und jtündlichen Bedürfniß, zu einen 
Sieber, zu einer Sucht. 

Und aus was alles für Schüfjeln, Krippen, Yuttertrögen und 
Sauchebehältern jchlangen fie die langentbehrte politiſche Nahrung! 
Um eine Borjtellung davon zu befommen, muß man das jchmwetniiche 
Gegrunze anhören, das ein Mahler in feinem „Freimüthigen“ los— 
ließ, welches Blatt es bis zu 60,000 Abonnenten brachte, oder muß 
man mitanjehen, wie ein Häfner, den Jafobinismus farifirend, in 


— —— 





124 Die Verwickelung, III. 


ſeiner „Konſtitution“ blutbengelte. Allerdings gab es auch geiſtvolle, 
reichgebildete, ſcharf und fein ſtiliſirende Publiziſten: von den Jellinek, 
Becher, Stifft, Engländer und Heller bis hinab zu den vorhin Ge— 
nannten war ein weiter Weg, ein gerade ſo weiter, wie, was die 
Volksredner und Klubbmacher betrifft, von einem Tauſenau bis 
hinunter zu einem Schütte und Chaiſes; wenn man aber, hoch grei— 
fend, etwa ein Dutzend der damaligen wiener Journaliſten, Straßen— 
Mirabeaus und Kneipenrobespierres ausnimmt, ſo ſind die übrigen 
ſammt und ſonders unbedenklich in die Rubrik Geſindel zu werfen, 


‚ und zwar in des Wortes geſindelhafteſter Bedeutung. Bemerkens— 


werth ift auch, daß zwei volle Drittel diejes Gefindels dem Haufe 


. Sfrael angehörten. Diefe Juden — (Juden in dem gäng und gäben 


ihlimmen und ſchlimmſten Sinne) — warfen ſich in die wiener Be- 
wegung, nicht nur rachedurſtig, jondern auch geichäftehungerig. Sie 
betrieben die Politik wie em Schachergeſchäft, entwidelten dabei Die 
befannte raſtloſe jüdische Betriebjamfeit, ebenfo aber auch die nicht 
weniger bekannte jüdiſche Kecheit, und fie haben zu der Verjudung 
der deutichen, der europäiſchen Preſſe viel beigetragen, von welcher 
Verjudung jeither jo großer Lärm gemacht worden ift, natürlich nur 
von jeiten des hriftlichen Neides. 

An ihnen lag es auch nicht, wenn die „friedliche Anarchie”, 
welche jeit dem 15. März in Wien herrjchte, worderhand noch ihren 
gutmüthigen Charakter behauptete*). Die Schärfe jüdiſchen, im 
Teuer jahrhundertelanger Verfolgung gehärteten Haſſes vermochte 
das öſtreichiſche Phlegma und die wienerifche Harmloſigkeit nicht jatt- 
ſam zu durchdringen. Die Straßen- und Kneipenpolitik war zwar 
ſehr verſchwenderiſch mit Blutphrafen, fie muſſte jedoch erit den Gift- 
brodem rüdwärtfiger Machenſchaften einathmen, um fi von Blut- 
phraſen zu Blutthaten fortreigen zu lafjen. 

Dermalen noch war die wiener „Freiheit“ eintoller, ausbündig 


*) Effingers Depeſche vom 12. April: „In Wien herrſcht Dank der 
Gutmüthigfeit der Wiener eine friedliche Anarhie”. S. B. N. 


Batradomyomadia. 125 


toller Faſching; jehr krakehleriſch, tumultuariſch und ftörfam zwar, 
aber doch nicht eben bedrohlich und gefährlich. Dieje Freiheit Koll 
fürchterlich, biß aber nicht. Freilich, der Yürm und Trubel war arg, 
für zartgebaute Ohren geradezu unerträglid. Jeder Tag gebar eine 
neue Ungehenerlichkeit, wenn aud nur in Worten. Der Kynismus 
war Trumpf und der nachgemachte Sansenllotismus z0g in Wien 
aud noch das Hemd aus. Die Aula machte Weltgeſchichte und das 
Volk der Phäaken ſchwelgte in Straßenaufläufen und Katenmufifen, 
wie es vordem in Backhändln und ſtraußiſchen Walzern geſchwelgt 
batte. 


[er) 


Und wie ſah es derweil in der preußiſchen Hauptſtadt aus? 
Im einzelnen weniger chaotiſch, weniger kyniſch, civilifirter, rein— 
licher; aber im ganzen doc) nicht viel befjer. Der berliner März- 
philifter überwog an politiicher Einficht den wiener nicht um ein 
Haar. Als Franz Raveauxr am Abend des 19. März eine Anzahl 
von „ausgezeichneten Kapacitäten“ der berliner Bürgerichaft auf- 
merfjam machte, daß es nöthig ſei, beſtimmte Bürgſchaften für das 
wejentliche der Volksrechte zu fordern umd zur erlangeır, gaben ihm 
dieje „Kapacitäten“ wörtlich zur Antwort: „Wir haben ja alles, 
was wir wollen. Wir jelbft find jest am Regiment und wer foll 
und denn unſere Freiheit wieder nehmen?" Gegen ſolchen Sieges- 
dünfel und ſolches Weißbtertrinferbewufitfein würden Götter jelbit 
vergebens angefimpft haben. 

Die Klubbjuht und die Zeitungenfintfhut, die Mauldiarrhöe 
und die Pamphletblattern graffirten ſelbſtverſtändlich in Berlin wie 
damals überall. Jedoch iſt die Batrachomyomachie gegen das be- 
ſtandene oder bejtehende an der Spree merklich viel zahmer geführt 
worden al3 an der Donau. Es wurde bald offenbar, daß der be— 
Ihränfte preußiſche Unterthanenverftand vor der er wuffte nicht wie 


126 Die Berwidelung, ILL. 


ihm angeflogenen Kühnheit, ein Revolutiönchen gemacht zu haben, 
im Innerften ſich entſetzte und zerknirſcht die Umkehr in die Geleife 
treugehorfamer Unterthänigfeit juchte. Die Frage, ob Republik, ob 
Monarchie? it in Berlin kaum ernſtlich aufgeworfen und jedenfalls 
zu feiner belangreihen Debatte gebracht worden. Das Königthum 
war den Preußen jo nachhaltig einexercirt, daß von einer Infrage- 
ftellung defjelben feine Rede fein fonnte. Um in Berlin von Ab- 
ihaffung der Monarchie zu jprechen, muſſte man in der That ein 
„ausländiſcher Emmiſſär“, ein „Fremder Böſewicht“ oder ein „Jude“ 
fein. Die Eingeborenen waren monarchiſch bis ins Mark ihrer 
Knochen, und wenn man die vöthejten Demokraten, wie z. B. den 
talentwollften, beliebteften und einfluffreihiten Klubbredner, den roth— 
rauſchbärtigen Held, aufgejchnitten hätte, jo würde man jein Herz 
und die Herzen aller mit dem königlich preußiſchen Wappen gejtempelt 
gefunden haben. Demzufolge hat denn auch unter den neueröffneten 
Schwasanftalten der „Ronftitutionelle Klubb“ raſch die erite Stelle 
gewonnen. 

Im übrigen ift die Duchblätterung der Aften des berliner 
Froſchmäuſekriegs vom Frühling 1848 mitunter ergötzlich genug. 
Der berliner Wit ließ ſchon dann und wann die künftigen Helden— 
thaten des „Kladderadatſch“ errathen. In der Breiten Straße war 
in der Nacht vom 18. auf den 19. März in einer Brunnenfäule eine 
Kanonenkugel fteden geblieben und unter diefe Kanonenkugel lebte 
der Volkshumor die fönigliche Broflamation: „An meine lieben Ber- 
liner“. Das war freilich der beite diefer ſchlechten Witze. Die poli— 
tische Dichterei, wie fie fich zur Feier des „Volksſieges“ lautmachte, 
war fürchterlich. Auch Damen ergoien ihres Buſens überwallende 
Gefühle in Flugblättern, angefüllt mit Verſen, Ausrufungszeichen 
und Gedanfenftrichen. Eine Dichterin, „die an den Barrikaden ge- 
fampft hat”, Lucia Penz, bejang die Studenten alſo: 

„Wer es geſeh'n, wie dieſe Heldenknaben 

Beim Morgenroth nach jener blutigen Nacht 

Den Männern aus dem Volk die Hände gaben, 

Der glaubt an der Verbrüderung künftige Pracht“ — 


Batrachomyomachia. 127 


und der Schneider Guſtav Word) fertigte fid) ſelber ein Adelspatent 
aus und manifeltirte feine Kühnheit: — 

„sa, freier Sinn, das ift mein Adel; 

Kühn blick' ich jo den ftärkften an“. 
Auch Offiziere miichten beifällig ihre Stimmen in das große Volks— 
fiegjubelfoncert. Sp z. B. der Artillerieleutnant Delze, welcher feinen 
Kameraden zurief: „Das war feine Emeute! Das war der Sturm 
eines ſich großartig erhebenven Volkes! Einſt wurde das ichwarz- 
rothgoldene Band in bedrohter Heimlichkeit gefüfit, jest weht daſſelbe 
hoch vom königlichen Schlofie und aus jevem Haufe. Das begeifterte 
Volk wogt durch die Straßen. Iſt das etwa Kanatlle? Wehe uns, 
wenn wir es verſuchen wollten, dem Strome der Zeit entgegenzutreten. 
Yaflen wir den jteifen alten militiriichen Dünfel dahinfahren und 
ichliegen wir ung der Bewegung willig an!“ Diefen Anſchluß haben 
verichtedene jüngere Offiziere wirklich und aufrichtig verſucht, find 
aber übel dabei gefahren. 

In diefes hohl- und wohlgemeinte Verbrüderungsgeleier und 
Verſöhnungsgedudel hinein ſchnitt dann und wann ein Ton, welcher 
an die wirkliche Sachlage erinnerte. Denkende Menſchen gaben ihrer 
Ueberzeugung Worte, daß alles, was von Vermittelung und Ver— 
ſöhnung zwiſchen Bürgerthum und Soldatenthum geleiert und ge— 
dudelt wurde, barer Afterwitz wäre, jo lange es einen Soldatenſtand 
gäbe. Daran iſt ja in Preußen wie überall die Bewegung von 1848 
geſcheitert, daß man in der Siegesſtunde dieſen Stand nicht ſofort 
und gründlich beſeitigte. Stehendes Heer und Volksſtaat ſind nun 
einmal Dinge, welche einander abſolut ausſchließen, und es war eins 
der vielen Merkmale der Verlogenheit und Heimtücke des Liberalis— 
mus von damals, daß er über dieſe Wahrheit, die ſich ihm doch auf 
Schritt und Tritt aufdrängte, beharrlich hinwegzuſchielen ſich be— 
mühte. 

Auch die Kluft zwiſchen Bourgeoiſie und Proletariat mußte 
nothwendig zum klaffen kommen. In einem Artikel der Zeitungs— 
halle vom 23. März legte Julius den Finger auf die große Wunde 


125 Die Berwidelung, I. 


der modernen Gejellihaft, indem er unter anderem jagte: „Die 
Wahrheit ift, daß auch bei uns, jo gut wie in Frankreich und in 
England, der Bruch zwiſchen der Bürgerklaſſe und der Arbeiterklaſſe 
ſchon vollendet it. Nicht zwiſchen dem Königthum und ver Republik 
it Krieg, fondern zwilchen ven Befigenden und den mit ihrer Arbeits- 
fraft zum Bejite Drängenden. Unſere Bürger fühlen dies gar wohl 
und darum beginnen fie ſchon jetzt, ſchon nach dem erften Tage unjerer 
glorreichen Revolution aus allen Kräften rüdwärts zu ziehen“. In 
der That, die Angjtphilifterei gab fich zwifchenhinein bereits wimmernd 
und winjelnd fund und wie zur Beitätigung des letten der jo eben 
angeführten Sätze rief Schon am 2. April ein Ruheröchler in der 
„Spener’ichen Zeitung” den Miniftern zu: „Katilina ijt vor euren 
Thoren und ihr ſchlaft? Katilina, das tft: der ſchlimmſte Feind, 
das gedenkbar böjefte Princip iſt nicht bloß vor euren Thoren, nein, 
bei weitem jchlimmer, er wüthet in euren Straßen, euren Gafjen, 
euren Häufern, in allen Familien, ev wüthet in allen Zweigen eurer 
Berwaltung und ihr Schlaft? Diefer ſchlimmſte Feind, dem ſeit 14 
Tagen alles, alles mehr anheimfällt, ift die blindraſende Anarchie, 
die je leichter fie alles zerjtört, um jo weniger etwas neu zu gründen 
oder das alte in befjere Form umzugeftalten vermag”. 

Wenn Winmerle und Kompagnie ſchon jest in der Hauptitadt 
jelbit alfo winjelten, wie mußte die „glorreiche Revolution“ in den 
Provinzen angejehen werden, insbejondere in dem jogenaunten 
„alten“? Zwar die Stüptebewölferungen haben in ganz Preußen 
mit ungeheurer Mehrheit den vielveriprechenden Umſchwung ſym— 
pathiſch begrüßt; aber auf dem flachen Yande, wo ja der Feudalismus 
noch ungeſchwächt florirte, fonnte das Junker- und Pfaffenthum jofort 
jeinen gemeinjamen Krieg gegen die Bewegung beginnen. Die 
„Zeitungshalle" brachte Schon vom 29. März an eine bejondere 
Rubrik „Die Reaktion in den Provinzen“ und machte unter anderen 
Auslafjungen diefer Reaktion eine Adrefje nambaft, welche im Mag— 
deburgiſchen cirfulirte und hochherab loswetterte auf den „nichts- 
würdigen Pöbel der Hauptſtadt, welder, von Polen, Juden und 


Batrachomyomachia. 129 


Franzoſen verführt und angeführt, gegen unſern Herrn und König 
ſich empört hat. Wir ſind jetzt in Gefahr, der Willkür dieſes Pöbels 
preisgegeben zu werden. Unſer Leben und Eigenthum, unſer Vater— 
land und unſer Glaube iſt auf's höchſte bedroht. Aber Berlin iſt 
nicht Preußen; wir wollen nicht, daß Berlin mit ſeinen Franzoſen, 
Polen und Juden uns beherrſcht und knechtet; wir wollen auch mit— 
ſprechen!“ 

Auf derartige Schatten, welche die Zukunft vor ſich herwarf, 
achtete man jedoch vorerſt in der preußiſchen Hauptſtadt wenig oder 
gar nicht. Der einfältige Siegesjubel ging daſelbſt noch eine gute 
Weile fort, um ſo ungeſtörter, als die Rückwärtſer für gut fanden, 
vorderhand ſich zu ducken, zu ſchweigen oder gar in den Siegespſalm 
mit einzuſtimmen. So raſpelte z. B. der Pietiſt Krummacher zu 
Ehren der Barrikadenkämpfer frommes Süßholz. Ehrlicher und 
ehrenwerther benahm ſich der lutheriſche Erzbonze und orthodoxe 
Hauptkampfhahn Hengſtenberg, welcher Farbe hielt und in ſeiner 
„Evangeliſchen Kirchenzeitung“ die Umwälzung, welche „nach fran— 
zöſiſchem Vorbilde in der preußiſchen Hauptſtadt vollendet worden“, 

mannhaft als das „Produkt des Unglaubens“ bekämpfte und zur 
Sühnung des Frevels die „Abhaltung eines allgemeinen Buß-, Bet— 
und Fafttags durch Das ganze Land“ vorſchlug. Solcher Muth war 
jevoh eine Ausnahme. Die Mafje der Nutznießer des für etliche 
Wochen geitürzten Mandarinen- und Soldatenftantes z0g es vor, 
ihren Proteſt gegen das geichehene in die jchweigiame Form der 
Emigration zu fleiven. Potsdam wurde demzufolge Das preußiſche 
Koblenz. Die Schilohalter des gefallenen Syſtems, die Bodel— 
Ihwingh, Eichhorn, Savigny und Konſorten, verzogen ſich unmerklich 
und auch die Doktoren des riftlich-germaniichen Schwindels, die 
Stahl, Huber und Mitromantifer, jchüttelten den Staub der jündigen 
Hauptſtadt won ihren Füren, um in der fendalen Stille der Provinz 
das Mirafelvefoft der wiljenichaftlichen Umfehr over umgefehrten 
Wiſſenſchaft zu präpariren. 


Scherr, 1848. 2. Aufl. LI. 9 


130 Die Berwidelung, IN. 


Te 


Das jieberhaft bewegte Berlin zeigte in echtpreußiſchen Augen 
dennoch eine auffallende Yeere und Dede. Eine Menge von ſchönen 
Wohnungen jtand leer, das Baller feierte, Equipagen wurden mehr 
und mehr zur Seltenheit, es fehlten die Mandarinenfnöpfe, es fehlten 
die Uniformen, es fehlte vor allem die „Jarde“. in „jarbelojes “ 
Berlin war ja gar fein rechtes Berlin mehr. Wenigſtens behaupteten 
das die vereinigten Mägde und aud) noch andere feurige Patriotinnen. 
Zwar that die Bürgerwehr alles bürgerwehrmögliche, um zu zeigen, 
daß noch zweierlei Tuch in der Welt und bewaffnete Macht in Berlin 
jet. Allein die gute Bürgerwehr ging alles erereirens, patrouillireng 
und paradirens ungeachtet ſchon frühzeitig dem Studium der „Klä— 
terigfeit“ entgegen. Das Spiel mit der Walfiſchtonne Bürgerbe- 
waffnung war eben Spiel geblieben und das Inftitut der Bürgerwehr 
ihon in jeinem entjtehen zur bloßen Bolizeianftalt umgefälicht wor- 
den. Man braucht die feineswegs ganz grundloje Behauptung, von 
jeiten der Nüdwärtjerei ſei mittels überflüfigen und fortwährenden 
alarmihlagens der Birgerwehr ihr Dienjt und Dafein verleivet 
worden, nicht einmal zur Hilfe zu rufen, um zu begreifen, daß die 
Vorherfagung von Höflingen und Offizieren, die Bürger würden 
„das joldatenjpielen bald jatt befommen”, in Erfüllung gehen 
mufite. 

Es war gar fein ernftlicher Verſuch gemacht worden, dem Sol- 
datenthum ein Ende zu bereiten; wie hätte alfo die Hauptſtadt eines 
Soldatenftantes in die Länge oder aud nur in die Kürze ohne Sol- 
daten exiftiren innen? Die Sehnſucht nad) der Rückkehr des Mili- 
tärs machte fich auch jofort geltend und ein erfter Verſuch, zwiſchen 
der über ihre „ungeredhte Demüthigung“ und die ihr „nicht durch 
eigene Schuld widerfahrene Schmach“ grollenden Soldatenſchaft und 
der „glorreichen berliner Nevolution * eine Verſöhnung zu ftiften, 
wurde Schon am 24. März gemacht. An dieſem Tage fand nämlid) 


Batrachomyomachia. —31 


die Beerdigung der im Straßenkampfe gefallenen Soldaten auf dem 
Invalidenkirchhofe ſtatt und Abordnungen des Studentenkorps und 
der Bürgerwehr wohnten der Feierlichkeit an. Als am Schluſſe 
derſelben der General von Natzmer im Namen der Armee für die un— 
geheuchelte Theilnahme der Bürgerſchaft dankte, brachten die anweſen— 
den Bürger in aller Form ein „Hurrah dem Heere“ aus. 

Bis zur Garde nach Potsdam hinüber ſcheint dieſer Verſöhnungs— 
ruf noch nicht gedrungen zu ſein. Wenigſtens fand der König am 
folgenden Tage für gerathen, nach Potsdam zu fahren, das geſammte 
Offizierskorps der Garde ins dortige Schloß zu befehlen und dieſe 
Verſammlung alſo anzuſprechen: „Ich bin gekommen, um meinen 
lieben Potsdamern den Frieden zu bringen und ihnen zu zeigen, daß 
ich in jeder Beziehung ein freier König bin; den Berlinern aber auch 
zu beweiſen, daß ſie von Potsdam aus keine Reaktion zu befürchten 
haben. Was ich gegeben und gethan habe, das habe ich aus vollſter 
und freier Ueberzeugung gethan. Die großen Ereigniſſe haben nur 
den Abſchluß des längſt vorbereiteten beſchleunigt und keine Macht 
kann und wird mich nun bewegen, das gegebene zurückzunehmen. 
Auch habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß es zu Deutſchlands 
Heil nothwendig, mich an die Spitze der Bewegung zu ſtellen. In 
Berlin herrſcht ein ſo ausgezeichneter Geiſt in der Bürgerſchaft, wie 
er in der Geſchichte ohne gleichen iſt. Ich wünſche daher, daß auch 
das Offizierskorps den Geiſt der Zeit ebenſo erfaſſen möge, wie ich 
ihn erfaſſt habe, und daß Sie alle von nun an ebenſo als treue 
Staatsbürger ſich bewähren mögen, wie Sie ſich als treue Soldaten 
bewährt haben“. 

Die Herren von der Garde nahmen dieſe königliche Anſprache 
„mit ſtiller Reſignation“ hin. Sie mochten denken: Erſt muß Se. 
Majeſtät wieder „ſtramm“ gemacht werden; dann läßt ſich weiter 
reden oder vielmehr handeln. 

Zuvörderſt lag ein willkommenes Auskunftsmittel nahe zur 
Hand, den Truppen, welche in Berlin gekämpft hatten, eine glänzende 
„Rehabilitation“ zu verſchaffen: der Krieg gegen Dänemark, in 

g* 


132 Die Berwidelung, IH. 


welchem fih „Papa“ Wrangel die Lorbeern holte, womit geſchmückt 
er der Held der Epoche des „Bruches mit der Revolution“ und der 
„rettenden Thaten“ werden follte. Diejer Krieg, ſchon durch das 
befannte Schreiben Friedrich Wilhelms des Vierten an den Herzog 
von Schlefwig-Holftein-Auguftenburg vom 24. März angezeigt, iſt 
freilich won der preußiſchen Militärpartet mit jehr gemijchten Ge— 
fühlen und mit fihtlich ſüßſaurer Miene mehr zugelafjen als unter- 
nommen worden. Sehr begreiflic; denn der Abjolutismus und 
Militarismus mufjte, was in der Nacht vom 23. auf den 24. März 
in Stiel gejchehen war, für eine Revolution und Rebellion anjehen. 
Unbefangen betrachtet, gehörte das Ding freilich ganz entſchieden 
mehr in die froſchmäuſekriegeriſche als in die revolutionäre Kategorie. 
Hat doch überhaupt die jchlefwig-holfteintiche Angelegenheit vom An— 
fang bis zum Ende neben ihrer höchſt ehrenwerthen nationalen Licht- 
jeite für jehende Augen auch eine Frähwinfelige, aus Junkerthum 
und Philifterei höchſt widerlich gemijchte Kehrſeite gehabt und dieſe 
Kehrſeite ift jhon in der erwähnten Nacht, allmo ohne Krach, aber 
mit vielem Ach der Abfall von Dänemark und eine proviſoriſche Re— 
gierung, bejtehend aus den Herren Bejeler und Schmid, dem Grafen 
Neventlow und dem Prinzen von Schlefwig-Holftein-Nover, zumege- 
famen, deutlich genug hervorgetreten*). Der Abfall und Aufitand 
der Herzogthümer hatte in Folge der Unfähigkeit, Uneinigfeit und 
Unentſchiedenheit ihrer proviſoriſchen Negierung zunächſt jchlechten 
Fortgang. Die Dänen handelten raſch und energifh. Ste über- 
fielen mit Uebermacht das Kleine jchlechtgerüftete und ſchlechtgeführte 
Ihlejwig-holjteinifche Heer am 8. April bei Bau und brachten dem- 
jelben troß jeiner tapferen Gegenwehr — bejonders das kämpfen der 
freiwilligen Jäger, Studenten und Turner war ein heldiſches — eine 
ſchwere Nieverlage bei. Nun muſſte doch wohl etwas nationales 


*) Man leſe, was Otto Fod in feinen „Schlefwig-Holfteiniichen Erin- 
nerungen“ (1863) als Augenzeuge und Mithandelnder won dieſer kieler 
Haupt- und Staatsaftion erzählt, und halte damit die bezüglichen Stellen 
in den „Aufzeichnungen“ (1864) des Prinzen von Noer zufammen. 


Batrachomyomachia. 133 


für die Schleſwig-Holſten geſchehen, muſſte ihr Hilferuf in Frankfurt 
und in Berlin vernommen werden. Um ſo mehr, als die däniſche 
Regierung am 19. April ihre Marine anwies, alle deutſchen Schiffe 
aufzubringen. Der deutſche Bund ſchritt ein, preußiſche und andere 
deutſche Bundestruppen, das 10. Armeekorps, rüdten in die Herzog— 
thümer, am 23. April erftürmten die preußiſchen Garden in glänzen= 
dem Anlauf das Dannewirfe bei Schlejwig und am folgenden Tage 
wurden die Dänen auch von den Hannoveranern unter Halfett bei 
Dverjee geihlagen. Am 18. Mai überjchritt Wrangel die Gränze 
von Yütland und gebärdete ſich mit Drohungen und Kontributionen= 
heifhungen als ein ganzer Marichall „Druff“. Niemand dachte, 
daß Die ganze Sache jo bald eine jo Fläglihe Wendung nehmen 
würde, ausgenommen die, welche im Schloffe zu Berlin oder Pots— 
dam dieje Kläglichkeit planten und in Scene jetten. 

Zur jelben Zeit, wo preußiſche Truppen in den Elbeherzog- 
thümern für eine nationale Erhebung fochten, wurden ihre Kameraden 
befehligt, eine andere in Poſen niederzuſchlagen. Die hochfliegenden 
Hoffnungen ver polniſchen Bevölkerung. dieſer Provinz waren bald 
in Verzweiflung umgeſchlagen. Das nationale wünſchen, wollen 
und wirfen der Bolen ließ ſich mit den Interejien ver 500,000 
deutjchen Bewohner der Provinz nicht vereinbaren und viel weniger 
noch mit den Nücfichten des preukiichen Hofes auf Ruſſſand. Der 
König hatte auf den letteren Punkt ſchon am 23. März in jeiner 
Anſprache an eine polnische Deputation, an deren Spitze der Erz- 
biſchof Przyluſki von Polen jtand, offen hingewiejen mit den Worten: 
„Ih bin den Kaiſer von Ruſſland mit flehendlichen Bitten ange- 
gangen, daß ernichteinfchreite, und ich habe die Berficherung erhalten, 
daß er dies vor der Hand nicht thun wolle. Auf jein Wort fann ich) 
mid) feſt verlafien; denn jein Entſchluß ift unerſchütterlich, er ift ein 
Mann von eifernem Willen, von dem eveljten und feſteſten Charafter, 
der mächtigjte, weiſeſte, der alleinige unter den Souveränen Europa’s, 
der feine Macht mit unerſchütterlicher Kraft aufrecht zu erhalten weiß. 
Sein Wort ift ja, ja; nein, nein. Wenn aber mit oder ohne meinen 


1354 Die Berwidelung, II. 


Willen eine freie nationale Entwickelung im Großherzogthum Poſen 
verjucht werden jollte, die auf jeine polniſchen Provinzen von Einfluß 
und mit Gefahr für diefelben verbunden wäre, jo würde er, hierdurch 
gereizt, zum Schutze jeines eigenen Reiches jofort feine Truppen in 
Poſen einrüden laffen”. Dann erinnerte Friedrich Wilhelm an ven 
unglüdlichen Ausgang der polniſchen Erhebung von 1830, was ein 
Mitglied ver Abordnung, Kraſzewſki, zu der Aeußerung reizte, ja 
damals habe der Borfahr Sr. Majeſtät durch jeine Hilfeleiftung an 
Ruſſland der polniſchen Sache den Todesjtoß gegeben. „Webrigens — 
fügte der Sprecher hinzu — haben wir auch im Jahre 1831 un- 
glücklich gejtritten, jo haben wir Doc) gezeigt, daß der ruſſiſche Koloß 
thönerne Füße habe“. Wogegen der König: „Ich bin anderer 
Meinung und glaube, daß der Koloß eijerne Füße habe“. Und 
wiederum Kraſzewſki: „Nun, die neuejten Ereigniſſe haben uns be— 
wiejen, daß auch manche andere eiferne Füße zu thönernen werden 
können“. 

Einſtweilen erwieſen ſich jedoch die Füße der Preußen eiſern 
genug, um die polniſche Inſurrektion in Poſen raſch niederzutreten. 
Die Sendung des Generals Williſen, welcher vom preußiſchen Mi— 
niſterium zu Anfang Aprils nach Poſen entſandt wurde mit der Voll— 
macht, mit dem daſelbſt zuſammengetretenen polniſchen National— 
komité eine Vereinbarung dahin zu treffen, daß eine nationale Re— 
organiſation des Großherzogthums unbeſchadet der preußiſchen 
Oberhoheit und mit Sicherſtellung der deutſchen Bewohner der 
Provinz angebahnt und durchgeführt würde, — dieſe Sendung 
brachte gar nichts nachhaltiges zuwege, weil ja die „Konvention von 
Jaroſlawie“ nur dazu diente, jeder der beiden bewaffneten Parteien 
Vorwände zu der Behauptung zu geben, die eine oder die andere hätte 
die Beſtimmungen derſelben gebrochen. Denn ſchon waren hüben 
und drüben die nationalen Leidenſchaften zur wildeſten Glut entflammt. 
Der polniſche Adel, in der vergeblichen Hoffnung, ſeine unter ruſſiſcher 
und öſtreichiſcher Herrſchaft ſtehenden Landsleute ebenfalls mitfort— 
zureißen, bewaffnete ſeine Bauern, ſtieg zu Pferde und machte unter 


Batrachomyomachia. 135 


der oberſten Leitung von Miroſlawſki, welcher erſt am 20. März aus 
ſeinem Gefängniß in der berliner Hausvogtei entlaſſen worden war, 
den Deutſchen im Großherzogthum den offenen Krieg. Die Polen 
konnten aber gegen die preußiſchen Truppen das Feld nicht lange 
halten und ſenkten am 9. Mai mittels der Kapitulation von Schroda 
die Fahne der Inſurrektion, an welcher die Maſſe der polniſchen Be— 
völkerung der Provinz gar nicht ſich betheiligt hatte. 

Demokratiſche Phantaſten innerhalb und mehr noch außerhalb 
Preußens gaben ihrem Erſtaunen Ausdruck, daß, wie der Krieg in 
Schleſwig-Holſtein und die Niederwerfung des Aufſtandes in Poſen 
zeigten, die preußiſche Heermaſchine noch ſo gut arbeitete und daß von 
einem in Wolkenkukuksheim als unausweichlich vorausgeſetzten „Ab— 
fall“ der Soldaten überall nennenswerthes nicht zu ſehen war. Die 
guten Erſtauner und ſchlechten Soldatenkenner wuſſten eben nicht, daß 
der preußiſche Militärdienſt für viele tauſende von armen und ärmſten 
Teufeln ein Zuſtand des Behagens war und iſt. Die bäuerlichen 
Proletarier aus Lithauen, Poſen, Kaſſubien, Oſt- und Weſtpreußen, 
Pommern und den Marken ſogar, welche vielleicht ihr Leben lang 
noch nie ein gutgebackenes Stück Brot oder ein wohlzubereitetes Stück 
Fleiſch genoſſen und noch nie in einem guten Bette geſchlafen hatten, 
fie fanden in den Kaſernen eine Exiſtenz wor, welche ihnen vielfach 
geradezu als eine paradiefiiche erſcheinen muſſte und in ihnen allmälig 
das Gefühl erregte, daß fie doch jo zu jagen auch Menſchen jeien. 
Zu wähnen, daß auf foldhe Yeute die Stichworte Freiheit, Gleichheit, 
Brüperlichkeit u. j. w. eine Wirkung üben fünnten, war eine jener 
demokratiſchen Kindiſchkeiten, die in der Chronik von Krähwinkel und 
in den Annalen von Schöppenftädt beim Jahre 1848 maſſenhaft ver- 
zeichnet jtehen.... . . 

In den Augen der Mehrheit ver berliner Bürgerſchaft war es 
übrigens durchaus überflüjfig und reiner Yınus, daß das Militär, 
bevor e3 wieder in Berlin einrücdte, vorher in Schlefwig oder Poſen 
oder jonftwo ſich „rehabilitirte”. Schon am 27. März waren 14,000 
Unterjhriften von berliner Bürgern beiſammen, welche die Rückkehr 


156 Die Berwidelung, II. 


der Truppen wünſchten und verlangten. Dieſe taujende bejtanden 
theilweife aus Gewerbetreibenden, Wirthen und Krämern, deren Ge— 
ihäfte dur den Wegzug des Militärs empfindlid) gelitten hatten, 
und theilweiſe aus reihen Zäühneflapperern, welche die Angjt vor dem 
„rothen Gejpenft“ nicht mehr jchlafen lieg, bis fie ji) und ihre 
Kafjetten wieder unter dem Schuge won wirklichen und orbonnanz- 
mäßigen, nicht bloß nachgemachten, dilettantischen und bürgerwehr- 
lichen Bajonnetten wuſſten. 

Man darf dies der Hoch-Bourgeoiſie und Börſenbaronſchaft 
nicht übelnehmen. Ihr veichjein ift nur ein „bangen und bangen 
in ſchwebender Bein”. Es find Parvenus, die niemals jenes Gefühl 
der Sicherheit des Befites haben, welches alter Grundbefit verleiht, 
jondern in ewiger Aufregung und Furcht auf ihren Werthpapteren 
jigen, immer zitternd, diejelben fünnten ihnen plöglid unter dem 
Poder im Rauch aufgehen. Bei Tag und Nacht raunt ihnen ihr 
papierener Reichthum in die Ohren: Der Schwindel hat mic ge= 
geben, der Schwindel kann mid) wieder nehmen. Sie fühlen jic) 
unbehaglic in all ihrem Luxus, weil der Triebjand, auf welchem die 
ganze Herrlichkeit ruht, ſtets unter ihren Füßen zittert und fniftert. 
Ein Wort, ein Hauch, ein Nichts erjchredt fie. Selbſt aus dem ge- 
ringften politiichen Geräuſche heraus hören fie ven Ton der Poſaunen 
Joſua's, welche die Mauern von Börſen-Jericho umzublafen drohen. 
Ihre Feigheit macht diejes Spülicht von Menſchen argwöhniſch, die 
Angſt macht fie graufam. Ste athmen Furcht ein und Niedertracht 
aus. Der Korporalismus tft ihr Ideal und ihre ganze Moral und 
Politik faſſt fich in den Sag zufammen: Ruhe um jeden ‘Preis, da— 
mit wir ungeftört weiter[hwindeln können ! 

Es bedurfte gar nicht der weitichichtigen Macenjchaften des 
Herrn von Minutoli, des „Volksmanns“ Urban und anderer Macher, 
um das Verlangen nad) der Wieverherbeiziehung von Milttär als 
einen Geſammtwunſch Berlins erjcheinen zu laffen. Diefes Ber- 
langen lag ja in ver preufifchen Luft, welche durch den Märzorfan 
wohl ungewöhnlid) bewegt, nicht aber in ihren Beitandtheilen ver- 


Batrachomyomachia. 137 
ändert worden war. Man ließ ohne viel Mühe die Hauptleute der 
Bürgerwehr „Namens ihrer Bezirke“ den Wunſch nach Militär 
ausſprechen; am 28. März that dies der Magiſtrat von Berlin 
ebenfalls, am 29. folgte die Stadtverordnetenverſammlung nach. 
Der „politiſche“ Klubb rednerte zwar ein bißchen gegen das herein— 
holen der Truppen, aber nur gegen ein „vorzeitiges“ und ſein Ge— 
rede ging im Lärm der allgemeinen Stimmung verloren. Später 
haben Mouchards, die Ohm und Mithalunfen, gefabelt, die Dento- 
fraten hätten ſich vergeblihe Mühe gegeben, das Volk gegen ven 
MWievereinzug der Truppen „aufzuwiegeln“. Wahr ift nur, daß eine 
am 30. März bei den Zelten ftattgehabte Bolfsverfammlung nad)- 
träglid) gegen die „übereilte Wiedereinführung von Milttär” einen 
Proteſt beſchloß, aljo eine läppiſche Formalität. 

Die militäriiche Umgebung des Königs konnte natürlich nicht 
fo hartherzig jein, der petitionirenden Stimme von Magiftrat, Stabt- 
verordneten und Bürgerihaft der Hauptitadt widerftehen zu wollen. 
Schon am Nacmittage des 30. März rüdte das 24. Infanterie 
regiment in Berlin ein, fejtlich eingeholt von Bürgerwehr- und Ars 
beiterforps. Beim botantichen Garten erwiderte der Oberjt des 
Regiments, Ehrhardt, die feinen Yenten von feiten der Berliner ge— 
wordene freundliche Begrüpung mit den Worten: „Freunde, wir 
fommen zu eu, um mit euch gemeinſchaftlich Ruhe und Ordnung 
zu wahren und den neuen Getft ſich entwideln zu helfen” — welche 
Worte darthun, daß auch Negimentsoberfte in die feit etlichen Tagen 
modiſch gewordene facon de parler leidlich ſich zu finden wuſſten. 
Am folgenden Tage zogen 2 Bataillone vom 9. Regiment ein und 
am 3. April folgte das 3. Ulanenregiment. 

Die Soldaten waren wieder da: Prenfen hatte fid) wieder- 
gefunden. 


IV. 
Ein König geftrammt und ein Kaifer entführt. 


1 


Die Geſchichte des preußiſchen Märzminiitertums, aud) „Be- 
ſchwichtigungsminiſterium“ genannt, im welches im April noch Herr 
von Patow als Handelsminifter eintrat, ift bald gejchrieben. Gie 
lautet: Wenig Talent und fein Charakter, viel Geſchrei und wenig 
Wolle, große Worte und kleine Thaten. 

Dieje Herren Miniſter vom 29. März waren ganz unzweifel- 
haft vortrefflihe Privatleute: nur leider waren fie nicht ſolcher Zeug, 
aus welchem eine große Zeit große Stantsmänner macht. Sie fonn- 
ten ſich alle mehr oder weniger Liberale nennen und ihre Politik war 
demnach jenes Amalgam von doftrinärem Dünfel und jervtler 
Praxis, von Allerweltsaugendienerei im reden und einjeitiger Par- 
teilichfett im handeln, welches man vormärzlichen Yiberalismus heikt. 
„In omnibus aliquid, in toto nihil“. Bis zu welcher Beſchränkt— 
beit des preußiſchen Unterthanenverjtandes dieſes Minifterium es im 
Nothfalle bringen fünnte, war ſchon dadurch angedeutet, daß ein Mit- 
glied vejjelben, der „Liberale" Herr Graf von Schwerin, wenige 
Wochen vor Ausbruch der Märzbewegung bei Gelegenheit der Straf- 
gejegeberathung durch die Ausſchüſſe des Vereinigten Landtags eine 
Beſtimmung begeiftert vertheidigt und auch glücklich durchgebracht 


Ein König geftrammt und ein Kaiſer entfübrt. 139 


hatte, welde Zuchthausſtrafe auf Beleidigung verjtorbener Mit- 
glieder der königlichen Familie feste. Schade, daß ver „liberale“ 
Graf nicht im mittelalterlihen Byzanz lebte; er hätte verdient, 
Mintjter des erlaucdhten Hauſes der Paläologen zu fein. 

Man hat als von etwas großem, in den Annalen Preußens 
unerhörtem, man hat als von einer thatlächlichen Anerkennung der 
Revolution durch die Krone davon geredet, daß die beiden bürger- 
fihen Herren Kamphauſen und Hanjemann „aus ihren Kontoren 
über alle Köpfe der eritaunten preußiichen Bureaukratie hinweg in 
das Minifterium Friedrich Wilhelms des Vierten getragen worden 
jeien“. Wenn aber, wie geſchah, Die Herren Kamphauſen und Hanfe- 
mann als viel zu unfühig und unentſchloſſen ſich erwiefen, ven jtarren 
Bann und eifernen Zwang des preußiſchen Bureaufratisuns und 
Milttarismus zu brechen, ja wenn fie vor Diefem Bann und Zwang 
anbetend auf den Iinteen lagen wie gläubige Natholifen vor der Mon— 
jtranz, jo muß der geſunde Menfchenverjtand jagen, die beiden Herren 
wären beijer in ihren Kontoren zu Köln und Aachen figen geblieben. 
An der Spite des preußiſchen Märzminiſteriums denn fie ſtanden 
an ver Spite deſſelben — haben jie nur die traurige Unfähigfeit der 
Bonrgeoifie dargethan, großes groß zu faljen und zu führen. 

Mit ver ganzen Selbitgefälligfeit, welche dem Liberalismus zu 
eigen, hat Herr Kamphauſen das Minijtertum, dem er vorſaß, in 
einer am 26. Juni in der preußiſchen Nattonalverfammlung gehal- 
teen Rede ein ſolches genannt, welches „nach feiner perfönlichen Zu- 
ſammenſetzung geeignet war, den Staat ohne lebensgeführliche 
Zudungen über die Kluft, welche das alte Syitem von dem neuen 
trennt, hinüberzuführen“. Aber wurde denn der Staat wirklich über 
dieſe Kluft hinübergeführt? Nein. Iſt wirklich ein neues Syitem 
an die Stelle des alten getreten? Abermals nein; denn die Herren 
Kamphauſen und Konforten werden Doch feinen Menſchen, ihre mehr 
oder weniger liberalen Mitbourgeois natürlich ausgenommen, glauben 
machen wollen, daß die Verbrämung und Umflitterung des alten 
Syſtems mit etwelchem konſtitutionellen Firlefanz ein neues Syitem 





140 Die Verwidelung, IV. 


begründet hätte? Es geht doch wahrlich nichts über die Eitelfeit ver 
Impotenz, welche in der Politif, gerade wie in der Piteratur, zu 
ſchaffen glaubt, weil fie vom ſchaffen ſchwatzt. Es ift ja allzeit und 
überall das Kennzeichen der Halbheit, ſchlechterdings ein ganzes vor— 
ftellen zu wollen. 

Herr Kamphauſen und feine Kollegen liegen bei jeder Gelegen- 
heit oder auch Nichtgelegenheit emphatiſch merfen, daß fie ſich wor 
allem dazu berufen glaubten, als Schilde vor den Thron ſich zu 
ftelen. Das war freilid) eine ebenjo leichte als dankbare Aufgabe. 
Denn wen ift es denn in dem durch und durch monarchiſchen Preußen 
jemals ernftlic eingefallen, ven Thron zu bedrohen? Es ift ein An- 
blid von großer Komik gewejen, dieſe jonft erzproſaiſchen preußischen 
Märzminifter, diefe halb» oder ganzliberalen Junker und Handels— 
barone als richtige Don Uuijotes mit der Yanze der Yegitimität gegen 
die Windmühle des Antiroyalismus anrennen zu jehen. Allerdings 
war diefe Tapferkeit eine jehr ungefährliche. Gefährlicher wäre es 
ihon geweien, ftatt für das unbedrohte Königthum donquijotiſch ſich 
zu erhiten, für die jehr bedrohten „Märzerrungenſchaften“ ernjtlic) 
einzutreten. 


2. 


An Schönen Phraſen hat es natürlich nicht gefehlt. In der Rede, 
womit der Herr Minifterpräfident Kamphauſen den wieberverjan- 
melten Vereinigten Yandtag am 2. April eröffnete, hieß e8: „Das 
preußifche Volk, indem es die freie Berathung jeiner wichtigjten An— 
gelegenheiten in der Preſſe und in öffentlichen Verfammlungen ange- 
treten hat, darf nicht verfennen, dag nur im Kampfe der Anfichten 
die Wahrheit durchbricht, daß zur Wahrung der Freiheit jede Mei- 
mung mit voller Berehtigung und ungehindert fih muß äußern 
dürfen”. 


Ein König geftrammt und ein Kaijer entführt. 141 


Wie verhielt jih nun zu dieſer liberalen Theorie die liberale 
Praris? Wie gewöhnlich. 

Um der Wahrheit zum Durchbruche zu verhelfen und die Anfich- 
ten und Wünſche des preußiſchen Volkes zu vertreten, wurde vom 
Minijterium Kamphauſen der ganz umd gar feudale Vereinigte Land— 
tag noch immer für fähig und bevollmächtigt angejehen. Dar die 
preußiſchen Märzminijter an der Berufung diefer Verſammlung feit- 
hielten, welhe nach den Märztagen nur noch die Bedeutung einer 
hiſtoriſchen Kuriofität haben fonnte, daß fie dieſe Ausgeburt der mittel- 
alterlihen Marotten des Königs jest nod als Nationalrepräſen— 
tation gelten laſſen wollten, bezeugte unwiderſprechlich ihre Unfähig— 
feit, vie Märzbewegung zu begreifen, ihre Muthlofigfett, die Reſultate 
verjelben anzuerfennen, und ihre Unluft, die Konſequenzen dieſer Re— 
jultate zu ziehen. 

Freilich, der Vereinigte Yandtag machte es, wie ähnliche Ver— 
fammlungen in Deutihland damals überall es gemacht haben, d. h. 
er ſtimmte nicht nur dem liberalen Minifterium in allem und jedem 
zu, nachdem der Herr von Binde mit jenen weitphäliichen Junker— 
Iporen etwas weniges antidemokratiſch geraſſelt hatte, ſondern er 
überliberalifirte jogar nod) den märzminifterlichen Yiberalismus. Der 
Landtag amendirte nicht blog den „Entwurf eines Wahlgeſetzes für 
die zur Vereinbarung der preußiichen Staatsverfafjung zu berufende 
Verſammlung“ in einer freifinnigeren Art und Weiſe, als ven Mi- 
nijtern lieb war, jondern er votirte auch mit ungeheuer Mehrheit 
— von der Minderheit vertrat nur der Herr von Bilmard-Schön- 
baujen in manııhafter und Herr von Thadden-Trieglaff in groteifer 
Weiſe die altpreufiich-fendalen Anſchauungen — eine Adrefje an den 
König, welche neben dem zwar die indirefte Wahlart feithaltenden 
aber doch auf Urmahlen gegründeten Wahlgejetse noch forderte Preß— 
freiheit, freies Verfammlungs- und Vereinsrecht, Habeas-Ktorpusafte, 
Unabhängigkeit des Richterftandes, Aufhebung des erimirten Ge— 
richtsſtandes, Deffentlichfett und Mündlichkeit der Rechtspflege mit 
Geſchworenen in Straffachen, Gleichberechtigung der Bekenner aller 


142 Die Berwidelung, IV. 


Religionen in Staat und Gemeinde, allgemeine Volksbewaffnung mit 
freier Wahl der Führer, bejchliegende Stimme der Volfsvertretung 
inbetreff der Geſetzgebung und des Staatshaushalts, Minifterverant- 
wortlichfeit, Beeidigung des Heeres auf die Verfafjung, endlich die 
Ummandelung Deutſchlands aus einem Stantenbunde in einen Bun— 
desftant mit Volfsvertretung bei dem Bunde. „Mein Liebchen, was 
willft du noch mehr ?* 

Die Abgötterei, welche in jener Zeit jeitens einer gedanfenlojen 
Straßendemogogie mit dem Abftraftum Volk oder auch mit dem Kon— 
fretum Proletariat getrieben wurde, war efelhaft. Aber noch efel- 
hafter war doch die Blisgejhwindigfeit, womit in Preußen, wie in 
Oeſtreich, wie im übrigen Deutichland, fervilfte Kreaturen, objtinatefte 
Rückwärtſer ſich anftellten, als wären fie über Nacht zu Schnellläu— 
fern des Vorichritts geworden. So ein Prachteremplar von einem - 
im Ku vollftändig Umgemwandelten war z. B. der Herr Oberpräfivent 
von Meding, welcher, wie er im Vereinigten Yandtage erklärte, jeine 
„abweichenden perfünlichen Anfichten den unterwarf, was er als den 
Willen des Königs und des Yandes erfannte”, hinzufügen: „ch 
hänge daher für meine Perſon dem fonjtitutionellen Syſtem frei- 
müthig und offen an und werde dies thun, jo lange Se. Majeſtät der 
König und das Vaterland es angemefjen finden, ſich meiner Dienjte 
zu bedienen“. 

Und durd) die traurige Komödie einer ſolchen Bekehrung zu den 
neuzeitlihen Ideen, wie die Mehrheit des Vereinigten Yandtags fie 
fundgab, ließen ſich Kamphauſen und Hanjemann in ihrer Verblen— 
dung ftärfen und jteifen, Dod ja nur vom beftehenden „Rechtsboden“ 
aus diefen Ideen zu bejcheidener Geltung verhelfen zu wollen, — eine 
Thorheit, welche märhenhafter wäre als irgendein Märchen won 
1001 Nacht, falls fie nicht aktenmäßig feſtſtünde. 

Aber ihr Meifterftüd im Gewerbe der Staatsmänniſchkeit mach— 
ten die preußtihen Herren Märzminiiter doc mittels der Art und 
Weife, wie fie den Vollzug der Wahlen zum deutſchen Parlamente 
behandelt wiffen wollten. Am 3. April brachten fie im Vereinigten 


Ein König geftrammt und ein Kaifer entführt. 143 


Landtag eine fünigliche Propoſition ein, welche auf Grund des Be- 
ſchluſſes der Bundesverſammlung vom 30. März die „Wahlen von 
Nationalvertretern“ anordnete, die „am Site der Bundesverſamm— 
(ung in einen möglichit furzen Termine zufanmenzutreten haben, um 
zwiſchen den deutichen Regierungen und dem Volfe das deutjche Ver— 
faffungswerf zu ftande zu bringen”, und demzufolge die Mitglieder 
des Vereinigten Yandtags und zunächſt die in demſelben ſitzenden Ab- 
geordneten der zum deutichen Bunde gehörigen Provinzen aufforderte, 
die „für legtere zu der Berfammlung der deutichen Nationalrepräjen- 
tation — 113 Vertreter unverzüglich zu wählen“. 

Die Abgeordneten Preußens zu einer deutſchen Nationalver— 
ſammlung, welche auf weſentlich moderner, ja geradezu revolutio— 
närer Grundlage die Neugeſtaltung Deutſchlands vollbringen ſollte, 
durch eine vormärzlich-mittelalterlich-feudaliſtiſche Verſammlung 
wählen zu laſſen, das war wirklich die ſchlaueſte der liberalen Schlau— 
maiereien, das war der Superlativ von Märzminiſterei. Dieſer 
Blödſinn hatte augenſcheinlich in der zappelnden Furcht ſeinen Grund, 
es könnte in Frankfurt eine demokratiſche, ja eine „revolutionäre“ 
Mehrheit zuwegekommen. Er muſſte aber, wie in der Regel der 
Blödſinn, auch diesmal ſeinen Verlauf haben; denn am 6. April 
wählten die Mitglieder des Vereinigten Landtags aus den preußiſchen 
Bundesländern, nad) Provinzialſtänden geſondert, richtig Parlaments— 
abgeordnete. Dabei fielen ſie aus der ihnen ſo plötzlich angeflogenen 
Vorſchrittsrolle und trafen Wahlen wie Die des im einem fanatiſchen 
Chriftgermanen verwandelten Juden Stahl und die des Herrn von 
Keller, welcher fid) aus einem züricher Radikalen in einen Kartcatcher 
der altpreußiſchen Staatsjunferei umfophiftifirt hatte. Weiter ging 
jedod) die ſchnöde Machenſchaft nicht. Alles, was von revolutionären 
Impulſen in Berlin noch vorhanden war, fochte auf gegen dieſe Bar- 
lamentswahlprocedur, welche übrigens durch die Bundesbeſchlüſſe 
vom 7. April amullirt wurde. Hierdurch ich ſich die preußiſche Re— 
gterung aufgefordert, „die Wahl der Abgeorpneten zur deutichen kon— 
ſtituirenden Verſammlung fofort lediglih nach Maßgabe ver Beichlüffe 


144 Die Verwidelung, IV. 


des Borparlaments anzuordnen“, und fie fügte ſich dieſer Aufforde- 
rung, fiherlih mit im Hinblid auf die Thatfache, daß zur Zeit die 
Temperatur in Berlin und ſämmtlichen größeren Städten der Mo— 
narchie für die „Umkehr“ doch noch feine jo recht angenehme und ein- 
ladende war. 

In den Tagen vom 1. bis zum 10. Mat wurde in Berlin und 
in ganz Preußen die erite große Wahlichlacht geichlagen, welche dieſes 
Land gejehen hat. Am 1. Mat traten die Urwähler zufammen, um 
die Wahlmänner zu erfiefen; am 3. Mat wurden durch die Wahl- 
männer die Abgeorpneten zur preußischen Eonftituirenden Verſamm— 
lung, am 10. Mat die Vertreter Preußens im deutſchen Parlament 
ernannt. Dieje Wahlen, insbejondere die für das preußiiche Abge- 
ordnetenhaus, gaben dem Märzminiſterium feineswegs ein Bertranens- 
votum. Die bürgerlihen Mittelklafjen hatten in weit überwiegender 
Mehrzahl ihre Kandidaten durchgeſetzt und dieſe Wahlen legten 
unwiderſprechliches Zeugniß ab, daß die Stimmung in dieſen Volfs- 
freifen zur Zeit weit mehr eine radikale als eine liberale war. Mit 
anderen Worten, die bürgerlichen Mittelklaffen in Preußen, dazumal 
noch nicht müde, miſſtrauiſch und memmenhaft geworden, wie fie es 
jpäter wurden, zeigten durch ihr Wahlwotum dem Miniftertum, daß 
fie ven Neu - Aufbau Preußens und Deutichlands anders und ent- 
jhiedener zur Hand genommen wifjen wollten, als bislang gejchehen 
war. Sie gaben durch ihr Wahlootum deutlich zu erfennen, wie 
jehr fie wünjchten, das Märzminiftertum möge ſich nicht länger zum 
Narren und Handlanger der Hoffabale hergeben, ſondern im Sinn 
und’ Geift der Märztage vorgehen und die klägliche Zweiächſelei 
fahren laffen. 

Was gaben nun die Herren Namphaufen, Hanſemann und 
Konjorten auf diefe Mahnung zur Antwort? Nur einen neuen groben 
Miſſgriff, welcher zugleich ein Frevel an Deutichland war. Schon 
durch die Wahlergebniffe ftupifizirt, ließen ſich die Minifter durch 
höfiſche Obrenbläfereien fo werblenden, daß fie hüben in Berlin ſchon 
den leibhaftigen Teufel der Anarchie und drüben in Frankfurt des 


Ein König geftrammt und ein Kaifer entführt. - 145 


Teufels leibhaftige Großmutter, die Newolution, vor ihren Augen 
herumtanzen jahen. Dieje eingebildete Gefahr zu beſchwören, famen 
fie auf den Einfall, den Teufel durch feine Großmutter zu befämpfen 
und umgekehrt, d. b. Berlin duch Frankfurt und Frankfurt durch 
Berlin lahmzulegen, das deutſche Parlament mittels des preußiſchen 
und das preußiſche mittels des deutſchen zur Ohnmacht herabzu— 
quängeln. Einen andern Sinn konnte der Beſchluß des Miniſteriums, 
daß die preußiſche „Nationalverſammlung“ zur gleichen Zeit mit der 
deutſchen tagen ſollte, gar nicht haben. Dieſer Beſchluß, welcher dem 
deutſchen Parlament einen ſeiner beſten Lebensnerven, vielleicht geradezu 
den Lebensnerv durchſchnitt, war ein ſchnöder Verrath an der Nation. 
Aber die Herren vom Minifterium Kamphauſen, jagt man, haben 
die unjelige Tragweite diefer thörichten Schlußnahme nicht vorherge- 
jehen. Mag fein; Leute jedoch, welche jo jehr aller VBorherficht bar 
und ledig jind, jollten nicht die Anmaßung haben, einen Staat lenfen 
zu wollen, und wenn behauptet worden tft, die Minifter hätten ſich 
auch in diefer Sache, wie in vielen anderen, ihrer befjeren Einficht 
entgegen den Antrieben der Hofkabale gefügt, jo milvert das, falls 
es wahr, die Strenge des Urtheils iiber diefe Märzminifterei gewiß 
nicht, jondern verſchärft dieſelbe nur nod). 

Die volle Wahrheit aber dürfte fein, daß die Herren Kamphauſen 
und Hanſemann als richtige Parvenus den Urſprung ihrer Minifter- 
haft vergefjen und vergeffen machen wollten und daß fie für die 
Rückwärtſerei um jo eifriger ins Zeug gingen, als ihnen ihr Gewiſſen 
fortwährend die Thatſache vorhielt: Es war dod) nur die Revolution, 
welche euch an den Miniſtertiſch emporgetragen hat! 

Im übrigen ift diefe ganze Angelegenheit kaum einer Erörterung 
und jedenfalls ijt jie feiner Exeiferung werth. Denn das ganze thun 
und lafjen der preußiſchen Märzminifter war ja nur ein Vorhang, 
hinter welchem das wahre und wirkliche Preußenthum fein damaliges 
Hauptgeſchäft verrichtete, das Geſchäft, den König wieder zu „ſtram— 
men“, um dann jpäter, wann die Zeit gefommen wäre, ven Vorhang 
beiſeite zu jchieben, ven wiedergeſtrammten König hervortreten und 


Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 10 


146 Die Verwidelung, IV. 


fagen zu laſſen: So mill ich's haben und jo muß es fein! Fort 
mit Schaden! Gegen Demokraten helfen nur Soldaten. Ich fom- 
mandire und ihr gehorcht! Sela. 


Die am 22. Mat eröffnete preufiihe Nationalverfammlung 
bildete auch nur ein Stück Vorhang. 

Charafteriftiich genug hatte dieſe Konftituante Preußens fein 
eigen Dad und Fach, jondern muffte zur Miethe wohnen und zwar 
in der Singafademie, womit ſymboliſch angedeutet jein konnte, der 
Konftituttionalismug möge ſich die Zeit mit fingen und jagen 
vertreiben, derweil der Abjolutismus jeine Wiederſtrammungskur 
durchmachte. 

Die Eröffnungsfeierlichkeit, ſehr dürftig und kahlmäuſeriſch zu— 
geſchnitten, ging im Weißen Sale des königlichen Schloſſes vor ſich. 
Es müſſen recht peinliche Gefühle geweſen ſein, womit Friedrich Wil— 
helm der Vierte von ſeinem Throne herab dieſe Verſammlung der 
Vertreter des preußiſchen Volkes anſah. Schon der bloße Anblick 
dieſer bürgerlich gekleideten Männer, von denen — gruſelig zu mel— 
den! — ſehr viele nicht einmal weiße Halsbinden und Weſten ange— 
than hatten, muſſte dem Könige ſagen, daß es mit dem geliebten 
Mittelalter aus und mit der theuren Romantik vorbei ſei. Drückten 
ſich doch in einem Winkel des Prachtſals ſogar ſtruppelbärtige Kerle 
herum, bäueriſche Abgeordnete aus Poſen und der ſchleſiſchen Waſſer— 
polakei, angethan mit Wämmſern und Hoſen von ungebleichter Lein— 
wand. Wie ſtach das alles ſo miſſfällig ab gegen den feudalen 
Pomp, womit weiland der Vereinigte Landtag eröffnet worden war! 
Wie hatte damals in dieſem Sal alles mittelalterlich geflimmert und 
geſchimmert, wie hatte es chriſtlich-germaniſch gerochen! Damals 
hatte Friedrich Wilhelm die famoſe Phraſe von dem „hbeſchriebenen 


Ein König geftrammt und ein Kaiſer entführt. 147 
Blatt Papier” fliegen laſſen; damals hatte er in jeiner Königſchaft 
hochſchwellendem Gefühle ſich vermeſſen, feiner Macht der Erde follte 
es gelingen, jo ein Blatt Papier, jo eine Konftitution aufzurichten 
zwijchen ihm, dem Gejalbten des Herrn, und jeinem Volfe. Und 
jest? Jetzt war das verabichente Blatt dennoch da; ver Herr 
Minifterpräfident, ein bürgerlicher Minifterpräfident — elelen ! 
stotototot! — hatte es ſchon in der Taſche: den Konititutiong- 
entwurf. 

Die Jronie der Geſchichte ift mitunter von wahrhaft diaboliicher 
Bosheit. In ſolchen Augenbliden vernehmen hörende Ohren das 
hohnlachen aller Dämonen der Höllen Dante’s und Milton’s. 

Die Thronreve, welche der König aus der Hand Kamphaujens 
entgegennahm, war jo nüchtern gehalten und jo geihäftsmäßtg 
ftilifirt, daß man ihr leicht anmerfte, fie jei nicht Das Werf deſſen, 
welcher jie vorlas. Die große deutiche Frage war darin ganz bettel- 
haft knapp behandelt und mit der fühlen Redensart abgejpeij’t: „Die 
Einheit Deutſchlands iſt mein unverrückbares Ziel, zu deſſen Errei- 
Hung ic Ihrer Mitwirkung mic verjihert halte“. Die ganze Er- 
öffnungsſcene brachte feinen verföhnenden und erhebenven, jondern 
vielmehr einen trennenden und erfältenden Emprud hervor. Man 
fühlte, der Monarch umd die Verſammlung jtanden einander, wenn 
nicht geradezu feindlich, jo doch fremde gegenüber. 

Die Verſammlung fonjtituirte ſich proviſoriſch unter den Alters- 
präjidium des Herrn von Schön, einer ehrwürdigen Ruine aus 
Preußens großer Zeit von 1808 — 15; danı definitiv unter dem 
Vorſitze des Herm Milde, eines brejlauer Fabrikherrn. Vice— 
präfidenten wurden die Herren Eſſer und Waldeck. Die Berathungen 
trugen Übrigens von Anfang einen tumultuariſch anarchiſchen Charak— 
ter, welcher vorherjehen ließ, daR das ganze Ding ein ſchlimmes 
Ende nehmen würde. In demjelben Mae, in welchem es dem 
Minifterium an Muth und Vertrauen zum Volke gebrach, fehlte ver 
überwiegenden Mehrheit der preußtihen „Nationalverfammlung“ 
jener politiiche Inſtinkt und Taft, welcher die mangelnde Erfahrung 

107 


148 Die Berwidelung, IV. 


einigermaßen zu erjegen vermag. Es kam in den Verhandlungen 
diefer Konftituante denn doch gar häufig eine grasgrüne Unreife zum 
Borihein, welche ſolchen rechtgab, die da meinten, das preußiſche Bolt 
jet überhaupt nicht zum Selfgovernment befähigt, jondern nad) wie 
vor zum Kommandirtwerden umd zu „ſtrammer“ Subordination be— 
ftimmt. Bei jothaner Sachlage war e8 dann doppelt widerlid, daß 
die gaſſendemagogiſche VBolfsvergätterung auch in den Räumen ver 
Singafademie graffirte und man daſelbſt noc) immer mit dem 18. und 
19. März renommirte ımd bramarbafirte, während draußen ver 
Märziturm bereits gründlich verraufcht war. 

Es unterfteht feiner Frage, daß der Mangel an freiem Blid, 
großem Wurf und fräftiger Initiative, welcher das Miniftertum Kamp— 
haufen durchweg fennzeichnete, an der raſch eintretenden Ebbe der berliner 
Bewegung mitihuld gemejen ift. Denn es ging aud in Preußen 
wie überall in Deutſchland, d. h. als das Volk jah, wie jehr es jeinen 
oberjten Fiihrern, den Oppofitionschefs der vormärzlichen Zeit, au 
Talent, Muth und Selbftvertrauen fehlte, jet, nachdem fie zur Macht 
gelangt waren, ihren Ideen zur Berwirklihung, ihren Grundſätzen 
zur Geltung zu verhelfen, da begann das Volk dieſe Ideen und dieje 
Grundſätze, ſowie ihre Träger, erſt mit Gleichgiltigfeit und dann mit 
Beratung anzufehen und wieder mit verboppeltem Reſpekt zu denen 
aufzurbliden, welche Entjchlofjenheit genug beſaßen, die halbverlorene 
Gewalt zurüdzuerobern und von der zuritderoberten energiſch Ge— 
brauch zu machen, wäre es auch im rückwärtſigen Sinne. Hierzu 
trat aber noch, die Kraft der Bewegung namentlid) in den bürger- 
lichen Mittelflaffen exit zu ſchwächen und endlich ganz lahmzulegen, 
als weiteres Motiv die unleugbare Wirkung, welche das durch den 
Phrajenblasbalg halb oder ganz verridter Shwäter glüdlic aus 
einem Zielen zu einem Tiger aufgeblajene Schredgefpenft des Kom— 
munismus auf die bürgerliche Welt übte. Man merkte diefe Wir- 
fung insbefondere auch in den Neihen der berliner Bürgerwehr, auf 
welches Inſtitut man anfangs fo überftiegene Hoffnungen gebaut 
hatte und das unter dem Kommando des Generals von Aichoff, dem 


Ein König geftrammt und ein Kaifer entführt. 149 


man ſchuldgab, ein gefügiges Werkzeug rüdwärtfiger Kabalen zu fein, 
richtig immer „kläteriger“ wurde. Summa: im Mat war bie 
Situation in der preußiichen Hauptftadt ſchon fo, daß Herr Friedrich 
von Raumer — damals nody nicht die lächerliche Figur, welche er 
ipäter als PBarlamentsmitglied in Frankfurt und vollends gar als 
„Reichsgejandter” in Parts machte — am 17. ſchreiben fonnte: 
„Bis etwa 14 Tage nad) dem 18. März war überall faft nur die 
Rede von den unfterblichen Barrifadenhelvden, die ihres gleichen in 
der ganzen Weltgeſchichte nicht hätten, gegen welche Leonidas und 
jeine 300 Spartaner nur jämmerliche Stümper wären, denen man 
in Marmor und Erz ewige Denfmale errichten müſſe u. j. wm. Seit 
4 Wochen aber nimmt feiner mehr das Wort Barrifade und Barri- 
fadenheld in den Mund, der 18. März wird zum noli me tangere 
und in vertrauteren Geſprächen wünſcht man die Helden der „glor= 
reichen” Nacht zum Teufel. So ändern ſich die Zeiten und es ift 
für ein Glück zu achten, wenn die höchlich erzürnten Bürger nicht die 
Pröletarier niederſchießen müſſen, um Ordnung herzuftellen ”. 


Der von dem Mintjtertum vorgelegte Berfaffungsentwurf, in 
der Hauptjache jelbjtverftändlich der engliihen Schablone nachgepin- 
jelt, bezeugte flärlih, was für einen blafjen Schemen von Schein- 
fonftitutionalismus zu wollen und zu fordern ſchon im Mai ver Hof 
wiederum ſich jtarf genug fühlte und wuſſte. Im den Augen der 
altpreußtihen Staatsjunferet war jedoch auch dieſer Schein und 
Schemen noch ein heftiges Aergerniß, deſſen Wegwiſchung jofort mit 
allen Mitteln eifrigjt angeftrebt wurde. Nad) ver entgegengejeßten 
Richtung hin konnte natürlich der Entwurf auch nicht befriedigen und 
jo wurde die arme Miſſgeburt verachtungsvoll zwiſchen den Par— 


150 Die Verwidelung, IV. 


teien hin- und hergeſtoßen, bis ihr furzpärmiges Scheindafein zur 
Ende war. 

Die berliner Bürgerwehr jollte der miniiteriellen Berfafjungs- 
vorlage jo zu jagen zu Gevatter jtehen, jollte ven miſſſchaffenen Balg 
aus der Taufe heben und zwar mittels der auf ven 23. Mai ange- 
jegten jogenannten „Vertrauensparade“. Sie fand wirklich ftatt, 
fiel aber dimn und umerquidli aus. Verſchiedene Abtheilungen 
der Bürgerwehr hatten fid gar nicht zur Aufjtellung unter ven Linden 
eingefunden. Andere, Schon aufgejtellt, verliefen grollend und ſchim— 
pfend ihren Plat wieder, nachdem fie über einzelne Beitimmungen 
des Konftitutionsentwurfs näheres erfahren hatten. Der König er- 
ſchien in milttärticher Gala, umgeben von einer diden Wolfe von 
Generalen und Adjutanten. Er machte die Sache ſchweigſam und 
im Galopp ab. Dffenbar war alles darauf angelegt, dem bewaff- 
neten Bürgerthum gegenüber ven Glanz und Prunf des königlich 
preußiſchen Militarismus zu ſchneidend gegenfäglicher Anſchauung zu 
bringen. Lächerlich war der Herr General von Aſchoff anzujehen, 
welcher, dem Könige zur Seite reitend, mit Blid, Gebärde und Degen- 
winf die verdrofjenen Bürgerwehrmänner zum Hoch- und Hurrah— 
rufen anzufenern jtrebte, und für eine nicht gerade günjtige Vorbe— 
deutung mußte es gelten, wenn die Ulanenmuſikbande, welche an der 
Schloßbrücke bei der berittenen Bürgerwehr aufgejtellt war, ven 
König mit den Klängen der ruffiihen Nationalhymne empfing. 
Während unter den Linden diefe fühle Vertrauensparade vor ſich 
ging, melde eigentlich eine gegenjeitige Mifftrauensparade gemejen 
it, demonftrirte ein Theil der afademtichen Jugend anderweitig, in- 
dem fie „als Zeichen der Trauer über den VBerfaffungsentwurf” eine 
Ihwarze Fahne auf den Balkon des Untverfitätsgebäudes pflanzte. 

Daß die leitende Partei bei Hofe ſchon um dieſe Zeit zu ven 
„rettenden Thaten“ entſchloſſen war, welche fie dann im Spätherbite 
vollbringen ließ, unterfteht feiner Frage. Dagegen ift es zweifelhaft, . 
ob der nachmals in Bollzug gejeste Plan damals ſchon auch Friedrich 
Wilhelm dem Vierten vorſchwebte, und wäre e8 auch erjt in däm— 


Ein König geftrammt und ein Kaifer'entfübrt. 151 


mernden Umriſſen. Gewiß iſt jedenfalls, daß der König im Mat nod) 
lange nicht genug „gejtrammt“ war, um die entjchtedenen Umfehrleute 
zu einem ein- und durchſchneidenden „Bruch mit der Revolution“ zu 
bevollmächtigen. 

Starke Anzeihen ſprachen dafür, dar Friedrich Wilhelm einen 
ehrlichen Anlauf genommen hatte, mit der neuen Ordnung oder, 
wenn man will, mit der Unordnung der Dinge voranzufchreiten. 
Diejer Anlauf hatte gerade jo lange gewährt, als die ſtaunenswerth 
Schlag auf Schlag herangeftürzten Greigniffe die Phantajie des 
Königs erregt und beihäftigt hatten. Als aber an vie Stelle ver 
Ueberrajhungen und Aufregungen die trodene Gejhäftsmäßigfeit des 
Konftitutionalismus trat und durch ihre eintünige Negelvechtigfeit 
den Monarchen zu langweilen begann, da erwachten alle Antipatbieen 
des Romantifers und Abjolutijten wieder und vergifteten den in feiner 
Seele zurüidgebliebenen Stachel der Erinnerungen aus den Tagen und 
Nächten des März. 

Die Flüfterblide und Wijperworte jeiner Umgebung thaten 
das übrige; beſonders dann, als ver König, aus dem „revolutio- 
nären” Berlin nad) Potsdam übergefiedelt, wieder ganz in der höfiſch— 
abſolutiſtiſch-pietiſtiſchen Atmoſphäre athmete. Es mar einer der 
größten Fehler, eine der verhängniſſvollſten Schwächen des Mintjte- 
riums Kamphauſen, daß es dieſe Verpotsdamung des Monarchen 
zugelafien hat. In Potsdam war es, wo das Werf der Wieder- 
ſtrammung Friedrich Wilhelms jo recht ungeftört mit Bedacht, Me- 
thode und Eifer betrieben wurde, und ein unbefangener Urtheiler muß 
zugeben, daß die Hof», Militär-, Bonzen- und Mandarinen-Rück— 
wärtjerpartei dieſes Geſchäft mit vollendeter Geſchicklichkeit verrichtete. 
Der Punkt, von welchem jie dabei ausging, war der befannte Mythus 
von der „Notte fremder Bojewichte, Franzojen, Polen und Juden“, 
welche die berliner Nevolution gemacht hätte. Hatte man erjt ven 
König — wie es ja wirklich glücdte — zum unerſchütterlichen Glau— 
ben an diefen Mythus gebracht, jo vermochten ihn die Hände, melde 
das Strammmahungsgefhäft bejorgten und unter denen jehr weine, 


152 Die Berwidelung, IV. 


weiche und weihmwafferfeuchte waren, unjchwer von Stufe zu Stufe 
zu der Meberzeugung hinaufzuhäticheln, daß es feine königliche 
Schuldigfeit und patriotifche Pflicht jet, fein angeftanmtes Yand und 
Volk aus den revolutionären Teufelsfrallen der bejagten böſewich— 
tigen Rotte zu erlöfen. 

Während Friedrich Wilhelm der Vierte hen manche zu dieſer 
Ueberzeugung führende Wegſtufe zurücgelegt hatte, wiegte ſich der 
gute Herr Kamphaufen, deſſen Minifterpräfidentichaft für feine eigene 
Perſon nur ein Martyrium war, welches das aufrichtigfte Mitleid 
verdiente, nod) in dem Thorenwahn, durch fortgeſetzte Nachgiebigfeit 
und Schonungsitbung nad oben den Hof mit dem neuen zu wer 
jöhnen und die Anhänger des alten zu beſchwichtigen. Da fannte 
doc) die alte derbwahre und wahrderbe Pfälzerin, Elifabeth Charlotte 
d'Orleans, die Menjchen und die Parteien anders und beffer. „Es 
ift gar einfältig — hat ſie gejagt zu glauben, daß man die 
Höflinge und die Pfaffen durd Milde und Sanftmuth gewinnen 
könne; denen muß man den Daumen glei) recht feit aufs Auge 
prüden“. Die Herren vom königlich preußiſchen Märzminiftertum 
waren aber nichts weniger als Daumendrüder und gerade darum 
itanden fie auch in der Achtung ihres Gebieters jo niedrig wie mög- 
(ih. Der König war für feine Perſon Schon zu Anfang des Som- 
mers aus jeiner märzlichen Berdatterung und Verblaſenheit wieder 
joweit herausgeftrammt, daß er die nadhmaligen „rettenden Thaten“ 
vom November jchon jetst, im Brachmonat, gerne gethan gejehen hätte. 
Ein durchaus glaubwürdiger Zeuge beurfundet uns das. Am 
10. Juni hatte der Freiherr Chriftian Friedrich von Stodmar im 
Schloſſe von Charlottenburg eine lange Unterredung mit Friedrich 
Wilhelm dem Vierten. Im Verlaufe derſelben erfuhr der Freiherr, 
daß der König große Puft hatte, mit der ganzen „Schweinerei” von 
Revolution Schon jest abzufahren. Stodmar, welcher zu gejcheid 
war, als daß er die Windbeuteligfeit diefer berliner Revolution nicht 
erfannt hätte, rieth auch ſeinerſeits zu entichloffenem vorgehen. Worauf 
der König: „Ian, wenn meine Minifter nicht ſolche“ — (Lumpen- 





Ein König geftrammt und ein Kaifer entführt. 153 


oder Schweinehunde?) — „wären! Aber mit Ausnahme des 
einzigen Schwerin find fie alle Feiglinge” *). Cine heitere Probe 
vom Fürftendanf für märzminifterliche Dienftbefliffenheit! Schade, 
daß wir ähnliche, zweifelschne geiprochene Danfesworte aus anderen 
föniglihen, herzoglichen und fürftlichen Schlöſſern ned nicht zu 
regiftriren vermögen. 


- 


0. 


Wenn nicht verichwiegen werden darf, daß in der Spreeitabt 
die Yumpagogie rührig genug war, um in den höftichen, bureaufra- 
tiſchen und ſogar in den bürgerlichen Kreiſen, in der eleganten wie in 
der frommen Welt, der Sehnſucht nad) „Umkehr“ ftets neue und 
willfommene Nahrung zu bieten, jo konnte fie ſich an Geltung und 
Gewalt doc lange nicht mit der Krakehlokratie meſſen, welche in ber 
Donanftadt den Ton angab. Auch in Berlin zwar wuſſte man won 
der Macht, welche der Katenmufif- innewohnt, zu jagen und zu 
flagen; aber in Wien war die Kagenmufif eine Meile geradezu 
fonverän. 

Die wüſte Speftafelet, welche in der deutjchen Bewegung von 
1848 überhaupt einen jo breiten Naum gewann, mag allerdings 
einestheils mit Fug dem vormärzlichen Polizeiſtaat auf Nechnung ges 
fchrieben werden, meil derfelbe Die politiiche Erziehung des Volkes mit 
allen Mitteln verhindert hatte. Die fo lange geftreute abjolute Be- 
vormundungsiaat ging jett als Sfandal- und Kramallunfraut auf. 
Alleın anderntheils hatte dieſe Speftafelfucht doc noch einen tieferen 
Grund: fie wurzelte in dem deutſchen Kneipenhumor, welcher mit- 
unter recht liebenswürdig fein kann, aber, weil er jahraus jahren 


*) Denkwürdigfeiten aus den Papieren des Freiherrn Chr. Fr. von 
Stodmar (1872), S. 512 fg. 


154 Die Verwidelung, IV. 


obenauf jein will, leicht ins Triviale und Abjurve füllt. Die ewige 
Wirthshausbummelei — befanntlid ein Nattonallafter der Deutſchen 
von Anfang an* — läppert die Menſchen in eine fade und faljche 
„Gemüthlichkeit“ hinein, entwöhnt jie des jtrengen und logiſchen 
Denfens und gewöhnt fie an eine frivole Faſſung und Führung aud) 
der ernſteſten Dinge, jo daß fie unſchwer dazu fommen, die öffentlichen 
Angelegenheiten vom Standpunkte des „Vive la bagatelle!* aus 
zu betrachten und die Politik für einen „Sur“ anzufehen, welder vor 
allem einen recht vergnüglichen Zeitvertreib gewähren müſſe. Weit 
mehr, als eine oberflächlich-vornehme Betrachtung der Ereignifje von 
1548 anzunehmen geneigt jein möchte, bat zu dem jammerjäligen 
Berlauf der deutſchen Bewegung der Umstand beigetragen, daß eine 
Menge von „Nueipgenies“ ſich plötzlich zu Volksführern berufen 
fühlte und in diefer Nolle anerfannt wurde. Es wirkte das auf ver 
einen Seite ebenjo unheilvoll wie auf der andern die Thatjache, daß 
ſämmtliche deutſche Profefforen wähnten, über Nacht zu „Stants- 
männern“ geworden zu jein. . 

Der Zerfall des Staates, die Ausermanderbrödelung der Re— 
gierungsmaſchine, der allgemeine Wirrwarr und Durcheinander, die 
Kath, Zucht- und Zügellofigfeit war in Wien ohne Frage noch 
größer als in Berlin und in demjelben Verhältniſſe aud) die Stellung 
des Miniſteriums Ficquelmont-Pillersdorff jchwieriger als die des 
Miniteriums Kamphauſen. Diejes hatte es doch num mit der Hof— 
fabale, mit den Munkelern und Mudern, mit den militäriſchen Dara- 
diridatumdarideſſen und mit den demokratiſchen Horribilifribifaxen, 
ſowie allenfalls nod) mit den Dänen und Polen zu thun; aber jenes 
mit dem Hofe, mit der Hierarchie und Burenufratie, mit der Firma 
Wühlhuber wie mit der Firma Heulmaier, und außerdem mit Ita— 
lienern, Magyaren, Polen, Czechen, Kroaten, Rumänen, Nuthenen, 
Serben, Slovaten, Slovenen und mit der „Akademiſchen Legion“, 





*) „Diem noctemque continuare potando nulli probrum.“ Taecitus, 
Germ. 22. 





Ein König geftrammt und ein Kaijer entführt. 155 


welde fih als Hochwächter und Hauptſchirm der „ Errungenichaften “ 
betrachtete und, von der Bevölferung Wiens gejtreichelt und gehätichelt, 
dem Miniſterium wie eine Bombe, die von Minute zu Minute platen 
konnte, auf dem Naden lag. 

Die „Aula“ war eine gute Weile ver beftimmende und aus- 
Ichlaggebende Faktor im öftreihtiihen Staatschaos, das unterliegt 
gar feinem Zweifel, und da in die afademijche Legion notoriſch auch 
Nichtöftreicher eingereiht waren, fo hatte die Sagevon den „Tremoden, 
welche die Revolution gemacht haben“, in Wien weit mehr Sinn als 
in Berlin*. Es zeugt von der gränzenlojen Hilfelofigkeit des eriten 
„verantwortlichen“ Minifterrums in Oeſtreich, daß es fich die ſtuden— 
tiiche Diktatur jo lange gefallen laſſen mufjte oder wenigitens gefallen 
lieg. Natürlich muſſten demzufolge die jugendlichen Diktatoren zum 
Vollbewuſſtſein gelangen, fie jeien das Salz der Erde oder wenigſtens 
Deftreihs und berufen, den aus jeinen Fugen gegangenen Staat 
wieder einzurenfen, — in ihrer Weiſe, verfteht jich, und keineswegs 
jo jErupelig wie der befannte Prinz von Dänemark, welcher in Witten- 
berg ſtudirt hatte. 

Ja, fie fuhren recht burſchikos drein und drauf los, die dunkel— 
blauröckigen Enthuftaften und Phantajten von der Legion. Als 
Villersdorff, um einem allerdings jehr dringenden Bedürfniß abzır- 
belfen, am 31. März ein proviforiiches Preſſgeſetz erließ, verdonnerte 
Doktor Giſkra daſſelbe in ver Aula, Diele wallte auf und erflärte, 
ſtudentiſch zu reden, das Geſetz als ein „freiheitsmörderiſches“ in 
„Verſchiß“. Der arme Mintfter des Innern nahm das verv .. 
ehmte Ding alsbald zurück und die jeit dem 15. März eingerifjene 
Preſſanarchie raſ'te und raſaunete weiter. Natürlich trug dieſe namen— 
loſe Schwäche der Regierung ihre Früchte. Der „Studentenausſchuß“, 
welden die akademiſche Legion aus ihrer Mitte beftellt hatte, war 


*) Depeſche Effingers vom 8. Mai: „Mancher Vorgang erklärt, ſich 
aus dem Umſtande, daß in das akademiſche Korps nicht allein Studirende 
der Univerſität und des Polytechnikums eingereiht ſind, ſondern auch die 
Künſtler, letztere größtentheils Ausländer.“ S. B. A. 


156 Die Verwidelung, IV. 


thatſächlich die oberfte Erefutivbehörde der Hauptſtadt, welche Exefutiv- 
behörde in alles und jedes hineinregierte, ja hineinvegieren mufite, da 
fi) bei der Lahmheit und Feigheit der ſtädtiſchen und ftaatlichen Be- 
hörden alle Welt in allen möglichen Angelegenheiten an die Herren 
von der Aula wandte. Wurden doch jogar Ehezwifte zur Austragung 
vor den Studentenausihur gebracht. 

Derweil hatte das Miniftertum die verſprochene „Konſtitution 
des Vaterlandes“ an die Hand genommen, d. h. Herr von Pillersporff 
hatte nad belgiſchem Mufter eine Verfaſſung zujammengeplätt, 
welche, nachdem der Fatjerliche Familienrath fie gutgeheißen, am 
25. April feierlich verkündet wırde. Diejes Staatsgrundgeſetz für 
Oeſtreich iſt auch nur eins der vielen lebensunfähigen Aprillaunen- 
findlein von 1848 gewejen. Die ſouveräne Katzenmuſik jchrie das 
arme Ding todt. Sie jchrie auch den Minifterpräfidenten Ficquel— 
ment, welden in der zweiten Hälfte Aprils alle Preſſejaucheſpritzen 
Wiens zu einem ihrer Yieblingsziele nahmen, von jeinem Poſten weg. 
Die Emenmung des ihm nahe verwandten Grafen und Generals 
Latour zum Nriegsminifter, welche am 30. April befannt wurde, gab 
ihm den Reſt. Der neue Kriegsminifter war als Ariftofrat von der 
jtriften Objervanz gehafit, als fühiger und energijcher General ge- 
fürchtet. Ficquelmont jollte die, wie es hieß, auf jein Betreiben 
gejchehene Ernennung büßen. Am Abend vom 2. Mai präludirte 
die jonveräne Katzenmuſik vor der Wohnung des Minifterpräfidenten; 
am folgenden Abend legte fie fortiijimo los. Es war eine unfäglid) 
widerliche Pöbelet, nur um jo widerlicher, als ſich auch National- 
garden und Studentenlegionäre daran betheiligten. Ein paar beliebige 
Kerle ernannten fich jelber zu „Volksgeſandten“, drangen in bie 
Staatskanzlei und erflärten dem Minifterpräfidenten, daß er abdanfen 
müßte, „weil er das Vaterland verrathen hätte”. Der arme, alte, 
geängftigte und erichöpfte Mann that in der zweiten Stunde nad) 
Mitternacht den angeblichen „Volksgeſandten“ ihren Willen, worauf 
Herr von Pillersporf am 5. Mat den Vorfis im Minifterrathe und 
Herr von Vebzeltern die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten er— 


Ein König geftrammt und ein Kaijer entführt. 157 


oa 


hielt. Die Auftritte vor und in der wiener Staatskanzlei in der 
Nacht vom 3. auf den 4. Mai gehörten zu den jhmählichiten des 
„tollen“ Jahres. Die Herren Kollegen des Grafen Ficquelmont, die 
ſämmtlichen Magiftrate, endlich alle bejjeren Elemente ver Nattonal- 
garde und der Aula haben fi durch ihr ımthätiges zuſchauen und 
jämmerlihes geihehenlafien dieſer Pöbelſchmach mitihuldig gemacht. 


. 6. 


Das Mintitertum glaubte durch Verftärfung mit populären 
Kräften fich feſter zu ftellen. Um die czechiſche Agitation zu beſchwich— 
tigen, wurde dem „Patriarchen ver Czechen“, Palacky in Prag, das 
Miniſterium des Unterrichts angeboten, aber umfonft, weil der ge— 
lehrte Slave nur dann ing Kabinett treten zu wollen erflärte, wann 
die Negierung das Föderativprineip in ihr Programm aufnähme, 
Auch mit Herrn Bach, welcher damals noch den Radikalen jpielte, iſt 
wegen Uebernahme einer Minifterichaft vergeblich verhandelt worden, 
weil der Herr Doktor ſich nicht vorzeitig vernutzen wollte. Nur ven 
Herren Doblhoff, einen vormärzlicheliberalen Fabrifherrn, fonnte man 
zur Uebernahme des Handelsminiſteriums vermögen und er galt dann 
neben Pillersdorff für den Hauptmacher in der Negierung. 

Gleichzeitig mit der theilweiſen Neorgantiation des Miniſteriums 

gab fi aber auch der revolutionäre Sturm und Drang eine um— 
füffendere und wirkfamere Organijation. Es geſchah Dies mittels 
Schaffung eines politiihen „entralfomite ”, weldes, aus Abgeord— 
neten des Studentenausſchuſſes und der Nationalgarde zuſammen— 
gejett, am 9. Meat ſich Fonftituirte. Ob daber, wie behauptet worden, 
eine unmwillfürliche oder gar eine abjichtlihe Erinnerung an die in der 
Naht vor dem 10. Auguft von 1792 mittels Abordnungen der 
Seftionen von Paris geihaffene „Kommune“ mitgeipielt babe, tt 
weder mit Sicherheit zu bejahen noch mit Beſtimmtheit zu verneinen. 


158 Die Berwidelung, IV. 


Jedenfalls taugen dergleihen Neminiscenzen jelten etwas. Das 
wiener Gentraifomite von 1848 verhielt fih zur inſurrektionellen 
parifer Kommime won 1792 ungefähr jo, wie ſich der „ Marſchall 
Druff“ von 1848 zum „Marihall Vorwärts“ von 1813 verhält. 
Nachdruck auf Packpapier, drudfehlervoll, ordinär, nichts als Nach— 
druck, Abklatſch. 

Die ungeheuerliche Begriffeverwirrung, welche in den Köpfen 
rumorte, ſprang wieder einmal ganz lächerlich zu Tage, indem das 
Centralkomité an den Premierminiſter ſich wandte, um von dieſem die 
Anerkennung als einer „legalen“ Behörde zu erwirken. Natürlich 
muſſte Herr von Pillersdorff dieſes wahrhaft wahnwitzige Geſuch zu— 
rückweiſen und natürlich konnte das Miniſterium dieſe zweite oberſte 
Regierung, welche ihm zur Seite, ja ihm zu Häupten ſich aufthun 
wollte, nicht dulden und gewähren laſſen. Aber freilich fragte es ſich, 
ob das Miniſterium in ſich ſelbſt ſo kräftig wäre, ſeinen Widerſtand 
durchzuführen, und ob es auch die materiellen Mittel beſäße, ſeinem 
Willen Nachdruck zu geben. In beiderlei Beziehung ſah es kläglich 
aus. Herr von Pillersdorff und ſeine Kollegen waren nicht die Leute, 
in der Breſche ſtandzuhalten, ſo lange noch Athem in einem von ihnen 
war. Auch der Herr Graf und General Latour erwies ſich bei dieſer 
Gelegenheit keineswegs als ein Held, ja ſein gebaren zeigte etwelche 
Abſonderlichkeiten auf, welche argwöhniſche Leute auf die Vermuthung 
bringen könnten, der Kriegsminiſter hätte dem Unheil freien Lauf 
laſſen wollen, kalkulirend, erſt müßte es in Wien ganz ſchlimm werden, 
bevor es beſſer werden könnte. Allerdings waren die Militärkräfte, 
worüber der General zu verfügen hatte, geringfügig genug. Die 
Garnijon der Hauptftadt war ſchwach und auch aus der Nähe waren. 
feine irgendwie bedeutenden VBerftärfungen herbeizuziehen, weil eben 
feine in der Nähe ſich befanden. 

Nicht in Folge der Sorglofigkeit des Kriegsminifters. Latour 
ift wahrlich fein läffiger Mann gewejen, jondern im Gegentheil ein 
jehr thätiger und ein weitichauender. Seine Ueberzeugung war, Daß 
die Rettung des alten, des kaiſerlich-abſolutiſtiſchen Oeſtreichs, welchem 


Ein König geftrammt und ein Kaifer entführt. 159 


er mit ganzer Seele angehörte, auf der Armee beruhte. Die Kettungs- 
thaten, welche die Armee thun follte, müßten aber zunächit in Italien, 
auf der lombardiichen Ebene gerhan werden. Dort lüge, meinte der 
Krieggminifter ganz richtig, die Entſcheidung. Gelänge dem Marſchall 
Radetzky ein großer Schlag, jo würde derjelbe gewaltig auf Wien 
zurüd und über ganz Deftreich, ja über ganz Europa hin wirfen. 
Selbftverftändfich im Sinne der Reſtauration. Im Vergleich alſo zu 
ver Wichtigfeit, ven Radetzky in die Verfaffung zu jeten, einen ſolchen 
Schlag thun zu können, jet es von ganz untergeordneter Beventung, 
was derweil in Wien vorgtuge, ausgenommen immer die Erhaltung 
der Dynaſtie, wofür ſich anderweitig jorgen lafjen würde. Diejer 
jeiner Anfiht gemär handelte Yatour und zwar mit höchiter Folge- 
tichtigfeit und Energie, indem er jeden Nerv anfpaunte, um das Heer 
am Mincio zu verſtärken und mit allem nöthigen auszuftatten. Die 
Folge hat glänzend bewieſen, wie richtig Yatours Rechnung war, ob- 
zwar feine Maßnahmen, welche die Bejatung von Wien jo geſchwächt 
hatten, daß ein erfolgreicher Kampf mit empörten Volksmaſſen kaum 
denfbar, für jest eine Sachlage herbeiführen halfen, welche für Wien 
amd die fatjerliche Dynaſtie einen 10. Auguft befürchten lien. 

Allein das wiener „Gentralfomite” brachte feinen 10. Auguſt 
zumege, jondern nur eine zweite Auflage der Flucht nach Varennes, 
und zwar eine werbeijerte, eine jehr verbejierte. 


— 


Am 13. Mai ließ der Kommandant der Nationalgarden von 
Wien, Graf Hoyos, einen Tagesbefehl ausgehen, kraft deſſen das 
Centralkomité für mit dem Weſen der Nationalgarde unvereinbar er— 
klärt wurde; denn dieſe könne weder als Geſammtheit noch mittels 
Repräſentanten politiſche Geſchäfte beſorgen. 


160 Die Berwidelung, IV. 


Sofort eilten Abordnungen zum Mintfterpräfidenten, um Die 
Zurücknahme dieſes Tagsbefehls, deſſen ſelbſtverſtändliche Konſequenz 
die Auflöſung des Centralkomite war, zu erwirken. Pillersdorff 
ſprach am Abend des 14. Mai ein etwas verbrämtes, aber doch 
immerhin verſtändliches Nein, wozu ihn wohl hauptſächlich der Um— 
ſtand ermuthigte, daß ihm bekannt, der „ruhige“ Bürger ſei von der 
Schaffung des Nationalkomité, in welchem der „ruhige“ Bürger eine 
Art Kommune oder Wohlfahrtsausſchuß wittere, keineswegs erbaut 
und überhaupt ſei der „ruhige“ Bürger, welcher den gewohnten Ge— 
ſchäftsgang wie den gewohnten Vergnügungsgang ſchmerzlich vermiſſte, 
nachgerade der Freiheit und Gleichheit, der Revolution und der Er— 
rungenſchaften ſehr ſatt und überdrüſſig. Der Miniſter durfte ſich 
demnach einbilden, mehrbeſagter „ruhiger“ Bürger, welcher ja in der 
Nationalgarde vorwog, würde nöthigenfalls eifrig die Hand bieten, 
etwaige Krawallgelüſte niederzuhalten. Es kam aber ganz anders. 
Der „ruhige“ Bürger ließ ſich, wie gewöhnlich bei ſolchen Gelegen— 
heiten, entweder gar nicht ſehen oder aber er verwandelte ſich aus 
purem Nachahmungsſchlendrian aus einem ruhigen in einen ſehr un— 
ruhigen. 

Das von Pillersdorff geſprochene Nein brachte die Aula alsbald 
in eine ſo wuſelige Bewegung, daß noch am Abend deſſelben Tages 
ein Ausbruch bevorzuſtehen ſchien. Deſſhalb Generalmarſch und Be— 
ſetzung der inneren Stadtthore durch Truppen und Nationalgarde. 
Wäre nun die Regierung noch in der Nacht thatkräftig und rückſichts— 
los weiter vorgegangen, namentlich mit Verhaftungen, ſo würde ſie 
am folgenden Morgen des Platzes Meiſter geweſen ſein. Weil ſie 
aber den rechten Moment zum drein- und durchgreifen verpaſſte, 
ließ ſie ihren Gegnern Zeit, die Maſſen in Bewegung zu ſetzen, und 
nachdem dieſe einmal auf den Plan gebracht waren, konnte das Spiel 
der Regierung für verloren gelten. 

Während der Nacht vom 14. auf den 15. Mai erhitzten ſich die 
revolutionären Leidenſchaften, insbeſondere auch an der Abends ge— 
machten Wahrnehmung, daß das gebaren der Nationalgarde und 


Ein König geftrammt und ein Kaijer entführt. 161 


jogar das der Truppen ein feineswegs ſehr kampfluſtiges geweſen ſei. 
Aweifelsohne hat auch Das deutſche Gefühl der Wiener ein großes 
Scheit in das aufihlagende Feuer geworfen; denn die bei Gelegenheit 
der fehlgeichlagenen Berufung Palacky's ins Miniſterium kundgewor— 
dene Streihelung und Schmeichelung des deutſchfeindlichen Czechen— 
thums, welches nod) dazu fortwährend jehr wegwerfende Auslaſſungen 
gegen die wiener Bewegung verlauten ließ, hatte eine tiefe Verſtim— 
mung erzeugt. Weiterhin bot die verfündigte Berfaffung Handhaben 
zur Agitation genug und fehrte ſich diefe insbejondere gegen Das pro— 
viſoriſche Wahlgeje zum öftreihiichen Neichstag, welches die indirekte 
Wahlart feſtſetzte und das Wahlrecht won einem Cenjus abhängig 
machte. Alle diefe Motive haben ven großartigen Krawall vom 15. Mat 
veranlafit, welcher Krawall aber feineswegs nah Plan und Methode, 
jondern ganz naturaliſtiſch-inſtinktiv ſich entwidelte und abjptelte. 

Das Spiel begann am 15. Mai in der Aula, wo an die Stelle 
der Präfidentenglode zur Negelung der Debatte eine Trommel ge- 
treten war und die an Heftigfeit ſich überbietende Rednerei jo zu jagen 
nach Pulver roch. „legal nennt man das Gentralfomite ? rief der 
Student Hrezka aus. „sa wohl; aber ift denn nicht alles, was feit 
dem März geihehen, illegal? Sind nicht auch die Miniſter illegal? 
Gi freilich find fie es, aber nur deſſhalb, weil die Majorität des Volkes 
wider fie ift“. Ein anderer Redner hatte hierauf den ſehr verftändigen 
Einfall, zu jagen: „Was jollte die Abdankung der gegenwärtigen 
Minifter nüsen? Deftreih it zu impotent, als daß wir tlichtigere 
Männer finden fünnten“. Die breitmänlige Debatte ſchien harmloſer 
Selbftzwed werden zır wollen, da fein irgendwie beſtimmter Be- und 
Entſchluß gefafit wurde, als draußen die Trommeln gingen und Die 
Nachricht hereinkam, Die Truppen nähmen abermals, wie gejtern 
Abend geicheben war, Stellung au den inneren Stadtthoren. Nun 
Ihlugen aus dem wildwogenden Wirrjal wüthende Wehr- und Warfen- 
rufe auf: — „Das bedeutet einen Angriff!” — „Mau will uns von 
unſern Brüdern, den Arbeitern in den Borjtädten, abjehneiden !! — 
„Zur Burg! Zur Burg!“ 

Scherr, 1848. 2. Aufl. I. 11 


162 Die Berwidelung, IV. 


Die Regierung hatte offenbar durch ihr Aufgebot von Truppen 
der Krafehlofratie imponiven wollen, wie ihr das, jo jchmeichelte fie 
fich, am Abend vorher gelungen war. Aber fie täuſchte fih. Die 
Erſcheinung der bewaffneten Macht gab der im werben begriffenen 
Demonftration erſt rechtes Yeben, jo viel Leben, daß die Demonftration 
nicht allzu weit davon entfernt war, eine Revolution zu werden. 


8. 


Segen den Abend zu trug Wien eine Phyſionomie, welche mit 
der vom Morgen des 15. März eine bevenklihe Aehnlichkeit hatte. 
Die akademische Legion hatte ihre Waffen aufgenommen und hielt ſich 
marichfertig. Sendboten eilten nad) den Vorftädten, um die „Arbei- 
terbrüder“ aufzurufen. Der Generalmarſch entbot die Nationalgarden 
und fie famen, obzwar nicht eben im dichten Neihen und feineswegs 
entichlofien, der Negterung eine verläfjlihe Hilfehand zu veihen. Der 
vielberufene „ruhige“ Bürger blieb entweder zu Haufe oder that jelber 
mit, nämlich „demonſtriren“. 

Abends 7- Uhr machte fich eine Abordnung von der Aula nad) 
der Burg auf, wo der Miniſterrath ſaß, um dieſem die „Bolfs- 
wünſche“ kundzuthun. Dieſelben beftanden vorläufig in der Aner- 
kennung und Betätigung des Centralfomits, in der Modifizirung des 
Wahlgeſetzes und der Zurückberufung der Truppen in ihre Quartiere. 
Der Minifterpräfivdent juchte Zeit zu gewinnen, indem er, was freilid) 
unter den gegebenen Umſtänden komiſch genug fich anhörte, eine jehrift- 
(ihe Eingabe verlangte. Den Abjenvlingen dev Deputation währte 
aber das ausbleiben verjelben zu lange. Die Legion trat an und 
rückte, Gewehr im Arm und mit aufgeſtecktem Bajonnett, auf den Hof 
und auf die Freiung, um fih den Beiherd der Minifter jelber zu 
holen. Berrohliche Gerüchte flogen ihr voran und hintendrein. Schon 
jeten die Arbeiter in den Vorftädten in Bewegung, um ihren „Aula- 


Ein König geftrammt und ein Kaifer entführt. 163 


brüdern“ zur Hilfe zu eilen; in der Brigittenan ftänden fie zur tauſen— 
den geihart. Da und dort flammte grelles Fadellicht in den Straßen 
auf, anderwärts jah man Anſchickungen zum Barrifadenbau. Sclot- 
termaier wollten jogar gehört haben, dag „Hoc die Republik!“ ge— 
rufen worden jet, und trugen das Schredenswort in die Hofburg. 

Dort grafjirte in den Vorzimmern und in den Gemächern der 
faijerlichen Familie dieſelbe Rath- und Thatloſigkeit wie zwer Monate 
früher in der Nacht vom 14. auf ven 15. März. Auch jetzo wieder 
ganz dafjelbe zwedloje reden und rennen, dafjelbe reſultatloſe zap- 
pen, zetern und zittern dev Hofleute. Einer rieth dieſes an, ein 
anderer jenes ab; eine ſchalt ven armen Pillersporff einen Verräther, 
eine andere brachte den Plan einer kleinen Palaſtrevolution auf's 
Tapet: die Abdankung des Kaiſers zu Gunſten ſeines Bruders, wozu 
jedoch eine dritte halblaut den Spottſenf gab: „Da wäre viel ge— 
wonnen, wahrhaftig!" Auch das Wort „Flucht“ wurde geraunt, 
fiel aber in dem Wortſtaubwirbel vorderhand wirkungslos zu Boden 
— vorderhand. Natürlich kam bei alledem nichts heraus, nicht ein— 
mal ein geſcheides Wort, geſchweige eine tüchtige That. 

Drüben im Berathungszimmer des Miniſteriums dieſelbe troſt— 
loſe Geſchichte. Sollte man nachgeben? Wollte man widerſtehen? 
Freilich wollte man das, aber womit? Quomodo? quibus auxiliis? 
„Excellenz“ — jagt der Herr Minifterpräfident zum Ktriegsminifter 
— „Ihre Meinung iſt die entſcheidende. Was, rarhen Sie, ift zu 
thun?“ Der Herr Nriegsminifter beſinnt ſich eine Weile, dann zuckt 
er die Achjeln und erwidert: „Excellenz, Sie wifjen, dat Wien von 
Truppen entblößt tft und warum. Ih babe nicht Leute genug, um 
einen Strapenfampf rifiren zu fünnen; um jo weniger, als vie 
etlihen Bataillone, die zur Hand, nicht einmal alle zuwerläjfig find. 
Ein ungarisches Grenadierbataillon hat heute geradezu verlangt, nad) 
Ungarn heimgejandt zu werden; eim anderes hat jich eimer über 
dafjelbe verhängten Dilciplinaritrafe widerſetzt“. Darauf allgemeines 
Achſelzucken, welches einer der Herren in die Worte überſetzte: „Wir 


an 


können nichts thun als nachgeben. Das Volk ift auf dem Burgplatz, 
11° 


164 Die Berwidelung, IV. 


es ift in den Höfen, es ift Schon in den Korridoren und Vorzimmern. 
Denten Sie an die Sicherheit Sr. Majeſtät des Kaiſers und Der 
kaiſerlichen Familie. Wir haben wahrlich feine Zeit zu verlieren“. 
„Wahr — warf ein Stollege des Sprechers ein — aber bedenken Sie 
doch, dieje unſeligen Menjchen verlangen ja nichts geringeres, als daß 
wir ımfer eigenes Werk, die Aprilverfaffung ſammt Zubehör, ver- 
nichten follen. Ihre Forderungen haben fid) von Stunde zu Stunde, 
faft won Minute zu Minute gefteigert. Wie und wo joll das alles 
enden?” — „Ja, wer das wüßte — gab der Minijterpräfivent zur 
Antwort — der dürfte ſich einen klugen Mann nennen. Uebrigens 
hat ja neulich einer, der auch nicht zur den dummen gehören joll, in 
Berlin gejagt, im Zeiten der Bewegung müſſe man der Bewegung 
immer um eme Stunde woraus fein. Verſuchen wir es einmal 
damit”. 

Wenn wirklich, wie berichtet wird, Herr von Pillersdorff dieje 
Schlußnahme mit einem „matten Lächeln“ begleitet bat, jo gehörte 
dieſes Lächeln ficherlich nicht in die Kategorie des frivolen, jondern in 
die des krampfhaft ſchmerzlichen, des ſardoniſchen. Der arme Freiherr 
war mit feinem Witz wie mit feinen phyſiſchen Kräften zu Ende. Cr 
wuſſte nichts mehr zu thun als mit zitternden Händen em Blatt Pa- 
pier — die binnen wenigen Minuten redigirten Gewährungen des 
Minifteriums — in die wildeinherbrauſenden Wogen der Ereigniſſe 
zu Schleudern und mochte dabei venfen: Ein Stüc Papier mehr oder 
weniger, was hat das zu bedeuten in ſolcher Zeit ? 

Aber trüb- und drangialwolle Augenblide hatte der Herr Mi— 
nifterpräfident zu beftehen, als er gegen Mitternacht zu das mit Herren 
und Damen vollgeftopfte Borzimmer zum faijerlichen Kabinett durch— 
Schritt, am fich fin Das erwähnte neueſte Blatt Papier des guten Bo— 
tanifers Ferdinand Sanftion und Unterfchrift zu holen. Die Hoflente 
Legen ihren rath- ımd thatlofen Grimm an dem Minifter aus. Von 
allen Seiten her flogen ihm mehr over weniger laut ausgeſtoßene Be- 
ſchuldigungen und Beihimpfungen ins Geficht. Aus dem Munde von 
Herren und Damen — die letsteren geiferten und zeterten nad) Art 


Ein König geftrammt und ein Kaifer entführt. 165 


erboi’ter Angehöriger des ſchöneren und zarteren Gejchlechtes am 
ärgſten — mußte er Süßigkeiten wie „Schlechter Rath!“ — „Auf- 
wiegler!“ — „Verräther!“ — „Berderber des Monarchen und der 
Dynaſtie!“ hinnehmen. Gedrängt jedoch won ſeinen beiden Kollegen 
Latour und Doblhoff, ſich zu beeilen, durfte er feine Zeit mit Recht— 
fertigungen verlieren, welche ja doch eitel geweſen wären. Der 
ſouveräne Unverſtand des Vorzimmers iſt gerade ſo unmöglich zu be— 
ſtreiten wie der ſouveräne Unverſtand der Gaſſe. 

Die kaiſerlich-königliche Majeſtät unterſchrieb unverweigerlich 
und möglichſt flink. Das alſo gefertigte Manifeſt, mehrbeſagtes Stück 
Papier, wanderte ſofort in die Staatsdruckerei und etliche Monate 
ſpäter in das Makulatur-Magazin der Weltgeſchichte, welches in Folge 
des „tollen“ Jahres beträchtliche Erweiterungen nöthig hatte und 
erfuhr. Volkshaufen belagerten die Staatsdruckerei, bis das be— 
glückende Aktenſtück um 2 Uhr Morgens richtig gedruckt war. Da— 
mit hatte das Spektakel ein Ende, jedoch nicht ohne den komiſchen 
Epilogſchnörkel, daß der arme, bis zum umfallen müde Pillersdorff 
beim Nachhauſegehen ſich von einem lärmenden Menſchenſchwarm be— 
gleiten und von dem Kneipen-Mirabeau oder Eckſtein-Danton der 
wiener Demokratie, den Sprachlehrer Tauſenau, über freies Staats— 
weſen im allgemeinen und über die konſtitutionellen Bedürfniſſe 
Oeſtreichs im beſonderen unterrichten laſſen muſſte. 


Mit Tagesanbruch wurde das „kaiſerliche“ Manifeſt in der 
Stadt bekannt. Es lautete der Hauptſache nach, daß der Tages— 
befehl vom 13. Mat zurückgenommen ſei, daß von jetzt an die Wacht— 
pojten an den Thoren und an der Burg vom Militär und von der 
Nationalgarde gemeinſam beſetzt werden jollten, jowie daß erjteres 
nur auf Berlangen der letsteren aufgeboten werben ſollte. Weiter- 


166 Die Verwidelung, IV. 


hin hieß es: „Dieſen Beichlüffen fügen Wir noch, um alle übrigen 
Anläffe zu Miffvergnügen und Aufregung zu bejeitigen, bei, daß die 
Berfaffung vom 25. April vorläufig der Berathung des Reichstages 
unterzogen werben joll. Damit die Fejtjtellung der Berfafjung 
durch die Fonftituirende Neihsverfammlung auf die zuverläffigite 
Weiſe bewirkt werde, beſchließen wir ferner, für den erſten Reichstag 
nur eine Kammer wählen zu laſſen, wonach aljo für die Wahlen 
gar fein Cenfus beftehen und jeder Zweifel einer unvollfonmenen 
Bolksvertvetung entfallen wird“. 

Wiederum aljo ein ganzer Sad voll „Errungenjhaften“! Die 
guten Wiener waren im erjten Augenblid über dieſen „Embarras 
de richesses“ ganz verblüfft. Selbſt das Centralfomite jtußte. 
Hof und Minifterium waren ja wahrhaftig der Bewegung um eine 
qute Wegftunde voraus. Die Verblüffung wuchs noch, als Abends 
die amtliche „Wiener Zeitung“ die Nachricht brachte, das Miniftertum 
babe zwar, um den Thron und die Einheit der Monarchie zu vetten, 
dem Kaiſer das Patent vom heutigen Tage angerathen und über— 
nehme die Verantwortlichfeit dafür; aber es fühle fi außer Standes, 
der Krone fernerhin eine Stütze zu fein, habe deſſhalb feinen Rücktritt 
angeboten und werde die Gejchäfte nur noch bis zur Bildung eines 
neuen Kabinetts fortführen. 

Das Centralkomité bewies jett handgreiflich, daß es beileibe 
feine „Commune* und fein „Comits du salut public“. Es be- 
gann dermaßen zu fehlottermaiern, daß fein eigener Präfivent auf 
Selbſtauflöſung antrug, welder Antrag zwar für heute noch ab- 
geworfen, drei Tage jpäter aber zur Thatſache wurde. Dagegen 
beſchloß das Centralfomite mit 100 gegen 10 Stimmen, ein Ver— 
trauensvotum an das Miniftertum zu richten, und eine Petition an 
den Kaiſer, ven Rücktritt des Kabinetts nicht zu genehmigen. Zu— 
gleich wurden allerlei Brimborien zur Entſchuldigung der „Sturm— 
petitton“ vom vorigen Tage vorgebracht, wobei übrigens der Name 
des Komite „miſſbraucht“ worden jet. 

In der Hofburg aber fand man nicht für gut, noch fernerweit 


Ein König geftrammt und ein Kaijer entführt. 167 


der offenfundigen Hilfelofigfeit des Miniſteriums zu vertrauen oder 
gar auf den guten Willen des Centralfomite zu bauen, und faſſte in 
fliegenvder Eile den Entihluß zur Flucht. Sehr begreiflih! So 
begreiflich, daß nur Yeute, welche rechte Brincip- und Barteimänner 
zu jein wähnen, wenn jie ſich jedes jelbitthätigen ſchauens und jedes 
jelbjtitändigen denkens entwöhnen, dieſen Fluchtentſchluß abjonderlich 
oder gar verwerflic finden fünnen. Es iſt ſchlechterdings nicht be— 
wieſen, daß die Entführung des Kaiſers durch jeine Umgebung — 
denn daß es Feine jelbitgemwollte Flucht, jondern eben eine Entführung 
geweſen, darüber braucht fein Wort verloren zu werden — auf Grund 
eines tiefangelegten Plans der Rückwärtſerei, der abjolutiftiichen Hof- 
und Pfaffenpartei ins Werk gejetst worden jet, um Damit ven 
revolutionären Gang der Dinge zu lähmen und die gewaltjame 
Reaktion einzuleiten. Im Gegentheil iſt es höchſt wahrjcheinlich, daß 
nur die bare blanke Furcht die Mutter des Gedanfens gemwejen, den 
Kaiſer und die fatjerliche Familie aus den Bedrohlichkeiten der Haupt- 
jtadt hinweg und ins „allzeit getreue“ Tirol zu retten. Dieje Furcht 
der kaiſerlichen Familie und der Hofleute wurde ins maßloje ge— 
jteigert durch Die bevorjtehende theilweife Uebernahme der Burgwache 
jeitens der Nationalgarde, — ein Umjtand, welcher wohl die Er- 
innerung wachrufen fonnte, daß die Bewachung ver Iuilerien 
durd) die Dürgerwehr für Ludwig den Scchszehnten und Marie 
Antoinette mit Gefangenihaft gleichbedeutend gewejen ſei. Endlich 
entwidelte jeit vem 15. Mat die Gaſſen- und Kneipendemagogie 
Wiens eine jolhe Rührigkeit, dag nothwendig die finfterften Gerüchte 
von empöreriihen Planen und mörderiſchen Abjichten in Die Burg 
dringen und den Hof zu raſchem handeln jpornen mußten. Haben 
doch jelbit außerhalb der Burg geübte und unbefangene Beobachter 
in jenen Tagen Merkmale wahrgenommen, welche darauf hinzumeijen 
jhienen, daß die Demofraten, obzwar gegen den Willen der Mehr- 
zahl der Bevölkerung, einen Hauptſchlag zu thun beabfichtigten *). 





) Depeſche Effingers vom 17. Mai: „Es ift fein Zweifel, daß es nad 
dem 15. Mai nur noch eines Schrittes bedarf, um in Wien die Dynaftie 


= Pr. 


168 Die Berwidelung, IV. 


Summa: die Entführung Ferdinands des Erſten hatte nichts von 
dem planmäßigen und ſyſtematiſchen der Ueberſiedelung Friedrid) 
Wilhelms des Vierten nad) Potsdam, was freilich nicht hinderte und 
auch in Wahrheit nicht hindern fonnte, daß man in Wien die Ent- 
führungsidee auf bejtimmte Perſonen zurüdführte und zwar auf Per— 
jonen mit Damenhänden*). 

Am 17. Mat unternahm die faijerliche Familie eine ihrer ge- 
wohnten Spazierfahrten nad Schönbrunn. Dortwurden die Kutſcher 
zu ihrer nicht geringen Ueberraſchung bedeutet, jofort die Straße nad) 
Sanft Pölten einzujchlagen. Bon da ging die Entführungsfahrt 
weiter über Ens, Wels und Salzburg nad Innsbruck. Unterwegs 
wurde ein Kammerherr nad Wien zurückgeſchickt mit der Meldung an 
den Kriegsminifter, daR „der Kaiſer aus Geſundheitsrückſichten zu 
einer Reiſe in die Gebirge Tirols ſich entſchloſſen hätte und die fatjer- 
liche Familie Se. Majeftät nicht allein lafjen wollte“. Deutlicher 
ſchon wurde nad) der glüdlihen Ankunft in Salzburg geſprochen, in 
einer von dem Grafen von Bombelles entworfenen Proflamation, 
worin der 15. Mai verurtheilt und gefagt war: „Unter den Gewalt- 
ſchritten einer ſolchen ungefjetlichen Bewegung beſchloß Se. kaiſerlich— 
königliche Majeftät, nicht länger mehr in ihrer Nefidenz zu weilen, 
und hat ſich nad) Innsbruck begeben“. Hier langte der Entführungs- 
zug am 19. Mai um Mitternacht an. Die allzeit getrenen und 


zu entfegen und die Republik auszurufen. Weder das eine noch das andere 
liegt aber in dem Wunſche der unendlichen Mehrzahl der Bewohner Wiens“. 
S. B. A. 

) Effinger am 20. Mai: „Der Umſtand, daß der Kaiſer feine Willens- 
erklärung zurückließ, bekräftigt die in Wien vorherrſchende Meinung, daß 
die Flucht der kaiſerlichen Familie von der regierenden Kaiſerin und der Erz- 
berzogin Sophie geleitet wurde“. In derjelben Depefche äußert der Ge- 
fandte: „Wäre übrigens am 15. Mai durch Zufall ein Gewehr losgegangen, 
jo hätte ſelbſt die Univerfität nicht vermodht, die Burg vor dem Andrang der 
zur Plünderung und zum Todtihlag aufgeftachelten, auf dem Glaeis zu— 
fammengerotteten Proletarier zu ſchützen“. ©. B. N. 


Ein König geftrammt und ein Kailer entführt. 169 


alaubenseinigen Tiroler ſpannten ihrem „Koaſer“ die Pferde aus 
und zogen jeinen Wagen jubelnd und jodelnd nad) der Burg. Bon 
da an tft dann allerdings die zunächſt mur durch die Angſt diktirte 
Einführung des Schein- und Schattenmonarchen ein reaftionäres 
Kapital geworden. Denn es unterjteht feinem Zweifel, daß während 
des innsbrucker Aufenthaltes des Hofes die rüdwärtjigen Zettelungen 
dejjelben mit den Slaven erniter als bisher betrieben wurden. 

Es müſſen fic doch nod am Abend des 17. Mat dumpfe Ge- 
rüchte von dem geichehenen in der Hauptſtadt Deftreichs verbreitet 
haben. Denn die amtliche Wiener Zeitung fand fi veranlafit, 
denjelben zu widerjprechen und im Drafeltone zu verfündigen: „Des 
Katjers Abreife wäre die Flucht Ludwigs des Sechszehnten, der letste 
Tag des Hierjeins Cr. Majeftät wiirde auch der erfte Tag der Re— 
publif ſein“. Dieſer Artifel erichten am Morgen vom 18. Mai, 
als ſchon an der Flucht des Kaiſers gar fein Zweifel mehr jein 
fonnte. 

Der Orakelſpruch machte aber gräulich Fiaſto. Die Wiener 
waren bei weiten feine Parifer von 1791, welche die Flucht des 
Königs bekanntlich ganz falt gelaffen hatte. Die Republik zu proflamiren 
fiel niemand ein, mit Ausnahme von zwei jimmerlichen Subjekten, 
dem fnirpfigen, budligen, heiſeren Zeitungsichmierer Häfner, eigent- 
{ih Hutmachergejell und dermalen eine ſchlechte Parodie Marats, 
und jeinem ebenbürtigen Kollegen Tuvora. Diefe zwei Lumpe for- 
derten in der Vorſtadt Mariahilf die Arbeiter auf, in vie Stadt zu 
ziehen und die Republik auszurufen; das Volk aber nahm fie beim 
Kragen und wurde — man iftverfucht, zur jagen: leider! — nur mit 
Mühe abgehalten, dieſen Menichenfehricht zu lynchen, wegzuwiſchen. 
Allerdings iſt uns glaubwürdig bezeugt, daß die Beſtürzung der Be- 
völferumg über die Entführung des Kaiſers zunächſt in Beſchimpfungen 
und Verwünſchungen ſich Luft machte, welche ohne eine feine Wahl 
der Worte auf die geſammte Dynaftie geichleudert wurden. Allein 
das höchſte, wozu angefichts der Bürgerihaft Bewegungsleute un- 
gehindert und ungeftraft fich verfteigen fonnten, war der Ruf nad) 


170 Die Derwidelung, IV. 
Einſetzung einer proviſoriſchen Regierung mit dem Erzherzog Johann 
an der Spite. Im übrigen verhinderte die feite Haltung der Stu- 
denten und der Nationalgarven die Krakehlokratie, weiter ſich maufig 
zu machen *). 

Und dann ſchlug die Stimmung der großen Mehrzahl ver Bürger- 
haft ganz entſchieden ins ımterthänige um. Wie vorher blind ins 
blaue hinein frawallt worden war, jo wurde jet ſchäfig ins ſchwarz— 
gelbe hinein zu Kreuze gefrohen. Die Freiheitsmaffe fiel und die 
„gemüthliche“ Philiſterei, fiir welche die „kaiſerloſe, die ſchreckliche 
Zeit” mit dem Weltuntergange gleichbedeutend war, fam voll und 
ganz zum Vorſchein. Das Gentralfomite, welches jo viel Lärm ver- 
urſacht hatte, fiel vem loyalen Unwillen zum Opfer: es muſſte ſich 
auflöfen. Wenig auch fehlte, daß es der afademijchen Legion ebenjo 
ergangen wäre. Es gehört mit zu ven tollſten Unbegreiflichfeiten 
des „tollen“ Jahres, daß die wiener Bürgerſchaft ausdrücklich für 
das fortbejtehen der Legion eintrat, ausprüdlic dafiir eintrat und 
ven fortbejtand erwirkte in derſelben Zeit, wo fie jelber in ihrer 
Mehrzahl ver Bewegung ven Rücken fehrte, um ſich als „gut Faifer- 
lich“ aufzujpielen. i 

Denn jo that fie. Der beihränfte Unterthanenverſtand offen- 
barte fih auch in der Donauſtadt in feiner ganzen Länge und Breite. 
Dem Ruheheuler zur Seite zeterte der Ordnungsfanatiker. „Alle 
Welt patronillirte und wachte und jpielte Polizei und — wechjelte in 
der Bank die Papiernoten um“. Alle Welt, auch die weibliche, ent- 
ſandte Deputationen nach Innsbrud, Die Rückkehr des Kaiſers zu er— 

*) Depeche Effingers vom 18. Mai: „Heute früh durchlief die uner- 
wartete Nachricht die Stadt, daß der Kaifer Wien verlafen babe. Die Be- 
ſtürzung war allgemein. Man börte auf den Straßen Berwinihungen gegen 
das gefammte Kaiferbaus ausftoßen und mußte auf die ärgſten Scenen der 
Unordnung gefaſſt fein. Indeſſen verhinderte die fefte Haltung der Studen- 
ten und Nationalgarden einen Ausbrud. Jedoch haben mehrere Berjuche 
ftattgefunden, durch Maueranſchläge und Rufe eine proviſoriſche Regierung 
mit dem Erzherzog Sobann an der Spige zu proflamiren“. S. B. A. 


Ein König geftrammt und ein Kaijer entführt. 171 


bitten. Fürwahr, es bedurfte vieler Unvernunft and Ungeſchicklichkeit, 
es bedurfte großer Falſchheit, Treulofigfeit und Tüde von jeiten einer 
unverbefjerlichen Namarilla, um eine jo tremmterthänige und leicht- 
zuhandhabende Bevölkerung abermals auf die Bahn der Empörung 
zu drängen. 


v. 


Paulskirchenhiſtorien. 


An demſelben 18. Mai von 1848, welcher in Wien einen re— 
volutionären Kataklysmus herbeiführen fonnte, aber nur dem alt— 
hergebrachten Unterthanenbewuſſtſein zum Wiederdurchbruch verhalf, 
an demſelben Maitage ging Mittags um 3 Uhr zu Frankfurt am 
Main ein Schauſpiel in Scene, auf welches die Augen von Millionen 
begeiſtert und hoffend gerichtet waren als auf eine der größten That— 
ſachen des Jahrhunderts: — die Eröffnung des erſten deutſchen 
Parlaments. 

Heute ſpricht man von dieſem Parlament nur noch als von 
einem der größten Schwindel des 19. Jahrhunderts, als von einem 
Schwindel, der unter dem begeiſterten zujauchzen der Nation mit 
Trompeten und Pauken anhob, um nad) Jahresfriſt ſang- und klang— 
und ruhmlos zu enden, unter der vollendeten Theilnahmeloſigkeit der— 
ſelben urtheilsloſen Menge, deſſelben gebildeten und ungebildeten 
Pöbels, welche und welcher 13 Monate zuvor der beginnenden 
„Reichsverſammlung“ zugejubelt hatten. 

Natürlich! Das Parlament hatte ja keinen Erfolg. Damit 
iſt ihm, wie die Moral unſerer beſten der Welten — die wirkliche, 
nicht die Katechismus-Moral — nun einmal beſchaffen, das Ver— 
dammungsurtheil geſprochen und die Frage überhaupt abgethan. 


Paulskirchenhiſtorien. 173 


„Le succes justifie tout“, hat Napoleon dekretirt. Folglich iſt 
der Nichterfolg abjolut verdammlich, gibt die Welt zur Antwort. 
Zum Henker alfo mit dem deutſchen Parlament! Laſſt es weggewijcht 
jein aus unferer Erinnerung! 

Närriiche „Ideologen“ indefjen, welche die „unpraktiſche“ Ge— 
wohnheit haben, dem warum des warum nachzugrübelt, geben ſich 
damit noch nicht zufrieden, jondern meinen: Das Parlament fonnte 
feinen Erfolg haben, weil es ein hölzernes Eifen, ein Meſſer ohne 
Stiel, dem die Klinge fehlte, ein Widerſpruch in ſich jelbit geweſen 
tt. Es fonnte feinen Erfolg haben, nicht allein um der Art und 
Weiſe feines worgehens oder nichtuorgehens willen, ſondern icon 
jeiner Zuſammenſetzung wegen. 

Zwei Wege lagen vor dem Parlament, der eine nach linkshin, 
der andere rechtswärts führend. Es konnte eritens verſuchen, 
Konvent zu jptelen, die auf der Sandbanf der Halbheit fiten ge— 
biiebene deutſche Nevolution wieder flott und zu einer ganzen zu 
machen, alle vorwärts treibenden und drängenden Kräfte um fich zu 
verfammeln, alles einzujegen, um alles zu gewinnen, und in einem 
Anlauf auf Yerb und Leben das größte, die volksmäßige Wieder- 
geburt Deutſchlands, zu erreichen. Ein ausgeſprochener Feind 
und Hafjer der Deutſchen, der Czechenhäuptling Palacky, batte ven 
Nagel auf ven Kopf getroffen, als er in feinem berühmten Schreiben 
an den Fünfzigerausſchuß jagte: „Alle Projekte zu einer Neorgani- 
jirung Deutihlands auf Grundlage des Volfswillens find unaus- 
führbar und in die Länge unhaltbar, wenn Sie fi nicht zur einem 
echten Kaiſerſchnitte entſchließen, zur Proflamirung einer deutſchen 
Republik. Alle verſuchten Vorſchriften von Theilung der Gewalt 
zwiſchen halbſouveränen Fürſten und dem ſouveränen Volke erinnern 
an die Theorieen ver Phalanftere, die gleichfalls von dem Grundſatze 
ausgehen, die betheiligten werden wie Ziffern in einem Rechen— 
erempel jic verhalten und feine andere Geltung in Anſpruch nehmen, 
als welche die Theorie ihnen anweiſ't“. Denkt man fich dieſe Worte 
Palacky's nun an die Mehrheit ver ventichen Nattonalverfammlung 


174 Die Berwicelung, V. 


gerichtet, jo flingen fie wie ein jchnetvender Hohn. Denn dieſe Mehr- 
heit beftand ja aus Tiberalen, geradezu aus der Blüthe des deutſchen 
Liberalismus, und diefem einen jolhen „echten Kaiſerſchnitt“ zuzu— 
muthen, würde ungeheuer naiv geweſen fein, falls es nicht jo diabo— 
liſch gewejen wire. 

Oder das Barlament muſſte — mafen ihm jein liberales 
Mittelmäßigkeitsweſen alles nad) linkshin liegende große wagen ver- 
wehrte — zweitens offen und ehrlid) und von vornherein den Weg 
nach rechtshin einichlagen, d. h. es muſſte das ſchnöde Fofettiren mit 
der Volksſouveränität aufgeben, die Gleichberechtigung von Fürſten 
und Volk anerkennen und demnach ſein ganzes Werk, die Schaffung 
einer Bundesſtaatsverfaſſung für Deutſchland, auf die Baſis einer 
Vereinbarung zwiſchen den Regierungen und ihm ſtellen. Dieſer 
Weg war ja, nachdem die Maſſe des Volkes die Niederwerfung der 
republikaniſchen Schilderhebung in Baden thatlos mitangeſehen und 
in ſeinem ſtumpfen Unverſtande ſogar beklatſcht hatte, ſchon noch der 
einzig mögliche. Um ſo mehr, als die beiden deutſchen Großſtaaten 
deutlich erklärt hatten, ſie wollten denſelben eingehalten wiſſen, und 
mit mathematiſcher Beſtimmtheit vorauszuſehen war, daß ſämmtliche 
Mittel-, Klein- und Kleinſtfürſten, bis zum Herzog von Miniatur— 
lingen und bis zum Fürſten von Hahnenſchrittheim herab, ſobald 
ihnen der Kamm wieder hinlänglich gewachſen wäre, dem Vorgange 
Oeſtreichs und Preußens nachfolgen würden. 

Trotz alledem tiftelte und doktrinariſirte der durch die Parla— 
mentsmehrheit vertretene liberale Dünkel an der Auffindung eines 
angeblich zwiſchen links und rechts liegenden Mittelweges herum, 
welcher gar nicht vorhanden war, ſondern eben nur in der Einbildung 
verhockter Kathedrarier exiſtirte. Daraus entſprang ein halbes 
wollen und ein ganzes nichtkönnen, daraus ein anmaßliches hin— 
wegſehen über die realen Berhältniffe und im nächjten Augenblicke 
wieder ein feiges zurückbeben wor einem Zuſammenſtoß mit deu— 
jelben, daraus eine Barteiverbohrtheit, welche fi im Alleinbefite 
aller Weisheit wähnte, mit doftrinärem Hochmuth auf anderspenfende 


Paulskirchenhiſtorien. 175 


herabſah, und doch ſofort treugehorſam erſterbend auf dem Bauche 
lag, ſobald die Machthaber, welche man im Spinnwebnetz einer 
lächerlichen Theorie gefangen zu halten glaubte, den Drohfinger 
hoben. 

Dieſe Halbheit und Heuchelei, dieſes tifteln und taſten, dieſes 
fliegen und kriechen, kurz, dieſer Liberalismus hat zweifelsohne 
das jämmerliche Miſſlingen des erſten deutſchen Parlaments in erſter 
Linie verſchuldet. 

Was die demokratiſche Minderheit der Verſammlung angeht, 
die „rohe“ Linke, wie die liberalen Beſt- und Biedermaier ſie ſchal— 
ten, ſo muß ihr ohne Frage das Verdienſt zuerkannt werden, den 
Kreis des Blödſinns, in welchem die Mehrheit ſich herumdrehte wie 
ein Affe in einer Drille, ſogleich erkannt und aufgedeckt zu haben. 
Aber auch die demokratiſche Minderheit hatte ihren Cirkulus vitioſus: 
— das vom Vorparlamente herübergekommene faule Kompromiß 
zwiſchen Legalität und Illegalität. Dieſes Kompromiß hat der 
Linken ihre beſten Lebensſäfte ausgeſogen; um ſo mehr, als, was von 
geſunder Thatkraft in ihr war, durch die in der Paulskirche graſſirende 
„Staatsmänniſchkeit“ ebenfalls bedenklich genug angekränkelt wurde. 
Die große Sünde der Linken ſodann iſt geweſen, daß ſie, auch nach— 
dem die gänzliche Fruchtloſigkeit des paulskirchlichen Nationalſchwatzes 
für jeden einſichtigen handgreiflich geworden, dennoch fortfuhr, den— 
ſelben mitzuſchwatzen, ſtatt mittels maſſenhaften Austritts wenigſtens 
dem Volke die klägliche Parlamentspoſſe zeitig zu verleiden. 

Freilich, es lebte ſich gar ſo angenehm in der gemüthlichen 
Mainſtadt. Wie viele alte Kneipbruderſchaften ließen ſich da er— 
neuern, wie viele neue ſchließen! Auf dieſem Gebiete konnte man 
ſogar mit der „Rechten“ internationale Beziehungen anknüpfen, ob— 
zwar keine dauerhaften. Denn wo drei Deutſche zuſammenſtehen, 
haben fie ſicherlich vier Meinungen. Sp aber einer von ihnen ſagt: 
Kommt, lafjt uns fneipen gehen! werdet ihr fie auf der Stelle einig 
werden und einig bleiben jehen, nämlich jo lange, Bis fie ven erften 
Schoppen hinter ſich Haben. Sodann war es für die jüngeren und 


176 Die Verwidelung, V. 


ſelbſt fir ältere Herren von der Linken auch nicht bitter, als große 
Freiheitsreoner fi) bewundern zu laffen von den mehr oder weniger 
ihönen Müſſiggängerinnen, welde die Damengalerie anfüllten und 
für die es gejunder geweſen wäre, wenn jie daheim ihre Hausfrauen- 
und Mutterpflichten erfüllt hätten, jtatt in der Paulskirche zu gaffen 
und fich begaffen zu lafjen, auf das erfüllt werde, was der alte, gewiß 
nicht ungalante Ovidius vorahnend von ihnen gejungen: — 
„Spectatum eunt, ut spectentur et ipsae*. 

Fa, als gute Hausfrauen und verjtändige Mütter hätten fie ſicherlich 
mehr für das Vaterland zu thun vermocht, denn als „Parlaments- 
fliegen“, und würde ihnen folche zwar weniger glänzende, aber deſto 
mehr frommende Thätigkeit immerhin nod Zeit genug übriggelaffen 
haben, dann und wann über des nachdenfens werthe Dinge nachzu— 
venfen, z. B. dariiber, ob es fürdentiche „Patriotinnen” auch ſchicklich 
jet, jede Geſchmack- oder Schamlofigfeit, jede Frivolität oder Bar- 
barei, welche das nächſte befte, d. h. jchlechtefte parifer Modemenſch 
aushect, als ein unverbrüchliches Gebot anzuerkennen und zu befolgen. 
Sicherlich gehört es mit zur den widerlichiten Erſcheinungen der 2. 
Hälfte des 19. Jahrhunderts, daß Weiber, ſolche Weiber, welche 
ſich niemals über die Intellefts-, Bildungs und Thätigkeitsſtufe einer 
Aeffin erhoben haben, über die ſchwierigſten Probleme und wichtigften 
Angelegenheiten mitjprechen wollen. Ihr könnt darauf ſchwören, daß 
das Kontingent der Weiber, welche ſich unberufener Weiſe in bie 
Deffentlihkeit drängen, entweder aus häſſlichen und hyſteriſchen alten 
Jungfern — denen es aus phyſiologiſchen Gründen verziehen jein 
mag — oder aus jaloppen Hausfrauen und pflichtvergeffenen Müttern 
beitehe, deren Haushaltshiiher — wenn fie überhaupt welche führen — 
in Unordnung, deren Stuben, Küchen, Speifefammern und Weifzeug- 
ichränfe im Tobuwabohu-Zuſtand, deren Modiſtinnenrechnungen 
groß, aber ımbezahlt ımd deren Kinder phyſiſch und moraliſch un— 
gewaſchen find. 


Paulskirchenhiſtorien. 177 


2. 


Die Wahlen für das Parlament waren in die Zeit gefallen, 
wo nad Nieverwerfung des Heder-Putjches der Liberalismus in 
Südweſtdeutſchland das große Wort unwiderſprochen führte. Trotz— 
dem jandte das jüdweitlihe Deutſchland neben ven Wortführern des 
Liberalismus eine jehr erfledlihe Anzahl von Demokraten nad) 
Frankfurt und die demokratiſche Abordnung des Südweſtens wurde 
verftärkt durch zahlreihe Wahlen in Sachjen, Thüringen, Deutſch— 
Deftreih, in Rheinpreußen und durch ſporadiſche im deutſchen Nor— 
den und Oſten. Der parlamentariſche Haupthaufe, in den Centren 
geſchart, diente jedoch, wie ſchon erwähnt, unter der liberalen Fahne 
und ſchob ſeine Außenpoſten in ſpärlicher Zahl nach links vor, in 
beträchtlicher zur Rechten hinüber. Denn dehnbarerer Kautſchuk als 
der liberale iſt bekanntlich nie gewachſen. Die bläſſlichſte Verſchim— 
merung des Liberalismus und Deutſchpatriotismus ins junkerlich— 
parlamentariſche und ins myſtiſch-abſolutiſtiſche repräſentirten auf 
der Rechten als typiſche Figuren einerſeits der Herr von Vincke und 
andererſeits der Herr von Radowitz. Im übrigen fanden ſich auf 
der Rechten öſtreichiſche und preußiſche Mandarinen vom ſchwarz— 
gelben und vom ſchwarzweißen Knopfe, katholiſche und proteſtantiſche 
Jeſuiten von der langen und von der kurzen Robe, brutale Säbel— 
raſſeler und giftige Korpusjurisdeuteler, grunzende Ultramontane und 
winſelnde Pietiſten brüderlich zuſammen. 

Die deutſche Pietät war bei den Wahlen ebenſo augenſcheinlich 
als unpolitiſch zum Vorſchein gekommen. Die Wähler hatten ja die 
nationale Notabilitäten- und Raritätenkammer ſo ziemlich geleert, um 
den ganzen Inhalt nad Frankfurt zu ſchicken. Daß es dort der 
Männer, der handelnden Männer, nicht aber der wohlmeinenvden 
Greife und jelbitgefälligen Invaliden bedurfte, war ja Nebenſache. 
Einen frifchen Kranz hat ſich aber ein einziger der berühmten Grau— 
föpfe in der Paulsfirhe geholt: Ludwig Uhland, neben welchem als 


Ehrengreiſe mit jugendfriichen Herzen und von unentwegbarer Volks— 
Scherr, 1848. 2. Aufl. LI. 12 


178 Die Verwidelung, V. 


mannheit nur nod) Ieitein aus Baden, Scott aus Schwaben und 
Mohr aus Heflen genannt zu werben verdienen. Es war unfäglic 
unerquicklich anzufehen, wie der „Vater“ Jahn mit feinem ſchmutzigen 
Hemdfragen ſchönthat und wie „Vater“ Arndt mit jenem „Weiß— 
fopf“ fofettirte. Als der letstere in der zweiten Situng des Parla— 
ments das plattejte, konfuſeſte Zeug von der Nepnerbühne herunter- 
plaufchte, ging ein unwilliges erjtaunen durch Die ganze Ber- 
jammlung und man mufjte diefelbe, um eine unliebjame Demon- 
ftration zu verhindern, daran mahnen, der Sprecher jet der Mann, 
welcher das deutiche „Vaterlandslied“ — ein ebenjo langes als lang- 
weiliges Ding übrigens — gedichtet habe. Ach, es ift ein Jammer, 
wenn die Menjchen nicht merken, daß ihre Zeit vorüber und daß 
man, jo man aud in alten und älteften Tagen ſich noch gedrungen 
fühlt, etwas für das Baterland zu thun, am beften thut, für das 
Baterland zu ſchweigen. 

Es waren in der deutihen Nationalverfammlung jo ziemlich 
alle Ständes, Bermögens- und Berufsklaſſen vertreten. Cs gab da 
Fürſten und Handwerker, Milltionäre und Habenichtje, Fabrifanten, 
Kaufleute und Yandwirthe, Offiziere und Beamte, Prälaten, Stadt- 
und Dorfpfarrer, Yiteraten, Advofaten und 118 Profefjoren — — 


Schauder! 
Schauder! ſagten und ſagen die, ſo da ſaßen und ſitzen auf den 
Sitzen der Spötter — 118 deutſche Profeſſoren, unusquisque ca- 


thedram suam posteriori affixam secum portans . . . Schauder! 
zum drittenmal. Das hindert aber nicht, den Spöttern ins Geſicht 
die Thatſache zu behaupten, daß kaum jemals eine parlamentariſche 
Verſammlung ſo viel Geiſt und Wiſſen in ſich vereinigt habe wie 
dieſes erſte deutſche Parlament, und zwar in ſich vereinigt habe we— 
ſentlich durch die Anweſenheit der ſchauderhaften 118 Profeſſoren. 
Es könnte auch nur einem Parteiſimpliciſſimus einfallen, zu glauben 
und glauben machen zu wollen, daß dieſe 118 Profeſſoren in ihrer 
Mehrzahl oder auch nur in ihrer Minderheit mit unlauteren Abſich— 
ten nach Frankfurt gekommen ſeien. Kann doch nicht ein Schatten 


Paulskirchenhiſtorien. 179 


von Zweifel daran aufkommen, daß — um die am meiſten typiſch 
gewordene Erſcheinung des paulskirchlichen Profeſſorenthums namhaft 
zu machen — ein Dahlmann in jeder Fiber ſeiner Seele ein Sohn 
ſeines Vaterlandes und ein Freund ſeines Volkes geweſen iſt. 

Und dennoch, trotz alledem und alledieſem, würde es nicht nur 
kein Schaden, ſondern vielmehr ein Glück geweſen ſein, wenn die 
ſämmtlichen 118 Profeſſoren des Parlaments zu Hauſe und ihren 
wiſſenſchaftlichen Forſchungen und Arbeiten getreu geblieben wären. 
Denn um die Aufgabe mitlöſen zu helfen, zu deren Löſung ſie von 
ihren Wählern berufen waren, fehlte ihnen — eine verſchwindend 
kleine Minderzahl kann nicht in Betracht kommen — nicht viel we— 
niger als alles: Unbeugſamkeit nach oben und perſönlicher Opfer— 
muth, Kenntniß der Anſchauungen, Gefühle und Bedürfniſſe des 
Bolfes, Verſtändniß für das ungeheure Miffverhältnig zwtichen ihrem 
politifchen Syſtem und der volfswirthichaftlihen Praxis, endlid das 
praftiihe Gejchid, das wejentlihe vom zufälligen, das nothwendige 
vom willfürlichen zu ſcheiden. Sie find übrigens für alle ihre 
Mängel und Mijigriffe perjönlid kaum oder gar nicht verantwort- 
ich. Dieſe Mängel und Miſſgriffe entfloifen ihrer vom Liberalismus 
durchfreſſenen Doftrin und ihrer Yebensftellung. Der deutſche Ge- 
lehrte tft in der Kegel von Haus aus arın und hat in der Kegel einen 
mühjamen, mit Dijteln bepflanzten und mit Dornen betreuten Weg 
zurüdzulegen, bevor er mit ſchon entſchwundenem Jugendmuthe zu 
einer geficherten Yebensftellung gelangt. Dann heiratet er und zeugt 
als zärtliher Gatte in ver Kegel eine erfleliche Anzahl von Kin- 
dern, welde „ſtandesgemäß“ erzogen jein wollen. Davon, daß die 
liebenswürdigen Gelehrtenfrauen in der Negel der Meinung find, 
Frau Hofräthin oder Frau Geheimräthin Klänge jchöner als Frau 
Profefjorin, jet gar nicht geſprochen, obzwar dieſer kleine Umſtand, 
wie böje Zungen meinen, mitunter ein ziemlich großer jein dürfte. 


Soll nun aber in demſelben Deutichland, wo — zur Schande der 
Nation jei es gejagt! — die geijtige Arbeit, falls fie nicht vom 


Staate beſoldet wird, von allen Arbeiten verhältnißmäßig die undanf- 


3» 


180 Die Berwidelung, V. 


barjte und uneinträglichſte ift, der mühjälig in eine geficherte Stel- 
lung, zu Amt und Würden gefommene Gelehrte, falls feine oder 
jeiner Partei Principien mit dem wollen und thun der Negierungen 
in Konflikt kommen, Stellung, Amt und Würden, das Behagen der 
Familie und die Zukunft feiner Kinder ohne weiteres auf’s Spiel 
jeten und preisgeben ? Wie hätte er fi) denn auf feiner Yaufbahn, 
auf einer deutſchen Gelehrtenlaufbahn die hierzu nöthige Mannhaf- 
tigfeit und eine allen Prüfungen gewachjene Charakterftärfe aneignen 
fönnen? Der deutjche Philiſter, jelbjt zugegeben, daß ſich ihm der 
Dünkel mander Katheprarier und ihre Einbildung, alles allein zu 
wiſſen, das allesbefjerwifienwollen oft unangenehm genug fühlbar 
machen mögen, nein, er hat wahrlid) nicht einen Schatten von Recht, 
von gelehrter Charafterlofigfeit und profefiorlihen Servilismus zu 
reden. Das ganze deutſche Bolf hat fein Recht dazu, denn es jelber 
ſoll Charafterfraft und Opfermuth im großen ert nod) erwetfen. 


