erwanrloste
Jugend
Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung
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August Aichhorn
Mit einem Geleitwort von
Sigm. Freud
ZWEITE AUFLAGE
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien
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AUGUST AICHHORN
VERWAHRLOSTE
JUGEND
1 A i ch h o r n, Verwahrloste Jugend
INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK
Nr. XIX
Verwahrloste Jugend
Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung
Zehn Vorträge zur ersten Einführung
von
August Aichhorn
Mit einem Geleitwort von
Sigm. Freud
Zweite Auflage (3- — 7- Tausend)
1931
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien
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Die i. Auflage erschien 1925
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
Druck der Vernay A.-G., Wien IX.
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■
Geleitwort
von
Sigm. Freud
.
Von allen Anwendungen der Psychoanalyse hat keine soviel Interesse gefun-
den, soviel Hoffnungen erweckt und demzufolge soviele tüchtige Mitarbeiter
herangezogen wie die auf die Theorie und Praxis der Kindererziehung. Dies ist
leicht zu verstehen. Das Kind ist das hauptsächliche Objekt der psychoanaly-
tischen Forschung geworden; es hat in dieser Bedeutung den Neurotiker abge-
löst, an dem sie ihre Arbeit begann. Die Analyse hat im Kranken das wenig
verändert fortlebende Kind aufgezeigt wie im Träumer und im Künstler, sie
hat die Triebkräfte und Tendenzen beleuchtet, die dem kindlichen Wesen sein
ihm eigenes Gepräge geben und die Entwicklungswege verfolgt, die von diesem
zur Reife des Erwachsenen führen. Kein Wunder also, wenn die Erwartung
entstand, die psychoanalytische Bemühung um das Kind werde der erzieherischen
Tätigkeit zugute kommen, die das Kind auf seinem Weg zur Reife leiten, för-
dern und gegen Irrungen sichern will.
Mein persönlicher Anteil an dieser Anwendung der Psychoanalyse ist sehr
geringfügig gewesen. Ich hatte mir frühzeitig das Scherzwort von den drei un-
möglichen Berufen — als da sind: Erziehen, Kurieren, Regieren — zu eigen
gemacht, war auch von der mittleren dieser Aufgaben hinreichend in Anspruch
genommen. Darum verkenne ich aber nicht den hohen sozialen Wert, den die
Arbeit meiner pädagogischen Freunde beanspruchen darf.
Das vorliegende Buch des Vorstandes A. A ich hör n beschäftigt sich mit
einem Teilstück des großen Problems, mit der erzieherischen Beeinflussung der
jugendlichen Verwahrlosten. Der Verfasser hatte in amtlicher Stellung als Leiter
städtischer Fürsorgeanstalten lange Jahre gewirkt, ehe er mit der Psychoanalyse
bekannt wurde. Sein Verhalten gegen die Pflegebefohlenen entsprang aus der
Quelle einer warmen Anteilnahme an dem Schicksal dieser Unglücklichen und
wurde durch eine intuitive Einfühlung in deren seelische Bedürfnisse richtig
geleitet. Die Psychoanalyse konnte ihn praktisch wenig Neues lehren, aber sie
brachte ihm die klare theoretische Einsicht in die Berechtigung seines Handelns
und setzte ihn in den Stand, es vor anderen zu begründen.
Man kann diese Gabe des intuitiven Verständnisses nicht bei jedem Erzieher
voraussetzen. Zwei Mahnungen scheinen mir aus den Erfahrungen und Erfolgen
des Vorstandes Aichh orn zu resultieren. Die eine, daß der Erzieher psycho-
analytisch geschult sein soll, weil ihm sonst das Objekt seiner Bemühung, das
Kind, ein unzugängliches Rätsel bleibt. Eine solche Schulung wird am besten
erreicht, wenn sich der Erzieher selbst einer Analyse unterwirft, sie am eigenen
Leibe erlebt. Theoretischer Unterricht in der Analyse dringt nicht tief genug
und schaßt keine Überzeugung.
Die zweite Mahnung klingt eher konservativ, sie besagt, daß die Erziehungs-
arbeit etwas sui generis ist, das nicht mit psychoanalytischer Beeinflussung ver-
wechselt und nicht durch sie ersetzt werden kann. Die Psychoanalyse des Kindes
kann von der Erziehung als Hilfsmittel herangezogen werden. Aber sie ist nicht
dazu geeignet, an ihre Stelle zu treten. Nicht nur praktische Gründe verbieten
es, sondern auch theoretische Überlegungen widerraten es. Das Verhältnis
zwischen Erziehung und psychoanalytischer Bemühung wird voraussichtlich in
nicht ferner Zeit einer gründlichen Untersuchung unterzogen werden. Ich will
hier nur Weniges andeuten. Man darf sich nicht durch die übrigens vollberech-
tigte Aussage irreleiten lassen, die Psychoanalyse des erwachsenen Neurotikers
sei einer Nacherziehung desselben gleichzustellen. Ein Kind, auch ein entgleistes
und verwahrlostes Kind, ist eben noch kein Neurotiker und Nacherziehung
etwas ganz anderes als Erziehung des Unfertigen. Die Möglichkeit der analy-
tischen Beeinflussung ruht auf ganz bestimmten Voraussetzungen, die man als
„analytische Situation" zusammenfassen kann, erfordert die Ausbildung gewisser
psychischer Strukturen, eine besondere Einstellung zum Analytiker. Wo diese
fehlen, wie beim Kind, beim jugendlichen Verwahrlosten, in der Regel auch
beim triebhaften Verbrecher, muß man etwas anderes machen als Analyse, was
dann in der Absicht wieder mit ihr zusammentrifft. Die theoretischen Kapitel
des vorliegenden Buches werden dem Leser eine erste Orientierung in der Man-
nigfaltigkeit dieser Entscheidungen bringen.
Ich schließe noch eine Folgerung an, die nicht mehr für die Erziehungslehre,
wohl aber für die Stellung des Erziehers bedeutsam ist. Wenn der Erzieher die
Analyse durch Erfahrung an der eigenen Person erlernt hat und in die Lage
kommen kann, sie bei Grenz- und Mischfällen zur Unterstützung seiner Arbeit
zu verwenden, so muß man ihm offenbar die Ausübung der Analyse freigeben
und darf ihn nicht aus engherzigen Motiven daran hindern wollen.
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ERSTER VORTRAG
Einleitung
Meine Damen und Herren! Es sind Ihnen zehn Vorträge über die Psycho-
analyse in der Fürsorgeerziehung angekündigt, von denen Sie sich aber nicht
zu viel erwarten dürfen, weil sich in zwanzig Stunden nur ein erster orien-
tierender Einblick vermitteln läßt.
Ich darf wohl annehmen, daß Ihnen das Wort Psychoanalyse, von dem man
jetzt schon so viel im Alltag hört, nicht mehr fremd ist. Für den Ausdruck
Fürsorgeerziehung wird diese Voraussetzung nicht zutreffen; er wird noch nicht
lange im Sprachgebrauche verwendet, hat in seiner Anwendung einen ganz
bestimmten, nicht mehr leicht abzuändernden Inhalt bekommen und ist nur
einem kleinen Kreise von Fachleuten geläufig. Es wäre für Sie vielleicht er-
müdend und fiele auch aus dem Rahmen der Vorträge, die durchaus nicht
systematisch sein werden, heraus, wenn ich Ihnen nun eine Erklärung des
Wortes gäbe. Ich begnüge mich daher mit einer kurzen Inhaltsangabe, nehme
aber im ersten Teil der uns heute zur Verfügung stehenden Zeit Ihre Geduld
für eine Vorfrage in Anspruch. Fürsorgeerziehung ist ohne gesetzliche Bestim-
mungen unmöglich, ich kann es Ihnen weder ersparen, das Wichtigste davon
kennen zu lernen noch auch zu hören, wann sie an deren Unzulänglichkeit
scheitert.
Die Fürsorgeerziehung ist, wie schon das Wort sagt, ein besonderer Zweig
der Erziehung, gleichzeitig aber auch, was dem ferner Stehenden nicht sofort
auffallen wird, ein Teil der Jugendfürsorge. Betrachten wir sie von beiden
Standpunkten aus, so lernen wir verschiedene Seiten ihres Wesens verstehen.
Obwohl ich mich hauptsächlich mit der Fürsorgeerziehung als besonderem
Zweig der Erziehung beschäftigen werde, müssen wir sie doch auch von der
Jugendfürsorge aus ansehen, weil die Voraussetzungen zu ihrer Einleitung unter
Gesichtspunkten zu suchen sind, die die Jugendfürsorge gibt, und erst ihre
Durchführung von erzieherischen Erwägungen abhängt.
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Das ziemlich ausgedehnte Gebiet der Jugendfürsorge umfaßt auch die
Erziehungsfürsorge, von der wieder die Fürsorgeerziehung ein Teil ist. Wir
begegnen recht häufig Jugendfürsorgemaßnahmen und Jugendfürsorgeeinrich-
tungen und doch ist nicht jede Fürsorge für die Jugend gleichzeitig auch
„Jugendfürsorge". Begrifflich könnte mit diesem Worte weit mehr verbunden
werden, als tatsächlich der Fall ist.
Der Anlaß, Jugendfürsorge zu betreiben, ist gegeben, wenn die Jugend vor-
aussichtlich in Notstand geraten wird, oder dieser schon eingetreten ist und
wenn die Verhältnisse so liegen, daß sich die Familie aus eigenem nicht zu
helfen vermag. Dann erst greifen einzelne Personen, Organisationen oder öffent-
liche Faktoren ein. Träger der Fürsorge sind also die Gesellschaft selbst und
deren staatliche sowie autonome Körperschaften. Die Hilfe, welche die Allge-
meinheit durch sie dem Einzelnen angedeihen läßt, erscheint daher in eine
private und öffentliche geteilt, so daß man von privater und amtlicher Jugend-
fürsorge spricht. Sie entsprang früher einem gewissen charitativen Empfinden
und war eine freiwillige Leistung. Gegenwärtig ist sie aus einem sich immer
mehr vertiefenden sozialen Empfinden heraus zur Pflicht geworden, aus der
Anerkennung des Rechtes, das der Einzelne an die Gesellschaft hat. In der
Zukunft wird sie nicht mehr durch das Empfindungslebcn diktiert, sondern
durch ein ökonomisches Prinzip bedingt werden: durch die Erkenntnis von
der Zweckmäßigkeit des rechtzeitigen Eingreifens. Sie wird dann so selbstver-
ständlich sein, wie es etwa heute schon der Volksschulunterricht ist.
Wenn im allgemeinen Jugendfürsorge bei vorauszusehendem oder schon vor-
handenem .Notstande Minderjähriger einsetzt, so wird im besonderen Fürsorge-
erziehung bei drohendem oder bereits eingetretenem Erziehungsnotstande erfor-
derlich. Sie bedeutet daher so wie die Jugendfürsorge überhaupt auch einen Ein-
griff außenstehender Faktoren in das Familienleben, der nicht immer wider-
spruchslos hingenommen wird.
Wenn der zur Erziehung verpflichtete Vater der Fürsorgeerziehung keinen
Widerstand entgegensetzt, so wird ihr das Kind ohne besondere Schwierig-
keiten zugeführt werden können, vorausgesetzt, daß die dazu notwendigen
Mittel vorhanden sind. Wehrt er sich gegen diesen Eingriff in seine väterlichen
Rechte, so kann mit Zwangsmaßnahmen vorgegangen werden, wenn er seine
Gewalt mißbraucht, oder die damit verbundenen Pflichten vernachlässigt, oder
sich eines ehrlosen oder unsittlichen Lebenswandels schuldig gemacht hat. Der
§ 178 a. b. G. B. bietet die Handhabe dazu. Die väterliche Gewalt wird ihm
zeitweilig eingeschränkt oder vorübergehend entzogen und ein Kurator zur Ver-
anlassung der Fürsorgeerziehung bestellt.
Ein Eingreifen der Staatsgewalt durch das Vormundschaftsgericht ist aber
ausgeschlossen, wenn der Erziehungsnotstand nicht durch ein Verschulden der
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Eltern gegeben ist, sondern aus einer wirtschaftlichen Notlage oder einer nicht
normalen Geistesbeschaffenheit des Kindes erwächst.
Wir sehen hier eine jener Lücken in der Gesetzgebung, durch die die Für-
sorgeerziehung von vornherein unmöglich gemacht werden kann.
Mit der Einschränkung oder Entziehung der väterlichen Gewalt ist, wenn das
Kind weiter in der Familie verbleibt, zumeist fürsorgeerzieherisch nicht viel
gewonnen. Die Umgebung wirkt wie bisher weiter schädigend ein, so daß eine
gesicherte Entwicklung nur durch eine anderwärtige Unterbringung sicher-
zustellen ist. Sind die Eltern vermögend, dann wird die Deckung der Unter-
haltskosten auf keine Schwierigkeiten stoßen und es kann entsprechend vor-
gesorgt werden; fehlen ihnen aber die Mittel und findet sich niemand, der den
Minderjährigen freiwillig, ohne Gegenleistung, übernimmt, oder das Geld zur
Verfügung stellt, so wird Fürsorgeerziehung wieder unmöglich werden. Es wäre
denn, daß die Gemeinden, die nach dem Heimatgesetz für diese Kosten auf-
kommen müssen, das notwendige Kapital zur Verfügung stellen und sich nicht
bloß bereit erklären, den Verwahrlosten oder Gefährdeten in die Gemeinde zu
übernehmen. Daß die Uberstellung in eine Heimatgemeinde, der Fürsorge-
erziehungseinrichtungen fehlen, nicht die Gewähr zur Behebung eines Erziehungs-
uotstandes bietet, ist ohneweiters klar.
Außer diesen Fällen gibt es noch eine Reihe anderer, in denen Fürsorge-
erziehung unterbleibt, weil die gesetzlichen Bestimmungen nicht ausreichen. Es
kann nicht meine Aufgabe sein, sie hier erschöpfend aufzuzählen. Sie werden
sich daher mit einer beispielsweisen Anführung begnügen müssen. Ich schalte
vorher aber noch ein, daß wir gegenwärtig in Österreich nur eine einzige gesetz-
liche Form der Fürsorgeerziehungsanstalt, und zwar die Besserungsanstalt, haben.
Der § 16 des Gesetzes wider Arbeitsscheue und Landstreicher bestimmt, daß
außer den in diesem Gesetze festgelegten Fällen niemand in eine Besserungs-
anstalt gebracht werden darf, ohne daß die Pflegschaftsbehörde einem dies-
bezüglichen Antrage des gesetzlichen Vertreters zugestimmt hat. Stellt dieser
den Antrag nicht, und liegt auch kein Grund vor, gegen ihn mit dem § 178
des a. b. G. B. vorzugehen, so ist es unmöglich, jugendliche Personen einer
Nacherziehung in einer Besserungsanstalt zuzuführen, auch wenn es für sie noch
so notwendig wäre.
Ein anderer Fall: Kinder unter zehn Jahren können ohne Zustimmung des
gesetzlichen Vertreters überhaupt nicht, und Jugendliche, das sind Vierzehn-
bis Achtzehnjährige, nur dann in eine Besserungsanstalt gebracht werden, wenn
sie wegen einer Übertretung des Landstreichergesetzes verurteilt worden sind. Sonst
ist, wie bereits erwähnt, die Antragstellung des gesetzlichen Vertreters notwendig.
In den Erläuterungen zum Entwürfe eines Fürsorgeerziehungsgesetzes für
Österreich vom Jahre 19 17 heißt es unter anderem: „Das Gesetz schützt zum
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Teile die schlechten Kinder guter Eltern, es gibt aber nicht immer die Mittel,
die noch guten Kinder schlechter Eltern vor der drohenden Gefahr zu behüten;
dazu kommt, daß auch Zahl und Einrichtung der Besserungsanstalten zum
Teile zu wünschen übrig lassen und daß in mehreren Ländern solche überhaupt
nicht bestehen." Und an anderer Stelle: „Schließlich kennt das Gesetz nur ein
Erziehungsmittel, die Verweisung in eine Besserungsanstalt. Die Erziehung in
der Besserungsanstalt ist nun allerdings bei undisziplinierten oder sittlich hoch-
gradig verwahrlosten Jugendlichen nicht zu entbehren, sie ist aber nicht am
Platze bei geistig nicht normalen Zöglingen oder als einleitender Schritt zur
Nacherziehung behufs genauer Beobachtung des Zöglings im allgemeinen. Für
diese Zwecke bedarf es der Anhaltung in einer Erziehungs- oder Beobachtungs-
anstalt."
Jugendfürsorgekreise haben wiederholt die Aufmerksamkeit der Öffentlich-
keit auf das Unzulängliche in der Gesetzgebung gelenkt. Dr. Heinrich Reicher
brachte bereits Ende der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts im steirischen
Landtage und im September 1901 im österreichischen Abgeordnetenhause
den Antrag ein, ein Gesetz über die Fürsorgeerziehung zu erlassen. Die
Kinderschutzkongresse in Wien und Salzburg haben sich eingehend mit
der Frage der Fürsorgeerziehung beschäftigt. Gesetzentwürfen begegnen wir
1908 im Herrenhause, 1910 und 19 17 im Abgeordnetenhause. Auch nach
dem Kriege kam es darüber noch zu Beratungen. Vertreter der einzelnen Bun-
desländer vereinigten sich zu einer Besprechung, um ein den geänderten Ver-
hältnissen Rechnung tragendes Fürsorgeerzichungsgesetz zu ermöglichen; im
Oktober des Vorjahres bildete es neben dem Jugendstrafrechte Gegenstand
einer von der Zentralstelle für Kinderschutz und Jugendfürsorge veranstalteten
Tagung. Wir müssen aber immer noch Fürsorgeerziehung mit nicht ausreichen-
den gesetzlichen Bestimmungen betreiben.
Fassen wir kurz zusammen!
Fürsorgeerziehung ist die von amtswegen angeordnete Erziehung unter öffent-
licher Aufsicht, auf öffentliche Kosten.
Der Anlaß, Fürsorgeerziehung zu betreiben, ist gegeben, wenn ein Erziehungs-
notstand vorliegt, also Kinder sowie Jugendliche zu verwahrlosen drohen oder
bereits verwahrlost sind.
Der Träger der Fürsorgeerziehung ist die Öffentlichkeit, die auch die Mittel
zur Verfügung stellt.
Die Fürsorgeerziehung ist infolge unzureichender gesetzlicher Bestimmungen
und Mittel nicht auf alle in Betracht kommenden Verwahrlosten anwendbar.
Nehmen wir die Fürsorgeerziehung nun nicht mehr als einen Teil der Jugend-
fürsorge, sondern als besonderen Zweig der Erziehung, so drängt sich uns die
Frage nach deren Aufgabe auf.
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Was sie zu leisten hat und was sie vermag, darüber gibt es verschiedene Auf-
fassungen. Die mir bekannten extremsten sind von der Erziehung aus gesehen
die, die sich auf der Grundlage des schärfsten Pessimismus und auf der des
ungehemmten Optimismus aufbauen. Für die einen ist die Erziehung zwecklos,
ein den Idealisten gemachtes, nicht ernst zu nehmendes Zugeständnis; sie ist
überflüssig, weil sich das Kind so entwickelt, wie es durch seine Erbanlage
bedingt ist, und auch die beste Erziehung daran nichts zu ändern vermag. Für
die anderen bedeutet wieder die Erbanlage nichts; die Erziehung kann alles,
sie muß nur richtig gestaltet werden, dann überwindet sie jedwede Schwierig-
keiten, auch die aus der Erbanlage kommenden Hindernisse.
Ehe wir uns zu dieser oder jener Richtung bekennen oder uns sonstwie ent-
scheiden, wird es sich empfehlen, eine seit langem bekannte Entwicklungs-
tatsache anzusehen. Wir vermögen uns leicht eine Zeit vorzustellen, in der es
noch nicht viel Kulturarbeit zu leisten gab, sondern das Leben des Einzelnen
und das der Gemeinschaft sich nahezu in dem Streben, das „Ich" gegenüber
anderen Lebewesen, gewissen Naturerscheinungen und Naturkräften durch-
zusetzen, erschöpfte. Wer eine gewisse primitive Realitätsfähigkeit erwarb, be-
hauptete sich, der andere ging zugrunde. So formte das Leben selbst schon in
der Urzeit den Menschen entsprechend den Anforderungen der Wirklichkeit
und ermöglichte ihm, im Kampfe mit seiner Umgebung zu bestehen.
Gilt diese Tatsache auch im Psychischen? Die Menschen lernten Vieles und
Verschiedenes, auch Lustgewinn aufzuschieben, auf Lustgewinn zu verzichten,
Unlust zu ertragen und Triebregungen, die sich nicht immer durchsetzen
konnten, von primitiven Zielen immer mehr auf höhere abzulenken; auf einem
Jahrtausende langen Wege entwickelt sich eine Kulturgemeinschaft, innerhalb
derer die Menschen mit ihren technischen Errungenschaften stets fortschreitend
die Natur beherrschen und unausgesetzt künstlerische, wissenschaftliche und
soziale Kulturwerte schaffen.
Daraus folgt, daß die niedrigere Kulturstufe einer geringeren Einschränkung
unmittelbarer Triebbefriedigungen, oder was dasselbe ist, dem Primitiveren
entspricht, und daß die ursprüngliche primitive Realitätsfähigkeit sich mit der
kulturellen Entwicklung steigert. Diese erhöhte Realitätsfähigkeit fassen wir
als das Vermögen des Individuums, an der Kulturgemeinschaft seiner Zeit teil-
haben zu können, auf und nennen sie die Kulturfähigkeit. Sie kann als variable
Größe genommen werden — für jede Kulturstufe in einem bestimmten Aus-
maß — die die ursprüngliche primitive Realitätsfähigkeit als Konstante enthält.
Wie ist das zu verstehen? Lassen wir diese Frage vorläufig unerörtert und
sehen wir uns das Kind in seinem Heranwachsen an. Je jünger es ist, desto
weniger vermag es auf die Erfüllung der Wünsche aus seinem Triebleben zu
verzichten und den Notwendigkeiten, die sich aus dem Zusammenleben mit
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anderen ergeben, zu entsprechen. Erst nach und nach lernt es, unter dem Drucke
der realen Unlusterlebnisse, sich Triebeinschränkungen aufzuerlegen und ohne
innere Konflikte ganz selbstverständlich den Forderungen der Gesellschaft nach-
zukommen: es wird sozial. Der Weg, den das Kind von der unwirklichen
Lustwelt seiner Säuglingszcit bis in die Sozietät seiner Gegenwart zurückzu-
legen hat, läuft im allgemeinen parallel dem der Menschheit vom Primitiven
bis zu ihm, ist länger oder kürzer je nach deren eigener Kulturstufe, muß aber
vom Kinde in den wenigen Jahren seines Heranreifens zum Erwachsenen
zurückgelegt werden. Was in der phylogenetischen Entwicklung an Zeit zur
Verfügung stand, muß in der ontogenetischen durch Intensität an innerer Arbeit
ersetzt werden. Wenn an dem Neugeborenen auch die Erlebnisse seiner Vor-
fahren nicht spurlos vorübergegangen sind und er dadurch gewisse Vorbe-
dingungen für diese erhöhte Leistung mitbringt, sind doch vermehrte An-
regungen zu deren Vollzug notwendig. Das Leben allein, mit seinen das Ein-
zelindividuum recht wenig berücksichtigenden Konstellationen, reicht dazu
nicht aus, es bedarf noch jener Einflußnahme von Seiten der Erwachsenen, die
Erziehung heißt.
So betrachtet, wird der Mensch durch die Einwirkungen des Lebens und der
Erziehung kulturfähig. Könnten wir in der Ontogenese das Leben ebenso wirk-
sam sehen wie in der Phylogenese, dann ließe sich mit einigen Einschränkungen
eine schematische Arbeitsteilung vornehmen. (Wir kommen im neunten Vor-
trag noch des Näheren darauf zu sprechen.) Diese schematischc Scheidung sähe
dann so aus: Das Leben selbst erzwingt mit seinen Anforderungen die primitive
Realitätsfähigkeit, die Erziehung erweitert diese zur Kulturfähigkeit. Diese sich
in jedem Individuum wiederholende Entwicklung ergibt in der primitiven
Realitätsfähigkeit den konstanten Faktor der Kulturfähigkeit, die als solche
individuelle Gradunterschiede aufweist.
Nun sehen wir wirklich, daß das Leben auch heute noch den Menschen zur
Selbstbehauptung oder primitiven Realitätsfähigkeit führt. Ich mache Sie zu-
nächst nur auf zwei Ihnen allen bekannte Tatsachen aufmerksam. Ein Kind
steigt ungeschickt auf einen Stuhl, fällt herunter und schlägt sich eine Beule.
Es hat sich selbst gefährdet und wird durch die mit dem Schmerze verbundene
Unlust ohne jedwede Anleitung oder bewußte Einflußnahme vorsichtiger. Oder,
ein anderes Kind ißt unreifes Obst und bekommt Magendrücken. Wieder ist
Unlust die Folge einer Selbstgefährdung, die zur Anregung wird, in Zukunft
eine Triebregung zu unterdrücken. In diesem Zusammenhange verstehen wir
auch das Sprichwort: „Das gebrannte Kind fürchtet das Feuer". Die Menschen
fühlen, daß im Leben des Einzelnen eine Tendenz herrscht, die ihn ganz zwangs-
läufig in die Richtung zum Einleben in die Wirklichkeit drängt. Es lassen
sich im heranwachsenden Kinde auch deutlich zwei Abschnitte erkennen, natür-
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lieh ohne scharfe Grenzen und mit Übergängen: der erste, mit der im Vorder-
grunde stehenden Absicht, zur primitiven Selbstbehauptung zu kommen, der
zweite, spätere, der dem Hineinwachsen in die Kulturgemeinschaft dient.
Bleiben wir in der angegebenen Denkrichtung, so haben wir schon die Grenze
festgestellt, unter der die Erziehung wirkungslos bleiben muß: fehlen einem
Individuum in der Erbanlage die Vorbedingungen für die primitive Realitäts-
fähigkeit, so steht auch die Erziehung vor einem unlösbaren Problem. Für diese
Gruppe stimmt die Auffassung der Pessimisten, an ihr scheitern aber auch die
Erziehungsversuche der Optimisten.
Wir können nun unsere Stellungnahme zu den einzelnen Auffassungen über
die Erziehung festlegen. Die Erbanlage wird der Erziehung ihre Grenzen vor-
schreiben, innerhalb dieser gibt es aber Entwicklungsmöglichkeiten auf breiter
Basis. Dabei dürfen wir aber nicht außer acht lassen, daß die Erziehung nur
erhöhte Anregungen zum Vollzug einer Leistung auszulösen hat, daß sie also
nicht mehr ist, als die Vermittlerin zur Entfaltung bereits vorhandener Bereit-
schaften, und nicht vermag, dem Individuum Neues hinzuzufügen. So könnte
wahrscheinlich auch nicht mit Hilfe der Erziehung einem Kinde der Urzeit,
ohne den Niederschlag seiner Generationen in sich, die Kulturfähigkeit der
Gegenwart vermittelt werden; im besten Falle gelänge eine Kulturdressur.
Wüchse ein Kind mit normaler Erbanlage ohne Erziehung heran, so käme es
nach aller Voraussicht wohl ein Stück über die ursprünglichste primitive Reali-
tätsfähigkeit hinaus, aber nicht zur Kulturfähigkeit, und deswegen mit der
Gesellschaft in Konflikt. Sie dürfen das nicht als eine unbeweisbare Konstruk-
tion auffassen. Die Verwahrlosten, bei denen infolge einer unzureichenden Er-
ziehung ein Entwicklungsrückstand auftritt, zeigen ein ganz ähnliches Ver-
halten, das uns demnächst mehr beschäftigen wird.
Und nun eine allererste Annäherung an die Fürsorgeerziehung! Wir haben
eingangs bemerkt, daß die Fürsorgeerziehung einsetzt, wenn ein Erziehungs-
notstand vorliegt. In der nun gewonnenen Ausdrucksweise heißt das, wenn es
der Erziehung nicht gelungen ist, dem Kinde oder Jugendlichen die seiner
Altersstufe normal entsprechende Kulturfähigkeit zu vermitteln. Die Fürsorge-
erziehung unterscheidet sich daher dem Zwecke nach nicht von der Erziehung
im allgemeinen; denn beide haben die Jugend kulturfähig zu machen. Der
Fürsorgeerziehung fällt aber jedenfalls die Aufgabe einer Nachentwicklung zu.
Sie sondert sich von der Erziehung, wie wir schon wissen, durch den Anlaß
und den Träger, als den wir die Öffentlichkeit kennen gelernt haben. Ich
möchte noch ein Drittes hinzufügen: die Erziehungsmethoden. Diese sind
wesentlich andere, als die der allgemeinen Erziehung.
Da ich von der Fürsorgeerziehung komme und als Fürsorgeerzieher zu Ihnen
spreche, werden sich meine Mitteilungen vorwiegend auf methodischem Gebiete
M
bewegen und die anderen Fragen der Fürsorgeerziehung ziemlich unberührt
lassen. Aus dem Titel der Ankündigung meiner Vorträge läßt sich entnehmen,
daß ich mir auch da noch bedeutende Einschränkungen auferlegen werde. Ich
will Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung zeigen, wie wir mit Hilfe psycho-
analytischer Kenntnisse in einzelnen Fällen Verwahrlosungserschcinungen auf
ihre Ursachen zurückzuführen und zu beheben versuchen. Erschöpfende Aus-
führungen über Ursachen und Arten der Verwahrlosung, ein Lehrgebäude über
psychoanalytische Behandlung Verwahrloster, oder gar Psychoanalysen von
Fürsorgeerziehungszöglingen werden Sie nicht zu hören bekommen. Ich greife
nur Einzelheiten aus dem Betriebe von Fürsorgeerziehungsanstalten und aus der
Erziehungsberatung der offenen Jugendfürsorge heraus, zusammenhangslos,
ohne jedweden systematischen Aufbau, mit dem Minimum an Theorie, das zum
Verständnis des vorliegenden Falles unerläßlich ist. Ich werde auch versuchen,
Ihnen zu zeigen, wie ich mithelfe, damit der Dissoziale sich selbst wieder in
die Gesellschaft einreihe, beabsichtige aber nicht, Ihnen wissenschaftliche Vor-
träge zu halten. Als ausübender Erzieher will ich Ihnen einen ersten orientieren-
den Einblick in mein Arbeitsgebiet geben, um Sie zu eigener Arbeit anzuregen.
Wir haben heute schon manches über die Fürsorgeerziehung gehört, sehen
wir uns nun auch ein wenig die Psychoanalyse an. Auf Beziehungen zwischen
ihr und der Fürsorgeerziehung werden wir erst später eingehen. Ich habe, wie
schon eingangs, der Meinung Ausdruck gegeben, daß Ihnen allen das Wort
Psychoanalyse bekannt sein dürfte. Wenn wir aber von ihr sonst noch nichts
gehört hätten, könnten wir leicht zur Ansicht kommen, die Psychoanalyse sei
nur eine Methode zur Zerlegung seelischer Erscheinungen und Vorgänge in ihre
Elemente. Dem ist aber nicht so. Die Psychoanalyse ist weit mehr. Ihren Inhalt
werden wir verstehen lernen, wenn wir etwas von ihrem Werden gehört haben.
Die Psychoanalyse wurde von Prof. Sigm. Freud geschaffen und ist auf
medizinischem Boden erwachsen. Als ihr Vorläufer gilt ein Heilverfahren, das
Katharsis genannt wird. Die Worterklärung schenke ich mir, weil sie Ihnen
nichts sagen würde. Ich schildere es Ihnen kurz.
Der Wiener Arzt Joseph Breuer behandelte in den Jahren 1880 — 1882
ein 21 jähriges Mädchen, das an schwerer Hysterie litt. Sie haben gewiß schon
von hysterischen Krankheitserscheinungen oder hysterischen Symptomen, wie
diese auch genannt werden, und von hysterischen Personen gehört, möglicher-
weise selbst solche gesehen. Die Hysterie ist eine nervöse Erkrankung funk-
tioneller Natur, d. h. eine Erkrankung, bei welcher organische Veränderungen
nicht nachweisbar sind. Es kommt zu krankhaft verstärkten und auch ihrer
Natur nach ungewöhnlichen Gemütserscheinungen, Bewegungs- und Gefühls-
störungen, Lähmungen, Krämpfen, Störungen der Drüsentätigkeit usw.
Lassen Sie mich Ihnen nun die Erfahrungen, die Breuer an diesem Krank-
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heitsfalle machte, mitteilen. Er hypnotisierte die Patientin und rief ihr bereits
vergessene Erlebnisse ins Bewußtsein. Darunter waren auch solche, die seinerzeit
mit heftigen Gemütserschütterungen verbunden waren, affektive Erlebnisse, die
sie in der Hypnose mit dem damaligen Affekt wiederholte. Jedesmal nach dem
Erwachen war ein hysterisches Symptom verschwunden. Auf diese Weise
hörten die Krankheitserscheinungen nach und nach auf. Das Mädchen erlitt
keinen Rückfall mehr, es blieb dauernd gesund. Dieser verblüffende Beilerfolg
fand seine Erklärung, als der Zusammenhang der hysterischen Symptome mit
den affektiven Erlebnissen aufgeklärt worden war. Breuer und Freud ent-
deckten deren Abhängigkeit von der Art der Affekterledigung. Kommt es zu
bestimmten, mit plötzlichen, heftigen Gemütserschütterungen verbundenen
(traumatischen) Erlebnissen, so muß die Affektabfuhr nicht immer auf normale
Weise erfolgen. Jede heftige Gemütserregung, die uns ergriffen hat, drängt nach
Entladung. Dazu stehen verschiedene Wege zur Verfügung. Eingeschlagen wird
immer der, der den geringsten Widerstand bietet. Laufen einem die Tränen-
drüsen rasch über, so beginnt er zu weinen, er entledigt sich des Affektes durch
Absonderung, sekretorisch. Ein anderer, der leicht bewegliche Mundwerkzeuge
hat, klagt oder schimpft, er kommt sprechmotorisch wieder ins Gleichgewicht.
Ein Dritter mit losem Handgelenk schlagt zu oder zerschlägt den erst besten
erreichbaren Gegenstand, leistet sich eine motorische Affektabreaktion. Und
noch ein anderer kommt über seine Gefäßnerven, vasomotorisch, aus der
Affektlage. Dem modernen Kulturmenschen stehen diese normalen Wege zur
Affektabfuhr nicht immer zur Verfügung. Er muß sehr oft die Zähne zu-
sammenbeißen und die Gemütserregung in sich behalten. Wir hatten vor noch
nicht lange entschwundner Zeit ein geflügeltes Wort, wenn wir gezwungen
waren, einen bestimmten Affekt zu unterdrücken: „Maul halten und weiter
dienen!" Das drückt so recht die Gewalt aus, die man sich selbst anhaben muß,
um eine bewußte Affektäußerung nicht aufkommen zu lassen. Wir vermeinen
niit der in uns vorhandenen Erregungsgröße fertig geworden zu sein, wenn
wir nicht mehr daran denken, sie aus dem Bewußtsein schieben, wenn wir das
machen, was die Psychoanalyse „Verdrängung" heißt. Breuer und Freud haben
uns eines Besseren belehrt. Der verdrängte Affekt kann unter bestimmten Vor-
aussetzungen sich ins Körperliche umsetzen, körperliche Bahnen einschlagen.
Diese nicht normale Umsetzung von Affekten, deren Endergebnis die hyste-
rischen Symptome sind, nennt Freud Konversion.
Wir werden, wenn auch vielleicht nicht im Verlaufe dieser Vorträge, so
doch später Gelegenheit haben, über andere Formen abnorm erledigter Affekte
zu sprechen. Bei anderen Voraussetzungen können verdrängte Affekte Ver- I I
wahrlosungserscheinungen und einzelne Formen von S chwererziehbarke it her- '
vorrufen.
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i6
Freud veranlaßte im Jahre 1893 Breuer zur Veröffentlichung seines Krank-
heitsfalles aus den Jahren 1880— 1882. In einer gemeinsamen Arbeit gründeten
die beiden Forscher auf dessen Phänomenen die Theorie: „Die hysterischen
Symptome entspringen einer abnormen Verwendung nicht erledigter Affekt-
größen." Es entwickelte sich daraus jenes Heilverfahren, das ich Ihnen schon
als „Katharsis" genannt habe: dem Kranken werden in der Hypnose die ver-
gessenen Traumen in Erinnerung gerufen, von ihm mit den bereits einmal er-
lebten Affekten reproduziert. Im affektiven Aussprechen kommt der bisher nicht
erledigte „eingeklemmte" Affekt zur Entladung, „Abreaktion".
Die Katharsis bedeutete einen Fortschritt in der Behandlung gewisser funk-
tioneller Nervenerkrankungen, Neurosen, ist aber noch nicht Psyohoanalyse.
Als deren Beginn müssen wir den Zeitpunkt nehmen, in dem Freud bei der-
selben therapeutischen Zielsetzung auf die Verwendung der Hypnose verzich-
tete, dafür die „freien Assoziationen" einführte und das so gewonnene
Material einem eigenen Deutungsverfahren unterzog. Was in der Psychoanalyse
unter freien Assoziationen verstanden wird, bedarf einer kurzen Erklärung. Der
Kranke hat in Gegenwart des Arztes alles auszusprechen, was ihm durch den
Kopf geht, darf aber dabei nicht nachdenken; er muß sich bereitwillig den frei
aufsteigenden Gedanken, Gefühlen und Impulsen hingeben und sie sagen. Er
hat an der Oberfläche des Bewußtseins hinzugleiten, jede Kritik seiner Einfälle
zu unterlassen, und nichts zu verschweigen, auch das nicht, was ihm un-
wesentlich vorkommt, nicht zur Sache gehörend erscheint, unangenehm oder
peinlich ist. Das Deuüungsverfahren werden wir verstehen lernen, sobald wir
selbst uns mit Verwahrlosungserscheinungen beschäftigt haben.
Freud fand auch die Abhängigkeit der freien Assoziationen von seelischen
Vorgängen, die dem Kranken nicht bewußt wurden, also unbewußt blieben,
kam dazu, ein unbewußtes Seelisches anzunehmen und erkannte auch die Be-
deutung, welche dabei den jeweiligen Gefühlsbeziehungen des Patienten zum
Arzte, die er „Übertragung" hieß, zufällt: Die Qualität und Quantität der sich
einstellenden Assoziationen ist sehr abhängig von der augenblicklichen Stel-
lung, die der Kranke innerlich zum Arzte einnimmt. Da die Übertragung in
der Fürsorgeerziehung so bedeutungsvoll ist, werden wir ihr einen besonderen
Vortrag widmen.
Die Annahme eines unbewußten Seelischen hat vielfachen Widerspruch aus-
gelöst, obwohl sie nur auf der Anerkennung bisher vernachlässigter Tatsachen
aufgebaut ist. „Sie ist notwendig, weil die Daten des Bewußtseins in hohem
Grade lückenhaft sind. Sowohl bei Gesunden als bei Kranken kommen häufig
psychische Akte vor, die zu ihrer Erklärung andere Akte voraussetzen, die aber
dem Bewußtsein entschwunden sind. Solche Akte sind nicht nur die Fehl-
handlungen und die Träume bei Gesunden, alles, was man psychische Sym-
17
ptome und Zwangserscheinungen heißt, bei Kranken — unsere persönlichste täg-
liche Erfahrung macht uns mit Einfällen bekannt, deren Herkunft wir nicht
kennen, und mit Denkresultaten, deren Ausarbeitung uns verborgen geblieben
ist. Alle diese bewußten Akte blieben zusammenhangslos und unverständlich,
wenn wir den Anspruch festhalten wollten, daß wir auch alles durch Bewußt-
sein erfahren müssen, was an seelischen Akten in uns vorgeht, und ordnen
sich in einen aufzeigbaren Zusammenhang ein, wenn wir die erschlossenen
unbewußten Akte interpolieren. Gewinn an Sinn und Zusammenhang ist aber
ein vollberechtigtes Motiv, das uns über die unmittelbare Erfahrung hinaus-
führen darf. Zeigt es sich dann noch, daß wir auf die Annahme des Unbe-
wußten ein erfolgreiches Handeln aufbauen können, durch welches wir den
Ablauf der bewußten Vorgänge zweckdienlich beeinflussen, so haben wir in
diesem Erfolg einen unanfechtbaren Beweis für die Existenz des Angenomme-
nen gewonnen. Man muß sich dann auf den Standpunkt stellen, es sei nichts
anderes als eine unhaltbare Anmaßung zu fordern, daß alles, was im
Seelischen vorgeht, auch dem Bewußtsein bekannt werden müsse.
Man kann weiter gehen und zur Unterstützung eines unbewußten psychischen
Zustandes anführen, daß das Bewußtsein in jedem Momente nur einen geringen
Inhalt umfaßt, so daß der größte Teil dessen, was wir bewußte Kenntnis heißen,
sich ohnedies über die längsten Zeiten im Zustande der Latenz, also in einem
Zustande von psychischer Unbewußtheit befinden muß. Der Widerspruch gegen
das Unbewußte würde mit Rücksicht auf alle unsere latenten Erinnerungen
völlig unbegreiflich werden. Wir stoßen dann auf den Einwand, daß diese
latenten Erinnerungen nicht mehr als psychisch zu bezeichnen seien, sondern
den Resten von somatischen Vorgängen entsprechen, aus denen das Psychische
wieder hervorgehen kann. Es liegt nahe zu erwidern, die latente Erinnerung
sei im Gegenteil ein unzweifelhafter Rückstand eines psychischen Vorganges' 1 .
„Immerhin ist es klar, daß die Frage, ob man die unabweisbaren latenten Zu-
stände des Seelenlebens als unbewußte seelische oder als physische auffassen
soll, auf einen Wortstreit hinauszulaufen droht. Es ist darum ratsamer, das in
den Vordergrund zu rücken, was uns von der Natur dieser fraglichen Zustände
mit Sicherheit bekannt ist. Nun sind sie uns nach ihren physischen Charakteren
vollkommen unzugänglich; keine physiologische Vorstellung, kein chemischer
Prozeß kann uns eine Ahnung von ihrem Wesen vermitteln. Auf der anderen
Seite steht fest, daß sie mit den bewußten seelischen Vorgängen die ausgiebigste
Berührung haben; sie lassen sich mit einer gewissen Arbeitsleistung in sie um-
setzen, durch sie ersetzen und sie können mit all den Kategorien beschrieben
werden, die wir auf die bewußten Seelenakte anwenden, als Vorstellungen,
Strebungen, Entschließungen u. dgl. Ja, von manchen dieser latenten Zustände
müssen wir aussagen, sie unterscheiden sich von den bewußten eben nur durch
2 A i di h o r n, Verwahrloste Jugend
i8
den Wegfall des Bewußtseins. Wir werden also nicht zögern, sie als Objekte
psychologischer Forschung und im innigsten Zusammenhange mit den bewußten
seelischen Akten zu behandeln.
Die hartnäckige Ablehnung des psychischen Charakters der latenten seeli-
schen Akte erklärt sich daraus, daß die meisten der in Betracht kommenden
Phänomene außerhalb der Psychoanalyse nicht Gegenstand des Studiums ge-
worden sind. Wer die pathologischen Tatsachen nicht kennt, die Fehlhand-
lungcn der Normalen als Zufälligkeiten gelten läßt, sich bei der alten Weis-
heit bescheidet, Träume seien Schäume, der braucht dann nur noch einige
Rätsel der Bewußtscinspsychologie zu vernachlässigen, um sich die Annahme
unbewußter seelischer Tätigkeit zu ersparen. Übrigens haben die hypnotischen
Experimente, besonders die posthypnotische Suggestion, Existenz und Wirkungs-
weise des seelisch Unbewußten bereits vor der Zeit der Psychoanalyse sinn-
fällig demonstriert." (Freud, Das Unbewußte, Ges. Schriften, V. 482 ff.)
Je tiefer Freud bei seinen Forschungen in das unbewußte Seelenleben ein-
drang, desto mehr klärten sich ihm die gegenseitigen Beziehungen der seelischen
Vorgänge, deren Abläufe und die sie bedingenden Ursachen. Er fand eine so
fest gefügte Abhängigkeit der seelischen Erscheinungen voneinander, daß er
jeden Zufall, ja auch jede Willkürlichkeit ausschalten mußte: „Die psychischen
Vorgänge determinieren sich gegenseitig."
Er kam auch dazu, alles Psychische durch eine Kräftewirkung verursacht
zu sehen. Jeder dieser Vorgänge und jede jeweils gegebene psychische Situation
ist das Ergebnis eines psychischen Kräftespicles. Diese Betrachtungsweise
seelischer Vorgänge, deren sich die Psychoanalyse durch Freud bedient, nannte
er eine „dynamische". Die Berechtigung dazu ergibt sich von selbst. Sie wissen,
daß in der Sprache der Physik Dynamik nur im strengen Sinne genommen
Theorie der Kräfte bedeutet, daß das Wort vielfach aber auch weniger streng
angewendet wird, im Sinne der durch Kräfte hervorgebrachten Bewegungen.
Es steht dann der Statik gegenüber. Freud hat nun eine für physische Kräfte
längst gebräuchliche Betrachtungsweise für das Psychische übernommen.
Übernimmt der Fürsorgeerzieher diese Art der Auffassung psychischer Vor-
gänge, so sichert er sich dadurch einen Vorteil. Er erhält die Möglichkeit, hinter
den psychischen Vorgängen, die eine dissoziale Äußerung oder Handlung be-
dingen, noch ein Kräftespiel zu erkennen, das er vielleicht durch erzieherische
Maßnahmen beeinflussen kann. Ein Zustandbild wird für den Fürsorgeerzieher
erst dann von Bedeutung, wenn er weiß, durch welche Kräftewirkung es zu-
standegekommen ist. Wir haben weder von der erblichen Belastung noch vom
angeborenen Vagantentum, die uns als Diagnose für unsere Arbeit gegeben
werden, etwas gewonnen, wenn wir dazu nicht Mechanismen erhalten, die
erzieherische Angriffspunkte bieten.
i9
Kehren wir nach dieser Abschweifung wieder zur Psychoanalyse zurück.
Grundlegende Tatsachen des Seelenlebens, die Freud durch die Analyse von
Träumen erschloß, hat er in seinem Werke „Die Traumdeutung" niedergelegt,
deren Studium Ihnen unerläßlich ist, wenn Sie sich näher mit den Problemen
der Psychoanalyse beschäftigen wollen.
Bei der Behandlung von Neurotikern ergab sich, daß diese, so sehr sie auch
durch ihre Krankheit gequält wurden, sich doch energisch gegen das Aufgeben
ihrer Krankheitssymptome wehrten, ohne daß sie eine Ahnung davon hatten.
Dadurch erschwerten sie die Herstellung eines normalen Ablaufes in ihren
seelischen Vorgängen oder machten sie unmöglich. Diese Erfahrungen und das
Ergebnis von Traumanalysen führten Freud dazu, die Lehre vom „Wider-
Stande" und der „Verdrängung" zu schaffen. Wir wissen von der Verdrängung
schon, daß sie eintritt, wenn etwas im Bewußtsein nicht bestehen bleiben darf,
weil es den Menschen sonst in einen Konflikt mit sich selbst brächte. Dieselbe
Kraft, die das im Bewußtsein Unzulässige wegschiebt, setzt sich als Wider-
stand dem Bewußtwerden des Verdrängten entgegen.
Wir werden im Verlaufe unserer Besprechungen noch wiederholt auf den
Widerstand, die Verdrängung, das Unbewußte, die Übertragung und noch
andere Ergebnisse psychoanalytischer Forschungsarbeit zurückkommen und dann
mehr von alledem hören. Für heute wollen Sie sich mit diesen dürftigen An-
deutungen begnügen, aber zur Kenntnis nehmen, daß Freud in seiner Geschichte
der psychoanalytischen Bewegung die Verdrängungslehre den Grundpfeiler
nennt, auf dem das Gebäude der Psychoanalyse ruht, und daß er nur denjenigen
Arbeitsmethoden den Namen „Psychoanalyse" zuerkennt, für die auch „Über-
tragung" und „Widerstand" wesentliche Faktoren sind.
Wir wissen nun schon einiges von der Psychoanalyse; vor allem ist uns be-
kannt, daß sie ein Heilverfahren für gewisse nervöse Erkrankungen ist. Sie
bewirkt die Gesundung, indem sie unbewußte, die Krankheit bedingende psy-
chische Vorgänge bewußt macht. Wie das geschieht und warum durch das
Bewußtwerden Heilung eintritt, gehört nicht hieher. Begnügen wir uns zu
wissen, daß es so ist.
Obwohl ich Ihnen bis jetzt nicht mehr als eine ganz flüchtige Andeutung
über die Grundelemente Freudscher Psychoanalyse gegeben habe und noch
nichts von der Entwicklung und Vertiefung mitteilte, die sie bis in die Gegen-
wart genommen hat, wird sich Ihnen vielleicht doch schon die Frage auf-
drängen, wozu Sie soviel über eine Therapie nervöser Erkrankungen hören
müssen, da uns doch nicht ärztliche Angelegenheiten, sondern Fragen der Für-
sorgeerziehung interessieren. Anderseits erscheint es mir aber auch nicht un-
möglich, daß der eine oder andere von Ihnen denkt, in der Psychoanalyse sei
ein für die Fürsorgeerziehung wertvolles Verfahren gefunden worden. Ist doch
2*
i i ■■ ■
20
so manche Dissozialität mit nervösen Störungen verbunden. Wer von Ihnen
recht hat, können wir erst entscheiden, bis uns das Wesen der Psychoanalyse
verständlicher geworden ist.
Weil die Psychoanalyse über ihr ärztliches Anwendungsgebiet hinausgewachsen
ist, nimmt sie unser Interesse auch noch von einer anderen Seite her in An-
spruch. Vom Studium der Träume und den ihnen zugrunde liegenden Mechanis-
men ausgehend, erkannte Freud, daß vieles für das kranke Seelenleben Gültige
auch für das gesunde in Betracht kommt. Seit dieser Erkenntnis entwickelte
sich immer mehr eine psychoanalytische Psychologie, die sich wesentlich von
der bisherigen Bewußtseinspsychologie unterscheidet. Sie wissen doch, daß
Psychologie und Lehre vom Bewußtseinsinhalt immer identisch gesetzt worden
sind. Nun hat Freud das Unbewußte erschlossen und die Abhängigkeit des
Bewußtseins von diesem aufgedeckt, wodurch eine Umwälzung in den bis-
herigen Auffassungen hervorgerufen wurde. Dann kamen die übrigen Ergebnisse
psychoanalytischer Forschungsarbeit und eine andere Betrachtungsweise psychi-
scher Vorgänge, die dynamische, an Stelle der deskriptiven, beschreibenden,
dazu. Damit war für Freud aber die Forschungsrichtung nicht abgeschlossen.
Um von den seelischen Akten das ihm wesentlich Erscheinende aussagen zu
können, führte er auch topische und ökonomische Gesichtspunkte in die Psycho-
logie ein. Was ist damit gemeint?
Topik bezieht sich immer auf örtlichkeiten. Die psychische Topik verfolgt
die psychischen Erscheinungen auch nach dem Orte, das heißt, sie will angeben,
innerhalb oder zwischen welchen der drei „psychischen Systeme", Unbewußtes,
Vorbewußtes, Bewußtes, sie ablaufen. Wegen dieses Bestrebens hat die Psycho-
analyse auch den Namen einer Tiefenpsychologie erhalten. Das von der psychi-
schen Topik Gesagte darf aber nicht so aufgefaßt werden, als ob sie darauf
ausginge, zu untersuchen, an welcher Stelle im Körper sich die psychischen
Vorgänge abspielen; sie hat mit Anatomie nichts zu tun, sondern hält sich nur
an Regionen des Seelischen.
ökonomische Betrachtungen beschäftigen sich mit Mengen. Die psychische
Ökonomie hat es daher mit Quantitäten von psychischen Energien zu tun, mit
dem Schicksale der von außen und innen an das Seelische herantretenden Reiz-
mengen; sie stützt sich dabei auf eine Annahme der psychoanalytischen Theorie,
daß der Ablauf der seelischen Vorgänge jedesmal durch eine unlustvolle Span-
nung angeregt wird und dann eine solche Richtung einschlägt, daß sein End-
ergebnis mit einer Herabsetzung dieser Spannung, also mit einer Verminderung
von Unlust oder Erzeugung von Lust zusammenfällt. Die ökonomischen Unter-
suchungen gehören mit zu den schwierigsten Aufgaben der psychoanalytischen
Forschung und werden uns nicht beschäftigen. Die Bemerkungen darüber, sowie
die über Topik und Dynamik sollen Sie nur aufmerksam machen, daß die
21
Psychoanalyse das verborgene Seelische viel gründlicher enthüllt als jede andere
Art von Psychologie.
Die von Freud erschlossenen Tatsachen haben auch dazu geführt, die Psycho-
analyse auf verschiedene Geistesgebiete anzuwenden. Mit deren Methoden
wurden Mythen und Märchen in ihrem Aufbau und Entstehen, das dichterische
Schaffen, Dichter- und Künstlerpersönlichkeiten behandelt, sprachwissenschaft-
liche, historische, religionspsychologische, völkerpsychologische, ästhetische und
auch pädagogische Probleme untersucht. Immer gelang es, weiter als bisher
vorzudringen und zu ganz neuen Ergebnissen zu gelangen.
Uns interessiert vor allem, was sie der Fürsorgeerziehung gebracht hat. Natür-
lich auch vertiefte psychologische Erkenntnisse, aber was besonders wichtig ist,
genaueren Einblick in die Struktur des Ichs und damit die Möglichkeit, die
Beziehungen der Verwahrlosung zu dessen Strukturveränderungen zu studieren;
dann, sicheres Erfassen der durch die Fürsorgeerziehung zu lösenden Aufgaben
und schließlich erhöhtes technisches Können. Sie kommt daher für den Für-
sorgeerzieher vornehmlich in dreifachem Belange in Betracht: als Forschungs-
richtung, psychoanalytische Psychologie und methodisches Hilfsmittel.
Bedient sich der ausübende Erzieher der psychoanalytischen Psychologie, so
vermag er beispielsweise aus der Art und Stärke psychischer Reaktionen auf
die psychische Situation des Beobachteten zu schließen, Erziehungseinwirkungen
aus dem darauf erfolgten Benehmen zu kontrollieren, Erziehungsschwierigkeiten
aus der psychischen Konstellation zu beurteilen usw.; er kommt durch sie auch
zu erhöhter Menschenkenntnis und damit zu viel gründlicherem Erfassen der
Zöglingsindividualitäten. Läßt er außerdem die Psychoanalyse nicht vor seiner
Person haltmachen, sondern auf sich selbst, sein Seelisches wirken, so weiß ei-
seine eigenen Reaktionen zu beurteilen und kann dadurch die Fehlerquelle in
der Beurteilung seiner Zöglinge beträchtlich herabsetzen.
Es ist zweifellos sichergestellt, daß eine Reihe von Verwahrlosungen auf
neurotischer Grundlage entstehen, in anderer Ausdrucksweise: neurotische Ver-
änderungen der Ich-Struktur kommen zusammen mit solchen der Verwahr-
losung vor; noch anders gesagt: es gibt neurotische Grenzfälle mit Verwahr-
losungserscheinungen und Verwahrlosungsgrenzfälle mit neurotischen Erschei-
nungen. Je mehr die Verwahrlosung mit Neurose kombiniert auftritt, desto
weniger wird man mit den bisherigen Erziehungsmitteln das Auslangen finden
und bedarf desto mehr des durch die Psychoanalyse zu erwerbenden erhöhten
technischen, pädagogischen Könnens, der pädagogischen Analyse; je mehr die
Neurose in Verwahrlosung ausläuft, desto weniger wird mit der Psychoanalyse
allein das Auslangen zu finden sein, desto mehr Erziehung muß dazutreten.
Die Behebung der Verwahrlosung als Angelegenheit der Erziehung zu rekla-
mieren, erschiene überflüssig, wenn es nicht den Anschein hätte, als ob man
•
—
22
in neuerer Zeit bemüht wäre, sie für eine Domäne des Arztes zu reservieren.
Dem Fürsorgeerzieher wird seine erzieherische Gewissenhaftigkeit vorschreiben,
einen psychoanalytisch gebildeten Arzt zu Rate zu ziehen, um Krankhaftes
nicht zu übersehen, im übrigen aber wird er sich die Berechtigung nicht ab-
sprechen lassen, von der Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung soweit Ge-
brauch zu machen, als es erforderlich ist.
Ich will nun in Ihnen durchaus nicht den Eindruck hervorrufen, als ob ich
der Meinung wäre, wir hätten in der Anwendung der Psychoanalyse das All-
heilmittel für die Fürsorgeerziehung gefunden. Sie ist zwar eine außerordent-
lich wertvolle Hilfe, wenn wir aber im Überschwang der Begeisterung unsere
Kritik verlieren würden, täten wir manchem tüchtigen Fürsorgeerzieher, den
es auch schon vor der Psychoanalyse gegeben hat, unrecht; Erziehen-Können
ist eine Kunst, so wie jede andere. Und von der Fürsorgeerziehung gilt in er-
höhtem Ausmaße, was von der Erziehung überhaupt gilt: je intuitiver der Er-
zieher den Zögling erfaßt und je künstlerischer er arbeitet, desto Erfolgreicheres
wird er leisten. Er bedarf dazu allerdings Hilfsmittel und Techniken, die er
hernehmen wird, wo sie zu bekommen sind; daß er sie in der Psychoanalyse
findet, erhöht deren Anwendungsbereich. Zuzugeben ist auch, daß das künst-
lerische Schaffen bis zu einem gewissen Grade ersetzt werden kann durch ein
technisches Können, das aus dem Wissen des gesetzmäßigen Ablaufes im seeli-
schen Geschehen hervorgeht. Sind dem Erzieher die durch die Psychoanalyse
aufgedeckten psychischen Mechanismen nicht mehr fremd, so wird sein
intuitives Erfassen des Zöglings zum bewußten sicheren Erkennen werden.
Aus all dem folgt, wie sich der Wirkungsbereich der Psychoanalyse in der
Fürsorgeerziehung begrenzt:
als Forschungsrichtung in dem Material, das zu verarbeiten ist;
als Behandlungsmethode nur anwendbar kombiniert mit Erziehung;
als psychoanalytische Psychologie soweit die Psychologie für die Fürsorge-
erziehung überhaupt in Betracht kommt.
Der Erzieher überschätzt sehr häufig die Bedeutung der Psychologie in der
Fürsorgeerziehung und übersieht leicht die Entwicklung, die die Pädagogik seit
H e r b a r t genommen hat. Sie läßt sich seit langem nicht mehr auf Ethik und
Psychologie allein gründen. Sie ist ein recht verzweigtes Gebiet geworden, das
sich von einer Seite allein, auch von der psychologischen nicht mehr erklären
läßt. Der Fürsorgeerzieher, der nicht erkennt, wie viele psychiatrische, sozio-
logische, kulturpolitische, staatswissenschaftliche Probleme, um nur einige zu
nennen, außer den psychologischen mit der Fürsorgeerziehung verwoben sind,
und sich ausschließlich psychologischen oder psychoanalytischen Studien wid-
met, wäre zweifellos seiner Aufgabe nicht gewachsen.
Ich bin bei dem flüchtigen Überblick, den ich Ihnen heute über die Fürsorge-
^
*3
erziehung und die Psychoanalyse gab, an vielen Stellen sehr andeutungsweise
geblieben und habe mich oft mit recht unbestimmten Ausdrücken begnügt.
Wollte ich Ihnen Glauben aufzwingen und Sie nicht dazu bringen, Wissen zu
erwerben, so hätte ich Ihnen manches bereits gesicherte Ergebnis der Psycho-
analyse als Tatsache anführen können; Sie sollen aber selbst prüfen, sich in
eine Denkrichtung einleben und beurteilen lernen, ob der psychoanalytisch ge-
schulte Erzieher neue Wege finden oder die alten mit mehr Erfolg gehen kann,
als der andere, dem die Psychoanalyse nichts sagt, oder der von ihr nichts weiß.
ZWEITER VORTRAG
Eine Symptomanalyse
•
Meine Damen und Herren! Wir haben bei unserem ersten Zusammensein
schon so weit allgemein einführende Gesichtspunkte gewonnen, daß wir die
Aufgabe der Fürsorgeerziehung andeutungsweise kennen und uns auch die
Psychoanalyse nicht mehr ganz fremd ist. Wir könnten nun Voraussetzungen
für unsere Arbeit zusammentragen, um erst später, gut vorbereitet, mit Unter-
suchungen und Überlegungen zu beginnen. Unsere Besprechungen würden sich
dann in einen allgemeinen Teil, der die Grundlagen schafft, und in einen beson-
deren, in dem diese an Erziehungsnotständen zur Anwendung kommen, glie-
dern. Der Vorteil dieses Vorganges wäre ein mehrfacher: durch die vorher-
gehende systematische Einführung in die Psychoanalyse, — allerdings nur so
weit es für unsere Zwecke erforderlich ist, — wären Sie in eine Denkrichtung
eingelebt, so daß Ihnen die in der Anwendung notwendigen Schlußfolgerungen
nicht mehr „unerhört", „weit hergeholt", oder wie sonst die aus mangelnder
Sachkenntnis hervorgehenden Redewendungen lauten, erscheinen; dann brauch-
ten wir auch nicht den Zusammenhang bei der Darstellung von Ursachen und
Behebung dissozialer Erscheinungen durch theoretische Einschaltungen zu zer-
reißen, weil immer eine Bezugnahme auf bereits Bekanntes möglich wäre;
schließlich hätten wir damit auch einen jeden Sprung vermeidenden, lückenlos
fortschreitenden, ziemlich bequemen Weg vor uns. Und doch schlage ich Ihnen
einen anderen vor; vielleicht nur deswegen, weil mir selbst eine wissenschaft-
liche systematische Darstellung so gar nicht liegt. Ich stehe mitten in der Er-
ziehungsarbeit und will Ihnen Hilfe für Ihre geben; da erscheinen mir theore-
tische Auseinandersetzungen, von denen man solange nicht weiß, wozu sie an-
gestellt werden, nicht am Platze. Ich setze mich lieber Ihrem Widerspruche
und der Gefahr aus, durch theoretische Einschaltungen den Zusammenhang
—
*4
loser zu machen, nehme den Vorwurf einer unwissenschaftlichen Darstellung
auf mich, aber ich stelle Sie sofort ins wirkliche Leben hinein, bringe Ihnen
ohne weitere Vorbereitung Erziehungsnotstände, wie sie durch die Verhältnisse
geworden sind, nichts Zugerichtetes, oder eine einer Erklärung angepaßte Kon-
struktion. (Daß gewisse unwesentliche Einzelheiten aus gebotener Diskretion
abgeändert werden müssen, ist wohl selbstverständlich.) Wir werden ja sehen,
was wir uns zu jedem Falle an psychoanalytischen oder sonstigen Kenntnissen
holen müssen.
Gehen wir nun in die Erziehungsberatung, — den Anstaltsbesuch heben wir
uns für ein andermal auf, — nehmen aber nicht gleich den erstbesten Jungen
vor, sondern wählen für die erste Einführung einen ziemlich durchsichtigen
Fall aus.
Frau S. kommt mit ihrem 13jährigen Jungen Ferdinand, beklagt sich über
seine Schlechtigkeit und will ihn durchaus in eine Besserungsanstalt bringen.
In Abwesenheit des Jungen macht sie ihre Angaben stellenweise zusammen-
hängend, dann wieder auf direktes Befragen. Ich teile Ihnen aus der Unter-
redung nur das heute für uns Wesentliche mit.
Am Mittwoch wollte Frau S . . . von der Waschküche in die Wohnung gehen
um mit Ferdinand, der ihr nicht lange vorher Seife, Soda und eine Tages-
zeitung dorthin gebracht hatte, das Mittagessen einzunehmen. Die Wohnung
war aber versperrt, der Schlüssel von ihm bei einer Nachbarin hinterlegt worden
und er selbst verschwunden. „Da er ohne jede Ursache, er wird sehr gut ge-
halten, schon einige Male von zu Hause fortgelaufen ist, dachte ich sofort an
ein Durchgehen", sagte Frau S . . . und fuhr fort: „Aus meiner Geldtasche, in
der etwas über 100.000 Kronen waren und die auf dem Tische im Zimmer lag,
fehlte nichts. Auch das ersparte Geld meines Mannes war unberührt. Der Junge
kennt den Aufbewahrungsort — die Innentasche eines alten, nicht mehr im
Gebrauche stehenden Rockes im Kleiderschrank, der offen stand — . Erst später
entdeckte ich, daß er 7000 Kronen aus der Lade des Küchentisches und 6000
Kronen aus der Sparkasse seiner Schwester entwendet hatte. Als Ferdinand
auch abends nicht nach Hause kam, erstattete ich die Abgängigkeitsanzeige. Am
Freitag nachmittags, ich kehrte gerade mit einer neuen Arbeit zurück, trat
er mir in der Nähe des Wohnhauses entgegen, ganz verstockt und trotzig, aber
frisch gewaschen, mit reiner Wäsche und umgezogen. Er war schon in der
Wohnung gewesen. Er sprach nichts; trotz wiederholten Fragens konnte ich
aus ihm nicht herausbringen, wo er gewesen war und was er mit dem Gelde
angefangen hatte. Ich weiß es auch jetzt noch nicht. Ich habe nicht geschimpft
mit ihm, ihn auch nicht geschlagen, aber da er gar so schlecht ist, muß er in
eine Besserungsanstalt kommen."
Über ihre Familienverhältnisse spricht sie ganz offen. Sie ist seit 15 Jahren
2 5
verheiratet, lebt in guter Ehe und durchaus geordneten Verhältnissen. Ihr Mann
ist Werkführer in einer Maschinenfabrik, sie arbeitet für ein Stadtgeschäft
Kunststickereien. Auf meine Frage, ob es nie eheliche Zwistigkeiten gebe, ent-
gegnete sie: „Na ja, so Kleinigkeiten, wie sie eben überall vorkommen." Die
Beziehungen zwischen ihr und dem Jungen scheinen recht gute zu sein. „Mich
hat er sicher lieber als den Vater, der ist viel zu gut mit ihm, läßt ihm alles
angehen und straft ihn fast nie. Ich ärgere mich immer darüber, aber es nützt
nichts. Sage ich etwas, dann geht der Mann fort und kommt stundenlang nicht
nach Hause. Mit den Kindern können wir uns nicht viel beschäftigen. Wir
stehen den ganzen Tag in Arbeit, und Sonntags, Sie müssen wissen, daß mein
Mann passionierter Fischer ist, da nimmt er sein Fischzeug und fährt nach
Tulln. Ferdinand darf öfter mitkommen. Ich und meine Tochter, die Lina,
bleiben zuhause und da wird das Notwendigste gestopft und geflickt."
Die Wohnung besteht aus Zimmer, Kabinett und Küche. Die Eltern und die
Tochter schlafen im Zimmer, der Junge im Kabinett. Von Lina gibt die Mutter
an, daß diese n Jahre alt ist, in die Bürgerschule geht, sehr gut lernt, keinen
Anlaß zu Klagen gibt, weil sie auch bei den häuslichen Arbeiten fleißig mit-
hilft, und Ferdinand, wenn Streitigkeiten vorkommen, mehr nachgibt als
wünschenswert ist. Frau S . . . schließt ihre Mitteilungen, indem sie noch angibt,
daß es mit dem Jungen vor seinem Davonlaufen zu keinerlei Auseinander-
setzungen gekommen sei, daß er eine Strafe nicht zu befürchten hatte und auch
nicht durch irgend etwas verängstigt gewesen sein könne. Sein Weggehen ist
der Mutter unerklärlich, da auch eine Verleitung durch Freunde nicht in Frage
kommt; er verkehrt nur mit einem einzigen Jungen aus sehr anständiger Familie
und ist fast nie auf der Gasse.
Zu den Angaben der Frau S . . . trage ich noch nach: Vater und Mutter sind
gesund, weder in seiner noch in ihrer Familie sind Trinker oder Geisteskranke,
bei keinem Verwandten ist ein Zug zum Vagantentum oder zur Kriminalität
bemerkbar. Die Entwicklung Ferdinands war eine vollständig normale, er hatte
in der Kindheit weder Krämpfe noch Fraisen und zeigt auch jetzt keinerlei
Äußerungen, die auf einen Dämmerzustand oder eine psychische Erkrankung
schließen lassen.
Als von der Mutter nichts mehr zur Aufhellung der dissozialen Äußerungen
Ferdinands Erforderliches zu erfragen war, versuchte ich durch eine abgeson-
derte Befragung des Jungen weitere Einzelheiten über seine Handlungsweise
aufzudecken. Die Mutter wurde gebeten, das Ergebnis abzuwarten, um ihr die
erforderlichen Maßnahmen bekanntgeben zu können.
Der erste Eindruck von Ferdinand ist ein recht sympathischer. Nicht die
Spur der typischen Erscheinung des Verwahrlosten; im Gegenteil, das Aus-
sehen eines gut gehaltenen, gepflegten, wohlerzogenen Kindes aus bürgerlicher
26
Familie. Hochaufgeschossen, dabei nicht schwächlich, zeigt er ein heiteres Lä-
cheln im kindlich weichen, ovalen Gesicht. Die brünetten Haare sind geschei-
telt, Antlitz und Hände nicht nur gewaschen, sondern gescheuert. Besonders
stark betont ist das „große Kind" durch linkische, verlegene Bewegungen und
durch seine Gewandung: frischgewaschenes weißes Matrosengewand mit langer
Hose und in Neuheit glänzende Sandalen.
Nach der üblichen Begrüßung und einigen einleitenden Fragen, deren Art
wir besprechen werden, wenn wir uns mit der Herstellung der Gefühlsbeziehung
zwischen Zögling und Erzieher beschäftigen, setzen Ferdinand und ich uns an
den im Sprechzimmer stehenden Tisch und es entwickelt sich ein Gespräch,
das ich Ihnen, soweit es für uns heute in Frage kommt, teils nur inhaltlich,
teils in Rede und Gegenrede mitteilen will. Vorher bemerke ich aber noch, daß
die Aussprachen in der Erziehungsberatung sowohl mit den Eltern als auch mit
den Minderjährigen unter vier Augen stattzufinden haben. Es ist schon der
Sache nicht dienlich, wenn ab und zu der eine oder andere zuhört, untunlich
aber, wenn es zur Regel gemacht wird, daß Eltern und Kinder einem Audi-
torium vorgeführt werden.
Ferdinand schildert die gegenseitigen Beziehungen seiner Eltern im Gegen-
sätze zur Mutter so, daß daraus ziemliche Disharmonie zu entnehmen ist.
Vater und Mutter verstehen einander nicht sehr gut. Wenn die Mutter böse ist
und es zu Zank kommt, geht der Vater fort. Er bleibt dann stundenlang weg
und die Mutter ärgert sich. Am Samstag vor acht Tagen hatte es wieder ein-
mal eine Auseinandersetzung gegeben; der Vater fuhr mit seinem Fischzeug
nach Tulln und kam nicht wie gewöhnlich, sondern erst am Sonntag spät nachts
zurück. Darüber ängstigte sich die Mutter sehr, weil sie einen Unfall befürch-
tete. Ferdinands Stellung zu den Eltern ist „ambivalent", schwankt zwischen
Zuneigung und Ablehnung. Ist die Mutter zu strenge, so geht er zum Vater,
nimmt dieser ihn nicht nach Tulln mit, beklagt er sich bei jener; die Mutter
liebt er mehr, dem Vater gibt er recht, daß er sich unangenehmen Auseinander-
setzungen durch Entfernen entzieht. Die Schwester ist nicht sehr zärtlich zu
ihm; er muß sich oft über sie ärgern. Sie wird manchmal von der Mutter bevor-
zugt. Am Dienstag abends, vor seinem Weggehen, gab ihr die Mutter 6000
Kronen in die Sparkasse, damit sie sich für Schuhdoppeln spare, er erhielt
nichts, obwohl er neue Schuhe notwendiger brauchte. Die Mutter wollte das
nicht einsehen, als er sich darüber aufregte.
Von der Schule bringt die Schwester bessere Noten nach Hause als er. Vom
Schulgehen ist er überhaupt kein Freund; er wäre schon lieber nicht mehr dort
und möchte Mechaniker werden. Viel Umgang mit Kameraden hat er nicht.
Einen Jungen gleichen Alters liebt er sehr. Auf der Gasse mag er nicht sein,
außer mit seinem Freunde, der ihn ab und zu zum Spazierengehen abholt. Manch-
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mal besucht er mit ihm auch das Kino. Er zieht Stücke vor, die durch die
ganze Welt führen, liest auch gerne Reiseberichte und wird Mechaniker nur,
weil die Eltern ihn nicht zur See gehen lassen.
Über sein Davonlaufen entwickelt sich mit ihm ein Gespräch, das ich Ihnen,
soweit es zur Aufhellung der Dissozialität erforderlich ist, wörtlich wiedergebe.
Wesentliche Erinnerungsfälschungen können nicht unterlaufen sein, da ich es
gleich nach seinem Weggehen stenographisch fixierte.
„Wann bist Du von zu Hause durchgegangen?" — „Am Mittwoch."
„Wann bist Du weggelaufen, in der Früh, mittags, nachmittags oder am Abend?"
— „Ich weiß nicht genau, wie spät es war, aber gegen Mittag, noch vor dem Essen."
„Bist Du von zu Hause oder von der Straße weggelaufen?" — „Ich war in der
Wohnung und bin von dort weg."
„War außer Dir noch jemand in der Wohnung?" — „Nein! Ich war allein."
„Wo waren die anderen?" — „Die Mutter war in der Waschküche, der Vater in
der Fabrik und die Schwester in der Schule."
„Erinnerst Du Dich, ob vorher etwas los war? Hast Du Dich gefürchtet, Angst
gehabt oder vielleicht geärgert?' — „Nein!"
„Vielleicht war am Dienstag abends etwas?" — „Nein!"
„Was hast Du Dienstag abends gemacht?" — „Ich war einkaufen. Meine Mutter
hat mir fünfzigtausend Kronen gegeben . . . Ich habe dreizehntausend Kronen zurück-
gebracht . . . Die hat die Mutter in der Küche in die Tischlade gelegt."
„Denk einmal nach, ob die Mutter oder der Vater am Dienstag abends oder am
Mittwoch auf Dich böse waren?" — „Nein!"
„War mit dem Vater irgend etwas?" — „Nein!"
„Mit der Schwester?" — „Nein! Ja schon... Ich habe mich geärgert über sie,
weil sie sich früher ihre Schuhe doppeln lassen kann, als ich neue kriege."
„Wieso?" — „Die Mutter hat ihr sechstausend Kronen geschenkt und die Lina
hat sie in ihre Sparkasse gegeben."
„Warum?" — „Das weiß ich nicht. Die Mutter hat sie von der Küchenlade heraus-
genommen."
„Hast Du Dir schon am Dienstag abends gedacht, daß Du davonlaufen wirst?" —
„Nein!"
„Wann denn?" — „Erst am Mittwoch und dann bin ich gleich fort."
„Was hast Du vorher gemacht?" — „Ich habe der Mutter Soda, Seife und eine
Zeitung in die Waschküche gebracht. Dann bin ich in die Wohnung gegangen."
„Hast Du in die Zeitung hineingeschaut?" — „Ja!"
„Was hast Du gelesen?" — „Daß die Marchart auf der Rax verschwunden ist."
„Wie Du der Mutter die Sachen in die Waschküche gebracht hast, war da irgend
etwas los?" — „Die Mutter war grantig wegen der Briefmarken."
„Wegen welcher Briefmarken?" — „Meinem Freunde sind Briefmarken weggekom-
men und sie glauben, daß ich sie habe."
„Wer sind die ,sie'?" — „Alle, aber auch die Mutter."
„Hast Du Dich über die Mutter geärgert?" — „Freilich, ich habe mir gedacht:
das ist mir schon zu dumm."
„Du bist von der Waschküche in die Wohnung gegangen, was hast Du dort
gemacht?" — „Ich habe mir ein Schmalzbrot aufgestrichen und gegessen."
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„Bist Du dabei im Zimmer oder in der Küche gewesen?" — „Ich habe im Zimmer
beim Fcnscer hinunter geschaut."
„Ist Dir auf der Gasse etwas aufgefallen?" — „Ich hab' ja in den Hof hinunter
geschaut. Da ist ein Hund unten gewesen und dem hab' ich von meinem Schmalz-
brot etwas hinuntergeworfen."
„Zeige mir, wie Du beim Fenster gestanden bist!"
(Der Junge lehnt sich daraufhin an die Platte des Tisches, an dem wir bisher bei-
sammen gesessen sind. Ich lasse ihn in der Folge, um das Erinnern zu erleichtern,
in dieser Stellung.)
„Was war, nachdem Du dem Hunde von Deinem Schmalzbrote hinuntergeworfen
hast?" — „Dann bin ich durchgegangen."
„Halt! Nicht so rasch! Du bist am Fensterbrett gelehnt... hast Dein Schmalzbrot
gegessen . . . dem Hunde davon hinuntergeworfen . . . denk einmal nach, ob Du Dich
erinnerst, warum Du auf einmal durchgegangen bist!" — „Nein!"
„Ist Dir der Gedanke während des Essens gekommen?" — „Ich war schon fertig
und habe mir gedacht, ich fahre nach Tulln."
„Warum gerade nach Tulln?" — „Weil ich in den Wald gehen wollte."
„Gibt es denn nur in Tulln einen Wald?" — „Nein! Aber ich wollte der Mutter
Kirschen bringen."
„Warum gerade von Tulln?" — „Weil der Vater dort Kirschenbäume gekauft hat."
„Woher weißt Du das?" — „Weil ich mit war. Ich bin schon oft mit meinem
Vater in Tulln gewesen, wenn er fischen gegangen ist."
„Also, Du hast Dir gedacht nach Tulln zu fahren, um der Mutter Kirschen zu
bringen, was war dann?" — „Auf dem Fensterbrett sind auch Kirschenkerne gelegen.
Dann bin ich in die Küche gegangen und habe mir vier Schmalzbrote aufgestrichen."
„Was hast Du noch gemacht?" — „Von der Mutter die dreizehntausend Kronen
und eine Tasche genommen."
„Wo hast Du das Geld weggenommen?" — „Aus der Lade in der Küche."
„Stimmt das?" — „Ja!"
„Denk einmal nach!" — „Ich habe nur siebentausend Kronen aus der Tischlade
genommen. Es war nicht mehr drin."
„Woher hast Du die sechstausend Kronen?" — „Von der Lina ihrer Sparkasse."
„Wo war die Sparkasse?" — „In der Kredenz im Zimmer."
„War die zugesperrt?" — „Ja, aber der Schlüssel war in der Mutter ihrer Geld-
tasche."
„Wo war die Geldtasche?" — „Auf dem Tisch im Zimmer."
„War da auch Geld darin?" — „Ja!"
„Wieviel?" — „Das weiß ich nicht."
„Hast Du alles Geld aus der Sparkasse der Schwester genommen oder noch etwas
übrig gelassen?" — „Ich habe nicht alles genommen."
„Warum nicht?" — „Ich habe nicht mehr gebraucht für die Fahrt."
„Was kostet die Fahrt?" — „Sechstausend Kronen."
„Dann hast Du doch nicht dreizehntausend gebraucht." — „Ich habe ja auch
zurückfahren müssen."
„War in der Wohnung noch anderswo Geld?" — „Ja! Im Kasten. Da hat der
Vater einen alten Rock hängen. In einer alten Brieftasche hat er da sein Geld."
„War dieser Kasten auch zugesperrt?" — „Ja, aber der Schlüssel ist gesteckt."
„Hast Du auch eine Sparkasse?" — „Ja!"
•f
29
„Wieviel Geld hast Du erspare?" — „Gegen achttausend Kronen."
„Warum hast du nicht das Geld von Dir genommen?" — „Das wollte ich mir
sparen."
„Warum hast Du gerade das Geld von der Schwester genommen?" — „ "
„Willst Du mir das nicht sagen?" — „ "
„Du hast das Geld aus der Sparkassa der Schwester genommen, was war dann?"
— „Ich habe die Schmalzbrote in die Tasche gegeben und die Wohnung zugesperrt."
„Hast Du die Wohnungsschlüssel mitgenommen?" — „Nein, die habe ich zu einer
Nachbarin gegeben. Und dann bin ich fortgegangen."
„Hast Du nicht Angst gehabt, daß Dich die Mutter auf der Stiege treffen könnte?"
— „Nein! Sie hat mir gesagt, daß sie sich recht tummeln muß, damit sie noch vor
dem Essen fertig wird."
„Was hätte sie denn dann gemacht?" — „Das weiß ich nicht. Ich hätte das Essen
wärmen sollen."
„Hast Du das gemacht?" — „Nein!"
