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Full text of "Napoleon [microform] : eine Novelle"

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CARL  STERNHEIM 


NAPOLEON 


DER     JÜNGSTE     TAG 


KURT    WOLFF    VERLAG 

19     15 


LEIPZIG 


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Mit  drei  Lithographien  von  Ottomar  Starke. 

Gedruckt  bei  Poesdiel  ®  Trepte  in  Leipzig 

Juli  1915  als  neunzehnter  Band  der  Büdierei 

»Der  jüngste  Tag« 


COPYRIGHT  1915  By  KURT  WOLFF  VERLAG  •  LEIPZIG 


REMOTE  STORAGE 

FÜR  THEA,  MEINE  LIEBE  FRAU 


I 


N 


NAPOLEON 

'APOLEON  wurde  1820  zu  Waterloo  im 
Eckhaus,   vor  dem  sidi  die  Steinwege  nadi 
Nivelles  und  Genappes  trennen,  geboren.  Sein 
Kinderleben  verließ  historisdien  Boden  nidit. 

Ober  die  durdi  Hohlwege  gekreuzten  Flädien,  auf 
denen  des  Kaisers  Kürassiere  in  Knäueln  zu  Tode  ge* 
stürzt  waren,  gingen  seine  Soldatenspiele  mit  Gleidi* 
alterigen.  Sie  lehrten  ihn  ewige  Gefahr,  Wunden  und  Sieg, 

Zwölf  Jahre  alt,  nahm  er  von  Kameraden  beherrsditen 
Absdiied,  sprang  zum  Vater  in  die  Kalesdie  und  fuhr 
nadi  Brüssel  hinüber,  wo  er  vor  ein  Gasthaus  abgesetzt 
wurde.  In  der  Küdie  des  Lion  d'or  lernte  er  Sdiaum 
sdilagen,  Fett  spritzen,  sdineiden  und  sdiälen.  Gewohnter 
Überwinder  der  K^ei:aden  auf  weltberühmter  Walstatt,"^ 
ließ  er  audi  hier  ganz  natürlidi  die  Mitlernenden  hinter 
sidi  und  war  der  erste,  der  die  Geflügelpastete  nidit  nur 
zur  Zufriedenheit  des  Chefs  zubereitete,  sondern  audi 
nadi  den  Gesetzen  zerlegte. 

Er  selbst  blieb  von  allen  Speisenden  der  einzige,  den 
der  VoUau-vent  nidit  befriedigte,  dodi  nahm  er  Lob  und 
ehrenvolles  Zeugnis  hin,  madite  sidi,  siebenzehnjährig, 
auf  den  Weg  und  betrat  an  einem  Maimorgen  des  Jahres 
1837  durdi  das  Sankt  Martinstor  Paris. 


Als  er  von  einer  Bank  am  Flußufer  die  strahlende 
Stadt  und  ihre  Bewegung  übersah,  wurde  ihm  zur  Ge- 
wißheit, was  er  in  Brüssel  geahnt:  Nie  würde  er  aus  den 
allem  Verkehr  fernliegenden  Küdienräumen  jene  enge 
Berührung  mit  Mensdien  finden,  die  sein  Trieb  verlangte. 
Tage  hindurdi,  solange  die  ersparte  Summe  in  der  Tasdie 
das  Niditstun  htt,  folgte  er  den  Kellnern  in  den  Wirt- 
sdiaften  gespannten  Blidts  mit  inniger  Anteilnahme/  ver- 
sdilang  ihre  und  der  Essenden  Reden,  Ladien,  Gesten. 
An  einem  hellen  Mittag,  da  eine  Dame  Trauben  vom 
Teller  hob,  den  ihr  der  Kellner  bot,  trat  er  stradcs  in  die 
Taverne  auf  den  Wirt  zu  und  empfahl  sidi  ihm  durdi 
Gebärden  und  flinken  Blidc  als  Speisenträger. 

Nun  bradite  er  Mittag-  und  Abendmahl  für  alle  Welt 
herbei.  Es  kam  von  beiden  Gesdileditem  jedes  Alter  und 
jeder  Beruf  zu  seinen  Sdiüsseln  und  sättigte  sidi.  Un- 
ermüdlidi  sdileppte  er  auf  die  Tisdie,  fing  hungrige  Blidie 
auf  und  satte,  räumte  er  ab.  Nadits  träumte  er  von 
malmenden  Kiefern,  sdilürfenden  Zungen  und  ging 
anderes  Morgens  von  neuem  ans  Tagwerk  im  Bewußt- 
sein seiner  Notwendigkeit 

Erst  allmählidi  sah  er  Untersdiiede  des  Essens  von 
sdimatzenden  Lippen  ab.  Er  kannte  den  gierigen>  weit- 
geöffiieten  Radien  des  Studenten,  durdi  den  unsortierte 
Bissen  in  ein  niegestopftes  Lodi  fielen,  untersdiied  den 
Vertilger  eines  nidit  heißhungrig  ersehnten,  dodi  regel- 
mäßig gewohnten  Mahles  von  jenem  Qberemährtcn, 
der  ungern  zum  Tisdi  sidi  niederließ  und  gclangweilt 
Lederbissen  kostete  und  zurüdtsdiob.  Er  prägte  sidi 

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die  kauende,  trinkende  Mensdiheit  in  allen  Abstufungen 
fest  und  bildhaft  ein. 

Durdi  Kennersdiaft  wurde  er  ihr  Berater  und  Führer/ 
wies  dön  Hungrigen  feste  Nahrung,  bediente  die  ewig 
Satten  mit  Sdiaum  und  Gekröse/  von  ihm  zu  allen 
Tisdien  lief  ein  Band  des  Verständnisses.  Hob  der  Gast 
nur  die  Karte,  fiel  von  Napoleons  Lippen  erlösend 
der  gewünsditen  Speise  Name. 

Jahrelang  blieben  die  seine  Lieblinge,  deren  leiMidie 
Not  die  Kost  stillen  sollte.  Ein  saftiges  Stüd  Fleisdi, 
von  kräftigen  Zähnen  gebissen,  sdiien  ihm  die  ge* 
lungenste  Vorstellung.  Dodi  madite  er  Untersdiiede 
zwisdien  den  Sorten.  Ließ  er  Kalb  und  Lamm  im  Hin* 
blidf  auf  ihre  festere  Zusammensetzung  gelten,  war  ihm 
Wild  und  Geflügel  wenig  sympathisdi.  Von  Fisdien, 
Austern  und  Verwandtem  hielt  er  der  lodteren  Struktur 
wegen  nidit  das  Geringste.  InbegrifiP-  guter  Nahrung 
war  ihm  das  Rind.  Unwillkürlidi  sah  er  beim  Hin*  und 
Heimweg  die  Begegneten  auf  die  BesdiafiPenheit  ihrer 
Muskulatur  hin  an.  Die  ersdiienen  ihm  wohl  bereitet, 
die  über  straffem  Knodienbau  gedrängte  Materie  trugen. 
Die  Mageren  veraditcte  er,  und  die  mit  losem  Fett  Ge- 
polsterten waren  ihm  verhaßt.  Einem  gut  aufgesetzten 
Körper  folgten  seine  Blidte  zärtlidi  und  zerlegten  ihn 
augenbliddidi  in  gigots,  seile,  cotes  und  Kotelettes.  In 
der  Einbildung  streute  er  Pfeffer  und  Salz  hinzu,  gar* 
nierte,  sdinitt  und  servierte  das  Ganze  mit  passendem 
Salat/  dann  lädielte  das  junge  Gesidit,  und  hingerissen, 
ahnte  er  nidit,  in  weldier  Zeit  er  lebte/  untersdiied 


Sommer  und  Winter,  Trockenheit  und  Regen,  Überfluß 
und  Notdurft  nidit  und  wußte  nur :  dies  freut  den  Gast. 

Immer  hitziger  wurde  sein  Trieb,  dem  zu  Bedienenden 
sättigende  Kost  zu  bieten.  Gewürz  und  Zutat  sah  er 
nur  in  dem  Sinn,  wie  sie-  die  bestellte  Speise  fest  und 
ausdauernd  madien  möditen.  Es  bildete  sidi  in  seine 
Vorstellung  der  Raum  des  leeren  Magens,  in  den  er 
wie  aus  Betonklötzen  die  Nahrung  baute. 

Ging  der  Gesättigte,  der  sdilappenSdirittes  gekommen, 
wuditig  zur  Tür  hinaus,  hing  Napoleons  Blids  an  dem 
Sdireitenden,  als  sei  dessen  Lebendigkeit  sein  Werk. 
Er  braudite  das  Bewußtsein  sdiöpferisAer  Tat,  um  vor 
sidi  bestehen  zu  können  und  steigerte  es  allmählidi 
zur  Überzeugung,  ohne  ihn  und  seine  Pflege  sei  die 
Lebensarbeit  der  Betroffenen  nidit  möglidi.  Diese  fest- 
zustellen, merkte  er  die  Namen  der  Gäste/  nahm  an  ihrem 

Vorwärtskommen  teil. 

• 

Es  gesdiah,  als  er  am  freien  Tage  durdi  die  Wege  der 
Versailier  Parks  sdiritt,  in  der  Einbildung,  er  habe  gerade 
eine  riesige  Wurst  mit  den  Hödistwerten  mensdilicher 
Nährstoffe  gestopft  und  sdinitte  den  Wartenden  Sdieiben 
herunter,  daß  aufsdiauend  sein  Auge  zu  einem  jungen 
Weibe  fiel,  das  am  entblößten  Busen  ein  Kind  hängen 
hatte.  Gebannt  wurzelte  Napoleon  am  Boden  und  prägte 
sidi  in  aufgetane  Sinne  das  Bild  rosiger,  geblähter  Rund« 
heiten  an  der  Frau  und  dem  Säugling  ein.  War  das  eine 
Apotheose  seiner  Träume  von  kraftvoller  Nahrung  und 
ihrem  besten  Verbraudi!  Er  hätte  an  die  Nährende  nieder* 

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fallen  und  durdi  Umsdhlingung  ihres  und  des  Kindes 
Leibes  an  dem  erhabenen  Vorgang  teilnehmen  mögen. 

Das  gesdiaute  Bild  verließ  ihn  nidit  und  veranlaßte 
ihn,  flüssigen  Stoffen  gesteigerte  Aufmerksamkeit  zu 
sdienken/  dann  aber  hob  es  den  Wert  der  Frau,  der 
bis  heute  ihrer  geringen  Lust  zum  Essen  wegen  für 
seine  Welt  nidit  groß  gewesen  war,  sidi  jetzt  aber  unter 
einem  anderen  Gesiditspunkt  auf  das  beste  ins  große 
Tableau  tafehider  Mensdiheit  einordnete.  Zum  ersten 
Mal  ^sah  er  das  Mäddien  an  der  Anridite,  dem  er 
bisher  nur  den  kräftigen  Gliederbau  hatte  bestätigen 
müssen,  und  immer  eindringlidier,  als  prüfe  er  es  auf 
gewisse  ihm  nun  einleuditende  Möglidikeiten.  Er  fand, 
sie  nähme  als  Nahrung  zu  viel  leidites  Zeug,  belade 
sidi  mit  Geblasenem  und  Aufgerolltem,  das  im  Magen 
zu  einem  Nidits  zusammenfiele,  warnte  sie  vor  Klebrig* 
keit  und  Süßem  und  forderte  sie  eines  Tages  geradezu 
auf,  mit  ihm  irgendwo  ein  Mahl  zu  nehmen,  das  bis  ins 
kleinste  von  ihm  zusammengestellt,  in  seinem  Wert  für 
sie  eröi^tert  werden  solle.  Das  Mäddien  nahm  des  Mannes 
Kauderwelsdi  für  einen  Umsdiweif,  willigte  ein,  und 
sie  gingen  an  einem  der  nädisten  Tage  gemeinsam  ein 
Stüdc  über  Land  und  traten  in  einen  Gasthof  ab. 