Am 18. Dat verfammelten ſich zur 3. Mittagsjtunde im 
Kaiſerſale des Römers in Frankfurt die bislang dort eingetroffenen 
Mitglieder der Nationalverfammlung, 330 an der Zahl, melde 
Zahl aber ſchon nad) Verfluß einer Woche auf nahezu 550 gejtiegen 
war. Der greife Schott, ein jo braver Mann, als jemals einer in 
ſchwäbiſchen Schuhen ſtand, leitete die Ausmittelung eines Alters- 
präfiventen, und da der 73jährige Baier Behr, das gebrochene Opfer 
des „teutihen“ Kımftfönigs und Yola-Sängers Yudwig, die Ehre des 
Vorſitzes ausſchlug, wurde diejelbe dem 7Ojährigen Hannoveraner 
Lang zuerfannt. Unter feiner Führung zogen dann die Abgeordneten 
entblößten Hauptes vom Römer über den Römerberg und die Neue— 
främe zur Paulskirche. 

Der bei jolden Haupt- und Staatsaftionen bräuchliche Apparat 


Paulstirhenbiftorien. 181 


war in Thätigkeit: Glodengeläute, Kanonendonner, Blumenkränze, 
Fahnenſchwenken, Tücherwehen, Vivatſchreien, wie gewöhnlid. Die 
Menge muß Spektakel haben, um zu glauben, daß etwas ungewöhn- 
liches worgehe in der Welt. Unter den tauſenden, die fich zu jener 
Stunde freudevoll und hoffnungsreic auf den Strafen von Frank: 
furt drängten, tft ficher feinem auch nur die entferntefte Ahnung ge- 
fommen, daß alle die ftolzen Hoffnungen dieſes 18. Maitags feine 
andere Erfüllung finden würden als jenen ſchmachbedeckten 18. Juni— 
tag von 1849, wo em „Märzminiſterium“ die legten Eid-, Ehre— 
und Pflichtgetreuen vom deutſchen Parlament in Stuttgart durch 
Lanzenreiter zeriprengen ließ. 

Keine Frage, in dieſem vom Römer zur Paulsficche gehenden 
Zuge ift viel vom bejten vertreten gewejen, wefjen die Nation fic) 
rühmen darf; aber auch viel vom jchlechteften, weſſen fie ſich zu 
Ihämen hat. Zur Stunde wurde jedod) das jchlechte ſicherlich vom 
guten überwogen. Es lag in der Thatſache, daß zum eritenmal, 
jeitdem der deutſche Name exiftirte, Vertreter ver gefammten Na- 
tion, des ganzen Volkes zufammentraten, um die Geſchicke Deutjch- 
lands zu beitimmen, etwas jo erhebendes, daß felbjt gemeine Seelen 
davon ergriffen und emporgetragen werben mufiten. Allerdings kann 
Daran nicht gezweifelt werden, daß die Barlamentsidee von Anfang 
an tieferblidenden Abſolutiſten, Partikulariſten und Hierarchen als 
eine Handhabe erjchten, bei welcher vie deutiche Bewegung zu paden 
und ſachte nad) rückwärts zu drehen jei. Aber bei Eröffnung der 
Keihsverfammlung ift es wohl jelbft den feinften oder verhärtetſten 
Chefs der vaterlandsloſen Römelei, iſt es vielleicht ſogar einem Ket— 
teler nicht eingefallen und ſelbſt ven ſchlaueſten und ſkrupelloſeſten 
Partifulariften und Bevormundungsſyſtemlern, ja vielleicht ſogar 
einem Herrn von Schmerling nicht zu Sinne gekommen, gerade die 
Ihönfte Hoffnung der Nation zu ihrem Verderben ausichlagen zu 
maden. Sobald dann freilich die Verhandlungen im Gange, ſobald 
klar geworden, daß die Mehrheit der Verſammlung ihre Stellung 
und Aufgabe nicht begriff und nicht begreifen mollte, fondern zwiſchen 


182 Die Berwicdelung, V. 


theoretijcher Keckheit und faktiſcher Feigheit, zwiſchen diberreizten 
Machtgelüſten und kläglichen Ohnmachtbekenntniſſen haltlos hin und 
ber ſchwankte, ja dann ging die Rückwärtſerei mit Bewuſſtſein und 
Abſicht daran, in ihrem Sinn und zu ihrem Bortheil die Parla- 
mentsmajchine zu handhaben. 

Sie wuſſte Daraus binnen furzem das zu machen, was man 
im Mühleſpiel eine Zwickmühle nennt. Sie legte nämlich ven Vor— 
jhritt der Bewegung in den Einzelftanten durch das Parlament und 
den Vorſchritt des Parlaments durch die Negierungen der Einzel 
ftanten lahm. Drängte die Demokratie in den Einzelftaaten die Re— 
gierungen, endlich Ernſt zu machen mit den „Errungenſchaften“, 
d. h. das unbrauchbar gewordene Alte durch neue Organiſationen zu 
a jo erklärten die märzmintterlichen Mlarionetten der Reak— 
tion: Das geht nicht; wir müſſen abwarten, bis das VBarlament ven 
Neid en fertig bat, in welchen fich die Verfafjungen 
und Einrichtungen der einzelnen deutjchen Staaten einzufügen haben. 
Drängte dagegen die Demokratie im Parlamente die Mehrheit, den 
Keihsverfaffungsrahmen fertig zu machen, jo hieß es: Ja, leiver 
geht es nicht; Die Negterungen der einzelnen Staaten legen uns zu 
viele Hinderniffe in den Weg. Damit verftrich) Die Zeit und jeder- 
nußlos vergeudete Tag kam den inneren und äußeren Feinden Deutſch— 
lands zu ftatten. Die Zwickmühle arbeitete demnach wortrefflic). 


4. a. 

Die erite Sitzung des Parlaments verlief in Feige der ans 
ſchwachen Unbeholfenheit des Vorſitzenden jo wirrfälig, daß fie an 
eine franffurter Judenſchule alten Stils over an polntjche Reichstage 
erinnerte. Man darf jedoch dieſes auch ſpäter häufig genug tumul— 
tuariſch ſich gebarende parlamentiren nicht allzu ſtrenge beurtheilen. 

Hätte etwa der parlamentariſche Schick und Takt plötzlich vom Him— 


* 


f 


Paulskirchenhiſtorien. 183 


mel in die Paulskirche herabfallen oder woher hätte er denn ſonſt 
kommen ſollen? Auch hatten ja die armen Deutſchen ſeit etlichen 
Jahrhunderten mit Vorlegeſchlöſſern an den Mäulern herumgehen 
müſſen, was wunders, daß jetzt, nachdem dieſe Schlöſſer entfernt 
waren, jeder ſich gedrungen fühlte, nach Herzensluſt zu ſprechen, zu 
ſingen oder zu pfeifen, wie ihm eben der Schnabel gewachſen war? 

Dem frommen Biſchof Müller von Münſter war der Schnabel 
ſo gewachſen, daß er ſeinen Antrag, vor allem eine kirchliche Feier 
zur Eröffnung der Nationalverſammlung anzuordnen, mit dem Bibel— 
ſpruche begründete: „Wenn der Herr das Haus nicht baut, ſo bauen 
die Bauleute vergebens“. Dem weniger frommen Franz Raveaux 
aus Köln dagegen jo, daR er diefen Antrag bekämpfte mit ven Wor- 
ten: „Auch ich will einen Spruch anführen: — Hilf dir ſelbſt und 
Gott wird dir helfen!" Die Bonrgeifie ift bekanntlich nicht gerade 
fromm, jondern thut nur jo, wenn es ihr etwann in den Kram pafit. 
Die Mehrheit des Parlaments war der Ausdruck der Bonrgesifie: 
fie beflatichte den weniger fronmen der beiden Sprüche und ging 
über den bifchöflichen hinweg. Ein Yoth Unglauben und ein Pfund 
Unfirchlichfeit gehören dod) mit zur „Bildung“, denkt befanntlich 
der Liberalismus. 

Das Bedürfniß einer fefteren Leitung der Verfammlung machte 
jo gebieterijch ſich geltend, daR ſchon am folgenden Tage zur Wahl 
eines wirklichen Präſidenten verjchritten wurde. Cie fiel mit 
305 Stimmen von 397 auf den Freiheren Heinrich von Gagern, 
welcher unter der Hand erklärt hatte, daß er diefer Stellung jeine 
darmheſſiſche Miniſterſchaft zum Opfer bringen wiirde. Der Ge- 
wählte war zur Stunde zweifelsohne nicht allein der angejehenite 
Mann in der Verſammlung, jondern auch ver zum Borjiger geeig- 
netite. Zu jenem Stellvertreter wırrde Herr von Soiron auser- 
koren, deifen Abfall von Nepublifanismus eine Belohnung verdiente, 
Herr von Gagern übernahm jein Amt mit einer Rede, welche hiſto— 
riſch merkwürdig bleibt, weil fie urkundlich darthut erſtens, daß der 
Liberalismus fein unfittliches Spiel mit der Volksſouveränität, welche 


184 Die Verwidelung, V. 


er doc im geheimen ſchon verrathen und verleugnet hatte, öffentlich 
nod immer weiterjpielte, und zweitens, daß der Liberalismus in 
jeiner Unklarheit und Unlogik eine Verquickung und Vermantihung 
des Souveränitätöprineips mit dem Bereinbarungsprineip für möglich 
hielt oder wenigjtens für möglich zu halten vorgab. 

Der Präfident der Nationalverfammlung jagte nämlid am 
Schluſſe jeiner Rede: „Wir haben die größte Aufgabe zu erfüllen. 
Wir jollen eine Verfaſſung Schaffen für Deutſchland, für das ge— 
janımte Neih. Der Beruf und die Vollmacht zu diefer Schaf- 
fung fie liegen in der Souveränitätder Nation. Den Beruf 
und die Vollmacht, diejes Berfafjungsmwerf zu jchaffen, hat die 
Schwierigkeit in unjere Hände gelegt, um nicht zu jagen die Unmög— 
lichkeit, daR es auf anderem Wege zuftandefommen könnte. Die 
Schwierigkeit, eine Berftändigung unter den Regierungen zuftande- 
zubringen, hat das Borparlament richtig worgefühlt und uns den 
Charakter einer fonjtituirenden Verſammlung vindizirt. Deutjch- 
land will Eins fen, ein Neih, regiert vom Willen des 
Bolfes, unter der Mitwirkung aller feiner Gliederungen. Dieje 
Mitwirkung auch den Stantenregierungen zu erwir— 
ken liegt mit in dem Berufe dieſer Verſammlung“. 

Alſo wieder die alte Leier: das Volksſouveränitätsprincip wollen 
wir, aber das Vereinbarungsprincip wollen wir auch. Wenn das 
Volk ſouverän war, wozu bedurften dann bei Schaffung der National— 
verfafjung die Mandatare des Bolfes die Mitwirkung ver „Staaten- 
regierungen”, d. h. der Fürften? Wenn hingegen der Wille des 
Bolfes von dem jo zu jagen Oberwillen ver Fürften abhängig war, 
wie fonnte, durfte, mochte man dann von Bolfsfouveränität ſchwatzen? 
Niemand fonnte den Herrn von Öagern und jeine Adepten für jo ein— 
fültig halten, daß fie im Ernte geglaubt hätten, als „ſtaatsmänniſch“ 
eingejeifte Kameele durd) das Nadelöhr diejes Widerſpruchs jchlüpfen 
zu fünnen. Nein, das glaubten und hofften fie nicht. Aber fie 
wollten vor allem Zeit gewinnen, fie wollten die leisten Wogen der 
Märzflut vollends verlaufen laffen und fie halfen ſich einftweilen mit 


Paulskirchenhiſtorien. 185 


Redensarten. Sie kannten ja die Macht der Phraſe; ſie wuſſten, 
daß die unklarſte, ja die geradezu ſinnloſeſte Phraſe am meiſten Ge— 
walt über die Menſchen gewinnt, wenn man es mittels unaufhör— 
licher Wiederholung glücklich dazu bringt, ſie zu einem Gemeinplatze 
zu machen, der in jedem Munde oder wenigſtens in möglichſt vielen 
iſt. Sie haben es auch wirklich dazu gebracht. Allein ſie hätten 
ſich hüten ſollen, ihre Gegner, die Demokraten, der Wolkenwandelei 
zu bezichtigen. Denn ſo herausgefordert, konnten die Bezichtigten 
nicht anſtehen, ihrem Feinde, dem Liberalismus, im Hinblick auf ſeine 
Zwitterhaftigkeit im allgemeinen und im Hinblick auf den Umſtand 
im beſonderen, daß er einen gar nicht vorhandenen Vermittelungs- 
und Bermantihungsweg in den Wolfen ſuchte, das Citat aus Göthe 
ins Gefiht zu werfen: — 


„Kennt du den Berg und feinen Wolfenfteg ? 
Das Maultbier fucht im Nebel feinen Weg’... 


„Die ehrlichjte Politik ift immer vie beſte“. Auch ſo ein 
Ariom, welches ſtets neu und blank bleibt, weil es in der Putzſtube 
der Moral ungebraucht unter einer Glasglocke liegt. Die Politiker 
aller Parteien weiſen bei Gelegenheit auf das Prunk-Putzſtück hin, 
jeder läſſt es aber, wo es iſt, unter der Glasglode. 

Von jeiten der liberalifirenden Mehrheit der Nationalverſamm— 
{ung wire die ehrlichite und folglich aud die beſte Bolitif unftreitig 
geweſen, wenn jie an die Stelle ver vernebelten und verichwiemelten 
Beitimmung der Kompetenz des Parlaments, wie fie Herr von 
Gagern im jeiner Antrittsrede gab, die flare und beſtimmte gejett 
hätte: Wir können und wollen ohne die Fürften nichts machen. Die 
Throne find aufrecht geblieben ; wir müfjen ung alfo an diefelben an- 
lehnen, ſonſt jtehen wir in der Luft. Demzufolge ift unfere Ber- 


156 Die’ Verwidelung, V. 


ſammlung feine fonjtitwirende, jondern nur eine berathende und 
höchſtens eine mitbejchliefende. Das richtige ijt demnach, die 
hohlbäuchige Phraſe von der Volks- oder Nationalſouveränität ein 
für allemal beifeite zu jtellen und vor allem jo raſch, wie möglich, 
einen feiten Grund- und Unterbau für das deutſche Verfaſſungswerk 
dadurch herzuftellen, daß wir eine beſtimmte Vereinbarung mit den 
Fürjten zum Ausgangspunfte unjerer Berathungen machen. Thum 
wir dies nicht, jo bauen wir nur eine deutiche Nephelofoffygia mehr 
in die Wolfen. 

Sie thaten es aber nicht und das neue Nubikukulien wırrde dann 
richtig fertig gebaut. 

Auch die linfe Seite des Haufes ift von dem Vorwurfe des 
nebelns und ſchwiemelns feinesmegs freizufprechen. Auch die von 
der Linken machten es mitunter wie die von der Rechten, welche des 
Glaubens lebten, ein Stüd Diplomatie, d. h. Unehrlichfeit gehörte 
nothwendig mit zum Gepäde der „Staatsmänniſchkeit“. Die Diplo- 
matte der Linken beſtand aber darin, daß fie fich eritens anftellte, 
als glaubte jie an die Phraſe von der Volfsjouveränität als an eine 
Thatſache, aus welcher die jelbftverjtändlichen Folgerungen zu ziehen 
ſeien; und daß fie zweitens jede ſich Darbietende Gelegenheit ergriff, 
um auf Ummegen zu erreichen, was auf geradem Wege nicht hatte 
erreicht werden können, d. h. die Umfchaffung des Parlaments aus 
einer bloß berathenden Berfammlung in eine handelnde, in einen die 
demofratiiche Neugeftaltung Deutichlands nicht allein dekretirenden, 
jondern auch vollziehenden Konvent, welches hiſtoriſche Wort die 
Sache nun doch einmal am vichtigften bezeichnet. Daher das früh- 
zeitig begonnene und eifrig fortgejette bemühen der Pinfen, bie 
Nationalverfammlung nicht allein zu einer Wortmacht, jondern aud) 
zu einer Thatmacht zu maden, welche ihren Beſchlüſſen ven nöthigen 
materiellen Nachdrud zu geben im ſtande wäre. Natürlich wurden 
alle auf Schaffung eines Parlamentsheeres, auf Organtjirung einer 
wirklichen, nicht bloß gemalten Bolfswehr zielenden Anregungen und 
Strebungen der Pinfen durch die hochnäſige Bornirtheit, duch Die 


Paulskirchenhiſtorien. 187 


Knechtſchaffenheit und Feigheit der liberalen Mehrheit beharrlich ver— 
eitelt. Leute wie Herr von Binde und Konſorten riefen der National— 
verfammlung, jo oft jich dieſelbe zu einem fräftigen vorgehen er- 
mannen wollte, allzeit höhniſch zu: „hr habt ja feine Erefutiv- 
macht!” Gerade die Binde aber und die ganze Bande der mehr oder 
weniger liberalthuenden Herren Bon und Nichtvon fie waren es, 
welche mit wahrem Fanatismus dem Barlamente jede Möglichkeit, 
eine Erefutiomacht zu befommen, benahmen . 

Schon die erjten Sitzungen der ——— gaben den Par— 
teien ausgiebige Veranlaſſung, ihre Kräfte zu meſſen. So, als der 
Bürgerwehroberſt Zitz aus Mainz die blutige Rauferei zur Sprache 
brachte, welche in der genannten Stadt zwiſchen der Bürgerwehr und 
der preußiſchen Beſatzung am 21. Mai ſtattgefunden hatte, und auf 
Reſolutionen antrug, deren Spitzen in erſter Linie gegen den preußiſchen 

Vicegouverneur der Bundesfeſtung und in zweiter gegen den Mili— 
tarismus überhaupt gerichtet waren. Die Mehrheit witterte aus 
dieſen Reſolutionen ſogleich eine erſte Zumuthung, Konvent zu ſpielen, 
heraus und beſchloß den Uebergang zur Tagesordnung. In der 
Debatte trat zum erſtenmal ein Spieler auf die parlamentariſche 
Bühne, welcher von da an als der raufluſtigſte und ſchlagfertigſte 
Heißſporn der Rechten in Sankt Paul viel Lärm gemacht hat, der 
Fürſt Felix von Lichnowſky, zweideutigen Andenkens vom berliner 
— März her — ein Spieler, deſſen Verſchwinden von der Bühne 
des Parlaments und der Welt eine der beklagenswertheſten Epiſoden des 
Jahres 1848 werden ſollte. Nicht um der Perſon des Fürſten willen ® 


) Am ſchonungsloſeſten ift der Fürſt von Lichnowſky nicht etwa won 
feinen demotratiichen Gegnern, jondern von einem Standes- und Gefin- 
nungsgenofjen, vom Herrn Alerander von Sternberg („Erinnerungsblätter“, 
I, 138) beurtheilt worden: — „Wenn man (in Berlin in den erften 40ger 
Sahren) zur Gräfin Hahn kam, fand man immer den unerträglichen Flegel 

r, den Fürften Lichnowſky. Dieſer herumtreibende Fürft war damals 
noch zu feinerlei Bedeutung gelangt, obgleih er auf alle Weife ftrebte, i 
die Mäuler der Leute zu fommen. Zunächſt wufite er dazu fein geeigneteres 


188 Die Berwidelung, V. 


fondern weil jene Ermordung durch eine raſende Pöbelrotte der Rück— 
wärtferet willfommenes Material bot, ein neues und zwar einheimtjches 
Schreckgeſpenſt vor angftphilifterlihen Augen aufzurichten, und weil 
Mord unter allen Umpftänden Mord bleibt, d. h. ein ſcheußliches, 
befttaliiches Thun. 

Noch früher als die mainzer Vorfälle debattirt wurden, war 
(am 19. Mat) durch Raveaux eine Frage zur Spradye gebracht wor— 
den, welche ven Schaden, an dem das Parlament von Anfang an 
Fränfelte, nachdruckſam ſchmerzlich berührte, d. h. die Unbeftimmtheit 
und Unficherheit jeiner Stellung, die Unflarheit jeiner Kompetenz, 
die Fiktion won feiner Oberherrlichfeit, welche doch auf Schritt und 
Tritt mit der thatſächlichen Macht des Partikularismus unjanft zu- 
fammenftieß. Raveaux forderte nämlid) einen Beſchluß, daß die 
verichtedenen deutſchen Ständeverfammlungen fi nicht mit einzel- 
ftaatlihen Berfafiungsfragen follten beſchäftigen dürfen, bevor bie 
Nattonalverfammlung das deutſche Verfaſſungswerk zum Abjchluffe 
gebracht hätte. Der obenauf liegende Sinn diejes Antrags war ein 
handgreiflih praftifcher: es jollten dadurch Widerſprüche zwifchen 
der Reichsverfaſſung und den Verfaſſungen der Einzelftaaten von 
vornherein unmöglich gemacht werden. Die Tragweite diejes An— 
trags ging aber noch weiter. Derfelbe wollte nämlich eine feterliche 
Mittel, als auf ſolche Weite unverfhämt und tollpreift frech überall aufzu- 
treten, daß Männer kaum durch ein anderes Organ mit ihm zu werfehren 
wuſſten als durch die Degenſpitze und den Piftolenlauf, Frauen fein anderes 
Mittel kannten, ihn fern zu halten, als ewig verſchloſſene Thüren und ab— 
weifende Diener, die er jedoch über den Haufen rannte und dennoch) eindrang. 
Frech und zügellos in jedem Worte, war er es ebenfo in jeder Miene und 
Bewegung. Alles, was vornehme und nicht vornehme Lafter heißt, hatte er 
jeinem jungen Körper zugemuthet und war dennoch leidlich davongekommen. 
Nicht To gut war es feinem Beutel gegangen ; der war faft bis auf das lette 
Goldftüd geleert und er wurde für feine Gläubiger eine jehr anziehende 
Person. Es fehlte nicht viel, daß er ein gefeffelter Prometheus wurde. Dies 
zu verhindern, trat fpäter die befannte befreiende Gottheit auf” — (ein 
reiches altes Buhlweib namlich). 





Paulsfirhenbiftorien. 189 


Erklärung hervorrufen, kraft welcher das Parlament den Beſchluß 
des Borparlaments: „Die Berathung und Beſchlußnahme über die 
fünftige Verfaſſung Deutſchlands jteht einzig und allein der vom 
Bolfe zu erwählenden Nationalverfammlung zu“ — fürmlid zu dem 
jeinigen machte. Die Yinfe hoffte damit eine fejte Bafis zur Beſei— 
tigung des Vereinbarumngsprincips zu gewinnen, vermochte aber nicht 
durchzudringen. Von der Rechten her rednerten Herr von Binde 
und Genofjen gar von dem „begründeten Bertrauen“, daß ſämmtliche 
deutſche Regierungen ſich berbeilafien würden, die Beſtimmungen der 
PBartifularverfafjungen denen der Nattonalverfafjung unterzuordnen. 
Wie „begründet“ jo ein Bertrauen war, hatte ja die ganze deutjche Ge— 
ihichte gezeigt. Ein ſolches Vertrauen zu predigen war demnach 
knäbiſche Unwiſſenheit oder bewuſſter Verrath. Oder wäre das „be— 
gründete Vertrauen“ des weſtphäliſchen Junkers vielleicht ein drittes 
geweſen, nämlich der erſte an das Princip der „Nationalſouveränität“ 
gerichtete Abſagebrief des preußiſchen Partikularismus? Sehr mög— 
lich, ſehr wahrſcheinlich ſogar; denn der raveaux'ſche Antrag war ja 
mitveranlaſſt worden durch die Schlaumaierei von Kamphauſen und 
Kompagnie, neben der deutſchen in Frankfurt eine preußiiche „National— 
verjammlung“ in Berlin aufzuthun. Die Rechte vermochte indeſſen 
ihren Antrag auf Uebergang zur Tagesordnung ebenfalls nicht durch— 
zubringen. Sie hatte ihre rückwärtſigen Gefühle im allgemeinen 
und die partikulariſtiſch-preußiſchen Junkergelüſte im befonderen durch 
ihre Redner jo unverſchämt fundgeben laſſen, daß die Verſammlung 
den Robert Blum, welcher die Argumente dieſer Redner zu Staub 
zerrieb, mit Beifall überjchüttete. Schließlich wurde dann einer jener 
Bermittelungsanträge, welde nocd niemals einen Pelz gewajchen 
haben, weil jie niemals einen naß zu machen wagten, mit großer 
Mehrheit angenommen, der Antrag: „Die Nationalverfammlung 
erklärt, daß alle Beſtimmungen einzelner deutſcher Berfaffungen, welche 
mit dem von ihr zu grimdenden allgemeinen Verfaſſungswerke nicht 
übereinftimmen, nur nah Maßgabe des letsteren als giltig zu be— 
trachten jind, ihrer bis dahin beitandenen Wirkſamkeit ungeachtet . 


190 Die Berwidelung, V. 


Die Liberalen feierten dieſe Abſtimmung vom 27. Mai Abends 
in ihren Klubbs mit Entforfung vieler Rheinwein- und Champagner- 
flaihen als einen glänzenden Sieg. Mit Net! Die Fiktion von 
der Oberherrlichfeit des Parlaments war ja gerettet und die Welt 
um eine Bhrafe bereichert. Nicht vom Standpunkte beſt- und bieder- 
maieriſcher Staatsmänntjchfeit aus betrachtet, gab das Reſultat diejer 
Debatte freilich feine Beranlaffung zur Flaſchenentkorkung und zu 
anderen Freudebezeugungen, jondern vielmehr zu der Anficht, 
die Paulsfirhe jei nur eine Schwatbude und werde nie etwas 
befieres jein. 

In Wahrheit, diefer 27. Mai hätte müſſen der Tag jein, mo 
das Parlament fin ein jpäter nicht mehr mögliches Entweder — Oder 
feft und energiſch fich entichliegen und beftimmen mufjte. Das Ent- 
weder war, das Bereinbarungsprincip ehrlich zu befennen und offen 
zu proflamiren und demzufolge alles aufzubieten, um wenigſtens mit 
den mächtigjten deutichen Regierungen zu einem ehrlichen und feiten 
Abkommen zu gelangen. Das Oder war, iiber die noch lange nicht 
wieder zu ihrer VBollfraft gelangten Fürften hinweg dem Volke offen 
und redlich die Hand zu bieten, die nationale Bewegung wieder in 
vollen Fluß zu bringen und zu folder Spannfraft zu jteigern, Daß 
fie jeden dynaftiichen und partikulariſtiſchen Widerſtand gegen Das 
deutſche Verfaſſungswerk hinwegzuſchwemmen vermocht hätte. 

Das Parlament in ſeiner Mehrheit war zu liberal, d. h. zu 
dünkelhaft für das Entweder und zu liberal, d. h. zu feige für das 
Oder. Das „Maulthier“ duſelte alſo weiter auf ſeinem Wolkenſteg. 


6. 


Wenn in den Debatten vom 26. und 27. Mai die Parteizer— 
klüftung in der Paulskirche ſchon ihre dunkelſten Schlünde aufgethan 
hatte, ſo ſchloſſen ſich dieſelben vorübergehend wieder während der 


Faulsfirdenhiftorien. 191 


Verhandlung über die Schaffung einer deutſchen Kriegsflotte, deren 
Mangel der Krieg mit Dänemark neuerdings ſo ſchmerzlich fühlbar 
gemacht hatte. Um einen Anfang zu machen, erhob fi die Ver- 
fammlung faft einſtimmig für die vorläufig beantragte VBerwilligung 
von 6 Millionen Thalern. Das Werk wurde dann rüftig an Hand 
genommen und hatte einen erfreulichen Fortgang, um, wie befannt, 
den allerjämmerlichften Ausgang zu finden. Selbſt das neidgrüne 
England wäre nicht auf den graufamen Spott verfallen, die kaum 
gebauten und bewaffneten Kriegsichiffe, von deren Gaffeln zum erjten- 
mal die ſchwarzrothgoldene Flagge wehte, jo zu entehren, wie der 
durch Dejtreic und “Preußen wieder vom Scheintod erwedte Bundes— 
tag fie entehren ließ, indem er fie unter ven Auktionatorhammer des 
Herrn Hannibal Ftiher warf. Daß die Deutihen auch dieſen 
Bubenftreih ruhig hinnahmen, ſchien denn doch unmwiderleglich zu be- 
weiſen, daß gar nichts auszufinnen wäre, was diefes Volk von feiten 
der „angeſtammten“ Machthaber ic) nicht gefallen ließe. 

Nur 5 Tage nad) dem 14. Juni, an weldem vie einmüthige 
Slottenberathung gepflogen worden, flaffte das parlamentarische 
Barteigeflüfte ſchon wieder breit und tief und häſſlich auf, als am 
19. Juni die Schaffung einer proviforischen Bundeserefutive oder, wie 
das Ding benamſet wurde, einer proviſoriſchen Centralgewalt auf die 
Tagesordnung kam. Das Klubbweſen war ſchon fo bejtimmend und 
entiheidend geworden, daß die. Verhandlungen in der Baulsfirche nur 
nod der Wiverhall vorhergegangener ubbvebatten waren. Die 
Linke hatte unter der Yeitung von Blum umd nad) vefjen Ermordung 
unter der Führung von Vogt ihr Hauptquartier im „Deutichen Hof“ 
aufgeihlagen. Cine Auszweigung der Partei, die ſogenannte äuferfte 
Linke, ſaß, erit von Nuge, dann von Ludwig Simon geleitet, im 
„Donnersberg“. Das untericheidende Merkmal ver beiden Fraktionen 
it gemwejen, daß die Deutichhöfler zwar zur Zukunftsrepublik ſich be— 
fannten, für die Gegenwart aber mit der „demokratiſchen Monarchie“ 
— unter welchem mondfalbiichen Staatshegriffe ſich jeder denken oder 
auch nichtvenfen Fonnte, was er mochte — ſich begnügen wollten, 


192 Die Verwickelung, V. 


während dagegen die Donnersberger die Umgeftaltung Deutſchlands 
in eine Föderativrepublik verlangten. in Ableger der Linken nad 
rechtshin, die jogenannte gemäßigte Yinfe, deren Bormänner Raveaux, 
Heinrid Simon und Schoder waren, klubbte in der „Weſtendhall“. 
Wieder mehr rechtswärts neigte der Klubb im „Wirtemberger Hof“, 
in welchem Rieſſer, Robert Mohl, Biedermann, Herman, Giſkra 
und Kichgejiner den Ton angaben. Dieje Fraktion des linken 
Gentrums ging mit der des rechten Gentrums in allen Hauptfragen 
einig und die beiden Gentren mitjammen machten ven Gewalthaufen 
der Mehrheit aus. 

Die Herren von rechten Centrum, deren Klırbblofal das „Kaſino“, 
hatten zum Hauptdoktringeber den durch Stenzel, Droyſen, Wait, 
Bejeler und andere Adjutanten jefundirten jo zu jagen Erz- und 
Oberprofeſſor Dahlmann und zu Hauptmachern Mathy, Bafjermann 
und Jürgens. Das Kaſino war die Geburtsjtätte und blieb Die 
eigentliche Heimat des vielberufenen Reichsprofeſſorenthums, einer 
Species des Genus Homo, von welcher fein Buffon oder Blumenbad) 
fi) etwas hatte träumen laſſen. Der „Reichsprofeſſor“ ijt ein 
zoologiſch erjt noch) zu beſtimmender Zweifüßler. Poetiſch ift er vor- 
läufig bejtimmt oder, waidmänniſch zu reden, fo recht „beitätigt“ *) 
und fein Name iſt eingetragen für allzeit in das „Goldene Bud) von 
Schilda“. 

Die Fraktion des Kaſino, zu welcher ja auch Herr von Schmer— 
ling zählte, ſtand zeitweilig in intimen Beziehungen zum Klubb der 
ſpecifiſchen Rechten, welcher zuerſt im „Hirſchgraben“, dann im 
„Steinernen Haus“, endlich im Kaffee „Milani“ ſaß. Die Orakel— 
ſprecher waren hier Herr von Radowitz und Herr von Vincke, hier 
polterte das preußiſche Junkerthum, hier gaben einander der ſüddeutſche 
Jeſuitismus und der norddeutſche Pietismus den Seraphinenkuß, hier 


*) Und zwar in des leider zu früh in ein amerikaniſches Grab gelegten 
Reinhold Solger’s „Reihsprofeffor”, bei weiten der beften, ja bislang 
der einzigen politiſchen Komödie, welche die deutſche Literatur befikt. 


Paulskirchenhiſtorien. 193 


ging der Ultramontanismus eines Laſaulx mit dem Prozenthum 
eines Merck einig. Der Klubb Milani hatte auch ſeinen Hofnarren, 
und zwar einen, wie kein anderer eines ſolchen ſich rühmen konnte, 
den buckeligen Detmold aus Hannover, einer der ſchlimmſten Unheil— 
ſtifter von damals, aber der witzige Autor der „Abenteuer des Herrn 
Piepmaier“. Witz und Humor hat überhaupt das Parlament viel 
producirt und konſumirt, nur allzu viel. In dem von beiden Seiten 
mit großer Ausdauer unterhaltenen Zerrbilder-, Spottverſe- und 
Schimpfproſakrieg iſt viel Talent und Zeit verbraucht worden. 
Neben dem „Piepmaier“ mögen von derartigen Auslaſſungen noch 
namhaft gemacht ſein die von rechtsher fommenven „Epistolae novae 
virorum obscurorum*, von linfsher die „Epistolae virorum 
dextrorum* und die „Neimchronif des Pfaffen Mauritius“. 


Maren die Nationalverfammlung jih nicht der Vollziehungs- 
gewalt bemächtigen wollte, jo mufjte ein Organ gejchaffen werden, 
durch deſſen Vermittelung ihre Beſchlüſſe zur Ausführung gebracht 
würden. Auch ſollte dieſe proviſoriſche Centralgewalt die oberſte 
Leitung des Heerweſens haben und gegenüber dem Auslande das 
„einige“ Deutſchland repräſentiren. 

Dieſe Angelegenheit war ſchon im Fünfzigerausſchuſſe verhan— 
delt und daſelbſt das Projekt der ſogenannten „Onkelei“ auf's Tapet 
gebracht worden. Nämlich es ſollte ein Bundesdirektorium geſchaffen 
werden, beſtehend aus einem öſtreichiſchen, einem preußiſchen und 
einem bairiſchen Prinzen: Erzherzog Johann, Prinz Wilhelm und 
Prinz Karl, von welchen der erſte ein Oheim des Kaiſers von Oeſtreich, 
der zweite ein Oheim des Königs von Preußen und der dritte der 
Oheim des Königs von Baiern war. Darum hieß man ſie mit— 
ſammen die drei „Onkel“. Nach dem Zuſammentritt des Parla— 

Scherr, 1848. 2. Aufl. I. 13 


194 Die Berwidelung, V. 


ments hätten die Rückwärtſer von der ftriften Objervanz amı liebjten 
den Bundestag als proviſoriſche Exekutive beibehalten; das ging aber 
doch nicht, weil der Bundestag in den Nafen der Liberalen, gejchweige 
der Demofraten, ein gar zu mifffälliger Ruch war. 

Am 3. Juni beftellte das Parlament einen Fünfzehnerausſchuß, 
welcher über die eingegangenen 16 Anträge betreffs ver Errichtung 
einer provtjorifchen Gentralgewalt — jpäter famen noch 23 Ab- 
änderungsvorichläge hinzu — berathen und berichten jollte. Der 
Beginn der Berhandlung jelbjt war auf den 17. Junt angefett und 
hatten fic) nicht weniger als 189 oder gar 223 Nepner einjchreiben 
laſſen. Wenn der Boden von Sankt Paul fteril war und blieb, 
fonnte das jedenfalls nicht dem Mangel an Bewäſſerung ſchuldgegeben 
werden. 

Diesmal hatte Herr von Vinde das richtige getroffen, wenn 
er viele Tage vor dem Beginne der Debatte verlangte, man jollte 
den verzwicten Knoten friichweg durchhauen; wenn er ſchon am 
31. Mat im Hirichgrabenflubb forderte, daß dieſer an die Spite 
jeines Programms „die Nothwendigfeit eines jogleid auf Preußen 
zu übertragenden erblichen Kaiſerthums“ jtellen müßte*). Ja, die 
Sache vom monarchiſchen Standpunkt angejehen, war das unzweifel- 
haft das richtige. Der Mehrheit der Nationalverfammlung ſchwebte 
ja doch als letztes und höchſtes Ziel ein preußiſches Katferthum vor 
und durch die jofortige Uebertragung der deutſchen Gentralgewalt an 
das Haus Hohenzollern wäre wenigftens die in jeder Beziehung über 
alles Maß unerjprieglihe Neichsverweferei des Johann Ohneland 
vermieden worden. Aber wäre dieſe Webertragung angenommen 
worden ? Diefe Frage aufzuwerfen oder gar zu verneinen waren zur 
Zeit, wo die feierliche Erklärung Friedrich Wilhelms des Vierten, 
daß er ſich an die Spite Deutjchlands ftellen wollte und daß Preußen 
in Deutſchland aufgehen ſollte, noch jo neu, noch jo frisch, jedenfalls 
die Zehntels-, Fünftels-, Halb» und Ganzliberalen gar nicht bered)- 


*) Raumer, Briefe aus Frankfurt und Paris, I, 37. 


Paulskirchenhiſtorien. 195 


tigt, da ſie ja ſammt und ſonders im Vertrauensſpittel lagen und im 
Fieber der Fürſtenfürchtigkeit delirirten. Auch heißt eines der wenigen 
ganz wahren Sprichwörter „Bis dat qui cito dat!“ und die Summe 
der Wahrſcheinlichkeitsrechnung iſt, daß die Krone, welche im April 
von 1849 in Berlin zurückgewieſen wurde, im Mai oder Juni von 
1848 in Potsdam angenommen worden wäre; angenommen mit— 
ſammt dem berühmten uhlandiſchen „Tropfen demokratiſchen Salböls“, 
welcher daran hing. 

Es erging aber dem Herrn von Vincke in dieſem Falle, wie es 
Parteiführern nicht ſelten zu ergehen pflegt. Schlagen ſie einfältiges, 
zweckwidriges, geradezu ſinnloſes vor, ſo dürfen ſie 99 mal von 
100 mal auf die Zuſtimmung ihrer Leute zählen; wollen ſie aber 
treffendes, richtiges und zweckmäßiges, ſo werden ſie damit 9 mal 
unter 10 mal ganz durchfallen oder doch nur auf verwickelten Um— 
wegen ihr Ziel erreichen. Selbſt die ergebenſten Knappen des weſt— 
phäliſchen Ritters fanden ſeinen Vorſchlag zur Zeit gar nicht vor— 
bringbar, geſchweige durchbringlich. Es iſt wahr, die ſchwarzweißen 
Zitteraale à la Friedrich von Raumer, welche, wie der Genannte 
ſelber erzählt, das „Kaiſerthum für Preußen zu erſtreiten bei den 
unleugbar hierüber in jenem Augenblicke noch vorherrſchenden An— 
ſichten für ganz unmöglich hielten“, ſchienen zunächſt rechtzuhaben. 
Es iſt wahr, daß einem naiven Hinterpommer, Herrn Braun aus 
Köſlin, als er am 18. Juni in der Paulskirche die Uebertragung der 
proviſoriſchen Centralgewalt an Preußen beantragte, von allen 
Seiten, ja faſt von allen Bänken her ein ſchallendes Gelächter ent— 
gegenſchlug; ein ſo ſchallendes, daß der Antragſteller zuletzt ſelber 
mitlachen muſſte; ein ſo ſchallendes, daß es bis nach Potsdam 
hinaufſcholl, allwo es ſofort ad notam genommen und dreimal 
ſchwarz unterſtrichen wurde. Am 3. April im folgenden Jahre, als 
die Parlamentsabordnung die deutſche Kaiſerkrone ins berliner 
Schloß trug, hat dann Friedrich Wilhelm der Vierte für dieſes 
Paulskirchengelächter vom 18. Juni 1848 ſeine vollwichtige Rache 
genommen. 

137 


196 Die Verwidelung, V. 


Aber trotzdem bleibt es ebenfalls wahr, daß es für die konſer— 
vativen und liberalen Kaiſerlinge wie die ehrlichite jo auch die beite 
Politik gewejen wäre, wenn fie jchon im Mai und Juni von 1848 
das preußiſche Katjerthun offen auf ihre Fahnen gejchrieben hätten. 
Wer, beim Styr, wide denn damals, jobald der König von Preußen 
Ja und Amen gejagt hätte, etwas nennenswerthes gegen dieſes won 
der preußiichen Armee gehaltene deutſche Kaiſerthum haben auf- 
bringen können? Dejtreih? Das lag in Todeswehen. Ruſſland? 
Die thönernen Beine würden unter den Koloß eingefnidt fein, jowie 
er ſich in Marſch gejetst hätte. Franfreih? Das hatte alle Hände 
vol zu thun, um fi zur Juniſchlacht im eigenen Haufe zu rüften. 
England? Ja, wenn flegelhafte Times - Artifel Schwerter wären. 
Die deutſchen Fürften? Ob, die wären froh gewejen, wenn ber 
preußiſche Kaiſer jeinen Mantel ſchützend um ihre Givilliften, Do- 
mänen und Apanagen gejchlagen hätte. Die deutiche Demokratie ? 
Kanonen und Bajonnetten gegenüber find Worte mm Wind. Das 
deutſche Bol? Das hat niemals einen Willen gehabt, ſondern ftets 
nur „fromme Wünſche“, und würde, mit einigem Takt dazu fomman- 
dirt, jeinem Kaiſer zugejubelt und die Pferde ausgejpaunt haben, 
wie die Tiroler dem ihrigen thaten. Jedennoch: hätte Friedrich Wil- 
helm der Vierte im Mai oder Juni zu der Kaiſerwahl durch das 
Parlament Ja und Amen gejagt? Die Antwort gibt ein Brief des 
des Königs, Datirt vom 13. December 1848, aljo aus einer Zeit, 
als jeine bevorjtehende Wahl zum Kaiſer der Deutjchen für die Mehr- 
beit in der Paulskirche jhon eine ausgemachte Sache war. Der Brief 
war an Bunſen gerichtet, welcher am 6. December dem Könige 
dringend zur Annahme der Katjerfrone gerathen hatte. "Friedrich 
Wilhelm jchrieb jeinem Bertrauten alfo: „Sch verftehe Sie und 
Ihre Raiſonnements; Sie aber nicht die meinigen, ſonſt hätten Ste 
nicht jo jchreiben können, d. h. Sie hätten dann nicht den abjolırten 
Hindernifjen, die zwiichen mir und Der!!! Staiferfrone jtehen, einen 
leichten und leichtzubejeitigenden Namen geben künnen. Sie jagen 
(wörtlich wie Herr von Gagern mir jagte am 26. und 27. v. M.): 


F 


Paulskirchenhiſtorien. 197 


„Sie wollen die Zuſtimmung der Fürſten; gut und recht, die ſollen Sie 
haben“. Aber, mein theuerſter Freund, da liegt der Hund begraben: ich 
will weder der Fürſten Zuſtimmung zu der Wahl, noch die Krone. 
Verſtehen Sie die markirten Worte? Ich will Ihnen das Licht 
darüber ſo kurz und hell als möglich ſchaffen. Die Krone iſt erſtlich 
keine Krone. Die Krone, die ein Hohenzoller nehmen dürfte, wenn 
die Umſtände es möglich machen könnten, iſt keine, die eine, 
wenn auch mit fürſtlicher Zuſtimmung eingeſetzte, aber in die revolu— 
tionäre Saat geſchoſſene Verſammlung macht (dans le genre de la 
couronne des pav6s de Louis Philippe), jondern eine, die ven 
Stempel Gottes trägt, die den, dem fie aufgeſetzt wird nad) der 
heiligen Ordnung, „von Gottes Gnaden“ macht, weil und wie fie 
mehr denn 34 Fürften zu Königen der Deutichen von Gottes Gnaden 
gemacht und den letzten immer der alten Reihe gejellt. Die Krone, 
welche die Ottonen, die Hohenftaufen, die Habsburger getragen, kann 
natürlich ein Hohenzoller tragen, fie ehrt ihn überſchwänglich mit 
tauſendjährigem Glanze. Die aber, die Sie leider meinen, vermehrt 
überihwänglich mit ihrem Ludergeruch der Nevolution von 1848, 
der albernften, dümmſten, jchlechteften — wenn auch, Gottlob, nicht 
böfeften diejes Jahrhunderts. men ſolchen imaginären Neif, aus 
Dreck und Letten gebaden, joll ein legitimer König von Gottes Gna— 
den und nun gar der König von Preußen fid) geben laſſen, der den 
Segen hat, wenn audy nicht die älteſte, doch die edelſte Krone, die 
niemand geftohlen worden ift, zu tragen? Ich jage es Ihnen rund 
heraus: Soll die tauſendjährige Krone deutſcher Nation, die 42 Jahre 
geruht hat, wieder einmal vergeben werden, jo bin id) es und 
meinesgleihen, die fie vergeben werden. Und wehe 
dem, der ſich anmafit, was ihm nicht zufommt“ *). 

So fühlte, Dachte und ſchrieb Friedrich Wilhelm der Vierte. 
Und einen König, welcher jo fühlte, dachte und jchrieb, hofften vie 
„Staatemänner“ der Paulskirche zuverfichtlic, dafür zu ftimmen und 


) Briefwechſel Friedrih Wilhelms des Vierten mit dunjen, ©.233 fg. 


3 


193 Die VBerwidelung, V. 


zu gewinnen, daß er ſich die von ihnen aus „Dred und Letten“ ge- 
badene Katjerfrone würde aufjegen laffen! So dumm fonnte doch 
nur der reichsprofeſſorliche Yiberalismus fein. 


8. 


Die Mehrheit der Fünfzehnerkommiſſion hatte den Antrag for- 
mulirt: Es joll ein aus drei Perjonen beftehendes Bundesdireftortum 
beftellt werden zur Leitung aller gemeinfamen Angelegenheiten ver 
Nation. Die drei Mitglieder find von den deutſchen Kegierungen zu 
bezeichnen und nach erfolgter Zuftimmung ſeitens der Nationalver- 
ſammlung, welche jedoch über die vorgejchlagenen Perſönlichkeiten nicht 
in Berathung gehen darf, zu ernennen. Das Bundesdireftorium habe 
feine oberjte Vollziehungsgewalt durch Minifter zu üben, welche ver 
Nationalverfammlung verantwortlich jeien*). Seine Amtsführung 
iollte mit dem Abſchluſſe des deutſchen Verfaſſungswerkes, an welchem 
eine Mitwirkung ihm nicht zuftehe, zu Ende jein. 

Die beiden Fraktionen der Linken waren in dem Funfzehner— 
ausſchuß nur dich Blum und Adolf von Trützſchler vertreten, beide 
Sachſen, beide zu Blutzeugen der Demokratie beſtimmt; der eine Pro- 
(etarier und Arbeiter von Geburt, der andere Edelmann und Millio- 
när, beide fin ihre Ueberzeugung jo geftorben, daß nur höfiſche und 
liberale Jämmerlinge, nicht aber Männer von jeder politiichen 


*), Die „Verantwortlichfeit der Minifter“ ift auch jo ein Paradepferd 
des Konftitutionalismus, weldes, genauer angefehen, als ein ganz ordi- 
närer Eſel ſich darſtellt. Wann und wo ift denn die Phraſe von der Mini⸗ 
ſterverantwortlichkeit zur Wirklichkeit geworden innerhalb des konſtitutio— 
nellen Syſtems? Wann und wo hätte die Unverantwortlichkeit des Mo— 
narchen die Verantwortlichkeit der Miniſter nicht zu einer Illuſion gemacht? 
Strafford allerdings wurde 1641 und Polignak 1830 zur Verantwortung 
und Strafe gezogen. Aber that dies der Konſtitutionalismus? Nein, die 
Revolution. 


Baulsfirdenbiftorien. 199 


Anſchauung den Märtyrern ihren Nachruhm beitreiten können. Blum 
und Trützſchler machten den Verſuch, die Theorie von der Oberherr- 
lichfeit der Nationalverſammlung als des Organs der Nattonal- 
jouveränttät im Praxis zu verwandeln, ımd fie brachten daher den 
Minderheitsantrag em: Die fonftitwirende Nationalverfammlung 
wählt mit abjoluter Stimmenmehrheit eins ihrer Mitglieder zum 
Obmann emes Vollziehungsausichuffes. Diejer Obmann gejellt ſich 
nach freier Wahl 4 Kollegen zu. Der aljo gebildete Vollziehungs- 
ausſchuß hat Deutſchland nad augen zu vertreten, hat die Beſchlüſſe 
des Parlaments auszuführen, iſt demjelben verantwortlich, kann von 
ihm aufgelöj’t und durch einen neuen erjett werden. Der Boll- 
ziehungsausſchuß vertheilt nach eigener Wahl jeine verſchiedenen Ge- 
ſchäfte unter jeine Mitglieder und bleibt jo lange in Thätigkeit, bis 
durch die Nationalverfammlung eine definitive Bundesgewalt er- 
richtet iſt. 

Bon jeiten der äußerſten Linken kam zu dieſem Antrag ein Ab- 
änderungsvorſchlag ein, des Inhalts, der Bundestag habe jofort feine 
Amtirung cinzuſtellen, habe aufzuhören und ſei durch eine provi— 
ſoriſche, aus 5 Mitgliedern beſtehende Regierung zu erſetzen, welche 
durch die Nationalverſammlung und aus der Mitte derſelben erwählt, 
mit der oberſten Vollziehungsgewalt über ganz Deutſchland betraut 
und dem Parlament verantwortlich gemacht werden ſoll. 

Die Erinnerung an den Konvent und ven Wohlfahrtsausſchuß 
lag in dieſen Anträgen der Yinfen allerdings Elar genug zu Tage. Wenn 
jedod die Prämifje von der „Nationaljouveränität“, die ja Herr von 
Gagern im Namen des Yiberalismus ausdrücklich anerkannt hatte, 
einen Sinn haben jollte, jo war gegen dieje daraus gezogene demo— 
kratiſche Schlußfolgerung von jeiten der Logik jchlechterdings nichts 
einzumenden. Aber befanntlid) wird die Welt nicht von der Logif 
regiert, jondern von der Konvenienz, und dieſe machte der Barlaments- 
linken bald fühlbar, daß es unzufönmlich jei, weil zu jpät, noch zu 
Ende Juni's von 1548 mit jo demofratiihen Wünſchen und dor- 
derungen hervorzutreten. 


200 Die Berwidelung, V. 


Am 17. Juni erftattete Dahlmann im Namen der Kommijfiong- 
mehrheit jeinen Bericht und die große Wortſchlacht hob an, um volle 
acht Tage zu währen und gar viele Kämpfer zu Boden zu ftredfen. 
Die Thaten der Steger und der Befiegten jchlafen ven hiftorijchen 
Schlaf in den Gewölben der befannten Chufu-Pyramide der fteno- 
graphiichen Parlamentsprotofolle. Mögen fie ruhen im Frieden! 
Den erften Preis im Nedeftreit gewannen in diefen Tagen unfraglic 
Blum und Radowitz, einen zweiten Raveaux; aber das entſcheidende 
Wort Sprach Herr von Gagern am 24. Juni. Er that da jeinen be- 
rühmten „ihnen Griff“, wozu ihm der Antrag von Mayern, in 
Gemeinſchaft mit den Negierungen einen „Reichsverweſer“ aufzu- 
ſtellen, die erſte Handhabe geboten haben mochte, nachdem die Debatte 
in ihrem Vorſchritte gezeigt hatte, daß zwar die Anträge der Linken 
feine Ausfiht auf Annahme hätten, daß aber auch ver Mehrheits- 
vorschlag der Fünfzehner auf feine oder wenigſtens auf feine ſtarke 
Majorität zählen könnte. Unzmeifelhaft war die Wirfung der Rede 
Gagerns vom 24. Juni der Höhe- und Glanzpunkt im öffentlichen 
Leben des Mannes. „Wer foll die Centralgewalt ſchaffen?“ fragte 
er. „Ich würde es bedauern, wenn es als ein Princip gälte, daß die 
Regierungen in diefer Sache gar nichts jollten zu jagen haben; aber 
vom Standpunkte ver Zweckmäßigkeit aus ift meine Anficht weſentlich 
eine andere als die der Majorität im Ausſchuſſe. Ih the einen 
fühnen Griff und fage Ihnen: wir müffen die proviſoriſche Gentral- 
gewalt jelbft haften“. Das war eine Einräumung an die Yinfe, 
welche von dieſer natürlich jofort angenommen wurde. Der Nebner 
iprady nun für die Einheit und gegen die vorgejchlagene Dreiheit 
der Vollziehungsgewalt und fuhr dann fort: — „Wollen wir der 
Mehrheit nach Einen, jo ift ein hochftehender Mann gefunden, der 
ſich der höchſten Stelle werth gezeigt hat. Es gibt feinen Privat- 
mann, der unter ſolchen Umſtänden das Amt übernehmen könnte. 
Es wird auch feine Aufgebung des Princips der Souveränität der 
Nation darin gefunden werben fünnen, wenn etwa meine Meinung, 
wie fie es wirklich ift, die fein follte, daß die hochſtehende Perjon 


r 


Paulskirchenhiſtorien. 201 


ein Fürſt ſein müſſe; was auch Sie“ — (zur Linken gewendet) — 
„einräumen können, nicht weil es, ſondern obgleich es ein Fürſt 
iſt“. Dieſes der Volksſouveränität geſchickt gemachte Kompliment 
erregte einen ungeheuren Beifallsſturm. 

Am folgenden Tage wurde dann das Geſetz über Errichtung 
einer proviſoriſchen Centralgewalt zur Abſtimmung gebracht. Es 
beſtimmte im weſentlichen: Die vollziehende Gewalt ſoll die Ober— 
leitung der geſammten bewaffneten Macht der Nation haben und die 
völkerrechtliche und handelspolitiſche Vertretung Deutſchlands aus— 
üben. Dieſe Gewalt wird einem unverantwortlichen Reichsverweſer 
übertragen, welchen die Nationalverſammlung wählt und welcher 
ſeine Befugniſſe durch von ihm ernannte, aber dem Parlament ver— 
antwortliche Miniſter bethätigt. Mit dem Eintritt der Reichsver— 
weſung hört der Bundestag zu exiſtiren auf. . . . Das ganze Geſetz 
gelangte mit 450 Ja gegen 109 Nein zur Annahme. Die Haupt- 
zahl der Verneiner gehörte der äußerſten Linken an, doch waren auch 
vom Linfen Centrum viele dabei. Bon der äußerten Nechten fielen 
nur 3 Stimmen gegen das Geſetz. Für die Demokratie ift die An— 
nahme vefjelben injofern eine große Niederlage gewejen, als der Nerv 
des ganzen Entwurfes, der Jufatz zum 2. Paragraphen: „Die pro- 
viſoriſche Centralgewalt hat die Beichlüffe der Nationalverfammlung 
zu verfimdigen und zu vollziehen“ — mit 277 Stimmen gegen 261 
durchgeſchnitten worden war. 

Um aber da von einem Nerw oder Nichtnerv zu reden, muß 
man jchlechterdings vom Geſichtspunkte der parlamentariichen Fiktion 
ausgehen. Denn ohne Illırfion angejehen, handelte es ſich auch hier 
wiederum, wie immer in der Politik, nicht um eine Nechtsfrage, ſon— 
dern nur um eine Machtfrage. Die große Wortſchlacht um Die pro- 
viſoriſche Centralgewalt war demnach ein Streit um des Kaiſers Bart. 
Macht war ja jchlieglich weder bei der Nationalwerfammlung nod) 
bei der Neihsverweiung. Mutter Ohnmacht hatte alfo am 25. Juni 
eine Tochter geboren, welche Impotenz hieß. 


N 


202 Die Berwidelung, V. 


” 


Am 29. Juni, Nachmittags 3 Uhr war in der guten alten 
Reichsſtadt am gelben Mainftrom wieder einmal Feitglodengeläute, 
Freudegeſchützknallen und Yebehochrufen, kurz Jubelſpektakel höchiter 
Potenz (08: — der Erzherzog Johann von Oeſtreich war jo eben in 
Sankt Paul zum Reichsverweſer gemählt worden, mit 436 Stimmen. 
Herr von Gagern hatte 52, Ibftein 32 Stimmen erhalten; 27 Mit- 
glieder won der äußerten Linken hatten die Abjtimmung unterlaſſen. 

Der Erzherzog Johann hatte, wenn auch in zahmjter Weife, 
gelegentlich die Rolle eines Frondeur gegen die Franz-Metternichtig- 
feit gejpielt, insbejondere mittels eines Kleinen gegen den Oberpoli- 
ziſten Sedlnitzky geführten Wifrieges, "und er war won feinem 
Bruder, dem Kaiſer-Tartuffe Franz, bitterlich gehafft worden. Darauf 
gründete ſich fein Auf als „Liberaler“ und deutſchpatriotiſch gejinnter 
Prinz. Weiter wuffte man von ihm nur noch, daß er durch fein 
höchſt wahrſcheinlich abfichtlihes Zuſpätkommen bei Wagram den 
Berluft der Schlacht verurfacht hatte und daß er dann jpäter, im 
September 1842, an der Banfetttafel des Königs von Preußen am 
Rhein den (Übrigens halbmythiſchen) Toaft ausgebracht habe: „Kein 
Preußen und fein Dejtreih! Ein großes, einiges Deutſchland, feit 
wie jeine Berge!" Dod halt, man wuſſte noch etwas won ihm, 
nämlich daß er im Jahre 1828 ein „Mädchen aus dem Volk”, eines 
Poſthalters ſchöne und ſittſame Tochter, zu jeiner rechtmäßigen Che- 
frau gemacht hatte, ftatt fie zu feiner Maitrejje zu machen. Das 
rechnete man ihm unendlich hoch an, das „lupfte“, ſchweizeriſch zur 
veden, die gemüthlichen Deutſchen. So jehr hatte die affenſchändliche 
Maitreſſenwirthſchaft jo vieler ſeiner Fürſten unjerem Volke das fitt- 
liche Gefühl verwirrt, daß es einen Prinzen, welcher ein ehrbares 
Bürgermädchen heiratete ftatt dafjelbe zu Grunde zu richten, wie ein 
Wunderthier beſtaunte, ja geradezu für einen großen Mann hielt. 


Paulskirchenhiſtorien. 203 


Das iſt nun freilich der Erzherzog Johann in keiner Weiſe ge— 
weſen. Er war ein leidlich unterrichteter, wohlmeinender, leichterreg- 
barer Stimmungsmenſch, der nach Art der Stimmungsmenſchen 
ſelber an das glaubte, was er gerade ſagte, um das geſagte in der 
nächſten Stunde zu vergeſſen. Wenn er überhaupt ein Princip hatte, 
jo war es entjchteden fein höheres als das lothringiſch-habsburgiſche 
Hansinterefje. Ob er überhaupt nur nad) Frankfurt gegangen, um 
für diefes Intereffe zu jorgen ? Gewiß nicht. Er übernahm ficher die 
Reichsverweſung mit dem guten Vorſatz, jein beites für Deutſchland 
zu thun. Allein der Gang der Ereignifje brachte es nothwendig mit 
ih, daR der Neichsverwejer jehr bald merken mußte, er jei doc 
eigentlich ein öjtreichticher Erzherzog. Die au fid) unhaltbare Dop- 
pelrolle des Prinzen hätte ſich auch von einem weit bedeutenderen 
Talent und einem viel thatkräftigeren Charakter nicht in die Yänge 
durchführen laſſen. Für Oeſtreich, d. h. für das Haus Lothringen— 
Habsburg, jpielte der Erzherzog jeine Rolle leivlich gut. Aber für 
Deutihland iſt jeine Reichsverweſung ein großes Unglück gemejen. 
Schon darım, weil, troß der officiellen Zuftimmung von Berlin her, 
die Neichsverwejerei des Yothringer-Habsburgers es war, welche ven 
Altpreugenthun tn Potsdam wieder feiten Halt gab und den hohen- 
zolleriſch-preußiſchen Partikularismus zu doppelt ſtrammem Auftreten 
veizte. An dem preußiſchen Bartifirlarismus konnte fich dann der 
bairiſche, wirtembergiſche, hannoverſche u. ſ. w. wieder zu feiner 
ganzen Höhe aufrichten. 


Warum denn nicht — man tft gezwungen, wieder darauf zır- 
rückzukommen — warım dem nicht, wern man dod) einen Fürſten 


haben wollte und mußte, geradezu den mächtigiten, den König von 
Preußen, fürn? Was konnte denn, auch die beiten Abfichten und 
die ehrlichjte Beharrung vorausgejegt, ein Iohann Ohneland aus— 
tihten? Was fonnte ein Reichsverwefer vollbringen, der vom eriten 
Augenblid an durchaus von dem guten oder böfen Willen ver deut- 
ſchen Regierungen abhängig war ? 

Summa: Herr von Gagern, der kühne Greifer, bat am 


204 Die Berwidelung, V. 


24. Juni von 1848 fehlgegriffen und diefe ganze Greiferei fieht 
einer Schmerlingelei jo ähnlich wie ein fanles Ei dem andern. In 
Wahrheit, man glaubt den öftreichtihen Herrn Ritter und Bundes— 
tagspräfidialgejandten leibhaftig wor ſich zu jehen, wie er, das ganze 
Keinefe-Gefiht ein Hohnzug, aus dem Dunfel der Iutrife hervor 
dem armen tibertölpelten Gagern zu deſſen „Fühnem Griffe” vie 
Hand führt. Die ganze Mehrheit, welche für die Reichsverweſung 
des Erzherzogs ftimmte, lief am ſchmerlingiſchen Gängelbande. Aber 
am ärgſten waren doc) die weiland Burſchenſchafter aus Preußen ge- 
nasführt, welche in gutem Glauben diefe Mehrheit machen halfen. 
Bon feinem, d. h. vom öſtreichiſch-partikulariſtiſch-bureaukratiſchen 
Standpunkt aus hatte übrigens Herr von Schmerling vollfommen 
recht, wenn er alle vie „Staatsmänner“ und „Reichsprofefjoren“ der 
Paulskirche zu überliften trachtete. Warum waren fie jo gemüthlich, 
ſich überliften zu laſſen? 

Aber was lag am Ende aller Enden daran, ob die Entſcheidung 
fo oder anders fiel? Die Paulskirche war ja Doc nicht der Ort, 
wo die Geihide Deutihlands und Europa's entſchieden wurden. 
Während in der Mainftadt Redensarten fielen, fiel in der Seineftadt 
der eiferne Schickſalswürfelwurf. Während dort mit Worten um des 
Kaiſers Bart gefochten wurde, ward hier mit Eifen und Blut um 
das fein oder das michtiein der alten Gejellichaft gefümpft. 

a, in denſelben Tagen, wo in Frankfurt die große Wortſchlacht 
(ärmte, toj’te in Paris die furchtbare Thatſchlacht des Juni und 
ipielte auf der alten Nevolutionsbühne der erite Aft eines welt- 
biftortichen TIraueripiels, deſſen allerletten wohl fein Jahrhundert 
fehen wird. 

Der moderne Spartafus, das Proletariat, jchlug und verlor 
feine erfte offene Schlacht. Die alte Gejellichaft fiegte, aber um 
welchen Preis! 

Das Sturmglodengehenl der parifer Junikampftage war das 
Grabgeläute des europätichen Bölferfrühlings von 1848. 

Und doch — ſeltſam zu jagen! — war die ZJungengefechts- 


Paulskirchenhiſtorien. 205 


erhitzung in der Paulskirche ſo heftig, daß das ungeheure, was wäh— 
rend dieſes Zungengefechtes in Paris vor ſich gegangen, anfangs 
wenig gewerthet, ja kaum beachtet wurde. Paulskirchliche „Staats— 
männer“ und „Reichsprofeſſoren“ ſchenkten dieſer „neueſten pariſer 
Emeute“ nur eine ſehr flüchtige Aufmerkſamkeit und hatten, im Hoch— 
gefühl ihrer eigenen unendlichen Wichtigkeit, nur Sinn für den „un— 
endlich wichtigen Augenblick“, für „die erſte große That“ des deut— 
ſchen Reichstags, d. h. für die Annahme des Centralgewaltgeſetzes 
und die Wahl des Erzherzogs Johann zum Reichsverweſer. 

Und nicht allein dieſe oder jene Perſönlichkeit, nicht allein dieſe 
oder jene Fraktion, nein, die große Mehrheit der Nationalveriamm- 
lung hatte für das, was im Juni in Paris und was im Juli auf den 
Walftätten der Yombardet geihah, durchaus fein Verſtändniß oder 
wollte feins haben. Sie ging daher mit einer Selbftgefälligfeit 
und Zuverſicht, als ob die ſämmtlichen Götter aller Religionen der 
Schwatzbude in Sankt Paul eine ewige Dauer verbürgt hätten, daran, 
die endloje Schraube der Grundrechte- umd Reichsverfaſſungsbe— 
rathung zu drehen; ging daran mit einer Zuverſicht und Selbſtge— 
fälligfeit, welche den Spottzom des Dichters vollauf berechtigten, 
auszurufen: — 

„Fünfhundert Narrenſchellen 

Zu Frankfurt ſpielen die Melodie: 
Das Schiff ſtreicht durch die Wellen 
Der deutſchen Phantaſie“. 


v1. 
Die Iuniſchlacht. 
1% 


Wer von den Zeitgenoffen in Sommer von 1848 ſchon in 


einem denkfähigen Alter ftand und von feiner Denffähigfeit Gebrauch 


machen wollte, wird des eigenthümlich düſteren Eindrucks fich erin- 
nern, welchen die Botihaften von dem Beginn, Verlauf und Ausgang 


der furdhtbaren dreitägigen partjer Straßenjchlacht vom 23., 24. und 


25. Juni hervorbrachten. 

Die Republikaner fühlten, daß in diefem Kampfe die Republif 
befiegt worden ſei; die Nüdwärtjer, daß der bornirte Soldat Ka— 
vaignaf Für jte gefiegt habe und demnach jeto die Zeit gefommen 
fei, mit allen Februar- und März-Illufionen ein Ende zu machen. 
Allein die Trauer von jenen und die Freude von diefen trat doch zu= 
nächft vor einer noch ftärferen und zwar gemeinfamen Empfindung in 
den Hintergrund. Es war, als hätte vor den Füßen beider Par— 
teten mit Donnergetöfe ein ungeheurer Abgrund plöglic ſich aufge- 
than, bereit, beide zu verjchlingen und überhaupt alles beſtehende, 
die ganze europäiſche Gefellihaft in jeine ſchwarze Tiefe hinabzu- 
reißen. 

Dieſes Gefühl jtarrenden Entjegens findet feine ausreichende 
Erklärung darin, daß der Juni-Aufſtand ein wejentliches neues Phä— 
nomen gewejen tft: — der erfte Stoß eines moraliichen Erdbebens, 





Die Juniſchlacht. 207 


welches über kurz oder lang unfern Erdtheil unfehlbar heimjuchen 
wird und zwar mit voller Erplofivfraft und mit einer Wirfungs- 
macht, womit verglichen die bisherigen politifchen Nevolutionen 
als wahre Kinderipiele, als harmloſe poetiiche Stilübungen zum Vor— 
ichein fommen werden. a, die Infjurreftion vom Juni 1848 war 
defihalb ein weltgeichichtlicher Akt, war darum geradezu phänomenal, 
weil fie das joctale Schtima der modernen Zeit zum erjtenmal völlig 
blank und bloß auf die Weltbühne ftellte, weil fie auf diefer Bühne 
die Gegenfäte von Neih und Arm, Kapital und Arbeit, Prozenthum 
und Proletariat, „zahlungsfähiger Moral” und hungernder Ver— 
zweiflung aller Phrafenverhüllungen entfleivet und nach bewuſſter und 
wohlbedächtiger Schärfung und Zujpisung zu mörderiſchem ringen 
gegen einander antreten lieh. 

Der Beſitz hatte und behielt recht, weil er der jtärfere war. 
Wo die Macht, da ift das Recht! docirt Doktorin Hiſtoria, mag es 
auch in Kompendien und Rathjälen, auf Kathedern und Kanzeln des 
Deforums wegen anders lauten. Die Juntrebellen wurden geichlagen, 
folglich hatten fie unrecht, waren jtrafbar und wurden „von rechts— 
wegen“ beſtraft. Ob mit zu viel Grauſamkeit oder nicht? ift eine 
ganz müffige Frage. Steger hatten zu allen Zeiten das Recht, grau- 
jam zu fein; denn fie hatten ja die Macht dazu. Es iſt auch gar 
nicht Daran zu zweifeln, daß, falls die hungernde Verzweiflung ge- 
fieat hätte, fie ihrerjeitS der „jatten Tugend und zahlungsfähigen 
Moral" auch recht fühlbar gezeigt haben würde, was die vielgepre- 
digte, vielbefungene und vielbeleterte „Menſchenbruderſchaft“ eigent- 
(ic) für ein Ding ſei. Der Menih tft und bleibt immer ein nur 
halbgezähmtes Thier, ob er nun in einem rad oder aber in einer 
Bluſe jtede. 

Der exfte, wie zur Warnung vorangeichiete Stoß der Erdbeben— 
geburt einer „neuen Geſellſchaft“ wurde alſo von der „alten Gejell- 
ihaft“ im Juni von 1848 glüdlic) parirt. Und nicht nur das. 
Denn nit allein die „verbredheriichen Tendenzen“ der Soctaliften, 
fondern auch alle die im Frühling von damals aufgeblühten „Frei— 


208 Die Berwidelung, VI. 


heitshimären“ wurden durch die heilige Allianz der Kronen, Meß— 
bücher, Bibeln, Kurszettel und Kanonen mit Macht und folglich, mit 
Recht Annis 1848—51 in Strömen von Blut erfäuft. Wirklich er- 
ſäuft? Täuſcht euch niht! Man tödtet feine Idee. Die Schein- 
todten werden wiederfommen und ein „Wehe!“ wird ausgerufen 
werden vom Aufgang bis zum Niedergang, wie noch feines gehört 
worden, ſelbſt in der „Offenbarung Johannis” nicht. 

Und nachher? Nachher, d. h. nad) wieder überwundenem 
Chaos wird es im ganzen und großen abermals gerade jo jein, 
wie es vorher geweien. Selbſt unjer großer Prophet des Idealis— 
mus wuſſte feinen beſſeren Troſt: — 

„Die Welt wird alt und wird wieder jung 
Und der Menſch hofft immer Verbeſſerung“. 


2. 


Einer ver Gährungsſtoffe, welche die rothe Blaſe der Inſurrek— 
tion vom Juni emporgetrieben haben, iſt zweifellos der Socialismus 
geweſen. Dieſer zu allen Zeiten ſtets wieder auf's neue und in neuen 
Formen geträumte Traum vom „tauſendjährigen Reiche“ des Frie— 
dens und der Freude muſſte das pariſer Proletariat um ſo mehr be— 
rücken und beſtricken, als „die drei Monate Hunger“, die es der 
Republik zur Verfügung geſtellt hatte, herumwaren, ohne daß die im 
Februar in Ausſicht geſtellte „gerechtere und vernunftgemäßere Or— 
ganiſation der Geſellſchaft“ zuwegebracht worden wäre. Je mehr 
dieſe Neuſchöpfung als eine Unmöglichkeit ſich herausſtellte, um ſo 
gieriger verlangten die nothleidenden Maſſen danach. Der Hunger 
überlegt nicht ſo ruhig, denkt nicht ſo maßvoll, rechnet nicht ſo um— 
ſichtig wie die „ſatte Tugend und zahlungsfähige Moral“. 

Die proviſoriſche Regierung vom 24. Februar hatte wenigſtens 
guten Willen und ſympathiſche Worte für das Volk gehabt, die Exe— 


Die Juniſchlacht. 209 


futiofommiffion, welde von der am 4. Mai zufanmengetretenen 
Nationalverſammlung an die Stelle von jener geſetzt worden, hatte 
nicht einmal mehr guten Willen und gute Worte. Bon ven fünf 
Mitgliedern diefer Kommiſſion — Arago, Garier-Pages, Marie, 
Lamartine, Ledru-Rollin — hat jid eines unfähiger erwieſen als 
das andere. Es war eine Negierung, d. h. Nichtregierung der Im— 
potenz, durch die Freimaurerei der Mittelmäßigfeit mit den gleich- 
zeitigen deutſchen Märzminifterien auf die gleiche Linie geitellt. Diefe 
Freimaurerei, welche überall und allzeit, wo ſich Menſchen verſam— 
meln, eine ?oge aufthut, gab im Jahre 1848 allenthalben ven Grundton 
an, ſchweſterlich affompagnirt von der offiziellen Francmaçonnerie, 
welche ja in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts duchichnittlih zu 
einem anerkannten Werkzeuge ver Nücdwärtjerei herabgeſunken iſt. 
„Vernunft wird Unſinn, Wohlthat Plage. Bon „Großen Orien- 
ten”, deren Großmeiſter bonaparte'ſche Prinzen und Marſchälle find, 
werden jicherlich feine neuen Lichtaufgänge zu erwarten oder zur be- 
fürdten jein. Der alles vergemeinernde und verfnechtende Ungetit 
unſerer Zeit hat aud an dieſem urſprünglich jo edlen Inſtitut feine 
Korruptivfraft erwiefen.. . . . 

Die überwiegende Mehrheit des Proletariats wollte ernſtge— 
macht jehen mit dem won der proviſoriſchen Regierung im Namen ver 
Nation garantirten „Recht auf Arbeit“. Dieje braven Bluſenmänner, 
welche im Februar jo viel Großmuth, Selbjtbeherrichung und Ent- 
haltſamkeit bewiejen hatten, daß fie jogar den verhärtetiten Prözen, 
den Friechenpften Höflingen und ſchamloſeſten Jejuiten laute Bewun— 
derung abzwangen, wollten arbeiten und nur von ihrer Arbeit leben. 
Allein jie überſahen, daß das „Recht auf Arbeit” von Anfang an 
eine inhaltsloje Narrethei gewejen. Wenn der Citoyen Trelat, in 
dem durd die Exekutivkommiſſion eingejegten Miniſterium Miniſter 
der öffentlichen Arbeiten, in einem Aufſchwung edler Begeifterung an 
die Nationalverſammlung den Zuruf richtete: „Ihr müßt die Arbeit 
defretiren, wie vormals der Konvent den Sieg dekretirt hat!“ — 
jo war das von dem waderen Manne ganz aufrichtig gemeint. Vor 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 14 


210 Die Berwidelung, VI. 


den Konfequenzen feines Sates würde er fi) aber ficherlich entjett 
haben. Man konnte im Nothfalle allerdings den Sieg vefretiren, 
d. h. der Komvent hatte feine Generale jo lange in die Arme der 
„sainte vierge Guillotine* geſtoßen, bis fid) welche gefunden, Die 
zu fiegen verftanden. Sollte man es num mit den Kapitaliften auch 
io machen, bis fie ſich dazu verjtanden, Arbeit zu Schaffen? Unfinn! 
Die Arbeit, d. h. das Wechjelverhältmik von Erzeugung und Ver— 
brauch, von Nachfrage und Angebot, läßt fich nicht defretiven, weil 
fie ganz weſentlich auf dem Vertrauen beruht, welches jeinerjeits jo 
weſentlich freiwillig ift, daß ein erzmungenes Vertrauen gerade jo 
denkbar wie unbefledte Empfängniffe und dergleichen theologische Rari— 
täten mehr. 

Wohl — fagten die Arbeiter zur Exekutivkommiſſion — die 
Bourgeois-Kapitaliſten wollen die Geſchäfte nicht wieder aufnehmen ; 
alſo ſchafft ihr uns Arbeit! — Wo denkt ihr hin? entgegnete die 
Regierung. Erſtens hab’ id) befanntlidy fein Geld und kann euch 
alfo feinen Lohn verbürgen ; zweitens wüſſte ich nicht, was mit euren 
Erzeugniffen anfangen und an wen diejelben verkaufen ; drittens, falls 
ic) dies aud) fünnte, wäre damit nicht geholfen, denn die Folge würde 
nur fein, daß die Privatinpuftrie unfere Staatsfonfurrenz nicht aus- 
hielte und in Folge deſſen die Geſammtmaſſe der Arbeiter uns auf 
ven Hals käme. — Wohlan, jo übernehmt die gefammte Induſtrie, 
den ganzen Verfehr und fogar die Landwirthſchaft! — Dh, Himmel, 
das wäre ja der reine Kommunismus, und den jollten wir einführen 
angefichts einer Nationalverfammlung, deren große Mehrheit roya— 
liſtiſch und jefuitifch gefinnt und geftimmt iſt? — Nun, jo gebt ung 
doch wenigftens Kredit, ftredt uns Kapitalien vor! — Wir haben, 
wie ſchon gefagt, fein Geld, und hätten wir auch, wo wären eure 
Unterpfinder ? — Ei was! Macht Bapiergeld, wir nehmen es und 
werben dafiir forgen, daß auch Die anderen es nehmen. — Afignate? 
Mit Zwangsfurs? Ihr Lieben Leute, binnen drei Monaten würde 
euer Papiergeld entwerthet und folglid) euer Elend noch größer ges 
worden fett. — Ihr fünnt und vermögt alfo nihts? Die Februar— 


Die Juniſchlacht. 234 


revolution hat feine Bedeutung? Wir müſſen zu Grunde gehen dafür, 
daß wir fie gemacht haben ? 

Arme Bluſen, in Wahrheit ihr mufjtet dafur zu Grunde gehen. 
Der Staat konnte euch nicht halten, was er euch am 25. Februar 
verſprochen hatte. („Die proviſoriſche Regierung der franzöſiſchen 
Republik verpflichtet ſich, die Exiſtenz des Arbeiters mittels der Arbeit 
zu gewährleiſten. Sie verpflichtet ſich, allen Bürgern Arbeit zu ver— 
ihaffen“.) Auf dieſe Utopie hattet ihr euern Hungerwechſel aus— 
geſtellt, mit dreimonatlicher Sicht. Er war jetzt verfallen, wurde 
aber nicht eingelöſ't, konnte nicht eingelöſ't werden. 

Es hat jedoch in der Exekutivkommiſſion, im Miniſterium, in 
der Nationalverſammlung nicht an Wohlwollenden gefehlt, welche 
Einlöſungverſuche vorſchlugen. Man ſprach hin und her über die 
Herſtellung eines Syſtems von Hilfe- und Unterſtützungskaſſen, über 
Organiſation von Arbeiter-Aſſociationen, über die Koloniſirung un— 
bebauter Landſtrecken in Algier. Aber das waren weitausſehende 
Dinge, deren Anhandnahme nicht bewirken konnte, was die Mehrheit 
der Nationalverſammlung als Ausdruck der Bourgeoiſie zunächſt be— 
wirkt haben wollte und zwar raſch, nämlich die Entleerung der Na— 
tionalwerkſtätten von ihren 100,000 Inſaſſen. Nicht etwa die 
Koſten dieſer unfruchtbaren, von Anfang an unſeligen Anſtalten trieben 
zur Auflöſung derſelben, ſondern es — hierzu die ganz richtige 
Ueberzeugung, daß dieſe Werk-, d. h. Nichtwerkſtätten die eigentlichen 
Bollwerke ſocialiſtiſcher Tendenzen und die 100,000 Inſaſſen ſo recht 
die ſchlagfertigen Streiter der „Utopiſten“ ſeien. Der Herr Kapital 
war demnach vollſtändig in ſeinem Rechte, wenn er von zornigem 
Eifer brannte, dieſe Armee des Socialismus zu beſeitigen und mit 
den Nationalwerkſtätten abzufahren. Alle Nießbraucher, Miſſbraucher 
und Schmarotzer der bisherigen Geſellſchaftsordnung waren hierin 
mit der hohen Bourgeoiſie einverſtanden. Die „honetten“ Republi— 
kaner zogen vorn, die Royaliſten drängten in der Mitte, die Jeſuiten 
ſchoben hinten. Die Bornmirtheit der erſten, die Racheluſt der zweiten 
und die Tüde der dritten vereinigten fich zu dem Wuthſchrei: „Man 

14* 


212 Die Berwidelung, VI. 


muß ein Ende machen!“ Höchſt wahriheinlih ift, daß der Gewalt— 
haufe der Rückwärtſer mit der Hoffnung fih trug, nad) Bejeitigung 
der Nationalwerfftätten, d. h. nad Nieverwerfung, Knebelung und 
Zerſtäubung des Proletariats, mit der Exekutivkommiſſion, d. h. mit 
der „honetten“ Republik leichtes Spiel zu haben, jo leichtes, daß man 
mit der ganzen „republifaniichen Farce“ vielleicht abfahren Fünnte, 
noch bevor die Verfafjung der Nepublif zur Berathung oder zum Ab- 
ſchluſſe käme. 

Zuvörderſt wagte man es aber noch nicht zu den Inſaſſen der 
Nationalwerkſtätten zu ſagen: „Weg mit euch! Wir werfen euch ohne 
weiteres auf die Gaſſe!“ ſondern man verſuchte, ſie zum gehen zu be— 
wegen, indem man ihnen zwei Wege aufthat. Entweder ſollten ſie 
ſich für die ſtehende Armee anwerben laſſen oder nach der Sologne 
ziehen, um dort zu Entſumpfungsarbeiten verwendet zu werden. Sehr 
begreiflich, daß dieſe Art von Arbeitſchaffung namentlich den Kunft- 
und Luxusarbeitern (ouvriers-artistes) nicht zukömmlich und an— 
nehmbar erichten. Die Verweilung auf Entſumpfungsarbeiten in 
der Sologne galt geradezu für eine Anweifung auf den Tod am 
Sumpffieber jener Gegend, während die Soldaterei mit Sklaverei 
gleichbedeutend war. Natürlich muffte die Weigerung des Prole- 
tariats, alſo feinen Drei-Monate-Hungerwechjel honoriren zu lafjen, 
den Grimm und Groll der Bourgeoiſie nod bedenklich fteigern, bis 
zu jener Höhe des Haſſes ſteigern, auf welcher fie jpäter, im Juni, 
mit der Berichterftattung über die Nationalwerfjtätten den Haupt- 
jefuiten und Exzfanatifer der Nüdwärtferei, den Lobpreifer der In— 
quifitton betraute, Monſieur de Falloux. 

Zu diefem Excefje reaktionärer Leidenſchaft hätte fich jedoch Die 
Nationalverfammlung kaum hinreißen lafjen ohne die tolle Heraus- 
Forderung und Beſchimpfung, welche der Socialismus ihr am 15. Wat 
anthat, unter dem Vorwand einer Sympathiebezeugung für Polen die 
Mannſchaften feiner verichtenenen Sekten auf die Straßen rufend. 
Es zeigte ſich aber hierbei, wie jedermann weiß, daß von Einheit und 
Plan in der Vorſchrittspartei nicht entfernt Die Nede war. So— 


Die Juniſchlacht. 213 


genannte rothe Nepublifaner, ſchwärmende Soctaliften und Fraffe 
Kommuniſten meinten und wollten mit diefem 15. Maitag ganz ver- 
ihiedene Dinge. Keiner der Führer traute dem andern, fie wollten 
ſich nicht verftehen und verftändigen und fonnten demnach einander 
nur paralyfiren. Ledru machenjchaftete gegen Blanc, Blanc gegen 
Kauffidtere, Kauffiviere gegen Barbes, Barbes gegen Blanqui, 
Blanqui gegen alle und wiederum alle gegen ihn. So fam es, daß 
die riefige Maffendemonftration vom 15. Mat, die bei ihrem Beginn 
ein wahrhaft erdrüdend impofantes Ausjehen hatte, in ein wüſtes 
Wirrſal auseinanderbarit, in eine Hilfelofigfeit zeriplitterte, welche 
der Bürgerwehr von Paris es ganz leicht machte, diefen Tag ver 
Gefahr in einen Tag des Sieges zu verwandeln, von welchem für 
jehende Augen der Untergang der franzöfiichen Republik von 1848 
datirte. Ihrem ſterben jollte freilich noch ein ſchrecklicher Todes— 
kampf vorangehen. 

Ja, der 15. Mai war eine Herausforderung, die angenommen 
werden muſſte, wenn die alte Geſellſchaft ſich nicht ſelber aufgeben 
wollte. Denn neben Untergang oder Gegenwehr ſchien es kein drittes 
zu geben. Selbſt ſtarke Geiſter und furchtloſe Gemüther muſſten ja 
in den Nachmittagsſtunden dieſes Tages glauben, die ganze Hölle des 
rothen Schreckens von 1793 ſei wieder los oder wenigſtens im Be— 
griffe, wieder loszubrechen. Das eindringen der Volksmaſſen in 
den Sal der Nationalverſammlung rief Erinnerungen an ähnliche 
pöpelhafte Scenen von damals wach. Arme ausgepreſſte Limone 
von Lamartine! Die Beſiegten vom Februar hatten dich ſchon beiſeite 
geworfen, heute, an dieſem 15. Maitag, thaten es auch die Sieger. 
Im Sal der „Pas perdus“ trat nämlich Lamartine der Menge ent- 
gegen mit den Worten: „Ihr dürft nicht weiter, ihr dürft nicht in 
den Sitzungsſal eindringen!” „Mit welchem Rechte wollten Sie uns 
das vermehren ?* rief ihm Citoyen Laviron entgegen. „Wir find 
das Voll. Sie aber haben lange genug Schöne Phrafen hergeleiert. 
Das Volk ift der ſchönen Phraſen fatt und bedarf anderer Dinge. Es 
will zur Nationalverſammlung, um derjelben jeinen Willen kundzuthun“. 


214 Die Berwidelung, VI. 


Die Maffe drang ein, überſchwemmte den Sal und das Chaos 
brodelte in demjelben, wie es am Nachmittage vom 24. Februar ge- 
brodelt hatte. Umſonſt jtrengte Barbes feine Lunge bis zum berften 
an, das Volk beihwörend, ſich zurüdzuziehen. In das Geſchrei: 
„Vive Barbes!* mijchte fich der wüthende Auf: „Wir wollen 
Blanqui! Blanqui auf die Tribume!” und der gefürchtete Verſchwörer 
wurde auf die Nednerbühne hinaufgehifit, hinaufgejchleudert jo zu 
jagen. Da ftand er num leibhaftig, der Antichrift ver franzöftichen 
Bourgeoiſie, der Belzebub des Angitphilifterthbums, der Großkophta 
der Wühleret. Im übrigen ein fleines, ſchmächtiges, trodenes, 
hageres Kerlchen mit ſchwarzem Borſtenhaar, das düſtere Antlit wie 
aus gelbem Marmor gehauen, ſchwarzbehalstucht, ſchwarzbehandſchuht, 
den ſchwarzen Rock bis unter das Kinn zugeknöpft. Mit harter und 
ichneidender Stimme ſprach er: „Das Volk will, daß die National- 
verſammlung beſchließe, Frankreich werde feinen Degen nicht im die 
Scheide jteden, bevor Polen, ganz Polen wieder hergeſtellt jet“. 
Hierauf forderte er, daß ſich die Verſammlung auf der Stelle („im- 
mediatement*) mit der „Wiederſchaffung von Arbeit“ befafle, und 
redete des breiteren von den Urfachen des joctalen Elends. Gitoyen 
Sobrier jhreit dazwiihen: „Darum handelt es ſich jetzt nicht. 
Sprich von Polen, nur von Polen!“ Allein Blangut fährt weiter 
im angeichlagenen Text: eine folhe Kanzel, fein Evangelium zu 
predigen, hat er ja noch nie gehabt und er fühlt ſich ganz behaglich 
darauf. 

Blanc und Barbes find in Verzweiflung. Das Volk die 
Führerihaft Blanqui's anerfennen laſſen heißt jo viel als jede Hoff- 
nung aufgeben, daß die Bourgeoiſie doc noch mit der Kepublif und 
Demokratie zu verfühnen jein würde. VBarbes, welcher nod) dazu in 
Blanqui einen Elenvden, einen Verräther fieht, einen Schuft, der zur 
Zeit Louis Philipps der Regierung Geheimdienfte als Späher und 
Angeber geleiftet habe, wähnt ein äußerſtes wagen zu müfjen, um 
diefen Blanqui zu überblanquiſiren und dadurch zu nulliſiren, näm— 
lich den in die Verſammlung geſchleuderten Antrag, den ſofortigen 


Die Juniſchlacht. 315 


Marſch einer Armee nad) Polen zu beſchließen („de voter le depart 
immediat d’une armee pour la Pologne*), und als er bemerft, daß 
dieſe Ungehenerlichfeit gar feine Wirfung auf das „Volk“ thut, fo 
fetst er noc) eine größere darauf, indem er von der Nattonalverfanm- 
(ung fordert, fie ſolle bejchliegen, Daß eine Steuer im Betrage von 
1 Milliarde ven Reichen aufzuerlegen jei („un impöt d’un milliard 
sur les riches“). 

Da, horch, mitten in feinem Delirium, vernimmt der Redner 


Trommelgewirbel von drangen. „Was iſt das?“ — „Der Öeneral- 
marſch“. — „Der Generalmarſch? Wozu? Man verräth uns! 


Nieder mit ven Verräthern! Die Acht über den, welcher General- 
marſch ſchlagen läſſt!“ 

Die wüthende Menge ſtürzt ſich auf das Bureau und tobt gegen 
den Präſidenten Buchez an, von welchem ſie und zwar ganz richtig 
vermuthet, daß er den Befehl zum Generalmarſchſchlagen gegeben 
habe. Man umringt ihn, man wirft ihm Drohungen und Ber— 
wünſchungen ins Geſicht. Er behauptet ſeinen Stuhl um ſo ſtand— 
hafter, als ihm, von draußen gekommen, ein Herr Degouſée in dieſem 
Augenblicke zuflüſtert: „Binnen einer Viertelſtunde wird die National⸗ 
garde hier jein. Nur noch ein wenig Yilt, um Zeit zu gewinnen, 
und die Nationalverfammlung tft gerettet”. 

Ganze Schübe von rajenden NRolanden der Demagogie drängen 
einander auf die Nednerbühne hinauf und wieder hinab. Man jieht 
über der Baluftrade verjelben einen wüjten Knäuel von ſchweißtriefen— 
den Gefichtern, wuthfunkelnden Augen, ſchäumenden Yippen und ge 
ballten Fäuſten hin- und berfahren. „Im Namen des Himmels“, 
ruft der Präfident Buchez dem Wühler Huber zu, welchen er im feiner 
Nähe erblidt — „erlöjen Sie uns von dieſen Tollhausjcenen!“ 

Der angerufene Wühlhuber, als hätte er nur auf jo ein Stich— 
wort gewartet, ſchwingt ſich augenblidlih auf die Nednerbühne und 
fhreit mit Stentorlauten in das zu feinen Füßen wogende Chaos 
hinein: „Bürger, maßen die Nationalverſammlung feinen Entſchluß 
faffen will, wohlan, jo erflär’ ih im Namen des von feinen Ver— 


216 Die Berwidelung, VI. 


tretern getäufchten franzöfiihen Volkes: Die Nationalver- 
fammlung ift aufgelöjt!“ 

In demjelben Augenblide jchlägt die Uhr des Sales 31/, Uhr 
und damit tritt die Wendung ein. So raſch, rund und nett, daß 
allerdings mit etlichen Anſchein von Wahrſcheinlichkeit behauptet 
werden fonnte, der ganze 15. Mat ſei von der Reaktion ausgehect 
und mittels polizetlicher Künſte ins Werk geſetzt worden, um der 
Bourgevifie einen unwiderſprechlichen Beweis zu liefern, daß man 
mit den Socialdemofraten „ein Ende machen müſſe“. 

„Zwar zeriprengte Hubers Tollpreiftigfeit für eine kurze Weile 
die Mitglieder der Nationalverfammlung aus ihrem Situngsjale, 
welcher der tobenden Menge verblieb, die unter dem Vorſitze Lavirons 
den 24. Februar parodiven, d. h. eine proviſoriſche Regierung von 
joctaliftiich-fommuniftiiher Mache proflamiren wollte. Allein der 
Ruf: „Die Mobilgarde kommt!“ warf einen paniſchen Schred in 
die tummltirende Horde und ftäubte fie nad) allen Richtungen aus- 
einander. Aehnlich ging es überall. Nirgends konnte die fehl- 
geichlagene Demonftratton fid) zur Infurreftion umwandeln. Ueberall 
wich fie wehrlos vor dem energijchen einjchreiten der Bürgermehr 
und der Mobilgarde. Auch im Hotel de Ville, wohin Barbes geeilt 
war und wo er nur noch Zeit hatte, vom Perron herab zu den Volks— 
haufen auf dem Greveplage die troftlofen Worte zu ſprechen: „Ihr 
richtet die Nepublif zu Grunde!" Bevor es Nacht gemorben, befand 
er fich als Gefangener im Fort von Vincennes. leid) ihm wurden 
nod) an demjelben Tage und an den folgenden zur Haft gebracht 
Kafpail, Sobrier, Huber, Blanqui und andere Klubbhäuptlinge. 
Etliche Klubbs, wie der blanqui'ſche und der Klubb der Menjhen- 
rechte, wurden fofert gefchloffen. Blanc wuſſte ſich vor der grollenden 
Nationalverfammlung, welde noch am Abend des 15. Mai ihre 
Situngen wieder aufgenommen hatte, von dem Vorwurf einer Be— 
theili gung am der vergedten Demonftration ſiegreich zu reinigen. 
Einen noch ſchwereren Stand hatte Kauffiviere. CS zog nicht, wenn 
er fi rühmte, am 15. Mat verhindert zu haben, daß „Die eine 


Die Juniſchlacht. 217 


Hälfte von Paris die andere einſperrte“, und fedlich behauptete; 
„Ich habe mittelS der Unordnung die Ordnung hergeftellt“. Er 
wurde aus der Polizeipräfeftur ausgerrieben und durd) den Bankier 
Trouvé-Chauvel erſetzt. 

Alles deutete vom 15. Mai ab offen nach rückwärts. So 
offen, daß die verſchiedenen Bruchtheile der großen Reaktionspartei 
es gar nicht mehr der Mühe werth fanden, zu verhehlen, daß die 
Beſeitigung der Republik durchaus nur noch eine Frage der Zeit und 
der Opportunitätspolitik ſei. Dieſer voreilige Triumph der Rück— 
wärtſerei muſſte nothwendig zu einem kochenden Gift in den Ge— 
müthern der Maſſen werden und ward es wirklich. Der Socialis— 
mus fam auf ven Gedanfen, daß er ein Thor geweien, von friedlichen 
Demonftrationen zu erwarten, was nur mit Gewalt zu ertrotzen fei. 
Er jammelte, er waffnete fi. 

Und als ſataniſcher Verſucher trat jego zu dem Grollenden und 
Rachebrütenden der Bonapartismus und raunte ihm ſchmeichleriſch 
in die Ohren: Ich will dir die Reiche dieſer Erde unterthan machen, 
ſo du mir huldigſt. 

Ja, der zweite der Gährungsſtoffe, welche die rothe Blaſe der 
Inſurrektion vom Juni emporgetrieben haben, iſt der Bonapartismus 
geweſen. 


00 


„Womit man ſündigte, damit wird man geſtraft“. Mit dem 
Bonapartismus hatte Frankreich geſündigt, mit dem Bonapartismus 
ſollte es geſtraft werden. 

Eine Bande von fanatiſchen Kriegsknechten ausgenommen, 
welche des bürgerlichen, des geſitteten Lebens überhaupt entwöhnt 
waren, hatte i. J. 1814 alle Welt in Frankreich den Sturz des 
Tyrannen Napoleon mit Jubel begrüßt. Begreiflich! Denn nie— 


215 Die Verwidelung, VI. 


mals war jchwereres Leid und Weh über Frankreich heranfgeführt 
worden, als von jeiten dieſes genialen, aber herz und gewifienlojen 
Dejpoten geihehen. Darum wurden aud nicht etwa nur von Jun— 
fern und Pfaffen, jondern vielmehr von allen werjtändigen und red- 
lichen Franzoſen die Alliirten wirklich als „Befreier“ empfangen, als 
Erlöſer von einem unerträglid) gewordenen Joche. Allein die Stupi- 
dität der bourboniſchen Staats- und Kirchenwirthſchaft ſorgte be- 
kanntlich dafür, daß dieſe widernapoleoniſche Stimmung mälig ſich 
milderte und dann ſogar in ihren Gegenſatz umſchlug. Kaum merkte 
das der Liberalismus, als er ſich beeilte, ſeine Gedankenarmuth mit 
napoleoniſchen Gloirelappen herauszuputzen. Die bonapartiſchen 
Erinnerungen wurden zu einem Haupt-, Haus- und Hilfemittel der 
Oppoſition zugeſchnitten und auflackirt. Die Kunſt in ihren ver— 
ſchiedenen Erſcheinungsformen — auch hier, wie nur allzu häufig, vie 
Magd der Mode — lebte und webte im Napoleonismus. Malerei 
und Skulptur, Muſik, Rhetorik und Poeſie wetteiferten, den „großen“ 
Mann, ven Mann par excellence („l’homme*) zu verherrlichen. 
Der Hof- und Yeibpoet des franzöfiihen Bolfes, Monſieur Beranger, 
entwarf in einer Neihe einjchmeichelnder Chanjons eine Art von 
napoleonischer Mythologie und machte, die Nationaleitelfeit äußerſt 
geſchickt kitzlnd, den Kultus des Bonapartismus den Mafjen mund— 
gerecht. Für die Kaſernen, die Schulen, die Bureaux und die Sa— 
(ons — nicht zu vergeffen Deutſchland, das ja jeden ausländiichen 
Schund mit Begeifterung aufnimmt — that Monſieur Thiers das— 
jelbe, der ebenſo unwifjende als freche Gefhichtefä...rber, welcher 
die Geſchichte Napoleons in einen zwanzigbändigen, brillant geſchrie— 
benen Roman verwandelte und mit diefer zwanzigbändigen Lüge un— 
zählige Gimpel geködert hat. 

So war in den 20ger und 3Oger Jahren in Frankreich der 
Boden hergerichtet und zubereitet, auf weldem der dritte Sohn ver 
Hortenje Beauharnais, der „Prinz“ Louis Napoleon Bonaparte, 
den „Neffen des Onfels“ fpielen konnte. Zwar das Debut in der 
Neffenrolle fiel ganz kläglich aus. Die faſtnachtmummenſchänzlich 


Die Juniſchlacht. 219 


angehobenen Katjerabenteuer von Straßburg und Boulogne vergedten 
ſchmählich, gerade jo ſchmählich, wie früher das Karbonariabenteuer 
von Bologna vergedt war. Allein an der Stärke, welche der Napo— 
leon-⸗Mythus gewonnen hatte, brad) ich jogar die Macht des Yächer- 
lihen. Ya belle France fuhr fort, mit dem Bonapartismus zu Fofet- 
tiren, und wär’ es auch nur, um den fniffigen und pfiffigen Yonts- 
Philippismus zu ärgern. Nun, die alte Kofette hat jpäter den 
gerechten Lohn für ihre Buhleret empfangen. 

Der Bonapartismus war in den 30ger und 40ger Jahren 
feine Partei, wohl aber etwas energiiheres: — eine Sekte, deren 
Apoitel mit den ganzen Fanatismus zugleich auch die ganze Schlau: 
heit ver Seftireret entwidelten und ein bejtimmtes Ziel, die Wieder- 
berjtellung ver kaiſerlichen Deſpotie, deutlich ins Auge falten. Solche 
unermüpliche Apojtel waren der Er-Vientenant Laity und der Ex-Feld— 
webel Fialin, welcher fich jelber zum Monſieur de Perſigny nobilitirte. 
Dieſer Petrus der bonapartiſtiſchen Jüngerſchaft hat den Heiland verjel- 
ben, ven Sohn Hortenje’s, jo zu jagen erjt entdedt und zwar bei Gelegen- 
heit eines t. I. 1834 im Schloß Arenenberg im Thurgau gemachten 
Beſuches. Seither war Herr Ftalin der getreuejte und unermüdlichite 
Schildhalter der „napoleontihen Idee“ geweſen. Einen untergeord- 
neteren, aber ſehr eifrigen und thätigen Agenten hatte dieſelbe geworben 
in einem gewiſſen Lahr, welcher zur Zeit, wo der Prinz Louis Bona— 
parte nach ins Waſſer gefallenem Attentat von Boulogne in Ham 
gefangen ſaß, als Artillerieſoldat bei der dortigen Garniſon ſtand, 
ſpäter in Paris einen Weinhandel aufthat, Bankerott machte, ſchein— 
bar Maurer wurde, in Wirklichkeit aber als bonapartiſtiſcher Wühler 
unter dem Proletariat wirkte, reichlich mit Geld verſehen. 

Nach dem Ausbruche der Februarrevolution hatte die Sekte die 
kühnſten Hoffnungen gefaſſt und ihre Anſtrengungen, dieſen Hoffnungen 
Raum, Licht und Luft zur Verwirklichung zu ſchaffen, verdoppelt und 
nicht fruchtlos. Größere Verbreitung und Macht, d. h. mehr Aus— 
ſicht auf praktiſche Erfolge in der nächſten Zukunft gewann das bona— 
partiſtiſche Evangelium jedoch erſt nach dem 15. Mat. Die allge— 


220 Die Berwidelung, VI. 


meine Verſtimmung bereitete diejem neuen Ferment des unklarften 
Gährungsprocefjes eine günftige Aufnahme. 

Die Berftimmung nad jenem Maitag war in der That allge 
mein. Der Royalismus und die Jejuiterei waren verftimmt, weil 
fie fid) Doc no) nicht ganz der Yage Meifter fühlten; ver „honette” 
Kepublifanismus war verftimmt, weil es ihm nicht gelungen, bie 
Exekutivkommiſſion durch Leute feiner Wahl zu erjegen, durch Leute 
wie Marrajt und vergleichen „Honette“ mehr; in der Exekutivkom— 
milfion waren Yamartine und Ledru verjtimmt, weil fie ſich von ihren 
Kollegen verrathen oder wenigftens verlaſſen jahen; die Bourgevifie 
im ganzen war verftimmt, weil fie fürchtete, gegen eine wirkliche 
Infurreftion des Proletariats würden weder die Exekutivkommiſſion 
noch die Nationalverfammlung fie hüten fünnen; die Armee war 
verftimmt, weil die Nepublif jo gar feinerlet Anftalt machte, Die 
franzöfiichen Heere in Deutichland, in Italien oder wo ſonſt immer 
den Gloire-Kankan von ehemals wieder beginnen zu laffen; bie 
Geiftlichfeit war verftimmt, weil fie der Frömmigkeit der Republik 
doch nicht ganz trante; das „Volk“ endlid war verftiummt, weil es 
erfannte oder zur erkennen glaubte, daß es, wie im Juli von 1830, 
jo auch im Februar von 1848 geprelit worden fer und daß man mit 
der „Freiheit, Gleichheit und Bruderſchaft“ feinem Bäder aud) nur 
einen einzigen Yaib Brot aus dem Dfen lodte. Berftimmung dem— 
nad) oben, mitten und unten, Verſtimmung rechts und linfs, Ver— 
ftimmung an allen Eden und Enden. 

Da ift e8 denn gar fein fo großes, ja überhaupt fein Wunder 
gewejen, wenn nicht wenige, jondern viele Yente in Frankreich auf den 
Einfall famen, zu jagen: Der Bourbonismus hat ung geärgert, der 
Drleanismus hat ung genarrt, die Republik hat uns geäfft, wie wär’ 
es, fo wir es zur Abwechjelung wieder mal mit dem Bonapartismug 
probirten ? 

Probirt es, ihr lieben Yente! flötete in den ſüßeſten Tonarten 
die bonaparte’sche Preſſe — denn ſchon gab es eine ſolche — und die 
im Solde ver Sekte ftehenden populären Agenten, Lahr und Kom— 


Die Juniſchlacht. 931 


pagnie, verdreifachten ihre Wühlereien zu Gunften des „Prinzen“, 
der aber nicht etwa als „Kater“ — Gott bewahre! — wohl aber 
als „volfsthümlicher Chef der Kepublif“ Frankreich retten und das 
„arme Volk“ beglüden jollte. Man jtellte Drehorgeler an, melde 
die Straßen durchzogen und ein Lied herleierten, vejien Kehrreim 
lautete: 


„Napoleon, rentre dans ta patrie; 
Napoleon, sois bon r&publicain !* 


An Kreuzwegen veflamirten Eckſteinredner vom Prinzen Louis Bona- 
parte als von einem Freunde des Volfes, welcher gerade als ſolcher 
vom Louis Philipp verfolgt worden ſei und von der Bourgeoiſie ver- 
folgt werde. Ueberall bevedten jih Mauern und Wände mit Pla— 
faten, worauf in viefigen Buchſtaben „Louis Bonaparte“ zu lefen 
war. Zu taujenden wurden Steindrudsbilvder verbreitet, den alten 
Napoleon daritellend, wie er jeinen „Neffen“ Frankreich voritellte. 
Dan jorgte dafür, daR die Infafien ver Kajerne durch Soldaten und 
die Inſaſſen der Nationalwerkſtätten durch Arbeiter zur Gunſten des 
bejagten „Neffen“ bearbeitet wurden. Selbſt unter ven Mitgliedern 
des im Luxemburg tagenden „Arbeiterparlaments" predigten bona- 
partiſtiſche Miſſionäre die neunapoleoniſche Heilslehre. Bonapar- 
tiſtiſche Miſſionärinnen durchſtreiften die Vorſtädte und theilten im 
Namen des „Neffen“ Almofen. in bavem Geld und Verſprechungen 
auf Kredit aus. Man vernachläffigte fein Mittel, von welchem 
irgendwie Wirkung auf die Einbildungsfraft, die Leichtgläubigkeit und 
die Derzweiflung der Menge zu erwarten war. Hat man doch fogar 
Somnambulen dreſſirt, damit fie die bevorſtehende Wieverfehr Na- 
poleons weiljagten. 

In den Salons betrieben die Herren Bieillard, Heederen, 
Abattucci und Ney die bonaparte'ihe Propaganda. Der letstgenannte 
warb auch unter den verabjchtedeten Munizipalgardiſten dafür, wäh- 
rend der General Piat unter der Bürgerwehr und ver Batatllonschef 
Aladeniſe umter der Mobilgarde weibelten. Emil Thomas, ver 


222 Die Verwidelung, VI. 


Direktor der Nationafwerfjtätten, begünftigte ganz offen die bonapar— 
tiftiichen Zettelungen in denjelben. Herr Stalin aber, ſich titulirend 
de Perſigny, ging dem Obercharlatan aller publiziftiichen Charlatane, 
Herrn Emile de Girardin, ſchmeichelnd um den Bart und erneuerte 
feine alten Beziehungen zu dem Hauptjeſuiten de Fallour. Im den 
Verhandlungen mit dieſen beiden wurde natürlid) der Bonapartis- 
mus unter einem andern Gefichtspunfte gezeigt, als in den Aus— 
laffungen der Eckſteinredner geihah, melde angewieſen waren, den 
„Neffen“ als einen Mann von „antifer Rechtſchaffenheit“ zu preiien, 
der allein im ftande wäre, „eine Demofratie ohne Anarchie zu be- 
gründen“. 

In ver Bourgevifie verfingen jedod die bonapartiftiichen 
Lockungen dermalen noch nicht, wentgftens nicht in den leitenden 
Kretien. Weder die Konftitutionellen, noc die Royaliſten, noch die 
?oyolaiten wollten von dent „Neffen“ etwas wiffen. Alle dieje 
flugen und fuperflugen Herren würden jedem ins Geſicht gelacht 
haben, der ihnen von ver Möglichkeit einer Präfidentichaft oder gar 
einer Kaiferichaft des Gefangenen von Ham geiprochen hätte. Und 
doch hieß es hier, wie es unzähligmal oft heißen kann und muß: 


Glaub’ dreift das Argfte, dümmſte, widerwärtigjfte ! 
„ g r ’ 
Denn das erfolgt“. 


In Wahrheit, Ihon am 5. Juni gejchah ein deutliches Vor— 
zeichen, daß e8 erfolgen würde. Hätten die Auguren des „honetten“ 
Kepublifanismus und des Konftitutionalismus nur Augen dafür 
gehabt! An dem genannten Tage fanden nämlich in Frankreich Er— 
ſatzwahlen fir die Nattonalverfammlung ftatt und die 11 Gewählten 
bildeten eine jehr gemiſchte Geſellſchaft. Noch ſchien die Social— 
demokratie ſtark zu fein; denn fie brachte ihre 4 Kandidaten Kauſſi— 
diere, Lerour, Yagrange und Proudhon durch. Als vom „honetten“ 
Republikanismus gewählt konnte man Viktor Hugo, Moreau und 
Boiffel anfehen, wogegen die Wahlen von Thiers und Changarnier 
ein entſchiedener Triumph der Rückwärtſerei waren. Dieſe hatte 


Die Juniſchlacht. 223 


jett einen parlamentariichen Yeiter und einen General. Aber eine 
unendlich viel wichtigere Wahl als alle die genannten war bie des 
Prinzen Louis Bonaparte. Der „Neffe“ war in Paris und noch 
glänzender in drei Departements zugleich gewählt worden. Die 
bonapartifttichen Wühlereien hatten alfo in den Provinzen nod) kräf— 
tiger gewirkt als in der Hauptftadt, wo dod auch ſchon davon die 
Rede war, an die Stelle des gefangenen Barbes den Prinzen zum 
Oberſt der 12. Dürgermwehrlegion zu ernennen, ja ſogar eine Abord- 
mung von Arbeitern aus der Vorftadt Billette die Nationalverfamm- 
(ung aufforderte, den „Neffen des Kaiſers“ als Konſul zu proflas 
miren, während das Journal „Le Napoleonien* dreiſt erklärte: 
„Die Wahl des Prinzen hat eine ganz andere Vedeutung als die 
Wahl eines einfachen VBolfsrepräfentanten. Es liegt darin die Hin— 
weilung auf eine höhere Kandidatur“. 

Der „honette“ Republikanismus bat fi) bei diefer Gelegenheit 
im Vollglanze feiner Bornirtheit gezeigt. Er war aufer ſich über 
die Erwählung des Tribünehelden Thiers und achtete die Wahl des 
„Neffen“ für nichts. Und doc fonnte man und muſſte man willen, 
daß neben dem Ruf: „Vive Barbes!* das arme genasführte Vor— 
jtäptevolf den Auf: „Vive Napoleon!* von Tag zu Tag lauter 
erichallen ließ. Proudhon, welcher, jo oft er fid) den aus der Grau— 
dunſtphiloſophie des Erzgraudünftlers Hegel abjtrahirten Dunft aus 
den Augen wiſchte, recht Elar zu jehen vermochte, jagte am 7. Juni 
jehr treffend in jemem Journal „Le representant du peuple*: 
„Vor acht Tagen war der Bürger Bonaparte noch nichts als ein 
ihwarzer Punkt an dem in Feuer ftehenden Himmel; vorgeſtern noch 
war er nur ein dampfgefhwollener Ballon ; heute ift er eine Wetter— 
wolfe, welche Blit und Donner in ihrem Schoße trägt”. 

Die Yeiter der bonapartiftiichen Bewegung führten mit großer 
Emſigkeit und Gejchtelichfeit ihre Machenſchaften weiter. Am 
10. Juni fammelten fi große proletariihe Maſſen beim Palais 
Bourbon, weil es hieß, der am 5. Junt zum Bolfsvertreter gewählte 
„Neffe“ würde in die Nationalverſammlung eintreten, „begleitet von 


224 Die Berwidelung, VI. 


einem glänzenden Gefolge“. Der Erwartete fand aber nicht fr gut, 
zu kommen; er verjtand die Kunſt, zu warten und auf ſich warten zu 
laſſen. Er und feine Séiden wußten gar wohl, daß eine vorzeitige 
Eriheinung auf der Weltbühne Paris alles verderben fönnte. Am 
12. Juni mufjte ſodann der Prinz-Vetter, Napoleon Ieröme Bona- 
parte, welchen Korjifa in die Nationalverſammlung geſchickt hatte, 
von der Rednerbühne herab einen fürmlichen Proteſt erheben gegen 
die „widerrepublifantichen Umtriebe, welche ven Namen Bonaparte 
als einen Hebel benüsen möchten, um damit die Nepublif zu er- 
ihüttern*. Am folgenden Tage fam in der Verfammlung die Frage 
der Giltigkeit oder Nichtgiltigfeit von Louis Bonaparte's Wahl zur 
Verhandlung. Die Exekutivkommiſſion wollte die Nichtzulafiung 
des Prinzen beſchloſſen willen; angeblich, weil derjelbe gejetfräftig 
aus Frankreich verbannt ſei; in Wirklichkeit, weil jene Erwählung 
mit dem Aufe: „Vive l’empereur!* begrüßt worden ſei und weil 
der Gewählte fein Volksrepräſentant, jondern ein Thronprätendent, 
welcher die Republik auch noch gar nicht anerkannt habe. Aber ge- 
rade weil die Exekutivkommiſſion und zwar noch dazu durch den 
Mund des ſchon ganz Freditlos gewordenen Yamartine und des als 
entſchiedener Republikaner verhafiten Ledru die Nichtzulafjung des 
Prinzen verlangte, votirte die Verfammlung mit Zweidrittelmehrheit 
die Giltigkeit der Wahl und die Zulafjung des Gewählten, in welchem 
dieſe Mehrheit nur den zu Straßburg und Boulogne lächerlichſt ge- 
jheiterten „Niais“ erblidte, zu deutſch einen Nichtfer. Sie achtete 
auch nicht darauf, daß, ſobald die Entſcheidung unter den draußen 
barrenden Volfshaufen befannt geworden, dieſelben in ven Freuden— 
jchrei „Vive Napol&eon!* ausbrachen. 

Aber die Apoftel und Miſſionäre des Bonapartismus waren 
zu gerieben, um dieſen Erfolg zu überjhäßen. Die Herren Stalin 
und Patty eilten ſpornſtreichs gen London, um den „Prinzen“ von 
unüberlegten Schritten abzuhalten. „Monſeigneur — jagten fie zu 
ihm — laſſen Ste fi) durch das Votum vom 13. Juni nicht täujchen 
und verloden. Die Majorität ver Nationalverfammlung hat feines- 


Die Juniſchlacht. 225 


wegs für Sie, jondern vielmehr nur gegen die Exekutivkommiſſion 
geftimmt. Allerdings will die „echte“ eine baldigſte Wiederheritel- 
lung der Monardie; allein die Monarhiften folgen der Leitung 
von Thiers und Falloux und jener will die Orleans, dieſer jeinen 
Heinrih V. zurüdführen. Für Ste ift demnach von der Seite her 
nichts zu hoffen vorderhand. Ebenſo iſt Ihr Eintritt in die Ver— 
ſammlung unzufönmlid und unrathſam. Sie würden da doch nur 
geduldet, ſogar über die Achſel angeſehen werden. Wollten Sie einen 
verfrühten Kampf anheben, würden Sie ſicherlich eine Niederlage er— 
leiden. Hüllten Sie ſich dagegen in Stillſchweigen, ſo würden Sie 
ſich in der Menge Ihrer Herren Mitrepräſentanten verlieren und da— 
durch Ihr ganzes „Preſtige“ einbüßen. Folglich heißt unſere Lo— 
ſung: Abwarten und den Reichsapfel reifen laſſen!“ Monſeigneur 
nickte zuſtimmend, ſetzte ſich hin und ſchrieb an den Präſidenten der Na— 
tionalverſammlung einen Brief, worin er erklärte, lieber im Exil ver— 
bleiben als geſtatten zu wollen, daß ſeine Erwählung den Vorwand 
zu beklagenswerthen Wirrſalen und traurigen Irrungen abgäbe („sert 
de pretexteä destroubles déplorables et à des erreurs funesteés“). 
Sein Name jei ein Symbol der Ordnung, der Nationalität, des 
Ruhms und dinfe alfo nicht miſſbraucht werden. Der wichtigite Sat 
des Briefes war aber dieſer: „Wenn das Volk mir Pflichten aufer- 
legen jollte, würde ich fie zu erfüllen wifien (si le peuple m’imposait 
des devoirs, je saurais les remplir)*. 

Der ſcharfe Tabak dieſer nackt-hochmüthigen Prätenventenphrafe 
ſtach Doc der Nationalverfammlung jehr unangenehm in die Nafe, 
als in der Situng vom 15. Juni das prinzlide Schreiben vorge- 
leſen wurde, — um jo unangenehmer, als man von draußen das Ge- 
j&hrei der Pöbelrotten vernahm: „Vive lempereur!* und erfuhr, 
daß drüben bei den Tuilerien zahlreihe Scharen verjammelt jeten, 
welche verlangten, daß man den Louis Bonaparte zum Erſten Konful 
ausrufen jollte. Mehrere Deputirte jprachen ſich ſcharf gegen vie 
bonapartiftiihen Wühlereien aus und der General Kavaignak machte 
auf das Charakteriſtikum aufmerfjan, daß in dem Prinzenbrief das 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 15 


226 Die Berwidelung, VI. 


Wort Republik ſorgſam vermieden ſei. „Monſeigneur, Schreiben Sie 
auf der Stelle einen geſcheideren Brief!” telegraphirten die Apoftel 
nad) London. In Folge diefes Winfes langte, während die Na- 
tionalwerfammlung noch rath- und thatlos über die Prätenfionen des 
Prütendenten hin und her zanfte, abermalen ein Schreiben an den 
Präfidenten an, in welchen es unter anderem hieß: „Sch wünſche 
die Ordnung und die Aufrechthaltung der Nepublif, einer weiſen, 
großen, verftändigen Nepublif, und weil ich, jehr wider meinen Wil- 
(en, die Unordnung begmüftige, lege ich, freilich mit lebhaften Be- 
dauern, mein Mandat in Ihre Hände nieder. Bald, jo hoffe ich, 
wird die mieverhergeftellte Ruhe mir geitatten, als der einfachite 
Bürger (comme le plus simple des citoyens) nad) Frankreich zu— 
rückzukehren“. 

Damit war die Sache parlamentariſch-formell erledigt. In 
Wahrheit und Wirklichkeit aber hob fie erft recht an). Der Bona— 
partismus, deſſen Fahne jest offen aufgepflanzt war, begann mehr 
und mehr eine Macht zu werden. Schon fing er aud am, wie 
Scheidewaſſer auf die Bourgevifie zu wirfen, d. h. er warf in die— 
jelbe ein völliges Schiſma, indem das eigentliche Prozenthum mit 
feinem ganzen Börſenſchwindlergefolge ſich dem „Neffen des Ontels“ 
zuzimeigen Miene machte, mit der ſchnobbernden Spekulationsnaſe 
richtig vwitternd, daß unter einem deſpotiſchen Negiment der Ausben- 
tungsweizen und der Schwinvelhaber gedeihen würden wie noch nie. 
Der ſolid-bürgerliche Kern der Bourgeoifie dagegen ſcharte ſich um 
den General Kavaignak, als um das von ihr zunächſt erkorene Zu— 
funftshaupt des Staates. Bedenklicher jedoch als die Hinneigung 
der Barone der Agiotage mit ihren VBafallen zum Bonapartismus 





*) Das erfannten unbefangene und urtheilsfühige Beobachter jofort. 
So ſchrieb der ſchweizeriſche Geſchäftsträger Barman in feiner Depeſche an 
den Bundesrath vom 17. Juni: „La demission de Louis Napoleon Bona- 
parte comme representant du peuple est venu &carter encore un sujet irri- 
tant; cependant bien des personnes pensent que ce pretendant eüt ete 
moins dangereux vu de pres et a l!oeuvre*“. ©. B. N. 


Die Juniſchlacht. 21 


war der Umjtand, daR das bonapartiſtiſche Gift den Maſſen einge- 
impft war und in denjelben weiter und weiter um fid) fraß. 


4. 


Die „blauen“ Nepublifaner, die Orleaniften, die Bourboniften 
und Jeſuiten, allefanımt wähnten, am 15. Mat für ihre Rechnung 
die „Rothen“ befiegt zu haben, während fie doch nur für ven Bona- 
partismus gearbeitet hatten. 

Diefer ſteckte jetst jelber die rothe Maffe vor und wüthete förm— 
(ih in feinen Journalen gegen die „Blauen“ und überhaupt gegen 
die Bourgesifie. Tag für Tag brachte 3.8. der „Napoleon re- 
publicain* jeit Anfang Juni's die wildeften Wühl- und Heßartifel. 
In der Nummer diejes Blattes vom 11. Juni ftand zu lefen: „Volk, 
wenn deine Vertreter und Angeitellten (tes commis) ihr Mandat 
verlegen, jo erinnere did) der rothen Fahne und des Muthes deiner 
Brüder von 17931” Die 5 Mitglieder der Erefutiofommiffion 
biegen in dem Blatte nur „die 5 Invaliden, deren jeder 20,000 France 
Monarsbejoldung habe”. Die Nummer vom 16. Juni brachte eine 
Aufforderung an die Mobilgarde, diefe jollte die Soldaten won der 
Linie darüber aufklären, daß der Heulmaier-Schreden („la terreur 
bourgeoise*) ſie, die Soldaten, zu Henfern ihrer Brüder maden 


möchte. 
In einem andern, von dem notoriſchen Bonapartiſten Klavel 
herausgegebenen Blatte „(L’organisation du travail“ — man 


fieht, die Kommis der Firma Bonaparte entlehnten vom Soctalis- 
mus ohne weiteres die Stichworte) murden die Mitglieder ver Na- 
ttonalverfjammlung dem proletariichen Haſſe jignaltfirt als „Faulen- 
zende Mandatare mit 25 Francs täglich, die, wenn das Volk Brot 


verlangt, demſelben Steine reihen”. Journale ähnlichen Gelichters 
on 


228 Die Verwidelung, VI. 


riefen ſchon durch ihre Titel düſterſte Erinnerungen und die lebhaf- 
teften Bejorgnifje der Bourgevifie wach. So der „Robespierre“, 
der „Bere Ducheſne“, die „Karmagnole“, die „Janhagel-Zeitung“ 
(Journal de la canaille) und die „Sturmglode der Arbeiter“. Aud) 
in dieje Zeitungsnefter wufjte der Bonapartismus feine Bafilijfen- 
eier zur legen. Und noch wilder und plumper als in Paris wühlte 
und beste er in den Provinzen. Hier eiferte er insbejondere gegen 
die von der proviſoriſchen Negterung eingeführte Fünfundvierzig-Gen- 
times-Steuer und verfündete, der „Neffe des Kaiſers“ würde die— 
jelbe aus feiner Taſche bezahlen oder auch die Engländer fie bezahlen 
machen, was zur Folge hatte, daß vielerorten die Bezahlımg der 
Steuer von den Bauern verweigert wurde mit dem Gebrülle „Vive 
V’empereur!* Die tolliten Gerüchte find von der bonapartiſtiſchen 
Propaganda in Umlauf gejett worden, um die Gemüther zu ver- 
wirren und die Bolfsphantafie zu erhiten. Hier hieß es, der „Neffe“ 
jet zum Präſidenten der Nepublif ernannt; dort, er ſei als Kaiſer 
proflamirt und marjchtre an der Spitze einer großen Armee, Wagen 
voll Geld binterdrein, auf Paris. Die emjigen Verſchwörer wuſſten 
alles und jedes ihren Zwede nutzbar zu machen. Als 3. DB. gerade 
zu diefer Zeit in Südfrankreich zu Toulouſe und Nimes die alten 
dummen Zänkereien und Stänfereten zwijchen Katholifen und Pro- 
teftanten wieder ausbrachen, warfen die Miffionäre des Bonapartis- 
mus in diejes theologische Gequängel plötzlich die Yojung „Vive 
V’empereur!* hinein, wie um den Yeuten einen Weg zu metjen, 
welcher aus dem unerſprießlichen Wirrwar hinausführen könnte und 
würde. Die größte Sorgfalt und der vielgeftaltigite Eifer ward je- 
dod von feiten der bonapartiftiihen Propaganda fortwährend auf 
das parifer Proletariat verwendet, namentlich) auf die Injafjen ver 
Nationalmerkitätten. Mehrere der Abtheilungsvorftände („briga- 
diers*) in venjelben waren gefaufte Wühler des Bonapartisimus und 
mit Geldmitteln wohlverjehen. Einer diefer armen Teufel ließ eines 
Tages die Summe von 8000 Francs in Bankbillets jehen und auf 
die verwunderte Frage, wie er denn in den Befit einer folden Summe 


Die Juniſchlacht. 229 


gelangt jei, gab er zur Antwort: „Ich diene einem Herrn, welder 
freigebiger tft als die Republik”. 

Alles zufammengehalten, kann es gar feinem Zweifel unter- 
jtellt werden, daß die genasführten und gemifjbrauchten proletariichen 
Maſſen durch das bonapartiftiiche Komplott ſyſtematiſch gegen die 
republikaniſche und die royaliftiiche Bourgevifie aufgewiegelt, aufge 
reizt, aufgeſtürmt und hierauf methodiſch einer Krifis zugehetzt wur- 
den, — einer Krifis, welche — traurig zu jagen! — die von pfif- 
figen Pidelhäringen des Parlamentarismus wie Thiers und von 
tückiſchen Jeſuiten wie Falloux verblendete Bourgevifie ebenfalls her- 
beimünfchte und herbeirief mit ihrem graufamen Geſchrei: „Man 
muß ein Ende machen!“ Was nachher fommen follte, wufite die in 
ſich gefpaltene und zerfahrene Bourgeoiſie nicht, wohl aber der Bo- 
napartismus. Ja, er wuſſte ganz genau, was er wollte: — näm— 
lich aus dem Grundſchlamm der Anarchie, welche jeiner Rechnung 
nad) aus dem von ihm zur äußerten Schärfe zugeipisten Zufanmen- 
ſtoß zwifhen Bourgeois und Proletariern hervorgehen ſollte, eine 
Kaiſerkrone herauffiichen. 


- 


°. 


In der Sitzung der Nationalverfammlung vom 15. Juni er- 
Härte Monſieur Goudchaux als Sprachrohr der Bourgevifie von der 
Rednerbühne herab: „Die Nationalwerfftätten müſſen fofort (im- 
mediatement) verſchwinden. Man muß fie nicht allmälig eingehen 
lafjen, jondern fie müſſen jofort und mit einmal weg! Ihr müſſt 
das auf der Stelle beſchließen; denn ihr habt ohnehin ſchon zu viele 
Zeit verloren. Der Boden ift ganz und gar unter euch minirt“. 

Vergebens beihwor der Miniſter Trelat die Verſammlung, vie 
Sache nicht zu überftürzen. Vergebens ſuchte er zu zeigen, daß die 
Forderungen der Arbeiter nur gerecht und gar nicht übertrieben jeien, 


230 Die Verwidelung, VI. 


wenn fie verlangten, daß man fie mittels einer wirkſamen Kontrole 
gegen die Ausbeutung durch die Meifter („patrons*) und Unter- 
nehmer jhüte, daß man ihnen vom Keingewinnft einen bejcheivenen 
Antheil zuweiſe und daß man es ihnen ermögliche, gejhäftliche Aſſo— 
ciattonen zu bilden. Die Mehrheit der Verfammlung wollte nicht 
jehen und hören, jondern jchrie mit dem zum Berichterjtatter ernann- 
ten Monfieur de Fallour: „Man muß ein Ende maden!“ 

Am 18. Juni richteten die Arbeiter der Nationalwerkſtätten ein 
Schreiben an Herrn Goudchaux, worin fie jagten: „Nicht der Ar- 
beitswille fehlt uns, ſondern eine nützliche und unjeren Gewerfen und 
Fertigkeiten entiprechende Arbeit. Wir erjehnen fie von ganzem 
Herzen. Sie fordern die fofortige Auflöfung der Nationalwerfjtät- 
ten, aber was ſoll denn aus den 110,000 Arbeitern werden, Die zum 
einzigen Eriftenzmittel für fih und ihre Familien ihren fürglichen 
Taglohn haben? Will man jie den übeln Rathſchlägen 
des Hungers, den Verlodungen der Berzweiflung 
preisgeben? Will man jieden Wühlern zur Beute 
binwerfen?“ 

Umfonft, alles umſonſt. „Man muß ein Ende machen!“ 

Am 21. Juni ließ auf Befehl der Exekutivkommiſſion der Ar— 
beitsminifter ein Dekret ausgehen, Fraft deſſen die Arbeiter aufgefor- 
dert wurden, jofort in die Armee einzutreten oder aber fid) zum Ab- 
gang in die Provinzen bereitzuhalten, wo ihnen im Afford zu verrich— 
tende Erdarbeiten angewiejen werden jollten. 

Dieſes Dekret offenbarte den vollftäindigen Ideenbankerott des 
regierenden Liberalismus. Bejonders harakteriftiich ift, daß er in 
erfter Linie die Arbeiter zu uniformirten Müffigängern machen wollte. 
DO per gehörte das Dekret vom 21. Juni mit zu dem Man-Muß— 
Ein-Endemahungsplan der Thiers, Fallour und Kompagnie? War 
die Erefutivfommiffion nur von den fonftitutionellen Windmachern und 
den Loyolaiten vorgeſchoben, um das Proletariat zu einem entjchei- 
venden Waffengange herauszuforvern? Man muß es glauben; um 
jo mehr, als unftreitbar grell die Thatſache dafteht, Daß man bie 


Die Juniſchlacht. 231 


Herausgeforderten ihre Vorbereitungen zur Straßenſchlacht recht auf- 
fallend ungeſtört betreiben und vollenden lief. Es kann gar nicht be- 
zweifelt werden, dag man den Kampf in feinen Anfängen leicht hätte 
erjtiden können. Aber man wollte nicht; man ließ ihn erjt vecht 
großwachſen, damit auch der Sieg um jo größer, enticheidender und 
vernichtender jet. 

Der Feldherr, welchen die Rückwärtſerei fid) auserjehen hatte, 
der General Kavaignak, war ganz der richtige Mann, diefen Ge- 
danfen ſich einblaſen zu laſſen und denſelben zu verwirflihen. Er 
paſſte, wie die eigentlichen Ausheder des Gedankens, die konſtitutio— 
nellen Füchſe und jeſuitiſchen Wölfe kalkulirten, um jo beſſer dazu, als 
er für einen Republikaner galt, weil ſein verſtorbener Bruder Godefroi 
einer geweſen war. Bekanntlich gehörte im übrigen Kavaignak zu 
den „afrikaniſchen“ Generalen, deren militäriſcher Ruf über ihr Ver⸗ 
dienjt weit, jehr weit hinausging. Alle dieje Herren, die Bugeaud, 
Changarnier, Lomoricière, Bedeau, Kavaignak u. ſ. w. reichten, genau 
angeſehen, über das Normalmaß des richtigen Korporalismus nie und 
nirgends hinaus und zudem war die Kriegführung in Algier jeden— 
falls keine Schule der Achtung bürgerlicher Freiheit, ſondern vielmehr 
nur eine Schule des brutalen Militarismus, in welcher auch Ka— 
vaignak eine nicht geringe Portion von Fühlloſigkeit ſich angeeignet 
hatte. Seine ganze Anſchauung war eng und klein, ſeine politiſche 
Bildung und Einſicht gleich Null, ſeine Empfindungsweiſe und ſein 
Gebaren ſo hart, trocken und hölzern wie ſeine Figur und ſein gries- 
grämlich zugeknöpftes Gefiht. Summa: ein muthiger Soldat von 
untergeordneter Intelligenz, welcher ſich einbildete, ein ſelbſtſtändiger 
Held zu ſein, während er nur ein Hebel, ein Rückwärtshebel in den 
Händen von pfiffigen und herzloſen Ränkelern geweſen iſt, — ein tapferer 
Hohlkopf, welcher, wie glaubhaft verſichert wird, wähnte, die gräu— 
liche Juniſchlacht für die Republik zu ſchlagen, während er ſie in 
Wahrheit für die Tyrannis, für den Bonapartismus ſchlug ... 

Derweil war der in das Dekret vom 21. Juni eingewidelte 
Tehdehandihuh aufgenommen worden 


232 Die Berwidelung, VI. 


Noch an demjelben Tage, wo er hingeworfen ward, bildeten ſich 
proletariiche Anfammlungen in den Straßen und auf den Plätzen. 
Die Marjeillaife wurde angeftimmt, aber zwiichen ven Strophen ber 
Revolutionshymne hinein riefen Leute in Bluſen, die aber ganz wie 
nachgemachte Bluſenleute ausfahen: „Vive Napoleon!“ In der 
Nacht jodann traten Abgeordnete der Nationalwerkitätten und ſolche 
des aufgelöften Arbeiterparlaments vom Luxemburg zu einer Be— 
vathung zufammen und festen auf den folgenden Tag eine Mafjen- 
proteftation gegen das Defret feit. 

Sie fand am 22. Juni, am Frohnleihnamsfefte, Vormittags 
gegen 10 Uhr ftatt. Etwa 1500 Arbeiter zogen mit fliegenden 
Fahnen unter Führung des beliebten Klubbpropheten und Eckſtein— 
redners Pujol zum Luxemburgpalaſt, wo die Exekutivkommiſſion re— 
ſidirte. Pujol ſtieg mit vier Delegirten die Treppe hinauf und ver— 
langte den Bürger Marie zu ſprechen. Bei demſelben vorgelaſſen 
fest fich der Redner in Poſitur und legt los: „Bürger, vor der Fe— 
bruarrevolution“ — „Pardon, unterbriht ihn Marie; mir jcheint, 
das ſei ein wenig weit zuriikgegangen. Erinnern Sie fi, daß 
meine Zeit Foftbar ift”. — „Ihre Zeit gehört nicht Ihnen, jondern 
dem Volke“. — „Bürger Pujol, wir fennen Ste jchon ſeit lange und 
haben ein Aug’ auf Ste”. — „Thut nichts; feit dem Tage, wo id) 
mich der Volksſache geweiht, hab’ ich mid, gewöhnt, wor feiner 
Drohung zurückzuweichen. Sie drohen mir aljo ganz umfonft. Wollen 
Sie uns hören?" — „Da Sie einmal bier, jo mögen Sie ſprechen“. 
— Bırjol entwidelte dann mit hinlänglichem Pathos den Proteft der 
Arbeiter gegen das Defret vom vorigen Tage. Worauf Marie: „Ich 
verftehe. Aber, wohlan, merfen Sie auf: — Wenn die Arbeiter 
nicht in die Provinzen abreifen wollen, jo werden wir fie mit Gewalt 
dazu zwingen. Mit Gewalt, verftehen Sie?" — „Mit Gewalt? 
Recht hübſch das! Wohl, wir wiffen jett, was wir wiffen wollten. 
Adieu, Bürger“. 

Ungeduldig hatten drumten die Arbeiter der Rückkehr ihrer Ab- 
geordneten geharrt. Pujol führte die ganze Schar nach dem Saint- 


% 


Die Juniſchlacht. 233 


Sulpice-Blat, wo er vom Rande des Springbrunnens herab eine 
Rede hielt, deren kurzer Sinn war: Wir haben von der Regierung 
nichts zu hoffen und müſſen ums demnach felber helfen. „Heute 
Abend um 8 Uhr beim Pantheon!” ſchloß er, worauf ſich Die Menge 
zerftreute, in tumultuariihen Haufen die Quais hinauf nad) dem 
Greveplat und im die Vorftadt Saint-Antoine ziehend, überall die 
Rufe „Vive Barbes!* und „Vive Napoleon !* in einander mijchend 
und ſchon durch dieſe ſeltſame Berfuppelung des Socialdemokratismus 
mit dem Imperialismus überall Beſorgniß und Schrecken erregend. 

Die Verſammlung auf dem Platze beim Pantheon zur achten 
Abendſtunde zählte ſchon nach tauſenden. „Arbeit oder Brot!“ war 
die Loſung. Dann wurden wilde Drohungen laut. „Da man uns 
abermals verrathen will, wie man uns 1830 verrathen hat, ſo ſoll 
der Verrath im Blute unſerer Feinde erſtickt werden“. Pujol fragte: 
„Schwört ihr das?“ — „Wir ſchwören es!“ — „Wohlan, morgen 
früh um 6 Uhr zur Stelle!” 

Es iſt mohlbezeugt, daß dieſe proletartiche Berfammlung beim 
Pantheon ein jo zu jagen rejpeftables Ausjehen hatte. Zeugen, 
weiche Scharfe Augen im Kopfe und wenig Sympathie für das Volk 
im Herzen hatten, mußten zugeben, daß hier taufende von ehrlichen 
Arbeitern beifanmen waren, welche durch die Noth, dur die bare, 
blanke Noth zur Verzweiflung getrieben wurden. Gewif, die joctaliftt- 
ihen Bhantajmen und die bonapartiftiichen Umtriebe haben zur Herbei- 
führung der Junifataftrophe viel gethan, jehr viel; aber noch mehr 
that doc) der Hunger. Ya, der Hunger, und es war daher um fo 
niederträchtiger, daß die Sieger der Juniſchlacht nachmals die Be- 
fiegten nicht nur erbarmungslos granfam behandelten, was die Auf- 
regung des Sieges wenigſtens erklärlich machte, ſondern auch raffinirt 
grauſam verleumdeten und beihimpften. Schon die Angabe, die 
Anzahl der Inſurgenten jet auf 100,000 Mann angeftiegen, war 
eine große Uebertreibung. Dann hieß es, diefe Horde von 100,000 
Raſenden habe jid) plötzlich und nur aus brutaler Gier auf die Reichen 
geftürzt, um fie zu erwürgen. Oder, diefe 100,000 Barbaren, zu- 


234 Die VBerwidelung, VI. 


ſammengeſetzt aus dem Abſchaum der menſchlichen Raſſe, jeien auf 
nichts ausgegangen, als Paris mit Mord, Brand und Nothzucht zu 
erfüllen. Weiter, es hätten in den Reihen der Aufitändiichen 20,000 
und mehr Galeerenfträflinge und Zuchthäuſler gefochten, alfo unter 
dem „Abihaum“ noch einmal Abſchaum. Endlich, die Infurgenten 
hätten ımerhört ſcheuſälige Kampfmittel in Anwendung gebracht, mit 
Bitriol geladene Feneriprigen, Spendung von vergifteten Branntwein 
an die Soldaten u. dal. m. 

Das find lauter Lügen, zum Theil ganz dumme. Die Zahl 
der Junifämpfer betrug nicht mehr als 40 oder höchſtens 50,000. 
Daß ſich darunter unſaubere Elemente, vielleicht jogar etliche hundert 
Berbrecher eingeichlichen haben, it wahr. Aber welcher kämpfenden 
oder nicht kämpfenden Partei ſchließen ji denn feine unjauberen Ele— 
mente an? Mögen doc einmal das Baronenthum der Agiotage und 
die Induftrieritterichaft des Börſenhumbugs ihre eigenen Neihen 
muftern, fie werden dann finden, daß Diebe, Räuber, Fälſcher und 
andere Böſewichte nicht immer in Gaunerſpelunken und Zuchthäufern, 
fondern anderswo wohnen, in jehr „rejpeftabeln“ Häuſern nämlich. 
Aber die „großen“ Diebe henft man befanntlid nicht, und wenn etwa 
mal da oder dort einer zufällig an den Galgen fommt, jo weint fid 
die „Rejpeftabilität“ von ganz Europa vor Schmerz darüber die 
Augen roth. Als zwei Hauptjünden hat man den Junikämpfern den 
Tod des Erzbiſchofs Affre md den Mord des Generals Brea ſchuld— 
gegeben. Die erſte dieſer Sünden haben fie gar nicht begangen, maßen 
es erwiefen ift, daß der verehrungswirdige Prälat durch die Kugel 
eines Soldaten und nicht durch die eines Infurgenten jeine Todes— 
wunde empfing. Die zweite diefer Sinden, der Mord Bréa's, tft 
allerdings und jelbftwerftändlid eine abſcheulichſte, aber es wird 
darauf ein ganz eigenthümliches Streiflicht geworfen durch Die That- 
ſache, daß in dem Mordfpiel der motorische bonapartiftiiche Agent 
Lahr eine wortretende Rolle gefptelt hat *). 


) Seine bonapartiftifche Agentur bat ihn freilich nicht davor geſchützt, 


Die Juniſchlacht. 235 


Ein ſtrenggerechter, von der Gehäffigfeit der Kaſtenvorurtheile 
und den Partetleivenihaften unbeeinfluffter Wahrſpruch über den 
Juniaufſtand wird dahtır lauten, daß diejer ein bewaffneter Proteſt 
gegen den Brucd der im Februar den Arbeitern gemachten Ver- 
ſprechungen gewejen tit, jowie, daß der Proteft, ungeachtet der ein- 
zeinen Ausjchreitungen, welche ihn bejudelten, im ganzen und großen 
mit heldiſcher Begeifterung und Energie durchgefiihrt wurde. Und 
weiter, daß die Junikämpfer ihrer ungeheuren Mehrzahl nach feines- 
wegs eine Horde von Barbaren oder eine Bande von VBerbrechern 
waren. Wären fie Das geweſen, jo hätten ſich nicht etliche Tage lang 
große Quartiere von Paris völlig in ihrer Gewalt befinden fönnen, 
ohne dar Eigenthum und Yeben der Bewohner, jowie die Ehre ver 
Frauen höchlich gefährder geworden wären. Daß eine jolche Ge- 
fährdung aber nicht vorhanden war, iſt eine Thatjache, welche ſelbſt 
die grauſame Siegeswuth der Angſtphiliſter nicht zu leugnen gewagt 
hat. Nein, nicht Barbaren und Böjewichte waren es, welche ven 
Junikampf anhoben, jondern verzweiflungswolle Arme, die an das 
Eiſen appellixten, als an den alten Nothbreher, um ihr keineswegs 
üppiges, jondern ganz beſcheidenes Programm zu verwirklichen, das 
ihnen einer der Ihrigen, der brave und hochbegabte Tiſchlergeſell 
Leroy, im Februar vorgejungen hatte: — 

„a3 wir begebren von der Zukunft Fernen ? 
Daß Arbeit uns und Brot gerüftet fteh'n, 
Daß unire Kinder in der Schule lernen 
Und unſre Greiſe nicht mebr betteln geh'n“. 


6. 
Freitags den 23. Juni waren zur ſechſten Morgenſtunde etwa 
8000 Arbeiter auf dent Bantheonplate verfammelt. Bon den Stufen 


als einer der vier „iiberwiejenen“ Mörder Bréa's am 17. März von 1849 
guillotinirt zu werden. 


236 Die Verwidelung, VI. 


des Periftyls herab redete Pujol fie an: „Bürger, ihr fein heute, die 
ihr geftern geweien. Ich dank’ end. Vorwärts!“ 

Die Menge ordnet fi) nad) der Weiſung von Führern, die ein 
um den rechten Bluſenärmel geihlungenes blaumeifrothes Band 
fenntlih macht, zur Marichkolonne und zieht mit wehenden Bannern 
nad) dem Baftilleplate, wo fie den Manen der Kämpfer von 1789 
und 1830 eine Art Todtenopfer, eine Chrfurchtbezeugung darbringt. 
Dann geht der Marſch weiter, auf die Boulevards hinem und bis 
dorthin, wo die von der Seine herauffommende Straße Saint-Denis 
mündet. „Halt!" Der Zug fteht. Ein minntenlanges Schweigen. 
Dann: „Zu den Waffen! Auf die Barrifaden!“ 

Warum aber lief man alles das, was geftern im Sinne der 
Inſurrektion geſchehen war und was heute in demjelben Sinne geichah, 
jo ohne alle Abmahnung und Warnung, jo ohne alle Hinderung ges 
ihehen? Warum ? Thörihte Frage! Man wollte vreinfartätfchen, 
füfiliven und deportiven ; man wollte „ein Ende machen“. 

