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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
FÜR
PSYCHIATRIE
UND
PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN
HERAUSGEGEBEN VON
DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN
UNTER DER MITREDAKTION VON
BONHOEFFER v. GRASHEY KREUSER PELMAN SCHÜLE
BERLIN MÖNCHEN WINNENTAL BONN ILLENAO
DURCH
HANS LAEHR
SCHWEIZERHOK
EINUNDSIEBZIGSTER BAND
NEBST EINEM BERICHT
ÜBER DIE PSYCHIATRISCHE LITERATUR IM JAHRE 1913
REDIGIERT VON
0. SNELL
LONEBURG
BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1914
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Original fro-rri
UNIVERSITY OF MICHIGAN
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
I
Inhalt.
Erstes Heft.
Originalien. S ei te
Ober Geistesstörungen im höheren Lebensalter und ihre Genesungs¬
aussichten. Von Medizinalr&t Dr. Kreuser -Winnental. 1
Klinische Mitteilungen. Von Universitätsprofessor Dr. Emst EmilMoravcsik-
Budapest. 23
Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen zur Kriminalität
und Prostitution der Jugendlichen. Von Dr. Helenefriderike Stelzner 60
Arbeitsentlohnung. Von San.-R. Dr. JTlmke-Lublinitz. 131
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
5)0. Ordentliche Generalversammlung des Psychiatrischen Vereins der
Rheinprovinz am 21. Juni 1913 in Bonn.
Stolt-Bonn: Demonstration von Spirochäten bei Paralyse. 159
WesfpAal-Bonn: 1. Motor. Aphasie mit motor. Apraxie. 2. Sensor.
Aphasie. 3. Progress. Bulbärparalyse. 4. Multiple Sklerose mit
psychischen Störungen, ö. Psychische Störungen bei Paral. agitans 169
.Hertin^-Galkhausen: Historische Studien. 162
Cr«esler-Grafenberg: Psychose der Geburt. 162
Aschaffenburg- Köln: Bedeutung und Wesen der Amnesie. 163
Mittler- Waldbröl: Familienpflege in Waldbröl. 164
Hübner-Bonn: Triebe, Instinkte, impulsive Handlungen. 166
Bickel- Bonn: 1. Sclerosis multiplex. (2. Funikuläre Myelitis).168
Westphal und Hübner-Bonn: Objektivierung von Bewegungen und
sprachlichen Äußerungen. 170
11. Jahresversammlung des Vereins bayerischer Psychiater in München
' am 27. und 28. Juni 1913.
(v. Hößlin -Eifing und Stransky- Wien: Die paranoiden Erkrankungen) 174
(Plaut-München: Über Halluzinosen der Syphilitiker). 174
JSetcÄardf-Würzburg: Über Störungen der Körpertemperatur und der
vasomotorisch-trophischen Funktionen bei Hirnkrankheiten. 177
v. Felren-Joachimstbal: Über das Gedächtnis. 179
Blewf-Erlangen: Über Sprachstörungen bei Geisteskranken. 181
ßTptelmeyer-München: Anatom. Demonstrationen zur vergleichenden
Krankheitsforschung . 185
(JTolö-Erlangen: Zweikernige Ganglienzellen). 186
0 v . .Bad-Nürnberg: Über motorische Apraxie, bedingt durch halbseitige
Balkenläsion). 187
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
IV
Inhalt.
Seite
(iTröpeltn-München: Über Hysterie) . 187
Fischer-? rag: Das Alter und die Verlaufsformen der progr. Paralyse 187
(SpecAt-Erlangen: Zur Frage der exogenen Schädigungstypen). 187
SpecAf-Erlangen: Über Katalysatorenbeeinflussung bei Geisteskranken 188
Kleinere Mitteilungen.
Kongreß für experimentelle Psychologie. 191
Deutscher Kongreß für innere Medizin. 191
Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie. 191
Vereinigung katholischer Seelsorger an deutschen Heil- u. Pflegeanstalten 191
Eröffnung der Landesanstalt bei Konstanz. 192
Eröffnung einer städtischen Nervenheilanstalt bei Köppern. 193
Vertrauenskommission für Irrenrechtsfragen. 193
Personalnachrichten. 193
Zweites Heft.
Originalien.
Initiale Schriftveränderung bei Paralyse. Von Dr. Georg Lomer- Strelitz.
(Mit 5 Abbildungen).195
Ein Beitrag zur Kasuistik des Stotterns. Von Oberarzt Dr. Tiftua-Allenberg 207
Aus der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht. Von Oberarzt Dr. Schott-
Stetten i. R. 213
Die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufent¬
haltsortes. Von Professsor Dr. L. W. Weber-Chemnitz. 252
Die Kaiser Domitian, Commodus, Caracalla und Elagabal, ein Beitrag zur
Frage des Cäsarenwahnsinns. Von Dr. Emst Müller- Waldbröl. (Mit
7 Abbildungen).271
Daslrren- und Siechenhaus Pforzheim und seineÄrzte. Von Dr. W. Stemmer-
Stuttgart. 289
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
43. Versammlung der Südwestdeutschen Irrenärzte zu Karlsruhe am
22. und 23. November 1913.
(.ffe^ar-Wiesloch: Statistische Untersuchungen über die kriminellen
Geisteskranken in den Landesanstalten Badens). 309
-BundscAuA-Illenau: Die Methode des Abderhaldenschen Dialysier-
verfahrens in der Psychiatrie. 309
Äoemer-Illenau: Uber die bisherigen Ergebnisse des Abderhaldenschen
Dialysierverfahrens in der Psychiatrie. 310
Wilhelm Afoyer-Tühingen: Psychosen bei Störung der inneren Sekretion 315
.KreMser-Winnental: Sonderlinge und ihre psychiatrische Beurteilung 318
Wtfeer-Heidelberg: Neues über die Tierseele. 319
(flocÄe-Freiburg: Über den Begriff der Hysterie). 321
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
Inhalt, Y
f> Seite
I- 1 Hellpach- Karlsrahe: Altem und Kränkeln. 323
• IVtttermann-Rufach: Klinische Symptomatologie and Familienforschung 324
M Morsta.lt- Winnental: Trauma und Korsakoffsche Psychose. 324
v | Hauptmann- Freiburg i. B.: Die Diagnose der „frühluischen Menin-
! gitis u aus dem Liquorbefund. 325
JflAnef-Frankfurt: Das Vorkommen von positiver Wassermannscher
Reaktion im Liquor der tuberkulösen Meningitis bei luischen In¬
dividuen . 326
G. Sfeiwer-Straßburg i. E.: Impfexperimente mit Spinalflüssigkeit
von Syphilitikern. 326
| (Ettc/w-Emmendingen: Epilepsie und Luminal). 329
Rosental Sfe/an-Heidelberg: Zur Frage der Schädelkapazitätsbe-
| Stimmung. 330
Hummel-Emmendingen: Mitteilungen über ungewöhnliche Sektions-
* ergebnisse. 331
Schmidt-Freiburg: Adrenalinwirkungen bei Dementia praecox. 331
Jifyer-Reichenan: Zur Typhusfrage in Irrenanstalten. 332
Max FTscÄer-Wiesloch: Berufgeheimnis und Herausgabe der Kranken¬
geschichte. 333
Ransohoff: Ein Beitrag zur Kenntnis des Hexenglaubens. 335
142. Sitzung des psychiatrischen Vereins zu Berlin am 13. Dezember 1913.
(Mit 2 Abbildungen.)
Heine-Dalldorf: Demonstration der Organe eines Idioten mit starker
Adipositas. 337
Äron/eW-Dalldorf: Der klinische Wert der serologischen und Liquor-
diagnostik. 338
Paul JSernAardt-Dalldorf: Aus der Berliner Familienpflege (I). 351
20. Versammlung des Nordostdeutschen Vereins für Psychiatrie und Neu¬
rologie am 7. Juli 1913 in Danzig.
(PVtc&el-Dziekanka (Referat): Fortschritte im Bau und in der Einrichtung
der Anstalten für psychisch Kranke). 353
(Braune-Conradstein: Beitrag zur medikamentösen Behandlung der
Epilepsie). 353
Banae-Lauenburg: Ein Fall von Psychose nach Erhängen. 359
GrüHÖaHm-Danzig: Über den Wert der Lumbalpunktion zur Er¬
kennung von Geschwülsten am Rückenmark an der Hand eines
vorgestellten Falles. 360
TVtckel-Dziekanka: Über stationäre Paralyse. 360
100. Sitzung des Ostdeutschen Vereins für Psychiatrie zu Breslau am
6. Dezember 1913.
Clemens Neisser- Bunzlau: Rückblick. 365
Bferfz-Breslau: Klinische Stellung und diagnostische Bedeutung der
amnestischen Aphasie. 375
Stöcker-B reslau: Klinische Stellung und Genese der Zwangsvorstellungen 377
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
VI
Inhalt.
Seite
v. Äwnotüsitt-Rybnik: Versuche zur Behandlung der Paralyse. 380
Golla: Die Bedeutung der Abderhaldenschen Serodiagnostik für
die Neurologie und Psychiatrie . 384
«Sitfi^-Prag: Uber histologische Veränderungen im Kleinhirn bei
tuberkulöser Meningitis. 386
Kleinere Mitteilnngen.
Fortbildungskurs des Deutschen Vereins für Psychiatrie. 387
Deutscher Verein für Psychiatrie und Gesellschaft Deutscher Naturforscher
und Ärzte. Von Ereuser . 387
Nekrolog Bernhard Oebeke. (Mit Porträt). Von Peltnan . 392
Unterstützung für wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiete der Medizin. 395
Personalnachrichten. 395
Drittes Heft.
Originalien.
Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex. Von Ernst
Zrcfscftmer-Tübingen. 397
Berufsgeheimnis und Herausgabe der Krankengeschichten. Von Me¬
dizinalrat Dr. Max Fischer -Wiesloch. 464
Kasuistischer Beitrag zur Konstanz der Wahnideen und Sinnestäuschungen.
Von Dr. Albrecht-Treptovr a. R. 493
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
91. Ordentliche Generalversammlung des Psychiatrischen Vereins der
Rheinprovinz am 22. November 1913 in Bonn.
Rülf- Bonn: Referat über Theorie und Entstehung der Halluzinationen. 515
Hübner-Bonn: Über Trugwahmehmungen (Klinisches). 518
Loe6-Ahrweiler: Die Abderhaldenschen Fermentreaktionen und ihre
Bedeutung für die Psychiatrie. 519
Wiehl- Bedburg-Hau: Einige Fälle von Encephalopathia saturnina... 522
Dr. Lückerath- Bonn: Über Intelligenzprüfungen, namentlich nach der
Binet-Simonschen Methode. 523
143. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin am 14. März 1914.
L. Borchardt- Berlin: Demonstration. 528
F’orsfer-Berlin: Uber Amusie. 529
AYamer-Berlin: 3 Fälle von familiärer spastischer Erkrankung. 531
Kleinere Mitteilungen.
Jahresversammlung des Vereins bayerischer Psychiater. 533
24. Kongreß der Psychiater und Neurologen Frankreichs und des fran¬
zösischen Sprachgebiets. 533
Vereinigung katholischer Seelsorger an deutschen Heil- und Pflege¬
anstalten. 533
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhalt.
VH
Seite
3. Internationaler Kongreß für Gewerbekrankheiten. 533
N’aturforscherversammlung zu Hannover. 634
Internationale Gesellschaft für Sexualforschung. 634
Berichtigung. 535
Verein zum Austausch der Anstaltberichte. 535
Personalnachrichten. 535
Viertes und fünftes Heft.
Originalien.
\ erhältnisblödsinn. Von Professor Dr. E. Bleuler- Zürich, Burghölzli .... 537
Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). Von
Lothar Buchnet' . 587
Cber einseitige Gehörshalluzinationen. Von Dr. Hermann Goldbladt .... 640
Iber Agyrie und Heterotopie am Großhirn. Von Dr. A. Erhardt-Ca,rlshof.
Mit 3 Abbildungen und 2 Tafeln. 656
frber die Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher. Von Dr. August
Hegar -Wiesloch. 671
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Göttinger psychologisch-forensische Vereinigung.
Sitzung am 16. Februar 1914.
r. Hippel: Strafverschärfung im neuen Strafgesetzentwurf. 684
Lochte: a) Demonstration. 684
b) Ober forensische Haaruntersuchungen (mit Lichtbildern) 684
Sitzung am 31. März 1914.
Bettich: Sittlichkeitsdelikte im Greisenalter (Krankendemonstration) 685
Hopfner: Das Portrait parle (Signalementslehre). 685
Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Straßburg i. E.
am 24./26. April 1914.
Referat über die sog. geminderte Zurechnungsfähigkeit.
L Ref. Ascha/fenburg-Köln . 690
2. Ref. TTtlmanna-Heidelberg . 691
fiet/J-Tübingen: Ober verminderte Zurechnungsfähigkeit bei Schwer¬
verbrechern . 709
IVotien&er^-Straßburg: Über psychiatrische Sachverständigentätigkeit
mit besonderer Berücksichtigung der Minderzurechnungsfähigen.. 710
2. Sitzung, 24. April, 2 Uhr nachmittags.
Autan-Königsberg: Die Pathogenese der Psychosen im Lichte der
Abderhaldenachen Anschauungen. 721
-FVnwtfr-Stuttgart: Ober dysglanduläre Psychosen. 722
Äa/ka-Hamburg-Friedrichsberg: Die Abderhaldenachen Seroreaktionen
in der Psychiatrie. 727
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
VIII Inhalt.
Seite
Kirchberg- Frankfurt a. M.: Die differentialdiagnostische Verwertbarkeit
des Dialysierverfahrens zur Erkennung der klinischen Stellung von
Krampfzuständen. . 731
Pfawt-München: Das Abderhaldensche Dialysierverfahren in der
Psychiatrie. 731
3. Sitzung, 25. April, 9 Uhr vormittags.
f/ÄfenAufÄ-Straßburg: Ober experimentelle Syphilisforschung. 734
Steiner-Straß bürg: Beiträge zur experimentellen Syphilis des Nerven¬
systems . 737
Weygandt und Jakoö-Hamburg: Beiträge zur experimentellen Syphilis
des Nervensystems.739
Porsfer-Berlin: Tierimpfungen mit Spirochäten von Syphilitikern... 742
O. jFwcAer-Prag: Über das Vorkommen von gummös-luischen Ver¬
änderungen im Rückenmark von Paralytikern.742
Hilffert und Rosental- Heidelberg: Zur Frage der klinischen Verwert¬
barkeit des Abderhaldenschen Dialysierverfahrens in der Psychiatrie 745
.Brückner-Ham bürg: Uber die diagnostische Bedeutung der Weil-
Kafkaschen Hämolysinreaktion für die Psychiatrie. 747
4. Sitzung, 25. April, 2 Uhr nachmittags.
Nießl v. Mayendorf- Leipzig: Uber die funktionellen Wechselbeziehungen
zwischen beiden Hemisphären. 759
K. Brodmann -Tübingen: Fall familiärer Idiotie mit neuartigem anato¬
mischen Befund . 760
Ritterskaws-Hamburg: Untersuchungen der Aufmerksamkeitsschwan¬
kungen. 761
Rosen/eM-Straßburg: Untersuchungen über Störungen des rhyth¬
mischen Gefühls .:. 762
ÄTmf-Erlangen: Über paranoide Erkrankungen. 764
iyersdor^’-Straßburg: Über Paraphrenien. 766
v. Hattingbery-München: Die systematischen Spaltungen der schizo¬
phrenen Psyche. 768
fle^ar-Wiesloch: Über abnorme Behaarung bei weiblich. Geitseskranken 771
(Schäfer- Langenhorn: Demonstration eines Planes für ein gesichertes
Haus). 772
Vorkaafner-Greifswald: Dementia praecox und Epilepsie. 772
49. Versammlung des Vereins der Irrenärzte Niedersachsens und West¬
falens am 2. Mai 1914 in Hannover.
.Brwns-Hannover: 1. Neueres zur Diagnose und speziell zur Segment¬
diagnose des Rückenmarktumors. 2. Spinale Kinderlähmung in
Hannover . 775
-Bekr-Langenhagen: Familiäre Erkrankung des Zentralnervensystems 778
.ReAm-Bremen-Ellen: Verhalten der Menstruation und des Körper¬
gewichts bei chronischen Psychosen. 781
GVtfnme-Hildesheini: Ober einen jahrzehntelang bestehenden Fall
von Eifersuchtswahn. 781
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhalt.
IX
Seite
BötmifAaZ-Braunschweig: Geheilter Fall von allg. Zystizerkose mit
Beteiligung des Gehirns. 782
Grütter u. Brauner-Lüneburg: Juvenile Paralyse. 782
(JSicÄard-Göttingen: Uber degenerative Psychosen). 782
21. Versammlung des Nordostdeutschen Vereins für Psychiatrie am 7. Juni
1914 in Lauenburg i. Pomm.
Bo Wt-G rau denz: Zur Frage der Simulation von Geistesstörungen... 783
Nieszytka-T apiau: Ergebnisse der Abderhalden- Methoden für die
Psychiatrie. 784
Hieronymus- Lauen bürg: Die für den Psychiater brauchbaren Modi¬
fikationen der Wa.-R. 786
ButAer-Lauenburg: Zur Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit 787
TFic&el-Dziekanka: Uber die Ausbildung des Pflegepersonals. 788
Banse-Lauenburg: Eine unter dem Bilde der Katatonie verlaufende
Psychose bei Hirnlues. 790
Prommer-Lauenburg: Dem. praec. und Paral. agit. 791
144. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin am 20. Juni 1914.
Bonhoeffer- Berlin: Zur Pathogenese psychogener Lähmungen. 792
jF'orsfer-Berlin: Pseudodemente Symptome bei organischer Him-
erkrankung . 795
Kutzinski- Berlin: Progressive, nicht paralytische Demenz. 796
Kleinere Mitteilungen.
Internationaler Kongreß für Neurologie, Psychiatrie und Psychologie in Bern 798
Vereinigung mitteldeutscher Psychiater und Neurologen. 799
Über die „geminderte Zurechnungsfähigkeit*'. Von Dr. GöWn^-Gießen .. 799
Nekrolog Guido Weber. Von G. Ilberg . 800
Medizinische Vereinigung für Sonderdruckaustausch. 802
Verein zum Austausch der Anstaltberichte. 904
Personalnachrichten. 904 ‘
Sechstes Heft.
Originalien.
Zur Feier des zwanzigjährigen Bestehens der Landesheilanstalt Ucht-
springe. Direktor: Professor Dr. Alt. Von Prof. TFeher-Chemnitz ... 805
Uber die Bedeutung großer Katastrophen für die Ätiologie einiger psychi¬
schen und Nervenkrankheiten. Von Prof. Dr. N. Bajenow - Moskau 808
Eine neue Markschcidenschnellfärbemethode. Von Dr. Kurt Schroeder ,
Oberarzt an der Landesheilanstalt Uchtspringe. 822
Biologische Betrachtungen über das Wesen der Paralyse. Von Exzellenz
P. jEArlicA-Frankfurt a. M. 832
Das Treponema der allgemeinen Paralyse. Von A. Marie (de Villejuif )
und C. Levaditi . 834
Die heutige Behandlung der Epilepsie auf Grund der Erfahrungen in
der Landesheilanstalt Uchtspringe. Von Oberarzt Dr. J. Hoppe .... 838
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Origiral ftom
UMIVERSITY OF MICHIGAN
X Inhalt.
Seite
Zur Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. Von
Prof. Dr. W. Wendel-Magdeburg. 855
Die Behandlung der Erregungszustände in der Anstalt. Von Prof. Dr.
Weber, Direktor der städtischen Nervenheilanstalt zu Chemnitz... 879
Die zahnärztliche Behandlung in Irrenanstalten. Von Dr. phil. Kühns,
Zahnarzt, Hannover. 899
Über Calmonal (Bromcalciumurethan). Von Oberarzt Dr. Bw/e-Uchtspringe 905
Über das Verhalten des Calmonals im menschlichen Körper. Von Dr.
phil. K. Seegers , appr. Nahrungsmittelchemiker. 909
Über familiäre Irrenpflege. Von Dr. M. Stamm-Ilten. 913
Uber das numerische Verhältnis der Ärzte und Pflegepersonen in den
öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke
zur Anzahl der Kranken. Von H. Schloss, am Steinhof bei Wien. 938
Die soziale Stellung des Anstaltarztes. Von Prof. Dr. van Deventer-
Amsterdam. 944
Uber Prosekturen an Irrenanstalten. Von Prof. Dr. phil. et med. W. Weygandt 958
Die neuen Aufnahmegebäude in der Anstalt Leipzig-Dösen. Von Oberarzt
Dr. Helmut Müller. Mit 4 Abbildungen. 9G5
Jugendpflege in den Heilanstalten. Von R. Flister, Hauptlehrer, Uchtspringe 980
Über die Notwendigkeit psychiatrischer Fortbildungskurse für Kreisärzte.
Von Kreisarzt Medizinalrat Dr. .K7w</e-Wolmirstedt. 989
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
14. Jahresversammlung des Vereins Norddeutscher Psychiater und Neuro¬
logen in Lübeck am 9. Mai 1914.
Runge- Kiel: Familiäre Trophoneurose der unteren Extremitäten... 993
Sänger- Hamburg: Rezidivierende Okulomotoriuslähmung. 996
Äonne-Hamburg: Teratom der Hypophyse-Gamburg. 997
von Schubert- Altona: Neosalvarsanbehandlung syphilitischer Nerven-
und Geisteskrankheiten. 998
Weygandt und Jacob-Hamburg: Klinische und experimentelle Er¬
fahrungen bei Salvarsan-Injektionen in das Zentralnervensystem 1001
(Brückner-Langenhorn: Arsalyt). 1009
* Jacobsthal und Saenger- Hamburg: Erfahrungen über die Langesche
Goldsolreaktion. 1009
JTa/Äa-Hamburg-Friedrichsberg: Beiträge zur Liquordiagnostik und
-theorie. 1009
Draeseke- Hamburg: Zur Kenntnis der Hilfsschulkinder. 1010
Xtenau-Hamburg: Grenzfälle bei Gebildeten. 1011
Walter- Rostock: Ober die normale und pathologische Histologie
der Zirbeldrüse. 1014
Kleinere Mitteilungen.
Fortbildungskurs für Psychiater. 1016
Personalnachrichten. 1016
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Uber Geistesstörungen im höheren Lebensalter
und ihre Genesungsaussichten. 1 )
Von
Medizinalrat Dr. Krenser.
Den Jahrhunderterinnerungen an die Deutschen Befreiungs¬
kriege hat auch die Psychiatrie eine nicht unwichtige Lehre zu ent¬
nehmen. Der volkstümlichste Held jener Kämpfe, Fürst Blücher
von Wahlstatt, der schon während des 7 jährigen Krieges in das
preußische Heer eingetreten war und seither sich als einer seiner
tüchtigsten Offiziere hervorgetan hatte, der auch im Unglück Mut
und Kopf nie verloren, vielmehr als einer der eifrigsten Vaterlands¬
freunde an den Vorbereitungen zur Erhebung gegen das Napoleonsche
Joch den regsten Anteil genommen hatte, hat seine weltgeschicht¬
lichen Erfolge an der Spitze der Schlesischen Armee in den Feldzügen
1813—1815 errungen als ein Greis von mehr als 70 Jahren, nachdem
er wenige Jahre zuvor noch eine schwere Geisteskrankheit über¬
standen hatte.
Diese gewiß nicht nur für den Irrenarzt bemerkenswerte Tat¬
sache pflegt in der Geschichte jener Zeit fast ganz hinter den großen
Ereignissen zu verschwinden. Auch in der Schilderung von Blüchers
persönlichen Geschicken ist sie früher mit kurzen Bemerkungen über
seine zeitweise Kränklichkeit abgetan worden 1 . Etwas ausführ¬
lichere Schilderungen über die Krankheit hat nur Boyen 2 seinen
Erinnerungen eingeflochten. Zusammenhängende Nachrichten über
Köchers Gesundheitsverhältnisse verdankt man erst seinem Leib¬
ärzte Bieske 3 . In neueren Biographien 4 haben sie angemessene
Verwertung gefunden.
x ) Nach einem Vortrage bei der Versammlung württembergischer
Nerven- und Irrenärzte in Winnental am 28. Juni 1913.
Zeitschrift fdr Psychiatrie. LXXI. 1. 1
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
2
Kreiiser.
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Boyen schreibt: „Diese praktische Tüchtigkeit des alten Blücher
wird darum noch bemerkenswerther, da er soeben von einer lebensgefähr¬
lichen Krankheit genesen war. Sein starker Körper, durch mannigfache
Genüsse sehr zerstört, hatte in Vereinigung mit dem Kummer, den er
über den Gang der Begebenheit empfand, endlich sehr bedenklichen
Übeln erlegen. In dem Winter 1810/11 zeigten sich entschiedene Spuren
von Geistesabwesenheit, und er glaubte buchstäblich, als Strafe für seine
Sünden mit einem Elephanten schwanger zu sein. Diese irrigen Vorstellungen
wechselten hin und wieder mit anderen ähnlicher Art und wurden dann
wieder durch ganz lichte Augenblicke unterbrochen; eine Zeit glaubte
er, daß von Frankreich aus seine Bedienten bestochen wären und ihm
nun die Fußböden seiner Zimmer so heitzten, daß er sich die Füße ver¬
brennen solle, so daß er entweder nur mit aufgehobenen Beinen sitzen
könne oder auf den Zehenspitzen herumspringen müsse. Noch eine seiner
Verirrungen glaube ich hier anführen zu müssen, weil es mir scheint,
daß auch selbst in diesem Spiel des Wahnsinns der außerordentliche
persönliche Muth Blücher’s bemerkensw’erth hervortritt. In der früheren
Rheinkampagne gegen die Franzosen hatte ein Offizier des Husaren¬
regiments, welches Blücher dermalen befehligte, seine Dienstpflicht auf
eine sehr grobe* Art vernachlässigt. Blücher hatte dies angezeigt, und
durch ein Kriegsrecht war jener Offizier zur Kassation und mehrjähriger
Festungshaft ganz ordnungmäßig verurtheilt. In der gegenwärtigen
Krankheit hatte die Umgebung des Generals öfters bemerkt, daß er mit
dem Ausbruche heftigen Zornes den Namen jenes ehemaligen Offiziers
zwischen den Zähnen murmelte. Eine Nacht nun, als Blücher kurz vorher
eingeschlafen schien, hörten seine Leute auf einmal einen ungewöhnlichen
Lärm in der Schlafstube des Generals; sie stürzten herein und fanden
den alten Blücher, der mit Anstrengung seiner letzten Kräfte wohlgemuth
einen Faustkampf gegen die Wand führte. Er hatte nemlich plötzlich
die Idee bekommen, daß jener Offizier ihn mit Waffen wohl versehen
überfallen wolle, dazu in gehöriger Positur an der Mauer stünde, und nun
rief Blücher: Das ist heimtückisch, denn Sie wissen, daß meine verkauften
Bedienten mir alle Waffen weggenommen haben, aber deswegen stehe
ich Ihnen doch mit den Fäusten zu Dienst.
Nachdem die Krankheit in der Art mehrere Monate getobt hatte,
und der beinahe 70 Jahre alte Körper so ermattet war, daß man jeden
Augenblick das Erlöschen des Lebens besorgen mußte, fingen nach und
nach die irrigen Ideen an, sich zu verlieren, der Geist wurde freier, und
in demselben Verhältnis nahm auch der Körper überraschend an Kräften
zu. — Mir ist dabei noch folgende Äußerung von Scharnhorst sehr leb¬
haft in Erinnerung geblieben. Als wir die ersten Nachrichten von Blücher’s
anfangender Genesung bekamen, äußerte ich meine Besorgnis, daß bei
der unangenehmen Richtung der überstandenen Krankheit und dem
vorgerückten Alter er doch wahrscheinlich für den Dienst verloren sein
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober Geistesstörungen im höheren Lebensalter nsw.
3
würde. Da sagte mir Scharnhorst: Das ist eine ganz besondere Natur;
er wird sich schon erholen; er ist der einzige, der die Armee kommandieren
kann. Auch hatte er sich wirklich sehr gut erholt, denn im Sommer 1811,
als ihm der Befehl bei Kolberg übertragen wurde, war er vollständig wieder
seinem Aufträge gewachsen und äußerte nur in jedem Briefe, den ich
dermalen beinahe posttäglich von ihm erhielt, seinen Ärger, daß die Kriegs¬
anstalten nicht verdoppelt würden.“
Zeitlich nur scheint sich Boycn etwas geirrt zu haben; inhaltlich
werden seine Erzählungen aus zuständiger ärztlicher Quelle bestätigt.
Der Ausbruch der Krankheit aber fällt nach dieser in den Sommer 1808,
also in Blüchers 66. Lebensjahr. Vorboten waren ihr schon 1804 voraus¬
gegangen gewesen. Wohl infolge „des Alters, der Fatiguen und des nicht
allezeit beobachteten ordentlichen Lebenswandels“ hatte er, damals
Gouverneur der westfälischen Lande, über „grausam anhaltende Schmerzen
am Kopf und besonders an beiden Ohren“ zu klagen gehabt. Schon hatte
er an einen „vernünftigen Zurückzug“ gedacht, als er sich durch die
preußischen Rüstungen 1805 wieder „neubelebt und verjüngt“ fühlte,
ln dem darauffolgenden Unglücksjahr war er der preußische Truppen¬
führer gewesen, der über der Katastrophe von Jena und Auerstädt die
Fassung am wenigsten verloren hat. Durch einen meisterhaft geführten
Rückzug seines Korps auf Lübeck hat er es verstanden, dem Gegner die
Ausnützung seines Sieges wesentlich zu erschweren. Für schonungs¬
bedürftig ist er nur in dem Sinne angesehen worden, daß 1807 der König
von Schweden ihm „mit Rücksicht auf seine Krankheit" die unselige
Botschaft vom Abschluß eines Waffenstillstandes zwei Tage lang nicht
mitzuteilen gewagt hat. Auch fand ihn im Herbst jenes Jahres der Frei¬
herr vom Stein „gealtert und ohne seine frühere Fröhlichkeit“.
Doch erst im Laufe des Jahres 1808 erfuhr Blücher, durch Preußens
verzweifelte Lage bedrückt und zur Untätigkeit verdammt, ganz all¬
mählich eine „Verschlimmerung des Unterleibsleidens, zu welchem er
von Kindheit auf die Anlage gehabt hatte. Eine tiefe Hypochondrie stellte
sich ein; seine Laune war manchmal ganz unerträglich". Nach vorüber¬
gehender Besserung steigerte sich das übel im Herbst zu bedrohlicher
Höhe, so daß er zum Skelett abmagerte, und daß er sich auch selbst mit
Todesgedanken trug. Für die ungenügende Nahrungsaufnahme suchte
er Ersatz fast nur in starkem Kaffee. Bei hartnäckiger Schlaflosigkeit
und ruhelosen Nächten glaubte seine erregte Einbildungskraft bisweilen
Erscheinungen zu ^ehen: ein längst verstorbener Offizier sollte ihm mit
dem Finger gedroht, sein verstorbenes Kind das Händchen entgegen¬
gestreckt haben. Er verlangte, daß man ihm mit einem Hammer auf
seinen versteinerten Kopf schlage, wähnte, etwas Lebendiges im Leibe
zu haben u. dgl. m. Auch die politischen Angelegenheiten spielten in
diese Gedankengänge herein. — Zwischendurch hatte er bessere Zeiten;
sobald er sich erleichtert fühlte, konnte er scherzen und sich um die Ge-
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schäfte kümmern. Aber erst nach neunmonatiger Dauer trat im Früh¬
jahr 1909 entschiedene Besserung ein. Kräfte und Stimmung hoben sich
rasch wieder, der Geist gewann seine vormalige Frische zurück. Im April
konnte er schreiben, daß er „wieder unbeschreiblich froh“ lebe.
Während der folgenden Jahre beherrschten ihn wie alle Vaterlands¬
freunde Mißstimmung und Mißtrauen gegen die Franzosen; zuversicht¬
licher als die meisten sah aber Blücher einem Ende der Napoleonschen
Herrschaft entgegen; Stets bereit zum Widerstand gegen dieselbe sah
er sich wiederholt veranlaßt, sich dagegen zu verwahren, daß man ihm
seinen Eifer etwa als Irrsinn auslege, oder daß man ihm die frühere Tat¬
kraft nicht mehr zutraue. Immer wieder versichert er, daß er sich gesund
fühle „wie ein Fisch“, „wie vor 40 Jahren“. Trug er sich bisweilen mit
Abschiedsgedanken, so war dies nur in der Hoffnung, in fremdem Dienste
vielleicht gegen die Feinde seines Vaterlandes zu Feld ziehen zu können. —
Gedrückter und reizbarer war er nur wieder nach den französischen Er¬
folgen im Jahre 1809. Gelassen aber fügte er sich in seine 1811 von Napoleon
verlangte Dienstentlassung, und wenn er jene Zeit die „schrecklichste
seines Lebens“ nannte, so stand er mit solchen Gefühlen nichts weniger
als allein.
Nach dem Scheitern von Napoleons russischem Feldzug Feuer
und Flamme für die Erhebung, war er alsbald auch der Mann des all¬
gemeinen Vertrauens. Wohl erhoben sich in einflußreichen Kreisen Be¬
denken gegen den „invaliden Greis, in dessen Kopfe es nicht allemal
richtig gewesen sei“, gegen den „verzweifelten Spieler und unbesonnenen
husarischen Tollkopf“; siegreich blieb aber Scharnhorsts Überzeugung,
daß nur Blücher die Armee führen könne, und wenn er ihr in der Sänfte
nachgetragen werden müßte.
Fast hätte es dazu kommen können. Inmitten der Rüstungen ist
er von einem „Fieber“ befallen worden, das ihn verhinderte, sein Korps
vor dem Ausmarsch im März 1813 zu besichtigen, und während der ersten
Gefechte im April ist ihm das „verdammte Fieber“ nochmals in die Quere
gekommen. Je ernster aber die Kriegslage wurde, desto gefestigter er¬
schien seine Gesundheit. Trotz dreifacher Verwundung bei Großgörschen
war er es, der auf dem Rückzug die Truppen durch persönlichen Zuspruch
bei gutem Mute zu erhalten wußte. Erst die außerordentlichen Strapazen
bei Verfolgung des an der Katzbach geschlagenen Feindes brachten ihm
für einige Tage Störungen des Befindens, ohne doch seine Tätigkeit zu
hemmen. Den ganzen Herbst- und Winterfeldzug hindurch ist er den
äußersten Anforderungen im Kampfe wie in der Entsagung gewachsen
geblieben, war er die treibende Kraft mit besonnenstem Willen zum Siege.
Im März 1814 während der Kämpfe um Laon ist erstmals wieder
ein bedenklicher Rückfall der Krankheit eingetreten. Er hat dem General¬
stab Rücksichten auferlegt, durch die eine abschließende Niederwerfung
Napoleons nochmals hinausgeschoben worden ist. Vom 8. März an fiebernd
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Ober Geistesstörungen im höheren Lebensalter usw.
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und anscheinend recht unwohl, blieb Blücher für mehrere Tage ans Bett
gefesselt und ganz unzugänglich, so daß die entscheidenden Befehle nicht
von ihm zu erlangen waren. Vom 18. an erst konnte er im Krankenwagen
seinen Truppen folgen. Dem Einzuge der siegreichen Truppen in Paris
am 31. März mußte er auf ärztliches Geheiß fernbleiben. Tags darauf
ist er in aller Stille nachgefolgt, um am 2. April in der französischen Haupt¬
stadt sein Kommando niederzulegen. Durch neue Stauungen in den
Verdauungsorganen verschlimmerte sich sein Zustand. Schwere Hypo¬
chondrie und beängstigende Vorstellungen quälten ihn. Nach 3 Wochen
konnte er an die Heimreise denken; doch rascher, als man gedacht hatte,
erholte er sich so weit, daß er, dem Wunsche des Königs entsprechend,
diesen nach London begleiten konnte. Über den begeisterten Huldigungen,
die ihm dort zuteil wurden, fürchtete er selbst, noch verrückt zu werden.
Seine ernstlichen Absichten, sich jetzt zurückzuziehen, sind durch
Napoleons Rückkehr von Elba 1815 durchkreuzt worden. Wieder an die
Spitze des Heeres berufen, ist ihm der Entschluß, dem Wunsche seines
Königs Folge zu leisten, recht schwer geworden. War doch eben um jene
Zeit sein ältester Sohn, der sich bereits als tüchtiger Offizier hervorgetan
hatte, im Alter von 36 Jahren schwerer Gemütskrankheit verfallen, von
der er sich nicht wieder erholen sollte. Dem greisen Feldherrn war dieses
Geschick seines Sohnes außerordentlich nahegegangen. Auf der Reise
nach den Niederlanden brachten ihn nächtliche Erscheinungen zum
Glauben, der Sohn sei gestorben, und als ein Zeichen gemütlichen An-
if**grifTenseins ist es wohl aufzufassen, wenn er „sich vor Angst kaum
l 'i fassen wußte“, als er gegen eine Meuterei sächsischer Truppen mit
focksichtsloser Strenge Vorgehen mußte.
Um so höher sind die Entschlossenheit und die ausdauernde Tat¬
kraft zu bewerten, die Blücher in den Schlachten bei Ligny und Belle-
Alliance an den Tag gelegt hat. Seinem persönlichen Eingreifen ist die
rasche Entscheidung und Beendigung des neuen Krieges zu danken.
Hastlos ist er dem fliehenden Feinde auf den Fersen geblieben, bis er am
Abend des 20. Juni mit zitternder Hand nur noch wenige Worte zu schreiben
vermochte. Auch in die nachfolgenden Verhandlungen hat er so einzu-
tnvifen gewußt, daß die Federn nicht allzuviel zu verderben vermochten
an dem durch das Schwert Errungenen. Umsichtig und standhaft ist
'■r für sein Vaterland und für seine Soldaten eingetreten. Standhaft war
' r auch im Ertragen von körperlichen Schmerzen, als er sich zu Paris
ine Schulterverrenkung zugezogen hatte: über der Einrenkung hat er
G>** Pfeife nicht von den Lippen gebracht.
Am 20. November von der Armee abgegangen, ist er auf der Heim-
! “ise vom allen Leiden wieder befallen worden: Unterleibstörungen und
i" fieberhafter Zustand wie im März 1814 werden berichtet. Hypo-
h'mdrie und zuzeiten allerlei Einbildungen quälten ihn: Im Feuer einer
Mdschmiede sah er einen längst verstorbenen Freund; das Zerspringen
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der Tapete im überheizten Zimmer klang ihm wie Geschütz- und Gewehr¬
feuer, durch das ihn seine gefallenen Kameraden zum Einmarsch in die
andere Welt aufforderten. Durch die Bäder in Aachen beruhigt und
gestärkt, konnte er nach 14 tägiger Rast die Reise fortsetzen.
Auch für den Rest seines Lebens ist Blücher von Rückfällen seiner
Krankheit nicht verschont geblieben. Sich selbst und seine Umgebung
hat er immer wieder mit „Grillen der Hypochondrie“ geplagt. So be¬
sonders im März 1816; eine Kur in Karlsbad brachte wesentliche Besserung,
so daß sie fortan alljährlich wiederholt wurde. Trotz dieser Leiden ist
er aber geistig und gesellig sehr regsam geblieben. Seinen persönlichen,
wie den öffentlichen Angelegenheiten hat er fortlaufend volle Aufmerk¬
samkeit geschenkt. Nicht selten ist er als wirkungsvoller Gelegenheits¬
redner aufgetreten. Über Heeresangelegenheiten hat er wiederholt noch
in schriftlichen Ausführungen ein ebenso klares als bestimmtes Urteil
abgegeben. Wohl hat er immer wieder geklagt über die Elendigkeit seines
Befindens; noch 1818 aber hat ihn Gentz „eigentlich gar nicht so krank
gefunden, als der alte Haudegen vorgebe oder besser sich einbilde“. Seine
Erinnerungen nur an die einzelnen Szenen des gewaltigen Dramas, worin
er selbst eine so bedeutende Rolle gespielt hatte, konnten hie und da
durcheinandergeraten. Sonstige Erscheinungen einer geistigen Abnahme
sind nicht hinzugekommen. — Im August 1819 wiederholte sich nochmals
das alte Übel. Jetzt hat er alle Nahrungs- und Arzneimittel entschieden
zurückgewiesen; er wolle in Ruhe sterben. Noch hat er angesichts des
Todes den Besuch seines Königs bei vollem Bewußtsein empfangen.
Wenige Tage später am 12. September 1819 ist er gestorben.
Eine Geisteskrankheit mit Erscheinungen, wie sie in Blüchers
66. Lebensjahre aufgetreten ist, durfte gewiß zu den ernsten Be¬
denken Anlaß geben, wie sie nach Boyens Berichten über die Feld¬
diensttüchtigkeit des greisen Generals damals gehegt worden sind.
Scharnhorsts bessere Zuversicht hat sich trotzdem glänzend bewahr¬
heitet. Vier Jahre nach der Wiederherstellung von 3 4 jähriger Krank¬
heit hat Blücher eine weltgeschichtliche Rolle zu übernehmen ver¬
mocht. Er hat sie so durchgeführt, daß durch seine Taten nicht nur
seine bisherigen Leistungen in den Schatten gestellt, daß auch zag¬
haftere Naturen zum Siege mit fortgerissen worden sind. Blücher
war es, der den Ausschlag gegeben hat iür den Erfolg der ganzen
deutschen Befreiungskämpfe, ünd all das hat er geleistet nicht nur
nach überstandener Geisteskrankheit, sondern auch trotz wieder¬
holter Rückfälle, von denen die ersten noch in die Kriegsjahre fallen,
die späteren ihm allerdings nur noch die wohlverdiente Ruhe vergällt
haben. Sie haben sich bis ins 77. Lebensjahr immer wieder eingestellt;
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einen Zerfall seiner geistigen Persönlichkeit haben sie offenbar nicht
zu bewirken vermocht.
Einen solchen Zerfall befürchten aber bei geistigen Störungen
des höheren Lebensalters nicht nur volkstümliche Anschauungen,
sondern auch die Lehren der psychiatrischen Wissenschaft. Konnte
Scharnhorst sich über solche Erfahrungen mit dem Worte von Blüchers
„besonderer Natur“ hinwegsetzen, so erwächst einer klinischen Disziplin
aus besonderen Fällen die Aufgabe, allgemeine Erfahrungssätze auf
ihre Stichhaltigkeit hin erneut zu prüfen.
Versuche hierzu haben zunächst mit der Schwierigkeit einer
Abgrenzung der Altersabschnitte zu kämpfen. Leben doch die ein¬
zelnen Personen sehr verschieden rasch und sind die Übergänge
zwischen den Lebensaltern so fließende, daß jede Einsetzung be¬
stimmter Zahlen notwendig etwas Willkürliches an sich trägt. Zudem
hatte, wie Kraepelin 5 sich ausdrückt, die symptomatische Auffassungs¬
weise der Geisteskrankheiten kaum Anlaß zu gesonderter Betrachtung
der Geistesstörungen im höheren Lebensalter, da sich ihre Zustands¬
bilder meist ohne größere Schwierigkeiten in die landläufigen Gruppen
eimeihen ließen. In Kraepelim klinischen Anschauungen wird das
Lebensalter bei Einteilung in verschiedene Krankheitsformen wesent¬
lich mehr bewertet. Die „Dementia praecox“ hat als Jugendirresein
ein fast uferloses Feld erhalten und die „Dementia senilis“ ist durch
Angliederung von präsenilen Geistesstörungen beträchtlich erweitert
worden. Freilich auch diese Krankheitsformen haben keine scharfen
Grenzen nach Jahren; sic greifen auf das mittlere Lebensalter fast
bis zur Berührung über. Sie berühren sich aber auch darin, daß beiden,
wenn schon in besonderer Weise, eine Neigung zu eigenartiger Ver¬
blödung zukommt.
Sieht man mit Kraepelin die Endzustände der Geisteskrankheiten
als besonders maßgeblich für ihre klinische Stellung an, so muß ja
wohl die geistige Abnahme, von der im Greisenalter nur wenige Per¬
sonen verschont bleiben, und die bei manchen zu schwerem Alters¬
blödsinn führt, als ein Ziel angesehen werden, dem die Geisteskrank¬
heiten jenseits der Vollkraft des Lebens alle mehr oder weniger rasen
zutreiben müssen, wenn nicht ein mitleidiger Tod ihre Träger vor
einem solchen Endzustände bewahrt. Ohne Rücksicht auf die Zu-
standsbilder muß denn von einer gewissen Altersstule an die drohende
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Verblödung der Krankheit den Stempel aufdrücken, wenn nicht
ausnahmweise einmal eine andere Ursache zuvor schon den Verlauf
bestimmt hat. Die Anzeichen des Endzustands, des Altersblödsinns
möglichst frühzeitig zu erkennen, muß Hauptaufgabe der klinischen
Untersuchung und Diagnostik werden. Gewisse Rückbildungsvorgänge
werden aber im menschlichen Leben schon lange vor dem eigentlichen
Greisenalter bemerklich; auch sie einzubeziehen in das Kapitel der
regressiven Störungen erscheint darum nur folgerichtig; heben sich
doch die präsenilen Vorgänge von den senilen so wenig scharf ab
wie irgendwelche andere aufeinanderfolgende Lebensabschnitte. —
Gaupp 6 rechnet denn auch das höhere Lebensalter vom 45. Jahre an,
um so für statistische Berechnungen festen Boden zu gewinnen.
Dabei anerkennt er die Willkürlichkeit jeder solchen Grenzbestimmung
und gibt zu, daß das nahende Alter vielfach nur das Auftreten von
Krankheiten begünstige, die auch auf früherer Altersstufe Vorkommen.
Betont er auch, daß die Psychosen dieses höheren Lebensalters nicht
unbedingt zur Verblödung führen müssen, so beurteilt er ihre Ge¬
nesungsaussichten doch vorwiegend ungünstig.
Unstreitig ergibt sich für alle Veränderungen des Geisteslebens
vom Beginn der Rückbildungsvorgänge bis zur äußersten Stufe des
Greisenalters eine gewisse Gemeinsamkeit der Gesichtspunkte. Nach
vollendetem Wachstum und nach einem verschieden langen Zeitraum,
während dessen die Stoffwechselvorgänge mühelos vollwertigen Er¬
satz für allen Verbrauch durch körperliche und geistige Leistungen
geliefert hatten unter Erhaltung eines angemessenen Gleichgewichts¬
zustands, muß früher oder später der Wendepunkt erreicht werden,
von dem an dieser Ersatz mit den Abbauvorgängen nicht so leicht
mehr Schritt halten kann, von dem an das Altern einsetzt. Es schwinden
nicht nur Schönheit und Gestalt, auch der Geist geht mehr oder weniger
fühlbar zurück: seine Tätigkeit wird erschwert, steht nicht mehr wie
einst in jederzeitiger Bereitschaft. Würde diese unausbleibliche Ver¬
änderung in den Lebensvorgängen, nachdem sie einmal begonnen
hat, den ganzen Organismus gleichmäßig befallen und unaufhaltsam
weiterschreiten, so würde sich daraus eine stets wachsende Summe
von Ausfall an Leistungen ergeben, die auf geistigem Gebiete früher
oder später zum einfachen, aber schließlich schwersten Altersblödsinn
führen müßte. In Wirklichkeit trifft dies nur bei einer beschränkten
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Anzahl von Personen zu; in der Regel vermag sich vielmehr der Orga¬
nismus den veränderten Lebensvorgängen so anzupassen, daß trotz
gewisser Alterserscheinungen die körperliche und die geistige Leistungs¬
fähigkeit recht gut erhalten bleiben kann. Die reicheren Erfahrungen
und weise Bedächtigkeit des Alters bilden nach mancher Richtung
bin mehr als Ersatz für die Einbuße an der Empfänglichkeit und
Beweglichkeit, wie sie die Jugend ausgezeichnet hatten. Wie dieser
Ausgleich sich vollzieht, mag dahingestellt bleiben. Für das Ver¬
ständnis der psychischen Störungen des höheren Lebensalters ist
es aber wichtig, noch darauf hinzuweisen, daß der Schwund von
funktionstüchtigen Organbestandteilen sehr häufig in Sehüben erfolgt,
und daß auf der Stufenleiter der Abbauvorgänge sich nicht selten
Haltepunkte finden, auf denen ein längeres Verweilen möglich ist.
ln Verbindung mit der Anpassung an die Abbauvorgänge ergeben
sich daraus zeitweilige Besserungen auch im Verlaufe der einfachen
Altersabnahme. Ihrer Natur nach muß diese nichtsdestoweniger
unaufhaltsam zu dem Endzustände des Altersblödsinns führen.
Von dieser einfachen Altersabnahme sind Erkrankungen zu
unterscheiden, die man sich entstanden denken kann aus einem irgend¬
wie gestörten Verlauf der Abbauvorgänge. Kommt es dabei zu einer
Hysfunktion im Sinne Abderhaldens, so müssen Abbauprodukte
alternder Organe ins Blut gelangen, die nachteilig zurückwirken
können auf andere Lebensvorgänge, insbesondere auf solche des
Zentralnervensystems. Sind die Anschauungen Abderhaldens irgendwie
zutreffend, so müssen sie sich auf dem Gebiete psychischer Alters-
'orgänge bewahrheiten, d. h. in demjenigen Lebensabschnitte, der
'•in Überwiegen von Abbauvorgängen und damit eine Änderung der
geistigen Persönlichkeit notwendig mit sich bringt. Dysfunktionen
" ird man aber nicht etwa mit fortschreitenden Jahren in zunehmendem
Maße zu erwarten haben, sie werden sich vielmehr zumeist im t'ber-
stangsstadium von der Vollkraft zur Altersabnahme geltend machen.
( 1 h. bis der Gesamtstoffwechsel vielleicht unter der Mitwirkung von
^chutzfermenten auf das veränderte Verhältnis von Aufbau und Ab¬
bau sich eingestellt hat. Für diesen Lebensabschnitt wird man eben-
(| wohl mit vorübergehenden als mit dauernden psychischen Störungen
zu rechnen haben, je nachdem es sich um Vorgänge handelt, die durch
Anpassung überwunden werden können, oder um solche, die eine
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dauernd veränderte Funktion nach sich ziehen; bei besonders schwer
gestörtem Verhältnis kann es auch zu Erkrankungen kommen, durch
welche das Leben unmittelbar bedroht werden kann. Die aus der
Dysfunktion erwachsenden psychotischen Gesundheitsstörungen können
sich endlich in verschiedener Weise vermengen mit den Erscheinungen
der Altersabnahme, wie eine Schädigung der geistigen Persönlichkeit
auch aus den psychotischen Störungen hervorgehen kann, die nicht
zur Ausheilung gelangen. — Theoretisch haben wir also von psychischen
Störungen im höheren Lebensalter zu erwarten 1. einfache Alters¬
abnahme bis zum Altersblödsinn; 2. psychotische Störungen aus
Dysfunktionen, und zwar a) akute (vorzugweise affektive) und
b) chronische (paranoische). Hierzu kommt eine dritte Gruppe von
psychischen Störungen, die ihrer Natur und der Regel nach nicht
in den Altersvorgängen wurzeln, aber ausnahmweise einmal auf
dieser Altersstufe verspätet sich einstellen. Scharfe Grenzen zwischen
diesen Gruppen sind nicht zu erwarten; das Vorkommen von Misch¬
formen liegt vielmehr in der Natur der Sache.
Kommen diese Gesichtspunkte für die Auffassung aller geistigen
Störungen vom Einsetzen der Rückbildungsvorgänge an in Betracht,
so pflegen unzweideutige Alterserscheinungen doch kaum vor Beginn
des 7. Lebensjahrzehnts so zu überwiegen, daß sie als maßgeblich
für den ganzen Lebensabschnitt zu gelten hätten. Bis dahin, im
Präsenium, hat man es mit der Übergangsperiode zu tun, in welche die
Altersvorgänge wohl ihre Schatten vorauswerfen, ohne doch die ganze
Persönlichkeit zu beherrschen. In den betreffenden Jahren werden
wohl Erkrankungen, wie sie aus der Dysfunktion alternder Organe
hervorgehen, verhältnismäßig häufig sein; von geistigen Störungen
im höheren Lebensalter ist doch wohl erst dann zu sprechen, wenn
das gefährliche Übergangsalter in der Hauptsache überwunden und
die Abnahme unverkennbar geworden ist. Auf den Lebensabschnitt
vom 60. Lebensjahre an mußten sich die nachfolgenden Untersuchungen
aber auch darum beschränken, damit für den besonderen Fall, der
dazu Anlaß gegeben hat, der angemessene Vergleichsstoff sich dar¬
biete.
Während der 33 Jahre, deren Erfahrungen und Krankheits¬
geschichten mir zur Verfügung stehen, sind an der hiesigen Anstalt
122 männliche und 174 weibliche Geisteskranke nach zurückgelegtem
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Über Geistesstörungen im höheren Lebensalter usw.
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60. Lebensjahre zu erstmaliger Aufnahme gekommen. Bei den Männern
sind das 4,88, bei den Frauen 7,95% der Gesamtaufnahmen. Auf die
verschiedenen Stufen des Greisenalters verteilen sich die Fälle so,
daß zwischen
60 und 65 und 70 und 75 und 80 und darüber
59 M. 79 Fr. 36 M. 53 Fr. 15 M. 33 Fr. 8 M. 6 Fr. 4 M. 3 Fr. -
oder 2,36 3,59 1,44 2,41 0,60 1,54 0,32 0,27 0,16 0,14 %
der Gesamtaufnahme standen.
Die Aufnahmehäufigkeit sinkt also mit fortschreitendem Alter,
ein Verhältnis, das auch bleibt, wenn diese Aufnahmen zur gleich¬
altrigen Bevölkerung des Landes in Beziehung gebracht werden.
Es kommen dann auf je 10 000 Köpfe der Altersstufe von
60 bis 65 bis 70 und darüber; zusammen
V * ~ v*“ ^ V 1 *'
^Auf¬
nah¬
men: 20,OM. 23,1 Fr. 15,4M. 19,0Fr. 9,4M. 12,6Fr. 44,8M. 54,7 Fr.
Das anfängliche Überwiegen des weiblichen Geschlechts ver¬
kehrt sich vom 75. Jahre an in eine geringe Mehrheit auf seiten der
Männer, worauf jedoch bei der Kleinheit der Zahlen für das hohe
Greisenalter besonderer Wert kaum zu legen sein wird.
Von diesen Kranken kamen zur Entlassung als;
stehen noch in
genesen gebessert ungeheilt gestorben Anstaltspflege
II M. 19 Fr. 29 M. 40 Fr. 25 M. 36 Fr. 46 M. 62 Fr. 12 M. 17 Fr. =
9,0 10,9 23,5 23,0 20,3 20,7 37,4 35,6 9,7 9,7 %
Bemerkenswert ist die nahe Übereinstimmung der Verhältnis
zahlen bei den beiden Geschlechtern. Die günstigeren Genesungs¬
verhältnisse und die etwas niedrigere Sterblichkeit auf der weiblichen
Seite erklärten sich wohl vorzugweise aus den „verspäteten“ Psychosen,
so daß die Gleichheit des Verlaufs der eigentlichen Alterserkrankungen
noch auffallender hervortritt.
Daß die Sterblichkeit bei Erkrankungen, die im Greisenalter
erst ausbrechen, eine recht namhafte sein werde, ließ sich nicht wohl
anders erwarten; ja, man mag sich vielleicht wundern, daß sie nicht
noch höhere Zahlen aufzuweisen hat. Finden doch gerade von diesen
Kranken nicht wenige mit ihrer erstmaligen Aufnahme in der Anstalt
zugleich eine Zufluchtstätte für den Rest ihres Lebens, der innerhalb
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eines Menschenalters bei sehr vielen vollendet worden wäre auch
ohne das Auftreten einer geistigen Störung.
Hat etwa ein Drittel der in so vorgerücktem Lebensalter Er¬
krankten die Anstalt mit günstigem Behandlungsergebnisse wieder
verlassen können, so darf daraus wohl in erster Linie eine Bestätigung
der Ansicht erblickt werden, daß es sich bei den geistigen Störungen
der bejahrten Kranken keineswegs immer um eine Dementia senilis
handelt, daß vielmehr ihrem Wesen nach verschiedene Krankheits¬
formen von ihr abgetrennt werden müssen, wie dies oben schon aus
theoretischen Erwägungen gefolgert worden ist. Ihre reinliche
Aufteilung auf die verschiedenen Krankheitsgruppen ist nicht
ganz leicht, da, wie gesagt, Mischformen nicht selten sind, diese
aber ziffermäßig nicht wohl ausgeschieden werden können, wenn
anders die Übersichtlichkeit gewahrt werden soll. Auf die oben
unterschiedenen Krankheitsgruppen verteilen sich unsere Fälle
wie folgt:
GO bis 65 bis 70 bis 75 bis 80
Altersabnahme: 21 M. 25 Fr. 10 AI. 14 Fr. 11 M. 27 Fr. 4 M. 3 Fr.
Akute Psychosen: 22 M. 53 Fr. 23 M. 30 Fr. 3 M. 5 Fr. 2 M. 2 Fr.
Chronische Psychosen: 4 M. 1 Fr. — 7 Fr. 2 AI. 1 Fr. 2 M. 1 Fr.
Verspätete Psychosen: 12 M. 1 Fr. 3 M. 2 Fr. — — — —
80 und darüber; zusammen
Altersabnahme: 3 AI. 3 Fr.
Akute Psychosen: 1 AI. —
Chronische Psychosen: —
Verspätete Psychosen: - —
Die einfache Altersabnahme
40 AI. 72 Fr.
51 AI. 90 Fr.
8 AI. 10 Fr.
15 Al. 2 Fr.
zeigt
40.2 Al. 41,4 Fr.
41,8 M. 51,7 Fr.
6,6 AI. 5,7 Fr.
12.3 M. 1,2 Fr.
somit keinen wesentlichen
Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern; an den akuten
Psychosen sind die Frauen wesentlich mehr beteiligt, bei den chroni¬
schen bleiben sic etwas zurück, während ihr Anteil an den ver¬
späteten Psychosen ein ganz geringer ist.
Wenden wir uns zunächst den letzteren zu, so betreffen sie, ab¬
gesehen von einer Epilepsie und einer Imbezillität, bei denen erst
durch das Hinzukommen von Alterserscheinungen auf psychischem
Gebiete Anstaltsfürsorge notwendig geworden ist, ausschließlich
Fälle von Alkoholismus und von progressiver Paralyse. Es handelt
sich also fast ausschließlich um exogene Erkrankungen, die, ihrem
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Über Geistesstörungen im höheren Lebensalter usw.
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Wesen nach vom Lebensaltei unabhängig, meist schon in früheren
Jahren entstehen, gelegentlich aber auch später auftreten können.
Kommen sie erst im Greisenalter zum Ausbruch, so kann entweder
der schädliche Einfluß erst in späteren Jahren eingesetzt haben, oder
es kann auch die persönliche Widerstandsfähigkeit gegen denselben
eine besonders gute gewesen sein. Wird man in letzterem Falle einen
verhältnismäßig gutartigen Krankheitsverlauf auch weiterhin zu
f-rwarten haben, so erscheint im ersteren der bereits invalid gewordene
Organismus durch die hinzugetretene Erkrankung von raschem Ver¬
fall bedroht. Für die eine wie für die andere Möglichkeit ließen sich
unseren Erfahrungen bezeichnende Beispiele entnehmen. Immer
aber handelt es sich hier um Erkrankungen, bei denen eine erfolg¬
reiche Behandlung kaum in Frage kommen kann, die auch den Be¬
stand der Anstalten an bejahrten Kranken nur wenig erhöhen, die
vielmehr dazu beitragen, die Sterblichkeit schon auf den frühen Stufen
des Greisenalters ungünstig zu beeinflussen. Soweit ausgesprochene
Alterserscheinungen bei dieser Gruppe hervortreten, erscheinen sie
als eine ungünstige Komplikation des Hauptleidens.
In gewissem Sinne trifft der letzte Satz auch für die chro¬
nischen Psychosen des höheren Lebensalters zu. An Zahl
nicht häufig, verteilen sie sich weit mehr als die Fälle der vorigen
Gruppe auf die verschiedenen Stufen des Greisenalters. Vermöge
ihres lang dauernden Verlaufs erfordern sie meist bleibende Anstalts¬
fürsorge. In ihren klinischen Bildern schließen sich diese paranoischen
Erkrankungen unmittelbar an die verwandten Zustände früherer
Altersstufen, insbesondere an den von Kraepelin geschilderten prä-
senilen Beeinträchtigungswahn und an die von Kleist 7 beschriebene
Involutionsparanoia an. Als dem Greisenalter eigentümliche Züge
sind zu nennen die besondere Richtung der Beeinträchtigungsvor¬
stellungen auf das pekuniäre Gebiet — eine solche auf das Geschlechts¬
leben, wie sie Kleist für die Involutionsperiode gefunden hat, tritt
jetzt nach meinen Erfahrungen stark zurück — und die Seltenheit
von Größenideen. Die Systematisierung der Wahngebilde pflegt
ziemlich oberflächlich zu bleiben, die schöpferische Phantasie eine
größere Rolle zu spielen, vielfach im Anschluß an lebhafte Hallu¬
zinationen auf verschiedenen Sinnesgebieten. Die krankhaften Ge¬
dankengänge bewegen sich so vielfach in recht abenteuerlichen Bahnen
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Original frnm
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Krenser.
und gar sonderbaren Sprüngen, werden aber nichtsdestoweniger mit
großer Überzeugungstreue vorgebracht neben sonst noch ganz gut
erhaltenen verstandesmäßigen Leistungen und neben einem kaum
geschmälerten Gemütsleben. So lebendig die sprachlichen Äuße¬
rungen der affektiven Erregung sein können, so bleibt doch ihre psycho¬
motorische Betätigung meist in bescheidenen Grenzen. Trotz aller
Auflehnung gegen die aufgedrungene Anstaltspflege führen diese
Kranken in derselben ein ziemlich harmloses Dasein. Sie bedürfen
der Pflege aber wegen der völligen Unbelehrbarkeit hinsichtlich ihrer
krankhaften Vorstellungskreise und wegen der Hartnäckigkeit, mit
der sie denselben in ihrer heimischen Umgebung Geltung zu ver¬
schaffen suchen. Dadurch machen sie sich selbst sozial unmöglich,
geraten sie wohl auch mit der öffentlichen Ordnung in Widerstreit
und bedrohen sie oft berechtigte Interessen ihrer nächsten Angehörigen
in unleidlicher Weise. — Für die Entstehung dieser Krankheitsformen
mag vielfach eine individuelle Anlage in Betracht kommen; einige
der Patienten hatten vorher schon im Rufe von Sonderlingen ge¬
standen. Bei anderen war von solcher Veranlagung lediglich nichts
bekannt; mitunter scheint Schwerhörigkeit das Auftreten der Beein-
trächtgungsideen zu begünstigen. Einmal ausgebildet bleiben diese
Zustände viele Jahre lang stationär, gehören ihre Träger zu den ehr¬
würdigen Gestalten der Anstaltsbevölkerung. Wie gut sich die all¬
gemeine geistige Leistungsfähigkeit erhalten kann, mag einer unserer
Patienten erweisen, der vor 8 Jahren schon einer anderen Anstalt
mit der Diagnose einer Dementia senilis zugegangen war. Nach ein¬
getretener Besserung hatte er jahrelang daheim noch eine geachtete
Stellung eingenommen, bis er durch stärkeres Hervortreten von
Verfolgungsideen für die Seinigen unerträglich geworden war. 70 Jahre
alt, ist er dann hierher überwiesen worden als „präseniler Beein¬
trächtigungswahn“.
Von weit größerer Bedeutung ist die Gruppe der a k ’i t auf¬
tretenden Psychosen im höheren Lebensalter. Ist auch der
Krankheitsausbruch vielfach kein ganz plötzlicher, so entwickeln
sich diese geistigen Störungen doch innerhalb weniger Wochen und
zeigen sie von Anfang an das Gepräge der vorzugweise affektiven
Störung. Verhältnismäßig selten sind manische Erregungszustände,
obwohl auch sie mitunter Vorkommen, ohne daß ihnen ähnliche in
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Über Geistesstörungen im höheren Lebensalter usw.
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früheren Jahren vorausgegangen wären. Weniger stürmisch als in
jüngerem Alter auftretend, zeichnen sie sich mehr durch Ideenflucht
und leichte Ablenkbarkeit aus als durch besondere Produktivität
und starke motorische Entladungen. Vielgeschäftigkeit und wechselnde
Unternehmungslust, Witzelsucht und Taktlosigkeiten machen diese
Patienten mehr lästig, als so störend und gefährlich, wie es jüngere
in aggressiverer Betätigung ihres gehobenen Selbstgefühls zu werden
drohen. So bekommt man leicht den Eindruck einer bereits ein¬
getretenen geistigen Schwäche, ohne daß diese doch nach Ablauf des
Krankheitsanfalls sich bestätigen würde. In anderen Fällen kann
freilich eine manische Erregung auch nur als Anfangsstadium eines
Altersblödsinns auftreten und ist sie dann diesem zuzuzählen. Nur
wenn eine nachhaltige Wiederherstellung mit Krankheitseinsicht
Eintritt, sind solche Erkrankungen in dieser Gruppe unterzubringen.
Entsprechende Beobachtungen sind zu vereinzelt, um zu allgemeineren
Ausführungen Anlaß geben zu können.
Sehr häufig sind dagegen Depressionszustände im höheren Lebens¬
alter. Gaujrp hat ihnen eine klinische Studie gewidmet und mehrere
Untergruppen derselben unterschieden. Bei den doch ziemlich fließen¬
den Übergängen zwischen denselben lege ich auf diese Unterscheidung
weniger Nachdruck als auf eine möglichst sorgfältige Berücksichtigung
der individuellen Einschläge im Krankheitsbild. Pflegen sie doch
um so mehr hervorzutreten, je mehr der Erkrankte Lebensschicksale
hinter sich hat, die ihm nun alle in verändertem Lichte erscheinen.
Lassen sich psychopathologische Erscheinungen überhaupt zu bio¬
logischen Vorgängen in unmittelbare Beziehung bringen, so sind die
mit dem beginnenden und weiterschreitenden Altern einhergehenden
Stoffwechselveränderungen geeignet, der dadurch veränderten Selbst-
Empfindung auch eine besondere psychologische Richtung im Sinne
der Depression anzuweisen.
Beginnen im Stoffwechsel Abbauvorgänge vorzuherrschen, so
muß darunter die Ernährung der Organe notleiden, das Vollgefühl
der Kraft muß schwinden, es muß einem Hungern nach der seit¬
herigen Leichtigkeit des Ersatzes weichen. Gelangt die Unstillbarkeit
dieses Verlangens ins Bewußtsein, kommt es zu dauerndem Ermüdungs¬
gefühl, dessen Überwindung vermehrte Kraftanspannung erfordert,
ja muß der ganze Kräftehaushalt auf einen niedrigeren Gleichgewichts-
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Kreuscr,
zustand eingestellt werden, so müssen daraus auch Unlustgefühle
hervorgehen, die leicht Verstimmungen und ernste Vorstellungsreihen
wecken können. Man wird sich zu Rückblicken auf den seitherigen
Lebensgang veranlaßt sehen und zu Zweifeln über die Erreichbarkeit
der gesteckten Lebensziele. Wunde Punkte werden kaum je fehlen,
die Anlaß zu Selbstvorwürfen werden können, und der Blick in die
Zukunft wird sich nur allzu leicht durch Sorgen verdüstern. So sind
durch natürliche Lebensvorgänge die Bahnen vorgezeichnet, in die
auf der Schwelle des Alters das Seelenleben so häufig getrieben wird.
Je reicher aber das bereits zurückgelegte Leben gewesen ist, desto
mehr wird es Punkte bieten, an denen solche Gefühle und Gedanken¬
gänge haften bleiben. Für die Entwicklung eines Versündigungswahns
bietet sich mehr Stoff dar. Je bedeutungloser die einzelnen Erlebnisse
früher erschienen waren, desto mehr wird ihre frühere Geringschätzung
jetzt zur Quelle des Vorwurfs. Das Verweilen bei der Vergangenheit
aber wird begünstigt durch die Erschwerung von Auffassung und
Merkfähigkeit für die Dinge der Gegenwart. So erscheint die Außen¬
welt zunehmend fremder, wird die ganze Umgebung mit wechselndem
Mißtrauen betrachtet. Das eigene Wohlbefinden muß gleichfalls
leiden unter den Vorgängen des Alters, was Anlaß wird zu hypo¬
chondrischen Befürchtungen. — Häufiger als in jüngerem Alter treten
zu den einfachen traurigen Verstimmungen verschiedenerlei Miß-
empfindungen und Sinnestäuschungen hinzu. Durch sie wird eine
phantastische Wahnbildung begünstigt, die gelegentlich so wunder¬
liche und abenteuerliche Bahnen einschlagen kann, daß die verstandes¬
mäßigen Überlegungen darüber ganz verloren gegangen zu sein scheinen.
Dem entspricht es, wenn auch der Selbstbeschädigungstrieb bejahrter
Kranker mitunter besonders grausige Formen wählt. Über alledem
tritt das typische Bild einer Melancholie zurück hinter dem eines
depressiven Wahnsinns, gewinnt es auch nicht selten den Anschein,
als ob die Kranken rasch der Altersverblödung verfallen.
Hinsichtlich der Unterscheidung von Untergruppen sonst auf
Gaupp verweisend, möchte ich der Fälle wenigstens kurz gedenken,
bei denen die nachlassende Merkfähigkeit zu zwangsmäßigem Suchen
nach Worten, Namen oder Begriffen führt unter lebhafter Beängstigung
bis zur erlangten Auffindung. Ohne daß die Besonnenheit und die
Verstandestätigkeit anderweitig wesentlich berührt würde, können
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Über Geistesstörungen im höheren Lebensalter nsw.
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dadurch doch schwere Hemmungen und Verstimmungen ausgelöst
werden, die sich bis zum Lebensüberdruß steigern vor allem aus Furcht
vor der drohenden Verblödung. In der Tat ist eine solche nicht zu
besorgen. Es werden selbst wesentliche Besserungen dieser Zustände
beobachtet. Vollständig werden sie kaum je mehr überwunden.
Werden Störungen dieser Art besonders peinlich empfunden,
so ist um der bedenklichen Gefährdung des Lebens willen noch der
meist recht akut auftretenden ängstlichen Verwirrtheitszustände mit
starker motorischer Unruhe zu gedenken, wie sie im höheren Lebens¬
alter nicht so selten Vorkommen. Mit Nahrungsverweigerung und
Störungen der allgemeinen Ernährung einhergehend, können sie
unter stürmischen Delirien schon binnen weniger Tage zum Tode
führen trotz rechtzeitig eingeleiteter ärztlicher Fürsorge. Diese Fälle
geben ganz das Bild einer akuten Vergiftung, wie sie ja wohl auch
aus dem Übertritt unrichtig abgebauter Zerfallsprodukte in den
Stoffwechsel sehr wohl denkbar wäre. Die anatomischen Befunde,
die man bei solchem Delirium acutuni gehabt hat, sind schon im
Sinne der Aufstellung einer besonderen Krankheitsform verwertet
worden. Im Rahmen der Annahme einer Selbstvergiftung durch
Abbaustoffe lassen sie sich den weniger verderblichen Erkrankungen
von ähnlicher psychopathologischer Erscheinungsweise ungezwungen
anschließen als bloße Abstufungen von wesentlich gleichartigen Vor¬
gängen. Für eine solche Auffassung spricht auch die klinische Er¬
fahrung, daß ein freilich bescheidener Teil der stürmischen Angst¬
psychosen dieser Altersstufe auch günstig verläuft, wenn schon in der
Regel unter Hinterlassung einiger geistigen Defekte.
Die Depressionszustände sind es vorzugweise, die auch im
höheren Lebensalter noch Aussicht auf Wiederherstellung und
nachhaltige Besserung gewähren. In der Natur der Sache liegt es ja
wohl, daß auch bei ihnen die Hoffnungen nicht sehr hoch gespannt
werden dürfen, daß man mit einer verminderten Widerstandskraft
Gesamtorganismus gegen krankhafte Störungen auch dieser Art
zu rechnen hat. Das muß sich geltend machen schon in verhältnis¬
mäßig hohen Sterblichkeitsziffern, für die nicht die Natur der Krank¬
heit allein verantwortlich zu machen ist, es muß zutage treten auch
in erschwertem Ausgleich der Krankheitserscheinungen. So sieht
man auf dieser Altersstufe psychische Depressionen bisweilen in einen
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 1. 2
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Kreuser.
Dauerzustand übergehen, der sich jahrelang wesentlich auf gleicher
Stufe erhalten kann, bei dem es namentlich zu einer Altersabnahme
nicht zu kommen braucht. Mit mäßigen Schwankungen erhält sich
die gedrückte Gemütslage mit ihren Hemmungen fast unverändert
zumal bei angemessenen Verpflegungsverhältnissen, während jede
vermehrte Anforderung sofort auch die soziale Unzulänglichkeit
auf deckt trotz sonst ungeschwächter Verstandestätigkeit, trotz des
Ausbleibens anderweitiger geistiger Mängel. Wo solche sich erst gel¬
tend machen, ist eine Brücke vorhanden zu den eigentlichen Alters¬
abnahmen, wie sie teils als Ausgang der affektiven Psychose eintreten,
teils als etwas Neues zu ihr hinzukommen können.
Einwandfreie Genesungen sind immerhin noch bei 10% unserer
Erkrankungen nach dem 60. Lebensjahre zu verzeichnen gewesen.
Da sie, wie gesagt, so gut wie ausschließlich auf Depressionszustände
entfallen, würde sich der Prozentsatz für diese allein etwa doppelt so
hoch stellen, gewiß Grund genug, um ihre Abtrennung von der De¬
mentia senilis zu rechtfertigen. Sind beim weiblichen Geschlechte die
Genesungen etwas häufiger, so ist mir nirgends so deutlich wie bei den
bejahrten männlichen Rekonvaleszenten gebildeter Stände die größere
Vollständigkeit der Krankheitseinsicht vor Augen getreten. Aus der
Schule des Lebens und des Berufes erwächst hier offenbar das Be¬
dürfnis, auch die Abwege des eigenen Vorstellungslebens in kranken
Tagen nachträglich noch verstandesmäßig zu erfassen. So ist mir
besonders ein früherer hochgeschätzter Kriminalist im Gedächtnis
geblieben, dem die Erholung von seiner Krankheit dadurch nicht
leicht geworden ist, daß er mit derselben Gründlichkeit, die ihn im
Berufe ausgezeichnet hatte, nach wiedererlangter Besonnenheit nun
auch die Irrgänge im eigenen Leiden auf ihre Entstehung hin bis in
alle Einzelheiten zu verfolgen bemüht gewesen ist. Ähnliche Er¬
fahrungen können dem aber auch aus anderen Berufsständen an die
Seite gestellt werden. — Dauernde Behauptung der wiedererlangten
Leistungsfähigkeit scheint dagegen den Frauen in ihren weniger aus¬
gesetzten Lebensstellungen häufiger zu gelingen.
Der einfache Altersblödsinn hat früher seltener Anlaß
zur Aufnahme in Heilanstalten gegeben. Er wurde wohl mehr als eine
lästige Zugabe denn als Erkrankung des Alters angesehen. Teils
veränderte Aufnahmevorschriften, teils die Umgestaltung der sozialen
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Ober Geistesstörungen im höheren Lebensalter usw.
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Verhältnisse, die dem Ausding geistiger Invaliden in der eigenen
Häuslichkeit wenig günstig ist, wohl auch einiges Zurücktreten der
Scheu vor den Anstalten bei der Bevölkerung führen den Anstalten
jetzt auch solche Kranke in vermehrtem Maße zu. Je mehr die Jahre
steigen, desto mehr herrschen sie in der Aufnahme vor; sie sind aber
auch zu Beginn des 7. Lebensjahrzehnts schon recht häufig. Für die
Abnahme in dessen zweiter Hälfte bei unserer Übersicht fehlt mir
vorerst die Erklärung.
Die klinischen Erscheinungen der geistigen Abnahme sind zu
bekannt, um ausführlicherer Schilderung zu bedürfen. Nachlaß der
Merkfähigkeit, Erschwerung der Auffassung und der Orientierung
in neuen Verhältnissen, Schwerfälligkeit der Kombination und des
Urteils sind die ersten Ausfallerscheinungen, für die das Haften¬
bleiben am Hergebrachten und Altgewohnten, die Neigung zu Wieder¬
holungen und die Hervorkehrung des Ichs recht mangelhaften Ersatz
bilden. Exzentrische Einengung des Gesichtskreises, Abstumpfung
des Gefühlslebens und Mangel an Tatkraft sind die wesentlichsten
Ergebnisse. Lassen diese Schäden mitunter bis ins hohe Greisenalter
auf sich warten, so machen sie bei frühzeitigem Beginn und raschen
Fortschritten das Alter selbst zur Krankheit, die dringend der Für¬
sorge bedarf. Auch bei fortschreitendem Zerfall können inselförmige
Bruchstücke von geistiger Tätigkeit erhalten bleiben, die bei ober¬
flächlicher Betrachtung über das Maß der Abnahme täuschen können.
Ein zutreffendes Urteil ergibt sich dann nur auf Grund sorgfältiger
Prüfung der Gesamtpersönlichkeit. Wo unbestimmte Gefühle des
eigenen Zerfalls sich in Mißtrauen gegen die Umgebung und eine
gesteigerte Reizbarkeit umsetzen, kann wohl auch besonders zu Beginn
das Zustandsbild einer depressiven Psychose oder eines Erregungs¬
zustandes mit Neigung zu Delirien vorherrschen, rasch wird aber
der weitere Verlauf über die wahre Natur der krankhaften Vorgänge
aufklären.
Nicht selten gesellen sich zur einfachen Altersabnahme Störungen
hinzu, die aus sklerotischen Veränderungen am Gefäßsystem hervor¬
gehen. Dem Altersschwund vorausgehend, ergeben sie Krankheits¬
bilder, die außerhalb dieser Betrachtungen bleiben müssen. Mit ihm
zusammentreffend, erschweren sie das Krankheitsbild durch Ausfall¬
erscheinungen, die auf vereinzelte oder mehrfache, beschränktere
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Krensor.
oder ausgedehntere Herderkrankungen hinweisen. Besonders häufig
scheinen Wortfindung und sprachlicher Ausdruck davon betroffen
zu werden. Nicht immer sind es ausgesprochene apoplektische Insulte,
womit diese Störungen sich einleiten. Treten solche auf, so pflegen
sich halbseitige Lähmungen anzuschließen und geht auch der psychische
Ausfall mehr und mehr über in die postapoplektische Demenz. Auch
auf diesem Gebiete sind die beiderlei Krankheitsvorgänge, aus denen
sich die Bilder zusammensetzen, in sorgfältig individualisierender
Untersuchung tunlichst auseinanderzuhalten, wenn man die mancherlei
Verschiedenheiten der einzelnen Fälle richtig verstehen will. Durch
Alzheimers Untersuchungen ist dieses Kapitel organischer Gehirn -
erkrankungen mit psychischen Störungen besonders gefördert worden.
— Daß durch alle derartige Komplikationen die Prognose nur getrübt
werden kann, braucht kaum ausdrücklich hervorgehoben zu werden;
wohl aber darf nicht unerwähnt bleiben, daß reine Herderkrankungen
des Gehirns auch bei hohem Lebensalter die geistige Tätigkeit noch
für längere Zeit nahezu unberührt lassen können.
Wenden wir uns zum Schlüsse nochmals zu Blüchers Erkrankung
zurück, so lassen sich alle ihre Erscheinungen ungezwungen einreihen
in die Erfahrungen über die Depressionszustände im höheren Lebens¬
alter. Nicht ohne vorbereitende und auslösende Ursachen sind bei
ihm nach der Mitte des 7. Lebensjahrzehnts melancholische Gedanken¬
gänge und hypochondrische Vorstellungen bezeichnender Art auf¬
getreten; lebhafte Sinnestäuschungen und Beeinträchtigungsideen
sind, wie das auch sonst auf dieser Altersstufe beobachtet wird, hinzu¬
getreten; ein recht schweres Krankheitsbild ist so zustande gekommen,
durch das selbst sein Leben gefährdet war, und die ganz absurden
Wahngebilde konnten recht wohl geistigen Zerfall befürchten lassen.
Daß jedoch die Unsinnigkeit der Wahnideen von so übler Vorbedeutung
nicht zu sein braucht, hat auch Gaupp für die Depressionszustände
des höheren Lebensalters ausdrücklich hervorgehoben. Ich möchte
dies unterstreichen und so zurechtlegen, daß auch recht kritiklose
Erzeugnisse einer krankhaft erregten Phantasie, wie sie in den Jahren
vor erlangter und nach überschrittener geistiger Reife leicht in den
Vordergrund treten, nur ein zeitweiliges Darniederliegen, nicht eine
bleibende Schwächung der Verstandestätigkeit zu bedeuten brauchen.
So kann letztere mit nachlassender Störung wieder ganz in die früheren
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Über Geistesstörungen im höheren Lebensalter usw.
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Rechte eintreten, so lange es sich eben nur um eine Störung, nicht
auch um einen Zerfallvorgang handelt. Dies hat bei Blücher, wie
in so manchem anderen Falle derselben Altersstufe zugetroffen; so
konnte er genesen, und war diese Genesung an sich noch nichts Außer¬
gewöhnliches. — Einzigartig bleibt aber, daß ein Mann in diesen
Jahren kurz nach Überwindung einer so ernsten Krankheit sich noch
zur Höhe seines Ruhmes aufzuschwingen vermochte, indem er alle
seine bisherigen. Leistungen weit in den Schatten gestellt und in welt¬
geschichtlichen Ereignissen eine führende Rolle übernommen hat.
Dazu hat es einer besonders glücklich veranlagten Natur bedurft
und der günstigen Gelegenheit zu einer ihr angemessenen Betätigung.
So vollständig die Wiedergenesung war, eine dauernde ist sie nicht
geblieben, wenn auch die Rückfälle nicht von gleicher Heftigkeit und
Dauer gewesen sind wie die erste Erkrankung. Das einmal erkrankt
gewesene Organ hat eben auch später wieder ziemlich empfindlich
reagiert auf verschiedenartige nachteilige äußere Einflüsse. Von
dauernder Krankheit mit periodischer Verlaufsweise darf darum
meines Erachtens nicht gesprochen werden. Jedesmal ist es wieder
zu recht guter Erholung gekommen, und vor allem ist der greise Feld-
marschall bewahrt geblieben vor dauerndem geistigen Zerfall.
So mahnt sein Krankheitsfall zu vorsichtigem Gebrauch des
‘''ammelnamens einer Dementia senilis für die geistigen Störungen
im höheren Lebensalter. Auch auf dieser Altersstufe soll die Psychiatrie
über den Bestrebungen zur Klassifikation die Aufgaben der Indi¬
vidualisierung in der Diagnostik nicht vergessen, darf sie sich vor
allem nicht irreleiten lassen durch einseitige Ausblicke nach den
etwa möglichen Endzuständen. Nicht die Ruinen der geistigen Per¬
sönlichkeiten sind es, die uns die sichersten Anhaltpunkte geben zur
richtigen Einschätzung ihrer krankhaften Störungen; auf diese selbst
haben wir unsere Blicke mit größter Aufmerksamkeit zu richten.
Je mehr wir sie in ihren Anfängen und in ihrer Entstehung betrachten,
desto mehr werden sich auch die Mittel und Wege erschließen, um
die Endzustände vielleicht noch mehr oder weniger hintanhalten
zu können. Sieht man in ihnen gewissermaßen die Frucht der Krank¬
heitsvorgänge, so läuft man Gefahr, ihrer Ausreifung fatalistisch
entgegenzusehen, anerkennt man mißtrauisch vielleicht kaum eine
''«‘iiesung, wie sie denn doch auch im höheren Lebensalter noch von
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22 Kreuser, Ober Geistesstörungen im höheren Lebensalter usw.
mancher geistigen Störung eintritt und nicht nur dem einzelnen Er¬
krankten, sondern, wie Blüchers Beispiel zeigt, ganzen Völkern zugute
kommen kann.
Literatur.
1. Varnhagen van Ense, Preußische biographische Denkmäler II, 1826.
2. Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann
von Boyen; herausgegeben von Friedr. Nippold, 1889, Bd. II,
S. 106 ff.
3. Bieske, G. L. Blücher von Wahlstadt, 1862.
4. Wiggers, Geschichte der Familie von Blücher, 1878; II, 5.
5. Kraepelin, Psychiatrie. 8. Auflage II, 1. S. 534.
6. Gaupp, Die Depressionszustände des höheren Lebensalters; Münchener
klinische Wochenschrift 1905, Nr. 32, S. 531.
7. Kleist, Die Involutionsparanoia; Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie LXX.
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Klinische Mitteilungen.
Von
Universitätsprofessor Dr. Ernst Emil Moravesik, Budapest.
Die Umwandlungen, welche die moderne psychiatrische Auf¬
fassung durchgemacht, sind in erster Keihe der intensiven Pflege
der klinischen Kichtung zuzuschreiben. Die tiefgreifende Erforschung
der ätiologischen Momente, die eingehende Analyse der Symptome,
die wachsame Kontrolle der Krankheit von ihrem Anfänge während
ihres ganzen Verlaufes, die Präzisierung der Verlaufsarten und Aus¬
gangsformen hat dem Werdegänge einzelner Krankheitsbegriffe neue
und neue Perspektiven eröffnet. Ebenso wichtige und informierende
Stützpunkte liefert uns nicht bloß der in den einzelnen Krankheits¬
phasen festgestellte Status retrospectivus, sondern die weitere Ver¬
folgung der Besserungen, Heilungen und des Zustandes der Kranken
nach ihrer Entlassung; all dies gibt uns wertvolle Aufklärungen sowohl
über die Art der Erkrankung, als auch über den Mechanismus der
einzelnen Krankheitssymptome. Ich will bloß auf die Amentia ver¬
weisen, deren Krankheitssymptome ganz unter dem Einflüsse der
dominierenden Halluzinationen stehen, sich ganz ähnlich den Sym¬
ptomen anderer psychischer Erkrankungen gestalten können und
eben deshalb zu häufigen Irrtümern Anlaß bieten können. Erfolgt
endlich die Aufhellung des kranken seelischen Zustandes, können
wir oft bei manchen an andere Zustandsbilder erinnernden moto¬
rischen und psychischen Erscheinungen den auf Halluzinationen
und Illusionen basierenden Ursprung derselben nachweisen.
So z. B. hat einer meiner Kranken, welcher längere Zeit in stuporöser
Hemmung unbeweglich auf einer Stelle saß, nachträglich als Ursache
dieses seines Verhaltens angegeben, daß er feurige Kugeln rings um sich
lallen sah und fürchtete sich zu bewegen, damit nicht eine derselben auf
*hn falle. Bei demselben Kranken beobachteten wir zeitweise einen
taumelnden Gang, welchen er später damit begründete, daß er sich auf
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UMIVERSITY OF MIC* 3AN
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einem schwankenden Seeschiffe glaubte, und er wollte die Bewegungen
desselben mit seinem Gange paralysieren. — Eine andere hat im Dauer¬
bade verschiedene katatonische Haltungen deshalb angenommen, weil
sie die Vorstellung hatte, eine im Teiche badende Wassernymphe zu sein.
Ebenso charakteristische und über das Zustandsbild aufklärende
Daten liefert die folgende Kranke:
Die 18 jährige P. hat geistige Getränke nie genossen; Vorbereitung
zu einem schweren Examen und viel Privatunterricht haben sie derart
erschöpft, daß sich bei ihr Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit, Depression
und Reizbarkeit eingestellt haben und ihr das Lernen und Unterrichten
sehr beschwerlich wurde. Nach einer kurz dauernden fieberhaften Krank¬
heit entwickelten sich bei ihr die Erscheinungen der Amentia. Unter
dem Einflüsse lebhafter und massenhafter Halluzinationen und Illusionen
trübte sich ihr Bewußtsein, psychische und motorische Unruhe wechselten
ab mit Erscheinungen von Hemmung, unsinnigen, konträren und gewalt¬
tätigen Handlungen. Nach Besserung und späterer Heilung ihrer Er¬
krankung gab die Kranke folgende Aufklärungen: Sie fürchtete sich vor
den Menschen und Speisen, konnte sich nicht orientieren, empfand un¬
angenehme Gerüche, große Hitze, hörte vielerlei Stimmen; sie sah Teufel,
überirdische Geschöpfe, Menschen, Fledermäuse, Drachen, welche sich
um sie bewegten, sie berührten, sie mit glühendem Eisen brannten, ihre
Glieder abschnitten. Dann erschien ihr ein weißer Wagen voll Engeln
und Blumen. Später verspürte sie ein Erdbeben, und ein Feuerregen
versengte die Haare ihrer Umgebung. Die Klinik erschien ihr als
Kerker, die Wärterinnen als marternde Inquisitoren, die Ärzte als Ge¬
spenster, das Bad als die Hölle und Hexenküche. Sie vermeinte ihre
Mutter ermordet zu haben, weil ihr Stimmen zuriefen: „Du hast sie ge¬
tötet, sieh hier ist ihr Kleid“, und glaubte deshalb büßen zu müssen.
Zwei Monate hindurch w r ußte sie nicht, ob sie lebend oder tot sei. Als
ihre Mutter sie besuchte, wähnte sie dieselbe tot, weil ihr Blick ein anderer
war, und es kam ihr eigenartig vor, als die Mutter sie umarmte. Auch
ihren Vater erkannte sie nicht, weil sie glaubte, seine Seele sei fortgeflogen.
Oft hatte sie die Empfindung, als ob sich das Bett mit ihr heben urnl
senken würde. Häufig hörte sie Stimmen durch das Schlüsselloch, deshalb
lief sie stets zur Türe. Auch die Stimmen ihrer Freundinnen wähnte sie
zu hören, welche ihr zuriefen: „Nun, Du hast Dir Dein Glück gegründet“.
Später hörte sie, man wolle sie nach Paris oder einer anderen Stadt bringen,
und der Wagen warte bereits. Vor den Speisen fürchtete sie sich und
wollte nichts von denselben genießen, weil sie vergiftet oder Menschen -
und Hundefleisch seien. Sie hatte Angst, sich im Bette zu bewegen, weil
sie die Bettdecke für einen Wolf oder Bären hielt, welcher ihr den Kopf
zuwandte; darauf haben sie die Stimmen beruhigt, die Tiere würden sic
nicht beißen. Zeitweise hörte sie ein schauderhaftes Tiergebrüll, so daß
sie sich die Ohren zuhicll. Wilde Tiere tanzten um sie herum, der Boden
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Klinische Mitteilungen.
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senkte sich unter ihnen, dann wieder stürzten sich dieselben auf sie. Bei
anderer Gelegenheit hatte sie die Empfindung, als ob ihr Haar mit der
Kopfhaut zu Boden gezogen würde. Ein andermal fühlte sie, daß man
sie in einen Sarg legte und auf den Kirchhof trug. Als sie einmal von
ihren Eltern Blumen bekam, verwandelte sich ihr die Hölle in den Himmel,
und sie dachte Braut zu sein. Bei anderer Gelegenheit sprang sie zum
Fenster des Parterrezimmers hinaus, weil ihr dies eine Stimme befahl.
Wer auf eine längere psychiatrische Vergangenheit zurück¬
blicken kann — auch ich sammle nun schon länger als 30 Jahre meine
Erfahrungen auf diesem Gebiete —, hat nicht nur erfahren können,
daß sich die Auffassung über einzelne Krankheitsformen unter dem
Einflüsse verschiedener Faktoren umwandelte, sondern auch, wie
dies viele ausgesprochen haben, eine Veränderung des Charakters
vieler Psychosen sich andeutete, wozu — wie dies auch Kraepelin
betont — die veränderten Umstände, Lebensverhältnisse, Milieu,
Rasse und Individualität nicht unbedeutend beigetragen haben.
Eingehendes Studium ergibt oft, daß nicht die Natur eines Krank¬
heitsprozesses gewisse feinere Züge aufweist, sondern daß die Indi¬
vidualität auf schädliche Einflüsse in besonderer Weise reagiert, was
sich dann als eigenartiger Zug manifestiert. Dies sehen wir auch
besonders unter dem Einflüsse gewisser infektiöser und toxischer
Einwirkungen.
Die auf Natur und Symptome einer Krankheit bezügliche Auf¬
fassung formt und wandelt sich in erster Reihe auf Grund persön¬
licher Beobachtungen und Erfahrungen. Doch bietet sich nicht jedem
Fachmanne Gelegenheit, Fälle in unbeschränkter Zahl zu beobachten,
welche geeignet sind, jeden Faktor eingehend zu beleuchten. Und
häufig verbleiben die feineren Details der Beobachtungen innerhalb
der Mauern einer Anstalt oder Klinik und werden schon deshalb nicht
Gegenstand allgemeiner Beurteilung und Vergleiches, weil jede Ver¬
öffentlichung einen größeren Apparat, Literaturdaten und somit
die Ausarbeitung längere Zeit und Arbeit erfordert, wodurch dann
einzelne, als unbedeutend erscheinende, sich aber später vielleicht
doch wichtig zeigende oder sonst interessante, aber für eine größere
Publikation nicht geeignete Beobachtungen nicht vor die Öffentlichkeit
gelangen. Und gerade aus der Masse einzelner Beobachtungen ge¬
stalten sich die charakteristischen Elemente eines Zustandsbildes,
welche später zur Grundlage einer größeren Studie dienen können.
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Moravcsik,
Ich glaube daher es als nicht wertlos bezeichnen zu dürfen, wenn
einzelne Forscher ihre interessant oder lehrreich erscheinenden Be¬
obachtungen ohne größeren literarischen Hintergrund, mit bloßer
Darlegung ihrer individuellen Ansicht, der Öffentlichkeit übergeben.
Dieses Ziel schwebt mir vor Augen, indem ich eine Serie von
klinischen Mitteilungen hiermit beginne.
An meiner Klinik für psychische und Nervenkrankheiten befolge
ich seit Jahren das System, daß einerseits die Anamnese zum Gegen¬
stand eingehender Erforschung gemacht wird durch Befragung der
Kranken, ihrer Angehörigen und behandelnden Ärzte, andererseits,
daß ich sowohl die psychischen als somatischen Erscheinungen nach
den ausführlichsten neurologischen und psychiatrischen Methoden
feststelle oder durch meine geschulten Assistenten feststellen lasse,
wobei ich besonderes Gewicht darauf lege, daß sowohl bei dem Ein¬
tritte des Kranken, als im Verlaufe der Krankheit die gefundenen
Symptome nicht mit allgemeinen Ausdrücken bezeichnet, sondern
stets in jedem Detail genauest beschrieben werden, daß der Kranke
bei jeder Gelegenheit quasi photographisch wiedergegeben sei. In
jeder besonderen Krankheitsphase, namentlich nach erfolgter Heilung,
nehmen wir einen genauen Status retrospectivus auf. Endlich ersuche
ich die Kranken, wenn sie die Klinik verlassen, daß sie sich so oft als
möglich vorstellen oder über ihr Befinden schriftlich berichten mögen,
und beantworte solche Briefe immer, schließlich erhalte ich eine stete
Verbindung mit den Angehörigen des Kranken, um über seinen Zu¬
stand immer unterrichtet zu sein. Überflüssig zu betonen, daß sämt¬
liche Konzepte, Briefe, Zeichnungen usw. der Kranken zum Gegen¬
stände eingehenden Studiums gemacht werden.
I. Beiträge zur Ätiologie der Geisteskrank¬
heiten.— Obwohl eine lange Erfahrung zur Festigung der Ansicht
führte, daß die Grundlage zur Entwicklung von Geisteskrankheiten
in erster Reihe die individuelle Disposition, insbesonders die erbliche
Belastung bildet, ist dennoch die Mitwirkung zahlreicher endogener
und exogener Faktoren unverkennbar selbst dann, wenn der schäd¬
liche Einfluß eines Momentes auf die Funktionen des Organismus
besonders auffallend ist. Zweifellos ist die Feststellung des Zusammen¬
hanges von Ursache und Wirkung oft recht schwierig, weil der Einfluß
von zahlreichen in Betracht kommendem Faktoren nicht ausgeschlossen
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Klinische Mitteilungen.
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werden kann und das häufige Zusammentreffen von gewissen Mo¬
menten mit der Geisteskrankheit, die gemeinsame Manifestation,
die Reihenfolge in der Entwicklung der Symptome, ihre Ähnlichkeit
und ihr Verlauf in einer gewissen Richtung die ätiologische Be¬
deutung hervorheben.
1. Hirnblutungen. Bekanntlich treten nach hämor¬
rhagischen Insulten zumeist krankhafte Reizbarkeit und Labilität
der Stimmung, Gedächtnisschwäche und überhaupt intellektuelle
Defekte mit ihren weiteren Eigentümlichkeiten auf. Doch kann es
auch zu depressiven und halluzinatorischen Zuständen kommen.
Meine eigenen klinischen Erfahrungen haben einige interessante
Erscheinungen ergeben. Von diesen möchte ich die Fälle der Frau Cs.
und des Karl S. schildern. Bei beiden traten lebhafte Halluzinationen,
Illusionen, Konfabulationen, und bei letzterem Kranken eine bis zum
Tode andauernde Verwirrtheit auf.
1. Frau Cs., Handwerkerswitwe, 54 jährig, war nie Trinkerin, auch
waren bei ihr niemals Erscheinungen des Alkoholismus vorhanden; die¬
selbe erlitt nach vorangegangenen Schwindelanfällen am 5. II. eine Apo¬
plexie mit linkseitiger Hemiplegie. Am 25. II. 1910 wurde sie wegen
l'nruhe und Verwirrtheit in meine Klinik überführt, wo bei ihr hoch-
•-Tadige Bewußtseinstörung, motorische und psychische Agitation nach¬
weisbar waren. Sie warf sich im Bett herum, stieß die Bettdecke hinab,
wte am Polster; gab auf Fragen unzusammenhängende Antworten,
«ar zeitlich und örtlich desorientiert; rief ununterbrochen ihren Sohn
und Bruder, gab ihnen, den Ärzten und dem Wartepersonal verwirrte,
sinnlose Aufträge, hüllte ihren gelähmten Arm ein, begann dann zu lärmen,
daß man ihr nicht zu Hilfe komme, war nachts schlaflos.
Nach einigen Tagen Aufhellung des Sensoriums, wobei die Kranke
angibt, sie hätte die Empfindung gehabt, ihr gelähmter Arm sei vom
Körper abgetrennt und liege leblos neben ihr. Sie fürchtete, ihr Arm
verfaule, und aus diesem Grunde hüllte sie ihn fortwährend ein. Sie er¬
dichte die Ärzte, ihren Arm zu präparieren, damit er nicht verfaule, auch
bat sie, ihr den Arm festzunähen, damit sie nicht genötigt sei, einen Holz-
arm zu tragen. Nur dann kam sie zum Bewußtsein, daß all dies nur eine
krankhafte Einbildung“ sei, als ihr der Arzt in Aussicht stellte, den Arm
ui elektrisieren. Auch glaubte sie in ihrer Verwirrtheit, in die Gesell¬
schaft von bösen Menschen und Dieben gelangt zu sein. Die Diebe haben
k ie hierher gebracht, um sie zu hypnotisieren und dann auszurauben und
uigrunde zu richten, damit sie nicht mehr arbeiten könne. Sie wähnte
verschiedenes Flüstern, die Stimme ihres Bruders und Schwester, aber
:4| ich fremder Männer und Weiber zu hören. Sehr erstaunt war sie, daß
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Moravcsik,
sie die Stimmen ihrer Angehörigen im Nebenzimmer hörte, ohne daß
diese ihr zu Hilfe kamen, als sie mit lauter Stimme rief. Sie dachte, im
Badezimmer wäre eine große Zusammenkunft, weil sie hörte, daß dort
eine große Unterhaltung veranstaltet werde, und daß sie 4 Kronen Entree zu
zahlen hätte. In der Glaskugel der elektrischen Lampe sah sie ihren Bruder.
Jetzt weiß sie bereits, daß ihre linke Körperhälfte gelähmt ist, in dieser
hat sie die Empfindung, als ob Blutegel in ihren Adern kletterten. Das
Sensorium hellte sich später gänzlich auf, und nach entsprechender Be¬
handlung besserte sich auch die Hemiplegie soweit, daß Pat., wenn auch
schwer, gehen konnte, doch blieb ihre Stimmung labil. Sie verblieb in
der Klinik bis 5. II. 1911, als sich in den linken Extremitäten eine leichte
Kontraktur ausbildete; Pat. wurde in gebessertem Zustande in häusliche
Pflege gegeben.
2. Der 55 jährige Beamte Karl S. erlitt am 28. XI .1912 eine Apo¬
plexie, aus welcher sich eine rechtseitige Hemiplegie mit Sprachstörung
entwickelte. Pat. wurde am 2. XII. 1912 aus der medizinischen in meine
Klinik überführt, weil er verwirrt und unruhig war, stets das Bett ver¬
lassen wollte, nach Hause drängte und die verordneten Medikamente
nicht nahm. Schwankende Gemütsstimmung; zeitweise reizbar selbst
dann, als er unbehilflich im Bett lag. Mangelhafte Orientierung, schwer
verständliche Sprache. Später Aufhellung des Sensoriums und Besserung
der Lähmungserscheinungen; nun ist er imstande, die anamnestischen
Daten recht verständig anzugeben. Am 14. I. 1913 wird Pat. verwirrt,
beginnt zu konfabulieren. Er erzählt, in der Stadt K. gewesen zu sein,
wo ihn ein junger Mann spazieren führte, worauf er in ein Krankenhaus
gebracht wurde, dort bekam er zwei Klafter Holz, dessen Kleinmachen
er dem Wärter übertrug, dieser jedoch gab ihm nichts davon, so daß
er im kalten Zimmer weilen mußte. Am 15. I. ist Pat. unruhig, zerreißt
das Leintuch, läßt den Urin unter sich. Am 25. I. abermals aufgeregt
und verwirrt, später deprimiert. Am 30. I. klagt er weinend, daß sich
Arzte und Wärter nicht um ihn kümmern, und daß ihn die Kranken
belästigen; er will fortwährend das Bett verlassen. Am 7. II. wirft er
seine Bettwäsche herum, schreit und weint, hält den Arzt für einen Priester,
bittet denselben um die Erlaubnis, zur Beerdigung gehen zu dürfen, da
sein Sohn gestorben sei; das Badezimmer hält er für den Aufbahrungs-
raum des Leichenhauses. Während des Bades klagt er, daß er in
einen Juden verwandelt würde, weil man ihn in ein rituelles Bad setze.
Bei einer anderen Gelegenheit erzählte er, auf der Margaretheninsel pro¬
meniert zu haben. Später ward Pat. immer verwirrter und unruhiger,
zerwarf seine Kleider und Bettwäsche, wollte stets fortgehen, schleuderte die
Bettwäsche herum, und unter diesen Symptomen erfolgte der Tod am 7.111.
2. L y s s a. Seitdem die Pastmrsvhen Schutzimpfungen syste¬
matisch und sachgemäß zur rechten Zeit durchgeführt werden, sind
die Lyssafälle und die im Anschlüsse daran entstehenden Psychosen
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Klinische Mitteilungen.
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seltener geworden. Diesem Umstande ist es auch zuzuschreiben, daß
derartige Schilderungen in der Literatur immer seltener werden.
Mit der Lyssa habe ich mich seit 1885 viel befaßt Reichliche Ge¬
legenheit hierzu boten mir jene Fälle, welche in die früher die psy¬
chiatrische Klinik bildende städtische Beobachtungsabteilung ein¬
geliefert wurden. Von 1885 bis 1 Oktober 1908 gelangten insgesamt
41 Personen zur Aufnahme, darunter 32 Männer und 9 Weiber. Dem
Alter nach waren: 1—10 jährig 10, 11—15 jährig 8, 16—20 jährig 4,
21—25 jährig 2, 26—30 jährig 5, 31—35 jährig 1, 36—40 jährig 1,
41—45 jährig 3, 46—50 jährig 1, 51—55 jährig 1, 56—60 jährig 4,
66—70 jährig 1 Person Demnach entfällt der überwiegende Teil
der Kranken auf das jugendliche Alter (24 Kranke). Die kürzeste
Inkubationszeit betrug 21, die längste 83 Tage nach erfolgtem Biß.
Mit Ausnahme eines Falles, wo eine 17 jährige Frau von einer wütenden
Katze am linken Daumen gebissen wurde, stammten sämtliche Bisse
von Hunden. Die Bißstelle war zumeist an der oberen Extremität
oder an verschiedenen Stellen des Gesichtes und verursachte in
manchen Fällen bloß leichte Hautabschürfungen.
Sehr instruktiv ist der Fall jener 7 Personen, welche in Neupest
am 10. und 11. Dezember 1885 von demselben Hunde gebissen wurden,
und welche ich sämtlich persönlich untersuchen konnte. Bei dreien
davon (4, 11 und 15 jährige Personen) kam die Krankheit zum Aus¬
bruch und endete letal; den Verlauf konnte ich bis zu Ende beobachten.
Die vier anderen (13, 28, 50 und 55 jährige Personen) wurden von der
Krankheit verschont und blieben am Leben. Von diesen 7 Fällen
kam die Lyssa bei jenen zum Ausbruche, welche nur leichtere Ver¬
letzungen erlitten, was damit erklärt werden kann, daß bei den stär¬
keren Verletzungen von der stärkeren Blutung die Wunde quasi
ausgewaschen wird (eine Ausnahme bildet der 13 jährige Junge,
welcher am linken Arm und Handrücken stärkere Verletzungen erlitt
und stark blutete); weiter ist auffallend, daß eher die jüngeren Per¬
sonen erkrankten; der momentane ärztliche Eingriff (Ausschneidung
der Wunde, Kauterisation usw.) hat den Ausbruch der Krankheit
nicht beeinflußt. Von den Überlebenden standen nach dem Bisse
in ärztlicher Behandlung zwei, die anderen zwei wurden nicht be¬
handelt; von den an Lyssa Verstorbenen wurde bloß einer behandelt,
die anderen nicht.
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BO
Moravcsik,
Sowohl diese als auch andere von mir beobachtete Fälle weisen
darauf hin, daß bei der Lyssa mit einer gewissen individuellen Dis¬
position gerechnet werden muß. Auch in anderen Fällen konnte ich
nach weisen, daß die Krankheit trotz starker Verletzung und heftiger
Blutung und trotz ärztlicher Behandlung zum Ausbruch gelangte.
Die Lyssa ist eine fieberhafte Infektionskrankheit, bei welcher
in den seltenen Fällen eines längeren Verlaufes gewisse Temperatur¬
schwankungen auftreten, und wie ich auf Grund systematischer und
zweistündlich vorgenommener Messungen bereits 1886 nachgewiesen
habe, pflegt die Temperatur bis zum tödlichen Ausgange ständig
zuzunehmen, auch bis über 41° C, so daß die Höhe der Temperatur
das jeweilige Stadium der Krankheit bezeichnet. Die Zahl der Puls¬
schläge beträgt 108 bis 160 in der Minute, die der Atemzüge 30—36;
die Atmung ist unregelmäßig, oft oberflächlich.
Nach meinen Erfahrungen wird der Ausbruch der Krankheit
von 2—4 Tage andauernden Prodromalerscheinungen eingeleitet,
während welcher der Betreffende über Kopfschmerz, Ohrensausen
und Hitzegefühl klagt; die Pupillen sind erweitert, ihre Größe schwankt
fortwährend; der Blick ist unstät; von der Narbe der Bißwunde
strahlen Kribbelempfindungen aus, später stechende, bohrende
Schmerzen. Zeitweise erfolgt einige Sekunden dauernder Atmungs¬
stillstand. Dabei sind die Kranken appetitlos, mißmutig, das Schlucken
fällt ihnen besonders schwer, sie haben eine Empfindung, als ob etwas
in ihrem Schlunde stecke.
Unter stetig zunehmenden Atmungs- und Schlingbeschwerden
kommt die Krankheit zum Ausbruch. Der Kranke wird unruhig, auf¬
geregt, findet nirgends Ruhe, greift sich fortwährend in den Rachen.
Dann bekommt er vor allem, was er schlucken soll, einen Abscheu,
weil der Schlingakt eine schmerzhafte Kontraktur sämtlicher in
Betracht kommender Muskeln verursacht. Der Kranke wird von
heftigstem Durstgefühl gequält, verlangt fortwährend Wasser, zum
Trinken selbst bereitet er sich mühevoll vor, wie mit sich selbst
kämpfend. Endlich erhebt er das Glas zum Mund und schüttet plötz¬
lich einige Tropfen hinab; doch sofort verzerrt er das Gesicht, dasselbe
wird zyanotisch, die Augen treten stark aus den Höhlen, in den Atmungs¬
muskeln treten für die Dyspnoe charakteristische Bewegungen auf;
der Kranke bekommt Erstickungserscheinungen, Brechreiz und
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Klinische Mhteflnnren.
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schlägt mit den Händen um sieh. Nach eingetretener Ruhe starke
Salivation. Die Augen sind eingefallen, von blauen Ringen umgeben.
Die Pupillen erweitern sieh sukzessive ad maximum und reagieren
gegen Ende der Krankheit überhaupt nicht Im Gebiete der Sinnes¬
organe besteht eine erhöhte Reizbarkeit Die Kranken meiden das
Licht, beim Tönen der Stimmgabel zucken sie zusammen, knirschen
mit den Zähnen: in einigen Fällen beobachtete ich Diplopie. Photopsien,
verschiedene Klangsensationen: Knistern. Knattern. Rauschen. Im
Endstadium der Krankheit jedoch tritt eine Abstumpfung in der
Funktion der Sinnesorgane ein.
Sämtliche Sehnen- und Muskelreflexe sind gesteigert, insbesondere
die mechanische Muskelerregbarkeit. welche mit fortschreitender
Krankheit zunimmt, und sogar 2 Stunden nach dem Tode noch bedeu¬
tend ist. Demgegenüber nehmen die Sehnenreflexe langsam ab. können
!>ogar kurz vor dem Tode nicht mehr auslösbar sein.
Mit dem 3/arei/schen Polygraphen habe ich die Kurven des
Tremors aufgenommen. Diejenige Hand, an welcher der Biß erfolgte,
und von wo die charakteristischen Sensationen ausstrahlten, zitterte
stärker, und das Zittern erreichte seinen Höhepunkt unter vorüber¬
gehenden Verminderungen. Bezüglich der Zahl der Zitteraussehläge
wirf der Tremor eine Ähnlichkeit mit dem der Paralysis agitans
lauf eine Kurvenlänge von l cm entfallen 8—9 Ausschlägel, während
die Gestalt derselben eher an den hysterischen Tremor erinnert.
Ferner zeigen die Kranken reichliche Speichel- und Schwei߬
absonderung. Erstere steigert sich mit zunehmender Krankheit
derart, daß der ausfließende Speichel um den Patienten eine Lache
bildet Die Schweiße bleiben später aus. und nur kurz vor dem Tode
kann man auf der Stirne des Kranken wieder Schweißtropfen er¬
blicken. Harnmenge vermindert, mit hohem spez. Gewicht und Eiweiß-
?ehalt
Die Patienten klagen über das Gefühl eines Fremdkörpers in
der Kehle, sind bestrebt, denselben auszuhusten, und führen ihren
Finger in den Rachen ein. Ab und zu klagen sie über ein Gefühl,
als ob ihre Ohren verstopft oder als ob ein Tier in dieselben gekrochen
wäre.
Dm Bewußtsein ist lange erhalten, und deshalb leiden die Kranken
unendlich viel: sie rufen fortwährend um Hilfe, verlangen Wasser,
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Moravcsik,
um ihren quälenden Durst löschen zu können, sind aber unfähig,
dasselbe hinabzuschlucken.
Nach der Erregung pflegt, obwohl nicht in allen Fällen, ein deli-
rantes Stadium einzutreten, in welchem die Umstände der Verletzung
(Biß) mitspielen, mit lebhafter Konfabulationsneigung. Das Bewußt¬
sein ist durch massenhafte Halluzinationen getrübt, welche zumeist
schreckhaften Inhaltes sind und zu rhapsodischen, fragmentären
und losen Wahnbildungen Anlaß bieten. Hauptsächlich findet man
Visionen und Akoasmen, und auch lebhafte Parästhesien können Vor¬
kommen. Die Kranken meinen drohende Stimmen, Lärm, Gewehr¬
geknatter, Stöhnen zu hören, sehen umherlaufende Menschenmassen.
Infolge der Illusionen verkennen sie ihre Umgebung und Personen. Die
bisher nicht gefährlichen Kranken werden nun agitiert, aggressiv, zer¬
stören ihre Liegestelle, kratzen den Anstrich der Wände herab, werfen
alle Gegenstände herum, poltern an der Türe, schlagen die Fenster ein.
Einer meiner Kranken sah einen durch das Fenster auf ihn gerichteten
Gewehrlauf und warf in seiner Verzweiflung herabgekratzte Stücke
des Wandanstriches gegen das Fenster. Dann wieder hören die Kranken
die Stimmen ihrer Angehörigen und lassen sich mit denselben in
Gespräche ein. Sie laufen ziel- und zwecklos herum, zerreißen ihre
Wäsche, verwirren ihr Haar, schimpfen die Umgebung, klagen, daß
man sie mit Medikamenten und Injektionen zugrunde richte, und
manche wollen einen Selbstmord begehen. Bei Annäherung Fremder
wollen sie ängstlich fliehen. Die Reflexerregbarkeit ist derart gesteigert,
daß nicht nur das Anblasen, sondern der Atemhauch imstande ist
Erregungszustände hervorzurufen. Auf starkes Anrufen klärt sich
mitunter das Bewußtsein, gerade wie beim Delirium tremens im
Kulminationsstadium der Krankheit, aber eine erhöhte Suggestibilität
findet man nicht. Das Endstadium hat einen asthenischen, mussi-
tierenden Charakter, Inanitionsdelirien pflegen aufzutreten, die Kranken
vollführen einzelne zwecklose Bewegungen, greifen mit den Händen
in der Luft herum, wälzen sich am Boden, murmeln unverständliche
Klagen vor sich, perzipieren nicht die gestellten Fragen und werden
schließlich komatös.
Die Stimmung ist meist gedrückt, ängstlich, wird nur ausnahm-
weise sarkastisch und heiter, was im Gegensatz zu ihrem hypomanischen
Zustand mitleiderregend und oft abstoßend wirkt.
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Klinische Mitteilungen.
33
Die Gesichtsmuskeln durchzuckt es in abwechslungreichstem
Spiel, wodurch das Gesicht zur Grimasse und der Ausdruck einmal
weinerlich, dann lachend wird.
Langsam werden die Bewegungen ataktisch, die Kranken gehen
schwankend einher, fallen oft zu Boden. Die Extremitäten zittern
stark. Später vermögen die Kranken weder zu gehen noch zu stehen,
kollern am Boden umher, beschmieren sich mit den eigenen Exkre¬
menten, reißen sich die Kleider vom Leibe, greifen sich die Genitalien
ab. Schließlich tritt das konvulsive und paralytische Stadium ein.
Anfänglich treten in einzelnen Muskelgruppen des Gesichtes, der
"beren und unteren Extremitäten klonische und tonische Zuckungen
auf, welche sich später auf die gesamte Körpermuskulatur erstrecken.
Ausgesprochener Opistho- und Episthotonus tritt auf. Dabei wird
das Bewußtsein zunehmend trübe, der Kranke perzipiert nicht mehr,
die ad maximum erweiterten Pupillen reagieren nicht mehr. Das
Gesicht wird zyanotisch, die Kranken haben Erstickungsanfälle.
Reichlicher Speichelfluß. Zeitweise läßt der Kranke bellende Töne
hören, der Urin fließt spontan ab. Schließlich tritt allgemeiner Tetanus
auf, das Atmen wird immer schwieriger, bleibt für längere Zeit aus,
und der Kranke stirbt unter asphyktischen Erscheinungen.
Das ganze Krankheitsbild läuft in 1—1V 2 Tagen ab, kann mit¬
unter etw r as länger andauern,, in einem meiner Fälle trat der Tod erst
nach 5 Tagen ein.
Ein Teil der Kranken kann bis zum letzten Stadium bei voll¬
kommener Besinnung bleiben, diese erdulden dann die größten Qualen,
welche selbst mit beruhigenden Mitteln kaum oder überhaupt nicht
gemildert werden können, und diesen kann man im günstigsten Fall
nur vorübergehende Erleichterung verschaffen. Die quälendste Er¬
scheinung ist der Durst, dessen Milderung die mit jedem Schluckakt
verbundene schmerzhafte Reaktion unmöglich macht.
3. Operative Eingriffe. Bei der Erforschung der ur¬
sächlichen Momente psychischer Störungen nach operativen Ein¬
griffen taucht die Möglichkeit verschiedener Faktoren auf, wie dies
von mehreren Seiten, u. a. auch von Kraepelin, betont wird. Solche
sind in erster Reihe die angeborene oder erworbene individuelle Dis¬
position, namentlich die neuropsychopathische Konstitution, haupt¬
sächlich die Hysterie, ferner Involutionszustände, Intoxikations-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXL 1 . 3
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prozcsse, Alkohol, Erschöpfungszustände nach großem Blutverlust,
und als Gelegenheitsursache kann auch die gemütliche Erregung,
die Angst dienen. In manchen Fällen kann der operative Eingriff
eine bereits latente oder eine remittierende psychische Erkrankung
zum Ausbruch bringen.
Ich habe 8 derartige Fälle beobachtet, darunter 5 bei Weibern
und nur 3 bei Männern. Bei den letzteren war Alkohol in der Anamnese
zweifellos nachweisbar. Bei den weiblichen Patienten handelte es
sich dreimal um Gebärmutter-, je einmal um Magen- resp. Augen¬
operation, bei den männlichen zweimal um Augenoperation (Katarakt
und Iridektomie) und einmal um Amputation des Beines. Bei den
Weibern traten einmal depressive, viermal halluzinatorische Er¬
scheinungen auf, bei den Männern stets Delirien auf alkoholischer
Grundlage.
1. Die 42 jährige Taglöhnerin B., in deren Familie mehrere „Lungen¬
kranke“ waren, wurde bereits vor längerer Zeit wegen Adnextumor operiert,
ohne jeden nachteiligen Einfluß; sie war stets eine fleißige, arbeitsame,
aber etwas empfindliche Frau. Am 20. XI. 1908 Entfernung der Portio
vaginalis uteri in der Ilebammenschule. Noch am selben Abend wurde
sie unruhig, sprang aus dem Bett, erblickte in den Ärzten ihre Verderber,
fürchtete sterben zu müssen. Die Nacht verbrachte sie schlaflos, wollte
unbekleidet fortlaufen, flehte kniend um Erbarmen und bat, so lange
am Leben bleiben zu können, bis sie ihre Kinder besucht habe. Am 22.
wurde Pat. in meine Klinik für Geistes- und Nervenkrankheiten über¬
führt, wo wir gleichgroße gut reagierende Pupillen, Zittern der Zunge,
lebhafte Knie- und Achillessehnenreflexe fanden; die Kranke war fieber¬
frei, perzipierte gut und gab auf Fragen richtige Antworten. Aber die
Stimmung war deprimiert, ängstlich, weinerlich; flehte um Vergebung,
küßte jedem die Hand. Selbstbeschuldigungen: Jeder verachte sie, sie
sei eine schlechte Person, habe viel gesündigt, weil sie mit einem Mit¬
bewohner geschlechtlich verkehrt habe. Sie erzählte, sie sei nach der
Operation sehr traurig geworden, hörte Stimmen aus verschiedenen Gegen¬
ständen, welchen sie entnahm, daß sie ihr Leben schmählich lassen müsse,
und welche ihr Vorwürfe machten, daß sie nicht imstande sei, ihre Kinder
zu erziehen. Im weiteren Krankheitsverlauf ist Pat. deprimiert, weiner¬
lich, ernährt sich mangelhaft. Zeitweise bittet sie die Ärzte um Ver¬
zeihung, weil sie Böses begangen und häßliche Worte gebraucht habe,
und deshalb müsse sie leiden; am besten wäre, wenn sie stürbe, wenigstens
müßte sie dann nicht leiden. Vom 22. XII. an beruhigt, wurde Pat.
am 27. nach Hause gebracht.
2. Frau Sch., 36 jährig, Buchhaltersgattin; in ihrer Familie kamen
mehrere „nervöse“ Personen vor. Stets eine ruhige, arbeitsame Frau,
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Klinische Mitteilungen.
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hat drei Kinder geboren, zweimal abortiert, in der letzten Zeit heftige
Blutungen, nach welchen sie nervös, reizbar wurde und viel an Kopf¬
schmerzen litt. Wegen hochgradigen Prolapsus uteri wurde am 5. VI. 1906
Totalexstirpation des Uterus per vaginam vorgenommen; unmittelbar
danach wurde Pat. reizbar; glatte Wundheilung. Am 10. VI. derartige
Steigerung der Erregung, daß Pat. schrie, alles zertrümmerte, weshalb
sie am 16. in unsere Klinik übergeführt werden mußte. Bei der Aufnahme
normaler Pupillenbefund, lebhafte Kniereflexe, fieberfrei. Pat. ist sehr
unruhig, wirft die Kissen umher, greift mit den Händen in die Luft, schlägt
gegen die sich Nähernden, ist verwirrt, desorientiert, unzusammenhängende
Sprache, verkennt ihre Umgebung, verwechselt die Namen, halluziniert
lebhaft. Sie verwahrt sich dagegen, daß man sie Hure und Jüdin nenne.
Nimmt die Nahrung nicht an, führt dieselbe wohl zum Munde, spuckt
sie aber aus. Am 17. VI. schwach, erschöpft, unruhig, sucht im Bett
herum, spricht mit sich selbst, schlägt ihre Umgebung, nimmt keine
Nahrung an. Kochsalzinfusion. Am 23. VI. zerreißt sie ihr Hemd, ist
sehr unruhig. Im weiteren Krankheitsverlauf muß sie künstlich ernährt
werden, nennt die Ärzte „Rindviehdoktoren“, welche ihr Blut ausgesogen
und ihr einen Steigbügel auf den Kopf gesetzt haben (Schädelmessung);
verläßt ihr Bett, hämmert an der Türe. Vom 11. VII. an ißt Pat. von
selbst, ist aber verwirrt, erkennt nicht ihre Besucher, schimpft dieselben,
singt, schreit, rauft, schläft nicht. «Hört die Stimmen ihrer Kinder und
ler Gespenster, welche ihr durch die Wand zullüstern, antwortet auf
dieselben. Zeitweise neigt sie sich gegen die Öffnung der Heizung, lauscht,
ragt, gegen die Zimmerecke gewendet: „Eugen, bist Du hier?“ Wirft
die von Besuchern gebrachten Trauben denselben an den Kopf. Später
i geringe Aufhellung, abwechselnd mit Verwirrung und Nahrungsver¬
weigerung, lebhafte Halluzinationen und unzusammenhängende Sprache.
Zeitweise blickt sie starr nach einer Richtung, winkt dorthin, dann klettert
sie herum. Konversiert mit ihren Kindern und Gespenstern. Einmal
bemerkt sie: „Die Gespenster sagen, ich wäre eine Geisterbeschwörerin“.
Am 2. IX. beschimpft sie ihren Gatten, welcher sie besucht ; macht ihm Vor¬
würfe, daß er eine Geliebte habe. Auf Fragen gibt sie sinnlose Antworten.
Am 10. XI. beschimpft sie abermals den Gatten und macht ihm Vorwürfe;
ist desorientiert, spuckt viel, zerreißt Kleider und Bettdecke, wickelt
ihre Füße in die Fetzen, ist grob, gebraucht triviale Ausdrücke. Am
10. XII. wird sie in eine Irrenanstalt übergeführt, wo sie stets verwirrt war,
später entwickelten sich Erscheinungen von Demenz, und Pat. ist noch
derzeit, nach 6% Jahren, in der -Anstalt.
3. Die Eltern der 53 jährigen beschäftigunglosen Esther M. sind in
hohem Alter gestorben, keine neuropathische Belastung, hat angeblich
nur an Masern gelitten. Sechs Schulen besucht, war gute Schülerin. Mit
15 Jahnen menstruiert, hatte sie ihre Periode regelmäßig bis zum 50. Lebens¬
jahre. Am 21. II. 1910 wurde sie in die Augenklinik aufgenommen, wo
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ihr Auge wegen epibulbären Karzinoms entfernt werden sollte; schon
damals hatte sie große Angst, daß ihr ein Unheil zustoßen werde. Am
23. II. Enukleation des Auges. Die Operation verlief glatt, danach fieber¬
frei und vollkommen ruhig. Am fünften Tage nach der Operation trat
Unruhe auf, Pat. wurde verwirrt, klagte, daß man sie umbringen wolle.
Sie hörte, daß Kranke und Pflegepersonal über sie Verschiedenes sprachen,
sie eine Bettlerin schimpften, auch sagten die Leute, daß Pat. weder
Mann noch Kinder habe, deshalb sei an ihrem Tode nichts gelegen. Auch
drohte man ihr, in Kopf und Augen Spiritus zu schütten und sie so in
das Museum zu geben; sie fürchtete, daß man sie quälen, zusammen-
pressen und dressieren werde. Aus diesem Grunde weinte und klagt**
sie. Am 3. III. wurde sie wegen Verwirrtheit in die psychiatrische Klinik
übergeführt, wo außer den Folgen der Operation keinerlei besondere soma¬
tische Veränderungen gefunden wurden. Hier hat sie bloß am Tage der
Aufnahme Stimmen gehört; eine Frau hat ihr gesagt: „Ich erschlage
Dich wie eine Sau, und mache aus Dir Hackefleisch“. Anfänglich war
Pat. etwas mißtrauisch und gehemmt, aber bereits am 5. III. vollkommen
komponiert, ohne Halluzinationen. Pat. erwies sich als vollkommen
ruhig, perzipierte gut, gab zusammenhängende sinnfällige Antworten
erzählte ihre persönlichen Daten und die Vorgeschichte ihrer Krankheit
in tadelloser Weise, war in jeder Beziehung orientiert. Intelligenz und
Kenntnisse ihrer Bildung und gesellschaftlichen Stellung entsprechend:
benahm sich auch weiterhin ruhig und zuvorkommend. Am 15. III. geheilt
entlassen.
4. Die Mutter der 42 jährigen Kaufmannsfrau L. starb plötzlich an
einem „Gehirnleiden“, Vater gesund; ein Cousin väterlicherseits leidet
an „Herzkrämpfen“ (Epilepsie). Sie selbst hat sechs Volksschulklassen
besucht, erste Menstruation mit 15 Jahren, hatte ihre Periode regel¬
mäßig, heiratete mit 25 Jahren, hat sechs Kinder geboren und zweimal
abortiert. Nach fünfmonatigen Blutungen wurde ihr am 20. I. 1910 der
karzinomatöse Uterus per vaginam entfernt. Nach Angabe ihrer An¬
gehörigen hatte sie am 29. viele Besucher, was sie sehr aufregte; nament¬
lich die Bemerkung eines Angehörigen, daß sie nunmehr keine fromme
Jüdin sein könne, weil sie keine Gebärmutter habe, habe sie überaus irritiert.
Am nächsten Tage wurde die Kranke aufgeregt und verwirrt, sprach viel,
lärmte, so daß sie im Krankenhause nicht verbleiben konnte und in die
psychiatrische Klinik überführt werden mußte. Pat. mäßig entwickelt,
abgemagert, Pupillen auf Licht und Akkomodation gut reagierend; Hände
und die stark belegte Zunge zittern; die sichtbaren Schleimhäute blaß,
die Kranke scheint stark erschöpft zu sein. Kein Fieber. In hohem
Grade unruhig, verwirrt, agitiert, klettert fortwährend herum, macht
mit den Händen abweisende Bewegungen, stößt die sich Nähernden
weg, kost dann die Pflegerinnen und Mitkranken, will sie küssen, betastet
die Möbel und Fenster, will alles ordnen und reinmachen. Im Bett will
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Klinische Mitteilungen.
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sie nicht verbleiben, steht sofort auf. Spricht immer, Sprache inkohärent,
assoziiert die gehörten Worte. Spricht die deutsche und ungarische Sprache
mit jüdischem Jargon. Ihre Aufmerksamkeit kann nicht an einen Gegen¬
stand gebunden werden, sie ist zeitlich und örtlich desorientiert. Erblickt
in der Umgebung ihre Angehörigen und spricht dieselben als solche an.
Halluziniert lebhaft, wendet sich manchmal nach einer bestimmten Rich¬
tung, spricht dorthin und gestikuliert. Nachts ist sie schlaflos und klettert
herum. Mangelhafte Nahrungsaufnahme, feste Speisen nimmt sie über¬
haupt nicht an, die Milch nimmt sie in den Mund, spült sich aber mit
derselben den Mund aus und schluckt sie erst nach langem Zureden; dann
wieder verweigert sie die Annahme der Milch, weil in derselben Karbol
sei. Mit verwirrtem morosen Gesichtsausdruck sagt sie bei einer Gelegen¬
heit (Stenogramm): „Wir sind in Pest, ich bin in Budapest, im Dreck
ist etwas, ich bin Jüdin, orthodox koscher, nicht uns dort, wo Du bist,
wir haben kein Telefon, ich sage es nicht, also wo ist die Obermadam“.
„Ich sage, daß Ihr zerspringen sollt, wenn die Doktoren draußen sind,
sage ich es. Ich bin kein Grab, ich werde es Euch zeigen, wer das Grab
ist. Das wird Dir etwas vorbellen.“ Auch im weiteren Krankheitsverlauf
ist sie verwirrt, ständig unruhig, will aus dem Dauerbade hinaus. Nachts
stört und weckt sie die Mitkranken auf. Spült sich den Mund aus, weil
man in ihre Milch Karbol gegeben habe. Am 15. II. ist sie etwas ruhiger,
verbleibt im Dauerbade, gefragt erwacht sie für kurze Zeit wie aus einem
Traumzustand. Den Arzt spricht sie als „Herr Doktor“ oder als „Mein
•losefehen“ (Name ihres Vetters) an. Wenn sie einige Zeit vernünftige
Antworten gibt, ermüdet sie rasch. Als ihr Oheim, welcher Arzt ist, sie
besucht, zeigt sie anfangs Interesse für ihr Heim, wird aber dann rasch
verwirrter. Am 20. II. klagt sie über Ohrenschmerzen, weil ihr während
des Bades ein Hase in das Ohr gekrochen sei. Am 24. II. etwas ruhiger,
zeigt einiges Interesse, behält die Namen der Ärzte und Pfleger. Appetit
und Schlaf zufriedenstellend, hat 3,5 Kilogramm zugenommen. Wird
um 27. II. in die Abteilung für ruhige Kranke versetzt. Dort erzählt sie,
daß sie bei ihrer Einbringung in die Klinik krank gewesen sei, verschiedene
Gestalten gesehen habe, welche ihre Angst einflößten; so habe sie Leichen
auf der Diele gesehen, aus welchen dann lebende Gestalten geworden
seien. Auch Worte habe sie gehört, welche sie bedrohten, erschreckten
und verspotteten und ihr häßliche Dinge zuriefen. Auch Gottes Stimme
habe sie gehört. In der Milch verspürte sie einen bitteren Geschmack, und
glaubte, man habe ihr Karbol hineingeschüttet. Den Direktor der Klinik
hielt sie für ihren Oheim. Aber einzelner Geschehnisse kann sie sich nicht
'-utsinnen. Am 1. III. erzählt sie, daß sie nach der Operation viele Be¬
sucher hatte, welche sie aufregten. Am nächsten Tage habe sie bereits
stimmen gehört: Der verstorbene Wunderrabbi sprach zu ihr, tröstete
-sie und befahl ihr fromm und gut zu sein, sie solle keine Angst haben,
denn sie werde doch in den Himmel gelangen. Dann ließ er sie jüdische
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Moravcsik,
Gebete sagen. Auch hat sie ihre verstorbene Mutter gesehen, welche ihr
Ratschläge erteilte. Ihre Kinder weinten und riefen sie nach Hause.
Ihre verstorbene Mutter sei aus dem Grabe auferstanden. Sie sah, daß
ihr jemand die Haube auf den Kopf gab, welche man ihrer Mutter bei
der Beerdigung umband. Diese Haube war durch das lange Verweilen
unter der Erde bereits ganz gelb geworden. Auch habe sie böse Träume
gehabt, wegen welcher sie aufschreckte. Die Sinnestäuschungen hörten
langsam auf, Pat. wurde ganz ruhig und geordnet. Bis zum 4. III. hatte
sie 7 Kilogramm an Gewicht zugenommen; am 6. wurde sie geheilt ent¬
lassen.
5. Aus den anamnestischen Daten der 37 jährigen Landmannsfrau
Si... kann keine Belastung festgestellt werden; hat stets normales Be¬
tragen aufgewiesen. Im September 1911 verschluckte sie angeblich einen
Knochen, seither Schmerzen im Magen und ständige Abmagerung. Wurde
am 4. XII. in die chirurgische Klinik aufgenommen, wo ein Magengeschwür
diagnostiziert wurde. Am 11. XII. Laparotomie, bei welcher Gelegenheit
in der Pylorusgegend ein ausgebreitetes Geschwür gefunden wurde;
Gastroenteroanastomosis retrocolica postica, der Pylorus wurde mit
starkem Seidenfaden ausgeschaltet, die Bauchwände vernäht. Am 20. XII.
wurde die fieberfreie Kranke sehr unruhig und aggressiv. Am nächsten
Tage verweigert sie Aufnahme von Speisen und Medikamenten, am darauf¬
folgenden nimmt sie nach langem Zureden etwas Milch zu sich, beruhigt
sich auch ein wenig. Am 26. Entfernung der Nähte, Wundheilung per
primam. Am 27. abermals unruhig, murmelt sie unverständliche Worte
vor sich, reißt sich die Wundränder mit den Fingernägeln auf. Am 30.
verweigert sie jede Nahrungsaufnahme, insultiert und bewirft ihre Mit¬
kranken. In der Nacht des 31. XII. lärmt sie, will fliehen. Am 1. I. 1912
vollkommen verwirrt und aggressiv, wird aus diesem Grunde noch am
selben Tage in die psychiatrische Klinik eingebracht, wo sie höchst
erregt und unruhig ist, schreit, um sich schlägt, kratzt und beißt. Ruft
fortwährend: „Diebe, Diebe“. Totale Nahrungsverweigerung, muß künst¬
lich ernährt werden. Widersetzt sich einer eingehenden Untersuchung.
Auch im weiteren Krankheitsverlaufe ist sie unruhig, halluziniert, sieht
Gestalten, spricht verwirrt, fürchtet sich vor jeder Nahrung. Sobald
sich jemand nähert, schlüpft sie unter die Bettdecke. Am 16. I. liegt
sie ruhiger im Bett; besondere somatische Veränderungen nicht nach¬
weisbar. Am 27. I. ruhig, antwortet aber nicht auf Fragen. Am 1. II.
liegt sie wortlos, verkriecht sich unter die Bettdecke. Am 13. II. wortlos,
negativistisch. Vom 23. bis 26. Menstruation, nach derselben ruhiger,
aber noch passiv. Im weiteren Krankheitsverlauf stets ruhig, spricht
nicht, ernährt sich aber regelmäßig und schläft. Im April sukzessive
Beruhigung, verläßt die Klinik am 17.
Bei keiner einzigen der weiblichen Kranken war Alkoholgenuß
nachzuweisen.
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39
6. Bei dem 52 jährigen Wagenordner P. und dem 78 jährigen Land-
manne Sz. (7.) war die alkoholische Grundlage nicht bloß in der Anamnese,
sondern auch in den körperlichen Erscheinungen nachweisbar. Dem P.
wurde das linke Bein am 26. XII. 1909 von einem Lastwaggon zertrümmert,
weshalb er in die chirurgische Klinik übergeführt wurde, wo ihm am 29. XII.
der linke Unterschenkel im unteren Dritteile amputiert wurde. Bereits
in der darauffolgenden Nacht begann er zu delirieren, sah viele Ratten
und Mäuse. Wurde aus diesem Grunde am nächsten Tage in die psych¬
iatrische Klinik eingebracht, wo wir gleich große, gut reagierende
Pupillen, erweiterte oberflächliche Gesichtsgefäße, Zittern der Hände,
lebhafte Kniereflexe, empfindliche Magengegend, Lebervergrößerung
und starke Schweiße fanden. Pat. ist ängstlich, halluziniert lebhaft:
sieht viele Feuerwehrleute, Mädchen, Pferde, lange Eisenbahnzüge,
Waggons, Lokomotiven, Frösche, Mäuse, Ratten, Katzen, Hunde, schwarze
und rote Schweine, rote Hähne, Käfer. Die Halluzinationen hören in
wenigen Tagen auf, und Pat. ward am 8. I. geheilt entlassen.
7. Bei Sz., welcher chronischer Alkoholist ist, wurde am 23. IX. 1910
eine Kataraktoperation vorgenommen; bis 30. war er vollkommen ruhig,
wurde dann aufgeregt, benahm sich verwirrt, weshalb er am 1. X. in die
psychiatrische Klinik übergeführt werden mußte. Ausgesprochene somatische
Erscheinungen des chronischen Alkoholismus; zittert am ganzen Körper,
fürchtet eingesperrt zu werden, halluziniert lebhaft, beruhigt sich am
nächsten Tage, gibt an, sich in der anderen Klinik im Wirtshause gewähnt
zu haben, wurde dann von vielen Leuten angegriffen, welche ihm Schenkel
und Füße mit Nadeln stachen und dann bemerkten: „Lassen wir ihn da,
es ist ja ohnedies schon spät“. Als er in die andere Klinik gebracht wurde,
vermeinte er, daß man ihn ermorden wolle. Pat. wird am 10. X. in kom¬
ponierten Zustand entlassen.
8. Auch der 70 jährige E. genoß geistige Getränke, und wenn er Auf¬
stoßen hatte, tropfte er „Franzbranntwein auf Zucker“ und aß diesen.