Dort  versdiwand  Napoleon  und  erklärte  zurüA* 
kommend  der  sdimollenden  Suzanne,  er  habe  in  der 
Küdie  selbst  bis  ins  Kleinste  vorgesorgt.  Mit  einem 
Ragout  vom  Hammel  in  einer  Burgunderweinsauce  be- 
ginne man  und  gehe,  alle  falsdien  Vorspiegelungen 
versdimähend,  geradezu  auf  ein  wundervolles,  halb* 

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blutiges  Rindslendenstück  zu,  an  das  er  cnglisdie  Gurken 
und  Zwiebeln  habe  braten  lassen. 

Als  das  Essen  aufgetragen  war,  wies  er  sie,  die 
Bissen  langsam  zu  kauen  und  ohne  Zukost  von  Brot 
zu  sdilud^en.  Er  ruhte  nidit,  bis  das  letzte  Teildien 
auf  der  Sdiüssel  vertilgt  war  und  befahl  ihr  und  sidi 
selbst  ein  Gläsdien  Sdinaps  zu  besserem  Bekommen  an. 

Da  nadi  Tisdi  sie  draußen  im  Gras  lagen,  breitete 
er  Arme  und  Beine  von  sidi  und  riet  ihr,  ein  Gleidies 
zu  tun.  Er  sei  ein  sdimäditiger  Bursdi  gewesen  und 
nur  durdi  vernünftige  Nahrung  und  angemessene  Ver- 
dauung sein  Gewebe  fest  und  kräftig  geworden.  Dabei 
ließ  er  durdi  Beugung  die  Muskeln  der  Arme  und 
Waden  zu  kleinen  Bällen  sdiwellen,  worauf  sie,  in  der 
Eitelkeit  verletzt,  audi  ihre  Glieder  spielen  ließ  und 
ihn  zur  Prüfung  der  festen  Besdiaffenheit  einlud,  Dodi 
bestritt  er  alles  von  vornherein,  meinte,  es  sei  bei  ihrer 
bisherigen  Ernährung  gar  nidit  möglidi  und  forderte 
sie  auf,  in  Zukunft  nadi  seinen  Vorsdiriften  zu  leben. 
Dann  werde,  was  nidit  da  sei,  kommen. 

Er  gefiel  ihr.  Dieser  nüditerne  Sinn  madite  Eindruck 
auf  sie,  und  sie  bemühte  sich,  seine  Erwartung  zu.  er* 
füllen.  Bei  den  nächsten  Ausflügen  blieb  sie  plötzlich 
stehen,  bäumte  den  Arm  auf  und  ließ  seine  Hände  die 
Anschwellung  fühlen.  Doch  kam  durch  Wochen  nichts 
als  ein  Schnalzen  von  ihm,  das  ihr  immerhin  bedeutete, 
sie  sei  auf  reditem  Weg.  Bis  eines  Tags  beim  Versudi, 
sich  ein  gelöstes  Schuhband  zu  knüpfen,  sie  ihm  ein  so 
mächtiges  Rückenstück  entgegenhob,  daß  eine  runde  An» 

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erkennung  seinen  Lippen  entfuhr.  Gleidi  lag  sie  an 
seiner  Brust/  bot  ihm  den  Mund  zum  Kuß. 

Der  Besitzer  der  Taverne  starb,  und  Napoleon  wurde 
Inhaber  des  Speisehauses.  Er  konnte  nun  sdialten,  wie 
er  wollte,  und  entfernte  vollends  alle  Spielereien  von 
der  Karte.  Die  gleidibleibende  Kundsdiaft,  er  selbst 
und  Suzanne  waren  gcwiditig  auftretende  Personen  ge* 
worden,  die  eine  Rede  deutlidi  in  den  Mund  nahmen. 
Es  gab  in  seinen  Räumen  kein  Getusdiel,  sondern  zu 
sdiallenden  Worten  dröhnendes  Ladien.  Ein  forsdies 
Zugreifen  und  Fortstellen.  Überzeugte  Meinungen  und 
Entsdilüsse  für  kühne  Taten. 

Napoleons  Vaterunser  und  Einmaleins  hieß:  in  allen 
Molekülen  drängende  Kraft.  Von  Suzannes  Kind,  das 
sie  von  ihm  unter  dem  Herzen  trug,  redinete  er,  es 

müsse  nadi  Mensdienermessen  ein  Herkules  werden. 

* 

Der  Ruf  des  Hauses  hatte  sidi  verbreitet.  Einer  rühmte 
es  dem  andern  und  bradite  ihn  zu  einem  Versudi  mit. 
Sdiließlidi  reidite  der  Raum  nidit,  die  Gäste  zu  fassen. 
Einen  freiwerdenden  Stuhl  besetzte  sofort  ein  anderer 
Hungriger.  Große  Tagesumsätze  wurden  erzielt  und 
immer  bedeutendere.  Verglidi  aber  zum  Jahresabsdiluß 
der  Wirt  Einnahme  und  Ausgabe,  kam  kaum  ein  Gut* 
haben  zu  seinen  Gunsten  heraus.  Anfangs,  bevor  er 
das  Ziel  seines  großen  Rufe  erreidit,  ließ  er  es  gehen,- 
als  aber  dieser  über  ganz  Paris  feststand,  begann  die 
sdiledite  Abredinung  ihn  zu  wurmen.  Er  war  nun  dreißig 
Jahr  alt,  hatte  große  Pläne,  und  sdiien  Reiditum  audi 

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nidit  seine  letzte  AbsiAt,  mußte  er  doch  mit  dem  üb- 
rigen kommen.  Nodimals  nahm  er  die  Büdicr  gründliA 
vor  und  stellte  fest,  der  geforderte  Preis  war  in  An- 
betradit  der  hervorragenden  BesdiafFenheit  und  Menge 
der  gereiditen  Speisen  zu  niedrig.  Da  ihm  aber  ein- 
leuditete,  der  Konkurrenz  wegen  könne  er  einen  Preis- 
aufsdilag  nidit  eintreten  lassen,  stand  er  vor  der  Ent- 
sdieidung,  alles  beim  alten  zu  lassen  oder  die  Qualität 
des  Gebotenen  zu  versdileditern.  Treu  seinen  bisherigen 
Grundsätzen  entsdiloß  er  sidi  zu  ersterem,  stand  aber 
den  Essenden  jetzt  nidit  mehr  mit  alter  Unbefangenheit 
gegenüber.  Bei  jedem  Filet,  das  der  Kellner  mit  sdiönem 
Sdiwung  zum  Gast  niedersetzte,  stellte  er  den  Vergleidi 
zwisdien  Ware  und  erzieltem  Preis  an  und  kam  bald 
dazu,  daß  ihn  eine  Platte,  je  besser  sie  gelungen  und 
je  reidilidier  sie  serviert  wurde  umsomehr  in  qualvolle 
Erregung  versetzte.  Besonders  konnte  er  den  Blidc  von 
einem  Gast  nidit  wenden,  der  mit  dem  Gebotenen  an- 
fangs nidit  zufriedep,  die  Bedienung  und  die  Küdien- 
brigade  durdi  anfeuernde  Reden  zur  hödisten  Leistung 
für  ihn  angespornt  hatte  und  nun  wahre  Fleisditrümmer 
vorgesetzt  bekam,  die  er  mit  Mengen  alles  Erreidibaren 
würzte.  Dazu  warf  er  Napoleon  triumphierende  und 
anerkennende  Blidie  zu,  die  diesen  anfangs  erbitterten, 
sdiließlidi  zu  heller  Empörung  braditen.  Der  Vielfraß 
war  ein  Kanzleibeamter,  von  dem  nie  ein  besonderes 
Verdienst  verlautet  hatte,  und  der  Herr  des  Gasthauses 
fragte  sidi  ergrimmt,  mit  weldiem  Rcdit,  für  weldies 
bedeutende  Vorhaben  der  Betreffende  eigendidi  soldie 

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Anforderungen  für  seinen  Magen  steifte.  Man  wisse 
schließlidi  zu  welchem  Ende,  sdilänge  ein  Thiers,  ein 
Balzac  soldie  Mengen^  seine  Därme.  Dieser  Durdi- 
schnittsbürger  aber  sAweife  in  geradezu  widerlidier 
Weise  aus,  garniere  er  den  faulen  Baudi  täglidi  mit 
soldien  Praditfleisdistüdcen.  Überhaupt  begann  der  Wirt 
des  Veau  ä  la  mode  seine  Stammgäste  auf  ihre  Ver* 
dienste  hin  anzusehen  und  stellte  vor  seinem  Gewissen 
fest,  keiner  habe  durdi  Erfolge  die  Sorge  vergolten, 
die  man  jahrelang  an  seiner  Ernährung  genommen. 
Infolgedessen  folgte  er  ihrem  Sdilingen  von  nun  an  mit 
nodi  sdieeleren  Blidten,  und  als  das  Maß  seines  Grolls 
aufs  Hödiste  gestiegen  war,  brüllte  er  eines  Tages  dem 
Hauptkodi  zu,  der  über  ein  Toumedos  ein  volles  aditel 
Pfund  Butter  goß,  ob  er  von  Gott  verlassen  sei  und 
ihn  durdiaus  ruinieren  wolle. 

Über  all  das  hatte  er  sdilaflose  Nädite,  bis  er  zu 
fester  Ansdiauung  sidi  durdigerungen  hatte,  die  lautete: 
Es  hat  die  Mahlzeit  das  Äquivalent  zu  sein  der  durdi 
die  täglidie  Arbeit  verausgabten  Kräfte.  Und  so  steifte 
er  den  Bf idi  seiner  Kundsdiaft  gegenüber  neu  auf  Fest- 
stellung dieser  Tatsadie  ein  und  fand,  er  könne  ruhigen 
Gewissens  mit  der  Besdiaffenheit  und  dem  Maß  der 
Portionen  herunter  gehen  und  leiste  nodi  immer  ein 
Mehr  in  den  Magen  der  Speisenden.  Audi  Suzanne 
gegenüber,  die  ihm  ein  Mäddien  geboren  hatte  und  nodi 
in  derselben  Stellung  bei  ihm  war,  nahm  er  jetzt  diesen 
Standpunkt  ein.  Auf  Grund  seiner  Erziehung  war  sie 
gewöhnt,  ihren  und  ihres  Kindes  Körper  gehörig  mit 

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-^ 


ausgesuchter  Eßware  zu  stopfen.  Jetzt  wies  er  sie  hin, 
es  sei  Schande,  den  ungeheueren  Nahrungsmengen,  die 
sie  genösse,  ein  so  winziges  Maß  an  Leistung  gegen* 
überzustellen.  Sie  möge  Leib  und  Geist  mehr  tummeln 
oder  ihren  Eßverbrauch  einschränken. 

Damit  aber  hatte  der  Prozeß  in  ihm  kein  Ende. 
War  gegen  Mitternacht  das  Geschäft  vorbei,  das  Haus 
leer,  blieb  er  am  Herd  zurück  und  begann,  schmorend 
und  bratend.  Versuche  mit  Surrogaten  zu  machen,  die 
er  den  Speisen  beimischte,  von  der  innigen  Überzeugung 
geführt,  er  habe  das  Recht  und  die  Pflicht,  es  den 
Verbrauchern  gleichzutun,  die  auch  an  Stelle  wirklichen 
persönlichen  Wertes  für  das  Menschengeschlecht  falsches 
Vorgeben,  hohle  Gesten    und  Phrasen  gesetzt  hatten. 