Um 101/, Uhr ftanden auf dem Boulevard Bonne-Nouvelle 
ihon drei hochgethürmte Barrifaden, auf deren Zinnen dreifarbige 
Fahnen flatterten mit der Infchrift: „Brot oder Top!“ In demfelben 
Augenblide, wo der Barrifadenbau hier begonnen hatte, erhoben fid) 
diefe Burgen der Empörung aud) in der Vorſtadt Saint-Martin, in 
der Borftadt du Temple, in der Vorftant Saint-Antoine, in der-Vor— 
ftadt Poiffontere und auf dem Baftilleplas. Auf dem Iinfen Ufer 
der Seine war die Infurreftion ebenfalls rüftig an's Werk gegangen. 
Das Pantheon mit feiner Umgebung, die Vorſtadt Saint-Jacques, 
die Cit6, lauter für den Barrifadenfrieg ſehr geeignete Quartiere, 
waren in ihren Händen. # 

Jetzt erft, um 11 Uhr, wurde Generalmarſch geichlagen, ein 
erftes Zeichen, daR es etwas wie eine Regierung, eine Sicherheits- 
behörde, eine bewaffnete Macht gäbe. Wenn es für die damaligen 
Machthaber überhaupt eine Entſchuldigung dafür gibt, daß fie den 
Aufftand recht abfichtlih groß werden ließen, jo mag es dieſe jein, 
daß fie wähnten, ausreichende Streitkräfte zur Hand zu haben, um 


Die Juniſchlacht. au 


denjelben raſch und entſchieden niederichlagen zu können. Dem Kriegs- 
mintiter Kavaignak jtanden zu unmittelbarer Verfügung die 20,000 
Mann Pinientruppen, welde die Garniſon von Paris bildeten, ferner 
16,000 Mann Mobilgarden, 2600 Mann „republifaniiche“ Garden 
und 2500 Sergeants de Ville. Sodann war vorgejorgt, daß aus 
den nächitliegenden Garnifonen binnen wenigen Stunden mehr als 
15,000 Mann Pintentruppen berbeigezogen werden fünnten. Endlich 
hoffte ver General und zwar mit Necht, daß die pariſer Bürgerwehr, 
wenigitens der weit überwiegenden Mehrzahl nad, als die ſich er- 
weiſen würde, als welche fie am 15. Mat ſich erwiejen hatte, d. b. 
als von Herzen bereit, bei ver Ein-Ende-Machenſchaft mitpabeizufein. 

Hinfichtlih Des gegen die vorhergejehene, herausgeforderte und 
großgezogene Injurreftion anzuwendenden Operationsplans war die 
Kegierung uneinig. Ledru-Rollin, welchem Arago beitrat, verfocht 
mit Gründen der Menſchlichkeit und einer gefunden Bolitif die Anficht, 
daß man es garnicht zu einem wirklichen Ausbruche des Bürgerkriegs 
kommen laſſen und darım den Barrifavdenbau verhindern jollte. 
Allein Vernunft und Menjhlichkeitsgründe fanden feinen Eingang 
in den hagebuchenen Korporalsſchädel Navaignafs. In dieſem Schädel 
hatte die Vorstellung, die Würde der Armee jei durch den Ausgang 
der parifer Straßengefechte vom Juli 1830 und von Februar 1848 
geihädigt worden und müfite jetzt ſchlechterding wiederhergeitellt wer— 
den, zu einer fixen Idee ſich verknöchert und der General wollte ſich 
daher um feinen Preis die herrliche Gelegenheit entgehen laſſen, die 
Armeefahne von der eingebildeten Bemakelung im Blute der Inſur— 
genten reinzuwaſchen. Zu diefem Zwede durfte man natürlich den 
- Kampf nicht etwa verhindern, ſondern muſſte vielmehr denſelben recht 
umfafjend entbrennen, recht großartig werden laſſen, alles „zur 
größeren Ehre des Säbels“. 

Kavaignak beitand deſſhalb darauf, daß man die Proletarier in 
den von ihnen beſetzten Duartieren vorderhand ganz ungehindert 
Ihalten und walten ließe. „Die Nationalgarde — äußerte er mit 
echtafrikaniſcher Kriegsgurgelei — mag zuſehen, wie fie ihre Häufer 


238 Die Berwidelung, VI. 


und Butifen vertheidige“. Und von dieſem Urbilde ver Korporal- 
ihaft haben Schwachköpfe gefafelt, daß er das Zeug zu einem fran- 
zöſiſchen Washington gehabt, ja, daß er ſich jelber für prädeſtinirt 
gehalten, ver Wafhington Frankreichs zu werden! Als ob man aus 
ſolchem Hole Waſhingtons ſchnitte! Und überhaupt: ein fran— 
zöſiſcher Waſhington? Stupiditas stupididatum ! 

Der Plan des Generals war diefer: — Als Grundſtock und 
Rückhalt aller Operationen eine mafjenhafte Truppenzahl in den 
Tuilerien, auf dem Konfordeplag, in den Champs-Elyjees, auf der 
Eſplanade der Invaliden und beim Palais Bourbon verfammelt zu 
halten, um im jedem Falle die Nationalverfammlung gegen alle Be- 
drohung ficher zu ftellen. Dede Berzettelung der Streitkräfte ſtrengſtens 
zu vermeiden. Nur mit gewaltigen Kolonnen zum Angriff auf die 
Stellungen der Infurgenten vorzugehen und zwar jo, daß diefe An- 
ariffsfolonnen immerfort in durchaus freier und ununterbrochener Ber- 
bindung mit der Hauptmacht wären. Cs war alfo auf die Lieferung 
einer förmlichen Schlacht abgejehen, und ob dabei viel franzöftiches 
Blut fließen würde, fiimmerte einen traveftirten Waſhington ganz umd 
gar nicht, wenn nur fein ‘Plan ftrift eingehalten wurde, was er aud) 
wirklich ward. Fühlte er ſich Doc bereits als Diktator und konnte 
er fich auch als jolcher fühlen, da von feiten der „honetten“ Kepubli- 
£aner, welche in Herrn Marraft ihren Parteiführer anerkannten, be— 
reits am 19. Juni und dann noch dringlicder am 22. der Exekutiv— 
kommiſſion zugenmthet wurde, alle Gewalt in den Händen des Ge— 
nerals zu vereinigen, — eine im Grunde überflüſſige Zumuthung, da 
ja Kavaignak als Militärchef diefe Gewalt thatſächlich ſchon beſaß. 

Hatten die Aufſtändiſchen ihrerſeits einen oberſten Führer? 
Hatten ſie einen Schlachtplan? Die erſte Frage iſt unbedingt zu ver— 
neinen. Von Pujol kann gar feine Rede fein, dem der verſchwaud 
in der Maffe, ſowie der Barrifadenbau begonnen hatte. Aber einen 
Schlachtplan hatten fie allerdings und derſelbe ift ſyſtematiſch ing 
Werk gejetst worden, jo zwar, daß die Angabe, weitaus die meiſten 
Barrifadenhäuptlinge ſeien altgediente Solva geweſen, feiner Anz 


Die Juniſchlacht. 239 


zweifelung unterliegt. Das Proletariat hatte ſich die dichtbevölkerten 
oftwärts gelegenen Stadtquartiere zum Kampfplat auserwählt. Hier 
fonnten die Infurgenten bei der Bewohnerihaft auf Theilnahme und 
Unterſtützung rechnen und hier wurden fie von den labyrinthiichen 
Dertlichkeiten, welche die Entwidelung ſtarker Truppenmafjen unmög— 
(ich) oder doch ſehr ſchwierig machten, höchlich begünitigt. Ihre Ab- 
ficht war, die Maſchen des ungeheuren Barrifadenneses, wozu fie die 
öftlichen Stadttheile gemacht, allmälig nad) Weiten auszudehnen, wo— 
bet fie zumächft zwei Angriffspuntte in Auge hatten, das Stadthaus 
und die Bolizeiprüfeftur. Würde es ihnen gelingen, ſich diefer beiden 
Punkte zu bemächtigen, jo wollten fie von dort aus auf beiden Ufern 
des Fluſſes gegen die Tuilerien und gegen ven Palaft ver National— 
verfammlung (Palais Bourbon) vorgehen. Borderhand waren die 
vier Hauptitellungen der Aufſtändiſchen auf beiden Seiten der Seine 
gleichmäßig vertheilt. Auf der rechten Seite jtand einer ihrer Ge- 
walthaufen im Faubourg Poiſſonière und im Faubourg du Temple 
mit dem Hauptquartier im los Saint-Vazaire, ein zweiter von der 
Straße Saint-Antoime bis zur Kirche Saint-Gervais mit dem Haupt— 
guartier auf den Baſtilleplatz; auf den linfen Ufer jenfte ein Haupt: 
forps von jenem im Pantheon aufgeichlagenen Generalguartier durch 
die Straßen Saint-Jacques und De la Cité bis zu den Brüden Saint: 
Michel und Petit-Pont ſich herab, während ein zweites die Brücke des 
Hptel-Dien, den Maubertplag und die Strafe Saint-Viktor be- 
jetst hielt. 

Der General Kavaignak ſchlug jein Hauptquartier in ver 
Wohnung des Präfidenten der Nationalverfammlung auf. Etliche 
Mitglieder der Erefutivfommijfion waren da bei ihm. Als der Ge— 
neralmaric) geſchlagen wurde und Yinie und Nationalgarde auf ihre 
Sammelpläte eilten, berief Kavaignak die Generale Bedeau, Lamori— 
ciere, Damejme, Foucher, Yebreton und andere zu fich, um denſelben 
ihre Rollen in dem beabfichtigten Kampfſpiele zuzutheilen. Bedeau 
erhielt den Auftrag, eine Divifion nach dem Stadthauſe zu führen. 
Lamoricière ward befehligt, mit einer zweiten Divifion die Yinie der 


240 Die Berwidelung, VI. 


Boulevards vom Chateau dD’Eau bis zur Mapeleine zu decken. Da- 
meime, an der Spitze einer dritten das linfe Seineufer, insbejondere 
den Luxemburgpalaſt, wo ein Theil der Exekutivkommiſſion fid) befand, 
in Obhut zu nehmen. 

So die Vorbereitungen zur unheilvollen Juniſchlacht. 


da 


An zwei Stellen zugleich hob fie an, beim Pantheon und bei 
der Borte Saint-Denis. 

Ehre dem alten Arago, der als Mitglied der proviſoriſchen Re— 
gierung und der Erefutivfommiffion jonft wenig oder gar feine Ehre 
aufgelejen hat, daß ex jetzt einen mutbigen Verſuch machte, ven Dürger- 
kriegsgräuel nicht auffommen zu lafjen. Als nämlich die Infurgenten 
auf den Pantheonplatz vier gewaltige Barrifaden erbaut hatten, ließ 
der Maire des Arrondifjement den Generalmarſch jchlagen, dem aber 
nur 30 Bürgerwehrleute Folge leifteten. Der Maire begann dem- 
nad mit den Barrifadenmännern zu parlamentiven. „Was wollt 
ihr denn eigentlich ?* — „Wir wollen nicht fort in die Sümpfe der 
Sologne, aber wir wollen Arbeit“. Derweil erſchien der greife 
Arago, welcher fi) vom Stande der Dinge beim Pantheon mit eigenen 
Augen überzeugen wollte, vom Luxemburg ber auf dem Plate, gefolgt 
von einer Kolonne, welche aus Bürgerwehr-und Pintentruppen zu— 
ſammengeſetzt, mit Geſchütz verfehen und vom Oberſt Quinel befehligt 
war. Der Maire eilt diefem entgegen und beſchwört ihn, den Kampf 
nicht anzııheben. Die Truppen machen Halt vor den Barrifaden, 
hinter deren Bruftwehren die Vertheidiger erfcheinen, die Gewehre 
ſchußfertig in den Händen. Der berühmte Gelehrte tritt vor: 
„Warm rebellixt ihr gegen das Geſetz und gegen die Regierung der 
Republik? Warum jteht ihr auf Barrikaden?“ — „Warum?“ 
ruft 68 zur Antwort herab — „darum, Herr Arago, warum Gie 


Die Juniſchlacht. 241 


jelbjt Anno 1832 mit uns auf den Barrifaden geitanden. Erinnern 
Sie ſich nod) des Kampfes beim Klofter Saint-Merry?“ — „Aber 
ihr habt jet keinen rechtmäßigen Grumd zur Empörung“. — „Herr 
Arago, Ste find ein braver Bürger und wir hegen hohe Achtung vor 
Ihnen; aber Sie haben fein Recht, uns Vorwürfe zu machen. Sie 
haben nie erfahren, was hungern heißt; Sie haben nie das Elend 
fernen gelernt“. — „Die Regierung ift von den beiten Abfichten be- 
jeelt, von dem lebhaftejten Wunfche geleitet, euren begründeten Wün— 
hen genugzuthun“. — „Ja, man hat uns gar viel verjprochen, aber 
nichts gehalten“. — „Man that, was man konnte“. — „Das ift 
nicht wahr!“ — „Ihr beſchimpft mich? Mit ſolchen Leuten will ich 
nicht länger verhandeln“. 

Und der choleriſche Greis gibt nun jelber den harrenden Truppen 
das Zeichen zum Angriff, welcher nad) heißem Gefechte und beträdht- 
lichem Verluft auf beiven Seiten damit endigt, daß die Truppen den 
Pantheonplag behaupten und der General Dameſme daſelbſt Stellung 
nimmt. 

Zur gleichen Zeit, wo hier das Gemwehrfener zu Enattern und 
die Kanonen zu brüllen begonnen hatten, war auch drüben auf den 
Boulevards der Kampf losgebroden. Die erfte der dort herum auf- 
gethürmten Barrifaden, die auf der Höhe der Porte Saint-Denis, 
wird von einem Bataillon der 2. Bürgerwehrlegion im Sturmlauf 
angegriffen, wirft aber die muthigen Angreifer blutig zurüd. Da 
ftürzt der Hauptmann der Barrifade, welher hoch auf einem um— 
gejtülpten Wagen ſtehend das Feier geleitet hat, tödtlich getroffen 
zujammen und man wähnt, daß es mit der Gegenwehr zu Ende. 
Aber, ſiehe, ein junges ſchönes Mädchen mit fliegenden Haaren eilt 
zu dem Todten, nimmt die Fahne, welche er in ven Händen gehalten, 
auf, jpringt damit auf die Bruftwehr, ſchwingt fie herausfordernd den 
Angreifern entgegen und befenert die VBertheidiger mit Blicken und 
Worten. Eine Kugel ſchlägt dem armen Ding in die Bruft, rüdlings 
ſtürzt e8 hinter die Bruftwehr. Aber jhon iſt eine andere Frau an 
der Seite ver Gefallenen und jucht dieſe mit der einen Hand aufzu— 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 16 


242 Die Berwidelung, VI. 


richten, während fie mit der andern die Fahne abermals flattern zur 
(affen fid) abmüht. ine nene Entladung des Bataillonsfeners 
drunten und die Helferin finft todt auf den Leichnam der Gefährtin. 
Und mitten in das Pulvergewölfe des Mordfampfes hinein fällt ein 
heller Stral heldiſchen Pflichtgefühls. Der Bataillonsarzt der Bür- 
gerwehr erflimmt inmitten des ſich kreuzenden Feuers die Barrifade, 
um den beiden getroffenen Frauen Hilfe zu bringen, und fehrt erft, 
nachdem er ſich überzeugt hat, daß beide todt, zu den Verwundeten 
feiner eigenen Truppe zurüd. Schließlich wird die Barrifade mit 
Sturm genommen und flieht der Reſt der Bertheidiger gegen den 
Faubourg Saint-Denis zu. 

Gerade jett, Nachmittags 21/, Uhr, bricht die Spite der Ko— 
(onne, welche Yamoriciere führt, von der Madeleine fommend auf den 
Boulevard vor. Der General joll den Aufftand in den Faubourgs 
Poiſſonière, Saint-Martin, Saint-Dems und du Temple bändigen. 
Eine ſchwierige Aufgabe, weil in diefen Quartieren die Infurreftion 
außerordentlich feft ſich verbollwerft hat; eine ſehr ſchwierige, weil Die 
aus Pinientruppen, Bürgerwehr und Mobilgarde zujammengejette 
Angriffsmacht, über welche Yamoriciere zur Stunde verfügt, nicht mehr 
als höchſtens 5000 Mann beträgt. Auf Verftärfungen darf er zu— 
nächſt gar nicht rechnen. Weiß er doch, daß Kavaignak hartnädig 
an jenem Syſtem hält, jene an den bezeichneten Stellen mafjenhaft 
vereinigte Neferve nicht zu ſchwächen. Daß diejes „Syſtem“ die 
Rebellion erſt recht großgezogen hatte, lag freilic beveits zu Tage. 
Hatte ja Kavaignaks Befehl, die letzten 2 Pintenbataillone, welche 
beim Luxemburg ftanden, nad) dem Palais Bourbon zu führen, auch 
jene Stadtgegend auf dem Linken Seineufer der Empörung preisge- 
geben. Vergebens fandten die Maires, vergebens verjchtedene Kom— 
mandanten der Nationalgarde Boten auf Boten und Bitten auf Bitten 
an den Kriegsminifter, ihnen zur Verhinderung der Erweiterung des 
Barrifadennetes einiges Militär zu fenden. „Ich will meine Truppen 
nicht verzetteln und bloßſtellen“, war die ftehende Antwort des 
Generals. 


Die Juniſchlacht. 243 


Defjenumgeachtet muſſte er fich gegen Abend zu entſchließen, das 
Palais Bourbon und den Eintradhtsplat für eine geraume Weile von 
Truppen jo ziemlich zu entblößen, um dem ſchwer bedrängten Lamori— 
ciere Hilfe zu bringen. Cr führte die Hilfefolonne in eigener Perſon 
nad) den Boulevards, begleitet von Yamartine. Yamorictere hatte 
jein Hauptquartier in dem Kaffeehaus aufgeichlagen, das den Winkel 
des Boulevard und der Straße Saint-Denis bildete. Hier gab er 
dem Kriegsminifter Bericht von dem, was er ausgerichtet oder viel- 
mehr nicht ausgerichtet hatte. Die Infurreftion, jagte er, habe etwas 
jeltiames, myſteriöſes; man wiſſe gar nicht, worauf fie ziele. Man 
habe bis jetst feine andere Fahne auf den Barrifaden gejehen als die 
nationale Trifolore; man höre feinen Ruf, feinen Namen, welder 
verriethe, was die Inſurgenten eigentlid) wollten. Diejes geheimniß— 
volle erhöhe nicht wenig die Kraft des Aufitands, wenigitens in ven 
Augen der Soldaten. 

Kavaignak jollte jofort von diefer Kraft eine Probe erhalten. 
Nach jener Beſprechung mit Lamoricière jegte er nämlich die 7 Ba— 
taillone, welche er mitgebracht hatte, in Angriffsmarſch, ſah aber 
diejen bald durch eine furchtbare Barrifade oder vielmehr durd) ein 
Syſtem von Barrifaden gehemmt, welches die Mündungen ver 
Stragen Saint-Maur, Trois-Kouronnes und Trois-Bornes ſperrte. 
Zweimaliges von dem General in Perſon geleitetes ſturmlaufen der 
Infanterie richtete nichts aus und hatte ſchwere Verlufte zur Folge. 
Erft nach fünfſtündigem Artilleriefener wird die Verſchanzung endlich 
genommen; aber inzwiſchen ift es Nacht geworden und der Erfolg 
fann nicht weiter ausgebeuter werden. Sehr nievergeichlagen fehrte 
Kavaignak ins Prüfidentihaftshotel der Nationalverſammlung zurüd. 

Der General Bedeau hatte derweil die Löſung jeiner Aufgabe 
mit mehr Glück zur Hand genommen. Nachdem er vom Hotel de 
Ville aus jene Vorbereitungen getroffen hatte, verſchritt er um 5 Uhr 
Abends zum Angriff auf die CitéInſel. In zwei Kolonnen getheilt, 
brachen feine Truppen auf die Notre-Dame-Brüde und auf die Arkole- 
Brücke vor, ſchufen ſich, mittels hartnäckiger Kämpfe freilich nur, 

16 * 


244 Die Verwidelung, VI. 


Yangjam Bahn durch die Cité und von dort über den Petit-Bont 
hinweg in die gegen das Pantheon hinanftergende Straße Saint- 
Jacques. Weiteres vorjchreiten wurde auch hier durch die herein— 
brechende Nacht, jowie durch die Erſchöpfung der Truppen verhinpert. 

Im ganzen waren demnach die am 23. Juni der Infurreftion 
abgeweonnenen Erfolge nicht eben von Belang und es jollte ſich am 
folgenden Tage zeigen, daß die Empörung tiber Nacht einen Umfang 
und eine Energie gewann, wovon man feine Ahnung hatte. Dennod) 
fehlte es am 23. Jumt nicht an einzelnen guten Vorzeichen, daß die 
geſetzlichen Gewalten ſchließlich obſiegen würden. Ein ſolches Vor— 
zeichen war, daß Männer, an deren Republikanismus nicht ein 
Schatten von Zweifel haften konnte, von allen Seiten herbeieilten, 
um der Regierung ihre Dienſte anzubieten. Ein weiteres und noch 
ſprechenderes Vorzeichen iſt geweſen, daß die ſtudirende Jugend nicht 
auf ſeiten der Inſurgenten focht und daß in den Reihen der Barri— 
kadenleute namentlich die volksbeliebte Uniform der Polhtechniker 
nicht erblickt wurde. Endlich muſſte der Regierung die Sorge, daß 
die Mobilgarde nicht gegen die Empörung angehen, ſondern zu der— 
ſelben übergehen würde, wie ein ſchwerer Stein vom Herzen fallen, 
als dieſe Sorge eitel ſich erwieſen hatte ... 

Während in gemeldeter Weiſe der Bürgerkrieg an verſchiedenen 
Stellen der Stadt ſchon ſeine blutige Ernte zu halten angefangen 
hatte, war im Palais Bourbon eine wichtige Entſcheidung eingeleitet 
worden. 
Um 1 Uhr eröffnete die Nationalverſammlung ihre ſehr be— 
wegte Sitzung. Der ganze parlamentarifhe Mechanismus eriheint 
ſchon dadurch geftört, daß alle Mitglieder, welche ver Nationalgarde 
oder der Armee angehören, ungewohnter Weife die Uniform tragen. 
Verſchiedene Redner löfen auf der Tribüne einander ab: man jieht 
fie kaum, man hört fie nicht. Der Präſident Senard blickt düſter 
und weiß nicht, wo aus wo ein. Aber auf den Bänfereihen und in 
den Gängen ſpricht man laut iiber die Nothwendigfeit hin und her, 
die Exekutivkommiſſion zu bejeitigen und neben der milttärtichen 


Die Juniſchlacht. 245 


Macht aud die ganze Givilgewalt in den Händen des Generals 
Kavaignak zu vereinigen, als müflte die arme Exekutivkommiſſion 
auch an dieſem proletarifchen Aufitand ſchuld fein, welcher übrigens 
zur Stunde nicht mehr ausſchließlich ein folder heiten fan. Hat 
doch in den von der Infurreftion bejetsten Quartieren jo ziemlich die 
geſammte Bevölferung und ein großer Theil der Biürgerwehr ge— 
meinfame Sache mit derjeiben gemacht. Daraus und nur daraus 
erklärt fid) die Möglichkeit des furchtbaren Widerſtandes, welchen 
dieſe Schilderhebung noch zwei volle Tage lang leiftete. . . . 

Flokon gewinnt der Verfammlung einige Aufmerkſamkeit ab, 
indem er ein tüchtig Stud Wahrheit von der Rednerbühne herabwirft. 
„Die Wühler wollen die Anarchie. Wenn es gelingt, die Fäden der 
Verſchwörung zu erfaflen, wird man finden, dafı fie von der Hand 
eines Prätendenten ausgehen. Ic erkläre laut, auf daß man hier 
und draußen mich höre: — diefe Wühlereten, diefe Unordnungen, 
dieſer Aufitand, fie haben nur ein Ziel, die Vernichtung der Repu— 
blik und die Wieverheritellung des Deſpotismus“. Aufregung und 
Tumult. Monſieur de Fallour ericheint auf der Tribüne, eine Pa- 
pierrolle in der Hand. „Aha“ — ruft es — „der Bericht, der 
Bericht über die Nationalwerkſtätten!“ — „Ic widerſetze mid)“, 
ruft Herr Raynal von feiner Bank aus, „dieſer jo höchſt zeitwidrigen, 
ja geradezu gefährlichen Berichterftattung“. — „Einerlei — ſchreit 
ed von der Rechten her — leſen Sie, lefen Sie!” — De Falloux 
beginnt alfo, beginnt mit der Behauptung, in ver landwirthichaft- 
lichen, induſtriellen und fommerziellen Krifis, welche das Land beun— 
ruhige und beichwere, ſei das einzige Heil- und Hilfemittel bie jo- 
fortige Auflöfung der Nationalwerkftätten, und jchlieft mit dem 
Antrage, ein Dekret zu erlafjen, fraft deſſen „diefer Herd einer un— 
fruchtbaren Agitation auf der Stelle von Grund aus zerftört werden 
ſoll“. Der Repräſentant Korbon, jelbit ein Handwerker, legt gegen 
diefen Antrag als gegen einen unpolittiihen, graufamen und heraus- 
fordernden Proteit ein, welcher jedoch) feine Beachtung findet, um fo 
weniger, als jest ein Mitglied der Exekutivkommiſſion, Herr Garnier- 


246 Die Verwidelung, VI. 


Pages auf der Rednerbühne ſich zeigt, um zu erklären: „Die Re— 
gierung hat energiſche Mafregeln ergriffen; fie wird, jo es nöthig, 
noch energijchere ergreifen; man muß ein Ende machen“. Der 
immerwiederkehrende Chorgeſang der Bourgeoiſie in dieſer Junitra— 
gödie! Konſiderant ſchlägt vor, eine von ihm in Gemeinſchaft mit 
Blanc entworfene Belehrungs- und Verſöhnungsproklamation an Die 
Arbeiter zu richten. „Nicht nöthig!“ fchreit Baze. „Lafit den 
General Kavaignaf machen!“ Kauſſidière, in lebhafter Aufrecht- 
haltung und Unterftügung des Antrags von Konfiverant: „Um des 
Himmels willen, verhindert doch, daß Paris ſich gegenfeitig erwürge. 
Wiſſt, die Klubbs der Verzweiflung find in Permanenz“... Der 
Redner wird niedergejchrieen mit den Worten: „Ste ſprechen wie 
ein Wühler. Zur Ordnung!“ Die Mehrheit der Verſammlung 
nimmt eime von Senard vorgeichlagene Proflamation von höchſt 
berausfordernden Inhalt an. Um 10 Uhr Abends meldet Kavaignak 
von der Nednerbühne herab, daß der Aufjtand noch unbezwungen und 
daß es nöthig erſchienen jet, zur Niederwerfung defjelben Truppen 
und Nationalgarden aus den Provinzen herbeizurufen. Die Ver— 
ſammlung geht voll Beſtürzung auseinander. 

Am folgenden Tage, am 24. Juni, tft fie Morgens um 8 Uhr 
wieder beifammen. Die Nacht über find die parlamentartichen 
Partei⸗Machenſchaften in vollem Getriebe gewejen. Die Republikaner 
von der Sorte Marraft, Senard und Baſtide haben mit den Orlea— 
niſten, Bourbonifern und Loyolaiten von den Sorten Thiers, Berryer 
und Fallour gemunfelt und gemantſcht; jo zwar, daß man zur Lo— 
fung: „Belagerungszuftand und Militärdiktatur!“ ſich vereinbart 
hat. Unter dem vom rechten Ufer der Seine — die Inſurgenten fine 
dort zum Angriff auf das Stadthaus vorgejchritten — herübertönen— 
den Geſchützgebrülle und Gewehrgefnatter, beantragt Paſkal Duprat, 
die Nationalverfammlung möge die VBerhängung des Belagerungs- 
zuftandes über ganz Paris und die Ernennung des Generals Kavaignak 
zum Diktator beſchließen. Zur Unterftügung des Antrags heilt 
Baſtide förmlich vor Angft auf der Rednerbühne. Der Antrag wird 


Die Juniſchlacht. 247 


mit allen gegen 60 Stimmen votirt. ine Stunde ſpäter ſchickt Die 
Erefutivfommiffion, welcher man jeit gejtern die Hölle gehörig heiß 
gemacht hat, ihre Entlafjung eu, eine überflüſſige und gänzlich un- 
beachtet gebliebene Kormalität. 

Wir leben in der Zeit der Eleftrizitätsichnelligfeit und der 
Dampffraft. Auch die Geſchichte verhandelt mittels Telegrammen 
und führt auf Eifenbahnen. Das geht wie der Wind und gerade fo 
windig. Die erjte franzöſiſche Republik hatte S Jahre gebraucht, 
um bis zur Militärdiktatur herabzukommen; die zweite brachte dag 
binnen 4 Monaten zumege. 


Die Kavaignak'ſche Diktatur, an welde man Schwachköpfe von 
Kepublitanern als an das Mittel, die Nepublif zu retten, glauben 
ließ, war ein Machwerf der Royaliſten und Jeſuiten. Dieſe von den 
Herren Thiers und Falloux geleitete Bartei durfte mit alledem, was 
fie jeit dem Februar wieder erlangt und erreicht hatte, wohl zufrieden 
jein. Sie hatte geſchickt und erfolgreid) geränfelt. Sie hatte mittels 
der Exekutivkommiſſion die ſocial-demokratiſchen Elemente der provi- 
ſoriſchen Negierung ſchachmatt geſetzt, fie hatte die Exekutivkommiſſion 
mittels Kavaignaks gejprengt und fie bereitete fich jetst ſchon im 
jtillen Darauf vor, den General mittels des Louis Bonaparte zu be- 
jeitigen, welcher, wähnte fie, hinwiederum als Eſelsbrücke zum bour- 
boniſchen oder orleaniſchen Königthum hinüberführen ſollte, ſtatt deſſen 
aber die Betrüger zu Betrogenen machte. 

Zunächſt ſorgte der Bonapartismus dafür, in dieſen ſchrecklichen 
Tagen nicht vergeſſen zu werden. Ueberall, wo man in den Unheil— 
knäuel der Juniſchlacht hineingreift, ſtößt man auf den ſchwefelgelben 
bonaparte'ſchen Komplottfaden. Kaum hatte der „Prinz“ vernommen, 
was in Paris ſich vorbereitete, als er am 22. Juni in London ſich 


248 Die Verwidelung, VI. 


hinſetzte und nach Paris an den General Rapatel diefe Worte ſchrieb: 
„General, ich kenne Ihre Gefühle für meine Familie. Wenn die 
Ereigniſſe einen für dieſelbe günftigen Verlauf nehmen, jo jollen Sie 
Kriegsminifter ſein“. Napatel brachte diejes Schreiben am 25. Yunt 
dem Oberſtlieutenant Charras zur Kunde, welchen der Diktator Ka— 
vaianaf zu feinem Stellvertreter im Miniſterium gemacht hatte. In 
den Bedrängniffen des Tages hatte man feine Zeit, ſich mit der Sache 
zu befaffen ; aber jedenfalls ift das prinzliche Billet ein Bewers mehr 
fir die Thatſache, daß der Bonapartismus ſchon durd den Blutjtrom 
der Juniſchlacht hindurch jenen Weg zu den Tuilerien gejucht hat, 
welchen ex freilich exjt durch den Blutftron der Decemberſchlächterei 
hindurd) finden jollte. . . . 

Auch die Nacht über hatte der Kampf nie ganz geruht und mit 
dem Morgen des 24. Juni erhob er ſich in neuer Wuth und Stärke. 
Schon um 4 Uhr in der Frühe thaten die Kanonen ihre brüllenden 
Mäuler wieder auf. Um 5 Uhr begehrte ver Bataillonschef Dupont 
von der 12. Bürgermwehrlegion Gehör bei dem noch ſchlafenden Ka— 
vaignaf. Er wird mit mehreren Bürgern, die,ihn begleiten, einge— 
führt. „Was wollen Sie?” fragt der General, ohne aufzuftehen. — 
„Ich komme, Sie zu bitten, die Truppen, von welchen das 12. Arron- 
diſſement ftarrt, zurüdzuziehen. Geſchieht das, jo bürge ich für die 
Ruhe des Duartiers“. — „Unmöglich. Man muß ſich Schlagen “. 

Ia, ohne Zweifel, diejer beichränfte Soldatengeiſt wollte ven 
Kampf und er jollte jeinen Willen haben. Gegen 10 Uhr begann 
die Straßenſchlacht wiederum heftig zu tofen und zwar an Orten, wo 
fie ſchon geftern entbrannt war: — in der Cite, allwo die Infurgenten 
während der Nacht alle die Stellungen, woraus fie Tags zuvor durch 
Bedeau verbrängt worden, zurückerobert hatten; dann auf der Höhe 
der Faubourgs Saint-Denis und Poiffoniere, fowie auf dem Linfen 
Flußufer in den Umgebungen des Pantheon. Um diefe Zeit war 
der Aufftand aud in der Vorſtadt Saint-Antoine volftändig Herr 
und Meifter. Hier und in der Vorſtadt Villette hat er ji) dann 
am Längften gehalten; gehalten bis zur äuferften Möglichkeit, ge— 


Die Juniſchlacht. 249 


halten, bi8 er feinen legten Yaib Brot verzehrt und feine lette Kugel 
verſchoſſen hatte. 

Der rechte Mordzorn ift in die aufſtändiſchen Maffen erſt am 
Nahmittag vom 24. Juni gefahren ; erft dann, als die von der Na— 
tionalverfammlung gefafften Beichlüffe kundgeworden. Sie wurden 
auf und hinter den Barrifaden verftanden, wie fie gemeint waren, 
als eine Herausforderung zum Kampf auf Leben und Tod. Sekt 
erit nahm das fechten einen furchtbar finfteren Charakter an. Die 
dreifarbige Fahne verihwand von den Zinnen der Barrifaden, die 
rothe wurde aufgepflanzt. Die düftere Loſung der Infurgenten „Brot 
oder Tod!” verrieth deutlich, daß der politifche Streit hinter dem 
ſocialen verſcwand. Der Klaſſenkrieg war erklärt, zum erſten— 
mal offen und ehrlich erklärt. Bourgeoiſie und Proletariat, Kapital 
und Arbeit traten an zum mörderiſchen MWaffentanz. 

Beide haben denjelben heldiſch durchgeführt. Bärenmützen und 
Bluſen, Bürgerwehr- und Barrifadenlente, Soldaten und Generale 
haben ſich geichlagen, haben ſich tödten laflen, wie es Männern 
ziemt, Die zum äußerſten entichloffen find. Eine Tragif von ſchmerzlichſter 
Tiefe liegt in der Thatſache, daß die Bürgerwehrleute, die hüben und 
drüben, an der Seite der Inſurgenten, wie an der Seite der Truppen foch— 
ten, mit Todesverachtung fochten, in ihrer weitaus überwiegenden Mehr— 
zahl aufrichtig glaubten, ſie kämpften für die Erhaltung der Republik. 
Nichtweniger tragiſch iſt die Thatſache, daß namentlich die Arbeiter der 
Vorſtadt Saint-Antoine der feſten Ueberzeugung waren, ſie ſchlügen 
ſich für die Republik, welche von den Royaliſten angegriffen ſei, und 
deſſhalb wurden dieſe Männer zuweilen ganz verblüfft und verſteinert, 
wenn die Nationalgarde und die Mobilgarde mit dem Schlachtruf: 
„Vive la république!“ zum Sturm auf die Barrikaden vorging. 

Die bis zum Berſerkergrimm geſteigerte Parteinahme der Mo— 
bilgarde gegen die Inſurrektion hat zur Bewältigung derſelben ſehr 
bedeutend, ja ſogar ausſchlaggebend mitgewirkt. Die Mobilgardiſten, 
dieſe Bataillone von pariſer Gamins, haben wie Helden gefochten, 
aber auch wie Tiger gewüthet. Sie waren vom Pulverrauch und 


250 Die Berwidelung, VI. 


Schlachtgetöſe, wie nicht minder vom mit Pulver gemijchten Brannt- 
wein förmlich berauicht, bis zum Wahnſinn beraujcht. Etwas wie 
jene unter der malayiihen Bevölkerung des oſtindiſchen Archipels ein- 
heimiſche „Mordwuth“ kam über fie. Wetteifernd mit etlichen Linien— 
regimentern, welche in Afrifa die Schule der Entmenſchung durchge— 
macht hatten, ſchoſſen fie ihre Gefangenen erbarmungslos nieder. 
Man jah jogar einen diejer vertigerten Straßenjungen in einer der 
Gefehtspaufen plögli zu feinem Nebenmann, feinem Tiebjten Ka— 
meraden, fi fehren und demjelben mit ven Worten: „Wart’ mal, 
ich jhiefe Dich todt wie einen Hund!” eine Kugel durch den Kopf 
jagen. Im nächſten Augenblick warf er fich ſchluchzend tiber ven 
Todten. 

Die Kanibalismen, welche von den „Afrikanern“ und Mobil— 
gardiſten während der drei Schlachttage verübt worden ſind, machen 
die von ſeiten der Inſurgenten vollzogenen Rachethaten nicht verzeih— 
lich, aber doch begreiflich. Der Inſurrektion ſchwärzeſte Unthat, 
durch deren Schwärze jedoch, wie bereits angedeutet worden, der be— 
wuſſte ſchwefelgelbe Faden ſich ſchlängelte, iſt am 25. Juni geſchehen, 

die Ermordung des in Gefangenſchaft gelockten Generals Bréa und 
feines Adjutanten Maugin bei ver Barriere von Fontainebleau. Zur 
Erklärung dieſes Mordftreihs muß übrigens noch erwähnt werden, 
daß Tags zuvor in der Strafe Saint-Jacques, wenn nicht auf Be— 
fehl, jo doch unter den Augen des Generals gefangene Injurgenten 
ohne Erbarmen erihoffen worven waren. Dagegen umfließt eine 
leuchtende Gloriole den Opfertod des Erzbiihofs Affre, welcher an 
demſelben Tage auf feinem Frievensvermittelungsgange beim Ein- 
gange zum Faubourg Saint-Antoine die Kugelwunde empfing, an 
welcher er zwei Tage jpäter geftorben ift. Kavaignak hatte den Prä— 
laten dringend gewarnt, der Gang zu den Barrifaden, mitten zwijchen 
die Kämpfenden hinein, jet zu gefährlich. Allein der Erzbiſchof hatte 
die Warnung abgelehnt mit einem jehr einfachen Worte, das aber 
doch mit zu den beiten gehört, die jemals aus Prieftermund gegangen 
find: — „Mein Leben beveutet jo wenig (ma vie est si peu de 


Die Juniſchlacht. 251 


chose)!“ Die Todeskugel, welche den von den Inſurgenten befannt- 
Lich mit tiefer Ehrfurcht empfangenen Friedensprediger traf, tft nicht 
aus dem Gemehrlauf eines Barrifadenmannes, jondern, allerdings 
nur in Folge eines Miffariffes, aus dem eines Soldaten gefommen. 
Einer der Begleiter des Prülaten, jein Generalvifar Jaquemont, hat 
dies ausdrüdlich bezeugt — („qu'il n’a pas éêté frappe par ceux 
qui defendaient les barricades*). 

Die graufe dreitägige Straßenſchlacht in ihren ſtrategiſchen und 
taftiihen Einzelnheiten zu ſchildern und zu erörtern iſt überflüſſig, da 
hierüber ſattſam einläſſliche Berichte vorliegen. Sodann wird es, 
obzwar in unjeren Tagen die traurige Botſchaft des Militarismus 
von allen Dächern gepredigt und von der urtheilsloſen Menge auch 
geglaubt wird, wohl abjeits nod eine ftille Gemeinde geben dürfen, 
welche der Meinung lebt, es gehöre mit zu den übrigen Barbareten 
unjerer Zeit, breitmäulige Daritellungen, wie die Menjchen einander 
beitienhaft erwürgen, zu entwerfen oder zulejen. Genug, das Haupt- 
ergebnig des Kampfes am 24. Juni war, daß den Infurgenten die 
wichtige Stellung im und beim Bantheon definitiv entrijfen wurde. 
Diejer Erfolg galt für einen jo bedeutenden, daß man in Regierungs— 
freien um 4 Uhr Abends wähnte, bereits Herr der ganzen Sachlage 
zu jein*). Das war freilich eine ſchwere Täuſchung und am folgen- 
ven Tage zeigte die düftere Phyſionomie von Paris, dag die Umſtände 
beprohliher als je. Nachmittags ſprach man im dem regierenden 
Kreiſen unverholen davon, daß es, den Aufitand zu bemeiitern, nöthig 
werden dürfte, die Vorſtadt Saint-Antoine in die Yuft zu Iprengen, 
wogegen dann etwas jpäter angezeigt wurde, der letzte Herd des Auf- 
ruhrs jet ausgelöiht**). Wiederum voreilig und vorzeitig; denn 


*) Depeſche Barmans vom 24. Juni, Abends 4 Ubr: „Le pouvoir 

est maitre de lasituation, maisil ya beaucoup desangrepandu*. S. B. A. 
*) Vom 25. Juni: „L’aspect de Paris est toujours sombre; chacun 
comprend qu’il ne s’agit plus d’opinions mais de l’existence, m&me de 
Vordre social“. Um 2 Uhr: „On parait decide a ne reculer devant aucun 


252 Die Verwidelung, VI. 


der Haupterfolg des 25. Juni war eigentlich nur ein negativer, in- 
dem derjelbe in der Behauptung des Hotel de Bille durch Die Trup— 
pen beftand. Endlich am 26. Juni gelang dem Diktator der End— 
ihlag, die Bezwingung von Saint-Antoine und Villette nad) voran- 
gegangenem Bombarbement. Erſt um 7 Uhr Abends ergab fich 
Billette, nachdem die letste der dortigen Barrifaden erſtürmt worden war. 

Eine Stunde jpäter las Herr Korbon, Bicepräfivent der Na— 
ttonalverfammlung, auf der Nednerbühne vderjelben dieſe Zufchrift 
Kavaignafs: „Bürger Präfident! Danf der Haltung der Na- 
tionalgarde und der Armee, der Aufruhr ift zu Boden gejchlagen 
(la revolte est detruite). Ueberall in Baris ift der Kampf zu Ende. 
Sobald ich fiher bin, daß die mir anvertrauten Vollmachten nicht 
mehr vonnöthen, werde id) diejelben in die Hände der Berfammlung 
achtungsvoll zurüdgeben ...“ 

Diefe Zurüdgabe ver diktatoriſchen Allgewalt an die National- 
vertretung hat dann am 28. Juni wirklich ftattgefunden. Die Na- 
tionalverfammlung beihloß darauf, zu erklären, daß der General um 
das Vaterland fi) wohlverdient gemacht habe, und ernannte ihn ſo— 
fort zum „Chef der Vollziehungsgewalt“, — ein mweicherer Ausdrud 
für Diktator. Der General fette jen Minifterium der Mehrzahl 
nad) aus „honetten” Kepublifanern zuſammen: Baftive, Karnot 
(bald durch Baulabelle erjett), Senard, Rekurt, Bethmont (an deijen 
Stelle dann Marie trat), Goudchaux, Tourret. Lamoricière, der 
ipätere Schlüffelfoldat, wurde Kriegsminifter, der Admiral Leblanf 
Marineminifter, der General Changarnier Befehlshaber der parifer 
Nationalgarde. Die Mairie von Paris ward abgethan und der wie- 
derhergeitellten Seinepräfeftur Trouve-Chauvel vorgeſetzt. Polizei— 
präfeft wurde Dukoux. So waren denn die Rollen ausgetheilt und war 
alles wohlbeftellt, d. h. ein Negiment der lieben lahmen langweiligen 
Mittelmäßigfeit errichtet, welches, unfruchtbar im Innern, nad außen 
moyen pour retablir l’ordre et à faire sauter, au besoin, le Faubourg 


Saint-Antoine. Des sapeurs sont demandes dans ce but“. Um 2!/, Uhr: 
„On annonce que le dernier foyer de l’insurrection est eteint“. ©. B. A. 


Die Juniſchlacht. 953 


in wahrhaft ſtupider Weiſe die Interefien der Bölfer nicht nur preis- 
gab, jondern auch mitverratben half. Die vollendete jtaatsmännifche 
Unfähigkeit Kavaignaks und jeiner Mit-Honetten machte dieje eptio- 
diihe Kegierung zu einem Vorhang, hinter welchem Royalismus, 
Bonapartismus und Jeluttismus in frechiter Weiſe ihre Vorberei- 
tungen zu einem neuen „Aufzug“ getroffen haben... .. 

Zuvörderit lajtete auf Paris eine unermefjliche Trauer. Die 
Zahl der in der Juniſchlacht Getödteten und Verwundeten iſt nie 
genau erhoben worden. Einem im Dftober von Boltzeipräfeften 
Dukoux erjtatteten Berichte zufolge betrug die Gejammtheit der 
Zodten 1460, wovon 2 Drittel der Armee und Nationalgarde ange- 
hörten. Sechs Generale waren gefallen, ebenjo zwei Mitglieder der 
Nattonalverfammlung und jechs Generale hatten Wunden davonge— 
tragen. In die verjchtedenen Spitäler der Stadt wurden 2529 Ver- 
wundete gebracht, aber man darf mit Beftimmtheit annehmen, daß 
eine mehr als doppelt jo große Anzahl von Verwundeten in Privat- 
häuſern gepflegt worden ift. Die Revolutionskämpfe vom Juli 1830 
und vom Februar 1348 waren nicht einmal annäherungsweije jo 

lutig gewejen. Der Angabe des Generals Lamoricieère zufolge find 
zur Juniſchlacht 2,100,000 Gemwehrpatronen an die Soldaten aus- 
getheilt ımd find während der Kampftage ungefähr 3300 Kanonen- 
ſchüſſe gethan worden. 


9. 


Mit der 7. Abendjtunde vom 26. Jumi, wo die leiste Barrikade 
genommen wurde, verihwand das franzöfiiche Proletariat von der 
Bühne der Nevolutionsgeihichte des Jahres 1848. Die Bourgeoifie 
hatte vollitindig obgefiegt und nur ſie war es, welche die weitere 
Entwidelung der Dinge bedingte und beitimmte, 

Nach erfochtenem Stege begann das Rachewerk, wie das jo her- 
kömmlich unter Menſchen. „Wehe den Beftegten !“ 


254 Die Verwidelung, VI. 


Am 27. Juni und nod etliche Tage länger hatte Paris ganz 
das Ausiehen einer von Feindeshand mit Sturm genommenen Stadt. 
Die Verwüſtung der Quartiere, in welchen der Kampf getobt hatte, 
war furchtbar. Ueberall rauchende ITrümmerftätten, in der Gite, 
beim Pantheon, in den Zugängen zum Stabthaufe, bei der Porte 
Saint-Denis. Die Faubourgs Saint-Antoine und du Temple, wo 
das Geſchützfeuer am ärgſten gewüthet, glichen vom Erdbeben gejchüt- 
telten Städten. Während der Schladttage hatte Paris troß des 
ſchrecklichen Getöſes den Charakter einer unheimlichen Verödung ges 
tragen, weil die ganze Bewohnerichaft, die Kämpfenden ausgenom- 
men, in die Häufer verjperrt war. Auch jest noch wagten ſich erft 
nur einzelne Neugierige hervor und fah man auf den Strafen und 
Plätzen nichts als Reiterharſte, Geſchützzüge, Infanteriefolonnen, 
Bürgermehrbataillone und dazwischen Haufen von hunderten, von 
taufenden von Gefangenen. 

Ueberall war an Mauern und Wände folgendes Proflam an= 
geklebt: „Der Chef der Bollziehungsgewalt an die Nationalgarde 
und die Armee. Bürger! Soldaten! Die heilige Sache der Nepublif 
hat triumphirt. Euer Eifer, euer umerichütterliher Muth hat 
ſchuldvolle Abfichten vereitelt und traurigen Irrthümern ihr echt 
angethan. Im Namen des Baterlandes, im Namen der Menjchheit 
habt Dank für eure Anftrengungen und feid geſegnet für diejen noth- 
wendigen Sieg! Während des Kampfes war euer Zorn rechtmäßig 
und unvermeidlich; jetzo jeid ebenfo groß in der Selbjtbeherrihung, 
wie ihr es in der Tapferfeit gewejen. In dieſem Parts jehe ich 
Sieger und Befiegte; jet mein Name verflucht, jo ic) darein willigte, 
and Opfer zu ſehen. Die Gerechtigkeit wird ihren Lauf haben. 
Sie handle! Das ift euer, Das ift mein Wille! General E. Kavaignak.“ 

Wie ftimmte, was in Paris am 27. Juni und den zunächſt 
folgenden Tagen gefhah, zu dieſen Worten? Wie die Nahe zur 
Verſöhnung ftimmt. Ob Kavaignak feine Worte miht zur Wahr- 
heit machen konnte, ift fraglich ; denn der Angjtphilifter, befanntlic) 
eine der graufamften Beitien, war los und wollte ſich für die ausge- 


Die Juniſchlacht. 259 


jtandene Furcht rächen. Daß der General feine Worte nicht zur 
Wahrheit gemacht hat, iſt gewiß. 

Wenn, wie gar nicht zu bejtreiten, während der Hitze und Wuth 
der Straßenſchlacht mindeftens 150 gefangene Infurgenten von den 
Truppen, der Mobilgarde und Bürgerwehr fofort erichoflen, wenn 
jogar in diefem gräfflichen ringen Frauen, welche ihren kämpfenden 
Männern Brot zutrugen, und Töchter, welche für ihre verwundeten 
Väter Charpie zupften, ſchonungslos niedergemacht wurden, jo ift 
das zwar ſcheuſälig genug, aber dod) dem Kampfrauſch auf Rechnung 
zu ichreiben. Was joll man jedoch dazu jagen, daß aud) nad) be- 
endigtem Kampfe das erichtegen von Gefangenen in der Ebene von 
Grenelle, auf dem Kirchhofe Mont-Parnaſſe, in den Steinbrüchen des 
Montmartre und beim Kloſter Saint-Benoit feinen Fortgang hatte? 
Was dazu, daß man 500 Gefangene in ein mit flüffigem Koth an— 
gefülltes Kellergewölbe auf der Wafferjeite der Tuilerien zufammen- 
jtopfte und daß die draußen poftirten Schilowachen, wenn die den 
erjtiden nahen eingepferchten ſich zu den vergitterten Deffnungen 
drängten, um nad) Yuft zur ſchnappen, ohne weiteres ihre Gewehre in 
den unterirdiſchen Marterraum hinein (osfenerten? Was enplid) 
dazu, daß am 27. Juni, alfo im erſten Siegestaumel und heißeſten 
Rachegrimm, die Nattonalverfammlung den Beſchluß fafite, es ſeien 

alle der Betheiligung an dem Aufſtande „überwieſenen“ Gefangenen 

— es lagen deren nicht weniger als 25,000 in den Kaſematten der 
pariſer Forts — ohne Proceß und Urtheil in Maſſe nach Kayenne 
zu deportiren, und daß dieſer von wahrhaft ungeheuerlicher Nechts- 
verachtung und Unmenſchlichkeit zeugende Beſchluß an nahezu 
10,000 Gefangenen wirklich vollſtreckt worden iſt? 

Was man zu alledem jagen ſoll? „Vae victis!“ Sonſt 
nichts. Die Bourgeoiſie vermochte das rebelliſche Proletariat zu 
beſiegen und zu beſtrafen; folglich fühlte ſie ſich im Recht. Es iſt 
immer ſo geweſen und wird immer ſo ſein. 

Auf den 6. Juli veranſtaltete die Regierung ein pomphaftes 
Beſtattungsfeſt für die gefallenen Vertheidiger der „Sache der 


256 Die Berwidelung, VI. 


Ordnung“. Die Ceremonie war jteif, gezwungen, kalt, troß ber 
Julihitze kalt bis zum frieren. Die Bourgeoifie muſſte ihre Sieges— 
feier für ſich und in faft unheimlicher Stille begehen; denn das Bolt 
glänzte durch feine Abwejenheit. „Man jah“ — meldet eine Augen- 
zeugin — „man jah bei diefem Feſte wohl noch republikaniſche Em- 
bleme und Symbole, man Ias noch allenthalben die Devije: Frei— 
heit, Gleichheit, Bruderſchaft! aber jedermann fühlte, daß dies nichts 
mehr ſei als eine bittere Ironie“. 

Ja, die Republik war tobt, obzwar die Parteien noch eine Werle 
mit der Mumie fpielten, als wäre fie lebend, bis hernad) aus den 
Wickelbändern derſelben der Bonapartismus fid) einen Katjermantel 
zurechtgejchneivert hat. 


II. 


Die Abwickelung. 


Die „Nitlihe Weltordnung“ iſt ein jol, aber kein 
fein; ſie iſt ein Ideal, aber feine Thatjahe. Und 
doch treibt uns ein ruheloſes etwas, nenne man es 
„kategoriſchen Imperativ“ oder anders, unabläjjig, an 
die Möglichkeit einer fittlihen Weltordnnung zu glauben 
und die Herjtellung derjelben anzuftreben. 

Scherr. 


Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 17 








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Vadesky-Alarldı. 


In der Morgenfrühe eines Decembertages von 1845 fand fic) 
im föniglichen Balafte zu Turin em Mann ein, welcher nachmals einen 
berühmten Namen in der Geihichte Italiens gewonnen hat, zur Zeit 
aber nur als ein mittelmäßiger Maler und breitipuriger Novellift 
befannt war: der Marcheſe Maſſimo d'Azeglio. Der Sardenkönig 
hatte ihm die erbetene Audienz gewährt und zwar zur ſechſten Morgen— 
ſtunde, wie es Karlo Alberto’s Gewohnheit gewejen ift. Die Stadt 
ihlief noh, der Palaſt jtand hell erleuchtet; draußen und drinnen 
ahnte jedoch, zwei Perjonen ausgenommen, niemand, daß dieſe Stunde 
eine gefhichtliche von großer Tragweite jei. 

Signore Maſſimo hatte nur wenige Sefunden im Vorzimmer 
gewartet, als ihm der Kammerdiener die Thüre aufthat und ihn durch 
den Gala» Audienzial in das Kabinett des Königs geleitete. Karlo 
Aiberto ftand am Fenſter, erwiderte mit höflichem Kopfniden vie 
Berbeugung des piemontefiihen Edelmanns, hieß ihn figen, nahm 
ihm gegenüber Platz und fragte ihn „mit der dem König ganz eigen- 
thümlich gütigen Weiſe“ nad) feinem Befinden. Der gute Maffino, 
dem jeine grauſam langweiligen Nomane, jein kenntniſſloſes ſchimpfen 
auf die Deutihen und jein Waſchlappen-Liberalismus um jeiner auf- 

17: 


260 Die Abwidelung, I. 


richtigen Liebe zu Italien willen verziehen jein mögen, jah ſich ven 
langen, magern, bleihen Monarchen an, deſſen Gefichtszüge beim 
iprechen einen „jo janften Ausdrud hatten“ und deſſen Stimme „jo 
angenehm“ Klang, und die Erinnerung, wie ſchamlos und ſchmachvoll 
diefer Menſch die italiſche Sache zweimal verrathen hatte (1821 umd 
1832), erwachte in dem Patrioten, erwachte mit folder Kraft, daß 
er unwillkürlich zu ſich jelber jagte: Maſſimo, traue nicht! *) 

„Come sta?* wiederholte Karlo Alberto. — „Gut, was meine 
Perſon angeht.“ — „Wohl, und jest, woher fommen Ste?" — 
„Majeſtät, ich komme von einer Rundreiſe in Italien; ic bin von 
Stadt zu Stadt gewandert, und wenn ich eine Audienz nachgejucht 
babe, jo geihah es in der Abjicht, Eure Majeftät zu fragen, ob Sie 
mir geftatten wollten, eine Schilderung der gegenwärtigen Yage und 
Stimmung Italiens zu entwerfen und davon zu reden, was td) hin- 
ſichtlich politiſcher Anſchauungen ſah und hörte, jowie mit Männern 
von verſchiedenen Lebensjtellungen beſprach und verhandelte". 


) Der Name Karlo Alberto'8 oder vielmehr der des Prinzen Karig- 
nano, denn diefen Titel hatte ja der Verräther von 1821 damals geführt, 
war, wie jedermann weiß, in den 20ger und 30ger Jahren geradezu eine 
Verwünſchung im Munde jedes italifhen Patrioten gewejen. Am nad- 
druckſamſten aber hatte diefe Verwünſchung ausgeſprochen der geniale und 
bochgefinnte Romanzendichter Giovanni Berdet in einer Strophe feiner 
„slarina“ : 

„Esecrato, o Carignano, 

Va il tuo nome in ogni gente! 
Non v’e clima sı lontano 

Ove il tedio, lo squallor 

La bestemmia d’un faggente 
Non ti annunzi traditor.* 
(Hochverflucht, o Karignan, 
Iſt dein Nam' bei männiglich! 
Kein Ort auf der weiten Erde, 
Allwo dich nicht gramverzehrte 
Flüchtlinge mit Grimmgebärde 
Vermaledei'n, Verräther, dich!) 


Radetzky-Marſch. 261 


In Wahrheit, der Marcheſe d'Azeglio kam jo eben von einer 
polittihen Nundreife zurück, weldye er im Sinn und Dienft des ita- 
liſchen Liberalismus unternommen hatte und die von. weitgreifenden 
Folgen wurde. ES hatte dabei gegolten, der mazzintich-republifa= 
nischen Agitation entgegenzuwirfen, das alleinjeligmachende Fonftitu= 
ttonell - monarhiiche Heil zu predigen, ven Sardenfünig als Heiland 
Italiens zu proflamiren und eine Verbindung zu organifiren, welche 
fünfzehn Jahre jpäter in dem deutichen „Nattonalverein” eine Nach— 
ahmung fand. Der italifche Nationalverein, deſſen feftere Organt- 
ſation der Marcheje in Terni zuwegegebracht hatte, hieß „La trafila* 
und die „Drahtzieher” (trafilatori), die italiſchen Nationalliberalen, 
gaben die Young aus, es müſſten die Italiener ruhig gehalten, wor 
jeder Kraftverzettelung in verfrühten und hoffnungsloſen Aufftänden 
bewahrt und auf eine große europäiſche Bewegung vertröftet werben, 
welche Bewegung den einzig-günftigen Augenblif zur nationalen Er- 
hebung bringen könnte. Sodann müſſte den italiſchen Batrioten vie 
fonftitutionelle Monarchie als fünftige Staatsform der Halbinfel und 
endlich der Sardenkönig als erjter, ja einziger Anhaltspunkt gezeigt 
werden. Diefer leiste Paragraph des Programms hatte großes Be— 
denfen erregt und heftige Beitreitung erfahren. An verjchiedenen 
Orten hatte der nationalliberale Weibel und Werber die bitter betonte 
Frage hören müſſen: „Wie, auf Karlo Alberto wollt ihr hoffen ?* 
Worauf der Marcheſe: „Wem ihr nicht auf ihn hoffen wollt, jo 
laſſt es bleiben; dann jedoch müſſt ihr überhaupt zu hoffen aufhören 
und end) ergeben” — „Aber 1821 und 1832?" — „Gefallen auch 
mir nicht. Aber ich will euch ein Gleichniß jagen: Falls ihr einem 
Dieb zumuthet, ein Chrenmann zu jein, und er eud) das verfpricht, 
jo habt ihr guten Grund, zu zweifeln, ob er jein Wort halten werde; 
falls ihr aber einen Dieb zum rauben einladet und er veripricht, der 
Einladung nachzukommen, jo wird er fein Wort halten und ihr habt 
feinen Grund, daran zu zweifeln“ .... Dieje für Karlo Alberto 
nicht gerade ſchmeichelhafte Barabel zeigt draftiich genug, mie der ita- 
liſche Liberalismus von feinem „Heiland“ eigentlich dachte. Allein 


262 Die Abwickelung, I. 


was weiter? Der Piberalismus it befanntlich ein praftiiher Menſch 
und Geſchäftemacher; folglich weiß er, daß die weltgeichichtliche Firma 
Lump und Kompagnie, von Peijimiften aud) Societas humana ge- 
nannt, mit Vorliebe Gauner und Halımfen als Kommis anftellt .... 

„Spreden Sie nur, es wird mir Vergnügen machen“, jagte der 
König zum Marcheje, worauf diejer auseinanderjette, warum und 
wie die nationalliberale Partei im Gegenjate zur nationalradifalen 
fich neuejtens organifirt habe. Die Mitglieder diejer Partei jeten 
überzeugt, daß auf den Wegen, welchen die patriotiiche Verzweiflung 
jeit 1814 in Italien eingeichlagen hatte, nichts zu erreichen wäre; fie 
lebten des Glaubens, daß ohne Macht nichts ausgerichtet, Das Joch 
der Fremdherrſchaft nicht gebrochen werden fünnte. Die National- 
liberalen wüſſten, dag Karlo Alberto allein in Italien Macht beſäße, 
daß man aber auf dieſe Macht nicht rechnen dürfte, jo lange Europa 
ruhig bliebe. Der Sprecher ſchloß mit den Worten: „Man muß 
weiter arbeiten, man muß mittel eimer neuen Idee die alte Ver— 
zweiflung in Schranfen halten und ihr den richtigen Weg vorzeichnen. 
Dafür bin ich umhergezogen, habe verhandelt, überredet und Reſultate 
gewonnen. An Eurer Majeftät ift es mın, mir zu jagen, ob Sie 
billigen, was ich gethan, ımd ob die Hoffnungen, welche Italien auf 
Sie jetst, zu erhalten und zu fräftigen find“. 

Ohne zu zögern erwiderte der König mit feſt auf den Frager ge- 
richtetem Blicke: „Laſſen Ste jene Herren wiſſen, jie möchten ſich 
ruhig verhalten, ſich nicht rühren, weil dermalen nichts zu machen it. 
Aber thun Sie denfelben auch kund und zu willen, daß ich, ſowie fich 
eine günftige Gelegenheit bietet, mein Leben, das meiner Söhne, mein 
Geld ımd meine Waffen, mein Heer und alles für die Sache Italiens 
hingeben werde”. Der Marcheje war vom Entzücken über dieſe un- 
umwundene, entichloffene Antwort tiefgerührt, jo jehr, daß er nur 
eine Wiederholung der vernommenen füniglichen Worte hervorzuftan- 
meln vermochte: „So werde ih alſo jene Herren willen lajjen, 
daß“ u. ſ. w. Karlo Alberto nicte beifällig mit vem Kopfe; dann 
ſtand er auf und entließ das Haupt der Trafila mit Umarmung und 


Radetzky-Marſch. 263 


Kuß. „Dieſe Umarmung — erzählt Maſſimo — hatte etwas ge— 
zwungenes, kaltes, ja düſteres und in meinem Herzen ſprach wieder 
die mahnende Stimme: Traue nicht!“ 

Das Bedenken kam aber zu ſpät, wurde auch raſch verwunden 
und in jener Wintermorgenſtunde iſt das Bündniß der italiſchen 
Bourgeoiſie, zu welcher ein ſehr großer Theil, ja wohl die Mehrzahl 
des Adels gehörte, mit dem Hauſe Savoien zum Abſchluſſe ge— 
fommen*). Karlo Alberto, der Lügner von 1821 und 1832, bat 
1845 nicht gelogen; nur Dachte er jich jelbjtverjtändlic unter der 
„Sache Italiens“ die Interefien des Hauſes Savoien. Phraſen 
müſſen aber jein, vollends bei Gelegenheiten, wo Monarchismus und 
Piberalismus einander zu überichlaumatern ſuchen. Im übrigen 
war bei dem im turiner Schlofje feitgemachten Pakt eine von den 
italiſchen Liberalen ſtillſchweigend gejtellte und von Karlo Alberto 
jttllihweigend angenommene Bedingung dieſe, daß der künftige 
„Re d’Italia* die fonftitutionellen Marionetten tanzen und Die par- 
lamentariſchen Kreiſel jurren lafjen würde. Der Sarvenfönig kam 
der übernommenen Verpflichtung drei Jahre jpäter wirklich nad), in- 
dem er am 5. März von 1848 den „Statuto*, das konſtitutionelle 
Staatsgrundgejet für jein Yand verkündigen ließ. 

Die Alltanz des italiſchen Liberalismus mit dem Dynaſticismus 
des Hauſes Savoien hat ſich — jedermann weiß eg — dauernd und 
erfolgreich erwiejen. Was die Wohlmeinenheit von Männern wie 
Maſſimo d'Azeglio angebahnt hatte, vollendete jpäter die jfrupelloje 
Klugheit eines Cavour, — jofern man nämlich ein Werf ein vol- 
lendetes nennen durfte, welches, alle Bhrajendraperien bei Seite ge- 
ihoben, ver armen Italia das lothringiſch-habsburgiſche Joch nur 
vom Naden nahm, um ihr dafür das ſogeheißen bonapartiiche aufzu— 


) Ich brauche kaum zu jagen, daß die ſämmtlichen Einzelheiten des 
geſchilderten Auftrittes den Dentwürdigfeiten („i miei ricordi”, 1868), von 
Maſſimo d'Azeglio entnommen find, aljo einer Duelle, deren Lauterkeit 
feiner Anzweifelung unterftebt. 


264 Die Abwidelung, I. 


legen. Indeſſen — „die Welt will betrogen jein“ und darım kann 
man ja wohl dem italifchen Liberalismus die Freude laſſen, jo zu 
thun, als hätte er jein Yand befreit und geeinigt. Ganz unbeftreitbar 
wahr ift, daß edelſte Begeifterung und jelbitlofeite Hingebung dies 
Werk nicht zu ſchaffen vermochten und daß die Gefchichte der italiſchen 
evolution — wenn von einer ſolchen überhaupt die Rede jein kann 
— unwiderſprechlich darthut, wie ohnmächtig die idealen Mächte den 
realen Berhältniffen gegenüber find und wie jehr der alte Drenftjerna 
mit feinem: „Annesecis, mi fili, quantilla sapientiaregitur orbis ?“* 
rechthatte. 

In Wahrheit, auf der einen Seite die ſelbſtgefällige Beſchränkt— 
heit, dag Ordinäre, Mittelmäßige — was alles die Leute „Mäfigung” 
zu nennen pflegen — und auf der andern Geitedie aalglatte Gaunerei 
und die bronzeftienig-felbftfüchtige Schurferei, fie mitfammen regieren 
die Welt. Es ift ganz lächerlich), zu verlangen oder zu erwarten, 
daß Wahrheit, Net, Uneigennüsigfeit und andere Ideale mehr 
in der menschlichen Gejellihaft, wie fie nun einmal ift, Erfolg 
haben follten oder fünnten. Erfolg oder Nichterfolg find aber 
das einzige Kriterium, das einzige Recht oder Unrecht. Idealismen 
werden am und im focialen Bau allzeit nur eine veforative Bedeu— 
tung haben und der ungeheuren Mehrzahl der ungefieberten Zwei— 
füßler vollftändig unverſtändlich und gleichgiltig fein. Denn „aus 
Gemeinem ift ver Menic gemacht” und demnach muR er fi) allem 
Gemeinen wahlverwandt fühlen. Ausnahmen gibt es, ja wohl; aber 
dieſe Ausnahmen bezeugen bloß die Herrihaft ver Negel. Und wehe 
den Ausnahmen! Die ganze Weltgefhichte ift nur eine fortgejette 
Verleugnung diefer Ausnahmen, der armen thörichten Idealiker und 
Enthufiaften. Von feinem einzigen Träger des Genius, von feinem 
einzigen echten und rechten Helden der Menjchheit ift gejagt und ges 
jungen: 

„Hat fi ein Ränzlein angemäft't 
Als wie der Doktor Luther” — 


Radetzky-Marſch. 265 


welcher Doktor, Dank ſeiner theologiſchen Verbohrtheit und beſchränkt— 
unterthanverſtändigen , Mäßigung“, bei „Weib, Wein und Geſang“ 
ein behagliches Daſein führte und bequem in ſeinem Bette ſtarb, 
während die genialen, ſelbſtſuchtloſen und hochherzigen Herolde des 
reformatoriſchen Gedankens, die Savonarola, Hutten, Münzer, 
Zwingli, Bruno und andere viele auf dem Scheiterhaufen, auf dem 
Schlachtfeld, im Kerker oder im Exil zu Grunde gingen und der 
größte Mann des ganzen Reformationszeitalters, Oliver Kromwell, 
wenigſtens als Leichnam noch an den Galgen kam. Und wie war 
es zur Zeit der großen Revolution? Alle die hochgeſtimmten und 
hochgeſinnten Enthuſiaſten von der Gironde und von der Montagne 
muſſten zur Strafe für ihren Glauben an das Ideal ihre Köpfe auf 
das Schaffot tragen; aber die mit Gewiſſenloſigkeit eingeſeiften 
Schufte und Schurken, die Talleyrand, Kambacérès, Fouché und 
Konſorten, ſie wurden Grandſeigneurs und Millionäre. Und nicht 
genug, daß die wahren Vorturner und Vorfechter der Menſchheit, 
die „Schwarmgeiſter“, wie der verheiratete Mönch von Wittenberg 
ſie ſchimpfte, oder die „Ideologen“, wie der glückliche Verbrecher vom 
18. Brumaire ſie ſchalt, verfemte und verfolgte Habenichtſe und Mär— 
tyrer auf Erden ſind, auch die Nachwelt, an Gemeinheit der Mitwelt 
ebenbürtig, verſagt ihnen Gerechtigkeit. Nicht genug, daß die Metze 
Fortuna regelmäßig nur den Mittelmäßigen und Schlechten, den 
Gauklern und Gaunern ſich zuwendet, auch die Golem-Hiſtoria, wie 
ſie von Hof- und Kirchenräthen zuſammengeplätzt wird, verdonnert 
die „Schwärmer“, die „Idealnarren“, die „Principienreiter“ und 
preiſ't Die „Gemäßigten“, die Windfahnen, die pfiffigen Witterer 
und feigen Zitterer. Das es der Yauf der Welt und muß es jein; 
denn „aus Gemeinem tt der Menſch gemadıt ”. 


266 Die Abwidelung, I. 


2. 


Sothaner Peſſimismus hat ſchon recht; aber mit dem rechthaben 
kommt man bekanntlich nicht weit auf Erden. Rechthaben thut's 
nicht, wohl aber gewalthaben. 

Kein auch nur halbwegs anſtändiger Menſch wird leugnen, 
daß die italiſchen Patrioten im Frühling von 1848 das Recht hatten, 
gegen die Fremd- und Zwingherrſchaft des Hauſes Lothringen-Habs— 
burg und der verſchiedenen öſtreichiſchen Vögte auf Italiens Thronen 
und Thrönchen ſich zu empören. Allein der alte Radetzky erwies in 
den Diſputationen von Santa Lucia, Kuſtozza und Novara nachdruck— 
ſam die Chimärenhaftigkeit dieſes rechthabens. Der Radetzky-Marſch 
pfiff, trommelte und trompetete den Sorgete-Italiani-Hymnus zu 
Boden. 

Der zweiundachtzigjährige öſtreichiſche Feldmarſchall, Graf 
Joſeph Radetzky, ein verdeutſchter oder wenigſtens veröſtreichter Czeche, 
geboren 1766 zu Trebnitz in Böhmen, macht zweifelsohne die be— 
deutendſte hiſtoriſche Figur des „ Tollen Jahres“. Aus der dazumal 
jhnatternden Gänſeheerde von Schwatweibern hob fi) Diejer greife 
Thatmann wie ein Koloß empor. Ein Unglüdsmann für Europa, 
ficherlih! aber doch ein Mann, ein Könner und Thäter, welchen 
anzujehen für das vom Anblick jo vieler biedermatertiich = impotenter 
Woller, Wünſcher und Klätſcher ermüdete und angeefelte Auge er- 
frijhend und wohlthuend ift. Mit ver Yalt von 32 Jahren auf dem 
Rücken und unter den ungünftigiten Umſtänden das aus den Fugen 
gegangene Oeſtreich wiedereinzurenfen — was Radetzky durch jeine 
lombardiſchen Siege gethan bat — das war fein Spaß, jondern eine 
verzweifelt ernfte Arbeit. Reſpekt alſo vor dem rejoluten Hamlet *) 
oder vielmehr Niht-Hamlet im weiten Marihallsrod, Reſpekt! und 
thät' es auch allen Liberalen und radikalen Maultrommeln jenjeits 


4’ 


*) The time is out of joint — O cursed spite, 
That ever I was born to setitright! Hamlet, I,5. 


Radetzky-Marſch. 


ID 


267 


und diefjeits der Alpen in den Jungenjpisen weh... .. Der Alte 
hatte 1787 zur ihwarzgelben Fahne gefhworen als Küraſſir-Kadett, 
hatte zuerjt im Türfenfriege von 1789 unter Yaudons Kommando Pırlver 
gerochen und dann die Schule der Kämpfe Dejtreichs gegen die fran- 
zöfiiche Nepublif und das Empire durchgemacht. Als Rittmeiſter 
focht er 1794 unter Klerfayt in Flandern, als Generalftäbler 1799 
unter Melas in Italien, als Küraſſiroberſt bei Marengo, als Keiter- 
general bei Ajrern und Wagram. Im den jchicjalsvollen Jahren 
1813—15 hatte er bereitS einen großen Stand in der militärtichen 
Welt: er war der Chef von Schwarzenbergs Generalitab, ſowie auch) 
einer der Dreimänner, welde anı 10. Jult von 1813 den berühmten 
widernapoleonijchen Nriegsplan von Trachenberg feititeliten (ver 
Deitreiher Radetzky, der Preuße Kneſebeck und ver Deutihrufie 
Toll), jenen Kriegsplan, deſſen erfolgreiches einhalten von fetten der 
Berbündeten den Empereur in einem feiner beittaliihen Wuthfrämpfe 
freiichen machte: „Diefe Viecher haben etwas gelernt (ces animaux 
ont compris quelque chose)*! Nun, er hatte fie auch lange ge- 
nug in der Yehre gehabt, das muß man jagen. Der zur jener Zeit 
gemeijterte und bemeijterte Schlachtenmeiiter hatte zwar, falls man 
dem General Jomini glauben darf, feine jehr hohe Meinung von 
Radetzky's Befähigung zum Generaljtabschef („il n’avait pas l’ex- 
perience d’une pareille charge*), indeſſen bat der Marſchall, 
welcher, nachden er kommandirender General in Ungarn und Mähren 
gewejen, im Jahre 1831 mit dem Oberbefehlshaberjtab der öftreichi- 
hen Armee in Italten betraut worden war, das Examen rigorojum 
von 1848—49 als Strateg,und Taftifer der Art beitanden, daß 
ihm eine gute Note zu geben wohl auch Napoleon anjtändiger Weiſe 

nicht umbingefonnt hätte. Der Marſchall war zu geſcheid, um Die 
herandrohende Nataftrophe nicht vorauszufehen. Cr hatte auch, ſo— 
weit es an ihm lag, auf diejelbe jich worbereitet: namentlich) dadurch, 
daß er den Boden, auf welchen er, wie er erwartete, würde ſchlagen 
müſſen, genau ftudirte; ferner dadurch, daß er fich einen Kreis tüch— 
tiger. Untergenerale heranbildete (Gorzkowſky, Wratislaw, D’Afpre, 


268 Die Abwidelung, I 


Thurn, Welden, Nugent), und endlid) dadurch), daß er dem von ihm 
befehligten Heere, vom Oberoffizter bis zum letzten Fuhrknecht herab, 
ein unbedingtes Vertrauen auf und eine enthufiaftiiche Liebe für den 
Feldherrn einzuflößen verſtand. Radetzky beſaß fuperlativifch jene 
magiſche Macht der Perſönlichkeit, mittels welcher berühmte Lands— 
knechtebandenführer früherer Zeit, ein Sickingen, ein Frundsberg, 
die widerhaarigſten Elemente zu einem harmoniſchen Heerganzen zu— 
ſammenzubinden vermocht hatten. Darum war die ſchwarzgelbe 
Fahne in der Hand des Marſchalls ein Palladium, ein Fetiſch, dem 
alle die buntſcheckigen Nationalitäten, aus welchen die öſtreichiſche 
Armee zuſammengeſetzt war — ſogar die italiſche Nationalität nicht 
ganz ausgenommen — mit religiöſem Denknichts-Fanatismus an— 
hingen. Summa: kein gewöhnlicher, ſondern ein bedeutender Menſch, 
ein umſichtiger Politiker und tüchtiger Heerführer, ſeinem Hauptgegner, 
dem Sardenkönig, in jeder Beziehung weit überlegen. Auch die 
Generale Karl Alberts, die Bava, Sonnaz, Salaſko, Chiodo und 
andere, vermochten gegen die radetzky'ſchen nicht cafe Die 
piemontefiichen Soldaten. ſodann waren zwar die tüchtigjten und ge— 
ſchulteſten in Italten und haben fich jehr brav geichlagen ; allein ſowie 
die ſardiniſche Heermaſchine einmal ernſtlich arbeiten ſollte, erwies jie 
ſich als Slid- und Lotterwerk. Der Unzulänglichfeit der Führer ent- 
ſprach Die Unzulinglichfeit der Ausrüftung und eime im ganzen 
mangelhafte Organtfation wurde nicht verbejfert durch den Miſchmaſch 
von Unfenntmiß und Gewiſſenloſigkeit, welcher im einzelnen handirte. 
Die Generalftabsoffiziere erwiefen ji vor dem Feinde alsbald als 
das, was fie waren, als unwiſſende Junker, und von den Subaltern- 
offigieren bis zum Major und Negimentsoberft aufwärts glichen viele 
auf's Haar jenen preußiichen halbinvaliden und ganzſtupiden Schmeer- 
bäuchen von Majoren und Oberften, welche Anno 1806 bei Jena zu 
hauen glaubten, aber gehauen wurden. Sogar mit der numerifchen 

chaffenheit der ſardiniſchen Streitkräfte ſah es anfangs wenig 
hoffnungsvoll aus. Man hatte zwar die Kriegsjtärfe der regulären 
Armee glücklich bis zur Höhe von 60,000 Mann und drüber hinauf- 


Radetzky-Marſch. 269 


geſchraubt, aber nur auf dem Papier. Der Zuwachs, welchen das 
ſardiſche Heer durch die lombardiſchen und ſonſtigen italiſchen Frei— 
ſchärler erhielt, war zwar der Zahl nad) ziemlich beträchtlich, that- 
ſächlich aber ziemlic, wirkungslos. Der italifche Feldzug von 1848 
hat, wie die kriegeriſchen Creignifje von 1848 und 1849 überhaupt, 
jehr nachdruckſam erwiejen, dag Freilcharen im erften Feuer der Re— 
volutionsbegeiſterung innerhalb aufgeftandener Städte wohl regel- 
tehte Truppen befämpfen und zum weichen bringen fünnen, daft fie 
jedoch, jelbjt zähe Ausdauer und aufopfernde Tapferfeit auf ihrer 
Seite vorausgejest, im offenen Felde gegen geordnete und auch nur 
halbwegs gutgeführte Iruppenmafjen nie etwas nennenswerthes 
auszurichten vermögen. Die ganze Laufbahn des größten Freticha- 
renführers unjeres Jahrhunderts, die Yaufbahn von Giuſeppe Gari- 
bald, illuſtrirt dieſen Satz handgreiflich deutlich. 


3. 


Als Die großen Botſchaften von den parifer Vebruartagen und 
von den wiener und mailänder Märztagen nad) Turin gelangt waren, 
jagte Karlo Alberto, was Hunderttaufende von Italienern damals zu 
ven Sternen hinaufjubelten: „Il gran momento & venuto!* Aber 
der alte Radetzky, nad) jeinem Abzug aus Mailand mühſälig über 
die Adda und gegen den Mincio hin retirirend, dachte: Wollen 
jehen, ob er wirflic gefommen! — nämlid) ver große Augenblid, 
wo das jhwarzgelb vor dem grünweißroth über die Alpen zurüd- 
weichen müſſte. 

Am 22. März noch hatte zwar das Fonjtitutionelle Minijterium 
Karlo Alberto’s dem öſtreichiſchen Geſandten auf deſſen Beſchwerde, 
daß ſich in und um Turin Freiſchärler mit wider-öſtreichiſchem Ge— 
ſchrei großmachten, Die ſchriftliche Verfiherung gegeben, daß „die 
jardintjche Kegierung von dem Wunfche bejeelt ſei, alles zu thun, 


270 Die Abwidelung, I. 


was die freundnachbarlichen Beziehungen zu Oeſtreich Fräftigen 
fönnte” ; aber ſchon am folgenden Tage, Nachmittags, glaubten der 
König, ver Graf Balbo und feine Mitminifter die „große Stunde“ ge= 
fommen, das Kreuz von Savoien gegen den öſtreichiſchen Doppeladler 
ins Feld zu tragen. Radetzky mit feinen „stupidi Croati* war ja 
fort aus Mailand. Die matlänvder „Trafilatori“ hatten Sorge 
getragen, ihre gewähnte „Spada d’Italia* ſchleunigſt won dieſer 
Thatſache in Kenntniß zu jegen und bejagten gefrönten Degen aus- 
zufordern, eilends nad) der Hauptjtadt der Yombarbei zu fommen — 
an der Spitze feiner unbefieglichen Armee, verfteht ſich — weil ſonſt 
zweifelsohne die böfen Mazziniften die Mil frommer, will jagen 
monarchiſcher Denfungsart in das gährende Drachengift des Repu— 
blifanismus umſchlagen machen fünnten. Alles war ja möglid) in 
dem gränzenlojen Wirrſal, welches in jenen Tagen die apenniniſche 
Halbinfel durchichütterte, ernbebenfrämpfig, von Mont Cents bis zur 
Südſpitze von Kalabrien. 

Man darf auch, um gerecht zu fein, den ttalifchen Liberalen 
wicht allzu ehr übelnehmen, daß fie in diefer chaotiſchen Krifis 
Dummheit auf Dummheit plägten und die Sache ihres Yandes fo 
ichlecht führten, wie fie thaten. Der Piberalismus war eben auch in 
Italien wie überall. ALS die rihtige Mittelmäßigkeit, welche er ift, 
wird er es nie dazu bringen, großes groß zu faffen und zu führen. 
Gr fühlt ſich nur in der dumpfen Atmoſphäre der parlamentariichen 
Schwatzbude daheim. Im jcharfen Yuftzuge des Volkslebens oder 
gar vom Orkan der Revolution umtobt, wird der arme Doftrinär 
zum Konfuſius Konfufiorum, zum perpleren Konfuſionaſinus, der 
nach Ruhe um jeden Preis ſchreit, wie nur je ein Efel nad) einer 
Diſtel ſchrie. Endlich muß man den italifchen Liberalen zu ihrer 
Entſchuldigung nachſagen, daß fie, wenn fie von feiten des fürchter— 
lichen Mazzini und des fürchterlicheren Mazzinismus eine Gefahr 
für ihren fonftitutionellen Shnidihnad beforgten, wenigftens einen 
weit venleren Grund zur Furcht hatten als ihre deutſchen Mitlibe— 
valen, welche, angefichts ver drei Dutzend Republikaner, Die es Anno 


Radetzky-Marſch. 271 


1848 in deutſchen Landen gab, mit Kindergeflenne zur Domina Mo— 
narchia eilten und fie anſchluchzten: Mama, beihüs’ uns um Gottes 
willen vor dem rorhen Butzemann! 

Koch am Abend des 23. März wurde man im Turin Ihlüifig, 
den gefommenen großen Moment zu benügen und die ſardiſche Dy— 
naftie zur italiſchen zu machen, beionders als aus Mailand die Herren 
Martini und Vimerfart angelangt waren und von feiten der dortigen 
provifortihen Regierung ein förmliches Geſuch um Unterftütung 
mitgebracht hatten. Das alte Artom des Haufes Savoien: „Die 
Lombardei ift eine Artiichofe, die man Blatt für Blatt elfen muß“ — 
galt jetst für antiquirt: man hoffte die Artiſchoke mit einem Schlud 
und Drud in den ſavoiiſchen Magen befördern und jo zu jagen als 
Brühe Parma und Modena mitlaufen laflen zu fünnen. Nebenbei 
hat Karl Albert wohl auch gefühlt, daß es ſchön fein müfite, mit dem 
nütlihen Das angenehme zu verbinden, d. bh. bet diejer Gelegenheit 
von der häſſlichen Mafel, welchen feine zweimal an der italifchen 
Sache früher begangene Verrätherei ihm angeheftet hatte, ſich rein- 
zubrennen. Daß man aber dem Dynaftiichen Zwede den gleißenden 
Nationalmantel umhängen müſſte, verſtand ſich ſchon im Hinblid auf 
die Möglichkeit republikaniſcher Regungen von ſelbſt. Man beſchloß 
alſo, in die Lombardei einzubrechen, und rief die geſammte Armee 
eilends unter die Waffen. Muth iſt ſonſt bekanntlich nicht gerade 
eine Eigenſchaft des Liberalismus; aber eine Sorte von Muth beſitzt 
er doch in hohem Grade, nämlich den Muth, ſich lächerlich zu machen. 
Dieſen bewährten auch Karl Alberts Miniſter, indem ſie den Kriegs— 
beſchluß gegen Oeſtreich damit motivirten, dieſes hätte durch ſeine 
neueſten Verträge (vom December 1847) mit den mittelitaliſchen Her— 
zogen ſein Machtgebiet rechtswidrig bis an's Mittelmeer ausgedehnt. 

Am folgenden Tage (24. März) ließ der König ſeinem Auf— 
bruch nach der Lombardei ein Manifeſt voraufgehen, welches beſon— 
ders durch die darin vorkommende Phraſe, Gott — der „liebe“ Gott 
wird bei ſolchen Anläſſen bekanntlich immer ſtark behelligt — habe 
Italien mittels wunderbarer Umwälzungen in den Stand geſetzt, 


272 Die Abwidelung, I. 


durch eigene Kraft etwas zu werden (wörtlid: fi von jelbit zu 
machen „di fare da se*) — berühmt, ja jprichwörtlich geworben ift. 
Zwei Tage darauf rüdte bereits eine erjte Brigade des piemon— 
tefiichen Heeres in Mailand ein. Karl Albert jelbit raffte von feinen 
ſich ſammelnden Truppen die zunächſt marichfähigen, etwa 24,000 
Mann, zujammen, überjchritt den Po und zog auf Pavia, wojelbit 
m 29. März Abgeordnete Matlands und anderer lombarbijcher 
Städte ihn begrüßten. Aber als was? Das lief man beiderjeits 
in der Schwebe. Der König hatte nicht die Energie, fid) ohne wei- 
teres als „Re d’Italia* darzuftellen und zu proflamiren, und bie 
Liberalen hinwieder wagten das auch nicht, was beweil’t, daß der 
Royalismus doch nicht jo jelbjtverftändlic die ungeheuere Mehrheit 
der Bevölkerung für ſich hatte, wie die Signori von der Trafila ſich 
jelbjt und andere glauben machen wollten. 

Kein Wunder übrigens, wenn in dem ſchwirrenden Tumult des 
Tages weder der ſchwache Karl Albert nod) jeine Anhänger den rich— 
tigen Weg zu wählen und mit Entjchievenheit zu wandeln wuſſten. 
Das Glüd war auch gar zu märdenhaft blau vom Himmel auf 
Dtalien herabgefallen. Der Abzug der Weifröde aus der Haupt- 
jtadt der Yombardei rief einen Rauſch hervor, dem es ganz undenfbar 
vorfam, daß die Ihwarzgelbe Fahne jemals wieder vom mailänder 
Dome wehen könnte. Die Nahridt von der fiegreihen Erhebung 
Benedigs, alle die Dirafelbotihaften aus Parma, Modena, Florenz, 
Kom, Neapel mufjten den Rauſch zum Delirium jteigern. Wenn 
man vernahm, dag nicht allein aus allen italifhen Landſchaften Frei- 
ſcharen gen Oberttalien ſich aufmachten — eine neapolitaniſche unter 
der Führung der Prinzeſſin Belgiojoſo —, jonvdern daß aud) die 
italiſchen Fürften, joweit fie auf ihren Thronen nod) jefihaft, für die 
italiſche Nationalſache und gegen Oeſtreich ſich erklärten, ja daß 
Leopold von Toſkana, Papſt Pius und Ferdinand von Neapel 
Truppen nach Oberitalien zu ſenden ſich anſchickten, damit dieſelben, 
an der Seite der Piemonteſen und Lombarden fechtend, die „deutſchen 
Barbaren“ und „weißröckigen Talgfreſſer“ gänzlich vom italiſchen 


Radetztv⸗Marſch. 273 


Boden wegzutilgen mithälfen, wenn man hörte, daß der Statthalter 
Chriſti den nach der Lombardei aufbrechenden „Kreuzfahrern“, unter 
welche zwei ſeiner Neffen ſich eingereiht hatten, vom Balkon des 


Quirinals herab ſeinen Segen geſpendet habe — (obzwar in ſehr 
zweideutigen Ausdrücken) — wenn es vom Fuße des Veſuv herauf— 


ſcholl, daß der jetzo ja auch „gut italiſch und konſtitutionell“ geſinnte 
König ein Truppenkorps von 15,000 Mann und zwar unter dem 
Kommando von Guglielmo Pepe, dem altberühmten „Soldaten der 
Freiheit“, der guten Sache zur Hilfe ſenden werde: — ja, wenn alle 
dieſe glorreichen Neuigkeiten in Ohren hineinfeuerwerkten, welche an 
ohnehin ſchon ſüdlich heißen Köpfen hafteten, ſo war es ganz in der 
Ordnung, daß die Köpfe wirbelig wurden und die Patrioten, auf 
deren Schultern dieſe Köpfe ſaßen, für das zunächſtliegende und zu— 
nächſtnöthige keinen Sinn und Verſtand hatten, ſondern als von | 
etwas jelbitverjtändlichem davon pbantafirten und delirirten, es 
müſſten, nun die bejagten „Barbaren“ und „Talgfreſſer“ auf Nim— 
merwiederkehr vertrieben wären, jofort auch Iſtrien, Illyrien, Welich- 
tirol und Dalmatien zu dent befreiten Italien geihlagen werden. 
Zweifelsohne jahen Karl Albert und jeine Rathgeber die Sache 
etwas nüchterner an. Aber konnte, durfte man in die bodylovernde 
Glut der Begeiſterung den jtaatsmänntichefalten Wafleritral binein- 
ipriten, es handle fich für das Haus Savoien zunächſt und allermetit 
darum, die erwähnte „Artiichofe“ zu verichluden ? Gewiß nicht. 
Der Sardenfönig jtellte ſich daher als ven, wie er in einer feiner 
Proflamationen jagte, „von der Hand Gottes getriebenen“ Streiter 
für die Sache Italiens dar und ließ nur beicheiven, obzwar Deutlich), 
durchblicken, daß er erwartete, der „Wille ver Marion“ werde jeiner 
Zeit ihm zu Willen fein, d. h. ihm Die Krone des finftigen „Regno 
d’Italia* aufjegen. Im derjelben Broflamation — von Yodi aus 
erlafjen — prophezeite Karl Albert zuverſichtlich: „Draltener, binnen . 
furzer Zeit wird umjer Vaterland von Feinden frei fein. Meine 
Waffen werden den Kampf abfürzen. ner Sieg tft fiher!“ . 
Derartige Prophezetungen waren im „tollen“ Jahre gäng und gäbe. 
Scherr, 1348. 2. Aufl. II. 13 


274 Die Abwidelung, I. 


Es gab dazumal mehr Propheten als rothe Hunde. Es gab aud 
etliche echte, freilich nur fehr wenige, welche mweifjagten, der ganze 
Schwindel werde ein fläglihes Ende nehmen. Aber das glaubte 
natürlich fein Menſch. Es tit jo ſüß, ſich belügen zu laffen; wie in 
der Liebe, jo auch in der Politik. Wahrheit tft ein widerwärtig Wefen. 


4. 


Derweil der Sardenkönig prophetiichen Stilübungen oblag, 
hatte der alte Radetzky jein aus Mailand gerettetes Fleines Heer erſt 
hinter die Adda und dann an den Mincio geführte. Am linken Ufer 
der Adda mit den 20,000 Mann, welche, die Zahl hochgegriffen, 
der Marichall am 24. März zur Hand hatte, Stellung zu nehmen, 
erwies ſich als unthunlich, Sobald ruchbar geworden, daß aud) Venedig 
für Deftreid) verloren gegangen. Zwar vermochte er in den nächften 
Tagen durch Heranziehung der Garnifonen an feinem Wege gelegener 
Städte fih um etliche taufende zu verjtärfen, allein da er den Feind 
viel ſtärker glaubte, als derfelbe in Wirklichkeit war — der fürchter— 
liche Lärm, womit ringsher die Freifcharen in's Feld rüdten, mochte 
diefe Täuſchung mit verurfadht haben — jo jah er fid nad) emem 
feften Stüspunft um und juchte und fand denſelben in dem ſchon 
damals berühmten zwiſchen dem Mincio und der Etſch gelegenen 
Feſtungsviereck Peschiera, Mantua, Berona und Legnano. Dorthin 
richtete er jeinen Marſch, aber er konnte, obzwar in dieſer Stellung 
fir den Augenblid geborgen, über das verzweifelte jeiner Lage ſich 
feineswegs täuſchen. Er hatte, jo jchien es, ganz Italien gegen ſich, 
mußte von Stunde zu Stunde bejorgen, daß ihm jeine Rüdzugslinie 
nad) den Alpen abgejchnitten würde, hatte eine leere Kaffe und nur 
wenig zahlreiche und noch dazu verzettelte Streitkräfte, muſſte auch, 
da ja daheim die vielgerühmte Blaſe metternichtiger Staatsweisheit 
ebenfalls zum platzen gekommen und die bekannte „Rotte von Lite— 


Radetzky⸗Marſch. 2713 


raten, Advokaten, Schmuhlen, Mauſcheln und fonftigen fremden 
Böſewichten“ in Wien regierte, vorderhand alle und jede Hoffnung, 
von dorther Hilfe zu erlangen, aufgeben. Da hieß es einen zwei— 
undachtzigjährigen Naden fteif halten und der Alte hielt ihn fteif, jo 
prächtig fteif, wie zu jener Zeit fein zweiter jteifgehalten wurde. 
Eine Wahrnehmung mochte ihn vorzugsmerje tröften und in 
feinem verteufelt verzweifelten Geſchäfte ſtärken. Dem geübten Blicke 
des Marihalls, welcher ein Kenner der Menſchen und ihrer Erbärm— 
(ichfert war, fonnte es nämlich, nachdem der Eindruck der erſten 
Ueberraſchungen verwunden war, nicht entgehen, daß an der ganzen 
Erhebung Italiens viel mehr Geſchrei als Wolle ſei. Und ſo war 
es wirklich. Die italiſche Bewegung von 1848 hat weit mehr See— 
lenſchwung, Kampfluſt und Aufopferungsfähigkeit erwieſen als die 
deutſche; aber ſie theilte mit dieſer den Grundmangel, daß nicht die 
ganze Nation mitthat. Es gab auch dazumal, die Phantaſten 
mögen ſchwatzen, was ſie wollen, ein en dationalbewuſſtſein 
in Italien ſo wenig wie in Deutſchland. Die landſchaftlichen Ver— 
ſchiedenheiten und Antipathieen waren jenſeits der Alpen mindeſtens 
io groß wie diefjeits. Der Neapolitaner ſtand dem Piemonteſen 
gewiß ebenjo fremd gegenüber, wie der Tiroler dem riefen, und der 
Komagnole verhielt ſich zum Sicilianer ficherlich nicht ſympathiſcher 
als der Aheinlänvder zum Pommer. Die muntcipale Spannung 
zwiichen Florenz und Siena, Pila und Pivorno u. |. w. war gewiß 
nicht geringer als zwiichen irgendwelchen veutihen Krähwinkeln und 
Kuhſchnappeln. Gerade wie in Deutihland war aud in Italien 
der Nationalgeift nicht ein Naturgewächs, ſondern ein Kunftproduft, 
geihaffen durch die ruhmreiche Kette von patriotiichen Dichtern und 
Denkern, welde fih vom Dante bis zum Gioberti herabjpannte. Nur 
der gebildete ‚Italiener fühlte und fühlt fi) als ſolcher, ſchon im 
Mittelalter wie noch heute. Die Pflege der italiſchen Einheits- und 
Sreiheitsidee war ausſchließlich beiden nit Klafien der Städte— 
benölferungen geweſen und diefe, nırr dieſe, d. h. das ſtädtiſche Bür— 
gerthum und der größere Theil des dem] —* verbundenen Adels, 
18* 


276 Die Abwidelung, I. 


machten die ttalifche Bewegung von 1848. Die Maſſe des Volkes, 
der Bauer that nicht mit. Was wuſſten denn dieſe in ver tiefiten 
Nacht der Unwifjenheit und des Fetiſchismus vegetirenden, zumeift 
eigenthumslojen, in drückenden Pächterverhältnifien bei Färglicher 
Nahrung für geile Preti, müſſige Nobilt und fette Cittadini das Feld 
bejtellennen armen Teufel von Bauern, was wuſſten fie von Italien? 
Nichts. Was waren ihnen „Unitä e Libertä?* Worte ohne Sinn. 
Es ift jogar unzweifelhaft feitgejtellt, daß der italiſche Bauer, ſoweit 
er ſich überhaupt rührte, im Jahre 1848 eher zu Gunſten ver 
Deitreiher als der Signori Padroni gejtimmt war. Warum ? 
Weil es die bäueriſche Schadenfreude gekitzelt hatte, zu jehen, daß Die 
Signori Padroni von den „Weißfitteln“ gerade jo geichurigelt wur- 
den wie er jelber. Allerdings ift es wahr, daß die ſtumpfe Gleich— 
giltigfeit der Bauern noch niemals den Ausbruch einer Revolution 
verhindert hat; aber nicht weniger wahr ift, daß an dieſer ſtumpfen 
Sleichgiltigfeit Ihon manche Revolution zu Grunde gegangen tft. 
Der italiſche Erhebungsiturm von 1848 durchfuhr zwar die Halbinfel 
ihrer ganzen Länge und Breite nad), aber er jtreifte bloß die Ober- 
fläche, er wühlte die Bevölferungen nicht in ihren Tiefen auf. Die 
Bauern thaten nicht mit, die Maſſen fehlten. Das merkte der alte 
Radetzky und daraufhin kalkulirte er richtig: Kann ic) nur dem erften 
Geſchrei und Gebrauje, Getrommel und Gejchiege jtanphalten, fo 
will id den Signori Italiani und Italianiſſimi mit dem öſtreichiſchen 
Korporalftod ihre Märzphantaſieröcke ſchon gehörig ausklopfen. 

Zunächſt handelte es fich freilich noch nicht um's klopfen, ſon— 
dern höchſtens um’s nichtgeflopftwerden. Radetzky wäre es geworden, 
meinen Kriegswiffenihafter, falls Karlo Alberto mit allem, was er 
von- Streitkräften aufbringen fonnte, füdöftlih von Mantua über ven 
Ro gegangen wäre, ſich in den Rücken feines Gegners geworfen umd, 
etwa von Padua aus, alles darangeſetzt hätte, das Feſtungsviereck 
abzüſperren. Der Sardenkönig ging aber von der vorgefaſſten An— 
ſicht aus, nicht die Rückzugslinie nad) dem Venetianiſchen, beziehungs- 
weiſe nah Illyrien, jondern die nad) Tirol müſſte den Oeſtreichern 


Radetzky-Marſch. 277 


abgejchnitten werden, und fo verfuchte er den Stier bei den Hörnern 
zu paden, d. h. das Feſtungsviereck in der Front anzugreifen. 

Das ſchien anfangs gelingen zu wollen, aber e8 war nur ein 
täuſchender Schein. An der Brücke des am rechten Ufer des Mincto 
gelegenen Städtchens Goito ftieß am 8. April die ttaliiche Vorhut, 
Freiihärler aus Genua und Mailand, ſowie piemontefiihe „Ber— 
ſaglieri“ und Marinefoldaten, auf die öftreichiiche Nachhut, die Bri- 
gade Wohlgemuth, welche zum weichen gezwungen wurde, nachdem 
die Brücke durch eine einzige Kompagnie tirolifcher „Kaiſerjäger“ 
4 Stunden lang hochheldiſch — zwei Enfel des Andreas Hofer fielen 
hier — gehalten worden war. Dieſer erite, Fleine, kaum nennens— 
werthe Erfolg machte die Italiener ganz toll wor Freude. Viele 
wenigſtens, ſehr wiele thaten mit Schreien, Springen und tanzen, wie 
drehende Schöpfe thun. Es gab eine Viktoriaflunferei, als wäre 
ſchon alles aus und vorbei und der letzte Weißkittel fliehend Hinter 
dem Kamme der Alpen verfchwunden. Im Bulletinftil leifteten die 
italiſchen Zeitungsichreiber foloffales. Sie überlogen den erften Na— 
poleon und famen an Wahrhaftigkeit nahezu dem dritten gleich. Der 
Generaladjutant Radetzky's, General Schönhals, welcher als, Veteran“ 
diefen Feldzug beichrieben hat, theilt aus einer ttalifhen Zeitung — 
(leider jagt er nicht, aus welcher) — als Probe ſolchen Bulletinismus 
diefen Siegesbericht über das Gefecht bei Goito mit: — „Die öſt— 
reichiſche Armee hat aufgehört zu fein! Vierzigtauſend Gefangene 
haben fid) vor dem großen Schwerte Italiens niedergeworfen. Ra— 
detzky, dem beide Beine zerichmettert waren, ift unter dem Beifalls- 
geichrer der Armee am Schweife feines Pferdes fortgefchleift worden. 
Berona hat ſich ergeben; man bat fi aller Fahnen, Kanonen und 
Bagagen des Feindes bemächtigt. Die Zahl der Todeten ift un— 
berehenbar“. Wie aus dem „Bramarbas“ des Plautus herausge- 
ſchnitten oder auch aus der „Zenobia“ des Kalderon, allwo der große 
Kapitano Perſius ſeine wunderbaren Heldenthaten zum beſten gibt. 
Man muß eben dem Ueberſchwang ſüdländiſcher Einbildungskraft 
etwas zu gute halten. Wahr ift nur, daß die Italiener, ſoweit fie bei 


278 Die Abwickelung, I. 


Goito in's Feuer gekommen, ſich mit großem Muthe geichlagen haben. 
Auch, und jogar allen zuvor, die Freifchärler. Allen im übrigen 
war die ganze Freifchärlerei von umbeveutendem Erfolg. Es fehlte 
die rechte Organtfation, Führung und Zudt. Es gab unter den 
Freiſcharen faſt mehr Generale, Oberjte und jonftige Offiziere ale 
gewöhnliche Freiſchärler und das auftreten der Freiſcharen war der 
Maſſenerhebung, war dem Ausbruch eines „Volkskriegs“ mehr hinder- 
(ih als förderlich, weil die Zuchtlofigfeit diefer Scharen namentlich 
den Bauer von einer Betheiligung an der nationalen Sache abhielt. 
Sp z. B. im Welſchtirol, wohin der Feldmarſchall, um ſich dort den 
Rücken und die Verbindung mit ven öftreichtiihen Erbländern zu 
fihern, baldmöglihit von Verona aus 4000 Mann entjandte unter 
einem Befehliger, auf deſſen rückſichtsloſe Energie er ſich verlaſſen 
konnte. Es war dies der Oberft Zobel, welcher Trient bejette und 
von dortigen Kaftell herumter eine jo ganz und gar nicht mifjzuwer- 
ftehende Kanonenmaulſprache führte, daß dort herum Italiani umd 
Italtaniffimt unterdudten, jehr. Der Mann hatte ſchon drunten in 
der Lombardei fih furchtbar genug gemacht. Seine Meldungen 
waren Blutlitaneien: z. B. „13 im Kaftell Doblino gefangene Dejer- 
teure ließ ich gleich erſchießen; 7 gefangene wohlhabende Bürger und 
Gutsbeſitzer aus Mailand und Bergamo ließ ich auch erſchießen, zum 
Exempel“. Ruhm ven Italienern, Ruhm insbefondere. den Frei— 
icharen, daß fie ſolches, Exempel“ nicht nachahmten! Ehre aber auch 
dem alten Radetzky, daß er ſolche Barbarei over Zobelei nicht billigte, 
ſondern das erfchtegen von Gefangenen, fogar von gefangenen Fahnen— 
flüchtigen verbot und nur überwieſene Spione todtzumachen erlaubte. 
Der „vielbefhimpfte, aber bewundernswerthe Greis“ — jo nannte 
ihn einer feiner urtbeilsfähigften Feinde, der Graf Balbo — hatte 
iiberhaupt imbetreff des umbringens wehrlofer Gefangenen feines- 
wegs windiſchgrätziſche oder haynauiſche Anfichten. Als er im Spät- 
berbite von 1848 die ftandrechtliche Ermordung von Robert Blum 
erfuhr, fagte er laut: „Das ſchadet Oeſtreich mehr als eine verlorene 
Schlacht!“ 


Radetzky-Marſch. 279 


2. 


Nach dem „großen Sieg“ bei Goito überſchritten, den Oeſt— 
reichern folgend, die italiſchen Streitkräfte den Mincio. Ihre Ver— 
ſtärkungen trafen jetzt allmälig ein, ſo daß um die Mitte Aprils der 
Sardenkönig über ungefähr 42,000 Mann Regulärtruppen mit 120 
Geſchützen zu verfügen hatte. Wenig jpäter über nahezu 60,000 
Mann, ungerehnet die lombardiihen, parmeſaniſchen, modeneſiſchen 
Freiſcharen und die aus dem Kirchenſtaat, aus Toſkana, aus Neapel 
gefommenen Hilfevölfer, welche zuſammen zweifelsohne eine Summe 
von 25 bis 30,000 Mann ausmachten. Das öftreichtiche Heer war 
zu diefer Zeit anerfanntermaßen beventend ſchwächer. Sein Total- 
bejtand bezifferte ſich auf höchſtens 57,000 Mann, wovon aber nicht 
mehr als 18 bis 20,000 Mann auf die eigentliche Feldarmee famen, 
indem die Mehrzahl der angegebenen Gefammtmannjchaft entweder 
Beſatzungsdienſte that oder zu Entjendungen verwandt war. Allen 
dieje numeriſche Ungleichheit wurde, abgejehen von ver Beichaffenheit 
der Truppen, volltändig ausgeglichen dadurch, daß die Dejtreicher 
vom Radetzky und die Italiener vom Karlo Alberto fommandirt 
wurden. Der letstere hat ſich, wie als Menich und Politiker, fo auch 
als General nur als einen Hamlet der Wirklichkeit erwieſen, d. h. als 
ein Schwäch- und Schwankling, der immer will und nimmer kann 
und auf deſſen Schultern die Geſchichte die Bürde einer Aufgabe ge— 
legt hatte, welcher ſie nicht gewachſen waren. An perſönlicher Tapfer— 
keit freilich hat es der Sardenkönig nicht fehlen laſſen. Im Gegentheil, 
er ſetzte ſo ſich aus, er ritt bei jeder Gelegenheit ſo rückhaltlos in's 
dichteſte Kampfgemenge, daß man geneigt wird, zu vermuthen, der 
ſardiſche Hamlet habe tm peinigenden Gefühle des Miſſverhältniſſes 
zwiſchen ſeiner Aufgabe und ſeiner Kraft einen ehrenhaften Tod ge— 
ſucht. Gewiß iſt, daß der König gar kein Selbſtvertrauen beſaß und 
demnach zum Feldherrn gerade ſo viel Beruf hatte wie ein deutſcher 
Profeſſor zum Staatsmann, womit aber nicht geſagt ſein ſoll, daß 


280 Die Abwidelung, 1. 


der lettgenannten Species vom Genus Homo das Selbjtvertrauen 
mangelte — bewahre ! 

Noch immer fonnte mit Ausfiht auf Erfolg dazumal verjucht 
werden, von Oſten her das Feltungsviered zu faſſen; allein Karl 
Albert hatte ſich nun einmal in den Angriff von Weiten her verbiffen 
und insbejondere die Wegnahme von Peschiera, der am Südende 
des Gardaſee's gelegenen Nordweſtecke jenes Viereds als ein Unter- 
nehmen von äußerſter Wichtigkeit fih in den Kopf geſetzt. Auf die 
gänzlihe Einſchließung dieſer Feſtung zielten zuvörderſt jeine Opera- 
tionen. Weiterhin war es auf Verona abgejehen, mit dejjen Fall — 
(aber e8 fiel nicht!) — allerdings die öſtreichiſche Verbindungslinie 
mit Tirol höchlich gefährdet geweſen wäre. Gegen Ende Aprils 
ſtand die italiiche Hauptmacht ſüdlich won Peschiera und ſuchte zu 
den angegebenen Zwecken in nordöjtlicher Richtung vorzugehen und 
fi) auszubreiten, während der öftreichtiche General, Berona als den 
Angelpunft feines thuns und lafjens feithaltend, noch immer auf 
die Bertheidigung angewiejen war. Bon den leisten Tagen des Mo— 
nats wurde jeder durd blutige Zuſammenſtöße marfirt. Am 30. 
April thaten die Italiener einen herzhaften Anfall auf Paſtrengo, 
wo zwei öſtreichiſche Brigaden ftanden. Dieſe mufjten vor der feind- 
lichen Uebermacht weichen und gelangten nur mit einem Verlufte von 
800 Mann vom rechten Ufer der Etſch (Adige) auf das linke *). 

) Sch kann für die abjolute Richtigkeit der Berluftangaben hüben und 
drüben eine Bürgschaft nicht übernehmen, weil e8 abjolut unmöglich ift, in— 
betreff der beiderfeitigen Berlufte in diefem — wie übrigens in jedem Kriege 
— die abjolute Wahrheit zu ermitteln. Der Kriegsbulletinismus war vom 
Anfang der Zeiten ein Erzlügner. Schon die Alten verftanden die bulle- 
tiniiche Kunſt, mittels deren den Moſkowitern e8 gelang, während ihrer viel- 
jährigen Kämpfe mit den Ticherfeffen in jedem Treffen eine Unzahl Feinde 
zu tödten und ihrerjeits immer nur den berühmten einen todten Ruffen zu 
verlieren, aus dem Fundamente. Ich erinnere beifpielsweile an das rö— 
miſche Siegesbulletin über die Schlacht bei Magnefia gegen den dritten An- 
tiochos (190 v. Chr.) , demzufolge die Aftaten 50,000 und die Römer 324 
Mann verloren. 


Radetzky-Marſch. 281 


Weitere Bedrängniſſe der Oeſtreicher an dieſem Tage wurden dadurch 
verhütet, daß der Marſchall von Verona ausfiel und den Vorſchritt 
der Italiener hemmte. Aber das günſtige Reſultat dieſes Tages für 
die letzteren war, daß ſie abſperrend zwiſchen Verona und Peschiera 
ſich feſtſetzen und die Belagerung der Feſtung am Gardaſee ernſtlich 
anhandnehmen konnten. 

Wenn man erwägt, wie leicht und raſch früher, zu Anfang der 
20ger und der 30ger Jahre, die nationalen Erhebungsverſuche der 
Italiener durch die Oeſtreicher niedergetreten worden waren, ſo darf 
man es nicht gering anſchlagen, daß i. J. 1848 bislang, d. h. bis 
zum Monat Maij, die italiſche Bewegung ſtets im vorſchreiten ſich 
befand und der öſtreichiſchen Armee gegenüber nicht nur mit Ehre 
beſtanden war, ſondern auch erkleckliche Reſultate erlangt hatte. 
Allein das jetzo bis ins blaueſte Blau hinauffliegende National— 
bewußtſein fand an dem Erlangten kein Genüge. Die entflammte 
patriotiſche Phantaſie forderte im Stile des großen Horribilikribrifax 
gethane Thaten. Die „maledetti austriaci“ ſollten weggeblaſen 
werden von der italiſchen Erde, wie von einer Windsbraut weg— 
gewirbelt. „Große Schläge“ muſſten geſchehen, markerzitternde, 
erderſchütternde. Warum ſo viele Umſtände machen mit den „bar— 
bari tedeschi?* Warum fie nicht mit einem heroiſch-gewaltigen 
Anlauf aus dem Feſtungsviereck hinaus und über die Alpen hinüber 
werfen ? 

Natürlich wurden derartige Fafeleien und Narretheien im piemon- 
tefiichen Hauptquartiere gewerthet, wie fie es verdienten. Man wuſſte 
dort recht gut, daß die Deftreicher ſich nicht nur jo wegblaſen ließen. 
Man mufite auch, wer die Wegblafungsichreihälfe eigentlich waren. 
Schöne Herrhen nämlich dahinten in Mailand, junge Nobilt und 
Seidehändlerſöhne, welde in den „eircoli* Italien und die Welt 
neu fonftruirten, liebäugelnden Patriotinnen die Rachearie des Oroviſt 
aus der Norma vorträllerten und in grüner Freiwilligenuniform mit 
fürchterlichen Schleppſäbeln durch die Straßen rafielten, über das 
„feige Zaudern“ der Piemonteſen ſchimpfend, aber wohl fid) hüteten, 


282 Die Abwidelung, I. 


aus Matland heraus und gegen die Deftreicher zu ziehen. Glaub- 
würdige Augenzeugen und Mithandelnde haben uns verfichert, daß 
von 20,000 als Freiwillige eingejchriebenen Yombarden kaum 6000 
wirklich ins Feld gegangen feten. 

Um das Gejchrer ſolchen patriotiſchen Kehrichts brauchten fich 
nun allerdings Karl Albert und feine Minifter und Generale nicht 
zu fümmern, von ſolchen Windhaſpeln brauchten fie ſich nicht zur 
Führung „großer Schläge” aneifern zu laffen. Aber e8 gab aud) 
viel gewichtigere Aneiferungen, raſche Entſcheidungen zu ſuchen. Er- 
wies ſich die ſardiſche Macht nicht ausreichend und thatfräftig genug, 
die Deftreicher bald aus der Yombardei hinauszutreiben, jo konnte 
und mufjte das verichluden der „Artiichofe” wieder fraglich) werden. 
Denn neben der monarchiſchen Partei, welche die Vereinigung („fu- 
sione*) der Yombardet mit Piemont unter Karlo Alberto’s konſtitu— 
ttonellem Sfepter für ſelbſtverſtändlich anſah, rührte ſich auch Die ve. 
publtfanijche, welche won dieſer Fuſion nichts wifjen und dem „Ver— 
räther von 1821 und 1832 nicht verzeihen wollte. Mazzint war 
nah Mailand gefommen, um zu jehen, ob für die Verwirklichung des 
Ideals jeines Yebens, für den Aufbau der „Repübliea italiana“, 
jetst endlich dort ein Boden wäre. Er muſſte bald erkennen, daß fein 
Boden, wenigitens fein bhaltbarer, vorhanden. Mit trällernden, 
flunfernden, jübelrafielnden Jüngelchen macht man feine Republik: 
dazu gehören Männer, wie vormals Kromwell und nahmals Wafhing- 
ton unter ihren Fahnen gehabt. Der Bhilifter in Mailand und mehr 
noch in anderen lombardiichen Städten wollte von der Republik und 
ihrem Tribun nichts hören, ſondern horchte mit Beifall dem fuſioniſti— 
hen Gepredige des Abbate Gtoberti, welcher, ein Plagiat an dem 
genasführten Yafayette von 1830 begehend, unaufhörlich verficherte, 
ver Ffonftitutionelle Karlo Alberto jet „die beite der Republiken“. 
Mazzini wäre vielleicht im ftande gewejen, mit Aufbtetung aller 
Mittel das monarchiſche Philiftia niederzuftürmen, aber er war na- 
türlich nicht fo thöricht, zu überſehen, daß man ohne die Beihilfe des 
Sardenkönigs die Deftreicher nicht aus Italien vertreiben könnte. 


Radetzky-Marſch. 283 


Er mochte fih auch nicht Dazu hergeben — namentlich in Hinblid 
auf die Beihaffenheit der jogenannten vepublifantichen Elemente um 
ihn her nicht dazu hergeben, die Zukunft der Republif durch einen 
Verſuch zu fompromittiren, welcher, wie die Sachen lagen, im günſtigſten 
Falle nur einen furzdärmigen Erfolg haben fonnte. So beſchied ſich 
denn der Tribun, jeine Landsleute zu ermahnen, „Geduld zu haben 
und einträchtig zu fein“, maßen doch wor Beendigung des Krieges 
alle Anftrengungen, Italien jo oder jo zu konſtituiren, eitel wären. 
Man fieht, Mazzint vechnete mit den gegebenen Verhältniſſen. Das 
darf aber ein richtiger Prophet und Apoftel nicht thun, wenn er Glück 
haben will. Ein richtiger Prophet und Apoftel muß allzeit dummt 
genug fein, das, was er prophezeit und predigt, und wären es auch 
Dogmen von der Dreieinigfeit und von der unbefledten Empfängniß, 
jelber zu glauben. Mazzini glaubte im Frühling von 1848 nicht 
an die Möglichkeit einer italiſchen Nepublif: Damit war die Frage 
einjtwerlen entjchteden und der Tribun fonnte wieder hingehen, woher 
er gefommen. Das 19. Jahrhundert it durchaus das Jahrhundert 
der Bourgeoifie, im guten wie im ſchlimmen Sinne, und deſſhalb 
wird es vor Ablauf vefielben die Republik m Europa ſchwerlich 
irgendwo dauernd iiber die Monarchie davontragen. Den wahren 
Grund hat hon der hellfichtige Briffot angegeben, indem er am 
26. Juli von 1792 jagte: „Les hommes attachent au mot de 
Roi une vertu magique, qui preserve leur propriete“. 

Allen im piemontefiihen Hauptquartier fuhr man trotzdem 
fort, ven Mazzinismus für mächtiger zu halten, als er war, und 
demnach zu fürchten. Man glaubte denſelben am nachdruckſamſten 
unſchädlich zu machen durch Führung „großer Schläge“ gegen den 
Nationalfeind, welche Schläge die Vorzüge des Monarchismus und 
vollends die Vorzüge des konſtitutionellen Monarchismus eines Karlo 
Alberto, der ja den Mailändern ſchon am 23. April hatte eröffnen 
laſſen, „es ſtehe dem tapferen lombardiſchen Volke zu, die Form ſeiner 
Regierung ſelbſt zu beſtimmen“, — auch den verſtockteſten Republi— 
kanern einleuchtend machen müſſten. Hierzu kam der Drang, in 


284 Die Abwidelung, I. 


Italien oder mwenigftens in Oberitalien „vollendete Thatſachen“ zu 
ihaffen, bevor die fremde Diplomatie ihre zudringliche Schnüffelnafe 
und ihre nicht fuotenlöfenden, jondern knotenſchürzenden Zappelhände 
— (die Nafe ichnüffelte und die Hände zappelten bereits) — in die 
italiichen Angelegenheiten fteden fünnte. Endlich galt es auch, den 
ſehr übelriechenden Eindrud, welchen eine neuerliche Demonftration 
des Papſtes hervorgebracht hatte, durch Friegertiiches Geräuſch zu 
erftiden. 

Ach, der liebe Pio-Nono-Schwindel war jest aud) ſchon ausge— 
ihwindelt! Am 29. April friegte er ein ſolches Loch, daß der ganze 
Wind, welcher ihn jchwellen gemacht hatte, daraus entwid. Der 
aufgeblajene Schemen des „Regenerators der Kirche“, des „Meſſias 
und Heilands von Italien” fiel kläglich zuſammen und aus dem 
„angelo di Vaticano* wurde wieder ein ordinärer „Statthalter 
Shrifti”. Es war nicht feine Schuld, dat Millionen von Dumm— 
(ingen die lächerlichſte aller Yügen, die Yüge von einem „Liberalen“ 
Papft geglaubt hatten. An dem genannten Apriltage that Pius, 
angeblich ohne vorwiffen feiner „konſtitutionellen“ Miniſter, an das 
verfammelte Kardinalfollegtum eine „Allofution“, worin er zunächit 
in fehr deutlicher Sprache gegen jeden Zufammenhang des heiligen 
Stuhls mit der italifchen Revolution Proteſt einlegte. Insbeſondere 
verwahrte er fich gegen jede ihm unterftellte Billigung ber wider- 
öftreihifchen Erhebung in der Yombarbet, denn eine ſolche Billigung 
fönnte ja „Pie Deutihen beftimmen, daß fie aus Racheluſt eine 
Trennung von der päpftlichen Kurie anftrebten“. Im weiteren nahm 
der Papſt miffbilligenvden Bezug auf die neuefte kriegeriſche Geftaltung 
der Dinge in Oberitalien, wo ja dermalen 7000 Mann reguläre 
Schlüffelfoldaten unter dem General Durando und an 10,000 kirchen— 
staatliche Freifchärler unter Ferrari's Führung gegen Oeſtreich in 
Waffen ftanden. Denn Durando war, einem Befehle Karl Alberts 
nachfommend, mit feinem Korps am 21. April über den Po gegangen 
und rückte nun, gefolgt von dem ganzen Freiharft Ferrart’s, aufwärts 
an die Piave, einem öftreichiichen Korps entgegen, welches unter dem 


Radetzky-Marſch. 285 


General Nugent aus dem Friaul herabkam, um Venedig von der 
Landſeite einzuſchließen. Nach Ankunft der Nachricht von Durando's 
Poübergang hatte ſein „konſtitutionelles“ Miniſterium dem Papſt 
einmüthig gerathen, ſich nicht nur in die vollendete Thatſache zu fin— 
den und zu fügen, ſondern auch ſo zu ſagen an die Spitze der Krieg— 
führung für die nationale Unabhängigkeit ſich zu ſtellen — auch der 
nachmalige Hauptreaktionswütherichminiſter des Er-Engels vom Va— 
tikan, der Kardinal Antonelli, hatte als damaliger „konſtitutioneller“ 
Miniſter dieſem Rathſchlage ſeiner Kollegen beigeſtimmt und nicht 
nur das: der ſchamloſe Heuchler hatte auch geäußert, nur ſein Kardinal— 
purpur bielte ihn ab, jelber ven Degen für die italiihe Sache umzu— 
ihnallen. Man kann eben in Darftellung der Geſchichte des „tollen “ 
Sahres feinen Schritt thun, ohne entweder über einen ausbindigen 
Narren over aber über einen ausbündigeren Schurken zu jtolpern.... 
Schließlich erklärte ver Papſt im feiner Allofution geradezu, er hätte 
jeine Truppen an die Gränze rüden lafjen — (fie waren aber ſchon 
dariiber hinaus) — nur zu dem Zwede, den Kirchenſtaat vor Ge- 
bietsverlegungen zu wahren, und fügte dieſem no hinzu: „Wenn 
jetst etliche verlangen, daß auch wir mit den anderen Fürften und 
Bölfern Italiens den Deftreihern Krieg anſagen jollten, jo achten 
wir es angezeigt, Klar und offen fundzumaden, daß dies feineswegs 
unjere Abficht ift, da wir gemäß unferer höchſten apoftoliihen Würde 
alle Völkerſtämme und Nationen mit gleicher värerlicher Liebe um— 
faſſen. Sollten ſich aber deſſen ungeachtet unter unjeren Unterthanen 
ſolche finden, welche ſich durch Das Beiſpiel der anderen Italiener 
hinreißen ließen, jo werden wir die Mittel haben, ihren Eifer zu 
bändigen“. 

Mit dieſen Worten hatte ſich Pio Nono — wir werden ſpäter 
davon hören — einen Fluchtpaß geſchrieben. Das „tolle“ Jahr 
ſollte ja unter vielen anderen erbaulichen Spektakeln auch einmal 
wieder das eines fliehenden — und wie! fliehenden — Statthalters 
Chriſti haben. 


286 Die Abwicdelung, I. 
6. 


Karlo Alberto alfo und feine Trafilatort hatten Urſache oder 
glaubten jolhe zu haben, irgendwie „große Schläge” zu thun, na— 
mentlid auch, damit ein gehoffter Siegesſchrei die ihnen verteufelt 
quer gefommene „Anſprache“ des Papſtes, welchen daraufhin der 
Volkswitz nicht jehr witig vom Pio Nono zum Pio No! No! her- 
unterwortipielte, überjchreten möchte. 

Zu diefem Zwede wurde bejchloffen, von den Höhen von 
Sommafampagna ber, wo das farbifche Heer ftand, einen Angriff 
zu unternehmen auf die Stellungen der Deftreicher, welche den weit- 
lich und ſüdweſtlich in halbftündiger Entfernung von Verona ter- 
raſſenförmig anfteigenden Höhenzug beſetzt hielten. Man hoffte, fie 
rückwärts über diefen Höhenzug hinab und in die Feftung zurüd zu 
werfen. Man hoffte jogar nod mehr, nämlich in der Verwirrung 
des vorausgeſetzten öſtreichiſchen Nüdzuges einen Anfall auf Verona 
jelbft verfuchen zu fünnen, zu deſſen gelingen ein worausgejetter Auf- 
ftand der Veronefer mithelfen follte. Yauter glüdlihe Voraus— 
jegungen joweit. Schade nur, daß der alte Radetzky es ſich nicht 
nehmen ließ, die Nachſätze dazu anzugeben. Der Feldmarihall 
fannte die Vorzüge feiner Pofition zu gut, um dieſelbe nicht mit 
äußerſter Zähigkeit feitzuhalten. Er ließ ſich auch nicht überraſchen, 
iondern bereitete umfichtig den Empfang vor, welchen er ver ſardiſchen 
Armee bei dem kleinen Dorfe Santa Lucia zutheilmerden laffen 
wollte, welches, ſüdweſtlich von der Feſtung gelegen, dem linfen 
Flügel der Oeftreicher zum Stütpunfte diente und für den Schlüfjel 
zu ihrer ganzen Stellung anzujehen war. Diejes Dorf gab der 
Schlacht vom 6. Mat den Namen, welche mit ungleichen Streitfräf- 
ten geichlagen wurde, indem die Deftreicher zwar außerhalb Verona's 
gegen 30,000 Mann zur Verfiigung, im Gefechte jelbft aber nicht 
mehr als 16 bis 18,000 Mann hatten, wogegen die Italiener nad) 
ud nad) 33 bis 35,000 Mann in’s Feuer brachten. 

Am genammten Tage, frühmorgens, führte ver Sarvenfünig fein 


Radetzky-Marſch. 


N 


87 


Heer oftwärts zum Angriffe vor. Das Centrum jollte von Somma— 
fampagna, der rechte Flügel von Villafranfa her auf Santa Lucia 
fallen, woſelbſt vorerjt nur 5 bis 6000 Oeſtreicher mit 12 Kanonen 
jtanden. Darunter — es verdient bemerkt zu werden — aud) ein 
italifches Grenadierbataillon, welches ſich an diefem heiten Tage mit 
äußerfter Tapferfeit gegen jeine „Kompatrioti“ und „Fratelli“ ſchlug 
und auf den im Gemwühle des Treffens erhobenen Zuruf derfelben : 
„Kommt, Brüder! Hierher, unter die Fahne Italiens!” eine General- 
jalve und: „Avanti! Avanti!“ zur Antwort gab. Radetzky machte 
das Bataillon zum Dank für dieſe fahnentreue, obzwar ſehr unita= 
liſche Haltung zu feiner Leibwache . . . Für das Gelingen des An- 
griffsplans von Karl Albert war es miljlich, daß jeine drei Heer- 
ſäulen nicht gleichzeitig oder wenigitens rechtzeitig vor Santa Lucia 
eintrafen. Der rechte Flügel jtand gegen das Centrum jo weit zu— 
rüd, dag er diejes nicht im günftigften Augenblide vollwuchtig zu 
unterſtützen vermochte, und was den linfen Flügel angeht, jo ver- 
mochte derjelbe, auf jeinem Anmarſche von den Deftreichern erft zu— 
rüdgehalten und dann zurüdgejchlagen, gar nicht in den Kampf am 
Entjheidungspunft einzugreifen. Dieje ftrategiihen Mängel und 
Mifjlichkeiten ſchien aber die feurige Tapferkeit der Italiener aus- 
gleichen zu wollen. Mit ver Yojung: „Italia e Carlo Alberto!“ 
eilten die Regimenter fliegenden Laufes zum Sturm auf Santa Lucia. 
Allein mit eiferner Zähigfeit hielten die Dejtreiher den Ort. Am 
heftigiten rollte und raſ'te das blutige Würfelipiel um ven Kirchhof 
her, welchen der Oberjt Kopal mit zwei Jägerfompagnien wahrhaft 
heldiſch vertheidigte. DVergebens; denn furz nad) 1 Uhr wurde der 
Kirhhof erftürmt und damit befand ſich die ganze Stellung von 
Santa Lucia un den Händen der Italiener. 

Ein allesträfte zufammenfafjender, raſch und energiſch vorwärts 
in die Niederung hinab und auf Verona zu gethaner Drud und Stoß 
würde möglicher Weiſe für die Deftreicher eine enticheidende Kata- 
jtrophe und für die Iraltener ein glänzendes Ergebniß gehabt haben. 
Allein abgejehen davon, daß die piemontefifhen Truppen durch das 


283 Die Abwidelung, I. 


lange und harte ringen um den Beſitz von Santa Lucia denn doch 
jehr mitgenommen waren und daß der linfe Flügel der Armee noch 
immer nicht auf der Waljtatt eingetroffen war, tft Karl Albert auch 
nicht der Mann geweien, alles auf einen Wurf zu fegen. Nach 
der Art folder halben Naturen begnügte er fich mit einem halben 
Erfolg, d.h. er wollte die genommene Stellung fefthalten und glaubte 
e8 zu können. 

Der alte Radetzky — eine Hofflife in Wien, zufammengeflict 
aus einheimiſch-hochariſtokratiſchen Nichtſen, welche ihre Stammbäume 
bis auf Bileams redende Ejelin zurüdführten, und aus aller Herren 
Ländern bergelaufenen Don Ranudos und fonftigen Mitefjern, aus 
gehirnweichen Yegitimttätsdufelern und zu neuen Betſchweſtern umge— 
jtandenen alten Buhlweibern, diejelbe Klike, welche dann 1. J. 1859 
den Verluft der Lombardei für Deftreich verſchuldete, fie ſprach nad) 
den Jahren 1848 —49 zu Schuldigem Danke von dem greijen Feld— 
marihall nur als von dem „alten Eſel Radetzky“ — der alte Ra— 
detzky alſo jah feinerfeits jehr klar, um was es ſich für ihn und für 
Oeſtreich an diefem 6. Maitag handelte. Um nichts geringeres als 
um die Einbuße Italiens. Er durfte aus dem Kampfe nicht als ein 
Gejchlagener hervorgehen, jonft war er ein Beſiegter und war alles 
verloren. Daher blieb feine Wahl: Santa Lucia mußte wieder ge- 
nommen und die Piemonteſen rückwärts über den Höhenzug hinabge- 
jagt werden. Er traf jogleich die nöthigen Anordnungen, lteR jeine 
Adjutanten rennen und fandte von Verona neue Brigaden gegen die 
Terrafle vor. Das Dorf oder vielmehr der Trümmerhaufen, welcher 
jetst Santa Lucia vorjtellte, wurde heute zum zweiten mal ein Sturm— 
objeft. Aber die erſten Stürme der Deftreicher, mit unzulänglichen 
Kräften ımternommen, wurden von den Italienern gänzlich abge— 
ſchlagen. Da that der Alte feinen letzten Wurf, indem er alles 
Fußvolf, was er in Verona zufanmenraffen fonnte, gegen die Höhen 
vorſchickte und dieſen Sturmangriff durch das Feuer einer Batterie 
von Zwölfpfündern unterſtützen ließ. Das ſchlug durch. Um ſo 
mehr, als die Italiener in Santa Lucia inzwiſchen erfahren hatten, 


Radetzky-⸗Marſch. 289 


ihr linker Flügel in ſeiner ihm zugewieſenen Aufgabe, d. h. in ſeinem 
Angriff auf Kroce Bianca vollſtändig geſcheitert und durch den rech— 
ten Flügel der Oeſtreicher zu fluchtähnlichem Rückzuge gezwungen 
worden ſei. Abends 4 Uhr gab Karl Albert den Befehl, Santa 
Lucia zu räumen und den Rückzug anzutreten, und nach Einbruch der 
Nacht ſtanden beide Heere wieder da, wo ſie vor Tagesanbruch ge— 
ſtanden hatten. Der öſtreichiſche Bulletinismus log, die Oeſtreicher 
hätten an dieſem Tage 72 Todte, 190 Verwundete und 87 Ge— 
fangene eingebüßt; in Wahrheit hatten fie 900 Mann verloren und 
die Bremontejen 1300 over gar 1500, obzwar der piemontefiiche 
Bulletinismus jeinerjeits Diefen Verluſt auf 757 herunteriog. 
Oeſtreichiſchen Berichten zufolge jptelten in dieſer Schlacht von Santa 
Lucia aud die famojen „Zeufelmajfen“ eine Rolle. Man babe 
nämlich piemontejiiche Soldaten in den Vorderreihen als Teufel mit 
Hörnern, Krallen und Schwänzen ausjtaffirt, um die „stupidi 
Croati* zu erjchreden, und mehr als 60 ſolcher Maſken ſeien von 
den jiegenden Dejtreichern auf dem Schlachtfeld erbeutet worden *). 
Die materiellen Ergebniſſe des blutigen Tages von Santa 
Lucia waren gering, aber die moraliihen groß. Karlo Alberto hatte 
nicht gejiegt, war vielmehr zurücdgetrieben worden und das wurde 
ihm von jeinen Yandsleuten jofort als Schuld angejchrieben. Radetzky 
jeinerjeits harte den Plan des Feindes vereitelt, hatte Durch ven 
Schlachttag vom 6. Mai jeinem Heere Selbjtvertrauen und ZJuver- 
ſicht zurückgegeben und die italiſche Strohrenommiſterei vom hinweg— 
blaſen der Oeſtreicher aus Italien vor aller Welt in ihrer ganzen 
Nichtigkeit aufgezeigt. Zwar erhaſchte der Sardenkönig oder, wenn 
man will, die italiſche Nationalſache ſpäter noch da und dort ein 


*) Der verdiente Verfaſſer der „Storia militare di Piemonte*, Pi- 
nelli, bezeichnet (p. IH, c. 3) dieſe Teufelmajfenbiftorie als ein abge- 
ſchmacktes, von dem „öftreihiichen Veteranen“ (Schönbals) erfundenes Mär- 
hen, beftreitet daſſelbe aber jo zornbeftig, daß er uns jehr geneigt macht, 
daran zu glauben. P 


Scherr, 1343. 2. Aufl. 1m. 19 


290 Die Abwidelung, I. 


flüchtiges Lächeln der Glücksgöttin; allein das erſte zurückweichen ber 
ſavoiiſchen Fahne vor der öftreihiichen am 6. Mat fündigte dennoch 
eine Wendung zu Ungunften Italiens an und zwar um jo deutlicher, 
da ſich in vemfelben Monat in Rom und Neapel bedrohlichſte Um— 
ſchwünge entweder vorbereiteten oder auch vollzogen und die That- 
ſache, daß Italien von nirgendsher werfthätige Hilfe erhalten würde, 
immer nadter heranstrat. 


Dieffeits der Alpen vermochte man nicht jo bald zu erfennen, 
daß eg mit dem ſtolzen „L’Italia far& da se!* wenige Woden, 
nachdem es geiprochen worden, ſchon ziemlich hoffnungslos beftellt 
war, umd außerdem trug fich das wiener Kabinett mit der durchaus 
grundloſen Bejorgniß, dem italiſchen Aufjtand könnte won jeiten 
Franfreihs, der Schweiz und Englands thatfählihe Unterſtützung 
zutheil werben. 

Was Franfreich angeht, fo legte die proviſoriſche Regierung der 
Biendorepublif vom Februar der italifchen Bewegung gegenüber die— 
ſelbe Unfähigkeit und Unbehilflichfeit an den Tag, welche ihr Am— 
tiven iiberhaupt fennzeichneten, und außerdem auch die wohlbefannte 
franzöfiihe Selbftiuht. Sogar der politifche Lyriker und lyriſche 
Bolitifer Yamartine verhehlte feine Unluſt nicht, an den Gränzen 
Franfreihs einen großen italifhen Staat erjtehen zu jehen, welcher 
„bis vor die Thore von yon reihen würde”, und meinte, da ja 
diefer ganze Staat „wieder einmal Deftreid in die Hände fallen 
fünnte”, fo würde Frankreich gutthun, ſich den Beſitz von Savoien 
und Nizza „unterpfandweife“ zum voraus zu fihern. Dazu kam es 
jedoch nicht, wohl aber jahen die wechjelnden Gewalthaber in Paris 
die Bildung eines italifhen oder auch nur eines oberitalijhen Ein— 
heitſtaats mit denfelben grünen Scheel- und Neidaugen an, womit fie 


K 


Radetzky⸗Marſch. 291 


gleichzeitig auch auf die deutſchen Einheitsbeſtrebungen blickten. Nach— 
dem Kavaignaks Stiefelfuchs Baſtide Miniſter der auswärtigen An— 
gelegenheiten geworden, that er dem franzöſiſchen Geſandten in 
Turin, natürlich zu weiterer Mittheilung, zu wiſſen, daß „eine lom— 
bardiſche und eine venetianiſche Republik“ — d. h. ohnmächtige 
Kleinſtaaten — ein Recht auf die „Protektion“ Frankreichs hätten. 
Das war deutlich genug: die kavaignak'ſche Kameradſchaft wollte ſo 
wenig ein mächtiges Italien als ein mächtiges Deutſchland. Die 
franzöſiſche Nationalverſammlung hatte ſich allerdings ſchon am 
24. Mai für die Unabhängigkeit Italiens ausgeſprochen, allein das 
war und blieb eine Phraſe. Um ſo mehr, als ſpäter, im Auguſt, 
der Diktator Kavaignak angeſichts der Verſammlung konſtatiren 
konnte, daß die Italiener die Hilfe Frankreichs nicht nur nicht ange— 
rufen, ſondern auch dieſelbe ausdrücklich ſich verbeten hätten. Und 
warum denn nicht? Die Italiener konnten doch wahrlich noch nicht 
vergeſſen haben, welche Sorte von „Freiheit und Gleichheit“ ihnen 
die Franzoſen am Ende des 18. Jahrhunderts „auf den Spitzen der 
Bajonnette“ über die Alpen herübergebracht hatten. 

Die Schweiz fand ſich durchaus nicht geſtimmt oder veranlaſſt, 
einen Finger oder gar eine Hand in den heißen italiſchen Brei zu 
ſtecken. Nichts liegt den nüchtern-praktiſchen Schweizern ferner als 
Koſmopolitik. Die revolutionären Bewegungen von 1848 kamen 
ihnen ſehr gelegen; aber nur, weil ihnen dadurch ermöglicht wurde, 
die Ernte ihres Sonderbundkrieges, d. h. die Bundesreform, unge— 
ſtört und unbehelligt unter Dach und Fach zu bringen. Zwar fochten 
etliche hunderte ſchweizeriſcher Freiſchärler, der großen Mehrzahl 
nach Teffiner, in den Reihen der Lombarden und Venetianer, allein 
die Eidgenoſſenſchaft als ſolche wies jeden Interwentionsgedanfen, 
nad) diejer oder jener Richtung hin, weit von fich und hielt ftreng an 
dem jchweizeriichen Princip der Neutralität. Als daher der Sarden- 
fönig am 6. April der Schweiz in aller Form ein Schutz- und Trut- 
bündnig anbieten ließ, jagte die damals in eidgenöfjiichen Dingen 
noch amtirende Tagſatz; ng höflich, aber entſchieden nein. Den 


19 


292 Die Abwidelung, I. 


Staatsmännern, welche die Bundesbehörde leiteten, mochte es aud) 
perſönlich wohlthun, einen König zu beforben, welcher in ſcham— 
Lofefter Weife wenige Monate zuvor den jeſuitiſchen Sonderbund tu 
der Schweiz aufgemuntert und unterſtützt hatte. 

Bon feinen Nachbarn im Welten und Norden hatte aljo Italien 
nichts zu erwarten. Dagegen nahm fih England der italijchen 
Sache in feiner Weiſe an, d.h. es juchte ſich diplomatiſch wermittelnd 
zwiſchen Deftreih und die Italiener zu jtellen, predigte den beiden 
ftreitenden Parteien Mäßigung und Frieden und ließ daneben das 
italiſche Wirrfal, wie das feſtländiſche überhaupt, durch feine Fabri— 
fanten und Spekulanten gehörig ausbeuten. Für den Erzhumbuger 
Palmerſton, der in England regierte, war das ein gefundenes Eſſen 
und er jetste fic) jo recht mit Behagen vor die appetitlihe Schüſſel. 
Da fonnte man fich wieder einmal wichtig machen, daß es eine Art 
hatte, und noch dazu ohme das geringjte Riſiko! Da konnte man 
ohne alle Verumföftigung den „Liberalen Staatsmann“ heraus— 
hängen, dem „alten Alliirten” Deftreid) eins an's Bein geben und 
doch zugleich als „erbweisheitlicher” Hort der fonjervativen Inter— 
eſſen im allgemeinen und als der Netter des bejagten alten Alltirten 
im bejonderen ſich darftellen. Das punctum saliens bet alledem 
war für die englifche Politik diefes, in Italien feine Republik auf- 
fommen zu laſſen, Deftreid) zu dem (etwas vergrößerten) Sarbinien, 
wie zur ttalifchen Nationalität überhaupt, in ein leidlich gutes Ver— 
hältniß zu jegen, auf jolcher Baſis den Frieden in Oberitalien mög- 
lichſt raſch herbeizuführen und dadurch die Gefahr Einer fo oder jo 
berbeigeführten kriegeriſchen Dazwiſchenkunft der. Franzojen abzu— 
wenden. Demgemäß ertheilte Balmerjton den diplomatiichen Agenten 
jeine Inftruftionen und dieſe, insbejondere die englijchen Geſandten 
in Wien (Ponſonby) und Turin (Aberkromby), gingen an's Werk, 
welches um fo befferen Fortgang zu verſprechen ſchien, als das 
öftreihijche Kabinett (Fiequelmont) die englifche Bermittelung förmlich 
anſprach. 