„Wohin bist Du von der Wohnung gegangen?" — „Auf den Franz-Josefs-Bahnhof."
„Zu Fuß oder mit der Straßenbahn?" — „Zu Fuß und dann habe ich zwei Stun-
den warten müssen."
„Was hast Du auf dem Bahnhof gemacht?" — „Ich bin gesessen und habe ein
Schmalzbrot gegessen."
„Hat der Vater auch immer etwas mitgenommen, wenn ihr zusammen nach Tulln
gefahren seid?" — „Ja, und das habe ich tragen müssen."
„Hast Du auf dem Bahnhof Angst gehabt, daß man Dich erwischen wird?" —
„Nein! Es kommt ja niemand von uns hin."
„Hast Du gewußt, wo Du aussteigen mußt?" — „Ja, ich kenne den Bahnhof sehr
gut."
„Was hast Du gemacht, wie Du in Tulln ausgestiegen bist?" — „Nichts."
„Bist Du auf dem Bahnhof geblieben?" — „Nein, ich bin gleich in den Wald
gegangen."
„Dann hast Du ja doch etwas gemacht!" — „Das schon, aber ich habe geglaubt,
ob ich etwas angestellt hab\"
„Was hast Du im Wald gemacht?" — „Ich bin zu den Kirschenbäumen gegangen."
„Hast Du Kirschen gepflückt?" — „Die waren ja noch nicht reif und da hab'
ich Angst vor zu Hause bekommen."
„Was hast Du dann gemacht?" — „Ich bin im Walde herumgegangen."
„Warum?" — „Weil ich mir Erdbeeren gesucht habe. Es waren auch noch andere
Kirschenbäume da. Die haben reife Kirschen gehabt. Ich habe mir genommen und
gegessen."
„Hast Du auch für die Mutter von diesen Kirschbäumen genommen?" — „Nein!"
„Wie lange bist Du im Walde geblieben?" — „Bis es ganz finster war. Es hat
auch angefangen zu regnen."
„Wohin bist Du am Abend gegangen?" — „Ich hab' in einem Stadel (Scheune)
übernachtet."
Ferdinand beschreibt nun die Situation seines Nachtlagers näher, auch wie
vorsichtig er am Abend sein mußte, damit die Bauersleute ihn nicht bemerkten.
Er erzählt von seiner gedrückten Stimmung, als er so allein hoch oben im Heu
L
.
3°
schlafen sollte, zuerst sich ängstigte, daß er am Morgen nicht rechtzeitig er-
wachen und vom Bauern könnte erwischt werden, dann überhaupt nicht ein-
schlafen konnte und als der Tag kaum zu grauen begann, sich davonmachte.
Obwohl es tagsüber fortgesetzt, wenn auch leicht regnete, blieb er, um nicht
gesehen zu werden, im Walde. Viel Gedanken über zu Hause machte er sich
nicht. Seine einzige Sorge war nur, ob es ihm wieder möglich sein werde, in
derselben Scheune zu übernachten. Er wartete den Eintritt der Dunkelheit ab,
schlich sich zur Scheune vom Tage vorher und kam wieder unbemerkt auf sein
Heulager. Diesmal verbrachte er eine sehr gute Nacht und erwachte erst, als
es schon heller Tag war. Er mußte zuwarten, bis der Bauer das Haus ver-
lassen hatte und lief dann schleunigst in den Wald zurück. Vom restlichen
Fahrgeld hatte er für andere Zwecke nichts verwendet, sondern es für die Rück-
reise aufgespart, gelebt von Erdbeeren, Kirschen und seinen drei Schmalzbroten.
Das letzte aß er am Freitag früh, als es schon ganz hart geworden war. Nach
Hause trieb ihn der Hunger. Er fuhr ohne besondere Gewissensbisse nach Wien.
Erst beim Haustor erfaßte ihn wieder große Angst, die er aber überwand. In
der Wohnung traf er die Mutter nicht an, sondern nur die Schwester, die ihm
mitteilte, daß die Eltern über sein Davonlaufen sehr böse seien, und die Mutter
gleich vom Geschäft zurückkommen werde. Ferdinand wusch sich gründlich
zog frische Wäsche, auch andere Kleider an und ging der Mutter entgegen.
Auf der Straße traf er sie. Sie machte ihm nicht viele Vorwürfe, schlug ihn
auch nicht, sagte ihm aber, weil er ein so schlechter Kerl sei, müsse er in eine
Besserungsanstalt.
In einer nochmaligen kurzen Rücksprache mit der Mutter ließ sich die Rich-
tigkeit der Angaben Ferdinands feststellen. Ihr erschien der Diebstahl und die
Fahrt nach Tulln sehr entschuldbar, als sie hörte, wie der Junge diese begrün-
dete. Sie konnte sich nur nicht erklären, warum er ihr das nicht selbst gesagt
hatte.
Ob die Sache wirklich so einfach liegt, wie Frau S . . . meint? Dazu müssen
wir uns die Diebstahlshandlung des Jungen und sein Durchgehen, sagen wir
besser sein Nichtnachhausezurückkehren doch noch näher ansehen. Schon ein
ganz oberflächliches Eingehen läßt ganz deutlich zwei getrennte Abschnitte, die
aus wesentlich verschiedenen psychischen Situationen kommen, erkennen. Der
Junge selbst gibt uns an, wo die eine endet und die andere beginnt: vor den
Kirschbäumen, als er sah, daß die Kirschen noch nicht reif waren. „Die
Kirschen waren noch nicht reif und da habe ich Angst vor zu Hause bekom-
men." Lassen wir den zweiten Teil heute unberücksichtigt und kehren wir zum
Ausgangspunkte zurück. Ich meine, daß wir für die anzustellenden Über-
legungen von vornherein Verschiedenes, das als Ursache dieser dissozialen
Äußerungen in Betracht kommen könnte, ausschließen dürfen. Krankhaftes
J
3i
liegt nicht vor, auch kein angeborenes Vagantentum, kein Wandertrieb, kein
Dämmerzustand. Es fehlen auch jedwede Anhaltspunkte, sie auf Furcht vor
Strafe zurückzuführen oder als Angstreaktion zu erklären.
Eines steht fest: er selbst begründet sie uns mit der Absicht, der Mutter
Kirschen zu bringen.
Gehen wir an die Erörterung dieses Falles vorläufig ohne jedwede psycho-
analytische Überlegung.
Zunächst, der Junge ist nicht einwandfrei, somit erscheint seinen Angaben
gegenüber Vorsicht geboten. Wir wissen noch nicht, hat er die Wahrheit ge-
sprochen, oder mich angelogen. Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit über-
haupt empfehlen, Mitteilungen Verwahrloster ohne eingehende Nachprüfung
nicht ohneweiters als stichhältig anzunehmen. Wir werden gewöhnlich mehr
angelogen als uns lieb ist, haben es, wie die Psychoanalyse sagen würde, nicht
nur mit unbewußten, sondern recht häufig mit sehr deutlich bewußten „Wider-
ständen" zu tun. Weil wir das wissen, regen wir uns darüber nicht auf, sondern
rechnen mit dieser Tatsache und richten uns darauf ein, aber ohne uns etwas
anmerken zu lassen. Ertappen wir den Dissozialen während einer Aussprache
bei einer Lüge, so beschämen wir ihn nicht. Wir werden Redewendungen wie:
„Du hast gelogen", „Du mußt bei der Wahrheit bleiben", „lüge nicht", oder
„lügen darf man nicht" vermeiden. Es ist viel zweckmäßiger, sich so zu be-
nehmen, als ob eine nicht beabsichtigte Erinnerungsfälschung vorläge. Das er-
reichen wir beispielsweise durch die Frage: „Stimmt das, was Du jetzt gesagt
hast?" oder durch die Aufforderung: „Denk' einmal nach!" „Laß Dir Zeit,
wiederhole mir das nochmals!" usw.
Wie steht es mit Ferdinand? Hat er wirklich der Mutter von Tulln Kirschen
bringen wollen, oder gebraucht er dies vor mir nur als Ausrede und das Motiv
zu seinen dissozialen Äußerungen ist anderswo zu suchen? Wir werden es mit
absoluter Sicherheit nicht feststellen können, sondern uns mit einer größeren
oder geringeren Wahrscheinlichkeit, zu der wir aus seinem sonstigen Verhalten
kommen, begnügen müssen.
Ob er mich angelogen hat? Möglicherweise! Er hat der Mutter bisher nichts
eingestanden, weiß, daß er von ihr zu mir gebracht worden ist, um durch mich
in eine Besserungsanstalt zu kommen. Die Entscheidung hängt daher von dem
Eindruck ab, den er auf mich macht. „Operiere ich geschickt", so könnte sich
der Junge gedacht haben, „dann komme ich glatt aus dieser unangenehmen Ge-
schichte heraus." Wenn er sein Benehmen auf diese Überlegung aufgebaut hat,
dann kannte er seine Mutter genau. Sie haben ja gehört, wie rasch diese ihren
Standpunkt änderte, als sie hörte, daß Ferdinands Tat sich durch ein zärtliches
Motiv erklären ließe. Berechtigt uns auch das sonstige Verhalten des Jungen zu
der Annahme, daß es so hätte gewesen sein können? Ja! Denn er hat zuerst
L
32
angegeben, nach Tulln in den Wald fahren zu wollen, und kam erst später auf
die Kirschbäume. Erinnern Sie sich an diese Stelle der Unterredung mit ihm?
Nach längerem Herumtasten, wann in ihm die Absicht nach Tulln zu fahren
aufgetaucht sei, lautete unser Gespräch folgendermaßen: „Ist Dir der Gedanke
(nach Tulln zu fahren) während des Essens gekommen?" — „Ich war schon
fertig und hab' mir gedacht, ich fahre nach Tulln." — „Warum gerade nach
Tulln?" — „Weil ich in den Wald gehen wollt e." — Erst auf die
Frage: — „Gibt es denn nur in Tulln einen Wald?" — fällt ihm ein: —
„Nein! aber ich wollte der Mutter Kirschen bringen." — •
„Warum gerade von Tulln"? — „Weil der Vater dort Kirsch-
bäume gekauft ha t."
Prüfen wir nun ohne Voreingenommenheit, ob auch die Annahme möglich
wäre, daß er die Wahrheit gesprochen hat. Die Wahrscheinlichkeit wird eine
sehr große, wenn wir seine Angaben mit denen der Mutter, die sicher nicht
im Einverständnis mit ihm spricht, vergleichen. Was nachprüfbar ist, stimmt,
abgesehen von den verschiedenen Gesichtswinkeln beider, vollständig überein.
Einen Zug von Aufrichtigkeit verrät auch seine Mitteilung über den Kirschen-
diebstahl in Tulln von fremden Bäumen, die er ohne Aufforderung und auch
ohne besondere Nötigung macht, obwohl er wissen konnte, daß das für ihn
nicht sehr vorteilhaft sei. Dazu kommt noch, daß er wirklich eine Tasche zur
Unterbringung der Kirschen mitnimmt, von dem leicht erreichbaren Geld nicht
mehr entwendet, als die Fahrtauslagen ausmachen, nichts für sich verbraucht,
sondern den Rest für die Rückfahrt aufspart und von Angst erfaßt wird, als
er in Tulln wegen Unreife der Kirschen seine Absicht nicht ausführen kann:
„Die Kirschen waren noch nicht reif und da hab' ich Angst vor zu Hause be-
kommen." Geben wir noch den Eindruck, den die ganze Unterredung mit ihm
machte, dazu, so können wir die Behauptung, daß er mich anlügen wollte,
nicht aufrecht erhalten.
Und doch befriedigt uns die Annahme, daß er die Wahrheit gesprochen hat,
auch nicht. Es war doch gar kein Anlaß vorhanden, besonders liebevoll an die
Mutter zu denken. Im Gegenteil: am Abend vorher der Ärger über sie, daß die
Schwester früher als er Schuhe bekommen werde, unmittelbar vor dem Davon-
laufen der Groll wegen der Briefmarken: „Ich hab' mir gedacht, das ist mir
schon zu dumm."
Aber vielleicht ist er das gute Kind, war über den Ärger hinweggekommen,
vom Essen des Schmalzbrotes satt geworden, die in der Waschküche arbeitende
Mutter, die nichts hatte, wurde von ihm bemitleidet: das Kirschenholen war
eine Versöhnungshandlung. Diese Überlegung wäre ohneweiters zulässig, wenn
nicht etwas anderes sie ausschlösse. Er entwendete der Mutter und aus der Spar-
kasse der Schwester Geld, Handlungen in ganz entgegengesetztem Sinne. Wäre
33
es ihm wirklich nur darum zu tun gewesen, der Mutter Kirschen zu bringen,
so hätte er es doch viel einfacher machen können: sie von seinen Ersparnissen
beim nächsten Greisler kaufen. Es wäre auch nicht notwendig gewesen, unver-
rich teter Sache nach Hause zu kommen; so wie er für sich von fremden
Kirschbäumen gepflückt hatte, hätte er auch die Tasche für die Mutter füllen
können.
Also hat er doch gelogen? Wir sind noch nicht genötigt, das anzunehmen.
Vielleicht war seine eigene Naschhaftigkeit, ohne daß er es wußte, die Ur-
sache. Das heißt, sein Brot war aufgegessen, er wollte noch etwas haben, sah
die Kirschkerne auf dem Fensterbrett liegen und nun tauchte aus irgend einer
von unserer Fragestellung noch nicht aufgedeckten Ursache die Vorstellung auf,
der Mutter Kirschen zu bringen. Die Lust, diese selbst zu essen, kleidete sich
in die Vorstellung, der Mutter welche zu bringen. Sein Diebstahl wird ihm zur
sozial entschuldbaren Handlung, wenn er von dem Gelde für sich selbst nichts
verwendet. Von den mitgebrachten Kirschen bekommt er doch auch, ohne an
sich denken zu müssen.
Aber wenn seine Naschlust so groß war, daß sie zum Diebstahl führte, dann
vertrug ihre Befriedigung nicht einen stundenlangen Aufschub, wie er durch
das Warten auf dem Bahnhofe und die Fahrt nach Tulln bedingt war. Er hätte
ihr früher nachgegeben und irgendwo Einkäufe gemacht. Es wäre ihm auch
ein Leichtes gewesen, mehr Geld mitzunehmen, um vorhandene Gelüste zu
befriedigen. Er hat auch, wie wir wissen, zwei Tage von Waldfrüchten, Erd-
beeren und seinen drei Schmalzbroten gelebt: „Wie ich das letzte gegessen
habe, war es schon ganz hart", weder von seinem noch vorhandenen Geld
etwas für Lebensmittel ausgegeben noch anderswo gestohlen. Die Hemmungen,
deren Fehlen uns in anderen Fällen den Diebstahl aus dem Freßtriebe heraus
erklären lassen, waren bei ihm vorhanden.
Daß ich von Ferdinand angelogen worden war, läßt sich nicht gut sagen.
Daß er die Wahrheit gesprochen hätte, will uns nach dem jetzt dagegen Ge-
hörten auch nicht mehr richtig erscheinen. Gefühlsmäßig würden wir am
liebsten ein Kompromiß eingehen, halb auf halb: er hat die Unwahrheit ge-
sprochen, ist aber vom Gegenteil überzeugt. Gibt es so etwas überhaupt und
läßt sich auf einer derart unsicheren Voraussetzung eine Untersuchung auf-
bauen? Die Unsicherheit vergrößerte sich noch, wenn ich eine bisher absicht-
lich unterlassene Erörterung andeute: warum der Junge das Geld aus der Spar-
kasse der Schwester entwendete und weder von seinen, noch von den leicht
erreichbaren Ersparnissen des Vaters, noch von der Geldtasche der Mutter
nahm.
Ich bin der Meinung, daß wir in unseren Überlegungen nun an einer Stelle
angelangt sind, von der wir nicht mehr recht weiter können. Vielleicht fallen
3 A i di h o r n, Verwahrloste Jugend
34
Ihnen noch andere Möglichkeiten ein, die für das Tun des Jungen in Betracht
zu kommen scheinen, möglicherweise werden Sie aber ungeduldig und fragen,
wozu ein so Langes und Breites, weil einer gestohlen hat und von zu Hause
fortgelaufen ist? Darauf müßte ich Ihnen entgegnen: da wir uns einmal die
Untersuchung dieser dissozialen Äußerung zur Aufgabe gestellt haben, können
wir unmöglich abbrechen, wenn wir noch so unbefriedigt sind.
Es scheint, daß wir ohne Psychoanalyse nicht auslangen. Ich schlage Ihnen
daher Hilfe vor, die von dort zu bekommen ist.
Diebstahl und Fahrt nach Tulln als Zufallshandlungen aufzufassen, ist schon
ausgeschlossen, sobald wir unsere Untersuchung unter psychoanalytischen Ge-
sichtspunkten weiterführen. Die Zuneigung Ferdinands zur Mutter, oder seine
eigene Naschhaftigkeit scheinen auch nicht die Ursache zu sein. Wo ist also
das Motiv zu suchen? Wir haben uns bisher mit einer einzigen Äußerung des
Jungen beschäftigt. Nehmen wir, wenn uns diese nicht weiter führt, eine
andere vor.
Als er der Mutter Seife, Soda und eine Zeitung in die Waschküche gebracht
hatte, machte diese eine Bemerkung über die dem Freunde weggekommenen
Briefmarken; er war sehr verärgert, daß der Verdacht auf ihn fiel und dachte
sich: „Das ist mir schon zu dumm!" In gut wienerischer, dem Jungen nicht
unbekannter Ausdrucksweise würde dasselbe so lauten: „Habt's mi gern,
i geh'!" Womit eine auf das Weggehen gerichtete Tendenz ausgedrückt wird.
Woher diese? Ferdinand hat sich am Abend vorher, weil die Schwester Geld
für Schuhe bekam, und nochmals in der Waschküche über die Mutter geärgert.
Er befindet sich in einer durch diese verursachten unangenehmen Situation, zu
deren Erledigung es ihn treibt. Ein Impuls davonzulaufen wäre daher möglich.
Dieser erklärt uns aber nicht, warum er den Diebstahl beging, nur Mutter und
Schwester Geld wegnahm, gerade nach Tulln fuhr und angibt, die Absicht ge-
habt zu haben, der Mutter Kirschen zu bringen. Lassen wir uns dadurch nicht
beirren, ja, gehen wir sogar noch einen Schritt weiter und entschließen wir uns
zuzugeben, daß Ferdinand über die Absichten oder Tendenzen seines Handelns
im Unklaren sein könne, diese gar nicht wisse. Wir bewegen uns dann in der
Ihnen vorgeschlagenen psychoanalytischen Denkrichtung und dürfen erwarten,
daß wir zu uns befriedigenden Aufklärungen kommen werden.
Wenn Ferdinand die Determinanten für sein Tun nicht weiß, dann sind sie
in seinem Bewußtsein nicht auffindbar; wir können sie von ihm nicht erfragen,
aber nicht, weil er sie uns nicht sagen will, sondern weil er selbst sie nicht
kennt; sie sind ihm nicht bewußt, müssen im Unbewußten gesucht werden.
Wir haben schon von der dynamischen Betrachtungsweise gesprochen, das
heißt von der Möglichkeit, psychische Vorgänge als Wirkungen psychischer
Kräfte aufzufassen. Ferdinands Fahrt nach Tulln mit allen ihren Begleit-
35
umständen wäre dann auch das Ergebnis solcher. In kurzer Ausdrucksweise:
irgend ein psychischer Antrieb muß da sein. Ob nun eine einzelne Kraft ihn be-
dingt, oder ob mehrere sich zu einer Resultierenden vereinigen müssen und
welche, ehe er zustande kommt, wissen wir noch nicht. Wir behaupten nur, daß
er unbewußt ist und setzen folgerichtig fort, daß ein zweiter Antrieb vorhan-
den sein muß, der das Bewußtwerden des ersten verhindert. Die Klarstellung
der dissozialen Handlung läuft daher letzten Endes auf die Aufdeckung dieses
psychischen Kräftespieles hinaus. Wir können uns dieser Aufgabe erst unter-
ziehen, bis wir etwas mehr von den ihn bedingenden psychischen Vorgängen
wissen. Wir brechen daher vorläufig die Besprechung der besonderen Ange-
legenheit ab und wenden uns mehr allgemeineren Betrachtungen psychischer
Vorgänge zu.
Da wir uns zum erstenmal mit einem schwierigeren Problem der Psycho-
analyse beschäftigen, mache ich Sie aufmerksam, daß Sie im Verlaufe meiner
Vorträge nie erschöpfende Ausführungen erwarten dürfen. Sie werden sich
immer mit der Mitteilung von Einzelheiten, die gerade ausreichen, das zu be-
leuchten, worauf es im gegebenen Falle ankommt, begnügen müssen; und noch
etwas wollen Sie zur Kenntnis nehmen. Wenn wir die zu uns gebrachten ver-
wahrlosten Kinder und Jugendlichen sprechen lassen und mit ihnen reden, so ist
das keine psychoanalytische Behandlung. Wie ziehen aus ihren Mitteilungen und
sonstigen Äußerungen Schlüsse, denen wir dann unseren Erzichungsvorgang an-
passen. Sie wissen schon, daß wir in der Psychoanalyse Hilfen suchen, wie
sonst in der Psychologie; die Psychoanalyse ist ein Heilverfahren, das hier
ebensowenig zur Besprechung kommen wird, als Sie durch mich zum Psycho-
analytiker ausgebildet werden.
Kehren wir nach dieser kurzen Einschaltung zu unserem Thema zurück. Wir
wollen uns ein wenig über die unbewußten Vorgänge orientieren. Was uns
berechtigt, das Vorhandensein eines Unbewußten anzunehmen, habe ich Ihnen
im einleitenden Vortrag mit Freuds Worten mitgeteilt. Wir haben uns das Un-
bewußte nicht als Hilfsmittel zur Erklärung seelischer Vorgänge vorzustellen,
sondern als wirklich vorhanden, ebenso wie das Bewußtsein, und können dann
verstehen, daß es auch seine besondere Bedeutung und seine bestimmten Funk-
tionen hat. Wenn wir an das Bewußte und das Unbewußte denken, dürfen wir
aber nicht meinen, daß es irgendwo in uns zwei voneinander getrennte Fächer
gibt, die so benannt werden; die seelischen Vorgänge als solche scheiden sich
im allgemeinen in zwei Zustandsphasen und diese werden unterschieden, je
nachdem man von ihnen weiß oder nicht. Im Unbewußten ist mancherlei ein-
gebettet und es hat verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Von ihm gehen bei-
spielsweise die Trieb- und Wunschregungen aus, auch unsere Gefühlsbeziehungen
zu den Personen und Dingen der Umgebung. Was wir die Zuneigung zum
—
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anderen nennen, ist im Unbewußten viel früher da, als wir uns im Bewußtsein
darüber Rechenschaft geben. Wenn wir die Reaktionen des neugeborenen Kin-
des auf seine organischen Bedürfnisse und die von außen kommenden Ein-
drücke beobachten, so wird uns verständlich, daß Freud die unbewußten
seelischen Vorgänge als die ursprünglichen erkannt hat; denn von bewußten ist
wirklich nicht viel zu sehen. Erst im Heranwachsen wird dem Kinde sein
eigener Körper deutlich, kommt es zu bewußten Körperempfindungen, wird
ihm das durch die Sinnesorgane Aufgenommene auffällig und baut sich aus dem
Unbewußten und über dem Unbewußten das Bewußtsein auf. Jenes verschwin-
det aber nicht, wird nur feilweise eingeschränkt, bleibt in manchen Belangen
bestehen und auch beim reifen Menschen mächtig. Es gibt auch im Erwachsenen
noch genug dem Unbewußten angehörende psychische Abläufe.
Was wir gewohnt sind, beim Kinde den Nachahmungstrieb zu nennen, ist
auch eine Funktion des Unbewußten. Ohne daß das Kind davon weiß, ent-
stehen in ihm zärtliche Beziehungen zu den Eltern. Dadurch gefällt ihm Vieles,
was diese tun und einzelne ihrer Züge macht es sich zu eigen. Wir sagen: es
identifiziert sich mit ihnen. Nachahmen ist dann, in der Identifizierung das tun,
was die anderen machen. Wenn das kleine Mädchen mit der Puppe so spielt,
wie es die Mutter mit dem kleinen Geschwisterchen tun sieht, mit seinem Koch-
geschirr die Kochtätigkeit der Mutter ausführt, so ist das eine Identifizierung
mit der Mutter. Wenn der kleine Junge den Hut des Vaters aufsetzt, dessen
Stock nimmt und gravitätisch durch das Zimmer spaziert, abends sich nicht
zu Bett bringen lassen will, weil der Vater auch noch nicht schlafen geht, so
identifiziert er sich mit seinem Vater. Solchen Identifizierungen begegnen wir
auf Schritt und Tritt, wenn wir das Verhalten der Kinder genauer beachten.
Sie identifizieren sich aber nicht nur mit Personen, sondern auch mit Tieren
und manchmal mit leblosen Objekten; so werden beispielsweise auch Spiclgeräte
in der Kreis der Objekte einbezogen, die Züge zur Identifizierung liefern.
Warum ich mich jetzt gerade mit der im Kinde gegebenen Identifizierungs-
tendenz beschäftige? Weil uns dieser allgemeine Zug Ferdinands Tun zwar noch
nicht erklärt, aber doch schon zeigt, auf welchem Wege er eine Konflikts-
situation mit der Mutter erledigt. Auch der Vater geht und bleibt eine Zeitlang
weg, wenn ihm Auseinandersetzungen mit der Mutter sehr unangenehm werden.
Identifiziert er sich mit ihm, macht er es also wie dieser, so entgeht er inneren
und äußeren Bedrängnissen. Fährt er nach Tulln und bleibt er dort, so wieder-
holt er nur, was der Vater erst am vergangenen Sonntag ausgeführt hat.
Dazu kommt noch, daß er der Mutter Aufregung verursacht, wie sie ihm.
In der Zeitung hat er kurz vorher vom Verschwinden der Marchart gelesen,
um die sich sicherlich jemand sorgt, was auch die Mutter seinetwegen tun wird,
wenn er nicht rechtzeitig zurückkehrt. Er kann ihr etwas antun, verstärkt,
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wenn er ihr und der Schwester Geld entwendet; er hebt deren Bevorzugung
vom Tage vorher auf; denn ist das Geld weg, dann kann sie nicht früher
Schuhe bekommen als er.
Vielleicht, obwohl ich dessen nicht ganz sicher bin, stimmen einige von Ihnen
meinen Schlußfolgerungen zu, soweit sich Ferdinands Handeln aus seiner Iden-
tifizierung mit dem Vater ableiten läßt. Möglicherweise halten mir diese aber
entgegen, daß sich nicht einsehen läßt, warum er dann die Identifizierung nicht
eingesteht, etwa sagt: Ich habe mich über die Mutter geärgert und bin fort-
gegangen, sondern ein zärtliches Motiv (der Mutter Kirschen zu bringen) vor-
schiebt und woher er die anderen Züge für sein dissoziales Handeln nimmt?
Der Vater hat doch nichts gestohlen! Dieser Einwand wäre noch der ungefähr-
lichere, aber was fange ich an, wenn jemand die Frage aufwirft, ob denn, wie
ich es voraussetze, ein allem Anscheine nach doch verhältnismäßig harmloser
Junge so raffiniert denken könne? Ich müßte augenblicklich die Berechtigung
dieser Zweifel anerkennen, zugeben, daß ich an dieser Stelle noch nicht in der
Lage bin, die Einwände zu widerlegen. Bei der Kompliziertheit der seelischen
Vorgänge kommen wir in der Ergründung der Motive von Ferdinands Tun nur
schrittweise vorwärts. Und solange Ihnen die seelischen Abläufe nicht durch-
sichtiger sind, werden Sie unbefriedigt bleiben.
Ich komme Ihnen gegenüber aber sofort in eine günstigere Situation, wenn
wir nicht weiter darauf bestehen, für den Diebstahl und das Davonlaufen nur
eine einzige Absicht finden zu wollen, sondern die Möglichkeit nicht aus-
schließen, daß mehrere Tendenzen sich vereinigt haben, um das zustande zu
bringen, was in Erscheinung getreten ist. Dazu ist aber notwendig, daß wir
wieder vorübergehend Ferdinand verlassen und uns aus der Psychoanalyse ein
weiteres Stück Einsicht holen.
Stellen wir uns vor, daß im Unbewußten eine Trieb- oder Wunschregung
wach wird und zum Handeln drängt, etwa: Auf dem Küchentisch liegt in
einer Schale Zucker. Ein kleiner Junge steht daneben und in ihm regt es sich,
fin Stück davon zu essen. Er hat nie gehört, daß es unstatthaft ist, ohne zu
fragen zu nehmen. Er wird zugreifen und sich konfliktlos befriedigen. Hier
steht einer Wunschregung kein Verbot gegenüber. Ein anderer Junge, der dieses
Verbot zwar kennt, dem es aber nicht sehr deutlich bewußt ist, wird aus
einem unbestimmten Gefühl heraus zögern, dann aber essen und ohne besondere
Gewissensbisse bleiben. Einer "Wunschregung steht ein zu schwaches Verbot
gegenüber. Ein dritter, dem das Unerlaubte recht deutlich bewußt ist, dessen
Wunschregung aber übermächtig wird, nimmt und ist hinterher von Schuld-
gefühl gepeinigt. Eine Wunschregung hat die Tendenz überwältigt, die sonst
unrechtes Tun verhindert. Wir können uns noch verschiedene Möglichkeiten
denken, sicher aber auch die, daß die durch die Erziehung festgewurzelte Tcn-
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denz, du sollst Zucker nicht nehmen, eine auftauchende Wunschregung sofort
wieder ins Unbewußte zurückdrängt, ja sie gar nicht ins Bewußtsein durchläßt,
auch wenn sie im Unbewußten da ist. Wir können nun ganz allgemein sagen:
Gerät eine Wunschregung mit religiösen, moralischen oder sonstwie durch die
Erziehung gewordenen bewußten Grundsätzen in Widerspruch, so geht von
diesen eine Tendenz aus, die Wunschregung von vornherein verdrängt zu
halten, oder, wenn sie bewußt geworden ist, wieder zu verdrängen. Am Me-
chanismus der Verdrängung sind daher immer zwei Tendenzen beteiligt, eine
unbewußte, die sich durchsetzen will, und eine bewußte, die deren Durch-
setzung zu verhindern trachtet, oder anders gesagt, eine verdrängte und eine
verdrängende. Das Endergebnis dieser beiden widerstreitenden Tendenzen ist
von vornherein nicht ausgemacht. Es kann die verdrängte stärker sein und in
der Überwältigung der verdrängenden sich durchsetzen, es ist aber auch der
umgekehrte Fall möglich. Stellen wir uns nun einmal den Sachverhalt so vor,
daß keine von beiden quantitativ ausreicht, die andere vollständig zu über-
wältigen, so muß das auch irgendwie sichtbar werden. Dazu ein Beispiel aus
dem Alltag: Wir haben im Berufsleben Anlaß, uns so zu ärgern, daß wir in
heftigen Affekt kommen, der zur Entladung drängt. Es wäre uns eine wesent-
liche Erleichterung, wenn wir kräftig losdonnerten. Die Tendenz zu schimpfen
steigt auf. Im selben Augenblick rührt sich der gut erzogene Mensch in uns
mit der anderen Tendenz, das tut man nicht. Nun sind zwei Tendenzen aus-
gelöst, die einander widerstreiten, die eine, die will, und die andere, die ver-
bietet. Überwiegt die eine, so brechen wir mit einem Donnerwetter los, bekommt
die andere die Oberhand, so schweigen wir. In dem Falle, den ich im Auge
habe, trat keines von beiden ein, sondern der Betreffende bekam im entscheiden-
den Moment einen heftigen Hustcnanfall. Was hatte der zu bedeuten? Er war
ein Kompromiß der zwei Tendenzen, von denen sich keine ganz durchzusetzen
vermochte. Schimpfen ist eine sprechmotorische Affektabfuhr; durch den
Hustenanfall werden die von der einen Tendenz innervierten Muskelpartien
in einer Weise betätigt, gegen die die andere Tendenz nichts einzuwenden hat;
denn Husten ist kein Schimpfen, daher erlaubt. Die Vereinigung zweier, einan-
der widerstreitender Tendenzen zu einer Äußerung, wie hier zum Hustenanfall,
nennt die Psychoanalyse ein Symptom. Wir sehen, daß am Zustandekommen
dieses Symptoms beide Tendenzen beteiligt sind, oder, wie Freud sagt, daß es
von beiden Seiten gehalten wird, von der verdrängenden und der verdrängten.
Solche Symptombildungen treten häufig als neurotische Krankheitsäußerungen
auf, und so manche Handlung auch des gesunden Menschen läßt sich auf den-
selben Mechanismus zurückführen. Freud hat eine Gruppe davon genau unter-
sucht, sie sind in der Psychoanalyse als Fehlhandlungen oder Fehlleistungen
bekannt.
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1
39
Das Ihnen mitgeteilte Beispiel einer Symptombildung zeigt Ihnen nicht nur
ganz allgemein den Aufbau des Kompromisses zwischen zwei widerstreitenden
Tendenzen, es vermittelt uns auch den Übergang zurück zu unserem dissozialen
Jungen. Dürfen wir aus dem durch seine Handlung gegebenen Sachverhalt den
Schluß ziehen, daß ihr derselbe Mechanismus zugrunde liegt? Spielen zwei Ten-
denzen gegeneinander, von denen sich keine ganz durchsetzt und treffen sich
beide im Symptom? Wenn das so ist, müßten wir die verdrängte und die sie
verdrängende Tendenz finden und auch angeben können, welches das Sym-
ptom ist, das sie miteinander bilden.
Sehen wir einmal nach!
Es steht sicher außer Zweifel, daß der Junge, bevor er den Diebstahl beging
und davonlief, zur Mutter in Gegensatz gekommen war. Ich brauche Ihnen
die darauf bezüglichen Angaben nicht mehr zu wiederholen. Nehmen wir nun
an, daß ihn die Vorstellung beherrschte, fortzugehen, es so zu machen wie der
Vater, daß diese Vorstellung die eine Tendenz beinhalte. Dann darf sie ent-
weder bewußt bestehen bleiben, oder sie wird verdrängt, wenn sich ein inneres,
im Innern des Jungen selbst aufrichtendes Verbot, die zweite Tendenz, dem
Fortlaufen widersetzt. Im ersten Falle wäre er nach Tulln gefahren und hätte
gewußt warum. Eine verdrängende Tendenz, etwa die: ein anständiger Junge
läuft nicht davon, oder, wenn ich weglaufe, bekomme ich Schläge, die stärker
gewesen wäre als der Impuls zum Weggehen, hätte ihn zu Hause zurück-
gehalten. Aus seinem Tun ersehen wir das Gegenteil. War sie wirklich da, so
ist sie überwältigt worden, also weder ein Kompromiß zwischen beiden noch
eine Erklärung für Diebstahl an Mutter und Schwester noch für die Angabe,
daß er Kirschen holen wollte.
Versuchen wir die verdrängte und die verdrängende Tendenz aus einem
etwas anderen Zusammenhange zu erkennen und damit zu dem zu kommen,
was Aufgabe unserer heutigen Untersuchung bildete. Durch den Ärger über
die Mutter am Tage vorher und kurz vor dem Diebstahl ist in ihm eine Ableh-
nung der Mutter entstanden, die sich immer mehr verstärkte, bis sie schließlich
in den Rachegedanken einmündete, ihr etwas anzutun. Damit ist die eine Ten-
denz gegeben, die aber im Bewußtsein nicht bestehen bleiben darf, ja vielleicht
zum Bewußtsein gar nicht zugelassen wird, weil die andere, durch die Er-
ziehung geschaffene, „Die Mutter muß man lieben", sie verdrängt. Was ge-
schieht, wenn im Jungen tatsächlich diese beiden Tendenzen vorhanden sind?
Überwiegt die Rachetendenz die moralische, so begeht er den Diebstahl und
läuft davon, weiß aber auch, warum er seine Haltung vollführt hat. Ist die
moralische Tendenz die stärkere, so unterbleibt die dissoziale Handlung, wie
wir schon früher gesehen haben. Setzt sich keine ganz durch, so hätten wir
die schon bekannten Bedingungen zur Symptombildung vor uns.
4°
I
Ein Symptom, gebildet aus Rachetendenz und moralischer ist möglich, wenn
beide in einer einzigen Handlung zu vereinigen sind, das heißt, wenn es eine
Handlung gibt, in der beide zum Teil realisierbar sind. (Denken Sie an den
Hustenanfall!) Tulln mit seinen reifenden Kirschbäumen ist das geeignete Ziel.
Die Fahrt nach Tulln ermöglicht ihm, beide widerstreitende Tendenzen zu
vereinigen, das Symptom zu bilden. Die Zeit, während er das Schmalzbrot ißt
und dem Hunde davon hinunter wirft, können wir uns ausgefüllt denken durch
den Widerstreit beider, der beendet ist, als er die Kirschenkerne auf dem
Fensterbrett liegen sieht.
Warum?
Die Rachetendenz, die uns in der Art ihrer Realisierung aus all dem, was wir
bereits gehört haben, verständlich geworden ist und in der Identifizierung des
Jungen mit seinem Vater ihre Erklärung findet, ermöglicht es ihm, den Vater
nachzuahmen, es so zu machen wie dieser und der Mutter um seine Person die
gleiche Sorge und Aufregung zu bereiten, die sie am vergangenen Sonntag um
den Vater empfand, als dieser nicht rechtzeitig heimkehrte.
Die moralische Tendenz, die von der Erziehung kommende, vermag nun
nicht, die dissoziale Handlung aufzuhalten. Sie fügt dem Rachegedanken das
zärtliche Motiv hinzu. Sie benützt die vorbewußt vorhandene Vorstellung von
den Kirschen, um sie mit der anderen Absicht zu verknüpfen, und bewußt
wird: „ich will der Mutter Kirschen bringen": das Symptom ist fertig gebildet.
Nach dieser Verhüllung wird erst die Tat möglich und wie wir sehen folgt
auch sofort die Ausführung.
Um wie vieles stärker die Rachetendenz an der Symptombildung beteiligt
war, zeigt die Ausführung des Diebstahles an der Mutter und Schwester, deren
Bevorzugung, früher als er Schuhe zu bekommen, er dadurch rückgängig
macht.
Aus dem Gefüge des neurotischen Symptoms fehlt uns hier das Gefühl des
Unangenehmen, die Unlustbetonung, die dem Neurotiker das Kranksein erst
bewußt werden läßt und ihn zur Behandlung reif macht. Welcher Unterschied
in den beiden Mechanismen das bedingt, kann ich Ihnen heute noch nicht
sagen, wohl aber, daß darin eine der wesentlichen Schwierigkeiten für eine
analytische Behandlung Dissozialer liegt.
Wir haben nun in recht mühevoller Arbeit eine dissoziale Handlung auf
einen Mechanismus zurückgeführt, wie er ähnlich beim neurotischen Symptom
regelmäßig zu erkennen ist. Wenn wir nicht zu sehr verallgemeinern, sehr vor-
sichtig sind und nicht meinen, daß jeder dissozialen Äußerung derselbe zu-
grunde liegen müsse, so haben wir heute schon einiges für die Diagnostik Ver-
wahrloster erfahren. Wir haben aber auch schon etwas für die Therapie
gelernt.
4*
Der Fürsorgeerzieher darf sich nicht begnügen, zu hören, ein Junge habe ge-
stohlen und sei durchgegangen, er muß den genauen Sachverhalt wissen.
Zur Aufdeckung der wirklichen Zusammenhänge reicht es nicht aus, die
Eltern, den Jungen und seine Umgebung auszufragen, weil allen diesen das,
worauf es ankommt, gar nicht bewußt zu sein braucht.
Der Fürsorgeerzieher ist ohne psychoanalytische Schulung nicht in der Lage,
den verborgenen Vorgängen nachzugehen.
Erzieherische Erfolge sind in diesem Falle weder mit guten Worten noch mit
Strenge, mit der wir den Jungen immer mehr in seine Haßregungen hinein-
trieben, zu erreichen. Diese dissoziale Äußerung läuft ganz zwangläufig ab, und
wir können eine Änderung nur erzielen, wenn es uns gelingt, das Kräftespiel,
durch das sie bedingt wurde, anders zu richten. Die gewöhnlichen Erziehungs-
mittel, Milde und Güte und Strenge, Lohn und Strafe reichen nicht mehr aus,
die Verankerung im Unbewußten muß gelöst werden.
DRITTER VORTRAG
Einige Ursachen der Verwahrlosung
Meine Damen und Herren! Wir sind schon aufmerksam gemacht, daß uns
das Ergebnis einer einzigen Symptomanalyse noch nicht zu der Annahme be-
rechtigt, alle Verwahrlosungserscheinungen seien auf ein und denselben Mecha-
nismus zurückzuführen. Wir müssen uns besonders in acht nehmen, weir die
sehr verbreitete Tendenz zu verallgemeinern gerade für den Fürsorgeerzieher
eine beständige Gefahr bedeutet. Die Freude über zutreffende Überlegungen
und gelungene Erziehungsmaßnahmen wirkt nach und verleitet ihn leicht, bei
ähnlichen Äußerungen verschiedener Zöglinge Analogieschlüsse zu machen. Er
merkt oft erst nach Wochen aus der Erfolglosigkeit seines Bemühens, daß er
sich die Schlußfolgerungen nicht aus den Reaktionen des Zöglings geholt hat,
sondern ganz unbewußt diesen jene anpaßte und vernachlässigte, was nicht in
seinen theoretischen Aufbau hineinstimmen wollte.
Ich halte es auch nicht für überflüssig, Ihnen zu sagen, daß Sie den Verwahr-
losten voraussetzungslos gegenübertreten müssen, und auch nicht bei jedem eine
besondere psychoanalytische Angelegenheit vermuten dürfen. Nicht jeder Dis-
soziale ist das gesuchte „interessante Problem". Versuchen Sie immer vom An-
fang an mit den einfachsten Hilfsmitteln auszukommen. Wenn Sie die Wir-
kung Ihrer Erziehungsmaßnahmen gut beobachten, kommen Sie im Verlaufe
der Erziehung ganz von selbst in jene Tiefen, die aufzuhellen sind. Erschrecken
Sie nicht, wenn nicht alles lösbar ist; es gibt auch für den psychoanalytisch
durchgebildeten Erzieher heute noch oft dichteste Undurchdringlichkeit.
42
Es scheint mir weniger zweckmäßig zu sein, schon in diesem Kurse durch
Vorführung ähnlich laufender Verwahrlosungserscheinungen eine Vertiefung
der Auffassung zu erzielen, als vielmehr wichtig, durch Aufzeigen von Ver-
schiedenartigem, Ihnen das Vielgestaltige des Dissozialenproblcms anzu-
deuten.
Fragen wir aber vorher noch, ob aus den bisher erschlossenen Tatsachen
schon eine allgemeingültige Formel aufgestellt werden kann, die auch neuer
Erkenntnis standzuhalten vermag.
Es läßt sich der Versuch wagen, wenn wir uns begnügen, einem Sachverhalt
näher als bisher gekommen zu sein, und nicht verlangen, gleich besonderen Ein-
blick in tiefe Zusammenhänge zu erhalten.
Fassen wir alles Handeln als Wirkung psychischer Kräfteabläufe im Sinn
der Psychoanalyse auf, so ist auch das dissoziale durch solche bedingt, und
wir hätten die gesuchte Formel in dem einfachen Satze: „Die Verwahrlosungs-
äußerungen sind die Anzeichen, daß in einem Individuum die das soziale
Handeln bedingenden Mechanismen nicht mehr normal ablaufen." Diese recht
allgemeine Aussage, die übrigens auch von einem Werturteil ausgeht, das aus
dem jeweiligen Gesellschaftsideal kommt, ermöglicht uns doch schon, das Ver-
wahrlosungsproblem zum Teile psychoanalytisch zu fassen und die Richtung
anzugeben, in der dessen Lösung zu suchen sein wird. Die Verwahrlosungs-
äußerung hat einen dynamischen Ausdruck erhalten; sie ist die auf psychische
Kräftewirkungen zurückgeführte jedesmalige Erscheinungsform der Verwahr-
losung, die, ein irgendwie gewordener Zustand, durch sie bemerkbar wird.
So sind beispielsweise Diebstahl und Durchgehen unseres Jungen vom letztenmal
die Verwahrlosungsäußerungen, die Wirkungen nicht mehr sozial gerichteter
psychischer Kräfteabläufe, oder Symptome, daß der Minderjährige sich in einem
vom normalen abweichenden Zustande befindet: verwahrlost ist.
Trennen wir die Verwahrlosungsäußerung oder das Verwahrlosungssymptom
so von der Verwahrlosung, dann haben wir zwischen beiden dieselbe Be-
ziehung hergestellt, wie sie zwischen Krankheitssymptom und Krankheit auch
besteht. Aus dieser Parallele erkennen wir zum Beispiel, daß Schulstürzen und
Vagieren, Stehlen und Einbrechen nur Verwahrlosungssymptome sind, wie
etwa Fieber, Entzündungen, Rasselgeräusche, empfindliche Druckstellen Krank-
heitssymptome sind.
Beschränkt sich der Arzt auf die Beseitigung der Krankheitssymptome, leitet
er eine symptomatische Behandlung ein, so ist damit nicht immer auch schon
die Krankheit geheilt, es kann noch die Fähigkeit, neue zu bilden, zurück-
geblieben sein. Das schließt er aus, wenn er sich nicht nur die Aufgabe stellt,
Symptome zu entfernen, sondern die Krankheit zu heilen. An die Stelle der
einen Symptome können dann nicht mehr andere treten. In der Erziehung des
43
Verwahrlosten kommt es analog auch nicht auf die Beseitigung der Verwahr-
losungserscheinungen, sondern auf die Behebung der Verwahrlosung an. Man
sollte das als selbstverständlich voraussetzen und doch werden die Zusammen-
hänge vielfach nicht erfaßt. Wir erleben sowohl in der Erziehungsberatung als
auch in der Fürsorgeerziehungsanstalt immer wieder, daß Verwahrlosungs-
symptom und Verwahrlosung gleich gesetzt werden. Was Eltern gewöhnlich
unternehmen, und worauf schließlich unser Strafvollzug auch hinausläuft, ist
letzten Endes doch nur die Schaffung eines psychischen Zustandes, in dem eine
dissoziale Äußerung unterdrückt gehalten wird.
Weil diese nicht mehr da ist, wird die Aufgabe als gelöst betrachtet und über-
sehen, daß sie bei günstiger Gelegenheit wieder zum Vorschein kommen kann.
Eine Verwahrlosungsäußerung zum Verschwinden bringen, ist nicht notwendig
gleichbedeutend mit Behebung der Verwahrlosung. Wird einem psychischen
Kräfteablauf bloß eine Äußerungsmöglichkeit unterbunden, bleiben aber die
ihn bedingenden psychischen Energien in ihrem Zusammenhange bestehen, so
kann er in der Linie eines geringeren Widerstandes eine neue Richtung ein-
schlagen und in unserem Falle statt der unterdrückt gehaltenen Verwahrlosungs-
äußerung eine andere zutage treten: möglicherweise entsteht ein nervöses
Symptom. Weit häufiger aber hat es den Anschein, als ob von irgendwoher
Verstärkungen herangezogen werden würden; denn nach einer Zeit voll-
ständigen Sozialseins erscheint die ursprüngliche Verwahrlosungsäußerung
wieder, nun aber fester . verankert, tiefer fundiert, ausgeprägter und verstärkt.
In der Fürsorgeerziehung haben wir es gewöhnlich schon mit einer zweiten
Auflage solcher Verwahrlosungserscheinungen zu tun. Es wird Ihnen nun auch
verständlich sein, warum und weswegen ich Verwahrlosungssymptom und Ver-
wahrlosung so strenge voneinander geschieden wissen möchte.
Die Verwahrlosungsäußerungen haben nur diagnostische Bedeutung, zu be-
handeln ist die Verwahrlosung.
Durch die dynamische Betrachtungsweise, zu der uns die Psychoanalyse
geführt hat, sehen wir nun schon deutlicher und werden gleich auch in der
Lage sein, eine häufig gemachte Verwechslung richtig zu stellen. Wenn ich
Eltern Dissozialer frage, wie sie sich erklären, daß ihr Kind verwahrloste,
bekomme ich regelmäßig als Ursache die schlechten Freunde, die Gefahren der
Straße, die günstige Gelegenheit angegeben. Irgendwie stimmt das, und doch,
tausend andere Kinder wachsen unter denselben ungünstigen Bedingungen auf
und verwahrlosen nicht. Es muß gewiß etwas im Kinde selbst vorhanden sein,
damit das Milieu im Sinne der Verwahrlosung wirksam werden kann. Nennen
wir dieses uns noch unbekannte Etwas vorläufig die Disposition zur Ver-
wahrlosung, so haben wir den Faktor, dessen Fehlen selbst ungünstigste Ein-
flüsse der Umgebung machtlos macht.
1-
44
Im Begriffe der Disposition liegt eine Bereitschaft, die wir gerne aus der
Erbanlage gegeben annehmen. Die Psychoanalyse hat uns gezeigt, daß die Erb-
anlage nicht immer alles ausmacht, sondern für gewisse nervöse Erkrankungen
die ersten Kindheitserlebnisse sehr mitbestimmend werden. Unsere Erfahrungen
in der Fürsorgeerziehung erlauben uns, auch hier wieder eine Parallele zu
ziehen. Auch die Verwahrlosungsdisposition ist noch nicht durch das vom
Kinde bei seiner Geburt Mitgebrachte fertig; die Gefühlsbeziehungen, in die
es durch seine erste Umgebung gedrängt wird, also erste Kindheitserlebnisse,
legen sie endgültig fest. Das heißt aber nicht, daß sich jede Disposition zur
Verwahrlosung auch in Verwahrlosung auswachsen müsse. Zu dazu Erforder-
lichem gehören zweifellos die schlechte Gesellschaft, die Gefahren der Straße
und manch anderes, das in derselben Richtung liegt. Alles das ist aber nicht,
wie viele meinen, die Ursache, sondern nur der unmittelbare oder mittelbare
Anlaß zur Verwahrlosung.
Mit dieser Richtigstellung sind wir ein kleines Stück vorwärts gekommen,
aber noch nicht dort angelangt, wohin ich Sie heute noch führen möchte. Der
Verwahrloste setzt sich durch sein Tun immer wieder der Gefahr aus, darauf-
folgende Unlusterlebnisse ertragen zu müssen (Strafe!). Warum er sich trotz-
dem nicht ändert, interessiert uns noch nicht, sondern nur, daß sein Benehmen
mit den Forderungen der Wirklichkeit im Widerspruch steht. Das überrascht
den Psychoanalytiker nicht, er weiß, daß der Neurotiker seine eigene Realität
hat und auch der Psychotiker, warum soll nicht auch der Verwahrloste seine
besondere haben? Damit rückt aber die Verwahrlosung in ein anderes Licht,
wird psychonalytischen Untersuchungsmethoden zugänglich, und wir können
psychoanalytische Termini (Fachausdrücke) verwenden. Dort wird ver-
schiedentlich das Wort „manifest" für das Sichtbarwerden von Äußerungen
gebraucht, „latent", wenn derselbe Zustand ohne diese besteht.
Scheiden wir durch Einführung dieser beiden Begriffe die Verwahrlosung in
zwei Phasen, die latente und manifeste, so ist die der manifesten gegeben, wenn
es zu Verwahrlosungsäußerungen kommt. Der Junge, der die Schule schwänzt,
vagiert, stiehlt, einbricht, ist manifest verwahrlost; der andere, bei dem diese
Art der Realitätsäußerungen, also die Verwahrlosungssymptome, fehlen, der aber
die dazu notwendigen psychischen Mechanismen vorgebildet hat, ist in der
Phase der latenten Verwahrlosung. Es bedarf dann nur mehr des entsprechenden
Anlasses, um die latente in die manifeste überzuführen, die psychischen
Mechanismen zum Ablauf zu bringen. Das gewöhnlich als Ursache Angeführte
(Gesellschaft, Straße) erscheint damit zur Verwahrlosung ins richtige Verhältnis
gebracht.
Die Ursache der Verwahrlosung aufsuchen, heißt dann auch nicht, nach-
sehen, was die latente Verwahrlosung zur manifesten macht, sondern ergründen,
4$
was die latente hervorruft. Die Behebung der Verwahrlosung kann dann nicht
darin bestehen, durch eine symptomatische Behandlung, etwa durch Anwendung
von Strafmitteln, die Verwahrlosungsäußerung zu beseitigen, die latente Ver-
wahrlosung aber bestehen zu lassen, sondern sie muß auf die die Verwahrlosung
verursachenden Momente eingehen und dadurch auch die latente Verwahrlosung
beheben.
Die Fürsorgeerziehung wird ihrer Aufgabe um so mehr gerecht werden, je
mehr sie die Neigung zu Verwahrlosungsäußerungen zum Schwinden bringt,
ihr der Abbau der latenten Verwahrlosung gelingt. Daß dies gleichbedeutend
mit einer Änderung der Ichstruktur ist, werden wir erst im Verlaufe der Vor-
träge erkennen können.
Wenn wir bedenken, daß Anlaß zur Verwahrlosung mit Ursache verwechselt
wird, die Verwahrlosungserscheinung für die Verwahrlosung selbst genommen
wird, so ist uns die vielfach falsche Auffassung, was mit Verwahrlosten zu
geschehen hat, begreiflich; wir wundern uns auch nicht mehr über die Mängel
in den Lösungsversuchen des Dissozialenproblems.
Die Behebung der Verwahrlosung ist ohne vorherige Ergründung der sie
bedingenden Ursachen eine Zufallsleistung, wertvoll für den einen, zwecklos
für die vielen, die der Hilfe bedürfen. Die erste Aufgabe einer systematisch
vorgehenden Fürsorgeerziehung ist daher in der Aufsuchung der Verwahr-
losungsursachen gegeben. Die Ursache aufdecken heißt die Kräftekonstellation
auffinden, die zur latenten Verwahrlosung geführt hat. Das sind aber, wie
Ihnen nicht mehr unbekannt ist, dynamische, ökonomische und topische Pro-
bleme der Psychoanalyse.
Was ich Ihnen heute an Verwahrlosungserscheinungen vorzuführen beab-
sichtige, stammt mit einer Ausnahme aus der Fürsorgeerziehungsanstalt. Dieser
eine Fall liegt vier Jahre zurück, die anderen wurden vor einem halben Jahre
in die Erziehungsberatung gebracht. Nicht unmittelbar zu unserem Thema
gehört es, wenn ich erwähne, daß die Fürsorgeerziehungszöglinge aus der
Anstalt geheilt entlassen wurden und daß fortlaufende, bis in die allerletzte Zeit
reichende Mitteilungen von durchaus einwandfreiem Verhalten berichten.
Anfangs 1919 wurde uns ein damals noch nicht sechzehnjähriger Jugend-
licher überstellt, wie der Terminus lautet. Zu Ihrer Orientierung diene, daß
mit jedem Fürsorgeerziehungszögling dessen wichtigste Dokumente und auch
ein Auszug aus dem Erhebungsbogen mitkamen. Der Erhebungsbogen ist eine
Drucksorte, die zur Aufnahme aller wichtigen Daten dient, die zur Kenntnis
des Jugendamtes gelangen; das meiste davon erfährt die Fürsorgerin bei ihren
Hausbesuchen.
Aus dem Auszuge für diesen Jugendlichen war unter anderem zu entnehmen,
daß er nach dem Ableben der Mutter zur verheirateten Schwester gekommen
EZ
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4 6
war, dort ohne Aufsicht blieb und durch Herumtreiben auf der Straße ver-
wahrloste. Besonders wurde ihm Vagieren und Lehrflucht zur Last gelegt.
Das Gutachten der heilpädagogischen Abteilung der Wiener Kinderklinik,
wo jeder vor seiner Unterbringung bei uns untersucht werden mußte, war sehr
kurz, es lautete: „Für Ober-Hollabrunn geeignet." (Die Fürsorgeerziehungs-
anstalt befand sich in einem ehemaligen Flüchtlings-Barackenlager in Ober-
Hollabrunn in Niederösterreich.) Das Fehlen besonderer Angaben mußte einen
tieferen psychischen Defekt als ausgeschlossen erscheinen lassen. Der Leiter der
heilpädagogischen Abteilung — gleichzeitig auch unser psychiatrischer Kon-
sulent — hätte es nicht unterlassen, auf Wichtiges aufmerksam zu machen.
Das Abgangszeugnis aus der II. Klasse der Bürgerschule wies in Sitten i,
Fleiß 2 und Fortgang 2 auf. Infolge verspäteten Schuleintrittes war der
Jugendliche, ohne eine Klasse wiederholt zu haben, nicht in die III. Klasse
gekommen. Nach dem Lernerfolge konnte zumindest normale Intelligenz an-
genommen werden. Aus der Sittennote war zu ersehen, daß es zum Vagieren
erst nach dem Austritte aus der Schule gekommen sei; denn dieses hätte sich als
„Schulstürzen", eigenmächtiges Fernbleiben von der Schule, bemerkbar gemacht
und eine schlechtere Sittennote nach sich gezogen. Bei der mit ihm vorge-
nommenen Intelligenzprüfung wurde auch tatsächlich normale Intelligenz fest-
gestellt. Auffällig war nur der schlechte Aschaffenburg. Was der Aschaffenburg
ist, wird Ihnen bekannt sein, wenn nicht: der Prüfling hat mit geschlossenen
Augen rasch die ihm einfallenden Wörter zu sagen; das Ergebnis wird durch
drei Minuten, halbminutenweise, festgehalten. Für unsere Verhältnisse galten
65 in der vorgeschriebenen Zeit gesprochene als mittlerer Durchschnitt. Der
Junge blieb mit 16, sehr langsam, zögernd und in Pausen gebrachten, weit
darunter. Diesem außerordentlich gehemmten Vorstellungsablauf entsprach auch
sein Gesamteindruck: körperlich recht gut entwickelt, groß, kräftig, von nicht
unangenehmem Äußern, dabei sehr träge Bewegungen, höfliches Benehmen,
doch ungemein zurückhaltend, zurückgezogen, verschlossen, ohne Mitteilungs-
bedürfnis, eine mehr passive Natur. Allem Anscheine nach ein guter Mensch,
ein harmloser Verwahrloster, jedenfalls einer, der wenig Führungsschwierig-
keiten erwarten ließ.
Aus seinen Mitteilungen, die sich natürlich auf Monate erstreckten und das
Verschiedenste betrafen, führe ich Ihnen nur das für uns heute Wesentliche an:
„Mein Vater war Hilfsarbeiter und ist am . . in ... spital an . . . gestorben"
(das Sterbedatum erinnert er genau und gleich als wir zum erstenmal auf den
Tod des Vater zu sprechen kamen). „Die Mutter hat mir sehr erbarmt, weil
sie nun allein war." „Ich habe eine um fünfzehn Jahre ältere Schwester; vier
Geschwister sind gestorben, die habe ich aber nicht gekannt." „Wir haben
Zimmer und Küche gehabt, ich habe in der Mitte zwischen Vater und Mutter
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geschlafen, die Schwester auf dem Divan." „Wie sie geheiratet hat, war ich
zwölf Jahre alt; ich bin aber bei den Eltern liegen geblieben." „Wie der
Vater gestorben ist, habe ich mich in sein Bett gelegt und mich viel mehr um
die Mutter gekümmert." „Ich habe die Wohnung aufgeräumt, eingeheizt und
zum Kochen hergerichtet gehabt, wenn die Mutter von der Fabrik nach Hause
gekommen ist." „Im Jahre 191 8 ist die Mutter gestorben."
Die ersten Mitteilungen vom Tode der Mutter geschahen ganz gleichmütig,
ohne Bewegung, als etwas ihn scheinbar gar nicht Berührendes. Es fehlten auch
alle näheren Angaben über die Todesart. Die Einzelheiten wurden erst im
Laufe der Zeit, wohl unter Weinen, aber ohne wirklich starke Affektäußerung
nachgetragen. Auch das Sterbedatum erinnerte er erst verhältnismäßig spät.
Die Mutter hatte ein entsetzliches Ende genommen. Sie war von einer Maschine
erfaßt und gräßlich verstümmelt, getötet worden.
Der Junge erhielt die Nachricht davon ganz unvermittelt: „Ich war zu
Mittag in der Wohnung, und da ist eine Frau gekommen und hat gesagt, daß
die Mutter in der Fabrik ohnmächtig geworden ist." „Ich bin sofort mit der
Schwester in die Fabrik gefahren und in der Kanzlei haben sie uns ganz genau
erzählt, wie die Mutter verunglückt ist; mir ist so schlecht geworden, daß ich
zusammengefallen bin." „Wie ich wieder zu mir gekommen bin, ist die Schwester
neben mir gestanden und hat mir gesagt, daß sie schon in der Totenkammer
gewesen sei und wir sind nach Hause gefahren." „Sie ist in der Nacht bei
mir aufgeblieben, weil ich mich so gefürchtet habe; zum Leichenbegängnis haben
sie mich nicht mitgehen lassen." „Ich habe mich mit meinem Matador gespielt,
weil ich nicht habe weinen können und die Mutter immer so große Freude
gehabt hat, wenn etwas schön geworden ist." „Ich bin dann zu meiner
Schwester gezogen, die Wohnungseinrichtung ist verkauft worden und wir
haben geteilt; sie hat sich von mir nichts bezahlen lassen, aber wenn ich ver-
diene, bekommt sie alles zurück." „Im Juli bin ich zu einem Mechaniker in die
Lehre gekommen, dort war ich zwei Monate." „Ich habe keine Freude gehabt;
ich habe immer an meine Mutter denken müssen, wie sie nach dem Unfall
ausgeschaut hat, da bin ich von der Lehre davongelaufen." „Dann bin ich zu
einem Wirte auf dem Land gekommen, wir haben selber abgestochen, da haben
mir die Tiere so erbarmt, daß ich es nicht habe sehen können, und ich bin
wieder davon." „Dann war ich bei einem Tischler, dort hat es mich aber gleich
nicht gefreut; mein Vormund war sehr böse auf mich und hat gesagt, ich bin
arbeitsscheu und er wird mich in eine Besserungsanstalt geben." „Ich habe
mir dann selbst eine Lehre gesucht, bin aber auch dort nicht lange geblieben;
ich weiß nicht warum, ich habe es nicht ausgehalten." „Ich war die meiste
Zeit im Prater und habe zugesehen, wie die Soldaten exerziert haben; es haben
viele Leute zugeschaut und das hat mir sehr gut gefallen; am schönsten war
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es, wenn die Militärmusik vor den Soldaten marschiert ist, da bin ich immer
mitgegangen." „Mein Vormund und meine Schwester haben mir zugeredet,
ich soll doch etwas lernen; ich bin deswegen auch nicht mehr nach Hause
schlafen gegangen, bin über Nacht unter der Reichsbrücke gelegen." „Die
Polizei hat mich öfters aufgegriffen und auf die Elisabethpromenade gebracht."
(Polizeigefangenenhaus.) „Mein Vormund hat gesagt, daß er nicht länger mehr
zuschaut, wie aus mir ein Gauner wird und einmal ist er mit mir aufs
Jugendamt gegangen, die haben mich aber nicht dort behalten; wir sind wieder
nach Hause gegangen; nach einer Woche ist ein Herr gekommen, der hat mich
geholt und auf den Nordwestbahnhof geführt; dort waren schon andere Buben
und Mädchen und wir sind alle daher gefahren."
Von seinem Aufenthalt bei uns berichte ich Ihnen noch, daß er sich weder
an seine Mitzöglinge noch an seinen Erzieher besonders anschloß. Er kam auch
zu mir in kein auffallend inniges Verhältnis, obwohl er bei seinen öfteren
Aussprachen mit mir nach und nach sehr mitteilsam wurde. — Eine psycho-
analytische Behandlung wurde nicht gemacht, es fehlte uns der Analytiker. —
Seine Einstellung zu den Kameraden und Erziehern zeigte sich am deutlichsten,
wenn sich ein Zögling Unzukömmlichkeiten zuschulden kommen ließ. Er
richtete bei der Austragung sein Verhalten immer so ein, daß er niemandem
weh tat, die Erzieher sich nicht ärgerten oder kränkten und der Zögling ohne
Strafe davon kam. Trotz seiner höheren Intelligenz im Verhältnis zu den
Arbeitskameraden in der Landwirtschaft, wo er zugeteilt war, versuchte er
nie, eine Führerrolle zu erreichen. Stolz war er auf seine Kenntnisse in seinem
Fache, als seinen ärgsten Fehler empfand er seine große Vergeßlichkeit.
Während seines Aufenthaltes in der Anstalt schwand seine depressive Stimmung
bis auf einen kleinen Rest. Seine Vergeßlichkeit nahm wesentlich ab, seine
Arbeitswilligkeit zu, aber seine Arbeitsgeschwindigkeit hob sich nicht bedeutend,
und nach wie vor machte sich ein besonderes Anschlußbedürfnis nicht bemerk-
bar. Er blieb bei uns bis zur Auflösung des Jugendheimes, wie die Fürsorge-
erziehungsanstalt offiziell hieß, kam dann in einen größeren Landwirtschafts-
betrieb und hat seither nicht mehr die geringste Verwahrlosungserscheinung
gezeigt, so daß er als geheilt betrachtet werden muß.
Wenn wir nun versuchen wollen, die Ursache der Verwahrlosung dieses
• Jungen festzustellen, müssen wir uns hüten, nicht auch Verwahrlosungs-
erscheinung mit Verwahrlosung und Anlaß mit Ursache zu verwechseln. Rufen
wir uns daher heute darüber schon Gehörtes in Erinnerung. Die Verwahr-
losungserscheinungen oder -äußerungen sind nur die Symptome eines nicht
mehr sozial gerichteten Kräfteablaufes im Individuum. Sie haben nur
diagnostische Bedeutung. Ehe es zu den Verwahrlosungserscheinungen kam, war
schon ein Zustand vorgebildet, den wir latente Verwahrlosung genannt haben.
—
49
In diesem sind die Verwahrlosungsmechanismen bereits ausgebildet, das
Individuum hat nun die Neigung zu Verwahrlosungsäußerungen. Es bedarf
nur mehr eines entsprechenden Anlasses, um die Mechanismen so zum Ablauf
zu bringen, daß das bisher verborgen Gebliebene, scheinbar nicht Vorhandene,
nun deutlich sichtbar in Erscheinung tritt. Die latente Verwahrlosung wird zur
manifesten, zu dem Zustand, den man gewöhnlich als Verwahrlosung be-
zeichnet. Der Anlaß zur Verwahrlosung bedingt nur die manifeste, er hat
aber keinen Einfluß auf das Werden der latenten. Am Zustandekommen der
latenten Verwahrlosung sind mehrere Faktoren beteiligt, die man als Ursache
der Verwahrlosung zusammenfassen könnte. Zunächst die aus der Erbanlage
gegebene Konstitution, dann soweit wir es bis jetzt schon zu übersehen ver-
mögen, erste Kindheits- und sonstige Erlebnisse, die ähnlich denen sein müssen,
die für die Ätiologie (Ursache) der Neurose und Psychose von Bedeutung sind.
Inwieweit Unterschiede bestehen, ist noch aufzuklären. Wir werden daher zur
Auffindung der Verwahrlosungsursachen, soweit exogene Faktoren, äußere,
aus der Umgebung stammende, in Frage kommen, die Psychoanalyse, ihre
Forschungsart und ihre Ergebnisse mit Vorteil verwerten. Wir werden aber
auch wie diese, dieselbe Sorgfalt und Vorsicht in unserer Sonderarbeit walten
lassen und gar nicht mit der Erwartung an unsere Untersuchung gehen, daß
es uns im ersten Anlauf gelingen könnte, zu restlos befriedigenden Ergebnissen
zu kommen.
Brechen wir hier ab, um uns ein klein wenig Verständnis für die Neurosen-
psychologie zu erwerben. Es kommt vor, daß einzelne Menschen nicht imstande
sind, ein schreckhaftes, stark affektbetontes Erlebnis zu erledigen. Sie vermögen
nicht, in der zur Verfügung stehenden Zeit den Reizzuwachs, so wie es
normalerweise notwendig wäre, aufzuarbeiten. Der plötzliche Energieüberschuß,
der das darauf völlig unvorbereitete Individuum trifft, wirkt stoßartig und
schädigt psychische Mechanismen derart, daß sie dauernd gestört bleiben.
Zeitigt ein stark affektbetontes Erlebnis solche Folgen, so sagen wir, es hat
traumatisch gewirkt, sprechen auch von einem traumatischen Erlebnis oder
einem psychischen Trauma. Unter bestimmten Voraussetzungen führen dann
solche in die Neurose, auf die hier einzugehen, von der uns gestellten Aufgabe
wegführen würde. Ich führe Ihnen nur eine Stelle aus Freuds „Vor-
lesungen" (Ges. Schriften VII, S. 284) an: „Die traumatischen Neurosen geben
deutliche Anzeichen dafür, daß ihnen eine Fixierung an den Moment des
traumatischen Unfalles zugrunde liegt." „Es ist so, als ob diese Kranken mit
der traumatischen Situation nicht fertig geworden wären, als ob diese noch
als unbezwungene aktuelle Aufgabe vor ihnen stünde."
Kehren wir nun zu dem verwahrlosten Jungen zurück. Was zeigt sich?
An Verwahrlosungserscheinungen: Vagieren, Lehrflucht und Äußerungen, die
4 A i dl h o r n, Verwahrloste Jugend
5°
als allgemeine Verwahrlosung zusammengefaßt sind. Diese werden als Grund
der Überstellung, als Ursache das unbeaufsichtigte Herumlaufen auf der Gasse
angegeben.
Die Verwahrlosungserscheinungen treten nach dem Tode der Mutter, bald
nach der Übersiedlung zur Schwester auf und verstärken sich zusehends bis
zu einer Unterbringung in der Fürsorgeerziehungsanstalt.
Nach unserer Auffassung mußte schon, ehe er zur Schwester kam, be-
ziehungsweise ehe die Verwahrlosungserscheinungen auftraten, die latente Ver-
wahrlosung bestanden haben; denn sonst hätte sie nicht durch die Einflüsse
der Straße, die doch nur der Anlaß und nicht die Ursache sind, manifest
werden können. Die Ursachen, die die latente Verwahrlosung bedingten, haben
wir in der Konstitution, in Kindheits- und anderen Erlebnissen zu suchen, wie
sie ähnlich sonst in die Neurose führen. Von der Konstitution wissen wir nichts
Normabweichendes, von ersten Kindheitserlebnissen vermögen wir nichts auszu-
sagen, weil wir keine Psychoanalyse gemacht haben. Aber etwas wissen wir:
ohne jedwede Vorbereitung wurde ihm die schreckliche Art vom Tode der
Mutter erzählt. Das Entsetzen darüber warf ihn buchstäblich zu Boden. „Mir ist
so schlecht geworden, daß ich zusammengefallen bin." Die Schwester mußte
auch des Nachts bei ihm aufbleiben, weil er sich fürchtete. Daß man ihn nicht
zum Leichenbegängnis mitgehen ließ, zeigt ganz deutlich, wie sehr seine Um-
gebung das Abnorme seines Zustandes erkannte. Es ist auch aus dem Spielen
mit dem Matadorbaukasten, während man den Leichnam der Mutter zu Grabe
trug, — für einen vierzehnjährigen Jungen gewiß nicht normal — zu ersehen.
Er hatte im Fabrikskontor ein psychisches Trauma erlitten, das psychischen
Mechanismen eine dauernde Störung brachte. Daß seine Lehrflucht damit zu-
sammenhängt, sagt er uns selbst: „Ich habe keine Freude gehabt, ich habe
immer an meine Mutter denken müssen, wie sie nach dem Unfälle ausgeschaut
hat." Freilich verdrängt er dann später alles, was mit dem Tode der Mutter
zusammenhängt. Wir ersehen es, wie er sich in den Aussprachen erst nach und
nach der Einzelheiten erinnert. Dafür schreitet seine Verwahrlosung weiter fort.
Wir können uns denken, daß dieses traumatische Erlebnis allein die latente
Verwahrlosung nicht hätte hervorbringen können, weil es gewiß möglich ist,
daß das gleiche Erlebnis andere Jugendliche in eine Neurose geführt hätte,
ebenso, daß andere ohne dauernde Schädigung davongekommen wären. Wir
können aber annehmen, daß das psychische Trauma das letzte Glied in einer
Kette war, daß durch frühe Kindheitserlebnisse der Boden schon vorbereitet
war. Wir können aber unmöglich für diese Verwahrlosung die ganz gleiche
Ätiologie annehmen wie für die traumatische Neurose. Es sieht aus, als ob sein
Vagieren für eine Neurose stünde, vielleicht entging er dadurch auch einer
Melancholie. Welche Zusammenhänge aufgedeckt werden müssen, um zu einem
5i
vollen Verständnis dieser Verwahrlosung zu kommen, läßt sich gegenwärtig
noch nicht sagen. Ob in solchen Fällen eine Psychoanalyse imstande wäre, die
Verwahrlosung zu beheben, wissen wir noch nicht, dürfen es aber annehmen;
sicherlich hätte sie uns aber Einblick in die sie verursachenden Kindheitserleb-
nisse oder sonstigen Zusammenhänge gebracht und wir blieben nicht auf Ver-
mutungen angewiesen. Es drängt sich uns die Annahme auf, daß die trauma-
tischen Wirkungen des Unfalles nicht eingetreten wären, wenn der Junge seine
Mutter weniger geliebt hätte. Es mag für den ersten Augenblick sehr paradox
klingen, eine Verwahrlosungsursache in zu großer Zuneigung zu suchen. Das
Verhältnis beider zueinander und auch das des Jungen zum Vater war wirk-
lich ein sehr inniges; wir erfahren es aus seinen Mitteilungen; es wird uns auch
erklärlich, wenn wir die Familiensituation überschauen. Von sechs Kindern sind
nur zwei am Leben geblieben, das älteste, die um fünfzehn 'Jahre ältere Schwe-
ster und er, der Jüngste. Er wird verzärtelt, schläft in der Mitte zwischen
Vater und Mutter, die Schwester auf dem Divan. Dieser wird, als er zwölf
Jahre alt ist, frei, weil die Schwester heiratet; er benützt ihn nun nicht, son-
dern bleibt bei den Eltern liegen. Nach des Vaters Tod nimmt er sich dessen
Bett und umsorgt die Mutter recht sehr. Er sagt mir selbst: „Wie der Vater
gestorben ist, habe ich mich in sein Bett gelegt und mich mehr um die Mutter
gekümmert." „Ich habe die Wohnung aufgeräumt, eingeheizt und zum Kochen
hergerichtet gehabt, wenn die Mutter von der Fabrik nach Hause gekommen
ist." Diese Beziehungen dauern bis zum Tode der Mutter an.
Aus dem Tun des Jungen erkennen wir eine übermäßige Identifizierung mit
dem Vater und auch eine über das Normale hinausgehende Beziehung zur
Mutter. Er hat mit ihr gelebt, als wäre er der Vater. Sie dürfen mich hier
aber nicht mißverstehen, als ob ich meinte, es wäre zwischen beiden auch zu
unerlaubten Beziehungen gekommen. Wir gewinnen aber doch aus der Art
seiner Reaktion auf die Mitteilung vom Tode der Mutter den Eindruck, als
wäre ihm mehr entrissen worden als nur die Mutter. Die abnormen Be-
ziehungen zu ihr dürften Teil daran gehabt haben, daß in seinem psychischen
Kräfteablauf jene Störungen eingetreten sind, aus denen sich dann später die
Verwahrlosung ergab.
Wir werden in den weiteren Vorträgen noch mehrmals Gelegenheit haben
zu hören, daß frühzeitig übermäßig zärtliche Beziehungen zu den Eltern oder
Geschwistern später in die Verwahrlosung führen können. Für heute merken
wir uns nur ganz allgemein: zärtliche Zuneigung des Kindes zu den Familien-
angehörigen gehört zu den normalen Entwicklungsbedingungen. Diese Zunei-
gung darf aber nur soweit gehen, daß sie sich in der Pubertät zu lockern ver-
mag; denn in diesem Zeitpunkt muß der Heranwachsende die libidinösen Ob-
jekte innerhalb der Familie aufgeben und gegen solche außerhalb der Familie
4*
^L
5*
ein!
zutauschen vermögen. Gelingt das nicht, waren die zärtlichen Beziehungen
zu stark, kam es zu einer libidinösen Fixierung, so ist der Weg in die Neu-
rose, manchmal auch in die Verwahrlosung, wie wir bei unserem Jungen an-
nehmen dürfen, offen.
Wir wollen uns nun anschließend mit der Verwahrlosung einer beinahe vier-
zehnjährigen Bürg«rschülerm beschäftigen, mit der ioh in der Erziehungsberatung
zu tun hatte, weil von der Schule die Mitteilung einlangte, daß das Kind zh
Hause mißhandelt werde. Wir werden natürlich wieder den Versuch machen,
die Verwahrlosungsursache aufzudecken. Dazu müssen Sie vorher aber vom
Sachverhalt, soviel als notwendig ist, wissen.
Die Minderjährige, nennen wir sie Leopoldinc, ist Vollwaise und bei dem
verheirateten Bruder ihrer Mutter, einem kleinen Geschäftsmann eines äußeren
Wiener Gemeindebezirkes, in Pflege. Sie besucht die zweite Klasse der Bürger-
schule. Um einen ersten Einblick zu gewinnen, lasse ich mir die Pflegemutter
mit dem Mädchen kommen. Diese macht durchaus keinen ungünstigen Ein-
druck und es scheint mir, daß nicht eine Kindermißhandlung im gewöhnlichen
Sinne vorliegt, sondern irgendwelche noch nicht klar sichtbare Zusammen-
hänge gesucht werden müssen. Ich spreche in Abwesenheit des Kindes zuerst
mit der Tante. Sie klagt, daß Leopoldine, die beinahe vierzehn Jahre alt, ge-
sund, und kräftig entwickelt ist, ihnen nur Sorgen und Unannehmlichkeiten
macht, statt dankbar anzuerkennen, was Onkel und Tante für sie tun. Ihre
beiden Eltern sind gestorben; sie würde heute bei fremden Leuten herum-
gestoßen werden, wenn der Mann sie nicht aus dem tschechischen Heimats-
dorf e geholt hätte. Daß kein materielles Interesse dazu den Anlaß gab, sei klar;
denn niemand gebe ihnen irgend etwas zur Erhaltung des Kindes. Ihr Mann
habe aber seiner Schwester versprochen, sich um Leopoldine anzunehmen, und
das tun beide nun auch: sie werde in der Familie wie das eigene Kind gehalten.
Zu keinerlei häuslichen Arbeiten sei sie zu gebrauchen, stehe oder sitze, wenn
sie aus der Schule nach Hause komme, beschäftigungslos herum, müsse unauf-
hörlich angetrieben oder ermahnt werden; sei unpünktlich, trotzig, unverläß-
lich und verlogen. Nicht einmal zur Versorgung des dreieinhalbjährigen Kindes
sei sie verwendbar, weil auch da befürchtet werden muß, daß sie in ihrer Ver-
lorenheit einmal dem Kinde etwas geschehen lasse. Wie gefühllos sie sei, er-
kenne man daraus, daß sie sich um die verstorbenen Eltern gar nicht kränkt,
daß sie beim Leichenbegängnis nicht geweint habe und sich auch jetzt nicht
aufrege, wenn die Rede auf die Eltern kommt.
Aus der Schilderung der Verhältnisse im Elternhaus ist zu entnehmen, daß
der Vater in einem kleinen tschechischen Dorfe dasselbe Gewerbe betrieb wie
der Onkel in Wien, in durchaus geordneten materiellen Verhältnissen lebte,
aber Trinker und tuberkulös war. Das Kind ist im Elternhaus immer liebevoll
53
behandelt und gut gehalten worden. Nach dem Tode des Vaters hatte die
Mutter das Geschäft verkauft, aber sehr bald eingesehen, wie sehr sie dadurch
materiell zu Schaden gekommen war. Sie wollte es wieder zurück haben,
konnte das aber nicht durchsetzen und starb infolge der Aufregungen ein halbes
Jahr nach dem Vater.
Zum Schluß betont die Tante nochmals, daß von einer lieblosen Behand-
lung keine Rede sein könne, man aber begreiflich finden müsse, daß ihr bei
dem garstigen Verhalten des Mädchens manchmal die Geduld ausgehe. Sie
gibt auch ohneweiters zu, daß sie Leopoldine körperlich gezüchtigt hat, wenn
Ermahnungen ergebnislos geblieben waren, aber Mißhandlungen seien nie vor-
gekommen.
Alle Angaben machte die Frau affektlos, überzeugt, daß es sich nur um ein
Mißverständnis handeln könne, durchaus nicht aus dem Gefühl heraus, sich
verantworten zu müssen.