Langsam  begann  er  danach,  seine  theoretischen  Er« 
kenntnisse  in  die  Praxis  umzusetzen.  Äußerlich  blieb 
alles,  Name  und  Anrichtung  der  Speisen,  beim  alten. 
Bedachte  er  aber,  wie  ein  Stück  Fleisch  durch  Klopfen 
und  Lockern  der  Atome  angeschwollen,  durch  Bei* 
mischung  scharfer  Gewürze  Kiefer  und  Gaumen  jetzt 
weniger  durch  Kauen  als  durch  Beize  beschäftigte, 
schmunzelte  er  und  trieb  die  entdeckte  Kunst  zu  immer 
größerer  Vollendung.  Nun  hatte  er  zwar  am  Schluß 
des  Jahres  die  Genugtuung  eines  außerordentlichen 
Überschusses,  fühlte  aber,  ihn  befriedigten  die  Grund- 
sätze, nadi  denen  er  heute  Wirt  sei,  weder  in  Bezug 
auf  die  Beschaffenheit  der  Gäste  mehr,  noch  hinsichtlich 
der  Mittel,  die  er  anwandte,  ihre  Erwartungen  zu  erfüllen. 


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An  einem  Sonntagabend  lief  didit  vor  seinen  Augen 
die  Wendeltreppe  zu  den  Räumen  im  ersten  Stods  des 
Restaurants  ein  Persöndien  empor,  das  mit  RoArüsdien 
und  Volants  wie  ein  Quirl  über  seiner  Stirn  hüpfte. 
Die  Beine  in  weißseidenen  Strümpfen  nahmen  zwei,  drei 
Stufen  auf  einmal,  und  bei  jedem  Satz  federte  der  Körper 
hodi  auf  in  den  Gelenken,  Dazu  flogen  Haare,  Federn, 
Pelzwerk  um  den  Kopf,  und  ein  empörtes  HundekläfFen 
kam  von  ihrem  vermummten  Busen  her.  Mit  einem 
Sprung  sdiwang  sie  sidi  oben  zu  zwei  Herren  an  den 
Tisdi  und  rief  klingenden  Stimmdiens:  »Hunger!«  Na* 
poleon,  der  auf  Zehen  vor  sie  getreten  war,  durdi* 
fuhr's,  hier  sei  seine  ganze  Speisekarte  fehl  am  Ort, 
und  während  Röte  sein  Antlitz  malte,  sdilug  das  Herz 
Generalmarsdi  in  hastiger,  aussiditsloser  Erregung,  was 
er  diesem  Püppdien  bieten  könne. 

Als  Madame  Valentine  Forain  stellte  sie  einer  der 
Herren  vor,  und  Napoleons  Unruhe  wudis  zur  Ver« 
zweif lung,  als  er  hörte,  er  habe  die  berühmte  Tänzerin 
vor  sidi,  die  seit  Wodien  Paris  bezaubere.  »Stillen  Sie 
meinen  Hunger  mit  Luft,«  sagte  sie,  »die  den  Leib 
nidit  besdiwert.  Sie  sehen  aus,  als  verstehen  Sie  Ihre 
Kunst.  Diesem  süßen  Ungeheuer,«  sie  wies  auf  das 
safranrote  Hundesdinäuzdien,  das  aus  einer  Spalte  ihrer 
Taille  sdinüffelte,  »reidien  Sie  ein  Sdiäldien  zerkleinerter 
Kalbsmildi.« 

Einen  AugenbiiA  blieb  Napoleon  auf  dem  Gang 
zur  Küdie  im  Dunkeln  an  einen  Pfeiler  gelehnt,  als 
habe  er  einen  Sdilag  gegen  die  Stirn  bekommen  und 

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müsse  sidi  erst  zu  neuem  Leben  sammeln.  Gleidi  aber 
schoß  die  Stiebflamme  der  Erkenntnis  in  ihm  hoA,  hier 
gelte  es  die  Zukunft,  und  sdion  spürte  er  den  aus  den 
Kämpfen  der  letzten  Wodien  gesammelten  Willen  zu 
etwas  gänzlidi  Neuem  als  ein  Liditmeer  über  sidi  fluten. 
An  den  Herd  er  glitt,  sdinitt,  misdite,  quirlte/  hob  es 
in  kleinster  Kasserole  nur  eben  ans  Feuer,  nahm's 
fort,  als  der  erste  Wrasen  stieg,  und  mit  vier  Sprüngen 
die  ganze  Treppe  nehmend,  servierte  er  das  SdiüsseU 
dien  in  seiner  frühesten  Hitze:  Taubenpüree  mit  frisdien 
Champignons. 

Sie  kostete,  murmelte,  sdiludite  und  sdilug  ein  Paar 
kornblumenblaue  Augen  lädielnd  zu  ihm  auf.  Er  stürzte 
in  die  Küdie  zurüdi,  setzte  den  Herd  in  größere  Glut 
und  ließ  über  eine  Handvoll  Spargelspitzen,  die  er  den 
jüngsten  Sprossen  abgesdinitten,  heißen  Dampf  sdilagen, 
in  dem  er  sie  gar  kodite.  Im  letzten  Augenblidc  gab 
er  eine  Sdiwitze  von  Sahne  und  Sellerie  über  das  Ganze. 
Als  drittes  und  letztes  Geridit  bot  er  frisdie,  gesdiälte 
Wallnüsse  mit  Himbeeren  ä  la  creme.  Dem  Hünddien 
aber  hatte  er  Trüfieln  an  die  Kalbsmildi  getan. 

Nun  stand  er  unauffällig  in  der  Nähe,  sah,  wie 
nadi  wenigen  Bissen  von  jeder  Platte  sdion  die  ganz 
sanfte  Röte  auf  ihrer  Haut  lag,  der  Körper  sidi  tiefer 
in  die  Kissen  des  Sofas  drückte  und  aus  ihrem  Munde 
ein  Fauchen,  winzige  Tropfen  Feuchtigkeit  aus  den 
Augen  kamen,  ansagend,  das  zarte  Leibchen  ziehe  hin* 
gegeben  jetzt  Kraft  aus  dem  Genossenen.  Keiner  der 
Herren  sprach  in  diesen  Augenblicken,  da  auf  dem 

16 


Antlitz  der  Frau  ein  andächtiges  Läcfieln  lag,  mit  ihr, 
als  sei  es  ausgemacht.  Zitternden  Zwerchfells  lachte  Na- 
poleon, schüttemden  Leibes  in  heller  Seligkeit  für  sich 
dazu,  bis  ihm  die  Augäpfel  in  Tränen  schwammen.  Er 
war  mit  ihm  eins  und  lobte  Gott  in  der  Höhe. 

Die  Begegnung  wurde  geänderten  Lebens  und  neuer 
Ziele  Anfang.  Als  er  am  gleichen  Abend  heimkehrend 
den  kräftigen  Leib  Suzannes  in  den  Bettkissen  fand, 
sdinitt  er  der  Schlafenden  eine  angewiderte  Grimasse. 
Wütend  deckte  er  ein  freiliegendes  Rundteil  von  ihr 
zu,  schloß  die  Augen  und  träumte  in  Wolken  duftiger 
Seide  und  Band  die  behende  Gestalt  der  Tänzerin. 
Vor  seinem  geistigen  Auge  prüfte  er  die  schlanken 
Arme,  eine  schmale  Hand,  ihre  ^anze  zierliche  Er* 
sdieinung  und  stellte  fest,  wie  wenig  fleischliche  Person 
die  Begnadete  sei,  und  wie  geringer  Kost  sie  bedürfe 
zu  künstlerischer  Leistung,  durch  die  sie  eine  Nation 
zum  Entzücken  hinriß.  Für  welche  Tat  aber  sei  der 
Leib  neben  ihm  derart  aufgemästet,  zu  welchen  Fort* 
sdiritten  brauche  er  seine  täglichen  mächtigen  Rationen? 
Mit  was  für  Gesindel  habe  er,  Napoleon,  sich  eigent* 
lidi  bis  über  sein  cfreißigstes  Jahr  hin  abgegeben,  und 
welch  steilen  Weg  müsse  er  bis  zu  lohnendem  Ziel 
noch  ersteigen!  Er  fühlte,  keine  Minute  sei  zu  ver- 
lieren, und  alles  Heil  ruhe  im  Anschluß  an  die  ver- 
ehrte Gastin.  So  widmete  er  ihr  vom  zweiten  Erscheinen 
an  sein  Trachten  und  Vermögen.  Dachte  die  Stunden 
bis  zu  ihrem  Kommen  nichts,  als  was  er  ihr  vorsetzen, 
wie  er  ihre  Erwartungen  übertreffen  müsse.  Lief  mor- 

17 


gens  vom  Markt  in  Hallen  und  Kramereien/  suchte, 
tüftelte  das  Frisdieste,  Zarteste  und  Rarste  heraus. 
Zur  Vorstellung  ihres  winzigen  Kems  in  einer*  Hülle 
von  Tüll  und  Tand  diditete  er  aus  Sdiaum,  Krusten, 
Farce  und  Saucen  das  assoziierende  Speisengebild  y 
sdiabte^  preßte  in  Tüdier,  seihte  und  übcrquirlte  wohl 
ein  dutzendmal,  bis  das  Gekodite  sAwebend  gleidi 
einer  Wolke  zum  Teller  niedersank.  Dann  sah  er  es 
entzüdit  zwisdien  zwei  leuditenden  Zahnreihen  auf  einer 
sdimalen  Zunge  zergehen. 

Einst  gönnte  sie  ihm  ein  Wort  der  Anerkennung, 
Ihm  sdiien's  ein  Rausdien  und  hallte  ihm  lange  im 
Ohr.  Zum  Sdiluß  riet  sie,  das  Stadtviertel  des  soliden 
Bürgers  eiligst  zu  verlassen  und  jenseits  des  Flusses, 
mitten  im  Herzen  des  vornehmen  Paris,  ein  Restaurant 
zu  sdiafien,  das  trotzdem  bis  heute  jeder  entbehrte,  der 
hödiste  Anforderungen  an  Küdie  und  Keller  zu  stellen 
gewillt  sei.  Sie  würde  mit  Freunden  kommen/  wolle 

seiner  außerordentlidien  Kunst  Verkünderin  sein. 

* 

So  gesdiah's.  Nadidem  er  in  einer  Seitenstraße  bei 
der  Oper  das  passende  Lokal  gefunden,  verkaufte  er 
mit  Nutzen  die  alte  Wirtsdiaft,  ließ  die  Wände  der 
gemieteten  Räume  mit  weiß  silbernen  Malereien  zieren, 
die  zu  dem  reidien  Silber,  der  Wäsdie  der  TisAreihen 
stimmten.  Ein  roter  Teppidi  deckte  den  Boden.  Kraft 
eines  Sdilägwortes,  das  irgendwo  auf  und  über  die 
Boulevards  flog,  wußte  Paris  plötzlidi  von  der  Existenz 
des  Chapon  fin,  und  daß  der  Kenner  eines  gewählten 

18 


Bissens  dort  auf  seine  Rechnung  käme. .  Vier  Wodien 
nadi  Eröflhung  ging  die  beste  Welt  regelmäßig  bei  Na*» 
poleon  ein  und  aus,  als  habe  sie  nie  einen  anderen  Ort 
des  Stelldidieins  gekannt.  Der  Ruhm  seiner  Küdie  beruhte 
auf  der  Vorzüglidikeit  der  leiditen  Platten.  Man  konnte 
wohl  ein  Chäteaubriant,  ein  Seile  de  dievreuil  so  gut  wie 
anderswo  bekommen,  dodi  wies  der  maitre  d'hotel  den 
Gast  mit  Augenzwinkern  auf  die  Spezialität  des  Hauses : 
Musdielgeridite,  Ragouts  und  Pürees  inPfänndien/Über* 
rasdiungein  in  winzigen  Sdiäldien  und  Kasserolen.  Der 
Gast  folgte  und  war  regelmäßig  zufriedengestellt. 