Graf Ficquelmont, welcher die italiſchen Zuſtände aus eigener 


Radetzky-Marſch. 293 


Anſchauung genau kannte und zweifelsohne der Ueberzeugung war, 
daß das aufhörenmüſſen der öſtreichiſchen Herrſchaft in Italien, 
welche einzig und allein auf die Kraft des Säbels geſtellt war, ja 
doch nur eine Frage der Zeit ſei, war inmitten aller der zahlloſen 
Bedrängniſſe, die ſeine Verwaltung umgaben, hinſichtlich Italiens zu 
großen, zu größten Zugeſtändniſſen bereit. Er hatte von ſeinem 
Geſichtspunkt aus vollſtändig recht, wenn er, als der Kampf in der 
Lombardei im April vor dem Feſtungsviereck einſtweilen zum ſtehen 
gelangt war, die Stunde gekommen glaubte, einen aufrichtigen 
Frieden zwiſchen Oeſtreich und Italien herzuſtellen. Das war der 
Zweck der Sendungen, womit er den Freiherrn Hummelauer nach 
England und den Grafen Hartig nach Italien betraute. Der letztere 
erließ ſchon am 19. April von Görz aus im Namen feines Kaiſers 
eine Frieden und Verſöhnung athmende Anſprache an die Italiener 
des lombardiſch-venetianiſchen Königreichs, richtete aber Damit nichte 
ans und richtete überhaupt nichts aus. Hummelauer machte ſich am 
14. Mai von Wien nad) Yondon auf den Weg, um die Vermittelung 
des englischen Kabinetts, d. h. Lord Palmerſtons anzurufen, und 
zwar auf Grund von Inftruftionen, in weldyen Ficquelmont vorſchlug, 
Lombardo-Venetien zu einem unter dev Somveränität des Kaiſers 
von Deftreich ftehenden und im übrigen jelbftitändigen Königreich mit 
nationaler Verwaltung zu machen, zu einem Staate, zu welchem auch 
die Herzogthimer Parma und Modena geichlagen werben fünnten. 
Ein Erzherzog jollte ale Vicekönig der Repräſentant diejer Perjonal- 
union des zu ihaffenden oberitaliichen Königreichs mit dem Haufe 
Lothringen-Habsburg fein. Zu diefer Machenſchaft, welche nur eine 
ins Ita liſche überſetzte zweite Auflage des Kongreß-Polens von 1814, 
ee Andenfens, war, jchüttelte der angerufene Vermittler den 
Kopf. Nun zog Hummelauer feine „geheime” Inftruktion zu Nathe 
und erklärte, er jet zur Aufftellung einer Friedensbafis bevollmächtigt, 
fraft welcher Deftreih auf die Lombardei verzichten wollte unter der 
- Beringung, daß diefe einen verhältnißmäßigen Theil der öftreichifchen 
Staatsſchuld auf ſich nähme; Venetien aber follte bei Deftreich bleiben, 


294 Die Abwidelung, I. 


jedod) nur als ein mit der öftreihiihen Dynaftie perſonalunioniſtiſch 
verbumdenes, jelbitjtändig und national verwaltetes Yand. Am 
3. Juni erklärte Balmerfton, deſſen ſtaatsmänniſche Größe eines der 
dümmſten Ammenmärchen des an derartigen Ammenmärchen jo reichen 
19. Jahrhunderts ift, auf diefer Bafis nähme England die Vermitte- 
lung über jih. Der alte Schäder that aber nichts als hin- und her— 
ſchwatzen und dermeilen wandte ſich das Blatt auf dem oberitaliichen 
Kriegsſchauplatze und auf der Halbinſel überhaupt ſo ſehr zu Gunſten 
Oeſtreichs, daß der Freiherr von Weſſenberg, welcher an des 
ſchmählich hinweggekatzenmuſizirten Ficquelmont Stelle getreten war, 
am 16. Juni nach London meldete, er könnte die von ſeinem Vor— 
gänger im Miniſterium aufgeſtellten Bedingungen eines Abkommens 
mit Italien und folglich auch die hierauf baſirte Vermittelung Palmer— 
ſtons nicht anerkennen. 


8. 


Zu dieſem Ausgange der palmerſton'ſchen Vermittelungspoſſe 
hatte der alte Radetzky wohl das meiſte beigetragen. Nach dem Tage 
von Santa Lucia war der Marſchall ſo getroſt, daß der Sinn aller 
ſeiner nach Wien gerichteten Depeſchen war: „Schickt mir Verſtär— 
kungen und ich ſteh' euch dafür, daß der Doppeladler Italien nicht 
aus ſeinen Fängen läſſt“. Der Kriegsminiſter Latour begriff, wie 
ſeines Ortes gezeigt worden, vollkommen die Wich Net, wi 
Beharrlichfeit für das Haus Yothringen= Habsburg und that eifrigft, 
was er fonnte, um dem begehren des Marſchalls zu entſprechen und 


denſelben zu befähigen, von der Vertheidigung zum Angriff überzu— 


gehen. 
Die Sahen angejehen, wie fie anzufehen find, d. h. vom Stand- 


punfte hifterischer Gerechtigkeit, muß überhaupt laut gejagt werben, , 


daß in dem großen Trubel und Strudel von 1848 unter den Die- 


* 


Radetzky⸗Marſch. 295 


nern des genannten Kaiſerhauſes neben ſehr vielen Nullen doch auch 
manche höchſt tüchtige Zähler zum Vorſchein gekommen ſind. Ein 
ſolcher, obzwar nicht gerade ein großer, war auch der Feldzeugmeiſter 
Graf Nugent, welcher das in Görz ſich ſammelnde Hilfeheer für 
Radetzky befehligte und gen Verona herabführen ſollte. Am 16. April 
brach er auf mit ſeinen 22 bis 23,000 Mann und ſeinen 65 Ka— 
nonen, überſchritt den Iſonzo, zwang das aufgeſtandene Udine zur 
Kapitulation, ging am 25. April über den Tagliamento und zog am 
30. in Belluno ein. Der ganze Marſch war zugleich eine Wieder— 
unterwerfung des Friauls gewejen. An der unteren Piave jtanden 
die fichenftaatlichen Freiwilligen unter Ferrari und die päpftlichen 
Truppen unter Durando, mitfammen nahezu 15,000 Mann, um 
Nugent den Weg nad) Trevifo zu fperren. Bei dem jchlechten Ein- 
vernehmen zwiſchen Ferrari und Durando vermochten die Dejtreicher 
die Freiſcharen ungeachtet tapferjter Gegenmehr umzurennen und 
zu zerjtäuben, worauf Durando, welder jenen Waffenbruder ſchnöde 
im Stiche gelaſſen hatte, nad) Mejtre retirirte. Nugent nahm Tre- 
viſo, erkrankte aber und übergab das Kommando an den Grafen 
Thurn, welcher General den Befehl Radetzky's, möglich ſchnell zu ihm 
beranzufommen, mit großer Raſchheit ausführte. Am 22. Mai 
trat demnach die Spite der thurn'-ſchen Heerſäule mit der Armee des 
Marihalls in Verbindung. Radetzky that mın aber ven Miffgriff, 
der von Gewaltmärſchen erichöpften Truppe die Wegnahme ver in- 
zwiſchen von Durando bejesten Stadt Vicenza zuzumuthen, welches 
— miſſlang. Vicenza wurde durch die ſchweizeriſchen 
Soldtruppen des Papſtes im Zuſammenwirken mit der Einwohner— 
ſchaft muthvoll und erfolgreich vertheidigt. Das nugent-thurm'ſche 
Korps mußte davon ablaſſen und rückte am 25. Mai in Verona ein. 
Der Marſchall hatte jest 50,000 Mann mit 151 Feldgeſchützen 
unter jenen Fahnen und in der Perſon des fürzlic bei ihm einge- 
troffenen Feldzeugmeiſters Heß einen Generalguartiermeiiter, welcher 
ein jolher war. Der zweiundachtzigjährige Feldherr glaubte mın 
jeinerjeitS die Zeit gefommen, „große Schläge” zu thun, allein er 


296 Die Abwickelung, I. 


täufchte fih, Feine Zeit war noch nicht da. Noch begünftigte pas 
Kriegsglüd feinen Gegner, den Sardenfönig, mehr als ihn, aber 
freilich nicht mehr für lange. 

Karl Albert ließ fih nad dem Treffen von Santa Lucia den 
großen Fehler zur Schulden fommen, in feiner Stellung zu Somma- 
fampagna drei Wochen unthätig zu vertrödeln. Er wähnte, zunächft 
genug gethan zu haben, wenn er den Fortgang der Belagerung von 
Peschiera ficherte, während doch feine Hauptaufgabe in dieſer Zeit 
hätte jein müſſen, mit aller Macht die Verftärkung Radetzky's durch 
Nugent- Thum zu verhindern. Der öftreihiihe Marſchall, den die 
Nachricht von Hummelauers Friedensjendung nah London die ſol— 
datiſche Beſorgniß einflößte, er könnte, fo er ſich nicht eilte, alle jeine 
Miühewaltung, Oberitalien für Deftreih zu halten, durch einen 
haftigen und nad) feinem Gefühle ſchmählichen Friedensſchluß vereitelt 
ſehen, beichlon zu einem Hauptichlag gegen die Itaftener auszuholen, 
mittels deſſen das ſardiſche Heer aus feiner Stellung getrieben, 
Peschiera entfeßt und die direfte Verbindung mit Tirol durch das 
Eichthal her- und fichergeftellt werden follte. Der hierzu von Heß 
entworfene jtrategiiche Plan war ganz gut, aber die Ausführung blieb 
hinter dem Entwurfe weit zurüd und der Schlag ging fehl. 

Am Abend des 27. Mai zogen die Deftreicher, 40,000 Mann 
mit 140 Geſchützen aus Verona, bewerfitelligten faſt angefichts Der 
piemontefiihen Stellungen bet Sommakampagna einen ſüdwärtſigen 
Vlanfenmarih und waren am folgenden Abend in Mantua. Im 
Gefolge Radetzky's ritt auf dieſem Marſche der junge kaum dem 

abenalter entwachſene Erzherzog Franz Joſeph, der Neffe des 
armen unzurechnungsfähigen Kaiſers Ferdinand, welcher dermälen in 
der Hofburg zu Iunsbrud feine Blumen begoß, kopfſchüttelnd, teil f 
er über bie merfwürdig lange „Spazierfahtt" von Wien dorthin 
nicht vecht ins Flare zu fommen vermochte Bon Mantua aus 
wollten die Deftreicher zunächſt das weſtlich von der Feſtung ſtehende 
und diejelbe blofirende, mit dem Linken Flügel an Kurtatone, mit dem 
rechten an Montanara gelehnte toffaniiche Korps von 8000 Mann, 


Radetzky-Marſch. 297 


welches der tapfere General Laugier befehligte, angreifen, umzingeln 
und aufreiben, um nach Beſeitigung dieſes Hinderniſſes die piemon— 
teſiſche Armee in der linken Flanke und im Rücken zu faſſen. Jenes 
gelang, dieſes nicht, und zwar darum nicht, weil die Toſkaner, mit 
Ausnahme ihrer Reiterei, die ſich erbärmlich benahm, einen viel 
zäheren Widerſtand leiſteten, als irgendwer erwartet hatte. Die 
Studentenharſte und Bürgerwehrfähnlein, aus welchen Laugiers 
Korps gutentheils zuſammengeſetzt war, zeigten an dieſem 29. Mai, 
wo die Oeſtreicher von Mantıra übermächtig auf fie herausfielen, daß 
es für Kämpfer, welche ein großer Gedanke befeuert und welche, wohl— 
verſtanden, unter guter Führung ſtehen, doch gerade keiner jahrelangen 
Drillerei und Raferndtlungeret bedarf, um geſchickt und beharrlich zu 
jtreiten und glerreich zu fterben. Auch die italiſchen Profeſſoren 
faſſten und thaten ihre patriotiihen Pflichten etwas anders als ihre 
118 deutiche Kollegen, welche in der Paulsfirche ihre Reden reveten 
oder ihre Gedanfen ſchwiegen. Beim Sturm der Deftreiher auf Kur- 
tatone fiel der berühmte neapolitaniſche Profeſſor Billa an der Spite 
des von ihm befehligten Studentenbanners und wurde fein Kollege 
Montanelli ſchwer verwundet. 

Ueberhaupt erfordert es die Gerechtigkeit, frank und frei und 
wiederholt anzuerkennen, daß in den Jahren 1848 —49 ver Yibera- 
lismus in Italten, auch in feinen blafjeren Schattirungen, durd- 
ihnittlih ganz unverhältnißmäßig mehr Muth und Opferfühigfeit 
eriwiefen hat als in Deutſchland. Und doch war auch der deutſche 
Liberalismus damals noch nicht in die unter dem Strich gelegene 
Region won — Klugheit hinuntergeſunken, allwo er fich ſpäter be— 
haglich eimrichtete, wie das von einem jo praftiihen Geihäftsmann 
wohl erwartet werden konnte. Die Piteratur iſt ihm ſelbſtverſtändlich 
in jene behagliche Gegend gefolgt, um einen Patriotismus zu kulti— 
viren, welcher vor dem früher üblichen den großen Vortheil voraus— 
hat, patriotiſch zu ſcheinen und zugleich höchſt ungefährlich oder gar 
nutzbringend zu ſein. 

Die Erſtürmung von Kurtatone, wobei der General Fürſt Felix 

s 


% 


298 Die Abwidelung, I. 


von Schwarzenberg — nahmals als öftreichiicher Premierminiſter 
Hauptmacher der in der Wolle ſchwarzgelb gefärbten Rückwütherei — 
das beite that, entſchied das Treffen, natürlich zu Gunſten der 
Deftreiher, wie ed denn unter den obwaltenden Umſtänden gar nicht 
anders entichieden werden fonnte. Aber die ftanphafte, hingebungs- 
volle Gegenwehr, welche die italiiche Jugend an dieſem Tage dem 
übermächtigen Feinde entgegenftellte, macht ven 27. Mat von 1848 
zu einen bellleuchtenden italiſchen Ruhmestag. Und der bei Kurta— 
tone und Montanara geleijtete Widerſtand war auch ausreichend, 
Radetzky's Plan zu ſtören; denn er verjchaffte der Armee Karl 
Alberts Zeit, ſich auf den ihr zugedachten Angriff vorzubereiten. 
Wäre diefe Armee bejjer geführt worden, als die geführt wurde, ſo 
hätte fie ven Toſkanern Hilfe bringen müfjen und fünnen. 

Am 30. Mai vollführten die Deftreiher am Mincio bei Goito 
ihren Angriff auf das fünigliche Heer. Allein diejer Angriff war 
feine Ueberrafhung mehr und außerdem Elappten die Angriffspiipo- 
fittonen weder ſtrategiſch recht zuſammen, noch wurden fie taftifch mit 
der nöthigen Energie praftizirt. Diefer 30. Mat war fein Chrentag 
weder fir den alten Radetzky noch ein Glanztag für die öjtreichtiche 
Armee. Es ſpukte an dieſem Tage unter den fatjerlihen Fahnen 
wieder einmal das alte juperkluge Gejpenjt der „weiten Umgebungen“, 
welches ſich ſchon zur Zeit des trefflihen Erzherzogs Karl jo häufig 
und ftetS zum Unheil diefer Fahnen hatte jehen laffen. Das Korps 
des Generals d'Aſpre, welches behufs einer Umgehung des rechten 
Flügels der Piemonteſen allzu weit wejtwärts entjendet war, fehlte 
zur entjcheidenden Stunde auf der Walftatt und jo ging die Schlacht 
fir die Oeftreicher verloren. Gewonnen wäre diejelbe für fie nur 
gewejen, falls fie ihre Abficht, Goito’s, als reines „Punktes von 
höchſter Wichtigkeit” , ſich zu bemächtigen, durchgeſetzt hätten. Nach 
dem Mifflingen ihres Plans verihanzten fie ſich angefichts des Fein— 
des in und um Rivalta, aber in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 
gingen fie, ohne weiter etwas zu verſuchen, nad) Mantua zurück. 


Die Piemonteſen wollen ihren Sieg bei Goito mit einem Berluft von 
{ 


Radetzky-Marſch. 299 


400 Mann erkauft haben, wogegen die Oeſtreicher 1200 eingebüßt 
hätten, welche Zahl hinwieder die letzteren auf die Hälfte herabmin— 
dern. Am Abend des 30. Mai kam dem Sardenkönig noch eine 
zweite Siegespoſt zu, die Nachricht von der Uebergabe der Feſtung 
Peschiera, welche von ihrer mehr als halb verhungerten Beſatzung 
nicht mehr länger hatte gehalten werden können. 


an 


Der fromme Sardenkönig ſtimmte ein Tedeum an ımd hielt 
eine Siegesparade ab. ur übrigen wufjte er mit und aus feinem 
Erfolge wiederum nichts zu machen, gar nichts. Er, der ungeachtet 
aller jeiner Frömmigkeit im Macchiavelki doch nicht fo ganz unbe— 
wandert war, hätte fi erinnern jollen, daß der alte Meifter der 
Friedens- und Kriegspolitik die flüchtige Göttin Gelegenheit jagen 
läſſt: 

„Am Hinterkopf iſt mir kein Haar zu finden; 

Drum wird mir ſtets vergeblich nachgeſtellt, 

Wenn man mich einmal ließ vorüberſchwinden.“ 

Sie kam nicht wieder, die am Hinterkopf Unbehaarte, nie 
wieder. Das Treffen vom 30. Mai bei Goito und die Einnahme 
von Peschiera markirten den Höhepunkt italiſchen Kriegsglückes. Der 
wahrhaft raſende Jubelſchall, welcher darob in ganz Oberitalien auf— 
ſchlug, ſollte binnen wenigen Wochen ganz anderen Tönen platzmachen 
und das überſchwängliche frohlocken in Verzweiflungsſchreie um— 
ſchlagen. 

Der alte Radetzky befand ſich nach dem Fehlſchlag vom 30. Mai 
wieder arg in der Klemme. Denn mehr noch als nächſtliegende 
Schwierigfeiten bedrängten ihn ſolche fernher. Zwar hätte feine 
Lage in Manta geradezu eine verzweifelte werden fönnen, ja müfjen, 
wenn Karl Albert, jtatt ein Betbruder und Paradeliebhaber zu fein, 

| 


300 Die Abwidelung, I. 


ein General gewefen wäre, welcher nad) dem bei Goito Dawongetragenen 
Siege raſch und nachdruckſam gethan hätte, was er thun muſſte: näm— 
(ich entweder die Deftreiher ihen am 31.Mai wieder bei Rivalta 
energifch angreifen, wozu fein Heer nicht nur den feurigſten Willen, 
fondern auch die nöthige Kraft hatte; oder aber, nachdem die 
Deftreiher nad) Mantua zurücgegangen, mit feiner ganzen Macht 
zwiichen dieſe Feſtung und Verona ſich werfen, um in dieſer Stellung 
ven alten Radetzky zu einer enticheidenden Schlacht zu zwingen. 
Aber was hilft es, von einem verdorrten Baum zu verlangen, daß 
er Blüthen bringen und Früchte tragen joll? Der Sardenkönig war 
ein verdorrter Baum, von welchem ein richtig jehender und urtheils- 
fähiger Soldat, der mitdaber war, Major Pinelli, ganz gut nachge- 
wieien hat, daß derſelbe in feiner Weife Das Zeug zu dem hatte, was 
er hätte worftellen, fein und thun follen. Karl Alberts ganze Per— 
Tönlichkett paffte zu einem Nationalbannerherın ungefähr jo, wie die 
deutichen Märzminifter zu Staatsmännern pafiten, d. h. gar nicht. 
Pinelli ſah ihn am 7. April, als, nad dem Einfall der Piemontefen 
in die Yombardei, die 3. Divifion bei Azola in Schlachtordnung auf- 
geftellt war, um ven woriiberfommenden König zu begrüßen. „Bei 
feinem erjcheinen wiverhallte die Yuft vom „Evviva il re!“ der 
Soldaten. Aber ftatt den Truppen zuzulächeln oder denjelben irgend- 
wie feine Zufriedenheit zu bezeigen, flog der König Tpornftreihs an 
ihnen vorbei, bleichen Gefichts, wie ein Schulobewuffter und mehr 
einen Flüchtling denn einem Könige glei. Auch hat er während 
der ganzen Dauer des Krieges nie ein Wort des Mitgefiihle oder 
Troſtes für die Leiden der Soldaten zu finden gewuſſt. Allzeit bleich 
und abgeipannt, wie er war, bewirkte feine Erſcheinung, ftatt Die 
Truppen zu ermuthigen, nur eines Herabftimmung devfelben, indem 
er mit feinem geipenftigen Ausfehen ein Vorbote von Unheil und 
Niederlagen zu fein ſchien“. 

Mit einem ſolchen Gegner fertigzumerden durfte der greife Mar- 
ſchall noch immer hoffen. Wären ihm nur nicht andere Hemmniſſe 
ſchwer auf dem Naden gelegen! Das chmerfte war wohl die Nach— 





Radetzky⸗Marſch. 301 


richt aus Wien, daß die Zuſendung von Verſtärkungen vorderhand 
eingeſtellt ſeien, weil man unter engliſcher Vermittelung zu einem 
Frieden mit dem Sardenkönig zu gelangen hoffe. Dieſer Nachricht 
war die Weiſung an Radetzky beigegeben, derſelbe ſolle unverzüglich 
Unterhandlungen über einen Waffenſtillſtand mit Karl Albert ein— 
leiten. Das ging aber dem Alten gegen den Mann, ſo ſehr, daß er 
alsbald den Fürſten Schwarzenberg gen Innsbruck eilen hieß mit 
ſeiner, des Marſchalls, Bitte, dieſen peinlichen Auftrag von ihm zu 
nehmen. Dann ging er ſofort daran, den Fehlſchlag von Goito gut— 
zumachen und den italiſchen Jubilirern und Illuminirern zu zeigen, 
daß es trotz alledem mit dem Schwarzgelb in Italien noch nicht 
Matthäi am letzten ſei. 

In Wahrheit, bei näherem zuſehen war der Monatsabſchluß 
vom Mai für die Sache der Fremd- und Zwingherrſchaft auf der 
appenniniſchen Halbinſel keineswegs ungünſtig. Denn was dieſe 
Sache durch die neuerlichen (unfruchtbaren, weil unausgenützten) 
piemonteſiſchen Erfolge in Oberitalien ſcheinbar gewonnen, das hatte 
fie derweil in Mittel- und Unteritalien wirklich verloren. Zwar ber 
rücwärtfige Fühler, die „Allofution“ des Papſtes vom 29. April, 
war noch um ein Weilchen zu früh herausgejtredt worden. Gelbiger 
eriwies fi als ein Stich tn ein Hornifjenneit, als ein um jo mehr 
herausfordernder Stich, als eine große Anzahl von römischen Fami— 
lien mit vollem Rechte fürchteten, die päpſtliche Erklärung könnte und 
müſſte den Deftreihern DVeranlafjung geben, die firdenitaatlichen 
Soldaten und Freimilligen, welche ihnen gegenüber jtanden, nicht 
nad) ven Grundſätzen des Kriegsrechts, ſondern vielmehr als vogel- 
freie Banditen zu behandeln. Das Hornifjenneft begann daher ſchon 
am 30. April auszubreden und zu ſchwärmen: Abordnungen von 
31 Klubbs erſchienen im Quirinal, in drohender Weije die Verleug- 
nung der Allofution und die Fortführung des Krieges gegen Oeſtreich 
fordernd. Der Ex-Engel des Batifans, damals ſchon, ohne es zu 
wifjen, ein bloßes, obzwar derzeit fernher gehandhabtes Sprachrohr 
in den Händen des Jeſuitengenerals, ftellte fih au, d. b. man lie 


502 Die Abwidelung, I. 

ihn fo ſich anftellen, als ſei jeine „Anſprache“ das harmloſeſte Ding 
von der Welt. Er milligte auch ein, den Mefjer Farini an den 
Sardenkönig abzujenden, um diefem förmlich und traftatmäßig das 
Dberfommando über die ſämmtlichen im Felde jtehenden kirchen— 
ftaatlihen Streitkräfte zu übertragen; aber am folgenden Tage 
(1. Mai) drohte er doch in einer „Anſprache an das römische Wolf”, 
daß er fich unter Umftänden bewogen jehen könnte, „Die geiftige Ge- 
walt, welche Gott uns gegeben, nicht unthätig in unferen Händen zu 
laſſen“. Freilich, mit mittelalterlihen Ach-und Krachmitteln, mit 
Bannblisen und Interdiftedonnern, war dazumal in Rom nicht viel 
zu machen: die abentenerlihe Blis- und Donnermafchine würde, 
aus der Rumpelfammer der Kicchengeichichte herworgeholt, mit uner— 
mefjlihen Gelächter empfangen worden jein. Die jhlangenflugen 
Leute, welche die Papſt-Marionette tanzen ließen, wuſſten das wohl. 
Ebenfo, daß man, bis ihre Zeit wieder gefommen wäre, ein jehr 
unangenehm ſich machendes Publikum von Klubbhorniſſen mit erlichem 
trifolorem Gegaufel ergötzen müſſte. Daher wurde der Marionette 
zeitweilig noch einmal das allerdings ſchon fehr fadenjcheinig gemor- 
dene Nationalpapitmäntelhen umgehangen. Pius muſſte am 2. Mai 
an den Kaiſer von Deftreich einen Schreibebrief aufſetzen, worin er 
den genannten Monarchen dringlich aufforderte, „einem Krieg ein 
Ende zu machen, welder ja doch die Gemüther der Yombarden und 
Venetianer nicht für Deftreich zu erobern vermöge. Die edle deutſche 
Nation“ — (großer Gott, was hatte die mit Yonıbardo-Venetien zu 
ihaffen ?) — möge die unheilvolle Herrihaft in eine freundliche Nach— 
barihaft umwandeln und kochherzig die italiiche als eine Schweiter 
anerkennen“. Zwei Tage ſpäter muffte der Papſt das Minifterium 
Antonellt entlaffen und ein durchweg aus Nichtgeritlichen beſtehendes, 
an deſſen Spige der alte Karbonaro Graf Mamiani trat, ſich ge- 
fallen laſſen. Alle vie päpitlihen Fügungen und Schmiegungen 
waren jedoch bloße Scheinfiege der italiſchen Sache; denn daß die 
Lenker der liberal und national gaufelnden, aber zu dieſer Zeit gegen 
die nationale und liberale Bewegung bereits topfeindjelig verhesten 


Radetzky⸗Marſch. 303 


er 


Papſt-Puppe nur ihrer Zeit harrten, um für alle diefe Fügungen 
und Schmiegungen vollwichtige Rache zu nehmen, wird ſchon durch 
die eine Thatſache bewiejen, daß Napier, der engliiche Gejchäftsträger 
in Neapel, ſchon am 4. Mai nad) Haufe melden fonnte, Pius habe 
beim König Ferdinand anfragen laffen, ob er, jo er fih im Falle 
ſähe, Rom zu verlaffen, im Neapolitaniſchen eine ehrenvolle Auf— 
nahme und fichere Freiftätte finden würde. Die Martionettelenfer 
hatten aljo bereits im April geplant, was im November zur Aus- 
führung kommen jollte. 

Wiſſende haben mit Necht auf den Zufammenhang der in Nom 
vorerst gedachten Reaktion mit der in Neapel im Mat jchon voll- 
brachten hingewieſen, welcher Zufammenhang übrigens auf der Hand 
liegt. König Ferdinand der Zweite fonnte aus der gemeldeten An— 
frage von jeiten des Papſtes unſchwer heraushören, daR das ganze 
Gewicht der Autorität des Statthalters Chrifti, welches vom Juni 
1846 ab dem italifchen und liberalen Vorwärts zu baß gekommen 
war, jetzt auf die Seite des Rückwärts hinübergerückt werben joilte 
oder bereits hinübergerüdt jet. Der König nahm daraus ab, das 
widerwärtige Heuchelſpiel eines fonjtitutionellen Patrioten, welches er 
fich fett Januar jenen „Einfaltpinſeln“ und „Schwachköpfen“ von 
Mintftern gegenüber hatte auferlegen müfjen, fünnte bald zu Ende 
fein. Inzwiſchen führte er, wie man geftehen muß, diefe Rolle nicht 
itbel Durch. Freilich, die lieben liberalen Macharonimater am Fuße 
res Veſuv Liegen ſich von allerhöchften Herrichaften nicht weniger 
gern nasführen als die lieben liberalen Biermaier im Norden ver 
Alpen. Ferdinand lauerte demnad auf einen günftigen Moment, 
die Maſke abzumwerfen, und es ift jelbjtverftändlih, daß er die im 
Sande umlaufenden Fäden der Nücdwärtierei, ſowie die nad) auswärts 
reihenden, mit jeinen Wünjchen zuſammenknüpfte. 

Die Berhältniffe, wie fie, ohne Illuſionsbrille angejehen, waren, 
famen ja diejen echtköniglichen Wünfchen zu Hilfe. Die neapolitaniiche 
„Revolution“ hatte feinen der Berge von Unflat, welche durch eine 
vielhundertjährige Tyrannei im Lande aufgethürmt worden, weg— 


304 Die Abwidelung, I. 


D 


geſäubert. Der Liberalismus hatte, als er obenauf gekommen, auch 
hier, wie überall, ſeine impotente Hammelsnatur erwieſen. Auf 
einem Boden, welcher mit Eiſen und Feuer hätte gereinigt und dann 
gründlich umgeackert werden müſſen, ſtellte er ſeine konſtitutionelle 
Schaukel auf und erwartete, dieſe Maſchine würde Wunder wirken. 
Ach, beſſer als die arme Schaukel verſtanden ſich auf's wunderwirken 
jene Bürgerwehrleute, welche, als der dem „neuen Weſen“ natürlich 
abgeneigte heilige Januarius ſein Blutflüſſigwerdenswunder am 
1. Mai nicht verrichten wollte, dem Herrn Erzbiſchof ſehr deutlich 
erklärten, bejagtes Blutflüffigwerdenswunder müſſſſte geſchehen. Und 
jiehe, es geſchah. Mit Hetligen und Bonzen muß man jehr deutlich 
reden, falls man fie zur Bernunft bringen will. Die Schaufel ging 
derweil auf und ab, vermochte aber mit ihrem eintünigen Spiel ein 
nad) draſtiſch-grellen Schaufpielen gierendes Volk, wie das neapoli- 
taniſche ift, nicht zu befriedigen. Die ehrlichen Patrioten hatten die 
radifale Arbeit, welche ſchlechterdings hätte gethan werben follen, 
nicht thun wollen oder fünnen umd die Folge hiervon war, Daß die 
unehrlihe Wühleret, das ſchmutzige Gaffenlumpenthum fi) unter- 
ftand, dieſe Arbeit thun zu wollen und zu fünnen. Die Stadt Neapel 
wurde geradezu eine Yatrine, in welche alle Menſchenjauche Italiens 
zufammenfloß. Aus diefer Prämiſſe ergab fich wiederum nothwendig 
die Konflufion, daß der „ruhige Bürger“ zum Angftmeib, der Be— 
figende zum Wimmerling wurde, und hieraus als Facit des ganzen 
Kechenerempels, daß, wenn nicht gerade die Mehrzahl, jo doch eine 
ſtarke Minderheit der Bourgeoifie — vom Grundbeſitz-, Hof-, Ka— 
jernen- und Kanzlei-Adel gar nicht zu reden — nad) der guten alten 
frommen Zeit des Abjolutismus heimlich ſich zurücjehnte. Der 
König wuſſte das, merkte es ſich und ließ, um die Angftweiber 
noch ängjtlicher und die Wimmerlinge noch wimmerlicher zu machen, 
unter der Hand das Märchen vom beftehen einer kommuniſtiſchen 
Verſchwörung in Umlauf jesen. Die Ihatjache jeiner eigenen ab- 
ſolutiſtiſchen Verſchwörung wurde begreifliherweife von den aufrich- 
tigen Konftitutionellen wie von den radikalen Wiverborbonifern eben- 


Radetzky⸗Marſch. 305 


falls fleißig kolportirt und es würde ein ganz anderes Wunder als 
das januariſche Blutflüſſigwerden erforderlich geweſen ſein, um zu 
verhindern, daß dieſe Thatſache und jenes Märchen mitſammen tüchtig 
Unheil ſtifteten. 

Es kam am 15. Mai zum Ausbruch. Auf dieſen Tag war 
die Eröffnung des neapolitaniſchen Parlaments anberaumt, zu welchem 
einen Monat zuvor die Wahlen ſtattgefunden hatten. Noch am 10. 
Mai, während die Abgeordneten ſich ſchon in der Hauptſtadt zu ſam— 
meln anfingen, ſchauſpielte Ferdinand konſtitutionell und national. 
Denn an dieſem Tage beſchloß mit ausdrücklicher Genehmigung des 
Königs der Miniſterrath, daß behufs der energiſchen Führung des 
nationalen Unabhängigkeitskrieges gegen Oeſtreich eine Schutz- und 
Trutzallianz mit der An Regierung unverzüglich geſchloſſen 
werden ſollte. Drei Tage darauf verſammelten ſich die Abgeordneten 
im Stadthauſe (Monte Oliveto) zu einer vorläufigen Beſprechung 
und da gab es lärmende, im Grunde ganz lächerliche konſtitutionelle 
Haarſpaltereien über die Frage, ob der König, wie er ankündigen 
ließ, die Konſtitution vom 10. Februar ſo, wie ſie war, beſchwören 
ſollte oder aber, wie die Miniſter wollten, mit dem Zuſatze der Weiter— 
bildung. Der Borbone in ſeinem Palaſte mochte befriedigt lächeln, 
als er von dieſer unglaublichen Dummheit hörte. Am folgenden 
Tage dieſelbe Krimskramerei im Monte Oliveto, nur noch mit viel 
mehr Geſtikulation und Geſchrei. Abordnungen gingen an die Mi— 
niſter und an den König. Jene erklärten, auch ſie verſtänden, wie 
ſie ja das ſchon bei ihrem Eintritt in's Amt angezeigt hätten, unter 
der zu beſchwörenden Verfaſſung eine weiterzubildende; dieſer ſagte, 
er hätte nichts gegen das „Entwickeln“ der Konſtitution, ſähe aber 
nicht ein, warum er ſowohl als die Abgeordneten dieſelbe nicht ſo, 
wie ſie nun einmal wäre, beſchwören ſollten. Die Abordnung und 
die Mehrzahl der Parlamentsdeputirten gaben ſich mit dieſer nichts— 
ſagenden Antwort zufrieden. Allein der Zank hatte derweil außerhalb 
des Monte Oliveto ſchon andere als parlamentariſche Formen ange— 


nommen, barrikadologiſche nämlich, und die konſtitutionellen Konfuſii 
Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 20 


306 Die Abwidelung, I. 


wurden von den radifalen Konfuſiſſimi überholt, welche, hauptſächlich 
aus Kalabrien gefommen, von der Wiedererwedung der parthenopätichen 
Republik träumten — unter einem Volke von Sklaven und Fetiſch— 
gläubigen von Republif und Demokratie träumten! — und in ber 
Fieberhige ihrer Träume gänzlich vergaßen, daß der verhafite Bor— 
bone nicht allein einheimische Truppen, ſondern auch verläfiliche 
ſchweizeriſche Soldregimenter zur Verfügung hatte. 

Während ver zwiſchen dem Stadthaus und dem Palaft hin- 
und hergehenven Verhandlungen, häuften ſich die Bolfsmafjen um den 
Monte Oliveto und Ffalabrefiihe Wivderborbonifer predigten daſelbſt 
das barrifadiihe Evangelium. Mit Beifall und Erfolg; denn bald 
begannen im Toledo, jener tofenden Hauptitraße Neapels, jowie in 
den anftoßenden Gaſſen, die „ultimae populi rationes“ ſich zu er= 
heben, wobei, wie e& hieß, Franzofen von der gerade im Hafen lie— 
genden Flotte des Admirals Baudin den willigen Naturalismus der 
Neapolitaner mit ihrer barrifadologijchen Kenntmiß und Erfahrung 
unterftüttten. Aud im Palafte war man derweil nicht müſſig 
geweſen und hatte der König die Beſetzung wichtiger Plätze der Stadt 
mit Truppen angeordnet. Er mochte mit großer Genugthuung einen 
gewaltianen Zuſammenſtoß erwarten, aber er war ſchlau genug, Die 
Initiative feinen Gegnern zu überlaſſen. Er ftand aud nicht an, 
noch einen Berfuch zur Vermeidung dieſes Zuſammenſtoßes zu machen, 
wohl wiſſend, daß er, da die „Feuerſpeier“ einmal am Werke waren, 
damit wenig oder nichts riffirte. Demzufolge jhidte er einen feiner 
Minifter zu ven Abgeordneten und ließ dieſen entbieten, er ſei bereit, 
das Parlament noch am jelbigen Tage zu eröffnen, und jollte der 
Eid der Deputirten dieſe Formel haben: „Ic ſchwöre Treue dem 
fonftitutionellen Könige Ferdinand dem Zweiten und der Konftitution, 
wie fie von den beiden Kammern in Gemeinihaft mit dem König 
umgebildet und entwidelt werden wird“. Diefe Bewilligung war 
ein Meifterzug von Ferdinand: er wuſſte, daß er damit bie Konſti⸗ 
tutionellen vollkommen zufriedenſtellte; aber auch, daß dieſe das Heft 
dermalen ſchon nicht mehr in Händen hätten, demnach ohnmächtig 





Radetzky-Marſch. 07 


wären, den Losbruch der Radikalen hintanzuhalten, und durch Diele 
ihre Impotenz ſelbſt ihm den willfommenen Vorwand lieferten, wie 
mit dem Radifalismus, jo aud mit dem Yiberalismus abzufahren 
und beide mitfammen in dieſelbe Grube zu vericharren. 

Dieje föniglihe Rechnung hat fih als richtig herausgeftellt. 
Es war ganz umfonft, dag die Nonftitutionellen die ganze Nacht 
hindurch ſich alle erdenkliche Mühe gaben, die Einftellung des Barri- 
kadenbau's und die Beleitigung der improvifirten Volksbewaffnung 
zumegezubringen. In der Morgenfrühe des 15. Mai muſſten fie 
ihre Ohnmacht erfennen und erfannten diejelbe jo jehr, daß Das rath- 
und thatloſe Minifterium feine Entlaffung anbot. Ferdinand ließ 
das einftweilen unbeachter; denn er war entſchloſſen, mintfterlos und 
in feiner Weiſe vorzugehen, in welcher Abjiht ihn eine Abordnung 
von feiten der Lazzaroni, welde ihm die guten Dienfte dieſer Horde 
anzubieten im Palaſte erichten, nur bejtärfen fonnte. Die Barrikaden— 
leute thaten ihm auch den weiteren Gefallen, anzufangen. Um 11 Uhr 
morgens wurde von einer gewaltigen am unteren Ende des Toledo beim 
Palaſt Cirella aufgethürmten Barrikade herab auf die Truppen geſchoſſen, 
welche um das königliche Schloß her aufgeſtellt waren. Ein Bataillon 
von der neapolitaniſchen Garde erwiderte ſofort das Feuer und machte, 
unterſtützt von anderen Bataillonen, einen Sturmangriff auf die 
Barrikaden des Toledo. Allein dieſer Angriff war ein ſchwachmatti— 
ſcher und die ganze Sache hätte für Ferdinand ſehr ſchief gehen können, 
falls er nicht ſeine nahezu 6000 ſchweizeriſche Landsknechte zur Hand 
gehabt. Sobald dieſe in den Kampf eingriffen, und ſie griffen ſofort 
ein, war derſelbe ſchon entſchieden; denn die heftige Gegenwehr, welche 
ſie da und dort, z. B. bei und in den Paläſten Cirella, Benucci und 
Gravina fanden, ſteigerte nur die erbitterte Energie dieſer Söldlinge, 
welche durch die Verhöhnungen und Beſchimpfungen, die ſie in letzter 
Zeit überreichlich erfahren hatten, ohnehin gereizt genug waren. 
Urtheilsfähige Augenzeugen und Mithandelnde haben feſtgeſtellt, daß 
es ganz überflüſſig geweſen, das ſchwere Geſchütz in den Straßen und 
von den Kaſtellen herab ſpielen zu laſſen. Aber wann hätte ein echter 

20* 


308 Die Abwidelung, I. 


Bourbon dem Kitel wiverftanden, feinen Bourbonismus leuchten zu 
Lafien ? Ferdinand der Zweite muſſte ſich doch jeinen hiſtoriſchen Na— 
men verdienen — „Re Bomba* — und das ging nicht ohne An— 
wendung von Bomben und Granaten und Kartätichen. Als die 
Minifter gingen, ihn um Erbarmen für die Stadt anzuflehen, jagte 
er fie mit dem wohlwerdienten Fußtritt zum Palafte hinaus, die Zeit 
des Erbarmens jet vorüber und die Stunde, Nehenjhaft abzulegen, 
auch für jte gefommen. Ein Verſuch der Piberalen, den im Hafen 
liegenden Admiral Baudin zu irgendwelcher Dazwijchenfunft zu be— 
ſtimmen, war ganz eitel. Seine Inſtruktion verböte ihm jede Ein- 
miſchung aufs beſtimmteſte, jagte er. Die franzöfiihe Baſtardrepublik 
von 1848 bat ja überall, wie im Innern, fo nach außen eine Politik 
der Unfähigfeit und Feigheit, eine vollendete Lumpenpolitif ein- 
gehalten. 

Nachdem die Barrifaden genommen worden und jeder Wider— 
jtand erjtidt war, zeigte ſich Das glücklich wiederhergeftellte abjofute 
Königthum Sr. Majeftät des Königs Bombe im Bollglanz: ver 
Lazzaronismus und die entzügelte Soldatenfurie tanzten Die ganze 
Nacht hindurch mitfammen eime ſolenne Mord-, Raub- und Noth— 
züchtigungs-Tarantella. Am folgenden Tage (16. Mat) umgab ſich 
Ferdinand mit einem Miniftertum von nidenden Nullen, jtäubte dann 
die Parlamentsdeputirten, joweit er fie nicht greifen ließ, heim und 
die Bürgerwehr auseinander , fnebelte die Preſſe wieder, erflärte ven 
Belagerungszuftand und rief jeine Armee aus Oberitalien heim. 
Der alte Kämpe der weiland parthenopäifchen Nepublif, General 
Pepe, welcher, wie wir wiffen, diefe inzwiſchen auf ihrem Marſche 
bis Bologna gefommene neapolitanifche Armee befehligte, ſuchte fie 
vergebens mit ſich iiber den Po und, troß der Umkehrsordre des Königs 
Bombe, in den Krieg für die nationale Sache fortzureißen. Nur 
1500 Mann, meift Freifchärler, folgten dem Braven iiber den Strom 
und nac Venedig, bei dejjen heldiſcher VBertheidigung ihr Führer und 
fie Zeugniß ablegten, daß doch auch neapolitaniſche Mütter tapfere 
Männer zu gebären verjtänden. 


Radetzky⸗Marſch. | 309 


Jetzt, da die elende Schaufel umbombardirt war, jett, als das 
Blödauge des Liberalismus erfennen muſſte, daR Ferdinand „ein 
König jeder Zoll” fei, jest, Da es zu ſpät war, hätten die Herren 
Liberalen die Spige der Nevolution, welche fie frummgebogen, in das 
fonftitutionelle Lirumlarum umgebogen hatten, gerne wieder auf- 
gerichtet. Es konnte nicht gelingen: der Aufftand, welchen fie mit 
Hilfe der Sictlianer in Kalabrien in Scene zu jegen veriuchten, kam 
gar nicht zu vechtem aufftehen und wurde raſch und blutig nieder— 
gedrückt. König Bombe zeigte der Welt, daß und wie man die Frage 
einer halben Nevolution mit einer ganzen Reaktion beantworten 
müßte. Er wurde der bewunderte und bejubelte Heros der Kontre— 
revolution in ganz Europa und zwar von rechtswegen. Der weiße 
bourboniſche Schreden legte jeine raffinirt grauſame Hand auf Das 
Land und rüftete ſich, dieſelbe bet der erjten günftigen Gelegenheit 
auc nad) der Inſel Sicilien hinüberzuftreden. Der Herr Graf von 
Lebzeltern, öftreichiicher Gejandter in Neapel, welcher während der 
Epiſode fonftitutioneller Schaufelet und nationaler Gaufelei nur noch 
als „Privatmann“ daſelbſt ſich aufgehalten hatte, mochte fid) jetst 
ſchmunzelnd die Hände reiben. Der erjte thatſächliche und glüdliche 
Rückſtoß gegen den großen Vorſtoß von 1848 war gethan. 


10. 


\ 


Die alsbaldige Eimwirfung des in Rom von dent Papfte ge 
wollten, in Neapel von dem Bourbon vollzogenen Umſchlags auf den 
Gang der Dinge in Oberitalien ließ nicht auf fi warten. Der 
alte Radetzky konnte fic dem unfähigen Zauderer von Sardenkönig 
gegenüber um ſo freier bewegen, als er ſich jetzo vom Rücken her 
ſicherer fühlte denn etliche Wochen zuvor, wo er ganz Italien gegen 
ſich gehabt hatte. Er brütete auch nicht lange über ſein bei Goito 
fehlgeſchlagenes Unternehmen, ſondern ſann vielmehr auf ein neues, 


310 Die Abwidelung, I. 


welches darauf abztelte, in den Befit von Vicenza zu gelangen, was 
den Hauptſchlüſſel der Hauptverbindungslinte mit daheim wieder er- 
langen hieß, jodann feinen Truppen die Hilfemittel zu fichern, welche 
das venetianiſche Feſtland bot, und endlich den neuen Verſtärkungen, 
welche im Betrage von 14,000 Mann unter der Führung des Ge- 
nerals Welden das obere Piavethal herabzufteigen ſich anſchickten, die 
Hand reihen. 

Am 5. Juni brachen die Deftreiher von Mantua auf in drei 
Kolonnen. Eine derſelben ließ der Marſchall iiber Billafontana nad) 
Verona zurückgehen, um das feindliche Hauptquartier glauben zu 
machen, jeine ganze Bewegung habe nur die verjtärfte Sicherung der 
genannten Feſtung und der Stellung von Santa Lucia zum Zwecke. 
Mit den zwei anderen Kolonnen aber wandte ſich der Alte auf Leg— 
nagno, überſchritt dort die Etſch und jtand am 9. Juni ſüdlich von 
Vicenza, in einem Halbfreife aufmarſchirt, wohl 30,000 Mann ſtark 
mit 120 Geihüßen. In der von ihrer Verbindung mit dem fardi- 
ſchen Heer abgefhnittenen Stadt lag, wie wir wilfen, Durando mit 
10,000 Freiwilligen und regulär-päpftlihen Soldaten, worunter 
auch ſchweizeriſche Soldbataillone, deren Landsknechteſchickſal es war, 
hier am Fuße des Monte Berco für das zu fechten, gegen was ihre 
Mitlandsknechte neuerlich am Fuße des Veſuv gefochten hatten. 
Dieſe grelle Darlegung des Weſens der Landsknechtſchaft hat ſtark 
mitgeholfen, ſolche Makel aus dem Wappenſchilde der ſchweizeriſchen 
Eidgenoſſenſchaft endlich zu tilgen. Durando's Heerſchar zur Seite 
ſtanden 6000 vicentiner Bürgerwehrmänner und Römer und Schweizer 
und Vicentiner waren gleichermaßen entſchloſſen, die Stadt zu halten. 
So haben ſie auch redlich gethan, bis zur äußerſten Möglichkeit. 
Der Angriff, bei deſſen Einleitung und Durchführung der öſtreichiſche 
Feldherr natürlich von ſeiner Uebermacht Gebrauch machte, geſchah 
am 10. Juni und die hartnäckige Kampfarbeit währte bis tief in die 
Nacht hinein. Da war dann die Lage von Vicenza und ſeinen Ver— 
theidigern ſo hoffnungslos, daß Durando, falls er die Stadt nicht 
unfehlbarer Vernichtung weihen wollte, kapituliren muſſte. Radetzky 


Radetzky-Marſch. — 


gewährte Bedingungen, welche bei Lage der Sachen milde genannt 
werden konnten. Die kirchenſtaatlichen Truppen ſollten am folgenden 
Tage mit ihren Waffen, Geſchützen und Fahnen von Vicenza ab und 
über den Po zurückziehen, aber verpflichtet ſein, in den drei nächſten 
Monaten nicht gegen Oeſtreich zu fechten. Den Abziehenden könnte 
ſich von den Vicentinern anſchließen, wer wollte. Es ſchloſſen ſich 
ihnen wirklich viele an, auch viele Vicentinerinnen. Die Oeſtreicher 
begleiteten den bunten Auszug mit nicht ſehr zarten Kaſernenſpäſſen, 
aber der alte Radetzky beſuchte die verwundet in den Lazarethen lie— 
genden Vertheidiger von Vicenza und lobte ihre Tapferkeit. Hierauf 
nahm der Marſchall raſch Padua, wodurch die Handreichung mit dem 
auf Treviſo rückenden Welden ermöglicht wurde, entſandte auch eine 
Brigade nach dem Thal d'Arſa und bis Roveredo hinauf, um mit 
einem weiteren dort angeſammelten Verſtärkungskorps die Verbindung 
herzuſtellen, und folgte ſchließlich ſeinem Gewalthaufen zurück nach 
Verona. 

Der Sardenkönig, den man endlich dazu gebracht hatte, doch 
auch wieder etwas zu thun, wähnte dieſen Gewalthaufen noch droben 
in Vicenza, als er am 14. Juni eine Umgehung der Terraſſen von 
Santa Lucia verſuchte, um Verona zu überfallen. Aber die Oeſt— 
reicher waren ſchon wieder an Ort und Stelle, wieſen den ſchlecht— 
geführten Verſuch ab und dieſer endigte mit einem übelgeordneten 
Rückzug der Piemonteſen. Die ganze Situation geſtaltete ſich für 
Karl Albert von da ab immer miſſlicher. Die verlorene Hoffnung 
auf Zuzug aus Toffana, Nom und Neapel muſſte niederſchlagend 
wirken. Die ſchlechte Armeeverwaltung ließ im Pager einen Mangel 
einreigen, welcher, verbunden mit den Wirkungen der Strapazen, der 
Hitze und des ſchlechten Waffers das Heer decimirte. Tauſende und 
wieder tauſende von Soldaten lagen in ven Spitälern. Zu Anfang 
des Monats Juli hatte der Sardenkönig ſicherlich nicht mehr als 
46,000 Mann unter den Fahnen, während Radetzky nad) Heran- 
ziehung feiner Reſerven zu gleicher Zeit oder dod wenig fpäter in 
und um Verona allein nahezu 60,000 Mann hatte und die Gefammt- 


312 ' | Die Abwidelung, I. 


ſtreitmacht Deftreihs auf italiichen Boden’ im genannten Monat auf 
mehr als 100,000 Mann anwuchs. Was wollte es dieſer maffigen, 
der Hand eines rechten Lenkers gehorchenden öſtreichiſchen Heermajchine 
gegenüber bedeuten, daß der fühne und geſchickte, Faltblütige zugleich 
und feurige Bandenführer Giuſeppe Garibaldi an der Spite jeiner 
freiihärlihen „Alpenjäger”, am Fuße der Alpen den Kleinkrieg 
führend, die Deftreicher in ihrem Rücken vielfach beläftigte? Seine 
zeitweiligen Erfolge fonnten, weil eben nur im „Eleinen Kriege” er- 
rungen, in der Wagjchale der großen Enticheidungen nicht jchwer 
wiegen. Aber der Mann, welchen der Mutter Italia Ruf von der 
Führung des Guerillasfrieges in den Savannen von Montevideo weg 
und heimwärts gerufen hatte, war beftimmt, mittels jpäter voll- 
brachter Thaten der von einer Mythen-Gloriole umgebene Heros der 
italifchen, ja der europätichen Demokratie zu werben, eine Charafter- 
figur, ein Typus, in welchen alles zur Erſcheinung kam, was die 
demofratiiche Idee Edles, Großes, Selbftlofes und Phantaftiiches 
bat... . Wenig oder gar nichts auch wog in der Wage des 
Krieges, daß die Yombardei mittel$ einer auf Anordnung der mai- 
länder proviforiihen Regierung vorgenommenen Bolfsabjtimmung 
am 29. Mat ihre jofortige Vereinigung mit dem Königreich Sar— 
dinien beſchloß und daß auch das Parlament der faum wieder er- 
ftandenen Republik Venedig am 4. Juli die „Fuſion“ mit dem König- 
reiche defretirte. Was konnte Venedig, welches zu dieſer Zeit ſchon 
fo ziemlich auf feine Yagunen eingejchränft war, was konnte auch die 
Lombardei mit ihren unorganifirten, noch dazu durd) heftigen Partei- 
hader gelähmten Kräften dem Sarvenfünig helfen? Nichts, mas 
der Rede werth war. 

Zu Ende Junt’s wiegte man ſich in Mailand, Turin und an— 
deren oberitalifchen Städten noch in ftolzen Illuſionen hinſichtlich der 
Sachlage und warf den Gedanken eines Friedens, etwa mit dem 
Mincio als Gränzlinie, weit hinweg. Die Italiener hätten Damals 
gewiß jeden, ver ihnen gejagt hätte, daß, um dieſe Gränglinie zu ge- 
winnen, zuvor erft die ganze Macht Franfreihs am ihrer Ceite 


Radetzky-Marſch. 313 


kämpfen müfite, für einen Verräther ausgejchrieen oder gar als einen 
Berräther gelyncht. Und wer ihnen vollends gejagt hätte, daß ein 
deutſches Heer und zwar in Böhmen das lombardiſche Feſtungsviereck 
und Venedig für fie erobern würde, den hätten fie für den Narren aller 
Narren erklärt oder, wo möglich, zweimal gelyncht. Ja, ja, es gibt 
doc) feine tollere Komödie als die Weltgeſchichte, obzwar auch Feine 
traurigere . . Wohl, zu Ende Juni's alſo drückte der englijche 
Geſandte in Turin, Aberkromby, die herrſchende Stimmung ganz 
richtig und getreu aus, wenn er am 30. des Monats an Lord Pal- 
merſton jchrieb: „Ich halte dafür, daß jede italiſche Regierung, 
welche mit Deftreih auf einer anderen Bafis als der einer voll 
ftändigen Räumung des Yandes (von ſeiten der Deftreicher) Friedens— 
unterhandlungen anknüpfen wollte, von dem ganzen übrigen Italien 
des Verraths an der gemeinfamen Sache bezichtigt werben würde 
(would be looked upon and treated by the rest of Italy as 
traitors to the cause)*. Aber aud) im Hauptquartiere Radetzky's 
wäre ein Sprecher für den Frieden übel gefahren. Das an den 
greifen Marjchall gerichtete Poetenwort: „In deinen Yager tft 
Defterreih !" war jest zur Wirklichkeit geworden, und bevor wenig: 
jtens die ihwarzgelbe Sahne im Triumphe wieder auf Die Spitse des 
Doms von Mailand getragen wäre, durfte hier von Waffenruhe 
nicht Die Rede jein. 

Nach dem abgewieſenen Verſuche der Italiener auf Verona 
hielten fich beide friegführenden Parteien etlihe Wochen ruhig. Ra— 
detzky zog Verſtärkungen heran und Karl Albert machte es ebenfo, 
fonnte es aber in nicht jo ausreichendem Maße thun wie ſein Gegner. 
Das lombardiihe Geſchrei in feinem Rücken über jene ewige Zau— 
derei, ja Verrätherei wurde aber jo arg, daß der König fid) bewogen 
fand, wiederum den Angriffsweg zu verfuchen. Am 12. Juli be- 
gannen die Bewegungen der fardiichen Armee. Ihr ſtrategiſcher 
Lenker, General Bava, beging den Fehler, fie in eine 7 deutſche 
Meilen lange Yinie auseinander zu zerren, oder vielmehr ex ließ die 
Auseinanderzerrung zu, dem Gigenfinne des Königs zu gefallen. 


314 Die Abwickelung, J. 


Der äußerſte linke Flügel des Heeres ſtand in Rivoli, das Centrum 
zwiſchen Verona und Mantua, der rechte Flügel blokirte die letzt— 
genannte Feſtung von der Südſeite. Man ſieht leicht, wie ſehr dieſe 
Dehnung und Dünnung den Gegner zu Durchbruchſtößen reizen 
muſſte. Einen ſolchen beſchloß Radetzky alsbald zu thun, nachdem 
er von dem unwankbaren Gorzkowſky, Kommandant von Mantua, 
die Meldung erhalten hatte, der Feind habe in ſeinen feſten Stellungen 
auf den Höhen von Sommakampagna und Sona nur wenig Mann— 
ſchaft zurückgelaſſen. Und ſo war es: ſtatt, wie bisher, 30,000 
Mann hüteten jetzt nur noch 8000 jene wichtige Poſition. Der 
öſtreichiſche Feldherr liebte es durchaus nicht, zu abenteuern, ſondern 
vielmehr, möglichſt ſicher zu gehen. So warf er denn im Morgen— 
grauen des 23. Juli, nach einer furchtbaren Gewitternacht, zwei 
Sturmkolonnen, die eine unter Wratiſſaw (14,000 Mann), die an— 
dere unter d'Aſpre (15,000 Mann), welchen er überdies eine jehr 
jtarfe Nejerve unter Woher (18,000 Dann) folgen ließ, von Verond 
aus überraſchend auf vie feindlichen Verſchanzungen. Die Hüter 
derjelben wehrten ſich mannhaft ftundenlang gegen die übermächtigen 
Angriffe, mußten aber doc) den ganzen Höhenzug aufgeben, welcder 
ſich um Mittag in den Händen der Dejtreicher befand, — ein jehr 
beträchtlicher Gewinnft. Die Verona bedrohende Stellung war ge= 
nommen, das Centrum der jardiihen Armee durchbrochen und Die 
beiden Flügel derjelben jo auseinandergejhoben, daß die Heritellung 
einer Verbindung zwiſchen ihnen nur auf weiten Ummegen bewerf- 
jtelligt werben fonnte. 

Am folgenden Tage Ichien ſich Das Striegsglüd wieder dem Sar- 
denfönig zumenden zu wollen. Während frühmorgens Radetzkh den 
Mincio bei Salionze unterhalb Peschiera's überbrüden ließ, den Fluß 
überichritt und ven linfen Flügel der ſardiſchen Armee unter General 
Sonnaz zu fluhtähnlichem Rückzug nad) Volta drängte, war Karl 
Albert mit feiner Hauptmaht aus den jumpfigen Bivouaks bei 
Mantıra aufgebrochen und nordwärts marjchirt, um eine Wieder- 
verbindung mit Sonnaz und anderen feiner noch am Gardaſee jtehen- 


Radetzky⸗Marſch. 315 


den Truppentheile zu ſuchen. Am 23. Juli war ſein Hauptquartier 

in Marmirolo und er vernahm den Kanonenlärm von Sommakam— 
pagna her, richtete aber wunderlicher Weiſe ſeinen Weitermarſch nicht 
direkt dorthin, ſondern auf Villafranka. Der Marſch war ein ſehr 
verluſtvoller. Die Sonne glühte erbarmungslos hernieder, ver 
Mundvorrath war knapp oder ganz ausgegangen, die von Hitze, 
Hunger und Durſt verzehrten Soldaten fielen zu hunderten rechts und 
links hin. Der öſtreichiſche Marſchall, vorausſetzend, die Italiener 
würden handeln, wie es der geſunde Menſchenverſtand und die Kriegs— 
kunſt forderte, d. h. alle Muſkeln anſpannen, um ſo raſch, wie mög— 
lich, ihre ſämmtlichen Streitkräfte auf dem rechten Ufer des Mincio 
zu vereinigen, hatte inzwiſchen ſeinen ganzen Gewalthaufen zum 
überſchreiten des Fluſſes in Marſch geſetzt, um drüben dieſe voraus— 
geſetzte Vereinigung zu hintertreiben. Auf dem linken Mincioufer 
ſtand am 24. Juli von der operirenden öſtreichiſchen Armee nur noch 
die 3000 Mann ſtarke Brigade Klam-Gallas und zwar in Kuſtozza 
Radetzky, welcher von dem eine Wegſtunde nordwärts von Valeggio 
gelegenen Monte Vento herab die Bewegungen ſeiner Truppen lenkte, 
hatte der von dem General Simbſchen kommandirten Brigade Lichten— 
ſtein, welche in Sanguinetto geſtanden war, den Befehl zugehen laſſen, 
auf Villafranka zu rücken und die Brigade Klam in Kuſtozza abzu— 


löſen, — ein Befehl, welcher dem a: Gelegenheit gab, 
jeinen letsten Glückswurf zu thun. Denn als ver lichtenjtein’jche 


Hart, 7— 8000 Mann ftark, in der glühenden Mittagshite des 
24. Juli Sommafampagna erreicht hatte und nach grünplicher als 
nöthig mit Wein geftilltem Durfte nicht ſehr feſt aufgeichloffen nach 
Kuftozza weiterzog, wurde er von Villafranfa aus durd) die Piemon- 
teen mit großer Uebermacht angegriffen, mit einem Ungejtim und 
Erfolg, welcher nicht nur die Brigade vernichtete, jondern auch den 
ganzen Höhenzug von Sommafampagna bis Kuſtozza herab wieder 
in italiſche Gewalt brachte. 

Der Sardenfönig hätte jet, wenn er raſch handelte, feine Ber- 
bindung mit Sonnaz, deſſen Standort in Volta er fannte, zumege- 


316 Die Abwidelung, I 


bringen können; allein der Erfolg vom 24. Juli wirkte jo finn- 
bethörend, daß Karl Albert, welcher des Wahns lebte, er hätte den 
ganzen linfen Flügel der Deftreicher geichlagen, in der Meinung be- 
ftärkt wurde, fein tolldreiftes herumabentenern zwilchen den feindlichen 
Armeekorps und Feftungen fer das Wahre. Er jollte bald eines an- 
deren belehrt werden. Denn der alte Kadesfy, welchen der Unter- 
gang der Lichtenfteiner doppelt wurmen mufjte, weil er venjelben 
jeiner eigenen Unvorfichtigfeit auf Rechnung zu ſetzen hatte, brannte 
darauf, die Echarte auszumegen. Er weste fie aus, aber nur mit 
größter Auftrengung; denn in der entjcheidenden Schlacht von 
Ruftozza-Sommafampagna, welhe am 25. Juli geichlagen wurde, 
haben die Italiener gegen die feindliche Uebermacht, gegen die Ungunſt 
ihrer Stellung, gegen die Glühhitze, gegen Hunger und Durſt mit 
ruhmvollſter Mannhaftigfeit und Ausdauer gerungen. Es war ein 
ichredlicher Ringkampf. Karl Albert und feine beiden Söhne, bie 
Herzoge von Savoien und Genua, gaben ihren Truppen das Beifpiel 
vollendeter Todesverachtung und auch der alte Radetzky vitt mitten 
ins Teuer hinein. 

Zum Glüd für die Dekreicher war ihr Minctoübergang nur 
erft theilweiſe bewerfitelligt, als die Befehle des Marſchalls ergingen, 
umzumenden und gen Often und Süpoften Front zu machen. Dieje 
Front, am Morgen des 25. Juli gebildet, reichte von wo 
Wratiflams Korps den rechten Flügel bildete, über Olioſi, 
Wochers Korps als Centrum ftand, bis nad) Kaſtelnuovo — wo 
d'Aſpre's Korps den linken Flügel formirte. Karl Albert muſſte 
nun, um noch Rettung zu finden, den Rath Bava's annehmen, wel— 
cher dahin ging, alle am linken Ufer des Mincio vorhandenen Kräfte 
— ſie betrugen höchſtens 20,000 Mann, während Radetzky 35,000 
in ſeiner Schlachtlinie hatte und außerdem das eben aus Tirol ge— 
kommene thurn'ſche Korps von 10,000 Mann, ſowie die Beſatzungen 
von Verona und 9 zu einem Gewaltftoß auf Valeggio 
zufammenzufafjen, um dort durchzubrechen, die Minciobrüde und die 
Verbindung mit Sonnaz zu gewinnen, welder General befehligt 





Radetzky-Marſch. 317 


werden ſollte — und wirklich befehligt wurde, aber zu ſpät — ſeiner— 
ſeits von Weſten her auf Valeggio loszugehen. Allein der König 
verſchmähte dieſen bei Lage der Sachen beſten Rath. Er beſchloß, 
die Höhen von Sommakampagna feſtzuhalten und zugleich Valeggio 
anzugreifen, eine Doppelaktion, zu welcher ſeine Streitkräfte lange 
nicht ausreichten. So ging denn die Schlacht, wie ſie gehen muſſte, 
da die Piemonteſen an den Kampfſtellen gegen eine dreifache Ueber— 
macht zu fechten hatten. 

Zur achten Morgenitunde ließ Karl Albert die Trommeln zum 
Angriff auf Valeggio rühren und wenig fpäter begammen d'Aſpre von 
tordweiten her und der Kommandant von Berona, General Haynau, 
von Dften ber ihre Angriffsbewegungen auf Sona und Somma- 
fampagna. Hier ging es am heißeſten ber und erſt nachmittags 
3 Uhr wurde nad beharrlichſtem Widerſtand der rechte Flügel des 
jardiichen Heeres durch die mit Macht vordrückenden Deftreicher über 
ven Südabhang des Höhenzuges gen Billafranfa hinabgeſtoßen. Aber 
der Stoß war nachhaltig genug, auch das piemonteſiſche Centrum bei 
Kuftozza wanfen zu machen. Bei einbrechender Nacht muſſte von 
Billafranfa aus, um welches her die geſchlagene Armee ſich zuſammen— 
gehoben hatte, iiber Quaderni der Rüdzug zum und über ven Mincio 
angetreten werben. Es war ein Rückzug von Tapfern, welcher dem 
Feinde geradezu imponirte. Im der Nachhut ritt Karl Albert, „re 
gungslos wie ein Krucifir” den Kugeln der Verfolger treten. Die 
Oeſtreicher befennen, an dieſem Entſcheidungstage an Todten, Ver— 
wundeten und „Vermiſſten“ 67 Offiziere und 1967 Soldaten ein— 
gebüßt zu haben, während die Italiener jagen, fie ihrerjeits hätten 
629 Todte und 270 Gefangene auf ver Walftatt zurüdgelajfen. 

Der Rückzug währte die ganze Nacht und den Morgen des fol- 
genden Tages. Er ging auf Goito, wo Sonnaz, von Volta auf- 
gebrochen, mit jeinen nahezu 8000 Mann zu dem Könige ftief. 
Diefer jchidte das Korps nad) Bolta zurüd; aber als jich daſſelbe 
Abends dem Orte näherte, fand es dort ſchon die Vortruppen 
d'Aſpre's. Sonnaz beſchloß den Sturm und ein aanz jcheufülig 


818 Die Abwidelung, I. 


wilder Kampf wüthete in den Gaſſen des Städtchens die Nacht hin- 
durch. Italiener und Deftreicher zeihen einander gegenfeitig gräulicher 
Unthaten, welche in diefer Mordnacht begangen worden, und beide 
mit Recht. Sonnaz muſſte bei Tagesanbruch weichen, da die 
Deftreicher raſch fich verftärkten, erhielt aber von Goito her ebenfalls 
Berftärfungen und den Befehl, Bolta Ichlechterdings zu nehmen. Er 
verſuchte e8 vergeblich, denn ſchon ſtand d'Aſpre's ganzes Korps in 
und um Volta. Sonnaz zog mit feinen Truppen, die faft über— 
menschliches geleiftet hatten, am 27. Juli rüdwärts gen Süden auf 
Gerlungs. Noch bewiefen aud) auf dieſem Rückzuge Neiterei und 
Artillerie eine imponirend heldiſche Haltung ; aber mit der Infanterie 
war es aus. ES war überhaupt aus mit der Sache Karl Alberts. 
Das Gefeht bei Bolta war nur ein leister Berzweiflungsitreich ge— 
weien, deſſen Ausgang furchtbar lockernd, löſend und demoraltfirend 
auf die befiegte Armee des Königs wirkte, welche den 40,000 Mann 
Deftreichern, die am 27. Juli auf dem rechten Ufer des Mincio 
ftanden — Radetzky hatte Das wocher’sche Korps dem von d'Aſpre 
geführten nachgeſchoben und das wratiflam’iche bei Valeggio über- 
gehen laſſen — unmöglic) mehr ftandhalten konnte. in energiiches 
dachdrücken der Deftreicher muffte iiber das königliche Heer Vernich— 
tung oder wenigftens vollftändige Auflöfung bringen. 

Doch genug und übergenug der Kriegsgefchichten und dem Ende 
zu! Am 28. Juli ſandte Karl Albert drei jeiner Generale zum 
öſtreichiſchen Marihall, um einen Waffenftillitand vorzuſchlagen. 
Radetzky wollte denſelben gewähren unter Bedingungen, welde in— 
betracht der VBerhältniffe gemäßigt genannt werden mufften: — Zu- 
vücgehen der Piemontefen hinter die Ada, Aufhebung der Blofade 
von Trieft mittels Heimrufung der fardiichen Flotte, aufgeben Vene— 
digs, fahrenlaffen von Parma und Modena und Räumung der 
Feftungen Peschtera, Rocco d'Anfo und Pizzighettone. Aber mit 
Annahme diefer Bedingungen hätte ja das Haus Savoien von wegen 
des verſuchten verſchluckens der lombardiſchen „Artiſchoke“ thatſächlich 
Reue und Leid gemacht und hätte die „Spada d’Italia* ihre Ohn— 


Radetzky-Marſch. 319 


macht, die Nationalſache aufrecht zu halten, eingeftanden. Das durfte 
nicht fein oder wenigſtens hoffte man durch Weiterführung des Krieges 
ſolcher Demüthigung zu entgehen. Weiter zurück jedoch muſſte man, 
das unterftand gar feiner Frage, fondern num, in welcher Richtung ? 
Man wuſſte im ſardiſchen Generalftabe recht aut, daß es das beite, 
ja einzig richtige wäre, ſüdwärts über den Po zu gehen, um hinter 
der Schutzlinie deſſelben der decimirten, erſchöpften und demoraliſirten 
Armee wieder Halt, Erholung und Auffriſchung zu verſchaffen. 
Allein das hieß ja Mailand preisgeben, die Hauptſtadt der Lombardei 
ſo zu ſagen an's Meſſer liefern. Was würde das für ein wüthendes 
Geſchrei über Verrath hervorrufen! So ging denn der Rückzug ſtatt 
ſüdwärts gen Weſten, immer weiter gen Weſten, nachdem der Verſuch, 
hinter dem Oglio Stellung zunehmen, ſofort mifflungen war. General 
Bava, welcher faktiſch das Heer fommandirte, leitete den Rückzug mit 
Geſchicklichkeit und Unerſchrockenheit. Seine Keiterei und Artillerie 
wuſſte den Deftreichern das allzu haftige nachlesen nad da und dort 
zu verleiden. Am Abend von 1. Auguſt war er in Yopi, hinter Der 
Adda, wo er fich zu jegen gedachte. Allein der Befehl des Königs, 
mit der ganzen Streitmacht zum Schutze Mailands eilends ſich auf- 
zumachen, vief ihn weiter nordweftwärts. Dorthin drückte nun auch 
Radetzky mit aller Macht, nachdem er zu feinem nicht geringen Er— 
ſtaunen erfahren, daß der Feind das räthlichite, d.h. die Ausbengung 
gen Süden und über den Po, verſchmäht hatte. 
In Matland hatte man nod am 26. Juli unmäßig über den 
Sieg gefrohlodt, welchen die Piemontefen am 24. über die Yichten- 
fteiner bei Sommafampagna davongetragen, und hatte zahlloje Ev- 
vivas fir Karlo Alberto zum Himmel „aufdonnern“ laffen. In 
diefes Gedonner Schnitt nun die Nachricht vom Ausgange der Schlacht 
bei Kuſtozza wie ein grimmiger Hohnpfiff hinein. Die Mailänder 
wollten zunächſt ſchlechterdings nicht daran glauben; allein Die Hiobs— 
poften drängten fih und bejtätigten einander. Nach überwundenem 
erftem Schreden machte man noch heroiſche Grimaſſen, haſelirte vom 
„Krieg bis auf's Meſſer“ und vom fihbegraben unter den Trümmern ber 


320 Die Abwidelung, I. 


bis aufs äußerſte zu vertheidigenden Stadt, jo die „deutſchen Bar- 
baren“ einen Angriff auf diefelbe wagten. Worte voll Wind, fonft 
nichts. Man war eben jetst uch in Matland nicht mehr im März, 
jondern im Auguſt: die Blüthen des „Völferfrühlings * waren längſt 
welf vom Baume der Zeit gefallen, ohne Früchte angefetst zu haben. 

Am 3. Auguſt beim Tagesgrauen fam der König von Lodi her 
vor Mailand an ımd nahm vor dem „römiſchen“ Thore außerhalb 
der Stadt im Albergo San Giorgio fein Quartier. Ihm folgte jein 
geihlagenes Heer, alles in allen weniger als 30,000 Mann, welchen 
der öſtreichiſche Marichall mit wenigjtens 50,000 Mann nachiette, 
jo daß jeine leichten Vortruppen nicht viel ſpäter als die Piemonteſen 
vor Mailand eintrafen. Nachdem dann Karl Albert im Cinver- 
jtändnig mit der proviſoriſchen Regierung und der Mehrzahl ver 
Bevölferung beichloffen hatte, unter den Mauern der Stadt nod) 
einmal zu Schlagen und dieſe jelbit nachdrücklich zu wertheidigen, ver- 
legte er jein Hauptquartier in den nahe bei der Sfala gelegenen 
Palazzo Greppi. Klüger freilich wäre es fir ihn gewejen, gar nicht 
in die Stadt hereinzufommen; denn jein Entſchluß ging ja doc, wie 
bald offenbar wurde, nicht jo weit, mit ven Trümmern feiner Armee 
unter den Trümmern von Mailand fich zu begraben. Hierzu hätten 
auch feine iiber ven falten Empfang, der ihnen von jeiten der Mai— 
(änder geworden, jehr verſtimmten Generale ficherlih ihre Zuſtim— 
mung nicht gegeben. Derweil ſchien die Noth, ſowie die Erinnerung 
an die Märztage die Bewölferung aufflammen zu machen. Thore 
und Straßen wurden barrifadirt, eine nach Waffen jchreiende Menge 
füllte die öffentlichen Pläte, mit dem Geraſſel der piemontejijchen 
Trommeln miſchte fih das Geheul der Sturmgloden, ſchöne Frauen 
und ſchönere Mädchen trugen den Vertheidigern der Wille Speije 
und Trank zu, kurz viel guter Wille, aber nirgends Vertrauen er- 
weckendes organiſiren, fejtes lenken und verſtändiges gehorchen, 
ſondern nur Trubel, Tumult und Strohfeuer. 

In der Morgenfrühe des 4. Auguſt dröhnte das Kanonen— 
gebrumm der anrückenden Oeſtreicher nach Mailand herein. Es kam 





Radetzky-Marſch. 321 


näher und näher. Die Piemonteſen ſchlugen ſich den Tag über mit 
gewohnter Tapferkeit gegen die auf den nach Lodi und Pavia führen— 
den Straßen herandrängenden öſtreichiſchen Kolonnen. Aber dieſe 
gewannen doch ſo ſehr Boden, daß mit Einbruch der Nacht ſämmtliche 
Truppen in die Stadt zurückgezogen werden muſſten. Nun eiliger 
Kriegsrath im Palazzo Greppi. Iſt Mailand zu halten? frug der 
König. Nein, Majeſtät! entgegneten die Generale. — Ihr meint, 
wir müſſten auf die Rettung unſeres eigenen Heeres bedacht ſein? — 
So meinen wir, als gute Piemonteſen und gute Italiener, denn auf 
der Exiſtenz von Eurer Majeſtät Armee beruht trotz alledem die Zu— 
kunftshoffnung Italiens. — Aber das Schickſal dieſer Stadt? — 
Allgemeines Achſelzucken, welches zu deutſch bedeutete: Das Hemd 
liegt uns näher als der Rock. 

Kurz darauf ritten zwei piemonteſiſche Generale auf der Straße 
nach Lodi. Um Mitternacht gelangten ſie nach San Donato, wo 
ſich Radetzky's Hauptquartier befand. Ich gewähre die erbetene Ka— 
pitulation, ſagte der Alte. — Aber die Bedingungen, Excellenza? 
Wir bieten die Räumung der Lombardei gegen die Zuſicherung freien 
Abzugs unſerer Truppen aus Mailand. — Einverſtanden. — Und 
gegen Sicherung des Lebens und Eigenthums der Einwohner. — 
Ich gewähre den Mailändern 12 Stunden Friſt zum Abzug und 
werde ſie der Gnade meines Kaiſers empfehlen. Was dieſer über ſie 
verhängen wird, weiß ich nicht; ich meinerſeits kann nur für die 
Mannszucht meiner Soldaten gutſtehen ... 

Am folgenden Morgen verwunderten ſich die Mailänder, daß 
alles ſo ſtill bliebe. Dann lief die Sage um, der König habe kapi— 
tulirt. Sie fand keinen Glauben. Zwei arme Teufel, welche die 
Senſationsnachricht auf den Domplatz brachten, wurden für ver— 
kleidete Oeſtreicher gehalten, welche zwiſchen Lombarden und Piemon— 
teſen Zwietracht ſtiften wollten, und vom, Volke“ in Stücke zerriſſen. 
Aber die Kapitulation war doch eine Thatſache. Als ſie nicht mehr 
beſtritten werden konnte, brach der Pöbel los und Karl Albert erntete 


den Undank des Nichterfolgs. Die gegen ihn verübten Schand— 
Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 31 


322 Die Abwidelung, I. 


Er 


bübereien hätten dem Manne, welcher, was auch jeine Fehler waren, fein 
und feiner Söhne Yeben jo oft für die Mailänder eingejett hatte, unter 
allen Umſtänden eripart werden jollen, — erſpart werden jollen trotz des 
fläglichen ſchwankens ſogar, in welches er jetst wieder verfiel. Freilich, 
jeine Yage war jchredlih. Die Stadt glich an dieſem 5. Auguft einem 
brandenden Meere von Anardie. Die Sturmgloden heulten won 
hundert Thürmen, die Menge wälzte jich geifernd und brüllend durch 
die Straßen, unter gräulichen Verwünihungen „Tod dem Verräther 
von König!“ drohend. Bor dem Palazzo Greppi ballte fid) ein tau— 
fendgliedriger Lumpenklumpen, filtulirte in allen Tönen der Wuth- 
ifala zu den Fenſtern hinauf, ftürzte die königlichen Reiſewagen, die 
vor dem Thore jtanden, um und verftopfte daſſelbe damit, damit dem 
„Verräther“ die „Flucht“ unmöglid wäre. Es hatte aber doc) den 
Anſchein, daß nicht allein der ſüße und der ſaure Pöbel gegen die 
Kapitulation und für verzweifelte Bertheidigung jet. Denn zwei Mit- 
glieder der proviſoriſchen Regierung, Yitta und Anelli, überbrachten 
dem König einen förmlichen Proteſt gegen die Nebergabe und zugleich 
die Verficherung, Matland ſei zur äußerten Gegenwehr entichloffen. 
Daraufhin jagte der König: „Nun wohl, fo will auch ic) bis auf 
den legten Mann Fechten“. Der unglüdlihe Mann, zur Stunde 
von jeinen Truppen ganz abgejchnitten, muſſte der Pöbelei aud) nod) 
den Gefallen thun, auf ven Balkon binauszutreten und jeine Er- 
flärung zu wiederholen. „Gut, jo zerreißt die Kapitulation !” jchrie 
die Menge hinauf und der König zog ein Papier hervor und zerriß 
e8. Unter wüthendem Beifallshalloh natürlid). 

Aber die wüfte Poſſe ihlug Abends wieder ins gefährliche um. 
Es hieß, und zwar mit Wahrheit, ver Erzbiſchof ſei mit dem Podeſta 
unter Borwilfen des Königs zum Radetzky hinausgegangen, um für 
die Stadt erträgliche Uebergabebedingungen nachzuſuchen. Sofort wieder 
Bolfsraferei vor dem Palazzo Greppi, in das Gebrüll „Tod dem 
Verräther! Tod dem Betrüger!” hinein krachten Schüfje, Kugeln 
ihlugen in die Fenfterfheiben des königlichen Gemachs, die Notten 
rannten Thor und Thüren ein und die wüſte Flut ſchwoll die Treppen 


Radetzky-⸗Marſch. 323 


hinan, hielt aber doch inne vor den entblößten Degen der Offiziere im 
Vorzimmer. Entſchloſſener Widerſtand, ja nur der Anſchein von 
ſolchem bringt rebelliſche Sklaven ſtets zum ſtehen. Dem Oberſt 
Lamarmora und dem Kavaliere Torelli gelang es, dieſem abſcheulichen 
Intermezzo im Schlußakt einer nationalen Tragödie ein Ende zu 
machen. Sie kletterten von einem Balkon des Palaſtes hinunter, 
eilten nach den Wällen und holten von dort ein Bataillon Garde 
und eine Kompagnie Berſaglieri zur Rettung und Befreiung des 
Königs herbei. Die anrückenden Truppen ſtäubten das tobende Pack 
auseinander, nahmen dann den König in ihre Mitte und ſo ging er, 
ſeinen älteſten Sohn an der Seite, nach dem Kollegium Kalchi Taegi, 
wo General Bava ſein Quartier hatte. Hier gab Karl Albert dem 
General Salaſko, ſeinem Generalquartiermeiſter, Vollmacht, die Ver— 
einbarung, welche der Podeſta und der Erzbiſchof inzwiſchen mit Ra— 
detzky wegen Uebergabe der Stadt abgeſchloſſen hatten, auch in ſeinem 
Namen zu unterzeichnen. Der Feldmarſchall verſprach in dieſem 
Aktenſtücke Schonung Mailands und bewilligte freien Abzug allen 
Leuten, welche die Stadt verlaſſen wollten, bis zur achten Abendſtunde 
des 6. Auguſt; nur müſſten die Ausziehenden die nach Magenta füh— 
rende Straße einſchlagen. Das ſardiſche Heer ſollte ſeinen Abzug 
ſofort beginnen und in zwei Märſchen den Teſſin hinter ſich bringen. 
Um 3 Uhr Morgens würden die Oeſtreicher das „römiſche“ Thor, 
um Mittag die Stadt beſetzen. 

An dieſem 6. Auguſt brach Karl Albert ſchon 2 Stunden nach 
Mitternacht aus dem Kollegium auf, um die Stadt durch das Vercelli— 
Thor zu verlaſſen. Es war ein bitterer Weg für ihn, denn die Pöbel— 
horden wachten und ließen die Häuſerwände links und rechts von 
ihrem raſenden „Tod dem Verräther!“ widerhallen. Da und dort 
machten ſie Miene, ſich auf die Schutzwache des Königs zu ſtürzen, 
und beim Thore ſelbſt muſſte man mit Waffengewalt ihm und ſeinem 
Gefolge freien Paß ſchaffen. Alſo verlieh die „Spada d'Italia“, 
der Mann, fir welden nur wenige Tage zuvor in Mailand hundert— 
taufend Evvivas zum Himmel „aufgedonnert“ hatten, umter Flüchen, 


21” 


324 Die Abwidelung, 1. 


Berwünihungen und Todesdrohungen wie ein gebhetster Flüchtling 
diefe Stadt. Geordnet und jchweigend folgte ihm fein Heer, Groll 
im Herzen, aber denjelben bändigend umd der urtheilslojen, wanfel- 
müthigen und feigen Kanaglia, von welcher dieje braven Soldaten mit 
Läſterungen überjchüttet, ja jogar von Fenftern herab und hinter Gar- 
tenmanern hervor meuchleriſch beſchoſſen wurden, nur Blicke der Ver- 
achtung gönnend. 

Die Morgenſonne beſchien ein herzzerreißendes Schauſpiel, das 
an Scenen erinnerte, welche im Mittelalter während der Kämpfe der 
italiſchen Republiken mit Friedrich dem Rothbart auf lombardiſchem 
Boden geſpielt hatten. Ein Drittel der Einwohnerſchaft verließ Herd 
und Haus und Heim: an 60,000 Mailänder und Mailänderinnen 
jedes Alters zogen ins Exil. 

Ber von den Beſitzenden in der Stadt zurücblieb, welche etliche 
Stunden lang gänzlich dem Belieben anarchiicher Pöbelei preisge- 
geben war, muſſte fich jehr unbehaglich fühlen. Cs drohte fichtbar 
wüſteſtes, denn unter dem wohlfetlen VBorwande, „Verräther“ auf- 
zuſpüren und zu beftrafen, ließen ſich alle bübiſchen Gelüſte und ver- 
brecheriſchen Triebe befriedigen*). Schon hob auch wirklich das 
plündern reicher Häuſer, 3. B. der Palazzi Viſkonti und Pitta durch 
die Kanaglia an. Der Podeſta begab ſich daher eilends wieder hin— 
aus ins öſtreichiſche Hauptquartier, um den Marſchall zu bitten, das 
einrücken feiner Truppen früher ſtattfinden zu laſſen, als die Ueber— 
einkunft beſtimmte. Das mailänder Bürgerthum jah ſich demnach in 


*) Depeſche des ſchweizeriſchen Konſuls (Neymond) aus Mailand vom 
7. Auguft 1848: „Les cris a la trahison s’eleverent de toutes parts et pen- 
dant quelques heures nous nous trouvames sans autorites au milieu d’une 
population desesperde, qui menacoit de se porter à des exces“. Wie fticht 
diefer Sat ab gegen den folgenden, der Depejche Neymonds vom 23. März 
entnonmten: — „Impossible de deerire l’enthousiasme du pays etsa ferme 
volont€ de reconquerir son independance. L’ordre le plus admirable n’a 
pas cesse un moment de regner dans la ville, tout le monde etait au poste 


du devoir“. S. B. X. Diefe beiden Stellen erzählen eine ganze Gejchichte. 





Radetzky-Marſch. 325 


der Tage, gegen ihre eigenen Landsleute und Stadtgenofjen den Schu 
der „barbari tedescht“, der „stupidi austriaci* anzurufen, — 
einer der häfflichjten Schmutzkleckſe auf den Blättern der italifchen 
Revolutionsgeſchichte. Im Übrigen tft es wahr und die maffenhafte 
Auswanderung der Einwohnerichaft hat es bewiejen, daß es von 
jeiten vieler Mailänder erntgemeint war, wenn fie erflärten, Lieber 
das ärgſte dulden als die Dejtreicher wiederum innerhalb ver 
Mauern ihrer Baterjtadt jehen zu wollen. 

Um 10 Uhr Morgens am 6. Auguft zog demzufolge ver 
öftreihtiche Sieger an der Spitze von d'Aſpre's Heerſchar in Die wie- 
dereroberte Hauptſtadt ver Yombardei ein. Wenn die ſardiſchen Trup- 
pen auf ihrem Marſche rüdwärts blickten, konnten fie noch die ſchwarz— 
gelben Fahnen auf ven Thürmen Mailands flattern jehen. Am Abend 
ließ der Feldmarſchall ven Erlaß ausgehen, daß er vorläufig die Mi- 
litär- und Civilvegierung der Lombardei an fid) genommen habe. Die 
eiferne Hand des Martialgeſetzes ftredte fc über das Yand aus, der 
Säbel war in allem die erſte und leiste Inftanz. Natürlich fühlte 
und benahm ſich der verhaſſte „Weißkittel“ als Sieger, hielt aber 
Mannszucht. Die Anordnungen des Feldmarſchalls zeugten — ſelbſt 
wuthſchäumende Italianiſſimi haben das nicht zu leugnen gewagt — 
von Mäßigung und Milde. Allein trotzdem legte fi laftend eine 
Wolke unfüglicer Trauer auf die Stadt. Da md dort lüfter fid) 
ein Zipfel diefer Wolfe und läßt in dem düſteren Gemälde einen 
jchneidigen Zug von Humor wahrnehmen. Co, wenn öftreichijche 
Soldaten, in eine Kunſtgalerie einquartiert, die Statuen helleniicher 
Götter und Göttinnen als Aufhängeſtänder benützten und da einem 
Apoll eine ungariſche Grenadiermütze aufgefett, dort die Patrontafche 
eines Gränzers einer Venus als Gürtel umgebunden wurde. 

Am 9. Auguft kam der zwiſchen Deftreih und Sardinien ver- 
einbarte Waffenftillftand zum Abſchluſſe, vorläufig auf 6 Wochen, 
jedoch beiverjeitig mit Inausſichtnahme einer Verlängerung. Er nahm 
die bisherige Gränze zwiſchen ven beiden Staaten als Demarfations- 
linie an und hatte zum Hauptinhalt die gänzlihe Räumung der Lom— 


326 Die Abwidelung, J. 


bardei, Barma’s, Modena's, Piacenza’s, ſowie Venedigs von far- 
diſchen Land- und Marineftreitfräften. Am 10. Auguft richtete Karl 
Albert von Vigevano aus ein würdig gehaltenes Manifeſt an vie 
„Völker des Königreichs“, welches mit den Worten jhloß: „Die 
Sache der Unabhängigkeit Italiens iſt noch nicht verloren!” Die 
Fahne diejer Sache ließ jetst nur noch Garibaldi im Felde flattern ; 
allein dies flattern währte wenige Tage. Der fühne Bandenführer 
war, als er den Anmarſch der Oeſtreicher auf Mailand erfahren, mit 
jeinem Freiharit von 4000 Mann von den Abhängen der Alpen her- 
abgeftiegen und bis Monza vorgegangen, um den Matländern zu 
Hilfe zur eilen. Die Kapitulation der Stadt machte dies unmöglich 
und Garibaldi wandte ſich nach Komo und Barefe zurüd, um im jenen 
Gegenden den Fleinen Krieg gegen die Deftreicher fortzufeen, hatte 
aber, am lettgenannten Ort angefommen, von feinen 4000 Frei- 
ſchärlern nur noch 2000; die Hälfte hatte fich unterwegs „ſeitwärts 
in die Büſche“ geichlagen. Trotzdem harrte der Führer noch aus. 
Er marjchirte von Vareſe nach Arena, bemächtigte ſich dort etlicher 
Dampfboote, fette feine Schar darauf und landete mit ihr am 
16. Auguſt bei Luino am Oftufer des Yago Maggiore, von mo er 
eine dort ſtehende ſchwache öſtreichiſche Truppenabtheilung vertrieb. 
Radetzky ließ nun Das ganze Korps d'Aſpre's gegen dieſen Verſuch, 
einen „Volkskrieg“ anzufachen, aufbrechen. Die noch mehr zufammen- 
geihmolzene und ſehr erihöpfte Freiſchar wurde am 26. Auguſt bei 
Murazzone mit Uebermacht überfallen und nad) tapferer, aber hoff- 
nungsloſer Gegenwehr vollftändig zeriprengt. Garibalpi jelber rettete 
fi) mit wenigen Kameraden iiber den See und nad) der Schweiz. 
Der erfte Aft der nationalen Erhebung Italiens war zu Ende... 

Alſo hat die zweinndachtzigjährige Greiſenhand Radetzky's ven 
Doppeladler wieder nad Mailand zurücgetragen. Aber das trium- 
phirende Finale des Radetzky-Marſches follte erjt im März des fol- 
genden Jahres aufgeſpielt werben. 


II. 
Eljen und Zivio. 


1, 


Die pariſer Juniſchlacht und die Niederwerfung des ttaliichen 
Nationalbanners durch Radetzky verfündigten fehenden Augen und 
hörenden Ohren unwiderſprechlich, daß Die Sache der Völker verjpielt 
jet. Denkende Demokraten in Deutjchland fühlten das wohl, und 
wenn jie weiterhin noch mitthaten — was fie übrigens auch hätten 
bleiben laſſen fönnen — fo geichah es nur der eigenen und der Ehre 
der Partei wegen. Site fanden e8 unſchicklich, einer halb over ganz 
verlorenen Sache den Rücken zu kehren. Was die Redenraſpeler ımd 
Paragraphenhaſpeler betraf, die merften natürlich nicht, welche Stunde 
es an der Ölode der Jahresuhr geichlagen hatte, ſondern rajpelten 
und haſpelten emfig weiter, als wäre nichts geichehen. Noch mehr, 
dieſe edlen, edleren und eveliten Männer waren über die Siege Ka— 
vaignafs ımd Radetzky's jeelenvergnügt. Jetzt endlich, meinten fie, 
jet fir gehörige Winpjtille geforgt, To daß fie ihr Reichsverfaſſungs— 
kartenhaus und dergleichen papierene Babelbauten mehr ungeftört in 
die Luft thürmen könnten. Cine der rührendſten Blödfinnigfeiten, 
welche jemals geihehen find. Aber „in dem kindiſchen Spiele“ 
mufjte doch wohl eim „tiefer Sinn“ liegen; denn die es ſpielten, 
waren ja lauter „Staatsmänner“. 


828 Die Abwidelung, I. 


Dieſe quten, bejferen und beſten Männer deutſcher Nation waren 
wie eigens Dazu angefertigt, die Nolle von betrogenen Betrügern mit 
der ganzen Gravität und Grandezza der Biedermaierei zu jpielen, 
und die Rolle ließ fi) im Sommer von 1848 nod) ohne allzu große 
Mühwaltung durchführen, da in Wien ſowohl als auch in Berlin die 
Märzdeforation noch nicht von der politiihen Schaubühne wegge— 
ihafft worden war. Die Auguren des Konftitutionalismus durften 
einander nod) anfehen, ohne ſich ins Geficht zu lachen, und die Haru— 
ipices des Parlamentarismus konnten noch mit wichtigjter Miene 
weitergrübeln in den Gedärmen ihres todtgeborenen Wechjelbalges, 
ohne durch Die Ungemüthlichfeiten, welche Belagerungszuftand und 
Standrecht mit jich zu bringen pflegen, in dieſen ihren „ſtaatsmän— 
niſchen“ Arbeiten gejtört zu werden... 

Drunten in der Donauftadt war es nad den Maitummulten 
seitwerlig leiplid ruhig geworden. Die Krakehlokratie hatte ſich 
heifer gejchrieen und die Lumpagogie mußte fi) auf Bierbänfen und 
in Schnapsbuden erit zu neuen Großthaten ftärfen. Beide Sorten 
von unheiliger Stanaille, von Hundepad im verwegenjten Wortfinne, 
ducten einjtwetlen unter, mafßen das feite Zuſammenhalten von Aula 
und Garde, d.h. von Studentenlegion und Bürgerwehr, die Aufrecht- 
haltung der Ordnung verbürgte. Unter dieſem Schute regierte der 
gute Herr von Pillersporff weiter, jo gut e8 eben gehen wollte, indem 
er jeinen Kollegen Doblhoff an das fatjerliche Hoflager nad) Inns— 
bruck ſandte, damit derjelbe jo zu jagen ein Kleiſter wäre, welcher das 
dermalen im partibus fidelium refidirende fo zu jagen Staatsober- 
haupt mit der Gentralregierung in Wien zufammenleimte. Selbſt— 
verftändlich hatte Herr von Doblhoff die Neben-, d. h. die Haupt- 
aufgabe, in der tiroler Hofburg darüber zu wachen, daß die theuren 
„Märzerrungenſchaften“ feinen Schaden litten. Ach, diefe Errumgen- 
ihaften hatten eine bedenkliche Aehnlichkeit mit der „federloſen Brut“, 
welche in des alten Horatius Epode von „Schlangen“ beproht wird. 
Auch in der Weihrauchsatmoiphäre der innsbruder Burg war an 
ſolchen Keptilien feineswegs Mangel, nur daß fie auf zwei Beinen 


Eljen und Zivie. j 329 


ſchlichen, ſpitzenbeſetzte Unterröde, auch Generalapjutantenhoien, 
Diplomatenfräcke und Kammerherrnſchlüſſel trugen, und der arme 
Doblhoff hätte zu dem guten Blumenzüchter Ferdinand ſagen können 
wie der römiſche Poet zum Mäcenas: 
„Comes minore sum futurus in metu, 
Qui major absentes habet, 
Ut adsidens implumibus pullis avis 
Serpentium adlapsus timet 
Magis relictis, non uti sit auxili 
Latura plus praesentibus* *). 


ran 


Herr von Doblhoff bat ficherlih das Schlangengeziſche nicht 
ganz überhört, aber den wirklichen und vollen Sinn defjelben hat er 
nicht verftanden. Es gab ja angenehmeres für ihn zu hören, wie 
3. B. jenes aus der tiroler Hofburg ergangene faiferlihe Manifeſt 
vom 3. Juni, welches den Kaiſer erklären ließ, Daß er zwar durch Die 
Art und Weife, wie ev zur Gewährung eines „konſtituirenden“ 
Reichstags veranlafit worden, „tief verlett” jet, daß er aber trotsdem 
„die Sache jelbit fefthalten“ werde und daß es „Sein ſehnlichſtes Ver— 
langen, die baldige Eröffnung des Reichstages in Wien möglich zu 
ſehen“. Die Blide des Hofes waren eben Damals no allzu ängſtlich 
auf die noch nicht jehr beruhigende Sachlage in der Lombardei ges 
richtet, als da man ſich getraut hätte, eine andere Sprache zu führen. 
Die geführte Hang in den Ohren der wiener Bürgerichaft ſehr lieblich 
und fteigerte noch ihre Sehnfucht nad) der Rückkehr des Kaiſers **). 


*) Zur | 


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ite dir bin minder ich in Sorg’ und Angft, 
ie den Entfernten ftärker plagt, 
Dem Bogel gleich, der bei der federloſen Brut 
Der Schlangen Anichlich fürchtend fitt, 
Und wenn er fern ift, mehr fich Angftigt, ob er gleich 
Mit feiner Gegenwart nicht hilft. 
*) Depeſche Effingers vom 7. Juni: „Die große Mehrzahl der Be- 
völferung Wiens wünſcht die Rückkehr des Kaifers ſehnlich“. Vom 28. Juli: 
„Was die Gemüther in Wien am meiften beichäftigt, ift die Rückkehr des 


330 Die Abwidelung, I. 


Da aber einfluffreihe Damen die Sommerfriihe im Thale des Inn 
jehr begreiflicher und verzeihlicher Weiſe erguidlicher fanden als die 
Heimkehr in die ſchwüle Donauniederung, jo verzögerte fic) die kaiſer— 
liche Wieverüberfievelung nad) Wien jo ſehr, daß Pillersvorf und 
Doblhoff höchſt dringend anriethen, wenigſtens einen Stellvertreter 
der Perſon des Kaiſers zu ernennen, um den Reichstag zu eröffnen 
und überhaupt der Gentralregterung durch feine Anwejenheit mehr 
Halt und Gewicht zu geben. Der pafiendite Stellvertreter, riethen 
die Miniſter weiter, wäre der Erzherzog Johann, welder, auch feiner 
Wahl zum deutſchen Reichsverweſer ſchon gewiß, dazumal jo recht 
„Hanns Dampf in allen Gaſſen“ gewejen ift, freilich ohne in irgend- 
einer Gaſſe etwas zu thun als biedermänniſch ſchwatzen. Die lenfen- 
den Hände in der innsbruder Burg liefen demzufolge den willigen 
Ferdinand am 15. Juni ein Patent unterzeichnen, fraft deſſen der 
Erzherzog zu feinem Stellvertreter ernannt wurde, um „alle ihm als 
fonjtitutionellem Kaiſer zuftehenden Regierungsgeſchäfte zu leiten“. 
Der Erzherzog nahm an, und da er wenige Tage darauf auch die 
ihm zugefallene deutsche Heihsverweiung annahm, jo hannsdampfte er 
eine Werle wie ein Weberichifflein zwiichen Wien und Frankfurt und 
Frankfurt und Wien hin und ber, obzwar ohne etwas zu weben, was 
ſich ſehen lafjen fonnte. Noch bevor jedoch der Erzherzog bei ver 
Eröffnung des Reichstags als Alterego des Kaiſers figuriren fonnte, 
brach das Minifterium Pillersporff unter der Wucht eines vom 
„Sicherheitsausſchuß“ und vom „Demofratiihen Verein“ gemein- 
ſam gegen daſſelbe geſchleuderten Miſſtrauenvotums zuſammen, haupt- 
ſächlich, weil ſich in den Weichſelzopf ſeiner Verlegenheiten noch ein 
neuer Strang eingeflochten hatte, der ſlaviſche Aufſtandsverſuch in 
Prag und deſſen Folgen. 


Kaiſers. Die regierende Kaiſerin und die Erzherzogin Sophie, welche jede 
auf ihre Gemahle den größten Einfluß üben, ſind der Verlegung der Reſi— 
denz nach Wien durchaus entgegen, ſo lange die Kaiſerſtadt nicht Garantien 
für die Sicherheit des Hofes bietet“. S. B. N. 


Eljen und Zivio. 3al 


2. 


Auch durch die ſlaviſchen Völker, nicht einmal das rufjiiche ganz 

ausgenommen, zitterten heftig die Erdbebenſchwingungen von 1848; 
weniger jedoch, viel weniger die freiheitlich-humane Begeifterung als 
vielmehr den erflufiwsnationalen oder, noch genauer zu ſprechen, ven 
Raſſe-Inſtinkt wedend. Diefer erhob ſich denn auch mit der ganzen 
wilden Friihe halbbarbariicher Iugendlichfeit und es bevurfte nur 
des feiten Willens der ſlaviſchen Führer, um mittels Diejer wilden 
Kraft den öſtreichiſchen Kaiſerſtaat zu zertrümmern, in welchem ja die 
Slaven die zahlreichite Raſſe waren. 
—Das Ideal des Panſlavismus, welches den ſlaviſchen Wort- 
führern erjten Ranges vorſchwebte, konnte zur einer ſolchen Zertrüm— 
merungsarbeit reizen. Allein maßen die Ipentifictrung des Banila- 
vismus mit ruſſiſchem Pancarismus ſich nicht umgehen ließ, mußte 
es jo ſchlauen Kalfulirern, wie Palady, Pinkar, Rieger und ihre 
Mithäuptlinge waren, unzeitgemäß erſcheinen, die Verwirklichung 
des panflaviftiichen Ideals ſchon jest anzuſtreben. Demzufolge 
wollte man ſich darauf beſchränken, vorderhand ein ſlaviſches Deitreich 
zu Schaffen, um das Deutſchthum wie das Magyarenthun im Katjer- 
jtaat vom Slaventhum aufjaugen, verzehren, verſchlingen zu machen. 
Dieſe beabfihtigte Berichlingung brauchte man jelbftverftändlich nicht 
an die große Glocke zu hängen und die guten Deutſchöſtreicher, näm— 
(ich die liberalen und radikalen, hörten auch nichts davon läuten. 
Selbit dann noch nicht, als Die widerdeutſchen Einfädelungen zwiichen 
den Nord- und Südſlaven, welche Einfädelungen mitten durch Die 
innsbrucker Burg Liefer, ſchon jo Did geiponnen waren, daß maı fie 
bei Tag mit Händen greifen und bei Nacht die Najen daran ftoßen 
fonnte. 

Dem großen Haufen der Slaven war dieſe Verſlavung Deftreichs 
am leichtejten mumdgereht zu machen. Die panjlavijtiihe Chi- 
märe — 

Born ein Bär und binten ein Schwein, in der Mitt’ eine Schlange — 


332 Die Abwidelung, I. 


wie felbige von den Kollar und Schafarif poetiſch gezeugt und archäo— 
logiſch aufgepäppelt worden, war Kaviar für die Menge, eine abſtrakt— 
(iterariiche Tiftelet, welche feine praftiiche Wirkung thun konnte. Die 
Polen, weniaftens alle urtheilsfühigen, haben den Schwindel des 
Panſlavismus immer für das angejehen, was er war und ift, näm— 
lid) für ein Werkzeug der Ruflifictrung, und da fie die Ruſſen, d. h. die 
echten, die Mojfowiter, für gar fein ſlaviſches Volk gelten laſſen, 
jondern für N finniſch-tatariſchen Miſchmaſch halten, jo hätten 
fie fih auch i. 3. 1848 folgerichtig von dem panſlaviſchen Speftafel 
fernhalten — und hätten ſich wirklich ferngehalten, wenn das 
wiener Miniſterium ſich zu einigen Zugeſtändniſſen gegen ſie herbei— 
gelaſſen haben würde. Die Czechen dagegen waren die eifrigſten 
Macher des Spektakels. Sie verlangten die Herſtellung ihrer hei— 
ligen Wenzelskrone, ſowie die Einverleibung von Mähren und 
Oeſtreichiſch-Schleſien in das wiederherzuſtellende Czechenreich, und 
kamen auf den Einfall, die ganze übrige Slaverei zu einem Piedeſtal 
zu machen, auf welchen ihre, Die czechiſche Größe um jo imponirender 
vor den erſtaunten Bliden der Welt ericheinen jollte. Dies der Sinn 
des „Slavenkongreſſes“, welcher mittel8 pompoſen Aufrufes an alle 
„Slavenbrüder” nad Prag eingeladen und am 2. Juni nit jo viel 
Klingelet und Klapperei, als man aufbringen fonnte, mit dem grellen 
Flitterſtaat einer halbafiatiichen Maſkerade eröffnet wurde. Viel 
Mefjelejen und Meſſehören muſſte natürlich auch mitdabeiſein, wo- 
rüber ſich der Atheift und Kommuniſt Bakunin, der einzige anmwejende 
Ruſſe, gehörig erbaut haben mag. Aus Nord und Sid und Oft 
waren die Slavenbrüder gekommen, mitfammen 340. Den böh- 
mihen Grafen und Baronen, melde bislang mitpanjlavifirt hatten, 
erichten aber das Ding bei näheren zuſehen nicht mehr recht geheuter- 
(ih), maßen das von den Czechen aufgeftellte Schwarzgelb in aller- 
band andere, ſehr andere Farben hinüberzuichillern begann. Der 
deſignirte Kongreßpräfident, ein Graf Joſeph Thun, wollte daher den 
Vorſitz nicht führen und jo übernahm Palacky denſelben, hoffend, die 
Verhandlungen in das Geleife der czechiſchen Wünſche zu lenken, 


Eljen und Zivio. 833 


welche, wie jhon erwähnt worden, auf Schaffung eines großen 
Czechenreiches und mittels deſſelben auf eine Slaviſirung Oeſtreichs 
mit Beibehaltung der lothringiſch-habsburgiſchen Dynaſtie abzielten. 
Palacky und die übrigen Häuptlinge der Czechen wollten demnach die 
Verſammlung der „Slavenbrüder“ zu einer großartigen Demonſtra— 
tion für ein ſchwarzgelb-ſlaviſches Oeſtreich und gegen das dermalen 
ſchwarzrothgoldig ſchwärmende Deutſchöſtreich, wie gegen das grün— 
weißroth konſtituirte Ungarn machen. 

Der Verlauf des Kongreſſes geſtaltete ſich aber nicht gerade dieſen 
Wünſchen gemäß, obzwar die öſtreichiſchen Südſlaven, Kroaten, Serben 
und Illyrier im Haſſe gegen das Deutſchthum und gegen ven Magyaris- 
mus mit den Gzechen wirklich höchſt ſlavenbrüderlich ſympathiſirten. 
Doch aber gaben die Südſlaven auch wieder jehr deutlich ihre Son- 
derinterefjen fund, wie denn z. B. die guten Slovenen in ihrer Be- 
ſcheidenheit nur die Errichtung eines „Königreichs Slowenien “ forderten. 
Es fehlte nur noch, daß die Slovaken oder Hannaken die Herſtellung 
eines ſlovakiſchen oder hannakiſchen Kaiſerthums verlangt hätten. Den 
Polen ihrerſeits war an der Erhaltung oder Neuſchaffung Oeſtreichs 
wenig oder gar nichts gelegen. Sie wollten eine europäiſche Revo— 
lution, weil ſie nur von dieſer die Wiederherſtellung ihres Vaterlandes 
erwarten konnten. Bakunin endlich und einige Gleichgeſinnte warfen 
in die Maſſe der ohnehin ſchon ſattſam widerhaarigen Anſichten und 
Wünſche noch das heftige Ferment ſocialiſtiſch-nihiliſtiſcher Theorien. 
So verſtand man ſich denn alles offiziellen Bruderſchaftjubels unge— 
achtet nicht ſo recht; nicht einmal ſprachlich, obzwar ein gelehrter 
Czeche den blühenden Blödſinn hatte ausgehen laſſen, „von der Küſte 
Iſtriens bis zum Eismeere Sibiriens herrſche dieſelbe edle Slaven— 
ſprache, mit ganz unweſentlichen mundartlichen Verſchiedenheiten“. 
Das iſt gerade ſo wahr, wie wenn man ſagen wollte: Weil etliche 
wenige ſprachkundige Deutſche die Schriftſpracheform der ſämmtlichen 
germaniſchen Idiome verſtehen, welche von den Alpen im Süden bis 
zu den Grampian-Bergen und bis Hammerfeſt im Norden, ſowie von 
Antwerpen und dem Haag im Weſten bis zur Weichſel und zur Leitha 


904 Die Abwidelung, 1. 


im Often geiprochen worden, derohalben herricht auf dem bezeichneten 
Fänderraum die deutihe Sprade. Schwindel! 

Die uferlofe Nednerei der Berfammlung wurde zum großen 
Miſſvergnügen der praftiiche Ziele verfolgenden Gzechen namentlich 
durd) Bakunin und durch den Polen Libelt aus Poſen in dag breit- 
ausgeſchwemmte Adreſſenbett jener Tage geleitet und mit dem boden- 
(ofen Phrafenftrom, welcher in dieſem Bette dahinglitt ſchwamm auch 
das „Manifeſt“, welches die vereinigten Slavenbrüder an Europa zu 
erlajfen bejchloffen, in den Dcean der Bergefjenheit hinab. Ein wun— 
derlih Ding übrigens, diefes Manifeſt, auch jo eine rare 1848ger 
Kurioſität! Koſmopolitiſch- überihwänglic -warmbrüderlicd, gehalten 
und doch auch wieder nur eine ziemlich ſchwülſtige Um- und Ueber- 
phraſung des bekannten Drohwortes von Kollar: „ Alle Raffen Europa’s 
haben ihr Wort Shen geſprochen; jetst iſt Die Reihe, zu veven, an 
uns Slaven“. 

Der Kongreß wäre wohl harmlos im Sande der Zungenmüdig— 
keit und Langeweile verlaufen, wenn nicht die czechiſche Studenten— 

ihaft, welche felbjtverftändlich jehr lärmend mitthat, einen andern 
Ausgang herbeigeführt hätte, — einen Ausgang, welcher durch die 
Rechnung der czechiſchen Führer einen jehr unwillkommenen Strid) 
machte und ihre Verſtändigung, wie überhaupt die der öftreihiichen 
Slaven, mit der leitenden Hofpartei, wenn auch nicht in Trage ftellte, 
je doch verzögerte. Die Lorbeern der wiener Aula liegen die czechi- 
ihen Studenten nicht ſchlafen. Warum jollte nicht auch in Prag 
eine afademijche Yegion das große Wort führen? Warum jollte die 
ſtudentiſche Jugend in der Stadt des heiligen Nepomuk nicht ebenfalls 
einen praftiichen Kurſus der Barrifadologie durchmachen? Die 
jungen Leute vermochten die Subtilttäten der Politif und Diplomatik 
der Gzehenführer nicht zu faffen. Sie vermochten auch nicht zu be- 
greifen, warum die Kroaten und Serbenhäuptlinge, welchen das 
Feuer des Magyarismus auf den Nägeln brannte, ein jo großes 
Gewicht auf das ſchwarzgelbe Einverſtändniß mit der Hoffamarilla 
legten. Sie meinten: Ningsum machte und macht man Nevolution, 


Eljen und Zivio. 335 


warum follten wir nicht auch eine machen? Was thun wir fonjt mit 
unſern Bhantafieuniformen, mit unfern Fahnen, Säbeln und Büchlen ? 
Hierzu fam nun noch die Steigerung folher jugendlichen Erhitung 
dur den Bomp und Lärm des Kongrefies. Da die „ Slawenbrüder “ 
doch einmal beifammen find, warım Inlten fie nicht ſofort eine ſla— 
viſche Großthat thun? Die Bolen Shürten nad Kräften, weil fie 
ihrer Gewohnheit gemäß in jedem aufglimmenden Funken Schon einen 
enropäiichen Brand ſehen. Auch von anderer Seite wurde geichürt, 
nämlich durch den jungen Slovafen Turanſki, welcher bei den Kongreß— 
paraden als das verförperte Ideal eines ſlaviſchen Bartmanns, als 
ein ſlaviſcher Bakchus barbatus und Fahnenträger glänzte, im übrigen 
aber ein Spion und Agent des ungarifchen Miniftertums war, welches 
Die eine gegen das Magyarenthum gerichtete Spitze des Slaven- 
fongrefies gar merklich fühlte und deſſhalb den verichlagenen Schön 
bartmann aus der Slovakei beauftragt hatte, zu verfuchen, ob fid) 
dieſe Spitse irgendwie in das Nebelheim einer ſaftigen Eſelei hinein- 
lenfen ließe. Koſſuth und feine Kollegen wuſſten gar wohl, das 
ſuperlativiſch klaſſiſche aller klaſſiſchen deutſchen Dichterworte laute: 


„Unfehlbar reuſſirt, 
Wer auf die Dummheit ſpekulirt.“ 


Die Srekulation ſchlug auch Diesmal ein, wobei es dem oder 
den Spefulanten jehr zu ftatten fanı, daß eine jo verhafite Perſönlich— 
feit, wie der Fürſt Alfred von Windifchgräs war, Das Generalfom- 
mando in Prag und Böhmen innehatte. In diefem General war 
nicht allein die Shwarzgelbe, ſondern die Junkerei als „Ding au ſich“ 
petreficirt und man hatte Grund, ihm das übrigens ſchon ſehr altge- 
badene geflügelte Wort anzulügen: „Der Menſch fängt erſt beim 
Baron an“. Man muß jedoch dem Fürsten die hiltortiche Gerechtig- 
feit wiverfahren laſſen, Daß er ſich keineswegs herausfordernd benahm. 
Im Gegentheil, er bewies gegenüber dem Krafehlen feiner lieben 
„Slavenbrüder” eine große Yangmuth und hat fi aus dem Tafte 
der Mäßigung auch dadurd nicht bringen laſſen, daß nad) losge— 


336 Die Abwicelung, IL. 


brochener Revolte jeine Fran durch eine verivrte Kugel hinter dem 
Fenſter Ihres Zimmers getödtet wırde. Man muß ſich eben erinnern, 
daß zu Diefer Zeit — zu Anfang Juni's — den Milttär- und Civil- 
gewalten in Dejtreid der im März abgejchnittene Kamm nod nicht 
wieder nachgewachſen war, wie er es etlihe Monate jpäter wieder 
gewejen ift. Trotz dieſer Zurüchaltung des Generals ging es los 
in Prag, rein „zufällig“ natürlich, wie ja dazumal der liebe Zufall 
überall den Nothhelfer machen muſſte. Die Stiftung eines „Vereins 
für Ruhe und Ordnung” von ſeiten ſchwarzgelb gefinnter Deutichen, 
welche als brave Germanen, bravere Philiſter und bravfte Unter- 
thanen die Polizei anriefen und vor Windiſchgrätz kratzfußten, machte 
den jiedenden Topf ſlaviſch-ſtudentiſchen Thatendranges überfochen. 
Am Pfingitmontag (12. Juni) fam eine der gewohnten Slaven- 
brüderparaden an dem Palaſte des Fürften Windiſchgrätz vorbet in 
dem Augenblide, als aus demfelben eine Abordnung des deutjchen Ruhe— 
und Ordnungsvereins heransfam. Bei ihrem Anblid, jagt die deutſche 
Leſart, brachen Die vereinigten Slavenbrüder in katzenmuſikaliſche 
Töne aus. Erlogen! jagt die ezechiſche Leſart, wir jangen eine 
unjerer Nationalbymmen. Beide Yelarten laſſen ſich unſchwer ver- 
einigen, denn fie geben nur ſubjektiv auseinander, find aber objektiv 
gleich wahr. Jedenfalls Hang der ſlaviſche Symmus in den Ohren 
der Soldaten, welche im Hofe des fürſtlichen Balaftes als Schutzwache 
aufgejtellt waren, wie eine deutiche Katzenmuſik, und maßen fie Die- 
jelbe an ihren General adrejjirt glaubten, jo drangen fie aus dem 
Portal hervor und zerjtreiten mit gefüllten Bajonnett, welches aber 
worderhand feinen Schaden that, die angefammelte Menge. Sofort 
ſchrie es durch die Gaſſen: „Man bringt ung um! Barrifaden! 
Barrifaden !" Solche wurden denn auc gebaut, aber feineswegs 
mit großem Heroismus vertheidigt. Der ganze Aufſtandsverſuch 
darf nicht nur, fondern muß auch als einer der dümmſten Dummen- 
Jungen-Streiche verurtheilt werden, welche im „tollen“ Jahre ge— 
macht worden ſind. Er hatte weder Ziel noch Plan, weder Führung 
noch Nahhalt, Nur dem ganz unzeitigen zaudern des Windiſch— 


Eljen und Zivie. 837 


gräß war es zuzujchreiben, daß fi) das dumme Ding etliche Tage 
lang jhläfrig fortſpann. Als der Fürft die Truppen aus der Stadt 
zog, mit denjelben die umliegenden Höhen bejetste und am 16. Juni 
ein paar Granaten nad) Prag hineinwerfen ließ, ergab jid) der Auf- 
jtand, welcher inzwijchen won der Einfeßung einer provifortichen 
Regierung und eines czechiſchen Minifteriums, jowie von der Grrid)- 
tung einer czechiſchen Nationalarmee geſchwatzt hatte, auf Gnade und 
Ungnade. Windiſchgrätz zog als Steger wieder in die Stadt.ein, 
ließ mafjenhafte Verhaftungen vornehmen, werfindete das Martial 
geſetz und unterjtellte das Böhmerland der Herrichaft des Säbels. 
Unter jothanen Umſtänden verdunftete der panſlaviſche Kongreß— 
ſchwindel in aller Stille. Daß und wie er zum Windiſchgrätzismus 
umgeichlagen, war natürlich eine große Freudenpoſt für die Inſaſſen 
der innsbruder Burg. Auch Koſſuth und ſeine Kollegen rieben fich 
in Peſth vergnügt die Hände. Diejes magyariiche Vergnügen war 
aber von jehr furzer Dauer. Denn bald wurde kund, daß der jäm— 
merliche Ausgang der mit Trompeten und Pauken angekündigten und 
eröffneten Slavenbruderichaftspoffe zwar jehr dem dynaſtiſchen 
Schwarzgelb, nicht im geringjten aber dem ungariichen Weißgrün— 
voth zu gute fommen würde. Im Gegentheil, ganz im Gegentheil! 
Denn die Gehen, Kroaten und Serben — wir meinen Die Häupt- 
(inge und nur auf diefe kam es ja an — jahen nad) der leichten Nieder— 
drüdung der radikal-ſlaviſchen prager Revolte das Heil des Slaven— 
thums nur noch im ergebenjten Anſchluß an den Hof — welder — 
jo fabelten jie fi vor — ihre treuunterthänigen Dienjte damit be— 
lohnen würde, daß er ihnen nad) wieder unterdrücktem Deutſchthum 
und Magyarismus Raum und Macht gäbe, Deftreich zu verjlaven. 
Wie befannt, bat auch nad eingetroffenen Vorausſetzungen der 
öftreichtiche Hof zeitweilig wirklich die Miene angenonmen, dieſe 
Verſlavung zuzulaffen. Aber es war mir ein zeitwerliges Spiel, 
und als endlich den Slaven das Narrenjeil, woran man fie jo lange 
berumgeführt hatte, in ihren Najen allzu unangenehm ic fühlbar 
machte, wollten fie ſich, vorab die Ezechen, ebenfalls ımangenehn 
Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 22 


358 Die Abwidelung, II. 


machen und hatten in ihrer tiefverletsten Citelfeit fein Hehl, daß fie 
darauf brännten, bei exjter beiter Gelegenheit in die Arme ver pan- 
ſlaviſchen Panagia Moifavia fid) zu ftürzen. 


3. 


Die Bevölkerung von Wien, d. h. die beweglicheren Elemente 
verjelben fanden und fühlten fi) ven Sommer von 1848 über in der 
Lage und Stimmung eines Menjchen, welchem das Bewufitjein, etwas, 
was er ganz hätte thun können und jollen, nur halb gethan zu haben, 
feine Ruhe läſſt und der dem unabläffig judenden Reize preisgegeben 
it, das verfäumte nachzuholen, ohne doch wirklich die Kraft zu bes 
ſitzen, das umerquidliche halbe zu einem runden ganzen zu machen. 

Solche Zwitterhaftigfett führt nothwendig zu himmeljchreienden 
Albernheiten, wie fie denn der wiener „Sicherheitsausihuß” und ver 
„Demokratische Verein“ reichlich zu begehen ſich nicht nehmen liegen. 
Die Stupiditas Stupiditatum war aber, daß ſich die beiden Haupt- 
organe der wiener Bewegung mittel8 etlicher abgegriffener Phraſen 
verleiten liegen, für die czechiſche Pfingſtlümmelei in Prag nachträg— 
(ich Partei zu nehmen, jo jehr, daß fie den Minifter Pillersporff zu 
iprengen bejchlofien, weil derſelbe ven Windiſchgrätz nicht vom Kom— 
mando entfernen wollte. Allerdings lagen fie mit dem Minifter 
ſchon vorher im Streit inbetreff der Wahlart zum öſtreichiſchen 
Reichstag, ſowie inbetreff der für diefen proviſoriſch feitgejetsten Ge- 
ihäftsordnung. Unmittelbar vor der Eröffnung des Reichstags 
exrplodirte dann die widerpillersdorff'ſche Mine, nachdem der arme 
Mann von Minifter das laue Waſſer gemüthlicher Beſchwörungen 
erfolglos auf den brennenden Yeitftrid gegoffen hatte. Am 8. Juli 
fafite der Sicherheitsausfhuß die Nefolution: „Die Träger des 
alten Syftems find unbedingt aus dem Sabinette zu entfernen. 
Doblhoff ift mit der Bildung eines neuen Minifteriums zu betrauen, 
in welchem außer Weflenberg fein Mitglied des jegigen ſitzen fol“. 


A VE 


' Eljen und Zivio. 339 


Noch im Juli von 1848, wunderlich zu fagen, hatten derartige Re— 
folutionen etwas zu bedeuten, viel jogar. Wenn man unmwiber- 
ſprochenen Berichten von demokratiſcher Seite glauben darf, hat der 
fatjerliche Alterego und erzherzogliche Hanns Dampf in allen Gaffen 
in diefer Angelegenheit eine jehr zweideutige Nolle geipielt. Er 
jagte zu einer Abordnung des Demofratenvereins, welche gefommten 
war, die Forderung des Sicherheitsausihuffes zu unterftügen: „Auch 
ic) bin von der Unzulänglichfeit des Minifteriums vollfommen über- 
zeugt und werde das nöthige verfügen“. Noch am jelbigen Tag 
nahm er die angebotene Entlafjung Pillersdorffs an, mit welchen 
Sommaruga und Baumgartner ausſchieden, und im Begriffe, zur 
Uebernahme der Reichsverweſung nad) Frankfurt abzufahren, beauf- 
tragte er Herrn Doblhoff, ein neues Kabinett zu bilden. Am 
19. Juli trat dafjelbe ins Amt, für flüchtig blidende Augen ganz io 
gebildet, wie die Bewegungspartei es wünſchen mochte, für ſcharf— 
jehende nicht. Denn die Reſolution des Sicherheitsausichuffes war 
mit nichten vollftindig erfiillt worden. Zwar fonnte es für gleich- 
giltig gelten, daß der unvermeidliche Finanzminijter Krauß aus dem 
alten ins neue Miniftertum herübergenommen war; aber von ganz 
anderer Bedeutung tft es geweſen, daß das gleiche mit dem Kriegs— 
minifter Latour geihah. Dieſer Punkt war offenbar für ven Hof 
bei der neuen Kabinettsbildung der mwejentlichite, der einzig weſent— 
liche. Mochten die halbiiberalen oder ganzliberalen Miniſter ſchwatzen 
und Geſetze fabriziren, wenn nur die Armeeleitung in den Händen 
eines getreneiten Schmarzgelben blieb. Sicherlich hat der Erzherzog 
Johann die Sache ebenfo angejehen und in diefem Sinne geleitet. 
Denn der Prinz war feineswegs ein Dummrian, wofür man ihn 
verjchrieen bat, jondern vielmehr ein Pfiffikus Schmerle. Wenn 
Heine ihn jagen ließ: 


„Richt mit dem Verftand, nein, mit dem Gemüth 

Will id) mein Volk regieren: ' 
Ich bin fein Diplomatifus 

Und fann nicht politifiren —“ 


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340 Die Abwidelung, I. 


jo war das fehlgejchoffen, weit fehlgeſchoſſen. Der Erzherzog hatte 
freilich weder das Zeug noch auch nur den Willen, groß zu handeln 
und bedeutendes zu thun; aber was fi) mit fleinen Mitteln, mit 
Liſten und Pfiffen fir das Haus Pothringen-Habsburg thun lieh, 
das hat er in Wien wie in Frankfurt richtig gethan. 

Heben Weſſenberg, Yatour, Krauß und Doblhoff traten neu 
ins Miniſterium der vulgärliberale Fabrikant Hornboſtl, der unbe— 
deutende Journaliſt Schwarzer und der von Pinſeln demokratiſch an— 
gemalte Advokat Bach, jedenfalls der zeitgemäßeſte ſeiner Kollegen. 
Ob er damals ſchon förmlich in den Dienſt und Sold des Hofes ge— 
treten war und allerhöchſten Frauenzimmern das Gnadenfutter aus 
der Hand fraß, iſt ungewiß und ſogar zweifelhaft. Die Waare 
muſſte doch erſt im Miniſterſchaftsſchaufenſter ſtehen und die Wünſch— 
barkeit ihrer Erwerbung ad oculos demonſtriren. Als Herr Bach 
um ſeiner enormen, insbeſondere konkordatiſchen Verdienſte willen vom 
Sonnenſtrale der Hofgunſt ſpäter ſo warm getroffen wurde, daß aus 
der Advokatenpuppe der Schmetterling Freiherr von Bach kroch, 
haben zeitwidrig altfränkiſche Menſchen, welche noch immer das kreuz— 
lahme Steckenpferd Princip zu reiten ſich nicht ſchämen, den edlen 
Freiherrn einen Renegaten und Verräther geſcholten. Ein unbe— 
fangenes Urtheil dagegen wird lauten, daß der Herr von Bach, wenn 
er kein Jeſuit von der kurzen Robe war, einer von der langen zu 
ſein verdient hätte. Aber nein, damit würde, recht erwogen, ſowohl 
dem edlen Freiherrn als auch der ebenſo edlen Geſellſchaft Jeſu 
ſchnödes Unrecht angethan. Denn dieſe reitet ja ebenfalls Princip 
und iſt von ihrer Gründung an bis heute konſequent geblieben. Nein, 
Herr von Bach war kein Jeſuit. Er gehört vielmehr dem heiligen 
Bataillon der Kautſchukmänner an, welches ſich Anno 1848 und 
nachher aus allen Parteien und Fraktionen rekrutirte und zur Größe 
einer Armee anſchwoll. 

Höchſt verdiente Leute, dieſe Kautſchukmänner! Ganz die 
Menſchen- und Politikerſorte, wie unſere und eigentlich jede Zeit ſie 
will und braucht. Und unter den Kautſchukigen ſind hinwieder die Kaut— 


Eljen und Zivio. Al 


ichufigiten jene, welhe aus dem Lager der Revolution ſich herüber- 
gedrückt, gewunden oder geſchnellt haben. Das ift der potenzirte 
Kautſchuk, die richtige Kautſchukeſſenz. Thurmhoch erhaben über das 
dumme Vorurtheil der Geſinnungstreue und Charafterhaftigfeit, 
überaus gewandt und praftiich, in allen Sätteln gerecht, überall da— 
heim, wo gute Beföftigung vorhanden, ſtets bereit, zu dienen, für 
gehörige Nemumeration verfteht fich, heute auf verlangen den Tanz 
um den Freiheitsbaum mithopfend, morgen auf verlangen im fünig- 
lichen Vorzimmer unterthänigit erjterbend, immer eifrig darauf aus, 
dem allgemeinen beten, welches rein zufällig zugleich ihr beſonderſtes 
ift, das „ſchwere Opfer“ ihrer perſönlichen Anſicht zu bringen. 
Solche Leute müfjen wir haben! Die taugen ganz anders als jene 
von rechtswegen perhorrejeirten „Hypochonder“, „Sonderlinge“ und 
„Hochmuthsnarren“, die ſchon durch ihr bloßes beiſeiteſtehen die 
Weltfirma Lump und Komp. beleidigen, welche Grund hat, zu arg— 
wöhnen, jeder, der nicht mitlumpt, müſſe ihre Lumperei verklagen. 
Brauchbar und verbrauchbar muß man ſein, wenn man dem Staat, 
der Kirche, der Geſellſchaft nützen will. Zum Henker mit der Ideal— 
frage, zum Teufel mit der Tugendgrimafje und es lebe der Kautſchuk! 
Das ift der wahre Stoff! Der läfft ſich je nach Bedarf zu parla- 
mentartichen Holdermännchen, Liberalen oder liberalen Miniſtern, 
tonſurirten oder gejcheitelten Bonzen, Katheder- und Kanzelcharlatanen, 
Weltverbefjerern und Bibelwäljerern, Gaffendemagogen und Hof- 
pädagogen, Spionen, Shirren und Diplomaten reden und jtreden, 
gießen und prefien. Unbezahlbare und doc) zugleich bezahlbare Kerle, 
die Kautſchukigen! Unumgänglich, unausweichlich, unerſetzlich, „Mäd— 
chen für alles“! Heute roth, morgen blau, grün, weiß, ſchwarz, 
grau, gelb, braun, as you like it. In dieſer Stunde ſcheckig wie 
die Klapperſchlange, in der nächſten farblos wie das Gift der Borgia. 
Als Volksſchmeichler aus dem Bett, als Kürftenfürchtigfeitsheuchler 
in das Bett. Die Woche über erichreeilihe Atheiſten, Sonntags er- 
weckliche Chriften. Montags Affenmenicentheoretifer, Dienftags 
Meſſepraktiker. Mittwochs einem Weiberenancipationsfonite ſich 


342 Die Abwidelung, I. 


anglievern, Donnerstags den Konfervativen ſich anbiedern. Amt 
Freitag den Kommunisten etwas vorſchwindeln, am Samftag den 
Pietiften ein bischen nachkindeln. Morgens vom Lob ver Eonftitu- 
tionellen Monarchie öffentlich überfließen, Mittags die fiegreiche 
Säbelbrutalität emphatiſch laut begrüßen, Abends einen Privatbrief 
„mit republikaniſchem Gruß und Handſchlag“ beſchließen. Vivat 
der Kautſchuk! 


4. 


Noch hatte das neue Miniſterium nicht zu amten begonnen, als 
der „konſtituirende“ Neihstag in Wien zuſammentrat. Die Zahl 
von 383 Abgeordneten, welche — mit Ausihluß Ungarns und jeiner 
„Nebenländer“ — vie Völfer Dejtreihs nad) der Hauptſtadt ent- 
jenden jollten, it nie ganz voll gewejen. Zum Situngslofale war 
die fatjerliche Reitbahn bei ver Hofburg hergerichtet worden, aber es 
wurde daraus feine Mansge wie jene bei den Tuilerien, in welcher 
die Konftituante, die Vegislative und die Konvention debattirt haben, 
jo vebattirt haben, daß ihr vebattiren handeln war. 

Am 10. Juli verfammelten ſich die Neihstagsmänner zu einer 
eriten vorbereitenden Situng. Da ſchon fträubten fi) die nationalen 
MWiverborftigfeiten, welche hier zufammengezwängt waren, unfanft 
gegen einander auf. Zunächſt, wie leicht begreiflich, in Form des 
Sprachenhaders. Es ließ ſich ja nicht vertufchen, daß nicht die Hälfte 
der Mitglieder des Neichstags der deutſchen Sprade fundig war. 
Der Wunſch der Deutihen ging natürlich auf Erklärung ihrer Sprade 
zur Gefhäftsiprache der Verſammlung; aber fie wagten es doch nicht, 
ihren Wunſch in Form eines Beſchluſſes durchzudrücken, und jo über— 
ließ man die Verhandlungen von vornherein allen Zufällen eines 
babyloniſchen Sprachenwirrſals. Zehn Tage nachher bejtellte der 
Reichstag feinen Vorftand und die Majorität machte der Stadt Wien 
das Kompliment, einen ihrer Vertreter, den Advokaten Schmitt, eine 
Null im Frad, zum Präfidenten zu wählen. Dieſer Steohpräfident 


Eljen und Zivio. 543 


verſchwand gänzlich vor dem erjten Vicepräſidenten Strobad, einem 
Ezechen, welcher, abwechſelnd mit dem zweiten Bicepräfidenten Smolfa, 
einem Polen, die Verhandlungen des Reichſstags vom Anfang bis zum 
Ende geleitet hat. 

Die Bicepräfidentenwahl hatte ſchon die Thatſache klar gemacht, 
dag das jlaviiche Element in der Verſammlung obenauf war, wie es 
denn, jobald die ſlaviſche Bevölkerung des Kaiſerſtaats an ven Wahlen 
ſich betheiligte, auch gar nicht anders ſein konnte. Und fie hatte ſich 
betheiligt, lebhaft und eigenthümlih genug. Dieſe unglüdlichen 
flaviihen Yandbevölferungen, deren Naden vom Robotjoch wund- 
geſcheuert waren, hatten nichts davon wifjen wollen, ihre „Herren“ 
zu Vertretern zu wählen. Der ingrimmige und nur allzır gerecht: 
fertigte Haß gegen den Adel it überhaupt ein Charaftermerfmal der 
öftreichiichen Bewegung geweſen. Es war aud in der Zuſammen— 
ſetzung des Neichstags jo deutlich ausgeprägt, daß von allen den 
bodariltofrattichen Namen des Kaiſerſtaats nur der des Grafen Stadion 
dajelbit vorfam und neben diefem die Namen von kaum einem Halb- 
dutzend polniſcher Edelleute. Galizien hatte 36 Bauern in den 
Reichstag gewählt, nicht etwa durch die dorfnovelliftiihe Schniegel- 
und Biegelmajchine gegangene Bauern, jondern waldurſprüngliches 
Gewächs, ſlaviſche Naturbauern, welde mit Seife ımd Kamm etwa 
jo befannt waren wie mit Göthe's Gedichten und Beethovens Sym— 
phonieen. Die Bauerſchaft ift überhaupt in dieſem Reichstag To ſtark 
vertreten gemwejen, wie noch in feinem Parlament: es waren nicht 
weniger als 92 leibhafte Bauern da, melde demnach nahezu ein 
Viertel von der Verfammlung ausmachten. Die dunfeliten Ehren- 
männer jandte jelbjtverjtändlih Tirol, eine ganze ſchwarze Bande, 
eine Sammlung von „Diden und Dünnen”, an welchen der „Wiener 
Poet“ jerne Freude gehabt hätte, obzwar die Dünnen feineswegs von 
den Diden verſchluckt wurden *). 


9 „Mächt'gen, ſchweren Folianten glichen einſtens jene Dicken, 
„„Allgemeines großes Kochbuch““ ſtand als Inſchrift auf dem Rücken. 


344 Die Abwidelung, U. 


Man konnte wähnen, die ägyptiſche Finſterniß in eigener Perſon 
habe da, wo die tiroler Abordnung platznahm, ſich niedergelaffen, im 
Centrum. Allmälig jprenfelte ſich jedoch viel Gelbheit dazwischen 
und jpäter centralifirte ſich hier die Ihwarzgelbe Hofpartei, welche mit 
den die Hauptbevölferung der Nechten bildenden Czechen nur dann 
nicht Hand in Hand ging, wann gar zu wild widerdeutſch geczecht 
wurde. Der General der Czechen war Balady, fein Redner, aber 
ein Meifter der Klubbtaktik, ihr erftes Sprachrohr Rieger. Die Linfe 
war die deutjchnationale und zugleich demofratiiche Partei. Ihr 
Wille ift ſehr ſtark geweſen, aber das Fleiſch ſchwach. Recht brave 
Leute im allgemeinen, aber auch viel Kehricht im beſonderen. Sie 
hätten gern die franzöſiſche Revolution, die große nämlich, ins 
Deutſche oder vielmehr ins Wieneriſche überſetzt, brachten es aber bloß 
zu lyriſchen Variationen über das große Thema im Bilderſtile von 
Anaſtaſius Grün, nur weit weniger geſchmackvoll. Im Grunde 
lauter Anläufer, dieſe guten Linkſer, denn ſie kamen über Anläufe nie 
hinaus und ohne feſte Führung und Diſciplin, wie ſie waren, liefen 
ſie gewöhnlich ins blaue. Im übrigen: wer könnte verlangen 
wollen, daß inmitten des gränzenloſen Wirrſals, welches damals 
Oeſtreich hieß, mittels der parlamentariſchen Tretmühle etwas großes 
hätte zuwegegebracht werden ſollen? Und doch wurde etwas großes 
damit zuwegegebracht: die Entjochung des Bauers, welchem erſt 


Einem ſchmalen, kleinen Büchlein ſind die Dünnen gleich fürwahr, 
„„Kurzgefaſſte Gaunerſtücklein““ beut das Titelblatt euch dar. 
Mit der Grobheit und der Dummheit hattet einft den Kampf, 
ihr Alten, 
Doch der Schlauheit und der Tücke müffen wir die Stange halten. 
Einftens rannten euch die Dicken mit dem Wanft die Thüren ein, 
Doc e8 friechen jett die Dünnen uns durch's Schlüffelloch herein. 
Ad, ihr Diden, fteiget wieder lebend aus der Todesurne ! 
Doch mit altem gutem Magen! Werdet hriftlihe Saturne 
Und verichlingt den magern Nachwuchs! O, dann find wir beider los, 
Denn nicht lange mehr kann leben, wer ſolch' gift’ge Koft genoß“. 


Eljen und Zivie. 545 


durch diefen Reichstag die Möglichkeit eröffnet worden ift, ein Menſch 
zu werben. 

Am 22. Juli las der wieder aus Frankfurt nad Wien zurüd- 
gerannte Stellvertreter des Kaiſers die Thronrede ab, ein jeltiam 
Ding, worin im Orafelton de rebus omnibus et quibusdam aliis 
geiprochen wurde, in einem Athemzuge von der Gleichberechtigung 
aller Nationalitäten des Kaiſerſtaats und von der Nothwendigfeit 
eines feiten Anſchluſſes an Deutichland, ebenfo von der Achtung vor 
den Freiheitsbeſtrebungen der Italiener und von der Behauptung Der 
öftveichtihen Waffenehre. Die VBerfammlung wurde jo zu Tagen 
nach Nebelheim verſetzt mittels dieſer nebuloſen Phrafe: „Der 
Keihstag iſt berufen, das große Werf der Wiedergeburt des Vater— 
landes zu vollbringen. Die Befeftigung der erworbenen Freiheit 
verlangt fein offenes, unabhängiges Zuſammenwirken in der Feſt— 
jtellung der Verfaſſung“. Nur nad einer Richtung hin ſprach Die 
Thronrede jehr deutlich, nad) der Gelpfeite hin: ſie fündigte „außer— 
ordentliche finanzielle Mafregeln” an, was man aber dod falſch 
verftand. Die Börjenbarone fürchteten nämlich, es könnte ein un— 
liebſames vorgehen gegen die Stantsgläubiger gemeint fein, jo daß 
man etwa den größten und geſchwollenſten Blutegeln ein bißchen 
Salz auf den Bauch zu treuen beabfichtigte. Die hochwürdige 
Kleriſei ihrerſeits beforgte, Die nicht genug zu verdanmtende Revolu— 
tion fünnte gar auf den Einfall kommen, eine firhenräubertiche Hand 
gegen den ungeheuerlichen, bis zum berſten vollgeſtopften Pfaffenſack 
auszuftreden. Die erlauchte Ariftofratie ängſtigte fi, Die Steuer- 
ihröpfpumpe des Staats dürfte fürderhin nachdruckſamer als bislang 
an ihre Beliungen gelegt werden. Eitles fürdten! Es galt zu— 
nächſt und hauptfächlich nur, die Anleihepumpe, in welche die März— 
angjt der Geldleute einen Leck gemacht hatte, wieder zu Falfatern 
und in Thätigfeit zu ſetzen. 

Es iſt dieſe Pumpe bekanntlich eines der finnreichiten Inſtru— 
mente, welche der menſchliche Witz jemals erdacht und konſtruirt hat, 
der wahre Triumph moderner Staatsmechanik. Man macht dadurch 


346 Die Abwidelung, I. 


die Zufunft zum Bürgen fir die Gegenwart; man entzieht damit 
dent übergejunden Tolpatſch Volk nicht nur in der gegenwärtigen 
Generation, jondern aud vorweg für alle zufünftigen Generationen 
die überſchüſſigen Säfte, welche ihn, mit dem feiſten und loyalen 
Doktor Luther zu reden, leicht „zu muthwillig“ machen könnten. 
Nun, die Gefahr dieſes zumuthwilligwerdens ift nicht allzu groß, 
jo lange die bejagte jinnreihe Mafchine in die Kaſſe eines der Söhne 
des alten Amjchel Rothſchild nicht weniger als 1600 Millionen 
hineinpumpt. Cine himmliſche „Staatswirthſchaft“, den gegen- 
wärtigen und künftigen Gejchlechtern den Ertrag ihres Schweißes 
abzuft —aatsanleihen, das muß man jagen! Freilich meinen ſchwarz— 
fichtige Seher, es fünnte doch einmal in die Stumpffinnsnacht des 
armen Tolpatſch unverſehens ein Lichter Moment fallen und in dieſem 
lichten Moment Fünnte er ſich veranlaſſt jehen, den berühmten jchiller- 
ſchen Freudeliedoers „Unjer Schuldbuch ſei vernichtet!“ zu einer 
biftortihen Thatſache zu machen. Allein, tröjtet euch, Millionen- 
und Milliardenpolype, tröftet euch! Ihr werdet weiterfaugen können. 
Wenn heute das alte „Schuldbuch“ wirklich vernichtet werden jollte, 
jo würde ſchon morgen ein neues angelegt. Denn die Dummheit 
währet ewiglich ! 


5. 


Der Neihstag bemühte ſich redlich, alle Regiſter ver Zeit- 
phraſeologie den guten Wienern vorzuorgeln; allein die große Trage 
für dieje blieb doch immer: Kommt der Kaiſer zurücd oder bleibt er 
weg? Sp muſſte ſich denn auch das öftreichiiche Parlament alles 
Ernftes mit diefem Problem beihäftigen, deſſen Löſung ja auch umd 
zwar ſehr, im jeinem eigenen Interefje lag. Denn die Anweſenheit 
des Kaiſers gab der Thätigkeit des Reichstags doch erjt die rechte 
Weihe und zugleich ſchien die Anweſenheit der Fatjerlihen Familie in 
Wien eine Bürgihaft zu bieten gegen die dunkeln Machenſchaften, 


Eljen und Zivie. 347 


die hinter den Kuliſſen ſpielten und welche von nicht allzu dickhäutigen 
Leuten wohl gefühlt wurden, wenn jhon jie feine aktenmäßigen Be— 
weife für das vorhandenſein derjelben beibringen fonnten. 

Nach einer ſchauderhaften, riefenbandwurmigen Schwätseret, 
welche fi) darum drehte, ob man die Nüdfehr des Katjers „erbitten“ 
oder aber „Fordern“ jollte — nebenbei wurde alles Ernſtes auch 
dariiber debattirt, ob man den Kaiſer mit „Euer Majeſtät“ oder 
„Euere Majeſtät“ anreven müſſte — gewann endlich das „Fordern“ 
die Oberhand und eine Neihstagspeputation trug eine mit den Unter— 
ihriften und (bäueriſchen) Kreuzmalereien ſämmtlicher Mitglieder des 
Barlaments verjehene Adreſſe nad) Innsbruck, welche forderte, daß 
der Kater nach Wien zurüdfehre. Ob dieſe Forderung erfüllt wor- 
den wäre, falls nicht die günstige Shwarzgelbe Wendung der Dinge 
in Italien den Hof mit neuer Zuverſicht erfüllt hätte, ſteht dahin. 
So aber ließen die Drahtführer und Drabtführerinnen des Hof- 
puppenipiels den guten Ferdinand nad Wien zurüdfehren und fehrten 
jelber mit ihm zurüd, am 12. Auguft. Die Freude der Wiener war 
groß*). Der Keichstag ſeinerſeits warf ſich ſtolz in Die Bruft, der 
Welt gezeigt zu haben, daß er feine „Forderungen“ durchzuſetzen 
vermöge. 