Er wurde am 16. IX. 1911 wegen Glaukom in der Augenklinik operiert,
war aber bereits am Nachmittag erregt, schrie, daß ihn die Ärzte ver¬
giften wollten, und drängte unbedingt nach Hause. Er wurde noch am
selben Tage in meine Klinik übergeführt. Erweiterte Blutgefäße des Ge¬
sichtes, Tremor der Hände und Zunge. Pat. weiß, wo er sich befindet,
und daß er operiert wurde; nach der Operation habe man ihm etwas zum
Trinken gegeben, was Gift enthielt. Er sah, daß sich die Wärterinnen
unzüchtig benahmen, vor seinen Augen geschlechtlich verkehrten, und daß
an den Wänden gelbe und rote Kreise hervortraten. Er protestiert leb¬
haft gegen seine Überführung, weil man mit einem steuerzahlenden Bürger
nicht in dieser Weise umgehen darf. Zeitweise schlägt er in humoristische
Laune über, gebraucht triviale Ausdrücke. Nachts schläft er nicht,
schwitzt, will fortwährend Weggehen, fordert seine Entlassung. Am 20. IX.
ist er bereits beruhigt, beginnt einzusehen, daß er krank war. Am 22.
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erklärt er, sich unordentlich betragen zu haben, und bittet um Verzeihung.
Hiernach ist Pat. stets ruhig, erzählt, daß ihm in der Augenklinik nach
der Operation der Kopf verbunden wurde und er sich recht elend gefühlt
habe. Die Vergiftung war nur eine Einbildung. Pat. verläßt am 24. IX.
die Klinik mit seiner Tochter.
Meine Fälle weisen nun darauf hin, 1 daß auf Grund einer ent¬
sprechenden Disposition, bei Trinkern auf Grund der Alkoholentziehung,
die Operation selbst bloß als auslösendes, unterstützendes Moment
wirkt. Bei Frau L. handelte es sich wohl mehr um einen Erschöpfungs¬
zustand.
II. Beiträge zu den künstlich hervorge¬
rufenen Halluzinationen. — Die Halluzinationen bilden
eines der wichtigsten und häufigsten Symptome der Psychosen; aus
diesem Grunde konzentriert sich auf dieselben das ständige Interesse,
und hat man über ihre Entstehung mannigfaltige Theorien aufgestellt.
Ich verweise an dieser Stelle bloß auf die tiefgehenden und genauen
Analysen, welche in den letzten Jahren verschiedene Arbeiten, ins¬
besondere die von Goldslein 1 ), ferner von Hereroch 2 ), Berze 3 ) und
Jasper 4 ) enthalten.
Mit der Frage der Halluzinationen befasse ich mich bereits seit
Jahren, namentlich mit dem Einfluß peripherer Reize auf dieselben,
und ich habe meine diesbezüglichen Untersuchungsergebnisse zum
Teil in ungarischer und in deutscher Sprache 5 ) veröffentlicht.
Meine auf die Halluzinationen bezugnehmenden Untersuchungen
und Experimente haben mich im allgemeinen zu der Annahme ge¬
führt, daß zur Entstehung von Halluzinationen in erster Reihe eine
durch mannigfaltige Ursachen hervorgerufene abnorme Aktivität
der kortikalen Sinneszentren erforderlich ist, weil nur so die vicl-
J ) Goldstein, Zur Theorie der Halluzinationen. Arch. f. Psycli.
Bd. 44. — Weitere Bemerkungen zur Theorie der Halluzinationen. Zeitschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psycli. Orig. 14. Bd., 4.—5. H.
2 i Heveroch, Zur Theorie der Halluzinationen. Arch. f. Psycli.
Bd. 47.
3 | Berze, Bemerkungen zur Theorie der Halluzinationen. Arch.
f. Psycli. Bd. 46.
1 ) Jasper, Zur Analyse der Trugwahrnehmungen. Zeitschr. f. d.
ges. Neurol. u. Psycli. Orig. Bd. 6.
5 ) Moravcsik, Künstlich hervorgerufene Halluzinationen. Ztlbl. f.
Nervenheilk. u. Psycli. Nr. 209.
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Klinische Mitteilungen.
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seitige und fortwährend wechselnde Verwebung von Erinnerungs¬
bildern und Vorstellungen erklärlich ist. Damit aber die Erinnerungs¬
bilder im Bewußtsein den Eindruck eines realen Sinneseindruckes
hervorrufen können, ist es erforderlich, daß dieselben mit entsprechen¬
den Bewegungsempfindungen verbunden werden, d. h. daß sie von
einem Muskel-(Innervations-)gefühl begleitet sind, welches sich mit
der effektiven Wahrnehmung vergesellschaftet und einerseits aus der
Einstellung des Sinnesorganes auf den imaginären Reiz, andererseits
aus den zur räumlichen und lokalisatorischen Beurteilung erforder¬
lichen veränderten Muskelinnervationsempfindungen und aus den
direkten Bewegungsreaktionen der Sinnesorganbezirke auf die Reiz¬
einwirkung entspringt. Das Sinnesorgan wird somit quasi in der Weise
eingestellt, als ob es einen äußeren Eindruck aufnehmen müßte.
Eine derartige Assoziation der Empfindungs- und Bewegungs-(Muskel¬
gefühls-lErinnerungsbilder nach den Eindrücken wird durch die
bestehende Verbindung fernliegender kortikaler Zentren ermöglicht.
So konnte z. B. Fer'e beobachten, daß bei visuellen Sinnestäuschungen
die Pupillengröße entsprechend der Entfernung des imaginären Bildes
verschieden ist, und daß diese Wahrnehmung von einer Spannung
der Gesichtsmuskeln begleitet wird. Bei akustischen Täuschungen
entstand eine Spannung in der Ohrmuschel, in den Masseteren und
in den Stemo-cleido-mastoidei, was eine eigenartige Hautfalte hervor¬
brachte. in anderen Fällen zeigten sich artikulierende Bewegungen
in der Zunge und den Lippen. Täuschungen des Geruches und des
Geschmackes waren von einer Bewegung der Lippen, Zunge und Nasen¬
flügel begleitet, wozu sich in manchen Fällen Salivation gesellen
kann. Derartige feinere Muskelspannungen konnte auch ich beobachten.
Charakteristisch ist ferner die Äußerung einiger meiner Kranken,
daß sie die Töne nicht mit dem Ohre hörten, sondern in der Weise,
als ob jemand mit ihrem Mund und ihrer Zunge spräche. Die er¬
wähnte Annahme wird ferner unterstützt von dem Umstand, daß
das unter normalen Verhältnissen reproduzierte Erinnerungsbild,
wenn es auch auf einer mit Bewegung verbundenen Sinneseinwirkung
basiert, nie im aktiven Zustande der Bewegung erscheint, sondern
gleich wie beim Kinematogramm nur in einer fixierten Bewegungs¬
phase. es fehlt daher die Lebhaftigkeit, und es erscheint räumlich
nicht scharf projiziert. Demgegenüber erblickt der Halluzinierende
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>1 oravcsik,
sich lebhaft bewegende, handelnde, ihre Stellung verändernde Per¬
sonen, hört Stimmen aus der Ferne und aus der Nähe, er kann somit
lokalisieren. Die Dissoziation des Selbstbewußtseins läßt die Täuschung
vollkommen zur Geltung gelangen.
An dieser Stelle möchte ich bloß über einige neuere Beobach¬
tungen berichten, welche den Einfluß peripherer Beize auf die Hallu¬
zinationen namentlich bei Trinkern beweisen, und welche auch dar¬
legen, daß in den Halluzinationen einzelner Personen die individuellen
Neigungen und Momente der Beschäftigung zum Ausdruck gelangen.
Wie ich in meiner zitierten Arbeit darlegte, haben meine Ver¬
suche nicht nur ergeben, daß bei Entstehung der Halluzinationen
auch die Reizung peripherer Sinnesorgane den Impuls geben kann,
sondern sie unterstützen auch die Annahme, daß das Wesen der
Halluzinationen in einer abnormen Funktion der Hirnrinde zu suchen
ist. Diese Ansicht wird noch unterstützt durch die Erkenntnis jenes
Vorganges, welcher sofort nach Einwirkung des peripheren Reizes
beginnt und namentlich dadurch ganz besonders manifest wird, daß
unmittelbar nach erfolgter Reizeinwirkung ein in das Gebiet eines
anderen Sinnesorganes gehörendes komplexes und in allen seinen
Details scharf ausgeprägtes Bild in das Bewußtsein projiziert wird.
Beweise für den abnormen, pathologischen Zustana sind: die inadäquate
Reaktion auf den einwirkenden Reiz, die nicht entsprechende Re¬
produktion, die Verfälschung des Urteiles und des Bewußtseins. In
diesen Fällen reizt die periphere Einwirkung bloß die in ihrer Tätig¬
keit pathologisch gestörte Hirnrinde, welche sodann unabhängig
von der Qualität des Reizes, welcher als solcher gar nicht verwertet
wird, dem Charakter der Krankheitsform entsprechend reagiert.
Wie bei allen ähnlichen, richtete ich auch bei diesen Versuchen
mein besonderes Augenmerk darauf, daß die suggestive Beeinflussung
der Kranken ausgeschaltet werde, weshalb die Stimmgabel oder die
Handharmonika hinter ihrem Rücken zum Tönen gebracht wurde,
und zwar entweder ohne jede Bemerkung, oder es wurde gefragt, was
der Kranke nun höre, sehe oder empfinde? Anfänglich antworteten
die Kranken, daß sie nichts empfänden, sowie aber die Stimmgabel
oder Harmonika ertönte, erschienen auch die Halluzinationen, und
die Kranken erblickten nicht bloß Tiere, Käfer, Ratten, Mäuse, mensch¬
liche und phantastische Gestalten, sondern einzelne sahen auch Ziffern,
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Buchstaben, Zahlenreihen, Farben und Blumen. Die einzelnen Reak¬
tionen wurden von meinen Assistenten in aller Ruhe wörtlich notiert.
1. R., 48 jähriger Mühlenarbeiter, wurde am 12. XII. 1908 in die Klinik
aufgenommen; hat Wein, Bier, Schnaps stets reichlich genossen. Vor
der Aufnahme klagte er einige Tage über Kopfschmerz, wurde am 12. XII.
verwirrt, sah seine verstorbene Frau, mit Sensen bewaffnete Männer,
Priester, zerschlug die Kompottgläser, wollte seine Tochter vom Korridor
hinabwerfen. Starker Tremor der Zunge und Hände. Lebhafte Hallu¬
zinationen: sah nachts im Bett armdicke, 30 cm lange Käfer, aus der
Wand kletterten Ratten hervor, gegen welche er mit den Beinen schlug,
gehörnte Teufel näherten sich ihm, welche die Zunge herausstreckten
und Feuer spien, im Bett lag viel Geld herum usw. Diagnose: Delirium
tremens. Beim Ertönen der Stimmgabel hinter seinem Ohr erschienen
ihm verschiedene Gestalten an der Wand, er nähert sich denselben, will
sie erfassen, dann erblickt er einen faustgroßen Knödel, welcher die Größe
wechselt und an der Wand herumschwebt. Beim Ertönen der höher
gestimmten Stimmgabel erblickt er Geflügel, taubengroße gehörnte Vögel,
dann von Hirten geführte Pferde, Schweine, Rinder. Sowie der Ton der
Stimmgabel erlischt, verschwinden auch die Gestalten. Ertönt die Har¬
monika, erblickt er Käfer, dann zwei schwarz gekleidete Frauen, welche
sich von der Dielenecke langsam zur Decke erheben, am Boden klettern
Tiere mit großen Flügeln herum. Hört die Melodie auf, verkriechen sich
die Gestalten unter dem Schranke. Pat. wird am 21. XII. geheilt entlassen.
2. M., 37 jähriger Taglöhner, wird am 1. XI. 1907 aufgenommen.
Chronischer Säufer, trinkt täglich Schnaps und 2—3 Liter Wein; be¬
kommt am 28. X. heftige Magenschmerzen, erbricht sich, ist nachts schlaf¬
los, will fortwährend Wanzen und Flöhe von seinem Körper abkehren.
Sieht am Morgen Drähte und Nägel an der Wand, dann massenhafte
Leute, bekommt Angst, flüchtet vom Hause. Status in der Klinik: Starker
Tremor in Händen und Zunge, ist verwirrt, deliriert, sieht Teufel, schwarze
Hunde, musizierende Zigeuner, Weiber, kartenspielende Trinker, Eich¬
hörner auf den Bäumen, tanzende Stachelschweine, Wildkatzen, Wanzen
von 25 kg Gewicht, schwarze Männer, viel Draht, sucht am Boden herum,
macht Bewegungen, als ob er etwas aufheben wollte, behauptet dann,
vom Boden Nadeln aufgehoben zu haben, und zählt dieselben auf den
Tisch. Als er ruhiger war, wurde hinter seinem Rücken eine Stimmgabel
zum Tönen gebracht, worauf er folgendes sagt (Stenogramm): „Menschen¬
gestalten drohen, ihre Sohle ist gelb, er kletterte auf den Baum. Es sind
Menschen, er geht mit dem Rücken, dem Gesäße nach rückwärts. Leute
mit grünem, grauem und gelbem Mantel, der eine verbarg sich. Dort gehen
'ie herum. Zwei Glasbecher sind dort. Eisen, nein, gelber Draht. Dort
'ind 300 Kronen, einer ist 57, 0, 8, nein 25. Beim Ohre habe ich eine Wespe
schlägt zum Ohr, um sie zu erschlagen). Dort steht geschrieben: Ober¬
kontrolleur, Verkehrs-Rechnungsrevisor, Oberkontrolleur, Polizei. Da-
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Moravcsik,
hinter steht noch eine Reihe von Namen. Es regnet (zeigt es). Dort ist
es schon wieder 73, nein 15, 73, 358, 555, 23, 7, 22, 22 Kronen, nein F.'
Hört die Stimmgabel auf, schweigt er. Ertönt eine höhere Stimmgabel,
sagt er: „Zigarre, Stroh, nein Blei ist darin. Dort ist eine Flasche, eine
größere, eine kleinere, ein grünes Paket. Die Haut ist gelb, blau, gelblich¬
grün und weiß, bewegende Tiere, Bienen sind darinnen. Dort steht schon
wieder eine Flasche, eine Maus, nein, ein grüner Frosch, Maus, nein ein»-
Ratte, jetzt gehen sie. Der Stinkige kommt nicht her, jetzt ist er wieder
dort, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 Geflügel, welch Geflügel, ich weiß nicht, viel¬
leicht Fasane oder Wildkatzen....“
Auf die Handharmonika reagiert er wie folgt: „Oben sind Vögel,
ich sehe eine Maus, einen grünen Vogel, Bienen sind, ich weiß nicht ww-
viele. Blumen sind auch, einmal eine, einmal zwei, einmal ein Grashalm
einmal dreie. Eine Flasche ist, ein Bündel grüner Blumen von gelber
Farbe. Zwei Glas Wasser. Eine Maus, ein krepierter Kanarienvogel
und zwei lebendige, dann zwei Ratten, fünf Mäuse, jetzt gehen sie aus¬
einander“ usw. Wird am 23. XI. geheilt entlassen.
3. Diurnist Sch., leidet ebenfalls an Delirium tremens, erblickt bn
der Harmonikamelodie auf dem Boden Kreuzerstücke, dann Briefmarken
will dieselben aufheben. Später sah er am Boden verstreute Akten, von
welchen er verschiedene Namen und Zahlen ablas (252, 1536, 1542 1 , er¬
schien dabei ganz gerötet vor Anstrengung. Beim Aufhören der Me¬
lodie verschwanden die Visionen.
4. Sehr interessante Halluzinationen hat die Stimmgabel bei dm
42 jährigen Zimmermannmeister Cs. ausgelöst, welcher gleichfalls Trinker
war (Schnaps und Rum), am 21. XI. 1906 Unter lebhaftem Zittern zu
delirieren begann und ruhelos herumkroch. Bei der tieftönenden Stimm¬
gabel sieht er die Wand in gelber Farbe, darauf ziehen Streifen nach ober,
es erscheinen schwarze Punkte, dann kleine herabhängende Glocken
blumen und Knospen, welche rasch verschwinden, an ihrer Stelle tauchet
Tintenkleckse, große Lettern und Worte auf: „Cs. d. Isidor, Serajovio
Kasimir“. Später fliegen weiße Vögel auf. Bei der Melodie der Harmonika
erblickt er folgendes: „Jetzt kommen grüne Punkte als ob es Blumen
wären, in der Mitte sind sie rohrförmig, haben aber breite Blätter, welche
am Rande ganz weiß sind. Ich sehe eine Art von Wald. Dort stehen
große Buchstaben.“ Beim Aufhören der Melodie bemerkt er: ,,Jetzt
sind die Buchstaben verloren.“ Beim abermaligen Ertönen: „Jetzt kommt
die Kornblume, darunter weiße Rosen, gelbe und weiße, jetzt kommen
sie heraus. Unten sind drei Mohnblumen. Jetzt kommt der reine Hafer,
jetzt das Korn mit sehr breiten Blättern. Kleine Schneeglöckchen kommen,
der Hafer zieht sich hinauf. Unten kommen jetzt die Buchstaben, eine
ganz fremdländische Schrift. Unten ist 14 geschrieben. Nun lief es dort¬
hin“ (das Harmonium verstummte nämlich). Bei neuerlichem Ertönen:
..Nun klettern wieder kleine Blumen heraus, darunter kleine Blumen
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Klinische Mitteilungen.
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mit breiten Blättern. Auch blaue Blumen kommen, eine hohe oleander-
förmige, in der Mitte gebeugt. Jetzt blaue und weiße Blumen, die blaue
ist niedrig, voll mit Rasen, unten sind weiße Blumen mit hohen Blättern.
Ganz oben ein stacheliges Gestrüpp. Ganz kleine gelbe Blumen, die
Blätter so breit wie ein Kreuzer, ein wenig Hafer ist darunter und Korn-
und Weizensträucher.“ Entfernt sich geheilt am 17. XII.
Außer den Alkoholisten verwendete ich zu den Versuchen auch
andere halluzinierende Kranke, und zwar nicht bloß mit Stimmgabel
und Harmonium, sondern auch mit optischen Reizen (z. B. drehte
ich mit dem Stroboskop vor ihren Augen verschieden kombinierte
Farben, gemalte Gestalten, Soldaten usw.), wobei in einzelnen Fällen
die bereits verschwommenen Halluzinationen neuerlich scharf auf¬
traten und ihr Inhalt lebhafter gefärbt erschien. Zumeist lösten eine
höher tönende Stimmgabel und grelle Farben eine lebhaftere Reak¬
tion aus.
III. Beiträge zu den Zwangsvorstellungen. —
In der Literatur finden wir zahlreiche Formen der Zwangsvorstellungen ;
sie werden auf der Grundlage einer durch pathologische Ursachen
vorbereiteten Empfänglichkeit durch von negativer Stimmung ge-
lärbte äußere Sinneseindrücke, durch verschiedene Organempfindungen
direkt oder durch die Rückerinnerung an unlustbetonte Erlebnisse
hervorgerufen. Manchmal tauchen sie als dem aktuellen Bewußtsein¬
inhalt disparate Erscheinungen auf. Auch können sie sich peinlichen,
ängstlichen Gefühlen anschließen oder umgekehrt. Aus dem Kreise
meiner Beobachtungen möchte ich einige interessantere Beispiele
anführen, welche sowohl wegen ihrer Entwicklung, ihrer besonderen
Eigenart, als auch wegen ihres Einflusses auf die Handlungen in¬
struktiv sind.
Bei einem meiner neurasthenischen Patienten hat der Anblick des
knöchernen Schädels plötzlich den Gedanken erweckt, er müsse auch
so werden, sich deshalb vorerst erschießen. Einem anderen verletzte die
zufällig losgegangene Pistole die Hand; von diesem Momente an quälte
ihn der Zwangsgedanke, daß die Kugel noch in ihm sei und seinen Knochen
zerschmettert habe. Der 50 jährige Beamte N. hat bei einer Gelegenheit
»'in kleines Kind in der Wiege geschaukelt, und weil dasselbe später an
Meningitis erkrankte, quält ihn die Furcht, daß er diese Krankheit durch
das Wiegen verursacht habe. Eine hysterische Frau wurde, seitdem ein
Hund ihr Kleid erfaßte, von dem ständigen Gedanken gequält, daß sie nun
•in Rabies erkranken werde, und ihre Angst nahm zu, wenn sie einen Hund
•rblickte, oder jemand einen solchen streichelte. Beim Erblicken einer
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UMIVERSITY QfflcHtGAN
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Moravcsik,
Stecknadel erfaßte sie der Gedanke, die Nadel schlucken zu müssen. Ein
degenerierter junger Advokat wurde eines Nachts von Oppressions-
gefühlen erfaßt und nach einem wollüstigen Traum fiel ihm ein, daß er sich
hiervon nur durch Befriedigung der sexuellen Gelüste befreien könne,
und dieser Zwangsgedanke führte ihn zu gehäufter Onanie. Derselbe
griff während der Vorbereitungen zum Rigorosum nur angsterfüllt nach
dem Buche, und wartete erregt, welches Wort nun bei ihm das Wollust¬
gefühl auslösen werde. Ein anderer meiner Patienten schaukelte beim
Schreibtische sitzend mit den Beinen, wobei ihm einfiel, der Stuhl würde
Umstürzen und er hierbei den Tod finden. So oft er seither einen Stuhl
erblickte oder nennen hörte, überkam ihn ein quälendes Angstgefühl,
und er untersuchte wiederholt, ob alle vier Stuhlfüße fest am Boden
stünden. Ohne diese Vorsichtsmaßregel setzte er sich nie nieder und
stand dann noch öfters auf, um nachzusehen, ob er sich nicht geirrt habe.
Bei einem anderen Patienten erweckte plötzlicher Magenkrampf den
Gedanken, er habe einen Fremdkörper im Magen. Eine lokale Sensation
brachte eine hysterische Lehrerin zu dem Gedanken, sie müsse ihr Auge
fortwährend im Spiegel untersuchen, und sie fand dasselbe verändert, als
Vorzeichen des Wahnsinns. Sie ersuchte mich auch, die Augen ihrer
Tochter und ihres Sohnes zu untersuchen, weil sie diese für abnorm halte:
trotz vollkommener Beruhigung mußte diese Untersuchung öfters wieder¬
holt werden. Bei einer intelligenten neurasthenischen Dame erweckte
eine Akne im Gesichte die Zwangsvorstellung, daß sich aus dieser ein
Karzinom entwickeln werde; seither lief sie von einem Arzt zum anderen,
ließ sich immer untersuchen, war aber nie zu beruhigen.
Ein übrigens intelligenter Patient hatte die Zwangsvorstellung,
daß er jedes Papierstück auf der Straße aufheben und nachforschen mußte,
wessen Schrift es enthalte, was es bedeute und aus welcher Zeitung es
stamme. Wenn ein Besucher kam, lief er sofort in den Vorraum, um
womöglich festzustelien, welcher Schneider den Überrock verfertigt habe.
Auf der Straße quälte ihn der Wunsch, den Namen der Vorübergehenden
zu erfahren, und er strebte dies mit größtem Raffinement zu erreichen
(so z. B. stieß er die Leute geflissentlich an, bat um Verzeihung, stellte
sich sofort vor, um so die Erwiderung zu erzwingen). Einmal hörte er
zufällig in der Apotheke, daß jemand am anderen Tage nach Amerika
zu reisen beabsichtige. Er konnte nicht wiederstehen, den Namen des,
Betreffenden zu erfragen; als nun der Betreffende eine abweisende Ant¬
wort erteilte und sich entfernte, lief er ihm nach, und als der Unbekannte
in eine Nebenstraße einbiegend vor seinen Augen verschwand, lief er im
höchsten Grade verzweifelt umher. Diese unangenehmen Erscheinungen
quälten ihn derart, daß er schließlich auf der Straße nicht mehr zu Boden
blickte und auch den Menschen nicht mehr in die Augen sah. Unter dem
Einflüsse ähnlicher Zwangsvorstellungen erblickte ein anderer Patient
einen Milchwagen auf der Straße. Sofort begann er nachzuforschen, aus
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Klinische Mitteilungen. 47
welcher Milchwirtschaft der Wagen sei, doch konnte er die Aufschrift
des Wagens aus der Ferne nicht entziffern, setzte sich in einen Mietwagen,
um nachzufahren. Zufällig stolperte das Pferd, und während dessen ver¬
schwand der Milchwagen. Unruhig irrte er hierauf stundenlang auf der
Straße umher. Einem anderen intelligenten neurasthenischen Patienten
fiel während einer schlaflosen Nacht zufällig Napoleon I. ein. Sofort
begann er nachzudenken, wie dessen Eltern hießen und wo er geboren sei.
Da er sich nicht entsinnen konnte, wie N.s Großvater geheißen habe,
blätterte er vergebens in den ihm zur Verfügung stehenden Büchern.
Schließlich fiel ihm ein guter Freund ein, welcher im Rufe großer Belesen¬
heit stand. Er vermochte nicht seiner Zwangsvorstellung zu wider¬
stehen, kleidete sich rasch an, entfernte sich und weckte seinen Freund
um 1 Uhr nachts auf, um ihn nach dem Namen von Napoleons Großvater
zu fragen.
Ein anderer Neurastheniker konsultierte mich und gab an, daß
er auf der Straße öfters stehen bleibe und die Beine auseinander spreize,
weil ihm einfalle, sein Ober- und Unterbeinkleid könnte gelöst sein und
hinabfallen. Ein Beamter war stets der Meinung, daß eine erblickte
Brillantbusennadel gestohlen sei. Aus diesem Grunde insultierte er eines
Tages einen ihm begegnenden Fremden. Ein degenerierter neurasthenischcr
junger Mann gab an, daß, wenn er jemanden auf der Straße oder in Gesell¬
schaft erblicke, ihn das Gefühl überkomme, denselben attakieren zu
müssen. Zu Hause verzankte er sich stets ohne Grund mit seinen Eltern
und Geschwistern. Der Anblick von Blut regt ihn auf und erweckt in
ihm (len Zwang, Blut zu vergießen; aus diesem Grunde stach er sich einmal
selbst in den Arm.
IV. Ein Fall von Synästhesie. — Das im allgemeinen
seltenere Symptom der Sekundärempfindungen pflegt zumeist bei
degenerierten, neuropsychopathischen oder geisteskranken Personen
vorzukomnien, tritt aber ausnahmweise auch bei Normalen auf, wie
ich dies in einem Falle selbst beobachten konnte.
Bei einem mir befreundeten, hochintelligenten Operateur erweckte
der Flötenton das Gefühl der blauen, die Oboe der braunroten, die Metall-
blasinstrumente der gelben Farbe, das Klingen eines Glases die Empfindung
von Hellgrün, ein ganzes Orchester das Gefühl eines Farbengemenges.
Bereits in seiner Kindheit berichtete er über die Militärmusik seinen
Eltern, daß er grüne, blaue und gelbe Töne gehört habe. Besondere Melo¬
dien sind für ihn in einer besonderen Grundfarbe koloriert. Aber, und
das betont er ausdrücklich, er sieht nicht diese Farben, sondern empfindet
dieselben bloß.
Derselbe erzählte mir, daß vor einer jeden Operation sich das ganze
Operationsfeld mit seinen sämtlichen anatomischen Eigentümlichkeiten
und topographischen Verhältnissen so klar in seiner Erinnerung aus-
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Moravcsik,
präge, als ob er es vor sich sähe. Dies leitet die in seinen Operations-
beschreibungen sich offenbarende Exaktheit und Plastizität.
Y. Geheilte Fälle von Dementiä praecox. —
Nach der Dementia paralytica ist die Dementia praecox die häufigste
psychische Erkrankung (in meiner Klinik sind 29,3% der Fälle pro¬
gressive Paralyse und 23,5% Dementia praecox), aber vollkommen
geheilte Fälle sind nach meiner Erfahrung äußerst selten. Zumeist
erblickte ich eine Heilung dann, wenn neben der entsprechenden
Disposition eine aus psychischer Überanstrengung entstandene Er¬
schöpfung den unmittelbaren Anlaß zum Ausbruche der Krankheit
bot. Ich konnte zwei in diese Kategorie gehörige interessante Fähe
beobachten; beide erkrankten unter vollkommen identischen Um¬
ständen, und bei beiden äußerte sich als charakteristische Erscheinung
neben der allgemeinen Lockerung des Interesses und der Arbeitslust
eine partielle Verschärfung derselben nach einer ge¬
wissen Richtung.
1. E. H., 20 jähriges Mädchen; Mutter war nervös, Pat. selbst bereits
seit Kindheit reizbar und empfindlich, aber zeigte tadellose geistige Ent¬
wicklung; im Jahre 1908/9 vieles Nachtwachen mit anstrengender geistiger
Arbeit, um im Juni 1909 das Lehrerinnendiplom zu erreichen, was ihr
auch gelang. Verbrachte den Sommer am Krankenbette ihrer schwer¬
kranken Mutter, hat dabei sämtliche Phasen der langen Agonie und des
Todes mitgemacht. Hierauf wurde sie schlaflos, magerte ab, wobei ihre
ganze Persönlichkeit umgewandelt erschien. Vernachlässigte ihre häus¬
lichen Arbeiten, Kleidung, die Pflege der eigenen Person, wurde leicht
ablenkbar, war nicht imstande, einer Unterhaltung zu folgen, saß selbst¬
vergessen und traumversunken an einer Stelle, nahm beim Essen die
Speisen maschinell auf den Teller, blickte starr vor sich hin, und vergaß
zu essen. Aufmerksam gemacht, zuckte sie zusammen, begann wohl zu
essen, vermochte aber das Essen in langer Zeit nicht zu beendigen. Auf
eingehendes Zureden nahm sie etwas Nahrung, ließ aber dieselbe, wenn
möglich, unberührt und lief weg. Wenn sie etwas aus dem Nebenzimmer
holen sollte, konnte man ihre Rückkunft nicht abwarten; dort stand sie,
ganz vergessen und verloren, an einer Stelle unbeweglich. Auch ihre
Toilette besorgte sie langsam, mit bizarren Bewegungen, hielt ein Kleidungs¬
stück lange in der erhobenen Hand. Nach Öffnung des Hahnes der Wasser¬
leitung stand sie lange und ziellos über die Waschschüssel gebeugt, sali
starr vor sich hin und bemerkte nicht, daß das Wasser auf den Boden
rann. Stundenlang stand sie mit offenem Haar vor dem Spiegel, oder
hielt den in das Haar versenkten Kamm unbeweglich. Sie vollführte
verschiedene unsinnige Handlungen, ihre Schuhe fand man in der Hut-
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Klinische Mitteilungen. 49
schachtel, warf ihre Sachen umher. In unordentlicher Kleidung verließ
sie das Haus, J>lieb auf der Straße oft stundenlang an einer Stelle stehen.
Bei einer Gelegenheit stand sie unbeweglich auf dem Geleise der elek¬
trischen Straßenbahn, so daß sie ein Passant vor dem herannahenden
Wagen wegreißen mußte. Die katatonischen Erstarrungen haben sich
häufig wiederholt, sie ging auf den Fußspitzen, dann wieder schlürfend,
grimassierte, schnitt Gesichter. Zu Hause saß sie oft den ganzen Tag
unbeweglich, ließ den Urin häufig unter sich, schlief wenig. Die gestellten
Fragen perzipierte sie gut, antwortete richtig und konnte sich vor Fremden
einige Zeit selbst disziplinieren. In Konzerten folgte sie den Musikstücken
mit großer Aufmerksamkeit und konnte über das Gehörte die minutiöseste
Aufklärung geben. Alles außer Musik erregte keinerlei Interesse; selbst
früher beliebten Familienmitgliedern gegenüber war sie total indifferent.
Roborierende Behandlung, Eisenarsenpräparate und Stomachica. Im
Sommer 1912 ging sie in Gebirgsgegend, von wo sie nach 2 Monaten mit
gutem Appetit und in guter Stimmung zurückkehrte, sämtliche Krankheits¬
erscheinungen bildeten sich zurück, und Pat. unterrichtet seit September
1912 tadellos in wöchentlich 19 Unterrichtsstunden.
2. Ein Fall von anderer Gruppe: Der 23 jährige Rechtshörer B. wurde
am 16. XI. 1909 in meiner Klinik aufgenommen. Neuropathische Be¬
lastung. Lernte 1908 viel und rauchte auch viele Zigaretten, wurde dann
nervös und stand wegen Neurasthenie in Behandlung. Später überkam
ihn der Gedanke, die Menschen beobachteten jeden seiner Schritte und
kümmerten sich um seine Angelegenheiten. Nach einem flüchtigen Hallu-
zinationsstadium wurde er sehr aufgeregt, hatte nirgends einen Verbleib,
ging von einem Kaffeehause in das andere, verließ seine Sachen, so daß er
am 18. X. in ein geschlossenes Sanatorium gebracht und von dort in meine
Klinik überführt wurde. Außer lebhafteren Kniereflexen und Dermo-
graphie keinerlei somatische Veränderungen. Benehmen und Äußerungen
sind bizarr, mitunter maniriert. Gibt mit wichtigtuendem Gesichts¬
ausdruck unsinnige Antworten, z. B.: Wie alt sind Sie? „Im Einkinder¬
system.“ Wer ist Ihr Vater? „Paul, B6la, G6za oder Pista K.“ Ihre
Mutter? „Terka Brugatyö oder Holdviläg (Mondenschein)“. Welches
ist Ihre Religion? „Davon gibts viele, ich empfehle mich.“ Aus dem
ruhigsten Benehmen schlägt er in Hypomanie über. Er runzelt die Stirne,
grimassiert, dreht sich den Schnurrbart, klatscht mit den Händen auf
die Knie, imitiert die Bewegungen der Ärzte. Gebraucht stets triviale,
unzüchtige Ausdrücke. Gibt wieder zeitweise ganz verständige Ant¬
worten, faßt die Fragen gut und rasch auf. Im weiteren Verlauf wechselt
die Hypomanie mit starker Hemmung, sitzt oft stundenlang wortlos
und unbeweglich, vollführt dann die unsinnigsten Handlungen. Scham-
nnd Schicklichkeitsgefühl stark abgestumpft, onaniert vor den Mitkranken;
darüber befragt, bemerkt er mit ernstem Gesichtsausdruck, daß er Theater
spiele und seine Mitkranken unterhalten wolle. Vermengt mit verständigen
Zeitschrift för Psychiatrie. LXXI. 1. 4
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Moravcsik,
Antworten die sinnlosesten. Als er die anamnestischen Daten mit genauer
zeitlicher Angabe richtig sagt, gibt er folgende Antworten: Wie alt sind
Sie. „48“. Was ist dieses Gebäude ? „Ein schönes Haus, ein Affenhaus.“
Warum hat man Sie hergebracht? „Ich hatte in der Umgebung nichts
mehr zu essen.“ Wie befinden Sie sich? „Hier fühle ich mich wohl.“ Was
möchten Sie werden? „Ein im Dreck bohrender Käfer.“ Die Assoziations¬
prüfung ergibt die für Dementia praecox charakteristischen Züge (Bizarr¬
heit, Manieriertheit, absichtlich gesuchte Unsinnigkeit, Wortergänzung,
Klangassoziation, Wortspiele, grammatische und syntaktische Formationen,
rascher Wechsel sinnvoller und sinnloser Reaktionen). Zeitweise nega-
tivistisch, maniriert; zieht den Rock verkehrt an, schlägt die Absätze
zusammen, antwortet im nächsten Momente gleichgültig. Beim Besuch
seiner Schwester vollkommen indifferent. Hört er traurige Ereignisse,
stellt er sich, als ob ihn dieselben gar nicht interessierten, macht dann
lächelnd triviale Bemerkungen. Bei einer Gelegenheit sagt er in ganz
indifferentem Tone: „Napoleon hat fortwährend in Mitgiftangelegenheiten \
verhandelt, Moskau eingenommen, seine Großmutter gekratzt und dann
wieder verhandelt. Lombroso schrieb über ihn, daß er verrückt oder
ein Gottseher war.“ Als er eines Tages sagt, er möchte Kondukteur
der elektrischen Straßenbahn werden, begründet er dies damit, daß er 1
dann mit der Elektrischen immer halten könnte. Bei anderer Gelegenheit
erwähnt er, er wollte Millionär sein, weil er sich dann Kukukskraut, eine
Pendeluhr und einen Luftballon kaufen könnte. Frage: Was tun Sie den
ganzen Tag? „Ich kratze meine Hoden.“ Die Schrift zeigt in charakte¬
ristischer Weise die Zerfahrenheit der Gedanken, fügt in bizarrer Weise
Worte und Sätze aneinander, unterbricht die Gedanken mit Schrift¬
zeichen, Initialen und mathematischen Formeln, fügt plumpe Zeichnungen
hinein. Pat. verändert sich vom 9. V. 1910 an, wird ruhiger und ver¬
ständiger, bezeugt am 16. bereits Krankheitseinsicht, erzählt, er wäre
verwirrt gewesen, habe unzüchtig gesprochen und gehandelt, bittet für
all dies um Verzeihung. Er gibt über alle Geschehnisse entsprechende
Auskunft, erzählt ausführlich die Anamnese und Umstände seiner Krank¬
heit. Am 17. V. bringt ihn sein Oheim nach Hause. Nach kurzer Erholung
bekommt er eine Anstellung im statistischen Bureau, wo er seinen Ob¬
liegenheiten pünktlich nachkommt. Heiratet später und benimmt sich
in jeder Hinsicht korrekt. Sein Oheim ist mit ihm vollkommen zufrieden
und bemerkt an ihm seit seinem Austritt aus der Klinik, also seit 3 Jahren,
keine Abnormität.
Mit seinen überwiegend hypomanischen Zügen erinnert dieser Fall
an die manische Form des manisch-depressiven Irreseins. Bei dieser
jedoch ist die gehobene Stimmung, die motorische Unruhe und die Er¬
regung andauernd, während Wochen und Monaten ständig, höchstens
schwankt mitunter die Intensität, und die Kranken sind unermüdlich.
Bei der Dementia praecox ist die heitere Stimmung, die Schwatzsucht,
Logorrhoe, Verbigeration und Lebhaftigkeit der Mimik und Glieder-
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Klinische Mitteilungen.
51
bewegungen von viel kürzerer Dauer und äußert sich in mehreren, von
Ruhepausen unterbrochenen Phasen. Die Kranken werden nach einigen
Minuten oder Stunden ruhiger, liegen still im Bette oder am Boden, gaffen
dann ruhig vor sich, als ob nichts geschehen wäre. Des weiteren geben uns
Fingerzeige die übrigen schizophrenischen Erscheinungen und die Tendenz
zur karikierten Ausdrucksweise der normalen Denkungs- und Handlungs¬
weise, die Manieriertheit, Affektiertheit, die unerwartete Vermengung tadel¬
loser Äußerungen mit unerwartet sinnlosen (als ob der Kranke zwei Ge¬
hirne besäße, ein normales und ein krankhaftes, und bald mit dem einen,
bald mit dem anderen dächte), die leichte Dissoziation der psychischen
Individualitätsharmonie, die Zerfahrenheit, die Schizophrasie, die Ab¬
stumpfung der gemütlichen Sphäre, des Mitfühlens, des Sittlichkeits-,
Scham- und Unlustgefühles, ferner der Negativismus, die Stereotypien,
katatonische Symptome usw.
VL Paraphrenische Symbolisierung. — Ich
teüe vollkommen den Standpunkt Kraepelins, wonach von der Paranoia
anszuscheiden sind die paranoiden Zustände, und zwar nicht bloß
die zur Dementia praecox gehörigen paranoiden Formen, sondern
auch diejenigen, welche er unter der Bezeichnung der Paraphrenie
zusammenfaßte.
Bei bestimmten Gruppen der Psychosen können der Paranoia
ähnliche Wahnbildungen Vorkommen, doch entwickeln sich dieselben
nicht mit einer solchen langsamen, ausgemessenen Sicherheit, sind
auch nicht mit einer solchen Konsequenz in ein System gefaßt, ver¬
schmelzen nicht so innig und harmonisch mit der psychischen Indi¬
vidualität, sondern erscheinen bloß mit losen, leicht auflösbaren
Fäden an dieselbe gebunden. Wenn auch einzelne ein gewisses System
auf weisen, erscheinen sie zumeist ohne jede Vorbereitung unerwartet,
plötzlich, und verschwinden wieder. Gewöhnlich entwickeln sie sich
in Verbindung mit Halluzinationen und Illusionen, sind entweder
vielgestaltig oder verbleiben isoliert ohne besondere Verbindung
während der ganzen Krankheitsdauer. Bei den paranoiden Formen
werden die Wahnideen von Halluzinationen, aktuellen Wahrnehmungen
gebildet und geleitet, bei der Paranoia entstehen sie aber unabhängig
von solchen, oder werden sie in die Wahnbildungen einbezogen und
gefärbt Der Paranoiker motiviert alles von seinem Standpunkte
aus logisch, der Paranoide tut dies nur illogisch, unvollkommen,
mitunter sinnlos, ohne Wahrscheinlichkeit, oder überhaupt nicht.
Fernerhin beobachten und erwägen die Paranoiker die Veränderung
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Moravcsik,
der Außenwelt in bezug auf ihre eigene Person namentlich in der ersten
Periode längere Zeit hindurch, verschließen diese Beobachtungen
in sich, reagieren auf dieselben in zerstreuter Weise, mit Ausweichung,
und erst später treten einzelne affektive und Handlungsausbrüche
auf in irgendeiner Form des Angriffes oder der Abwehr, während
die paranoiden Kranken unter dem Einflüsse der auftauchenden
Sinnestäuschungen und Wahnideen sofort erregt, in deprimierte
oder gehobene Stimmung versetzt, mitteilsam, klagevoll, redselig
werden, fordernd auftreten; ihr Benehmen und Handeln steht im
Einklänge mit den gemachten Erfahrungen, und sie verheimlichen
nicht ihre Gefühle^ sie sind bestrebt, ihre Gedanken und Pläne unver
hüllt, auch in gewalttätiger Weise zu verwirklichen. Dabei kann,
insbesondere im Entwicklungsstadium der Demenz, ihre Stimmung
und Gebahren mit dem Inhalt der Halluzinationen und Wahnideen
inadäquat sein, wobei die Kranken die unangenehmen Stimmen,
die Art ihrer Verfolgungen lachend, mit lächelndem Gesichtsausdruck
erzählen. Der Paranoiker bewahrt immer die dem aktuellen psy¬
chischen Inhalt adäquate expressive Reaktion. Im Gegensätze zu
dem Paranoiker versinkt der Paranoide im weiteren Verlaufe der
Krankheit mehr und mehr in den Zustand der Passivität. Die Para¬
noiden übergehen weiter in einen mehr minder ausgesprochenen Grad
der Demenz, während die Paranoiker lange Zeit hindurch die formale
Unversehrtheit ihrer psychischen Tätigkeit bewahren und bei ihnen
der grundbestimmende Einfluß irgendeiner systematisierten Wahn¬
bildung stets nachweisbar ist. Bei der paranoiden Form sind die
Wahnbildungen verschroben, abenteuerlich, mystisch, vielgestaltig
und oft einander widersprechend, und dies bedingt auch einen rhapso¬
dischen Wechsel der Stimmung und Handlungen. Neben diesen
Eigentümlichkeiten unterscheidet sich die Dementia praecox von der
Paraphrenie noch in den übrigen charakteristischen Merkmalen der
ersteren, wie: Abstumpfung des emotiven, sozialen, Scham- und
Ekelgefühles, Manieriertheit, Bizarrheit, Zerfahrenheit des Gedanken¬
ganges, rhapsodisches Handeln, Willensstörungen, zeitweise auf¬
tauchende Stereotypien, Negativismus, katatone Erscheinungen in
eigenartiger Gruppierung. Die Dementia praecox tritt ferner zumeist
vor dem 25. Lebensjahre auf, während sich die Paraphrenie zumeist
in späterem Alter entwickelt.
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Klinische Mitteilungen.
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Die Paranoiker werden von einer wohl ausgearbeiteten, systemati¬
sierten 'Wahnbildung geleitet, während die Wahnideen der Paranoiden
zumeist vielgestaltig sind, leicht wechseln und die durch aktuelle
Eindrücke erworbenen die früheren in den Hintergrund drängen.
Erscheinen sie isoliert, sind sie nicht gehörig motiviert. Mitunter
findet man bei ihnen eine symbolische Deutung der Halluzinationen
und beobachteten Erscheinungen, in welcher dann die individuellen
Neigungen, Empfindungen und Wahnideen zum Ausdruck gelangen.
i. Bei der 45 jährigen Beamtengattin, Frau H., entstand unter dem
Einflüsse von Halluzinationen und Illusionen die Wahnbildung, daß
sich in der Klinik ausschließlich verkleidete Fürsten und Fürstinnen
befänden, selbst Se. Majestät sei hingekommen, um sie zu beobachten;
später bemerkte sie verschiedene Zeichen, hörte angenehme und unan¬
genehme, zweideutige Bemerkungen und kam zu der Überzeugung, daß
man gegen sie ein Komplott schmiede, daß man etwas mit ihr vorhabe,
aber sie wußte nicht, was dies sei. Auch bemerkte sie, daß man bestrebt
sei, ihr die Kinder zu entfremden. Als sie am Kopfe der einen Patientin
••inen Verband sah, begann sie sich zu beschweren, daß man in ihren
Krankensaal als Frauen verkleidete Männer gebe. In einzelnen Hand¬
lungen erblickte sie unzüchtige Anspielungen. Sie meinte, daß man mit
•len Mahlzeiten den Koitus bezeichnen wolle, weshalb sie die Speisen
zurückwies. Sie behauptete, daß man ihr in der Klinik zweierlei Gifte
gebe: „ein psychisches und ein wirkliches Gift“. Später, als ihre Töchter
sie besuchten, bemerkte sie, daß das Gesicht derselben dunkel sei, wes¬
halb die Töchter bald sterben würden und bei ihr einen Abschiedsbesuch
/nachten. Von dieser Zeit an war sie niedergeschlagen, deprimiert, stets
um ihre Töchter besorgt, hörte deren Stimmen. Mit ängstlicher Stimme
klagte sie, daß nun jedermann sie verlassen habe, jeder sei ihr Feind, und
man vollführe mit ihr abszöne Handlungen; man erwecke in ihr ein Wollust¬
gefühl, ein Kitzeln in den Genitalien und zwinge sie auf diese Weise, einen
Erzherzog zu heiraten. Schließlich werden im Anschlüsse an lebhafte
Halluzinationen ihre vielgestaltigen Wahnbildungen (Größen-, Ver-
folgungs-, erotischer und hypochondrischer Wahn) immer bunter und
unsinnig verschwommen, wozu sich dann sinnlose, paradoxe Handlungen,
Stimmungsschwankungen gesellen, und schließlich tritt sukzessive der
geistige Verfall ein.
Im Rahmen der Paraphrenie begegnet man häufig einer symbolischen
Deutung der bemerkten Erscheinungen und Halluzinationen, worin die
Wahnideen zum Ausdruck gelangen. So bei der eben geschilderten Frau H.
der erotische, Grandeur- und Verfolgungszug. Sie behauptete, daß man
mit Lettern, Worten und Speisen verschiedene Anspielungen mache,
und deshalb wies sie die Speisen zurück. Der Buchstabe „b“ ist zuerst
hinauf-, dann hinabgezogen, verschlingt sich dann, was bedeuten will,
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Moravcsik,
daß sich der Mann mit dem Weibe verbindet, vereinigt; das „g“ bedeutet
„gehe“; das „j“ ist der Ausdruck des Erstaunens, bedeutet Empörung;
das „1“ („el“ heißt in ungarischer Sprache „weg“) bedeutet Weggehen,
die Unterbrechung des Verhältnisses und den Weggang; das „r“ ist eine
doppelte Verschlingung, bedeutet zwei Kinder; das „t“ („te“ ist gleich
mit „Du“) heißt: ich verfluche Dich, Du hast es getan; das „v“ (Anfangs¬
buchstabe von „vargabetü“ gleichbedeutend mit „Umweg“) bedeutet
Untreue, hin- und hergehen, nach zwei Seiten gehen; usw. „Szombat“
(Sonnabend) bedeutet „szerelem“ (Liebe), Rundung des Weibes, Auf-
und Abgehen, er braucht nicht das Weib, heiratet sie nicht, denn „bat“
bedeutet in französischer Sprache schlagen, hauen, am Sonnabend gibt
es Haue. Die Bedeutung des Wortes „lämpa“ (Lampe) ist Erstaunen
und Gott-mit-Dir. (Die zwei Silben „14m-pa“ symbolisiert sie so:
,,L4m“ ist ungarisch ein Ausdruck des Erstaunens, „pa“ in der Kinder¬
sprache ein Abschiedswort.) „Metölt“ (Nudeln) bedeutet jemanden
schnitzeln, Schmerz haben. „Germteig“ bedeutet den Kranken mit
Gewalt heben, größer machen, als er sich einbildet, es zu sein. „For-
g4csf4nk“ (Spritzkrapfen) bedeutet jemanden herumdrehen („forgatni“
ungarisch), aus ihm etwas herausbringen, ist auch in Zusammenhang mit
der gräflichen Familie Forgäcs. Wenn man vom Worte „borsö“ (Erbse)
den ersten Buchstaben wegläßt, entsteht „orsö“ (Öhre), bedeutet also
jemanden einfädeln, überreden, verheiraten. „Leves“ (Suppe) besteht
aus zwei Silben: „le“ (hinab), d. h. hinabgehen in den Sumpf der Immo¬
ralität, und „es“ („6s“ ein Verbindungswort) will heißen eine Verbindung
in der Gesellschaft. Die zweite Silbe von „lencse“ (Linse) ist „cse“ („cseh“
gleichbedeutend mit Böhme), dies ist eine Anspielung auf die böhmische
Abstammung der Gattin des Thronfolgers, heißt also, daß sie selbst die
Frau des Thronfolgers werden möchte. ,,T6szta“ (Mehlspeise) bedeutet
„te-6sz“ (Du-Verstand), d. h. sie soll gescheit sein. „Te-a“ (Tee) soll
heißen „te Adäm“ (Du Adam), d. h. sie soll ein Mann werden. Nudeln
mit Pflaumenmus bedeutet etwas Schwarzes, Schmutziges, d. h. das,
was mit ihr geschieht. „Strudel“: sie dehnen und eindrehen, wie einen
Strudel. „Rindfleisch“: sie sei blöde wie ein Rind. „Kalbfleisch“: sie
brüllt wie ein Kalb. „Schweinefleisch“: die Schweinereien, an welche
sie zu denken genötigt ist. „Viz“ (Wasser) will heißen „iz“ (Geschmack),
sie gibt Geschmack, d. h. 6ie will sich mit dem Manne vereinigen. „Alma“
(Apfel) bedeutet einerseits den Reichsapfel, andererseits, daß der Mann
ihr den Apfel reicht, was Vereinigung bedeutet. „K4v6“ (Kaffee) beginnt
mit K, bedeutet somit die Koburger. — Dieselbe Kranke erblickte an
der Wand verschiedene Buchstaben, deren jeder eine besondere Be¬
deutung hat. So das I Irma, das M Mitzi, die Namen ihrer beiden Töchter,
das K die Verbindung (kapcsolödäs), das N nein (nem), die 8 den König,
weil er 80 Jahre alt ist.
2. Mein Patient Sch., welcher unter dem Einflüsse von hypochon-
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OO
•Irischen und Verfolgungswahnbildungen stand, verlangt eine Injektion in das
Herz hinein, denn er erblickte bei einem Mitkranken eine schwarze Kravatte,
woraus er folgerte, daß dieser ihn betrauere. Im Auge der Assistentin
wähnte er Tränen zu sehen, was er dahin deutete, daß diese ihn beweine.
VIL Fälle von Alzheimer scher Krankheit. —
Relativ selten kommt vor die Älzhevmersche Krankheit, welche im
vorgeschrittenerem Alter auftritt und mit einem langsamen, aber
schweren und ausgebreiteten Untergange der kortikalen Nerven-
elemente einhergeht; die Initialsymptome sind eine Veränderung
der Persönlichkeit, Depression und Angstzustände, Wahnbildungen
des Bestohlen- und Verfolgtseins, Reizbarkeit, Vergeßlichkeit und
körperliche Schwäche, und mit dem sukzessiven Fortschreiten der
kortikalen Veränderungen verengt sich ständig der Kreis der psy¬
chischen und motorischen Funktionen, die Fähigkeit der Erinnerung
und Urteilsbildung nimmt ab, es kommt zu Desorientiertheit, in¬
koordiniertem Gedankengang, geringeren motorischen Unruhen, Auf¬
regungen und Reizbarkeit, gehobener Stimmung, kindischem Be¬
nehmen, später zu schweren Organerscheinungen (Agnosie, sensorische
und motorische Aphasie, Paragraphie, Apraxie, Agraphie) und endlich
bewegen sich die Kranken unbehilflich, plump und unverständig,
murmeln oder sagen mit singendem Tonfall vereinzelte Worte, können
trotz erhaltener Bewegungsfähigkeit ohne Hilfe nicht essen. Kürzlich
wareu zwei derartige Fälle in meiner Klinik, von welchen der eine auch
deshalb besonders bemerkenswert ist, weil die Kranke über 4 Jahre
in der Klinik weilte und ich Gelegenheit hatte, die sukzessive Ent¬
wicklung der Symptome zu beobachten.
1. Frau K., 76 jährig, ehemalige Friseurin, wurde in meiner Klinik
am 15. II. 1909 aufgenommen. Der Vater starb mit 80 Jahren, wurde
„geisteskrank“ und lebte als solcher 4 Jahre; eines ihrer sechs Geschwister
starb an „Gehirnerweichung“. In der Jugend will sie an starken Kopf¬
schmerzen gelitten haben. Ein Kind lebt, ist gesund, das andere starb
jung. Die Periode hörte in ihrem 50. Lebensjahre auf. Hatte niemals
eine Apoplexie. Ihre jetzige Krankheit begann vor 2 Jahren, 1907. Sie
erblickte in jedem einen Feind, war um ihr Hab und Gut sehr besorgt,
hielt alles versperrt; auch wurde sie vergeßlich, reizbar und schlaflos,
körperlich abgeschwächt, die Hände zitterten und zeitweise sprach sie
stotternd. Eine Woche vor der Aufnahme wurde sie höchst unruhig,
bedrohte ihre Umgebung mit dem Tode, wenn man ihre gestohlenen
Sachen nicht zurückgäbe, begann dann zu weinen, lief auf den Korridor,
um sich hinabzustürzen, suchte nachts mit der Kerze im Schranke.
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Moravcsik,
Status bei der Aufnahme: Mäßiger Ernährungszustand, graues,
ziemlich gelichtetes Haar, Zähne fehlend, atrophische Alveolarfortsätze,
Haut trocken und runzelig. Pupillen verengt, reagieren träge auf Licht¬
einfall. Kein Unterschied in der trägen Fazialisinnervation. Tremor
in Händen und Zunge. Lebhafte Knie- und Trizepsreflexe. Sehr geringe .
Arteriosklerose. Pat. ist höchst unruhig, klettert herum, sucht überall,
verlangt ihre Sachen, weil sie nach Hause muß, wo man sie erwartet.
Erinnerung mangelhaft, zeitlich und örtlich desorientiert. Behauptet.
83 jährig zu sein, weiß nicht ihre Wohnung anzugeben, kennt nicht den
Ort, wo sie weilt. Sie will dieses schöne Haus nie mehr verlassen, sucht
aber im nächsten Momente ihre Kleider. Sie behauptet, Ärzte und Pflege¬
rinnen bereits lange zu kennen, nur entsinnt sie sich nicht ihrer Namen.
Sie verspricht, recht bald wiederzukommen und ihre Enkel vorzustellen.
Eine zweistellige Zahl ist sie unfähig sich zu merken. Ihre Kenntnisse
sind äußerst mangelhaft, was sie selbst konstatiert und mit der „Verge߬
lichkeit“ begründet. „Oft zerbreche ich mir den Kopf, und es gibt nichts
Schlimmeres als dieses, es ist dies die häßlichste Sache, welche Gott ge¬
geben hat.“ Die Schrift ist stark zitternd; beginnt öfters ihren Namen
niederzuschreiben, kommt aber nicht weiter als bis zum Anfangsbuch¬
staben. Während des Sprechens entsinnt sie sich nicht der Worte, andere
verwechselt sie. Nachts schläft sie kaum, klettert herum, zieht die Decken
der Mitkranken hinab, sucht zwischen den Kissen, weil sie ihre Sachen
nicht finden kann und vermeint, daß jemand dieselben weggenommen
hat. 17. II.: Unruhig, greift herum, schimpft, fordert ihre Sachen und
Geld. 22. II.: Begrüßt den Arzt mit großer Freude, weil sie ihn bereits
seit 8 Tagen nicht gesehen habe, glaubt bereits 3 Jahre in der Klinik zu
sein. 26. II.: Nimmt die Kleider ihrer Mitkranken, trägt dieselben den
ganzen Tag unter dem Arm. Schlaflos. Ist zeitweise gut gelaunt, heiter,
dann wieder moros und stellt immer Anforderungen. Nennt die Pflegerin
Mama, den Arzt Sohn. Behauptet, daß die Tücher der in den Garten
hinabgehenden Kranken ihr gestohlen wären, klagt, daß sie gänzlich
zugrunde gehen müsse, weil man ihr ganzes Hab und Gut wegtrage.
Dann wieder klagt sie mit besorgter Stimme, daß sie niemanden mehr habe,
alle ihre Angehörigen wären gestorben. Von Anfang Juni an wird sie
immer verwirrter, die Sprache unzusammenhängend und sinnlos, lächelt
still vor sich, trennt die Knöpfe von ihren Kleidern, kost die Kranken.
Im Garten bricht sie kleine Zweige herab, uriniert in das Blumenbeet.
Am 21. I. 1910 weint sie bitterlich, daß draußen alles zugrunde geht,
alle Leute sind gestorben. 4. II.: Streitsüchtig, rauft mit den Kranken;
später klaubt sie alles auf, Stimmung schwankend, wird gemütlich, heiter,
dann weint sie wieder. Verwechselt fortwährend die Worte, so daß ihre
Sprache kaum mehr zu verstehen ist; später vermengt sie immer mehr
unverständliche Worte in ihre Reden: „Eine Ecke, zwei Ecken, Wien,
ich war auch in Wien.“ Als sie während des Gehens umfällt, sagt sie nach
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Klinische Mitteilungen.
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dem Aufstehen: „Ich fall darum zam, zam, zam, weil ich mich nicht tarn,
tarn, tarn, gedacht harn, ham, hain.“ Im Laufe des Jahres 1912 hört man
nur mehr höchst selten ein verständliches Wort aus ihrem Munde. Sehr
oft sagt sie folgendes: „tripa, tara, rita trapa tarara trabi tara“, summt
vor sich hin, geht ziellos herum. Zeitweise ist sie erregt, nimmt eine zornige
Miene an, droht mit dem Finger, lacht dann wieder blöde. Jeden Unrat
hebt sie vom Boden und führt ihn zum Mund. Später steigert sich auch
die Apraxie, kann nichts richtig gebrauchen, trinkt wohl aus dem Vor¬
gesetzten Glase, essen aber kann sie nicht mehr und muß von den Pflege¬
rinnen gefüttert werden. Den ganzen Tag summt sie lächelnd vor sich
hin, wiederholt ununterbrochen folgende sinnlose Worte: „nöre, döre,
dere, nöre.“
Später entwickelte sich bei der Kranken Dekubitus der Kreuz¬
beingegend, danach Peritonitis, und am 15. VI. 1913 starb sie. Die am
nächsten Tage vorgenommene Sektion ergab eine diffuse Leptomeningitis
«hronica und Pachymeningitis interna haemorrhagica minoris gradus,
die Pia war milchig getrübt, das Gehirn selbst zum größten Teile atrophisch.
Die Gyri, namentlich am linken Stirn-, Scheitel- und Schläfenlappen,
stark geschrumpft, erheben sich mit kammartigem scharfen Rand, die
dazwischenliegenden Sulzi sind bedeutend erweitert. Ganz besonders
ausgesprochen war die Atrophie in der Inselgegend. Gesamtgewicht
des Gehirnes 1010 g. Arteriosklerose nur in geringem Grade, hauptsächlich
im Verlaufe der Aorta. Das Gehirn wird einer systematischen histologischen
Prüfung unterzogen. Die aufgenommenen Photographien veranschau¬
lichen die 1. und 2. Figur auf der folgenden Seite.
2. Der zweite Fall bezieht sich auf den 70 jährigen Zimmermann G.,
welcher am 26. VIII. 1912 aufgenommen wurde. Hatte niemals eine
Apoplexie. Seine Krankheit entwickelte sich unter ähnlichen Erschei¬
nungen, wie im vorigen Falle. Sie begann vor 2 Jahren, erreichte aber noch
nicht einen solchen Grad. Status bei der Aufnahme: Haar ergraut, ab¬
gemagert, Pupillen gleichgroß, regelmäßig geformt, reagieren gut auf
Lichteinfall und Akkomodation. Gebiß lückenhaft. Mäßige Arterio¬
sklerose. Knie- und Achillessehnenreflexe lebhaft, ebenso mechanische
Muskelerregbarkeit. Der Gang ist wohl schwerfällig, aber die motorische
Fähigkeit der Extremitäten ist erhalten, geht herum, setzt sich, steht
auf, hebt die Arme, kleidet sich an, usw. Schwankende Stimmung, zeit¬
weise deprimiert, ängstlich, klagt mit kaum verständlichen Worten, zeigt
auf den meteoristischen Bauch, dann wieder lächelt er, macht ein gemüt¬
liches Gesicht. Aphasie und Apraxie. Auf Fragen antwortet er wohl
einige verständliche Worte, kann sich aber meist nicht ausdrücken. Setzt
sich auf den hingestellten Stuhl; gibt man ihm einen Schlüssel in die
Hand, schüttelt er die Türklinke, weiß aber nicht, was mit dem Schlüssel
anzufangen. Als man ihm die Prozedur des Auf- und Zusperrens gezeigt
hat, schüttelt er neuerlich die Klinke, dann den Kopf und sagt: ,,Oh, oh,
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i
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Klinische Mitteilungen.
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ei, ei.“ Vor die Lampe gestellt, bemerkt er: ,, Ja, ja Lampe.“ Aufgefordert ,
die Lampe anzuzünden, streckt er die Zunge heraus. Als er eine Kerze
anzünden soll, nimmt er ein Streichholz aus der Schachtel, reibt aber
dasselbe an die obere Fläche und hält es dann an das untere Ende der
Kerze. Die brennende Kerze vermag er auszublasen. Gibt man ihm eine
Feder in die Hand, schreibt er mit zitternden Zügen einige kaum leser¬
liche Worte und bemerkt: „Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr.“
Aufgefordert, die Schere zu benennen, kann er den Namen auch nach
Vorsagen nicht wiederholen und seufzt: „Jaj, jaj, oh Gott, oh mein Gott.“
Vermag auch seinen Namen nicht zu nennen, aber als man ihm denselben
sagt, antwortet er: „Ja bitte, dieser ist es.“ Sagt häufig: „Belieben?“
und „ich weiß nicht, bitte“. Zumeist spricht er unverständige Worte:
„benebesis, tizenököklös, nadarabas, nanideres, federics.“ Den ge¬
schriebenen Buchstaben P bezeichnet er als „epoz, epesz“, beim L sagt
er: „Bitte das kenne ich.“ Auf die Frage nach seinen Namen sagt er
„Zimraermann“, auf die nach seinem Berufe „Das Kind ist schläfrig.“
Im weiteren Krankheitsverlauf verengt sich ständig sein psychischer
Kreis, geht ziellos herum, läßt seine Exkremente unter sich. Mitunter
ist er erregt, zeigt eine zornige Miene, ist dann wieder heiter, lächelt.
Pat. ist schlaflos.
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren
Beziehungen zur Kriminalität und Prostitution
der Jugendlichen.
Von
Dr. Helcnefridcrike Stclzner.
Wenn die ursprüngliche Bezeichnung der hier zu besprechender
Psychose, die auch nicht gleich als Dementia praecox dem Hirn ihres
Erzeugers entsprang, in den letzten Jahren immer weniger angewandt
wird und wir statt ihrer den Ausdrücken Katatonie, Hebephrenie,
Schizophrenie und anderen das ganze oder ein Teilbild widerspiegelnden
Bezeichnungen viel häufiger begegnen, so ist es wohl weniger das
Substantiv als das Epitheton, bei dem die meisten Autoren stocken.
Weber 1 ) hat erst kürzlich darauf aufmerksam gemacht, daß gegen¬
wärtig eine weitgehende Unsicherheit bezüglich des Alters, in dem
die Erkrankung vorwiegend auftritt, herrscht. Sie kann natürlich
praecox sein; aber auch Kraepelin legt heute dem Lebensalter keine
diagnostische Bedeutung mehr bei und erkennt Spätformen an. In
seinen letzten Publikationen 2 ) adoptiert er übrigens häufig den von
Bleuler 3 ) geprägten Ausdruck der Schizophrenie. Gramer hatte,
indem er von Jugendirresein sprach, der Krankheit noch mehr als
Kraepelin wohl umrissene Altersgrenzen gegeben, und Ziehen legte
diese beinahe zahlenmäßig fest, wenn er das Auftreten der Psychose
nach dem 25. Jahr noch nie beobachtet haben will und Spätfälle zur
*) Zur Kenntnis der Katatonie jenseits des 30. Jahres von Dr. Hein¬
rich It'^er-Primkenau. Wien. klin. Rundsch. 1912, Nr. 7, S. 97.
2 ) z. B. Kraepelin , Über paranoide Erkrankungen. Zeitsehr. f. d.
ges. Neurol. u. Psych. Bd. II, S. 617.
3 ) Bleuler, Dem. praec. oder Gruppe der Schizophrenie. Asch affen-
burgs Handbuch der Psychiatrie. Spez. Teil. IV. Abschnitt.
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 61
sekundären Demenz rechnet. Kahlbaum , Stranshy und Mendel lassen
die Altersfrage offen. Gelegentliche kasuistische Publikationen anderer
Autoren, die eine beobachtete Schizophrenie wegen des späten Aus¬
bruchs der Psychose als eine Zwischenform bezeichnen, deuten darauf
hin, daß es doch häufiger sehr spät einsetzende Fälle gibt. Ich neige
allerdings der Ansicht zu, daß noch sehr wenige Psychiater die Anfangs¬
stadien der Krankheit anamnestisch feststellen oder gar selbst beob¬
achten konnten. Das ist für ein Leiden mit derart chronischem Ver¬
lauf, mit einem so kaleidoskopisch wechselnden Symptomenkomplex
einfach unmöglich. Wer kann bei einer chronischen Tuberkulose
sagen, an diesem Tage oder in diesem Monat, ja, kaum in dem und
dem Jahre hat sich der erste lebens- und fortpflanzungsfähige Bazillus
in einer Lungenkapillare angesiedelt, und die Person ist seitdem als
erkrankt zu betrachten. Was wir unter Frühdiagnose, um bei dem
Beispiel zu bleiben, der Tuberkulose verstehen, kann unter Umständen
das Erkennen eines Prozesses sein, dessen Anfang um Jahre zurück¬
hegt, dessen Herde entstanden, ausheilten und wieder aufbrachen,
bei der Schizophrenie aber kann es sich selbst um Jahrzehnte handeln.
Alle Beobachter sind darin einig, daß die Krankheit in Schüben ver¬
läuft, zwischen denen verhältnismäßig freie Intervalle von bisweilen
recht langer Dauer liegen. Es ist also wohl glaubhaft, daß ein Patient
im jugendlichen Alter an einem ersten Schub erkrankt, der so leicht
ist, daß die Verwechslung mit den Anomalien des Gemüts- und Geistes¬
lebens der Backfisch- und Flegeljahre eine zu naheliegende ist, als
daß die Umgebung an einen tiefer liegenden Prozeß denken müßte.
Von großer Bedeutung kann die Sache aber werden, wenn krimi¬
nalistische Momente hereinspielen, wenn das jugendliche Individuum
für eine Handlung verantwortlich gemacht werden soll, deren Trieb¬
feder vielleicht aus krankhaften Zuständen ihren Anreiz bezog oder
einer zunächst passageren Urteilslosigkeit entsprang.
Ich gestehe, daß ich bei den Hunderten von Jugendgerichts-
untersuchungen, die ich im Laufe der letzten 4 Jahre voraahm, mich
zu mehreren Malen veranlaßt fand, den Verdacht auf Dementia praecox
auszusprechen, ohne daß ich in der Lage gewesen wäre, diese
Diagnose mit absoluter Sicherheit zu begründen, namentlich wenn die
Anamnese wie in solchen Fällen nur zu häufig, eine mangelhafte war.
Unter den jugendlichen Rechtsbrechern aller Art männlichen und
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62
Stelzner,
weiblichen Geschlechts, ebenso wie unter den minderjährigen Prosti¬
tuierten finden sich zweifellos eine ganze Reihe — sagen wir — Schizo¬
phrenieaspiranten. Riüershms x ) hat übrigens Ähnliches auch beob¬
achtet und schlägt vor, spätere Erhebungen darüber anzustellen,
wie viele der vor das Jugendgericht Zitierten nachträglich an Dementia
praecox erkrankten. Dieser Forderung würde wohl am besten ent¬
sprochen werden, wenn zunächst einmal alle Jugendlichen mit auf¬
fälligen Symptomen, die weder in das Gebiet des primären Schwach¬
sinns, noch rein in das der psychopathischen Konstitutionen (be¬
sonders käme Hysterie und hereditäre Degeneration in Frage) fallen,
genau notiert und so eingeordnet würden, daß sie dem Gesichtskreis
des Beobachters, des Arztes, des Juristen nicht ganz entschwinden.
Alle kriminellen Jugendlichen, namentlich auch die Mchtbestraften
und die nicht der Fürsorge Überwiesenen im Auge zu behalten, wird
ziemlich schwierig sein. Dagegen ließe sich eine kleinere Gruppe, wie
oben erwähnt, wohl weiter beobachten. Dem sachverständigen Arzt
am Jugendgericht fiele damit die Pflicht zu, solche Individuen aus¬
zusondern. Alle von mir selbst beobachteten verdächtigen Symptome
habe ich zu dem Zwecke in dieser Arbeit niedergelegt.
Auch Cramer 2 ) betonte mit Nachdruck, daß die Psychosen,
deren Anfänge in die Pubertät hineinreichen (Hebephrenie, originäre
Paranoia) meist erst im 16. bis 18. Lebensjahre sicher erkannt werden,
daß aber ihre Konflikte mit dem Strafgesetzbuch im 13. bis 15. Jahre
schon der Ausdruck der im Gehirn sich entwickelnden pathologischen
Verhältnisse sind. Im allgemeinen sind seltsamerweise die moralischen
und ethischen Abweichungen des frühen Jugendalters nach Sym¬
ptomen der Schizophrenie noch recht wenig durchforscht. Zunächst
ging eine gewisse Faszination von den Begriffen des angeborenen
oder in den frühesten Lebensjahren erworbenen Schwachsinns aus,
und die Assoziation zwischen diesem und der jugendlichen Kriminalität
verlief bei den meisten Untersuchern in so eingeschliffenen Bahnen,
daß man Momente übersah, die entschieden abnorm, zweifellos in¬
tellektuell minderwertig und gemütlich seltsam waren, ohne eigentlich
schwachsinnig zu sein. Standen Affektkrisen im Vordergrund, so
*) Rittershaus, Frühsymptome der Dementia praecox. Zeitschr.
f. Erforsch, u. Behandl. d. jugendl. Schwachsinns Bd. 5, H. 3—5, 1912.
*) Cramer, Gerichtliche Psychiatrie. Jena 1908, 4. Aufl.
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Die Frühsymptoine der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 63
war die Diagnose psychopathische Konstitution mit oder ohne Debilität
zunächst sicher nicht falsch. Trotz des ungeteilten Interesses, das
der Dementia praecox entgegengebracht wurde, versäumte man es
vielfach ihren allerfrühsten Symptomen nachzugehen, und während
ans ausgezeichnete Methoden zur Erforschung des jugendlichen
Schwachsinns zu Gebote stehen — ich erinnere an Ziehen 1 ), Binet
und Simon*), F. Kramer a ) u. a. — sind die Wege, um schizophrene
Momente herauszufinden, doch noch recht wenig gebahnt und noch
weniger betreten. Masseion und Ebbinghaus geben doch nur in vor¬
geschritteneren Stadien sichere Resultate.
Zum Beweis dafür, wie wenig der Begriff der Dem. hebephrenica
oder allgemein der Schizophrenie noch in die Jugendforschung hinein
getragen wurde, führe ich an, daß z. B. Gruhle *) in seiner Arbeit von so
tiefer Schürfung die Dem. praecox als Ursache der Kriminalität gar nicht
erwähnt, obwohl unter den 105 auf 167 enggedruckten Seiten behandelten
Lebensläufen sich wohl der eine und der andere befindet, der jener Er¬
krankung zweifellos zusteuert. Gruhles Diagnosen, falls es sich um krankhaft
Veranlagte handelt, lauten: „Schwachsinn, hysterischer Charakter und auf¬
fallender Charakter“, worunter sich ja mancherlei verbergen kann, und
einmal Fall F. Z. „Periodische Geistesstörungen, die sich schwer genau
diagnostizieren lassen“. Ich füge aus dem Lebenslauf dieses F. Z. die
hier interessierenden Züge auf: „Er lernte mittelmäßig, aber gern und
schwänzte nie. Nach Schulbesuch hat er von Ostern 1904 bis Dezember
1906 15 Dienststellen gehabt. An zwei Stellen ging er weg, weil ihm nach
seiner Behauptung der Dienstherr zu aufgeregt war. Im Herbst 1906
geriet er in schlechte Gesellschaft und ließ sich vier Straftaten zuschulden
kommen (Diebstahl eines Rades usw., Fundunterschlagung, Hausfriedens¬
bruch, Bettelei). Er sei leicht aufgeregt, könne es sehr schwer vertragen,
wenn ihn jemand necke oder ärgere. In der Erziehungsanstalt war er
in der ersten Zeit seines Dortseins heiter, fröhlich und zutraulich, zeigte
viel Interessen und redete überall hinein. Das ging vom März bis August.
Dann schlug seine Stimmung ohne ersichtlichen Grund plötzlich um.
Er wurde schwermütig und gedrückt, sprach beim Aufrufen in der Religions¬
stunde gar nichts oder Dummes, erschien plötzlich blöde, ja schwach-
*) Ziehen, Prinzipien und Methoden der Intelligenzprüfung. Berlin
1908.
*) Binet und Simon, Le döveloppement de l’intelligence chez les
enfants. L’annöe psychol. T. XIV, p. 1.
*) Franz Kramer, Intelligenzprüfungen an abnormen Kindern.
Monatschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 33, H. 6, 1913.
4 ) Hans W. Gruhle, Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und
Kriminalität. Heidelberg 1912.
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Stelzner,
sinnig (Bericht des Anstaltpfarrers).“ Gruhle gibt über seine eigene Unter¬
suchung folgenden Bericht: „M. macht bei der Unterhaltung einen auf¬
geregten Eindruck. Er rückt unruhig umher, sieht sich im Zimmer um.
atmet unregelmäßig und tief und schwitzt deutlich. Er faßt gehörig auf,
reagiert schnell, aber oft überstürzt und dann falsch. Seine Begabung,
sein Denkvermögen erscheint gut, sein Wissen gehörig. Er äußert auch
mancherlei nicht Erfragtes, beteuert seine Besserung, ist redselig, viel¬
leicht sogar etwas zudringlich. Er hat klare Einsicht für seine krank¬
haften Störungen und datiert sie einerseits auf ein Nasenleiden, ander¬
seits von einem Fall auf den Kopf im Alter von 14 Jahren mit etwa
10 Minuten währendem Bewußtseinsverlust.“
G. selbst nimmt eine periodische Geistesstörung an entweder als
Folge eines Traumas oder als Äußerungen einer zyklothymischen Ver¬
anlagung. Zu dem Bilde der Zyklothymie gesellen sich nun einige nicht
zu dieser gehörige Störungen, sofern wir die Zyklothymie nicht als Ein¬
leitungsstadium der Hebephrenie betrachten wollen. Er leidet an Schlaf¬
losigkeit und ist im Gefängnis mehrmals in der Nacht aufgestanden un-l
hat im Finstern versucht Düten zu kleben. Er erscheint dem Anstalt-
geistlichen plötzlich blöde und schwachsinnig. Dem Arzt gegenüber ist
er redselig, fast zudringlich. Auch die Mutter berichtet, er hafte zeit¬
weilig Erregungszustände mit Schlaflosigkeit, Widerspenstigkeit und
Neigung zum Zerstören von Gegenständen gezeigt.
Wir haben demnach ein manisch-depressives Bild mit einigen bizarren
Handlungen (nachts aufstehen und im Finstern Düten kleben) und Äuße¬
rungen (der Dienstherr sei ihm zu aufgeregt), ferner eine gewissermaßen
als Schub einsetzende Intelligenzminderung (Urteil des Pastors), kurz
Symptome, die keiner anderen Erkrankung als der Dementia praecox
zugehören können.
Scholz 1 ), der sein Werk „Anomale Kinder“ hauptsächlich für ein
ärztliches Laienpublikum schrieb, für Eltern, Lehrer und Erzieher, hat
nur einige Seiten in dem Abschnitt „Die Störungen in der Pubertätszeü"
übrig, um das Wesen der Hebephrenie zu erklären, in der richtigen Vor¬
aussetzung, daß sie noch nicht populär genug ist, um breite Massen m
interessieren. — Heller *) deutet in seinem umfangreichen Buche über
Heilpädagogik Dementia praecox bezw. Hebephrenie auch nur an und
zitiert einige anderen Autoren entlehnte Beispiele. Einige interessant?
Hinweise vom Standpunkt des Zuchthauspsychiaters gibt Heinick re 5 '
in seiner lesenswerten Arbeit. Ich selbst hatte in meiner Monographie über
psychopathische Konstitutionen noch nicht den Mut, die Momente, die mir
*) L. Scholz, Anomale Kinder. Berlin, S. Karger, 1911.
*) Dr. phil. Theodor Heller, Grundriß der Heilpädagogik. Leipzig.
Wilh. Engelmann, 1912.
8 ) W. Heinicke. Über die Anfänge geistiger Störungen bei Straf¬
gefangenen. Monatschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref. Jahrg. 8.
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Die Friihsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 65
als Fruhstadien der Hebephrenie imponierten, zu publizieren 1 ), ehe ich
Verlauf und Ausgang weiter verfolgt hatte, um die Diagnose mit Sicherheit
stellen oder ausschließen zu können, obwohl viele Lebensläufe minder¬
jähriger Prostituierten und Bechtsbrecherinnen Fingerzeige nach jener
Richtung boten.
Es bleibt das unbestrittene Verdienst Wilmanns a ), auf die sozio¬
logische Komponente der Dementia praecox, auf die in ihr ruhenden
Zusammenhänge mit antisozialem Verhalten und asozialer Lebens¬
führung in seinen Psychosen der Landstreicher hingewiesen zu
haben. Indem er die Lebensläufe dieser zum Teil sehr spät in irren¬
ärztliche Beobachtung kommenden Individuen — von den 52 stehen
zur Zeit der Beobachtung die 13 Jüngsten im 3. Jahrzehnt, die meisten
weit darüber bis zum Alter von 62 Jahren — rückläufig ver¬
folgte, gibt er ausgezeichnete Dokumente zur Kenntnis besonders
der soziologischen Symptome, wobei die allerfrühesten allerdings
häufig übersehen wurden, indem die Akten naturgemäß zunächst
keine psychiatrischen Beobachtungen enthalten. Am besten lernen
wir sie aus den Fällen seiner Arbeit kennen, die bereits in jungen
Jahren in psychiatrische Behandlung kamen. Wilmanns sah seine
Untersuchungsobjekte erst in der Irrenanstalt und tastete sich
bei jedem einzelnen zurück bis zum Beginn der ersten Zeichen.
Ich habe meine Untersuchungen zum größten Teil in der anderen
Richtung angestellt, habe den Lebensweg jugendlicher, besonders
weiblicher Rechtsbrecher und Prostituierter, die mir durch gewisse
Symptome auffällig geworden waren, weiter verfolgt und versucht,
die Beziehungen zwischen Schizophrenie und asozialem Verhalten
in ihrer Entwicklung zu beobachten. Es ist mir nicht immer gelungen,
die Diagnose einwandfrei zu stellen 3 ); doch kam es mir nicht so sehr
darauf an, als auf den Hinweis, daß schon in sehr jungen Jahren
schizophrene Zeichen auftauchen, eine asoziale Lebensführung ein-
x ) Helenefriderike Stelzner, Die psychopathischen Konstitutionen
und ihre soziologische Bedeutung. S. Karger, Berlin 1911.
*) Wilmanns , Zur Psychopathologie des Landstreichers. Leipzig
1906.
*) Wie schwer dies in manchen selbst jahrelang psychiatrisch beob¬
achteten Fällen ist, hat erst kürzlich Kutzinski in einem Vortrag „Difle-
rentialdiagnose zwischen Katatonie und Hysterie“ im Psych. Verein zu
Berlin nachgewiesen (s. diese Ztschr. Bd. 70, S. 859).
Zeitschrift führ Psychiatrie. LXXI. 1. 5
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Stelzner,
leiten, antisoziale Instinkte wecken, dann verschwinden und wieder
auftauchen und dem Dasein eine bestimmte Richtung geben können,
die nach der Schwelle des Gefängnisses und schließlich des Irren¬
hauses zielt. Es handelt sich bei meinen Beobachtungen zu gleichen
Teilen um einen Beitrag zur Beleuchtung von Frühsymptomen der
Hebephrenie und zur Seelenforschung der jugendlichen, besonders
weiblichen Antisozialen. Daß eine besondere Immunität des
Weibes gegen die neuerdings als Ursache der Dementia praecox an¬
genommene innersekretorische Vergiftung vorliegt, ist nicht anzunehmen;
und wenn Kraepelin in einer früheren Auflage seines Lehrbuches
sagte, daß das männliche Geschlecht dreimal so häufig an Dementia
praecox zu erkranken scheine als das weibliche, so schränkt er diese
Hypothese in der neuesten Auflage 1 ) durch das Untersubhungsergebnis
ein, daß erstere im allgemeinen etwas häufiger — unter 1054 Fällen
waren 57,4% Männer — an dieser Psychose leiden. So fand auch
Mönkemöller 2 ) unter den 70 geistig nicht normalen Korrigendinnen von
100 untersuchten allein 6 an Dementia praecox erkrankte. Im allgemeinen
ist, worauf auch Gruhle (a. a. 0.) hinweist, die Psychopathologie des
antisozialen Weibes, noch viel zu wenig studiert und die Zusammen¬
hänge zwischen Kriminalitäts- und Prostitutionsneigung und Schizo¬
phrenie bei minderjährigen Mädchen noch ein wenig durchforschtes
Gebiet. Dabei ist eins, was sicher auch die prozentuale Verteilung
auf die Geschlechter beeinflußt, nicht zu unterschätzen, daß nämlich
Fälle von Dementia praecox mit Ausgang in milden Schwachsinn
beim Weibe viel leichter übersehen werden als beim Mann, und zwar
unabhängig vom sozialen Niveau. Am leichtesten wird sie natürlich
bei den Frauen erkannt werden, die um ihre soziale und wirtschaftliche
Stellung kämpfen oder an der Spitze großer und komplizierter Haus¬
haltungen stehen, wobei ihre Leistungen dauernd der Kontrolle einer
Reihe von Leuten unterliegen. Dagegen ist es jedem Psychiater be¬
kannt, wie weit z. B. die paralytische Verblödung bei Frauen der
unteren Stände, die keinem Erwerb nachgehen, gedeihen kann, ohne
daß dies der Umgebung auffällig wird. Solange die kleine Haushalts-
*) Kraepelin , Psychiatrie, 8. (neueste) Aufl. Leipzig 1913.
*) Otto Mönkemöller, Korrektionsanstalt und Landarmenhaus.
Ein soziologischer Beitrag zur Kriminalität und Psychopathologie des
Weibes. Leipzig, Barth, 1908.
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 67
masehine noch täglich ihre paar kümmerlichen Umdrehungen macht,
ahnt niemand etwas von der geistigen Erkrankung der Hausfrau,
bis ein gänzlicher Zusammenbruch erfolgt. Ähnlich mögen die Ver¬
hältnisse bei der Schizophrenie liegen, und wieviel unerklärliche
Handlungen, meist der Hysterie zugeschriebene auffallende Unregel¬
mäßigkeiten, Launen, Verfehlungen, Irrungen der Frauen auch der
gebildeten Stände den leichteren Graden dieser Krankheit zufallen,
i«>t noch nicht genügend erforscht. Daß übrigens die asoziale Richtung
in allen Kreisen bei der Frau dieselben Wege einschlägt und durch
dieselben Neigungen dirigiert wird, war anzunehmen, nur gelangt
das Kind der unteren Stände, dem durch das Milieu gesetzte Barrieren
iehfen, gleich viel tiefer in den Sumpf. Da mein sonstiges Beobachtungs-
Material den sozial und wirtschaftlich tiefer stehenden Kreisen an-
gehört, k ann ich nicht umhin, zum Vergleich die Geschichte einer ver¬
ödenden Jugendlichen aus ganz anderen Verhältnissen heranzuziehen:
Ein junges Mädchen von bester Erziehung, sehr schüchtern, fing
'uit 17 Jahren an, den Herren beim Tanzen ungewöhnliche und unschick¬
liche Avancen zu machen, die gegen ihr bisheriges Benehmen merkwürdig
Stachen. Schließlich kompromittierte sie sich, indem sie sich bei einem
hr nur wenig bekannten Offizier brieflich ansagte, abends ihren Eltern
Cimlich davonlief und beobachtet wurde, wie sie versuchte, in die Wohnung
Ics Betreffenden einzudringen. Die entsetzten Eltern gaben sie in eine
'trenge Pension, aus der sie „gebessert“ nach Hause kam. Nun benahm
•' le sich soweit zufriedenstellend, galt für ein wenig unintelligent, da sie
Hiig sprach, fast immer lächelte und nur gelegentlich bei nicht immer
lösenden Gelegenheiten herauslachte, was ihr in Anbetracht ihrer auf¬
fallenden Schönheit nicht allzu hoch angerechnet wurde. Dann trat im
Anschluß an einen ihr versagten Bräutigam — die Wahl war eine recht
glückliche gewesen —- ein Depressionszustand ein. Nach mehrwöchent-
11'hem Sanatoriumsaufenthalt ging es zu Hause lange Zeit wieder im alten
Gleise, ohne daß den Eltern etwas Besonderes auffiel, bis die Dame einen
Erregungszustand bekam und nach einer geschlossenen Anstalt verbracht
**rden mußte, in der sie sich, abgesehen von kurzdauernden Remissionen,
®il den untrüglichen Symptomen der Hebephrenie seit vielen Jahren
^findet. Das erste bemerkbare Krankheitszeichen war zweifellos das
® 17. Jahre beginnende eigentümlich zudringliche und kompromittierende
halten gegen die jungen Männer ihrer Umgebung, eine infolge damals
buchender ethischer Minderungen, vielleicht auch hypomanischer
Tilgungen sich bemerkbar machende Widerstandslosigkeit gegen das
Hetzen erotischer Empfindungen. Immerhin war sie darnach noch
” ,v ‘ 4 Jahre sozial, nahm, ohne große Fortschritte zu machen. Mal-,
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Stelzner,
Musik- und Sprachstunden, ging in Gesellschaft, war zwar manchmal
„bockig“, aber im allgemeinen lenksam, und niemand beobachtete den
geistigen Rückgang. Es muß allerdings bemerkt werden, daß der in¬
telligente Vater nur wenig Zeit hatte, sich um die Familie zu kümmern,
daß das Mädchen keine Geschwister hatte und die Mutter gar keine geistige
Regsamkeit besaß. Hätte sie durch geistige Arbeit ihr Brot verdienen
müssen oder in einem geistig angeregten Kreise gestanden, so wäre ein
Versagen in der Arbeit, ein Mangel an Schlagfertigkeit im geselligen
Verkehre wohl früher in die Erscheinung getreten.
Die Parallelen aus den Lebensgängen dieses Mädchens und denen
der schizophrenen Tochter des Volkes ergeben sich von selbst: 1. Locke¬
rung der ethischen Begriffe in Richtung sexueller Begehrungen, ohne
daß Krankheitsverdacht auftaucht, und 2. ein zweifelloses Zurückgehen
der intellektuellen Prozesse, das selbst in gebildeten Kreisen nicht
besonders auffällig wird. Es besteht in dieser Zeit namentlich für
die Mädchen der unteren Stände die große Gefahr aller möglichen
Verfehlungen und damit des sozialen Herabsinkens. Wie viele von
denen, die früh kriminell werden, der Prostitution zustreben, absolut
unerziehbar sind, unbeherrschte Vagabondageneigung zeigen u. a. m.,
den Anreiz zu diesem Verhalten aus der für die Schizophrenie an¬
genommenen Vergiftung ziehen, wird sich zahlenmäßig erst nach-
weisen lassen, wenn die anatomischen oder physiologischen Ver¬
änderungen in jedem Falle einwandfrei beobachtet und die Fälle
damit gegen andere psychisch abnorme Zustände abgegrenzt werden
können. Ich mußte mich häufig auf Vermutungen beschränken, zu
denen das besondere Verhalten jugendlich asozialer Elemente mich
drängte.
Prostitution der jugendlichen Schizo¬
phrenen und Fürsorgeerziehung. — Die mir als
Hausärztin an einem Fürsorgeerziehungsheim zur Beobachtung
unterstehenden weiblichen jugendlichen Angeklagten und Prostituierten
eigneten sich insofern gut zum Studium, als es sich um Individuen
handelte, die häufig gerade erst strafmündig geworden, also in einer
sehr frühen Zeit auf Abwege gelangten, im übrigen vorderhand aber
als normal anzusehen waren, jedenfalls zunächst noch keine Symptome
zeigten, die Unterbringung in eine Heilanstalt nahegelegt hätten.
Sie boten somit sämtlich initiale Fälle dar.
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Die, Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 69
Ich stellte mir die Aufgabe, die Zustands- und Lebensbilder
dieser Jugendlichen nach schizophrenen Momenten zu durchforschen,
um zunächst eventuellen charakteristischen Frühsymptomen nach¬
zugehen, und besonders um Zusammenhänge zwischen diesen und
verbrecherischem, überhaupt asozialem Einschlag herauszufinden, Ver¬
hältnisse, die übrigens schwer voneinander zu trennen waren. Für
die fürsorgerische und forensische Beurteilung sind die Frühdiagnosen
von gleich großer Wichtigkeit. Die Verwechslung mit den Ausschlägen
der Pubertäts- oder richtiger der Flegel- und Backfischjahre liegt
sehr nahe und die erhaltenen Kräfte der Merkfähigkeit und des Ge¬
dächtnisses, die Bleuler immer wieder betont, täuschen bei Früh¬
formen nur zu leicht psychische Intaktheit und damit Verantwortlich¬
keit vor. Die Tatsache, daß Kriminalität des weiblichen Geschlechtes
und Prostitution ungemein häufig auf dem Boden abnormer geistiger
Veranlagung gedeihen — vielleicht häufiger als beim Mann, da der
physiologischen Veranlagung des normalen Weibes die Aktivität
auch im Bösen ferner liegt —, ist gerade in den letzten 10 Jahren
durch verschiedene auf ausgedehntes Material sich gründende Arbeiten:
Bonhoeffer 1 ), Mönkemöüer (a. a. 0.), Stelzner (a. a. 0.) u. a. bewiesen
worden. Alle diese Untersuchungen haben gezeigt, daß frühes Ein¬
setzen antisozialen Verhaltens ein Indikator für besonders hohe Grade
krankhafter seelischer Veranlagung ist. So fand ich unter den minder¬
jährigen Prostituierten, die außerordentlich früh sowohl der Prosti¬
tution als auch der Kriminalität und damit der Fürsorgeerziehung
zugefallen waren, recht namhafte Prozentzahlen psychopathischer
und psychotischer Momente.
Die meisten Untersucher reihen die gefundenen Abweichungen
in das Gebiet des Schwachsinns oder irgendeiner Form der psycho¬
pathischen Konstitutionen ein. Ein Umblick in der Literatur zeigt,
daß die Psyche der Prostituierten im allgemeinen noch recht wenig
studiert ist. Wir zitieren noch heute wie vor fast 100 Jahren Parent-
Duchalelet *) als einen der besten Kenner und Beurteiler der geistigen
Bonhoeffer, Zur Kenntnis des großstädtischen Bettel- und Vaga¬
bundentums. 2. Beitrag: Prostituierte. Zeitschr. f. d. ges. Strafrechts¬
wissenschaft 1913.
*) Parent-Duchatelet , De la Prostitution dans la ville de Paris con-
sUlerie sous le rapport de l’Hygiöne publique ä Paris 1836.
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Stelzner,
Abnormitäten sich preisgebender Mädchen, obwohl er ein nach Alter,
Religion, Rasse und Bodenständigkeit beschränktes und dem unseren
sich schwer angliedemdes Material behandelt Er behauptet einmal,
daß der Wahnsinn unter ihnen häufiger sei, als man glaubt, und zitiert
Esquirol, welcher im Zeitraum von 5 Jahren 105 geisteskranke Pariser
puellae publicae in der Salpötriere aufnahm, von denen der größte
Teil erst nach dem 25. Lebensjahre, viele sogar erst im 6. und 7. Jahr¬
zehnt psychisch erkrankten. Parent-Duchatelet nimmt infolgedessen
weniger eine angeborene krankhafte Veranlagung an, sondern glaubt
vielmehr, der Wahnsinn sei bei den Prostituierten die Folge der vielen
von ihrer Lage unzertrennlichen Leiden, sei ihrer Lebensweise und
dem damit verknüpften Elend aller Art zuzuschreiben. Ganz ent¬
gegengesetzt behauptet Tschich 1 ), daß Geisteskrankheit unter den
Prostituierten seltener vorkomme als bei anderen Frauen, eine Äuße¬
rung, deren Zielrichtung dahin geht, zu beweisen, daß die sexuelle
Abstinenz mehr zu Psychosen disponiere als der sexuelle Abusus.
Bonhoeffer (a. a. 0.) wiederum betont, daß sich in der Bevölkerungs¬
schicht der gewerbsmäßigen Bettler, Vagabonden, Verbrecher und
Prostituierten psychische Defektzustände in besonderer Häufigkeit
ansammeln. Von wirklichen Geisteskrankheiten führt er Hebephrenie
und progressive Paralyse mit je 1% an. Unter den mir zur Beobachtung
stehenden Mädchen fand ich neben etwa 66% leicht Abnormer
jedenfalls eine recht hohe Ziffer — etwa 6% — solcher, die in eine
geschlossene Anstalt abgegeben werden mußten. Eine ausführlichere
Publikation darüber ist in Aussicht genommen. Es sind sonach nicht
nur leicht defekte Individuen, die im frühesten Jugendalter zur Prosti¬
tution abbiegen, sondern auch solche, die zu ausgesprochener Geistes¬
krankheit neigen. Denn daß, wie Parmt-Duchatelet annimmt, die
Schädigungen des Prostitutionslebens die Geisteskrankheiten ge¬
zeitigt hätten, ist bei so jugendlichem Material auszuschließen.
Der Gedanke, daß die Schizophrenie sich mehr oder weniger
verlarvt, mehr oder weniger deutlich ausgesprochen unter den Psychosen
dieser zur Kriminalität und zum lasterhaften Lebenswandel abgeirrten
Jugendlichen finde, lag zu nahe, als daß er nicht zu einer Nachprüfung
herausgefordert hätte. In den Lebensgängen der Prostituierten im
*) Tschich, Die Geisteskrankheiten bei Prostituierten. Peters¬
burg 1906.
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Die Fröhsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 71
allgemeinen finden sich so viele Eigentümlichkeiten schizophrenen
Charakters, daß unter ihnen a priori eine Reihe derartiger Patienten
zu vermuten war. Das ist bisher entschieden zu wenig berücksichtigt
worden. Bei der Art der Lebensführung dieser Geschöpfe ist es auch
gar nicht so leicht, da dem einzelnen Beurteiler meist nur kurze Teil-
stücke eines buntbewegten Daseins zur Beobachtung stehen und
zunächst der Zufall darüber entscheidet, ob gerade das betreffende
Segment, das einem Psychiater zufällt, für Schizophrenie charakte¬
ristische Symptome bietet. Es kommt der Mangel an guten objektiven
Anamnesen dazu, da die Mädchen entweder aus zerfallenden Familien
gtammen, oder, wo noch geordnete Verhältnisse bestehen, von ihren
Verwandten verstoßen sind. Auch machen die Angehörigen häufig
mit Absicht irreführende Mitteilungen; die subjektiven Angaben
sind bewußt fälsch oder von der krankhaften Veranlagung beeinflußt.
Die verschiedenen Instanzen, denen die Magdalenen der Fürsorge¬
erziehung gelegentlich unterstehen, Geistliche, Erzieher, Lehrer,
Richter, Kontrollärzte, Hausärzte der Fürsorgeheime und in besonderen
Fällen Irrenanstaltsärzte sehen sie immer jeder einzelne in je einer
bestimmt charakterisierten Daseinsphase, und nach dem jeweiligen
Momentbild richtet sich das Urteil, vielleicht sogar die psychiatrische
Diagnose, die mit den wechselvollen Bildern der initialen Schizo¬
phrenie auch häufig wechselt Einige Kranken- bzw. Erziehungs¬
geschichten werden das am besten illustrieren.
A. M., 17 Jahre alt und schon zweimal wegen gewerbsmäßiger Un¬
zucht bestraft, wird in Fürsorgeerziehung gegeben. Es handelt sich um
ein, kaum seinem Alter entsprechend entwickeltes graziles Mädchen,
das körperlich gesund ist, aber dadurch auffällt, daß es dauernd ein sonder¬
bares törichtes Lächeln zur Schau trägt. Der Nervenstatus ist ohne Be¬
sonderheiten. Die Intelligenzprüfung erregt zunächst die Heiterkeit
der Untersuchten, und sie antwortet auf alle Fragen, ohne sich zu besinnen:
„weiß ich nicht“. Bei den schwereren Proben rafft sie sich aber zusammen
und liefert namentlich betreffs der gedächtnismäßigen Leistungen über¬
raschend gute Resultate. Ich versehe sie zunächst mit der Diagnose
Debilität. Da sie Erziehungsschwierigkeiten machte, vor allem zu keiner
geordneten Tätigkeit zu bewegen war, wurde sie nach einigen Wochen
nach einer anderen Anstalt verbracht, entlief dort dreimal, blieb das
letztemal auf der Straße, wurde von der Sittenpolizei aufgegriffen und
wieder auf die mir unterstellte Krankenstation des Fürsorgeheims gegeben.
Sie brachte folgendes Führungszeugnis der Anstalt mit: „A. M. hatte
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72
81 e l z n e r,
hier besondere Aufsicht nötig, arbeitete nicht, lachte zwecklos und auf
Vorhaltungen, schmückte sich mit Lumpen, ging auf die anderen Mädchen
los, ruinierte Fensterschlösser usw.“ Als sie mir wieder vorgestellt wurde,
machte sie einen weit ungünstigeren Eindruck als das erstemal. Ihr
Gesicht war total zerkratzt. Sie soll stundenlang dasitzen und sich ohne
Juckreiz das Gesicht mit den Fingernägeln bearbeiten. Bei der Unter¬
suchung fällt auf, daß sie gelegentlich echopraktische Bewegungen macht,
z. B. meine Hantierungen mit Hammer und Hörrohr nachahmt. Als
ich sie weiter darauf prüfen wollte, kam ihr das zum Bewußtsein, und nun
ahmte sie lachend alles nach. Aufgefordert, mir ihren Lebenslauf auf¬
zuschreiben, lieferte sie folgendes Elaborat, das ich unverkürzt hierher¬
setze, einmal, weil es, obwohl verhältnismäßig geordnet, doch einige
auffällige Züge enthält, die ebensogut manisch als hebephren sein könnten,
dann, weil das für viele unserer Magdalenen typische Milieu, aus dem
A. M. hervorging, von keiner anderen Feder so meisterlich geschildert
werden könnte und gleichzeitig die Hereditätsverhältnisse gut beleuchtet:
Die Eltern in Scheidung, die Kinder in allen möglichen Pflegestellen,
Vater und Mutter mit anderen im Konkubinat lebend. Aus den Akten
ergab sich die Wahrheit des Niedergeschriebenen.
,,Ich heiße A. M. Bin geboren am 20. November 1896 zu S.
Bin getauft am 14. März 1895 in der Sank Nikolaikirche zu S.
Mein Vater Schneidermeister. Als ich 1 Jahr war, machten meine Eltern
nach Berlin, dort wohnt Sie noch bis heut. Als ich 4 Jahr alt war, ging
uns sehr traurig. Wir gingen in Haus für Obdachlose. Meine Mutter hatte
eine Aufwartestelle schon bei meinen Vater, weil der alles Geld vertrank,
die wollte Sie nun weiter nachgehn, sollte es aber nicht, der Inspecktor
sagte: „Wenn Sie die Stelle nicht aufgiebt, kommt sie mit dem grünen
Wagen“. Da kam meine Mutter nicht wieder, uns ließ Sie im Stich. Wir
beide ich und ein Bruder, (mein andren Geschwister waren schon in der
Geburt gestorben,) kamen nach’s Waisenhaus Wo ich in Plege bei Tage¬
löhner kam. Dort hatt ich es sehr gut. Meine Mutter holte mich nach
einem halben Jahr zurück. Als ich 7 Jahr, kam ich wie die 4 Wochen
Ferien bei meiner Tante, als die Zeit um war, sollte ich wieder zu meiner
Mutter, aber meine Mutter war wie vom Erdboden verschwunden, da
ging meine Tante zum Armvorsteher zu Gharlottenburg, der gab mich
bei einen Beamten in Plege. Da ging es mir auch gut. Nach einem Vz Jahr
holte mich Mutter. Da hatte sie ein Verhältnis mit einem Mann, den ich
heute noch nicht leiden kann. Der trank auch bloß er schlug meine Mutter
nicht, Sie war ihn sehr gut, arbeiten tat er aber nicht desto mehr meine
Mutter, er lag den ganzen Tag lang, und meine Mutter mußt sich quälen
von frühen Morgen bis späten Abend. Von 9 Jahr kam ich abermals von
meine Mutter fort, weil Sie im Automaten arbeit, und nun erst um 12—1
zu Hause kam, und ich vor die Tür saß und einschlief fremde Leute nahmen
mir mit, eines Tages kamen 2 Geheime und die nahmen mir nach der
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 73
Wache mit, denn kam ich nach Waisenhaus. Von dort kam ich in Plege
bei wohlhabende Bauern, da hatte ich es sehr gut. 2 Jahr blieb ich da.
Dann holte mich meine Mutter, und ich habe eine Halbschwester be¬
kommen, die ich verwartet habe. Von 11 Jahre kam ich wieder in Plege
zu einem Tischlermeister. Dort hatte ich es sehr gut. 1 Jahr blieb ich da,
dann kam ich wieder zu meine Mutter. Von 12 kam ich meine 2ten Schwester
in Plege bei einen Schriftsetzer in Neu-Köln bei Berlin, da blieb ich 4 Mt.
Dann kam ich wieder zurück nach’s Waisenhaus weil mein kl. Schwester¬
chen so viel Arbeit macht, mir hätte Sie gern behalten, aber wir sollten
beide zusammen bleiben. Von dort kamen wir beide zu einem Techniker..
Bei den hatten wir nicht gut. Die Frau war faul, dreckig und geizig.
Den Tag wo ich kam stand der ganze Küchenschrank u. Tisch voll
schmutzigen Geschirr wo schon die Würmer dran krochen. Mein kl. schlug
Sie derartig daß die ganz blau wurde. Da war ich nur 4 Monate mein kl.
Schst. nur 3 Mt. Dann kam ich zu meine Mutter, dort blieb ich bis zur
Einsegnung. Ich bin also in verschiedenen Schulen gewesen, in Z. ging
ich in d. I. Kl. in B. wurde ich in der I. Kl. versetz. In N. auch, auch in
Jv. Bloß in Berlin bin ich in d. III. Kl. Confirmiert worden. Ich habe
Lesen, Schreiben, Rechnen, Singen, Turnen, Handarbeiten, Zeichnen,
Erdkunde, Religion, Geschichte, Raumlehre, u. Naturlehre gelernt. Bin
in der III. Kl. Confirmirt Betragen hatte ich immer gut. Wie das andre
weiß ich nicht mehr. Ich habe sehr viel gefehlt mein war immer schwer-
krank. Ich bin bei Pastor Dkt. Pr. Confirmirt worden, in der Himmel¬
fahrtskirche in Humboldthain. Die Schule war in der Stralsunderstraße.
Nach der Einsegnung ging ich in Stellung. Hatte 5 Stellen. Bin auch
arbeiten gegangen. Zuletz arbeite ich in Kaffelokal. Das war mir aber
so schwer es ging immer bis Nachts 1—2 Dann zog ich bei meine Mutter
'lurfte ich nicht wohnen. Im Mädchenheim fand ich kein Bett. Also gint
nach der Friedrichstr., mit Männern, die gaben mir Geld u. Geschenke.
Ich trieb also zuletzt Gewerbliche Unzucht. Wieviel Männer ich hatte,
weiß ich nicht. Das 1 mal bin ich eingeliefert weil ich ein Strumpf auf
offner Straße hoch gezogen. Bin aber wieder entlassen worden. Das
2 mal war wieder dasselbe. Da ich keine feste Wohnung hatte, wurde
ich eingeliefert. Und kam nach Fürsorgeerziehung. Ich habe mir vor¬
genommen ein ordentliches und braves Menschenkind
zu werden. Und ich werde es auch. Wo mein Vater weiß
ich vor Jahren war er mal ins Irrenhaus. Einmal wie er betrunken war,
wollte er meine Mutti totschlagen mit einem Schemmelbein,
traf unglücklicher Weise mir an Kopf ich hatte ein großes Loch.
Seitdem habe ich immer furchtbare Kopfschmerzen.
Einmal wollt mein Mutti mit einen Messer totstecken, und stach meine
Mutter in den Kopf. Männer kamen zu hielten ihn fest, wo er jetzt ist
weiß ich nicht, aber er ist mindestens schon ganz verkommen. Meine
Mutti ist glücklich geschieden. Jetzt kann er andre ärgern. Gott sei
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Stelzner,
Dank. Jetz ist Schluß mit meinem Lebenslauf, was weiter kommt, weiß
ich* nicht“.
Nach der zweiten Einlieferung traten immer deutlichere Symptome
der Hebephrenie hervor. Die Stimmung war ziemlich gleichmäßig. Zu
irgendeiner Tätigkeit war sie nicht zu bewegen, schloß sich auch den
anderen Mädchen bei Spiel und Arbeit nicht an. Sie saß herum, grimassierte,
lächelte oder zerkratzte sich das Gesicht und zerschnitt sinnlos mit einer
Schere, was sie irgend erreichen konnte. Vor ihrem Sammeltrieb war
nichts sicher, und während sie am Tage nichts tat, hat sie, wahrscheinlich
in der Nacht, die bizarresten Handarbeiten angefertigt, die gelegentlich
in irgendeinem Winkel des Hauses gefunden wurden, z. B. frische Blumen
und Blätter mit tausend künstlichen Stichen in eigentümlichen Mustern
auf alte Lumpen genäht u. dgl. m. Schon in der anderen Anstalt hatte
sie alles, wie die Erzieherinnen sagten, zusammengestohlen. Nach dem
Entweichen daselbst sollte sie des Diebstahls angeklagt werden, denn
sie hatte alles mitgenommen, was sie an ihrem Körper unterbringen konnte,
von gebrauchten Schuhbürsten bis herauf zu Batistblusen, ohne irgend¬
eine Verwendung dafür zu haben. Ich ließ sie damals mit der Diagnose
Dementia praecox nach einer geschlossenen Anstalt bringen, wo sie sich
zurzeit noch befindet.
Ihre Delikte bestehen in Gewerbeunzucht und Diebstahl. Wegen
des erstgenannten, das in die Zeit vor ihrem Eintritt in die Fürsorge¬
erziehung fällt, wurde sie zweimal zu je einem Verweis verurteilt. Der
Diebstahl der verschiedenen oben erwähnten Dinge wurde infolge meiner
Intervention gar nicht forensisch. Wo haben wir nun die ersten Symptome
der Schizophrenie zu suchen? Die Zeit von ihrer ersten Einlieferung
bis zur Abgabe an die Irrenanstalt umfaßt insgesamt nur 4 Monate. Als
sie sich mir das erstemal vorstellte, machte die Krankheit schon deutliche
Symptome nach der Richtung des Intelligenzverfalls. Daher meine Dia¬
gnose Debilität. In Wirklichkeit litt sie aber an keiner primären Schwach¬
sinnsform, sonst wäre sie nach dem wechselvollen häuslichen und Schul¬
leben, das sie führte, nicht bis zur dritten Klasse einer Berliner Gemeinde¬
schule gekommen, hätte vor allem den Lebenslauf nicht so geschrieben,
wie sie es tat. Sie war also auch schon krank, als sie wochenlang ohne
feste Wohnung in der Friedrichstraße Herren anlockte und sich die Reate
wegen Gewerbeunzucht zuzog. Im Gegensatz zu dem später (S. 117) zitierten
Fall E. S. lagen diese ihrer Lebensführung und Entwicklung sehr nahe.
Wäre sie ganz gesund, ihr ethisches Empfinden nicht verblaßt, ihr Denken
und Fühlen nicht alteriert gewesen, so hätte es vielleicht noch einen anderen
Ausweg als den gewählten aus dem Dilemma gegeben, den sie in ihrer
Autobiographie so lebendig schildert, und der sie zur bezahlten Prostitution
führte. Eine Schwachsinnige pflegt nicht so unbeirrte, wenn auch falsche
Konsequenzen zu ziehen. Sie läßt sich treiben, hätte vielleicht versucht,
auf einem Boden zu nächtigen, wäre allerdings auch bereit gewesen, sich
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 75
einem Verführer zu ergeben, aber nicht dazu, diesen zu suchen. Jedenfalls
hätte ein normales Berliner Mädchen immer noch einen anderen Ausweg
gewußt. Allerdings muß man in Betracht ziehen, daß ein in solchem
Milieu aufgewachsenes Kind wie A. M. vor der Prostitution selbst bei dem
Gedanken, daß das Vergehen auch vor dem Gesetze strafbar ist, keine
großen Hemmungen mehr zu überwinden hat. Sie wurde als voll
verantwortlich angesehen, was sie entschieden damals nicht mehr war,
und verurteilt. Als frühestes und erstes Symptom kann wohl gelten,
wenn wir den häufigen Stellenwechsel mitheranziehen, daß sie, aus dem
letzten Dienste scheidend, gar nicht daran dachte, sich einen anderen
zu besorgen, den sie bei der herrschenden Leutenot ohne weiteres be¬
kommen hätte, sondern sich einfach von der Obdachlosigkeit überraschen
ließ, was entschieden schon auf einen Mangel an Assoziation deutet. Der
Diebstahl ist direkt eine Funktion ihrer Krankheit, eines Symptomes
derselben, des Sammeltriebes. Steht dieser im Vordergrund der Er¬
scheinungen, und tritt er als Früh- und Einzelsymptom auf, so mag die
Rechtfindung gar nicht so leicht sein und eine falsche Beurteilung des
Angeklagten nur zu nahe liegen. In diesem Falle kam es ja zu keiner
Anklage, aber es wird sich doch nötig machen, in allen Fällen, wo der
Diebstahl den Charakter des unsinnigen Zusammenschleppens trägt,
den ganzen Menschen auf schizophrene Symptome nachzuprüfen. Mancher
Fall, der unter dem obsolet gewordenen Begriff der Kleptomanie ging,
mag hierher gehören.
Interessant ist das Studium der Akten von A. M., aus denen
hier eine kurze Zusammenstellung der verschiedenen Urteile über sie
folgen möge:
Nach Verlassen der Schule Ostern 1910 hatte sie in einem Jahre
sechs verschiedene Dienststellen, wo sie nicht genügte, und wo es ihr nicht
gefiel.
1911 ergibt sie sich der Gewerbeunzucht.
16. April 1911 wird deswegen Fürsorgeerziehung ausgesprochen.
24. Mai 1912 Aufnahme im Fürsorgeheim.
Meine psychiatrische Diagnose nach der Aufnahmeuntersuchung:
Debilität, obwohl sie im allgemeinen Intelligenzproben gut beantwortete,
nur manchmal lachte und nicht weiter wollte.
11. Juni 1912: Zwei Verweise vom Jugendgericht wegen Gewerbe-
unzucht. Man hielt sie demnach für voll verantwortlich.
16. Juli 1912: Aus anstaltstechnischen Gründen in ein anderes
Erziehungsheim gebracht, ist sie dort dreimal entlaufen und dann mit
'lem oben bereits zitierten Attest nach dem ersten Fürsorgeheim ent¬
lassen. In beiden Anstalten wurde sie mehrfach diszipliniert.
31. August 1912: Meine Diagnose nach der zweiten Aufnahme¬
untersuchung: Dementia hebephrenica, aber zunächst nicht geschlossener
Anstalt bedürftig.
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S t e 1 z n e r,
11. September 1912: Zeugnis der erziehenden Schwester: „A. M.
hatte versprochen, hier ordentlich zu sein, aber sie zerschnitt sinnlos
die Stoffe, die sie bearbeiten sollte, lacht ohne Grund, hat sich wieder
das Gesicht zerkratzt, grimassiert viel und ist zu geordneten Arbeiten
nicht zu bewegen.“
Wenige Tage später wurde sie unruhig und nun nach einer Irren¬
anstalt gebracht, wo sie sich jetzt noch befindet, und wo man die Diagnose:
psychopathische Konstitution mit Imbezilität gestellt hat.
Der Arzt, der sie seinerzeit fürs Jugendgericht untersuchte, hat sie
offenbar für normal gehalten, ich zunächst für schwachsinnig, dann für
hebephren, welche Diagnose ich beweiskräftig gestützt zu haben glaube,
die Irrenanstalt für psychopathisch und imbezill. Die Imbezillität war- 1
wohl einem bereits eingeleiteten weiteren Zerfallsprozeß zuzuschreiben.
Im übrigen ist anzunehmen, daß der in der Fürsorgeanstalt so deutlich
in die Erscheinung tretende schizophrene Schub nach Aufnahme in die
Irrenanstalt eben abklang und nur noch in der Form psychopathischer
Eigentümlichkeiten auftrat. Darauf deuten auch ihre an die erziehend
Fürsorgeschwestern gerichteten Briefe, die mit Ausnahme eines in fc
ersten Tagen ihres Irrenanstaltsaufenthaltes geschriebenen ganz geordn*'
sind. Dieser erste enthält zunächst zwei sinngemäße Sätze: ,,Lieb
Schwester, was macht Ihre Gesundheit? Ich hoffe, daß es Ihnen gut
geht.“ Ohne Übergang fährt sie fort: „Die Nacht vor dem Heiligen Abend,
da liegen die Kinder im Traum.“ Dann berichtet sie über die anderen
Patienten und wieder ganz unvermittelt „Laß Dich von guten Engeln
warnen und nicht von bösen Dich umgarnen.“ Dann schließt sie: „Er¬
wünscht Ihnen einen guten Feierabend. A. M.“ Es schwebte ihr wohl
etwas von Feiertag vor, und Andeutungen einer sprachlichen Kontamination
führten zur Anwendung des Wortes Feierabend. Die folgenden Brief-
sind bis heute ohne Besonderheiten.
Mit dieser Krankengeschichte, die für gewisse Fälle typisch ist,
wäre bewiesen, was ich vorher andeutete. In den Frühstadien de
Schizophrenie läßt sich eine sichere Diagnose nur nach genauer Kenntnis
längerer Lebensabschnitte und unter. Benutzung des aktenmäßiga
Materials stellen, das uns die Persönlichkeit in den verschieden®
Reaktionsformen zur Umwelt zeigt. Wenn selbst monatelange An*
staltsbeobachtungen unter Umständen schizophrene Momente blo߬
zulegen nicht imstande sind, so ist es für den einmal untersuchenden
Jugendgerichtsarzt in solchen Fällen fast unmöglich, zur richtigen
Diagnose zu gelangen. Bei der Ungeheuern Wichtigkeit, gegenüber
dem asozialen Verhalten Schizophrener die Rechtfindung zu beein¬
flussen, ist es bei etwa verdächtigen Zügen unbedingt erforderlich,
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw 77
gute objektive Anamnesen zu gewinnen und in mehreren Sitzungen
zu untersuchen Nicht ohpe Grund wird die Diagnose Hebephrenie
oder Dementia praecox oder Schizophrenie so selten von Jugend¬
gerichtsärzten gestellt.
Ich habe schon darauf hingewiesen und durch diesen Fall weiter
beleuchtet, wie eng die Beziehungen zwischen der besprochenen
Erkrankung und der Prostitution und damit der F E. ist. Genauere
Forschungen werden erst zeigen, wie hoch der Prozentsatz der Schizo¬
phrenen unter den jugendlichen Magdalenen ist. Wenn Borihoeffer
unter 199 Prostituierten aller Altersgruppen deren 2, Mönkemöller
unter 100 ebensolchen Vagabonden deren 6 fand, so ist die Zahl für
die Jugendlichen noch höher anzunehmen, denn ein Teil von ihnen
verschwindet aus der Gesamtmasse der Prostituierten und Vaga¬
bonden in die Irrenanstalt, ein anderer Teil erreicht kein höheres Alter.
Die körperliche Anfälligkeit Schizophrener ist bekannt.
Ich lasse noch einige Fälle folgen, teils wegen der verschieden¬
artigen psychiatrischen Wertung, die sie erfuhren, teils weil sie die
einzelnen Krankheitszüge bei einer bestimmten sozialen und Alters¬
gruppe gut beleuchten.
Cz., 16 Jahre alt, wird mir als Neuaufnahme der F.-E.-A. vor¬
gestern. Sie war körperlich gesund, machte einen depressiven Eindruck
und sprach spontan fast gar nicht. Gelegentlich beantwortete sie Fragen
nur durch ein Lächeln, das man fast als arrogant bezeichnen könnte,
bas Gesicht zeigte starren, amimischen Ausdruck. Starke Prognathie
des Unterkiefers mit Verschiebung der Zahnreihen in horizontaler Richtung
verleiht ihr einen kreuzschnäbligen Typus. Es besteht Längsfurchung
der Stirn. Die Intelligenz ist hervorragend gut.
Der Vater starb an unbekannter Krankheit, die Mutter, angeblich
Paranoikerin mit Wahnvorstellungen religiösen Inhalts, war vor 4 Jahren
in geschlossener Anstalt wegen Gemeingefährlichkeit untergebracht,
dann als harmlos wieder entlassen worden. Cz. war darnach bei der Mutter
allen möglichen Mißhandlungen ausgesetzt; einmal schlug sie ihr das
Gesicht blutig, um den Teufel auszutreiben, ein anderes Mal rüstete sie
dem Mädchen mitten in der Nacht ein kochend heißes Bad, um den Teufel
in ihm zu vernichten, einer Prozedur, der Cz. nur mit Mühe entging. Nach
diesen Vorfällen wurde die Mutter wieder in eine Anstalt verbracht, Cz.
in eine Pflegestelle gegeben. Die Pflegemutter gibt an, Cz. sei immer ein
etwas frühreifes Kind, aber still und stets wahrheitliebend gewesen. Viel
spater habe sie angefangen zu lügen. Sie kam dann in eine andere Pfleg -
Die Dame dort gibt an, sie habe sich zunächst gut geführt, dann
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Stelzner,
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wäre sie widerspenstig und unbrauchbar geworden, habe viel gelogen
und besonders das nötige Taktgefühl vermissen lassen, indem sie abends,
wenn der Pflegevater anch Hause kam, diesem an den Hals flog und ihn
abküßte. Sie kam dann in eine Dienststelle zusammen mit einem etwa
30 jährigen Mädchen. Zunächst war die Herrschaft sehr zufrieden; dann
fing Cz. an zu lügen. Eines Tages bekam sie von einem verschrobenen
viel älteren Verwandten, den sie gar nicht kannte, einen brieflichen Heirats¬
antrag und erzählte dem anderen Mädchen davon. Als dieses sie am Nach¬
mittag in Gegenwart einer Bekannten in ganz harmloser Weise mit
diesem Briefe neckte, lief sie in das gemeinsame Zimmer, nahm sämt¬
liche Schmucksachen des anderen Mädchens und 5 M., warf Uhr, Kette,
Armband, Brosche teils in den Abzugsgraben, teils hing sie es beschmutzt
auf den Zaun am Hause auf. Als sie bald darnach mit einer Besorgung
weggeschickt wurde, kaufte sie sich für 3 M. Süßigkeiten und aß diese
sofort auf. Die übrigen 2 M. wurden mit einer Tüte Kleesalz zusammen
bei ihr im Strumpf gefunden. Dem anderen Mädchen drohte sie noch,
wenn sie nicht täte, was sie wünsche, würde sie ihr in der Nacht das Klee¬
salz in den Mund schütten, dann wäre sie nicht mehr. Als der Geistliche
ihr über diese Dinge Vorhaltungen machte, lachte sie nur.
Bei der mündlichen Verhandlung, die ich mit ihr führte, zeigte sie
sich sehr verstockt, lächelte viel wie überlegen, leugnete das meiste aus
den Akten Ersehene ab. Das Kleesalz habe sie zum Reinigen von Hüten
gekauft. Als das andere Mädchen eines Abends starke Zahnschmerzen
hatte und äußerte, sie könne sich gleich vergiften, so arg seien sie, habe
sie, um Unheil zu verhüten, das Kleesalz in einen alten Strumpf einge¬
bunden. Von der im Anfang beobachteten Depression ist nichts mehr zu
bemerken. Nach ihren Verfehlungen befragt, gibt sie keine Antwort.
In der F.-E.-A. war sie nur ganz kurze Zeit und zeigte dauernd
das verstockte und überhebende Wesen.
Dem etwaigen psychiatrischen Gutachter stellen sich eine Reihe
schwierig zu bewertender Momente dar.
Die Intelligenz, die eine sehr gute war, schien zunächst, namentlich
den Intelligenzprüfungen gegenüber, völlig intakt. — Für ihre Straf¬
handlungen hatte sie annähernd logische Lügen und Ausreden bei der
Hand, soweit es sich um die Drohung mit Vergiftung handelte. Betreffs
der Dinge, die ihr nachzuweisen sind, Diebstahl und Sachbeschädigung,
gibt sie gar keine Auskunft.
Als pathologisch fällt folgendes auf: Zunächst die zweifellose Wesens-
Veränderung, die mit ihr etwa im 14. Jahre vorging. Die Pflegemutter
bezeichnet sie als frühreif, aber still, fleißig und wahrheitliebend; später
habe sie viel gelogen. In einer zweiten Pflege benimmt sie sich erst ordent¬
lich, dann ist sie unbrauchbar, widerspenstig, lügenhaft und taktlos.
In der letzten Dienststelle scheint sie zunächst sehr brauchbar zu sein,
dann lügt sie und begeht eine Handlung, die an die Affekthandlungen
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 79
oshafter Imbeziller erinnert. Zunächst stand der zornige Affekt in gar
einem Verhältnis zu der auslösenden Ursache; denn Cz. gibt selbst zu,
las andere Mädchen sei immer sehr gut zu ihr, überhaupt sehr gutmütig,
gewesen. Auffallend ist auch, daß sie sich gar nicht bemüht, die Spuren
hrer Handlung zu verdecken. Der Verdacht mußte sofort auf sie fallen,
»owohl was das Verbringen der Schmuckstücke als das Entwenden des
Geldes betraf. Wenn der überstarke Affekt bei einem puberalen Indi¬
viduum gegenüber einer auf erotischem Gebiet liegenden Neckerei noch
in physiologischer Breite liegen könnte, so müssen die Äußerungen dieses
Affektes doch entschieden gegen das Noch Vorhandensein der ursprüng¬
lichen Vollintelligenz sprechen. Die Herabminderung der ethischen Ge-
ühlstöne spricht sich in dem Hang zur Lüge, zum Diebstahl in der gewöhn-
iehsten Form aus. Den Drohungen mit Giftmord möchte ich nicht ohne
»fiteres einen entscheidenden Wert beilegen. Es können ebensogut nur
lie renommistischen Spielereien eines Backfisches sein als auch bei der
jtsächlichen Verwischung der ethischen Begriffe die Gefahr vor¬
egen, daß die Absicht in die Tat umgesetzt würde. Wenn die
iagnose nach der ersten Untersuchung zwischen puberalen Affekt-
’hwankungen und den Initialsymptomen der Dementia hebephrenica
:hwankte, so verwies eine zweite Untersuchung und besonders das Studium
er Akten doch ziemlich energisch nach der Hebephrenie, wofür die all¬
emeine Charakterveränderung, die Herabsetzung der ethischen Gefühls-
öne und der Intelligenz sowie das gelegentliche Versagen bei der Arbeit
Unbrauchbarkeit) und die Stimmungsschwankungen sprechen. In
ol«hen Fällen ist die Schwierigkeit, das Forum vom pathologischen
"Anschlag zu überzeugen, ganz besonders schwer; denn es ist anzunehmen,
Lß das Mädchen vor Gericht frech, verstockt und lügenhaft auftritt,
labei aber durch eine gewisse Intelligenz imponiert.
Einige Zeit nach Verlassen der Anstalt kam sie auf Wunsch ihres
ormundes nach der Charite, um hier auf ihren Geisteszustand untersucht
i werden. Da dort weder eine objektive Anamnese, noch das von mir
ngesehene Aktenmaterial bekannt, der Erregungszustand auch abge-
ungen war, die Intelligenzproben inkl. Ebbinghaus tadellos ausfielen,
wurde sie als psychopathische Konstitution ohne Intelligenzdefekt
ich wenigen Tagen entlassen.
Bei den wechselnden Zustandsbildem im Beginn der Schizo-
trenie sind abweichende Beurteilungen auch von psychiatrischer
fite ja ganz unvermeidlich, und bei Wümanns finden wir eine Reihe
® Beispielen dafür, wie derartige Patienten bald als normal, bald
s krank mit den verschiedensten Diagnosen versehen durch die Welt
hen. Ich gebe zu, daß der hier zitierte Fall trotz verdächtiger Einzel-
mptome noch nicht ganz überzeugend als Hebephrenie zu deuten
t. Das weitere muß eine fortgesetzte Beobachtung ergeben.
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Stelzn er,
Ich führe einen anderen Fall hier an, bei dem vermutlich auch
eines Tages Schizophrenie erkannt wird.
H. Th. kam nach dem Tode ihrer Mutter in verschiedene Pflege -
stellen, aus denen sie mehrfach entlief. Mit 12 Jahren wurde Fürsorge¬
erziehung über sie ausgesprochen, da der Vater sich nicht entsprechend,
um sie kümmerte und sie sich prostituierte. Sie kam nacheinander in
fünf verschiedene Anstalten, aus denen sie entlief, schließlich wegen
Verdachts auf Lungentuberkulose in eine Heilstätte, aus der sie auch
entwich. Sie lernte leicht und gut. Angeblich sei ihr seit dem Lungen -
katarrh alles viel schwerer gefallen. Sie arbeitete immer schlecht und ungern.
Als sie mir im Jahre 1907, 18 Jahre alt, in der Fürsorgeanstalt vor¬
gestellt wurde, war sie körperlich sehr elend, geschlechtskrank, hoch¬
gradig anämisch, dabei sehr unfreundlich. Sie hatte bei mißmutig ge¬
furchter Stirn dauernd das fatale Lächeln auf den Lippen, das sich mir
als Symptom des beginnenden geistigen Zerfalles geradezu aufdrängte.
Umgänglich zeigte sie sich nur einer einzigen erziehenden Schwester
gegenüber, für die sie eine geradezu krankhafte Vorliebe zeigte. Bei der
Visite — sie war lange bettlägerig •— zeigte sie fast immer dasselbe ver¬
schlossene unfreundliche Wesen und das höhnische Lächeln. Sie drängte
sehr, aufstehen zu dürfen, besonders um die angebetete Schwester wieder¬
zusehen. Als ich ihr das noch verweigern mußte, zerschlug sie, kurz nachdem
ich sie verlassen hatte, Fensterscheiben, zerschnitt sich die Hände, so daß
einige Nadeln gelegt werden mußten, was sie mit demselben verbissenen
Lächeln aushielt. Einige Zeit darnach, als sie nicht mehr bettlägerig
war, wurde sie bei der Anstaltsleitung vorstellig, sie auf den Handarbeits¬
saal zu geben, wozu wiederum der Wunsch, mit der vorerwähnten Schwester
zusammenzuarbeiten, ausschlaggebend war. Als ihr dies in freundlicher
Weise verweigert wurde, lächelte sie wiederum nur, um am folgenden
Morgen Fensterscheiben und alles Erreichbare kurz und klein zu schlagen,
alle, die ihr zunahekamen, zu bedrohen usw. Trotz der Energie, mit der
sie gegen sich und ihre Umgebung wütete, drängte sich mir doch das
Zustandsbild einer inneren AfTektlosigkeit auf. Man fühlt sich versucht,
von Affekthandlungen ohne Affekt zu sprechen. Nachdem die schweren
Wunden, die sie sich zugezogen, verbunden waren, brachte man sie in eine
Irrenanstalt.
Intelligenzproben, die ich mit ihr vorgenommen hatte, ergaben
ausgezeichnete Resultate, nur kam es gelegentlich vor, daß sie plötzlich
ohne ersichtlichen Grund nicht mehr antwortete oder schrieb und durch
nichts zum Fortfahren zu bewegen war. Ein noch bedenklicheres Symptom
war das folgende. Sie hatte, ohne krank zu sein, während der Arbeit auf
der Treppe defäziert, die Exkremente in ein Papier gewickelt und in ihre
Kleidertasche gesteckt, wo sie dieselben einige Tage beließ, bis man sie
entdeckte. Trotz des kontinuierlichen Lächelns war sie eigentlich dauernd
verstimmt, übellaunig und unzugänglich.
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. gl
In der Irrenanstalt hatte sie mehrfach Aufregungszustände, schrieb
aber von da geordnete, nur ein wenig frömmelnde Briefe. Nachdem sie
entlassen war, weil ihr Gesamtzustand kein schlechter war, führte sie das
Leben einer Prostituierten. Gelegentlich einer Sistierung schlug sie einem
Schutzmann den Helm ein und benahm sich darnach so auffallend, daß
sie nicht zur Wache, sondern zur Charite verbracht wurde und von hier
wieder nach einer geschlossenen Anstalt kam. Sie war daselbst insgesamt
dreimal untergebracht worden. Den Akten war ferner zu entnehmen,
daß sie mehrfach aus Anstalten entwichen und wegen mehrerer Unzuchts¬
delikte bestraft und wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt an-
»klagt war. — Sehr ausführliche Intelligenzproben, die ich mit ihr im
Jahre 1907 anstellte, die, in mehrfachen Sitzungen gewonnen, alle Arten
und Methoden umfaßten und mit einer kleinen schriftlichen Arbeit ab-
schlossen, habe ich vor mir liegen, und die gewonnenen Resultate zeigen
deutlich absolute Intaktheit der Intelligenz. Ich rechnete sie zu den
psychopathischen Konstitutionen. In der Irrenanstalt, wo sie in den
Jahren i909—1910 untergebracht war, lautete die Diagnose: Psycho¬
pathische Konstitution -f- Imbezillität.
Wenn ich sie hier zu den auf Schizophrenie Verdächtigen stelle,
<0 habe ich dafür folgendes anzuführen:
Das stumpfe Lächeln bei mehr depressiv gefärbter Stimmung.
Mehrfache AlTektkrisen ohne eigentlichen Affekt.
Mangel an Unlustgefühlen gegenüber den eigenen Exkrementen.
Kein Beschäftigungstrieb.
Zurückgehen der Intelligenz nach dem 18. Lebensjahre, worauf
'he Diagnose Imbezillität in der Irrenanstalt deutet.
Ihr Lebensgang ist durch folgende Urteile gekennzeichnet: 12 Jahr
alt Fürsorgeerziehung wegen Prostitution und Vagabondage. Verweis
wegen Gewerbeunzucht.
In den folgenden Jahren aus fünf Fürsorgeanstalten und einer
Lungenheilstätte entwichen. Zeugnisse über renitentes Betragen, Un¬
teilbarkeit, Vagabondageneigung; dauernde Disziplinierung.
Meine erste Diagnose im Jahre 1907: Psychopathische Konstitution.
Diagnose der Irrenanstalt im Jahre 1908: Psychopathische Kon¬
stitution. Imbezillität.
Meine zweite Diagnose im Jahre 1900: Dementia hebephrenica?
fychopathische Konstitution ?
Diagnose der Charite im Jahre 1910—1911: Schwere psychopathische
Konstitution. Ethische Verkümmerung. Hysterie?
Leider gehen derartige Individuen, nachdem sie der Fürsorge-
Ziehung entwachsen sind, der Beobachtung, die sich auf jahrelang
geführtes Aktenmaterial stützt, fast immer verloren, wenn sie uns
nicht gelegentlich in einer Irrenanstalt, in einem Sensationsprozeß,
Zeitschrift für Psychiatric. LXXl. 1.
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in einer Gerichtsverhandlung, in den Spalten der Zeitungen als Ver¬
brecher oder Selbstmörder begegnen.
Gelegentlich erleben wir ganz überraschende Entwicklungen.
Im Jahre 1906 untersuchte ich in mehrfachen Sitzungen die schon
längere Zeit in meiner Beobachtung stehende damals 16 jährige H. Go.
und schwankte zwischen der Diagnose Debilität oder Dementia praecox.
Ihre Lebensgfeschichte ist die folgende:
Soll schon als Schulmädchen sexuellen Verkehr gehabt haben,
angeblich vergewaltigt.
Nach Verlassen der Schule 1904 Dienststellung, aus der sie wegen
Frechheit entlassen wurde, wohnte dann bei ihrer Stiefmutter und ver¬
kehrte mit Soldaten.
Vier verschiedene Stellungen, wurde immer wegen Lüderlichkeit,
Frechheit, Unsauberkeit, Arbeitsscheu entlassen, dazwischen Soldaten-.
dirne, dazwischen Stadien besseren Verhaltens.
1906 Fürsorgeerziehung wird ausgesprochen. — Bei der psychiatri¬
schen Untersuchung fallen die Intelligenzproben sehr schlecht und manch¬
mal recht eigenartig aus. Besonders ungenügend der Ebbinghaus. Sie
füllt nur den ersten Satz, und zwar folgendermaßen aus: Nach langer
Wand ersuche ich in dem fremden Lande fühlte ich ei Mann
so schwach, daß ich Im halfen nicht Ohn Arzt nahe war.
Auf die Frage nach ihren Zukunftsplänen antwortet sie: „Wenn
ich rauskomme, will ich mich wieder verheiraten, im 1. Jahr noch nicht,
aber im 2., erst will ich dienen, um etwas Geld zu haben.“
Die Erklärung von „Hunger ist der beste Koch“ gibt sie folgender¬
maßen: „Man wird eher kuriert durch den Hunger, anders durch Hunger.“
Diesen unsinnigen Antworten steht entgegen, daß sie in der Schule
gut gelernt hat und auch die für die Prüfung der Fürsorgezöglinge von
mir vorgesehenen schwersten Rechenaufgaben, z. B. 91—43, 67 :13,
und Gleichungen mit einer Unbekannten in Additions- und sogar in Divi¬
sionsform, schnell und richtig rechnete. Eine kleine Geschichte erzählte
sie verhältnismäßig gut wieder. Sie wurde allerdings nach 2 Tagen durch
an sie gestellte Suggestivfragen über diese Geschichte (Binet 1 ) stark
beeinflußt und in ihren Antworten abgelenkt. Eine andere Geschichte (Die
Schatzgräber), die zum Zweck der schriftlichen Wiedergabe erzählt wurde,
verfehlte sie absolut.
Im Anstaltsbetrieb wurde sie gelegentlich auffällig durch phan¬
tastische, aber nicht gerade phantasievolle Lügen, erzählte z. B. den anderen
Mädchen von einer eleganten Einrichtung, die sie sich besorgen werde,
und wollte sich einen Mitzögling allen Ernstes als Dienstmädchen enga-
x ) Binet, La Suggestibilitö, Bibliothöque de pödagogie et de psy-
chologie. Paris 1903.
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Die Früh Symptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 83
jeren, soll auch einmal einen von mir nicht selbst beobachteten Zustand
lurchgemacht haben, während dessen sie sich nach dem Urteil einer
Erzieherin und eines anderen Arztes „ganz blödsinnig“ anstellte, unsinnige
Antworten oder gar keine Auskunft gab.
Im Jahre 1908 war sie eine Zeitlang manisch oder vielmehr hypo-
manisch erregt, produzierte dabei viele Konfabulationen und phan¬
tastische Lügen. Dieser Zustand klang bald ab, ohne eine deutliche de¬
pressive Phase zu hinterlassen. Ein psychogenes Auslösungsmoment
dafür konnte ich nicht finden.
Bald darauf kam sie aufs Land in eine Dienststellung, wo sie sich
ein Vierteljahr zur vollen Zufriedenheit führte und eines Abends ohne
jeden ersichtlichen Grund ausrückte. Die Bauerfrau, die sie sofort wieder-
lehmen wollte, wenn sie gefunden würde, schrieb: „Sie war willig und
leißig; zu was ihr das gezwungen hat, ist mir rätselhaft.“
Nach etwa 3 Wochen wurde sie aufs Polizeipräsidium gebracht,
lort eine frische Lues festgestellt. Sie kam nun wieder nach der Anstalt,
►ot psychisch keine Besonderheiten, war nur fürchterlich herunter-
ekommen, starrte von Schmutz und Parasiten.
Auf Wunsch der alten Herrschaft kam sie zu dieser zurück, blieb
laselbst unter tadelloser Führung etwa y 2 Jahr und verschwand ebenso
merwartet wieder wie das erstemal.