Denn  was  der  Herr  des  Hauses  für  die  Tänzerin 
erdadit,  vervollkommnete,  vermehrte  er  von  Tag  zu 
Tag.  Sdialentiere  ließ  er  aus  den  Krusten,  Geflügel  vom 
Knodien  bredien,  nahm  vom  Tier  das  Gekröse,  von 
den  Gemüsen  die  Spitzen.  Frikassierte  und  misdite  die 
verblüflizndsten  Gegensätze,  verband  das  Widerstrebende 
in  Saucen  von  Sahne,  kostbaren  Eiersorten,  Pilzen  und 
duftenden  Essenzen.  Das  letzte  Geheimnis  seines  Er* 
feiges  aber  war  die  »kurze  Hitze«,  in  der  die  Speisen 
garwerden  mußten.  Der  oberste  Grundsatz  hieß:  was 
zu  lange  Feuer  gerodien,  ist  für  den  Rudi  verdorben. 

Nadi-wie  vor  blieb  Valentine  die  erste,  die  jede  neue 
Sdiöpfung  kosten  mußte.  Zwisdien  ihr  und  dem  Patron 
webte  nun  eine  sdiöne  Vertraulidikeit,  geboren  aus  den 
Blidien  dankbarer  Anerkennung,  mit  denen  die  Essende 
nadi  jeder  von  ihm  selbst  angeriditeten  Platte  Napoleon 
besdienkt  hatte.  Allmählidi  lernten  die  Augen  sidi  audi 
sonst  sudien,  nadi  dem  lauten  Sdierzwort  eines  Gastes 

19 


etwa,  einer  unzarten  Bemerkung  von  irgendwoher,  bei 
ledern  Vorkommnis,  Und  fühlten,  wie  es  in  der  Blid^ 
tiefe  des  anderen  ein  Geheimnisvolles  gai,  durdi  das 
das  eigene  Sdiauen  wie  an  feinen  Häkdien  sdimerz* 
voll  süß  haranguiert  wurde.  Dazu  fuhr  die  Frau  mit 
freundsdiaftlidier  Würde  fort,  ihm  Beobaditungen  und 
Anregungen  mitzuteilen,  die  sie  aus  sidi  selbst  und 
von  anderen  zur  Vervollkommnung  des  Betriebes  nahm, 
Audi  fragte  sie  ihn,  legte  er  ihr  die  kostbare  PelzhüIIe 
um  die  Sdiultern,  letzthin  nadi  dem  praktisdien  Erfolg, 
und  er  war  glüddidi,  ihr  von  Mal  zu  Mal  eine  höhere 
Summe  als  erzielten  Gewinn  zuflüstern  zu  können. 

Die  Gefährtin  seiner  Lehrjahre  und  ihr  Kind  hatte 
er  mit  einer  Summe  abgefunden  und  aus  seiner  Nähe 
verbannt.  Anfangs  sah  er  sie  nodi  hin  und  wieder, 
dann  aber  stand  sie  plötzlidi  im  Sdirank  seiner  Er* 
innerungen  als  Gleidinis  der  Hausmannskost  und  klein* 
bürgerlidier  Umstände. 

Auf  den  Rat  seiner  Gönnerin  widmete  er  der  Zu* 
friedenheit  jener  Frauen  besondere  Aufmerksamkeit, 
die  in  kostbaren  Toiletten  nadi  dem  Theater  in  Be* . 
gleitung  von  Lebemännern  aßen.  Er  merkte  sidi  irgend 
ein  Besonderes,  eine  Laune  der  Betreffenden  und  spielte 
das  nädiste  Mal  vertraut  freundsdiaftlidi  darauf  an. 
Das  Luxusgesdiöpf  sieht  sidi  vom  ernsten  Mann  ernst 
genommen,  errötet  vor  Vergnügen  und  wird  seine  treue 
Kundin.  Neben  dieser  Kategorie  und  ihrem  Anhang 
stellte  er  sidi  vor  allem  den  Diplomaten  und  Staats* 

20 


männcm  zur  Verfugung,  indem  er  ihnen,  kamen  sie 
mit  widitigen  Gesiditern  von  einer  Sitzung,  um  zu  einer 
Sitzung  zu  gehen,  ein  stilles  Bckdien  anwies,  wo  sie 
ungestört  blieben,  nidit  duldete,  daß  ein  Kellner  sidi 
näherte  und  sie  durdi  ausgesudite  Led^ereien  der  Bürde 
ihrer  Verantwortlidikeit  für  Äugenblidte  enthob.  Da  er 
aber  fühlte,  es  ging  ihm  im  Umgang  mit  den  Spitzen  der 
politisdien  Abteilungen  aus  Unkenntnis  ihres  Wirkens 
und  Wollens  die  nötige  Sidierheit  nodi  ab,  lud  er  ^ie 
in  ein  abgelegenes  Zimmer,  durdi  dessen  Wand  er 
von  seinem  Kontor  ihre  Gesprädie  hören,  ihre  Mienen 
beobaditen  konnte.  Da  lernte  er  alsbald,  durdi  weldie 
Spitzfindigkeiten  und  Umsdiweife  aus  Eifersudit  und 
Ehrgeiz  der  Handelnden  strittige  Fragen  zwisdien  po* 
litisdien  Parteien  des  Vaterlandes  oder  den  versdiiedenen 
Nationen,  aus  ihrem  logisdien  Gelenk  gerissen,  zu  Ent» 
sdieidungen  wurden,  die  Zwisdienfälle,  Krisen  und  ein 
KMißtrauensvotum  für  das  Ministerium  hervorriefen.  Er 
sah  den  Führern  Frankreidis  ihrStimrunzeln,  das  ironisdi 
überlegene  Lädieln  und  die  knadtende  Handbewegung 
ab,  die  ein  Ultimatum  bedeutet,  und  hörte  sidi  voll« 
kommen  in  die  inner-  und  außerpolitisdien  Strömungen 
hinein.  Bald  konnte  er  es  wagen,  dem  eintretenden 
Minister,  Attadie  oder  Abgeordneten  eine  so  treffende 
Anmerkung  zur  gerade  widitigen  Afiaire  zuzuraunen, 
daß  der  einen  bedeutenden  Eindrudi  von  ihm  bekam 
und  weitergab.  Aber  audi  die  vollkommene  Kenntnis 
des  galanten  und  des  Gesdiäftslebens  versdiaffte  sidi 
Napoleon  durdi  seine  Hordispalte,  sah  er  verliebten 

21 


Paaren,  feilschenden  Geldleuten  mit  angespannter  Auf» 
merksamkeit  zu,  bis  die  in  der  Erregun|^  aufgesperrten 
Kiefern  sidi  krampften.  Am  erregendsten  blieb  es  stets 
für  ihn,  verHeß  ein  Teil  des  Paares  für  Augenblidce 
das  Zimmer,  und  der  Zurüdcbleibende,  sidi  allein  glau« 
bend,  verlor  alle  Haltung,  wurde  Mensdi  mit  seinen 
Hoffnungen  und  Sorgen,  zählte  in  der  Brieftasche  die 
Barschaft  oder  suchte  durch  Prüfung  der  zurückgebliebenen 
Kleidungsstücke  des  anderen  auf  dessen  wirkliche  Lebens* 
umstände  zu  schließen.  Kurz,  der  Wirt  des  Chapon 
fin  wurde  ein  Kenner,  der  ins  Unterbewußtsein  der 
Menschheit  hinabsah. 

Binnen  Jahresfrist  lag  Paris  zu  seinen  Füßen.  Er 
beherrschte  es  durch  die  vollkommenste  Kenntnis  seines 
Magens  als  ein  gütiger  Fürst  und  lächelte,  als  man 
ihrt\  erst  zaghaft  und  vereinzelt,  dann  ganz  allgemein 
König  Napoleon  im  Gegensatz  zum  Kaiser  nannte. 
Rührung  und  Glück  aber  ergriff  ihn,  als  Valentine  das 
erstemal  seine  Hand  suchte  und  drückte.  Das  war  Be* 
weis  nicht  nur  geschäftlichen  Erfolges,  sondern  auch  des 
erreichten  gesellschaftlichen  Ansehens,  da  die  Gefeierte 
einen  sozial  unter  ihr  Stehenden  nicht  vor  aller  Welt 
so  ausgezeichnet  hätte.  Nun  wuchs  er  von  Tag  zu 
Tag  mehr  in  eine  überlegen  menschliche  Haltung  hinein, 
die  veranlaßte,  daß  selbst  der  höchstgestellte  Gast  ihm 
die  Hand  gab,  ihm  gutgelaunt  auf  die  Schulter  klopfte. 

Für  den  Mann  der  Provinz  vollends  ward  es  bei 
der  Rückkehr  in  die  Heimat  Glanzstücit  des  Berichts 
der  in  der  Hauptstadt  erlebten  Abenteuer,  konnte  er 

22      . 


nidit  nur  bemerken:  Ich  habe  beim  »König«  gespeist, 
sondern  hinzusetzen:  der  midi  auf  die  Sdiulter  sdilug 
und  fragte:  »Nun,  Baron,  wie  wär's  mit  einer  Boule 
au  jus  tutti?« 

Als  er  von  einenvfremdländisdien  Herrsdier  das  erste 
Ritterkreuz  erhalten,  dessen  violette  Rosette  er  am 
gleidien  Abend  im  Knopflodi  trug,  forderte  Valentine 
ihn  auf,  sie  am  nädisten  Tag  um  fünf  Uhr  nadimittags 
aufzusudien.  Er  ersdiien  nadi  sdilafloser  Nadit,  dem 
ruhelosesten  Morgen,  und  fand  sie  im  Raum  auf  der 
Erde,  wo  sie  mit  dem  Hund  balgte.  Sie  sprang  hodi,  ' 
stedite  das  entfesselte  Haar  auf  und  saß  gleidi  in 
einem  niedrigen  Sessel  so  nah  ihm  gegenüber,  daß  er 
das  vergötterte  Antlitz  didit  vor  sidi  hatte,  es  zum 
erstenmal  andäditig  sidi  einprägen  konnte.  Sie  madite 
keine  Be^c^gung  und  ließ  ihn  sidi  vollends  sattsehen. 
Dann  gab  sie  die  Hand,  die  er  inbrünstig  küßte.  Sie 
war  selbst  einfadier  Herkunft  und  ehrte  die  Tüditig* 
keit,  die  ihm  seinen  außerordendidien  Platz  versdiafft. 
Umgehend  nur  mit  Männern  vornehmster  Geburt, 
fesseke  sie  an  ihn  das  Band  etwa  gleidier  Vergangenheit,- 
bei  ihm  durfte  sie  Gefühle  voraussetzen,  die  ihren 
Freunden  fremd  waren.  In  die  Erzählung  der  Mühsale 
auf  dem  steilen  Weg  zum  Erfolg  vertieften  sie  sidi,  I 

spradien  mit  kräftig  eindeutigen  Worten  und  genossen 
in  vollen  Zügen  mit  kidierndem  Sidilustigmadien  die 
Sdiadenfreude,  die  sie  irgendwie  für  eine  Welt  emp^ 
fanden,  über  die  sie  heute  jeder  auf  seine  Art  herrsditen. 