Gerade in diefen Tagen that er das beite, was ihm überhaupt 
zu thun gelang. Schon am 26. Juli hatte fi) eins der jüngjten 
Mitglieder des Reichstags erhoben, um einen Antrag zu itellen, 
welcher dieje gute That, die Emancipation der Bauern, einleitete. 
Ein junger Mann, gerade von der Hochſchule gekommen, blond, blau— 
äugig, ſchmächtig, ein verförpertes Stück öſtreichiſcher Freiheitslyrik, 
Hanns Kudlich, einer der Abgeordneten aus Oeſtreichiſch-Schleſien, 
beantragte auf der Rednerbühne: „Die Verſammlung möge erklären: 
Bon nun an ift das Unterthänigfeitsverhältnig jammt allen daraus 


*) Effinger am 15. Auguft: „Die am 12. erfolgte Rückkehr des Kai- 
jers mit feiner Familie bat bei der großen Mehrzahl der Bevölferung auf- 
richtigen Jubel erregt“. S. B. A. 


348 Die Abwidelung, I. 


entiprungenen Rechten und Pflichten aufgehoben, vorbehaltlich Der 
Beitimmungen, ob und wie eine Entſchädigung zu leiften fer”. 
Jubelnde Zuftimmung von allen Seiten des Haufes, nur ganz wenige, 
gar nicht hörbare Stimmen ausgenommen. Allein diefer Zuſtim— 
mungsjubel hatte doc) nidyt die Energie jener glorreihen Auguftnacht 
von 1789, welche das Mittelalter in Frankreich wegwijchte. Kudlich 
und feine Barteigenoffen ließen fi) in ihrem edlen Anlauf aufhalten 
dadurch, daß fie ſich in die höchft weitſchichtigen und verwidelten 
Einzelubeiten der Nobotfrage hineinmandvriren liegen. Dadurch 
wurde der Schlageindrud vereitelt und eine Bandwurmdebatte herbei- 
geführt, in welcher die unerquicklichſte Rabuliſterei hinüber umd 
heritber ſich breitmachte. Politiſch Klug, ja am klügſten wäre es, 
wie man richtig bemerkt hat, gewejen, den Bauern zunächſt nicht Die 
ganze Hand, ſondern nur etliche Finger zur geben, d. h. die Ent- 
ihädigungsfrage ungelöf’t über den Köpfen der Bauern ſchweben zu 
(affen. Damit hätte man den bäuerifchen Eigennut fortwährend in 
Spannung und demnach feit an die Sache der Bewegung gefettet 
erhalten. Es ift ja überhaupt ein Grundfehler der jogenannten 
deutſchen Nevolution von 1848 gewejen, daß fie der plumpen Selbſt— 
jucht der Bauern viel zu frühe und viel zu wollftändige Befriedigung 
gewährte. Kudlich und feine Freunde erfannten das auch, aber zu 
ipät. Als der Antragfteller am 11. Auguft feinen zweimal ver- 
befierten und erweiterten Antrag begründete, meinte er, „mit der 
Entſcheidung der Entihädigungsfrage hat es feine Eile, da die 
Bauern gewiß zufrieden find, wenn fie auch erft nach Wochen er— 
fahren, ob fie entſchädigen ſollen“. Allein die Gegner der Linken 
merften die Abficht und wurden dadurch feineswegs verftimmt. Im 
Gegentheil, fie waren ſehr froh, daß in Geftalt der Entſchädigungs— 
frage ihnen eine zweihenfelige Handhabe dazu geboten wurde, erjtens 
in den Augen der Bauern die Linke zu verdächtigen, als ob dieſe die 
genannte Frage fir unwichtig anfühe, und zweitens durch eine raſche 
und billige Löſung diefer Trage die Mehrheit der Bauern der fon= 
jervativen Partei zu verpflichten. 


Eljen und Zivio. 349 


Die langwierige Debatte drehte ſich auch nur noch um die Angel 
der Entſchädigungs- oder Nichtentſchädigungsfrage. Mehrere bäueriſche 
Redner gaben hierbei der ganzen Inbrunſt ihres Adelhaffes nicht un— 
beredſamen Ausdrud und zwar deutſche und ſlaviſche Bauern gleicher- 
maßen. Mit nicht geringem Entſetzen vernahm die im Reichstage 
fitende öſtreichiſche Bureaukratie dieſe Auslaſſungen. Eine feit Jahr— 
hunderten ſtumme Sklaverei hatte plötzlich Stimme bekommen, eine 
Stimme, bei deren Tönen man die Stöße einer ſocialen Erd— 
erſchütterung zu ſpüren glaubte, als reckte und ſtreckte der gefeſſelte 
Tolpatſch-Titan drunten im Tartarus ſeiner Knechtſchaft unwillig die 
Glieder. Dieſe Wirkung brachte vor allen der bukowiner Bauer 
Kapuſzezak hervor, deſſen gebrochenes Deutſch wie grollende Donner— 
ſchläge klang und in deſſen Augen ein Widerſchein der galiziſchen Mord— 
brandsflammen von 1846 glühte, als er die Miſſhandlungen aufzählte, 
welche die „Herren“ den Bauern angethan hatten, und zum Schluſſe 
ausrief: „Dafür ſollen wir noch Entſchädigung geben? Ich ſage: 
Nein! Die Peitſchen und Knuten, welche auf unſere Köpfe gefallen 
ſind und um unſere ermüdeten Körper ſich gewickelt haben, damit 
ſollen die Herren ſich begnügen, das ſoll ihre Entſchädigung ſein!“ 
Ein deutſchöſtreicher Bauer, Brandl, ſagte ſchlecht und recht: „Es iſt 
klar, der geſunde Menſchenverſtand jagt es: wir zahlen feine Ent- 
ſchädigung“. 

Sie zahlten ſie aber doch. Man muß ja nicht an den geſunden 
Menſchenverſtand appelliren, wenn man etwas durchſetzen will; denn 
das iſt eine Inſtanz, deren Verdikte nicht vollſtreckt werden. Es 
zeigte ſich bald, daß die Mehrheit der Verſammlung für die Leiſtung 
einer Entſchädigung war, deren Unumgänglichkeit am einſchneidendſten 
durch einen Herrn Helfert, auch einem Ueberläufer aus dem liberalen 
Lager ins konſervative, dargelegt und vertheidigt wurde. Erſt in der 
14. dieſer Verhandlung gewidmeten Sitzung ſprach ſich die Regierung 
ihrerſeits aus. Der Miniſter Bach erklärte im Namen derſelben, 
daß fie „für unentgeldliche Aufhebung des perſönlichen Unter— 
thanenverbandes jet, dagegen eine Entſchädigung für die dingliche 


350 Die Arwidelung, II. 


Entlaftung des Bodens als durch das Recht und die politiiche Klug— 
heit geboten anjehe. Das Miniftertum werde mit der Entſchädigung 
jtehen oder fallen“. Das zog. Man war kaum aus einer Mintfter- 
frife heraus, ſollte man ſchon wieder in eine hinein? Für Gewährung 
einer Entihädigung bildete fi eine kompakte Majorität. Kudlich 
und jeine Genofjen nahmen nun in ihren Antrag die Beftimmung 
auf, daß die den Grundherren zu bietende Entſchädigung der Staat 
zu leisten habe, und bei der artikelweiſen Abjtimmung gewann diefer 
Paragraph eine Majorität von 48 Stimmen. Allein der kudlich'ſche 
° Antrag als ganzes wurde mit einer Majorität von 4 Stimmen ver- 
worfen, gegenüber einem durch Laſſer formulirten, in welchem die 
Leiftung einer „billigen Entſchädigung“ am den geweſenen „Guts-, 
Zehnt- und Vogtherrn“ dem neuen Gutsbeſitzer zugewiejen war. 
Dies Endergebniß rührte mit davon her, daß die armen ſlaviſchen 
Bauern, von welchen nur wenige den deutichgeführten Verhandlungen 
zu folgen vermodyt hatten und bei den Abjtimmungen nicht allein im 
figtirlichen, fondern auch im natürlichen Sinne zwifchen ven Parteien 
hin- und hergezerrt wurden, zulett ganz verdonnert und verdattert 
geworden waren und nicht mehr recht wuſſten, wofür fie ftimmten. 
Am 7. September fand die ganze Sache mit und durch Zuftimmung 
der Negierung ihre volle Erledigung und diefe „Errungenſchaft“ der 
öſtreichiſchen „Revolution ”, die Bauernemancipation, die Entjohung 
der Bauerihaft vom Mittelalter, war, wie die größte, jo aud) eine 
bleibende. Selbft im Hochſtadium ihres Triumphdeliriums wagte 
nachmals die Gegenrevolution diefe unberehenbar wichtige Neuerung 
nicht anzutaften, indem fie fid) noch immer mit Grauen der Blide und 
Worte eines Kapufzezaf und anderer Bauern erinnerte und es Flüglid) 
unterließ, den auf feiner Errungenſchaft eingedämmerten Rieſen-Tol— 
patich wieder zu meden. 

In der That, er dämmerte, dufelte und jchlief ein auf feiner 
Errungenſchaft. Bevor er das that, wollte er aber doch zeigen, daß 
auch er Lebensart hätte: — am Abend des 24. Septembers 
brachten 10,000 Bauern, aus allen Gegenden Deftreihs gekommen, 


— 


Eljen und Zivio. 351 


dem Hanns Kudlid einen Dankfadelzug dar. Damit aber hatten 


der Kudlich und die Revolution ihren Lohn dahin. Der öftreichtiche 
Bauer machte es gerade jo, wie der bairiſche, ſchwäbiſche, hefftiche u. |. w. 
Er war fortan für Ruhe und Ordnung. Er hatte ja jein „Sächle“, 
fnöpfte feine Tafche zu und that nicht mehr mit. Danf vom Men— 
ſchen zu erwarten, ift Umverihämtheit; Dank vom Bolfe zu hoffen, 
it Narrheit. 


Derweil im wiener Neihstage der nationale Gegenjfag von 
deutſch und ſlaviſch jeine drohende Schroffheit vorderhand noch zu der 
politiichen Barteiformel liberal und konſervativ herabzumildern ver— 
iuchte, häfelten höfiſche Hände ven nationalen Gegenſatz zwiſchen 
magyariſch und ſlaviſch in der „Oſthälfte“ des Reiches glücklich in 
einen Knoten zuſammen, welcher gewaltſam zerhauen werden muſſte. 
Die, wie wir wiſſen, ſchon früher zu Faden geſchlagene Allianz des 
Hofes mit den Slaven wurde jetzt feſtgenäht, wobei aber anzumerken, 
daß der Hof zuvörderſt nur mit den Südſlaven paktirte, die Polen 
dagegen, weil „unverbeſſerlich rebellionluſtig“, gar nicht und die 
Czechen, weil „zur Stunde noch liberal“, nur von fernher in Be— 
tracht zog. Bloß die Südſlaven, Kroaten, Serben-Raitzen und Wa— 
lachen ſchienen primitiv und naiv genug zu ſein, um in ihrer Unſchuld 
Flügelkleide als Kanonenfutter im Intereſſe des wiederherzuſtellenden 
Abſolutismus verwendet zu werden. Und doch wäre ſogar die Naivi— 
tät dieſer „Naturſöhne“ nicht naiv genug geweſen, ſich zu dem an— 
gegebenen Zwecke verwenden zu laſſen, ſo die magyariſche Eitelkeit, 
Ueberhebung und Eigenſucht die von Innsbruck und Schönbrunn aus— 
gehenden höfiſchen Ränke und Schwänke nicht mächtig gefördert hätten. 
In Wahrheit, der Magyarismus ſelber half emſig das Südſlaven— 
thum zu dem Arme geſtalten, welcher dem wiener Hofe die Kaſtanien 
der Rückwärtſerei aus dem magyariſchen Feuer langte. 

Niemals hätte Jellacic, welcher zwar die Gabe beſaß, feine 


352 Die Abwidelung, I. 


kroatiſchen Landsleute auf gut kroatiſch zu behandeln, ſowie die weitere, 
die angeborene Schlauhett des Halbbarbaren mit dem Firniß einer 
mittelmäßigen Gymnaſialbildung — er brachte es darin bis zur 
Verſeſtoppelung — zu überjtreichen, im übrigen aber ein unbedeuten— 
der Menſch und ein ordinärer Borzimmergeneral war, — ja, niemals 
hätte Dellacie unternehmen fünnen, was er ımternahm, falls ihm 
nicht Kofjuth, als Haupttypus der magyariſchen Ausſchließlichkeit ge- 
nommen, die Wege gebahnt hätte. Man muß nicht im Namen der 
Freiheit und Selbſtbeſtimmung pombafte Reden halten und dann dieſe 
Freiheit und Selbitbeftimmung für die 5 Millionen Magyaren allein 
in Anſpruch nehmen, während von 11/, Millionen Deutfchen ganz 
abgeiehen — 6,155,603 Slaven im Sande leben. Die Slaven, 
alfo die Mehrzahl der Bevölkerung des „Landes der Magyaren“, 
jollten allerdings bei — der Märzerrungenſchaften nicht ganz 
leer ausgehen, ja wohl! Die Herren Magyaren waren ſo großmüthig, 
für ſich ſelber nur den a in Anſpruch zu nehmen, ven 
Heloten Slaven aber die Knochen zu überlaffen. Mit dem ganzen 
Uebermuth eines glüdlihen Komödianten — e8 ftedte ihm überhaupt 
ein gutes Stüd von einem ſolchen im Leibe — hat Kofjuth von vorn— 
herein das Slaventhum herausgefordert, vor den Kopf geitoßen und 
ins Hoflager hinübergetrieben. Dieſer hochbegabte Menſch war ein 
Magyar höchſter Potenz oder jpielte wenigftens den Magyaren im 
Superlativ und nur blödfichtige Thoren fonnten ſich dadurch täuſchen 
laſſen, daß der ungarifche Agttator es mitunter für paffend und zweck— 
dienlich fand, feinen durchaus jelbftfüchtigen Magyarismus mit einem 
koſmopolitiſchen Phrajenschleier zu drapiren. Diejer Phraſenſchleier 
ſchien auch wohl mitunter ins Schwarzrotbgolone zu jhillern. Wenn 
dann die gemüthlichen Deutſchen fi) durch dieſen Schein täuſchen 
liegen, um jo jchlimmer für fie. Die ungemüthlichen Slaven jahen 
ſchärfer, fie erfannten durch alle Nedensartendraperien hindurd) den 
eifernzegoiftiichen Magyarismus. Dieſe Erfenntniß war auch nicht 
eben eine große Kunſt: — in dem am 14. April von 1848 ins 
Amt getretenen verantwortlihen Miniftertum der Krone Ungarn be— 


Eljen und Zivio, 355 


fand fich fein einziger Slave. Das hieß für die Slaven doch etwas 
zu frühe und zu ungenirt den Dedel von magyariſchen Topfe thun. 

Der Märzſturm war feineswegs wirfungslos über die ſüd— 
ſlaviſchen Völkerſteämme hingegangen. Auch jte waren aufgeſtürmt 
worden, auch ſie fühlten Bedürfniß und Willen, mitzuhandeln in dem 
ſtürmiſchen Drama der Zeit. Von der Oſtſpitze des Banats bis 
zur Weſtſpitze Kroatiens zuckte der Gedanke: Die Selbſtſtändigkeit 
der Krone Ungarn iſt uns ſchon recht, aber unter der Bedingung und 
Vorausſetzung völliger Gleichberechtigung der Slaven mit den Ma— 
gyaren im ganzen Umfange des Gebietes dieſer Krone; wo nicht, 
wollen wir immer noch lieber den Kaiſer in Wien als das Miniſterium 
in Peſth zum Herrn haben. Die Südſlaven ſagten das auch nicht 
etwa nur leiſe, ſondern laut. Sie beſprachen und formulirten ihre 
Wünſche, ordneten ſie in 17 Paragraphen und entſandten damit 
eine Abordnung an das neue ungarische Miniſterium. Im Namen 
deſſelben gab Koſſuth ver Deputation den hochmüthigen Beſcheid, die 
auf Anerkennung der Sleihberechtigung ihrer Sprade und Na— 
tionalttät abzielenden Winfche der Südſlaven jeten unſtatthaft; es 
erijtire tm ganzen Umfange der ungarischen Monarchie offiziell nur 
eine Nationalität, die magyarijche, und Die Regierung würde eines 
jeden anderen Völkerſtammes etwaiges Unterfangen, nationale Rechte 
ſich anmaßen zu wollen, mit Gewalt niederzuhalten wiſſen. 

Das hieß der anhebenden oder angehobenen ungariichen Revo— 
lution die Diagnoſe ftellen: Du wirft zu Grunde gehen! Sie ging 
zu Grunde an ihrer Ungerechtigkeit gegen die Slaven. So lange 
die Menjchen und die Völfer nicht verftehen, gerecht zu fein, verdienen 
fie nicht, fret zu fein. Das tft ein Gememplaß, freilich; aber es iſt 
ein Gemeinplaß, welcher nie gemein werden kann, weil ihn Die Ge— 
meinheit nie begreifen und beherzigen wird. Der gemeldete Ausgang 
der Abordnung nad Peſth war der Anfang der jünflaviihen Er— 
hebung gegen das Magyarenthum, einer Erhebung, in deren Verlauf 
namenloje Gräuel verübt'wurden, Gräuel, welche an die Mongolen- 
züge und an die Zeit Jwans des Schredlichen erinnerten. Aber fie 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 23 


354 Die Abwidelung, II. 


dürfen feineswegs nur den Slaven auf Rechnung geſetzt werben ; 
auch die Magyaren haben dabei dem „reinen Aſiatenthum“, deſſen 
fie fi) riihmen, gelegentlich vollauf Ehre gemacht. Wer Luft hat, 
im einzelnen zu erfahren, was ein Naflenfampf zwiichen noch ſo recht 
„raſſenhaften“ Völkern zu bedeuten hat, der mag fich dieſes Scheu- 
ſälige genauer anjehen. 


2: 


Noch war das braufende Eljen! womit der Amtsantritt des 
neuen ungariichen Miniſteriums in Budapeſth begrüßt wurde, nicht 
verhallt, als ihen vom Süden her zur Antwort bedentungsvoll das 
ſlaviſche Zivio! erichell. 

Mit dem Zuſammenprall dieſer zwei nationalen Jauchzlaute 
und Vivatſchreie prallten zwei Nationalitäten, zweierlei Raſſen 
wüthend auf einander. 

Man muß es den Slaven zu ihrer Ehre nachſagen: fie handel- 
ten anfangs aus fi) heraus, keineswegs nur von außen her geftoßen, 
feineswegs vom Hofe gegängelt. Die Kroaten ftemmten und fteiften 
ſich darauf, daß ihr Yand feit Jahrhunderten ein Königreich gewejen, 
durchaus nicht dem Königreiche Ungarn einverleibt, jondern nur mit 
demielben verbunden. Jetzt, erklärten fie, wollten fie diefen Verband 
(öfen, ja fie betrachteten denſelben bereits als gelöſ't und Kroatien als 
unmittelbar unter die Staaten der öftreichifchen Kaiſerkrone eingereiht. 
Sofort vorgenommene friegerifche Nüftungen gaben dieſer Erklärung 
einen für die Magyaren jehr unliebfamen Nachdruck, jo daß man ſich 
in Budapefth veranlafit ſah, verfühnliche Schritte zu thun. Aber man 
that fie zu ipät. Man hatte gewähnt, die Slawen würden ſich ge- 
wohnter Weife vor dem Hochmuth des alleinfeligmachenden Magyaris- 
mus beugen, und hatte gar nicht daran gedacht, daß der Sturm, 
welcher die Magyaren aufrüttelte, auch andere Yente nicht würde 


Eljen und Zivie. 355 


weiterſchlafen laſſen. Wie in Kroatien, jo rührte es ſich den ganzen 
Banat entlang. Auch hier brad das Slaventhum gegen den herr- 
ihenden Magyarismus in offene Erhebung aus. Karlowitz und 
Neuſatz waren die Sammel- und Brennpunkte derjelben. In der 
erfteren Stadt tagte am 1. Mat die große jerbiihe „Nationalver- 
fammlung“ (Skupschtina), zu welcher die ſerbiſchen Klans in Kroa— 
tien, Slavonien und Syrmien, in der Bacſka und im Banat Bevoll- 
mächtigte entjendet hatten und welcher der Erzbiſchof-Metropolit 
Joſip Rajacic vorſaß. Die Skupſchtina erließ eine förmliche Selbit- 
ſtändigkeitserklärung der ſerbiſchen Nation, indem ſie, im Namen 
dieſer auf die alten Verträge mit dem Hauſe Oeſtreich ſich berufend, 
ihre Geneigtheit zur Erneuerung derſelben ausſprach, aber nur unter 
der Vorausſetzung, daß Oeſtreichiſch-Serbien mit den andern unter 
Haus Oeſtreich ſtehenden Kronländern gleichberechtigt ſei. Dann 
ſtellte die Verſammlung die altnationalen höchſten Aemter wieder her, 
ein kirchliches und ein politiſches, und wählte zum Patriarchen den 
Erzbiſchof Rajacic und zum Wojwoden den Gränzeroberſt Sſuplikac. 
Endlich beſtellte die Skupſchtina einen Nationalausſchuß („Glavni 
odbor“), welcher die Beſchlüſſe der Verſammlung zur Ausführung 
bringen und überhaupt alles zur Wiedererlangung und Wahrung der 
Rechte jerbiiher Nation nöthige und zwedvienliche vorfehren und 
thun ſollte. In diefem ausführenden Komité gab bald das jüngite 
Mitglied, Georg Stratimirovic, gewejener Hufarenlentnant, den Ton 
an. Er batte in feinem Weſen viel gemeinjanes mit dem Kroaten 
Jellacic, unter anderem die Sucht, deutſche Verfe zu machen. Cr 
ihwärmte für Uhland. Daneben aber waren wildrevolutionäre In— 
ftinfte in ihm lebendig und er hauptſächlich trieb jeine Yandsleute 
zur Waffenerhebung gegen die Magyaren. Eine der erjten Vor— 
fehrungen des Odbor war die Sendung einer Deputation an den 
Kaiſerhof, um diefem die Wünſche und Forderungen der Serben vor— 
zutragen. Zur gleichen Zeit aljo, wo die Kroaten durch Bermittelung 
ihres neuen Banus Jellacte mit dem Hof in enge Beziehungen traten, 
zur gleichen Zeit, wo die Häuptlinge der Czechen ſolche Beziehungen 


23* 


3) 


356 Die Abwicelung, I. 


einfädelten, um das Deutſchthum zu paralyfiven, juchten auch die 
Serben am Hof eine Stüte gegen das Magyarenthum zu gewinnen. 
Sp wırden in Prag, in Agram und Narlowis die Majchen des 
Netzes gefnüpft, weldyes man dem Deutjhthum und dem Magyaris- 
mus zugleich über die Köpfe werfen zu fünnen hoffte, um die aljo 
veritricten und gebändigteh dem fünftig in Oeſtreich herrſchenden 
Slaventhum unterthänig zu machen... Der Hof ließ die Slaven mit 
diefem ftolzen Traumbilde jpielen, während er ihre jehr realen Dienite 
annahm und zu jeinen Zweden ausnütte. 

Bolitifche Kinder haben von wegen der „Unfittlichfett“ dieſer 
Politik des Hofes die Hände über den Fallhüthen zufammengejchlagen 
und ein groß Gejchrei verführt. Als ob es jemals eine „jittliche“ 
Politik in der Welt gegeben hätte! Als ob es jemals eine joldye hätte 
geben fünnen! „Idealnarren“ allerdings haben mitunter Verſuche 
mit einer „fittlichen“ Politik gemacht, find aber damit befanntlic 
ichlecht gefahren, ſehr ſchlecht. Man muß den Menſchen nicht mehr 
zumuthen, als fie vertragen können. ‚Sie vertragen nur ihnen gleid)- 
artiges. Das edle und erhabene ift für die Dichtung gut, nicht für 
die Wirklichkeit. Im übrigen ift ja ftreitig, was ſittlich und was 
unfittlih. Die Gelehrten find noch nicht dariiber einig. Der Bauer, 
welcher jeine Milch verfälicht; ver Chemiker, welder aus Pferde— 
und Hundefett Alpenbutter macht oder auf dem Dachboden jeines 
Hauſes alle möglichen Weinforten wachſen läſſt; die Fromme ältliche 
Dame, welde das gelegentlich von einem Bruder im Herrn empfangene 
Kind befeitigt, damit denen, „jo da drinnen“, Fein Aergerniß, und 
denen, „jo da draußen“, fein Vergnügen bereitet werde; der hoch— 
wirdige Pater mit dem Schaufelhut, welchem ein fetter Erbſchaft— 
ſchlich gelingt, indem er ven rechtmäßigen Erben ad majoram dei 
gloriam verſchwinden läſſt; der Großſchwindler, welcher zu Gunſten 
eines „höchſt zeitgemäßen“ Aktienunternehmens alle Trommeln ver 
Preſſe riihren und alle Trompeten des Zauberers Kredit blajen läſſt, 
um nach glücklich geſchorenem Schafe Publikum die künſtlich auf— 
getriebene Schwindelblaſe platzen zu laſſen; der Gelehrte, welcher 


Eljen und Zivio. 391 


wider jein beſſeres Wiffen einen Mitgelehrten, weil derſelbe entweder 
jein Kathederkonkurrent ift oder nicht in das Bodshorn derſelben 
Partei bläſ't, herunterhudelt: — fie alle treiben in ihrer Art Po— 
litik und feinem wird es auch nur entfernt einfallen, daß ihre Politik 
eine unfittliche. Im Gegentheil, fie alle halten ſich fir „veipeftabel“, 
für höchſt rejpeftabel und werden aud) von den Leuten dafiir gehalten. 
Natürlic nur jo lange, als ihre Bolitif Erfolg hat, als es ihnen 
damit gelingt, ihre „Fortune zu pouffiren“. Unfittlich iſt nur das 
Mifjlingen, in der fogenannten „hohen“, wie in der allerntedrigften 
Politik. Ueber die Grundbegriffe der politifchen, ver „realpolitiichen“ 
Ethik jollte man fich doch endlich verftändigt haben. An Zeit Dazu 
hat es wahrlich nicht gefehlt. Aber man hat fi ja darüber ver- 
jtändigt, o, man hat! Wer heutzutage noch jo „parador“ jein wollte, 
den Arifteides zu fpielen, oder gar fo paradogeft, ein Arifteides zu 
jein, müſſte jofort in eine mit Kork gepolfterte Zwangszelle geiperrt 
werden und zwar von rechts- und gejellihaftsficherheitwegen. Andere 
Zeiten, andere Sitten; andere Vögel, andere Pieder. Hört man 
jedod) genau hin, jo iſt es immer daſſelbe Lied, die alte Feier. Die 
Athener haben befanntlic den Arifteides aud aus Athen hinaus- 
geſchmiſſen. Warum mar er jo unverihämt, beifer zu fein als 
lie? — — — 


Rn 


Die öftreichiiche Gegenrevolution beſaß alfo in Folge der Ein- 
fädelungen zwifchen dem Hof und dem Jellacic eine Armee, vie 
Kroaten, die Südſlaven überhaupt. Die Magyaren ihrerjeits unter— 
ſchätzten anfangs die Bedeutung diefer aus dem Widerſtand gegen 
ihre Magyarifirungswuth entiprungene Streitmacht. Sie wähnten 
ſodann, da die im Süden aufgeftiegene Wettermolfe mehr und mehr 
als blitze und donnerträchtig fich erwies, durch drohend ſporenklirren— 


358 Die Abwidelung, I. 


des auftreten in den Hofburgen zu Wien und Innsbrud das heran- 
drohende Gewitter beſchwören zu fünnen. Daber überjahen fie völlig, 
daß Haus Lothringen-Habsburg ſich als mit ihnen im Kriegszuſtande 
befindlich betrachtete und, die Berhältnifie lothringiſch-habsburgiſch 
angejehen, betrachten muſſte. Denn auf Grund ihrer März- und 
Aprilerrungenſchaften wollten ja die Ungarn, daß ihr Land, d. h. das 
ganze Ländergebiet, welches ſie als das der „heiligen Stephanskrone“ 
anſprachen, von dem übrigen Oeſtreich abgetrennt ſein und mit dem— 
ſelben nur noch das ſchwache, bei guter Gelegenheit wohl auch ent— 
zweizuſchneidende Band der dynaſtiſchen Perſonalunion gemein haben 
ſollte. Sie wollten von einem Kaiſer Ferdinand von Oeſtreich 
gar nichts mehr wiſſen, ſondern nur von einem König Ferdinand von 
Ungarn. Verfaſſungsmäßig waren ſie hierzu allerdings berechtigt. 
Aber wie es der ungariſche König Ferdinand anſtellen ſollte, zu ver— 
geſſen, daß er auch öſtreichiſcher Kaiſer war, das wuſſten die Herren 
Magyaren ſicherlich nicht anzugeben. Der gute Ferdinand hätte ja 
fortwährend mit dem Doktor Kauft jammern müſſen: 


„Zwei Seelen wohnen, ad), in meiner Bruft; 
Die eine will fi von der andern trennen —“ 


vorausgeſetzt nämlich), daß er jemals vom Göthe und vom Fauſt 
läuten gehört. Dieſe ganze ungariſche Königsfiftion war eben nichts 
als eine jener läppiſchen Schmurrpfeifereien, welche die Dogmen des 
Köhlerglaubens der Monarchie bilden. 

Gewiß hatten die Magyaren auf ausjchlieglic - magyariichen 
Standpunkte ganz recht, wenn fie fih als völlig ſelbſtſtändig und 
unabhängig gebärveten. Und jo thaten fie. Sie ſchickten den treff- 
lichen Szalay als ungarifchen Gefandten nad Frankfurt, um mit 
der deutſchen Centralgewalt — (wer war denn diefe? Ein öſtreichi— 
ſcher Erzherzog) — als Macht mit Macht zu verhandeln. Sie 
ſympathiſirten nicht nur laut mit den gegen Deftreich aufgejtandenen 
Italienern, fondern vwerweigerten anfangs ihrem Könige die Mittel 
zur Fortführung des Krieges mit Karl Albert, da ja ihr König in 


Eljen und Zivie. 859 


Italien nichts zu ſuchen hätte, was an und für fid) ganz richtig war. 
Sie riefen die unter der ſchwarzgelben Fahne ftehenden ungariſchen 
Kegimenter heim und fie verwarfen die Mittragung der öftreichtichen 
Staatsihulvenlaft. Alles ganz forreft magyariſch, wohl und gut. 
Aber wenn nım der Kaiſer von Oeſtreich, welcher zufällig uch den 
König von Ungarn im Leibe hatte, die ganze Angelegenheit von 
jeinem Standpunkt aus anſah, was dann? Damm mufjte der 
Kaifer Ferdinand nothwendig mit dem König Ferdinand in Krieg 
gerathen. Und jo geihah es. Wenn nun aber jhon im Frieden 
alle Mittel erlaubt find, welche Erfolg verſprechen oder gar haben, 
wie vollends erit im Kriege! Das hätten die Magyaren bedenken 
müſſen. Der Hof, jchrieen je, übt gegen uns unerhörte Falſchheit, 
Tücke und Verrätherei! Bewahre, entgegnete ver Hof, nur Kriegs— 
liſten, eitel Kriegsliſten, nichts als Kriegsliften! Natürlich befam 
von den beiden jtreitenden Parteien ſchließlich Die Recht, melde am 
meiſten einzuſetzen hatte. 

Im Juni von 1848 war aber der Hof noch lange nicht ſo weit. 
Er ſah ſich dermalen noch genöthigt, ſehr kriegsliſtig zu ſein. Die 
in naturwüchſig-barbariſchem Stile begonnene und fortgeſetzte Schild— 
erhebung der Serben und Kompagnie gegen den Magyarismus 
brachten das Miniſterium in Peſth ſoweit, daß es das Vaterland in 
Gefahr erklärte und den am innsbrucker Hoflager als Aufpaſſer wei— 
lenden Fürſten Paul Eſterhazy, Miniſter des Auswärtigen, drängte, 
den „König“ Ferdinand zu drängen, d. h. demſelben eine entſchieden 
widerſlaviſche und antijellacic'ſche Kundgebung abzudrängen. Der 
gute Ferdinand unterſchrieb demzufolge jenes berühmte und berüchtigte 
Manifeſt vom 10. Juni, welches, ganz im magyariſchen Sinne ver— 
faſſt, den Kroaten und ſonſtigen Südſlaven die feierliche Verſicherung 
gab, es ſei keine Rede davon, daß man ſie magyariſiren wollte. Sie 
ſollten ſich alſo den Geſetzen und Einrichtungen der unter der heiligen 
Stephanskrone vereinigten Länder fügen. Dann kam ein heftiger 
Zornerguß gegen den „ungehorſamen“ Banus Jellacie, welcher einen 
Rechtfertigungsproceß zu beſtehen haben würde und, bis er ſich ge— 


360 Die Abwidelung, UI. 


rechtfertigt hätte, feiner Banuswürde und übrigen Aemter enthoben 
wäre. Schon vorher war Jellacic auf die drohende Sprache hin, 
welche Ejterhazy im Auftrage des ungariſchen Miniftertums führte, 
zur Verantwortung nad Innsbruck berufen worden und dorthin 
machte er fi), ohne won jeiner Abjesung zu wiſſen, an der Spite 
einer kroatiſch-ſerbiſchen Abordnung auf, welche dem Kaiſer die Ver— 
ficherung bringen follte, daß Haus Dejtreic auf die Treue der Süd— 
ilaven bauen fünnte. 

Der Ban over eigentlich Nichtmehr-Ban oder nod) eigentlicher 
Dennoch-Ban kam nicht wie ein Angeflagter, jondern wie ein Helfer 
und Heiland. Seine Neife war, namentlich im glaubenseinigen 
Tirol, ein Triumphzug. Als er in Innsbruck angelangt, jette ſich 
der Fürjt Ejterhazy, wie ihm jeine Negterung vorgejchrieben hatte, 
auf das höchſte Roß des Magyarenthums und verlangte, daß Dellacie 
weder vom Kaiſer nod von einen Mitglieve der kaiſerlichen Familie 
empfangen witrde, ohne daß er, Eſterhazy, mitdaber wäre. Allen 
man ließ ven magyariichen Magnaten und Minifter auf jeinem hohen 
Hoffe fiten oder vielmehr man wuſſte ihm ein dynaſtiſches X für ein 
ungariſches U zu machen, indem man in die allgemeine Begeiiterung 
und Nührung, welche der Banus-Poet zu weden wuſſte, auch ihn ſehr 
geſchickt hineinzog. Auf der Hof- und Staatsbühne, welche zeitweilig 
in der umsbruder Burg aufgefchlagen war, ging eine feierliche 
Andienz-Aftion in Scene, bei welcher die „ganze kaiſerliche Familie 
in Thränen zerfloß“ oder dod nahezu ſchwamm und deren offizielles 
Reſultat war, daß dem vielgefchäftigen Müſſiggänger, dem Erzherzoge 
Johann, auch noch die Kleinigkeit zugeſchanzt wurde, „die inneren 
Zerwürfniſſe in dem Geſammtreich Ungarn gütlich beizulegen“. Der 
Erzherzog wuſſte, wie das gemeint war. Von einer Entſetzung des 
Banus war keine Rede mehr, von dem ganzen Manifeſt vom 10. Juni 
auch nicht mit einem Worte, jo daß Jellacic, jagt man, erſt auf 
jener Rückreiſe durch ein zufällig ihm zu Handen kommendes Zeitungs- 
blatt davon Kunde erhielt. Hinter den Kuliſſen bejagter Hof- und 
Staatsbühne war jelbtverftändlid) ganz anderes gewijpert und ge- 


Eljen und Zivio. 361 


liſpelt worden als das auf der Bühne dem erzherzoglichen Stellver— 
treter des Kaiſers zugemuthete. 

Der Banus trug von Innsbruck die Gewißheit mit fort, daß 
der Hof unter allen Umſtänden ſein Verbündeter. Er gebärdete ſich 
von da ab als Retter der Dynaſtie und des Kaiſerreichs und ſpielte 
ſeine Heldenrolle mit leidlichem Anſtand. Er war in ſeinen guten 
Momenten ein Schauſpieler von Nummer 2; aber man muß ihm 
die Gerechtigkeit anthun, zu ſagen, daß er, wenigſtens zeitweilig, nur 
ſeine Ueberzeugung ſpielte. Es iſt glaublich, daß der Mann, wie er 
den Wienern vorrednerte, in Momenten poetaſterlicher Schwarbelei 
an ein „großes, kräftiges, freies Oeſtreich“ glaubte und ebenſo an 
die Dynaſtie Lothringen-Habsburg. Jedenfalls jubelten ihm die 
Wiener zu, als er, kaum von JInnsbruck nad Agram zurückgekehrt, 
nach Wien eilte, um mit dem daſelbſt anweſenden ungariſchen 
Miniſterpräſidenten Batthyanyi über „pie gütliche Beilegung der 
inneren Zerwürfniſſe“ zu verhandeln, d. h. Spiegelfechterei zu treiben. 
Jellacic forderte unbedingt Die Vereinigung des ungariſchen Kriegs— 
und Finanzminiſteriums mit dem öſtreichiſchen, was, falls es ſtatt— 
fand, die „Selbſtſtändigkeit“ Ungarns zu Mondſchein auf der Donau 
gemacht hätte. Natürlich verlief die Konferenz ganz veiultatlos und, 
wieder in Agram, betrieb jet der Ban emfig die Friegeriichen 
Rüſtungen, welche ihn befähigen jollten, der ungariſchen Selbſtſtändig— 
feit gewaltjam ein Ende zu machen. 


3: 


Es bedurfte auf fetten der Ungarn nicht eben eines feinen Mer— 
fers, um die Anficht zu gewinnen, daß Hof und Slaverei einander 
gefunden und fich verftändigt hätten. Dieſe Anficht muffte die 
Magyaren aneifern, ihrerjeits ebenfalls ein verläſſliches Bündniß zu 
juchen, und dieſes fonnte nur in Deutich - Deftreich zu finden fein. 


362 Die Abwidelung, I. 


Da wäre mm freilich wieder einmal die „ehrlichſte“ Bolitif die „beite” 
gewejen. Deutichthum und Magyarismus, ehrlich zu Schub und 
Trutz verbinden, hätten ohne Zweifel der zu Junsbruck eingejegneten 
Ehe des Kroatismus mit der Hoffabale Troß zu bieten vermodt. 
Man verihloß fih in Budapeſth dieſer Einficht feineswegs, allein 
die magyariſche Selbitgefülligfeit ging jo ins märchenhafte, daß fie - 
das Deutſchthum, d. b. Die wiener Bewegungspartei, wohl als Werf- 
zeug gebrauchen wollte, nicht aber als gleichberechtigten Bundes— 
genofjen anerkennen zu müfjen glaubte. 

Diefe Dummheit hat nahmals im Dftober die wiener Demofratie 
an's Meſſer geliefert und Ungarn bundesgenofjenlos in einen Ver— 
zweiflungsfampf geftürzt. Die Galgen von Arad muſſten dann die 
Standrehtsmordihülie der Brigittenau ſühnen. Dieſe Schüſſe 
wären nicht gefallen, jene Galgen nicht errichtet worden, wenn Koffuth 
und die Magyaren die Allianz mit den Wienern nicht als eine Ge- 
legenbeitsintrife, ſondern als eine principielle und thatjächliche Noth- 
wendigfeit aufgefafit und behandelt hätten. Aber das vernünftige, 
ehrliche und rechte durfte und konnte ja auch bier nicht gejchehen: 
es wäre dem Weltlauf zu jehr gegen den Strid gegangen... . . 

Am 5. Juli wide zu Peſth der auf Grund der Verfafjungs- 
reform neugewählte ungariſche Neichstag feierlich eröffnet. Die 
mittelalterlich ſtändiſche Gliederung diefer Nationalverfammlung 
(„Nemzetgyüles*) in ein Oberhaus („Felsö-haz*) und in ein 
Unterhaus („Alsö-häaz*) war beibehalten worden. Doch hatte Das 
eritere, die frühere Magnatentafel („Magnäsok’ täbläaja*), jet nur 
noch die Bedeutung eines Geſpenſtes, das man unbeachtet herum— 
wanken läſſt. Im Verlaufe der Ereigniſſe verdunſtete Dann Das 
Geſpenſt, aber mit demſelben keineswegs zugleich das magyariſche 
Junkerthum. Ueberhaupt gehört viel Einfalt und Unwiſſenheit dazu, 
ſich einreden zu laſſen, der Magyarismus habe i. J. 1848 oder ſpäter 
aufgehört, weſentlich junkerlich zu ſein. Allerdings putzte er ſeinen 
„Attila“ bei Gelegenheit, wenn es ihm gerade paſſte, auch mit welt— 
bürgerlichen Ideenborten und Humanitätsphraſenquaſten heraus und 


Eljen und Zivio. _ 363 


jtedte Sreihetts- und Gleihheitsfedern auf den Hut; allein ſobald 
und jolange er ſich Herr wuſſte, ließ er den mittelalterfrohen und 
nationalbornirten Junker im Vollglanze jehen, Stodprügel auf- 
mejjend, Juden hetzend, im Hochgefühle vafjenhafter Aſiatigkeit ſich 
blähend. 

König Ferdinand war durch „ſchwere Krankheit“ verhindert, 
ſeinem Verſprechen gemäß den Reichstag in Perſon zu eröffnen. 
Statt ſeiner that es der Palatin, Erzherzog Stephan, welcher auch 
bald auspalatinirt haben wird. Die Stimmung der großen Mehr— 
heit der Verſammlung entſprach den Anſchauungen, von welchen die 
Mehrzahl der Mitglieder des Miniſteriums ausging, d. h. den vul— 
gärliberalen. Ein Häuflein von etwa 35 Deputirten, unter denen 
die Madaraß, Palsczy, Teleky, Bergzel, Nyary, Irinyi vorragten, 
bekannte ſich zu radikaleren Anſichten und bildete den Stamm der 
Partei, welche ſpäter die Losreißung Ungarns vom Haufe Lothringen— 
Habsburg durchzuſetzen unternahm. Vorderhand war diejes Häuf- 
ein nody ohne Berentung und Einfluß. Koſſuth machte ſich jo wenig 
aus diefen Radikalen, daß er fie gelegentlich verhöhnte oder be- 
ſchimpfte, jie „Wühler“ und „Rebellen“ jhalt, ganz im März- 
miniſterſtil, — ein Beweis, daß der ungariſche Agitator im Juli 
noch gar nicht wuſſte, wohinaus er wollte. Die Hoffabale jorgte 
jedoch fir einen Wegwetjer. 

Daß übrigens Koſſuth der leitende Mann und Minifter war, 
wurde jofort klar, als ver Reichstag jeine Verhandlungen begonnen 
hatte. Am 11. Juli zeichnete er in einer feiner großen Reden die 
Situation und Diefe Sitwationszeihnung war, genau angejehen, 
ſchon eine Kriegserklärung gegen den wiener Hof, eingemwidelt in den 
Nachweis, day diefer, im Bunde mit dem „Rebellen“ Jellacic, 
Ungarn mit Krieg bedrohte, falls Ungarn auf die von dem genannten 
„Rebellen “ auf der vejultatlos gebliebenen wiener Konferenz geftellten 
Forderungen nicht einginge, d. b.. feine kaum gewonnene Selbititändig- 
feit wieder aufgäbe. Schließlich beantragte der Nedner, die Ver— 
fammlung möge zu dem Zwede, „entweder einen ehrenhaften Frieden 


64 Die Abwidelung, I. 


vermitteln oder aber einen erfolgreihen Kampf führen zu können”, 
dem Miniftertum Vollmacht geben, eine Armee von 200,000 Mann 
aufzujtellen, und zur Ausrüftung und zum Unterhalte verjelben für 
1 Jahr die Summe von 42 Millionen Gulden bewilligen. Ein 
Gegner des Miniftertums, Nyary, war es, welcher zuerſt aufſtand 
und mit emporgehobener Hand ausrief: „Wir geben fie (megadjuk) !" 
Soldaten und Millionen wurden mit begeiſterter Einmüthigkeit be- 
willig. Indeß hoffte die Mehrzahl ver Minifter noch immer, auf 
erträgliche Beringungen hin mit dem Hofe paftiren zu können, und 
brachte daher die Forderung vor das Haus, die Sache Oeſtreichs in 
Italien mit Soldaten und Geld zu unterftügen. Batthyanyi, Deaf, 
Eötvös und Szechenyi wähnten durch eine jolche Dienjtwilligfeit den 
wiener Hof von feinem Bündniffe mit den Slaven abzubringen. Sie 
handelten dabei gewiß in gutem Glauben. Koſſuth dagegen gab ſich 
dazu her, dieſe Forderung mit feinem Talente zu unterjtügen, wäh- 
vend er doc) mit der italiichen Newolution jo jehr ſympathiſirte, daß 
er in der Debatte fagte, er „Freue fic immer von ganzer Seele, wenn 
er von einem Stege der Italiener höre“. Er juchte nun mittels der 
Springftange der Sophifterei über ven klaffenden Spalt diejes Wider- 
iprucches hinwegzukommen, indem er äußerte, „als Minifter müfje ev 
die Empfindungen unterdrüden, welche er als Privatmann habe“. 
Man fieht, der ungarifche Agitator war fein Menſch aus einem 
Metall und Guß, fondern eben auch nur ein Mifchgeichöpf, eine 
Kompilation, wie die moderne Geſellſchaft jolche zuwegeſchuſtert und 
braucht, ein geſchickter Rollenwechfeler, heute in der rothen Bluſe, 
morgen im Diplomatenfrad ipielend. Und doch hinwieder war ein 
zu voller Funke vom echten Gentralfonnenfener in diefes Mannes 
Seele gefallen und doch war Koſſuth hinwieder zu heiß- und hod)- 
herzig, als daß er durch alle Farben und Farbenſchattirungen ſich jo 
forreft hätte hindurchchamäleoniſiren können, wie es ein richtiger 
„Staatsmann“ können muß. Wenn man feine Laufbahn im ganzen 
und großen betrachtet, hat man die Empfindung, als ſähe man einen 
Somnenftral duch eine Pfütse fchleifen. Wer wirken will in dieſer 


Eljen und Zivio. 365 


Welt, darf fih nicht darım kümmern, daß feine Schuhe ſchmutzig 
werden; denn er muß durch allerhand Schlamm und Koth mwaten, 
bis an die Knöchel, bis an die Knie — thut nichts. Wenn ihm der 
Koth nur nicht iiber dem Kopfe zufammenichlägt und — ein Sonnen= 
ftral bleibt, auch in eine Pfütze gefallen, do immer ein Sonnenſtral. 

Die radikale Oppofition zeigte, daß Haus Oeſtreich, wenn in 
Italien Sieger, jeine fiegreichen Waffen ſofort gegen Ungarn wenden 
würde, und daß es demnach wahrhaft fretintih, von ungarticher 
Seite den Hof in ven Stand zu ſetzen, in Italien fiegen zu fünnen. 
Das war jo einleuchtend, daß ein Kind es veritehen und begreifen 
muſſte. Allein ver Yiberalismus von 1848 bat befanntlic, ſeine 
„ſtaatsmänniſche“ Weisheit gerade darein gejett, dem geſunden 
Menſchenverſtand bei jeder Gelegenheit einen Ejel zu bohren. Das 
gejunpmenjchenverjtändige zu thun, war dieſen Herren „Staats— 
männern“ viel zu einfach und naheltegend. Man mufite exit Ber- 
widelungen ſchaffen, muſſte gar weit ausholen, um jeine Staats- 
männtjchfeit recht leuchten Lafjen zur fünnen. So that man auch in 
Budapeſth, wo das Miniſterium fich nicht ſchämte, feine Kurzſichtig— 
feit und Energieloſigkeit mit der elenden Rabuliſterei zu majfiren, 
Ungarn jollte ja jeinen König nicht im Kriege gegen die ttalische 
Nation, jondern nur im Kriege gegen ven ſardiſchen „Uiurpator “ 
Karlo Alberto unterftüsen. Etwas jammerjäligeres hat jelbit ver 
Liberalismus der Frankfurter Baulsfirhe kaum ausgetiftelt. Aber 
mit 236 gegen 33 Stimmen wurde der mintiterielle Blödfinn von der 
Berfammlung gutgeheiken. 

Selbſtverſtändlich verfehlte derſelbe die beabjichtigte Wirkung 
auf den Hof ganz und gar und hatte jich der ungariiche Liberalismus 
rein umfonit blamirt. Die „getreuen“ Serben, die „lieben froati- 
ihen Waffenbrüder” wurden vom Hof mus fortwährend beihmeicelt, 
gehätjchelt und nach Kräften unterſtützt. Trotz der argen Geldklemme, 
worin das wiener Mintitertum ftedte, wuſſte es der Kriegsminiſter 
Latour doch möglich zur machen, dem Banus Jellacie Geld und Rüſt— 
zeug zufommten zu laſſen. Der Ban organifirte demnach ganz offen 


366 Die Abwidelung, I. 


eine kriegeriſche Invaſion, welche dem „magyariihen Sonderweſen“ 
und der „Rebellion Ungarns vernichtend zu Leibe gehen follte. In 
ver Bacſka wüthete ver „wilde Natten-Krieg” immer wüſter. Der 
Patriarch) Rajacic durchzog im Aufzug eines alten ſerbiſchen Heiligen 
und Märtyrers das Yand, predigte Das Kreuz gegen die Magyaren 
und jette ‘Breite auf die Köpfe verjelben. 

Während alſo das ſlaviſche Zivio immer lauter, drohender und 
ſchon als offenkundige Kriegsloſung vom Süden heraufgellte, quälte 
ſich das Eljen, d. h. der magyariſche Konſtitutionalismus, das un— 
gariſche Miniſterium, noch mit den Formen und Formeln der „ver— 
faſſungsmäßigen“ Monarchie herum. Nach der Rückkehr des Hofes 
aus Innsbruck nach Wien war mittels „königlichen“ Erlaſſes dem 
Erzherzog-Palatin ſeine Vollmacht als Alterego des „Königs“ ent— 
zogen worden, weil „Se. Majeſtät die Regierung ſeiner Länder 
wieder ſelbſt übernommen habe“. Der Ton dieſes vom 14. Auguſt 
datirten Erlaſſes, wie anderer Erlaſſe aus derſelben Zeit, beurkundet 
recht deutlich, wie ſehr die radetzkyiſchen Siegesmixturen den armen 
kranken Ferdinand ſchon geſtärkt hatten. Verfaſſungsgemäß muſſte 
daher die Beſtätigung aller Beſchlüſſe der ungariſchen Nationalver— 
ſammlung fürder beim Könige ſelber geholt werden. Nun war es 
aber, um die Serben bändigen und dem erwarteten Einfall der Kroaten 
widerſtehen zu können, für Ungarn eine dringende Nothwendigkeit, 
daß die von der Verſammlung betreffs der Heerbildung und der 
Finanzen gefaſſten Beſchlüſſe ſofort Geſetzeskraft erlangten. Jede 
Minute war koſtbar. Der Premier Batthyanyi und der Juſtiz— 
minifter Deak eilten daher nah Wien, um die föniglihe Sanktion 
diefer Beichlüffe zu erwirken; allein der arme Ferdinand war jeit 
plöglic wieder „jo übelauf“, daß man ihm fein unterjchreiben zu— 
muthen konnte, und die beiden magyariichen Minifter konnten ihre 
Ungeduld und ihren Verdruß länger als eine Woche im kaiſerlichen 
Vorzimmer feilhaben. 


Eljen und Zivio. 


o 
er) 
=] 


10. 


Wenn der „ruhige Bürger” von Wien der Hoffnung ſich hin- 
gegeben hatte, die Rückkehr des Kaifers würde „den Withlern endlich) 
das Handwerk legen“, jo wurde nod im Monat Auguit dieſe Hoff- 
nung zu ſchanden. Die in der Hofburg oder vielmehr im Schlofje 
Schönbrunn refidirende Gegenrevolutton war dermalen noch lange 
nicht ſtark genug, offenes Spiel zu ſpielen und die Verwirklichung 
des franzsmetternichtigen Staatsideals der Kirchhofsruhe ohne Um— 
ftände zurüdzuführen. Muſſte der Hof doch das ſchauderhafte, ja 
geradezu erduntergangmäßige und jüngſtemtaggleiche erleben und ge— 
ſchehen laſſen, daß am Fefttage von Mariä Himmelfahrt ein unge— 
heuer großes Plakat an den Stephansdom angeflebt wurde, worin 
die Yehren des Deutjchfatholtcismus dargelegt und empfohlen waren. 
Für ſolchen Frevel fonnte es wahrlich feine geringere Buße geben ala 
das Ktonfordat won 1855. Der deutichfatholifche Schwindel war 
übrigens zu ohnmächtig, um etwas anderes als ein bißchen Rummel 
und Tummel herbeizuführen. Schon nad) etlichen Tagen platte Das 
Windei, wie denn überhaupt die klägliche Halbheit, weldye den Be— 
wegungen von 1848 durchgängig anhaftete, es am allerwenigiten auf 
religtöfen Gebiet zu einer vechten That bringen fonnte. Dazu ge- 
hört Leidenſchaft, Märtyrergeift, Fanatismus. Die halbe Nevolutton 
von 1848 hatte aber nicht den Kanatismus und die Yeidenjchaft zu 
Eltern, ſondern den Zweifel und die Blafirtheit. Daher die Impo— 
tenz des ſkruphulöſen Balges. 

Vom 20. 618 23. Auguft krawallten in den Vorſtädten von 
Wien die Arbeiter, welchen bei dem Stillftande mancher Handwerke 
und Fabriken die Negierung früher von ftaatswegen Arbeit ange- 
wieſen — jo à la pariſer Nationalwerkjtätten — allerhand nutzloſe 
Erdarbeiten u. |. w., neuerdings aber den Yohn um 5 Kreuzer täglich 
vermindert hatte. Diejer Fünfkreuzerkrawall wurde von der Re— 
gierung mit Hilfe der jehr willigen „Garden“, d. h. der wiener 
Bürgerwehr, leicht unterbrüdt, und da die Aula zum großen Aerger 


368 Die Abwidelung, U. 


des Bürgerthums Miene gemacht hatte, auf die Seite des Prole- 
tariat8 zu treten, jo trat eine Spaltung zwifchen Bürgerwehr und 
Studentenlegion ein, welche das Miniftertum, raſch und entſchieden 
zugreifend, zur Sprengung der letsteren hätte benützen können. Hatte 
fi) Doc die Yegion bei den guten Wienern zur Stunde auch unpo- 
pulär gemacht durch ihr jugendlich-iibermüthtgstaftlofes gebaren am 
19. August, als fie mitfammt der Bürgerwehr vor dem Kaiſer Revue 
paffirte. Statt in das dem Kaiſer, welcher an den hoffabalifchen 
Machenſchaften gewiß jehr unfchuldig war, gebrachte Vivat mitein- 
zuſtimmen, hatte die Mufifbande der Legion das Fuchſenlied: „Was 
fommt Dort von der Höh'?“ intonirt, — ein recht guter jchlechter 
Wis; aber Bummelwite gehören in die Kneipe, nicht in die Politik. 
Nicht nur der „ruhige“, jondern der Bürger überhaupt Jah daher die 
Aula ſcheel an: er witterte dort republifanijche und proletariiche Ten- 
denzen*). Der Negierung war es vorbehalten, dieſen ihr jo gün- 
jtigen Spalt wieder auszufüllen und zwar mittels ihrer Handhabung 
der ungarischen Frage. Dieſe Handhabung näherte die wiener Be— 
völferung und Bürgerwehr, wenigſtens die Mehrzahl verfelben, wieder 
dem vevolutionär geſtimmten Stuvdententhum. Es mufite ja jelbit 
jo gutmüthigen Yeuten, wie die Wiener waren, die Galle aufregen, 
wenn fie mitanjfahen, wie der Hof mit ven Slaven ſich verſchwor, zu— 

) Depeſche Effingers (jeine leßte) vom 22. Auguft: „Seit mehreren 
Tagen herrſcht wieder große Aufregung. Zu den politiſchen Elementen der— 
jelben gejellen fih nun auch religiöſſe. Ronge ift von den Anhängern des 
Deutihfatholicismus hierher gerufen worden. Mittlerweile liegen einige 
Geiftlihe und zahlreiche Studenten es ſich angelegen jein, den Boden für 
jeine Lehre vorzubereiten. Auf der andern Seite haben die Mitglieder der 
akademiſchen Legion theils dadurch, theils weil fie bei der neulichen Miufterung 
der Nationalgarde allein dem Kaifer ein Vivat zu bringen unterliegen und 
durch die von ihrer Muſikbande gewählte Melodie gefliffentlich Mangel an 
Ehrerbietung zeigten, tbeils weil fie bei der Kunde von der baldigen Ankunft 
Heders (?) in ſtürmiſchen Jubel ausbrachen und ihre Hoffnungen auf die 
Republik offen an den Tag legten, fih einen großen Theil der Bevölkerung 
Wiens und der Nationalgarde zu Gegnern gemacht“. S. B. A. 


Eljen und Zivio. 369 


nächſt um die Mayaren zu treffen und hinter diefen dann den deutſch— 
öftreichtichen Liberalismus. 

Bedenkt man, wie jehr das Miniftertum am 23. Auguit das 
Heft in Händen hatte, daß es des Arbeiterframalls jo leicht Meiſter 
geworden, daß in dieſen Tagen die jo lange gefürchtete oberite Diref- 
tion der ſouveränen Katzenmuſik, der Sicherheitsausſchuß, ſtill und 
auf Nimmerwiederkehr bachab gegangen, ſowie endlih, daß die 
Bürgerwehr willig und entſchloſſen war, der Sache vernunftgemäßer 
Drdnung ihren Arm zu leihen — bedenft mar das alles, fo kann man 
fi) doch kaum des Gedanfens erwehren, die Negterung oder vielmehr 
die hinter derjelben agirende Hoffabale habe mit aller Abſicht eine 
neue Krifis heraufbeſchwören wollen, um Gelegenheit zu erhalten, 
den echten ſchwarzgelben Gewalttrumpf auf ven Staatstiſch zu hauen 
und des vormärzlichen Dejpotismus ganze Herrlichkeit wieder aufzu- 
richten. Hierauf jcheint auch die Fälligkeit hinzudeuten, womit man 
von jeiten des Hofes, in dejjen Geheimniſſe nur der Kriegsminiſter 
Latour und wohl auch ſchon deſſen Kollege Bach eingeweiht waren, 
der Organifirung einer Aufſtandspartei zufah, welche hauptſächlich 
durch den raftlofen Tauſenau betrieben wurde und welche in dem 
Demofratenverein ihren Mittelpunkt hatte. Bon hier aus wurden 
eine Menge von Vereinen, welche ſich zu gleichen Anſchauungen be- 
fannten — darımter auc em radifaler Damenflubb, in welchen es 
viele alte und junge Fräulein und feine Jungfer gab — einer ſtraffen 
Leitung unterworfen. Ob ver Demofratenverein oder wenigſtens Die 
Leiter dejjelben, das im Gafthaus „Zur Ente“ tagende „Gentral- 
fomite der radikalen Vereine”, worin neben Tauſenau der Journaliſt 
Becher, die gewejenen Offiziere Kenner von Fenneberg und Kırden- 
bäder, jowie abwechjelnd andere ſaßen, z. B. der unheimliche pol- 
niſche Juve und ſchieläugige Barbiergejell Chatzes, — ob Diejes 
wiener Gentralfomite mit magyariichen Führern, namentlich mit 
Franz Pulſky, ſchon um diefe Zeit, d. h. zu Ende Augufts und zu 
Anfang Septembers, in Verbindung geitanden habe, iſt mit Be— 
jtimmtheit weder zur bejahen noch zu verneimen. Aktenmäßige Be- 

Scherr, 1348. 2. Aufl. II. 24 


370 Die Abwidelung, I. 


weiſe eriftiven weder für noch wider; aber jehr groß ift die Wahr- 
iheinlichfeit einer jolhen Verbindung. Die wiener Demokratie und 
der Magyarismus waren ja durch die Verhältniffe förmlich auf ein- 
ander angewiefen und zu einander hingedrängt. Das Unglüd für 
beide Theile ift nur gewejen, daß, um es abermals zu jagen, dieſe 
naturnothwendige Allianz von feiten der Ungarn nur alsnebenfählich, 
nur als eine Gelegenheitsintrife behandelt wurde, welche man heute 
aufnehmen und morgen fallen lafien dürfte. 


1% 


Der Hof ließ demnach den wiener Radikalismus einſtweilen ge= 
währen und begnügte fich, durch feine Kreaturen denfelben beſchimpfen 
und reizen zu laffen. Dies geſchah insbefondere durch ein Schand- 
blatt ſchändlichſter Sorte, die ſchwarzgelbe „Geißel“, deren heraus— 
fordernde fothiprigende Schläge manches von dem verabſcheuungs— 
wertben, was im Dftober geſchehen ift, zu verantworten haben, Der 
Handhaber dieſer Geifel, ein gewiffer Böhringer, that Wunder ; 
denn er vollbrachte das unmögliche: er überſchmutzte einen Tuvora, 
überbosheitete einen Chaizes und überblutbengelte einen Hafner. Es 
ift aber eine Thatfache, daß das Flatjchen diefer Geißel im Auguft 
und September einer Menge von Leuten wohlgefiel, welche noch im 
Juni und Suli die Unflätereien der widerhöftichen Blätter und Blättchen 
mit Wolluft verfhludt hatten. Der Schmutzböhringer gab ja nur 
in jeiner Weiſe der Sehnfucht des Philifters nach feinen Backhähndln, 
feinem Regiekanaſter, feinem Prater und Sperl der vormärzlichen 
Zeit frafturbuchitabendentlichen Ausdruck. Freilich, verjelbe Philifter, 
welcher im Auguft und September nad) Ruhe und Ordnung lechzte, 
leiftete im Dftober der Bewegungspartei, als fie wieder einen revo— 
lutionären Anlauf nahm, nicht einmal paffiven, geichweige aktiven 
Widerftand. 


Eljen und Zivio. Sul 


Im Reichsrathe war derweil die Stellung der Yinfen, der deutſch— 
öftreichtfchen, mit radikalen Bolen durchſprenkelten Vorſchrittspartei 
ganz miſſlich und unbehaglich. Ste ahnte nicht nur das vom Hofe 
mit Hilfe der demſelben affiliirten Mitglieder des Miniſteriums ge- 
ipielte Spiel, fie jah ganz deutlich in daljelbe hinein. Aber was 
fonnte fie der czechiſchen echten und dem jchwarzgelben Centrum 
gegenüber mahen? Nichts. Denn heftige Reden halten und dazır 
mit der Fauſt auf den Tiſch Elopfen war joviel wie nichts. Ver— 
langten die Yinkjer auf den Wege der Interpellation Auskunft vom 
Minifterium, jo gab dafjelbe entweder ganz nichtsfagende oder aus- 
weichende Antworten. Darin war befonders der Herr Bad) ftarf, 
bei dem ſchon die Freiherrnſchuppen anfetten und welcher ſich aalalatt 
durch die Fragenklippen ſchlängelte, dabei ſehr viel von den „kon— 
ftituttonell monarchiſchen Grundſätzen der Regierung“ ſprechend. 
Man wuſſte ja draußen in Schönbrunn ſehr wohl, daß das nur 
Mundleim war, um Gimpel damit zu fangen. Der Manu quali 
fizirte ji) merkwürdig raſch zum Neaftionsmintjter. Cr übertraf 
fürwahr alle feine zeitgenöffischen mitliberalen Mitminiſter in Deutjch- 
(and und Frankreich an Geſchwindigkeit, was doch viel jagen wollte. Er 
voltigirte jo hübſch, daß es ihm von allen den andern Umfattelern 
fein einziger jo vecht nachmachen konnte. Gewiß, in volliten Maße 
verdiente er, Standredhts- und Konkordatszeitminiſter, ſowie Am— 
baſſador bei Sr. Heiligkeit zu werben. 

Die Czechen gaben mitunter dem Hof und Miniftertum ein Me— 
mento, daß es Zeit wäre, auch mit ihnen fich zu werjtändigen, wie 
man mit den Südſlaven gethan. Cie waren ja von Herzen gern 
dabei, Deutſchthum und Magyarismus unterdrücden zu helfen, vor— 
ausgeſetzt, daß bei der Machtvertheilung ihnen ein erkleckliches Stüd 
zufiele. Der babyloniſche Sprachenwirrwarr im Neichstagsfale gab 
dent Czechenthum Gelegenheit, einen Mahnſchrei auszuftopen, welcher 
in Schönbrunn drangen gehört werden jollte. So war er wenigitens 
gemeint. Am 11. September famen Anträge zur Verhandlung, dent 
Mangel an Verſtändniß der Debatten von fetten vieler Abgeoroneten 

21* 


372 Die Abwicelung, U. 


wenigſtens einigermaßen abzuhelfen dadurch, dag die Abftimmungs- 
fragen in den verjchtedenen Sprachen (deutſch, italiſch, polniſch, 
czechiſch, rutheniſch, rumäniſch) formulirt und geftellt werden jollten, 
eine Forderung, die gar nichts unbilliges hatte, wenn man überhaupt 
wollte, daß eine nicht geringe Anzahl von Abgeordneten wüfjte, über 
was und wie fie abjtinmmten. Der Deutihböhme Borroſch, ein 
wohlmeinender, aber gar linkiſcher Linkſer, juchte nachzuweiſen, daß 
im öſtreichiſchen Reichstag Die deutſche Sprache mit Nothwendigkeit 
die parlamentariſche Staatsſprache ſei, was allerdings richtig. Aber 
der täppiſche Redner tappte in einen ſlaviſchen Ameiſenhaufen mit 
ſeiner Aeußerung: „Die, welche kein Deutſch verſtehen, mögen an 
ihrer Stelle Männer wählen laſſen, welche des Deutſchen kundig 
ſind“ — und ſtach in ein czechiſches Weſpenneſt, indem er, zur Rech— 
ten gewendet, vom ſpielen mit „Nationalitätsliebhabereien“ redete. 
Aufſprang der ganze Czechismus, mit geballter Fauſt den Widerruf 
fordernd, und durch den lange nicht zu ſtillenden Tumult hindurch 
ſchnitt gellend die zornbebende Stimme Riegers: „Das Recht, in 
unſerer Nationalſprache hier zu reden, ſteht uns nicht weniger zu als 
den Deutſchen. Wir Slaven bilden bei weitem die größere Macht 
dieſes Staates. Durch unſer Geld, durch unſer Blut wird 
Oeſtreich erhalten. Nur ſo lange wir wollen, wird es beſtehen!“ 
Ludwig Löhner, ohne Frage einer der bedeutendſten Köpfe der Ver— 
ſammlung, ſuchte die borroſch'ſche Taktloſigkeit gutzumachen durch 
eine taktvoll verſöhnliche Rede, worin er die verſchiedenen Nationa— 
litäten aufforderte, den Sprachenzwiſt wegzuſtoßen „wie eine zwiſchen 
uns gekrochene Schlange“ und einträchtig und mannhaft zuſammen— 
zuſtehen gegen die herandrohende Gegenrevolution. Dieſe be— 
ſchwörende Stimme war aber ſelbſtverſtändlich nur die eines Pre— 
digers in der Wüſte ... 

Derweil ſich alſo in der Hauptſtadt Oeſtreichs die Zündſtoffe 
zu einer neuen Brunſt häuften, ſtieg auch drunten in Budapeſth die 
Aufregung von Stunde zu Stunde. Um ſo höher und heftiger, als 
die bislang von ſeiten der ungariſchen Regierung getroffenen mili— 


Eljen und Zivie. 213 


täriſchen Maßnahmen jehr Schlechte Erfolge gehabt hatten. Wieber- 
holte gegen die Ratten-Serben unternommene Angriffe waren gänzlich 
geichettert und von den Angegriffenen mit neuen, von allen Gräueln 
begleiteten Einbrüchen in magyariſche Landſchaften vergolten worden. 
Täglich konnte auch von Kroatien her der Einbruch des Banus in 
Ungarn erwartet werden. 

Bei ſothanen Umständen fonnte fih Koffuth unmöglich verhehfen, 
daß man ber einer Krifis angelangt jei, mo es hieß: biegen oder 
brechen. Es war jchlehterdings unmöglich, länger in dem Zirfel 
fonftituttoneller Fiktionen und Illuſionen fich herumzudrehen. Hatte 
doc) der wiener Hof im letter Zeit deutlich genug ausgeiprochen, daß 
er alles, was in den ungariichen Angelegenheiten fett dem März ge— 
ihehen war, für „ungeſetzlich“ anſähe. Es geihah Dies mittels 
einer „Denkſchrift“, welche am 21. Auguft vom öſtreichiſchen Mi— 
niſterium dem Erzherzog-Palatin überſandt und von dieſem dem 
ungariſchen Miniſterium zugefertigt war. Darin hieß es, „die 
ungariſchen Märzerrungenſchaften widerſprächen ebenſoſehr der 
„„Pragmatiſchen Sanktion““ als den Bedürfniſſen der Geſammt— 
monarchie und der Kaiſer ſei gar nicht berechtigt geweſen, ein unab— 
hängiges ungariſches Miniſterium zu ernennen“. Ferner, „es ſei 
eine unbedingte Nothwendigkeit, die ſeit dem März in der ungariſchen 
Regierung angenommenen Einrichtungen nach den Bedürfniſſen der 
Geſammtmonarchie zu ändern und gemeinſam mit dem öſtreichiſch— 
deutſchen Miniſterium Anſtalten zu treffen, damit die Einheit der 
Monarchie geſichert würde“. Das ſtimmte ganz mit den Forderungen 
des Jellacie und hieß zum Magyarismus ſagen: Mach' ein Ende 
mit deinem ſtolzen Traume von Selbſtſtändigkeit! 

Statt deſſen rang aber der Traum gewaltig, Wirklichkeit zu 
werden. Koſſuth hielt es an der Zeit, ſchon jetzt merken zu laſſen, 
daß Ungarn nicht um des Hauſes Lothringen-Habsburg willen da 
wäre und wohl auch ohne daſſelbe exiſtiren könnte. Am 4. September 
gab er in der Nationalverſammlung die Erklärung ab, er ſei über— 
zeugt, daß der „gegenwärtige Zuſtand bald ein Ende nehmen müſſte 


874 Die Abwicdelung, I. 


oder die Nation gezwungen wäre, für eine wollziehende Gewalt zu 
jorgen, welche die Mittel zu ihrer Verfahrungsweiſe nicht aus dem 
Geſetze, jondern aus der Gefahr des Vaterlandes ſchöpfen würde. 
Die Nation wird auferordentliher Gewalten bevürfen“. Innerhalb 
wie außerhalb ver Verfammlung wurde diefe Neuerung verjtanden, 
wie fie gemeint war, und hörende Ohren verjtanden diejelbe auch 
proben in Wien*). Koſſuth, welcher jhon zu diefer Zeit, zu Anfang 
Septembers, thatſächlich Die Geſchicke jeines Yandes diktatoriſch lenkte, 
ſchlug jedoch noch einen letzten Verſuch vor, den König mit der Nation 
zu verjtändigen. ine Deputation von 100 Mitgliedern des Unter- 
hauſes jollte nad) Wien gehen und den König zum energiſchen ein- 
ichreiten gegen den Froatijch-jerbifchen Aufftand auffordern. Binnen 
böchftens 48 Stunden müſſte diefe Abordnung eine klare und beſtimmte 
Antwort haben. Die Berfammlung genehmigte den Vorſchlag, Das 
Dberhaus trat bei und mehrte die Deputation um 20 feiner eigenen 
Mitglieder. Pazmandy, der Präfident der Nationalverfammlung, 
führte die Abordnung am 5. September nad Wien, wo fie am fol 
genden Tag eintraf und von der Bevölkerung jehr ſympathiſch em— 
pfangen wurde. Das demokratiſche Gentralfomite und die magyari- 
ihen Agenten hatten nicht erfolglos daran gearbeitet, die Wiener 
dahin aufzuklären, daß fo, wie die Sachen lägen, die Interefjen der 
Deuntihöftreiher und die der Ungarn Hand in Hand gingen. 

Die beiden ungariſchen Minifter Batthyanyi und Deak, welche, 
wie wir wiffen, jeit 10 Tagen in Wien gevorzimmert hatten, gaben 
ihren Landsleuten wenig tröftlihen Beſcheid. Indeſſen wurde nad) 
etwelchen Weiterungen ausgemacht, daß am 9. September nad) Mittag 
die ungariſche Abordnung im ſchönbrunner Schloffe von ihrem „König“ 


) Depefche Kern's Nachfolgers von Effinger) vom 12. September : 
„Wie mich ein in Peſth etablivter Schweizer, der mit einfluffreichen Mitglie— 
dern des ungarischen Reichstags perſönlich befannt ift, werficherte, gebt in 
Ungarn die Stimmung vorherrſchend dahin, fi von Deftreih gänzlich zu 
trennen und Kofjuth zum Diktator auszurufen, wenn Deftreich feine Unter- 
ftitsung gegen Kroatien gewähre”. ©. B. A. 


Eljen und Zivie. 375 


Ferdinand empfangen werden jollte. Die Deputation hatte ſich dem— 
zufolge am genannten Tage zu Wien inder ehemaligen fiebenbirgiichen 
Hoffanzlei verfammelt und wollte gerade nah Schönbrunn aufbrechen, 
als eine Nummer der „Agramer Zeitung“ hereingebracht wurde, 
deren Inhalt die Magyaren überzeugen mufjte, daß Deputatichaft 
und Audienz nur nody eine alberne und widerwärtige Poſſe feien. 
In der Zeitung jtand ein vom 4. September datirtes, von feinem 
ungariſchen Miniſter und überhaupt nicht gegengezeichnetes „Hand— 
billet“ des Kaiſers — man ſieht, der liebe Abſolutismus fühlte ſich 
bereits wieder vollberechtigt und nahezu vollgekräftigt — kraft deſſen 
Jellacic, der geſetzlich von ſeinen Würden und Aemtern ſuſpendirte 
„Hochverräther“, um „ſeiner Treue und Anhänglichkeit an die Dy⸗ 
naſtie willen“ in ſeine „Banalwürde und alle ſeine militäriſchen Be— 
dienſtungen“ wiederum eingeſetzt wurde. Das hieß den Ungarn 
ſagen: Der Hof erklärt in — mit den Kroaten — Serben 
euch den offenen Krieg. Dieſe Machenſchaft verdutzte die Deputirten 
zuerſt ſo ſehr, daß ſie gar — glauben konnten und Bu 
das „Handbillet* jet unecht. Pulſzky eilte um Aufklärung zum 
Baron Weſſenberg, dem öſtreichiſchen Minifter des Auswärtigen. 
Weſſenberg jagte: „Ein fauberer Streich das! Ich weiß nichts da- 
von, aber echt ift das Handbiller“. Als Pulſzky mit diefem Troſt 
zu jeinen Gefährten zurüdfam, Grad) der Unwille derſelben los. 
Viele wollten jofort heim nach Peſth, doch fügten ſich dann alle der 
Meinung, man müſſte die „Poſſe“ zu Ende ſpielen, mafen fie doch 
einmal angefangen ſei. 

Der gute „König“ Ferdinand muſſte an dieſem Tage ſo zu 
ſagen die Rolle des Briefträgers ſpielen. Nachdem ihm nämlich im 
Audienzſale zu Schönbrunn Pazmandy als Sprecher der Deputation 
die Beſchwerden und Forderungen der ungariſchen Nationalverſamm— 
lung vorgeleſen hatte — das Dokument langweilte den König be— 
trächtlich und war auch ſehr lan zog er die Antwort, welche man 
ihm in die Taſche geſteckt hatte, hervor und [as dieſelbe ab, „ſtotternd“, 
wie die Ungarn reſpektwidrig wahrnahmen. Gute Unterthanen haben 





376 Die Abwidelung, I. 


die heilige Verpflichtung, in ihrem Monarchen unter allen Umftänden 
einen Halb- oder gar einen Ganzgott zu erbliden und ein ſolcher 
ftottert nit. Ferdinandus Rex redete oder las vielmehr — uff! 
ein verteufelt Schweres Geſchäft, das Königjein und Regieren ! — jein 
Penſum ab, worin ihm zugejchrieben war, daß „es fein fejter Wille 
jei, die Geſetze, Rechte und die Integrität des Reichs jeiner ungariſchen 
Krone feinem königlichen Eide gemäß aufrecht zu erhalten“. Im 
übrigen würde er „jeine Entichlüffe im Wege des Minifteriums in 
furzmöglichiter Friſt kundgeben“. Die Herren Magyaren jahen ſich 
einen Augenblid fragend an, ob fie aud) recht gehört hätten. Dann 
machten fie Kehrt, verliegen ohne weiter ein Wort zu jagen ben 
Audienzjal und fuhren auf geradem Wege zum Nador, ihrem Dampfer, 
welcher fie am Prater erwartete. Während das Schiff jeinen Kiel 
Prejiburg zufehrte und die Donau hinabſchwamm, wurde eine rothe 
Flagge auf die Gaffel gehilit. Der Krieg war erklärt. 


Er war fogar ſchon losgebrochen und zwar nicht allein von der 
Seite der „wilden Raiten“ ber. 

An demſelben 9. September, an welchem Ferdinandus Rex im 
Schloſſe zu Schönbrunn der magyariichen Abordnung vorgelejen 
hatte, daß er „die Geſetze, Rechte und die Integrität des Reichs jeiner 
ungarischen Krone feinem Eide gemäß aufrecht erhalten werde”, an 
demfelben Tage machte der Banus Jellacie den authentischen Kommen- 
tar zu diefem Text bekannt, indem er aus Siroatien in Ungarn ein- 
brach, die folofiale Yüge in Proflamationsform vor ſich hertragend, 
„er komme nicht als Feind, ſondern er eile als Freund den Ioyalen 
Unterthanen des fonftitutionellen Königs zur Hilfe, um diefelben vom 
Joch einer verhafiten, unfähigen und rebelliichen Negierung zu be- 


Eljen und Zivio. 377 


freien“. Der Bund der zwei jchönen Seelen, die Alltanz der Hof- 
famarilla und der Slaverei zeigte ihre Erſprießlichkeit deutlich auf 
in der Thatſache, daß der Krontenhäuptling zu feinem Unternehmen 
recht gut gerüftet und worbereitet war. Er hatte unter jeiner perjün- 
lichen Führung einen aus Kerntruppen beftehenden Gewalthaufen von 
etwa 20,000 Mann und außerdem zwei Flügelforps und eine Re— 
jerve von zufammen nahezu 35,000 Mann, welche letsteren größten— 
theils aus kroatiſchen Landſtürmlern beftanden. Nicht allen der 
Anzahl nach war diefe Streitmacht der ihr zunächſt entgegenſtehenden 
ungarischen weit überlegen, jondern auch hinfichtlich der Ausrüstung 
und Uebung. Ste wurde aud) von Yeuten vom Handwerk befehligt, 
von faiferlichen Generalen, Stabs- und Subalternoffizieren. 

Der Einbruch des Banus geſchah von Stopreinet her über Ole— 
grad auf Groß-Kaniſcha zu. Er trieb die von einem Jämmerling, 
dem Grafen Adam Teleky, fommandirten Magyaren (4 Bataillone 
reguläre Infanterie, 4 Bataillone Bürgerwehr, 3 Huſarenſchwadronen 
und 9000 Landſtürmler) vor ji) her bis nad) Kefithely am nord— 
weitlichen Ende des Plattenſee's. Die VBerblüffung und Verwirrung 
in den Neihen der Ungarn war gränzenlos, was hauptſächlich daher 
rührte, daß viele ihrer Offiziere gar nicht wuſſten, ob fie gegen oder 
mit Jellacic Fechten jollten, der im Auftrage des Königs zu fommen 
behauptete und den Rang eines Feldmarſchall-Leutnants hatte. Sie 
jandten defihalb eine Abordnung zum Banus mit dem Gefuche, ihnen 
die jchriftliche Ermächtigung von feiten des Königs zum Einmarſch 
in Ungarn zu zeigen. Eine jolhe konnte aber Jellacic nicht auf- 
weijen, weil er feine hatte. Man wollte fih im ſchönbrunner Schlofje 
doch noch immer die Möglichkeit bewahren, den kroatiſchen Heiland 
je nad) Umſtänden anzuerkennen oder zu verleugnen. Gin jpäter 
aufgefangener Brief Des Banus an den Kriegsminiſter Latour — 
welcher bekanntlich öffentlich und amtlich fortwährend verficherte, mit 
Jellacic in feiner „Geſchäftsverbindung“ zu ſtehen — hat dargethan, 
daß dem kroatiſchen Heiland die Zurückhaltung des Hofes unangenehm 
genug war. Er drang in diefem Briefe darauf, als „kaiſerlicher Be— 


378 - Die Abwidelung, I. 


vollmächtigter auch öffentlich“ anerfannt zu werden. Gr war 
ja ein Splitter von einem Poeten und muſſte aljo Phantafie gemug 
bejitsen, ſich vorjtellen zu fünnen, daß „ver Dank vom Haufe Deftreich“ 
mitunter jeltiame Formen anzunehmen pflege... . 

In Budapeſth hatte man inzwiichen den bingeworfenen Fehde— 
handſchuh aufgenommen. Zur gleichen Zeit erfuhr man dajelbft das 
jheitern der Abordnung nad) Wien und den Einbruch des Banus. 
Die Aufregung war fieberhaft, die Erbitterung namenlos. Jetzt ge- 
Ihah es, dag der Magyarismus aus der fonftitutionellen Illuſion 
heraus und in die Wirflichfert der Selbithilfe herein trat. Die Trang- 
aftton hörte auf, die Revolution hob an. 

Unmittelbar nach der Heimfehr der 120 Deputirten aus Wien 
hatte das Miniftertum Batthyanyi-Koſſuth abgedanft, weil die ver- 
faſſungsmäßigen Auskunftsmittel erihöpft jeien. Der Erzherzog— 
Palatin ließ hierauf der Nationalverfammlung die Erklärung zu— 
gehen, er habe dem Könige bereits einen neuen Premier vorgejchlagen 
und werde, bis die königliche Entſcheidung herabgelange, die oberſte 
Leitung der Negierung an fich nehmen. Allein Deaf, Szemere und 
Koſſuth vereitelten dieſe Abficht des Erzherzogs, deſſen Stellung eine 
ebenjo unhaltbare als beflagenswerthe war, da er aufrichtige Sym— 
pathien für Ungarn hegte und doc nicht Mann gemug war, um die 
Nabelihnur, welche ihn mit der Mutter-Dymnaftie verband, entzwei- 
zureißen. Koſſuth erklärte nach dem VBorgange von Deaf und Sze— 
mere in der Nationalverfammlung das jchreiben des Palatins für 
nichtig, weil es ungeletslich, weil der Gegenzeihnung eines Minijters 
ermangelnd. Die Regierung fünne überhaupt nur von verantiwort- 
lichen Miniftern geleitet werden, fuhr er fort und, hingerifjen von 
einem revolutionären Impuls, ſprang er von jeinem St auf der 
Deputirtenbanf auf, ging zu dem Sefjel, welchen er am Miniſtertiſch 
eingenommen hatte, fette fi darauf ımd rief aus: „Noch bin ich 
Minifter und den will ich jeher, der, folange ich auf diefem meinen 
Site innerhalb der Gränzen des Gejetses Befehle ertheile, ohne 
Gegenzeichnung eines verantwortlichen Minifters Gegenbefehle zu 


Eljen und Zivio. 379 


- 


geben wagt“. Das hieß erklären: Ich ergreife die Diktatur. Und 
die Verſammlung war damit einverſtanden. Sie beauftragte Koſſuth, 
unverzüglich ein neues Meinijterium zu bilden und das Präſidium 
dejjelben zu führen. Allerdings tft die koſſuth'ſche Diktatur formell 
noch eine Weile beitritten worden, indem Batthyanyt, in Verbindung 
einerjertS mit dem Palatin, andererjeits mit den gemäßigt Yiberalen 
wie Eötvös, Deaf und Erdödy, nod immer die Hoffnung nicht auf- 
gab, zu einem Kompromiß mit den wiener Hofe zu gelangen, und 
diefem die Bildung eines Kabinettes vorſchlagen ließ, in welchen 
Koſſuth nicht ſitzen jollte und welches er jelbjt präſidiren wollte unter 
der Bedingung, daß dem Kroatenban unverzüglich der Befehl zum 
Rückmarſch aus Ungarn zuginge. Der Hof verwarf dieſe Bedingung, 
verwarf die batthyanyiſche Kombination und wollte überhaupt‘ fein 
ungariſches Miniftertum mehr haben. Sp blieb denn von jener 
Sitzung der Nationalverfammlung am 11. September an, wo Koſſuth 
ausgerufen hatte: „Noch bin ich Miniſter!“ die oberjte Gewalt bei 
dieſem. 

In derſelben Sitzung noch hatte er die patriotiſche Aufregung 
und die magyariſche Zornwallung geſchickt und raſch benützt, um weit— 
tragende Beſchlüſſe zu erwirken. So den finanziellen, daß Das Finanz— 
miniſterium zur Ausgabe von Fünfguldennoten ermächtigt ſein ſoll — 
damit begann die ſpäter mit Dampf arbeitende koſſuth'ſche Banknoten— 
preſſe ihre Thätigkeit — ſo den kriegeriſchen, daß in ganz Ungarn 
die Werbung für die nationale Armee im Nationalſtile ſofort begonnen 
werden ſollte. Sämmtliche außer Landes ſtehenden ungariſchen Sol— 
daten ſollten bei ihren patriotiſchen Pflichten zur Heimkehr aufgefordert 
werden. Alle Linientruppen ſollten in das neue Nationalheer ein— 
treten, deſſen geſammte Streiter „Honved“ (Vaterlandsvertheidiger) 
heißen und erhöhten Sold beziehen würden. Die Wirkung dieſer 
Beſchlüſſe, deren Bedeutung Koſſuth mittels einer meiſterhaft auf die 
Gefühle und Leidenſchaften des Magyarismus berechneten Prokla— 
mation (vom 20. September) den Maſſen klar und annehmlich zu 
machen wuſſte, war eine außerordentliche. Die Stimme des Agitators 


380 Die Abwidelung, I. 


hatte in dieſer Anfprache etwas vom dröhnen einer Weltgerichts- 
pofanne. Sie rief zaubermächtig das ftreitbare Volk der Pußten 
zuhauf. Jede Cſarda wurde ein Werbeplag für die nationale Sache 
und das weite Ungarland wandelte fich wieder zu dem, was es zu 
Attila's Zeiten gewejen, zu einem tojenden Ktriegslager. 

Bevor dies geſchah und geichehen konnte, ſah Budapefth ein 
vormals helles Yicht, welches in der vormärzlichen Zeit über das 
ganze Land hingeleuchtet hatte, kläglich erlöfchen, — das Licht, welches 
unter der Schädeldede des „großen Ungars“ Stephan Szechenyi ge— 
brannt hatte. Der Graf gehörte zu den vielen Yiberalen, welche 
überall in Europa 1. 3. 1848 mcht glauben wollten, nicht begreifen 
fonnten, daß die herfömmlichen Hausmittel der Oppofition nicht mehr 
fledten und daß man, mm das fofettiren mit der Revolution ein 
Ende hatte, nicht gegen dieſelbe intrifiren dürfte, ſondern mit ihr 
marjchiren müſſte, jo man überhaupt etwas ausrichten wollte. Er 
fonnte e8 auch nicht verwinden, daß ihm und allen andern Koffuth 
über den Kopf wuchs, um jo weniger, da der hochgeborene Magnat 
in dem wuchsfräftigen Agitator eben mur den Plebejer und Roturier 
ſah. Gern hätte er feinen eigenen Frieden und den feines Landes 
mit Yothringen-Habsburg gemacht, falls der Friedensihluß nur 
Koſſuth und deſſen Anhang gefoftet hätte, wobei er freilich überſah, 
daß diefer „Anhang“ ein ganzes Volk. Und auf der andern Seite 
frampfte es dem ftolzen Patrioten doch wieder das Herz in der Bruft 
zufammen, wenn er das Spiel betrachtete, welches man in der wiener 
Hofburg gegen Ungarn ſpielte. Diefer Strudel widerſtreitender 
Eindrüde, Anfichten, Wünſche und Befürchtungen riß den Grafen 
hinunter. Gerade mitten in der Aufregung, in welche die Nachricht 
von Jellacie's Drauübergang die Bevölferung von Budapeſth ges » 
worfen hatte, vernahm man, daß Szehenyi feine Frau eilends nad) 
Wien gejhidt habe. Im ſolchen gefpannten Yagen gewinnt befannt- 
(ih) auch das an fi) unbedeutendſte politiiche Bedeutung. Was 
follte und wollte die Gräfin in Wien? Diefe Frage richtete auch 
Koſſuth, in deffen Wohnung Minifterrath gehalten wurde, an feinen 


Eljen und Zivio. 381 


Kollegen. Szechenyi erwiderte, ſeine Frau ſei allerdings verreiſ't, 
aber nur, um, wie alljährlich, einige Herbſtwochen auf dem Lande zu 
verleben. „Graf, ſagte Koſſuth ſcherzend, keine Intriken! oder, bei 
Gott, ich ſchieße Ihnen eine Kugel durch den Kopf“. Und dabei 
richtete er lachend ein prächtiges Gewehr auf Szechenyi, welches er 
gerade in der Hand hielt und wenige Minuten zuvor ſeinen Kollegen 
als ein untertags erhaltenes Geſchenk gezeigt hatte. Drei Tage 
ſpäter ging in der Stadt die Rede, der Graf ſei wahnſinnig geworden. 
Sie fand keinen Glauben, was den Juſtizminiſter Deak veranlaſſte, 
zu ſagen: „Sonderbar, ſo lange er bei Verſtande war, ſagte man, 
daß er ein Narr ſei; und nun er den Verſtand verloren hat, will man, 
er ſei geſcheid“. Aber an demſelben Tage erſchien Szechenyi in dem 
Miniſterrath, welcher abermals bei Koſſuth ſtattfand. Plötzlich ging 
er hinaus, kam nach einer Weile wieder herein, blickte mit fahrigen 
Augen umher und ſchickte ſich dann abermals zum fortgehen an. 
„Wohin, Szechenyi?“ fragte ihn Batthyanyi. „Ich bitt' euch, er— 
widerte der Graf mit einer an ihm doppelt auffallenden demüthigen 
Stimme und Gebärde — ich bitt' euch, laſſt mich! Ich bin krank; 
ſeht mich an, wie krank ich bin“. Damit ſchlug er ſeine Rockärmel 
zurück und zeigte ſeine Handgelenke, deren Pulſe im heftigſten Fieber— 
takt gingen. Darauf Batthyanyi: „Aber warum biſt du nicht 
ſogleich fortgegangen? Mach', daß du nach Hauſe und zu Bette 
kommſt“. Der Graf verließ das Zimmer, trat aber plötzlich wieder 
herein und bis zum Berathungstiſche vor, wo er mit beſchwörend 
gefalteten Händen und flehender Stimme ſagte: „Ich bitt' euch, 
laſſt mich nicht erſchießen!“ Dann ging er und zwei Stunden 
darauf kam ſein Arzt mit der Meldung: „Der Graf iſt entſchieden 
wahnſinnig“. 


382 Die Abwidelung, U. 


13. 


Auch auf ein Mitglied des Fatjerlichen Haufes fiel wuchtig die 
mehr und mehr ins unlöſliche verfnänelte ungarifche Frage, auf den 
Erzherzog Palatin Stephan, der freilich nicht Das Zeug hatte, fo 
ganz unklares zu Fläven und einen derartigen Knäuel auseinander- 
zuwickeln. Ueberdies jah ihn die wiener Hoffabale mit jcheelen Blicken 
an und aud die Magyaren trautenihmnicht. Da aber im Rathe ver 
magyariichen Leiter die „gemäßigten Yiberalen“ dermalen doc noch 
immer die Oberhand hatten — Stunden ausgenommen, wo Koſſuths 
vadifaler Feuereifer alles mit fich fortriß jo machten fie einen 
Verfuch, den „Statthalter des Königs“ zur Abwehr der Kroaten _ 
gefahr zu verwenden, ein Verfuch, der nur Fläglich ſcheitern fonnte. 
Die Nationalverfammlung forderte am 15. September den Erzherzog 
auf, ſich zur Armee zu begeben und diefelbe zu fommandiren, da er 
ja ungartichem Nechte gemäß in Sriegszeiten Generalfapitän jei. 
Stephan erklärte, der Aufforderung entipredhen zu wollen, fragte 
aber in Wien an, ob er dürfte. Von dort kam öffentlich die Antwort 
herab: Ja freilich! im geheimen aber die Weifung, jchlechterdings 
in feinen Kampf mit dem Banus fid) einzulafien. Der arme Erz- 
herzog juchte diefen Widerſpruch dahin zu vermitteln, daß er den 
Kroatenhäuptling mittels Unterhandlung und Ueberredung aus Ungarn 
wegzufchaffen unternahm, — ein ganz kücherliches Unternehmen, wenn 
man wuſſte, daß Dellacte den Palatin ſeit lange mit unverhohlener 
Verachtung behandelte. Der Erzherzog begab ſich an den Plattenfee 
und ließ den Ban zu einer Zufammenfunft laden, welche am Bord 
des Dampfers Kiſfaludy auf dem Waſſer inmitten beider Ufer ftatt- 
finden jollte, damit Jellacic hinfichtlich feiner perfünlichen Sicherheit 
ganz ruhig fein fönnte. Der Ban verſprach Schriftlich, zu fommen. 
Sr fam aber nicht, jondern ließ am Ufer durch feine Offiziere eine 
ganz elende Komödie aufführen, als ob diefe dem Worte des Palatins 
nicht tranten und ihren Anführer mit Gewalt zurüdhielten. Die 





Eljen und Zivie. 385 


Unterhandlung fiel demnach ins Waffer, nody bevor fie begonnen 
hatte, und der Erzherzog muſſte jetzt, wenn er ein rechter Balatin war, 
den Ungarſäbel gegen den Kroaten ziehen. Er war aber fein rechter 
Palatin, fondern nur ein Erzherzog. Er fehrte am 21. September 
nad Ofen zurüd, verließ jedoch in der nächſten Nacht heimlich feinen 
Poſten oder vielmehr Nichtpoften, fuhr auf einem Banernwägelchen 
über die Gränze, meldete fih in Schönbrunn, wurde aber gar nicht 
vorgelafjen, gab feine Entlaffung, die auf der Stelle angenommen 
wurde, und ee hierauf unverzüglich Deftreih, um es nie wieder 
zu betreten. Das „tolle“ Jahr machte fi) alfo unter anderen Neben- 
ihwänfen auch dieſen, das Haus Yorhringen-Habsburg mit einen 
Berbannten zu verjehen. 

Die Friedens- und Verſtändigungsverſuche von feiten der Ma— 
gyaren waren aber noch nicht zu Ende. Gleichzeitig mit dem in Das 
Waſſer des Plattenſee's gefallenen, machte die Nationalverfammlung 
einen anderen und zwar diefen, den öftreihtichen Neichstag um feine 
— zwiſchen der ungariſchen Nation und ihrem König an— 
zugehen. Die Verſammlung wählte am 18. September auf Koſſuths 


Antrag — („Senden wir Geſandte nach Wien, aber nicht an den 
verrätheriſchen Hof, ſondern an das Volk“ — eine Abordnung von 


12 Deputirten (Deak, Eötvös, Pulſzky, Szemere u. ſ. w.), welchen 
ſich 4 Magnaten zugeſellten, mit dem Auftrage, im Reichstagsſale zu 
Wien die Beſchwerden der ungariſchen Nation vorzubringen und die 
Intervention der Volksvertreter Oeſtreichs anzuſprechen. Sehr wahr— 
ſcheinlich hat Koſſuth dieſen Schritt angerathen weniger in der Hoff— 
nung, die nachgeſuchte Intervention gewährt zu ſehen — denn er 
muſſte doch wohl die Uebermacht der vereinigten Czechen und Schwarz— 
gelben im wiener Keichstage kennen — als vielmehr darum, weil er 
in dem auftreten der Deputation in Wien mit Recht ein jehr wirk— 
james Agitationsmittel erfannte. War es doch für Ungaru unge— 
heuer wichtig, auch in Wien die Dinge wieder auf die revolutionäre 
Bahn zu werfen und dadurch dem Banus die Hof- und Negterungs- 
jtütse wegzuichlagen. Es liegt auch auf der Hand, daß der Agitator 


354 Die Abwidelung, II. 


jeinen Vertrauten unter den „Gejandten an das Bolf“ dahin ab- 
zielende Weifungen mitgab. 

Am 19. September legte die ungariiche Aborbmung dem Reichs⸗ 
tagspräfidenten Strobady ihr Beglaubigungsichreiben vor und bat 
um Gehör beim Neichstag. Der Präfivent feste diefen hiervon in 
Kenntniß mit dem hinzufügen, die Beftimmung der Geſchäftsordnung, 
welche die Zulaffung von Abordnungen im Haufe verbiete, lege ihm 
die Pflicht auf, den Ungarn den verlangten Eintritt zu verfagen. 
Damit war der Entſchluß und Beſchluß der Mehrheit ſchon angezeigt 
und vorweggenommen. 

Mit Fug hat man gejagt, dieſe Sitzung des öftreihiichen Reichs— 
tags von 1848 ſei bei weitem die wichtigfte von allen gewejen. Ueber 
die Zulaſſung oder nicht Zulaſſung der ungarischen Deputation, d.h. 
iiber die Verbrüderung oder Nichtwerbrüderung des cisleithantichen 
mit dent transleithaniſchen Konftitutionalismus, über die Alltanz oder 
Nichtallianz der öftreichifhen und der ungarischen Märzerrungen- 
ihaften debattirend, werhandelte das Haus nicht weniger über ſein 
eigenes Schickſal als iiber das Ungarns. Es ſprach ſich jein eigenes 
VBernihtungsurtheil dur den Mund der czechiſch-ſchwarzgelben Ma— 
jerität, deren Hauptredner Rieger die Gemeinheit beging, zu höhnen: 
„Sol die Deputation eingelaffen werden, damit wir die prächtigen 
Koſtüme und Schönen Bärte der ritterlihen Magyaren bewundern 
können?“ Allerdings hatten die Slaven wenig oder gar feine Ur— 
jache, ven Magyaren hold zu fein; allein wer immer über feine Naſe 
hinauszuſehen vermochte, muſſte erfennen, daß hier anderes als natio- 
nale Sympathien oder Antipathien in Frage fan, daß es ſich darum 
handelte, das von der Hoffabale gefnüpfte Nets der Rückwärtſerei zu 
zerreißen. Aber die Herren Gzechen knüpften ja jelber mit am dieſem 
Netze, weil die genasführten Thoren ſich mit der Illufion kitzelten, 
te würden ſchließlich die Auswerfer defjelben ein. 

Die Debatte hätte ſich gefhäftsorpnungsmäßig bloß um den 
lächerlichen Formalismus der Gefhäftsoronung drehen jollen, konnte 
das aber nicht: das materielle der Frage brannte durch das Papier 


Eljen und Zivio. 385 


der Geſchäftsordnung hindurch den Neichstagsmitglievern allzu heik 
auf Die Nägel. Die Redner der Linken, die Goldmark, Violand, 
Borroſch, Löhner und andere, enthüllten mehr und weniger geſchickt 
den Kern der Sache, welcher fein anderer war als die Frage: Wil 
fih die Volksvertretung Deftreichs zu Schub und Trutz mit der Na- 
tionalrepräſentation Ungarns verbünden, um mittels diefes Schub- 
und Trutzbündniſſes der Gegenrevolution Halt zu gebieten, oder 
nicht? Löhner hat an diefem Tage, wie alljeitig bezeugt wird, fein 
bejtes gethan. Seine Beweisführung war von tadellojer Logik, 
jeine Beſchwörung von echtem Pathos getragen. Es war die War- 
nung eines Propheten, als er jagte: „Wenn Ungarn ganz darnieder- 
liegt, dann ijt es zu jpät, dann wird die Hand des Demokraten ver- 
geblich in das Schwert fallen, welches der Krieger ſchwingt; Dann 
mögen die Völker, die hier im Kreiſe ſitzen, ſich beſchämt aus dem— 
jelben jchleichen, denn man wird ihnen jagen: Sie ließen ihr Bruder- 
volf morden, um bald alle gefnehtet zu werden!" Celbit- 
verſtändlich warnte der Prophet umſonſt. Biel beffer gefielen der 
Mehrheit die aalglatten Redeſchlängelungen, welche der Mintiter 
Bach ausführte und die den Kanzleitroſt paraphrafirten, die ungariſche 
Frage könne ja einmal ſpäter Gegenſtand einer umfaſſenden, prin— 
cipiellen Debatte werden. Noch einmal wies Löhner warnend auf 
die Zukunft: — „Wenn der politiſche Vortheil, das ſogenannte 
Staatswohl dem gegenwärtigen Miniſterium das Recht gibt, die 
ungariſche Verfaſſung zu brechen, kann nicht ein künftiges Mini— 
ſterium das Staatswohl und den politiſchen Vortheil ebenfalls als 
Rechtsgrund anrufen, gegen uns und die öſtreichiſche Verfaſſung ein— 
zuſchreiten?“ Vergebens! Mit 186 gegen 108 Stimmen gelangte 
zur Annahme der von Helfert geſtellte Antrag, vie Geſchäftsordnung 
aufrecht zu halten, d. h. die Ungarn abzuweiſen. 

Die Abordnung fuhr ſpät am Abend noch heimwärts nach 
Budapeſth. Nicht ohne einigen Troſt mit ſich zu nehmen. Es war 
ihr nach der Entſcheidung in der kaiſerlichen Reitſchule vor ihrem 
Abſteigequartier „Zur Stadt Frankfurt“ eine großartige, vom Demo— 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 25 


386 Die Abwidelung, IL. 


fratenverein angeregte Volksovation dargebracht worden, als deren 
Spradrohr Taufenau die „Schacherpolitik“ des Minifteriums brand- 
marfte und den „elenden“ Reichstag verwünjchte, beifügend, das 
„Volk“ von Wien werde den Magyaren beijtehen. 

Und das war ein Veriprechen, welches redlich gehalten worden 
it. Hätte nur der Magyarismus die ausgejtredte Hand der wiener 
Dftoberrevolution aufrihtig und energiſch ergriffen! Er machte 
aber hierzu nur einen halben und ſchwächlichen Verſuch und das war 
feine Schuld und wurde fein Ververben. 


14. 


Am 25. September hatte der vielgeplagte faiferlic königliche 
Unterfchreiber zu Schönbrunn wieder einmal vielzuthun. Es muſſten 
zwei Manifefte unterjchrieben werben, deren Inhalt Del in das zu Buda— 
pejth glimmende Revolutionsfeuer goß; denn dieſer Inhalt wurde 
drumten in der Hauptftadt Ungarns anders interpretirt, als man 
proben in Schönbrunn erwarten mochte. Bekanntlich) fommt ja bei 
Berfafjungen, Geſetzen, Manifeften u. ſ. w. alles auf die Interpre- 
tatton an und hat es die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in dieſer 
Kunft wunderbar weit gebracht, jo weit, daß es für einen richtig 
fonftitutionellen Minifter nur nody ein Spaß tft, jeden Verfaſſungs— 
paragraphen juft in fein Gegentheil herumzuinterpretiren. 

Ferdinandus V. mantfeftirte: 1) Der Feldmarſchall-Leutnant 
Graf Yamberg ift zum füniglihen Kommiffär ernannt, ſowie zum 
Oberbefehlshaber aller in Ungarn ftehenden Streitkräfte, ſowohl der 
regulären Truppen als der Nationalgarden. Selbiger Graf Lamberg 
ſoll ſich jofort in das ungarische Lager verfügen, um zwijchen „pen 
zur öftreichtichen Gefammtmonarchie gehörenden Ungarn und defjen 
Nebenländern“ (d. h. zwiſchen Magyaren und Slaven) Ruhe und 

r 


Eljen und Zivio. 887 


Frieden herzuftellen. 2) Das gefammte ungariihe Militär ſoll all- 
ſogleich zu den kaiſerlich-königlichen Fahnen zurüdfehren. 

Die föniglihen Manifefte gelangten am 27. September nad 
Pefth und am Abend diefes Tages zur Kenntniß des außerordentlich) 
verfammelten Barlaments. Madaraß las die Aftenftüde vor und 
erklärte diejelben, als der Gegenzeichnung durch einen ungarischen 
Minifter ermangelnd, für geſetzwidrig. Koffuth, joeben won einer 
agitatorifhen Rundreiſe zurüdgefehrt und durch die enthufiaftijche 
Zuftimmung, welche er überall gefunden, in jeinen Anſchauungen 
beftärkt, Koſſuth wies nad), daß dieſe füniglihen Manifefte nichts be— 
zwedten als die Vernichtung der Verfaſſung, d. h. der Selbitjtändig- 
feit Ungarns. Sie müſſten daher für ungeſetzlich und ungiltig er- 
flärt werden. Das Haus erhob ſich wie ein Mann. Allgemeine 
Beiſtimmung demnach, wobei freilic angemerkt werden muß, daß an 
diefem Tage, wie fortan überhaupt, die Fraftion, als deren Stimm- 
führer Deaf und Eötvös galten, parlamentariſch nicht mehr mitthat: 
die Yıberalen räumten, da ihre Verſuche, mit dem Hofe zu paftiren, 
miſſlungen waren, den Radifalen das Feld. Mit fliegenver ever 
entwarf dann Koſſuth eine feueriprühende Proflamation „der Reprä— 
jentanten der Nation an das ungariiche Volf und insbeſondere an 
alle Truppen und bewaffneten Scharen“, worin die Ernennung und 
Sendung des Grafen Lamberg für „ungeſetzlich, ungiltig und ohne 
Kraft” erklärt und den Truppen eingejchärft wurde, „den Gejegen 
des Yandes und ihren Pflichten, welche jie mit dem Eid auf die Ver- 
fafjung beihmworen haben, treu zu bleiben”. Annahme, Drud und 
Ausgabe dieſes Aufrufs, kraft deſſen der Graf Yamberg und alle, 
welche ihm gehorchen jollten, noch ausdrücklich der „auf Verlegung 
der Konftitution und der nationalen Freiheit geſetzten Strafe” ver- 
fallen erklärt waren. 

Neben dieſer parlamentariihen Interpretation und Zurück— 
weiſung der königlichen Manifefte lief ein von Batthyanyi und Gleich— 
geftimmten gemachter Verſuch her, die Miſſion Yambergs ald Hand- 
habe zu dem noch immer erftrebten Kompromiß mit dem Hofe zu 

rs 255 


388 Die Abwidelung, I. 


benützen. Der genannte Magnat, welcher ſich dazumal noch als 
Duafi-Minifterpräfident betrachten konnte, maßen eine offictelle Ent- 
iheidung über die zuletst von ihm vorgeſchlagene Minifterfombination 
nicht aus Wien herabgelangt war, wollte in Uebereinſtimmung mit 
jeinen Freunden den Grafen Lamberg, welcher ihm perjünlich eben- 
falls befreundet war, zu bewegen juchen, alle ungejetlihen Maß— 
nahmen zu vermeiden, ſowie mit den königlichen Manifeften in der 
Hand dem Banus ein weiteres vorrüden zur wehren. Dies zu er- 
reihen war nicht unmöglich, denn man burfte bei Lamberg ehrlichen 
Willen, die ungariihen Wirren in billiger Weiſe zu ſchlichten, wohl 
vorausjeten. Beweis hierfür ift, daß der Graf, auf ungariſchem 
Boden angelangt, ſich nad) Peith wandte, um die gejetliche Gegen- 
zeihnung feiner Vollmacht durch Batthyanyt einzuholen. Gerade 
diefer gejetslihe Sinn führte den unglüdlihen Mann in den Top. 
Er traf den geſuchten Batthyanyi nicht in Peſth, denn dieſer war in 
der Vorausſetzung, Lamberg würde fid) jofort entweder zur ungariſchen 
oder zur kroatiſchen Armee begeben haben, in das ungariſche Yager 
geeilt, um den königlichen Kommiſſär daſelbſt zu treffe. 

Graf Yamberg langte in der Hauptjtadt Ungarns an, als dieſe 
gerade wie ein Hexenkeſſel fochte und brodelte. Der 28. September 
war für Budapeſth einer jener Tage, wo alle gloftenden Unheils- 
brände zu einer qualmbejhmusten Flamme zujanmen- und auf- 
ihlagen. Vom frühen Morgen an füllten Bolfshaufen in fieberhaft 
zappelnder Aufregung Strafen und Pläte. Wahre Botichaften 
miſchten ſich mit falfhen und Die letteren wurden jelbftverftändlid) 
von der Menge begierig gehört und lieber geglaubt als die erjteren. 
Man erfuhr ven Inhalt der königlichen Manifefte und Die von der 
Nationalverfammlung dagegen getroffenen Vorkehrungen. Aus dem 
Lager war die Kunde gefommen, daß, die Kroaten noch immer tm 
Vormarſch und die Magyaren noch immer im Rückmarſche begriffen 
ſeien, ja daß Iellacic, der Todfeind Ungarns, bereits Stuhlweißen- 
burg erreicht habe. Wir find verrathen! zeterte eg da. Wo find bie 
Landesverräther? Auf fie! brüllte es dort. Und wieder hieß es, 


Eljen und Zivio. 389 


die Schwarzgelben jeien daran, die heilige Stephansfrone, das Pal- 
ladium des Landes, von Ofen nad Wien zur Schaffen, — ein Gerücht, 
welches die Leidenichaften zur Wuth entflammte. Weiterhin jchrie 
einer dem andern zu, der „Verräther“ Lanıberg ſei gefommen, um 
Ungarn im Namen des Katjers von Deftreid) zu vergewaltigen; er 
befinde ſich drüben in ver Citadelle von Ofen. Schon jeien die Thore 
derjelben gejperrt, die Kanonen auf den Wällen aufgefahren, vie 
Mündungen verjelben nad Peſth heriibergerichtet und das Bombarde— 
ment fünne jeden Augenblid begumen. Auf dieje gläubig hingenom- 
mene Fabel gab die Menge in ihrem Angjtgrimm, welcher bekanntlich 
jehr graufam ift, wüthend zur Antwort: Waffen! Waffen! Nieder 
mit dem Verräther Lamberg! 

So hatte der Unſinn fein Ziel und es hätte müſſen mit unrechten. 
Dingen zugehen, jo er dafjelbe verfehlte. Der Zufall, dumm und 
ſinnlos, wie er jelber iſt, erweiſ't ich allzeit dem dummen und finn= 
loſen hilfreich. 

Während taufende, bewaffnet mit allem, was ſich gerade den 
raffenden Händen darbot, über die Schiffbrüde nad) Ofen hinüber— 
ftrömten, um die Schliefung der Feſtung und das gefabelte Bom— 
bardement zu verhindern, irrte Das gejuchte Opfer magyariichen 
Angitgrimms in Peſth herum, ärgerlih, Batthyanyi nicht finden zu 
fönnen, und unſchlüſſig, was er beginnen jollte. Endlich entichloR 
er ich, nad) dem Keichstagshaufe zu gehen, gab aber unterwegs dieſe 
Abficht wieder auf und nahm emen Fiafer, um nad Ofen hinüber— 
zufahren. Am Ende der Schiffbrüde angelangt, wird er erfannt und 
mit Schmähungen und Drohungen überhäuft. Um ſchlimmeres 
zu verhüten, umgibt ein Trupp Bürgerwehrmänner aus eigenem An— 
triebe jchirmend den Wagen, erklärt, um den Volfszorn zu ſtillen und 
einen ſchandbaren Exceß abzumehren, den Grafen als verhaftet und 
unternimmt das mühlälige Werf, den Gefangenen durch) die tobenden - 
Haufen nach Peſth zurüdzubringen. Es mifjlingt. Der Zug gelangt 
nur bis in die Nähe ver Kapelle, welche mitten auf der Brüde jteht. 
Hier ftodt er, demm eine neue Rotte, von Peſth herfommend, ftrömt 


390 Die Abwicelung, I. 


ihm entgegen. Kaum hört diefe Bande, hier bringe man ven „Ver— 
räther“, gegen welchen die Nationalverfammlung Tags zuvor die 
Strafe der Konftitutionsverlegung verhängt habe, jo wirft fie fi) 
wüthend auf den Wagen, reift unter dem taufendftimmigen Gebrülle: 
„Jeder mit dem Landesverräther!” ven unglüdlihen Mann aus 
dem Wagen und nad wenigen Minuten liegt fein zerhauener, zer— 
ihlagener, zerfetster umd zerjtampfter Leichnam auf den Bohlen der 
Drüde. 


15. 


Die ungariihe Nationalverfammlung und der wiener Hof be- 
zichtigten einander gegenfeitig der intelleftuellen Urheberſchaft dieſes 
Mordes, mit deffen Begehung jede Ausficht auf eine Berftändigung 
zwifchen Schönbrunn und Budapeſth dahinwar. Es wurde von 
jeiten der Nationalverſammlung die pejther Municipalität zu einer 
ftrengen Unterfuhung und Ahndung diefer „Volksjuſtiz“ aufgefor- 
dert; aber das blieb ein bloßes Wort, obzwar man den Hauptmörder, 
einen Kerl Namens Kolofiy, ganz gut kannte. Cr ift erit nad 
Niederwerfung der ungarischen Revolution, zur Zeit, als das blutige 
Rachegericht des Faijerlichen Hofes über Ungarn erging, gefafjt und 
hingerichtet worden. 

Kofjuth und die radikale Partei erfannten unſchwer, daß die 
Ermordung Lambergs den Reichstagsbeſchlüſſen vom 27. September 
gleihjam das Siegel aufprüdte. Ste konnten nicht mehr zurüd, 
ſondern mufften vorwärts, jofern fie fi) und ihr Land nicht auf 
Gnade, d. h. Ungnade an den Hof ergeben wollten. Das zu wollen 
waren fie aber weit entfernt. Sie gingen alfo vorwärts. Noch in 
derſelben Sitzung, in welcher die Nationalverfammlung am 28. Sep— 
tenıber die Unterfuchung hinfichtlic) des Mordes auf der Schiffsbrüde 
anordnete, gab fie Ungarn eine oberjte Negierungsbehörve, indem ſie 
beihloß: „Maßen gegenwärtig fein eigentliches Mintjtertum be— 


Eljen und Zivio. 391 


fteht, das Land aber nicht ohne Regierung jein kann, jo wird die 
vollziehende Gewalt einjtweilen dent (ſchon friiher betellten) Landes— 
vertheidigungsausihuß übertragen“. Dieſer Ausihuß, welchen 
Kofjuth vorſaß, hatte fortan die oberſte Gewalt in Händen. Die 
überwiegende Mehrzahl der Mitglieder beitand aus Nadifalen, wie 
Nyary, Szemere, Madaraß und anderen; dod fanden fi darın 
auch Liberal-fonfervative, wie Bazmandy und Meßaros. 

Der glänzende Magnat Graf Ludwig Batthyanyt trat in den 
Hintergrund der zeitgeichichtlichen Bühne zurüd. Cr hatte bis zur 
äußerſten Möglichkeit verfucht, die Eingebungen jeines Patriotismus 
mit der fonftitutionellen Jllufion zu verbinden. Sobald er Yanıbergs 
Ernennung erfahren, hatte er ſich zur Gegenzeichnung derſelben bereit 
erklärt. Zu diejem Zwecke eilte er, nachdem er den gejuchten Grafen 
nicht im ungarischen Lager gefunden, nad) Peſth zurück. Unterwegs 
erfuhr er, was jchredliches am 28. September auf der Brücde zwifchen 
Dfen und Peſth geichehen. Noch immer von der firen Idee beherrſcht, 
daß eine Berftändigung mit dem Hofe möglich jet, ging er eilends nad) 
Wien, um dort jeine Quaſi-Premierminiſterſchaft niederzulegen und 
die rechtmäßige Beftellung eines neuen Miniftertums für Ungarn zu 
empfehlen. Ein füntgliches Handſchreiben zeigte ihn an, daß jein 
Rücktritt angenommen und ein gewifjer Baron Bay zu feinem Nach— 
folger ernannt jei. Batthyanyi fand dieſe Ernennung forreft und 
gegenzeichnete dieſelbe. Allein wenige Tage darauf erſchien das 
kaiſerliche Manifeſt vom 3. Oktober, welches der ungariſchen Natton 
förmlich den Krieg anſagte. Dieſes Manifeſt erklärte die ungariſche 
Nationalverſammlung für aufgelöſ't und ihre Beſchlüſſe für nichtig, 
erklärte Ungarn in Belagerungszuſtand und der Herrſchaft des Mar— 
tialgeſetzes unterworfen, ernannte den Kroatenbanus zum Oberbefehls— 
haber aller ungariſchen Truppen und Nationalgarden und beſtellte 
ſelbigen Banus zum königlichen Kommiſſär mit unbeſchränkter Voll— 
macht, ſo zwar, daß, „was der Banus verordnen, verfügen, be— 
ſchließen und befehlen wird, als mit unſerer allerhöchſten königlichen 
Macht verordnet, verfügt, beſchloſſen und befohlen anzuſehen iſt“. 


392 Die Abtwidelung, D. 


Diefer Erlaf, welcher die Magyaren der unbeihränften Gewalt ihres 
Todfeindes anheimgab oder wenigjtens anheimzugeben beabfichtigte, 
ftach endlich dem guten Batthyanyt den Fonftituttonellen Vertrauens- 
ftaar. Er war aber doch noch naiv genug, einem gewiffen Baron 
Keciey, welche objfure Kreatur der Hof mittels Elingenden Gründen 
bejtimmt hatte, die unter jolhen Umftänden pofjenhafte Rolle eines 
Minifterpräfidenten zu übernehmen, Vorwürfe wegen feines „inkon— 
ſtitutionellen“ vwerhaltens zu machen. Dann ging er nad) Ungarn 
zurüd, trat in ein Freiwilligenforps, brad) durch einen Sturz feines 
Pferdes ven Arm, wurde im November vom Wahlbezirk Dedenburg 
in den Reichstag nach Peſth abgeorpnet, Lehnte dem ihm angebotenen 
Borfit im Landesvertheidigungsausihur ab und verſchwand in der 
parlamentariihen Menge, was ihn aber nicht vor der ſtandrechtlichen 
Ermordung jhüßte, als die Zeit gefommen, wo Ungarn gehaynaut 
wurde. 

Bielleiht hätte man fid in Schönbrunn doch befonnen, den 
Jellacicismus jo offen über Ungarn zu verhängen, wie durch Das 
Manifeit vom 3. Dftober geihah, jo man ſchon genau mufite, daß 
und wie inzwiſchen bei der erften einigermaßen ernithaften Probe die 
Gloriole, welche — wenigftens in den Augen der Hoflabale — das 
Haupt des kroatiſchen Helden, Helfers und Heilands umlenchtete, er— 
blichen war. 

Dieje Erbleihung hatte am 29. September ftattgefunden, an 
welchem das jeso vom General Moga befehligte magyariſche Heer 
vom paffiven Widerftande gegen die kroatiſche Invaſion zum aktiven 
übergegangen war. Er hatte bei Pakozd, Velencze und Suforo 
Stellung genommen, um den Banus ein weitere vorbringen zu 
wehren. Jellacic, auf feine numerifche Uebermacht und die befjere 
Geübtheit jeiner Truppen vertrauend, juchte dieſe Stellungen am ge= 
nannten Tage mit Gewalt zu durchbrechen, jcheiterte aber mit dieſem 
Unternehmen vollftändig. Seine rothmänteligen Szereffaner jagten 
den jungen magyariichen Truppen den erwarteten gewaltigen Schreden 
feineswegs ein. Bejonders gut hielt fi) die ungarifche Artillerie. 


Eljen und Zivio. 3893 


Die ganze Einleitung und Yeitung des Angriffs erwies klärlich, daß 
der Ban den Weg vom vorzimmerlichen Ssbelraſſeler zum Bataillen- 
general ſchlechterdings nicht zu finden wuffte. Im übrigen war das 
Treffen eines von jenen, in welchen entſetzlich fiel geblajen, getrom— 
melt und geſchoſſen, aber wenig Blut vergofien wird. Nachdem man 
einander fünf Stunden lang anfanonirt hatte, falkulirte Held Jellacic 
wie Sir Hudibras umd retirirte gen Stuhlweißenburg. Wunderlich 
genug retirirten aud die Ungarn am nächſten Tage, um in einer 
rückwärts beit Martonvafar gelegenen feiteren Stellung der weiteren 
Angriffe von jeiten des Banus gewärtig zu fein. General Moga 
war eben weit entfernt, ein Vorwärts- und Drauflosgänger zu jein. 
Er gehörte zum Gejchlechte der Kunktatores Kunktatorum. Ueber— 
dies hegte der Herr General und hegten mit ihm viele jeiner Offiziere 
ziemlich lebhafte Skrupel, ob fie auch rechtthäten, gegen die ſchwarz— 
gelbe Fahne anzugehen, welche da drüben flatterte. Sie hatten ja 
lange Jahre jelber unter dieſer Fahne geftanden; jo was verwindet 
und vergifit ſich nicht jo leicht. Auch konnte man die Soldaten nicht 
tadeln, daß ihnen das Hereneinmaleins des fonftitutionellen Staats- 
rechtes nicht in den Kopf ging, welches wollte, daß fie „für ihren 
König” und doch auch gegen ihren König füchten, weil derjelbe zu- 
gleid) der Katjer war. in verzwidter, ja geradezu verrückter Kaſus 
allerdings ! 

Gar nicht jerupelhaft, ſondern jehr reſolut dreingreifend erwies 
ji) ein anderer magyariicher Offizier, der Honven - Major Arthur 
Görget, dejjen Name in diefen Anfängen des ungartihen Revolutions— 
fampfes zum eritenmal auftauchte, um bald alle anderen, jogar den 
Namen Koſſuths, zu überglänzen und dann ſchließlich ein Gegenftand 
des Abſcheu's feiner Landsleute zu werden, weil fie in dem Träger 
dejjelben nur noch den „Berräther von Vilagos“ jahen. Er freilid) 
hat mit der eijenfeften und eifigfalten Logik, welche all jein Denken 
regelte, die Brandmarfung zurücdgewiejen und noch i. I. 1867, als 
der furchtbare Vorwurf ſich erneuert hatte, jeinen Landsleuten zuge 
rufen: „hr lehrtet und lehrt no) heute: — „„Die Waffenſtreckung 


394 Die Abwicdelung, I. 


von Vilagos war ein Aft der Verrätherei““. Cure Lehre ift falſch, 
denn jene Kataftrophe war nur der fonfrete, erjchütternd wahre Aus— 
drud der Situation“ .... Görgei, der von allen in der zweiten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die geſchichtliche Bühne getretenen 
Menſchen wohl am weitelten davon entfernt war, ein Gefühlerich und 
Sentimentalitätspolitifer zu fein, jah die Erhebung feines Yandes von 
vornherein für ein mathematijches ‘Problem an, welches unter Um— 
ſtänden gelöf’t und zwar, unter Umftänden, durch ihn und nur durch 
ihn gelöſ't werden fünnte. Wie alle ſcharfverſtändigen und folge 
richtigdenkenden Menſchen war er Ironiker, aber nur im Sinne jener 
Ironie, welche, urfprünglih glühendquillende Empfindung, nachmals 
gefrorenes Herzblut geworden ift. Früher Leutnant bei den Pala— 
tinalhuſaren, batte er, müde, rechts und links vornehme Nullen fi) 
vorgezogen zu jehen, den Dienſt quittirt, um die ſtrenge Schule der 
eraften Wiffenihaften und zugleich Die noch ftrengere ver Noth, ja 
des Hungers durchzumachen. Er war aus diefen Schulen hervor- 
gegangen als ein überlegener Stopf, kühler Kalkulator und Menjchen- 
verächter, feiner Kraft völlig bewufit, jo jehr, daß ihm nur ein Hoch— 
platz genügte, und zwar ein Hochplatz, welcher nur fir Einen 
Kaum hatte. So fand ihn der Ausbrud der ungariſchen Revo— 
lution, welde den feine Dienfte Anbietenden zuerſt im militärtich- 
techniichen Face verwendete. Zu Ende Augufts zum Befehlshaber 
der mobilen Honved im Streife dieſſeits ver Theiß mit der Haupt- 
station Szolnok ernannt, hielt er zu Ende Septembers die Donauinſel 
Giepel unterhalb Budapeſth beſetzt, um eine abfüllige Stromitber- 
ihreitung des Ban oder der Intergenerale vefjelben Roth und 
Philippovic zu vereiteln. Sowie die Operationen ernftlicher 
begonnen hatten, trat das friegeriiche Genie des eben in fein dreißigſtes 
Lebensjahr getretenen Honved-Majors jo merfbar hervor, daß er gar 
bald den Augen vieler feiner Landsleute — auch den Augen Koſſuths 
— als der präbeftinirte Feloherr des Magyarismus erichien. Dies 
insbejondere vom 7. Dftober an, an melden Tage in Folge der 
zweckmäßigen Anordnungen Görgei's das jellacic'ſche Reſervekorps 


Eljen und Zivie. ' 395 


unter Roth vor einem magyariſchen Heerhaufen, welder dem Namen 
nach won Perczel, thatſächlich jenod von Görgei kommandirt wırrde, 
bei Ozora die Waffen jtreden muſſte. Etliche Tage früher ſchon 
hatte aber eine That Görgei's die allgenteine Aufmerkſamkeit auf ihn 
gelenkt, eine That, welche furchtbar deutlich offenbarte, von welchem 
Metall ver Mann war. Am 29. September hatten die Vorpoiten 
des Honved-Majors den Grafen Eugen Zichy aufgegriffen. Der 
Graf, auch als Bauernſchinder verrufen, war auf den verdächtigen 
Wege nach Kalozd begriffen, wo das eintreffen der jellacic’ichen 
Reſerve erwartet wurde. Ber dem Aufgegriffenen fand man einen 
froatiihen Schutsbrief in Korn eines Schreibens des Banus an den 
General Roth, in jenem Wagen ein Bündel der kaiſerlichen Profla- 
mationen vom 25. September. Ohne alles bevenfen und zaudern 
jtellte Görget ven verdächtigen Magnaten als „Vaterlandsverräther“ 
vor ein „Standrecht“, dent er jelber vorſaß. Er bat in feinen 
i. 3. 1852 geprudten Denkwürdigkeiten den Schluß der Procedur 
mit bezeichnendem Lakonismus erzählt. „Ih erfannte, daß Graf 
Zichy die Verbrechen, deren er angeklagt war, wirflid begangen, da— 
durch jein Leben verwirkt und die Strafe der Hinrichtung durch den 
Strang verdient habe. Dies Urtheil wurde von dem geſammten 
Standrechte einjtimmig angenommen und nad erfolgter getjtlicher 
Tröftung des Delinquenten an demſelben vollzogen... . .“ 

Derweil hatte es der froatiihe Held, Helfer und Heiland räth- 
ich gefunden, ven ungariſchen Boden, welder etwas heißer war, ala 
er erwartet haben mochte, zu verlafjen, obzwar ihm nur ein Moga 
gegenüberſtand, deſſen Feldherrngente nicht größer und nicht kleiner 
war als jein eigenes. Nach dem Treffen von 29. September war 
zwifchen den beiden ebenbürtigen Gegnern eine dreitägige Waffenruhe 
vereinbart worden, wahriheinlih um in Muße die Todten zu be- 
graben, deren hüben und drüben zuſammen nicht zwei Dutzende vor— 
handen. Diejen Waffenſtillſtand benütste der heldenmüthige Ban, 
um ſich „jeitwärts in die Büſche“ zu Schlagen. In einem von 
magyariſchen Hufaren -aufgefangenen Briefe gab er die Gründe an. 


396 Die Abwidelung, II. 


„Meine Operationsbafis fing an durch feindliche Eindrücke bedroht 
zu werden. Dfen mit ven beihabenden Mitteln zu nehmen war un— 
möglich, da ungariſche Truppen fanatifirt gegen die meinigen fochten. 
Ich benuste alſo einen mit den Gegnern abgeichloffenen dreitägigen 
Waffenitillitand zu einer Flanfenbewegung gegen Raab, um auf fejter 
Bafis zu ftehen und Verſtärkungen an mid) zu ziehen. Ich bin der 
thunlichiten Unterftügung vom f. k. Kriegsminiſterium gewärtig“. 
Die „feite Baſis“ bei Raab erſchien aber dem Banus jofort nicht 
mehr fejt genug und mittelS einer weiteren Weihe von „Flanken— 
bewegungen“ gelangte er über Ungarijch - Altenburg und Kitjee auf 
deutichen Boden, allmo er am 7. Detober bet Haimburg ftand. So 
endete die Kanfaronade des jellacic'ſchen Einbruchs in Ungarn. Die 
Kroatenoffiziere hätten im September ihren Frauen und Liebchen 
nicht zu Schreiben gebraucht, dieje jollten ihre Antworten nad) Buda— 
pejth adreſſiren. 


II. 
Frankfurter September. 


% 


„Vergeſſen Ste nicht, daß es noch Fürften in Deutichland gibt 
und daß ic) einer verjelben bin!“ 

So Friedrich Wilhelm der Vierte am 14. Auguft von 1848 
in Köln zum Herrn von Gagern, welcher an der Spitze einer Abord- 
nung der deutihen Nationalverſammlung rheinab gefommen war, um 
den 600ſten Tag der Grundſteinlegung zum fölner Dom mitzufeiern. 
Dieje Feier jollte zugleich eine Art Fühler ımd Probe jein, wie es 
denn mit der von der preußiſch-kaiſferlichen Partei im Parlamente 
geplanten deutſchen Katferichaft des Preußenkönigs werden würde. 
Eine ganz abſonderlich überflüffige Statiftenrolle ſpielte hierbei der 
Reichsverweſer Johann ohne Land, welchen man auch mit nady Köln 
geſchleppt hatte. 

Die Probe fiel aber wenig tröftlich und ermuthigend aus. Der 
König ließ den Herrn Parlamentspräfidenten geradezu abfahren, 
indem er ihm mit den erwähnten Morten deutlich genug jagte, die 
vom Herrn von Öagern im Mat proflamirte nationale Souveränität 
des Parlaments ſei ein Schwindel, an welchen jest, im Auguft, nur 
noch Schwachköpfe glauben fünnten. 

Man jieht, die potsdamer Wiederftrammungsfur hatte gut an- 
geihlagen. Was man aber nicht fieht, tft, daß der jo zu jagen Holz- 


398 Die Abwidelung, II. 


ihlägelminf gefruchtet und dem Yiberalismus den Dippel gebohrt 
hätte. Herr von Gagern und feine Mitdeputirten fehrten ebenſo 
vernagelt aus Köln zurüd, als fie hingegangen waren. Der Adhtel-, 
Biertel- und Halbliberalismus, welcher die „ſtaatsmänniſche“ Mehr- 
heit des Parlaments bildete, merkte gar nicht, daß er zur Zeit be- 
reits anhalts- und rüdhaltslos in der Luft ſchwebte. Er hatte ja 
alles erfinnliche gethan, um das Volk von ſich abzuftoffen, und zu— 
gleich hatte er durch das austrumpfen feiner fabelhaft anmaßlichen 
Einbildung, daß in ihm die Souveränität der Nation foncentrirt ſei, 
die Fürſten ſammt Anhang gereizt und herausgeforbert, — dieſelben 
Fürſten, welche es dem Liberalismus ohnehin nicht verzeihen konn— 
ten, daß er im März ihr Netter gemejen war. 

Vorausgeſetzt, daß der im Auguft wiedergeftranmte Abjolutis- 
mug, vorab der königlich preußiiche, überhaupt noch zu einem Kom— 
promiß mit der jo zu fagen „Revolution“ geneigt war, muſſte der 
Liberalismus fo raſch als möglich diefes Kompromiß abſchließen und 
folglich) das deutſche Verfaſſungswerk von dem Luftboden einer ſou— 
veränen Machtvollfommenheitstheorie auf die feftere Bafis der Ver— 
einbarungspraris hinüberftellen. Statt deſſen beliebte e8 den Herren 
„Staatsmännern“, das bislang geipielte ebenfo alberne als unfitt- 
liche Doppelipiel weiter zır ſpielen. Ste wähnten, dadurch, daß fie 
fi) den Anichein gaben — denn mehr als Schein und Schatten war 
e8 ja doch nicht — auf dem „Einzig und Allein“ des Borparlaments 
zu beharren, das Interefje der Maſſen für ihre, der Parlaments- 
mehrheit, Sache feftzuhalten und dadurch den Höfen, Safrifteien, 
Kanzleien und fogar Kafernen zu imponiren. Auf der andern Geite 
wollten die Herren „Staatsmänner” bei jeder Gelegenheit jehen 
laffen, wie aut fie mit den Höfen, Safrifteien, Kanzleien und Ka— 
fernen ftänden, um dadurd den Maſſen zum imponiren. Und mit 
folder jammerfäligen Gaufelei und Schaufelei getrante man fid) Das 
Rieſenwerk der Neugeftaltung Deutſchlands zu fürdern, welches Werf 
im Hochſommer von 1848 ſchon ein hoffnungslojes geworden war. 

Allein die fonveränen Dünfelinge, welche von den beiden Groß— 


Frankfurter September. 399 


kophta's der Rückwärtſerei, Radowitz und Schmerling, jouveräin ge . 
gängelt wurden, dämmerten, duſelten und dahlten weiter im Nebel 
ihrer Staatsmänniſchkeit. Sicherlich hat die Welt nicht zum zweiten- 
mal gejehen, daß jo viele geſcheide Männer mitfammen einen jolchen 
Klumpen von Thorheit ausmachten. Die DOffenbarungen diejer 
Thorheit verjegten einen unſchwer ins Innerfte von Borneo. So 
3. DB. wenn die Barlamentsmehrheit eilends auf Die von der Gegen- 
revolution ausgeftedte Yeimruthe einer beträchtlichen Vermehrung der 
ftehenven Heere „behufs der Stärkung der nationalen Wehrkraft“ 
ging und dadurd der Reaktion 900,000 Soldaten zur Verfügung 
ftellte. Am 15. Juli erhob das Parlament mit 303 gegen 149 Stim- 
men den hierauf zielenden Antrag des „Neihsminifteriums“, deſſen 
Hauptmacher Herr von Schmerling war, zum Beihluffe. Diejem 
Beichluffe nachzukommen beeilten fid) die Höfe. Als ſpät am Abend 
vom 15. Juli die Epopten der Rüdwärtsmpfterien aus ihrem Klubb 
heimgingen, hörte man einen — es war in der „ mondhellen“ Schnur- 
gafie — jagen: „est haben wir gewonnen, jest erdrücken wir mit 
900,000 Armen die Revolution. Die Throne find gerettet!" — 
„Und die Altäre!“ fügte ein anderer hinzu. 


Die gewaltiofe deutſche Centralgewalt iſt von Anfang an ein 
lächerlihes Möbel gemejen und nur um jo lächerlicher, je weitſchich— 
tiger e8 fonftrnirt war. Der Herr Reichsverweſer konnte höchſtens 
ein bißchen intrifeln, befehlen fonnte er nit. Denn womit wollte 
er fi) denn Gehorjam erzwingen? Gr war im Grumde eine mit- 
leidswerthe Figur. Sein Bruder, der boshafte Tartuffe Franz, 
muß ſich nod im Grake darüber gefreut haben. 

Zu Anfang Augufts vervollftändigte der Reichsverweſer fein 


400 Die Abwidelung, IH. 


Keihsminifterium. Fürſt Yeiningen wurde Präfivent, Herr von 
Schmerling befam das Innere, der unzweidentige hamburger Advofat 
Heckſcher das Auswärtige, General von Peuder ven Krieg, Beckerath 
die Finanzen, Mohl die Justiz, Ducdwit den Handel. Diefen Herren 
wurde eine ganze Bande von „Unterjtantsjefretären“ beigegeben : 
man hatte jo viele gute Freunde zu belohnen — unter anderen aud) 
die Herren Baſſermann und Mathy — und die Neichsfrippe war ja 
vorderhand gefüllt. Wie jhamlos man nod im Hochſommer von 
feiten der Partei, welche die deutſche Bewegung verunſchickt hatte, mit 
den zeitläufigen Phraſen handirte, bewies Herr von Schmerling, in— 
dem er jeine Minifterichaft antrat mit der auf der Rednerbühne des 
Parlaments gegebenen Berfiherung, daß „pie Gentralgewalt ein- 
jtehen werde für die bürgerliche Freiheit und Unabhängigkeit Deutſch— 
lands”. Johann ohne Yand ließ auch deutſche Reichsgeſandte aus- 
gehen in die Welt. Die kamen aber jhön an, wo fie nämlid) 
überhaupt anfamen! Der weiße Car wollte von einem ſolchen Send— 
ling überhaupt nichts wifjen, in Yondon trieb man mit dem „Reichs— 
gejandten” Herrn von Andrian höfliches, in Paris mit dem „Reichs— 
geſandten“ Herrn von Raumer unhöfliches Gejpötte. Zum Ueberfluſſe 
hatte Preußen in der Perſon des Generals Willifen einen Extra— 
agenten nad Paris geihict, um den Schritten des Reichsgeſandten 
entgegenzuwirken, und der arme Reichsprofeſſor Naumer ließ ſich von 
jeinem „Freunde“ Willifen an einem jo armsdiden Narrenfeil herum— 
führen, daß die reichsprofeſſorgeſandtſchaftliche Natvität rein unglaub- 
lic) jein würde, falls nicht. der Geſandte jelber mit anerfennenswerth 
biftorifcher Irene jein herumgeführtwerden gejchildert und bezeugt 
hätte. Die ganze Summe der reichsgewaltigen Diplomatif repucirte 
fi) auf eine Null, aber auf eine Null, welche weitbauchig genug war, 
die dide Schmach der Annahme des Waffenftillftandes von Malmö 
in ſich aufzunehmen. 

Derweil betrieb das Parlament als Hauptgeſchäft die gründ— 
liche, gründlichere und gründlichſte Dreſchexei des Idealſtrohs ver 
Grundrechte-Berathung, welche bekanntlich zu Ende gekommen iſt, 


‘ 


Frankfurter September. 401 


nachdem in Deutihland, wie überall in Europa, das dauerhafteſte 
aller Grundrechte, die Gewalt, wieder obenauf war. Zwiſchenhinein 
trieb die Verfammlung auch höhere und höchſte Politik. Der De- 
battirflub in Sankt Paul mufite fih doch auch an jolden Gegen- 
ftänden üben, wie die Aufnahme Pojens oder wenigitens der Hälfte 
von Pojen in den deutſchen Bund und der Waffenitillitand von 
Malmö geweſen find. Der Humor davon war, dafs die emfigen 
Kevefunftbeflifienen glaubten oder auch ſich anftellten, zu glauben, 
fie hätten über die in Rede ſtehenden Angelegenheiten ein enticheiden- 
des oder gar das entiheidende Wort zu ſprechen. Mit verjelben 
Flügelkleidsunſchuldsmiene, woinit der Neichsgejandte Herr Friedrich 
von Raumer in Paris vom Pontius zum Pilatus und von Pilatus 
zum Pontius, d. h. vom Kavaignak zum Baftive und vom Baſtide 
zum Kavaignak ſich ſchicken lieg — welcher lettere an feinem Schreib- 
tiſche fiten blieb, „in Papieren kramend“, wenn der deutſche Reichs— 
gejandte zur Audienz bet ihm erſchien — ja mit derjelben Flügel— 
kleidunſchuldsmiene hielten fih, und zwar noch im Juli und Auguſt, 
gar viele Inſaſſen der Paulskirche für die Träger einer Machtvoll— 
kommenheit, welche etwa der des römischen Senats zur Zeit feiner 
Machthöhe gleichkäme. 

Nachdem die polniſche Inſurrektion in Poſen ſchon im Mai 
durch die preußiſchen Truppen niedergetreten worden, war die Ver— 
handlung der poſener Frage durch das deutſche Parlament zu Aus— 
gang Juli's nur noch eine anachroniſtiſche Redeübung, um deren Re— 
ſultat ſich die preußiſche Regierung entweder gar nicht oder jedenfalls 
nur ſoweit kümmern würde, als es ihr gerade paſſte. Aber geredet 
muſſte nun einmal ſein. Dabei konnte es ſelbſtverſtändlich nicht aus— 
bleiben, daß die Debatte von der Frage, ob ein kleinerer oder größerer 
Theil von Poſen, weil von Deutſchen bewohnt, für deutſches Land 
zu erklären ſei, alsbald zu der großen Frage von Polens ſein oder 
nichtſein ſich erhob. Die Linke, ihren Hauptſprecher Blum vor— 
ſchickend, ging darauf aus, als Ergebniß der ganzen Verhandlung ein 
principielles Verdikt zu Gunſten der polniſchen Nationalität zu er— 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 26 


402 Die Abwidelung, III. 


wirfen, eine fpäte Wortfühne jo zu jagen für die Thatfünde der Ver- 
wichtung des polniihen Staats. Es gelang ihr nicht, obgleich, ihr 
vie beredſame Stimme des einzigen in der Verſammlung figenden 
Polen zur Hilfe fan, die Stimme des Priefters Janifezewift, deſſen 
nicht weniger den Verftand als das Gefühl anfprechende, won ber 
ganzen Glut polniiher Vaterlandsliebe durchwärmten und dod) maß— 
voll-evel gehaltenen Beſchwörungen einen tiefen Eindrud hervorbrach— 
ten. Dem Polen gebührte der erjte Preis in diefem Redenturnier, 
welches am Grabhügel der lebendig eingefargten Polonta abgehalten 
wurde. Am nachdruckſamſten jpracd gegen Polen und für die deut- 
ichen Interefien Herr Wilhelm Jordan, deſſen Rede ein Salto war, 
womit er von der Linken zur Rechten hinüberſprang, um am leßteren 
Orte die Beitallung eines „Marinerath8“ der deutihen Zukunfts— 
marine aufzulejen*). Einen großen Sturm erregte Arnold Ruge 
mit feinem beit dieſer Gelegenheit geiprocdhenen: „Wir miüfjen wün— 
ſchen, daß die Tyrannen der Italiener, die Tilly der neueren Zeit, 
die Radetzky geichlagen werden“. Das Schmwarzgelb im Gale 
brauſ'te wüthend auf und das Schwarzweiß zeterte getrenlich mit. 
Für ein heiteres Intermezzo jorgte der Herr Fürſt Lichnowſky, welcher 
als ehtboruffiicher Junker mit der deutfchen Grammatik auf geſpann— 
tem Fuße ftand und das lapidariſche Diktum von fi gab: „Das 
hiſtoriſche Recht hat fein Datum nicht“. Die principielle Entjchei- 
dung der Verſammlung fiel gegen die Linke und gegen Polen aus. 
Der Schwerpunkt der ganzen Verhandlung lag augenſcheinlich in der 
Annahme oder Berwerfung des von Schaffrath beantragten Wahr- 
ſpruchs: „Die deutſche Nationalverfammlung erklärt die Theilung 
Bolens für ein ſchmachvolles Unrecht und fie erfennt die heilige Pflicht 


*) Herr Jordan hat nachmals feinen Sprung dichterifch zu rechtfer— 
tigen gefucht. Sein Myfterium „Demiurgos“ (1852 —54) ift nebenbei auch 
eine oratio pro domo in Verſen. Es enthält eine Menge von wahrhaft 
glänzenden Stellen und iſt auch als ganzes von Bedeutung, indem es vor— 
trefflich nachweiſ't, wie ein deutſcher Idealiker zum Philiſter und ein deutſcher 
Freigeiſt zum Pietiſten wird. 


Frankfurter September. 403 


des deutſchen Volkes, zur Wiederherſtellung eines jelbftftändigen 
Polens mitzuwirken“. Mit 331 Stimmen gegen 101 wurde dieje 
Erflärung verworfen. 


3. 