Nachdem sie wieder aufgegriifen war, mußte sie 8 Tage Haft ab-
*itzen wegen Gewerbeunzucht in ansteckungsfähigem Zustande. Danach
kam sie wieder in die Fürsorgeerziehungsanstalt und wurde nach 4 Wochen
aushilfsweise zu einem Bauern gegeben, der sie gern behielt und außer¬
ordentlich mit ihr zufrieden war. Folgender Brief spricht für ihre äußere
und innere Befriedigung: „Wir sind mit unsere Arbeit schon fertig und
■ s üzen schon 8 Tage in die Stube. Noch 14 Tage, dann geht die Ernte los.
Ich freue mich schon darauf. Hier sind so fiel Berge und Wälder. Auch
liahe ich die Oder gesehen. Es ist hier so schön. Es ist nicht nahe bei
Berlin, das ist das schönste. Sontag bin ich immer schon um 9 Uhr zu
lause, in dem Hause herrscht Ordnung. Es gefällt mir sehr schön bei
l’s. Keine bessere Stelle kann ich nicht bekommen usw.“
Dieser Brief, der eine reine Idylle zu atmen scheint, bedeutet offenbar
las Ausholen zu einem manischen Gipfelpunkt. Diese Freude an der Arbeit,
In der Natur, an der ländlichen Häuslichkeit geht schon ein wenig über
normale Stimmungslage hinaus. Er ist ungefähr Mitte August ge¬
geben, und am 25. September kam bereits von ihrem dortigen Pfleger
*%nder Bericht: „Das Mädchen — in seinen Leistungen sehr gut —
durch seinen Lebenswandel Anstoß und könnte eine Gefahr für
Hn dere Zöglinge und das Dorf werden. Ihre alten Leidenschaften treten
^ rv ° r - Alle Ermahnungen sind erfolglos. Das Mädchen eignet sich nicht
fiir Emilien pflege, ist am besten in der Fürsorgeanstalt aufgehoben.“
1,1 Oktober desselben Jahres kamen verstärkte Klagen über schlechtes
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sittliches Verhalten und Unbotmäßigkeit, so daß sie ins Stift zurückkam
und hier sofort diszipliniert werden mußte wegen homosexueller Attentate
auf andere Zöglinge usw. Dann kam wieder eine verhältnismäßig gute
Zeit. Im Juli des folgenden Jahres bekam sie sogar eine Prämie für gute
Leistungen. Oktober desselben Jahres schied sie, da 21 Jahre geworden,
aus der Fürsorgeerziehung aus und ging aus eigenem Antrieb in die Stelle,
aus der sie den zitierten Brief geschrieben. Im November bereits heißt es,
sie wolle Tanzen und all dergleichen aufgeben und sei ins blaue Kreuz
eingetreten. Dort lernte sie einen jungen braven Menschen kennen, der
sie heiraten wollte. Nach einigen Monaten wurde sie wieder ganz rabiat,
der Bräutigam trat zurück, weil sie Anforderungen stellte, die sich mit
seinen sittlichen Begriffen nicht deckten. Der Höhepunkt dieses manischen
Stadiums scheint durch einen Tag gekennzeichnet zu sein, an dem sie
schleunigst ihren Austritt aus dem blauen Kreuz vollziehen wollte, um
ungehemmt möglichst toll leben zu können. Über Nacht muß ein
Stimmungsumschlag gekommen sein. Morgens las sie auf dem Abrei߬
kalender einige fromme Sachen, die sie auf sich bezog, weinte sehr, sagte,
in ihrem Herzen sei der Teufel, man solle ihr helfen, ihn auszutreibeo.
Nach Ansicht ihrer wohl sehr gläubigen Umgebung hatte sie einen neuen
Menschen angezogen, war einige Wochen lang still und fleißig. Auf einmal
setzten die Tollheiten wieder gehäuft ein. Sie entnahm auf Borg ein
Fahrrad, fuhr damit allenthalben dem ehemaligen Bräutigam nach,
verlobte sich gleichzeitig mit einem anderen braven Menschen. Am
20 . August sollte die Hochzeit von ihrer Dienststelle aus stattfinden.
Am 4. August rückte sie bei Nacht und Nebel ohne Grund dort aus, fand
sich aber dann doch mit dem Bräutigam zusammen, der sie heiratete.
H. G. ist niemals in einer geschlossenen Anstalt gewesen, was aller¬
dings nur dem Umstande zuzuschreiben ist, daß ich sie in dem kurz dauern¬
den manischen Zustand in der Fürsorgeanstalt zu behalten trachtete.
In ihrem Lebensweg sind die manisch-depressiven Phasen sehr deutlich
gekennzeichnet, die Höhe der einen immer durch starke Triebregungen
(Entlaufen nach Berlin, Prostitution), die anderen durch Anfälle tränen¬
voller Reue (Eintritt ins blaue Kreuz u. dgl.) in Erscheinung getreten.
Rechnen wir dazu einige hebephrene Momente, den schlechten Ebbing¬
haus, das Wechselvolle in den intellektuellen Leistungen, den vorüber¬
gehenden ,,Blödsinns“zustand u. a., so tritt uns hier einer der Fälle ent¬
gegen, wo die Schizophrenie zunächst unter dem manisch-depressiven
Bilde den Lebensweg bestimmt. Auffallend ist die große Arbeitsfreudig¬
keit, die dem hypomanischen Grundcharakter des Mädchens entspricht,
welcher den sozialen Abstieg hier geradezu verhindert, ja fast einen Auf¬
stieg bewirkt; denn die tüchtigen Leistungen in Stall und Feld werden
nicht zum mindesten dazu beigetragen haben, ihr die ordentlichen Freier
zu sichern. Die Akten schließen wie ein Roman mit dem Ausblick auf
baldige Ehe. Weitere Erkundigungen aber ergeben, daß sie sich tatsäch-
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Die Frühsymptnme der Schizophrenie in. ihren Beziehungen usw. 35
lieh und zwar für ihre Verhältnisse recht gut verheiratet hat. Der Ehe¬
mann bewohnte mit ihr in einer größeren Provinzstadt ein eigenes Häuschen
mit Garten. Anscheinend lebten sie ganz gut; aber nach knapp einem
Vierteljahr entlief sie von da ganz plötzlich und trieb sich mehrere Wochen
in Berlin als Prostituierte herum, wurde schließlich gefunden, und der
Mann nahm sie wieder auf. Derselbe Vorgang hat sich seitdem noch
mehrfach wiederholt. Irgendwelche epileptischen Symptome, Krämpfe,
Absenzen, Dämmerzustände traten nicht auf.
Bei dieser Gelegenheit möge übrigens erwähnt werden, daß die
weiblichen jugendlichen Prostituierten und Fürsorgezöglinge weder
infolge ihres Lebenswandels noch weg’n ihrer psychopathischen Veran¬
lagungen an Wertschätzung als Wahlobjekt zur Familienbildung ver¬
beten und etwa dadurch der Vagabondage zugedrängt werden. Die
Mädchen verheiraten sich verhältnismäßig leicht, was für eine Skrupel¬
losigkeit der unteren Stände sowohl gegen die Prostitution als auch
gegen krankhafte nervöse Anlage spricht. Der weitere Abstieg, der
dann häufig doch noch erfolgt, ist eben durchaus auf die krankhafte
Anlage zu schieben.
Wir haben in Go. wieder eines jener schwer zu beurteilenden
Individuen, bei denen zum manisch-depressiven Verhalten allerdings
zweifellos auch intellektuelle Schwankungen und verschiedene Ab¬
sonderlichkeiten kommen, die mindestens den Verdacht auf Schizo¬
phrenie stützen, und deren Veranlagung sie ganz besonders zur Prosti¬
tution prädisponieren.
Ich entrolle zum Vergleich das Lebensbild einer schwer erzieh¬
baren, weil ethisch verkümmerten Schwachsinnigen der
Fürsorgeanstalt.
Krop ist unehelich geboren, zunächst im Waisenhaus aufgezogen,
dann bei Mutter und Stiefvater, die sie beide ungünstig beeinflußten.
Sie kommt in der Gemeindeschule bis zur IV. Klasse, will mit 12 Jahren
durch ein Mädchen verführt worden sein, Männer anzulocken, bekam
je 5—20 M., welches Geld sie vernaschte. Als Milchausträgerin verging
äe sich morgens mit Jungen auf leeren Treppen und Böden, war bereits
mit 13 Jahren luisch infiziert. Als ihr zunächst ein Vormund bestellt war,
hielt sie sich einige Wochen gut, trieb sich dann wieder umher. Nun kam
ae in Fürsorgeerziehung. Psychiatrische Untersuchung führte zur Diagnose
Imbezillität. Beide Eltern bemühen sich dauernd, sie frei zu bekommen.
Der Vater schreibt: „Wie geht es Dir in Deiner Wahneinsamkeit usw. usw.
Bleibe recht gesund, bis die Stunde Deiner süßen Freiheit schlägt.“ Ihre
Arbeitsleistungen sind sehr mangelhaft. Von den Eltern aufgereizt, gibt
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sie dauernd zu Klagen über Ungehorsam, Ungezogenheit und Frechheit
Anlaß. Sie macht drei Fluchtversuche immer mit je einer anderen leicht
Schwachsinnigen, die alle drei mit einem Fiasko enden, indem sie immer
schon, ehe sie ihr Ziel Berlin erreicht hatten, wieder aufgegriffen wurden.
Schließlich gab man sie in eine Dienststelle, wo sie aus Unachtsamkeit
den Brand des Gehöftes verursachte. Als sie sah, was sie angerichtet
hatte, lief sie aus Angst weg. Erst dadurch fiel ein Verdacht auf sie. Sie
wurde bald gefaßt und wegen fahrlässiger Brandstiftung zu einer Geld¬
strafe verurteilt, ein psychiatrisches Gutachten nicht eingeholt. Nun wurde
sie wieder in eine Fürsorgeanstalt gebracht und entlief von da auf Antrieb
ihrer Mutter. Als sie nach kurzem zurückkam, nahm ich nochmals eine
gründliche Revision ihres geistigen Besitzstandes vor. Die rein intellektuelle
Prüfung ergab ungefähr denselben Status wie 2 Jahre zuvor. Das Schul¬
wissen einer schlechten Schülerin der IV. Klasse der Gemeindeschule
ist ein viel zu kärgliches, als daß weitere Fehlbeträge nicht ohne weiteres
bemerkt würden. Erfahrungswissen hatte sie auch wohl nur auf einem
gewissen Gebiet gesammelt. Ihr Ungehorsam rühre daher, daß sie immer
gleich so aufgeregt sei. Über Strafen ärgere sie'fcich nicht: die seien ihr
gleichgültig.
Ich habe absichtlich das Bild einer zweifellos primär Schwach¬
sinnigen zur Gegenüberstellung gewählt. Wir sehen hier kein An-
und Abschwellen oder weiteres Zurückgehen der Intelligenz. Die
Fluchtversuche entsprechen weder einem manischen Expansions¬
drang noch einem depressiven Unerträglichkeitsgefühl, sondern das
eine Mal den Wünschen und Ratschlägen der Eltern und das andere
Mal der Verführung der anderen Mädchen. Das Verbrechen der Brand¬
stiftung ist auf den bestehenden Schwachsinn zurückzuführen; denn
sie hatte im Heu ein angebranntes Streichholz weggeworfen. Die
dauernde Gehorsamsverweigerung hängt ebenfalls mit den Milieu-
Verhältnissen zusammen.
Schwankende Züge bildet auch das Bild der X. Y. Ihre Lebens¬
geschichte ist so reich an abenteuerlichen Momenten erotischer und sexueller
Natur, daß die gesamte moderne Literatur für einige Jahre daraus mit
Motiven versorgt werden könnte: Verführung im kindlichen Alter durch
Lehrer, Verwandte und ihrer Sphäre fernstehende Lebegreise, große
Reisen mit Kavalieren und dabei Übung in allen Lastern der Un- und
Überkultur, des fernen Ostens und Westens, Fluch der Eltern und Ver¬
bringung in Fürsorgeerziehung, Flucht aus derselben mit Lebensgefahr,
Religionswechsel, mehrere Selbstmordversuche, kurz alles, was zu den
Requisiten der Schundliteratur gehört. Da all diese Dinge aber nicht
aktenmäßig festliegen, sondern von ihr selbst wieder und wieder mit um
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Die Früh Symptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. g7
so größerem Behagen vorgetragen werden, je weniger ihre Umgebung
davon wissen will, beschränke ich mich darauf, aus der objektiven Anam¬
nese und meinen eigenen Beobachtungen in der Charite ihren Lebensgang
zusammenzustellen. Wenn überhaupt jemals der Begriff „geborene
Prostituierte“ Geltung hat, so ist es hier der Fall. X. Y. stammt aus einer
Familie neuro- und psychopathisch Veranlagter, die insgesamt, Vater,
Mutter, zwei Brüder und eine Schwester mit dem Strafgesetz in Konflikt
gekommen waren, und zwar nicht aus wirtschaftlicher Not; denn sie lebten
in mittleren bürgerlichen Verhältnissen. X. Y. mußte schon im Alter
von 12 Jahren abends eingeschlossen werden, da sie nicht davon abzu¬
halten war, auf die Straße zu laufen. Mit 13 Jahren wurde sie gravide;
der Vater war, wie es scheint, unbekannt. Darnach wird sie in Fürsorge¬
erziehung gebracht. Der Bericht der Anstaltsvorsteherin lautet „X. Y. #
ist vollkommen unerziehbar, widerspenstig und klatschsüchtig und reizt
die anderen Mädchen auf. Einmal regte sie sich über den Besuch ihrer
Schwester im Stift so auf, daß sie Schreikrämpfe bekam, drei Fenster
zerschlug und versuchte, sich die Pulsadern mit einer Schere aufzuschneiden.
Einen schwachsinnigen Eindruck hat sie nie ge¬
macht, hat gut gelernt, fehlerlos geschrieben und gerechnet. Wenn
sie nichts zu arbeiten brauchte, war sie ganz ruhig, wenn auch stets
zänkisch.“ Nach einiger Zeit machte sie nach irgendeiner Aufregung
einen erneuten Selbstmordversuch, diesmal ziemlich ernst, indem sie
aus dem II. Stock der Anstalt auf die Straße sprang, wie sie mir später
sagte, weil sie das Eingeschlossensein und die Abstinenz nicht ertragen
konnte. Zunächst kam sie auf ein Vierteljahr auf eine chirurgische Klinik,
wo ihre schweren Frakturen geheilt wurden. Dann wegen Selbstmord¬
verdachts auf der Irrenanstalt der Kgl. Charitö aufgenommen, zeigte
X. Y. keinerlei intellektuelle Störungen, Auf¬
regungszustände nur, wenn von erneuter Verbringung in Fürsorge¬
erziehung die Rede war — sie stand damals im Alter von 16 Jahren —,
aber einen unglaublichen Zynismus und eine erschreckende Neigung
zu schmutzigen Geschichten. Diagnose: Moral insanity. Nach ihrer
Entlassung Fürsorgeerziehung; ein erneutes Con. suic. brachte sie wieder
nach der Charitö mit folgendem Zeugnis des Fürsorgeanstaltsarztes:
.,X. Y. ist hochgradig schwachsinnig und hat schon mehrere
Selbstmordversuche unternommen. Sie hat unmotivierterweise Fenster¬
scheiben zerschlagen und äußert die Absicht, die Konamina zu wieder¬
holen, wird deshalb der Charitä zur Beobachtung ihres Geisteszustandes
überwiesen.“ Daselbst verblieb sie nur eine Woche, wurde mit der Diagnose
..Psychopathische Konstitution mit Suizidalabsichten, geschlechtskrank“,
nach einer entsprechenden Station abgegeben und von da nach Haus
entlassen, da die Eltern sich bemühten, sie von der Fürsorge frei zu be¬
kommen und die jetzt Siebzehnjährige in eine Pension verbrachten.
Sofort behauptete sie, der Pensionsvorsteher habe mit ihr „poussiert“.
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S t e 1 z n e r,
Als man sie trotz dieser Anschuldigung und gegen ihren Willen dort beließ,
machte sie einen Selbstmordversuch. Darnach kam sie nach Hause,
entfloh mit einem Herrn nach London, wo sie 12 Wochen an einer Bar
will angestellt gewesen sein, kam zurück nach Berlin, war hier als Tänzerin
oder wohl vielmehr als Schauobjekt an einem Revuetheater angestellt.
Nun verloren sich ihre Spuren für einige Jahre. Mit 20 Jahren wurde
sie wieder wegen eines Selbstmordversuchs nach der Charite gebracht
und wiederum nach 8 Tagen auf die Infektionsstation. Diagnose: Psycho¬
pathische Konstitution mit Selbstmordneigung. Lues, Gonorrhöe. Die
Krankengeschichte berichtet: Pat. zeigt freches Wesen, spricht ungeniert
über ihre Verhältnisse und ihr sexuelles Leben, lacht viel, auch ohne
Grund. Damals machte sie sich häufiger das Vergnügen, bekannte Per¬
sonen zu verdächtigen, ihre Liebhaber gewesen zu sein. Nach etwa 2 Jahren
war sie die Heldin einer cause cöiebre, eines angeblichen Doppelselbst¬
mordes, in Wirklichkeit eines vollendeten Mordversuches an ihrem
Bräutigam, dessen bei Besprechung der Kriminalität Schizophrener noch
Erwähnung getan wird.
In diesem Lebensbild fließen hereditäre, degenerative, psycho¬
pathische Anlagen, Milieu, ungünstige Charaktereigenschaften, starkes
Triebleben und allerlei Imponderabilien zum Bilde einer widerwärtigen
jugendlichen Prostituierten und Verbrecherin zusammen, die eine Reihe
krankhafter Züge bietet. Manisch-depressive Stadien stehen hier zur
Diagnosenstellung nicht zur Verfügung. Am meisten springt in die Augen
1. der Vagantentrieb; denn seit ihrem 12. Jahre fast ist sie dauernd unter¬
wegs, zwar noch nicht auf der Landstraße, sondern in Luxuszügen und
großen Hotels, 2. die unbesonnene Selbstmordneigung, die, stets bei geringen
Anlässen einsetzend, keine Verstümmelungen scheut, wie sie durch das
Herunterspringen oder durch einen Schuß in den Mund gesetzt werden
können. Drittens fällt der Wechsel der intellektuellen Fähigkeit auf, über
welche die verschiedensten Urteile vorliegen, und bei der 3. Aufnahme
in der Charite das grundlose Lachen. Ihre Erregungszustände, Schrei¬
krämpfe, Zertrümmern von Fensterscheiben, Gewalttätigkeiten usw.
waren immer psychogen ausgelöst.
Ich stelle dieser Mosaikfigur der Prostitution und des Lasters
eine ähnliche an die Seite, die aber qualitativ und quantitativ manche
Unterschiede zeigt, und die ich heranziehe, um an ihr wie oben zu
demonstrieren, daß die F.-E. im Leben derartiger Schizophrenen
keine Besserungsanstalt, sondern nur ein Unterkommen für freie
Intervalle zwischen Vagabondage, Irrenhaus und Gefängnis bedeutet,
und in wie weitgehendem Maße die soziologischen Forderungen an
solchen Individuen scheitern.
E. R. wurde als Tochter eines Steuermannes, der im Jahre 1904
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Die Friihsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 89
an Lungentuberkulose starb, im Jahre 1894 geboren. Die wirtschaft¬
lichen Verhältnisse scheinen gute zu sein, an denen sich nichts ändert,
als die Mutter sich ein zweites Mal verheiratet.. E. R. soll in der Schule
gut gelernt und das Ziel der I. Klasse erreicht haben.
Ihr asoziales Verhalten setzt im 13. Lebensjahre ein, wo sie einen
10 jährigen Jungen anstiftet, mit ihr Kartoffeln auf dem Felde zu stehlen,
und zwar nur aus Übermut. Sie erhält eine Rüge des Klassenlehrers.
Im folgenden Jahre hat sie als Konfirmandin in der Volksschule
ein Cape gestohlen und ist laut Gerichtsbeschluß zu einem Verweise ver¬
urteilt worden; bald darnach lief sie hinter dem Rücken ihrer Eltern
abends weg, besuchte — immer noch als Konfirmandin — mit zwei anderen
jungen Mädchen und drei Burschen anrüchige Lokale, und schließlich
blieben die drei Paare 3 Tage lang auf einem gemeinsamen Zimmer zu
einer wüsten Orgie zusammen, bei welcher Gelegenheit E. R. auch noch
einen Diebstahl beging.
Fürsorgeerziehung wird ausgesprochen, die Konfirmation zunächst
verweigert.
Aus der Fürsorgeerziehungsanstalt entwich sie nach 3 Tagen, und
ihre Eltern brachten sie im Jahre 1908 nach Schweden, das Fürsorge¬
zöglinge nicht ohne weiteres ausliefert, in eine einfache Pension. Sehr bald
Flucht von dort, war bis April 1909 unauffindbar, wurde dann in einer
deutschen Hafenstadt vagierend aufgegriflen. Fürsorgeerziehungsanstalt.
Wenige Wochen später Krankenhaus wegen Lungentuberkulose.
Der Bericht von dort lautet: „E. R. hat sich hier sehr schlecht betragen,
jede Arbeit verweigert, gemeine Redensarten geführt, wahre Zucht¬
häuslerstreiche begangen (15 Jahre alt!), den Ärzten Krankheitssymptome
vorgetäuscht usw.“
Dezember 1909: Flucht von dort.
Februar 1910: Hatte Stellung angenommen und wurde nach wenigen
Tagen wegen Lungenblutens ins Krankenhaus verbracht.
Mai 1910: Heilstätte Görbersdorf, dort wegen Diebstahls entlassen.
November 1910: Jugendgericht Berlin: Verweis wegen Gewerbe¬
unzucht, scheint sich damals der psychiatrischen Untersuchung nicht
gestellt zu haben.
Dezember 1910: Lungenheilstätte.
Januar 1911: Daselbst entlaufen.
Februar 1911: Wegen Vagabondage ergriffen, wegen Führung
falschen Namens angeklagt und Fürsorgeerziehungsanstalt überwiesen.
24. Mai bis 15. Juni 1911: Beobachtungsstation für Geisteskranke
Langenhagen bei Hannover. Die Direktion gibt mir betr. der Diagnose
darüber freundlichst folgenden Bescheid aus den Akten:
Erregungszustand auf degenerativer Basis.
15. Juni 1911: Entwich zur Mutter.
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26. Juni 1911: Entwich nach Berlin, wurde in der Friedrichstraße
aufgegriffen und nach Fürsorgeerziehungsanstalt gebracht, wo ich mit
ihr zu tun hatte, dort Selbstmordversuch, indem sie sich 5—6 Nähnadeln
in die rechte Radialisgegend (Linkser) einstach, als sie wegen Tribadie
2 Tage isoliert war, zunächst chirurgische Klinik.
21. Juli 1911: Wegen erneuter Konamina Psychiatrische Klinik
der Charitä, wo ich sie wiedersah.
Mehrere Konamina, wurde nach der Unruhigenstation verbracht.
Intelligenzproben fallen gut aus. Ebbinghaus wird dem Sinne nach richtig,
zum Teil mit Spiegelschrift ausgefüllt, wahrscheinlich durch die Be¬
nützung der gesunden linken Hand dazu verführt.
26. Juli 1913. Con. suic. durch Abreißen des Stärke Verbandes,
einige Tage sehr deprimiert.
Von nun ab in ununterbrochener Folge abwechselnd ruhiges Ver¬
halten, Depression mit vielen Selbstmordversuchen — Tobsuchtsanfälle —
Depression — Tobsuchtsanfall mit Gewalttätigkeiten gegen Oberwärterin
und Mitpatienten bis 6. September 1911. Sehr vergnügt, lacht, drängt
heraus.
16. September 1911: Versuch, sich zu erdrosseln, tobt.
20. September 1911: Versuch, sich aus dem Fenster zu stürzen.
27. September 1911: Dauernd unruhig, tobsüchtig.
6. Oktober 1911: Entlassung aus versorgungstechnischen Gründen
nach der Irrenheil- und Bewahranstalt St. Katharinen-Stiftung Rostock
mit der Diagnose: Degenerative psychopathische Kon-
stit ution mit Impulsivhandlungen und wahr¬
scheinlich epileptischen Anfällen.
Durch die freundliche Auskunft des leitenden Arztes Prof. Scheven
war es mir möglich, E. R. weiter zu verfolgen.
Prof. Scheven macht folgende Mitteilungen:
6. Oktober 1911: Aufnahme in St. Katharinen-Stiftung.
21. Oktober 1911: Überweisung nach einer chirurgischen Klinik,
da noch einige Nadeln aus ihrem rechten Oberarm zu entfernen sind.
16. November 1911: Erregungszustand bei einem Besuch ihrer
Mutter, darnach Flucht aus der Klinik. Am selben Tage Selbstgestellung,
Aufnahme auf der Irrenstation St. Katharinen-Stiftung.
Von nun an wieder äußerst erregbar, unlenksam, Neigung zu demo¬
lieren und zu tätlichen Angriffen.
10. Juni 1912: Nach einer längeren Periode besseren Verhaltens
versuchsweise Entlassung zu den Eltern.
18. Juni 1912: Flucht aus dem Elternhaus, nachdem sie Schränke
erbrochen hatte, um zu ihren Kleidern zu gelangen, bei Bekannten Geld
erschwindelte, bei einer früheren Mitkranken eine Bluse stahl.
7. Juli 1912: Wegen gewerbsmäßiger Unzucht Polizeigefängnis,
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daselbst Selbstmordversuch (Verletzung der Radialisgegend mit einer
Glasscherbe).
8. Juli 1912: Wiederaufnahme auf Irrenstation. Verstimmungs¬
und Erregungszustände wechseln ab, dauernd sehr reizbares, unfügsames
Wesen mit der Neigung zu verkehrten Handlungen. Fluchtversuche.
6. November 1912. Flucht aus der Anstalt, Aufnahme bei der Mutter.
8. November 1912: Versuch, im Geschäftszimmer des Berufsvor¬
mundes diesem mit einem zu dem Zweck mitgebrachten Rasiermesser
zu Leibe zu gehen. Von der Polizei wieder in die Irrenanstalt eingeliefert.
Dasselbe Verhalten wie bei den anderen Aufnahmen.
9. April 1913: Flucht aus der Anstalt, am selben Tage von der Polizei
zurückgebracht. Verhalten wie vorher.
Wenn der Ausdruck asozial noch nicht geprägt wäre, so müßte
er für dieses unglückliche Geschöpf eigens gefunden werden, das seit
seinem 13. Lebensjahre bis heute, wo sie im 20. steht, zwischen kriminellen
Handlungen, Prostitution, Selbstmord- und Fluchtversuchen, Anstalts¬
und Dirnenleben nicht hin- und herschwankt, sondern hin- und her¬
geworfen wird. Den Akten ist zu entnehmen, daß die Fürsorgeerziehungs-
anstalt bei Berlin sie nur wegen Undisziplinierbarkeit und Selbstmordgefahr
an die Charitö abgab, ohne daß vorher eine psychiatrische Untersuchung
des Mädchens stattfand. Die Diagnose der Beobachtungsstation Langen¬
hagen lautet „Erregungszustand auf degenerativer Basis“, die der Charitö
„Degenerative psychopathische Konstitution mit wahrscheinlich
epileptischen Anfällen“. St. Katharinen-Stift stellt keine Diagnose, sondern
gibt das Krankheitsbild. Im Allgemeinen ist psychopathische Konstitution
mit oder ohne Intelligenzdefekt für derartige Naturen häufig nicht nur
Jahre-, sondern jahrzehntelang die gangbare Bezeichnung, bis ein-untrüg¬
liches Symptom für Schizophrenie einsetzt. Daß in dem Syndrom, das
E. R. bot, noch einige ungeklärte Punkte waren, geht daraus hervor,
daß von der Charitö wahrscheinlich epileptische Anfälle an¬
genommen werden. Tatsächlich sind in dem ganzen Lebensbilde, das
ich mir mit Hilfe der verschiedenen Anstaltsleiter zusammengetragen
habe, nie solche beobachtet worden, dagegen waren manische und de¬
pressive Erregungsstadien dauernd vorhanden und dem ganzen Verlauf
zu entnehmen, daß das Gebiet der Affektivität bei E. R. ganz besonders
betroffen ist. Intellektuelle Störungen sind mit Hilfe der gültigen Methoden
nicht nachzuweisen; doch fällt sie in der Charitö eine Zeitlang durch ihr
törichtes Lachen auf, ferner dadurch, daß sie Haarnadeln, die sie zum
Zweck eines Selbstmordversuches entwendete, in den Genitalien ver¬
steckte und schließlich durch die mehr bizarr anmutende Torheit, den
Ebbinghaus zum Teil in Spiegelschrift zu ergänzen. Auch St. Katharinen
berichtet von verkehrten Handlungen.
Ich sagte absichtlich, daß Defekte mit Hilfe methodischer
Prüfungen nicht nachzuweisen sind; dagegen weist die Betrach-
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tung des Gesamtbildes entschieden auf erhebliche Störungen der
Assoziationen. Eine unethische, zum Teil boshafte Veranlagung
war angeboren (Verführung des Jungen zu einem Kartoffeldiebstahl,
Diebstahl des Mantels einer Schulgefährtin, Prostitution während
der Konfirmandenunterrichtszeit); aber ihr ferneres Verhalten ist
doch nicht nur auf Mangel an ethischen Besitzständen, sondern auf
tiefgehende intellektuelle Störungen zu setzen, die jeden logischen
Lebensplan verhindern. Zu einem Teil allerdings wird ihr Lebens¬
schifflein durch die starken Wellen der Affektstörungen hin- und her¬
geworfen, zum anderen aber seine Ausschläge dadurch so verkehrt
gemacht, daß das ganze Dasein absolut planlos verläuft und keine
leitende Idee erkennen läßt; das Planloseste ist wohl der „geplante“
Mordversuch auf den Berufsvormund, planlos auch die Fluchtversuche,
die aus Anstalten aller Art zu den Eltern, von den Eltern auf die
Straße, von der Straße, indem sie sich gelegentlich selbst stellt, in die
Anstalten unternommen werden. Bei verstandesmäßig primär sehr
gut veranlagten Individuen, wie E. R. eines ist, muß die Methodik
der Intelligenzprüfungen zunächst versagen, um sekundäre Demenzen
wie die Schizophrenie sie setzt, herauszufinden. Ist aber nicht der
ganze Lebensgang solcher Individuen ein schizophrener? Sehen wir
nicht besonders an Wümanm 1 ) Krankengeschichten, daß die von ihm
beobachteten, der Dementia praecox zugezählten Individuen meist
zunächst durch asoziales Verhalten auffielen und die Zeichen der
Hebephrenie erst später deutlich wurden? Meines Erachtens ist es
nicht nötig, im Falle E. R. noch das Auftreten eines katatonen Zu¬
standes oder sprachlicher Kontaminationen oder sonstwie schwerer
Symptome der Schizophrenie abzuwarten. Das, was das Wort besagt,
die Spaltung, der. Zerfall der geistigen Prozesse ist hier schon genügend
eingeleitet. Vielleicht liegt es daran, daß derartige Lebensgänge
gerade wegen der asozialen Note selten im Zusammenhang überblickt
werden, daß man der Regielosigkeit eines solchen Daseins zu wenig
Wert bezüglich der Beurteilung der Intelligenz beigelegt hat. Dieses
Mädchen z. B. hat seit ihrem 13. Lebensjahr andauernd nur Dinge voll¬
führt, die es nicht nur körperlich schädigten (Selbstmordversuche ohne
tiefereDepressionen undohne zweckentsprechendeMaßnahmen), sondern
auch sein ganzes wirtschaftliches und soziales Dasein vernichteten
M a. a. O.
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 93
(Prostitution, Unerziehbarkeit, Arbeitsverweigerung, Kriminalität,
Fluchtversuche), ohne besondere Lustgewinne aus dieser Lebens¬
führung zu ziehen. Die affektiven Störungen allein sind daran nicht
schuld, obwohl sie natürlich alles, was aus Unvernunft geboren ist,
noch mehr unterstreichen und betonen. Eine Zusammenfassung der
psychopathischen Momente ergibt: Weitgehende Störungen 1. der
Affektivität, manisch-depressives Verhalten, Affektkrisen; 2. der
Intelligenz, an einzelnen Zügen und besonders am ganzen Lebens¬
bilde gemessen; 3. der ethischen Veranlagung, die primär mangelhaft,
immer mehr abflacht, von Prostitution und unüberlegten Diebstählen
zu einem zwar geplanten, aber unüberlegten Mord übergeht.
Gerade bei derartigen Individuen, wo alle möglichen psycho¬
pathischen Symptome und starke Differenzen der intellektuellen
Leistungen beobachtet werden, ist der Gedanke an Hebephrenie wohl
kaum gänzlich auszuschließen, und es ist bedauerlich, daß sie, unstät
und flüchtig, so schwer weiterzuverfolgen sind. Die Diagnosen¬
stellung wird hier durch eine angeborene boshafte Veranlagung noch
besonders kompliziert, und die Grenze zwischen angeborener ethischer
und intellektueller Degeneration und dem späteren Zerfall der
Moralbegriffe ist recht schwer.
Den allergrößten Schwierigkeiten begegnen die differential¬
diagnostischen Bemühungen aber doch solchen Zuständen gegenüber,
wo die psychopathischen Momente, mit Simulation vergesellschaftet,
anftreten, was bei den so energisch der Freiheit zustrebenden Magda-
lenen gar nicht selten ist und dann wieder besonders getönte Bilder
gibt:
J. Ba. kam wegen Gewerbeunzucht in Fürsorgeerziehung, gegen
die sie sich mit allen Mitteln gesträubt hatte. Zeichen von Schwachsinn
oder von Hysterie beobachtete ich nicht. Dagegen behauptete sie bald
nach ihrer Aufnahme gravide zu sein und gab eine Reihe subjektiver
Zeichen dafür an, objektiv war nichts nachzuweisen. Sie aß enorm viel
und mußte sehr zur Arbeit angetrieben werden, dabei konnte sie halbe
Stunden lang sitzen und auf ihre Arbeit stieren, ohne etwas zu tun. An¬
fälle, Stereotypien, Bizarrerien, katatonische Momente wurden nie be¬
obachtet. In ihrem Führungszeugnis heißt es: „nicht scKwer erziehbar,
aber sehr unwahr“.
Auf ihren und ihrer Eltern dringenden Wunsch wurde sie nach
kurzem Anstaltsaufenthalt probeweise nach Hause entlassen, führte
sich zunächst anscheinend gut, obwohl gelegentlich Denunziationen von
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Nachbarn über unordentlichen Lebenswandel kamen, die aber von den
Eltern entkräftet wurden. Schließlich aber zeigte sichs doch, daß sie
wieder die Nächte draußen verbrachte und sofortige Überführung nach der
Fürsorgeanstalt unbedingt erforderlich war. Leider bekam ich sie bei
der Einlieferung nicht zu sehen, doch soll sie sich zunächst ganz geordnet
benommen haben.
Am nächsten Tage lag sie, als eine Schwester ihr Zimmer betrat,
zusammengekauert unter ihrem Bett und begann, als sie den Eintritt
der Schwester bemerkte, zu zucken und zu schreien und ließ sich, mit den
Gliedern um sich schlagend, nur mit Mühe aufs Bett legen. Kein Ein¬
nässen, kein Zungenbiß. Als ein eiligst herbeigerufener Arzt kam, schlief
sie bzw. schloß sie die Augen und bekam eine Morphiuminjektion.
Als ich sie am nächsten Tag zu sehen bekam, stand sie noch deutlich
unter Morphiumeinwirkung, war verschlafen, aber zeitlich und örtlich
orientiert, gab zwar etwas langsam, aber ganz klar Auskunft und be¬
hauptete heute zum erstenmal, sie leide häufig an epileptischen Krämpfen
mit Einnässen und Zungenbissen. Früher hatte sie nur angegeben, daß
ihre Mutter an Krämpfen litte; über die Natur des Übels war sie demnach
unterrichtet. Als sie nach meinem Weggang wieder zu Bett gebracht
worden war, verhielt sie sich erst ganz ruhig. Als man ihr Kaffee brachte,
zeigte sichs, daß sie sich verunreinigt hatte; schmierte und rief, sie brauche
keinen Kaffee, sie habe Schokolade, schmierte dabei unentwegt und redete
angeblich wirres Zeug. Ein sofort geholter Arzt stellte das Zeugnis aus:
J. B. leidet an einer geistigen Störung mit Halluzinationen und großer
motorischer Unruhe. Wegen Selbstmordverdacht und Gemeingefährlich¬
keit ist sofortige Aufnahme in eine Irrenanstalt geboten.
Daselbst verblieb sie nur kurze Zeit. Sie wurde nach 4 Wochen
mit dem Vermerk an die Behörde entlassen, daß sie sich nicht für Fürsorge¬
erziehung, sondern viel besser für Familienpflege eigne.
Ohne die Verunreinigungen wäre das Krankheitsbild ja lediglich
als Affektkrise bei psychischer Labilität zu deuten; die Krämpfe bewußt
simuliert, um aus der verhaßten Fürsorgeerziehung nach der Irrenanstalt
und von da bald wieder nach Hause zu kommen. In ähnlichem Sinne
sollte ja schon beim ersten Aufenthalt Gravidität vorgetäuscht werden.
Auffällig bleibt das Moment des Schmierens bei einer Simulantin jeden¬
falls, wie auch das starre Herumsitzen, über das die Erzieherinnen schon
früher klagten. Die so charakteristische Vagabondageneigung war bei
ihr überhaupt nicht vorhanden, die Prostitution erscheint viel mehr als
Ausfluß des Erwerbsinnes, denn als krankhaftes Moment. Es könnte
sich um eine Simulation mit außergewöhnlichen Mitteln handeln, da die
gewöhnlichen, z. B. Vortäuschen von Gravidität, Klagen über epileptische
Anfälle, passiver Widerstand u. a., nicht zu dem gewünschten Ziele führten.
Anderseits verläuft der Anfall ganz im Sinne einer Haftpsychose. Die
nach 3 Jahren freien Lebens wieder eingreifende Fürsorgeerziehung be-
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen nsw. 95
deutete für den labilen Organismus eine enorme DurchschUtterung, eine
außerordentlich gewaltsame Durchschneidung der eigenen Pläne, die
schon zu psychopathischen Zuständen führen könnte. Schließlich ist, falls
nicht lediglich Simulation vorlag, an Aschaffenburgs *) Wort zu erinnern,
daß weit öfter, als angenommen wird, das Syndrom der Haftpsychosen
nur Exazerbationen oder die ersten deutlichen Symptome der Dementia
praecox sind; denn das Zustandsbild, das J. Ba. nach der zweiten Auf¬
nahme bot, erinnert in seiner Vermischung von wirklicher Krankheit
und zweifellosen Bemühungen zu simulieren oder zu aggravieren nur zu
deutlich an eine solche.
Ich habe hier einige typische Lebensbilder jugendlicher Prosti¬
tuiert« herausgegriffen, die, wenn auch nicht alle deutlich zur Gruppe
der Schizophrenen zu stellen sind, doch zum größten Teil auf die
Gnmdelemente der Erkrankung hinweisen, die ganz besonders zu
aaoaalem Verhalten führen, wie sie von anderen Autoren in späteren
AJterslagen geschildert worden sind.
Gerade aus den wechselvollen Diagnosen und Beurteilungen,
wie sie langjährige Beziehungen und Studium der Akten ergab,
kristallisierte sich zunächst der Verdacht auf Schizophrenie heraus.
-Ja, ich betrachtete es schließlich als ein nicht zu unterschätzendes
differentialdiagnostisches Symptom, wenn dasselbe Individuum nicht
allein in verschiedenen Anstalten, sondern auch bei erneuten Auf¬
nahmen in derselben Anstalt psychiatrisch und auch erzieherisch ganz
verschieden bewertet wurde. In dieserRichtung bieten die schizophrenen
weiblichen Fürsorgezöglinge die größte Ähnlichkeit mit den psycho¬
pathischen Konstitutionen besonders hysterischer Provenienz und
deren Stimmungsschwankungen, Impulsivhandlungen, Planlosig¬
keiten, dem unbeherrschten Triebleben, der gelegentlichen ethischen
Stumpfheit und den Affektkrisen besonders gegenüber der Inter¬
nierung (s. J. Ba.), und es muß besonders darauf geachtet werden,
»b die Stimmungsschwankungen lediglich psychogenen Charakter
tragen oder, wie es z. B. etwa bei H. Go. besonders anschaulich ist,
>hne jede Veranlassung im nervenlosen Getriebe eines
)äuerischen Haushaltes oder später in einer glücklichen Ehe hervor-
tfechen. In diesem Falle war der manisch-depressive Charakter
tnverkennbar, der Beginn des schizophrenen Verfalls aber durch
*) Aschaffenburg, Degenerationspsychosen und Dementia praecox
»ei Kriminellen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1912.
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Stelzner,
die wechselnden Intelligenzleistungen, durch den schlechten Ebbing¬
haus u. a. gedeutet. Ich stehe nicht an, das Syndrom deutlich manisch-
depressiver Züge, vergesellschaftet mit Schwankungen der Intelligenz
und starken asozialen Neigungen als Frühsymptom der Schizophrenie
anzunehmen, selbst in einem Falle wie der H. Go.s, wo bisher Auf¬
nahme in eine Irrenanstalt nicht nötig wurde. Ich betone, daß infolge
der mit der Fürsorgeerziehung zusammenhängenden dauernden
pädagogischen und psychiatrischen Beobachtung und infolge der
starken asozialen Ausschläge bei den zunächst unerzogenen Individuen
eine solche Frühdiagnose in den Anstalten leichter zu stellen ist
als beim Verweilen in der Familie, wo die Beobahctung nicht auf
Derartiges gerichtet ist.
Eine Verwechslung der Schizophrenie mit Schwachsinn kommt
häufig genug der Einzelphase wie dem Gesamtbild gegenüber vor,
d. h. es kann wohl gelegentlich Hebephrenie für primären Schwach¬
sinn, viel seltener primärer Schwachsinn für Hebephrenie gehalten
werden, da die charakteristischen Momente dauernd fehlen und selbst
bei dem etwas wilden Material der Fürsorgeerziehung sich deutlich
abheben, wie der Fall Krep zeigt.
Eines drängt sich jedenfalls bei Betrachtung dieser Lebensgänge
auf, daß die Schizophrenie bereits in ihren Frühformen und in jeder
Stufe ihrer Wesensäußerungen das jugendliche Weib wie keine andere
Krankheit in die Bahn der Prostitution drängt, und daß sich unter
den schizophrenen Prostituierten Existenzen finden, denen trotz
ihrer Jugend mit dem ganzen Rüstzeug unserer sozialen Einrichtungen,
unserer caristativen Bestrebungen, unserer Erziehungsversuche nicht
beizukommen ist, die als asozialer Dom im Körper der Zivilisation
stecken und viel eher zersetzend auf diesen wirken als sich assimilieren.
Die Prostitution in ihren weitgehenden asozialen Äußerungen gedeiht
nirgends besser als auf dem Boden der Hebephrenie, die alle Vor¬
bedingungen für ihre Entwicklung enthält und Hemmungen und
Fortschritte begünstigt, welche das erkrankte Individuum durch
alle Phasen kulturfeindlichen Daseins hindurchjagt, wie es an einigen
Lebensläufen hier erkennbar wird.
Kriminalität und Sc hizophrenie d er Jugend¬
lichen. — In Anbetracht der Publikationen von Wümanns (a.a.0.),
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 97
Mönkemötter (a. a. 0.) und vieler anderer könnte man zu dem Schluß
gelangen, als sei die Dementia praecox eine ganz besonders zu rechts¬
widrigem und rechtsbrecherischem Verhalten prädisponierende Psy¬
chose. Dem steht Bleuler s 1 ) Behauptung gegenüber: „Im allgemeinen
wird von den Schizophrenen wohl eher weniger gestohlen, betrogen,
gelogen, verleumdet als von Gesunden.“ Bischoff 2 ) dagegen betont,
daß die Hebephrenie ziemlich häufig Ursache gesetzwidriger Hand¬
lungen sei, die Gefühlsstumpfheit und der Mangel an Initiative des
Hebephrenen führe zur Vagabondage, diese zum Diebstahl und
anderen kriminellen Handlungen.
Zunächst gälte es wohl, diejenigen Symptome der Schizophrenie
herauszufinden, welche in hervorragender Weise kriminelle Hand¬
lungen begünstigen und einleiten. Bichtiger ist es, allgemein von
antisozialem Verhalten zu sprechen, da von einer subjektiven Krimi¬
nalität in den Fällen nicht mehr die Bede sein kann, wo die Voraus¬
setzungen der §§ 51 und 56 des deutschen Strafgesetzbuchs erfüllt
werden, da ferner eine Beihe unethischer Handlungen hierher ge¬
hören, die objektiv nicht kriminelle sind.
Es ist selbstverständlich, daß die Hauptsymptome, die Bleuler
(a. a. 0.) der Schizophrenie zugrunde legt, — Störungen der Asso¬
ziationen und der Affektivität, die Neigung, die eigene Phantasie
über die Wirklichkeit zu stellen und sich von der letzteren auszu-
schließen (Autismus) bei Fehlen der primären Störungen der Wahr¬
nehmung, der Orientierung und des Gedächtnisses, ferner Gedanken¬
drängen und Sperrungen — wohl geeignet sind, das Bechtsbewußtsein
einzuschläfern, einen aktiven kriminellen Kern aber nicht enthalten.
In selteneren Fällen sind die rechtsbrecherischen Handlungen der
Schizophrenen übrigens auch als direkte Funktionen ihrer Krankheit
aufzufassen, je nach dem Zustandsbild, das der Patient gerade bietet.
So greift er im paranoischen Stadium zur Verfolgung der Verfolger,
so wird er im depressiven zum Selbstmörder und Kindesmörder, so
respektiert er im manischen keinerlei Verordnungen, Gesetze und
Becht8grenzen, so macht ihn sein bizarrer Sammeltrieb zum Diebe.
*) Bleuler , Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien.
Aschaffenburgs Handb. d. Psych. Spez. Teil. 4. Abschnitt.
*) Ernst Bischoff, Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Medi¬
ziner und Juristen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1912.
Zeitschrift für Psyohiatrie. LXXI. 1. 7
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Stelzner,
Kriminalistische Betätigung und Störung der Assozia¬
tionen gehen ebenfalls Hand in Hand. Sie beruht dann auf einer
Perversion der intellektuellen Prozesse, welche die Grenzen zwischen
gut und böse verwischt, so daß die rechtsbrecherischen Handlungen
denen der Schwachsinnigen an die Seite zu stellen sind, wobei der
Dolus, die böse Absicht, je nachdem fehlen oder vorhanden sein kann,
während die Beurteilung der Tragweite der Handlungen nie über¬
blickt wird. Andererseits sind die Störungen der Affektivität
an der Kriminalität der Schizophrenen schuld; der Zustand, aus dem
sie hervorgehen, würde bei negativer Gefühlsbetonung etwa der
moralischen Anästhesie, dem alt^n Begriff der Moral insanity ent¬
sprechen, andererseits als Affekthandlung einen positiven Ausschlag
bedeuten. Mit den Affektstörungen vergesellschaften sich weiter
eine Reihe antisozialer Eigenschaften, die spezifisch der kranken
Anlage entspringen, und die häufig sekundär Rechtsbrechereien nach
sich ziehen. Die Vagabondage führt zur Bettelei, zum Landstreichen
und Stehlen, die Prostitution zu Betrugsmanövern, z. B. Fälschung
des Personenstandes, Beischlafsdiebstahl, Zechprellerei und Hoch¬
stapelei, der Alkoholismus zu Roheitsverbrechen usf. Vielfach kommt
der Expansionsdrang der Manie dazu; denn es häufen sich immer
mehr Berichte darüber, wie bei Kindern und Jugendlichen manische
bzw. zirkuläre Symptome nur die einleitenden Akkorde für den schizo¬
phrenen Zerfall waren, und meine Untersuchungen an weiblichen F.-Z.
bestätigen es. Ich erinnere an einige ganz ausgezeichnet beobachtete
und lange Zeit verfolgte Fälle dieser Art, die Hans v. Renesse *) aus
dem Material der Charitö zusammengestellt hat. Einem Autor, dem
Ziehens Anschauungen besonders geläufig sind, wird man nicht zu
phantastische Ausschläge in Richtung der Dementia praecox Zu¬
trauen.
Es handelt sich um wenige, aber absolut einwandfreie Fälle. Von
ganz besonderem Interesse ist die Krankengeschichte einer seit 13 Jahren
unter Beobachtung stehenden Patientin, die im Jahre 1896 als Manie
einer geschlossenen Anstalt überwiesen wurde. Nach 6 y 2 Jahren erkrankte
sie wieder, diesmal unter den Zeichen einer Melancholie, die im weiteren
Verlauf der Krankheit zur Diagnose Katatonie führte und nach wenigen
Wochen abklang. Das 3. Stadium im Jahre 1910 wird als manisches
*) Hans v. Renesse, Zur DifTerentialdiagnose zwischen Manie und
Dementia hebephrenica (praecox). I.-Diss. Berlin bei Ebering 1912.
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 99
eingeleitet, verliert sich aber bald unter einer Reihe zweifellos hebephrener
Symptome, welche den wahren Charakter des Leidens somit erst nach
14 Jahren feststellen lassen.
Gerade im Anschluß daran komme ich auf einige Fälle, wo der
krankhafte Expansionsdrang zu einer ganzen Reihe der auf Reisen
and Fahren gerichteten Vergehen führte und das nicht ganz klare
Büd einer kindlichen Manie mit dem Ausblick auf eine spätere Schizo¬
phrenie eröffnete.
II. G., einziges Kind in guten Verhältnissen lebender Eltern, Gym¬
nasiast. ausgezeichneter Schüler, wurde im 11. Lebensjahre plötzlich
*iiaem Wesen verändert, nachlässig in seinen Schulaufgaben, vorlaut
und ungezogen. In dieser Zeit, die bis zu seiner Einlieferung in geschlossene
Anstalt etwa 1 Jahr umfaßt, benützte er jede Gelegenheit, seinen Eltern
Geld zu entwenden oder zu unterschlagen, um damit Bahnfahrten zu
machen, auch Telegramme an Bekannte zu schicken, Ferngespräche
nach anderen Städten zu führen usw. Als es ihm nicht mehr gelang, die
nötigen Mittel dazu in die Hand zu bekommen, schmuggelte er sich in
-inen D-Zug ein, um als blinder Passagier eine größere Reise anzutreten,
*obei er gefaßt und vom Vater erst nach 2 Tagen aufgefunden und aus-
telöst werden konnte. Schon am nächsten Tag ging er heimlich auf den
Bahnhof, angeblich nur, um dem Zugführer Guten Tag zu sagen. Erst
weh einem Jahre wurde ein deutlich manisches Verhalten beobachtet
md er nach einer geschlossenen Anstalt verbracht. Nach einigen Wochen
rat plötzlicher Stimmungsumschlag ein, und nun ist es auffällig, daß
hm in dem nun folgenden Depressivstadium, in dem Klagen über den
'mitaltsbetrieb im Vordergrund stehen, die Einsicht für seine ungesetz-
aaßigen Handlungen ganz fehlte. Während er im manischen Stadium
umer renommistisch beteuerte, was er getan, sei Diebstahl, und das
ugendgericht bestrafe vom 12. Jahre ab, oder lachend ausrief: „Junge,
urige, wie kannst du so was machen, das ist Betrug“, erzählte er jetzt
i weinerlichem Tone gern von seinen Diebstählen und Fahrten und wollte
cht begreifen, daß dabei etwas Ungesetzliches sei, behauptete, er habe
eisedrang gehabt, und die gestohlenen und unterschlagenen Gelder könne
zum Teil aus seiner Sparbüchse ersetzen. Auch sonst bot er durchaus
cht immer das Bild eines wohlerzogenen Kindes, das er früher war,
daß seine Depressionen mehr den Charakter unbeherrschter Übel-
unigkeit annahmen.
Der Junge ist vorläufig zu seinen Eltern zurückgekehrt. Die
eitere Entwicklung steht abzuwarten. Ziehen 1 ) betont zwar, daß
anie bei Kindern unter 12 Jahren relativ nicht selten vorkomme,
Herdings gewöhnlich in atypischer Form,
') Ziehen, Psychiatrie. Leipzig 1902.
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womit wohl ein Ausblick auf solche Fälle gegeben ist, die Renesse
(a. a. 0.) aus Ziehern Beobachtungen zusammengestellt hat. Krae-
pdin *) fand für die ersten Anfälle manisch-depressiven Irreseins
unter sämtlichen von ihm zusammengestellten Manisch-Depressiven
im 1. Lebensjahrzehnt 0,4%, vom 10. bis 15. Jahre 2,5%. Demnach
ist kindliche Manie oder — schließlich ist es nur eine Nomenklatur¬
frage — manisch-depressives Irresein im Kindesalter recht selten.
Bei H. G. ist zweierlei auffällig, was gegen Manie spricht und an einen
hebephrenen Zustand denken läßt: die schleichende Entwicklung,
die sich fast über 1 Jahr erstreckt und durch Zurückgehen der Schul¬
leistungen sowohl, als durch besondere Unerziehbarkeit gekenn¬
zeichnet ist, ferner die mangelnde Einsicht für die Vergehen im De¬
pressionszustand. Die kriminelle Betätigung allerdings gehört absolut
dem Expansionsdrang einer manischen Phase an, und es ist vorläufig
differentialdiagnostisch nicht zu entscheiden, ob diese als das Teil¬
stück manisch-depressiver Erkrankung sui generis anzusehen ist,
oder ob sie als Vorläufer der Hebephrenie auftritt.
Der 16 jährige F. S. war beim Jugendgericht angeklagt, weil er eine
Droschke für viele Stunden gemietet hatte, ohne sie dann bezahlen zu
können. Da er weiter seit einem Jahr jede Nacht zu Hause entlief und
niemand wußte, wo er blieb, auch sonst lauter verkehrtes Zeug trieb,
kam er zur Beobachtung nach der Charitö, wo Dementia praecox dia¬
gnostiziert wurde.
Als ich ihn wegen seiner Straftat sprechen wollte, gab er über
seine nächtlichen Ausflüge keine Auskunft. Die Droschkenfahrt ent¬
schuldigte er damit, er habe eine Depesche bekommen, daß sein
Freund in L. krank geworden sei, und habe geglaubt, mit einem Wagen,
den seine Bekannten bei Ankunft in L. bezahlen würden, am schnellsten
dahinzukommen. Die Unterhaltung führte er frech und flott durchaus
im Sinne eines Manischen oder Hypomanischen, um gleich darnach in
haltloses Weinen auszubrechen. Es ist also auch bei ihm ein allerdings
schnell wechselndes manisch-depressives Stimmungsbild angedeutet,
die Droschkenfahrt wohl auch auf manischen Expansionsdrang zu setzen,
wenn auch mit erheblich schwachsinnigen Zügen durchsetzt; denn um
schnell nach L. zu kommen, wäre die Eisenbahn am gelegensten gewesen;
allerdings hat er sich die exkulpierenden Momente mit der Krankheit
des Freundes usw. vielleicht erst später zurechtgelegt. —
E. M., 15 Jahre alt, wurde wegen Obdachlosigkeit von einem Kriminal¬
schutzmann aufgegriffen und in eine Bewahranstalt gebracht. Am nächsten
*) Kraepelin , Psychiatrie, a. a. O.
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 101
Tage entwich sie daselbst und sprach in der Nacht eine Diakonisse auf
der Straße an mit der Bitte, ihr eine Unterkunft zu verschaffen. Sie sei
von ihren Eltern von Leipzig nach hier geschickt worden und finde sich
nicht zurecht. Zur besseren Begründung imitierte sie sächsischen Dialekt.
Bei der Untersuchung versuchte sie noch mehrere solche Schwindeleien
anzubringen, die ihr, da inzwischen ihre Eltern als Berliner Einwohner
entdeckt worden waren, leicht widerlegt werden konnten. Sie benahm
sich dauernd töricht, war motorisch sehr unruhig, lachte und witzelte
immerfort, rechnete einige Aufgaben, sagte dann, dazu sei sie zu kopf-
schwach. Sie sei zu Hause fortgelaufen, weil sie sich mal alleine versuchen
wolle. Auf die Frage, ob sie immer so lustig sei? „Ja, weil Frau B., die
Leiterin des Schutzhauses, so gut ist, bin ich vergnügt, aber früher war
ich sehr traurig.“
Sie war zu einer geordneten Unterhaltung nicht zu bringen, so daß
ich sie zur Beobachtung auf eine Irrenstation empfahl. Ehe es zur Über¬
führung kam, lief sie wieder davon.
Hier war es besonders die den weiblichen Jugendlichen so gefähr¬
liche Vagabondageneigung, die aus dem manischen Zustandsbild
herauswuchs, das sicher alsVorläufereinerHebephrenieanzusprechenist.
Im allgemeinen richtet sich die Art der schizophrenen Krimi¬
nalität nach dem Koordinatenpunkte, in den die in ihren Symptomen
so wechselnde Krankheit gerade eingetreten ist, die Schwere des
Vergehens oder Verbrechens, an der dolosen'* Absicht gemessen, aber
nach dem Grundcharakter des betreffenden Individuums.
Einleitenden melancholischen Phasen wird das Suizid und mit
diesem vergesellschaftet das Homizid aus altruistischen Erwägungen
entsprechen, der Mord an geliebten Personen, meist den eigenen
Kindern, um sie vor dem Elend und der Schlechtigkeit des Daseins
zu bewahren oder, in Anknüpfung an religiöse Motive, um ihre Seelen
zu retten u. a. m. So berichtet Kraepelin *) von einer Patientin, die
ihre Bettnachbarin erdrosseln wollte, um sie von ihren Leiden zu
befreien. Die der Melancholie oder einem Depressionsstadium zu¬
geschriebenen Kindesmorde sollten doch zu denken geben, sobald
Bizarrerien der Ausführung dabei nicht zu verkennen sind.
Eine Frau, die ihr Kind getötet hatte, umschnürte die Leiche wie
ein Paket mit Bindfaden, den sie an mehreren Stellen siegelte, und holte
dann die Polizei. Ich denke dabei weiter an die manchmal wunderlich
eingekleideten Serienmorde, wo eine Mutter ihre Kinder der Reihe nach
vom Leben zum Tode befördert. Eine Frau erdrosselte ihre drei Kinder
x ) Kraepelin, Psychiatrie, a. a. O.
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S t e 1 z ne r,
und hing sie dann der Größe nach in einer Reihe an für das Geschirr be¬
stimmte Haken in der Küche. Der Versuch, sich selbst dazuzuhängen,
mißglückte. Eine andere Patientin ertränkte ihre fünf Kinder eines nach
dem anderen in der Badewanne und setzte sie dann frisch gekleidet und
gekämmt in einer Reihe im Zimmer an die Wand. Ihr eigener Selbst¬
mordversuch wurde vereitelt. Sie hatte zu dem Mordwerk mit den ent¬
sprechenden Toilettemanövern eine ganze Nacht gebraucht.
Die Selbstmorde der Schizophrenen sind gar nicht so selten.
Zu den in ein melancholisches Prodromalstadium fallenden gesellen
sich die den erwähnten an Zahl überlegenen, die als Bizarrerien, als
Einfallshandlungen, als Ausfluß des Negativismus anzusehen sind.
Wie relativ häufig Konamina bei Schizophrenie sind, wird durch
Gaupps x ) und meine 1 2 3 * ) Zahlen erwiesen. Gaupp verzeichnet 21 Selbst¬
mordversuche bei Dementia praecox, ich unter 200 Selbstmörderinnen
10, unter diesen 2, die bei einer den Krankheitsprozeß ein¬
leitenden Melancholie, und 2, die infolge bedrohlicher Hallu¬
zinationen gemacht wurden und katatonische Stadien einleiteten,
während die übrigen im völligen Zerfall der geistigen Persönlichkeit
vor sich gingen.
Daß die Schizophrenen zu Mördern und Totschlägern — ganz
abgesehen vom altruistischen Homizid oder dem Kindesmord, der
nur als eine Ausgestaltung des Suizids anzusehen ist — werden können,
ist schon mehrfach in der Literatur kasuistisch belegt, daß Mord und
Totschlag als einleitende Frühsymptome der Erkrankung auftreten,
erfahren wir einwandfrei aus Baers 8 ) Arbeit, der Gelegenheit hatte,
22 jugendliche Mörder längere Zeit im Gefängnis zu beobachten.
Bezüglich ihres Geisteszustandes sagt er: 3 waren geistesschwach,
4 epileptisch, 3 psychisch defekt, 12 geistesgesund, 4 waren mit Epi¬
lepsie in früher Kindheit oder später behaftet gewesen, 2 zeigten
ferner kenntliche Spuren eines geisteskranken, defekten Zustandes,
so daß sie auch früher oder später einer Irrenanstalt zugeführt werden
mußten.
Gerade diese zwei Fälle bieten ein besonderes Interesse. I. L. er¬
schießt mit 15—16 Jahren seine Tante „wohlüberlegt“ aus Rache und
1 ) Gaupp, Ober den Selbstmord. München 1910. II. Aufl.
2 ) Stelzner, Analyse von 200 Selbstmordfällen. Berlin 1906.
3 ) A. Baer , Jugendliche Mörder und Totschläger. Arch. f. Kriminal-
anthrop. Bd. 11, 1903.
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 103
bekommt 13 Jahre Gefängnis. In seiner Familie waren erblich belastende
Momente nicht nachzuweisen. Sein Körper ist robust entwickelt, sein
Wesen verschlossen, mürrisch; rohes Fühlen, ungezügelter Jähzorn;
einzelne körperliche Degenerationszeichen. Er hatte eine geringe Schul¬
bildung genossen, war wenig intelligent, das Gedächtnis überaus gut.
Während der Strafverbüßung ist er nachlässig, eigensinnig, bisweilen
frech, jähzornig, bösartig, nach 6 jähriger Strafhaft und einem AfTektshock
lief verstimmt, mißtrauisch, apathisch, verweigert Nahrung, hat Anfälle
von Unruhe und Präkordialangst, verblödet mehr und mehr.
Nach dem heutigen Stand der Frage von den Verblödungspsychosen
unterliegt es wohl keinem Zweifel, daß es sich um Dementia praecox
handelt. Wenn eine Verschlimmerung bzw. ein deutliches Hervortreten
psychotischer Zustände, ein „Schub“ im Anschluß an einen AfTektshock
erfolgt, so ist dies durch den Begriff der reaktiven Psychose bei Schizo¬
phrenie, wie ihn Bleuler (a. a. O.) aufgestellt, Jaspers x ) ausgebaut, Birn¬
baum 1 ), Aschaffenburg 3 ) u. a. angenommen haben, einwandfrei zu er¬
klären. Bonhoeffer *) betont besonders, daß selbstverständlich wie bei
der progressiven Paralyse bei der Dementia praecox eine psychogene
Entstehung zwar nicht behauptet werden kann, daß aber auf psychogene
Einflüsse hin augenfällige Veränderungen im Krankheitsbilde zu be¬
merken sind.
Ich übergehe die verschiedenen Symptome krankhafter Geistes¬
störung im Sinne der Schizophrenie, die I. L. sonst noch bot und sub¬
sumiere, daß der plötzlich einsetzende Mordgedanke, dessen Ausführung #
keine Reue hinterläßt, das erste sichtbare Glied in einer Kette war, dessen
letztes in einer Irrenanstalt endet, wohin Pat. im Jahrel883 in einem dement¬
paranoischen Zustande verbracht worden war, und wo er sich im Jahre
1903 noch in tiefer Stumpfheit und Verblödung befindet.
Über den Ausgang und die Diagnose seiner Erkrankung besteht
somit kein Zweifel. Um so mehr muß der kriminelle Anfang nach etwa
pathologischen Zeichen durchforscht werden. L. selbst war der Tat ge¬
ständig, stellte sie aber so dar, als sei er seiner Mutter gegen die Tante
zu Hilfe gekommen und habe sie dabei in der Wut erschossen. „Diese
*) Jaspers, Kausale und „verständliche“ Zusammenhänge zwischen
Schicksal und Psychose bei der Dementia praecox (Schizophrenie).
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1912.
*) Birnbaum , Psychosen und Wahnbildung usw. Halle, Marhold,
1908.
3 ) Aschaffenburg , Degenerationspsychosen und Dementia praecox
bei Kriminellen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1912.
4 ) Bonhoeffer, Wie weit kommen psychogene Krankheitsbilder und
Krankheitsprozesse vor, die nicht der Hysterie zuzurechnen sind. Allg.
Zeitschr. f. Psych. 1911.
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104
Stelzner,
Angaben sind gerichtlicherseits nicht als wahrheitsgetreu befunden. Es
hat sich vielmehr ergeben, daß L. seine Tante schon lange mit Haß und
Groll verfolgte. Oftmals tat er Äußerungen in dem Sinne: Ich will ihr
was auswischen. Die N. ging mittags zu ihrer Tochter mit einem Eimer
Milch. Das bemerkte L. und faßte den Entschluß, sie auf dem Rückwege
zu töten. Mit geladenem Gewehr lauerte er ihr, an der Haustür stehend,
auf und schoß sie nieder, als sie bei ihm vorüberkam.“ Das Gericht war
überzeugt, daß es sich um die wohlüberlegte Ausführung eines Rache¬
aktes gehandelt habe. ,,Der p. L. hat“, so heißt es in dem Strafurteil,
„einen verworfenen Charakter; er hat bis zum letzten Augenblick gelogen
und die Tötung mit Überlegung ausgeführt. Er hat seine eigene Tante
aus Rache erschossen und zeigt dann nicht eine Spur von Reue über diese
ruchlose Tat.“ Das letztere gerade, das dem Gericht als belastendes Moment
erscheint, wird vom Psychiater als entlastendes pathologisches gedeutet
werden, als ein infolge eines Zerfallprozesses einsetzendes Schwinden
der ethischen Gefühlstöne. Auch die leicht zur Entdeckung führenden
Umstände bei einem nicht primär schwachsinnigen Individuum faßen
auf, ebenso das immerhin Impulsive der Handlung. Baer gibt eine Schilde¬
rung seiner Persönlichkeit bei Aufnahme in die Anstalt: „Er war ver¬
schlossen und mürrisch. Er sprach sehr wenig, ungemein langsam und
eintönig, häufig etwas näselnd, dabei war Kopf und Blick nach unten
gerichtet. Dem bizarren, stumpfen und rohen inneren Wesen entsprach
sein Äußeres usw.“ Zweifellos war es nach dem damaligen Stande der
, psychiatrischen Wissenschaft und dem Zustande des Angeklagten un¬
möglich, die heute gültige Diagnose zu stellen. Damals und selbst heute,
wo dem Psychiater allgemein eine zu weitgehende Exkulpationsfreudigkeit
vorgeworfen wird, könnten ihm kaum die Bedingungen des § 51 als erfüllt
zugebilligt werden. Das höchste, was ein Sachverständiger erreichen
würde, wäre eine sechswöchentliche Beobachtung in einer Landesirren¬
anstalt, die möglicherweise ganz resultatlos verlaufen könnte, indem
sich zwischen die ersten und die darauf folgenden Krankheitsschübe
monate- und jahrelange freie Intervalle schieben können. Wenn aber die
Möglichkeit besteht, ex und propter post die Frühsymptome zu erkennen,
so wäre die Forderung zu stellen, solche genauestens an klaren Fällen
zu studieren und diese Kenntnis im Interesse der Gesamtheit zu ver¬
wenden. Nach dem, was über den Fall später bekannt wurde, wäre die
inkriminierte Tat als Einfallshandlung bei beginnendem Zerfall der affek¬
tiven und intellektuellen Prozesse zu deuten. —
In dem Falle M., dessen Schilderung wir ebenfalls Baer verdanken, sind
schizophrene Symptome zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung
kaum herauszufinden. M.s intellektuelle Fähigkeiten waren überaus
gut ausgebildet. Er besuchte die Schule bis zur Untertertia, aus der er
mit 14 Jahren abging. Im Alter von 16 Jahren führte er mit einem Kom¬
plizen, dessen Haupt der Plan entsprang, einen wohl vorbereiteten Tot-
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 105
schlag an einem Bekannten aus, um diesen zu berauben. M. hatte sich
schon vorher verschiedener kleiner Diebstähle und Betrügereien schuldig
gemacht und schon früh einen Hang zur Ungebundenheit, zur Lüderlich-
keit und Zügellosigkeit gezeigt. Während der Untersuchungshaft wurde
er dadurch auffällig, daß er in ein Lesebuch Bemerkungen eingekratzt
hat wie: „0 du himmlische See, kennst nicht mein Weh.“ — „na Prosit“ —
,.Ochsentreiber“ — „Ich habe einen Mord begangen, den 13. III. 1887“.
Seine Stimmung ist nach Baer während der ganzen Haftzeit gedrückt;
er ist immer verschlossen, sehr leicht erregt und zeitweise von Angst und
Unruhebefallen. Er zeigt eine ausgezeichnete Befähigung für geistige Arbeit,
wird jedoch sehr bald in seiner Kleidung und äußeren Haltung auffallend
nachlässig. Er mußte später aus der Zellenhaft entlassen werden, weil
sein geistiger Zustand ihn für diese ungeeignet machte. Sein Gesamt-
verhalten war stets ein abnormes und erregte schon früh den Verdacht,
daß der Zustand seines Gefühls- und Gemütslebens krankhaft affiziert
und defekt sei. Immerhin verbüßte er seine volle Strafzeit von 5 Jahren.
Eia Jahr später — Juli 1893 — mußte er während eines plötzlichen Aus¬
bruchs von Tobsucht in die Irrenanstalt verbracht werden. Am 1. April
1894 wird von da über ihn berichtet: „Augenblicklich befindet sich M.
schon seit Monaten im katatonischen Stupor mit Stummheit, Speichel¬
fluß, mäßiger Gliederstarre.“ Er ist sehr bald in einem Zustande tiefster
Verblödung seinen Leiden erlegen.
Baer geht auf die Art seiner Verblödung nicht ein, die ja einwandfrei
der katatonen Schizophrenie zugerechnet werden muß; doch betont er,
daß M. schon zur Zeit der Begehung seines Verbrechens und wohl auch
schon von Kindheit an ein degeneriertes, psychisch defektes Individuum
gewesen ist. Dies zugegeben, unterscheidet sich M.s Fall dadurch so
außerordentlich von dem L.s, daß die Straftat keinerlei pathologische
Momente darbietet, sondern zielbewußt und zweckentsprechend unter
allen nötigen Vorsichtsmaßregeln vorgenommen wurde, während bereits
in der Untersuchungshaft ein bizarres Verhalten eintrat. Da er als ein
von Jugend auf ethisch defektes Individuum geschildert wird, so ließe
sich annehmen, daß die der Schizophrenie zufallende Abflachung der
ethischen Begriffe auf die angeborene Degeneration gepfropft, ihn der
Mordtat nur zu leicht geneigt gemacht habe. Jedenfalls geht die moralische
Debilität der intellektuellen sehr weit voraus, so weit, daß weder der
juristische Beurteiler noch der medizinische Sachverständige dieser
scheinbaren Intaktheit gegenüber auch nur zu einem non liquet gekommen
wäre. Etwas anderes ist es mit seiner Überführung in die Irrenanstalt,
die vielleicht schon vom Gefängnis aus erfolgt wäre, wenn nicht viele
seiner Eigentümlichkeiten als Heimsuchungen schwerer Gewissensbisse
wegen einer möglicherweise bestehenden und noch ungesühnten zweiten
Blutschuld gedeutet worden wären.
Bei beiden Mördern dürfen wir nicht vergessen, daß es sich um
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106
Stelzn er.
Individuen handelt, die primär zu rechtsbrecherischem Verhalten
neigten. Der eine war schon von Kind auf verschlossen, mürrisch,
von rohem Fühlen und ungezügeltem Jähzorn, der andere ein degene¬
riertes, ethisch defektes Individuum. Beide besitzen die einzige ver¬
brecherische Naturanlage, die überhaupt existiert, und die man ge¬
wöhnlich als Mangel an Altruismus bezeichnet, die in Wirklichkeit
aber etwas Positives ist, nämlich die Freude am Leiden der anderen,
die sich häufig auch noch direkt mit einer Freude am Häßlichen ver¬
gesellschaftet. Wenn Intelligenz und Erziehung dahin führen, daß
die boshaften verbrecherischen Neigungen nicht in die Erscheinung
treten, die soziale Stellung nicht erschüttern, so läßt sich anderersetis
nachweisen, daß jede Lockerung der einen und Mangelhaftigkeit der
anderen einen Abstieg zur Tiefe des Verbrechens begünstigen. Die
Schizophrenie zeitigt demnach keine kriminellen Anlagen (s. Bleuler);
diese müssen vorhanden sein; aber indem sie ethische und intellektuelle
Hemmungen lockert, wird die verbrecherische Komponente frei;
es kommt zur dolosen Handlung. Der Dolus der verbrecherischen
Handlung bestimmt sich nicht nach der Art der Erkrankung oder nach
ihrem Grade; sondern nach der primären Wesensveranlagung.
Die genaue Durchforschung der Lebensbilder, wie sie bei jüngst
Erkrankten noch gut möglich ist, bringt einwandfreie Beweise dafür,
daß eine eigentliche Charakterveränderung in ungünstiger Richtung
bei Schizophrenie nicht stattfindet, sondern nur ein unverhülltes
Hervortreten der üblen Anlagen
Am deutlichsten ist dies bei der schwersten Form des Rechts-
braches zu beobachten, bei der Absicht, einen Nebenmenschen
an Leib und Leben zu schädigen, wobei die Motive natürlich für die
Beurteilung ausschlaggebend sind. Baers schizophrene Mörder zeigen
von ihrer frühesten Kindheit an eine Serie von Eigenschaften, die
sie in erster Linie zu egoistischen, andere schädigenden Handlungen
geeignet machen. Während M.s Tat jedes exkulpierende Moment
vor den Gesetzen der Ethik fehlt, ist bei L. wenigstens ein Affekt
angedeutet. Stellen wir daneben Kraerpelim Patientin, die den Mord
an der Nebenpatientin aus rein altruistischen Beweggründen begehen
will, um diese von ihren Leiden zu befreien wie der Bär, der den Kopf
seines Herrn zerschmettert, um ihm die Fliegen zu verjagen, so haben
wir hier ein rein ethisches Motiv mit einer durch den Mangel an Intellekt
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Morde
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UNIVERSITY OF-MuMdl
ISK 51
108
Stelzner,
zu 4 Jahren Zuchthaus verurteilt, wurde sie zur Abbüßung der Strafe in
das Gefängnis Johannsen verbracht. Dort erkrankte sie nun in den letzten
Monaten 1907. Offenbar war auch die Gefängnispsychose schon ein schizo¬
phrener Schub gewesen.“
Ihr Lebensgang ist in kurzem folgender: Als Tochter eines höheren
russischen Beamten wurde sie bis zum 15. Jahre in Petersburg von Gou¬
vernanten erzogen, kam dann aus Gesundheitsrücksichten nach Lausanne,
besuchte daselbst ein Mädchengymnasium und lernte gleichzeitig die in
der Schweiz sich zusammenfindenden terroristischen Kreise kennen, die
von nun an die Richtschnur ihres Lebens bestimmten. Sie bestand in
sehr jungen Jahren das Abiturientenexamen und studierte ein Semester
Medizin. Im Jahre 1905 begab sie sich wieder nach Petersburg und soll
dort durch den vom Priester Gapon eingeleiteten, so blutig endenden
Bittgang nach dem Winterpalast mächtig erregt worden sein, so daß sie
sich danach mit größter Energie der revolutionären oder vielmehr terro¬
ristischen Partei anschloß und, eines Anschlages auf Trepow verdächtigt,
am 6. März 1905 auf der Straße verhaftet und nach der Peter-Pauls-
Festung verbracht wurde, jedoch wegen eines daselbst einsetzenden
Depressionszustandes, der zum Teil als Reaktionspsychose auf die Idee
aufzufassen ist, sie habe ihre politischen Freunde durch ihre Aussagen
belastet und die Hinrichtung einiger verursacht, nach einer Irrenanstalt
abgegeben wurde, wo sie sich vom 18. Mai bis 5. Dezember 1905 befand,
dann ungeheilt entlassen und der gerichtlichen Verfolgung entzogen
wurde. Sie hatte dort mehrere auf das melancholische Zustandsbild
zurückzuführende Selbstmordversuche gemacht und hörte Stimmen,
welche sie mit Hinrichtung bedrohten. Wieder genesen ging sie mit ihrer
Mutter, die ihr sehr viel Freiheit ließ, nach Genf und fuhr von dort aus
nach Interlaken, wo sie mehrere Tage mit einem Genossen als angebliches
Ehepaar in einem Hotel zusammenwohnte. Der Mann reiste ab, und danach
machte sie im Auftrag des terroristischen Komitees das Attentat auf den
angeblichen Durnowo. Zunächst wurde sie nicht identifiziert, da sie alles
getan hatte, um Namen und Herkunft zu verwischen.
Da Zweifel an ihrer geistigen Intaktheit aufstiegen, wurde eine
sechswöchige Beobachtung in der Irrenanstalt Münsingen erwirkt. Die
ausgezeichneten Untersucher und Beobachter, der damalige Direktor
Dr. Glaser und Dr. Good, kommen in ihrem Gutachten zu dem folgenden
Schluß:
Die L. sei zur Zeit der Ermordung des M. ihrer Straftat und der
Strafbarkeit derselben bewußt und zur Zeit der Tat nicht geisteskrank
gewesen. Sie sei eine geistig wohlentwickelte und zurzeit auch körperlich
gesunde Person.
Infolge erblicher Belastung und eines von jeher leicht erregbaren
Nervensystems habe sie vor nicht langer Zeit eine Geistesstörung durch-
gemacht. Infolgedessen sei sie in hohem Grade disponiert gewesen, auf
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Die Frühsymptorae der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 109
die ungesunden politischen Zustände leidenschaftlich zu reagieren und
ein überzeugtes Mitglied der terroristischen Partei zu werden.
Der Umstand, daß sie dank ihrer psychopathischen Natur von der
revolutionären Bewegung fortgerissen wurde, sei geeignet gewesen, ihre
Willensfreiheit zu vermindern. Sie habe daher die inkriminierte Tat im
Zustande verminderter Willensfreiheit begangen.
Schon dieser Auszug, aber auch das ausführliche Gutachten zeigen,
welch hervorragende Beobachter und welche vorsichtigen Gutachter
diese beiden Psychiater waren. Aber Direktor Glaser ging in seinem münd¬
lichen gutachtlichen Fachbericht noch einen Schritt weiter mit einem
sehr wichtigen und wertvollen Ausblick in die Zukunft der Angeklagten,
indem er sagte: „Wenn die Angeklagte auch hier im Saal ziemlich gelassen
erscheine, so könne es doch vielleicht nicht lange gehen, bis eine Explosion
des Gemütes erfolgte.“ Diese Prognose, welcher die Tatsachen später
genau entsprachen, ist von einer solch verblüffenden Zielsicherheit, daß
man beinahe einen deutlicheren Hinweis auf Schizophrenie oder Dementia
praecox erwartet. Aber das Gesamtverhalten der Angeklagten war hier
wie in vielen Fällen, wo die Beobachtungszeit gerade in eine Remissions¬
phase fällt, kein für Schizophrenie charakteristisches, sondern das einer
fanatisierten psychopathischen Persönlichkeit. Und selbst gesetzt den
Fall, Glaser hätte hier von Jugendverblödung oder von geistigem Verfall
gesprochen, welcher Richter und ganz besonders welcher Geschworene
hätte angesichts dieser Hochintellektuellen, als welche die T. L. zweifellos
erscheint, dem Gutachten beigestimmt. Im allgemeinen neigte Glaser
dazu, sie zu der Gruppe der politischen Wahnsinnigen (Krafft-Ebing)
zu stellen.
Als ein großes Glück ist es zu betrachten, daß in das Schweizer
Gesetz der Begriff der verminderten Willensfreiheit einbezogen ist; denn
die Geschworenen hatten auf Mord erkannt, auf dem lebenslängliches
Zuchthaus steht» da das Berner Strafgesetzbuch seit 1874 die Todesstrafe
abgeschafft hat. Liegen mildernde Umstände, die hier angenommen
wurden, vor, so soll lebenslängliches Zuchthaus oder zeitliches nicht unter
20 Jahren ausgesprochen werden. Die mildernden Umstände verwandelten
demnach das „lebenslänglich“ in „zwanzigjährig“ um, und der Psychiater
erst konnte mit Annahme der geminderten Willensfreiheit das Urteil dahin
beeinflussen, daß es auf 4 Jahre herabgesetzt wurde. Es herrschte damals
eine starke Strömung, daß diese Strafe zu gelinde sei. War die L. aber
damals schon, wie heute wohl anzunehmen ist und von Brauchli auch
angenommen wird, schizophren erkrankt, so wurde sie zu Unrecht ver¬
urteilt und hat ein halbes Jahr bis zu ihrer Ablieferung in eine Anstalt
für Geisteskranke zu Unrecht Strafhaft erlitten.
Es ist nicht schwer, nachträglich aus dem Bilde der T. L.
eine Reihe Frühsymptome der Schizophrenie herauszufinden, und
das soll durchaus nicht als eine Kritik und Spätkorrektur des ausge-
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Stelzner,
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zeichneten Glaserschen Gutachtens gedeutet werden, sondern vielmehr
als Memento in ähnlichen Fällen dienen in Staaten, welche den Begriff
der geminderten Willensfreiheit nicht kennen, wo die Todesstrafe noch
in Kraft ist und aus einem Justizirrtum ein Justizmord werden kann
Ich möchte an die vor wenigen Jahren hingerichtete Mörderin Baier
erinnern, deren Lebens- und Krankheitsbild doch nicht absolut geklärt
erscheint. Daß bei T. L. auch während der Verhandlung manches schon
dem Laien Auffällige hervortrat, beweist der Ausspruch eines Berliner
Juristen, welcher damals schrieb: „T. L. ist vor dem Gesetz eine Mörderin —
wenn sie keine Wahnsinnige ist. Ist sie das? — es würde vermessen sein,
dies aus der Ferne beurteilen zu wollen.“
Ich habe mich bemüht, aus dem mir zur Verfügung stehenden
Material die hierhergehörigen Züge zusammenzutragen. Was T. L.s Äußere?
betrifft, so wird es wie folgt geschildert: „Das interessante Gesicht zeugt-
von großer geistiger Arbeit, aber auch von großem Selbstbewußtsein,
ja Eigensinn, von Laune und fanatischen Anlagen.“ War ihre überragende;
Intelligenz damals auch wirklich noch als ganz intakt anzusehen? Einig«
Zeichen sprechen dagegen. Zunächst, daß bei einem Plan, der so weit
schauend ausgedacht war, daß sich z. B. in ihrer Kleidung, in ihrer Hab«
nicht ein Stück fand, das ihre Herkunft verriet, sie eine Sache von solcher
Wichtigkeit, wie die richtige Erkennung des Opfers, auf eine Karrikatur
aus einem französischen Witzblatt und das Gerücht gründete, Durnowo
verberge sich unter dem Pseudonym Müller. Als ihr später die Photo
graphien M.s und Durnowos vorgelegt wurden und man sie darau! aul-
merksam machte, daß keinerlei Ähnlichkeit zwischen beiden besteht
auch Haar- und Barttracht ganz anders seien, beharrt sie darauf, di-
Ähnlichkeit sei sehr groß, Haar- und Barttracht könnten ja geändert
werden. Jedenfalls hatte sie sich nicht im mindesten Mühe gegebe
sich über die Identität ihres Opfers zu vergewissern. Einem noch ofto-
sichtlicheren Versagen ihrer Intelligenz begegnen wir in ihrer Antwort
auf die Frage des Präsidenten: „Haben Sie nicht bedauert, diesen un
schuldigen Greis getötet zu haben, der ein solches Ende nicht verdiente'? '!
Sie antwortete: „Zweifellos. Ich hätte es niemals absichtlich getan, aber
als Sozialistin habe ich es nicht allzusehr bedauert, ein Mitglied der bürger¬
lich-kapitalistischen Gesellschaft aus dem Wege geräumt zu haben, der
noch dazu ein älterer Mann war.“ Hier haben wir doch schon eine recht
erhebliche Minderung ihrer Urteilskraft in dement-paranoidem Sinne
auf einem Gebiet, das ihr das geläufigste war, auf dem der politischer
Ansichten. Ihre Partei hatte zweifellos ein großes Interesse an einem
gewaltsamen Tode Durnowos, aber keines an dem eines älteren Rentiers,
des Untertanen einer Republik. Die intellektuelle Minderung überragt!
die ethische, mit der sie Hand in Hand geht, hier in hohem Maße. Noch
im Petersburger Gefängnis hatte es von ihr geheißen, sie könne keim:
Fliege töten, und jeder andere alte Mann würde ihr bitter leid getan haben.
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. m
, Ȋhrend sie unbedenklich jedes Mitglied der kapitalistischen Gesellschaft
jetzt als reif für die Pistole erklärte. Als ein Nachlassen ihrer Verstandes¬
kräfte ist es auch zweifellos aufzufassen, wenn sie in ihrer sonst sehr ge-
| schickten Verteidigungsrede, die sich mit der Korruption in Rußland
und mit ihrer eigenen Entwicklung zur Sozialistin beschäftigt, plötzlich
I zu einem Ausfall auf die Schweiz, wo es ihr doch recht gut ergangen war,
abspringt und schließt: „Nicht nur in Rußland, sondern auch in den
übrigen Ländern, selbst in der Schweiz, gibt es Ungeheuer, die von der
terroristischen Partei vernichtet werden müssen. Die Gerichte sind überall
nur Marionetten der Regierung.“ In ihre Hirntätigkeit ist damit schon
eine gewisse Einförmigkeit gekommen. Sie differenziert nicht mehr deut¬
lich, sondern plaidiert für Vernichtung alles Bestehenden.
Die weitgehende affektive Verblödung, über die Brauchli aus Mün-
ringen später berichtet, ist auch jetzt schon in einzelnen Zügen angedeutet.
Eine Schulfreundin aus Lausanne, die innig an ihr hing, sah sie nach
längerer Zeit, aber etwa ein halbes Jahr vor begangener Mordtat wieder,
fand sie in körperlicher und geistiger Beziehung verändert und war vor
allem dadurch betroffen, daß T. L. so wenig von dem Kummer ihrer Eltern
über ihr politisches Treiben angefochten war und ihr auf Vorhalten ent-
gegnete: „Ich-liebe wohl meinen Vater und meine Mutter, aber man muß
das russische Volk retten.“ Das stärkste Zeichen der affektiven Störung
besteht wohl in der Gleichgültigkeit dem Umstande gegenüber, daß sie
Durnowo nicht erschossen hatte, worauf sie doch mit allen Kräften aus-
gegangen war, sondern daß dieser noch lebte. Sie wird davon innerlich
r <icht mehr voll berührt. — Weiter: „anstatt Zeichen von Ergriffenheit
zu geben, als sie ihre Mutter im Sitzungssaal erblickt, huscht ein leises
Eächeln über ihre Züge“. — Ihre Leidensgeschichte erzählt sie in einem
leichten Plauderton, als ob die Sache sie gar nichts anginge, ihre Worte
^weilen mit einem ironischen Lächeln begleitend. — In den 7 Monaten
der Untersuchungshaft und während der Verhandlungen hat sie keine
Träne vergossen, keine Klage geäußert, keine Spur von Reue gezeigt,
andern stets in derselben, gemacht erscheinenden, gleichgültigen Haltung,
^ demselben unbefangenen, kalten Blick dagesessen, dabei unermüdlich
‘'ährend all der Stunden der Verhandlung große vor ihr liegende Bogen
Eapier mit Skizzen und zeichnerischen Spielereien anfüllend. Wenn
schon die Andeutung einer Bizarrerie liegt, so ist noch mehr an
'“»e solche zu denken, wenn es heißt, daß sie an eine Freundin geschrieben
H sie habe beim Besuch einer Bekannten im Vorzimmer so schöne
stehen sehen, daß sie der Versuchung, diese aufzuessen, nicht hätte
Erstehen können. Daß sie sich für die Tat eigens eine Luxustoilette
^fertigen ließ, um die Sache auch äußerlich recht wirkungsvoll auszu-
ß^tolten, liegt so vollständig im Symptomenbilde der Hysterie, daß es
Idw nur insofern verwertbar ist, als hysterische Züge, namentlich hyste-
ris che Eitelkeiten, ihr sonst gänzlich fehlen. — Das Moment ihres Zu-
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112
Stelzner,
sammenwohnens mit dem Parteigenossen als besonderes ethisches Herab -
sinken zu kennzeichnen, wäre gänzlich verfehlt, wenn man daran denkt,
in welch intimer und dabei geschlechtsloser Weise russische Studenten
und Studentinnen an Schweizer Universitäten miteinander verkehren,
ohne jede Koketterie, äußerlich beide gleich asketisch und herabgekommen
aussehend, nur durchglüht von erhitzenden politischen Ideen. Im übrigen
hatte sie mit dem gesamten terroristischen Parteiprogramm auch die
Forderung der freien Liebe auf das Schild gehoben.
Selbst angesichts des Depressionszustandes in Petersburg — von
einem manischen ist nichts bekannt — und in Würdigung einer in der
Untersuchungshaft durchgemachten Affektkrise sind all die hier erwähnten
Zeichen zur Diagnose Schizophrenie damals nicht ausreichend gewesen,
meines Erachtens wohl aber dazu, sie als im Bereich der Möglichkeit
liegend in Betracht zu ziehen und bei schwerer Kriminalität auch in den
Staaten, die den Begriff der verminderten Willensfreiheit nicht kennen,
mildernd auf das Urteil und verzögernd auf den Strafvollzug einzuwirken.
Für die Erwägung, ob T. L. zu ihrer wilden Tat durch ihre Ver¬
anlagung kam, oder ob sie eine Funktion ihrer Krankheit war, geben die
Urteile, die über sie von verschiedenen glaubwürdigen Personen gefällt
werden, gute Anhaltpunkte. Was ihren Charakter betrifft, so bezeichnen
ihn ihre Eltern als einen stets ernsten und verschlossenen. Als Schülerin
in Lausanne war nach dem Urteil des Direktors ihr Verhalten unanfechtbar,
besonders gern beschäftigte sie sich mit Erziehungsfragen, und eine junge
Schweizerin, die von ihrem 14. bis 17. Lebensjahre ihre Kameradin und
Freundin war, sagt aus, daß T. L. eine wahre Freundin sei, eine der Per¬
sonen, mit denen man fürs Leben verbunden bleibe, so sehr war ihr Cha¬
rakter aufrichtig und entgegenkommend. Sie hatte ein gutes Herz, war
wohltätig und hilfsbereit. Das Studium der Medizin gab sie auf und wollte
Lehrerin werden, um dem Volke durch einen anderen Unterricht zu helfen
als dem aus dem russischen Katechismus. Sie interessierte sich für alle
sozialen Fragen und fand, daß die Medizin nicht ihr Beruf sei, da es nötiger
wäre, die sozialen Wunden zu heilen als die des Körpers. Aus alledem
geht hervor, daß persönliche Eitelkeit wie jedes egoistische Moment ihr
fernliegt. Begabt mit starken sozialen Instinkten, wäre sie infolge dieser
Veranlagung, die außerdem mit der reizbaren Schwäche einer psycho¬
pathischen Konstitution zusammenfiel, wenn nicht Organisatorin, so doch
fanatische Anhängerin irgendeiner weltverbessernden Partei geworden,
deren Note sich nach den äußeren Einflüssen bestimmte, wenn nur die
Gelegenheit, für andere zu wirken, damit verbunden war. Sie wäre im
Mittelalter eine Fanatikerin der Kreuzzüge gewesen, im modernen England
Suffragette, in Amerika vielleicht Christian Scientist geworden und in
Deutschland der Vereinigung für Mutterschutz beigetreten. In Rußland
mußte sie Terroristin werden. Die Idee des politischen Mordes, den sie
begehen wollte, ist nicht als Funktion der Schizophrenie, sondern als
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. H3
Folge ihrer psychopathischen Veranlagung zu betrachten, deren Expan¬
iionsdrang sie in diese überhitzten Kreise riß und ihrem Altruismus die
darke einseitige Betonung gab, die sie dazu trieb, ihr eigenes Leben als
Opfer in die Schanze zu schlagen und an einem anderen zur Verbrecherin
zu werden. Es ist wahrscheinlich, daß der Beginn ihrer Erkrankung und
der Beitritt zur terroristischen Partei zeitlich ungefähr zusammenfielen
und infolgedessen etwaige Hemmungen, die ihr Intellekt den ausschweifen¬
den Forderungen des Programmes entgegengesetzt hätte, gelockert wurden,
aber am kriminalistischen Gesamtbilde ändern sie nichts. Das war diktiert
von einem ihrer psychopathischen Persönlichkeit zugehörenden Opfer¬
drang, der allerdings in ihrer Verteidigungsrede schon eine stark paranoide
Färbung annimmt. Als der Schizophrenie zugehörig sind dagegen eine
Heihe anderer, besonders während der Verhandlung auftretender Sym¬
ptome zu betrachten. Als erstes die Gleichgültigkeit gegenüber dem Irrtum
>" der Person des Mörders und vieles andere, was oben ausgeführt ist,
akzessorische Momente, aber nicht die Initiative zur Tat selbst.
Auch durch diese schizophrene Mörderin wird erwiesen, daß die
Krankheit zunächst eine eigentliche Charakterveränderung nicht
nTvorbringt, sondern nur ein schrankenloses Freiwerden der natür-
i'hen Anlagen, so daß z. B. hier selbst im Verbrechen gegen das Leben
ines anderen die ursprünglich stark altruistische bzw. soziale Anlage
Ruch siegreich herrscht und der im tieferen Sinne ethische Antrieb
zur Mordtat, der Wunsch, der Menge zu helfen, nicht zu verkennen
kt. An anderen politischen Mördern gemessen, muß ihr betreffs der
Motive eine unangreifbare Reinheit zuerkannt werden.
Die Anreizungen zum politischen Mord 1 ) zerfallen in drei Gruppen:
f- er kann aus edlen Motiven, aus sozialem Denken hervorgegangen,
her mit egoistischen Momenten stark verquickt sein: Tyrannenmord
)it der Tendenz, bei der Gelegenheit selbst eine Ruhmeskrone, eine
fachtstelhmg zu erringen; 2. Tyrannenmord lediglich mit der Tendenz
ner Vielheit Vorteile zu verschaffen und eventuell daran zu parti-
picren; 3. Ausschaltung jeder egoistischen Regung außer der rein
keilen, seiner Idee zum Siege zu verhelfen, bis zur Selbstvernichtung,
riem das mordende Individuum sein eigenes Leben oder mindestens
'■in*' Freiheit sicher dabei opfert, z. B. die politischen Mörder in
l i Interessante, oft eigenartige Ausführungen finden sieh über diese
bücrie bei Forel , Verbrechen und konstitutionelle Scelenabnormitäten,
I'UK’hen 1907, besonders in den Kapiteln: Die Anarchisten; Luccheni;
■"""■liten des Dr. E. JXegis über die Königsmörder usw.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXT. 1. S
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114
Stelzner,
Rußland wie die propagandistischen Suffragetten in England, be¬
sonders unter ihnen Davis, die sich vor das Rennpferd des Königs
warf, um ohne Rücksicht auf das Leben des Reiters und mit völliger
Rücksichtslosigkeit gegen das eigene Dasein sich den politischen
Wünschen einer fanatisierten Menge zum Opfer zu bringen, leider
nur mit der absoluten Urteilslosigkeit, die den Suffragetten den
falschesten Weg zum Ziel als geeignet erscheinen läßt.
Zur Gruppe III gehört auch die T. L. und gehören die meisten
pathologischen politischen Mörder. Über die Beurteilung der krimi¬
nellen Handlung entscheidet beim politischen Mord nur die historische
Epoche und die politische Anschauung. Was zu anderen Zeiten viel¬
leicht eine berechtigte und anerkannte Waffe war, ist heute ein unfaires
Kampfmittel Was den einen als verabscheuungswürdiges Ver¬
brechen gilt, Umsturz einer Staatsform selbst auf die Gefahr hin,
meuchelmörderisch vorzugehen, erscheint einer Gruppe Fanatisierter,
zu denen T. L. gehörte, als eine Heldentat. Aber welcher Unterschied
z. B. zwischen dem Tyrannenmord des Teil im Sinne des Schillerschen
Dramas und dem schon überall die Kritiklosigkeit an der Stirn tragenden
Vorgehen der T. L. Egoistische Motive lagen ihr, wie gesagt, fern,
aber die Schizophrenie, welche später zum Ausbruch kam, ist schon
darin angedeutet: 1. daß sie den Mord eines Großfürsten oder Ministers
für so folgenschwer hielt, und 2. daß ihr bei einem derart lange vor¬
bereiteten und wohlerwogenen Schritt eine Personenverwechslung
passieren konnte, so daß das Ganze zur Donquichotterie wurde. Die
Krankheit war vielleicht der Grund, daß sie nicht mehr die Grenze
zwischen Recht und Unrecht,.aber auch nicht zwischen den Utilitäts-
prinzipien richtig unterscheiden konnte, daß sie ferner leicht zu sugge¬
rieren war und die ihr imputierte Idee autistisch verarbeitete. Ihre
soziale Ethik aber war intakt geblieben. Sie als Tochter eines Hauses,
das ihr in Rußland alle Vorteile der ersten Kaste verschaffte, wollte
sich für die Tausende Minderbegünstigter opfern, wie sie auch schon
vorher beinahe gedarbt hatte, um arme Kommilitonen zu unterstützen.
Güte gegen weniger gut Gestellte ist der Grundzug ihres Wesens,
der aus ihrem ganzen Leben vor der Krankheit hervorgeht, und der
nicht verändert wird, solange ihre Persönlichkeit noch nicht ganz
zerfallen ist.
Ich stelle ihr die Mordtat der X. Y. gegenüber, deren Leben sich
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116
Stelzuer,
geraten; ebenso finden wir aber auch gutmütige Menschen darunter;
aber die Art der Ausführung deutet auch bei diesen geringeren Delikten
auf die ursprüngliche Anlage. Bei rückläufiger Verfolgung der Kranken¬
geschichten findet sich das bestätigt.
E. S., deren Krankengeschichte S. 117 folgt, war eine etwas stille
und artige Schülerin. Die Krankheit löst ein niemanden schädigendes
Delikt gegen die Gewerbeordnung aus. In der Anstalt klagt man nur
über Unreinlichkeit und manische mutwillige Streiche.
C. S. (ihr Bruder, s. a. S. 120) war von Kind auf ein wider¬
licher eitler Geselle. Die Lockung der ethischen Begriffe und Arbeitsscheu
lassen ihn zur männlichen Dirne werden.
A. M. (s. Kap.über Prostitution, S. 71) war zweifellos ein außerordent¬
lich gutes Kind. Viele Züge aus ihrer Autobiographie zeigen das. Ihre
Vergehen ist Prostitution als Minderjährige. Bei aller Schwererziehbarkei t
ist sie nie verschlossen und bösartig. Sie schlägt auf die anderen in mani¬
scher Weise los, nimmt aber selbst bei ihrem Sammeltrieb niemals Sachen,
die anderen besondere Freude machen.
Ein ganz anderer Charakter ist M.Cz. (S. 77), die sich von ihrer Mutter
peinigen ließ und dies verbissen trug, ohne jemanden einzuweihen, die
sich in den verschiedenen Haushaltungen, in denen sie lebte, immer zu¬
nächst durch musterhaftes Verhalten einzuschmeicheln wußte, um später
die Betreffenden durch üble Nachrede zu schädigen. Das erste, was sie
tat, nachdem der Lack der Selbstbeherrschung von der Krankheit an-
gefressen war, ist eine einen Nebenmenschen in seinen besten Freuden
schädigende Handlung, eine Handlung, die ihr keinen Nutzen, der anderen
nur Schaden bringt. Vielleicht hat sie schon öfter derartige Bosheiten
ausgeübt; aber als kluges und verschlossenes Kind war es ihr, ehe die
krankhafte Urteils- und Hemmungslosigkeit einsetzte, immer möglich,
ihre Übeltaten so zu vollbringen, daß auf sie kein Verdacht fiel.
Wenn das Studium von Geschichten Erkrankter im Frühstadium
einwandfreie Beweise dafür bringt, daß eine eigentliche Charakter¬
veränderung, die vielfach angegeben wird, nicht stattfindet, so läßt
sich diese Beobachtung naturgemäß am besten bei den schizophrenen
Rechtsbrechern des Jugendgerichtes machen. Bei den von mir Unter¬
suchten könnte ich tatsächlich jedesmal mit positivem Erfolg die
Probe aufs Exempel anstellen.
Die leichteren Rechtsbrechereien, wie sic gewöhnlich vor das
Jugendgericht kommen, möchte ich, soweit sie der Hebephrenie
zuzuschreiben sind, zunächst durch einige selbstbeobachtete Fälle
beleuchten, die unter immerhin auffälligen Symptomen kriminell,
aber nicht exkulpiert wurden, und bei denen nachträglich die Diagnose
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Die Friihsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. H7
einwandfrei gesichert wurde, wie auch der Nachweis erbracht, daß
die mkriminierten Handlungen im Zustand der Hebephrenie begangen
wurden.
E. S. (S. 116), Schülerin der I. Klasse einer Gemeindeschule, wurde
im Jahre 1910,14 1 / 2 Jahre alt, von einem Schutzmann zur Wache gebracht,
«eil sie ohne Gewerbeschein und als Minderjährige am Bahnhof Friedrich-
slraße Streichhölzer verkaufte. Sie kam, angeklagt wegen Hinterziehung
l*r Gewerbesteuer, vor das Jugendgericht — ob damals eine psychiatrische
Begutachtung stattgefunden, war nicht zu ersehen — und wurde, da sie
■dies zugab und exkulpierende Momente nicht in Frage kamen, mit einem
Verweis und zu den Kosten des Verfahrens verurteilt. Der Passus in den
Akten lautet: „Die Angeklagte, welche die Schule bis zur I. Klasse be¬
geht hat und körperlich über ihre Jahre hinaus entwickelt ist, hat zweifel¬
los die zur Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen. Sie war daher gemäß
der Gew.-Ordn. zu bestrafen.“ Es wurde volle Einsicht angenommen,
«eil sie immer davonlief, wenn ein Schutzmann kam, hinter dessen Rücken
>ie sich dann lustig machte. Sie hatte den Handel, ohne jemandem davon
w sagen, ganz auf eigene Hand angefangen, indem sie für 20 Pfg. Streich¬
hölzer nach ihrem Ausdruck „engros“ einkaufte und beim Verkauf Geld
verdienen wollte, um sich zur Einsegnung etwas zu sparen. Man schob
ihr damaliges Verhalten auf Neigung zu Vagabondage und nächtlichen
Abenteuern, und die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge gab ihr eine
•Schutzaufsicht. Diese Dame kümmerte sich in intensiver Weise um das
Mädchen und half mir die Lücken in seinem Entwicklungsgang ausfüllen.
Ich selbst lernte es erst später in der Charitö kennen.
E. S. ist 1895 geboren und erblich schwer belastet; ihr Vater, der
ui der Jugend schwer geschlechtskrank war, ist mit 52 Jahren an Gehirn¬
erweichung gestorben, während ihre Mutter im Jahre 1911 in einer Landes-
icrenanstalt untergebracht werden mußte, vielleicht auch an Schizo¬
phrenie leidend, und ihr Bruder im selben Jahre in einer solchen an „Ge¬
hirnkrämpfen“ gestorben ist, nachdem er wegen Dementia praecox aus
'Itr Charitö dahin verbracht worden war. Andere Geschwister sind ganz
jungan Krämpfen gestorben. E. S. besuchte als gute Schülerin die Gemeinde -
schule bis zur I. Klasse, dann die Fortbildungsschule, da der Vater, ein
kleiner Bankbeamter, seine Familie in geordneten Verhältnissen zurück-
kdassen hatte. Als im Jahre 1909 der Bruder anstaltsbedürftig wurde.
n «hm sie sich das so zu Herzen, daß sie Selbstmordgedanken äußerte,
Mit niemandem verkehren wollte und äußerst niedergeschlagen war. Sie
selbst litt derartig an Kopfschmerzen, daß sie zunächst keine Lehrstelle
^nehmen konnte. Dieser Zustand änderte sich bald. Sonst ein ruhiges
und vernünftiges Mädchen, war sie nun übertrieben lustig, sang, tanzte,
schauspielerte und trieb allerlei Possen. Kurz vor diese Zeit fällt das
Delikt. Körperlich soll sie damals sehr elend und blutarm gewesen sein.
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118
Stelzner,
In ihrer Stellung als Lehrmädchen scheint sie nicht mehr genügt zu haben,
und ihr wurde gekündigt. Die auch schon kranke Mutter weigerte sich, ihr
ärztliche Hilfe angedeihen zu lassen, da das Mädchen immer versichere,
sie sei zu schamhaft. Schließlich nahm sich ein Onkel der Sache an. Sie
wurde zur Charit6 gebracht und dort aufgenommen. Ihr Verhalten da¬
selbst ließ keinen Zweifel mehr an einer hebephrenen Demenz zu. Zunächst
war sie völlig unzugänglich und negativistisch, verunreinigte sich, tobte
und schrie. Von einem Tag auf den anderen Umschwung, ist ganz klar,
gibt höflich und geordnet Auskunft und erzählt von ihrem Delikt, hofft,
daß man sie nicht nach einer Anstalt für Epileptiker bringen werde, da
dies nach Entlassung in ihre Akten käme und jeder Chef sie sofort darauf¬
hin entlassen könne. Wie ihr sprachlicher bzw. schriftlicher Ausdruck,
der eben noch ganz geordnet scheint, plötzlich in Fragmente zerfällt,
die zwar die leitende Idee noch erkennen, aber die stilistische Zusammen¬
fassung vermissen lassen, zeigt ihr selbst geschriebener Lebenslauf, der
äußerlich zunächst ganz dem entspricht, was man von einer guten Fort¬
bildungsschülerin erwarten kann. Daran anknüpfend, daß sie von ihrem
Chef entlassen wurde, fährt sie fort: „Als Grund wurde mir bekannt,
daß die Mädchen Angst vor mir hatten, weil mein Bruder in der Charitö
war. Dadurch kam ich auf die Idee, Schauspielerin und Opernsängerin
zu werden. Wenn ich hier entlassen werde. Wenn ich im Geschäft meiner
Mutter im Schaufenster 1. als Reklame, 2. wird ein Schild gemacht, das
ich Schreibarbeiten jeder Art auf eigener Maschine anfertige, Wir werden
sämtliche Artikel zur Schreibmaschine zum Verkauf führen und uns
dadurch emporarbeiten.“
Da der Zustand stationär blieb, wurde sie nach einer Landesirren¬
anstalt verbracht, sollte im Herbst 1912 versuchsweise entlassen werden;
aber eine zuvor einsetzende Verschlechterung machte dies unmöglich.
Sie soll sehr unflätig sein, erregt, verkehrt in Reden und Handeln, ist
unreinlich und arbeitet nicht. Der Aufsichtsdame schreibt sie regelmäßig
Briefe, deren Inhalt und Äußeres einen zunehmenden Zerfall illustrieren,
der erste vom September 1911 ganz geordnet, ein anderer 1 Jahr später
geschriebener und gereimt gehaltener zeigt stark manischen Einschlag
und nur andeutungweise schizophrene Verkehrtheiten; 3 Monate später
kommt ein Schreiben, das schon äußerlich auf die Diagnose hinleitet,
Unterstreichungen, gekünstelte Anfangsbuchstaben, das Papier mit
Nebenbemerkungen randvoll geschrieben. Typisch ist der Schluß dieses
Briefes: „Mein Patengeschenk war eine silberne Sparkasse — folgt
nähere Beschreibung derselben. In Berlin ist S. (der verstorbene Bruder)
geboren. Am Mühlendamm die Sparkasse. Eine Treppe die Armen-
direktion. Wir hielten stets den Lokalanzeiger mit dem Bären. Wie lernt
der Bär tanzen ? Auf der heißen Platte. Er hebt vor Hitze ein Bein nach
dem anderen und dreht sich dabei. Indem man den Bär quält, verdient
man viel Geld. In Neu-Kölln hat Mama von Charlottenburg einen Adel
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• >.i. t. i^\v>-»)-.
120
Stelzner,
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kann bei einer länger dauernden Remission, auf die wir bei Dementia
hebephrenica zu rechnen haben, recht unangenehm empfunden werden
Die Dementia hebephrenica zeigt hier zuerst Störungen der
Affektivität — Depression, Exaltation —, während der Rechtsbruch
als Beginn der assoziativen Störungen, die später deutlicher werden,
aufzufassen ist.
Dem Fall der E. S. wäre direkt der ihres etwas älteren, schm.
(S. 116 u. 117) hier mehrfach erwähnten Bruders an die Seite zu stellen
der ein Jahr vor ihr erkrankte und zur Charitö kam, von da in eir.r
Landesirrenanstalt, wo er 1911 im Alter von 19 Jahren starb. Er pflegt'
schon früh homosexuellen Verkehr, ob aus wirklicher homosexueller
Neigung oder aus Freude an dem durch die Prostitution erworbenen Wohl
leben, steht dahin. Im Alter von 15 Jahren war er wegen gewerbsmäßiger
Unzucht, da er als männliche Dirne fungiert hatte, angeklagt, was er
übrigens ableugnet. An einem Tag, da er gerade zugänglich war, wcrfll
ich seine Stellung zu dem Delikt kennen lernen, über das er sich i-
häufig überhebender, jedenfalls höchst ungenierter Weise, äußert:
Arzt: Waren Sie einmal angeklagt?
Pat.: Nee.
A.: Doch, wegen § 175.
P.: Kenn’ ich, war aber nicht angeklagt.
A.: Hatten Sie Männerverkehr?
P.: Ja, seit 16. Jahr.
A.: Wie dazu gekommen?
P.: Das kann man nicht so genau erinnern.
A.: Selbst Neigung zur Verführung?
P.: Die selbständige Neigung ist auch da.
A.: Mehr Neigung zu weiblichen oder männlichen Wesen?
P.: Es gibt auch weibliche geistreiche Personen sozusagen, uni
da könnte ich auch platonische Liebe empfinden.
A.: Was verstehen Sie unter platonischer Liebe?
P.: Kein sexueller Verkehr, nur, daß ich mich mit „ihm“ unter
halte und wir uns umarmen, könnte dies allenfalls auch mit geistreich*
Weibern; bei Männern hat es aber doch mehr Reiz.
A.: Wann zum erstenmal Männerverkehr?
P.: Mit 15 Jahren, ist durch Verführung gekommen.
A.: Woher wußten Sie, daß es Derartiges gibt?
P.: Durch die Zeitungen.
A.: Was waren das für Männer, und wie haben Sie sie kennen gelernt?
P.: Ein Arzt, ein Professor. Bin zunächst durch einen Freun-i
verführt worden; die anderen Herren habe ich in Lokalen, wo Homo¬
sexuelle verkehren, kennen gelernt.
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Die Friihsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 121
A.: Sind Sie dafür bezahlt worden?
P.: Von denen, die mir sympathisch waren, habe ich freundschaft -
lieh und geschenkweise angenommen; nur für Geld, das konnte ich nicht.
A.: Glauben Sie, daß das straflos ist?
P.: Ich kenne den § 175; aber was er verbietet, weiß ich nicht usf.
A.: Welchen Bildungsgang haben Sie?
P.: Erst Oberrealschule, dann aus pekuniären Gründen Gemeinde¬
st hule.
A.: Welche Lebenspläne?
P.: Ich werde mich von allem fernhalten, was schlimm ist, brauche
aber das männliche Geschlecht, wenns auch nur platonisch ist.
Darnach produziert er noch einige Größenideen bezüglich seiner
Fähigkeiten und seiner Intelligenz. Im übrigen war er häufig wider¬
strebend, mutazistisch, renitent, so daß er selten zu einem Gespräch zu
bringen war. Im Vordergrund seines Lebensbildes steht jedenfalls die
homosexuelle Betätigung zweifellos auch in der Form der bezahlten
Prostitution. Als er im 15. Lebensjahre angeklagt war, war es fast un¬
möglich festzustellen, ob es sich nur um eine verderbte Großstadtpflanze
handle, oder ob pathologische Momente bereits hineinspielen. Es ist sogar
schwierig ex post zu entscheiden, ob seine Prostitutionsneigungen bereits
Symptome des später deutlicher werdenden Krankheitsprozesses sind.
Jedenfalls muß man annehmen, daß die Verführung auf einen Boden
fiel, der durch die beginnende Krankheit gut vorbereitet war. Die Affekt¬
leere, mit der er später über seine perverse Betätigung berichtete, deutet
darauf hin. Es ist charakteristisch, daß seine asozialen Neigungen, Arbeits¬
scheu, Prostitutionsneigung, Freude am Bummeln, verhältnismäßig
plötzlich einsetzten, nachdem er ein ganz guter Schüler war. Ich bin der
Meinung, daß auch hier das Delikt ein Frühsymptom der Krankheit ist.
Außerdem halte ich es für einen Zufall, daß der Betreffende gerade homo¬
sexuell sich betätigte, was nur auf die Umwelt, in die er geriet, zurück¬
zuführen ist. Er hätte ebensogut Zuhälter, Hochstapler, Rennbahn-
habituö übler Sorte oder sonstwie kriminell werden können. Auf den
Weg antisozialer Betätigung wies ihn kaum, wie es von vielen Seiten
angenommen wird, eine angeborene geschlechtliche Perversität, sondern
einerseits die pathologischen Momente seines abgeblaßten ethischen
Empfindens, seiner Arbeitsunlust und seiner tatenlosen Unrast, anderer¬
seits die schon oben gekennzeichnete Charakteranlage, vermehrt durch
das äußere Agens seiner Halbbildung — der Gemeindeschüler schmückt
sich noch immer gern mit den ihm aus der Oberrealschule anhaftenden
Bildungsfetzen und hält sich für etwas Besseres. Er verteidigt sich zwar,
gegen Bezahlung sich ohne weiteres zu prostituieren, gibt aber ohne
Hemmungen des Schamgefühles zu, daß er Geschenke usw. annimmt.
Er hat ja auch keinen speziellen Freund, sondern gibt einmal an, daß er
in bestimmten Lokalen immer Homosexuelle zu treffen wisse.
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122
Stelzner,
Wenn die vorerwähnten Krankheitsfälle, in deren Beginn Delikte
aller Art standen, in fortgesetzter Anstaltsbehandlung unzweifelhaft
als Schizophrenie — um den gut gewählten Sammelnamen zu brauchen
— diagnostiziert wurden, so hatte ich Gelegenheit, eine Reihe anderer
zu beobachten, wo die Kürze der psychiatrischen Beobachtung zur
Sicherung der Krankheitseinordnung nicht ausreichte und man diese
offen lassen mußte, obwohl eine Reihe von Symptomen, die zur De¬
bilität, zur Manie und zur psychopathischen Konstitution nicht recht
paßten, schon per exclusionem auf die Dementia hebephrenica
führten.
Es handelt sich um kriminell gewordene Mädchen, die mir vom
Jugendgericht, von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge und
von einem Mädchenschutzhaus zu psychiatrischer Begutachtung
zugewiesen wurden.
So wichtig auch die Erkennung der hebephrenen Momente als
Ursachen der Kriminalität der vor das Jugendgericht Zitierten ist,
so schwer wird es sein, dieselben in den Fällen, die nicht als anstalts¬
bedürftig anzusehen sind, bei einer ein- oder zweimaligen Untersuchung
herauszufinden. Der § 51 in seiner jetzigen Form versagt diesen
Einzelsymptomen gegenüber vollständig. Der Richter verlangt vom
ärztlichen Gutachter möglichst eine klangvolle Diagnose, aus der sich
die Bedingungen zur Erfüllung des § 51 oder 56 einwandfrei ergeben.
Ohne eine solche wird er schwer von der Nichtstrafbarkeit des An¬
geklagten zu überzeugen sein, namentlich wenn von ihm gestellte
Fragen coram publico gut beantwortet werden. Wie bei der Schizo¬
phrenie der Gesamtverlauf der Krankheit sich als eine wohlbefahrene
Straße, die aber dazwischen auf kurze Strecken unwegsam gemacht
ist, darstellt, so ist auch jeder Daseinsquerschnitt als ein mehr
oder weniger mit größeren oder kleineren, den Beziehungen zur
Umwelt entzogenen Herden krankhaft durchsetzter anzusehen, und
die Kunst des Psychiaters muß darauf hinausgehen, diese einzelnen
Herde herauszufinden und im Interesse des Rechtes aut ihre Wertig¬
keit, d. h. ihren Einfluß auf Äußerungen der Gesamtpsyche zu durch¬
forschen. Für den gesamten Lebensgang sind gute Anamnesen er¬
forderlich, daher bei dem geringsten Verdacht auf Hebephrenie Akten¬
studium, das möglichst zu erleichtern ist Wenn die Akten auch in
vielen Fällen keinen verwertbaren Hinweis auf die Krankheit ent-
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nUcr»',; ,j« d.-.i Sftofto nmt itn Lebe»» »»rfohiVije« I.i-uten grue&ebi simi.
/ftei'viw werdet? yticütes Em*htfi»> fcb 4 «ftfnen «aid *u irüb jdgeiki)ieh<
• tidiybfkirf« betraut, djp auoärfesi »>i'i<en Kurs ltnfef d»'* >Vu~
!'i:ii/»:>, ♦•itai»r,’iier Jb*t>»»i!.ofi »UirdizMrxaibeu hätten. Ißt erst >•'•-.•
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;Xui^httid*ft€ ktdgckgt anifi* diirrb ^bt?pr«itb«Ad»-'•..L»ij^r»«eb•.
«wttixu w m*eö, ■ so. komon wir iloä alles entbohrcja, $o Liroge «Im ni< bi
Vkr F»y ist, tfftiß wU a|!eö Kräften darnach g^lretoi: werden, die £r~
r \ß ihrer; Fnjhsymptök*B so genau m st«#eren, doX> $$ «•»•!»?
jitjir ^*~ iuigi. »lif; btiiwftelnleii iüdhndben vrir dem
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Origmal fr^nft
tCStfifERSITY OF
124
Stelzner,
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los Schizophrene diagnostiziert sind, und führe nur die mir als ver¬
dächtig erschienenen kurz an:
M. H., 15 Jahr, wegen Hehlerei angeklagt, weil sie den Inhalt eine:-
in ihrer Gegenwart von einer Freundin gestohlenen Geldtäschchens mit-
verjubelte. Krankhafte Besonderheiten reichen nicht aus, um f 51
oder § 56 heranzuziehen. Wird verurteilt.
Gemeindeschule I. Klasse. Gute Zeugnisse in Fleiß und Betragen
Sie fällt dadurch auf, daß sie sich der Untersucherin gegenüber plötzlich
renitent und verstockt benimmt, ohne jeden Grund verstummt und niclit
zu weiteren Antworten zu bewegen ist und starr und teilnahmlos sitzK
bleibt. Die ersten Antworten fielen befriedigend aus.
Heredität: Vater Potator.
E. F., 18 Jahr, wegen Beihilfe zum Warenhausdiebstahl (Decken
der Diebin) angeklagt. Ich stelle anheim, die Bedingungen des § 5t at*
erfüllt anzunehmen. Angeklagte wird freigesprochen nach § 51.
Gemeindeschule II. Klasse. Gut gelernt, gutes Betragen. Lauf
seit y 2 Jahr an Angst und Unruhe in der Nacht und häufigen Kri¬
sch merzen. Soll nach Verlassen der Schule geistig schwächer geworte
sein. Ist leicht erregt. Rechnet auffällig gut und schnell, während
übrigen Assoziationen und logischen Verknüpfungen besonders un^
nügend sind. Zeigt Querfurchung der Stirn und hochgezogene Augw
brauen, seltenen Lidschlag.
Heredität: ohne Besonderheiten.
A. G., 14 Jahr, hat Geld, das sie für ihre Firma zur Post bringe
sollte, unterschlagen und auf ihr Bett gelegt, wo es die Mutter sehen konnte.
Als diese sie aufforderte, es wegzutragen, ging sie damit fort, kaufte sich
Näschereien dafür und schwänzte von nun an das Geschäft.
Diagnose: Beginnendes Versagen der intellektuellen Prozesse in
Entwicklungsalter (Jugendverblödung?). Nach § 51 freigesprochen.
Gemeindeschule II. Klasse. Intellektuelle Leistungen sehr unau-
geglichen, weiß auf die einfachsten Fragen keine Antwort und rechne
ausgezeichnet; aber sehr langsam, wie sie überhaupt alles tut, obmÜ
sie nicht einen Augenblick ruhig sitzt, die Hände gegeneinander reift
die Finger bewegt usw.
Heredität: ohne Besonderheiten.
A. B., 17 Jahre, nahm ein freiliegendes Sparkassenbuch, hob 100 M
ab und verjubelte dies. Die pathologischen Momente reichen nicht au>
uni § 51 heran zu ziehen. Verurteilung.
Gemeindeschule I. Klasse, gute Schülerin. Trotzdem fallen di-'
Intelligenzproben ungenügend aus. Sie trägt bei der Untersuchung eii;
läppisches Wesen zur Schau. Teils lacht sie unmotiviert, teils ist sie nega-
Go^ 'gle
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. J25
tivistisch. Hat in letzter Zeit viel gelogen und geschwindelt, mehrere
Selbstmordversuche gemacht und ist schon häufiger den Eltern davon-
gelaufen, das letztemal 10 Tage fortgeblieben.
Heredität: Bruder des Vaters sei schwachsinnig.
F. K., 16 Jahre. Hat als Lageristin Unterschlagungen begangen.
Diagnose: Debilität? Hebephrenie? Angeklagte war vor der Ver¬
handlung nicht zur Untersuchung gekommen, wurde mit Verweis bestraft
und der D. G. f. J. zur weiteren Fürsorge überwiesen. Dort fiel ihr eigen¬
tümliches Wesen auf, und man bat um eine ärztliche Untersuchung.
Gemeindeschule I. Klasse. Die Mutter gibt an, es sei ihr aufgefallen,
daß das Mädchen, das ein gewecktes Kind war, in den letzten Jahren
stehengeblieben sei. Bei der Untersuchung macht sie direkt einen schwach¬
sinnigen Eindruck, lächelt immerzu und wird gelegentlich obstinat. Soll
dauernd Verhältnisse haben, spricht ungeniert darüber. Klagt seit einem
Jahre über Kopfschmerzen.
Heredität: ohne Besonderheiten.
G. Sp., 16 Jahre, hat 3 M. aus offener Kasse genommen.
Diagnose: Ethische Verkümmerung? Dementia praecox? Wurde
mir vom Mädchenschutzhaus zur psych. Untersuchung zugesandt. Der
Fall ist noch nicht forensisch geworden.
Gemeindeschule I. Klasse, obwohl sie die Schulen häufig gewechselt
hat und mit ihren Eltern herumgereist ist. Die Intelligenzproben fallen
in allen Richtungen sehr gut aus. Auch antwortet sie sehr rasch. Dabei
macht sie bizarre Bewegungen, lächelt sonderbar vor sich hin und wirft
eigentümliche Blicke, richtiger verdreht die Augen. Sie soll arbeitsscheu
und verlogen sein und Neigung zum Herumtreiben zeigen und wechselt
dauernd ihre Stellungen. Anamnese unbekannt.
Diagnose: Zurückgehen der geistigen Prozesse seit dem 12. Jahre,
vielleicht auf StolTwechselanomalien beruhend.
F. L., 18 Jahre, hat eine Ladendiebin, von der sie unterhalten
wurde, gedeckt und selbst Taschendiebstähle begangen. Wird auf mein
ausführliches schriftliches Gutachten freigesprochen.
Gemeindeschule II. Klasse. Die Mutter erzählt, daß sich das Mädchen
bis zum 12. Jahre gut erzogen und auf der höheren Töchterschule gut
gelernt habe. Dann fing sie an zu lügen, mochte nicht mehr lernen und
schwänzte drei Wochen lang die Schule, indem sie sich während der Schul¬
zeit in den Straßen umhertrieb, kam nun nach der Gemeindeschule und
sei seitdem ganz unnütz. Die Intelligenzproben fallen ganz besonders
schlecht aus. Es fällt Querfurchung der Stirn, geistige und körperliche
•Schlaffheit und Gleichgültigkeit auf.
Heredität: ohne Besonderheiten.
A. Sch., 15 Jahre, wurde wegen Vagabondage und versuchter Ge¬
werbeunzucht aufgegriffen. Ich beantragte Aufnahme zur Beobachtung
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Stelzner,
auf einer Irrenstation, dortige Diagnose: Menstruelle Verstimmungen.
Hebephrenie? Psychopathische Konstitution?
Freispruch nach § 51.
Gemeindeschule I. Klasse. Intelligenzprüfungen fallen schlecht
aus, ganz besonders ungenügend der Ebbinghaus. Das Mädchen sitzt
in eigentümlich schlafTer Haltung mit deprimiertem und doch leerem
Gesichtsausdruck da, antwortet offenbar ungern und mit Widerwillen.
Soll so stundenlang zu Hause sitzen und nur die Finger bewegen. Sie
war ihren Eltern davongelaufen, hatte sich von Leipzig nach Berlin ge¬
schlagen und von hier, wo sie eine Tante aufsuchte, einen törichten Ab¬
schiedsbrief an ihre Mutter geschrieben, da sie sich das Leben nehmen
wollte. Statt dessen vagabondierte sie einige Tage und prostituierte sich.
Die Verkehrtheiten sollen menstruell besonders stark betont sein.
Heredität: Vater soll sonderbares Wesen haben.
G. J., 14 Jahre, hat gestohlen. Ohne daß Anklage erfolgt, nimmt
sich D. G. f. J. ihrer an.
Diagnose: Depressionszustand. Empfehle Anstalt mit guter Be¬
wachung.
Gemeindeschule I. Klasse. Intelligenzprüfungen fallen gut aus.
Sie macht offenbar soeben einen Depressionszustand durch, soll herum-
sitzen und träumen, spricht nicht, äußert keine Wünsche, tut nichts.
Nach einem Jahre Bericht, daß sie jetzt tätig, fleißig, anstellig und treu
sei, nur immer etwas hypochondrisch.
Heredität: Vater tot durch Suizid, Mutter in Irrenanstalt.
Im allgemeinen lassen sich die hier beobachteten Frühsymptome
und auffallenden Momente kurz zusammenfassen:
1. Intelligenzstörungen, die nach den Anamnesen zweifellos nicht
primäre sind — die Mädchen haben fast alle die I., mindestens die
II. Klasse der Gemeindeschule erreicht—.sondern in den letzten Schul¬
jahren oder nach Verlassen der Schule einsetzten, daher gute Schul¬
leitungen und schlechter Ausfall der Intelligenzproben. Dazu Un -
gleichmäßigkeit der intellektuellen Leistungen, z. B. auffallend gutes
Rechnen und Versagen bei anderen Proben des logischen Denkens oder
besonders gute Leistungen auf dem Gebiet der Merkfähigkeit und des
Gedächtnisses bei Versagen gegenüber den Kombinationsaufgaben.
2. Bei der Inspektion fanden sich neben Degenerationszeichen
aller Art, die nicht charakteristisch sind, besonders folgende: amimischer
Gesichtsausdruck, Querfurchung der Stirn mit dauernd hochgezogenen
Augenbrauen, starre Haltung und langsame, gehemmt erscheinende
Bewegungen oder motorische Unruhe; unmotiviertes Dauerlächeln;
Augenverdrehen.
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Die Fröhsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 127
3. Von ethischen und gemütlichen Besonderheiten fiel weiter auf:
Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Delikt, starke
Stimmungsschwankungen während der Untersuchung: plötzliches
Versagen jeder Antwort, ungehörige, zum mindesten übermütige
Zwischenfragen, einmal ausgesprochene Hypomanie, mehrmals De¬
pressionszustände, ferner die von der Umgebung meist auf einen
bestimmten Zeitpunkt fixierte Arbeitsscheu und Unstetigkeit in der
Arbeit, damit zusammenhängend dauernder Stellenwechsel.
Die Delikte haben nichts Charakteristisches weder nach Idee
noch Art der Ausführung. Auffallend ist es eben nur, daß die Mädchen,
zum größten Teil gute Schülerinnen und als solche sich auch durch
gutes Betragen auszeichnend und aus ordentlichen Familien stammend,
sich diese zuschulden kommen ließen. Mit Ausnahme von A. Sch.
(Yagabondage und Gewerbeunzucht) waren sie alle in wirtschaftlich
ganz guten Verhältnissen, litten keine Not, nicht einmal an Kleider¬
pracht, was in der Großstadt so leicht der Anreiz zum Verbrechen
wird. Fast alle kamen nicht allein gut angezogen zur Untersuchung,
sondern auch mit den für die Berliner unteren Stände charakteristischen
Imitationen von Eleganz, die aus den Warenhäusern stammen und
die, wenn man so will, eine gewisse Wohlhabenheit Vortäuschen.
Die Betrugsmanöver und Diebstähle wären demnach besonders den
intellektuellen Störungen und dem ethischen Versagen zuzuschreiben;
Prostitution, Vagabondage, häufiger Stellenwechsel hängen mit der
Unrast der vielfachen Stimmungsschwankungen zusammen, zum Teil
auch mit dem in frühen Stadien nicht seltenen Insuffizienzgefühl
und der wirklichen Insuffizienz.
Ich bin mir wohl bewußt, damit nicht etwa neue und besonders
charakteristische Symptome der Schizophrenie herausgefunden zu
haben, sondern nur bekannte Zeichen, die aber durch ihre Gruppierung
oder durch ihr zunächst solitäres Auftreten unter vielen hundert
Untersuchungen an kriminell gewordenen Jugendlichen zur Aus¬
sonderung einer kleinen Gruppe Verdächtiger führten.
Sämtliche hier erwähnte Mädchen kamen im Laufe der letzten
5 Jahre zur psychiatrischen Begutachtung in meine Hände Die
Diagnosen habe ich genau in der Form wiedergegeben, wie ich sie
damals notierte. Dies ist natürlich nur der Anfang zu einem werk¬
tätigen Vorgehen, das darin zu bestehen hätte, daß die dem ärztlichen
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Stelzner,
Gutachter durch Einzelsymptome auffallenden Individuen, bei denen
infolgedessen Verdacht auf Schizophrenie nicht ganz auszuschließen
ist, in besonderen Listen vom Jugendgericht geführt und angehalten
werden, daß sie, ihre Pfleger oder Familien alle halben Jahre über ihren
weiteren Lebensgang Bericht erstatten, mindestens aber ihre Adresse
angeben. Die Mädchen, bei denen ich meine Diagnose bestätigt sah,
habe ich nur durch Zufall entweder in der Charitö oder in der Fürsorge¬
anstalt oder durch eine besonders interessierte Helferin wiedergefunden.
Jedenfalls entsteht aus der Institution der Jugendgerichte mit
dauernder Heranziehung möglichst derselben ärztlichen Gutachter
sowie in einer gut geleiteten Jugendgerichtshilfe eine für die Psychiatrie
außerordentlich wertvolle Handhabe, deren Benutzung noch viele
wichtige Gesichtspunkte zur Erforschung der Jugendpsychosen und
Defektzustände, ganz besonders aber der in ihren Anfangsstadien
noch wenig genau gekannten Schizophrenie erhoffen lassen.
Zusammenfassung. — Ein verhältnismäßig erheblicher
Prozentsatz Schizophrener steuert in den frühesten Stadien der Krank¬
heit dem Verbrechen und der Prostitution zu.
Da kurzdauernde psychiatrische Untersuchung und Beobachtung
jugendlich Krimineller (Jugendgericht) und minderjähriger Prosti¬
tuierten (F.-Z.) in den seltensten Fällen geeignet ist, die ersten An¬
zeichen der Schizophrenie einwandfrei zu diagnostizieren, so muß
durchaus ein starker Nachdruck auf das Herausfinden gewisser Ver¬
dachtsmomente in Form von Frühsymptomen gelegt werden, um
mit Hilfe solcher die forensische Beurteilung zu beeinflussen und eine
aktenmäßige Weiterbeobachtung der betr Individuen einzuleiten.
Als solche Frühsymptome wurden die folgenden beobachtet:
1. Bei der Inspektion fiel auf: Zusammengesunkene und teil-
nahmlose Körperhaltung. — Leerer oder bekümmerter Gesichts¬
ausdruck. — Hypomanische Mimik. — Starres, arrogant wirkendes
paranoides Lächeln. — Querfurchung der Stirn mit hochgezogenen
Augenbrauen. — Seltene Augenbewegungen und seltener Lidschlag u. a.
2. Die methodischen Intelligenzprüfungen, deren Ergebnisse
häufig ananmestisch bestätigt wurden, zeigten: Nachlassen der
Leistungen (an den erreichten Schulzielen gemessen); einen auf¬
fallenden Wechsel der intellektuellen Darbietungen sowohl im Neben-
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Die Frühsymptome der Schizophrenie in ihren Beziehungen usw. 129
als Nacheinander; Verlangsamung der geistigen Prozesse und ihres
sprachlichen Ausdruckes; unbedeutende inselmäßige Entgleisungen
im schriftlichen Ausdruck oder auch in der Unterhaltung (z. B. ein
verworrenes Zitat oder eine läppische Zwischenfrage); bei Wieder¬
erzählungen ein gelegentliches Verfehlen der Pointe bei
guten gedächtnismäßigen Leistungen; Witzeleien bei der Unter¬
suchung usw.
3. Affektive Störungen machen sich bemerklich in grundlosem
Lachen oder affektlosem Weinen; durch plötzlichen Stimmungs¬
wechsel, z. B. auch abrupten Widerstand gegen Fortsetzung der Unter¬
suchung; hypomanisches oder depressives Grundbild; Fehlen von
Exkulpierungsversuchen infolge Affektlosigkeit gegenüber der Straf-
Als anamnestisch besonders wichtig wurde stets nach einem
plötzlichen Nachlassen der Arbeitslust und -fähigkeit sowie allgemein
der intellektuellen und ethischen Leistungen gefragt. Die wichtigsten
Hinweise zur Frühdiagnose der Schizophrenie waren den Akten, welche
über F.-Z. geführt werden, zu entnehmen, die lange Lebensstrecken
besonders in Richtung der Erziehungs- und Strafurteile beleuchten.
Die Ergebnisse, vielfach mit meinen eigenen Untersuchungen und
Beobachtungen verquickt, haben gezeigt, daß die weiblichen schizo¬
phrenen F.-Z. jahrelang als Depravierte, als Schwererziehbare, als
Debile, Imbezille, am häufigsten als psychopathische Konstitutionen
gehen und erst eine Zusammenfassung der einzelnen Stadien auf die
richtige Diagnose führt, wobei der Gang der Erkrankung meist sich in
folgender Richtung bewegt: leichtes Nachlassen der Intelligenz, affek¬
tive Störungen häufig in der Form manisch-depressiver Zustände und
Affektkrisen, schwerere Zeichen geistigen Zerfalles, der sich zunächst,
ohne spezifische Einzelsymptome zu zeigen, in absolutem Mangel
jeder verstandesmäßigen Zielrichtung des Lebensweges dokumentiert.
In den Frühstadien der Schizophrenie ist eine durch die Krank¬
heitbedingte Kriminalität nicht zu beobachten, sondern nur ein Frei¬
werden von Hemmungen und damit Hervortreten der von jeher vor¬
handenen Anlagen zu Vergehen und Verbrechen. Dagegen sind sowohl
die intellektuellen, als besonders auch die affektiven Störungen, die
Affektkrisen, die manisch-depressiven Zustände usw. ganz besonders
geeignet, die weiblichen Patienten infolge Widerwillens gegen ge-
Zeitaehrilt tOr Psychiatrie. LXXI. 1. 9
Difitized
bv Google
Original fro-m
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130 Stelzner. Die Frühsymptome der Schizophrenie usw.
ordnete Arbeit, infolge von Vagabondageneigung und Hemmungs¬
losigkeit gegenüber dem Triebleben der Prostitution zuzutreiben-
Aus meinen besonders an weiblichem Material gemachten Unter¬
suchungen erwachsen folgende Forderungen.
Bei Untersuchungen an jugendlichen Kriminellen sind alle auf¬
fälligen Symptome, die den Verdacht auf Schizophrenie erwecken
könnten, selbst in unbedeutenden Ansätzen zu notieren und die be¬
treffenden Individuen einer Dauerbeobachtung zu unterstellen.
Da die Prostitutionsneigung Minderjähriger, sofern sie nicht
dem Milieu, der Debilität oder einwandfrei der psychopathischen
Konstitution zufällt, gerade in ihren schwersten und gegen Besserungs¬
versuche refraktärsten Formen der Schizophrenie zugehört, so ist
den hierhergehörigen sogenannten „schwererziehbaren“ F.-Z. ganz
besondere psychiatrische Beobachtung zuzuwenden und ihre Unter¬
bringung in geeignete Anstalten anzustreben, ehe die Krankheit ihren
Lebensweg in Abgründe geführt hat, die einen Aufstieg selbst bei
langdauemden Remissionen nicht mehr gestatten.
bv Google
Original from
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Arbeitsentlohnung.
Von
San.-R. Dr. Klinke, Lublinitz.
In einem im Jahre 1909 an die Verwaltungsbehörde gegebene*
Bericht über Arbeitsverdienst und Arbeitsentlohnung habe ich mich
darüber folgendermaßen geäußert: Die Rubrik „Arbeitsverdienst“
ist in den meisten schlesischen Anstaltsetats sehr klein im Werte,
da nicht die ganze von den Pfleglingen geleistete Arbeit, sondern
nur ein gewisser Anteil an Verdienst bei einzelnen Kranken für Ar¬
beiten, die für Fremde geleistet werden, in der Anstaltsrechnung in
Einnahm e gesetzt wird, — eine Arbeitsentlohnung in bar für Arbeit,
die der Anstalt geleistet wird, findet, wenigstens in schlesischen
Anstalten, bisher nicht statt, es werden nur Arbeitszulagen aus dem
Beköstigungstitel und Vergünstigungen, Weihnachtsgeschenke usw.
aus dem sogenannten Dispositionsfond der Direktion gewährt.