23 


V 


Napoleon  kramte  vor  ihr  seine  kleinen  Geheimnisse, 
alle  Mittel  aus,  mit  denen  er  sidi  in  das  Vertrauen 
der  oberen  Tausend  gesdilidien^  erzählte  von  seiner 
durdisiditigen  Kontorwand.  Sein  Vertrauen  erwidernd, 
gab  sie  ihm  die  Hauptdaten  ihres  Aufstiegs,  nannte 
drei,  vier  Männer,  denen  sie  als  Frau  und  Künstlerin 
verpfliditet  war,  und  zeigte,  alsbald  vor  ihm  tanzend, 
durdi  weldie  dioreographisdien  Binfälle  sie  nadieinander 
die  Menge  bezwungen  hatte,  Sie  sdiwebte  und  bog 
sidi  ohne  Ziererei  vor  ihm,  und  da  sie  im  leiditen  Haus* 
rode  war,  wurde  er  durdi  Zufälle  von  Rode«  und 
Kleiderfall  entzüdet.  Zum  Sdiluß  einen  Csardas  von 
hinreißendem  Rhythmus  stampfend,  kam  sie  aus  der 
entfernten  Edee  des  Zimmers  auf  den  Zehen  g^en 
ihn,  bei  jeder  Taktsenkung  das  Bein  wie  einen  bohrenden 
Pfeil  gegen  sein  Antlitz  stredtend. 

Bei  seinem  zweiten  Besudi  ward  sie  mit  reizender 
Natürlidikeit  seine  Geliebte.  Diese  Frau,  die  den 
Männern  bisher  das  Bild  eines  buntsdiimmemden  Vogels 
von  phantastisdier  Seltenheit  hatte  geben  müssen,  bla*« 
sierter  Ungeduld  zu  genügen,  war  an  seinem  Hals  das 
sdilidite,  sdilanke  Mäddien  aus  dem  Volk  voll  naiver 
Hingabe.  Es  bedurfte  nidits  Außerordendidien  von 
seiner  Seite,  die  Sehnsudit  der  Umarmten  zu  stillen. 

Dodi  blieb  bei  dem  mannigfadien  Glüdt,  das  sie 
einander  gaben,  die  gassenbübisdie  Art,  mit  der  sie  alle 
offizielle  Welt  verhöhnten,  hödister  Genuß.  Napoleon 
besonders  war  darin  unersdiöpflidi.  Größen  der  Geld* 
weit,  Sterne  der  Wissensdiaft  und  Kunst   stellte   er 

24 


blitzschnell  in  gedrängter  Plastik  hin  und  knidite  dann 
mit  witzigem  Binfall  das  Pathos  ihrer  Geste.  Berühmte 
politisdie  Personen  ahmte  er  nidit  nur  in  Tonfall  und 
Haltung  nadi,  sondern  audi,  wie  er  in  der  Betroffenen 
Art  mit  riesigem  Wortsdiwall  durdisiditige  Tatsadien 
in  ein  Chaos  verwirrte.  Während  sie  vorgebeugt  aus 
den  Kissen  ihm  zusaht  führte  er  dramatisdie  Szenen 
auf  zwisdien  den  Botsdiaftern  zweier  Staaten  etwa, 
in  deren  Verlauf  die  beiden,  sidi  über  eine  unsagbare 
Niditigkeit  unsagbar  albern  und  aufgeblasen  unter- 
haltend, allmählidi  anstelle  der  verbindlidisten  Um- 
gangsformen eine  immer  steifere  Haltung,  sdirofFere 
Bewegungen  setzten>  biö  sie  sdiließlidi  wie  zwei  sdimol- 
lende  Godtel  hodimütig  auseinanderstekten.  Er  erzählte, 
mit  weldien  Torheiten  und  Zufällen  sidi  das  Sdiid^sal 
der  Gesetzesvorlagen  in  den  versdiiedenen  Kommis- 
sionen, die  nadi  den  offiziellen  Sitzungen  bei  ihm  fort- 
getagt, meist  entsdiieden  hatte/  sie  gab  ihm  Einsidit 
in  abertausend  Spitzfindigkeiten,  die  die  auf  die  Liebe 
gestellte  Frau  derGesellsdiaft  anwendet,  sidi  ihre  Launen 
und  ihre  Lust,  am  öfiFentlidien  Leben  teilzunehmen,  zu 
erfüllen.  Wie  oft  habe  sie  selbst  ihre  Gönner  in  hohen 
Stellungen  aus  Eigensinn  zu  unsinnigen,  folgensdiweren 
Entsdilüssen  bestimmt  und  den  Reportern,  die  ihr  das 
Haus  einliefen,  nodi  dazu  phantastisdie  Lügen  aufge- 
bunden! So  reinigten  sie  sidi,  das  Thema  unaufhörlidi 
variierend,  innerlidi  von  dem  Respekt,  den  proletarisdie . 
Herkunft  ihrer  Jugend  auferlegt  hatte,  und  wurden 
lädielnde  Veräditer  der  feinen  Lebensformen  und  des 

15 


guten  Tons,  den  sie  wie  den  Stil  in  einem  Drama  von 
Corneille  oder  einer  Molieresdien  Komödie  agierten, 
während  ihnen  aus  ihrer  Liebe  ein  herzlidies  Wort, 
eine  mensdilidie  Bewegung  gleidinishaft  dazu  immer 
gewärtig  war. 

Im  Gesdiäft  dehnte  Napoleon  die  Herrsdiaft,  die  er 
über  Franzosen  besaß,  auf  die  übrige  Welt  aus.  Er 
hatte  London,  Petersburg  und  Wien  gesehen.  Verbin* 
düngen  angeknüpft  und  befestigt,  mandie  Anregung  mit 
heimgenommen.  Sein^aus  wurde  an  der  Themse  und 
Donau  berühmt,  bei  Sadier  und  Claridge  fand  man 
Platten  »Au  Chapon  fin«.  Es  sdieiterte  audi  sein  Vor* 
marsdi  an  die  Newa  nidit  wie  der  seines  unsterblidien 
Namensvetters.  Als  der  fünfzigste  Geburtstag  vor  der 
Tür  stand,  war  sein  Ruhm  über  zwei  Erdteile  ver* 
breitet,  der  größere  Teil  der  zivilisierten  Mensdiheit 
aß  streng  nadi  seinen  Einfällen  und  VorsAriften.  Er 
besaß  ein  fiirstlidies  Einkommen  und  hatte  die  kluge, 
ihn  immer  anfeuernde  Frau  an  der  Seite,  zu  der  die 
Beziehungen  nidit  legitimiert  waren,  die  er  aber  leiden* 
sdiaftlidi  und  zärtlidi  liebte. 

Da  man  vierzehn  Tage  vor  seinem  Fest  vom  Krieg 
mit  Preußen  zu  spredien  begann,  und  die  Gäste  stür* 
misdier  seine  Meinung  wollten,  blieb  er  lädielnd  ruhig 
und  verneinte  jede  Möglidikeit  eines  Ausbrudis  von 
Feindseligkeiten.  Er  wußte  aus  besten  Quellen,  kein 
ernsthafter  Politiker  glaube  wirklidi  an  den  Krieg/  er 
war  gewiß,  es  handle  sidi  wieder  einmal  um  die  Prestige* 
frage,  das  sattsam  bekannte  Händeknaden  und  sdimoU 

26 


lende  Gockeltum.  Aber  audi  als  die  Regierung  unter 
einem  frivolen  Vorwand  die  Sdiiffe  hinter  sidi  ver» 
brannt  hatte,  blieb  Napoleon  in  tiefster  Seele  ruhig. 
Er,  der  wußte,  hohe  Politik  wird  gemadit,  um  ein  paar 
Dutzend  Ehrgeizigen  in  jedem  Land  Vorwand  für  eine 
Karriere  zu  geben  und  ihren  Heißhunger  nadi  öffent* 
lidiem  Bekanntsein  und  Sensationen,  mit  denen  ihr" 
Name  verknüpft  ist,  zu  befriedigen,  war  überzeugt, 
man  werde  unverzüglidi  diesen  Widitigtuern  Genug* 
tuung  geben,  indem  man  sie  mit  Titeln,  Orden  und 
sonstigen  Auszeidinungen  von  überallher  so  reidilidi 
fütterte,  daß  sie  satt  werden  mußten.  Was  den  Frieden 
bedeutete.  Einen  Willen  der  Völker  stellte  er  nidit 
in  Redinung.  Er  hatte  gelernt,  es  wird  mit  ihnen  kurzer;:? 
band  nadi  Gutdünken  der  Regierung  verfahren.  Sie 
sind  es  seit  ewig  gewohnt,  wissen  und  wollen  nidits 
anders.  Sagen  heute  zu  sdiwarz  sdiwarz  und  morgen 
zu  schwarz  weiß.  Es  genügt,  ihnen  zuzurufen:  Das 
Vaterland  ist  in  '^Gefahr!  Sie  fragen  niemals:  Durdi 
wen  im  letzten  Grund?  Lassen  sidi  bewaflhen,  morden 
jeden  Beliebigen  als  Erbfeind,  erst  zögernd,  dann,  aus 
Gewohnheit,  mit  Überzeugung  und  Hodirufen,  Valen* 
tine  gab  ihm  redit,  Sie  verspottete  alles.  Regierende 
und  Regierte,  Verbreitete  Erzählungen,  die  die  Albern« 
heit  der  Diplomaten  in  ein  fabelhaftes  Lidit  setzten, 
militärisdie  Maßnahmen  des  Generalstabs  dem  Ge« 
läditer  preisgaben.  Beide  griffen  mit  Wollust  nadi  jedem 
Gerüdit,  in  dem  sidi  irgendeine  großartige  Dummheit 
manifestierte,  futterten,  hätsdielten  es  und  waren  vor 

^  11 


Freude  außer  sidi,  akzeptierten  es  selbst  diejenigen 
mit  feierlidiem  Ernst,  die  aus  ihrer  übergeordneten 
Stellung  heraus  seine  Sinnlosigkeit  sofort  hätten  ein- 
sehen müssen.  Mehr  als  der  Friede  gab  der  Krieg 
ihnen  unablässig  Gelegenheit,  die  blöde  Einfalt  der 
Welt  auf  Sdiritt  und  Tritt  zu  erkennen  und  sidi  über 
sie  zu  erheben.  Die  einfadie  Tatsadie,  daß  sie  durdi 
Einsidit  in  politisdie  Zusammenhänge  die  Lügenhaftig« 
keit  aller  Vorwände  für  den  Krieg  einsahen,  gab  ihnen 
vollkommen  innere  Unabhängigkeit  von  ihm. 

So  konnten  sie  sidi,  während  ringsum  alle  Welt 
immer  tiefer  in  das  verwirrte  Auf  und  Ab  der  Ge- 
sdiehnisse  verstridit  wurde,  auf  Grund  einer  wirklidien 
Überlegenheit  entsdiieden  von  den  Mensdien  trennen. 
In  ihre  Seele  trat  das  Bewußtsein  höherer  Bestimmung, 
das  sidi  in  den  Antlitzen  malte.  Sie  lebten  jetzt  und  webten 
auf  Wolken  hodi  über  dem  gemeinen  Volk.  Lädiclten 
unbetroffen  erhaben  zu  allen  Unglüdcsfällen  und  Ex- 
zessen, die  die  Folgezeit  in  unauf  hörlidiem  Aufeinander 
bradite.  Die  vollendete  Katastrophe  des  Vaterlandes 
führte  sie  auf  den  hödisten  Gipfel  innerer  Erhebung.  Es 
lagen  ringsum  nidit  nur  die  Mitbürger  ihrer  ernannten 
Weisheit,  Napoleon  und  Valentine  lagen  einander  und 

jeder  sidi  selbst  bewundernd  und  andäditig  zu  Füßen. 