Das Vorparlament hatte zu feiner Zeit anders entſchieden. 
Damals hatte der Champagnerichaum der Mürzbegeifterung nod) ge- 
perlt ; jegt war die Bierhefe der gemeinen Wirflichfeit obenauf. Das 
ift immer der Verlauf der weltgeihichtlihen Bewegungen und Erhe- 
bungen: rein und ſchön geht zu Anfang der Stern der Zufunftshoff- 
nungen auf, um jehlieglic, in dem Sumpf der Lebensproſa kläglich zu 
erlöihen. Mit Ivealpolitif beginnen die Nevolutionen, aber, bald 
zur Erkenntniß gelangt, daß fie ihre Idee nicht zu verwirklichen ver— 
mögen, endigen fie mit ftumpfer Hingabe an die Interefjen einer 
egeiftiichen Realpolitik. Cs ift ja dafür gejorgt, daß die Bäume 
nicht in den Himmel wachſen, und nicht weniger dafür, daß die Bölfer 
nad) Jahrtauſenden noch jo große Kinder fein werden, wie fie vor 
Sahrtaufenden ſchon waren. 

Hat einmal eine Partet fich auf die jchiefe Ebene der Princip- 
lofigfeit gefetst, jo muß fie dieſelbe Hinabrutihen, um, am untern 
Ende angefommen, alles hinzunehmen, was die herrichenden Gewalten 
ihr bieten. Sie thut das, nennt es aber „mit Thatſachen rechnen“, 
mit denjelben Thatſachen, welche fie mittels der eigenen Erbärmlich— 
feit möglich machte und herbeiführen haff. 

Die Abftimmung vom 27. Juli in Saden Polens hatte ge- 
zeigt, daR Die große Mehrheit des deutſchen Parlaments mit der 
ivealihönen Freiheitsfrage, wie fie im März gejtellt worden, nichts 
mehr zu thun haben wollte. Die Linke muffte demnach jchon jett 
einjehen, daß es eine Thorheit, ſich nod) länger an dem paulsfird- 


lichen Nationalihwag zu betheiligen. Sie mochte jedoch hoffen, daß 
\ 26” 


404 Die Abwidelung, II. 


die Mehrheit, nachdem diejelbe den freiheitlihen Standpunft aufge- 
geben hatte, wenigſtens den Standpunft der nationalen Interefjen- 
politif ſtandhafter vertheidigen, gemeinihaftlih mit ihr wertheidigen 
würde. Nichtillufionäre jagten freilich worher, daß diefe Hoffnung 
eine täuſchende, indem das weitere hinabrutichen der Majorität auf 
der bejagten jchiefen Ebene eine zwingende Nothwendigfeit jet. Der 
September brachte die traurige Betätigung diefer Vorherſagung; 
denn er brachte die Abftimmung über den berüchtigten Waffenſtillſtand 
von Malmö, welchen von fetten des Parlaments anzuerkennen joviel 
hieß, als das mit jo großbrodigen Phrajen proflamirte Recht Schlej- 
wig-Holfteing wiederum den Dänen preisgeben. Man bot ver Mehr- 
beit diefe Schmach als vollendete Thatfache, und maßen „Staats— 
männer“ nur mit Thatlachen rechnen, vechneten fie natürlich auch mit 
diejer, d. h. fie ſteckten, nachdem fie fich ein bißchen phraſeologiſch ge— 
jpreizt hatten, die Schmad) gehorſamſt ein. Diejelben Leute, welche 
in der Bolenfrage jo berjerferiich mit dem „Schwerte Germania’s“ 
gerafjelt hatten, weil es jo ungeführlid) war, auf dem Grab eines 
Bolfes großhannſig herumzutrampeln, diejelben Leute behielten jest 
das bejagte Schwert wohlweiſlich in der Scheide, weil der König von 
Preußen merken ließ, ſein angebeteter Schwager Car wollte e8 nicht 
haben, daß die jchleswig-holfteiniichen Nebellen nody Länger gegen 
ihren legitimen Herrn und Gebieter, den Dänenkönig, unterjtütt 
würden. 

Das Motiv, welches den berliner Hof im April beſtimmt hatte, 
Truppen nad) den Elbherzogthiimern zu jenden, war längit hinfällig 
geworden. Die Armee hatte ſich „rehabilitirt“, was übrigens auch 
gar nicht nöthig gewejen wäre. Wenigitens war es höchſt überflitifig 
in den Augen der ungeheuren Mehrzahl der Bewohner Berlins und 
des gefammten preußiſchen Staates, welche ven furzen revolutionären 
Märzbierrauſch ſchon lange ausgejchlafen hatten und zur ordonnanz- 
mäßigen Stimmung königlich preußiſcher Unterthanſchaft zurücdge- 
fehrt waren. Es ift nicht wahr, daß die im Juli ins Leben getretene 
„Kreuz-Zeitung“ nur Ausdrud und Organ einer „Kleinen, aber 


Frankfurter September. 405 


mächtigen Partei” gemejen. Sie war vielmehr Ausprud und Organ 
des echten Boruſſenthums, welches ſich wieder völlig auf fich jelber 
bejonnen, jeine Märzverblüffung verwunden und das Schwarzweiß 
mit Bewufitfein dem Schwarzrothgold entgegengeftellt hatte, d. h. 
das Preufenthum dem Deutſchthum. Hunderttauſende von „libe- 
ralen“ Philitern, welche öffentlich über die Kreizzeitungspartei 
ihimpften, waren insgeheim der Fahne dieſer Partei zugeſchworen 
und, ohne es ſich jelber einzugejtehen, eifrige Affilirte des „Treu— 
Bundes“, welcher, in den höfiſch-junkerlich-pietiſtiſchen Kreiſen wur- 
zelnd, an geſchickter Thätigfeit und meitreichendem Erfolg alle popu- 
lären Klubbs und Vereine mitfammen aufwog und bald weit über- 
wog. Ganz natürlich! Die Treubündler wufiten ganz beſtimmt, 
was jie wollten: die Herftellung, Strammung und Straffung des 
Gottesguadenthums, während die Klübbler und Vereinler fortfuhren, 
mit der demokratiſchen Bhrajenftange im fonftitutionellen Nebel herum— 
zufahren. Cine feine Schickſalsironie Ing übrigens darin, daß die 
Servilen und Muder genöthigt waren, zu ihren Reagitationszwecken 
der demokratiſchen Agitationsmittel, wie das Vereinsweſen ſie darbot, 
ſich zu bedienen. Es war geradezu ſpaſſhaft mitanzuſehen, wie die 
heftigſten Feinde der Demokratie mit den Formen derſelben han— 
dirten. 

Der Treubündelei muſſte die Unterſtützung der ſchleſwig-hol⸗ 
ſteiniſchen „Rebellen“ ein Gräuel ſein. Die geheimen Oberen des 
Treubundes, die Myſtiker und Mucker bei Hofe, hatten auch von vorn— 
herein dafür geſorgt, daß dieſer Gräuel keine allzu großen Dimen— 
ſionen gewänne. Ihre Bemühungen wurden von auswärtsher mächtig 
unterſtützt. Der Neidhammel England erhob ein lautes Geblöke, 
daß, wenn die Elbeherzogthümer deutſch wären, Deutſchland dazu 
kommen würde, ja müſſte, eine Seemacht zu werden. Die Oligarchie, 
welche England regiert, die ſelbſtſüchtigſte Menſchenſorte, welche exi⸗ 
ſtirt, ſtrengte ſich nad Kräften an, dieſe Möglichkeit zu verhindern. 
Der Erzhumbuger Palmerfton ging, ſobald es galt, Deutſchland 
tückiſche Streiche zu jpielen, Hand in Hand mit dem Garen. Diejer, 


406 Die-Abwidelung, IH. 


weicher die Oſtſee für einen ruffiihen See anzufehen gewohnt war, 
fühlte jih natürlich zum Schutzherrn Dänemarks berufen und war 
gar zärtlich um feinen däniſchen Vaſallen beforgt. Auch um feinen 
preußiſchen; denn daß Car Nikolai feinen lieben Schwager Friedrich 
Wilhelm den Vierten durchweg auf Vaſallenfuß behandelte, könnten 
nm Hofhiftoriei und Kronſyndici beftreiten wollen. Die carifche 
Diplomatie blies daher in Potsdam bald die fanfte Flöte freund— 
ſchaftlicher Beſorgniß und Warnung, bald ftrid) fie den Brummbaf 
der Drohung, um dem Skandal einer Unterftüsung der jchlefwig- 
holſteiniſchen Rebellion jeitens der Krone Preußen ein Ende zu 
machen. 

Auch den nicht eben großen led, wo Friedrich Wilhelm gut- 
müthig war, wuſſten die Gegner bejagter „Rebellion“ geſchickt zu 
treffen, indem fie dafür jorgten, daß all das Jammer- und Zeterge- 
ſchrei, welches die Geſchäftsleute in den preußiſchen Oſtſeeſtädten und 
anderwärts über die Beeinträchtigung ihrer Intereſſen durch die 
däniſche Kaperei erhoben, dem Könige zu Ohren kam, unterwegs na— 
türlich noch zweckdienlich verſtärkt und romantiſch variirt, damit es 
den königlichen Ohren leichter einginge. Wie hätte ein ſo frommer 
und gutmüthiger Herr derartigen Beſchwörungen widerſtehen können? 
Er widerſtand auch wirklich nicht, und was ſeine liberalen Stroh— 
männer von „konſtitutionellen“ Miniſtern anging, jo waren dieſelben 
viel zu gute Preußen, um einen andern Willen haben zu wollen als 
ihr königlicher Herr. Außerdem konnte man ja, falls ſich die 
Strohmänner etwa unangenehm machen wollten, über ihre Köpfe 
hinweg machenſchaften, wie es der Mucker- und Myſtikerklike be— 
liebte. 


4. 


Wer in der Paulskirche und anderwärts nicht zu der heiligen 
Duſelmannſchaft gehörte, welche in Friedrich Wilhelm um jeden Preis 


Frankfurter September. 407 


und unter allen Umſtänden ven dreimal jafrofanften deutihen Kater 
ſehen wollte und darum ſchon jet alles von diefer Majeftät aus— 
gehende als über allen Zweifel erhaben, als vollfommen gut und 
vollendet anerfannte, der hatte freilich Schon im April und Mat iiber 
die preußiſche Kriegführung in den Herzogthümern bevenflich den Kopf 
Ihütteln müfjen. 


Der ganze Krieg verhielt ſich zu einem wirklichen, wie der Mar— 
Thal „Druff“ zum Marſchall „Vorwärts“. Es war ein Schein- 
frieg, weldyer je nad) den Schwankungen der füniglihen Stimmung 
zu Potsdam eine ernftere oder weniger ernſte Miene annahm. Wir 
dürfen wohl glauben, daß diefe Komödie nicht jehr nad) dem perſön— 
lichen Geſchmacke des Generals Wrangel geweſen it. War in Berlin 
auf anbringen von jeiten der franffurter PBarlamentsmehrheit, in 
welcher die Schlejwig-Holfteiner, Dahlmann voran, eine gewichtige 
Stimme bejaßen, die Erinnerung obenauf, daß nicht allein das 
preußiſche Miniftertum, jondern Friedrich Wilhelm jelber es öffent- 
lich ausgeiprochen hatte, die Ehre Preußens erforderte, daß der ihm 
von Deutjhland übertragene Krieg gegen Dänemark energijch zu Ende 
geführt werden müſſte, jo erhielt Wrangel den Befehl, vorwärts zu 
gehen, gen Jütland und nad) Zütland hinein. Verſtummte dagegen 
dieje Erinnerung vor dem Gemurmel chriſtlich-germaniſcher Pitaneien 
oder vor den Tönen der carijchen Flöte oder des cartihen Brumm- 
bafjes, jo ging dem preußiſchen General der Befehl zu: Rückwärts! 
Rückwärts! und unjern guten Freunden, ven däniichen Feinden, ja 
nicht zu wehe gethan! 


Es unterſteht gar feinem Zweifel, daß dieſes nichtzuwehethun 
dem Marſchall Wrangel ſchon bei ſeinem Abgange in die Herzog— 
thümer eingeſchärft worden ſein mußte. Denn ſonſt wäre das ver— 
halten des preußiſchen Generals an jenem 23. April, wo das Danne— 
virke bei Schleſwig von den Deutſchen erſtürmt, die Dänen geſchlagen 
und zum Rückzuge genöthigt wurden, ſchlechterdings unerklärlich. Die 
deutſche Uebermacht war ſo beträchtlich, der Geiſt der Truppen ſo 


408 Die Abwidelung, IH. 


trefflich, daß es nur des guten Willens von jeiten des Dbergenerals 
bedurft hätte, um Das geſammte däniſche Heer aufzureiben oder zur 
Waffenftredung zu zwingen. Allein Wrangel wollte nicht, durfte 
nicht wollen. Es windete zur Zeit gerade jtarf ruſſiſch in Berlin. 
Inmitten der Schlacht, als alles im bejten Zuge war, ließ der Mar— 
ihall Appell blafen und eine Gefechtspauje von einer Stunde ein- 
treten, jagend: „sch will jest zu Mittag ejjen und ich will in Ruhe 
eſſen“. Es wurde 3 Uhr Nadınittags, bis diefes wichtige Mar- 
ihallsgeichäft beendigt war und dem Marihall „Druff“ die Luft 
anzufommen jhien, die Dänen wieder etwas zu beunruhigen. Sie 
ftanden zur Stunde mit ihrer Hauptmacht in und um Gottorf. 
Wrangel nahm eme lange Befihtigung der feinplichen Stellung 
mittels des Fernrohrs vor und ſagte dann zu dem Prinzen Friedrich 
von Schlefwig-Holftein-Noer, dem Befehliger der Schlejwig-Holfteiner: 
„Sch denke, wir hören für heute auf”. — „Excellenz, entgegnete der 
Prinz, werden mir verzeihen, wenn id) Dagegen remonftrire, und zwar 
weil wir morgen früh dann gerade dafjelbe zu wiederholen haben 
werben, was wir jo eben glücklich ausführten. Die Stellung des 
Feindes tft, jo lange er im Beſitze des Schloſſes Gottorf und der 
Hauptlanditraße bleibt, völlig fo ftarf als die von ihm verlafjene. 
Jetzt ift fie nicht gehörig bejet und der Feind durch das heutige Ge— 
fecht erſchüttert, wo hingegen unfere Truppen in gehobener Stimmung 
find. Wenn Sie mir erlauben, die drüben aufgeftellte Batterie zu 
vertreiben und den TIhiergarten zu bejegen, danı muß das Schloß 
geräumt werden“. — Worauf der Marſchall „Druff“: „Nein, id) 
will für heute aufhören“. Während dieſes Geſpräches hatte jid) die 
ichlejwig-holfteiniihe Kolonne ſchon zum Angriffe formirt, brannte 
darauf, vorzugehen, und fielen die Jäger bereits in einer Plänklerkette 
aus. Aber ver Marihall „Druff“, dies wahrnehmend, jagte wie 
derum zu dem Prinzen: „Ich jage Ihnen, wir wollen aufhören. 
Berftehen Sie mir?” In Folge diefes wrangel’ihen drauflosgehens 
fonnten die Dänen am Abend ihre Stellung bei Gottorf räumen und 
ihren Rüdzug gen Flensburg bewerfitelligen. Daß man „unire 


Frankfurter September. 409 


guten Freunde die Feinde“ *) entwijchen laſſen wollte, geht ſchon 
aus den Anordnungen zur Schladht vom 23. April hervor. Sorgte 
man doc) dafür, daß faum die Hälfte der deutichen Truppen wirklich) 
zum ſchlagen kam. Am 24. ſodann wäre es leicht gewejen, gleid)- 
zeitig mit den Dänen bei und in Flensburg anzukommen und denſelben 
ihre Artillerie abzunehmen; allein da hätte ja der Spaß des Schein— 
ſieges aufgehört und der Ernſt des Seinkrieges angefangen. Zu 
berückſichtigen, daß ein ſolcher Scheinkrieg doch immerhin ſo vielen 
braven Männern nutzlos das Leben koſtete, hieß natürlich der chriſtlich— 
romantiſchen Frömmigkeit zu viel geſunden Menſchenverſtand und zu 
viel natürliches Gefühl zumuthen. Es muſſte auch noch viel Waſſer 
die Spree hinabſchleichen, bis man in Berlin zur Einſicht kam, daß 
man anderswohin horchen müſſte als nach Petersburg und London, 
ſo man Deutſchland in Preußen aufgehen machen wollte. 

Daß man mit vollem Bewuſſtſein die Scheinkriegsgaukelei in 
Scene geſetzt hatte, ſteht hiſtoriſch feſt ſeit Ende Juni's von 1848, 
allwo zu nicht geringer Ueberraſchung und großem Leidweſen der 
Duſelmänner in Sankt Paul die berüchtigte wildenbruch'ſche Note 
vom 8. April in engliſchen, franzöſiſchen und deutſchen Zeitungen 
erſchien, wohin ſie vielleicht durch däniſche Veranſtaltung den Weg 
gefunden oder noch wahrſcheinlicher durch engliſche, in Folge einer 
Anwandelung Lord Palmerſtons, dem berliner Hofe wieder mal eine 
Probe von palmerſton'ſchen „Tricks“ zu geben. Genug, es kam zu 
Tage, daß die preußiſche Regierung das bekannte Axiom, die ehrlichſte 
Politik ſei die beſte, folgendermaßen interpretirt habe. Während ſie 
öffentlich die Kriegführung in den Elbherzogthümern als eine natio— 
nale Pflicht und Nothwendigkeit übernommen hatte, war ſie zugleich 
im geheimen bemüht geweſen, an den Hof von Kopenhagen die Ver— 
ſicherung gelangen zu laſſen, daß die Sache nicht ſo ernſt gemeint ſei. 
Vor ihren nach Holſtein marſchirenden Truppen her ſandte ſie einen 

) Viv' nos amis, 


Nos amis les enn 'mis!“ Béranger. 


410 Die Abwidelung, IL. 


geheimen Agenten, den Herrn Major von Wildenbruch, welcher be- 
auftragt war, Sr. Majeität von Dänemark auseinanderzufesen, daß 
Preußen der Aufforderung von jeiten des deutichen Bundes, in den 
Herzogthümern zu interveniren, unmöglich ſich habe entziehen können, 
daß es aber, falls Dänemark Vernunft annähme, jeinerjeits alles 
thun wollte und würde, um die Streitfrage zwiſchen Schlefwig-Holiftein 
und Dänemark zu einem billigen Ausgleiche zu bringen. 

Der fopenhagener Hof nahm aber feine Vernunft an, konnte 
auch Feine annehmen, maßen er von der „eiderdäniſchen“ Partei be- 
herrſcht wurde, welche Krieg ſchnaubte und won nichts wifjen wollte 
als von einer gewaltiamen Niederwerfung der ſchleſwig-holſtein'ſchen 
„Rebellen“. Das däniſche Kabinett bedeutete daher den Herrn von 
Wildenbruch, mit feinen preußiſchen Vermittelungsvorſchlägen hinzu- 
gehen, von woher er gefommen. Das war für den Geheimgejandten 
der Großmacht Preußen noch nicht däniſchgrob genug. Er hatte 
Befehl, nachdem ihm der däniſche Minifter des Auswärtigen auf Die 
rechte Wange geichlagen, nun auch noch die linke hinzuhalten. Es 
haugwitzelte eben damals bevenflich in Berlin und man trieb daſelbſt 
wieder einmal Politik nad) dem Muſter von 1805—6. Man wollte 
da etwas und dort etwas und that überall nur halbes. Wenn das 
preußiſche Kabinett befürchtete, durch ein ernftes und entſchiedenes 
anfaſſen der ſchleſwig-holſtein'ſchen Sache eine europäiſche Koalition 
gegen ſich heraufzubeſchwören — welche Furcht übrigens nur ein ſehr 
leicht zu bannendes Tagesgeſpenſt war — ſo konnte es ja das an— 
faſſen überhaupt bleiben laſſen. Es hat ja durch die Art und Weiſe 
ſeines damaligen anfaſſens und wiederfahrenlaſſens doch nur Unheil 
über die Herzogthümer gebracht. 

Die Note, welche Herr von Wildenbruch am 8. April von 
Sonderburg aus an Se. Excellenz den königlich däniſchen Miniſter 
der auswärtigen Angelegenheiten richtete, läſſt keinen Zweifel über 
die wirklichen Abſichten aufkommen, welche den berliner Hof leiteten, 
als er in Schleſwig-Holſtein intervenirte. „Preußen — heißt es in 
dieſem merkwürdigen Aktenſtücke — wünſcht vor allen Dingen die 


Frankfurter September. 411 


Herzogthlimer ihrem König-Herzog zu erhalten und iſt gleich weit 
entfernt davon, feinem eigenen Intereſſe oder dem Chrgeize dritter 
Perjonen dienen zu wollen. Einzig der Wunſch, die radikalen und 
republikaniſchen Elemente Deutſchlands zu verhindern, ſich unheil— 
bringend einzumiſchen, bewog Preußen zu den gethanen Schritten. 
Das einrücken preußiſcher Truppen in Holſtein hatte den Zweck, das 
Bundesgebiet zu ſichern und zu verhindern, daß die republikaniſchen 
Elemente Deutſchlands, an welche die Herzogthümer als letztes Mittel 
der Selbſterhaltung hätten appelliren können, ſich der Sache bemäch— 
tigten“. Das alſo war des Pudels Kern? Die lächerliche Angſt 
vor dem Schatten eines Schattens war die „deutſche“, war die „na— 
tionale“ Politik Preußens! Nicht zum Schutze der von ſeiten Däne— 
marks brutaliſirten Schleſwig-Holſteiner, nein, ſondern um „vor allen 
Dingen die Herzogthümer ihrem König-Herzog“, dem Dänenkönige, 
„zu erhalten“, hatte ſich Preußen bewaffnet aufgemacht. Gewiß, 
der arme Marſchall „Druff“ oder vielmehr Nichtdruff, ſowie ſeine 
Offiziere und Soldaten waren tief zu beklagen, daß ſie dazu ver— 
dammt geweſen, durch ihren Feldzug nur einen Kommentar zu dem 
kläglichen Texte der wildenbruch'ſchen Note zu liefern. Wäre ein 
Mann an der Spite des preußiſchen Staates geftanden, jo würde 
ihnen dieſes traurige Geſchäft eripart worden fein. 

Im übrigen darf und ſoll nicht verſchwiegen werden, daß die 
Bevölferung der Herzogtbümer, wie viel guter Wille und braver 
Muth inbejondere in der Jugend vorhanden war, für ihre Befreiung 
bei weitem nicht that, was fie thun fonnte. Zur einem guten Theil 
war an dieſem nichtgenugthun die offenfundige Unfähigkeit und Kraft— 
lofigfeit der Leute Tchuld, welche das Vertrauen ihrer Mitbürger auf 
die Stühle der proviſoriſchen Negierung gejett hatte; zu einem 
größeren Theile aber nody das Bauernphlegma und der Bauerngeiz, 
welche jeder unbefangene Beobachter als Merkmale des jchlejwig- 
holſteiniſchen Volkscharakters wird erfennen müfjen. Diejer Volks— 
charakter ift jedes Antriebes zu großen Entihlüfjen, fühnen Wag- 
niffen und ſchweren Opfern aus ſich heraus bar und ledig. Golden 


412 Die Abwidelung, II. 


norddeutſchen Bauernnaturen, wie jie nun einmal im Laufe der Zeit 
geworben find, wird es nicht im Traume einfallen, von fid) aus und 
jelbftftändig vorzugehen. Sie erwarten alle Impulſe von oben herab, 
fie müfjen und wollen fommandirt werden. Die Mitglieder ver 
Kegierung waren aber Kommandanten dag Gott erbarm’, den 
einzigen Theodor Dlihaujen etwa ausgenommen, welcher ja unter 
jeinen fonferwativen und viertelsliberalen Kollegen nicht auffommen 
fonnte. 

Alle Beranftaltungen der Negterung hatten einen Fleinlichen, 
bäueriſch-knauſerigen Zuſchnitt. Die Schweizer haben dafür das 
trefflihe Wort „knorzig“. Da, e8 war eine ftümperhafte Knorzerei 
von A bis 3. Was wollte denn das jagen, daß man höchſtens 
2 Procent der Bevölferung unter die Fahnen vief? Durfte man 
denn einem Bolfe, das um feine nationale Selbititändigfeit und po— 
(itifche Unabhängigkeit Fampfen jollte, nicht mehr zumuthen? Mit 
Recht hat man gegenüber ſolchem Gefnorze daran erinnert, daß 
Preußen, das zerriffene, arme, ausgejogene, ausgeprejite Preußen 
i. 3. 1813 nicht weniger als 5 Procent feiner Bevölkerung unter 
Waffen jtellte. Und wie verſchwindet vollends die vielbejungene Schlef- 
wig-Holfteinerei, wenn man fie an Hingebung, Opferfreudigfeit, Ver— 
achtung des Todes und fchlimmeren als des Todes mit den In— 
jurrefttonen Polens vergleicht, vorab mit der von 1863! Alles 
Leid, welches die Dänen den Bewohnern der Elbherzogthümer an- 
gethan, ift nur ein Flämmchen Fegfener im Vergleiche mit ver Hölle 
vol Weh, Wuth und Verzweiflung, zu welder der Carismus Polen 
gemacht hat, und die Kämpfe der Schlefwig-Holfteiner gegen die Dänen 
verhalten ſich zu denen der Bolen gegen die Moſkowiter, wie ein Feld— 
manöver fid) zu einer Feldichlacht verhält. Auch die Ungarn find in 
der Jeit von 1848— 49 mit ihrem Gut und Blut ganz anders ver— 
ſchwenderiſch geweſen als die ſchleſwig-holſteiniſchen Edelleute und 
Bauern. Selbſtverſtändlich ſoll mit alledem kein Tadel aus— 
geſprochen, ſondern nur eine Thatſache konſtatirt werden, — eine 
Thatſache, welche wohl geeignet wäre, Schwachköpfen von Deutſch— 


Frankfurter September. 413 


dümmlern zu zeigen, daß fie gutthäten, ihr Schmeichelfüßholz etwas 
weniger häufig der Nation vorzuraipeln. 


5. 


Sogar ein Scheinfrieg hatte ausgereicht, im April die Dänen 
aus Schlefwig wegzufegen, und im Mat jtand Wrangel in Jütland. 
Das Feitland war demnach fir Dänemark verloren; aber es dachte 
feineswegs an Nachgiebigfeit und die won feiten des deutſchen Bundes— 
tags halb und halb angekündigte Abficht, Schlefwig zum deutjchen 
Bunde zu jchlagen, bot den Feinden Deutichlands, welche der fopen- 
hagener Hof immer dringender um Hilfe anging, bot in eriter Pinte 
Ruſſland und Schweden, in zweiter England eine formale Handhabe 
zur Einmiſchung. Ruſſland und Schweden verfchritten fofort zu 
offenen Drohungen, ja.zu drohenden Handlungen. Die erjtere Macht 
rüftete geräuſchvoll und fündigte Das erſcheinen einer ruſſiſchen Flotte 
in der Oſtſee an, die zweite hieß Schon am 9. Mai durch ihren Ge- 
jandten in Berlin erflären, fie werde den Dänen ein Hilfeforps zu- 
jenden, jammelte Truppen bei Malmd und ſchiffte an 5000 Mann 
nad) der däniſchen Inſel Fühnen herüber. 

In Berlin vegierten fein großer Kurfürft und fein großer König, 
jondern nur ein ſchwachherziger Nomantifer und impotente März- 
mintiter. Es wäre daher eine jchreiende Unbilligfeit geweſen, von 
jelhen Kräften oder vielmehr Schwächen zu verlangen, daß fte die 
allerdings ſchwierige und gefährlich ausjehende Sachlage bewältigten. 
Davon konnte um jo weniger die Rede fein, als ja Dänemarf, Ruff- 
land, Schweren, England und wer ſonſt noch Deutichland feindwar, 
am höfiſch-chriſtlichen Germanenthum einen eifrigen umd mächtigen 
Verbündeten hatten, welcher ven Untergang der ſchleſwig-holſteiniſchen 
„Rebellion“ von ganzem Herzen herbeiwünſchte, obzwar ein näheres 
zuſehen ſofort hätte klarmachen müſſen, daß die Sache der Herzog— 


414 Die Abwidelung, II. 


thümer, weit entfernt, eine revolutionäre zu fein, vielmehr eine durch 
und durch fonjervative war. Es wurde demnach zum NRüdzuge ge- 
blafen, und maßen Yord Palmerfton begreiflicherweife das erjcheinen 
einer ruſſiſchen Flotte im Belt und einen langwierigen Kriegstrubel 
um die Oſtſee herum für mit den engliſchen Interefjen nicht jehr ver- 
täglich anjehen muffte, jo verhandelte er eifrig mit dem preußiſchen 
Gefandten, um Preußen eine nicht gar zu unehrenhafte Rückzugsbaſis 
gewinnen zu helfen. Der Yord fam endlich mit Herrn von Bunſen 
überein, daß als Borausjegung von Friedensunterhandlungen die 
Räumung nit nur Jütlands, ſondern auch Schlejwigs von feiten 
der deutſchen Truppen ftattfinden und als Friedensgrundlage die Ab- 
trennung des jüdlichen (deutichen) Schlefwigs vom nördlichen (däni— 
hen) angenommen werden jollte. Die preußiſche Regierung theilte 
dieje Vereinbarung dem damals nod) amtenden Bundestage mit und 
diejer trat mit etwelcher Verklauſulirung derjelben bei. 

Alsbald begann Wrangel feinen Rückzug, die Bewohner ver 
deutichen Bezirke won Nordſchleſwig der däniſchen Rache preisgebend. 
Am 28. Mat ftand er bereits rückwärts in Flensburg. Weil nun 
der Starke muthig zurüdwih, ging der Schwache frei vor. Die 
Dünen hatten faum wahrgenommen, daß und wie der berliner Hof 
durch ruſſiſche, ja jogar durch Schwedische Drohungen ſich einfhüchtern 
ließ, als fie gegen Preußen und Deutſchland in einer jo übermüthigen, 
höhniihen und herausfordernden Manier auftraten, auftreten durften, 
daß alle Welt mit Händen greifen fonnte, die deutihen Fürſten und 
Bölfer jeien die gutmüthigiten Menſchen unter dem Himmel und aud) 
die beften Chriften, welche getreulich ihres hochgeliebten loyalen Doktor 
Luthers Yehre befolgten: — „Ein Chrift ift ganz und gar Paſſivus, 
der nur leidet; der Chrift muß fi), ohne ven geyingjten Widerſtand 
zu verſuchen, geduldig ſchinden und drücken laſſen“. Dänemark ver⸗ 
warf die von England zuwegegemachte, von Preußen und dem deut— 
ſchen Bund angenommene Unterhandlungsbaſis und ſtellte ſeinerſeits 
eine auf, deren Annahme von ſeiten Deutſchlands mit dem aufgeben 
der Herzogthlimer gleichbedeutend gemejen wäre. Noch aungeſichts 


Frankfurter September. 415 


der zur Eider zurückweichenden preufiichen Armee begannen die der— 
jelben folgenden Dänen in Schlejwig gegen die Deutihen allerhand 
DBrutalitäten, welche freilih unter weniger guten Chriften und 
Lutheranern etwas ganz anderes hervorgerufen hätten als die Ab- 
jendung einer Klage- und Bittgefandtihaft an die Inſaſſen ver 
Schwatzbude von St. Paul. Die proviforiiche Regierung der Herzog- 
thümer benahm ſich in dieſer Kriſis noch jämmerlicher, als ihrer Zu- 
ſammenſetzung nad) von ihr erwartet werden muſſte, was doch viel 
jagen will. Nirgends, weder von jeiten der Kegierung, nod) von 
jeiten des Volkes, aud nur ein ernjtliher Anlauf, auf die eigene 
Kraft fich zu ſtemmen, nicht der Schatten eines Schattens von „furor 
teutonieus“. Da waren denn doch die alten Ditmarſen ganz andere 
Kerle gemejen. Auch die Regierung ſchickte eins ihrer Mitgliever als 
Bittgeſandten nad Frankfurt. Die Unfähigkeit und Thatkraftloſig— 
feit gingen bei der Ohnmacht betteln. 

Die Art und Weife, wie das deutſche Parlament die aljo vor 
jein Forum gebrachte ſchleſwig-holſteiniſche Sache anfaffte, mufite 
jedem Unbefangenen die Ueberzeugung aufdringen, daß ays der Bauls- 
firde nie etwas anderes hervorgehen würde als phrafeologiicher 
Dunſt und Tiftel. Was wäre aus Frankreich geworden, wenn 
.1792— 93 in der Manege bei den Tuilerien nicht andere Leute ge— 
jejfen hätten, al$ 1848 — 49 in Sanft Baul jagen? Der Barlaments- 
ausihur für wölferrechtlihe und internationale Verhältniſſe — ſchon 
in derartigen kanzleiſchnörkelhaften Benamfungen liegt eine ganze 
Charakteriſtik der Paulskirchelei — brachte auf Anregung der ſchleſwig— 
holſteiniſchen Sendlinge am 3. Juni durch feinen Sprecher Dahlmann 
einen Waſch-mir-den-Pelz-aber-mach'-ihn-nicht-naß-Antrag ein, über 
weichen dann mit aller Gemürhlichfeit am 8. und 9. Bericht 
erftattet umd gerebnert wurde. So ungeheuer-gründlid), daß ſich 
vor Ungeduld die Balken des Hauſes hätten biegen ſollen. Der 
Doktrinarismus erging ſich breitſpurigſt und die Kathedrarier waren 
fürchterlich. Wenn hierbei überhaupt hätte Heiterkeit aufkommen 
können, müſſte es geſchehen ſein, als Herr von Schmerling, derzeit 


416 Die Abwidelung, II. 


noch Präfivent des Bundestags und baldigſt Reichsminiſter, feiner 
„ſittlichen Entrüſtung“ über die „zweideutige Diplomatie“ im all- 
gemeinen und über die elende, „ſtrafbare“ Weije, womit der Bundes- 
tag früher die ſchleſwig-holſteiniſche Angelegenheit behandelt hatte, 
im bejonderen von der Rednerbühne herab Ausdruck gab, ſchließlich 
erflärend, daß er „nur eine Pflicht ver Kegierungen fenne, die 
Pflicht, die Interefjen der Völker mit aller Kraft zu vertheidigen“. 
In der Debatte und Beſchlußfaſſung fam wieder die ganze Ziwitter- 
haftigfeit der deutichen Bewegung vom Jahre 1848 kläglich zu Tage: 
— auf der einen Seite der judende Kitzel, einmal etwas rechtes oder 
überhaupt nur etwas zu thun; auf der andern das beelendende Ge— 
fühl, nichts zu fünnen, und Das noch mehr beelendende, nicht einmal 
recht wollen zu fünnen. Der deutſche Doftrinarismus verhielt ſich 
zu der That wie in Puſchkins „Springquell von Bachtſchiſſarai“ 
der Eunuch zur Odaliſke. Der Antragjteller Dahlmann jtellte die 
richtige Prämiffe auf: „Wenn in der jchlejwig’ihen Sache nicht ge- 
ihieht, was recht ift, jo tft der deutſchen Sache das Haupt abge- 
ſchlagen;“ aber eine Ense Schluffolgerung daraus zu ziehen wagte 
er nicht, jondern nur „in alter deuticher Beſcheidenheit“ — („„Be— 
ſcheidenheit die ſchönſte Zier, doch kommt man weiter ohne ihr”) — 
(endenlahmes zu beantragen. Das lange Gerede nahm dann ein 
jämmerliches Ende. Herr Wait hatte den Antrag gejtellt: „Die 
deutſche Nationalverfammlung anerkennt die jchlefwig’ihe Sache als 
eine zu ihrer Wirkſamkeit gehörende Angelegenheit deutſcher Nation ; 
fie beſchließt, daß energiiche Mittel zur Fortführung des Krieges er- 
griffen werden, und endlich, daß die Genehmigung des abzujchließen- 
den Friedens der Nationalverfammlung vorbehalten werdet. Dieſer 
von einem höchſt konſervativen Reichsprofeſſor gejtellte trag mar 
aber der Mehrheit noch nicht zahm und nichtsjagend genug. a 
nahm daher mm den erſten, den reinphrajenhaften Theil vefjelben an, 
verwarf jedod) den zweiten, der möglicher Weife zur Möglichfeit einer 
That hätte führen können, mit nicht weniger als 275 gegen 200 
Stimmen. Die Leiter der Majorität wufften natürlich jehr wohl, 


Frankfurter September. 417 


daß der berliner Hof ven Scheinfrieg in den Herzogthümern nur be- 
gonnen hatte, um, wildenbruchiſch zu ſprechen, diejelben „ihrem 
König-Herzog zu erhalten“. Mit diefem Beſchluſſe gab das Parla— 
ment die ſchleſwig-holſteiniſche Sache auf und jtellte dieſelbe ver 
Willkür des Zufalls, d. h. der potsdämiſchen Staatsromantik anheim. 
Dieſe erhielt in dem Miniſterium Hanſemann-Auerswald, 
welches zu Ende Juni's aufkam, ein noch gefügigeres Rückwärtſerei— 
Werkzeug, als ſie in dem abgetretenen Miniſterium Kamphauſen be— 
ſeſſen hatte, und zögerte demzufolge nicht lange mehr, dem „revolu— 
tionären Skandal“ in den Elbeherzogthümern zu Gunſten des Dänen— 
königs ein Ende zu bereiten. Hatte doch dieſes „Skandal“ inzwiſchen 
Miene gemacht, ſich auf eigene Füße zu ſtellen und in einer Weiſe 
vorzugehen, welche deutlich genug zeigte, daß, falls die proviſoriſche 
Regierung ſattſam Verſtand und Willen gehabt hätte, die Kräfte der 
Herzogthümer flüſſig zu machen und zu verwenden, die Schleſwig— 
Holſteiner der däniſchen Macht wohl hätten die Stange halten können. 
Am 7. Juni geſchah unter Führung des aus Baiern gekommenen 
Majors von der Tann die glänzendſte deutſche Waffenthat des Feld— 
zugs. Der tanm'ſche Freiharſt überfiel bet Hoptrup ein fünffach 
ſtärkeres däniſches Linientruppenkorps und warf daſſelbe in paniſchen 
Schrecken und in die Flucht. Zweiundzwanzig Tage ſpäter fochten 
auch die ſchweſwig-holſteiniſchen Regulären bei Hadersleben tapfer 
und glücklich und zwangen die Dänen zum Rückzuge nach Jütland. 
Der deutſche Angriff auf Hadersleben hing aber mit den diplo— 
matiſchen Verhandlungen ſo zuſammen. Lord Palmerſton fand die 
Anweſenheit eines von dem Großfürſten Konſtantin befehligten ruſſi— 
ſchen Geſchwaders auf der Rhede von Kopenhagen ſehr unbequem. 
Als der Großfürſt gar noch allzu deutlich merken ließ, daß es ihn 
heftig gelüſtete, ſich mit ſeinen Schiffen des prächtigen Hafens von 
Set zu bemächtigen, mufjte ihm ver engliſche Gejandte in Kopenhagen 
erklären, England betrachte jede Berührung jchlefwig-holfteiniichen 
Gebiets durch die Ruſſen als einen Kriegsfall. Derjelbe Geſandte 
gab dann bei der däniſchen Kegierung die Erklärung ab, daß England 
Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 27 


418 Die Abwidelung, IH. 


in Fefthaltung der von ihm aufgeftellten Unterhandlungsbafis die 
Räumung Schleiwigs feitens der Dänen forderte. Zur gleichen Zeit 
drückte die englifche Diplomatie auch in Berlin die Anſicht durch, man 
müffte, um die Dänen zum Frieden geneigt zu machen, venjelben 
wieder etwas Ernſt zeigen und demnach Schlefwig abermals von 
ihnen fäubern. Das zu thun, erhielt hierauf der inzwiſchen unthätig 
bei Flensburg geftandene preußiſche Marſchall Befehl. Er jette 
fi) nordwärts in Bewegung, Ichiete die ſchleſwig-holſteiniſchen 
Truppen voran und diefe ſchlugen, wie gemeldet, die Dänen bei 
Hadersleben am 29. Juni. Das in alledem offenkundig gewordene 
zeitweilige herüberneigen Englands auf die deutſche Seite muſſte 
denn doch die Freunde und Freundinnen des Dänenföntgs am Hofe 
von Potsdam mahnen, ihre widerſchleſwig-holſteiniſchen Antipathien 
etwas hintanzuhalten. Auch das Miniftertum Hanjemann fühlte Das 
mifflihe, feine Laufbahn mit einem augenjcheinlihen Verrat an 
Deutichland zu beginnen. Der Starke, obzwar unmuthig, that jogar 
io, als wollte er wieder einen Schritt vorwärts thun und wirklich 
und wahrhaftig die veutiche Nation zur Behauptung ihrer Ehre und 
Würde aufrufen. Das war aber, wie bald Klar werben follte, ein 
richtiges „Man-ſo-thun“. 


6. 


Zugleich mit dem Befehl an Wrangel, wieder nordwärts vor— 
zugehen, hatte das berliner Kabinett den Grafen Pourtalès nach 
Schweden geſandt mit Vorſchlägen zu Unterhandlungen, auf welche 
der ſtockholmer Hof bereitwillig einging, da er gar wohl wuſſte, daß 
alle nicht bloß phantaſirenden, ſondern auch denkenden Bewohner des 
armen Landes der Betheiligung an einem koſtſpieligen, im Intereſſe 
des Phantaſiebildes eines Großſkandinaviens zu unternehmenden 
Kriegsabenteuer entſchieden abgeneigt waren. Preußens Vorſchläge 


Frankfurter September. 419 


trugen überdies fo jehr die Färbung der „alten deutichen Beſcheiden— 
heit“, daß Schweden jeine Juftimmung unichwer geben konnte. Mit 
diefer Zuftimmung begab ſich Herr von Bonrtales von Malmö zum 
Marſchall Wrangel, um dieſen jettens der preußiſchen Negierung 
aufzufordern, mit den Dänen über einen Waffenftillftand zu unter- 
handeln. Der Morihall, melden das ewige „Vorwärts!“ nein, 
„Rückwärts“, wieder „Vorwärts“ und abermals „Rüdwärts !“ jehr 
unwirrſch gemacht haben muffte, kam dieſer Aufforderung übellaunig 
nad) und demnach wurden zu Bellevue bei Kolding Unterhandlungen 
eröffnet, während gleichzeitig auch zu Malmö und London unterhandelt 
ward. Es ſprach in diefem Wirrfal von diplomatiſchem Krimskrams 
alles und jedes mit, ausgenommen die Ehre Deutſchlands, weldyes 
ideologiſche Ding man ſelbſtverſtändlich nicht zu Worte kommen ließ. 

Am 19. Juli hatte man zu Bellevue einen vorläufigen Entwurf 
zum Waffenftillftandsichluffe vereinbart. Jetzt machte aber Preußen 
die Schwenfung, zu erflären, mit der Einſetzung der deutichen Reichs— 
verwejung jet fein vom Bundestag ausgeftelltes Mandat, die deutiche 
Sache in den Herzogthlimern zu führen, erloſchen und folglich könne 
der Waffenftillftand nur mit Genehmigung des Reichsverweſers zum 
wirklichen Abjchluffe fommen. Es bedarf feiner eingehenden Er- 
örterung, daß diefer preußiſche Schachzug in einer Stunde gethan 
wurde, allmo in der potsdamer Staatsromantif gerade wieder mo- 
mentan jene Märzſtimmung obenauf war, welche das aufgehen 
Preußens in Deutichland proflamirt hatte. Natürlic war am Tage 
darauf diefe Stimmung ſchon wieder umgeftimmt. Die Feinde 
Deutihlands wuſſten aud) recht gut, was von ſolchen heroiſchen An— 
läufen der preußtihen Diplomatie zu halten jei, und richteten nad) 
diefem ihrem willen ihr handeln ein. 

Dänemarf gab jofort die Erklärung ab, auf den Vorbehalt 
einer Genehmigung oder Verwerfung des Waffenftillftands durch den 
Reichsverweſer ließe es ſich gar nicht ein. Schweden blies in daffelbe 
Horn, fagend, es hätte feine Bermittelung in der Sache nur Preußen 
angeboten, nur mit diefem jet unterhandelt worden, nur mit diefem 


27” 


420 Die Abwidelung, IH. 


wäre ein Abſchluß möglich. Schlimmer war, daß Lord Palmerjton 
zur Abwechjelung den engliſchen Spieß wieder einmal gegen Deutſch— 
(and drehte, indem er am 25. Juli in Berlin erklären ließ, England 
würde fich jeder weiteren Vermittelungsthätigfeit enthalten und von 
den Verhandlungen ganz zurüdziehen, jo Preußen neue Wetterungen 
machte und die ganze Angelegenheit nicht beförderlich zu einem befrie- 
digenden Abſchluſſe brächte. Sogar der zeitige Diktator der fran- 
zöfifchen Pſeudorepublik, Holzkopf Kavaignak, fand ſich bemüſſigt, in 
Berlin andenten zu lafjen, daß Frankreich ſich veranlafit jehen könnte, 
für feinen alten Alliirten Dänemark einzutreten. 

Und fiehe, es vefidirte fein großer Frik in Sansjouct, ſondern 
Friedrich Wilhelm der Vierte. 

Das preußiſche Kabinett begehrte vom Reichsverweſer die Voll— 
macht, einen Waffenftillftand mit Dänemark abzuſchließen. Der 
Reichsverweſer gab dieſe Bollmacht, jedoch mit der Klaujel, daß 
während des Waffenftillftandes in den Herzogthümern die von der 
proviforifchen Negierung ausgegangenen Gejege und Verordnungen 
in Kraft bleiben jolten. Mit dieſer Vollmacht verjehen, reij’te der 
preußiiche General von Below am 12. Auguft von Berlin nad) 
Malmö, um ven Waffenftillftand abzuſchließen. Die deutſche Reichs— 
verwejung ſchickte, weil fie doch auch jo zu fagen mitdabeiſein wollte, 
ihrerjeitS den Unterjtantsjefretiv Mar von Gagern nad) Malmö; 
allein verjelbe fam nicht weiter als bis Rendsburg, wo er ſattſam 
Zeit hatte, tiber die Bedeutung eines Unterſtaatsſekretärs der deutſchen 
Gentralgewalt nachzudenken. Der Genieftreich, welchen Herr Heinrich 
von Gagern mit jeinem „fühnen Griff“ gemacht hatte, einen öſt— 
reihiihen Erzherzog zum Reichsverweſer zu greifen, zeigte ſich über— 
haupt im ganzen Verlaufe der ſchleſwig-holſteiniſchen Angelegenheit 
in feinem Vollglanze. Der öftreidhiiche Reichsverweſer bejaß nicht 
guten Willen und Einfluß genug, um die wiener Regierung zu ver 
mögen, in diefer Sache wenigjtens einigen Anftand zu beobachten. 
Während Deutjhland mit Dänemark Krieg führte und die Dänen 
deutihe Schiffe faperten, blieb die öſtreichiſche Regierung mit Däne- 


Frankfurter September. 421 


marf in freundichaftlichen Beziehungen und hatte nicht einmal fo viel 
Schielichfeitsgefühl, ihren Gefandten aus Kopenhagen abzurufen oder 
dem däniſchen Gefandten in Wien feine Päſſe zu geben. Selbſtver— 
ftändlich weigerte fi) auch Deftreich, ſein bundesgeſetzliches Truppen- 
fontingent zu ftellen, als die Reichsverweſung ſich den ephemeren An— 
hen gab, einen deutschen „Reichskrieg“ gegen Dänemark und deſſen 
Verbündete führen zu wollen. 

Ber den Unterhandlungen in Malmö ftellte fich zuvörderſt heraus, 
daß Preußen und Deutſchland, welchem Deftreid) jede Hilfe verjagte, 
allein ftehen wirden, falls der Krieg feinen Fortgang haben follte. 
Kufiland und Schweden hatten in diefem Falle den Dänen thatläd)- 
liche Hilfeleistung beſtimmt zugefihert. England und Franfreid) 
ihrerfeits hatten wenigſtens eine drohend widerdeutſche Haltung an— 
genommen. Preußen war daher, ſoviel ift gewiß, zu Malmö nicht 
auf Roſen gebettet. 

Und fiehe, e8 refidirte in Sansſouci fein großer Fritz, fondern 
Friedrich Wilhelm der Vierte. 

Demnach wid, der Starfe muthig zurück, immer weiter zurück. 
Das ſchwache Dänemark blies die Baden auf und diktirte die Waffen- 
ftillftandsbedingungen, die von allen, was Preußen und Deutichland 
früher gefordert hatten, jo ziemlic, das Gegentheil waren. Von dem 
Vorbehalt einer Katififation des Waffenftillftands durch den Reichs— 
verwejer wollten die Dänen nichts wiffen und die Preußen gaben auch 
hierin nad). Am 26. Auguft fam dann der Abſchluß zuftande. Der 
Waffenſtillſtand jollte 7 Monate währen, alfo gerade fir eine Zeit, 
in welcher die Dänen mit ihrer Flotte wenig oder nichts ausrichten 
fonnten. Kraft der übrigen Bedingungen wurden in der That „pie 
Herzogthümer ihrem König-Herzog erhalten“ und fonnte fi) demnach 
der berliner Hof iiber feine in Malmö gefpielte Holle damit tröften, 
daß er ja daſelbſt erreicht hätte, was er von Anfang an gewollt. Alle 
feit dem 17. März durch die proviſoriſche Regierung erlaffenen Ge- 
jege und Verordnungen jollten null und nichtig fein und diefe Re— 
gierung jelbft einer andern plaßmachen, welche für die Dauer des 


422 Die Abwidelung, IH. 


Waffenjtillitands durd Dänemark und Preußen gemeinjfam aus Ein- 
geborenen bejtellt und von dem Grafen Karl von Moltke, welcher Herr 
mit dem Herrn von Scheel-Plejfen um die Balme des verhafitjeing 
in den Herzogthümern jtritt, präfidirt jein jollte. Die Inſel Alfen 
jollte von den Dänen, ein Theil Holjteins von deutihen Truppen 
bejetst gehalten werden. Alle Schlefwiger mufjten jofort aus der 
ſchleſwig-holſteiniſchen Armee ausſcheiden. 

Da man mit einigem Grund beſorgt hatte, die zur Zeit in Kiel 
tagende, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene ſchleſwig-holſteiniſche 
„Landesverſammlung“ könnte der; Annahme und Durchführung des 
Waffenſtillſtandes Schwierigkeiten bereiten oder wohl gar die ſchmäh— 
liche Machenſchaft ganz verwerfen, jo hatte man mittels einer preußi— 
ihen Intrife, zu deren Durchführung der Herr „Neihsminifter “ 
Heckſcher ich bergab, diefes Hindernig aus dem Wege geräumt. Er 
beauftragte den in Rendsburg unteritaatsjefretärlihe Maulaffen feil- 
habenden Herrn Mar von Gagern, der ſchleſwig-holſteiniſchen Re— 
gterung vorzuplaujchen, es ſei höchſt räthlich, für die Yandesverfammt- 
lung eine „kurze“ Bertagung eintreten zu laffen, weil „vie Beſchlüſſe 
verjelben möglicher Weiſe den Stand der Dinge, wie er bei der Ein- 
(eitung der Unterhandlungen (in. Malmö) vworliege, leicht ändern 
fönnten”. Von der proviforischen Negterung konnte man, jo, wie 
fie war, erwarten, daß fie bereitwillig auf diefen Schwindel eingehen 
wide. Ste empfahl, gegen den Einſpruch Olſhauſens, der Yandes- 
verfammlung, ſich zu vertagen, worauf der Genannte aus der Ke- 
gierung austrat mit der Erklärung: „Meine Rolle hier ift ausgeſpielt. 
Die Akte, welche jest zu unterzeichnen find, werden meinen Grund— 
jäßen zuwiderlaufen und dem Lande zum Unfegen fein“. Auch jo 
ein fteifnadiger „Prineipnarr“, wie unfere Zeit fie nicht brauchen 
fann. Spricht von „Grundſätzen“ und handelt fogar darnach; weg 
mit ihm! Die jchlefwig-holfteiniiche Landesverſammlung, welche 
feineswegs auf ver Höhe ihrer Aufgabe ftand, ließ ſich durch Die 
järnmerliche Regierung mit verjämmerlichen. Sie beſchloß ihre Ver— 
tagung: das Land war glücklich mundtodt gemacht. 


Frankfurter September. 423 


ie 


Am 1. September ging eine erjte Sage vom Abſchluß und In— 
balt des malmöer Waffenjtillitands in der Baulsfirhe um. Be— 
ſtimmtes wollte auch das „Reichsminiſterium“ noch nicht wijjen. In 
der Stadt Franffurt und ihrer Nachbarſchaft regten die Gerüchte von 
der „Schmad von Malmö“ dieMafjen beträchtlich auf. Der Volks— 
inſtinkt fühlte ganz richtig, daf Damit „der deutſchen Sache das Haupt 
abgefchlagen ſei“. Leider hat es der mit Necht empörte Maffeninjtinft 
zu weiter nichts gebracht als zu einer ungeheuren Dummheit. Die 
guten Deutſchen werden im revolutionmachen allzeit wahre Bönhaſen 
ſein. Sie können es in diefem Gejchäfte allenfalls nur zu etwas 
bringen, wenn ein König fie dazu und daber fommandirt. Das 
Jahr 1866 hat hierfür den Beweis beigebracht. 

Wenn jemals etwas geeignet war, eine ganze Nation wie 
einen Mann aufipringen zu machen, ım mit dem Schwerte, 
mit dem Drejchflegel, mit dem Meſſer in ver Fauſt Proteſt 
einzulegen, jo war es das ſchmachvolle preisgeben der Schleſwig— 
Holſteiner durch den malmöer Waffenſtillſtandsſchluß. Hundert— 
tauſende, ja wohl Millionen von deutſchen Sängerkehlen hatten ſeit 
Jahren das „Schleſwig-Holſtein meerumſchlungen“ — bergeleiert, 
jetzt aber, wo es einmal ſtatt des Geleiers und Toaſtſchoppenſtechens 
einer That, einer Anſtrengung, eines Opfers bedurfte, da blieben die 
ſingenden und ſchoppenſtechenden Hunderttauſende und Millionen deutſch— 
gemüthlich zu Hauſe und gebar der kreiſende Berg des nationalen 
Zornes nur eine garſtige Maus: den frankfurter Septemberputſch, 
deſſen ſpottwohlfeile Niederwerfung der Rückwärtſerei auch den Muth 
gab, alles energiſche handeln der ſchleſwig-holſteiniſchen Landesver— 
ſammlung und Bevölkerung, wozu ſich dieſelben auf die erſte Kunde 
von den Waffenſtillſtandsbedingungen ermannen zu wollen ſchienen, 
zu verhindern und vereiteln. Deutſchland hat durch feine bei dieſer Ge— 
legenheit gezeigte Haltung, d. h. Nichthaltung die Nichtigkeit des Erfah— 
rungsjates, daß alle Civiliſation etwas entnervendes habe, auf's neue 


% 


424 Die Abwidelung, IU. 


erwiejen. Hat fie es vollends zu einer gewiſſen Verallgemeimerung 
des Nationalwohlftandes gebracht, jo wird fie in der Kegel iventifch 
mit Berphilifterung. Damit joll natürlich nicht gejagt jein, daß die 
Deutſchen „mit hoher obrigfeitliher Bewilligung” nicht tapfer für 
Schleſwig-Holſtein eingeftanden wären. Aber die hohe obrigfeitliche 
Bewilligung wurde verfagt und folglid) jtedte Germania die Schand- 
epiitel von Malmö treuunterthänigft an den Spiegel. 

Was die Mehrheit in der Paulskirche anging, jo führte fie ſich 
bei diefem Anlaß gerade jo auf, wie jeder Nichtvertrauensduſeler von 
ihr erwarten muffte. Erft am 4. September theilte der Herr Reichs- 
minifter Hedicher den Inhalt des Waffenjtillftandinftruments dem 
Parlament amtlicd) mit, wobet er die Bemerkung herauswürgen mufite, 
„die Bedingungen wichen allerdings weſentlich von denen ab, unter 
welchen Preußen von der Centralgewalt Vollmacht zum Abſchluß er- 
halten hätte”. Da mın die Reichsverweſung nur im Einvernehmen 
mit der Nattonalverfammlung über Krieg und Frieden entſcheiden 
fönne, To bringe fie die Sade vor das Parlament. Am folgenden 
Tage fand die bezügliche Debatte ftatt. Dahlmann, als Bericht— 
erftatter der Mehrheit des völferrechtlichen Ausſchuſſes, erlebte an 
diefem 5. September ven höchften Chrentag feines Lebens. Obzwar 
ein jchlechter Nedner, fand er doch ergreifende Brufttöne, um ber 
Berfammlung den Antrag: „Die Siftirung der zur Ausführung des 
abgeſchloſſenen Waffenftillftandes erforderlichen militäriſchen und 
ſonſtigen Mafregeln zu beſchließen“ — zur Annahme zu empfehlen. 
„Dürfen wir — ſchloß er — unſer eigenes Fleiſch und Blut ver- 
rathen, unſere deutichen Mitbürger dem Untergang überliefent ? 
Wahren Sie die Einheit Deutihlands, fie ift gefährdet! Dieſe Ein- 
beit fol durch den Waffenftillftand zerfetst und zerbrechen werben. 
Bengen Sie fih, Sie werben ihr ehemals ftolzes Haupt nimmer 
wieder erheben!" Der Herr von Schmerling drohte im Falle der 
Annahme des Antrags mit dem Rücktritte des Neihsminifteriums, 
als ob dag wunder was für ein Unglück geweſen wäre. Mit be- 
ſonderer Beeiferung ſprach gegen den dahlmann’schen Antrag und für 


Frankfurter September. 425 


den Waffenftillftand Herr Baſſermann, in innigften Seelenbunde mit 
den Herren von Radowis und Lichnowſky, weicher letstere zu jener 
Zeit neben verichiedenen anderen Staats-, Herzens- und Schulden- 
aftionen in Gemeinjchaft mit der vielgeliebten Herzogin von Sagan 
das Projeft einer Theilung Deutichlands zwiſchen Oeſtreich und 
Preußen mit dem Main als Theilungslinie betrieb, ein Projekt, au 
welchen auc die Hände von Damen gearbeitet haben jollen, deren 
eine in der wiener Hofburg jchaltete, Deren andere im potsdamer 
Schlofie waltete. In Wien hat man es aber bei ver Einfüdelung 
bewenden laſſen, als man merfte, daß man auf einem wett beque- 
meren Wege dahin gelangen fünnte, die Oberherrlichkeit über Deutich- 
land, Preußen inbegriffen, wieder zu erlangen, wie man jie zur 
guten alten metternichtigen Zeit bejefien hatte. Mit andern Worten, 
man merfte drunten an der Donau, daß droben an der Spree nicht 
. einmal ein Fleiner, gejchweige ein großer Fritz regierte, jondern nur 
Friedrich Wilhelm der Vierte romantiſirte .. ... 

Dahlmanns Antrag ging mit einer kleinen Mehrheit durch (mit 
238 gegen 221 Stimmen), worüber im erſten Augenblick in der 
frankfurter Chriſten- und wahrſcheinlich auch Judenheit ein großer 
Jubel losbrach. Beiden mitſammen ſtiegen aber ſofort große Be— 
denken auf, maßen die „Werthpapierche“ in ihren feuerfeſten 
Schränken vor Angſt zu kniſtern begannen. Unmittelbar nach der 
heroiſchen Beſchlußfaſſung hatte man das ſtolze Gefühl: Ja, wir 
Deutſche laſſen uns nicht im Bart kratzen, von der ganzen Welt nicht! 
Aber das hielt gar nicht lange vor. Ein ganzes Heer von bedenk— 
lichen „Wenn“ und bedrohlichen „Aber“ warf ſich auf die heldiſchen 
Fühleriche und trieb das ganze Wortheldenthum in die Flucht. 

Den armen Dahlmann trifft der gerechte Tadel, etwas ange— 
fangen zu haben, was er nicht durchzuführen vermochte, ja nicht ein— 
mal durchführen wollte. Der Gute hatte ſich wohl in der Hoffnung 
gewiegt, daß mittels einer Wortſchlacht alles abzumachen ſein würde. 
Als aber ſtatt der blaſſen Phraſe die robuſte That an ihn herantrat 
und zu ihm ſagte: Du haſt um mich gefreit; nun wohl, da bin ich, 


426 Die Abwidelung, II. 


heirate mich! da entjetste fich der Kathedrarier und begann zu ſchlot— 
tern und zu ftottern: So war es nicht gemeint. 

Das Miniſterium Schmerling-Heckſcher bot noch am Abend des 
5. Septembers dem Keichsverwejer jenen Amtsaustritt an, welcher 
angenommen wurde. Der Erzherzog, unſchwer vorausſehend, was 
bei diejer parlamentariichen Komödie herausfommen würde, beauf- 
tragte ganz forreft fonftitutionell Herrn Dahlmann mit der Bildung 
eines neuen Reichsminiſteriums. Wäre nun wirflid das Reichs— 
profefjorenthum, welches ja in Dahlmann gipfelte, jo „ſtaatsmänniſch“ 
gewejen, wie zu jein es ſich rühmte, jo mufjte es jet, wenn irgend- 
einmal, jeine Staatsmänntjchfeit herausfehren. Die „rohe“ Line 
hatte dod wohl nicht jo unrecht, wenn fie durd) den Mund von Karl 
Bogt am 7. September die Anfiht ausſprach, Dahlmann, welder 
ja das Reichsminiſterium gejtürzt hatte und die Verwerfung des 
Waffenſtillſtands wollte, müſſte auf alle Fälle das Minifterium über- 
nehmen, und wäre es für nod) jo furze Zeit, um als Reichsminiſter 
den aus den Herzogthümern abziehenden deutſchen Truppen Halt zu 
gebieten und alſo die Ausführung des Waffenitillftandes thatſächlich 
zu hindern. Selbſtverſtändlich hätte die Logik der Sachlage Herrn 
Dahlmann gezwungen, die Mitglieder jeines Miniſteriums aus den 
Keihen der Linken zu nehmen, welche ihn ja am 5. September ſiegen 
gemacht hatte. 

Allen damit war der Kernpunkt der ganzen Frage blofgelegt, 
der Kernpunkt, vor deſſen bloßer Berührung ſchon alle die Herren 
„Staatsmänner“ zurückſchauderten. Wollte man im Stimme des 
Beihluffes vom 5. September vorgehen, den Waffenſtillſtand ver- 
werfen und ein demofratiiches Reichsminiſterium Schaffen, jo mufite 
man alles wagen, um alles zu gewinnen. Man muſſte nicht nur Konvent 
jpielen, man mufjte Konvent fein. Man mufjte Deutſchland 
in ein Heerlager verwandeln, Armeen aus dem Boden jtampfen und 
im Nothfalle gegen halb Europa „Krieg bis auf's Meſſer!“ nicht 
nr erklären, jondern au) führen. Konnte man das alles? Viel— 
leicht, wenn mit äußerſter Gejchielichfeit und äußerſter Energie zu- 


- 


Frankfurter September. 427 


gleich gehandelt worden wäre. In den Maſſen war damals noch 
unendlich viel mehr guter Wille vorhanden als im Frühling des fol- 
genden Jahres, wo längjt erkannt worden, aus welcher Sorte von 
„Staatsmännern“ die Mehrheit ver „ſouveränen“ Nationalverfanm- 
lung bejtand und daß die Paulskirche, der Grandezza ihres parlamen= 
tariihen Apparats ungeachtet, nichts als eine ordinäre Schwatz- und 
Klatſchbude. 

Eine Politik großer Entſchlüſſe und Wagniſſe einem „Buch in 
Hoſen“ anzuſinnen, war jedoch thöricht. Das arme Buch, betitelt 
„Dahlmanns Politik“, blätterte ſich etliche Tage lang in tauſend 
Unſchlüſſigkeiten und Nöthen zwiſchen ver Rechten und ver Linken hin 
und her und gab dann am 11. September ſein Mandat dem Reichs— 
verweſer zurüd. 

Derweil hatte der berliner Hof in London, Betersburg und 
Kopenhagen alle jeine diplomatiſchen Muffeln angejtrengt, um einige 
der verletendjten Bedingungen aus dem Waffenftillftandsentwurf 
herauszufriegen. Dabet jtellte er jih an, zu glauben, daß die Herren 
„Staatsmänner“ in Frankfurt wirklich jo viel Mannheit aufzuwenden 
hätten, verzweifelte Entſchlüſſe zu faſſen, und gab dem Garen und 
Lord Palmerjton zu beventen, was für ein unberehenbares Ding die 
revoluttonär entfejjelte deutſche Nationalfraft werden fünnte. Sinte- 
malen mm der Deutſchenhaß an der Newa, an ver Themſe und am 
Sund durch das nachgeben Preußens und der deutſchen Reichsver— 
wejung vorderhand jattjan befriedigt war, konnte das preußiſche 
Miniſterium am 11. September nad) Frankfurt berichten, Dänemark 
verzichte darauf, den Herrn Grafen Karl Moltfe als Negierungs- 
präjidenten in den Herzogthümern zu injtalliren, und wolle ſich auch 
herbetlaffen, über andere für Schlejwig - Holftein und Deutſchland 
bejonders herbe Bedingungen des Waffenſtillſtands weiter zu unter= 
handeln. Wind und Worte, natürlich), nichts weiter ; aber fie reich— 
ten aus, die paulsfirchliche Mehrheit zur Minderheit zu maden. Die 
meiften „Staatsmänner“ waren ganz unbeihreiblih froh, an ven 
Strohhalm der erwähnten Scheinfoncejfionen ſich anflammern zu 


428 Die Abwidelung, II. 


fünnen. Doc fonnten ſich wohl jelbft auf den Bänfen der Rechten 
fittende Chrenmänner eines Achſelzuckens der Verachtung nicht ent- 
halten, als fie mitanfehen muſſten, wie Vertreter Schlefwig-Holfteins 
fich beeiferten,, ihr Heimatland wiederum den Dänen zu überliefern; 
denn nicht begreifen, daß der Sinn des Waffenftillftands fein anderer 
war, hätte ja polizeiwidrig naiv fein geheifen. Die Herren Franke, 
Droyſen, Micheljen und Neergaard brachten alfo am 14. September 
den Antrag ein, die Nationalverfammlung wolle bejchließen, die Boll- 
ziehung des Waffenftillftandes nicht länger zu hindern. Damit 
ftimmte fachlich ein Antrag überein, weldyen die Mehrheit des völfer- 
rechtlichen Ausſchuſſes eingebracht, während die Minderheit diejes 
Ausſchuſſes beantragt hatte, an der Berwerfung des Waffenftillftandes 
feitzuhalten und die Gentralgewalt aufzufordern, die zur Fortſetzung 
des Krieges nothwendigen Mafregeln zu ergreifen, fofern Dänemark 
feine Neigung zeigen jollte, ſogleich mit derjelben in Friedensunter- 
handlungen einzutreten. 

Das Wortgefecht über diefe Anträge wüthete drei volle Tage. 
Es famen dabei die rarften Staatsmännifchfeiten vor, z. B. dieſe, 
daf einer der angefeheniten Neichsprofefforen für den Minderheits- 
antrag rebnerte und ſodann dagegen ftimmte. Im übrigen wurde 
nicht nur viel, ſondern auc gut geredet, für und wider. Mit 
größerer Feinheit, als man ihm gewöhnlich zutraute, fpielte Vogt 
darauf an, daß ſich Preußen durd) fein verhalten in der obſchweben— 
den Sache nicht gerade ein glänzendes Zeugniß fiir jeine Befähigung 
zur deutschen Kaiferichaft auegeftellt hätte. Derſelbe Redner traf 
auch den Nerv der ganzen Situation, indem er offen und ehrlich aus— 
ſprach, daß die Verſammlung, fo fie mehr thun wollte als ſchwatzen, 
zum Konvent fid) wandeln, die nationale Leidenſchaft aufrufen und 
die Volkskraft entfeffein müffte. Je wahrer und richtiger dies war, 
um fo mehr erichauderten die Schwatweiber davor und dieſe bildeten 
in Sanft Baul die Mehrheit. Zahlreiche „Bücher in Hoſen“ vol- 
lends geriethen in ftille Wuth oder brachen in faute aus über das 
unerhörte, unerfafibare, daß ein Profeſſor — deſſen Profeſſorthum 


Frankfurter September. 429 


freilich unter der Schävelvede jtatt im Poder ſaß — je „frevelhaft 
deſtruktive Tendenzen“ nicht nur hätte, jondern auch ausjpräde. 
Wollte man den Unterjchted zwijchen einer bloß auf Einbildung und 
Selbjtüberihätung beruhender „Staatsmänntjchfeit“ und einen wirk- 
lid und wahrhaft jtaatsmänntichen Talente recht greifbar merfen, jo 
mufjte man hören, wie am 16. September Herr von Binde umd 
Robert Blum ſprachen. Die Rede des erjteren war nur eine Sfan- 
dalhochzeit des preußtich - jtaatsjunferlihen Dünkels mit der ſchwach— 
mattiſchen Nabulifterei. Blum erreichte an dieſem Tage den Zenith— 
punft jeiner Bedeutung als Politifer und Nenner. Er bat nie 
weijer und nie bejjer geiprochen. Seine Beweisführung muſſte über— 
zeugen, wenn eben in Plattſchädel und Mattherzen die Beweisgründe 
der Mannhaftigkeit und nationalen Chrgefühls überhaupt Eingang 
finden fünnten. Meiiterhaft insbejondere war Blums Ausführung, 
daß die Parlamentsmehrheit, falls jie es mit ihrem Beſtreben, die 
Revolution zu ſchließen, ernjt nähme, den Waffenitillitand verwerfen 
müfjte, weil ja die Hinnahme der Schmach deſſelben zweifelsohne ein 
neues revolutionäres Ferment abgeben würde. Geltjam traf es jich, 
daß Blum auf der Kednerbühne abgelöj’t wurde durch den Fürjten 
Lichnowſky, welcher ſelbſtverſtändlich „mit Aufopferung jeiner bejieren 
Ueberzeugung“ für ven Waffenſtillſtand ſprach, aber ernſter und ge- 
mejjener, als er jonjt that. Es war unmöglid, harafterijtiichere 
Typen des Gegenjatses von Volksthum und Junkerthum zu finden als 
Blum und Lichnowſky. In Figur, Haltung, Gebaren, Anſchauungs-, 
Denf- und Redeweiſe verkörperten fie dieſen Gegenſatz in ſeiner 
ſchärfſten Zuſpitzung. Und beiden ſtand ein tragiſcher Ausgang ſo 
nahe! Dem einen war es beſtimmt, vom vornehmen, dem andern, 
vom gemeinen Pöbel gemordet zu werden... .. Bon ſeiten der Linken 
haben am 16. September nod) Yöwe und Ludwig Simon bejonders 
nachdruckſam und beredjam die Argumente des gefunden Menjchen- 
verjtandes und der patriotiſchen Pflicht gegen die Genehmigung der 
Schmad) von Malmö ins Treffen geführt. Umſonſt. Angſtphiliſtäa 
wer obenauf. Mit 285 gegen 237 Stimmen wurde der Antrag der 


430 Die Abwidelung, IH. 


Ausſchußminderheit verworfen und mit 257 gegen 236 der Antrag 
von Franfe, Droyſen und Konforten angenommen. Die deutſchen 
Liedertafeln Fonnten jett fingen: „Schleiwig- Holftein dänenum— 
ihlungen“. 

8. 

Abends 8 Uhr war die Abftimmung zu Ende und diefe Stunde 
marfirte in Wahrheit und Wirklichkeit zugleich auch das wirkliche 
Ende des erften Parlaments deuticher Nation. 

Mit Riefenbuchftaben hat fich diefe Berfammlung am 16. Sep- 
tember von 1848 ein Armuths- nicht nur, jondern geradezu ein 
Nichtigkeitszeugniß ausgeftellt. Kein denkender Menſch erwartete 
von diefem Tag an noch etwas von ihr. Das Parlament war jett 
Ihlechterdings nur nod) ein Plapperment. Das Geplapper und Ge- 
plauder ging zwar in der Baulsfirhe noch viele Monate lang weiter, 
aber e8 diente nur dazu, die unendliche Makulatur der ftenographiichen 
Protofolle aufzuhänfen. 

Die Yinfe musste nad) dem Beſchluß vom 16. September ſo— 
fort in Maſſe austreten, jo fie Die Mitſchuld des zwedlofen weiter 
ſchwatzens und des marf- und machtloſen parlamentarifchen meiter- 
ſchwindelns nicht auf fid) laden wollte. Sie trat nicht aus, fie 309 
es vor, mit weiter zu plappern in der Schwagbude, und darum war 
es nur ein gerechter, obzwar grauſamer Spott der Nemefis, wenn 
gerade 9 Monate fpäter die Linkſer brutal weggewiſcht wurden von 
der politifhen Bühne, ſang- und flang- und klaglos weggewiſcht. 

Borausgefegt, die Deutichen wären Nevolutionsfünftler, mas 
fie nicht find, und vorausgeſetzt ferner, Frankfurt wäre eine große 
Stadt gewefen, fo würde mit der Entrüftung des Volfes über eine 
„louveräne Nationalverfammlung”, welde am 16. Geptember 
Schlefwig-Holftein, Deutichland und fich jelber aufgegeben hatte, viel 
zu machen gemwefen fein. Es ging doch durch ganz Südweſtdeutſch— 
(and eine tüchtige Zornregung und bot namentlich die Jugend, bie 
jüngeren Altersftufen der Bürgerwehren inbegriffen, ein gutes und 


Frankfurter September. 4531 


williges Thatmaterial. Sicher ift, wenn das Parlament einmüthig 
die ſchwarzrothgoldene Fahne aufgepflanzt hätte, jo war ein gemal- 
tiger nationaler Aufſchwung dazumal noch möglih. Allein alle diefe 
Borausjegungen blieben Vorausſetzungen. Cs fehlte den aufgeregten 

Maſſen ein leitender Gedanke und ein organtfirender Kopf. Man 
wollte losſchlagen, losſchlagen gegen die „verrätheriiche” Parlaments- 
mehrheit und gegen die Rückwärtſerei überhaupt, welche nirgends zu 
jehen der gute Doftor Eiſenmann, einer der unfreiwilligen Komiker 
der Paulskirche, im ſeinem jtupenden, um nicht zur jagen jtupiden 
DVertrauensdujel behauptet hatte. Aber wofür wollte man los— 
ihlagen? Wie? Wo? Wann? Womit? Ein fuperlativiicher 
Losſchläger, was doch wohl der athletiihe Nothbartmann Germain 
Metternid aus Mainz geweſen ift, beantwortete dieſe wohlberechtigten 
Fragen damit, daß er von jeinem allerdings bewunderungswürdig 
muffulöfen Arme Rod- und Hemdärmel ftreifte, ſagend: „Die Zeit 
des ſchwatzens iſt vorbei; unjere Arme müſſen die Freiheit und 
das Vaterland retten”. Arme Freiheit! Armes Vaterland! 

Wie ſich die Linke des Parlaments zu dem vorausfihtlichen 
Putſch jtellte, war ohne Widerreve ganz kläglich anzufehen und lieferte 
einen traurigen Beweis mehr für die Richtigfeit des Satzes, daß der 
Parlamentarismus auch auf tüchtige Naturen eine demoralifirende 
Wirkung übte. Die parlamentariiche Demokratie von Sankt Paul 
etertanzte mühſäligſt auf der ſchmalen Gränzlinie zwiichen Gejeßlid)- 
fett und Ungeſetzlichkeit. Die Putſcheriche wollten daher auch nichts 
von diejen „Bourgeois“ willen — eine geichichtlich ſehr beachtens— 
werthe Thatſache. Nicht etwa darum, weil diefelbe die von der 
Rechten des Parlaments auf die Linke geworfene Bezihtigung, daß 
die letstere mit den „Rothen“ zur Herbeiführung des Putſches kon— 
ſpirirt hätte, von vornherein entfräftete; jondern vielmehr deſſhalb, 
weil jetst zum erftenmal im „tollen“ Jahr auf deutichen Boden mit 
voller Beitimmtheit und Offenheit die Narrethei ſich breitmachte, nur 
im Proletartat ſei Heil zu juchen und zu ſchaffen. Ale ob nicht die 
ganze Weltgeihichte eine nie unterbrochene Kette von Beweiſen wäre, 


432 Die Abwidelung, IH. 


daß niemals irgend ein erklecklicher, gejchweige vollends ein nachhal— 
tiger Vorſchritt der menſchlichen Gejellihaft wor fi gegangen ohne 
mitdabeiſein und mitthun der beſitzenden Klaſſen. 

Es iſt ja auch gar nicht anders möglid. Denn der Bejit re 
präfentirt nicht allein das Gelpfapital, jondern auch das Kultur- 
fapital. Ein armes Volk iſt ſtets zugleich ein mehr oder weniger 
barbarijches. Der Reichthum muß ein Givilifator jein, mag er 
wollen oder nicht. Das reichjein aller ift aber der finpiiche Traum 
wohlmeinender Thoren oder die lügneriſche Lockpfeife ſchlauer Schelme. 
Die „Urſachen ver Ungleichheit unter den Menſchen“ werden nie zu 
bejettigen jein, und wenn nod hundert Rouſſeau's Bücher darüber 
ſchrieben. Der Kommunismus ift ein wüſter Schnapsraufehtraum, 
die rouſſeau'ſche Demokratie dagegen die lichte Bifion eines jugend- 
lichen Phantaften. Die Landsgemeindekantone der Urſchweiz find eine 
abſchreckende Karikatur diefer Viſion. VBerwirklicht wird fie nie und war 
fie nie. Aber das perikleiiche Athen? Wohl, das perikleiihe Athen 
hat für eine furze Weile das demokratiſche Ideal halbwegs zu ver- 
wirklichen vermocht, weil für die taufende von attiihen Bürgern die 
hunderttauſende von attiſchen Sklaven arbeiteten, weil ſich die Freien 
zu den Unfreien verbielten wie 1 zu 4 und demnach die idealſchöne 
Marmorgeftalt perikleiicher Demokratie auf dem breiten Sodel der 
Sklaverei jtand. 

Seit 1848 hat jich eine Bande von Erzihelmen aufgethan, welche 
die Beſchmeichelung des Proletarints ganz handwerfsmäßig treiben 
und nebenbei von diefem Handwerk auch mehr oder weniger ſplendid 
(eben. Ein Hauptagitationsmittel diefer gaunerhaften Demagogie tft 
der ſchamloſe Miffbrauch, welchen fie mit den Worten „Arbeit“ und „Ar- 
beiter“ treibt, dvem Handarbeiter vorlügend, nur [eine Arbeit jet über— 
haupt eine. Die Folgen diejer frevelhaften Beſchwindelung des armen 
genasführten Broletariats werden kommen, werden ficherlic, kommen, 
wie eben jedes einmal in Gang gebrachte Unheil feinen Verlauf 
haben muß. Alle Warnungen dagegen werben jo vergeblich jein wie 
die, welche hier ein Mann nieberjchreibt, deſſen Herz all jein Leben- 


Frankfurter September. 433 


lang für das Volk geſchlagen und der, jeit er zu denfen begann, für 
das Wohl deſſelben gedacht, nad) Kräften gearbeitet und die Sache 
der Armen und Unterdrücten geführt hat. Trauriges Loos, mit 
einem Blid in die Zukunft begabt zu fen! Denn fommen wird der 
Tag, wo, bis zur äußerſten Wuth gegen einander verhetst, Arbeit 
und Kapital antreten zum Mordfampf um jein oder nichtjein. Ya, 
eine europäiſche Juniſchlacht wird geſchlagen wer- 
den. Und wer wird Sieger fein in diefem Gränelfampf? Der 
Befit, wie ja derjelbe überall und allzeit ſchließlich den Sieg davon- 
getragen hat, Dawontragen muſſte. Und ein erbarmungslofer Steger 
wird er jein, der für alle Angitpein, die er ausgeftanden, Erſatz ſucht 
in einer ımerhörten Naceorgie. Wehe dannzumal den Befiegten ! 
Es iſt gar nicht unmöglich, nein, es ift vielmehr wahrſcheinlich, daß 
den Beſitzloſen dann wiederum das Jod) der Yeibeigenfhaft, ver 
Sklaverei in brutalfter Geftalt auf den zu Boden gebeugten Nacken 
gelegt wird... Lacht nicht! Eure Kinder oder Enfel fünnten es 
ſchwer zu büffen haben. In der erhabenften aller religiöjen Did)- 
tungen, in der Religion von Alt-Iran, befiegt allerdings der Lichte 
Ormuzd ſchließlich den dunfeln Ahriman, nicht aber in der Wirklic)- 
feit. Denn das Dumme oder, was daffelbe, das Böſe tft ein imma- 
nenter Theil des Weltplans oder des — Weltzufalls und zwar ver 
weitaus größere und mächtigere Theil. 


9. 


Aufgeregte Volkshaufen umftanden am Abend des 16. Septem- 
bers die Paulskirche, der Abjtimmung drinnen harrend. Als die— 
jelbe gejchehen war, brach Drinnen und draußen ein rumoren und 
raſaunen los, wie es jonft nur die wiener Katzenmuſik in ihren ge- 


räuſchvollſten Tagen und zügellojeften Nächten aufzuwenden wuſſte. 
Scherr, 1848, 2. Aufl. II. 23 


434 Die Abwidelung, II. 


Im Innern der Rotunde von Sankt Paul, welche geradezu beleuchtet 
genug war, um „die Dunkelheit fichtbar zu machen“, ſchwirrte ein 
taufendftimmiges Gerufe, Geziſche, Gepfeife, Gegrunze und Gebrülle 
durcheinander. Die Mehrheit und die Minderheit fchnellten und 
warfen einander Tadels- und Drohworte zu, die Galerieen ſchütteten 
einen Strom von Hohn und Schtmpf in den Sal herab. Endlich 
ſchlug durch das Chaos diefer Teufelsmette der Schrei: „Zur Stadt- 
allee! Zur Volksberathung!“ 

Dieje „Bolfsberathung“, d.h. ein frafehlofratifches tumultiren, 
fand dann auch ftatt, zu Füßen der ſchwanthaler'ſchen Götheftatue. 
Wenn die Seele des alten Olympiers für etlihe Minuten in die 
erzene Bruft feines Standbildes hätte zurüdfehren können, er würde, 
auf die tobende Menge nieverblidend, mit Achfelzuden fein eigen 
Wort citirt haben: 

„Was ich mir gefallen laffe ? 
Zujchlagen muß die Maife ! 
Dann ift fie rejpeftabel, 
Urtheilen gelingt ihr mijerabel“. 


Aber, ah, auch das zufhlagen gelang ihr nur miferabel. Der 
Putſch putichte an diefem Abend ganz gemein. Die vollftändige 
Plan- und Zielloſigkeit des Tumults offenbarte fi, wie denn alles 
GSefabel von einer won langer Hand her angelegten, durch die Linke 
des Parlaments oder wenigſtens durch zahlreihe Mitglieder derſelben 
geleiteten „rothrepublikaniſchen Erhebungsverſchwörung“ meiter nichts 
als Gefabel war und blieb. Am Abend des 16. Septembers fam es 
überhaupt num zu einem Fatenmufifalifchen Krawall, der leicht durch 
die franffurter Bürgerwehr zerftäubt werden fonnte, falls dieſe nicht 
ebenfalls dich den Waffenftillitanpsbeihluß zu verſtimmt gewejen 
wäre, um evnftlich einjchreiten zu wollen. Cine etwas bedrohlichere 
Miene nahm ver Krawall gegen die Weftendhalle an, den Verſamm— 
lungsort des Linfen Centrums, welches für Malmö geftimmt hatte. 
Das Haus wurde theilweife verwiftet umd es gab etliche ſpaſſhafte 
Fluchtfeenen, welche freilich für die Betreffenden nicht jehr Ipafihaft 


= 


Frankfurter September. 435 


waren. Der Turmvater Jahn, welcher auch beifer gethan hätte, 
daheim in Freiburg an der Unftrut zur bleiben, ftatt die ohnehin ſatt— 
jam zahlreiche Sammlung von Mumien in der Paulskirche um eine 
zu vermehren, ja, der alte Jahn machte bei diefer Gelegenheit jeine 
fette Turnfahrt. Er turnfuhr nämlich, um nicht, wie er mit einigem 
Grund fürdhtete, getheert und gefedert zu werden, unter ein Kanapee 
oder, mie eine andere Yelart will, umter das Geftelle eines Küchen— 
magdbettes. 

Die Nacht über wurde in der Stadt und möglich weithin in der 
Umgegend gewirkt und geweibelt, um am folgenden Tage eine 
„Bolfsdemonftratton” im großen Stil in Scene zu jegen, was um 
jo leichter, als der 17. September ein Sonntag war. Die Bahnzüge 
brachten denn auch von allen Seiten allerlei Volk herbei, jehr allerlei. 
Denn es befand ſich darunter ganz unzweifelhaft aud welches von 
der Sorte, weldye man in der Echweiz „Hundwaare“ und alliiberall 
„Kanaille“ nennt. Bor dem Allerheiligenthore Frankfurts dehnte fic) 
dazumal eine weite Matte hin, die Pfingſtweide. Hier trat um 4 Uhr 
Abends die Bolfsverfammlung in Berathung, 10 oder gar 20,000 
Köpfe ſtark, der Mehrzahl nach völlig unbewaffnet, darunter etliche 
hundert „Heckerhüte“ mit rothem Federſchmuck. Der Obmann eines 
franffurter Klubbs, welcher den vormärzlich-idylliſchen Namen „Mon— 
tagskränzchen“ führte, ließ, um den Volkszornſtrom in den unge— 
fährlichen Schwatzkanal zu leiten, als Vorſitzender der Verſammlung 
eine Adreſſe an das Parlament vorſchlagen, worin die Abſtimmung 
vom vorigen Tage gelinde getadelt wurde. Dieſes Gericht war nicht 
nach dem Geſchmacke der aufgeregten Maſſen. Sie ſchrieen nach 
mehr Pfeffer. Die guten Montagskränzler verzogen ſich. Es 
wurde ein Anlauf zum Jakobinismus genommen, natürlich nur in 
Phraſen, wie „Man muß jetzt Fraktur ſchreiben!“ u. dgl.m. Zwiſchen 
die aufwiegleriſchen Reden ſchob ſich zur Abwechſelung wohl auch 
wieder eine abwiegleriſche hinein. Endlich gelangte man mit viel 
Geſchrei und wenig Wolle zu dem Beſchluſſe, die 258 Paulskirchler, 
welche der Schmach von Malmö beigeſtimmt hatten, für „Verräther 

25 * 


456 Die Abwteelung, II. 


am deutſchen Volke, an der deutſchen Freiheit und Ehre zu erklären“ 
und diefen Beihluß durch eine Abordnung den Parlament anzeigen 
zu laſſen. Auch wurden die Zuzügler aus der Umgegend aufgefor- 
dert, in Frankfurt zu bleiben oder doch morgen wieder zu kommen, 
um den Volksbeſchlüſſen „Nachdruck zu geben“. Schließlich zogen 
jtarfe Haufen in die Stadt und vor das „Deutihe Haus“, das 
Klubblofal der Yinfen, wo dieſe jo eben den aus ihrer Mitte gefom- 
menen Antrag, in Maſſe aus dem Parlamente zu treten, verhandelt 
und mit allen gegen 19 Stimmen abgeworfen hatte. Dem darüber 
in nicht eben gewählten Ausprüden aufbegehrenden Volke trat Vogt 
mit energifchen, Venedey mit rührenden Worten entgegen, wofür jener 
gehöhnt und dieſer gehudelt wurde. Die eiertänzliche Halbheit ver 
Linker erboſ'te übrigens das Volk jo jehr, daß große Scharen, und 
zwar gerade die bejjeren Elemente, heimmwärts zogen, um nicht wieder- 
zukommen. 

Unter ſolchen Umſtänden glaubte der Senat von Frankfurt auf 
die Sicherheit der Stadt und der Paulskirche Bedacht nehmen zu 
müſſen; um ſo mehr, als die ganzen militäriſchen Hilfemittel, über 
welche man zur Stunde verfügte, in 1 Bataillon Kurheſſen beſtand, 
das überdies nicht für jehr zuverläffig galt. Im Einverſtändniß mit 
dem wieder geleimten Reichsminiſterium Schmerling — Herr Hedjcher 
war ausgefniffen und muſſte leider zu Höchſt am Main, wo er er- 
fannt worden, die Volkskritik jeiner Diplomatif an feinem eigenen 
Leibe erfahren; er entging nur mit Inapper Noth dem „Richter 
Lynch“ — alſo im Einverſtändniß mit dem Minifterium telegra- 
phirte der Senat um Truppen nad) Mainz, aus welcher Bundes- 
feftung dann aud) in der Nacht 2 Bataillone Dejtreicher und Preußen 
auf der Eiſenbahn eintrafen. Nachmittags vom 18. September 
famen dann auch von Darmftadt her darmheſſiſche Neiterei und Ar- 
tillerie. Abends verfügte man über nahezu 12,000 Mann. 

Am Morgen diefes Tages hatte man die Truppen zum Schute 
der Paulskirche aufgeftellt, doch jo, daß der Schein einer „Berathung 
unter dem Zwange der Bajonnette“ vermieden werben jollte, was 


Frankfurter September. 437 


aber nur zur Folge hatte, daß die Zugänge jchledht beſetzt waren. 
Die Stadt trug eine düſtere Phyfionomie. Die Magazine und 
Läden waren gejchloffen. Rings in den Strafen und Gafjen um 
die Paulskirche her finfterblidendes Volk, drohende Rufe gegen die 
„Verräther“ ausſtoßend. In der Kirche jelbjt nad) eröffneter Sitzung 
ein ſummendes hin- und bertajten, welches der Präfivent Gagern 
nur mühjam zu bewältigen vermochte. Mitglieder der äußerſten 
Linken ftellten dringliche Anträge. So Kühl aus Hanau: Inbe— 
tracht, daß es jehr zweifelhaft, ob die Berfammlung nod) das Ver- 
trauen des deutihen Volkes beſäße, Jollte fie Jofort Neuwahlen be— 
ſchließen und einem aus denjelben hervorgehenden Parlamente ven Plat 
räumen. So Trützſchler: Die öftreichiichen und preußtichen Truppen 
jofert nach Mainz zurüdzufenden. Nach Abwerfung beider Anträge 
durch Verneinung der Vorfrage der Dringlichfeit wurde Tagesord- 
nung beichlofien, nämlich Berathung des Grundredteparagraphen: 
„Die Wiſſenſchaft und ihre Yehre tft frei”. Natürlich war die De— 
batte, welche zu dem hallohen draußen in jchneidendem Kontrafte 
jtand, nur eine Komödie, welche noch nicht lange gejpielt hatte, als 
Volkshaufen Die Thüren an der Nordfeite des Gebäudes einzurennen 
verfuchten. Ein Bajonnettangriff preußiſcher Truppen verjagte jedoch 
die Thürenbejtürmer und bei diefer Gelegenheit wurde ein alter Mann 
— ein „ganz unſchuldiger“ Zuſchauer, wie es hieß — niederge— 
ſtoßen. 

Das gab Veranlaſſung, den Racheſchrei durch die ganze Stadt 
erſchallen zu laſſen, und der Barrikadenbau begann. Wäre die 
Bürgerwehr dem ſchlagenden Generalmarſchtrommelruf gefolgt, ſie 
hätte dieſes beginnen leicht vereiteln können; aber ſie kam nicht, viel— 
leicht beruhigt dadurch, daß die Barrikadenbauer überall an die Haus— 
thüren, insbeſondere an die Thüren notoriſch reicher Leute die Worte 
ſchrieben: „Das Eigenthum iſt heilig; Tod den Dieben!“ Die Alt— 
ſtadt mit ihrem engen Gaſſengewinde bot ein ſehr vortheilhaftes 
Barrikadenterrain. Daß aber unter den Augen der Truppen der 
Barrifadenbau überhaupt geftattet wurde, bleibt eine der zahlloſen im 


438 Die Abwidelung, II. 


„tollen“ Jahre begangenen Umverantwortlichfeiten. Erſt nach 2 Uhr 
begann der Angriff auf die inzwifchen in aller Gemüthlichfeit voll— 
endeten Barrifaden auf dem Yiebfrauenberge, in ver Döngesgaffe, in 
der Schnurgaffe und auf der Zeil, da, wo die Hajengaffe in diefelbe 
mündet. 

Es ift eine von der rüdwärtjigen Verleumdung nicht umzu— 
ſtoßende Thatjache, daß die Mitglieder ver Linken durch den Losbruch 
des Kampfes jehr überraſcht waren *). Sie hatten ja Tags zuvor 
nicht nur mit allen Kräften abgemwiegelt, jondern auch nicht einmal 
Entſchloſſenheit genug finden fünnen, der Baulsfiche den Rüden zu 
fehren und des Schwatzes jüßer Gewohnheit zu entjagen. Ste waren 
es ja auch geftern geweſen, welche durch ihre Unentjchlofjenheit den 
Heimzug gerade der tüchtigjten von den auf der Pfingjtweide verjam- 
melten Streitkräften verurfacht hatten. Man muß ihnen aber die 
Gerechtigkeit widerfahren laſſen, zu jagen, daß fie redlich thaten, was 
fie fonnten, um die Ginjtellung des von A bis 3 ganz ſinnloſen 
Kampfes herbeizuführen. 


) Mori Hartmann, Parlamentsmitglied, ein Augenzeuge und Mit- 
bandelnder, deſſen Wahrhaftigkeit feinem Zweifel unterfteht, erzäblt („De- 
mofratiihe Studien“ 1861, S. 167): „In der Situng des 18. waren die 
Linken von dem plötzlichen Sturm auf die Paulskirche ebenfo überrajcht und 
durch die Gewandtheit, womit der dicke Gfürer bei dieſer Gelegenheit (aus 
Angft) die Wände hinankletterte gleich einer Rieſenſpinne, ebenfo erfreut wie 
die Rechten. Nach der kurzen Situng waren fie es, welche über die mili- 
tärifche Machtentfaltung in den Straßen erftaunten. Sie hielten fte für 
überflüſſig; fie wuſſten ja, daß es feinen Aufftand geben follte, daß die un- 
gebeure Mehrheit der Kampfluftigen abgezogen war. Auf der Neuen Kräm 
ftand eine preußiihe Kompagnie und jah Gewehr bei Fuß zu, wie ungefähr 
vier Männer, nicht fünfzehn Schritte entfernt, eine erbärmliche Barrifade 
bauten. Eine Dame, die ih am Arme hatte, äußerte den Wunſch, auch 
einmal eine Barrifade zu ſehen, und der preußiiche Hauptmann hatte das 
faum gebört, als er die Reiben öffnete, die Dame höflich einlud, vorzutre- 
ten, und ibr die Honneurs der Barrifade machte. Zwei Mann bätten bin- 
gereicht, die Barrifade mit ihren Gewehrkolben zu zerftören“. 


Frankfurter September. 439 


Ihre mit Bloßſtellung des eigenen Yebens unternommenen Be- 
mühungen hatten nur einen jcheinbaren Erfolg, der ein wirklicher 
nicht werden Fonnte, weil es Leute gab, denen fo ein Fleines Ding von 
Aufſtändchen höchſt willfommen war, um mit möglichit großem Spef- 
tafel diefe „Revolution“ niederichlagen zu können, deren Inſcenirung 
man mit ſchamloſeſter Berleugnung alles Wahrheitgefühls der Linken 
des Parlaments zulog. Die gemeinten Yeute haben den Aufftand 
recht eigentlich werden und wachſen lafjen, joweit er es überhaupt zu 
einem Wahsthum brachte. Man hatte dem Monſieur Kavaignak 
und Konjorten etwas abgelernt. Wie man im Juni in Paris die 
Wirklichkeit der „rorhen Republik” abſichtlich joweit hatte gedeihen 
lafjen, dag man ihr mit rechtem Geräuſch den Garaus machen könnte, 
jo wollte man im September in Frankfurt dreinfartätihen — auf 
den Schemen und Schein einer „rothrepublikaniſchen“ Erhebung. 
Unfer Augenzeuge Hartmann hat gewiß recht, wenn er jagt: „Herrn 
von Schmerling gehört der Ruhm, ſchon zwei Jahre vor Louis Na— 
poleon ſich einen großen Feind erfunden und über den erfundenen 
Feind einen großen Sieg davongetragen zu haben“. Aber diefem 
muß hinzugefügt werden, Daß eine rajende Pöhelbande durch ihr 
ſcheuſäliges thun den Machthabern einen ftihhaltigen Vorwand lie— 
ferte, ven Frankfurter Septemberputihfrofh zu einem Nevolutions- 
ochſen aufzublafen, damit fie demjelben mit dem SKinalleffeft eines 
Kartätſchenpuffs das Yeben ausblaſen fünnten. 


10. 


ALS man die Barrifaden joweit hatte errichten lajjen, daß man 
fie mit einigem Anjtande angreifen fonnte, begann zur ſchon ange- 
gebenen Zeit und an den gemeldeten Stellen der Angriff. Zunächit 
nur mittels Gewehrfeuers, weil die aus Darmſtadt herbeigerufene 
Artillerie noch nicht zur Hand. Es war viel Vol hinter den Barri- 


440 Die Abwidelung, IH. 


faben, aber nur wenige wirkliche Kämpfer, jo daß die verhältnißmäßig 
(ange Vertheidigung der improvifirten Bollwerfe ganz unbegreiflich 
wäre, falls nicht Ortsunfenntniß der Angreifer und ihrer Führer die 
Sache begreiflih machte. Dffiziere und Soldaten gingen übrigens 
entichloffen vor. Die Illuſion, daß die Truppen nicht auf ihre 
„Brüder“ vom Bolfe Schießen würden, hat fich, wie im Jahre 1848 
jo häufig, auch bier als ſolche herausgeftellt. Tüchtig zum ſchießen 
fommandirt, werben überhaupt Soldaten allzeit und überall auf jedes 
und.alles ſchießbare ſchießen. Gegen 4 Uhr Abends. war der größte 
Theil der weſtlichen Stadttheile den Aufſtändiſchen entriffen, aber 
noch ging der Kampf in den öftlichen weiter, insbeſondere in der 
Allerheiligengafjfe und in der Fahrgaſſe nach dem Main zu. Bei 
der Brüde erhob fich eine ftarfe Barrifade, welche durch ihre aus 
guten Scharfichüten beitehende Bejatsung hartnäckig vertheidigt wurde. 
Um 41/, Uhr trat ein Waffenſtillſtand ein. 

Anftrengungen von Mitgliedern der Barlamentslinfen hatten 
denjelben herbeigeführt *). Sowie die erjte Salve der angreifenden 





*) Die Erzählung, welhe Hartmann (a. a. D. 168 fg.) gibt, ift ein 
biftorifches Dokument. Sie bat alfo das Recht, wenigftens auszüglich hier 
zu ſtehen „Wir liefen nach allen Seiten und fanden bald mehrere 
Mitglieder der Linken, die ebenſo aufgeregt herbeieilten. Im Deutſchen Hof 
trafen wir einige andere verſammelt. Jetzt wurde der Entſchluß gefaſſt, 
zum Reichsverweſer zu gehen und von ihm einen Befehl zum einſtellen des 
Feuers zu erlangen. Er war leider nicht im taxis'ſchen Hauſe und wir 
waren gezwungen, ihn in ſeinem Landhauſe auf der bockenheimer Chauſſée 
aufzuſuchen. In einem ſo wichtigen Moment war er auf dem Lande! Er 
ließ uns zwar nicht lange warten, aber überflüſſig lange ſprach er über ſeine 
Politik, über die gegenwärtige Lage der Dinge u. dgl. m., bis ihn Raveaurx 
unterbrach und den gewünſchten Befehl zum einſtellen des Feuers, zur 
Beilegung des nutzloſen Kampfes verlangte. Da erfuhren wir erſt, daß 
wir umſonſt gekommen waren. Der Reichsverweſer konnte nichts thun; er 
bedauerte, er habe ja verantwortliche Miniſter, und dabei gab er halb mit 
Mienen halb mit Worten zu verſtehen, daß das Inſtitut der Verantwort— 
lichkeit nicht immer viel tauge. Er entließ uns mit einem an den Reichs— 
kriegsminiſter von Peucker gerichteten nichtsſagenden Zettel. Alle Bered— 


Frankfurter September. 441 


Truppen gefracht hatte, waren fie bemüht geweſen, beim Neichsver- 
wejer und beim Neihsminiftertum die Verhinderung des Blutver- 
gießens zu erwirfen, wie nicht minder, die Infurgenten zum aufgeben 


famfeit Blums, Vogts, 2. Simons, alles ftürmen des alten Grütner und 
alles zureden von Raveaur, dem Schwer zu widerftehen war und fir den der 
Reichsverweſer immer eine große Vorliebe an den Tag legte, hatten nichts 
genütt. Der Reichsverweſer bedauerte ſehr, aber er blieb unerſchütterlich, 
ruhig und kalt. . . . Wir eilten, ins Minifterium zu fommen, wo wir 
Herrn von Peuder und Herrn von Schmerling fanden. Beide betrachteten 
den Zettel des Neichsverweiers, wuſſten, was davon zu halten, und legten 
ihn auf den Tiſch. Der Kriegsminifter nahm unfere Bitte mit noch mehr 
abftogender Kälte auf als der Neichsverweier. Er verſchanzte fich hinter das 
mifitärifche point d’honneur; man fünne die Truppen nicht zurückziehen, 
das fei gegen die Ehre. Sie aber gegen ein elendes Häuflein vorwärts 
marſchiren zu laffen, gegen ein Häuflein, das fi, unangegriffen, verlaufen 
hätte, und unnüt Blut zu vergießen, das war nicht gegen die Ehre. Wir 
faben bald ein, daß es den Miniftern vorzugsweiſe darum zu thun war, 
eine Revolution, die man im Keime hätte erdrücken fünnen, mit Lärm nie= 
derzufchlagen. Doch ließen wir nicht ab mit beſchwören, mit Bitten, mit 
Gründen. Aber die Herren hatten ibre Gründe. Mittlerweile war auch 
Herr von Gagern eingetreten. Er'ſtand beijeite und ſchwieg, in feine 
gewöhnliche Würde gehüllt. Wir, Grützner und id, wandten uns an ihn 
mit der Bitte, doh ein Wort zu fagen. Herr von Gagern antwortete mit 
jenem ihm eigenen Pathos im tiefften Ba: In Dinge, die mich nichts an— 
gehen, mifche ih mich nicht! Endlich nach langer Arbeit wies uns Herr von 
Peucker an den öftreihiichen General von Nobili, der die Truppen komman— 
dirte. Mit geringer Hoffnung begaben wir ung nad der Hauptwache, aber 
General Nobili beſchämte unfere Hoffnungslofigkeit. Mit der liebenswir- 
digften Bereitwilligfeit ging er, wenigftens zum Theil, auf unſere Wünſche 
ein und bewilligte einen Waffenftillftand von anderthalb Stunden. Während 
dieſer Zeit jollten die Truppen auf eine gewilfe Diftanz von den Barrifaden 
zurüdgezogen werden, wenn wir es dahinbrächten, daß die Infurgenten ihr 
Feuer einftellten. Unterdeifen könnte man vielleicht zu einer Löſung kom— 
men. Den Major von Boddien, Parlamentsmitglied, der zugegen war, 
bat er, uns zu begleiten und ale Militär den Truppen die Nachricht von 
dem Waffenftillftand zu bringen. Im Sturmſchritte liefen wir die öde Zeil 
hinab und riefen: Frieden! und ſchwenkten unſere Taschentücher als weiße 


442 Die Abwidelung, II. 


eines ziel- und hoffnungslofen Kampfes zu vermögen. Beides war 
oder ſchien ihnen gelungen, als die Nachricht von der furchtbaren in- 
zwiichen vor dem friedberger Thore vorgefallenen Kataftrophe ven 


Friedensfahnen. An der Konftablerwache, wo die Hauptmaffe der Truppen 
aufgeftellt war und das heftigſte Feuern ftattfand, trat Herr von Boddien 
jeinem Auftrage gemäß in die Wachtftube, nachdem er uns ein ſpöttiſches: 
Jetzt vorwärts, meine Herren! zugerufen hatte. Soldaten balten den 
Muth für ein Privilegium ihres Standes. Es haben aber an dieſem böchft- 
gefährlichen Punkte alle diefe bürgerlichen Abgeordneten ihre Pflicht aus 
Menſchlichkeit ebenjo gut gethan, wie fie irgendein Soldat aus point d’hon- 
neur getban haben würde. Wir ftanden in einem mehrfachen Kreuzfeuer. 
Die Infurgenten ſchoſſen aus den Fenftern mehrerer Häufer und binter 
zwei großen Barrifaden am Eingange der Allerheiligengaffe und hinter dem 
Konftablerwachthaufe. Viele ihrer Kugeln Hatichten vor uns auf's Straßen- 
‘ pflafter, da fie won der Höhe herabfamen. Die Soldaten ftanden in ver- 
ſchiedenen Gruppen vor und hinter ung und jchoffen außerdem aus der Kon— 
ſtablerwache, die ebenfalls hinter uns war. Die Kugeln, die an unferen 
Ohren vorbeifauf'ten, famen von den Seiten, von vorn und hinten. Mit 
dem wehen unferer Tücher war nichts gethan, obwohl wir zwijchen den 
Kämpfenden ſtanden; ebenjo wenig nüßten Rufe und Zureden. Wir waren 
gezwungen, den Soldaten einzeln e8 zuzurufen, daß Waffenftillftand ſei, 
und fie an den Armen zu fajfen, um fie zurüdzuführen. Aber fie fträubten 
fih. Die drüben follten zuerft zu ſchießen aufhören. Dies jhien die all- 
gemeine Meinung und wir verließen die Soldaten, um die Barrifaden zu 
erffimmen, auf die fie zu ſchießen fortfuhren und aus deren Lücken die Auf- 
ftändifchen bervorschoffen. Als ich oben anlangte, jah ich den alten Schlöffel 
ſchon drüben bemüht, das Volt zurüdzuhalten. Ludwig Simon kroch mit 
mir zugleich auf die Barrifade. Ich ermumterte ihn, Schnell hinabzuſpringen, 
während ich rittlings auf der Barrifade fiend mein Tuch ſchwenkte und 
nach beiden Seiten hin: Waffenftilftand! Friede! vief. Nah und nad 
verftummte das knallen und ich iprang binab. In demfelben Augenblide 
war wieder Gefahr da, daß die Feindieligfeiten aufgenommen würden. Aus 
einem Haufe brachte man einen Todten hervor, der feine Wunde auf der 
Stirne trug. Die Weiber ftürzten ſich mit Geſchrei auf die Leiche und bie 
Männer kamen wieder in Aufregung und eilten nad) vorn, um zu feuern. 
Wir hatten die größte Mühe, fie abzuhalten. Der alte Schlöffel mit feinem 
langen halbgrauen Bart und dem jhönen Gefichte war rübrend anzufeben, 


Frankfurter September. 445 


Herren im taxis'ſchen Palaſt Veranlaſſung gab, die Kanonen jpielen 
zu laſſen. 


wie er bin und ber ging und dat und bejchwor und fich mit ausgebreiteten 
Armen vor die Barrifade ftellte, um die Kombattanten davon abzumehren. 
Hinter der Barrifade ſah es eigentbümlih aus. ine Menge Volkes, aber 
nur ſehr wenige Bewaffnete, jo wenige, daß wir erftaunt waren, wie ihr 
Widerftand gegen jo zablreihe Truppen jo lange babe dauern fünnen. Ein 
Theil der Abgeordneten kehrte in den taxis ſchen Palaft zurüd, um, wie fie 
bofften, die Sache zu Ende zu bringen; ein Feiner Theil blieb hinter den 
Barrifaden, um über Aufredtbaltung des Waffenftillftandes zu wachen und 
die Inſurgenten zum verlaffen ihrer Stellungen zu bereden. Es gelang 
uns, viele vom Kampf abzubringen, indem wir ihnen die Nutz- und Zweck— 
lofigkeit ferneren blutvergießens vorftellten” . . . . Als fih unſer Zeuge 
etwas ſpäter ebenfalls zum taxis'ſchen Palaft begab, um zu erfahren, wie es 
mit der definitiven Friedensſchließung beftellt wäre, vernabm er unterwegs, 
daß Fürft Lichnowſky ermordet jei, und wurde von einer Rotte wütbender 
frankfurter Angftpbilifter bedrobt und beihimpft. Auf der Zeil brauf'te 
eine Batterie darmheſſiſcher Zwölfpfünder an ibm vorüber. Auf der Treppe 
des taris’ihen Palaſtes fand er jeine Kollegen. Man zog fie bin und fie 
konnten nichts erlangen. „Einer derjelben, Löwe von Kalbe, jagte mir 
acjelzudend: Wir find betrogen; der ganze Waffenftillitand hat nur dazu 
gedient, Zeit zu gewinnen und die Kanonen abzuwarten. Jet wird man 
mitrailliren .. . . Ic eilte zur Barrifade zurüd, aber die Zeil war abge- 
ſchloſſen und mit Artillerie befegt, an ein durchlommen nicht mebr zu denfen. 
Die Kanonen donnerten und von Zeit zu Zeit beleuchtete ein Bli von der 
Konſtablerwache ber auf unheimliche Weije die ganze Strafe. E3 war ſchon 
ſpät am Abend. Ich tröftete mih mit dem Gedanken, dar auch die wenigen 
Kämpfer bei der Ankunft der Artillerie, gegen die fie nichts vermocten, 
ibren Boften verlaffen haben würden. Das war im allgemeinen auch der 
Fall; die Kanonen donnerten mit großer Tapferkeit gegen Steinbaufen und 
umgeftürzte Karren. Am folgenden Tage entieste man ſich beim Anblid 
der Allerbeiligenapotbefe und der benachbarten Häufer, wie arg dieje von 
den Kugeln zugerichtet waren, und ſchloß daraus, mas man der Abftcht 
gemäß ſchließen follte, daß nämlich der Kampf ein furchtbarer gewejen jein 
und daß das Reihsminifterium an diefer Stelle einen gewaltigen Feind 
niedergeworfen baben müfje. Aber gerade dieje Kugeln baben feinen Men— 
ſchen wehgethan und die ganze Kanonade war eine Kanfaronade”. 


444 Die Abwidelung, II. 


Während innerhalb der Stadt Parlamentsmitglieder von der 
Linten muthoolle Anftrengungen machten, dem biutvergiegen Einhalt 
zu thun, wurde draußen vor den Thoren ein granenhafter Doppel- 
mord verübt. Der Fürft Lichnowſky war nach dem Losbruche des 
Kampfes zu Pferde gejtiegen, um vor die Stadt zu reiten. Ob er 
dies thun wollte, um, wie einige behaupteten, den Reichsverweſer zu 
befuchen, oder um, wie andere jagten, die Umgebung der Stadt aus- 
zuforichen, auf Rekognoſeirung auszureiten, jedenfalls war fein Aus- 
ritt zu folder Stunde eine große Unflugheit. Denn es ift jicher, 
daß Herr von Lichnowſky der volfsverhafiteite Inſaſſe der Paulskirche 
war. Gr hatte den Haß der Menge bei verichtevenen Gelegenheiten, 
obzwar weniger aus berechnender Bosheit als vielmehr in junferlichem 
Uebermuth, geradezu herausgefordert und mufite alfo willen, daß es 
fir ihn an diefem 18. September m und um Frankfurt nicht geheuer 
wäre. Nicht etwa zur Entſchuldigung der ſchändlichen Mordthat jet 
dies gejagt, jondern nur zur Miterflärung. Für ſolche Gräuel ift 
überhaupt nie und nimmer eine Entſchuldigung zuläffig und innerhalb 
der ganzen demofratiichen Partei von 1848 hat fid) feine Zunge 
gefunden, welche ruchlos genug gewejen wäre bei der Nachricht von 
Lichnowſky's und Auerswalds Ermordung jenes graufame Hohnmwort 
zu fchnellen, welches bei Gelegenheit der Windiſchgrätzirung Blums 
die Zunge des Neihsminifters Schmerling gefchnellt hat: — „Wer 
fi) in Gefahr begibt, fommt darin um”. Das ift das ſchreckliche 
bei allen großen Vorſchrittsverſuchen und Vorſchrittsthaten der Welt- 
geſchichte, daß die Sturmwellen den Bodenſatz der Zeit aufwühlen. 
Was dannzumal in den Kreiſen der Gebilveten evelfte Begeifterung 
ift, wird in den Maſſen zu ziellofer Leidenſchaft und vollends in der 
Grundjuppe der Maffen, im Pöbelgefindel, zur wüften Wuth, welche 
die Beitie im Menfchen entfeffelt. Leider ift dabei die Frage nicht 
zu umgehen, was abjcheulicher, die Mordſprünge dieſer Beſtie oder 
von ſeiten der fiegreichen Gewalt mit faltem Kalkul angeordnete Blut- 
thaten? Die Antwort kann nur für folche zweifelhaft jein, welde 
überhaupt für Gerechtigkeit feinen Sinn und fein Gefühl haben. 


Frankfurter September. 445 


Mitleivswerth war, daß Lichnowſky nod einen Freund, Den 
preußiſchen General von Auerswald, Parlamentsmitglied, mit ſich 
ins Verderben riß. Denn der General wurde eben nur als Begleiter 
des Berhafiten ermordet. Diejer hatte den Freund beim tarxis'ſchen 
Palafte getroffen und ihn beredet, ein Pferd aus dem Stalle des 
Kriegsminifter Peucker zu nehmen und mitzureiten. Sie famen vor 
das eihenheimer Thor, hörten aber dert, daß die Straße gen Boden- 
heim durch ftreifende Volksſcharen unficher gemacht jei, und wandten 
fih daher rechtshin auf einen zum friedberger Thore führenden Weg. 
Außerhalb dieſes Thors jtredt fih eine Strafe aufwärts, die ſich 
dann aljo gabelt, daß die rechte Zinfe gen Friedberg geht, während 
die linke eine Vorſtadtſtraße bildet, deren Häufer mit Gärten unter— 
miſcht find oder wenigjtens damals noch waren. Cine Pöbelbande, 
feine Barrikadenkämpfer, jondern bare Kanaille, bummelte zur jelbigen 
Zeit dort umher. Kaum wurde Dieje Kotte Lichnowſky's anfichtig, 
als fie mit Halloh und Hufjah die Jagd auf den „Volksfeind“ be- 
gann. Die verfolgten, umzingelten, mit Steinwürfen und Stod- 
ſchlägen angegriffenen Neiter hätten wohl mit raſchem Entſchluſſe die 
Kette ver Verfolger noch zu durchbrechen vermocht, aber das plötliche 
des Anfalls hat, wie es jcheint, einen kraftlähmenden Eindruck auf jie 
gemacht. Statt raſch zur Stadt zurüdzuftreben, verwideln ſie ſich 
in den Kreuz und Querwegen zwiſchen den Gärtenumzäunungen. 
Derweil verdichtet ſich der Verfolgerfreis um fie her. Sie jteigen 
von den Pferden, weil jie zu Fuß unbemerkter entrinmen zu können 
glauben. Aber der Jagdruf ift ihnen auf den Ferſen. Da juchen 
fie Zuflucht in dem Haufe des Gärtners Schmidt, welcher großherzig 
die gefährliche Gaſtfreiheit übt, Die Verfolgten verbirgt und Die 
drohenden Fragen der heranftürmenden Verfolger, ob die „Verräther“ 
da jeten, muthig verneint. Cr findet feinen Glauben. Die Kotte 
bricht ins Haus und durchſtöbert es. „General Auerswald wird aus 
einer Bodenfammer, wo er fih verborgen, herunter, vor das Hays, 
zum Garten hinaus gezerrt. Vergebens bittet jie der bedrängte Mann, 
jein Leben zu jchonen, um feiner vielen Kinder willen, welde vor 


446 Die Abwidelung, II. 


kurzem die Mutter verloren hätten. „Hundwaare“ aber ift in ſolchen 
Augenbliden blind und taub vor wölfiſcher Wuth, und damit dem 
Schandbild em ſchändlichſter Zug nicht fehle, findet fi) unter der 
Bande auch eine Vettel von Dirne, welche die Männer geifernd zum 
Morde aufreizt. Der Flehende wird zu Boden geichlagen, und wie 
er fid) wieder aufrichten will, erft durch den Leib und dann tödtlich 
durch den Kopf gejchoffen. Dann fehren die Morpbuben mit ge- 
fteigerter Raſerei zum ſchmidt'ſchen Haufe zurüd, durchſuchen es aber- 
mals und finden den im Keller verſteckten Lichnowſky. Sie jchleppen 
ihn hinauf und hinaus, an der Leiche feines Freundes vorbei, nad) 
der Pappelallge, welche den über die bornheimer Haide führenden 
Weg ſäumt. Da blinft ein Nettungsftral. Der Doktor Hodes, 
welcher in Bornheim wohnt, fommt von dorther. Mit einem Blid 
die furchtbare Sachlage gewahrend wirft er ſich zwilchen pas Opfer 
und die Opferer. Merkend, daß hier Gründe der Menſchlichkeit 
nicht ailtig, wei der gute Doktor die Rotte glücklich zu bereden, wie 
wichtig es werden Fünnte, den Fürften als Pfand und Geifel in 
Händen zu haben. Darum foll man den Gefangenen nad) Bornheim 
führen und vorderhand dort verwahren. Diefe „Politik“ leuchtet 
der Rotte ein. Sie wollen den Kürften nach Bornheim Schaffen und 
fetzen ſich in Marſch. Da, halbwegs, judt es einen der Kerle, einen 
Lappen von Lichnowſky's Rock als „Andenken an diefen Tag“ haben 
zu wollen. Wie er nun den Gefangenen am leide zupft, kehrt ſich 
diefer um und, ftatt die Abficht des Burſchen zur verjtehen und der— 
felben mit guter Manier entgegenzufommen, hält er das zupfen für 
ein Signal zum Angriff auf ihn und gibt nun diefes Signal felber, 
indem er einem von der Bande das Gewehr entreift. Sofort trifft 
ihn ein Gewehrfolbenichlag auf den Kopf. Taumelnd macht er einen 
Seitenfprung nad) den Pappeln zu. Umfonft breitet ver Doftor jeine 
Arme aus, um den Anfchlag der Gewehre auf den Unglüdlichen ab- 
zuwehren. Gin Schuß fällt und, in den Unterleib getroffen, ſtürzt 
der Fürft zufammen. Den Daliegenden treffen dann noch mehrere 
Schüſſe. Brutal wird der Doftor verhindert, dem zum Tode Ber- 


Frankfurter September. 447 


wundeten Beiſtand zu leiften. Erſt das heranfommen preußticher 
Soldaten veriheucht die Mörder. Im die Stadt getragen, ift 
Lichnowſky im Armenipital „Zum heiligen Geift“ nad Mitternacht 
verschieden, unter einem Dache mit jterbenden Barrikadenkämpfern ... 

Zur 9. Abendftunde war in der Stadt jeder Funfe von Wider— 
ftand gegen die Truppen ausgetreten. Bon den auf den Barrifaden 
Gefallenen gehörten 7 der Bewohnerſchaft von Frankfurt au. Der 
Todten waren ſonſt nicht viele. Der abendlih ins Werf gejegte 
Rartätihenpuff war nur das Präludium zum Belagerungszuftand, 
welchen Herr von Schmerling am folgenden Tage zu verfündigen ic) 
beeilte. Wie feit dem Juni in Frankreich, trat vom September an 
auch in Deutichland an die Stelle der Freiheitsidee die Thatjache des 
Säbels. In der Schwatsbude zum Sanft Paul wurde übrigend 
unverdrofjen weitergeſchwatzt. 

Als ein klägliches Nachipiel zum franffurter Putich graſſirte im 
badischen Oberlande der „Struwelpeter“ ; aber nicht weit und nicht 
lange. Am 21. September überichritt Struwe mit einer nicht jehr 
großen Anzahl von Freunden und Erilgefährten bei Baſel die 
Schweizergränze, um einen Einfall ins Großherzogthum Baden zu 
thun und „für's erfte in Lörrach das republifantiche Hauptquartier 
aufzuihlagen”. Das wurde dann auch glüclich vollbracht und von 
Lörrach aus proflamirte Guſtav Struve „im Namen der provijortichen 
Negierung“ am 22. September alles Ernftes „die deutſche Republik“. 
Sie führte ein jehr furzpärmiges Dafein. Schon zwei Tage darauf, 
Sonntags den 24. September, zeriprengte der badiiche General 
Hoffmann den ftruvelpeter’ihen Freiharſt bei Staufen vollitindig, 
worauf die Soldaten ihren leichten Sieg mit Verübung barbarticher 
Grauſamkeiten an gefangenen Freiſchärlern und Nichtfreiichärlern 
feierten. Struve jelbit wurde am folgenden Tage auf jeinem Flucht- 
wege nad der Schweiz ſammt feiner Frau zu Wehr unweit Schopf- 
heim von Bürgerwehrleuten angehalten und zum Gefangenen gemadt. 
Diesmal war fein waderer „Hannes“ da, um den Gefangenen aber- 
mals zu befreien. - Aber noch etwas war nicht Da, nämlich die 


448 Die Abwidelung, II. 


16,700 Gulven „Raubgelder“, womit nad der beftimmten Ver— 
fiherung des liberalen Profeſſors Häuffer das ſtruve'ſche Ehepaar 
„davonfuhr“ *). 

Der Liberalismus, welcher im Herbite von 1848 fein hand— 
inhandgehen mit der Rückwärtſerei ſchon als ſelbſtverſtändlich anſah, 
befaunte und erwies, hat ſich große Mühe gegeben, den Frankfurter 
Putſch und den Struvelpeter in einen Zujfammenhang zu bringen 
und aus dieſen planloſen Improvifationen ein weitverzweigtes 
„deitruftives Komplott“ zu machen. Dieſe Bemühung hat nur Lügen 
und Verleumdungen zu Tage gefördert, welche freilich die „beiten und 
eveljten Männer Deutſchlands“ keineswegs zurücknahmen, als fie 
verjelben überwiejen wırrden. Auf der andern Seite ijt gewiß: Die 
TIhatjache, Daß es noch im Herbite won 1848 Leute gab und zwar 
Leute von fünf gefunden Sinnen, welche wähnten, im September nod) 
müfjte gelingen, was ſchon im April jo gänzlich mifjlungen war, dieje 
Thatſache fünnte mit Ehren in den „Kinder und Hausmärchen“ der 
Gebrüder Grimm ftehen. 


) Dentwürdigfeiten 3. Gefh.d. bad. Revolution, S.146. Als Struve 
nad vieljährigem Eril aus Amerika zurüdtebrte und diefe Anſchuldigung 
erfuhr, forderte er den Urheber und Berbreiter derjelben öffentlich und wie— 
derholt auf, die notoriiche Lüge zurücdzunehmen oder, wenn nicht, für einen 
infamen Lügner zu gelten. Man hätte zwar nicht von dem Parteijfribenten 
Häuffer, aber doch von dem Hiſtoriker Häuffer erwarten dürfen, daß er 
einem wifjendlich oder unwiljendlich verleumdeten Gegner Gerechtigkeit wider- 
fahren ließe. Dieje Erwartung blieb unerfüllt. „Ketzern braucht man nicht 
Treue und Glauben zu halten“, fagte die kirchliche Orthodorie des Mittel- 
alters. „Gegen Nichtliberale find alle Kampfmittel erlaubt”, jagt nicht, 
aber denkt und betbätigt der alleinſeligmachende Liberalismus. 


IV. 
Wiener Oktober. 
{; 


Heutzutage, wo nad) glüdlic wollzogener Beuſterei, jonjt auch 
und gewöhnlic jogar „Ausgleih mit Ungarn“ genannt, die Zer- 
brödelung Deftreihs unaufhaltſam begommen zu haben jheint, wird 
es feinem denkenden Menjchen und unbefangenen Urtheiler mehr ein- 
fallen, den öſtreichiſchen Hof ernitlich tadeln zu wollen, daß derjelbe 
i. 3. 1848 von jeinem Gefihtspunft aus und in jeiner Weiſe 
es verjuchte, die Reichseinheit aufredhtzuhalten. Die Mittel, welche 
der leitende Hoffreis und die in jeinem Vertrauen jtehenden Miniſter 
und Generale hierbei in Anwendung brachten, jtanden freilich in 
feinem Moralfoder ; aber wann und wo find denn bei der Gründung 
oder Erhaltung von Staaten bloß oder überhaupt moraliihe Mittel 
in Anwendung gebracht worden? hr werdet einwerfen, es gebe 
wenigftens einen Staat auf Erden, welcher einer rein moralischen 
Gründung fih zu rühmen habe, nämlid die Neu-Englanditaaten, 
aus welchen die große nordamerifanifche Unton hervorgegangen *). 


*) Sehr jhön jagt die treffliche deutſche Geſchichtſchreiberin dieſer 
Gründung, Talvj (Frau Robinſon): „Kein Staat in der Welt kann fi 
einer jo rein moraliſchen Baſis rühmen wie diejenigen der nordamerifa- 


niſchen Freiftaaten, die unter dem gemeinjamen Namen von Neu-England 
Scerr, 1348. 2. Aufl. II. 29 * 


450 Die Abwidelung, IV. 


Zugegeben. Allen dieſe eine glänzende Ausnahme befräftigt nur die 
Kegel und diefe Regel ift das Necht, denn fie ift die Macht. Die 
reale Politik hat nicht mit Idealismen und Katechismen zu rechnen, 
ihre Kardinalziffern find die Menſchenſelbſtſucht und die Völker— 
dummheit. 

Die ſchönbrunner Hofpolitif hatte ganz richtig erfannt, daß den 
Magyarismus niederwerfen der Revolution und Rebellion überhaupt 
den Lebensnerv durchſchneiden hieße. Ihr thätigftes Werkzeug, der 
Kriegsminifter Yatour, handelte diefer Erfenntnig gemäß. Wie der 
ihlagende Puls der Sein- oder Nichtjeinfrage für Deftreih im Som— 
mer im Yager Radetzky's gemwejen, jo war er im Herbt in Ungarn. 
Latour, welcher den Kroatenſachem für einen weit tüchtigeren Mann 
halten mochte, als derſelbe wirklich war, that das mögliche, um 
Sellacie in den Stand zu jegen, die ungariſchen „Rebellen“ zu bän— 
digen. Der Kriegsminifter ließ aud dann nicht von feinen An— 
jtrengungen ab, als der froatiiche Held in den erften Tagen des Ok— 
tobers jene, Flankenmärſche“ angetreten hatte, welche eigentlich Flucht— 
märjhe waren und die Armee des Banus, für die man jo viel ge- 
than und auf die man jo große Hoffnungen gejett hatte, rückwärts 
aus Ungarn heraus und auf deutichöftreichtichen Boden führten. 


begriffen werden. Ruhmſucht, Herrichbegierde und der edle Drang nad 
Unabhängigkeit haben Reiche geftiftet, Ehrgeiz und Golddurft haben neue 
Regionen entdedt und erobert; aber feines diefer Motive, wie großes fie 
auch ſonſt immer hervorgebracht, hatte Antheil an dem Entſchluß des Häuf- 
(eins beidenmütbiger Männer, die das Vaterland mit der Wildniß ver- 
tauchten, um dem Herrn einen Tempel zu bauen, in weldem allein fte ihn 
nad ihrem Gewilfen anbeten zu fünnen glaubten und in Formen, die fie 
allein dem Höchften wohlgefällig wähnten. Eng verwoben wie in ihrer 
Meberzeugung das Diefjeits und Jenfeits des Chriften, ward diefer Tempel 
zugleich auch die Grundfefte ihres bürgerlichen Dafeins und ein Gebände 
erhob ſich unter ihren Ichaffenden Händen, im Umfreis von deffen ſtarken 
Mauern zuerft Menſchenrechte an die Stelle von Staatsrechten traten, Frei— 
beit an Stelle won Freiheiten, Gleichheit an die Stelle von Herridaft und. 
Dienftbarteit“. 


Wiener Oftober. 451 


Jellacic follte um jeden Preis in den Stand geſetzt werden, wieder 
angriffsweie gegen Die Magyaren vorzugehen, und Latour ließ ſich 
daher durch feinerlet Rückſicht abhalten, alle verfügbaren Truppen 
zur Berftärfung des Banus marſchiren zu laffen. Die hierdurch an- 
geregten und von Tag zu Tag heftiger werdenden Drohungen ber 
wiener Demofratie nahm er für das gäng und gäbe gewordene kra— 
fehlofratiiche rumoren, an weldes man ſich nachgerade gewöhnt 
hatte. Man iprad) ja wohl in den „intimen“ höfifchen Kreiſen von 
bellenden, aber nichtbeikenden Hunden. Möglich auch, daß die „Ein- 
geweihteſten“ den Gedanken nicht zurückwieſen, die chroniſche Krank— 
beit der wiener „Anarchie“ einer akuten Kriſis entgegenzutreiben, um 
je eher je lieber das hippofrattiche Recept in Anwendung bringen zu 
fünnen: „Quod medicamenta non sanant, ferrum sanat“. 

Das kaiſerliche Manifeft vom 3. Oktober that in Wien nicht 
geringere Wirkung als in Budapefth. Wie jenjeits der Yeitha wurde 
es auch dieſſeits derjelben als eine Kriegserflärung des altöftreichtichen 
Abſolutismus gegen ſämmtliche „Märzerrungenichaften” angejehen. 
Die wiener Demokratie, welche naiv genug war, an die ihr durch 
Pulſzky und andere magyariſche Agenten vorgejpiegelte Solidarität 
mit den Ungarn zu glauben, nahm fid) der Sache derſelben als ihrer 
eigenen an. Auf der ganzen Yinie ihrer Organifation wurde das 
Alarmfignal gegeben. Die Klubbs traten in fieberiihe Thätigkeit 
und das in der „Ente“ fitsende „ Centralkomité“ gab die Yofung aus: 
Gemeinſam mit den Ungarn gegen die „Kroatenhorden“ und gegen 
die hinter venjelben ftehende Kamarilla ! 

Someit war allerdings eine entſchiedene Neigung, Die „ultimas 
rationes populi*, die Barrifaden, wieder einmal in Anwendung zu 
bringen, vielleicht jogar ein beitimmter Aufftandsplan vorhanden. 
Allein über den Aufftand als ſolchen hinaus eritredte fih der Blan 
jedenfalls nicht. Es ift mit voller Beftimmtheit zu jagen, daß inner- 
halb Wiens nicht ein einziger Menſch athmete, welcher ſich ohne alle 
Brimborien die Frage vorgelegt: Was dann? Was nachher? und 


irgendwelche artikulirte Antwort darauf gefunden und gegeben hätte. 
29* 


452 Die Abwidelung, IV. 


Etlihe wenige Braujeföpfe mochten allerdings, indem fie auf Ver— 
nichtung deſſen, was alles jie unter „Kamarilla“ ſich dachten, aus- 
gingen, das ungeheuerliche Phantaſieſtück einer öſtreichiſchen Republik 
träumen; allein dieſer Traum durfte ſich ja gar nicht hervorwagen 
angeſichts der unbedingt herrſchenden konſtitutionellen Fiktion, welche 
in der Aufmunterung und Unterſtützung von Soldatenmeutereien, 
Barrikadenbauten, Zeughausplünderungen, Miniſtermorden u. dgl. m. 
nichts ſehen wollte als Mittel, von einem übelberathenen Kaiſer an 
einen beſſer zu berathenden zu appelliren. 

Nun ſollte man aber doch eigentlich „vernunftbegabten“ Weſen 
nicht die Schmach anthun, ſie einer ſolchen Dummheit für fähig zu 
halten, und darum hat man ausreichenden Grund für die Annahme, 
die wiener Oktoberrevolution habe zwar wohl dunkel gefühlt, aber 
ſchlechterdings nicht klar gewuſſt, was ſie gewollt. In Wahrheit, 
man iſt berechtigt, zu erklären: Das weitaus geſcheideſte, ja einzig 
geſcheide, was dieſe Revolution machte, war jene Karikatur, welche 
Wien in vollem Aufſtande darſtellte und darüber den Herrgott, der 
verwundert aus den Wolfen auf das aufſtändiſche Getümmel und 
Gewühle herabichaute, während aus jeinem Munde die Worte gingen: 
„Ich bin zwar bekanntlich allwiſſend; was aber die Wiener jetst 
wollen, weiß ic wahrhaftig nicht“. 


2. 


Latour trug fein Bedenken, aud) die Garniſon der Hauptjtadt 
von Tag zu Tag mehr zu Shwächen, um den Ban zu verftärfen, und 
dieſe Unbevenflichfeit des Kriegsminifters machte die Flattermine der 
wiener Dftoberrevolution erplodiren. 

Am 5. Oktober ward ein italifches Grenadierregiment zum Ab- 
marſch in das Lager des Iellacic befehligt. Unzufrieven mit diejer 


Wiener Dftober. 453 


Beftimmung machte es Miene, zu mentern, und Fonnte nur unter 
ftarfer Kavalleriebedeckung eingeeifenbahnt werden. Am folgenden 
Tage follten diefen italiſchen Zwangskämpfern gegen Ungarn deutſche 
Grenadtere folgen, das Bataillon Richter, welches in Wien ganz ein- 
gelebt war, viele Beziehungen zur Aula hatte, der es die Drillmeifter 
geliefert, und mit dem Proletariat der Vorſtadt Gumpendorf ſich 
duzte. Man jagte den Soldaten: Laſſt euch von der dreimal ver— 
maledeiten Kamarilla nicht auf die Schlachtbanf führen, noch dazu 
als Waffengeführten der Kroaten! und diefes Mahnwort Hang um 
io angenehmer in Grenadierohren, als es von Gläfergeläute in den 
Vorſtadtkneipen begleitet wurde. Cine Abordnung der gumpendorfer 
Bürgerwehr ging den Kriegsminiſter an, den Marſchbefehl für das 
Bataillon zurüdzunehmen, was aber Yatour verweigerte. Der Ab- 
marjch blieb auf den Morgen des 6. Dftobers angejett, merfwür- 
diger Weife aber jorgte der Mintfter in feiner Weife dafür, daß 
dieſer Abmarſch, wenn nöthig, erzwungen werden fünnte. Das 
Kriegsminifterium ſowohl als alle übrigen Behörden liegen der be- 
drohlichen Gährung, von welcher fie Doc Kunde haben mufiten, freien 
Lauf. Freilich war auch die Bürgerichaft von Wien noch am 5. Of- 
tober ganz jorglos. Niemand, nicht einmal die Mitglieder des „Cen— 
tralfomite” ausgenommen, ahnte einen fo nahebeworjtehenden Aus— 
bruch. Die Bürgerwehr der Vorſtadt Mariahilf entjandte am 
5. Oktober eine Abordnung nach Schönbrunn, um in aller Yoyalität 
den Kaijer zu dem Feſt ihrer Fahnenweihe einzuladen, welche am 8. 
ftattfinden jollte, und es fennzeichnet die ganze Unklarheit und Ver— 
ſchwommenheit der öftreihiihen Bewegung, daß dieſe Bürgeroffiziere, 
bevor fie zur Audienz gingen, ihre ſchwarzrothgoldenen Bänder ab- 
nahmen, „aus Achtung für unferen quten Kaifer“, während doch die 
ihwarzrothgoldene Fahne auf dem ſchönbrunner Schloffe flatterte. 
Einer diejer guten wiener Bürger, der Bezirfschef Braun, ſuchte dann 
ſpät am Abend die in und außerhalb ihrer Kaſerne in Gumpendorf tumul— 
tirenden Grenadiere zu beihwichtigen. Als er auf eine Gruppe der 
Soldaten hineinredete, fie möchten ihre Betten auffuchen, um für den 


⸗ 
454 Die Abwickelung, IV. 


morgigen Marſch gehörig auszujchlafen, jagte ihm ein Grenadier: 
„Mein Herr Hauptmann, wir gehen nicht fort ; wir bleiben da“. 

Und, in der That, fie blieben da. Bor 9 Uhr Morgens waren 
am 6. Dftober zahlreiche Abtheilungen der Bürgerwehr und Maſſen 
von Arbeitern in Bewegung, um den Abmarſch der Grenadiere zu 
verhindern. Auch die akademiſche Yegton nahm ihre Waffen auf und 
marjchirte zur Taborbrücde, um dem „Willen des jonveränen Volkes“ 
Geltung jchaffen zu helfen. Die endlich getroffenen militäriſchen 
Maßnahmen, um den friegsminifterlihen Marjchbefehl zur Ausfüh- 
rung zu bringen, waren verjpätet und unzulänglid. Es waren nur 
ein galiziſches Infanteriebataillon und etlihe Schwadronen Küraſſiere 
aufgeboten und zur Stelle, um den Abmarſch der Grenadiere zu 
deden, d. bh. zu erzwingen. Diefe Truppen jtanden mit zwei Kanonen 
theil8 auf der erften Taborbrüde — die zweite war von.der Volfe- 
mafje beinahe ganz abgetragen — theils mit einer dritten Kanone 
am andern Ufer. Das Bataillon Richter war zwar endlich aus 
jeiner Kaſerne gerüct, kam aber mit aufgelöften Neihen und mit 
Bürgermwehrleuten bunt gemifcht bei der großen Taborbrücke an, ſehr 
willig, den von ftudentifcher und bürgerlicher Seite an die Soldaten 
gerichteten Aufforderungen, nicht ins Kroatenlager ſich führen zu 
laffen, nachzukommen. In dem Wirrfal von Rednerei, ſonſtigem 
Geſchrei, Barrifadenbauverfuhen, Eiſenbahnſchienenaufreißen und 
anderen Kampfvorbereitungen, welches jich auf ven Brücden und um 
diejelben her zufammenfnänelte, waren deutlich zu unterjcheiven die 
fieberhaft heftigen Bewegungen und gellenden Wortftachelungen ma— 
gyariſcher Agenten. Der General Bredy, welcher Befehl hatte, mit 
ven erwähnten geringen militäriſchen Hilfemitteln den Abmarjc der 
Grenadiere zu deden, hätte denſelben vielleicht erzwingen können, falls 
er raſch zu- und durchgriff. Er war aber aud) fein rechter Durch— 
greifer und hat dann fein verjpätetes zugreifen mit dem Leben 
bezahlt. 

Derweil fih draußen an der Donau die Anfänge der Kata- 
ſtrophe alſo einfädelten, hatte ſich drinnen in der Stadt die wachſende 





Wiener Oftober. 455 


Aufregung doc auch den oberjten Behörden mälig merfbar gemadt. 
Der Minifterrath trat im Kriegsminiſterium zuſammen und erfuhr 
vom Inhaber deſſelben, daß feine ausreichende Trurppenzahl in der 
Stadt, um allfällige Unruhen nieverzuhalten. So muſſte denn die 
Frage aufgeworfen werden, ob auf die Bürgerwehr zur bauen und zu 
vertrauen jei. Die hierüber eingezogenen Erkundigungen lieferten 
das Ergebnif, daß die Nationalgarden der metiten Vorſtädte durch— 
weg unzuverläffig, die der tmmeren Stadt allerdings vorwiegend 
„ſchwarzgelb“ gefinnt, aber höchſtens auf 6000 Mann anzuſchlagen 
jeten, wobei es noch jehr fraglid, wie viele davon dem Rufe der 
Alarmtrommel wirklich folgen würden. Dieje Neuigkeiten verlänger- 
ten die Miniftergefihter um ein beträchtliches und nad) einem ver- 
legenen jchweigen äußerte Graf Latour, daß ihm, falls es wirklich 
zu beventenderen Unordnungen käme, unter jothanen Umſtänden nichts 
erübrigen würde, als die ſämmtlichen milttärtichen Kräfte, welche im 
Augenblide zur Hand, außerhalb der Stadt zu vereinigen, um jie 
der demoralifirenden Berührung mit den Bolfsmafjen zu entziehen. 
Auch diefer Beihluß gelangte aber dann doc nicht zu rechtzeitiger 
und erafter Ausführung, wie denn das ganze minijterielle gebaren 
am 6. Dftober ein fo ſchwankendes und widerſpruchsvolles geweſen, 
daß man berechtigt ift, zu jagen, dieſes Miniſterium jei vor dem 
eriten Anhauch des Orfans zufammengefallen wie ein Kartenhaus. 

Auch vom Reichstage ift fein wirkſames eingreifen in die Krifis 
verjucht worden. Er hielt an diefem Oftobertage feine Plenarſitzung 
und vergebens bejtirmten Mitglieder ver Linken den Präſidenten 
Strobach, eine jolde zu veranftalten. Wäre es gejchehen, jo witrde, 
da ja die Miniſter ficherlich auf ihrer Bank im Neichstagiale geſeſſen 
hätten, der Geſchichte Wiens wohl der wüſte Mordklex eripart wor- 
den fein, weiche ver 6. Oktober auf ihre Blätter ſudelte. Viele 
Keichstägler begaben ſich nach Ablehnung ihrer Forderung von fetten 
des Präfidenten nad) dem Kriegsminiſterium und thaten int Vorzim— 
mer des Minifterraths einen heftigen Debattirklubb auf, welcher aber 
natürlich auch nichts als Worte zu Tage förderte. 


456 Die Abwidelung, IV. 


Um 11 Uhr fam draußen an ven Taborbrüden die Stodung 
in Fluß, in blutigen leider. Da die Grenadiere vom Bataillon 
Kichter immer fihtbarliher Miene machten, förmlich niit den fie um- 
ringenden Bolfshaufen ſich zu verbrüdern, jo ſchien es dem General 
Bredy jehr an der Zeit, ihren Abmarſch zu erzwingen, um jo mehr, 
da Arbeitericharen der Kanonen fich zu bemächtigen große Luft ver- 
viethen. Ein erfter Verſuch, die Geſchütze zu annexiren, fonnte noch 
mittel$ Worten zurüdgewiejen werben. men zweiten, der nicht 
lange auf ſich warten ließ, befahl der General mittels einer Salve 
abzuweifen, indem er zugleich anoronete, die Berbindung zwiſchen den 
Brüden wiederherjuftellen und die Grenadiere mit Gewalt zum 
Weitermarſch zu treiben. Es war zu jpät. Proletarier warfen ſich 
auf die Geſchütze. "Feuer! rief der General dem galiziſchen Bataillon 
zu. Die Salve krachte und eine Anzahl Todter und Verwundeter 
lag am Boden. Aber das Gefnatter war nod) nicht verhallt, als es 
ihon jeine Entgegnung erhielt durch eine Salve, welche die auf dem 
Eiſenbahndamm aufgeftellte Stuventenlegion gab. Der General 
ſank todt, fein Stabschef, der Oberftleutnant Klein, tödtlich ver- 
wundert vom Pferde. Ein kurzer, aber erbitterter Kampf entſpann 
fi, in welchen die deutſchen Grenadiere gemeinfame Sache mit dem 
Bolfe machten und der vollftändig zu Gunften des letsteren endigte. 
Die erjte Kanone, welche dem Militär entriffen worden, wurde gegen 
daffelbe gefehrt und von einem Arbeiter mittels eines Zündhölzchens 
(osgebrannt. Der ganze Raum zwifchen ven beiden Brüden war mit 
Todten und Schwerverwundeten beftrent. Die faiferlihe Infanterie 
und Kavallerie mufiten ſich, ſchwach und führerlos, wie fie waren, 
ſchließlich eilig zurüdziehen und ihre Geſchütze im Stiche lafjen. 