Ich stelle Ihnen nun den Angaben der Tante die des Kindes gegenüber, mit
dem ich kurz darauf, natürlich auch unter vier Augen, sprach.
Leopoldine kommt sofort auf die Schule zu sprechen und berichtet, daß sie
diese sehr gerne besucht, besondere Zuneigung zur Klassenlehrerin empfindet
(von dieser ging auch die Mißhandlungsanzeige aus), sonst aber nicht viel An-
schluß hat, von keiner Schulkameradin sagen kann, daß sie ihr besonders be-
freundet sei. Obwohl sie vom Tschechischen ins Deutsche umlernen mußte,
gebe es für sie keine besonderen Schwierigkeiten.
Über die häuslichen Verhältnisse berichtet sie nur vorsichtig und ängstlich
zögernd, obwohl sie von der Mißhandlungsanzeige Kenntnis hat und weiß, daß
die Berufung aufs Jugendamt eine Maßregel zu ihren Gunsten ist. Sie erwähnt
die körperliche Züchtigung nicht, wohl aber, daß die Tante sehr viel herum-
zankt. Auf die Frage, warum die Tante so häufig zankt, schweigt sie einige
Zeit und sagt dann: „Ich muß sehr viel an das Zuhausesein bei den Eltern
denken."
Ihr bisheriger verlegener Gesichtsausdruck bekommt in diesem Augenblick
etwas krampfhaft Verzerrtes und verrät, daß mit der Frage eine wunde Stelle
getroffen worden war. Ich sehe mich daher veranlaßt, mich mit dieser Andeu-
tung eingehender zu beschäftigen, und erfahre nun, daß sie unter ständigem
Heimweh leidet, gezwungen ist, sich das Leben im Elternhause in immer wieder-
kehrenden Phantasien vorzustellen, die sich ganz ungewollt aufdrängen, daß
sie von angstvollen Träumen gequält wird und insbesondere die Sterbestunde
der beiden Eltern immer wieder vor sich sieht.
Sie schildert nun sehr genau, wie der Vater im letzten Stadium der Tuber-
kulose, als sie mit ihm allein war, von ihr Wasser zu trinken verlangte, wie
sie ihm das Glas reichte, er trank, einen Hustenanfall bekam, der sich in einen
54
Erstickungsanfall fortsetzte, von dem er sich nicht mehr erholte, sondern tot
in die Kissen zurückfiel. Es kam niemand herein, obwohl sie schrecklich um
Hilfe rief; sie wagte nicht hinauszulaufen, sondern sah den Todeskampf mit
an. Erst später erschien die Mutter.
Ein halbes Jahr später, am Ostersonntagmorgen, schickte die Mutter sie in
die Kirche. Wie sie sich von ihr verabschiedete, stand diese am Fenster und
hantierte mit einem Staubtuch. Ein dabei entstehendes Klappern veranlaßte
Leopoldine, nochmals zur Mutter zurückzugehen, ihr das Tuch aus der Hand
zu nehmen und nachzusehen, woher das Geräusch kommt. Sie fand darin einen
Strick. Weil die Mutter sich schon einmal mit einem Sacktuch erwürgen wollte,
nahm das Kind den Strick zu sich und warf ihn dann weg. Als es von der
Kirche nach Hause kam, hing die Mutter tot am Fensterkreuze.
Als ihr vor mir diese Szenen in Erinnerung kamen, nahm sie ein ganz eigen-
artiges Verhalten an. Sie saß mit ineinander geschlagenen Händen, den Kopf
seitwärts gesenkt, und überließ sich, den Blick zu Boden gerichtet, ihren Ge-
danken. Dabei schien sie der Wirklichkeit entrückt und hatte Mühe, sich nach-
her zurückzufinden. Auf die Frage, ob sie im Hause der Pflegemutter auch
öfter so sitze, erhielt ich zur Antwort, daß sie dieser oft nicht ins Gesicht sehe,
mit abgewendetem Kopfe zuhöre; denn dann könne sie antworten und sich
trotzdem mit ihren eigenen Gedanken beschäftigen, ohne diese verscheuchen
zu müssen. Werde sie aber laut angerufen, so erschrecke sie und könne dann
nicht sofort zu den anderen zurückkommen. Wenn sie nachmittags allein in
der Wohnung gelassen wird, um diese aufzuräumen, lege sie sich im Halb-
dunkel gerne aufs Sofa, um besser träumen zu können. Störungen überhöre sie
leicht, die Pflegemutter sage ihr oft, daß sie schon eine halbe Stunde an der
Wohnungstüre angeläutet habe. Dieser getraue sie sich nichts zu sagen, ge-
brauche dann allerlei Ausreden, die als solche durchschaut werden und sie als
verlogen erscheinen lassen, was sie aber nicht sei, nur wisse man das nicht. Die
Gedanken, die von selbst kommen und sich nicht immer verscheuchen lassen,
seien nicht immer schreckhaft, sondern machen ihr oft auch Freude, weil sie
frohe Erlebnisse aus dem Heimatdorfe in der Tschechoslowakei in Erinnerung
bringen. Diese kommen mit großer Genauigkeit, stellen sich auch während der
Arbeit ein, während des Spieles mit dem Kinde und drängen sich auch auf
der Gasse auf, besonders des Morgens, oft nach Träumen; nur in der Schule
nicht, wo sie sie absichtlich verscheucht, was ihr dort auch möglich sei. Die
häuslichen Arbeiten freuen sie nicht, auch mit dem Kinde spiele sie nicht gerne,
weil sie immer Verdruß mit der Pflegemutter habe, wenn dieses raunzig sei
oder weine. Aus Ärger darüber spreche sie nichts, die Pflegemutter werde dann
sehr böse, es komme zu recht unangenehmen Auseinandersetzungen, die damit
enden, daß sie verstockt, trotzig und boshaft genannt werde.
SS
Die Angaben des Kindes scheinen mir um so eher vollständig glaubhaft, weil
sein ganzes Verhalten durchaus den Eindruck der Wahrhaftigkeit machte.
Um ein möglichst abgerundetes Bild zu erhalten, sah ich mich veranlaßt, auch
noch von der Bürgerschule einen Bericht einzuholen. Dort verhielt sich Leopol-
dine vollständig anders als zu Hause. Die Klassenlehrerin schildert sie als
fleißig und aufmerksam, verläßlich und gewissenhaft in ihren Aufgaben, bei den
Mitschülerinnen als gefällige und gutmütige Kameradin beliebt. Das Mädchen
hatte sich auch nur bei Mitschülerinnen über die Mißhandlung beklagt und
diese haben der Lehrerin davon Mitteilung gemacht, worauf die Mißhandlungs-
anzeige erstattet worden sei.
Sie haben jetzt die Mitteilungen der Pflegemutter, des Kindes und der Schule
gehört und sind gewiß mit mir einer Meinung, daß wir trotz der Ausführlich-
keit, mit der wir jedes von diesen zu Worte kommen ließen, noch nicht wissen,
welche Maßnahmen von unserer Seite zu ergreifen sind.
Vergleichen wir die Schilderungen der Pflegemutter mit dem von Leopoldine
Gehörten, so läßt sich eine Kindermißhandlung im gewöhnlichen Sinne des
Wortes tatsächlich nicht feststellen. Zu Hause erscheint sie boshaft, trotzig,
verlogen, zu keinen häuslichen Arbeiten zu gebrauchen, unzuverlässig, zeigt
also ausgesprochen Verwahrlosungserscheinungen, die von ihr, ohne es direkt
zu sagen, doch zugegeben werden. In der Schule dagegen ist ihr Verhalten
vollständig einwandfrei.
Nach dem uns über die Verwahrlosung bereits Bekannten erscheint es nicht
mehr verwunderlich, daß auch hier von der Pflegemutter Verwahrlosungs-
erscheinung und Verwahrlosung miteinander verwechselt werden, und diese
versucht, durch strenges Vorgehen, mit Beseitigung der Anzeichen, auch den
Zustand zu beheben.
Lassen wir vorläufig unerörtert, ob die dissozialen Äußerungen des Mädchens
tatsächlich aus einer Verwahrlosung hervorgehen, sondern nehmen wir an, daß
es so sei, dann erschwert sich das Problem gegenüber dem heute schon be-
sprochenen, in welchem das aufsichtslose Herumtreiben auf der Gasse der An-
laß war, die latente Verwahrlosung zur manifesten zu machen, die dann dau-
ernd bestehen blieb. Bei Leopoldine sehen wir einen latenten Zustand sich nur
zeitweilig, zu Hause, manifestieren, in der Schule nicht. Das stört uns aber;
denn wir sind nur vorbereitet, daß ein psychisches Trauma mit zu jenen Ur-
sachen gehört, die ganz eindeutig einen latenten Vcrwahrlosungszustand zum
manifesten machen. Obwohl ein solches vorliegt, das schreckhafte Erleben des
in so entsetzlicher Weise erfolgten Todes beider Elternteilc, kommt es doch
nur zeitweise zur Bildung von Verwahrlosungserscheinungen, wie aus dem so
idersprechenden Verhalten zu Hause und in der Schule hervorgeht. Dieses
wi
müssen wir uns zunächst zu erklären versuchen.
56
Die Verwahrlosungserscheinungen zu Hause verdecken zweierlei: daß Leo-
poldine durch die unfreiwillige Wiederkehr schreckhafter Vorstellungen ge-
quält wird und in lustbetonte Erinnerungen versinkt, wofür wir eine Bezeich-
nung haben: Tagträumereien.
Was Tagträume sind, dürfte Ihnen bekannt sein. Jeder von uns hat Augen-
blicke in seinem Leben, in denen er, unbefriedigt von der ihn umgebenden
Wirklichkeit, sich in eine schönere Phantasiewelc zurückzieht, seine Luft-
schlösser baut. Wir sagen in psychoanalytischer Ausdrucksweise, daß wir in
solchen Momenten ein Stück unseres Interesses, unserer Libido, von der Reali-
tät abgezogen haben. Wir geben Objektbesetzungen auf und überbesetzen in der
Phantasie vorhandene Vorstellungen, die dadurch erhöhte Bedeutung gewinnen.
Solange dadurch unsere Beziehungen zur Umwelt nicht gestört werden, bleibt
das ein ganz normaler Vorgang. Eine Störung tritt erst dann ein, wenn zu viel
an Interesse oder Libido dem wirklichen Leben entzogen und für diese Tag-
träume verwendet wird. Es ergibt sich dann, daß die Tagträume ein Stück der
Realität ersetzen, daß sie Energien verbrauchen, die sich im realen Leben aus-
wirken sollten, und daß das lustbetonte Erleben in der Phantasie die Anpas-
sung an die rauhe Realität erschwert. Sie wissen, daß all das bei uns Normalen
noch nicht der Fall ist. Wir sind jederzeit in der Lage, das schönste Luft-
schloß zusammenfallen zu lassen, wenn die Erfordernisse des täglichen Lebens,
die Realität dies verlangen, und sind gewohnt, uns dadurch in der Erledigung
der Tagesaufgaben nicht stören zu lassen, uns die Tagträume für unbenutzte
Augenblicke, etwa auf Spaziergängen, Fahrten auf der Straßenbahn, vor dem
Einschlafen vorzubehalten.
Können Sie sich vorstellen, daß es Menschen gibt, bei denen sich diese
Tagträume aufdrängen, wenn die Unlust in der Realität zu groß wird, und
daß diese es nicht in der Hand haben, nicht immer bereit sind, sich von
ihren Phantasien zu befreien? Wir würden psychoanalytisch sagen, daß diese
Menschen schon ein größeres Quantum Libido von der Außenwelt abge-
zogen haben, als normal zulässig ist.
Können Sie sich nun noch weiter vorstellen, daß das Interesse für das
wirkliche Leben so gut wie verloren gehen kann, daß es Menschen gibt, für
welche die Phantasiewelt solche Bedeutung gewinnt, daß sie in den Mittel-
punkt des Lebens tritt? Wir haben dann den pathologischen Fall vor uns;
die gesamte Libido ist von der Realität abgezogen.
Kehren wir von dieser theoretischen Abschweifung zu Lcopoldinc zurück.
Sie wissen bereits, daß schreckhafte Erlebnisse zu psychischen Traumen
führen können, die eine Störung im Ablaufe psychischer Mechanismen so
nach sich ziehen, daß unter bestimmten Voraussetzungen, die wir allerdings
noch nicht kennen, die latente Verwahrlosung hervorgerufen wird. Das
57
psychische Trauma ist nur die letzte der Ursachen, die in ihrer Gesamtheit
die Verwahrlosung zustande bringen. Leopoldine erledigt nun das psychische
Trauma nicht so wie der Jugendliche, ja wir können sehen, daß sie sich
erst auf dem Wege zur endgültigen Erledigung befindet. Ihm gelingt die
Verdrängung des psychischen Traumas; die Versetzung in das andere Milieu
ermöglicht ihm den Lustbezug aus seinen dissozialen Handlungen. Warum
das so ist, vermögen wir nicht zu sagen, wir vermuten, daß ganz bestimmte
Kindheitserlebnisse dabei in Frage kommen. Sie steht noch auf halbem Wege.
Die schreckhaften Erlebnisse sind noch nicht vergessen, sie drängen sich noch
immer als angstvolle Erinnerungen auf. Ihr nimmt die Versetzung in das
andere Milieu alle vertrauten Menschen, die lieben Freundinnen und
Bekannten, trennt sie von ihr hebgewordenen Dingen und der Heimat. Sie
erfährt eine ungemein starke äußere Versagung, die sie in den lustbetonten
Tagträumen wieder rückgängig zu machen sucht. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß ihr diese auch die Möglichkeit bieten, das psychische Trauma endgültig
zu erledigen. Wir sehen auch, wie das Kind für Stunden in seine Tagträume
versinkt, schon jetzt gelegentlich schwer den Rückweg in die Wirklichkeit
findet und in der Realität des häuslichen Lebens als verwahrlost erscheint.
Wir würden schon jetzt das Vorhandensein einer schweren psychischen
Störung annehmen müssen, wenn das Kind nicht in der Schule ein ganz
anderes Verhalten zeigte. Dort ist es, nach eigener Aussage, imstande, die
auftauchenden Phantasien abzuweisen und sich nicht von ihnen stören
zu lassen.
Es besteht wohl kein Zweifel mehr, wie dieses Kind aufzufassen ist: es
befindet sich auf dem Wege zu einer ernsthaften psychischen Erkrankung,
die weitab von Verwahrlosung liegt. Gelingt es nicht, diesen Tagträumen
Einhalt zu gebieten, so wird das Kind immer mehr den Anschluß an die
Wirklichkeit verlieren und schließlich nach Abziehen der gesamten Libido
von der Realität in eine Phantasiewelt versinken.
Für uns ergibt sich die Frage, was wir zu veranlassen haben! Leopoldine
zeigt uns mit ihrem Verhalten den Weg dazu. Sie benimmt sich normal, wo
sie sich wohl fühlt, ein Stück des lustbetonten Lebens in der Heimat real
reproduzieren und ihr Anschlußbedürfnis befriedigen kann. Sie benimmt sich
abnorm, wo ihr das unmöglich wird. Das eine ist in der Schule, das andere
zu Hause der Fall. Dort ist sie bei Lehrerinnen und Mitschülerinnen beliebt,
gerne °esehen und gewinnt ein Stück des heiteren, geselligen Lebens der
Heimat wieder. Im Hause der Pflegeeltern dagegen ist sie wenig mehr als
geduldet, findet nicht sehr viel Entgegenkommen und hat statt der ehemaligen
bevorzugten Stellung des einzigen Kindes im Elternhause die des Kinder-
mädchens für die dreieinhalbjährige Cousine. Dazu kommt noch die voll-
1**.
5«
ständige Verständnislosigkeit, — Böswilligkeit liegt sicher nicht vor, — mit
der namentlich die Pflegemutter dem ganzen Wesen des Kindes gegenübersteht.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß es uns nicht gelingen wird, dieser Pflege-
mutter die Richtigkeit unserer Überlegungen begreiflich zu machen und sie
dadurch zu einem geänderten Verhalten dem Kinde gegenüber zu veran-
lassen. Da wir außerdem keinen Einfluß auf die sonstigen Verhältnisse in
der Pflegestelle nehmen können, wird sich die Notwendigkeit als zwingend
herausstellen, Leopoldine anderswo unterzubringen. Eine Unterredung mit
den Pflegeeltern bestätigte unsere Annahme und es war nun noch zu über-
legen, wohin mit dem Kinde? Es erschien uns nicht zweckmäßig, das Mäd-
chen einer anderen Familie zu übergeben, weil das für eine so schwierige
psychische Situation erforderliche Verständnis in Pflegefamilien kaum zu
finden ist und der gute Wille allein hier nicht mehr ausreicht. Sie kam in
die Hand einer verständnisvollen, psychoanalytisch geschulten Erzieherin, die
ihr durch Aussprachen die Möglichkeit verschafft, sich von den Nachwir-
kungen der traumatischen Erlebnisse zu befreien, außerdem in eine Umge-
bung, die ihr im Zusammenleben mit Gleichaltrigen ein reicheres Erleben
als bisher sichert. Wir nahmen an, daß so die von der Realität gebotene Lust
erfolgreich mit der des Tagtraumes in Widerstreit treten werde. Ich kann
Ihnen auch mitteilen, daß diese, Leopoldine gebotenen günstigen Entwick-
lungsbedingungen, im Verlaufe von mehr als einem Jahre schon solche Ver-
änderungen in ihr hervorgerufen haben, daß wir sehr beruhigt die weitere
Entwicklung abwarten können. Obwohl bei Lcopoldine trotz der Verwahr-
losungserscheinungen zu Hause eine Verwahrlosung nicht bestand, habe ich
Ihnen doch davon berichtet, weil Sie aufmerksam werden sollen, daß uns
manch Krankhaftes auch als Verwahrlosung gebracht wird. Der Fürsorge-
erzieher, der gelernt hat, Anzeichen nicht mit einem Zustande zu verwech-
seln, wird sehr vorsichtig sein und immer mit der Möglichkeit rechnen,
Verwahrlosungserscheinungen gegenüber zu stehen, die aus krankhafter Dis-
position erwachsen sind.
Die Auswirkung schreckhafter früherer Erlebnisse kann sich auch in
Führungsschwierigkeiten einzelner Fürsorgeerziehungszöglinge in der Anstalt
zeigen. Ich führe Ihnen dazu zwei Fälle an. Als ersten ein Mädchen aus einer
Gruppe Schulentlassener, das immer verträglich, fleißig und sehr verwendbar
war, plötzlich und scheinbar ganz unmotiviert aber ein gänzlich anderes
Verhalten zeigte. Als zweiten ein zwölfjähriges Schulmädchen, das dadurch
unangenehm auffiel, daß es vom Tage seiner Uberstellung an fortwährend
versuchte, seine Kameradinnen zu schrecken.
Die Erzieherin der jugendlichen Mädchen versuchte alles mögliche, um
über die so ganz unerwartete und unerklärliche Führungsschwierigkeit hin-
59
wegzukommen. Je mehr sie sich mit der Minderjährigen beschäftigte, desto
unverträglicher, störrischer und arbeitsunwilliger wurde diese, so daß schließ-
lich mit der so vollständig aus dem Gleichgewicht Geratenen in der Gruppe
nichts mehr anzufangen war.
Zu mir gebracht, brach das Mädchen nach verhältnismäßig kurzer Zeit in
heftiges Weinen aus, ohne daß die Ursache gleich zu ersehen gewesen wäre.
Sie erzählte noch unter Schluchzen, daß sie seit einigen Tagen immer vom
selben Traum gequält werde und dabei große Angst ausstehe. Er ist kurz
folgender: Aus einer Ecke des Schlafsaales kommt die bereits verstorbene
Mutter auf sie zu, setzt sich auf den Bettrand, hebt langsam die Hände zu
ihrem Hals und würgt sie. Jedesmal, bevor sie ganz tot ist, wird sie wach und
hört sich noch aufschreien. Ich frage sie nach der Erzählung des Traumes,
wie sie sich zu Hause aufgeführt habe und ob die Mutter mit ihr immer
zufrieden gewesen sei. Sie schildert das Zusammenleben mit der Mutter so,
daß anzunehmen gewesen wäre, es gäbe keine bessere Tochter als sie. Die
überschwengliche Darstellung des Verhältnisses zur Mutter ließ aber das Gegen-
teil vermuten. Auf die Frage, ob sie der Mutter nie Kummer bereitet habe,
wurde sie auffallend stille. Ich begann von anderem zu sprechen und kam
dann unmerklich wieder auf die Mutter zurück. Sie erwähnte jetzt, daß die
Mutter vor ihrem Tode lange bettlägerig gewesen war und so ganz nebenbei,
daß sie dieser einmal Wäsche gestohlen habe. Ich begnüge mich nicht mit
dieser Andeutung, sondern dringe auf eine genauere Darstellung des Dieb-
stahles. Sie erzählt nun folgendes: Die Mutter liegt auf dem Sterbebette. Sie
selbst steht abends mit einer Freundin beim Haustor und diese drängt mit
dem Hinweise auf das Ungefährliche einer Entwendung, der Mutter Wäsche
zu stehlen. Nach deren Ableben wisse niemand, wieviel vorhanden war, es
könne daher nie etwas aufkommen. Am nächsten Vormittag steht unser
Zögling beim Küchenherd und kocht, als die Freundin kommt, die gestohlene
Wäsche zu holen. Diese liegt noch im Kasten. Das Mädchen hatte sich zum
Diebstahl nicht entschließen können und wehrt sich auch jetzt noch gegen
den Einfluß der Verführerin; sie will nicht stehlen. Die Freundin wird immer
dringlicher. Endlich gelingt es ihr, die Bedenken zu zerstreuen, als sie auf
die Leichtigkeit hinweist, mit der der Diebstahl auszuführen wäre: „Der
Wäschekasten ist von der Küchentüre aus zu sehen; man braucht nur auf
den Zehenspitzen zu gehen, vorsichtig aufzutreten und nirgends anzustoßen,
dann den Kasten leise aufzusperren, so werde die Mutter, deren Bett zwar
dem Kasten gegenübersteht, die aber mit dem Gesicht zur Wand liegt, nichts
merken." Der Widerstand ist überwunden und das Mädchen geht, doch
immer noch zögernd, in das Zimmer. Die Freundin bleibt in der Küchentüre
stehen und nickt der nicht ganz Entschlossenen Mut zu, als sie auf halbem
6o
Weg umkehren will. Nun erst unterliegt sie dem Einflüsse der Freundin.
Beim Kasten angelangt, merkt sie, daß dieser nicht versperrt ist, sie daher
überflüssigerweise den Schlüssel mitgenommen hat. Im Aufmachen knarrt die
Kastentür und sie läßt in größtem Schreck den Schlüssel fallen. Sie hat
entsetzliche Angst, daß die sterbende Mutter sich umwenden und sie bemer-
ken könnte. In höchstem Affekt rafft sie zusammen, was rasch erreichbar ist,
stürzt in die Küche zurück und gibt der lachenden Freundin die entwen-
deten Wäschestücke. Diese nun befriedigt, entfernt sich, nachdem die beiden
Mädchen noch eine Zusammenkunft für den nächsten Tag vereinbart hatten;
die Freundin übernimmt den Verkauf. Sie kommen wirklich zusammen; der
Erlös wird aber nicht geteilt, sondern ein gemeinsamer Ausflug in den Pratcr
beschlossen. Sie fahren Ringelspiel, mit dem Riesenrade, gehen in die ver-
schicdentlichen Schaubuden und vergeuden den letzten Rest des Geldes in
einem Pratcrgasthaus. An die Mutter wird nicht gedacht, im Gegenteil, sie
unterhalten sich prächtig. Als das Mädchen spät am Abend nach Hause
kommt, ist die Mutter tot. Das macht ihr nichts; sie ärgert sich nur, daß
Verwandte, die in der Wohnung anwesend sind, ihr Vorwürfe machen. Sie
wird mit diesen frech, weil man wissen will, wo sie den ganzen Nachmittag
gewesen sei. Über den Diebstahl macht sie sich keinerlei Gewissensbisse, auch
dann nicht, als Angehörige, die doch über den Wäschestand unterrichtet
waren, den Vormund verdächtigen, er hätte Wäsche fortgeräumt.
Das Mädchen teilte mir diese Vorgänge stockend, in abgerissenen Sätzen,
mit, weint außerordentlich heftig und gerät dabei in höchste Erregung. Sic
spricht das erstemal über diese Dinge, die sie auch noch nicht lange quälen.
In der Aussprache mit mir meint sie, daß es anfing, ihr unerträglich zu
werden, seit die Tante, so wurde die Erzieherin genannt, sie liebgewonnen
hatte. Sie sagte mir auch wörtlich: „Ich wollte alles schon so oft der Tante
sagen, habe mich aber gefürchtet, daß sie mich dann nicht mehr mag. Wenn
sie weiß, was ich für ein Luder bin, kann sie mich nicht mehr gerne haben."
Wir sprachen hernach beide gemeinsam mit der Erzieherin, die sich mit
großem Verständnis in die gegebene Situation hineinfand. Sie ging mit der
sehr erleichterten Jugendlichen in die Gruppe zurück. Das Mädchen begab
sich sofort zur Arbeit und jede Widerspenstigkeit der Erzieherin und den
Mitzöglingen gegenüber war verschwunden. Für die Erzieherin blieb aber
noch manches zu tun. Sie beschäftigte sich durch einige Zeit intensiver vor
dem Schlafengehen mit ihr. Sie gedachten in den Aussprachen immer noch
der verstorbenen Mutter. Es kam viel zutage und das Mädchen selbst zur
Einsicht, daß es aus seiner großen Schuld der Liebe der Erzieherin nicht
würdig gewesen sei. Daß solches Verhalten wirklich aus diesem Zusammen-
hange hervorgehen kann, werden wir im letzten Vortrag, beim „Verbrecher
6i
y i
aus Moral", besprechen. Ihre Angst vor dem Traume schwand, je mehr sich
ihr Schuldgefühl verringerte und sich durch die fortschreitende Identifizie-
rung mit der Erzieherin eine immer mehr sich ändernde Einstellung zum
Leben ergab.
Als zweiten Fall, daß Führungsschwierigkeiten in der Anstalt durch
schreckhafte Erlebnisse bedingt sein können, habe ich Ihnen schon das Schul-
mädchen angekündigt, das immer wieder versuchte, seine Kameradinnen zu
schrecken. Auffällig war, daß das zwölfjährige Kind dazu nur ganz bestimmte
rot gefärbte Dinge, die sich zu Gesichtslarven oder ängstigendem Kopfputz
eigneten, verwendete. Es entwickelte auch eine ganz besondere Sucht und
ungemeine Geschicklichkeit, sich rotfarbige Sachen anzueignen. Was als
Schreckmittel dienen konnte, wurde auch dazu benützt: Papier, Tuch,
Bänder usw.
Es währte ziemlich lange, bis wir mit der Aufdeckung der dem Kinde mit
ganz geringen Schwierigkeiten klar zu machenden Ursache diese Führungs-
schwierigkeit beseitigen konnten. Zuerst deckten wir auf, daß das Mädchen,
als es in die erste Volksschulklasse ging, sehr erschreckt worden war. Am
Nikolotage holte es wie gewöhnlich dem Lebensgefährten der Mutter vom
benachbarten Gasthause Bier und traf in der Dämmerung auf der Stiege
einen Krampus mit roter Gesichtslarve. Im ersten Schrecken ließ es das Glas
fallen und lief laut schreiend in die Wohnung zurück. Der Krampus sprang
hinter ihm nach, schlug es mit der Rute und ließ auch in der Wohnung von
ihm nicht ab, trotzdem es sich hinter das Bett flüchtete. Die Kleine erinnert
sich noch, daß der Krampus sie hervorholte. Was weiter war, weiß sie
nicht mehr.
Dieses Erlebnis wurde in den Aussprachen sehr affektiv zur Reproduktion
gebracht, ohne daß nachher eine Änderung im Verhalten zu bemerken ge-
wesen wäre. Erst als es gelang, ein noch früheres aufzudecken, ergab sich
ein Erfolg.
Als Vierjährige, dieses Alter konnte einwandfrei festgestellt werden, weil
unmittelbar nachher die Ehetrennung der Eltern erfolgte, trug sie die Mutter
auf dem Arme zu einer rothaarigen Frau. Zwischen beiden kam es zu einer
heftigen Auseinandersetzung und nachher zu einem Raufhandel, in dessen
Verlauf die Mutter die Rothaarige so bei den Haaren riß, daß sich die Frisur
löste. Das Kind, das im Verlaufe der Streiterei neben die Mutter gestellt
worden war, kam zu Falle und schlug sich das Gesicht blutig. Der Streit
endete damit, daß die beiden, Mutter und Kind, aus der Wohnung der an-
deren Frau hinausgeworfen wurden. Der letzte Eindruck, den die Kleine von
diesem Auftritt hat, ist ein blutiges, von roten Haaren umrahmtes Gesicht,
das der Frau, die sie aus der Wohnung hinausgeworfen hat. Als sie nach
fr
V
u
62
Hause kamen, entstand zwischen den Eltern nach vorherigem großem
Schreien der Mutter eine Rauferei. Das Kind weiß, daß es den Vater dann
nicht mehr gesehen hat. Wir wissen, daß der erste Raufhandel zwischen der
Mutter und der Geliebten des Vaters sich abgespielt hatte und daß unmittel-
bar nachher die Mutter vom Vater wegzog.
Ich kann heute auf eine Erläuterung, warum das Mädchen den erlittenen
Schrecken nun anderen zufügen will, noch nicht eingehen, weil wir dazu
Vorbereitungen brauchen, die ich Ihnen erst später geben werde. Das zu
erkennen, ist augenblicklich auch nicht unsere Aufgabe. Wir sollen zur
Erkenntnis kommen, daß schreckhafte Erlebnisse zu psychischen Traumen
und dadurch zur Verwahrlosung oder zu Verwahrlosungserscheinungen
führen können.
VIERTER VORTRAG
Einige Ursachen der Verwahrlosung
(Fortsetzung)
Meine Damen und Herren! Wir haben zur Untersuchung von Verwahr-
losungsäußerungen eine Ihnen noch nicht geläufige Betrachtungsweise ge-
wählt, und trotzdem ist es uns schon gelungen, einige tiefere seelische Zusam-
menhänge zu erkennen. Daß wir noch weitab vom Ziele stehen, liegt nicht
an ihr, sondern in unserer bisnun unzulänglichen Erkenntnis. Und doch
besteht kein Anlaß zur Unzufriedenheit. Wir halten bei aller Vorsicht in der
Verallgemeinerung von Einzelergebnissen bei einer wesentlichen Einsicht: Die
Verwahrlosungsäußerungen sind auch nur eine von der Norm abweichende
Erscheinungsform psychischer Akte und deswegen darf eine Lösung des Ver-
wahrlostenproblems ohne vorhergehendes Erfassen seines psychologischen
Inhaltes nicht erwartet werden. Verbleiben wir in der psychoanalytischen
Denkrichtung, dann führt uns diese Auffassung vom Wesen der Verwahr-
losungsäußerung dazu, in ihr das wohldeterminierte Ergebnis psychischer
Abläufe zu erkennen, an denen jedesmal auch irgendwie Erregungsgrößen,
Affektbeträge, beteiligt sind. Das Schicksal dieser Besetzungsenergien bedingt
mit, wohin sich das Individuum entwickelt: ob es psychisch normal bleibt,
irgendwie nervöse Störungen oder Erkrankungen aufweist oder auch ins
Dissoziale ausweicht. Unsere Fragestellungen bei der Untersuchung von
Verwahrlosungserscheinungen werden daher dynamische Vorgänge und
quantitative Unterschiede, Verschiebungen, Verdichtungen, Aufstauungen
und Entladungen psychischer Energiemengen betreffen. Das sind aber die
,_
63
Untersuchungsvoraussetzungen der psychoanalytischen Psychologie oder mit
ein Teil der Freudschen Metapsychologie, die daher für unsere Arbeit von
allergrößter Bedeutung ist.
Warum ich Ihnen bereits Gesagtes mit etwas anderen Worten und ein
wenig vollständiger wiederbringe? Weil ich die Befürchtung hege, daß Sie
sich eine recht schwierige Sache zu leicht vorstellen. Die bisher angestellten
Überlegungen und Schlußfolgerungen erscheinen Ihnen durch ihr Ergebnis
vielleicht als selbstverständlich und sehr einfach, so daß Sie die Notwendig-
keit eines gründlichen Studiums der psychoanalytischen Wissenschaft unter-
schätzen. Es wäre auch nicht ausgeschlossen, daß sich Ihnen die Meinung
aufdrängt, man könne mit einigen psychoanalytischen Überlegungen Für-
sorgeerziehung betreiben, da man bisher ohne sie ausgekommen ist. Wenn
Sie sich davon leiten ließen, steuerten Sie einem wilden Dilettantismus zu,
mit dem Sie mehr Schaden anrichteten, als wenn Sie von Psychoanalyse nie
etwas gehört hätten.
Wenn auch nicht jeder Verwahrloste das interessante psychoanalytische
oder neurotische Problem ist, werden doch die einzelnen Verwahrlosungs-
erscheinungen durch die Vielheit von Determinierungsmöglichkeiten so kom-
pliziert, daß wir ohne gründliche theoretische Vorbereitung bei unseren Unter-
suchungen in einer Sackgasse landen müßten. Ich will Sie aber auch nicht
ängstlich, sondern nur aufmerksam machen, daß jede Oberflächlichkeit und
Voreiligkeit vermieden werden muß, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen,
an irgendeiner Stelle zu scheitern. Bleiben wir außerdem immer recht vor-
sichtig und bescheiden, so können wir den Versuch, die Ursachen von Ver-
wahrlosungserscheinungen aufzudecken, fortsetzen.
Ich werde Ihnen zunächst von einem Verwahrlosten berichten, der mir privat
gebracht wurde, der aber mit einem anderen, fast gleichzeitig amtlich behan-
delten nahezu dieselben Determinanten aufwies.
Um nicht am Pathologischen, das zum Arzt und nicht zum Erzieher gehört,
vorüberzugehen, empfahl ich der Mutter, ihren achtzehnjährigen Sohn zuerst
auf der heilpädagogischen Abteilung der Wiener Kinderklinik untersuchen zu
lassen. Dort wurde festgestellt, daß die Arbeitsscheu und die argen Exzesse
des Jugendlichen zu Hause, wegen welcher Erscheinungen die Mutter zu mir
kam, auf einen Familienkonflikt zurückzuführen seien und daß krankhafte
psychische Störungen nicht vorliegen.
Sehen wir uns zuerst wieder die Familienkonstellation an: Die Mutter ist
Witwe, der Vater vor vier Jahren gestorben. Er war Werkmeister in einem
größeren Fabriksbetrieb, sie bis dahin zu Hause. Nach seinem Tode übernahm
die Mutter eine Stelle als Kontoristin, die ihr und den Kindern nur ein kärg-
liches Auskommen ermöglichte. Seit einem halben Jahre geht es besser, weil
6 4
die älteste, um ein Jahr jüngere Tochter als der Sohn ihren Arbeitsverdienst
beisteuert. Diese ist ausgelernte Damenschneiderin und arbeitet gegenwärtig
in einem größeren Wiener Modesalon. Außer den beiden genannten Kindern
besteht die Familie noch aus drei Mädchen im Alter von fünfzehn, dreizehn
und zehn Jahren.
Ich nehme, als Mutter und Sohn nach der ärztlichen Untersuchung wieder
zu mir kommen, zuerst den Jugendlichen vor und lasse die Mutter in einem
anderen Räume warten.
Er zeigt stark femininen Habitus, verlegenes, ängstliches, schüchternes Be-
nehmen und ist anfänglich in seinen Mitteilungen recht zurückhaltend. Man
würde diesem Jungen so arge Exzesse nicht zutrauen; sie können auch unmög-
lich der Ausdruck eines brutal veranlagten Menschen sein, sondern müssen als
momentane Affektäußerungen gewertet werden.
Die Unterredung mit ihm währte ziemlich lange. Das für uns heute Wesent-
liche aus seinen Mitteilungen:
Er besuchte die Volks- und Bürgerschule in Wien, trat mit gutem Abgangs-
zeugnis aus der dritten Bürgerschulklasse aus und konnte nicht, was beabsich-
tigt war, die Mittelschule besuchen, weil der Vater bald darauf starb. Bis gegen
Weihnachten suchte er eine geeignete Anstreicherlehre, fand nichts und trat,
um zu verdienen, bei einem Drogisten als Laufbursche ein. Da die Mutter
wollte, daß er ein Gewerbe lerne, verließ er nach einigen Wochen diese Stelle
und kam bald darauf in eine Tischlerei als Lehrling. Dort fühlte er sich recht
wohl und blieb über ein Jahr, bis er erfuhr, daß sein Lehrherr nicht das Meister-
recht besaß und daher Lehrlinge nicht freisprechen konnte. Darüber verärgert,
lehnte er eine Zeitlang Tischlerlehren ab, bis es der Mutter doch gelang, ihn
zum Eintritte in eine andere Werkstätte desselben Gewerbes zu bewegen. Drei-
viertel Jahre später sagte die Firma Konkurs an, der Betrieb wurde gesperrt
und unser Jugendlicher war neuerlich ohne Lehrstelle. Er hatte, wie er selbst
sagt, nun von der Tischlerei endgültig genug. Als gutes Zureden der Mutter
nichts vermochte, versuchte sie, ihn durch Schläge zu einer Änderung seines
Entschlusses zu bringen. Alles war vergeblich, der Widerstand nicht zu über-
winden, er wollte nicht mehr, wollte überhaupt kein Gewerbe mehr lernen,
suchte wochenlang nach einer passenden Arbeitsgelegenheit, bis er abermals
als Laufbursche, diesmal in ein Papiergeschäft, eintrat. Nach sechs Wochen
wurde er entlassen: er führte einen Auftrag, der seinem Empfinden zuwiderlief,
nicht aus. Nun nahm sich ein Verwandter seiner an, denn die Mutter erklärte,
sie behalte ihn nicht mehr. Er kam von Wien weg in eine Drechslerlehre, war
aber nach acht Wochen bei der Mutter zurück. Zwischen seinen früheren Lehr-
und Dienstplätzen hielt er sich immer nur einige Wochen zu Hause auf. Dies-
mal blieb er ein halbes Jahr beschäftigungslos, bis er nun zum drittenmal eine
65
Stelle als Laufbursche in einem Wirkwarengeschäft übernahm. Dort hielt er
sich aber wieder nur ganz kurze Zeit, und als er zu mir gebracht wurde, war
er schon wieder über einen Monat ohne Arbeit.
Er gibt zu, daß er, der gesunde, kräftige Junge, der Mutter nicht zur Last
fallen könne, wehrt sich aber, als gewöhnlicher Hilfsarbeiter zu gehen, wozu
ihn die Mutter zwingen will. Er wäre einverstanden, die Tischlerei auszulernen,
wenn sich jemand bemühe, daß ihm das erste Jahr Lehrzeit eingerechnet werde,
aber darum habe sich bisher niemand gekümmert.
In den beschäftigungslosen Zeiten hatte er der Mutter in den häuslichen
Arbeiten, die ihm viel Vergnügen machen, geholfen. Am liebsten wäscht er Ge-
schirr ab und reibt die Wohnung aus. Die freien Stunden verbringt er mit
Lesen von Büchern. In der Wahl seiner Lektüre ist er nicht sehr anspruchsvoll.
Er hat keine besondere Vorliebe für bestimmte Bücher, sondern liest, was ihm
unterkommt.
Beim Besprechen seiner Beziehungen zu den Familienangehörigen wird er sehr
erregt, namentlich als die Rede auf die älteste Schwester, Leopoldine, die seinen
ganzen Haß auf sich gezogen hat, kommt. Man erfährt von ihm, daß seine Wut-
ausbrüche und Angriffe zumeist ihr gelten. Er empfindet es als Schmach, von
den Schwestern nicht vollwertig genommen zu werden, betont nachdrücklichst,
daß man ihn immer auslache, Leopoldine dabei die Anführerin sei und die
Mutter, statt für ihn einzutreten, auf Seite der Mädchen stehe. Er setzt mir in
ziemlichem Affekt auseinander, daß in einer Familie nicht nur die Schwestern
zu reden haben, sondern er auch wer sei. Am liebsten ist ihm die
Mutter, die Schwestern folgen in der Reihenfolge ihres Alters, die jüngste
zuerst. Leopoldine mag er gar nicht, weil sie immer so ekelhaft ist und meine,
es müsse alles nach ihrem Kopfe gehen.
Die Schwestern sind in ihrer äußeren Erscheinung voneinander sehr ver-
schieden; Leopoldine höher gewachsen als er, mit länglichem Gesicht, blauen
Augen und lichtblondem Haar. Sie sieht der Mutter ähnlich, die anderen haben
mehr Ähnlichkeit mit dem Vater.
Mutter und Schwestern sind sehr religiös, er nicht, ist sozialdemokratisch
gesinnt, hat darüber mit seinen Familienangehörigen noch nie gesprochen. Diese
verkehren nur in streng katholischen Kreisen und Vereinen. Er wird immer
mitgenommen, ohne daß man seinen Widerwillen ahnt. Seinen Konflikt über
den Gegensatz in den Weltanschauungen wagt er der Mutter nicht mitzuteilen.
In einer der mütterlichen Gesellschaften gefällt es ihm, weil er dort ein Mäd-
chen kennen gelernt hat, für das er schwärmt, obwohl sonst auch dort unaus-
stehliche Menschen sind.
Auf die Frage, ob ihm schon einmal ein Mädchen gefallen habe, wird er
äußerst verlegen, gibt dann aber freimütig zu, daß er als Dreizehnjähriger eine
5 A i ch h o r n, Verwahrloste Jugend
66
Schulkameradin der Leopoldine, die viel bei ihnen war, sehr geliebt habe. Er
hat sie als der Schwester sehr ähnlich sehend in Erinnerung, nur waren ihre
Haare dunkler blond und die Augen blaugrau. Als ich wissen wollte, ob er
auch gegenwärtig verliebt sei, errötet er sehr stark, spricht aber dann sehr
begeistert von dem schon erwähnten Mädchen aus dem Gesellschaftskreise der
Mutter. Ob er sie schon einmal geküßt habe? „Das tut man doch nicht", ent-
gegnete er unter abermaligem Erröten sehr verlegen. Er schildert sie, ohne daß
es ihm aufgefallen wäre, in ihrem Wesen und der äußeren Erscheinung der
Poldi ganz entgegengesetzt. Obwohl sie um zwei Jahre älter ist als diese, hat
sie nicht seine Körpergröße erreicht, und die älteste Schwester ist noch größer
als er. Außerdem sind ihre Haare schwarz und die Augenfarbc dunkelbraun.
Über Aufforderung, mir zu sagen, ob er aus seiner Kindheit solche Haare und
Augen erinnere, nennt er die jüngste Schwester.
Über Kindheitserinnerungen befragt, gibt er einige an, davon zwei:
Die eine: Das „Wunsch-Aufsagen" zu festlichen Anlässen, war in der Fa-
milie immer eine besondere Angelegenheit. Einmal, er besuchte damals die
Schule noch nicht, kam es zwischen ihm und Poldi zu einem Konkurrenzkampf.
Der Vater versprach demjenigen von beiden ein Bilderbuch, der den „Geburts-
tagswunsch" schöner sage. Dem Vater gefiel Poldis Vortrag besser und sie er-
hielt die Prämie. Das ärgerte den Jungen so sehr, daß er das Bilderbuch zer-
riß. Die Erinnerung an diesen Vorfall stellte sich so ein, daß er zuerst schildert,
wie er vom Vater für diese Untat über das Knie gelegt und fest gezüchtigt
wurde.
Die andere: Er und Poldi spielen sehr häufig und gerne „Vater und Mutter",
die jüngste Schwester war bei diesem Spiele immer ihr Kind.
Die Mutter, die ich nun vornahm, war vom langen Warten in etwas ge-
reizter Stimmung, und gleich nachdem sie Platz genommen hatte, setzte sie mir
recht entrüstet auseinander, daß sie nicht begreifen könne, wozu eine so lange
Unterredung mit dem Jungen notwendig gewesen sei. Warum sie meine Hilfe
in Anspruch nehme, wisse ich ohnehin seit unserem ersten, kurzen Zusammen-
sein, ehe ich sie zum Arzte schickte. Es war ganz deutlich zu erkennen, daß
sie sich in ihrer mütterlichen Autorität beeinträchtigt fühlte. Sie ist eine hagere,
mittelgroße Frau mit scharf geschnittenem Gesicht und harten Augen. Aus
ihrem Auftreten gewinnt man den Eindruck, es mit einem energischen, sicher
im Leben stehenden Menschen zu tun zu haben. Das Leben hat ihr arg mit-
gespielt, schon in der eigenen Kinderstube, dann später in der Ehe und nach
dem Tode des Mannes. In der Ehe hatte sie ein materiell sehr gesichertes Leben,
aber nicht die richtigen Beziehungen zu ihrem Manne, nachher sehr schwer zu
kämpfen, um sich und ihre fünf Kinder erhalten zu können, bis Poldi zum
Verdienen kam, die außerodentlich brav ist und den ganzen Arbeitsver-
67
dienst abliefert. Jetzt ginge es soweit, aber nun wird es mit dem Jungen immer
ärger.
Sie ist eine tiefere Natur, deren Lebensbedürfnissen der Gatte nie Verständnis
entgegengebracht hatte. Er war ein heiterer Mensch, der das Leben von der
schönen Seite nahm, sich unterhielt, wo immer es ging, und dabei nicht
wählerisch war, auch nicht mit Frauen. Obwohl es nie zu offenen Differenzen
kam, entfremdete sie sich ihm immer mehr. „Ich mußte stets abseits vom
Leben gehen," sagt die Frau, „bin sehr religiös erzogen worden, habe dann
später einen Widerspruch des Lebens mit den mir anerzogenen Grundsätzen
gesehen und mich jahrelang gequält, bis ich endlich innerlich mit mir ins
Reine gekommen bin."
Von ihrem Sohne spricht sie sehr geringschätzig, und so, als ob er ihr nichts
mehr bedeutete. „Er ist kein Mann, ein eigensinniger, dummer Bub, und dabei
will er der Gescheite sein. Wenn er mit den Schwestern allein zu Hause ist,
kehrt er den Herrn heraus; das lassen sich die Mädchen natürlich nicht ge-
fallen. Er schimpft und redet dabei einen rechten Unsinn zusammen, die
Schwestern lachen ihn aus, er wird brutal und geht namentlich auf die Poldi
wie ein wildes Tier los. Ich muß ihn von zu Hause wegbringen, sonst geschieht
noch ein Unglück. Mir gegenüber ist er gefügig und wagt es nicht sich aufzu-
bäumen, weil ich ihn sonst trotz seiner achtzehn Jahre noch züchtige. Hat
er etwas angestellt, dann benimmt er sich wie ein kleines Kind, ist besonders
brav und macht die Wohnung ganz außergewöhnlich nett. Er ist zwar ein
ordnungsliebender Mensch, hat seinen Kasten schöner eingeräumt als seine
Schwestern; es gibt viel Zank, wenn diese ihm seine Ordnung stören, aber
auf sich selbst hält er nichts. Er steht wohl eine Stunde vor dem Spiegel,
kämmt und bürstet die Haare, damit der Scheitel nur schön und die Krawatte
gut gebunden ist, aber ich muß nachsehen, ob er Ohren und Hals gewaschen
hat. Das halten ihm natürlich seine Schwestern auch vor. Er ist ein Egoist,
hat nur sich selbst gerne, steht in der Frühe nicht auf und putzt sich seine
Schuhe nicht. Er hat überhaupt nicht den Trieb, selbst etwas zu machen. Zu
Hause in der Wirtschaft mithelfen und Bücher lesen, das möchte er; das ist
aber keine Beschäftigung für einen so alten Jungen, er muß endlich in eine
geordnete Beschäftigung hinein. Ich erhalte ihn nicht länger, ich habe kein
Geld für ihn, er muß begreifen, daß wir uns nicht mehr für ihn plagen wer-
den. Er ist auch nicht ehrlich. Wenn ich ihn einkaufen schicke, macht er mir
kleine Veruntreuungen und vernascht das Geld, wie ein Schulbub. Ich sehe
dem absolut nicht weiter zu, er muß weg und soll sich als Hilfsarbeiter sein
Brot selbst verdienen."
Sie können sich an dieser Stelle der Erörterung gewiß nicht des Eindruckes
erwehren, daß die Klagen der Mutter der Berechtigung nicht entbehren und
5»
68
daß sie mit Recht Hilfe sucht, um ihren erwachsenen Sohn in geregelte
Arbeitsverhältnisse, zum Verdienen und in ein mögliches Verhältnis zum
Hause zu bringen.
Was haben wir zu tun? Vielleicht erscheint es Ihnen richtig, nun, da beide
streitende Parteien angehört wurden, Mutter und Sohn gemeinsam vorzu-
nehmen, um einen Mittelweg zur Verständigung zu finden; dem einen und dem
anderen zuzureden, ein wenig nachzugeben, und so etwas wie ein Kompromiß
herzustellen zu versuchen. Ein solches Vorgehen wäre ebensowenig am Platz,
als eine moralische Wertung der Tat des Verwahrlosten. Der Fürsorgeerzieher
ist weder Friedensrichter, noch hat er den Jugendlichen zu verurteilen oder
freizusprechen. Ihm obliegt eine andere, uns schon bekannte Aufgabe.
Er hat vor allem die Ursachen, die zur Verwahrlosung geführt haben, auf-
zudecken, muß daher die psychische Situation, aus der heraus das Handeln
erfolgte, erfassen und hinter diesem den Kräfteablauf, der die Dissozialität be-
dingte, auffinden. Sie werden verstehen, daß wir in diesem Abschnitte unserer
Arbeit uns nur um die psychischen Reaktionen der Verwahrlosten kümmern
müssen. Von Bedeutung ist daher nicht der objektive, sondern der subjektive
Tatbestand. Und alles, was wir vom Dissozialen selbst oder sonstwie hören,
dient nur dazu, diesen festzustellen. Daraus folgt aber, daß wir uns ganz ein-
deutig auf Seite des Verwahrlosten stellen. Weil ja auch alles Psychische deter-
miniert ist, sagen wir uns: er hat recht, das heißt, es müssen Gründe für sein
Tun vorhanden sein. Sollten Sie Zweifel hegen, ob diese Auffassung richtig ist,
dann wollen Sie überlegen, was zur Aufdeckung einer Verwahrlosungsursache
gewonnen ist, wenn wir uns über den Verwahrlosten moralisch entrüsten, oder
auf das Empfinden jener eingehen, die sich durch ihn beeinträchtigt fühlen.
Soziale, moralische oder ethische Werturteile helfen uns ebensowenig wie die
Parteinahme für Eltern und Gesellschaft. Freilich ist auch das Verhalten der
näheren Umgebung eines Verwahrlosten und das der Gesellschaft ihm gegen-
über determiniert. Das kommt aber erst später in Frage, wenn zu überlegen
ist, welche Erziehungsmaßnahmen zur Behebung der Verwahrlosung einzu-
leiten sind.
Wir sind durch diese allgemeinen Auseinandersetzungen etwas von unserem
Jugendlichen abgekommen. Beschäftigen wir uns zunächst mit seinem unan-
genehmsten Zuge, der Brutalität zu Hause, namentlich gegen seine älteste
Schwester.
Sie darf also weder als schlecht aufgefaßt noch sonst irgendwie gewertet
werden, sondern muß als das gelten, was sie tatsächlich ist: eines der Anzei-
chen, daß ein latent längst vorgebildeter Zustand sich jeweils manifestiert; oder
in dynamischer Ausdrucksweise, daß der psychische Kräfteablauf nicht mehr
die soziale Richtung einhält.
I
6 9
Diese den Jungen dissozial in Erscheinung bringenden psychischen Mecha-
nismen könnten die Folgen einer natürlichen brutalen Veranlagung sein, mithin
sich konstitutionell begründen. Wäre das anzunehmen, so käme eine weitere
Untersuchung dieser Verwahrlosungserscheinung nicht in Frage und wir hätten
uns nur mehr mit seiner Arbeitsscheu zu befassen. Diese Annahme ist aber
nicht zu halten. Ich habe eingangs der Besprechung erwähnt, daß schon der
erste Eindruck vom Jungen kaum die Meinung aufkommen lasse, daß es sich
hier um Akte einer brutalen Veranlagung handle. Wir haben dann von der
Mutter einzelne Züge des Jugendlichen geschildert bekommen, die eine solche
vollständig ausschließen. Was der Junge selbst uns mitteilt und angibt, läßt
seine Aggressionen viel eher als momentane Affektausbrüche erscheinen, und
als solche nehmen sie unser Interesse in Anspruch.
Wir finden, daß diese Ausbrüche sich vorwiegend gegen die älteste Schwe-
ster richten, und der Haß gegen sie ist auch aus seinen eigenen Äußerungen
deutlich zu erkennen. Die eine der Kindheitserinnerungen, die der Junge
spontan bringt, könnte uns den Weg zur Entstehung dieser Haßgefühle weisen.
Er hat schon als kleiner Junge ihn schwer kränkende Zurücksetzungen erfah-
ren. Die Szene mit dem Bilderbuch am Geburtstage des Vaters ist Ihnen gewiß
noch erinnerlich. Wir dürfen aus den bei der psychoanalytischen Behandlung
Kranker gewonnenen Erfahrungen annehmen, daß in weiteren Unterredungen,
bei einer gründlicheren Ausforschung oder gar bei einer Psychoanalyse, hinter
dieser einen Erinnerung noch andere, ähnlich laufende zum Vorschein kämen.
Wir sehen den Vater sehr unvorsichtig handeln, sich um die zärtlichen Stre-
bungen seines Buben nicht kümmern, für die er allem Anscheine nach über-
haupt kein Verständnis hat. Wahrscheinlich hat der Junge nicht nur subjektiv
recht, daß die kleinen Töchter auf seine Kosten bevorzugt wurden. Wir
könnten daher sagen, daß die Ablehnung der in solcher Überzahl vorhandenen
Schwestern auf seine in der Kindheit erfahrene Zurücksetzung durch den Vater
zurückzuführen ist, und uns mit der Erklärung zufrieden geben, daß der Haß
gegen die älteste Schwester in deren besonderer Bevorzugung durch den Vater
motiviert wird.
Wir haben es in dieser Familie tatsächlich mit einer Konstellation zu tun,
wie wir sie recht oft finden. Der Vater hat seine Töchter lieber, die Mutter
kein besonderes Bedürfnis nach Zärtlichkeitsbezeigungen und der Sohn kommt
nicht auf seine Rechnung. Dadurch ergeben sich für ihn Kindheitserlebnisse,
die erfahrungsgemäß sehr oft mit die latente Verwahrlosung herbeiführen. Wir
werden in einem späteren Kurse, bei genauerem Eingehen auf die Bedingungen
zur latenten Verwahrlosung, mehr darüber hören und auch, daß Töchter unter
denselben ungünstigen Entwicklungsbedingungen aufwachsen können, wenn die
angedeuteten Beziehungen zwischen Mutter und Sohn bestehen.
I
7°
miniert.
Ich möchte an dieser Stelle eine allgemeine Bemerkung nicht unterlassen.
Wer als Vater, Mutter oder Erzieher Einblick in das Leben der Kinderstube
hat, der wird in der Praxis des täglichen Lebens unaufhörlich mit einer Er-
scheinung zusammenstoßen, die trotz eifrigsten Bemühens der Erwachsenen nicht
zu vermeiden ist. In jeder Kinderstube mit mehreren Kindern stören Regungen
von Neid und Eifersucht das gute Einvernehmen der Kinder untereinander, auch
wenn die Eltern noch so sehr bestrebt sind, jede Bevorzugung eines der Kinder
zu unterlassen. Alle Vorsicht ist vergeblich, auch wenn tatsächlich jede Unge-
rechtigkeit vermieden wird. Die Psychoanalyse lehrt uns in dieser Beziehung,
was wir aus eigener Beobachtung leicht hätten selbst finden können: Jedes Kind
betrachtet seine Geschwister argwöhnisch als gefährliche Konkurrenten, mit
denen es um den so wichtigen „ersten" Platz in der Liebe der Eltern zu kämpfen
hat. Dieser Kampf bleibt für die Entwicklung der Kinder ungefährlich, wenn
vernünftige Eltern der jeweiligen Situation Rechnung tragen. Viele Mütter
treffen da ganz gefühlsmäßig das Richtige, andere tappen immer daneben, ohne
daß sie die leiseste Ahnung davon haben. In solchen Fällen bleibt häufig für
das spätere Leben eine gewisse Kühle in den Beziehungen der Geschwister unter-
einander bestehen. Je ungünstiger sich die Verhältnisse gestalten, desto mehr
Anlässe zu Erlebnissen, die in die Verwahrlosung führen können, ergeben sich.
Für unseren verwahrlosten Jungen bestand in der Kinderstube eine recht un-
günstige Konstellation. Wir brauchen uns nur neben diesen Vater auch noch
die zwar lebenskluge, aber harte Mutter vorzustellen. Und trotzdem können
wir die Erklärung, daß am Zustandekommen der latenten Verwahrlosung die
tiefempfundene Zurücksetzung stark mitbeteiligt war, nicht annehmen.
Warum nicht? Weil uns eine andere der gebrachten Kindheitserinnerungen
dies verwehrt.
Wir hörten, daß die Schwester, weit entfernt davon, ihm schon vom Anfange
an verhaßt zu sein, durch Jahre hindurch seine bevorzugte Spielgefährtin war,
was uns unmöglich erschiene, wenn der Gegensatz schon zu dieser Zeit zwischen
ihnen bestanden hätte. Wir könnten noch eine ambivalente Gefühlseinstcllung
annehmen, wenn die Kinder nicht gerade Vater und Mutter miteinander ge-
spielt hätten, was er uns aber selbst sagt, noch mit der Bemerkung, daß dabei
die Jüngstgeborene ihr Kind war. Wir wissen zwar nicht, wie lange das Ver-
hältnis der Kinder in dieser Form andauerte, können aber sicherlich auch hier,
so wie bei der anderen Kindheitserinnerung, hinter dieser zahlreiche ähnliche
annehmen.
Was fangen wir damit an? Sie soll uns helfen, eine der Verwahrlosungs-
ursachen zu finden. Dazu stellen wir die Behauptung auf, daß der Haß gegen
die Schwester sich aus einer unbewußten erotischen Bindung an diese detcr-
7i
Sie sind psychoanalytisch noch so wenig orientiert, daß es Ihnen vielleicht un-
geheuerlich erscheint, dort von einer erotischen, wenn auch unbewußten Bin-
dung zu sprechen, wo so deutlich ärgster Haß in Erscheinung tritt. Der Wahr-
scheinlichkeitswert dieser Annahme wäre, auf die Kindheitserinnerung allein ge-
stützt, auch sehr gering, wenn wir nicht noch andere Anzeichen hätten, die
ihn wesentlich erhöhen; aber davon später.
Warum wir überhaupt auf so unsicheren Voraussetzungen eine Behauptung
gründen, da wir doch aus der psychoanalytischen Erfahrung wissen, daß erste
Bekenntnisse durch später hinzukommendes, tiefer gelegenes Material erst er-
läutert, oft in andere Richtung gedrängt, ja nicht selten auch völlig umge-
stoßen werden? Weil unsere Tätigkeit eine andere ist als die des Psycho-
analytikers. Wir sind nicht in der Lage, zuwarten zu können; wir haben immer
möglichst rasch irgend etwas zu veranlassen und sind daher gezwungen, uns
aus einer oder wenigen Unterredungen ein Bild zu machen. Wir wissen, daß
unsere Schlußfolgerungen nur einen größeren oder geringeren Wahrscheinlich-
keitswert beanspruchen dürfen, müssen uns mit dieser Unsicherheit abfinden und
abwarten, ob der Erziehungsverlauf die Richtigkeit der Überlegungen erhärtet.
Wir werden, um diese zu verringern, nach möglichst vielen Anhaltspunkten
Umschau halten. Was für unseren Jugendlichen in dieser Beziehung in Frage
kommt, werden wir heute noch hören.
Wir haben uns vorher aber noch klar zu werden, was wir unter unbewußter
erotischer Bindung verstehen. Wir dürfen wohl, ohne fehlzugehen, annehmen,
daß Bruder und Schwester bei diesen Spielen ein starkes Erleben miteinander
geteilt haben. Wir wissen heute, daß dieses kindliche Tun nicht immer so harm-
los ist, und daß die Kinder oft mehr in dieses Spiel hineinlegen als für ge-
wöhnlich vermutet wird, daß die Kinder es häufig auf ein wirkliches Mann-
und-Frau-Spielen abgesehen haben, daß es dabei zum Beschauen und Betasten,
also zur Befriedigung des kindlichen Forschungstriebes kommt. Wir haben in
unserer Praxis auch sehr oft Gelegenheit zu sehen, daß in diesen Spielen nach-
gemacht wird, was die Kinder von den Eltern zu sehen bekommen. Als ich
mich vor nicht sehr langer Zeit in einer ähnlich laufenden Angelegenheit mit
einem Vater über die Unmöglichkeit des Fortbestehenlassens einer Situation,
die die Kinder zu Zuschauern des elterlichen Geschlechtsverkehrs machte, be-
sprach, entgegnete dieser, daß er sich sein Recht nicht nehmen lasse, man möge
ihm eine größere Wohnung zuweisen. Wer in der Fürsorgearbeit steht, wird
wissen daß das nicht die Meinung eines Einzelnen ist. Und doch haben wir es
nicht notwendig zu sagen, daß uns diese Verhältnisse erzieherische Arbeit un-
möglich machen. Es gibt auch da Mittel und Wege zu erfolgreicher Tätigkeit,
und die Psychoanalyse gibt uns wichtige Winke. Ich käme von der heute zu
erledigenden Aufgabe zu weit ab, wenn ich mich auf dieses Problem einließe.
■
I
7*
Ich wollte Ihnen nur, weil wir gerade darauf zu sprechen kamen, andeuten,
daß die Erziehung nicht erstarren darf, sondern sich den stets ändernden Be-
dürfnissen immer gleich anzupassen und neue Kräfte und Gegenkräfte zu mo-
bilisieren hat.
Kehren wir zu dem Kinderspiel des Jungen zurück, dann müssen wir sagen,
daß es für das Kind zu einer Quelle von Erregungen wird, die wir im psycho-
analytischen Sinne nur als Sexualerregungen bezeichnen können, wobei das
Wort sexuell viel weiter, als dies gewöhnlich geschieht, aufzufassen ist. Die
zurückbleibenden Erinnerungen verursachen eine starke Bindung der Spiel-
gefährten aneinander, die um so größer wird, je gefühlsbetonter die Erlebnisse
waren. Die begangenen Handlungen und die sie begleitenden Gefühlserregungen
lernt das Kind durch den Einfluß der Erziehung als unerlaubt empfinden, ohne
daß es dazu unbedingt erforderlich wäre, die Kinder bei derartigen Spielen zu
überraschen.
Es ergibt sich auf alle Fälle ein Widerspruch zwischen dem lustbetonten,
gewollten Spiel und dem dem braven Kinde erlaubten oder unter Straf-
androhung gestellten. Bleibt das lustbetonte Streben stärker, so wird das Spiel
fortgesetzt, überwiegt die andere Tendenz, so setzt die „Verdrängung" ein, weil
eine Erledigung des Konfliktes im Bewußtsein, eine Verurteilung des verpönten
Spieles, noch nicht möglich ist. Das Kind bemüht sich, von dem, was war,
nichts mehr zu wissen, es will nicht mehr daran denken, seinen eigenen Anteil
am Spiel und alles damit in assoziativem Zusammenhang Stehende vergessen,
namentlich auch seine zärtlichen Beziehungen zum Spielpartner, weil diese die
größte Gefahr sind, wieder zum selben Tun zu kommen. Durch den Verdrän-
gungsvorgang werden wohl dem Verdrängten die bisherigen Äußerungs- und
Entwicklungsmöglichkeiten gesperrt, es bleibt aber im Unbewußten bestehen
und wird dort, der Kontrolle des Bewußtseins entzogen, anderen Kräfte-
wirkungen ausgesetzt; es ist zu dem gekommen, was die Psychoanalyse eine
„Fixierung" nennt. Wir können unschwer erkennen, daß damit die Beziehungen
zum Spielpartner nicht gelöst, sondern nur verschoben worden sind (unbewußte
erotische Bindung).
Die Gefahr, daß diese Bindung wieder bewußt wird, vermindert sich, wenn
die Gefühlsbeziehungen mit dem negativen Vorzeichen versehen werden, das
heißt, wenn im Bewußtsein sich die Liebe als Haß äußert.
Wir wissen nun im allgemeinen, was wir unter unbewußter erotischer Bin-
dung verstehen, wenn es auch nicht leicht ist, dieses Ergebnis psychoanalytischer
Forschung gleich zu verarbeiten. Aber für die Behauptung, daß auch der Flaß
unseres Jungen gegen die Schwester sich so determiniert, haben wir noch keinen
anderen Beweis erbracht, als die Möglichkeit seiner Entwicklung aus dem Kin-
derspiel. Wenn wir das annehmen, so machen wir einen Analogieschluß vom
73
Neurotiker, bei dem wiederholt diese Haßquelle aufgedeckt wird, auf den Ver-
wahrlosten und ich muß dann gefaßt sein, Sie könnten den Einwand machen,
daß der Junge ein Verwahrloster und kein Neurotiker ist, der Analogieschluß
daher nicht ohneweiters zulässig sei.
Ich habe mir diesen Einwand selbst gemacht und ihn auch angedeutet, als
ich sagte, daß unsere Behauptung, gestützt auf die Kindheitserinnerung allein,
nur sehr geringen Wahrscheinlichkeitswert hat, daß wir erhöhte Sicherheit erst
erlangen, wenn es uns gelingt, noch von anderswoher Anhaltspunkte zu gewin-
nen, weil wir auf die direkte Mitarbeit des Jugendlichen nicht warten können.
Woher sind diese zu nehmen?
Wir werden es gleich hören. Ich will nur noch ausdrücklich wiederholen,
daß nicht die Richtigkeit, sondern nur die hohe Wahrscheinlichkeit des Richtig-
seins unserer Behauptung zu beweisen ist. Haken wir fest, daß der Fürsorge-
erzieher stets durch die Verhältnisse, in denen er seine Arbeit leistet, in eine
unvermeidbare Unsicherheit hineingezwungen ist, die erst im Erziehungsverlauf
schwindet, weil ihm zum Zuwarten keine Zeit gelassen wird. Gestatten Sie
hier auch eine nicht ganz überflüssige Einschaltung. Ich werde im Anschluß
an in der Tagespresse veröffentlichte Gerichtsverhandlungen wiederholt ge-
fragt, welches die Ursache dieser Verwahrlosung und jener verbrecherischen
Handlung sei. Ich lehne jedesmal eine Beantwortung ab. Es ist ganz unmög-
lich, auf Zeitungsberichte hin, ohne genaue Kenntnis des Falles, einen Schluß
auf die verursachenden Determinanten zu ziehen, dessen Wahrscheinkchkeits-
•wert hoch genug wäre, ihn ernstlich zu diskutieren, geschweige denn, von ihm
ableiten zu können, was mit dem Angeklagten zu geschehen hätte.
Sie wollen jetzt sicherlich schon unsere übrigen Anhaltspunkte kennen lernen.
Ich muß Sie noch um ein wenig Geduld bitten, weil es zu deren richtigem Er-
fassen noch einer theoretischen Überlegung bedarf.
Welche Entwicklungsphase des Menschen die Pubertät genannt wird, ist
Ihnen bekannt. Im allgemeinen wird aber angenommen, daß nur physiologische
Vorgänge in Frage kommen, daß in ihr der männliche Organismus befähigt
wird, Samenzellen und der weibliche Eizellen zu produzieren. Nun besteht die
Tatsache, daß eine Reihe von Menschen, trotzdem ihr Geschlechtsapparat voll-
ständig normal entwickelt ist, nicht imstande sind, ihre Arterhaltungsaufgabe
zu erfüllen. Es gelingt ihnen nicht, die dazu notwendigen Gefühlsbeziehungen
zum anderen Geschlecht aufzubringen, oder sie sind aus ihrer psychischen Kon-
stellation heraus gezwungen, ihre geschlechtliche Lustbefriedigung anderswie als
normal zu suchen.
Freud hat uns gezeigt, daß die Pubertät nicht richtig erfaßt werden kann,
wenn nur ihre physiologische Seite gesehen und die psychologische übersehen
wird. Er hat uns tiefen Einblick in jene seelische Entwicklung verschafft, die
X
74
in der Pubertät ihren normalen Abschluß findet, und erforscht, was eintritt,
wenn es da und dort an den erforderlichen Entwicklungsbedingungen fehlt.
Für uns kommt zunächst folgendes Ergebnis in Betracht:
Der Jugendliche hat in der Pubertät seine ersten Liebesobjekte innerhalb der
Familie aufzugeben und sie durch andere Objekte außerhalb der Familie zu er-
setzen. Dasselbe in psychoanalytischer Ausdrucksweise: Die infantil libidinösen
Besetzungen müssen gelöst werden, um Libido für Objektbesetzungen außerhalb
der Familie frei zu bekommen.
Sind zu stark libidinöse Beziehungen, Fixierungen, an Familienmitglieder vor-
handen, so wird deren Lösung in der Pubertät erschwert, möglicherweise un-
möglich gemacht.
Jetzt sind wir so weit, nach einem weiteren Anhaltspunkt für unsere Beweis-
führung Ausschau zu halten.
Unser Jugendlicher steht dem Weibe in einer Art gegenüber, die uns ganz
deutlich zeigt, daß ihm die der Pubertät gestellte Aufgabe zwar nicht miß-
lungen ist, wohl aber sehr erschwert wird, was, wie wir jetzt wissen, dann der
Fall ist, wenn eine infantil libidinöse Fixierung an ein Familienmitglied vor-
liegt. Der Achtzehnjährige hat nicht normale Beziehungen zur Frau, wenn er,
befragt, ob er schon ein Mädchen geküßt hat, unter Erröten sehr verlegen sagt:
„Das tut man doch nicht."
Es gibt uns daher dieser Zug im Wesen des Jugendlichen, ganz unabhängig
von der Kindheitserinnerung, einen Anhaltspunkt für unsere Behauptung. Ich
kann mir aber leicht denken, daß diese, doch erst dem schärferen Beobachter
in die Augen springende Tatsache für Sie nicht sehr beweiskräftig ist, und
daß Sie, um nicht zu unsicher zu bleiben, gerne einen auffälliger in Erscheinung
tretenden Anhaltspunkt sehen wollen. Der ist auch zu finden, wenn wir be-
achten, was uns der Jugendliche über seine Liebesobjekte mitteilt.
Das erste, den Dreizehnjährigen begeisternde Mädchen kommt aus dem Freun-
dinnenkreis der Schwester Poldi, besucht mit ihr dieselbe Schulklasse und ist
ihr gleichaltrig; im Aussehen und Wesen beider sind nicht viele Unterschiede,
nur Haar- und Augenfarbe zeigen eine verschiedene Schattierung. Das Liebes-
objekt ist noch ganz die Schwester, und doch ist sie es nicht mehr selbst. Seine
gegenwärtige Liebe hat mit der Schwester nur den Beruf gemeinsam. Ähnlich-
keit ist nicht mehr vorhanden. Im Gegenteil, sie sieht gerade entgegengesetzt
aus.
Was sagt uns das?
Wir wissen schon, daß mit der Verdrängung des verpönten Kinderspieles
auch damit in assoziativer Verbindung Stehendes der Verdrängung anheimfällt,
womit aber die Zuneigung zur Schwester nicht gelöst, sondern nur ins Unbe-
wußte verschoben wird und die Gefahr, daß sie sich wieder in die Wirklich-
75
keit durchsetzt, bestehen bleibt. Nun setzt in der Pubertätszeit der große
Libidovorstoß ein, der den heranreifenden Knaben erst sexuell angriffsfähig
macht, und die Gefahr, daß diese Angriffe sich auf die Schwester richten, wird
größer. Sie wird vermindert, wenn bewußter Haß eine Annäherung unmöglich
macht, oder wenn die Schwester durch irgend einen Vorgang als Sexualobjekt
verlassen wird, oder wenn beides eintritt.
Wir können uns jetzt auch erklären, warum die verdrängte Libido das
Schicksal der Verkehrung ins Gegenteil erfahren mußte, die Verwandlung der
Liebe in Haß eingetreten ist. Eine das Ich des Jungen schützende Tendenz hat
diesen Vorgang herbeigeführt. Der bewußte Haß ist eine Sicherung. Er muß
solange bestehen bleiben, als die unbewußte, erotische Bindung nicht gelöst
wird, und deren Durchbruch aus dem Unbewußten verhindern.
Es kommt nun noch in Frage, ob im Heranwachsen des Jungen eine Ten-
denz wirksam war, die zu einem Verlassen der Schwester als Sexualobjekt führt,
und welches dieser Vorgang ist.
Aus den Forschungen Freuds wissen wir, daß die Knaben in der Pubertäts-
zeit neben dem großen Libidovorstoß auch eine Verdrängungswelle über sich
ergehen lassen müssen, die, wenn sie auch lange nicht so mächtig ist wie die
bei den Mädchen, doch die ersten infantilen Liebesobjekte ergreift, wodurch
diese als Sexualobjekte nicht mehr in Frage kommen, sie scheiden als solche
aus. Die Psychoanalyse sagt, die Inzestschranke richtet sich auf. Zur Erklärung
des Wortes Inzest, wenn Ihnen diese nicht ohnehin bekannt ist: der Geschlechts-
verkehr der Familienmitglieder untereinander.
Wie wirksam in unserem Falle die Verdrängung arbeitete, erkennen wir aus
den Mitteilungen des Jugendlichen. Wir sehen förmlich, wie sich im Dreizehn-
jährigen die Inzestschranke aufzurichten beginnt, für die Schwester die ihr so
sehr ähnliche Freundin eingetauscht wird. Wir entnehmen aus seinen gegen-
wärtigen Liebesbeziehungen aber noch mehr. Die Inzestschranke legt auch ein
Verbot auf den Typus, dem die Schwester angehört, und macht ihn dadurch
ebenfalls sexuell nicht mehr annehmbar.
Und doch bleibt unser Junge innerhalb der Familie haften, nur entnimmt
er die Züge bei der Wahl seiner Liebesobjekte dort, wo die geringere Bindung
bestanden hat: von der jüngsten Schwester.
Fassen wir, um den Oberblick nicht zu verlieren, die bisherigen Ergebnisse
zusammen. Wir haben einen achtzehnjährigen Jugendlichen mit argen Aggres-
sionen zu Hause, ärgsten Angriffen gegen seine älteste Schwester vor uns. Aus
einer brutalen Veranlagung kommen diese nicht. Die erste Annahme, daß tief-
empfundene Zurücksetzung durch den Vater und besondere Bevorzugung der
ältesten Schwester sie verursachen, ist nicht haltbar. Eine mitgeteilte Kindheits-
erinncrung weist uns die Richtung, die Determinanten in einer unbewußten
7*
erotischen Bindung zu suchen, was wir auch behaupten. Wir treten den
Wahrscheihlichkeitsbewcis mit einem Analogieschluß vom Neurotiker her an,
erkennen diesem aber nicht ausschlaggebende Bedeutung zu. Wir finden unab-
hängig von diesem und von der Kindheitserinnerung noch andere Anhalts-
punkte: Eine Erschwerung der der Pubertät gestellten Aufgabe, erkennbar an
der unter Erröten sehr verlegen vorgebrachten Äußerung: „Das tut man doch
nicht", und als stärkstes Beweismittel die deutlich wahrnehmbare Tatsache, daß
die Inzestschranke nicht nur die Schwester, sondern auch den Typus, dem die
Schwester angehört, als Sexualobjekt ausschaltet.
Ich habe Ihnen gerade diesen Verwahrlosten gebracht, weil wir für eine
erste Einführung in der Aufdeckung der Determinanten genügend tief vor-
dringen und Sie trotzdem ersehen konnten, wie der Fürsorgeerzieher, ohne
auf die direkte Mitwirkung des Zöglings zu warten, sichtbaren Spuren nach-
geht und sich daraus ein Bild macht, das die Unsicherheit, der er immer aus-
gesetzt ist, möglichst weitgehend verringert.
Sie werden mir gewiß auch zugeben, daß es zur Einleitung von Erziehungs-
maßnahmen nicht gleichgültig ist, ob eine der den Haß determinierenden
Komponenten einer Zurücksetzung entspringt, oder ob dieser die Folge einer
wenn auch unbewußten starken Liebe ist.
Wenn Sie erinnern wollen, daß die Ursachen der Verwahrlosung aufdecken
heißt, auffinden, was in die latente Verwahrlosung geführt hat, so ist uns ein
Teil dieser Absicht schon gelungen. Die unbewußte erotische Bindung ist eine
der Kräftekonstellationen, die den Mechanismus vorbilden, der, einmal voll
ausgebildet, nur mehr des entsprechenden Anlasses bedarf, um abzulaufen.
Fahren wir nun in unserer Untersuchung fort und nehmen wir einen anderen
Ausspruch der Mutter des Jugendlichen vor: „Er ist kein Mann, ein eigen-
sinniger dummer Bub." Ob uns dieser Satz etwas sagt? Vergleichen wir damit:
„Mir gegenüber ist er gefügig und wagt es nicht sich aufzubäumen, weil ich
ihn sonst, trotz seiner achtzehn Jahre, noch züchtige. Hat er etwas angestellt,
dann ist er besonders brav und macht die Wohnung ganz außergewöhnlich
nett." Daß er kein Mann ist, scheint zu stimmen, er benimmt sich wirklich
nicht wie ein solcher.
Ob aber die Meinung vom eigensinnigen dummen Buben zutrifft? Sein
Verhalten weist in eine andere Richtung. Er unterzieht sich nicht nur wider-
spruchslos, sondern sehr gerne häuslichen Arbeiten, die sonst die Frau ver-
richtet; er hat seinen Kasten schöner in Ordnung als die Schwestern; steht
stundenlang vor dem Spiegel, kämmt, bürstet sich und bindet die Krawatte; ist
ängstlich und schüchtern wie ein Mädchen. Er zeigt also eine Menge weiblicher
Züge, denen auch sein Habitus entspricht.
Wir sehen in ihm einen Jugendlichen, der vermutlich infolge einer gewissen
'
k.
77
erblichen Veranlagung und des Heranwachsens ohne Vater, nur mit Mutter
und Schwestern, ein gut Stück Weib in sich entwickelt hat. In allen Mittei-
lungen kamen immer nur die vier Schwestern und deren Freundinnen vor,
von Knaben ist nie die Rede. Wir finden übrigens recht häufig den starken
weiblichen Einschlag bei Männern im Aufwachsen in ausschließlich weiblicher
Umgebung begründet. Aber sei dem, wie ihm sei; in unserem Jungen ist das
Stück Weib da. Wir erkennen es nicht nur aus dem, was die Mutter von ihm
sagt, und aus seinen eigenen Äußerungen, es geht auch aus seinem ganzen
Wesen so deutlich hervor, daß wir daran nicht vorbeisehen können. Was die
Mutter an ihrem erwachsenen Sohn unangenehm empfindet, was sie als Bub
bezeichnet, ist das Stück Weib in ihm, das sich einmal äußert, ohne ihn selbst
zu stören, mit dem er aber in Konflikt gerät, wenn er ganz Mann sein soll.
Dieser Konflikt entlädt sich in Affekthandlungen nach außen und ergibt uns
die zweite Komponente für sein Verhalten.
Ob das richtig ist? Wir müssen uns zur Erklärung wieder neue Einsichten
bei der Psychoanalyse holen. Wir wissen bereits, daß durch die zärtlichen
Beziehungen des Kindes zu seinen Eltern jene psychischen Vorgänge möglich
sind, die in der Psychoanalyse Identifizierung genannt werden, auch daß die
Zuneigung übermäßig stark werden und dann zu einer anormalen Entwicklung,
manchmal auch zur Verwahrlosung führen kann. Um das zu verstehen, be-
trachten wir, was bei der normalen Entwicklung im Seelischen vorgeht. Zur
Erleichterung der Darstellung werden wir nur den beim Knaben gegebenen
Sachverhalt besprechen und analoge Verhältnisse beim Mädchen annehmen.
Die ersten Personen, die in den Erlebenskreis des kleinen Kindes eintreten,
sind gewöhnlich die Eltern, und was sich an Zuneigung zu regen beginnt,
sich verstärkt, vertieft, gilt im allgemeinen ganz gleichmäßig diesen beiden.