Schon seit Jahren macht sich nun da und dort das Bestreben
gehend, den Kranken für die geleistete Arbeit ein Konto in bar zu
eröffnen, ihnen, je nach Qualität und Quantität der geleisteten Arbeit
prozentisch abgeschätzt, im Vergleich zur Arbeit gesunder, bezahlter
Arbeiter, eine Arbeitsentlohnung in Geld zu gewähren. An einzelnen
Anstalten, namentlich dort, wo verbrecherische Elemente beschäftigt
werden, erhalten die Arbeiter aus dem Erlös der Arbeit für Anfertigung
von Zigarren, Körben, Strohmatten, Decken usw. einen bestimmten
Prozentsatz, ähnlich wie die Gefangenen und Zuchthäusler.
Wenn wir auch zugeben, daß einmal die Arbeitsleistung der Kranken
in Geld schwer abzuschätzen ist und einem großen TeU der Pfleglinge
es gleichgültig sein wird, ob sie für ihre Arbeit sofort Kaffee, Wurst, Tabak
u. dgl. bekommen oder erst nach ihrem Ermessen, je nach dem Geldwerte
der ihnen buchmäßig gut geschriebenen Arbeit, aus ihrem Konto sich
frei wählen können, ob sie z. B. für sich selbst oder für ihre Familie das
Geld verwenden oder dasselbe aufsparen wollen bis zur Entlassung, so
9 *
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
132
Klinke,
sind doch gegenüber gewissen Nachteilen die Vorteile der Arbeitsentlohnung
ganz erhebliche. Insbesondere an den Anstalten, wo es heut schon infolge
geringer Arbeiterzahl und zu starker Arbeitsgelegenheit schwer fällt,
die nötigen willigen Arbeitskräfte stets zur Verfügung zu haben, wird
es für den Anstaltsleiter von erheblicher Bedeutung, wenn er auf die bei
regelmäßiger und guter Arbeit stets wachsende Zunahme des Arbeits¬
verdienstes hinweisen kann. Ist der Arbeiter bescheiden in seinen Wünschen,
dann kann er bei seiner Beurlaubung oder Entlassung eine ersparte Summe
mit nach Hause nehmen oder bei längerem Aufenthalt in der Anstalt
seiner Familie etwas von seinem Arbeitsverdienst zukommen lassen.
Gerade die besseren Arbeiter werden auf diese Weise sicher mehr an-,
gespornt, während heut ihre Arbeit meist nur in derselben Weise durch
Kostzulage, Tabak usw. abgegolten wird, wie bei den weniger leistungs¬
fähigen Pfleglingen. Notwendig wäre zunächst eine Gruppierung der
Arbeiter je nach ihren Leistungen in drei bis vier verschiedene Klassen
und die Festsetzung der Entschädigung für die pro Tag, pro Woche oder
pro Monat geleistete Arbeit. Über die Arbeit und die Arbeitstage wäre
genau Buch zu führen, für jeden Kranken ein besonderes Einnahme- und
Ausgabekonto anzulegen. Sodann wäre zu prüfen und zu entscheiden,
ob die Mittel des Kapitel IX (Arbeits- und Kostzulagen) und des Ka¬
pitels XII (Dispositionsfond) für bare Arbeitsentlohnung verwendet
werden dürfen und hierzu ausreichen, wobei berücksichtigt werden muß,
daß für die nicht beschäftigten, insbesondere die bettlägerigen, erschöpften
Kranken dem Arzt eine Summe zur Verfügung bleibt. Die Höhe dieser
Summe würde sich nach dem Prozentsatz der beschäftigten Kranken
zu den unbeschäftigten richten.
Schließlich wäre allgemein, wie dies wohl auch früher an schlesischen
Anstalten der Fall war, der Wert der geleisteten Arbeit zu berechnen
und als Arbeitsverdienst in Einnahme zu setzen.
Je mehr Arbeitsgelegenheiten durch Vergrößerung der landwirt¬
schaftlich genutzten Fläche oder bei weiterer Einrichtung sog. Verbrecher¬
stationen geschaffen werden, um so mehr wird sich die Arbeitsentlohnung
wünschenswert und nötig erweisen. Wir stehen auch mit unserer Ansicht
nicht allein, da sich an verschiedenen Orten dasselbe Bedürfnis nach
Einführung einer baren Entlohnung der Krankenarbeit herausgestellt hat.
Um die Frage möglichst genau zu erledigen, habe ich an etwa
96 deutsche öffentliche Provinzial- und Landesirrenanstalten eine
Umfrage verschickt, um zu entscheiden, in welchem Umfange eine
Arbeitsentlohnung der Kranken in Geld oder nur durch Kostzulage,
Tabak, kleine Geschenke, Vergnügungen usw. stattfindet. Von den
96 Anstalten haben 88 geantwortet. Es werden an etwa 2 /s der An¬
stalten die Kranken nur durch Zulagen, Tabak usw. entlohnt, während
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A rbeitsentlohnung.
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an einem Drittel der Anstalten eine Geldentlohnung stattfindet. Aber
auch der letztere Modus ist sehr verschieden gestaltet. Eine Zu¬
sammenstellung ergab darüber im einzelnen folgendes:
1. (Andernach.) Die Kranken erhalten teilweise Geld (genauere
Angabe fehlt).
2. (Düren.) Die Männer erhalten (außer Kostzulage) 0,08 M., die
Frauen 0,06 M. täglich.
3. (Saargemünd.) Die besseren Arbeiter erhalten Taschengeld.
4. (Sachsenberg.) Außer Kostzulage erhalten die Kranken Taschen-
und Sonntagsgeld.
5. (Grafenberg.) Arbeitsverdienst beträgt täglich 8 Pf., der aber
nur zum kleinen Teil bar gezahlt wird. Vorwiegend werden kleine
Bedürfnisse des Patienten dafür gekauft. Die Männer erhalten außerdem
Tabak.
6. (Illenau.) Monatlich werden 3—5 M. als Arbeitsentlohnung
gerechnet (außer Kostzulagen).
7. (Stephansfeld.) Arbeiter erhalten Geld- und Kostzulagen.
8. (Ückermünde.) Die Anstalt zahlt nur ausnahmweise eine Geld-
entschädigung, meist gibt sie nur Kostzulagen.
9. (Aplerbeck.) Desgleichen nur ab und zu Geld.
10. (Frankenthal.) Es wird zweimal im Jahre den Arbeitern eine
größere Geldgratifikation gegeben.
11. (Galkhausen.) Kranke Männer erhalten neben freiem Ausgang
ein wöchentliches Taschengeld von 50 Pfg.
12. (Treptow.) Für Geldbelohnungen sind pro Jahr 300 M. ver¬
fügbar.
13. (Werneck.) Einzelne Kranke erhalten kleine Taschengelder.
14. (Merzig.) Die Anstalt gibt den männlichen Arbeitern außer
Kostzulagen, Tabak und Zigarren wöchentlich 30—50 Pfg.
15. (Hildburghausen.) Die Kranken erhalten Geld oder Kost-
zulagen, Tabak.
16. (Johannisthal.) Jeder Kranke erhält (außer Kostzulage) einen
kleinen Arbeitsverdienst gutgeschrieben.
17. (Kutzenberg.) Es gibt Taschengeld; besonders bedürftigen
Kranken kann bei der Entlassung ein Arbeitslohn von 20 Pfg. pro Arbeits¬
tag ausgehändigt werden.
18. (Schleswig.) In einzelnen Fällen wird Geld geschenkt.
19. (Untergöltsch.) Die Anstalt gibt teils Geld-, teils Kostzulagen.
20. (Eglfing.) Die Arbeiter erhalten wöchentlich 30—70 Pfg.
21. (Lauenburg.) Einige Kranke erhalten Sonntags 20—30 Pfg.
Taschengeld. Anderen werden bei besonderen Anlässen Beiträge zum
Taschengeldkonto für fleißiges Arbeiten überwiesen oder
es wird ihnen Tabak, Kuchen usw. gekauft.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
134
Klinke.
22. (Gabersee.) Die Arbeiter erhalten (außer Kostzulagen) nur
Taschengeld.
23. (Altscherbitz) und 24. (Uchtspringe.) Pro Kopf und Tag
werden 25 Pfg. Arbeitsverdienst angenommen. Davon werden 15% des
so ermittelten Betrages zur Arbeitsverdienstkasse abgeführt, aus der
dann die Kosten für die Anstaltsfeste, Weihnachtsbescherung, Tabak usw.
bestritten werden.
25. (Buch.) Für die geleistete Arbeit bekommen die Patienten
monatlich ungefähr im Werte von 50 Pfg. nach ihrer Wahl eine Kleinig¬
keit durch die Anstalt gekauft.
26. (Düren.) Die Leistung wird geschätzt und bis zu 8 Pfg. pro
Tag dafür vergütet.
27. (Neustadt.) Gelegentlich Geschenke, auch in bar.
28. (Klingenmünster.) Die Anstalt gibt Geld- und Kostzulagen.
29. (Wiesloch.) Arbeitende Kranke erhalten Kost- und Geld-
: ulagen.
30. (Nietleben.) Wie unter 23 und 24.
31. (Plagwitz.) Einzelne Kranke erhalten pro Tag 5 Pfg.
32. (Winnental.) Gewährt einzelnen Kranken Taschengeld als Auf¬
munterung.
33. (Herisau.) Zahlt 50 Ctm. bis 1 Fr. im Vierteljahr zum Ankauf
von Tabak usw.
Es ergeben sich also entweder gelegentliche oder regelmäßige
Geldentlohnungen, Taschengeld nur Sonntags, Entlohnungen durch
größere Geldgeschenke zweimal im Jahre, Entlohnung bei der Ent¬
lassung, Aushändigung des Geldes zur freien Verfügung, Gutschrift
des Geldes oder sofortige Umsetzung der Arbeitsbeträge in Tabak,
Kuchen usw. Die Höhe der stattfindenden Geldentlohnungen ist
ebenfalls recht verschieden, indem auf den Tag berechnet 3, 3%, 5,
6—8 und 10 Pf. gezahlt werden. Verschieden ist auch die Schätzung
des Arbeitsverdienstes, der entweder mit 50 Pf. pro Monat oder 25 bis
50 Pf. pro Tag angenommen und entweder ganz oder nur wieder in
Prozenten gutgeschrieben wird, und aus dieser Summe, die von allen
Arbeiten gebucht wird, werden dann die monatlichen Festlichkeilen
bestritten. Letzterer Modus ist also keine Barentschädigung in dem
Sinne, daß der Arbeiter frei darüber verfügen kann, er beteiligt sich
nur an dem Gesamtgewinn, den der gleichmäßig auf 15% geschätzte
Arbeitsanteil an dem ebenfalls gleichmäßig auf 25 Pf. geschätzten
Arbeitsverdienst ausmacht
Die Frage des Arbeitsverdienstes Geisteskranker ist in der Literatur
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Arbeitsentlohnung. 135
ters erörtert worden. So äußert sich darüber Dr. Olah im Jahre 1899 1 ):
f ür die geisteskranken Verbrecher wäre außer guter Kost, Tabak,
situngen, Musikinstrumenten usw. vor allem ein anständiger Tages -
werb durch irgendeine Handarbeit in Betracht zu ziehen, denn die
leisten dieser erwerbsfähigen, sich für normal haltenden Geisteskranken
ochen mit der Begründung auf ihre Entlassung, daß ihre Familie den
-rnährer entbehren muß. Und sind wir nicht verpflichtet, der Familie,
er wir im Interesse unserer eigenen Sicherheit ihren z. B. trotz seiner
Epilepsie erwerbsfähigen, doch infolge seiner zeitweiligen Anfälle be-
ingungsweise gemeingefährlichen Ernährer rauben, dafür irgendeine
lekompensation zu bieten?“ In einem weiteren Artikel derselben Zeit¬
hrif t aus dem Jahre 1899 heißt es *): „Man vergißt, daß Tausende und
ibertausende von bedürftigen und anständigen Leuten, die Geistes¬
ranken in den Anstalten, in gleicher Weise (wie die Verbrecher) für den
teuerzahler arbeiten, ohne der gleichen Wohltätigkeit teilhaftig zu werden,
a. dem Gefangenen zahlt man seinen überflüssigen Arbeitsverdienst
*Taus, wenn man ihn entläßt, der Geisteskranke muß sich mit dem Trost
ifrieden geben, daß es für seine Gesundheit geschieht, wenn er sich be-
häftigt; den beruhigenden Gedanken, selbst in seiner Krankheit und
rn von seiner Familie für diese, soweit es in seinen Kräften steht, zu
»rgen, schafft man ihm nicht.“
Der Artikel Olahs, soweit er den Arbeitsverdienst der Anstalts¬
ranken behandelt, findet sich abgedruckt in der Kölnischen Zeitung
" m 28. Dezember 1899 mit einer in der Psychiatrischen Wochenschrift 3 )
riedergegebenen ausführlichen Bemerkung, in der es unter anderem
..Ist es nicht grausam, daß der Kranke, der sich zur Erleichterung
Ifr Lasten der Steuerzahler beschäftigt, ohne jeden Arbeitsverdienst
•leibt, daß er nicht in die Lage versetzt ist, auch nur einen Pfennig seiner
rau . seinen Kindern zu schicken? Der gesamte Geldwert der von den
»sassen der Anstalten geleisteten Arbeit, ist nicht so bedeutend, daß
e Steuerzahler die durch den Ausfall desselben aus dem Anstaltsbudget
dingte Vermehrung ihrer Lasten fühlen würden. Wenn die Ge¬
ngenen und Zuchthäusler ihren Arbeitsverdienst bei der Entlassung aus-
•zahlt erhalten, warum haben die Kranken in den öffentlichen Irren-
•stalten nicht ebenfalls ein Anrecht darauf? Aus dieser Bevorzugung
T Gefangenen gegenüber den Geisteskranken spricht eine Auffassung,
■ durchaus unwürdig ist.“
Durch den Artikel Dr. Olahs angeregt, erschien bald 4 ) von Dr. Josef
fnf «in Aufsatz über Krankenverdienst in der Irrenanstalt. Hier ist
') Olah, Psych. Wschr. 1899, Nr. 38, S. 364.
s ) Ebenda S. 378.
*1 Jahrg. 1, Nr. 41, S. 392.
*> Berze, Psych. Wschr. Jahrg. 1, Nr. 48, S. 44.
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Klinke,
besonders wichtig der Hinweis auf den Passus des § 18 des Statuts für
die niederösterreichische Landesirrenanstalt in Wien, das dann auch
für die später entstandenen niederösterreichischen Landesirrenanstalten
Geltung fand. Darin heißt es: „Für die geleisteten Arbeiten erhalten die
Kranken nach dem Ermessen des Direktors und nach einem vom Landes -
ausschuß festgesetzten Tarif eine Entlohnung. Diese Verdienstgelder
sind Eigentum des Kranken und werden besonders verrechnet. Über¬
schüsse werden nutzbringend angelegt. Bei der Entlassung wird dem
Kranken oder der Kuratelbehörde das Geld übergeben.“ Dieses Statut
ist seit 1869 in Wirksamkeit.
Nach dem von Dr. Berze für Kierling-Gugging geschilderten Verfahren
führt der Oberpfleger Arbeitstabellen, aus denen die Namen der be¬
schäftigten Kranken und die Zahl der Arbeitstage zu ersehen sind. Die
Werkstätten führen besondere Listen über Stückzahl der geleisteten
Arbeiten. Die Arbeiter sind nach ihrer Qualität in drei Rubriken geteilt,
die ganzen, halben oder gar keinen Verdienst erhalten. Der Arbeitstag
für Qualität 1 wird meist mit 20 Pf. berechnet (in einzelnen Fällen höher,
bis 60 Pf.). Was an Arbeitsverdienst nicht bald verbraucht ist, wird
deponiert.
Dr. Berze bespricht die Vorteile und Übelstände des Systems aus¬
führlich und erwähnt, daß bereits 1891 von 20 Irrenanstalten Österreichs
und des Deutschen Reiches nach einer Umfrage sich die Mehrzahl gegen
die direkte Geldentlohnung ausgesprochen und sich dahin geäußert hätten,
es sei vorzuziehen, die Kranken mit Kostzulagen, Genußmitteln usw.
zu belohnen, die Verdienstgelder in einer gemeinsamen Unterstützungs¬
kasse zu sammeln, aus der dann Beträge zur Unterstützung der Familie
des Pfleglings oder der Pfleglinge selbst bei der Entlassung zu entnehmen
seien. Auch die Anschaltung von besseren Kleidern, Gewährung von
Taschengeld, Weihnachtsgeschenken usw. könn^ aus der gemeinsamen
Kasse erfolgen. Diese Art dei; Verwendung sei auch für die Verrechnung
bequemer, als die komplizierte bei direkter Entlohnung.
Die Einrichtung gemeinsamer Kassen, die verschiedene Namen
{Arbeitskasse, Verdienstgelder-, Dotations-, Krankenverdienstgelderkasse,
Verpflegtenkasse, Dispositionsfond) tragen, besteht seit längerer Zeit
an vielen Anstalten, nur ist die Verwendung dieser Kassengelder sehr
verschieden. Jeder Kranke, der arbeitet, soll, wie Direktor Krajcusch
für die Krankenverdienstkasse in Aussicht nahm, an den Fond Anspruch
haben. Der Anspruch soll nicht durch die Zahl der Arbeitstage und die
Leistungsfähigkeit allein bestimmt werden, sondern vielmehr mit dem
Ausmaße der Bedürfnisse steigen und fallen, deren Bestreitung aus dem
Verdienste der einzelne Pflegling oder seine Angehörigen anzustreben
berechtigt sind.
Die Zahl der Arbeitstage wird mit dem erfahrunggemäß festzu¬
stellenden Normalbetrag für eine Tagschicht multipliziert oder ein Pau-
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Arbeitsentlohnung.
137
schal eingestellt. Die Leistungen besserer Arbeiter werden individuell
bewertet. Ganz richtig hebt Berze hervor, daß es sich ja bei der Gewährung
von Krankenverdienst nicht darum handelt, größere Summen für jeden
Pflegling anzuhäufen, sondern Mittel aufzubringen zur Unterstützung
von Angehörigen oder zur besseren Ausstattung des Pfleglings bei der
Entlassung, denn gerade die Angehörigen der vorübergehend in der Anstalt
untergebrachten Kranken kommen öfter mit Anträgen um Unterstützung.
Durch die einfachere Handhabung der Verrechnung fällt dann auch viel
Arbeit fort, indem die chronischen Insassen, als Idioten, einfach schematisch
durch Kostzulage abgelohnt werden können. Jetzt aber fällt gerade (
bei frischen Fällen, ehe noch eine Rente bewilligt ist oder bewilligt werden
kann, die Möglichkeit, die größte Not der ihres Ernährers beraubten
Familie zu lindern, fort. Auch muß es dem Direktor freistehen, selbst
solche Familien zu unterstützen, deren erkranktes Mitglied wegen akuter
Störung noch nicht zu einer Arbeit in der Anstalt herangezogen werden
kaum Die Mittel des Hilfsvereins sind meist nur für den Kranken selbst
und zwar nur bei der Entlassung verfügbar.
Auch Familienpfleglinge konnten sich, wie Bogdan (Langenloist
mitteilt, je nach Leistungsfähigkeit 40 Heller bist Krone täglich verdienen 1 ).
Ähnliche Versuche wurden vor Jahren schon in Hall und 1885 in
kierling-Gugging gemacht.
ln dem Bericht über das Irrenwesen Ungarns vom Jahre 1899 findet
sich erwähnt, daß jedem arbeitenden Kranken täglich 40 Heller ver¬
rechnet werden, über die der Betreffende frei verfügt, und die er entweder
zur Aufbesserung seiner Mahlzeiten oder zur Anschaffung von Tabak,
Zigarren usw. verwenden kann. Aus diesen Verdienstgeldern werden
auch die Kosten der für die Kranken veranstalteten Unterhaltungen,
Feierlichkeiten und sonstigen Zerstreuungen gedeckt 1 ).
In Belgien trat bereits im Jahre 1851 Guislain dafür ein, den arbeiten¬
den Geisteskranken für ihre Leistungen eine kleine Belohnung zu ge¬
währen. Morel macht darüber 1900 Mitteilungen’). Die Vorschläge
Güislains wurden nicht beachtet, nur in der Anstalt St. Roch bei Ant¬
werpen, die 1894 geschlossen worden ist, wurde ein Versuch gemacht,
die Arbeit zu organisieren, um einen Hilfsfond für Genesene zu gründen.
Es wurden Strohmatten und Zigarren fabriziert und Stühle ausgebessert.
Nach wenigen Jahren enthielt die Kasse etwa 36 000 Franks, deren Zinsen
ausreichten, um an entlassene Geisteskranke Unterstützungen zu zahlen.
.Wenn man die Arbeit der Anstalt“, sagt Morel , „von Anfang an ernstlich
organisiert hätte, so wären genügend Mittel vorhanden gewesen, eine
neue Anstalt zu erbauen, oder die Anstalt hätte sich selbst erhalten, wie
1 ) Genaueres darüber Psych. Wschr. Jahrg. 2, S. 134.
*) Psych. Wschr. Jahrg. 2, S. 291.
*) Ebenda S. 401.
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Klinke.
z. B. die französische Anstalt Pau“, über deren Wirtschaftsbetrieb der
englische Rechtsanwalt Whiteway interessante Mitteilungen machte 1 2 3 ).
Morel weist auf die Notwendigkeit hin, über die von den Kranken
geleistete Arbeit eine amtliche Kontrolle zu führen. Man müsse die Er¬
gebnisse veröffentlichen, denn ebenso wie die Ausdehnung der Beschäftigung
einen Schluß auf die Anstaltsorganisation gestatte, ebenso müsse man
sich vergegenwärtigen, wie leicht die übermäßige Ausdehnung der Arbeit
schließlich einen reinen Wettbewerb, die möglichst größte Einnahme zu
erzielen, hervorrufen könne in ähnlicher Weise, wie bei gewissen Unter¬
nehmen die Gewinnsucht eine Rolle spielt. Auf dem Anstaltsunternehmen
dürfe in dieser Beziehung nicht der geringste Verdacht lasten, und die
Hauptrücksicht der Anstaltsleiter müsse immer das Wohlbefinden der
Patienten, deren Besserung und Heilung bilden. Nach Morels bzw\ Guis-
lains Vorschlägen könnte man an den Ergebnissen des landwirtschaftlichen
und Werkstättenertrages den Besitzer der Anstalt, die Anstalt selbst
und den Hilfsverein teilnehmen lassen. Der arbeitende Geisteskranke,
den man von seiner Entlohnung unterrichten müsse, könne sich nach
Belieben von dem Arbeitserträge Erfrischung, Kleider einkaufen oder
das Geld seinen Angehörigen senden. Daß ein Teil der Arbeit für die
Anstalt verwendet oder dem Hilfsverein zugewiesen wird, müsse dem
Kranken ebenfalls bekannt gegeben werden.
Über die Frage der Arbeitsentlohnung in englischen Anstalten
habe ich nichts ermitteln können. Nur von der alten Anstalt Hanwell,
die im Jahre 19Q9 etwa 2600 Kranke beherbergte, von denen 40% (der
chronischen Fälle) in Landwirtschaft und in Werkstätten beschäftigt
waren, finde ich in einem neueren Reisebericht die bestimmte Angabe,
daß eine Entlohnung nicht stattfinde a ).
In Belgien werden die Arbeiten der Kranken (nach Pandy,
Irrenfürsorge in Europa, S. 270) durchschnittlich mit 1 Frank pro Kopf
und Monat honoriert.
In Bi ce tre wurde die Arbeit der 438 Kinder im Jahre 1902
auf 18 786 Frank geschätzt (ohne Gärtnerei). Hiervon wurden die Löhne
der Meister, 4 % Zinsen des in der Werkstatt investierten Kapitals und
die Prämie für die Kinder bestritten, letztere nur mit 1560 Frank berechnet.
Ein Rest von 2219 Frank wurde zur Verminderung der Anstaltsausgaben
verwendet *).
Nach einer Notiz bei Pandy (S. 327) betrug die Einnahme in 42
französischen Anstalten aus der Arbeit der Kranken und der Ökonomie
im Jahre 1874 etwa 2 Millionen Franks (2,4—34,3% der Gesamteinnahme).
1 ) Journal of ment. Science Juli 1900, ref. Psyrh. Wschr. Jahrg. 2,S. 249.
2 ) Dr. Hockauf , Ein Besuch in Ewell Long Grove und Hanwell.
Psych. Wschr. 1909, S. 167.
3 ) Nach Pandy , S. 403.
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Arbeitsentlohnung.
139
ln Mauer-Oehling Hießt der Verdienst der arbeitenden
Kranken in eine Arbeitskasse, aus der Privatkleider, Unterstützungen
für Angehörige, Ausflüge, Prämien usw. bezahlt werden 1 * ).
D änemark gibt, wie Pandy *) erwähnt, Besoldung an arbeitende
Kranke, in Schweden beträgt das Arbeitsverdienst 5, 10—20 Öre
pro Tag. Auch in norwegischen Anstalten findet eine Arbeits¬
belohnung statt.
Die Frage der Entlohnung Geisteskranker, die nicht neu ist, da
dieselbe bereits, wie Bresler erwähnt 3 4 * * ), im Jahre 1827 von Esquirol
angeregt wurde, ist auch in Deutschland neuerdings wieder diskutiert
worden, ohne jedoch, wie ich glaube, das Interesse bereits gefunden zu
haben, das sie verdient. Illenau und Dösen zahlen Arbeitsentlohnung,
eine Reihe Anstalten haben das System mehr oder weniger modifiziert,
wie ja meine obige Übersicht nachweist; allgemeinere Einführung hat die
Arbeitsgeldentlohnung an deutschen Anstalten, trotz der neuerlichen
Fürsprachen von Fischer*), Bresler*) und Dees*), nicht gefunden,
nachdem Paetz bereits 1893 7 ) die Arbeitsentlohnung in besonderer Form
für Altscherbitz eingeführt hatte. Während an der ebengenannten Anstalt
Vergünstigungen in der Kost aus dem Beköstigungstitel genommen
werden, wird aus Arbeitsverdienstanteilen, die pro Kopf 3% Pf- betragen
und von den einzelnen Arbeitsressorts, Landwirtschaft usw. erstattet
werden, ein Fond gebildet, aus dem Zigarren, Tabak, Vergnügungen,
Taschengeld bestritten wird. Pro Kopf und Tag werden 25 Pf. Arbeits¬
verdienst angenommen und davon 15 % (eben 3% Pf.) zur Arbeitsverdienst -
kasse abgeführt. In derselben Weise ist die Arbeitsentlohnung heut an
den anderen sächsischen Anstalten geregelt. An den Berliner An¬
stalten werden, wie sich aus den Jahresberichten ersehen läßt, die Arbeits¬
tage (ä 7 Stunden) bei den Männern meist mit 50 Pf., bei den Frauen
mit 25 Pf. berechnet. So berechnete Dalldorf 1906 bei etwa 1200 Kranken
22 370 M. Arbeitsverdienst. Es bekommen davon die Kranken im Monat
etwa für 50 Pf. Kleinigkeiten gekauft.
Besondere Arbeitsentlohnung an Anstalten mit Verbrecheradnexen
findet, soweit ich feststellen konnte, gar nicht oder nur in derselben Weise
durch Zulage oder gelegentliche Geschenke, auch in bar, statt. Nur in
Düren wird die Leistung geschätzt oder bis zu 8 Pf. pro Tag dafür ver¬
gütet.
1 ) Nach Pandy S. 403.
-) a. a. O. S. 9.
*) Psych. Wochenschrift Bd. X S. 256.
4 ) Fischer, Wirtschaftl. Zeitfragen (München 1901) S. 26 ff.
s ) Ausgewählte Kap. der Verwaltung öffentl. Irrenanstalten S. 7 «.
•) Dees, diese Zeitschr. Bd. 68 H. I.
’) Paetz, Kolonis. Geisteskranker S. 227.
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140
Klinke,
Ich komme nun zu den Autoren, die sich in letzter Zeit* mit der
Frage der Arbeitsentlohnung beschäftigt haben. Bresler, den ich bereits
zitierte, weist in seinem zusammenfassenden Bericht über den gegen¬
wärtigen Stand des Irrenwesens *) auf Fischers Jahresbericht hin. Danach
hatte die Anstalt Wiesloch 1907 einen Höchstbestand von 450 Patienten.
Der Prozentsatz der beschäftigten männlichen Kranken betrug im Durch -
schnitt 51%; 24% konnte man als selbständige brauchbare Arbeiter
bezeichnen. Den Wert der Arbeit berechnet Fischer auf 24 753 M. pro
Jahr. Werden für Kostaufbesserungen, Belohnungen und Geschenke
12 490 M. dagegen gerechnet, so bleiben noch 12 263 M. übrig. Fischer
befürwortet sehr eine Erhöhung der Vergünstigungen und Arbeitsent--
lohnungen für die arbeitenden Kranken.
In kurzer Weise äußert sich Beyer über die Arbeitsbewertung *).
In ausführlicher Weise hat sich Fischer mit demselben Thema 3 )
bereits 1901 beschäftigt. Nach dem Sprichwort, daß jeder seines Lohnes
wert sei, tritt er, unter Hinweis auf die Gefangenenentlohnung lebhaft
für Arbeitsentlohnung der Geisteskranken ein. Und zwar verlangt er
eine Entlohnung nach dem vollen Werte. Dann soll % des wirklichen
Arbeitsverdienstes nach den wöchentlichen oder monatlichen Rechnungs¬
abschlüssen dem Anstaltsfond zufließen, aus dem allgemeine Veranstal¬
tungen, Feste usw. bestritten werden. Diese Beträge sollen aber den
genannten Fond nicht allein bilden, derselbe vielmehr noch aus öffent¬
lichen (staatlichen) Mitteln ergänzt werden. Das zweite Viertel des Arbeits¬
verdienstes soll nach Fischers Vorschlägen der Landesvereinskasse (Hilfs¬
kasse) zufließen, und die letzten zwei Viertel sollen den Kranken selbst
zufallen. Dieses Geld möge man nicht dem Kranken übergeben, sondern
von der Anstaltskasse verwalten lassen, für jeden Arbeiter getrennt.
Davon kann er nun seine Wünsche bestreiten, Geld seinen Angehörigen
zuweisen usw. Auch Dees *), der für Gabersee eine Gutsrente von durch¬
schnittlich 25 000 M. in den letzten 5 Jahren berechnet, tritt dafür ein,
daß das Geld den Kranken, die es verdienen, zukommen soll. In Gabersee
wird das Geld bisher als Anstaltsmittel betrachtet, und um die durch die
Kranken verdiente Summe wird dann der Kreiszuschuß reduziert. Nun
aber macht Dees, dem es nicht angängig scheint, die arbeitenden Pfleg¬
linge als Lohnarbeiter zu betrachten, den Vorschlag, die gewonnenen
Beträge für Hilfsvereine, für Freiplätze und zuletzt für entlassene, noch
unter Kontrolle der Anstalt stehende Pfleglinge (also wohl für Beurlaubte)
zu verwenden.
*) Bresler, Internationaler Kongreß für Irrenfürsorge Wien 1908.
Psych. Zeitschr. 1908, S. 258.
2 ) Beyer, Bestrebungen zur Reform des Irrenwesens 1912, S. 100.
3 ) Fischer, Wirtschaftliche Zeitfragen auf dem Gebiet der Irren-
fürsorge 1901, S. 26 ff.
4 ) Dees, diese Zeitschr. Bd. 68, H. 1, S. 123.
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Arbeitsentlohnung.
141
Im Anschluß an die obigen Mitteilungen Fischers finde ich bei
Bresler 1 ) darüber noch folgende beachtenswerte Einzelheiten angegeben.
Fischer rechnet auf drei Patienten durchschnittlich einen Normal -
arbeiter und bewertet die Arbeitsstunde bei den Männern mit 35 Pf.,
bei den Frauen mit 23 Pf. Für 1908 wurde berechnet:
3o männliche Arbeiter mit 297 Arbeitstagen zu je 6 Stunden =
53 460 Arbeitsstunden. 18711 M.
5 weibliche Arbeiter mit 80 Arbeitstagen ä 5% Stunden =
2200 Stunden ä 23 Pf. 506 ,,
19 217 M.
Die Arbeiten in den Gewerben und der Hauswirtschaft wurde
berechnet auf . 9 000 M.
Mithin ergab sich ein Arbeitswert im ganzen von. 28 217 ..
Dagegen wurde ausgegeben zur Kostaufbesserung. 11710 ,,
Für Belohnungen und Geschenke . 4 719 „
16 429 Bl.
In Altscherbitz wurde der Wert der Arbeit berechnet:
1902 1903 1904 1905 1906 1907
zu 29 427,25 M. 30 099,75 M. 32 674 M. 33 706,50 M. 39 082 M. 43 483 M.
Es wurde dann jährlich durchschnittlich gegen 7000 M. an die Ar¬
beitsverdienstkasse als Verdienstanteil gezahlt, und zwar trug die Guts¬
verwaltung daran in den Jahren 1902 und 1903 etwa 1000 M.
Entsprechend den eben gemachten Berechnungen von Fischer
und Paetz prüfte ich den Wert der Arbeit nach dem Arbeiterstande
vom 30. Mai 1911. Damals waren in der Anstalt Lublinitz 492 Männer
und 344 Frauen. Die Zahl der beschäftigten männlichen Kranken
betrug an dem genannten Tage 254, die der weiblichen beschäftigten
Kranken 138. Danach ergibt sich nach der Fischerschen Berechnung
pro Jahr ein Arbeitswert von 57 703 M., wovon die Hälfte mit etwa
29 000 M. den Kranken zustehen würde. Führe ich die Berechnung
nach Paetz aus, indem ich 300 Arbeitstage ä 25 Ff. ansetze, dann
«gibt sich eine Arbeitsbewertung von 29 400 M., mithin etwa eben¬
soviel, als nach der Bechnung Fischers. Zu berücksichtigen ist aber,
daß in Altscherbitz nur 15% dieser Summe, also 4410 M., als wirk¬
licher Arbeitsverdienst den Kranken gutgerechnet werden, d. h. pro
Kopf bei angenommenen 400 Arbeitern im Jahre 10 M., während
in Schlesien gegenwärtig pro Kopf und Jahr aus dem Dispositions¬
fond 6,50 M., aus dem Titel „Kostzulagen für Arbeiter, Stärkungs-
1 ) Bresler, Ausgewählte Kapitel der Verwaltung, S. 75.
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142 Klinke,
mittel usw.“ 9 M. pro Kopf etatsmäßig angenommen sind, mithin
mehr 5,50 M. x )
Will man die Arbeitsbewertung genau feststellen, dann ist selbst¬
verständlich nicht nur eine Verteilung der Arbeitsleistung nach den
einzelnen Arbeitsgebieten (Landwirtschaft, Garten, Schuhmacher.
Schneider, Wäschereinigung, Maurer, Hausarbeiter usw.) nötig, e*
müssen auch die Arbeiter nach ihren Qualitäten in zwei oder drei
Kategorien zusammengestellt und entsprechend ihren verschiedener
Leistungen bewertet werden.
Bei der Verteilung der oben für unsere Arbeiter genannten Total
summen entfallen anteilweise auf das Gut und die Gartenarbeiter
13 275 M., auf denBekleidungstitel (Arbeit der Schuhmacher, Schneider.
Weber, der Nähterinnen und Strickerinnen) 7725 M., auf die Be
reinigungsarbeiten (Anteil der Wäscherinnen, Hausbereiniger) 5023 K.
auf die Bauarbeiter (Schlosser, Maurer, Tischler) 900 M., auf dir
Frauen in der Küche und Gemüseputzküche 2100 M. Bei insgearm
392 Arbeitern würde bei einer Arbeitsbewertung von 29 OOO M. sai
einen Arbeiter 76 M. und bei einem Arbeitsanteil von 15% (nach
Altscherbitzer Muster) 10,4 M. fallen oder pro Arbeitstag 3,04 PI.'
bzw. 25,3 Pf.
Wir sehen also, daß sich selbst bei niederer Bewertung der Einzel-
leistung eine ganz erhebliche Summe bewerteter Arbeit ergibt, daß
aber der Arbeitsverdienst, ob wir nun nach Fischers oder Paetzs Vor¬
gang rechnen, kein glänzender für den einzelnen Kranken ist. Und
doch wird niemand leugnen können, daß die Arbeitsleistung einer
ganzen Anzahl von Kranken eine ganz erhebliche ist, ja, daß sie io
einzelnen Fällen der Arbeitsleistung Gesunder nahekommt. In unserem
Anstaltsbetriebe ist nur zu berücksichtigen, daß im allgemeinen
Arbeitszeit nicht eine so lange ist wie bei Gesunden und durchschnitt¬
lich 5—6 Stunden pro Tag beträgt. Mit Rücksicht auf die verschiedene
Qualität der arbeitenden Kranken bleibt meines Erachtens nur übrig,
wenn man die Einzelleistung richtig einschätzen will, die Arbeiter
in zwei oder drei Klassen einzuteilen und dementsprechend auch die
1 ) Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Dispositionsfond auch
für nichtbeschäftigte Kranke, die Kostzulagen auch für nicht arbeitende
Kranke in Frage kommen. Mithin erhöht sich der Satz für den einzelnen
Arbeiter noch fast auf das Doppelte.
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144
Klinke,
durchschnittlich auf 7 y t Pf. geschätzt. Heute zahlt man hier den land -
wirtschaftlichen Arbeitern pro Tag 1,70—2,00 M. für Männer, für weib¬
liche Arbeitskräfte 1,10 M., also 40—50 % mehr. Wollte man aber die Arbeit
der in der Landwirtschaft tätigen Kranken in ähnlicher Steigerung auf
10—20 Pf., durchschnittlich auf 15 Pf. einschätzen, so würde das sicher
bei den meisten Kranken, die im Sommer von 6 Yt —11 Uhr vormittags,
nachmittags von %2—6 Uhr (mit 2 x y 2 Stunde Frühstückspause)
tätig sind, zu niedrig sein. Man wird vielmehr die besten Kräfte heute
etwa auf 1 M., die mindertüchtigen auf 70 Pf., die am wenigsten geschickten
immer noch auf 50 Pf. täglichen Arbeitsverdienst einschätzen können.
Ähnlich verschieden, aber sicher meist über dem allgemeinen bisher üblichen
niedrigen Durchschnitt von 15—25—50 Pf. pro Tag bei den Männern,
25 Pf. bei den Frauen, liegen die Verhältnisse heut bei den im Garten,
in den Handwerksstuben, in Küche und Waschküche beschäftigten Pfleg¬
lingen. Frauen, die vormittags und nachmittags Kartoffeln schälen und
Gemüse zurechtmachen oder aufwaschen, haben meiner Schätzung nach
mindestens einen Arbeitsverdienst von 50 Pf., einzelne sogar werden auf
1 M. Verdienst geschätzt werden müssen. Frauen in Gartenarbeit haben,
wie ich annehmen will, einen täglichen Arbeitsverdienst von 50 Pf. bis 1 M.
Männer müßten auf 50 Pf. bis 1,50 M. eingeschätzt werden. Handwerker,
z. B. Schuhmacher und Schneider, verdienen durch Flicken, Ausbessern,
Besohlen, Nähen neuer Garderoben 50 Pf. bis 1,50 M. bis 2,50 M.; Schuh¬
macher, die fleißig besohlen, könnten es gar bis auf 3 M. und mehr Ver¬
dienst bringen. Die Arbeit geschickter Tischler, Korbmacher, Sattler,
Ofensetzer, wie man solche zeitweise unter den Pfleglingen findet —
dieselben arbeiten oft unverdrossen viele Jahre in der Anstalt —, kann
ebenfalls viel höher eingeschätzt werden, als mit 50 Pf., welchen Satz
man durchschnittlich z. B. in Berlin für die Arbeit männlicher Kranken
einsetzt.
Was hat nun der fleißige, geschickte Kranke von seiner Arbeit ?
Ebensowenig wie der minder fleißige und wenig befähigte Pflegling, ja
nicht viel mehr als alle die anderen Kranken, die sich nicht beschäftigen
wollen oder nicht beschäftigen können. Es wird freilich den arbeitenden
Kranken täglich ein Stück Brot zum zweiten Frühstück gegeben. Nach¬
mittags wieder Brot und Kaffee, dann zeitweise Zigarren, Tabak, Obst,
manchmal etwas Wurst, Speck, Käse, man läßt die Arbeiter Sonntags
Spaziergänge machen, wobei sie in ein Gasthaus einkehren und sich amü¬
sieren, man berücksichtigt die Arbeiter in erster Reihe beim Erntefest
und bei der Einbescherung, Geld bekommen sie aber nicht zur Verfügung
und sind nicht in der Lage, ihrer zu Hause notleidenden Familie etwas
zukommen zu lassen. Und doch ersetzen manche Kranke die Arbeit
gesunder Leute. Da haben wir z. B. seit Jahren zwei Kranke auf*dem
Gute als Pferdeknechte. Sie gehen frühzeitig ebenso wie die gesunden
Pferdeburschen in den Stall, füttern die Pferde, dann sind sie den ganzen
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Arbeitsentlohnung.
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Tag früh und nachmittags auf dem Felde oder sonst mit dem Gespann
tätig. Für die Pferdeburschen wird täglich 1,70 M. bezahlt. Die Kranken
sind bei dem I. Schaffer in Familienpflege und kosten dort pro Tag 1 M.
Dazu kommt noch für Bekleidung, Bereinigung und Heilmittel ein monat¬
licher Satz von 3 M. in Berechnung auf die Ausgaben, mithin kosten die
Kranken pro Tag je 1,10 M. Als Beköstigungszulage (von kleinen, ge¬
legen tlichen Geschenken abgesehen) erhalten sie pro Tag je 100 g Wurst =
9 Pf. und Tabak für 10 Pf., mithin beträgt die Ausgabe insgesamt pro
Kranken etwa 1,30 M., so daß noch immer 40 Pf. für die Anstalt übrig
bleiben. Läßt man die Ausgabe für Beköstigung, Kleidung usw. außer
Betracht (es muß doch auch für nicht beschäftigte Kranke bezahlt werden),
dann würde den Kranken sogar noch 1,50 M. als Arbeitsverdienst zur
Verfügung stehen. Von der weiteren Ersparnis, die die Anstalt bei der
Familienpflege gegenüber der Verpflegung in der Anstalt selbst erzielt,
will ich nur anführen, daß diese im letzten Jahr 138,40 M. pro Kopf, im
ganzen bei 85 Familienpfleglingen also 11 764 M. betragen hat.
Rechnerisch erscheint der Arbeitsverdienst nirgends, nur sind natür¬
lich bei Nichtberücksichtigung der durch die Krankenarbeit in allen
einzelnen Gebieten der Beschäftigung, bei der Landwirtschaft, Garten,
Bereinigung, Bekleidung, Bau usw. erzielten Ersparnisse die Einnahmen
in der Landwirtschaft usw. um so größer bzw. die Ausgaben um so geringer.
Die Summen, die für Kostzulagen, Vergnügungen, Geschenke, Zigarren
im Etat vorgesehen sind, müssen allerdings berücksichtigt werden, sie sind
aber durchschnittlich sehr niedrig, und vor allen Dingen fehlt uns die
Möglichkeit, die nach ihrem Werte abgeschätzte Arbeit von Fäll zu Fall
in bar zu belohnen. Für die große Masse der Pfleglinge, z. B. für Leute,
die nur Hausbereinigung ausführen oder Federn reißen, mögen die üblichen
Kostzulagen in Brot und Vesperkaffee genügen; die übrigen Leute, die
im Garten usw. und in den Werkstätten arbeiten, müßten jeder ihr be¬
sonderes Konto haben und über ihre Mittel, die sie in der Arbeit sich
verdienen, verfügen können. In dieser Art, sich selbst seine Lage oder die
Lage der Angehörigen durch seine Arbeit zu verbessern, wird in vielen
Fällen ein mächtiger Ansporn zur Tätigkeit liegen, und in einzelnen Zweigen,
z. B. bei Weberei, Zigarrenfabrikation usw., wo nach Stücken und Metern
gerechnet werden kann, läßt sich durch Einführung eines Pensums und
überpensuras ein weiterer Ansporn zur Arbeit finden.
Gegenwärtig geht alles mehr weniger schematisch zu, indem eben
Kost- und Tabakzulagen gegeben werden. Dabei läßt sich wohl etwas,
aber nicht in richtiger Weise die Qualität der geleisteten Arbeit belohnen.
Bei Einführung der buchmäßig nachgewiesenen Arbeit würden
die Ausgabetitel für Geschenke und Zulagen fortfallen können (natür¬
lich müssen Mittel vorgesehen bleiben für Stärkungszulagen an
Fiebernde oder sonst elende Kranke); der Wert der geleisteten Arbeiten
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXi. 1.
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146
Klinke,
muß bei den einzelnen Titeln in Einnahme, der ausgezahlte oder sonst
verrechnete Arbeitsverdienst in Ausgabe ebenfalls bei den einzelnen
Titeln nachgewiesen werden. In Spezialkonten, die der Oberpfleger
für jeden Kranken ebenso führt, wie er jetzt schon die Konten für
Eigentumsgelder von Kranken führt, müßten die Arbeiten der ver¬
schiedenen, nach bestimmten Qualitäten gruppierten oder je nach
ihrer Leistungsfähigkeit eingeschätzten Arbeiter wochenweise nach¬
gewiesen werden. Dann erfolgt nach dem zu Buche stehenden Gut¬
haben des einzelnen Kranken die Verwendung nach seinen Wünschen
und Mitteln entweder für Wurst, Tabak, oder er spart für sich selbst
bis zum Termine seiner Entlassung, oder er schickt, wenn sein Gut¬
haben eine gewisse Höhe erreicht hat, davon seinen Angehörigen.
Wird jetzt z. B. ein Säufer, der einen kurzen deliranten Zustand
durchgemacht hat, in die Anstalt gebracht und soll hier zu seiner
Heilung wenigstens ein Jahr bleiben, wie kann er Ruhe finden, wenn
er seine Familie in Sorge und Not gelassen hat? Stand ihm früher
eine Rente zu, dann hat in vielen Fällen die Familie nichts davon,
er selbst kann darüber nicht verfügen, denn entweder die Ortsbehörde
oder die Provinzialbehörde zieht die Rente aut die Verpflegungskosten
ein. Dann verlangt nicht nur der Kranke, der in der Anstalt umsonst
nicht arbeiten will, hinaus, sondern auch die Angehörigen ruhen nicht,
bis sie die Entlassung wieder durchgesetzt haben.
Sollte wirklich der Ortsarmenverband neben dem auf ihn fallenden
Teil der Verpflegungskosten noch der Familie eine Unterstützung
zahlen, dann fällt letztere meist so niedrig aus, daß die Not dadurch
kaum gelindert wird. Der Schlesische Hilfsverein für Geisteskranke
gibt seine Unterstützungen leider nur an entlassene Kranke, niemals
aber an die Angehörigen. Also auch von dieser Seite gibt es keine
Hilfe. Schon aus rein ärztlichen Gründen, d. h. um dem Kranken
einen ruhigen Aufenthalt in der Anstalt zu ermöglichen, ist daher
die Frage des Arbeitsverdienstes eine vollauf berechtigte, sie ist aber
in jedem Fall berechtigt, denn jeder Arbeiter ist eben, wie es sprich¬
wörtlich heißt, und worauf auch Fischer hinweist, seines Lohnes wert.
Der Verdienst, den die arbeitenden Kranken durch ihre Arbeit
erzielen, muß ihnen allein zur Verfügung stehen. Deshalb bin ich
mit den Vorschlägen, einen Teil des Arbeitsverdienstes für wissen¬
schaftliche Zwecke oder für den Hilfsverein zu bestimmen, nicht
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Arbeitsentlohnung.
147
einverstanden. Der Hilfsverein muß für die entlassenen Kranken
sorgen und muß seine Mittel aus Beiträgen der Kommunen oder
freiwilligen Spenden geistig Gesunder herbeischaffen. Eine Ansamm¬
lung von Verdienstanteilen der Arbeit der Kranken zu anderen, z. B.
wissenschaftlichen Zwecken, erscheint mir noch weniger diskutabel.
Die Schwierigkeit der Lösung der Frage, die sich schon aus den
mancherlei zur Beseitigung der empfundenen Mißstände gemachten
Vorschläge ergibt, liegt meines Erachtens in erster Reihe in der richtigen
Abschätzung des Arbeitsverdienstes.
Wenn Fischer die Arbeitsstunde mit 35 Pf. bei den Männer annimmt,
so ist dies offenbar wenigstens nach der Arbeitsbewertung hier bei uns
im Osten zu hoch. Die Schätzung muß ganz nach lokalen Verhältnissen,
getrennt nach der Arbeitslöhnung für Landwirtschaft und den Hand-
werkslöhnen, erfolgen. Selbst wenn man, wie Fischer es schließlich be¬
rechnet, von den 35 Pf. pro Stunde nur die Hälfte in Ansatz bringt,
ergibt das bei 6 Arbeitsstunden 6 x 17,5 = 105 Pf., also über 1 M. pro Tag.
ich habe allerdings bereits zugegeben, daß ein Teil der kranken Arbeiter
in der Anstalt mit ihrer Arbeit so hoch einzuschätzen ist, ja, daß zum Teil
sogar höhere Sätze angesetzt werden könnten, sei es bei längerer Arbeits¬
zeit oder besserer Leistung, im Durchschnitt scheint mir 1 M. pro Tag
für männliche Kranke doch zu hoch bemessen, wenn man berücksichtigt,
daß der Kranke fast stets nur unter Aufsicht arbeitet und bereits Wohnung,
Kleidung und Beköstigung erhält. Es bleibt nichts übrig, als die Kranken,
wie auch verschiedene Autoren bereits vorgeschlagen haben, in mehrere
Arbeitsklassen zu teilen, obwohl dadurch die Verrechnung des Arbeits¬
verdienstes, die einzelne Behörden als besonders zeitraubend fürchten,
etwas erschwert werden mag. Die Sache vereinfacht sich hinwieder da¬
durch, daß die niedrigste Klasse einmal die meisten Arbeiter umfassen
wird, und andererseits dadurch, daß diese Arbeiter wegen ihrer Stumpf¬
heit mit besonderen Wünschen nicht hervortreten, mithin nach der Zahl
der verzeichneten Arbeitstage nach Schema mit Wurst, Zigarren, Tabak
oder kleinen Geschenken bedacht werden können, wie dies in der Regel
jetzt schon bei den meisten oder allen Arbeitern üblich ist. Wenn man
für die unterste Kategorie 40—50 Pf. pro Tag als Arbeitswert ansetzt
soll den Kranken als Prämie davon zustehen), würde.dies hoch genug
sein, ja, man könnte selbst mit 25 Pf. pro Tag auszukommen suchen.
Die zweite Klasse Arbeiter, meist Handwerker, wären dann mit 0,75—1 M.
pro Tag einzuschätzen (ebenfalls mit 25% Prämie), und einzelne Kranke,
die besonders tüchtig sind, könnten ein noch höheres Verdienst für sich
in Anspruch nehmen. Bei äll diesen Patienten, deren Arbeit von Fall zu
Fall in verschiedenen Abstufungen abgeschätzt werden muß, ist genaue
Spezialbuchung notwendig, in derselben Weise, wie dies bereits bei den
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148
Klinke,
Kranken geschieht,' die Eigentumsgelder zur Verfügung haben. Gerade
diese Arbeiter besserer Qualität werden durch die Möglichkeit, ihre Lage
durch Arbeit zu verbessern, zur Tätigkeit angespornt werden — nur bei
einzelnen läge die Befürchtung nahe, sie könnten sich zeitweise, wenn
ihr Arbeitsverdienst eine gewisse Höhe erreicht hat, so lange auf die faule
Seite legen, bis ihr Geld wieder verbraucht ist. Hier ist also Vorsicht am
Platze und vermehrte Aufsicht und Arbeit erforderlich, vielleicht hilft
in solchen Fällen einfach die Sperrung des Arbeitsverdienstes, und es
werden die Vorzüge des Systems alle etwaigen Nachteile, wie ich glaube,
sicher aufwiegen. Man darf auch nicht vergessen, daß die bisher pro Kopf
der Direktion zur Verfügung stehende Summe für Geschenke usw. fort¬
fallen oder erheblich eingeschränkt werden könnte, man wird deshalb-
nicht auf jedes Anstaltsvergnügen verzichten, da aber an solchen Festen
schließlich auch manche Nichtarbeiter teilnehmen, wird man allgemein
für solche Vergnügungen eine Geldsumme pro Jahr aussetzen. Diese
kann bescheiden sein, und man wird es z. B. nicht nötig haben, für jeden
Kranken, wie dies in einzelnen Anstalten geschieht, zum Weihnachtsfeste
pro Kopf 2 M. auszugeben. Man kann auch auf billigere Weise den Kranken
eine Freude machen, und derjenige Kranke, der Geld hat oder sich von
seinem Verdienst noch etwas erübrigt, mag sich davon Geschenke besorgen
lassen. Ich bin aber keinesfalls dafür, aus dem Arbeitsverdienst gewisse-
Prozente in eine Vergnügungskasse fließen zu lassen. In ähnlicher Weise,
wie für allgemeine Vergnügungen, muß auch allgemein für diejenigen nicht¬
arbeitenden Kranken, die aus Rücksicht auf ihren Körperzustand Stärkungs¬
mittel bedürfen, eine Geldsumme im Haushaltsplan ausgeworfen werden.
Die Frage, ob der Kranke mit dem für seine Arbeit ausgeworfenen
Barverdienst oder der festgesetzten Arbeitsprämie zufrieden sein
wird, kann mit wenigen Ausnahmen wohl als nebensächlich betrachtet
werden. Meist wird der Betreffende doch lieber einen kleinen Verdienst,
wie er festgesetzt ist, als gar nichts haben wollen.
Wesentlich ist dagegen die Frage, wie hoch sich die Kosten der
Arbeitsentlohnung überhaupt stellen werden. In erster Reihe kommt
natürlich in Betracht, welche Prämiensätze man zahlen will, und
zweitens, wieviel Arbeiter überhaupt und wieviel in jeder Klasse
vorhanden sind. Im wesentlichen ist die ganze Frage ein Buchmanöver,
indem in Einnahme die Arbeitsbewertung aller Arten von geleisteter
Krankenarbeit nachgewiesen wird, wogegen die einzelnen Artpn der
Arbeitsentlohnung bei den verschiedenen Ausgabetiteln gebucht
werden. Die bisherigen Ausgabetitel für Belohnung in Naturalien
oder Zigarren, Geschenke usw. werden, wie bereits erwähnt, entsprechend
gekürzt werden können.
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1& 18t V«ä&r<iH« »\m-ki«ute 4tir der Arbeit *ju.I d<r
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*dfi.ö^ 'i*9?ä,feö rt*uß eifrnnd die kürzere ÄJA»eitssi<it tUn Verhältnis
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kraut' <&» fött&fafttiig' rrn Kwt Klind'uag und Jk*e'migun»,
■ilh' MifiiifcM d*'r AuftdeHisflihrttng. ärfitifeheu Behandlung,
und r.n.tv’t’kaituiiif der (l^b|Wi|e tisw» Allerdings ist dfc
‘ihr ^eyft*»ltnri^kusr.e'U UPW; nicht, ganz gerwlitfeiiigt.
ttvfftlf föt ilte nk3lt arbeitendem, Kranken auFgfdymghi
y$$>n ntitesdii. Aut d*r anderen SeHe wdedef '• :
der geleöteton Arbeit ein ganz falsdnss Bild der Aastiutiüj-
u m*hw. indem i, B. die Landvrirtfte-haft riesige Rrtpä^e bucht,
•4n)e die Atrsgaben Für die Arbeiter zu l^üeksi^ht-igen. "Mind^em
.'tu Teil der l'bersdui,->.-<.• edel de.« Ersparnisse vtezsdüer Har-iief
- ••.: herauszijkumiiieu; babe ieu iüteb rrktuidigL
und AfbeirdiaU-HU die r-bGe ^Undi-atM .-,v>r• i
!';•■.•« |J,d sich Ihr die t>i’8ngm*s*> f«dgr«de.s ergelip-n <i
■ ■'' Ti'r:'‘ Arbtdf^jehnö und JPrxdys der Fabrikfiift «fftit def
•.•■•*• 4,f/yst, tdiiwKj.- <ß» : .Afl>m«Jie|yl4nui«gon. E& i4»d auih i« 4 »ii v '
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t»eUä^mitt»d; . d<^h'/^i^d6gsa
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150
Klinke,
wissen Höhe ausgezahlt, der Rest der Heimatsbehörde oder einem Ver¬
trauensmann übersandt.
Die Arbeitsbelohnung beträgt meist %— 7» der Arbeitsbewertung.
Dabei ist (im Gegensatz zu unseren Kranken) zu bemerken, daß zweites
Frühstück und sogenannter VesperkalTee nicht gewährt werden.
Von den Arbeitslöhnen (bei Arbeiten für Fremde) werden abgezogen:
die Aufseherkosten, die Verpflegungszulagen für die Unterbeamten, die
die Aufsicht führen, Invalidenmarkenbeiträge.
Nach den Grundsätzen für die Berechnung und Verteilung des
•Arbeitsverdienstes der Gefangenen in den Gefängnissen der Justizver¬
waltung vom 31. März 1904 wird der Lohntarif für die geleisteten Arbeiten
jedes Jahr neu festgesetzt unter Berücksichtigung etwaiger Minder¬
leistungen. Dies gilt für Unternehmerarbeiten.
Bei Arbeiten für die Justizverwaltung beträgt der Höchstwert
der Löhne pro Kopf und Tag 60 Pf. Die höchsten Sätze kommen für
Handwerker und technische Arbeiter, die Sätze von 40 Pf. abwärts für
andere Arbeiter, auch für weibliche Gefangene in Ansatz, für Federreißen,
Hausarbeit usw. werden niedrige Sätze bewilligt. Bei Arbeiten an Fremde
wird neben dem Verkaufspreis ein als Arbeitslohn zu vereinnahmender
Zuschlag erhoben. Der Reinertrag des Arbeitsverdienstes (nach Abzug
der Kosten für die Tagegelder der Aufseher, Zehrkosten der Unterbeamten,
Invalidenbeiträge) steht zu y 4 —7« den Gefangenen als Arbeitsbelohnung
zu, 7 m bleibt für Remunerationen am Jahresschluß, der Rest fließt in
Staatsfonds.
Die Arbeitsbelohnung kann aber durch Verpflegungszulagen um
7i„ durch Beaufsichtigung bei Arbeiten außerhalb noch um a / 10 gekürzt
werden.
Erst von dem nun verbleibenden Arbeitsverdienst wird pro Tag
y 4 gutgeschrieben, jedoch darf, wie erwähnt, der Satz von 30 Pf. pro Tag
mit seltenen Ausnahmen nicht überschritten werden.
Der Gesamtbetrag der Arbeitsbelohnungen darf 7s des reinen Arbeits¬
verdienstes, der in dem laufenden Rechnungsjahr bei den betreffenden
Gefängnissen aufkommt, nicht übersteigen.
Nimmt man nun z. B. für Gartenarbeiter einen Tagelohn von 1 M.,
für Erntearbeiten von 1,40 M., für Erdarbeiter von 40 Pf., für Tischler
von 60—80—125 Pf. an, so ergibt sich, nach Berücksichtigung der ver¬
schiedenen Abzüge, eine Arbeitsbelohnung für Gartenarbeiter von 17 Pf.,
für Mäher von 17—25 Pf., für Meliorationsarbeiter 10 Pf., für Tischler usw.
10—25—35 Pf. Für Arbeiten in Küche und im Hause gibt es eine Arbeits¬
belohnung von 5—10 Pf. Für Federreißen 3 Pf. Für das Reißen von
1 kg Federn wird 1 M. Arbeitslohn für Fremde berechnet und eine Tages¬
leistung von 120 g mit 12 Pf. angesetzt.
Man muß berücksichtigen, daß das den Gefangenen über ihre Arbeits-
prämie zustehende Verfügungsrecht sehr eingeschränkt wird dadurch.
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Arbeitsentlohnnng.
151
laß sie nicht täglich oder wöchentlich Wünsche äußern können, wie unsere
Kranken, die an bestimmten Tagen der Woche ihren Einkauf an Tabak,
kVuret usw. besorgen lassen können. Den Gefangenen wird Eßware —
Tabak gibt es überhaupt nicht — nur an Feiertagen, also nur an einigen
Tagen im Jahre besorgt. — Der Rest des Geldes wird bis zur Entlassung
aufgehoben, auch gibt es nur bei längeren Strafen Arbeitsprämie, bei
kurzer Strafe (bis 4 Wochen) fallen die Prämien bei geleisteter Arbeit
fort. Endlich ist zu berücksichtigen, daß in den meisten Fällen den arbeiten¬
den Gefangenen nur drei Mahlzeiten gereicht werden, zweites Frühstück
und Vesper also fortfällt. Auch ist das Essen, das in der Regel nur mit
18—20 Pf. berechnet wird, natürlich viel geringwertiger, als das Essen
in den Anstalten *).
in dem Arbeitshause in Schweidnitz wird den Korrigenden eben¬
falls eine Arbeitsprämie zugebilligt. Dieselbe ist je nach dem Beschäftigungs-
ort verschieden und darf nie den sechsten Teil der baren und ideellen
Arbeitslöhne übersteigen. Diese Prämien sollen in der Regel zur Hälfte
auf Nebengenüsse (Brot, Bier, Käse, Butter, Hering, Wurst, Fleisch,
Schnupftabak und Obst) verwendet werden, jedoch nicht mehr als wöchent¬
lich 50 Pf. und an den drei hohen Festtagen im Jahre je bis zu 1 M. Die
andere Hälfte wird bis zur Entlassung aufgehoben. Diese Arbeitsprämien
Hießen in die sogenannte Extrakasse, bei welcher jeder Häusling sein
Konto hat. Als Strafe kann Sperrung und teilweise Einziehung des Arbeits¬
verdienstes verfügt werden. Allgemein ist zu beachten, daß es sich nicht
um einen Arbeitsverdienst mit Rechtsansprüchen, sondern nur um ein
Geschenk der Provinz handelt.
Die Berücksichtigung niederer Leistungsfähigkeit bei den Arbeiten
unserer Geisteskranken führt dazu, die Arbeiter in drei bis vier ver¬
schiedene Leistungsklassen einzureihen. Man muß dann nach Er¬
mittelung des Arbeitslohnes oder der Arbeitsbewertung die Arbeits-
belohnung mit 25% oder % des Arbeitswertes berechnen, dabei aber
festhalten, daß unsere Kranken, wenn auch einzelne mit besonderen
Wünschen hervortreten, meist damit zufrieden sein werden, wenn
ihnen bestimmte Arbeitszulagen in natura gereicht werden. Wie
hoch man dabei gehen kann, darüber gibt eben die Arbeitsklasse,
in die der Betreffende eingereiht ist, und die Arbeitsliste, die die Einzel-
*) ln der Irrenanstalt Lublinitz kostet die Verpflegung in II. Klasse
'ohne Zulage) gegenwärtig 53 Pf., im hiesigen Gefängnis 18 Pf., trotz
-lassen hört man sehr oft von degenerierten Geisteskranken, das Essen
im Gefängnis oder Zuchthaus sei besser als in der Irrenanstalt. Auch
bezüglich der Arbeitsprämie stellen diese Kranken ganz falsche Be¬
hauptungen auf.
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152
Klinke,
leistung nachweist, ob der Kranke z. B. regelmäßig arbeitet oder
öfter aussetzt, Aufschluß; aus den Arbeitslisten läßt sich dann monat¬
lich bzw. jährlich der Gesamtwert der Arbeiten genau berechnen,
der in Einnahme gestellt wird, während die Arbeitsbelohnung bei den
einzelnen Titeln in Ausgabe kommt, z. B. also Garten- und Feldarbeit
bei der Landwirtschaft, Schuhmacher- und Schneiderarbeit bei der
Bekleidung, ebenso wie Näharbeiten, Tischlerei, bei Kapitel Bau-
und Inventarunterhaltung usw. Die für die Buchung zu erwartende
Mehrarbeit ist nicht so schlimm, daß dadurch die Sache scheitern
könnte. Denn auch heute schon werden doch Arbeitslisten geführt.
Um einen genauen Anhalt zu geben, wie ich mir die Berechnung
der Arbeitsbelohnung für die einzelnen Arbeitsklassen denke, habe ich
folgendes Schema entworfen:
M. A. Monat
No.
Name
Beschäftig.
Klasse
1. 11. III. IV.
Monats tage
1. 2. S. bis 31.
Amahl
d- Tg.
Arbeitsprämie
i. Einz. i. Gans.
Bemerkung
•
!
i
im:
M |
In die monatlich abzuschließende Liste werden die einzelnen Be¬
schäftigungszweige nacheinander aufgeführt, Schneider, Tischler, Maurer,
Weber, Schuhmacher, Sattler, Gartenarbeiter — am besten so, daß die
Arbeiter nach den einzelnen Titeln des Etats, für die sie tätig sind, zu¬
sammengestellt werden, um die späteren Berechnungen zu erleichtern,
wenn man nicht vorzieht, sofort getrennte Listen nach den einzelnen
Beschäftigungsarten oder Titeln der Bekleidung, Beköstigung, Bau usw.
anzulegen. Auch die Einreihung der Pfleglinge in die einzelnen Arbeiter¬
klassen ist nicht schwer, da man doch bald genau die Qualität jedes Ar¬
beiters kennen lernt. Es wird Schneider I., II., III. Klasse geben, ebenso
Schuhmacher, Maurer, Feld- und Gartenarbeiter; Hausarbeiter können
je nach Qualität der Klasse III oder IV zugewiesen werden, während
z. B. Federreißer und Wollezupfer nach Klasse IV gehören.
Und nun die einzelnen Lohnsätze bzw. die Höhe der Arbeitsbelohnung
in den einzelnen Klassen. Hier heißt es genau rechnen, denn für die Ver¬
waltung ist nicht nur die Mehrarbeit in der Buchung ein Punkt, das neue
System abzuweisen (obwohl im Arbeitshause und den Gefängnissen die
Buchung sich ermöglichen läßt), sondern vor allen Dingen die Befürchtung,
daß neue Ausgaben, Mehrausgaben nötig werden. Dies befürchte ich
nicht, denn man hat es ja in der Hand, die Höhe der Prämien jedes Jahr
neu festzusetzen, man hat die Kranken gut in der Kontrolle, gewinnt
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Arbeitsentlohnung.
153
ein mächtiges Mittel zum Arbeitsantrieb namentlich bei den Kriminellen
und darf nicht vergessen, daß die meisten Anstalten doch bereits eine
Arbeitsbelohnung aus dem Dispositionsfond, oder wie sonst der Titel
heißt, in natura bewilligen. Ich verlange also nichts wesentlich Neues,
nur die Art der Berechnung ist anders, es ergibt sich deutlich, welche
Arbeit geleistet ist, die Ausgaben verteilen sich gerechter auf die einzelnen
Titel, denen die Arbeit zugute kommt (was man jetzt gar nicht übersieht),
und die Kranken haben eben, soweit sie dazu fähig sind, über ihre Prä¬
mien freie Verfügung. Ist z. B. ein Kranker Nichtraucher, so kann er an
Stelle des Tabaks, den ein Kranker sich kauft, sich etwas anderes besorgen,
fder das Geld für Kleidung usw. sparen. Jetzt wird meist die Sache
mechanisch abgemacht, manche Kranke wissen sich Vorteile zu verschaffen,
^ ihnen nicht zustehen, andere wieder, die fleißig sind und ihre Familie
*hsußen in Not wissen, können ihr nichts zuwenden, drängen nach Ent-
lassnag oder stellen die Arbeit ein, da sie keine bare Belohnung erhalten,
ftmgegenüber werden die vielen Vorteile, die ich erwähnt habe, dem
Sutern der baren Arbeitsbelohnung zum Siege verhelfen.
Nun nochmals zurück zur Berechnung der Arbeitsprämie der ein¬
ten Arbeitsklassen. Zunächst bei den männlichen Pfleglingen. Man
muß, wie schon erwähnt, zunächst eine Arbeitsliste anlegen und die Pfleg-
kuge je nach ihrer Arbeitsqualität in die einzelnen (drei oder vier Klassen)
«»tragen.
Das Zahlenverhältnis der einzelnen Arbeitsklassen wird Schwan¬
kungen unterliegen. Nehmen wir an, es seien von 450 männlichen Kranken
•15 beschäftigt, dann ergibt eine Zusammenstellung vom Jahre 1912:
Arbeiter IV. Klasse 19%, III. Klasse 16%, II. Klasse 35%, I. Klasse 30%.
fraan ist eine Berechnung des Wertes der geleisteten Arbeit festzusetzen.
Einen Anhalt kann hier das oben mitgeteilte Verfahren in der Strafanstalt
?eben, wonach z. B. für Schuhmacher 40 Pf. bis 1 M., für Tischler eben¬
falls 60 Pf. bis 1 M., für Erntearbeiter etwa 60 Pf. bis 1,20 M., für Meliora-
«onsarbeiter 50—60 Pf. gerechnet werden. Der vierte Teil dieses Arbeits¬
ortes gilt als Arbeitsprämie. Wie wenig freilich die Arbeit von Gefangenen
und Geisteskranken direkt verglichen werden kann (auch die Arbeitszeit
schon sehr verschieden), ergibt folgendes: Beim Federschleißen, das mit
M. pro Kilo bezahlt wird, rechheten die Gefängnisse als Arbeits¬
am (heut ist das Federschleißen in dem hiesigen Gefängnis ganz
Schafft) 120 g pro Tag. Als Arbeitsprämie erhält dafür der Gefangene
8—10 Arbeiter brachten also das Schleißen von 1 kg Federn am
fertig; Geisteskranke würden 30—40 dazu gehören, um dasselbe
^fcitspensum zu bewältigen. Und so auch bei den anderen Arbeiten,
Onn auch Ausnahmen Vorkommen und einzelne gute Arbeiter sich
Vör den anderen auszeichnen. Aber, wie erwähnt, die Arbeitszeit ist
Leblich kürzer. So können bei uns die fleißigsten Weber etwa 3—6 m
pto Tag fertig bekommen, Leute im Arbeitshause 8—10 m.
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154 Klinke,
Einen anderen Berechnungsmodus kann man dadurch zugrunde
legen, daß man den Wect dessen berechnet, was heut bereits den einzelnen
Kranken in natura täglich als Zulage gereicht wird. Man stellt fest, was
y 2 1 Milch, 1 Portion Kaffee, 100 g Wurst, 1 Zigarre, 20 g Rauchtabak
oder Schnupftabak, Preßtabak usw. kosten und kann sagen:
Wert der Arbeit 10 Pf. Arbeitsprämie 2,5—3 Pf. Die IV. Klasse
(Federschleißer, Wollezupfer, Hausbereiniger) erhält täglich Brotzulage
4 Pf., zweimal Nachmittagskaffee 6 Pf., zusammen für 10 Pf.
Wert der Arbeit 25—30 Pf. Arbeitsprämie 6—8 Pf. Die III. Klasse
(Hausarbeiter, einzelne Handwerker, Feld- und Gartenarbeiter) erhält
täglich Brot, täglich KafTee, Sonntags eine Zigarre oder 20 g Rauchtabak.
Wert der Arbeit 45—50 Pf. Arbeitsprämie 11—12,5 Pf. Die II. Klasse
(meist Guts- und Gartenarbeiter, Handwerker, Weber usw.) dasselbe
wie III. Klasse, der Rest der Arbeitsprämie wird gutgeschrieben oder
zweimal Käse, einmal Wurst verabreicht.
Wert der Arbeit 80—100—200 Pf. oder durchschnittlich 142 Pf.
Arbeitsprämie 20- : -25—35,5 Pf. Die I. Klasse erhält Kaffee + Früh¬
stück + Vesperbrot + Tabak + sechsmal 100 g Wurst +11 einfach Bier
oder statt der letztgenannten Kostzulagen entsprechende Gutschrift
auf das Konto.
Man kann berechnen die Kosten von täglich Brotzulage und Vesper-
kaffee (zweimal die Woche) auf 4—10 Pf. Die Kosten von Tabak und
Zigarren (einmal) 2,7 Pf. Die Kosten von einfachem Bier (einmal) 3,5 Pf.
Die Kosten von zweimal Kaffee und einmal Wurst 23,5 Pf. Die Kosten
von sechsmal 100 g Wurst und einer Flasche Bier 102,5 Pf.
Es wird also die Arbeitsprämie bei der Klasse IV und III einfach
durch die sofort gewährte Belohnung in natura abgegolten, wodurch
die Buchung sehr vereinfacht wird. Immerhin ist die Arbeitsliste wert¬
voll, da sie genaue Auskunft über die Arbeit gibt, und die Möglichkeit
gewährt, auch in Klasse IV und III, wenn der Kranke auf Tabak z. B.
verzichtet, eine Barvergütung zur anderweitigenVerfügung gutzuschreiben.
Die arbeitenden Pfleglinge II. und I. Klasse werden, soweit sie stumpf
sind und auf Barentlohnung kein Gewicht legen, ebenfalls in natura ab-
gegolten, sie haben aber, namentlich in Klasse I, die Möglichkeit, sich
ein größeres Barkonto aufzusparen, z. B. können gute Arbeiter im Laufe
des Jahres auf Zulagen in natura verzichten, z. B. nur in der Ernte statt
Geld dafür sofort die Zulage an Wurst usw. erhalten.
Bei den Frauen kann man ebenfalls vier Klassen annehmen,
allgemein aber Arbeitswert und Entlohnung etwas herabsetzen.
Ich nehme an: in IV. Klasse Arbeitswert 10 Pf., Arbeitsbelohnung
0,25 Pf. (dafür zweimal Kaffee und in der Woche Brotzulage); in III. Klasse
Arbeitswert 20 Pf., Arbeitsbelohnung 5 Pf. (täglich Kaffee und Semmel
oder Brot); in II. Klasse Arbeitswert 40 Pf., Arbeitsbelohnung 10 Pf.
(täglich Zulage in natura wie bei Klasse III, der Rest gutgeschrieben
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ArbeitsenÜohnung löö
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?§ff, gute Arln iit r ein Ansporn 7,ur Tätigkeit, gegobei». timt aruKfiT
’ ' ^ird ja Air* Last dadurrii verteil«. 4aß qic.hi i.-in Titel »iiv Ansgah-.
hviii. st.rujf.ro .j«e einzelnen Titel, für die die Arbeit geleistet - wird (>>•
Awgab? im ganzen bleibt Atteiföiifigs unverändert, ■ AW
»-•• t-t'ihtnr. (hhii ka«ii.ärtr.h. ersahen, welche Arbeit.gelebte». wnrtic, uro! di;.
iKÄiöTfi l&bli»Hing: gerade deKfeessersii Arbeiter «thI ditee V.ur vermehrter
'Htigbil Juspornew, Wüdjirrh v ; v»i«»W die Arbeii Im ganzen Af-rfciUbd.-
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liehe der .\riieit.sbewert\iiig und Aibei;tsbejt*h(K»'*x* mag j.**i‘
'»•nit den lokalen Verha|tins9en v«rsciiib.ijej» Ipicfo' iu$$
W mjturrt', \ Hj 5 strn^ULMHu*H» n utugwj? uryiriwn
^vf aber eine größere Berüefcsiebb^ih# der Bäbndbduiuiig \Vfiti|^te»>
'l , c*besser>.[4 Arbeiter aus il^m obini wiederholt atjgefiibrfe tv ßriunlfe geceetd
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!'• tuehr.unser* Anstalten den Arbeitsbetrieb ausbaueii. je
0B( I wannigf<iger di«*’. Arbeitsgebiete der eißZvbien AitefAlten ki*
b-M, Garten, Handwerks-Uitten »sw, werden, imi äf> triebt wird sieb
*wJj da» Bedürfnis narb einer mügUefclt ■’^i;e<Jit«!l;Eet^ohii«Dg. der
Arhpjtfr geltend litftdien Die Angemeinbeit. insbesondere die An
mm ^Trden dadnreb zufriedengestelU, (He Kranken selbst zu-
156
Klinke,
Arbeit angespomt, die Tätigkeit der Anstaltsärzte aber dadurch
nützlich und segenbringend gestaltet Man wird die Kranken viel
sorgfältiger beobachten, um sie in ihrer Arbeitsqualität richtig einzu-
schätzen, man wird sie um ihrer selbst willen und, um ihrer Familie
zu helfen, zur Arbeit anspomen, und für den Arzt wird ein mächtiges
Antriebsmittel zur Einwirkung auf den Kranken gegeben, da er diesem
eine einigermaßen angemessene Belohnung seiner Mühe in Aussicht
stellen kann. Das verdiente Geld soll dem Kranken zur Verfügung
stehen, es sollen nicht Teile davon in die Vergnügungskasse oder
Hilfsvereinskasse fließen, jeder Arbeiter soll seines Lohnes wert sein
und ihn allein genießen, sofern er nicht ganz oder teilweise zugunsten
seiner Familie darauf verzichten will
Das Reglement für die Schlesischen Anstalten (Ausführungsvorschuß
vom 11. April 1895) bestimmt: Der Ertrag der gelieferten Arbeit gehört
der Anstalt.
. In den schlesischen Irrenanstalten wurde bis zum Jahre 1894 ein
ideeller Arbeitsverdienst der Kranken berechnet. Zum Zwecke der Ver¬
einfachung der Rechnungslegung wurde dann die an sich unvollkommene
Berechnungsmethode des ideellen Arbeitsverdienstes fortgelassen. Dieser
Arbeitsverdienst wurde pro Kopf und Jahr mit 6—14,5 M. pro Kopf an¬
genommen, d. h. also bei 300 Arbeitstagen 2—5 Pf. pro Tag Arbeits¬
verdienst, eine Arbeitsprämie in bar wurde nicht gewährt. Diese geringen
Sätze wurden für die Berechnung der Selbstkosten der Verpflegung in
Ansatz gebracht, aber wegen der geringen Höhe und der durch die Buchung
vermehrten Arbeit fortgelassen. Jetzt wird nur ein Arbeitsverdienst
von denjenigen Arbeiten vereinnahmt, die von den Kranken für Fremde
(z. B. Federschleißen) geleistet werden. Die Entlohnung der Kranken
findet durch Arbeitszulage, Geschenke, Zigarren usw. statt. — Bargeld
wird nicht vergütet.
Die Schwierigkeit einer richtigen Arbeitseinschätzung gebe ich
zu, trotz dessen wäre diese im Interesse der Kranken zu leistende
Arbeit wohl zu überwinden und muß überwunden werden, je mehr die
Ausdehnung des Arbeitsbetriebes unserer großen Anstalten eine
Barentlohnung als Ansporn zur Arbeit nötig macht.
Es handelt sich freilich nicht nur um eine E innahm e, wie früher,
als man den ideellen Arbeitsverdienst berechnete, sondern auch um
eine Ausgabe bei den einzelnen Arbeitstiteln oder Kapiteln; die Mehr¬
arbeit durch Buchung und Arbeitsliste wird auch meist nur von dem
Oberpfleger geleistet werden, ja, wird meist in seinen Arbeitslisten
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Arbeiteentlohnung.
157
jetzt schon von ihm geleistet, — ich hoffe deshalb, daß vielleicht eine
Annahme meiner Vorschläge, namentlich wenn sie von anderer irren -
ärztlicher Stelle Unterstützung findet, erfolgen wird. In erster Reihe
kommen die Vorteile des neuen Systems den Kranken zugute, und
venn in der Strafanstalt die Buchführung möglich ist, wird diese
Mehrarbeit auch in unseren Irrenanstalten möglich sein.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
90. Ordentliche Generalversammlung des Psychia
trischen Vereins der Rheinprovinz am 21. Juni 191;
in Bonn.
Anwesend sind: Adams, Aschaffenburg, Bastin, Baumann, Bernard
Beyer, Bickel, v. Ehrenwall, Fabricius, Förster- Bonn, ** uchs, Gerhartz
Giesler, Gudden, Hackländer, Herling, Herzfeld, Hoestermann, Hübner
Jannes, Kirch, Kleefisch, Liebmann, Lückerath, Mappes, Märchen, Müller
Waldbröl, Neu, Neuhaus, Oebeke, Orthmann, Pelman, Peretti, Rieder
Rosenthal, Rülf, Schreiber, Schulten, Sioli, Sommer, Stallmann, Stein
brecher, Thomsen, Unipfenbach, Voßschulte, Wahn, Wassermeyer, Westpha,
Wiehl.
Als Gäste sind anwesend: Dr. Dotzel- Bonn, Dr. Schneider- Kölr
Dr. Viegener -Bonn, Dr. Leroy-Lüttich.
Der stellvertretende Vorsitzende, Geheimrat Oebeke, eröffnet di
Sitzung, begrüßt die Anwesenden und stellt namens des Vorstandes de
Antrag, den Vorsitzenden des Vereins, Geheimrat Pelman, der im Janua
d. J. das 75. Lebensjahr vollendet hat, zum Ehrenmitglied des Psychiatri
sehen Vereins zu ernennen. Die Ernennung erfolgt einstimmig.
Der Vorsitzende teilt dann mit, daß am 30. Dezember 1912 de
leitende Arzt der Irrenheilanstalt in Kaiserswerth, Sanitätsrat Tippe
und am 2. Mai d. J. der Oberarzt der Provinzial-Heil- und Pflegeansta]
in Bonn, Dr. Schütte, gestorben sind. Dem Geh. Med.-Rat Schwanz i
Köln hat der Vorsitzende gelegentlich der Vollendung seines 90. Lebern
jahres die Glückwünsche des Vereins übermittelt. Der Vorsitzende wir
beauftragt, dem Geheimrat Sander in Berlin zur Vollendung des 75. Leben:
jahres und dem Geheimrat Tigges in Düsseldorf zum 60 jährigen Doktoi
jubiläum die besten Wünsche des Vereins zu übersenden. Die neugegründei
Vereinigung der Ärzte an den Privatanstalten der Rheinprovinz wii
ihre Herbstversammlung immer in Bonn am Tage der Herbstversammlur
des Psychiatrischen Vereins abhalten und hat den Wunsch ausgesprochei
daß jedesmal auf der Einladung des Psychiatrischen Vereins zur Herbs
Versammlung darauf hingewiesen wird. Diesem Wunsche soll Folj
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
159
geben werden. Professor Hübner -Bonn wird in der Novemberversamm-
ig ein Referat über die Entstehung der Sinnestäuschungen erstatten.
Die Vereinskasse wird revidiert und dem Kassenführer Entlastung
teilt. Die Versammlung beschließt die Erhebung eines einmaligen
?itrags von 3 Mark.
In den Verein werden dann aufgenommen: Dr. Altendorf , praktischer
rzt in Bonn, Dr. Hansen -Luxemburg, zurzeit an der Provinzial-Heil-
istalt Galkhausen, und Dr. Ernst Müller, Oberarzt der Irrenheilanstalt
i Waldbröl.
Es folgen die Vorträge und Demonstrationen:
F. Siofi-Bonn: Demonstration von Spirochäten
t*i Paralyse.
*S. zeigt Mikrophotogramme von Spirochäten bei Paralyse nach
inein von Nogucki an Professor E. Hoffmann gesandten Präparat und
ine Spirochäte, die S. selbst bei Paralyse fand; dieselbe ist ein auch von
Hoffmann anerkanntes Exemplar der Spirochäte pallida. Es ist das
'ie ganze Ausbeute der Untersuchung von 20 Fällen von Paralyse, von
* j nen je zwei Rindenstücke (Gyr. centralis ant. u. post., Gyr. frontalis
der Gyr. rectus) mit der von Noguchi angegebenen Modifikation der
evaditifärbung behandelt wurden. Von jedem der Blöcke wurden 6—40
chnitte genau durchsucht.
Westphal-Bonn: Kranken Vorstellungen.
1. Fall von motorischer Aphasie mit moto-
ischer Apraxie. Frau Persyn, 57 Jahre alt.
Mehrere Schlaganfälle. Rechtseitige Parese. Komplete motorische
iphasie, auch Reste von Worten oder Silben nicht vorhanden. Sprach-
erständnis erhalten. Schriftverständnis, erkennt ihren ihr vorgeschriebenen
Hainen. Keine agnostischen Störungen.
Beweglichkeit des 1. Armes nicht gestört, es können jedoch Aus¬
rucksbewegungen (Drohen, Winken, Grüßen, Nasedrehen usw.) oder
«stimmte Zweckbewegungen (Klopfen, Klingeln usw.) nicht ausgeführt
f rden. An ihrer Stelle erfolgen sinnlose, amorphe Bewegungen (Apraxie).
*i« Zunge zu zeigen ist sie nicht imstande (Apraxie? Glossoplegie?).
‘U<h das Nachahmen von Bewegungen ist nicht möglich. Die Unter-
uchungen werden oft durch das besonders bei Ermüdung eintretende
laftenbleiben an Fehlreaktionen erschwert. Es sind ein oder mehrere
lcrde anzunehmen, welche das Brokasche Zentrum zerstört, zugleich
li« sensomotorischen Zentren der 1. Hemisphäre und die von ihnen aus¬
übenden Balkenfasern für die entsprechenden Zentren der rechten Hemi-
phäre mitergriiTen haben. Ausführung der Ansichten Liepmanns und
lartmanns über den dominierenden Einfluß des 1. Stirnlappens auf die
iusführung einfacher Bewegungen.
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160
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
2. Fall. Frau P. Sensorische Aphasie.
Die Worttaubheit ist eine vollständige, Patientin verhält sich wie eine¬
taube Person, keine Aufforderung wird verstanden.
Spontanes Sprechen erhalten, starker Rededrang, mitunter para-
phasische Ausdrücke. Schriftverständnis und Fähigkeit zum Schreiben
- aufgehoben. Keine hemiparetischen Erscheinungen.
Der Fall ist durch seine Ätiologie bemerkenswert. Die Aphasie
entstand kurze Zeit nach der Radikaloperation eines Mammakarzinoms.
Es ist ein metastatischer Herd im FFer/iicAeschen Zentrum anzunehmen.
3. F a 11. 54 jähriger Mann mit progressiver Bulbär-
pa’ral ys e.
Fast akuter, aber nicht apoplektiformer Beginn des Leidens vor
etwa.8 Wochen. Bis zu dieser Zeit soll Patient, ohne daß irgendeine
Störung bemerkt worden ist (Angabe der intelligenten Frau des Pat.),
gesprochen und geschluckt haben. Auch Schwindelanfälle sind nicht
vorausgegangen. Zurzeit Sprache und Phonation aufgehoben. Schlucken
sehr erschwert, Pfeifen, Aufblasen der Backen unmöglich. Das Gaumen -
segel hebt sich unvollkommen, Zunge schlaff, atrophisch, liegt unbeweg-*
lieh auf dem Boden der Mundhöhle, starke fibrilläre Zuckungen.
Untere Gesichtshälfte auffallend starr. Die Augenbewegungen frei.
Stirnrunzeln erhalten. Keine spastischen und atrophischen Erscheinungen
an den Extremitäten.
Die Differentialdiagnose gegenüber der akuten (apoplektischen)
und der Pseudobulbärparalyse wird besprochen. Der Fall gehört zu den
seltenen Fällen von progressiver Bulbärparalyse mit akutem, jedoch nicht
apoplektiformem Einsetzen der Sprachstörung, deren weiterer Verlauf
aber auch dann stets ein stetig progressiver ist (Oppenheim. 1 )). In dem
demonstrierten Fall ist der auffallend schnelle Verlauf des Leidens —
vollständige Aufhebung des Sprachvermögens nach etwa achtwöchiger
Krankheitsdauer — besonders bemerkenswert.
4. Fälle multipler Sklerose mit psychischen
Störungen.
a) Str., 40 jähriger Mann.
Paraparese der unteren Extremitäten.
Beiderseits Babinski.
Patellarreflexe lebhaft.
Keine deutlichen Spasmen.
Bauchdeckenreflexe fehlen.
Nystagmus.
R. beginnende temporale Abblassung der Papille.
Andeutung von Intentionstremor.
Psychisch. Leichte Abnahme der Intelligenz.
*) Lehrbuch der Nervenkrankheiten 1913, S. 1327.
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162 .Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
daß sie geholt werden solle, sieht bedrohende Gestalten. Der Vortragende
führt aus, daß in beiden Fällen die beobachteten psychischen Störungen
nicht für Paral. agitans charakteristisch, sondern als Komplikationen
anzusehen sind, die sich auf dem Boden des Seniums und der Arterio¬
sklerose bei den an Zitterlähmung leidenden Kranken entwickelt haben.
//erting-Galkhausen spricht über das Ergebnis seiner historischen
Studien, daß eine große Anzahl moderner Anstaltseinrichtungen, neuer
therapeutischer Wege, psychiatrisch-fortschrittlicher Ansichten und
Bestrebungen schon vor 100 und mehr Jahren von den Anstaltsärzten
gedacht, mitgeteilt und empfohlen seien, ohne indessen Anerkennung
und allgemeine Anwendung gefunden zu haben.
Gi'esfer-Grafenberg: Psychose und Geburt.
Der Einfluß einer Entbindung auf den Verlauf einer Psychose wird
an 50 Fällen untersucht; zu diesen gehören 5 Fälle von Manie bzw. manisch -
depressivem Irresein, 17 Fälle von Dementia praecox, 10 Fälle von Melan¬
cholie, 9 Fälle von Paralyse, 3 Fälle von Paranoia, 2 Fälle von Epilepsie
und 4 Fälle von akuter Verwirrtheit. Bei der Gruppe der Manischen und
Manisch-depressiven zeigten sich nur in 3 Fällen gleich post partum ein-
setzende unbedeutende Remissionen von 1—2 Tagen. Von den 10 Melan¬
choliefällen zeigten sich 7 ganz unbeeinflußt; einer wies post partum eine
14 tägige Remission auf; bei zweien setzte die nach einigen Wochen in
Genesung übergehende Besserung gleich nach der Entbindung ein. Drei
der Fälle von Dementia praecox wiesen Remissionen von einwöchentlicher
bis einmonatlicher Dauer auf, einer zeigte post partum eine völlige Ände¬
rung des Zustandes (Ablösung der vorher bestehenden starken psycho¬
motorischen Erregung durch ausgesprochene Stumpfheit); die übrigen
blieben unbeeinflußt bzw. zeigten post partum rasch fortschreitende
Verblödung.
Von den 9 Paralysefällen wies nur einer eine einwöchentliche Re¬
mission auf, 5 zeigten sich durch die Entbindung unbeeinflußt, bei dreien
trat Verschlimmerung namentlich der körperlichen Symptome ein.
In einem Epilepsiefall sistierten die in der Gravidität häufig auT-
getretenen Anfälle 5 Wochen lang vollständig, ebenso in dem zweiten
bis zu dem eine Woche später erfolgenden Exitus.
Die 3 Fälle von Paranoia zeigen sich ganz unbeeinflußt; bei den
4 Fällen von akuter Verwirrtheit überdauerte das Stadium der Erregung
den Zeitpunkt der Entbindung noch um 1—3 Monate. Mit Ausnahme
der beiden Melancholiefälle ist also an diesen 50 Fällen ein nennenswerter
Einfluß der Entbindung auf den Verlauf einer Psychose nicht zu kon¬
statieren.
Diskussion. — Hübner -Bonn stimmt den Ausführungen des
Vortragenden, namentlich soweit sie die Einleitung des künstlichen Abortes
betrifft, vollkommen bei. Schon bestehende Psychosen werden in den
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164 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
plikation mit Epilepsie zurückzuführen, aber auch hier Anden wir über¬
raschende Ausnahmen.
Es darf wohl als festgestellt betrachtet werden, daß Amnesie und
Bewußtseinsstörung keine Parallelerscheinungen sind; wo Amnesie
besteht, waren wohl tiefere Bewußtseinsstörungen, aber es tritt nicht
unbedingt da, wo tiefere Bewußtseinsstörungen beobachtet werden, stets
eine entsprechend große Erinnerungslosigkeit auf. Das eigentliche Wesen
der Amnesie aber ist uns bisher immer noch unbekannt.
Müller -Waldbröl: Die Familienpflege in Waldbröl.
Eine Familienpflege Geisteskranker hat es natürlich zu allen Zeiten
gegeben; wir kennen Beispiele hierfür aus dem Altertum, dem Mittelalter
(Gheel) und der neueren Zeit. Diese Art der Verpflegung Kranksinniger
ist jetzt über viele europäische Länder verbreitet; in Schottland besteht
daneben keine Zentralanstalt. Auch in Großstädten wie London und Berlin
hat sich die Pflege eingebürgert, in letzterer Stadt sowie in deren Um¬
gebung sogar in größerem Umfang. Die älteste deutsche Familienpflege
war die Stadtbremische, die ein Dr. Engelken Ende des 18. Jahrhunderts
im Anschluß an seine Privatanstalt in Dörfern einrichtete. In Deutschland
erreichte dieselbe 1906 die Gesamtzahl von 2400 Pfleglingen. Erhebliche
Familienpflege haben folgende deutsche Anstalten: Gardelegen, Jerichow
{Zentralanstalten für die Pflege), Herzberge, Wuhlgarten, Dalldorf;
letztere Anstalt zählt am 1. April 1912 322 Pfleglinge, Dresden am 1. Januar
1912 74, Merxhausen am 1. September 1912 gegen 50 weibliche bei einem
Gesamtbestand von etwa 800 w. Kranken = 6,25%, Eichberg 102 (Be¬
stand 757) = 13,5%, Lengerich 161 (Bestand 755) = 21,3%, Ilten 165
männliche (Bestand 746) = 22,1%, Ellen am 1. Januar 1912 149 (Bestand
600) = 24,8%, Bunzlau 62 (Bestand 776) = 8%, Waldbröl 116, 39 M. und
77 W. (Bestand 705) = 16,4%.
Hier befinden sich 11,4% der männlichen und 21,2% der weiblichen
Kranken oder rund der 6. Kranke, der 9. Mann und die 5. Frau in Pflege.
Würde man die 7 während des Bestehens der Pflege (Dezember
1909 bis jetzt) entlassenen Kranken hinzurechnen, so erhielten wir als
Verhältnis der Pfleglinge zum Bestand = 17,4%, 13,2% der Männer,
21,5% der Frauen und schon den 8. Mann in Pflege. Die Kurve der Wald-
bröler Pflege zeigt das dauernde Ansteigen der Krankenzahl. Unter den
entlassenen 7 Pfleglingen sind 6 Männer und 1 weibliche Kranke; 5 der
Männer befinden sich in Stellung und verdienen sich ihr Brot; was aus
dem 6. Mann geworden ist, ist hier nicht bekannt geworden. Das entlassene
Fräulein arbeitet als Stütze. Gestorben sind 6 Pfleglinge, 5 weibliche und
1 männlicher Kranker. Entweichungen aus der Familienpflege sind 12 mal
vorgekommen; die betreffenden Kranken sind sämtlich, mit einer Aus¬
nahme, wieder nach kurzer Zeit in Pflege gegeben worden und haben sich
gut gehalten. Ein Wechsel in der Familie mußte bei einer Anzahl von
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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166
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Die Familienpflege ist deshalb sehr bedeutend, weil Kranke durch
dieselbe Besserung erfahren, bei denen eine solche durch die Anstalt nicht
mehr zu erwarten war.
Hübner- Bonn: über Triebe, Instinkte und im¬
pulsive Handlungen.
Wer die Literatur über diese drei Begriffe studiert, dem fällt zu¬
nächst auf, daß über ihre Abgrenzung vielfach Meinungsverschiedenheiten
bestehen. Das Gemeinsame in allen drei Begriffen erblicken die Psychologen
und Psychiater 1. in dem Vorhandensein einer Gefühls- und Affektlage,
2. in der Tendenz zur motorischen Entladung, 3. dem Fehlen eines Kampfes
der Motive, 4. der bewußten oder unbewußten Erreichung eines bestimmten
Zweckes. Dazu kommen im Laufe des Lebens einige weitere Eigenschaften,
die Triebe werden modifizierbar, in bestimmten Lebensphasen sollen sie
nach James schwinden und durch Gewohnheit gehemmt werden.
Vortr. versucht an der Hand der physiologischen und psychologischen
Erfahrungen eine Einteilung. Er unterscheidet
1. Instinkte, d. h. motorische Reaktionen, die durch bestimmte
Stoffwechselvorgänge im Körper ausgelöst werden (Nahrungs-, Geschlechts¬
trieb, Bruttrieb usw.). Er weist dabei auf die Versuche von Steinach
(Zentralblatt für Physiologie 1910, S. 501—556) über den Umklamme¬
rungreflex des Froschmännchens besonders hin.
Das wesentliche an den Instinkten ist, daß sie nur dann in Wirksam¬
keit treten, wenn das entsprechende Nervenzentrum des Tieres sich in
einem bestimmten Zustande der Erregbarkeit befindet (A. P'ütter).
2. Die sogenannten Schutztriebe und die ihnen verwandten Er¬
scheinungen sind nach den Untersuchungen von Löb, Baglion i und anderen
komplizierte Reflexe.
3. Unterscheidet Referent sogenannte Charaktertriebe und
4. impulsive Handlungen.
Bei den zu drei Erwähnten ist das wesentliche die innere Anlage,
die den Pat. immer wieder dazu bringt, sich in gleicher Weise zu betätigen.
Die impulsiven Handlungen wiederum sind das Produkt des Zu¬
falls. Wenn bei ihnen die spezifische Reaktionsweise des Individuums
zwar auch eine gewisse Rolle spielt, so fehlt ihnen doch die Tendenz zur
Wiederholung.
Vortr. weist dann darauf hin, daß die Instinkte, Triebe und im¬
pulsiven Handlungen in dem Sinne, wie er sie abgegrenzt hat, auch in der
Psychopathologie eipe gewisse Rolle spielen. Er führt im einzelnen aus,
daß namentlich bei Vergiftungen und Ausschaltungen des hemmenden Ein¬
flusses der Hirnrinde das Instinkt- und Triebleben ein besonders leb¬
haftes ist.
Schließlich bespricht er das impulsive Irresein an der Hand eines
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
167
Materials von 8 Fällen. Ein eigenes klinisches Krankheitsbild vermag
fr nicht anzuerkennen.
(Ausführlicher dargestellt im Lehrb. d. ger. Psych. 1918 Marcus
und Hefter-Bonn.)
Diskussion. — Bidref-Bonn weist darauf hin, daß bei dem Zu¬
standekommen mancher impulsiver Handlungen, namentlich derjenigen,
die scheinbar gänzlich unmotiviert keinem Affekt, keiner Wahnidee u. dgl.
entspringen, offenbar zwei Faktoren eine besondere Rolle spielen: 1. eine
gewisse Dissoziierbarkeit oder Dissoziation des Denkens und 2. eine be¬
stimmte alternative Tendenz des Vorstellungsablaufes. Experimentell -
psychologische Untersuchungen, die Bickel bei Gesunden anstellte, haben
gezeigt, daß unter Umständen schon allein die Möglichkeit einer
anderen Denk- oder Willensrichtung genügt, damit diese andere Denk-
oder Willensrichtung tatsächlich eingeschlagen wird; logische Über¬
langen können dabei vollständig fehlen, möglicherweise sogar unter-
•htckt werden. Vielleicht ist es erlaubt, diesen Satz umzukehren und zu
«fen: Sobald kompliziertere logische Überlegungen fehlen, dann kommt,
iotem der Vorstellungsablauf nicht perseveriert oder völlig sistiert, die
Tendenz zur Alternation in ihrer einfachsten Form zur Geltung; d. h.,
« wird diejenige Vorstellung als dominierende Vorstellung assoziiert,
die durch die jeweilige Konstellation gerade am nächsten liegt. Es ist
nun zweifellos, daß der Vorstellungsablauf des Psychopathen nicht so fest
gefügt, sondern labiler ist und mehr zur Dissoziation neigt, als der des
Gesunden. Wenn nun eine gewisse Dissoziation besteht, dann wird nach
dem Gesagten diejenige Vorstellung assoziiert, die gerade am nächsten
liegt. Eine solche Vorstellung, die das ganze Bewußtsein ausfüllt, mag
subjektiv dann auch wohl einem unbestimmten Drange gleichen. Als
konkretes Beispiel wird ein psychopathischer Knabe genannt, welcher
Fahrräder, die auf der Straße standen, bestieg und wegfuhr, um sie nach
einiger Zeit an ihren Platz zurückzubringen. An die Wahrnehmung des
Fahrrades knüpfte hier offenbar die nächstliegende Vorstellung an, daß
man auf demselben fahren kann. Es ist kaum anders möglich, als daß
Wer eine gewisse Dissoziation des Denkens bestand, so daß Gegenvor¬
stellungen nicht zur Geltung kamen, sondern jene Vorstellung sofort auch
wr Tat wurde. In ähnlicher Weise mag auch bei dem unmotivierten
Fortlaufen psychopathischer Kinder eine gewisse Dissoziation des Denkens
Wstehen; der Gedanke an die Möglichkeit des Fortlaufens dürfte auch
«rmalerweise in der lebhaften Phantasie des Kindes oder im Anschluß
«einen Affekt gelegentlich auftreten, hier wird er aber durch Gegen-
Erstellungen unterdrückt. Überhaupt sind impulsive Vorstellungen
wahrscheinlich viel häufiger als impulsive Handlungen. Die genannte
alternative oder oppositionelle Tendenz des Denkens zeigt sich vielleicht
am charakteristischsten in dem Symptom des Vorbeiredens. Die Annahme
einer gewissen Dissoziierbarkeit des Denkens bei Psychopathen erscheint
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168
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
auch insofern gerechtfertigt, als bekanntlich bei den Krankheitsbildem
der Hysterie und Epilepsie, die oft auf dem Boden der hereditären psycho¬
pathischen Belastung entstehen, noch viel tiefere Bewußtseinsstörungen
Vorkommen.
Hübner stimmt dem Vorredner bei. Auch er glaubt, daß bei manchen
Psychopathen impulsive Handlungen auf diese Weise zustande kommen.
H. Bickel-Bonn : a) Sclerosis multiplex mit vor¬
wiegend spinaler Lokalisation und positiver
Wassermann- Reaktion.
Anamnese: Kassiererin, die im 31. Lebensjahr mit taubem
Gefühl, Schmerzen und Schwäche zuerst im rechten, dann auch im linken
Bein erkrankte. Zeitweise mußte sie angeblich beim Sprechen nach den
Worten suchen, die Aussprache soll jedoch ungestört gewesen sein. Dazu
kamen Schmerzen im Rücken, im rechten Arm und Kopfschmerzen, be¬
sonders nachts, außerdem Incontinentia urinae. Unter zunehmender
Schwäche der Beine wurde das Gehen unmöglich. Alsbald stellte sich
ferner ein krisenartiges Erbrechen, mit Übelkeit und Magenschmerzen,
ein, so daß schließlich nach jeder Mahlzeit ein großer Teil der aufgenommenen
Nahrung wieder erbrochen wurde. — 2 Jahre vor Beginn dieser Krankheit
will Pat. unterleibskrank, sonst im allgemeinen gesund gewesen sein und
sich normal entwickelt haben. Die Mutter, im Alter von 63 Jahren ge¬
storben, soll Zittern in den Armen gehabt haben. Zwei Geschwister sollen
nervös sein.
Befund: Bei der Aufnahme in die Klinik, Juni 19i2, spastische
Paraparese der Beine, rechts stärker als links, mit doppelseitigem Babinski.
Motilität und Reflexe der Arme normal, kein Intentionszittern. Keine
Muskelatrophien. Bauchdeckenreflexe fehlen. Hirnnerven, abgesehen
von der Hautsensibilität des Gesichts (s. später), während der ganzen
Zeit der Beobachtung normal, namentlich auch der Augenhintergrund.
Ebenso kein oder nur leicht angedeuteter Nystagmus. Die Hautsensibilität
verhielt sich sehr wechselnd. Konstant war nur der Befund einer gürtel¬
förmigen Zone unterhalb der Mamillen; dieselbe verhielt sich dauernd
für alle Empflndungsqualitäten normal. In dieser Zone wurde dauernd
über heftigen Gürtelschmerz geklagt. Im übrigen bestanden halbseitige
Sensibilitätsstörungen und wechselnde Sensibilitätsstörungen an einzelnen
Extremitätenabschnitten von ausgesprochen hysteriformem Charakter.
Zuletzt wurde, abgesehen von der gürtelförmigen Rumpfzone, am ganzen
Körper, d. h. auch am Kopf, angeblich nur starker Druck wahrgenommen.
Das Lagegefühl wurde ebenfalls nicht unterschieden. Zeitweise bot Pat.
auch hysterische Anfälle dar.
Von der Lumbalpunktion wurde in Anbetracht des hinfälligen Be¬
findens der Kranken Abstand genommen. Die Blutuntersuchung nach
Wassermann fiel jedoch positiv aus. Infolgedessen Behandlung mit Queck-
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
169
silber, Jod und Salvarsan, jedoch ohne Erfolg. Auch das Erbrechen trotzte
jeglicher Behandlung; das Probefrühstück ergab eine Gesamtazidität
des Magensaftes von 35. Infolge des hartnäckigen Erbrechens trat schneller
Kräfteverfall ein. Tod nach 4 y 2 jähriger Krankheitsdauer, Dezember 1912.
Klinische Diagnose: Der positive Ausfall der Wasser-
mannschen Reaktion, die spastische Paraparese der Beine und der Gürtel -
schmerz ließen an eine Meningomyelitis syphilitica im Bereich des Dorsal -
marks denken. Auf diese Erkrankung des Dorsalmarks wurde auch das
Fehlen der Bauchdeckenreflexe bezogen. — Für Multiplizität der Herde
sprachen das krisenartige Erbrechen, sowie die Schmerzen im rechten
Arm. Als zerebrales Herdsymptom konnte auch die vorübergehende
angebliche Sprachstörung gedeutet werden, wenngleich die Angaben der
Kranken wenig zuverlässig erschienen.
Das gesamte Krankheitsbild wurde als Lues spinalis bzw. cerebro¬
spinalis aufgefaßt, wobei jedoch nach dem Gesagten sichere zerebrale
Herdsymptome fehlten.
Sektionsbefund: Im Bereich des 3. bis 5. Zervikalsegments
zeigt sich, wie Vortragender an Projektionen demonstriert, in Mark¬
scheidenpräparaten ein fast vollständiger Ausfall der beiden Hinter¬
stränge und des rechten Seitenstranges; die Degeneration des letzteren,
und zwar seiner Randpartie, ist auch in C 8 noch in großem Umfang zu
sehen. Einige kleinere Herde finden sich im linken Seitenstrang. In der
Höhe von D 3 bis D 11 sind, selbst an zahlreichen Präparaten, keine Mark¬
scheidenausfälle zu erkennen. Im 3. Lumbalsegment findet sich dagegen
eine fast vollständige Degeneration beider Vorderstränge. Im linken
Seitenstrang des Lumbalmarks sind kleinere Herde. — Die Herde sind
im allgemeinen scharf umgrenzt.
An Gliapräparaten ist im Bereich der Herde eine starke Wucherung
der faserigen Glia zu erkennen. In BiefschowsAry-Präparaten zeigen sich
die Achsenzylinder intakt.
Im Bereich des großen Herdes im Zervikalmark ist die Pia etwas
verdickt, ebenso auch die Wände der Gefäße innerhalb des Herdes.
Neben den genannten Herden der Medulla spinalis finden sieb noch
ziemlich zahlreiche kleinere Herde in Medulla oblongata und Brücke.
Im Gehirn zerstreut sind nur relativ wenige kleinere Herdchen zu er¬
kennen. — Die Gefäße der Hirnbasis sind makroskopisch und mikro¬
skopisch von normalem Befund. — Das anatomische Bild war somit das
% multiplen Sklerose.
Vortr. geht auf die Frage ein, ob in dem vorliegenden Fall der
Syphilis eine ätiologische Bedeutung zukommt. Von zahlreichen Autoren
{Strümpell, E. Müller u. a.) wird ein derartiger Zusammenhang zwischen
Lues und Sklerosis multiplex in Abrede gestellt. Auch in dem vorliegenden
Fall bietet der anatomische Befund nichts für eine luische Erkrankung
des Zentralnervensystems, sondern das charakteristische Bild der mul-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
tiplen Sklerose dar. Die Erkrankung des Nervensystems ist daher auch hier
nicht auf die gleichzeitig bestehende Syphilis zu beziehen; übrigens wurde
vergeblich in den Herden nach Spirochäten gesucht.
Daß die gleichzeitig bestehende Hysterie sich nicht erst mit der
organischen Erkrankung des Zentralnervensystems entwickelte, sondern
schon vorher bestand, darauf schienen gewisse anamnestische Angaben
hinzuweisen.
Der vorliegende Fall liefert somit ein Beispiel dafür, daß auch die
.Kenntnis der mannigfachen Verlaufsformen der multiplen Sklerose nicht
immer vor Fehldiagnosen selbst in vorgeschrittenen Fällen schützt. Einen
ähnlichen Fall, in welchem der positive Ausfall der Wassermannschen
Reaktion zu der Fehldiagnose „syphilitische Querschnittsmyelitis“ führte,,
erwähnt Bing (Neurol. Zentralbl. 1910, S. 721). Dieser Fall von Bing
hat auch insofern Ähnlichkeit mit dem hier mitgeteilten, als auch dort
eine ausgedehnte Sklerose des Halsmarks im Widerspruch zu dem Mangel
klinisch nachweisbarer Störungen an den Armen stand. Möglich ist, daß
in unserem Fall vielleicht der negative Ausfall der Wassermannschen
Reaktion der Spinalflüssigkeit, auf deren quantitative Auswertung Haupt -
mann und Nonne zur Unterscheidung zwischen syphilogener Erkrankung-
des Zentralnervensystems und nichtsyphilogener Erkrankung desselben
bei Syphilitischen großes Gewicht legen, Zweifel an der Diagnose hätte
aufkommen lassen. Außer durch die positive Wassermannsche Reaktion
war aber hier noch die Fehldiagnose bedingt durch den eigentümlichen
Gürtelschmerz, durch die vorwiegend spinale Lokalisation des Leidens,
sowie endlich durch das gleichzeitige Bestehen hysterischer Sensibilitäts-
störungen, welche die organisch bedingten Sensibilitätsstörungen ver¬
schleierten.
b) Funikuläre Myelitis mit bulbären und poly-
ti'euritisclien Symptomen. (Erscheint ausführlich im Archiv
für Psychiatrie.)
Weslphal und Hübner- Bonn: über die Objektivierung
von Bewegungen und sprachlichen Äußerungen
zu klinischen und forensischen Zwecken.
Die Vortr. sind in den letzten Jahren der Frage nachgegangen, wie
man Bewegungsstörungen und sprachliche Äußerungen objektiv in einer
Weise festlegen kann, daß ihre Reproduktion jeder Zeit möglich ist.
Für die Bewegungsstörungen haben sie sich des Erne-
mannschen Kinematographen bedient und über ihre Erfahrungen auf
dem Internationalen Kongreß für Psychiatrie in Berlin (1908) gemeinsam
mit Hermes berichtet. Die kinematographisehe Aufnahme von Bewegungs¬
störungen hat den Vorzug, daß sie jeder Zeit zu Lehrzwecken zur Hand
ist und den Vergleich der verschiedenen Arten von Bewegungsstörungen
ermöglicht, außerdem unter Umständen auch die Berechnung der Exkur-
sionsbreite der einzelnen Gliedmaßen gestattet. Die Bedeutung derartiger
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Verein bayerischer Psychiater. 171
ufnahmen liegt also nicht allein in der Möglichkeit, Deinonstrations-
aterial zu sammeln.
Neuerdings haben die Vortr. auch versucht, sprachliche
.ußerungen mit Hilfe des Diktaphons aufzunehmen.
Mehr noch als das Kinematogramm ist diese Methode geeignet
ie klinische Untersuchungstechnik zu vervollständigen.
Die Vortr. arbeiten mit Hilfe eines Doppelschlauchs, der an dem
Diktaphon befestigt wird. Das eine Mundstück erhält der Pat., das andere
ler explorierende Arzt. Es ist auf diese Weise, wenn der Pat. nicht Dialekt
ipricht oder sehr leise redet, möglich, den ganzen Gang der Unterredung
:u fixieren.
Jedes Zögern des Kranken wird festgelegt, auch der Tonfall, in deni
•r spricht, kann jederzeit reproduziert werden. Es lassen sich bei Asso-
r.iationsversuchen direkte Zeitmessungen anstellen.
Die Bedeutung dieser Versuche sehen die Vortr. 1. in der Möglichkeit,
seltene sprachliche Äußerungen zu Lehrzwecken dauernd aufzunehmen;
1. da, wo es darauf ankommt, Angaben des Kranken möglichst genau
Festzulegen, kann mit Hilfe des Apparates viel besser, als durch steno¬
graphische Aufzeichnungen jede Einzelheit zur Darstellung gebracht
werden, ein Umstand, der nicht allein bei psychiatrischen Explorationen,
sondern möglicherweise auch in der Kriminalistik von Bedeutung sein
kann.
Die Mängel der Methode bestehen gegenwärtig noch darin, daß
Kranke, die sehr undeutlich sprechen, für solche Untersuchungen nicht
geeignet sind. Ebenso ist es nicht immer möglich, Pat. die stark Dialekt
sprechen, an diesem Apparat zu verwenden.
Die Vortr. demonstrieren das Diktaphon und einige Sprachstörungen
ISilbenstolpern bei Paralyse; Wortsalat bei einem Katatoniker, einen
Assoziationsversuch).
Umpfenbach.
XI. Jahresversammlung des Vereins bayerischer Psychi¬
ater in München am 27. und 28. Juni 1913.
Die Sitzungen finden in der psychiatrischen Universitätsklinik statt.
Den Vorsitz führen: Foc/re-Eglfing und BeAm-Neufriedenheim.
Als Schriftführer fungieren: Brand/-Eglfing, Isserlin -München und
Afige-Partenkirchen.
Anwesend sind die Herren: /Ist-Haar, Bausewein- Ingolstadt,
9/aeAtan-Haar, Bleser- Bayreuth, B/um-München, BrandZ-Eglfing, Busch -
München, DaiAer-Weinsberg, Dannenberger- Goddelau, Dees-Gabersee,
DrescA/e/d-München, Eccard-Frankental, EdenAo/er-Kaufbeuren, Einsle-
dünchen, EisatA-Hall i. Tirol, Esser-München, Ea/t/Aauser-Erlangen,
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172
Verbandlangen psychiatrischer Vereine.
Feldkirchner- Regensburg, Fischer-Prag, Fuchs -Kaufbeuren, Gamper- Inns¬
bruck, Clos-München, von Gulat-Wellenburg- München, Gudden -München,
Giitsch -München, WecAel-Mainkofen, Herfeldt- Ansbach, Wirt-München,
von Hößlin- Eglflng, WocA-Bayreuth, Isserlin -München, ÄaAn-München,
Kaplan, Karrer- Klingenmünster, Kaufmann -Werneck, Frau Dr. Klarfeld -
Lemberg, Herr Dr. Klarfeld-München, Kleist -Erlangen, AoAerfin-Erlangen,
AToJA-Erlangen, üfraopefin-München, Frl. T. Kraepelin-München, Krapf-Haar,
LemAerg-Eglflng, Lenhart- Kaufbeuren, Ludwig-München, Mager-Gabersee,
Mayer-Schwarzburg-Kronstadt, Mayr- Eglflng, C. F. Müller- Alsbach,
Müller- Lohr, Nenning- Gabersee, Oetter- Kutzenberg, Oßtvald- Gießen,
Pfeiffer-Augsburg, Pfaut-München Pönitz-München, Polajnar- München,
von Pad-Nürnberg, PanAe-Obersendling, PeAm-Neufriedenheim, Reichardt-
Würzburg, Reiß -Ansbach, Rezn icek - Innsbruck, Poeper-Jena, Pot A-Landau
i. d. Pfalz, Rüdin -München, Schap fl-Gabersee, von■ Schleiß-Gabersee,
von «ScAerer-München, H. 5cAmid-München, Schnidtmann-Haar, Schrotten-
AacA-Graz, «Seige-Partenkirchen, «Sei/ter-Erlangen, Vendtner-Eglflng, Serejsko
Warschau, Serko-Wien, Sitlig- Prag, «SpecAt-Erlangen, ■S'piefmei/er-München,
«Spie/?-München, Stransky-Wien, Tesdorpf- München, Thiessen -München,
t/tz-Ansbach, van Feizen-Joachimstal, Vierzigmann -Regensburg, Vocke-
Eglfing, WacAer-München, WaeAer-St. Petersburg, Frau Dr. Weiler-
München, Herr Dr. Weder-München, We in Aerger-Gabersee, also 94 Teil¬
nehmer.
1. Sitzung.
FoeAe-Eglflng eröffnet die Versammlung, begrüßt die Anwesenden,
insbesondere die auswärtigen Gäste und dankt dem Hausherrn Kraepelin
im voraus für die dem Vereine schon so oft in der Klinik gewährte Gast¬
freundschaft.
Er gedenkt alsdann des vor kurzem verstorbenen Oberarztes
Dr. Wagner-Bayreuth, welcher dem Vereine seit der Gründung angehörte.
Die Versammlung ehrt sein Andenken durch Erheben von den Sitzen.
Die Herren ylizAeimer-Breslau, Pauser-Stuttgart, MercA/in-Treptow,
Nißl -Heidelberg, «Sommer-Gießen und Weygandt-Hamburg sandten der
Versammlung ihre Grüße und freundliche Wünsche.
Ausgeschieden sind außer Dr. Wagner 3 Mitglieder durch Wegzug,
neuzugegangen 3, derzeitiger Stand: 98 Mitglieder.
PrancM-Eglflng erstattet sodann den Rechnungsbericht:
Einnahmen. 521 M. 20 Pf.
Ausgaben. 152 M. 66 Pf.
Vermögensbestand in bar. 368 M. 54 Pf.
Vermögensbestand in Pfandbriefen.. 600 M.
Gesamtvermögen. 968 M. 54 Pf.
Die Rechnung samt Belegen wird von Afundt-Deggendorf geprüft
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Verein bayerischer Psychiater.
173
d in Ordnung befunden, worauf dem Kassier Entlastung erteilt und
I Dank des Vereines erstattet wird.
Der Jahresbeitrag wird auch für das kommende Jahr wieder auf
VI. festgesetzt.
Der Vorsitzende erstattet sodann den Geschäftsbericht.
1. Aus dem Einlauf ist hervorzuheben, daß sich in München ein
.rein zur Gründung und zum Betriebe von Heilerziehungsheimen für
;ychopathen und ein Wohlfahrtsverein für Hilfsschüler gebildet haben.
2. Die vorjährige Resolution wegen der Errichtung von Trinker-
.vlen wurde umgehend den beiden Ständekammern und dem K. Staats-
misterium des Innern übermittelt, vom Bureau der Kammer der Ab-
ordneten lief jedoch unterm 2. 7. 1912 bereits die Mitteilung ein, daß
ä Petition wegen verspäteten Einlaufens unberücksichtigt bleiben mußte.
3. Die vorjährigen Verhandlungen über die psychiatrische Jugend-
rsorge wurden dem K. Staatsministerium des Innern und den acht
reisregierungen übermittelt. Den Bestrebungen unseres Vereins stehen
ils Mangel an Mitteln des Staates, teils auseinandergehende Bestrebungen
•nfessioneller Körperschaften entgegen, allein Fortschritte auf dem
‘biete der Zwangserziehung im Sinne unserer Beschlüsse sind teils
reits angebahnt, teils in nahe Aussicht genommen.
Alle geistig irgendwie suspekten Jugendlichen, welche in Zwangs¬
ziehung stehen, oder gegen welche diese in Aussicht genommen ist, sollen
ünttig in den drei Kliniken oder in Haar oder Frankenthal psychiatrisch
«‘obachtet und begutachtet werden. In der Pfalz steht die Errichtung
iner neuen Staatszwangserziehungsanstalt in Aussicht, bei deren Bau
II f die Anlage einer Sonderabteilung Rücksicht genommen werden kann.
Jne solche Sonderabteilung wird privatim in Neudettelsau bei der dortigen
•Wangserziehungsanstalt für evangelische Mädchen errichtet.
4. In Sachen einer neuen Statistik für die Irrenanstalten hat der
futsche Verein für Psychiatrie in seiner diesjährigen Tagung zu Breslau
Antrag der statistischen Kommission beschlossen, das von der Kom-
ission ausgearbeitete neue Schema der Einteilung der Geisteskrankheiten
Ue vorläufig in einigen Bundesstaaten und Provinzen angewendet und
Grund der damit gemachten Erfahrungen nach 2—3 Jahren wieder
raten werden. Erst dann soll an die Reichsbehörden wegen Änderung
T Zählkarte überhaupt herangetreten werden.
Nachdem der Verein bayerischer Psychiater den Anstoß zu einer
uderung der Statistik gegeben hat, ist es für seine Mitglieder ein nobile
■Wum an der Erprobung des neuen Diagnoseschemas in erster Linie
itzuarbeiten. Das Schema wurde vervielfältigt und den Versammlungs-
ünehmern zur Verfügung gestellt.
Der Vorsitzende beantragt nach Kenntnisnahme des Schemas und
fsönlichem Meinungsaustausch in der Zwischenzeit in der morgigen
Schaftssitzung zu beschließen:
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174 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
„Der Verein beauftragt den Vorstand, beim K. Staatsministerium
des Innern zu erwirken, daß vom Jahre 1914 an unter vorläufiger Bei¬
behaltung der bisherigen Zählkarten das neue Krankheitsschema von
allen öffentlichen bayerischen Anstalten zunächst versuchweise in Ge¬
brauch genommen wird.“
Dieser Antrag wurde in der 3. Sitzung einstimmig un<l
debattelos angenommen.
Hierauf erstatten die Herren eoni/ö/Slm-Eglfing und Stransky -Wien
das Referat: Die paranoiden Erkrankungen.
Die Referate erscheinen in extenso in der Zeitschrift für die gesamt 1 '
Neurologie und Psychiatrie.
Es folgt der Vortrag Plaut -München: Über Halluzinosen
<1 er Syphilitiker. (Als Monographie erschienen im Verlage von
J. Springer in Berlin.)
Wegen der vorgerückten Zeit wird die Diskussion über die Referate
und diesen Vortrag auf die 2. Sitzung verschoben. Kraepelin -München
demonstriert vor der Mittagspause noch einen Fall von Paraphreniu
confabulatoria.
2. Sitzung.
Diskussion zu den Referaten und zum Vortrag
Plaut :
Kraepelin -München stimmt Herrn von Hößlin darin bei, daß für
die Lösung der besprochenen Fragen vor allem lange Beobachtungszeiten
nötig sind, und daß daher die heutigen Versuche immer nur provisorische
sein können. Die echte Paranoia ist nur für den Irrenarzt, nicht aber
in der Welt eine seltene Krankheit; die Kranken erhalten sich so sehr
ihre Anpassungsfähigkeit an das Leben, daß sie immer nur vorübergehend
in die Irrenanstalt kommen. Bei ihnen handelt es sich, wie es scheint,
um die krankhafte Reaktion abnormer Persönlichkeiten auf die Lebens -
reize, die wohl zum Teil auf einen gewissen Infantilismus des Denkens,
auf Denkgewohnheiten zurückzuführen sind, die wir in ähnlicher Weise
bei Kindern und primitiven Völkerschaften antreffen. Dem gegenüber
sehen wir bei den Prozeßkrämern, ähnlich bei gewissen Haftpsychosen,
bei den Rentenquerulanten psychogene Erkrankungen im Anschlüsse
an einzelne ganz bestimmte einschneidende Lebensereignisse auftreten.
Als akute Paranoia könnten allenfalls die abortiven Fälle echt paranoischer
Wahnbildung bezeichnet werden, die bei paranoisch veranlagten Persön¬
lichkeiten unter dem Einflüsse vorübergehender gemütlicher Erregungen
auftreten und mit ihnen wieder verschwinden können. Die paraphrenischen
Erkrankungen sind demgegenüber offenbar der Ausdruck von Krankheits-
prozessen und demgemäß von der echten Paranoia grundsätzlich
abzutrennen. Ob sie sich von der Dementia praecox vollständig scheiden
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lassen, muß die Zukunft lehren. Ob Morphium, Blei und Nikotin paranoide
Erkrankungen erzeugen können, erscheint mir zweifelhaft.
Serko-Wien: 1 . Es gibt Kranke mit abenteuerlichsten und un¬
sinnigsten Wahnideen und reichlichen haptischen, optischen und akusti¬
schen Halluzinationen ohne alle schizophrene Erscheinungen, die sich
in der Freiheit bewegen und durch berufliche Arbeit ihren Lebensunterhalt
verdienen. Andererseits gibt es Fälle mit ähnlichen Wahnideen und Hallu¬
zinationen mit deutlichen schizophrenen Erscheinungen und fast katatonem
Persönlichkeitszerfall. Rechnet man diese letzteren Fälle zur Dementia
phantastica, so müssen die ersteren davon abgetrennt, eventuell außerhalb
<ier Paraphreniegruppe gestellt werden.
2. Es scheint, daß bei Lues cerebri auch exquisit systematisierende
Wahnbildungen Vorkommen, wie ein Fall lehrt, der sich vor einigen Jahren
ui der Münchener Irrenanstalt befand, und bei dem es sich um Lues cerebri
handelte.
3. Konfabulationen, auch wenn sie ausschließlich das
ftrankheitsbild beherrschen, sind nicht charakteristisch für Paraphrenia
•onfabulans, da sie auch bei anderen Psychosen, so z. B. Dementia praecox
Vorkommen.
Dees-Gabersee: Der Kranke Kaspar Schuster machte allerdings,
als er in Gabersee ankam, den Eindruck tiefer Verblödung. Aber er wurde
unter Anhaltung zur Beschäftigung bald munterer und gelangte nach
etwa einem Jahr „geheilt“ zur Entlassung nach München, wo er sich
jetzt wohl noch aufhält und kaum den Eindruck eines Geisteskranken
machen dürfte, wenigstens nicht bei oberflächlicher Betrachtung.
Kraepelin -München: In dem von Setko angeführten Falle von
Paranoia bei Hirnlues sind mir von Nissl ernste Zweifel geäußert worden,
ob nicht die Präparate verwechselt worden seien. Erinnerungsfälschungen
kommen ohne Zweifel bei sehr vielen Erkrankungen, insbesondere auch
bei der Dementia praecox vor. Dennoch bieten die konfabulierenden
Formen der Paraphrenie im ganzen ein so eigenartiges Bild dar, daß mir
ihre Abgrenzung vorläufig gerechtfertigt erscheint. Daß in der Gruppe
der phantastischen Paraphrenie möglicherweise noch ganz verschiedene
Bestandteile stecken, kann gewiß zugegeben werden. Da wir aber heute
noch nicht wissen, auf was es für die Gruppierung eigentlich ankommt,
wird sich eine sichere Entscheidung über diese Frage zurzeit schwerlich
treffen lassen.
•Specht-Erlangen: Die beiden ausführlichen und vortrefflichen
Referate haben auch meiner mehrmals gedacht, teils zustimmend, teils
ablehnend. Ich finde nach dem Gehörten keinen Anlaß, an dem, was ich
in der Paranoiafrage veröffentlicht habe, wesentliche Änderungen vor¬
zunehmen. Die Anschauungen über Paranoia drehen sich ja neuerdings
wieder mit Windeseile, und ich möchte dringend empfehlen, weiterhin
nur ganz gründlich durchgereifte Anschauungen und Beobachtungen
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176 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
zu veröffentlichen, sonst wird das Thema Paranoia immer unerquick¬
licher. Wir sind ja trotz allem entschieden vorwärts gekommen in der
Vertiefung der Probleme und Sonderung der klinischen Erfahrung; für
die Zukunft ist es, wie gesagt, wünschenswert, nur die in jahrelanger
Beobachtung und Durcharbeitung gewonnenen Resultate sprechen zu
lassen und nicht die, wenn auch noch so geistreichen, Einfälle.
Kleist- Erlangen hält gegenüber Herrn von Hößlin an dem von ihm
aufgestellten Begriffe der Involutionsparanoia fest und entwickelt in
Kürze die Hauptzüge dieser Erkrankung, die nach der Überzeugung
K.s keine Defektpsychose irgendwelcher Art ist, aber auch nicht in
Kraepelins Paraphrenien eingereiht werden kann.
•Seige-Partenkirchen bemerkt, daß ähnliche akute, kurz dauernde
Fälle, wie die von Plaut erwähnten, seit Heubner öfter beschrieben sind;
sie kommen wahrscheinlich viel öfter vor, als im allgemeinen angenommen
wird; sie sind jedoch gewöhnlich in Behandlung des Dermatologen und
nicht des Psychiaters.
Plaut-München (Schlußwort): Die halluzinierenden bzw. paranoiden
Formen der Hirnsyphilis stellen ein altes und häufig diskutiertes Problem
dar; es lag mir daher völlig fern, behaupten zu wollen, daß ich, wie das
Herr Seige aufgefaßt zu haben scheint, mit meinen Darlegungen ein völlig
neues Gebiet eröffnet habe. Wesentlich erscheint mir hingegen, daß die
von mir zusammengestellten Fälle mit den neuen Untersuchungsmethoden
erforscht sind, die uns überhaupt erst in den Stand setzen über Wahr¬
scheinlichkeitsdiagnosen hinauszukommen.
Fälle von Hirnsyphilis mit systematisierendem Aufbau der Wahn¬
bildungen habe ich nicht beobachtet, und ich glaube: je mehr die hallu¬
zinatorischen Elemente zurücktreten und die paranoide Ausgestaltung
entwickelt ist, desto unwahrscheinlicher wird die syphilitische Ätiologie.
von Hößlin- Eglfing (Schlußwort) spricht zunächst seinen Dank aus
für die freundliche Aufnahme des Vortrages und betont nochmals die
außerordentlichen Schwierigkeiten, welche sich bei dem Versuche einer
strengen Gruppierung der verschiedenen „Paranoia“formen ergeben.
Die Diskussion hat gezeigt, daß auch jetzt eine gegenseitige Verständigung
noch keineswegs erreicht scheint, und daß sich die subjektiven Anschau¬
ungen in manchen Punkten schroff gegenüberstehen, zwischen denen ein
Kompromiß nicht möglich ist. Einen Erfolg wird man sich aber unter
allen Umständen von der ausführlichen Mitteilung möglichst zahlreicher
über Jahrzehnte sich erstreckenden Beobachtungen versprechen dürfen,
wozu sich in erster Linie das Material großer Anstalten eignet.
Stransky-Wien (Schlußwort) spricht der Versammlung gleich von Hö߬
lin den Dank für die ihm geschenkte Aufmerksamkeit aus. Er meint,
zu den Ausführungen Kraepelins übergehend, daß ihm der Unterschied
zwischen Paranoia und Paraphrenie trotz aller von jenem hervorgehobenen,
übrigens doch auch nicht so absolut zu nehmenden Differenzen doch nur
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graduell scheine. Kraepelin hebe in sehr glücklicher Weise gewisse Eigen¬
heiten seiner Paranoiker hervor, ob aber solche infantilistische Züge gerade
nur diesen anhaften und für sie charakteristisch seien, sei doch die Frage;
vielmehr scheint Str. das psychologisch und affektiv Wesentliche der
Paranoia auf anderem Gebiete zu liegen. Str. bedauert, daß er über diese
Dinge, da er sein Referat wegen zeitlicher Beschränkung nur gekürzt
vortragen konnte, nicht mehr habe ausführen können, und verweist auf
seine ausführliche Publikation. Kleists Involutionsparanoia hat Str.
nicht leugnen wollen, er hat nur gemeint, sie stehe der Paraphrenie und
damit nach Str .s Auffassung der Paranoiagruppe überhaupt
sehr nahe.
Sodann wird in die Reihe der Vorträge eingetreten.
ÄeicAardt-Würzburg: Die Störungen der Körper¬
temperatur und der vasomotorisch- trophischen
Funktionen bei Hirnkrankheiten.
Die Frage, ob es zerebrospinal verursachte Störungen der Körper¬
temperatur und der vasomotorisch-trophischen Funktionen gibt, wird
bejaht. Die Körpertemperatur wird wahrscheinlich von verschie¬
denen Stellen des Gehirnes und Rückenmarkes aus beeinflußt. Und
zwar kommen in Betracht das Zwischenhirn, das Rautenhirn und das
obere Halsmark. Möglicherweise besteht ferner auch ein Zusammenhang
zwischen der Liquorströmung und der Körpertemperatur. Bei Hirn-
kranken, welche nach starken zerebralen Temperaturanomalien sterben,
finden sich auffallend häufig auch starke Liquorvermehrungen. Die An¬
nahme, daß bei der progressiven Paralyse die Temperatursteigerungen
Folge seien einer Resorption von Zerfallstoffen, läßt sich zurzeit nicht
stützen. In dem gewöhnlichen paralytischen Marasmus fehlen Hypo¬
thermien so gut wie stets. Letztere treten dagegen, wenn sie sich über¬
haupt zeigen, vor allem auf entweder bei Paralyse mit reiner Tabes oder
bei Paralyse mit katatonischen Symptomen. Die leichten Temperatur¬
steigerungen zu Beginn der Katatonie sind höchstwahrscheinlich nicht
infektiös verursacht, sondern ebenfalls echte zerebrale Hyperthermien.
Wenn bei Katatonie auch Hypothermien auftreten, so genügt zu deren
Erklärung die Regunglosigkeit der Kranken nicht. Auch in der Psychiatrie
kommen echte trophische Störungen der Haut vor. Gudden selbst hat
ausdrücklich anerkannt, daß Hautzerstörungen auch bei der besten
Krankenpflege sich nicht stets vermeiden lassen. Die trophischen Haut-
Störungen können auch initial auftreten und finden sich vor allem
bei den spastischen und den Mästungsparalysen, während die trophischen
Veränderungen in den Knochen sich fast nur bei der reinen Tabes und der
tabischen Paralyse finden. Die Knochenveränderungen befallen häufig
das ganze Skelett. Sie sind, ebenso wie die Optikusatrophie, sehr oft
Initialsymptome, während andererseits auch eine sehr lange
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Dauer und ein hochgradiger Marasmus bei Paralyse an sieh niemals zur
Osteoporose führt. Ebenso wie die genuine Optikusatrophie sind aüch
die trophischen Knochen Veränderungen bei Paralyse ganz unverhältnis¬
mäßig viel seltener als bei Tabes ohne Paralyse. Die neuerdings geäußerte
Annahme ( Stargardt ), daß die tabischen Knochen Veränderungen und auch
die tabische Optikusatrophie lediglich luische Veränderungen und gar
keine trophischen Störungen seien, ist unhaltbar, weil durch eine solche
Annahme nicht erklärt wird, warum die trophischen Knochen- und Gelenk¬
veränderungen und ebenso auch die genuine Sehnervenatrophie fast nur
bei Tabes vorkommt (und bei tabischer Paralyse), dagegen niemals bei
anderen syphilitischen Erkrankungen. Ein einfaches Mittel, bei jeder
Sektion sich einigermaßen über den Zustand der Knochen zu orientieren,
ist die Untersuchung der Schädeldachknochen auf ihr spezifisches Gewicht.
— Die Störungen der Körpertemperatur und der vasomotorisch-trophischen
Funktionen bei den sogenannten Neurosen, speziell der Hysterie, sind
in dem Sinne zu erklären, daß bei derartigen Kranken die betreffenden
vegetativen (peripheren oder zentralen) Apparate in selbständiger Weise
besonders labil oder reizbar sind oder zu Erkrankungen neigen. Eine
eigentliche Abhängigkeit der genannten vegetativen Störungen von psy¬
chischen Vorgängen liegt nicht vor. Höchstens kann, bei vorhandener
Disposition der betreffenden vegetativen Apparate, ein psychischer Vor¬
gang (Affekt) zur auslösenden Gelegenheitsursache der vasomotorisch-
trophischen Störung werden. Ähnliches ist zu sagen von den vasomotorisch -
trophischen Veränderungen in der Hypnose. Die ausführliche Veröffent¬
lichung erfolgt in den Arbeiten aus der Würzburger psychiatrischen Klinik
(Jena, Gustav Fischer, 1913. Heft 8).
Diskussion. — Fischer -Prag stimmt mit dem Vortrag insofern
überein, als er meint, daß es nicht richtig ist, wenn man alle nekrobiotischen
Vorgänge der Haut speziell bei Paralytikern immer nur auf traumatische
Einflüsse beziehen will. F. begründet dies mit einigen selbstbeobachteten
Beispielen von Paralysen, als Entwicklung eines Othämatoms in direktem
Anschluß an einen Herpes zoster der Ohrgegend, symmetrisch auftretende
und sich wiederholende bullöse Hautablösungen und akuter Dekubitus
bei einem nicht liegenden und nicht sehr weit vorgeschrittenen Paralytiker
in der Hautzone zweier Sakralsegmente.
^4Mers-München bemerkt, daß die Annahme „innerer“, d. h. inner¬
halb der nervösen Zentralorgane sich abspielender Prozesse als Ursache
der Temperatursteigerungen usw. noch nicht zwingend erscheine, weil
möglicherweise auch extranervöse Vorgänge im Spiele sein könnten.
Ferner, daß die Koinzidenz von Tabes und trophischen Störungen noch
nicht eine kausale Verknüpfung bedeute, weil man sich vorstellen könne,
daß Organveränderungen und Zentralerkrankung koordinierte Störungen
und der gleichen Ursache entsprungen sein könnten, Reaktionen einer be¬
stimmten, zur Tabes disponierten Konstitution auf die betreffende Noxe,
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imal auf dem Gebiete des Zentralnervensystems, einmal auf dem anderer
gane.
Kundt -Deggendorf erwähnt den Fall einer paralytischen Frau,
dem die Störung der trophischen Funktionen Schwierigkeiten bei der
rensen Beurteilung der ihr zugefügten Verbrühung bot. ,
Etrartf-Frankenthal bemerkt, daß ein Teil der sogenannten tropho-
t'urotischen Störungen, besonders die plötzlichen, schweren, wie sie auch
<‘i bester Pflege mitunter aufzutreten pflegen, doch wohl auf arterio-
klerotische Ursachen zurückzuführen sind; man findet auch in diesen
allen mehr weniger stärkere Arteriosklerose, z. B. die Stammarterien,
ie Aorta usw.
