Skip to main content

Full text of "929049"

See other formats


Eine Bach-Konjektur 
Author(s): Friedrich Spiro 

Source: Sammelbande der Internationalen Musikgesellschaft, 2. Tahrg., H. 4. (Aug., 1901), pp. 
651-653 

Published by: Franz Steiner Verlag 

Stable URL: http://www.jstor.org/stable/929049 

Accessed: 20/11/2013 11:45 



Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at 
http ://www.j stor.org/page/info/about/policies/terms .j sp 

JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of 
content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms 
of scholarship. For more information about JSTOR, please contact support@jstor.org. 



cusua 

http ://www.j stor.org 




Franz Steiner Verlag is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Sammelbande der 
Internationalen Musikgesellschaft. 



This content downloaded from 134.99.118.248 on Wed, 20 Nov 2013 11:45:28 AM 
All use subject to JSTOR Terms and Conditions 



Friedrich Spiro, Eine Bach-Konjektur. 



651 



Eine Bach-Konjektur 

von 

Friedrich Spiro. 

(Rom). 



Wer sich mit der Gesamtausgabe von Bach's Werken vielfach zu be- 
schaftigen Gelegenheit hat, der wird neben ihrem Wert im groBen, ihrer 
Bedeutung fiir die Kultur, auch ihre Vorziiglichkeit im einzelnen be- 
wundern; gerade der philologische Teil der ungeheuren Arbeit ist mit 
einer Sorgfalt und Sauberkeit bewaltigt worden, die bis dahin bei keiner 
ahnlichen Arbeit erreicht war und auch spater nur in Ausnahmefallen 
erreicht worden ist. Wenn also hier ein kleiner Irrtum aufgezeigt werden 
soil, so geschieht das nicht vom Standpunkte der norgelnden Kritik aus, 
sondern deshalb, weil gerade ein solches Monumentalwerk beanspruchen 
darf, bis in die entlegensten Einzelheiten sorgfaltig betrachtet und, wo 
noch irgend ein Fleckchen blieb, geputzt zu werden. 

Es handelt sich um eine Stelle aus dem letzten Satze des Konzertes 
in G-dur fiir Violine und zwei Flo ten, das in den sogenannten »branden- 
burgischen* an vierter Stelle steht. Dort heiBt es beim letzten konzer- 
tierenden Einsatze der Solofloten (Bach's Werke, Jahrgang XIX, Seite 120, 
Takt 3—5): 




etc. 



Die anderen Instrumente schweigen. 

Nun ist eine solche Oktaven-Parallele, wie sie hier am Schlusse des 
zweiten der angefuhrten Takte zwischen Diskant und BaB, d. h. zwischen 
der ersten Mote und dem Oontinuo, erscheint, fiir Bach unerhort. Ja, 
man darf behaupten: sie kann von Bach nicht herriihren, nicht weil sie 
durch die Regeln der Zunft verboten war, sondern weil Bach sie verab- 
Scheute. Der Gedanke an eine Absicht, an ein gewolltes groBes Unisono, 
wie es in der Matthaus-Passion bei den Worten »Ich bin Grottes Sohn« 
auftritt, ist abzuweisen, weil der Oharakter unserer Stelle keineswegs 



This content downloaded from 134.99.118.248 on Wed, 20 Nov 2013 11:45:28 AM 
All use subject to JSTOR Terms and Conditions 



652 



Friedrich Spiro, Eine Bach-Konjektur. 



groBartig, vielmehr auBerst zierlich ist, vor allem aber, weil die beiden 
anderen Stimmen, zweite Flote und Violoncello, sich in das Unisono nicht 
fiigen wiirden. Jede Stimme stent jeder anderen selbstandig gegentiber, 
und alles verlangt darnach, daB diese Selbstandigkeit bis aufs letzte durch- 
gefiihrt werde. Da konnen die drei flauen Noten in dieser Gestalt nicht 
von Bach herriihren; und wenn er sie auch in dem beruhmten sauberen 
Autograph geschrieben hat, gemeint hat er sie nicht. Entweder im 
Oontinuo oder in der ersten Flotenpartie hat er sich verschrieben. 