* 

Eines  Tages  trat  auf  in  Paris,  was  man  die  Kom- 
mune nannte.  Sie  zersdilug  die  Spiegelsdieiben  des 
Chapon  fin,  zertrümmerte  alles  Gerät  im  Innern  und 
setzte  Valentine  und  Napoleon,  jeden  für  sidi,  ins  öe" 

28 


fängnis.  Als  es  nach  Wochen  Napoleon  durch  einen 
Zufall  gelang,  sich  zu  befreien,  erfuhr  er,  die  Gefährtin 
seines  Lebens  sei,  an  die  Wand  gestellt,  erschossen. 
Ihm  fielen  die  Beine  unter  dem  Leib  fort,  und  tagelang 
schleppte  er  sich  aus  Gassen  in  Felder  an  Flußrändern 
entlang,  ohne  Licht  und  Finsternis  scheiden  zu  können. 
Das  erste  Bewußtsein  von  sich  empfing  er  durch  einen 
Stoß  vor  die  Brust,  den  ihm  ein  deutscher  Landwehr* 
mann  gab.  Doch  schwand  es  wieder,  bis  eines  Nachts, 
da  er  auf  einer  Pritsche  lag,  Erinnerung  an  Valentine 
ihn  überfiel.  Sie  war  rosa  und  wie  eine  tanzende  Guir* 
lande  anzusehen,  die  sich  immer  enger  um  ihn  schlang 
und  ihm  endlich  die  erste  Träne,  dann  Tränenströme 
aus  den  Augen  schnürte.  Nun  sank  er  hin,  aufgelöst 
in  ein  unendlich  weiches  und  warmes  Weh,  Lange  er* 
sdiütterte  es  seine  Glieder  und  hüllte  die  Welt  in  feuchte 
Schleier.  Es  trat  aber  der  Vergleich  seiner  elenden 
jetzigen  Lage  und  alles  Gewesenen  hinzu  und  erfüllte 
ihn  mit  Haß  gegen  die  Menschheit  und  den  Schöpfer. 
Tiefer  kroch  er  in  sich  hinein  und  häufte  Anklage  auf 
Anklage  gegen  die  Welt.  In  einer  dunklen  Nacht  stand 
er  plötzlich  vor  den  mit  Brettern  vernagelten  Fenstern 
seines  Lokals^ —  noch  hafteten  einige  goldene  Buch- 
staben des  Schildes  —  und  in  das  Loch  plötzlich  riesen* 
großer  Erkenntnis  fiel  die  Summe  fünfzigjährigen  Lebens : 
ein  blankes  Nichts  und  Einsamkeit. 

Trotz  und  Empörung  stachelten  ihn  zu  neuem  Tun. 
Gegen  die  Ungunst  der  Verhältnisse  wollte  er  sofort 
versuchen,  Mittel  zu  neuem  Anfang  zu  schaffen/  des 

29 


y 


gleidien  Abends  aber  legte  er  sidi  irgendwohin  nieder, 
spürend,  es  leide  seine  Natur  nidit,  daß  man  sie  um 
das  bestehle,  was  ihr  vor  allem  notwendig  sei:  unge« 
störte,  hingebende  Trauer  um  Valentine.  So  sudite  er 
sidi  einen  Platz,  der  ihm  nur  das  täglidie  Brot  gab. 
Früh  am  Nadimittag  aber  sdion  sdiloß  er  sidi  in  seine 
Kammer  ein,  stopfte  Fenster  und  Sdilüssellödier,  legte 
sidi  aufs  Bett  und  begann,  die  Frau  von  den  Toten 
heraufzudiditen.  Nadidem  er  sie  zuerst  bis  in  die  kleinste 
Einzelheit  körperlidi  vor  sidi  wieder  hergestellt,  ging 
er  sein  Leben  mit  ihr  vom  frühesten  Anbeginn  an  durdi. 
Um  keinen  Augenblidi  ließ  er  sidi  betrügen,  repetierte 
die  einzelne  Situation  so  oft,  bis  sie  in  lebendiger  Wahr- 
haftigkeit vor  ihm  stand.  Jene  erste,  da  sie  mit  Rodi* 
rüsdien  und  Volants  wie  ein  Quirl  über  seiner  Stirn 
die  Treppe  hinaufgehusdit  war.  Die  Beine  in  weiß- 
seidenen Strümpfen  nahmen  zwei,  drei  Stufen  auf  einmal, 
er  sieht  sie  im  Gelenk  flitzen,  und  da  —  das  aber  hat 
er  damals  nidit  gesehen  —  ersdieint  blitzend  am  Knie 
die  goldene  Strumpfbandsdinalle.  Wahrhaftig,  als  Wirk* 
lidikeit  dauerte,  vor  lauter  Sdiauen  und  Staunen  hatte 
sein  Bewußtsein  sie  nidit  gefaßt.  Und  heute  erstand 
sie  das  erstemal  zum  Leben,  besdiworen  durdi  seine 
unwiderstehlidie  Zärthdikeit.  So  drang  er  inständig 
weiter  i|i  Erinnerung  ein  und  entriß  ihr,  mit  Hingebung 
und  Andadit  um  ein  Nidits  und  den  Bruditeil  einer 
Sekunde  kämpfend,  so  viel  Niditgespürtes  und  Nidit* 
erfahrenes,  daß  er  ein  vöIHg  neues,  reidieres  Leben  mit 
der  gestorbenen  Freundin  führte. 

30 


Als  er  bei  jener  Epodie  angekommen  war,  in  der 
sie  ihr  irdisdies  Leben  beendet  hatte,  bradite  er  sie 
leidit  über  die  Klippe  des  leiblidien  Todes  handelnd 
und  redend  in  die  jetzige  Zeit  hinüber  und  sah  sie 
Stellung  nehmen  zu  seinem  augenbliddidien  Dasein.  Er 
müsse,  da  die  Verhältnisse  sidi  allmählidi  wieder  zur 
Ordnung  fugten,  den  sinnenden  Zustand  aufgeben,  an 
äußeres  Fortkommen  und  eine  neue  bedeutende  Ein- 
stellung zu  neuen  Umständen  denken. 

Hatte  ihm  der  Krieg  nidit  tiefere  Einblidse  in  Fragen 
der  Ernährung,  Möglidikeiten  der  Rohstofiverarbeitung 
gegeben,  als  jede  Situation  vorher?  Weldie  außerordent* 
lidien  Aufedilüsse  hatte  die  zwedcmäßige  oder  unzwedc« 
mäßige  Ernährung  eines  Heereskörpers,  der  Bevölkerung 
einer  belagerten  Stadt,  weldie  Klarheit  vor  allem  das 
Befinden  des  eigenen  Körpers  nadi  dieser  oder  jener 
leiblidien  Zumutung  ihm  versdiafit!  Das  eine  mindestens 
war  zur  Evidenz  klargeworden:  Weit  über  die  Not* 
dürft  hatte  der  Mensdi  vor  dem  Krieg  gegessen  und 
getrunken.  Es  sdiien  Napoleon  fernerhin  ein  Unding, 
das  bisher  üblidie  Mittagsmahl  von  sedis  oder  sieben 
Platten,  ein  Abendessen  von  fast  gleidiem  Umfang  zu 
servieren.  Millionen  hatten  größere  Arbeitsleistung, 
höheren  Sdiwung  bei  einem  Stüds  Brot  und  wenigen 
Kartoffeln  bewiesen  als  Generationen  vorher  bei  einer 
täglidien  Unzahl  von  Geriditen.  Es  sdiien  ihm  hohe 
Pflidit,  die  gewonnenen  Erkenntnisse  dem  Publikum 
sofort  praktisdi  zu  demonstrieren. 

Er  gab  Valentine  vollkommen  redit.  Sie  habe  nidit 

31 


nur  dem  eigenen  Leib  nie  mehr  als  das  Notwendige  zu» 
gemutet,  sondern  sei  audi  Anlaß  gewesen,  daß  er  den 
Gästen  dasLeiditeste  und  Verdaulidiste  geboten.  Dodi  in 
viel  zu  viel  Platten  auf  einmal.  Von  jetzt  ab  müsse  er 
in  zwei,  drei  Geridite  zusammendrängen,  was  der  Magen 
zur  Speisung  des  Organismus  braudie,  und  ihm  zugleidi 
die  volle  Wollust  eines  reidilidien  Mahles  vermitteln. 
Während  er  also  die  am  Leben  gebliebenen  Gönner 
aufsudite  und  zu  seiner  Unterstützung  vermodite, 
während  die  so  lange  leer  gebliebenen  Räume  seines 
alten  Heimes  allmählidi  in  strahlenden  Stand  gesetzt 
wurden,  unterriditete  er  sidi  methodisdi  über  die 
wissensdiaftlidie  Zusammensetzung  der  versdiiedenen 
Nahrungsmittel,  über  ihren  Gehalt  an  Eiweiß,  Kohle^ 
hydraten  und  Fett.  Er  madite  Tabellen  und  Exempel 
über  Exempel  und  erredinete  an  glüdiseligen  Tagen 
eine  neue  ideale  Sf)eisenkarte,  auf  der  er  jeden,  audi 
den  verführerisdisten  Namen  einer  Platte,  sofort  durdi 
l^  arithmetisdie  Zahlen  ersetzen  konnte/  aus  der  man  mittels 
zweier  Speisen  einen  ausreidienden  Nenner  sämtlidier 
für  die  Ernährung  widitigen  Stoffe  erzielen  konnte. 
Hatte  aber  anfangs  Notwendigkeit,  die  gewollten  Ein« 
y  heiten  in  ein  Geridit  unterzubringen,  vielleidit  auf  dessen 
gastronomisdie  Vollkommenheit  gedrüdit,  ging  jetzt  auf 
Spaziergängen  Napoleons  Phantasie  der  erklügelten 
Platte  von  allen  Seiten  zu  Leibe,  wie  ihre  Sdimadi* 
haftigkeit  und  Anriditung  auf  die  hödiste  Höhe  zu 
bringen  sei.  Und  da  ihm  ein  über  das  andere  Mal  die 
Hitze  des  Entdedterglüdis  ins  Gesidit  stieg,  fixierte  er 

32 


endgültig  die  Gcridite,  mit  denen  er  künftige  Mcnsdien 
aus  der  Sdiwädiung  durdi  den  Krieg  zu  frisdiem  Leben 
führen  wollte. 

Der  Erfolg  an  der  wiedereröfFneten  Stelle  war  nidit 
so  überrasdiend  und  bedeutend  wie  das  erstemal.  Sdion 
nadi  wenigen  Tagen  stellte  der  Wirt  fest,  er  hatte  es 
mit  lauter  Unbekannten  zu  tun,  die  nidit  Empfehlung, 
sondern  Zufall  und  Laune  zu  ihm  gefuhrt.  Der  riesige 
Kreis  seiner  alten  Gäste  war  vom  Erdboden  ver* 
sdi wunden.  Dodi  stählte  diese  Erkenntnis  seine  Kräfte, 
da  ihm  einleuditete,  es  braditen  di^  Neulinge  auf  Grund 
liebgewordener  Gewohnheiten  keine  Voreingenommen- 
heit mit.  So  verließ  er  Monate  die  Küdie  nidit,  wo  er 
mit  Anspannung  aller  Kräfte  die  gewonnenen  Grund* 
Sätze  in  die  Tat  umsetzte.  Vor  allem  mußte  er  die 
KöAe  von  der  Riditigkeit  seiner  Ansiditen  überzeugen, 
daß  die  nötige  Herzenslqst  zur  Arbeit  ihnen  nidit  fehlte. 
Erst  als  unten  die  Wirtsdiaft  geregelten  Gang  ging, 
betrat  er  die  Räume  des  Restaurants  wieder  und  sudite 
Fühlung  mit  den  Gästen. 