Reichardt -Würzburg (Schlußwort): Daß nicht jede sogenannte
rophische Hautstörung Folge der Zentralerkrankung ist, ist sehr zu
»erücksichligen. Auch daran ist zu denken, daß z. B. eine komplizierende
periphere Neuritis die Ursache der Hautveränderung ist. Der von Herrn
[>r. Alters vertretene Standpunkt ist derjenige der Stoffwechselpathologie.
Venn man aber die körperlichen Veränderungen (Körpergewicht, Tem-
■eratur, trophische Funktionen) auch bei den reinen Hirnkrankheiten
:nd Rückenmarkskrankheiten der Neurologie berücksichtigt, die denen
den psychisch Kranken oft überraschend gleichen, so muß es als zurzeit
überwiegend wahrscheinlich bezeichnet werden, daß auch das Gros der
l^ycbiatrischen Kranken primäre Hirnkrankheiten sind und nicht primäre
'loflwechselstörungen. Das Zusammentreffen von Tabes und Osteo-
V'Mse ist zu erklären durch Annahme einer Erkrankung bestimmter
Rautenhirngegenden.
w* Velzen -Joachimsthal: Über das Gedächtnis.
Es war mir angenehm zu wissen, daß ich in dieser Versammlung
Vortrag halten darf über das Gedächtnis. Der Vortrag wird nur
'•hr kurz sein.
Als vor hundert Jahren Goethe sagte, daß es männliche und weib-
Ü' hc Pflanzen gebe, da wurde er so drangsaliert, daß er diese Idee re vo¬
tierte.
Noch unglücklicher würde der sein, der uns auf Grund logischer
*'hlüsse belehren würde über das Gedächtnis.
Warum weiß die Menschheit noch nicht, was das Gedächtnis ist?
es zuviel Vierteldenker und zu wenig Denker gibt.
Der eine hält das Gedächtnis für eine Funktion, der andere für
MerieU. Da eine Funktion schließlich Bewegung ist, so ist der Unter-
•ed ebenso groß, wie zwischen einem Quadrat und einer Kartoffel.
E. Hering schrieb: „Über das Gedächtnis als einer allgemeinen
unktion der organisierten Materie.“
^ ac h Anion besteht das Gedächtnis aus Sinnesgebieten.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Bei Hering ist aber das Gedächtnis Bewegung, bei Anton materiell,
denn Gebiete sind materiell.
Ist das Gedächtnis materiell' so muß es einen Inhalt haben und.
einen Raum einnehmen, kurz und gut, es muß eine Form haben.
Da das Gedächtnis dazu dient, Vorstellungen aufzubewahren, so
muß es natürlich materiell sein. Das Gedächtnis ist wesentlich und unver¬
änderlich.
Es ist durchaus richtig, was Augustinus lehrte: „Das Gedächtnis¬
hat Länge, Breite und Tiefe.“
Aber nicht nur das Gedächtnis ist wesentlich, sondern auch die-
Vorstellungen.
Mein Vater hat nun bewiesen, daß das Gedächtnis sphärisch ist.
Ein Grund für diese Idee ist die hemisphärische Form des) Himmelsbogens.
Was ist dieser Himmelsbogen ? Sehbilder gehören zu unserem Gedächtnisse.
Denn sie bleiben bewahrt. Die äußerste Form dieser Sehbilder ist der
Himmelsbogen. Also ist der Himmelsbogen die äußerste Form eines
Teiles unseres Gedächtnisses, die Grenze eines Teiles unseres geistigen
Wesens.
Das Gedächtnis empfängt nun Millionen sinnliche Bilder. Diese
bleiben längere oder kürzere Zeit bewährt. Und zwar im Gedächtnis.
Das Gedächtnis ist der Ort, der die wesentlichen Vorstellungen bewahrt.
Auch scheinbar verloren gegangene Bilder haften noch im Ge¬
dächtnis.
y Der Geist, unser Ich, ist das Aktive in uns, dasjenige, was fühlt,
denkt, will und sich bewußt ist.
Wenn wir vom Gedächtnis sprechen, so denken wir auch an eine
wichtige Eigenschaft des Gedächtnisses: das Vergessen.
Alle Bilder im Gedächtnisse bewegen sich, wie alle Körper. Es
gibt nur Corpora in motu. Damit erklären wir das Vergessen. Die Vor¬
stellungen, womit der Geist sich beschäftigt, haften länger, oft ewig;
diejenigen, womit er sich wenig beschäftigt oder auch gar nicht, ver¬
schwinden wieder aus dem Gedächtnisse.
In neuerer Zeit hat man experimentelle Untersuchungen über das
Gedächtnis gemacht. Bei diesen Untersuchungen darf man die Geistes-
fähigkeiten nicht vergessen.
Die Sprache redet so genau von der „Oberfläche des Gedächtnisses“
und von „tief in das Gedächtnis eingeprägt“.
Die Römer drückten sich prophetisch aus, wenn sie sagen: „Die
Vorstellungen (Proposita) objacent spiritui.“ Die Vorstellungen liegen
dem Geiste gegenüber. Das ist nach meiner Meinung im eigentlichen
Sinne wahr.
Wundt meint dagegen: „Ein Gedächtnis vor dem Vorrat, den es
aufbewahrt, gibt es nicht.“
Auch sagt Wundt : „Wir verstehen unter dem Gedächtnis die Fähig.
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keit, Vorstellungen, die den allgemeinen Charakter der Erinnerungs¬
bilder besitzen, als Zeichen zu betrachten, die auf früher gehabte Vor¬
stellungen, insbesondere Sinneswahrnehmungen, hinweisen. ln der Regel
verwechselt man hierbei das Zeichen mit der Sache und betrachtet die
Erinnerungsbilder als mehr oder weniger unverändert oder höchstens
in ihrer Stärke und Klarheit als abgeschwächte Wiederholungen der
ursprünglichen Vorstellungen.“
Wahrheit ist nach Wundt, daß sich „mit dem Erinnerungsbild
irgendeine Beziehung auf die frühere Vorstellung im Bewußtsein ver¬
bindet“.
Nun ist es meiner Ansicht nach verkehrt, das Gedächtnis eine Fähig¬
keit zu nennen. Unsere Bilder bleiben bewahrt. Es muß also etwas da
sein, das sie bewahrt. Wie kann aber eine Fähigkeit so etwas leisten?
Die Fähigkeit zu bewahren, ist doch kein Bewahrplatz. Auch die Auf¬
lassung des Bewußtseins ist ungenau.
Erinnerungsbilder sind Bilder, die mit Vorstellungen oder Bildern
vergangener Zeit und mit Vorstellungen von Geistesfähigkeiten, also
auch mit der Vorstellung des Bewußtseins im Gedächtnisse gepaart an¬
wesend sind. Mit diesen Vorstellungen sind wieder andere im Gedächtnisse
verbunden, auch Vorstellungen, die von den Sinnen abstammen, und
dadurch kommt es, daß, wenn wir uns des einen aus der Vergangenheit
bewußt sind, wir uns auch des anderen erinnern.
Wo hegt nun das Gedächtnis? In der Hirnrinde? Nein. Professor
Rothmann exstirpierte einem Hunde das ganze Gehirn, nur basale Teile
blieben zurück. Der Hund lebte viele, viele Monate. Zum Leben ist aber
das Gedächtnis nötig. Also kann hier in der Rinde das Gedächtnis nicht
Kegen. Es liegt nach meiner Meinung in den basalen Teilen des Gehirns.
Die Rinde dient mehr der Motilität.
Unser Gedächtnis ist unveränderlich. Es ändern sich nur die Vor¬
stellungen. Ich habe das anderswo gezeigt.
Wie der Bergstrom durch die Felsenklippe in Staub zerstiebt, ohne
daß die Klippe dem Anscheine nach sich auch nur einigermaßen ändert,
so und noch viel mehr geht die ganze Welt der vergänglichen Erscheinungen
an unserem Ich und seinem Gedächtnis vorüber, ohne sie wesentlich zu
ändern.
Keine Diskussion.
iTfeift-Erlangen: Ü b e r Sprachstörungen bei Geistes«
ir a n k e n.
Störungen der Sprache betreffen bald den Antrieb zum Sprechen,
bald die Gebilde der Sprache selbst. In einem Falle handelt es sich um
Mutazismus oder Sprechdrang, im anderen Falle ist die Bildung, Erweckung
«der Wahl der Worte oder der mehrwörtlichen Ausdrucksweisen oder die
Auffassung der Wortklänge gestört. Die sog. aphasischen Erscheinungen
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gehören zum größten Teil zu den Störungen an den sprachlichen Ge¬
bilden.
Während die Störungen des Sprechantriebes (Mutazismus, Sprech -
drang) bei Geisteskranken vielfach studiert wurden, sind unsere Kennt¬
nisse über Erscheinungen und Wesen der Störungen an den Sprach -
gebilden bei Geisteskranken sehr unvollkommen. Es fragt sich vor allem,
ob die hierhin gehörenden Störungen bei Geisteskranken — die Techni¬
zismen, die Wortneubildungen, die sprachlichen Manieren und Stereotypien,
die Störungen des Satzbaus u. a. — in den von den Herderkrankungen
des Gehirns bekannten Störungen aufgehen, oder ob sie diesen gegen¬
über besondere Arten von Störungen an den Sprachgebilden darstellen.
1. Störungen im Lautgefüge einzelner Worte:
z. B. kotuliert = gratuliert, ein Korplio = eine Karaffe, umfein = um-
gefallen, kistelo = Schere (französisch ciseaux).
Neben solchen als Verunstaltungen von Worten erkennbaren Sprach¬
gebilden kommen unentwirrbare „neugebildete“ Lautzusammensetzungen
vor, eine besondere Art von Wortneubildungen: z. B. lasaki, halmansisch.
Bei dieser Art von Sprachstörung handelt es sich zweifellos um Para¬
phasien (sog. literale Paraphasie) wie bei Herderkrankungen des linken
Schläfelappens. Erscheinungen von Worttaubheit konnten übrigens
hier wie überhaupt nie nachgewiesen werden.
2. Störungen der Wortwahl.
Die Kranken fallen dadurch auf, daß sie richtig gebildete Worte
in einem schiefen, zum mindestens übertragenen Sinne zur Bezeichnung
wahnhafter Vorstellungen verwenden. Die genauere Untersuchung zeigt,
daß dies nur die Teilerscheinung einer allgemeineren Störung der Wort¬
wahl ist. Eine Kranke mit religiösen Wahnvorstellungen nennt die Stimme
ihres Gewissens das „Fünklein“ und verwendet den Terminus „bauen“
im Sinne jeglicher nutzbringenden, insbesondere gottgefälligen Tätigkeit.
Sie sagt aber auch — ganz unabhängig von ihren Wahnvorstellungen:
der Kaffee lauft nicht = der Kaffee reicht nicht; Ich soll mir die Sachen
nicht süß Vorkommen lassen = .nicht leicht vorstellen; blitzen =
schimpfen.
Die Fehlgriffe in der Wortwahl finden sich bei dieser Störung fast
ausschließlich bei abstrakten Begriffen und Allgemeinvorstellungen, fast
nie bei konkreten Vorstellungen und nie bei Eigennamen. Die Fehlgriffe
gehen einher mit einer Einschränkung des verfügbaren Wortschatzes.
Die noch erweckbaren Worte werden nicht nur in ihrem eigenen richtigen
Sinne, sondern auch in erweitertem und übertragenem Sinne gebraucht
(Bedeutungserweiterung).
Die Störung ist daher weniger der bei temporalen Herden beob¬
achteten Wortfindungsstörung (Wortamnesie, verbale Paraphasie) ver¬
wandt, als der Einschränkung des verfügbaren Wortschatzes bei partiellen.
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bzw. rückgebildeten motorischen Aphaaien, bei denen die Einschränkung
nur regelmäßig eine viel stärkere ist (Beschränkung des SprechVermögens
auf einzelne Worte oder Wendungen). -
3. Die sprachlichen Manieren* und Stereotypien
(Verbigeration).
Vortr. versteht hierunter nur das zwangsmäßige — oder doch nicht
eigens beabsichtigte—Aussprechen gewisser Laute, Worte oder Wendungen,
die sich besonders gern als Mitbewegungen beim Aussprechen anderer
Worte dem Kranken auf die Lippen drängen. Die rhythmische Wieder¬
holung derartiger Sprachäußerungen ist die sogenannte Verbigeration,
die nicht auf einer Steigerung von Sprechantrieben, sondern auf einer
krankhaften Übererregbarkeit einzelner Sprachgebilde beruht.
Ähnliche Erscheinungen wie die Sprachmanieren sind die sprach¬
lichen Mitbewegungen, die sich bei manchen motorischen Aphasien finden.
i. Störungen des mehrwörtlichen sprachlichen
Ausdrucks.
Hier lassen sich agrammatische und paragrammatische Störungen
unterscheiden. Seltener kommt ausgesprochener Agrammatismus (De¬
peschenstiel) vor, um so häufiger sind Erscheinungen von unvollkommenem
Agrammatismus. Derselbe äußert sich in einer Vereinfachung des Aus¬
drucks unter Weglassung kleiner Satzteile, in der Neigung, ganze Vor¬
stellungsgefüge durch Einzelworte auszudrücken, in der Substantivierung
«nd in der Wortzusammensetzung. So wird der Agrammatismus zur
Quelle einer besonderen Art von Wortneubildungen, der neugebildeten
Wortzusammensetzungen (z. B. Darmentleerungsappetitverdauungsessen
= ein appetitanregendes und die Darmtätigkeit und Verdauung be¬
förderndes Essen). Agrammatische Störungen treten regelmäßig bei
schriftlichem Ausdruck stärker hervor als bei mündlichem. Die Ver¬
wendung von Technizismen in der Form neugebildeter Wortzusammen¬
setzungen ist ein Frühsymptom beginnender agrammatischer Störungen.
Als Paragrammatismen bezeichnet Vortr. solche fehlerhaft gebildeten
mehrwörtlichen Wendungen und Sätze, die nicht agrammatischen Charakter
fragen. Doch ist die Abgrenzung der Paragrammatischen von den agram-
maUschen Fehlern schwierig und vielleicht künstlich. Häufig werden
mehrere Wendungen, die einen und denselben Gedanken ausdrücken
»Öen, miteinander verquickt (Kontaminationen); z. B. eine Frau bittet
4ren Mann, er solle „andere Hebel in Bewegung setzen“, um ihre Ent¬
lassung zu erreichen = alle Hebel in Bewegung setzen + andere Mittel
«greifen.
Andere Störungen an den Sprachgebilden als diese vier Arten könnt**
der Vortr., an einem umfangreichen Untersuchungsmaterial nicht nach-
weisep, Ea ergibt sich daraus, daß wir vorläufig keinen Grund haben
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anzunehmen, daß die Störungen an den Sprdchgebilden bei Geistes¬
kranken andere Arten von Störungen darstellen als die aphasischen Er¬
scheinungen bei Herderkrankungen des Gehirns.
Die vier Sprachstörungen bei Geisteskranken lassen sich vielmehr
auf die von den Herderkrankungen her bekannte Paraphasie (literale
Paraphasie), die Einschränkung des Wortschatzes bei partieller motorischer
Aphasie, die sprachlichen Mitbewegungen bei unvollkommener motorischer
Aphasie und den Agrammatismus zurückführen. Der Eindruck der Wesens-
Verschiedenheit zwischen den Störungen der Sprachgebilde bei Herd-
kranken und bei Geisteskranken wird dadurch bedingt, daß bei Herd-
kranken die Ausfallerscheinungen viel stärker sind und reiner hervor¬
treten; bei Geisteskranken sind die Ausfallerscheinungen schwächer und
vielfach verdeckt durch Funktionsabänderung (Parasymptome) und oft
auch durch krankhafte Funktionssteigerung.
Im letzteren Falle bieten sich den Kranken statt eines Wortes
oder einer mehrwörtlichen Wendung (bzw. eines Satzes) mehrere
Worte oder Wendungen dar, die dann entweder nacheinander vorgebracht
werden (Tautologien) oder sich miteinander verquicken oder in Form
ungeheuerlicher Wortzusammensetzungen aneinandergereiht werden (z. B.:
Welche Eigenschaften müssen Soldaten haben? Treue, Mut und Geschick -
berufspflichtenerlernenbegabtheit).
Diese Verschiedenheiten zwischen den Störungen an den Sprach -
gebilden bei Herdkranken und bei Geisteskranken erklären sich daraus,
daß bei gleicher Lokalisation die Herderkrankung in kurzer Zeit umfäng¬
liche, zusammenhängende Massen von Gehirnsubstanz vernichtet, während
der pathologische Gehirnprozeß der Geisteskrankheiten allmählich kleinere
Gewebseinschmelzungen entstehen läßt, durch die neben Ausfallerschei¬
nungen auch Reizerscheinungen und Störungen im Zusammenspiel der
verschiedenen seelischen Leistungen verursacht werden dürften.
(Erscheint in der Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych.)
Diskussion. — Stransky -Wien begrüßt es, daß Kleist ganz
richtig auf die große Ähnlichkeit der aphasischen und der kontamina-
torischen Expressivstörung bei Schizophrenen hinweist; er erinnert an
die Ähnlichkeit von Parapraxie und Parergasie; ist aber wirklich, wenn
Redner den Vortr. richtig verstanden hat, an eine anatomische Lokali¬
sation zu denken ? Str. erinnert da nur an die Kontaminationen Gesunder
und in der Traumsprache.
Eccard-Franken thal weist darauf hin, daß auch beim sprechen-
lernenden Kinde derartige Störungen auftreten, was wohl gegen die von
Herrn Kl. vermuteten organischen Veränderungen spricht.
Ale ist-Erlangen (Schlußwort): Herrn Stransky erwidert Vortr.,
daß er allerdings überzeugt ist, daß die Lokalisation der Sprachstörungen
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i Geisteskranken dieselbe sei wie bei groben Herderkrankungen des
hirns. Die Sprachstörungen der Geisteskranken sind eben auch Herd-
raptome. Das Auftreten ähnlicher Störungen im Zustande der Unauf-
:rksamkeit (Stransky) und im Schlafe bzw. im Traum spricht nicht
gen die Auffassung des Vortr.; es folgt daraus nur-, daß auch in diesen
iständen die Sprachapparate des Gehirns an der Funktionsherabsetzung
ilnehmen. Wenn bei Kindern — wie Herr Eceard bemerkte— agram-
atische u. ä. Sprachstörungen beobachtet werden, so erklärt sich das
araus, daß bei Kindern die Sprachapparate des Gehirns noch nicht völlig
ltwickelt sind.
3. Sitzung.
Znnächst fand eine Geschäftssitzung statt, in welcher die bisherige
orstandschaft wiedergewählt wurde.
Als nächstjähriger Versammlungsort wurde Deggendorf gewählt,
ls Referat: „Die Pflegerfrage“ bestimmt und Herr Eccard-Frankenthal
ls Referent aufgestellt. Hierauf wird die Vortragsreihe fortgesetzt.
tyief/nei/er-München: Anatomische Demonstrationen
u <■ vergleichenden Krankheitsforschung.
In der Pathologie hat sich in den letzten Zeiten mehr wie früher
*s Bestreben geltend gemacht, einzelne Krankheiten — bei Wahrung
hrer Selbständigkeit —• nach ihren prinzipiellen Ähnlichkeiten in Gruppen
:u sondern. Gerade das Beispiel der progressiven Paralyse lehrt, wie diese
'»'^gleichende Krankheitsforschung ihren Ausgang von den differential -
liagnostisch anatomischen Bemühungen genommen hat: Die Vergleichung
'er paralyseähnlichen Prozesse (chronischen Enzephalitiden, Schlaf¬
krankheit, Staupe, Bornaschen Krankheit usw.) mit der Paralyse gewährt
ms einen tieferen Einblick in die pathogenetischen Vorgänge. Auch
onst gibt diese vergleichende histopathologische Analyse einen besseren
berblick über den Zusammenhang krankhafter Vorgänge und vermehrt
nser Wissen um das Wesen noch unklarer Erkrankungen.
Vortr. versucht das an zwei Beispielen aus der Idiotie zu beweisen,
rstens: an der familiären amaurotischen Idiotie; hier zeigt sich, wie die
-^gleichende Gegenüberstellung auch den praktischen Zwecken der
iagnose förderlich ist. Denn seit Vogt auf Grund klinischer Überlegungen
ie Verwandtschaft-mancher im Knabenalter auftretender, mit Amaurose
Tbundener familiärer Verblödungsprozesse und der Tay-Sachsschen
Krankheit proklamiert und seit Vortr. die Zusammengehörigkeit dieser
'«‘den Formen durch die anatomische Untersuchung bewiesen hat, ist
1 den letzten 8 Jahren die juvenile Form der familiären amaurotischen
diotie von den verschiedensten Autoren klinisch und anatomisch dia-
aostiziert worden. Vortr. berichtet über eine neue Beobachtung, die
ch den ursprünglich von ihm veröffentlichten und den von anderen
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Autoren mitgeteilten Fällen einreihen läßt. Auch hier beweist der ana¬
tomische Befund, daß die juvenile Form die später einsetzende, lang¬
samer verlaufende, mildere Abart der gewöhnlichen familiären amauroti¬
schen Idiotie darstellt. Bei aller Ähnlichkeit der infantilen und der juvenilen
Form bestehen aber auch hier die vom Vortr. früher geschilderten unter¬
scheidenden histologischen Merkmale.
Auch bei der tuberösen Sklerose ist es ein körperliches Zeichen r
welches nicht nur die Diagnose intra vitam häufig zu stellen erlaubt,
sondern welches auch die engen Beziehungen dieser Krankheit zu einem
anderen Prozesse, nämlich dem Fibroma molluscum, der Recklinghausen -
sehen Krankheit dartut. Auf Grund der histologischen Bilder tritt Vortr.
für die letzthin besonders von Bielschoasky begründete Auffassung ein,
daß bei der tuberösen Sklerose das wesentliche ein blastomatöser Prozeß
an der Neuroglia ist. Das wird besonders an Rinden- und Ventrikelherden
bewiesen. Auch die Eigentümlichkeiten eines Nierentumors (welcher
in einer ausführlichen Mitteilung von Dr. Hammond geschildert werden
wird) sind für die Auffassung des Krankheitsprozesses wesentlich. Nach,
allem erscheint es dem Vortr. gerechtfertigt, wenn in letzter Zeit von
verschiedenen Autoren die prinzipielle Gleichstellung der tuberösen Sklerose
und der Recklinghausenachen Krankheit als einer „Spongioblastose“'
betont wird.
Keine Diskussion.
Aoft-Erlangen: Zweikernige Ganglienzellen.
(Erscheint in der Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych.)
Diskussion. — Fischer-Prag betont, daß es einstweilen noch
nicht möglich ist, auf Grund unserer histologischen Kenntnisse zu ent¬
scheiden, ob eine doppelkemige Ganglienzelle eine kongenital verbildete
Zelle ist oder nicht. In die Frage der Bedeutung der Doppelkernigkeit
wird vielleicht erst dann ein Licht kommen, wenn man orientiert sein wird,
wie häuflg (prozentuell) sich bei einzelnen Hirnkrankheiten doppelkernige
Ganglienzellen nachweisen lassen.' Im Laboratorium der Prager psy¬
chiatrischen Klinik werden derartige Untersuchungen bei einem größeren
Materiale von Herrn Stein durchgeführt, und es ergibt sich bereits, daß
bei juveniler Paralyse dieselben in 100% Vorkommen, bei gewöhnlicher
Paralyse in 84%, bei anderen Psychosen in 45%. Die Untersuchung:
einer Reihe von normalen Gehirnen ist noch nicht beendet, weshalb auf
eine später erscheinende Publikation verwiesen wird.
Aoto-Erlangen (Schlußwort) freut sich der Bestätigung, welche seine
Befunde durch die Mitteilungen des Herrn Fischer gefunden haben,
und versteht die Bedenken, die Herr Fischer gegen die Deutung der
Befunde äußert. Er betont die Notwendigkeit, auch das Zentral¬
nervensystems geistig normaler Menschen in größerem Umfange zu durch-
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mustern, und bittet, wenn sich beim Normalen zweikernige Ganglien¬
zellen nachweisen lassen, darauf zu achten, ob gewisse schwere körper¬
liche Erkrankungen vorangingen.
von ifad-Nürnberg: Über motorische Apraxie, be¬
dingt durch halbseitige Balkenläsion (mit Pro¬
jektionen ).
(Der Vortrag wird in der Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. ver¬
öffentlicht. )
Keine Diskussion.
Kraepelin -München: Über Hysterie.
(Erscheint in der gleichen Zeitschrift.)
Diskussion. — Stransky -Wien stimmt zu, daß hysterische
and primitive Reaktion vielfach übereinstimmen; es wäre nur das eine
föglich, daß das Mißverständnis unterlaufen könnte, es wären Affekte
ud AlTektausdrücke etwas Minderwertiges; das sind sie aber keineswegs
io allen Fällen, es gibt auch sehr nützliche, soziale und geistige Höchst¬
leistungen tragende und fördernde Affekte.
Fischer-Prag: Das Alter und die Verlaufsformen
der progressiven Paralyse.
Die Diagnose der senilen Paralyse ist oft sehr schwierig, da dieselbe
recht häufig vollkommen unter dem Bilde der anderen senilen Erkran¬
kungen verlaufen kann, entweder unter dem der einfachen senilen Ver¬
blödung oder dem der typischen Presbyophrenie. Von 13 jenseits des
60. Lebensjahres stehenden Paralysen waren 7 presbyophren. Eine Zu¬
sammenstellung eines gewissen Materiales klinisch ganz sicherer Paralysen
«*gte, daß sich auch sonst ein Parallelismus zwischen gewissen klinischen
Verlaufstypen und dem Alter bei der Paralyse erweisen läßt. So zeigen
die mit katatonen Symptomen einhergehenden Fälle ein Durchschnitts¬
alter von 35*4 Jahren, halluzinierender Paralysen von 43% Jahren und
presbyophrener von 67 Jahren. Man ersieht daraus, daß das Alter doch
in gewisser Hinsicht einen bestimmenden Einfluß auf die Symptomatologie
der Paralyse hat.
Weiter weist F. darauf hin, daß nach seiner Erfahrung gerade die
Paralysen, die sich im Anschluß an eine bereits länger bestehende Tabes
entwickeln, sehr rapid verlaufen, indem die Durchschnittsdauer derselben
nur 12 Monate beträgt.
Keine Diskussion.
•VpeeAt-Erlangen: Zur Frage der exogenen Schädi¬
gungstypen.
(Erscheint in der Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych.)
Keine Diskussion.
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Specht -Erlangen: Über Katalysatorenbeeinflussung
b e i.. G e i s t e s k r a n k e n (vorläufige Mitteilung).
Statt des jetzt mit etwas überstürztem Eifer betriebenen Ahder-
haldenschen Verfahrens haben wir auf Anraten von Professor Dr. Weichardt
in dessen Laboratorium durch einen Arzt unserer Klinik die Weichardtsche
Methode der Katalysatorenbeeinflussung bei einer größeren Anzahl von
Geisteskranken in Anwendung gezogen.
Weichardt ist es gelungen, das Vorhandensein von Eiweißzerfall -
Produkten durch Prüfung der Katalysatorenfunktion nachzuweisen.
Katalysatoren sind bekanntlich Stoffe, die chemische Prozesse,
z. B. Oxydationsprozesse beschleunigen. Bei dieser Tätigkeit wird Sauer¬
stoff aus einem Sauerstoff reichen Medium auf oxydable Substanzen über¬
tragen. Ein solcher Katalysator ist im Blut das Hämoglobin. Man kann
aber auch Katalysatoren künstlich hersteilen; solch’ ein künstlich be¬
reiteter Katalysator ist das von Paal hergestellte und jetzt auch sonst
vielgenannte kolloidale Osmium.
Weichardt hat nun gefunden, daß Eiweißspaltprodukte die Kata ly-
satorentätigkeit beeinflussen, und, zwar wirken sie in geringen Dosen
anregend, in größeren Mengen hemmend bzw. lähmend.
Er hat ferner gefunden, daß diese die Katalysatoren beeinflussenden
Substanzen auch in die Exkrete, z. B. den Urin übergehen und auch in der
Ausatmungsluft nachweisbar sind. -
Wir haben demnach zwei-Möglichkeiten, die im Körper erzeugten
Eiweißzerfallprodukte, soweit sie katalysatorenlähmend wirken, nach¬
zuweisen: im Blut und in den Ausscheidungen, im letzteren Fall am ein¬
fachsten im Urin.
Wählt man das Blut zur Untersuchung, dann muß man den Blut¬
katalysator, das Hämoglobin, das auf seine Oxydasefunktion geprüft
werden soll, vom Serum und den geformten Elementen isolieren, da sonst
die chemischen Verhältnisse ganz unübersichtlich werden. Wie diese
Isolierung des Hämoglobins bewerkstelligt wird, gehört nicht hierher.
Wählt man zur Untersuchung den Urin, in den, wie gesagt, die
lähmenden Substanzen übergehen, dann muß man natürlich einen künst¬
lichen Katalysator zur Hilfe nehmen, eben das kolloidale Osmium.
Über diese Katalysatorenlähmung durch Eiweißzerfallprodukte
liegen nun schon folgende, von Weichardt und seinen Mitarbeitern ge¬
fundene Tatsachen vor:
Leitet man stark verbrauchte Luft über katalysatorenhaltige Flüssig¬
keit, also Lösungen von Hämoglobin oder kolloidales Osmium, dann ver¬
lieren diese allmählich ihre sauerstoffübertragenden Funktionen teilweise
oder gänzlich.
Es wurde ferner ermittelt, daß Eiweiße und deren Spaltprodukte,
insbesondere auch solche Produkte aus Karzinommaterial in geringen
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Dosen anregend, in höheren Dosen und bei längerer Einwirkung lähmend
auf die Katalysatorentätigkeit wirken.
Es wurde ferner festgestellt, daß bei normalen Schwangeren in der
überwiegenden Mehrzahl ein Stadium der Anregung des Hämoglobin«
katalysators vorhanden war.
Aus alledem ergibt sich, daß es im Organismus, wenn Eiweißspalt¬
produkte freiwerden, zunächst zu einer Anregung der Oxydasefunktion
des Hämoglobins kommt, und daß dieses zunächst für die Bindung solcher
schädlichen Produkte einzutreten hat. Erst wenn eine Überschwemmung
des Organismus mit solchen Substanzen stattgefunden hat, dann kann
« zu einer Lähmung des Katalysators kommen.
In manchen Fällen, bei denen die beeinflussenden Dosen solche sind,
'hfl das Anregungsstadium zur Lähmung umkehrt, wird sich weder An¬
regung noch Lähmung der Katalysatorentätigkeit wahrnehmen lassen.
Der Katalysator wirkt dann wie ein normaler, obgleich er das keineswegs
tä. Spezifisch sind diese Beeinflussungen nicht.
Es war verlockend zu untersuchen, inwieweit Katalysatorenbeein-
llussung bei gewissen Gruppen von Geisteskranken, bei denen man einen
pathologischen Eiweißzerfall annehmen muß, wahrgenommen werden
kann. Das ist von dem Medizinalpraktikanten an unserer Klinik Herrn
Hauenstein im TVerchordtschen Laboratorium geschehen und zwar bei
Paralytikern, Schizophrenen, nach epileptischen Anfällen sowie ver¬
einzelt bei anderen Kranken.
Die bisherigen Untersuchungen stellen selbstverständlich vorerst
nur tastende Versuche dar. Folgendermaßen lauten die Resultate:
Unter 30 Paralytikern zeigte sich bei 22 Lähmung des Hämo¬
globin katalysators. Bei 6 weiteren Fällen zeigten sich geringere Grade
von Lähmung, sie liegen aber noch innerhalb der Fehlergrenzen. Die
* restierenden Fälle zeigten Anregung; der eine davon ist eine jetzt stabile
Taboparalyse, der andere war zur Zeit der Untersuchung durch Hyoszinin¬
jektion kompliziert.
Bei 20 Schizophrenen zeigten 18 starke Lähmung; 2 Fälle zeigten
Anregung; beide sind klinisch eigenartig gelagert und gleichen auf¬
fallenderweise einander auch klinisch sehr.
Bei zwei Huntington -Chorea fand sich starke Lähmung.
Bei zwei Paralysis agitans ganz geringe Lähmung.
Zwei reine Manien zeigten weder Anregung noch Lähmung.
Ebenso zeigten fünf Epileptiker keine Lähmungen des Blutkataly¬
sators.
Dagegen wurde bei 37 Epileptikern der nach Anfällen gelassene
Urin mit dem anorganischen Katalysator, dem kolloidalen Osmium unter¬
sucht. Dabei fand sich in 22 Fällen eine Lähmung im Vergleich zu normalem
Kontrollurin dann, wenn man kurze Zeit nach dem Anfall untersuchte.
Es handelt sich also beim epileptischen Anfall um sehr labile Substanzen.
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Das alles sind jedenfalls sehr bemerkenswerte Resultate, die zur
Fortsetzung der Versuche ermuntern. Vorerst jedoch bitte ich mit dem
Urteil zurückzuhalten. Auch diese Untersuchungen sind, wie alle neueren
diagnostischen, subtil und erfordern peinliches Arbeiten besonders geübter
Untersucher, sonst verwischen sich die feinen Unterschiede gänzlich.
Auch ist die Zahl der bisher vorliegenden Fälle noch zu gering, um
sich ein endgültiges Urteil zu bilden, wie das auf Grund nur weniger Fälle
leider öfter geschehen ist. Wir erlebten es dann, daß anfänglich glatt
einschlagende Ergebnisse bald genug Fiasko gemacht haben.
Keine Diskussion.
Die noch angemeldeten Vorträge:
#
Alters -München: Uber die Abderhaldensche Ser o -
Diagnostik der Psychosen,
Weiler-München: Krankendemonstrationen,
Isserlin- München: Über die Bedeutung von Ge¬
fühl s v o r g ä n g e n für die Reproduktion
mußten der vorgerückten Zeit wegen ausfallen.
Der Vorsitzende schließt die Versammlung mit lebhaftem Danke
an die Referenten, alle Vortragenden und die Schriftführer.
Ein Teil der Teilnehmer besichtigte noch nachmittags, ein größerer
Teil am folgenden Vormittag die neue oberbayerische Heil- und Pflege -
anstalt Haar bei München unter der Führung des Herrn Direktors
Dr. Blachian.
Brandt. Isserlin.
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Kleinere Mitteilungen.
Der nächste Kongreß für experimentelle Psycho¬
logie findet vom 15. bis 18. April 1914 zu Güttingen statt. Referate:
1. H. Gutsmann : Über die Beziehungen der Gemütsbewegungen und Ge¬
fühle zu Störungen der Sprache; 2. O. Klemm: über die Lokalisation
von Schallreizen; 3. C. Stumpf: Uber neuere Untersuchungen zur Ton¬
lehre. Anmeldungen betr. Teilnahme oder Vorträge an Prof. Dr. G. E.
Müller in Göttingen, Bergstr. 4. Referate der beabsichtigten Vorträge
sind zwecks vorheriger Drucklegung bis zum 28. Februar einzusenden.
Der 31. deutsche Kongreß für innere Medizin
findet vom 20. bis 23. April 1914 in Wiesbaden unter dem Vorsitz von
Prof. Dr. von Romberg -München statt. Thema des 1. Sitzungstages ;
Wesen und Behandlung der Schlaflosigkeit. Ref. Gaupp -Tübingen, Gold-
«fcüfer-Berlin, Faust-Würzburg. Vortraganmeldungen an Prof. Dr.
v- Romberg , München, Richard-Wagner-Str. 2.
Die Jahresversammlung des Deutschenvereins fürPsy-
chiatrie wird am 24. u. 25. April 1914 in Straßburg stattfinden.
Aschaffenburg -Köln und Wilmanns -Heidelberg werden über „Verminderte
Zurechnungsfähigkeit“ referieren. Angemeldete Vorträge: 1. Uhlenhuth-
Straßburg (auf besonderen Wunsch des Vorstandes): Über experimentelle
Syphilisforschung; 2. E. Stransky-Wien: Intrapsychische Ataxie und
Schizophrenie; 3. derselbe: Die Kontamination in der Pathologie der
Sprache; 4. Käst an- Königsberg: Die Pathogenese der Psychosen im Lichte
der Abderhaldenachen Anschauungen; 5. Hübner- Bonn: Über paranoide
Psychosen; 6. Nießl v. Mayendorf: Die funktionellen Wechselbeziehungen
zwischen beiden Hemisphären; 7. Fauser- Stuttgart: Über dysglanduläre
Psychosen; 8. Jacob u. Weygandt: Beiträge zur experimentellen Syphilis
des Nervensystems; 9. Kafka: Die optische Methode nach Abderhalden
in der Psychiatrie. — Anmeldung weiterer Vorträge bis Mitte März an
Sanitätsrat Dr. Hans Laehr in Zehlendorf-Wannseebahn, Schweizerhof,
erbeten.
Die Vereinigung kath. Seelsorger an deutschen
Heil- u. Pflegeanstalten 1 ) hielt ihre 4. Jahresversammlung
2 ) S. diese Zeitschr. Bd. 70, S. 326 u. 653.
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Kleinere Mitteilungen.
am 5. August 1913 in Würzburg ab. Dr. Ig. .Fa/m'tter-Regensburg refe¬
rierte über „Die tägliche Krankenvisite des Hausgeistlichen an den Heil-
und Pflegeanstalten“ und „De periculo mortis quoad sacram unctionem“,
Dieroert-Schussenried über die „Grundzüge für die Verhältnisse der kath.
Seelsorge an Heil- und Pflegeanstalten im Nebenamte“ und Reuter-
Rottenmünster über „Die öftere und tägliche Kommunion in den Heil-
und Pflegeanstalten“. Sind die Referate Famillers im allgemeinen voll
klugen Verständnisses und Bedenken dagegen vom Standpunkt des
Arztes aus kaum zu erheben, so gilt dies nicht gleicherweise von den
beiden übrigen. Ich wenigstens vermag es nicht zu billigen, wenn Diemert
meint, für den Besuch des Gottesdienstes und den Sakramentsempfang¬
sollten der Wunsch des Kranken und die Ansicht des Geistlichen in erster
Linie maßgebend sein, und wenn er dementsprechend, ohne gemäß seiner
Instruktion vorher das Einverständnis des Anstaltsdirektors einzuholen,
die Kranken, die er als geeignet ansieht, dazu ermuntert und wohl auch
durch das Wartpersonal ermuntern läßt, so daß nunmehr erst die Bitte
des Kranken die Entscheidung des Direktors herbeiführt. Nach diesem
Verfahren kann manchem Kranken die Teilnahme vom Arzte pflicht¬
gemäß abgeschlagen werden, nachdem der Wunsch danach vom Geist¬
lichen genährt oder gar erst geweckt worden ist, und das scheint mir
ein unnötiger und oft gewiß nicht gleichgültiger Eingriff in das Seelen¬
leben des Kranken. Ebensowenig kann ich mich damit befreunden, daß
Beuter dem päpstlichen Dekret vom 20. 12. 1905, das den häufigeren,
womöglich täglichen Empfang der hl. Kommunion anrät, auch bei Geistes¬
kranken Einfluß verschaffen möchte und nicht nur z. B. leicht Manische
als tauglich hierfür betrachtet, sondern auch manchem Melancholiker,
„wenn er einmal in der Lage ist zu beichten“, eine Wohltat zu erweisen
glaubt, wenn er ihn animiert, etwas öfter zu der hl. Kommunion zu gehen,
als er wohl von sich aus ginge. (Der Versammlungsbericht ist als Manu¬
skript gedruckt.) H. L.
Am 15. Oktober ist die neue badische Landes-Heil-
u. Pflegeanstalt bei Konstanz am nördlichen Ufer des
Untersees, gegenüber dem Ostende der Insel Reichenau, mit den ersten
Kranken belegt worden. Am 11. Oktober hatte eine Besichtigungsfeier
stattgefunden, an der etwa 200 Personen teilnahmen. Es sprachen Staats-
minister Frhr. v. Bodman, Min.-Dir. Geh.-R. Dr. Glöckner und der An¬
staltsdirektor Med.-R. Dr. Oster. Aus der Rede des Min.-Dir. Dr. Glöckner -
sei folgende Stelle wiedergegeben: „Im ganzen sind bis jetzt 3 639 000 Mk.
für diese Anstalt bewilligt, und damit außer den Verwaltungs- und Be¬
triebsgebäuden, von denen der Gutshof allerdings erst im nächsten Jahr
fertiggestellt werden soll, und 3 Beamtenwohnhäusern, 10 Kranken¬
häuser mit zusammen 400 Betten, je 2 Aufnahmehäuser, je 2 Häuser
für Unruhige und 1 großes Haus für halbruhige, speziell sieche Kranke
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Kleinere Mitteilungen.
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1 jea-rGesehlechtsseite erstellt worden, die nun von der nächsten Woche
rjt Kranken belegt werden sollen. Dazu sollen in der nächsten Budget-
für die ein Betrag von i 340 000 Mk. angefordert werden soll,
ti weitere Krankenhäuser für halbruhige und aufsichtsbedürftige
mit zusammen 280 Betten, die Kirche, das zweite Ärztewohnhaus
d inimtenwohnhäuser für 8 Beamtenfamilien erstellt werden, während
r t.est des Bauprogramms, 8 Häuser für ruhige Kranke mit zusammen
•' B-tten, die Infektionslazarette, und das Schlachthaus erst in den
iMi 1916/17 zur Ausführung gelangen sollen. Der Gesamtaufwand
ragt nach dem Voranschlag vom Dezember 1909, der freilich die seither
s-tretene Steigerung der Löhne nicht vorhersehen konnte, 5 800 000 Mk.
von entfallen auf die Krankenhäuser rund 2,3 Millionen, auf Ver¬
bunds- und Wirtschaftsgebäude rund 1,4 Millionen, auf Beamten-
»linhiuser 266 000 Mk., auf Geländeerwerbung 400 000 Mk., auf Straßen
0 o<xi Hk., au f Kanalisation einschließlich. Tiefdrainage 320 000 Mk.,
d Wasserversorgung 325 000 Mk., auf die Fernheizung und Fernwarm-
Jsserversorgung 348 000 Mk.“ (Karlsruher Zeitung vom 14. 10 . 1913.)
Die Nervenheilanstalt der Stadt Frankfurt a. M.
in Köppern eröffnet worden.
Kine aus Ärzten und Pressevertretern bestehende Yertrauens-
Emission für Irrenrechtsfragen ist gegründet worden.
r lieichsverband der deutschen Presse hat die Redakteure Giesen-
nkfurt a. M. und Dr, Kastan -Berlin delegiert, der Deutsche Verein
ilicher Privatanstaltsleiter: Prof. Thomsen- Bonn und Prof. Friedländer-
le Mark. Vorsitzender ist Prof. Dr. jur. Heimberger, Schriftführer
ichtsassessor Dr. Coenders- Bonn. Die Aufgabe dieser Kommission
■eht in der Prüfung der möglichsten Klarstellung aller wirklichen
behaupteten Mißstände auf rechtlichem und administrativem Gebiet
Irrenwesens (unrechtmäßige Internierung, ungeeignete Behandlung,
Kündigung usw.).
Personalnachrichten.
Franz Simon, Geh. San.-R., Dir. der Prov.-Anstalt Lüben (Schlesien)
tritt am 31. März in den Ruhestand.
Oswald Bumke , ao. Prof, in Freiburg, hat einen Ruf nach Rostock
als o. Prof, und als Direktor der Landesanstalt Gehlsheim er-
k Hnd angenommen
I* als Abteilungsarzt von Lublinitz nach F r e i b u r g
4 versetzt worden.
Lxxr. i. 13
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Original from
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194
Kleinere Mitteilun gen-
Dr. Walter Haßmann , Anstaltsarzt in Illenau, ist zum Bezirksarz t
in Bretten ernannt.
Dr. Gabriel Steiner in Straßburg und
Dr. Felix Stern in Kiel haben sich als Privatdozenten habilitiert.
Dr. Karl Jaspers. Yol.-Ass. an der phychiatrischen Klinik zu Heidelberg,
hat sich in der philoso phischen Fakultät habilitiert.
Dr. Ed. von Grabe, Oberarzt in Hamburg, Friedrichsberg, hat den Titel
Professor erhalten.
Dr. Karl Serger, San.-R., Dir. der Landesanstalt Strelitz, starb am
18. Okt., 50 J. alt, durch Suizid in einem Depressionszustande.
Dr. Fedor Schuchardt, Geh. Med.-R. u. o. Prof., Dir. der Landesanstalt
Gehlsheim, starb nach langem schweren Leiden im 66. Lebens¬
jahr am 7. November.
Dr. Bernard Oebeke, Geh. San.-R., konsult. Arzt der Endenicher Heil¬
anstalt und ehern. Landespsychiater der Rheinprovinz, starb
im 77. Lebensjahr am 7. Dezember.
Dr. Ludw. Römheld , Direktor der Landesanstalt Alzey,
Dr. Max Schwienhorst , Abteilungsarzt an der Landesanstalt Münster, und
Dr. Theodor Kaes, Prosektor der Staatsanstalt Friedrichsberg in Hamburg,
sind gestorben.
Difitized
bv Google
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Initiale Schriftveränderung bei Paralyse 1 ).
Von
Dr. Georg Lomer.
Daß die Paralyse mit fundamentalen Änderungen der Schrift
einhergeht, ist längst bekannt. Weniger bekannt, ja umstritten ist
der Umstand, daß diese Änderungen bereits im Frühstadium des
Leidens zu erkennen sind. So hat noch jüngst P. Näcke 2 ) die Ansicht
geäußert, daß die Schrift der Paralytischen „lange normal sein kann“.
Es verlohnt sich daher sicherlich, diese Behauptung einmal auf ihre
Richtigkeit zu prüfen. Das soll hier an einem lehrreichen Falle ge¬
schehen.
F. St., geb. im Mai 1861. Keine Heredität. Von Anfang an schwäch¬
lich und etwas nervös. Stotterte sehr. War ein mäßiger Schüler. Nicht
Soldat wegen allgemeiner Körperschwäche. Nach Angabe der Mutter
„trotz fester Grundsätze und zartem Feingefühl immer schwer zu be¬
handeln, seiner nervösen Reizbarkeit wegen“. Dabei ein zärtlicher, guter
Sohn; mit „einem Hieb ins Ideale“, — schrieb öfters für Zeitungen Reise¬
schilderungen, Novellen u. dgl. mehr.
Nach erlangter Primareife Kaufmannslehrling, hielt sich in der
Lehrzeit gut und ging mit 24 Jahren nach Buenos Aires, wo er 28 Jahre
lebte und zu mäßigem Wohlstände gelangte. Mit 32 Jahren Heirat. Ehe
angeblich zunächst glücklich. Ein gesunder Sohn, der jetzt erwachsen
ist und sich sein Brot selbst verdient.
Während der Ehezeit luische Infektion, genauer Zeitpunkt unbe¬
stimmt. 1902 und 1909 Aborte der Frau.
Aus dieser Zeit, Oktober 1909, stammt der Brief, dem Schriftprobe I
entnommen ist. Der Brief ist an die Schwester gerichtet. Die Probe
entstammt der zweiten Briefseite. Benutzt wurde ein gewöhnlicher
Briefbogen.
*) Aus der Landesirrenanstalt bei Alt-Strelitz.
*) Näcke, Einige Bemerkungen bezügl. der Zeichnungen' und anderer
künstlerischer Äußerungen von Geisteskranken. Zeitschr. f. d. ges. Neurol.
u. Psych. Bd. XVII, H. 4, S. 462.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXZI. 2. ]4
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196
Lomer,
I. (Oktober 1909).
Wir haben in Probe I eine mittelgroße, mäßig druckstarke Schrift.
Leicht bewegter Gesamteindruck. Rand schmal. Zeilen und Worte gut
und klar voneinander abgesetzt. Zeilenrichtung leicht an¬
steigend. Ziemlich weite Schrift. Neigungswinkel 30—40°.
Der Verbundenheitsgrad, nach einer a. a. 0 . 1 ) von mir an-
5,4 1
gegebenen Methode berechnet, beträgt — oder das heißt: mit
je einem neuen Anstrich werden durchschnittlich immer je 2,22 Schrift¬
kontinua 2 ) gezogen. Es liegt also ein mittlerer Verbunden¬
heitsgrad vor.
Die Schrift zeigt nur wenigEigenart, soimS, Zeile 1; im F,
Zeile 4; im c, im kleinen w. Im ganzen ist sie konventionell und nähert
sich dem Schulmäßigen.
Weder Arkaden- noch Girlandentyp. Die m und n sind oben
teils gewölbt (letztes m, Zeile 1), teils spitzwinkelig (letztes m, Zeile 3).
Die u und ü zeigen fast durchweg an der Basis spitzige Winkelbildung.
Auch bei anderen Basiszügen findet sich öfter Winkelbildung (z. B. im
ersten i, Zeile 4). Wo Basisbögen sind, da sind sie nicht sehr ausgiebig.
Ober- und Unterlängen gleichmäßig entwickelt. Schleifen für ge¬
wöhnlich strichförmig (vgl. die 1, die h; auch das g und f, Zeile 4). Selten
etwas voller (im g, Zeile 1 und 3; im 1, Zeile 2). Bald verschliffen, bald
als Schleife ausgezogen ist das e.
Der erste Buchstabe ist häufig vom übrigen Wort abgesetzt (Zeile 1,
Wort 1 und 2; Zeile 2, Wort 1, 2 und 4; Zeile 3, Wort 1; Zeile 4, Wort 2).
Die Großbuchstaben sind als solche deutlich hervorgehoben.
Die Kleinbuchstaben von etwas wechselnder Größe. Der erste
Zug des a beide Male erhöht. Das letzte e, Zeile 3, vergrößert. Worte
1 ) Uber graphologische Merkmale des Schwachsinns. Archiv f.
Psychiatrie, Bd. 53, H. 1.
*) Ein Schriftkontinuum ist ein nach der Schulvorschrift gewohn¬
heitmäßig mit einmaligem Anstrich gezogener linearer Zusammen¬
hang. Das m, n, o, a setzen sich z. B. aus nur einem, das f, t aus zwei,
das ä, ü aus drei Kontinua zusammen.
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Iwtia!^ Sefcriftvärändeitmg hei Paralyse.
:
•Hl-. klt'iKiH! wvrdwö {*. B. 2«ik i, Woit
Zeile 2, Wort ü
: tv |R't Rt?U oh»n'. gescttiössfte, besonders ; oigeiutrüg iu
$fX ßöwHo il'af: >t- f>jk> h io dt «st i«r etjpenwxtigoi* Weise
ppNö<-\ I'&& Afc-ttnHftn.Ast in Zeileentfach
m iHrort.- dnß ktn i>n4 votlstAin&stw VcrsohliiiS erweH Wird \-ik mteo
li$i!l ffe.sdmongjm; '••. ;. ■} ’ a ' //- \\.
fljn&h fesrh Art $ffkr
Zeit»? 3, «t kfiko.
ist tlflliieiviäftft., UtttVfe 3c\\t? hftd OäCA
• i.M .,1 ■•> ! ! .i-. r hkstrt.i : - ' ' feh ••• h c : ! u jy[ß
f»lf>-i',i^i n...:it Yttfut- ii»luA.-Sjn'd ej^efeg^Vi.
♦>•.?/'* =4ar Wwi^ $„> h,. ifd «hyr-
k : "'l' n;i:illl' • i tt-* n Itlil • I •\ ;.:-i.'- ? ' im: i.| i ,,,
*& yfotrt' .£-M£.ZkUe % Wort 4 j. ß r» <t& tr'uu.y.
jsp&t'. ‘imirt l.iMJvre, el.i.'hfaÜs ltj.rhl .1; a n.:i'
iaV
4^1%;^ OiPiRffidxni
iiuli'rji\!iig yvripiÜ
^t;hUt^ii : «gel am
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Lomer,
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niemand in seine Karten schauen zu lassen: er ist ein v e r s c h 1 o s s e n er
Charakter 1 ).
Gleichwohl ist er durchaus gewohnt, seinen Gefühlen nachzugeben*),
und liebt äußere Beschränkung sicherlich nicht s ). Möglicherweise
hat diese — als Schwäche imponierende — Eigenschaft die ausgesprochene
Verschlossenheit ursprünglich psychologisch entwickeln helfen.
Das äußere Auftreten ist von leiser Freundlichkeit 4 ),
ohne Übertreibungen 6 ). Zuweilen wird er etwas heftig 4 ). Anscheinend
Sinn für Humor 7 ). Sinnlichkeit ist vorhanden, doch hält sie sich
im ganzen in mäßigen Grenzen. Das idealistische Zartgefühl überwiegt *).
Der Schreiber ist also, alles in allem, kein Mann mit irgendwie
hervorstechenden abnormen Zügen. Auch die allgemeine Stimmung¬
entspricht diesem Befunde: sie ist gut und zuversichtlich*).
In der nächsten Zeit scheint nun mit St. eine Änderung vor sich
gegangen zu sein. Nach (späterer) Aussage der Frau wurde er „unver¬
träglich, herrisch, launenhaft“. Vom Geschäft zog er sich zurück, da er
angeblich „das Klima nicht vertrug“. Ende 1911 machte er — frucht¬
los — eine Erholungsreise nach Europa. In seinen Briefen kehrten häufig
Klagen über seine „Nerven“ wieder. Das Verhältnis zu seiner Ehefrau
wurde schlechter.
Aus dieser Zeitperiode, drei Jahre später als I, stammt die Schrift¬
probe II, die der letzten Seite eines Briefes an die Mutter entnommen
ist. Das Briefpapier ist Quartformat. Was finden wir?
II. (November 1912.)
Zunächst fällt auf, daß die Schrift druckstärker ist als in I. Zeilen
x ) Oben geschlossene a, c, d; u-Haken in Zeile 2 und 4, Worte
manchmal kleiner werdend.
2 ) Sehr kleiner Neigungswinkel.
*) Weite Schrift.
4 ) Zart geschwungene Anstriche.
•) Einfache Buchstabenformen.
•) Form der Endstriche.
7 ) Aufwärts geschwungener u-Haken, Zeile 1; letztes r, Zeile 4.
8 ) Mäßiger Druck, doch sind manche Schleifen ganz zugeschliflen.
•) Steigende Zeilenrichtung.
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Initiale Schriftveränderung bei Paralyse.
199
und Worte sind enger aneinander gerückt. Deutlich sinkende
Zeilenrichtung. Der Neigungswinkel sinkt gar
unter 30, stellenweise bis auf 20 Grad. Die ganze Schrift erhält
dadurch etwas auffällig Flaches. Der Verbundenheitsgrad
ist sehr stark herabgegangen.
Er beträgt nur noch
3,44
oder-
1,744.
Das
heißt, mit je einem Anstrich werden durchschnittlich nur noch 1,744
Schriftkontinua gezogen, — gegen 2,22 in der ersten Probe.
Der Schriftduktus hat sich im Sinne der Arkadenbevor¬
zugung verändert: nicht nur die m und n sind arkadenartig gebaut,
sondern auch die u. Häufig findet sich die graphologisch als „gestützte
Nebenrichtung“ bezeichnete Erscheinung: der an einen Grundstrich un¬
mittelbar ansetzende Haarstrich wird in demselben Grundstrich erst noch
ein Stück hinaufgeführt, ehe er abzweigt. Auch da, wo in Probe I sich
Basisbögen finden, z. B. am Ende der kleinen d, ist jetzt ein Winkelzug
getreten.
Die Schleifen sind in weit höherem Umfange verschliffen, als in I.
Man vergleiche das H der Probe II, Zeile 2, mit dem H in Probe I, Zeile 4;
das b in Probe I, Zeile 4, mit dem b in Probe II, Zeile 2. Das e in Probe II
ist fast durchweg verschliffen, oft auch das a, und zuweilen das c und das
o. Der t-Schlußriegel ist klecksig. Überhaupt macht die ganze
Schrift einen klecksigerenEindruck. Die Schlußschleife
des b ist weiter durchgezogen, also schärfer markiert. Auch der Schluß-
zug des kleinen s ist im adduküven Sinne stärker ausgeführt. Stark
adduktiv ist auch die Basiskurve des einleitenden F in Zeile 1.
Die Gestalt des w nähert sich mehr der Schulnorm. Das große A
ist noch stärker geschlossen als in I. Der Grundstrich des f zeigt eine
leichte kolbige Anschwellung. Die Bei zeichen sind lückenlos, dabei
tiefer gesetzt als in I, nie hinter, sondern häufig vor den Buchstaben.
Die i-Punkte meist kurze Striche. Die u-Haken sämtlich vom geschlossenen
Typ.
Wir haben also eine ganze Reihe bedeutsamer Abwei¬
ch u n g e n von der ersten Probe. Die logisch-deduktive
Gedankenverknüpfung 1 ), die Klarheit des Denkens*) hat
sichtlich gelitten. Eine gewisse Regsamkeit ist zwar immer
noch vorhanden 3 ), doch wird sie durch eine Art pedantischer
Selbstbeobachtung 4 ) entschieden hintangehalten.
Eine bedeutend stärkere Rolle als früher spielt das materiell-
x ) Herabgehen des Verbundenheitsgrades.
2 ) Zeilen nähergerückt. Gesamteindruck unklarer.
3 ) Strichförmige i-Punkte, die z. T. hoch gesetzt sind.
4 ) Mehrzahl der Beizeichen niedrig, manche vor den Buchstaben
gesetzt.
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200
Lomer,
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sinnliche Element 1 ). Auch sind leichte brutale An¬
wandlungen 2 ) vorhanden, die gut zu diesem Elemente passen.
War der Schreiber vordem verschlossen, so ist er jetzt geradezu
unwahr*), wie denn untüchtige oder unsoziale Charaktereigen¬
schaften ein unaufrichtiges Wesen oft sekundär erzeugen. Und solcher
unsympathischen Züge gibt es noch mehr.
Da ist, neben der wachsenden Sinnlichkeit, ein verstärkter
Egoismus 4 ). Und da ist schließlich die große innere H a 111 o s i g -
k e i t des ganzen Menschen, die sich in weichlicher Sentimentalität so
recht gehen läßt ‘).
Die allgemeine Stimmung zeigt einen bemerkenswerten Umschwung:
an Stelle des zuversichtlichen Lebensmutes ist deutliche Ge¬
drücktheit getreten •).
Der intellektuell-moralische Rückgang liegt
also ohne weiteres auf der Hand. Bedenkt man, daß sich diese Tatsache
bereits lange, ehe die Umwelt auf den Verdacht
vorliegender Geistesstörung kam, unanfechtbar in der
Handschrift offenbarte, so erhellt daraus so recht der diagnostisch-progno¬
stische Wert eben der Handschrift selbst, der dem klinischen Erkennen
unter Umständen weit vorauseilen kann.
Probe II involviert ohne Zweifel bereits einen bemerkenswerten
Grad geistiger Schwäche, indem die verstärkte Sinnlich -
k e i t, der Egoismus, die Unwahrhaftigkeit nur Einzel¬
züge eines wohlbekannten Erscheinungskomplexes sind.
In der Tat scheint nun in der Folgezeit die Unsozialität des Pat.
zugenommen zu haben. Insbesondere spricht manches aus den — nur
lückenhaften — Berichten der Ehefrau für ein sich entwickelndes tieferes
eheliches Zerwürfnis zwischen den Gatten, das in wachsenden sinnlichen
Bedürfnissen des Mannes sowie in vielleicht ursächlich damit verbundener
übertriebener Eifersucht seinerseits den Ursprung hatte. Dieser Zustand
hielt sich eine Zeitlang.
Noch in Schriftprobe III, die gleichfalls der lezten Seite eines
Briefes an die Mutter entstammt, finden wir kaum eine nennenswerte
Veränderung gegenüber II.
III. (März 1913.)
*) Klecksigkeit, Verschleifungen, Druck.
*) Einzelne Kolbenbildungen.
3 ) Ganz überwiegend Arkaden und gestützte Nebenrichtungen.
Großes A stärker verschlossen. u-Haken desgleichen.
4 ) Adduktive Schlußzüge am s und b. Gestützte Nebenrichtungen.
*) Vermeidung der Geraden in den Grundstrichen. Ungeheuere
Verkleinerung des Neigungswinkels,
•) Absteigende Zeilen.
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Io'itütfe. Schriftvwä&deruns bei Papaiyse.
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202
Lomer,
er sei von seiner Frau geschieden, habe sie wenigstens um eine Schei¬
dungsklage ersucht.
Auf dieses auffällige Benehmen hin erfolgte am 27. Mai 1913 seine
Überführung in hiesige Anstalt.
Aus dem Untersuchungsbefund : Spuren der Lues
nachweisbar. Pupillenreaktion auf. Licht beiderseits = 0. Rechte Pu¬
pille >. L. Iris eckig verzogen. Romberg +. Silbenstolpern, kombiniert
mit Stottererscheinungen. Personalien im ganzen richtig. Alphabet
unrichtig reproduziert. Rechenaufgaben fehlerhaft gelöst. Merkfähigkeit
stark herabgesetzt. Größte Urteilsschwäche in bezug auf seine ganze Lage.
Aus dem Verlaufe: Pat. erzählt, „er habe zwei Frauen,
denn er könne ja zwei vögeln“. Von der ersten sei er „wegen unüberwind¬
licher Abneigung geschieden, habe sie aber sehr lieb“. Die Anstalt nennt
er eine „Mörderhöhle“ und drängt auf das lebhafteste hinaus. Engagiert
Pfleger nach Südamerika; sie sollen dort „blau-silberne Livree“ tragen.
Der Oberarzt soll verhaftet, die Anstalt auf 100 000 Mk., dann auf 200 000
Mark Schadenersatz verklagt werden. Pat. plant einen Landkauf um
3 Millionen Mk. Will dem Kaiser vorschlagen, daß sein ostpreußischer
Heimatort Festung werde. Will sich in den Reichstag wählen lassen,
eine große Weinexportftrma gründen. Verfaßt zahlreiche Briefe in diesem
Sinne.
Zuweilen Klagen über Augenflimmern. Hie und da naß. Gang oft
eigentümlich unsicher. Viele Briefe an nähere und fernere Verwandte
und Freunde. Sie sollen kommen und ihn mit Anwendung von Revolvern
befreien. In den Schriftstücken viele Buchstabenauslassungen.
Zuweilen wird der ganze — zum Vorsatz gehörige — Nachsatz ver¬
gessen. Immer wieder ist die Rede von des Pat. „kerniger, strotzender
Gesundheit“, von seinem „Glücksgefühl“. So heißt es einmal: „Ich bin
der glücklichste Mensch, ich liebe und werde wieder geliebt!“
In Schriftprobe IV haben wir eine graphische Äußerung aus dieser
Zeit manifester und exazerbierter Geistesstörung. Die Probe ist, wie
ausdrücklich bemerkt sei, mit einer spitzen Feder geschrieben, mittels
der ich selber beim entsprechenden Versuch nur ziemlich dünne und
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Initiale Schriftverändernng bei Paralyse.
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spitze Züge hervorzubringen vermochte. Sie ist der letzten Seite eines
auf 'Quartformat geschriebenen Briefes an einen guten Bekannten ent¬
nommen.
IV. (Juli 1913.)
Die Schriftanalyse ergibt folgendes Bild:
Die Schrift ist sehr druckstark und weit größer
als in den vorigen Proben. Grund- und Haarstrich unterschieden.
Zeilenrichtung leicht ansteigend. Neigungswinkel
3 5525 1
30—20 Grad. Verbundenheitsgrad —- oder - Er ist
6 6 1,69-
also gegen früher noch weiter zurückgegangen. (In II
betrug er 1 :1,744.) Die Zeilen sind wiederum dicht aneinander gerückt
und greifen jetzt weit störender ineinander, als in III (siehe die Zeilen
4—5). Die Schrift ist sehr weit; so zwar, daß manche Worte geradezu
auseinandergerissen sind (z. B. „Sophie“, Zeile 4). Auch der Rand ist
beschrieben.
Schriftduktus: vorwiegend Winkelbildung, daneben Arkaden
und gestützte Nebenrichtungen. Alle Buchstaben sind möglichst breit
und schwer hingesetzt, besonders manche Majuskeln, wie das J (Zeile 1),
das C (Zeile 2), das B (Zeile 3).
Sämtliche Schleifen sind verschliffen, auch
jedesmal die e, zuweilen auch das o und a. Die ganze Schrift macht dem¬
zufolge einen hochgradig verklecksten Eindruck.
Interpunktion regelrecht. i-Punkte in wechselnder Höhe, sehr dicke,
kurze Striche, über, vor, hinter dem zugehörigen Grundstrich, u - H a k e n
(Zeile 3) völlig eingerollt. C oben geschlossen.
Meistens auch a und o. Gelegentlich treten leichte T r e -
in o r erscheinungen auf, so im Anstrich des S von „Sophie“, Zeile 4;
ferner im Anstrich des b von „Contribucio“, Zeile 2, usw.
Das Schriftbild zeigt also allerlei tiefgreifende Abweichungen von II
und III. Dies jedoch in dem Sinne, daß bereits in II und III einsetzende
seelische Veränderungen in IV einen ganz extremen Grad erreichen.
Beherrscht wird das graphische Bild von den Merkmalen weiteren
Intelligenzrückganges 1 ) und fortschreitender Charakter-
Degeneration : sinnlich-materielle Neigungen 1 ) stehen
durchaus im Vordergründe. Von dem alten Idealismus ist keine Spur
mehr vorhanden. Der Kranke gibt sich seiner Leidenschaftlichkeit völlig
x ) Unklares Gesamtschriftbild. Rand beschrieben. Zeilen inein¬
andergreifend. Sinkender Verbundenheitsgrad. Dazu Andeutungen von
Tremor (vgl. hierüber meine Arbeit „Über graphologische Merkmale des
Schwachsinns“, soeben erschienen im „Arch. f. Psychiatrie“).
*) Hochgradige Klecksigkeit. Schleifen verschmiert. Starker Druck.
Dicke, fast teigige Schrift.
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204
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unbeherrscht 1 * ) hin. Er neigt in hohem Grade zur Verschweiß -
düng*) und befindet sich — im Gegensatz zu früher — jetzt in deutlich
gehobener Stimmung 3 ).
Die sich unter der freundlichen Maske 4 * * ) bergende inner®
Unwahrhaftigkeit 8 ) und Unliebenswürdigkeit 4 ) sind
dieselben geblieben. Auch die ausgesprochenen Größenideen haben
ihre graphische Korrespondenzerscheinung 7 ).
Wir haben es demnach mit einem Expansivstadium des
paralytischen Grundleidens zu tun. Mit einem Stadium, das sich be¬
sonders charakterisiert durch die innere Gegensätzlichkeit der
expansiven Erscheinungen (Größenideen, Verschwendungs¬
sucht, Gehobenheit) zu dem degenerativen Absturz des
Charakters und vor allem: zu der ganz offenkundigen, fort¬
schreitenden Verblödung, die in den körperlichen Läh¬
mungserscheinungen wichtige Begleitmomente aufweist (Pupillenreaktion,
Blase, Gang).
Dieses leicht manisch gefärbte Krankheitsstadium hielt ein paar
Monate an, um dann allmählich abzuklingen. Der Pat. wurde je einer
Fieberkur mittels Natrium nucleinicum- und Tuberkulininjektionen
unterzogen, und es scheint nicht ganz ausgeschlossen, daß das hierauf
erfolgende Einsetzen der Remission mit dieser Therapie in ursächlichem
Zusammenhänge steht. Jedenfalls trat im September eine gewisse Be¬
ruhigung ein. Der Pat. gab seine erotischen Wünsche auf, sah einen Teil
der gemachten Fehler ein und produzierte keine Größenideen mehr. Die
Stimmung wechselte zwischen leichter Gehobenheit und weinerlicher
Resignation. Nur augenblickweise schien eine wirkliche Krankheits¬
einsicht zu dämmern. Der Kranke drängte nicht mehr so leidenschaftlich
fort, sondern ließ sich — sanftem Zwange folgend — gutwillig die Be¬
handlung gefallen, die er anfangs strikte abgelehnt. Gelegentlich wurde
er ins Haus des behandelnden Arztes gezogen, wo er sich als wohlerzogener,
äußerlich freundlicher, im ganzen stiller und durch Stottern arg behin¬
derter Gast erwies. Gesellschaftliche Verstöße kamen nicht vor.
Dieses Verhalten zeigte sich eine Reihe von Wochen von Bestand.
l ) Minimaler Neigungswinkel.
*) Sehr weite Schrift.
3 ) Leicht ansteigende Zeilen.
4 ) Leichtgeschwungene An- und Endstriche.
8 ) C, a, o geschlossen. u-Haken eingerollt. Arkaden, gestutzte
N ebenrichtungen.
•) Neben Arkaden häufige Winkelbindung.
7 ) Weit größere, druckreichere Schrift. Breiter, aufgeblasener
Duktus, besonders in den Majuskeln.
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206
Lomer, Initiale Schriftveränderung bei Paralyse.
den zweifellos gebliebenen Defekt: Eine gewisse Intelligenz <•
schwäche 1 2 3 ), verbunden mit einiger Neigung zum Ver¬
schwenden*) und erotisch sinnlichen Gehenlasse n s ),
ist noch immer vorhanden. Was an Willenskraft in dem Manne ist —
und das ist nicht allzu viel 4 * ) —, ist fast rein affektiv 6 ). Gleichwohl
ist die Allgemeinstimmung des Kranken jetzt entschieden
besser, zuversichtlicher und optimistischer •) und nähert sich auch
in diesem Punkte dem Seelenzustand der Probe I.
Fassen wir alles zusammen, so dürfte in der Tat der weitgehende
Parallelismus von Geisteszustand und Schrift als erwiesen gelten.
Und dies nicht nur für die manifeste, selbst dem Laien als solche
erkennbare Krankheitsperiode — Probe IV —, sondern auch für
die schleichenden Initialstadien, wie sie sich in Probe II und III
zeigen. Viele Monate, ehe es zum Ausbruch auffälligerer Erscheinungen
kam, setzten bereits graphische Veränderungen ein, die den Kundigen
ohne weiteres auf allerlei Veränderungen im Geistesleben des Schreibers
hätten aufmerksam machen können. Wäre das geschehen und wäre
der Patient schon damals einer ärztlichen Untersuchung zugeführt
^worden, so ist der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, ob nicht
ein frühzeitig eingeleitetes Kurverfahren das stürmische Hervor -
brechen der späteren gesteigert pathologischen Erscheinungen ver¬
hindert oder doch wenigstens gemildert haben würde. Zum mindesten
aber wäre die Familie des Kranken, statt sozusagen vom Blitz aus
heiterem Himmel überrascht zu werden, gewarnt gewesen und auf
die Möglichkeit einer herannahenden schweren Erkrankung recht¬
zeitiger aufmerksam geworden, als dies so der Fall gewesen.
1 ) Unklarere Schriftanordnung als in I, Herabgehen des Verbunden¬
heitsgrades.
2 ) Weite Schrift.
3 ) Verschleifungen: leichte Verschmierung. Dazu minimaler Nei¬
gungswinkel.
4 ) Außer mäßigem Druck und einigen wenigen Winkeln kein
Spannungszeichen (wie Enge, Steile, Sinistrogyrität). Vermeidung der
geraden Linie.
s ) Reine Schrägschrift.
•) Steigende Zeile.
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fciti öeitrH? z?ir kasuktik . Stotterns *v
Vtm 4 ; *Y-
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,Vr,j.-/.v/j» »lie Kl'uorstm-l:,: <!>:»■ h«-;>
'Sßb\yahkUfi^'&h v Vfifw ünhöUtligfih'ft B'rfl.fW
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-M ..tpiavhep,, V^^ytik^r $wui #«ih*rs:tnts tw>i
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wi? f,s tfj{t .-fn& m Mitt<i*U».»itjfli *ii*i«ff 1 * : *H Mftt,
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■:oU-;-i!)vl;i bei :!• • i:r- m iltiiTi: j .■ ;-ivi {■’f*J a».tl*
"•• if(i SfUtp- <i>,; St,itt"!Ts be «»«*.* rkhai m;ie|i|.c. B.i seinen f’.'llon
fäiwiÜpe'agitiert,».! Angptt’Sjc.rkosen, oder pürtödiaffo»
«rar vpm aneebtirerw» akht zu ,iö<tTsb.!<cidni
c.-i • <-.a- :
•' 'v*»tüt4. A/brftM-g ^ö«ipf,)..
tü
208
Titius,
war nur vorübergehend und nur für einige Tage bemerkbar. Zu anderen
Zeiten ließ sich der Sprachfehler nicht nachweisen.
Auf Grund seiner Beobachtungen kam er zu der Überlegung,
daß es sich bei dem Stottern um eine perverse Funktion des Sprach-
apparates handelt, und nahm an, daß die stotternde Sprache als para¬
kinetisches Symptom anzusehen sei.
In hiesiger Anstalt hatte ich Gelegenheit, interessante Beob¬
achtungen hinsichtlich des Stotterns zu machen, die mir immerhin
als Beitrag zur Kasuistik des Stotterns erwähnenswert erscheinen.
Es handelt sich um zwei Geisteskranke, von denen der eine an Kata¬
tonie, die andere an manisch-depressivem Irresein litt. Bei beiden
verschwand in Zeiten heftigster Erregung der angeborene Fehler de?
Stotterns vollkommen und stellte sich wieder prompt ein, wenn di-*
Ruhe eingetreten war.
1. Emil H., Bäckergeselle, stammt, soweit bekannt, aus gesu>i"
Familie. Eine Schwester ist taubstumm, ein Bruder ist oft mit des
Strafgesetzbuch in Konflikt geraten. Als Kind hat er Masern gehakt.
H. stottert angeblich von Jugend auf. Er hat die Schule mit gutem Er¬
folge besucht, war fleißig und bescheiden. Als Bäcker war er tüchtig
und ordentlich. Vom Militär wurde er wegen des Stotterns nach 4 Wochen
entlassen. Mit 21 Jahren fing er an über Kopfschmerzen zu klagen, wurde;
schlaflos, apathisch, appetitlos, äußerte Versündigungsideen, müsse sterben
betete viel. Später machte er verschiedentlich Selbstmordversuche,
wurde verwirrt und kam in die hiesige Anstalt. Hier war er anfangs angst
lieh, weinerlich, dann ausgesprochen stuporös. Allmählich schwandet!
die Krankheitserscheinungen, so daß H. nach zehnmonatigem Anstalt¬
aufenthalte entlassen werden konnte. Während seines Hierseins stotterte
er stark. Es wurde ihm besonders schwer, die Anfangsbuchstaben au.-
zusprechen, er mußte mehrere Male ansetzen, dann sprach er den Sau
ganz glatt zu Ende. Der Nervenstatus ergab: Steigerung der Sehnen¬
reflexe an Armen und Beinen und erhöhte Muskelerregbarkeit. H. hielt
sich ein Jahr lang draußen, wechselte aber häufig die Stellung, kam dann
in Erregung und wurde in die Anstalt einer andern Provinz eingeliefert.
Hier beobachtete man bei ihm ausgesprochen katatone Züge, er ver-
bigerierte, grimassierte, nahm gezwungene Stellungen ein, es traten
Bewegungsstereotypien auf, er war negativistisch, läppisch und albern
in seinem Wesen. Während dieser Zeit stotterte er. In die hiesige Anstalt
überführt, kam er nach anfänglicher Ruhe in starke Erregung, lief ruhe¬
los umher, zerriß seine Wäsche, griff die Umgebung an. Dabei war er
zornig, schimpfte in den gemeinsten Ausdrücken, oder er war vergnügt,
pfiff, sang und schwatzte ununterbrochen in unzusammenhängender
Weise. Die Worte sprudelte er nur so hervor, die Sprache war glatt und
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Eta Boirjap aur Kasuistik des Stotterns.
209
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210
Titius,
Stotterns möchte ich zunächst die Erklärungen einzelner Autoren
über diesen Sprachfehler anführen.
Kraepelin erwähnt das Stottern bei Besprechung der Phobien und
sagt: „Ein Beispiel ist das Verlegenheitsstottern als dessen krankhafte
Ausbildung das dauernde Sprachstottern vielfach anzusehen ist.“
Raecke erklärt das Stottern für eine Störung der Aussprache, wobei
Verständnis und Finden der Worte nicht beeinträchtigt ist. Es entsteht
durch einen Krampf in der Sprachmuskulatur. Der Stotterer klebt am
Worte oder an einem Laute fest, wiederholt ihn immer wieder, bis er mit
gewaltsamer Anstrengung den Krampf durchbricht. Bei psychischer
Erregung verschlimmert sich das Stottern. Charakteristisch sind die
krampfhaften Muskelspannungen und Mitbewegungen im Gesicht.
Ähnlich hält Oppenheim das Stottern für eine spasmodische Form
der Sprachstörung, bei der krampfhafte Muskelkontraktionen die Sprech-
werkzeuge in der zur Bildung eines Lautes erforderlichen Stellung fest-
halten, so daß der Sprechende an diesem Laute festklebt oder beim Ver¬
such, weiterzugelangen, denselben mehrfach wiederholt, bis schließlich
das ganze Wort gewaltsam hervorgestoßen wird. Es kommt dabei auch
zu Mitbewegungen und krampfhaften Kontraktionen der Muskeln, die
sonst an der Artikulation nicht beteiligt sind. Das Stottern steht in naher
Beziehung zu den Beschäftigungsneurosen.
Nach Ziehen stellt Stottern eine eigenartige Form spastischer Mit¬
bewegungen im Bereiche der Phonationsmuskulatur dar.
Fuld hält das Stottern für eine ataktische Koordinationsneurose,
bei der echte Krämpfe als Nebenerscheinungen teils in Form von Mit¬
bewegungen im Gesicht oder als Intentionskrämpfe beim Beginne des
Sprechaktes auftreten.
Simon bezeichnet das Stottern als den Ausdruck einer meist er¬
erbten nervösen Diathese. In einer von ihm beobachteten Familie waren
einzelne Glieder mehrerer Generationen Stotterer. In einem anderen
Fall trat bei einer Choreatischen, sobald die Anfälle sich einstellten, Stot¬
tern auf. Auch hier war der Großvater Stotterer.
Schrank hält das Stottern für ein zentrales Leiden. Er erklärt es
als lokalisiertes Angstgefühl ähnlich der Platzangst oder dem Höhen¬
schwindel. Er empfiehlt dagegen Beseitigung des Angstgefühls und Hebung
des Willens.
Hopfner erklärt in einer neueren Arbeit das Stottern als ataktisches
Sprechen, das seine Ursache nur entweder allein im Chok oder in einer
dissoziativen Beeinflussung der Koordination haben kann.
Es sind sich die meisten Autoren bis in die neueste Zeit darin einig,
daß das Leiden ein Symptom einer gewissen neuropathischen Veranlagung
mit darstellt. Alle jedoch, wie Hopfner ausführt, zeigen in der Behand¬
lung der Erforschung des Gegenseitigkeitsverhältnisses zwischen Sym-
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Ein Beitrag zur Kasuistik des Stotterns.
211
ptom und Ursache eine gewisse Einseitigkeit. Sie ignorieren dabei meist
die Tatsache, daß das Stottern nicht bedingunglos auftritt, wie z. B.
beim Fehlen eines Stiftes auf einer Spieldosenwalze, sondern nur be¬
dingungweise. Es wird z. B. ein b vom Stotterer nicht immer, sondern
nur dann gestottert, wenn es seiner subjektiven Ansicht nach eine hervor¬
ragende Stellung im Worte, wie zu Anfang eines Wortes oder einer Silbe
einnimmt.
Die zurzeit vorherrschende Meinung ist also die, daß es sich beim
Stottern um eine Koordinationsstörung handelt, die nicht organisch
bedingt ist, sondern auf nervöser Basis beruht. Der Psyche ist bei dem
Leiden eine große Rolle zuzuschreiben. Nach Ziehen hängt der Einfluß
der Affekte auf den formalen Ablauf der Ideenassoziationen fast aus¬
schließlich von ihren Vorzeichen ab. Traurige oder depressive Affekte
(mit — Vorzeichen) verlangsamen den Vorstellungsablauf, heitere oder
exaltierte Affekte (mit + Vorzeichen) beschleunigen ihn. Ganz dasselbe
gilt im allgemeinen auch von den Handlungen. Depressive Affekte führen
langsam und spärlich zu Handlungen, exaltierte Affekte schnell und
ausgiebig. In gleicher Weise wird die Sprache, die zu den Ausdrucks¬
bewegungen gehört, von den Affekten beeinflußt und zeigt deshalb Lust-
und Unlustbetonungen. Auch die einzelnen Teile unseres Sprechwerk¬
zeuges, selbst wenn sie momentan nicht zur sprachlichen Koordination
benötigt werden, dienen gerade mit Vorliebe den Affekten zur Ausdrucks¬
bewegung. Dies gilt besonders von der Atmungsmuskulatur, von der
Stimme und von der mimischen Muskulatur, die ja z. T. mit der Arti¬
kulationsmuskulatur identisch ist. Auch der normal sprechende erwach¬
sene Mensch steht mit seiner Sprache stets unter dem Einfluß der Affekte.
So können nach Gutzmann z. B. Verlegenheit, Schuldgefühl, ängstliche
Vorstellungen, Ehrfurcht, Zweifel am eigenen Können usw., andererseits
erhöhte Seelenstimmungen, Freude, Stolz, Selbstbewußtsein die freie
Verfügung des sprachlichen Ausdrucks fördern oder hemmen, je nach
der Art des Affektes.
Beim Stotterer erzeugt namentlich bei zunehmender Intelligenz
der Vergleich der eigenen Sprache mit der normal sprechender Menschen,
Verspotten durch Mitschüler usw., sehr starke negative Affekte, die zur
Verschärfung des Übels führen. Es gibt aber auch, wie Gutzmann aus-
führt, eine Anzahl von Stotterern, bei denen diese affektive Verschärfung
Äes Übels vermißt wird, und wo die Affekte keinen größeren Einfluß auf die
Sprache haben, als beim normalen Menschen. Weiter ist es bekannt,
daß viele Stotterer Gedichte fließend hersagen, im Takt ohne anzustoßen
lesen können, und daß das Stottern beim Singen verschwindet. Dies
erklärt sich am ungezwungensten wohl aus dem Lustgefühl, das der
rhythmischen Gliederung eigen ist, ähnlich z. B. wie uns die flotte Marsch¬
musik vorbeiziehender Truppen veranlaßt, uns dem Rhythmus und Takt
unwillkürlich anzupassen. Der Zorn kann unter Umständen wie bei jedem
Zeitschrift fOr Psyohistrie. LXXI. 8. 15
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212
Titius.
Menschen auch die Rede des Stotterers hemmen, es kommt aber umge¬
kehrt vor, daß ein starker Stotterer im Zorn ganz fließend spricht. Gutz-
mann erwähnt einen Fall, wo eine Frau, die im gewöhnlichen Leben
stark stotterte, auf Fragen, die ihr Gemüt heftig erregen mußten, z. B.
ob sie gelogen, ob sie sexuell mit anderen Männern verkehrt habe, fließend
sprach.
Aus obigen Ausführungen geht hervor, daß der Affekt in innigem
Zusammenhänge mit der Sprache steht und beim normal sprechenden
Menschen wie beim Stotterer hemmend oder fördernd auf sie wirken
kann.
In meinen beiden Fällen hat der freudige resp. zornige Affekt
während der ganzen Dauer seines Bestehens den Ablauf der Sprache
gefördert und den Sprachfehler aufgehoben. Dieser Affekt, das ge¬
hobene Selbstbewußtsein, der erleichterte Gedankenablauf, der Mit¬
teilungsdrang, ließen die Kranken ihr angeborenes Leiden vergessen
und den Sprachfehler verschwinden, schalteten jene Faktoren, wie
Verlegenheit, ängstliche Vorstellungen, Zweifel am eigenen Können,
Vergleich der eigenen Sprache mit der normal sprechender Menschen,
die unter Umständen das Leiden verschärfen, aus. Beide sprachen
während der Erregung fließend, und der angeborene Sprachfehler
stellte sich erst beim Schwinden der Erregung ein.
Literaturverzeichnis.
1 . Fuld, Das Stottern. Zeitschr. f. prakt. Ärzte.
2. Gutzmann, Das Verhältnis der Affekte zu den Sprachstörungen.
Zeitschr. f. klinische Medizin, Bd. 57. Sonderabdruck.
3. Hopfner, Stottern als assoziative Aphasie. Zeitschr. f. Pathopsychol.
Bd. I, Heft 2/3.
4. Knapp, Sprachstörungen bei funktionellen Psychosen. Monatsschrift
f. Psychiatrie, Bd. 23.
5. Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl.
6. Liebmann u. Edel, Sprache der Geisteskranken. Halle 1903.
7. Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 1902.
8. Räcke, Grundriß der psychiatrischen Diagnostik. 1910.
9. Schrank, Das Stottern. Wien. med. Zeitung.
10. Simon, Influences höröditaires et diathesiques sur le begaiment.
11. Ziehen, Psychiatrie.
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Original from
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Aus der Praxis der Entmündigung wegen Trunk¬
sucht.
Von
Oberarzt Dr. Schott, leit. Arzt der Heil- u. Pflegeanstalt Stetten i. R.
Von der Entmündigung wegen Trunksucht hat man sich der¬
einst viel im Kampfe gegen den Alkohol versprochen und gar mancher
ist schwer enttäuscht worden. Die Zahl der stattgehabten Entmün¬
digungen wegen Trunksucht ist eine außerordentlich geringe ge¬
blieben und dürfte im ganzen Deutschen Reich jährlich 1000 kaum
wesentlich übersteigen. Für das Königreich Württemberg ergaben
sich folgende Ziffern: im Jahre 1903 entfallen von 213 beschlossenen
Entmündigungen 28 = 13,14%, 1904 von 226 27 = 11,4%, 1905
von 181 29 = 16%, 1906 von 145 32 = 22,1%, 1907 von 154 12 =
7,8%, 1908 von 155 36 = 23,2% und 1909 von 154 34 = 22,1% auf
Entmündigung wegen Trunksucht. Es ergibt sich somit bei 1228
beschlossenen Entmündigungen des Zeitraums 1903/1909 für die
Entmündigung wegen Trunksucht ein Prozentsatz von rund 16%.
Diese Tatsache muß auffällig erscheinen, wenn man sich vor Augen
hält, daß das Königreich Württemberg im Alkoholverbrauch recht
weit vorne geführt wird und nach einzelnen Statistiken sogar an
zweiter Stelle im Deutschen Reich marschieren soll. Auf das König¬
reich Bayern, welches den verhältnismäßig größten Verbrauch geistiger
Getränke aufweist, entfallen nach Polligkeit 1 jährlich durchschnittlich
jmr 60 Entmündigungen wegen Trunksucht. Aschaffenburg 2 glaubt,
daß man sich von der Wirksamkeit der Entmündigung wegen Trunk¬
sucht mehr versprochen hat, als sie zu halten imstande ist. Den
mangelhaften Erfolg sieht er darin, daß dem Staatsanwalt das Recht
entzogen ist, den Antrag auf Entmündigung wegen Trunksucht zu
stellen.
15*
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214
Schott,
Über den Begriff der Trunksucht ist von juristischer Seite schon
unendlich viel gesprochen und geschrieben worden, ohne daß da¬
durch die Sachlage wesentlich geklärt worden wäre. Die Juristen
haben sich weiterhin schon die Köpfe darüber zerbrochen, was den
Gesetzgeber veranlaßt hat, auf eine Definition des Begriffes „Trunk¬
sucht“ zu verzichten. In den Protokollen II. Lesung®,
den eigentlichen Gesetzesmotiven, findet sich nur der kurze Satz:
„Zur Bestimmung der Voraussetzung der Entmündigung bedarf es
einer näheren Definition des Ausdrucks Trunksucht nicht.“ Die
juristische Praxis neigt dazu, in ihr einen unbesiegbaren Hang zum
übermäßigen Trinken, eine wirkliche Krankheit zu sehen. Trunk¬
sucht ist nach Endemann 4 „der pathologische Zustand, vermöge dessen
der Erkrankte dem unwiderstehlichen Zwange zum Trinken unter¬
liegt, wobei die eigenartigen schädigenden Wirkungen des Alkohols
sich in besonderer durch den krankhaften Gehimzustand beein¬
flußten Art äußern.“ Mit dieser juristischen Begriffsbestimmung
können wir Irrenärzte uns im allgemeinen einverstanden erklären.
Die logische Folge der juristischen Anerkennung, daß Trunksucht
eine Krankheit ist, wäre die gesetzlich festgelegte Forderung der
Zuziehung ärztlicher Sachverständiger in allen denjenigen Ent¬
mündigungsfällen, bei welchen der Alkohol eine ausschlaggebende
Rolle spielt. Da wir Irrenärzte wissen, daß sowohl der übermäßige
Genuß geistiger Getränke als auch die krankhafte Reaktion auf solchen
nicht nur der Trunksucht im engeren Sinne eigen sind, sondern sich
bei verschiedenen Geistesstörungen finden, so ist es nur berechtigt,
zu verlangen, daß in der Irrenheilkunde vorgebildete Ärzte als Sach¬
verständige zugezogen werden.
Wie verhält es sich nun mit diesen Forderungen in der Praxis?
Der Gesetzgeber hat die Zuziehung eines ärztlichen Sachverständigen
bei der Entmündigung wegen Trunksucht nicht ausdrücklich vorge¬
schrieben, denn ZPO. § 680 verweist nicht auf die §§ 654—656. Es
ist also dem Belieben des Richters anheimgestellt, ob er einen ärztlichen
Sachverständigen zuziehen will oder nicht; tatsächlich geschieht dies
viel zu selten. Zahlreiche Richter halten die Entmündigung wegen Trunk¬
sucht für sehr unpraktisch; sie hat nach ihnen nur Wert bei Vermögenden
zur Erhaltung ihres Vermögens. Bei Unvermögenden sei sie zwecklos
und vermehre nur den häuslichen Unfrieden. Aus dieser Überzeugung
heraus rät der Richter vielfach den antragstellenden Ehefrauen ab, worauf
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Aus der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht.
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die letzteren fast stets den Antrag auf Entmündigung wegen Trunksucht
zurücknehmen.
Aus dem Angeführten geht hervor, daß die Stimmung der Juristen
der Entmündigung wegen Trunksucht von Anfang an nicht günstig
war und daß sich diese Abneigung auch in der Praxis betätigte. Dem
Gesetzgeber kann daraus kein Vorwurf abgeleitet werden. Das BGB.
schreibt in § 6, Z. 3 vor: „Entmündigt kann werden, wer infolge
von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag oder
sieh oder seine Familie der Gefahr des Notstands aussetzt oder die
Sicherheit anderer gefährdet.“ Die Handhabung dieser Gesetzes¬
vorschrift läßt bei einem großen Teil der Richter das Verständnis
für den vorbeugenden, fürsorglichen Charakter der Entmündigung
wegen Trunksucht mehr weniger vollständig vermissen; nirgends
wird der Nachdruck auf die Gefahr des Notstandes gelegt, ge¬
wöhnlich werden Maßnahmen ergriffen erst, wenn ein schreiender,
nicht mehr zu beseitigender Notstand vorliegt.
Waldschmidt 5 berechnet 27% aller Fälle in den Irrenanstalten
als auf Trunksucht zurückführbar. Endemann 4 nimmt an, daß etwa
ein Drittel der öffentlichen Armenlasten auf die Rechnung des Alko¬
holismus zu schreiben ist; andere Berechnungen gehen noch wesent¬
lich höher. Eine einigermaßen zutreffende Feststellung ist m. E.
jedoch nur möglich, wenn Irrenarzt und Verwaltungsmann Zusammen¬
arbeiten; erst dann wird es möglich sein, die oft verwickelten Be¬
ziehungen des Alkoholismus einigermaßen klarzustellen. Unsere kleine
Zusammenstellung wird ebenfalls für den Zusammenhang des Alko¬
holismus mit körperlichen Erkrankungen einen Beitrag liefern.
Was die beschlossenen Entmündigungen des Zeitraums 1903/09
betrifft, so weist das Jahr 1906 einen jähen Absturz auf, welchem
in den Jahren 1907, 1908 und 1909 nur ein geringer Anstieg folgt,
während die Entmündigungen wegen Trunksucht erst im Jahre 1907
«ne Abnahme um 62% erfahren, um im Jahre 1908 wieder um 66%
in die Höhe zu gehen. Einen Grund für diese enorme Schwankung
konnte Verf. nicht ausfindig machen. Die prozentuale Beteiligung
der Entmündigung wegen Trunksucht bewegte sich zwischen 8 und
23% und betrug im Mittel 16%. Ein Zusammentreffen von Bevöl¬
kerungsdichte mit der Zahl der Gesamtentmündigungen für die vier
Kreise Württembergs war nicht gleichmäßig zu erheben; bei zwei
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Scho tt,
Kreisen überstieg der Prozentsatz der Entmündigungen denjenigen des
Bevölkerungsanteils, in zwei blieb er darunter.
Auf Geisteskrankheit und Geistesschwäche, welche in der Sta¬
tistik des Justizministeriums leider nicht getrennt geführt werden»
entfielen 75%, auf Trunksucht 16% und auf Verschwendung 9%
der Entmündigungen.
Die nachfolgenden Ausführungen umfassen zunächst die Fälle
von Entmündigung wegen Trunksucht im Sinne des BGB. Eine
Beleuchtung aller derjenigen Fälle, in denen Trunkfälligkeit eine
Bolle spielt, folgt an zweiter Stelle; es wird sich dann zeigen, daß
der Alkohol eine weit bedeutendere Rolle spielt, als aus der verhältnis¬
mäßig geringen Zahl der Entmündigungen wegen Trunksucht her¬
vorzugehen scheint. In 136 Fällen von Entmündigung wegen Trunk¬
sucht ergab das Studium der Akten folgendes: Was die Beteili¬
gung der Geschlechter betrifft, so entfallen auf das männ¬
liche Geschlecht 120 = rund 88% und auf das weibliche 16 = 12%.
Die Beteiligung des weiblichen Geschlechts mit 12% dürfte höher
sein, als gewöhnlich angenommen wird. Nach dem Stand sehen
wir 80 = 59% als verheiratet, 29 = 21% als verwitwet, 24 = 18%
als ledig und 3 = 2% als geschieden bzw. getrennt lebend aufge¬
führt. Während von den Ledigen 5,5% und von den Verheirateten
7,5% auf das weibliche Geschlecht entfallen, erhöht sich bemerkens¬
werterweise dieser Prozentsatz bei den Verwitweten auf 28% und
bei den geschieden bzw. getrennt Lebenden sogar auf 33V 3 %. Es
scheint, daß bei diesen letzten beiden Gruppen der Wegfall des männ¬
lichen Schutzes den haltlosen Naturen zum Verderben geworden ist.
Bei dem männlichen Geschlecht betragen die Verheirateten 60%,
dann folgen die Ledigen mit 19%, die Verwitweten mit 18% und die
geschieden bzw. getrennt Lebenden mit 2%.
Wenn wir die wegen Trunksucht Entmündigten nach dem Be¬
ruf ordnen, so marschiert an der Spitze das Handwerk mit 36%,
dann folgt die Landwirtschaft mit 30%, Taglöhner mit 10%, Son¬
stiges mit 9%, Wirtsgewerbe und Weingärtner mit je 7% und Fabrik
mit nur 1%. Die stärkste Beteiligung des weiblichen Geschlechtes
findet sich mit 30% bei der Landwirtschaft, mit 15% bei Sonstigem,
mit 10% beim Wirtsgewerbe und mit 7% beim Taglohn. Berück¬
sichtigen wir, daß der Stand der Wirte und Weingärtner gegenüber
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Aus der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht.
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der Landwirtschaft und dem Handwerk zurücktritt, so erweist sieh
die prozentuale Beteiligung der ersteren als erheblich, wie es ja auch
zu erwarten ist. Einen gewissen Einblick in die Wirkungsweise des
Alkohols ergibt die Betrachtung des Alters zur Zeit der Ent¬
mündigung wegen Trunksucht; wir sehen, daß von unseren 136 Ent¬
mündigten die größte Beteiligung beider Geschlechter das fünfte
Jahrzehnt (41.—50. Lebensjahr) aufwies, ihm folgten das sechste
und siebente, dann das vierte und dritte und schließlich das achte.
Diese Verteilung auf die einzelnen Lebensalter gibt der Vermutung
Raum, daß die schädlichen Folgen der Trunksucht, welche meist seit
vielen Jahren schon bestanden hat, im fünften Lebensjahrzehnt sich
hauptsächlich geltend machen. Dieses Lebensjahrzehnt ist auch sonst
bedeutungsvoll, da sich in ihm die Rückbildungsvorgänge bei beiden
Geschlechtern einzuleiten pflegen, um im sechsten und siebenten
sich weiterhin zu vollenden.
38 wegen Trunksucht Entmündigte sind in der Zwischenzeit
gestorben und deren Todesursache festgestellt worden. Jn erster
Linie steht ein Herzleiden und zwar in 13 Fällen = 34%, dann kommt
der Selbstmord in rund 16%, die Lungentuberkulose in 14%, Lungen¬
entzündung und Leberzirrhose in je 10%; auf Delirium tremens,
Gehirnlähmung, Leberkrebs, Magenkrebs, Altersschwäche und Un¬
glücksfall kommt je 1 Fall = 2,6% unserer kleinen Statistik. Von
den 38 Gestorbenen waren 4 weiblichen Geschlechts, von denen 3
an Herzleiden und 1 an Altersschwäche gestorben sind. Die größte
Sterblichkeit mit 31% weist das fünfte Lebensjahrzehnt auf
41.—50. J.), ihm folgt mit rund 29% das sechste, dann mit 21% das
siebente und mit 13% das achte; auf das vierte und dritte Lebens¬
jahrzehnt entfallen je 3%.
Bedeutungsvoll ist noch die Berücksichtigung des Zeitraums,
welcher zwischen Entmündigung und Tod gelegen ist; es ergibt sich
hierbei, daß rund 40% der wegen Trunksucht Entmündigten schon
innerhalb Jahresfrist gestorben sind, weitere 30% starben in den
nächsten 2 Jahren, und nur 30% lebten noch länger als 3 Jahre nach
der Entmündigung. Es ist diese Tatsache ein weiterer Beleg dafür,
daß die Entmündigung wegen Trunksucht in der Mehrzahl der Fälle
viel zu spät beschlossen wird. Dies kann, wie wir oben be¬
sprochen haben, nicht dem Gesetzgeber zur Schuld angerechnet
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werden. Es spricht der Gesetzgeber klar und deutlich von einer
G e f a h r des Notstandes, wobei noch zu bedenken ist, daß es nirgends
geschrieben steht, diesen Notstand ausschließlich rein finanziell zu beur¬
teilen. Es steht nichts im Wege, unter den Begriff „Notstand“ auch
körperliche Erkrankung sowie körperlichen und geistigen Rückgang
mitbewertend unterzuordnen. Wie von juristischer Seite die Ent¬
mündigung wegen Trunksucht aufgefaßt und gehandhabt wird, wird
uns im folgenden noch zu beschäftigen haben. Aus den Entmün¬
digungsakten geht einwandfrei hervor, daß die Richter sehr ungern
an die Entmündigung wegen Trunksucht herangehen, nicht selten
darauf hinwirken, daß der Antrag zurückgenommen wird, und stets
eine Häufung der Voraussetzungen für die Entmündigung wegen
Trunksucht zur Begründung heranziehen. Eine Berücksichtigung des
Momentes der Gefahr des Notstandes finden wir so gut wie nie; im Gegen¬
teil liegen traurige Belege dafür vor, wie nach Ablehnung des Ent¬
mündigungsantrages Zustände gezeitigt werden, in denen die dann
später doch noch ausgesprochene Entmündigung wegen Trunksucht
gänzlich wertlos ist. Wir sehen überall das Überwiegen des rein for¬
malen juristischen Denkens und Beschließens gegenüber dem Gedanken
der Fürsorge, des sozialen Schutzes, welchen der Gesetzgeber zweifel¬
los im Auge gehabt hat. Den beredtesten Ausdruck der herrschenden
juristischen Auffassung stellt die landesgerichtliche Zurückweisung
der vom Kläger eingelegten Beschwerde gegen den abweisenden
Beschluß des Kgl. Amtsgerichts X. dar.
Der Richter I. Instanz hatte sich in einer 45 Seiten langen Be¬
gründung bemüht, die Voraussetzungen für die Entmündigung sowohl
wegen der Trunksucht als auch wegen Verschwendung als nicht gegeben
zu beweisen. Dieser Auffassung schließt sich das Landgericht an, indem
es unter anderem sagt: „... Dieser Umstand (nämlich daß der Beklagte
innerhalb einiger Monate zahlreiche Exzesse verübt hat) ist geeignet,
die Schlüssigkeit der auf die Vergangenheit gegründeten Annahme, daß ein
gleichmäßig fortwirkender Trieb zur Verschwendung vorliege, erheblich
abzuschwächen. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß, je mehr der
Beklagte auf den Abwegen der verschwenderischen Asotie beharrt, um so
rascher auch die natürliche Beendigung der Exzesse durch den Tod des
56 Jahre alten, schon jetzt körperlich heruntergekommenen Mannes er¬
folgen wird... Alles in allem ist gegenüber dem Entmündungsantrag
davon auszugehen, daß es sich nicht darum handelt, ein
Vermögen zu erhalten oder einen Asoten und
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/»«: der Praxis der Entmibidiguog wegen Tnmfcsnclit,
in fc- » *-#t ;«•;>';W« aher die vom tfa&dvjABdni«?rteo V«i\.
i. i- fljiöHäiidi^mrg eines Trinkers oder \ f -rs> i<v, -1,
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»HE
220
Schott,
des klägerischen Rechtsanwalts, ein ärztliches Obergutachten einzu-
holen, Folge geben sollen. Alles das erfolgte im Jahre 1906. Im Mai
1909 stellen die Angehörigen des X. erneut Antrag auf Entmündigung
wegen Trunksucht und Verschwendung, eventuell wegen Geistesschwäche.
Die Beweisaufnahme ergibt, daß X. in diesen 3 Jahren über 58 000 Mk.
verausgabt und seine 35 Jahre jüngere Konkubine geehelicht hat, mit
welcher der nunmehr 59jährige ein Kind gezeugt haben soll! Der Sach¬
verständige des ersten Verfahrens wird als Zeuge vernommen und gibt
unbeirrt durch die Tatsachen an: „Das von mir im Jahre 1905 erstattete
Gutachten halte ich für den damaligen Zeitpunkt und auch heute noch
für richtig... X. soll im Jahre 1908 2 Monate lang immer zu Hause sich
aufgehalten haben und die meiste Zeit im Bett gelegen sein. Hierbei
soll er eine große Menschenscheu gehabt haben. Es wäre dies
als ein Rückschlag des früheren übermäßigen Alkoholgenusses sehr
wohl zu erklären. Ich glaube, daß seine geistigen Kräfte gegen das Jahr
1905 notgelitten und nachgelassen haben... es besteht ein Zustand
chronischer Alkoholvergiftung. Dieser Zustand läßt sich jedoch nicht
ohne weiteres als Geistesschwäche bezeichnen, da durch eine entsprechende
Behandlung z. B. in einer Trinkerheilanstalt möglicherweise eine Bes¬
serung eintreten kann. Bei dem Alter des X. ist der Erfolg einer solchen
Kur schwer vorherzusagen; zu befürchten ist, daß unter dieser Kur seine
Körperkräfte zusammenbrechen, ln Anbetracht der chronischen Alkohol¬
vergiftung, unter der X leidet, erscheint es mir zweifelhaft, ob X. auch
in nüchternem Zustand fähig wäre, seine Angelegenheiten zu besorgen...“
Auf das klare, eindeutige Gutachten eines beamteten Arztes
spricht ein anderer Richter als im ersten Verfahren die Entmündigung
des X. wegen Trunksucht und Geistesschwäche aus!
Auch hier sehen wir wieder die Neigung der Juristen zur Häufung; es
hätte vollständig genügt, wenn die Entmündigung wegen Geistes¬
schwäche oder Trunksucht allein beschlossen worden wäre. Die
Entmündigung wegen Trunksucht und Verschwendung finden wir
verhältnismäßig häufig in den Akten vor, ferner Geistesschwäche,
Verschwendung und Trunksucht sowie in einem Fall Trunksucht und
Geisteskrankheit. Dieses Bestreben, das Konto des zu Entmündi¬
genden möglichst zu belasten, läßt sich beim Juristen dadurch er¬
klären, daß er immer und überall in der Entmündigung eine Strafe
und zwar eine sehr empfindliche Strafe erblickt, welche mit der hoch¬
trabenden Bezeichnung des „bürgerlichen Todesurteils“ bedacht zu
werden pflegt. Wie wir sehen werden, fühlen sich die Entmündigten
durchaus nicht tot, sondern entfalten vielfach ein reges Leben. Hin
und wieder hört man bei Debatten über die Entmündigung wegen
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Aus der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht.
221
Trunksucht die schöne Phrase vom „Rechtsempfinden des Volkes“.
Hierbei muß nun gesagt werden, daß bei den 136 Entmündigungen
wegen Trunksucht nirgends Andeutungen dafür vorliegen, als ob die
Zeugen gegen die Entmündigung des Trunksüchtigen wären, ln den
Fällen, welche die Ablehnung der Entmündigung wegen Trunksucht
betreffen, und welche einer gesonderten Besprechung unterzogen
werden sollen, findet man das Gegenteil der obigen Befürchtung,
nämlich die Tatsache, daß ein großer, vielfach überwiegender Teil
der Zeugen die Entmündigung für angezeigt erachtet. Sobald der
Jurist die Erkenntnis in sich aufgenommen hat und als solche wirken
läßt, daß die Entmündigung eine Fürsorge-, eine Schutzmaßregel
für Individuum und Allgemeinheit darstellt, so wird er sich nicht
mehr so lange bedenken, dem Betreffenden die Wohltat und
nicht die Strafe der Entmündigung zuteil werden zu lassen.
Eine ähnliche Auffassung kommt in einem landgerichtlichen
Abweisungsbeschluß zum Ausdruck, in welchem es heißt: Es kann
nicht Sinn und Zweck des Gesetzes sein, daß eine Entmündigung erst
statthaft ist, wenn der Trunksüchtige sein Vermögen verloren hat. Es
muß vielmehr genügen, wenn Anzeichen dafür vorhanden sind, daß bei
einer Weiterwirtschaftung in der bisherigen Weise der Ruin unausbleib¬
lich ist.“
Bei Befolgung dieses Grundsatzes wäre manche dringliche Ent¬
mündigung zustande gekommen und viel Unglück verhütet worden 1
In unseren 136 Fällen von Entmündigung wegen Trunksucht
wurden in 69 = 50% ärztliche Gutachten eingefordert; darunter war
nur zweimal ein Irrenarzt zugezogen. In etwas mehr als der Hälfte
obiger 69 Fälle wurde der beamtete Arzt, sonst ein praktischer Arzt
zu Rate gezogen. Auffällig ist der Unterschied bei den einzelnen
Amtsgerichten; wir finden solche, bei denen fast regelmäßig ein ärzt¬
liches Gutachten einverlangt wird, während bei anderen dies nie
oder fast nie der Fall ist. Nach den Vorschriften der Zivilproze߬
ordnung kann der Amtsrichter einen Sachverständigen hören, muß
n aber nicht.
Daude • sagt: „Die Zuziehung von Sachverständigen zu der persön¬
lichen Vernehmung des zu Entmündigenden kann, wenn es sich um Trunk¬
sucht und eine oft damit zusammenhängende geistige Erkrankung handelt,
nicht für unzulässig erachtet werden.“ Obgleich ein großer
Teil namhafter Juristen, ich nenne nur Planck, Oertmann, Daude, Ende¬
mann u. a., den krankhaften Charakter der Trunksucht betont
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222
Schott,
haben, ist die Forderung der Zuziehung eines ärztlichen Sachverständigen
im Gesetze nicht festgelegt. Samter 1 führt aus: „Wo Müßiggang und leicht¬
sinniger Lebenswandel verbunden mit einer Hinneigung zu Spirituosen
vorliegt, wird unter Umständen eine Strafe Wandel schaffen. Sie wird
da wirksam sein können, wo es sich lediglich darum handelt, ein L a s t e r
zu bekämpfen. Von einem Laster des Trinkens wird man aber nur so
lange sprechen können, als der Zustand des Trinkens noch nicht einen
krankhaften Charakter angenommen hat. Daß auch die Fälle der
ersteren Art sehr zahlreich sind, ist unzweifelhaft, und es wird häufig
sehr schwer sein, zu unterscheiden, wo das Laster aufhört und
die Krankheit beginnt. § 361, 5 wird da anwendbar bleiben, wo der Zu¬
stand des Trinkers eben noch nicht die Natur einer Krankheit ange¬
nommen hat. Ob dies der Fall, wird allerdings wohl
nur der Arzt entscheiden könne n.“
§ 361, 5 des StrGB. lautet: „Mit Haft wird bestraft, wer sich
dem Trunk, Spiel oder Müßiggang dergestalt hingibt, daß er br einen
Zustand gerät, in welchem zu seinem Unterhalte oder zum Unterhalte
derjenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Vermittlung
der Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß.“
Leider wird von diesem § 361, 5 außerordentlich selten Gebrauch
gemacht und doch könnte er eine brauchbare Waffe im Kampfe
gegen den Alkohol bilden. Es liegt hier ein ganz analoger Nicht¬
gebrauch vor wie bei § 362 StrGB., der die Unterbringung
im Arbeitshaus bis zu 2 Jahren gerade auch für trunkfällige
Personen gestattet. Im Jahre 1912 kam im Königreich Württemberg
kein einziger derartiger Fall zur Vollstreckung!
Der logische Widerspruch, welcher darin steckt, daß die Trunk¬
sucht einerseits als krankhafte Erscheinung auch von juristischer
Seite anerkannt wird, während andererseits die Zuziehung eines
ärztlichen Sachverständigen bei der Entmündigung wegen Trunksucht
im Gesetz nicht vorgeschrieben ist, findet seine psychologische Er¬
klärung in der Befürchtung der Juristen, es mögen die Psychiater
zu übermächtig werden. Daß dem so ist, ergeben die Ausfüh¬
rungen der Reichstagskommission 18 , wo u. a. der
Wunsch lebhaft betont wurde, es möge jede nur denkbare Garantie
für die Rechtssicherheit geschaffen werden, da die Entmündigung
einem zivilrechtlichen Todesurteil gleichkomme. Ein Mitglied der
Kommission forderte dringend die Zuziehung von Schöffen, welche
als Vertrauensmänner für das erregte Volksgefühl beruhigend wirken
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.*,* 1 * i' \\ ! 'v i \ . ; ' i .• < 1 y.</Ä\ : ■|Vrf<#*<'rV l \^Vj
Aus der Praxis der Enimündipürig »egen Trnnlisueht ?\ > -ggS
-•'Ilten.. Es sagte, „wenn däs Übel Von übereilten EßftnhhibgHflgoü,
v. ie vielfaeh rnigenotiitnon werde, in der A11 e i n h e r r -• e h & f t
••irr Psychiater läge. m würden die Schöffen' dagegen oij;
hei Dann**.Cn-gengewicht bilden' 1 . •;.A-AA-- c .wAAgg-A" A -
Bei solcher Auffassung arr maßgebender Stelle ist durehaüs
wicht vervnmderlicb. wenn w in zahlreichen, »pidi
wert - und nutzloser* Entmüh<li|?n«?Ph Wegen Trunksucht die prak¬
tischen Ergebnisse dieser Theorie vor Augen .haben, Bedeutungsvoil
ist '»clilK>ßjQchnoeb deppre ußi?che ^rlaß 8 eie?t3>Iiniste f s
des I n n er» v o m 16. N o v e in b e r 189Ö, welcher vom Ent*
in ü, n. d i g u n g s a n t r a g a h s e h r e e k t: und zwar Wegen der
Möglichkeit van Schikanen und, ubei^gK^rvFftrcTtt 'vor ve#S
meihfüeh clr$jeud«r Artnenl&st iSach obsetTr Aktenkeuntms ist
genatt das Gegenteil #t Pall: l>.et Tnmkstirhtige quält und bedroht
fern»? Angehörigen und seine Ümgebartg meist jahrelang in brutalster
■and gemeinster Weise, und die U i o h e r> d e Armenlast wird zur
traurigen W i r ki jeb ke H , weil die Entmündig««# meist erst
u ae h emgelretenef Verarmung in Kraft tritt, statt einer solchen,
wie es «Er Ocsfitzgefer iirn Auge hütte* tonaibeitgcp. Daß-’ bei der
Zuziehung von' ärztlichen Sachverständigen &«$ (l^'j’|^iCiiiliiiü%ttft^
weg*® Trunksucht mir solche in Frage ko ro men, welche über ein
griiwiuei)*-* inreriärztlickes Wissen verfügen, ergibt sich schon aus
‘koi ;ijigv‘fiihrtcn. Kur derartige Sach verständige sind in der Lage,
L mancherlei Beziehungen der Tiunksudit zu anderen krankhafte«
Erscheinnngej» und Äußerungen klarzustellen Und (larzulegein Es
vrird wohl ^^njogH^.Sfiifl. sich ein richtiges
i r rteil au B e darüber zu bilden, öb dtp VÄflicgende Trunksucht endogen
tfdpr symptomatisch bt eine Gütötscbpithtng. welche praktisch
"ichtige Konsequenzen schon hinsichtlich der Annahme des Ent-
Q\ündigungsgmo#3 bäht, Die Befürchtung von der AUeinlseirSchaft
der Pfryebiater liut (fein Gebiete der Bcebtspreehirtig ist g^adözit
i&cherlkh — stellt ja dbch dem Richter nach wie vor die Freie Be-
^• iswurdigung j.g. welche ihm meines Wissens noch niemals ein
tbvf hiater zu enlfcißcri gestrebt hat. Bedauerlich kt bei dieser ganzen
Atiseinand» rsekzueg die Erkenntnis, wie gering das soziale ‘Empfinde«
in vielen Jnrkiefikrefcef} ist. 1}aa> wird auch durch ein neues Gesetz
nicht ander?»; hier hilft nur das heiße. ö auf
'
‘
. .
Go gle
224
Schott,
anderen Wissensgebieten und nicht zum wenigsten auf dem der
Psychiatrie umzusehen und durch gegenseitige Aussprache und Be¬
lehrung Förderung zu empfangen und zu geben.
Die Bestimmung der Trunksucht im Sinne des Gesetzes ist nicht
mit mathematischer Sicherheit durchzuführen; der willkürliche
Faktor ist leider dabei nicht auszuschalten. Die in Juristenkreisen
gangbare Definition bedeutet: „Trunksucht ist der krankhafte Drang
nach übermäßigem Genuß geistiger Getränke, welchem der Befallene
nicht widerstehen kann, und welcher seine Geisteskräfte unterjocht
und seinen Willen lähmt.“ Je größer die Erfahrung des Richters
und des Arztes ist, desto geringer wird der willkürliche Ausschlag
sein. Es ist zuzugeben, daß Trunkneigung, Trunkliebe, Trunkfällig¬
keit Stufen auf dem Wege zur Trunksucht sind, und daß überall
fließende Übergänge bestehen. Daraus ergibt sich auch die Schwierig¬
keit, das Laster von der Krankheit zu scheiden, und deshalb ist es
auch berechtigt, wie der Gesetzgeber zuläßt, die Entmündigung aus¬
zusetzen, wenn begründete Aussicht auf Besserung vorhanden ist.
Die Aussicht wird sich dann als hinfällig erweisen, wenn wir es mit
der wahren Trunksucht zu tun haben, deren Charakteristikum eben
die Unfähigkeit ist, aus eigenem Willen auf dem Wege der Besserung
zu verharren. Da nun der Jurist diese Möglichkeit hat, versuchweise
vorzugehen, so ist es umsoweniger erklärlich, warum er so lange
mit der Entmündigung wegen Trunksucht zögert. Eine ganz merk¬
würdige Beurteilung des Wertes der Entmündigung wegen Trunk¬
sucht findet sich in einem amtsrichterlichen Urteil, in welchem der
Befürchtung Ausdruck verliehen wird, es könnte der Trunksüch¬
tige durch die Entmündigung noch tiefer
sinken (!?).
Wenn wir zu dem Erfolg der Entmündigung wegen
Trunksucht übergehen, so finden wir hier folgende Verhältnisse.
Nach den Akten wird in ca. 30% von einer Besserung gesprochen;
es ist jedoch darunter keine Besserung im irrenärztlichen Sinne zu
verstehen, sondern eine solche im sozialen. Es ist dem subjektiven
Ermessen des Begutachters anheimgestellt, ob er einen strengeren
oder milderen Maßstab anlegen will. Vom Standpunkte der Abstinenz
betrachtet, würden kaum 2—3% herauskommen. Wenn es auch vom
ärztlichen Standpunkte aus durchaus berechtigt ist, von jedem Trunk-
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Aus der Praxis der Entmündigung wogen Trunksucht,
itißtvn Abstinenz zu verlangen, so ist e.« anderttrsoit« nicht an-
4\* Verhältnisse iuieh diesem bis jetzt leide* 1 ttkbt »UgernPtn
rkanntett Maßstabt» zu messen und unter dksenv Geskiltepujikt
itÄfhseh 7.m verwerten, Es urt an and für sk-Ö .-sehr schwierig; ans
> .>n.gesteilten Erhebungen sich ein Bild von der Bavliläge und
slmscm-dere auch von der Person des Tritaksöchtigpii äu mache«.
♦ rf. hat versucht, durch fkebüEliung desjenigen Bruchteils des
i-tji'n die Verhältnisse ebeaöikhtA vieimetk snwohl ln der
ifuppe der Gebessert#, als auch in der (lerlTngehess.eften Individuen,
v*dciif ihren ganzen' Lebensmuerhält verdienen. Andererseits sind
jöimt den .Gebesserten Personen, weiche nur ein Fünftel bis ein Zehntel
ihres li€'beusüöt?jfitftlts kktvn, und bei denen eine Besserung: der
•i ; -.inksudit angegeben wird und «war ,,v.«$ wegen hohen Alter* -
■e r wegen zunehmender Gebrechlichkeit. Sn diesen. Fallen ist es
i'-knhdk fraglich ob man von elfter durch die Entmündigung her--
vnbtcruknem Besserung ,l$$n ,und darf. Ihrbedingi zu den
Vngek-ysu'rten sind alle diejenigen Personen gerechnet worden, welche
lUmk-t iutt
fß <kn vier Ivreise« Württembergs bewegt sieh der Anteil der
$$ j,rtd ... der der Ühgebesserten znisrlmn
ZAVist
die vtreinzhlten |!rKcb^g#k;'-.w^b^. ergebnislos mUefmi. Yb«
d»n 87 ungebessert# durch Tod ähg^angen j
® entfällt aiiJt 'dig.'Ocsaälftl^bl. evoe Stetrbllcb-
•- h von rund 2H% für einen Zeitraum von h Jahren.
Von den 136 Entmündigten kan» nur ein einziger in dieTriiikerheii-
y{ ätto, öi welcher ei * A Jahr laug untergebracht war, Nach seiner Ent-
; issung hielt er sich einige Zeit gut , später wurde wieder urb Auf-
nahmc gebeten. 5) kamen 'in die I r r e ti» n s t a 11, darunter eim
Trinken«; 4 bdi«den sieh «och in der Anstalt. Von den 5 Entlassenen
kann nur 1 äte gtdkweärt btt rachtet w erden, dwerdeii als Aleohtflismu?
«farönieue, t mF*
Co gle
226
Schott,
in den betreffenden Krankengeschichten aufgeführt. Bei einem noch
in der Anstalt Untergebrachten und unter Alcoh. chron. Aufgeführten
wird das Bestehen von Sinnestäuschungen hervorgehoben. In den
3 Paranoiafällen werden unangenehme Sensationen, Gehörstäuschungen,
Beeinträchtigungs- und Größenwahnvorstellungen betont.
In 13 weiteren Fällen wurde die Entmündigung wegen
Trunksucht nach teils kürzerer, teils längerer Zeit wieder auf¬
gehoben; in7 Fällen war eine gewisse Besserung zu verzeichnen,
in 6 Fällen nicht. In 2 dieser 6 Fälle wurde später wieder die Ent¬
mündigung ausgesprochen, 2 sind gestorben und 1 ist verschollen.
In 15 Fällen wurde die Entmündigung wegen Trunksucht
abgelehnt, da nach richterlichem Ermessen in 14 dieser Fälle
die gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegeben erschienen. In 1 Fall
wurde der Antrag zurückgewiesen, da die Antragsteller noch nicht
prozeßfähig waren. Bei 3 dieser 15 Fälle lag dem Richter ein ärztliches
Gutachten vor; 2mal erkannte der ärztliche Sachverständige Trunk¬
sucht n i c h t an, im 3. Falle wurde trotz befürwortenden ärztlichen
Gutachtens der Antrag abgelehnt. Von den beiden Fällen, in denen
der ärztliche Sachverständige Trunksucht nicht als gegeben erachtete,
erwies sich diese Annahme in dem einen als berechtigt, in dem anderen
als trügerisch. Die nachträglichen Erhebungen ließen in 4 Fällen
eine Besserung annehmen und in 11 vermissen. Von den Gebesserten
verdienen 3 ihren Lebensunterhalt, 1 nur s / 5 . Von den Ungebesserten
sind 6 gestorben; 3 befinden sich zu Hause und 2 in einer Anstalt.
Von den 3 zu Hause befindlichen verdient je 1 seinen ganzen Unter¬
halt, bzw. 2 /s und y 4 .
Wegen Verschwendung und Trunksucht wurden
45 Entmündigungen ausgesprochen, über welche nachträglich Er¬
kundigungen einzuziehen gelang. 3 Fälle blieben verschollen. 27%
der Entmündigten wiesen Besserung auf, 67% nicht. Rund 20%
sind in der Zwischenzeit mit Tod abgegangen; dieselbe prozentuale
Beteiligung zeigen diejenigen, welche, sei es vorübergehend, sei es
dauernd, in einer Anstalt untergebracht waren. In 1 Fall wurde die
Entmündigung 4 Jahre später aufgehoben, ohne daß es zu einem
Rückfall kam.
In 6 Fällen wurde der Antrag auf Entmündigung wegen Ver¬
schwendung und Trunksucht abgelehnt; inl Fall trat 1 Jahr
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Aus der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht. 227
später der Tod infolge von Lungentuberkulose ein. Einer gilt als
durch Verheiratung gebessert, ein anderer arbeitet wenigstens so viel,
daß er durch Taglohn seinen Unterhalt bestreitet. Von einem weiteren
heißt es, er habe nach Verbrauch seines Vermögens wieder zu arbeiten
angefangen und verdiene seinen Lebensunterhalt. Ein anderer,
43 Jahre alt, trinkt nicht mehr, weil er gichtleidend ist. Der sechste
endlich hat in 3 Jahren sein Vermögen von 3000 Mk. verpraßt und
ist, 46 Jahre alt, auf Armenkosten in einer Pflegeanstalt untergebracht.
Bei keinem dieser 6 Fälle wurde erneut der Antrag auf Entmündigung
gestellt.
Wegen Verschwendung wurde in 4 Fällen entmündigt.
Unter Verschwendung wird nach juristischer Auffassung
ein Hang zur zweck- und nutzlosen Vermögensverschleuderung ver¬
standen, welcher die Besorgnis begründet, daß durch entsprechend
an den Tag gelegtes Verhalten der Betreffende selbst oder die Familie
dem Notstand preisgegeben werde.
Notstand bedeutet nicht die gänzliche, die Mildtätigkeit
oder die Armenunterstützung herausfordernde Verarmung, sondern
eine Vermögenslage, die ein standesgemäßes Leben des Trunksüch¬
tigen nicht gestattet.
Von den 4 wegen Verschwendung entmündigten Fällen sind
2 als gebessert und 2 als ungebessert zu betrachten. In keinem Falle
ist die Entmündigung bis jetzt wieder aufgehoben worden. Die
beiden Gebesserten verdienen ihren vollen Lebensunterhalt, der eine
der Uhgebesserten 90% desselben; über den letzteren äußert sich die
Ortsbehörde: „Ist geistig schwach, besitzt etwa 70% Geistesgegen¬
wart gegenüber einem normalen Menschen.“ Der andere Ungebes-
serte befindet sich in einer Pflegeanstalt und wird als sittlich defekt,
geistig und körperlich im Zurückgange begriffen geschildert, was
in Anbetracht des Alters von 68 Jahren nicht besonders auffällt.
Wegen Geistesschwäche kamen 7 Entmündigungen zu¬
stande, 5 der Entmündigten waren über 50 Jahre alt, 2 71 bzw. 84 J.
Der Jüngste war zur Zeit der Entmündigung 22 J. alt.
Der Antrag hatte in diesem Falle auf Geisteskrankheit und Trunk¬
sucht gelautet. „Seine Geistesschwäche bzw. Geisteskrankheit äußert
sich darin, daß er menschenscheu ist, nicht redet, auf Befragen keine Ant¬
wort gibt, einen wirren Gesichtsausdruck zeigt, wochenlang ins Bett
Zeitschrift för Psychiatrie. LXXI. 2. 16
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Schott,
liegt und nichts arbeitet. Wenn er redet, ist es für jeden Dritten erkenn¬
bar, daß sein Zustand nicht normal ist. Namentlich in der warmen Jahres¬
zeit ist sein krankhafter Geisteszustand schlimmer, er kann seine An¬
gehörigen grundlos mit Schimpfworten überhäufen, auch sein Gesichts -
ausdruck zeigt deutliche Spuren geistiger Störung... Er zeigt einen
krankhaften Hang zum Trinken... “
Das eine ärztliche Gutachten führt aus: „J. S. ist geistig nicht nor¬
mal, er ist schwachsinnig, so daß es nicht wahrscheinlich ist, daß er sich
selbständig machen und sein Vermögen ordnungmäßig verwalten kann;
jedenfalls wird sein Geisteszustand durch den Alkohol noch ungünstiger... “
Der beamtete Arzt äußert sich in seinem Gutachten wie folgt:
„...Intelligenz ganz erheblich geschwächt. Sein Gemütsleben zeigt
eine auffällige Stumpfheit; vorherrschend ist ein kindischer eigensinniger
Egoismus, der keine Rücksichten auf seine Nebenmenschen nimmt.
Dabei ist er läppisch, fremden Beeinflussungen und Augenblicksströ¬
mungen ganz unterworfen... J. S. leidet an einem mittleren Grad von
intellektuellem und moralischem Schwachsinn, also an Geistes¬
schwäche, welche ihm die eigene selbständige Verwaltung seines
Vermögens unmöglich macht... Das Gericht beschließt auf diese Gut¬
achten hin, J. S. wegen Geistesschwäche zu entmündigen, dagegen den
Antrag, ihn auch wegen Trunksucht zu entmündigen, abzulehnen. Letzteres
wird folgendermaßen motiviert: „Des weiteren ist zwar festgestellt, daß
J. L. insbesondere, wenn er Geld hat, sich sehr häufig betrinkt, dafür jedoch,
daß der Hang zum Trinken bei ihm schon so tief eingewurzelt wäre, daß er
ihm nicht mehr widerstehen könnte, fehlt es an dem nötigen Beweise“.
5 der 7 Entmündigten sind in der Zwischenzeit gestorben; der
eine davon 54 J. alt durch Selbstmord (Erschießen).
Dieser letztere Fall ist dadurch tragisch, daß die Entmündigung
nach iy 2 jährigem Bestände wieder aufgehoben wurde. 1 Jahr später
schoß der Betreffende zuerst auf seine Frau und dann auf sich.
Dieser Fall fordert zu recht zurückhaltender Beur¬
teilung de s Trinkers auch von seiten des irren-
ärztlichen Sachverständigen auf, wie sich aus fol¬
gendem ergibt: Die Ehefrau des E. K. hatte unter dem 18. VIII. 1905
Antrag auf Entmündigung wegen Verschwendung und Trunksucht ge¬
stellt. Während die Zeugen Trunksucht bestätigen, spricht sich der
beamtete Arzt zurückhaltend darüber aus. Der Direktor einer Irren¬
anstalt stellt fest, daß E. K. an Alcoholismus chronicus leidet und anstalts¬
bedürftig ist (4. XII. 5). Das Amtsgericht beschließt unter dem 12.1.1906,
den Antrag abzulehnen und begründet seinen Standpunkt
unter anderem wie folgt: ... K. gibt sich demnach öfters übermäßigem
Genuß geistiger Getränke hin, er ist ein Trinker, leidet aber nicht an
Trunksucht im Sinne des Gesetzes, deren Begriff
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Aus der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht.
229
ine eingewurzelte, unüberwindliche Neigung zu übermäßigem Trinken,
inen krankhaften Drang nach Alkohol, der die Geisteskräfte unter¬
teilt und den Willen lähmt, erfordert. Diese Trunksucht müßte den
Franken zur vernünftigen Besorgung aller seiner Angelegenheiten unfähig
einacht haben... “ Das Landgericht weist die Beschwerde der Ehefrau
urück.
Im Laufe des Jahres 1906 erneuter Antrag der Ehefrau: „Wieder
vollkommen dem Säuferwahnsinn verfallen und eine Gefahr für seine
Umgebung.“ Das Gutachten eines praktischen Arztes spricht den „Ver-
dai ht“ aus, daß K. ein Trinker ist. Eine geistige Störung ist nicht fest¬
zustellen und ein Anlaß zu sofortigem Einschreiten nicht gegeben. Eine
psychiatrische Klinik bezeichnet den K. als „chronischen Trinker“. „In¬
folge seiner Trunksucht ist er an einer länger dauernden Geistesstörung
erheblichen Grades erkrankt. Er vermag daher wegen Geistes¬
schwäche seine Angelegenheiten nicht zu besorgen.“ Das Gericht
beschließt am 3. I. 07, den K. wegen Geistesschwäche zu entmündigen.
^.Trunksucht bleibt dahingestellt, etwaige Verschwendung kommt auch
iiuht in Betracht, da sie im vorliegenden Falle doch nur als Folgeerschei¬
nung der Geistesschwäche anzusehen wäre.“ Die Anfechtung der Ent¬
mündigung wird auf ein irrenärztliches Obergutachten hin abgewiesen.
1907/08 ist K. y 2 Jahr lang in einer Irrenanstalt untergebracht.
Auf tin weiteres irrenärztliches Gutachten hin, welches betont, daß K.
•'ich in der Anstalt gut geführt habe, wird 2 Monate
nach der Entlassung aus der Anstalt die mühsam durchgesetzte Ent-
mundigung wieder aufgehoben, um durch Rückfälligkeit zur obenge¬
nannten Katastrophe zu führen!
Drei der sieben wegen Geistesschwäche Entmündigten fallen
psychiatrisch betrachtet zweifellos unter den Begriff der senilen
Demenz.
Auf gewisse juristische Eigentümlichkeiten w’eisen die folgenden
Entmiindigungsfälle hin:
a) Entmündigung wegen Trunksucht und
Geisteskrankheit.
Der einzige vorliegende Fall bezieht sich auf einen zur Zeit der
Entmündigung 53 Jahre alten Mann, welcher schon seit längerer Zeit
periodisch dem Trünke ergeben ist, wochenweise nichts schafft und im
Kausche gewalttätig ist. Zeugen bestätigen Trunksucht. Nach dem
Zeugnis des beamteten Arztes ist der Betreffende schon 4mal wegen
alkoholischen Irreseins in einer psychiatrischen Klinik gewesen und soll
Juni 1895 einen Selbstmordversuch gemacht haben. Er wird als
derzeit geschäftsunfähig und seine Entmündigung als angezeigt erachtet.
Der Beschluß vom 23. III. 03 lautet auf Entmündigung wegen
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Schott,
Trunksucht und wegen Geisteskrankheit. Die Auskunft über die Zeit
seit seiner Entmündigung enthält folgendes Bemerkenswerte: „Das
Trinken hat wesentlich nachgelassen; er bekommt eben sein Krüglein
Most daheim und fürs Wirtshaus kein Geld. Aber die Trunk¬
sucht hat sich kaum gebessert. Wo er einmal etliche
Mark in die Hand bekommt, werden sie vertrunken. Auch findet er
durchaus nichts Schlimmes an seinem Trinken. Er arbeitet ein wenig¬
in der Landwirtschaft... Normal ist sein Geisteszustand nicht; aber das
Stimmenhören, Toben usw. hat fast auf gehört... Der Entmündigte
grollt immer über seine Entmündigung. Die Seinigen überlegten schon»
ob man es mit Aufhebung der Entmündigung versuchen könnte. Aber
es ist fast sicher, daß sofort der alte unerträgliche Zustand wiederkehren
würde.“
Wir sehen hier einen Fall in Freiheit sich bewegen, welcher nach
seiner Vorgeschichte Gefahren für seine Umgebung in sich birgt, welche
auch jetzt noch in einer Gewalttat sich jederzeit entladen können!
b) Entmündigung wegen Verschwendung und
Geistesschwäche.
Auch hier liegt nur ein Fall vor, welcher einen 75jährigen Mann betrifft.
Die Entmündigung wegen Verschwendung und Geistesschwäche wurde
hauptsächlich auf Grund des Zeugnisses des be¬
amteten Arztes abgelehnt (!). Der Antrag ging von den
beiden Söhnen aus und wurde damit begründet, daß der zu Entmündigende
zu Verschwendung und Vergeudung neige, an Geistesschwachheit leide, viel
trinke und „wahnsinnige Prozesse“ führe. Der Gemeinderat äußerte
sich dahin, daß seit dem Tode der Frau (1902) der zu Entmündigende
mehr als bedürftig trinke, unanständige Reden führe, in betrunkenem
Zustande streitsüchtig sei, seine Grundstücke verderben lasse. Früher
sei er ein sehr sparsamer Mensch gewesen und führe erst seit einigen
Jahren ein ungeordnetes Leben.
Das K. Oberamt bezeichnet ihn als „Säufer und Prozeßkrämer“
und fährt dann in seinen Auslassungen fort: „Es ist zweifelhaft, ob
die Verminderung seiner Zurechnungsfähigkeit, die zweifellos vorliegt»
mehr aufs Trinken oder mehr auf den Einfluß des Alters zurückzuführen
ist.“ Die Zeugen bestätigen „Wirtshaussitzen und Umher trinken“.
Allem demgegenüber ist nach dem Gutachten des beamteten Arztes der
zu Entmündigende „für sein Alter körperlich und geistig auffallend frisch
und rüstig und zeigt keine Spur einer senilen Dege-
neratio n“. Daraufhin wurde der Antrag natürlich abgelehnt. 2 Jahre
später starb er im Alter von 78 Jahren an „Herzklappenfehler“. Nach¬
zutragen ist noch, daß ein Sohn an Epilepsie leidet und ein anderer Sohn
geisteskrank im Alter von 46 Jahren gestorben ist.
In Rücksicht auf alle diese Umstände muß es doch recht fraglich
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Aus der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht’
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erscheinen, ob es nicht möglich gewesen wäre, zur Zeit des Entmün
digungsanträges Zeichen von seniler Demenz nachzuweisen.
c) Entmündigung wegen Geistesschwäche, Ver¬
schwendung und Trunksucht.
Ebenfalls nur ein Fall. Der Antrag auf Entmündigung ging vom
Bruder aus und betonte, daß der zu Entmündigende, welcher damals
36 Jahre alt war, seit etwa iO Jahren nichts mehr arbeite, Alkoholist und
infolge dadurch bewirkter Schwächung geisteskrank sei und an perio¬
dischen Wutanfällen leide. Zeugen bestätigen periodische Trunksucht
und Verschwendung. Der zu Entmündigende ist erblich schwer belastet
{Mutter sehr nervös, ein Stiefbruder der .Mutter geisteskrank, Vater, an
Gehirnerweichung gestorben). Ein ausführliches irrenärztliches Gutachten
kommt zu dem Schluß, daß er infolge von Geistesschwäche
seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermöge. Daraufhin erfolgte
der Beschluß auf Entmündigung wegen Geistesschwäche, Verschwendung
und Trunksucht. Der Entmündigte befindet sich in einer Irrenanstalt,
woselbst er Stimmungsschwankungen, zeitweise hypochondrische Klagen
und Beschwerden, vage Beeinträchtigungsideen und gelegentlich Ver¬
giftungsideen produziert, prinzipiell nichts arbeitet und immer Sehnsucht
nach geistigen Getränken an den Tag legt.
Die klinische Einordnung des Falles ist nicht einfach; es wird der
Fall von den Spezialkollegen auch jetzt noch verschieden rubriziert. In
der allgemeinen Statistik läuft er unter „Entartungsirresein“.
Schließlich wären noch zwei Fälle zu besprechen, in denen die E n t -
mündigung wegen Geisteskrankheit in Frage stand.
In Fall 1 handelt es sich um einen 39 Jahre alten Wagnermeister, bei
welchem die Staatsanwaltschaft Antrag auf Entmündigung
wegen Geisteskrankheit gestellt hatte. Das irrenärztliche
Gutachten eines Anstaltsdirektors kam zu dem Ergebnis, daß „D. während
der hiesigen Beobachtung außer einer ohne äußere Veranlassung ent¬
standenen Verstimmung und Reizbarkeit von einigen Tagen Dauer nichts
Krankhaftes bot. Es handelt sich bei D. wahrscheinlich um Dipso¬
manie, eine Krankheit, die durch anfallweise auftretenden, un¬
widerstehlichen Drang nach berauschenden Getränken und durch ein
«nleitendes Stadium von Verstimmung und Reizbarkeit gekennzeichnet
ist und der Epilepsie zugerechnet wird. Daß D. infolge dieser Krankheit
nicht imstande ist, seine Angelegenheiten zu besorgen, vermag ich n i c h t
zu bejahen. Ob D. neben der auf epileptischer Grundlage einhergehenden
Dipsomanie an chronischer Trunksucht leidet, kann nach den wider¬
sprechenden anamnestischen Angaben und auf Grund der hiesigen Be¬
obachtung nicht festgestellt werden. Wenn nachgewiesen werden
kann, daß D. in seinen periodischen Trunksuchtsanfällen — mögen sie
nun epileptisch sein oder nicht — die Sicherheit anderer gefährdet, so
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Schott,
wäre seine Entmündigung gemäß § 6 Abs. 3 BGB. wohl gerechtfertigt.“"
Beim Termin am 7. IV. 09 gibt D. ordentlich Auskunft und behauptet,
vor einigen Jahren eine Schädelverletzung erlitten zu haben,
derzufolge er besonders nach Alkoholgenuß Druck im Kopf verspüre.