Kaum hatte das Schiegen draußen am Donanufer begonnen, als 
ein Menſch im Legionärkleive in einem Fiafer wie raſend durch die 
Jägerzeile jagte, jchreiend: „Sie ſchießen mit Kanonen auf das 
Bolt! Zu den Waffen! Zu den Waffen!“ Andere Senplinge 
ftürmten die ſämmtlichen Stadtquartiere auf. Bald heulten von 
allen Thürmen die Sturmgloden, die Marmtrommeln raffelten und 





Wiener Oktober. 457 


die Straßen füllten ſich mit Bürgerwehrleuten, deren Mehrzahl aber, 
ein deutliches Zeichen ihrer Stimmung, zur Aula eilte, als zu ihrem 
jelbjtverftändlihen Sammelpunfte. Was fih von Truppen in der 
inneren Stadt befand, wurde mit Ausnahme eines Bataillon vom 
Regiment Naſſau und drei Pionierfompagnten, entweder nad) Schön— 
brunn oder nad) der Leopoldsvorſtadt geſchick. Um 121/, Uhr 
zogen die Sieger vom Tabor triumphirend in die Stadt ein. Die 
genommenen Kanonen führten jie mit ſich, den Hut des getödteten 
Generals liegen fie fi wie eine Trophäe vorantragen. Dann mur- 
den die Thore geſchloſſen und Die Gejhüte der Bürgerwehr auf den 
Wällen aufgepflanzt. Hierbei ſchien die Abjicht obzuwalten, das 
unruhige, jeder Veränderung geneigte Kleinbürgerthum und Prole— 
tariat der Vorftädte von der inneren Stadt und ihrem fonfervativ 
gefinnten Großbürgerthum abzujperren. Allein wenn das nn 
beabjichtigt war, jo wurde es doch nicht aus- und durchgeführt. Denn 
furz nach Mittag hatten Die vorjtädttfchen Elemente auch im inneren 
Stadtring entjchieden die Oberhand, fintemalen, wie zu erwarten 
ftand, Die gut ſchwarzgelb gefinnten Bürger der ungeheuren Mehrzahl 
nad als „Angitröhrenforps * ſich organtfirten, d. b. in ihre Häuſer 
ſich verichlofien. Viele diefer „ruhigen“ Bürger wandelte aud) troß 
der vorgerückten Jahreszeit plötzlich ein krankhaftes Gelüfte nad) 
Landluft an und es begann ſchon an diefem Tage jener Exodus der 
Neichen aus Wien, welcher in den nächſten Wochen ein jo maffen- 
hafter wurde, daß alle benachbarten Dörfer und Städtchen mit „ Bad- 
hähndlnfreſſern“ und „Meerihaumeigarrenipitlern “vollgeftopft waren. 
Im luſtigen Baden allein jollen an 20,000 folder aus Wien ge- 
flüchteren Ruhe- und Ordnungsphiliſter zufammengepöfelt gewejen 
jein und hieß deſſhalb der Ort jetzo „Schwarzgelbowicz“. 
Von der öſtreichiſch en Hauptſtadt nahm nachmittags am 
6. Oktober die Anarchie ohne weitere Förmlichkeiten Beſitz. Das 
Miniſterium war, bevor der Abend gekommen, auseinandergeronnen. 
Einzelne Tropfen deſſelben, Bach, Weſſenberg u. ſ. w. ſickerten durch 
die Linien und wurden erſt in Prag wieder ſichtbar. Zurück blieben 


458 Die Abtwidelung, IV. 


der unglückliche Latour und der unausrottbare Krauß. Diejer harrte 
während der ganzen Dauer der Dftoberrevolution auf feinem Bojten 
aus. Nicht nur auf feinem, jondern auf allen Boften. Denn er 
war nicht allein Finanzminifter, jondern auch Minifter des Innern, 
des Krieges, des Unterrichts, der Juſtiz, der öffentlichen Arbeiten, 
kurz der Minifter für alles, ein wirklicher und wahrhafter Meinifter- 
Proteus. Gewiß, eine nie dageweſene Abjonverlichfeit, daß ver 
Minifter eines Monarchen, dejjen Armeen die empörte Hauptſtadt 
blodiren, berennen und bombardiren, in dieſer jelbigen Hauptſtadt 
im Namen dejjelbigen Monarchen ruhig weiteramtet. Da jage man 
noch), es gebe nichts neues unter der Sonne! Weberhaupt hatte dieje 
tragische Oftoberrevolutionspofje etwas verrüct gemüthliches. War 
doc die Mafje der wiener Rebellen weit entfernt, ihrem „guten“ 
Kaiſer etwas anhaben zu wollen. Im Gegentheil, diefe wunderlichen 
Revoluzer glaubten in allem Ernſte, fie jtünden in Waffen für ihren 
guten Ferdinandl gegen das urböje Ding, die „ Namarillerl”, worun- 
ter jie fih ungefähr jo etwas wie des Teufels Großmutter vorjtellten. 
Die Figur jenes wiener Proletariers, welcher fid am 6. Dftober 
kampfmüde den Schweiß abwilchte mit den Worten: „Wie fi doch 
unfereiner plagen muß fir den Kaiſer!“ war eine wahrhaft typtiche. 


3. 


Eigenthümlich iſt am diefem wiener Revolutionsſtück ſodann ge- 
weſen, daß es nicht in allmäliger Steigerung zu einem Wuthframpfe 
der Leidenſchaft gedieh, ſondern daß die Gradation umgekehrt mit 
dem Superlativ begann. Freilich kann man auch ſagen, die Ermor— 
dung Latours ſei nur das platzen eines häſſlichen Geſchwüres geweſen, 
welches ſchon den ganzen Sommer her geſchwärt hatte. Der Kriegs— 
miniſter hatte am emſigſten und entſchiedenſten den Gedanken des 
Hofes zu verwirklichen getrachtet und folgerichtig muſſte er das Haupt— 
ziel des zur wilden Flamme aufgeſchürten Volkshaſſes ſein. 


Wiener Dftober. 459 


In dieje Flamme, welche ohnehin ſchon hoch genug loderte, goß 
noch Del ein bedauerlicher Auftritt, welcher in den erften Nachmittags: 
ftunden aufdem Stephansplate jtatthatte. Bürgerwehr vom Kärthner- 
Viertel jollte und wollte ven Thurm des Doms bejegen, um das 
fturmlänten zu verhindern. Allein bevor jie den Thurm erreichte, 
ging droben ſchon die Sturmglode und der auf dem Plate verjam- 
melte Pöbel verhöhnte die Nürthner- Vierteler als „Schwarzgelbe“. 
In dieſem Augenblide rückte eine Abtheilung Bitrgerwehr aus der 
Vorſtadt Wieden heran, man weiß nicht, warım? Inmitten des 
pöbelhaften johlens, grumzens und pfeifens geht ein Schuß los. 
Die Wiedener wähnen ſich von den Kärthnern angegriffen, löſen fich 
in Plänflerihwärme auf und eröffnen ein lebhaftes Feuer auf die 
„Schwarzgelben“. Dieſe geben das euer zurück, müſſen aber 
weichen, flüchten in den Dom und verſchließen das Ihor hinter fich. 
Allein die wüthenden Wiedener jtoßen das Thor ein und der Kampf 
tobt am Fuße der Altäre weiter, bis die Kärnthner völlig unterliegen. 
Das kurze Stück wiener Bürgerfriegs hat 15 Todte gefofter und 
35 zum Theil jchwere Verwundungen verurſacht. Cine noch beveut- 
jamere Folge dieſes Kampfes war, daß von da ab die „Stadtgarden“, 
d. h. die Bürgerwehrleute der eigentlichen, inneren Stadt mit ganz 
wenigen Ausnahmen von der Bühne verihwanden und demnach die 
Vorjtädter in Wien durchweg obenauf waren. 

Zugleich mit den blutigen Scenen beim und im Stephansdom 
oder ganz kurz darauf fpielten ähnliche auf ven Plat „Am Hof“, 
wo dazımal — ungefähr um 2 Uhr nachmittags — noch der 
Mintjterrath im alten Hoffriegrathsgebäude verſammelt war, ſowie 
am „Graben“, in der Bognergafje und auf der „Freiung“. Ueberall 
wurde das wenig zahlreiche und noch dazu ungeſchickt verzettelte 
Militär — die Hauptmaſſe deſſelben war ſchon aus der Stadt ent- 
fernt — von vorftädtiicher Bürgerwehr, jtudentiichen Legionären und 
mit langen Eiſenſtangen bewaffneten Arbeiteriharen blindwüthend 
angegriffen. Mehrere Stadtviertel bededten ſich mit Barrifaden, 
Geſchütze donnerten, Kartätſchenſaat prafielte in die Häuferwände, 


460 Die Abwidelung, IV. 


die Sturmgloden heulten unabläffig — furz, die ganze Höllen- 
breughelei eines Straßenfampfes war wieder einmal (08. Und noch 
dazu würgten fid) die Menſchen hüben und drüben, ohne eigentlid) 
zu wifjen, warum oder wozu, ohne eine beftimmte Führung, Loſung 
und Abfiht. Aber der Kampf jelbft fteigerte, wie Das immer zu ge- 
ichehen pflegt, ven Zornraufc ver Maffen und machte fie gierig nad) 
Unheil und Blut. 

Die allenthalben umzingelten, hart mitgenommenen und zurůck⸗ 
gedrängten Truppen gaben Straße für Straße auf und zogen ſich 
auf das joſephſtädter Glacis zurück. Das Kriegsminiſterium am 
Hof war demnach preisgegeben, denn auf die Grenadierkompagnie, 
welche die Wache deſſelben bildete, war kein Verlaß. Schon hielten 
die Pöbelrotten das Gebäude blockirt, deſſen Thor zu verſchließen und 
zu verrammeln nur mühſälig noch gelungen war, und wüſte Drohungen 
wurden zu den Fenſtern emporgekreiſcht. Aus dem chaotiſchen Ge— 
brülle gellte ominös artikulirt das Wort „abkrageln“ heraus. Es 
iſt aber dieſer Pöbelſchrei doch mehr nur der zuſammenfaſſende Aus— 
druck der herrſchenden Wuthſtimmung geweſen als ein Beweis für die 
nachmals erhobene Behauptung, der bald darauf erfolgte Gräuel ſei 
planmäßig vorbereitet und verwirklicht worden. Dieſe Behauptung 
hat ſpäter ſelbſt das willkürlichſt amtliche umſpringen mit den That— 
ſachen nicht zu erweiſen vermocht. Der Kriegsminiſter Latour war 
das Ziel des Volkszorns, gewiß; allein deſſenungeachtet iſt ſeine Er— 
mordung keine planmäßige geweſen, ſondern ſie war eine gräſſliche 
Stegreifdichtung der bis zum Wahnſinn entzündeten Pöbelphantaſie. 

Das voltaire'ſche „Tigeraffenthum“ gilt nicht vom franzöſiſchen 
Volke allein, ſondern, die Völker unbefangen angeſehen, von jedem. 
Die „gemüthliche“ Oeſtreicherei hatte den Sommer über oft genug 
den Affen ſehen laſſen, am 6. Oktober machte ſie zur Abwechſelung 
mal einen richtigen Tigerſprung. 

Die Lage der in dem Kriegsgebäude am Hof eingeſperrten und 
blockirten Miniſter, Generale, Beamten und Offiziere war eine höchſt 
peinliche. Vielleicht hätte ein raſcher Entſchluß und deſſen energiſche 


S 


Wiener Oftober. 461 


Ausführung die blodirende Menge jchreden und zeritiuben können. 
Im Hofraume ſtand ein mit Nartätichen geladenes Geſchütz. Hätte 
man das Thor plößlicd aufgeriſſen, die Kanone ihre Ladung in die 
Horde draußen bineinjpeien und die 160 Mann ver Grenadierwade 
nit gefälltem Bajonette nachdrücken laſſen, io würde der Blast wohl 
gejäubert worden jein. Mehrere Offiziere riethen zu ſolchem vor— 
gehen; allein Latour verweigerte die Erlaubniß, weil er, wie er 
jagte, fein Blutbad wollte. Kurz guvor hatte er auch den Truppen 
auf dem jojephitädter Glacis den Befehl zugefertigt, das Feuer ein- 
zuftellen. Der unglüdlihe Mann hatte won dem ganzen Ernft der 
Lage offenbar feine Elare Borftellung. 

Kurz nad 3 Uhr erihien der Miniſter Hornboitl im nur jpär- 
(ich gefüllten Reichstagsſale, zeigte an, daß die Truppen auf Latours 
Befehl das feuern eingejtellt hätten, und beſchwor die Verfammlung, 
das ihrige zur Beſchwichtigung des Volkes zu thun. „Iſt das Leben 
der Minifter gefihert?* fragte der Abgeordnete Borroih. „Nein“, 
entgegnete Hornboftl, worauf ſogleich die Entjendung einer Reichs— 
tagsdeputation zum Schute der Bedrohten beantragt umd beichlofien 
wurde. Die Deputirten Borroſch, Smolfa, Goldmarf, Fiſchhof und 
Sierakowſki machten ſich eiligft zum Kriegsgebäude auf. 

Sie famen dert an, als das Unheil ſchon in vollem Zuge und 
die Pöbelbande Meifter des Gebäudes war. Der Kriegsminijter 
jelber hatte das Thor zu öffnen befohlen und ver Wache umterjagt, 
von den Waffen Gebrauch zur machen. Gewehr im Arm ſahen die 
auf dem Hof, auf ven Treppen umd Korridoren aufgeitellten Soldaten 
der Entwidelung des Morddrama's zu. 

Ob Yatour wähnte, duch diefen Beweis von Vertrauen ven 
Tiger zu zähmen? Ob er glaubte, durch jorglojes preisgeben der 
eigenen Perſon dem Affen zu imponiven? Im einen wie im anderen 
alle irrte er ſich. 

Während die Menge durch das geöffnete Thor hereinitrömte 
und rajc die verichtedenen Theile des meitichichtigen Gebäudes zu 
überfluten begann, gelang es ven Miniftern Bach, Weſſenberg und 


462 Die Abwidelung, IV. 


Doblhoff hinauszufommen. Der eritere wäre wohl übel gefahren, 
falls er nicht jo glücklich geweſen, die Uniform eines Bürgerwehr- 
fanoniers zu erwiſchen und in dieſer Verkleidung zu entwiſchen. 
Möglich, daß der Mann an diefem Tage die Ueberzeugung gewann, 
e8 wäre rathſam, mehrbejagten Tigeraffen in einen Konfordatsfäfig 
zu jperren. Auch verſchiedene Generale und Dffiziere bemwerfitelligten 
in theilweiſe nicht gerade heroiihen VBermummungen. ihren Rückzug 
aus dem Haufe. 

Endlich befanden ſich bei dem Kriegsminifter nur ned) etliche 
Adjutanten und fein Nammerdiener. Da ſcholl immer näher und 
drohender ver Ruf: „Wo ift der Kriegsmmifter? Wir müflen ihn 
haben!“ Die äuferfte Gefahr enthüllte fih ihm plöglih. Wie 
derſelben entfliehen? Vielleicht dur die Kirche? (Das Gebäude 
war ehemals ein Iejuitenfollegium.) Haftiger, aber vergeblicher 
Verſuch: die Verbindungsthüre war vermauert. „Excellenz, weg 
mit der Generalsuniform!“ Der General ließ fih von ſeinem 
Kammerdiener einen bürgerlichen Anzug reihen, und nachdem er den— 
jelben angethan, verließ er, dem Drängen der Adjutanten nachgebend, 
feine im erſten Stodwerfe gelegene Amtswohnung und fuchte im Dad)- 
geſchoß ein Verfted, wozu eine Art von Räucherkammer geeignet ſchien. 
Einem der Adjutanten glüdte es, mitten. durch das Gebrodel der 
Menge hindurch und auf das jofephftänter Glacis zu gelangen, wo 
er die Truppen aufforderte, zur Rettung des Minifters herbeizueilen. 
Umſonſt. Dffiziere und Soldaten, ganz perpler durch die Ereignifje 
des Tages, rührten ſich nicht von der Stelle. 

Inzwiſchen war die Neichstagsveputation im Kriegsgebäude 
angelangt. Ihre Beſchwichtigungsbemühungen ſchienen anzufchlagen. 
Der populäre Borroſch insbejondere redete im Hofe mit jcheinbar 
größtem Erfolge zu der Menge, welche er beſchwor, feine Gemaltthat 
gegen den Minifter zu begehen, der, werficherte er, in Anklageftand 
verjetst werden follte. Unglücdlicher Weife ließ fid) „Vater Borroſch“ 
dürch den ihm unter diefem Titel gezollten Beifall zu dem Wahne 
verleiten, er hätte hier glücklich feinen Zweck erreicht und es ſei deß— 


Miener Oftober. 463 


halb feine Pflicht, auch anderwärts den Friedensprediger zu machen. 
Kaum war er weggegangen oder vielmehr weggeritten — denn man 
hatte ihn auf ein Pferd gehoben — als das Gebrülle nad dem 
Kriegsminifter abermals losging. 

Der verfemte Mann hatte fi) jo eben aus feiner Wohnung 
entfernt, als die Haufen in diefelbe eindrangen, das Geräthe zer- 
ſchmiſſen und alle Papiere des Minifters „als Beweiſe feines Ver- 
raths“ zufammenrafften. Einem Proletarter ſtach ein prächtiges 
Rafierzeug in die Augen; er wollte es einfteden, aber ein Yegionär 
von der Aula nahm es ibm ab und legte es wieder an jeinen Plat 
mit der Mahnung: „Wir find nicht hierhergefommen, um zu plün- 
dern!“ Drumten auf dem Hofe zeterte derweil eine wilde Bande 
immer ungeftümer: „Heraus mit dem Verräther! Er muß abge: 
fragelt ſein!“ Wüthende Kerle ſtürmten die Treppen hinan und 
juchend und fluchend durch alle Stocdwerfe und Korridore. 

Gerade jetst gelang es endlich dem treuen Adjutanten des Be— 
drohten, dem Hauptmann Niewtadomjfi, den PVicepräfidenten des 
Reichstags, Herrn Smolfa, und deſſen Kollegen die Treppen hinauf- 
zulootien. Die Herren muſſten aber jofort erfennen, daß gegenüber 
diefem Wirrfal von Wuth und Wahnfinn ihre bloße Gegenwart und 
ihre beihwichtigenden Reden feine Wirkung thäten. Smolka ſchlug 
daher vor, Yatour jollte jofort feine Abdanfung erklären und zwar 
ihriftlih. Daraufhin wollten die Neichstagsdeputirten ihn unter 
ihren Schut nehmen und etwa unter dem vorgeben, daß er ein Ge- 
fangener jet und vor Gericht geftellt werden würde, den jeiner Wür— 
den und Aemter entfleiveten alten Mann in das bürgerliche Zeughaus 
hinüberretten. Durch einen Offizier von diefem Plan in Kenntniß 
gejest, verließ Latour feinen Schlupfwinkel und jchrieb in einen 
Zimmer des vierten Stodwerfs feine Abdanfıng nieder: — „Mit 
Genehmigung Sr. Majeftät bin ich bereit, meine Stelle als Kriegs- 
minifter niederzulegen“. Mit viefer Urkunde eilte Smolfa ing dritte 
Stodwerf hinab, bis wohin die Volfswoge ihren Abſchaum bereits 
emporgeipritt hatte, und las ven Tobenden diejelbe mit lauter Stimme 


464 Die Abwidelung, IV. 


vor. Umfonft. Die Rotte jchritt über dieje zwiſchen fie und ihr 
Opfer gejtellte papierne Schutwehr hinweg, ichreiend: „Aha, der 
Halunfe ift aljo da? Er muß abgefragelt jein, er muß gehenft 
werden!“ 


Mit Norh erreichten Smolfa und jein Mitveputirter Siera- 
kowſki noch vor der Bande das vierte Stodwerf wieder; allein Latour 
durfte es nicht wagen, jein früheres Berjted wieder aufzuſuchen, weil 
der Gang, den er hätte durchſchreiten müſſen, ſchon von einzelnen 
Eindringlingen aufgeſpürt war. Er juchte daher in einem geheimen 
Gemad) eine augenblidlihe Bergung. Smolfa, Fiſchhof und Siera- 
fowjfi gejellten jid) einen Birrgerwehroffizier, einen Offizier ver aka— 
demiſchen Yegion und einen Arbeiter und unternahmen mit eigener 
Lebensgefahr die Nettung des Generals. Wenn das Pad denjelben 
in ſeinem Berjtede auffand, jo war er unbedingt verloren. Die 
Keihstagsmitglieder verbürgten fi) daher dem tobenden Gefinvel, 
welches jie übrigens kaum rejpeftirte, fie wollten den Miniſter her- 
beiſchaffen und denſelben der Juftiz überliefern, falls ſich eine gehörige 
Anzahl von Männern mit Schwur und Handichlag verpflichtete, jein 
Leben zu ſchützen. Sofort drängten fid) etwa 20 Bürgerwehrmänner 
und Arbeiter eifrig aus dem Pöbelknäuel, welcher den Korridor im 
vierten Stockwerk verjtopfte, hervor und ſchwuren, zweifelsohne aus 
aufrichtigem Herzen, den Abgeordneten zu, das in fie gejette Ver- 
trauen zu rechtfertigen. 


Latour hatte in jenem Schlupfwinfel diefe Verhandlung gehört 
und trat jet heraus mit den Worten: „Hier bin id. Sch habe 
Kugeln and Bajonnette nicht geſcheut und fürchte auch Dolce nicht ; 
denn ich bin ein ehrlicher Mann und habe ein gutes Gewifjen“. Der 
alte Herr hatte auf feinem Standpunkt ganz recht. Er hatte als 
Monarchiſt von der ftriften Obſervanz gehandelt und nur Katechis— 
musmoraliften und jonftige „Ideologen“ Fonnten es „unmoraliſch“ 
finden, daß er jene „Gejchäftsverbindung“ mit dem Kroatenban 
öffentlich abzuleugnen „ſich veranlafit geſehen“. Man tft doch für— 


Wiener Oktober. 465 


wahr nit dazu Mintjter, immer und überall die Wahrheit zu 
jagen! 

Bon den Keihstagsmitglievern und feinen geihmorenen Be- 
ihütern umringt, wurde der unglüdliche General, an deſſen einer 
Seite ſein Adjutant Graf Gondrecont, an deſſen anderer Fiſchhof 
ſich hielt, die fleine Treppe, welche bei dem Brummen im Hof aus— 
miündete, hinabgebracht; höchſt mühjälig, denn die Treppe war enge 
und bet jeden ihrer Abſätze gejellten ſich von den verſchiedenen Theilen - 
des Gebäudes her neue Scharen zu dem Zuge. Schon während 
diejes herabiteigens mußte das ſchlimmſte befürchtet werden, denn 
das drohende Gehenl des hinten nachdrängenden Geſindels verrieth 
nur zu deutlich, daß hier jede Beſchwörung ein leerer Schall, jede 
Mahnung zur Gerechtigkeit oder zum Mitletd ein im dent wüſten Ge- 
tobe ungehört verhallendes Wort jet. 

Kaum hatte jein Geleite den Minifter endlich auf den Hofraum 
gebracht, als das jheukliche geihah. Das Hımdepad warf fich 
mit Tigergebrüll auf jein Opfer. Vergeblich alle die Anftrengungen 
Swmolka's, Fiſchhofs, Sierakowſki's, Gondrecourts, der Bürgerwehr- 
männer und Arbeiter, ji zwiſchen die lechzende Meute und den ge- 
hetsten Greis zu werfen, dieſen mit ihren Armen, mit ihren Yeibern zu 
deden gegen die beim ericheinen Latours losraſende Orgie der Barbarei. 

In Wahrheit, eine jolhe, nicht ein vorherbedachtes, won langer 
Hand her angelegtes Verbrechen war der Mord des Generals. It 
doch aktenmäßig fejtgeftellt, daß die drei nachmals ausgemittelten und 
zum Galgen verurtheilten Hauptmörder (Bramboih, Jurkovic und 
Wangler) keineswegs mit mörderiichen Abfichten zum Kriegsgebäude 
gekommen, ſondern erjt von dem dajelbit um fie hertobenden Mord- 
wuthrauſch angeftedt worden find. Eine grauſame Schickſalsironie 
lag darin, daß unter den drei bezeichneten Hauptmördern des Kriegs— 
miniſters, den man als einen Mitverſchworenen des Kroatenbanus 
tödtete, auch ein Kroat fich befand Jurkovich. 

Wann auf diefer unferer bekanntlich mufterhaft eingerichteten 
Erde etwas vernünftiges, rechtes, großes geichehen ſoll, dann 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 30 


466 Die Abwidelung, IV. 


drängen ficherlic hundert Zufülle hemmend und hindernd fid) da— 
zwifchen ; das dumme dagegen, das jchlechte, das niederträchtige, 
abicheuliche hat allzeit freie Bahn. Das gute kann gefhehen, das 
böſe muß gejchehen. 

Latour hielt fih, als er den Hofraum betreten hatte, nur nod) 
mit Hilfe feiner Beſchützer aufrecht. Unter einem vergitterten Fenſter 
ftellten fie fi nody einmal ſchirmend um ihn her. Es half nichts. 
Ste wurden weggedrängt, weggezerrt, weggeſtoſſen und von rechtsher 
und linksher zielten mörderifche Hiebe und Stöße auf das Opfer. 
In demfelben Augenblid traf von hinten ein Hammerſchlag und von 
jettwärtsher ein Säbelhieb den Kopf des Generals, worauf Hieb— 
und Stoßwaffen aller Art jenen Leib zermarterten. Er janf zu 
Boden. - Aber die Kanibalen riffen den noch Lebenden empor, 
ihlangen ihm eine Schnur um den Hals und henkten ihn an einen 
der Eiſenſtäbe des Fenftergitters. Die Schnur riß, dod) die Wuth 
der Barbaren war noch nicht gefättigt. Sie fchleiften die blutige, 
aber noch röchelnde Mafje, welche Latour gewejen war, zum Hofe 
hinaus auf den freien Pla vor dem Kriegsgebäude und knüpften fie 
dort zum zweitenmal an einen Gaslaternenpfahl auf, welcher vor der 
Hauptwace fand. 

Und die Grenadiere, welche die Hauptwache bejest hielten, ließen 
das geihehen, Gewehr bei Fuß! Und der Hauptmann, welcher fie 
befehligte, rührte feinen Finger, jondern jagte achjelzudend: „Der 
(este mix zugefommene Befehl lautet, nicht einzujchreiten“. Ganz 
fabelbaft, aber doch buchſtäblich wahr! 

Auch dem aljo hängenden Leichnam fuhren die Kanibalen kani— 
balifches anzuthun fort. Die Kleider waren dem Todten abgeriffen, 
bis in den dunkelnden Abend hinein trieb das Hundepad Schimpf 
und Spott mit ihm und zerfeßte ihn mit Schüffen, Hieben und 
Stihen*. Gaſſenbuben 'umtanzten, Schandlieder johlend, den 

) Depeſche Kerns vom 7. Oktober: . . . „Ich ſah es felbit, wie der 


bängende Leichnam geftern Abend um 6 Uhr noch mit Bajonnetten durch— 
ftohen wurde‘. S. B. A. 


Wiener Oftober. 467 


Marterpfahl, Gaffendirnen ſchauten lachend und händeklatichend zır. 
In die Schwärze diejes Gräuels herein fiel nur ein Stral menjd)- 
(ihen Gefühls: — ein Yegionär von der Aula faufte in der Nach— 
barſchaft ein Leintuch und bevedte mit demjelben die verſtümmelten 
Ueberrefte des Opfers... . . 

Derweil war der Neichstagsjal der Schauplaß tumultariſcher 
Scenen. Der Präfident Strobach hatte ſich anfänglich geweigert, 
die von der Linken geforderte Situng zu eröffnen, weil die Zahl der 
anmejenden Mitglieder feine beſchlußfähige ſei. Endlich hatte er ſich 
gefügt, als aber um 5 Uhr Smolfa, Fiſchhof und Sterafowfft herein- 
famen und der lettgenannte Die lafonijhe Meldung machte: „Latour 
ift todt; er hängt an einem Yaternenpfahl am Hof“ — als zugleich 
mit diefer Schredensbotichaft bewaffnete Arbeiter nicht nur auf den 
Galerien, jondern aud) im Sale erjchienen, da fühlte der Gzeche 
Strobach den Präfidentenftuhl unter jich glühen, daß es nicht zum 
aushalten war. Er ftand daher auf, wand ſich während des anar- 
chiſchen hin- und herredens, welches jih an Sierakowſki's Meldung 
und das erſcheinen der bewaffneten Arbeiter knüpfte, noch eine Weile 
zwiſchen dem Bureau und der Thüre herum und verfloß dann auf 
— Nimmerwiederkehr. Es wehte an dieſem Tage überhaupt ein 
ſchneidend widerczechiſcher Luftzug in Wien. Begreiflich daher, daß 
die Häuptlinge der Czechen, die Rieger, Hawliczek und andere, bereits 
den Staub Wiens von ihren Stiefeln geſchüttelt und gen Prag ſich 
aufgemacht hatten, allwo ſie dann mit den fahrenden Miniſtern 
Weſſenberg und Bach konferenzelten. Das alſo von den Häuptlingen 
ſchon am 6. Oktober gegebene Beiſpiel muthigen zurückweichens 
wurde in den zunächſtfolgenden Tagen von der czechiſchen Mannſchaft 
im Neichstage befolgt. Die Bänke ver Rechten leerten ſich demnach. 
An der Stelle des, öftreichiich zur Iprechen, „in Verſtoß gekommenen“ 
Strobachs übernahm Smolfa den Vorſitz und der Neichstag, welcher 
ſich permanent erklärte, fafite in der Nacht vom 6. auf den 7. Dftober 
eine Menge von Beichlüffen. Er beftellte einen „Sicherheitsaus- 
ſchuß“, der in Gemeinſchaft mit den Negierungsbehörden für vie 

30” 


468 Die Abwidelung, IV. 


Wiederherſtellung und Aufrechterhaltung der Ordnung ſorgen jollte; 
er erließ einen Aufruf „An das Volk“, worin daſſelbe zur Geſetzlich— 
keit ermahnt und „die Sicherheit der Stadt Wien, die Unverletzlichkeit 
des Neichstages und des Throns und dadurch die Wohlfahrt der 
Monarchie unter ven Schuts der wiener Nattonalgarde gejtellt wurde“ ; 
er beauftragte ven Herrn von Pillersdorff, eine Adrefje an den Kaiſer 
zu entwerfen, worin diefer um Gewährung einer allgemeinen Ammneftie, 
um Zurücdnahme des Manifejtes vom 3. Oftober und um Einjezung 
eines volfsthimlichen Miniſteriums, in welchem die beiden „ehrlichen 
Männer” Doblhoff und Hornboftl fiten jollten, angegangen wurde ; 
er entjandte den Verfaſſer diejer Adrefje als Träger derſelben unter 
Beigabe ver Deputirten Sfoda, Lubomirſki, Hornboftl und Borroſch 
jofort nah Schönbrunn; er jhidte auc eine Abordnung an ven 
Grafen Karl von Auerjperg, fommandirenden General von Nieder- 
öftreich, mit der Bitte, nichts gegen die Stadt zu unternehmen und 
von jedem Angriff auf das Volk abzuftehen. 

Der Herr General war diefem Wunſche ſchon abends zuvor— 
gefommen. Er gehörte nicht zu den Menſchen, welche für kritiſche 
Situationen gemacht find, d. b. zur Beherrichung verjelben Fähig— 
feiten und Thatkraft genug befigen. Er hielt fid) an den nachmittags 
ihn zugefommenen, von Wefjenberg und Latour unterzeichneten Be- 
fehl: „Das Feuer tft allenthalben einzuftellen“ — und unternahm 
auch dann nichts, als der im Kriegsgebäude verübte Gräuel ruchbar 
geworden. Entgegen der Anficht des Fürjten Felix von Schwarzen- 
berg, welcher vorſchlug, am Abend vom jojephitädter Glacis aus mit 
den Truppen durch das Franzthor in die Stadt einzuftürmen, ließ 
Auerjperg feine Streitkräfte vom Glacis aufbrechen und viejelben 
im Schwarzenberggarten und beim Belvedere Stellung nehmen, rath- 
(08, was weiter zu thun. 


Wiener Oftober. 469 


4. 


Spät in der Nacht gelangte die reichstägliche Abordnung nad) 
Schönbrunn und fie wurde jo huldvoll empfangen, daß man meinen 
fönnte, das, was in Wien geichehen war, jet in dem faiferlichen 
Sommerſchloſſe noch nicht vollitändig befannt geweien. Da jedoch 
dieje Annahme als unmöglic zu verwerfen tft, jo muß man glauben, 
nur der gute Ferdinand jelber jet zur Stunde, als die Deputation 
ihm aufwartete, nody nicht von der Ermordung Yatours unterrichtet 
gemejen. Wäre er es bereits geweſen, er hätte ſicherlich nicht mit 
ſolcher Ruhe und Faſſung fich zu geben vermocht, wie er that. Was 
die Hofleute angeht, jo hätten jie feine. jein müſſen, falls fie ihre 
Mienen und Zungen nicht joweit in ihrer Gewalt gehabt, um vie 
Deputirten nicht merken zu laſſen, wieman im Schloffe geftimmt war 
und was man vorbereitete, gerade während die faijerliche Majeftät 
der Abordnung des Reichstags Verficherungen gab, welche nicht be- 
ruhigender hätten lauten fünnen. Die Abgeorbneten waren jo glüd- 
lich, das nicht nur mündlich, jondern auch ſchwarz auf weiß gegebene | 
Berjprechen des gutmüthigen Monarchen, daß er ein neues „volfs- 
thümliches“ Minifterrum berufen werde, mit nad) Wien zurücknehmen 
zu fünnen. Se. Majeſtät hatte die Liebenswürdigkeit jo meit ge- 
trieben, dem wiener Volke noch ein ausdrückliches Kompliment zu 
machen, jagend, er „hoffe, daß daſſelbe zur Wiederherſtellung eines 
geordneten und gejetslihen Zuitandes fräftig mitwirken werde“. 

Die Rückkehr der Deputation mit jo tröftlihem Beſcheid erregte 
große Freude im Neichstagsjal, und als die Sisung frühmorgens 
am 7. Dftober gejchloffen wurde, behaupteten nicht wenige der Mit- 
glieder, das Morgenroth einer bejjeren Zufunft aufgehen zu ſehen. 
Aber, ad, „Morgenroth, Abendkoth“. 

Maßen die „ehrlichſte Politik allzeit die befte*, waren in Schön— 
brunn, während droben im Audienzzimmer der gute Ferdinand fo 
verjöhnlic und tröftlich zu den Reichstäglern geredet hatte oder reden 
gemacht worden, drumten in den Ställen die Pferde zur Flucht an- 


470 Die Abwidelung, IV. 


geſchirrt und war zugleich im kaiſerlichen Kabinett ein Manifeſt in ver 
Mache, welhes, zufammengehalten mit den der reihstäglichen Ab- 
ordnung gleichzeitig gegebenen Berficherungen das berühmte Artom 
von der ehrlichften Politik als der beiten jo zu jagen in Farbendruck 
illuſtrirte. Dieſes Manifeſt ließ fich jehr jharf aus gegen die Er- 
mordung Latour und zwar jelbtverjtännlich mit vollem echte, 
wenn auch die Phraje: „Wien ift mit Brand und Mord erfüllt“ — 
mehr Dichtung als Wahrheit enthielt. Wirklic großartig, geradezu 
folofjal wurde aber die Manifeſtdichtung, wenn fie den Kaiſer ſchließ— 
lic) ausrufen ließ, er „verlaffe die Nähe der Hauptitadt, um Mittel 
zu finden, der unterjochten Bewölferung von Wien Hilfe zu bringen und 
die bedrohte Freiheit zu retten”. Darum, „wer Oejtreich, wer die 
Freiheit liebt, jchare ſich um feinen Kaiſer!“ 

Nachdem dieſes Aktenſtück verfertigt und won dem immer dienit- 
willigen Unterjchreiber unterfertigt war, machte ſich der Hof vollends 
veifefertig und verließ zur jiebenten Morgenftunde unter dem Geleite 
einer Brigade von Kerntruppen Schönbrunn. Auch dieſe zweite Flucht 
ſchien wiederum ins glaubenseinige Tirol gehen zu wollen; allein in 
Wahrheit ging fie die Donau aufwärts bis Krems, überſchritt am 
9. Dftober dajelbjt den Strom, machte eine Scharfe Wendung nad) 
rechtshin und fand am 14. ihr Ziel in der mährijchen Stadt und 
Feftung Olmütz. Man muffte ven Slaven ein Pfand allerhöchiten 
Vertrauens geben; fie hatten fid ſchon fo jehr um das Haus Loth- 
vingen-Habsburg verdient gemacht! Inmitten einer ſlaviſchen Be— 
völferung das kaiſerliche Hoflager aufihlagen, hieß den Häuptlingen 
der Slaven jagen: Ihr jollt künftig in Oeſtreich die erfte Geige, will 
jagen „Guſſle“ jpielen. 

Derweil der fatjerlihe Fluchtzug zunächt gen Sieghardskirchen 
unterwegs war, erſchien der Minifter für alles, Herr Krauf, in der 
Bormittagsfisung des Neihstags und eröffnete, dag ein „Mann von 
der Hofburgwache“ ein faiferlihes Manifeit überbracht hätte mit der 
Aufforderung, daſſelbe gegenzuzeichnen, was ihm aber jeine fon- 
ftitutionelle Gefinnung und beziehungswetfe Entrüftung zu thun nicht 





Wiener Oftober. 471 


erlaubte. Er lege darum das Aktenſtück auf den Tiſch des Haufes 
nieder „zu beliebigem Gebrauche“. 

Aber leſen mufjte man doch das Ding. Allgemeine Berblüffung 
darnach. Die „gemäßigt liberale” Mehrheit ver Verſammlung hatte 
ſich jo eben noch jowohlig gefühlt in der Gewiſſheit, mit Ihrer kaiſer— 
Lich königlichen Majeſtät eigentlich doch ein Herz und eine Seele zu 
jein. Und jest? Ja, wie jtand denn nun eigentlich der Neichstag 
zum Kaiſer? Wer auf dieje Frage eine runde und nette Antwort 
hätte geben fünnen! Aber, was da? Nur nicht verzagt! Der Parla— 
mentarismus weiß für alles Rath. Iſt der Kaiſer fort, jo haben 
wir doch noch einen faijerlihen Miniſter und zwar einen Minijter für 
alles und noch dazu einen Mintjter, welcher jo eben forreft und 
forreftejt fonftitutionell geredet hat, ver allerliebſte Gummi-Krauß! 
An den alſo wollen wir uns halten und ihm auch, aus jchuldiger 
Dankbarkeit, jofort die Forterhebung der Steuern für ein volles Jahr, 
jowte die beliebige Benützung des Banffredits bemilligen. Dadurch 
geben wir uns erftens den Anfchein, als hätten wir nod etwas zu 
bedeuten, und beurfunden zweitens, daß wir unſträflich loyal. Weber: 
haupt tft e8 das gejcheidefte, wenn wir jo than, als wäre gar nichts 
vorgefallen, als gäbe es feinen 6. DOftober. Wir find und bleiben 
Sr. fatjerlic Föniglichen Majeſtät allergetreuefter Reichstag, debattiren 
weiter, parlamentiven vormittags mit der Revolution und nachmittags 
mit dem Hofe, richten heute eine Proflamation an das Volk und 
morgen eine Supplif an den Kaiſer, kurzum, wie unfer lieber Krauß 
ein Miniſter fr alles ift, jo find wir umfererjeits ein Reichstag für 
alles und für alle. „Medio tutissimi ibimus“. 


5. 


Der General, welcher nad) der Meinung des Hofes die wiener 
Revolution zu bändigen bejtimmt war, der Fürft von Windiſchgrätz, 


472 Die Abwidelung, IV. 


hatte ſich dieſe Role ſchon zum voraus jelber zugetheilt. Seitdem 
er das freilich jehr leichte Probeftüd, das prager Pfingftitrohfeuerlein 
auszublajen, abgelegt, war er ein Hauptvertrauter der herrſchenden 
Hofklike gewejen und hatte die Kaiſerin, Ferdinands Frau, fort 
während mit ihm gebriefwechjelt, — ſelbſtverſtändlich hinter dem 
Rücken des „konſtitutionellen“ Miniftertums, ja jogar hinter dem 
Küden Latours. Diejer Briefwechjel, welcher unter anderen Fragen 
auch Schon im Sommer die erörterte, ob man den guten Ferdinand 
abvanfen machen jollte, hatte den Fürften in jeiner Ueberzeugung, 
zum Retter der Dynaftie, des Throns und des Altars, der guten alten 
frommen Zeit im allgemeinen und der Junferherrlichfeit im bejon- 
deren förmlich prädeftinirt zu jein, jehr bejtärkt. Er hatte auch auf 
den Antritt feiner Netterrolle hin vorläufige Zurüftungen gemacht 
und insbeiondere mit verſchiedenen Generalen für gewifje Fälle Ber- 
abredung getroffen: alles hinter dem Rücken des „Eonftitutionellen“ 
Minifteriums; denn „die ehrlichite Politik ift immer die befte“. 

Am 8. Oktober erichienen die beiden Gzehenhäuptlinge Rieger 
und Hawliczek, flüchtig aus Wien angelangt, auf dem Hradſchin bei 
Windiſchgrätz und brachten demfelben die erjte beſtimmtere Kunde von 
den zwei Tage zuvor in der Donauftadt gejhehenen. Am folgenden 
Morgen wurde er durch den Grafen Morit Palffy verjtändigt, daß 
der Hof auf ver Fahrt gen Olmüt begriffen jet, worauf der Fürft 
dem fahrenden Hofe jofort den Rath zugehen ließ, mit dem Reichs— 
tag in keinerlei Unterhandlung ſich einzulaffen und den Fürften Felix 
von Schwarzenberg zum Minifter zu ernennen. Damm machte er die 
meiften in Böhmen ftehenden Truppen (10 Bataillone Infanterie, 
3 Bataillone Jäger, 24 Schwadronen Neiterei, 54 Geſchütze mit der 
nöthigen Bedienungsmannſchaft) marjchfertig gen Wien und ſandte 
Eilboten nach Brünn und Krakau, um von den dort fommandirenden 
Generalen die ſchleunige Entjendung aller verfügbaren Truppen in 
derfelben Richtung zu verlangen, welchen Verlangen mit möglichſter 
Eile entfprochen wurde. Auch mit dem General Auerſperg und mit 
dem Kroatenban jetste ſich der Fürft in Verbindung und zwar als 


Wiener Ditober. 473 


Dberbefehlshaber, da er Schon ſeit Ende Juni's im Befits eines kaiſer— 
(hen Handſchreibens war, fraft deſſen ihm „für dem eintretenden 
Fall“ der „unbeichränfte Befehl“ iiber alle Truppen ver Monarchie, 
mit Ausnahme der Armee Nadetfy’s, übertragen wurde. Am 16. 
Dftober ift dann der Inhalt dieſes geheimen Handichreibens in einem 
öffentlihen Mantfeit ausgeſprochen worden. 

Derweil jammelte ſich die Maſſe der aus Wien entwichenen 
czechiſchen Reichstagsabgeordneten, durchſprenkelt mit jonitigen ſlavi— 
ſchen und ſchwarzgelben Deputirten, in Prag, that ſich als Sonder— 
reihstag auf und czechte gehörig, zum ſchmunzelnden Vergnügen der 
Herren Bach, Weſſenberg und Stadion, welche ebenfalls in Prag 
eingekehrt waren und die Czecherei nach Kräften ſtachelten und ſteiften. 
Als der wiener Reichstag alle abweſenden Mitglieder aufforderte, 
binnen 14 Tagen wieder in ſeinem Schoße zu erſcheinen, leiſtete die 
czechiſche Kollegialität in der Infamie das äußerſte, indem der prager 
Sonderreihstag eine Erklärung ausgehen ließ, in welcher die wiener 
Linke deutlich genug als Verurſächerin der Ermordung Yatours be- 
zeichnet war, ja jogar einzelne Mitglieder mit Namennennung der 
reafttonären Rache fignalifirt wurden. Man fieht, die Herren Gzechen 
machten ſich immer würdiger, ihr Ideal, ruſſiſche Yeibeigene zu wer- 
den, verwirklicht zu jehen. 

Das deal militäriiher Unfähigkeit konnte man zur gleichen 
Zeit in der Umgebung von Wien verwirklicht jehen und zwar in dem 
Lager des Herrn General von Auerſperg und in dem Yager des Herrn 
Banus von Jellacic aleichermaßen. Der Stern des letteren, welcher 
Stern nie etwas anderes geweſen als ein fünmerliches Talglicht, von 
dem Winde der Hofgunft momentan zu einer qualmenden Tadel an- 
und aufgeblafen, war in rajcheitem finfen begriffen. Aus dem 
Mythus vom kroatiſchen Helden, Helfer und Heiland wurde die fläg- 
liche Wirklichkeit eines ordinären Subalternoffiziers. Vom ungariſchen 
Boden flanfenmärihlih auf deutichen geflohen, wufite fid) der Banus 
weder zu rathen noch zu helfen und verbarg feine Nath- und That— 
lofigfeit nur kläglich hinter Rauſchbauſchphraſen, melde er von feinem 


474 Die Abwicelung, IV. 


Hauptquartier Rothneuſiedl ausgehen ließ („Als Staatsdiener bin 
ich verpflichtet, der Anarchie zu ſteuern; als Soldat zeigt mir der 
Donner der Geſchütze meine Marichdirektion“, und dergleichen Horri- 
bilifribrifarereien mehr). Wäre es mit der oberjten Yeitung der ve 
volutionären Kräfte in Wien nicht jo elendiglich beftellt gewejen, mie 
es war, ein umfichtig geordneter und energisch geführter Angriffsſtoß 
von dorther würde den Kroatenjachen ſammt jeinen frebsrothmänteligen 
Szerefianern und jonftigen naturfindlihen Barbaren aus dem Felde 
geblajen haben. Nur dem Unverſtand und der Schlaffheit, melde, 
wie in Wien, jo auch im ungarischen Lager obenauf waren, hatte es 
Jellacie zu verdanken, daß er nicht zwiſchen zwei Feuer genommen 
und zwiſchen denſelben zerrieben wurde. Man muß ihm die Ge— 
rechtigkeit widerfahren laſſen, daß er wenigſtens nicht ſo dumm war 
wie ſeine Gegner; denn er kannte die Gefährlichkeit ſeiner Lage 
beſſer als dieſe. Am 10. Oktober hatte er eine Zuſammenkunft mit 
Auerſperg und wurde dabei verabredet, daß der letztere ſeine Auf— 
ſtellung im Schwarzenberggarten und Belvedere verlaſſen und ſeine 
Truppen mit denen des Banus vereinigen ſollte. Dieſer, welcher, 
wie wir wiſſen, ſtark in „Flankenmärſchen“, ſchlug dann vor, die 
beiden vereinigten Heerhaufen ſollten mitſammen einen Flankenmarſch 
um Wien herum ausführen und ſich donauaufwärts bis Krems „rück— 
wärts koncentriren“, um dort den Anmarſch der Windiſchgrätzer aus 
Böhmen abzuwarten. In Folge deſſen räumte Auerſperg am 12. 
Dftober jeine angegebene Stellung in jo kopfloſer Haft, daß Offiziere 
und Soldaten ihr Gepäd dahintenlaſſen mufjten. Doch fam es nicht 
zu der flankenmärſchlichen Flucht nach Krems, weil ja weder die Wiener 
nod) die Ungarn etwas gegen die beiden fatjerlichen Generale unter 
nahmen*). Man lie venjelben Zeit und Raum, in aller Gemüth- 

) Daß man von Wien aus gerade dazumal etwas rechtes unterneb- 
men konnte, ift Thatſache. Die Stimmung fonnte nicht befjer fein. De— 
peſche Kerns vom 13. Oftober: „Die Bewaffnung in der Stadt geht ununter- 
brochen fort und wird durch den allgemein friegerifchen Geift, der darin 
berricht, kräftig unterftübt”. S. B. A. 


Miener Oftober. 475 


lichkeit ihre Stellungen jo zu wählen, zu nehmen und zu fichern, daß 
fie mit ihren Truppen Wien vom Süden und Weiten her halbzirfelig 
umjpannten. Am 14. Dftober hatte Auerjperg fein Hauptquartier 
in Inzersdorf, Jellacte in Zwölfaring. Vom 11. Dftober an ſchoſſen 
ſich wiener Streifiharen mit den Kroaten herum, welche, wie verfichert 
wird, täglich ihre Offiziere fragten: „Gojpodine, wann marjchiren 
wir gegen Ola?“ unter welcher Aula fie ſich irgendein fabelhaftes 
Monſtrum vorjtellten, wie jie denn auch des fejten Glaubens gelebt 
haben jollen, jie jtänden jtatt vor Wien wor Budapeſth, um joldhes 
zu ſtürmen und zu plündern, wobei fie ſich nur verwunderten, wo 
denn die gejticten ungariſchen Hojen hingefommen wären. Inzwiichen 
hauf’ten die „Naturſöhne“ in der Umgegend, wie es ja von ihnen er— 
wartet werden muſſte. Die Rückwärtſerei hat jpäter, nad Sättigung 
ihrer Wuth, in einer wunderähnlichen Anwandelung von Scham für 
gut gefunden, alle Ausihreitungen und Ausſchweifungen ver Soldaten 
während der Belagerung und der Einnahme Wiens zu leugnen. Es 
tit aber ebenjo notoriſch als begreiflich, Daß Die mittels der Young 
„Race für Latour!“ fanatiſirte Soldateſka — keineswegs die Kroaten 
allein — das Rächeramt übte, wie fie es verftand. Dieſes Ver— 
ſtändniß wurde, der Meinung der Wiener zufolge, ſchon am 12. Ok— 
tober flargelegt durch die Auffindung eines gräßlich verftümmelten 
Leichnams, welden die abgezogenen Truppen Auerfpergs im Schwarzen- 
berggarten zurüdgelafjen hatten *). 


6. 


Bevor Windiſchgrätz feinen in Marich gejetten Truppen zur 
Donau folgte, begab er fih nah Olmütz, wo er am 15. Oftober 


*) Herr Berthold Auerbad bat in feinem „Tagebuch aus Wien“ (1849) 
unterm 12. Dftober (S. 91) als Augenzeuge darüber alfo ausgefagt:.. . . 


476 Die Abwidelung, IV. 


eintraf. Er mar jego der Hort, Helfer und Heiland ves Hofes und 
für einen folhen konnte man doc nicht weniger thun, als ihn zum 
Feldmarjchall ernennen. Der windiſchgrätziſche Feldmarſchallsnimbus 
ift Freilich etliche Monate fpäter, wie jedermann weiß, auf ven ungari⸗ 
ſchen Pußten kläglich verblichen. Vorderhand jedoch ſtralte er hell, 
weil die Moga und Meſſenhauſer nicht die Leute waren, ſeinen Glanz 
zu trüben. 

Zweifelsohne hat während der Anweſenheit des neugebackenen 
Feldmarſchalls am faijerlihen Hoflager der Gedanke, den guten Fer— 


„Sm Hofe der Aula brauf’te und toj'te es wie ein Sturm. Man hatte die 
Leiche eines Studenten gebracht, die man nad dem Abzuge des Militärs 
vom Belvedere dort gefunden. Die Leiche war jchauderhaft verftümmelt, 
die Zunge ausgeſchnitten, die Augen ausgeftochen, der Mund aufgejchlitt 
bis zu den Ohren, die Nafe abgebadt, der Bauch aufgeſchlitzt, alle Raſerei 
des zum Ungeheuer gewordenen Menſchen war verübt. Ein heulen und 
racherufen, herzerſchütternd wie noch nie, hörte ich hier. Die Frauen zer- 
floffen in Thränen und Wehklagen und die Männer hoben ihre Waffen zum 
Himmel und ſchwuren Rache an dem Haufe Habsburg. Ich ſah einen alten 
wohlbeleibten Mann, die hellen Thränen liefen ibm über die Wangen und 
er fonnte nur noch beifer die Worte rufen: „Rache an Habsburg! So läſſt 
uns der gute Kaifer ermorden , weil ein Einziger ermordet worden“. Ich 
ſah bier das empörte Herz des gutmüthigften Volkes und erkannte, wohin 
man e8 treiben fann dur Shmäblichen Verrath. „Zum Reichstag! Zum 
Reichstag !” erihollen plöglid Stimmen und „Zum Reichstag!” ſchrie alles. 
Mit einer Schwarzen Fahne worauf trug man die Leiche hin, die Reichstags- 
mitglieder mufjten jehen, wie die Truppen des Kaijers mit feinem Volke 
umgingen. Schufelfa fam herab und beruhigte mit wenigen Worten das 
zum äußerſten gereizte Volk, und als der Abgeordnete Fürft Lubomirjfi die 
Leiche ſah, verfiel er plößlich in Wahnfinn“. Mit diefer Ausjage halte man 
die Darftellung zufammen, welche der ſchwarzgelbe Dunder in feiner „Dent- 
ichrift über die wiener Oftoberrewolution“ (S. 320 fg.) von diefem Aben- 
teuer gibt und welche in die Spite ausläuft, „die Leiche fei ohne Zweifel jo 
zugerichtet worden, um das Volk zu erbittern“. Selbftwerftändlich wird für 
diefe aus der Luft gegriffene Behauptung nicht der Schatten eines Beweiſes 
beigebracht, während die Auffindung des gefhändeten Todten im ſchwarzen— 
bergiichen Garten aktenbeweiskräftig feftgeftellt if. 


———— 


Wiener Dftober. 477 


dinand in den Stand zu ſetzen, ungeſtört von Unterichreibungs- und 
anderen Negierungsmühen der Blumenzucht fich widmen zu fünnen, 
bejtimmtere Geftalt gewonnen. Es gab Leute am Hofe, welche dem 
Katjer jein märzlihes „Ich laſſ' nit ſchießen!“ nie verziehen hatten. 
Bei dem, was den Anfichten und Wünfchen der Kamarilla zufolge 
nothwendig gethan werden mufjte, um den alten Glanz von Thron 
und Altar wiederherzuftellen, brauchte man einen Unterſchreiber, 
welcher nicht jo blutihen war wie der Ich-Laſſ'-Nit-Schießen-Bo— 
tanifer. 

Sodann mufite in Olmütz zur Sprache fommen, welches Syſtem 
gegenüber ver ganzen Sachlage in Anwendung gebracht und einge— 
halten werden jollte, das der unmittelbaren oder das der mittelbaren, 
das der nadten Gewalt oder das der vorläufig noch fonftituttonell 
verihämt verhüllten. Der Hof zerftel über dieſe Frage im zwei 
Parteien. Die eine wollte, daß der Keichstag Sofort aufgelöf’t, über 
genz Oeſtreich der Belagerungszuftand verhängt und Windiſchgrätz 
mit unbeſchränkter Vollmacht, geradezu mit der Diktatur befleivet 
würde. Die andere meinte, es jet doc) flüger, vorderhand den fon- 
ſtitutionellen Schein zu wahren, den Reichstag, welcher ja ohnehin 
gerade vermalen jo wortreffliche Dienfte leiſtete, indem er mittels jener 
Schwasoptate die Kraft der Oftoberrevolution einſchläferte, fortbe— 
ſtehen zu laſſen, aber denſelben, jobald es thunlich, aus ver Hauptitadt 
hinweg und in irgendein obſkures böhmakiſches over ſlovakiſches oder 
hannakiſches Neſt zu verlegen, damit er ſich daſelbſt mit Verfertigung 
von Verfaſſungsparagraphen harmlos die Zeit vertriebe. Die zweite 
Anſicht trug es über die erjte davon, was ſich wohl unſchwer haupt— 
jählih aus der Rückſicht erklärt, daß dazumal das „rebelliiche“ 
Ungarn nod nicht niedergeworfen war. Der zum Premierminifter 
bejtimmte Fürſt Felix von Schwarzenberg, ein ausgebrannter Witit- 
ling mit glafigen Fiſchaugen, aber ſchlau, gefühl und ſkrupellos, hatte 
dringend zu dieſer zeitweiligen Beibehaltung des fonftitutionellen 
Formſchwindels gerathen und war hierin unterftütt worden durch 
die Gzehenhäuptlinge von Prag her, welche vor rückwärtſigen Ueber- 


418 Die Abwidelung, IV. 


ftürzungen warnten, weil fie es ſchon im Hinblid auf ihre eigene 
landsmänniſche Bauerfame umgerathen finden mufjten, daß der Hof 
jeinen vormärzlichen Gelüften allzu freien Yauf ließe. Selbſt Win- 
diſchgrätz fügte fich, unter der Bedingung jedoch, daß man ihn — 
die Eroberung von Wien vorausgeſetzt — dort in feiner Weife für 
Ruhe und Ordnung, Thron und Altar arbeiten ließe und daß das in 
der Mache begriffene neue Minifterium feinen wichtigen Schritt thäte 
ohne jein Mitwilfen und feine Zuftimmung. 

Ia, man war denn doch in Olmütz des Sieges über die „fluch— 
wirdige Nevolution” noch feineswegs jo fiher, daß man ohne 
weiteres die Brummbaßſprache ver Gewalt zu reden jchon ſich getraut 
hätte. Im Gegentheil, man flötete janft und jüß nad Noten, nad) 
Märznoten. Denn „vie ehrlichite Bolttif ift die befte”. Der arme 
Kaifer Ferdinand hatte wiederum viel zu thun in jenen Tagen. Am 
15. Dftober mufjte er ein Mantfeft an die Bauern der Monarchie 
unterichreiben, worin denſelben die Erhaltung ihrer Märzerrungen- 
ichaften auf's neue feierlich zugefichert wurde. Am 19. Dftober 
ſodann erichien eine Tags zuvor von Sr. Majeftät unterſchriebene 
Proflamation, worin der Kaiſer „mit jenem fürftlihen Worte den 
Völfern Deftreihs alle denjelben gewährten Rechte und Freiheiten“ 
verbürgte, ſowie die vor der Oktoberrevolution vom Neichstage ge— 
fafiten Beſchlüſſe beitätigte und ſchließlich feinen „feſten Willen“ er— 
flärte, daß das angefangene Verfaſſungswerk vom fonftituirenden 
Reichstage fortgefegt und vollendet werde. 

Derweil man aber den guten Ferdinand dermaßen in der fon- 
ftituttonellen Fiftel zu den Völkern Deftreichs ſprechen ließ, ſchickte ſich 
der neue Feldmarihall an, mit Kanonenmäulern zu den Wienern zu 
reden. Während der Anjchidung hierzu, ja ſogar nachdem bejagte 
Mäuler bereits ſich aufgethan hatten, handirte der Reichstag noch 
immer mit der dummen fonftitutionellen Fiktion, rejolwirte, defre- 
tirte, veferirte, deputirte, proteftirte, ſchicke Boten nad) Olmütz, nad) 
Frankfurt, an Auerſperg, an Sellacic, horchte dahin, wijperte dort— 
hin, unterhandelte hier, beſchwor dort, wiegelte auf, wiegelte ab, 





Wiener Oktober. 479 


wollte alles vermitteln ımd vermantichte alles. Wäre diejes parla= 
mentariſche Gezappel nicht jo ſchädlich geweſen, wie es in Wahrheit 
war, man hätte vor lachen darüber Thränen vergieken mögen. Es 
war aber entjchieven jhädlich, weil es die Thatkraft der wiener Be— 
völferung, welche unglüdlicher Weije in dieſer Verſammlung die 
höchſte Autorität erblidte, mittels Einflößung der kretiniſchen Mixtur 
„Revolution auf geietlihem Boden“, die auch anderwärts jo unheil— 
vol gewirkt hatte, einjchläferte und vergiftete. Es war eine ganz 
verrückte Situation, daß eine Verſammlung, welche innerhalb der 
Stadt die oberſte Entiheidung anſprach und übte, außerhalb der 
Stadt jo ohnmächtig und einflußlos war wie eine Sammlung von 
Gipsfiguren. Herr Krauß, welcher mit Vorwiſſen und Bewilligung 
des Hofes jeine Allerweltminifterrolle ipielte, lenfte ven Reichstag au 
den Gängel- und Gaukelbande der Yegalität. 

Freilich waren noch zwei andere Behörden da, welche mit und 
neben dem Minifter Krauß und neben dem Keichstage regierten, was 
das Zeug hielt: der am 7. Dftober eingefetste Gemeinderath und der 
Studentenausfhuß. Allen beide binderten einander mehr, als fie 
fi in die Hände arbeiteten, und appellivten und refurrirten dann 
doch wieder in allem und jedem an den Neichstag, der jeinerjeits an 
ven Allerweltminijter appellivte und rekurrirte. Noch einmal: eine 
gegen ihren Katjer empörte, gegen die fie belagernden Truppen des— 
jelben fechtende Stadt in letter Inſtanz von einem faiferlichen Mintjter 
regiert — die purite Berrüdtheit! Nabelais und Swift hätten 
tolleres nicht zu erſinnen vermocht und jedenfalls war dieſe ungemüth— 
liche Anarchie die Gipfelung des „tollen“ Jahres. 

Aber aus diefer tragischen Narrethei glänzt eine Thatſache her- 
vor wie ein Stern aus Wolfen: die Umeigennüsigfeit, Gutmüthtg- 
feit und Opferwilligfeit der kleinbürgerlichen und proletariichen Be— 
völferung von Wien. Nachdem ſich die langangeſammelte und 
künſtlich vermehrte Eleftricität des Volkszorns am 6. Oftober in 
einem Mordblitz entladen hatte, trat die angeborene wienertiche Gut— 
herzigfeit und Veichtlebigfett wieder ganz und voll in ihr Recht. Ebenſo 


480 Die Abwidelung, IV. 


der wieneriſche Humor, welcher insbejondere in der „Mobilgarve” feine 
Vertreter hatte. Diejes Korps vereinigte die jüngeren und beweg- 
licheren Kräfte der Bürgerwehr, ſowie aud) die habenichtfigeren, mas 
weder der Munterkeit noch der Tapferkeit defjelben Abbruch) that. Es 
war ein luſtiges Volk, diefe Mobilen, und Robert Blum hat wohl 
zum letstenmal in feinem Yeben gelacht, als jo ein Mobiler am 
26. Dftober mitten im Kampfgetöſe mit wollendeter Virtuoſität das 
pfeifen, jurren und brummen der verſchiedenen Geſchoſſe auf ihrer 
Flugbahn und bei ihrem einjchlagen nachmachte. Daß es in einer 
belagerten und bombardirten Stadt an einzelnen Exceſſen unmöglid) 
fehlen konnte, iſt leicht einzujehen; allein jolde Bergehungen wurden 
raſch und jtrengitens geahndet, wie denn ein Mobiler, der einem 
Werbe Gewalt angethan, auf der Stelle erſchoſſen worden tft. Daß 
e8 aber in einer belagerten und bombardirten Stadt noch niemals jo 
ordentlich und ehrlich zu= und hergegangen, wie es im Dftober von 
1848 in Wien zu= und herging, vermag nur die Barteiverbohrtheit 
zu leugnen. Was vermögen aber die Lügen der Parteiverbohrheit 
und der Angjtphilifterei gegen Ihatjachen wie die, daß, obzwar das 
Bolf Herr der ganzen Stadt war, die Schäte der Bank, welde ein 
einziger Mann bewachte, vollkommen jicher blieben und daß an dem 
gar nicht bewachten Palaſte des Windiichgräs, während diefer Wien 
bombardirte, nicht eine Fenfterjcheibe zerbrochen, nicht ein Klingelgriff 
abgerifjen wurde? Fürwahr, ein großer Führer hätte mit Diejer 
Bevölkerung großes vollführen fünnen. Jammerſchade um die vielen 
herrlichen Kräfte, die hier nutzlos zu Grunde gingen. 

Gar nichts Löbliches it Dagegen von der ländlichen Bevölkerung 
in der Umgegend von Wien zu jagen. Die Bauern liegen ihren 
rohen Egoismus in jeiner ganzen Nuppigfeit jehen. Alle Be- 
mühungen Kudlichs und anderer, die Bauerjchaft zu bewegen, ſich zu 
einen», Landſturm“ zufammenzuthun und dem bevrängten Wien Hilfe 
zu leisten, jcheiterten fläglich. Es war ganz eitel, den Bauern aus- 
einanderzufegen, wie unberechenbar wichtig es ſei, die Hauptſtadt nicht 
der Säbelbrntalität verfallen zu lafjen. „Was geht das uns an?“ 


Wiener Oktober. 481 


fagten fie; „wir haben feine Robot mehr und das andere iſt uns 
gleih“. Damit nody nicht genug: die bäuertich-pfiffige Herzlofigfeit 
ftand auch nicht an, aus der Bedrängnis Wiens möglichſt großen 
Bortheil zu ziehen. Je mehr die Einſchließung der Stadt und damit 
aud die Noth in verjelben zunahm, um jo unverjhämtere Wucher- 
preije forderten die Bauern für ihre Marftprodufte. Bon weither 
famen den Wienern allerdings viele Sympathiebezeugungen zu. Die 
Stäptebevölferungen von Deutſchöſtreich mufiten ja fühlen, daß Wien 
troß all der dort waltenden Unklarheit den Kampf gegen ſlaviſchen 
Deipotismus führte. Allein zumeiſt liegen fie e8 eben auch bei leeren 
Sympathiebezeugungen bewenden. Thatſächliche Hilfe, d.h. Zuzüge 
bewaffneter Mannſchaft jchieten in nennenswerther Weiſe nur Brünn, 
Graz und etwa noch Salzburg. 

Daß die Wiener auch von dem Schwatflubb in Sanft Paul 
zu Frankfurt, jowie vom deutſchen Reichsverweſer und Reichs— 
mintjterium etwas hofften, erweiſ't unwiderleglich ihre kindliche 
Naivität. Neichsverwejer und Reichsminiſterium jchmerlingelten, 
d. h. fie jandten am 13. Dftober die zwei Parlamentsnullen 
Welder und Mofle als „Reichskommiſſäre“ mit einer „Milton 
des Friedens und der Verſöhnung“ nad) Wien oder eigentlich nad) 
Dlmüs, melde Miffion einer der traurigiten Späſſe war, melde 
das Jahr 1848 gejehen hat. Man trieb mit viejen Reichs— 
kommiſſären allenthalben Ulf, am offenfundigiten im windiſch— 
grätziſchen Hauptquartier; fie aber waren jo reichskommiſſäriſch ver— 
nagelt, daß fie nicht einmal merften, wie man fie ulfte und uzte. 

Im deutſchen Plapperment wurde am 12. Oftober durd) den 
Dejtreicher Berger der Dringlichfeitsantrag eingebracht, „die Ver— 
jammlung möge anerfennen und erklären, daß der fonititutrende 
Neihstag und die helvdenmüthige Bewölferung Wiens jih um dag 
Baterland wohlverdient gemacht“ — fiel aber natürlid durch. Dar— 
aufhin bejchlofien die beiven Fraktionen der Yinfen, ihrerjeits eine 
Sympathiebezeugungsdeputation nad) Wien zu entjenden, und beitell- 
ten diejelbe aus den Herren Blum, Fröbel, Hartmann und Tram— 

Scherr, 1348. 2. Aufl. II. 31 


482 Die Abwidelung, IV. 


puſch. Wie der letstere zur Ehre diefer Sendung Fam, wuſſte fein 
Menſch und er jelber am wenigften zu jagen. Die Abordnung ge- 
(angte am 17. Oftober nad Wien und wurde mit großem Halloh 
empfangen. Im übrigen vermochten die franffurter Deputirten inner- 
halb Wiens der Oftoberrevolution im Grunde gerade jo wenig zur 
nügen, als die außerhalb herumdufelnden „Reichskommiſſäre“ der— 
jelben zu jchaden vermochten. Als der Kampf losgebrochen war, 
fonnten e8 Blum, Hartmann und Fröbel nicht ehrenhaft finden, fich 
demjelben zu entziehen. Sie traten aljo in einen von dem tapfern 
Haugf, einem gewefenen kaiſerlichen Offizier, organifirten Harft. 

Ob Robert Blum aus Hoffmung, ob aus Verzweiflung nad) 
Wien gegangen? Man weiß es nicht. Wahrſcheinlich ging er im 
Dftober nad) Wien, um den ungeheuren Fehler zu ſühnen, welchen er 
im September in Frankfurt begangen hatte, als er ftatt die revolu— 
tionären Kräfte zu entfeffeln diejelben vielmehr lahmlegen half. Aber 
die Neue fam zu fpät. Die wiener Oftoberrevoluttion war ſchon 
allzufehr verfahren, um nod) ins richtige Geleiſe gelenkt werden zu 
fönnen. Und war überhaupt Blum der Mann dazu, jo eine Lenkung 
zu unternehmen und durchzuführen? Nein. Er ging an der eigenen 
wie an der Halbheit der ganzen Bewegung won 1848 zu Grunde, 
einer der beflagenswertheften Blutzeugen für die Wahrheit von Saint- 
Juſt's Ausſpruch: „Ceux qui font les revolutions à demi, ne 
font que creuser leurs tombeaux*. Aber freilich, derjelbe Ci— 
toyen Saint-Juſt hat ſich auch mur jein Grab gegraben, indem ex 
eine ganze Nevolution mitmacte. 


0 


Derweil die von Windiſchgrätz in Bewegung geſetzten Truppen- 
maffen vom Norden und Oſten her Wien ſich näherten, um die Um— 
ſchließung der Stadt zu vollenden, was am 19. Dftober gejhehen 
war, begann auf den Neichstagsbänfen in der Fatferlichen Reitſchule 


Miener Oftober. 483 


die Verſchwindſucht jo merklich zu graffiren, daß nur nothdürftig die 
beſchlußfähige Anzahl von Mitgliedern zufammenblieb. Zugleich 
jah fi die Verſammlung jehr wider ihren Willen mehr und mehr 
genöthigt, einigermaßen „Konventle“ zu jpielen. Sie trüftete ſich 
dariiber mit der lächerlichen Selbjtbelügung, daß fie feineswegs mit 
dem Kaiſer im Kriege wäre, jondern nur Wien vor dem Sellacie und 
dem Windiſchgrätz ihlitte, welche Generale „ven Willen des Kaiſers 
miſſachteten“, demnach jo zu jagen Rebellen wären, deren „Bollmad)- 
ten“ folglich der Reichstag von rechtswegen für „ungiltig”, deren 
Maßnahmen er fir „ungeſetzlich“ erklären müſſte und wirklich er- 
klärte. 

Natürlich muſſten in dieſer Erklärung der wiener Gemeinderath, 
der Studentenausſchuß, Das demokratiſche Gentralfomite, ſowie die 
ſämmtlichen nichtſchwarzgelben Beſtandtheile der Bürgerwehr die 
Aufforderung erblicken, den Widerſtand gegen die „rebelliſchen Gene— 
rale“ zu organiſiren und zu leiſten. Um ſo mehr, da ja das kaiſer— 
liche Finanzminiſterium nicht anſtand, die vom Reichstage behufs 
dieſer Organiſation und Leiſtung bewilligten Geldmittel beizuſchaffen, 
obzwar nur „vorſchußweiſe“. So wurden dem Gemeinderathe zu— 
nächſt 200,000 Gulden vorgeſchoſſen. Die betreffende Beſchluß— 
faſſung in der Reitſchule hatte ein konſervatives Mitglied — es gab 
noch ſolche rarae aves daſelbſt — für feine Perſon alſo motivirt: 
„Wenn wir die bezahlen, welche hereinſchießen, ſo ſehe ich nicht ein, 
warum wir nicht auch die bezahlen ſollten, welche hinausſchießen“. 
Der ganze Babelwirrwar der wiener Oktobertage iſt in dieſem Votum 
enthalten. 

Die oberſte Leitung der Vertheidigung Wiens war beim Ober— 
kommando der Bürgerwehr. Verſchiedene Inhaber dieſer Stelle 
— Streffleur, Scherzer, Braun, Spitzhitl — waren ſeit dem 6. Ok— 
tober dampfgeſchwind aufgetaucht und noch dampfgeſchwinder wieder 
untergetaucht. Angeſichts nun der herandrohenden Entſcheidung 
ſchlugen die demokratiſchen Vereine zum Oberkommandanten vor den 
geweſenen kaiſerlichen, Oberleutnant und jetzigen Literaten Wenzel 

> 


454 Die Abwidelung, IV. 


Mefienhaufer und am 12. Dftober ernannte das faijerlihe Mini- 
jterium des Innern im Einverjtändnig mit dem rveichstäglichen Sicher- 
heitsausfhuß den Vorgejchlagenen wirklich zum proviſoriſchen Be— 
fehliger der wiener Nationalgarde. Die Wahl war jo eine 
himmelſchreiend verfehlte, daß ſich eigentlich alle Pflafterjteine von 
Wien hätten dagegen empören ſollen. Der arme Mefjenhaufer tft 
die gutmüthigfte, ehrlichite, uneigennützigſte, blondeſte Deftreicherjeele 
von der Welt gewejen; aber einen jchledhteren Oberfommandanten 
Wiens unter den obſchwebenden Umftänden zu finden war ſchlechter— 
dings unmöglid. An Muth zwar hat es ihm feineswegs gefehlt — 
bewies er doch Schon juperlativiihen Muth dadurch, daß er ich nicht 
beſann, an einen Platz zu treten, wo er jo ganz und gar nicht am 
Blase war. Da hätte es eines Mannes bedurft mit einer Seele von 
Stahl und einer Hand von Eifen, eines Durchgreifers und Nieder- 
treters, welcher an jeine Aufgabe gegangen wäre mit dem Bewuſſt— 
ſein, daß bier alles gewagt werden müfjte, um etwas zu gewinnen, 
und welder nicht davor zurüdgejchroden jein würde, Wien, jo e8 
nöthig, zu einem Sagunt oder Saragofja zu machen. Statt ein 
joiher Mann zu fein, war Meſſenhauſer — ganz abgejehen von der 
Unzulänglichkeit jeiner milttärifchen Befähigung — ein wohlmeinen- 
der Sentimentalerling, ein Iyrifher Träumer und Phantaft, völlig 
bejefjen von dem Narrenwahn, alle Menjchen ſeien im Grunde jo 
gutmüthige Sterle wie er ſelbſt. Auc als Oberkommandant Iyrifirte 
und bombaftifirte er weiter, wie er es als Novellift getrieben hatte. 
Seine oberfommandantlichen Stilübungen waren häufig ganz läppiſch 
und täppiſch, geradezu kindiſch. Seine Schwäche wurde durch jeine 
Umgebung — er hatte nicht einmal Willensfraft genug, notoriſche 
Schwarzgelbe aus feinem Stabe zu entfernen — miffleitet und miß- 
braudt. Wenn ſich jein gebaren ab und zu etwas energijher an- 
ließ, jo war er nur das Sprachrohr des Willens jeines erften Feld— 
adjutanten, des geweſenen Jägerleutnants Fenner von Fenneberg, in 
deſſen Adern — wie er wenigitens jelber ſich zu rühmen pflegte — 
fein treuunterthänig-tiroliſches, jondern vielmehr italiſch-heißes Blut 





Wiener Oftober. 485 


rollte. Fenneberg, welcher jich nad) feinem Austritt aus der Armee 
etliche Jahre auf dem Felde der ſüddeutſchen Tagespreſſe herumge- 
tummelt hatte, lebte der Ueberzeugung, daß, wer den Zweck wollte, 
auch die Mittel wollen müſſte und daß man mit Sentimentalität und 
Lyrik in einer Revolution nicht weit fime. An Talent und Willen 
überragte er Meſſenhauſer weit, ohne doch weder an Gaben noch an 
Charakter auch mer annähernd zu jener Höhe hinanzuragen, auf 
welcher ein Mann ftehen mufite, der aus dem wiener Oftober etwas 
rechtes machen fonnte. 

Etwas, viel jogar von dem Zeuge zu einem folhen Manne 
hatte der polniſche General Bent, welcher feine Schule in den napo— 
leoniſchen Feldzügen begonnen und im polniichen Injurreftionsfriege 
von 1830— 31 vollendet hatte. Gleich vielen feiner Yandsleute 
war er nad) dem 6. Dftober nad) Wien geeilt. Dieje Polen mitfjen 
ja überall, wo die Trommel der Kevolution gerührt wird, mitpabei- 
jein, kämpfende Protefte gegen die Theilung ihres Vaterlandes, fech— 
tende Beweiſe, daR, wie es im „Dombrowffiego“ heißt, „ Polen nod) 
nicht todt, jolange Polen leben“. Bem erflärte, er jei nad Wien 
gekommen, um „als Mitglied der lemberger Nationalgarde den hohen 
Reichstag zu unterſtützen und die Truppen, welche fid) gegen den- 
jelben empört hätten, mit allen Kräften zu bekämpfen“. Meſſen— 
hauſer, weldyer den General wohl von früher her gefannt haben mag, 
übertrug demjelben die Organiſation und Leitung der Vertheidigung 
ſämmtlicher Yinten und Außenwälle der Stadt und Ben hat fich, wie 
befannt, dieſer Aufgabe vollftändig gewachſen gezeigt. Allein weiter 
vermochte er es nicht zu bringen. Um jeine Eigenſchaften als Soldat 
und Revolutionsmann zur vollen Entfaltung und Wirffamfeit zu 
bringen, hätte jeine Stellung eine diftatorifche ſein müſſen; aber 
hieran war bei dem jämmerlichen Gaufel- und Schaufelipiel, welches 
der Reichstag trieb, natürlich garnicht zu denken. Auch ift dem Polen 
hinderlich geweſen, daß er der deutjchen Sprache nicht mächtig war. 
Aufhenten („aufänkéen“) und erſchießen („erſchießen“) waren die ihm 
geläufigften deutſchen Worte. Cr praftizirte dieſelben auch bet 


456 Die Abwidelung, IV. 


pafiender Gelegenheit unbevenflih und wuſſte ſich überhaupt in ge- 
hörigen Reſpekt zu ſetzen, ſogar bei den Mobilften unter ven Mo— 
bilen. Im übrigen jagt man ihm nad, er habe jchon wenige Tage 
nad jeiner Ankunft in Wien erkannt, daß es unmöglich, die Stadt 
mit gewöhnlichen Mitteln lange gegen die fatjerlichen Truppen zu 
halten. Er mufjte auch einfehen, daß, wie die Sachen lagen, nicht 
zu hoffen jei, man würde zu außergewöhnlichen Mitteln greifen, und 
deſſhalb bereitete er fich bei Zeiten auf ven Ausgang des Abenteners 
vor, inden er verjchtedene öftreichtiche Offizieruniformen feinem Gepäde 
beilegte, um pafjende Verkleidungen bei der Hand zu haben. 

Es ift aber ganz thöricht, zu glauben und zu jagen, ein jo jharf- 
veritändiger Mann, wie diefer Pole gewejen ift, hätte aus bloßer 
Luft am Wirrwar die Vertheidigung einer für die Dauer als unhalt- 
bar erfannten Stadt mitgeleitet. Bem hatte einen ganz vernünftigen 
Grund, die Vertheidigung Wiens zu verſuchen, nämlich die beſtimmte 
Erwartung, die Ungarn müfiten und würden alles daran jeten, die 
wiener Demofratie nicht dem Windiſchgrätzismus unterliegen zu lafjen. 
Es war ja das den Magyaren vom eigeniten Interefje geboten. 
Hinter einem fiegreihen und mächtigen Ungarn aber jah der Pole die 
lebendigbegrabene Bolonia wieder aus ihrem Grabe fi) erheben. 
Bem wuſſte daher ganz gut, was er that, als er verfuchte, Wien 
halten zu helfen, bis die Magyaren Entſatz brächten. Er irrte nur 
darin, daß er wähnte, das vernünftige müſſte gejchehen, während 
wie immer das unvernünftige geihah, weil e8 geichehen muffte. 


8. 


Windiſchgrätz traf am 19. Dftober von Olmüt her in Lunden— 
burg ein, wo er zumächft fein Hauptquartier auffhlug, um won Dort 
am folgenden Tag eine Proflamation „An die Bewohner Wiens“ 
zu richten, worin er befanntgab, daß er „mit allen Vollmachten aus⸗ 


Wiener Dftober. 487 


gerüftet jet, um dem dermalen herrſchenden gejeilojen Zujtand ohne 
Zeitverluft ein Ziel zu jeßen“, und ſchließlich die Hauptitadt ſammt 
Borjtädten und Umgebung in Belagerungszuftand erflärte. Am 22. 
Dftober hatte er jein Hauptquartier in Stammersdorf und hier gab 
er einer Abordnung des wiener Gemeinderaths Audienz in einer 
Weiſe, daß über jeine Abjichten fein Zweifel mehr bleiben konnte. 
Er forderte die jofortige und unbedingte Mebergabe der Stadt und 
vollftändige Entwaffnung der Bevölkerung. Auch nad dieſer Er- 
klärung des Fürſten beging der lyriſche Meſſenhauſer noch die hyper— 
lyriſche Naivität, in einer Zuſchrift an Windiſchgrätz, als an den 
„Befehlshaber der am linken Donauufer ſich koncentrirenden Truppen“, 
dieſen aufzufordern, die Zufuhr von Lebensmitteln nach Wien nicht 
zu hemmen und nicht die „ungeheure Verantwortung auf ſich zu laden, 
das nahebevorſtehende Verſöhnungswerk zwiſchen Monarch und Volk 
durch vorgreifende Akte der Feindſeligkeit zu ſtören“. Schon um 
dieſes kindlichen Dokumentes willen hätte Windiſchgrätz, falls er, vom 
Menſchengefühle gar nicht zu reden, auch nur eine blaſſe Vorſtellung 
von Humor beſeſſen, den unfreiwilligen Humoriſten Meſſenhauſer 
nicht erſchießen laſſen dürfen. 

Am 22. Dftober hatten auch die zwei Kahlmäuſer von deutſchen 
Reichskommiſſären, die Herren Welder und Moſle, die Ehre, zu 
Stammersdorf vor den kaiſerlichen Feldmarſchall gelaffen zu werden, 
nachdem jie ſich's an der „Generalstafel“ hatten wohlſchmecken laſſen. 
Der ihnen im Zimmer des Fürjten gereichte Nachtiſch war um jo un- 
ihmadhafter. Welder jtellte ſich in Pofitur und rednerte ven Windiſch— 
gräß jtaatslertfontih an. Allein der Angerednerte fuhr mitten in 
die Phraſenwelckerei hinein mit der unangenehmen Bemerkung: „Es 
jheint ja fait, als ob Sie für die wiener Volksſouveränität Bartet näh- 
men“. Darob erſchrak der weiland radikale Staatslerifoner, maßen 
er ſich erinnern muſſte, daß er jelber noch vor wenigen Monaten die 
Volksſouveränität heftig gepredigt hatte, und jalbaderte vem Fürſten 
einiges vom Reichsverweſer und von ihren, der Reichskommiſſäre, 
Vollmachten vor. Worauf Windiſchgrätz: „Reichsverweſer? Geht 


488 Die Abwidelung, IV. 


mid) nichts an. Ihre Vollmachten? Brauche fie gar nicht zu jehen. 
Oeſtreich bedarf der Paulsfirhe nicht; es wird den Kampf um fein 
beitehen allein ausfechten”. Damit konnten die Herren Reichs— 
kommiſſäre abgehen ; jeufzend, vermuthlich. Trotz dieſes abgefahren- 
jeins hatte aber Herr Welder die Stirne, am 29. November in der 
Paulskirche lang und breit von den Bewilligungen zu deflamiren, 
welche Windiſchgrätz in Folge der reichskommiſſärlichen Dazwiſchen— 
kunft den Wienern gemacht habe, — eine welcker'ſche Dichtung von 
A bis 2. 

Während die fatferlihen Generale in aller Gemächlichkeit ihre 
Maßnahmen zur völligen Einſchließung Wiens trafen und zur Aus- 
führung brachten, herrſchte drunten an der Leitha in der Stimmung 
und in den Operationen der ungarischen Armee das kläglichſte 
ihwanfen. Mitſchuld daran war freilich das zwitterhafte gebaren 
des öſtreichiſchen Reichstags, welcher hinfichtlic eines feſten und ent— 
ſchiedenen handinhandgehens mit den Ungarn nicht ſchlüſſig werben 
fonnte. Die ungarische Nationalverfammlung hatte jhon am 10. 
Oktober eine Erklärung an den wiener Reichstag gerichtet, worin jie 
thatfählic die Hilfe Ungarns anbot. Aber die Berjammlung der 
Halblinge in der Hofreitfchule hatte dies Anerbieten dent Gemeinde 
rath übermittelt, der Gemeinverath übermittelte es wiederum dem 
permanenten Reichstagsausihuß und dieſer ließ die ganze Sache ge- 
müthlich Liegen, weil er „Leine Zeit zur Erörterung derjelben habe“!!! 
Wenn aber die Herren von der Permanenz Fexe waren oder wenigjteng 
wie ſolche ſich darftellten, jo brauchten es die Ungarn darum nicht 
ebenſo zu machen. Sie mufften, um fid) jelber zu vetten, alles auf- 
bieten, Wien zu retten, jogar wider ven Willen der Wiener. Es war 
ein ungeheurer Mifjgriff des ungarifhen Reichstags, am 14. Dftober 
zu erflären, daß „da die öſtreichiſche Nation ſich des Beijtandes 
unferer Truppen nicht bedienen will”, die ungarifche Armee auf die 
Beihütung des eigenen Baterlandes fid) zu beichränfen habe. 

Diefem Beſchluſſe gegenüber machte ſich aber die Räthlichkeit, 
ja die Nothiwendigfeit, die Gränze zu überjchreiten und den Wienern 


Wiener Dftober. 489 


Hilfe zu bringen, fofort wieder geltend. Koſſuth — jein Todfeind 
Görgei hat es bezeugt — erfannte dieſe Nothwendigfeit ganz klar 
und fein Fehler ift nur gewejen, daß er nicht zur rechten Zeit 
fein ganzes unermefjliches Anſehen darangeſetzt hat, jeine richtige An- 
ficht durchzuſetzen. Seinem Antriebe war es zweifelsohne zuzu— 
ſchreiben, daß die Ungarn, troß des Neichstagsbeichluffes vom 14. 
Dftober, jchon drei Tage hernach und dann wieder am 21. Dftober 
den Gränzfluß überfchritten, um Jellacic anzugreifen. Allein beides 
male wurde diefer Offenſivverſuch wieder aufgegeben; das zweitemal 
unter dem vorgeben, daß man erft Kofjuth abwarten müfjte, welcher 
mit einer Berjtärfung von 12,000 Mann und mehreren Batterien 
unterwegs jet. Der General Moga war eben — der General Moga, 
d. h. er verhielt fi) zu einem Befehlshaber des ungariſchen Heeres, 
wie er in diefer Yage hätte fein follen, gerade jo, wie ſich der gute 
Mefienhaufer zu einem Oberfommandanten verhielt, wie einen ſolchen 
Wien gerade im Oftober von 1848 brauchte. 

Der Präſident des Yandesvertheidigungsausihufjes von Ungarn 
führte wirflic, die angegebene Berftärfung in Moga’s Lager, worauf 
in Nifelsporf ein großer Kriegsrath ftattfand, um die brennende 
Trage des Tages zu enticheiden. Koſſuth — fo erzählt Görgei — 
eröffnete die Berathung mit einer Darauf berechneten Rede, die Ueber- 
jhreitung der Landesgränze zu Gunften des belagerten Wiens als 
eine fir Ungarn moraliſche Nothwendigfeit, jeden Gedanfen an deren 
Unterlafjung als einen unehrenhaften binzuftellen. „Noch fteht 
Wien — jo ſchloß er jeine Rede — noch ift der Muth feiner Be- 
wohner, unjerer treuejten Verbündeten gegen die Angriffe der reaftio- 
nären Feldherrn, ungebrochen. Allein ohne unfere Hilfe müffen fie 
dennoch unterliegen, denn fie fümpfen einen zu ungleichen Kampf. 
Darum lafjen Sie uns eilen, meine Herren, eine Schuld abzutragen, 
welche uns, eingedenf deſſen, was wir unſern Brüdern in Wien ver- 
danfen, geheiligt eriheinen muß. Wir müſſen ven Wienern zur Hilfe! 
die Ehre der Nation erheifcht Dies von uns”. Görgei nahm, als 
jeine älteren und im Range höher ftehenden Kameraden fchwiegen, 


490 Die Abwidelung, IV. 


das Wort, um fih aus militäriſch-techniſchen Gründen — von po— 
litiſchen verſtünde er nichts, jagte er — gegen eine Angriffsbewegung 
auszufprehen. Die Sachlage kam ihm dabei zu ftatten, namentlich) 
auch die ganz unzweifelhafte numeriſche Ueberlegenheit ver kaiſerlichen 
Truppen, welche in der Stärke von 100,000 Mann oder dariiber in 
den verjchtedenen Lagern um Wien ber jtanden und 265 Geſchütze 
hatten, während die ungariſche Armee an der Leitha kaum mehr als 
20,000 geübte Soldaten, ebenſoviele Landſtürmler und etwa 50 Ka— 
nonen zählte. „Aber — fragte Koſſuth, nachdem Görgei ſeine Aus— 
einanderſetzung beendigt hatte — wie hoch ſchlagen Sie denn die Be— 
geiſterung an, welche meine Anſprache der Truppen hervorzurufen 
vermag?“ Und Görgei dagegen: „Im Lager und unmittelbar nach 
der Anrede ſehr hoch, nach erlittenen Strapazen und angeſichts Des 
Feindes ſehr gering“. 

Koſſuth vermochte in Nikelsdorf nicht durchzudringen. Moga 
und mit ihm gewiß die größere Anzahl der höheren Offiziere hatten 
von der unberechenbaren politifchen Wichtigkeit des von Kofjuth ge— 
wollten und gewünſchten Unternehmens feine Borftellung ; auch Fonnte 
man es diefen Männern faum veribeln, wenn fie ſich noch immer 
mehr denn halb als kaiſerlich königliche Offiziere fühlten und 
deſſhalb Bedenken trugen, gegen einen kaiſerlichen Feldmarſchall zu 
fechten. Was aber den gememen Mann im ungariichen Heere betraf, 
fo hatte ver ebenſo gut eine Gleihung dritten Grades zu löſen ver- 
mocht wie das Problem, warum dem er, der Magyar, für die 
Rettung von diefem Wien feine Haut zu Markte tragen jollte. Cs 
kümmerte ihn feinen Pfifferling, dieſes Wien, denn, ſagte er, jeinen 
Schnurrbart zwirbelnd: „ES gehört ja nur dem Deutſchen!“ Trotz 
alledem gab der ungariſche Agitator, welcher hinter dem fallenden 
Wien ſchon das fallende Budapeſt erblicken mochte, noch nicht nad). 
Im ungarischen Lager zu Parndorf fette er noch einmal vie Hebel 
feiner Logik und feiner Beredſamkeit an und allmälig gelang es ihm, 
Dffiziere und Soldaten für feine Anficht zu gewinnen. Bon Paren= 
dorf aus hat er auch am 25. Oktober eine Botihaft an Windiſchgrätz 


u " Wiener Oktober. 491 


abgehen lafjen, eine Art Ultimatum, worin gefordert war die Ent- 
waffnung des Kroatenheers, jowie die offene und unzweideutige An- 
erfenmung der vom König unlängit janftionirten Verfaſſung Ungarns 
und endlich die Aufhebung der Belagerung Wiens. Ber Bewilligung 
diejer Bedingungen würde die ungariſche Armee die Yertha nicht über— 
ſchreiten. 

Der Träger dieſer Botſchaft war der Honvedoberſt Ivanka. 
Er kehrte nicht wieder nach Parendorf zurück, denn er wurde mit grober 
Verletzung des Völkerrechtes im Lager des Kroatenbanus zurückgehalten. 
Der kaiſerliche Feldmarſchall fand es nicht der Mühe werth, das 
ungariſche Ultimatum zu beantworten, ſondern ſagte nur: „Mit Re— 
bellen unterhandle ich nicht“. Die Ungarn haben ihm das nachmals 
heimgezahlt, mit Zinſen. Vorderhand beſeitigte die Aufnahme, 
welche Koſſuths Vorſchläge im kaiſerlichen Lager gefunden, jede Oppo— 
ſition im ungariſchen. Koſſuth ſchien daher — ſo meldet Görgei — 
bloß noch „nähere Nachrichten von Wien abwarten zu wollen; als 
aber ſtatt deren immer nur der Donner des groben Geſchützes von 
der Hauptſtadt bis zu uns herüberdrang, da hieß es endlich, es ſei 
keine Zeit mehr zu verlieren, und die Vorrückung begann am 28. 
Oktober“. 

Es war zu ſpät und die rechte Zeit ſchon verloren. 


2: 


Der Belagerer Wiens hatte derweil jein Hauptquartier nach 
Hetendorf verlegt und erließ von hier am 23. Dftober abermals 
eine Proflamation, in welcher der Stadt und ihren Vertheidigern 
eine Unterwerfungsfrift von 48 Stunden gegeben und im einzelnen 
blutroth auseinandergejetst war, was der Herr Fürſt unter Belagerungs— 
zujtand und Standrecht verſtand. „Erſchießen! Aufänken!“ würde 
Bem geſagt haben. Die Verſammlung in der Reitſchule orgelte zur 


492 Die Abwidelung, IV. 


Antwort auf diefes Proflam wieder einmal ihre Proteftmelodie ab 
und mit Wiffen und Willen des Sicherheitsausjchuffes begab fi) am 
folgenden Tage Herr von Pillersporff nad) Hegendorf, um einen 
Sturm auf des Feldmarihalls harten Sinn zu verfuchen. Selbſt— 
verftändlid ließ Windifhgräs den weiland Märzminifter ſchon als 
ſolchen abfahren, noch derber, wo möglich, denn zwei Tage zuwor die 
kahlmäuſenden Reihsfommiffäre. Mit dem Beſcheide des Fürften : 
„Mit Rebellen unterhandle ich nicht, ſondern id) fordere unbedingte 
Unterwerfung“ — fonnte Billersporff hingehen, woher er gefommen. 
Der Reichstag erklärte an demjelben 24. Dftober, das in der Profla- 
matton des Fürsten vom 23. „befundete Verfahren jet nicht nur un— 
geſetzlich, ſondern ebenfojehr feindlic gegen die Rechte des Voltes 
wie des erblichen Fonftituttonellen Throns“. Am folgenden Tage 
beantwortete der arme Mefjenhaufer den Windiſchgrätzismus vom 
23. Dftober mit einer fürchterlich langen Mefjenhauferei, worin unter 
vielem anderen auch diefes gejagt war: „Mitbürger! Nie hat ein 
übermüthiger Brennus fih in jo ſchauerlicher Hochfahrt als Feind 
des ganzen Menichengejchlechtes erklärt. Nie find die gerechten 
Wünſche und Anjprüche eines mündigen Volkes erbarmungslojer in 
den Staub getreten worden. Das fanftefte Gemüth, der jorglofefte 
Träumer, der armfäligite Gedankenmenſch (sie!) muß über eine ſolche 
Sprache mit brennendem Zorn und unauslöſchlicher Entrüftung erfüllt 
fein. Mitbürger! Auch ich erfenne in der Sprache des Fürſten 
Windiſchgrätz als einzelnes Individuum einen Verrath, eine Sünde 
gegen die Natur. Was müffen meine Empfindungen als derjenige 
fein, der von dem hoben Keichstage mit dem Auftrage betraut worden, 
unfere herrliche Stadt, zur Zeit die merkwürdigſte des ganzen Erd— 
freies, gegen einen ſolchen Feind in Vertheidigungszuftand zu ſetzen? 
Mitbürger, urtheilt!" Ja wohl, urtheilt! 

Auch droben in Olmüt wurde in jenen Tagen im proflamiren 
wieder erkleckliches geleiftet. Am 22. Oftober nämlich erging daſelbſt 
eine von Weſſenberg gegengezeichnete Proflamation, worin „Wir Fer— 
dinand der Erſte, fonftituttoneller Kaifer von Deftreih, König von 


Wiener Oktober. 495 


Ungarn u. ſ. w.“ uns bewogen fanden, „anzuordnen, daß der Reichs— 
tag jeine Sigungen in Wien alfobald unterbreche“ — und „Wir be- 
rufen denjelben auf den 15. November nad) der Stadt Kremſier, mo 
er in der Page jein wird, ji ungeſtört und ununterbrochen jeiner 
Aufgabe ver Ausarbeitung einer den Interefjen unjerer Staaten ent 
ſprechenden Berfafjung ausjchlieglic winmen zu können“. 

Während man aber in Olmütz nod) fonjtttutinell gaufelte, hatte 
der abjolutijtiiche Ernjt vor den Linien von Wien angehoben. Nach— 
dem das Geplänfel ſchon jeit Wochen gegenfeitig im Gange gewejen, 
begammen am 23. Oktober die Kanonen mitzufprechen. Die Geſchütze 
der Belagerer jcheinen zuerft von Ottafring her gegen die hernaljer 
Linie gejptelt zu haben. Zum großen Aerger eines Dienſtmädchens, 
welches auf dem Walle Wäſche zum trodnen aufgehangen hatte und, 
als die Kugeln dort einzufchlagen begammen, über ven Windiſchgrätz 
und das „dumme herichtegen“ jcheltend hinauflief, um die Wäſche 
abzunehmen, welchen heldiſchen Thun die zufchauenden Bürgerwehr- 
leute lachenden Beifall jpenveten. Weit ernjteren Charakters als 
bier erwies id) der begonnene Kampf an der nufjdorfer Linie und bei 
den Taborbrüden. Am letteren Orte ging er bis in die Nacht hinein 
fort und das Gebrülle der Geſchütze jholl dumpf bis zur Aula hinein, 
wo Robert Blum gerade eine große Nede hielt, in deren Verlauf er 
für ſich jelber wie für jeine franffurter Mitdeputirten vie Verpflichtung 
übernahm, in Wien zu bleiben und mitzufämpfen. In dieſer Nacht 
ihlugen aud die erften Fenersbrünfte — ein Holzmagazin in ver 
Spittelau ımd das Gafthaus „Zum Auge Gottes” wor der nufjdorfer 
Linie waren während der Gefechte am Abend in Brand gerathen — 
zum düſtern Spätherbfthimmel auf und dieje Sllumination nahm 
dann von Nacht zu Nacht größere Dimenfionen an. 

Ein heißer Kampftag war der 26. Oftober, wo den ganzen 
Tag über auf der ganzen Linie von Nufjvorf bis St. Marx geitritten 
wurde. Am Abend des Tages hatten die faijerlichen Truppen die 
Brigittenau und den Prater in ihrer Gewalt, hatten die Bertheidiger 
Wiens in die inneren Vorſtädte zurückgedrängt und fonnten, wie Sad)- 


494 Die Abwidelung, IV. 


verftändige mit Beftimmtheit behaupten, durch die Jägerzeil bis zur 
Ferdinandsbrücke oder gar noch über dieſe in die innere Stadt ein- 
dringen. Allein es geihah nicht. Der Feldmarſchall jcheint an 
diefem Abend entweder zu dem Artom „der Tapferfeit bejter Theil 
ift Vorſicht“ — fid) befannt oder aber ſchon fo feit ficd) vorgenommen 
zu haben, die Hauptiahe am 28. Oktober zu thun, daß er nicht mehr 
davon abgehen wollte. Er nahm daher am Abend des 26. jeine 
Truppen fogar theilmeife aus den gewonnenen Stellungen wieder 
zurück und wollte überhaupt die Gefechte dieſes Tages nur für eine 
„Nefognition“ angeſehen wiſſen. Das befte in der Vertheidigung 
geihah da, wo der alte Bem war; allein allenthalben fanden es denn 
doc die Truppen viel Schwerer, mit den wiener Bürgermwehrleuten, 
Studenten und Arbeitern fertig zu werden, als fie fid) eingebilvet 
hatten. 

In Wahrheit, nur die Verleumdung hat die Tapferkeit der 
Bertheidiger Wiens anzutaften gewagt. Der hier vorhandene 
Kämpferſtoff hat fich trots der höchſt mangelhaften Organtjation und 
großentheils unzulänglichen Führung als ein guter bewährt. Aus 
diefem Oftober-Wien hätte ein großer Mann großes zu machen ver— 
mocht troß alledem. Aber, ah, wo war in jenem Oftober, wo war 
überhaupt im Iahre 1848 ein wahrhaft großer Mann, ein Nummer- 
Eins-Mann ? Nirgends. 


10. 


Zur achten Morgenftunde am 28. Oftober eröffnete Windiſch— 
gräß auf der ganzen von feinen Truppen gehaltenen Belagerungslinie 
ein heftiges Geſchützfeuer, welches ſich bis gegen Mittag hin noch 
fortwährend fteigerte. Dem faum begonnenen gab von der Stadt 
ber’ das Geroll der Alarmtrommeln und das Geheul der Sturm- 
gloden Antwort. Der alte Stephanstom hatte fid’s ſchwerlich 


Wiener Oftober. 495 


träumen lafjen, daß einſt jo ein Tag fommen würde, mo die große 
Brummglode jeines Thurmes das Signal geben würde zum allge- 
meinen wiener Sturmgeläute „für die deutſche Freiheit“. 


Denn das it doch — Mandarinen und Bonzen mögen jagen, 
was fie wollen — zwar nicht der klare Gedanfe, aber dod) der rich— 
tige Inftinft gewejen, welcher die wiener Oftoberrevolution gemacht 
hatte, und daß die Deutichen das bedrängte Wien jo ſchmachvoll im 
Stiche ließen, vermehrt die Anzahl, die Unzahl der traurigen Beweiſe 
für die grasgrüne Unreife ver Völker Anno 1848. 


Während der allgemeinen Kanonade formirten die Belagerer 
ihre Sturmkolonnen, um damit gegen die ſchwächſten Punkte vorzu— 
gehen, gegen die Niederungen am Donanfanal, die erdberger und 
fleinnußdorfer Linie, ſowie gegen Die Yeopoldftadt. Der auf ver 
Höhe des Stephansthurmes auslugende Beobadhtungspoften meldete 
dieje Vorbereitungen und es wurden die möglichen Gegenvorkehrungen 
getroffen. Der Hauptangriffitoß war, wie mit Sicherheit zu erwarten, 
gegen die Jägerzeil gerichtet, demnach gegen ein Vorjtadtviertel, welches 
„ron einem ungeheuren Troß bedienfteter und penfionirter Beamten, 
alten Milttäriften und reihen Bhiliftern bewohnt”, d. h. von jenen 
Bewohnern nicht vertheidigt war. Allen Bem war ja da mit den 
Mobilen und dem Elitekorps. Zwei gewaltige Barrifaven deckten 
die Jägerzeil, die eine beim Praterſtern, die zweite bei der Einmün— 
dung der Sterngaffe aufgethürmt. Auf diefer fommandirte Bem 
jelber, umringt von der Blüthe ver wiener, grazer, falzburger und 
brünmer Jugend. Die Praterfternbarrifave erlag raſch dem Anſturm 
der Windiſchgrätzer, melde jofert von dorther eine Batterie in Thätig- 
feit jetsten und die Jägerzeil, jowie die Sterngaffebarrifade mit einem 
Kugelregen begofjen. Zwei Stunden lang mwährte dieſes Giranaten- 
und Kartätfchenfener, worauf eine aus Grenadieren verſchiedener 
Kegimenter formirte Sturmkolonne den Anlauf auf das unerſchütterte 
Bollwerk unternahm. Dreimal vergebens. Es war ein mörderifches 
kämpfen und die Truppen hatten große DVerlufte, weil nicht allein 


1 


5 


496 Die Abwidelung, IV. 


von den Zinmen der Barrifade, jondern ringsher aus allen Fenſtern, 
Dach- und Kellerluden ein heftiges Feier auf jie jprühte. 

Derweil war aber, gegen 3 Uhr Nachmittags, die „Landſtraße“ 
in die Gewalt der Angreifer gefallen. ine halbe Stunde jpäter 
erichtenen ihre vordringenden Kolonnen von der Weihgerbergafje und 
der Hauptſtraße ber am Rande des Glacis, brachten zwei Batterien 
vor und warfen Granaten nad der inneren Stadt hinem. Die 
Jägerzeil und überhaupt die Leopoldſtadt waren demnach nicht mehr 
zu halten. Die Sterngafjebarrifade muſſte won ihren Vertheidigern 
geräumt und ein eiliger Nüdzug hinter den Donaukanal angetreten 
werben. Der tapfere Haugf rettete bei dieſem Rückzug nod) etliche 
Geſchütze iiber die Brücke in die innere Stadt hinüber. 

Das Gejfammtrefultat des 28. Dftobers war, daß Windiſchgrätz 
am Abend fich als Sieger fühlen konnte, wie er auch that. Die kaiſer— 
(hen Truppen hatten die ihmen gejtellte Aufgabe erfüllt. Sie be- 
fanden ſich im vollen Beſitze der Vorſtädte Landſtraße, Rennweg, 
Leopolpftadt und Jägerzeil, ſtanden alfo hart vor den Wällen der 
inneren Stadt. 

In diefen Vorſtädten nun begann, als die Nacht hereingebrochen 
war, jene Gräuelwirthſchaft von feiten der Soldaten, welche zur leugnen 
ſelbſt in der Wolle ſchwarzgelb gefärbte Berichterjtatter nicht unter— 
nommen haben. So ein Zeuge jagt z. B. über das gräſſliche, was 
in der Naht vom 28. auf den 29. DOftober in der Johannagaſſe 
geihah: — „Erſt gegen 4 Uhr früh hörte das plündern und würgen, 
auf und die Soldaten wurden zufammengezogen. Am 30. Dftober 
führte man 57 Leichen aus dieſer einzigen Gaſſe fort, die Leichen 
folcher nicht mitgerechnet, welche das Militär aus den Häuſern geholt, 
iiber dem Walle auf den Feldern erſchoſſen und auch daſelbſt begraben 
hatte. Man hält fie alle für ſchuldloſe Opfer, denn waren aud) 
einige darunter Nattonalgarpiften, jo fonnte ihnen das nicht ſträflich 
ſein. Sie waren außer Dienſt, trugen keine Waffen. So viel iſt 
gewiß, daß von allen 57 Todten nicht einer in der Gegenwehr ge— 
fallen, und ebenſo ſicher iſt, daß keines der Häuſer in der Johanna— 


Wiener Oftober. 497 


gaſſe durch das Bombardement angezündet wurde, jondern einzig und 
allein duch die Rache und den Muthwillen der Soldaten, mitunter 
auf das Gehei der Offiziere“ *). Gin anderer Berichterftatter, den 
angezogenen an Schwarzgelbheit, wo möglich, noch übertreffend, ift 
doc) ebenfalls ehrlich genug, zu befennen, daß es „von jeiten der 
ſiegestrunkenen Soldaten überhaupt gräulich zuging ***). 

In der Nacht „jah Wien aus, als wäre es unter eine rothe 
Glasglocke geſtellt“, jagt ein Augenzeuge. Schon zwiſchen 6 und 
7 Uhr Abends waren vom Stephansthurme herab nicht weniger als 
26 Brandſtellen ſignaliſirt. Nach eingebrochener Dunkelheit ſchwamm 
die Luftſchicht über der Stadt in allen Abſtufungen feuriger Glut, 
vom düſteren Gelbroth bis zur dunkelſten Blutröthe. 

Und vor den Thoren ſtand die rothe Reaktion, zum Einbruch 
bereit. 


LI, 
Der 28. Dftober war ohne Frage der entjcheidende Tag. Aller- 
dings hatte ein großer Theil der DVertheidiger, welche die innere 
Stadt, jowie die Vorſtädte Wieden, Schottenfelo, Neubau, Joſephs— 


) Dunder, Denkſchrift, S. 769. Der Verfaffer bat mit verdanfens- 
werther Redlichfeit S. 756778 alle die ſchrecklichen Einzelnheiten der jolda- 
tiſchen Gräuelwirthichaft während Liefer Schreckensnacht gefammelt. Slaven 
waren die Verüber diefer Gräuel, aber keineswegs Kroaten, jondern vor- 
zugsweile Czechen und Galizier von den Negimentern Yatour und Baumes 
garten. Einer Jägerkompagnie hatte der Oberft anempfohlen, ja geradezu 
befoblen, „jobald fie nach Wien fümen, das Kind im Mutterleibe nicht zu 
verſchonen.“ Dumder, 777. 


n: Geſchichte Oeſtreichs vom Ausgange des Oktober— 
aufſtandes, I, 271. Für die Vorgänge innerhalb des belagerten Wiens 
ift der fleißige Dunder durchweg der Gewährsmann des Herrn v. S. . . . . n 


(d. h. des baronifirten Herrn Helfert). 
Scherr, 1848. 2. Aufl. I. 32 


498 Die Abwickelung, IV. 


ftabt nod) hielten, ven Muth feineswegs verloren, obzwar Proviant 
wie Munition Schon vom 27. Dftober an jehr knapp waren, und 
Mobilgarden, Arbeiter und übergetretene Soldaten wollten nicht 
dulden, daß man von Waffenftredung und Uebergabe fpräche. Allein 
in der überwiegenden Maſſe der Bevölferung war unftreitig die 
Ueberzeugung obenauf, daß weiterer Widerftand vergeblich und alles 
aus und vorbei fei. 

Auch die Führung wurde von diefem Gefühl angefafit und gab 
demfelben nad. Nach Vertobung des Kampflärms an den Linien 
rathichlagten die Führer im Hauptquartiere des Oberfommando’s in 
der Stallburg. Meſſenhauſer gab die Erklärung ab, e8 ſei nad) den 
Ergebniffen des heutigen Tages an eine Weiterführung der Ver— 
theidigung nicht mehr zu denken. Er ſchlage daher vor, eine Abord— 
nung an den Feldmarſchall zu jenden, um denſelben um die Gewäh- " 
rung „halbwegs menſchlicher“ Uebergabebedingungen anzııgehen. Es 
erhob fich fein nennenswerther Widerfprud und wurden jofort 
4 Abgeordnete bezeichnet, welchen auf Meſſenhauſers Aufforderung 
der Gemeinderath 3 feiner Mitglieder beigab. Auch der Reichstag 
wurde eingeladen, an der Deputation fich zu betheiligen, wermeigerte 
aber jeine Betheiligung. Die Herren vom Parlamentarismus waren 
plößlid) zu der Einficht gefommen, daß „die Sache den Reichstag 
nichts anginge”, welche Einficht ganz in der Ordnung, denn bie 
„Sache“ war ja eine verlorene. 

Bem hat an diefen Verhandlungen nicht theilgenommen. Er 
hatte nad) dem Verluſt der großen Barrifade auf der Jägerzeil jofort 
erkannt, daß es mit Wien zu Ende und demnach feine Rolle daſelbſt 
ausgejpielt fei. - Nachdem er feinen erſchöpften Leib durd einen 
mehrftündigen Schlaf geftärkt hatte, fuhr er nach Mitternacht auf die 
Wieden, wo er in den Gafthäufern „Zum Apfel“ und „Zum Lamm“ 
noch zwei Tage verbrachte, um dann aus Wien zu verfchwinden. Sei 
e8, daß er, wie einige wollen, als faiferlicher General verkleidet am 
hellen Tage mit einer Ordonnanz hinter fid) Davongeritten; jei es, 
daß er, wie andere fagen, bei nächtlichen Dunkel in einem Nahen 


Wiener Oktober. 499 


die Donau hinabgeſchwommen; ; jet es, wie Dritte behaupten, daß er 
fih gar in einem Sarge durch die Yinien hatte ſchmuggeln Laffen. 
Genug, er tauchte in Ungarn wieder auf und hat dann befanntlic) 
im folgenden Jahr in Siebenbürgen den Deftreihern und Ruſſen 
jehr „z'leidg'wercht“, ſchweizeriſch zu reden. 

Beim Tagesgrauen des 29. Dftobers jchrieben Blum und 
Fröbel in der „Stadt London” ihr Geſuch um Entlaffung aus dem 
haugk'ſchen Eliteforps nieder. Auch Blum hatte demnach jede Hoff- 
nung, daß ſich der Kampf weiterfiihren ließe, aufgegeben. 

Im Laufe des Vormittags juchte die an Windiſchgrätz entjendete 
Abordnung den Fürften im feinem Hauptquartiere Hetzendorf, traf 
ihn aber nicht dort, jondern auf dem lager Berg. Er erflärte kurzab, 
er wollte eine Waffenruhe von 12 Stunden bewilligen unter der Vor— 
ausjegung, daß fein Angriff auf feine Truppen ftattfände. Im 
übrigen erwarte er, daß die Stadt noch im Yaufe des Tages fid) 
unterwerfen werde. ALS einer der Deputirten ein Wort zu Gunſten 
der Erhaltung der akademiſchen Yegion wagte, ſchnitt es ihm der 
Feldmarſchall ab mit dem Scheltfag: „Nein, dieſe Rotzbubenwirth— 
haft muß aufhören!’ — eine Windiichgrätifirung des „Vae victis !* 
welcher man Deutlichfeit nicht abſprechen fonnte. 

Derweil bandwurmte der arme Mefjenhaufer drinnen in ber 
Stadt wieder einmal als Proflamator, indem er darzuthun ſich be- 
mühte, daß und warum den fatferlihen Truppen nicht länger zu 
widerftehen je. Auf dem Schmulfte feiner Auseinanderſetzung 
ſchwamm wie ein Fettauge auf einer Wafferfuppe der zwar ſehr 
triviale, aber umbejtreitbar wahre Sat: „Mit Nevensarten jchlägt 
man feinen Gegner“. Schließlich machte er befannt, daß nad) der 
Rückkehr der Aboronung aus dem feindlihen Hauptquartier die 
ſämmtlichen bewaffneten Korps abſtimmen, Kompagnie für Kompagnie 
abjtimmen jollten, ob Sortführung des Kampfes oder Unterwerfung 
ftattfinden müſſte. 

Daraufhin geflügelte und feineswegs fanftmüthige Berathungen 
unter den. Bewaffneten. „Hitzköpfe! Tollhäuſler! Unheilſtifter!“ 

32* 


500 Die Abwidelung, IV. 


iholl es hier, „Schwarzgelbe! Feiglinge! Verräther!“ jchrie es dort. 
An einem Rathſchlage des Studentenausihuffes nahmen auch Blum 
und Fröbel theil und beide ſprachen für die Kapitulation. Zur 
gleichen Stunde wollte man vom Stephansthurm aus bei Schwechat 
beranfonımende Truppenmafjen bemerkt haben. Natürlich hieß es: 
Die Ungarn fommen! Mefjenhaufer beitieg jelber ven Thurm, mit 
ihm jein Stab. Man jah feine Ungarn in jener Richtung, fondern 
nur faijerliches Bolf. „Es iſt alles aus“, jagte der Oberfommandant 
im berabiteigen. 

Um 4 Uhr Abends kamen die delegirten Bertrauensmänner der 
verjchtedenen Korps im Hofe der Stallburg zufammen und hielten 
dann im großen Nedoutenjal ihren Rath, wobei e8 gerade jo herging, 
wie e8 bei derartigen Berathungen über eine verlorene Sache allzeit 
und überall herzugehen pflegt, d. h. tumultuariſch, unerquicklich und 
unerſprießlich. Als Reſultat der Endabſtimmung verkündete ſchließ— 
lich Meſſenhauſer, daß die Mehrheit für Kapitulation ſei, konnte 
aber nur mühſälig durch dieſe Mehrheit mit heiler Haut zum Sale 
hinausgebracht werden, um dem Gemeinderath das Ergebniß anzu— 
zeigen. „Verräther!“ zeterte es ihm nach. Ach, das wurde jetzt 
ein ſehr geläufiges Wort in Wien. In dem anarchiſchen Durch— 
einander der nächſten Tage iſt aber offenbar das ekelhafteſte Ingre— 


diens die Feigheit des wiener Philiſters geweſen, d. h. der auf den 


verſchiedenen Sproſſen der Prozenſkala ſtehenden Spülichtmenſchen, 
welche, ſoweit das Ungeziefer nicht ausgewandert war, zur Stunde 
noch vor jedem Kalabreſer von der Aula tief ſich bückten, um ein paar 
Tage ſpäter den Speichel jedes rothmänteligen Barbaren von 
Szereſſaner zu lecken. Auch dieſes war jedoch ganz in der Ordnung 
und müſſte man ſich nur verwundern, ſo es anders geweſen wäre; 
„denn aus Gemeinem iſt der Menſch gemacht“. 

Am ſpäten Abend ließ Meſſenhauſer ein Plakat anſchlagen, 
welches die im Redoutenſale geſchehene Abſtimmung kundgab und die 
Thatſache, daß alles aus ſei, überflüſſig weitſchweifig paraphraſirte, 
im gewohnten Stil. „Jetzt, da es kein diplomatiſches Geheimniß 


— 


Wiener Oktober. — 501 


mehr ift, das ic) mit befümmertem Herzen in meiner Bruft zu ver— 
ſchließen hätte, kann ic unfere Schwäche offen darlegen, nämlid: 
mit der angeftrengteften Thätigfeit, mit Verſchwendung von Geld- 
mitteln haben wir nur ſoviel Munition erzeugen können, daß nur 
noch für 4 Stunden allgemeiner Vertheidigung Vorrath da tt.“ 
Das Plakat wurde vielerorten vom Volke herabgeriffen mit Gloſſen 
diefer Art: „Der Betrüger! Jetzt friecht er zum Kreuz. Hat er 
nicht früher Schon gewuſſt, daß wir fein Pulver haben ?* Ein National— 
garbift fragte jeinen Nebenmann: „Warum will man die Stadt 
übergeben“ ? — „Aus Mangel an Munition”. — „Nein, jehrie 
ein dritter, gus Ueberfluß an Verrath!“ Da und dort wurden wohl 
auch wilde Drohungen laut. in Yegionär rief aus: „Zündet der 
Kaiſer unfere Vorſtädte an, warum jollten wir jene Hofburg nicht 
einäfchern ?” Es blieb bei der Drohung. Fenneberg ftellte Mobil- 
garden zum Schutze des Kaiſerpalaſtes auf. Bon den am 6. Oftober 
zum wiener Volk übergegangenen Soldaten hörte man, wie.fie zu 
zwei und zwei die Verabredung trafen, einander gegenfeitig zu er— 
ſchießen, wenn die Uebergabe ver Stadt erfolgte. 

Zwei Stunden vor Mitternacht machte fid) dann eine Abordnung 
des Gemeinderaths, durch ein Mitglied des Studentenausichufles ver- 
ftärkt, nach dem Hauptquartier des Feldmarfchalls auf ven Weg, um 
denfelben die bedingungsloje Unterwerfung der Stadt anzuzeigen. 
Sie langte ſpät in Hetzendorf an. Ihr Sprecher entledigte ſich ſeines 
Auftrags, machte aufmerfjam, daß es wohlgethan wäre, die Truppen 
möglichſt bald einrüden zu lafjen, und richtete dann noch einige Bitten 
„an die Herzensgüte des Fürften”. Dieje Bitten wünichten Gnade 
für die abgefallenen Soldaten, freien Abzug für die afademifche 
Legion, Päſſe für alle, welche Wien oder Deftreid) verlafjen wollten. 
„Nein, nein,“ rief Windiſchgrätz aus, „pas kann nicht fein!” Er 
ſtieß fi namentlich an der zweiten der worgebrachten Bitten. Dann 
bevenfend, daß er noch nicht in der Stadt drinnen, fügte er hinzu: 
„Ich werde alles thun, was ſich mit meiner Ehre und mit meinem 
Gewiffen verträgt”. Wie nihtsjagend dieſe Berfiherung, konnten 


502 Die Abwidelung, IV. 


die Deputirten daraus entnehmen, daß Windiſchgrätz ihnen dringend 
aufgab, dafür zu jorgen, daß ſolche Perjonen, die er als in erfter 
Linie feiner Rache verfallen bezeichnete, ja nicht entfämen. 

Es war inzwiihen Morgen geworden, und während die Ab- 
ordnung mit ihrem untröftlichen Bejcheide nad) der Stadt zurücfehrte, 
ſchickte der Feldmarſchall nach Olmütz die Blitzdepeſche: „Wien hat 
ſich unbedingt unterworfen; die kaiſerlichen Truppen beſetzen heute 
die Stadt". 


12. * 


„Heute“, d. h. am 30. Oktober von 1848, wurde aber noch 
nichts daraus. 

Im Laufe des Vormittags verbreitete ſich nämlich in der Stadt 
abermals die Kunde: „Die Ungarn kommen!“ und dieſer Hoffnungs— 
ſtral entwölkte ſofort wieder die düſteren Geſichter. Frühmorgens 
hatte man merkwürdig viele „Angſtröhren“ in den Straßen geſehen, 
ſogar auf den Köpfen von Legionären und Mobilen; etliche Stunden 
ſpäter waren die Cylinder wieder verſchwunden und graſſirte der Kala— 
breſer wie in ſeinen ſtolzeſten Tagen. 

Die Ungarn kamen nun freilich nicht, machten aber doch einen 
Verſuch, zu kommen, obzwar wieder nur einen ſchwächlichen. Man 
war im kaiſerlichen Lager ſeit der Sendung Ivanka's auf dieſen Ver— 
ſuch gefaſſt und hatte Windiſchgrätz an den Kroatenban den Befehl 
erlaſſen, daß dieſer nur einen Theil ſeiner Streitkräfte gegen Wien 
verwenden, den andern aber gebrauchen ſollte, die Leithalinie ſcharf 
im Auge zu behalten. 

So fand denn das ungariſche Heer, nachdem es am 28. Oktober 
die Leitha und am 29. die Fiſcha überſchritten hatte, um Wien zur 
Hilfe zu kommen, die kaiſerlichen Truppen wohlvorbereitet auf ſeinem 
Wege, als Moga am Morgen des 30. Oktobers zum Angriff auf 
die öſtreichiſchen Stellungen bei Schwechat und Mannswerd vorſchritt. 


Wiener Oftober. 503 


Anfangs mit Erfolg. Auf dem vechten Flügel ging der verwegene 
Honvedmajor Graf Guyon an der Spige eines Bataillons Szefler 
und eines Bataillons peſther Freiwilligen jo energiſch vor, daß er 
Mannswerd im Sturme nahm und den überlegenen Feind, Gränzer 
und Szerefjaner, hinauswarf. Das magyariiche Centrum richtete 
jeinen Angriff auf Schwechat und war ebenfalls im vorjchreiten be— 
griffen, als ihm Moga Halt gebot, aus Beſorgniß, jenen linken 
Flügel durch faijerliche Kavallerie umgangen zu fehen. Damit kam 
das ganze erſt ins ftoden und dann ins ſchwanken und die totale 
Unfähigfeit des Generals, eine Schlacht zu lenfen, barjt jo hand— 
greiflich aus, daß ſich nicht ohne einen Anſchein von Wahrſcheinlichkeit 
un der Armee und im Yande das Geſchrei verbreiten konnte, Moga 
habe bei Schwechat das ganze Heer dem Windiſchgrätz in die Hände 
jpielen wollen. Der Herr General wäre aber hierzu viel zu untüchtig 
gewejen; er war eben auch eine jener vielen Nullen, welche im Jahre 
1848 auf Stellen jtanden, wo Zähler hingehört hätten. 

So einer wäre zur Zeit, als bei Schwechat mehr nur fanontrt 
als gefämpft wurde, auch drinnen in Wien jehr am Platze gewejen. 
Gewiß hätte es ſich dann ermöglichen laffen, von der Stadt aus eine 
Anftrengung zu machen, welche dem ungariichen Entjatzverjud) zur 
Unterſtützung gereihen fonnte. Es geſchah nichts der Art und die 
Magyaren, Kofjuth voran, haben diefes nichtgeſchehen nachmals als 
Grund angegeben, warım fie von Schwechat, nachdem ganze Ba- 
taillone ihres Landſturms eine wahre Virtuofität im davonlaufen 
entwidelt hatten, retirirten, ohne das geringfte ausgerichtet zu haben *). 

*) Das Treffen bei Schwechat war nur ein beiderfeitiges wergebliches 
warten. „Wartete Sellacic auf das hervorbrechen des Fürften Lichtenftein 
(mit der kaiſerlichen Keiterei, welche auf die linke Flanke der Ungarn fallen 
jollte), jo wartete Koſſuth (der zugegen war) auf das hevvorbreden der 
Wiener. Jeden Augenblid hoffte er die Kolonnen der Aufftändifchen im 
Rücken der faiferlihen Truppen ausfallen zu jehen, das Krachen ihrer Ge- 
Ihüte zu vernehmen“. G. v. S..... n, a. a. O. J, 353. Die voll- 


ftändige Nullität, jotwie der üble Wille Moga's erhellen am deutlichften aus 
Görgei's Referat über das ſchwechater Treffen. M. L. u. W. i. U.I, 74fg. 


504 Die Abwidelung, IV. 


Am 31. Dftober ftand die ungariihe Armee ſchon wieder hinter der 
Leitha. Ihr mifflungener Hilfebringungsverfuh war ein großes 
Unglüd für Wien. Denn er blies dort den ſchon völlig geſunkenen 
Widerſtandswillen noch einmal zu einer fieberiichen Thätigkeit an, 
wodurd) natürlich die Erbitterung der faiferlichen Generale und Sol- 
daten, vorab des Feldmarſchalls jelbft, entiprechend gefteigert wurde. 
Es heißt nur den menſchlichen Yeidenjchaften, wie fie einmal find, 
gerecht werden, wenn man behauptet, daß gar manche „Begnadigung“ 
zu Pulver und Blei im November umnterblieben jein würde, wenn 
Windiſchgrätz ſchon am 30. Dftober, wie er zum voraus triumphirend 
nach Olmütz gemeldet hatte, in Wien hätte einziehen fünnen. Verletzte 
Eitelkeit ift eine Pfäffin: fie verzeiht nie. 

Inzwiſchen hatte der trügerifche Hoffnungsitral in Wien feine 
Wirkung gethan. PVolfshaufen mwälzten fid) mit dem Rufe: „Die 
Ungarn find da! Eljen! Koffuth kommt!“ durch die Straßen, die 
ihon verödete Aula wimmelte und wuſelte wieder plößlic) von be= 
waffnetem Leben, die Arbeiter nahmen ihre Wehr wieder auf, eine 
Bande von mehr oder weniger häfflichen Amazonen marſchirte über 
den Burgplat, das Gewehr auf ver Schulter, Studenten warfen fid) 
auf Pferde, um auch in den Vorſtädten, ſoweit diejelben noch nicht 
von den fatierlihen Truppen bejett waren, die frohe Botſchaft zu 
verfünden und zu neuem Widerſtande aufzufordern, umd an den 
Straßeneden erichten ein überihwängliches Plakat, zu „einem letzten 
alorreihen Kampf“ auffordernd und den Schlußtrumpf ausjpielend: 
„Es wird auf allen Punkten der Erde unjer jchönfter Titel fein, zu 
fagen: Ich war ein Wiener! Ich war dabei!“ 

Der arme Mefjenhaufer konnte als grundgutmüthiger Menſch 
nichts abjchlagen als jein Proflamationenwafjer. Seiner befjeren 
Einſicht zum Trotz ließ er fi) durch die in der Stallburg auf ihn 
gemachten Beſtürmungen bewegen, das Oberfommando fortzuführen 
oder wieder aufzunehmen, wenigitens halb und halb. Dem Anfinnen, 
jofort einen Ausfall ins Werk zu richten, ſetzte er den Einwurf ent- 
gegen, man müſſte doch vorher wiſſen, wie es fid) denn eigentlich mit 


Wiener Oftober. 505 


dem kommen der Ungarn verhielte. Zu diefem Zwecke beftieg er 
um 11 Uhr Vormittags den Stephansthurm, nachdem er noch be- 
merkt hatte, man „jet mit den Ungarn ſchon oft angejchmiert worden; 
auch jet die Kapitulation bereits abgeſchloſſen“ — wie denn gerade 
zu diefer Stunde draußen in Hetendorf Abgeoronete des Gemeinde- 
raths mit Windiſchgrätz über die Modalitäten des Einzug der 
Truppen verhandelten. Blum und Fröbel hatten ſchon zuvor den 
Thurm bejtiegen und jener hatte im hinauffteigen geäußert, er glaube 
nicht an das ungarische Heil und die Wiederaufnahme des Wider: 
Jtandes jet gewiß fruchtlos. 

Droben in dem Thurmwächterlugaus jammelte fih nach und 
nad) eine zahlreiche Gejellichaft um Meffenhaufer; auch Smolfa war 
da, der Präſident des Neichstags, ebenſo Mitglieder des Gemeinde— 
tathes und Offiziere der afademifchen Yegion. Die Fernrohre wurden 
eifrig gehandhabt und je weniger der Nebel zur jehen geftattete, um jo 
mehr wollten die Leute jehen und gejehen haben. Drumten auf dem 
Domplage wimmelte und wogte es von Volk, nad) rohen Botſchaften 
von droben lechzend. Meffenhaufer, welcher die Kapitulation ge- 
halten wifjen wollte, war nicht dafiir, irgendeinen Bericht hinunter⸗ 
zugeben, welcher falſche Hoffnungen erregen und dadurch die Ver— 
wirrung ſteigern könnte. Dann ließ er ſich aber doch bewegen, ein 
Blatt Papier hinunterzuſchicken mit den von ihm darauf geſchriebenen 
Worten: „Man ſieht deutlich ein Gefecht hinter Kaiſer-Ebersdorf, 
ohne die kämpfenden Truppen oder den Gang des Treffens aus— 
nehmen (unterſcheiden) zu können“. Dieſe doch ganz inhaltsloſe 
Kunde that drunten richtig die Wirkung, dem Widerſtandswunſch 
neues Leben zu geben, ſo ſehr, daß einzelne Scharen auf eigene Fauſt 
den Kampf gegen die Truppen da und dort wieder eröffneten. So 
draußen an der lerchenfelder und an der mariahilfer Linie. Um 
1Uhr Nachmittags kam eine zweite Botſchaft vom Thurme herab: — 
„Die Schlacht ſcheint ſich gegen Oberlan und Inzersdorf zu ziehen. 
Der Nebel verhindert eine klare Anſicht. Bis jett ſcheinen die 
Ungarn im fiegreichen vorjchreiten begriffen zu fein. Im Falle ein 


906 Die Abwidelung, IV. 


geichlagenes Heer fi den Mauern der Stadt nähern jollte, jo wird 
es Pflicht aller Wehrförper fein, fih auch ohne Kommando unter das 
Gewehr zu jtellen“. 

Diejer Beiſatz fonnte unmöglid anders gedeutet werden als: 
Falls die Faiferlihen Truppen dur die Ungarn an die Mauern 
Wiens gedrängt werden, wollen wir, die Wiener, mit aller Macht 
auf fie hinausfallen und ihre Niederlage vollenden. Daß aber in 
diefer Abficht, ſchon in der bloßen Abficht ein Bruch der Kapitulation 
enthalten war, wird fein unbefangener Urtheiler bejtreiten wollen. 
Zur Entſchuldigung läſſt fich freilich etwa anführen, daß die Kapitu— 
lation eine ganz formloſe war, ja jogar diefen Namen eigentlid) gar 
nicht verdiente, da ja Windiſchgrätz im Grunde gar nichts gewähr— 
leitet, feine Bedingungen bewilligt, jondern nur in ganz nebelhafter 
Weije davon geredet hatte, die Wiener würden ihn milder finden, als 
fie erwartet hätten. Die nachmals als nicht unrichtig bewährte An— 
ficht der Wiener über die windiſchgrätziſche „Milde“ hat jedenfalls 
die meiſten, welche die am 29. Dftober ſchon beiſeite geftellten Waffen 
am 30. wieder aufnahmen, zu ihrem verzweifelten beginnen be— 
ſtimmt. 

Die Hoffnungen dieſer Kämpfer, welche von den Baſteien der 
inneren Stadt aus, wie da und dort in den Vorſtädten und an den 
Linien, das Feuer wieder eröffneten, ſtiegen beträchtlich, als um 2 Uhr 
ein dritter Zettel vom Stephansthurme herabkam, weldyer bejagte, 
die Schlacht ziehe ſich jeit einer halben Stunde offenbar näher gegen 
Wien heran, was ja mr in Folge eines fiegreihen vorjchreitens der 
Ungarn geſchehen konnte. Die Wahrheit war aber, daß es nicht 
geihah und daß das vermeintliche vorjchreiten ein wirkliches rüd- 
ichreiten gewejen it. Windiſchgrätz, welder vom laner Berg aus 
dem jchwechater Treffen zuſah, jagte, als er in jeinem Rüden die 
Kanonen von den Baſteien Wiend donnern hörte: „Jetzt muß Die 
Stadt bombardirt werden und Mefjenhaufer wird hängen“. Daß 
er es Übrigens nicht auf den armen Meſſenhauſer allein abgejehen 
hatte, beweil’t die Thatſache, daß ſchon etliche Stunden früher in 


Wiener Dftober. 507 


Hetendorf feine Bevollmächtigten von den mit ihnen unterhandelnden 
Deputitten des Gemeinderaths vor allem die Auslieferung von 14 
namentlich bezeichneten Männern forderten, worunter Meſſenhauſer, 
Haugf, Fenneberg, Gritsner, Beer. Man fieht, die „Milde“ des 
Feldmarſchalls hatte ſich Shon vor dem „Kapitulationsbruch“ veut- 
lich angefündigt. 

Inzwiſchen war es in dem Thurmwartſtübchen auf dem Sanft 
Stephan ziemlich Le geworden; denn als ſich die Illuſion, daß vie 
Ungarn näher und näher kämen, nicht mehr hatte halten lafien, war 
einer nach dem andern hinabgeichlichen. Deſto wilder und turbu- 
(enter ging es drumten her, am turbulenteften im Studentenausſchuß, 
allwo ſich alles zufammenthat, zufammenwirrte, zuſammenknäuelte, 
was überhaupt nod wie Leitung und Yenfung ausſah. Mefjenhaufer 
war nahe der höchſten Spitze des Stephansthurmes auf dem hölzernen 
Balkon zurücgeblieben, mechaniſch feinen Tubus handhabend. Er 
war ganz zufammengefnicdt. Nur Herr Berthold Auerbach ımd ver 
Keichstagspeputirte Goldmark waren noch bei ihm. Das finnver- 
wirrende Getöje, welches die Stadt erfüllte und in welchen taufenverlei 
Schreie, Alarmgetrommel, Geſchützekrachen, Sturmgeläute und Waffen- 
geklirr zuſammenquollen, drang dumpf herauf. Und Bote auf Bote 
fam aufwärts gejtiiemt mit dem Verlangen, Mefjenhaufer jollte ven 
Befehl zum Angriff auf die Veopolpftadt geben. Er gab ven Befehl 
nicht, verbot aber aud den Angriff nicht. Uno wieder fam ein 
Student, keuchend und roth vor Haft, und brachte eine jchriftliche 
Aufforderung vom Studentenausfhuß, Meſſenhauſer jollte ſein Ober- 
kommando nieverlegen. „Was jagen Sie dazu?“ fragte er bie 
Herren Goldmark und Auerbach, welche beide meinten, er müſſte der 
Zumuthung fid) weigern, maßen er ja jein Amt nicht vom Studenten- 
fomite, jondern vom Neihstag und Miniftertum erhalten hätte. 
Mefjenhaufer jchrieb mit Bleijtift jeine Weigerung auf ein Blatt 
Papier, und als der Bote weggegangen, unterhielt ex ſich mit Auer- 
bad) über Pläne zu dramatifchen Arbeiten, welche er finftig auszu- 
führen beabfihtigte. Das arme Kind! 


508 Die Abwidelung, IV. 


Eine herauffommende Abordnung des Studentenausihufjes 
machte diefen Träumereien ein Ende. In ſchroffer Weife wurde 
Meflenhaufer aufgefordert, fofort als untauglich und energielos, wie 
er ſei, abzudanfen; Fenneberg jet ftatt einer zum Dberfommandanten 
augerfehen und müſſte es fein. Zulest jagte man ihm geradezu: 
Abdankung oder Top! Der Bedrohte gab nad, erklärte, er wollte 
drumten im Hauptquartier in der Stallburg feine Abdanfung voll 
ziehen, und verließ den Thurn. 

Fenneberg war inzwifchen von den Legionären, den Mobilen 
und Arbeitern bereits als Oberfommandant ausgerufen worden und 
gebärdete fich als folcher, bildete einen neuen Generalftab und ver— 
ſammelte in der Aula einen Kriegsrath, welcher aber nur zu dem 
wenig teöftlichen Schluffe fan, falls „es mit den Ungarn nicht ganz 
aus und vorbet fei, jo laſſe fi) die Stadt nod) 4 Tage halten; an— 
dernfalls jei jede Bertheidigung nutlos“. 

Das Chaos begann. Mefjenhaufer hatte feine Abdankung dem 
permanenten Reichstagsausihuß angezeigt ; die Herren von der Per— 
manenz riethen ihm mehr mittels Winken als Worten, fid) mit Fenne— 
berg zu verftändigen, und verfanfen hierauf in Dunfelund Schweigen. 
In der Stallburg wollte man von dem „Terroriſten“ Fenneberg 
nichts willen, ebenfowenig im Gemeinderath, welder an Mefjenhaufer 
die Aufforderung richtete, nicht zu weichen. Der Nichtsabjchlagen- 
fönner konnte auch dieſes nicht abichlagen und that wieder, als wäre 
er noch Oberfommandant. Allein da Fenneberg fortfuhr, auch jo 
zu thun, ließ ſich Meffenhaufer beftimmen, venjelben zum Mitober- 
fommandanten anzunehmen, was bei einer perfünlichen Zuſammen— 
funft der beiden, welche nachtſchlafender Weile im Gafthauje „ Zum 
rothen Igel“ ftattfand, ausgemacht wurde. 

Der liberale Träumer und der radikale Phantaſt theilten fi) 
demnad) in ein nichts, denn etwas anderes ift diefes wiener „Ober— 
fommando“ zur Stunde nicht mehr geweſen. Bon Organtfation und 
Plan war bei dem Widerſtande, welcher noch geleiftet wurde, liber- 
haupt feine Rede mehr. Der einzelne Mann und die einzelne Schar 


Wiener Oftober. 509 


handelten überall nach eigenem ermefjen und es war diejes handeln 
nur noch das Främpfige zucken der wiener Dftoberrevolutton in ihrer 
Agonte. 


15. 


Frühmorgens am 31. erſchien nad) einer unter ſinn- und zweck— 
loſem Getobe verflofjenen Nacht wiederum eine Aboronung des Ge- 
meinderaths in Heßendorf, um den Feldmarſchall zu vermögen, feine 
Truppen jo rajch wie möglic in die Stadt rüden zu lafjen, um Pöbel- 
exceffe zu verhüten. Der Fürft erwiderte, er müſſte jich zuvor 
vollftändig zum Meiſter der Vorſtädte machen und gewärtige, daß 
inzwiſchen auch in der inneren Stadt die Waffenniederlegung vor 
ſich ginge. 

Der Gemeinderath und das Oberfommando hätten Dies gerne 
zuwegegebracht, hatten aber zur dieſem behufe nichts als Worte. 
Meſſenhauſer, Fenneberg, Haugk erliegen Kundmachungen und Auf- 
rufe, die alleſammt darauf hinausltefen, es fei nichts mehr zu machen 
und man müſſe ſich in das unvermeidliche fügen. Allein die tobende 
Menge wollte nicht hören, nicht jehen und die Bajteren winmelten 
von bewaffneten Volke, welches in anarchiſchem Gewuſel wähnte, 
den Truppen den Eintritt in die Stadt wehren zu fünnen. 

Um Mittag waren die Truppen, die gebändigten Vorſtädte 
hinter fi, auf dem Glacis aufmarſchirt. Aber das Signal zu ihrem 
einrüden, das aufhiſſen der ſchwarzgelben Fahne auf dem Sanft 
Stephan blieb aus. Der Gemeinderath hatte die Fahne geichidt, 
aber fie wurde auf dem Domplas in tauſend Stüde zerrifien. Der 
Gemeinderat jandte eine Deputation zum Burgthor hinaus, um dem 
Feldmarſchall Wien fererlich zu übergeben; allein hinter ven Depu- 
tirten wurde das Burgthor wieder zugejchlagen und verrammelt. So— 
fort wurden auf den Baſteien die Kanonen gegen die Truppen losge- 
brannt, die Sturmglode auf dem Stephansthurme ſchlug an und 


510 Die Abwidelung, IV. 


die tolle Herausforderung wurde von den Truppen auf der Stelle an- 
genommen. 

Windiſchgrätz ließ feine ſchon zuvor in Bereitfchaft gehaltenen 
Batterien jpielen und das Bombardement hob an, nachmittags 
3 Uhr. Die Stadt, insbefondere die Gegend um die Stallburg und 
die Reitſchule her, wurden mit Vollfugeln, Bomben, Granaten glühen- 
den Bällen und Raketen überichüttet. Teuer ſchlug da und dort auf, 
das Getöfe war jo furchtbar, als „bräche der jüngfte Tag herein“. 
Das hinausichiegen der Vertheidiger verhallte gegen dieſes herein- 
ichtegen „wie das Schwache ſtammeln eines Kindes gegen das rollen - 
des Donners*, jagt der Ohrenzeuge Pichler. „Schlag auf Schlag 
wie ein riefiges anpochen an einen Felfenberg dröhnte es und über 
den Häuptern flogen die Brandrafeten zifchend hin“, meldet der 
Ohrenzeuge Auerbach. Die Mitglieder der Neichstagspermanenz be 
fanden fi) wohl in der allerungemüthlichiten Lage in ihrem am 
Sojephsplate gelegenen Situngszimmer. Eimer der Permanenten, 
Füfter, erzählt: „Es war, als lagerten zwanzig Gewitter iiber 
Wien; fo bitte und donnerte e8 mehrere Stunden hindurch“. Und 
ein anderer, Schufelfa: „Die Schüffe praffelten jo nahe bet ung und 
die Kugeln fielen jo dicht auf dem Jojephsplag nieder, daß ftarfe 
Nerven dazu gehörten, die ruhige Faflung zu behaupten“. 

Das Bombardement wirkte, wie erwartet werden mufjte. Nach— 
dem es etliche Stunden geraſ't hatte, war die Kraft des Widerſtandes 
gelähmt, gebrochen, zerftoben. Die Bafteien, die Plätse, die Straßen 
waren leer. Nur da und dort hielt fi) noch. ein Häuflein verzwei- 
felnd zufanmen, aufrecht ımd in Waffen. Um 51/, brad) das erfte 
Kroatenbataillon durch das eingeſchoſſene Burgthor in die Stadt. 