Die gleichzeitig libidinösen Strebungen zu Vater und Mutter laufen neben-
einander her, stören anfänglich das kleine Wesen nicht, beide sind ihm gleich
lieb. Nach und nach verstärkt sich die Zuneigung zur Mutter, und trotzdem
die Beziehungen zum Vater bestehen bleiben, ergeben sich Situationen, die den
Knaben den Vater unliebsam empfinden lassen. Schon einem Dreijährigen
können die Zärtlichkeiten des Vaters zur Mutter so unangenehm werden, daß
er ihn weg haben will, damit diese ihm allein gehört. Die Gefühlseinstellung
zum Vater, die früher ganz eindeutig war, wechselt nun mit dessen zeitweiliger
Ablehnung. Der Junge ist, wie die Psychoanalyse sagt, zu ihm in ein ambiva-
lentes Verhältnis gekommen.
Freud hat, um dieses ganz deutlich erkennbare Entwicklungsstadium zu
charakterisieren, eine Bezeichnung gewählt, die so vielfach mißverständlich auf-
gefaßt wird. Er nennt es in Anlehnung an eine Sage des klassischen Alter-
tums die ödipussituation. Es ist Ihnen bekannt, daß Ödipus die Mutter heiratete,
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s
■
78
nac
hdem er den Vater erschlagen hatte, ohne daß beide von dem Verwandt-
schaftsverhältnis wußten. Der kleine Junge will den Vater weg haben, um die
Mutter allein zu besitzen. Und nun erhebt sich das große Geschrei aller jener,
die psychoanalytische Denkweise nicht verstehen wollen: Man denke nur, die
Beziehungen ödipus' zu seiner Mutter und den noch so kleinen Jungen! Welche
Unmöglichkeit! Zur Aufklärung dieser, wenn Sie sich aufklären lassen wollen:
So wenig er den Vater erschlagen hat, wie jener es tatsächlich tat, — nur da
sein soll er nicht, ist der Wunsch — ebensowenig kann er den Geschlechtsver-
kehr mit der Mutter beabsichtigen, weil dazu ja seine ganze geschlechtliche Or-
ganisation noch nicht vorgebildet ist; bezeichnet wird damit die auf diese in-
fantile Entwicklungsstufe übersetzte gleiche Tendenz, von der sich das Kind
keine Rechenschaft gibt. Wir werden übrigens ein andermal hören, daß die
Psychoanalyse durch ihre Forschungsarbeit zu einer viel weiteren, umfassen-
deren und dabei vertiefteren Auffassung des Begriffes Sexualität gekommen ist,
als es vor ihr möglich war.
Mit dem Fortschreiten der Entwicklung des Kindes und dem Fortbestehcn-
bleiben der zärtlichen Beziehungen zum Vater wird die ihn ablehnende Tendenz
mit den Bewußtseinsinhalten unvereinbar, darf daher nicht bewußt bleiben
und erleidet das Schicksal der Verdrängung. Die reale ödipussituation wird zum
Ödipuskomplex mit allen seinen Wirkungen aus dem Unbewußten. Geht dann
alles ohne Störung weiter, so treten verschiedene Umstände ein, die ungefähr
im Beginne des Lernalters zu einer Überwindung des Ödipuskomplexes führen.
Mit seinem Untergange, wie Freud sagt, ist so recht der Zeitpunkt gekommen,
in dem die Identifizierungen mit den Eltern erfolgen, ein Angleichen an deren
Wesen eintritt.
Aus den zärtlichen Beziehungen zur Mutter ergibt sich der positive Ödipus-
komplex, aus denen zum Vater der negative. Aus dem einen positive Be-
ziehungen zur Mutter und negative zum Vater, aus dem anderen positive zum
Vater und negative zur Mutter. Die positiven Strebungen aus den beiden Rich-
tungen des Ödipuskomplexes, in jedem Individuum verschieden beeinträchtigt
durch die negativen, legen sich zu einer Vater- und einer Mutteridentifizierung
zusammen, und im weiteren Verlaufe des Heranwachsens werden dadurch Züge
der Eltern dem Wesen des Kindes einverleibt.
Kommt es nicht zur normalen Entwicklung, wird beispielsweise durch die
Erbanlage oder durch die Verhältnisse, unter denen das Kind aufwächst, die
Identifizierung mit der Mutter übermäßig, das normale Maß überschreitend, so
gelangen in das Wesen des Knaben zu viel weibliche Züge und sein Charakter
erhält einen femininen Einschlag. Je stärker die Mutteridentifizierung ausfällt,
desto mehr wird, wenn nicht besondere Umstände eintreten, die Vateridentifi-
zierung beeinträchtigt und eine desto größere Schwächung erfahren auch alle
,
79
in der Richtung der männlichen Entwicklung gelegenen Tendenzen. Dem
Jungen fehlt so ein Stück Männlichkeit, er wird dadurch auch mit seiner
Pubertät später fertig werden.
Im allgemeinen hat das nicht viel zu sagen, hilft uns nur, verschiedene
Männerindividualitäten zu erklären. Für unseren Jugendlichen, den Sie gewiß
trotz der jetzt gemachten Einschaltungen noch nicht aus dem Auge verloren
haben, wird das aber katastrophal. Es stirbt ihm der Vater, als er, kaum
vierzehn Jahre alt, aus der Schule austritt. Er ist der älteste, nun der einzige
Mann in der Familie, als die Aufgabe an ihn herantritt, den Vater zu vertreten.
Das könnte er, wäre er der richtige Junge. Nun zwingen ihn die äußeren Ver-
hältnisse doch zu einer zeitweiligen Vateridentifizierung, die aber immer wieder
mißlingt. Wir ersehen das aus Angaben der Mutter: „"Wenn er mit den Schwe-
stern allein zu Hause ist, kehrt er den Herrn heraus; das lassen sich die
Mädchen natürlich nicht gefallen. Er schimpft und redet dabei einen rechten
Unsinn zusammen; die Schwestern lachen ihn aus, er wird brutal." Er selbst
erklärt in ziemlichem Affekt, daß er auch wer sei und in einer Familie nicht
nur die Schwestern zu reden haben. Die Unfähigkeit, als Mann aufzutreten
bringt ihn in Konflikt, über den er durch brutales Auftreten hinwegzukommen
trachtet. Die Schwestern fühlen, daß ihnen nicht der kraftvolle Mann, sondern
das keifende Weib gegenübersteht, lachen ihn aus, bis er in unsinnigsten Affekt
gerät. Damit hätten wir seine Aggression von einer zweiten Seite her, aus der
immer wieder mißlingenden Identifizierung mit dem Vater, verstehen gelernt.
"Was ihn da stört, ist offenbar die Identifizierung mit der Mutter.
Er wird aber noch durch einen Konflikt aus dem Gleichgewichte gebracht,
der mit sein Verhalten determiniert. Dieser ergibt sich aus dem Widerstreit
seiner eigenen sozialistischen Weltanschauung und dem Zwange, dem er durch
die streng katholische Gesinnung seiner Familienangehörigen fortwährend aus-
gesetzt ist. Er will diese nicht anerkennen, sie schon gar nicht für seine
eigene Person annehmen, und ist doch zu schwach, sich der Mutter gegenüber
durchzusetzen; er versucht es gar nicht, er spricht nicht einmal darüber, so daß
diese davon nichts weiß. Er entlädt aber seinen Groll mit in den Aggressionen.
Nach jedem dieser Ausbrüche bricht er zusammen und immer wieder unter-
ordnet er sich der mütterlichen Autorität. Nur in einem bleibt er fest: Hilfs-
arbeiter wird er nicht. Dieser Widerstand wird nicht nur aus seiner Einstellung
zur Mutter, sondern auch von einer anderen Quelle her gespeist. Er will, wie
er mir sagte, dem Mädchen, das er liebt, zeigen, daß aus ihm etwas wird, und
Hilfsarbeiter zu sein, das ist nichts. Solange er das nicht ist, wenn er auch
sonst nichts macht, kann er immer noch etwas werden.
Wir haben nun die Determinanten der Aggressionen dieses Jugendlichen,
soweit diese zur Einleitung von Erziehungsmaßnahmen erforderlich sind, auf-
8o
gefunden und damit auch die Ursachen der Verwahrlosung zum großen Teil
kennen gelernt. Wären wir psychoanalytisch schon geschulter, so hätten wir
da und dort viel tiefer eindringen können. Die Arbeitsscheu, von der uns auch
berichtet wird, ist eigentlich keine. Er befindet sich aus den gemachten
schlechten Erfahrungen und infolge der Gegeneinstellung zu Hause in einem
Zustande, der sich sofort wesentlich bessern wird, wenn er zur Mutter und zu
den Schwestern in ein anderes Verhältnis kommt und ihm bezüglich der Arbeit
ein ihm gangbarer Weg gezeigt wird.
Wenden wir uns nun den einzuleitenden erzieherischen Maßnahmen zu:
Vor allem erscheint es sehr wichtig und auch verhältnismäßig einfach, die
immer wieder mißlingenden Vateridentifizierungen überflüssig zu machen,
indem ich selbst für einige Zeit in dieser Familie die Vaterstelle übernehme.
Anerkennt sie der Junge, dann braucht er nicht mehr der Vater zu sein und
eine der Konfliktsursachen wird ausgeschaltet. In der Folge hat er dann durch
mich und über mich in ein richtiges Verhältnis zu seinen Familienangehörigen
zu kommen. Es ist aber noch etwas erreicht, wenn ich keine Fehler mache,
seine Schwestern nicht von vornherein in Oppositionsstellung zu mir bringe,
sondern das richtige Übertragungsverhältnis zu mir herstelle. Ihr Verhältnis
zum Bruder, das sich durch sein Verhalten schon in günstigem Sinne ver-
ändern muß, wird durch mein Dasein und das Wissen, daß ich jederzeit auf
der Bildfläche erscheine, wenn es erforderlich ist, aus der richtigen Vater-
autorität heraus, auch von ihrer Seite wesentlich gebessert werden. Und noch
eins: Die Mutter, die durch die vielen, ihr vom Jungen bereiteten Unannehm-
lichkeiten schon ganz die Orientierung verloren hat, nicht mehr weiß, was
für ihn und seine Zukunft das Beste ist, wird durch mich zur entsprechenden
Einstellung ihrem Sohne gegenüber gebracht werden können. Ich weiß, daß
ich damit nur ganz oberflächlich andeute und nur die äußere Situation skizziert
habe, die sich ergibt, wenn der Fürsorgeerzieher in solchen Fällen nicht als
der Erzieher im gewöhnlichen Sinne, sondern als Vater auftritt. Auf mehr
als diese Änderung des Familienbildes kommt es aber auch für den Anfang
nicht an. Es ist selbstverständlich, daß die einzelnen Familienmitglieder nicht
ahnten, was ich vor hatte. Ich sprach darüber natürlich nicht, sondern richtete
nur mein Verhalten darnach ein.
Schon die erste Unterredung gab die Möglichkeit, die Übertragungen in
diesem Sinne einzuleiten. Beim Jungen war sie sofort da, als er fühlte, mit
jemandem zu sprechen, der seinen ganzen Jammer verstand. Bei der Mutter
trug viel dazu bei, daß sie sich einmal gründlich aussprechen konnte, sich damit
wesentliche Erleichterung verschaffte und mit der Überzeugung weg ging,
jemanden gefunden zu haben, der helfen wolle und auch helfen könne. Sie
gab auch schon in der ersten Unterredung den Plan auf, daß der Junge Hilfs-
8i
arbeiter werden müsse, und erkannte, daß er nicht vom Hause zu entfernen
sei. Es liegt auch wirklich kein Grund dazu vor. Er wird das Tischlergewerbe
auslernen, weil es mir gelungen ist, die Hindernisse, die der Anrechnung des
einen Jahres Lehrzeit entgegenstanden, aus dem Wege zu räumen. Er ist seit
einem halben Jahre, vierzehn Tage, nachdem ich mit ihm das erstemal
zusammentraf, bei einem Tischlermeister untergebracht und wird in einem
weiteren halben Jahre freigesprochen werden, weil er sich tadellos hält. Von
Arbeitsscheu ist keine Spur zu sehen.
Der Konflikt: sozialistische Weltanschauung hier und streng katholische
Gesinnung dort, war schon nach der ersten Woche erledigt, als wir zu dritt,
er, die Mutter und ich, uns in einer offenen Aussprache einigten, daß ihm voll-
ständige Freiheit gewährt werde und er machen könne, was er wolle. Seit
dieser Zeit geht er nur mehr zu jenen Zusammenkünften, bei denen auch das
schon mehreremal erwähnte Mädchen anzutreffen ist.
Ich wäre nun verpflichtet, Ihnen zu sagen, welchen Plan ich mir für die
Behebung aller seiner Verwahrlosungsäußerungen zurecht gelegt habe. Ich
muß Ihnen aber gestehen, daß ich das nicht kann. Ich weiß nicht, ob das
überhaupt jemals möglich sein wird. Meine Erfahrungen sind dazu noch zu
gering. Ich stehe immer noch dort, wo ich seit Jahren stehe, sich ergebende
günstige Situationen auszunützen, und wo sich solche schaffen lassen, sie zu
schaffen, gefühlsmäßig und mit Überlegung, wie es sich jeweilig ergibt. Es ist
das freilich, über das Bewußtsein betrachtet, eine sehr unsichere Sache, aber
vielleicht — ich kann es Ihnen natürlich nicht sagen, ob es so ist — gibt
es solche Beziehungen zwischen dem Unbewußten des analysierten Erziehers
und dem Unbewußten seines Zöglings, daß dadurch ganz exaktes Arbeiten
ermöglicht wird.
Von dem eben besprochenen Fürsorgeerziehungsfall ist es noch ganz inter-
essant, mitzuteilen, daß der Junge im ersten Abschnitte der Behandlung sich
gründlich über die Schwestern „ausschimpfte", wenn wir allein beisammen
waren, und den ruhigen, überlegt handelnden großen Bruder spielte, der mir
verständnisvoll zunickte, ob ich nicht sehe, wie blöde die Mädchen sind, wenn
alle vereinigt waren. In der Familie kehrte schon nach einigen Wochen ziem-
liche Ruhe ein, und wie sich die einzelnen früher in ihrer Gereiztheit gegen-
seitig herunterbrachten, hoben sie sich nun gegenseitig durch das Ruhigerwerden
hinauf. Dabei nahm keines seinen eigenen Anteil daran wahr. Ich hatte keine
Ursache, sie darauf aufmerksam zu machen. Als ich in dieser Zeit die Mutter
fragte, wie es nun geht, sagte sie: „Viel, viel besser; er ist merklich ruhiger
und vernünftiger geworden." Der Junge, dem ich am selben Tage die Frage
vorlegte, warum es jetzt zu Hause besser gehe, meinte, weil die Poldi nicht
mehr so ekelhaft ist und die Mutter ganz auf meiner Seite steht. Die Mutter
6 Aidi hörn, Verwahrloste Jugend
hatte schon eine leise Ahnung von dem, was die Konflikte herbeiführte, und
das empfand der Junge, als die Mutter ganz auf seiner Seite stehend. Ich
habe 'Ihnen nun nicht mehr viel zu sagen. Ich traf mich mit dem Jungen
zwei- bis dreimal in der Woche, nicht sehr oft zu Hause. Die ersten vier
Monate kam es noch häufig zu Aggressionen, die aber nicht mehr die frühere
Höhe erreichten und allmählich abflauten; in den letzten zwei Monaten sind
sie vollständig ausgeblieben. Es gibt nicht mehr Differenzen, als sie eben sonst
auch in Familien vorkommen. Bei unseren Zusammenkünften waren seine Wut-
ausbrüche zu Hause unser vorwiegender Gesprächsstoff, so daß auch er einen
Großteil der Zusammenhänge erfassen konnte.
Ob mir noch Überraschungen bevorstehen und welche, und ob ich diesen
dann gewachsen sein werde, weiß ich nicht im vorhinein zu sagen.
Damit ist, was ich heute mitzuteilen beabsichtigte, abgeschlossen.
I
FÜNFTER VORTRAG
Ursadien der Verwahrlosung (Schluß)
Eine Ausheilung in der Übertragung
Meine Damen und Herren! Nicht immer bedarf es zur Aufdeckung von
Ursachen dissozialcr Äußerungen so weitgehender Schlußfolgerungen, wie bei
den im letzten Vortrage besprochenen Aggressionen des Jugendlichen. Es ist
auch zur Einleitung zweckmäßiger Erziehungsmaßnahmen nicht erforderlich,
bis auf die letzten Zusammenhänge zu kommen. Für das erste genügt es, die
Richtung, in der sie liegen, festzustellen; der Erziehungsverlauf führt dann
selbst in die notwendige Tiefe.
Ich werde Ihnen jetzt von einem Jugendlichen aus der Fürsorgcerziehungs-
anstalt berichten, bei dem es nur einer einzigen, allerdings aus psychoanalyti-
scher Einsicht kommenden Überlegung bedurfte, um dem Fürsorgeerzieher ein
genügend klares Bild zu geben. Wollen Sie aber beachten, daß ich bei dieser
Mitteilung nicht beabsichtige, Ihnen auch den Verwahrlosungsanlaß und die
Verwahrlosungsursachc streng auseinandergehalten zu geben. Das wäre m
diesem Falle für uns noch zu schwierig und ist aus dem Wenigen, das Sie
hören werden, auch gar nicht möglich. Sie sollen nur ersehen, aus welcher
Situation sich der Fürsorgeerzieher manchmal seine Überlegung holt.
Kommen wir nun ohne weitere einleitende Worte zur Sache! In der Für-
sorgeerziehungsanstalt langt noch vor dem Zögling dessen Erhcbungsbogen ein.
Ein siebzehnjähriger Tischlergchilfe wird demnächst überstellt werden. Was
der Erhebungsbogen ist, wissen Sie bereits. Aus diesem ist unter anderem zu
«3
entnehmen, daß der Jugendliche vor einigen Monaten in der Werkstätte des
Vaters das Tischlergewerbe ausgelernt hat und dort als Gehilfe weiter ver-
blieben ist. Als Einlieferungsgrund wird angegeben: Fortgesetzte Diebstähle
aus der Werkstätte und vom Holzlagerplatz des Vaters. Er hatte im Laufe
der Zeit nicht unbeträchtliche Mengen Spiritus, der stets in großen Quantitäten
zur Herstellung von Politur vorhanden war, und gehobelte sowie auch unge-
hobelte Bretter entwendet. Weder durch Ermahnungen, noch, als diese erfolg-
los blieben, durch ganz ungewöhnliche Strenge des sehr rechtlich denkenden
Vaters konnte er zur Einstellung der Diebstähle gebracht werden. Die be-
sorgten Eltern erhofften sich durch einen Aufenthalt bei uns eine Besserung
des Jungen.
Auf dem Erhebungsbogen fiel mir die Bemerkung auf, daß er, um die
Spiritusentnahme zu verdecken, in die Flasche urinierte. Man kann an dieser
Tatsache vorübergehen, sie als etwas Zufälliges auffassen, sich mit der Erklä-
rung zufrieden geben, daß ihm diese Art der Ersetzung bequem und ungefähr-
lich erschien, daß er im Urin ein Mittel hatte, nicht nur die entnommene
Menge, sondern auch die Farbe des denaturierten Spiritus wieder zu be-
kommen, man kann bei einigem Nachdenken gewiß noch einige andere Mög-
lichkeiten finden, warum er es gerade so und nicht anders machte, und wird
doch nicht auf den Sinn dieses Tuns kommen, wenn Erkenntnisse unberück-
sichtigt bleiben, welche die Psychoanalyse erschlossen hat.
Ich erinnerte während des Lesens, welche Deutung ähnliche Handlungen
während einer Psychoanalyse erfahren, und kam auf den Gedanken, daß das
dissoziale Tun des Jungen vielleicht auch nichts anderes sei, als ein uns beim
Neurotiker verständliches Handeln, deutete also das In-die-Flasche-Urinieren
als einen Racheakt an dem Vater, ausgeführt mit demselben Organ, durch das
er sich von diesem beeinträchtigt fühlte. Möglicherweise errege ich damit Ihren
Widerspruch und Sic verwerfen diese Annahme ohne weiter nachzudenken
als zu absurd oder ganz unannehmbar. Sie sollen sich nicht von vornherein
auf einen ablehnenden Standpunkt stellen. Wenn Sie später einmal gelernt
haben werden, Dinge auch anders zu sehen als bisher, werden Sie weniger
abwehren und sich sagen, daß es so sein könnte. Ob wirklich, wissen wir noch
nicht, dazu müssen wir erst den Jungen selbst in der Anstalt haben.
Mir erscheint ein anderes, grundsätzliches Bedenken gegen die Deutung viel
wichtiger, nicht gerade gegen diese, sondern gegen die Deutung von Einzel-
zü^en und daraus gezogenen Schlußfolgerungen überhaupt. Wenn wir uns eine
eingehendere Ausforschung des Zöglings ersparen wollen, werden wir verleitet,
Tatsächliches zu übersehen, kommen dadurch zu leicht in eine falsche Richtung
und handeln der wichtigen Regel entgegen, daß wir dem Verwahrlosten vor-
urteilsfrei, ohne Voreingenommenheit, ohne bestimmte Erwartung entgegen-
6*
8 4
zutreten haben und lediglich darauf vorbereitet sein müssen, ihn mit allen
seinen Äußerungen auf uns wirken zu lassen. Daß ich bei dieser dissozialen
Äußerung wirklich auf einen Zusammenhang, wie er in der Analyse von Neu-
rotikern oft zu finden ist, traf, war wahrlich nicht mein Verdienst.
Als der Minderjährige, ein kräftiger, weit über sein Alter hinaus entwickelter
junger Mann, kam, übernahm ich ihn so wie jeden neu eintretenden Zögling
selbst, um ihn dann durch einige Zeit nicht besonders zu beachten. Warum ich
das so machte, werden wir hören, bis wir von der Herstellung der Gefühls-
beziehungen zwischen Fürsorgeerzieher und Fürsorgeerziehungszögling sprechen
werden. Nach ungefähr vierzehn Tagen, zu einer Zeit, während der ich mich
noch nicht besonders viel mit ihm abgegeben hatte und es zu einer eingehen-
den Aussprache mit ihm noch nicht gekommen war, ich aber durch den Er-
zieher genau von seinem Tun und Lassen wußte, erschien eine etwa vierund-
zwanzig- bis fünfundzwanzigjährige hübsche Frau und erkundigte sich nach
ihm. Ich vermutete in ihr seine Schwester. Es stellte sich aber sofort heraus,
daß ich es mit seiner Stiefmutter zu tun hatte. Vom Erzieher seiner Gruppe
wußte ich auch, daß er seinen Mitzöglingen sehr viel von der Stiefmutter er-
zählte und ihr auch bereits zwei Briefe geschrieben hatte. Deren Inhalt war
mir unbekannt, weil es bei uns keine Briefzensur gab und die Zöglinge schreiben
durften, wann und was sie wollten. Die Frau machte eingehende Mitteilungen
über ihren Stiefsohn und sprach trotz der vielen durch ihn verursachten Unan-
nehmlichkeiten recht einsichtsvoll von ihm. Als sie auf die Nachbarinnen zu
sprechen kam, die sie für die Verwahrlosung des Jungen verantwortlich
machten, — weil das ja bei Stiefmüttern immer so sei, — wurde sie sehr er-
regt, weinte und wehrte affektiv ab, daß ihr die Schuld gegeben werden könne.
Sie sei keine böse Stiefmutter, behandle den Jungen gut, er werde das selbst an-
geben; denn er habe sie sehr gerne. Ich fragte sie, woher sie wisse, daß ihr
Stiefsohn sie gerne habe. Daraufhin wurde sie etwas verlegen und zögerte mit
der Antwort. Auf mein Drängen, doch zu sprechen, meinte sie, man werde so
leicht mißverstanden, ich könnte mir etwas denken, wozu kein Grund vorhan-
den sei. Ich versicherte sie, daß ich mir nichts denken, sondern nur zuhören
werde, daß ihre Mitteilungen mir aber möglicherweise zur richtigen Erfassung
ihres Jungen sehr wichtig sein können. Daraufhin gab sie den Widerstand auf:
„Wenn wir zusammen auf der Gasse gingen, wendete er sich oft mit der
Äußerung zu mir: .Schau Mutter, wie uns die Leute nachschauen.' Dabei hatte
ich immer das Empfinden, daß er sich ganz als Mann fühlte. Er hat mir auch
zwei Briefe geschrieben, ihn hier zu besuchen, und in beiden verlangt er, daß
ich mein braunes Kleid anziehe, damit die Buben schauen." Ich wollte wissen,
ob sie das gewünschte Kleid anhabe. „Ja, ich muß ihm doch eine Freude
machen." Wir sprachen dann von anderem, auch von ihren eigenen Be-
Ziehungen zum Jungen und dessen Vater, ihrem Manne; diese sind durchaus
normal gute. Sie kam aber wieder auf die Beziehungen des Jungen zu ihr zu
sprechen. Es fiel ihr ein, daß sie der Junge wiederholt aufforderte, ihm zu
sagen, wenn sie Geld brauche; er werde dem Vater Bretter nehmen und ihr
das dafür erlöste Geld bringen. Sie hatte nie etwas von ihm genommen, lange
Zeit von den Diebstählen nichts gewußt, sondern war der Meinung gewesen,
daß er die Aufforderung, ihm zu sagen, wann sie Geld brauche, spaßhaft ge-
macht habe. Sie war aber doch die erste, die von seinen Unredlichkeiten erfuhr.
Alle ihre Einwirkungen, ihn zu bessern, waren erfolglos geblieben, so daß sie
sich endlich entschloß, dem Vater Mitteilung zu machen. Dieser vermochte
nichts auszurichten, weder im Guten noch mit Strenge. Der Junge trieb es
immer ärger, wurde auch gegen den Vater so brutal, daß er in die Anstalt ge-
geben werden mußte, weil bei einem anderen Meister zu befürchten gewesen
wäre, daß er auch diesen bestehlen werde. Die Frau gewann im Verlaufe der
Unterredung so viel Zutrauen, daß sie ganz spontan mitteilte, sie hätte immer
gefühlt, daß der Junge mehr für sie übrig habe, als Kinder sonst für die Stief-
mutter aufbringen; es sei ihr aber gerade deswegen unerklärlich, daß er ihren
Ermahnungen sein Benehmen zu ändern, nicht Folge leistete. Sie wurde dann
später irre, ob er sie wirklich lieb habe. Zu intimeren Beziehungen zwischen
beiden war es nie gekommen, das ging aus dem ganzen Eindruck, den die
Frau machte und auch aus der Art ihrer Mitteilungen deutlich hervor.
Mit dem Vater unseres Zöglings ist sie seit drei Jahren verheiratet. Sie war
eine Freundin der verstorbenen Mutter und kam schon lange vor ihrer Ver-
ehelichung sehr häufig zur Freundin ins Haus. Der Junge war zwölf Jahre alt,
als sie sich mit der Mutter anfreundete. Schon damals trat er ihr als der auf-
merksame, gefällige Junge gegenüber, der auch manche kindliche Zärtlichkeit
aufbrachte.
Wir können uns leicht den Konflikt vorstellen, in dem er sich befindet. In
der Pubertätszeit taucht im Hause ein Mädchen auf, das nicht so viel älter ist,
um als Liebesobjekt ausgeschaltet zu bleiben. Er wendet ihr tatsächlich seine
libidinösen Strebungen zu. Zwei Jahre dauern die Beziehungen ungestört an, sie
enthalten nichts Unerlaubtes, sind die ganz normalen Schwärmereien des wer-
denden Mannes. Wäre die Mutter am Leben geblieben, so ist anzunehmen, daß
die nachmalige Stiefmutter für ihn nur eine Entwicklungsphase bedeutet hätte.
So nimmt sie der Vater zur Frau, als sie noch im Mittelpunkte der jugendlichen
Liebesregungen steht, von denen wir wissen, daß die unbewußte erotische Be-
tonung sehr nahe am Durchbruch ins Bewußtsein steht. Diese wird nun uner-
laubt und daher verdrängt gehalten und der Junge kommt in eine ganz un-
mögliche Stellung zum Vater. Dieser hat ihm die Geliebte nicht nur weg-
dern zwingt sie ih
genommen, sondern zwingt sie ihm
auch noch als Mutter auf. Gegen ihn
. —
86
richtet sich daher der ganze Haß und das Tun des Jungen wird uns verständ-
lich, auch in der Art der Durchführung 1 .
Die Nachbarinnen der Frau haben recht, die „Stiefmutter" ist wirklich mit
die Ursache der Verwahrlosung des Jugendlichen; aber natürlich in einem ganz
anderen Sinne, als diese es vermeinen, in einem Sinne, den weder sie noch die
Beteiligten ahnen.
Ich schließe damit die Besprechung über Verwahrlosungsursachen ab, da
wir diesen nicht zu viel Zeit zuwenden dürfen, wenn wir auch noch andere
Fragen der Fürsorgeerziehung erörtern wollen.
Ich werde Ihnen nun aber, abweichend von der bisherigen Gepflogenheit,
immer gleich theoretische Einschaltungen zu machen, über einen Jugendlichen
vom Zeitpunkte, in dem er zu mir gebracht wurde, bis zu seinem Wieder-
sozial-Werden berichten, und was an theoretischen Überlegungen notwendig ist,
am Schlüsse anführen. Den Verwahrlosungsursachen werden wir nicht sehr
weit nachgehen, sondern uns mehr den Ausheilungsvorgang ansehen.
In der Erziehungsberatung erscheint der leitende Beamte eines Fabriks-
betriebes mit seinem siebzehnjährigen Sohne, einem Schuhmachergehilfen, und
ersucht, diesen in einer Anstalt unterzubringen, weil er ihn infolge seiner Auf-
führung nicht mehr in Freiheit belassen könne. Aus dem Gespräche mit dem
Vater ergeben sich folgende wesentliche Einzelheiten. Sein Sohn Hans war bis
zum Sommer des Vorjahres ein sehr braver Junge gewesen, der weder zu
Hause noch auf dem Arbeitsplatze Anlaß zu Klagen gegeben hatte. Eines
Tages bat er den Vater um 70.000 Kronen, da er bei seinem Meister ein Stück
Leder auf Schuhe und das nötige Zubehör billiger bekommen könne, um davon
in der Werkstätte für sich ein paar Schuhe anzufertigen. (Der Junge war um
diese Zeit noch Lehrling.) Er erhielt den Betrag, kam abends nicht nach Hause
und eine Anfrage am nächsten Tage beim Meister ergab, daß er der Arbeits-
stätte ferne geblieben war. Da er sich noch nie so aufgeführt hatte, wurde die
Familie außerordentlich besorgt, befürchtete einen Unfall und hielt auch ein
Verbrechen an ihm nicht für ausgeschlossen. Die Abgängigkeitsanzeige wurde
erstattet und täglich bei der Polizei Erkundigung eingezogen. Am sechsten Tage
erhielt die Mutter die Auskunft, daß er mittellos in Graz aufgegriffen worden
und schon auf dem Wege nach Wien sei. Die Wiedersehensfreude war groß,
aber infolge seines sehr geänderten Benehmens rasch vorüber. Der Junge blieb
wortkarg und als der Vater wissen wollte, warum er nicht in der Arbeit ge-
wesen war, und wo er die Woche über sich aufgehalten habe, nahmen Ver-
stocktheit und Trotz zu, mehr als daß er in Graz gewesen sei, war aus ihm
1) Die dissoziale Handlung dieses Jungen läßt sich also ähnlich werten, wie ein
von unbewußten sexuellen Wünschen verursachtes neurotisches Symptom.
überhaupt nicht herauszubekommen. Der Vater wurde darob so erregt, daß es
zu einer heftigen Szene kam, an deren Ende Hans körperlich schwer gezüchtigt
wurde. Von diesem Tage an ging es mit ihm rasch weiter abwärts. Er war
schwieriger zur Arbeit zu bringen, blieb zunehmend weniger zu Hause, trieb
sich tagelang auf der Gasse herum oder saß in Kaffeehäusern, bis man schließ-
lich halbe Nächte lang auf ihn warten mußte. Nicht genug daran; er lockte
auch noch dem Vater und dem Meister Geld heraus. Der Vater versuchte
zuerst mit stetig steigender Strenge den Jungen wieder auf den rechten Weg
zu bringen. Da er es daraufhin weit ärger trieb und die Familie noch mehr
ablehnte, nahm sich die Mutter seiner an und brachte auch den Vater dazu,
recht gütig mit ihm zu sein. Die milde Behandlung bewirkte eine Besserung
nur auf einige Tage, dann war wieder nichts mehr mit ihm anzufangen. Er
wollte nicht anständig werden, so daß die Mutter die Vergeblichkeit ihres Be-
mühens einsah und der Vater mit erhöhter Strenge vorging. Die Anwendung
von äußerster Strenge und Nachgeben wechselte einigemal und dabei sank
Hans immer tiefer. Der Vater schloß seinen Bericht mit den Worten: „Sie
können sich keine Vorstellung machen, wie arg es ist, und was wir alles ver-
sucht haben, mit guten Worten und mit Nachgeben, mit Strenge und aus-
giebigen Schlägen, aber alles ganz ohne Erfolg. Wir wissen uns nun nicht mehr
anders zu helfen, als ihn in eine Anstalt zu geben. Vielleicht wird dort noch
etwas aus ihm."
Bis hieher hatte sich der Vater auf die Anführung der Verwahrlosungs-
äußerungen und die Versuche, diese zu beheben, beschränkt, aber keinerlei
nähere Angaben über sich selbst, die Familienangehörigen und sonstigen Ver-
hältnisse gemacht. Darüber orientiert zu sein, gehört aber zu den unerläßlichen
Voraussetzungen erzieherischen Eingreifens und ich bringe deswegen das Ge-
spräch darauf.
Im Haushalte leben Hans, der Vater, die Stiefmutter, ein um zwei Jahre
älterer Bruder, der in der nächsten Zeit maturieren wird, und eine fünfjährige
Schwester. Der Vater ist seit zwölf Jahren zum zweitenmal verehelicht, das
Mädchen Kind aus zweiter Ehe. Die Beziehungen der Gatten zueinander sind
ungetrübt, die wirtschaftliche Situation ist gut. Daß ein Gefühl der Zurück-
setzung des jüngeren dem älteren Bruder gegenüber vorhanden sein könne, hält
der Vater für ausgeschlossen, weil beide ganz gleich gehalten worden waren
und sich deswegen auch seit jeher sehr gut vertrugen. Zu Mißhelligkeiten und
Zwiespalt kam es, als Hans auf die schiefe Bahn geriet, und erst in der letzten
Zeit vertieft -«ich die Kluft zwischen beiden merklich. Auch Eifersucht wegen
Bevorzugung der Stiefschwester kann nicht in Frage kommen. Das Kind ist um
so viele Jahre jünger. Hans kümmert sich nicht sehr viel um sie, ist weder
besonders liebevoll mit ihr noch ablehnend gegen sie. Der Vater ist sehr ver-
88
bittcrt und beklagte sich auch, daß die Veränderung des Jungen ihr schönes,
einträchtiges Familienleben vollständig zerstört habe. Während früher die
Familienmitglieder Abend für Abend beisammen saßen, aus verschiedenen
Schriftstellern vorgelesen oder musiziert worden war, sei er jetzt verärgert,
wenn er beim Nachhausekommen hört, was Hans wieder angestellt hat, oder
bis spät nachts unterwegs, um den Jungen zu suchen.
Der Schuhmacherei hatte sich Hans gegen den väterlichen Willen zugewendet.
Er war in der dritten Realschulklasse durchgefallen und wollte nicht weiter
in die Schule gehen, war nicht zu einer Wiederholung der Klasse zu bewegen.
Alles Zureden und Drängen blieb vergeblich; er setzte es durch, Schuhmacher
zu werden, wie der Vater der Stiefmutter. Ich wollte nun auch wissen, ob
vielleicht Beziehungen des doch schon erwachsenen Jungen zu Mädchen die
Ursache seines ersten Davonlaufens sein könnten. Der Vater hält dies bei der
ihm genau bekannten Einstellung seines Sohnes zum weiblichen Geschlecht für
unmöglich. Als ich dann fragte, ob er sich schon eine Erklärung für das so
plötzlich veränderte Verhalten seines Jungen zurecht gelegt habe, sagte er mir
wörtlich: „Entweder ist der böse Geist in ihn hineingefahren oder er ist ver-
rückt geworden." „Dann gehört er doch nicht in die Besserungsanstalt," meinte
ich darauf. „Sie dürfen das nicht so wörtlich nehmen, aber alles ist so plötz-
lich gekommen."
Ich sprach dann in Abwesenheit des Vaters auch mit Hans. Er ist ein
hagerer, gut gekleideter junger Mann, der etwas älter als siebzehn Jahre aus-
sieht. Ich werde Ihnen nun einen Teil unseres Gespräches dem Wortlaute nach
wiedergeben.
„Wissen Sie, wo Sie jetzt sind?" — „Nein!"
„Im Jugendamte." — „So? Ja, mein Vater will mich in eine Besserungsanstalt
geben."
„Ihr Vater hat mir erzählt, was alles vorgefallen ist, und ich will Ihnen helfen."
— „Das geht nicht." (Dazu ein Zucken mit den Schultern und eine vollständig
ablehnende Miene.)
„Wenn Sie nicht wollen, dann sicherlich nicht!" — „Sie können mir nicht helfen."
„Ich begreife, daß Ihnen das Vertrauen fehlt; wir sind uns noch zu fremd." —
„Das nicht, aber es geht doch nicht!" (Wieder die sehr ablehnende Miene.)
„Wollen Sie mit mir reden?" — „Warum nicht?"
„Ich muß Sie um Verschiedenes fragen und mache Ihnen dazu einen Vorschlag!" —
„Welchen?" (Der Tonfall zeigt sehr zuwartende Haltung.)
„Mir auf jede Frage, die Ihnen unangenehm ist, die Antwort zu verweigern." —
„Wie meinen Sie das?" (Das wird erstaunt und ungläubig gefragt.)
„Auf die Fragen, die Sie nicht beantworten wollen, dürfen Sie schweigen, wenn
Sie wollen, mir darauf auch sagen, daß mich das nichts angeht." — „Warum erlauben
Sie mir das?"
„Weil ich weder Untersuchungsrichter noch Polizeiagent bin, daher nicht alles
8 9
wissen muß, und weil Sie mir auf unangenehme Fragen ohnehin nicht die Wahrheit
sagen würden." — „Woher wissen Sie das?"
„Weil das alle Leute so machen, und Sie auch keine Ausnahme sind. Ich selbst
würde einem Menschen, dem ich zum erstenmal gegenüber sitze, auch nicht alles
sagen." — „Wenn ich aber doch rede und Sie anlüge, kennen Sie das?"
„Nein! Es wäre aber schade. Und Sie haben es nicht notwendig, weil ich Sie
nicht zwingen werde, mir zu antworten." — „Zu Hause haben sie mir auch immer
gesagt, es geschieht mir nichts, und wenn ich dann geredet habe, war es noch ärger.
Ich habe mir das Reden abgewöhnt."
„Hier ist's doch bißl anders. Mir genügt, was Sie wirklich sagen wollen. Allerdings
muß ich sicher sein, daß ich nichts Unwahres zu hören bekomme." — „Nun gut."
„Sie sind also einverstanden?" (Ich halte ihm die Hand hin, in die er kräftig
einschlägt.) — „Einverstanden!"
Warum ich diese Einleitung gerade so machte, und was ich damit bezweckte,
werden wir erörtern, wenn ich auf die Herstellung der Gefühlsbeziehung
zwischen Zögling und Fürsorgeerzieher zu sprechen komme. Wie gut der
Gefühlskontakt hergestellt war, werden Sie bald bemerken. Jetzt erst beginnt
eigentlich unser Gespräch, das ich nun mit „Du" einleite, wie immer, sobald
die Gefühlsbeziehung hergestellt ist.
„Aus welcher Schulklasse bist du ausgetreten?" — „Aus der dritten Klasse der
Realschule."
„Warum bist du nicht weiter in die Schule gegangen?" — „Ich bin in drei Gegen-
ständen durchgefallen und da wollte ich nicht mehr weiter lernen."
„War denn der Vater so ohne weiteres damit einverstanden?" — „Ihm wäre es
lieber gewesen, wenn ich die Klasse repetiert hätte."
„Wieso bist du gerade auf die Schuhmacherei gekommen?" — „Mein Großvater
ist Schuhmachcrmcister und ich wollte auch einer werden."
„Da du Realschüler gewesen bist, kennst du die Geschichte von der schiefen Ebene;
wenn man auf der sitzt, rutscht man herunter. Mich interessiert daher gar nicht,
was alles war, sondern nur der Anfang. Warum bist du nach Graz gefahren?" —
„Das weiß ich nicht!"
„Es muß doch einen Grund gehabt haben, warum du gerade nach Graz gefahren
bist. Du hättest ja geradeso gut nach Linz oder Salzburg fahren können, warum also
nach Graz?" — „Ich weiß es wirklich nicht!"
„Es ist doch noch nicht gar so lange her, nicht einmal ein Jahr. Denke einmal
nach, vielleicht fällt es dir doch ein?" — „Vielleicht, weil mein Bruder im Vorjahr
mit einer Ferienkolonie in Graz gewesen ist . . ." (Hier zögert er merklich, bleibt aber
schweigsam.)
Willst du mir nicht noch etwas sagen?" (Diese Frage stelle ich erst nach einigem
Zuwarten als ich merke, daß ein innerer Kampf nicht zum Abschluß kommen will.)
„Wenn Sie mir versprechen, daß Sie das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, nicht
dem Vater sagen, dann sage ich Ihnen etwas!" (Das spricht er, unterbrochen von
heftigem Schluchzen, nachdem er mir auf die vorhergehende Frage einen Augenblick
voll ins Gesicht gesehen hat, mit zur Erde geneigtem Kopf.)
„Da hast du meine Hand darauf, daß darüber nicht gesprochen wird." (Er nimmt
sie und drückt sie heftig.) — „Ich habe mich umbringen wollen."
fr
qo
„Wann?" — „Voriges Jahr im Sommer."
„Bevor du dem Vater die 70.000 Kronen herausgelockt hast oder nachher?" —
„Vorher."
„Warum?" — „Mein Bruder ist mit der Mutter zu einer Tante in die Tschecho-
slowakei gefahren und ich bin doch nur der Schuhmachcrlchrling und habe dableiben
müssen. Ich bin noch acht Tage in die Arbeit gegangen, dann drei Tage nicht mehr
und habe Angst bekommen, daß es mein Vater erfahren wird. Da habe ich mich
umbringen wollen."
„Hast du einen Selbstmordversuch gemacht?" — „Nein! Ich habe mir gedacht,
ich fahre fort und komme nicht mehr zurück, habe mir vom Vater das Geld geholt
und bin nach Graz gefahren. Wie das Geld weg war, habe ich nicht gewußt, was
ich machen soll und bin wieder nach Hause gefahren. Zu Hause hat es dann einen
fürchterlichen Krach gegeben und seit dieser Zeit freut mich nichts mehr."
„Wie verträgst du dich mit deinem Bruder?" — „Ganz gut; jetzt die letzte Zeit
weniger, weil er immer zum Vater hält."
„Bist du zu Hause zurückgesetzt worden?" — „Nein!"
„Macht dir das nichts, daß dein Bruder studiert und du der Schuhmacher bist?" —
Aus seinen sonstigen Mitteilungen erwähne ich noch Folgendes: Der Junge
war vier Jahre alt, als die Mutter starb. Der Vater blieb nur ein Jahr ver-
witwet. Der Großvater, Schuhmachermeistcr, ist der Vater der Stiefmutter.
Zwischen diesen beiden besteht ein sehr schönes Verhältnis; sie hängt mit kind-
licher Zärtlichkeit an ihm und er muß nach den Schilderungen des Jungen ein
außerordentlich verständiger Mann sein. Die zärtliche Zuneigung zur leiblichen
Mutter hatte Hans sehr bald auf die Stiefmutter übertragen, so daß nicht das
gewöhnliche Stiefmutterverhältnis besteht. Auch die Beziehungen zum Vater
waren bis zum Vorjahre recht gute. Trotz seiner jetzigen Gegencinstcllung
schildert er ihn als guten Familienvater, der sich um alles sorgt, viel zu Hause
ist, weder Gast- noch Kaffeehäuser besucht und sich viel um seine Kinder küm-
mert. Die materielle Situation ist eine vollständig geordnete. Nicht uninteressant
ist, wie Hans sich die Berechtigung zur Herauslockung der 70.000 Kronen
motiviert. Der Vater hat dem Bruder Geld zur Reise mit der Mutter gegeben,
und folglich ist auch er berechtigt, solches zu verlangen. Hätte er dem Vater
den wahren Zweck angegeben, so wäre es ihm verweigert worden. Deswegen
mußte er ihn belügen. Augenblicklich bleibt uns wohl unverständlich, daß er
nun den Vater verantwortlich macht, Schuhmacher geworden zu sein. Er sagt:
„Der Vater hätte gescheiter sein müssen als ich. Ich war ein dummer Bub. Als
Vierzehnjähriger weiß man noch nicht, was man werden will. Der Vater hätte
darauf bestehen müssen, mich zwingen sollen; dann hätte ich schon die dritte
Realschulklasse wiederholt. Wäre er nur energisch darauf bestanden, dann hätte
ich ihm schon gefolgt und wäre heute auch der Student."
Nach seinen Mitteilurgcn frage ich ihn, ob er es für möglich halte, daß es
zwischen ihm und dem Vater zu einer Verständigung kommen könnte. Ich
MC
9i
erkläre mich auch bereit, dabei mitzuwirken. Er wehrt nicht mehr ab, wie am
Anfange unseres Zusammenseins, ist aber sehr skeptisch. Er meint: „Ich habe
wiederholt mit dem Vater gesprochen und es war ganz zwecklos." Ich setze
ihm nun auseinander, daß ihn der Vater solange nicht verstehen könne, als er
nicht wisse, was in ihm vorgeht. Er müsse mir daher erlauben, diesem von dem
mir Gesagten Mitteilung zu machen. Er entbindet mich ohneweiters meiner
Schweigepflicht.
Der Junge geht in den Nebenraum und schickt mir nochmals den Vater,
mit dem ich sehr lange beisammensitze, bis ich ihm begreiflich machen konnte,
daß er, ohne es zu wissen und zu wollen, bisher neben und nicht mit seinem
Sohne gelebt, und was der arme Junge gelitten hat. Er hört zuerst erstaunt zu,
schüttelt dann ungläubig den Kopf, wird entrüstet, kommt sehr langsam zum
Verstehen und schließlich in solche Rührung, daß er die Tränen nicht mehr
zurückhalten kann. Darob entschuldigt er sich verschämt, daß er, der seit seiner
Kindheit nicht mehr geweint hat, sich nun nicht beherrschen kann. Ich erkläre
ihm seine Erregung als eine ganz natürliche Reaktion auf meine Mitteilungen
und für mich als Beweis, daß er seinen Jungen wirklich liebe. Er beruhigt sich
nun etwas und bleibt in sehr versöhnlicher Stimmung, so daß mir der Zeitpunkt
geeignet erscheint, zwischen Vater und Sohn eine erste Verständigung anzu-
bahnen.
Es bedarf hier einer kleinen Einschaltung, um ein immerhin mögliches Miß-
verständnis nicht aufkommen zu lassen. Ich habe Ihnen letzthin gesagt, es wäre
falsch, in Konfliktssituationen ein Kompromiß herzustellen, dem einen und dem
anderen zuzureden, daß er ein wenig nachgebe. Was ich hier mit Vater und
Sohn versuche, widerspricht dem nicht. Die gegenseitige Aussprache verfolgt
den Zweck, dem Vater die Motive des Handelns seines Sohnes von diesem selbst
sagen zu lassen, dem Sohne dadurch die verlorenen Beziehungen zum Vater
wieder zu verschaffen und so das früher zwischen beiden bestandene gute Ver-
hältnis nun auf einer sicheren Basis aufzubauen.
Also, Hans wird gerufen! Ich vermittle den Beginn einer Aussprache und
entferne mich aus dem Gefühl heraus, daß die beiden jetzt allein sein müssen
und ein Dritter nur stören würde. Nach ungefähr zwanzig Minuten komme
ich zurück, finde Vater und Sohn verweint und stumm nebeneinandersitzen.
Der Vater beantwortet meinen erstaunt fragenden Blick: „Es nützt nichts, er
redet nicht." — Ich weiß, daß der Erzieher sich nicht ärgern darf und daß
ich auch die Affektsituation des Vaters hätte begreifen müssen, aber was läßt
sich machen, mich packte Wut gegen den Vater; nahezu zwei Stunden hatte
ich mich mit ihm abgeplagt, ihm eingehendst auseinandergesetzt, worauf es an-
komme, ihm gezeigt, wie er es machen müsse, damit der arme Bursche wieder
ins Gleichgewicht kommen könne, und nun dieses ungeschickte Verhalten. —
9*
Ohne den Vater zu beachten, gehe ich auf den Jungen zu, streiche ihm mit der
Hand über den Kopf und sage zu ihm: „Gelt, Hans, es muß doch nicht immer
gesprochen werden; zwei Menschen können einander auch verstehen, ohne ein
einziges Wort miteinander zu reden." Daraufhin bricht Hans in erschütterndes
Weinen aus. Ich weiß nun nicht, hat das den Vater so ergriffen oder ist der
Junge als erster aufgesprungen, aber im nächsten Augenblicke lagen die beiden
einander in den Armen und küßten sich gegenseitig ab. (Ich gestehe Ihnen ganz
offen, daß ich selbst von dieser Szene nicht unberührt blieb.) Als sie sich ein
wenig beruhigt hatten, wollte ich den Jungen auf kurze Zeit entfernen, weil
ich den Vater noch auf Wichtiges aufmerksam machen mußte. Mir erschien
es am unauffälligsten, Hans um Zigaretten für mich wegzuschicken. Dem
Vater setzte ich nun rasch auseinander, — der Junge war ja in der kürzesten
Zeit zurückzuerwarten, — daß solche erste Versöhnungen noch lange nicht das
Ende des Konfliktes bedeuten. Er müsse sich gefaßt machen, daß es Hans in
der nächsten Zeit noch weit ärger treiben werde. Da ich mich auf eine lange
Besprechung nicht einlassen konnte, forderte ich ihn nur noch auf, sofort zu
mir zu kommen, wenn Hans etwas anstelle, um sich mit mir zu beraten, was
zu unternehmen sei. Wir einigten uns noch auf Anregung des Jungen, daß der
Vater gleich von mir weg mit ihm zum Meister gehen werde, damit er schon
am Nachmittag wieder die Arbeit aufnehmen könne. Hans war sehr erleichtert
und schien froh zu sein, sofort wieder in die Werkstätte zu kommen. Vater und
Sohn schieden von mir Arm in Arm, gingen so von mir weg, als ob dauernde
Eintracht hergestellt wäre.
Schon am nächsten Morgen erwartete mich der Vater beim Haustor des
Amtsgebäudes. Er war trostlos, niedergeschlagen, ganz verzweifelt. Ich mußte
einen Wortschwall über mich ergehen lassen: „Alles ist vergebens. Mit dem
Jungen ist nichts zu machen. Er muß in die Anstalt. Sie haben gesehen, wie
zerknirscht er gestern gewesen war, und nun wieder die alte Geschichte. In
Güte geht es schon gar nicht mit ihm." „Was ist denn los?" frage ich ganz
ruhig den Vater. Sie werden verstehen, daß ich mich nicht besonders erregte;
hatte ich ihm doch am Tage vorher gesagt, daß wieder etwas kommen wird.
Nicht ganz verständlich war mir nur die Raschheit, mit der das erwartete Er-
eignis eintrat. Der Vater fährt fort: „Wir sind ganz versöhnt miteinander fort-
gegangen. Am Wege habe ich ihm dann noch recht gut zugeredet, er soll von
jetzt an anständig bleiben, da ich ihm doch alles verziehen habe. Er hat mich
angehört und nichts gesprochen, so daß ich Mühe hatte, mich nicht gleich
wieder zu ärgern. Beim Meister war nichts Besonderes, ich gab ihm auch
keinerlei Aufklärungen, weil er der Meinung ist, Hans sei krankheitshalber der
Arbeit ferngeblieben. Statt nun, wie vereinbart, nachmittags zu beginnen, trieb
sich der Junge wieder bis spät nachts im Kaffeehaus herum."
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Ich möchte hier ganz kurz bemerken: Sie erinnern, daß ich den Jungen um
Zigaretten weggeschickt hatte, damit ich den Vater auf einen zu erwartenden
Rückfall aufmerksam machen könne. Der war nun tatsächlich da. Obwohl der
Vater nach dem ihm Gesagten darauf hätte vorbereitet sein müssen, war er
doch fassungslos, hatte dem Sohne heftigste Vorwürfe gemacht und damit alles
am Vortage Erreichte wieder sehr in Frage gestellt. Es ist begreiflich, daß ihm
infolge der eigenen starken Affektbeteiligung die Deutung „vom undankbaren
Sohne" näher liegt als die richtige, die wir gleich hören werden. Solche
kritische Situationen werden von den Eltern regelmäßig, von Erziehungs-
personen manchmal, falsch aufgefaßt und weil der wirkliche Vorgang selten
richtig erkannt wird, kommt es zu Entgleisungen, die erzieherisch die größte
Gefahr bedeuten.
Was da im Verwahrlosten vorgeht, hat sehr viel mit unbewußtem Schuld-
gefühl zu tun, über das wir aber jetzt noch nicht sprechen können. Wir ver-
mögen uns trotzdem einen Teil der Determinierung durch ganz einfache Über-
legungen klar zu machen. Leicht begreiflich ist, daß ein Junge, der als Folge
seiner Verwahrlosungsäußerungen immer strenge Behandlung von seiner Um-
gebung erfuhr, mißtrauisch werden muß, wenn dieselben Personen — in unserem
Falle der Vater — plötzlich ein vollständig geändertes Verhalten zeigen. Die
Gesinnungsänderung wird nicht geglaubt und daher durch neue Streiche er-
probt. Erst wenn die Strafe dauernd ausbleibt, ist sie wirklich eingetreten. Der
Dissoziale gibt sich daher nicht zufrieden, wenn die in Frage Kommenden an-
fänglich milde und verzeihend sind, er reizt sie durch ärgere Verwahrlosungs-
äußerungen. Statt das zu verstehen, nehmen es die Eltern als Beweis, daß durch
Güte nichts zu erreichen ist. Mit der nun wieder einsetzenden strengen Behand-
lung ist der alte Zustand hergestellt und niemals Besserung zu erwarten. Ist
aber beispielsweise der Vater verständig, läßt er sich nicht irre machen und
nicht in die alte Einstellung zurückzwingen, so ergibt sich für den Verwahr-
losten eine kritische Situation. Die dissozialen Äußerungen haben dann — wenn
sie sich aus einer Gegeneinstellung zum Vater determinieren — keinen Sinn
mehr. Das darf aber nicht sein, weil sonst der Dissozialität die Grundlage
fehlte. Und wenn anfänglich das Anschwellen der Verwahrlosungsäußerungen
der Ausdruck des Mißtrauens ist, wird es später zur Aufforderung: „Sei so zu
mir, wie du früher warst!" Dies wird Ihnen viel deutlicher werden, wenn
wir im achten Vortrage von den „Aggressiven" sprechen. Erst wenn alle Pro-
vokation vergeblich bleibt, bricht der Aufbau, der die Verwahrlosung hält, zu-
sammen und nach und nach kommt es zu einem wellenförmigen Ablaufen der
Verwahrlosungserscheinungen. Die Zeitdauer ist verschieden, je nach der Tiefe
der unbewußten Verankerung. Wir haben es hier mit einem Vorgange zu tun,
den ich recht oft beobachten konnte, dessen theoretische Begründung ich Ihnen
94
aber hier nicht geben kann. Er wird sich vollständig einwandfrei überhaupt
erst feststellen lassen, wenn genug Analysen solcher Fälle vorliegen werden.
Kehren wir nun zum Jugendlichen zurück. Ich sehe, daß der Vater infolge
seiner eigenen Gefühlskonstellation nicht in der Lage ist, erzieherisch erfolg-
reiche Arbeit zu leisten, muß ihn daher als Heilfaktor ausschalten und ver-
suchen, ohne ihn auszukommen. Auf meine Frage, wo der Junge jetzt sei, er-
halte ich zur Antwort: „In der Werkstätte bei seinem alten Meister." Ich er-
suche den Vater, er möge mir Hans um sieben Uhr abends an einen bestimmten
Ort schicken, weil ich einiges mit ihm besprechen möchte.
(Ich bestelle mir häufig Jugendliche, die tagsüber von der Arbeit nicht ab-
kommen können, abends und spreche mit ihnen auf dem Wege von der Er-
ziehungsberatung nach Hause.) Hans erwartete mich pünktlich und begrüßte
mich sehr herzlich, das Gespräch war nicht sehr wortreich. Er redet überhaupt
nicht viel, gehört zu den Menschen, die sich schon wohl fühlen, wenn sie den
anderen nur neben sich wissen. Ich erkundigte mich nach seinem Befinden, nach
seiner gestrigen und heutigen Arbeit. Er log mir mit einer bewunderungs-
würdigen Sicherheit vor, was er alles am Vortage gearbeitet hatte, an dem er,
wie wir wissen, gar nicht in der Werkstätte war. Ich ließ mir natürlich nicht
anmerken, daß ich es besser wußte. Wir kamen auch auf den Vater zu sprechen.
Dabei machte er wie nebenbei die Bemerkung, daß ich diesen doch nicht richtig
kenne. Auf mein: „Woher weißt Du das?" Er: „Weil Sie ihn für viel besser
halten, als er wirklich ist." „Ist er denn schlecht?" „Nein, aber nicht gut zu
mir. Er hat mich gestern beim Nachhausegehen die ganze Zeit sekkiert, ich soll
nun doch, da er mir alles verziehen hat, anständig bleiben." Wir haben hier
sicherlich einen Anhaltspunkt, warum der Junge so rasch wieder zu dissozialen
Handlungen zurückkehrte. Für ihn ist der Vater mit seinem eifrigen Auf-ihn-
Einreden doch nicht der verständige Mensch, als der er bei mir erschienen ist.
Er zwingt ihn schon wieder in eine unangenehme Situation hinein.
Während unseres Gespräches gingen wir langsam durch die Straßen. Es
regnete leicht, darum wollte ich schließlich die Straßenbahn zum Nachhause-
kommen benützen. Meine Verabschiedung, da er in einer anderen Fahrtrich-
tung wohnt, ließ er aber nicht zu. Er könne mich ein Stück begleiten und von
einer Umsteigstelle auch nach Hause kommen. Er fuhr mit; wir sprachen unter
anderem auch von der Musik. Dabei ging er etwas aus sich heraus und teilte
mir mit, daß seine Angehörigen sehr musikalisch seien, der Vater die Violine,
der Bruder Klavier spiele und er die Flöte blase. Als wir zur Umsteigstelle
kamen, ließ er sich nicht bewegen, nach Hause zu fahren, sondern blieb neben
mir sitzen mit den Worten: „Jetzt begleite ich Sie schon ganz." Unmittelbar
vor dem Aussteigen fragte er mich, wann wir wieder zusammenkommen
könnten. Ich gab ihm den drittnächsten Tag an. „Das ist zu lange, ist es nicht
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früher möglich?" „Ja, morgen, wenn du mich um 7 Uhr in der . . . Straße er-
warten willst." Er ging dann noch bis zum Haustor mit und verabschiedete
sich mit den Worten: „Richten Sie mir einen schönen Handkuß an die gnädige
Frau aus." Wir hatten von meiner Frau, überhaupt daß ich verheiratet sei,
kein Wort gesprochen, das nahm er jedenfalls als selbstverständlich an. Ich
blieb beim Haustor stehen. Nach ungefähr fünfzig Schritten wendete er sich
um und schwenkte grüßend den Hut, was ich erwiderte. Das wiederholte sich
noch mehreremal, bis er bei der etwa dreihundert Schritte entfernten Straßen-
bahnhaltestelle einstieg. Am nächsten Abend war er pünktlich zur Stelle. Er
schlug vor, zu gehen und nicht zu fahren, weil wir sonst zu rasch von einander
gingen. Der Weg zu Fuß währt ungefähr eine Stunde. Es wurde wieder nicht
besonders viel gesprochen. Er lud mich aber ein, ihn zu Hause zu besuchen, er
werde einen Musikabend veranstalten. Es sei zwar nicht sicher, daß der Vater
mitspielen werde, aber sein Bruder habe schon zugesagt, ihn auf dem Klavier
zu begleiten. Ich bedeutete ihm, daß ich ein sehr kritischer, schwer zu be-
friedigender Zuhörer sei und daß er und sein Bruder ein Vortragsprogramm
gut durchstudiert haben müssen, ehe ich zuhören komme. Mir war natürlich
darum zu tun, eine von ihm ausgehende Anregung erzieherisch zu verwerten,
ihn bei einer ihn interessierenden Beschäftigung während längerer Zeit zu Hause
festzuhalten.
Da ich damals sehr stark beschäftigt war, konnte ich mich dem Jungen wö-
chentlich höchstens dreimal je eine halbe bis eine Stunde widmen und auch da
nur auf der Gasse abends auf dem Wege nach Hause. Wenn ich unter diesen un-
günstigen Verhältnissen erzieherische Erfolge erzielen wollte, mußten seine Ge-
fühlsbeziehungen zu mir sehr stark sein. Ihn darüber zu befragen, ging nicht
an. Um mich von deren Intensität zu überzeugen, mußte ich ihn einer Be-
lastungsprobe aussetzen und zuwarten, ob er diese aushielt. Ich bestellte ihn
daher so, daß ich selbst erst zwei Stunden später eintreffen konnte. Als ich kam,
war er fort. Ich erfuhr aber, daß er mehr als einundeinhalb Stunden ausgeharrt
hatte. Er war nicht verärgert fortgegangen, sondern hatte das Ersuchen zurück-
gelassen, ihn zu verständigen, wann und wo wir uns wieder sehen werden.
Wir trafen uns schon am nächsten Tag und ich nahm mir vor, ihn bei der
ersten sich darbietenden Gelegenheit für seine Ausdauer zu belohnen, überzeugt,
daß sich bald ein Anlaß ergeben werde. Dieser ließ, wie Sie gleich hören werden,
auch tatsächlich nicht lange auf sich warten.
Bei der Begrüßung war er freundlich wie immer, machte mir keinerlei Vor-
würfe, fand im Gegenteil sehr begreiflich, daß ich, da ich sehr viel zu tun
habe, nicht immer getroffene Vereinbarungen einhalten könne. Wir gingen
wieder zu Fuß. Er erzählte von seinem Meister und so freudig von Spezial-
arbeiter die ihm seit neuerer Zeit übergeben werden, daß deutlich sein ge-
i^»
96
hobencs Selbstgefühl durchschimmerte. Er sprach aber auch von Unan-
genehmem in der Werkstätte. Auch von einem Gehilfen, der ihm diese
Bevorzugung neide, grantig sei und nicht hören könne, wenn er ein Lied-
chen vor sich hin pfeife, was ihm seit neuerer Zeit großes Vergnügen mache.
Als das Werkstättenthema erschöpft war, kamen auch Mitteilungen von zu
Hause. Besonders eingehend verbreitete er sich über das musikalische Vortrags-
programm. Sehr zufrieden ist er mit dem Bruder, der willig auf seine Wünsche
eingeht. Damit wies er mir die Richtung, in der ich seine Belohnung zu suchen
hatte. — Mein Besuch! — Ich setzte mit ihm den Termin fest. Da ich ihn
aber noch einige Zeit mit einer bestimmten Zielsetzung zu Hause festhalten
wollte, vereinbarten wir als Besuchstag den zweitnächsten Sonntagnachmittag.
Der Junge war sehr glücklich, nun schon den Tag meines Kommens zu wissen,
und nicht ungeduldig, daß er noch so lange zuwarten müsse.
Wir gingen dann schweigsam nebeneinander; er ganz in Gedanken verloren,
ich ihn beobachtend. Nach einiger Zeit fragte ich ihn, woran er denke. Er
wehrte zuerst ab und wurde recht verlegen. Auf mein Drängen gab er endlich
seinen Widerstand auf, es sei eigentlich zu dumm, nicht zu reden, es war nichts
Besonderes, an das er dachte, ich werde ihn vielleicht auslachen, wenn er es
jetzt mitteile: aber das gehe ihm immer so. Zuerst erscheine ihm etwas als eine
besondere Sache, er könne nicht richtig davon sprechen und mache deswegen
nur eine Andeutung. Gebe der andere nicht nach, so werde ihm selbst plötzlich
klar, daß er zu viel Aufhebens gemacht habe, schäme sich und könne dann
erst recht nicht den Mund aufmachen. Ich machte ihm begreiflich, daß ich gar
nichts Besonderes erwarte und er, wenn es ihn Überwindung koste, schweigen
möge. Wir gingen dann nur noch einige Schritte weiter und recht zaghaft kam
heraus: „Wenn mein Vater so zu mir wäre, wie Sie, hätte ich das alles nicht
gemacht." Ich nehme das zum Anlaß, um einiges über sein Verhältnis zum
Vater mit ihm zu besprechen. Was er sagte, deckt sich im wesentlichen mit dem
Ihnen bereits Mitgeteilten.
Von den drei nächsten Zusammenkünften ist zu berichten, daß unser Ge-
spräch sich vorwiegend im Rahmen seiner Beziehungen zu den einzelnen
Familienmitgliedern bewegte und manches in seiner Stellung zum Vater geklärt
wurde.
Als wir uns nach einer Pause von fast acht Tagen an einem Samstag wieder
trafen kam er strahlend auf mich zu. Sein Wochenlohn war um ein Drittel
erhöht worden. Das kam um so überraschender, weil er bereits die beiden vor-
hergehenden Wochen kleinere Lohnerhöhungen erhalten hatte. Aus der mir schon
früher mitgeteilten Zuteilung der schwierigeren Arbeit und der beträchtlichen
Steigerung des Arbeitslohnes dürfen wir wohl den Schluß ziehen, daß Hans nun
ein ganz anderes Verhältnis zur Arbeit gefunden hatte. Wir sehen, daß es auch
97
wirtschaftlich von Vorteil ist, innerlich in Ordnung zu kommen; denn der
Meister entschloß sich sicherlich nicht aus Liebe zum Jungen oder aus er-
zieherischen Rücksichten zu einer um so viel besseren Bezahlung als früher; zu-
dem wußte er auch gar nicht, daß sich jemand erzieherisch mit Hans be-
schäftigte. — Ich bemerke dazu, daß ich mich grundsätzlich nicht an die Lehr-
herren der Jugendlichen wende. So wertvoll es oft wäre, ich kann es doch nicht
wagen, weil die Jungen dadurch zu leicht in schiefe Situationen kommen.
Meister, Gehilfen und Mitlehrlinge erfahren Dinge, die bei den kleinsten Vor-
kommnissen in der Werkstätte gegen ihn ins Treffen geführt werden.
Und nun zum Besuchssonntag!
Die Familie war vollzählig versammelt. Hans in merklicher Aufregung, die
ich dadurch zu vermindern suchte, daß ich zum Vortrag drängte. Es wurde
recht gut musiziert, für den Hausgebrauch mehr als ausreichend. Hans war mit
Feuereifer dabei. Ich gab meine Zufriedenheit deutlich, aber nicht übermäßig
zu erkennen. Jedenfalls sah er, daß ich mich freute. Es war nichts Gemachtes
in dem Zusammensein. Alle waren innerlich froh, das war jedem Familien-
mitgliede aus dem Gesichte abzulesen, förmliches Wohlbehagen atmete mir
entgegen.
In den kurzen Pausen saßen wir um den Tisch herum, sprachen über Ver-
schiedenes, über Tagesereignisse, die Sorgen der Mutter um den Haushalt, über
den Beruf des Vaters, dessen Unannehmlichkeiten, aber nicht über das frühere
Verhalten Hansens und sein jetziges Benehmen. Es vergingen nahezu drei Stun-
den angenehmen Beisammenseins für alle.
Der Vater begleitete mich eine Strecke Weges, glücklich über die günstige
Wendung. So verzweifelt er noch vor ein paar Wochen war, so begeistert zeigte
er sich jetzt. Und wie ich ihn damals aufrichten mußte, weil doch noch nicht
alles verloren wäre, so mußte ich nun eindämmen, weil möglicherweise noch
nicht alles gewonnen sein konnte, unangenehme Überraschungen noch nicht
ausgeschlossen waren. Der Vater sagte unter anderem: „Wenn ich mir vorstelle,
daß ich den Jungen in eine Besserungsanstalt geben wollte, weil wir schon so
zermürbt waren und uns nicht mehr zu helfen wußten, so kommt mir das jetzt
wie ein Traum vor. Es ist bei uns wieder so, wie es ehedem war. Hans geht
regelmäßig in seine Arbeit. Der Meister hat mich rufen lassen, er ist recht zu-
frieden mit ihm. Am Abend kommt er pünktlich nach Hause, das Instrument
wird hervorgeholt und die beiden Buben musizieren stundenlang miteinander.
Sie sind wieder ein Herz und ein Sinn wie früher. Ich kann Ihnen nicht sagen,
wie froh ich bin, daß alles wieder in Ordnung ist."
Am Abend des nächsten Tages kam ich wieder mit Hans zusammen. Für
ihn blieb mir nicht viel Zeit, da ich in einer Elternversammlung zu sprechen
hatte. Er begleitete mich auf der Straßenbahn dorthin und besprach Einzel-
7 A i dl h o r n, Verwahrloste Jugend
9 8
heiten meines Besuchs und schloß mit den Worten: „Ich habe mich bald schlafen
gelegt und mußte mir noch einmal alles vorstellen; es war wirklich sehr schön."
Wir trafen uns dann noch einige Wochen, immer wieder abends an den be-
stimmten Tagen. Er begleitete mich jedesmal bis nach Hause, aber nie bis in
meine Wohnung, weil ich das absichtlich vermeiden wollte. Unsere Zusammen-
künfte wurden durch meinen Urlaub unterbrochen, den ich nicht in Wien ver-
brachte. Es darf Sie nun nicht überraschen, daß ich während dieser Zeit
namentlich mit Jugendlichen die angeknüpften Beziehungen nicht aufgebe, son-
dern mit ihnen in brieflichem Verkehr bleibe. Ich bemühe mich, alles zu ver-
meiden, was die Übertragung zu einer Zeit, in der sie noch erzieherisch wirk-
sam sein muß, besonders schwächen könnte. Dazu gehört auch eine längere
räumliche Trennung, die ohne schriftliche Verbindung bleibt. Daß später die
Ablösung des Erziehungszöglings erfolgen muß, ist selbstverständlich. Das ge-
hört aber nicht hieher, sondern in ein anderes Kapitel. Hans erhielt daher, so
wie einige andere, meine Urlaubsanschrift. Er war ein besonders eifriger
Schreiber. Es langte von ihm wöchentlich ein und, wenn ich gleich antwortete,
auch ein zweiter Brief ein. In einem dieser Briefe teilte er mir auch mit, daß
Mutter und Schwester zu den Verwandten in die Tschechoslowakei gefahren
seien. Eine Bedienerin, die die Mutter aufnehmen wollte, habe er als überflüssig
abgelehnt, weil er selbst die Wohnung in Ordnung halte. Er erging sich in den
Briefen auch in Schilderungen über die Junggesellenwirtschaft, in die sich Vater
und Bruder nach seinen Anordnungen fügen müssen. Werde die Ordnung
durchbrochen, so mache er Spektakel und der Vater füge sich viel rascher als
der Bruder. Mit dem müsse er besonders energisch sein. Nach und nach wurde
der Ton in seinen Briefen merklich kühler, ohne daß diese sich zahlenmäßig
und in ihrem Umfange verringerten. Ich zeigte ihm meine Rückkunft nach
Wien an, er war auch zur Stelle und bei der Begrüßung von der alten Herz-
lichkeit; erkundigte sich nach Persönlichem und schien sehr erfreut, als ich mit
ihm für den zweitnächsten Tag am gewöhnlichen Orte und zur gewöhnlichen
Zeit eine Zusammenkunft vereinbarte. Er kam aber nicht, entschuldigte sich
schriftlich und schlug mir ein Zusammensein in weiteren zwei Tagen vor, auf
das ich einging. Er erschien aber wieder nicht und ließ sich, ohne Entschuldi-
gung, überhaupt nicht mehr sehen. Sein Fernbleiben machte mich nicht böse.
Ich kann auch nicht sagen, daß ich mich über den Erziehungserfolg und die
so gut gelungene Ablösung von mir freute. Ich war anderweitig wieder so sehr
beschäftigt, daß er mir einige Zeit nicht abging. Als ich mich nach ungefähr
zwei Wochen seiner erinnerte, wurde mir ein wenig bange. Ich brachte sein
Nichtkommen mit einem Rückfall in Zusammenhang, war weit davon entfernt,
einen dauernden Erfolg anzunehmen. Ich schrieb ihm und erhielt sofort Ant-
wort. Er teilte mir mit, daß er sich sehr wohl fühle, jetzt Überstunden mache,
99
weil sehr viel zu tun sei, und es ihm daher nicht möglich sei, abends zu
kommen. In einigen Wochen wäre das Ärgste vorüber und er freue sich, mich
dann wieder aufsuchen zu können. Bei einem zufälligen Zusammentreffen mit
dem Vater sprach sich dieser sehr befriedigt über das tadellose Verhalten seines
Sohnes aus und gab der Hoffnung Ausdruck, daß es nun auch in Zukunft so
bleiben werde.
Der Junge ließ sich auch in einigen Wochen nicht sehen. Zu Weihnachten
kam er, zu Neujahr schickte er eine Karte, dann hörte ich wochenlang nichts.
Wir trafen uns im Frühjahr zufällig auf der Straßenbahn. Er war in bester
Verfassung. Von da an langte durch eineinhalb Jahre ab ün^ zu eine schrift-
liche Nachricht von ihm, namentlich zu größeren Feiertag-h, ein. Da seit drei
Jahren alles in schönster Ordnung ist, wird ein Rückfall kaum mehr eintreten.
Erzieherisch haben wir vorläufig nichts mehr zu tun, für uns ist die Ange-
legenheit befriedigend zur Erledigung gekommen. Zweifellos hat das Leben
selbst hier noch manches zu richten, namentlich dem Jungen den Weg frei zu
machen, der ihn zu den richtigen Beziehungen zum anderen Geschlechte führt.
Ich habe Ihnen nun über diese Erziehungsangelegenheit viel Wesentliches bis
zu ihrem Abschlüsse berichtet, mußte allerdings, um den Rahmen nicht zu über-
schreiten, manche interessante und lehrreiche Einzelheit weglassen, und werde
nunmehr Überlegungen, die uns einen Einblick in ursächliche Zusammenhänge
vermitteln sollen, anschließen. Ich muß Sie aber gerade in diesem Falle noch
viel mehr als ich es bisher immer getan habe, aufmerksam machen, daß wir,
ohne den Jungen zu analysieren, nie die tatsächlichen Abhängigkeiten von
einander werden klar erkennen können. Wir bleiben ohne Analyse auf Wahr-
scheinlichkeitsschlüsse angewiesen. Das Überraschende und ohne Analyse sicher
nicht überzeugend zu Erklärende ist der rasche und auch nach der Loslösung
andauernde Heilerfolg, der, für den Psychoanalytiker klar, nur ein Heilerfolg
in der Übertragung sein kann. Zweifel, ob so Dauererfolge zu erzielen sind,
werden wir im letzten Vortrag beheben.
Ich habe Ihnen schon eingangs der Besprechung mitgeteilt, daß es mir dies-
mal nicht darauf ankommt, ursächlichen Zusammenhängen besonders weit nach-
zustehen. Ich müßte mich auch für die Wahrscheinlichkeitsschlüsse auf theo-
retische Auseinandersetzungen einlassen, die für eine erste Einführung zu weit
gingen. Wir werden daher ziemlich an der Oberfläche bleiben müssen. Daß es
sich hier um einen Racheakt des Jungen gegen seinen Vater handelt, erscheint
nach der Sachlage ziemlich" klar. Er fühlt sich gegen den älteren Bruder zurück-
gesetzt, weil dieser als Student Vorteile hat, die ihm als Lehrling versagt bleiben.
Und doch ist uns nicht recht begreiflich, warum er als Siebzehnjähriger dem
Vater Vorwürfe macht, ja ihm geradezu die Verantwortung dafür aufhalst,
Schuhmacher geworden zu sein, da er doch als Vierzehnjähriger dem Drängen
IOO
des Vaters, Student zu bleiben, so hartnäckigen Widerstand entgegengesetzt hat.
Wir wissen vom Vater und von Hans, daß jenem der Schuhmacherlehrling nicht
angenehm war. Es muß ein starker Impuls vorhanden gewesen sein, nicht mehr
in die Schule zu gehen, sondern Schuhmacher zu werden, der Jahre später ver-
schwunden war.
Wir müssen jetzt schon ins Auge fassen, daß der Sechzehnjährige nicht mehr
in derselben psychischen Verfassung ist, wie der Vierzehnjährige, und wollen
daher versuchen, uns zunächst einmal einen Teil der psychischen Situation des
Jungen am Beginne seiner Lehrzeit zu rekonstruieren. Vielleicht gibt uns den
Ausgangspunkt dazu eine, wie mir scheinen will, nicht unwichtige Äußerung
des Minderjährigen. Erinnern Sie, daß er beim Haustor, als wir zum erstenmal
auseinandergingen, sagte: „Richten Sie mir einen schönen Handkuß an die
gnädige Frau aus!" Zufall kann es nicht sein; es als Höflichkeitsäußerung auf-
zufassen, liegt auch kein Grund vor. Wir hatten von meiner Frau kein Wort
gesprochen, es kann ihm nur mein Ehering aufgefallen sein, oder er hat mein
Verheiratetsein als etwas Selbstverständliches vorausgesetzt. Für ihn war es auf
jeden Fall gegeben, sonst wäre sein Auftrag unmöglich. Diese Selbstverständ-
lichkeit ist auch selbstverständlich; denn er hatte mich ja an Vaters
Stelle gesetzt. Wir wissen das aus einer späteren Äußerung: „Wenn
mein Vater so zu mir wäre wie Sic, hätte ich das alles nicht ge-
macht." In diesem Zusammenhange gelten aber die mir aufgegebenen Grüße
der Mutter. Wenn sich nun ohne jedweden direkten äußeren Anlaß solche
Beziehungen aus dem Unbewußten äußern, dann müssen sie irgendwie sehr stark
affektbetont sein. Ob sich so starke Beziehungen zur Mutter behaupten lassen?
Diese ist doch seit Jahren tot und im Familienverbande lebt die Stiefmutter! Wir
wagen diesen Wahrscheinlichkeitsschluß, weil wir Anhaltspunkte dazu vorfin-
den. Zunächst derselbe feminine Habitus, das ängstliche, schüchterne, weibische
Benehmen, das uns schon einmal auf eine infantil inzestuöse Bindung aufmerk-
, sam gemacht hat. Dann die sehr guten Beziehungen zur Stiefmutter, die wir
vom Vater angegeben bekommen, von Hans selbst hören und zu sehen Ge-
legenheit hatten. Die Liebe zur leiblichen Mutter erscheint restlos auf die Stief-
mutter übertragen. Die infantil inzestuöse Bindung wirkt nach, die Verdrän-
gungswelle in der Pubertät ist weit stärker, als normal, das heißt das Aufgeben
der Liebesobjekte innerhalb der Familie und die Wahl anderer außerhalb der
Familie gelingt nicht. Wir sehen auch bei Hans, so wie früher bei einem anderen
Jugendlichen, dieselbe Einstellung zur Frau: er lehnt sie ab. In solchen Fällen
bleibt der Vater der bewußt nicht eingestandene Konkurrent in der Liebe zur
Mutter. Seine Ablehnung wird verdrängt, weil man ja den Vater lieben muß.
Wenn er aus dieser durch Verdrängung unbewußt gewordenen oder unbewußt
gebliebenen Ablehnung des Vaters nicht studiert, so trifft er ihn, den Privat-
IOI
'
I
beamten in leitender Stellung, der seine Söhne einem Intelligenzberuf zuführen
will, und erledigt damit ein Stück unbewußter Rache. Er begnügt sich aber
nicht mit dem Nichtstudieren-Wollen, sondern will Schuhmacher werden. Er er-
greift denselben Beruf, den der Vater der Stiefmutter hat. Wir wissen, daß diese
jenem mit großer Zärtlichkeit zugetan ist. Wird auch er Schuhmacher, dann
zwingt er die Stiefmutter, ihn noch über den Vater zu stellen und ihn so lieb
zu haben wie ihren Vater, seinen Großvater. Wir können daraus wohl schließen,
daß das Bemühen des Vaters, ihn beim Studium zu halten, vergeblich sein
mußte, selbst wenn wir die reale Unlust des durchgefallenen Schülers vernach-
lässigen.