Das Gutachten des beamteten Arztes bezeichnet D. als erblich belastet,
gibt an, daß D. schon zwei Selbstmordversuche gemacht habe und an
Dipsomanie leide, sowie in seiner Trinkperiode gemeingefährlich sei.
Das Gericht beschließt unter dem 13. VIII. 09, den Antrag der
Staatsanwaltschaft auf Entmündigung des D. wegen Geisteskrankheit
a b z u 1 e h n e n , da die Voraussetzungen nicht zutreffen. Die erbetene
Auskunft geht dahin, daß D. seinen Lebensunterhalt verdient und geistig:
normal ist, „solange er arbeitet und dem Trunk sich nicht ergibt“. Jedes-
Halbjahr ist über D. an das Oberamt zu berichten. Bei dem letzten Be¬
richt war zu bemerken, daß D. seit der letzten Berichterstattung einmal
eine Übertretung verübte, die amtsbekannt wurde, indem er seine ledige
Schwester und eine Mitbewohnerin des gemeinsamen elterlichen Hauses
in einem angetrunkenen Zustande körperlich mißhandelte. D. war im
Januar 1913 etwa 14 Tage lang wieder trunkfällig.“
Im zweiten Falle handelt es sich um eine 55 Jahre alte Witwe, welche
zweimal wegen Beleidigung bzw. Sachbeschädigung vorbestraft ist. Der
Bruder beantragt am 18. II. 03 die Entmündigung wegen Geisteskrank¬
heit und Trunksucht; er bezeichnet seine Schwester als Querulantin,
welche schon längst Spuren von krankhafter Störung der Geistestätigkeit
aufgewiesen habe und dem Alkohol in dem Maße verfallen sei, daß sie
ihre Angelegenheiten nicht zu besorgen vermöge. Die zu Entmündigende
ist mit der Entmündigung einverstanden. Das amtsärztliche Gutachten
bezeichnet sie als „dauernd geistesgestört und unzurechnungsfähig“.
Das Gericht beschließt unter dem 11. V. 03, sie wegen Geisteskrankheit
(Alcoholismus chronicus mit Seelenstörung) zu entmündigen. Unter dem
14. V. 04 hebt das Landgericht die Entmündigung wegen Geisteskrank¬
heit wieder auf, nachdem der zugezogene Irrenarzt nur Geistesschwäche
und Verminderung der freien Willensbestimmung angenommen hat.
7 Jahre später ist die Betreffende an „Leukaemie“ gestorben,
nachdem sich in der Zwischenzeit ein körperlicher und geistiger Rück¬
gang mehr und mehr gezeigt hatte und Zeiten der Aufregung und Trunk¬
sucht immer wieder in Erscheinung traten.
Während wir Irrenärzte geneigt sind, je nach der Ursache der
Trunksucht, unter Umständen uns für die Entmündigung wegen
Geistesschwäche oder wegen Geisteskrankheit auszusprechen, legt
der Jurist auf die Ätiologie der Trunksucht keinerlei Wert.
In dem Beschluß eines Amtsgerichts heißt es: „Unerheblich ist
dagegen, auf welcher pathologischen Basis sich diese Widerstandslosigkeit
gegen den Alkoholgenuß entwickelt hat. Es kann sonach B. trunksüchtig
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Aas der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht.
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sein, auch wenn die für chronischen Alkoholismus charakteristischen
organischen Veränderungen nicht nachweisbar sind; wenn die jeweils
auftretenden Gemütserregungszustände ihn widerstandlos dem Alkohol
ausliefern, ist er eben trunksüchtig auf Grund dieser psychopathischen
Basis.“
Es ist hier noch als ein erfreuliches Zeichen eingehender Kenntnis
und Erfahrung aus einem Urteil des Oberlandesgerichts folgendes anzu-
führen: „... Unerheblich ist ferner, ob der Kläger Zeichen eines chro¬
nischen Alkoholismus aufweist und ob aus dem Fehlen solcher Zeichen
zu schließen wäre, daß er auch zur Zeit der Erlassung des Entmündi¬
gungsbeschlusses nicht an Alkoholerkrankung gelitten habe. Denn nicht
immer hat übermäßiger Genuß geistiger Getränke sichtbare Krankheits-
erscheinungen zur Folge, es gibt erfahrunggemäß Naturen, die dem schäd¬
lichen Einfluß des Trinkens lange Zeit Widerstand leisten können...“
Aus dieser Auffassung ergibt sich für den ärztlichen Sach¬
verständigen die an und für sich selbstverständliche Verpflich¬
tung, bei seiner Begutachtung auch den Akten¬
inhalt gebührend zu würdigen und in Rechnung
zu ziehen.
Wir finden unter unserem gesamten Aktenmaterial 196 Fälle
von Entmündigung, in denen starkes Trinken den Anlaß zur Stellung
des Entmündigungsantrages gab; davon wurden 32% als gebessert
und 67% als ungebessert in den angestellten Erhebungen bezeichnet.
Rund 27% der Entmündigten sind in einem Zeitraum von 10 Jahren
gestorben.
In 122Fällen war ein Entmündigungsver¬
fahren anhängig, bei welchem übermäßiges Trinken eine
Rolle spielte. In 22 Fällen = 18% wurde der Antrag von
seiten des Gerichts abgelehnt; in 5 von diesen
22 Fällen wird von einer gewissen Besserung berichtet; bei 17 fehlt
eine solche. 8 = 36% sind durch Tod abgegangen.
In 100 Fällen = 82% wurde das Verfahren eingestellt, darunter
in 94 = 77% deshalb, weil der Entmündigungs-
an trag zurückgenommen worden ist.
In 6 Fällen = 5% wurde das Verfahren aus anderweitigen Gründen
eingestellt, darunter 4mal wegen Ablebens des zu Entmündigenden,
welches 2mal durch Selbstmord und 2 mal auf natürliche Weise
(Lungentuberkulose bzw. Schlaganfall) erfolgte.
Von den 94 Fällen, in denen die Antragsteller ihren Antrag
wieder zurückgezogen haben, läßt sich folgendes sagen: der Antrag
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Schott,
auf Entmündigung wegen Trunksucht wurde in 58 Fällen = 62%
gestellt und wieder zurückgenommen. Die angestellten Erhebungen
ergaben in 36% eine gewisse Besserung, in 65% fehlte eine solche.
Eine nachträgliche Entmündigung erfolgte nur in 3 Fällen. Dreimal
wurde wiederholt Entmündigungsantrag gestellt und wieder zurück¬
genommen, darunter in einem Falle 2mal innerhalb eines Jahres.
In 33 Fällen lautete der Entmündigungsantrag auf Verschwen¬
dung und Trunksucht; hiervon soll 1 / 3 gebessert und 2 /s ungebessert
sein. In je 1 Fall wurde Antrag auf Entmündigung gestellt und wieder
zurückgenommen wegen Verschwendung, wegen Geistesschwäche und
wegen Geisteskrankheit und Trunksucht. Sämtliche 3 Fälle lassen
eine Besserung im Laufe der Zeit vermissen. Das häufigste Motiv
zur Zurücknahme des Antrags bildet die Angst der Frau
vor den Brutalitäten des trunksüchtigen Ehemannes; so heißt es
einmal: „Obwohl keine Besserung eingetreten ist, nimmt die Ehefrau
den Antrag zurück, da sie befürchtet, daß sie mit ihrem Ehemanne,
wenn sie den Entmündigungsantrag aufrecht erhielte, sehr schwer
zu leben hätte und auch ihren Kindern diese Blamage nicht antun
mag.“ 3mal wird der Antrag zurückgezogen, nachdem Eheschei¬
dung erfolgt ist, mehrfach nach erfolgter Gütertrennung, nach
Verzicht des trunksüchtigen Ehemannes auf eine Erbschaft, nachdem
der Trunksüchtige sich zur Aufstellung eines Pflegers bereitgefunden
hat. In einem Fall zieht die Mutter den Entmündigungsantrag wogen
Trunksucht und Verschwendung ihres Sohnes zurück, „da sie sich
von der Verheiratung ihres Sohnes Besserung verspricht“; wie zu
erwarten stand, ist nach der Verheiratung das Unglück noch größer
als zuvor. Bemerkenswert ist fernerhin, daß in 3 Fällen ein ab¬
lehnendes ärztliches Gutachten Antragsteller ver-
anlaßte, den Antrag zurückzuziehen.
In dem einen Fall handelt es sich um eine Trinkerin, an welcher der
ärztliche Sachverständige „körperliche oder geistige Zeichen von Trunk¬
sucht nicht erweisen kann“. Die zu Beginn dieses Jahres eingelaufene
Auskunft lautet: „Trinkt, wenn sie etwas erhalten kann.“ In dem zweiten
Falle, dessen Entmündigung wegen Geistesschwäche beantragt ist, han¬
delt es sich um einen 58jähr. trunkliebenden Mann, welcher 1 Jahr später
an Myodegeneratio cordis gestorben ist. In einem Falle, in welchem die
Entmündigung wegen Verschwendung und Trunksucht vom Gemeinde -
rat beantragt war, zieht derselbe seinen Antrag wieder zurück,
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Aas der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht.
235
il der zu Entmündigende in 11 Jahren 20 000 Mk. durchgebracht
7 000 Mk. Schulden gemacht haben soll. Die unlängst eingetroffene
«oft lautet: „Nach den angestellten Erhebungen war er nie ein
ar, dagegen ist er arbeitscheu und daher in seinen früher guten
Agensverhältnissen bis zur Vermögenslosigkeit zurückgekommen.“
stark bei einzelnen dieser Fälle die Trunksucht noch jetzt
; daraus hervor, daß es z.B. heißt: „S. ist als leidenschaftlicher
pstrinker bekannt“, oder „die Trunksucht besteht unver-
t“, oder „die Trunksucht besteht noch und zwar in hohem
!*, trinkt jetzt 75 J. alt täglich bis zu 10 1 Bier, hat auch noch Um-
| mit Frauenspersonen“. Von einem 58jährigen wird berichtet, daß
„täglich 20—25 Schoppen Most“ und von einem 45jährigen,
ier „täglich bis zu 2 1 Schnaps“ trinke!
j T r o t z alledem ist in der Folgezeit von
Üner Seite mehr ein Antrag auf Entmün-
fcung gestellt worden.
f Gestorben sind in der Zwischenzeit 19 = 20% (von 94) und zwar
| Altersschwäche 5, an Herzleiden 5, an Delirium alcohol. 2, an
pgenkrebs 2, an Lungentuberkulose 2, an Lungenentzündung,
llerairrhose und Unglücksfall je 1.
Kp meisten Todesfälle (7) weist das 6. Lebensjahrzehnt auf,
folgte das 7.; das 8. und 5. sind gleichbeteiligt, das 4. am ge-
ipten (2).
* Di? Dipsomanie kann bei der Entmündigung als „Geistes-
**>Ahpit“ bewertet werden; diesbezügliche Entscheidungen von
^höchster Gerichtsstelle liegen vor. Die klinische Einreihung der
Dipsomanie ist noch strittig; ein großer Teil der Irrenärzte ist ge-
die Dipsomanie unter den Sammelbegriff der „Epilepsie“
interzuordnen. Aschaffenburg hat ja besonders eindringlich darauf
angewiesen, daß periodische Verstimmungen für Epilepsie charak-
«nstisch seien, und daß ihr alleiniger Nachweis die Diagnose „Epi-
ppsie“ rechtfertige. Für den Gerichtsarzt wird dieser Standpunkt
n - E. nicht haltbar sein. Die periodischen Verstimmungen kommen
llcrdings bei Epilepsie häufiger vor als sonst wo, aber doch nicht
schließlich; sie sind .weiter nichts als ein Ausdruck des psychopa-
uschen Zustandes und demgemäß auch bei Entarteten recht häufig,
emzufolge sind sie bei Kriminellen kein seltenes Ereignis.
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Schott,
Unter unserem gesamten Material finden sich 31 Fälle = 10%,
in denen ausdrücklich von Laienseite eine gewisse Periodizität („Quar¬
talsäufer, Quartallump, periodischer Trinker, zeitweise Trunksucht,
Periodensäufer“) aufgeführt wird. In einem nicht geringen Teil
dieser Fälle bestand dieser Zustand jahre-, selbst jahrzehntelang,
um allmählich in einen chronischen Zustand der Trunksucht über¬
zugehen. Es fragt sich nun, ob es tatsächlich Fälle von periodischer
Trunksucht gibt, welche zeitlebens in diesem Zustande verharren,
oder ob diese Periodizität nur ein ausnahmweise langes Vorstadium
der chronischen Trunksucht darstellt. Gaupp 9 in seiner Studie über
Dipsomanie charakterisiert die letztere wie folgt:
„Die Dipsomanie oder periodische Trunksucht ist gekennzeichnet
durch anfallweises Auftreten eigentümlicher Zustände, in welchen nach
Vorausgehen einer gemütlichen Verstimmung der unwiderstehliche Trieb
nach Genuß berauschender Getränke erscheint, zu heftigen Ausschwei¬
fungen treibt, mit einer leichten oder tieferen Bewußtseinstrübung ein¬
hergeht oder zu einer solchen allmählich führt, bis nach wenigen Stunden
oder Tagen, selten erst nach Wochen oder Monaten, der Anfall von selbst
sein Ende findet und nun nach Überwindung der Vergiftungserschei¬
nungen einem mehr weniger gesunden Zustande Platz macht. Die peri¬
odischen Verstimmungen, welche ohne erkennbare Ursache eintreten und
die wichtigste Teilerscheinung der Dipsomanie darstellen, sind epilep¬
tischer Herkunft und treten in ganz gleicher Weise auch bei anderen
Formen der Epilepsie auf. Die Dipsomanie ist also keine selbständige
Geistesstörung, sondern eine der Äußerungsformen, unter denen die viel¬
gestaltige Krankheit Epilepsie in die Erscheinung tritt. Sie hat die Nei¬
gung, allmählich sich zu verschlimmern und führt, namentlich wenn
gehäufte Exzesse chronischen Alkoholismus bedingen, zu körperlichem
und geistigem Siechtum; bei völliger und dauernder Abstinenz ist eine
Besserung, vielleicht sogar eine Heilung möglich. Das Wesen der Krank¬
heit ist unklar. Die krankhaften Veränderungen, deren klinischer Aus¬
druck die dipsomanischen Anfälle sind, kennen wir nicht, so wenig wie
die Vorgänge, welche den anderen Zeichen der Epilepsie zugrunde liegen.“
Unter unseren 31 Fällen von periodischer Trunksucht findet sich
ein weiblicher. Interessant sind die Äußerungen in den Akten, welche
die periodische Trunksucht charakterisieren:
„Periodisch stellt sich die Trunksucht noch ein; bestreitet etwa zur
Hälfte seinen Lebensunterhalt.“ — „G. ist periodisch, zeitweise arbeitet
er, zeitweise nicht und brütet tageweise vor sich hin, zeitweise trinkt er
aber auch wieder, namentlich wenn er etwas bares Geld hat. In Bau¬
betrieben ist er auswärts tätig und verdient ca. 60 % seines Lebensunter-
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Ana der Praxi* der Entmündigung wegen Trunksiwhf. 237
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238
Schott,
merken, daß M. 4 Jahre später im Alter von 45 Jahren an Schlaganfall
gestorben ist.
J. G. soll „seit vielen Jahren periodisch dem Trünke ergeben sein,
in der Weise, daß er einige Wochen rücksichtslos trinkt und dann wieder
längere Zeit, selbst monatelang, alkoholfrei bleibt, wobei er dann fleißig
arbeitet und geradezu geizig ist. Auch in den freien Zeiten finsteres,
gedrücktes Wesen; ist wortkarg, hat einen scheuen, unsteten Blick und
ein blasses, gedunsenes Aussehen“ (ärztliche Äußerung). 1 Jahr später
an Gehirnlähmung gestorben.
Aus den vorstehenden laienhaften Schilderungen ergibt sich so¬
viel mit Sicherheit, daß eine gewisse Periodizität vorliegt. Pilcz 10
rechnet die Dipsomanie unter die „periodischen Monomanien“ als
besondere Formen des periodischen Irreseins.
Er schreibt darüber: „Entsprechend der vorwiegend heredilär-
degenerativen Art des Leidens bieten die Individuen auch intervallär
allerlei Abweichungen von der Norm, hauptsächlich in der gemütlichen
Sphäre, welche sie als psychopathisch minderwertige Personen erkennen
lassen, unmotivierten Stimmungswechsel, Reizbarkeit, Launenhaftigkeit;
recht häufig findet sich Kombination mit den großen Neurosen, Hysterie
und Epilepsie.“
Unter den ätiologischen Faktoren ist nach Pilcz 10 vor allem
die erbliche Belastung zu nennen. Nach v. Krafft-Ebing 11 kommt
die Dipsomanie nur bei Hereditariern vor.
Reiß 12 in seiner sehr lesenswerten klinischen Studie über kon¬
stitutionelle Verstimmung und manisch-depressives Irresein bekennt
sich zu der Ansicht, daß die allgemeine Neigung zu periodischen
Störungen, welche gerade die Entartungszustände vor allem aus-
zeichnet, in einer allgemeinen biologischen Anlage
zu suchen sei, die aber nur in organischen Faktoren ihre Ursache
haben könne. Hocke 18 zieht eine gewisse Parallele zwischen den
Quartalsarbeitern und den sogenannten Quartalstrinkern und sucht
beide unter den Zyklothymien unterzubringen.
Von unseren 31 Fällen standen nur 6 in irTenärztlicher Beob¬
achtung und Behandlung; nur in 1 Fall lautete die Diagnose auf
Dipsomanie, in 3 auf „alkoholistische Geistesstörung“, in je 1 auf
„Alcoholismus chron.“ und „periodischen Trinker“.
In 13 Fällen ist zum Teil schwere erbliche Belastung verzeichnet,
so daß sich 42% ergeben würden; es ist hierbei zu bedenken, daß
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Ans der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht.
239
lie Erhebungen durch die Schultheißenämter angestellt worden sind,
ind daß die Gerichtsakten im allgemeinen auf die erbliche Belastung
renig Bezug nehmen. Die bei vorliegender Arbeit gemachten Er-
ährungen bestätigen die Vermutung, daß sich bei nachträglicher
irrenärztlicher Erhebung noch in einer ganzen Reihe von Fällen
erbliche Belastung nachweisen ließe. Von den 13 erblich belasteten
Fällen zeigen 7 Potus in der Aszendenz.
Bemerkenswert ist ferner, daß bei 4 schwerere Kopfverletzungen
vorgekommen sind; in 1 Fall wird hervorgehoben, daß nach einer
im 31. Lebensjahr durchgemachten Hirnentzündung die Trunksucht
sich eingestellt habe. 3 Fälle werden als alkoholintolerant bezeichnet.
4mal wurden Selbstmordversuche gemacht. 5mal wird von Zuständen
alkoholistischer Geistesstörung berichtet. 2 Fälle sind ab origine be¬
schränkt. Die Katamnese unserer 31 Fälle ergibt, daß nur 1 infolge
von Abstinenz derzeit sich sehr gut hält, was aber bei einer Dauer
von 2 Jahren nicht viel besagen will. 1 ist nach Amerika ausge-
"andert In einer Anstalt befindet sich niemand; gestorben sind 5
— 2 an Schlaganfall, je 1 an Lungenentzündung, Lungentuberkulose
und an Unglücksfall. 25 befinden sich in Freiheit; von diesen sollen
y = 36% ihren ganzen Lebensunterhalt verdienen, 4 = 16% gehen
ihrem wirtschaftlichen Ruin rasch entgegen; 12 = 48% verdienen
60—20% ihres Unterhalts. Entmündigt sind derzeit 16 = 64%
(der 25). Bei 2 wurde die Entmündigung wieder aufgehoben.
i = 28% leben unentmündigt und trinken zeitweise stark.
Schnapstrinker sind 9 von den 31, also 29%; darunter befindet
sich auch der weibliche Fall. Ehe wir die periodische Trunksucht
verlassen, bedarf es noch eines Wortes über die Beziehungen der
periodischen Trunksucht zu dem Alcoholismus chronicus. Tatsächlich
findet sich in einer nicht geringen Anzahl unserer Fälle der Vermerk,
daß jahrelang die Trunksucht nur zeitweise in Erscheinung getreten
sei. daß aber allmählich die Zeiten der Enthaltsamkeit kürzer ge¬
worden seien, bis schließlich die Trunksucht ständig sich geoffenbart
habe. Dieser Entwicklungsgang wird sich häufig erweisen lassen.
Wollenberg 1 * betont ebenfalls, daß auch bei habituellen Trinkern
••dipsomanische Anfälle“ Vorkommen. Baiser 15 vertritt die Ansicht,
daß unter Dipsomanie ganz verschiedene Zustände zusammengefaßt
worden:
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240
Schott,
„So häufig periodisches Trinken ist, so häufig die Trinkperioden
mit den Lohnperioden zusammenfallen, so selten sind die Fälle reiner
Dipsomanie, bei der sonst ganz nüchterne Leute periodisch von quälender
Stimmung befallen werden und zum Alkohol greifen, um sich von dem
quälenden Gefühl zu befreien. Ich glaube auch, daß d i e Formen selten
sind, in denen der periodische Alkoholhunger als epileptischer Zustand
zu deuten ist. Denn bei beiden Arten müßte man doch auch in der Straf¬
anstalt Erregungszustände auftreten sehen, was nur ausnahmweise der
Fall ist. In der Mehrzahl der Fälle dürfte es sich um zeitweise Steigerung
der Vergiftungserscheinungen durch Alkohol handeln, die durch Alkohol
bekämpft werden.“
In 69 unserer Fälle war eine erbliche Belastung er¬
hoben worden; dabei zeigte es sich, daß in 30 Fällen eine solche von
väterlicher und in 16 von mütterlicher Seite vorlag. Bei 23 fand sich
erbliche Belastung von seiten der Geschwister. Unter den 30 Erb¬
lichkeitsfaktoren von väterlicher Seite überwog die Trunksucht
mit 23 Fällen sehr stark, während mütterlicherseits die Geisteskrank¬
heit mit 10 (worunter 9mal die Mütter selbst) vorherrschte, die Trunk¬
sucht kam an zweiter Stelle mit 5. Bei der Belastung durch die Ge¬
schwister stand wiederum die Trunksucht mit 14 vorne dran, dann
folgte Geisteskrankheit mit 6.
Hinsichtlich der Nachkommenschaft der Trinker
war ersichtlich, daß bei 30 Trinkern geschädigte Nachkommenschaft
aufgeführt war und zwar 45 Kinder, von welchen 12 Söhne und
1 Tochter trunkliebend, 3 Söhne und 6 Töchter schwachsinnig, 1 Sohn
und 4 Töchter epileptisch, je 3 Söhne und Töchter geisteskrank,
3 Söhne und 2 Töchter (Kindsmord), kriminell, 5 Kinder taubstumm
und 1 Sohn stumm waren. Durch Selbstmord endete 1 Tochter.
Soweit aus den Akten zu entnehmen war, wurde versucht, für die
Fruchtbarkeit der Trinkerehe einen Anhaltpunkt zu
gewinnen. Notizen liegen über 123 Trinkerehen vor, von welchen
17 = rund 14% kinderlos waren. In 5 Ehen = 4% war 1 Kind vor¬
handen, welches durchweg am Leben blieb. In 17 Ehen = 14%
waren 2 Kinder da, von denen nur in 1 Fall beide gestorben sind;
aus 21 Ehen = 17% sproßten 3 Kinder, von denen in efner Familie
2 gestorben sind. Je 4 Kinder fanden sich bei 9%, je 5 bei 11%, je
6 bei 11%, je 7 bei 5%, je 8 bei 3%, je 9 bei 2%, 10 bei 1%, über
10 bei 7%.
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Aus der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht. 241
engt, von
: Kinde?« auf. von weMiOirdß 30% gestorben sind.
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m t d&n geistigen ^«■tränken öt^ht tfe; Mbit an erstw Steife ’
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Ij^uivü «« Lowtuugsfäbigkeit mehr «tnd 'mehr einhiißt. der Trinker
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Bei 253■ Trinkern ließet sieh Anhaitpankto für die ^fetter d.ep
ür*.-rgrtaßi>fen Genusses geistiger Getränkt' gewinnen ; e.s zeigte' sieh
dhß ia-.32%' 10 Jahre bfet 10 Jahre laug W*.-v
' vnii 30 Jahrtm #el ^xahkeij tvorrlen w>ir, Tite -
Itaßfcaeteln. iaiuildutigen Sinne Sienmhie diirehsehinttM» 6 .Jahre.
■•tv afemäßige Trinke» bestand. im Ge^ttJtdurchaiehiaiit JO Jahre.
!$| h''irrb.sdihiü.saJter zur Zeit d»«s Entmimdigiinjs^verfahrens fu trug
daß 'von Milte der dreißig*'!' Jahre ab die Trunkiiebe
•' H ' i || Iwitign» pllegie.
m IM vor 322 Trinkern sind in den Akten bzw. Auskünften
fetr^ungea. sowuhl geriehtliehe als avteh polizeiliche., vermerkt.
u auf dü l-estraftei^cin. Prozentsatz von Jl’Kr. ..f*ie
• rink**? m;i tä. $h?; 134 bestraften TritOcer
■i raten, so daß auf einen dieser Trinker
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4iva!i.h.j;reiitf g<ui<r-;.n 20 Triükgr, UnfallreTite 10. und Vete-
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■mm
242
Schott,
schreibt: „Die Hauptsache ist, daß dem Entmündigten durch die Ent¬
mündigung die Borgfrist bei den Wirten entzogen ist.“
In einem Falle heißt es: „Die Entmündigung ist zu spät er¬
folgt, da die Güter zur Bezahlung der Schulden größtenteils verkauft
werden mußten.“ Eine charakteristische Äußerung ist folgende: „Einen
bessernden Einfluß hat die Entmündigung bei B. nur, wenn er nichts¬
verdienen kann.“
Die Armenverwaltung einer größeren württembergischen Stadt
äußert sich über die hierhergehörigen Fragen wie folgt: 1. „Die Armen¬
pflege hat ein dringendes Interesse an der Bekämpfung der Trunksucht,
weil bei jedem Gewohnheitstrinker die Gefahr besteht, daß
a) er selbst der offenen oder geschlossenen Armenpflege zur Last
fällt;
b) wegen Nichterfüllung der Unterhaltungspflicht seine Ange¬
hörigen hilfsbedürftig werden;
c) die Folgen der Trunksucht sich in einer körperlichen, geistigen
und sittlichen Degeneration seiner Kinder äußern, die ein Eintreten der
öffentlichen oder privaten Kinderfürsorge nötig machen;
2. Das wirksamste repressive Mittel gegen die Trunksucht ist in
der Gewöhnung des Trinkers an Alkoholenthaltsamkeit zu erblicken,
auf die nötigenfalls mit Zwang hinzuwirken ist. Läßt sich die Enthalt¬
samkeit nicht durch freiwillige Entschließung des Trinkers, oder durch
Anschluß an einen Enthaltsamkeitsverein erreichen, so ist Heilbehand¬
lung in einer Trinkerheilanstalt herbeizuführen. Wird die Trunksucht
als unheilbar erkannt, so ist Einweisung in eine Pflege- oder Bewahrungs¬
anstalt nötig.
3. Voraussetzungen für den Erfolg der Heilbehandlung sind:
a) Frühzeitige Inangriffnahme der Behandlung,
b) genügend langer Aufenthalt in der Anstalt,
c) Schutzaufsicht nach der Entlassung.
4. Die Handhabe zu einer derartigen Behandlung von Gewohn¬
heitstrinkern bieten die Bestimmungen des BGB. über die Entmün¬
digung wegen Trunksucht, insbesondere dann, wenn die Bevormundung
des entmündigten Trinkers durch einen in der Trinkerfürsorge erfahrenen
Berufsvormund ausgeübt wird.
5. Eine weitere Handhabe dazu kann das Strafrecht bieten, wenn
dafür gesorgt wird, daß die strafrechtliche Behandlung einer dem Trünke
ergebenen Person eine Sonderbehandlung als Trinker in sich schließt,
und zwar im Interesse der Armenpflege namentlich dann, wenn
a) derartige Personen als Bettler, Landstreicher, Arbeitsscheue
oder säumige Nährpflichtige die Armenpflege mißbrauchen, oder
b) die Folgen der Straftat zu einer Inanspruchnahme der Armen¬
pflege führen, sei es, daß während der Strafverbüßung des Täters seine
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Aus der Praxis der Entmüngigung wegen Trunksucht.
243
Angehörigen hilfsbedürftig werden, oder seine Kinder in öffentliche Erzie¬
hung genommen werden müssen.“
Der Deutsche Verein für Armenpflege und
Wohltätigkeit hat sich wiederholt mit der Behandlung von
Trunksüchtigen beschäftigt. Auf der Dresdener Tagung 1883 wurde das
Thema „Trunksucht als Ursache der Verarmung“, auf der Karlsruher
Tagung 1888 das Thema „Trunksucht und Armenpflege“, auf der Tagung
1901 in Lübeck das Thema „Die Aufgaben der Armenpflege gegenüber
trunksüchtigen Personen“ und auf der Tagung 1911 in Dresden das
Thema „Trunkenheit und Trunksucht“ behandelt.
Die Verhandlungen haben sich auch mit den Bestimmungen des
Vorentwurfs zum Deutschen Reichsstrafgesetzbuch über Trunkenheit
und Trunksucht beschäftigt, wobei der Verein für Armenpflege und Wohl¬
tätigkeit folgende Leitsätze angenommen hat:
1. Wenn eine strafbare Handlung in selbstverschuldeter Trunken¬
heit begangen ist, so sind in den für die Anwendung der bedingten Straf¬
aussetzung geeigneten Fällen dem Täter für sein Verhalten während der
Probezeit bestimmte Weisungen zu geben, insbesondere kann ihm die
Verpflichtung zur Enthaltsamkeit auferlegt und eine Schutzaufsicht über
ihn eingeleitet werden.
2. Bei der gesetzlichen Regelung des Wirtshausverbotes ist vor¬
zusehen, daß die Verhängung des Verbots durch das Gericht in öffent¬
lichen Blättern bekanntgegeben und in geeigneten Fällen die Anordnung
einer Schutzaufsicht für zulässig erklärt wird.
3. Die Anordnung der Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt
ist bei Trunksüchtigen und Gewohnheitstrinkern, die eine strafbare Hand¬
lung begangen haben, unabhängig von Strafart und Strafmaß zuzulassen,
unter der allgemeinen Voraussetzung, daß die Unterbringung notwendig
ist, um den Verurteilten wieder an ein gesetzmäßiges und geordnetes
Leben zu gewöhnen.
4. Bei jeder Einweisung in eine Trinkerheilanstalt ist dem Ver¬
urteilten ein Fürsorger zu bestellen, der auch die Schutzaufsicht bei
widerruflicher Entlassung auszuüben hat. Rechte und Pflichten des
Fürsorgers sind gesetzlich festzulegen; er ist der Aufsicht des Vormund-
^haftsgerichts zu unterstellen. Für die Schutzaufsicht sind öffentliche
Gelder zur Verfügung zu stellen.
5. Über die Einrichtung und die Benutzung von öffentlichen und
privaten Trinkerheilanstalten, in welche Personen gemäß § 43 DVE.
eingewiesen werden, sind besondere gesetzliche Vorschriften zu erlassen.
6. Selbstverschuldete Trunkenheit, durch welche Personen oder
die öffentliche Ordnung gefährdet werden, ist unter Strafe zu stellen.
Verschiedene Vorschläge sind auf Ersuchen von Armen¬
behörden gemacht worden; ich nenne davon nur: Die Gemeinden
Zeitsehritt für Psychiatrie. LXXI. 2 . 17
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244
Scho tt,
. sollten berechtigt sein, Personen, welche sich und ihre Familien durch
ihre Trunksucht gefährden, in eine öffentliche Trinker¬
liste einzutragen und die Namen der in dieser Liste eingetragenen
Personen von Zeit zu Zeit zu veröffentlichen. Sämtlichen Wirten des
Wohnorts sollten die Namen der in der Trinkerliste eingetragenen
Personen mit dem Verbote der Abgabe von alkoholartigen Getränken
an sie bekanntgegeben werden, und es sollte die Möglichkeit bestehen,
denjenigen Wirten, die bewußt dieses Verbot verletzen, ihre Kon¬
zession zu entziehen. Der Schnapsschank sollte noch mehr als bisher
eingeschränkt und reine Schnapsschänken aufgehoben werden. Das
große Interesse, welches die Allgemeinheit an der wirksamen Be¬
kämpfung der Trunksucht hat, rechtfertigt es, daß auch den Ge¬
meinden, Armenverbänden und der Staatsanwaltschaft das Recht zur
Stellung des Antrags auf Entmündigung eingeräumt wird. Die Rück¬
sicht auf die Familie und die Furcht vor Beleidigungen und Mi߬
handlungen, welchen Familienangehörige seitens des Trinkers oft¬
mals ausgesetzt sind, wenn sie einen Entmündigungsantrag stellen,
ist häufig der Grund, warum ein Entmündigungsantrag überhaupt
unterbleibt. Die Durchführung der gegen einen entmündigten Trinker
zu ergreifenden Zwangsmaßregeln sollte in die Hand einer Zen¬
tralbehörde gelegt werden, ähnlich wie bei der Fürsorgeerzie¬
hung, und es sollten die Kosten des Entmündigungsverfahrens wie
diejenigen, welche aus der Durchführung der infolge der Entmün¬
digung getroffenen Anordnungen entstehen, auf breitere Schultern
als diejenigen der Gemeinden, nämlich auf diejenige des Landarmen¬
verbands oder des Staats gelegt werden.
Zivilrechtlich wäre eine Gesetzesbestimmung zweckmäßig und
durchführbar, welche die Klagbarkeit von Zechschulden ausschließt.
Nach der Gewerbeordnung kann auch jetzt schon eine Schankkon¬
zession wegen „Förderung der Völlerei“ entzogen werden. Die all¬
gemein gehaltene Definition „Förderung der Völlerei“ genügt jedoch
■für die Praxis nicht.
Der durch Trunksucht entstandene Armenaufwand wird auf
10 bis 40% veranschlagt; von allen Seiten wird hervorgehoben, wie
schwer, ja unmöglich es ist, zahlenmäßige Belege zu liefern. Es dürfte
durchaus den Verhältnissen entsprechen, was eine Armenbehörde
schreibt: „Es ist sehr schwer, zahlenmäßige Belege dafür zu bringen,
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Aus der Praxis der Entmündigung wegen Tranksacht.
245
wie hoch der durch Trunksucht verursachte Armenaufwand sich be¬
läuft; tatsächlich ist die Alkoholnot sehr
groß und sehr weit verbreitet und in sehr
vielen Fällen, in denen dies nicht ohne wei¬
teres zutage tritt, steckt hinter der Unter¬
stützungsbedürftigkeit einer Familie der Al¬
kohol.“
Schließlich ist es noch von Wert zu erfahren, wie ein erfahrener
Amtsgerichtsvorstand über die Entmündigung wegen Trunksucht
denkt:
„Etwas weitgehend scheint mir das Verlangen des § 6 Ziff. 3 BGB.
zu sein, daß ein Trinker nicht mehr imstande sein muß, seine Angelegen¬
heiten zu besorgen, ehe die Entmündigung eintreten darf. Angelegen¬
heiten sind nach Entscheidung des Reichsgerichts die sämtlichen Ange¬
legenheiten. Um ihn und seine Familie zu ruinieren genügt es, wenn der
Mann seine Vermögensangelegenheiten nicht zu besorgen vermag. Da
übrigens auch die Gefahr des Notstandes zur Entmündigung wegen Trunk¬
sucht führt, ist dieses Bedenken mehr von Bedeutung für die Ziff. 1 als
die Ziff. 3 des § 6.
Aus der Bevölkerung wird ab und zu der Vorwurf erhoben, daß
die Behörden erst einschreiten, wenn das Vermögen vertrunken sei. Das
halte ich für nicht ganz unbegründet. Wir können erst etwas tun, wenn
der Betreffende trunksüchtig ist. Warum soll aber der Staat erst ein-
greifen dürfen, wenn der Zechbruder ein hoffnungs- und widerstand-
loser Kranker geworden ist? Es ließe sich vielleicht ohne allzuschwere
Eingriffe in die persönliche Freiheit ein Verfahren finden, durch welches
schon die Entwicklung des Leidens gehemmt werden könnte. Wenn
z. B. ein Mann, der unangenehmen Redensarten seiner Frau über¬
drüssig, anfängt, Tag für Tag ins Wirtshaus zu laufen und sich zu be¬
trinken, eine Woche, zwei Wochen, so ist daraus noch lange nicht auf
Trunksucht im Sinne des Gesetzes zu schließen; ich glaube aber, daß sie
entstehen kann, wenn solche Vorfälle sich wiederholen. Hätte der Richter
die Möglichkeit, auf Grund eines nicht umständlichen Verfahrens den
Mann in eine Trinkerheil- oder sonstige Anstalt zu schicken, bis der
Vorstand ihm bezeugt, daß er wieder vernünftig geworden ist, so würde
sieh der Mann nicht nur schämen, sondern auch in seiner Entwicklung
zum Trinker aufgehalten werden; und die Frau würde sich vielleicht
ebenfalls eine Lehre daraus ziehen, daß sie die Hilfe des Mannes einige
Zeit zu entbehren hätte.“
Ergänzend wäre noch der Trinkerfürsorge der Ver¬
sicherungsanstalt Württemberg zu gedenken. Aus
dem Geschäftsbericht über das Kalenderjahr 1912 geht hervor, daß
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
246
Schott,
die Versicherungsanstalt die Fürsorge für Trunksüchtige unter dem
Vorbehalt zum Gegenstand des Heilverfahrens macht, daß vorge¬
schrittener Alkoholismus, der bereits Veränderungen von Intelligenz
und Charakter bewirkt hat, ausgeschlossen sein soll. Im Berichts¬
jahre wurden 44 männliche Alkoholiker mit einem Reinaufwand
von 11235 Mk. in Heilfürsorge übernommen.
An Vereinen, die sich die Bekämpfung des Alkohols zur Auf¬
gabe machen, wurden als Jahresbeiträge insgesamt 2200 Mk. ver-
willigt. Zur Unterstützung von Anstalten, welche der Bekämpfung
des Alkoholmißbrauchs dienen und ganz alkoholfrei sind, sind Dar¬
lehen zu ermäßigtem Zinsfuß im Gesamtbetrag von 623 800 Mk.
abgegeben worden.
Kehren wir zu der Entmündigung wegen Trunksucht zurück und
vergegenwärtigen wir uns, was der Jurist hierbei fordert. In dem
Antrag auf Entmündigung wegen Trunksucht sind die den Antrag
begründenden Tatsachen zu benennen und Beweismittel
zu bezeichnen. Es muß nach juristischer Auffassung den Menschen
ein krankhafter Drang nach Alkohol beherrschen, so daß
seine Geistesfähigkeiten unter die Wirkungen des Alkohols
gebeugt sind. Dieser Zustand muß ein chronischer sein. Es
muß eine andauernde oder periodisch auftretende un¬
widerstehliche Gier nach Alkohol vorhanden sein, die von
einem allgemeinen Niedergang der geistigen und moralischen Fähig¬
keiten begleitet wird. Es ist im Antrag anzugeben:
1. wie oft die Betrunkenheit des zu Entmündigenden wöchent¬
lich vorkommt; welche Getränke konsumiert werden und in welchem
Maße; wie groß die Trunkenheit ist (ob die Person nicht mehr gehen,
sprechen usw. kann)?
2. welche Personen Zeugen von diesen Vorkommnissen waren?
3. welche Angelegenheiten die zu entmündigende Person zu be¬
sorgen hatte, und inwieweit sie jetzt diese Angelegenheiten nicht mehr
zu besorgen vermag, und woher dies eventuell rührt?
Demgegenüber hat der ärztliche Sachverständige
sich zunächst darüber auszusprechen, ob Trunksucht vorliegt oder
nicht? Im allgemeinen wird diese Feststellung besonders dem irren-
ärztlich vorgebildeten Sachverständigen nicht schwer fallen; er wird
das Hauptgewicht seiner Beweisführung auf die Klarstellung der
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Aus der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht.
247
psychischen Veränderung des zu Entmündigenden zu legen haben.
In zahlreichen Fällen unserer Zusammenstellung hat es sich zweifellos
um senile Demenz gehandelt, deren Darlegung dem Richter gegen¬
über nicht immer leicht ist.
Charakteristisch für das mangelhafte juristische Verständnis ist
der Fall J. S. aus H., zur Zeit des Entmündigungsverfahrens 68 Jahre
alt, welcher seit 3 Jahren stark dem Trünke huldigte und zur Besorgung
seiner Angelegenheiten unfähig war. Der Antrag lautete auf Entmün¬
digung wegen Verschwendung und Geistesschwäche; das Gericht lehnte
dies ab mit dem Bemerken: „Es darf nicht gleichzeitig die Entmündigung
wegen Geistesschwäche und diejenige wegen Verschwendung beantragt
werden, da die beiden Verfahren voneinander abweichen. Das eine oder
das andere.“
Aus der Beweisaufnahme ergab sich, daß J. S. oft 8 Tage lang nicht
mehr vom Bett aufgestanden ist, „seine Notdurft hat er seither auch nicht
außer dem Bett verrichtet, und der Urin läuft infolgedessen bis an die
Stubentüre.“ Der Schultheiß bemerkt hierzu: „... Ich kann durch eigene
Überzeugung konstatieren, daß S. in einem solchen Unflat mitsamt
seinen Kleidern gelegen ist, daß selbst einem Schwein in einem solchen
Nest zu liegen geekelt hätte. Demselben waren sogar seine Kleider, da
dieselben durchnäßt waren, an den Leib gefroren, da es gerade um diese
Zeit sehr kalt war.“
Das Gericht beschließt, den J. S. wegen Verschwendung!!?)
iu entmündigen, und führt bei der Begründung aus: „...Seit verschie¬
denen Jahren hat sich S. dem übermäßigen Genüsse geistiger Getränke
ergeben; ob in dieser Beziehung ein krankhafter Zustand bei S. vorliegt,
kann dahingestellt bleiben, denn die Zechschulden des
S. weisen auf eine verschwenderische Lebensweise desselben hin ...
Die Lebensweise des S., seine Unreinlichkeit weist auf
Nachlassen der Willenskraft, auf Charakter-
fehler hin.“ (!?) Sapienti sat. Ein ärztlicher Sachverständiger
war natürlich nicht zugezogen.
Daß die Leistung des ärztlichen Sachverständigen vom Richter
nicht besonders hoch eingeschätzt wird, zeigt der Fall W. H., in
welchem die Entmündigung wegen Trunksucht wie folgt begründet
wird:
„Daß Trunksucht bei ihm vorliegt, haben die Zeugenaussagen
klar ergeben, so daß es einer ärztlichen Untersuchung
nicht mehr bedarf. Diese könnte übrigens, wenn sie nicht ihre
Schlüsse gleichfalls aus den Zeugenaussagen ziehen, sondern lediglich
auf Grund des körperlichen Befundes urteilen wollte, nur feststellen, daß
H. viel alkoholische Getränke zu sich zu nehmen pflegt. Das aber bedarf
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248
Schott,
i
keiner ärztlichen Bestätigung, denn es ist gerichtsbekannt und überdies
durch die Zeugenaussagen erwiesen.
In mehreren Fällen ging aus den Akten einwandfrei hervor, daß
ein angeborener Schwachsinn vorlag, trotzdem wurde
die Entmündigung wegen Verschwendung oder wegen Trunksucht
ausgesprochen. In ungefähr 15 Fällen bestanden Psychosen mit
Ausschluß der senilen Demenz; in einzelnen dieser Fälle ergab sich ein
früherer Irrenanstaltsaufenthalt; dessen ungeachtet wurde weder die
Krankheitsgeschichte einverlangt noch, was noch viel bedenklicher
ist, ein ärztlicher Sachverständiger zugezogen. Ganz ähnlich liegen
die Verhältnisse dort, wo Beziehungen von Schädeltrauma zur Trunk¬
sucht und von Hirnentzündung zur Trunksucht in den Akten erwähnt
sind; auch hier hielt es der Richter nicht für geboten, einen ärztlichen
Sachverständigen beizuziehen. Daß das Gericht auf die Ätiologie
der Trunksucht keinerlei Rücksicht nimmt, ist schon vorstehend aus-
geführt worden. Es finden sich bei unserem Material mehrfach Fälle,
in denen das Gericht den Entmündigungsgrund des ärztlichen Sach¬
verständigen sich nicht zu eigen gemacht hat, z. B. statt Geistes¬
schwäche Trunksucht angenommen hat. Kennzeichnend für die
formale Handhabung der Entmündigung wegen Trunksucht von
seiten des Gerichts und für die gänzliche Außerachtlassung des Bodens,
auf welchen die Trunksucht erwächst, diene noch folgender Fall:
r , Bei G. M. wird der Antrag auf Entmündigung wegen Trunksucht
gestellt. Zeugen geben an, M. erscheine ihnen geistig nicht normal; vor
14 Jahren — damals 27 Jahre alt — hat sich M. wegen eines schweren
psychischen Depressionszustandes 1 Jahr lang in einer Irrenanstalt be¬
funden und wurde „gebessert“ entlassen. Über eine Neigung zu über¬
mäßigem Trinken ist aus dieser Zeit nichts erwähnt. Ein Missionar
bezeugt, daß M. ein „wüster Trinker und im Rausch unzurechnungs¬
fähig“ ist. Zweimal hat sich M. in einer Trinkerheilstätte befunden; der
Hausvater derselben schreibt über ihn: „Er wollte seine unselige Leiden¬
schaft des Trinkens nicht lassen, ging öfters ohne Erlaubnis fort und
bettelte-Getränke. Das letztere war beidemal der Grund zu seiner Ent¬
lassung.“
Aus dem Gutachten des beamteten Arztes sei hervorgehoben:
„... Mir ist M. seit dem Winter 1888 (also 20 Jahre lang) bekannt, schon
damals war er psychisch alteriert und mußte wegen Empyems in das
Krankenhaus aufgenommen werden. Es hatte sich vor dem Auftreten
des Empyems ein geistiger Schwächezustand entwickelt:
stilles, scheues, zurückgezogenes Wesen mit gänzlicher Unlust zur Arbeit.
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Aas der Praxis der Entmündigung wegen Trunksucht.
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abei waren Wahnvorstellungen schwermütiger Natur vorhanden, Ver-
>ren- und vom Teufel-Besessensein, auch innere Stimmen wurden gehört,
ie zur Begehung verkehrter Handlungen aufforderten... Aber es unter¬
egt nicht dem geringsten Zweifel, daß nicht der Alkohol
ie geistige Störung herbeigeführt hat, sondern daß die Trunksucht,
ler M. anheimgefallen ist, auf dem Boden der schon vorher und auch
rtzt noch vorhandenen Geistesstörung zur Entwicklung gekommen ist.
\us diesem Grunde erscheint seine Entmündigung wegen
Geisteskrankheit vollauf begründet.“
Auf Anfrage des Gerichts, ob vom ärztlichen Standpunkt irgend ein
Gedenken der Entmündigung wegen Trunksucht entgegenstehe, erwidert
erselbe Gutachter: „Die Trunksucht ist das zurzeit am meisten her-
ortretende Symptom der bei M. vorhandenen unheilbaren Geistesstörung,
'.s steht somit der Entmündigung wegen Trunksucht ein ärztliches Be-
lenken nicht entgegen. Für die Notwendigkeit der Entmündigung wegen
'ninksuoht fällt der Nachweis sehr schwer in das Gewicht, daß diese
ninksucht in einer schweren geistigen Erkrankung wurzelt.“
Es fragt sich, ob denn doch nicht ärztliche Bedenken in dem vor-
'egenden Falle hätten geäußert werden sollen. Bei der Sachlage ist zu
Senken, daß bei der Änderung des geistigen Krankheitsbildes ein Wegfall
lerTninksucht recht wohl möglich ist, wenn z. B. ein katatonischer Stupor
insetzt oder paranoide Zustände mehr hervortreten; jedenfalls ist die
fcgüchkeit nicht ausgeschlossen, daß sich die Entmündigung wegen
Tunksucht nicht mehr aufrechterhalten ließe. Es bliebe dann nichts
roferes übrig, als die Entmündigung wegen Trunksucht aufzuheben
"d die Entmündigung wegen Geistesschwäche oder Geisteskrankheit zu
Schließen. Dieser unnötigen Komplikation könnte aber durch sofortige
|toifre Bewertung des Entmündigungsgrundes vorgebeugt werden.
Wie sehr irrenärztliches Wissen dem ärztlichen Sachverständigen
sein muß, haben die vorstehenden Ausführungen zur Genüge
fftan. Einen weiteren Beleg für diese Ansicht bildet Fall K. B.,
|J. alt, gegen welchen vom Vater der Antrag auf Entmündigung
pn Trunksucht gestellt worden ist.
f K. B. erlitt vor 3 Jahren, damals 29 Jahre alt, eine Schädelverletzung
^ ner Schlägerei, wodurch ein großer Blutverlust hervorgerufen wurde;
ein Knochenbruch nachgewiesen. 6—7 Wochen bettlägerig; starke
Un g- Seither nach Angabe der Schwester körperlich und geistig
dert: zu selbständiger Arbeit nicht mehr fähig, nach geistigen Ge¬
wi sehr leichterregt; das Gedächtnis fast ganz verloren. Der eine
» ,Sc ‘ le Arzt findet bei B. ein blasses und hinfälliges Aussehen und
^somnolentes Gebahren; der andere praktische Arzt nimmt eine
u ent * a praecox (?!) an. 2 Monate nach gestelltem Antrag
• gestorben, ohne daß eine «remacht worden wäre. Bei
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
250
S chott,
diesem Falle ist die Annahme einer Dementia praecox doch außerordent¬
lich kühn.
Wenn wir uns aus dem reichhaltigen Material ein Urteil bilden,
' so geht dies dahin, daß:
1. Die derzeitige Handhabung der Entmündigung wegen Trunk¬
sucht seitens der Richter viel zu sehr von formalen Gesichtspunkten
beeinflußt wird und nicht dem Geiste der Gesetzgebung gerecht wird.
Den richtigen Standpunkt vertritt der schon erwähnte landgericht¬
liche Abweisungsbeschluß, in welchem es heißt: Es kann nicht
Sinn und Zweck des Gesetzes sein, daß eine Entmündigung erst statt¬
haft ist, wenn der Trunksüchtige sein Vermögen verloren hat. Es
muß vielmehr genügen, wenn Anzeichen dafür vorhanden sind, daß
bei einer Weiterwirtschaftung in der bisherigen Weise der Ruin un¬
ausbleiblich ist.“ Die Beachtung dieses Maßstabes vermissen wir
in zahlreichen Fällen mit ihren traurigen Folgezuständen für die
Familie wie für die Allgemeinheit.
2. Es ist als ein Mangel der Gesetzgebung zu bezeichnen, daß
bei der Entmündigung wegen Trunksucht die Beiziehung eines ärzt¬
lichen Sachverständigen nicht vorgeschrieben ist. Die gemachten
Ausführungen lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, daß nur
ein in der Irrenheilkunde gut bewanderter Arzt hier das Richtige
treffen kann.
3. Das Gericht sollte sich nicht aus formalen Gründen abhalten
lassen, den Entmündigungsgrund des ärztlichen Sachverständigen
sich anzueignen. Es liegt weder im Interesse des zu Entmündigenden
noch des gerichtlichen Verfahrens überhaupt, den Boden, aus welchem
die Trunksucht erwächst, als nebensächlich zu betrachten.
4. Dem ärztlichen Sachverständigen liegt ob, den Entwick¬
lungsgang des Leidens, die Umwandlung der Persönlichkeit dem
Richter darzulegen und auf Grund des Akteninhalts und nach ein¬
gehender körperlicher Untersuchung, die praktischen, im Gesetze
verlangten Schlußfolgerungen zu ziehen.
5. Es sollte eine gesetzliche Handhabe gegeben sein, der so
häufigen und für den Trinker so nachteiligen Zurücknahme des Ent¬
mündigungantrags einen Riegel vorzuschieben. Das einmal anhän¬
gige Verfahren sollte zum Abschluß gebracht werden müssen und jede
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Aas der Praxis der Entmöndigoog wegen Trunksucht.
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auf Grund dieses Verfahrens als trunksüchtig nachgewiesene Person
unter Schutzaufsicht gestellt werden.
6. Der Kreis der antragberechtigten Personen bzw. Behörden
ist zu erweitern.
7. Die Entmündigung wegen Trunksucht leistet in der Heil¬
behandlung und sozialen Brauchbarmachung des Trinkers kaum
etwas; dies ist nur möglich, wenn sich an die Entmündigung bzw.
unter Schutzaufsichtstellung des Trinkers weitere, vorstehend ange¬
deutete, fürsorgende und sichernde Maßnahmen anschließen, deren
gesetzliche Festlegung und deren praktischer Ausbau dringende Auf¬
gaben der nächsten Zukunft sind.
8. Aufgabe der Irrenärzte ist es, über Wesen, Äußerungen und
Folgezustände der Trunksucht bei jeder Gelegenheit sich aufklärend
zu äußern und mit Rat und Tat allen diesen Krebsschaden unseres
Volkskörpers bekämpfenden Bestrebungen zur Seite zu stehen.
Literaturverzeichnis.
1. Polligkeit, Wichtige Kapitel aus der Trinkerfürsorge. 1912. S. 60.
2. Aschaffenburg, Vergleichende Darstellung des deutschen und auslän¬
dischen Strafrechts Bd. 1, S. 118.
3. Protokolle II. Lesung Bd. I, S. 33/34.
4. Endemann, Juristisch-psychiatrische Grenzfragen I.
5. Waldschmidt, Schriften des Deutschen Vereins f. Armenpflege H. 55.
6. Daude, Das Entmündigungsverfahren.
7. Samter , Schriften des Deutschen Vereins f. Armenpflege H. 55.
8. Preuß. Erlaß d. Minist, d. Innern. — Samter, Schriften des Deutschen
Vereins f. Armenpflege H. 55.
9. Gaupp , Die Dipsomanie.
10. Pilcz, Die periodischen Geistesstörungen.
H. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie.
12. Reiß, Konstitutionelle Verstimmung und manisch-depressives Irre¬
sein.
13. Hoche, Zwanglose Abhandlungen Bd. 1, H. 8.
14. WoUenberg, in Hoches Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie.
15. Baiser, Juristisch-psychiatrische Grenzfragen Bd. VI, H. 2/3.
16. Hahn, Materialien zur ZPO. Bd. 8, S. 384 ff.
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Die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung bei
der Wahl des Aufenthaltsortes 1 )»
Von
Professor Dr. L. W. Weber, Direktor der Anstalt.
Nach dem Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz er¬
wirbt ein über 16 Jahre alter Deutscher durch einjährigen ununter¬
brochenen Aufenthalt in einem Ortsarmenverband einen Unter¬
stützungswohnsitz. Nach § 12 desselben Gesetzes darf in diese ein¬
jährige Frist die Zeit nicht eingerechnet werden, während welcher
die freie Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsortes aus¬
geschlossen war; analoge Bestimmungen sieht der § 24 dieses Gesetzes-
für den Verlust des Unterstützungswohnsitzes vor. Umstände, welche
die freie Selbstbestimmung in diesem Sinne ausschließen, sind z. B.
Freiheitsstrafen oder zwangsweise Internierungen aus sanitätspolizei¬
lichen Gründen. Ebenso kann die Fähigkeit der freien Selbstbestim¬
mung durch eine geistige Störung aufgehoben sein, auch wenn der
Kranke nicht in einer Anstalt untergebracht war oder ist.
In Anstalten, die zu einem Aufnahmebezirk mit stark fluktu¬
ierender Bevölkerung, z. B. einer Großstadt, gehören, wird die Fest¬
stellung des definitiven Unterstützungswohnsitzes häufig notwendig,
und dann taucht auch die Frage auf, ob der Betreffende, der einige
Zeit vor der Anstaltsaufnahme zugezogen w T ar, bei der Aufnahme
oder etwa vorher und wie lange Zeit vorher durch seine geistige Störung
der Fähigkeit der freien Selbstbestimmung bei der Wahl des Auf¬
enthaltsortes beraubt war. Gewiß handelt es sich bei dieser Frage in
erster Linie um einen verwaltungstechnischen Begriff, ähnlich dem
*) Aus der städt. Nervenheilanstalt Chemnitz. — Nach einem Vor¬
trag auf der Versammlung mitteldeutscher Psychiater u. Neurologen in
Jena am 2. November 1913.
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Die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes. 253
der Gemeingefährlichkeit, und mehrere Entscheidungen des Bundes¬
amtes für das Heimatwesen betonen noch ausdrücklich,, daß die
armenrechtlichen Spruchbehörden nach freiem Ermessen entscheiden
können und an den Ausspruch des Sachverständigen nicht unbedingt
gebunden seien, was ja bekanntlich für jede Begutachtung im Straf-
und Zivilrecht sowie im Verwaltungsrecht gilt. Trotzdem wird der
Psychiater eine gutachtliche Äußerung über diese Frage nicht ab¬
lehnen können, zumal die Aufforderung dazu sehr häufig von seiner
eigenen Verwaltungsbehörde an ihn ergeht. Für die letztere hat die
Entscheidung der Frage oft eine weittragende finanzielle Bedeutung;
auch das rechtfertigt das Bemühen, in dieser rein psychiatrisch etwas
nebensächlichen Frage möglichst genaue Richtlinien festzulegen.
Schott meint: „daß eine so isoliert hervorgehobene geistige Fähigkeit
ausschließlicher Begutachtung unterzogen wird, entspricht nicht
den Grundsätzen irrenärztlicher Beurteilung.“ Aber es soll ja nicht die
„Fähigkeit“ begutachtet werden, sondern die Frage, welcher krank¬
hafte Geisteszustand so geartet ist, daß er diese Fähigkeit ausschließt.
Und wenn wir überhaupt „soziale Psychiatrie“ treiben wollen, so
dürfen wir uns bezüglich der Gegenstände, mit welchen zu befassen
sich für uns ziemt, nicht zu sehr auf prinzipielle und formale Stand¬
punkte stellen; sonst darf es uns nicht wundem, wenn Verwaltung
und Rechtspflege die Resultate unserer Forschung bei ihren Ent¬
scheidungen nicht kennen und nicht berücksichtigen.
Während meiner Tätigkeit in Chemnitz sind von mir in 1*4 Jahren
in ca. 10 Fällen Gutachten über diese Frage erstattet worden. Bei
der Begutachtung dieser Fälle habe ich Veranlassung gefunden, ein¬
mal die ganze Frage der freien Selbstbestimmung namentlich auf
Grund der Entscheidungen der obersten Spruchbehörden (Bundesamt
für das Heimatwesen und sächs. Oberverwaltungsgericht) zu be¬
arbeiten. Bei der Durchsicht dieser Entscheidungen und bei Beschaf¬
fung anderer Literatur hat mich Herr Stadtamtmann Dr. Hoppe
ständig mit Hilfe und Rat unterstützt und namentlich die juristischen
Fragen mit mir durchgesprochen, wofür ich ihm zu großem Danke
verpflichtet bin. Folgende Gesichtspunkte kommen für die psych¬
iatrische Begutachtung in Betracht.
1. In § 10 des UWG. ist nach der Novelle vom 30. Januar 1908
das 16. Lebensjahr als der Zeitpunkt festgesetzt, von dem ab je-
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Weber.
254
mand selbständig einen Unterstützungswohnsitz erwerben kann.
Ursprünglich war das 24., später das 18. Lebensjahr festgesetzt.
Wenn für die Herabsetzung der Altersgrenze in erster Linie sozial-
politsche und wirtschaftliche Erwägungen sprachen (zahlreiche
jugendliche Gelegenheitsarbeiter wechseln häufig ihren Aufenthalt),
so kommt bei der Festsetzung des armenmündigen Alters doch auch
in Betracht, daß das erreichte 16. Lebensjahr gerade in dieser
sozialen Schicht einen bestimmten Grad der geistigen Entwicklung
bedeutet: Abschluß der Schulzeit, Einsegnung, Loslösung von der
elterlichen Unterstützung, Möglichkeit eigenen Erwerbes und damit
Beginn der wirtschaftlichen Selbständigkeit (vgl. hierüber die Verh.
der Reichstagskommission, Aktenst. Nr. 117). Zu allen diesen Vor¬
gängen ist eine gewisse Selbständigkeit im Denken!, Überlegen und
Entschließen erforderlich, eine geistige Reife, die ein jüngerer Mensch
noch nicht besitzt. Man ist deshalb berechtigt, wie dies auch auf
anderen Gebieten der forensischen Psychiatrie (z. B. Geisteskrankheit,
Geistesschwäche, Geschäftsfähigkeit nach dem BGB.) geschieht,
die geistige Reife des 16jährigen Durchschnittsmenschen als Maßstab
dafür zu nehmen, welcher Grad geistiger Störung des erwachsenen
Menschen die freie Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthalts¬
ortes ausschließt. Oder mit anderen Worten: Wenn ich nachwcisen
kann, daß jemand infolge seiner geistigen Störung in bezug auf Er¬
kennen, Überlegen und Entschließen sich wie ein unter 16 Jahren
alter Mensch verhält, so kann ich ihm die Fähigkeit zur freien Selbst¬
bestimmung bei der Wahl seines Aufenthaltsortes absprechen. Das
ist die erste, direkte aus den gesetzlichen Bestimmungen hervorgehende
Richtlinie für die Beurteilung der hier in Frage kommenden Geistes -
umstände.
2. Die in § 10, 11,12 und 24 des UWG. und auch sonst wieder¬
holt genannte einjährige (früher zweijährige) Frist für den Erwerb
oder Verlust eines Unterstützungswohnsitzes beginnt von einem ganz
bestimmten Tag (16jähriger Geburtstag, Zu- oder Wegzug aus einem
Ort); der Tag ist in den meisten Fällen auf dem Verwaltungsweg genau
festzustellen. Für die Begutachtung ergibt sich daraus, daß, wenn
irgend möglich, der Geisteszustand gerade für diesen Tag festgestellt
werden muß. Die Aufgabe liegt also ähnlich wie bei der Beurteilung der
Geschäftsfähigkeit für ganz bestimmte Rechtshandlungen (Vertrags-
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Die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes. 255
abschlüsse, Testamentserrichtungen, Eheschließungen). Der Sach¬
verständige muß darauf dringen, daß ihm der in Betracht kommende
Tag genau bezeichnet wird, und auch seinerseits in seinem Gutachten
möglichst präzise die Zeit umschreiben, während welcher nach seiner
Auffassung der von ihm geschilderte Geisteszustand bestand. Alle
allgemeinen Angaben über einen Geisteszustand vor oder nach der
fraglichen Zeit können eine Klärung der Frage nicht herbeiführen,
zumal durch verschiedene Entscheidungen des Bundesamtes festgestellt
ist, daß das wechselnde Verhalten eines chronischen Geisteskranken
zwischen zwei Anstaltsintemierungen nicht ausreicht, um den Aus¬
schluß der freien Selbstbestimmung anzunehmen (z. B. BH. 23,
4 B.).
3. § 12 und 24 des Gesetzes sprechen von den Umständen, durch
welche die Annahme der freien Selbstbestimmung bei der Wahl des
Aufenthaltsortes ausgeschlossen ist. Dazu gehört neben anderen
später noch zu erwähnenden Momenten auch der Verfall in Geistes¬
krankheit. Ausdrücklich erwähnt ist die Geisteskrankheit im Gesetze
ebensowenig wie die anderen Momente, noch weniger findet sich im
Gesetze eine nähere Kennzeichnung des erforderlichen Grades oder
der Art der Geisteskrankheit. Hier tritt im vollen Umfang die Recht¬
sprechung des Bundesamtes ein, das in zahlreichen Entscheidungen
Richtlinien angegeben hat.
a) Zunächst geht daraus hervor, daß die freie Selbstbestimmung
bei der Wahl des Aufenthaltsortes nicht ohne weiteres auszuschließen
ist, weil ähnliche, aus der forensischen Psychiatrie bekannte Zustände
vorliegen: „mangelnde oder beschränkte Geschäftsfähigkeit, Stellung
unter Vormundschaft, elterliche Gewalt genügen an sich nicht. Auch
die Vorschriften des bürgerlichen Rechtes über die Entmündigung
Geisteskranker sind nicht unbedingt maßgebend, ebensowenig eine
erfolgte gerichtliche Entmündigung“ (Wohlers-Krech). In einer Ent-
s cheidung (H. 25, 2. B.) äußert sich das Bundesamt darüber:
Die erwähnten gerichtlichen Entscheidungen (Freispruch eines
Querulanten wegen Geisteskrankheit im Sinne des § 51 StrGB. und Ent¬
mündigung § 6 BGB.) sind für die Frage der zivilrechtlichen Handlungs¬
fähigkeit von entscheidender, für die Frage der strafrechtlichen Zurech¬
nungsfähigkeit von erheblicher Bedeutung. Für die Beurteilung einer
Fähigkeit zum Erwerbe oder Verlust eines Unterstützungswohnsitzes ist
dagegen davon auszugehen, daß nicht jeder Zustand geistiger Störung
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256
Weber.
ohne weiteres auch als ein die freie Selbstbestimmung bei der Wahl des
Aufenthaltsortes ausschließend angesehen werden kann, so daß die zur
Entscheidung berufenen Spruchbehörden eine selbständige Prüfung der
Frage, ob im konkreten Falle die freie Selbstbestimmung in der erwähnten
Richtung ausgeschlossen war, sich nicht entziehen können.
In dem hier angezogenen Fall fiel die Entscheidung des Bundes¬
amtes vom 8. Okt. 1892 verneinend aus, obwohl der geisteskranke Que¬
rulant schon seit 11 Jahren entmündigt war. Aus zufälliger persönlicher
Kenntnis des Falles, den ich später jahrelang in der Anstalt beobachtete,
muß ich allerdings ergänzen, daß nach meiner Auffassung, die ich
auch a. a. 0. publiziert habe, dieser Querulant heute wohl weder ent¬
mündigt, noch wegen Gemeingefährlichkeit interniert würde.
Von diesem allgemeinen Grundsatz, daß die Entmündigung allein
nicht von Bedeutung ist, weichen die Entscheidungen des Bundesamts in fol -
genden Fällen ab: Vor der Herrschaft des Reichsgesetzes üb'er den Unter¬
stützungswohnsitz galt in Preußen das Armenpflegegesetz vom 31. Dez.
1842, das keine besonderen Anordnungen bezüglich der freien Selbst¬
bestimmung kannte. Es konnte nur vor erlangter Großjährigkeit kein
Unterstützungswohnsitz erworben werden. #In zwei zeitlich noch unter
dieses Gesetz fallenden Fällen (H. 13, Nr. 4, H. 17, Nr. 6) entschied das
Bundesamts: „Mochten nach diesem Gesetz Geisteskranke, so lange sie nicht
gerichtlich für wahn- oder blödsinnig erklärt und unter Vormundschaft
gestellt waren, das Hilfsdomizil erwerben oder verlieren können, so sind
sie nach ihrer Bevormundung den Kindern unter 7 Jahren
oder den Unmündigen gleichgestellt. Es kann daher auch nicht zweifel¬
haft sein, daß sie zum selbständigen Erwerb eines Hilfsdomizils auch
nach ihrer Großjährigkeit völlig unfähig waren.“ Hier wird also die Tat¬
sache der stattgehabten Entmündigung, nicht der geistige Zustand selbst,
als ausschlaggebend betrachtet. Und wieder in Widerspruch dazu steht
die Entscheidung H. 25 Nr. 2 A. vom 17. IX. 92, die sich ebenfalls noch
auf einen Fall des früheren preußischen Armenrechts bezieht: Die Auf¬
fassung, daß der Geisteskranke nur nach erfolgter gerichtlicher Ent¬
mündigung (Interdiktion — Code civil) als willensunfähig anzusehen
sei, wird als unrichtig bezeichnet; auch ohne Entmündigung habe er ledig¬
lich wegen seiner Geisteskrankheit selbständig kein Hilfsdomizil erwerben
können. Diese Entscheidungen des Bundesamts sind also nicht völlig
konsequent.
Bemerkenswert ist auch die Entscheidung H. 36 Nr. 2 vom
27. Februar 1904, daß ein wegen Trunksucht Entmündigter im Be¬
sitze der freien Selbstbestimmung ist; „denn er steht in Ansehung
seiner Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen gleich, der das 7. Le¬
bensjahr vollendet hat“.
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Die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes. 257
Für den Sachverständigen ergeben sich aus diesen Entscheidungen
folgende Gesichtspunkte. Das Bundesamt begnügt sich nicht mit
den von anderen Behörden gemachten Feststellungen, daß der Kranke
seit irgendwann geschäftsunfähig oder entmündigt ist, sondern tritt
in jedem Fall in eine sachliche Prüfung ein, ob an dem bestimmten
Tage die freie Selbstbestimmung aufgehoben war. Wenn aber der
Sachverständige zu der Überzeugung kommt, daß der Kranke in der
in Betracht kommenden Zeit geisteskrank im Sinne des § 6 BGB.
oder geschäftsunfähig im Sinne des § 104 BGB. war, so kann er auch
die freie Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsortes als
ausgeschlossen annehmen. Denn sowohl die Geisteskrankheit des § 6
BGB. als der die freie Willensbestimmung ausschließende Zustand
krankhafter Störung der Geistestätigkeit im Sinne des § 104 BGB.
sind der geistigen Leistungsfähigkeit eines unmündigen — unter
7 Jahre alten — Kindes gleich, stehen also unter der geistigen Reife
des armenmündigen Alters. In diesem Sinne kann aber für den Sach¬
verständigen die Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder die
völlige Geschäftsunfähigkeit als Maßstab für den Ausschluß der
freien Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsortes gelten.
Und wenn der armenrechtlichen Spruchbehörde überzeugend nach¬
gewiesen wird, daß einer dieser Zustände in der fraglichen Zeit bei
dem Geistesgestörten vorhanden war, so wird wohl auch ihre Ent¬
scheidung die freie Selbstbestimmung ausschließen. Auch in der
Entscheidung des Bundesamtes vom 10. Mai 1884 (H. 16 Nr. 4) werden
die Bezeichnungen „geradezu unzurechnungsfähig und der eigenen
Willensbestimmung völlig beraubt“ gebraucht, um den Zustand zu
charakterisieren, der die freie Selbstbestimmung ausschließt. Das
sind aber die Kennzeichen der Geschäftsunfähigkeit im Sinne des
§ 104 BGB. Die Entmündigung wegen Geistesschwäche, Trunksucht,
Verschwendung oder beschränkte Geschäftsfähigkeit ist dagegen
kein Maßstab für den Ausschluß der freien Selbstbestimmung bei der
Wahl des Aufenthaltsortes. Hier muß der Sachverständige auch
prüfen, ob daneben für eine bestimmte Zeit der Geisteszustand so
verändert war, daß, wie bei einem unter 16jährigen Menschen, eine
freie Selbstbestimmung ausgeschlossen werden konnte. Denn Geistes¬
schwäche und beschränkte Geschäftsfähigkeit entsprechen je einem
Alter von 7—21 Jahren.
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Weber,
b) Gegenüber dem § 8 BGB. (Wer geschäftsunfähig oder in der
Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, kann ohne den Willen seines ge¬
setzlichen Vertreters einen Wohnsitz weder begründen noch aufheben)
sind die oben erwähnten Entscheidungen des Bundesamtes wohl so
zu verstehen, daß der gesetzliche Vertreter einem beschränkt Ge¬
schäftsfähigen wohl einen bestimmten Wohnsitz anweisen oder einen
anderen Aufenthaltsort verbieten kann; wenn er aber direkt oder
durch Stillschweigen seine Zustimmung zu dem vom Unmündigen
gewählten Aufenthalt gibt, so kann dieser dort einen Unterstützungs-
wohnsitz erhalten, wenn der sonst beschränkt Geschäftsfähige nur
im Besitz der geistigen Fähigkeiten ist, welche zur Selbstbestim¬
mung des Aufenthaltsortes nötig sind. Umgekehrt genügt die Zu¬
stimmung des gesetzlichen Vertreters des völlig oder beschränkt
Geschäftsfähigen oder Entmündigten nicht, um einen neuen Unter¬
stützungswohnsitz zu begründen, wenn er in der fraglichen Zeit
infolge einer geistigen Störung der speziellen Fähigkeit der freien
Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsortes ermangelt.
c) Die Entscheidungen des Bundesamtes und des sächsischen
Oberverwaltungsgerichts enthalten ein ziemlich zahlreiches kasu¬
istisches Material, aus dem die Auffassung dieser Behörden über die
freie Selbstbestimmung bei bestimmten abnormen Geisteszuständen
zu erkennen ist. Aus diesen Entscheidungen ist folgender prinzipielle
Gesichtspunkt abzuleiten: Die Unfähigkeit zur freien Selbstbestim¬
mung der Wahl des Aufenthaltsortes muß positiv nachgewiesen werden.
Es genügt nicht, wenn der Sachverständige, wie etwa bei der Prüfung
der Unzurechnungsfähigkeit, zu dem Resultat kommt: es ist nicht
auszuschließen, daß der Kranke in der fraglichen Zeit durch seinen
geistigen Zustand in der freien Selbstbestimmung behindert war.
Es müssen also bestimmte Tatsachen angegeben werden, aus denen
auf einen Mangel der freien Selbstbestimmung geschlossen werden
kann (Entscheidung des B.-A. H. 15 Nr. 2).
Neben diesen mehr negativen Feststellungen lassen sich aus den
Entscheidungen einige positive Ergebnisse ziehen, die dem Sach¬
verständigen zeigen, wie das Bundesamt die freie Selbstbestimmung
und ihren Ausschluß durch geistige Störung aufgefaßt haben will.
Denn das, was Wohlers-Krech in seinem Kommentar darüber ausführt
(z. B. S. 13, 25, 26), sind lediglich Umschreibungen der im Gesetz
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Die Fähigkeit znr freien Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes. 259
gebrauchten Bezeichnung, mit denen der Sachverständige nicht viel
anfangen kann. („Die freie Selbstbestimmung setzt Willensfreiheit
voraus.“ „Für das Fehlen der freien Selbstbestimmung wird man¬
gelnde Willensfähigkeit vorausgesetzt.“) Auch die Erläuterung von
Eger: „die Geistestätigkeit muß derartig gestört sein, daß sie einen
Mangel der freien Selbstbestimmung in sich schließt,“ ist lediglich
eine Umschreibung. Das Bundesamt selbst hat sich verschieden aus¬
gesprochen und zwar gewöhnlich in einer negativen Fassung, indem
es ausführt, daß eine bestimmte geistige Störung noch nicht die gleich
näher zu bezeichnende Fähigkeit und damit noch nicht die Fähigkeit
zur freien Selbstbestimmung ausschließe. Zweifellos ist aber in dieser
negativen Formulierung das enthalten, was das Bundesamt unter der
Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung versteht. So wird H. 22 Nr. 2
(Entsch. vom 8. II. 1890) dargetan: „Wahnideen schließen nicht
unbedingt die Fähigkeit aus, selbständige Entschlüsse zu treffen,
welche der augenblicklichen Lage der Verhältnisse und dem beab¬
sichtigten Zweck durchaus entsprechen, daher an sich vernünftig
sind.“ — In einer Entscheidung vom 19. XII. 1908 (H. 41, Nr. 9)
heißt es: „Der Kranke hat (trotz der bestehenden Wahnideen) in der
fraglichen Zeit noch selbst für seinen Lebensunterhalt gesorgt, ohne
daß Mangel an selbständiger Überlegung und
Entschließung h e r v o r g e t r e t e n wäre.“
Die einzige positive Definition der Fähigkeit zur freien Selbst¬
bestimmung, die ich in den Entscheidungen des Bundesamtes finden
konnte, ist offenbar ohne Berücksichtigung dieser früheren Auffas¬
sungen entstanden (H. 46, Nr. 3, Entsch. v. 19. X. 1912). — Sie
lautet: „Die auf den Wechsel des Aufenthaltsortes gerichtete Willens¬
bildung erfordert eine verhältnismäßig einfache Gedankenoperation.
Die den Wechsel vollziehende Person braucht sich nur der Verschieden¬
heit beider Orte bewußt zu sein und den Willen zu bilden vermögen,
daß sich ihr Leben fortan, anstatt an dem bisherigen, an dem zweiten
Orte abspiele. Welche Motive für den Aufenthaltswechsel ma߬
gebend sind, ist unerheblich.“ — Diese Definition steht nicht nur in
Widerspruch mit den früheren Entscheidungen; sie ist auch vom
normalpsychologischen Standpunkte aus ungenügend und unvoll-,
ständig. Denn wie man auch sonst die freie Selbstbestimmung bei
der Wahl eines Aufenthaltsortes auffaßt: Zweifellos genügt dazu
ZdtMhritt Mir Psychiatrie. LXXI. 2. ]g
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260
Weber,
nicht, daß man sich nur der Verschiedenheit zweier Orte schlechtweg
bewußt ist. Das ist sich auch ein 4—5jähriges Kind bewußt, daß
es gestern am Wohnort der Eltern war, heute am Wohnort eines
Verwandten ist. Ebenso sehr schwer gestörte Geisteskranke. Aber
von einem Menschen, der sich „selbständig“ einen neuen Wohnsitz
suchen will, muß man doch mindestens verlangen, daß er die beiden
Orte in bezug auf ihre Eignung für seine Arbeits- oder sonstigen
Zwecke unterscheiden kann, also Gründe für die Wahl des einen
oder anderen Ortes weiß; das ist also das, was in den beiden anderen
Entscheidungen ausgesprochen ist. Ferner genügt es zu der freien
Selbstbestimmung nicht, daß der „Wille gebildet wird“, fortan in
dem anderen Ort zu leben: der Wille muß doch ausgeführt werden
können. Das geht schon aus einer gleich nachher zu besprechenden
Entscheidung hervor, wonach ein Mensch, der infolge einer zere¬
bralen Sprachstörung sich mit seiner Umgebung nicht verständigen
kann, die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung nicht besitzt. Denn
„ohne die Möglichkeit, den Willen zu äußern, ist dieser für die Außen¬
welt und den Rechtsvertreter als nicht vorhanden anzusehen“ (H. 35,
Nr. 8). Endlich widerspricht es jedem forensisch-psychiatrischen
Grundsatz, wenn die Entscheidung sagt: „Welche Motive für den
Aufenthaltswechsel maßgebend sind, ist unerheblich.“ Gerade die
Motive sind es ja, die oft zeigen, daß bei der fraglichen Handlung
der Wille oder die Selbstbestimmung nicht „frei“ war, sondern
durch krankhafte seelische Vorgänge geleitet wurde, z. B. durch
Angst, Wahnideen, Urteilsschwäche, welche die dem normalen Menschen
naheliegenden Schlüsse nicht zu bilden erlaubt. — Vom psychia¬
trischen Standpunkt wäre es zu bedauern, wenn diese Entscheidung
der obersten Spruchbehörde weiteren Rechtsprechungen auch
der unteren Instanzen als Vorbild diente. Mehr anzufangen ist mit
dem Ausdruck, der sich gelegentlich in den Entscheidungen findet
und auch in den Kommentaren vielfach wiederkehrt: „es muß rich¬
tiges Wollen und Erkennen hinsichtlich der Wahl des Aufenthalts¬
ortes ausgeschlossen werden“. Wenn man darunter versteht: Rich¬
tiges (d. h. nicht durch krankhafte Vorgänge bestimmtes, mit der
Wahrnehmung und Begriffsbildung des Normalen erworbenes) Er¬
kennen dessen, was an einem Ort dem Individuum sympathisch ist,
und Umsetzen dieser Erkenntnis in entsprechende sachgemäße Willens-
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Die Fähigkeit mr freien Selbstbejitjiruuang des Aufenthaltsortes.
Aüßmingen — so ist damit ein Anhaltputiikt lifcr die
gegeben, mit dem man schon mehr anfÄöge» kan«,
Wie sehr das Bundesamt positiv Beweise dafür
to&afchaffce psychische Veränderungen gerade aur Zeit des
oder während des Fristenlaiifes die freie Selbstbestimmung j»uh -
jchließen» geht aus folgendem Faß (H. 22, Nr. 2) hervor:
Bin Mädchen stahd. in Braunschweig in Dienst und Hel seh--
o>a}g dordi die von dir geäußerten Größen- und Verfolgüngsiiie.-r: hif.
V a. sagte Ste* sie müßte in Braunarhweig bleiben,well ihr wähnt~iH u r
'■rfoiger esive- Bntfernurig nicht dulde und ihr wöhnhafJtr, fiirst!' hvr
B*jßh&t&er dos Geld für ihren Unterhalt nach Braunö*'frvvt»ig scbMc
sie dann doch noch nach BerUn jog, «rkMiide ihrüst* Si«*ulesaöiti;-K-j.
diie: hsi* Selbstbestimmung bei dieser« Wechsel des Aufenthalts zu, ;
BTaunschwmg Dach Bfcfö# yeriegt ibüt^
Der in diesen Ausfuhr ungcnenthaltene logische Fehler ist h-iithi
rfbaatlieh: gerade daß sie ohne äuß e 1J i ch e Be ein f I
~üug ihren Wohasitg verlegte, legt de« Cedawkeu nahe, daß »ii^e
chronisch Verrückte, di,e dann üi Berlin zu? Irrenanstaitftbehaod:-
kara, durch ijire Wahnideen getrieben, Braunschweig verließ.
Biiie durch die geistige StÖrutig verursachte berufliche Unfähige -.;
^s.ifcdeincKlaiii^!
r ohanderea PmoDCö, z. B ; vös giactii Verwandten, ab&äHgig ni4||i
wd an dem Wohnsitz bindet;’ bedingt an sich noch, nicht Mängel
kderSelbsthestimtmmg. AiidererSous beweist die Tatsache, daß je«,, ■
^heitsfaMg «ml imstande /'ist,sMora LettenHunlerhaJi: seihst au •
'heuen, »och nicht, daß' c^r *i» "-.Besitz der freie« Sc*U>«tbeStuo»*•••••
JP öenn beurlaubte. entlässem* oder in Faimlienpficge. befind!
f^üteskranfe Msteu afcbt .
In#"'*"'
li 1.11461.
dV Daß die kliöiscbe Fort« der öeistMstoruhg nicht priftz^'MJ
frtr die Annahme oder den Ausschluß der freien Solbstbestimnu»)«/
ist, ist eigent lieh selbst verstand! Mi, Man kann afjo
flicht sagen; Progressive Paralyse oder Dementia praecox oder ehr-
18*
Go gle
JTlÖ
262
Weber,
nische Paranoia oder Imbezillität bedingen Ausschluß der freien
Selbstbestimmung. In diesem Sinne ist auch die Bemerkung S. 25
Abs. 4 in dem Kommentar von Wohlers-Krech zu verstehen; die hier
aufgezählten Krankheitsformen sind nur einzelne den Entscheidungen
des Bundesamtes entnommene Beispiele dafür, daß im betreffenden
Falle nach der ganzen Sachlage trotz des Vorhandenseins dieser
geistigen Erkrankung die freie Selbstbestimmung nicht auszuschließen
war.
Bereits oben wurden die Fälle angeführt, bei denen chronische mit
Wahnideen einhergehende Paranoia nicht die freie Selbstbestimmung
ausschloß. In einem anderen Falle (H. 23, 4 B.) handelt es sich um eine
in Attacken verlaufende Geistesstörung, wahrscheinlich Dementia praecox.
Zwischen zwei .Anstaltsaufenthalten war trotz mancher Wunderlichkeiten
der Zustand der Kranken so, daß ihr die freie Selbstbestimmung zuer¬
kannt wurde.
Am häufigsten kommen Erörterungen über große geistige Be¬
schränktheit, geistige Schwäche, in einem Falle kompliziert mit Taub¬
stummheit, also offenbar angeborener Schwachsinn vom Grade der Idiotie
bis Imbezillität (H. 13, Nr. 3a; H. 15, Nr. 2; H. 195a u. 5 B.). Immer
wieder führt das Bundesamt aus, daß der Nachweis des Schwachsinns im all¬
gemeinen nicht zum Ausschluß der freien Selbstbestimmung genügt.
Auch hier kommen Widersprüche vor, so wenn in H. 19, 5 B. als Beweis
für die erhaltene Fähigkeit der freien Selbstbestimmung angeführt wird,
daß der Kranke gearbeitet habe, konfirmiert wurde und jedes Jahr zum
Abendmahl ging, während die Entscheidung H. 46, Nr. 3 ausdrücklich
hervorhebt, es sei unerheblich, daß der Kranke wegen seiner geistigen
Schwäche nicht zur Kommunion und Beichte zugelassen wurde.
Zu dem von Schott zu der Frage der freien Selbstbestimmung mit¬
geteilten Fall handelt es sich gleichfalls um einen „Schwachsinnigen
mittleren Grades“ mit ausgesprochenen ethischen Defekten. In den Gut¬
achten wird ausgeführt, daß er infolge seiner krankhaften Eigenschaften
und Mängel nicht in der Lage sei, außerhalb der Anstalt ohne Störung
der Rechtssicherheit sich zu halten und durchzubringen. Deshalb sei
auch keine freie Willensbestimmung bei ihm vorhanden. Trotzdem wies
die beklagte Ortsarmenbehörde die Ersatzansprüche zurück mit der Be¬
gründung, daß N. genügend seine Fähigkeit, seinen Aufenthaltsort selbst
zu bestimmen, erwiesen habe, indem er aus der Anstalt entwich, auf die
Wanderschaft ging und bei verschiedenen Werkmeistern gegen Tagelohn
arbeitete. Demgegenüber komme es nicht in Betracht, ob er sich ehrlich
oder unehrlich durchs Leben bringt.
Die Schwierigkeiten und Differenzen bei der Beurteilung der
Schwachsinnszustände auf allen forensisch psychiatrischen Gebieten
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264
Weber,
bestimmung nicht die klinische Form der Geistesstörung von Be¬
deutung ist, sondern lediglich die Umstände des einzelnen Falles,
daß hier an der Hand positive Tatsachen die Unfähigkeit zum Er¬
kennen, Überlegen und Entschließen, sowie Betätigung des Ent¬
schlusses nachgewiesen werden muß, und daß ein wesentliches Hilfs¬
mittel der Vergleich mit der geistigen Reife der zuständigen Alters¬
stufe ist.
4. Die freie Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthalts¬
ortes im Sinne des § 12 unseres Gesetzes kann außer durch den inneren
Vorgang einer Geisteskrankheit auch durch äußeren Zwang ausge¬
schlossen sein, z. B. durch die zwangsmäßige Verbüßung einer Frei¬
heitsstrafe. Andere solche Momente sind die durch eine öffentliche
Behörde, nämlich die Polizei, zwangsweise verfügte Unterbringung
einer geschlechtskranken Prostituierten in einem Krankenhaus; denn
sie werden dort wie Gefangene gehalten (H. 13, Nr. 3 a). Ebenso,
wenn eine Person aus gesundheitspolizeilichen Gründen durch polizei¬
liche Anordnung in ihrer Wohnung interniert wird, z. B. ein Typhus¬
träger. In derselben Lage befinden sich auch offenbar Geisteskranke,
die, ohne zunächst im armenrechtlichen Sinne hilfsbedürftig zu sein,
und ohne daß sie infolge ihrer geistigen Störung unfähig zur freien
Selbstbestimmung wären, wegen Gemeingefährlichkeit auf polizei¬
liche Anordnung in einer Anstalt verwahrt werden. Bei einem ge¬
meingefährlichen Geisteskranken ruht also, solange er auf polizeiliche
Anordnung in eine Irrenanstalt verwahrt wird, die einjährige Frist,
ohne daß etwa noch ein durch die Geistesstörung selbst bedingter
Mangel an freier Selbstbestimmung nachgewiesen werden muß. Da¬
gegen ist die Unterbringung eines entmündigten Trinkers in einer
Trinkerheilanstalt durch den Vormund kein äußerer Zwang, der die
freie Selbstbestimmung ausschließt (Entscheidung H. 36, Nr. 2 vom
27. II. 1904); denn die Anordnung des Vormundes ist keine öffentliche
Maßregel, wie die polizeiliche Verwahrung; auch wird angenommen,
daß der Trinker, indem er sich den Anordnungen des Vormundes
fügt, freiwillig in die Anstalt ging. Endlich wird er auch in der Trinker¬
anstalt nicht unter Verschluß gehalten oder gegen seinen Willen
zurückgehalten. Diese Verhältnisse werden aber anders, wenn das
neue Strafgesetzbuch die Verwahrung der Trinker in einer entspre¬
chenden Anstalt als öffentliche Maßregel des Strafvollzugs bringt.
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Die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes. 265
Daß der wegen Trunksucht Entmündigte nicht durch diese Ent¬
mündigung die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung verliert, wurde
oben angeführt. Den Unterschied zwischen privater und öffentlicher
Unterbringung muß man auch an Fürsorgezöglingen be¬
achten. Wenn ein Vormund sein 18jähriges Mündel in ein Dienst¬
verhältnis bringt, so ist dies kein Ausschluß der freien Selbstbestim¬
mung, weil es sich hier um eine private Maßregel handelt (Entscheidg.
H. 35, Nr. 3 trotz § 8 BGB., vgl. S. 258). Wenn aber ein 18jähriger
Fürsorgezögling durch die Organe der Fürsorgeerziehung an einem
bestimmten Ort in einer Dienststelle untergebracht wird, so ist da¬
durch die freie Selbstbestimmung ausgeschlossen, weil es sich hier
um eine Maßregel einer öffentlichen Einrichtung, der Fürsorge¬
erziehung handelt (Entscheidung H. 40, Nr. 2). Diese mehr formalen
Einzelheiten des § 12 kommen gelegentlich auch für den psych¬
iatrischen Sachverständigen in Betracht. Endlich enthalten die §§ 11
und 23 des Gesetzes noch eine Bestimmung, die unter Umständen
auch in das Gebiet der psychiatrischen Sachverständigen reicht.
Darnach kann durch Eintritt in eine Kranken-, Bewahr- oder Heil¬
anstalt der Aufenthalt oder die Abwesenheit nicht begonnen werden.
Wie Eger anführt, hat diese Bestimmung lediglich den Zweck, zu
verhindern, daß der Eintritt in eine Anstalt einen Wohnsitz be¬
gründe an einem Orte, an dem jemand überhaupt nicht wirtschaftlich
tätig gewesen ist, sondern wohin er sich nur zur Behandlung einer
Krankheit begeben habe. Sonst würden Orte mit solchen Heilanstalten
eine große Unterstützungslast bekommen. Hat aber jemand an dem
Orte der Heilanstalt gearbeitet und sich wirtschaftlich betätigt und
tritt dann nach einiger Zeit in die Anstalt ein, so unterbricht dieser
Anstaltsaufenthalt den Fristenablauf nicht. Dadurch unterscheidet
sich der freiwillige Eintritt in eine Anstalt (§ 11) wesentlich von
dem durch öffentliche Maßregeln erzwungenen (§ 12).
Kasuistik. — Um die komplizierte Sachlage zu kennzeichnen,
sollen hier einige der begutachteten Fälle auszugweise berichtet werden.
1. Alte, in Attacken verlaufende Dementia praecox eines jetzt
53jähr. Arbeiters: 1. Erkrankung 1880, während der militärischen Dienst¬
zeit. 2. Attacke 1885 mit Angst, Verfolgungsideen, impulsiven Handlungen;
Aufnahme in Bezirksanstalt in Zsch. Entmündigung 1885. 1886 ist er
besser, arbeitet gegen Lohn bis 1889 bei demselben Meister in L. 1889
kehrt er nach Zsch. zurück zu seiner Mutter und ist seit 1890 wieder so
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krank, daß er 1894 wegen gewalttätiger Handlungen wieder in die Anstalt
eingewiesen wird. 1895 entweicht er, wird zurückgebracht. Am 23. V. %
wird er von der Mutter abgeholt und in ihrem neuen Wohnort in Ch.
gepflegt. Seitdem lebt er in Ch., erst in Pflege der Mutter, nach deren
Tod bei verheirateten Schwestern, geht ab und an zur Arbeit, muß aber
zu Hause völlig besorgt werden, kann sich selbständig weder Arbeit
noch Wohnung, noch Kleidung besorgen. 1901 kommt er wegen der
4. Attacke seiner Geistesstörung in das Krankenhaus, wird bald wieder
entlassen und weiter in Familie gepflegt. Seit 1911 — die 5. Attacke —
befindet er sich dauernd in der Anstalt. Soweit Schilderungen der Attacke«
vorliegen, verlaufen sie in der gleichen Weise: ängstlich -halluzinatorische
Erregungs- und Verwirrungszustände, stuporöses Verhalten und zuneh¬
mende Demenz.
Zur Begutachtung stand die Frage, ob er, als am 23. V. 96 nach seiner
Entlassung aus der Anstalt in Zsch. mit seiner Mutter von Zsch. nach Ch
zog, sich diesen Aufenthaltsort frei selbst bestimmt hat. Diese Fähigkeit
mußte ausgeschlossen werden, denn man ließ ihn damals nicht allein
aus der Anstalt weg, sondern bestand darauf, daß ihn die Mutter abholte.
Auch zeigte sein unordentliches Verhalten zu Hause, die Unfähigkeit,
selbst auch nur im geringsten für seine körperliche Reinlichkeit, Nahrung
und Kleidung zu sorgen, die Tatsache, daß er von den Verwandten ab
ein Pflegling übernommen wurde, zur Genüge, daß er sich wie ein unter
16 Jahre alter Mensch verhielt. Wenn er gelegentlich durch Arbeiten
Geld verdiente, so wurde darauf hingewiesen, daß Erwerbstätigkeit nicht
ohne weiteres auch die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung bedeutet.
Der verklagte Verband Zsch. erkannte die Ausführungen an, folgerte
aber mit Recht daraus, daß dann auch schon 1889, als der Pat. wieder
erkrankte, von L. nach Zsch. kam, derselbe Zustand bestanden habe,
so daß die Unterstützungslast also dem O. A. V. L. zufiel.
2. 75jähr. Invalide. Wurde 29. IV. 12 wegen einer Melancholie
mit ängstlichen Versündigungswahnideen eingeliefert. Er war von diesen
Wahnideen völlig beherrscht, hörte die Stimme Gottes, die ihm befahl,
seine Enkel zu töten, und äußerte Selbstmordabsichten. Dieser Zustand,
bei dem jedes Denken und Überlegen von krankhaften Wahnideen ab¬
hängig war, schloß die Fähigkeit der freien Selbstbestimmung im Mai
1912 sicher aus. Aus der Vorgeschichte konnte zudem wahrscheinlich
gemacht werden, daß dieser Zustand schon zu Weihnachten 1911 (5 Monate
vor der Aufnahme), in ähnlicher Weise bestanden hatte. Da er erst am
24. VIII. 11 von St. nach Ch. verzogen war, so war durch die Aufhebung
der freien Selbstbestimmung der einjährige Fristenlauf unterbrochen.
3. 35jähr. ledige Frauensperson. Mehrere außerehel. Kinder,
leidet schon seit vielen Jahren (mindestens seit 1908) an Dementia praecox,
wurde 1909 wegen Geisteskrankheit entmündigt (Vater hatte Entmün¬
digungwegen Geistesschwäche beantragt), machte 1910 Selbstmordversuch,
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Die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes. 267
zog 1910 nach Ch. Hat ohne Grund die ihr vom Vormund besorgte Woh¬
nung verlassen, sich Männern preisgegeben, wurde von der Schwester
aufgenommen, konnte auch hier nicht bleiben, ist seit Anfang 1913 in
Anstalt. Hört ständig beschimpfende Stimmen und bezieht die Reden
anderer Kranken auf sich; will aus der Anstalt wieder weg, damit sie
vor diesen Belästigungen Ruhe bekommt.
Der Selbstmordversuch im Jahre 1910 und die damals erfolgte
Entmündigung wegen Geisteskrankheit beweisen, daß die Geisteskrank¬
heit schon damals in einem Grade bestand, der sie einem Kinde unter
7 Jahren gleichstellte. Der häufige, unmotivierte Wohnungswechsel und
das Verhalten in der Anstalt beweisen außerdem, daß sie bei der Wahl
ihrer Aufenthaltsorte nicht von vernünftigen Erwägungen, sondern von
krankhaften Momenten (Sinnestäuschungen und Wahnideen) geleitet
wurde.
4. 38jähr. Arbeiter. Alte Dementia praecox. War von 1908 bis
1910 in einer hessischen Irrenanstalt, wurde Ende September 1910 dort
als „geheilt“ zu seiner Mutter nach Ch. entlassen; in der gleichen Zeit
«hielt die Mutter von der Direktion die Auskunft, daß zwar Besserung
eingetreten sei, bei der Natur des Leidens erscheine aber ein dauernder
Bestand der Besserung zweifelhaft. Von Ende 1910 bis Herbst 1912
beschäftigte er sich gegen Lohn, teils in Ch., teils in benachbarten Orten,
galt bei seinen Arbeitgebern als beschränkt, aber arbeitsfähig, suchte
sich auch, als gelegentlich Arbeitsmangel eintrat, eine neue Stelle. Am
1. XI. 12 wurde er mit einer neuen Attacke seiner Erkrankung (Sinnes¬
täuschungen, sprunghafte Wahnideen, dauernde motorische Erregung)
in die Anstalt aufgenommen und blieb seitdem dauernd darin. Obwohl
schon aus dem hochgradigem psychischen Zerfall auf ein weites Zurück-
reichen der Erkrankung geschlossen werden konnte, und trotzdem er aus
der vorigen Anstalt sicher nicht genesen nach Ch. gekommen war (der
Direktor dieser Anstalt hatte auf eine nachträgliche Anfrage sogar ange¬
geben, daß der Kranke z. Zt. der Entlassung nicht geschäftsfähig und
nicht im Besitz der freien Selbstbestimmung gewesen sei), mußte ihm
für den Termin des Zuzuges nach Ch. — Ende September 1910 — und
die folgende Zeit die Fähigkeit zür freien Selbstbestimmung zuerkannt
werden, weil er offenbar sich selbständig bei der Auswahl und Auf¬
suchung von Arbeitsgelegenheiten betätigte. Daraufhin wurde auf eine
weitere Verfolgung der Sache verzichtet.
5. 60jähr. Frau. Manisch-depressives Irresein. Seit 1898 wieder¬
holt in Anstalten, zuletzt 1902 wegen „Melancholie und Demenz“, 1903
und 1904 in Familienpflege, liegt „völlig teilnahmlos zu Bett“. Im
Sommer 1905 ist sie mit dem sie pflegenden Sohn nach Ch. gezogen;
schon Ende 1905 wurde wieder wegen ihres geistigen Zustandes ärztliche
Hilfe in Anspruch genommen. Seit 1910 in der Anstalt in einem chronisch-
manischen Zustand, der jede freie Selbstbestimmung ausschließt. Eine
solche war auch im Sommer 1905 mit höchster Wahrscheinlichkeit aus-
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zuschließen, da die Frau vorher und nachher als schwer stuporös und
gehemmt bezeichnet wurde.
6. 18jähr. Mädchen. Imbezillität und Pfropfhebephremie, zog am
1. X. 1910 mit ihren Eltern nach Ch., wurde am 28. VII. 191116 Jahre, be¬
findet sich seit 21. X. 12 wegen schweren hebephremen Stupors in der
Anstalt. Bei Erreichung des 16. Lebensjahres war sie noch nicht 1 Jahr
in Ch., mußte sich also erst dort durch einjährigen Aufenthalt den Unter¬
stützungswohnsitz erwerben. Es fragt sich, ob sie an ihrem 16. Geburts¬
tag geistig so war, daß sie die freie Selbstbestimmung besaß. Durch
Zeugen wurde nachgewiesen, daß sie in dieser Zeit nur einfache häusliche
Arbeiten unter Aufsicht machte, nur Häkeln und Stricken konnte, Uhr
und Geld nicht kannte; nichts besorgen konnte, wenn man das Gewünschte
nicht für den Kaufmann auf einen Zettel schrieb; ferner daß sie auch
bei einfachen 10 Minuten dauernden Wegen, die sie in Begleitung schon,
öfter gemacht hatte, sich allein nicht zurechtfand und verirrte. Sie hätte
keine Eisenbahnfahrt machen, keine Stellung antreten können. Ende des
Jahres 1911 traten schon ängstliche Erregungszustände bei ihr auf.
Hier bestand also zur Zeit der Erreichung des armenmündigen Alters
schon eine deutliche Geistesschwäche, die sie auf die Stufe eines höchstens
8—10jährigen Kindes herunterdrückte. Die Einzelheiten zeigten ferner,
daß ihr das richtige Erkennen und Wollen in bezug auf Wahl des Auf¬
enthaltsortes vollkommen fehlte. Zudem traten noch während des ein¬
jährigen Fristenlaufes die ängstlichen Erregungszustände der beginnenden
Hebephrenie auf, die sie gleichfalls der Fähigkeit zur freien Selbstbestim¬
mung beraubten.
7. 35jähr. Arbeiter. Schwere Dementia praecox. 1909 bis 1911
Gefängnisstrafe wegen unzüchtiger Handlungen am eigenen Kind. Dar¬
nach Selbstmordversuch; war offenbar damals schon geisteskrank. August
1911 im Krankenhaus Ch. wegen Neurasthenie, dann wieder auswärts
gearbeitet. Am 7. III. 12 wieder ins Krankenhaus Ch. wegen nervöser
Beschwerden. Von da am 9. III. 12 wegen Erregung in die Anstalt. Über
den Grad der Geistesstörung kann man folgendes sagen: Jetzt und seit
Beginn seines Aufenthaltes in der Anstalt ist das Denken, Entschließen
und Handeln so hochgradig von Sinnestäuschungen und Wahnideen
beeinflußt, daß man ihm jede Fähigkeit zur freien Willensbestimmung,
also auch zum richtigen Wollen und Erkennen hinsichtlich der Wahl
seines Aufenthaltsortes absprechen muß. Sicher ist auch am 9. III. 12
seine freine Selbstbestimmung bei der Wahl seines Aufenthaltsortes aus¬
geschlossen gewesen. Das geht schon daraus hervor, daß er nicht aus
eigner Entschließung vom Krankenhaus sich in die N. H. A. begab,
sondern hierher verlegt wurde, weil er sich wegen seiner Geistesstörung
höchst ungeordnet benahm. Wahrscheinlich wird auch schon bei seinem
Eintritt inj das Krankenhaus am 7. III. 12 seine freie Selbstbestimmung
bei der Wahl seines Aufenthaltsortes ausgeschlossen gewesen sein. Wie
lange schon vorher und von welchem Zeitpunkt ab dies der Fall war.
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$fe. Begrifft'* der frekür Bn]Üstbr«t»amuTji^ sind •lidgtivht- itfssfcirföb r ;
• >•■ spokvor-rUi.odit'a uutÖ vom diTAnlritgtMadeM Bfiolidf gvnun h'h - ~
.• •.*•»! *• ••«’Immk» b 'A seinem OaJachtcn genau Wgefogn, für
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AJffcor i \cmn ;ä$g M^ß;<t^b für den Ffei
pfe^tii öflfdi: nin die freie J^bstbestiniiiitosr bt-i
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zu emö^Iii-hen.
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• ••• jcrl ^ tk-c anderen gesetzBek fest gelegten FnrtMAti
(VCUieu?.r*ntreihett. UeibiestavinkUcit.
. CirAcit äf.t$u.i j fäit iBtR<v}t >- Auch w$wv von anderen
ioö Mntisei* w*g<m seiner .SfitjPUög;
v-;4« dtigr gekdiafjtfitmfäbk? beteißHiiAt tnb'f Wan
Kiehtrt-spfiteh «ntmiiif dij^t -fd: 3c«4d^tA r W*fMd|t-;^ißtfevä& ; nbg)» ntej$.
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270 Weber, Die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung usw.
Keine klinisch umschriebene Form der Geistesstörung schließt
prinzipiell die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung aus. Es muß
jeder Fall einzeln geprüft werden. Neben den erwähnten Alters¬
stufen, die hierfür als Maßstäbe dienen können, muß das richtige
Erkennen und Wollen bezüglich der Wahl des Aufenthaltsortes ge¬
prüft werden, d. h. ob der Kranke ein Verständnis für den Unter¬
schied der beiden Orte hat und darnach selbständige Entschlüsse
treffen kann, welche der Lage der Verhältnisse und dem Zwecke ent¬
sprechen. Der Nachweis, daß diese Fähigkeit aufgehoben ist, läßt
sich führen, indem man zeigt, daß ausgesprochen krankhafte Vor¬
gänge das Erkennen und Wollen stören, oder indem man an kon¬
kreten Tatsachen zeigt, daß der Kranke dazu unfähig ist. Eine durch
Geisteskrankheit bedingte wirtschaftliche oder soziale Unselbständig¬
keitschließt allein schon die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung aus.
Außer durch den inneren Vorgang einer geistigen Erkrankung
kann die freie Selbstbestimmung auch durch äußeren Zwang aufge¬
hoben sein, dahin gehören alle die Fälle, in denen eine Anordnung
einer öffentlichen Behörde, z. B. der Polizei, den Auf¬
enthalt eines Menschen bestimmt, auch Unterbringung eines Geistes¬
kranken wegen Gemeingefährlichkeit in einer Irrenanstalt auf polizei¬
liche Anordnung, wenn dieser Kranke auch vermöge seines Geistes¬
zustandes noch die Fähigkeit der freien Selbstbestimmung besitzt.
Dagegen ist die durch einen Vormund veranlaßte Unterbringung
eines entmündigten Geisteskranken oder Trinkers in eine Anstalt
zum Zweck der Heilung kein Zwang im Sinne des Gesetzes.
Literatur.
v. Reichenstein, Die Novelle zum deutschen Gesetz über den Unterstützungs-
wohnsitz. Freiberg i. B. 1894.
Bericht der XIY. Kommission, 8. Legislaturperiode, II. Session 1892/93.
Stenogr. Reichstagsber. Berlin 1894, J. Sittenfeld.
Entscheidungen des Bundesamtes f. d. Heimatwesen. Berlin, Fr. Vahlen.
Wohlers-Krech, Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz.
12. Aufl. Berlin, Fr. Vahlen.
Eger, Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz.
Schott, Beitrag zur Frage der Fähigkeit, seinen Aufenthaltsort selbst zu
bestimmen. Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 69, 1912.
Entscheidungen des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts.
Die Publikationen von Liepmann (Marhold sehe Sammlung) und
von Peretti (psych.-neur. Wchnschr.) sind während der Drucklegung
dieser Arbeit erschienen und konnten nicht mehr verwertet werden.
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Die Kaiser Domitian, Commodus, Caracalla und
Elagabal,
ein Beitrag zur Frage des Cäsarenwahnsinns.
Von
Dr. Ernst Hüller, Oberarzt an der Heilanstalt Waldbroel.
Nachdem ich in einer früheren Arbeit x ) die Regenten des Julisch-
Claudischen Kaiserhauses psychiatrisch beleuchtet habe, will ich nun
einige Cäsaren aus der Geschichtsepoche ins Auge fassen, die durch
die Flavische, die Adoptionsdynastie des Nerva, und das Septimische
Herrscherhaus charakterisiert wird und 160 Jahre umfaßt. Die ersten
beiden Dynastien enden, ruhmreich begonnen, mit einem Kaiser,
der, anknüpfend an die Exzesse einiger Julisch-Claudischer Imperatoren,
sich maßlos überhebt und blutige Zeiten heraufführt; die letzte zeigt
am Anfang und Ende einen guten, in der Mitte zwei Regenten von
der eben gekennzeichneten schlechten Art. Da betreffs dieser im
schlechten Sinne auffallenden Cäsaren: Domitian, Commodus, Cara-
ealla und Elagabal von verschiedenen Historikern und Parsenow
behauptet worden ist, sie hätten am Cäsarenwahnsinn gelitten, will
ich auch diese Kaiser mit Hilfe alter und neuer Literatur psychiatrisch
untersuchen und darlegen, inwieweit bei ihnen die Diagnose Cäsaren-
Wahnsinn berechtigt ist.
Da Domitian und Caracalla in psychiatrischer Beziehung und auch
sonst Ähnlichkeiten aufweisen, bringe ich die Literatur und meine aus
ihr gezogenen Schlüsse über beide Herrscher hintereinander, obwohl
chronologischerweise auf Domitian Commodus folgen müßte; ebenso
werde ich dann Commodus und Elagabal zusammenstellen, weil auch sie,
namentlich auf geistigem Gebiete, ähnliche Seiten zeigen, obwohl auch
diese Herrscher weder zeitlich noch dynastisch zusammengehören, um
schließlich noch einiges über den Cäsarenwahnsinn als solchen zu sagen.
*) Diese Zeitschr. Bd. 70, S. 575 ff.
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272
Möller,
Um den reichhaltigen Stoff übersichtlich zu gestalten, entnehme ich den
Quellen nur das Wichtigste.
Über Domitian berichten dieselben:
Sueton: Der Kaiser ließ sich in jungen Jahren von einem gewesenen
Prätor schänden. Im Kriege zwischen seinem Vater und Vitellius flüchtete
er aufs Kapitol und entging später mit knapper Not seinen Spähern.
Er entehrte viele Frauen und verführte die Domitia Longina zur Ehe
mit sich. Als er einen unnötigen Feldzug gegen Gallien und Germanien
unternommen hatte, wurde er von seinem Vater gemaßregelt; während
seiner unfreiwilligen Muße hielt er wissenschaftliche Vorträge. Seinem
Bruder Titus stellte er nach. Als Kaiser restaurierte er eine Menge der
schönsten Gebäude und traf gute Einrichtungen; zuerst zeigte er sich
milde, uneigennützig und freigebig, bald aber grausam. Nach dem durch
den Statthalter Antonius entfesselten Bürgerkrieg ließ er Männer in grau*
samer Weise foltern, um Mitverschworene zu entdecken. Als durch seine
Verschwendungssucht die Mittel erschöpft waren, befahl er, Lebendige
und Tote auszuplündern, und gebrauchte eifrig das Majestätsgesetz. Im
Senat sagte er, er habe Vater und Bruder den Thron verschafft, sie hätten
, ihm denselben zurückgegeben; nach Wiedervereinigung mit seiner Frau,
er habe sie auf seinen Göttersitz berufen. Die Formulare für die Proku¬
ratoren fingen an: „Unser Herr und Gott befiehlt also <( . Die Wände seiner
Halle ließ er mit Leuchtstein überziehen, damit er auch sehe, was hinter
ihm vorging. Seinen Neffen Flavius Clemens und dessen beide Söhne,
die zur Nachfolge bestimmt waren, ließ er auf den leisesten Verdacht hin
umbringen. Domitian war sehr sexuell; seine Nichte Julia verführte er,
obgleich sie verheiratet war, und wurde schuld an ihrem Tode, indem er
sie zwang, eine Leibesfrucht von ihm abzutreiben. Bibliotheken ließ er
wieder herstellen und Bücher abschreiben und verbessern. Er ging gern
allein und an einsamem Ort spazieren. Als er, nach der Hinrichtung
vieler edler Männer, auch seiner nächsten Umgebung gefährlich wurde,
fiel er einer Palastverschwörung zum Opfer, an der auch seine Frau An¬
teil hatte.
Tacitus sagt von der Zeit Domitians: Das Meer war mit Verbannten
angefüllt, die Felseninseln vom Blute der Ermordeten gefärbt, und in
Rom herrschten Schrecken und Entsetzen. Adel und Reichtum, abge¬
lehnte und verwaltete Ehrenstellen galten als Verbrechen, die Tugend
war ihres Untergangs gewiß, Angeber wurden für ihre Untaten mit Priester¬
würden und Konsulaten belohnt; Sklaven wurden gegen ihre Herren,
Freigelassene gegen ihre Patrone erkauft, und wer keinen Feind hatte,
fand durch Freundes Hand seinen Untergang.
Dio Zonaras: Domitian, der seinem Bruder Titus schon früher nach
dem Leben getrachtet hatte, ließ diesen während seiner letzten Krank¬
heit, als er noch atmete und vielleicht noch gerettet werden konnte, in
einen mit vielem Schnee gefüllten Behälter bringen, um, wie er vorgab,
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Die Kaiser Domitian, Commodns, Caracalla and Elagabal usw. 273
‘ine Fieberhitze abzukühlen, in der Tat aber, um seinen Tod zu be-
hleunigen. Die Freunde seines Vaters und Bruders behandelte er ver-
chtlich und grausam.
Plinius: Nach der Verschwörung des Antonius erklärte der Fürst
fTen seinen Haß gegen alle besseren Menschen.
Aurelius Victor: Der Kaiser ist der Mörder seines Bruders; er
,-urde „noch wahnsinniger, mehr als despotisch, indem er es erzwang,
aß man ihn Herrn und Gott nennen mußte“.
Imhof: „Das Flavische Geschlecht war dunkel und unberühmt.“
)er Vater Vespasians war Pächter von Staatseinkünften und betrieb
päter Bankiergeschäfte. Die Mutter Domitians war eine Freigelassene.
.Weder seine Erziehung noch sein Unterricht waren sorgfältig geleitet.“
Imhof spricht von seiner vortrefflichen natürlichen Klugheit und seiner
n den letzten Jahren gezeigten tigerartigen Raub- und Blutgier.
Mommsen: Zur Zeit Domitians entstand eine Literaturperiode.
Der Kaiser war einer der sorgfältigsten Verwalter, die das Kaiserregiment
gehabt hat. Sein Chattenfeldzug hatte eine bedeutende und folgenreiche
Verschiebung der römischen Grenze zur Folge.
Mertens: Der Fürst hatte Freude an den Qualen der martervoll
Hingerichteten.
Weber: Nie wichen die Gespenster der Furcht und des Argwohns
von seiner Seite.
Domaszewski spricht vom „Wahne der überirdischen Hoheit“ des
Käsers, von seinen Prunkbauten und seiner ständigen Todesangst.
Hertzberg: Domitian hatte Kunstsinn und Interesse für Archi¬
tektur.
Schiller: Der Fürst wurde von der Aristokratie in gehässiger Weise
riargestelit. Gegen seine Kriegführung ist nichts einzuwenden.
Ranke: Der Kaiser schrieb es seiner Einwirkung auf die großen
Verhältnisse zu, daß sein Vater zum Imperium berufen worden war.
<-So fern Domitian dem genealogischen Anspruch der Cäsaren auf die
Abkunft von den Göttern stand, so erneuerte er doch die Divinität der
höchsten Gewalt. An sich war es nun ein Unterschied, ob ein Abkömmling
des Augusteischen Geschlechts sich seiner Macht überhob oder der Sohn
des Mannes, der berufen war, den Exzessen des ersteren ein Ende zu
machen.“
Parsenow: Domitian erwürgte seine Diener mit eigener Hand.
Gsell: Der Fürst strebte schon in jüngeren Jahren nach der Herr¬
schaft; zu derselben gelangt, betrachtete er sich als Gott. —
Da die Geschichte Domitians, sowie der drei anderen Kaiser in den
Hauptereignissen genügend bekannt ist, beginne ich gleich die psy¬
chiatrische Besprechung.
Domitian bereitete seinem Vater aus Herrschsucht Schwierigkeiten
und betrug sich so gegen ihn, daß dieser sagte, er wundere sich nur, daß
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Müller,
er ihm nicht auch einen Nachfolger schicke. Mit der Prinzessin Julia,
seines Bruders Tochter, verkehrte er sexuell, obgleich sie verheiratet
war, und nötigte sie, eine Leibesfrucht von ihm abzutreiben, welcher
Umstand ihren Tod herbeiführte. Seinem Bruder Titus trachtete er aus
Herrschsucht nach dem Leben. Seine Totenmahle, durch die er hoch-
gestellte Persönlichkeiten ängstigte, verraten sein verschrobenes Wesen.
Die eben erwähnten Symptome beweisen die degenerative Anlage des
Fürsten.
Seine Familie stammte aus einfachen Verhältnissen, trotzdem er¬
neuerte er die Divinität der höchsten Gewalt. Er behauptete, sein Auf¬
enthalt in Rom während des Krieges seines Vaters mit Vitellius habe
ersterem den Thron verschafft, während er damals mit knapper Not
durch Flucht sein Leben rettete; seine Frau hätte er auf seinen Göttersitz
berufen, als er sich wieder mit ihr ausgesöhnt hatte. Den alten Epa-
phroditus, der Nero bei seinem Selbstmord behilflich gewesen war, ließ
er deshalb hinrichten. Hieraus geht zur Genüge hervor, daß Domitian
an Größenideen litt; diese verraten aber — abweichend von den gewöhn¬
lichen Paranoiaformen — nicht den beginnenden Schwachsinn, sondern
sind als Folgen der gehobenen Stellung dieser Machthaber und der antiken
Auffassung von der Person des Herrschers milder zu beurteilen. Dieses
von der Paranoia (Verrücktheit) im gewöhnlichen Sinne abweichende
Moment der Psychose wird eben durch die Neubezeichnung Cäsaren -
Wahnsinn (Paranoia Caesarea) ausgedrückt.
Inwiefern muß bei dem Kaiser auch von Verfolgungswahn ge¬
sprochen werden? Tiberius sind bei seinen Blutbefehlen insofern mil¬
dernde Umstände beizumessen, als er die hochbedeutende Aufgabe hatte,
das vor nicht langer Zeit errichtete Prinzipat — also sich — unter allen
Umständen zu erhalten. Nero wurde durch weibliche Einflüsse und Ver¬
schwörungen zu Exekutionen gereizt und wußte den schwankenden Thron
schließlich nur noch durch ein Schreckensregiment zu halten. Unter
Domitian war das Kaisertum bereits eine gefestigte Institution. Was
also bei Tiberius und Nero die Folge von berechtigtem Mißtrauen war,
müssen wir Domitian als krankhaften Verfolgungswahn anrechnen, so
massenhaft und vielfach unbegründet erfolgten unter seiner Regierung
die Blutbefehle. Das war richtiger Verfolgungswahnsinn eines Cäsaren,
diese in Todesurteile umgesetzte dauernde ängstliche Furcht vor Nach¬
stellungen. Diese Ansicht unterstützt die Nachricht, der Fürst habe
einen Spiegelsaal anlegen lassen, um die Leute bei den Audienzen auch
von hinten zu beobachten. Ich halte diese Erzählung für eine gut erfundene
Legende; es wird sich eben um einen Prunksaal wie im Versailler Schloß
gehandelt haben.
Der Ausdruck Cäsarenwahnsinn als Gesamtbezeichnung
der Psychose ist deshalb richtig und begründet, weil dieser Wahnsinn
durch den Cäsarismus eine besondere Note erhält und in eine ursächliche
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marnm.
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Die Kaiser Domitian, Commotius, CaracaUa rcati Elagabai «sw. £75
8 p?j^iö«ijg zu demselben gebracht, werde« snußv «teo tatsächlich «fine
Bsru^ijthoiie'. vorHegi. Denn atb die vordörhJiebeä Hantilängep des?;
ffdoteps von Jugendzeit an knüpfen sieb crsLao die Erfmcftühf der '
r^renhemchan und dann an deren Sefeattgpng, so daß «ngenönim^!
Did\ B£fceidilpüP£‘ Parandiia initt
£ifenns)j:ti«g. 4 in Intdbgenz bleibt,? :$telr
v <r Fall.war. Sein vorzeitiges Endeläßt mchfc abncH wie sich die geistig*
V-i^sUeg ujpifcsrgestaltet hätte» y;;'y .•••;.•, .‘.v; -. • -,\ ; '
Di.* .spärliebeo. rnil miv gekommenen BÜdnissK des Fürsten zdg«.n.
. unschönen Zuge, eine Geist verratende Stirn, viel StiftsIgefijhi und
Wirde, neben Festigkeit, Anmaßung,, Slnniiehkwt/Mtiitrau*;!* und ^trenye
• u? arauvamkeit.
Wir konwoert W-C a r >•» c a 1 L a, —
^^bf-Vuldagn tMO , daß sie Träfu.n Ab«
‘dRfitiUs vergdyäeii hätte,: E> war tni
u Aber den Tod Getas vor der Untier
' r -tittr; wrg^sH*»» hätte. Er war onÖtfÄüiSeb gegen . j^dürhiAm», vvesj
; "-r.di NachsinUnngeit fhreMete. Bei Rvch tsstreifcigkeite« x«%U\*r
: ^rliarftiiick Ami entschied (reitend.
Aureüus Yb tnr, „Dieser Kaiser- ließ seinen Bruder Gel« ermorde«,
f) mit. Wahnsinn pmi der Vt-vtolgnng der Furien gestraft wurde,'*
*r iif-ß &igk ,,dt?r» Großen ufod Äleiähdfr“ iiepnen und b^ir«;ttdF siiinn
pt^trrnHier Julia. '
Öiät Ckrat^Ua traebtote sein m* ¥Mfi r nach dem Leben ; beim Bri>
; Wm Tddstng fe>g or sein Schwert, «in ihm einen Hieb in den Nacken
•G'-'tvn vchrf-f;kte jedncS», als si-.i« Gefolge auf Veline, von der Ted zurück.
v^ 1 --^ e ^ 1 .‘ät.-1>;'. bist dem Männer und
oboe Ur»t?r.s»;>Jx-«l.■ hingericbWl wurden, wenn sie sich nur eiruna)
to-fcilösl* <>.a,ts fetundeh liritteii. ,,2u .dien seinen Hivmilungen trieb
■•'.h verrücktes Ungestüm.” Dk> nennt seine Mutter eine 'SJrenn.
SpaHJaous: i>6r Fürst war als Kaabe geistreich uml' .UehetisYvüvtiig',;•' •
"Kder aber der grÄU8äm«,tie aHbi* Kaiser.
Vfapfos' CaraissUä '.hätteiöirien Vater einmal mit: dem Tode JbeWrnhtVi;'
$PI |^E \!?.v r *ndivi c. stete er wegen o . - ' 1 . • -in.
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N
276
Möller,
Die Senatoren behandelte er schlecht; er wollte unumschränkter Herr
sein und Asien wie ein zweiter Alexander der Große erobern.
Parsenow: Schon als Knabe hatte der Kaiser kein normales Ge¬
fühl. Seinem Vater trachtete er später nach dem Leben. Seiner
Frau stellte er eine kastrierte Leibwache zur Verfügung, seinen
Schwiegervater ließ er ermorden und verfolgte jeden, der den
Namen Geta trug, sogar Schauspieler, die eine Person mit dem Namen
Geta darstellten. Er sagte, „er habe sich in Alexanders Körper nieder¬
gelassen, damit er, der so kurze Zeit gelebt, ewig lebe“. Der Kaiser war
geschlechtskrank. Die Priesterinnen eines Vestatempels ließ er nieder¬
hauen, weil eine Vestalin ihm nicht zu Willen war.
Monimsen: Caracalla war „kein Krieger und Staatsmann wie sein
Vater, aber von beidem eine wüste Karrikatur“.
Mertens: Er setzte die Erteilung des römischen Bürgerrechts an
alle freien Provinzialen durch.
Hertzberg: Der Kaiser war syrisch-afrikanischer Abkunft und
hatte einen sehr scharfen Verstand, aber ein tüchtiges Maß von Selbst¬
überschätzung. Er mordete Angehörige der Familien der letzten Kaiser
und alle Widerwärtigen und Verdächtigen (angeblich 20 0001).
Weber: Der Vater des Fürsten, der aus geringer Stellung durch
Glück und Verdienst Kaiser wurde, soll zuletzt Selbstmordgedanken
gehabt haben. Caracalla und Geta zeigten einen lasterhaften Lebens¬
wandel und eine rohe Gemütsart. Julia Domna genoß nicht den besten
Ruf. Caracalla baute die Thermen. Weber nennt ihn einen Feind des
ganzen Menschengeschlechts.
Domaszewski: „Das Wahngespenst eines Herrschers.“
Schiller: Der Fürst war begabt. „Jedenfalls sind auf die Politik
die geläufigen Deklamationen von seiner Verrücktheit nicht anzuwenden.“
In Ägypten herrschte wahrscheinlich ein Aufstand, und die Bestrafung der
Stadt Alexandria war nur eine Episode desselben. Der Kaiser wurde
im Parthischen Feldzuge das Opfer einer Verschwörung der Stabsoffiziere,
an deren Spitze der Gardepräfekt Marcinus stand.
Aus der Literatur ergibt sich, daß Caracalla der Sohn des auf afri¬
kanischem Boden geborenen brutalen Gewaltmenschen Septimius Severus
war. Da mehrere alte Schriftsteller berichten, daß er seine Stiefmutter
heiratete, muß angenommen werden, daß Julia Domna seine leibliche
Mutter nicht war, obgleich auch das behauptet worden ist. Seine uni¬
versalhistorischen Pläne, die auf seine syrische Verwandtschaft hindeuten,
waren also die Folge von Zeitumständen und Erziehung. Aus Herrschsucht
trachtete er seinem Vater nach dem Leben und befahl er den Tod seines
Bruders. Caracalla war demnach entartet.
Im Lager ließ er sich als Sonnengott verehren, den Großen und
Alexander nennen, während er die Senatoren erniedrigend behandelte.
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Die Kaiser Domitian, Commodns, Caracalla and Elagabal nsw. 277
so daß man in Anbetracht seiner mäßigen Taten von Größenideen sprechen
muß.
Da er nach dem Tode seines Vaters in grausamster Weise gegen
dessen frühere Umgebung und nach der Ermordung des Bruders ebenso
gegen dessen Anhänger vorging, nämlich sofort jeden umbringen ließ,
der ihn überhaupt einmal hätte verfolgen können, und gar nicht erst
den Versuch einer Verfolgung abwartete, andererseits unerhört massen¬
hafte Hinrichtungen anordnete, so groß war seine Furcht vor Nach¬
stellungen, muß von Verfolgungswahn des Fürsten gesprochen werden.
Also auch hier haben wir den richtigen Cäsarenwahnsinn als
Berufspsychose vor uns, indem im übrigen von der psychiatrischen Be¬
urteilung des Kaisers dasselbe gilt wie bei Domitian: Denn auch hier
entstand die mit Größen- und Verfolgungswahn einhergehende Psychose
auf Grund von Degeneration, bei kaiserlicher Abstammung und der Ten¬
denz, den Cäsarenthron zu bekommen und zu erhalten, während der
Kaiser geistig nicht unbedeutend war. Von Schwachsinn ist also auch
hier und aus demselben Grunde so wenig die Rede wie bei Domitian.
Caracalla darstellende Kunstdenkmäler lassen einen mürrischen,
dämonischen, unschönen Gesichtsausdruck, eine etwas niedrige Stirn
and mittleren Verstand erkennen, neben Energie, Mißtrauen, einem Zug
von menschenverachtender Bitterkeit Anmaßung, Brutalität und Sinn¬
lichkeit.
Die Ähnlichkeit der Kaiser Domitian und Caracalla in Lebensgang,
Begabung, Taten und Untaten ist so auffallend, daß sich der Rückschluß
aufdrängt, auch die Psychosen beider müssen die gleichen gewesen sein,
was wieder für eine richtige Beurteilung derselben spricht. Das einzige,
was bei diesen Herrschern etwas versöhnend wirkt, ist das Interesse,
das diese dämonischen Menschen für die Baukunst entfaltet haben.
Die Besprechung geht über auf Commodus, von dem wir
Folgendes erfahren:
Herodian: Der Kaiser stammte von Marc Aurel, Antoninus Pius,
Hadrian und einer Schwester Trajans ab. Perennis wußte den Fürsten
zu üppigem, untätigem Leben und zu Gewalttätigkeiten anzureizen.
Schließlich wurde Commodus mißtrauisch und gewaltsam und ließ sich
Herkules, Jupiters Sohn, nennen. Auf seinem Kolossalstandbild war zu
lesen: „Besieger von 1000 Fechtern.“ Die noch übrigen Freunde seines
Vaters beabsichtigte er aus dem Wege zu räumen.
Dio: Der Fürst ließ viele Römer, auch Senatoren, ermorden; um
die Regierung kümmerte er sich nicht, „und hätte er es auch gewoUt, so
war er aus Weichlichkeit und Unerfahrenheit nicht imstande, selbst zu
regieren“. Dio sagt von ihm, „so überschwenglich verrückt war der
Schandmensch. “
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Müller,
Aurelius Victor: Commodus stieß Gladiatoren mit dem Schwerte
nieder.
Lambridius: In so vielen Wissenschaften der Fürst auch Unter¬
richt genoß, so fruchtete derselbe doch nichts. Schon in seinen jüngeren
Knabenjahren war er niederträchtig, boshaft, grausam, wollüstig, unkeusch
und ein Werkzeug fremder Wollust; den ersten Beweis seiner Grausam¬
keit gab er schon in seinem 12. Jahre, indem er befahl, den Bader, der ihm
sein Bad zu warm gemacht hatte, in den Ofen zu werfen, was allerdings
vereitelt wurde. Er pflegte Freundschaft mit den schlechtesten Menschen
und verwandelte den Palast jedesmal, wenn er diese Art Freunde um
sich haben durfte, in ein Sauf- und Freudenhaus, speiste mit Gladiatoren
und holte Wasser wie ein Bedienter im Freudenhause. Abends schwärmte
er in Wein- und Freudenhäusern umher. „Oft soll Commodus unter die
kostbarsten Speisen Menschenkot gemischt und selbst davon gekostet
haben, wodurch er seine Gäste recht anzuführen glaubte.“ Das römische
Theaterpublikum wollte er umbringen lassen, weil er dessen Beifall für
Spott hielt. Er hatte einfältige Gesichtszüge, wie sie die Trinker gewöhn¬
lich haben.
Ranke: Der Kaiser schloß Frieden mit dem Feinde gegen die An¬
sicht der Senatoren und zog nach Rom, um die Gewalt vollkommen in
seinem Besitz zu haben. Seine gewohnten Freunde stieß er von sich
oder beschimpfte sie. Seine eigene Schwester stiftete eine Verschwörung
gegen ihn an, die aber fehlschlug. Der Präfectus Praetorio Perennis übte
die Regierungsgewalt aus, während Commodus seinem Harem lebte. Die
beiden Präfecti Praetorio Perennis und Cleander opferte er in feiger
Weise auf. Er wurde von seiner nächsten Umgebung ermordet.
Parsenow: Der Fürst war bildschön, seine Geistesbildung gleich
Null; er verstümmelte zufällig ihm Begegnende oder erschlug sie, ließ
sich Gelder für seine Siege als Gladiator aus der Staatskasse zahlen und
erschoß auch mal einen Menschen in der Arena mit seinem Pfeil. Er
ließ alle Verwandten seines Hauses ermorden.
Mommsen: „Der Kaiser war in jeder Hinsicht das Gegenteil seines
Vaters; kein Gelehrter, sondern ein Fechtmeister, so feig und charakter¬
schwach, wie dieser entschlossen und konsequent, so träge und pflicht¬
vergessen, wie dieser tätig und gewissenhaft.“ M. nennt seine Regierung
ein Mißregiment.
Weber spricht von dem schwachen, unselbständigen Geist, dem
furchtsamen Charakter ünd der gemeinen, jedes geistigen Aufschwungs
unfähigen Natur des Commodus. Seine Mutter Faustina war sehr sinnlich
und ausschweifend. Die Senatoren der Hauptstadt und die Gemeinderäte
der übrigen Städte mußten ihm jährlich Geld als Opfer darbringen.
Domaszewski: Der Untergang der Römer beginnt mit Commodus r
der in seiner geistigen wie körperlichen Schwäche das Gepräge einer ab-
sterbenden Art darbot. D. nennt ihn beschränkt. Er erschlug verkleidet»
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Ui*, Rd.t&vr öofnidKB. C’ommodut.. Cameailfc and KiÄguhat usw. 279
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*iii£|ur»i erst dufeh ehn Atfeülst; sinne öcdnukjfm. bewegten
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kOHnb?, yii’Ut öac-hMä's&Hl'-i^E, ' ■ V .-
^^P&Äien tittä ödsten stellen ds»i För«i»)> als sd(ö)i,eü AJonn mH kb*
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f'e&fcr djMse« Fur--<cu .ber-iobt.?n «He mnl neue Srhriiisteiler:
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V^tAlii! V»ut thiin: «j/w Amii.i Eaustib».'
^h^kft4ieh;*sln*i Änfedialffiiir AmTlsv.rxrtiu^ZogsciTvas üntlds durrJj d»e
• •• ...a*-ts^i|iMn.i vt ,u. Der Fürvt trat'.ala Wagiso-
Wpfa äöci ’i’äut^r^--'«rttt »**Mt Reil I^tirer sflknss Veiler« urttbrftigen. „In
^(u-f iiititbidKken ft^anhehKihighe»t‘' auGartt -und h<«fcmb wr „öffeatü.^h
Hi>.-tsv<;»,‘,»i l v BlhuK'» ■ f - r -,-^. ;
.-, '•' <tk args.tjrn SchaßdUcbhöteh^ TJngerechtig-
„ : shbivchU naäxeiüandtr 'S. hrant-ii, unter diesen
Kkxabjilb.S;. tu Uhtixt Knaben aehlachteu.
'•-'"!i **, hi ^ühttHten. ilusxh falsclnw H mi maskiert, und in
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280
Müller,
berüchtigte Lusthäuser, wo er mit seinen Lustknaben sein Unwesen trieb.
Im Handeln sowohl als im Ton der Stimme zeigte er weibische Weichlich¬
keit; „er tanzte beständig nicht bloß auf der Orchestra, sondern auch
gewissermaßen, wenn er ging, opferte, Besuche empfing oder zum Volke
redete“.
Aurelius Victor: Der Kaiser, die Frucht eines geheimen Umgangs-
Caracallas mit seiner Verwandten Soemea, war ganz schamlos und nahm
den Weibernamen Bassiana an; die Soldaten nannten ihn eine vor Geilheit
rasende, tolle Hündin.
Spartianus: Elagabal war Caracallas Sohn. Seine Mutter lebte als
Buhlerin und verübte jegliche Schandtat am Hofe. „Für Geld nahm er
jeden ohne Unterschied des Alters, des. Vermögens und des Standes in
den Senat auf“, auch Ämter wurden von ihm verkauft. Auf Stellen be¬
förderte er unter anderen Leute, die sich durch die außerordentliche Größe
ihrer Genitalien empfahlen. Sp. spricht von seinen schamlosen Vertrauten,
die ihn aus einem Schwachkopf noch schwachköpfiger machten. Der
Fürst war ein großer Schlemmer und Feinschmecker. „Seinen Pferden
ließ er apameische Trauben in die Krippe füttern.“ Wie in seiner Lebens¬
haltung, so zeigte er sich auch beim Schenken sehr verschwenderisch.
Er brachte Menschenopfer dar, wozu edle und schöne Knaben aus ganz
Italien auserlesen wurden. Elagabal hatte wie sein Vetter Alexander
Varia zur Großmutter.
Ranke: Der Kaiser wurde durch seine Großmutter Maesa den römischen
Soldaten in Emesa als Sohn Caracallas empfohlen und anerkannt, er war
zum Priester des Sonnengottes daselbst emporgestiegen. Dieser orgi-
astische Kultus wurde von dem jungen Fürsten nach Rom verpflanzt,
der die Senatoren Sklaven in der Toga nannte, mit dem Gedanken um¬
ging, eine Vestalin zu ehelichen, ein wüstes sexuelles Leben führte und
als Sklave der Eunuchen galt. Als er sich anschickte, seinen Vetter, den
er auf den Rat seiner weiblichen Verwandten adoptierte, umbringen zu
lassen, brach ein Prätorianeraufstand los, bei dem er ermordet wurde.
Domaszewski: Elagabal war ein Aramäer; daß Caracalla sein Vater
war, ist eine Lüge. D. spricht von dem von religiösen Wahngebilden
umnachteten Geist des Jünglings. Die Anhänger des Gegenkaisers Macrinus
ließ er ermorden, heiratete eine Vestalin und verstieß seine Frau, weil
sie ein Mal am Körper hatte. Ganz geringe Leute erhielten von ihm die
höchsten Staatsämter. Seine Großmutter Maesa erschien selbst im Senat.
Schiller: Der Fürst war ein abgesagter Feind jeder ernsthaften
Tätigkeit, unreif, toll und kolossal sexuell. Die den Senatoren vorbehal¬
tenen Ämter wurden von ihm ohne Berücksichtigung der Qualifikation
an Freigelassene vergeben.
Parsenow: Der Kaiser war ein Homosexueller, ein orientalischer
Lustknabe und fanatischer Priester eines durch orgiastische Kulte ver¬
ehrten Gottes, ließ sich beschneiden und wollte sich kastrieren lassen.
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Die Kaiser Domitian, Couuuodus, Oaracalla und Elagabal naw. 281
Mit iämm SWayen lebte ei in förmlicher Bhe.j& ei* yon diesem yer-
migvlt wurde.
Werten«:' Mit 1$Lähm» wurde Eiägaba» Hermener, üppige Schwel-
cem and frecher Ühemut charakterisiert^ ityfe 4 ,];d>re hi-di e? sieii.