Vom  Ton  zwisdien  ihnen  und  den  Kellnern  ward 
er  zuerst  betroffen.  Es  gab  keine  Unterhaltung  über 
die  zu  wählenden  Speisen,  nidit  einen  Sdierz,  kein  inter* 
essiertes  Hin  und  "Wider.  Kurze  Kommandos  flogen. 
Der  Bedienende,  geneigten  Hauptes  stumm,  madite 
kehrt.  Man  aß  sdinell,  ließ  sidi  nidit  mit  Behaglidikeit 
nieder.  Kaum,  daß  man  die  Kissen  drüAte.  Zur  Ver* 
dauung  gab  sidi  niemand  Zeit.  War  der  letzte  Bissen 

33 


genossen,  fuhr  der  Gast  in  die  Höhe  und  versdiwand. 
Rote  Köpfe,  fettgeränderte  Lippen,  müde  Sdieitel,  die 
sidi  in  die  Sofarüdien  lehnten,  Hände,  mit  gesdiwollenen 
Adern  aufs  Gedeck  gebreitet,  sah  Napoleon  nidit  mehr. 
Es  wehte  nidit  der  Atem  einer  allgemeinen  glüdiseligen 
Sattheit  nadi  Tisdi  und  des  Dankes  gegen  Gott  und 
den  Wirt  durdi  den  Raum.  Steif  und  gereizt  fast  saß 
der  Kauende  und  vermied,  audi  nur  von  sidi  fortzu* 
sehen.  Das  war  nidit  ein  geänderter  Kundenkreis,  das 
war  das  Gesidit  einer  anderen  Welt,  erkannte  Napoleon, 
Es  war  klar:  andere  Ideale  herrsditen  in  neuen 
Mensdien.  Der  Krieg  hatte  die  Madithaber  von  ehe* 
mals  verniditet.  Es  saßen  nidit  mehr  die  Glieder  alter 
Familien  an  seinen  Tisdien,  die  in  oft  Jahrhunderte* 
langem  Ringen  Ansehen  und  Vermögen  an  sidi  gebradit 
und  es  zu  braudien  wußten/  er  bediente  nidit  mehr 
die  dreifadie  Aristokratie  des  Adels,  ererbten  Reidi* 
tums  und  des  Geistes.  Hier  trat  eine  Rasse  auf,  die 
durdi  den  Umsturz  aller  Verhältnisse  an  die  Oberflädie 
gespült,  behend  zugegriffen  und  in  der  allgemeinen  Ver* 
wirrung,  bei  einer  sentimentalen  Ersdilaffung  der  Be« 
sitzenden,  sidi  übermäßig  und  skrupellos  bereidiert  hatte. 
Den  Sadi  voll  Gold,  saßen  sie  unkundig  seines  Ver* 
braudis,  gierig,  die  Allüren  der  Wissenden  sidi  an- 
zueignen, elend  und  leer  mit  der  einzigen  Geste 
sdiweigender  Abwehr.  Stumm  und  in  der  Bewegung 
beherrsdit,  konnten  sie  für  unterriditet  gelten.  Spradien 
sie,  wurde  ein  Wirken  der  Glieder  notwendig,  klappten 
sie  zu  völliger  Ohnmadit  zusammen. 

34 


Nadidem  er  aber  eingesehen^  die  Zurüdihaltung 
der  Gäste  sei  in  einem  Zuwenig  begründet,  ließ  er 
seine  beherrsdite  Unterwürfigkeit  und  ging  langsam, 
dodi  eindringlidi  zum  AngriflF  gegen  die  maskierte  Ge- 
seflsdiaft  vor.  Wie  ein  Dieb  bradi  er  in  gepanzerte 
Unnahbarkeit,  legte  ein  harmloses  Sätzdien  als  Köder 
vor  und  amüsierte  sidi  göttlidi,  ließ  der  gesdimeidielte 
Heraufkömmling  sidi  aufs  Eis  überkommener  Begriffe 
locken  und  legte  eine  geradezu  erbarmungswürdige 
Blöße  an  den  Tag.  Hatte  er  hinter  undurdidringlidier 
Maske  jemandes  Vertrauen  gewonnen,  ließ  er  den  Ge* 
tä^usditen  das  eigene  Selbstbewußtsein  ausbreiten,  das 
sidi  fast  immer  stützte  auf  alberne,  mit  Emphase  vor* 
getragene  Gemeinplätze  über  den  Krieg,  Heldentaten, 
die  der  Betreffende  irgendwie  während  des  Feldzugs 
vollbradit  haben  wollte/  dann  kamen  Napoleons  Ein* 
würfe  aus  dem  Sdiatz  des  Herkommens,  Namen  aus* 
gezeidineter  Mensdien  der  Vergangenheit,  bedeutender 
Erfindungen,  irgendeiner  Geistesgroßtat.  Am  hödisten 
hüpfte  sein  Herz  vor  Freude,  konnte  er  durdi  einen 
einzigen  Kulturbegriff,  den  er  wie  einen  spitzen  Pfeil 
dem  Gegner  in  die  Parade  flitzte,  diesen  bis  auf  die 
Haut  entlarven. 

Nun  fing  des  Abends  im  Bett  ein  Gekidier  an,  das 
grausamer  und  sdionungsloser  war,  als  jenes  einstige 
Ladien  mit  Valentine  über  Narrheiten  einzelner  Zeit- 
genossen vor  dem  Krieg,  Hier  fand  Napoleon  eine 
ganze  Welt  närrisdi/  ihren  einzigen  Ehrgeiz,  Geld* 
gewinn   und   Beurteilung   des   Mensdien   nadi   seiner 

35 


Eignung  dazu,  über  das  Maß  abgesdimadit  und  kahl. 
Während  seine  Gesdiäfte  nodi  gut  gingen,  sah  er  sAon 
die  Kluft  sidi  auftun  zwisdien  einer  modernen,  rein 
merkantilen  Weltauffassung  und  dem  eignen  Universa- 
lismus.  Mit  Ergriffenheit  spürte  er,  wie  zum  erstenmal 
er  hier  von  Valentine  sanft  sidi  sdiied.  Er  wußte,  audi 
für  die  sdireddidi  veränderte  Welt  hätte  sie  nur  gut* 
mutigen  Spott- gehabt,  in  ihm  aber  kam  von  Tag  zu 
Tag  stärkere  Empörung  herauf,  die  ihn  sdiließlidi  völlig 
beherrsdite. 

Ihm  sdiien  jetzt,  die  fröhlidie  Überlegenheit,  "die  mit 
dem  fortsdireitenden  Alter  Valentines  iftimer  friedlidier 
und  harmloser  geworden  war,  hätte  ihn  sdion  in  der 
letzten  Zeit  ihres  Lebens  gereizt.  Hatte  sie  nidit  sdiließ* 
lidi,  hadidem  man  sidi  gehörig  ausgeladit,  immer  eine 
Entsdiuldigung,  irgendeine  Güte  für  den  Verspotteten 
gehabt?  Er  war  durdidrungen,  sie  würde  es  heute  nidit 
anders  madien,  ja  sie  mödite  zur  Nadisidit  nodi  viel 
geneigter  sein,  und  zürnte  ihr  darum.  Je  mehr  seine 
Abneigung  gegen  das  Publikum  wudis,  je  hassenswerter 
ihm  die  Ersdieinungen  wurden,  um  so  mehr  sdiob  er 
Valentine  den  unbeugsamen  Willen  zy^  alles  zu  be* 
greifen  und  zu  vergeben.  Es  begann  ein  täglidier  Kampf, 
unaufhörlidie  Auseinandersetzung  mit  der  Welt  einer* 
seits  und  dem  lebendigen  Bild  der  geliebten  Frau  auf 
der  anderen  Seite,  der  ihn  zermürbte  und  elend  madite. 
Dodi  blieb  allen  Einwendungen  gegenüber  sein  dumpfer 
Haß  sdiließlidi  siegreidi.  Jahre  hindurdi  hatte  er  nun 
nidits  mehr  von  Freuhdlidikeiten  und  Lieblidikeiten  des 

36 


geselligen  Lebens  bei  sidi  gesehen.  Es  war  der  Sinn 
für  Blumen  und  brillante  Qberrasdiungen,  Tollheiten 
und  geistreidi  Unvorhergesehenes  gesdi wunden/  nidit 
mehr  gab  es  die  über  das  Mannesbewußtsein  als  Spen- 
derin alles  Glüdis  erhöhte  und  angebetete  Frau,  Kein 
Ladien  herrsdite  mehr  und  liein  Versdiwenden,  nidit 
Laune  und  Überlegenheit.  Wohin  er  hörte:  Gesdiäfte. 
Ziffern,  wohin  er  sah.  Das  Dadi  des  Hauses  sdiien  auf 
ihn  zu  stürzen,  als  eines  Tages  ein  Gast,  kühl  und 
korrekt,  an  dem  er  mit  witziger  Bemerkung  sidi  gerieben, 
ihm  ein  Goldstüdi  als  Trinkgeld  anbot. 

Da  lief  das  bis  zum  Rand  gefüllte  Gefäß  über.  Von 
jenem  Abend  bis  zum  andern  Morgen  grub  sidi  eine 
Falte  zwisdien  seine  Brauen,  die  Lippen  preßten  sidi 
aufeinander.  Er  hatte  fortan  nidit  nur  keine  Teilnahme 
für  die  gute  Bedienung  der  Gäste,  sondern  genoß  mit 
Sdiadenfreude  ein  Glüdt,  sah  er  in  irgendeinem  Anditz 
Enttäusdiung  über  die  angeriditete  Speise.  Sdinell  ward 
sein  geänderter  Sinn  den  Kellnern,  Ködien  oflFenbar. 
Sorgfalt  und  Gewissen  floh.  Immer  häufiger  gab  es  un* 
zufriedene  Gesiditer  der  Essenden.  Unbewegter  Miene 
sdilürfte  der  Wirt  jedes  Quentdien  Wut,  dessen  Aus- 
drudi  er  erhasdite,  und  berausdite  sidi  daran.  Ganz 
nadi  vorn  wudis  sein  Gesidit.  Stedienden  Blidts,  ge* 
blähter  Nase  sdinüflFelte  er  sidi  in  das  Empfinden  der 
neuen  Welt,-  trank,  wie  bitter  es  sdimedite,  sie  völlig 
aus  und  spürte  zum  anderen  Male  deudidier  und  als 
Entsdieidung:  in  dreißig  Millionen  Narren  besaß  die 
Nation  nur  nodi  einen  Sinn:  das  Geld,  und  jeder,  dem 

37 


der  Erwerb  wie  immer  geglückt  war,  war  im  eigenen 
und  im  allgemeinen  Urteil  Person.  In  Napoleons  Auf= 
Fassung  aber  war  er  ein  Räuber,  ein  Sdieusaf,  das  die 
Anardiie  der  Vernunft  während  des  Krieges  benutzt 
hatte,  den  durdi  Überlegenheiten  und  Mühsale  in  Gene* 
rationen  erworbenen  Familienbesitz  des  Landes  an  irdi* 
sdien  und  himmlisdien  Gütern  zu  zerstören.  Es  kamen 
die  Häuptlinge  der  neuen  Geldaristokratie  zu  ihm.  Fett, 
fredi  und  verlegen  stümperten  sie  mit  ihren  Weibern 
Geselligkeit, 

In  Napoleons  Hirn  stieg  wie  ein  Bläsdien  zuerst 
der  Gedanke  an  Gift,  das  ihnen  zwisdien  die  Speisen 
zu  misdien  sei.  Bald  madite  er  sidi  im  Denken  breiter, 
und  endlidi  beherrsdite  er  sein  Traditen  ganz.  Von^ 
irgendwoher  hatte  er  sidi  das  ansehnlidie  Quantum 
Arsenik  versdiafit,  das  ihm  nun  seit  Tagen  in  der  Tasdie 
brannte:  es  wie  ein  harmloses  Gewürz  in  die  Teller 
zu  streuen,  abzuwarten,  bis  die  Wirkung,  die  in  den 
Eingeweiden  wühlte,  ins  Auge  bradi.  Glut  stieg  ihm 
ein  über  das  andere  Mal  in  die  Haare,  bis  er  fühlte,  im 
nädisten  Augenblidc  widerstände  er  dem  ungeheueren 
Verlangen  nidit  mehr. 