Zwei Jahre später, als die dissozialen Äußerungen auftraten, war er in einem
wesentlich anderen psychischen Zustande. Wir können uns schon denken, daß
das affektiv gehaltene Motiv, das ihn in die Schuhmacherei führte, durch die
vielen Unlusterlebnisse, die das Lehrlingsein für das Kind aus dem Beamten-
milieu mit sich bringt, geschwächt werden mußte. Der Knabe aus diesen Ver-
hältnissen fühlt sich deklassiert, noch dazu wenn er aus der Mittelschule kommt
wie Hans. Dazu bleibt ihm die fortwährende Vergleichsmöglichkeit mit dem
Student gebliebenen Bruder. Dieser hat außerdem noch mancherlei andere Vor-
teile, geht auch in den Ferien auf das Land und er muß dableiben. Die Ferien-
kolonie in Graz macht außerordentlich tiefen Eindruck auf Hans. Und auch
das der Stiefmutter gebrachte Opfer — für sie wurde er Schuhmacher — ist
zwecklos geworden; sie nimmt nicht ihn, sondern den anderen zu den Ver-
wandten mit. Es wäre uns nun zweifellos begreiflich, wenn in Hans Haß gegen
die Stiefmutter auftauchen und sich in Aggressionen gegen die Stiefmutter Luft
machen würde. Davon ist aber nichts zu bemerken. Wir müssen deswegen daran
denken, daß der Junge von seinem zwei Jahre früher erfolgten Eintritte in die
Schuhmacherlehre bis zu seiner Fahrt nach Graz als Sechzehnjähriger einen
weiteren Teil seiner Pubertät erledigt hat und uns deswegen auch in einer
anderen Entwicklungsphase gegenübersteht. Ist die Verdrängungswelle auch
noch so stark, so muß doch der Libidovorstoß die männliche Aggression ver-
stärkt haben. Wir haben schon gehört, daß bewußter Haß gegen die Stiefmutter
nicht vorhanden ist, der zweifellos da wäre, wenn sich die inzestuöse Bindung
an diese nicht gelockert hätte. Ist diese Lockerung aber eingetreten, dann muß
sie in einer Annäherung zum Vater in Erscheinung treten. Wir ersehen auch den
Versuch einer Rückkehr zum Vater. Er lockt ihm 70.000 Kronen heraus und
begründet dies damit, daß der Bruder auch Reisegeld erhalten hat. Er will
dem Vater in derselben Situation erscheinen wie der Bruder. Daß er dazu den
falschen Weg wählt, ändert an der Tatsache nichts. Er erkennt den falschen
Weg nicht, sieht nur das Mißlingen des Versuches einer Annäherung und alles
bricht zusammen. Wir müssen uns nur den Kampf vorstellen, der im Unbe-
-^
102
wu
ßten und im Bewußtsein des Jungen tobt: die Unlusterlebnisse in der Lehre,
die Zurücksetzung durch den Vater, weil er Schuhmacher geworden ist, der
Vater als Objekt der Liebe, der diese aber ablehnt, und gleichzeitig der Kon-
kurrent um die Liebe der Stiefmutter: das unnütz der Stiefmutter gebrachte
Opfer und schließlich der versperrte Rückweg zum Vater. Es braucht uns nicht
zu wundern, daß Hans, der nun auch seinen ganzen Lebensplan zerstört sieht,
sich Selbstmorden will. Daß er den Selbstmord nur symbolisch in der Fahrt nach
Graz ausführt, verdankt er seiner Selbstliebe, seinem Narzißmus, in psycho-
analytischer Sprechweise, der ihm nach einigem Schwanken noch einen Aus-
weg aus seinen Qualen ermöglicht.
Damit hätten wir, ohne auf sehr tiefe Zusammenhänge einzugehen, im wesent-
lichen besprochen, was an ursächlichen Zusammenhängen ohne direkte Analyse
zu erfahren ist. Die theoretischen Zusammenhänge des Ausheilungsvorganges,
die auch unser Interesse in Anspruch nehmen, werden uns teilweise klar werden,
wenn wir im nächsten Vortrage einiges von der „Übertragung" zu hören be-
kommen. Ich habe diesen Ausdruck heute schon wiederholt gebraucht, gehe
aber infolge der vorgeschrittenen Zeit auf nicht mehr ein, als Ihnen zu sagen,
was wir uns darunter vorzustellen haben: Die Gefühlsbeziehungcn, die sich
zwischen dem Analytiker und dem Analysanden herstellen. Wenn Sie erinnern
wollen, habe ich davon andeutungsweise schon im ersten Vortrage gesprochen.
SECHSTER VORTRAG
Die Übertragung
Meine Damen und Herren! Wir haben schon öfter den Ausdruck Über-
tragung gebraucht und bei der letzthin geschilderten Verwahrlosung sogar von
einer Ausheilung in der Übertragung gesprochen, ohne bisher viel mehr als
bloß das Wort zu kennen.
Wir wollen daher heute etwas näher auf jene Gefühlsbezichungen eingehen,
die so benannt werden. Während einer Psychoanalyse räumt der Analysierte
dem Analytiker eine hervorragende Rolle in seinem Gefühlsleben ein, die zwar
nach Abschluß der Kur wieder zurückgenommen wird, für deren Verlauf aber
von der allergrößten Bedeutung ist. Vom Patienten spinnen sich Gefühle der
Zuneigung und Ablehnung zu dem ihn Behandelnden, die in ihrer wechselnden
und hoch anschwellenden Intensität das normal zu erwartende Maß so weit
überschreiten, daß sie seit langer Zeit auch das theoretische Interesse der Psy-
choanalytiker auf sich gezogen haben. Freud selbst hat diese Phänomene ein-
gehend studiert, aufgehellt und sie unter dem Namen „Übertragung" zusammen-
gefaßt. Warum er gerade diese Bezeichnung wählte, werden wir noch hören.
103
Ich kann Ihnen die theoretischen Untersuchungen Freuds über die Über-
tragung nicht in ihrer Gänze mitteilen, sondern muß mich auf das für uns
Wesentliche beschränken.
Wenn wir in der Fürsorgeerziehung von der Übertragung sprechen, so meinen
wir damit die Gefühlsbeziehung des Fürsorgeerziehungszöglings zu seinem Er-
zieher, ohne daß behauptet wäre, es handle sich genau um dasselbe wie in der
psychoanalytischen Situation. Die „Gegenübertragung" sind dann die Gefühls-
beziehungen des Fürsorgeerziehers zu seinem Zögling. Die Gefühlsbeziehungen,
die der Fürsorgeerziehungszögling zu seinem Erzieher gewinnt, basieren
natürlich auch auf bereits früher einmal bestandenen Beziehungen zu
irgend jemandem. Und wenn wir jene studieren wollen, müssen wir diese
kennen. Nun sind uns die zärtlichen Beziehungen, aus denen sich das Liebes-
leben des Kindes zusammensetzt, nicht mehr fremd, es ist uns schon manches
in den vorhergehenden Vorträgen bekannt geworden. Wir haben gesehen, wie
der kleine Knabe Vater und Mutter als Liebesobjekte nimmt, und verfolgten
die Strebungen, die sich aus diesem Verhältnis ergeben, über die ödipussituation,
den Ödipuskomplex bis zu dessen Untergang mit seinen in eine Vater- und
Mutteridentifizierung auslaufenden Wirkungen. Wir hatten aber auch schon
Gelegenheit, das Verhältnis von Geschwistern untereinander kennen zu lernen,
wie sich die ursprüngliche Konkurrenzneigung zueinander unter dem Drucke
der gleichen Zuneigung zu den Eltern in Geschwisterliebe umbildet, und
schließlich gehört, daß der Knabe in der Pubertät seine Libido von den ersten
Objekten innerhalb der Familie lösen und normalerweise auf fremde, außen-
stehende Personen übertragen muß.
Unsere heutige Aufgabe ist es, die Wirkungen dieser ersten Erlebnisse von
einer ganz bestimmten Seite her ins Auge zu fassen: Die Anknüpfung, der Be-
stand und der Untergang der Liebesbeziehungen des Kindes innerhalb der Fa-
milie wirkt nicht nur in der besprochenen Weise als starkes Erlebnis, das in
der Identifizierung ganz bestimmte inhaltliche Resterscheinungen zurückläßt,
es bestimmt gleichzeitig auch die Form für den Ablauf aller Liebesbeziehungen
der Zukunft.
Freud vergleicht diese Formen, ohne dabei an völlig unveränderlich Er-
starrtes zu denken, mit abdruckfähigen Klischees und hat durch seine Unter-
suchungen nachgewiesen, daß wir im späteren Leben in unseren Gefühls-
beziehungen zum anderen im wesentlichen nichts anderes machen, als immer
wieder das eine oder das andere in der Kinderstube gewonnene und bereit ge-
haltene Klischee abdrucken. Somit wird die Art, wie sich das Liebesleben unserer
Kindheit gestaltet, zur Schicksalsfrage; denn sie bleibt für das ganze Leben be-
stehen. Es wird Ihnen nun nicht mehr schwer fallen, zu verstehen, warum Freud
104
gerade den Ausdruck Übertragung für die Gefühlsbeziehungen des Analysierten
zum Analytiker gewählt hat. Es werden eben nur längst bestehende Gefühle
von anderswoher auf den Analytiker verlegt, übertragen. Und für den Fürsorge-
erzieher ist die Kenntnis der Übertragungsmechanismen unentbehrlich, weil
auch er seinen Zögling in die Übertragungssituation bringen muß, um die
Verwahrlosung beheben zu können.
Das Studium der Übertragung beim Verwahrlosten zeigt uns regelmäßig in
dessen erster Kindheit ein gestörtes Liebesleben dadurch, daß sein Liebesbedürf-
nis zu wenig befriedigt oder übersättigt worden ist.
Zu den Bedingungen des Sozial- Werdens gehören eine dazu befähigende Erb-
anlage und auch ein erstes Liebesleben, das sich innerhalb gewisser Grenzen
bewegt. Diese werden im allgemeinen durch die jeweilige Gesellschaftsordnung
ebenso bedingt, wie die Formen, die das erste kindliche Licbesleben ausprägt.
Für die gegenwärtige entwickelt sich das Kind normal, — es wird zum Ein-
leben in die Sozietät kommen — wenn es in seiner Kinderstube solche Liebes-
beziehungen pflegen kann, daß es diese in der Schule und dann weiter in einer
sich stetig vergrößernden persönlichen Umwelt fortzusetzen vermag, wenn die
Einstellung zu den Eltern auf den Lehrer, die zu den Geschwistern auf die
Mitschüler paßt und sich für neu auftauchende Personen, entsprechend deren
autoritativer oder dem Heranwachsenden gleichwertiger Stellung, immer wieder
eine bereits vorher gemachte Beziehung zu Wiederholung ohne oder mit ganz
geringen Abweichungen findet. Solche Menschen haben dann auch keine
Schwierigkeiten im Ablaufe ihrer Gefühle zum anderen: sie vermögen Be-
ziehungen anzuknüpfen, zu vertiefen und konfliktlos wieder zu lösen, wenn
es die Notwendigkeit erfordert.
Wir werden nun auch unschwer erkennen, woher sich der psychische Wider-
stand gegen die Umformung der gegenwärtig geltenden Gesellschaftsordnung
determiniert und wo ein radikaler Verfechter einer anderen den Hebel anzu-
setzen hätte. Unsere Einstellung zu den einzelnen Mitgliedern der Sozietät und
zu dieser selbst hat eine ganz bestimmte Norm. Deren wesentliche Züge er-
halten wir durch die Struktur der Familie und die Gcfühlsbeziehungen, die
wir in ihr gewonnen haben. Dabei kommt den Eltern und namentlich dem
Vater hervorragende Bedeutung für die soziale Orientierung des Kindes zu. Die
nachhaltigen, nicht mehr auszulöschenden libidinösen Beziehungen in der Kind-
heit sind Tatsachen, mit denen jeder Sozialreformer zu rechnen hat. Wenn
daher, was ja wirklich auch der Fall ist, die Familie die beste Vorbedingung
für die gegenwärtige Gesellschaftsordnung darstellt, so müßte zur Gewinnung
und Sicherung einer neuen dieser Grundpfeiler zertrümmert und durch eine
andere persönliche Umwelt des kleinen Kindes ersetzt werden. Zu besprechen,
wie diese zu gestalten wäre, fällt aus dem Rahmen unserer Vorträge, ist
io5
übrigens Aufgabe derer, die die neue Struktur der Gesellschaft anstreben. Wir
sind Fürsorgeerzieher, haben diese soziologischen Zusammenhänge zu erkennen,
können uns für unsere Person zu irgend welcher Ordnung bekennen, haben
aber einen streng vorgezeichneten Weg vor uns: die heutige dissoziale Jugend
zur sozialen Einordnung zu führen.
Wird das erste kindliche Liebesleben durch schwere Enttäuschungen erschüt-
tert oder im Übermaße ausgelebt, so kommt es nicht zur Bildung der richtig
abdruckfähigen Klischees, um ein Bild Freuds weiter zu gebrauchen. Diese
sind unvollständig geworden, wurden beschädigt, oder sind zu wenig wider-
standsfähig, weil sie zu feine Züge erhalten haben. Auf alle Fälle ermöglichen
sie aber später nicht jene libidinösen Objektbesetzungen, die das Gesellschafts-
ideal als die normalen anerkennt. Aus dem Wegfallen dieses Teiles der Vor-
bereitung für das spätere Leben — Einregulierung der unbewußten und der
bewußten libidinösen Strebungen, Schaffung libidinöser Erwartungsvorstellungen,
die vom normalen Maße nicht zu sehr abweichen — ergibt sich nicht nur die
größte Unsicherheit in den Beziehungen zu den Nebenmenschen, sondern sehr
oft auch eine der ersten und wichtigsten Vorbedingungen für die latente Ver-
wahrlosung. So gesehen, sind die ersten Verwahrlosungsursachen in der frühen
Kindheit zu suchen, dort, wo sich die von der Norm abweichenden ersten
objektlibidinösen Bindungen hergestellt haben. Die Verwahrlosung selbst ist
dann nur der Ausdruck für Beziehungen zu Personen und Dingen, die andere
sind, als die Sozietät sie dem Einzelnen zubilligt.
Der Verwahrloste — wir sehen hier von Einzelfällen ab und halten uns an
Typisches — läßt natürlich durch die Art seiner Verwahrlosungsäußerungen
nicht sofort erkennen, aus welchen Störungen seines kindlichen Liebeslebens
seine Dissozialität erwachsen ist. Solange wir noch keine auf psychoanalytischer
Grundlage aufgebaute Beschreibung der Verwahrlosungsformen haben, möge es
Ihnen genügen, zu hören, daß sich diese im allgemeinen in zwei Hauptgruppen
teilen lassen; die neurotischen Grenzfälle mit Verwahrlosungserscheinungen und
Verwahrlosungen, bei denen in jenem Teile des Ichs, aus dem die Verwahr-
losung entstammt, neurotische Züge nicht nachweisbar sind. In den Fällen des
ersten Typus befindet sich das Kind oder der Jugendliche in einem durch die
Art seiner Liebesbeziehungen gewordenen inneren Konflikt: eine eigene Abwehr-
instanz in ihm selbst — wir kommen im letzten Vortrage des näheren darauf
zu sprechen — belegt in gewissen Situationen Liebesstrebungen mit einem Ver-
bot. In der Reaktion darauf kommt die Verwahrlosung zustande. In den Fällen
des zweiten Typus befindet sich der Dissoziale mit einem Teile oder der ge-
samten persönlichen Umwelt in offenem Konflikte: die in der ersten Kindheit
unbefriedigt gebliebenen Liebesstrebungen haben dazu geführt.
Diese wesentlichen Unterschiede in den Verwahrlosungsformen sind aus viel-
io6
fachen Gründen sehr zu beachten. Für uns augenblicklich wegen der Herstel-
lung der Übertragung, die in beiden Fällen auf verschiedenem Wege erreicht
wird.
Wir wissen alle, daß sie sich beim normalen Kinde durch eine wohlwollende
Aktivität des Erziehers sofort wie von selbst ergibt. Er wiederholt durch solches
Verhalten dem Kinde längst bekannte Situationen und ruft in diesem dadurch
elterliche Beziehungen zu seiner Person hervor. Er hält diese nicht nur auf-
recht, sondern vertieft sie noch, wenn er weiter in der elterlichen Situation ver-
bleibt.
Kommt ein neurotisches Kind mit Verwahrlosungserscheinungen in die Für-
sorgeerziehung, so steht die Tendenz, elterliche Beziehungen auf den Fürsorge-
erzieher zu übertragen, im Vordergrund. Der Fürsorgeerzieher wird sich zu
einem ähnlichen Verhalten wie dem normalen Kinde gegenüber entschließen
und es in positive Übertragung bringen, wenn er seine eigene Aktivität be-
trächtlich herabsetzt, um zu verhindern, daß sich mit ihm jene Situation wieder-
^ holt, die zum inneren Konflikte geführt hat. — Für die analytische Behand-
lung ist gerade die Wiederholung dieser Situation von Wichtigkeit. — Der
Fürsorgeerzieher wird der Vater, die Mutter sein und doch nicht ganz; er wird
deren Forderungen vertreten und doch nicht so wie diese; er wird im richtigen
Augenblicke dem Verwahrlosten zu erkennen geben, daß er ihn durchschaut
hat, und doch nicht dieselben Konsequenzen ziehen wie die Eltern; er wird
dem Strafbedürfnis entgegenkommen und es doch nicht ganz befriedigen.
Anders wird er sich benehmen, wenn er dem im offenen Konflikte befind-
lichen Verwahrlosten gegenübersteht. Mit diesem wird er sich zuerst verbünden,
begreifen, daß er recht hat, mit seinem Verhalten einverstanden sein und in
schwierigsten Fällen ihm gelegentlich sogar auch zu verstehen geben, daß er,
der Erzieher, es auch nicht anders machen würde. Ich bemerke hier andeu-
tungsweise, daß das Schuldgefühl, das der neurotische Grenzfall mit Verwahr-
losungserscheinungen so deutlich zeigt, auch in diesen Fällen nicht fehlt. Es
stammt aber nicht aus dem „Verwahrlosten-Ich", sondern kommt von anders-
woher.
Wir fragen uns, warum der Fürsorgeerzieher sich bei diesem zweiten Typus
Verwahrloster so ganz anders benimmt? Er hat ja auch diese Zöglinge in die
positive Übertragung zu drängen, und was beim normalen Kinde und dem neu-
rotisch Verwahrlosten anwendbar und angezeigt ist, würde hier das Gegenteil
bewirken. Der Erzieher zöge den ganzen Haß des Verwahrlosten gegen die Ge-
sellschaft auf sich, brächte ihn statt in die positive, in die negative Übertra-
gung und damit in einen Zustand, der für die Fürsorgeerziehung unbrauch-
bar ist.
Was ich Ihnen nun an theoretischen Erwägungen mitgeteilt habe, beleuchtet
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zwar einen Sachverhalt nur in den alleräußersten Konturen, dürfte aber für
eine erste Einführung ausreichen. Wer sich in die Probleme einer psychoanaly-
tisch orientierten Fürsorgeerziehung vertiefen will, wird sich allerdings mit
diesem sehr wichtigen Kapitel eingehend zu beschäftigen haben.
In der Praxis stößt die Anwendung der gewonnenen Einsicht auf große
Schwierigkeiten, weil wir es zumeist mit Mischformen zu tun haben, wodurch
das Verhalten des Erziehers nicht so einheitlich, wie ich es Ihnen schilderte,
bleiben kann. Die einzelnen Verwahrlosungsformen sind aber noch zu wenig
beschrieben, um in Einzelheiten gehende Anweisungen geben zu können. Was
sich an allgemeinen Regeln aufstellen läßt, ist auch bald erschöpft, so daß der-
zeit ein richtiges Vorgehen ohne intuitives Erfassen der Individualität des Ver-
wahrlosten kaum zu erreichen sein wird.
Vor allem ist der Zögling in die positive Übertragung zu bringen. Der Für-
sorgeerzieher wird sich dabei nicht von Zufälligkeiten abhängig machen, son-
dern bewußt so benehmen, daß in seinem Zögling Gefühle der Zuneigung zu
ihm entstehen, und vorbereitet sein, daß wirksame Erziehungsarbeit so lange
unmöglich ist, als diese fehlen. Für den Fürsorgeerzieher ist in dieser ersten
Phase des Zusammenseins mit dem Dissozialen das "Wichtigste, daß er dessen
psychische Situation erfaßt; denn nur dann kann er sein eigenes Verhalten
zweckentsprechend gestalten. Da ergibt sich eine neue Schwierigkeit aus dem
Benehmen des Verwahrlosten, der sich bemüht, sein wahres Wesen zu ver-
bergen, sich verstellt und lügt. Daß er sich nicht so zeigt, wie er wirklich ist,
müssen wir als eine begreifliche Tatsache hinnehmen.
Das darf uns weder überraschen noch aus dem Gleichgewichte bringen. Be-
denken Sie nur: der Verwahrloste kommt nicht freiwillig zu uns, sondern wird
gegen seinen Willen gebracht; gewöhnlich mit der Drohung: „Du wirst schon
sehen, was dir jetzt geschieht!" Es ist so ähnlich, wie Eltern ihre Kinder mit
der Schule schrecken, nur noch viel ärger. In der Regel suchen diese die Er-
ziehungsberatung erst dann auf, wenn schon alles mögliche und unmögliche
vergeblich versucht worden ist, gewöhnlich wenn auch stärkste körperliche
Züchtigung wirkungslos geblieben war. Ich bin dann für den Verwahrlosten
ein gegen ihn in Anwendung gebrachtes verstärktes Mittel, sein Gegner, vor
dem er sich mit besonderer Vorsicht wappnen und ganz außerordentlich auf
der Hut sein muß, und nicht der, der ihm helfen will. Es ist ein recht großer
Unterschied zwischen der ersten psychoanalytischen und der fürsorgeerzieheri-
schen Situation. Der Patient kommt freiwillig zum Analytiker, der soll ihn von
seiner Krankheit befreien, er ist sein Helfer. Ich bin dem Verwahrlosten eine
Gefahr, im gegebenen Augenblicke sogar die größte, weil ich ihm den Re-
präsentanten jenes Teiles der Gesellschaft darstelle, mit dem er in Konflikt lebt.
Und gegen dieses momentan größte Übel schützt er sich naturgemäß durch be-
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sondere Vorsicht in seinen Äußerungen, in dem Bestreben, sich nur ja keine Blöße
zu geben. Manchmal ist er außerdem noch sehr schwer zum Reden zu bringen,
bleibt je nach seiner individuellen Eigenart verstockt und trotzig. Und eines
haben sie alle gemeinsam: sie lügen! Zuweilen ungeschickt dumm, manchmal
erbarmungswürdig dumm, aber je älter sie sind, um so raffinierter. Daran än-
dert nichts, wenn einmal einer besonders unterwürfig kommt, sehr elegant, jovial
auftritt oder scheinbar von Aufrichtigkeit überfließt, dann ist er besonders
schwer zugänglich.
Dieses Verhalten der Verwahrlosten ist uns so bekannt, daß wir weder er-
staunt noch entrüstet sind, immer wieder dasselbe bestätigt zu finden. Der An-
fänger ärgert sich leicht, namentlich dann, wenn die Lügen recht durchsichtig
sind. Das muß er sein lassen. Der Verwahrloste merkt dies sofort. Ohne dem
Verwahrlosten zu sagen, daß er dieses Verhalten kennt, muß er seine ersten
Maßnahmen treffen.
Es ist im Benehmen des Dissozialen auch wirklich nichts besonderes. Was
in dieser Richtung zutage tritt, unterscheidet sich nur quantitativ vom Ver-
halten des Sozialen. Auch dieser verbirgt sehr viel von seinem wahren Wesen,
verbraucht einen großen Teil seiner psychischen Energie dazu, um seinem
Nebenmenschen zu zeigen, wie er „nicht" ist. Auch er läuft den ganzen Tag
mit einer Maske herum, dicht oder weniger dicht, je nach Notwendigkeit, hinter
der es anders aussieht, als der „liebe Nächste" zu sehen bekommt. Nur ganz
Auserwählten wird Einblick in das gewährt, was wirklich in uns vorgeht. Die
meisten Menschen erleben schon von der Kinderstube an die Notwendigkeit,
sich so zu geben, wie es die Umgebung verlangt, und dadurch bildet sich die
Maske, die dann fürs Leben von unbewußten und bewußten Kräften gehalten
wird.
Wer halbwegs in die Kinderstube Einblick hat, muß bemerken, wie sich die
Kinder sofort verstellen, wenn der Erwachsene eintritt. Den meisten Kindern
gelingt auch, sich so zu benehmen, wie sie meinen, daß es erwartet wird. Durch
solches Verhalten weichen sie Gefahren aus, so formen sich aber auch Gesichter
und Äußerungen dauernd zur Schablone. Wie viele Eltern kümmern sich wirk-
lich, was dahinter das wahre Leben des Kindes ist? Und diese Maske muß etwas '
Notwendiges für das Leben sein? Ich weiß es nicht, aber es scheint, daß der,
dem die Kindheit die geschickte Maske aufgezwungen hat, der realitätsfähigere
ist als der andere. Wir erleben es im Alltag so oft, daß der Schiffbruch leidet,
der sich offen gibt.
Warum sind wir also erstaunt, daß der Verwahrloste sich noch mehr maskiert
und die bewußten Anteile daran weit größere sind, als beim Nicht- Verwahr-
losten? Er zieht nur die Konsequenzen aus den gemachten bösen Erfahrungen.
Streifen wir unsere Heuchelei ein wenig ab, warum soll gerade er und gerade
IO<)
vor mir, dem Vertreter aller ihm unangenehm gewordenen Autoritäten, auf-
richtig sein? Ein sehr unbilliges Verlangen!
Ich muß Sie auch hier auf Unterschiedliches zwischen Erziehungs- und
analytischer Situation aufmerksam machen. Der Analytiker erwartet von seinem
Patienten unbewußte Widerstände, die ihn hindern, aufrichtig zu sein, höchstens
noch ein absichtliches Verschweigen, er stellt aber die Behandlung als zwecklos
ein, wenn der Erkrankte beharrlich lügt. Für den Fürsorgeerzieher ist aber die
anfänglich immer gegebene und nicht zu umgehende Situation die, daß er an-
gelogen wird. Den Zögling deswegen wegschicken, hieße aber, als Fürsorge-
erzieher kapitulieren. Wir müssen trotz dieser Schwierigkeit ausharren und
eben versuchen, hinter die Maske zu kommen, die den wahren psychischen Zu-
stand verdeckt. In der Anstalt hat es nicht viel zu bedeuten, wenn das erst ein
St wenig später gelingt, es wird sich nur die Herstellung der Übertragung hinaus-
schieben. Nicht mehr belanglos ist es aber in der Erziehungsberatung. Wie Sie
schon gesehen haben, genügt nicht immer eine Beratung, es schließt sich recht
häufig eine Erziehungsmaßnahme an. Nun bekommen wir in der Regel den
Verwahrlosten nur einigemal zu sehen, haben oft schon nach der ersten oder
nach wenigen Unterredungen irgendwie einzugreifen und sind daher gezwungen,
uns möglichst rasch ein Bild vom psychischen Zustande des Verwahrlosten zu
machen, beziehungsweise die Übertragung möglichst rasch herzustellen, das heißt
aber, noch rascher hinter die Maske zu kommen, sie zumindest ein wenig zu
lüften. Noch ein Übelstand zwingt uns zu rascher Arbeit. Ist der Verwahr-
loste nicht anstaltsbedürftig, so kehrt er von uns jedesmal wieder in die alte
Umgebung zurück und bleibt den Milieu-Einflüssen, die seine Dissozialität mit-
bedingt hatten, weiterhin ausgesetzt. Da ist es nun auch nicht mehr gleich-
gültig, wie lange die Übertragung auf sich warten läßt. Wir haben ein Interesse,
sie in möglichst kurzer Zeit herzustellen, die Gefühle der Zuneigung, die sich
im Zusammensein mit uns zu uns zu regen beginnen, rasch zu einer solchen
Intensität zu steigern, daß sie durch die alten Einflüsse nicht mehr leicht zer-
stört werden können.
Es ist ziemliche Erfahrung in der Behandlung Verwahrloster erforderlich und
der Fürsorgeerzieher muß mit vielen von ihnen zu tun gehabt haben, ehe er
die schwierige Aufgabe der Erziehungsberatung übernehmen kann.
Brechen wir unsere theoretischen Erörterungen hier ab und sehen wir, wie
der Fürsorgeerzieher in der Praxis versucht, die psychische Situation des Kindes
oder Jugendlichen zu erfassen, um dann die Übertragung herzustellen, beziehungs-
weise wie sie sich schon von selbst während des Lüftens der Maske einstellt.
Ich bin zwar nicht in der Lage, Ihnen angeben zu können, wie andere ver-
suchen, die Übertragung herzustellen; das weiß ich nicht. Ich werde versuchen,
Ihnen zu zeigen, wie ich mich gewöhnlich und nicht ganz erfolglos verhalte.
iio
Versetzen Sie sich in die Erziehungsberatung, und nun tritt ein Verwahr-
loster herein, dem auf den ersten Blick der brutale Gewaltmensch anzusehen
ist. Wenn Sie dem mit der ihm bisher gewohnten Strenge entgegentreten, so
lehnt er sich sofort auf und die Übertragung stellt sich nicht her. Sind Sie
entgegenkommend, freundlich, liebenswürdig, so wird er durch Ihr ihm unge-
wohntes Benehmen mißtrauisch und lehnt Sie aus diesem Grunde ab, oder er
nimmt Sie für den Schwächeren und reagiert mit erhöhter Brutalität.
Fassen Sie den intellektuell Hochwertigeren strenge an, so fühlt er sich sofort
als Herr der Situation, er steht auf ihm bekanntem Boden, so kommen ihm so
und so viele draußen im Leben entgegen. Bei wohlwollendem Entgegenkommen
hält er Sie für den besonders Schlauen und ist noch weit mehr auf der Hut
als sonst.
Die Ängstlichen, Verschüchterten sind bei schärferem Anpacken leicht ge-
neigt zu weinen oder in die Verfassung zu kommen, die mit Trotz zu verwech-
seln ist.
Wie sollen wir uns nun benehmen, wenn das eine und das andere nicht ge-
eignet ist, den Verwahrlosten in die erforderlichen Gefühlsbeziehungen zu
bringen? Wenn der Verwahrloste gebracht wird, erfolgt meinerseits ein erster
Moment freundlicher Beachtung: das eine Mal nur ein Blick, ein andermal ein
Begrüßungswort oder ein stummer Händedruck, dann wieder eine Bemerkung,
daß von mir nichts zu fürchten sei, daß er in mir weder einen Polizeiagenten
noch einen Untersuchungsrichter vor sich habe. Mitunter leitet auch ein
Scherzwort unser Bekanntwerden ein. Zuweilen erfolgt auch ein prüfendes
Messen. Immer aber lasse ich den Dissozialen zu mir setzen und den Jugend-
lichen spreche ich mit „Sie" an, bis sich die Übertragung hergestellt hat, um
dann mit „Du" fortzufahren. Was von dem Gesagten im konkreten Falle zu
machen ist, oder wie sonst noch dieses erste Umfassen und Erfassen der Per-
sönlichkeit zur Einleitung der Übertragung erfolgt, überlasse ich dem Augen-
blicke, das muß ich fühlen, wenn der Verwahrloste bei der Türe hercintritt.
Ich halte diesen ersten Augenblick der Begegnung für außerordentlich wichtig,
es ist mehr als ein orientierendes Abtasten und muß mit einer gewissen Sicher-
heit erfolgen, auch raschestens beendet sein, weil es in den meisten Fällen den
Ausschlag für die erste Gestaltung unserer Beziehungen gibt. Sie dürfen nicht
übersehen, daß der Verwahrloste bei seinem Hereintreten mit mir dasselbe
macht, wie ich mit ihm. Auch er versucht, sich möglichst bald klar zu werden,
wen er vor sich hat. Kinder sind in dem Bemühen, sich rasch zu orientieren,
zumeist recht ungeschickt. Der Jugendliche entwickelt zuweilen ein unglaub-
liches Raffinement. Man merkt oft ein Aufblitzen im Auge, das sofort wieder
einem gleichmäßigen Ausdruck Platz macht, ein kaum erkennbares Verziehen
des Mundes, eine unwillkürliche Geste, dann zuwartende Haltung, aber Zweifel-
III
los in Kampfstellung, je älter er ist, desto schwieriger zu erkennen, wenn er
sich nicht sofort in die Situation des Trotzes oder der offenen Auflehnung
begibt. Besondere Schwierigkeiten sind gegeben, wenn einer mit der Maske
liebenswürdiger Aufrichtigkeit oder gleißender Unterwürfigkeit kommt. Auf
diese gehe ich sofort ein und nehme sie für wahr, wodurch sich der Verwahr-
loste sofort über mir fühlt, trotzdem er aus der Art meines Anfassens ein
Stück Aktivität spürt.
Nach dem in Bruchteilen von Sekunden erledigten Sich-gegenseitig-Erkennen-
wollen beginnt ein Kampf um die Vorherrschaft, der oft nur kurz währt,
manchmal aber sehr zähe fortgesetzt wird und aus dem ich, wie ich Ihnen
ganz offen eingestehe, nicht immer als Sieger hervorgehe. Sie dürfen sich
mein und des Verwahrlosten Bemühen aber nicht als ein Aufeinanderprallen
nur bewußter Kraftäußerungen vorstellen; es sind viele unbewußte Anteile
daran beteiligt, man fühlt mehr was vorgeht, als man unter intellektuelle
Kontrolle stellt.
Mein Benehmen läßt den Verwahrlosten im ersten Augenblick unseres
Zusammenseins in mir eine ihm überlegene Kraft fühlen. Dadurch wird seine
Erwartung, einer Gefahr entgegen zu gehen, bestätigt. Er befindet sich nicht in
einer ihm neuen Situation, er hat diese so und so oft erlebt. Ich bin auch nicht
anders als die anderen: Vater, Mutter, Lehrherr, Lehrer. Ist er der neurotische
Grenzfall mit Verwahrlosungserscheinungen oder steht bei Mischformen diese
Seite im Vordergrund, so bleibe ich in der elterlichen Situation, nur verhalte ich
mich, wie ich Ihnen schon gesagt habe, im weiteren Verlaufe etwas anders als
diese. Ist er der Verwahrloste im offenen Konflikt und erwartet nun den An-
griff, so erfolgt dieser nicht. Ich frage ihn nicht, was er angestellt hat, dringe
nicht in ihn, mir zu sagen, warum das oder jenes vorgekommen sei, will von
ihm nicht, so wie bei der Polizei oder beim Jugendgericht, Dinge wissen, die
preiszugeben er absolut nicht geneigt ist. Ja ich sage in Fällen, wo gerade diese
Fragen von ihm gewünscht werden, um in die richtige Oppositionsstellung
kommen zu können, daß er alles verschweigen dürfe, was er nicht sagen wolle;
daß ich seine Vorsicht einem Menschen gegenüber, den er zum erstenmal sieht,
begreife. Wenn ich dann noch hinzufüge, ich würde es auch nicht anders
machen als er, geht er mir gewöhnlich willig auf ein Gesprächsthema ein, das
weitab von seiner dissozialen Handlung liegt, aber aus seinem Interessenkreise
sich ergibt. Wenn ich Ihnen mein Verhalten nach dem Moment, in dem der
Junge ein Stück Aktivität in mir gespürt hat, mit einem Worte erklären
könnte, so würde ich sagen, ich werde passiv und um so passiver, je mehr der
Verwahrloste den Angriff von mir erwartet. Dessen Ausbleiben läßt ihn
erstaunen, dann unsicher werden, er weiß sich auf einmal nicht mehr zurechtzu-
finden und fühlt mehr als er erkennt, ich bin nicht der Erwachsene, nicht die zu
n
l
112
bekämpfende Autorität, sondern der verständnisvolle Verbündete. Ich vermeide
absichtlich das Wort Freund, denn diesen hat er nicht, er geht mit dem anderen
nur zusammen, wenn es die Erreichung eines bestimmten Zweckes gilt.
Wenn ich mit Wiener verwahrlosten Jugendlichen zu tun habe, dann fange
ich natürlich auch von Dingen zu sprechen an, die ihrem Interessenkreise ange-
hören, aber weitab von ihren dissozialen Handlungen liegen. Unter zehn solcher
sind mindestens acht, bei denen ein Zugang über das Fußballspiel zu finden ist.
Man muß nur über die einzelnen Fußballvereine, deren erste Spieler, die letzten
Matches, den letzten Stand in den Meisterschaftsspielen usw. gut orientiert sein.
Über die Lektüre kommt man ihnen seltener näher, im Mittelpunkte des Inter-
esses stehen Percy Stuart, der kühne Abenteurer, und Stuart Webbs, der Meister-
detektiv. Weit eher gelingt es, über das Kino, und da vorwiegend über das
Detektivdrama, die Vorsicht in der Rede zum Verschwinden zu bringen.
Bei kleinen Mädchen sind Märchen, die sie kennen, und das kindliche Spiel
Anknüpfungsmöglichkeiten. Man braucht aber nicht immer sehr weit auszuholen,
vielfach leitet schon eine Bemerkung, die ich über die bunte Kopfmasche, das
Jäckchen, die Ohrringe mache, das Gespräch ein, das dann fließend weitergeht.
Wenn ich mir von halbwüchsigen Mädchen die neueste Schuhform und die
Preise von Toiletteartikeln angeben lasse, Interesse für die gegenwärtig in Mode
stehende Strumpffarbe und in neuester Zeit auch für den „Bubikopf" zeige, geht
es auch da weiter.
Komme ich bei den Kleinsten, die gar nicht reden wollen, darauf zu fragen,
was sie am liebsten essen, und von der Mehlspeise, die sie besonders vorziehen,
auf die Schokolade zu sprechen, so entwickelt sich auch mit ihnen in der
kürzesten Zeit eine Unterhaltung, deren Kosten das Kind trägt, wie in den
anderen Fällen der oder die Jugendliche. Es findet sich dann einmal leichter, ein
andermal schwieriger, aber regelmäßig die Möglichkeit, ganz unmerklich auf das
zu kommen, was ich eigentlich wissen will. Zumeist stellt sich schon beim ersten
Zusammensein die Übertragung so weit her, daß ich Aufklärung erhalte und
Einfluß gewinne.
Wir müssen uns in der Erziehungsberatung auch möglichst rasch über die
Stellung des Verwahrlosten zu den Personen seiner nächsten Umgebung orien-
tieren, müssen wissen, welche Beziehungen er zu Vater, Mutter, den Geschwistern
und sonst noch in Frage kommenden Personen hat. Jugendliche geben uns auf
direktes Fragen in den meisten Fällen die richtige Antwort, nicht so Kinder, um
so weniger, je jünger sie sind. Sie beantworten solche Fragen überhaupt nicht
oder in einer für uns vollständig wertlosen Art. Wir müssen es daher auf einem
Umwege erfahren; die Lektüre und das kindliche Spiel ermöglichen uns solchen.
Ein zehnjähriges Mädchen fragte ich, ob es gerne lese? Nach Bejahung dieser
Frage wollte ich wissen, wofür es besondere Vorliebe habe.
H3
„Für Märchen."
„Sage mir nun rasch, ohne nachzudenken, ein Märchen, das dir einfällt, ganz gleich-
gültig welches!" — „Schneewittchen."
„Welche Stelle von Schneewittchen?" — „Wie die alte Hexe dem Schneewittchen
den vergifteten Apfel verkauft."
„Waren in deinem Märchenbuche Bilder?" — „Ja."
„War auch ein Bild von der Hexe?" — „Ja."
„Beschreibe mir nun einmal die Hexe, aber nicht so wie sie auf dem Bilde war,
sondern so, wie du sie dir vorstellst!"
Die Hexe wurde nun in allen ihren Einzelheiten besprochen, Körpergröße,
Haarfarbe, Aussehen des Gesichtes, Mund, Zähne, Kleidung usw. Aus der Be-
schreibung und dem Abfragen, woher sie die einzelnen Details der Hexe
genommen habe, ergab sich, daß diese eine Mischfigur von Personen war, die
das Kind ablehnte. Ich muß Sie aber aufmerksam machen, daß wir damit nicht
eine allgemein gültige Regel gefunden haben. Nicht immer stimmt eine aus ähn-
lichen Märchen oder Geschichtensituationen gewonnene Mischfigur mit der tat-
sächlichen Stellung des Kindes zu den Personen seiner Umgebung überein. In
einer großen Anzahl von Fällen habe ich durch die Nachprüfung dasselbe Er-
gebnis wie in dem besprochenen Falle gefunden, in anderen Fällen deckte sich
die Mischfigur nicht mit den abgelehnten Personen der Umgebung. Wann die
Übereinstimmung zu konstatieren ist und wann nicht, bedürfte einer beson-
deren Auseinandersetzung.
Ein anderes, etwas jüngeres Mädchen fragte ich, womit es sehr gerne spiele,
und erhielt zur Antwort, mit Puppen. Ich ließ mir nun von ihm eine Puppe
beschreiben, die ihm sehr gut gefallen würde. Die Beschreibung mußte aber bis
in die kleinsten Einzelheiten gehen. Das Abfragen dieser, der Vergleich mit Per-
sonen aus der Umgebung ergab wieder eine Mischfigur, diesmal aber nicht von
solchen, die abgelehnt, sondern solchen, die geliebt wurden.
Ein zwölfjähriges Schulmädchen sitzt vor mir. Weder der Gesichtsausdruck
noch eine Bewegung oder ein Wort lassen die Stimmung, überhaupt die Ge-
fühlskonstellation, in der es sich augenblicklich befindet, erkennen.
Ich frage das Kind, welche Farbe ihm sehr gut gefällt, und erhalte zur Ant-
wort: „Rot." Ich fahre fort:
Wenn ich mir eine Farbe vorstelle, so sehe ich sie immer an einem Gegenstande,
an welchem siehst du die rote Farbe?" — „An dem vordersten Wagen der Grotten-
bahn im Prater", ist die Entgegnung.
„Nun gut, aber sage mir jetzt, welche Farbe du gar nicht magst!" — „Schwarz."
„Woran siehst du die schwarze Farbe?" — „An Ihren Schuhen und Ihrer Krawatte."
„Die schwarze Farbe kommt aber sicher auch noch anders wo vor, wo denn?" —
„Das Loch, in das die Grottenbahn im Prater hineinfährt, ist auch so schwarz."
8 Aichhotn, Verwahrloste Jugend
ii4
Was das alles bedeuten könnte, kommt in diesem Augenblick nicht in Frage,
sondern nur das eine, daß eine Verschiebung der ängstlichen Erwartung vor
dem Antritte der Fahrt auf der Grottenbahn im Prater auf meine Person statt-
gefunden hat. Die Kleine sitzt in derselben ängstlichen Spannung, wie damals
im Wagen der Grottenbahn vor mir. Sie mag sich die Frage vorlegen: „Was
wird jetzt kommen?" Woraus ist das zu erkennen? Meine Krawatte, die in
Wirklichkeit dunkelgrau war, und meine Schuhe haben für das Kind die Farbe,
die sie nicht mag, die auch das Loch zeigt, in das die Grottenbahn fährt! Sie
sehen, wie rasch man hier auf einige Fragen Antworten erhielt, die mit abso-
luter Sicherheit einen Schluß auf die vorhandene psychische Situation des Kindes
zuließen. Auf eine direkte Frage hätte ich sicherlich eine unbefriedigende Ant-
wort erhalten; denn es ist anzunehmen, daß das Kind, selbst wenn es die Wahr-
heit zu saeen bereit gewesen wäre, nichts über seine Gefühlssituation zu sagen
gewußt hätte.
Solange nun diese ängstliche Stimmung anhält, ist erzieherisch nichts zu
machen. Ich weiß nun nicht, wie sie damals verlief, lasse mir daher die Fahrt
auf der Grottenbahn erzählen. Es waren im geheimnisvollen Dunkel grell
beleuchtete Bilder aufgetaucht, Teufel, die im höllischen Feuer die armen Seelen
brieten, Zwerge, die tief im Inneren der Erde nach Schätzen gruben und noch
manch andere Dinge. Etwas Unheimliches hat während der ganzen Fahrt ange-
halten und zu richtiger Lustigkeit war es nicht gekommen. Wir wanderten daher
in der Erinnerung in den Wurstelprater, von einer Schaubude zur anderen,
fuhren auf verschiedenen Ringelspielen und unter Lachen erzählte sie vom
komischen Bauchredner, der auch die Zukunft vorhersagen kann. Als ich dann
noch fragte, welches lustigste Erlebnis sie erinnere, erzählte sie nochmals begei-
stert von einer Praterfahrt anläßlich ihrer Firmung. Damit war ein vollständiger
Stimmungsumschwung ins Positive erreicht, aber auch schon das Stück Über-
tragung da, das für eine erste Unterredung notwendig ist. Jetzt war sie auch
für Fragen zugänglich, die das betrafen, worauf es eigentlich ankam. Ich brauche
wohl nicht besonders aufmerksam zu machen, daß das Kind selbst keine Ahnung
von meiner Absicht hatte.
Manchmal aber blitzt auch tiefes Mißtrauen auf. Vielleicht habe ich da etwas
nicht richtig gemacht, oder es ist wieder eine besondere Art von Menschen. Da
muß ich es dann wieder anders machen. Ich teile Ihnen gleich einen solchen Fall
mit, und wie es mir gelang, nicht nur das Mißtrauen zum Schwinden zu bringen,
sondern in der kürzesten Zeit mitten in das hineinzukommen, worauf es ankam.
Ein sechzehnjähriges Mädchen, das früher nach seinem Benehmen, der Klei-
dung, Haartracht, den Eindruck erweckt hatte, der geheimen Prostitution
ergeben zu sein, zeigte sich plötzlich vollständig verändert. Der freche Gesichts-
ausdruck war verschwunden, Kleidung und Benehmen waren das eines gesitteten,
«5
anständigen Mädchens geworden. Die Fürsorgerin wollte von mir wissen, was
da vorgegangen war. Das konnte ich natürlich nicht ohne weiteres wissen, son-
dern verlangte die Jugendliche zu sehen. Wir setzten uns nach der Ihnen nun
schon bekannten Einleitung, die ganz deutlich zu erkennendes Mißtrauen aus-
gelöst hatte, zusammen. Ich fragte sie, wie es ihr zu Hause gehe, und erhielt
keine Antwort. Ob sie gerne lese? Keine Antwort. Woran sie jetzt denke? Keine
Antwort. Ob sie mir nicht einen Traum erzählen wolle? Wieder Stillschweigen.
Daraufhin lachte ich und sagte: „Nicht wahr, es erscheint Ihnen gefährlich, nur
irgend etwas zu sagen, das begreife ich. Aber nicht wahr, es ist doch gewiß
ganz ungefährlich, wenn Sie mir ein Kinostück erzählen." Sie ging mit Lachen
auf den Scherz ein und begann ein Stück von einem Kinodrama zu erzählen:
Ein Zirkusakrobat, der auf hochschwebendem Reck durch eine brennende Kugel
fliegen muß, wird von zwei Mädchen geliebt, von denen das eine aus Eifersucht
die Seile durchschneidet und so verursacht, daß der Mann, statt durch die bren-
nende Kugel zu fliegen, in diese hineinfällt. Das zweite Mädchen rettet ihn vor
dem Verbrennungstode, geht aber dabei selbst zugrunde. Dies der kurze Inhalt
ihrer Erzählung, von der ich Ihnen nebenbei verrate, daß sie mit dem wirk-
lichen Inhalte des Kinodramas gar nicht übereinstimmte, sondern in wesent-
lichen Einzelheiten eine höchst persönliche Verarbeitung von Gesehenem dar-
stellte. Ich fragte sie, was ihr in diesem Kinostück am besten gefallen habe, und
erhielt die vermutete Antwort, daß sich das Mädchen für den Geliebten opferte.
Ich wollte nun wissen, ob sie sich noch erinnere, wie der Akrobat auf dem Kino-
film ausgesehen habe. Auf das Ja forderte ich sie auf, ihn mir so zu beschreiben,
wie er aussehen müsse, damit er ihr sehr gut gefalle. Sie beschrieb ihn als einen
jungen, schlanken, kräftigen, brünetten, bartlosen Mann mit hellen Augen. Und
nun forderte ich sie auf: „Sage mir, wie sieht der Franzi aus!" Sie verstand
mich sofort, daß ich damit ihren Geliebten meine, wurde einen Augenblick ver-
legen und beschrieb ihn dann so, wie eben den Helden im Kino. Sic erzählte
sofort, ohne weitere Aufforderung, daß er Student der Chemie sei, die Mutter
ihr aber den Verkehr mit ihm verbiete. Es war ganz deutlich zu erkennen, daß
die wesentliche Änderung des jungen Mädchens in der Richtung zum Besseren
der Konzentrierung ihrer Zuneigung auf einen Mann zugeschrieben werden
muß. Es gelang hier, durch das Eingehen auf das Mißtrauen verhältnismäßig
rasch über den Widerstand hinwegzukommen.
Daß mir die Übertragung auch dazu verhelfen kann, auf tieferliegende Ur-
sachen dissozialer Äußerungen aufmerksam zu werden, möchte ich Ihnen an
einem besonderen Falle zeigen.
Eine Bürgerschule zeigte an, daß einer ihrer dreizehnjährigen Schüler seit
einigen Monaten regelmäßig an Dienstagen und Freitagen dem Schulunterrichte
fernbleibt. Die Erhebungen ergaben, daß er, statt in die Schule zu gehen, den
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Pferdemarkt besucht, dort aber kein materielles Interesse befriedigt, etwa durch
kleine Hilfeleistungen zu sogenannten Trinkgeldern kommt, sondern sich nur
unter den Pferdeverkäufern herumtreibt. Nach der Schulanzeige lag also ein
Schulschwänzen an bestimmten Tagen vor. Ich sehe nun, wie ich Ihnen schon
einmal angedeutet habe, nicht jede der aus der Norm herausfallenden Äuße-
rungen als eine wer weiß wie tief begründete Sache an, sondern versuche zuerst
immer mit den einfachsten Hilfsmitteln auszukommen. Da ich bei Schul-
schwänzern wiederholt recht gute Erfahrungen machte, wenn ich nach her-
gestellter Übertragung ihnen zeigte, daß mir ihr regelmäßiger Schulbesuch Freude
macht, so versuchte ich das auch bei diesem Jungen. Sie müssen wissen, daß sich
bei einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Kindern zu Hause niemand um den
Schulbesuch kümmert, daher sehr oft keine Motive vorliegen, Unlustsituationen
der Schule zu ertragen. Weiß so «in Junge, daß er mir Freude macht, wenn er
nicht mehr die Schule meidet, kommt er die erste Zeit wöchentlich einmal, dann
nur jede zweite Woche und später in immer größeren Zeitabständen; findet er
bei mir ein williges Ohr für die schönen und unangenehmen Erlebnisse der abge-
laufenen Schulwoche, so lebt er sich nach und nach wieder in der Schule ein und
die Schwänzerei ist erledigt. Auch bei unserem Pferdemarktjungen war die Über-
tragung bereits beim ersten Zusammensein hergestellt. Er kam die nächste Woche
darauf und auch die übernächste mit den Mitteilungen, wie sie mir von anderen
bekannt waren. Am Dienstag der dritten Woche erschien gleich nach seinem
Weggehen die Mutter und berichtete, daß er jetzt zwar regelmäßig die Schule
besuche, aber zweimal in der Woche mittags gar nicht nach Hause komme, son-
dern erst abends. An dem seinen Kleidern entströmenden Gerüche nehme sie
wahr, daß er sich in einem Pferdestalle herumgetrieben habe.
Wir sehen hier, daß die Übertragung einem Symptom den Weg zur Äußerung
versperrt hat, die es bedingende Kraft aber fortwirkt und ein neues zustande
bringt. Unser Junge kann infolge der Gefühlsbeziehungen zu mir von der
Schule nicht mehr wegbleiben. Und nun zeigt es sich ganz deutlich, daß nicht
ein Schulschwänzen im gewöhnlichen Sinne des Wortes vorliegt. Irgend etwas
zieht ihn zu Pferden, Schulzeit und Pferdemarkt fallen nur zufällig zusammen.
Die Übertragung ist hier zum Hilfsmittel geworden, um zu erkennen, daß doch
eine tiefer liegende Ursache vorhanden sein müsse. Diese wird auf psychoanaly-
tischem Wege zu beheben sein.
Ich kann Ihnen nicht mehr als diese kurzen Andeutungen machen, weil ich
die uns noch zur Verfügung stehende Zeit verwenden möchte, Ihnen doch auch
einiges von der Herstellung der Übertragung in der Fürsorgecrziehungsanstalt
mitzuteilen. Aus dem Ihnen bisher Gesagten dürfen Sie aber nicht den Schluß
ziehen, daß ich schon zu feststehenden Regeln gekommen sei, deren Anwendung
Ihnen in allen Fällen die Erschließung der psychischen Situation und die Her-
n 7
Stellung der Übertragung ermöglicht. Ich will Sic mit meinen Andeutungen in
Ihrer Praxis nur vor den allergröbsten Fehlern bewahren.
Stehen wir dem Fürsorgeerziehungszögling in der Anstalt gegenüber, so sind
wir nicht gezwungen, uns auf eine rascheste Herstellung der Übertragung ein-
zustellen. Wir können zuwarten, kümmern uns daher, wenn es sich nicht um den
neurotischen Grenzfall mit Verwahrlosungserscheinungen handelt, bei seinem
Eintritte nicht sehr viel um ihn, sind zwar freundlich, zeigen aber kein beson-
deres Interesse für ihn und sein Schicksal und drängen uns ihm schon gar nicht
auf. Es berührt uns weder sein Mißtrauen, seine offene oder stille Opposition,
seine vornehme Überlegenheit noch die stille Verachtung, die er uns entgegen-
bringt. Die Vorbereitungen zur Einleitung der Übertragung übernehmen die
Zöglinge der Ein- und Auslaufgruppe. Mit den Altersgenossen kommt er in der
Regel sehr rasch in Kontakt. Nicht, daß er sich diesen so gäbe, wie er wirklich
ist, oder deren Freundschaft suchte, Freunde braucht er nicht, wie wir schon
wissen. Auch diesen eröffnet er sein wahres Wesen nicht, spricht von sich nicht,
oder erzählt von den Vergehungen und Verbrechen mit viel Übertreibungen,
erfindet gelegentlich ganz besondere Sachen, wenn ihm nicht genug imponie-
rende tatsächliche zur Verfügung stehen. Aber erfahrungsgemäß erkundigt er
sich sofort näher um die Einzelheiten des Betriebes und um die Personen, mit
denen er in Berührung kommt. So ist beispielsweise die erste Frage, ob der Er-
zieher ein „fescher Kerl" sei und ob und wie dieser sich „pflanzen" läßt. Ich
kann Ihnen diese Ausdrücke nicht ins Hochdeutsche übersetzen, sie verlieren
dabei zu viel an Inhalt. Von den zur Entlassung bereits reifen Zöglingen erfährt
er nun vieles. Diesen sind auch die Eigenheiten der Erzieher nicht fremd
geblieben. Was er zu hören bekommt, ist wirkliches Leben, geschildert so, wie
es die einzelnen sehen. Er erhält dadurch nicht erste Eindrücke, die ihn durch
spätere Erfahrungen enttäuschen, lernt nicht eine Autorität kennen, über die er
sich, innerlich lachend, hinwegsetzt, oder die er mit Zähneknirschen erträgt, weil
er keine Wahl hat, um sich dann später in der Freiheit wieder zu rächen.
Die Übertragung auf den Erzieher ergibt sich dann, wenn das Milieu seine
Schuldigkeit getan hat, im Zusammenleben mit diesem, auf die eine oder andere
Art, indem der Erzieher sich nach und nach aus seiner Passivität herauslocken
läßt, bei gleichmäßig freundlichem Ton den „Neuen" einmal mehr, ein ander-
mal etwas weniger beachtet. Dieser Wechsel zwischen deutlichem Sehen und
weniger deutlichem Erkennen läßt den Zögling nicht gleichgültig. Wird er miß-
trauisch, weil ihn der Erzieher heute mehr beachtet hat, als seiner Meinung nach
am Platze war, so schwindet diese Auffassung, wenn er morgen nicht aus der
Masse herausgehoben wird, der Erzieher, ohne von ihm besonders Notiz zu
nehmen, vorübergeht. Er gerät aber in unschwer zu erkennenden Erregungs-
zustand, wenn er am übernächsten Tag einen Blick des Erziehers auffängt, aus
u8
dem er spüre, daß dieser seine ungeputzten Stiefel wenig freudig bemerkt hat
und doch darüber nicht spricht. Sie glänzen dann mehr oder werden noch
schmieriger, je nach der Art der sich regenden Übertragung, oder bleiben unver-
ändert, wenn diese noch nicht unterwegs ist. Dann heißt es eben zuwarten. Was
ich von den Schuhen gesagt habe, läßt sich an einer Menge anderer Kleinig-
keiten des Alltags auch bemerken. Der Erzieher muß nur scharf hinsehen. Er
bedarf dann allerdings eines feinen Gefühles, um die Ambivalenz, den Wechsel
zwischen Zuneigung und Ablehnung, in den Beziehungen des Zöglings zu ihm zu
erkennen. Es läßt sich dafür wieder keine allgemein gültige Unterweisung
geben. Man muß es miterleben, wie der tüchtige Erzieher diese Wellenbewegung
dirigiert, das Wellental immer mehr zum Verflachen bringt und zielbewußt
einem Wellenberge, einem Höhepunkt zustrebt. Dessen Erreichung ist dann so
auffällig, daß er auch dem ungeschulten Auge nicht entgehen kann. Die Ge-
fühle der Zuneigung brechen mit einer Vehemenz durch und haben für den
Zögling derart zwingende Kraft, daß er, ganz gleich, ob Kind oder Jugend-
licher, den Erzieher hochgespannt erwartet, sich so benimmt, daß er diesem auf-
fällig werden muß, ihm ununterbrochen über den Weg läuft, immer etwas zu
tun hat, um in seiner Nähe zu bleiben. Der ungeschickte Erzieher wird die Be-
deutung dieses Momentes nun nicht erkennen, den auf einmal so aufdringlich
Gewordenen abwehren und nicht bemerken, daß er durch sein Verhalten die
Zuneigung des Zöglings zu sich in Haß gegen sich verwandelt. Im Gegenteil,
wenn die Haßreaktionen eintreten, wird er hocherfreut darauf hinweisen, daß
er den Heuchler, der erst jetzt sein wahres Gesicht zeigt, immer durchschaut
hat. Wenn wir ihm dann sein ungeschicktes Verhalten begreiflich machen wollen,
predigen wir tauben Ohren; denn es ist ihm nicht begreiflich zu machen, daß
das Wirkung ist, was er für die Ursache hält.
Wie schwierig manchmal die Übertragung bei stark narzißtischen, das heißt in
sich selbst sehr verliebten Zöglingen herzustellen ist, möchte ich Ihnen an einem
Zögling des Erziehungsheimes in Oberhollabrunn zeigen.
Es handelte sich um einen siebzehnjährigen Lebemann und Spieler, der sich
zuerst als Börsenspekulant und dann als Schleichhändler sehr hohe Beträge ver-
diente. Seine Laufbahn begann er als Kontorist, kam als Fünfzehnjähriger zu
einem Winkelbankier, der den intelligenten, sehr verwendbaren Jungen mit
Börsenaufträgen betraute und ihm ermöglichte, Geschäfte auch auf eigene Rech-
nung zu machen. So brachte er 35.000 Kronen zusammen, mit denen er sich
selbständig machte. Für das Jahr 1917 war das ein bedeutendes Betriebskapital.
Er fuhr nach Galizien und brachte von dort Lebensmittel mit, die er im
Schleichhandel weitergab. Das Geschäft warf reichen Gewinn ab. In Wien
führte er ein lockeres Leben, trieb sich in Nachtlokalen herum, hielt zweifel-
hafte Damen aus und verbrachte viel Zeit mit Kartenspiel, das er leidenschaft-
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lieh betrieb. Gewinn und Betriebskapital verschwanden. Um sich dieses wieder
zu verschaffen, räumte er seiner Mutter den Wäschekasten aus. Diese, nach
äußerst trauriger Ehe verwitwet, hatte wiederholt versucht, den mittlerweile
siebzehn Jahre alt Gewordenen zu einem ordentlichen Lebenswandel zu bringen.
Da es ihr nicht gelang, nahm sie die Hilfe einer Jugendfürsorgeorganisation in
Anspruch, die den Jungen zu uns brachte.
Er war einer von denen, die keine besonderen Schwierigkeiten machen, so-
lange man sich mit guter Aufführung in der Anstalt begnügt. Solche Zöglinge
sind höflich und zuvorkommend, recht anstellig und zu leichteren Kanzlei-
arbeiten gut zu' gebrauchen. Bei ihren Mitzöglingen wissen sie sich ohne Rei-
bungen einzuleben und erlangen doch bald eine gewisse Führerrolle. Wenn man
sich aber näher mit ihnen beschäftigt, wird man die Schwierigkeiten gewahr.
Innerlich verkommen, äußerlich aalglatt, geben sie keine Angriffsfläche zu erziehe-
rischen Einwirkungen. Ihr Gehaben ist Maske, zwar eine sehr gute, aber doch
nur Maske. Dem Erzieher schließen sie sich nicht an und verhindern auch jeden
Annäherungsversuch desselben. Die Übertragung, die gerade bei ihnen sehr stark
sein muß, ehe auch nur daran gedacht werden kann, erzieherisch auf sie ein-
zuwirken, ist fast nicht herzustellen.-Sie gehören eben zu denen, die sich in der
Anstalt nichts zu schulden kommen lassen und sehr bald den Eindruck machen,
geheilt zu sein. Sobald sie aber wieder ins freie Leben zurückkommen, sind sie
die alten. Bei ihnen ist daher äußerste Vorsicht geboten.
Auch unser Lebemann wußte sich jeder Einflußnahme zu entziehen. Er war
schon einige Monate bei uns, ohne daß sich eine Übertragung im Sinne der
Psychoanalyse hergestellt hatte. Man konnte aber doch bemerken, daß das Ober-
hollabrunner Milieu nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben war. Ich wollte ihn
auf ganz kurze Zeit von uns weghaben, damit ihn die negative Lustbetonung
eines anderen Milieus das wohltuende Milieu von Oberhollabrunn recht deutlich
empfinden lasse und er vielleicht dadurch behandlungsreif würde. Dazu durfte
er aber nicht zwangsweise fortgebracht werden, sondern mußte selbsthandelnd
bleiben. Natürlich war zu vermeiden, daß er diese Absicht auch nur ahnte. Als
geeignetes Mittel, diese Voraussetzung zu erfüllen, war die Stimmungsbeein-
flussung sehr naheliegend. Das eigenmächtige Verlassen der Anstalt, das „Durch-
gehen", erfolgt in vereinzelten Fällen infolge eines plötzlichen Affektes oder
eines Traumes und ist dann gewöhnlich schwer zu verhindern. In den weitaus
meisten Fällen bereitet es sich tagelang vor und darf dem geschulten Auge des
aufmerksamen Erziehers nicht entgehen. Wir halten es — abgesehen von unserer
ablehnenden Stellungnahme gegen die Strafe in Besserungsanstalten überhaupt —
für eine vollständige Verkennung der Zusammenhänge, wenn in den Satzungen
von Besserungsanstalten Rutenstreiche für rückeingelieferte Durchgänger vor-
gesehen sind. Das Durchgehen erfolgt, wenn das „Draußen" stärker lustbetont
120
ist als das „Drinnen". Gelingt es in dieser Konfliktstimmung, den Zögling zu
einer Aussprache zu bringen, so wird es unschwer möglich sein, ohne seine
Durchgeh- Absicht auch nur zu berühren, ihm das „Drinnen" stärker lustbetont zu
machen. Er bleibt dann. Den anderen, der dableiben will, zieht es hinaus, wenn
ihm das „Draußen" von uns stärker lustbetont in Erinnerung gerufen wird.
Es genügte auch tatsächlich eine halbstündige Aussprache mit entsprechender
Stimmungsbeeinflussung und nach einer weiteren halben Stunde kam vom Er-
zieher seiner Gruppe die Nachricht, daß er durchgegangen sei. Der erste Teil der
„Erziehungshandlung" war geglückt, den Zögling hatte es unwiderstehlich
hinausgezogen. Der Erzieher wußte nicht, daß das Durchgehen von mir pro-
voziert worden war. (Ich mache während eines Versuches dem Erzieher nur
dann davon Mitteilung, wenn ich seiner Mithilfe bedarf, da es im ständigen Zu-
sammenleben mit den Zöglingen sehr schwierig ist, unbefangen zu bleiben. Ist
der Versuch gelungen oder auch ergebnislos verlaufen, so gibt er Anlaß zu leb-
haftem Meinungsaustausch.) Bei unserem siebzehnjährigen Lebemann und Spieler
war das geglückte Provozieren zum Durchgehen der Auftakt zur Herstellung
der Übertragung. Ich vermutete seine Rückkehr schon am zweiten Tage. Als der
achte Tag vorüber war und er noch immer nicht erschien, fürchtete ich, mit
meinem Eingreifen einen Fehlgriff getan zu haben.
Am zehnten Tage um halb zehn Uhr abends klopfte es an meiner Wohnungs-
türe. Franz (nennen wir ihn so) war da. Er war körperlich ermattet und seelisch
derart in Spannung, daß ich vermutete, nun erzieherisch viel mehr leisten zu
können, als ich bei der Provokation seines Durchgehens beabsichtigt hatte. Ich
machte ihm keinerlei Vorwürfe wegen seines Durchgehens, die er allem Anscheine
nach erwartet hatte, sah ihn einen Augenblick ernst an und fragte ihn dann
sofort: „Wann hast du zum letztenmal gegessen?" — „Gestern abends." Ich
nahm ihn in meine Wohnung, setzte ihn an meinen Tisch, wo die Familie
gerade beim Abendessen war und ließ auch ihm anrichten. Franz, der auf alles
andere eher gefaßt war, kam dadurch so aus dem Gleichgewicht, daß er nicht
essen konnte. Trotzdem ich das sah, fragte ich: „Warum ißt du nicht?" — „Ich
kann nicht, darf ich draußen essen?" „Ja, geh' in die Küche." Er bekam seinen
Teller so lange nachgefüllt, bis er satt war. Es war mittlerweile zehn Uhr
geworden. Ich ging zu ihm in die Küche und wandte mich an ihn mit den
Worten: „Es ist schon zu spät, du kannst heute nicht mehr in deine Gruppe
gehen, du wirst bei mir schlafen." Ich bereitete ihm im Vorzimmer ein Lager,
Franz legte sich schlafen, ich strich ihm über den Kopf und wünschte ihm eine
gute Nacht. Am nächsten Morgen war die Übertragung da, so daß es erziehe-
risch recht gut mit ihm vorwärts ging. Wie stark sie war, erkannte ich aus
einem Fehler, den ich viel später in St. Andrä machte. Ich gab ihm, ohne es zu
wissen, Anlaß zu begründeter Eifersucht, dadurch, daß ich ihm einen seiner Mit-
121
Zöglinge in gewissen Kanzleiarbeiten, tabellarische, rechnungsmäßige Zusammen-
stellungen, die er nicht fehlerlos erledigte, als nachprüfendes Rechnungsorgan
beiordnete. Aus einem Racheakte mir gegenüber wurde mir die Unvorsichtigkeit
klar. Es gelang unserem Verwalter, dem er zugeteilt war, durch richtiges Ein-
gehen auf diese ganz besonders schwierige Individualität, die Scharte aus-
zuwetzen. Bald darauf wurde er betraut, Lebensmittel und andere Waren,
Millionenwerte, von Wien mit dem Lastenauto zu bringen. Er ließ sich nichts
mehr zuschulden kommen, wurde als Kaufmann freigesprochen und ist seit
Jahren als Kommis in einem großen Betriebe zur vollsten Zufriedenheit tätig.
Zur Herstellung der Übertragung bedarf es natürlich nur selten so besonderer
Kunstgriffe. In der Regel genügt der Ihnen angegebene Vorgang. Ich habe
Ihnen den vorliegenden Fall nur deswegen mitgeteilt, weil Sie auch hier wieder
erkennen sollen, daß es ganz unmöglich ist, feststehende Regeln zu geben.
SIEBENTER VORTRAG
Von der Fürsorgeerziehungsanstalt
Meine Damen und Herren! Um eine vorhandene Verwahrlosung zu beheben,
reicht oft das, was in der Erziehungsberatung geleistet werden kann, nicht aus;
der Minderjährige muß in eine Erziehungsanstalt gebracht werden, bei sehr
arger Verwahrlosung in eine Fürsorgeerziehungsanstalt, von der es, wie ich
Ihnen bereits im ersten Vortrage mitgeteilt habe, in Österreich nur eine einzige
gesetzliche Form, die Besserungsanstalt, gibt. Wir würden eine erste Orientierung
über die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung nicht gewinnen, wenn wir beim
einzelnen Verwahrlosten blieben und uns Dissoziale nicht auch in der Besse-
rungsanstalt ansähen, also dort, wo sie in größerer Anzahl beisammen sind. Daß
uns die Psychoanalyse wertvollste Dienste leistet, wenn individuelles Eingehen
erforderlich wird, ist Ihnen nun nicht mehr neu. Wie ist es aber in der Für-
sorgeerziehungsanstalt? Sie werden heute noch hören, daß auch dort der psycho-
analytisch geschulte Fürsorgeerzieher in seiner Arbeit viel weiter kommt, als
der, dem diese Einsicht fehlt.
Davon aber später, jetzt wollen wir nachsehen, ob uns die psychoanalytische
Theorie auch organisatorisch brauchbare Gesichtspunkte liefert.
Ob wir in eine Besserungsanstalt, also Fürsorgeerziehungsanstalt alten Stiles,
oder in eine moderne eintreten, überall werden wir die Zöglinge in größeren
oder kleineren Gruppen mit einem Aufseher oder Erzieher beisammen finden,
und die Zöglingsgruppierung zieht vor allem unsere Aufmerksamkeit auf sich.
In den Anstalten alten Stiles ist jede einzelne Gruppe eine Sammlung samt-
122
licher Formen, die die Pathologie des Kindes überhaupt nur aufzutreiben im-
stande ist. Daß man eine so zusammengesetzte Gesellschaft nicht erziehen kann,
sondern nur mit den äußersten Gewaltmitteln im Zaume zu halten vermag, ist
einleuchtend. Dies mag auch eine der Ursachen sein, daß man sich in den
Besserungsanstalten nicht entschließen kann, von der körperlichen Züchtigung
Abstand zu nehmen.
In den modernen Fürsorgeerziehungsanstalten stehen zwei Strebungen im Vor-
dergrunde: die Zöglinge in möglichst kleine Gruppen zu vereinigen und jede ein-
zelne Gruppe so zu gestalten, daß schon das Leben in ihr, ohne besondere Er-
ziehungsmaßnahmen, die Verwahrlosung behebend wirkt. Der Tendenz, auch
zu einer weitgehend individuellen Behandlung zu kommen, wird durch die der-
zeitigen Einrichtungen kaum entsprochen. Dem Fürsorgeerzieher, der sich in
diesem Sinne bemüht, wird durch die äußeren Verhältnisse sehr rasch ein Halt
zugerufen. Darüber müssen wir uns klar sein, daß es in der Fürsorgeerziehungs-
anstalt nicht nur praktisch ganz undurchführbar ist, jedem Zögling einen Er-
zieher zuzuweisen, sondern daß dies auch gar nicht das Idealziel einer Anstalts-
organisation sein dürfte. Die Erziehung in der Fürsorgeerziehungsanstalt ist und
bleibt eine Massenerziehung, innerhalb derer allerdings den besonderen Um-
ständen, die sich durch die Verwahrlostentypen ergeben, entsprochen werden
muß. Begreiflich erscheint es uns, daß die Erzieher möglichst kleine Gruppen ver-
langen, die Erhalter der Fürsorgeerziehungsanstalten oder deren Verwaltungs-
organe aus Verbilligungsgründen möglichst große. In diesen Streit sich ein-
zumengen, ist nicht erforderlich, weil keine von den beiden Parteien zum vollen
Siege kommt. Und ob in dem zustande kommenden Kompromiß die von den
Erziehern vertretene Zulässigkeitsgrenze oder die von der Verwaltung geforderte
Zahl angenähert wird, ist ziemlich gleichgültig. In dem einen Fall werden im
allgemeinen fündundzwanzig Zöglinge oder einige weniger, im anderen Falle
einige mehr als fünfundzwanzig in einer Gruppe beisammen sein. Dort, wo
schwierige und schwierigste Fälle in Betracht kommen, gibt es ohnehin heute
keine öffentliche Verwaltung mehr, der die Einsicht für die Notwendigkeit einer
noch beträchtlicheren Verringerung der Zöglingszahl in diesen Gruppen fehlte.
Damit ist aber nicht gesagt, daß schon in allen Anstalten für Verwahrloste die
einer Gruppe zuzuweisende Anzahl von Zöglingen zu einem Problem geworden
wäre; denn es gibt auch heute noch „alte" Besserungsanstalten, die zwar schon
ihren Namen gewechselt haben, sonst aber noch unter vorwiegend fiskalischen
Gesichtspunkten geführt werden. Personen, die diese Richtung vertreten, mit
psychologischen oder gar psychoanalytischen Überlegungen zu kommen, wäre
vergebliches Bemühen.
Für den Gruppierungsgedanken, das heißt die Grundsätze, nach denen die
Zöglinge in der Fürsorgeerziehungsanstalt zusammenzufassen sind, hat die Psy-
i
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I2 3
chopathologie durch ihre Forschungsarbeiten seit langem vorgearbeitet. Die
Arbeiten Birnbaums („Die psychopathischen Verbrecher", Berlin, Langenscheidt,
1914), Kraepelins („Lehrbuch der Psychiatrie"), Gregors („Die Verwahrlosung",
Berlin, Karger, 19 18), Sieferts („Psychiatrische Untersuchungen über Fürsorge-
erziehungszöglinge", Halle, Marhold, 19 12), Gruhles („Die Ursachen der
Jugendlichenverwahrlosung und Kriminalität", Berlin, Springer, 19 12) und
schließlich des Leiters der heilpädagogischen Abteilung der "Wiener Kinderklinik
Dozenten Dr. Erwin Lazar hatten eine Menge wertvoller Aufschlüsse gebracht.
Man glaubte sogar schon daran, die Fälle so genau diagnostizieren zu können,
daß mit den fertigen Diagnosen auch zu wirklichen Gruppierungen zu ge-
langen sei.
Soweit waren in Fachkreisen die Ansichten gediehen, als im Dezember 19 18
die Gemeinde "Wien im ehemaligen Flüchtlingslager Oberhollabrunn ein Er-
ziehungsheim für verwahrloste Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechtes
errichtete, dessen Leitung ich übernahm. Als die Ungunst der Verhältnisse uns
nach etwas mehr als zweijähriger Tätigkeit zwang, dort die Arbeit einzustellen,
übersiedelten wir nach St. Andrä an der Traisen in Niederösterreich, um bis zum
15. Juli 1922 dort zu bleiben. Mit diesem Tage wurde auch diese Anstalt auf-
gelöst, weil die Zöglinge in der durch die Gemeinde Wien vom Lande Nieder-
österreich übernommenen Fürsorgeerziehungsanstalt in Eggenburg untergebracht
worden waren.
Ich habe diese kleine Einschaltung gemacht, weil sich das, was ich Ihnen im
folgenden von Fürsorgeerziehungsanstalten berichten werde, auf diese beiden von
mir geleiteten bezieht.
Dozent Lazar, unser damaliger psychiatrischer Konsulent, kam mit der Ab-
sicht nach Oberhollabrunn, im Sinne der genannten Diagnostik zu gruppieren.
Wie er in „Heilpädagogische Gruppierung in einer Anstalt für verwahrloste
Kinder" (Zeitschrift für Kinderheilkunde, Band XXVII, Heft 1—2, Berlin,
Julius Springer, 1920) selbst auseinandersetzt, mußte er diesen Plan als
undurchführbar aufgeben, weil die einzelnen Formen, die diagnostisch zusam-
mengefaßt waren, erzieherisch viel zu weit auseinander fielen. Er machte es sich
aus diesem Grunde zur Aufgabe, eine Gruppierung vorzunehmen, die in erster
Linie Temperament und Führungsmöglichkeit berücksichtigte.
Für diese Arbeit war im Erziehungsheim Oberhollabrunn der Boden schon
vorbereitet. Die Zöglinge, die ursprünglich nur nach dem Geschlechte und
nach Schulkindern und Schulentlassenen getrennt worden, sonst aber, wie sie
der Zufall der Einlieferung gebracht hatte, beisammen geblieben waren, zeigten
sehr bald solche Führungsschwierigkeiten, daß etwas unternommen werden mußte.
Da vom Anfange an jede brutale Gewalt verpönt war, nahmen wir einzelne
Zöglinge aus den Gruppen heraus und verschoben sie solange, bis ein Aus-
J
124
kommen mit ihnen gefunden werden konnte. So erwuchs aus dem Bedürfnis,
zu einem zunächst äußerlich geordneten Betrieb zu gelangen, die erste Gruppie-
rung. Beisammen waren mit einer einzigen Ausnahme, auf die wir in einem
gesonderten Vortrage zu sprechen kommen werden, schließlich nur die, die sich
selbst aneinanderschlossen. Die dann Neuangekommenen brauchten wir nicht
mehr die verschiedenen Gruppen durchwandern zu lassen, um die ihnen ent-
sprechende zu finden, weil einer unserer Erzieher, Martin Krämer, einen ganz
ausgezeichneten Blick für die Differenzierung der Zöglinge hatte, so daß er die
zusammenpassenden herausfand.
Aus der Untersuchung des so Gewachsenen fand Lazar, daß die Gruppierung
eine organische geworden war, die nach geringen Abänderungen dem Schema
entsprach, das er nach Bearbeitung des Materials entwarf.
Mit Berücksichtigung der intellektuell Minderwertigen hatte Lazar für die
Knaben folgende Gruppierung aufgestellt:
I) Intellektuelle Defekte;
II) soziale Mängel, die unter dem Einfluß der neuen Umgebung ohne be-
sondere Schwierigkeiten zu überwinden sind;
III) soziale Mängel, die tiefer gegriffen haben und fester verankert sind;
neben dem Einflüsse der neuen Umgebung ist aktive Erziehung notwendig;
IV) charakterologische Fehler neben den sozialen Mängeln bei höherer
Intelligenz;
V) Gleichgewichtsstörungen mit gelegentlicher, motivierter Aggression
neben charakterologischen Fehlern und sozialen Mängeln;
VI) Aggression verschiedenster Form, die unmotiviert zum Ausbruch
kommt, neben den früher genannten Fehlern und Mängeln.
Durch diese Gruppierung hatten wir ziemlich gleichartige Zöglinge beisam-
men, deren typische Eigenart dem Erzieher schon durch die Vervielfältigung
zum Bewußtsein kommen mußte, und denen er sich aus diesem Grunde auch
anpassen konnte. Es war ihm auch möglich geworden, gleichartige Erziehungs-
maßnahmen anzuwenden, weil er in der Gruppe nicht mehr so stark von
einander abweichende Fälle hatte. Durch die Art ihrer Zusammenfassung fan-
den die Zöglinge innerhalb der Gruppe ihnen entsprechende Verhältnisse mit
für ihre Entwicklung und Ausheilung günstigen Bedingungen, so daß der
Gruppierungsgedanke ökonomisch und gleichzeitig Heilungsprinzip gewor-
den war.
Was ich nun von unserer Zöglingsgruppierung in Oberhollabrunn mitgeteilt
habe, geschah nicht zu dem Zwecke, Ihnen ein ausgereiftes, nachahmenswertes
Beispiel zu geben; Sie sollten nur sehen, wie, aus dem Bedürfnisse erwachsend,
sich ein erster Versuch gestaltete. Auch psychoanalytische Überlegungen kamen
dabei nicht in Frage. Wenn wir nachsehen wollen, ob die Psychoanalyse uns
.—»
125
dazu Hilfen geben kann, müssen wir uns zuerst über die Bedeutung der
Gruppierung klar sein. Es wird damit, wie schon gesagt, ein ökonomisches
Prinzip verfolgt. Je mehr das Zusammenleben der Zöglinge in der Gruppe
allein, ohne weitere erzieherische Maßnahmen, die Dissozialität ausheilend
wirkt, desto besser ist die Gruppierung. Und die Frage hat zu lauten: Welche
Verwahrloste müssen zusammengebracht werden, um die aus dem bloßen
Zusammenleben gegebenen besten Vorbedingungen zum Wieder-sozial- Werden
zu schaffen?