Seide Mutier und Großmutter führten hauptsächlich das Höghsspi. ,
Webet ?Öer Fürst “War der Sohn der Soäitti«,; der verwi tyreteh;T<JCht e.r
•1er .iidia Maesa. der Schwester llomnas. Sei einer Schlacht gegen Mmrums
t^gte er Mut und stürmte in die Schl&ehtmheL VV., ftennt den Erneuer
Krdt grausam. Blagaböl üe$Große dys.Staates hinH<Tltefl.. \
Hertzberg spricht von der Blutgier und Bo«ehfdtiklfie«t des Kaiser«»'.
tfroßmuHferMitgtedern de? Rdi^raiesveidtahntv
Hatte- Commodus den Reigen . derjenigen Cäsaren -eröffn»!, die den
Vtyiiüi des Römischen Ryirhes nhiyersehtdttetfhi sei taten Caraealia und
liiugabat das übrige da?.«, mn die Wirrnisse auf« höchste zu steigern
hnildeto 'IGedergang tu war
• ( Mh -fast ein Knabf. ab er den Thron bestieg,und knabenhaft blich- an
%( ältes bis zu seiher Brtburdung, obgleich'er «ich 4 «fahre lang auf dem
i( hwankaudor» und hhdbesu-deitrjfi Sevemcfu-n Thron hielt. Mil ' einem
dtnlichett ’religiös!*"yd«. ; später ;'d*e -.«IvhKfcatt- von Orleans,,
wlnnte ilJis ruiiizttdhy Kvirrf 1« eiher Sfchtabht tresren Mav.ririus Tnii «nuten
heilt* Begeisterung, ln türn, angcdaugl. 'bhfrug - &r sich in ganz schäm-
ic«r Weise, indem er ein ehrloses afxuellt'S Lehen führte, den hierher
b^öanzten, grausamen* orgiasüseh»*»;,‘asiatischem Knlt ausübte,' dabei
W ländischer Weise .verkehrt vor dem heiligen,Wagen einher tänzelnd, den
•Hedrigsteii ,Leuten die höchsten SföaisjimtOr übertrug und, da; er wohl
¥ «isalt, daß dwM&tn ßehtrfiren-.4ikfe4hdhbgen auÄgesetzt sein wurde,,,
die ÖrnÖeb de« Staates, ih denen der EjiteTsüchUge Nebenfoühler
uttcrie, m*i ..ist» Schwert wühlte. Er brachte dabei das Reuh in eine
'krise. und zeigte, daß er zu keiner »-rnsthuften und guter» Handlung; fähig
was seinen S y h W a c h st t» n verrät. Dieser war natürUch a rt g >
horepu dai.kehre Psychose nachzuweisen ist, die sonst yorausgegangge
-m müßte. Wenn Biagabal hochstehende Männer infam'tu''behänd-‘'i-
gFiegte.- so war d:äs>d«Ü ikusflriß schwäthsiuiiiger Qrhßfe»mleeh dieses J»e
'‘Utt er rächt*, da er bei seinem -schamlos».-!.
. . kebeiv das Schwert gegen .sich gerichtet fühlte; - bofshd ■■$*•#«&,. wie.
'W«l'.Doi|»il^t'.iü ii»s# letiteri «Seit, in der Lage, sieinen Titron durrfi eth
^ckrert»!ii«re^t^e^T''^.i6iV. ati- rofissen.' . ./V.- 5 -«v
Ober die «irrt tige Pragn, oh .EJagahal Caracnilas Sohn war, y;fe
Eilige Oe<syliis-hfochriejbt;r miWeilbn/ werde »Eh an anderer .Stelle a£hv_.
i')«tiicjf berichten. Hier. wUl.tct« h möglichst nicht mit V^rmiifunfc;
Stessen,; sondern Beweise hetepr». Man kjOhhintfr:- ihir' ^örhalteh;' •ineü:«»;.
Go> -gle
282
Müller,
Cäsarendiagnosen seien auch bloß Vermutungen. Das ist aber
deshalb nicht richtig, weil man den Stoff, der in den Hauptsachen fest¬
steht, doch so gut kennt, daß er als ausreichend zur Grundlage wissen¬
schaftlicher Arbeiten bezeichnet werden muß.
Die Bildnisse des Kaisers zeigen eine etwas niedrige Stirn bei kleinem
Kopf und verraten Beschränktheit, Sinnlichkeit und einen Zug von
Kälte und Brutalität.
Um ähnlicher Charakterzüge des weiteren zu gedenken, wem sollte
nicht beim Überlesen der Literatur Elagabals diejenige des Commodus
und Caligulas eingefallen sein? Mit diesen beiden teilte Elagabal die
schwachsinnigen Größenideen, die Grausamkeit, die konsensuelle und
konträre Sexualität und das völlige Versagen auf geistigem Gebiet und
dem ernsthafter Tätigkeit.
Bezeichnend für die Cäsaren, die an angeborenem Schwachsinn
litten, ist der Umstand, daß Einzelheiten ihres Lebens in der Überlieferung
märchenhaft getrübt erscheinen, wie wir dies von den Berichten über
Commodus, Elagabal und Caligula wahrnehmen; das rührt daher, daß
diese Fürsten zum Teil so Unglaubliches und Unsinniges taten, daß sich
die Phantasie der Zeitgenossen ganz unwillkürlich in den Dienst der Be¬
trachtung stellte und Einzelheiten hinzugedichtet oder übertrieben wurden.
Die bei diesen Kaisern besonders in die Erscheinung tretende Prachtent¬
faltung hatte die Phantasie schon von vornherein angeregt. Daraus
folgt andererseits wieder, daß die Annahme einer Imbezillität bei diesen
Herrschern viel für sich hat. Eine andere Form des Schwachsinns, als
die des angeborenen, ist bei keinem der römischen Cäsaren bis auf Romulus
Augustulus anzutreffen, ich habe die Literatur daraufhin nachgesehen.
An Cäsarenwahnsinn litten Commodus und Elagabal nicht, wie ich nach-
gewiesen habe, da keine auf den angeborenen Schwachsinn aufgepflanzte
Psychose nachgewiesen werden kann und schwachsinnige Größenideen
nicht selten bei Imbezillen anzutreflen sind, also keine Psychose an und
für sich anzuzeigen brauchen.
Um die Frage des Cäsarenwahnsinns völlig zu klären, will ich
nun noch einmal auf die betreffenden Herrscher des Julisch-Claudischen
Hauses eingehen.
Tiberius war ein auffallender Charakter, nicht degeneriert — dazu
reichen die dafür von Parsenow ins Feld geführten Symptome nicht aus —
und nicht geisteskrank, wie ich bewiesen habe. An Größenideen litt er
auch nicht, denn er wies sogar übertriebene Ehren zurück. Er kommt
demnach für die Diagnose Cäsarenwahnsinn nicht in Betracht.
Caligula litt an angeborenem Schwachsinn, wie ich gezeigt habe.
Die bei ihm in die Erscheinung getretenen Größenideen sind schwach¬
sinnige Größenideen eines Imbezillen, aber milder zu beurteilen, weil
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Die KaUet Domitian, Commodus, Cäraculi« und El&gabai usw. 283
■inero Hausse «iii göttlicher Ursprung dachgttsagt; wurde. Seine schlechte»!
ßigenssehafters wtiideft durch de» CäShrismus insofern gesteigert, ufe er,
• Mehl auf den Timmgelangt, eine harmlosere Rolle würde gespielt haben'
ü-st ßroporkommen zur- Macht gab aber dem Schvmchkopi Gelegenheit,
in jeder Weise zu mißbrauchen. Da er infolge sei.net* erbärmliche»
Iptpetens verfolgt wurde, bewegten sich seine Gedankt*^ aaUirheher-
weise in soiehbh Ödböeu'. Bind eigentliche, atti dei» Grund des &bhwacJi~
bjfms en^andisu.e'.'.^^ehdsd'' Mn» hber dicht konstelierf werden. Für
••' machen.
Was Claudius bvdrDTf ; so habe sch dbrgeten, ;Dß er euv Entarteter
«v„ An Grotieuidocri litt er nicht, denn er wies übertriebene Ehreri zti-
v. an Yerfolgurtgswahti auch sucht, denn m wurden ihm wuddieh !Si«eh-
••‘••i'.ungtrt bereitet. Yoü Wahnsinn findet sich also nichts bei dim, F'rei-
erfuhren seine sc-bleeJircn Eigenschaften-, die er infolge seittf-r Gui-
'•‘hnsg hatte, dareti den Casarisnius eine Vergrößerung; denn, bevor -«•
k'fdeu Thtoh gelangte,* wbr er ein narmlosör Mobsch. Diesd; Eifehjs?.hsitei-t
''ascii.tVilierisaclivväche, Furchtsamkeit und zu Grausamkeit neigender
Ktro iibevschatäte sieh,. weiche Chai-aktereigentüiultehlccij jedoch
hiteidepgesetzt habe, El« auf Grund mbey.. degewerativje« Änutge .bitte-
■bbb *ien Cäsartam us gesteigbet wurdgtb da. tir bkllitts war. VnüUeintt t&äcb t
ü. ^:ksichtslob£*i’ W^i&ö g^frueHte; ^are ep nicht «ir ilerr.9ch»ftegi i lah§!i;,
«iaht* er wie seine vaterte hon Vorfahre* auch:. auf gef (dkm, aber nicht
«wnichtend aufgtslrelon sein.
• #. i. : i'. _•!••.•'•••••. I-ft-' T\ . ...
'tter nicht. schlage ich a&deWfabtia fht dficjtdiigbfl, hei dciten ich
keinen Wahnsinn, jedoch Svhw&chtsiim bzw. Entartung fcststtdlcn
konnte, die BCÄ«lclinhiigeö CsU & reu s o h w a c Iv s in « und
1 ;; *» t i? v. e ß t.a t t « n g vor. Mit- CäsarcnschwachMuti im : ; wie
^ meiirer Öyj^teUüeg hcmrgehf, aiigehoreiier Schwachsihii praeiiif.
Oiesegr Ausdruck soll, wir* €l@arem ntÄrtiiiig, auch feit) angeböXcJi^T
Zustand sage», dail auch dies»? beulen .psychischen . Abweidtet^te
'“fuieii- eiae. besondere- Tvote durch des C^raiii evjhaitcii, wie ich
das an Caiigaku Coruaiodh? und Eiagabal jcißyrseitä iind Clainiid^
öad .Kern athteret?öitS' • fd-f&hs«# Aifte
Haudhuigoii bei mit, CvSsaf^tisc-hwuilfsifut iimt •'. . !•« ;-
«IBSPrij
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284
Müller,
Befallenen eine Steigerung nach der schlechten Seite hin und ent¬
sprechend der verschiedenen Schwere dieser Abnormitäten beim
Cäsarenschwachsinn in stärkerem Maße. Für Commodus und Elagabal
gilt darum dasselbe wie für Caligula, weil erstere, nicht auf den Thron
gelangt, nie hätten so verderblich auftreten können. Somit hat
Gregorovius zum Teil recht, wenn er von Caligula und Nero sagt:
„Diesen Menschen warf der Zufall eines Tages die Welt zu Füßen,
und darüber wurden sie sinnlos,“ er unterläßt aber zu bemerken, daß
die an den angezogenen Persönlichkeiten beobachteten starken Über¬
schreitungen nur durch eine psychisch abnorme Anlage, Schwach¬
sinn bzw. Entartung, erklärt werden können.
Wenn Schiller bei Caligula jede geistige Störung verneint, indem er
äußert: „Schon die Alten haben Gaius für geistesgestört gehalten, und die
neuere Medizin (Wiedemeister) hat dies Urteil wiederholt. Aber eine ge¬
nauere Untersuchung vermag dasselbe nicht zu bestätigen“, so zeigt er
nur, daß er nicht psychiatrisch zu denken vermag. — Mommsen hat
Caligula anders und richtig beurteilt. — Aus dem Schillerschen Satz folgt
gerade, daß der Psychiater berufen ist, da an der Seite des Historikers
zu arbeiten, wo sich’s um Grenzfälle vom Gesunden zum Anomalen
handelt, weil dem Psychiater bei der Beurteilung der Handlungen nicht
nur rein menschliche, sondern auch naturwissenschaftliche Gründe ge¬
läufig sind.
Es handelt sich bei der Betrachtung über Cäsarenwahnsinn oder
keinen Wahnsinn nicht bloß um eine Wortklauberei, die ich sonst ruhig
zugeben würde, sondern es ist wichtig, ob in dem betreffenden Fall eine
den Handelnden beeinflussende erworbene Psychose, also Wahnsinn,
oder ob Entartung vorliegt. In letzterem Falle wissen doch die Handelnden,
was sie tun, wenn sie auch zeitweise, wie viele Menschen, impulsiv sind.
Dagegen der Cäsarenschwachsinn und der Cäsarenwahnsinn sind in der
Hinsicht auf eine Stufe zu stellen, als die damit behafteten Persönlich¬
keiten öfter ohne Überlegung handeln.
Da ich bei Durchsicht der Literatur der antiken römischen Kaiser¬
zeit noch einige Cäsaren vorfand, bei denen an die Diagnose Cäsaren¬
wahnsinn gedacht werden könnte, will ich kurz auch auf sie eingehen.
Maximinus Thrax war ein roher, ungebildeter Soldaten¬
kaiser und Emporkömmling, der mordete, weil er, wie Tiberius, vom
Senat die heftigste Opposition erfuhr; er war ein auffallender Charakter,
aber nicht entartet oder geisteskrank — wie mit Sicherheit aus der gut
bekannten Lebensgeschichte geschlossen werden kann — scheidet also
wie Tiberius aus der Besprechung aus.
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Die Kaiser Domitian, Coaimüdn«, Caracalla und Elagahal usvs?. 285
düit®
mindewet-tyf; diese Am>«buic liegt um so näher, als er ans Herrsch ■
an lu. Kachsiidit um! ^ersöuilcher •.Eitelkeit, 4Ai hhitan-
al?eu<S, den unsinnigen Und tenfliseiieu pivm ersann, den boc.Htedeülöudeu
Kaiser Odeaath beiseite %\t schuften, Kirht emmal ein Caiigula odec Nero
vergift steh an. dem cögiere^de|> }terr^cber.
Der (’äsar C a r i n q « , Söbn des Kaisers Garusty nrar
aus Krt.sArf.ig veranlagte, Pmrttütehkert*', „er galt als testerb&H, date?-
l?^dlD4tig, rachsuchiig tmd grausam, so' daß »eh
■itUrda ^«» -Tretben rnehrtaeb än &4fp: erinnert fühlten, behändste den
V> De» 'f^b^r x e at i u g, Sohn des Maxirrtwn, b ernte >iertzfc*efg,
'•*> dem »«eil. die leisten Hinte sta rinnen, einem Wüstling. d*?,u. roh.
'.^ü%erig;^j|jS ‘^l^öjöi«0f^ ; night .allfftlmg? nach rfeijn.
t-r*>*i der Zeitgenossen dar Herrschaft sieh i.iu>gUi:hsi wenig «.viirdig. ?.eigte.
Bf war aber nicht unbegabt und bautest»#, deKmaeh «in Degenerierter.
Von Wsbrisido ist bä diesen Hemdierri nichts tu biirnerbeti, da-
tW* liegt bei Mäerüds ScUwÄchsinn v«r. ' ' ' f J <; •[ ■ .%.
Da es bä Butt. scÄ^id.geb'^riirgüft der i'^l^rdnäiu^doi^'b uhdd<?£
^Äiwfuriij^ai&inö tÄ|$ inwäle«, besonders bei der teiiyasäi Kurai: der Ute-
fdyriBg^ber!, ah/jedes Wort ankotmiitj habe ieh di« Literatur möglk'lisl
"ifjiii. angeführt, damit, det-Inhalt nidit enlsiält wrcl und ac an Bf*
^Hnti verliert. , '• . . 'Viy." ,v n;V •
-J ^ Beweis fiir mclrtt* Mötere Itehauptuitig unge-
■;:' Cfcaren
K shnaiaii psmani, verfftlteii. während das bei GeiBtdSgdsuiule-n uich t
d^r Fall ist, ftrbält .daraus, d.*ß Mi vciri alten Anhaltenden •—- Tjheriüs
'ifi'l Maximintte Tlirns. MMdrn 'ja au? — entweder Kuiariiiug (bei
1 -Mdiö»,' llöieitiab, CaracaÜa v Carib»? ufi<i Maxentiua) oder
^iiwac|»bwi (bei Caliguia, Conunodus, Elagabdl und Mäoiiioa) uach-
'<> xv?m habe. Bet Dumitiari und CaraeaU» stimmte ätilterdont: die
dte Öia^tKise ^äSÄttfüiWÄhnsraü, <ktf aber «fest auf öruiid der Ent¬
artung: «ltMefjea JiofldWi ich kaim alfc'h jetzt liiimä Ansicht dahin
|>räthK*rCTi, alle Awifalleuden müssen von Haus aus degeneriert .«der
{^wwhsinnig sein: Deni! alle w&fß ^ - h aMte bis aut
XttstÄnfL
Aiiiit verbeten ni‘
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Mül lei
Man sieht, wie fein ^Pj|iis^p| ; cles römischen Volkes war;,der Senat
ernannte, wenn er von vornherein die Entscheidung batte, nur Voll-
sinnige zu Hen:Behei^; #B ^^alfenden waren teils Söhne von Cäsaren
Cäsaren eh ta r l u 4g \ a i tgchofeh I’
Claudius
{Nach Abhinlnagoii der ti Photogr. OeseHsoh.» A.. -G., «Berlin-Steght?).
Cäsaren Wahnsinn {ö^verhefd auf der Basis der iSntitTtunig
Camroila,
Domitian
(Nach AhhÜdiiitgcn Oer Nonen JPliologr. Gallisch., A G. . Berlin-Steglitz).
(Domitian. Cununodu», CWanaha,. Carin ns und Maxentme i oder. wie
Claudius ISero, Elngnbal and M-äonios Verwandte von solchen und
C.o gle
Df«? Kais«? fMWEwiaii, CoaiwiduS; Catae£l)A lind Ettigitbai usw. 287
efi»taldoiY *?iek ätstr rfdkejnbar chnrah ihre Abktmif,. oder wurden
%6m Vorsager fcnr bestimmt Ikkätmt ist, wie
OiaüiBüs älf? Kaiser anzuerkennen, nod wie- ihm zumute
vl\ * - , ♦ * . - »^ - ! > V. : - vi * ‘ . i ] *
MM-
tefötolß»,
288 Möller, Die Kaiser Domitian, Commodns, Caracalla and Elagabal usw.
die Porträts der meisten auffallenden Cäsaren bei; die seltenen der
Kaiser Carinus, Maxentius und Mäonios konnte ich leider nicht be¬
kommen.
Die von uns eigentlich, aber nur an der Hand weniger schlechter
Herrscher betrachtete Geschichtsepoche enthält, das dürfen wir nicht
vergessen, den größten Glanz der römischen Kaiserzeit, ich brauche
nur an zwei Namen, Trajan und Marc Aurel, zu erinnern. Das mußte
zum Schluß gesagt werden, um nicht aus dem Vorhergehenden falsche
Schlüsse entstehen zu lassen. Ich wollte im Gegenteil zeigen, daß die
betreffenden vier Regenten infolge ihrer geistigen Gebrechen eine
mildere Beurteilung verdienen und so die ganze Zeit, die allerdings
den Fehler beging, sich solche Herren solange gefallen zu lassen.
Die Größe der römischen Kaiserzeit muß trotz aller anhaftenden
Mängel richtig gewürdigt werden. Die neuerdings auftretende Geistes-
richtung, der Antike über die Achsel weg zu sehen und von der modernen
Wissenschaft und Technik alles zu erwarten, kann nur zur Verflachung
der Bildung führen.
Literatur.
Suetonius, Lebensbeschreibung der 12 ersten römischen Kaiser.
Herodian, Geschichte des Kaisertums seit dem Tode des Marcus.
Dio-Zonaras, Römische Geschichte.
Scriptores historiae Augustae (Spartianus, Lampridius).
Sextus Aurelius Victor, Kaisergeschichte.
Mommsen, Römische Geschichte, die Provinzen von Caesar bis Diocletian.
Schüler, Geschichte der römischen Kaiserzeit,
v. Domaszewski, Geschichte der römischen Kaiser.
Hertzberg, Geschichte des römischen Kaiserreichs,
v. Ranke, Das altrömische Kaisertum, mit kritischen Erörterungen zur
alten Geschichte.
Weber, Geschichte des römischen Kaiserreichs, der Völkerwanderung und
der neuen Staatenbildungen.
Parsenow, Cäsarenwahnsinn und Blutrausch.
Mertens, Weltgeschichte.
Imhof, Titus Flavius, Domitianus.
GseU, Essai sur le rfcgne de l’empereur Domitian.
Duviquet, Höliogabale, racontö par les historiens grecs et latins.
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Das Irren- und Siechenhaus Pforzheim und seine
Ärzte 1 ).
Von
Dr. W. Stemmer in Stuttgart, Marienhospital.
Bei der Ausführung des Beschlusses, das Pforzheimer Haus zur
allgemeinen Landesanstalt für Irre und Sieche zu machen, war man
in erster Linie auf das Wohl der Geisteskranken bedacht, schon des¬
halb, weil diese an Zahl den größeren Teil der zu Versorgenden aus-
machten. In den vorausgegangenen Kriegszeiten hatten ihre Interessen
innerhalb der zusammengesetzten Anstalt ziemlich zurücktreten
müssen; man war schließlich froh gewesen, wenn man auf gute Art
mit den Züchtlingen fertig wurde, deren Zahl sich auch durch Massen¬
begnadigungen immer nur auf kurze Zeit hatte einschränken lassen.
Dazu kam, daß der Anstaltsarzt, Dr. Gysser, welcher nunmehr seit
30 Jahren seines Amtes waltete, immer häufiger durch seine überhand¬
nehmenden anderen Berufsgeschäfte und durch gelegentliche Erkran¬
kung verhindert wurde, sich eingehender mit den Geisteskranken zu
befassen. So benützte die Regierung die anläßlich der Einschränkung
der Zwecke der Anstalt gebotene Gelegenheit zu der Verfügung,
„wonach künftighin dem Hofrat Gysser gegen Fortbeziehung seines
bisher für die medizinische Besorgung des Zucht- und Irrenhauses
bezogenen Gehalts die Besorgung des bei diesem Institut angestellten
Hauspersonale allein, dem Dr. Roller aber die Besorgung der erst
durch die jetzt neue Einrichtung dahin hauptsächlich kommenden
Irren und Korrigenden allein gegen Bezug von 150 G. nebst der Ex-
pectanz auf das von dem Hofrat Gysser bezogen werdende Gehalt
auf den Fall seines Abgangs übertragen werden solle.“ Gysser fand
diesen Erlaß, welcher zugleich „einen Wink auf das wichtige Memento
*) Vgl. diese Zeitschrift 19i3 Heft III u. IV, S. 432—473.
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290
Stemmer,
mori“ für Um enthalte, nicht klar genug gehalten, und erbat sich Aus¬
kunft über verschiedene Zweifel Roller sollte sich dazu äußern und
tat dies in sehr entgegenkommender Weise: „Vorerst würde ich,
wenn es auf keine andere Art geschehen könnte, gerne auf die An¬
wartschaft des dem Herrn Hofrath Gysser gebliebenen Gehalts Ver¬
zicht leisten, weü ihn solches zu kränken scheint“; dieser versöhnliche
Anfang bezeichnet die Grundstimmung seines Schreibens. Trotzdem
fehlte der Boden für ein geeignetes Zusammenwirken der beiden
Männer; die im Sturm der Kriege zerflatterte Tradition wurde nie
an Roller übermittelt: die Darlegungen Jägerschmids ruhten im Staub
der Akten, der Chirurgus Schmidt war erst seit 1799 im Dienst und
hatte die besseren Zeiten nie gesehen, und Rechnungsrat Eisenlohr,
seit 1780 Anstaltsverwalter, hatte seinen Wirkungskreis mehr bei den
Züchtlingen als auf seiten der Irrenpflege gehabt. So war Roller
als Irrenarzt auf sich selbst gestellt. Zum Erwerb lebendiger Erfahrung
hatte er nur einmal vorher kurze Gelegenheit gehabt bei einer fünf¬
wöchigen Vertretung seines Vorgängers im Jahre 1798. Aus der
Literatur hat er vor allem Reüs x ) mit großer Begeisterung geschrie¬
benes Werk gekannt und sich danach zu richten gesucht, soweit
dies die beschränkten Verhältnisse gestatteten. Während in den
vielen Akten bis 1804 sich nirgends ein Buch zitiert findet und sich
kaum ein Zeichen eines Wirksamwerdens fremder Einflüsse spüren
läßt, spiegelt sich von nun an das beginnende Fühlungnehmen der
verschiedenen an der Ausgestaltung des Anstaltswesens beteiligten
Kräfte in der Geschichte des Pforzheimer Hauses wieder; es beginnt
die Ausbildung des Einheitlichen und Typischen, wofür das eigent¬
liche Fundament Christian Friedrich Roller legen sollte, der als Sohn
des Obengenannten einen Teil seiner Jugendjahre in Pforzheims
Mauern verbracht hatte.
Der Vater Roller, Johann Christian *), ist in Pforzheim am 27. August
1773 geboren. Nachdem er im dortigen Pädagogium den ersten Unter¬
richt erhalten hatte, bezog er in Stuttgart die hohe Karlsschule, wo er
Schillers freigewordenen Platz einnehmen durfte. Nach Erledigung der
*) Joh. Chr. Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen
Kurmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803.
*) D. D. 1459, 1884 und Illenauer Akten. Vgl. v. Weech, Bad.
Biographien, Nachtrag. Karlsruhe 1881. Einige Mitteilungen verdanke
ich der Liebenswürdigkeit von Herrn Prof. Dr. Roller in Karlsruhe.
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häH SiechßnliiUts Pforzheim and seine Ärzte- 2S>1
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292
Stemmer,
am 10. August 1813 von einem Schlaganfall weggerafft *); Roller scheint
auf seine Nachfolge die besten Aussichten gehabt zu haben, da ereilte
ihn am 20. April 1814 der Tod, bei einer Typhusepidemie war er in Aus¬
übung seines Berufs angesteckt worden. Der bei einer Pension von
202 G. 57 Kr. in ziemlich bedrängter Lage zurückgebliebenen Familie
wandte sich allgemeine, nicht nur ideelle, sondern auch materiell hilfs¬
bereite Teilnahme zu *).
Roller war nicht Direktor der Anstalt, sondern nur ein Mitglied
des Vorstandes; zu diesem gehörten außer ihm die zwei protestan¬
tischen Diakonen und der katholische Geistliche Pforzheims, ferner
der Chirurg — 1806 folgte Osiander auf den letzten der Schmidt —
und der Verwalter, welchem seit 1806 ein Buchhalter beigegeben war.
Die Verwalterstelle ging nach Eisenlohn Tode an Dennig über. Eine
scharfe Abgrenzung der Obliegenheiten dieser verschiedenen Per¬
sonen fand nicht statt, sie sollten sich wechselseitig zur Erreichung
des gemeinsamen Zwecks unterstützen — man hört Reih Stimme
in dieser mangelnden Bestimmtheit. Roller fand, daß in der Anstalt
viel gearbeitet würde, aber ohne rechte Einheit*); zur Behebung
dieses Übelstandes führte er regelmäßige „Konferenzen“ der Vor¬
standsmitglieder ein, deren Protokolle 4 ) wertvollen Aufschluß über
so ziemlich alle Verhältnisse der Anstalt bieten. Rollers Per¬
sönlichkeit scheint in ärztlichen Dingen sich immer durchgesetzt zu
haben. Eines seiner größten Verdienste ist die Einführung eines
einheitlichen Fragebogens, welcher der Mangelhaftigkeit der meisten
Anamnesen abhelfen sollte und durch Erlaß des Ministeriums 1810
allgemein vorgeschrieben wurde 6 ). Diese „Nachricht von den Geist-
*) M. A. 1889. Sein Nachfolger wurde Dr. Wenz, welchem 1816
der Oberarzt vom Großh. leichten Inf.-Batt. Dr. Müller, der nachmalige
Arzt der Siechen- und später der Filialirrenanstalt und schließlich Direktor
der Heil- und Pflegeanstalt, als Physikatsassistenzarzt beigegeben wurde.
M. A. 1888.
*) R. Gertvig, Aus der Zeit vor 100 Jahren. Pforzheimer Anzeiger
1913, Beilage zu Nr. 70, 71, 72 u. 74.
*) J. A. 1458.
4 ) Erhalten sind die Jahrgänge 1810, 1814, 1815, 1818, 1819, 1824
und ein Teil von 1825.
s ) Im Kurbad. Regierungsblatt vom 4. Febr. 1806 ist schon ein ganz
ähnliches Schema auf Rollers Vorschlag verordnet worden; der allgemeine
Eingang in die Praxis erfolgte aber erst mit Einführung des Formulars.
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Das Irren- und Siechenhaus Pforzheim und seine Ärzte. 293
liehen und Medizinalbeamten über die ins Irren- und Siechenhaus
abzuliefernde Kranke“ zeigt folgenden Vordruck:
1. Eltern, derselben Religion, Stand, beiderseitiger Charakter,
Familienanlage zur nämlichen Krankheit, Alter. 2. Erziehung und
Lebensweise in späteren Jahren. 3. Kinderkrankheiten und spätere
Krankheiten. 4. Geisteskräfte überhaupt, und herrschende Neigungen
und Leidenschaften im gesunden Zustand. 5. Beschäftigung und Er¬
werbszweig. 6. Ehestand, häusliche Verhältnisse, Mangel oder übeiv,
fluß, Verschwendung oder Geiz. 7. Erste Äußerung der Geisteskrankheit,
mutmaßliche oder gewisse Ursachen derselben, plötzlich oder durch
Schrecken, oder langsam durch Kummer, unglückliche Liebe-usw.
8. Beschreibung der Krankheit selbst, des Blödsinns, der leichten Ver¬
wirrung, der Melancholie, und vorzüglich der fixen Ideen, der Raserei,
der Übergang einer dieser Krankheiten in die andere — die ruhigen
Zwischenzeiten und ihre Dauer. 9. Die vorgenommenen Kurmethoden
und ihre Wirkung.
Dieses recht brauchbare Formular blieb mit geringen Ände¬
rungen auf lange hinaus in Verwendung; es wurde mitbenutzt bei
Aufstellung der jährlichen Berichte und Tabellen; welche die Auf¬
sichtsbehörde nach Einsichtnahme wieder zurückgehen ließ, da Roller
sie zu einer zusammenfassenden Statistik verwerten wollte: „wenn
noch mehrere solcher Resultate gezogen sind, so lassen sich wieder
allgemeinere abstrahieren, und in der Folge ganz bestimmte Data
dem Arzt und Psychologen mitteilen, und dann wird eine öffentliche
Bekanntmachung erst von Nutzen sein.“ Roller wurde durch den
Tod an der Ausführung seines Planes gehindert; einige Zahlen bringt
er in seinem „Ersten Versuch einer Beschreibung der Stadt Pforz¬
heim, mit besonderer Beziehung auf das physische Wohl seiner
Bewohner“ 1 ). Dieses Buch enthält eine eingehende Beschreibung.
x ) Pforzheim 181t. {Vgl. darüber Fischer, Die Entwicklung des
Bauwesens der Irrenanstalten, in dieser Zeitschrift 1913, Heft III u. IV,
S. 485.) Die von Roller in den statistischen Beilagen angegebenen Zahlen
decken sich mit denen der bei den Akten befindlichen Tabellen; ihre
Richtigkeit läßt sich außerdem durch die Krankengeschichten der in den
Tabellen namentlich angeführten Patienten belegen. In der „Statistik
der Heil- und Pflegeanstalt lllenau, Karlsruhe, 1866“, sind in Tabelle II
Blatt 1, 4 u. 5, Zahlen über Pforzheim von 1802 ab gegeben; diese decken
sich mit den obengenannten nicht und sind offenbar falsch; so müßte
doch z. B. im Jahre 1804 der Zuwachs von Mannheim her erkennbar sein.
Worauf die letztgenannte Statistik sich stützt, war nicht zu ermitteln.
20 *
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294
Stemmer,
der Anstalt und bildet einen schätzenswerten Beitrag zur Geschichte
der Städtehygiene wie auch des Anstaltwesens; es zeigt Roller als
einen mit ungetrübtem Blick schauenden Beobachter, der am Ge¬
deihen seiner Vaterstadt lebhaften Anteil nimmt und vor der Auf¬
deckung von Schäden und der Büge von Mißständen nicht zurück¬
schreckt. Andere wissenschaftliche Arbeiten hat er nicht veröffent¬
licht; dagegen war er Kedakteur der Pforzheimer „Wöchentlichen
Nachrichten“. Der nüchterne Ton eines Nachrichtenblattes jener
Zeit gibt dem Leiter keine Gelegenheit, den Leser eine eigene Note
fühlen zu lassen, so daß wir uns vergeblich bemühen, auf diesem Wege
näheres über seine Persönlichkeit zu erfahren. Dennoch blieb Roller
von den Unannehmlichkeiten, welche die Führung einer unabhän¬
gigen Presse für einen Staatsbeamten haben kann, nicht verschont:
die wahrheitsgetreue Mitteilung 1 ) eines für die beteiligten Organe
peinlichen Vorfalls wurde ihm schwer verübelt: Ein auswärtiger Pa¬
tient wurde in todkrankem Zustand durch die Stadt transportiert
und starb wenige Minuten nach der Ankunft in der Anstalt; der
geleitende Hatschier zeigte zu seiner Bechtfertigung die ordnungs¬
gemäße Transportfähigkeitsbescheinigung des Physikus der letzten
Amtsstadt vor. Später stellte es sich heraus, daß der Arzt das Zeugnis
ausgestellt hatte, ohne den Kranken gesehen zu haben.
Die Vorgesetzte Behörde, welcher die Anstalt unterstellt war,
bildete bis 1805 die Arbeitshausgeneralkommission, dann die Staats¬
anstaltenkommission, und von 1810 ab das Ministerium des Innern.
Dabei gehörte jedesmal die Irrenanstalt zur selben Abteilung wie die
aus dem gemeinsamen Stamm mitentsprungenen Strafvollzugs-
. anstalten. So wurden im Jahre 1806 sämtliche hierher gehörigen
Anstalten von Dr. Gail — der berühmte Phrenologe ist von Geburt
Badener — und Dr. Holzmann gemeinsam besucht *). Gail unterschied
x ) Wöchentl. Nachrichten 1812, St. 7.
z ) G. L. A., Repositur des Großh. Minist, des Innern. IV, 1, Zwangs¬
anstalt. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich nur in dem von
Joh. Heinr. Kopp herausgegebenen Jahrbuch der Staatsarzneikunde,
Bd 1, Frankfurt a. M. 1808, eine kurze Mitteilung über die vollzogene
Besichtigung. Die Allg. Zeitung bringt in Beilage Nr. 21, 1807, einen
Schriftwechsel zwischen Gail und einem „großh. badenschen Geschäfts¬
mann“ über diese Angelegenheit. Die von letzterem wiedergegebenen
Anschauungen decken sich so sehr mit denen von Reinhard, daß man
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Das Irren* and Siechenhaas Pforzheim und seine Ärzte.
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bei den Verbrechern zwei Klassen der Moralität, die schlimmen, bei
denen bloß die Sicherheit des Staates als Hauptzweck der Strafe
anzusehen sei, und die andern, jene, bei denen man ihren Umständen
nach noch Besserung neben der Sicherheit des Staates als Zweck
betrachten könnte. Zur zweiten Reihe gehörten diejenigen, welche sich
für die Pforzheimer Korrektionsabteilung eigneten. Für das Irren¬
wesen schlug Gail vor, die Unheilbaren in Pforzheim zu belassen,
und für die im ganzen Lande befindlichen Heilbaren in Freiburg ein
Tollhaus zu errichten, „wo sie nicht nur einen gesunden Aufenthalt
finden, sondern auch für die medizinische Fakultät von äußerster
Wichtigkeit sein würden“. Dem entgegen hielt Geheimrat Reinhard
von der Staatsanstaltenkommission die Trennung auch innerhalb
der Pforzheimer Anstalt für durchführbar; die Verlegung nach Frei¬
burg möge zwar der Fakultät nützen, aber den Interessen der Kranken
wenig entsprechen, die dort gewiß häufiger durch Besuche gestört
würden, als ihrer Heilung zuträglich wäre. Die Kranken bedürften
eher ländlicher Ruhe, und man könnte daher eher an eine Verlegung
in eines der aufgehobenen Klöster denken. Reinhards Ansehen und
der Geldmangel des Staates, welcher jede eingreifendere Änderung
verbot, überwanden Gatts Vorschläge; es wurde nur die Trennung der
Heilbaren von den Unheilbaren innerhalb der Anstalt beschlossen.
Die Verhältnisse wurden dadurch ungeheuer verwickelt; man hatte
vorher schon kaum den nötigen Raum gehabt, um Irren und Sieche,
und unter diesen wieder Männer und Frauen, genügend auseinander-
ihn wohl als Verfasser vermuten darf. Galla Schilderungen von Pforzheim
sind offenbar übertrieben; bemerkenswert sind seine folgenden Ausfüh¬
rungen: „Die Geistes- und Gemütskrankheiten können nicht als isolierte
Übel außer dem Zusammenhang mit der übrigen kranken Natur be¬
trachtet werden. Es wäre daher nicht gut, wenn man den Irrenarzt einzig
aufs Irrenhaus einschränken wollte. Hoffentlich wird es niemals so be¬
völkert sein, daß es einen geübten Mann, auch selbst dann, wenn er einen
Unterricht damit verbände, ganz beschäftigen könnte. Auch wird das
Publikum in ähnlichen Fällen sein Vertrauen vorzüglich auf den Irren¬
arzt setzen. Nur eine zahlreiche Praxis erhält den Arzt in Übung, und setzt
ihn in den Stand die Natur der einreißenden Seuchen, den Einfluß der
Jahreszeiten und der Witterung, Dinge, welche den Charakter aller Krank¬
heiten, folglich auch den Charakter der Geistes- und Gemütskrank¬
heiten modifizieren, kennen zu lernen.“
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Stemmer.
halten zu können. Der durch die Einbeziehung des Uhrenfabrik¬
gebäudes gewonnene räumliche Zuwachs war durch neue Vermehrung
der Patienten rasch aufgezehrt, indem mit der wiederholten Ver¬
größerung Badens auch die neuen Gebietsteile immer ausgedehnter
die Anstalt in Anspruch nahmen.
Die mit der Anstalt verbundene Korrektionsabteilung wurde
1808 aufgehoben und die Insassen, welche meist Vagantentum oder
liederlicher Lebenswandel hereingeführt hatte, nach Bruchsal verlegt.
Doch behielt die Begierung nicht immer gleiche Achtung vor dem
nunmehr ausschließlichen Zweck der Anstalt und brachte später noch
einige Male Rechtsbrecher aus höheren Ständen detentionis loco dort
unter.
Die Aufnahmebestimmungen der Anstalt waren 1803 dahin
ergänzt worden, daß auch Blödsinnige nicht zurückgewiesen werden
durften; doch suchte man schon aus Platzmangel möglichst dem zu
steuern, daß „die Gemeindevorsteher jeden auch nur ein wenig blöd¬
sinnigen Menschen nach Pforzheim abschieben wollten“. Bei seinem
Dienstantritt fand Roller als eigentlich maßgebend die durch viele
Zusätze unübersichtlich gewordenen Anweisungen des Büchleins
von 1759*) vor; diese wurden jedoch schon im folgenden Jahre durch
neue Instruktionen ersetzt, welche er selbst im Auftrag der Behörde
entworfen hatte. Die neuen Ordnungen 2 ) atmen einen durchaus
praktischen Geist; sie streben weder über das gleichzeitige Mittelmaß
hinaus noch steigen sie hinab zu manchen damaligen Übertreibungen.
Roller drang vor allem auf ein zuverlässiges, an Zahl ausreichendes
Wartepersonal; doch wurden seine Ansprüche namentlich in Be¬
ziehung auf die Menge nicht voll befriedigt. Grobe Verstöße wurden
selten gemeldet und immer gebührend bestraft; doch gibt schon die
Tatsache zu Bedenken Anlaß, daß ein Teil der Wärter aus dem früheren
Zuchthauspersonale hervorging. Roller verlangte von den Wärtern
ein „wohlanständiges, nüchternes Leben und Hingabe an den Dienst“.
Ein besonderer Erlaß der Regierung machte alle Angestellten des
Hauses nachdrücklich auf die Pflicht der Verschwiegenheit auf¬
merksam.
Um das Wohl der Kranken war Roller aufrichtig besorgt, und
*) Umständliche Nachricht usw., s. a. a. O.
*) J. A. 1465.
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Das Irren- and Siechenhaus Pforzheim und seine Ärzte. 297
er fand bei der Behörde, welche sich auch um Kleinigkeiten zu küm¬
mern pflegte, meist einiges Verständnis für seine Vorschläge und
Wünsche. Zur Zerstreuung dienten Spaziergänge und Unterhaltungs¬
abende, bei welchen die noch einigermaßen gesellschaftsfähigen Pfleg¬
linge zusammenkamen; auch eine kleine Bücherei war vorhanden.
Den daran gewöhnten Männern wurde Schnupftabak unentgeltlich
zur Verfügung gestellt; der Einführung dieses Genußmittels hatte
anfangs nur die eine Schwierigkeit entgegengestanden, daß die Re¬
gierung sich ungern entschloß, nun auch für jeden der Schnupfer
ein Taschentuch anzuschaffen. Auf Arbeit wurde großer Wert gelegt;
zum Teil konnte man die Leute nach ihrem erlernten Beruf beschäf¬
tigen; die übrigen wurden je nach Möglichkeit zu den im Betrieb
des Hauses notwendigen Verrichtungen herangezogen. Roller be¬
dauerte es sehr, von der Gartenarbeit so wenig Gebrauch machen
zu können, da der zur Anstalt gehörige Garten — das ehemalige
St. Georgenstift — zu weit von der Anstalt entfernt lag. Über seine
therapeutischen Grundsätze sollte sich Roller in einem „Tagebuch
über die rationelle Behandlung der Irren“ äußern, dessen Aufstellung
das Landespolizeidepartement des Ministeriums des Innern bei der
Geschäftsübernahme als Vorgesetzte Behörde verlangte. Er erklärte,
dem nicht nachkommen zu können: „Schon die Motive zur Behand¬
lung der physisch Kranken sind leider so unbestimmt und so wenig
Ärzte wissen immer, warum sie so und nicht anders handeln, daß es
für viele eine schwere Anforderung wäre, ihren Glauben desfalls zu
Papier zu bringen und höherer Prüfung vorzulegen, was in der Regel
auch nicht von Staatsärzten verlangt wird. Weit schwerer nun ist
die Behandlung der Geisteskranken, bei denen, wenn man auch noch
so materiell zu Werk gehen will, die Einwirkung auf die Psyche ein
Hauptmoment der Kur sein muß; aber diese Einwirkung ist gar oft
nur die Benutzung des Augenblicks, ein schneller Einfall, Erweckung
irgendeiner Leidenschaft usw. und dies alles ist so unbestimmt wie
möglich 1 ).“
Die Grundlage der in Pforzheim geübten Therapie war das Prin¬
zip der psychischen Einwirkung mit feineren oder gröberen Mitteln;
unter diesem Gesichtswinkel in erster Linie betrachtete man die An-
*) D. D. 1459.
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Wendung der Ketten und der Zellen, wobei es jedoch unvermeidlich
blieb, daß im Gebrauch der einmal erlaubten Geräte ein starker Ein¬
schlag der Absicht, den damit Bedachten unschädlich zu machen,
hinzukam. ln der Dienstanweisung der Wärter heißt es: „Die ganz
Käsenden werden, solange ihre unsinnige Wut anhält, jeder in ein
besonderes Zimmer eingeschlossen, und, wo nötig erachtet wird, mit
dem englischen Brustlatz oder mit Fesseln, deren Schellen auszu¬
füttern sind, verwahrt. Die „Behältnisse“, anfangs 7, später 13
an der Zahl, besaßen Wände und Decke aus dicken Bohlen, um schall¬
dicht zu sein; der Boden bestand aus gefirnißten Eichendielen, und
war leicht abhängig gegen ein Ausflußloch zu, welches durch die
Mauer hindurch nach der Enz führte. Die Fenster waren mit Zug¬
leinen von außen zu öffnen und so hoch angebracht, daß der „Ge¬
fangene“ nicht hinaufreichen konnte. Die Einrichtung bestand aus
einer Pritsche mit Stroh oder Matratzenlager, einem Nachtstuhl und
einem Ofen x ). Dieser war, wie alle Öfen im Hause, mit einem Tannen¬
holzgitter verwahrt; doch war diese Sicherung nicht ausreichend,
um Verbrennungen bei Geisteskranken und Epileptikern ganz zu ver¬
hüten; einmal sogar gelang es einem Patienten, das Gitter selbst in
Brand zu setzen.
Zu den eindringlicheren Mitteln der psychischen Therapie ge¬
hörten ferner Spritzbäder und ähnliche Wasseranwendungen; die
Verordnung aller dieser Maßnahmen stand sämtlichen Vorstandsmit¬
gliedern gleichermaßen zu; das Haus war in verschiedene Abteilungen
eingeteilt, deren jede einem der Herren besonders zugewiesen war.
Nur die medikamentöse Therapie war Roller allein Vorbehalten. Zur
Beruhigung diente Opium, doch reichte es in vielen Fällen für diesen
Zweck nicht aus. Eine in der Hauptsache psychische Wirkung
erwartete man von Ekelkuren. In den verschiedensten Ab¬
sichten wurde ein großer Teil des Arzneischatzes mit wechselndem
Mißerfolg probiert und wieder verworfen. Die Arzneien bezog man,
jährlich wechselnd, aus den beiden Apotheken der Stadt. Der Chirurg
verschrieb die in sein Bereich fallenden Dinge selbständig; er besorgte
das Anlegen von Haarseilen und Fontanellen, die Aderlässe und die
Wundbehandlung. Osiander zeigte dabei viel praktischen Sinn, so
ließ er z. B. Dekubituspatienten in Hängematten lagern.
l ) J. A. 1430.
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Das Irren* and Siechenhaas Pforzheim and seine Ärzte.
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Mit Versuchen psychischer Einwirkung opferten insbesondere
geistlichen Herren viel Zeit und Mühe. Ganze Vormittage wurden
ingesetzt, um einem Kranken seine Wahnideen auszureden, und
ießlich mußte man doch betrübt der Konferenz berichten, wie
1 eben geglaubt hätte, endlich am Ziel zu sein, da habe das alte
el wieder von neuem begonnen.
Neben den Heilungstendenzen spielten Erziehungsversuche eine
3e Rolle, wobei man mit allen in der Pädagogik jener Zeit gang¬
en Mitteln vorging und mit Schlägen, Kostentziehung und Ein-
rren manchmal ein gewisses Maß überschritt. So betrachtete man
Geisteskranken von einem recht primitiven Standpunkt aus ge-
sermaßen als vermindert Zurechnungsfähige und behandelte sie
(lentsprechend, wie „ungezogene böse Kinder“, und konnte sich
diesem Verfahren auf Autoritäten berufen.
Die Zahl und Bedeutung der Siechen trat gegenüber den Irren
mer mehr zurück. Verhältnismäßig am stärksten waren die Epi-
►tiker vertreten; es handelte sich bei diesen meist um aussichtslose
ille mit hinzugekommener psychischer Degeneration. Die mit 1
^figen Anfällen Geplagten mußten zu ihrer Sicherheit „Fallbäuste‘‘
agen. welche jedoch nicht ausreichten, um allen Verletzungen Vor¬
zügen. Immer wieder wurden mit verschiedenen Mitteln Ver-
l( Z bei ihnen angestellt; ab und zu erhielt auch die Anstalt von
obimeinenden Seelen unfehlbare Rezepte wie das folgende züge¬
lt: Wenn der Vollmond auf einen Donnerstag falle, so sei an diesem
^ ein Abführmittel, und zwar in flüssiger Form, zu verabreichen;
drei Wochen vorher und nachher habe sich der Kranke aller Alko-
bka, sowie des Tees und Kaffees zu enthalten. Bei genauer Ein-
Itung dieser einfachen Vorschrift werde er bestimmt gesunden.
Die Küche des Hauses wurde durch verschiedene Neuerungen
fbessert und der Kost gebührende Sorgfalt zugewendet; man führte
!1 Tische und Krankenkost. Im Sommer stand den Patienten ein
>me8 Flußbad zur Verfügung; auch warme Bäder waren eingerichtet.
e Leichen der Verstorbenen mußten im Winter nach Heidelberg
f die Anatomie geliefert werden, sonst wurden die Sektionen in
iem neben der Leichenkammer gelegenen Raum vom Chirurgen
^geführt. Die Präparate von Seltenheiten wurden in demselben
hrank aufbewahrt, der auch für die chirurgischen Instrumente diente.
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Stemmer,
Die außerhalb der Anstalt im Lande verpflegten Geisteskranken
lebten zumeist unter sehr ungünstigen Bedingungen, soweit die bei
ihrer Einbringung erhobenen Anamnesen darüber Aufschluß geben.
Manche wurden in Ställen eingeschlossen gehalten, andere in Ge¬
fängnissen verwahrt. Oft geschah gar nichts zu ihrer Heilung; in
einem Falle nahm der Pfarrer des Ortes eine Beschwörung mit dem
Patienten vor. Die gelegentlich zugezogenen Ärzte waren im Um¬
gang mit Irren ungeschult und erzielten naturgemäß keine Erfolge;
ab und zu blieb ihnen wenigstens die Enttäuschung erspart: „Da der
Patient zur Einnahme von Arzneimitteln nicht zu bewegen war, so
fand bisher keine Heilung statt.“ Die über die Ätiologie der Psy¬
chosen geäußerten Meinungen geben die während der Studienzeit
des Gutachters herrschenden Lehren wieder. Bei Frauen ist häufig
von Milchversetzung die Rede; bei Männern muß das lasterhafte
Vorleben die Schuld an der Erkrankung tragen. Ein vom Lande
stammender Verdächtiger wurde „wegen mutmaßlichen Wahnsinns
und polizeiwidrigen Benehmens in das Zuchthaus Bruchsal trans¬
feriert“ ; nach dem Urteil des dortigen Stabschirurgus hatte seine
Seele „geloistiefe moralische Narben“. Der Entschluß, einen Kranken
nach Pforzheim einzuweisen, wurde von den Angehörigen meist spät
gefaßt, und dann ging noch weitere Zeit verloren mit Einholung
der behördlichen Genehmigung, welche fast immer vorher abgewartet
wurde. Unter den damaligen Pforzheimer Kranken sind die Ange¬
hörigen der oberen Klassen viel stärker vertreten als dem Verhält¬
nis der Stände nach zu erwarten wäre; es rührt dies offenbar daher,
daß diese eher in ihrer Umgebung unmöglich wurden und die Familie
nicht zu derben Gewaltmaßregeln greifen wollte, aus deren Anwendung
man sich im niederen Volk, besonders in bäuerlichen Verhältnissen,
kein Gewissen machte.
Als Roller so unerwartet mitten aus der Vollkraft seines Lebens
heraus dem Amte entrissen wurde, in welchem er mit bestem Streben
fast zehn Jahre lang gewirkt hatte, da suchte man seinen Nachfolger
nach den Eigenschaften, welche er selbst einmal als Erfordernisse
seines Berufes bezeichnet hatte, „einen an Erfahrung und Wissen
reichen Arzt, der sich vorzüglich als philosophischen Arzt gezeigt“,
und fand die Vereinigung dieser Vorzüge in dem Hofmedikus
Dr. Friedrich Oroos.
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Das Irren- und Siechenhaus Pforzheim und ^seine Ärzte. 301
Friedrich Groos 1 ) ist geboren am 23. April 1768 in Karlsruhe als
jüngster Sohn des Geheimrats Emmanuel Groos. Den ersten Unterricht
erteilte ihm der Vater selbst, dann kam er von Müllheim aus, wohin den
Vater die Beamtenlaufbahn geführt hatte, in die Ecole Militaire nach
Kolmar, welche unter der Leitung von Pfeffel und Lerse stand. In allen
wissenschaftlichen Fächern zeichnete er sich aus, dagegen lagen ihm
Leibesübungen und Tanzen nicht besonders; im Kreise der Kameraden
zeigte er sich als verträglicher, sehr schüchterner Junge. Nachdem ihn
der Vater in das juristische Studium eingeführt hatte, bezog er 1788
als Student der Rechte die Universität Tübingen und ein Jahr darauf
die hohe Karlsschule in Stuttgart. Ein Augenleiden veranlaßte ihn, sich
mit medizinischen Büchern zu befassen und gab dem innerlich von der
Jurisprudenz Unbefriedigten den äußeren Antrieb zum Berufswechsel,
zu dem er sich nach einigem Kampf die Erlaubnis der Angehörigen er¬
wirkte. „Mein gänzlicher Mangel an Sinn für bloß positive Menschen-
Satzungen und meine tiefe Verehrung für reine Natur- und Vernunft-
gesetze sträubte sich in mir Phantasten gegen jede etwaige juristische
Anstellung so sehr, daß es zu keiner Staatsprüfung mehr kommen konnte.“
Nach einsemestrigem Studium in Freiburg wanderte er 1793 nach Pavia.
Dort hörte er bei Scarpa, Volta, Spalanzani und vor allem bei Johann
Peter Frank, welcher ihm von allen dortigen Lehrern den tiefsten Ein¬
druck machte. Er fühlte das Anbrechen einer neuen Zeit in Franks An¬
schauungen, welcher, wie Groos nach Hause schreibt, sich in seiner The¬
rapie „mehr auf die Chemie, als auf die schwächenden Aderlässe und
Purgantien stützt“. Das Eindringen der französischen Heere in Ober¬
italien brach den Studiengang jäh ab; Groos kehrte nicht ganz ohne Hinder¬
nisse nach Deutschland zürück; 1796 doktorierte er in Freiburg und
bestand kurz darauf die staatsärztliche Prüfung in Karlsruhe, wo er sich
hierauf als Arzt niederließ. Den wichtigsten Abschnitt in seinem Innen¬
leben bildete ein schweres Leiden, das ihn auf ein langwieriges Kranken¬
lager streckte; wie er allmählich wieder sich zu erholen begann, machte
er sich mit der Philosophie besonders der stoischen Schule vertraut und
*) Neben dem Aktenmaterial stand mir als wichtigste Quelle das
Archiv der Familie Groos zur Verfügung, für dessen Überlassung ich
Herrn Geheimrat Groos in Karlsruhe zu großem Dank verpflichtet bin.
Ein Teil der von Friedr. Groos stammenden Briefe ist verwertet und zum
Teil im Wortlaut veröffentlicht in: Groos, Über den Gotthard vor 100 Jahren,
Karlsruher Zeitung 1883, Nr. 47 u. 48, und Groos, Deutsche Hochschüler
und Lehrer in Pavia, Deutsche Erde 1913. Eine ausführliche Biographie
und das vollständige Verzeichnis der von Friedr. Groos veröffentlichten
Schriften bringt Wittmers Nekrolog, Deutsche Zeitschr. f. Staatsarznei¬
kunde, Neue Folge, 1853, Bd. I, S. 220—237. Vgl. ferner die Nachrufe
von Roller und Damerow, Allg. Zeitschr. f. Psych. 1853, Bd. 10, S. 137
bis 142, und v. Weech, Bad. Biogr., Heidelberg 1875, Bd. II.
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302
Stemmer,
erwarb sich so die Vorbildung, welche ihn nach der Meinung der meisten
seiner Zeitgenossen zum Psychiater befähigen mußte. Von 1805 an be¬
kleidete er verschiedene Staatsanstellungen, zuletzt das Phyjsikat in
Schwetzingen.
Bei seinem Eintritt in Pforzheim fand er sich leicht zurecht
in den Bahnen des praktischen Anstaltsbetriebs, welche Roller in
gewissem Grade ausgebaut hatte, und gewann bald die richtige Stel¬
lung unter den alten Vorstandsmitgliedern, welche einem bahn¬
brechenden Neuerer gegenüber das konservative Element vertreten
hätten. Dagegen erlitt er auf dem Gebiet der Diagnostik jene Nieder¬
lage, mit welcher sein Name der jetzigen Generation verknüpft er¬
scheint durch Kußmauls Darstellung des Falles Sievert 1 ).
Der Pfarrer Sievert war in Pforzheim gestrandet, nachdem alle
möglichen Versuche, ihn von der Haltlosigkeit seiner Verfolgungs- und
Vergiftungsbefürchtungen zu überzeugen und ihm die Denkungsweise
seiner Mitwelt zu suggerieren, hoffnungslos gescheitert waren. Roller ,
welcher ohne philosophisches Rüstzeug nur mit dem gesunden Menschen¬
verstand an den seltsamen Mann herangegangen war, hatte ihn für ver¬
rückt befunden; Groos dagegen fühlte sich nicht umsonst gerade seiner
philosophischen Bildung wegen nach Pforzheim berufen und versuchte
den Ideen Sieverts, welche dieser in einem Glied an Glied zur Kette
reihenden System schriftlich festgelegt hatte, vorurteilsfrei gerecht zu
werden, Denn eben das Gedankliche schien ihm das Wesentliche zu sein,
die Handlungen — das festgefügte Anstaltsleben bot sowieso kaum Ge¬
legenheit zu Ausschreitungen — das minder Bedeutungsvolle. So wurde
Groos geblendet durch die spitzfindige Geschicklichkeit, mit welcher
Sievert sich vortrug, und disputierte mit seinem Patienten als Philo¬
soph mit einem Philosophen. Er erkannte sein Gegenüber als einen im
Irrtum, aber nicht in Krankheit befangenen Geist und beantragte dessen
Entlassung. Diese kam jedoch nicht zustande, da Groos einmal weder
seine Mitarbeiter an der Anstalt, noch die Regierung nach den bisher mit
Sievert gemachten schlechten Erfahrungen von dessen Gesundheit
überzeugen konnte; später widerrief er sein Urteil und führte Sievert
in den Tabellen unter der Diagnose des periodischen Wahnsinns, „ver¬
ursacht durch unermeßlichen Stolz und Rechthaberei bis zum Glauben
an Infallibilität, unterstützt durch sein ausnehmendes Talent zur Be¬
redsamkeit *)“.
x ) Kußmaul , Aus meiner Dozentenzeit in Heidelberg. Stuttgart
1903. S. 14—26. Die Krankengeschichte und Akten des Falles Sievert
sind vollständig vorhanden. Kußmauls Schilderung enthält alle zur
Beurteilung des Falles wesentlichen Tatsachen
*) J. A. 1458.
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Das fiten- and Si«eiteoha,us Pforzheim and seine Ärzte
Versuchung, 4m Harrer S re v e r t ernst stu iiehmen, konnte
te'-t jener Zeit leicht: erliegen, wenn er sein ideal des philoso
■im Arztes in einer Auffa??ung »tr‘ Wirklichkeit müden i etc,
'ie tfie Anwendung >:jwk«JätiT philosUphi.aelier ; IJntersiichuitgs-
■ au? das inedmnisebe ©ehkön gestattete. ©er Krage nach
|«fcrjb^teskraittkb^» ob Beeie öder Körper. wek’hfdiu d&maJtgeii
jpauer bewegte, traten am Eingang des 19. .kUrbuoderts noch
f#tf deduktivem Wege e^tgcgeio uml glaubten das Problem iir
erschlugen Eu können. noch jensh.it« der.
Wo ij(iht*iÜk tiD.d. hat «ich von dem Böden der alten nies Idereißön
,«Q>en.i dp was J. P. i'muk seine« ifehttlero..-ha-tle,.
k luein chif frommer Wunsch oder mv prophetiBciieT Ahshliek
!*$$$ die Chemie konnte daitude der Modüdu iimih kein trag-
: e ?i Gerüst bieten. Ab und au niimnt Üyöq$ in seinen Schriften,
f i; Anlauf zu induktiver Forschung, indem er einen .EinzclfaU
?;: eejangsfiunkt seiner Feth-ielOiiogeri wählt,: aher sowie er be-
*•> dem Gt>*r bilderten die Ergehnisse m Riehen, verliert er
fh «initr m Spekulationen und böfehtlot seine utbsciischaitliciieu
1 •t'er nrur mit .skeptischer 'Kritik, alter mit denselben Waffen, mit
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304
Stemmer.
In der Behandlung der Kranken brachte Groos seine theoretischen
Anschauungen nirgends zum Ausdruck; er wich kaum von den ein¬
gefahrenen Geleisen ab, und da, wo er Neuerungen versuchte, ge¬
schah dies auf empirischer Grundlage. In seinem menschlichen Fühlen
schränkte er den Gebrauch drastischer Mittel ein; insbesondere machte
er die therapeutischen Verirrungen des Drehstuhls und ähnlicher
Geräte, auf welche Horn x ) so stolz war, nicht mit. Als einmal bei
einem Rasenden von dem Arzte, der ihn vor der Aufnahme in die
Anstalt behandelt hatte, die Anwendung des glühenden Eisens vor¬
geschlagen wurde, holte Groos darüber erst das Gutachten der Sanitäts-
kommission ein. Diese belegte die Empfehlung des Cauterium actuale
aus verschiedenen Stellen der Literatur und meinte:
„Man muß über dessen wenig versuchte Anwendung bei Verrückten
und Tobsüchtigen um so mehr sich wundern, als von den meisten Ärzten
ähnliche, aber minder kräftig wirkende Mittel, wie Haarseile, Blasen -
pflaster, Fontanellen usw. so sehr empfohlen werden, nicht um damit
das Gehirn aus einem torpiden Zustand zu rascherer Tätigkeit zu wecken
— eine Indikation, die bei Behandlung der Tobsucht nicht wohl aufge¬
stellt werden wird, sondern um damit die Tätigkeit der Lebenskraft von
dem Gehirn ab, zu dem gereizten Teil hinzu zu leiten, und durch den
erregten Schmerz, wie Reil sich ausdrückt, in die Kette der Ideen des
Verrückten ein neues Glied einzuschieben.“ „Es kann aber die Anwen¬
dung schmerzhafter Mittel, die man deswegen mit Unrecht grausam zu
nennen pflegt, den Ruf einer Heilanstalt nicht gefährden, wenn man
diese unter steter sorgender Aufsicht der Staatsbehörde und einem ein¬
sichtsvollen, behutsam handelnden und dabei vorzüglich humanen Arzte
anvertraut weiß; dem gegründeten Tadel würde vielmehr eine Irrenanstalt
dann sich aussetzen, wenn man ihr nachsagen müßte, daß in ihr mit
den Irren sonst nichts geschehe, als daß diese dort — recht gut und fest
verwahrt werden.“
Durch dieses „reife und tief erwogene Urteil“ wurden die Be¬
denken von Groos zerstreut, und der Chirurg Osiander und sein Gehilfe
brannten den Patienten gleichzeitig an Scheitel und Fußsohlen; die
nachfolgende Eiterung wurde mit Digestivsalbe weiter unterhalten;
in derselben Weise wurde noch ein zweiter Kranker behandelt. Über
x ) Horn, öffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienst¬
führung als zweiter Arzt des Kgl. Charitö-Krankenhauses usw. Berlin
1818.
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Das Irren- und Siechenbaus Pforzheim und seine Arzte. 305
die nicht eindeutigen Erfolge berichtete Groos in der iVdsseschen
Zeitschrift 1 ).
Die immer stärker wachsende Zahl der Kranken lähmte vielfach den
geordneten Betrieb der Anstalt; man glaubte auch zu bemerken, daß
die Menge der Geisteskranken rascher zunehme, als die Vermehrung
der Bevölkerung erwarten ließe. Wegen der Überfüllung mußte
Groos seinen Vorschlag aufgeben, für die auf dem Weg der Besserung
Begriffenen eine eigene Abteilung einzurichten und ihnen freie Be¬
handlung und Gartenbeschäftigung zuteil werden zu lassen. Das
Bedürfnis nach Abhilfe brachte eine Beihe von Plänen hervor 8 );
zunächst tauchte der Gedanke wieder auf, die Anstalt in eines der
leeren Klöster zu verlegen. Für Schuttem und für Tennenbach wurden
Voranschläge ausgearbeitet, und die für einen sachgemäßen Umbau
entworfenen Grundsätze zeigen ein gutes Verständnis für das an
Notwendigem und Angenehmem zu Verlangende; man nahm sich
dabei Frankenthal als Musteranstalt zum Vorbild. An den hohen
Kosten scheiterte die Ausführung dieser Entwürfe. Sodann beabsich¬
tigte man, das Siechenhaus, das immer mehr als Fremdkörper emp¬
funden wurde, allein zu verlegen; man dachte an das Kapuzinerkloster
oder das Gebäude der barmherzigen Brüder in Bruchsal, entschloß
sich aber schließlich, auf dem der Anstalt gehörigen Grundstück
des Barfüßerspeichers und -gartens in Pforzheim ein eigenes Siechen¬
haus zu errichten, dessen Bau im Jahre 1824 in Angriff genommen
wurde *). Als die Siechen 1826 den Neubau bezogen, veranlaßten
gleichzeitige Verschiebungen unter den Strafvollzugsanstalten des
Landes die Versetzung der Irren in das Jesuitenkonviktsgebäude
nach Heidelberg und die Verwendung des alten Baues in Pforzheim
als Arbeitshaus. Die Bürgerschaft erhob erfolglos Einspruch gegen
den Ersatz des Irrenhauses, „einer konsumierenden Anstalt“, durch
ein Arbeitshaus, das seine Produkte möglichst rasch absetzen wolle
und dabei den ansässigen Werkleuten Konkurrenz mache. So nahm
das Irren- und Siechenhaus Pforzheim ein stilles Ende 4 ). Die letzten
l ) Zwei Beobachtungen über die Wirkung des glühenden Eisens
bei Rasenden. Zeitschr. f. psych. Ärzte 1821, H. IV, S. 119—123.
*) J.A. 1431.
*) J.A. 1432.
4 ) Die baldige Cberfüllung der Heidelberger Anstalt machte schon
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306
Stemmer,
22 Jahre hatten die Entwicklung so weit geführt, daß zum Schlüsse
das Irren- und Siechenwesen auseinanderfiel als zwei sich vollkommen
fremd gewordene Zweige der staatlichen Fürsorge. Ihre Vereinigung
hatte noch vor einem Jahrhundert das Volksempfinden nicht gestört
aber nun hatte sich zwischen beiden eine weite Kluft geöffnet: die
Verschiebung der Auffassung von den Verpflichtungen, welche die
Gesellschaft dem Geisteskranken schuldet, hatte ihn auf eine andere
Stufe gehoben; so hielt kein inneres Band mehr Irren- und Siechen-
fürsorge zusammen, als die Wege beider sich trennten. Auch im
Irrenwesen selbst hatte sich ein Umschwung vollzogen: es spannten
sich Fäden herüber und hinüber von einer Anstalt zur andern, welche
die Verbindung der in gleicher Richtung Strebenden anbahnten und
so dem Fortschritt des Ganzen dienten.
Oroos wurde ärztlicher Leiter der Heidelberger Anstalt und las
eine Zeitlang an der Universität über Psychiatrie. 1836 wurde er
mit Ehren in den Ruhestand versetzt. Die letzten neun Jahre wirkte
Christian Friedrich Roller als Assistent an seiner Seite; in jener Zeit
entstand Rollers für die Weiterentwicklung des Anstaltwesens aus¬
schlaggebendes Werk 1 ), dessen grundlegende Forderung einer neuen,
zu ihrem Zweck besonders erbauten und ein¬
gerichteten Irrenanstalt wir in allen früheren Verhandlungen
zur Verbesserung des badischen Irrenwesens vergeblich suchen. Roller
war ganz die geschlossene Persönlichkeit der Tat, ihm lagen vor allem
die Bedürfnisse der Praxis am Herzen. An seinem von ihm sehr hoch-
geschätzten Lehrer Groos vermißte er die Vermittlung zwischen den
ganz spekulativen Charakter tragenden Theorien und der auf „hu¬
manem, wissenschaftlichem Geiste“ aufgebauten Behandlungsweise
der Kranken. Groos entfernte sich in seiner bis in die letzten Jahre
fortgesetzten schriftstellerischen Tätigkeit immer mehr von der Medizin
nach der Richtung der absoluten Philosophie, in welcher er Befrie¬
digung und Einheit fand. Am 15. Juni 1852 starb er im Alter von
84 Jahren. Seine wissenschaftlichen Schwächen waren ganz die
im Jahre 1829 die Inanspruchnahme des alten Pforzheimer Hauses als
„Filialirrenanstalt“ notwendig. Aus dieser ging die jetzige Großh. Heil-
und Pflegeanstalt hervor.
1 ) Roller , Die Irrenanstalt in allen ihren Beziehungen. Karlsruhe
1831.
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Das Irren- und Siechenhaos Pforzheim und seine Arzte. 307
Schwächen der Zeit, ans der er hervorgegangen; seine Vorzüge waren
die eines rechtschaffenen Mannes und gewissenhaften Arztes. In
seiner langen Wirksamkeit als Psychiater hat er viel von jener Klein¬
arbeit geleistet, welche sich nicht in die Bücher der Geschichte, aber
tief in die Herzen jener einprägt, welche dadurch ihr Los erleichtert
finden. Hierin, im Menschlichen, liegt seine Bedeutung, wie überhaupt
der Gegenwartswert jener 108 Jahre Alt-Pforzhcimer Irrenpflege in
der Entwicklung zur Menschlichkeit beschlossen liegt; es wurde
das Fundament gegraben, auf welchem das Haus der Wissenschaft
erstehen konnte. Von den bescheidenen Anfängen des Jahres 1718
bis zu den manchen unerfüllten Wünschen des Jahres 1826 hat der
Fortschritt einen großen Baum überspannt; nun stellt sich die
Theorie auf den Boden der Beobachtung und findet sich so mit
der Praxis zu gemeinsamem Weg: Psychiatrie als denkende Wissen¬
schaft und als fühlende Fürsorge.
Zeitschrift für Psychiatrie LXXI. 2 .
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Bericht über die 43. Versammlung der Südwest¬
deutschen Irrenärzte zu Karlsruhe am 22. und
23. November 1913.
Anwesend waren die Herren: Allvater- Herborn, AumiiUer- Stephan«- [
feld, Barbo -Pforzheim, Fec/rer-Weilmünster, Binswanger- Kreuzlingen, Bit- <
Wiesloch, FunäseAuA-Illenau, Bunse- Kennenberg, Ca/nerer-Stuttgari 1
Damköhler- Klingenmünster, Dannemann -Goddelau, De ätsch - Ücke rm und?.
DingeZ-Saargemünd, Dietz-Gießen, Ebers - Baden - Baden, Esser- Saar- i
gemünd, FiscAer-Pforzheim, Max Fischer -Wiesloch, FranA-Zürich, M.
Friedmann- Mannheim, FucAs-Emmendingen, v. Gierke- Karlsruhe, Glacel- ,
Göppingen, GZttecA-Herrenalb, GöcAeZ-Wiesloch, Haardt - Emmen di ng^o
Hauptmann -Freiburg, Hauser- Bruchsal, Haymann- Konstanz, Bellern* |
Hegar -Wiesloch, Z/ocAe-Freiburg, A/o^fer-Wiesloch, Hoff mann-Emmen
dingen, Hohenauer-Uleuau, Horber -Wiesloch, Z/ummeZ-Emmendingea
Jäger-Konstanz, JaAneZ-Frankfurt, FZar/eW-München, Katz -Karlsruhe 1
JfemmZer-Weinsberg, R. FoeA-Frankfurt, Freuser-Winnental, Lang -Gießen. |
Hugo Levy-Stuttgart, Lieberl-Rufach, Lilienstein-Bad Nauheim, W. Mayer- I
Tübingen, Mayer früher Goddelau, Meyer-Heidelberg, Morsfott-WinnenUL ,
Neumann- Karlsruhe, FansoAo^'-Stephansfeld, FaecA-Neckargemünd, Reit \
Tübingen, Fömer-Hirsau, Hans Foemer-Illenau, Rosental- Hei delb«t 1
Schobelitz-Zünch, 5cAarp/f-Tübingen, .ScAmiät-Freiburg, Schröppel-Tw J
kental, R. Seeligmann- Karlsruhe, 5/)ieZmeyer-München, .Sfaiger-Hoha-
asperg, Steiner-Straßburg, StengeZe-Karlsruhe, Für-Darmstadt, Wagt **•
Alzey, FFaAZmann-Eichberg, Max WeiZ-Stuttgart, IFemZanä-ZwiefaJt«,
IFaegeZer-Frankfurt, Wilser- Heidelberg, Wttterma/m-Rufach, Th. Zain-
Stuttgart. 76 Teilnehmer. — Entschuldigt haben ihr Ausbleiben Schule-
lllenau, AissZ-Heidelberg, IFoüenAerg-Straßburg.
1. Sitzung am 22. November 1913, 3 Uhr.
Geschäftsführer waren Barbo -Pforzheim und Neumann- Karlsruh*'
Als Geschäftsführer begrüßt Herr Dr. Neumann die Versammlung. Er
eröffnet die Sitzung und gedenkt des 50 jährigen Dienstjubiläuras, da*
Ge-gk=
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte.
309
Geheimrat Schule, der Nestor der badischen Psychiatrie, am 4. Juli d. J.
gefeiert hat; die Versammlung hat durch die beiden Geschäftsführer ihre
Glückwünsche aussprechen lassen.
Zum Vorsitzenden wird für den 1. Tag Hocke, für den 2. Kreuser
gewählt, zu Schriftführern Hauptmann -Freiburg und Äoemer-Illenau.
/fegar-Wiesloch: Statistische Untersuchungen über
die kriminellen Geisteskranken in den Landes¬
anstalten Badens (erscheint ausführlich in dieser Zeitschrift).
Bundschuh- Illenau: Die Methode des Abderhalden-
schen Dialysierverfahrens in der Psychiatrie.
Nach kurzer Auseinandersetzung der Entwicklung und der Grundlage
der Abderkaldenschen Lehre wurde die Methodik des Dialysierverfahrens
und speziell ihre Besonderheiten und Schwierigkeiten bei der Anwendung
auf das psychiatrische Gebiet dargelegt. In diesem Zusammenhänge wurde
unter eingehender Erläuterung der verschiedenen Fehlerquellen u. a. auf
die Eichung und Behandlung der Hülsen, die Ninhydrinreaktion und die
Darstellung der Organe hingewiesen. Diese ist bei diesen Untersuchungen
viel komplizierter als bei der Graviditätsiagnostik, da für psychiatrische
Zwecke gleichzeitig mehrere Organe in Betracht kommen und man auf
Leichenorgane angewiesen ist. Zunächst wird man bedacht sein, die Sek¬
tion möglichst früh zu machen. Die Organe müssen absolut b 1 u t -
frei sein. Das Gehirn wird 20 bis 24 Stunden entfettet, damit es ein
brauchbares Substrat liefert. Nach diesseitigen Erfahrungen finden sich
gelegentlich an sich einwandfrei, namentlich völlig blutfrei, präparierte
Organe, die paradox, d. h. teils im Sinne, teils entgegen der Erwartung
reagieren, offenbar infolge ihrer durch die zum Tode führenden Krank¬
heitsprozesse veränderten Qualität. Dies ist namentlich der Fall, wenn
eine lange Agone vorausging oder die Todesursache eine schwere Infek¬
tionskrankheit, namentlich Tuberkulose, war. Derartige Organe sind des¬
halb prinzipiell auszuschließen. Der morphologische Zustand des Organs
ist offenbar überhaupt nicht gleichgültig. Es ist möglich, daß bei be¬
stimmten Krankheiten normales Gewebe nicht abgebaut, während ein
solches mit bestimmten homologen Veränderungen angegriffen wird.
Lampe und Papazoln haben das differente Verhalten von normalen und
von .ßasedow'-Schilddrüsen gegenüber dem Basedow -Serum nachgewiesen.
Und nach den Erfahrungen der Vortragenden erscheint es, als ob Serum
von Dementia praecox-Kranken mit „Dementia praecox-Organen“ zu¬
sammengebracht, stärker reagiert als mit normalen. Diese Frage bedarf
aber noch der weitgehendsten Prüfung, ebenso diejenige, ob und wie weit
die entsprechenden Tierorgane an Stelle der Menschenorgane verwendet
werden können, was nach den diesseitigen allerdings noch nicht abge¬
schlossenen Untersuchungen möglich zu sein scheint. Jedenfalls ist es
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
310
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
durchaus erforderlich, daß in jedem Versuchsproto¬
koll jedes Substrat genau nach seiner Provenienz
charakterisiert wird.
Besonders wichtig neben der Serumkontrolle ist die Kontrolle
des Organs, die auf psychiatrischem Gebiete großen Schwierigkeiten
begegnet, denn ein „ E i n s t e 11 e n “ ist bei der geringen Menge einzel¬
ner Organsubstrate praktisch nicht allgemein durchführbar. Die übliche
Kontrolle, „Organ + Aqua dest.“ ist völlig unzulänglich, und auch die
Kontrolle „Organ + inaktiviertes Serum“ schützt nicht absolut gegen
Fehlerquellen. Die Zuverlässigkeit dieser Kontrolle, die derjenigen mit
„Organ + Aqua dest.“ bei weitem vorzuziehen ist, könnte durch An¬
wendung einer größeren Organmenge — also mehr als 0,5 — erhöht werden.
Eine einigermaßen zuverlässige Kontrolle und Prü¬
fung der Organe ist nur durch die Versuchsanord -
nung möglich. Da das Serum des Gesunden nie einen Abbau zeigt,
soll in jedem Versuche ein solches geprüft werden oder auch das eines
Kranken, bei dem eine negative Reaktion zu erwarten ist (Manisch-depres¬
siver, Hysteriker, Psychopath). An Stelle des Menschenserums kann auch
ein Tierserum treten. Ferner, da Geschlechtsspezifität feststeht, wird das
männliche Serum mit Ovarium und das weibliche Serum mit Testikel
zusammengebracht; außerdem sind nach Möglichkeit bei jedem Organe
nebeneinander zwei Substrate verschiedener Provenienz zu verwenden.
Ein auf diese Weise angeordnetes Versuchsprotokoll wurde demonstriert.
Roemer- Illenau: Über dhe bisherigen Ergebnisse des
Abderhaldenschen Dialysierverfahrens in der Psychiatrie.
Der Vortragende berichtet über seine gemeinsam mit Bundschuh
ausgeführten Untersuchungen, die sich auf Gesunde, Psychopathen,
Manisch-Depressive, Schizophrene und Paralytiker, und zwar speziell auf
den Abbau von Hirnrinde, Schilddrüse und Geschlechtsdrüse beziehen;
er vergleicht ihre Befunde mit den ersten grundlegenden Beobachtungen
Fausers sowie den weiteren Ergebnissen von FiscAer-Rostock, Wegener-
Jena. iVeue-Greifswald, Kafka -Hamburg und .Mayer-Tübingen. Dabei
kommt er im wesentlichen zu folgenden Resultaten:
1. Die 14 Sera gesunder Individuen ergaben mit den
genannten drei Organsubstraten durchweg negative Reaktionen. Ebenso
hatte Fauser und haben dann die übrigen genannten Untersucher bis auf
Neue bei Gesunden niemals positive Reaktionen — namentlich nie mit
Gehirn — gesehen. Auch Lampi und Papazolu fanden bei 30 Gesunden,
die sie zwar nicht auf Aufbau von Gehirn, dagegen auf Dysfunktion zahl¬
reicher anderer Organe untersucht hatten, durchweg negativen Ausfall.
Das Serum von körperlich und g e i s t i g G e s u n d e n
besitzt demnach Abwehrfermente weder gegen
Gehirn noch gegen andere Organe. Abweichende Befunde
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Versammlung sfidwestdeutscher Irrenärzte.
311
sind auf Versuchsfehler oder latente funktionelle Störungen bei den Unter¬
suchten zurückzuführen.
2. Die konstitutionellen Psychopathien. 6 Psy¬
chopathen (2 Debile, 2 Neurastheniker, 2 Hysteriker) reagierten negativ.
Analoge Befunde hatte von Anfang an Fauser, dann Kafka, Mayer und
zum Teil wenigstens Neue erhoben. Die erwähnten, allerdings noch wenig
zahlreichen Fälle stimmen mit der ganz überwiegenden Mehrzahl der
übrigen Beobachtungen überein: Das Blutserum der kon¬
stitutionellen Psychopathen ist demnach im all¬
gemeinen frei von Abwehrfermenten.
3. Das manisch-depressive Irresein. 11 Fälle ließen
Abbau von Rinde, Schilddrüse und Geschlechtsdrüse vermissen, und zwar
im manischen Stadium ebenso wie im depressiven und im freien Intervall.
Dieser Befund harmoniert mit den analogen Erfahrungen Fausers, Fischers,
Wegeners, Mayers und meistens auch Kafkas. Bei Manisch-De¬
pressiven läßt sich im allgemeinen ein Abbau des
Gehirns, der Schilddrüse oder Geschlechtsdrüse
nicht nachweisen.
4. Die Dementia praecox. 48 Schizophrene bauten 41 mal
Hirnrinde, 17 mal Schilddrüse und 43 mal Geschlechtsdrüse ab. Abbau
von Geschlechtsdrüse wurde demnach nur 5 mal vermißt. Männliche
Schizophrene bauten nur Testikel und nicht Ovarium, weibliche nur
Ovarium und nicht Testikel ab. Dieser Befund stimmt im allgemeinen
mit der Entdeckung Fausers überein (ebenso mit den Ergebnissen Wege¬
ners, Fischers und Neues, während Mayer beträchtlich häufiger Abbau
von Schilddrüse und Kafka relativ wenig positive Reaktionen erhielt. Die
ganz überwiegende Mehrzahl der Beobachtungen, mit denen die Erfahrun¬
gen der Vortragenden übereinstimmen, spricht für einen fast kon¬
stanten Abbau von Rinde und Geschlechtsdrüse und
einen nicht allzu häufigen von Schilddrüse bei
Dementia praecox. Kafkas Beobachtungen von dem gelegent¬
lichen Abbau von Nebenniere konnten die Vortragenden bestätigen.
5. Die progressive Paralyse. Von 13 Paralytikern re¬
agierten sämtliche mit Rinde positiv, sämtliche mit Schilddrüse negativ
und sämtliche bis auf einen mit Testikel negativ. Dieses Resultat ent¬
spricht dem Fausers, Fischers und Wegeners ; bezüglich der fast konstanten
positiven Reaktion mit Hirnrinde auch dem Neues, Kafkas und Mayers,
die im übrigen mit Schilddrüse und Testikel häufiger positive Reaktionen
erhielten, vor allem Mayer fast regelmäßig mit Leber. Die mitgeteilten
Beobachtungen sprechen also im Verein mit denen anderer Autoren für die
überwiegende Häufigkeit des R e a k t i o n s t y p u s :
mit Rinde positiv, mit Schilddrüse und Ge¬
schlechtsdrüse negativ. Die abweichenden Befunde einer
zweiten Gruppe von Untersuchern bedürfen noch einer weiteren Klärung.
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312
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Der zentrifugierte Liquor cerebrospinalis wurde bei
sieben Paralytikern frei von Abwehrfermenten gegen Hirnrinde befunden,
selbst bei Liquormengen bis zu 3 ccm. Dieser negative Befund deckt sich
mit dem der anderen Beobachter.
Die erwähnten Differenzen der Ergebnisse erklären sich
hinreichend mit der schwierigen, an Fehlerquellen reichen Technik,
mit der Komplikation der Versuchsanordnung durch die gleichzeitige
Untersuchung mit verschiedenen Organen und den offenbar beträchtlichen
Schwankungen des Fermentgehaltes des Blutes. Zudem kann im Hinblick
auf die Entwicklung der klinischen Psychiatrie unmöglich erwartet werden,
daß die klinischen Krankheitseinheiten von heute ohne weiteres mit sero¬
logischen Reaktionstypen zusammenfallen werden. Trotzdem kann man
in der Menge des Unsicheren die erwähnten Andeutungen gewisser Regel¬
mäßigkeiten erblicken — wenn auch in ganz vorläufiger Weise.
Über die pathogenetische Bewertung solcher ange-
deuteter Gesetzmäßigkeiten läßt sich bis jetzt nur etwa folgendes vermuten.
1. Was zunächst den Abbau von Gehirn anlangt, so wird
ein solcher bei den konstitutionellen Psychopathien und dem manisch-
depressiven Irresein stets vermißt, während eine Dysfunktion der Hirn¬
rinde bei der Paralyse fast immer, bei der Dementia praecox, den thyreo¬
genen Psychosen und gewissen anderen psychotischen Zuständen ziemlich
regelmäßig nachweisbar ist.
Daß bei den konstitutionellen Abweichungen von der psycho-physio¬
logischen Durchschnittsnorm und den reaktiven Psychosen der Psycho¬
pathen das Serum sich verhält wie bei Gesunden, erscheint nicht weiter
auffallend, dagegen bedarf der negative serologische Befund bei den An¬
fällen des manisch-depressiven Irreseins noch umfangreicher Nachprüfun¬
gen, auch mit Methoden, die noch weiter verfeinert und ferner zum Nach¬
weis von andern als proteolytischen Fermenten geeignet sind.
Daß andererseits bei der progressiven Paralyse (wie bei der Epilepsie)
der Stoffwechsel des Gehirns gestört ist, wissen wir auch aus andersartigen
Untersuchungen. Neu dagegen ist der serologische Nachweis einer Dys¬
funktion des Gehirns, vor allem bei den thyreogenen Psychosen und der
Dementia praecox. Hierdurch ist für die Theorie, es liege dem Kreis von
Psychosen, den Kraepelin unter klinischen, Bleuler unter psychologischen
Gesichtspunkten zu charakterisieren versucht hat, im wesentlichen eine
Stoffwechselstörung des Gehirns zugrunde, der exakte Beweis ge¬
liefert.
Der Abbau der Hirnrinde erlangt also, wie es scheint, den Wert
eines unterscheidenden Merkmals der durch anatomische
und chemische Hirnprozesse bedingten Psychosen gegenüber der Gruppe
der konstitutionell-psychopathischen Zustände einschließlich des manisch-
depressiven Irreseins. Wenn einmal genügend zahlreiche Erfahrungen —
namentlich auch über die Schwankungen der Fermentbildung — gesammelt
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Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte.
313
sind, wird es im einzelnen Fall einer beginnenden Psychose vielleicht möglich
sein, mit Hilfe der Seroreaktion auf Dysfunktion der Hirnrinde den nur
psychologisch maskierten Anfang eines „Hirnprozesses“ von einem viel¬
leicht schizophren aussehenden Zustand konstitutionell-psychopathischer
Natur diagnostisch zu unterscheiden. Für die psychiatrische Bewertung
des Rindenabbaues sind u. a. noch serologische Untersuchungen von
Nerven- und Hirnkranken, die geistig gesund sind, dringend erforderlich.
2. Bei gewissen Gruppen von Geisteskrankheiten mit Abbau von
Hirnrinde läßt sich außerdem eine gleichzeitige Dysfunk¬
tion anderer Organe nachweisen: bei der Paralyse, wie es scheint,
gelegentlich von Schilddrüse, Testikel, Leber und Niere, bei der Dementia
praecox ziemlich regelmäßig von Geschlechtsdrüse, öfters von Schilddrüse,
mitunter von Nebenniere, bei den thyreogenen Psychosen stets von
Schilddrüse.
Diese gleichzeitige Dysfunktion kann zunächst rein zufällig
sein, so wird z. B., wenn sich bei einem Geisteskranken eine chronische
Nephritis entwickelt, das serologische Bild durch den Abbau von Niere
kompliziert. Zur Ausscheidung derartiger Komplikationen ist eine Er¬
weiterung der bisher nur spärlich vorliegenden Erfahrungen über das
serologische Bild interner Krankheiten unbedingt erforderlich.
Erweist sich dagegen eine mit dem Abbau von Hirnrinde gleich¬
zeitige Dysfunktion eines oder mehrerer Organe als annähernd konstant,
so spricht dies für einen gesetzmäßigen Zusammenhang; dieser kann drei¬
facher Art sein, je nachdem der primäre Faktor in der Dysfunktion des
Gehirns oder in der Dysfunktion des gleichzeitig abbauenden Organes oder
aber in einer gemeinsamen Ursache für beide Funktionsstörungen zu
suchen ist.
Dieser letzte Modus könnte für die Paralyse in Betracht kom¬
men, bei der die Lues, d. h. die Spirochäten den ZellstoiTwechsel gleich¬
zeitig im Gehirn und den sonstigen dysfunktionierenden Organen alterieren
können.
Eine primäre Schilddrüsendysfunktion muß bei den thyreo¬
genen Psychosen im Hinblick auf die Entwicklung des klinischen
Bildes angenommen werden.
Ein zwingender Beweis für die Existenz eines solchen Kausalnexus
bei der Dementia praecox ist bis jetzt noch nicht erbracht, wenn
auch die Annahme einer primären Funktionsstörung des innersekretorischen
Apparates heute ziemlich plausibel erscheint. Jedenfalls steht die Patho¬
logie der Dementia praecox in einem engen, wenn auch noch nicht näher
geklärten Zusammenhang mit Störungen der inneren Se¬
kretion und wird die Vagotonieforschung, gerade auch im Hinblick auf
die Dysfunktion der Nebenniere, in dieser Richtung von neuem aktuell.
Die Frage, ob bei der Dementia praecox Fälle mit ausschließlicher
Dysfunktion der Geschlechtsdrüse von solchen mit ausschließlicher Dys-
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314
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
funktion der Schilddrüse abzutrennen sind, kann wegen der großen Schwan¬
kungen des Fermentgehaltes des Blutes erst entschieden werden, wenn
eine größere Anzahl von Fällen längere Zeit hindurch serologisch verfolgt
worden ist.
Mit dem Dialysierverfahren ließ sich somit bis jetzt eine Dys¬
funktion des Gehirns für eine Reihe von Geisteskrankheiten
exakt nachweisen, bei denen Störungen des Gehirnstoffwechsels
teils bisher schon bekannt waren (Paralyse, gewisse epileptische u. a. Zu¬
stände), teils mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit bisher nur
vermutet wurden (thyreogene Psychosen und Dementia praecox). Außer¬
dem eröffnet der Nachweis einer mit dem Abbau der Hirnrinde gleich¬
zeitigen Dysfunktion anderer Organe einen neuen Einblick
in gewisse somatische Störungen, die teils jetzt schon als die
Grundlage bestimmter Psychosen anzusehen sind (wie bei den thyreogenen
Psychosen), teils mit bestimmten Psychosen in einer noch nicht genügend
geklärten gesetzmäßigen Verbindung stehen (wie bei der Dementia praecox).
Nach den neuen Befunden ist das Gros der bisher zur Dementia
praecox gerechneten Fälle anstatt zu den „funktionellen“ Psychosen
künftig zu der Gruppe der Psychosen mit Störung des Gehirnstoffwechsels
zu rechnen; zugleich ist ihr enger Zusammenhang mit Funktionsstörungen
des innersekretorischen Apparates dargetan.
Was schließlich die praktische Verwertbarkeit der
neuen Resultate anlangt, so bedarf es selbstverständlich weiterer umfang¬
reicher und fortgesetzter klinisch-serologischer Parallelbeobachtungen,
bevor an eine systematische Verwertung der Sero-Reaktion für die prakti¬
sche Diagnostik gedacht werden kann. Ehe dieser Schritt aus dem
Stadium der rein wissenschaftlichen Forschung in das der praktischen Ver¬
wertbarkeit getan werden kann, ist natürlich auch die Verwendung der
neuen Methode für forens-psychiatrische Zwecke nicht dis¬
kussionsfähig.
Mehrfach wurden aus den vorliegenden Resultaten Folgerungen für
therapeutische Versuche gezogen. Wenn auch der patho¬
genetische Mechanismus bei der Dementia praecox noch keineswegs geklärt
ist und wir deshalb über strenge Indikationen noch nicht verfügen, so er¬
scheinen nach der Ansicht der Vortragenden zwar nicht radikale, aber vor¬
sichtig tastende Behandlungsversuche bei der Aussichtslosigkeit des
Krankheitsprozesses doch berechtigt, ja angezeigt, um so mehr, als die
neue Methodik eine genaue Kontrolle der therapeutischen Maßnahmen
ermöglicht. Wie von anderer Seite schon ausgeführt, kommt eine Sub¬
stitution der dysfunktionierenden Organe, etwa durch Organpräparate
und später auch durch Organimplantation in Betracht, wobei man durch
eine vorausgeschickte oder gleichzeitige Nukleinsäurebehandlung die
Bildung von Abwehrfermenten anregen bzw. steigern kann.
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Versammlung sQdwestdeotscher Irrenärzte.
315
Bei einigen thyreogenen Psychosen hat Fauaer die partielle Aus-
heidung der Schilddrüse versucht. Dem Gedanken einer Kastration oder
erilisation von Schizophrenen zum Zweck der Behandlung kann man
st näher treten, wenn entschieden ist, ob die Dysfunktion der Geschlechts-
üsen von deren generativem oder, was wahrscheinlicher ist, von deren
nersekretorischem Teil ausgeht. •
Wilhelm Mayer: Über Psychosen bei Störung der
ineren Sekretion.
Vortragender geht eingangs auf die verschiedenen Formen psychi-
her Störung bei den verschiedensten Erkrankungen der Blutdrüsen ein
nd weist darauf hin, daß prinzipiell kein Unterschied mit den von Bon¬
ner beschriebenen andern exogenen Schädigungen besteht, daß aber die
ymptomatologie der Störungen der inneren Sekretion mehr Bilder auf-
: eist, die wir sonst den endogenen Krankheitsbildern zurechnen. Er
espricht dann ausführlich 2 Fälle von schwerer psychischer Erkrankung
ls Folge sicherer Störung der Blutdrüsenfunktion: erstlich einen Fall,
ter unter dem Bilde einer Katatonie'verlief, die allerdings viel manische
iustandsbilder enthielt; es waren dabei deutliche Zeichen einer pluri-
?landulären Erkrankung vorhanden (sicher erkrankt waren Thyreoidea
und Ovarien). Mit der psychischen Besserung und Gesundung verschwan¬
den auch die körperlichen Symptome. Er bespricht dann einen Fall von
schwerster Basedow- Psychose, wobei die eine Schädigung (die Ver-
giftung mit Schilddrüsenprodukten) eine ganze Menge der verschieden¬
artigsten Zustandsbilder hervorrief, die Ähnlichkeit hatten mit den von
Bonhöffer beschriebenen Prädilektionstypen; er weist darauf hin, daß
nac h Abklingen der akuten Symptome ein Zustandsbild depressiven Cha¬
rters von rein endogener Färbung zurückblieb. Vortragender weist zum
-Schlüsse unter Hinweis auf eine Reihe von Erfahrungen auf die große
Ähnlichkeit des ersten Falles mit einer echten Katatonie hin und bespricht
unter Hinweis auf die Resultate der Abderhaldenschen Methode die Möglich¬
st der Entstehung dieser Erkrankung auf autointoxikatorischem Wege —
er lenkt die Aufmerksamkeit auf die große Ähnlichkeit, die die letzten
Stadien des zweiten Falles und eine Reihe von andern Erkrankungen der
Schilddrüse und der Ovarien mit dem manisch-depressiven Irresein,
besonders mit der depressiven Phase, haben, und er erinnert an die Möglich¬
st der Entstehung dieses Krankheitsbildes durch Hypo- oder Hyper-
tunktion der Drüsenkette, in deren Mittelpunkte die Schilddrüse steht;
er erinnert schließlich daran, daß die Dementia praecox vielleicht auf einer
wehr akuten Dysfunktion der Blutdrüsen, in deren Mittelpunkte die Ge¬
schlechtsdrüsen stünden, beruhen könnte, und weist auf das noch ganz
hypothetische, aber schließlich doch heuristisch wertvolle dieser Ver¬
mutung hin. (Ausführliche Veröffentlichung in der Ztschr. für die ges.
N ' eur - u. Psych.)
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316
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Diskussion. — Hugo Lew-Stuttgart berichtet auf Veranlassung
seines früheren Chefs, Sanitätsrat Fauser, über weitere Ergebnisse der
Forschungen Fausers unter besonderer Hervorhebung eines Falles, in
welchem nach 8 jährigem ständigen Aufenthalt in der Irrenanstalt die
auf Grund der serologischen Untersuchung ausgeführte Strumektomie
Heilung brachte. Er weist noch auf die Hypothese Fausers von der
Korrelation der Drüsen der inneren Sekretion hin und spricht auf
Grund eines Falles von Schwangerschaftspsychose den Gedanken aus,
daß künftig vielleicht die Abderhaldensche Methode eine wissenschaft¬
liche Begründung geben wird für Unterbrechung der Schwangerschaft
in Fällen von Depression, wie sie Friedmann -Mannheim vor einigen
Jahren beschrieben hat, und wo Friedmann im Gegensätze zu den Dis¬
kussionsrednern die Einleitung der Fehlgeburt für berechtigt hielt. Die
Ergebnisse der Arbeiten von Fauser werden in extenso in der Münchn.
med. Wschr. erscheinen.
Kreuser: Gewiß gehören die mit dem Abderhaldenschen Dialy-
sierverfahren gewonnenen Befunde zu den interessantesten und wohl
auch aussichtsreichsten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung auf
unserem Gebiete. Unser aller Aufgabe wird sein, sie in nächster Zeit
weiter zu verfolgen an möglichst großem Material; nicht nur an
diagnostisch einwandfreien, sondern vor allem auch an zweifelhaften
und unklaren Fällen und durch die verschiedenen Verlaufstadien der
Krankheiten hindurch. Aber erst, wenn hierüber gesicherte Erfahrungen
vorliegen, dürfen wir auch an die praktische Verwertung der Befunde
herantreten. Für operative Eingriffe müssen den Chirurgen ganz bestimmte
Indikationen gestellt werden können. Der Irrenarzt ist verantwortlich
dafür, was mit der dysfunktionierenden Drüse zu geschehen hat, wenn
nicht in bedenklicher Weise am Menschen experimentiert werden soll.
Mag der von Dr. Levi erwähnte Fall noch so verlockend sich ausnehmen,
zur Nachahmung darf er noch nicht auffordern; dasselbe gilt, wie Herr
Römer mit Recht sagt, von der forensischen Verwertung. Ein serologischer
Befund an einem Untersuchungsgefangenen sagt uns nichts über die Be¬
schaffenheit seines Serums zur Zeit der Tat und noch weniger über seine
Geistesbeschaffenheit dabei. Die gesetzlichen Bestimmungen über Geistes¬
kranke sind aufgebaut auf psychopathologischen Tatsachen. Über deren
nähere Beziehungen zu den serologischen Befunden können wir jetzt noch
gar keine ausreichenden Kenntnisse haben.
Jtosentaf-Heidelberg berichtet über die Ergebnisse der Untersuch¬
ungen nach Abderhalden-Fauser aus der Psychiatrischen Klinik in
Heidelberg, welche in Gemeinschaft mit Dr. Hilffert ausgeführt wurden.
Nach ziemlich langdauernder Phase der Mißerfolge, welche auf ver¬
schiedenen Fehlern in der Methodik beruhten, verfügen jetzt R. und H .
über eine Anzahl von Befunden, welche als einwandfrei bezeichnet
werden dürfen.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
ffauptmann-Freiburg: Die Ansicht, daß die Dysfunktion eines Or¬
ganes die eines anderen herbeiführe, wird durch einen Fall, den H. bei
Abderhalden erfuhr, nicht gestützt: ein Katatoniker, der jetzt gegen Hirn¬
rinde gerichtete Fermente im Blute bot, hatte schon vor Jahren in einem
Verwirrtheitszustände seine Hoden abgeschnitten. Gegen Hoden gerichtete
Fermente waren selbstverständlich jetzt nicht im Blute nachzuweisen.
Es handelte sich also um ein primäres Hineingelangen von Hirnrinden¬
eiweiß in die Blutbahn. — Rosenfelds Anfrage beantwortet er dahin, daß
Binswanger nach epileptischen Anfällen gegen Hirnrinde gerichtete Fer¬
mente nachweisen konnte, nach hysterischen Anfällen dagegen nicht.
Römer (Schlußwort): Die untersuchten 48 Fälle von Dementia praecox
splittern sich bei der Differenzierung nach Alter, klinischem Bild und Ver¬
lauf so weitgehend auf, daß das Material zur Entscheidung dieser Fragen
vorerst noch zu klein ist. Interessant ist, daß ganz alte Endzustände tiefster
Verblödung noch Dysfunktion der Geschlechtsdrüsen zeigen.
Kreuser: Über Sonderlinge und ihre psychiatri¬
sche Beurteilung.
In seinen „Psychischen Grenzzuständen“ nimmt Pelman an, daß
Sonderlinge neuerdings seltener werden oder wenigstens ihre Eigenheiten
mehr für sich zu behalten suchen. Wunderliche Blüten einseitiger Be¬
strebungen auf verschiedenen Gebieten des modernen Lebens weisen aber
darauf hin, daß nur Inhalt und Richtung der Eigentümlichkeiten sich ver¬
schoben haben, diese weder geschwunden sind noch auch in der Verborgen¬
heit bleiben wollen. Verloren haben die Auffälligkeiten im Verhalten ein¬
zelner Personen offenbar an Originalität, mehr als früher folgen sie der
Mode, um diese auf eine Spitze zu treiben, in der ein eigentlicher Zweck
kaum mehr zu erkennen ist. Nicht hur in der Art, sich zu kleiden, auch
auf den Gebieten der Kunst, des Sports, religiöser Anschauungen und
besonders einer „natürlichen“ Lebensweise und Heilkunde tritt dies so
zutage, daß ein pathologischer Beigeschmack nur selten fehlt. — Nicht
immer ist es leicht, zu bestimmter Krankheitsdiagnose zu gelangen, und
gar manchmal stößt man damit auf Widerspruch auch bei Dritten. Ab¬
sonderlichkeiten Anden sich zweifellos auch bei Nicht-Geisteskranken,
bisweilen sogar bei genialen Naturen; namentlich aber auf dem Boden
der psychopathischen Entartung. HäuAger jedenfalls sind sie Teilerschei¬
nungen von Krankheitszuständen; sie stellen keine klinische Einheit dar,
sondern Anden sich bei den verschiedensten Krankheitsformen und in ver¬
schiedenen Verlaufstadien. So lange ein namhafter geistiger Verfall
nicht eingetreten ist, können sie das Krankheitsbild so beherrschen, daß
bei ihrer Beurteilung leicht Mißdeutungen unterlaufen. Einige Beispiele
dafür werden in der Kürze, ein Fall von zirkulärer Geistesstörung, bei dem
ein langdauerndes hypomanisches Stadium mit paranoiden Zügen zu
mehrfacher Verkennung Anlaß gegeben hat, etwas ausführlicher angeführt.
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Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte.
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Anstaltsärzte bekommen solche Fälle meist nur zu Gesicht, wenn aus recht¬
lichen oder polizeilichen Gründen eine Begutachtung verlangt wird. Zur
richtigen Diagnose gelangt man in der Regel besser, wenn man es ver¬
meidet, die Eigenart der Person zum Ausgangspunkt in der Untersuchung
zu nehmen, vielmehr von der ursprünglichen Veranlagung und Entwicklung
aus ihr Werden auch in etwaigen Auswüchsen zu ergründen sucht. —
Sonderlinge stellen so der Persönlichkeitsforschung interessante Aufgaben.
Sollten sie in der Tat seltener werden, so wäre dies nicht allzusehr zu
bedauern. Die Bedeutung hervorragender Persönlichkeiten büßt nichts
ein, wenn unter den allgemein erzieherischen Einflüssen der Kultur wert¬
lose Nebenerscheinungen in Wegfall kommen. Wo aber unfruchtbare
Eigentümlichkeiten zur Vorherrschaft gelangen, kann es nur förderlich
sein, wenn ihre krankhafte Natur richtig erkannt und angemessener Be¬
handlung entgegengeführt wird.
Wi&er-Heidelberg: Neues über die Tierseele.
Anknüpfend an den durch die Elberfelder Pferde hervorgerufenen.
Streit um die Tierseele berichtet der Vortragende auf Grund eigener Be¬
obachtungen und an der Hand verschiedener, zum Teil amtlich beglaubigter
Protokolle über einen noch nicht dreijährigen Hund (Ayrdale-Terrier),
der einer ihm befreundeten Familie in Mannheim gehört und alles von den
Pferden Berichtete in Schatten stellt. Es ist nach den mitgeteilten Er¬
fahrungen keine Übertreibung, zu behaupten: das wunderbare Tier hat
ein ausgezeichnetes Gedächtnis und eine treffliche Beobachtungsgabe, es
versteht die menschliche Sprache und verfügt über einen umfangreichen
Wortschatz, darunter auch abgeleitete Begriffe, es kann rechnen, lesen
und in gewissem Sinne, wenn man sein Buchstabenklopfen dafür gelten
läßt, auch schreiben, es unterscheidet Farben, Zahlen und Zeichen, es kennt *
die Zeit und das Geld, es antwortet nicht mehr bloß auf Fragen, sondern
gibt auch seine Gedanken und Gefühle selbständig kund. Mit letzterem
Worte soll gesagt sein, daß der Hund auch Seelenregungen und Stimmun¬
gen, wie Freude, Angst, Mitleid, Mißmut, die man sonst nur beim Menschen
vorauszusetzen pflegt, zum Ausdruck bringt. Zuerst und ganz zufällig
wurde seine rechnerische Begabung entdeckt, als er in einer Lernstunde
der Kinder des Hauses, wobei er meist zugegen war, eine ausbleibende
Antwort richtig durch vier Pfotenschläge angab. Sogleich zeigte sich,
daß er auch schwierigere Aufgaben zu lösen, sogar Wurzeln zu ziehen ver¬
stand. Seine Herrin, eine sehr tierfreundliche Dame, der er wegen wieder¬
holter Pflege in Krankheiten mit rührender Anhänglichkeit ergeben ist und
die er nur „mudr“ nennt, hat ihn daraufhin nicht eigentlich plan¬
mäßig unterrichtet, sondern sich andauernd liebevoll mit ihm beschäftigt,
seine Aufmerksamkeit geweckt und auf alles Mögliche hingelenkt. Nur
einige Züge seien zur Erläuterung des Gesagten angeführt. Die erste selb¬
ständige Gedankenäußerung erfolgte in der Sommerfrische, als nachts im
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
nahen Walde ein Käuzchen schrie; Rolf — so heißt der Hund, mit Kose¬
namen Lol — weckte seine Herrin und klopfte ihr auf den Arm: „fogl hern“.
Daß er die einzelnen Wörter lautmäßig (phonetisch), und zwar nach der
Mannheimer Mundart, nicht nach der in der Schule gelehrten Recht¬
schreibung wiedergibt, spricht nur für die Selbständigkeit seines Denkens.
Das erste Wort, das er „schrieb“ (für jeden Buchstaben hat er eine be¬
stimmte, niemals verwechselte Anzahl von Pfotenschlägen), war „krla“,
d. h. Kerla, der Name des jüngsten Töchterchens. Selbstlauter wie a und e,
die schon im Buchstabennamen enthalten sind, läßt er als überflüssig
meist aus und verschmäht auch die Zeichen für die Doppellaute x und z,
sowie für die schon einmal vorhandenen q und v, darin eigentlich ver¬
nünftiger als wir. Als Beweis für sein „Gemüt“ möge dienen: Als er seine
Herrin wegen der Abreise eines Kindes in Tränen sah, klopfte er „mudr
nid weinn Lolw“. An einem Sonntage wollte er nicht „arbeiten“ und
antwortete auf die Frage, woher er denn wisse, daß Sonntag sei, „klndr
rodd sal“, gab auch richtig an, daß zwischen zwei roten Zahlen immer sechs
schwarze stehen. (Vgl. auch diese Ztschr., Bd. 70, S. 474.)
Eine solche Begabung, wie sie aus den erwähnten, leicht ums Viel¬
fache zu vermehrenden Beispielen hervorgeht, ist zweifellos eine ganz
außergewöhnliche, in dieser Weise vielleicht niemals wiederkehrende.
Daß aber die geistigen Fähigkeiten der Tiere im allgemeinen etwas zu
niedrig eingeschätzt werden, zeigen nicht nur die Elberfelder Pferde und'
die verschiedenartigen zur Schau gestellten Tiere, die oft erstaunliche
Proben von „Dressur“ ablegen, sondern auch zwei andere Zöglinge der
Mannheimer Dame, eine junge Hündin namens Jela und das dreiviertel¬
jährige Kätzchen Daisy. Beide lösen, wenn sie bei guter Laune und nicht
zu zerstreut sind, schon nach kurzem Unterricht leichte Rechenaufgaben.
Dabei sei noch ein hübscher und bezeichnender Zug eingeflochten: Jela,
die sich übrigens zum sprechenden Hund ausbildet und schon ganz deutlich
„Mama“ sagt, konnte anfänglich nicht über zehn hinaus rechnen und dem¬
gemäß die Aufgabe 9 + 2 nicht beantworten; da sprang ihr, in des Wortes
doppelter Bedeutung, Rolf bei und gab ihr 11 Schläge auf den Rücken.
Die Hündin ist von derselben echten Rasse wie Rolf, und wenn, wozu Aus¬
sicht vorhanden, dieser Hund fruchtbar sein sollte, würden sich wichtige
Vererbungsfragen ergeben. Wird, wie wir es im Menschenleben so oft
beobachten, die hervorragende Befähigung des Vaters gleich einer kurz¬
leuchtenden Sternschnuppe wieder verschwinden oder sich, wenigstens teil¬
weise, auf die Nachkommen übertragen?
Zweierlei Schußfolgerungen lassen sich aus den mitgeteilten Tat¬
sachen ziehen, eine rein wissenschaftliche, entwicklungsgeschichtliche,
daß nämlich die Kluft zwischen der menschlichen und der tierischen Seele,
wenn wir in diesem Begriff alle geistigen Fähigkeiten zusammenfassen,
lange nicht so groß ist, als man sich früher vorstellte, und dann eine mehr
fürs tägliche Leben in Betracht kommende, daß wir einerseits, da offenbar
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auch die höheren Tiere den Schmerz nicht bloß körperlich empfinden, die
Bestrebungen des Tierschutzes möglichst zu unterstützen und anderseits
die Fähigkeiten des Hundes, des ältesten, seit mindestens 15 000 Jahren
in Gesellschaft des Menschen lebenden Haustieres, vielleicht noch mehr
als bisher nutzbar zu machen suchen.
Diskussion. — L. M ann -Mannheim, der den Hund selbst ein¬
mal gesehen und beobachtet hat, frägt den Vortragenden, ob ihm bekannt
sei, daß der Hund auch in Abwesenheit seiner Besitzerin gearbeitet hat.
Dem Anfragenden war eine weitere Beobachtung des Hundes offenbar
inf'olge mangelnden „Rapports“ zwischen ihm und der
Besitzerin nicht möglich.
Sommer betrachtet im Anschluß an den Vortrag die allgemeine Lage
der Tierpsychologie. Bei der Untersuchung der Frage des „klugen Hans“
hat Pfungst eine entsprechend modifizierte Methode Sommers verwendet,
durch welche die unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen der
Experimentatoren graphisch registriert wurden, auf welche das Tier re¬
agiert. Im Anschluß an die Ausführungen von Pfungst besprach Krall
bei dem Druck seines Buches diese Fragen mit Sommer , der ihm riet, bei
den Versuchen jede Vermittlung durch Signale oder unwillkürliche Be¬
wegungen auszuschließen. Dies läßt sich jedoch nur in einem methodisch
eingerichteten tierpsychologischenLaboratorium unter
streng wissenschaftlicher Leitung durchführen. Es frägt sich, wo sich der¬
artige Einrichtungen am besten treffen lassen. Anfänge liegen an einer
Anzahl von psychologischen Instituten vor, z. B. in
Cambridge, Göttingen, besonders auch an mehreren Universitäten Amerikas.
Aber es sind nur unvollständige Versuche, die systematisch ergänzt werden
müssen. Auch die psychiatrischen Kliniken können sich nur nebenbei
mit diesen Dingen beschäftigen. Am besten wäre es, wenn an einer Uni¬
versität eine besondere Dozentur für diesen Teil der Psychologie ein¬
gerichtet würde, wobei zweckmäßigerweise das Institut einem
zoologischen Garten angegliedert werden müßte. Sommer regt
an, daß, falls die Universität Frankfurt demnächst eingerichtet wird, dort
in Verbindung mit dem vorhandenen zoologischen Garten ein solches
tierpsychologisches Institut unter Leitung eines besonderen Dozenten
geschaffen wird.
Heüpach vermißt in den Mitteilungen des Vortragenden wie in allem
bisher bekannt gewordenen die bescheidenste Garantie für die Möglich¬
keit einer wissenschaftlich einwandfreien Prüfung der angeblichen Fähig¬
keiten des H undes. Vor allem müßte das Tier inAbwesenheit seiner Herrin»
und müßte deren Geisteszustand einwandfrei untersucht werden können.
Hocke : Über den Begriff der Hysterie.
(Nach Mitteilung des Vortragenden für ein kurzes Referat ungeeignet.)
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Diskussion. — HeUpach- Karlsruhe: Als Hauptmitschuldigerart
dem Begriffsgebilde der reaktiven Abnormität könnte ich mich ja nur freuen r
wenn man so wichtige Zustände wie die Hysterie unter diesem Gesichts¬
punkte betrachtet. Dennoch scheint es mir bei dem Streit, ob Reaktion
oder „Krankheit“, gutenteils um Worte zu gehen. Auch in der Physio¬
pathologie sind die meisten sog. konstitutionellen Krankheitszustände
abnorme Reaktionen, trotzdem denkt niemand daran, sie als nosologische
Entitäten fallen zu lassen. Den Wert des gegenwärtigen Streites um das
„Wesen“ der Hysterie will ich damit bezüglich seiner Anregungskraft
nicht verkennen.
Homburger weist auf die völlige Übereinstimmung hin, welche zwi¬
schen dem von der Heidelberger Klinik seit Jahren vertretenen und dem von
Hocke soeben vorgetragenen Standpunkte besteht. Wilmanns trat bereits
in seinem 1907 erstatteten Referat über Gefängnispsychosen dafür ein, daß
gegenüber den „hysterischen“ Symptomen und der Anlageform des
„hysterischen Charakters“ die Bezeichnung Hysterie als Krankheit jener
Gruppe von Fällen Vorbehalten bleibe, in denen der hysterische Charakter
mit hysterischen Symptomen vereinigt ist. Die hysterischen Symptome
und Symptomverkuppelungen im Sinne Hoches sind ihrerseits in solchem
Umfange Bestandteil der verschiedenartigsten Krankheitsbilder, daß
ihnen eine wesensbestimmende Bedeutung nicht zuerkannt werden kann.
Lilienstein-Baid Nauheim: Zur Frage der Aufteilung des Hysterie¬
begriffs (und der verwandten Sammelbegriffe der Hypochondrie und
Neurasthenie) habe ich in letzter Zeit einen kleinen Beitrag geliefert:
Ich habe mich speziell mit den bei Herzkranken auftreten¬
den Psychoneurosen beschäftigt (s. Arch. f. Psych. u. Nerv.,
Bd. 52, H. 3) und fand, daß diese letzteren, die hysterischen, neurastheni-
schen und hypochondrischen Symptome, meist parallel mit den übrigen
Herzkompensationsstörungen verlaufen. Patienten, die vor dem Auf¬
treten ihrer Herzerkrankung (bzw. vor der Kompensationsstörung) ab¬
solut gesund waren, die auch nach dem Verschwinden der Dekompensation
keinerlei nervöse Symptome mehr boten, litten an deutlichen hysterischen,
depressiven und andern Symptomen gesteigerter Reizbarkeit („Kardio-
thymie“) nur so lange, als Stauungserscheinungen auch in anderen Organen
auftraten. Ich nehme deshalb an, daß die funktionellen Störungen der
Hirntätigkeit in solchen Fällen auf heilbare anatomische Läsionen im
Gehirn (Stauungserscheinungen oder Autointoxikation, ähnlich wie bei
Urämie oder Hyperthyreoidie) zurückzuführen sind. Ich halte es für ein
Unrecht, derartige Kranke mit der Diagnose Hysterie zu stigmatisieren,
zumal bei ihnen eine endogene abnorme Reaktionsfähigkeit absolut nicht
anzunehmen ist.
Überhaupt Anden sich endogen Hysterische — i. e. die vom Vor¬
tragenden erwähnte kleine Gruppe echter Hysterie — in der Praxis sehr
selten. Das wird jeder in der Praxis stehende Arzt bestätigen. Wenigstens
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Veräaramiung siidwestdeutscher Irrenärzte.
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\i v v m*v 4 v,
-« ich in den ietis^n; Jahren — frei sorgfältigerer• Untersuchung .und •
Hsendvr Erfahrung—-- mir selten noch «dtte Hysterie gesehen, während
diese Diagnose in meinen früheren Krmikenblältern noch häufig veri*
Dort finde.
Mttfpfieh- KArisnihe - A l t e r «
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'>sion. Körnerlicjiris 1
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§§j! zur Stunde nicht., Die f)—rupentiwhe Aufgabe- hast eh.» fiiej>ftv>.s in
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1 hei* L,ivi.. f ren |tvi —l—n tröstenden and suggestiven Erniulisrungetf
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ithiterti Seite. Vicht selten wird der Arzt in die Euyfe komme«, um
‘^ÄvUftm dgr gesuttltpn^ij VjibiUKt uri.l »kr ^itsjirecheridän d^i'cssayfrt
Kranken yöreiihie ,ßnIschjirfiuiftr*» hiiHmmi halten (Be
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4 "'•••:im;, rtti r-'.-iualn:-'. '(.X\<<. 0
M
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
verleiten kann. Die Dauer der unter dem Bilde des Kränkeins sich voll¬
ziehenden Alternsstöße scheint zwischen einigen Wochen und anderthalb
bis zwei Jahren schwanken zu können.
2. Sitzung, 23. November.
Vorsitzender: Arewser-Winnental.
Bei der geschäftlichen Besprechung wird der Einladung Sommers
Folge gegeben, die Versammlung im nächsten Jahre in Darmstadt abzu¬
halten; Geschäftsführer sind iSommer-Gießen, Dannemann -Goddelau und
Fix-Darmstadt. Die Geschäftsführer werden beauftragt, referierende Vor¬
träge über die klinisch-psychologische Untersuchungsmethodik von Unfall¬
neurosen zu gewinnen.
IV itte/vnann-Rufach: Klinisch eSymptomatologie und
Familienforschung.
Auch in klinischer Hinsicht vermag die Familienforschung, wenn auch
ihr Hauptgebiet die Aufstellung bestimmter Vererbungsregeln ist, wertvolle
Aufklärung zu bringen. Dabei hat man auszugehen von der Frage, w-elche
Krankheitsbilder sich innerhalb derselben Familie vorfinden können. In
überwiegendem Maße hat Vortr. in den von ihm untersuchten Familien
Gleichartigkeit der Vererbung feststellen können, die sich sogar auf Ähnlich¬
keit des Krankheitsbildes in einzelnen Zügen erstreckte. Diese Gleich¬
artigkeit der Vererbung hat aber nicht unbedingte Geltung; schon aus der
Frage der Vererbungskreise, die freilich erst noch weiterer Bearbeitung
bedarf, ist die Möglichkeit einer polymorphen Vererbung zu ersehen. Aller¬
dings gehört das Vorkommen von Dementia praecox neben manisch-
depressivem Irresein zu den größten Seltenheiten. Wo verschiedene
Krankheitsbilder nebeneinander innerhalb derselben Familie Vorkommen
oder wo völlig atypische, diagnostisch schwer zu behandelnde Formen
auftreten, liegt auch stets ein atypisches Verhalten der Heredität vor, sei
es, daß verschiedene Anlagen Zusammentreffen, sei es, daß eine bestimmte
Anlage durch keimschädigende Momente, insbesondere durch Lues des Er¬
zeugers, eine Komplikation erfährt. Die klinischen Zeichen der Entartung
sind bei familiären Erkrankungen, wie der Dementia praecox, auch bei
gehäuftem Vorkommen nicht nachzuweisen.
Morstatt-Winnenial : Trauma und Korsakoffsche Psy¬
chose.
Es wird über 2 Fälle von polyneuritischer Psychose berichtet, bei
denen das Krankheitsbild sich nach einer Kopfverletzung entwickelt hatte.
Beide waren der Simulation verdächtig geworden und nach längerer Dauer
zur Begutachtung in die Anstalt gekommen, wo die polvneuritischen Er¬
scheinungen festgestellt und die Diagnose auf polyneuritische Psychose
gestellt wurde. Der Alkoholismus hatte ätiologisch keine oder nur eine
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ei-geordnete Rolle gespielt. Wichtig ist, daß bei Vorhandensein der
chischen Züge der Krankheit auf Polyneuritis untersucht wird, und
1 man — auch nach Trauma — außer Simulation nicht bloß die Ent-
eidung zwischen anatomisch bedingter Störung und psychogener Ent-
hung der Beschwerden ins Auge faßt. Der Alkohol ist nicht immer die
>ache des Krankheitsbildes, für die Therapie hingegen die Fernhaltung
oholischer Schädigung von großer Bedeutung.
Hauptmann -Freiburg i. B.: Die Diagnose der „früh-
ischen Meningitis“ äus de in Liquorbefund.
In jüngster Zeit fand man bei systematischer Durchuntersuchung
sehen Syphilitikermaterials Fälle, die klinisch subjektiv und objektiv
Tiptomfrei waren, im Liquor aber Veränderungen im Sinne einer Lympho-
tose, Eiweiß Vermehrung oder Wasserma/inschen Reaktion (oder einer
>mbination dieser Phänomene) boten. Es mußte entschieden werden,
• diese Liquorveränderungen der Ausdruck einer „frühluischen Menin-
tis“ seien.
Zur Beantwortung dieser Frage wird zunächst die Erwägung heran-
zogen, ob die syphilitischen Antikörper im Liquor den syphilitischen
messen im C. N. S. selbst ihr Entstehen verdanken (Wassermann, Plaut)
ler einer Filtration aus dem Blute (Zaloziecki). H. entscheidet sich für
erste Annahme, die er hauptsächlich durch Vergleiche des Vorkommens
er IPassermannschen Reaktion und der Weil-Kafkaschen „Permeabilitäts-
Aktion“ zu stützen sucht; er berücksichtigt hierbei aber die Tatsache
>ner unspezifischen Wassermann-Reaktion im Liquor bei gewissen Me-
üngitiden.
Von anatomisch untersuchten Fällen spricht nur ein von Max
Fankel publizierter vielleicht (der klinische Verlauf entschied eigentlich
Mil #egengesetzt) gegen die diagnostische Bedeutung der Liquorverände-
ungen, ein von Zaloziecki und vor allem ein von Jakob untersuchter Fall
itschieden für die Dignität des Liquorbefundes. Wichtig erscheint auch
">e Untersuchung Verses , der in den Spinalganglien eines Syphilitikers,
er klinisch völlig symptomfrei war, Spirochäten nachwies.
Im Anschluß hieran berichtet H. über Impfversuche von Nichols und
f °ugh und von Steiner, die durch Injektion von Liquor Sekundär-Lui-
eher in Kaninchenhoden Spirochäten nachweisen konnten.
Bei klinisch sicheren Fällen frühluischer Meningitis fand sich ent-
prechender Liquorbefund (Ly. Phase I, Wasser mann-Reaktion bei Aus¬
artung); alle Symptome konnten aber schwinden, und doch blieb der
j >quornoch verändert: ein Beweis, daß die Liquorveränderung
* as einzige Kennzeichen der latenten syphiliti-
c hen Meningitis sein kann. Weiterhin werden Fälle beob-
" htet, die klinisch symptomfrei sind, veränderten Liquor zeigen und durch
i uf Salvarsan folgende Neurorezidive beweisen, daß die Liquor ver-
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änderungender spezifische Ausdruck der latenten
syphilitischen Meningealaffektion waren. Es ist
deshalb berechtigt, auch in Fällen, die bei positivem Liquorbefund kein
Neurorezidiv bekamen, aus dem veränderten Liquor auf das Bestehen
einer früh-luischen Meningitis zu schließen, um so mehr, als Fälle der
Literatur, wie eigene von H. untersuchte zeigen, daß gerade die Patienten
mit Liquorveränderungen subjektive Symptome seitens des C. N. S., wenn
auch in sehr geringem Grade (wie Kopfschmerzen, Ohrensausen, Augen-
flimmern, Schwindel, rheumatoide Schmerzen in Armen und Beinen) boten.
Eiweiß-, Zellvermehrung oder Wassermann-
sche Reaktion im Sekundärstadium der Lues sind
also der Ausdruck einer (bisweilen latenten)
luischcn Meningitis.
Es scheint fraglich, ob die Anschauungen über die Lues ner¬
vosa nach Kenntnis der Tatsache, daß in einem so großen Prozentsätze
das C. N. S. schon so früh von Spirochäten überschwemmt wird, aufrecht
erhalten werden können.
H. tritt entschieden für die Dreyfuß sehe Forderung ein, alle
Syphilitiker zu punktieren und zu behandeln, bis der Liquor wieder
normal geworden ist.
(Der Vortrag erscheint an anderer Stelle ausführlich.)
Jahnel -Frankfurt: Vortragender bespricht eine noch wenig bekannte
Erscheinung, das Vorkommen von positiver Wassermann-
scher Reaktion im Liquor der tuberkulösen Me¬
ningitis bei luischen Individuen an der Hand eines
einschlägigen Falles.
Es handelte sich um einen dem klinischen Befunde nach typischen
Fall von tuberkulöser Meningitis, was auch durch die histologische Unter¬
suchung (besonders durch den Nachweis von Riesenzellen und zahlreichen
Tuberkelbazillen in der entzündlich infiltrierten Pia) erwiesen wurde. Eine
Kombination mit Paralyse oder einer andersartigen luischen Erkrankung
des Zentralnervensystems war nach dem Verlaufe und dem Ergebnisse
der anatomischen Untersuchung auszuschließen. Vortr. weist auf die prak¬
tische Bedeutung dieser Erscheinung, daß bei Meningitis infolge der er¬
höhten Permeabilität der Meningen auch die die Wassermannsche Re¬
aktion verursachenden Stoffe aus dem Blute in den Liquor übertreten
können, hin.
(Erscheint ausführlich im Archiv für Psychiatrie.)
G. Steiner-StraQburg i. E.: Impfexperimente mit Spi-
n a 1 f 1 ü s s i g.k eit von Syphilitikern.
Gemeinsam mit Herrn Oberarzt Dr. Mulzer von der Straßburger
Hautklinik habe ich bis jetzt bei 20 syphilitischen Personen der primären
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und sekundären Periode Verimpfungen der Spinalflüssigkeit auf die Hoden
von Kaninchen, gelegentlich auch intravenös, ausgeführt. Es kann hier
schon über 3 positive Impferfolge berichtet werden, was einen verhältnis¬
mäßig hohen Prozentsatz darstellt, da eine gewisse Anzahl der Versuchs¬
tiere noch innerhalb der Inkubationsperiode einer Seuche zum Opfer fiel.
Die Prozedur bei der Verimpfung war folgende: Nach der Desinfek¬
tion der Einstichstelle mit Jodtinktur wurde der Kranke punktiert. Die
erste Portion des Liquor wurde für die Ausführung der Wassermann&chen
Reaktion bestimmt und in einem besonderen Oläschen aufgefangen. Die
zweite und dritte Portion kam je in ein Röhrchen zur Zell- bzw. Eiwei߬
untersuchung, und erst die letzte Menge von ca. 8—9 ccm wurde in einem
sterilen Glas aufgefangen und zum Impfen verwendet. War der Liquor
leicht blutig, was nicht allzu häufig vorkam, so wurde die Punktions-
ilüssigkeit überhaupt nicht auf die Tiere verimpft, da ja nach den Unter¬
suchungen von Uhlenhuth und Mulzer immer die Möglichkeit vorlag, daß
Syphilisspirochäten aus dem beigemengten Blute der primären und sekun¬
dären Syphilitiker bei der Verimpfung auf die Tiere übertragen werden
konnten. Die zuletzt gewonnene Lumbalflüssigkeit wurde mit einer
sterilen Rekordspritze aufgenommen und in die Hoden von 2 oder 3 Kanin¬
chen verimpft. Außerdem wurde auch das Blut der untersuchten Kranken
auf Kaninchen intratestikular verimpft. Selbstverständlich wurde eine
genaue Untersuchung des Blutes und der Spinalflüssigkeit auf die Wasser-
mannsche Reaktion, des Liquors auch nach den modernen Untersuchungs-
methoden (Phase-I-Reaktion und zytologische Untersuchung) vorge¬
nommen.
Ich will nun kurz über die drei positiven Fälle berichten:
I. J... A..., 20jähriges Mädchen mit Papeln auf der Zunge.
Am 30. Januar 1913 punktiert. Zytologische und chemische Untersuchung
des Liquor ergibt normalen Befund. Der Wassermann im Liquor ist
negativ, im Blute positiv. Es wird je 1 ccm Liquor in beide Hoden von
3 Kaninchen, je 2 ccm Blut in beide Hoden von 3 andern Kaninchen
verimpft. Erst am 27. Mai konnte bei einem der mit Liquor behandel¬
ten Kaninchen im linken Hoden ein Knoten nachgewiesen werden, der
mit einer Glaskapillare punktiert wurde. Im Punktat konnten mit Hilfe
der Dunkelfeldbeleuchtung zahllose charakteristische Spirochaetae pallidae
nachgewiesen werden.
II. A... M..., 18 jähriges Mädchen mit Papeln und breiten Kon¬
dylomen. Die Lumbalpunktion und Impfung fand ebenfalls am 20. Januar
1913 statt, sie wurde in ganz derselben Weise wie beim vorhergehenden
Fall auf 6 Kaninchen (3 Kaninchen mit je 1 ccm Liquor in beide Hoden)
vorgenommen. Im zentrifugierten Liquor ließ sich eine sehr geringe
Lymphozytose, 2—3 Lymphozyten im Gesichtsfeld, also kein eigentlich
pathologischer Befund nachweisen. Die Globulinreaktion war negativ,
ebenso die Wassermann-Reaktion, im Blute war die Wassermann-Reaktion
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
positiv. Am 19. April 1913 fand sich wiederum bei nur einem Tier
eine zirkumskripte Orchitis, in der typische Spirochäten nachzuweisen
waren.
III. F... M..., 30jähriger Mann mit allgemeinem papulösen
Syphilid. Die Punktion und Verimpfung wurde am 21. Mai 1913 vorge¬
nommen. Der Liquor verhielt sich vollkommen normal. Wassermann im
Blute war positiv. Von den zwei am 21. Mai mit je 1 ccm in beide Hoden
geimpften Tieren zeigte eines am 13. August 1913 einen positiven
Befund im Hoden mit charakteristischen Spirochäten.
Als erster konnte Hof mann in Bonn bei Verimpfungen von Spinal -
flüssigkeit syphilitischer Personen auf Affen ein positives Impfresultat
erzielen, auch Nichols und Hough haben in neuerer Zeit Spinalpunktat von
Syphilitikern mit Erfolg verimpft; die so wichtige Untersuchung der Zerebro¬
spinalflüssigkeit ist aber hierbei nicht vorgenommen worden. Daß durch
den Vergleich der Verimpfung mit der Untersuchung der „vier Reaktionen“
des Liquors ein wichtiges Ergebnis sich herausstellt, wird aus nachstehen- ,
den Ausführungen hervorgehen. Es ist natürlich nötig, die Verimpfungs-
methode im Verein mit den anderen Untersuchungsmethoden des Liquor
noch in viel extensiverer Weise anzuwenden, als es uns bis jetzt möglich war.
Die Bedeutung der von uns erhobenen Befunde besteht im folgenden:
1. Es Anden sich schon dann Spirochäten im Liquor
der Syphilitiker der sekundären Periode, wenn
der Liquor selbst noch keine nachweisbaren Re*
a k t i o n s e r s c h e i n u n g e n auf den Krankheitserreger
zeigt, d. h. wenn die Lymphozytose, die Globulin Vermehrung und die
Wtwsermannsche Reaktion im Liquor fehlt.
2. Die Inkubationszeit bei den mit Liquor gespritzten Tieren ist
länger wie bei den mit Blut oder andern Körperflüssigkeiten der Syphili¬
tiker bzw. der syphilitischen Kaninchen infizierten Tieren. Die Inkubations¬
zeit betrug nämlich in dem ersten genannten Falle vom 20. Januar bis zum
27. Mai, also über 4 Monate, im zweiten Falle 3 Monate und im dritten Fall
ebenfalls 3 Monate. Es kann dies verschiedene Ursachen haben ; die zwei
folgenden Annahmen scheinen mir am nächsten zu liegen: einmal kann es
mit dem Medium Zusammenhängen, in dem die Spirochäten sich befinden —
ein Analogon hierzu wäre, daß auch die Verimpfungen mit Gehirnmaterial
von Paralytikern, wie sie Noguchi und andere ausgeführt haben, oft erst
nach einer langen Inkubationszeit positiv ausflelen —, andererseits besteht
die Möglichkeit, daß die Anzahl der Spirochäten bei dieser Ver¬
längerung der Inkubationszeit eine Rolle spielt. Es ist nämlich auffällig,
daß
3. Tiere, die an demselben Tage, zu derselben Stunde und mit dem¬
selben Impfmaterial geimpft wurden, sich der Infektion gegenüber ver¬
schieden verhielten; bei dem einen ging die Infektion an, das andere Tier
blieb gesund. Das kann auf einer individuellen Disposition der Tiere
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Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte.
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ruhen, es kann aber auch damit Zusammenhängen, daß die Zahl der
irochäten im Liquor eine verhältnismäßig geringe ist und sich dann in,
r einen Impfportion findet, in der anderen nicht. Hier ist auch er-
ihnenswert, daß die direkte Untersuchung des Liquors im Dunkelfeld
f Spirochäten, die fast regelmäßig vorgenommen wurde, niemals ein
sitives Resultat ergab. Wir müssen auch hieraus schließen, daß die
hl der Spirochäten im Liquor bei der sekundären Syphilis eine ver-
ltnismäßig geringe ist.
Verimpfungen von Liquor von progressiver Paralyse, Tabes
irsalis und Lues cerebrospinalis .auf Kaninchen, die auch schon in
rhältnismäßig großer Anzahl (19 Fälle in Gemeinschaft mit Uhlenhut
Mulzer) ausgeführt wurden, haben bis jetzt nur negative Resultate
geben.
Diskussion. — Hauptmann -Freiburg: Die .Stemerschen Beo-
ichtungen, daß sich aus dem Liquor, der weder Zell- noch Eiweißver-
lehrung noch Wasserma nnsche Reaktion aufweist, Spirochäten verimpfen
issen, fordern zu weiteren Untersuchungen auf, ob dieser Spirochäten-
aehweis ein noch früheres Symptom einer früh-luischen Meningitis ist,
ls die Lymphozytose.
FucÄs-Emmendingen:Epilepsie und Luminal (erscheint
ausführlich in der Münch, med. Wschr.).
Diskussion. — Ransohoff: Wir haben Luminal seit fast 1 y 2
•Jahren bei Epilepsie angewandt und können die günstigen Erfolge im all¬
gemeinen bestätigen, Luminal leistete gegen die Anfälle nicht weniger
^ die Bromalkalien, während das Allgemeinbefinden der Kranken ganz
unverkennbar besser blieb als bei Bromdarreichung.
Einzelne Versuche mit subkutaner Gabe von Luminalnatrium im
Status epilepticus haben uns noch kein eindeutiges Resultat gegeben.
fiedrer-Weilmünster: Trotz der interessanten Ausführungen des Vor-
re dners scheinen mir zwei Fragen, die sich bei der kritischen Durchsicht
'•er Luminalliteratur aufdrängen, noch der Beantwortung zu harren.
Eltens der Widerspruch zwischen Patschke und Schaefer einerseits, welche
zur Vorsicht bei Arteriosklerose mahnen, und Treiber und Sioli andrerseits,
Eriche Luminal gerade bei der Agrypnie älterer Arteriosklerotiker emp¬
fahlen. Ich selbst kann trotz ausgedehnter Erprobung des Luminals diese
Erage nicht entscheiden. Doch zu der zweiten Frage, nämlich ob Luminal
0< * er das leicht lösliche Luminal n a t r i u m vorzuziehen ist, kann ich
sa gen, daß, wo man schnelle Wirkung, wie z. B. beim Status epi-
lepticus, wünscht, das Luminalnatrium unbedingt den Vorzug verdient.
u,e verzögerte Wirkung des schwer löslichen Luminals hat in der Literatur
Ja auch bereits Würdigung gefunden, ich erinnere nur an Goldstein und
"Wnuel, die eine unangenehme kumulierende Wirkung des Luminals sahen.
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330
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Lilienstein-Bad Nauheim fragt mit Rücksicht auf die in manchen
Fällen auftretenden schweren Nebenwirkungen nach den Er¬
fahrungen des Vortragenden nach dieser Richtung. Da ferner die Epilepsie
eine so eminent chronische Erkrankung darstellt, so wäre es interessant,
zu erfahren, ob eine Dauerwirkung nach des Vortragenden und
Hauptmanns Erfahrungen nach Monaten und Jahren beobachtet worden ist.
Hauptmann -Freiburg hat bei den Fällen, die nun schon seit über
1 y 2 Jahren Luminal bekommen (in Dosen von täglich 0,3), keinerlei schädi¬
gende Wirkungen gesehen. Die schlafmachende Nebenwirkung wird am
besten durch abendliche Gaben ausgeschaltet. Die Beeinflussungen des
Atemzentrums, wie sie in Emmendingen beobachtet wurden, sind sicher
auf die zu hohen Dosen zurückzuführen. Luminal ist kein Heil mittel
der Epilepsie, sondern es unterdrückt nur die Anfälle. H. konnte sich
immer wieder davon überzeugen, daß die Anfälle wiederkamen, sobald man
mit der Medikation aussetzte. Trotzdem ist es in der Epilepsiebehandlung,
besonders in Anstalten, äußerst willkommen.
Sommer frägt im Anschluß an die Frage der Epilepsiebehandlung,
ob von den anwesenden Kollegen Versuche mit C r o t a 1 i n nach den
Vorschlägen von Fuckenheim gemacht worden sind. Es sind an ihn bisher
zwei Anträge auf diese Behandlung gemacht worden, ein Fall davon be¬
findet sich bald am Schluß der Behandlung. Sommer hält einen Teil der
Fälle von Fuckenheim nicht für einwandfrei, einen andern Teil für günstig
beeinflußt, so daß er den Versuch machte. Ob bei dem behandelten Falle,
der in einigen Punkten gebessert erscheint, das Crotalin wirklich die Ur¬
sache davon ist, bleibt dahingestellt. Weitere Versuche erscheinen wün¬
schenswert. Das Luminal hält Sommer zunächst nur für ein sympto¬
matisches Mittel, um die Anfälle und die erotischen Äußerungen der Epi¬
leptiker im Zaume zu halten. Die kombinierte Anwendung von Luminal
und Crotalin ist besonders in den Fällen zu erwägen, in denen die Epi¬
leptiker vor Beginn der Crotalinbehandlung unter starker B r o in -
Wirkung gestanden haben.