Die letten Augenblide des Bombardements und der Gegen- 
wehr, die legten Athemzüge der wiener Oftoberrevolution hat der 
Augenzeuge Hartmann fo geichilvdert: — „Auf dem Bauernmarkte 
hörten wir plötzlich die Lärmtrommel, die durch den Donner der Ka— 
nonen, das Platzen der Bomben und fallenden Schutt einen wahrhaft 
unheimlichen und zugleich jehr aufregenden Schall hören ließ. Auf 


Wiener Dftober. 511 


dem Hohenmarfte jahen wir, woher der Ton fam. Diejer Plat war 
leer und öde, wie um diefe Zeit alle Gaffen und Plätze; die Ein- 
wohner hatten fid) in die Keller geflüchtet und hielten fid) in den 
innerften Räumen der Häufer. Ueber ven großen menjchenleeren Platz 
ichritt ein einziger, ungefähr fünfzigjähriger Proletarier; vor ihm 
ging ein kleiner, vielleicht zehnjähriger Junge. Der trug eine große 
ſchwarzrothgoldene Fahne, der alte jchlug die Trommel. Er jah 
nicht rechts, er jah nicht links; die Bomben flogen über feinen Kopf, 
fie plagten vor ihm, hinter ihm; er fchritt vorwärts, gemefjenen 
Ganges und jching den Generalmarſch und er jchlug, als wollte er 
eine gejtorbene Welt aus dem Todesſchlafe weden. Und der Knabe 
mit der Sahne ging ruhig vor ihm. Wir blieben ſtarr bei dieſem 
Schaufpiel und Thränen traten uns in die Augen. Lieber Freund, 
jagten wir ihm enplich, laſſen Ste das; es iſt alles aus. Nein, ant- 
wortete der Alte, jie müfjen heraus, fie müſſen nod) einmal heraus: 
die Sache darf nicht verloren fein! So. iprechend ging er immer 
weiter und ſchlug Die Trommel, daß fie den Kanonendonner über- 
hallte, und der Knabe trug ruhig jeine Fahne und jah nad) allen 
Seiten, ob fie nicht füimen. Sie famen nidt.... Die Abend- 
Dämmerung jenfte ſich ſchon leife herab, als wir wieder auf dem 
Graben ankamen. Da jchwiegen plößlic die Kanonen; es wurde 
ganz ſtille. Nach ungefähr zehn Minuten kamen vom Kohlmarfte 
her und liefen über den Graben dem Stephansplate zu an 30 Stu- 
denten und Proletarier. Laufend jahen fie rückwärts, als ob fie be— 
jorgten, verfolgt zu werden. Wieder nad einigen Minuten fan 
Becher mit dem Degen in der Hand veffelben Weges, gefolgt von 
einer noch kleineren Schar. Auch fie jahen ſich um, während fie 
raſchen Schrittes über den Graben gingen. Nicht zwei Minuten 
darauf erſchienen die Katjerlichen auf dem Plate des Grabens, eine 
Kompagnie mit gefüllten Bajenett, aber ängſtlich nach den Fenitern 
links und rechts blidend und fortwährend „Gut Fremd! Gut 
Freund!“ rufend. Die Offiziere ſchwenkten ihre Degen grüßend zu 
den Fenſtern hinauf umd riefen ebenfalls „Gut Fremd!" Das Rolf, 


512 ß Die Abwidelung, IV. 


welches die Soldaten plötzlich umgab, verhielt ſich jtill. Da geſchah 
aber etwas überraſchendes. Wie auf ein gegebenes Zeichen öffneten 
fich hundert Fenfter, die jeit drei Wochen verſchloſſen und verhüllt ge- 
wejen, — fie füllten fi, hunderte von Taſchentüchern wehten ven 
Soldaten entgegen und „Bivat der Kaiſer!“ erſcholl es von allen Sei- 
ten. Das war wie ein Signal für das Bolf: ein ungeheures Pfeifen 
erjtidte die loyalen Rufe in Gegenwart, jelbjt in der Mitte der 
Sieger, die jo eben, freilid) jehr jhüchtern ihren Triumpheinzug hiel- 
ten. Und das pfeifende Volk begleitete die Steger bis auf den Stod- 
Am-Eifenplag. Bon dorther famen nod) einige Schüffe. Site kamen 
von Becher. Noch einmal hatte er ic aufgeftellt und empfing die 
Sieger mitten in der befiegten Stadt mit einer legten Salve. Dann 
ward es ftill. Die Nacht ſank herab. Der Borhang fiel nad) einem 
großen Drama und die Orgie der Rache begann“ *). 


14. 


Am 1. November blähte fi eine koloſſale ſchwarzgelbe Fahne 
auf dem Sankt Stephan. Der jhwarzrothgoldene Märztraum 
Wiens, welcher zulett in das Dftoberfieber umgeſchlagen, war aus— 
geträumt. 

Sachverſtändige meinten, die bejagte jhwarzgelbe Fahne hätte 
beträchtlich raſcher und mit viel geringeren Opfern auf den Stephans— 
thurm gebracht werden fünnen, jo der Herr Fürſt von Windiſchgrätz 
ein anderer General gewejen wäre, als er war. Dem mag jo ſein; 
gewiß aber ift, daß der Herr Fürſt ganz der rechte Mann Dazu war, 
das „Wehe den Befiegten !” tüchtig zu praftiziven und die ſchwarz— 
gelbe Rache am Schwarzrothgold gründlich zu wollftreden, — jo 


) Demokratiſche Studien (1861), ©, 213 fg. 


Miener Oftober. 5 13 


gründlich, daß ver Holzkopf Kavaignak in Paris, der Juniſchlächter, 
in heller Freude in dem öftreichtichen Feldmarſchall einen Mitgejell- 
ihaftsretter begrüßte. 

Das Standredt herrſchte ſouverän in Wien und die Denun— 
ciation wurde fürmlich aufgemumtert, ja prämirt, was ganz über— 
flüffig war; denn die gränzenloje Nieverträchtigfeit des aus jeinen 
Schlupfwinfeln wieder hervorgeftochenen wiener Philiſterthums 
ichwelgte ja förmlich im Angeberer. 

Wohl denen, welchen es gelang, durd die Linien zu entkommen, 
bevor der Mordgriff des Standrechtes fie fafite*. Im ganz aben- 
teuerlicher Weiſe entkam Fenneberg: in einem Badtrog unter einer 
Teigihichte liegend wurde er vor die Linie getragen. Mefienhaufer, 
die blonde Träumerjeele, jtellte fih aus freien Stüden dem Standge— 
riht. Er wurde am 16. November erihoffen. Becher acht Tage 
jpäter. 

Im erjten Taumel der Rachſucht gingen die Verhaftungen fo 
ins unfinnig majjenhafte, daR in den eriten Tagen des Decembers 
1540 Perſonen aus der Haft entlafjen werden mufiten, weil jchlech- 
terdings nichts auf fie zu bringen war. Die Thätigfeit des Stand- 
rechts ging bis zum 9. Mat von 1849 fort. Sie fürderte als Re— 
jultat eine Lifte von 145 Verurtheilungen zu Tage, in welcher Liſte 
das „erſchießen“ und „hängen“ mit „gafienlaufen“, „ſchwerem 
Kerker“ und „Schanzarbeit“ abwechſelt **). Vollitredt wurden 
24 Todesurtheile. Wie viele Gefangene während der Kämpfe vom 
26. bis 31. Oktober von der Soldateſka ohne weitere Förmlichkeit 
maſſakrirt worden ſind, wird wohl niemals aktenmäßig feſtzuſtellen 
ſein. Ebenſo wenig die Zahl der Opfer, welche unmittelbar nach der 
Einnahme der Stadt „auf höheren Befehl“ vor den Linien füſilirt 

*) M. C. Gritzner, einer dieſer Glücklichen, hat in den erſten Kapiteln 
ſeines Buches „Flüchtlingsleben“ (1867) eine ſehr anſchauliche Schilderung 


der Drangſale und Gefahren gegeben, von welchen jo ein entkommen um— 
ringt war. 


*) Die ganze Lifte ift gedruckt bei Dunder, ©. 903 fg. 
Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 33 


314 Die Abwidelung, IV. 


wurden. Man jchätt, dag in der Vertheidigung Wiens von den 
Bertheivigern 5—6000 gefallen jeien. Der Gejammtwerluft der 
Truppen ift amtlid) auf 56 Offiziere, 1142 Soldaten und 70 Pferde 
angegeben. 

Am 9. November ging in Wien das düftere Gerücht um, Nobert 
Blum jet frühmorgens erihoflen worden. Am folgenden Tage meldete 
die amtliche „Wiener Zeitung“ — es gab nur nod) dieje, der Be— 
(agerungszuftand hatte Die geſammte übrige Preſſe aufgefreflen — 
daß Blum, „Buchhändler aus Yerpzig, wegen aufrühreriicher Reden 
und bewaffneten Widerſtandes gegen die fatferlihen Truppen zum 
Tode durch den Strang verurtheilt und in Ermangelung eines Frei— 
mannes die Sentenz mit Pulver und Blei durch erſchießen am 
9. November vollzogen worden“. 

Zugleich mit Blum war auch Fröbel verhaftet und. ebenfalls. 
zum Tode durch den Strang verurtheilt worden. Windiſchgrätz be- 
gnadigte ihn aber, wie es hieß und wie Fröbel jelber glaubte, einer 
von ihm früher verfaſſten Flugſchrift wegen, welche öſtreichfreundlich 
ausjah*). Die Sade ift aber wohl dieſe, daß der Herr Fürſt an 
einer Nummer „Deutjches Parlamentsmitglied“ in jener Todes— 
rubrik genug hatte. Man mochte dem Slaven aud) begreiflid) ge 
macht haben, daß er durch die Tödtung Blums das Deutſchthum und 
den Demokratismus ganz anders treffen würde als durd) die Tödtung 
Fröbels. Böſe Zungen wollten jogar nachmals behaupten, Win— 
diſchgrätz, den ſelbſt feine ausgeſchämteſten Speichelleder nicht gerade 


*) Herr Fröbel Scheint übrigens der Schutzkraft feiner öſtreichfreund— 
lichen Flugichrift nicht fehr getraut zu haben; denn er ſprach ſchon vor dem 
Beginne des Bombardements den Schuß der ichweizeriichen Geſandtſchaft 
an. Depeſche Steigers (Nachfolgers von Kern) vom 14. November: „Su 
Beziehung auf den zum Strang verurtheilten, aber beguadigten Julius 
Fröbel theile ich mit, daß derjelbe einen Tag, bewor das Bombardement 
gegen Wien eröffnet war, zu mir fam, indem er den Schuß der ſchweize⸗ 
riſchen Geſandtſchaft in Anſpruch nehmen wollte, vorgebend, daß er züricher 
Bürger ſei“. S. B. A. 


1: 


Wiener DOftober. 515 
für einen Hellfeher hielten, habe Herrn Fröbel laufen laſſen, 
weil er doch heilfichtig genug geweien, in dem damaligen Republi- 
faner den künftigen Veibpubliziften des Herrn von Schmerling zu 
erkennen. 

Daß Blum in der Morgenfrühe des 9. Novembers auf der 
Brigittenau die Todeskugeln mannhaft und gefaſſt empfing, weiß 
jedermann. Die deutſche Demokratie wird ihres Märtyrers eingedenk 
bleiben. 

Sein Tod hat zu einem der widerlichſten Auftritte in dem 
langen Poſſenſpiel des erſten deutſchen Parlaments Veranlaſſung ge- 
geben. Daß Blums Erſchießung in Hinblick auf das zum Schutze 
der Parlamentsmitglieder erlaſſene „Reichsgeſetz“ vom 30. Sep— 
tember 1848 ein Standrechtsmord geweſen, war ſonnenklar. Der 
Ermordete hatte auch ſo feſt auf dieſen Geſetzesſchutz vertraut, daß 
er, nachdem der windiſchgrätziſche Schrecken auf Wien gefallen, gar 
nicht an Flucht gedacht. Er war auch erſt am 4. November verhaftet 
worden. Aber freilich, der öſtreichiſche Juſtizminiſter Bach wuſſte 
den Mord zu rechtfertigen dadurch, daß er erklärte, das „Reichsge— 
ſetz“ vom 30. September jet in Oeſtreich niemals verfündigt worden 
und überhaupt — jest, mo das Schwarzgelb fiegreih vom 
Sankt Stephan wehte, ging man offen mit der Sprache heraus — 
anerfenne Oeſtreich ein Geſetzgebungsrecht der Frankfurter Verſamm— 
lung nicht. 

Auf einen am 14. November durch Ludwig Simon geſtellten 
Antrag hin wurde zwei Tage ſpäter in der Paulskirche ſo zu ſagen 
einmüthig beſchloſſen, „gegen die Tödtung des Abgeordneten Blum 
feierliche Verwahrung einzulegen und das Reichsminiſterium zur Be— 
ſtrafung der unmittelbaren und mittelbaren Schuldtragenden auf— 
zufordern“. Eins der windigſten Windeier, welche jemals in Sankt 
Paul gelegt worden ſind. Wer ſollte denn dieſen hochtrabenden Be— 
ſchluß ausführen? Reichsverweſung und Reichsminiſterium. Reichs— 
verweſer war ein ſchwarzgelber Erzherzog und Reichspremierminiſter 
ein ſchwarzgelbſter „Edler von“. Dieſer Edle von Schmerling 

33* 


516 Die Abwidelung, IV. 


konnte dann auch feinen guten Humor über eine jo koloſſal naive Zu— 
muthung jo wenig verbeigen, daß er während ver Verhandlungen 
iiber diejelbe dem Ermordeten vom 9. November den Wit ing Grab 
nachichleuvderte: „Wer ſich in Gefahr begibt, fommt darin um“. Er 
hatte gut wigeln und höhnen, er kannte ja die Plappermentsmehrheit, 
welche richtig vor der Kühnheit ihres Beichlufjes vom 16. November 
jo erichraf, daß fie nichts mehr davon willen wollte und ſogar 
aus blaffer Furcht, revolutionär zu erfcheinen, nicht einmal mehr 
wagte, eine ebenfalls beantragte und bejchloffene parlamentartjche 
Todtenfeier für Blum wirklich zu begehen. 


1 


8 
. 


Die Staberl-Nomödie der Fortjegung des öftreichiichen Reichs— 
tags ging zu Kremfier in der Hannakei am 22. November in Scene. 
Die Mitglieder der veutichen Linken hatten den deutſchen Dulder— 
muth, mitzuftaberln, d. h. fih von den übermüthigen Czechen ver- 
höhnen und tyranniſiren zu laffen. Im übrigen war dieſe ganze 
Kremfier- Farce bald verfunfen und verichollen. 

Daß der fiegreihe Säbel von jest an in Oeſtreich ven Takt 
ſchlug, war natürlich und ſogar nothwendig. Die Maſſen des Volkes 
hatten ſich zu den neuen Ideen ebenjo gleichgiltig-träge und theil- 
nahmelos verhalten wie anderwärts, die liberalen Führer jo unfähig, 
feige und zweidentig wie allenthalben. Der Verſuch, den Konſtitu— 
tionalismus zu gründen und zu handhaben, war kläglich gejcheitert, 
dagegen waren die nationalen Widerborftigfeiten der Bevölkerungen 
Oeſtreichs in ganzer Schärfe zum Vorjchein gefonmen. Wer follte 
denn diefelben niederhalten, wenn nicht der allmächtige Säbel? Für 
Deftreich, wie es nun einmalwar, fonntees mm eine Magna Charta 


* 


Wiener Oktober. 517 


geben und die hieß Belagerungszuſtand. Einen ganz und gar nur 
nach mittelalterlichen Maximen und Praktiken zuſammengebrachten 
und bis zur Märzkataſtrophe mittelalterlich gebliebenen Staat — 
welcher Begriff übrigens für Oeſtreich gar nicht paſſt — kann 
man nicht von heute auf morgen unter die moderne Schablone 
bringen. 

Wäre Ungarn im November von 1848 ebenfalls ſchon nieder— 
geworfen geweſen, wie Wien, d. h. Deutſchöſtreich es war, ſo hätte 
man am Hoflager von Olmütz ſicherlich der konſtitutionellen Gaukelei 
ſofort den Laufpaß gegeben. Dafür bürgte ſchon die Schaffung des 
neuen Miniſteriums, in welchem der Fürſt Felix Schwarzenberg die 
erſte und der Graf Franz Stadion die zweite Stelle einnahm. 
Neben dieſen zwei entſchiedenen Abſolutiſten wurden in das neue 
Kabinett zugelaſſen der Allerwelt-Krauß, dem man doch für ſeine 
Mitlahmlegung der Oktoberrevolution ein bißchen Erkenntlichkeit 
bezeigen muſſte, und der handirliche Bach, in welchem der leitende 
Hofkreis den richtigen Kautſchukmann erkannt hatte, der gelenkig 
genug, aus einem weiland Märzminiſter ein künftiger Konkordats— 
miniſter zu werden, gegen „anſtändige Verköſtigung“ verſteht ſich. 
Bruck wurde Handelsminiſter und ein Ritter von Thinnfeld Acker— 
bauminiſter. 

Das am 21. November zuſtandegekommene Miniſterium 
Schwarzenberg-Stadion gab am 27. ſein Programm aus, an deſſen 
Spitze eine konſtitutionelle Grimaſſe ſtand, welche zu ſchneiden den 
beiden Hauptminiſtern ſchwer genug angekommen ſein mag. Sie 
hielten ſich dafür ſchadlos, indem ſie im weiteren Verlauf des Akten— 
ſtückes den unlängſt von Radetzky in einem vom 9. November datirten 
Schreiben aufgeſtellten Sat: „Oeſtreich wird ſich eher von Deutſch— 
land als von Deftreic, trennen — alſo vartirten: „Erſt wenn das 
verjüngte Deftreich und das verjüngte Deutichland zur neuen und 
feften Form gelangt find, wird es möglich fein, ihre gegenjeitigen 
Beziehungen ftaatlich zu beitimmen*. In's Slaviſche überjegt hieß 
es das: Wir kümmern uns feinen Dent mehr um Deutichland. Die 


518 Die Abwidelung, IV. 


Czechen hatten alſo vollauf Urſache, dieſe Stelle des mintiteriellen 
Programms, als fie im improviſirten Neichstagsjale zu Kremfier 
zut Borlefung fan, mit Beifall zu überſchütten. Der Auftand hätte 
es nun freilich erfordert — wenigitens konnten, Pedanten“ jo meinen 
— daß die öſtreichiſchen Deputirten aus der Paulskirche in Frankfurt 
jofort heimberufen worden wären; denn wie ſollten fie dort noch eine 
deutſche Neichsverfafjung mitmachen helfen, welcher zum voraus jede 
Geltung und Bedeutung für Oeſtreich abgeiprodhen war, und das 
Minijterium Schwarzenberg-Stadion überhaupt nur ein inter- 
nationales Verhältniß zwiſchen Deitreidh und Deutſchland in nebel- 
grane Ausſicht jtellte? Allein dieſes Minifterium hatte amderes zu 
thun als mit den Geſetzen des Anftandes und der guten Lebensart 
fich zu ichaffen zu machen. Zudem verſchlug es ja gar nichts, Die 
Deftreiher den paulskirchlichen Nationalſchwatz noch fernerweit 
mitihwaten zu lafjen, und fonnte die Thatjache dieſes Mit- 
ſchwatzens vielleiht audh nod zu einer Handhabe werden, bie 
ihlieglihe Gejtaltung der deutſchen Sache im öftreihtihen Sinne zu 
beftimmen. 

Die Einſetzung des Minijtertums vom 21. November war Die 
Einleitung zum eigentlichen Finale der öftreichiichen Dftoberbewegung. 
Diejes Finale ſpielte im erzbiſchöflichen Palaft in Olmütz, wo derzeit 
die kaiſerliche Kefivenz, zur achten Morgenftunde am 2. December. 
Die faijerlihe Familie war verfammelt, der Hof in Gala, und um 
der bevorftehenden Haupt und Staatsaftion die richtige zeitgemäße 
Weihe zu geben, waren auch die beiden „Siegeshelden“ Windiſchgrätz 
und Sellacie, welchen vor etlihen Iagen Car Nikolai eine Be- 
lobigungsnote zugefertigt hatte, aus Wien herbeſchieden worden. 

Es handelte fi darum, den im Kreiſe dev Eingeweihten längit 
vorbereiteten Thronwechſel zu vollziehen. Kaiſer Ferdinand war ein 
gewiſſenhafter Herr und mar brauchte bei der jetzo inaugurirten Po— 
litik einen oberſten Nepräfentanten der Staatsgewalt, welder ſich 
nicht durch etwaige Erinnerungen an verpfündete Worte umd feierliche 
Verſprechungen unbequem machte. | 


Wiener Oftober. 519 


Drüben in Kremfier war jpäter am Tage der Reichstag zu einer 
außerordentlichen Sitzung verſammelt. Nad langen harren der 
Verſammlung erichten der Meintiterpräfident Schwarzenberg und 
brachte dieſe Erklärung vor: „Heute hat in Olmüt ein Aft von welt 
geſchichtlicher Bedeutung Itattgefunden. Kaiſer Ferdinand bat un— 
widerruflich abgedankt, ſein Bruder, der Erzherzog Franz Karl auf 
ſein Nachfolgerecht verzichtet und deſſen Sohn als Kaiſer Franz Jo— 
ſeph der Erſte den öſtreichiſchen em beſtiegen“. 

Der neue Kaiſer war am 1. December „großjährig“ erklärt 


worden. Er zählte 18 Jahre. Kaiſer, Könige, Herzoge und Fürſten, 


bis zum Großherrn von Flachſenfingen herab, genießen des löblichen 
Vorrechts, reif, mündig, großjährig zu ſein in einem Alter, wann 
andere Menſchenkinder noch in den Knabenſchuhen herumlaufen. Es 
iſt dies zweifelsohne eines der ſinnreichſten Dogmen der monarchiſchen 
Religion, ſo ſakroſankt-myſteriös wie nur irgendein Dreieinigkeit- oder 
Unbefleckte-Empfängniß-Myſterium. Wenn ſchon in Republiken die 
alte Geſchichte „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verſtand“ 
— tagtäglich neu wird, was mu Gott anftändiger Weiſe erſt in 
Monarchien ſolchen verleihen, welchen er Kronen gibt! Es tit für- 
wahr nicht auszudenfen. Man muß ſchon ein Somnambulerich fein, 
um von dieſem mirafelhaften auch mr eine blaffe VBorftellung be- 
kommen zu fünnen. 

Bon einer ſelbſtſtändigen Regierung des achtzehnjährigen Kaiſers, 
an welchem man neben friegertichem Muth auch noch andere qute 
Eigenſchaften rühmte, fonnte im Ernfte natürlich gar feine Rede ſein. 
Am 5. März von 1849 wurde eine Art von Berfafjung fir Geſammt— 
öftreich oftroyirt und am folgenden Tage darauf, nachdem während 
der Nacht Goldmark, Kudlich, Violand und Füſter wohlweiſlich aus 
Kremſier entwichen waren, dem Reichstagsſchattenſpiel ſoldatiſch-barſch 
ein Ende gemacht. Später hat man dann, wie bekannt, dieſes Phan— 
tom von Verfaſſung in die hiſtoriſche Rumpelkammer geworfen und iſt 
zum „korrekten“ Abſolutismus, zur guten alten frommen Metter— 
nichtigkeit ohne konſtitutionelle Mentalreſervation zurückgekehrt. Dabei 


520 Die Abwidelung, IV. 


mochten die Deutihöftreicher, falls ihnen das laden nicht überhaupt 
vergangen war, ſchadenfroh darüber laden, daß jet aud) den Herren 
Czechen und übrigen Slavenbrüvdern der „Dank vom Haufe Oeſtreich“ 
gezollt wurde, in Geftalt eines Fußtrittes, über deſſen Wohlangebracht— 
heit fein Zweifel auffommen fonnte. 


V. 


Berliner November. 


„Die ſchwargelbe Fahne flattert triumphirend auf dem Sankt 
Stephan“. Hei, das klang ſchön, klang in hellfrohen Durtönen gen 
Potsdam hinauf, allwohin die Märzpoſt: „Das ſchwarzrothgoldene 
Banner iſt auf der wiener Hofburg aufgepflanzt“ — ſo mollton— 
traurig erklungen war, daß der tafelnde König Meſſer und Gabel 
niederzulegen allerhöchſt ſich bewogen gefunden hatte. Das war aber 
ſchon ſo lange her, daß nur noch Leute, welche an langem Gedächtniß 
litten, davon ſprachen. 

Ja, in den erſten Novembertagen von 1848 gab es fröhliche 
Geſichter im Schloſſe zu Potsdam. Nun der ſchwarzgelbe Gegen— 
revolutionstrumpf mit ſolchem Erfolg ausgeſpielt worden, warum 
ſollte der ſchwarzweiße nicht ebenfalls ausgeſpielt werden? Kein Grund, 
fürwahr, warum nicht. Laſſt den Marſchall Druff ſeine Schuldig— 
keit thun! Was Se. Excellenz der Windiſchgrätz konnte, kann Se. 
Excellenz der Wrangel auch. 

Die guten Oeſtreicher haben ſich im Jahre 1866 ſehr lächerlich 
gemacht, als ſie weinerlich ſchmälten, die Preußen ſeien ihnen überall 
zuvorgekommen, „mit affenartiger Geſchwindigkeit“. Viel weniger 
lächerlich wäre es geweſen, wenn ſie im Jahre 1848 geſagt hätten, 
die Preußen ſeien hinter ihnen hergekommen mit affenartiger — Ge— 
ſchwindigkeit nicht gerade, aber doch Gelehrigkeit. 


Die Abwidelung, V 


(Di! 
[847 
155) 


In Wahrheit, der berliner November war ein Abklatſch vom 
wiener Oftober, abgerechnet das ſchießen aus Kanonen und Büchſen, 
das werfen von Bomben und Granaten, jowie die „Begnadigungen 
zu Pulver und Blei“. Die Berliner waren denn doch zu gebilvete 
Leute, zu wohlerzogene Unterthanen, um es bis zur Anwendung der- 
artiger draftiicher Argumente fommen zu laſſen. Bet ihnen reichte 
man aus mit dem Belagerungszujtand ohne Belagerung. Sie er— 
trugen auch den Belagerungszuftand mit bejter Manier und tröjteten 
fich mit des weiland königlich preußiſchen Staatsphilofophen Hegel 
Hannswurſtorakelſpruch: „Alles wirkliche ift vernünftig“. 

Krone und Volk in Berlin und Preußen hatten fi ja im März 
nur ein bißchen mifjverftanden. Jetzt, im November, fanden jie beide 
das richtige, ganze und wolle Verſtändniß wieder, d. h. die Krone be— 
fahl und das Volk gehordte. 

Manmup übrigens dem preußiſchen Bolfe, zumal in den „alten“ 
Provinzen, die hiſtoriſche Gerechtigkeit widerfahren laſſen, daß es in 
jeiner Maſſe von dem „Schwindelhaferbrot“ des „tollen“ Jahres gar 
nicht gegefjen hat. Nur die Bevwölferungen der Städte, insbejondere 
der größeren, waren „auflüpfiich“, was mit unpreußiſch völlig iden— 
tiſch, und die Gelehrten der Umkehr dachten ſinnreich und korrekt, als 
fie alles Exnftes vorſchlugen, alle Städte unerbittlich auf eine bejtimmte 
Einwohnerzahl zurüczuführen und fortan feine mehr über das von 
der „Mit-⸗Gott-Für-König-Und-Vaterland-Kreuzzeitung“ genauer an— 
zugebende königlich preußiſche Normalmaß hinauswachſen zu Lafjen. 
Die Bauern in den Marken, in Pommern u. |. w. hatten won einer 
„Konftitution“ ungefähr diejelbe Borjtellung wie die ruſſiſchen Sol- 
daten beim petersburger Decenberaufitand von 1825 und es bedarf 
in Wahrheit Schon eines hohen Grades von VBerbildung, um von dem 
fonftitutionellen Nebel überhaupt eine Borjtellung haben zu fünnen. 
Die ſogenannten Märzerrungenſchaften waren demnach im Volke, Das 
nur von Kommando und Gehorjam wuſſte, ohne Boden, und wenn 
man damals in Berlin über die guten Wirſitzer fpottete, weil fie den 
Prinzen von Preußen zu ihrem Abgeoroneten für die Nationalver- 


Berliner November. 523 


ſammlung erforen, jo war das ein jehr einfültiges, weil ganz un— 
preußiſches Gejpötte. Die Wirfiter erwieſen durd) dieſe ihre Wahl- 
that, daß fie das Preußenthum viel befjer verjtanden als alle die 
berliner Kladderadätſcher, Buddel- und andere Mater. Wührend 
dem preufiichen und dem deutſchen Liberalismus erit durch das Jahr 

866 der Staar ſoweit geitohen und der Dippel jofern gebohrt 
worden tft, daß er zur Einficht kam, die beſte Karte und Nonftitution 
jet das Haus Hohenzollern, baben die trefflihen Inſaſſen des wirfiter 
Wahlkreiſes dieſe Einſicht allbereits 1.3. 1848 befunder und dadurch 
eine unvergänglich ſchöne und kulturgeſchichtlich merfwirdige Illuſtra— 
tion zu dem freilich etwas abgegriffenen ſchiller'ſchen Diktum geliefert: 
„Was kein Verſtand der Verſtändigen ſieht, das übet in Einfalt ein 
kindlich Gemüth“. 

Der Prinz von Preußen erſchien als Abgeordneter von Wirſitz, 
nein, als Prinz von Preußen am 8. Juni in der Nationalverſamm— 
lung. Er hatte in England ſeine Zeit nicht auf Aneignung des 
fonititutionellen Jargon und des parlamentariichen Gallimattbias ver— 
wandt. Er beſtieg vielmehr in Generalsuniform, mit dem Degen an der 
Seite, die Rednerbühne und hie „die aus allen Provinzen und allen 
Ständen hier verfammelten Herren herzlich willkommen“. Das bie 
jagen: Wir, die Hohenzollern, haben euch gerufen und wir werden 
euch, jobald es uns gefüllt, auch wieder fortihiden; denn wir kom— 
mandiren und ihr geborcht ; Jo war, iſt und wird fein der Brauch in 
Preußen — „Mit Gott für König und Vaterland!“ Mit dieſem 
Loſungsworte des echten Preußenthums ging der Prinz ab umd es ge- 
hörte eine tüchtige Dojis von Traumduſelei dazu, nach dieſem Auf- 
tritte nody zu wähnen, in den Räumen der Singafademte oder im 
königlichen Schaufpielbanfe, wohin die „Nattonalverfammlung“ ſpäter 
überfiedelte, gäbe es ein jo märchenhaftes Ding wie eine preuftiche 
Bolfsjonveränttät. 


524 Die Abwidelung, V. 


2. 


Das fefthalten an dieſer Chimäre hat auc die Thätigfeit der 
ehrlichen Vorſchrittspartei in der Berfammlung ganz umerquidlic, 
und uneriprieglic gemacht. Wer fann wirkffam handeln, wenn er 
auf Flugſand fteht? Gewiß repräfentirten die Führer und Sprecher 
diefer Partei, die Jafoby, Waldeck, Temme, Elſner, Stein, Reichen- 
bad), d'Eſter, Borchardt, Yung, Berends und andere, den Polen 
Cieſzkowſki nicht zu vergefien, eine adhtungswerthe Summe von In— 
telligenz und auc das muß dieſen preußiſchen Demofraten zur Ehre 
nachgejagt werden, daß fich im ihren Neihen feine ſolchen Apoftaten 
und Judaſſe vorfanden wie in denen der ſüddeutſchen Demokratie: 
fie hatten feinen Mathy aufzuweiſen. Denn die Ohm, Gödſche und 
Mitſchurken, melde jpäter unter Begünftigung von feiten der Re— 
gierung das Verrätherei- und Angebereigefhäft getrieben haben, ge= 
hörten einer jo niedrigen Ordnung der Zoologie an, daß von ihnen 
hier feine Rede fein kann. Allein die preußifchen Demokraten 
verfannten ganz und gar die Natur des preußiſchen Staates, für 
welche der fanatiiche Royalift Ernft Mori Arndt das fehr bezeich- 
nende Wort „königiſch“ erfunden hat, weil die Worte königlich und 
monarchiſch ihm nicht ausreichend jchienen, das Ineinandergewachſen— 
fein von Königthum und Preußenthum auszudrüden. Die Linkſer 
in der Singafademie redeten immerfort vom preußiſchen Volke und 
hatten doch in Wirklichkeit nichts hinter fi) als die Bummler und 
Saffenjchreier Berlins. Sie wähnten, das preußiſche Verfaſſungs— 
werk bis hart an die Gränzmarf der Republik worrüden zu fünnen, 
während es doch nur von der Krone abhing, ob dieſe überhaupt fo 
ein Ding wie eine Berfaffung haben wollte oder nicht. 

Den Sommer über ließ man die Demofraten und ihren Anhang 
mit diefem Wahne fpielen, weil die potsdamer Wiederftrammungskfur 
no nicht vollendet war. Genau im Berhältniffe zum Vorſchritt 
dieſer Kur wurden die demokratiſchen Mühwaltungen, Anftrengungen 
und Abzappelungen, nicht in den Sumpf der Rückwärtſerei zu ver- 


Berliner November. 525 


ſinken, immer kläglicher anzuſehen. Je heftiger das Gezappel, deſto 
raſcher das Hinabplumpſen. Je großwortiger der Demokratismus, 
deſto mächtiger der Abſolutismus. Der ſchließliche Appell der, Volks— 
vertretung“ an das Volk fand keine andere Antwort als das, köni⸗ 
giſche“ Kommandowort: Packt euch! 

Die Linke konnte ſich ſchon im Juni überzeugen, daß ſie nicht 
einmal in der Nationalverſammlung, geſchweige außerhalb derſelben, 
ihre Anſchauungen obenauf zu bringen vermöchte. Als am 8. Juni 
Herr Berends den Antrag einbrachte, die „Verſammlung wolle in 
Anerkennung der Revolution zu Protokoll erklären, daß die Kämpfer 
des 18. und 19. März ſich wohl um's Vaterland verdient gemacht 
hätten“ — da malte der Herr Miniſterpräſident Kamphauſen ſofort 
das rothe Geſpenſt in erſchrecklichen Dimenſionen auf die Salwand 
und am nächſten Tage wurde in Folge deſſen der im Grunde ganz 
harmlos gemeinte und ſo zu ſagen nur als Fühlhorn herausgeſteckte 
berends'ſche Antrag mit 196 gegen 177 Stimmen verworfen. Nach 
Beendigung der Sitzung gab es dann draußen widerliche Auftritte, 
an denen ſich allerdings nicht allein die Bummler und Krakehler von 
Profeſſion thätlich betheiligten, ſondern auch zahlreiche berliner Bürger 
aus den Mittelklaſſen, welche zu dieſer Zeit noch ſich einbildeten, auf 
ihre „glorreiche Revolution“ ſtolz zu ſein, und in dem gemeldeten 
Abſtimmungsreſultat eine Beſchimpfung derſelben erblickten. Mit— 
glieder der Rechten wurden beim hinausgehen mit Schmähungen 
überhäuft, geſtoßen und geſchüttelt und die Miniſter ſelbſt entgingen 
nur mittels ſtudentiſchen Schutzes der Bekanntſchaft mit den ſchlagenden 
Beweisgründen der Menge. 

Zu derartigen Traveſtieen der Revolution vermochte es der ber— 
liner „Volksgeiſt“ zu dieſer Zeit allenfalls noch zu bringen, weiter zu 
nichts mehr. So eine Traveſtie ohne Tragweite und Ziel war auch 
der Zeughausſturm in der Nacht vom 15. zum 16. Juni, veranlaſſt 
durch die ſchon ſo lange ſchwärende Erbitterung der Arbeiter gegen 
das bürgerwehrliche Vorrecht der Bewaffnung. Hätte das berliner 
Proletariat geſchickte Organiſatoren und tüchtige militäriſche Führer 


926 Die Abwidelung, V. 


gehabt, jo würde Berlin noch vor Paris eine Juniſchlacht erlebt 
haben. Sp aber war die Erſtürmung und Plimderung des Zeug- 
hauſes, welche eine Menge von Zündnadelgewehren in die Hände von 
Proletariern brachte, die, maßen die Handhabung nod) ein amtliches 
Geheimniß, nichts damit anzufangen wußten — nur ein pöbelhafter 
Bummelwit der geräufchvolliten Sorte, eine Dummheit, welche der 
Mehrheit der Bürgerihaft Berlins den Geihmad an der „glorreichen 
evolution” tief verleidete. 


Inzwifchen war das Minifterium Kamphauſen wie damals in 
Berlin jo vieles andere „Fläterig* geworden. Der Mohr von Köln 
hatte feine Dienfte gethan und fonnte gehen, wie denn überhaupt zu 
diefer Zeit die märzminifterlichen Herren Mohren gehen zu fünnen 
allbereits und allerorten anfingen. Am 15. Juni ſchob die Natio— 
nalwerfammlung den vom Minijtertum vorgelegten Verfaſſungsent— 
wurf ſanft beifeite, der Zeughausfrawall gab dieſer parlamentariſchen 
Schlappe noch mehr Gewicht und am 20. Juni zeigte Herr Namp- 
haufen feinen und feiner Kollegen Nücktritt an. 

Fünf Tage ſpäter war das neue Miniſterium Auerswald-Han— 
ſemann oder vielmehr Hanſemann-Auerswald gebildet, in welchem 
Kühlwetter das Innere, Schreckenſtein den Krieg, Märker die Juſtiz 
übernahm. Die übrigen Miniſter wählte man aus der Rechten und 
den Centren der Nationalverſammlung: Milde erhielt den Handel, 
Gierke den Ackerbau, Rodbertus den Kultus. Der letztgenannte trat 
ſchon nach etlichen Tagen wieder aus, weil er deutſcher als preußiſch 
war und mit feinen Amtsgenoſſen inbetreff der Stellung Preußens 
zum deutſchen Parlamente nicht üibereinftimmte. Am 26. Juni brachte 
Herr Hanfemann dag Programm der neuen Berwaltung vor, welche 
fich als ein „Miniftertum der That” bezeichnen zu hören liebte und 
felber jo bezeichnete. Warum ? wifjen weder Menjchen noch Götter. 


Berliner November. - 527 


Der ziel= und zwedlojen Krawalle und Putſchverſuche gab es ja unter 
dieſem Miniſterium nicht weniger als unter dem vorigen und auch 
das Berfafjungswerk kam nicht bejjer vorwärts. Die befte nicht nur, 
jondern geradezu einzige That des „Minijteriums der That“ iſt eine 
Redethat geweſen, gethan von dem Juftizminifter Märker zu Gunften 
der Abſchaffung ver Todesſtrafe, alfo eine That von jehr zweifelhaften 
Verdienſte, weil nicht abzujehen, warum die Gejellihaft irgendwelches 
Bedenken haben jollte, gemeinſchädliche Menſchen-Beſtien over Beitien- 
Menjchen vom Erdboden wegzuwiichen, wie mar Gift- und Raub— 
thiere wegtilgt. Derartige Beftien-Menjhen noch zu Menichen- 
Menſchen machen zur wollen oder zu können, ift und bleibt ja doc) 
nur eine empfindfame Marotte. 

Ein Konflikt der Nationalverfammlung mit dem Kabinett hatte 
ſchon mehrmals gedroht, kam aber erit im Auguft zum hellen Aus— 
bruch und zwar dam, als die gegenjätliche Stellung von Bürgerthum 
und Soldatenthum der Erörterung ſich aufprängte Die nächte 
Veranlafjung hierzu gaben mehr oder weniger blutige Reibungen 
zwiichen Soldaten und Volk, welche da und dort vorgefallen waren. 
Ein befonders blutiger Zufammenftoß hatte am 31. Juli in Schweid- 
nitz ftattgefunden, wober 14 Bürgerwehrmänner von den Soldaten 
todtgeſchoſſen waren, jelbjtverftändlich auch wieder nur aus puren 
„Miſſverſtändniß“. Denn maßen die Preußen ſammt und ſonders 
„ein Volk in Waffen ſind“, ſo iſt es ſchlechterdings unmöglich, daß 
dieſes Volk anders als aus Miſſverſtändniß ſich unter einander todt- 
ſchöſſe. In gämzlicher Verkennung des militärſtaatlichen Charakters 
Preußens redeten die Linkſer in der Nationalverſammlung von der 
Nothwendigkeit einer ungeſäumten und gründlichen Reform des Heer— 
weſens im allgemeinen und des Offizierſtandes im beſonderen und 
ſo demoraliſirend hatte der konſtitutionelle Schwindel bereits auf das 
Preußenthum zu wirken angefangen, daß ſogar die Mehrheit wun— 
derlich genug dieſe Nothwendigkeit anzuerkennen Miene machte. 

Am 9. Auguſt beſchloß demzufolge das preußiſche Parlament, 
der Kriegsminiſter ſollte in einem Armeebefehl die Offiziere vor der 


928 Die Abwidelung, V. 


Betheiligung an rüdwärtfigen Machenſchaften warnen und e8 zugleich 
jolden Offizieren, welche ſich in die neuen fonftitutionellen Staats- 
und Rechtsverhältniſſe nicht hineinzufinden vermöchten, zur Ehren- 
pflicht machen, ihren Abſchied zu nehmen. Das „Minifterrum der 
That“ that aber nichts in der angezeigten Nichtung. Als dann am 
20. Auguft bei Gelegenheit eines der üblichen Katzenmuſikkoncerte 
dem nominellen Miniſterpräſidenten die Fenfter eingeſchmiſſen wurden, 
brachte es ein Verſammlungsgeſetz, d. h. ein Widertumultgeſetz ein 
und gab am 4. September die Erklärung ab, daß es den Beſchluß 
der Verſammlung vom 9. Auguſt nicht zur Ausführung bringen 
werde. Sofort ſtellte der Abgeordnete Stein den Antrag, die Mi— 
niſter zur Ausführung jenes Beſchluſſes, d. h. zur Erlaſſung des 
angegebenen Armeebefehls anzuhalten, und dieſer Antrag wurde am 
7. September mit 219 gegen 143 Stimmen angenommen. 

Die Linke machte ſich von der Bedeutung dieſes Sieges über das 
Miniſterium die überſtiegenſten Vorſtellungen. Der Graf Reichen— 
bach ſagte zu der am Abend des Tages vor dem Klubbhaus ſeiner 
Partei (Hotel Mylius) verſammelten Menge: „Der heutige Sieg 
in der Nattonalverfammlung ift erſt die Verwirklichung ver Revolu— 
tion; das Volk und jeine Vertreter haben fid) geeinigt. Halten wir 
dieje Vereinigung feit und wir fünnen die Feuerſchlünde verachten, 
die vor den Thoren Berlins ſtehen“. Warum nicht gar? Als ob 
man Feuerſchlünde mit Bhrafen zuftopfen fünnte ! 

Bon dem nichtzugeitopftiein verjelben hätten ſich Die berliner 
Demokraten tagtäglich überzeugen können, jo fie ſich ein bißchen in 
der Umgegend von Berlin umjehen wollten. Denn e8 zog ſich gerade 
in dieſen Tagen ein ing von nahezu 50,000 Soldaten mit Beigabe 
hinlänglich vieler ‚Feuerſchlünde“ allmälig mehr und mehr und enger 
und enger um die Hauptitadt zufammen, während mitten in diejer 
Hauptjtadt ſchon im Auguft ein „Junkerparlament“ feine VBerhand- 
lungen und Beſchlüſſe — Beſchlüſſe vom trübften feudaliſtiſchen 
Waffer — fed den Verhandlungen und Beihlüffen ver Sing- 
afademifer entgegengeftellt hatte, wohl wiſſend, daß ein Centner 


Berliner November. - 529 


Veudalismus die Krone der Hohenzollern weniger beſchwerte als ein 
Hundertſtelloth Demofratismus. So hatte ja auch Friedrich der 
Große die Sache angejehen, indem er ſich mit dem Junferthum dahin 
verglich, daß Diejes, um in dem Weitergenuß jeiner feudalen Privi— 
legten zu bleiben, offizterlich und bureaukratiſch ſich organiſiren laſſen 
und aljo die beiven Haupthebel in der Stantsmafchine des auf- 
geflärten Dejpotismus abgeben muffte. 


4. 


Herr Hanjemann und Kollegen nahmen am 9. September ihre 
Entlafjung, forrefteitsfonftitutionell dem Votum der Nationalver- 
jammlung vom 7. September weichend. Das Vergnügen eines 
£leinen Machenſchäftchens der Perfidie fonnten ſich hierbei die kon— 
jtitutionellen Herren nicht verfagen. Ganz parthermäßig nämlich 
ihojjen fie, im fliehen rückwärts gewandt, den Verdächtigungspfeil 
auf die Mehrheit der Nationalverfammlung, dieſe wollte ſich quafi 
als ein Konvent aufthun. Die Spitze des Pfeils war zwar mit der 
Baummollephraje des mintjtertelen Entlaſſungsgeſuches ummidelt: 
„Unjerer Anſicht nah muß das Princip, daß die Feſtſetzung von 
Berwaltungsmarregeln der Nationalverfammlung nicht zuſtehe, auf- 
recht erhalten werden, weil ohne daſſelbe die konſtitutionelle Monarchie 
nicht beſtehen kann“ — wurde aber deſſen ungeachtet bitter ent- 
pfunden. 

Draufen freilich in Potsdam jehr angenehm. Man war dort 
Herrn Hanfemann und Komp. für diefen Partherſchuß ſehr dankbar. 
Denn wenn jogar ein bürgerlicher Minijterpräfident — was Herr 
Hanſemann ja thatſächlich geweſen war — mit einer ſolchen „über— 
greifenden“ Volksvertretung, mit einem ſolchen Quaſi-Konvent nicht 
regieren zu können erklärte, jo brauchte man doc wahrlich mit ſolchen 
Uebergreifern und Konventlern nicht länger Umſtände zur machen. 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 34 


530 Die Abwidelung, V. 


Der ganze Vorgang war übrigens ein vorbildlicher für den preußischen 
Konftitutionalismus der Zufunft. Die Yehre von der Theilung der 
Gewalten it überhaupt nur ein tbeoretiiher Schwindel oder eine 
ihwindelhafte Theorie. In ihrer Anwendung auf den Militärftaat 
Preußen vollends fonnte fie nur der barjte Humbug fein. Dieſer 
Militärftant darf überhaupt nie ein Parlament dulden, welches jo 
verrüdt tjt, zu wähnen und zu fordern, daß jeine Beſchlüſſe ausge- 
führt werden jollten und müſſten, es wäre denn, daß dieſe Beichlüffe 
zum voraus mit der Negierung abgefartet würden. Co lange e8 ein 
echtes Preußen gibt, wird die fonititutionelle Verfaſſung daſelbſt nie 
etwas anderes jein als ein „zeitgemäßer“ Formalismus, als ein 
moderner Arabeikenihnörfel um das altpreußiſche Staatswappen her, 
als eine politiſche Kinderklapper für das große Bourgeoiſiekind. 

In Potsdam jtand unbedingt ſchon im Juli, Auguft und Sep- 
tember der Entſchluß feſt, mit dem ganzen „revolutionären Unmejen“ 
möglichit bald abzufahren. Schade nur, daß die militäriſchen Vor— 
bereitungen noch nicht vollendet waren, und noch mehr ſchade, daß 
die wiener Oftoberrevolution jtörfam dazwiſchenfuhr.« Wenn das 
Märzfeuer da drunten an der Donau wieder jo heftig aufloderte, 
fonnte es möglicher Weiſe auch an der Spree wieder unter der Ajche 
hervorichlagen. Alſo noch ein Weilden Geduld; denn — ſagte 
Friedrich Wilhelm der Vierte — „Geduld überwindet Sauerkraut”. 
Alſo laſſen wir das parlamentarische Sauerkraut noch ein bißchen 
gähren und dampfen und ſich einbilden, es ſei das Haupt- und 
Staatsgericht in Preußen. Bald wird kommen der Tag, wo man 
den ganzen Kohl auf die Gaſſe wirft. 

Die Stimmung des leitenden Hofkreiſes machte ſich freilich im 
Organ deſſelben Luft, in der Kreuzzeitung, welche in jenen Tagen 
wiederholt in ihren Spalten die „Furie“ Republik ſchreckhaft ihr 
Schlangenhaar jhütteln und ihre Brandfadel ſchwingen ließ. Auch 
redete fie davon, daR, wenn Die Krone vor den Anmaßungen Der 
Nationalverfammlung jetst zurückwiche, diefer Rückzug „wahrſcheinlich 
nur in England aufhören würde“. In den Provinzen ging Die 


Berliner November. 531 


Rückwärtſerei noch viel deutlicher mit der Sprade heraus. Ein 
pommer’sches Junfer- und Bonzenblatt triumphirte: „Bereits find 
alle Vorkehrungen getroffen, um jeden Augenblif das Bombardement 
von Berlin beginnen zu können“. In offizterlichen reifen ſprach 
man, und zwar nicht gerade in ſammetbehandſchuhten Ausprüden, 
von der Räthlichfeit, ja Nothwendigfeit einer Abdankung des Königs, 
weil derjelbe nicht ver Mann wäre, das vormärzlich preuktiche König— 
thum wieder herzuftellen. Man that Frievrid Wilhelm dem Vierten 
unreht: Dazu war er ſchon der Mann. Er brauchte ja auch nur 
die frommen Herren und Damzıı feiner vertrauten Umgebung machen 
zu lafjen. Die Frommen rennen überall und allzeit am bejten vie 
Wege nad) rüdwärts ins Dunkel, wo ſich jo allerliebit munkeln Läfit. 
Sie find bekanntlich auch ſtark in der Kunſt, durch Widerſprüche ſich 
nicht beirren zu lajien, und nahmen alſo auch den Widerſpruch auf 
jich, zugleich den liberalen Redenſäuſeler Bederath und den Marſchall 
Druff nad) Potsdam zu entbieten. 

Der gute Beckerath, am 15. September aus Frankfurt an- 
langend, jollte ein neues Minifterium bilden und man ließ ihm das 
harmloje Vergnügen, ein liberales Programm comme il faut auf- 
zuftellen. Ohne Zweifel war ver liberale Fabrikherr von Krefeld 
nur verjchrieben worden, um durch Aufitellung jeines Programms 
allen echten Preußen die koloſſale Unverſchämtheit des Yiberalismus 
handgreiflic zu demonftriren. Denn an vemjelben 15. September, 
wo Herr Bederath eintraf, erging die KabinettSordre, fraft welcher 
der König den Marihall Wrangel zum „Oberbefehlshaber in den 
Marken“ ernannte und zwar mit Verleihung einer Machtvollfom- 
menheit, wie jie ein preußticher Unterthan bislang noch niemals be- 
jeffen hatte. Am 17. September erließ der Marjchall einen Armee- 
befehl, worin er jo diktatoriſch ſich äußerte, als wäre er ein Blücher, 
welcher den Bonaparte im Bauche hätte. Die Kreuzzeitung begrüßte 
den Armeebefehl jubelnd als „die erite Thar der Negierung jeit dem 
März“. Noch deutlicher lieg ich der Herr Marjchall fünf Tage 
jpäter bei einer Truppenmufterung in Berlin aus, bei welcher Ge- 


3 


532 Die Abwidelung, V 


legenheit,er vor dem neugierig herumſtehenden „Volke“ ſtandredete. 
Er ließ da das geflügelte Wort fliegen, Berlin wäre in Folge ver 
Revolution jo heruntergefommen, daß „Gras in den Straßen wüchſe“, 
und wrangelte fich Schließlich zu dem Krafteffekt hinauf: „Meine 
Truppen find gut, die Schwerter haarſcharf geichliffen, die Kugeln 
im Lauf!“ 

Und fiehe, die Berliner merkten fih das und ſchrieben auf ihre 
Fahne: „Paſſiver Widerftand“. 


5. 


Herr Bederath konnte ihon am 17. September wieder nad) 
Frankfurt abreifen. Sein Programm war jelbftverftändlich bei Hofe 
verworfen worden. Am 21. jodann fam aus Potsdam ein könig— 
licher Kabinettsbefehl, welcher die Einſetzung eines neuen Miniftertums 
kundthat. Man nannte dafjelbe nach jeinen zwei Hauptperjonen das 
Minifterium Pfuel-Eihmann. 

Am folgenden Tage erjchien das nene Kabinett | in der National⸗ 
verfammlung, welche feit dem 19. September im füniglihen Schau— 
jpielhaufe fomödirte, und der Minifterpräfivent General Pfuel gab 
die Erklärung ab, die Regierung werde „auf dem betvetenen fonftitu- 
ttonellen Wege fortihreiten und reaktionären Bejtrebungen mit aller 
Macht entgegentreten“. Sodann durch Kirchmann über die Bedeu— 
tung des wrangel'ſchen Armeebefehls interpellivt, Fommentirte er 
diejes ſeltſamliche Aftenftüc in berubigenpfter Weije. Der Herr „Ober- 
befeblshaber in die Marten“ ſei eben ein alter Soldat, mit vejjen 
Ausdrucksweiſe man es nicht genauer nehmen dürfe als mit feiner 
Orthographie. Jedenfalls ftehe ver Marihall unter den Befehlen 
des Kriegsminiſters und Kriegsminifter ſei er, Pfuel. 

Zwei Tage darauf erließ der Herr Marſchall, welcher überzeugt 
war, daß feine Orthographie die richtige, einen Tagsbefehl, worin 


Berliner November. 533 


er die um Berlin her ftehenden Truppen aufforderte, fich marjchfertig 
zu halten und auf 24 Stunden mit Yebensmitteln zu verjehen. 

Es wurde aber noch nicht marſchirt; denn ein abminfen fam 
von Potsdam und am 25. September fand auch die lang herum- 
gezogene Geichichte mit dem Erlaß an die Armee eine leidliche Er- 
(edigung, indem der Minifterpräfident den von der Hand des Herrn 
von Unruh niedergeichriebenen Entwurf zu einem jolden Erlaß an— 
nahm und zu dem feinigen machte. Das Mintftertum fuhr, mit 
Ausnahme des Herrn Eihmann, fort, zu dem fonftituttonellen Spiel 
eine gute Miene zu machen und ven Vorwurf, ein rüdwärtjiges zu 
fein, entichteden abzulehnen. „Wir find fein Miniftertum der Reak— 
tion — rief am 29. September der Finanzminiſter Bonin im fünig- 
lichen Schauſpielhauſe aus — wir werden mit aller Entſchiedenheit 
die Rechte des Volkes ſchirmen, wo dieſelben angegriffen werben 
ſollten“. 

Das Hinhaltungsminiſterium Pfuel brachte demnach die Sachen 
in erträglichen Frieden in den Oktober hinüber. In der National— 
verſammlung begannen die großen Redenturniere über den von der 
hierzu beſtellten Kommiſſion vorgelegten Verfaſſungsentwurf. Hier 
that ſich aber nun ſofort die ungeheure Kluft wieder auf, welche 
zwiſchen dem wirklichen Preußen und einem konſtitutionellen Preußen 
klaffte. Es wurde am 12. Oktober durch ein Mitglied der Linken, 
Schneider, beantragt, in der an die Spitze des neuen Staatsgrund— 
geſetzes zu ſtellenden Eingangsformel den Titel „Von Gottes Gna— 
den“ zu Streichen, weil derjelbe wohl dem abioluten König eignete, 
nicht aber dem fonftitutionellen anftände. Der Antrag wurde an- 
genommen mit 217 gegen 134 Stimmen, ein Reſultat, welches 
draußen in Potsdam nicht wenigen Yenten große Freude bereitete. 
Denn darüber, wuſſte man, würde der König nicht hinwegfommen, 
das müſſte er als eine perfönliche Beleidigung empfinden. Wie 
richtig Diefe Rechnung, wurde drei Tage ſpäter deutlich fund, als im 
Schloſſe Bellenue verschtedene Abordnungen dem Könige Glückwünſche 
zu feinem Geburtstage darbrachten. Der Präfident der National- 


5934 Die Abwidelung, V. 


verfammlung, Herr Grabow, ſprach in feiner Anrede die Hoffnung 
aus, daß die neuen Inftitutionen die alten Bande zwiichen Dynaſtie 
und Volk noch feiter knüpfen würden, und der König bemütste jeine 
Gegenrede, um auf den Beihluß vom 12. Dftober eine jehr deutliche 
Antwort zu geben. „Vergeſſen Ste nicht, meine Herren, daß wir 
etwas vor anderen Bölfern voraushaben: eine Macht, die man dort 
(in Franfreich) nicht mehr zu fennen jcheint, eine angejtammte 
Dbrigfeit von Gottes Gnaden. Danfen Ste Öott, daß 
Sie nod) eine Obrigkeit von Gottes Gnaden haben !" Herr Grabow 
ſah in peinlicher Verblüffung zu Boden. Da rief ihm der König 
zu: „Halten Sie den Kopf oben! Ich habe noch einen jtarfen Arm!“ 
Zu einer Deputation der berliner Bürgerwehr jagte er: „Vergeſſen 
Sie niht, dar Ste die Waffen von mir haben!“ Entſchiedener 
fonnte doch wohl das glücklich wieder geftrammte Vollbewufitjein des 
Abjolutismus nicht ſich offenbaren. 


6. 


Die Linfe der preußiſchen „Nationalverfammlung“ gewährte 
einen wahrhaft komiſchen Anblid, wenn fie fich zu dieſer Dftoberzeit 
zu gebaren fortfuhr, als blühten noch die Märzenveilden. Sp am 
16. Dftober, wo wiederum über die Verfindigungsformel der Ver— 
faffung hin- und hergefhwatt wurde und zwei Linkſer den Antrag 
aufwarfen, diefe Formel müſſte lauten: „Wir Friedrich Wilhelm 
der Vierte, König von Preußen, verfünden hiermit die von den Ver— 
tretern des Volkes bejchloffene Verfaſſung“. Denn wir find ja eine 
fonftituirende Berfammlung, wir find die Mandatare der in dem 
Ballon der Phraſe direft aus Nubikukulien geholten preußifchen 
„Volksſouveränität“. Der Antrag wurde freilich mit großer Mehr- 
heit abgeworfen; denn nicht allein die Rückwärtſer auf ver Rechten, 
fondern viele Liberale, welche an den garſtigen Wechſelbalg aus Wind- 


Berliner November. 535 


blaſenheim, genannt Konftitutionalismus, ehrlich glaubten oder doch 
zu glauben ſich einbildeten, fanden derartige 48ger Aprilipäßchen jett 
nicht mehr zeitgemäß. 

An demjelben Tage tobte in verſchiedenen Strafen der Stadt 
ein Arbeiterfiawall, welcher von der Bürgerwehr nur mit Mühe be- 
wältigt wurde und auf beiden Seiten Todte und Verwundete hinter- 
ließ. Die Arbeiter verflagten dann die Bürgerwehr bet der National- 
verſammlung, welche die Petition zu den Aften legte, d. h. fie über— 
wies diejelbe dem Juſtizminiſter „zu geeigneter, Erwägung“ , wobei 
während der Verhandlungen darüber um das Schaufpielhaus her 
wieder viel Gejchrei, Gepfeife und Gegrumze veriibt wurde. Drimmen 
im Haufe ging es eben nicht viel janfter her, als darauf im Fort- 
gang der Derfafjungspebatte die Verhälmifje des Großherzogthums 
Pojen zur Sprache famen. Der leidenjchaftliche Hader, welcher bei 
dieſer Gelegenheit zwiichen der Rechten und der Yinfen losbrach, ver- 
letdete Herrn Grabow den Vorſitz, zu weldem nach feinem Rücktritt 
Herr von Unruh berufen ward. Vicepräſident wurde Herr Waldeck. 

Dieje Wahlrefultate brachten die Verblendung der Yinfen iiber 
die Sachlage auf den Gipfel. Weil fie zur Stunde über eine Mehr- 
heit von ein paar Dutzend Stimmen verfügte, wähnte fie itber Preußen 
verfügen zu können. Sie hätte wiffen müſſen, daß Aprilfonne und 
Frauengunſt verläfjlicher find als parlamentariiche Mebrheiten. Am 
Morgen des 2. Juni von 1793 hatten die armen Wolfenwandler 
von Girondiſten die Mehrheit des Konvents entichteden für ſich; am 
Abend dejjelben Tages waren jie von derjelben Mehrheit geächtet. 
Aber geſetzt auch, die Mehrheit der Verſammlung im Schaufpielhaufe 
blieb feljenfeft, was hatte e8 zu beventen? So viel wie nichts. Es 
jtand ja hinter ihr fein Volk, jondern nur die berliner Bummlerſchaft. 
Und nicht einmal diefe ehrlich und aufrichtig, denn es unterfteht kaum 
nod) einem Zweifel, daR das fiſtulirende, jpeftafelnde, Fahnen, Fadeln 
und Stride jhwingende Bad, welches während ver letzten Oktober— 
tage das Schauſpielhaus blodirte, von heimlichen Hetern der Rück— 
wärtjerei geleitet wurde. Man wollte „mit der Revolution breshen“ 


536 Die Abwidelung, V. 


und bei derartigen Bruchoperationen geht es befanntlic überall und 
allzeit fehr unfauber her. Um jedoch gerecht zu fein, muß man aud) 
eingeftehen, daß gerade in dieſen Tagen das altpreußiiche Junker-, 
Soldaten- und Beamtenthum Grund hatte, zu jagen: Man mill 
mir an’ Leben; ich bin im Falle der Nothwehr, Noth kennt Fein 
Gebot und darum helfe, was helfen mag. 

Je troſtloſer und drohender nämlid für die Mehrheit der 
Nationalveriammlung die Sachen ſich anliegen, um fo heftiger ging 
fie ins Zeug, durch fühne Antragitellung und tapfere Beſchlußfaſſung 
Preußen zu demofratifiren, welches doc davon ſchlechterdings nichts 
wifjen wollte. Dieje guten Linkſer merkten nicht, daß ihre radifalen 
Anträge und Beſchlüſſe weiter nichts waren als die konvulſiviſchen 
Zudungen eines im Todesfampfe fih hin- und herwerfenden Sterben- 
benden. Es iſt, als / hörte man aus diefer Berfammlung den Ver— 
zweiflungsichret herausgellen: „Morituri, popule, te salutant!“ 

In der Morgenfisung vom 31. Dftober wurde mit 200 gegen 
153 Stimmen bejchlofien: „Der Adel ift abgeichafft“. Und weiter 
mit 208 gegen 115 Stimmen: „Die Führung adeliger Titel und 
Prädikate ift unterfagt”. Und ferner mit 196 gegen 140 Stimmen: 
„Die Orden und alle Titel, welche nicht ein Amt bezeichnen, find 
aufgehoben“. In der Abendſitzung Fam, während draußen aufge- 
jtellte Bürgerwehrbataillone die Strafehlofratie nur mühſälig im 
Zaume hielten, ein Antrag von Waldeck zur Berathung, welcher ver- 
langte, die preußische Negterung jollte mit allen ihren Mitteln und 
Kräften zum Schutze der in Wien gefährdeten Bolfsfreiheit ein- 
ſchreiten. 

Und darüber berieth man alles Ernſtes in Berlin zur ſelbigen 
Stunde, wo die Kroaten ſiegreich in das eroberte Wien einbrachen; 
zur ſelbigen Stunde, wo man draußen in Potsdam der Nachricht 
von dieſem Einbruche ſehnſüchtig entgegenharrte! Allah iſt groß und 
die Narrheit iſt ſeine Prophetin. 

Zwar wurde der waldeck'ſche Antrag abgelehnt, aber dafür dieſer 
von Rodbertus formulirte mit 261 gegen 52 Stimmen angenommen; 





Berliner November. 537 


„Die Regierung Sr. Majeftät joll aufgefordert werden, bei der 
deutſchen Gentralgewalt jchleunige und energiſche Schritte zu thun, 
damit die in dem deutjchen Yändern Oeſtreichs gefährdete Volks— 
freiheit und die bedrohte Erijtenz des Reichstags in Wahrheit und 
mit Erfolg in Schu genommen und der Friede hergeitellt werde *. 

Das hieß, während jchon die Flamme zum eigenen Dach her- 
ausſchlug, mit einer Feuerſpritze auf Umwegen zum brennenden Nach— 
barhauſe eilen. Aber ſo epidemiſch wirkte das zappelnde Delirium 
des preußiſchen Parlamentarismus, daß ſelbſt der Miniſterpräſident 
Pfuel dem rodbertus'ſchen Antrage zuſtimmte. Beim herausgehen 
aus dem Schauſpielhauſe in ſpäter Abendſtunde trieb die verſammelte 
Bummlerſchaft mit den Mitgliedern der Rechten allerhand Ulk in 
Worten, jedoch keinen thatſächlichen. 


Es ging dem Ende zu. Der November war da mit ſeinem 
Laubfall. 

Am 1. November ſchlich in Berlin die bange Sage herum, der 
Alp des Windiſchgrätzismus läge auf Wien. Draußen in Potsdam 
wußte man 24 Stunden ſpäter Schon beſtimmteres und genaueres. 
Die Stunde der „rettenden Thaten“ hatte gejchlagen. 

Am 2. November hielt die Nationalverfammlung eine Situng. 
Dem Borfisenden gingen zwei Schreiben zu. Als er den Inhalt zur 
Kenntnig der Berfammlung brachte, erfuhr dieſe, daß in dem einen 
der General Pfuel anzeigte, er hätte feine Entlaffung genommen, und 
daß in dem andern der General Brandenburg, Oheim des Königs, 
ein Hohenzoller mit einem Schrägbalfen im Wappen, Sohn Friedrich 
Wilhelms des Zweiten von dem Fräulein von Dönhoff, meldete, er 
ſei mit der Bildung eines neuen Mintjteriums beauftragt. Das 
hieß anfündigen, daß jetso ohne weiteres zögern „mit der Revolution 


538 Die Abwidelung, V. 


gebrochen werden follte”. Die Perſon des neuen Miniſterpräſidenten 
geitattete hierüber nicht den leiſeſten Zweifel. 

Herr Arntz beantragte nun eine Adrefje an den König, welche 
durch eine Abordnung der VBerfammlung nach Potsdam zu tragen 
wäre. Es ſollte darin ein fürmlicher Protejt gegen die Ernennung 
des Grafen Brandenburg ausgeiprohen werden, welche Ernennung 
geradezu als ſtaatsgefährlich, weil „unzweifelhaft“ ven Ausbruch einer 
Revolution bervorrufend, gekennzeichnet wurde. Alſo eine Berufung 
von dem „nicht wohlumnterrichteten“ Monarchen an ven bejjer zu 
unterrichtenden, welcher jchlieglich gebeten ward, „dem Lande durch 
ein volfsthümliches Minijtertum eine neue Bürgichaft zu geben, daß 
Ew. Majeſtät Anfichten und die Wünſche des Volkes im Einflange 
jteben“. Die Adreſſe wurde im angedeuteten Sinn und Stil ent- 
worfen, mit allen gegen 3 Stimmen angenommen und Abends 
6 machten ſich 21 aus allen Fraktionen der Verſammlung erwählte 
Abgeordnete damit nad) Potsdam auf den Weg. 

Sie hatten Mühe, Gehör zu erlangen. Der königliche Flügel— 
adjutant, Herr von Manteuffel, weigerte ſich anfänglich, fie auch nur 
beim Könige zu melden, maßen ja „jeit dem März Deputationen bet 
Sr. Majejtät nur in Gegenwart eines Mintjters vorgelafien würden“. 
Endlich wurde diejer hohnvolle Fonftitutionelle Skrupel durch ein aus 
Berlin einlaufendes miniftertelles Telegramm  bejeitigt und Die 
Audienz hatte jtatt. 

Schon das finjtere Schweigen, womit der König die Abordnung 
empfing, muſſte diefer zeigen, daß fie ganz vergebens gefonmen. Herr 
von Unruh fragte, ob es Sr. Majeſtät genehm jer, die Adreſſe der 
Nationalverfammlung zu vernehmen. Friedrich Wilhelm nicte fteif 
und jchmweigend. Während ver Präfident das Aktenſtück vorlag, 
zudte der Monarch erjt mit ven Achjeln und fehrte Dann dem Vorleſer 
den Rüden zu. Wiverwillig empfing er nach beendigter Yejung das 
Blatt, drückte e8 in der Hand zufammen und wandte fi) mit einer 
ſtummen Berneigung zum geben. Beſtürzt, wie er ift, zögert Herr 
von Unruh einen Augenblid, ven König anzuſprechen. Da tritt Herr 





Berliner November. 539 


Jakoby vor und jagt: „Wir find nicht allein gefendet, um Em. Ma— 
jejtät dieſe Adrefje zu überbringen, jonvern auch, um Ihnen im Namen 
der Nattionalverfammlung Aufklärung zu geben iiber die Yage des 
Landes. Wollen Ew. Majeſtät ung Gehör jhenfen ?" 

„Nein!“ verjette Friedrich Wilhelm heftig und ging der Thüre 
zu, aber bevor ex in derjelben verſchwand, ſchlugen die Worte Jakoby's 
an fein Ohr: „Das eben iſt das Unglück der Könige, daß fie die 
Wahrheit nicht hören wollen“. 

Die Thüre fuhr hinter dem Monarchen zu und die Abordnung 
war ohne Antwort entlafjen. 

Das loyale Preugenthum hat jih vor Entſetzen und Wuth über 
die Aeußerung Jakoby's, welche ihren Urheber berühmt machte, förm— 
(ich auf ven Kopf geitellt und mit den Füßen gezetert. Was, alſo 
zu einem Gejalbten des Herrn ſprechen? Und vollends ein Jude, ja 
ein Jude hatte alſo zu einem hochchriſtlichen Könige geſprochen? 
Blajphemie! „Der Jude wird verbrannt“ oder jollte es wenigſtens 
von ſtaats- und rechtswegen werben! 

Jeder richtige Preuße ſieht und fühlt fortwährend ven Krückſtock 
des großen alten Fritz über ſich ſchweben und das nennen fie empha— 
tiich ihr „Staatsbewuſſtſein“. Außerhalb Preußens, wo man Diejes 
Stodjfepteritaatsbewufftietn nicht hat, fand man das Wort Jakoby's 
weder jo ſchauderhaft verwegen noch gar jo blaſphemiſch. Menſchen— 
und Weltkenner konnten daſſelbe auch nicht jehr originell finden, 
maßen es nur eine Thatſache ausſprach, welche „jo gemein wie 
Brombeeren”. Im übrigen hätte jih Friedrid Wilhelm der Vierte, 
falls er weniger Phantaſiemenſch und mehr Verſtandesmann gemejen, 
gar nicht jo jehr Darüber zu erbojen gebraucht. Er wire ja ganz in 
jeinem Rechte gewejen, wenn er gejagt hätte: Bah, es tt nicht 
weniger das Unglüc der Völfer als der Könige, daß fie die Wahrheit 
nicht hören wollen, und Ste jelbit, mein Iteber Herr Jakoby, find ja 
jo unglüdlih, die Wahrheit nicht hören zu wollen, daß Ihre 
preußiſche Volksſouveränität ein tolleres Märchen tt, als ivgendeins 
im Talmud fteht. 


540 Die Abwidelung, V. 


Die Wahrheit ift, daß die Wahrheit in Königspaläſten, Edel- 
höfen, Bürgerhäufern und Proletarierhütten gleich ſchlecht aufge 
nommen wird. Kein Wunder auch: Das arme Ding ift ja nadt, 
bringt nichts mit und hat nichts zu geben als ſich ſelbſt. Eine 
ſaubere Beicheerung! Auf mit der Thüre und hinaus mit dem 
Nichtsnutz! 


8. 


Drei Mitglieder der Deputation — deren überwiegende Mehr— 
heit natürlich das auftreten Jakoby's höchlich miſſbilligte — die 
Herren Kühlwetter, Mätzke und Gierke, wuſſten ſich nach Einbruch 
der Nacht noch eine Privataudienz bei Friedrich Wilhelm zu ver— 
ſchaffen. Sie wurden artig empfangen und der König ließ ſie ihre 
Bitten vorbringen, er möchte doch die Abordnung nicht ohne Beſcheid 
nach Berlin zurückkehren laſſen. Halbſcherzend gab er zur Antwort: 
„Ich kann ja ohne Anweſenheit verantwortlicher Miniſter gar keinen 
Beſcheid geben. Sehen Sie, ich bin konſtitutioneller als Sie ſelber“. 
Dann, mit einem nicht eben huldvollen lächeln plötzlich in einen an— 
dern Ton überſpringend, fügte er aufbrauſend hinzu: „Ich habe mich 
einmal auf dieſes verdammte konſtitutionelle Schein- und Schaukel— 
ſyſtem eingelaſſen und ſo will ich denn auch vorderhand noch dabei 
bleiben. Sie, meine Herren, ſind 5 Monate alt; für Ihre Ver— 
hältniſſe iſt das ſchon ein ganz hübſches Alter. Aber meine Dynaſtie 
iſt 4 Jahrhunderte alt, eben jo alt iſt auch die ſtändiſche Gliederung 
und, jo wahr Gott lebt, meine Herren, Ste jollen jie wieder haben!“ 

Die verblüfften Zuhörer fanden für gut, dieje fünigliche Aus— 
(affung einftweilen hinter dem Doppelgatterihrer Zähne zu verwahren. 
Die mittelalterlic) - feudale Natte vom Vormärz rumorte demnach 
immer noch unter der Schädelvede des Monarchen? Gewiß, fo that 
fie. Wenn aber das „verdammte fonftitutionelle Schein- und 


Berliner Noveniber. 541 


Schaukelſyſtem“ dem König in der Seele zuwider war, ſo wird ein 
unbefangener Urtheiler ihm dieſes nur zur Ehre anrechnen. Gr 
batte einen löblihen Abichen davor, das zu jein, was Napoleon 
wachtſtubengrob ein „Eonftitutionelles Maſtſchwein“ genannt hatte. 
Friedrich Wilhelm der Vierte war eine richtige deutihe Hamletnatur. 
Er wollte Thaten thun und hatte doch nur Worte. Er fühlte in fich 
ven Beruf, einen rechten König vorzuftellen, und hatte doch nicht das 
zeug dazu. Ein befannter Bibelipruch zeichnet ihn unübertrefflich: 
— „Der Wille war jtarf, aber das Fleiſch war ſchwach“ .... 

Am Nachmittag vom 3. November ging der Nationalverſamm— 
lung eine königliche Antwortbotichaft auf ihre Adreſſe von geitern zu. 
Schon die Eingangsformel „Wir Friedrich Wilhelm von Gotteg 
Gnaden König von Preußen“ — fignalifirte ven Inhalt, welcher 
befagte, daß es bei ver Neubildung des Minifterrums durch den 
General Grafen von Brandenburg, welcher „ver feiten Begründung 
und geveihlichen Entwickelung der fonftitutionellen Freiheiten mit 
Freudigkeit feine Kräfte widmen wird“, bleiben müffte. 

Die nächſten Tage verjtrichen unter unfruhtbaren Bemühungen 
der Linken, durch Stellung von zuwerfichtlichen Anträgen zu impo— 
niren, und unter vertraulicher Verjtändigung der Nechten mit dem 
neuen in der Bildung begriffenen abinette. Zur gleichen Zeit war 
in der Stadt und ihrer Umgebung viel militärifche Negung und Be- 
wegung wahrzunehmen, die Najernen wurden reichlich verproviantirt, 
die Soldaten mit Munition verſehen. Alle von Präſidenten ver 
Nattonalverfammlung gemachten Verſuche, die Ausführung des in 
Potsdam endgiltig beiehloffenen hintanzuhalten, waren eitel. 

Am 9. November war,, Brandenburg in der Kammer”, d. h. das 
neue Miniftertum jtellte jich der Nationalverfammlung vor, 4 Mann 
hoch: der Herr Minijterpräfident jelber, der Freiherr von Manteuffel 
(Inneres), der Freiherr von Yadenberg (Kult) und der General von 
Strotha (Krieg)*). Es würde ſchwer, wenn nicht geradezu unmög— 

*) Das Minifterium wurde erjt jpäter ergänzt. Als es die Macht 
batte, zweifelten die Eugen Leute, welche anfänglich Bedenfen getragen, in 


942 Die Abwidelung, V. 


(ich gewejen jein, eine ausgeprägtere Repräſentanz des richtigen 
preußiſchen Soldaten und Beamtenſtaates aufzufinden, als dieſe 
4 Herren bildeten. 

Man wuſſte ſchon, was fommen jollte. Der Vorſitzende ließ 
durd) einen der Schriftführer eine königliche Botſchaft verlejen, worin 
mit Bezugnahme auf die tumultuariichen Auftritte vom 31. Dftober 
die Nationalverfammlung, um die Ruhe und Freiheit ihrer Bera- 
thungen zu fihern, nad) Kremfier, will jagen nad) Brandenburg ver- 
legt und bis zum 27. November vertagt wurde. „Wir fordern da— 
ber — lautete der Schluß des Aftenftiides — die Berfammlung auf, 
ihre Berathungen nad) gejchehener Berlejung unferer gegenwärtigen 
Botſchaft jofort abzubrehen“. Aus dem Kabinettjtil ins Deutſche 
überſetzt: Packt euch! 

In das verlegene ſchweigen wollte der Herr Miniſterpräſident 
hineinreden. Der Vorſitzende machte ihn aufmerkſam, daß er vorher 
ſeine Erlaubniß nachſuchen müſſte. Als dann Herr von Unruh die 
Verſammlung fragte, ob ſie den Abbruch der Sitzung beſchließen 
wollte, erhob ſich Graf Brandenburg wieder, erbat ſich das Wort und 
ſagte mit lauter Stimme: „Die Botſchaft Sr. Majeſtät des Königs 
befiehlt den ſofortigen Schluß der Berathung. Jede Fortſetzung der— 
ſelben iſt daher ungeſetzlich. Ich proteſtire dagegen im Namen der 
Krone”. 

Sprach's und verließ mit feinen Herren Kollegen die Minifter- 
banf und den Sal, gefolgt von 77 Mitgliedern der Nechten. Dies- 
ſeits und jenfeitS der Thürjchwelle des Situngsjales jpielte beim Ab— 
gange der Herren Minifter ein Stüdlein Komif. in Abgeoroneter 


diefes Kabinett zu treten, nicht mehr an feinem Recht. Ein Herr von Rin— 
tele hat bei diefer Gelegenheit das i. J. 1848 jo vielfältigft iluftrirte 
Sprüchwort von der „deutſchen Gefinnungstreue, Ehrenhaftigfeit und Red— 
lichkeit“ auch ſeinerſeits hübſch illuftrirt, indem er, der am 2. November die 
Mifftrauensadrefje gegen ein Minifterium Brandenburg mit nad) Potsdam 
getragen hatte, unter Brandenburg Juſtizminiſter wurde. 


Berliner November. 4 5453 


von der Yinfen machte nämlich auf eigene Hand den Verſuch, die 
Minifter Brandenburg und Manteuffel ale „Hochverräther“ zu ver— 
haften oder verhaften zu laffen und zwar mit Hilfe ven zwei Bürger- 
wehrmännern, welche im Borzimmer wachtftanden. Der Abgeorönete 
tief diefen bewaffneten Bievermaiern zu: „Verhaften Sie dieſe 
Menihen! Es find Hochverräther“. Aber — ſo berichtet der Ver— 
haftungeluftige — „aber die Bürgerwehreſel glogten mid) an, ohne 
einen Yaut von fic zu geben, und die Minifter verichwanden durch 
eine Seitenthüre, welche im mir unbefannte Räume des Gebäudes 
führte” *). Das war und blieb das höchſte Wagniß, wozu der 
preußtiche Parlamentarismus von 1848 ſich aufzurömern vermodte. 

Es ift möglich, obzwar nicht wahrfcheinlich, daß, falls der Prä— 
ſident der Verfammlung augenblidlich einen äußerſten Entichluß ges 
fafft und der um das Schaufpielhaus her aufgeftellten Bürgerwehr 
die Verhaftung der Staatsſtreichsminiſter befohlen hätte, dieſe Verhaf— 
tung bewerfftelligt und dadurch das Signal zu einer berliner No- 
vemberrewolution gegeben worden wäre. Aber gewiß tft, daß in 
diefent Falle Berlin inmitten der richtigpreußiſchen Provinzen gerade 
jo verlafjen gejtanden und gerade jo traurig geendet haben würde wie 
Wien im Oftober. Es war aber gar feine Gefahr einer berliner 
Novenberrevolution vorhanden. Die Nationalverfammlung war 
wicht dazu gemacht, irgendeinen fühnen Thatwurf zu wagen. Sie 
vertrödelte die Stunden mit Wortſchaumſchlägerei und blöden Nedts- 
verwahrungen, während das Minifterium feine „rettenden Thaten“ 
rückſichtslos weiterthat.“ 


*) Brieflihe Mittheilung des betreffenden Abgeordneten (vom 19. De— 
cember 1870) an den Verfaſſer. 


944 Die Abwidelung, V. 


3% 


Zur Mittagszeit am folgenden Tage rückten ſtarke Truppen- 
folonnen durch das potsdamer, halliſche und brandenburger Thor in 
die Stadt und ließen beim Vorbeimarſch unter den Finden ftolz ihre 
Geſchütze und ihre ganze Kampfbereitichaft jehen. Wer fid) dagegen 
nach dem erjcheinen diefer 20,000 Mann Soldaten nicht mehr jehen 
ließ, das waren jene „Geſtalten“, welche noch fürzlic den Gentral- 
gewaltpoftillen Baſſermann in den Straßen von Berlin jo jehr er 
ichredt hatten, die „Vater Karbe“ und Kompagnie, die Generale und 
Generaliffimt der Bummlerſchaft. Was die Bürgerwehr anlangt, 
jo konnte ihre entſchiedene „Nläterigfeit” nicht angezweifelt werben. 
Einen over zwei Tage, bevor das Miniftertum Brandenburg-Man- 
teuffel jeine „rettenden Thaten“ zu verüben begann und dieſes be- 
ginnen ſchon jedermann in den Gliedern lag, hielten unter den 
Aufpicien von Führern der Linken die Majore der berliner Bürger- 
wehr in einem Bierhauſe der Jägerſtraße einen feierlichen Rathſchlag, 
um das verhalten des Bürgerthums in Waffen zu dem mit Be— 
ftimmtheit erwarteten vorgehen des Hofes zu beftimmen. Die Herren 
Waldeck, d'Eſter u. j. w. waren anweſend. Die Frage: Soll ven 
Gewaltmaßregeln der Negierung Gewalt entgegengejett werden und 
ſoll denmach die Bürgerwehr aftiven Widerſtand leiften ? wurde auf- 
geworfen und von einem, fage von einem einzigen der Herren Ma— 
jore bejahet, während die ſämmtlichen anderen geräuſchvoll nein 
ſagten. Damit war die Bürgerwehrſchnurre in Preußen aus und 
vorbei. 

Die Nartonalverfammlung hatte geftern nad Entfernung ber 
Minifter und der 77 Nechtfer nahezu einmüthig zu erklären beſchloſ— 
ſen: „Die Verfammlung findet feinen Grund, ihren Sit von Berlin 
zu verlegen oder ihre Berathungen zu vertagen. Sie kann ber 
Krone weder zu dem einen nod) zu dem andern Schritte das Recht 
zugeftehen. Sie erklärt, daß fie die verantwortlichen Beamten, welche 
der Krone zır der leisten Botichaft gerathen, nicht für fähig erachtet, 


Berliner November. 545 


der Regierung des Yandes vorzuftehen, und daß ſich diefelben einer 
ihmeren Pflihtverlegung gegen die Krone, das Land und die Ver- 
jammlung ſchuldig gemacht haben”. 

Als dieſe Beichlüffe jeitens des Vorfitenden dem Grafen von 
Brandenburg zugefertigt wurden, ließ diefer „an den Negterungsrath 
von Unruh“ zuridmelden: „Die Beichlüffe der Verſammlung find 
ungeſetzlich und darım mul und nichtig, Die Abgeoroneten aber, 
welche daran theilgenommen, jhuldig eines Vergehens wider die Ver- 
falfung, weil jie dem Befehle Sr. Majeſtät des Königs den ſchuldigen 
Gehorfam verweigert haben“. Das war nad) langem Gemantfche 
und Gepantjche doc wieder einmal eine richtige, runde und reguläre 
preußiſche Staatsbewuſſtſeinsſprache. Der König befiehlt und das 
Bolf gehorcht! Punktum. 

Der „paſſive Widerſtand“ that ſich jetzt auf in der ganzen Kläg— 
lichkeit ſeiner Ohnmacht. Noch am 10. November ließen die ver— 
ſchiedenen Arbeitervereine der Nationalverſammlung ihre „Arme und 
ihr Herzblut“ zur Vertheidigung der „Freiheiten des Volkes“ an— 
bieten, ſo deſſen Vertreter das Zeichen zum aktiven Widerſtande gegen 
den an ihnen geübten „Hochverrath“ geben wollten. Die National— 
verſammlung aber mochte und muſſte wiſſen, daß das auch nur eine 
Phraſe, weil ſich eben im November von 1848 in Preußen kein 
Menſch von gefunden fünf Sinnen der Thatſache verſchließen konnte, 
daß im Volke ſchlechterdings „keine revolutionäre Potenz mehr vor— 
handen war“. Sie erklärte ſich daher achſelzuckend für ſtrengſte Ver— 
meidung jedes blutigen Konflikts und beſchloß in Form einer Prokla— 
mation an das Volk einen Proteſt „gegen den gewaltſamen Hoch— 
verrath, verübt von den Räthen der Krone gegen die Vertretung der 
Nation“. 

Als Antwort auf dieſen Proteſt beſchloſſen die Räthe der Krone, 
den „Klubb Unruh“, wie man im Dialekt des richtigen Preußen— 
thums die Nationalverſammlung nannte, auf die Wanderſchaft zu 
ſchicken. Das Schauſpielhaus war ſeit dem Einmarſche der Truppen 
am 9. November von Abtheilungen derſelben umgeben. Am 10. 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 35 


946 Die Abwidelung, V. 


hieß Herr von Unruh herausfagen, die Nationalverfammlung bevürfte 
und wollte feinen militäriſchen „Schuß“, worauf der auf vem Plate 
anmejende Marichall Wrangel hineinfagen ließ: „Die Truppen 
bleiben da. Die noch im Haufe verfanmelten Herren fünnen her- 
aus, aber nicht wieder hinein gehen. ine Nationalverfammlung 
kenn' ich nicht und gibt es nicht, maßen jelbige fett geftern durch 
Se. Majeftät ven König vertagt ift“. 

Der Prüfident der Verſammlung that, was Präfidenten der— 
artiger Verſammlungen unter ſolchen Umftänden zu thun pflegen. 
Er „fonftatirte” die Gewalt und proteftirte feierlich gegen viejelbe. 
Dies gethan, verlief die Nationalverfammlung das Schaufpielhaus. 

Den Vorſchriften der paffiven Wiverftändlichkeit gehorſam, fuhr 
jedoch die Berfammlung zu tagen fort. Sie wurde eine Wander— 
verjammlung, zog erit ins Hotel de Ruſſie, dann ins Schützenhaus, 
weiterhin in den Sal der Stadtverordneten, in die königſtädtiſche 
Halle und endlich ins Hotel Mielentz. Ueberall wurde fie durch 
hierzu fommandirte Soldateſka ausgetrieben. Anfänglid) noch unter 
etwelchen Beileivsbezeugungen des DVolfes. Aber bald Tiefen aud) 
dieje nad) und hörten endlid) ganz auf. Man jah ja, daß die Ber- 
ſammlung vollftändig machtlos war und folglidd war fie rechtlos. 
Auch war ſchon am 12. November der Belagerungszuftand iiber 
Berlin verhängt worden und demnach das demonftriren nicht mehr 
ungefährlid). 

Am 15. November ging im Sale Mielent die jämmerliche Irr— 
fahrt der preußischen Nationalverfammlung zu Ende. Cie jhraubte 
fih in ihrer Sterbejtunde nod) zu dem Wagniß hinauf, die parlamen- 
tariihe Haupt- und Generaljalve eines Steuerwerweigerungsbe- 
ſchluſſes loszuſchießen, um unmittelbar darauf duch ein Pifet Sol- 
daten an die Luft gefetst zu werden. Sang- und flang- und flaglos. 
Auf der Strafe herrſchte laut- und theilnahmelofe Stille. Es hatten 
fi zu dieſem trübfäligen Speftafel nicht einmal Neugterige einge- 
funden. 

Die Spottgeburt von Parlament, welde vom 27. November 





Berliner November. 547 


an etlihe Tage lang im Dome zu Brandenburg fafelnd handirte, ge- 
währt nicht das geringfte Intereffe, ſelbſt nicht ein fomifches. Diefes 
Nachſpiel war zu dumm. Am 5. December fiel endlich der Vor— 
hang. Ein füniglicher Kabinettsbefehl löſ'te die Verſammlung auf 
und zugleid oftroyirte der König von Gottes Gnaden aus eigener 
Machtvollkommenheit eine Berfaffung. 

Alſo doch „ein Stüd Papier” zwiſchen Krone und Volk? 
Freilich. Aber warum auch niht? Man hatte ja die Macht, das 
Stüd Papier „authentiich zu interpretiren“. 


35 * 


VI. 
Pariſer December. 


Das „tolle“ Jahr hatte einen ſeines ganzen Verlaufes wür— 
digen Schluſſakt. Die vielgepriefene „Volksmündigkeit“ offenbarte 
ſich zuletzt noch einmal in der ganzen Größe ihrer Verlogenheit und 
ſtellte ſich ſelber jenes naive Dummheitszeugniß aus, welches wie 
Hohngelächter von hunderttauſend Mephiſtopheleſſen durch Europa 
gellte. 

Was iſt Mündigkeit? Vollkommene Selbſtbeſtimmung, Selbſt— 
beherrſchung und Selbſtbeſchränkung, d. h. höchſte Sittlichkeit oder 
höchſte Freiheit. Dieſe hat zu ihrer unumgänglichen Vorausſetzung 
eine gediegene, umfaſſende und harmoniſche Bildung. Daraus folgt: 
nur der wahre Kulturmenſch iſt ein wirklich mündiger, freier und 
ſittlicher Menſch. Daß umgekehrt Knechtſchaft und Unſittlichkeit die— 
ſelbig ſind oder daß wenigſtens die Unfreiheit des guten beſſere 
Hälfte im Menſchen ertödtet, das hat bekanntlich ſchon Homers 
„göttlicher“ Sauhirt Eumäos gewuſſt und geſagt: — 

„Halb entnimmt ja die Tugend der weithindonnernde Gott Zeus 

Jeglichem Mann, ſobald der Knechtſchaft Tag ihn ereilet“. 

Konnte im Jahre 1848 von einer europäiſchen Volksmündig— 
keit im allgemeinen und von einer franzöſiſchen im beſonderen unter 


Pariſer December. 949 


denfenden und ernithaften Männern die Rede jein? Nein! Wie 
hätte denn das franzöfiiche Volf zur Mündigkeit gelangt fein jollen ? 
Die große Revolution nahm einen ehrlichen Anlauf, ihm eine Mög- 
lichkeit der Mündigwerdung zu verichaffen, blieb aber im Blut- 
ſchlamme des Terrorismus fteden, bevor fie etwas entjcheidendes ge- 
than, d. h. bevor fie die alte materielle oder moraliſche Einrichtung 
der Gejellichaft befeitigt hatte. Ste war nit raſch, entichloffen und 
gejchieft genug geweſen, die eigentlichen Grundlagen der Deſpotie des 
Ancien Regime zu vernichten: den Katholicismus und die Gentra- 
liſation. Daher gelang es der Säbelbrutalität Bonaparte's jo leicht, 
auf diefen Grundlagen die ganze alte deſpotiſche Wirthichaft wieder 
aufzurichten, mit Aenderung etliyer Normen und Namen. Das 
Weſen, das Sein der Nevolutton, d. h. die für Die einzelnen Indi- 
viduen wie fir das ganze Volf gegebene Möglichkeit, zur Selbftbe- 
jtimmung ſich emporzuarbeiten, hat der große Lügner und Betrüger 
zu Gunften der eigenen unerſättlichen Tyrannenſelbſtſucht vernichtet ; 
den Schein dagegen hat er beitehen laſſen, die Gleichheit, die Egalite, 
weil diefer Schein die franzöfiihe Nationaleitelfeit angenehm fitelte 
und doch weiter nichts bedeutete, nichts bedeuten fonnte, maßen poli- 
tiſche Gleichberechtigung nur ein Wort, die joctale Ungleichheit der 
Geburt, Des Vermögens und der Bildung aber eine Thatfache ift. 
Der Bonapartismus warf Frankreich wieder ins Mittelalter zurüd, 
aus welchem es fic allerdings nur halb, aber doch immerhin halb 
herausgerungen hatte. Der reftaurirte Bourbonismus hielt e8 nad) 
Kräften Darin feſt. Der Anno 1830 inthronifirte Orleanismus, 
welcher in der Miniſterſchaft des kalviniſchen Jeſuiten Guizot gipfelte, 
that ebenfalls nichts, die mittelalterlichen Geiftesfefjeln des franzö— 
fiihen Volkes zu brechen. Die parlamentarische Komödie des Juli— 
königthums fpielte jich innerhalb eines enggeichloffenen Kreifes ab, 
welcher aus Mitgliedern der Geld-, Geburt-, Militär und Beam- 
tenariftofratte mit Hinzufügung etlicher Dutende von Tribune- und 
Prejie-Charlatanen gebildet war. Die Volfsmaffen auf dem Lande 
wurden von diefer Komödie gar nicht berührt, ſondern graf’ten unter 


550 Die Abwidelung, VI. 


Führung ihrer geiftlichen Leithämmel ſchäfig weiter, neben der ihnen 
im Beichtftuhl eingetrichterten Fatholiichen Mythologie höchſtens noch 
von der Napoleonslegende, wie alte Soldaten jie ihnen vorlogen und 
Bänfelfänger fie ihnen vororgelten, Notiz nehmend. Was bie 
Arbeitermaffen in ven Städten anlangte, jo waren dieſe Proletarier 
der Mehrheit nach freilich nicht mehr mittelalterlich = Firchlich = after- 
gläubig, wohl aber glaubten fie an die Wahndogmen des Kommunis— 
mus und diefes die allgemeine Nivellirung einer Zwangsarbeit- 
fafernenfflaverei predigende Evangelium des Uufinns machte fie 
folgerichtig aud) dem plumpen Blendwerfe der bonapartiſchen Erzlüge 
geneigt. 

Und einem folhen Bolfe gab man das zweiichneidige Meſſer 
des allgemeinen Stimmrechts in die Hand und einem ſolchen Volke 
ſagte man: Entſcheide ſouverän iiber dein Geſchick! Hieß das nicht 
die „erhabene Vernunft, die weife Gründerin des Weltgebäudes, die 
Führerin der Sterne”, dem „tollen Roſſe des Aberwites* an ben 
Schweif binden ? 


2. 


Der Royalismus und Iefuitismus hatten mittels ihres Sieges 
in der Juniſchlacht durch die „rothe“ Republik hindurch auch die 
„blaue“ ins Herz getroffen. Um ven Befit der fterbenven zankten 
ſich die verſchiedenen monarchiſchen Parteien als um eine Spolie, 
welche ihnen unausweichlich zufallen müſſte. In dieſem ſchamlos 
wüſten Hader muſſten naturgemäß die erſten Rollen Pfäfflingen wie 
Fallour und Montalembert oder Gauklern wie Thiers zutheil— 
werden. 

Ganz kläglich war die Stellung, das Gehaben und Gebaren 
des bornirten Säbeldiktators Kavaignak. Er wurde als vollendeter 
Mannequin, natürlich ohne es zu merken, von den Jeſuiten und 


Parifer December. 551 


Royaliſten hin und her, vor und rückwärts geſchoben, wie es ihnen 
gerade paſſte. Ganz beijeite jtellen konnte fie ihn aber noch nicht, 
jintemalen fie ihn jammt und jonders für die Eſelsbrücke anjahen, 
über welche hin jie entwerer zur bourboniſchen oder zur orleaniitiichen 
Monarchie zurüdfehren wollten. Kavaignak war alio bis zum 
Dftober der obligate Präfidentihaftsfandidat der Bourbonifer und 
Orleaniſten, joweit dieje Parteien die Bourgeoifie Frankreichs be— 
herrſchten. 

Ehrliche Republikaner wie Grevy gaben ſich während der Ver— 
faſſungsberathung in der Nationalverſammlung große Mühe, die 
Wahl des erſten Präſidenten der jungen und doch ſchon ſterbenden 
Republik nicht dem gefährlichen Lotterieſpiel des allgemeinen Stimm— 
rechtes anheimzuſtellen. Sie wuſſten, wie es in Wahrheit und Wirk— 
lichkeit mit der Volksmündigkeit beſtellt ſei. Demokratiſch majfirte 
Monarchiſten dagegen, wie Herr von Tocqueville, und Schwarbel— 
hännſe, wie die ausgepreſſte lyriſche Limone Lamartine, waren darauf 
verſeſſen, den Präſidenten aus der allgemeinen und direkten Volks— 
wahl hervorgehen zu laſſen. Selbſtverſtändlich trugen Unverſtand 
und Perfidie mitſammen über Vernunft und Ehrlichkeit den Sieg 
davon: die allgemeine und direkte Wahl des erſten Beamten der Re— 
publik durch das Volk wurde beſchloſſen, worauf die aufrichtigen 
Republikaner, welche in Kavaignaks Miniſterium ſaßen, ihre Ent— 
laſſung gaben, weil ſie vernünftig und ehrlich gewollt hatten, daß 
die Präſidentenwahl der (neu zu wählenden) Nationalverſammlung 
zugetheilt würde. An die Stelle der ausgetretenen drei Miniſter 
(Senard, Vaulabelle und Rekurt) ernannte der von den Royaliſten 
gegängelte Navaignaf drei Monarchiſten von notoriiher Rückwärtſig— 
feit (Dufaure, Vivien und Freſſon). Der Polizeipräfeft Dukourx 
nahm jofort jenen Abſchied und jchrieb an den Chef der Erefutiv- 
gewalt: „Sie haben jo eben ein Miniſterium ernannt, welches die 
Berförperung der Kontrerevolution ift“.  Vergebens. An dieſem 
Holzfopf von Korporal prallten ale wohlgemeinten Warnungen ab. 

Spaffhaft war es Übrigens, das Wettrennen und die Wettrenner 


552 Die Abwidelung, VI. 


nad dem verlodenden Ziele der Präfiventihaft anzujehen. Die 
ganze Gejellichaft gemiicht genug, aber ihre Mitglieder ftanden jo 
ziemlich auf derjelben Werthſtufe. Da war Herr von Yamartine, 
welcher die fire Idee hatte, das allgemeine Stimmrecht könnte gar 
nicht anders, als ihm zum Präfidenten zu füren; er habe ja alle 
Stände und Klaſſen für fih. Denn die Jugend müſſte für ihn fein 
als für ven Sänger Eloira’s, die Bourgevifie als für den Befieger 
der rothen Fahne im Februar, das Volf als für den Berfaffer des 
Girondiſten-Romans und endlich die Geiftlichfeit, o, die müſſte doc) 
jeiner religiöien Meditationen und feiner meditirten Neligiofität danf- 
bar fid) erinnern. Der Marſchall Bugeaud hegte nicht den geringften 
Zweifel, daß ver befte Stoff, einen Präfidenten daraus zu machen, 
Se. Ereellenz der Herr Marihall Bugeaud ſei. Der General 
Shangarnier theilte diefe Bugeauderie nicht, jondern meinte, biejer 
befte Stoff hieße General Changarnier. Die Bourbonifer fteiften 
den dummdreiſten Kamaſchenknopf eine Weile in dieſer Meinung, 
weil fie wähnten, einen franzöfiihen Monk aus ihm machen zu 
fünnen, um ihren Henri V. aus Froſchdorf zurüdzuholen. Auch der 
fleine Mann und große Gaufler Thiers ftellte ſich in die Reihe der 
Präfidentihaftsfandivdaten; denn — Parbleu! — hatte er nicht vor 
Zeiten ebenfalls eine „Geſchichte der Revolution“ gejchrieben und 
darin dieſelbe befuhsihwänzelt? Allen Fuchs won Haus aus, merfte 
er bald, daß die Traube für jet zu hoch hinge, um ſüß zu fein. Hatte 
er doch, um mit Hilfe der Nationalverfammlung hineinjchlüpfen zu 
können, er, der notoriſche Boltairien, den gläubigen Katholiken 
ipielen müſſen, welcher insbejondere an die Nothwendigfeit der welt- 
lichen Herrschaft des Papſtes zu glauben mit der ganzen Schamlofig- 
feit eines alten Intrifanten erklärte. Erſt auf das ihm won dem 
Biſchof Fayet von Orleans ausgeftellte Zeugniß hin; „Monſieur 
Thiers ift augenscheinlich und ganz zu ung zurüdgefehrt * — war er 
gewählt worden. Allein von lange her in allen unfauberen Kanälen 
und unfauberften Latrinen des parlamentariichen Ränkeſpiels daheim, 
war es ihm bald gelungen, ſich zum Chef des großen widerrepubli- 


PBarifer December. 555 


kaniſchen Komplotts aufzuwerfen, welches in der Nationalverſamm— 
fung geiponnen wurde, und Orleanijten, Bourbonifer und Jeſuiten 
unter feinem Kommando marjchiren zu machen. 

Diefe ganze Bande von Judaſſen, welche, während fie eine 
Verfaſſung für die Republik machten, diefer tagtäglich Gifttränfe und 
Dolchſtöße beibrachten, ſchwankte lange, für welchen Präſidentſchafts— 
kandidaten ſie ſich entſcheiden ſollte. Die orleaniſtiſchen, legiti— 
miſtiſchen, plutokratiſchen und jeſuitiſchen Intereſſen liegen ſich Doc) 
nicht ſo ganz leicht vereinigen. Wie wäre es, wenn man ſich auf 
den orleaniſtiſchen Herrn von Broglie vereinigte oder auf den legiti— 
miſtiſchen Herrn Berryer oder auf den zwiſchen Orleanismus und 
Legitimismus ins unerkennbare verſchimmernden Herrn von Molé? 
Aber dieſe Kandidaten zogen ſchlechterdings nicht. Zwiſchenhinein 
ſchielte Renard-Thiers doch wieder nach der Präſidentſchaftstraube 
hinauf. Er band mit Herrn Marraſt an, welcher, weil er ſelber 
niemals einen Gedanken gehabt, in dem Nußknackerchen von Ränkeler 
ein ganzes Gedankenfüllhorn erblickte. Monſieur Thiers gab dem 
geweſenen Chefredakteur des „National“ und dermaligen Vorſitzer 
der Nationalverſammlung zu verſtehen: Wenn Sie mich zum Präſi— 
denten machen helfen, mach' ich Sie zum Vicepräſidenten der Republik. 
Allein die Klike des National wollte von ihrem theuren Korporal 
Kavaignak nicht laſſen. Monſieur Thiers verbiß ſeinen Aerger 
nicht, ſondern machte demſelben in ſeinem Journal „Der Kon— 
ſtitutionnel“ in Form von Ausfällen auf den General Luft. Etwas 
ſpäter, als es augenſcheinlich, daß die Bourgeoiſie in Paris und in 
den Provinzialſtädten noch an der Kandidatur Kavaignak's feſthielt, 
machte Herr Thiers Miene, dieſem Zuge zu folgen, hielt aber wieder 
inne und ſchlich mit hängendem Schweife ins bonapartiſche Lager 
hinüber. Auch dieſer ſchlaueſte Schlaumaier unter ſeinen Lands— 
leuten ſah in Louis Bonaparte nur eine Uebergangspuppe, gut genug, 
für ihn ſelber, für Monſieur Thiers, den Platz warm zu halten. 


554 Die Abwidelung, VI. 


3. 


Am 26. September von 1848 erſchien der Mann, welchen 
Proudhon ſchon am 7. Juni mit „einer Blis und Donner in ihrem 
Schoße tragenden Wetterwolfe” verglichen hatte, in der National- 
verfammlung als ein von nicht weniger als 5° Departements neu- 
gewählter Abgeoroneter. 

Wetterwolfenhaft jah der Sohn Hortenſe's nicht gerade aus. 
Eine imanfehnliche Shmächtige Figur, blaffe, jehr verlebte Züge, eine 
aus dem Alten Teftamente herausgejchnittene Naje, müde und halb— 
verjchleierte Augen, ein zu ungarifchen Endſpitzen geprehter und ge- 
wichſter Schnurrbart, — das alles war weder im einzelnen an- 
ziebend, noch im ganzen imponirend. Napoleoniſch jah ber 
Repräſentant des Napoleonismus entſchieden nicht aus, aber auch 
nicht wie ein „Niais“. Der „Prinz“ hat fih vom erjten Augen- 
blide jeines Auftretens auf dieſem Boden von einer wahrhaft ver- 
teufelten Glätte gefchiet und Flug benommen und die Summe jeines 
gebarens war, daß er aus der Hülle des unjcheinbaren Bürgers 
Deputirten allfort den „Neffen des Onkels“, den Träger der „idee 
napol&onienne* ımd den Prätendenten hervorichimmern zu laffen 
verftand. 

Selbftverftändlih lag ihm daran, ſchon am 26. September zu 
beweijen, daß er feinen Talleyrand innehätte und folglich wüſſte, die 
Sprache jei dem Menjchen gegeben, um feine Gedanfen zu verbergen, 
oder zu deutſch, der Menſch verjtehe zu reden, um das Gegentheil 
der Wahrheit zu jagen. Der Prinz beftieg die Tribüne und hielt 
eine Rede, an deren Eingang er jeine Prätendentſchaft für eine Ver— 
leumdung erklärte und in deren Berlauf er jeine warme und danfbare 
Anhänglichfeit an die Republik zu betheuern juchte. „Nach 33 Jahren 
der Achtung und Verbannung finde ich endlich mein Vaterland und 
alle meine bürgerlichen Nechte wieder. Die Nepublif hat mir dieſes 
Glück bereitet, fie empfange daher meinen Schwur der Dankbarkeit, 
meinen Schwur der Hingebung (la röpublique m’a fait ce bon- 


Parifer December. 555 


heur, que la republigue regoive mon serment de reconnais- 
sance, mon serment de devouement). Meine Handlungsweiie, 
immer getragen vom Pflichtgefiihl, immer bejeelt won der Achtung vor 
dem Gejet, wird den Beweis liefern, daß niemand entichlojfener ſein 
fann, als ich es bin, ver Vertheidigung der Ordnung und der Be- 
feitigung der Republik ich zu weihen (4 se devouer ä la defense 
de l’ordre et ä l’affermissement de la republique)*. 


Es gehörte mit zu der planmäßigen Haltung, weldye ver Prinz 
ſich vorgezeichnet hatte, daß er nur jelten in den Situngen der Ver— 
ſammlung erjehten. Immer nur dann, wann es nöthig war, wiederum 
eine Erklärung abzugeben, und dieſe Erklärungen waren jtets geſchickt 
darauf berechnet, Die Beſorgniſſe der republikaniſch geſtimmten 
Arbeiterbevölkerung vor dem Bonapartismus einzulullen und zugleich 
den ſämmtlichen Fraktionen der großen Partei der Rückwärtſerei — 
fie ſelber nannte ſich „le parti de l’ordre* — den Bonapartismus 
als ihre für den Augenblick einzig mögliche Fahne zu zeigen. Und 
das geſchah mit beſtem Erfolge. Mehr und mehr Bourboniker, 
Orleaniſten, Börſenbarone und Jeſuiten ſcharten ſich um dieſe Fahne 
als um einen willkommenen Nothbehelf. Jedenfalls würde der Prinz, 
ſo kalkulirte dieſe Bande, ein handirliches Werkzeug zur Vernichtung 
der verhaſſten Republik abgeben und wäre dann, wann er dieſen 
Dienſt gethan, leicht ſo oder ſo zu erſetzen. 


Louis Bonaparte ließ die zum voraus betrogenen Betrüger mit 
ihren Einbildungen ſpielen, während ſeine Agenten in Paris wie in 
den Provinzen ihre ſchon ſommerlang betriebenen Machenſchaften 
verdoppelten und verdreifachten und namentlich dem Klerus alle 
Bürgſchaften gaben, welche derſelbe nur immer verlangte. Im 
übrigen lebte der Prinz in ſcheinbar harmloſer Zurückgezogenheit in 
Auteuil, was ihn freilich nicht abhielt, nicht weniger auf dem Felde 
der Galanterie als auf dem der Politik ſeinem Hauptgegner eine 
glückliche Konkurrenz zu machen. Die Skandalchronik der pariſer 
Salons wuſſte lachend zu erzählen, daß der liebenswürdige Prinz 


556 Die Abwicelung, VI. 


den fteifen General bei der koloſſalſchönen Madame Kalergis ausge— 
ſtochen habe, welche Heine im Romanzero als Geliebte des weißen 
Elephanten von Siam heineſirt hat *). 


4. 


Derweil war die Verfaffung der Republik fertig gemacht wor- 
den. Am 4. November nahm die Nationalverfammlung mittels‘ 
ihres Haupt- und Schlußvotums mit 739 gegen 30 Stimmen dieſes 
Staatsgrundgeſetz an, welches Franfreich Fonftituirte als „eine untheil- 
bare demokratische Nepublif”. 

Es war gerade fo, als beichaffte man eine prächtige Ausftattung 
für eine im fterben liegende Braut. 

Acht Tage ſpäter wurde die Konftitution auf der Place de la 
Konkorde feierlich verkündigt, bei heftigen Schneegeftöber und jchnei- 
dendem Nordwind. Die ganze Ceremonte fah wie gefroren aus. 
Niemand kümmerte fich darım. Man fragte mır noch: Wer wird 
Präſident? 

Kein Republikaner, ſoviel wurde von Tag zu Tag mehr gewiß. 
Die beiden wirklich republikaniſchen Kandidaturen, die demokratiſche 
von Ledru-Rollin und die ſocialiſtiſche von Raſpail, ſie waren von 





d TE „Es mahnt die Statur 
An Bimha, die Rieſin im Ramajana, 
Und an der Epheſer große Diana. 

Wie ſich die Gliedermaſſen wölben 

Zum ſchönſten Bau! Es tragen dieſelben 
Anmuthig und ſtolz zwei hohe Pilaſter 
Von blendend weißem Alabaſter. 

Das iſt Gott Amors koloſſale 

Domkirche, der Liebe Kathedrale; 

Als Lampe brennt im Tabernakel 

Ein Herz, das ohne Falſch und Makel“. 


Barifer December. 557 


vornherein ausjichtslos. Die quafirepublifaniihe von Kavaignak 
verlor von Stunde zu Stunde an Boden, insbefondere in der Bauern- 
welt, welche von der Kleriſei maſſenhaft dem Bonapartismus zuge- 
führt wurde. Auch im ſtädtiſchen Proletariat, ſoweit es nicht für 
Ledru und Raſpail war, gewann der „Prinz“ zahlreiche Stimmen, 
weil dieje Arbeiter lieber zehnmal für irgendeinen beliebigen Bona- 
parte als einmal für den „Juniſchlächter“ Kavaignak ſtimmen wollten. 
Auswärtige Diplomaten berichteten ſchon zu Anfang Novembers nach 
Hauſe, daß die Wahlaktien Louis Bonaparte's hoch ſtänden, beſon— 
ders in den Provinzen, und daß eine „Notabilität“ nach der andern 
unter die prinzliche Fahne ſich ſtellte *). 

Monſieur Thiers, d. h. der Oberregiſſeur der royaliſtiſch— 
jeſuitiſchen Kabale, hatte zuletzt erkennen müſſen, daß nur zwiſchen 
dem Prinzen und dem General die Wahl bliebe. Er machte in 
Form einer perjönlichen Annäherung an Kavaignak einen Verſuch, zu 
erfahren, ob der General willfährig wäre, als Präſident ihn, den 
großen Heinen Thiers, zum Oberpräjidenten haben zu wollen. Der 
Verſuch fiel übel aus. Kavaignak, gerade jehr ſchlecht gelaunt, blieb 
zugefnöpft und ließ den Kabaliften höflich abfahren, worauf der 
Abgefahrene jogleid) zum Bonapartismus hinüberfuhr. 

Er fand da eine ganz andere Aufnahme. Der „Prinz“ erwies 
fih jo ehrerbietig gegen den Mythographen des Napoleonismus 
und erzeigte ſich jo gelehrig, fo hingebend an ven Thierfismus ! 
Wird diefer „Niais“ Präfident, kalkulirte Monſieur Thiers, fo 
werde ich Oberpräfivent fein. Man einigte ſich unſchwer, maßen ja 
der Prinz mit wahrhaft kindlicher Pietät den Anfichten und Nath- 


*) Depefche Barmans vom 3. November: „On assure qu’en ce mo- 
ment les chances sont tout à fait favorable & Louis-Napoleon“. Vom 
11. November: „Les nouvelles des departements deviennent de plus en 
plus favorables à la candidature de Louis - Napoleon. En ce moment, 
les chances sont incontestablement en sa faveur. 1 compte des amis 
tres chauds et tres actifs. On eite maintes notabilites qui s’y rallient*. 


&8N. 


558 Die Abwidelung, VI. 


ichlägen feines Mentors fi) fügte und jchmiegte, welcher Mentor 
jpäter in einer Züchtlingszelle zu Mazas Gelegenheit erhielt, über 
diefe prinzliche Pietät, Füg- und Schmiegjamfeit unliebjame Gloffen 
zu mahen. Nur ein Punkt machte Schwierigfeiten, der Geldpunkt. 
Die Wahlipefen waren jehr beträchtlich, woher die Mittel zur Be- 
jtreitumg derjelben nehmen? Der Prinz und die Apoftel der bonapar- 
tiſtiſchen Sefte hatten zwar viel Geld, aber das war aes alienum, 
alio nicht gangbar. Herr Thiers jchaffte Kath, d. h. er beichaffte 
von jeiten etlicher Börfenfürften die nöthige Summe (11/, Millionen 
oder mehr ?), gegen aehöriges Unterpfand, verfteht ſich. Dieſes 
Unterpfand war, daß der Prinz fich verpflichten muſſte, nad) jeiner Er— 
wählung zum Präfidenten ein Minifterium Odilon Barrot-Fallour 
einzufegen. Die „Partei der Ordnung“ wollte demnach, daß in dem 
Kabinette des neuen Staatsoberhaupts der parlamentariihe Schwatz 
und die Jeſuiterei mitſammen Unzucht treiben follten. Uebrigens gibt 
e8 von der ımbeftreitbaren Thatiache, daß der Bonapartisnms zur 
Beitreitung der Wahlipejen fein Geld hatte, daß ihm diejes vorgejtredt 
und demnach eine Präfiventfhaft auf Bump zumegegebracht wurde, 
noch eine zweite Yefart, welche will, das nöthige Geld jet aus der 
Kaffe einer ſüddeutſchen, mit der Familie Bonaparte verſchwägerten 
Majeſtät gefloffen. Welche Lefart ift nun die richtige? Höchft wahr- 
icheinlich ift die erfte und die zweite, find alle beide richtig und haben 
frangöfifches Bonrgevisgeld und deutiches Fürſtengeld „viribus uni- 
tis* die Präfidentichaft auf Bump bewirkt oder doc) bewirken geholfen. 


- 


°. 


Sp lagen im November die Sachen. Da geihah aber drunten 
in Rom etwas, was der Präfiventenfrage eine andere Wendung 
geben, d. b. ven aus dem Blasbalg der Kirche fommenden Wahlwind 
auf die Flügel der Mühle Kavaignak's leiten zu wollen ſchien. 

Diefes etwas war, daß die alte Päpſtin-Johanna-Fabel für 
etliche Stunden zu einer Päpftin-Bia-Novelle wurde, welde in Italien 





Parifer December. 559 


noch heute von jehr vielen und feineswegs den dümmſten Yeuten als 
eine ftrenghiftoriiche Novelle angejehen ift, obzwar von anderer Seite 
mit Bejtimmtheit behauptet wird, Bio Nono habe, alser in der Abend- 
Dämmerung des 24. Novembers aus dem Quirinal ſchlich, nicht die 
Sottana einer Kammeriera, jondern den Kapotto eines Abbate an— 
gehabt. Ziweifellos dagegen tft, daß für die Flucht des Bapftes vor 
allen eine Sottana, ein Unterrod thätig geweien, die Frau Gräfin 
Spaur, Gemahlin des bairiichen Gejandten in Nom, eine geborene 
Italerin, welcher frommen Dame die römischen Batrioten, natürlich 
nur aus Rachebosheit, nachmals nachgejagt haben, fie hätte wie früher 
aus der Liebe eine Neligion, jo jpäter aus der Religion eine Yicbe 
gemacht, was im Deutſchen befanntlich etwas weniger zart, aber deſto 
plaſtiſcher ausgedrückt wird. Ber Alban wartete die Gräfin mit ihren 
Wagen auf Se. Heiligkeit, welche von dem Herrn Grafen dorthin 
kutſchirt wurde. Der flüchtige Bapft ftieg in den Wagen der Dame 
und fort ging es, der neapolitaniichen Gränze und Gaeta zu. 

Wenn Pins der Neunte Bapft bleiben wollte — und das wollte 
er ſehr — jo blieb ihm nach dem 15. November, an welchen fein 
Minifterpräfident Graf Roffi erdolcht und er jelbit im Palaſte des 
Quirinal von den aufjtändiichen Römern beſtürmt worden war, nur 
noch die Flucht übrig. Im einem demofratifirten und vepublifanifirten 
Kom war fein Platz für ihn. Es war lange her, jeit der Zimmer— 
mann von Nazaret gejagt hatte: „Mein Keich ift nicht von dieſer 
Welt“. Der fih den Statthalter des armen Proletariers Jeſus 
nannte, wollte Herr jein, wollte „urbem et orbem“ beherrichen ; 
denn in diefem Epileptifer von Papſt jpufte, jeitdem ihm Sefuiten- 
hände den liberalen Traum von 1846 aus der Seele gewiicht hatten, 
das wilde, Das ungeheuerlihe Herrihergelüft eines ſiebenten Gregor 
und eines dritten Innocenz. Am 15. November hatte er, zornig den 
Boden ſtampfend, nur beflagt, daß die mittelalterlich-päpftliche Blitz— 
und Donnermajchine den Dienft verfagte . . . 

Die Koterie des „National“, welche feit dem Juni Frankreich 
miffregierte und wie nach innen fo auch nach außen das republikaniſche 


560 Die Abwidelung, VI. 


Princip verleugnete oder fälſchte, hatte ſchon lange mit dem Papit- 
thum geliebäugelt. Die Politik diejer Pjeudorepublifaner war allent- 
balben der Sache der Völker feindlich, in Deutichland, in Italien, in 
Frankreich jelber. Mehr nod allerdings aus Dummheit und Un- 
wiljenheit als aus Verrätherei. ALS nun der franzöfiche Gejandte 
in Nom, der Duc D’Harcourt, berichtete, daß Pius der Neunte aus 
Nom entweichen wollte, wurde er angewiejen, dieſer Papftflucht vie 
Richtung nad Frankreich zu geben, und wurden zu dieſem Ende 
ſchleunigſt franzöfiihe Kriegspampfer nad) Civitavecchia geſchickt, um 
den heiligen Flüchtling aufzunehmen. General Kavaignaf wähnte, 
daß er als Netter und Beſchützer Sr. Heiligfeit die ſämmtlichen Fleri- 
falen Leithämmel und folglich auch die ſämmtlichen gläubigen Echafe 
für jene Präfidentihaftsfandidatur gewinnen würde. Hatte ihn der 
„Prinz“ bei Madame Kalergis ausgeftochen, jo wollte er den Prinzen 
bei Madame Eglife ausjtechen. 

Man var des Erfolges der frommen Machenſchaft jo ficher, 
daß man den Herrn Kultminifter Freſlon nad Marjeille ſchickte, um 
daſelbſt ehrfurchtvollſt den flüchtigen Statthalter Chriftt zu empfangen. 
Monſieur Frejlon wartete aber umjonft in Marſeille. Wer nicht 
fam, war der jehnlih erhoffte Bapft, welder als Wahlreflame für 
Kavaignak dienen jollte*). Pio None befand fich zu jener Zeit ſchon 


*), Depejche Barmans vom 2. December: „J’ai appris hier soir chez 
M. Bastide la nouvelle du depart furtif du pape avec le dessin de s’em- 
barquer a Gaöta sur un batiment francais que M. d’Harcourt avait mis A 
sa disposition. Le pape avait depuis plusieurs jours manifesté à ce diplo- 
mate l’intention de chercher un refuge en France. Presque tous les partis, 
flattes de la preference aceordee a la France, approuvent la conduite du 
gouvernement en ce qui concerne la protection personnelle offerte au 
pape. Le clerge se montre surtout satisfait; s’il traduit cette satisfaction 
‚ en efforts pour la r&ussite de la candidature du general Cavaignae, le re- 
sultat pourrait bien tourner en sa faveur“. S. B. A. Am 5. December 
ſchrieb Herr Barman, die Regierungsleute feien höchſt ärgerlich, weil der 
Papſt nicht nur nad Gaeta gegangen wäre, jondern auch dort bleiben 
wollte. ; 


Pariſer December. 561 


ganz in den Krallen des Kardinals Antonelli und dieſer hatte es für 
paſſender erachtet, den Papſt zum König Bomba nach Gaeta als zum 
General Kavaignak nach Paris fliehen zu laſſen. Der Duc d'Har— 
court ſoll in der Nacht nach der Flucht von Pio Nono mit einer un— 
geheuer langen und wunderlich gedrehten Naſe im Quirinal herum— 
gegangen ſein. 

Die Wahlreklame in der Tiara war alſo ausgeblieben und folg— 
lich wurde der „Prinz“ bei Madame Egliſe nicht ausgeſtochen. 

Am 10. December hatte die Präſidentenwahl ſtatt und das 
Refultat der Stimmgebung war diefes: — Bon 7,327,345 abge- 
gebenen Stimmen hatte Louis Napoleon Bonaparte 5,434,226, 
Kavaignaf 1,448,107, Lerru-Rollin 370,119, Raſpail 36,920, 
Lamartine 17,910. Arme ausgeprejite lyriſche Pimone, man hat 
dir nur ein Bettelalmojen aus der Stimmurne verabreiht! Und zu 
diejem aljo höhniſch und verachtungsvoll Bejeitigten hatten 9 Monate 
zuvor Millionen und wieder Millionen Franzoſen als zu ihrem Ab- 
gott emporgejubelt. O, Bolfsgunft, wohl that Barbier recht, dir 
den Kynismus an die Metenftirne zu jchleudern: 

„La popularite! — c’est la grande impudique 
Qui tient dans ses bras l’univers, 

Qui, le ventre au soleil, comme la nymphe antique, 
Livre a qui veut ses flancs ouverts!“* 

Der „Prinz“ war demnach Präſident. 

Der Suffrage Univerjel hat, ein zweiter Nero, jeine Meutter, 
die Republik, erit geichändet, bevor er fie erwürgte. 


Donnerstags den 20. December 1848 ging das Vorfpiel der 
Inthronifirung des „Erwählten von 5 Millionen“ als Kaiſer in 
Scene, d. h. die Einführung und Beeidigung des „Prinzen“ als Prä- 
fivent der Republik. 

Eine jtarfe Truppenmacht war aufgeboten, um dieje Ceremonie 

Scherr, 1848. 2. Aufl. II. 36 


562 Die Abwidelung, VI. 


por jeder etwaigen Störung zu hüten. Um die Tuilerien ber, in den 
Shamps-Elyjees, auf dem Eintradhtsplate und rings um das Palais 
Bourbon waren Infanterie, Kavallerie und Artillerie aufgeftellt. 
Alles hatte ein winterlich faltes, düſteres Ausfehen und trübe dunkelte 
der Abend herein. 

Auch im Innern des Parlamentshanfes viel Entfaltung von 
zweierlei Tuch. Der Sal der Pas-Perdus wimmelte von „großen“ 
Uniformen. Wo ein A—dler iſt, da ſammeln ſich die Geier. 
Witterten fie hen den Blutgeruch der Boulevardsſchlächterei vom 
4. December 1851 oder hörten fie die Yorbeern vom Malafoff und 
von Solferino rauſchen oder jahen fie die Gloire von Querétaro 
glänzen? Sicher ift, daß fie hellauf gelacht haben würden, jo ihnen 
jemand zugeraunt hätte, der veftaurirte Bonapartisinus werde ein 
Wörth, ein Met und ein Sedan über Frankreich bringen... .. 

Die Nationalverfammlung verhandelte unter allgemeiner Un— 
aufmerkſamkeit über unwichtige Saden, ald um 4 Uhr die Gas— 
flammen im Sale angezündet wurden. Zur gleihen Zeit erſchien 
der General Lebreton, Quäſtor der VBerfammlung, in Galauniform 
an der Spite einer Anzahl von Deputirten am Eingang. des Kouleit 
zur Rechten. Cs war die Wahlaktenprüfungskommiſſion, welche 
fam, ihren Bericht zu erftatten, deſſen Inhalt alle Welt ſchon fannte. 

In demjelben Augenblide zeigte ſich auch der Prinz Louis Bona— 
parte im Sale, jhwarz gefleivet, mit Band und Stern des Groß— 
freuzes der Ehrenlegion geſchmückt. 

Der Berichterftatter Waldeck-Rouſſeau theilte das Wahlrefultat 
mit und ſchloß mit einer dem bisherigen Chef der Exekutivgewalt ge= 
widmeten Dankphraſe. Sowie er zu Ende, beftieg der General 
Kavaignak die Rednerbühne, um zu erklären, daß ſämmtliche Minifter 
vormittags ihre Entlafjung gegeben hätten und daR er jelbjt die ihm 
von der Nationalverfammlung amvertrauten Vollmachten ihr hiermit 
zurückſtelle. 

Jetzt erhebt ſich der Vorſitzende, Herr Armand Marraſt, und 
ſpricht mit lauter Stimme in das geſpannte Schweigen hinein: 


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Parifer December. 563 


„sm Namen des franzöfiihen Volkes ! 

„In Erwägung, daß der Bürger Louis Napoleon Bonaparte, 
geboren zu Paris, die vorgeichriebenen Bedingungen der Wählbarkeit 
erfitllt, welche der Artikel 44 der Verfaſſung vorjchreibt ; in Erwägung 
ferner, daß derjelbe bet der offenen und über das ganze Gebiet der 
Republik ausgedehnten Wahl die abjolute Stimmenmehrheit erlangt 
hat: erklärt Fraft der Artifel 47 und 48 der Verfaffung die National- 
verfammlung ihn zum Präſidenten der Nepublif vom heutigen Tage 
bis zum zweiten Sonntag im Mai von 1852. Dem Gejege gemäß 
(ade ich den Bürger Präſidenten der Republik ein, die Rednerbühne 
zu befteigen, um dajelbit feinen Eid zu ſchwören“. 

Der „Bürger“ Präfident Louis Napoleon Bonaparte befteigt 

die Tribüne. Ob jenem Haupte ſchimmert wie eine boshafte Ironie 
die Devife der Februarrepublif: „Liberte — Egalite — Fraternite*. 
Er wird fie auslöfhen und mit Blutfarbe Darüber ſchreiben: „L’em- 
pire c’est la paix*. Die Rednerbühne ſelbſt wird er in einen 
Spudnapf verwandeln, im welchen alle Speichellederei Frankreichs 
ihre Niedertracht entleert. 
- Ein dumpfes Geräuſch durchwogt die Verſammlung. Dort 
auf einer Bank zur Linken hoch oben fihert man laut. Vielleicht er— 
innert dort einer der Deputirten jeine Kollegen an das finnreiche Aben— 
tener von Boulogne mit dem gezähmten Adler und dem Spedbroden 
im Heinen Hute von Aufterliß. 

Der Präfident der Nationalverfammlung ftellt, mit feinem 
hölzernen Hammer aufflopfend, Die Ruhe wieder her und jagt: „Ic 
werde die Formel des Eides lefen ”. 

Und er lieſ't: 

„Im Angefihte Gottes und in Gegenwart des durch die 
Nationalverfammlung vepräjentirten franzöfiichen Volkes ſchwöre ich, 
der einen und umntheilbaren demokratiſchen Nepublif treu zu fein und 
alle Pflichten zu erfüllen, welche die Verfaſſung mir auferlegt”. 

Der Bürger Präfident der Republif mit erhobener Hand: 

„Ich ſchwör' es!“ 

36% 


564 Die Abwidelung, VI. 


Der Präfident der Nattonalverfammlung : 

„Wir nehmen Gott und die Menfchen zu Zeugen dieſes 
Schmwurg “. 

Der Bürger Präfident der Republik: 

„Die Wahl der Nation und der Eid, welchen ich jo eben ge- 
ihworen, beſtimmen mein Fünftiges gebaren. Meine Pflicht ift mir 


vorgezeichnet. Ich werde fie als Ehrenmann erfüllen. Ich werde 


für Feinde des Vaterlandes alle anjehen, welche verjuchen wollten, 
auf ungeſetzlichem Wege das zu ändern, was ganz Frankreich feit- 
geftellt hat“. 

Die ganze Berfammlung erhebt ſich und bricht wiederholt im 
ven Ruf aus: „Vive la röpublique !“ 

Diefer Auf und jener Schwur fie pafften zu einander. Sie 
waren einer des andern und der andere des einen vollfommen würdig. 

Wären die beiteren Olympier noch in Funktion, jo hätte ein 
bomerijcher Demodokos bei dem „Je le jure!* des „Bürger“ Präfi- 
denten der Republik ſicherlich Veranlaſſung gehabt, anzuſtimmen: 

„Ein unermefjlihes laden entiholl den jeligen Göttern“ 

— denn dieje wuſſten ja, daß der Herricher im Donnergewölf Zeus 
der Eide von Verliebten lacht. Daß aber der Sohn von Hortenje 


Beauharnais verliebt war in eine Schöne, welche Korona Imperialis 


hieß, das wuſſten zur Stunde nicht allein die Götter, ſondern aud) 
die Menjchen. N 

Und das Lebehoch auf die Republik, ausgebracht von den Bour- 
bonifern, Orleaniſten, Bonapartiften und Jeſuiten, welche mitfammen 
weitaus die Mehrheit der Nationalverfammlung bildeten — das war 
der richtige Chpr in der grotejfen Tagespoſſe des 20. Decembers 
von 1848. Das liebe europäiſche Publifum aber klatſchte dieſem 
Finale des weltgefhichtlihen Drama’s „1848“ Beifall aus Yeibes- 
fräften und in Kabinetten, Kirchen, Kafernen, Kanzleien und Kontoren 
ſcholl auf ein wildes jubiliren: Gepriefen fei, der da fommt im Na- 
men der Reaftion! 


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Epilog. 


Noch ift vieles zu erfüllen, 

Noch ift manches nicht vorbei ; 
Dod wir alle, durch den Willen, 
Sind wir ſchon von Banden frei. 
Hinan ! Vorwärts! Hinan ! 
Und das Werk es werde gethan! 


Göthe. 


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Vorwärts! 

Dieſes kurze deutſche Wort, welches wie ein Trompetenſtoß 
£lingt, tjt der jprachliche Ausdruck des weltgeſchichtlichen Entwicke— 
lungsgeſetzes. 

Wie Glas am Granit, ſo zerſplittert das zeitweilig ſich ſprei— 
zende „Rückwärts!“ an der ewigen und ehernen Nothwendigkeit dieſes 
„Vorwärts!“ 

Alſo erwies ſich denn auch alles jauchzen und jubiliren, alles 
wollen und tollen, alles wünſchen und wüthen der Rückwärtſerei des 
Jahrdutzends, welches auf 1848 folgte, als eitel, eitel, eitel. — 

Was die Dummheit wähnen, die Niedertracht erſinnen, die 
Rachſucht aushecken konnte, das alles wurde auf Koſten der beſiegten 
Anlaufs-Demokratie gewähnt, erſonnen und ausgeheckt. Die Ge— 
meinheit wettlief zu dieſem Ende mit der Bosheit. Lüge, Verleum— 
dung und Schadenfreude wanden ſich in Wolluſtkrämpfen. Die 
Knechtſchaffenheit ſtolzirte im Schwefelgelb ihrer Lakaienlivree und 
der Verrath blähte ſich in Miniſteruniformen oder ſaß triumphirend 
auf Geldſäcken. 

Die Standrechtsſchüſſe waren verhallt. Die „Wühler“ lagen 
in ihren blutigen Gräbern oder verkümmerten in heimiſchen Kerkern 
oder ſchleppten ihre müden Füße die „harten Treppen der Fremde“ 
auf und ab. Die Völker, deren „Mündigkeit“ durch ihr verhalten in 
Deutſchland und Italien, mehr aber noch durch die Wahl des Sohnes 
der Hortenſe Beauharnais zum „Bürger-Präſidenten“ der fran— 
zöſiſchen Lug- und Trugrepublik zu einem ſpottlachen gemacht worden, 


568 Epilog. 


duckten ſich feig und faul unter das neubefeftigte und mehrbeſchwerte 
Sch. Es wäre firhhofsftill in Europa geweſen, hätten nicht Die 
römischen Yamas und die Lutheriihen Bonzen einträchtiglih ihr 
Tedeum hergebrüllt. 

Freilich, die hatten gut lachen und lobfingen. Sie durften, fie 
mufjten ja glauben, ihre Zeit wäre gefommen. Und richtig ſchoß 
denn auch der pfäffiihe Schwindelhafer üppig in Halme und Aehren. 

Aber fiehe, auch der war eitel. 

Denn plöglic wieder erſcholl, anfangs nur leife, leife wie aus 
weiter, weiter Ferne, dann mälig anfchwellend zu dröhnender Macht 
der welthiſtoriſche Trompetenſtoß „Vorwärts!“ 

Und jo gewaltig war das Gedröhne, daß aud) in Könige 
ſchlöſſern das ohrenverſtopfen nicht mehr fleden und fleden wolle. 

Seltjam zu jagen, aber ftrengwahr: gerade folche, deren 
Hände mit am eifrigften dabei gewejen, das Rad der Zeit rückwärts 
zu drehen, gelangten jeßo zu der Erleuchtung und Erkenntniß, daß 
es vorwärts rollen müſſte. 

Nein, o, all’ ihr Kämpfer und Opfer, al’ ihr Verleumdeten, 
Berihimpften und Berhöhnten von 1848, wir hatten doc nicht 
umjonft „gewühlt“. 

Sa, jo ift es: hätten wir nicht für den Gedanken der Demo— 
fratie geftritten und gelitten, die Fonftitutionell= parlamentarische 
Staatsform, welde ja, wie die Menſchen und Bölfer nun einmal 
find, die unumgängliche Vorſchule zur Republik fein zu müſſen jcheint, 
wäre zur Stunde nod nicht das politiihe Syſtem des ciwilifirten 
Europa’s. Und hätten wir nicht in unſerer Weife die Berwirf- . 
lihung der deutſchen Einheitsidee angeftrebt, hätten wir nicht den 
Funken des nationalen Gefühls zu einer unauslöſchlichen Flamme 
anſchüren geholfen, jo wäre jett nicht das deutſche Neid) eine ſtaats— 
rechtliche Thatjache. f 

Daß der deutſche Einheitsgedanfe nicht mittels parlamentarifcher 
Theorie, fondern mittels politischer Praxis, nicht im fanften Gefäufel 
ruhiger Bildung, fondern im tobenden Schlachtenfturm, nicht mittels 


\ 


Epilog. 569 


Morten und Weifen, jondern mittels Eifen und Blut verwirklicht 
wurde, war ganz im der Ordnung, — in der weltgejhichtlichen 
nämlih. Denn wann und wo wäre denn jemals ein folder Knoten 
friedlich-zierlich aufgelöft und nicht vielmehr gewaltſam-rauh mit 
dem Schwert entzweigehauen worden ? 

Nur unwiſſende Nebelheimer, fajelnde Inſaſſen des großen 
Narrenhaufes Utopia oder gammernde Bürger von Nubikufulten 
fönnen fid und anderen weismachen wollen, daß die menjchliche Ge- 
jellihaft dem Weſen nad) fünftig anders fi) entwickeln werde, als 
fie bislang fich entwidelt hat. Zeigen doch bei näherem Zuſehen 
nicht einmal die Entwidelungsformen von ehedem und von jett 
io große Verfchievenheiten, wie man gewöhnlich wähnt. Natürlich! 
Maßen das Weſen immer daffelbe war, ift und fein wird, wie jollten 
fich Die Formen weientlich ändern können? Des großen Sehers 
Wahrſpruch: „Verſtand ift ftets bei wenigen nur geweſen“ — wird 
nod nad Jahrhunderten, Jahrtauſenden und Jahrhunderttauſenden 
von feiner Geltung wenig oder nichts eingebüßt haben. Die Borftellung 
von einer abjoluten Gleichheit, Gleichwerthung und Gleichgeltung der 
Menihen wird in Ewigkeit bleiben, was fie von Anfang an war: 
ein wohlmeinender Narrenwahn. Es wird ſtets Zähler und Nırllen 
geben, geben müſſen und diefe find ja zur Darftellung großer Sum- 
men nicht weniger nöthig als jene. Daß ſich aber die Nullen’ zeit- 
weile gerne aufblähen, wichtig machen und aus ihres hohlen Bauches 
Vakuum orafelnd blöfen, auch das tft ganz in der Ordnung, maßen 
e8 zum Weſen der Nullität gehört. 

Vorwärts! 

Langſam, aber raſtlos, rüſtig und regelrecht rollt das Rad der 
Zeit, unbekümmert um die beiden Hände, welche, eine ſchwarze und 
eine rothe, von verſchiedenen Seiten her täppiſch in ſeine Speichen 
zu greifen ſich bemühen. 

Die ſchwarze Hand möchte das Rad in weit hinter uns liegende 
barbariſche Finſterniſſe zurückwenden, aus welchen der Fels Petri 
geſpenſtig-lächerlich und der Scheiterhaufen des heiligen Arbues 


370 Epilog. 


drohend anfragen. Die vothe Hand will das Rad holterpolter den 
Berg hinunterjagen und drunten mitten in den pejtilenziichen Sumpf 
der Phalanftereherrlichkeitslüge, der „freien Liebe“ und anderweitiger 
Beitialität hinein. 

In ungehenerlicher Berblendung haben die Machthaber, nament- 
(ich die königlich preußiſchen, dieſe beiden Hände jahrelang gejtärkt 
und geiteift. 

Jetzt iſt hier das unfehlbare Papſtthum und dort das unfehl- 
bare Gnotenthum fir und fertig und die beiden wüſten Rieſen-Fere 
werden ſich finden, haben ſich Schon gefunden. Gingen doc ſchon im 
Jahre 1870 Pfafferei und Kommumifteret ſchweſterlich mitjammen. 
Ja, die ſchwarze und die rothe Hand fie haben fich gefunden und ihr 
Händedruck joll den Untergang aller Kultur und Freiheit befiegeln. 

Selbftverjtändlich haben Schwarz und Noth, beide gleich jeſuitiſch, 
ihren Bund mit der gegenjeitigen Mentalrefervation gejchlofjen, nad) 
gemeinfan über die menſchliche Geſellſchaft errungenem Siege dem 
Bundesgenofjen mitzufpielen wie diejer jelbit. 

Vorderhand find fie, wenn nicht ein Herz und eine Seele, jo 
doch ein Maul ımd ein Magen. Im übrigen verfahren fie nad) 
dem Grundſatze der Arbeitstheilung. Der ſchwarze Jeſuitismus 
ipefulivt auf die Dummheit und Umwiffenheit, der vothe auf die 
Selbtfucht und Genußgier. Und beiden leijtet eine gedanfenlofe, 
vermaterialifirte, nicht über die eigene Nafenfpite hinausjehende, vor 
lauter Einfeitigfeit und Dünkel ſtupid gewordene Pſeudo-Wiſſenſchaft 
eifrige Handlangerdienſte. Sie iſt es auch, welche ſo viele liberale 
Hohlſchädel und Phraſeologen auf die vom Jeſuitismus ausge— 
worfenen armſäligen Köder „Freiheit des Unterrichts“, „Freie Kirche 
im freien Staat“ u. dgl. m. gierig beißen macht. Das von einem 
gelehrten Stubenhoder, welcher jein Yebenlang jede Berührung mit 
dem Volke ängſtlich vermieden hat, erhobene Geplapper, äfthetijche 
Anſchauungen fünnten und müfjten den Menſchen, den Maſſen vie 
religtöjen Vorftellungen erjegen, bat den Pfaffen ſchon unzählige 
Haſen in die Küche gejagt, will ſagen Schafe in den Kirchenpferch. 


Epilog. 571 


Und weil bekanntlich das Dumme und das Schlechte auf un— 
ſerer lieben Erde überall und allzeit zu den mächtigſten Großmächten 
gehörten und gehören, ſo iſt es keineswegs unmöglich, ſondern ſogar 
ſehr wahrſcheinlich, daß es der ſchwarzrothen und rothſchwarzen Bru— 
derſchaft über kurz oder lang gelingen werde, die dermaligen, nur 
von der Bornirtheit, Schlaffheit und Feigheit nicht wahrgenommenen 
oder nicht beachteten religiöſen und ſocialen Krämpfe und Kriſen einer 
ungeheuren Kataſtrophe zuzutreiben. 

Eines garſtigen Tages dürfte ſich die „jahlungsfähige Moral“ 
zu ihrer nicht geringen Ueberraſchung bankerott ſehen und dürfte der 
liberale Bildungsphiliſter, der „Träger der Intelligenz und des Be— 
ſitzes“, ſich genöthigt finden, an die vereinigten Syllabuſe des Pio 
Nono und des Feiſt Löb zu glauben. 

Alterthümler, welche heute noch etwas jung an Jahren, könnten 
leicht dazu kommen, das Pfahlbauerndaſein der Menſchheit aus eigener 
Erfahrung ganz genau kennen zu lernen. 

Aber die uralten Grundſäulen der Geſellſchaft werden auch die 
ſchwarzrothe oder rothſchwarze Sündflut überdauern, wie ſie ſchon ſo 
manche überdauert haben. 

„Und dann?“ 

Dann wird es wieder heißen: Vorwärts! und wird die Kultur 
ihre Arbeit von neuem beginnen wie nach der Völkerwanderung, wie 
nach dem „Schwarzen Tod“, wie nach dem dreißigjährigen Kriege. 

In der wiederhergeſtellten Geſellſchaft wird dann der ſogenannte 
vierte Stand ſeine berechtigten, alſo nicht utopiſtiſchen Anſprüche be— 
friedigt ſehen, gerade wie die berechtigten Anſprüche des ſogenannten 
dritten Standes nach vertobtem franzöſiſchem Revolutionsſturm all— 
mälig im ganzen civiliſirten Europa zur Befriedigung gelangt ſind. 

„Und wiederum dann?“ 

Dann wird ein ſogenannter fünfter Stand von ſeinen Men— 
ſchenrechten ſagen und ſingen und genau dieſelben Forderungen er— 
heben, welche dermalen der ſogenannte vierte erhebt. 

„Und das ſoll ſo weitergehen?“ 


572 Epilog. 


Ja, das wird jo weitergehen. 

„Und das Ende diefer ganzen Katenmufif, genannt» Welt- 
geſchichte?“ 

Ei, wer weiß denn, ob ſie überhaupt ein Ende haben werde? 
Hat ſie aber eins, ſo wird das Finale jedenfalls kein Friedens-Paſto— 
rale, keine Goldene-Zeitalter-Symphonie ſein, ſondern ein Notturno, 
wie es Byron in feiner „Darkness“ prophetiſch vorgedichtet hat. 

„Eine hübſche Ausſicht!“ Ko 

Hübſch oder häſſlich, fie ift, wie fie jein muß. Denn die Zu⸗ 
kunft der Menſchheit kann nur die logiſche Konkluſion der Prämiſſe 
ihrer Vergangenheit und Gegenwart ſein. 

„Abet der menſchliche Vervollkommnungsdrang und Glückſelig— 
keitstrieb?“ 

Das ſind unſere großen, lieben, unſere wahrhaft heiligen Noth- 
heffer. Sie find nicht etwa nur geſchickte Zukunfts-Fata-Morgana— 
Maler, nein, fie lehren uns aud die Gegenwart tlichtig fafjen und 
führen. Und das ift die Hauptſache. Fülle deine Stelle aus, o 
Menfchenfind, thu' deine Pflicht und Schulbigfeit, gewöhne did an 
Selbitbeiheidung und übe Exbarmen, lache mit den Fröhlichen und 
weine mit den Betrübten, verrichte deine Arbeit, trage dein Leid ohne 
Verzweiflung und genieße dein Glüd ohnelleberhebung und Du wirft, 
wann deine Uhr abgelaufen ift, ven großen Befreier Tod wie ohne 
Hoffnung fo auch ohne Sucht empfangen. 

Im übrigen: lafl’ das Zeitrad rollen! 

Vorwärts! 


Inhalt. 


II. Die Verwickelung: 
I. Das „wilde“ Barlament 
I. Putſch-Idyll 
II. Batrachomyomachia 
IV. Ein König geftrammt und ein Raifer entf führt 
V. Paulskirchenhiſtorien. 
VI. Die Juniſchlacht 


II. Die Abwickelung: 
Radetzky-⸗Marſch 

U. Eljen und Zivio 

II. Frankfurter September 
IV. Wiener DOftober 

V. Berliner November 
VI. Barifer December . 


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Seite 


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