Wo der Fehler steckt, kann keinen Augenblick zweifelhaft sein. Im 
BaB ist alles in Ordnung; das zeigt die abwarts rollende Tonleiter, die 
ihrem Grundton auf dem kiirzesten Wege zueilt und ihn in naturlichster 
"Weise erreicht. Folglich liegt der Irrtum in den Noten der Flote, und 
es fragt sich nur, wie er zu heilen ist, was Bach beabsichtigt hat. Ver- 
gebens sucht man Hilfe bei Bach selbst, der dieses Konzert ein zweites 
Mai niedergeschrieben oder vielmehr in der Weise umgearbeitet hat, daB 
er das Violinsolo fur Klavier setzte, nicht ohne auch die iibrigen Stimmen 
einer koloristischen Neugestaltung zu unterziehen, bei welcher er den rein 
musikalischen Gehalt unberiihrt lieB. Desto leichter hat er es mit der 
Figuration genommen; und der Takt, auf den es uns ankommt, lautet 
dort in der Transposition nach F-dur (Bach's "Werke, Jahrgang XVII, 
Seite 191, Takt 10): 



Piano- , 
forte. 













i 








— 














\J ! ! ! 1 


















i 


W» — " \- H-H— 








u 
























-d— 



Gerade hier ist die Umarbeitung frei; sie enthalt Viertel statt der 
Achtel, kommt also fiir die Herstellung der urspriinglichen Intention nicht 
in Betracht. Und dennoch giebt sie uns wenigstens einen Fingerzeig: 
die Bewegung der ersten Flote miindet auch hier nicht auf der Tonika, 
sondem auf der Terz. Hierdurch wird die einzige Konjektur, welche die 
Stelle heilen kann, definitiv bestatigt; denn es ist ja langst klar, daB die 
drei angezweifelten No ten des Originales nur um eine Terz in die Hohe 
geriickt zu werden brauchen, um ein tadelloses Ensemble abzugeben. 
Wir hatten also zu lesen: 



This content downloaded from 134.99.118.248 on Wed, 20 Nov 2013 11:45:28 AM 
All use subject to JSTOR Terms and Conditions 



Friedrich Spiro, Eine Bach-Konjektur. 



653 



1. 



Flote 



Violoncello. 
Continuo. 



i 



Pi 



+ + + 



-.F-t-H— 



Der Irrtum wiirde sich in der Weise erklaren, daB dem Komponisten 
fiir einen Augenblick die Feder urn eine Linie zu hoch geriet, was ja 
selbst in der sorgsamsten Reinschrift leicht vorkommen kann. 

Natiirlich wiirde eine solche Anderung bei einer wissenschaftlichen 
Ausgabe, wie sie die Bach-Gesellschaft hergestellt hat, nicht notwendig in 
den Text aufzunehmen sein ; desto mehr kommt sie fiir die Praxis in Be- 
tracht, die freilich bisher an diesem Konzert wie an den meisten Bach- 
schen Meisterwerken achtlos vorbeigegangen ist. Aber wenn die kiirzlich 
ausgesprochene Ansicht eines unserer vorziiglichsten Bachkenner, daB 
namlich ins Publikum nur zwei Werke des Meisters »noch dazu in nicht 
ganz einwandfreien Bearbeitungen « (sagen wir ehrlich: in emporenden 
Verhunzungen) Eingang g'efunden haben 1 ) — wenn diese Ansicht nur 
allzu sehr auf Erfahrung begriindet ist, so wird im neuen Jahrhundert 
die neue Bach-Gesellschaft hoffentlich darin Wandel schaffen. Und sollte 
ihre Arbeit von Erfolg gekront sein, wie das erste deutsche Bachfest es 
hoffen laBt, so erinnern sich Dirigenten, Geiger und Flotisten vielleicht 
auch einmal des vierten brandenburgischen Konzertes , in dem dann keine 
Oktaven-Parallele mehr das Ohr des Detail-Kritikers beleidigen soil. 



1) Gemeint sind natiirlich das Praeludium mit Gounod's Meditation und das auf 
die (r-Saite reduzierte Air. 



This content downloaded from 134.99.118.248 on Wed, 20 Nov 2013 11:45:28 AM 
All use subject to JSTOR Terms and Conditions