Was wir bisher von der Verwahrlosung unter dem Gesichtswinkel der
Psychoanalyse gehört haben, erwies uns, daß nicht die Verwahrlosungs-
äußerungen das Wichtige sind, sondern die psychischen Mechanismen, die
sie bedingen. Diese müssen bekannt sein, ehe sich ausprobieren läßt, welche
von ihnen in einer Gruppe zusammengebracht, durch gegenseitige Beeinflus-
sung am raschesten wieder sozial gerichtet werden. Mit anderen Worten, wir
werden von der Psychoanalyse auch für die Gruppierung Gewinn haben,
wenn sie uns bei einer genügend großen Anzahl von Verwahrlosten die ihrem
Handeln zugrunde liegenden psychischen Mechanismen aufgedeckt hat. Das
darf aber nicht mit einer durch eine psychoanalytische Behandlung etwa anzu-
strebenden Behebung der Verwahrlosung verwechselt werden; was hier gemeint
ist, bezieht sich lediglich auf diagnostische Momente.
So lange diese Einzelanalysen nicht vorliegen, müssen wir jenen den Vortritt
lassen, denen die Konstitution Einteilungsgrund abgibt.
Das Zusammenbringen einander entsprechender, im Sinne der Ausheilung
aufeinander wirkender psychischer Mechanismen macht aber die Gruppierung
noch nicht aus. Es müssen noch andere, außerhalb der einzelnen Zöglings-
individualitäten liegende Bedingungen erfüllt werden. In diesen Belangen haben
wir es nicht mehr nötig zuzuwarten, sondern können schon jetzt richtig Vor-
sorgen und Zweckmäßiges veranlassen, wenn wir uns Einsichten zu eigen
machen, die Freud insbesondere in „Massenpsychologie und Ich- Analyse"
erschlossen hat. Ich gehe in diesen Vorträgen nicht sehr darauf ein, weil ich
mir nicht die Aufgabe gestellt habe, Ihnen die Fürsorgeerziehung als ein
massenpsychologisches Problem auseinanderzusetzen, das werde ich mir für
spätere Erörterungen vorbehalten. Aber ich bespreche auf Grund psycho-
analytischer Erwägungen die Gestaltung jener äußeren Bedingungen, die allge-
mein als Milieu bekannt sind. Für den Fürsorgeerziehungszögling sind nicht
nur die mit ihm in der Gruppe zusammenlebenden Kameraden wichtig, son-
dern auch seine sonstige, persönliche, dingliche und räumliche Umwelt und
die Verhältnisse in der Anstalt, in deren Rahmen die Gruppe eingeschachtelt
ist, kurz gesagt das Gruppenmilieu und das weitere der Anstalt.
Machen wir, ehe wir uns dieser Aufgabe zuwenden, noch zwei Besuche in
1
»J
126
Anstalten für Verwahrloste, einer alten Besserungsanstalt und einer modernen
Fürsorgeerziehungsanstalt, um das in diesen geschaffene Milieu auf uns wirken
zu lassen.
Kommen wir in die erste, so fällt uns vor allem das mürrische, verschlos-
sene Wesen der Zöglinge auf. Überall nur scheue, haßerfüllte Blicke von unten
herauf. Nirgends ein offenes, freies Ins-Gesicht-Schauen.
Das fröhliche, oft kraftüberschäumende Wesen der normalen Jugend fehlt
vollständig. Was an Heiterkeit zu sehen ist, stimmt den Besucher traurig.
Lebensfreudige Äußerungen sehen ganz anders aus. Man kann sich eines
Schauers über den vielen Haß, der in diesen jungen Menschen aufgespeichert
ist, kaum erwehren. Er kommt in diesen Anstalten nicht zur Lösung, ver-
dichtet sich noch mehr, um später in der Gesellschaft entladen zu werden.
Der Verwalter einer solchen Anstalt machte mich gelegentlich eines Rund-
ganges auf die seit zwanzig Jahren in Verwendung stehenden Blcchwasch-
becken aufmerksam und war sehr stolz auf die bei ihm herrschende Ordnung:
trotz des langen Gebrauches waren die Waschschüsseln nicht deformiert und
glänzten wie neu poliert. In den Schlafsälen standen links und rechts vom
Mittelgang je fünfundzwanzig Betten, ausgerichtet wie eine Reihe Soldaten,
keines einen Millimeter vor -oder zurückgerückt, ebenso standen die Nacht-
kästchen; die Bettdecken waren in scharf umgrenzte Rechtecke zusammen-
gelegt und auf den Betten so liegend, daß ihre Schmalseiten wieder schnur-
gerade Linien bildeten; dieselbe peinliche Ordnung herrschte überall auch in den
Tagräumen, auch auf Stiegen und Gängen. Wenn Sie zu all dem noch dazugeben,
was ich über das Verhalten von Zöglingen in Besserungsanstalten im allge-
meinen sagte, und das auch für diese Anstalt gilt, so wird Ihnen ohne nähere
Erklärung deutlich, welche Gewalt da Tag für Tag aufgewendet werden
mußte, um einen Zustand aufrecht zu erhalten, der kindlichem Empfinden
so zuwiderläuft, dem dissozialer Jugend um so mehr. Den Zwang des sozialen
Lebens haben sie nicht ertragen und durch solchen Anstaltszwang sollen sie
wieder sozial werden?
Nun ein anderes Bild! Wenn Sie an einem besonders guten Tag in eine
der von mir geleiteten Fürsorgeerziehungsanstalten zu Besuch gekommen
wären, hätten Sie leicht etwa folgendes erleben können: Noch ehe Sie den
Bereich der Anstalt betreten, treffen Sie auf einen Ortseinwohner, der ganz
unverhohlen seinem Unmute darüber Ausdruck gibt, daß die Verwahrlosten
statt eingesperrt gehalten und in Reihen von Aufsehern spazieren geführt zu
werden, hier so frei herumgehen dürfen. Weil Sie näheres von der Anstalt
wissen wollen, fragen Sie ihn, warum er denn gar so erbost sei? Weil durch
die Art, wie hier die Verwahrlosten gehalten werden, allem Unfug Tür und
Tor geöffnet ist. Sie hören ihm weiter zu und erfahren, daß er sich eben zum
._— -
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Leiter beschweren geht, weil Zöglinge statt anständig und gesittet nach Hause
zu gehen, sich gebalgt und in seinem Wohnhause eine Fensterscheibe einge-
schlagen haben. Sie können bei mir nicht gleich vorkommen, weil ich schon
in Anspruch genommen bin. Vor Ihnen will noch ein Gendarm vorgelassen
werden. Aus meinem Zimmer hören Sie eine sehr erregte Stimme: der Besitzer
eines Obstgartens duldet nicht, daß Zöglinge seinen Bäumen einen Besuch
abstatten. Ich lasse Sie nun gleichzeitig mit dem Gendarm eintreten, mache
keinerlei Geheimnis vor Ihnen und Sie werden nun Zeuge der Schilderung
eines Vorfalles vom Tage vorher. Zwei Jugendliche haben im benachbarten
Walde am offenen, von ihnen selbst angefachten Feuer eine Forelle gebraten,
die sie nur aus dem unweit vorüberfließenden Werkbach gefischt haben können.
Kaum ist der Anzeiger weg, und wir sind eben im Begriff, den von Ihnen
gewünschten Rundgang zu beginnen, stürzt die Anstaltsköchin in höchster
Erregung bei der Tür herein und erklärt empört, daß sie die Buchteln richtig
abgezählt habe; wenn jetzt in der einen Gruppe fünf Stück fehlen, so haben sie
die Essenträger verschwinden lassen. Sie leisten momentan auf die Besichti-
gung der Anstalt Verzicht, es war zu viel, was da an ersten Eindrücken auf
Sie eingestürmt ist.
Überlegen wir, ob ein derartiger Zustand in einer Erziehungsanstalt zulässig
ist, oder ob diese, wenn es so zugeht, je eher desto besser zu sperren ist?
Wir wissen bereits von der Erziehungsberatung her, daß der Fürsorgeerzieher
auf den Defekt des Verwahrlosten eingeht und ihm anfänglich keine Wider-
stände entgegenstellt, den Zeitpunkt abwartet, bis er mit Versagungen ein-
setzt. Es ist nicht einzusehen, warum das in der Anstalt anders sein sollte,
damit, daß dort mehr und ärger Verwahrloste beisammen und die Schwierig-
keiten größere sind, läßt sich ein geänderter Vorgang doch nicht begründen.
Typisch für jeden Verwahrlosten ist die geringe Fähigkeit, Triebregungen
unterdrücken und von primitiven Zielen ablenken zu können, sowie die ziem-
liche Wirkungslosigkeit der für die Gesellschaft geltenden sittlichen Normen;
dazu kommt für den weitaus größten Prozentsatz der Fürsorgeerziehungs-
zöglinge ein offener Konflikt mit der Gesellschaft als Folge eines in der Kind-
heit unbefriedigt gebliebenen Zärtlichkeitsbedürfnisses. In Erscheinung tritt
sehr gesteigerter Lusthunger, primitive Form der Triebbefriedigung, Hem-
mungslosigkeit und verdecktes, aber desto größeres Verlangen nach Zuneigung.
Soll die Verwahrlosung behoben, sollen nicht nur deren Äußerungen unterdrückt
werden, so bleibt nichts, als zuerst auf die Bedürfnisse der Dissozialen einzu-
gehen, auch wenn es im Anfange ein wenig wüst zugeht und „verständige
Menschen" darüber den Kopf schütteln. Wir wurden auch tatsächlich viel-
fach nicht verstanden; Ängstliche waren entsetzt, die nächsten Nachbarn nahmen
uns manches sehr übel; jedesmal, wenn einer über die Stränge geschlagen
128
hatte, war großes Geschrei. Wir ließen uns aber trotzdem nicht irre machen,
für uns war es wie in einer psychoanalytischen Behandlung: Verwertung der
täglichen Konflikte zur Erreichung des Erziehungszweckes. Wir gewährten
den Verwahrlosten im lustbetonten Milieu unsere Zuneigung, bedienten uns
also der Liebesprämie, um einen versäumten Entwicklungsprozeß nachzuholen:
den Übergang von der unwirklichen Lustwelt in die wirkliche Realität.
Es war uns von allem Anfange an rein gefühlsmäßig klar, daß wir Knaben
und Mädchen und jungen Menschen im Alter von vierzehn bis achtzehn
Jahren vor allem Freude zu bereiten hatten. Keinem von uns war je eingefallen,
in ihnen Verwahrloste oder gar Verbrecher zu sehen, vor denen die Gesell-
schaft geschützt werden müsse; für uns waren es Menschen, denen das Leben
eine zu starke Belastung gebracht hatte, deren negative Einstellung und deren
Haß gegen die Gesellschaft berechtigt war; für die daher ein Milieu geschaffen
werden mußte, in dem sie sich wohl fühlen konnten. Und es war dann auch
tatsächlich ganz von selbst gegangen. Frohe Gesichter bei Erzieherinnen und
Erziehern, freudiges Lachen aus Kinderaugen, auch von Achtzehnjährigen —
das waren eben die großen Kinder. — Ich erinnere mich noch der Spannung,
mit der wir den ersten Zögling erwarteten, und seines Behagens, als wir uns
auf ihn stürzten, um ihn zu verwöhnen. Wir haben später freilich manches
Zuviel abgestreift, aber zur Beruhigung kann ich mitteilen, daß auch dem
ersten die anfängliche arge Verwöhnung nicht geschadet hat. Er ist vollständig
in Ordnung, seit Jahren im Erwerbsleben tätig.
Wir betrieben so, ohne es damals zu wissen, schon durch die Milieuschaffung
eine praktische Psychologie der Versöhnung, von der wir heute sagen können,
daß sie für die überwiegende Mehrheit der gegenwärtig in Besserungsanstalten
untergebrachten Zöglinge anzuwenden ist.
Es ist übrigens recht eigentümlich, daß dieselben Verwahrlosungsformen,
die uns zur Freundschaft, Milde und Güte veranlaßten, das Personal in den
alten Besserungsanstalten zu oppositioneller Einstellung provozierten und das
ganze Anstaltsleben auf das uns so wohlbekannte sado-masochistische Niveau
herabdrückten, oder wenn Sie wollen, steigerten. Ich habe seit Oberhollabrunn
für einen bestimmten Typus Verwahrloster diese Einstellung nicht zu ändern
gebraucht, sie immer wieder als richtig erkennen können; ich werde mich zu
einer anderen Auffassung erst entschließen, nicht wenn es eine unverständige
Umgebung will, sondern wenn ich durch neue Erkenntnis dazu genötigt
werden sollte. Es gibt freilich auch Verwahrloste, und das darf nicht über-
sehen werden, die erzieherisch unbeeinflußbar blieben, wenn ihnen gegenüber
das eben skizzierte Verhalten eingehalten werden würde. Welche das sind, und
wie mit diesen umzugehen ist, werden wir ein andermal hören.
Ich habe mich durch die eben gemachte Einschaltung ein wenig von der
129
Milieuschilderung abbringen lassen. Für die allgemeine Erziehung in der
Anstalt kommt es nicht so sehr auf einzelne Erziehungsmaßnahmen an, sondern
vielmehr darauf, aus der richtigen Einstellung zum Zögling diesen zu Erleb-
nissen zu führen. Wenn die Zöglinge etwas erleben sollen, so müssen sie ins
Leben und nicht in die lebensfremde, wenn auch noch so schöne Anstalt
gesteckt werden. Je weniger daher das Milieu Anstaltscharakter trägt und je
mehr es sich dem einer freien Siedlung lebensbejahender Menschen nähert,
desto weniger ist der Dissoziale dem wirklichen Leben entfremdet, desto
sicherer seine Ausheilung und desto sicherer später sein Wiedereintritt in die
Gesellschaft zu erwarten. In der Anstalt ist auch die Gefahr, daß die
Individualität des Einzelnen nicht zur Entwicklung kommt, eine außerordent-
lich große; nur zu leicht bildet sich für die Erziehungshandlungen eine
Schablone heraus und der Zögling wird nur zu oft infolge administrativer
Notwendigkeiten, die leicht überwuchern, zur Nummer.
Erinnern wir uns doch auch an unsere eigene Kindheit: Was bedeutete uns
eine Schublade, ein Kastenfach, eine Schachtel, ein Plätzchen, das uns ganz
allein gehörte, wo wir unsere Geheimnisse vor Eltern und Geschwistern ver-
bergen konnten, wo wir Ordnung machten, wenn es uns paßte, wo wir aber
auch nach Herzenslust schlampig sein konnten! Und in der Anstalt? —
Überall die der Einheitlichkeit wegen aufgezwungene Ordnung und Lebens-
weise! Nicht ein ausschließlich dem Einzelnen reserviertes Plätzchen! Anstalts-
mauern schließen das Kind auch vom Leben ab und drängen es in ungesunde
Phantasieerlebnisse, verhindern den rechtzeitigen Ausgleich zwischen Lust
und Realität! Wie ganz anders, wenn der Verwahrloste in einer Siedlung
wohnt, in der alle die kleinen und kleinsten Erlebnisse sich abspielen können,
in der aber auch die sonst so sehr vermißte Bewegungsfreiheit gewährt werden
kann. Das war in Obcrhollabrunn durch das Wohnen jeder Gruppe in einer
primitiven Baracke gegeben, und wenn uns auch im Winter wegen der
schlecht schließenden Fenster der Schnee auf die Bettdecken flog, was machte
das, wir waren mit einem Sprung im Freien und weder Gitter noch Mauer
schieden uns von der übrigen Welt. In St. Andrä stellten sich manche äußere
Hindernisse entgegen, aber doch hatte jede Gruppe ihre gesonderten Räume
für sich und bildete im Anstaltsgefüge eine geschlossene Einheit. In Anstalten
mit Pavillonsystem läßt sich die günstige räumliche Umwelt ohne besondere
Schwierigkeiten schaffen.
Sie dürfen nun aber nicht meinen, daß bei uns die Dissozialen sofort nach
ihrer Einlieferung vom Zauber des Milieus gefangen genommen worden sind.
Manche blieben lange Zeit erstaunt, mißtrauisch, ungläubig; viele, die innerlich
Verrohten, die sich draußen nur mehr gebeugt hatten, wenn die Brutalität
des anderen sie unwiderstehlich bezwungen hatte, haben in uns die Schwäch-
9 A i di h o r n, Verwahrloste Jugend
130
linge gesehen, die sich an sie nicht heranwagten; noch andere, die intellektuell
Hochwertigeren, haben uns als die Dummen genommen, die sich zum besten
halten lassen. So war von der brutalen Opposition bis zur stillen Verachtung
alles vertreten gewesen.
Weil wir das gewußt hatten, war es uns nie eingefallen, die Zöglinge beim
Eintritte durch Worte für uns gewinnen zu wollen. Wir ließen die Umgebung
auf sie einwirken und warteten den geeigneten Zeitpunkt ab. Erst bis der
„Neue" sich in das Milieu eingelebt hatte, dachten wir an besondere erziehe-
rische Maßnahmen für ihn.
An dieser Stelle auch ein Wort zur Verköstigung, weil ich sonst nicht mehr
darauf zu sprechen käme. Ethische Werte haben für den Verwahrlosten
anfangs keine Zugkraft; zu nehmen ist er aber bei seinem Freßtrieb. Er ver-
langt eine ausgiebige Kost, legt nicht besonderen Wert auf Abwechslung,
wichtig ist ihm im allgemeinen die Quantität, Feinschmecker ist er nur in
Ausnahmsfällen. Aber daß sein Erzieher mit ihm lebt und für ihn ist, begreift
keiner, wenn er Maisgrieß bekommt und für den Erzieher Gulyas gekocht
wird. In der Fürsorgeerziehungsanstalt ist die Einheitskost, gekocht auf einem
Herde und in denselben Töpfen, eine erzieherische Grundbedingung. Die aus
der verschiedenen Verköstigung von Erziehern und Zöglingen hervorgehende
Unlust löst starkes Mißtrauen gegen den Erzieher aus, das sich auf das ganze
Verhältnis überträgt. Der Dissoziale glaubt dem Erzieher seine Liebe nicht
mehr.
Der Geist, der die Besserungsanstalt erfüllt, muß vom Personal ausgehen.
Die eigene positive Einstellung des Erziehers zum Leben, jene glückliche
Lebensauffassung, die Heiterkeit und Freude um sich verbreitet, bringt die
Atmosphäre, in der ohne besondere Anstrengung das Erziehungswerk gelingt.
Dann sind die Erzieher auch befähigt, sich ihren Zöglingen so zu nähern,
daß diese in allen Handlungen Zuneigung verspüren und immer empfinden,
verstanden zu werden. Die meisten Dissozialen sind nie zur Befriedigung ihres
kindlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses gekommen. Viele haben die schöne, noch
das spätere Leben verklärende Märchenzeit nie erlebt und die Stunden innigen
Zusammenseins von Mutter und Kind nie kennen gelernt. Diesen muß viel
gegeben werden und es ergibt sich eine wichtige Forderung an die Persönlich-
keit des Erziehers: er bedarf sehr hoher Einfühlungsfähigkeit, damit es ihm
gelingt, das Richtige zu treffen; denn die Erziehungswissenschaft läßt ihn hier
im Stiche. Es genügt nicht, des Zöglings Reden und Tun zu erfassen, der
Erzieher muß sich in ihn so hineinleben können, daß dessen Erleben zum
eigenen wird.
Hier noch eine Bemerkung zur Erzieherin. Die Erfahrung, die wir in Ober-
hollabrunn und St. Andrä machen konnten und die mit dem übereinstimmt,
———IM
i3i
was die Psychoanalyse über die libidinösen Vorgänge erschlossen hat, läßt es
angezeigt erscheinen, schulpflichtige Knaben im Alter der Vorpubertät nicht
ausschließlich unter männlichen Einfluß zu stellen; am vorteilhaftesten ist es,
wenn in der Zöglingsgruppe Erzieherin und Erzieher gemeinsam tätig sind.
Beim männlichen Jugendlichen ist der weibliche Einfluß in dieser Form nicht
mehr zweckmäßig; es empfiehlt sich für sämtliche Jugendlichengruppen, einer
Frau die Obsorge für alle pflegerischen Angelegenheiten, Wäsche, Schuhe, Über-
prüfung von Ordnung und Reinlichkeit in Tag- und Schlafräumen usw. zu
übertragen. Diese darf sich aber dann natürlich nicht darauf beschränken,
rechtzeitig gereinigte Wäsche und gestopfte Socken zur Verfügung zu stellen,
sondern wird in Erfüllung ihrer äußerlichen Verpflichtu igen immer wieder
Gelegenheit nehmen, bei den einzelnen Zöglingen zu erzieherischen Einwirkun-
gen zu gelangen.
Die Behebung der Verwahrlosung ist, was immer in Frage kommen mag,
letzten Endes ein libidinöses Problem, das heißt, das Wichtigste bleiben die
Gefühlsbeziehungen des Zöglings zum Erzieher, oder allgemeiner gesagt, zu
den Personen seiner Umgebung. Das muß für den Anstaltsbetrieb erkannt
werden, weil sonst grobe Fehler unvermeidlich sind. Wie wir versuchten, die
Gefühlsbcziehungen der Jugend zu uns anzubahnen, zu festigen und auszu-
werten, habe ich Ihnen schon mitgeteilt. Trotz allem hatten wir aber auch
bei uns nicht das Paradies gehabt und es ging nicht immer ohne Konflikte
und negative Stimmungen ab. Die erste Beobachtung nach dieser Richtung
machte ich bald nach Beginn unserer Tätigkeit in Oberhollabrunn. Mir war
aufgefallen, daß namentlich in Zöglingsgruppen, die von Erzieherinnen geleitet
wurden, deren schlechte Stimmung sich sofort auf die Gruppe übertrug, dann
verstärkt auf diese zurückwirkte und so immer hin und her, bis es zum
offenen Konflikt kam. Das richtige Verständnis für die befreiende Wirkung
einer Aussprache hatte ich damals zwar noch nicht, aber doch bemerkte ich,
wie sich das Bild der Gruppe vollständig umkehrte, wenn es gelungen war,
die Stimmung der Erzieherin zu heben. Durch die wiederholten Aussprachen
mit jedem einzelnen vom Erziehungspersonale, bei denen auch recht oft auf
Persönliches eingegangen wurde, kam ich nach und nach in ein Freundschafts-
und Vertrauensverhältnis zu meinen Mitarbeitern. Die gegenseitige Art dieses
Verkehres übertrug sich nach und nach auch auf die Zöglinge, so daß später
nur ein Ton den ganzen Betrieb beherrscht hat. Wir hatten dadurch nichts
an Autorität eingebüßt, den Zöglingen aber die Angst vor uns genommen und
so ihr Vertrauen gewonnen.
Der durch die Psychoanalyse aufgedeckte Mechanismus der Übertragung
erklärte mir später den Erfolg unserer Erziehungsarbeit; er sagte mir auch,
weshalb über Erziehungsfragen so leicht zu reden ist, Erziehenkönnen aber
9*
I 3 2
erlebt werden muß. Was beim ersten Erzieher gut ausfällt, kann beim zweiten,
der es nachmacht, schlecht sein. Ich halte erfolgreiche Arbeit des Personals in
der Besserungsanstalt ohne starke Bindung an den Führer für unmöglich, weil
ich mir das Sozialwerden des Verwahrlosten ohne vorherige starke Bindung
an einen Menschen seiner Umgebung nicht denken kann, und weil sich aus
der Einstellung des Erziehers zum Führer von selbst die richtigen Beziehungen
zwischen Zögling und Erzieher herstellen.
Ich habe Ihnen jetzt ohne viel psychoanalytische Theorie einen kleinen
Ausschnitt aus dem Milieu der Fürsorgeerziehungsanstalt gegeben. Es ließen
sich an jede Einzelheit eine Reihe von theoretischen Überlegungen anschließen,
die ich aber unterlasse, weil ich mich heute vorwiegend mit der Praxis des
Anstaltserziehers beschäftigen will. Ich bleibe daher in den beiden Anstalten
Oberhollabrunn und St. Andrä und berichte Ihnen davon weiter.
Sie werden in der Fürsorgeerziehungsliteratur sehr häufig statt Erziehung
in Besserungsanstalten den Terminus Zwangserziehung finden. Dieser bezieht
sich nicht auf die Erziehungsform, die dem zu Erziehenden aufgezwungen
wird, wie man nach dem von den Besserungsanstalten bekannten Zwang anzu-
nehmen in der Lage wäre. Zwangserziehung bezieht sich auf den zur Erziehung
Verpflichteten, ist also eine Erziehung gegen den Willen der Eltern. Obwohl
diese Aufklärung streng genommen mit unserem heutigen Thema nichts zu
tun hat, mußte ich doch davon sprechen, weil Sie vor mißverständlicher Auf-
fassung bewahrt werden sollen.
Ehe ich fortfahre, Ihnen von der Fürsorgeerziehungsanstalt zu berichten,
erscheint es mir wichtig, Sie vor einer immerhin möglichen Übereiltheit
zurückzuhalten. Wir haben bisnun schon manches über verwahrloste Kinder
und Jugendliche gehört, und die Versuchung liegt nahe, Schlußfolgerungen,
die für diese richtig sind, auch auf die normale Jugend anzuwenden. Wenn
auch zweifellos innige und tiefe Beziehungen zwischen der Erziehung beider
bestehen, sind wir doch noch lange nicht so weit, mit Sicherheit sagen zu
können, wo diese gleichartig verlaufen. So wie unter unseren Zöglingen
Grenzfälle und fließende Übergänge zur Neurose und Psychose vorkommen
und wir uns daher in unserer Arbeit im Grenzgebiete mit der Psychiatric
berühren, stoßen wir auch auf Grenzfälle und fließende Übergänge zur nor-
malen Jugend und berühren uns dadurch in unserer Tätigkeit auch mit der
Familienerziehung, den erzieherischen Strebungen in der offenen Jugendfür-
sorge und denen der freien Jugendbewegung. Unsere Hauptarbeit wird sich
aber immer auf gesondertem Wege entwickeln müssen.
Wir konnten in Oberhollabrunn und St. Andrä, mochte die tiefer liegende
Ursache der Verwahrlosung welche immer gewesen sein, fast ausnahmslos
feststellen, daß die Dissozialen zerstörtem, zerrüttetem oder unharmonischem
■ -i.i
133
Familienmilieu entstammten. Es hat den Anschein, als ob die Stöße, die das
soziale Leben dem Einzelnen gibt, nur dann zu ertragen seien, wenn dieser
einen Ruhepunkt findet, der für unsere Gesellschaftsordnung normalerweise in
der Familie liegt. Ist dieser vorhanden, so bewegen sich die Äußerungen des
Trieblebens innerhalb sozial erträglicher Grenzen; fehlt er, so wird der ohnehin
nicht sehr stabile Gleichgewichtszustand noch leichter gestört.
Diese Gleichgewichtsstörungen rufen Dauerwirkungen hervor, die, wenn
sie als Verwahrlosung in Erscheinung treten, die Fürsorgeerziehung zu beheben
hat. Die Art ihrer Einflußnahme auf den Zögling muß sich daher, namentlich
anfangs, wesentlich von der Erziehung des normalen Kindes unterscheiden.
Und nun zur Anstalt zurück!
Sie hörten bereits, daß die Art und Starke der libidinösen Bindungen des
Kindes an die Objekte seiner ersten Umgebung richtunggebend für das ganze
spätere Leben bleibt. Damit scheint nun auch zu stimmen, daß wir unsere
nicht unbeträchtlichen Erfolge in der Behebung der Verwahrlosung einer Ein-
flußnahme auf das spätere Schicksal der Libido im Sinne der Sublimierung
und Kompensierung verdanken. Wie wir das auffassen, möchte ich Ihnen an
zwei Beispielen aus dem Jugendheime St. Andrä zeigen: an einem Sechzehn-
jährigen, der vom psychiatrischen Konsulenten als leichte Form der Schizo-
phrenie bezeichnet wurde, und an einem siebzehnjährigen Homosexuellen.
Der Sechzehnjährige, ein Junge aus sehr gutem bürgerlichen Milieu, wurde
der Fürsorgeerziehung wegen fortgesetzter häuslicher Diebstähle übergeben.
Er kam zu uns, nachdem seine Unterbringung in mehreren anderen Anstalten
erfolglos geblieben war. Wie arg er es trieb, ist daraus zu ersehen, daß sein
Vater, als er ihn brachte, zu mir sagte: „Der Junge hätte uns ruiniert, wäre
er noch länger zu Hause geblieben." Er war sehr schwierig zu führen, äußerst
reizbar, bildete sich zeitweilig ein, daß die anderen ihn ablehnen, ja, ihn körper-
lich bedrohen, und leistete sich dann arge Aggressionen gegen seine Mitzöglinge,
Erzieher und andere Personen seiner Umgebung. So rächte er sich auch einmal
an dem Anstaltsverwalter, von dem er sich beleidigt glaubte, dadurch, daß er in
einer Nacht vor dessen Wohnungstür defäzierte. Sein Größenwahn lebte sich
in der Idee aus, Einbrecherkönig zu werden. Er hatte sich in Wien auch eine
„Platte" gebildet gehabt, die er zu beherrschen wähnte, von der sein Vater
aber gerade das Gegenteil berichtete. Sein Verhalten bei uns und die wieder-
holten Aussprachen mit ihm bestätigten die oben erwähnte Diagnose.
Dem körperlich kräftigen, intellektuell unternormalen Jungen war unter
Ausnützung der so deutlich aggressiven und analen Komponente eine Beschäf-
tigung zuzuweisen, bei der er körperlich etwas leisten konnte, ohne dabei
infolge der mangelnden Intelligenz beschämenden Vergleichen ausgesetzt zu
sein. Bei uns war da nur die Gemüsegärtnerei mit ihrem Wühlen in Dung
"
134
und Erde in Frage gekommen. Die Zuweisung in die Gärtnerei erwies sich auch
tatsächlich als die beste Berufswahl.
Der Siebzehnjährige wurde in die Schneiderwerkstätte gegeben, weil anzu-
nehmen war, daß die Anfertigung von Männerkleidern eine Sublimierung seiner
homosexuellen Strebungen ermöglichen werde. Damit soll aber keineswegs
gesagt sein, daß wir der Meinung seien, jeder homosexuelle Dissoziale müsse,
um sozial zu werden, das Schneidergewerbe erlernen. Nur die besondere Art
im Wesen dieses Jungen veranlaßte mich, den Versuch zu wagen. Er erlernte
in fünf Monaten, was normalerweise erst in drei Jahren erlernt wird. Der
Werkmeister bezeichnete ihn als Schneidergenie; in der ganzen Zeit kam nur
ein Rückfall vor, der Versuch, einen Mitzögling zu homosexuellen Handlungen
zu verleiten. Durch die Auflösung unserer Anstalt mußten wir ihn früher als
beabsichtigt entlassen. Er kam in ein größeres Schneideratelier, lernte dort aus
und wurde bis jetzt nicht rückfällig.
Wir sind nun der Meinung, daß die Berufsberatung für diese beiden Jungen
aus unserer psychoanalytischen Einstellung heraus richtig erfolgt war. Dem
ökonomischen Gesichtspunkte der Psychoanalyse war entsprochen worden, sie
fanden in ihrer täglich achtstündigen gewerblichen Arbeit die besten Vor-
bedingungen für den „automatisch" durch das Lustprinzip regulierten Ablauf
ihrer seelischen Vorgänge. Wie das zu verstehen ist, kann ich Ihnen heute nicht
näher ausführen, ich verweise Sie auf den neunten Vortrag, in dem ich mehr
über das Lustprinzip sagen werde. Wenn Sie aber überlegen, daß wir erziehe-
risch nicht in der Lage sind, die Kraftquellen, aus denen der Homosexuelle die
Energien für sein psychisches Leben bezieht, zu ändern, so werden Sie ver-
stehen, daß wir bemüht waren, die Kraftäußerung ins Soziale zu richten. Wir
rechneten damit, daß gerade durch die Arbeit in der Schneiderwerkstätte seine
perverse Libido in nützlicher Verwendung abreagiert werde, statt ihn mit der
Polizei in Konflikt zu bringen. Erwähnen möchte ich noch, daß der Junge
gegen seinen Willen und energischen Protest der Schneiderei zugewiesen worden
war, und daß er sich dort monatelang sehr unbehaglich fühlte. Als unsere
Anstalt aufgelöst wurde und er uns verließ, kam ich mit ihm auf seine Leistun-
gen in der Schneiderei zu sprechen. Er war zu der Zeit schon mit großer Be-
geisterung Schneiderlehrling und entgegnete mir: „Es ist doch gut, wenn einem
nicht immer sein Wille gelassen wird."
In beiden Fällen war die psychoanalytische Beurteilung der dissozial verwen-
deten Libidokomponente und der normalen Libidoverwertung bei den Hand-
werken in der Berufswahl zur Behebung der Verwahrlosung benützt worden.
Eine eingehende Psychoanalyse hätte wahrscheinlich ein sicheres Ergebnis ge-
bracht. Das war damals nicht möglich und auch in Zukunft wird in den Bes-
serungsanstalten aus praktischen und theoretischen Gründen nicht jeder Zögling
!
' —
13 J
einer Analyse zugeführt werden können. Sie muß grundsätzlich aber für alle
jene neurotisch Verwahrlosten verlangt werden, die solche Führungsschwierig-
keiten bieten, daß sie jede Zöglingsgruppe ablehnt.
"Wenn für den Jugendlichen auch die Berufsausbildung, die täglich acht-
stündige Arbeit innerhalb der Anstalt von allergrößter Bedeutung ist und eine
psychoanalytisch orientierte Fürsorgeerziehung der Berufswahl besondere Auf-
merksamkeit zuwenden wird, so macht sie doch zur Behebung der Verwahr-
losung nicht alles aus. Sie ist wieder nur ein Teil von Maßnahmen, von denen
wir einige schon besprochen haben, über die wir heute aber noch mehr hören
werden, und die erst in ihrer Gesamtheit die richtig organisierte Fürsorge-
erziehungsanstalt bilden. So wie in den beiden angeführten Fällen die richtige
Arbeitszuteilung für die Ausheilung ausschlaggebend wurde, ist es uns manch-
mal gelungen, durch herzhaftes Zugreifen bei akutem Konflikt oder durch Her-
beiführung eines solchen die Behebung der Dissozialität anzubahnen. Was damit
gemeint ist, wie sich solche Gelegenheiten herstellen lassen, habe ich Ihnen an
dem siebzehnjährigen Lebemann gezeigt, bei dem es mir um die Herstellung der
Übertragung zu tun war. Sie haben dabei auch gesehen, wie mir der Zufall der
Art seiner Rückkehr zu Hilfe kam, der mir weit mehr zu leisten ermöglichte,
als ich ursprünglich beabsichtigt hatte.
In einem Diebstahlsfall innerhalb der Anstalt verwertete ich die gegebenen
Umstände nicht gefühlsmäßig, sondern schuf mit Überlegung die erforderliche
Situation. Wie das zuging, werde ich Ihnen, da es mir recht instruktiv er-
scheint, mitteilen. Sie können daraus auch wieder ersehen, daß sich der Für-
sorgeerzieher von jeder Schablone freimachen muß.
"Während einer Fahrt von Oberhollabrunn nach Wien las ich Dr. Ranks
Buch: „Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage." An einer Stelle führt er die
Aristotelische Lehre von der Katharsis an. Dabei kam mir die Überlegung, ob
nicht Konfliktssituationen, in denen sich Fürsorgeerziehungszöglinge so oft befin-
den, zur Einleitung der Katharsis ausgenützt werden könnten, das heißt, ob es
in solchen Fällen möglich wäre, den Zögling selbst zum Helden eines „Dramas"
zu machen. Als zum ersten Versuch geeignet erschienen mir Diebstahlskonflikte.
Die Gelegenheit dazu ergab sich sehr bald.
"Wir hatten einen achtzehnjährigen Zögling, der wegen Kameradschaftsdieb-
stählen aus der Kadettenschule ausgeschlossen worden war und der sich auch
Haus- sowie Fremddiebstähle hatte zuschulden kommen lassen. Ich übertrug
ihm nach einigen Monaten Aufenthaltes bei uns absichtlich die Verwaltung der
Tabakkassa. (In diese bezahlten die Angestellten die Beträge zur gemeinsamen
Behebung ihrer Tabakfassungen.) Der Gesamtbetrag, der allwöchentlich einlief,
betrug 700 bis 800 Kronen, für die damalige Zeit verhältnismäßig viel Geld.
Den Kassier hatte ich ersucht, den Jungen so zu beobachten, daß dieser davon
i 3 6
nichts merke, und mir Mitteilung zu machen, wenn ein Abgang vorkommen
sollte. Nach ungefähr vier Wochen wurde mir das Fehlen von 450 Kronen ge-
meldet. Mir schien nun die Gelegenheit gekommen, den Zögling der Erschütte-
rung und Rührung auszusetzen, um so die Katharsis zu versuchen, obwohl ich
noch keine Ahnung hatte, wie das anzufangen wäre. Ich wollte vorerst Zeit
gewinnen, ersuchte den Kassier, mir den Zögling erst nachmittags in die Kanzlei
zu schicken und ihm nicht zu sagen, daß der Abgang bemerkt worden sei.
Der Junge kam, ich war mir noch immer nicht klar, was ich tun sollte. Ich
wollte ihn vorläufig eine Zeitlang um mich haben und machte ihm den Vor-
schlag, mir beim Abstauben und Ordnen meiner Bücher zu helfen. Was war
zu tun?
Es mußte versucht werden, eine Handlung zu gestalten, in deren Mittelpunkt
er selbst steht und die sich so zu entwickeln hat, daß sein ausgelöster Angst-
affekt bis zur Unerträglichkeit gesteigert wird; im Augenblick der unvermeid-
lich scheinenden Katastrophe dieser eine so entgegengesetzte Wendung zu geben,
daß die Angst plötzlich in Rührung umschlagen muß. Die durch diesen Affekt-
kontrast hervorgerufene Erregung hat die Ausheilung zu bringen oder einzu-
leiten.
Im vorliegenden Falle spielte sich das „Drama" folgendermaßen ab: Wir be-
ginnen zu arbeiten. Ich frage ihn um sein Ergehen, um dies und jenes und
komme nach und nach auch auf die Tabakkasse zu sprechen. „Wieviel Geld
nimmst du wöchentlich ein?" — „700 bis 800 Kronen." Wir räumen weiter
Bücher ein. Nach einiger Zeit: „Stimmt dir deine Kasse auch immer?" Ein
zögerndes „Ja", von dem ich aber weiter nicht Notiz nehme. Wieder nach
einiger Zeit: „Wann hast du den größten Parteienverkehr?" — „Vormittags."
— Und etwas später: „Ich muß mir doch einmal deine Kasse ansehen." Der
Junge wird merklich unruhiger, ich sehe es nicht, sondern arbeite mit ihm weiter,
lasse aber nicht locker, sondern komme immer wieder auf die Tabakkasse zu
sprechen. Als sich sein Unbehagen derart gesteigert hat, daß ich den Zeitpunkt
für gekommen erachte, stelle ich ihn plötzlich vor die Entscheidung: „Du, wenn
wir hier fertig sind, werde ich mir deine Kasse ansehen." (Seit unserem Zu-
sammensein sind ungefähr fünf Viertelstunden vergangen.) Er steht mit dem
Rücken zu mir vor dem Bücherkasten, nimmt ein Buch heraus, um es abzu-
stauben und — läßt es fallen. Jetzt sehe ich seine Erregung. „Was ist dir?" —
„Nichts!" — „ Was fehlt dir in deiner Kasse?" Ein
angstverzerrtes Gesicht, zögerndes Stammeln: „450 Kronen." Ohne ein Wort zu
sprechen, gebe ich ihm diesen Betrag. Er sieht mich mit einem unbeschreiblichen
Blick an und will sprechen. Ich lasse ihn nicht reden, aus dem Gefühl heraus,
daß mein Tun auf ihn noch wirken müsse, und schicke ihn mit einem freund-
lichen Kopfnicken und einer entsprechenden Handbewegung weg. Nach unge-
1
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fähr zehn Minuten kommt er zurück, legt mir die 450 Kronen auf den Schreib-
tisch mit den Worten: „Lassen Sie mich einsperren, ich verdiene nicht, daß Sic
mir helfen, ich werde ja doch wieder stehlen!" Diese in höchster Erregung her-
vorgestoßenen Worte werden von heftigem Schluchzen abgelöst. Ich lasse ihn
niedersetzen und spreche mich mit ihm aus, halte ihm keine Moralpredigt, son-
dern höre teilnahmsvoll an, was aus ihm herausquillt; seine Diebereien, seine
Stellung zur Familie, zum Leben überhaupt und vieles, das ihn beschwert. Der
anfänglich überaus starke Affekt wird unter Erzählen und "Weinen allmählich
schwächer. Schließlich gebe ich ihm das Geld neuerdings, indem ich ihm sage,
ich glaube nicht, daß er nochmals stehlen werde, er sei mir die 450 Kronen
wert. Und im übrigen schenke ich sie ihm nicht, er möge weniger rauchen
und mir nach und nach den Betrag zurückzahlen. Damit niemand etwas merke,
solle er den Betrag in die Kasse zurücklegen. Den Kassier mache ich aufmerk-
sam, daß der Schaden gutgemacht sei und daß er sich von der Sache nichts zu
wissen machen möge. Nach ungefähr zwei Monaten hatte ich tatsächlich mein
Geld zurückbekommen.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die große Spannungsdifferenz zwischen der
Angst, was geschehen würde, wie er sah, daß ich vom Diebstahl wußte, und
der Rührung, wie sich die Situation ganz anders als erwartet entwickelt hatte,
die Lösung brachte. Praktisch war der Erziehungsfall erledigt, da sich der
Junge die kurze Zeit, die er noch bei uns verblieb, sehr gut aufführte. Er ist
seit zweieinhalb Jahren als Zeichner in einer großen Möbelfabrik angestellt und
hält sich sehr brav.
Es gelang, einen starken Affekt hervorzurufen und ihn erzieherisch zu ver-
werten. Weiteren Erfahrungen muß es vorbehalten bleiben, inwieweit und für
welche Fälle sich daraus eine besondere Technik entwickeln läßt.
Als ich in Erinnerung dieses Falles erklärte, ich halte es für selbstverständ-
lich, daß Zöglinge auch noch in der Anstalt stehlen, ja, daß in manchen Fällen
geradezu die erzieherische Notwendigkeit bestehe, dem Zögling die Möglichkeit
zum Stehlen zu geben, erhielt ich von sonst ernst zu nehmender Seite zur Ant-
wort, daß es, wenn auch begreiflich, so doch bedauerlich sei, wenn in einer
Anstalt zur Erziehung Dissozialer gestohlen wird; daß es aber irrsinnig sei, den
Diebstahl für erzieherisch notwendig zu halten.
Nach der Lösung solcher Konflikte stellt sich eine sehr intensive Übertragung
ein, die für den weiteren Verlauf der Fürsorgeerziehung eine besondere Bedeu-
tung gewinnt und Erziehungserfolge gefährdet, wenn der Erzieher nicht dafür
sorgt, daß sich die zärtlichen Beziehungen wieder lockern. Es ist ja auch leicht
einzusehen, daß bei besonders starker Zuneigung des Zöglings zu seinem Er-
zieher eifersüchtige Regungen recht sehr in den Vordergrund treten und dann
dissoziale Äußerungen aus dieser Ursache wieder zum Vorschein kommen. Ist
-*■-
x 3 8
die Übertragung auch das wichtigste Hilfsmittel des Erziehers, so kann sie doch
bei nicht genügendem Verständnis der sie bedingenden Mechanismen statt des
gewünschten den entgegengesetzten Effekt erzielen.
Wie in der Erziehungsberatung, so kann auch in der Fürsorgeerziehungsanstalt
die individuelle Heilerziehung erst beginnen, wenn die Übertragung da ist. Er-
zogen wird aber nicht durch Worte, Reden, Ermahnen, Tadel oder Strafen,
sondern durch Erlebnisse. Durch das bei uns geschaffene Milieu und durch die
Art der Führung ergaben sich für jeden einzelnen täglich so viele Gelegenheiten
zu großen, kleinen und kleinsten Erlebnissen, deren tiefgehende Wirkungen die
Verwahrlosung behoben. Wie oft benützten wir auch vorhandene Stimmungen
oder schufen Situationen, um die gerade notwendige Stimmung herzustellen, und
verwendeten die im Dissozialen so stark betonte Räuberromantik als An-
knüpfungspunkte zur Einleitung von Erziehungsmaßnahmen. Ein allgemein gül-
tiges Rezept kann ich dem Erzieher nicht geben. Jeder muß versuchen, aus
seiner Persönlichkeit heraus das Richtige zu treffen. Er kann dies, wenn die
Befähigung vorhanden ist, durch vieles Beobachten, fleißige Arbeit und ernstes
Studium erlernen. Allerdings läßt sich nicht auf jede beliebige Persönlichkeit die
des Erziehers aufpfropfen, und durch Dilettantismus wird in der Erziehung des
Dissozialen ebensoviel Schaden angerichtet, wie durch Berufserzieher, die zum
Erzieher nicht berufen sind.
Vielleicht erscheint Ihnen die Auffassung, mit der wir den Zöglingen in der
Anstalt gegenüber gestanden sind, als ganz selbstverständlich. Ich möchte dazu
aber bemerken, daß sie uns sehr oft vor die schwersten Anforderungen an uns
selbst stellte; vergessen Sie nicht den weiten Weg von dem Erkennen der Rich-
tigkeit eines Handelns bis zur eigenen Lebenseinstellung darauf.
Wenn ich von den beiden Anstalten Oberhollabrunn und St. Andrä spreche,
werde ich immer wieder gefragt, welche besonderen Erziehungsmittel wir in An-
wendung gebracht haben. Ich komme da jedesmal in die größte Verlegenheit,
weil wir keine hatten. Bei Roheitsakten, Diebstählen und sonstigen größeren
Vergehen, die nicht immer zu vermeiden waren, ließ ich den Missetäter zu mir
kommen und auch den Geschädigten. Die Aussprache mit ihnen und mildes Ver-
zeihen bis zur äußersten Grenze hatten wir immer als das wertvollste Erzie-
hungsmittel kennen gelernt. Sie leistete uns deswegen so gute Dienste, weil wir
das Vertrauen der Zöglinge besessen hatten.
Sie kamen mit Schwierigkeiten, die sie allein nicht überwinden konnten, mit
Unklarheiten und Beschwerden, Hoffnungen und Bestrebungen; mit tausend
Fragen nach all dem Unbekannten, das sie quälte, und auch mit ihren manch-
mal schwer errungenen Erkenntnissen und Vorstellungen suchten sie uns auf.
Viele ganz innere Zweifel tauchten auf; quälendes Mißverstehen religiöser Wahr-
heiten, dumpfer Druck des Unbegreiflichen, Ablehnung jeder kirchlichen Hand-
n
139
lung, Verspottung jeder, auch der eigenen Glaubensempfindung, ja oft Haß gegen
alles, das Religion heißt, aber manchmal auch viel Tieferes, echtes und wahres
religiöses Empfinden. Sorgsam mußten wir da erklären, manchmal viel weg-
räumen und auflösen, aber immer vorsichtig, ohne unsere eigene Überzeugung
aufzuzwingen.
Sie kamen zögernd, mit heißen Wangen und flackernden Blicken, um stockend
von ihren ersten Schwärmereien, ihren feinsten Liebesregungen zu sprechen und
ihre phantasierten Liebeserlebnisse zu erzählen, aber auch um das Schöne oder
Unerträgliche wirklicher Liebe mitzuteilen; sie zeigten sich als Don Juan und
Ritter Toggenburg; sie kamen in ihrer sexuellen Not, mit ihren Leiden und
Lastern. Wir führten das Gespräch nur in ganz vereinzelten, notwendigen
Fällen selbst auf ihre sexuellen Erlebnisse und Regungen. Vielleicht interessiert
es Sie noch zu hören, daß in unseren Aborten die bekannten Zeichnungen und
Inschriften vollständig fehlten.
Die Ergebnisse der Aussprachen ließen auch eine organisatorische Auswertung
zu. Man konnte aus dem Verhalten der Zöglinge, so verschieden es auch immer
schien, doch einige Hauptrichtungen erkennen.
Die intellektuell Minderwertigen fallen sofort heraus. Aber nicht nur die
Intellektvariationen stechen hervor, sondern auch die Einstellung des Einzelnen
zur Umgebung. Eine Reihungsgrundlage gäben beispielsweise zwei ganz deutlich
unterscheidbare Haßtypen. Die einen bringen ihrer Umgebung ganz offensichtlich
Haß entgegen, ohne ihn irgendwie zu verbergen. Er ist freilich quantitativ
außerordentlich variiert, manchmal nur leise angedeutet als Ablehnung zu spüren,
dann wieder als offene Auflehnung bis zum tödlichen Haß. Stellt man die ein-
zelnen Formen dieser Reihe zusammen, dann merkt man das Verwandte, die
Zusammengehörigkeit.
Der zweite Haßtypus ist weniger verbreitet. Der Haß dieser Zöglinge tritt
nicht offen zutage, wie bei den dem ersten Typus Zugehörigen; er ist verdeckt
und daher schwieriger zu erkennen. Diese Hasser sind liebenswürdig bis zur
Aufdringlichkeit, freundlich bis zur unangenehmen Intimität, selbstbewußt bis
zur Arroganz, verlogen und hinterlistig, entpuppen sich als Tyrannen ihrer Mit-
zöglinge und Aufwiegler im geheimen. Alle ihre Äußerungen werden aber sofort
verständlich, wenn man sie als Haßreaktionen erkennt.
Ich habe immer gefunden, daß die Haßäußerungen die Reaktion auf ein nicht
richtig befriedigtes Liebesbedürfnis waren. In vielen Fällen konnte das auch ob-
jektiv festgestellt werden, in sehr vielen Fällen entsprang es aber bloß dem
subjektiven Empfinden des Kindes. Beim ersten Typus handelt es sich wahr-
scheinlich um ein Zuwenig an empfangener Liebe, um eine brutale Ablehnung
des Kindes seitens der Erwachsenen.
In allen Fällen des zweiten Typus zeigte die Aussprache mit den Eltern immer
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wieder dasselbe Bild: zu wenig Gattenliebe, Flucht zum Kinde. Dieses muß die
Liebe als nicht seinetwegen gegeben empfunden haben und reagierte mit einem
sich dissozial äußernden Wesen darauf.
Typisch für die beiden oben geschilderten Zöglingsreihen ist die Art ihrer
Haßäußerung: offene Widersetzlichkeit bis zum brutalen Totschlag bei den
einen, hinterlistiges Anstiften bis zum feigen Mord aus dem Hinterhalte bei den
anderen.
Ich muß nun zum Schlüsse meiner heutigen Mitteilungen über das Anstalts-
getriebe noch die unter den Fürsorgeerziehungszöglingen vertreten gewesenen
„abnormen" streifen. Damit sind aber keineswegs pathologische Fälle gemeint,
sondern nur Grenzfälle zur Neurose und Psychose, Zöglinge mit abnormen
Affektabläufen, die aber doch nicht so weit gekommen waren, daß sie einer
nervenärztlichen Behandlung hätten zugeführt werden können. Sie sind die heil-
erzieherisch schwierigsten Fälle und ich kann auf die Besprechung ihrer Behand-
lung bei einer ersten Einführung in die Fürsorgeerziehung nicht eingehen. Nur
so viel mögen Sie zur Kenntnis nehmen, daß uns die bei der psychoanalytischen
Behandlung von Neurotikern gewonnene Erfahrung und die psychoanalytische
Theorie viel beachtenswerte Hinweise auch für diese Arten Verwahrloster
gegeben hat.
ACHTER VORTRAG
Die Aggressiven
Meine Damen und Herren! In der Fürsorgeerziehungsanstalt wird um so
ökonomischer erzieherische Arbeit geleistet werden können, je mehr das Zu-
sammenleben der Zöglinge in den Gruppen schon an sich, das heißt ohne be-
sondere Erziehungsmaßnahmen, die Verwahrlosung zu beheben geeignet ist. Wir
vermögen ohne weiters einzusehen, daß dann der Aufwand an Erziehern, deren
Inanspruchnahme und das Bedürfnis an Erziehungsmitteln ein weit geringeres
sein muß.
Der Gedanke als solcher ist sicher richtig, fraglich bleibt nur, ob er nicht
von unrichtiger Voraussetzung ausgehend zustande gekommen ist. Wissen wir
doch, von welch unangenehmer Bedeutung für das Werden der Verwahrlosung
gerade der Einfluß bereits verwahrloster Altersgenossen wird, der, wenn wir
ihm auch nicht mehr ursächlichen Wert zuerkennen, so doch den Anlaß bildet,
um latente Verwahrlosung manifest zu machen. Wir bekommen ja auch so und
so oft zu hören, daß der oder jener nur auf die schiefe Bahn gekommen sei, weil
ihn der Zufall in eine bereits dissoziale Gesellschaft geführt hat. Von dieser
Seite gesehen, ist das Zusammenleben Verwahrloster in Gruppen innerhalb der An-
I 1
i4i
stalt geradezu ein Übel, vielleicht ein nicht zu vermeidendes, weil aus prak-
tischen Gründen nicht jeder einzelne Verwahrloste für sich der Fürsorgeerziehung
zugeführt werden kann. Aber ganz unmöglich erscheint es, gerade aus dem Zu-
sammensein mehrerer Positives, für die Behebung der Verwahrlosung Wertvolles
zu gewinnen. Dieser Argumentation stimmen meistens die Eltern zu. Viele
wehren sich, ihr Kind einer Fürsorgeerziehungsanstalt zu übergeben; denn, sagen
sie: „Was er noch nicht weiß, das lernt er dort." Und die Erfahrung gibt ihnen
recht, er lernt wirklich manches, von dem er früher nichts gewußt hat.
Also bleibt die Überlegung, daß das Gruppenleben für sich erzieherisch bedeu-
tungsvoll werden könnte, theoretische Phantasterei? Sehen wir genauer nach!
Von beiden Seiten wird zugegeben, daß gegenseitige Beeinflussung der Zög-
linge stattfindet. Was die beiden Ansichten unterscheidet, ist deren Art, aber
diese ist das Wichtige. Während die einen beweisende Tatsachen anführen, daß
in der Gruppe die Verwahrlosung gefördert wird, behaupten die anderen, das
Zusammenleben könne zur Behebung der Verwahrlosung ausgenützt werden.
Eine Meinung muß doch falsch sein? Ich kann mir denken, daß Sie der pessi-
mistischen Auffassung zuneigen und die andere nicht gelten lassen wollen. Viel-
leicht aber haben beide recht, und es kommt nur auf die besonderen Umstände
an, unter denen die Verwahrlosten zusammengebracht werden? Dem Fürsorge-
erzieher braucht nicht bewiesen zu werden, daß verkommene Freunde eine Ge-
fahr bedeuten; er weiß das und gibt Schädigungen durch diese auch rückhaltlos
zu; anerkennt die Gefährdung aber nicht mehr in ihrer Gänze für die in der
Fürsorgeerziehungsanstalt Untergebrachten und behauptet das gerade Gegenteil,
wenn die Zöglingsgruppe nicht durch Willkür oder Zufall zustande kommt,
sondern durch Auslese gebildet wird. Ob diese der Erzieher vornimmt oder die
Gruppe sich, irgendwie psychologisch fundiert, selbst bildet, weil Zöglinge bei-
sammen bleiben, die sich zusammen gefunden haben, ist eine andere Frage.
Entstammte diese Behauptung einem Einfall in der Studierstube, so fiele es
schwer, für den nicht analytisch Denkenden Argumente von genügender Beweis-
kraft zu finden. So formte sie sich aber, als in der Fürsorgeerziehungsanstalt
Tatsachen zwangen, über ein Warum Klarheit zu gewinnen. Und diese Tat-
sachen will ich Ihnen zunächst mitteilen.
Erinnern Sie eine das letztemal gemachte Bemerkung: In Oberhollabrunn
legten wir anfänglich der Zöglingsgruppierung nicht besonders viel Bedeutung
bei. Sie zog unsere Aufmerksamkeit auch nur insoweit auf sich, als wir trach-
teten, in die einzelnen Gruppen nicht mehr als 2$ Zöglinge zu geben und die
verschiedenen Geschlechter sowie die Schulpflichtigen von den Schulmündigen
zu trennen. Im übrigen ließen wir aber die Eingelieferten so beisammen, wie sie
uns der Zufall gebracht hatte. Es entstand dadurch ein Zustand, der den Er-
zieherinnen und Erziehern ungemein viel zu schaffen machte. In jeder Gruppe
~T
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gab es Elemente, die sich nicht wohl fühlten, und die, da jedwede Gewaltmaß-
nahme verpönt war, solche Führungsschwierigkeiten boten, daß sich der er-
zieherischen Arbeit die größten Schwierigkeiten entgegenstellten. Es begann die
Zeit der Zöglingsverschiebungen, des großen Wanderns von einer Gruppe in die
andere, bis schließlich nur mehr die beisammen waren, die sich selbst aneinander-
geschlossen hatten. Daß wir damit eine Gruppierung erreichten, die ziemlich ein-
heitlich geartet erscheinende Zöglinge zusammenfaßte, habe ich Ihnen schon mit-
geteilt, aber noch nicht berichtet, daß uns zwölf Schulknaben übrig geblieben
waren, die infolge ihrer argen Unverträglichkeit in keiner Gruppe geduldet
wurden. Was sollten wir nun mit diesen anfangen? Wir machten aus der Not
eine Tugend, gaben diese auch zusammen und errichteten die Gruppe der Ag-
gressiven oder Sechser (siehe das Gruppenschema im 7. Vortrage), wie sie auch
noch genannt wurden. Ich werde Ihnen heute ausführlich über sie berichten,
muß vorher nur noch eine Bemerkung zur Gruppierung überhaupt machen.
Überall, wo ich bisher darüber sprach, daß in unseren Gruppen gleichartige
Zöglinge zusammengekommen waren, wurde mir entgegengehalten, daß doch
entgegengesetzte Formen weit günstigere Entwicklungsbedingungen versprechen
müßten. Ich mache Sie daher nochmals ganz besonders auf das bereits bei der
Gruppierung Gesagte aufmerksam. (Siehe Seite 124, vorletzter Absatz.)
Und nun zu den Aggressiven!
Ich betone, daß es durchwegs Kinder mit ärgsten Aggressionen, also schwie-
rigste Fälle waren. Es kam oft ganz unvermittelt zu unglaublichen Skandal-
szenen. Nicht selten sah man sie mit Tischmessern aufeinander losgehen, sich die
Suppenteller gegenseitig an den Kopf schleudern. Auch der Ofen wurde umge-
worfen, um einen Feuerbrand als AngrifFswaffe zu erhalten. Was aber als Affekt-
äußerungen in Erscheinung trat, waren ausschließlich quantitativ abgestufte
Zornausbrüche, so daß unsere „Sechser" doch auch eine gewisse Einheitlichkeit
in ihren psychischen Reaktionen aufwiesen. An uns trat die Aufgabe heran, für
diese Jungen die erzieherisch richtige Einstellung und die zweckmäßigste Art der
Behandlung zu finden. Für die übrigen Gruppen, die sich eigentlich von selbst
gebildet hatten, stand auch weiterhin die einmal gewählte, wohlwollende, jede
Gewaltmaßnahme vermeidende Behandlung fest. Zu einem recht lebhaften Mei-
nungsaustausch gaben aber die Aggressiven Anlaß. Wir hatten doch, von dem
bei den übrigen Zöglingen eingehaltenen Vorgange abweichend, die zwölf, ohne
sie zu fragen, durch die Verhältnisse gezwungen, in eine Gruppe zusammen-
gestellt. Und die Überlegung, daß diese künstliche Masse nur durch Gewalt
werde zusammenzuhalten sein, konnte gewiß nicht von vornherein abgelehnt
werden, wenn man bedenkt, daß jeder einzelne von ihnen seine frühere Gruppe
in größte Unordnung gebracht hatte, und daß nun die ärgsten Störenfriede alle
beisammen waren.
M3
Das Erziehungspersonal und auch unser psychiatrischer Konsulent Dozent
Dr. Lazar vertraten die Ansicht, daß für diese Zöglinge schärfere Zucht und
viel körperliche Betätigung am Platze sei. Ich war anderer Meinung, der sich nur
unser Anstaltspsychologe Winkelmayer anschloß. Von dessen wertvoller Mit-
arbeit bei Lösung des Problems werde ich noch zu berichten haben.
Das nächste Mal komme ich auf die Bedeutung des Lust-Unlustprinzips in
der Verwahrlosung zu sprechen und habe dabei auch näher darauf einzugehen,
daß ein Stück Entwicklung in die Realität nicht gemacht wird, wenn das Kind
durch ein „Zuviel" an Strenge zur Haßeinstellung gegen seine persönliche Um-
welt gebracht wird. Solche Menschen bleiben dann häufig mit einem Teil ihres
Ichs Kinder. Die Aggressionen als Haßreaktionen aufgefaßt, zusammen mit den
sonstigen Äußerungen, die dieses Kindlichsein zeigen, wären dann nur die Folgen
eines Impulses gegen eine übermäßige Strenge des Vaters oder anderer Erwach-
sener in der Kindheit. Wenden nun die Erzieher verschärfte Zucht an, so machen
sie es wie die anderen, mit denen die Kinder in Konflikt stehen, und der ohnehin
vorhandene Gegenimpuls muß sich verstärken, die Verwahrlosung vertiefen,
statt behoben zu werden. Richtig kann daher nur ein gerade entgegengesetztes
Verhalten des Erziehers sein. Ich würde nicht wahrheitsgemäß berichten, wenn
ich in Ihnen die Meinung aufkommen ließe, daß mir das eben Gesagte schon
damals, als ich mich gegen die Auffassung meiner Mitarbeiter wehrte, klar ge-
wesen war. Ich hatte wirklich keine richtige Erkenntnis von den psychischen
Zusammenhängen und ließ mich nur von einem, wie es mir schien, sehr sicheren
Gefühle leiten. Die Determinanten sah ich erst viel später und da auch nur nach
und nach.
Die Erzieher waren für das schärfere Anfassen, ich setzte mich für die milde
Behandlung ein und übernahm daher selbst die Gruppe als Erzieher mit zwei
für den Dienst in dieser Gruppe sich freiwillig meldenden Erzieherinnen.
Über die Familienverhältnisse der Aggressiven und die Bedingungen ihres Auf-
wachsens hatten wir nur jene allgemeine Orientierung, die uns der Erhebungs-
bogen, den Sie ja schon kennen, gab. Ich wies schon mehreremal darauf hin,
daß wir uns zur Aufhellung von Verwahrlosungserscheinungen ganz einseitig
und eindeutig auf die Seite des Zöglings stellen, das heißt, daß es uns sehr wich-
tig ist, von ihm selbst zu erfahren, wie er dem Leben gegenübersteht, wie es sich
in ihm spiegelt. "Wir fragen daher vor allen ihn selbst, und grämen uns nicht,
wenn er uns anlügt; denn, Sie wissen, das gehört dazu! Was uns die Personen
seiner Umwelt erzählen, dient nur dazu, um seine eigene Einstellung noch deut-
licher zu ersehen. Wir fassen sein uns geschildertes Handeln oder Unterlassen
als ganz natürliche und selbstverständliche Reaktion auf gegebene Reize auf, die
wir kennen müssen, ehe wir an die Behebung der Verwahrlosung denken können.
Wichtig war daher, jeden einzelnen der zwölf Aggressiven vorzunehmen, um
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in eingehenderen Aussprachen zu einem Einblick in seinen seelischen Zustand zu
kommen.
In ihrer körperlichen Konstitution wiesen sie recht große Verschiedenheiten
untereinander auf. Neben ganz kleinen, schwächlichen, unterernährten Jungen
gab es normal kräftige und robuste, weit über ihr Alter hinaus entwickelte.
Die Familienkonstellation erschien nach den Erhebungen in keinem der Fälle
einwandfrei. Die Eltern lebten untereinander in Haß und Zwietracht, Schimpf-
und Rauf szenen standen auf der Tagesordnung; oder die Eltern waren geschie-
den, beide wieder verheiratet, im Konkubinat lebend, das Kind wuchs bei Stief-
mutter oder Stiefvater auf, oder auch das Kind war in fremder, nicht einwand-
freier Familienpflege herumgewandert, weil die Eltern nicht mehr lebten. Bei
allen stellte die ärztliche Untersuchung neuropathische Konstitution fest. Alle
wiesen Schulrückstände, die bis zu drei Jahren gingen, auf. An Delikten lagen
vor: Schulschwänzen, unmögliche Aufführung in der Schule, Familien- und
Fremddiebstähle, ärgste Aggressionen zu Hause, in der Schule und auf der Gasse.
In den Aussprachen wurde alles Erhebungsmaterial bestätigt und noch viel
mehr mitgeteilt. In allen Fällen war es tatsächlich zu schwersten Konflikten der
Eltern oder Pflegeeltern untereinander oder mit dem Kinde, oder solcher des
Kindes mit ihnen gekommen und dieses dadurch zur Stellungnahme gezwungen,
sich für Vater oder Mutter oder auch gegen beide zu entscheiden: In der Folge
die Haßreaktionen gegen den einen oder die andere oder beide. Alle waren
sehr lieblos behandelt worden, hatten unter unvernünftiger Strenge und Brutalität
zu leiden gehabt. Bei keinem der Kinder war das Zärtlichkeitsbedürfnis befrie-
digt worden; in einzelnen der Fälle war die Liebe vom Menschen vollständig auf
das Tier verschoben. Sie sprachen beispielsweise von ihren Kaninchen in Aus-
drücken größter Zärtlichkeit, um unmittelbar darnach ihre Kameraden tätlich zu
bedrohen. Alle waren fürchterlich geprügelt worden, prügelten wieder und
griffen dort an, wo sie sich als die Stärkeren fühlten. In allen Fällen war die
Entwicklung der starken Haßkomponente ganz deutlich zu verfolgen.
Nach diesen Ergebnissen stand zweifellos fest, daß wir es in den Aggressiven
mit Verwahrlosten zu tun hatten, denen die für die Entwicklung so notwendige
Liebe der Erwachsenen nicht zuteil geworden war.
Damit ist aber auch schon der Fürsorgeerziehung der einzuschlagende Weg
vorgezeichnet. Zunächst muß das große Defizit an Liebe ausgeglichen werden
und erst dann ist nach und nach und sehr vorsichtig mit stärkerer Belastung
vorzugehen. Schärfere Zucht anzuwenden, wäre vollständig verfehlt.
Die Art der für die „Sechser" in Betracht kommenden Behandlung läßt sich
daher durch folgenden Satz charakterisieren: „Absolute Milde und Güte; fort-
währende Beschäftigung und viel Spiel, um auch den Aggressionen vorzubeugen;
fortgesetzte Aussprachen mit jedem Einzelnen."
145
Diese „absolute Milde und Güte" ist dahin zu verstehen, daß Erzieherinnen
und Erzieher den Zöglingen keinerlei Widerstand entgegenstellen durften und
wenn sich solche aus der Natur der Sache nicht vermeiden ließen, diese milderten.
Wollte beispielsweise einer etwas tun, das aus dem Rahmen der jeweiligen Be-
schäftigung herausfiel, so war das zu erlauben, ohne zu fragen, warum er sich
von den anderen absondert. Behagte einem zweiten das Sitzen beim Mittags-
tische nicht, so durfte er sich mit seinem Teller auch in irgendeine Ecke des Tag-
raumes begeben. War einem dritten das Spielen unangenehm, so konnte er es
abbrechen. Es gab wohl festgesetzte Zeiten: für das Aufstehen, das Essen, das
Spiel, Schlafengehen usw. Diese waren aber für den einzelnen dieser Gruppe nicht
bindend. Die Devise war: soweit nur immer möglich, gewähren lassen. Erzieherin-
nen und Erzieher hatten sich zu bemühen, durch noch so arge Überschreitungen
nicht aus der Fassung zu kommen. Bei Streit-, Rauf- und Wutszenen war nur zu
trachten, Unglück zu verhüten, dabei aber jedwede Parteinahme für einen der
streitenden Teile zu unterlassen.
Vielleicht denken Sie nun, daß die Kinder sich in diesem Paradiese, das ihnen
ein hemmungsloses Ausleben ermöglichte, außerordentlich wohl gefühlt hätten
und ihren Dank dafür durch tadelloses Verhalten abstatteten. Das war nun
keineswegs der Fall. Die Aggressionen vermehrten sich und nahmen an Inten-
sität zu. Wir können auch verstehen, warum gerade entgegengesetztes Verhalten
eintrat. Diese Kinder, die, bevor sie zu uns kamen, für jede Überschreitung vom
Vater, Erwachsenen oder Stärkeren die Faust zu fühlen bekommen hatten, waren
gar nicht imstande, die geänderten Verhältnisse auf eine andere als die bisher
erlebte Art zu erfassen. Wenn der ihnen früher entgegengestellte brutale Wider-
stand jetzt ausbleibt, gibt es für sie nur eine Wertungsmöglichkeit: Wir sind die
Schwächeren, die Angst vor ihnen haben, denen gegenüber man sich alles er-
lauben darf. Den guten Menschen hatten sie doch nie kennen gelernt, daß auch
andere als brutale Menschen leben, ist ihnen ebenso unbekannt wie etwa uns
das Leben der Marsbewohner. Die brutale Gewalt war bisher nur ausgeblieben,
geschlagen wurden sie nur dann nicht, wenn man sie als die Stärkeren fürchtete.
Die Aggressionen wurden daher häufiger und verstärkten sich. Eine zweite Deter-
minante dieses Verhaltens werden wir später einmal verstehen lernen, bis wir
vom unbewußten Schuldgefühl und dem unbewußten Strafbedürfnis etwas kennen
gelernt haben. Außer den schon eingangs geschilderten Angriffen, die sehr arg
wurden, kam es zur Zertrümmerung von Barackeninventar, eingeschlagenen
Fensterscheiben, mit Füßen eingetretenen Türfüllungen usw. Es ereignete sich
auch, daß einer durch das doppelt geschlossene Fenster sprang, unbekümmert
um etwaige Verletzungen durch die dabei zerbrechenden Glasscheiben. Der
Mittagstisch blieb schließlich unbesetzt, weil jeder sich irgendeinen Winkel im
Tagraum suchte, um dort auf dem Boden kauernd, sein Essen zu verzehren.
io A i dl h o r n, Verwahrloste Jugend
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Schreien und Heulen hörte man von weitem, die Baracke sah aus, als ob sie eine
Schar Tobsüchtiger beherbergte.
Die beiden Erzieherinnen waren der Verzweiflung nahe, da ich fortgesetzt
darauf bestand, die Aggressionen auswirken zu lassen, nur zu verhindern, daß
den Zöglingen körperlicher Schaden erwachse, dabei aber jede Parteinahme für
den einen oder anderen unbedingt zu vermeiden, durch fortgesetzte Beschäftigung
und viel Spiel für Ablenkung zu sorgen, mit allen gleichmäßig nett zu sein, sich
absolut nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, kurz den Ruhepunkt darzustellen,
um den sich dieses Chaos formen könne. Die zwei Erzieherinnen Ida Leibfried
und Grete Schmid, die Außerordentliches leisteten, waren schließlich so er-
schöpft, daß sie abgelöst werden mußten. Sie wurden durch zwei andere, Gcrta
Grabner und Valerie Kremer, ersetzt, die sich wieder freiwillig gemeldet hatten
und die, wenn möglich, mit noch größerer Opferwilligkeit und Begeisterung mit-
wirkten. Ihrem tapferen Durchhalten ist eigentlich die Lösung des Problems zu
verdanken. Das unheimliche Anschwellen der Aggressionen läßt sich auch noch
von einer anderen Seite her erklären. Das lieblose Verhalten der früheren Um-
gebung hat zu der Haßeinstellung und später zur Verwahrlosung geführt. Jeder
Lustentgang, jede aufgezwungene Unlust wird mit einer dem anderen Unlust
bringenden Handlung quittiert und dadurch für das Kind selbst lustbetont. In
der neuen Umgebung rufen die bisher genügend starken Aggressionen die ge-
wohnte Reaktion nicht hervor, es bleibt etwas als sicher Erwartetes und Ge-
wünschtes aus. Der Ton liegt hier auf dem „Gewünschten". Kommen muß es;
denn etwas anderes ist nach den bisherigen Erfahrungen unmöglich. Wenn es
auf sich warten läßt, können nur die Aggressionen zu gering gewesen sein,
daher deren Anschwellen, die bei genügender Intensität doch die unbewußt
gewünschte Brutalität des Erziehers herbeiführen werden. Diese, oder anders
gesagt, die unbewußt gesuchte Ohrfeige darf nicht ausbleiben, denn sonst hätte der
Haß keine Berechtigung mehr, was aber nicht sein darf, weil sonst die bisherige
Einstellung zum Leben, die doch richtig war, zusammenstürzte.
Wir können uns vorstellen, daß die Aggressionen nur bis zu einem bestimm-
ten Grade steigerungsfähig sind. Wenn wir ihren Verlauf nicht hemmen, muß
irgend etwas eintreten, wenn diese Höchstgrenze erreicht worden ist. Da wir
uns trotz des jeder Beschreibung spottenden Verhaltens der Jungen nicht zur
oppositionellen Einstellung bringen ließen, war anzunehmen, daß bei unseren
Aggressiven diese äußerste Grenze erreicht werden müsse. Wir konnten auch
ganz deutlich deren Überschreiten erkennen. Die Aggressionen bekamen auf ein-
mal ganz anderen Charakter, obwohl sie in unverminderter Zahl und Heftig-
keit anhielten. Die Wutausbrüche, das gegenseitig Aufeinanderlosgehen, waren
nun nicht mehr wirklicher Affekt, sondern wurden zwar gut, aber doch vor uns
gespielt. Man konnte sehr deutlich die Scheinaggression erkennen. Ich erinnere
H7
aus dieser Zeit einen sehr arg erscheinenden Vorfall. In meiner Gegenwart
stürzte sich ein Zögling mit geschwungenem Brotmesser auf einen anderen, setzte
ihm das Messer an die Kehle und brüllte dabei: „Hund! i erstich di!" Ich stand
ruhig daneben, ohne abzuwehren, ja auch nur von der Gefahr, in der der
andere scheinbar schwebte, Notiz zu nehmen. Mir war die Scheinaggression und
daher die Ungefährlichkeit sehr deutlich. Weil ich so gar nicht aus der Fassung
und in Aufregung kam, vielleicht auch, weil ich ihm nicht das Messer aus der
Hand riß und eine tüchtige Ohrfeige versetzte, schleuderte der Messerheld dieses
mit Wucht von sich, stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden und stieß
einen unartikulierten, brüllenden Schrei aus, der sich in heftigstem Weinen
fortsetzte. Dieses nahm ihn schließlich derart her, daß er vor Erschöpfung ein-
schlief. Ähnliche Szenen erlebten wir bei jedem der Zwölf. Jeder geriet durch
das Nichtbeachten der Scheinaggressionen in heftigsten Affekt, der sich zumeist
in Wutweinen erledigte. Nach der Zeit des Wutweinens kam die der starken
Labilität. Zeitweilig waren die Kinder brav, sehr brav sogar, untereinander so
verträglich, daß man an ihrer Aufführung Freude haben konnte, dann plötzlich
trat wieder ein Umschwung mit Wutausbrüchen und erhöhten Führungsschwie-
rigkeiten ein. Die Zornanfälle erreichten aber nach und nach nicht mehr die
frühere Intensität. In dieser Zeit war es schon zu stärkeren Gefühlsbeziehungen
der Zöglinge zu den Erzieherinnen und mir gekommen. Da wir uns schon an
die brutalen Affektausbrüche gewöhnt hatten, war dieser Abschnitt eigentlich
der für uns unangenehmste. Die Kinder waren ungemein empfindlich geworden
und zeigten nun alle Äußerungen des Ihnen schon bekannten Konkurrenz-
kampfes in der Kinderstube, aber in erhöhtem Ausmaße. Jetzt hieß es besonders
vorsichtig sein. Seit Beginn unseres Versuches waren bisher etwas mehr als drei
Monate vergangen. Wenn auch die Zeiträume des Bravseins immer größere
wurden, so waren wir doch ganz offensichtlich an einem Totpunkte angelangt.
Wir alle wissen nun, welch tief schürfende Wirkungen Affekterlebnisse nach
sich ziehen, und ich vertrete die Ansicht, daß wir einmal die Aufenthaltsdauer
in den Fürsorgeerziehungsanstalten wesentlich werden abkürzen können, bis es
uns gelingen wird, die richtigen Affekterlebnisse für die Zöglinge zu schaffen
und in den Dienst der Erziehung zu stellen. Wir sind da noch viel zu ängstlich
und weichen diesen viel zu sehr aus. Wie ich das meine, haben Sie bei dem
siebzehnjährigen Lebemann gesehen, bei dem Jungen, dem ich das aus der Kasse
entwendete Geld zurückgab und bei der Nichtbeachtung der Scheinaggressionen.
Da die Zeit der Labilität für unsere zwölf Aggressiven schon einige Wochen
angehalten hatte, und wir, wie gesagt, nicht recht von der Stelle kamen, hielt
ich nach einem geeigneten Anlaß, um einen starken Freudenaffekt hervorzu-
rufen, Ausschau. Das Weihnachtsfest, das vor der Türe stand, erschien mir
dazu recht geeignet. So wie jede Gruppe, erhielten auch die „Sechser" ihren
i 4 8
gesonderten Weihnachtsbaum und ihre Geschenke. Es war erfreulich zu sehen,
wie diese Kinder, die noch nie Weihnachten gefeiert hatten, diesen Abend er-
lebten. Noch Wochen nachher war in den Aussprachen die tief innerliche
Wirkung, die diese Feier hervorgerufen hatte, zu ersehen. Einige Tage nach
Weihnachten verließen wir die devastierte Baracke, die Zeuge des unschönen
Lebens gewesen war, und übersiedelten in eine andere, vollständig neu einge-
richtete, um dort ein neues Leben zu beginnen. Die Umkehr war wirklich da.
Trotz Kopfschütteins so mancher, daß der ehedem wüstesten Gesellschaft im
ganzen Erziehungsheim nun neue Gelegenheit gegeben werde, zu zertrümmern
und zu devastieren, ließen wir uns doch nicht beirren. Und wir behielten recht.
Die zwölf Aggressiven waren zu einer homogenen Masse zusammengeschweißt,
die nicht mehr größere Schwierigkeiten machte als jede andere Gruppe. Ich
habe schon des verdienstvollen Wirkens der Erzieherinnen gedacht, aber noch
nicht der ganz ungewöhnlichen Hilfe unseres Anstaltspsychologen Winkel-
mayer. Er übernahm nach mir die Stelle des Erziehers, in einer Zeit, in der die
Jungen recht empfindlich waren, und hatte die schwierige Aufgabe, sie nun zu
jenen Reaktionen und zu der Abhärtung zu führen, die das Leben erfordert.
Es bedurfte einer ganz besonders vorsichtigen und äußerst fein differenzierten
Behandlung. Er traf das viel besser, als ich es zustande gebracht hätte, indem
er die Zöglinge nach und nach immer stärkeren Belastungen aussetzte, absicht-
lich nicht immer gleichmäßig ruhig und freundlich blieb, Ungeduld, Unzufrie-
denheit, schlechte Stimmung usw. zeigte, kurz sie all den Einflüssen aussetzte,
die sich normalerweise im Leben auch ergeben.
Die ehemaligen Aggressiven sind besonders anhängliche Zöglinge geworden.
Nicht uninteressant ist es auch, daß mit dem Abflauen der Aggressionen einzelne
von ihnen bedeutend erhöhte intellektuelle Leistungen zeigten und Schulrück-
stände einholten. Da wir am Ende des Schuljahres nicht selbst die Prüfungen
vornahmen, sondern diese von dem Lehrkörper einer Wiener Bürgerschule und
dem der Ubungsschule der Lehrerbildungsanstalt in Oberhollabrunn vorgenom-
men wurden, sind die Prüfungsergebnisse wohl als einwandfrei zu werten. Dieses
libidinöse Problem müßte wohl noch näher untersucht werden.
Wir haben auch getrachtet, uns den Ausheilungsvorgang zu erklären. Ich
wiederhole kurz: Während die übrigen Gruppen sich dadurch bildeten, daß wir
die Zöglinge beisammen ließen, die sich selbst zusammenschlössen, stellten wir
die zwölf Aggressiven notgedrungen in eine Gruppe zusammen. Wie auch aus
der Auffassung des Erziehungspersonales hervorgeht, war zu erwarten, daß
diese künstliche Masse nur durch Gewalt zusammenzuhalten sein würde; wir
erlebten aber das Gegenteil. Die Tatsache steht fest, daß die Gruppe Bestand
hatte und die Zöglinge in ihr zur Sozialität kamen, trotzdem jede Gewalt ver-
pönt war.