Da  riß  er  die  Tür  zur  Gasse  auf,  und  barhäuptig 
im  Galopp,  als  wälzten  sidi  Lavaströme  auf  seinen 
Fersen,  entlief  er  der  Straße,  dem  Stadtviertel,  der  Bann- 
meile von  Paris,-  sank  draußen  ins  Feldgras,  sdiludizte, 
daß  die  Knodien  bebten,  sdiludizte  sidi  und  die  Erde  naß. 


38 


Er  zog  die  Landstraßen  entlang,  durdi  Märkte  und 
Städte.  Blieb  aus  Zufall  irgendwo  Monate,  Jahre  als 
AufVärter,  Hausknedit,  Gelegenheitsarbeiter,  Sein  Welt* 
bild  wurde  auf  gleidier  Basis  runder  und  mannigfaltiger. 
Überall  sah  er  die  vom  Kampf  ums  Dasein  betäubten 
Massen,  von  rüdtsiditslosen  Unternehmern  an  Kessel 
und  Masdiinen  gesdimiedet,  Waren  verfertigen,  für  die 
aus  sdiließlidiem  Mangel  an  Absatz,  so  rcdinete  Na* 
poleon,  über  kurz  oder  lang  durdi  neue  Kriege  mit  neuen 
Hekatomben  zerfleisditer  Mensdien  neue  Abnehmer  in 
zu  erobernden  Provinzen  gewonnen  werden  mußten. 

Hellen  Bewußtseins  trat  er  aus  diesem  Lauf  der  Ge* 
sdiidce  aus.  Den  Gedanken  an  Erwerb  riß  er  mit  allen 
Wurzeln  aus  seiner  Seele,  erlaubte  sidi  keinen  Besitz 
über  die  Notdurft.  Das  von  aller  Welt  gesonderte 
Dasein  gab  ihm  Person  und  Überlegenheit,-  der  Mangel 
an  Eigentum,  Unabhängigkeit  und  freie  Bewegung.  Von 
einem  Tag  zum  andern  hatte  er  durdi  einen  einzigen 
Entsdiluß  Verfügung  über  sidi  und  die  Welt  nadi  allen 
Seiten  gewonnen,  und  ein  erlöstes  Ladien  trat  in  sein 
Gesidit.  Jetzt,  wo  er  audi  stand  und  ging,  war  er  bloßer 
Zusdiauer  der  mensdilidien  Komödie,  an  der  er,  weil 
durdi  eigene  Qual  nidit  mehr  verbunden,  gutmütige 
Kritik  übte.  Da  war  es,  daß  er  sidi  dem  vergessenen  An* 
denken  Valentines  wieder  offiziell  und  innig  vermählte, 
der  er,  wie  er  sidi  nun  gestand,  während  seine  Vernunft 
ihre  Einflüsse  bekämpfte,  ahnend  nadigefolgt  war. 

Eines  Tages  stand  er  vor  jenem  Edihaus,  an  dem 
sidi  die  Stein wege  nadi  Nivelles  und  Genappes  trefl^en,- 

39 


in  dem  er  geboren  war,  Niemand  kannte  ihn  dort.  Alles 
Verwandte  war  tot.  Als  zwölfjähriger  Knabe  war  er 
hier  fortgegangen,  der  Wiedergekehrte  zählte  funfund^ 
sediszig  Jahre. 

Aber  im  Wirtshaus  wußte  man  seine  Gesdiidite, 
Erzählte  Grandioses,  Historie  von  ihm.  Mehr  war  den 
Erfolgen  dieses  heimisdien  Napoleon  die  allgemeine 
Teilnahme  und  Bewunderung  zugetan,  als  dem  Korsen. 
Man  wies  ihm,  der  sidi  nidit  zu  erkennen  gab,  ge» 
rahmte  Zeitungsnadiriditen,  in  denen  es  hieß,  wie  ganz 
Außerordentlidies  von  ihm  in  versdiiedenen  Zeitläuften 
ausgeriditet  war  ^  »und  angeriditet,«  wie  ein  Witziger 
hinzufügte.  Länder  samt  ihren  Fürsten,  die  zivilisierte 
Welt  von  West  nadi  Ost  habe  sdiließlidi  ihm,  dem 
vlämisdien  Bauernsohn,  einmütig  zu  Füßen  gelegen. 
Mit  nadidenklidiem,  gerührtem  Erstaunen  hörte  Na* 
poleon  die  mannigfadien  Erzählungen  und  entsann  sidi 
der  Kreuze  und  Sterne  an  rot  und  grünen,  an  ge* 
streiften  Bändern,  die  irgendwo  in  einer  Sdiubiade  lagen. 

* 

Am  Rand  des  unvergleidilidien  Wälderkranzes,  der 
Brüssel  einsäumt,  liegt  in  einer  Talsenkung  an  der 
Straße  von  Quatre*bras  nadi  Waterloo  das  Sdilößdien 
Groenendael/  ein  weißes,  einstödiiges  Haus  aus  dem 
Empire.  In  vergangenen  Zeiten  eine  Abtei,  wurde  es 
im  neunzehnten  Jahrhundert  Wirtshaus,  in  das  die  bes« 
seren  Bürger  Brüssels  auf  Ausflügen  einkehren.  Dort 
ganz  nah  der  Stätte  seiner  Geburt,  nahm  Napoleon 
einen  Platz   als  Kellner,    Seine  Jahre,  die  sdiwadien 

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Füße  erlaubten  ihm  angestrengten  Dienst  nicht  mehr. 
Hier  war  im  Winter  nichts,  im  Sommer  an  Wochen* 
tagen  wenig  zu  tun.  Nur  Sonntags  mußte  er  sich  ein 
wenig  tummeln.  Dodh  nahmen  die  Gäste  seiner  viel 
Rücksicht  und  blickten  mit  neugieriger  Erwartung  ihm 
entgegen,  trug  er  das  hochbeladene  Brett  auf  sie  zu. 
Jeder  hatte  ein  Wort  für  ihn,  dem  er  freundliche  Em* 
pfindung  unterlegte/  alle  Anrede  begann  mit  Um* 
Schreibung  und  Entschuldigung  fast  Niciit,  was  er 
brachte,  er  selbst,  wie  er's  ausführte,  blieb  Gegenstand 
teihiehmender  Aufmerksamkeit,  gutmütigen  Staunens, 
und  stand  das  Gewünschte  auf  dem  Tisch,  strahlte 
ihm  alles  Verwunderung  und  Anerkennung  zu.  Aher 
auch  Napoleon  selbst  lachte  in  heller  Befriedigung  über 
das  ganze  Gesicht.  Der  Wirt  mit  seiner  Familie  merkte 
das  Gefallen  der  Gäste  an  dem  alten  Mann,  behandelte 
ihn  mit  Rücksicht  und  ließ  ihn  ungestört  und  ungescholten 
seine  Tage  hinbringen. 

So  kam  von  außenher  alsbald  kein  Mißlaut  mehr 
in  sein  Leben,  das  im  ruhigen  Gleichmaß  ging.  Den 
Frühling  sah  er,  Gottes  himmlische  Wärme  in  be* 
stimmten  Abschnitten  über  die  Erde  kommen,  auf 
den  Hügeln  Buchen  grünen,  Kühe  über  die  beblumte 
Wiese  weiden.  Mensdien  aller  Art  aber  wandelten 
,j  zu  allen  Jahreszeiten  in  einem  schönen,  landschaftlichen 
Panorama  vor  ihm.  Lange  sah  er  sie  als  deutliche  Fi* 
guren  mit  Lärm  und  eigener  Bewegung,  dann  noch 
wie  scharfe  Schatten.  Allmählich  aber  lösten  sie  sich 
still  in  umgebende  Natur  auf. 

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Die  sich  in  seine  Seele  wie  ein  vollkommenes  Ge^ 
mäMe  spannte,  das  er  mit  Andacht  schaute.  War 
die  Sonne  mild,  trat  er  unter  Bäume  und  blickte  das 
Warme  an,  das  um  ihn  summte.  Dort  strahlte  ein  Vogel 
lang  dasselbe  Lied/  dann  flog  er  wie  Licht  zum  andern 
Baum  hinüber.  Hier  putzte  das  Eichhorn  sich  schnurrig 
geduldig  zum  Goldbraun  der  Stämme,  Blindsdileidie 
krodi  mit  dem  Schatten  ins  Helle  und  züngelte.  Dann 
faltete  Napoleon  die  Hände,  stieß  entzückte  Seufzer 
aus  und  legte  sich  lang  ins  Gras.  Den  Blick  zum  ewigen 
Himmel  aufgesdilagen,  hatte  er  die  gesamte  Schöpfung, 
Ton,  Raum  und  Licht  mit  eins  in  der  Netzhaut. 

An  Vergangenheit,  viel  Madit  und  Ehre,  viel  Leid 
und  Elend,  häusliches  und  bürgerliches  Wesen,  an 
einzelnes  erinnerte  er  sich  nidit  mehr.  Manchmal  tätschelte 
er  die  Kuh,  den  Hund  und  dadite  nidits  dabei.  Er 
wurde  gar  sehr  schwadi.  Das  war  ihm  eitel  Wollust. 
Als  die  letzte,  größte  Schwäche  kam,  war  er  gut  und 
fromm. 


Von  CARL  STERNHEIM  erschienen: 

IM  INSEL-VERLAG 

DON  JUAN 
Eine  Tragödie.  Geh.  M5.— ,  Halbleder  M  8,— 
ULRICH  UND  BRIGITTE.  Ein  drama- 
tisdies  Gedidit.  Geh.  M  3.^,  Leinen  M  4,— 

AUS  DEM 
BÜRGERLICHEN  HELDENLEBEN: 

1.  DIE  HOSE.  Lustspiel. 

2.  DIE  KASSETTE.  Komödie. 

3.  BÜRGER  SCHIPPEL.  Komödie. 

4.  DER  SNOB.  Komödie. 

Jeder  Band  geheftet  M  3.—,  Leinen  M  4.— 

KURT  WOLTT  PERLAG 

5.  DER  KANDIDAT.  Politisdie  Komödie. 

6.  1913.  Sdiauspiel. 

Als  vierzehnter  Band  der  Büdierei  »Der  jüngste  Tag« 

BUSEKOW 
Erzählung.  Geheftet  M  0.80,  gebunden  M  1.50 


SCHAUSPIEL  IN  DREI  AUFZÜGEN 

VON 

CARL  STERNHEIM 

ist  in  einmaliger  Ausgabe  mit  Textzeicfinungen  von 
Ernst  Stern  soeben  ersdiienen  und  kostet  geheftet  M  3,—, 
leicbt  gebunden  M  4,50,  in  Halbleder  gebunden  M6,  — . 


Büdierfreunde  wollen    bald  bestellen,  da  ein   Neudrud^ 
dieser  illustrierten  Ausgabe  nidit  stattfinden  wird. 

KURT  WOLFF  VERLAG 

LEIPZIG    1915 


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