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Wir stellen uns den Vorgang im Anschluß an die Ausführungen in Freuds
„Massenpsychologic und Ich-Analyse" so vor, daß es nach der Zeit des An-
schwellens der Aggressionen zu starken Gcfühlsbindungcn an die Erzieherinnen,
an mich und später auch an den Anstaltspsychologen kam. Diese intensive
Objektbindung der einzelnen an die gleichen Führerpersonen bahnte im weite-
ren Verlauf eine Identifizierung dieser einzelnen untereinander an, rief also
eine Gefühlsbindung der Zöglinge untereinander hervor. Diese bildete den Kitt
der Gruppe, da jedes gewaltsame Verhindern eines etwaigen Auseinanderfallens,
wie schon erwähnt, ausgeschlossen war.
In den Aggressionen wird Libido, aus welcher Quelle sie immer kommen mag,
zu ähnlichen Dissozialitätsäußerungen verbraucht. Es wäre auch zu unter-
suchen, wie diese sich nach der Ausheilung äußert.
Wir haben gehört, daß die Erzieherinnen und Erzieher durch die Aggressio-
nen der Zöglinge nicht zu oppositioneller Einstellung zu bringen waren, daß
sich bei den Zöglingen zuerst ein Gefühl, stärker zu sein, auslöste, das sich in
verstärkten und häufigeren Aggressionen äußerte, daß es im weiteren Verlauf
zum Wutweinen, einer starken Labilität und schließlich zum Bravwerden kam.
Die Affektentladung im Wutweinen war ein Abreagieren. Dadurch erfolgte
eine Auflockerung in dem bisher festen Gefüge der Aggressionen und eine Ver-
minderung der sado-masochistischen Regungen gegen die Erzieherin. Die ver-
drängte normale, zärtliche Libido fand nach jeder solchen Entladung geringeren
Widerstand und konnte sich so nach und nach durchsetzen und das geeignetste
Objekt, die Erzieherin, besetzen. War die Übertragung hergestellt, so kam es
auch nach und nach zu Gefühlsbindungen (Identifizierung) mit den in Bändi-
gung begriffenen Mitzöglingen. Wir hatten so das Schauspiel vor uns, wie ein
bisher alleinstehender Dissozialer sich allmählich affektiv einer sozialen Gesell-
schaft (Masse) einzuordnen beginnt. Der explosionsartig weiterschreitende Auf-
lockerungsprozeß läßt fortgesetzt bisher dissozial verwendete Libido frei werden,
normalen Zielen zuwenden, und den Zögling so für das Leben in der Gruppe
sozial werden. Wir wissen aber nicht, ob genug der früher verderblich verwende-
ten Libido sublimiert worden ist, um ein Wieder-Dissozialwerden aus dem alten
Konflikte als ausgeschlossen anzunehmen, wenn der Zögling in das frühere Milieu
zurückkehrt. Wir haben ihn ja nicht nur zu heilen, sondern auch immun zu
machen, ehe wir ihn in die Infektionszone, die alten Verhältnisse, zurückbringen.
Wir müßten ihn also noch innerhalb der Anstalt verschiedenen Milieueinflüssen
aussetzen. Dies könnte nur durch ein kürzeres oder längeres Verweilen in den
verschiedenen Zöglingsgruppen geschehen. Das läßt sich nicht durchführen, da
sonst fortwährend Zöglinge auf der Wanderschaft wären und die Gruppen nie
zur Ruhe und damit nicht zur Erledigung ihrer besonderen Aufgabe kämen.
Ein Ausweg läßt sich in der bereits erwähnten Ein- und Auslaufgruppe finden.
rjo
Ich schließe damit den Bericht über einen Versuch zur Lösung des Problems
„Behandlung schwierigster Aggressiver" in Besserungsanstalten. Bei Nachprüfung
dieser Lösung darf nicht übersehen werden, dieselben Bedingungen herzustellen,
unter denen wir den Versuch machten.
Es fragt sich, ob wir nicht dasselbe oder ein noch weit besseres Ergebnis
hätten auf einem anderen Wege erzielen können. Wenn wir viele uns ähnlich
erscheinende Fälle einer Psychoanalyse unterzögen, gewönnen wir die Möglich-
keit, zu einer Basis zu kommen, von der aus die Gruppierungsversuche einwand-
frei variiert werden könnten: wir würden alles erfahren, was wir brauchen,
um die Gruppierung auf psychologische Einsicht zu gründen und erst dadurch
den Gruppierungsgedanken entwicklungsfähig machen. Damit sind wir aber
wieder dort angelangt, von wo wir das letztemal ausgegangen sind, beim
Gruppierungsgedanken, den uns die Psychoanalyse einmal wird finden helfen
müssen, weil wir wirklich erst dann systematisch darauf hinarbeiten können,
die Zöglingsgruppen so zu gestalten, daß sie immer erzieherisch-ökonomischer
werden.
Wollen Sie auch noch beachten, daß bei der Ausheilung der Aggressiven die
libidinösen Beziehungen zu den Erzieherinnen sehr in Frage kamen. Wenn wir
da nicht mit psychoanalytisch geschulter Einsicht die richtige Einstellung zu
den Zöglingen finden, kann die wertvollste Hilfe für die Behandlung zu einem
unüberwindlichen Hindernis werden. Durch ungeschicktes Verhalten der Er-
zieherinnen und des Erziehers können jene infantil libidinösen Bindungen ein-
treten, die jenen ähnlich sind, die wir als Ödipuskomplex bereits kennen, und
jenen, die möglicherweise zu einer Entfremdung dem anderen Geschlechte gegen-
über führen.
Was Sie aus meinen Schilderungen des Erziehungsvorganges zur Ausheilung
der Aggressiven bisher nicht zu entnehmen vermochten, ist, daß wir auch Feh-
ler, manchmal sogar sehr bedeutende Fehler machten. Es ist außerordentlich
schwierig zu verhindern, selbst auch einmal in Affekt zu kommen, die haupt-
sächlichste Fehlerquelle für erzieherisch nicht einwandfreies Verhalten. Es
bedurfte vieler Selbsterziehung, bis wir zu der für unser Tun notwendigen
Selbstbeherrschung auch wirklich kamen. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt,
daß noch ein weiter Weg von dem als richtig Erkannten bis zur eigenen Lebens-
einstellung darauf ist. Parteilos zu bleiben, wenn sich zwei prügeln, nicht dem
Schwächeren beispringen, ist keine so leichte Sache; sich nicht ärgern, wenn
drei oder vier in der Frühe in den Betten liegen bleiben, man beim Mittagstisch
allein sitzt und noch dazu gehänselt wird, ist für den Anfang eine ganz ge-
hörige Kraftleistung, die nicht immer gelingt. Es bedarf sehr viel, bis der
Erzieher sich selbst so in die Hand bekommt, daß er den ruhenden Pol in dem
chaotischen Gewirr bilden kann. Dazu kam für uns aber noch etwas ganz
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Besonderes. Niemand hatte uns gesagt, daß unser Verhalten, überhaupt unser
ganzes Bemühen richtig sei. Wir hatten aus einem Gefühl heraus eine Einstel-
lung gewonnen und einen Weg eingeschlagen, von dem wir nicht sicher wußten,
ob eJr auch zum Ziele führen werde. Wir waren, da wir einmal gegen die
Meinung der anderen begonnen hatten, gezwungen, durchzuhalten oder unser
Unvermögen einzugestehen. Dadurch wurde uns natürlich auch erschwert, in
die erforderliche Ruhe zu kommen. Ich erinnere noch ganz deutlich, wie wir
alle, die wir an der Lösung des Problems beteiligt waren, siegesfroh und hoch
erhobenen Hauptes durch das Erziehungsheim schritten, als nach Wochen
schrecklichen Wütcns die erste vollständig aggressionsfreie kam, und wie betrübt
wir waren, als es in der nächsten Woche wieder „drunter und drüber" ging.
Vielleicht verdanken wir den Erfolg auch zum Teile unserem Wagemute, einem
Stück Unerschrockenheit und auch dem Umstände, daß wir uns von unserer
Umgebung nicht kleinkriegen ließen, uns auch nicht scheuten, unsere Jungen
groß werden zu lassen.
Die besonderen Schwierigkeiten, denen wir beständig gegenüberstanden,
machten innigsten Kontakt der beteiligten Erziehungspersonen und eingehende
Besprechungen über Eindrücke, Vorfälle, Mutmaßungen, Erziehungsmaßnahmen
usw. erforderlich. Es war auch oft unzweifelhaft zu erkennen, daß ungeschicktes
Verhalten des einen oder anderen von uns Zöglingsaffekte gesteigert, deren Ab-
flauen verhindert hatte und mit Ursache war, wenn ein zweiter oder dritter
Zögling, der sonst unbeteiligt geblieben wäre, mit hineingezogen wurde. Da
mußte dann beraten werden, wie dieses zu machen und jenes zu vermeiden sei.
Wir kamen aus der Schwierigkeit, nach Affektausbrüchen eine klare Darstellung
geben zu können, bald dazu, genaue Aufzeichnungen zu machen und diese in
graphischen Darstellungen zu verwerten. Als geeignet erschien uns die graphische
Darstellung im rechtwinkeligen Koordinatensystem. Auf der Abszisse trugen wir
die Zeiten, auf der Ordinate die Affektquantitäten auf, wobei wir uns für den
ansteigenden Ast an folgende Bezeichnung hielten: o = normale Stimmungs-
iage, i = verärgert, z — gereizt, 3 = zornig, 4 •= Angriffsabsicht, 5 =r Angriff,
<J = Angriff auf die Erzieherin. Für den absteigenden Ast fanden wir keine uns
geeignet erscheinenden Ausdrücke, so daß wir uns zurück bis zur Abszisse der
positiven, unterhalb der negativen Zahlen bedienten. Ich weiß sehr wohl, daß
den so entstandenen Aggressionskurven keinerlei Anspruch auf Wissenschaft-
lichkeit zukommt, weil nicht einmal die einzelnen Affektlagen objektiv feststell-
bar waren. Wir verfolgten auch keinen wissenschaftlichen Zweck, sondern
wollten nur ein praktisch ausreichendes Hilfsmittel für unsere Erörterungen
haben und dazu reichten die Kurven aus: sie gaben uns übereinander und neben-
einander liegende Bilder, wenn zwei oder mehrere Zöglinge gleichzeitig oder
nacheinander in Affekt gerieten; die Neigung der Kurvenäste gab Aufschluß
über die Raschheit und die Art des Affcktverlaufcs, deren Höhen und Tiefen-
punkte das Maximum der Erregung usw. Wiederholt konnten wir aus den
Kurvenkrümmungen auch erkennen, wie oft unser guter Wille eben nur guter
Wille geblieben war und was wir selbst noch brauchten, um die als notwendig
erkannten Bedingungen auch wirklich zu erfüllen.
Ich will Ihnen jetzt noch an der Hand solcher Aggressionskurven 1 von
einem der Affektabläufe berichten, an dem sechs Zöglinge, also die halbe Gruppe
aktiv, die anderen mehr oder weniger als Mitläufer beteiligt waren und die eines
Tages, um vier Uhr nachmittags beginnend, bis zum nächsten Tage mittags
anhielt. Sie sollen daraus ein Stück der Schwierigkeit unserer Arbeit ersehen und
auch, wie dem Erzieher unterlaufende Fehler den Verlauf der Aggressionen un-
günstig beeinflussen. Ich werde nur berichten und die kritische Beurteilung, wie
wir sie immer gaben, Ihnen überlassen.
Die Zöglinge sind in der Baracke beisammen. Die eine Erzieherin ist unpäßlich
und liegt dienstunfähig zu Bett, so daß in der Gruppe nur die zweite anwesend
ist. Diese teilt die Jause, bestehend aus Kakao und einem Stück Brot, für jeden
aus. Den Kakao gießt sie mit einem Portionen löffel, damit jeder die gleiche
Menge bekommt, von einem Topf in die Schalen der Kinder, das Brot entnimmt
sie einem neben ihr stehenden Korb.
4 Uhr: Der Zögling L . . ., der der Aufforderung, zur Jause zu kommen,
zuerst nicht Folge geleistet hat und beim Spieltisch sitzen geblieben war, kommt,
stellt sich zum Brotkorb, sucht das größte Brotschcrzel heraus und nimmt es an
sich, ohne von der Erzieherin daran gehindert zu werden. (Brotscherzel, das sind
die Anschnitte eines Brotlaibes, waren immer größer als die andern Stücke und
deswegen sehr beliebt. Jeden Tag kamen nur einige in die Gruppe, und um
Unfrieden nach Möglichkeit zu vermeiden, war ein „Scherzelturnus" eingeführt
worden, dessen Einhaltung von den Zöglingen argwöhnisch überwacht
wurde.) Die Erzieherin hatte L . . .s Tun, da sie etwas abgewendet stand,
nicht bemerkt.
Die Gruppe wird unruhig, die Erzieherin aufmerksam und spricht nun mit
L . . ., der das Ungehörige seines Benehmens nicht einsieht, sondern verärgert in
das Zimmer der erkrankten Erzieherin geht. Die übrigen Zöglinge bleiben
beisammen, verzehren ihre Jause und begeben sich wieder zum Spieltisch. Beim
Speisetisch ist nur der „Austeiler" dieser Woche, Seh . . ., zurückgeblieben.
(Austeiler zu sein, war ein wöchentlich wechselndes Ehrenamt, Helfer der
Erzieherin bei den Mahlzeiten.)
4 Uhr 20: L . . . kommt in verschlechterter Stimmung, die aber nicht
bemerkt wird, zurück und legt, ohne daß es jemand sieht, das Brotscherzel
*) Siehe die nebenstehende Beilage.
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153
in den Korb. Er macht es der erkrankten Erzieherin zuliebe, die ihn dazu
bewogen hatte, ist aber selbst damit nicht einverstanden.
In ansteigender Verärgerung trinkt er seine auf dem Tisch stehen gebliebene
Schale Kakao, will sich eine zweite, die er sonst immer bekommt, einschenken,
findet aber den Topf leer.
4 Uhr 25: Darüber wird er derart gereizt, daß er den Portionenlöffel mit
Wucht in den Topf schleudert und als das nicht beachtet wird, seine Kakaoschale
mehreremal klirrend auf den Tisch aufschlägt.
4 Uhr 30: Dabei sieht er den Austeiler Seh . . ., der eben sein Brotscherzel
mit dem Brotmesser durchschneidet und beginnt diesen, immer gereizter werdend,
zu hänseln. Weil dieser nicht hinhört, sondern ruhig weiter ißt, beginnt er
immer ärger zu schimpfen.
4 Uhr 40: Plötzlich springt L . . . auf, dringt auf Seh . . . mit den Fäusten
ein, läßt aber sofort von ihm ab, als dieser sich zur Wehr setzt, kehrt zu
seinem ursprünglichen Platz zurück, nimmt Kakaoschalen und bewirft Seh . . .
damit. Dieser, zornig geworden, als L ... auf ihn zugestürzt, hat sich sofort
wieder beruhigt, so daß er auf das Bewerfen gar nicht reagiert.
j Uhr: Der Erzieherin ist es gelungen, L ... so weit zu besänftigen, daß
er in einer Ecke des Tagraumes Späne für den Ofen macht.
R und D . . ., besondere Freunde des L . . ., haben dem Auftritte
von ferne zugesehen, zwar nicht eingegriffen, sind aber durch den Affekt
ihres Kameraden verstimmt geworden. R . . . scheint es nicht recht zu sein,
daß L . . . nachgegeben hat und Späne macht; denn jetzt übernimmt er in
stetig ansteigender Gereiztheit die Rolle des renitenten Jungen. Er geht zum
Brennholz und wirft Holzstücke durch den Tagraum, wird immer gereizter,
weil er darüber nicht zur Rede gestellt wird. Was er beabsichtigt, ist ganz
deutlich zu sehen, als die Holzstücke in immer größerer Nähe der Erzieherin
zu Boden fallen.
j Uhr 10: Als die Erzieherin ernstlich gefährdet erscheint, sich aber trotzdem
nicht kümmert, weist G . . ., ohne sich selbst zu erregen, R . . . zurecht.
R . . . wird darüber zornig, stellt aber das Werfen ein, weil L . . . vom
Spänemachen aufspringt und auf G . . . zustürzt. Dieser läßt sich in einen
Raufhandel nicht ein, sondern verläßt ruhig die Baracke.
5 Uhr 15: L . . . geht verärgert zum Spänemachen zurück, bei R . . .
zittert die Erregung noch nach und er wird trotzig.
j Uhr 30: Die Erzieherin reinigt die Kakaoschalen, was Arbeit des R . . .
wäre, der aber in seinem Trotze sich ganz abseits, aber unweit von L . . .
auf einen Stuhl gesetzt hat, ohne mit diesem zu sprechen.
Mittlerweile sind einige Zöglinge aus einer anderen Baracke zu Besuch
gekommen. Diesen und dem Zögling W ... aus der „Sechsergruppe" paßt es
11 Aichhor», Verwahrloste Jugend
*54
nicht, daß die Erzieherin, statt sich mit ihnen zu beschäftigen, die Arbeit des
R . . . auf sich genommen hat. Einer von den Besuchern weist so laut, daß es
R . . . hören muß, auf seine Gruppe hin, in der die Erzieherin sich nie um
die Geschirreinigung zu kümmern braucht. Als R . . . ungerührt bleibt, werden
die Besucher und auch W . . . deutlicher; als dies auch nichts fruchtet,
sagen sie dem R . . ., er soll sich schämen.
5 Uhr 40: L . . . hört beim Spänemachen die Zurechtweisung seines Freundes
und stürzt sich, als die Besucher und W . . . R . . . direkt apostrophieren, auf
den Hauptsprecher aus der anderen Gruppe und wirft ihn aus der Baracke.
5 Uhr 50: Ich komme in die Baracke, um nachzusehen, was sich ereignete,
weil Seh . . . und G ... zu mir mit der Mitteilung gelaufen kamen, daß
L . . . einen fremden Zögling hinausgeworfen habe. Der Erzieherin hatten
wohl die beiden gefehlt, sie wußte aber nicht, daß sie mich holten. Die Gruppe
war noch immer aus dem Gleichgewichte, D . . . besonders verstimmt, R . . .
nach wie vor trotzig und L . . ., der mittlerweile die Späne in die Zimmer
der beiden Erzieherinnen getragen hatte, noch immer in Angriffsbereitschaft.
In einer Aussprache mit L . . . kommt es nochmals zu einem heftigen
Anschwellen des Affektes. Dabei sagte er unter anderem: „Ich habe die Gier,
seine Knochen krachen zu hören." Damit meinte er "W . . ., der vorher
R . . ., weil er nicht das Geschirr reinigte, zur Rede gestellt hatte. Durch die
Aussprache ist ein Abflauen der Erregung eingeleitet. Um L . . . vollständig zu
beruhigen, schlage ich ihm vor, mit mir in die Kanzlei zu gehen und dort
einige Stereoskopbilder anzusehen. Er bittet auch, seine beiden Freunde R. . .
und D . . . mitzunehmen und es schließen sich auch noch zwei andere
Zöglinge an.
6 Uhr 30: Ich verlasse mit den fünf die Baracke.
6 Uhr 30: L . . ., R . . . und D . . ., die anfänglich beim Stereoskopkasten
noch recht „unverdaulich" waren, kommen rasch in die normale Stimmungslage.
In der Baracke stellt sich nach unserer Entfernung heraus, daß sich durch die
Vorfälle am Nachmittag zwei Parteien gebildet hatten, von denen die eine nun
mit mir fort war. (In der graphischen Darstellung durch Farben kenntlich
gemacht.)
6 Uhr 35: Die Erzieherin merkt, daß namentlich bei G . . . und W . . ., die
sich nachmittags so ruhig verhalten hatten, die Stimmung schlechter wird.
6 Uhr 40: Die Zurückgebliebenen gehen in das Zimmer der erkrankten
Erzieherin und beklagen sich, daß nur die anderen haben mitgehen dürfen.
G . . ., W . . . und Seh . . . machen dieser die heftigsten Vorwürfe, daß
auch sie zur Gegenpartei halte, und verschieben den ganzen Groll von mir
auf sie. "W . . . kommt rasch in Zorn, der ziemlich lange anhält (7*20), dann
aber sich ebenso rasch vermindert. G . . . und Seh . . . werden nur verärgert.
151
G . . . erreicht das Maximum seines Affektes zu einer Zeit, in der W . und
Seh . . . schon beginnen, ruhiger zu werden.
7 Uhr jo: Der Erzieherin ist es nach einer langen Auseinandersetzung
gelungen, den sieben bei ihr im Zimmer Versammelten zu beweisen, daß ihre
Annahme falsch gewesen sei. G . . . und W . . . sind über das der Erzieherin
zugefügte Unrecht bestürzt und so gerührt, daß sie zu weinen beginnen,
beruhigen sich aber bald, als die Erzieherin mit ihnen weiter spricht.
S Uhr: Die Gegenpartei kommt von der Besichtigung der Stereoskopbilder
zurück.
S Uhr: Als L . . . und seine vier Kameraden in das Zimmer der Erzieherin
eintreten, sehen sie die anderen sehr friedlich und in guter Stimmung beieinander
sitzen. Das stört sie in ihrer Siegerstimmung; denn sie wollten triumphieren, daß
die anderen nicht mitgewesen waren. D . . . begannt deswegen auch die Gegner
zu hänseln. Es gelingt ihm aber nicht, diese aus ihrer Ruhe zu bringen.
Die Erzieherin versucht mit Vernunftgründen zu bewirken, daß die Zurückge-
kommenen ihre Sticheleien aufgeben und sich friedlich zu den übrigen gesellen.
8 Uhr 20 : Sie erreicht das Gegenteil. L . . . sieht die Erzieherin bei der
anderen Partei, geht gereizt aus ihrem Zimmer und setzt sich im Tagraum
nieder. D . . ., der zornig geworden ist, und R . . ., der wieder in seine
Trotzeinstellung zurückverfällt, folgen ihm nach.
8 Uhr 35: Alle übrigen gehen schlafen, die drei haben mittlerweile im
Tagraum eingeheizt und erklären, die Nacht über aufbleiben zu wollen. Die eine
Erzieherin vermag nichts auszurichten.
9 Uhr: Die Erkrankte steht auf, die drei sagen ihr, daß sie im Tagraum
übernachtet hätten und nun nur ihr zuliebe zu Bette gehen. Sie verlangen, daß
die Erzieherin warten müsse, bis sie selbst eingeschlafen seien und legen sich
vertrotzt nieder.
9 Uhr vormittags am nächsten Tage: L . . . kommt in das Zimmer der
erkrankt gewesenen und nunmehr wieder dienstfähigen Erzieherin unter dem
Vorwande, seine vergessene Halsbinde holen zu wollen. Er lehnt sich an das
Bett und weint heftig. Die Erzieherin, über diesen Gefühlsausbruch überrascht,
geht zu ihm hin und er verspricht spontan, nicht mehr gegen seine Kameraden
loszugehen, weil er die Erzieherin nicht kränken wolle. Es kommt zu einer voll-
ständigen Beruhigung L . . .s, der lachend und freudestrahlend in den Tagraum
eintritt. Als R . . . und D . . . die gute Laune ihres Freundes sehen, wird auch
deren Stimmung, die beim Aufstehen noch sehr labil gewesen war, eine gleich-
mäßig ruhige und freundliche. Aber erst gegen Mittag zeigte die Gruppe
vollständige Ausgeglichenheit. Ich nehme an, daß Sie sich trotz Unterlassung
besonderer Hinweise im Graphikon zurechtgefunden haben und daß Ihnen die
Affektabläufe bei den einzelnen Zöglingen durch den Vergleich meiner Dar-
iß
Stellung mit den Aggressionskurven deutlich geworden sind, so daß ich nichts
mehr hinzuzufügen brauche.
Ich habe Ihnen absichtlich diese Begebenheit aus einer Zeit mitgeteilt, in
der wir in unserem Verhalten den Zöglingen gegenüber noch recht ungeschickt
waren, weil ich mir vorstellte, daß Sie gerade an den Fehlem, die wir damals
gemacht hatten, recht viel für Ihre eigene praktische Erziehungsarbeit lernen
können.
NEUNTER VORTRAG
Die Bedeutung des Realitätsprinzips für das
soziale Handeln
Meine Damen und Herren! Als wir im ersten Vortrage von der Erziehung
sprachen, habe ich Ihnen auch über die ihr zukommende Aufgabe einige
Andeutungen gemacht und dabei angekündigt, daß ich im neunten Vortrage
nochmals darauf zurückkommen werde. Wir erklärten uns das Kulturfähigwerden
aus der Entwicklung von Bereitschaften, die in der Erbanlage des Kindes vor-
handen sind, und gaben der Meinung Ausdruck, daß zu deren Entfaltung
sowohl das Leben selbst als auch die Erziehung eine bestimmte Leistung zu
vollbringen haben. Damit wurde keine neue theoretische Annahme gemacht,
sondern nur eine Tatsache, die jederzeit zu sehen ist, angeführt; denn immer sind
beide am Werke: das Leben und die Erziehung.
Wir haben dem Leben jene Arbeit überlassen, die geleistet werden muß, um
den Menschen zur Selbstbehauptung zu befähigen, primitiv realitätsfähig zu
machen, und der Erziehung die ergänzende Tätigkeit zugewiesen, die die primi-
tive Realitätsfähigkeit zur Kulturfähigkeit erweitert. (Was wir unter Kultur-
fähigkeit verstehen, wurde bereits ausgeführt.) Obwohl wir wissen, daß in
Wirklichkeit das Leben und die Erziehung in ihren Einwirkungen auf das
heranwachsende Kind einander nicht nur ergänzen, sondern auch ineinander
spielen und gegenseitig übergreifen, nahmen wir diese Arbeitsteilung doch vor,
weil sich dadurch mit annäherungsweiser Richtigkeit von der Erziehung etwas
aussagen läßt, das uns später den Sinn der Fürsorgeerziehung in einem ihrer
Belange aufhellen wird. Festzuhalten haben wir nur, daß diese Scheidung bloß
eine schematische ist.
Erweitern wir unsere im ersten Vortrage gewonnene Auffassung noch durch
die Einschaltung, daß der Erziehung auch die Verhinderung der Entwicklung
kulturwidriger Bereitschaften obliegt, so haben wir genug vorbereitende Bemer-
kungen gemacht, um nun unsere Aufmerksamkeit jenen psychischen Vorgängen
157
zuwenden zu können, die das nahezu ausschließlich seinen Triebbefriedigungen
lebende kleine Kind so entwickeln, daß es nach und nach in eine Kulturgemein-
schaft hineinwächst.
Freud wirft bei der Untersuchung des verschiedenen Verhaltens von Trieben
(Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Schriften Bd. VII.
S. 569) die Frage auf, ob in der Arbeit unseres seelischen Apparates eine Haupt-
absicht zu erkennen sei, und beantwortet diese in erster Annäherung damit, daß
er eine auf Lustgewinn gerichtete Absicht sieht. Es erscheint ihm, daß die ge-
samte Seelentätigkeit darauf hinzielt, Lust zu erwerben und Unlust zu vermei-
den. Er führt auch des näheren aus, daß das seelische Geschehen automatisch
durch eine Tendenz reguliert wird, die er Lustprinzip nennt.
Wenn wir den Satz vom Lustprinzip zum erstenmal hören, sind wir geneigt,
zu widersprechen, erfahren wir doch in unserem eigenen Erleben nur zu oft,
daß das Endergebnis eines seelischen Ablaufes mit Unlust verbunden ist. Wir
werden mit unserer Kritik aber nicht zu voreilig sein, sondern vorerst versuchen
zu verstehen, wie Freud das meint. Dazu haben wir nicht mehr zu tun, als
seinen Überlegungen zu folgen. Durch ihn wissen wir schon, daß das Unbe-
wußte das Ursprünglichste alles Seelischen ist und daß in ihm sowohl Wunsch-
als auch Triebregungen eingebettet sind. Merken wir uns weiter, daß im Unbe-
wußten ausschließlich das Lustprinzip herrscht. Was heißt das? Freud hat er-
kannt, daß alles vom Unbewußten Ausgehende auf Lustgewinn gerichtet ist.
Nun kümmert sich die das Individuum umgebende Außenwelt nicht um dessen
Bedürfnis nach Lustgewinn, liefert diesen einmal und versagt ihn ein andermal,
wie es sich eben aus der vorhandenen Konstellation ergibt. Dadurch kommt es
aber häufig zu Situationen, die dem Streben nach Lustgewinn nicht entsprechen,
wiederholt diesem gerade zuwiderlaufen. Sehen wir uns daraufhin bloß den
Säugling an. Noch ganz beherrscht von seinen unbewußten Funktionen, wird
er in seinem psychischen Ruhezustand vor allem schon durch die gebieterischen
Forderungen seiner inneren, aus dem Triebleben kommenden Bedürfnisse ge-
stört, die er, um Unlust zu entgehen, zu befriedigen versucht. Er lebt daher ganz
der Entsprechung seiner Triebregungen, die ihn, da sie ausschließlich auf Lust-
gewinn gerichtet sind, in eine der Wirklichkeit nicht entsprechende Lustwelt
stellen. Die Folge davon sind für das kleine Kind wiederholt sehr unangenehme
Enttäuschungen: erwartete Befriedigung bleibt aus; statt Lust wird Unlust er-
lebt. Damit ist es aber nicht abgetan; im Individuum selbst gehen Veränderun-
gen vor sich. Der psychische Apparat wird gezwungen, sich den realen Ver-
hältnissen anzupassen, jene Veränderungen anzustreben, die das Ich weniger ge-
fährden. Diese Umgestaltung ist natürlich nicht auf einmal erreichbar, sondern
Aufgabe einer Entwicklung. Aus dem Unbewußten organisiert sich das Bewußt-
sein mit Funktionen, die dem Ich nicht nur genauere Kunde geben von seinen
3
i 5 8
Körperbedürfnissen und über die Sinnesorgane von dem, was in der Außenwelt
vorgeht, sondern es auch nach und nach befähigen, den Notwendigkeiten des
Lebens zu entsprechen. Dazu gehört ganz besonders, daß das Streben nach Lust-
gewinn modifiziert wird. Schwierigkeiten, die sich der Befriedigung von Trieb-
regungen entgegenstellen, die Unmöglichkeit, diese zu befriedigen, die jedesmal
eintretende Unlust, wenn eine von der Wirklichkeit verpönte Lustbefriedigung
erfolgt ist, veranlassen zum Aufschub von Lustgewinn, zum Verzicht auf sol-
chen und führen dadurch zur Unterdrückung von Triebregungen. Die Aufgabe,
Unlust zu vermeiden, stellt sich für das Ich sehr bald fast gleichwertig neben
die, Lust zu gewinnen. Durch die realen, unvermeidlichen Versagungen wird
die Einsetzung einer zweiten Tendenz erzwungen, die vom Bewußtsein aus das
Ich nötigt, das aus seinem Unbewußten kommende ungezügelte Drängen nach
Lustgewinn zu regulieren, es so zu gestalten, daß ihm aus der Triebbefriedigung
kein Schaden erwächst. Diese zweite Tendenz, die mit den real gegebenen Ver-
hältnissen rechnet, nennt Freud das Realitätsprinzip. Mit dessen Einsetzung ist
der wichtigste Fortschritt in der seelischen Entwicklung gemacht. Von da an be-
herrschen die beiden Tendenzen, Lust- und Realitätsprinzip, die seelischen Ab-
läufe: neben dem Lustprinzip im Unbewußten ist das Realitätsprinzip im Be-
wußtsein wirksam. Wenn das Lust-Ich nur nach Lustgewinn arbeitet und Unlust
Ausweicht, so strebt das Real-Ich nach Nutzen und sichert sich vor Schaden. Je
mehr sich das Realitätsprinzip entwickelt und stärkt, desto weniger wehrlos wird
das Ich seinen Triebregungen ausgeliefert sein, weil desto sicherer rechtzeitig
gemeldet wird, wenn dem Individuum aus dem Widerspruch einer Triebregung
mit den Forderungen der Wirklichkeit Gefahr droht, um so realitätsfähiger wird
der Mensch.
Wenn wir diese Überlegungen Freuds verstanden haben, erkennen wir, daß
das Realitätsprinzip das Kind während seines Heranwachsens immer mehr aus
seiner unwirklichen Lustwelt in die Wirklichkeit führt, ihm An- und Aus-
gleichung zwischen dem lustvoll Gewünschten und den Forderungen des Lebens
herzustellen ermöglicht. Je kleiner das Kind ist, je schwächer daher in ihm noch
das Realitätsprinzip zur Wirkung kommt, desto mehr wird das Ich nach sofor-
tiger Triebbefriedigung verlangen, desto weniger kann es auf den daraus zu er-
zielenden Lustgewinn verzichten und Unlust ertragen. Wir könnten ganz gut die
verschiedenen kindlichen Altersstufen aus dem Grade der Vorherrschaft des
Lustprinzips über das Realitätsprinzip beschreiben. Wir dürfen aber nicht in den
Irrtum verfallen, daß das Realitätsprinzip, als eine Sicherungstendenz des Ichs,
auf Lustgewinn verzichtet. Es strebt diesen letzten Endes auch an, nimmt aber
Rücksicht auf die Wirklichkeit, begnügt sich mit aufgeschobener oder vermin-
derter Lust, wenn es diese nur sicher erhält.
Nun vermögen wir den scheinbaren Widerspruch zwischen dem tatsächlichen
159
Erleben von Unlust und der Herrschaft des Lustprinzips aufzuklären. Die Be-
hauptung Freuds, daß die Arbeit des seelischen Apparates darauf gerichtet ist,
Lust zu erwerben und Unlust zu vermeiden, bleibt aufrecht, sie sagt aber nicht,
daß sich diese Tendenz immer durchsetzt. Möglicherweise ist die erlebte Unlust
durch das Realitätsprinzip veranlaßt worden, um später desto sicherer Lust zu
gewinnen, oder sie ist infolge eines noch zu wenig „verständigen" Ichs einge-
treten, aus einem Zusammenstoß mit der Realität hervorgegangen, das heißt,
das Lustprinzip in einem noch nicht genügend realitätsfähigen Individuum hat
unzeitgemäß einen Durchbruch erfahren, oder schließlich, was ich Ihnen aber
noch nicht verdeutlichen kann, die bewußte Unlust ist nur das Gegenstück gleich-
zeitiger unbewußter Lust.
Der Erzieher muß besonders klar erkennen, daß die Einsetzung und weitere
Entwicklung des Realitätsprinzips aus solchen realen Versagungen erfolgt, die
das Kind zu Triebeinschränkungen veranlassen. Nehmen wir aber an, daß das
Realitätsprinzip um so mächtiger wird, je mehr und stärkere Versagungen dem
Kinde auferlegt werden, so sähen wir nur die an seinem Zustandekommen be-
teiligten äußeren Faktoren und übersehen die inneren, im Kinde selbst gelegenen.
Nicht nur die von der Außenwelt stammenden Hindernisse kommen in Frage,
sondern zu beachten ist auch noch, inwieweit diese als solche empfunden und
anerkannt werden. Versagungen, die für das eine Kind bedeutungsvoll werden,
hinterlassen möglicherweise in einem anderen keinerlei Spuren: beide reagieren
infolge ihrer verschiedenen Erbanlage voneinander abweichend.
Das darf nun aber wieder nicht so aufgefaßt werden, als ob man es für ein
bestimmtes Kind in der Hand hätte, die realen Versagungen beliebig zu steigern
oder zu vermindern, um dadurch die Einsetzung des Realitätsprinzips frühzeiti-
ger oder später, wirksamer oder weniger wirksam als es der Altersstufe ent-
spricht zu erzielen. Bis zu einem gewissen Ausmaße wird das wohl möglich sein,
was aber darüber hinausgeht oder darunter bleibt, wirkt schädigend. Wir wer-
den bei Besprechung der Entwicklungsstörungen, die in die Verwahrlosung
führen, zu hören bekommen, was eintreten kann, wenn das Kind zu frühzeitig
einen krassen Zusammenstoß mit der Realität erlebt oder deren Einwirkungen
zu sehr entzogen wird. An dieser Stelle will ich einschalten, wie ein sich normal
entwickelndes Individuum für den durch die äußere Not aufgezwungenen Lust-
verlust sich schadlos zu halten versucht. Das Ich unterwirft sich nicht ohneweiters
den Ansprüchen der Realität, wenn diese zu hohe Anforderungen stellt. Es wird
eine Art von Denktätigkeit abgespaltet, auf die das Realitätsprinzip keinen Ein-
fluß gewinnt, die ausschließlich der Herrschaft des Lustprinzips unterworfen
bleibt. Ich kann mir denken, daß Sie schon wissen, auf welchen seelischen Vor-
gang ich hinziele: auf die Phantasietätigkeit, die Ihnen als solche allen bekannt
ist, die schon mit dem kindlichen Spiele beginnt und sich später in Tagträumen
i6o
fortsetzt. Wenn der Mensch mit der kargen Befriedigung, die er dem Leben ab-
zuringen vermag, sein Auslangen nicht findet, genießt er in der Phantasie die
Freiheit vom äußeren Zwange weiter, auf die er in Wirklichkeit längst ver-
zichtet hat.
Wir haben heute bereits andeutungsweise gehört, daß zur Entfaltung von Be-
reitschaften, die in der Erbanlage des Kindes gegeben sind, Leben und Erziehung
eine bestimmte Leistung vollbringen müssen, und wollen nun etwas näher darauf
eingehen. Vom ersten Vortrage her wissen wir schon einiges: das biologisch vor-
gezeichnete Werden, dem durch das Realitätsprinzip nur Ausdruck verliehen
wird, führt zunächst zur primitiven Realitätsfähigkeit, das heißt, für das Indi-
viduum zur Möglichkeit, sich in gewissem Sinne in der Wirklichkeit behaupten
zu können; durch die Maßnahmen, die von der Erziehung ausgehen, erfolgt
deren Weiterentwicklung zur Kulturfähigkeit. Erst mit deren Erreichung ist der
Mensch befähigt, die Forderungen der Gesellschaft zu verstehen und anzuer-
kennen, sich ihnen zu unterwerfen und an der Erhaltung sowie Vermehrung der
Kulturgüter mitzuarbeiten. Wieweit sich die primitive Realitätsfähigkeit bildet
und diese in der Richtung zur Kulturfähigkeit fortentwickeln läßt, hängt nicht
allein von den Einwirkungen des Lebens und den Erziehungsfaktoren ab, sondern
wesentlich auch vom Individuum selbst. Ebensowenig wie die primitive Reali-
tätsfähigkeit einfach das Ergebnis der dem Ich aufgezwungenen Versagungen
ist, sich vielmehr aus dessen Reaktionen darauf bildet, vermag der Erzieher eine
gegebene Individualität zu der ihm geeignet erscheinenden Kulturfähigkeit zu
bringen, wenn in ihr die Vorbedingungen dazu fehlen. Er kann im günstigsten
Falle die äußeren Umstände und seine Einwirkungen so gestalten, daß sie die
besten Entwicklungsbedingungen darstellen; was aber wird, hängt dann nicht
mehr von ihm ab, sondern ist nur die Folge individueller Verarbeitung des Ge-
gebenen.
Es ist gewiß nicht schwierig zu erkennen, daß mit Kulturfähigkeit eine der
jeweiligen Kulturstufe entsprechende erhöhte Realitätsfähigkeit gemeint ist.
Daraus ergibt sich, daß die Erziehung zur Nachhilfe bei einem Entwicklungs-
prozesse wird, den das Ich durch die Bedingungen des Lebens zum Teile ganz
zwangsläufig macht, und daß diese Nachhilfe darin besteht, erhöhte Anregungen
zur Überwindung des Lustprinzips und dessen Ersetzung durch das Realitäts-
prinzip auszulösen. Wir können auch leicht verstehen, daß der jahrtausendlange
Weg, den die Menschheit zurücklegen mußte, um auf die gegenwärtige Kultur-
stufe zu kommen, vom Kinde in der kurzen Zeit seines Heranwachsens nicht
durchmessen werden könnte, wenn die durch die Erziehung veranlaßten erhöhten
Anregungen fehlen würden.
Was diese erhöhten Anregungen zu bewirken haben, wissen wir schon: Das
Realitätsfähigwerden ist an Versagungen gebunden; erhöhte Realitätsfähigkeit
i6i
daher an vermehrte Versagungen. Der Erzieher wird, um diese zu erreichen,
ganz konform mit dem Leben vorgehen und so wie dieses Dämme aufstellen, die
die momentane Triebbefriedigung erschweren oder unmöglich machen. Dadurch
veranlaßt er das Kind zu vermehrter Unterdrückung von Triebregungen, Auf-
schub von Lustgewinn oder Verzicht auf diesen und Ertragung von Unlust.
Dieser Erziehungsvorgang scheint mit einer jetzt sehr verbreiteten Meinung, daß
gute Erziehung und das Kind gewähren lassen gleichzusetzen sind, im Gegensatz
zu stehen. Dieser ergibt sich aber nur, wenn die Aufgabe der Erziehung mit den
Mitteln, deren sie sich zur Erreichung dieser Aufgabe bedient, verwechselt wird
oder wenn wir aus dem eigenen Erleben zu einer affektiven Einstellung zur Er-
ziehung gekommen sind. Es ist durchaus nicht richtig, daß Erziehen ein Ge-
währenlassen bedeutet. Jeder, der in einer Kinderstube zu tun hat, weiß, daß
Verwehren, Untersagen und Verbieten momentaner Wunschregungen auf der
Tagesordnung stehen, so daß das Kind fortwährend Freiheitsbeschränkungen
unterworfen wird. Wir fragen uns: Hat das Kind wirklich so viele Wünsche, die
ihm verwehrt werden müssen? Kann man es nicht unbeschränkt gewähren lassen?
Was würde beispielsweise ein zweijähriges Kind alles unternehmen, wenn man
ihm nicht von Augenblick zu Augenblick hindernd entgegenträte!? Nur bei-
spielsweise: jetzt vom Tisch die Decke herabziehen, auch wenn das darauf
stehende Geschirr zerklirrt, dann auf Sessel und Tisch steigen, ohne zu erfassen,
daß es herunterstürzen und sich verletzen könnte. Was gibt es nicht alles an
Äußerungen aus dem Freß-, Forschungs-, Zerstörungs-, Beobachtungstrieb, was
man unmöglich voll ausleben lassen kann? Wo bliebe unter anderem auch die
Erziehung des Kindes zur Reinlichkeit, wenn man die Widerstände, die sich der
Körperpflege entgegenstellen, nicht überwände? Diese beständigen Freiheits-
beschränkungen sind nach unserer Auffassung im Interesse des Kindes gelegen,
wenn sie von diesem auch zweifellos anders, als gewaltsamer Versuch, ihm die
Befriedigung seiner Triebregungen zu beschränken oder zu verhindern, emp-
funden werden. Naturgemäß wird das Kind den Weg von der Lustwelt in die
Realität, den es dadurch zurücklegen muß, nicht widerspruchslos gehen, aber
machen muß es ihn, um kulturfähig zu werden, das ist klar. Der Erzieher, der
weiß, daß dem noch ganz unter der Vorherrschaft des Lustprinzips stehenden
Kinde der momentane Lustgewinn das Natürliche ist, wird ihm seinen Entwick-
lungsweg nach Möglichkeit erleichtern, wird es auch zeitweilig gewähren lassen,
dabei aber wissen, daß er in solchen Momenten nicht erzieht, weil er da keine
Impulse, die Lustwelt zu verlassen, schafft. Daß ein Gewährenlassen innerhalb
gewisser Grenzen in der Kindheit auch für das spätere Leben von Bedeutung ist,
werden wir hören, wenn wir im nächsten Vortrage von den Stufen innerhalb
des Ichs sprechen.
Forderungen, die in Versagungen einmünden, werden erst dann wirksam, wenn
162
sie das Kind als solche anerkennt, das heißt, wenn in ihm eine Tendenz vor-
handen ist, ihnen zu entsprechen. Um diese in Funktion zu setzen, stehen dem
Erzieher zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Entweder er läßt das Kind nach
einer nicht erlaubten Triebbefriedigung erhöhte Unlust erleben oder er gewährt
an Stelle des durch die Unterlassung einer Triebbefriedigung ausgebliebenen
Lustbezuges eine Ersatzlust. Aber in beiden Fällen zwingt er das Kind, auf lust-
voll Gewünschtes zu verzichten, sich eine Versagung aufzuerlegen; das einemal
durch die Strafe, die dem Nichtaufgeben folgt, das anderemal durch seine An-
erkennung und Liebe, die es für das Aufgeben erhält. Es wird so das Gleiche
durch zwei einander vollständig entgegengesetzte Mittel, Furcht vor Strafe und
Liebesprämie, erreicht. Und daraus ergibt sich für manche die Verwechslung.
Das Kind statt durch Strafandrohung durch eine in Aussicht gestellte Liebes-
prämie zu einer für seine Entwicklung notwendigen Triebeinschränkung zu ver-
anlassen, ist aber kein Gewährenlassen in lustvoll Gewünschtem.
Es gibt also im allgemeinen zwei Erziehungsverfahren. Das eine arbeitet mit
Liebesprämien, das zweite mit Strafandrohung. "Wenn wir nicht absichtlich Tat-
sachen übersehen wollen, müssen wir zugeben, daß auf beiden Wegen Erfolge
erzielt werden. So und so viele Menschen sind aus Furcht vor der Strafe und
so und so viele andere durch die ihnen gewährte Liebe kulturfähig geworden.
Ebenso richtig bleibt aber auch, daß beide zu Mißerfolgen führen können.
Hätten wir uns mit der Erziehung und nicht mit der Fürsorgeerziehung zu
beschäftigen, so wäre unsere nächste Aufgabe, nicht affektiv zu entscheiden,
welches der beiden Erziehungsmittel uns sympathischer anmutet, sondern zu un-
tersuchen, welches im konkret gegebenen Falle das ökonomischere ist; denn
darauf kommt es letzten Endes an. So aber werden wir unsere Aufmerksamkeit
anderem zuwenden.
Das Mißlingen der Erziehungsaufgabe interessiert den Fürsorgeerzieher, weil
es, wenn nichts anderes, so den Verwahrlosten zeitigt.
Dem sehr naheliegenden Einwände, daß die Verwahrlosung doch nicht immer
auf eine mißglückte Erziehung zurückgeführt werden könne, möchte ich damit
begegnen, daß ich auf das bereits im ersten Vortrage Gesagte verweise und
nochmals hervorhebe, daß alle Feststellungen nur annäherungsweise Anspruch auf
Richtigkeit machen. Was genauer abzugrenzen und einzuschränken ist, behalte
ich mir für spätere Auseinandersetzungen vor, auch darauf einzugehen, daß
Schicksalskonstellationen so wirken können, als ob Fehler in der Erziehung ge-
macht worden seien.
Es wäre anzunehmen, daß der Erziehung die Lösung ihrer Aufgabe auf dem
ersten Weg um so sicherer gelingen wird, je mehr Liebesprämien das Kind vom
Erzieher (Vater, Mutter) erhält, und auf dem zweiten, je mehr es diese Personen
fürchtet. Das stimmt innerhalb gewisser Grenzen. Werden diese überschritten,
so wird sowohl die Liebesprämie als auch die Strafe nicht nur wirkungslos,
sondern beide erzielen vielfach gerade das Gegenteil. Übersehen wir nicht, daß
die Liebesprämie nur als Anregung, auf lustvoll Gewünschtes zu verzichten,
dienen soll oder als Belohnung für einen solchen Verzicht gegeben werden darf.
Gewährt sie der Erzieher, ohne vom Kinde dafür eine Gegenleistung zu ver-
langen, gibt er sie also als freiwilliges Geschenk, statt damit zuzuwarten, bis
sie durch den Verzicht auf eine Triebbefriedigung erworben worden ist, so be-
steht für das Kind keine Notwendigkeit, sich anzustrengen. Es ist der Liebes-
prämie sicher und braucht nicht erst auf die aus der Triebbefriedigung sich er-
gebende Lust zu verzichten, dem Lust-Ich Wünsche zu versagen, um dadurch
den Weg in die Realität zu machen: es erhält, ohne Anstrengung, doppelte Lust.
Welches wird in diesem Falle, der uns durch das einzige, verwöhnte Kind nur
zu gut bekannt ist, das Entwicklungsergebnis sein? Das Kind wird an Jahren zu-
nehmen, körperlich heranreifen und dabei der Herrschaft des Lustprinzips in einer
Weise unterworfen bleiben, die einer viel früheren, kindlicheren Entwicklungs-
stufe entspricht. Überwunden wird das Lustprinzip nur soweit werden, als das
Leben mit seinen nicht auszuschaltenden Unlusterlebnissen Versagungen erzwun-
gen und der Erzieher ab und zu die Liebesprämie nicht absolut gegenleistungslos
gewährt hat. Ist das irgendwie von Bedeutung?
Sehen wir uns vorerst noch das zweite Verfahren an, das unerwünschte Trieb-
befriedigung unter Strafandrohung stellt. Häufen sich die Unlusterlebnisse durch
zu viele Strafen oder ein Übermaß an Strenge und erhält das Kind keine Ersatz-
lust durch die Liebe des Erziehers, so wird es in eine Gegeneinstellung zu diesem
gedrängt und hat dann keine Ursache mehr, die durch ihn vertretenen Anforde-
rungen der Realität anzuerkennen, sich dem Realitätsprinzip zu unterwerfen.
Seine Hauptaufgabe wird darin erschöpft werden, sich dem Erzieher gegenüber
durchzusetzen. Die Auflehnung gegen Erzieher und Gesellschaft, die Behauptung
seines Ichs diesen gegenüber wird ihm ebenso zur Lustquelle, wie ihn das Ver-
harren bei den direkten und unmittelbaren Triebbefriedigungen die durch den
Erzieher verwehrte Lust dennoch beziehen läßt. Hier führt ein Gegenimpuls zum
Kindlichbleiben oder, was wahrscheinlicher ist, eine spätere Auflehnung zur
Rückgängigmachung einer anfänglich gelungenen Erziehungsabsicht.
Wenn die beiden Erziehungsverfahren auf die eben angedeuteten Abwege ge-
raten, müssen sie zu Fehlergebnissen führen. In den so „nicht" erzogenen Indi-
viduen wird das übermächtig herrschende Lustprinzip psychische Reaktionen be-
wirken, die sie sehr von ihren normal entwickelten Altersgenossen unterscheiden.
Sie werden durch die Art ihres Verhaltens mehr oder weniger auffällig werden.
Schon ihr Benehmen gibt uns die Möglichkeit, sie zu sondern und aus ihnen die
herauszugreifen, die als Verwahrloste für die Fürsorgeerziehung in Betracht zu
ziehen sind. Wir werden uns ihrer dann annehmen, wenn sie ihr ungezügelter
164
Lusthunger zu gesellschaftswidrigem Handeln veranlaßt. Das große Lustbedürfnis
der Verwahrlosten ist uns schon einigemal aufgefallen und nun haben wir die
Erklärung dafür in dem Stück „Kind" gefunden, das jeder von ihnen noch un-
überwunden mit sich herumträgt.
Die Ähnlichkeit des Verwahrlosten mit dem Kinde ist also darin zu erkennen,
daß auch er momentanen Triebbefriedigungen nachgeht und nicht imstande ist,
unsichere Lust aufzugeben, um später gesicherte Lust zu erwerben: Triebäußerun-
gen, die für frühere kindliche Entwicklungsstufen normal wären, lassen ihn
abnormal, dissozial erscheinen, weil er sich durch sie zur Gesellschaft in Gegen-
satz stellt. Sehen wir uns nun verschiedene, für den Verwahrlosten typische
Einzelzüge an, so werden wir nicht mehr überrascht sein. In der Fürsorge-
erziehungsanstalt, wo wir sie ja in größerer Anzahl beisammen haben, gibt es, wie
in der Kinderstube, unaufhörlich Ausbrüche von Neid und Mißgunst, Unver-
träglichkeit und Streitsucht, und nicht nur bei den Schulpflichtigen, die Jugend-
lichen sind womöglich noch viel ärger, das Lebensalter kommt da gar nicht in
Frage. Ein Großteil verhält sich auch zu den Forderungen der Körperpflege genau
so ablehnend wie die Kinder; ungekämmte Haare, ungereinigte Kleider und
Schuhe stören sie nicht sonderlich. Vieles, was Verwahrloste zeigen, ist als
kindliches Verhalten, wenn auch mit stark verzerrten Zügen, zu deuten; sie sind
genau so wenig wie Kinder längere Zeit mit Interesse bei ein und derselben
Beschäftigung zu halten, haben in vielen Belangen genau dieselbe geringe Ur-
teilsfähigkeit wie die Kinder, reagieren auf Reize so unmittelbar wie diese, sind
in ihrem Handeln auch von augenblicklichen Eingebungen geleitet und entladen
ihre Affekte ganz ungehemmt. Wieviel in ihnen trotz aller Verwahrlosung aber
auch noch unverdorbenes Kind geblieben war, konnten wir in Oberhollabrunn
und St. Andrä wiederholt beobachten. So zum Beispiel mit welch tief innerer
Wirkung auch die ältesten und verwahrlostesten Jugendlichen eine Märchen-
stunde erlebten.
Es sieht aus, als ob die Verwahrlosten ohne Übergang einen Sprung von der
unbewußten Lustwelt des kleinen Kindes in die rauhe Wirklichkeit hätten
machen müssen, der ihnen nur mit einem Teil ihres Ichs gelungen ist. Warum ich
meine, daß sie nur mit einem Teil ihres Ichs Kinder geblieben sind? Weil sie mit
einem anderen Teil des Ichs die ihrer Altersstufe entsprechende Reife zeigen, mit
diesem manchmal noch über das normale Maß hinaus entwickelt sind. Diese
Spaltung des Ichs, wenn wir das Fehlen der einheitlichen Ich-Entwicklung so
nennen wollen, zeigt jeder Verwahrloste. Wir sehen verwahrloste Kinder und
Jugendliche nach der einen Seite ihres Wesens einem übermächtigen Lustprinzip
unterjocht sein und dann wieder manches tun, was sonst erst Erwachsene machen:
sie benehmen sich in gewissen Situationen in der Schule und im Leben so, als
ob sie nicht verwahrlost wären; Jugendliche disponieren oft wie Männer, mit-
i6 5
unter ganz hervorragend; sie behaupten sich im Existenzkampf sehr geschickt
dort, wo die Realität nur die nackte Selbstbehauptung fordert. Auch in ihrem
Sexualleben zeigt nur ein ganz bestimmter Typus einen Entwicklungsrückstand,
die anderen sind normal entwickelt, manchmal noch über das hinausgehend, was
ihrer Altersstufe entspricht und dabei sind sie durchaus nicht pervers oder in-
vertiert, sondern zeigen nur erhöhte Potenz.
Wir vermögen den Verwahrlosten nun als ein Individuum aufzufassen, das
infolge von Entwicklungsstörungen in einem Teil seines Ichs durch ein über-
mäßig vorherrschendes Lustprinzip dirigiert wird. Die Ursachen dieser Entwick-
lungsstörungen kennen wir auch schon, aber noch nicht deren Art. Ein Analogie-
schluß, den wir vom Neurotiker her machen, gibt uns eine allgemeine Auf-
klärung. Zwei Möglichkeiten kommen in Betracht. In dem einen Fall sind durch
die unrichtigen Erziehungsmaßnahmen Entwicklungsphasen nicht richtig durch-
laufen worden, bezw. psychische Funktionen oder Anteile von solchen sind
dauernd auf einer früheren Entwicklungsstufe zurückgehalten worden, wir
sprechen von einer „Entwicklungshemmung". Im zweiten Falle haben Anteile
von psychischen Funktionen, die schon auf einer höheren Stufe angelangt
waren, aus irgend einer Ursache eine rückläufige Bewegung angetreten, so daß
sie auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe zur Wirkung gelangen, als ob sie
diese nie verlassen hätten; es ist eingetreten, was wir eine „Regression" nennen.
In kurzer Ausdrucksweise läßt sich sagen: Die Verwahrlosung ist die Folge einer
Entwicklungshemmung oder Regression — eines Zurückgeblieben- oder Zurück-
geworfenworden-Seins — auf dem Wege von der primitiven Realitätsfähigkeit
zur Kulturfähigkeit. Wie das gemeint ist, würde noch deutlicher werden, wenn wir
neben die Verwahrlosung, die nach und nach, allmählich, wie natürlich wachsend
entsteht, jene stellten, die mehr oder weniger plötzlich bei einem bisher sich voll-
ständig normal verhaltenden Individuum zum Ausbruche kommt. Daß ich die
Verwahrlosungsursachen in eine Störung auf dem Wege zur Kulturfähigkeit
verlege, wird Ihnen nach dem Vorhergesagten um so weniger verwunderlich er-
scheinen, je mehr Sie Ihnen allen Bekanntes erinnern: jeder Verwahrloste ist
primitiv realitätsfähig, wenn wir darunter, so wie bisher, die Selbstbehauptungs-
fähigkeit verstehen wollen. Was ihn mit der Gesellschaft in Konflikt bringt, ist
nur die nicht kulturfähige Art, mit der er seine Selbstbehauptungstendenz durch-
zusetzen bemüht ist.
Da es sich in diesen Vorträgen bloß um eine erste Orientierung handelt, unter-
suchen wir jetzt nicht einzelne Verwahrlosungen daraufhin, ob sie sich aus einer
Entwicklungshemmung oder einer Regression ergeben haben, das muß ich mir
wieder für spätere Zeit vorbehalten. Etwas näher, wenn auch nicht besonders
eingehend, werden wir uns die aus den Verwahrlosungsformen besonders heraus-
fallenden beiden Typen „Verwahrloste aus zu viel Liebe" und „Verwahrloste
i66
aus zu großer Strenge" ansehen, um dann darauf zu sprechen zu kommen, was
die Fürsorgeerziehung in diesen Fällen zu tun hat.
Der Typus „Verwahrloster aus zu viel Liebe" kommt uns in der Fürsorge-
erziehungsanstalt nicht zu häufig unter. Er ist aber im bürgerlichen Milieu unver-
hältnismäßig oft zu finden und dort die Quelle uneingestandener Sorgen und
Verzweiflung. In die Erziehungsberatung werden mir diese Fälle weit häufiger
gebracht, so daß ich Ihnen aus eigener Beobachtung von zweiunddreißig „ein-
zigen" Kindern, zumeist Jugendlichen, berichten kann. Die Verwahrlosung war
in allen Fällen durch ein Übermaß an Zärtlichkeit verursacht, einwandfrei
nachzuweisen. Es wäre wohl zu erwarten gewesen, daß die Verzärtelung der na-
türlichen elterlichen Sorge um das „einzige" Kind entsprungen gewesen sei, oder
etwa, daß eine zur Witwe gewordene Mutter ihre ganze Liebe dem Kinde zuge-
wendet habe, oder daß geschiedene Gatten, um das Kind für sich zu gewinnen,
sich gegenseitig in Liebesbeweisen zum Kinde überboten hatten. All das hatte bei
den Zweiunddreißig das Zuviel an Liebe nicht determiniert. In neunundzwanzig
Fällen fühlte sich die Mutter vom Vater zu wenig geliebt, teils berechtigt, teils
nur aus einem normalerweise nicht zu befriedigenden übermäßigen Liebesbediirf-
nis. In den restlichen drei Fällen heirateten Frauen mit einem außerehelichen
Kinde (Mädchen) nicht den Kindesvater, sondern einen anderen Mann. Der
Stiefvater widmete sich mit besonderer Zärtlichkeit seiner Stieftochter. Alle drei
Ehen waren kinderlos geblieben, zu Differenzen zwischen den Ehegatten war es
deswegen nicht gekommen, aber die Frauen waren doch untröstlich, mit diesem
Manne kein Kind zu haben. Sie sagten mir übereinstimmend, fast mit denselben
Worten, wie sehr sie sich nach einem Kinde sehnen, wie glücklich der Mann sein
müßte, ein eigenes Kind zu haben, da er doch schon seine Stieftochter so sehr
hebe. Sie erklärten auch, daß sie die Tochter nur des Gatten wegen so verzärteln.
Wir sehen hier und auch sonst bei diesem Typus Verwahrloster das Erziehungs-
werk mißlingen, weil mit den wenigen Ausnahmen, bei denen auch der Vater in
*rage kommt, die Mutter ihrer Erziehungsaufgabe nicht gewachsen ist. Die Ur-
sachen lassen wir unerörtert, sie sind sehr verschieden, bewirken aber immer
nahezu dasselbe: eine solche Schwäche der Mutter dem Kinde gegenüber, daß
von Erziehung nicht mehr die Rede sein kann. Mütter dieser Art sind Ihnen
gewiß bekannt und unschwer zu charakterisieren. Da sie bereit sind, alles zu tun,
um ein dem Liebling nur entfernt drohendes Unbehagen abzuwehren, vermögen
sie ihm schon gar nicht Versagungen aufzuerlegen, die zu den notwendigen
Triebeinschränkungen führen. Die für ihn damit verbundene Unlust stört sie
viel mehr als selbst erlebte. Voll geschäftiger Sorge sind säe auch ununterbrochen
um sein Wohlergehen bemüht und nicht imstande, von ihm Lustaufschub oder
Lustverzicht zu verlangen. Was das Leben an Härten und Hindernissen bringt,
an denen sich das Kind stoßen müßte und die es zu überwinden hätte, um später
x6 7
im Leben bestehen zu können, wird aus dem Wege geräumt, so daß ängstliches
Wachen und ruheloses Aufhalten, was das eigene Gewähren beeinträchtigen
könnte, den Tag ausfüllt und den Nächten den Schlaf raubt. Launen des Kindes
werden mit nie endender Geduld ertragen, Unarten als Ausdruck besonderer In-
dividualität gewertet und bewundert, Einwände dagegen schmerzhaft als per-
sönliche Kränkung empfunden. Aber fremden Kindern sind sie überstrenge
Richter, insbesondere wenn sie als Spielgefährten des „Einzigen" sich gegen
dessen schrankenloses Ausleben wehren.
Das Kind steht im Mittelpunkt des Interesses und lebt ungehemmt den Wün-
schen seines Lust-Ichs; die wirkliche Realität ist nicht da, die Mutter schaltet sie
immer wieder aus. Das Kind entfernt sich immer mehr von der Realität, weil
es zur Modifikation seines Lustprinzips nicht kommt. Und doch gibt es auch für
diese Kinder Versagungen, aber gerade an der unrichtigen Stelle. Es wird von
der Mutter in den Äußerungen seines Spiel-, Betätigungs- und Forschungstriebes
dann gehindert, wenn nur die leiseste Möglichkeit einer körperlichen oder ge-
sundheitlichen Gefährdung besteht. Was darf so ein einziges Kind alles nicht
tun, weil es sich anstoßen, hinfallen, eine Beule schlagen, sich erkälten, den
Magen verderben, einen Schnupfen oder Kopfweh bekommen könnte! Aus
diesen Versagungen, die so im Widerspruche mit dem sonstigen Gewährenlasscn
stehen und die das Kind unmöglich begreifen kann, ergeben sich auch die ersten
Auflehnungen, denen die Mutter wieder nicht mit der richtigen Einsicht des Er-
ziehers gegenübersteht. Sie sucht sie mit Zärtlichkeitserpressungen zu bekämpfen
oder durch noch mehr Gewähren an anderer Stelle weniger schmerzhaft fühlbar
zu machen. Das verfängt natürlich bald nicht mehr; die Auflehnungen vermehren
sich. Das Kind stellt schließlich auch Forderungen, die die Mutter nicht mehr
erfüllen kann, weil sie nicht uneingeschränkt über die Realität gebietet. Die
Realität selbst mit ihren unerbittlichen Ansprüchen kann endlich auch nicht mehr
vom Kinde ferngehalten werden und was bei normaler Entwicklung allmählich
an das Kind herantritt und nach und nach bewältigt wird, stürzt nun plötzlich
mit vehementer Gewalt herein. Führt dieser Zusammenstoß nicht zum inneren Zu-
sammenbruch und damit zu nervösen Erkrankungen, so flammt eine Auflehnung
gegen das Lusthindernis auf, der man im Elternhause nicht mehr Herr wird, die
sich auch in dissozialen Äußerungen der verschiedensten Art auslebt.
Ich muß hier einschalten: Ich weiß sehr wohl, daß sich die Verwahrlosung
dieses Typus nicht restlos aus dem nicht überwundenen Lustprinzip erklären läßt,
daß auch nicht normal erledigte, besondere libidinöse Beziehungen der Kindheit
mitspielen. Ich gehe aber darauf absichtlich nicht ein, weil ich mir vorgenommen
habe, heute die Verwahrlosung nur ganz einseitig vom Lustprinzip her anzusehen.
Der in die Fürsorgeerziehung viel häufiger kommende Typus ist der zweite,
Verwahrlosung infolge zu großer, durch die Erziehungspersonen ausgeübter
i68
Strenge und ein dritter, ihm ähnlicher, den wir aus Familien stammend beob-
achten konnten, in denen beide extreme Erziehungsverfahren gleichzeitig in An-
wendung gekommen waren. Das scheint für den ersten Augenblick nicht gut
möglich zu sein, wird aber sofort verständlich, wenn wir beachten, daß zwei
Personen, Vater und Mutter, an der Erziehungsarbeit beteiligt sind. Gewöhnlich
war der Vater zu strenge und die Mutter verzärtelte das Kind.
Bei der Wichtigkeit kindlicher Erlebnisse für das spätere Leben können wir
ganz gut verstehen, was der normal strenge Vater und die normal gütige Mutter
bedeuten. Der Vater, in der Regel der, der die strengen Forderungen der Realität
vertritt, die Mutter, deren Form mildernd und dadurch weniger unlustbetonte
Durchführung ermöglichend, bewirken, daß das sich normal entwickelnde Kind
später die Forderungen der Realität weniger kraß empfinden und, was Unange-
nehmes kommt, leidloser ertragen wird.
Steht der übermäßigen Strenge des Vaters eine Verzärtelung durch die Mutter
gegenüber, so werden die Forderungen des Vaters durch die Mutter nicht nur der
Form, sondern auch dem Inhalte nach Abänderungen erfahren, und das Kind ver-
mag sich diesen auch durch die Flucht zur Mutter ganz zu entziehen. Kommt die
Mutter mit Forderungen, die, wie wir schon gehört haben, körperliche und ge-
sundheitliche Gefährdung abzuwehren haben, deren Erfüllung aber dem Lust-
pnnzip entgegenläuft, so ist deren Ablehnung dem Kinde durch die Flucht zum
Vater möglich. Jetzt entspricht das Kind den Forderungen des Vaters, leistet sich
damit aber keine Triebeinschränkung, im Gegenteil, es entspricht weiter dem
Lustprinzip. Je nachdem es sich dem Vater oder der Mutter zuwendet, vermag
es dem Realitätsprinzip auszuweichen, das lustvoll Gewünschte zu erreichen und
damit weiter ungehindert im Lustprinzip zu verharren. Gleichzeitig führt aber
ein solches Verhalten der Eltern das Kind auch zur Auflehnung gegen jenen Teil
der gerade bemüht ist, Forderungen durchzusetzen. Auf einem ähnlichen, wie
dem bereits vorher geschilderten Weg kommt dann schließlich das Kind zur Ver-
wahrlosung. Der diesen Verwahrlosten typische Zug, der sich etwa durch den
Satz ausdrücken läßt: „Was immer ich anstelle, es kann mir nichts geschehen",
erklärt sich ganz eindeutig aus dieser Art des Heranwachsens.
Tritt Verwahrlosung aus einem Übermaß an Strenge ein, so muß dieses nicht
immer notwendigerweise auch objektiv da sein. Oft empfindet ein Kind das
ruhige, kalte, wortkarge, äußerer Zärtlichkeiten entbehrende Benehmen schon so
arg, wie ein anderes übermäßige körperliche Züchtigung. Obwohl wir wissen, daß
für das Entstehen der Verwahrlosung subjektive -Reaktionen ausschlaggebend sind,
mußte ich Sie doch auf diesen Umstand nochmals aufmerksam machen, weil wir
sehr leicht zu Fehlschlüssen gelangen, wenn wir bei der Untersuchung eines Ver-
wahrlosungsfalles übermäßige Strenge nicht finden, der objektive Tatbestand uns
keine Anhaltspunkte liefert.
— ._-
169
Wird das Kind übermäßig strenge behandelt oder erfolgt durch Schicksals-
konstellationen zu frühzeitig ein krasser Zusammenstoß mit der Realität, so wird
damit nicht eine vorzeitige Anpassung an die Wirklichkeit erreicht. Es kommt
nicht zur Einsetzung eines einer höheren Altersstufe entsprechenden Realitäts-
prinzips, sondern, wie wir schon gehört haben, sehr häufig nach einem zeitweili-
gen Gelingen der Erziehungsabsicht zu einer darauffolgenden Regression in Form
der Verwahrlosung. Damit ist aber wieder ein Lustprinzip zur Herrschaft gelangt,
das einer früheren Altersstufe entspricht. Dessen Eindämmung wird nun er-
fahrungsgemäß ein viel stärkerer Widerstand entgegengestellt als bei der nor-
malen Entwicklung. Dieses weicht auch der brutalen Gewalt immer weniger. Die
Brutalität der Erziehungspersonen und auch die des Lebens, die früher geduldig
ertragen worden waren, führen nun zu einer ganz bewußten Gegeneinstellung,
die häufig als Auflehnung in Erscheinung tritt. Kommt sie zustande, dann bewegt
sie sich in der Richtung offener Widersetzlichkeit und steigert sich bei Jugend-
lichen zu ganz bewußten brutalsten Roheitsakten.
Auch die Verwahrlosungsformen der beiden letzten Typen ließen sich unter
dem Gesichtspunkte infantil-libidinöser Beziehungen betrachten wie die des
ersten Typus und wir würden durch ein Eingehen darauf auch über sie manchen
Aufschluß gewinnen, was aber nicht zu unserer heutigen Aufgabe gehört.
Wenn wir aus dem wenig und nur ganz kursorisch Angeführten diese drei
Verwahrlosungstypen auch nicht voll zu erfassen vermögen, können wir doch
daraus schon einige allgemeine Richtlinien für die Fürsorgeerziehung ableiten.
Zunächst stellen wir fest, daß die Fürsorgeerziehung in allen drei Fällen vor
derselben Aufgabe steht: sie hat dem Zögling jene fehlende Entwicklung zu ver-
mitteln, durch die er die kindliche Altersstufe mit dem vorherrschenden Lust-
prinzip überwindet und gegen die eintauscht, auf der ein seiner Altersstufe ent-
sprechendes Realitätsprinzip wirksam ist. Der Fürsorgeerzieher wird die Ver-
wahrlosten so zu führen haben, daß sie verständig werden, das heißt ein
Realitätsprinzip entwickeln, das vor der Tat imstande ist zu entscheiden: So-
fortiger Lustgewinn, spätere Unlusterduldung oder Auf-
schub, Verzicht, späterer gesicherter Lustbezug. Die Ver-
wahrlosten werden im Verlaufe der Fürsorgeerziehung erleben müssen, daß die
Summe des Lustgewinnes im sozial gerichteten Leben der Anstalt größer ist, als
die Summe der Teillustgewinne einzelner dissozialer Handlungen mit der Summe
der darauffolgenden Unlust.
Und eine zweite Feststellung erscheint mir noch sehr wichtig, weil dadurch
manche Fehler in der Beurteilung einer Verwahrlosung vermieden werden können.
Wir sind nicht gezwungen, in jedem Verwahrlosten unbedingt ein neuro-
tisches Problem sehen zu müssen. Es kann ein Stück normaler Erziehung fehlen.
Genügend Impulse, die Realität anzuerkennen, sind nicht ausgelöst worden ein
12 A i di h o r n, Verwahrloste Jugend
170
Ausweichen vor der Unlust der Wirklichkeit war möglich oder es ist zu Gegen-
impulsen gekommen und die notwendige Entwicklung wurde nicht gemacht oder
ist wieder aufgegeben worden. Wir müssen nicht immer annehmen, daß beispiels-
weise dem Verwahrlosten das Ertragen der unangenehmen Folgen nach einem
Diebstahl immer unbewußte Lust bringen müsse, daß er jedesmal unbewußtem
Schuldgefühl entspringt usw. Es ist sehr wohl möglich und in vielen Fällen auch
wahrscheinlich, daß der Dissoziale noch unter der Herrschaft eines übermäßigen
Lustprinzips steht und daher triebhaft, rein automatisch die Lustbefriedigung
sucht: Er wird vom Lust-Ich getrieben, für ihn existiert im
Momente der Tat die Realität mit ihren späteren unange-
nehmen Folgen nicht. Möglicherweise löst diese nur ganz kurz ange-
deutete Auffassung Widerspruch aus. Sie ist aber nur die notwendige Folge der
vorangegangenen Überlegungen, die sich wieder aus Erfahrungstatsachen auf-
drängten. Ich meine damit aber durchaus nicht, daß die Verwahrlostenerziehung
nur das Nachholen der versäumten, normalen Erziehung sei, sie ist ein viel kom-
plizierteres Problem. Was ich in einer ersten Annäherung anzudeuten versuchte,
ist nur der Weg, auf dem wir die Verwahrlosung auch als einen Entwicklungs-
rückstand erkennen können.
Wenn zum Kulturfähigwerden ein gewisses Maß an Einschränkung der direkten
Triebbefriedigungen notwendig ist, das durch das richtige Maß an äußerer Ver-
sagung erzwungen wird, so folgt daraus, daß bei einem Zuviel oder Zuwenig
dieser äußeren Versagung auch die erforderliche Triebeinschränkung nicht zu-
stande kommt. Die Aufgabe der Fürsorgeerziehung ist dann, diese hervorzurufen.
Haben wir uns entschieden zuzugeben, daß die Fürsorgerziehung den Zögling
zu Triebeinschränkungen zu veranlassen hat, so ist auch nicht mehr schwierig
anzugeben, welcher Vorgang für die einzelnen Typen einzuschlagen sein wird,
um die erforderlichen Anregungen dazu auszulösen.
Der erst- und zweitangeführte Typus ist zu genügenden Triebeinschränkungen
nicht gekommen, weil für ihn die Notwendigkeit nicht gegeben war, der dritte
verweigerte sie aus einer Gegenreaktion; das gibt dem Fürsorgeerzieher die
Richtung für sein Beginnen.
Wer bisher der Liebe des Erziehers (Vater, Mutter) immer sicher war, oder von
einem zum anderen ausweichen konnte und daher verwahrloste, wird in der Für-
sorgeerziehungsanstalt bei allem Wohlwollen des Fürsorgeerziehers doch unter
einem gewissen inneren Zwange gehalten werden müssen, der ihn zu Leistungen
anspornt und zu Überwindungen veranlaßt. Dieser innere Zwang stellt sich
natürlich nicht sofort ein, wird vom geschickten Erzieher aus der Art des Über-
tragungsverhältnisses entwickelt werden, normalerweise aber aus jenem äußeren
Zwange entstehen, der eine Gegenleistung des Erziehers ohne vorherige Leistung
des Zöglings von vornherein ausschließt.
I7i
Das bisher so verwöhnte Kind, dem alles gestattet war und dem jedes Hinder-
nis aus dem Wege geräumt worden ist, wird sich gegen jeden äußeren Zwang
wehren, jede, auch die kleinste Einschränkung und leichtest zu erfüllende Forde-
rung des Erziehers ablehnen, wenn sie den Wünschen seines Lust-Ichs nicht ent-
sprechen. Das ist an sich nicht auffällig oder bedenklich, sondern eine durch die
neue Umgebung bedingte, natürliche Reaktion. Man könnte zuwarten, bis durch
die Übertragung auch die Überwindung von Schwierigkeiten jene Lustbetonung
erhält, die notwendig ist, um zu einem wirklichen Abbau der Vorherrschaft des
Lustprinzips und nicht zu dessen Unterdrückung zu gelangen, wenn dadurch
nicht in vielen Fällen der Erziehungserfolg in Frage gestellt wäre. Es erwachsen
im Anstaltsbetriebe vielfach unüberwindliche, vom Zögling selbst und vom
Elternhaus ausgehende Schwierigkeiten. Dem Zögling, der gegen seinen Willen
in die Anstalt gebracht worden ist, genügen die anfänglichen Unlusterlebnissc,
so daß er keinen Anlaß hat, die Auswirkung der Erziehungsmaßnahmen abzu-
warten. Er protestiert je nach Veranlagung und zu Hause geübter Taktik, was
natürlich wirkungslos bleibt. Nun läuft er aus der Anstalt davon, oder, was viel
häufiger geschieht, er wendet sich mit der schriftlichen Bitte, aus der Anstalt ge-
nommen zu werden, an die Eltern. Dem Brief wird ein Bericht über das Gräß-
liche, das er in der Anstalt zu leiden hat und über die herrschenden krassen Miß-
stände beigeschlossen. Am überzeugendsten klingen die Schilderungen über die
schlechte Verköstigung, seinen herabgekommenen Gesundheitszustand und die
Lieblosigkeit der Erzieher sowie sein Versprechen, nun ein gehorsamer, braver
Sohn zu sein, der keinen Anlaß zu Klagen mehr geben werde. Als letztes und
wirksamstes Mittel wird dann noch die Drohung sich zu töten, wenn man nicht
komme, ihn zu holen, verwendet. Die Eltern sind bestürzt, entsetzt über den
Mißgriff, den sie mit der Wahl gerade dieser Anstalt begangen haben und er-
scheinen in höchster Aufregung, ob denn der Liebling noch lebe oder sich schon
selbstgemordet habe. Tritt er ihnen nun lebendig und nicht abgemagert entgegen,
so wird er geherzt und geküßt, und dann entlädt sich die Empörung, aber nicht
über ihn, sondern über uns, inhaltlich nahezu immer gleich, abweichend nur in
der Form. Den Eltern das Unsinnige der Behauptungen ihres Sohnes beweisen zu
wollen, ist unmöglich, sie sind vernünftigen Überlegungen und Erklärungen un-
zugänglich. Namentlich Müttern ist in dieser Situation nicht begreiflich zu
machen, daß die Verzärtelung zu Hause zur Dissozialität geführt hat und daß
das Kind durch Mitteilung von ' Unrichtigkeiten und maßlosen Übertreibungen
über den Anstaltsbetrieb die ihm bekannte Sorge der Eltern wachrufen will, um
seinen Zweck, aus der Anstalt genommen zu werden, zu erreichen. Das glauben
die Eltern nicht, sind überzeugt, daß der Liebling unverstanden, in ganz unmög-
licher Umgebung und für ihn untauglichen Verhältnissen leben muß. „Aus der
Luft können seine Mitteilungen nicht gegriffen sein", bekommt man regelmäßig
IT i
zu hören. Vater und Mutter sind nicht zu überzeugen, daß diese nur der Aus-
fluß einer ganz natürlichen Reaktion auf die unvermeidliche Unlust sind, die
entstehen mußte, weil das Kind nun nicht mehr hemmungslos seinen Triebbefrie-
digungen nachgeben darf. Der Junge triumphiert; denn er wird gleich mit nach
Hause genommen. Daß er in kürzester Zeit in der Familie wieder so unmöglich
ist, wie vor seiner Abgabe in die Fürsorgeerziehungsanstalt, wissen in diesem
Augenblicke weder die Eltern noch das Kind.
Der aus übermäßiger Strenge der Erziehungspersonen zum Fürsorgeerziehungs-
zögling Gewordene kommt aus einem Milieu, das ihm seinem subjektiven Emp-
finden nach und zumeist auch objektiv stimmend nichts als Widerstände geboten
hat. Demgegenüber werden wir zu einer ganz anderen Einstellung kommen
müssen, als zu den eben geschilderten Verwahrlosten. Hier muß eine Versöhnung
auf breiter Basis angestrebt werden, ein großes Defizit an Liebe ist auszugleichen.
Alles, was wir letzthin über die Milieugestaltung in der Anstalt gehört haben,
über die reale Lustwelt, in die der Fürsorgeerziehungszögling hineinzustellen ist,
gilt vorwiegend für ihn; er braucht den positiv eingestellten, lebensfrohen Er-
zieher, eine Umgebung, die dem jugendlichen Lustbedürfnis Rechnung trägt, und
die erst nach und nach, und dann sehr vorsichtig, so gestaltet wird, daß sie der
realen Wirklichkeit mit ihren Unlusterlebnissen entspricht.
Sie können nun ganz gut verstehen, daß, grob ausgedrückt, jeder dieser Typen
in der Fürsorgeerziehungsanstalt gerade die entgegengesetzten Bedingungen finden
muß, als er sie in seiner früheren Umgebung hatte. Beachten wir den Erziehungs-
vorgang in den Besserungsanstalten alten Stiles. Sie versuchen den Zögling durch
Zwang, Furcht vor Strafe, ohne Liebesprämien zu sozialen Menschen zu machen.
Da sie es vorwiegend mit dem letztangeführten Typus zu tun haben, taten sie in
erhöhtem Ausmaße, was Vater und Mutter schon früher getan hatten und mußten
daher erfolglos arbeiten.
Wenn die modernen Fürsorgeerziehungsanstalten heute den anderen Weg
gehen, so ist das nicht besonders rühmlich hervorzuheben. Er ist durch die geän-
derte Auffassung des Kindes in der Familie dem Erzieher mit Naturnotwendig-
keit der näherliegende und ist richtig, so weit er für den letzten Typus begangen
wird, aber ebenso falsch für den ersten, wie der andere in den alten Besserungs-
anstalten für den letzten.
Ich möchte nur noch betonen, daß Sie aus meinen heutigen Ausführungen ja
nicht den Schluß ziehen dürfen, ich hätte Sie mit einer Theorie der Verwahr-
losung bekanntgemacht. Ich habe nicht mehr getan, als einen einzigen Zug, der
mir bei Verwahrlosten auffällig geworden war, herauszugreifen und diesen unter
einem einzigen Gesichtspunkt soweit besprochen, als es mir für eine erste
Annäherung notwendig erschien.
Sich die Verwahrlosung allein vom Lust-Unlustprinzip her anzusehen, ist sicher
173
sehr einseitig und nicht ausreichend. Ich habe mich heute aber bewußt auf diesen
Standpunkt gestellt, weil ich der Meinung bin, daß ich Ihnen dadurch ganz be-
stimmte neue Einsichten vermitteln konnte. Ich werde im nächsten Vortrat einen
anderen Standpunkt einnehmen und Ihnen dadurch die Möglichkeit geben, die
Verwahrlosung von einer neuen Seite her zu betrachten.
ZEHNTER VORTRAG
Die Bedeutung des Ichideals für das soziale Handeln
Meine Damen und Herren! Bei den Überlegungen, die uns dazu geführt haben,
im Verlaufe der Verwahrlosung zwei Phasen zu erkennen, die latente und die
manifeste, habe ich Ihnen auch eine Beobachtung mitgeteilt, die jeder, der mit
Verwahrlosten zu tun hat, macht: die sittlichen Normen der Gesellschaft haben
für die Dissozialen nicht die zwingende Bedeutung wie für den sozialen
Menschen. Wenn sie in ihren Verwahrlosungsäußerungen auch noch so sehr
voneinander abweichen, weisen sie in diesem Belange doch nur quantitative
Unterschiede auf, die mitunter allerdings so weit gehen können, daß völlige Wir-
kungslosigkeit der anerkannten moralischen Grundsätze in Erscheinung tritt.
Ich selbst konnte diese Beobachtung sowohl in der Fürsorgeerziehungsanstalt
als auch in der Erziehungsberatung immer wieder machen. Ihnen ist ein klein
wenig davon bekannt geworden, als wir einen ersten Besuch in einer modernen
Fürsorgeerziehungsanstalt machten. Mehr werden Sie sehen, wenn wir den damals
unterlassenen Rundgang heute fortsetzen. Wir brauchen uns dabei nur die Zög-
linge anzusehen, die neu gekommen sind. Sie fallen uns sofort durch ganz be-
stimmte Einzelzüge auf. Der „Neue" wird als solcher unverkennbar. Zum
„Alten", das bitte ich zu beachten, macht ihn nicht die Zeitdauer seines Aufent-
haltes, sondern sein Einleben in das Anstaltsgefüge.
Also gehen wir durch die Gruppen! Wir finden bei den Schulkindern und auch
bei den Jugendlichen genug „Neue". Gesicht und Hände sind ungewaschen, die
Haare zerwühlt, ungekämmt, Kleider und Schuhe nicht gereinigt und auch zer-
rissen. Sie stehen abseits, gedrückt oder mit überlegenem Lächeln oder auch
mitten im dichtesten Gewühl, auffallend durch ihr wildes Gehaben. Sprechen
wir sie an, so halten sie den Blick zu Boden gesenkt, bleiben stumm, trotzig,
widerwillig oder lachen uns frech ins Gesicht, oder wenden sich auch um und
zeigen uns den Rücken. Von den Erziehungspersonen erfahren wir, daß sie sich
an die herrschende Ordnung nicht halten, wenn sie sich ins Unrecht gesetzt ver-
meinen, mit offener Auflehnung darauf reagieren oder auch ihre Wut verhalten,
die aber dann bald irgendwie zum Durchbruche kommt; wenn der eine zum
174
Spiel mit seinen Kameraden herangezogen, der andere als Spielgefährte abgelehnt,
einem dritten die Führerrolle, die er sich aneignen will, nicht zugebilligt wird,
verhaltenes Weinen, Trotz, Händelsucht bis zur offenen Aggression, die das gute
Einvernehmen in der Gruppe stören. Die Schulpflichtigen unter ihnen empfinden
ihre Schulrequisiten, die Jugendlichen ihre Arbeitsgeräte als so lästige Anhängsel,
daß sie sich ihrer sehr rasch und gründlichst, nicht mehr auffindbar, entledigen.
Bei den Mahlzeiten beobachten sie argwöhnisch, ob ihnen die größte Portion zu-
geteilt wird und werden sehr unruhig, wenn das nicht der Fall zu sein scheint.
Freude machen ihnen primitive, rohe Vergnügungen. Schön ist es, wenn gerauft
wird, wenn man selbst rauft, beim Raufen zusehen oder die anderen dazu an-
stiften kann. Entschließen sich einige, einmal als dramatische Darsteller aus dem
Stegreif aufzutreten, dann wird „geblödelt", es werden markierte oder wirkliche
Ohrfeigen ausgeteilt, die Inhalte der Darstellungen sind Rauf-, Diebstahls-, mit-
unter auch Selbstmord- und Mordszenen. Ich könnte Ihnen noch weit mehr
Einzelzüge dieser Art anführen, von denen jeder „Neue" so viele in sich vereinigt,
daß er auch dem Ungeschulten sofort in der Gruppe auffällt, meine aber, daß
wir zur Illustrierung der eingangs gemachten Bemerkung schon genug haben.
Dieses Verhalten der neu eingetretenen Verwahrlosten wird nun als gegebene
Tatsache hingenommen, fordert in den Besserungsanstalten alten Stiles die ganze
Strenge des Personales heraus und veranlaßt in den modernen Fürsorgeerziehungs-
anstalten zur Milde und Güte. Wir fragen uns, ob man sich wirklich nur auf die
eine oder andere Art damit abfinden muß oder ob nicht gerade dieser so typische
Zug zu verstehen ist. Vielleicht ist er sogar einer Auffassung zugänglich, die uns
etwas zur Aufhellung des Verwahrlostenproblemes gewinnen läßt?
Versuchen wir es!
Bei der Vorsicht, die wir immer walten lassen, wenn wir zum erstenmal an
einen Sachverhalt herankommen, werden wir auch diesmal nicht gleich besonders
weit vordringen, sondern mit Einsichten zufrieden sein, die sich für spätere Beob-
achtungen fruchtbar erweisen. Zweifellos müssen wir früher zur Klarheit gekom-
men sein, warum sich die Mehrzahl der Menschen den sittlichen Normen der
Gesellschaft widerspruchslos unterwirft, ehe wir daran denken dürfen, zu unter-
suchen, was die Verwahrlosten jenseits dieser Grenze stellt.
Eines ist sicher, ich habe es Ihnen auch schon angedeutet: die sozialen Menschen
folgen einer inneren Stimme, einer kritischen Instanz in ihnen, die ein unsoziales
Handeln unmöglich macht, einem kategorischen Imperativ, der ein bestimmtes
Tun vorschreibt, zu Unterlassungen, zur Unterdrückung von Gedanken und Im-
pulsen zwingt. Wir fühlen es ganz deutlich, daß sich in uns etwas dem handeln-
den Ich scharf beobachtend gegenüberstellt, es aneifert, zurückhält, mit ihm
zufrieden, unzufrieden ist, es lobt, tadelt, verurteilt. Nennen wir dieses uns noch
unbekannte Etwas vorläufig das kritische Ich, und erlauben Sie mir, ein Bild zu
175
gebrauchen, das Ihnen in der Zeit des Radio gewiß nicht unverständlich bleibt:
Die Gesellschaft sendet ständig auf Welle „mn" ihre Richtlinien durch ihren
Bereich. Unser kritisches Ich ist der Empfänger, das handelnde Ich sitzt am
Telephon, Aufträge und "Warnungen entgegen zu nehmen, ausführendes Organ
seiner höheren Instanz. Bei ungenauer oder falsch eingestellter Wellenlänge
spricht der Empfänger unrichtig oder überhaupt nicht an und der Auftragnehmer
erhält schlechte oder keine Weisungen; er bleibt sich selbst überlassen, schwankt
unsicher stolpernd und fallend dahin, schlägt sich eine Beule nach der anderen
und gerät in blinde Wut.
Aber verlassen wir dieses Bild und halten wir uns an Tatsächliches. Das han-
delnde Ich bleibt in der Gesellschaft wirklich führerlos, wenn sein kritisches Ich
nicht auf die Forderungen der Sozietät abgestimmt ist, und sozial sein heißt dann
ganz allgemein, eine solche Ichinstanz haben und sich ihr konfliktlos unter-
ordnen.
Sobald wir diese Differenzierung im Ich erkannt haben, muß notwendiger-
weise die Frage, warum die sittlichen Normen von den einen nicht und von den
anderen erkannt werden oder diese sozial und jene dissozial sind, anders gestellt
und auf die Stufen innerhalb des Ichs bezogen werden. Uns interessiert dann die
kritische Instanz, das handelnde Ich, jedes für sich und in ihren gegenseitigen
Beziehungen sowie Abhängigkeiten.
Ich kann mir denken, daß Sie, ehe wir uns damit beschäftigen, wissen wollen,
was das Ich ist, um nicht von etwas reden zu hören, von dem Sie sich keine
Vorstellung machen können. Ist das Ich ein Gebilde oder eine Funktion des
Intellekts oder des Seelischen oder des Körperlichen? Hat es sich aus zweien davon
oder aus allen dreien gebildet, und dann aus welchen Anteilen von jedem?
Ich fürchte, Ihnen auf diese Frage, wie schon öfter, die Antwort schuldig
bleiben zu müssen. Es wäre sehr schön, wenn wir etwa folgendes sagen dürften:
Trotz der Millionen Teilchen, die unseren Organismus aufbauen, trotz des Viel-
gestaltigen und der verschiedensten Abläufe in uns, haben wir doch das ganz
bestimmte Bewußtsein, nicht nur ein, sondern gerade das eine Individuum zu
sein, und dieses Bewußtsein bekommen wir vom Ich. Nun ist das unzulässig, wir
müssen auch die Vorstellung vom Ich als das Bewußtsein einer einheitlichen
Organisation der seelischen Vorgänge in uns aufgeben, seit Freud die Ent-
deckung gemacht hat, daß auch vom Ich manches unbewußt ist.
Zur Erklärung des Ichs bedürfte es tieferer psychoanalytisch-theoretischer
Vorbildung, die ich Ihnen im Rahmen dieser Vorträge nicht vermitteln kann. Ich
verzichte daher auf eine Erklärung und appelliere an Ihr gesundes, individuelles
Gefühl, das Ihnen eine, wenn auch nicht ganz klare Vorstellung von Ihrem Ich
ermöglicht, und meine, daß manches deutlicher werden wird, wenn wir uns den
Weg ansehen, auf dem sich das Ich bildet.
i 7 6
Wir haben andeutungsweise schon vom kritischen und vom handelnden Ich
gesprochen. Das werden wir jetzt sein lassen und eine Zeitlang nicht an irgend
eine Stufe im Ich denken, sondern nur das Ich als solches im Auge haben. Erst
wenn wir genügend vorbereitet sind, werden wir auf die Unterschiede innerhalb
des Ichs eingehen. Daß es solche gibt, ist Ihnen nicht erst seit heute möglich
erschienen, es ist Ihnen nicht mehr neu, seit wir vom Lust-Ich und vom Real-Ich
gesprochen haben.
Für die Bildung des Ichs werden innere und äußere Bedingungen in Frage
kommen, im Individuum selbst gelegene und von der Außenwelt herrührende.
Eine bestimmende Rolle wird daher auch den Reaktionen jener, auf Eindrücke,
die von dieser ausgehen, zugeschrieben werden müssen.
Wir haben dieselben Bedingungen und Beziehungen schon einmal als wirksam
erkannt. Erinnern Sie, was ich Ihnen über die Gefühlsbeziehungen des kleinen
Kindes mitteilte, wie sich im Unpersönlich-Psychischen, im unselbständigen Säug-
ling, mit dessen Entwicklung ein ganz bestimmtes erstes Liebesleben in der für
das spätere Leben andauernden Form bildet.
Das damals Besprochene wird uns heute Ausgangspunkt und Grundlage der
Erörterungen abgeben. Aus den Untersuchungen Freuds wissen wir, daß der
Säugling, noch ehe er zu einer persönlichen Umwelt kommt, in Anlehnung an
die Befriedigung seiner großen organischen Bedürfnisse, seinen eigenen Körper
als Lustquelle benützt. Er braucht, um zu einer vollständigen Lustbefriedigung zu
kommen, die Außenwelt nicht. Sein eigener, ihm ohne Schwierigkeiten erreich-
barer Körper genügt vollständig. In der Selbstverwechslung seines Ichs mit der
Umwelt ist ihm dieser, also er sich selbst, die Welt. Die Psychoanalyse sagt: die
infantile Sexualität betätigt sich „autoerotisch". Ich muß hier ganz besonders
betonen, hätte es schon früher an anderer Stelle hervorheben können, daß ich
das Wort Sexualität immer nur in dem von der Psychoanalyse festgelegten,
erweiterten Sinne gebrauche und daß es nicht mit Genitalität verwechselt
werden darf. Wird außerhalb der Psychoanalyse von Sexualität gesprochen, so
meint man sie immer an die Geschlechtsorgane gebunden und durch diese in
Erscheinung gebracht.
Nach der Zeit der autoerotischen Betätigung werden dem Kinde die Personen
seiner Umgebung auffällig. Es wendet ihnen seine Aufmerksamkeit, sein Inter-
esse, seine Libido zu. Wir nennen diesen Vorgang in dynamischer Ausdrucks-
weise eine „Objektbesetzung" und meinen damit, das Kind sei dazu gelangt,
einen Teil seiner Libido von der Verwendung als Eigenliebe abzuziehen und
Objekten der Außenwelt zuzuwenden, „narzißtische Libido" in „Objektlibido"
zu verwandeln.
Freud schildert uns das Schicksal solcher Objektbesetzungen, deren das
Kind während seines Heranwachsens eine ganze Reihe macht, wieder aufgibt
177
und für andere eintauscht. Diese seelischen Prozesse gehen an dem Kinde nicht
spurlos vorüber. Eine Objektbesetzung, das heißt die Zuneigung zu einer
bestimmten Person, kann nicht, ohne ganz bestimmte Nachwirkungen zu hinter-
lassen, aufgegeben werden. Was geschieht regelmäßig? Züge der geliebten Per-
son werden dem eigenen Wesen einverleibt und bewahren so die Erinnerung an
das einst geliebte Objekt. Wir nennen das eine durchgeführte „Identifizierung".
Es könnte in Ihnen nun das Bedenken aufsteigen, ob ein Objekt aufgegeben
sein muß, ehe es zu einer Identifizierung kommen kann, weil wir doch aus
Erfahrung wissen, daß beispielsweise die Liebe zu den Eltern auch nach der
Identifizierung mit ihnen fortbestehen kann.
Dazu möchte ich zweierlei Bemerkungen machen. Zuerst: Nicht immer muß
die Identifizierung der Liebe zum Objekt nachfolgen, beide können auch zeit-
lich zusammenfallen. Jedenfalls aber wird die Identifizierung mit einer be-
stimmten Person die Objektliebe zu ihr überdauern und sozusagen, wie schon
bemerkt, die Erinnerung an sie bewahren. Dann, worauf Sie besonders achten
müssen und worüber Sie sich gewiß noch keine Rechenschaft gegeben haben:
Die libidinösen Strebungen gehen vom Unbewußten aus, besetzen ein Objekt
der Außenwelt und sind damit befriedigt. Mit der fortschreitenden Identifizie-
rung rückt vom Objekt so viel in das eigene Ich, daß schließlich dieses selbst
sich dem Unbewußten als Liebesobjekt repräsentiert, und was Ihnen als Liebe
zum Objekt erscheint, ist oft schon Liebe zu sich selbst. Objektlibido wurde
in narzißtische zurückverwandelt. Wollen Sie sich noch merken, daß es auch
eine Identifizierung ohne vorhergehende Objektbesetzung gibt. Freud hat
gefunden, daß das kleine Kind, ehe es seine ersten Objektbesetzungen macht, eine
Phase der direkten und unmittelbaren Identifizierung mit dem Vater durchlebt.
Er nennt diese Identifizierung die primäre, die durch die späteren Vorgänge
nur eine Verstärkung erfährt. Sie erklärt uns auch die besondere Stellung des
Vaters im Leben des Einzelindividuums und der Gesamtheit.
Ich muß Sie aber noch auf einen immerhin möglichen Irrtum aufmerksam
machen, um Sie davor zu bewahren. Das Aufgeben, Überwinden einer Objekt-
besetzung heißt nicht, nun das ehemals geliebte Objekt hassen. Wir haben ja
im vierten Vortrage in dem gewiß noch erinnerlichen Fall des Jungen mit den
argen Aggressionen gegen die Schwester gesehen, daß der Haß durch eine in-
zestuöse Bindung an diese verursacht wurde, also die Folge der nicht gelungenen
Überwindung einer normalerweise zum Untergange bestimmten Objektbesetzung
war. In diesem Falle handelte es sich um eine Verdrängung, für unsere heutigen
Überlegungen um ein wirkliches Verlassen des Objektes.
Wenn jede der durch Identifizierung aufgegebenen Objektbesetzungen dem
Wesen des Kindes neue Züge einverleibt, so wird verständlich, daß sich dieses
im Heranwachsen ständig ändern muß. Wir verstehen dann auch, was Freud
i 7 8
meint, wenn er sagt, daß der Charakter des Individuums ein Niederschlag der
aufgegebenen Objektbesetzungen ist, die Geschichte dieser Objektwahlen enthält.
Dabei dürfen wir aber nicht denken, daß diese Züge einfach auf- oder ineinan-
der gelegt werden und daher irgend eine Art von Summe darstellen. Die Ein-
ordnung hängt wesentlich davon ab, wie das Kind auf die Einflüsse aus diesen
Objektwahlen reagiert, sie annimmt oder abwehrt.
Für den Grad der Umbildung des kindlichen Ichs wird es nicht gleichgültig
sein, in welchem Lebensalter die Identifizierungen erfolgen. Wir können uns
leicht vorstellen, daß sie um so wirksamer werden, je frühzeitiger sie eintreten,
und daß die ersten die bedeutungsvollsten sein müssen. Wir werden hier auf-
merksam, daß für die Untersuchung der Ichgestaltung nicht nur die Erbanlage
des Kindes und das Milieu in Frage kommen, sondern auch die Objektbesetzun-
gen mit den daraus sich ergebenden Identifizierungen in ihrer zeitlichen Auf-
einanderfolge, und daß von diesen die ersten die nachhaltigsten Wirkungen
hervorrufen. Es ist ja auch ganz klar, daß diese sich in dem noch ganz
schwachen und unselbständigen Ich am stärksten ausprägen werden. Nun er-
folgen die ersten Objektbesetzungen in der Außenwelt, wie wir schon wissen,
zur Pflegeperson, normalerweise zur Mutter und zum Vater. Geht alles seinen
natürlichen Weg, so sind es die leiblichen Eltern, die jene bedeutungsvollsten
Identifizierungen ermöglichen.
Wir haben die libidinösen Strebungen zu den Eltern und deren Schicksal
schon ein Stück weit verfolgt. Zuerst im zweiten Vortrage bei dem Jungen, der
nach Tulln fuhr, um seiner Mutter Kirschen zu bringen; dann im dritten Vor-
trage bei dem, der den schrecklichen Tod der Mutter durch den Transmisstons-
riemen traumatisch erlebte, und schließlich im vierten Vortrage. Dort kamen
wir zum erstenmal auf den Ödipuskomplex zu sprechen und erledigten, was für
die damaligen Untersuchungen zu wissen wichtig war. Ich schloß die darauf
bezüglichen Mitteilungen mit den Worten ab: „Im weiteren Verlaufe der
Entwicklung werden dadurch Züge der Eltern dem Wesen des Kindes
einverleibt."
Wir können dasselbe nun genauer aussprechen und vermögen auch dem Ödi-
puskomplex weiter nachzugehen. Sein Schicksal ist besiegelt, wenn sich das
Kind ohne Störung entwickelt. Er ist in der normalen Entwicklung zum Unter-
gange bestimmt. Er beherrscht nur die erste Sexualperiode des Kindes, die es
mit seiner Zertrümmerung überwindet. Auf sie, das Stadium der „infantilen
Sexualität", folgt ein zweites, in der normalerweise Sexualstrebungen nicht in
Erscheinung treten, die Latenzzeit.
Mit dem Untergange des Ödipuskomplexes werden die ihn bedingenden
Objektbesetzungen aufgegeben, und es muß, wie wir heute gehört haben, eine
Identifizierung mit dem Vater und mit der Mutter sich ergeben. Die Strebungen
!._
179
aus beiden Richtungen des Ödipuskomplexes, des positiven und des negativen,
legen sich in der uns schon von früher her bekannten Weise zusammen.
Freud hat auch gefunden, daß diese besonderen, durch die ödipussituation
sich ergebenden Anforderungen an das Kind außerordentlich hohe,
nur durch Identifizierungen zu bewältigende sind und infolge der Frühzeitigkeit
dieser Identifizierungen auch ein ganz bestimmtes Ergebnis gezeitigt wird.
Welches? Die aus ihm stammenden, irgendwie miteinander vereinbarten Iden-
tifizierungen rufen nicht nur eine Veränderung des Ichs hervor, so wie alle
später sich ergebenden, sondern sie sondern sich auch noch vom übrigen Ich ab,
bilden eine besondere Stufe innerhalb des Ichs, erhalten eine Sonderstellung, so
wie Vater und Mutter sie früher auch außerhalb hatten. Sie stellen sich als die-
selbe kritische Instanz im Ich den anderen Inhalten des Ichs gegenüber, wie
seinerzeit die Eltern außerhalb dem Kinde sich repräsentiert hatten. Freud nennt
sie das „Über-Ich" oder auch das „Ichideal". Zu den beiden Namen ist nicht
viel zu bemerken. Über-Ich deutet die höhere Stufe innerhalb des Ichs an; Ich-
ideal ist das vom Ich anzustrebende.
Wir können uns das Werden des Ichideals auch so vorstellen: Vater und
Mutter werden geliebt, sie gewähren und erlauben. Beide, namentlich aber der
Vater sind auch als autoritative Instanzen anerkannt. Sie sind real da und er-
zwingen vom Kinde die Einschränkung seiner Triebbefriedigung aus Zuneigung
oder Furcht. Der Vater hält nicht nur die auf die Mutter gerichteten libidinösen
Strebungen des Jungen auf, erzwingt dadurch eine Zielablenkung, sondern wird
auch durch die verschiedenen Gebote und Verbote, die in Versagungen ein-
münden, auffällig. Er stellt eine Reihe von Forderungen, die zu erfüllen sind.
So (wie der Vater) sollst du sein." Aber auch: „So (wie der Vater) darfst du
nicht sein, das heißt, nicht alles tun, was er tut; manches bleibt ihm vor-
behalten." Und so zu „werden" wie er ist, wird zum Impuls, löst das Streben
aus, groß werden zu wollen. Der Vater, der auch die Forderungen der Gesell-
schaft dem Kinde gegenüber vertritt, zwingt es, in der Identifizierung mit ihm
diese Forderungen zu erfüllen, was nur möglich ist, wenn es sich Triebbefriedi-
gungen versagt, Triebe von den primitiven Zielen ablenkt und auf höhere
richtet. Anders gesagt: den Weg über die Kultur macht. So gibt der Vater mit
den geforderten Versagungen den Anstoß zur höheren Entwicklung des Psychi-
schen. Was er (die Mutter) real an Forderungen aufstellte, bleibt auch nach der
Identifizierung mit ihm (ihr) bestehen, auch was an ihm (ihr) so anstrebenswert
erschien, daß es zur gebieterischen Forderung wurde. Alles das richtet sich nach
Inhalt und Form, mit durchgeführter Identifizierung als Ichideal im Kinde auf,
das zu erreichen, dem nachzueifern ist, das realisiert werden will, weil man es
liebt, aber auch mit seinen Forderungen fürchtet.
In sedner Sonderstellung hat das Ichideal die Fähigkeit, das Ich zu meistern.
i8o
„Es ist das Denkmal einstiger Schwäche und Abhängigkeit des Ichs und setzt
seine Herrschaft auch über das reife Ich fort. Wie das Kind unter dem Zwange
stand, seinen Eltern zu gehorchen, so unterwirft es sich später dem kategori-
schen Imperativ des Ichideals." „Und je stärker der Ödipuskomplex war und
je beschleunigter (unter dem Einflüsse von Autorität, Religionslehre, Unterricht,
Lektüre) seine Verdrängung erfolgte, je energischer und stärker die aufgezwun-
gene Versagung ausfiel, desto stärker wird später das Ichideal über das Ich
herrschen."
Wenn wir in der psychoanalytischen Literatur lesen, daß die Entwicklung
des Kindes im fünften oder sechsten Lebensjahr in seinen Hauptzügen ab-
geschlossen ist, so darf das nicht mißverstanden und dahin ausgelegt werden, daß
es von diesem Zeitpunkte an nicht mehr erziehungsfähig sei. Damit soll' nur
gesagt sein, daß die Eindrücke aus den eben geschilderten Beziehungen des
Kindes zu seinen Eltern die nachhaltigste Wirkung auf die Bildung seines
Charakters haben, der dadurch in seinem Kerne festgelegt wird. Wichtige Züge
erhält das Ichideal noch im weiteren Verlaufe der Entwicklung des Kindes vom
Lehrer, autoritativen Personen, die die Vaterrolle fortführen, von den das Kind
begeisternden Helden der Lektüre usw. So mancher Mensch könnte sich i m
Leben nicht behaupten, wenn sein Ichideal auf das Ergebnis der Elrernbeziehun-
gen allem angewiesen bliebe.
Wir haben nun das Ichideal als jene Stufe im Ich kennen gelernt, von der
die kritische Beurteilung des übrigen Ichs ausgeht. Wir brauchen nicht nach
Worten zu suchen, um zu benennen, wodurch das Ichideal die moralische
Zensur ausübt. Uns ist diese innere Stimme längst als das Gewissen bekannt.
„Wir sehen daher, daß sich die Psychoanalyse auch um das Höhere, Mora-
lische, Überpersönlichc im Menschen kümmert, daß es auch für sie ein höheres
Wesen im Menschen gibt. Dieses Höhere in ihm ist das Ichideal, die Repräsen-
tanz unserer Elternbeziehungen. Als kleine Kinder haben wir diese höheren
Wesen gekannt, geliebt, bewundert, gefürchtet, später sie in uns selbst auf-
genommen."
Ich wiederhole: „Das Ichideal verdankt seine besondere Stellung im und
zum Ich, einem Moment, das von zwei Seiten her eingeschätzt werden muß;
erstens, daß es die erste Identifizierung ist, die vorfiel, als das Ich noch schwach
war, und zweitens, daß es der Erbe des Ödipuskomplexes ist, also die groß-
artigsten Objektsbesetzungen ins Ich einführt." Es ist aber nicht unveränder-
lich, starr, sondern späteren Einflüssen zugänglich und bewahrt die vom Vater
übernommene Fähigkeit, sich dem Ich entgegen zu stellen, es zu führen und zu
meistern. Wir müssen auch beachten, daß im sozial empfindenden und handeln-
den Vater dem Kinde die Forderungen der Gesellschaft in Erscheinung ge-
bracht werden, daß es infolgedessen durch ihn und an ihm seine soziale Orien-
tierung gewinnt: das Ichideal nimmt dadurch Züge auf, die später ein unsoziales
Handeln ausschließen.
Auf einen für das Zusammenleben der Menschen außerordentlich wichtigen
und ebenfalls ganz automatisch ablaufenden Vorgang muß ich Sie an dieser
Stelle aufmerksam machen. In Familien mit mehreren Kindern, in Schulklassen,
Horten, Tagesheimstätten, Erziehungsanstalten kommt es notwendigerweise da-
zu, daß die einzelnen Kinder gleiche Züge vom Vater, Lehrer, Erzieher über-
nehmen. Je gleichartigere Züge sie aufnehmen, desto weniger wird das Ichideal
des einen von dem des anderen abweichen. Die Kinder müssen dadurch unter-
einander zu Beziehungen kommen, die bedingen, daß sie sich auch gegenseitig
Züge entlehnen; in Erscheinung tritt gegenseitiges Verstehen, Nachgiebigkeit,
Verträglichkeit, Eindämmung der Befriedigung eigener Triebbedürfnisse, Ein-
ordnung. Zur Entwicklung gelangt, was wir soziale Gefühle heißen. Es läßt
sich daher ganz allgemein sagen, „die sozialen Gefühle gehen aus der Identi-
fizierung mit anderen auf Grund des gleichen Ichideals hervor".
Wir haben nun in ganz groben Umrissen die eingangs gestellte Frage, wieso
es zum sozialen Handeln kommt, besprochen und vermögen uns jetzt den Ver-
wahrlosten zuzuwenden, also jenen, die von ihrer Umgebung als dissozial
empfunden werden. Es ist nicht schwierig zu sehen, in welcher Richtung sich
unsere Untersuchungen werden bewegen müssen. Es kann sich bei den Verwahr-
losten nur um ein Ichideal, ein Ich oder Beziehungen dieser zueinander han-
deln, die anders sind, als bei den übrigen Menschen.
Ich halte es nicht für überflüssig, einzuschalten, daß unsere nunmehr anzu-
stellenden Überlegungen natürlich wieder nicht viel mehr als eine allgemeine
Orientierung bringen können, die Anleitung, einen Sachverhalt sich von einer
anderen Seite, als der bisher gewohnten anzusehen.
Was Sie vom Ich und seiner Differenzierung gehört haben, bezog sich auf
die normale Entwicklung beider, so daß einem normal fordernden Ichideal ein
ebensolches Ich gegenübersteht, das die geforderten Leistungen als berechtigt
anerkennt und auch erfüllt. Es muß aber nicht immer so sein.
Wir werden für manche Verwahrlosungsäußerungen eine Begründung finden,
wenn wir erkannt haben, daß dem Ichideal selbst jene Züge fehlen können, die
dem Ich gesellschaftsrichtiges Handeln vorschreiben oder daß das Ichideal
solche Forderungen nicht oder auch gerade im entgegengesetzten Sinne aufstellt.
Ein Kind braucht nur in einer Umgebung heranzuwachsen, die selbst durch
unsoziales Tun ausgezeichnet ist, verwahrloste oder verbrecherische Eltern zu
haben und sich mit diesen zu identifizieren, so wird sein Ichideal es ebenso
kategorisch zum gesellschaftswidrigen Handeln treiben, wie das sozialgerichtete
den anderen ausgeglichen innerhalb der Sozietät hält. In solchen Fällen sind
Ich und Ichideal an sich und in ihren gegenseitigen Beziehungen vollständig
L
182
normal, nur die Stellung beider zur Außenwelt ist eine von der Norm ab-
weichende. Daß das wirklich so ist, läßt sich ersehen, wenn Individuen dieser
Art sich zu einer Zweckgemeinschaft vereinigen, verwahrloste Platten, Ver-
brecherbanden bilden. Innerhalb dieser sind sie so lange vollständig sozial, bis
sie ihren Zweck erreicht haben.
Den extremsten Fall dieser Gruppe nennt man sehr oft fälschlich den ge-
borenen Verbrecher. Man spricht von Verbrecherfamilien, ja von ganzen Ver-
brechergenerationen und meint, daß sich die verbrecherischen Anlagen, von
denen man sich keine oder nur sehr vage Vorstellungen macht, immer wieder
von den Eltern auf die Kinder vererben. Vielleicht ist das so, aber der Für-
sorgeerzieher wird eine andere Möglichkeit nicht ausschließen, auch wenn man
ihm sagt, daß bereits Vater und Großvater seines Zöglings Verbrecher waren.
Er kennt die Vorgänge der Objektbesetzung und Identifizierung, die zwingende
Kraft der von den Eltern ins eigene Ichideal übernommenen Züge, die ihn tun
heißen, was er als Kind den Vater tun gesehen hat. Auch ohne jedwede verbre-
cherische Anlagen können so Verbrechergenerationen zustande kommen. Lesen
Sie die von Robert Bartsch aus den Archiven des Wiener Landesgerichtes
veröffentlichte Lebensbeschreibung des berüchtigten Räuberhauptmannes
G r a s e 1, so werden Sie aus Graseis Munde selbst die Bedeutung seiner Kind-
heitserlebnisse für seine späteren Schandtaten erkennen und nicht annehmen
müssen, daß er zum Verbrecher wurde, weil seine verbrecherischen Eltern ihm
ihre Anlagen vererbten.
Es soll natürlich nicht bestritten werden, daß sich ab und zu aus Gründen
der Erbanlage ein Ichideal mit solch strukturellen Mängeln bilden könne, daß
Verwahrlosung entsteht. In anderer Ausdrucksweise wäre das der Verwahrloste
aus angeborenen Defekten. In den anlagebereit gegebenen Faktoren für die
Mechanismen der Objektbesetzung und Identifizierung wäre dann etwas nicht in
Ordnung. Was es ist, ob irgendwelche Qualitäten oder Quantitäten nicht aus-
reichen, Objektbesetzungen oder Identifizierungen oder beide zum Teile miß-
lingen können, müßte erst untersucht werden. Fraglich bleibt es aber, ob die
Mängel in der Erbanlage so groß sein können, daß man den Verbrecher von
Geburt aus annehmen darf.
Fürsorgeerzieherisch werden wir in Verwahrlosungsfällen, die auf Defekte
in der Erbanlage zurückgehen, nicht viel ausrichten können, weil ja Konstitu-
tionelles erzieherischen Einwirkungen unzugänglich ist. Wir werden diesen
Typus Dissozialer zu jenen kulturunfähigen Elementen rechnen müssen, die aus
der Fürsorgeerziehung auszuscheiden sind.
Wenn der psychische Apparat des Kindes in Ordnung ist, also die Mechanis-
men für die Objektbesetzung und Identifizierung richtig ablaufen, Objekt-
besetzungen und Identifizierung sich in der richtigen Weise herstellen
i8 3
können, so ist damit die Bildung eines normalen, sozial gerichteten
Ichideals noch immer nicht gewährleistet. Einen Fall von normalem Ichideal,
das aber unsozial gerichtet ist, weil sozialwidrige Züge von den Eltern her auf-
genommen worden sind, haben wir schon besprochen. Es gibt noch eine ganze
Reihe anderer äußerer Umstände, die die Aufrichtung eines sozial gerichteten
Ichideals erschweren oder unmöglich machen können. Zur beispielsweisen An-
führung genügen wohl einige.
Der Vater ist ein brutaler Mensch, der neben seinem Willen keinen anderen
duldet. Wer sich nicht widerspruchslos fügt, wird mit Gewalt zur Unterordnung
gezwungen. Mutter und Kinder fürchten den Tyrannen, der auch vor schwer-
ster körperlicher Züchtigung aller Familienmitglieder, auch der der Mutter,
nicht zurückschreckt.
Oder das gerade Gegenteil: der Vater ist ein Schwächling, inkonsequent in •
seinen Handlungen, haltlos, immer augenblicklichen Impulsen unterworfen, ein
Spielball seines eigenen Unbewußten und der äußeren Verhältnisse.
Oder auch: der Vater ist ein Trinker mit all den Äußerungen zu Hause, wie
sie ein seiner Sinne beraubter Mensch begeht, widerliche Zärtlichkeiten bis zum
Koitus vor den Kindern, Zornaffekte bis zur Zertrümmerung der Wohnungs-
einrichtung und Flucht der Familie zu den Wohnungsnachbarn.
Xj n d noch ein anderer Fall: das Kind wächst in einem Elternkonflikt heran.
Der Vater ist einer von den eben geschilderten Sorten, die Mutter ein zän-
kisches, unverträgliches, keifendes Weib, mehr Mann als Weib, dazu Streit und
Raufszenen der Eltern.
Und schließlich folgende Konstellation: die geschiedenen Eltern sind durch
Hie Wohnungsnot gezwungen, noch in derselben Wohnung nebeneinander zu
leben, oder getrennt lebende Eheleute spielen das Kind bei den gerichtlich gestat-
teten Besuchen gegeneinander aus.
Sie werden aus Ihrer eigenen erzieherischen Erfahrung gewiß ähnliche oder
noch anders geartete Familienverhältnisse kennen, die Ihnen nach dem nunmehr
Gehörten ganz individuelle Züge bei den Verwahrlosten aus deren Identifizie-
rungen mit den Eltern erklären werden.
Die Bildung eines normalen, sozial gerichteten Ichideals kann aber auch
mißlingen, wenn der Kern des Ichideals, der, wie Sie wissen, sich aus den ersten
großen Liebesobjekten bildet, gar nicht oder nur schwächlich zustande kommt.
Objektbesetzungen und Identifizierungen sind Funktionen der Zeit, das heißt
sie brauchen eine bestimmte Zeitdauer, bis sie sich erledigt haben. Stellen wir
uns beispielsweise ein außereheliches, ein als ganz kleines Kind elternlos gewor-
denes oder ein unerwünscht zur Welt gekommenes Kind vor, das fortwährend
von einer Pflegestelle zur anderen wandert. Ehe eine richtige Objektbesetzung
durchgeführt oder eine richtige Identifizierung gemacht werden konnte, ist es
184
schon wieder auf der Wanderschaft, in neuer Umgebung, bei anderen Menschen.
Im Ablaufe begriffene Mechanismen werden dadurch fortwährend unterbrochen
und können nicht zu Ende geführt werden. Was sich bildet, kann nichts Fest-
gefügtes sein, bleibt schwache Andeutung, reicht als richtunggebend für das
spätere Leben nicht aus. Kommt noch lieblose Behandlung auf den verschiedenen
Pflegestellen hinzu, so haben wir einen noch schwächeren Kern des späteren
Ichideals zu erwarten.
Nehmen wir dazu noch einen anderen Fall: Ein außereheliches Kind lebt mit
seiner Mutter allein oder dem ehelichen stirbt der Vater zu frühzeitig. Ein
anderer Mann, der an seine Stelle treten würde, ist nicht da und die Mutter ist
eine weiche, sehr nachgiebige Frau. Dem Ichideal des heranwachsenden Jungen
werden alle jene Züge fehlen, die später den kategorischen Imperativ gegenüber
dem Ich ausmachen, wenn er sie sich nicht noch später aus Identifizierungen mit
anderen autoritativen, die Vaterrolle außerhalb der Familie übernehmenden
Personen holt.
Der Fürsorgeerzieher muß aus diesen Tatsachen einige praktische Folgerungen
für sein Vorgehen ableiten. Er wird in seinen Erkundigungen über das Vorleben
des Kindes recht weit zurückgehen, auf recht genaue Erhebungen und in Einzel-
heiten gehende Angaben dringen und sich nicht zufrieden geben, wenn er er-
fahren hat, wann das Kind geboren worden ist, wann es zu sprechen, zu gehen
angefangen, ob es Krämpfe, Fraisen oder dergleichen gehabt hat. Von wesent-
lichem Interesse werden ihm auch die libidinösen Beziehungen seines Zöglings
in der ersten Kindheit sein. Dazu gewinnt er wichtige Anhaltspunkte, wenn er
die verschiedenen Pflegestellen weiß, hört, wie lange das Kind auf den einzelnen
Pflegeplätzen untergebracht war, wie es dort behandelt wurde, zu welchen Per-
sonen es besondere Zuneigung gewann, welche es ablehnte usw.
Von den Möglichkeiten, die die Ichidealbildung so ungünstig beeinflussen, daß
Dissozialität in Erscheinung treten kann, habe ich Ihnen einige ganz kursorisch
aufgezahlt. Ich möchte die Besprechung darüber nicht abschließen, ehe ich Ihnen
nicht noch eine ganz besonderer Art angeführt habe. Sie ergibt sich dann, wenn
die Mechanismen der Objektbesetzung und Identifizierung, die wir uns normaler-
weise nacheinander, nebeneinander oder ineinander ablaufend denken müssen,
einmal gegeneinander spielen. Diese so gearteten dynamischen Vorgänge sich
vorzustellen, ist recht schwierig, weil sie in ihren Einzelheiten beim Verwahr-
losten noch nicht untersucht sind. Wie werden daher zufrieden sein, wenn wir
sie vorläufig schematisch richtig erfassen: die Objektbesetzungen gehen vom
Unbewußten aus und stellen sich vorerst ohne jedwede Einflußnahme des be-
wußten Ichs her. Erhebt sich dann in diesem dagegen ein Widerstand, so muß
er in der Identifizierung und schließlich irgendwie als Mangel im Ichideal sich
auswirken. Dazu ein Beispiel: In der Familie des oben angeführten brutalen
i8y
Vaters wird das Kind Vater und Mutter libidinös besetzen. In der Identifizie-
rung mit der Mutter kann deren brutale Behandlung durch den Vater vom
Kinde so unangenehm empfunden werden, daß ein Impuls gegen den Vater
ausgelöst wird. Dieser wird natürlich die Identifizierungstendenz mit dem Vater
beeinträchtigen und die Folge ist ein strukturell nicht mehr der Norm entspre-
chendes Ichideal mit Beziehungen zum Ich, die möglicherweise das Kind dis-
sozial machen.
Die von einander unabhängig betrachteten inneren und äußeren Entwicklungs-
störungen bei der Bildung des Ichideals können in irgend einer Form und in
irgend einem Mischungsverhältnis auch gemeinsam wirksam werden, wahr-
scheinlich sind auch in jedem einzelnen Verwahrlosungsfall mehrere qualitativ
und quantitativ unterschiedliche innere und äußere Anteile nachweisbar und
erklären uns so die feineren individuellen Unterschiede innerhalb der typischen
Verwahrlosungsformen. Hier ist noch ein weites Gebiet unerledigter For-
schungsarbeit für Sie, wenn Sie erst einmal durch intensives Studium der
Psychoanalyse dazu gelangt sein werden, die psychischen Vorgänge in ihren
tieferen Zusammenhängen zu erkennen.
Besprechen wir nun den Fall, daß das Ich sich den Forderungen seines Ich-
ideals zu entziehen versucht. Das Ichideal verlangt zu viel, das Ich ist zu
schwach, zu tun, was es soll, oder es wehrt ab.
Schweigt das Ichideal dazu, läßt es sich das gefallen oder wie verhält es sich?
Es schweigt nicht, seine moralische Zensur, das Gewissen, mahnt und drängt zur
Unterwerfung. Bleibt das Ich dennoch hartnäckig, so gibt das Ichideal den
Kampf noch immer nicht auf, es löst im Ich aus, was uns als Schuldgefühl be-
kannt ist. Um zu verstehen, wie der Konflikt zwischen beiden weiter verläuft,
müssen wir die bisherige ganz populäre Darstellung verlassen und uns mehr den
psychologischen Vorgang vorstellen.
Es ist uns schon geläufig, daß das Ichideal die kritische Instanz für das Tun
des Ichs ist und dessen Gedanken sowie Impulse einer Beurteilung unterzieht.
Diese Kritik der höheren Instanz wäre gegenstandslos, wenn sie nicht zur
Kenntnis des Ichs gelangte, das heißt von diesem wahrgenommen werden würde.
Besteht zwischen dem, was vom Ichideal diktiert wird, und dem, was vom Ich
getan, gedacht oder als Impuls gefühlt wird, keine Spannung, befinden sich
Ich und Ichideal miteinander in Übereinstimmung, so wird die Wahrnehmung
davon keinerlei Konflikt im Ich hervorrufen. Anders, wenn es zu einer Verur-
teilung des Ichs durch sein Ichideal kommt. Diese wird in der Reaktion des
Ichs darauf als Schuldgefühl wahrgenommen. Wir können leicht begreifen,
daß das Ich in eine um so ärgere Konfliktslage gerät, je härter und
strenger das Ichideal bemüht ist, seine Forderungen durchzusetzen, je mehr
daher das Gewissen mahnt und droht, je stärker das auftretende bewußte
i j A i di h o r n, Verwahrloste Jugend
t.
i86
Schuldgefühl peinigt. Der Konflikt wäre sofort behoben, wenn sich das Ich
endlich den Forderungen des Ichideals unterwirft. Das ist auch wiederholt der
Fall. Nur steht das für uns nicht zur Diskussion. Wir haben zu untersuchen, was
geschieht, wenn sich das Ich den Forderungen seines Ichideals entziehen will.
Dazu steht ihm ein Abwehrmechanismus zur Verfügung, der Ihnen aus einem
anderen Zusammenhange her bekannt ist. Beginnt das Schuldgefühl unerträg-
lich zu werden, so erwehrt sich das Ich seiner so, wie auch anderer Inhalte, die
mit dem Bewußtsein unvereinbar geworden sind. Diese werden verdrängt und
damit unbewußt, so auch das Schuldgefühl, von dem das Ich dann nichts mehr
weiß. „Wir wissen, daß sonst das Ich die Verdrängung im Dienste und Auf-
trage seines Ichideals vornimmt, hier ist aber der Fall, wo es sich derselben
Waffe gegen seinen gestrengen Herrn bedient."
So wie aber alles übrige ins Unbewußte Geschobene oder von vornherein un-
bewußt Gehaltene nicht erledigt ist, sondern nur der Kontrolle des bewußten
Ichs entzogen bleibt, aber weiter wuchert, ist das Ich auch vom Schuldgefühl
nicht freigeworden, wenn es dieses ins Unbewußte gezwungen hat. Es kann
dann zu psychischen Erkrankungen kommen, es kann aber auch zur Dissoziali-
tät, ja, bei einer Steigerung des „unbewußten Schuldgefühles" zum Verbrechen
fuhren. Die daraus möglicherweise entstehenden Krankheitserscheinungen kom-
men für unsere heutigen Besprechungen nicht in Betracht. Den Fürsorgeerzieher
interessieren verwahrloste oder verbrecherische Kinder und Jugendliche. Er will
wissen, ob es zu erkennen ist, wenn einer dissozialen Äußerung oder Handlung
unbewußtes Schuldgefühl zugrunde liegt und woran er das ersieht. Ganz all-
gemein muß dazu gesagt werden, daß dissozialen Handlungen weit häufiger
unbewußtes Schuldgefühl zugrunde liegt, als gewöhnlich angenommen wird.
Dem psychoanalytisch geschulten Fürsorgeerzieher wird das damit Hand in
Hand gehende erhöhte unbewußte Strafbedürfnis nicht entgehen.
Jetzt haben wir zum unbewußten Schuldgefühl gar noch ein unbewußtes
Strafbedürfnis bekommen, so daß wir bald nicht mehr wissen werden, was mit
all den neuen Begriffen anzufangen ist. Lassen Sie mich statt jeder weiteren Er-
läuterung einige Beispiele anführen.
Erinnern Sie sich, was ich Ihnen von dem Mädchen sagte, das der sterbenden
Mutter Wäsche aus dem Kasten stahl, das dafür erhaltene Geld mit der Freun-
din im Prater verjubelte, bei uns in der Anstalt, von Angstträumen gequält, un-
botmäßig wurde, so haben Sie gleich einen Fall, in dem dissoziale Äußerungen
auf unbewußtes Schuldgefühl oder unbewußtes Strafbedürfnis zurückgehen.
Denken Sie an die in Oberhollabrunn untergebracht gewesenen Aggressiven,
die mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln die Ohrfeige herbeizuführen
bemüht waren. Das unbewußte Schuldgefühl läßt die Liebe der Erzieherin nicht
zu und will die Ohrfeige erzwingen. Das Mädchen und die Aggressiven be-
i8 7
nahmen sich so, daß nach den Erfahrungen des bisherigen Lebens Strafe er-
folgen mußte.
Ein anderer Fall: Ein Jugendlicher stiehlt zu Hause K 200.000 und kauft
sich für diesen Betrag eine Kappe. Obwohl er weiß, daß es auffallen muß,
kommt er, sie auf dem Kopf tragend, nach Hause zurück. Wir werden in der
Aufdeckung der Determinanten dieses Diebstahles den sichersten Weg gehen,
wenn wir das Vorhandensein unbewußten Schuldgefühles annehmen.
Nicht anders war es bei dem Jungen, der, um bei der Beichte nur ja nichts
zu vergessen, seine Sünden auf einen Zettel aufschrieb, darunter auch die, daß
er dem Vater K 30.000 gestohlen hatte, und diesen Zettel dann so in das Schul-
heft hineinlegte, daß ihn der Vater finden mußte, wenn er die letzte Schularbeit,
die auf „sehr gut" gemacht war, unterschreibt. Die ihm in der Beichte auferlegte
Sühne war zu gering.
Wenn Kinder, was sehr häufig geschieht, Geld entwenden, um es dann wieder
zu verschenken, so mag auch hier unbewußtes Schuldgefühl die dissoziale Hand-
lung mit determinieren.
So manche Verbrecher, die ihre Tat lächerlich ungeschickt, gerade nur um
erwischt zu werden, ausgeführt haben, andere, die trotz der ihnen bekannten,
drohenden Gefahr zum Tatorte zurückkehren, sind nur ihrem unbewußten
Strafbedürfnis erlegen.
Möglicherweise macht Ihnen diese Auffassung Schwierigkeiten, wenn Sie sich
aber mehr mit Verwahrlosten beschäftigt haben werden, so wird Ihnen das
Walten des unbewußten Schuldgefühles, gegen das der Dissoziale machtlos ist,
unverkennbar. Freud hat uns aufmerksam gemacht, „daß bei vielen, nament-
lich jugendlichen Verbrechern, ein mächtiges Schuldgefühl nachweisbar ist, wel-
ches vor der Tat bestand, also nicht deren Folge, sondern deren Motiv ist, als
ob es als Erleichterung empfunden werden würde, das unbewußte Schuldgefühl
an etwas Reales und Aktuelles anknüpfen zu können".
Verwahrloste des eben besprochenen Typus sind wahrhaftig die Opfer ihrer
Moral. Sie wollten sich den zu strengen Anforderungen ihres Ichideals ent-
ziehen und werden dafür bestraft.
Wir brauchen aber gar nicht bis zu den Verwahrlosten zu gehen, um
Äußerungen des unbewußten Schuldgefühles beobachten zu können. Es erklärt
uns manche Unbotmäßigkeit in der Kinderstube und Disziplinwidrigkeit in der
Schule. Wir fallen den Kindern gewöhnlich herein, indem wir mit Strafe vor-
gehen. Erfolgt diese, so kommen wir dem Kinde nur entgegen. Es befriedigt sein
Strafbedürfnis für den Augenblick und eine Änderung des Verhaltens wird nicht
erreicht. Das unbewußte Schuldgefühl kann ja an Reales anknüpfen und die
Strafe bedingt dadurch statt Unlust Lust, für den Moment Erleichterung und
damit das Verbleiben des Kindes bei den Unbotmäßigkeiten oder Disziplin-
L
i88
Widrigkeiten. Mit den gewöhnlichen Erziehungsmitteln kann dann das Aus-
langen nicht gefunden werden. Ohne Aufdeckung des unbewußten Schuld-
gefühles ist in solchem Falle weder beim normalen Kinde noch beim Verwahr-
losten erzieherisch etwas zu erreichen.
Nur der Vollständigkeit halber deute ich Ihnen noch, ohne mich auf weitere
Erörterungen einzulassen, einen recht komplizieren Sachverhalt an. Bei Ver-
wahrlosungsäußerungen, denen unbewußtes Schuldgefühl zugrunde liegt, muß
dieses nicht naturnotwendig irgendwann einmal bewußt gewesen sein. Ein Stück
davon kann auch von vorneherein unbewußt bleiben; denn die Entstehung des
unbewußten Schuldgefühles ist innig an den Ödipuskomplex gebunden, der selbst
dem Unbewußten angehört. Diese schwierige Angelegenheit kommt deswegen für
den Fürsorgeerzieher weniger in Betracht, weil er mit einem Jugendlichen, des-
sen Tat sich von dorther determiniert, nicht viel wird anzufangen wissen. Das
ist eine Aufgabe für den Psychoanalytiker.
Wir können nun diesen Teil unserer Überlegungen abschließen und werden
uns merken: Viele Verwahrlosungsäußerungcn kommen zustande, weil sich ein
Individuum den zu strengen Anforderungen seines Ichideals entziehen will, wo-
durch unbewußtes Schuldgefühl zum treibenden Motiv wird.
Ich mache hier wieder eine kleine Einschaltung. Es gibt natürlich auch Ver-
änderungen in der Stellung des Ichs zu seinem Ichideal, die durch psychische
Erkrankungen hervorgerufen werden. Freud hat uns gezeigt, daß sich
zwischen Ichideal und Ich alle jene mannigfaltigen Beziehungen und Störungen
ergeben können, die uns die Psychoanalyse für das Verhältnis des Ichs zur
Außenwelt aufgedeckt hat. Auf diese Krankheitsstörungen komme ich selbst-
verständlich nicht, aber auch nicht auf Verwahrlosungsäußerungen, die aus
solchen hervorgehen, zu sprechen. Um das tun zu können, müßte ich Ihnen viel
mehr von der Psychoanalyse sagen, als mir im Rahmen unserer Vorträge ge-
stattet ist.
Wir haben heute recht viele Überlegungen gemacht und sind zu so neuen Ein-
sichten gekommen, daß Sie vielleicht vergessen haben, was uns gerade in diese
Gedankenrichtung drängte. Erinnern Sie, ich habe zu Beginn des heutigen Vor-
trages eine Frage gestellt: „Müssen wir uns auf die eine oder andere Art damit
abfinden, daß sich die Verwahrlosten über die Schranken, die die sittlichen Nor-
men der Gesellschaft aufstellen, hinwegzusetzen vermögen, oder können wir aus
dem Verstehen dieses typischen Zuges Brauchbares zur Ausheilung des Verwahr-
losten gewinnen?"
Wenn Sie das heute Gehörte überblicken, werden Sie finden, daß die Frage,
ob die Verwahrlosten so strenge zu behandeln sind wie in den alten Besserungs-
anstalten, oder so milde wie in den modernen Fürsorgccrziehungsanstalten, das
Problem gar nicht trifft. Sie geht aus einander entgegengesetzten affektiven Ein-
189
Stellungen zum Verwahrlosten hervor und berücksichtigt nicht, daß möglicher-
weise der eine Verwahrloste durch Strenge, der andre durch Milde zum gesell-
sohaftsrichtigen Handeln gebracht werden könne, beim dritten weder Strenge
noch Milde am Platze sind, sondern die gewöhnlichen Erziehungsmittel über-
haupt nicht mehr ausreichen.
Worauf kommt es an?
Soziales Handeln ist gewährleistet durch ein Ichideal, das bei unsozialem
Handeln das normale, bewußte Schuldgefühl auslöst. Beim Verwahrlosten ist
das nicht der Fall. Es ist entweder verdrängt, kommt nur schwach oder über-
haupt nicht zustande. Ist das Ichideal übermäßig strenge, wie etwa beim neuroti-
schen Grcnzfall mit Verwahrlosungserscheinungen, so wird durch Milde und
Güte des Erziehers, durch Gewährenlassen eine Herabminderung der Forderun-
gen und in der Folge die Ausheilung des Dissozialen erfolgen. Ist der Verwahr-
loste der hemmungslose Triebmensch, der den Weg von der Lustwelt in die
Realität nicht gemacht hat, weil die Triebeinschränkungen zu geringe waren,
so wird der Erzieher mit erhöhten Forderungen einsetzen müssen, und so wird
jeder Typus Verwahrloster eine besondere Art der Behandlung nötig machen.
In allen Fällen aber handelt es sich um eine Nachentwicklung zur Bildung des
Ichideals und die Frage muß so gestellt werden: Wie stelle ich die Fürsorge-
erziehung in den Dienst individueller Charakterkorrektur?
Alle meine Vorträge bewegten sich in dieser Richtung, was Sie erkennen
werden, da ich Sie nun besonders darauf aufmerksam gemacht habe. Sie dürfen
dabei aber nicht übersehen, daß ich Ihnen nur eine allgemeine Einführung ver-
mittelte, daher das meiste bloß allgemein streifte, auf manches nur andeutungs-
weise zu sprechen kam und anderes überhaupt nicht berührte.
Ich kann meine Vorträge nicht abschließen, ohne Sie in diesem Zusammen-
hange noch auf die ganz besondere Bedeutung der Persönlichkeit des Erziehers
in der Fürsorgeerziehung aufmerksam gemacht zu haben.
Nach all dem, was Sie jetzt wissen, ist eine Charakterkorrektur des Verwahr-
losten gleichbedeutend mit einer Veränderung seines Ichideals. Diese wird ein-
treten, wenn neue Züge aufgenommen werden. Das vornehmlichste Objekt, von
dem solche entnommen werden, ist der Fürsorgeerzieher. Er ist das wichtigste
Objekt, an dem das verwahrloste Kind und der verwahrloste Jugendliche die
fehlenden oder mangelhaft durchgeführten Identifizierungen nachholen werden,
alles das erledigen, was sie am Vater nicht oder nur schlecht erledigen konnten.
Durch ihn und über ihn gewinnt der Fürsorgeerziehungszögling auch zu
seinen Mitzöglingen die notwendigen Gefühlsbeziehungen, die das Überwinden
der Dissozialität erst ermöglichen. Das Wort vom „Ersatz-Vater", das ich so oft
gebrauche, wenn ich vom Fürsorgeerzieher spreche, gewinnt bei dieser Auffassung
seiner Aufgabe erst den richtigen Inhalt.
X
190 »
Welches ist nun des Fürsorgeerziehers wichtigstes Hilfsmittel bei der Aus-
heilung des Verwahrlosten? Die Übertragung! Und von ihr jenes Stück, das uns
schon als die positive Übertragung bekannt ist. Die zärtlichen Beziehungen zum
Erzieher sind es in erster Linie, die dem Zögling den Antrieb geben, zu tun, was
dieser zu tun vorschreibt, zu unterlassen, was dieser verbietet. Der Fürsorge-
erzieher liefert aber als libidinös besetztes Objekt dem Zögling auch Züge zur
Identifizierung, bewirkt eine dauernde Veränderung in der Struktur seines Ich-
ideals und damit ein dauernd geändertes Verhalten des ehemals Verwahrlosten.
Denn als Fürsorgeerzieher können wir uns einen unsozialen Menschen nicht vor-
stellen, das Ichideal des Zöglings muß daher eine Korrektur im Sinne der An-
erkennung der Gesellschaftsforderungen erfahren, im Zusammenleben mit dem
Erzieher sich nach und nach ein Einleben in die Sozietät ergeben, die Aufgabe
der Fürsorgeerziehung so gelöst werden.
Es bleibt nun nur mehr ein Zweifel zu beheben, der auftauchen könnte, wenn
man die Fürsorgeerziehung mit einer psychoanalytischen Behandlung vergleicht.
Dort spricht man von Ubertragungserfolgcn, wenn im Stadium der positiven
Übertragung eine Besserung im Befinden des Kranken eintritt, und weiß, daß
diese nicht sehr hoch zu werten ist, weil das Wohlbefinden wieder schwindet,
wenn sich die Übertragung lockert. Müssen wir nun tatsächlich annehmen, daß
die Erfolge, die wir in der Fürsorgeerziehung erzielen, nichts anderes sind, als
solche „Übertragungserfolge"? Ich meine, der Vergleich des erzieherischen mit
dem analytischen Bemühen ist hier nicht richtig gestellt; die Ähnlichkeit
zwischen beiden ist an anderer Stelle zu suchen. Hier wie dort verwenden wir
die Übertragung zum Vollzug einer ganz bestimmten, in beiden Fällen ver-
schiedenen Arbeit. Der Neurotikcr, der sich einer psychoanalytischen Behand-
lung unterzieht, soll ja aus der Übertragung nicht eine flüchtige Besserung seines
Zustandes, sondern die Kraft schöpfen, eine ganz bestimmte Leistung zu voll-
ziehen, unbewußtes Material in bewußtes zu verwandeln, und damit Dauer-
veränderungen seines Wesens zustande bringen.
In ähnlicher Weise dürfen wir uns in der Fürsorgeerziehung nicht mit jenen
vorübergehenden Erfolgen begnügen, die in der ersten, frischen Gefühlsbindung
des Zöglings an den Erzieher sich ergeben. Wie in der psychoanalytischen Arbeit
muß es uns ebenfalls gelingen, den Zögling unter dem Drucke der Übertragung
zu einer ganz bestimmten Leistung zu nötigen. Wir kennen diese Leistung bereits.
Sie besteht in einer wirklichen Charakterveränderung, im Aufrichten des sozial
gerichteten Ichideals, das heißt im Nachholen jenes Stückes der individuellen
Entwicklung, das dem Verwahrlosten zur vollen Kulturfähigkeit gemangelt hat.
L
Inhaltsverzeichnis
Seite
Geleitwort von Sigm. Freud J
I) Einleitung 7
II) Eine Symptomanaiyse 23
Et) Einige Ursachen der Verwahrlosung 4 1
IV) Einige Ursachen der Verwahrlosung (Fortsetzung) 62
V) Ursachen der Verwahrlosung (Schluß). Eine Ausheilung in der
Übertragung 82
VI) Die Übertragung toz
VII) Von der Fürsorgeerziehungsanstalt 121
VEQ) Die Aggressiven I 4°
IX) Die Bedeutung des Realitätsprinzips für das soziale Handeln . . Ij6
X) Die Bedeutung des Ichideals für das soziale Handeln . . . . 173
.
.
PRESSESTIMMEN
über die 1. Auflage von:
Aichhorn: Verwahrloste Jugend
Aichhorns Buch trägt die Bestimmung in sich, an aufklärender Erziehungsarbeit viel beizu-
steuern. Durch die Bildhaftigkeit seiner Ausdrucksweise, durch seine geschickte Verbrämung
der praktischen Fürsorgeergebnisse mit den theoretischen Erklärungen hat er diesen zehn Vor-
trägen die Spannung von der ersten bis zur letzten Seite erhalten. (Soziale Arbeit)
Wer sich für die Probleme der Verwahrlosung interessiert, wird an dem Buche von Aich-
horn nicht vorübergehen können und die dort geschilderten Fälle eingehend studieren müssen.
(Preußische Lehrerzeitung)
Dieses Buch ist dazu angetan, alle, die in der Erziehungsarbeit stehen, hellhörig und besinn-
lich zu machen. (Soziale Berufsarbeit)
Von besonderem Interesse ist die Schilderung der Erziehungsmethoden, die der Verfasser
anwendet, und die zweifellos eine glückliche pädagogische Treffsicherheit in der Erfassung
des im gegebenen Moment einer bestimmten Individualität gegenüber Angebrachten verraten.
(Zeitschrift f. Sexualwissenschaft)
Fragt man nun danach, wo denn in der deutschen Gegenwartspädagogik der Geist Pesta-
lozzis am lebendigsten vertreten bleibt: ... in der Praxis der österreichischen Volksschul-
reform, in dem neuen Verwahrlosten-Erzichungswesen, über dessen Wiener Ausgestaltung uns
Aichhorn so schön zu berichten weiß. (Das Deutsche Buch)
Solche Bücher, solche Männer möchten wir in reichlicher Anzahl unseren Massen zuführen
und ihnen sagen können: „Seht Ihr's? So geht's auch!" (Nepszava, Budapest)
Jeder, der jemals erzieherisch tätig war, wird Aichhorn für sein Werk dankbar sein; und
wer hat nicht wenigstens einmal in seinem Leben vor der Aufgabe gestanden, erziehen zu
müssen: und wäre es nur die eine lebenslängliche erzieherische Tat, — sich selbst zu er-
ziehen. (Pester Lloyd)
Wir begrüßen das Buch in doppelter Hinsicht: einerseits als Lehrbuch und anderseits als
Führerbuch für diese wichtige Fürsorgefrage . . . Dieses Buch ist auch ein persönliches Doku-
ment und zeigt, wie ein Praktiker in unermüdlicher und selbstverleugnender Tätigkeit einer
wissenschaftlichen Theorie, deren Erkenntnisgebiet außerhalb des Greifbaren liegt, Leben
geben kann. (Blätter f. d. Wohlfahrtswesen d. Gemeinde Wien)
Ein Buch, hinter dem ein derart reicher, unwahrscheinlich gütiger, sehr bedeutender Mensch
steht, eine solche Offenbarung eines pädagogischen Genies, wird man schwerlich unter den
Schriften der letzten Jahre wiederfinden. (Blätter für Büchereiwesen)
Es ist ein großes Glück für die Menschheit, daß es solche Männer, wie Aichhorn gibt . . .
Ein einziger solcher Mensch erlaubt uns wieder mehr Mut zu fassen, wenn wir manchmal,
angesichts des grenzenlosen Erziehungsblödsinns, den wir sahen und erlebten, an uns und an
anderen, zu verzweifeln drohten. Ein solcher Mensch beweist uns, daß alle Wunder der
Technik nichts sind, gemessen an den möglichen Wundern der Erziehung . . . Wir beneiden
Wien um diesen Mann. (Revue Internationale de l'Enfant, Genf)
Einführung
in die Technik der
Kinderänalyse
V,
on
Anna Freud
Zweite vermehrte Auflage — Geh. Mark 2.70, in Ganzleinen Mark 4.—
Inhält: I) Die Einleitung der Kinderanalyse - II) Die Mittel der Kinderanalyse - ///; Die Rolle der
Übertragung in der Kinderanalyse - IV) Des Verhältnis der Kinderanalyse zur Erziehung - Anhang :
Zur Theorie der Kinderanalyse
anaW L tnde e rn T^t" * *"Sß ^ ft d, ' C beS ° nderen Sch - ie "gkciten der Kinder-
SS SSSä^ 8aDZ aUßCrgeWÖhnlichC V — 8 vor Auge „ zu führen.
Aufschlußreich, besonders auch durch die ungeschminkte Darstellung der ungelösten Schwie-
rigkeiten .. . Undogmatische Haltung. (Die Neue Erziehung)
da<f R b "° ndere , , Wm der Verlegungen Anna Freuds dürfte auch darin gesehen werden,
daß Bresche geschlagen ist ,n die Starrheit des Systems aus Gründen, die, richtig gewürdigt
von Analytikern wie von Nichtanalytikern nicht mehr übergangen werden können. (Zentralbl.
/• d. ges. Neur. u. Psychiatrie)
Das kleine Buch stützt sich auf zehn offenbar recht sorgsam durchgearbeitete Fälle und
illustriert die Hauptgedanken durch zahlreiche Beispiele. (Zeitschrift für Kinderforschung)
N lc ht nur in jener vorsichtigen, der Wirklichkeit Rechnung tragenden Formulierung verrät
uns Anna Freud, wes Geistes Kind sie ist. (Neue Freie Presse)
Dank der flotten, klaren Darstellung ist das Lesen des Buches ein Genuß. (Deutsches
Philologenblatt)
Die Ausführungen sind sehr klar und instruktiv; sie erinnern in ihrer Art an die Schriften
Sigmund Freuds, des Vaters der Verfasserin. (Frankfurter Zeitung)
Psychoanalyse und
Kindergarten
Von
Nelly Wolffheim
Geheftet Mark 2.40, in Ganzleinen Mark 4. —
Inhalt: Grundgedanken der psychoanalytischen Pädagogik — Das Entwicklungsstadium des Kindes im
Kindergartenalter (Äußerungsformen des Ödipuskomplexes im Kindergarten. Die Geschwisterbeziehung
und ihre Auswirkung im Gemeinschaftsleben. Außerungsformen der Sexualität beim Kindergartenkinde.
Erotisch gefärbte Freundschaften in der frühen Jugend) — Die pädagogische Leitung des Kinder-
gartens — Spiel und Beschäftigung im Kindergarten — Die Beziehungen des Kindergartens zur Psycho-
analyse — Kritische Überlegungen zur Frage der frühen Gemeinschaftserziehung — Erklärung der
benützten psychoanalytischen Fachausdrücke.
Da das Buch mit großer Sachkenntnis, Klugheit und auf Grund langjähriger Kindergarten-
erfahrung geschrieben ist und die heikelsten Dinge mit dem Taktgefühl der bis ins Letzte
mütterlichen Frau behandelt, gehört es zu den besten Veröffentlichungen der Gegenwart auf
dem Gebiete der angewandten Pädagogik. (Die Arztin)
Der gepflegte Stil, der die Schule des Meisters Freud erkennen läßt, macht die Lektüre auch
in ästhetischer Beziehung genußreich. (Gesundheitspflege des Kindes)
Als besonderes Verdienst sei hervorgehoben, daß die große Gefahr derartiger Veröffent-
lichungen, die Verbreitung psychoanalytischer Halbbildung mit Geschick vermieden wird.
Alles in allem ein Stück angewandter Sexualwissenschaft von Bedeutung. (Zeitschrift für
Sexualwissenschaft)
Hier spricht ein ganzer Mensch über ein Thema, das er beherrscht. Es ist wirklich kaum
glaublich, welche Fülle von Problemen in diesem kleinen Büchlein aufgerollt und in meist
neuer, origineller Form gelöst wird. (Die Quelle, Wien)
Nicht hoch genug zu bewertende Darlegung, die zu einem Standardwerk der Kindergarten-
literatur gemacht zu werden verdient (Der Kindergarten)
sisyphos
oder: Die Grenzen der Erziehung
Von
Siegfried Bernfeld
Geheftet Mark 5.—, in Ganzleinen Mark 6.50
Der geistreichste unter den Schülern des großen, genialen Sigmund Freud hat da den
Pädagogen ein Büchlein gewidmet, das sie hoffentlich lesen und sobald nicht vergessen
werden. Ich meinerseits glaube, daß seit langem im fragwürdigen Bereich der Pädagogik keine
wichtigere Erscheinung zu verzeichnen war, als diese Schrift. Übrigens auch keine bei allem
bitteren Ernst witzigere und vergnüglichere. (Gustav Wyneken im Berliner Tageblatt)
Ein geistreicher Beobachter der jungen Brut hat ein Buch herausgebracht, das er mit
kühnem Mut „S.syphos" nennt... Bernfeld sieht die Welt von einer Brücke, deren Köpfe
auf Freud gestützt sind und auf Marx. Die bürgerliche Gesellschaft sieht er als einen Ozean
JSLrS- , dem d ' e an & eb,ichen Ziele der Erziehung treiben wie verfaulte Schiffstrümmer.
{rritz Witteis im Tag)
UiÜ£ S ,ä " 2end T e Programmrede des Unterrichtsministers reicht an Anatole France heran und
Konnte in der Insel der Pinguine stehen. (Die Mutter)
Geistreiche Sachlichkeit und anmutige Ironie. (Ostseezeitung)
tischen Größenwahn. (Paul Oestreich in Die neue Erziehung)
wordt'wtln^enf ^r" 2 ^ .^^ der ^dagogik so gründlich unterwühlt
worden, wie in dem vorliegenden gereichen Buche. (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft)
wJhrenfM" T '7^ ** biolo 8 ischem ***«§ das Erziehungsproblem zu klären.
Wahrend bisher die Erziehung eigentlich als Kunst gewertet war, wird hier der Versuch
gemacht, sie exakt wissenschaftlich zu begründen. (Zeitschrift für Kinderforschung)
Einen ernsthaften Versuch, marxistische Gesellschaftstheorie in Zusammenhang zu bringen
mit i-reudscher Psychoanalyse macht Bernfeld ... Im Gewände eines Skeptikers und Pessi-
misten, aber eben nur im Gewände, im literarisch glänzenden Florettgefecht, stößt Bernfeld
insofern ins Herz, in den Kern der Sache, als er Änderung der Erziehungsorganisation allein
abhangig sieht von Änderung der gesellschaftlichen Struktur. (Dr. Karl Schröder im Vorwärts,
Berlin)
Weitere Pressestimmen
über Sisyphos" von Bernfeld
Ein Buch, das alle Kulissen unserer pädagogischen Verbrämungen beiseite schiebt und jene
Stelle aufdeckt, und zwar mit unwiderleglichen Griffen und Schlüssen, an der die wirklichen
pädagogischen Probleme, nämlich die Verankerung der Staatsmacht in der Schule, bloßgelegt
werden, nüchtern, leidenschaftlich, hinreißend. (Arnold Zweig auf eine Umfrage im Tagebuch
über „das beste Buch des Jahres")
Außerordentlich geistvolle, glänzend geschriebene, tiefgründige Studie . . . Ungemein an-
regend die geistsprühende Interpretation Freudscher Theorie . . . Ein literarischer Leckerbissen.
(Basler Nachrichten)
Mit seltener Schärfe und Konsequenz bohrt er sich kritisch in das Problem der Möglich-
keit der Erziehung hinein und zwingt zum Mitdenken. (Leipziger Lehrerzeitung)
Der Leser wird das Buch nicht eher aus der Hand legen, bis er das letzte Wort ver-
schlungen hat und erschüttert von der Wahrheit der Dinge, die Grenzen der Erziehung mit
Bernfeld bejaht. (Jüdisches Echo)
Anhängern und Gegnern der sozialistischen und psychoanalytischen Lehren sei dies Buch
empfohlen. Es wird manche Leser unterhalten, andere auffrischen, manche nachdenklich
stimmen und jedem die Möglichkeit bieten, durch den Vergleich konservativer und revolutio-
närer Anschauungen zu lernen. (Prof. Friedländer in der Umschau)
Fasziniert durch das eigenartige Nebeneinander kältester Skepsis und eines fast fanatischen
Bekennertums. (H. Hartmann in Grundlagen der Psychoanalyse)
Unterhält auf die geistreichste Art und regt zu hurtigerem Nachdenken an, als manches
(als vieles) andere. (Literarische Beilage zur Sächsischen Schulzeitung)
Zwei große Gestirne leuchten über Bernfelds Ausführungen: Marx und Freud; und sie
haben ihn zu einer meisterhaften Satire inspiriert. (Linzer Tagblatt)
Dieses Buch ist jedem sozialistischen Pädagogen wie überhaupt jedem pädagogischen inter-
essierten Menschen — und wer wäre das nicht — zu empfehlen. (Leipziger Volkszeitung)
Das unterhaltliche Buch entläßt den Leser nicht ganz hoffnungsarm, wie man nach dem
Titel fürchten müßte, der ebenso wie der Stil von Lessing herkommt. (Arbeiterzeitung, Wien)
Fußend auf den Lehren des „großen Freud" und des „großen Marx", bringt Bernfeld im
einzelnen oft feingeschnitten, immer geistvolle Gedanken, die den Leser in seinem Bann
halten . . . Jedem Gebildeten als anregende Lektüre empfohlen. (Prof. Stier in der Deutschen
Medizinischen Wochenschrift)
Bernfcld ist einer der wenigen, die als Marxisten und Psychoanalytiker gleich beschlagen
sind. Der Sisyphos ist eines der prinzipiellsten Bücher zu Erziehungsfragen, die es überhaupt
gibt; seine Lektüre erspart die Durcharbeitung ganzer pädagogischer Bibliotheken. (Jung-
sozialistische Blätter)
Überaus farbige und temperamentvolle Schrift. Durch den hinter der Oberschicht einer
feinen ironischen Plauderei spürbaren sittlichen Ernst sympathisch. (Prof. Storch im Zbl. f. d.
ges. Neurol. u. Psychiatrie)
Vater, Mutter, Arzt und Lehrer
lesen die
Zeitschrift für j
psychoanalytische Pädagogik
Herausgegeben von
Paul Federn, Anna Freud, Heinrich Meng, Ernst Schneider, A. J. Storfer
Jährlich 72 Hefte (etwa 500 Seiten) — Der Jahrgang beginnt im Januar
Jahresabonnement Mark 10. - (schweiz. Frk. 12.50, österr. S 17.-)
PRESSESTIMMEN:
Der Vorteil der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik" ist es, bei s t r en g s t er
Wissenschaftlichkeit amüsant und kurzweilig zu sein. (Monistische Monatshefte)
Man übertreibt kaum, wenn man sie die beste pädagogische Zeitschrift
nennt, die es gegenwärtig überhaupt gibt. (Leipziger Volkszeitung)
Wer einmal ein Heft dieser Zeitschrift gelesen hat, wartet mit Spannung auf die
nächste Nummer. Denn sie bringt ihm soviel Neues in offener Sprache, über das man
früher zu schreiben sich nicht getraute, daß ihr möglichst weite Verbreitung zu wünschen ist.
(Winterthurer Arbeiterzeitung)
Aufsatz für Aufsatz der Zeitschrift bringt Beispiele Menschenleids und seines Urgrundes,
oft so packend und überzeugend, daß man wünschte, es gäbe Tausende von Pädagogen, die
in dieser Methode zu Hause wären. Hunderttausende von Eltern, die ihre Forderungen für
eine richtige Erziehung verstünden. Darumist gerade diese Zeitschrift be-
rufen, Fackel zu sein. Sie ist sich dessen bewußt und schreibt deshalb in einer Sprache,
die auch Nichtgelehrten verständlich ist. Möge sie viel gelesen werden und unendliche
Früchte tragen. (Volksblatt, Halle)
Man könnte sich denken, daß Behörden und Pädagogenkreise hier die Gefahr einer psycho-
analytischen Verseuchung unseres Schulwesens fürchten und aus berechtigten sachlichen wie
persönlichen Gründen nunmehr gegen den Versuch vorgehen. (Zeitschrift für
pädagogische Psychologie)
Diese Zeitschrift hält die glückliche Mitte zwischen wissenschaftlicher
Einstellung und Allgemeinverständlichkeit, gepaart mit einem guten lite-
rarischen und stilistischen Niveau. (Deutsche Zeitschrift für Homöopathie)
Verlag der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik"
Wien I, In der Börse
Sonderhefte der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik"
Sexuelle Aufklärung
(= I. Jg., Heft 7—8—9)
Mark 2.50
Enthält 17 Beiträge von Bernfeld, Friedjung, Graber,
Hitsdimann, Hollös, Landauer, Liertz, Meng, Reich,
Schneider, Wolffheim, Zulliger und anderen
Stottern
(=11. Jg., Heft 11—12)
Mark 2.—
Aus dem Inhalt : Schneider: Über den Sinn des
Stotterns — Graber: Redehemmung und Analerotik
— C o r i a t : Die Verhütung des Stotterns — usw.
Nacktheit
(= III. Jg., Heft 2—3)
Mark 2.—
Aus dem Inhalt: Reich: Wohin führt die Nackt-
erzichung ? — S t e r b a : Nacktheit und Scham —
P i p a I : Schaulust — usw.
Aus der Kindheit eines
Proletariermädchens
f= ///. Jg., Heft 5—6)
Mark 2.—
Aufzeichnungen einer 1 9-jährigen Selbstmörderin über
ihre ersten 10 Lebensjahre
Selbstmord
(=111. Jg., HeftH-12—13)
Mark 3.—
Aus dem Inhalt: Meng: Gespräch mit einer Mutter
. Kalischer: Selbstmord eines Zwangsdiebes —
Federn: Selbstmordprophylaxe in der Analyse —
Lorand: Der Selbstmord der Miß X — usw.
Intellektuelle Hemmungen
(=IV.Jg., Heft 77-
Mark 2.—
12)
Aus dem Inhalt: Federn: Psychoanalytische Auf-
fassung der intellektuellen Hemmung — Hermann:
Begabtheit und Unbegabtheit — Bornstein: Sexual-
und Intellekthemmung — Stern: Episodische Dumm-
heit einer 16-jährigen — usw.
Sterba: Einführung in die
psychoanalyt. Libidolehre
(= V. Jg., Heft 2-3)
Mark 2.—
Inhalt: I) Trieblehre — II) Sexualtbeorie — III) Trieb-
schicksalc — IV) Wiederholungszwang und Todestrieb
Menstruation
(= V. Jg., Heft 5—6)
Mark 2.—
Aus dem Inhalt : H o r n e y : Prämenstruelle Ver-
stimmungen — Landauer: Menstruationserlebnis
des Knaben — Chadwick: Menstruationsangst —
P i p a 1 : Wie es bei Hansi war — usw.
o
name
(= II. Jg., Heft 4—5—6)
Mark 2.50
Aus dem Inhalt: Meng: Das Problem der Onanie
von Kant bis Freud — Landauer: Formen der
Selbstbefriedigung — Schneider: Abwehr der
Selbstbefriedigung — und 22 andere Beiträge
Strafen
(= V. Jg., Heft 8—9)
Mark 2 —
Aus dem Inhalt: Aichhorn: Lohn oder Strafe? —
Hitschmann: Strafen aus analerotischcn Motiven
— Timm: Jähzorn und Selbstbestrafungstendenz
bei einem Mädchen — usw.
Verlag der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik"
Wien I, In der Börse
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