Veumann-Karlsruhe berichtet auf die Anfrage des Herrn Sommer
über einen Fall von Epilepsie, der zurzeit einer Crotalinbehandlung
unterzogen wird, vorläufig mit befriedigendem Erfolge. N. weist auf den
prinzipiellen Unterschied hin, der zwischen der Epilepsiebehandlung mit
sedativ bzw. narkotisch wirkenden Mitteln und der Crotalintherapie
besteht, indem der letzteren vielleicht die Bedeutung einer spezifisch bio¬
chemischen Therapie wenigstens einer gewissen Epilepsiegruppe zukommt.
Rosental £te/an-Heidelberg: Zur Frage der Schädel¬
kapazitätsbestimmung.
Die Schädelkapazität kann an der Leiche bestimmt werden, indem
man mittels einer erstarrenden Masse einen Abguß des Schädelinnenraums
herstellt und die Wasserverdrängung von diesem berechnet. Zu diesem
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Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte. 331
recke wurde ein Zinkoxydgelatinegemisch von Port angewandt und hat
h für Modellierung des Schädelinnenraumes als geeignet erwiesen,
eses Verfahren ist insbesondere für diejenigen Fälle von Wert, wo die
ekte Bestimmung der Wasserkapazität des Schädels nach Reichardt
:ht ausführbar ist. Die mit der Abgußmethode gewonnenen Schädel-
pazitätswerte sind meistens etwas niedriger, wie es nach dem Ergebnis
r Reichardtschen Methode zu erwarten ist. Wenn man aber den Volumen-
ert des Abgusses um 5 % vergrößert und die so gewonnene Zahl der Wasser-
tpazität gleich betrachtet, so wird auf diese Weise jede Fehlerquelle ver-
ieden, welche bei direkter Verwertung der Abgußkapazität für die Frage
t Hirnschwellung im Reichardtschen Sinne unterlaufen könnte.
In einem Falle der Dementia praecox, welcher im katatonischen Zu-
and unter schweren zerebralen Ausfallerscheinungen, ohne sonstige
jrperliche Komplikationen, plötzlich zugrunde ging, konnte eine Hirn-
hwellung sowohl wegen eines Mißverhältnisses zwischen dem Hirn-
ewicht und der Schädelkapazität wie auch nach der eigentümlichen Be-
:ha£fenheit der Hirnsubstanz angenommen werden. Die histologische
'ntersuchung ergab eine eigenartige Rindenerkrankung, welche im wesent-
‘chen dem Nißlschen „Nervenzellenschwund“ entspricht. In einem
odern Falle von Katatonie, welcher im Erregungszustand unter Kollaps-
Erscheinungen starb, fand sich ebenfalls eine abnorme Volumenzunahme
des Gehirns und ähnliche histologische Veränderungen, ohne daß die Hirn-
*ubstanz nach ihrer Beschaffenheit geschwollen erschien. Die beiden
Fälle werden ausführlich in den „Beiträgen zur Frage nach der Beziehung
zwischen dem klinischen Verlauf und anatomischen Befund“ von Prof.
beschrieben.
tfummeZ-EmmendingenMitteilungen über ungewöhn-
*' c he Sektionsergebnisse.
Je heruntergekommener das Nervensystem des Menschen ist, um so
weniger reagieren die körperlichen Organe auf krankhafte Vorgänge.
Belege dafür durch die Sektion zweier schwerer Verblödungsprozesse.
1. Hühnereigroßer Blasenstein, der sich um eine Haarnadel gebildet
hatte. — Schwere Cystitis — Harnstauung — trotzdem keine aszen-
dierende Pyelonephritis.
2. Großes, teils zerfallenes Rectumkarzinom, von dem ganze Zapfen
bröckligen Krebsgewebes frei in die Bauchhöhle zwischen die Därme
hineinreichten. Trotzdem keine Implantationsmetastasen, auch keine
Metastasen in Leber und Drüsen.
‘ScAmidr-Freiburg: Adrenalin Wirkungen bei Demen-
l'a praecox.
Verf. untersuchte die Wirkung der subkutanen Adrenalininjektion
bei einer Reihe von Fällen der Dementia-praecox-Gruppe. Es stellte sich
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
dabei heraus, daß die subkutane Einverleibung von % mg Adrenalin
bei Kranken dieser Kategorie keine Blutdrucksteigerung zur Folge hatte,
während die übrigen Personen (Gesunde und nicht zur Dementia praecox
gehörige Psychosen) mit der üblichen Blutdrucksteigerung reagierten.
Im ganzen wurden 60 Fälle untersucht. Eine ausführliche Besprechung
dieser Untersuchungen erscheint demnächst in der Münch, med. Wschr.
/ager-Reichenau: Zur Typhusfrage in Irrenanstalten.
Verf. äußert sich im Anschluß an seine bei einer Typhusepidemie in
Pforzheim gesammelten Erfahrungen über die Sonderstellung der Typhus¬
bazillenträger in den Irrenanstalten und fordert eine einheitliche, plan¬
mäßige Bekämpfung des Anstaltstyphus, der in den meisten Fällen durch
unerkannt gebliebene Dauerausscheider bedingt ist. Hierzu bedarf es
konsequenter Durchuntersuchung jedes frischen Zugangs — sowohl an
Patienten als an Personal — auf Dauerausscheidung sowie rascher, bak¬
teriologischer Klärung von dubiösen Erkrankungen der Anstaltsbewohner.
Abortive und gänzlich atypisch verlaufende Typhusfälle scheinen
gerade bei chronisch Geisteskranken relativ häufig vorzukommen.
Besonders warnt Verf. davor, Geisteskranke, die nicht zuvor wieder¬
holt auf Bazillenausscheidung geprüft worden sind, als Hilfspersonen in
Gemüseputzräumen, Küche usw. zu beschäftigen.
Sämtliche hierzu notwendigen bakteriologischen Untersuchungen
sollen von den staatlichen Untersuchungsämtern, nicht von einem spezia-
listisch geschulten Arzte der Anstalt, ausgeführt werden.
Der Überlastung der in Betracht kommenden Institute muß durch
Vermehrung ihres Ärzte- und Laborantenpersonals vorgebeugt werden.
Die Absonderung der ausfindig gemachten Bazillenträger soll in für
mehrere Landesanstalten gemeinsamen Typhusträgerhäusern geschehen,
in denen auch das der Dauerausscheidung verfallene Pflegepersonal
Verwendung finden kann.
Die unter dem Küchen-, Bäckerei-, Metzgereipersonal gefundenen
Bazillenträger müssen unbedingt ihren Beruf wechseln.
Für die dadurch zur Berufsaufgabe gezwungenen Angestellten ver¬
langt Vortr. eine dem Einzelfall angemessene gesetzliche Entschädigungs¬
berechtigung, analog der Unfallgesetzgebung.
Die Behandlung der Bazillenträger und der an Typhus frisch Er¬
krankten mit Antityphusserum sowie ganz besonders die Schutzimpfung
der in erster Linie bei Epidemien gefährdeten Personen (Pflegepersonal)
wird auf Grund der neueren, durchaus günstigen Erfahrungen den An¬
stalten zur Nachahmung empfohlen.
Diskussion. — Ransohoff : Seit Eliminierung der Typhus¬
bazillenträger sind die Anstalten Höchst und Stephansfeld dauernd
typhusfrei geblieben. Seither wurden sämtliche Zugänge in die Anstalten
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Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte.
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bakteriologisch untersucht; es sind bisher 3 Bazillenträger gefunden
worden.
In letzter Zeit ist die Bekämpfung im Reichsland auch auf die Dys¬
enterie ausgedehnt worden; die bakteriologischen Befunde sind aber noch
so unsicher, daß Erfolge bisher ausgeblieben sind.
itecArer-Weilmünster: In Preußen liegen anscheinend die Verhältnisse
nicht so günstig wie in Hessen. Als Provinzialangestellte stehen wir nicht
in so direktem Konnex mit den kgl. Medizinaluntersuchungsämtern, wie
anscheinend in Hessen. Unsere Ämter sind überlastet und sind sicher einer
systematischen Durchuntersuchung einer Riesenanstalt, die noch dazu
weit abgelegen ist, nicht gewachsen. Und zur Anwerbung eines speziellen
Bakteriologen für die einzelne Anstalt sind, da die Vorbildung desselben
ja nach meinen Erfahrungen eine mehrjährige sein müßte, die Kosten
schwer aufzubringen. Zu letzterer Ansicht bin ich gekommen infolge der
oft weit differenzierenden Resultate der einzelnen Bakteriologen in den
Einzelfällen. Es scheint mir die Theorie der modernen Bakteriologie wohl
den richtigen Fingerzeig zu geben, die Praxis aber doch noch öfters zu
versagen.
Ich kann aus meiner Anstalt berichten, daß wir alle Vorsichts¬
maßregeln, die der Herr Redner empfahl, und alle Durchsuchungsma߬
nahmen vorgenommen haben. Wir wären schon weiter, wenn nicht die
oben skizzierten Verwaltungsschwierigkeiten in Preußen und die Fehler
in der bakteriologischen Untersuchung, wie sie sich heutzutage noch nicht
ganz vermeiden lassen, hemmend dazwischen träten.
Im übrigen verweise ich die Herren Vorredner, welche auf ein Mittel
als unfehlbar in der Heilung von Dauerausscheidern schwören, auf den
lockenden Preis von 10 000 M. hin, der ja dafür ausgesetzt ist.
.ßar&o-Pforzheim berichtet kurz über den auf Anregung des Herrn
Privatdozenten Dr. Link, Direktors der inneren Abteilung des städtischen
Krankenhauses in Pforzheim, vorgenommenen Versuch, mittelst Dar¬
reichung von Milchsäure (4 proz. Lösung, 3 bis 4 mal täglich 1 Eßl.) die
Ausscheidungen der Typhusbazillenträger bazillenfrei zu machen. In
einem Falle der Pforzheimer Anstalt und in zwei Fällen des Herrn Dr. Link
sind diese Versuche bis jetzt von Erfolg begleitet gewesen. Der Vortr.
enthält sich jedes abschließenden Urteils über die Zuverlässigkeit der
Milchsäuremedikation, möchte aber zu Nachprüfungen Anregung geben.
Max Fischer- Wiesloch: Berufsgeheimnis und Heraus¬
gabe der Krankengeschichte.
In einer Untersuchungssache gegen einen entlassenen Anstalts¬
pflegling verlangt die Staatsanwaltschaft außer den Personalakten, und
dem Aufnahmegutachten, die sie erhalten hat, von der Anstaltsdirektion
noch die ärztlicherseits geführte Krankengeschichte; sie wird von der
Direktion mit Berufung auf den § 300 Str.-G.-B. (Berufsgeheimnis) ver-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
weigert. Die Staatsanwaltschaft besteht aber auf der Herausgabe, da
die Anstaltsdiiektion auf Grund des § 96 Str.-P.-O. als Behörde dazu ver¬
pflichtet sei. Auf erneute Weigerung der Anstaltsdirektion unter der Be¬
gründung, daß die Krankengeschichte in toto als ein uns anvertrautes
Privatgeheimnis angesehen werden müsse und die Eigenschaft als Behörde
und Beamte in unser Vertrauensverhältnis zum Kranken nicht eingreifen
dürfe, erzwingt die Staatsanwaltschaft die Herausgabe durch eine An¬
ordnung der Vorgesetzten Behörde der Anstalt.
Es wird nun untersucht, ob dies Vorgehen berechtigt war, und welche
Stellung wir Irrenärzte zu dem Falle einnehmen müssen. Der Vortr. ist
der Überzeugung, daß wir auch der Staatsanwaltschaft als Untersuchungs¬
behörde gegenüber die Krankengeschichten mit allen ihren Beilagen, all¬
gemein und ganz besonders im irrenärztlichen Beruf, als unter das Be¬
rufsgeheimnis fallend zu bewahren, ihre Herausgabe unter allen Umständen
abzulehnen befugt sind; ihrer ganzen Natur nach kann die Kranken¬
geschichte nicht als Aktenbestandteil angesehen werden und höchstens in
Ausnahmefällen an Fachgenossen, weil sie gleichfalls unter dem § 300
stehen, ausgeliehen werden.
Der § 96 Str.-P.-O. kann an dieser Auffassung nichts ändern. Ein¬
mal werden in der Preisgabe der Krankengeschichte die wichtigsten Inter¬
essen der ganzen Ärzteschaft, der Gesamtheit aller Kranken und damit
auch der Allgemeinheit, also des Staates empfindlich getroffen und ge¬
fährdet; außerdem würde aber der § 300 Str.-G.-B., also ein Bestandteil
der staatlichen Rechtsordnung, in Frage gestellt. Die Irrenärzte aber
können in Ausübung ihres Berufes an den Anstaltspfleglingen nicht als
Beamte angesprochen, und es kann uns nicht durch unsere staatliche
Stellung das schönste Anrecht des Arztes, das der Berufsverschwiegenheit,
wenn auch nur für gewisse Fälle, entzogen werden. Neben dem § 300 kommen
sonach zu unserem Schutze noch einige Paragraphen der Strafprozeßord¬
nung, und zwar § 52 (Zeugnisverweigerung), § 53 (Gefahr gerichtlicher
Verfolgung), § 95 (Wegfall der Zwangsmittel zur Herausgabe von Schrift¬
stücken) und § 97 (Unzulässigkeit der Beschlagnahme) in Betracht.
Sollte die hier begründete Ansicht aber von juristischer Seite nicht
geteilt werden, so wird eine reichsgerichtliche Entscheidung herbeizuführen
sein, oder es müßte, falls eine Lücke in der Gesetzgebung bestände, unsere
Standesvertretung beauftragt werden, auf eine Änderung und Ergänzung
des Gesetzes hinzuwirken.
Diskussion. — Kreuser stellt sich ganz auf den Standpunkt
Fischers, daß die Krankengeschichten als Niederschlag dessen betrachtet
werden müssen, was dem Arzt vermöge seines Berufes anvertraut ist, und
daß diese rein persönliche Vertrauensangelegenheit selbst der (Medizinal-)
Aufsichtsbehörde als solcher geheimgehalten werden sollte, obwohl auch
diese ja zur Bewahrung des Dienstgeheimnisses verpflichtet ist. — Ärzt-
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Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte.
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liehe Aufnahmezeugnisse dagegen gehören zu den Akten. Sie sind daher
unter Umständen rein formell zu halten und durch ärztliche Privatbriefe
zu ergänzen. — Von autoritativer juristischer Seite ist gelegentlich darauf
hingewiesen worden, daß schließlich immer noch eine Beschlagnahme
der Krankengeschichten angeordnet werden könne. Eine Sicherung da¬
gegen sei nur dadurch möglich, daß in den Krankengeschichten recht wenig
schriftlich niedergelegt werde.
Bar&o-Pforzheim ist der Ansicht, daß es sich bei der Verpflichtung
zur Herausgabe der Krankengeschichte an Gerichtsbehörden um den alten
Streit, ob „befugte“ oder „unbefugte“ Bekanntgebung eines Berufs¬
geheimnisses, handelt, der auch unter den Juristen noch nicht beendigt ist.
Weiter hält er das ärztliche Aufnahmegutachten auch nur für einen
Bestandteil der Krankengeschichte, nicht der Akten.
Sodann glaubt er, daß durch Herausgabe der Krankengeschichte
nur an den ärztlichen Sachverständigen die Schwierigkeit hinsichtlich
Wahrung des ärztlichen Berufsgeheimnisses nicht ganz gehoben werde,
da der ärztliche Sachverständige zur eingehenden Motivierung seines Gut¬
achtens natürlich auch Tatsachen anführen muß, die ihm nur aus der ihm
zur Verfügung gestellten Krankengeschichte bekannt geworden sind, und
die er nun auf diesem Wege zur Kenntnis von Nicht-Ärzten bringt.
Lilienstein -Bad Nauheim Weist auf die Möglichkeit der Verweige¬
rung der Zeugenaussage nach dem R.-Str.-G. hin, wenn sich der Zeuge
durch Abgabe des Zeugnisses strafbar macht.
Die sinngemäße Übertragung von der Zeugenaussage auf die Sach¬
verständigenaussage, also auch auf das Gutachten, ermöglicht sicher auch
den Anstaltsärzten die Verweigerung der Herausgabe der Kranken¬
geschichte. L. hat in einem solchen Falle Erfolg gehabt und die Abgabe
eines Gutachtens vor Gericht verweigert.
L. Mann -Mannheim: Bei der Bedeutung der vom Vortr. erwähnten
Fragen hielte ich es für notwendig, daß unsere heutige Versammlung of¬
fiziell mit einem entsprechenden Antrag an den Vorstand des Deutschen
Vereins für Psychiatrie herantrete und so eine Bearbeitung herbeiführe,
die als offizielle einen andern Eindruck auf die Juristen machen werde.
Ransohoff: Ein Beitrag zur Kenntnis des Hexen¬
glaubens.
R. berichtet über eine kleine Epidemie von Hexenglauben aus einem
katholischen Dorfe des Unter-Elsaß. Der Hexerei beschuldigt wurde der
Ortspfarrer. Ein Imbeziller, der den Pfarrer bedroht hatte, wurde vorüber¬
gehend in der Anstalt untergebracht. Eine erhebliche Rolle bei den An¬
schuldigungen gegen den Pfarrer spielte ein Kurpfuscher aus der Gegend
von Offenburg i. B. (der „Altenheimer Mann“). Der Versuch, die Staats¬
anwaltschaft zum Einschreiten gegen diesen zu veranlassen blieb erfolglos.
Hauptmann. Römer.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
142. Sitzung des psychiatrischen Vereins zu
Berlin am 13. Dezember 1913.
Anwesend: An/cer-Lichtenrade, Arndt-Nikolassee, Ascher- Berlin,
P. Bernhardt -Dalldorf a. G., Baedeker- Schlachtensee, Bratz- Dalldorf,
Eicke-Buch, Ermisch -Treptow a. R. a. G., Fcd/renierg-Lichtenberg, Finckh-
Dahlem, Förster- Berlin a. G., FYän/ceZ-Lankwitz, Franke-Buch, ^Frenkel-
Heiden-Berlin a. G., FromAerg-Lichtenberg a. G., J/äser-Berlin a. G.,
Hagedorn- Berlin a. G., i/eioW-Wuhlgarten, Heine- Dalldorf a. G., Hempel -
Wuhlgarten a. G., 'Henneberg-Berlin, Hildebrandt -Dalldorf a. G., Klipstein -
Lichtenberg, FZuge-Potsdam, Kortum-, ÄreAmer-Dalldorf a. G., Kuzinski-
Berlin a. G., Hans LaeAr-Schweizerhof, Lehmann- Schöneberg a. G.,
Leeinstein-Schöneberg, Levy-Suhl- Wilmersdorf a. G., Liepmann -Dalldorf,
Marcttse-Lichtenberg, Afittcnswetg-Stahnsdorf, Afoe/i-Lichtenberg, Mucha-
Buchholz, Aau«-Buch a. G., Otto -Lichtenberg, FtcAfer-Buch, Sack-
Berlin, Karl Vander-Lichtenrade, Wilh. Lander-Dalldorf, LcAayer-Dalldorf,
Schau ß -Zepernick a. G., Schmidt -Wuhlgarten, LeAuster-Berlin, Seeger-
Lübben, LeeZtg-Lichtenberg, Sklarek-Buch, Spliedt -Waldfrieden, Stelzner-
Charlottenburg, Ulbrich-Bevlin a. G., Fett-Wuhlgarten, Vieregge-Lichten-
berg, Waldschmidt- Nikolassee, Werner- Buch-
Nach Eröffnung der Sitzung durch den Vorsitzenden Lander-Dalldorf
gedenkt der Schriftführer des Verlustes, den der Verein im letzten Halb¬
jahr durch den Tod zweier Mitglieder erlitten hat. Sanitätsrat Dr. Karl
Serger, Direktor der Landesanstalt Strelitz, ist 50 Jahre alt geworden.
Im Magdeburgiscehn geboren, widmete er sich bald nach seiner Appro¬
bation der Psychiatrie und wirkte erst 6 Jahre im Sachsenberg, dann
19 Jahre in der Landesanstalt Strelitz. Er litt mehrmals an Depressions¬
zuständen, und anscheinend in einem solchen suchte und fand er, ohne
daß vorher an ihm etwas aufgefallen wäre, am 20. Oktober den Tod im
nahen Domjüchsee. — Ferner betrauern wir den Tod des Geh. Med.-R.
Prof. Dr. Fedor Schuchardt. Nachdem er in Straßburg Assistent bei Leyden
und Kußmaul gewesen, ging er zur Psychiatrie über, war unter W. Naße
erst in Andernach, dann 4 y 2 Jahre in Bonn tätig, habilitierte sich hier
an der Universität, kam 1886 als Direktor des Sachsenbergs nach Mecklen¬
burg und übernahm 1896 die Leitung der nach seinen Plänen erbauten
Landesanstalt Gehlsheim zugleich mit der Professur der Universität
Rostock. Er war ein ausgezeichneter Arzt und Anstaltsdirektor; seine
wissenschaftlichen Aufsätze finden sich zumeist in der Allg. Ztschr. f.
Psych., deren Literaturbericht er bis 1905 redigierte, und in der Ztschr.
f. Med.-B. Er starb nach langem schweren Leiden am 7. November,
66 Jahre alt. — Die Anwesenden erheben sich zu Ehren der Verstorbenen
von den Sitzen.
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Psyclua trister Vtfrew za Berlin
//t’t>#e-DaiW*trfö .tsch o p Pi a *r . /tbe';r •O f ^ a o &; .öp.^ijs 4
1 <1 i 0 1 0 u 01 i \ st ;.i r k e i A il 1 p 0 s 1 t tt-S. Epikrise. zit dem ;n»
?+■ VI. i *2 vurgestetlfnm Falle is. diese Zlsr.hr. IM <>y, S. '-«‘D-
ln der- &it.iafig des psyrti. V»<n»ins. vom 2 t». VI./ 1.2 »Ml Heine
mit a>iÖvroi<i<*n!li<'li' starker Adipositas vorgesteltt. Derselbe
'V»r ran Geburt 8A pilt großes Kind gewesen, • .if/igte aber y.uaiirhst in
seiner Entyiickfun^ keine flespi»derbMil Jahren maohje er
Diphtherie sind im Ansrfduö daran lAnunpfe dureb. Seitdem blieb er in
**u»er geistige« Eotwitklung 7.urur.k -um) bol das Bit*» de- "i ‘otlldiot*-«.
Weiterhin kam es bei ihm allmiddir h mir Eutwiekluhg von nimr außer-
fKlentlidi starker» Adipositas. Am M. VU. Ei starb et ab Patient der
li'fenanstait Dalldorf an ein«m von der Zungenwumd ausgnheitdeti Abs/.c-- ;>.
Vwrtr. demonstriert das Ueliiru, das Ersrljeibuiigi*). it»a Wnjjjm.; besonders
i *m Stirnpot «ufweist (siebe .beiliegende Abbildung)', ferner eine bis zum
•A>lüniep;'eines. |*D?iVirne , i|keinv4'- Ve’t'^rtße'reni stark yer-
(kkl.es Sehddeidmh, das bei der .Sektion ttbi der ;Pura venvarhsen • ge¬
funden wurde; Die Glandula pinealis inut dm S< fuld'irnse sind mrid
t . .f3^ie..Nröbehnie.ri?n''bte)te/i'k$nfc' fii^dßdbrtieiieö där.. /tifr tv,
«eisetji mäkroskopisrli keine Veränderungen. auf. Irgendwelche Ab-
s'-miiiiiler: des Knoeheuyaehsturns w »irden. abgesehen von demVerdii-'kteb
:i v ciiädeldm'h. bei der Sektion unhi gefunden.
Diskussie». •- P. Sch mr/er • Ek • r I i 1 v: Aukuiipfend an. »li.e -Be¬
merkung des Herrn Vnrtr. aber die r»e-n.itr«itumg von Fällen init zitrhi
hraler Adipositas •Inreh i>. Fruirkl-Hvchwun gestatte nh mir, darauf hin-
uiweisen, daß i. lt sdiuu ca. \ U ,labte vor der Publikation «: Frunkl-
Mitchivarm bzw. seines Assistenten Fröhlich» in der Berliner Gesellschaft
bir Neurologie zwfi> t' dle zeigte, -•.vetrhe neben den Aligtunei timebejuui)gen
des-. Hirniumof eine eigeid ürnlirhe au Myxödem erinoerhcle '^nsi iiwdlüug
des Unt^rhatii^iMtgfewybie. darboteu/ it*ii ienet‘ Defnoastrathur« YnGlßr Bar-
l®j§g«i
1
SU: I
msm ■ : 1
338
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
liner Gesellschaft für Neurologie am 14. Mai 1900 (Neur. Zentralbl. 1900
S. 540) deutete ich die Adipositas unter direktem Hinweis auf die Akro¬
megalie als ein zerebral bedingtes Symptom, allerdings ohne direkt von
der Hypophyse zu sprechen. Ich lege Wert darauf, festzustellen, daß
meine Demonstration der Frohlichschen Veröffentlichung lange voraus¬
geht, weil v. Eiseisberg und v. Frankl-Hochwart in einer aus dem Jahre
1907 stammenden Veröffentlichung meine Beobachtung unter die ZahL
derjenigen einreihen, welche durch die Fröhlichsche Arbeit veranlaßt
worden seien. (Nachträglich teilt mir Prof. v. Frankl-Hochwart mit»
daß er auf dem internat. Kongresse für Medizin in Budapest 1900 fest¬
gestellt hat, meine — unter Hinweis auf die Akromegalie — aus¬
gesprochene Vermutung von der Möglichkeit einer cerebralen Ätiologie-
der Adipositas sei schon im J. 1909, also vor der FVöAftcAschen Ver¬
öffentlichung erfolgt. Zugleich weist er darauf hin, daß Anderson schon
1886 eine Nekropsie beibrachte, welche den Zusammenhang von Hypo-
physistumor und Verfettung darlegte.)
Aron/eta-Dalldorf: Der klinische Wert der sero¬
logischen und Liquordiagnostik.
Trotz der großen Literatur und der in vielen Punkten erzielten
Einigkeit besteht noch immer ein Bedürfnis nach statistisch und klinisch
gleich einwandfreien Untersuchungen an einem großen Material, wobei
der gleiche Untersucher sowohl die Fälle klinisch verfolgte als auch die
in Frage stehenden Reaktionen selber anstellte. Nur weil klinische Unter¬
suchung und Laboratoriumsdiagnostik in verschiedenen Händen liegen»,
kommt es, daß Kliniker und Ärzte zuweilen nichts Rechtes mit den Labo¬
ratoriumsangaben über die Reaktionen anfangen können, besonders bei
den sog. fraglichen Befunden. Wer aber sein Material zugleich klinisch
bearbeitet und die Reaktionen anstellt, kann die jeweilige Schwere der
Erkrankung, ihre Begleitsymptome, Komplikationen und Verlaufsweisen
in richtige Beziehung bringen zu etwaigen Besonderheiten der einzelnen
Reaktionsfälle. Solche treten freilich nur in einer kleinen Minderzahl
von Fällen auf, aber das sind dann gerade oft die auch klinisch-diagnostisch
schwierigen. Vor allem gilt das für die nicht seltenen schwachen Hem¬
mungen bei Wassermannscher Reaktion, oder auch für solche, die mit
dem einen Extrakt positiv, mit dem anderen negativ ausfallen. Der
Laboratoriumsforscher berichtet in solchem Falle dem Kliniker aus Vor¬
sicht lieber einen negativen Ausfall. Wer aber beides zu sein versucht,
wird bald erkennen, daß die Extrakte durchaus nicht nur in ihrer quanti¬
tativen Leistung differieren, sondern auch qualitativ Verschiedenes leisten,,
so daß z. B. der eine Extrakt ein besonders feines Reagens für luische
Sera ist, aber weniger fein mit dem metaluischen Liquor reagiert, der
andere — nach meiner Erfahrung besonders der Landsteinersche — sich
gerade umgekehrt verhalten kann. Darnach wird er die Reaktionen
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mit den betr. Extrakten bewerten können, wenn sie sich einmal wider¬
sprechen. Diese Personalunion hätte auch vor der Überspannung der An¬
forderungen an einen leer-schematischen SpezifitätsbegrifT geschützt, wie
sie gerade in der serodiagnostischen Literatur jahrelang geherrscht haben.
Der Kliniker hat längst gewußt, daß diesem Begriff der klinische
Verlauf der einzelnen Fälle auch durchaus nicht immer genügt. Aber
sobald das serologische Experiment mit dem Anspruch auf eine derartige
Spezifität auftrat, sah man in ihm eine Art von Rettung der Möglichkeit
streng pathogenetischer Klassenbildung; alle Divergenzen von serologischem
und klinischem Befunde wurden der Unvollkommenheit der klinischen
Diagnostik zur Last gelegt, man kam zur Forderung der Diagnose im
Laboratorium als allein exakter und ausreichender Basis ärztlichen Han¬
delns. Jetzt kommen die Serologen selber allmählich von ihrem teleolo¬
gischen Spezifitätsdogma ab — vgl. die neuen Arbeiten von Forßmann.
Und vorher schon haben die Kliniker eingesehen, daß die Reaktions¬
ergebnisse immer nur ein — wenn auch noch so wichtiges — Hilfsmittel
klinischer Diagnostik sein dürfen, das das klinische Urteil zwar beein¬
flussen, aber niemals ersetzen soll. Der vorliegende Bericht stützt sich
auf das Material der Heidelberger psychiatrischen Universitätsklinik, das
von mir 1 ) sowohl klinisch als serologisch und liquordiagnostisch bearbeitet
wurde. Die Gesamtzahl der Heidelberger Punktionsfälle beträgt zurzeit
2045; meine Statistiken umfassen davon einen Ausschnitt von 740.
Was zunächst die Wassermannsche Reaktion im
Serum anlangt, so bestätigen unsere Erfahrungen das übereinstimmende
Resultat der Literatur: positiver Ausfall spricht mit größter
Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Kranke eine Lues hat oder hatte.
Vereinzelt sah ich bei trüben chylösen Seren eine alleinhemmende Wir¬
kung, die sich bei alleinhemmenden Extrakten additiv zu einer vorge¬
täuschten Positivität erhöhen ließ; derartige Seren sollte man vorsichts¬
halber nicht zur Reaktion verwenden. Indes hat ein derartiger Befund
nur theoretisches Interesse — er steht hier in gleicher Linie mit der Hem¬
mungswirkung des Cholesteringehaltes usw. Negativer Ausfall
läßt mit größter Wahrscheinlichkeit den Schluß zu, daß der Kranke
keine Paralyse hat; mit etwas geringerer Wahrscheinlichkeit spricht er
auch gegen Tabes. Ob eine — zum mindesten anamnestische, latente
oder hereditäre Lues vorliegen könnte, ist nach der negativen Reaktion
nicht entscheidbar. Ist also bei einem Geisteskranken Wassermann im
Serum positiv, so m u ß derselbe lumbalpunktiert werden. Aber negativer
Wassermann macht die Lumbalpunktion nicht überflüssig. Einer Kontrolle
*) Gemeinsam mit O. Ranke, der mir seinen Anteil an diesen Unter¬
suchungen in liebenswürdiger Weise zum Zweck dieses Berichts über¬
lassen hat, wofür ich ihm bestens danke.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 2. 23
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jedoch, ob eine Salvarsantherapie gewirkt hat, durch die bloße .Änderung
des Reaktionsausfalls, ist — besonders auch nach Emanuels experimen¬
tellen Untersuchungen — zu widerraten.
Die Wassermannsche Reaktion im Liquor ist
theoretisch sicherlich ebensowenig spezifisch — im Sinne einer Bindung
von „Luesantigen“ und „Luesantikörper“ — wie es die Reaktion im
Serum ist. Das beweist nicht nur die längst bekannte Tatsache, daß
man dem luischen Leberextrakt die verschiedenen nichtluischen
Organextrakte substituieren kann — auch wir fanden in vielen Vergleichs¬
versuchen weitgehende Übereinstimmung des alkoholischen Luesleber -
extraktes besonders mit dem Meerschweinchen-Herzmuskelextrakt —, das
beweist auch eine große Zahl neuer theoretischer Studien, von Elias,
Porges, Neubauer und Salomon, Seligmann, Michaelis, Manwaring und
vielen anderen. Wenn ich meine eigenen 1910 veröffentlichten Versuche
erwähnen darf, so gelang es mir nicht, die gesuchte Antigen-Antikörper-
Bindung, die Wassermann damals noch annahm, in loco, also im Gehirn,
nachzuweisen. Ich erhielt ferner, sobald ich das Verhältnis der hemmenden
zu den lytischen Faktoren änderte — durch Mengenvariation aller bei
der Reaktion beteiligten Substanzen und durch Einführung des viel
schwächer und abgestufter reagierenden Kaninchenkomplements zugleich
mit einer als „Antigen“ fungierenden Lezithinemulsion —, neben einer
Mehrzahl typisch verlaufender Reaktionen im Liquor auch eine größere
Reihe von Kurven des Reaktionsverlaufs. Und diese Kurven gingen
parallel mit denen der Ausflockungsreaktion und anderer, experimentell
erzeugbarer kolloidaler Adsorptionsphänomene. Die Analyse dieser
Kurven bestätigte die Behauptungen Manwaring s, daß es sich nicht um
eine quantitative, sondern um eine optimale Reaktion bestimmter Quan-
titäts Verhältnisse handele. Wie er wahrscheinlich machen konnte,
wirken zwei verschiedene antilytische Faktoren beim Zustandekommen
der Komplementbindung mit, der eine bestehend in einer Summierung
der hemmenden Substanzen, die an sich in jeder der zur Reaktion ver¬
wendeten Flüssigkeiten Vorkommen; der andere bestehend aus anti-
lytischen Körpern, die erst durch die physikalisch-chemische Einwirkung
der Reagentien aufeinander entstehen. Die Hemmung der Hämolyse ist
hiernach theoretisch mit jedem Serum (bzw. Liquor) möglich; doch ist,
je nach den ebengenannten Faktoren, ihr Optimum verschieden intensiv
— bis herab zu praktisch nicht mehr merklichen Werten; dies Optimum
liegt ferner jeweils bei einer verschiedenen Extraktmenge, und es wird
überdies, was am wichtigsten sein dürfte, noch durch das Verhältnis der
hemmenden und lösenden Stoffe zueinander modiflziert.
Hauptmann hat später—z. T. wohl abhängig von den theoretischen Er¬
wägungen, aus denen ich jene Mengenvariationen vornahm — die Liquor -
mengen unter diagnostischen Gesichtspunkten systematisch variiert und
hieraus eine wertvolle diagnostische Hilfsmethode entwickelt: sein Aus-
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341
?rtungsverfahren, das zu einer wesentlichen Verfeinerung der klinischen
"rwendbarkeit der Reaktion geführt hat.
Ganz anders liegt das Problem der praktisch-klinischen Eindeutig¬
st des Reaktionsausfalls. Von 289 Paralysen meines Materials reagierten
gativ nur ein typischer und zwei ganz atypisch verlaufene Fälle. Alle
ideren reagierten positiv. Bei sicheren Nichtparalysen fand sich positive
quorreaktion nur in einem einzigen Falle — bei einer Pachymeningitis
temorrhagica, bei der überhaupt sämtliche Reaktionen des Liquors,
»/Msche und ATonnesche Eiweißprobe, Zellbefund und Wassermann, und
tzterer auch im Serum, paralytisch-postives Ergebnis hatten, und die
i der histopathologischen Untersuchung dann doch keine Paralyse war.
eine früher berichteten Komplementablenkungsreaktionen des Liquors
7 Fällen von tuberkulöser Meningitis wurden 2 mal positiv nicht mit
f originalen Methode, sondern mit einer Lezithinemulsion als Antigen;
■i Anwendung von Wassermannschem Organextrakt erhielt ich 1 mal
«itive Reaktion.
Nach Nonne soll auch bei Tabes und Lues cerebrospinalis in einer
cht ganz unbeträchtlichen Minderzahl von Fällen positive Liquor¬
aktion bestehen. Ich sah das nur selten. Wohl aber kann ich die er¬
ahnte Feststellung Hauptmanns bestätigen, daß in solchen Fällen die
fgative Reaktion durch Erhöhung der Liquormenge positiv wird. Ebenso
iht umgekehrt der Paraiyseliiquor oftmals in 5-, ja 10- und selbst 20-
«h kleinerer Menge, als man gewöhnlich zur Reaktion verwendet, noch
osittoe Ausschläge. Paralyse und Tabes (desgl. Lues cerebrosp.) sind
tierdurch also in der Regel noch differentialdiagnostisch trennbar.
Was die übrigen Reaktionen im Liquor anlangt, so setze ich die
Vomifsche Ammonsulfatfällung als bekannt voraus. Neben ihr sollte
lu <h stets die Gesamteiweiß menge nach Nißls Vorgang bestimmt werden.
** ist das verbreiteste und zuverlässigste Reagens des Liquors für das
erliegen eines organischen Prozesses im Zentralnervensystem. Wir
“hendn Heidelberg; in letzter Zeit versucht, den positiven Nonne genau
wh Art der Nißlschen Gesamteiweißbestimmung zu quantifizieren, in-
!m wir entsprechende Mengen in Nißlschen graduierten Röhrchen zen-
ifugierten. Wir wollten so — nach einer Anregung Rankes — die sub-
ktive und oft recht willkürliche Bewertung des Opaleszenz- und Trü-
•ngsgrades ausschalten, was z. B. die quantitative Auswertung der
wne-Reaktion nach Bisgaard, durch Liquorverdünnung, nur zum Teil
wicht. Über die Ergebnisse s. u. Während nun der normale Liquor
«nals meßbare Mengen an Globulinen und anderen Stoffen enthält, die
i der Ammosulfatprobe ausfallen könnten, enthält er regelmäßig bereits
stimmbare Gesamteiweißquanten; und zwar bis zu 2,5 oder höchsten-
Us 3 Teilstrichen; größere Mengen gelten als pathologisch 1 ).
l ) Das absolute Quantum, dem ein Nißl-Strich entspricht, hängt
türlich von der Tourenzahl und der Benutzungsdauer der Zentrifuge
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Die Untersuchung des Zellgehalts wird fast überall durch Zählen in
Kammern nach Fuchs-Rosenthal geübt, trotzdem uns in der Aapautschen
Methode eine viel elegantere und sicherere Technik zu Gebote steht. Zu¬
ungunsten des ersteren Verfahrens spricht die Tatsache, daß die Zeitzahl
in verschiedenen Tropfen desselben Liquors differieren kann, mehrere
aufeinanderfolgende Zählungen also oft abweichende Ergebnisse haben.
Ferner halten die Zählkammerpräparate sich natürlich nicht, während die
Aapaut-Präpartae sich halten und so jederzeit demonstrierbare Verglei¬
chungen ermöglichen. Außerdem gestatten letztere auch eine genauere
qualitative Zelluntersuchung. Daß eine etwas größere Liquormenge als zur
Zählmethode notwendig ist, spielt deshalb gar keine Rolle, weil diese selbe
Menge nach dem Abzentrifugieren der Zellen zur Eiweißbestimroung
verwendet werden kann. Nißl unterscheidet mit Ravaut den normalen
Befund von dem bei Lues typischen — der röaction moyenne — und dem
bei Paralyse typischen — der röaction grosse.
Es bestehen nun folgende Möglichkeiten der Reaktionsausfälle:
1. Alle Reaktionen im Liquor und im Serum
seien positiv. Dann ist klinisch Paralyse so gut wie gewiß.
Die erwähnte Pachymeningitis haemorrhagica und der eine Fall von
Meningitis tbc. sind unsere einzigen Ausnahmen. Auch Tabes und Lues
cerebrospinalis kann zuweilen so reagieren. Die Nonne sehe Reaktion
ist auch bei Tabes in 90 % positiv, die Gesamteiweißvermehrung nimmt
aber im allgemeinen nicht solche Grade an wie bei Paralyse. Ebenso
fehlt die Zell Vermehrung oft, ist aber zuweilen doch stark vorhanden.
Wassermann im Serum ist bei Tabes positiv in 60—^-70 %; im Liquor nach
Nonne in 5—10%, nach andern Autoren öfter (Plaut 64%, Schuetze' 80%).
Im allgemeinen wird die Differentialdiagnostik zwischen Tabes und Palyse
aus dem Liquor keine Schwierigkeiten machen, zumal wenn man das
Auswertungsverfahren und die noch zu erwähnende Goldsolreaktion
hinzunimmt.
2. Alle vier Reaktionen im Liquor positiv,
Wassermann im Serum allein negativ. Ein seltener
Befund. Theoretisch möglich am ersten noch bei Tabes; ich habe
ihn freilich nicht dabei gesehen. Hingegen zeigten ihn bei meinen Fällen
zwei Paralysen höheren Alters, beide über 60 Jahre alt, deren Lues schon
mehr als 30 Jahre zurücklag. Sie sind zur Sektion gekommen und be¬
stätigten die Diagnose.
3. Wassermann im Serum positiv, im Liquor
negativ bei positivem Nonne, starker Eiweiß-
und „paralytischer“ Zellvermehrung.
ab. Will man überhaupt vergleichbare Werte erhalten, so müssen die
beiden Faktoren dauernd konstant gehalten werden. Für das Heidelberger
Material entspricht 1 -/Vi/JZ-Strich ca. 0,02%.
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Dieser Befund spricht für nichtluische organische Gehirnerkran¬
kungen in Fällen, bei denen eine alte Lues außerdem besteht, auf die das
positiv reagierende Serum hinweist. In der Tat habe ich das gesehen,
bei einem gliomatösen Tumor cerebri eines alten Luikers. Bei 1 u i -
sehen Erkrankungen im Zentralnervensystem ist die Pleozytose meist
wesentlich geringer, eben eine „luische“ im Sinne Nißls, keine „para¬
lytische“. Wesentlich häufiger aber wird der genannte Befund bei T a b e s
sein, für die er sogar etwas Typisches hat; hierbei habe ich ihn ebenfalls
bekommen.
4. Nonne positiv, Wassermann im Blutserum
und L i q ifco r positiv, aber die Zell- und Eiwei߬
vermehrung gering oder fehlend. Dieser Befund tritt
auf bei Paralyse, Tabes und Lues cerebrospinalis, aber nur in seltenen
Fällen, besonders bei den erstgenannten beiden Erkrankungen ist er
atypisch.
5. Eiweiß- und Zellbefund vermehrt, Nonne
positiv, aber Wassermann in Serum und Liquor
negativ. Diesen Befund erhob ich bei einer Paralyse und bei einer
wahrscheinlichen Paralyse, deren Diagnose jedoch noch nicht durch die
histopathologische Untersuchung gesichert ist. Bei dieser Krankheit ist
er jedenfadls etwas absolut Regelwidriges. — Bei Tabes ist er hingegen
häufiger; er macht 30% des Nonne sehen Tabesmaterials aus. Er wurde
endlich von mir beobachtet bei nichtluischen organischen Erkrankungen
des Zentralnervensystems. So habe ich ihn wiederholt gesehen bei Tumor
cerebri — es handelte sich um infiltrierend wachsende Gliome — auch
bei multipler Sklerose. In den letztgenannten Fällen waren freilich die
Eiweiß- und Zellvermehrungen nicht sehr hochgradig, nicht „paralytisch“.
Natürlich kommt bei Tumor auch negativer Nonne vor.
6. Wassermann in Blut und Liquor negativ,
Nonne ebenfalls negativ, geringe Zell- und Ei¬
weißvermehrung. Ein sehr häufiger Befund, der einen eindeu¬
tigen Schluß nicht gestattet; nur eben den fast sichern Ausschluß von
Paralyse, den wahrscheinlichen von Tabes. Der Befund trat auf bei
Lues, Alkoholismus, Epilepsie — nicht selten —, bei Hirnarteriosklerose
und endlich bei manchen Fällen von katatoner Dementia praecox. Letztere
hatten klinisch nichts besonders Gemeinsames, etwa die Schwere oder dgl.
War in dieser Kategorie, also bei negativem Wassermann in Serum
und Liquor und negativem Nonne, die Vermehrung von Zell- und Eiwei߬
gehalt eine sehr hochgradige, so handelte es sich in der Regel
um meningeale entzündliche Prozesse, bei Leukozytose um Eiterungen;
nur zweimal sah ich diesen Befund bei Tumor cerebri.
War, bei negativen sonstigen Befunden, viel Eiweiß, aber wenig
Zellgehalt im Liquor, so handelte es sich regelmäßig um Tumor cerebri;
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344 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
nur einmal sah ich das bei Arteriosklerose des Gehirns, einmal bei Pachy-
meningitis.
War umgekehrt bei sonstigen negativen Befunden wenig Eiweiß
und sehr starke Pleozytose, was Nißl etwa als „paralytische“
Vermehrung bezeichnet, so lag — in den wenigen Fällen, die ich davon
überhaupt sah, tuberkulöse Meningitis vor.
7. Um noch einige ganz seltene Ausnahmebe¬
funde zu erwähnen: isolierten positiven Nonne bei
negativem Ausfall aller übrigen Reaktionen sah ich einmal bei Tumor
cerebri, einmal bei Hirnarteriosklerose, für die Nonne diesen Ausfall bisher
immer bestritten hat, und zweimal bei dementer Epilepsie. — Das Um¬
gekehrte, isolierten negativen Nonne bei positivem Ausfall aller
andern Reaktionen, habe ich niemals gesehen. Hingegen sah ich bei
einigen Paralysen den paradoxen Befund eines sehr stark positiven Nonne
bei relativ geringer Gesamteiweißvermehrung, so daß die absoluten Werte
beider gleich groß waren.
Was folgt aus alledem Generelles ? Positiver Nonne und zugleich
positiver Wassermann im Liquor sprechen für Paralyse mit
sehr großer, für Tabes und für Lues cerebrospinalis mit etwas geringerer
Wahrscheinlichkeit. Positiver Nonne bei negativem Wassermann
im Liquor schließt Paralyse fast sicher, Tabes jedoch nicht aus, spricht aber
in erster Linie für eine nicht luische Erkrankung organischer Art,
insbesondere für Tumor cerebri.
Aus den Zell- und Eiweißbefunden allein kann man die analogen
Schlüsse ziehen wie aus den vorhergenannten Befunden, aber mit einer
sehr viel geringeren Wahrscheinlichkeit. Die sehr weitgehende Speziali¬
sierung, die in den diagnostischen Schlüssen eintritt bei einer Kombination
aller Reaktionen, geht — wie ich gezeigt zu haben glaube, aber nur in
ganz besonders gelagerten Fällen bis zur sicheren und eindeutigen Diagnose;
sie ersetzt also die klinische Arbeit keineswegs, sondern macht sie nur
zielbewußter. Daß dies so ist, ergibt sich allein schon aus der Tatsache,
daß selbst der negative Ausfall sämtlicher Reaktionen eine organische
Erkrankung des Zentralnervensystems keineswegs sicher ausschließt.
Zum statistisch bestimmbaren Maß der Spezifität einer Reaktion
•— sobald darunter nur die empirische Koinzidenz der Reaktions- und der
entsprechenden klinischen Befunde verstanden wird, ohne alle patho¬
genetischen Hypothesen — dient erstens die Häufigkeit, zweitens
die Ausschließlichkeit des Zusammentreffens der bestimmten
Reaktion mit der bestimmten Erkrankung. Was zunächst die H ä u f i g -
k e i t anlangt, mit der positive Reaktionen bei Paralyse, negative bei
nichtparalytischen organischen Hirnprozessen sich vorfinden, so veran¬
schaulicht sie Fig. 1 (s. folgende Seite).
Um für den zweiten der in Frage kommenden Faktoren, die A u s -
schließlichkeit der Koinzidenz, einen Maßstab zu gewinnen.
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aus/alle zu vergleichen sein mH derfnugew <1^ VorkvunM»eo> ! ' vor» Föraiyk^
Fig. 2 gibt diwom Vergl|!i.i-ii in grajiiufcdh wieder- Du*
Zahl rW einzelnen positiven Keakfiuitei) Auf 100_ Kniokheil«.fälle bleibt
•duiÄhgdu?«ds etwas kh-u>e»\ ■*-.•"« auch nah* n-, . glirieb gno.». wie die f.o».*-
.«preclwnd»' Zähl. von Far-alysefollen auf iOG ües5an)tf5llo dos !|oltlelberger
Punktmiism.ileriaLs. nur »ti** AV>m f «s> j i( . }'{enkt.i<m Id. oiue vGr d>-.il-
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Eine noch klarere V’eraii«fthpüH*'hU«g, dieses Soohverliftliei-. gibt
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Verhandlungen pgydiiatrischer Vereine
und veraHSehauJk'ht graphisch' den prozentuellen AnU'd, den Paralysen
und Nu litparatysea organischer Art ajn oes! an.!,>k<on neos .'dieser
tionuausfälic büsilze-n. : ; . v' • . VgV
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Wassermann in &«nim itmi U<iu»c: { _^_
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(‘•Ui.fvM ttiriii i>arilvU 8 ciie t*i-j<<wU,sßltt llUii- ikrankuus«;!».
i I tmkJarc FSJU*.
Eine besondere Betrsn iitnng möchjte ich -der Aon/uneben- Reaktion
widiiM n, weil ihre Quantifizierung nach Hanke hier zum ersten Maie mit-
geteilt wird. In Fig. I ist die Verteilung der ppÄiiivet*. Reaktionen bet
Paralysen und NiclHpyralyseu graphisch dargestelil, tiud awur so, daß
auf der Alisidssti die wo* listoulen Mengen in ;Vj/d-Stvuhen, auf der Ordinate
die jedem Quantum iugeor.inete Zahl von Füllen, in denen es vorkani,
abgetragen: wuriie. v.'.-’V&u sieht' einmal das, yjüarditötiye VerfLÖtffrts des
Vorkommens vptt pdsiiivhfn Sjfpnn»? bei Paralysei) und ,Nirhtpara}.yseii
Sehr klar: wieviel Seltener »las letztere doch ist: sotbiiu -yetiF man, -4aft
das Quantum der mR Auimousuibd ausgefalledVii Stoff* bei Niehfpara-
iysim in der groben 'Mehrzahl der Fälle ein wesentlich geringeres ist als
in der Mehrzahl derPändysefalK. Auf einer weiter*-n Kurve dieser Figur
ist dir zahlenmäßige Verteilung der Falle von Paralyse auf ihren Gehalt-
itn GpsärrttO’fVeiß wiedvrgegt-ben., nniidtW^r derselben Falte, deren '.Nonit*.-',
Reaktion in ihfer quaMtUyiiveH Verteilung auf der bereits besprochenen
Kurv d arg es lein war. Mau sieht einen ungefähren PovaMeiisinus in der
11 a u Ilg'kei t s v < ti ei j img der Cies;iudeHV«dUqua«t»*ie und derjenigen der
und zwar ist das Mattelisib tiaußgsic: Wrbältms
beutet wie etwa ‘ : 3.
Psychiatrischer Verein au Berlin
Um au ermitteln,
ob liier eine Konstante
Vorlage, und ob über¬
haupt aus dem Verhält¬
nis des Gesamte! weißes
zu der Menge der uiit
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4 iib?t-Ui:ö-"i.‘ dl:, .
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lie h.; seiner \‘ erteilnd#
a‘üf U&räiyseu iuvdiik-.hit:*
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•du%?u Mt eid gr^üV.
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hiltnis zur Gesamt«
ei>yeidn'ienge isUmm m
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auch d orch Ammon sulfal
flÜfear iäi. Um m griJÖer
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deh absnluteM M-tenge»
Hierin liegt vielleicht
ebenfalls ein wertvoller
diagnostischer Finger
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Liqucrdiagu ostiU hin zu -
getretenen ReaMtorieu
ist die G Vf } d S ,5 1 | e
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£%.-■ ihr vöh £Ah& Hü*
348
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grumte gelegte Theorie ftbenso die von ihni
ja getuiu Imsehriehwe, Teehnik leb erinnere nur daran, daß der pesitire
AusfäÜj -jdhV Ansteckung nies a« eirteftr P’arbifnuni-
o/» Wlarv jMiehiiW*i\ 4 ün ir'ivKü»iil 11 lirtu Wpi
flörkftrtgiifeiirVtrtV v^tiftHft. ;
\Hv-r die khrdsehev Bedeutimg der Reaktion wird ari der Hand der
Heidelberger Fällt' Ranke demnächst in einer ausfuhrliehen Publikation
' v; ''JÖiri€h.i<ne %*&$ die allgemeinen EtTdiruttgeu an dem Heidelberger
—üSTtf L-——
* <100 uu 1 ), C
will.
twl
^ v. /T • i . öa
bi% Oi9
■?« 10
211 I&Up. : : . iWAi/V m JSlcIitf^iial.fK*.
Fig. 5.
Material hier ;&usurnraeng«fäl3i vunveggenoftunen werden dürfen, so läßt
ich etwa, sagen, •-aJJzu-iguM*%|^saÄst|scH^ii ÜarJegüfi|ten aus 'W&tiäji-
man na Krankenhaus} sich in dieser Form sithev nicht haJteu lassen. : daß
aber die Reaktion eine wert volle Rrgäimiug der anderen Reaktionen
har keil: 2, die Alischäp'wi'g des Reaktious
M »V» n '• 1 ro li fl b >11 c C\f «VJ/, r.riiiMV \} -Vyv fj i. . V. 1 r,»t \S
inlälles ist recht subjektiv;
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UNIVERSf
Psychiatrischer Verein za Berlin.
349
negativ. Zentrainervenlues unterschied sich ebensowenig gesetzmäßig
von anderer Lues wie Lues latens. Doch sind diese Trennungen ja durch
die Kombination mit den vorher besprochenen Reaktionen leicht durch¬
zuführen. Aber vor allem: bei Nichtluikern kommt die Lueskurve gar
nicht so selten vor, auch wenn Wassermann negativ im Serum und Liquor
ist. So bei Hirnarteriosklerose, alkoholischer Hirnerkrankung und Demen¬
tia praecox. Gerade bei letzterer gibt die Goldsolreaktion überhaupt
mannigfache positive, aber untypische Ausschläge. Gesetzmäßige Be¬
ziehungen zwischen den Goldsolkurven, ja auch nur der Positivität im
allgemeinen, und den andern Liquorreaktionen fanden sich — im Gegensatz
zu Eicke , nicht. Mit der einen, schon von Lange bemerkten Ausnahme
— die aber auch nicht völlig durchgängig zutrifft: daß zwischen der
Intensität der Ausflockung bei Paralyse und der Intensität der Wasser-
mannschen Reaktion im Liquor eine Zuordnung im Sinne des Paralle¬
lismus besteht; je mehr Gläser eine totale Entfärbung des Goldsols auf-
weisen, um so stärker verdünnt wird der betr. Paralyseliquor nach Wasser¬
mann noch positiv reagieren.
Diskussion. — E/mmuel-Charlottenburg: Ich glaube, wir
müssen dem Vortragenden für die ausführliche Mitteilung seiner Er¬
fahrungen, die er so übersichtlich dargestellt hat, dankbar sein; sie decken
sich im wesentlichen mit den Angaben der einschlägigen Literatur, und
ich kann sie auch auf Grund meines eigenen Materials in der Hauptsache
bestätigen. Ganz besonders unterstütze ich die Forderung Kronjelds,
daß der Untersucher womöglich selbst die Fälle auch klinisch behandeln
soll, oder, wo sich das nicht erreichen läßt, in möglichst innigem Konnex
mit dem klinischen Verlauf der Erkrankung bleibt. — Ich habe den Ein¬
druck gewonnen, daß in Anstalten im allgemeinen noch zu wenig punk¬
tiert wird. Die Unannehmlichkeiten der Punktion werden überschätzt,
vielleicht auch aus dem Grunde, weil man noch vielfach die dicken Stahl -
kanülen benützt, anstatt der viel angenehmeren und gefahrlosen dünnen
Platinkanülen.
Bei der Untersuchung der Spinalflüssigkeit bei Tabes und Lues
cerebri habe ich doch nicht ganz so selten, wie der Vortr., auch ohne das
Auswertungsverfahren, positiven Wassermann gesehen. — Bei der Zell¬
untersuchung ziehe ich die Fuchs-Rosenthals che Methode der franzö¬
sischen, die manche Fehlerquellen bietet, schon aus dem Grunde vor,
weil man mit viel geringeren Liquormengen auskommt. — Von der Lange¬
schen Reaktion scheint man doch eine Bereicherung und Verfeinerung
der Untersuchungsmethoden erhoffen zu können. Allerdings ist die Her¬
stellung der kolloidalen Goldlösung recht mühsam und die Unterscheidung
der Farbentöne bei der Reaktion bietet gewisse Schwierigkeiten.
Frenkel'-Heiden- Berlin: Die Bemerkungen des Herrn Emanuel
betreffs der Ungefährlichkeit der Lumbalpunktion und der Anwendung
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350
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
-dünner französischer Nadeln sind ganz richtig, bieten aber nichts Neues,
da schon wiederholt seit Jahren von mir und anderen diese Punkte her¬
vorgehoben worden sind. — Der Vortr. hat mit einem großen Aufwand
von Arbeit die brennendsten Fragen der neurologischen und psychia¬
trischen Diagnostik durchgenommen, und wenn ich ausführlich auf seine
Erörterungen eingehen wollte, so würde das bei weitem den Raum der
Diskussion überschreiten. Ich möchte daher nur auf einige der wichtigsten
Fragen kurz eingehen. Das Material, über welches ich verfüge, ist eben¬
falls recht beträchtlich, es beträgt über 4 y g Tausend meist eingehend
untersuchter Fälle aus der Bonhofferschen Klinik. Die Resultate hängen
wie überall auch hier von der angewandten Methodik ab, und solange
über diese keine Einheit herrscht, ist auch eine detaillierte Beurteilung
der Einzelresultate nicht möglich. Was zunächst die Wassermannsche
Reaktion betrifft, so hängt der quantitative Ausfall derselben im wesent¬
lichen von der Art der angewandten Extrakte (Antigene) ab. Ich habe
schon in meiner ausführlichen Polemik mit Nonne und Gen. vor ein paar
Jahren den Vorzug der wässrigen Antigene gegenüber den alkoholischen
hervorgehoben und muß jetzt diese Meinung noch besonders unter¬
streichen. Die alkoholischen Extrakte sind für das Blutserum im allge¬
meinen brauchbar, versagen aber in Feinheiten. Für die Spinalflüssigkeit
sind sie oft unbrauchbar. Der von Nonne und Gen. benutzte alkoholische
Ochsenherzextrakt ist der unzuverlässigste von allen alkoholischen Ex¬
trakten. Die Kochsalzemulsion des mit Äther oder Azeton extrahierten
Menschenherzbreies versagt nie und ist monatelang unverändert haltbar.
Benutzt man Extrakte, welche nach den bekannten Kriterien sich als
vorzüglich erwiesen haben, so ist es unmöglich, aus der Art der Reaktion
eine Differentialdiagnose zwischen Tabes und Lues cerebrospinalis fest¬
zustellen. Denn beide Krankheiten reagieren in der überwiegenden Mehr¬
zahl der Fälle positiv, sowohl im Blut als im Liquor. In betreff der Eiwei߬
bestimmung dürfte wohl bald allgemeine Übereinstimmung darüber
erzielt sein, daß die Nonne-Apeltsche Ammoniumsulfatprobe keine spezi¬
fische Reaktion auf Metalues bedeutet, sondern einfach eine Vermehrung
des Eiweißes nachweist, wobei nachdrücklich zu betonen ist, daß „Spur-
Opaleszenz“ und „Opaleszenz“ überhaupt keine diagnostische Be¬
deutung haben. Den größten positiven Ausfall der Non ne-A peitschen
Reaktion fand ich bei Meningitis und Tumoren. — Ich komme nun zu
dem nach meiner Auffassung wichtigsten diagnostischen Befund, zu der
Zellreaktion im Liquor. Die Vermehrung der weißen Zellelemente ist das
wichtigste Zeichen, und es ist wahrscheinlich die Eiweißreaktion pro¬
portional zur Stärke der Zellvermehrung. Wichtig sind aber nicht bloß
-die quantitativen Verhältnisse, sondern auch die Qualität der Zellen,
und es wäre verdienstlich, Methoden aufzufinden, um die Zellen möglichst
unverändert der Untersuchung zugänglich zu machen. — Nicht zu ent¬
behren ist nach meiner Meinung die Betrachtung des (zentrifugierten)
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
351
[uorinhaltes im ungefärbten Zustand. Ich verweise in der Be-
mng auf meine Arbeit im Neurol. Zentralblatt. — Was die Sol-
ktion von Lange betrifft, so muß erst die Zukunft deren Bedeutung
rstellen.
Emanuel-Charlottenburg: Ich erlaube mir an Herrn Frenkel, mit
n ich seinerzeit, im Anschluß an seinen Vortrag in der Gesellschaft
Psychiatrie und Neurologie über die Statistik der Blutuntersuchung
Paralytikern diskutierte, die Anfrage, wieviel positive Blutreaktionen
Paralyse er jetzt hat; damals gab er im Gegensatz zu den 100% der
isten anderen Untersucher 80% an.
Frenkel-Heiden -Berlin: Jetzt 100%.
Paul Bernhardt-Dalldorf : Aus der Berliner Familien-
Uege (1. Teil).
Es geht nicht an, irgendeine Familienpflege mit einer anderen
hlenmäßig zu vergleichen. Nicht einmal die der verschiedenen Berliner
astalten können einfach statistisch untereinander verglichen werden;
schweige denn die verschiedener Städte, von Stadt und Land, von
?rschiedenen Gegenden. Geographische Lage, Bevölkerung, Kranken-
'aterial, Verwaltungsgrundsätze, Persönlichkeiten, Armengesetzgebung
n, l anderes schaffen überall verschiedene Bedingungen. Anstaltspfleger-
örier—schon in Rücksicht auf aufzunehmende Familienpfleglinge gebaut—
ind eigentlich gar keine Familienpflege. Drei Haupttypen (Moeli): Familien-
ganz selbständig (schottisches System), Familienpflege um eine
kleine Zentrale (Gheel, Ilten, Jerichow, Eberswalde u. a.), Familienpflege
m Anschluß an eine große Irrenanstalt. Zu letzterem Typ gehört Dall-
Dalldorf hat eigentlich zwei Pflegen. Die eine, entlassene Zöglinge
Idiotenanstalt umfassend, untersteht leider nur pädagogischer Aufsicht,
^eigentliche Irrenpflege umfaßte am 31. III. 1913 165 Männer und 158
ra uen, dürfte also zahlenmäßig die größte im deutschen Sprachgebiete
* in - B. berichtet nur über die Frauen. Drei Gruppen von Pfleglingen
:ann man unterscheiden: 1. Beruhigte oder blöde chronische Kranke,
Rekonvaleszenten zur Überleitung ins Erwerbsleben, 3. Versuchweise
“ Pflege gegebene, um „Versetzungsbesserungen“ zu erzielen oder um im
'«genteil dem Patienten oder seinen Angehörigen die Unmöglichkeit des
Iraußenlebens zu beweisen. Die Kranken drängen vielfach in die Pflege
ln fach aus einem ideellen menschlichen Freiheits g e f ü h 1 heraus,
loderne Überspannung des Krankenhauswesens der Irrenanstalten und
or allem bureaukratische Einschnürung, bei der der Patriarchalismus
lIJ d die Rücksicht auf persönliche Behaglichkeit nicht zu ihrem Rechte
•°mmen, drücken feiner empfindende Kranke nieder und machen die
^arichtung der Familienpflege vielfach um so notwendiger.
Die 158 Frauen verteilen sich nach Arten der Krankheit:
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352
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Paranoische, Katatonische, Dementia praecox in Remission 74
Melancholische und Zirkuläre im Intervall . 9
Imbezille. 33
Idioten . 15
Hysterische . 6
Senile und Organische . 6
Epileptiker . 2
Paralyse in Remission . 6
Alkoholistinnen . 7
158
Dem gegenwärtigen Anstaltspersonal ist die Aufnahme von Pfleg¬
lingen verboten. Auch das frühere kommt immer weniger in Betracht.
Auch ist unser Personal nicht recht geeignet. Ganz arme Leute sind
ungeeignet. Die Pflegestellen sind ganz verschieden, vom einfachen Ar¬
beiter bis zur Witwe aus hohen Beamtenkreisen. Freie Pfleglinge
(meist Kommunalkranke) in Privatirrenanstlaten, aber auch z. B. in einem
Kinderrettungshaus in der Provinz, haben sich als gut bewährt. Die
Hauptsache ist immer eine gewisse patriarchalische und selbst fromme
Gesinnung, die sich, bei der Buntheit der Bevölkerung in der Großstadt
und Umgebung wohl Anden läßt! Das Pflegegeld schwankt je nach den
nützlichen Diensten, die der Pflegling zu leisten vermag, von 5 bis 36 Mk
monatlich, meist 30 Mk. Kleine, halbländliche, alte Einfamilienhäuser, die
sich aus alter Zeit in der nördlichen Umgebung Berlins öfter Anden, sind
besonders geeignet. Dalldorf hat ein sehr großes Überangebot von Pflege¬
stellen. Die überhaupt in Betracht gezogenen werden sowohl vom Pflege¬
arzt, als auch von der Armenkommission, außerhalb Berlins vom Ge¬
meindevorsteher geprüft. Große Erfahrung, Kenntnis sozialer Verhältnisse
und viel Skepsis ist für den Pflegearzt in der Großstadt nötig; nament¬
lich auch, um geeignete Pfleglinge in eine Stelle zu bringen, die ihm
Sprungbrett zum Dienstboten oder zur gewerblichen Arbeiterin werden
kann.
Allmonatlich stellt sich die Mehrzahl der leidlich rüstigen Pfleglinge
in der Anstalt vor; daß Arzneien aus der Anstaltsapotheke verschrieben
werden, dabei Kleidungsstücke, Bademarken, gelegentlich Taschengeld
ausgegeben werden, bewirkt, daß sich die Pfleglinge nicht unter allerhand
Vorwänden dem Besuch beim Pflegearzt in der Anstalt entziehen. Bei
diesen Besuchen in der Anstalt erhält man manchmal einen besseren
Einblick, als in der Pflegestelle selbst; die Kranken sprechen sich eher aus.
Jeder Anzeige, auch anonymen Anzeigen, wird sorgfältig nachgegangen. —
Die Fortsetzung des Vortrags wurde der vorgerückten Zeit wegen
auf die nächste Sitzung verschoben.
Hans Laehr.
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Nordostdeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
353
20. Versammlung des Nordostdeutschen Vereins für
Psychiatrie und Neurologie am 7. Juli 1913 im Vor¬
tragssaal des neuen städtischen Krankenhauses in
■Danzig.
Anwesend waren: -dßmann-Stralsund, Banse-Lauenburg, Berg-
Allenberg, Boldt- Graudenz, .Braune-Conradstein, Burghoff-Conradstein,
Dluhosch-Obravialde, Dodillet- Owinsk, Bester-Kor tau, Ermisch -Trep¬
tow a. R., George-Allenberg, Gruniaum-Danzig, Havemann- Tapiau, Herse-
Neustadt, Hieronymus- Lauenburg, Aayser-Dziekanka, Aei/-Conradstein,
Ara/row-Tapiau, Arefcs-Allenberg, Moofz-Conradstein, Nieszytka -Tapiau,
Peters - Conradstein, Rabbas - Neustadt, Siemens - Lauenburg, Steinert-
Speichersdorf, Stoltenhoff- Kortau, Wallenberg-Damig, Widref-Dziekanka,
Witt- Kosten.
Braune als Vorsitzender begrüßt die Erschienenen. Er teilt mit,
daß im Februar 1913 Herr Geheimer Sanitätsrat Dr. Aayser-Dziekanka
auf eine 25 jährige Tätigkeit als Anstaltsleiter zurückblicken konnte, und
<iaß die Geschäftsführer dem Herrn Jubilar die Glückwünsche des Vereins
übermittelt haben. Der Vorsitzende beglückwünscht den anwesenden
Herrn Geheimrat Kayser nochmals mündlich.
Die Kassenrechnung wird durch Steinert und Krakow geprüft, und
es wird den Geschäftsführern Entlastung erteilt.
Als Ort der nächsten Sitzung wird die Anstalt Lauenburg bestimmt,
die im Juni 1914 die Feier des 25 jährigen Bestehens begeht, mit der die
nächste Sitzung verbunden werden soll. Zu Geschäftsführern werden
.Stemens-Lauenburg und Aayser-Dziekanka gewählt.
Ihr Nichterscheinen haben entschuldigt: Geheimer Regierungsrat
Landesrat Aruse-Danzig, Regierungs- und Medizinalrat Rathmann-
Marienwerder, Dubbers -Allenberg (Geschäftsführer), Meyer-Königsberg,
Anec/tf-Neuruppin, Warschauer-Hohensalza, von Blomberg- Kosten.
Es folgen die Vorträge:
IFicAref-Dziekanka (Referat): Fortschritte im Bau
und in der Einrichtung der Anstalten für psy¬
chisch Kranke.
Das Referat ist bereits in Band 70, S. 957 ff. der Allgemeinen
Zeitschrift für Psychiatrie erschienen.
Eine Erörterung schloß sich an das Referat nicht an.
Braune-Conradstein: Beitrag zur medikamentösen
Behandlung der Epilepsie. (Behandlung mit Trional.)
Der Vortrag wird demnächst veröffentlicht werden.
Erörterung:
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
354
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Steinert - Speichersdorf führt an, daß bei drei Melancholikern, drei
Frauen, davon eine in schlechtem Ernährungszustand, die sich unter
einer medikamentösen Opiumeinwirkung (steigende Kur) befanden und
abends während 4—6 Wochen ununterbrochen 1,0—1,5 Trional erhielten,
die Nebenwirkungen erheblich stärker auftraten (Somnolenz, Ataxie, in
einem Falle Rotfärbung des Urins). Nach Aussetzen des Mittels schneller
Ausgleich.
Anfrage, ob ähnliche Erfahrungen bei der Kombination von Trional
und anderen Medikamenten von anderen gemacht sind.
ifohft-Graudenz hebt im Gegensatz zum Trional, von dessen Er¬
folgen er durch die bisherigen Erfahrungen nicht überzeugt ist, den Wert
der richtig durchgeführten Opium-Bromkur hervor. Allerdings muß
man streng individualisierend unterscheiden zwischen den Epileptikern
der Anstalten, bei denen doch vorwiegend die psychische Komponente
in Mitleidenschaft gezogen ist, und den ambulanten Kranken der Außen¬
praxis, bei denen sich das Leiden fast ausschließlich in Konvulsionen
äußert.
B. berichtet im Anschluß daran über einige Fälle aus seiner Praxis,
bei welchen die Flechsigkur in Anwendung gebracht war; dieselben stehen
seit nunmehr 5 Jahren unter Brom, zurzeit noch jeden 2. bis 3. Tag 3,0 Brom;
alle drei Patienten (ein Gerichtsaktuar, zwei Gymnasiasten) sind dauernd
anfallfrei geblieben und in ihrer körperlichen wie geistigen Leistungs¬
fähigkeit durchaus auf der Höhe.
Vorausbedingung: Absolute Alkoholabstinenz, Einschränkung der
Salzzufuhr.
Peters-Conradstein demonstriert eine Tabelle, an der die Häufigkeit
der Krampfanfälle im Monat bei den gleichen Patienten, erstens während
arzneiloser Behandlung, zweitens während Bromdarreichung, drittens
während Trionalmedikation (die Trionalwirkung bei kleineren — 3x0,25 g
pro die — Dosen und bei größeren — 5 x 0,25 g pro die — Dosen ist
gesondert untersucht worden) zu ersehen ist.
Die Ergebnisse sind in den meisten Fällen auf Grund einer Be¬
obachtungszeit von je 5 Monaten für die einzelne Behandlungsmethode
gewonnen worden. (Dreimal erstreckte sich die Beobachtungsdauer auf
einen kürzeren Zeitabschnitt.)
Eine besondere Diätform haben die Kranken, die ausnahmlos der
dritten Verpflegungsklasse angehörten, nicht erhalten. Sämtliche 20 Ver¬
suchspersonen (männlichen Geschlechts) waren schon seit längerer Zeit
krank — sogenannte „alte Fälle“ — und schon mehr oder minder schwach¬
sinnig.
Ergebnisse:
a) Bei 4 Fällen war Brom wirksamer als Trional. — Dreimal war
Trional genau so unwirksam, wie wenn keine Medikation verabfolgt
wurde.
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
Nordostdeotscher Verein für Psychiatrie and Nenrologie. 355
b) Bei 6 Fällen war Trional wirksamer als Brom. — Dreimal war
im ganz wirkungslos bzw. steigerte es sogar noch die Zahl der Anfälle
;enüber dem Fehlen jeder Medikation.
c) Bei 5 Fällen zeigten Brom und Trional etwa gleich gute Wirkung.
d) Bei 1 Fall war die Zahl der Anfälle am geringsten beim Fehlen
er Medikation.
e) Bei 2 Fällen war Brom bisher nicht angewendet worden. In dem
en Fall wirkte' Trional unwesentlich; in dem anderen Fall vermehrten
h sogar die Anfälle gegenüber dem Fehlen jeder Medikation.
f) Bei 2 Fällen erfolgten unter Trionalmedikation viel mehr Anfälle
unter Brommedikation; doch wirkte Trional in beiden Fällen weit
rker sedativ als Brom.
Zu Punkt f ist zu bemerken, daß die sedative Wirkung eines Mittels
i geistig siechen, der Anstaltspflege dauernd bedürftigen Epileptikern
ne Zweifel bedeutungsvoller ist als die krampfmindernde.
Gerade als Sedativum leistete Trional auch bei einem Teil der anderen
die Vorzügliches. Das ist unter anderem daraus zu ersehen, daß bei
unter 18 Fällen, die größere bzw. kleinere Trionalgaben regelmäßig
ehr als 10 Monate erhalten hatten, nach plötzlichem Aussetzen des
ittels die epileptische Charakterveränderung und psychomotorische
mruhe stärker in die Erscheinung traten.
Auf Grund dieser Beobachtungen scheint in einer Reihe von Fällen
lie Kombination von Brom und Trional wertvoll zu sein, da öfters nur
lie sedative oder die krampflindernde Komponente eines der Mittel isoliert
ur Wirkung kommt. Es konnte in solchen Fällen wahrscheinlich die
«usgefaUene Komponente des öfteren mit Erfolg durch das andere Mittel
•rsetzt werden.
Beim Trional muß streng individuell die am günstigsten wirkende
tagesmenge ausgewertet werden.
Bei 16 Fällen, die regelmäßig 5 Monate mit 3 x 0,25 Tr. pro die
l[ >d die nächsten 5 Monate mit 5 x 0,25 Tr. pro die behandelt worden
ln d, erfolgten die Krampfanfälle, während dieser Zeit, am seltensten:
a) siebenmal bei Anwendung der größeren Dosen (Trionalmedi-
a bon an sich mit einer Ausnahme von vorzüglicher Wirkung);
b) fünfmal bei Anwendung kleinerer Dosen (Trionalmedikation
> sich zweimal von guter, einmal von mäßiger, einmal von keiner, einmal
ön ungünstiger Wirkung);
c ) viermal war die Wirkung größerer und kleinerer Dosen gleich
trionalmedikation an sich einmal von guter, einmal von mäßiger, einmal
0n keiner, einmal von ungünstiger Wirkung). — Es ist hier stets nur
on der krampfherabsetzenden Komponente des Mittels die Rede.
Man ersieht aus diesen Angaben, daß die Fälle, die auf die größeren
'osen am besten reagieren, an sich für die krampfherabsetzende Wirkung
es Mittels weit empfänglicher sind als die anderen.
Zeitschrift Psychiatrie. LXXI. 2 . 24
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UMIVERSITY QF MICHIGAN
Anzahl der epileptischen Krampfanfälle bei Brom-, Trional- und arzneiloser Behandlung.
Die Beobachtungsdauer erstreckt sich jedesmal 1 ) auf 5 Monate.
35ß, Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
*) Einige Ausnahmen sind in der Tabelle besonders gekennzeichnet.
358 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Nierenschädigungen habe ich bei der von mir angewandten Methodik
(fraktionierte Dosen und regelmäßige Gaben von Magnesia usta — Alkali
und leichtes Laxans 1 —) nicht beobachtet.
Havemann- Tapiau: Allgemein gültige Sätze lassen sich m. E. über
Epilepsiebehandlung nicht hinstellen. Individualisieren ist die Haupt¬
sache. Ich habe in einem Falle guten Erfolg von Paraldehyd gesehen,
wo Brom, Opium, Amylenhydrat u. a. nichts nützten.
BurgAo^-Conradstein: Die auf der Frauenabteilung der Anstalt
Conradstein durchgeführten Versuche mit Trional bei Geisteskranken
mit epileptischer Seelenstörung hatten kurz folgendes Ergebnis:
Bei einer kleinen Gruppe, 2 von 28 Kranken, wurde Trional gar
nicht vertragen, die Anfälle häuften sich so, daß zu Brom übergegangen
werden mußte, auch verschlechterte sich der psychische Zustand, es traten
Erregungen und Verwirrtheit auf. Bei allen übrigen Kranken hatte das
Trional die beste Wirkung. Bei 5 Patienten vermehrten sich die Anfälle
nicht, wenn Brom ganz ausgesetzt wurde und statt dessen nur Trional
gereicht wurde in Mengen von zwei- bis dreimal täglich 0,5 Trional. Das
psychische Verhalten zeigte sich insofern günstig beeinflußt, als Erregungen
und Verwirrtheit in der Versuchsperiode nicht auftraten. Eine Patientin,
die sechste unter den übrigen 26 Kranken, befand sich nur gut bei Trional
(zweimal 0,25 Trional täglich). Während sie unter Brombehandlung (täglich
bis 10 g Brom) erregt und verwirrt wurde, trat sofort nach Aussetzen
des Broms und bei Darreichung von Trional Beruhigung ein, wenn auch
die Anzahl der Krämpfe nicht beeinflußt wurde. Diese Reaktion auf
Brom bezüglich Trional konnte mehrfach durch Wechseln des Mittels
willkürlich ausgelöst werden. Bei den übrigen 20 von 28 Patientinnen
wirkte eine Gabe von 0,5 Trional morgens neben 2,5 bis 5,0 Brom täglich
insofern günstig, als die Erregungszustände, wegen deren die Patienten
der Anstalt zugeführt wurden, milder verliefen oder ganz ausblieben.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Trional gegebenenfalls
bei epileptischer Seelenstörung besser wirken kann als Brom, wenn es
auch ebenso in einzelnen Fällen völlig im Stich läßt, und daß es durch¬
schnittlich in Kombination mit Brom zur Erzielung von Beruhigung
beiträgt und die Herbeiführung eines Zustandes beschleunigt, in dem
die Kranken sich in ihrer Umgebung sozial verhalten.
Die Kontrolle des Harns hat in den angeführten Fällen eine Nieren¬
schädigung bei den gereichten Mengen bis zu 3 x 0,5 g nicht zur Folge
gehabt.
£temer*-Speichersdorf: Aus dem Referat läßt sich ein abschließendes
Urteil über die Einwirkung des Trionals bei Epileptikern gegenüber dem
Brom nicht fällen. Es fehlen vor allen Dingen die Angaben über die Diät
(salzarme Kost) bei einem Teil der angeführten Fälle.
W r /'’L?J-Dziekanka: Die vor Zeiten angegebene Kombination von
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Nordostdeutscher Verein für Psychiatrie and Neurologie.
359
ional und Paraldehyd (0,5 Trional + 3—4 ccm Paraldehyd) hat sich
i Erregungszuständen bewährt.
W. hat 2 Fälle heftigsten Reißens bei Katatonikern, als motorische
eizerscheinung aufgefaßt, beobachtet, bei denen bei 4 g (2 + 2 g) Brom-
itron das Reißen ganz sistierte. Bei Aussetzen kehrte es wieder.
DodiUet-Owinsk weist darauf hin, daß man in der Kombination
on Opium mit Trional, selbst in geringen Dosen (Trional 0,5) recht vor-
chtig sein muß, da bei dieser Kombination ungünstige Folgeerscheinungen
fter beobachtet worden sind.
Braune -Conradstein (Schlußwort): Die Zahl der für* die Behandlung
ler Epilepsie empfohlenen Mittel ist sehr groß. Aber aus den in Conrad-
tein angestellten Versuchen geht hervor, daß das Trional ebenfalls ver-
(ient bei der Epilepsie angewendet zu werden. Es kann in vielen Fällen
itatt des Brom gegeben werden, ohne daß eine Verschlechterung des Be¬
indens der Kranken eintritt, oder daß die Zahl der Krämpfe zunimmt,
ln manchen Fällen wirkte es besser, und in dem einen vorhin von Dr. Burg¬
hoff angeführten Fall Märkte die Darreichung von Brom geradezu wie
in einem Experiment verschlechternd, während die Verabreichung von
11710031 regelmäßig Mieder einen erträglichen Zustand herbeiführte.
In Conradstein hat sich die gleichzeitige Verordnung von Trional
Brom gut bewährt.
Im allgemeinen war das Verhalten der Epileptischen unter Trional-
behandlung wesentlich ruhiger, sie neigten weniger zu Zank und waren
imstande sich mehr zu beschäftigen.
Die Gefährlichkeit des Trionals wird häufig überschätzt. Wenn die
erforderlichen Vorsichtsmaßregeln beobachtet werden, kann Trional
längere Zeit unbedenklich verabfolgt werden.
ffaftse-Lauenburg: Ein Fall von Psychose nach j
Erhängen. j
Ein anscheinend gesunder 19 jähriger Lehrling erhängt sich aus i
Spielerei. Nach etwa 10 Minuten Mird er abgeschnitten und wiederbelebt.
Ungefähr 3 y t Stunden später, bei völliger Bewußtlosigkeit, große moto- '
rische Unruhe und eigenartige Jaktationen. Es resultiert ein Zustand '
hochgradiger Bewußtseinstrübung mit aphatisch-apraktischen Sym¬
ptomen, leichten Spasmen, zerebraler Ataxie, Pupillenstörung. In den
e rsten 6 Wochen langsame, geringe Besserung. Später Mird Patient ganz
stumpf und abweisend. 7 Monate nach dem Erhängungsversuch Tod an
Miliartuberkulose. Ähnliche Fälle sind extrem selten. Man könnte sie
als ..Pseudoparalyse“ bezeichnen. — Ausführliche Veröffentlichung vor- '
“«halten.
Erörterung:
Steinerf-Speichersdorf möchte aus dem vorgetragenen Krankheits-
1 de ®it; den starken motorischen Störungen entnehmen, daß es sich
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
360
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
um organische Läsion des Hirns gehandelt hat, die durch die länger-
dauernde Unterbrechung des Blutzufluß hervorgerufen ist. Die Unter¬
suchung des Hirns dürfte den Fall aufklären.
. Grühbaum-Dam\%: Über den Wert der Lumbal¬
punktion zur Erkennung von Geschwülsten am
Rückenmark an der Hand eines vorgeste 111e n
Falles.
Die Patientin, 65 Jahre alt, hatte schon y t Jahr vor ihrer Auf¬
nahme ins Krankenhaus heftige Schmerzen im rechten Bein, die in den
letzten Wochen auch auf das linke Bein übergegriflen hatten. — Der
Befund bei der Aufnahme blieb im wesentlichen auch während der ganzen
Beobachtungszeit derselbe und zeigte objektiv lediglich Fehlen des rechten
Achillesreflexes bei langsam zunehmender (Inaktivitäts-) Abmagerung
des rechten, weniger des linken Beines.
Eigentliche mit Funktionsstöi ungen verbundene Muskelatrophien
bestanden nicht, auch keine Sensibilitätsstörungen oder Blasen-Mastdarm-
Symptome. Subjektiv waren heftigste Schmerzen in den Beinen sowohl
spontan als auch bei Bewegungen des Beckens und der Beine vorhanden.
Lasögue war negativ.
Die wiederholte Lumbalpunktion ergab etwas dicklichen, intensiv
gelb gefärbten, sehr rasch in toto gerinnenden Liquor, mit Erythrozyten,
aber fast ohne Leukozyten. Die Diagnose auf Abschluß des Rücken¬
markskanals kurz oberhalb Punktionsstelle im Bereich des II. oder
III. Lendenwirbels, wahrscheinlich durch Tumor, wurde durch die Opera¬
tion bestätigt: es fand sich ein weichzystischer zirkumskripter, länglicher
Tumor (gutartiges Angiosarkom der Pia) an der Grenze zwischen II. und
III. Lendenwirbel, am rechten Sakralnerven etwas adhärent, der sich
leicht und vollständig entfernen ließ. Die Frau wurde geheilt und blieb
gesund.
Vortragender macht besonders auf einen Befund aufmerksam, der
in der vorliegenden Literatur bisher keine Beachtung gefunden zu haben
scheint: Im vorgestellten Falle wurde die Diagnose auf Abschluß des
Rückenmarkskanals wesentlich unterstützt durch die Erscheinung, daß
bei relativ geringer Menge des abgelassenen Liquors (4,5 ccm) ein starker
Druckabfall (von 120 mm) stattfand, woraus auf einen zystischen Ab¬
schluß des Duraraumes geschlossen werden konnte.
(Der Fall soll ausführlicher noch anderweit veröffentlicht werden.)
Eine Erörterung schloß sich an den Vortrag nicht an.
Wicftel-Dziekanka: Über stationäre Paralyse.
Vor 9 Jahren, im Jahre 1904, habe ich in dieser Versammlung unter
Vorstellung zweier Kranker über drei Kranke berichtet (siehe auch:
Zur Frage der stationären Paralyse, Zentralblatt für Nervenheilkunde
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Nordostdentscher Verein für Psychiatrie und Neurologie. 361
und Psychiatrie, 27. Jahrg. 1904, Nr. 176, S. 561 ff.), bei welchen der
klinische objektive Befund und der Krankheitsverlauf zu der Diagnose:
stationäre Paralyse geführt hatten.
Ganz kurz sei nochmals Krankheitsverlauf und Befund der 3 Fälle
wiedergegeben:
Fall I.
E. L., Lokomotivführer, jetzt 64 Jahre alt und verwitwet. Drei
gesunde Kinder. Kein Potus, kein Trauma, aber Lues.
Januar 1892 (43 Jahre alt) wurde er verändert: Vernachlässigte
sich, sehr ungeniert, dienstliche Versehen, vergeßlich, unsicherer Gang.
Februar 1892: Zunehmende Erregung, gewalttätig, verschwendet,
beginnt zu trinken, massenhafte, unsinnige Größenideen.
29. März 1892: Aufnahme in die Irrenanstalt Owinsk. Heftige
Erregung, unsinnige Größenideen, mangelhafte Lichtreaktion der Pupillen,
Fehlen der Patellarreflexe, Ataxie, artikulatorische Sprachstörung.
Juli bis Dezember 1892: Ruhiger, dement, sehr reizbar, stumpf.
War vorübergehend außerordentlich abgemagert und so schwach ge-t
worden, daß der Exitus befürchtet und die Ehefrau gerufen wurde.
Dezember 1892 bisJuni 1893: Abweisend, verstimmt, hypochondrische
Ideen unsinnigster Art. Mangelhafte Nahrungsaufnahme.
Juli 1893 bis Februar 1895: Im ganzen allmählich ruhiger, nur
zeitweise erregt, raisonniert, schimpft. Zunehmend dement, indifferent,
stumpf, Sprache verschlechtert sich.
28. Februar 1895: Nach Dziekanka übergeführt. Differenz
im Nervus facialis. Pupillen eng, different, verzogen, lichtstarr. Tremor
linguae et manuum. Sprache stark artikulatorisch gestört. Paralytische
Schrift. Analgesie. Ulnarissymptom. Pat.-R., Trizepsreflex, Achillesreflex,
Kremasterreflex fehlen. Ataxie bei der U. E. Starker Romberg. Demenz.
Januar 1896 bis Juli 1904: Unveränderte Demenz mit vorüber¬
gehender sinnlicher Erregung. Körperlich stark am Gesicht zugenommen.
Keine Änderung der somatischen Erscheinungen.
Am 1. Mai 1907 wurde er nach Obrawalde übergeführt. Seit
1904 ist keine irgend wesentliche Änderung mehr bei dem Kranken ein¬
getreten. Im ganzen ist er ruhig, beschäftigt sich etwas, Erregungen sind
selten. Zu erwähnen ist, daß der Kranke inzwischen einige Jahre lang
an einem mal perforant des Fußes gelitten hat.
Fall II.
Th. C., Wirtschaftsbeamter, jetzt 58 Jahre alt, unverheiratet. Kein
Potus, kein Trauma, Lues?
1888 (33 Jahre alt) Schlaganfall. Mehrere Wochen Lähmung rechts.
Langsam erholt. — Wieder in Stellung. Weihnachten 1890 letzte Stelle
angetreten. Zuerst brauchbar.
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362
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Frühjahr 1891 verändert: Zerstreut, nachlässig, vergeßlich, reizbar,
undeutliche Sprache. Allmähliche Zunahme der Erscheinungen.
August 1891: Arbeit eingestellt. Unruhig, Größenideen, hypo¬
chondrische Wahnideen sinnloser Art. Wechselnd euphorische und schwach¬
sinnig-weinerliche Stimmung. Geistig schwach geworden. Enge Pupillen,
träge Lichtreaktion. Verwaschene Sprache. Ataktische Schrift. Rechter
Arm schwächer wie linker.
23. September 1891: Aufnahme in Irrenanstalt Owinsk und
zunehmend dement. Euphorisch heiter. Sinnlose Größenideen. Zeit¬
weise erregt, raisonniert, schimpft, redet konfuse durcheinander.
4. März 1894: Paialytischer Anfall.
20. Dezember 1894: Nach Dziekanka übergeführt. — Daselbst
bis Juli 1904. Zustand im wesentlichen derselbe: Euphorische Demenz
mit sinnlosen Größenideen. Seit 1897 Demenz ganz unverändert. Ver¬
zogene, enge, differente, lichtstarre Pupillen. Differenz im Gesichts-
fazialis. Tremor linguae. Starke artikulatorische Sprachstörung. Para¬
lytische Schrift. Analgesie. Ulnarissymptom. Steigerung der Sehnen¬
reflexe, besonders der Pat.-R. Keine Lähmung, aber Schwäche der
Extremitäten. Unsicherheit bei feineren Bewegungen.
Am 1. Mai 1907 wurde er nach Obrawalde übergeführt. Seit
1904 keine Änderung. Ende 1911 war er einmal eine Zeitlang außer¬
ordentlich abgemagert. 1911 allmähliche Abnahme um 20 Pfund. Er
erholte sich aber wieder. — Zurzeit in Familienpflege.
Fall III.
H. P., Tischler, jetzt 64 Jahre alt, verheiratet. Vier gesunde Kinder.
Leicht reizbar. Solide. Kein Potus. Kein Trauma. Lues sehr wahr¬
scheinlich.
Frühjahr 1892 (43 Jahre alt) verändert: Zunehmend reizbar, nach¬
lässig im Geschäft. Macht ganz verkehrte Arbeiten, führt Aufträge nicht
aus. Läßt sich in unvernünftiger Weise übervorteilen. Begeht Haus¬
friedensbruch, Körperverletzung, Diebstahl.
Im Gefängnis, Dezember 1892, als krank erkannt. Armenhaus.
Stumpf, apathisch, gehemmt, uneinsichtijj, schwaches Gedächtnis. Träge
Lichtreaktion der Pupillen. Fazialisdifferenz. Lebhafte Sehnenreflexe.
Unrein.
14. Juli 1893: Aufnahme in der Irrenanstalt Owinsk. Geistig
schwach, gleichgültig, stumpf, ruhig für sich.
Dezember 1893: Erregung, zeitweise sehr heftig. Bald heiter, bald
erregt, drohend, zerstört. Größenideen.
Dezember 1894: Nach Dziekanka übergeführt. Zunehmende
euphorische Demenz mit vorübergehenden kurzen Erregungszuständen.
Reizbai. Massenhafte, unsinnige Größenideen. Rechtes Oberlid steht
etwas tiefer wie das linke. Schwäche im rechten Gesichtsfazialis. Pupillen
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Nordostdeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie. 363
eng, different, verzogen, lichtstarr. Tremor linguae. Artikulatorische
Sprachstörung. Paralytische Schrift. Ulnarissymptom. Hypalgesie,
incontinentia urinae. Pat.-R. lebhaft.
Am 10. Mai 1896: Paralytischer Anfall. Seit 1898 bis
Juli 1904 keine Zunahme der Demenz mehr. Zustand unverändert.
Am 1. Mai 1907 nach Obrawalde übergeführt.
Seit 1904 keinerlei wesentliche Änderung des psychischen oder
somatischen Befundes. Dauernde Euphorie. —
Der Fall I ist jetzt seit 17 Jahren, Fall II seit 19 Jahren und Fall III
seit 15 Jahren stationär.
Herr Kollege Dr. Fischer in Obrawalde hat nun die Liebenswürdigkeit
gehabt, die 3 Fälle sero- und zytologisch im Herbst des Jahres 1912 zu
untersuchen. Das Ergebnis ist folgendes:
1
Nonne
Phase I
Zytologisch
Fall I
negativ
negativ
negativ
Keine Pleozytose, neben
wenigen Lymphozyten
einige Megalozyten.
Fall II
positiv
negativ
schwach -f
Keine Pleozytose. Neben
gewöhnlichen einkernige
Lymphozyten, einige
große polynucleäre.
Fall III
zweifelhaft
negativ
Spur +
negativ.
Ein Befund also, absolut negativ für Paralyse. Ich glaube nicht,
daß wir an der Zuverlässigkeit dieser neuen Methoden, welche sich für die
Diagnose der Dementia paralytica bewährt haben, zweifeln können.
Trotzdem kann lediglich daraufhin in diesen so typischen Fällen die
Diagnose Dementia paralytica nicht aufgegeben werden. Gerade dieses
Moment, das Fehlen der bei anders verlaufenden Paralysen vorhandenen
Reaktionen, welche auf einen noch im Gange beflndlichen Prozeß im Hirn
hinweisen, nach den neuesten Anschauungen also auf noch vorhandene
lebende Spirochäten in der Hirnrinde, glaube ich, ist es, welches diese
Fälle erst zu stationären hat werden lassen. Die Spirochäten, nehme ich
an, sind hier zugrunde gegangen, der durch sie gesetzte Defekt ist in der
Weise, wie er zu dieser Zeit war, bestehen geblieben. Wie und warum
allerdings gerade hier die Spirochäten zugrunde gingen, kann ich nicht
angeben. Besondere Kuren haben die Kranken, soweit bekannt wurde,
nicht durchgemacht, in den Anstalten jedenfalls nicht.
Die Fälle werden weiter genau beobachtet. Eine gründliche patho¬
logisch-anatomische Untersuchung des Zentralnervensystems wird uns
hoffentlich später Klarheit darüber geben, was hier vorliegt.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
364
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Erörterung:
Boldt- Graudenz neigt mehr dazu, diese sogenannten stationären
Paralysen als Fälle von Lues cerebri zu deuten. Er berichtet über einen
Fall, bei dem analog dem WicAefcchen Fall die Untersuchung des Liquor
auf Wassermann, Nonne-Apelt, sowie die zytologische Untersuchung ein
absolut negatives Ergebnis hatten: die bald darauf vorgenommene mikro¬
skopische Untersuchung des Gehirns aber die typischen Veränderungen
der beginnenden progressiven Paralyse ergab.
Steinert-Speichersdorf: Die bisher genau anatomisch nachunter¬
suchten Fälle von sogenanntei stationärer Paralyse haben doch die An¬
nahme einer typischen Paralyse nicht gerechtfertigt, sondern sprechen
für Folgeerscheinungen von Lues cerebri.
Siemens-Lauenburg: Ich glaube doch nicht, daß man diese Fälle
als Dementia paralytica ansprechen darf, wenn die Wassermannsche
Reaktion negativ ist und also die Lues völlig ausscheidet. Wenn man
bedenkt, wie mannigfache und zahlreiche motorische Störungen bei der
Dementia praecox in manchen Fällen beobachtet werden, so wird man
der Meinung sein, daß die als sogenannte stationäre Paralyse beschriebenen
nicht luischen Fälle doch wohl der Dementia praecox zuzuteilen sind.
Wallenberg- Danzig trug über den von Edinger untersuchten „Mensch
ohne Großhirn“ vor und zeigte die ihm von E. freundlichst überlassenen
Präparate mittels Projektionsapparat.
Wallenberg stellte ferner folgende Patienten vor: 2 Fälle von multipler
Sklerose, 2 Fälle von der juvenilen Form der Dystrophia musculorum
progressiva, 1 Fall von transkortikaler sensorischer Aphasie mit link¬
seitiger Hemiparese infolge von Lues cerebri, 1 Fall von ungewöhnlicher
bulbärer Sprachstörung bei Lues cerebri (?) bzw. Paralyse (?).
*
Bericht über die 100. Sitzung des Ostdeutschen Ver¬
eins für Psychiatrie zu Breslau am 6. Dezember 1913.
Anwesend die Herren: Alter- Knetern, Alzheimer-Breslau, Bonhoeffer-
Berlin, Buttenberg-Freiburg, Brutzer-, Chotzen-, Creutzfeld- Breslau, Deugg-
Obernigk, Dresen-Brieg, Eiche- Breslau, Fischer-Prag, Förster-, Freund-,.
Friedrich-Breslau, FucAs-Leubus, GoZZa-Breslau, Grau-Lüben, Hahn-,
Haupt- Breslau, /Fayn-Beuthen, Hirt- Breslau, Jirzik -Ziegenhals, Kahl-
Aaum-Görlitz, FieserZing-Lublinitz, ÄoAiscA-Obernigk, Fontetzny-Leubus,.
Kuljenko-Kiev/ a. G., v. Funou'sAi-Rybnik, Langer- Brieg, Lehmann-
Freiburg, LinAe-Lüben, Mann- Breslau, Neisser- Bunzlau, Nicolauer-
Breslau, Petersen- Brieg, Peterssen-Börstel- Plagwitz, Praetortus-Rybnik,
Preissner-Lüben, Przewodnik-Tost, Rein -Landsberg a. W. a. G., Rixen-
Breslau, ÄotAer-Leubus, Sachs- Breslau, Schinke-Tost, Schlesinger-Breslau,
Schmidt-Borau, Schubert- Kreuzburg, v. «ScAuc/tma/m-Plagwitz, Schuppius-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
365
Breslau, »ScAutse-Tost, Serog- Breslau, Sittig-Pr&g, S prenger-ObCr nigk,
Stertz-, Stöcker - Breslau, Thünväckter-Rybrnk, UUmann-Bvmil&to, Wende-
Kreuzburg, WicAz-Lublinitz, Ziertmann- Bunzlau, Zuber- Liegnitz.
Der Vorsitzende, Herr Alzheimer , eröffnet die 100. Sitzung des
Vereins, heißt die zahlreich erschienenen Mitglieder und Gäste auf das
herzlichste willkommen und erteilt dem Sekretär des Vereins das Wort.
Herr Clemens Neisser- Bunzlau: „Rückblick“.
M. H.! Angesichts des Umstandes, daß wir heute zur 100. Sitzung
unseres Vereins versammelt sind, habe ich im Einverständnis mit unserem
verehrten Herrn Vorsitzenden es übernommen, einen Rückblick auf die
Gründung und die Geschichte des Vereins zu geben, an dessen meisten
Sitzungen ich seit 27 Jahren teilgenommen habe und zwar in den letzten
22 Jahren seit dem 5. Dezember 1891 als Sekretär des Vereins. Vor wenigen
Tagen las ich die Rückschau auf die letzten 25 Jahre Psychiatrie, die
Alzheimer pietätvoll zu Siolis Festschrift gewidmet hat. Darin ist in form¬
vollendeter Weise die Gesamtentwicklung unserer Disziplin zur Darstellung
gebracht. Das überhebt mich der Versuchung, den heutigen Rückblick
irgend kritisch zu gestalten.
Schon einmal in diesem Jahre der Jubelfeiern hatte ich Anlaß zu
einem offiziellen Rückblick, als wir am 16. Juli d. J. in Bunzlau das
50 jährige Bestehen der Anstalt und zugleich die Vollendung der um¬
fassenden Um- und Neubauten festlich begingen. Bei der vergleichenden
Rückschau konnten wir mit Befriedigung des Aufschwungs in Wissen¬
schaft und Praxis inne werden, der sich in den letzten Jahrzehnten voll¬
zogen hat, und auf diesem Gebiete der Anstaltsentwicklung war es leicht,
die Verhältnisse zu überblicken, und es war deutlich, daß der Fortschritt
angeknüpft hat an die freieren Behandlungsformen und besonders an die
allgemeine Durchführung der Bettbehandlung. Die Bettbehandlung hat
nicht nur bei den einzelnen Kranken die Erregbarkeit herabgemildert
und dadurch sowie durch die anders gestaltete Aufsicht, Pflege und Sauber¬
keit das ganze Regime unvergleichlich günstig beeinflußt, sondern sie hat,
wie schon die Vorkämpfer voraussagten, darüber hinaus gewirkt: sie
hat vor allen Dingen die Bahn freigemacht für eine allseitige methodische
klinische Untersuchung der Kranken, sie hat ferner in ähnlicher Weise
wie seinerzeit die Antisepsis bezüglich der Erkennung der akzidentellen
Natur der Wundkränkheiten, die Möglichkeit geschaffen, die Artefakte aus¬
zusondern und die natürliche Entwicklung der Symptome und den
Verlauf der Krankheiten kennen zu lernen. Und durch alles dies hat die
Bettbehandlung es endlich in praktischer Beziehung ermöglicht, dem
Anstaltsarchitekten klare Aufgaben zu geben und ihn somit zu befähigen,
selbständig in individuell variierter Form bauliche Lösungen für den
gegebenen Zweck zu suchen und zu finden. Und natürlich bildet diese
technische Errungenschaft, der große Fortschritt im Anstaltsbau, eine
höchst wesentliche Bereicherung unseres therapeutischen Vermögens.
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* Original fro-m -
UNIVERSITY OF MICHIGAN
366
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Ganz so durchsichtig sind die Quellen des Fortschritts in der rein
wissenschaftlichen Arbeit nicht zu verfolgen. Auch pflegt bei dem
bescheidenen und stillen Leben einer vorwiegend wissenschaftlich ge¬
richteten Vereinigung der äußere Rahmen des Geschehens eine gewisse
Beständigkeit und Gleichförmigkeit darzubieten, aber es wird sich ergeben,
daß auch in diesem Kreise fleißig mitgearbeitet worden ist von vielen
Seiten aus und von verschiedenen wissenschaftlichen und praktischen
Gesichtspunkten, und daß Bausteine herbeigetragen sind, zum Teil
von Meisterhand, welche im einzelnen schon vielfach die sich erneuende
Gesamtstruktur unserer Disziplin erkennen lassen. Für mich kann es
sich nur darum handeln, Ihnen an der Hand der Tagesordnungen der
Sitzungen einige Merkpunkte zu bieten.
Im Herbst 1872 kamen fünf Männer zusammen, Professor Neumann
aus Breslau, Direktor Jung aus Leubus, Direktor Alter aus Brieg, Dr. Keller
aus Bunzlau und Dr. Eicke aus Pöpelwitz. Im Hötel de Silösie begründeten
sie den Verein zunächst zum Zweck des persönlichen Sichnähertretens.
Die wissenschaftliche Arbeit bestand zunächst darin, daß über die jüngste
Literatur berichtet und diskutiert wurde. Das Schwergewicht sollte
aber in dem persönlichen Zusammensein hegen; ich denke, daß wir darüber
vielleicht, wenn nach altem Brauch wir nach den Vorträgen gemütlich
uns zusammenflnden, noch mehr zu hören bekommen werden, da wir ja
die Freude haben, zwei der Gründer unter uns zu sehen.
Über die ersten zwei Jahre liegen Berichte nicht vor, und ich will
gleich hier erwähnen, daß auch später wiederholte, zum Teil mehrjährige
Lücken der Berichterstattung bestehen. Auch blieben die Formalitäten
für den Eintritt der Mitglieder so locker, die Beiträge wurden nur von
den in den Sitzungen gerade Anwesenden erhoben, der Austritt oder
Wegzug von Mitgliedern wurde nicht besonders gemeldet, so daß es für
die frühere Zeit nicht möglich ist und selbst für die letzten Jahre noch
Schwierigkeiten machte, eine auch nur einigermaßen vollständige Liste
der Mitglieder aufzustellen. Es scheinen anfangs alle Vierteljahre Sitzungen
abgehalten worden zu sein; wenigstens wird die Sitzung zu Breslau am
15. Dezember 1874, die erste Sitzung, über welche in der LaeArschen Zeit¬
schrift berichtet ist, als die 8. Sitzung des „Zweigvereins der Irrenärzte
Schlesiens“ bezeichnet. In dieser Sitzung, in welcher, wie der Bericht
sagt, der bisherige Sekretär Professor Neumann wiedergewählt wurde,
beschloß man, jährlich drei Sitzungen abzuhalten, und zwar am 15. Februar,
15. Juli und 15. November. Die Februar- und Novembersitzung solle
stets in Breslau stattfinden, die 'Julisitzung nur dann, wenn keine Ein¬
ladung von seiten eines der Mitglieder erfolgte. Anwesend waren die Herren
Alter-Hneg, Berger-Breslau, Brückner- Kreuzburg, Jacofci-Bunzlau, Korn-
/eW-Wohlau, iVeumann-Pöpelwitz, Passtw-Groß-Strehlitz, Poppo-Herrn-
stadt, Wern icke - Breslau, Zen/rer-Leubus, im ganzen 10 Herren. Neumann
erstattete einen kurzen Bericht über Kahlbaums Katatonie. Interessanter-
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
• ; -
iv blmte XfuffHinr). der doch sonst den Standpunkt der Einheits-
♦ i hose festhielt, die heut' Aufstellung: nicht ohne weiteres- und iiameoi-
lv nicht uns seinemiheorerjschtm Standpunkt«; heraus ab. Er beton h-
U in gauü, analog verinufonen Fällen die Knunpferscheinungen gefehlt
lUen. und daß maui daher der Katatonie nicht die Dignität und Abrimdpöig'
• kbmiftka torischer Einheit zusehrribeo dürfe, wie sie die Paralyse
»weiMhatT besitze. Hu-r&tt? sprach Dr, Kornfeld ,,hb»*r die juristische
,‘h-iridlyng der «ogenannien Moral Mssamty". Daß sie stets eine Vrf- -
jndemiig >.W Znr- citiruiVg^fähigkett bedinge, erscheint dein Yorlr. nicht
TevfrihalC Er fordert aher MUcthweiler iiicht riUr ein quantitativ yer-
Hierti'-s Strafmaß, sondern' «geh eine qualitative Umänderung-der Strafe,
i*ä u livlk/iiit iiüienf «twrott« ah 4vv<^k/' i £*C* >1! a ff t i «v '
h^blkgrtetv und noch nlpbt sehr pohiierted; Oggeutaw»- ß Än cügtam
-jdigt; M-eU wiettef, wie tätige schon «Ute f'Kyiditatar bestrebt
Kif rii:. ’tfaüuahmer. gegen - die ttfd'äiithelikei'cOei.steskrajiker i*um Schutz
vllgenietoheii!. muoregon, während man ihnen vielfach womirft.
hfoh die t>Sv<:bi.viri*eh«; Begutachtung die Gefährdung heihrixuFi>hren.
M >I,. r Weint ronu sieh ein Urteil über diese HiUoog und rum Ver-
' vin r>c!*ttgee Bild von den Strebungen und Jntur'cssen der Faeh-
“ • j-oiec hniciifui \vitl. so ist (;s ganz lehrreich, sudi neben dem
"'"uVlwgf^benhn Inhalte! dieser Thgring die. Titai: ihr Vorträge bhdgi^r
' ' Uf Vereine m vergegenwärtigen; die Tagesordnung ''des:-' '^nrUher-
utainsefu-n Vereins vom 15 Dezember !ä7V enthielt; Qr. ihu-ss,
! c.' ;{ i; . Äufnahipebedingungdb nt Irrenanstalten“, !>r. L>tr.h>-, ( ,Die
lr *'' ,mii stälUsstati»tik in, DHUtschlaroJ unct ctef: ^hweis’^t Dr. tat? Ar, „febpr
^biigche- Berichte aus IrrörniiisfätbriV* und am 15. Juni 1375; -(ir. fdek-r..
'/ Slü| ‘f'roTisnriscbe Beurlaubungen“'Df. Jdeler. „Ist es. erlaubt. daß.ein
! , 'G.-toiust der- nach -ler' Anstalt gehört, draußen - beim ’MVVitvr arbeitet ?" :
1 **sea. .. Ko«, o übertriebene Humanität in der i.ichiiodhjng der Krank- u
' von JSaehheil äein?‘‘4 Dr. Lmhr. „über ftytervtahveiortebtungeu in
Dr. Zwo, „Das Verfahren iii Ern.inUiohgungs-sachiu'i''
- - ,| taf natürlich., daß auf d.ru kJemereu lokalen FdrhYereitlignugph dig
Fragen mehr 2« Worte kamen, umi daß dabei eine unsicher- ,
^-sermaßeji taBteo-tc .Stellungnahme 211 den versidiicdehsV’ii Fragen'
:, -li ergab.- Andererseits Önde.ri wir zvvisihen'dnrih ,duf den''Verstimm-
n. namentlich bei den 'Südw«s»deutschen und den grolh rr allgemeinen
“'i!m (h'h Vereinsv»;V.sanuidiHigen sltvnc wisseiisiliafUicti: Vorträge
“**' •terohaftastes- Fota<lh>>r,; itthf man möge: sich erinnern um 'dhif Stand
Forsch 11 rig einigcrnioße,.! zü koiiiizeohnen, daß nn .Jahre lkH : bei
‘ " !l -'•»> wir in der VefeiTisgcs-.tiiobb' ■•hielten. ». a. rfschumen sind.
,; ic}-rs senRorisohc Aphasie, ffitztgs Imtemiohungen ober die Groß •
' Jfädnde, Frifttreiehti hecetlitüi B Ataxie, Kami* |>ffißih?llyng der ps.v chisebsn
Co gle
3.68
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Äquivalente bei Epilepsie, und daß Anfang 1875 dann diejenige Arbeit
von Erb und die wohl noch durchgreifendere und wichtigere von Westphal
kam, welche die Beschreibung und die Bedeutung der Sehnenreflexe
in klassischer Form festlegte und schon ihr Fehlen bei der Tabes als ein
wesentliches Kennzeichen begründete, jene Arbeit, welche zusammen
mit den bald folgenden weiferen Rückenmarksarbeiten die neurologisch -
anatomische Epoche einleitete, die im Vergleich mit allen Nationen meiner
Meinung nach eine günstige Besonderheit in der Entwicklung der deutschen
Psychiatrie darstellt.
Erst über die 18. Sitzung, welche am 13. Juli 1878 in Leubus statt¬
fand, wird wieder berichtet. Außer den Leubuser Ärzten waren noch
10 Kollegen anwesend, und es ist vielleicht von Interesse zu erwähnen,
daß Herr Binswanger, damals Assistent am Pathologischen Institut zu
Breslau, der Sitzung beiwohnte und an einer Reihe von Korrosions- und
Injektionspräparaten die Anatomie des Ursprungteiles und Anfang¬
stückes der Carotis interna demonstrierte. Man hörte ein Konzert gemein¬
sam mit den Kranken an; danach besprach Jung den damals die Anstalts¬
direktoren beunruhigenden § 13 Abschnitt 2 der preußischen Vormund¬
schaftsordnung vom Jahre 1875, der vielfach so ausgelegt wurde, daß
die Vorstände der Anstalten vom Gericht als die gesetzlichen Vertreter
der Kranken angesehen wurden. Und danach hielt Direktor Jung seinen
großen Vortrag über die Paralyse der Frauen, in welchem er mit außer¬
ordentlicher Gründlichkeit alle Symptome und alle persönlichen Lebens¬
verhältnisse der Kranken zur Feststellung der etwaigen Besonderheit
der Krankheitsform durchforscht. Interessanterweise konstatierte er:
„Von den 78 Frauen hatte die Mehrzhal zwar Kinder, aber trotz mehr¬
facher und langjähriger Ehe nur wenige, oder zwar viele, bis auf elf, aber
die meisten dieser Kinder starben früh, wurden frühzeitig lebensunfähig
oder tot geboren, der geringere Bruchteil war ganz kinderlos trotz mehr¬
facher Ehe, und über ein Dritteil hatte zwar außerehelich ein Kind, in der
Ehe aber keins.“ Diesen Tatsachen mißt Jung Bedeutung bei, aber ent¬
sprechend dem Stande des Wissens kam ihm dabei nicht der Gedanke
an Syphilis, die nur als in 3 Fällen vorhanden konstatiert wird. Ich darf
demgegenüber vielleicht hier die interessante, damals nicht genügend
beachtete Tatsache in Erinnerung rufen, daß Jastrowitz im Psychiatrischen
Verein zu Berlin, wo Jung schon im Dezember 1874 über dasselbe Thema
gesprochen hatte, in der Diskussion darauf aufmerksam gemacht hat,
daß der Zusammenhang der Syphilis mit der Paralyse in 90 % der Fälle
auf den dänischen Inseln an einem infolge der konstanten Bevölkerung
vorzüglich geeigneten Materiale durch Christin Ol. Jaspersen nachgewiesen
sei. — Erst über die 30. Sitzung vom 26. November 1882 liegt wieder ein
kurzer Bericht im 39. Bande der Allgemeinen Zeitschrift vor. Professor
Neumann referierte über den Jahresbericht der Provinzial-Irrenanstalt
zu Brieg von Direktor Dr. Alter, aus welchem er besonders die große
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
369
ligkeit der Beköstigung in genannter Anstalt hervorhebt. Dann referierte
über den berühmten Bergerschen Fall von Paralyse aus dem neu-
ründeten Mendelschen Zentralblatt und regte damit eine lebhafte
aatte über die weibliche Paralyse an, wobei als Beobachtung an den
Allerheiligenhospital behandelten Fällen behauptet wurde, daß die
rankten Frauen oft Beschäftigungen gepflogen haben, die sonst Männern
allen! — Dr. Leppmann berichtet über einen Fall von Morphinismus
I empfiehlt schnelle Entziehung: am 1. Tage 7e«> am 2. l /„ der Tages-
is, dann nach einigen Tagen 1,0 g Chloralhydrat. Prof. Berger
pfiehlt bei Erregungszuständen Inhalationen von Bromäthyl, tgl.
■10 g; den kurzdauernden Betäubungen folge ein längerer Zustand
Ruhe.
Am 26. September 1884 tagte der Verein in Owinsk; er nannte sich
nals „Verein der Irrenärzte Schlesiens und Posens“; seit welcher Zeit,
mir nicht ersichtlich geworden. Diese Sitzung in Owinsk hat, wie in
nem Nachruf erwähnt wird, Professor Neumann noch geleitet; bald
nach, am 10. Oktober 1884, erlag er der schleichenden Krankheit, die
bst Kummer und Sorge seine Persönlichkeit schon lange traurig ge¬
adelt hatte. Auch hier sei ihm noch gedankt für das Verdienst, das er
II den Verein sich erworben hat, denn nach den Berichten aller, die ihn
JU daher kannten, war es im wesentlichen seine Persönlichkeit, die den
fliegen den Zusammenschluß dauernd anziehend und fördernd zu ge-
alten vermochte, obwohl ein eigentlich wissenschaftliches Leben nicht
e Pflegt wurde.
im Jahre 1885 wurde Wernicke auf den Breslauer Lehrstuhl berufen
in d trat an die Spitze des Vereins. Leppmann führte die Geschäfte des
>ekretärs, und als er 1889 nach Berlin ging, trat Lissauer an seine Stelle.
Aus der folgenden Februarsitzung hebe ich heraus Freunds Demon-
tration einiger „Grenzfälle zwischen Aphasie und Seelenblindheit“; es
»andelte sich um die erstmalige Herausarbeitung der sogenannten „opti-
'•^ en Aphasie“. Wernicke stellte einen Fall seiner maniakalischen Aphasie
or und einen Fall von Rindentaubheit mit Paraphasie nach einem para-
•' tischen Anfall. Die Sommersitzung 1888 fand in Bunzlau auf Einladung
°n Sioli statt, welcher selbst „über Fasersysteme im Fuß des Großhirn-
henkels in Degeneration desselben“ sprach; dann erörterte Petersen-
orstell die Frage der sogenannten Feldzugsparalysen namentlich hin-
■chtlich der praktischen Anerkennung des Zusammenhangs, wenn der
Entliehe Krankheitsausbruch lange — bis 15 Jahre — auf sich warten
e &, und Wernicke sprach über die Irrenversorgung der Stadt Breslau.
^ovembersitzung 1888 fand den Verein zum ersten Male in der Neuen
v bn\k, und Wernicke lud zur Benutzung der Laboratoriumsarbeitsplätze
ln - Lissauer führte seinen berühmten Fall von Seelenblindheit vor, und
b machte den damals in der klinischen Psychiatrie neuen Versuch, ein
uuktionelles Symptom, die Verbigeration, differentiell-diagnostisch zu
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
370
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
behandeln. Aus der folgenden Sitzung hebe ich Lissauers Krankenvor¬
stellungen heraus, die er als Grenzfälle zwischen Paralyse und Katatonie
bezeichnete. In einer Sitzung v. J. 1886 in Obernigk, in welcher Kahlbaum
die Krankheit des Königs Ludwig schilderte, über die ich vergeblich nach
einem Bericht gesucht habe, ist der Name „Verein ostdeutscher Irren¬
ärzte“ angenommen worden. Vom November 1887 ab ist mit ganz wenigen
Ausnahmen über die Sitzungen wieder referiert worden. Anfangs von
Wernicke selbst, später vom Sekretär. In jener Novembersitzung demon¬
strierten Lissauer und Freund Fälle von Gedächtnisschwäche bei Alko-
holisten, die nach einem akuten deliriumartigen Zustande einsetzt; ich
sprach über die originäre Verrücktheit von Sander und legte die klinische
Bedeutung des Symptoms der Konfabulation dar. Leppmann sprach
über Geistesstörung als Ehescheidungsgrund, wobei er sich auf den, wie
ich glaube, ärztlich allein richtigen Standpunkt stellte, eine möglichst
weitgehende Anerkennung der Geistesstörung als Ehescheidungsgrund
zu fordern, ein Standpunkt, der bekanntlich in Frankreich sich auch heute
noch nicht durchzusetzen vermocht hat und dort gerade von den führenden
Klinikern wie Magnan bekämpft worden ist. Die 50. Sitzung am 29. Juni
1889 wurde gemeinsam mit dem Berliner Psychiatrischen Verein in Görlitz
bei Kahlbaum begangen; Kahlbaum selbst gab eine klinische Skizze über
eine besondere Form des Jugendirrsinns, das sogenannte Heboid; sein
Assistent Markus sprach über einige Besonderheiten in Erscheinungen
und Verlaufsweise der Melancholie bei Neurasthenischen. Lissauer demon¬
strierte eine Methode zur Herstellung großer Gehirnschnitte. In den.
nächsten Sitzungen, man kann wohl sagen in den nächsten Jahren, standen
anatomische Demonstrationen mit dem neuen Projektionsapparat im
Vordergründe. Besonders hervorheben möchte ich Heinrich SachsB Vor¬
führung über das Okzipitalmark des menschlichen Gehirns. Im Juni 1890
fand die Sitzung in Leubus statt. Kraepelin, der seiner dortigen Tätigkeit
wohl noch gern gedachte, war aus 1 Dorpat der Einladung zur Teilnahme
gefolgt; er sprach über Katalepsie. Ich stellte Fälle zur Differential*
diagnose der Katatonie vor. Lissauer besprach die pathologische Anatomie
der Paralyse. Schubert gab einen Beitrag zur Pathogenese des zirkulären
Irrsinns. Geheimrat Alter erörterte die eigenartige Stellung, die Leubus
im Rahmen der provinzialen Irrenpflege einnimmt. Dann folgten sich
in den Sitzungen eine Fülle bedeutsamer Demonstrationen und Vorträge
von Wernicke selbst und seinen Schülern, namentlich Hahn , Freund>
Sachs und Lissauer. Letzterer trug am 2. März 1891 die Ergebnisse seiner
wichtigsten Arbeit vor unter dem Titel: Klinisches und Anatomisches
über die Herdsymptome der Paralyse. Nicht lange darnach wurde dieser
prächtige Mensch und Forscher uns jäh entrissen. Im Dezember 1891 trug
uns Wernicke seine Grundzüge einer psychiatrischen Symptomlehre vor,
die er dann in der Berliner Klinischen Wochenschrift veröffentlichte.
H. Sachs sprach über optische Erinnerungsbilder. Ich gab in derselben
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
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Sitzung die Unterscheidung primärer und sekundärer psychischer Sym¬
ptome im allgemeinen und suchte insbesondere die Bedeutung der para¬
noischen Eigenbeziehung darzulegen. Professor Pick sprach über Kom¬
bination hysterischer und organisch bedingter Störungen in den Funk¬
tionen des Auges. Von Einzelbeiträgen aus jenen Sitzungen möchte ich
noch auf einen Fall von akuter Geistesstörung im Kindesalter hinweisen,
den Hahn vorstellte, und der wegen des wohl einwandfreien Zusammen¬
hanges eines halluzinatorischen Verwirrtheitszustandes bei einem 10jährigen
Knaben mit einem Kopftrauma ein besonderes Interesse beanspruchen
darf, und auf die Untersuchungen Freunds über traumatische Neurose,
deren Ergebnisse er uns vorführte. Das Jahr 1891 hatte für Preußen das
wichtige Gesetz gebracht, wonach den Armenverbänden die Fürsorge
für die geeignete Unterbringung der Idioten, Epileptiker, Blinden und
Taubstummen auferlegt wurde. Auf einen anregenden Vortrag von Kurella
bildete der Verein eine Kommission zur Vorberatung der geeigneten
Maßnahmen, der auch der langjährige, geschätzte Dezernent des schlesi¬
schen Irrenwesens Geheimrat Gürich beitrat, welcher zuin Dank für seine
Förderung der psychiatrischen Interessen auf Antrag Wernickes zum
Ehrenmitgliede des Vereins ernannt wurde. Herr Alter übernahm die
Erstattung des Berichts, dessen Wortlaut in der Schlesischen und Breslauer
Zeitung veröffentlicht worden ist. Kein Kenner unserer Verwaltungs¬
verhältnisse wird davon überrascht worden sein, daß die ärztlichen Ge¬
sichtspunkte für die praktischen Maßnahmen der Behörde die Richtschnur
nicht gegeben haben; ich fürchte, die allernächsten Tage werden den
Beweis liefern, daß die Notwendigkeit, daß eine Anstalt für Schwach¬
sinnige, Epileptiker und Idioten durchaus unter ärztliche Leitung gehört,
heute ebensowenig anerkannt wird wie damals. Jedenfalls hat der Verein
seine Schuldigkeit damals getan und sowohl die zahlenmäßige Grundlage
beschafft als auch die ärztlichen Gesichtspunkte und Erfahrungen zur
Darstellung gebracht. Und heute läßt sich nicht mehr bestreiten, daß
der Provinz die jahrelange, peinliche Plätzenot und auch die nachträgliche,
gehäufte Bewilligung von Millionen ei spart geblieben wäre, wenn man
den von der Kommission unseres Vereins aufgestellten Sätzen Beachtung
geschenkt hätte. — Am 19. Juni 1892 fand wieder eine Sitzung in Leubus
statt. Hier war es zum ersten Male, daß Wernicke seine Auffassung von
den fixen oder überwertigen Ideen entwickelte und zwar in einer Diskussion
nach einem Vortrage von Kahlbaum „über einen Fall von Pseudoparanoia“.
In dieser Sitzung machte ich an der Hand eines vorgestellten Falles auf
die Unterscheidungsnotwendigkeit zwischen der chronischen Wahnbildung
der Paranoiker und den nach akuten deliranten Stadien als Reste zurück-
bleibenden Wahnideen ohne Fortbildungstendenz aufmerksam. Ich darf
das wohl hervorheben, weil dieser Begriff des Residualwahns von Sterts,
Liepmann u. a. irrtümlich auf Wernicke zurückgeführt worden ist, der
ihn aber ebenso wie die Scheidung der primären und sekundären Sym-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 2. 25
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
ptomatologie von mir aufgenommen hat. Liepmann hat sich übrigens
nachträglich sehr bald von diesem Sachverhalt überzeugt und mich schon
vor längerer Zeit ermächtigt, dies mitzuteilen. Meine Verehrung Wernicke s,
mit welchem mich nahe persönliche Beziehungen verbanden, wird nicht
beeinträchtigt, wenn ich meine Priorität in diesen Punkten festzuhalten
bestrebt bin, über welche, wie ich betonen möchte, bei Wernicke s Leb¬
zeiten ein Zweifel nie bestanden hat.
Einen Glanzpunkt in der Geschichte des Vereins bildete die 60. Sitzung
vom 26. November 1892, in der Wernicke 14 Kranke vorstellte, 2 mit
sogenannten überwertigen Ideen und 12 mit Motilitätspsychosen. In der
nämlichen Sitzung demonstrierte u. a. H. Sachs das Gehirn des berühmten
Försterschen Rindenblinden. Es folgte eine interessante Sommersitzung
in der Anstalt Sorau, deren verehrter Leiter manche jüngere Vereins¬
mitglieder an Treue und Frische des Interesses beschämt. Hebold, jetzt
in Wuhlgarten, lieferte einen Beitrag zur Aphasielehre, und Seile, jetzt
Direktor von Neuruppin, besprach die neue Lehre von den überwertigen
Ideen an der Hand einer Anzahl von Fällen, wodurch Wernicke zu einigen
sehr interessanten eigenen Ausführungen gereizt wurde. In einer der
nächsten Sitzungen teilte Hahn, der seines Freundes Lissauer Nachlaß
durchzuarbeiten übernommen hatte, den anatomischen Befund des Falles
von Seelenblindheit mit. Es folgten dann im Juli 1894 wertvolle klinische
und anatomische Mitteilungen von Pick und Krankendemonstrationen
von zwei jüngeren Assistenten der Wernickeschen Klinik, nämlich der
Herren Bonhoeffer und Heilbronner. Bonhoeffer stellte eine „akute Psychose“
vor und Heilbronner einen Fall von Asymbolie. In der Diskussion führte
ich den Terminus Perseveration ein und betonte ihre allgemeine Be¬
deutung. Der Sitzungsbericht enthält Ausführliches hierüber. In der
nächsten Sitzung, in welcher Direktor Petersen-Brieg über ein Attentat
berichtete, das ein Paranoiker auf ihn durch einen Messerstich in den
Rücken verübt hatte, zeigte Heilbronner erstmalig schöne iVmf-Präparate
der Ganglienzellfärbung. Wernicke hielt seinen Vortrag über Angst¬
psychosen. Es interessiert vielleicht, wenn ich erwähne, daß der Psychologe
Ebbinghaus, ein treuer Besucher unserer Sitzungen, mir damals bekannte,
daß die Literatur eine in ihrer Beobachtungsfeinheit vergleichbare Affekt-
schilderung nicht aufzuweisen habe. In dieser Sitzung wurde Herr Gaupp
als Mitglied des Vereins aufgenommen.
Lassen Sie mich noch der nächsten Sitzung gedenken, in der erst
Heilbronner einen Fall von sensorischer Aphasie demonstrierte, Margulies-
Prag über Irresein aus Zwangsvorstellungen sprach, dann Mucha aus
Coswig über die Katatonie und dann Bonhoeffer auf ein der choreatischen
Störung anscheinend konstant zukommendes Symptom aufmerksam
machte, nämlich die Muskelschlaffheit, die Hypotonie und das Fehlen der
Patellarreflexe. Danach wies Bonhoeffer in einem zweiten Vortrage
über Paralexie auf die interessante Beobachtung an Alkoholdeliranten
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
373
hin, daß, je mehr man sich dem Empfindungsschwellenwert nähert,
desto mehr halluzinatorische Elemente auftreten. — Es ist nicht möglich,
im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Zeit den Rückblick so zu
vervollständigen, daß ich jedem gerecht werden könnte; fast jede Sitzung
in jener Zeit brachte neue Tatsachen, neue Anregungen und ein immer
tieferes, systematisches Vordringen in die den Sinnestätigkeiten zu¬
gehörigen zerebralen Leistungsgebiete. Die Namen Liepmann, Storch,
Mann, Otfried Foerster, Schröder, Kuttner, Kramer treten neben den schon
Genannten in der nächsten Zeit in den Vordergrund und nicht weniger
schließlich die Herren, die jetzt noch an der städtischen Anstalt und der
Klinik zum Teil tätig sind. Fast alle Arbeiten, die den Ruf dieser Herren
begründet haben, sind in irgendeiner Form einmal Gegenstand der Mit¬
teilung in unserem Verein gewesen. Ganz besonders aber möchte ich die
Aufmerksamkeit lenken auf die im 60. Band der LaeArschen Zeitschrift
berichteten Verhandlungen der 82. Sitzung, in welcher Storch, Mann,
Wernicke und Otfried Foerster über den Prädilektionstyp der Pyramiden¬
bahnlähmung und zugehörige Dinge sich geäußert haben. Die Richtung,
die bei den wissenschaftlichen Darbietungen jener ganzen Phase sich
hauptsächlich geltend machte, habe ich in dem Scheidegruß an Wernicke
zu kennzeichnen mich bemüht, den ich ihm am 3. Dezember 1904 nach
seinem Fortgang nach Halle widmete, und der in den Antrag, ihn zum
Ehrenmitglied des Vereins zu machen, ausklang.
Nachtragen muß ich noch die Erwähnung einer kritischen Phase
im Vereinsleben, als infolge der vielfach geringen Beteiligung der Kollegen
aus der Provinz der Vorstand den Antrag auf Auflösung des Vereins auf
die Tagesordnung der Sitzung vom 24. Februar 1900 setzte. Die Folge
war, daß diese Sitzung einen besonders starken Besuch aufwies, Professor
Pick aus Prag, unser besonders geschätztes Mitglied, hielt nicht nur selbst
einen Vortrag, sondern er brachte auch außer dem Oberarzt Dr. Margulies
noch Herrn Professor Dexler mit, der Schnittpräparate aus der Medulla
oblongata bei der Bornaischen Krankheit demonstrierte, und die Auf¬
lösung wurde einstimmig abgelehnt. Doch sollte die Sommersitzung in
Fortfall kommen. Nicht wenig trug zu dem Erfolge bei, daß der verehrte
damalige Dezernent Herr Landesrat Noack die Gewährung des Ersatzes
der Reisekosten an die Provinzialanstaltsärzte in Aussicht stellen konnte.
Am 3. Dezember 1904 übernahm Bonhoeffer, der nach einer kurzen
Reise über Königsberg und Heidelberg nach Breslau zurückgekehrt war,
den Vorsitz des Vereins. Man kann wohl sagen, daß es ihm geglückt ist,
das Interesse an den Tagungen noch zu heben und dauernd auf der Höhe
zu halten. Daneben fanden die privaten Referierabende bei Bonhoeffer,
die nicht mit dem Verein zusammenhingen, aber doch zum Teil den
nämlichen Kreis von Teilnehmern umfaßten, lebhaften Anklang, und
später konnte er sogar eine besondere neurologisch-psychiatrische Ver¬
einigung ins Leben rufen, ohne daß der Stoff für wissenschaftliche Dar-
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Original from
UMIVERSITY OF MICHIGAN
3?4 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
bietungen in unseren Sitzungen jemals knapp geworden wäre. Ich glaube,
daß es eine Sonderheit Breslaus darstellt, eine überaus günstige Sonder¬
heit, wie ich gleich hinzufügen möchte, daß die hiesigen zahlreichen hervor¬
ragenden Neurologen zugleich auch intensivere psychiatrische Schulung
und Interesse besitzen, eine Sonderheit, die den Fachpsychiatern und
ihrer Vereinigung wissenschaftlich und praktisch in hohem Maße zugute
gekommen ist und noch jetzt zugute kommt.
Bei der Darstellung, die ich gegeben habe, ist die neuere und neueste
Zeit ganz besonders zu kurz gekommen; ich habe der schönen und instruk¬
tiven Anstaltsbesichtigungen in Rybnik, Plagwitz, Tost, Lüben und
Freiburg nicht Erwähnung getan; auch ist zu wenig mancher praktischen
Bestrebungen, die im Verein zur Geltung kamen, von mir gedacht worden.
Die interessanten Diskussionen, die Klinke angeregt hat, über die Unter¬
bringung geisteskranker Verbrecher und später über die Familien pflege
sind ebenso wie o. Kunowskis mannigfache feine theoretische Problem¬
stellungen, Chotzens und Kramers Intelligenzprüfungen, Heilemanns
Bluturitersuchungen, Plathners Dysenterieberichte, Sprengels prophylak¬
tische Bestrebungen gegenüber den Psychopathen und vieles andere von
'mir nicht referiert worden. Aber das geschah nicht aus zu geringer Schätzung
des Gebotenen, sondern unter dem Druck der Überfülle des Materials.
Habe ich doch nicht einmal erwähnt, daß der Verein seit 1907 in dieser
schönen neuen Klinik tagen durfte, und nachholen muß ich, daß am
12. Dezember 1908 Geheimrat Alter zum Ehrenmitglied des Vereins ernannt
worden ist, der einzige, der uns geblieben ist, nachdem Laehr, Wernicke
und Geheimrat Gürich von uns gegangen sind.
Im Frühjahr vorigen Jahres verließ uns zu unserem lebhaften Be¬
dauern Geheimrat Bonhoeffer, um dem Ruf nach Berlin Folge zu leisten.
Nach kurzer Zwischenzeit durften wir Herrn Alzheimer als seinen Nach¬
folger auch in unserer Vereinigung begrüßen. Der Willkomm, den wir
ihm boten, kam vom Herzen. Wenn ich den Rückblick bis auf den heutigen
Tag fortsetzen darf, so finde ich als Abschluß der Tagesordnung unserer
Sitzung, gewissermaßen als Überleitung in die Zukunft, den Namen
Alzheimer. Ich bin sicher, in Ihrer Aller Namen zu sprechen, m. H., wenn
ich im Anschluß an diese Konstatierung der Überzeugung Ausdruck gebe,
daß die Beibehaltung und Weiterentwicklung des wissenschaftlichen
Hochstandes des Vereins durch diesen Namen allein gewährleistet ist. —
Herr Alzheimer , welchem die Anwesenden durch lebhaften Beifall
zu den Schlußworten des Referenten eine Huldigung dargebracht hatten,
dankt für die Ehrung und verspricht, daß es an seinem Bemühen nicht
fehlen solle, das Vertrauen zu rechtfertigen. Er teilt sodann mit, daß
Herr Heilbronner-Utrecht, Herr Böc/r-Troppau und Pick-Prag den Verein
schriftlich und telegraphisch begrüßt haben.
Ein Antrag des Vorstandes, dem Schlesischen Hilfsverein für Geistes¬
kranke 100 Mark zu überweisen, wird angenommen.
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie. 370
Als Ort für die Sommersitzung 1914 wird auf Einladung von
R. Dr. -Äiirt&e-Lublinitz gewählt.
Herr Stertz- Breslau: „Klinische Stellung und dia-
lostisch.e Bedeutung der amnestischen Aphasi e.“
Vortr. berichtet über seine an einem größeren Material (12 Fälle
n Hirntumor, 1 Fall von Arteriosklerose, 1 Fall von Trauma, 1 Fall
n Epilepsie) gewonnenen Erfahrungen über amnestische Aphasie.
' gelangt zu dem Resultat, daß die amnestische Aphasie in ausgeprägter
>rm stets als Herdsymptom einer Läsion des Sprachzentrums anzusehen
i. Allgemeine Störungen der Hirnfunktion, z. B. schwere Merkstörungen,
hwere dissoziative Störungen oder die Kombination beider, haben, wie
jr Vortr. an Fällen von Presbyophrenie, Korsakowscher Psychose, Alz-
iinerscher Krankheit, deliriösen und amentiaartigen, bei Infektionen
id Intoxikationen entstehenden Psychosen sich überzeugen konnte,
n allgemeinen keine amnestisch-aphasischen Symptome zur Folge. Wo
> dennoch der Fall ist, liegt jedenfalls der Verdacht nahe, daß auch da eine
esondere Läsion des Sprachgebietes vorliegt. Auch die transitorischen
nd dauernden amnestischen Aphasien der Epileptiker werden als Herd-
ymptom aufgefaßt. Bei Tumoren, die nicht das Sprachgebiet tangieren,
mdet rieh keine amnestische Aphasie.
Soweit Obduktionsbefunde vorliegen, hat sich gezeigt, daß am¬
nestische Aphasie durch einen Herd in der Umgebung der Wern ic Arese he n
Stelle bedingt ist, meist lagen die Herde an der hinteren Grenze des Schläfe-
tappens, in einigen Fällen auch in dessen vorderen Pol.
Klinische und anatomische Befunde machen die nahen Beziehungen
der amnestischen Aphasie zur sensorischen Aphasie gleich wahrscheinlich.
Tatsächlich bildet die a. A. meist nur ein Übergangstadium zur
partiellen und schließlich totalen sensorischen Aphasie, wie sie in anderen
fallen ein Rückbildungsstadium der letzteren darstellt.
Demgegenüber rufen Herde im linken Frontalhirn als Fernsymptome
Erscheinungen von transkortikaler motorischer Aphasie hervor, die
auch symptomatologisch von der amnestischen Aphasie zu trennen ist.
Hierin liegt die Bedeutung dieser Symptome für die Lokaldiagnose
Hirntumoren.
Den Schluß des Vortrages bildet eine theoretische Betrachtung
“* )er die Genese der hier in Frage kommenden aphasischen Störungen.
(Eine ausführliche Mitteilung erfolgt a. a. O.)
Diskussion. — Herr Bonhoeffer : Der Auffassung des Ver¬
tagenden, daß die amnestische Aphasie Herdsymptom einer mehr oder
minder starken Läsion der sensorischen Sprachregion im weitesten Sinne
l&l . stimme ich durchaus zu. Ich glaube auch, daß die amnestisch-aphasi-
St ^ en Störungen der Epileptiker im epileptischen Dämmerzustand oder
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376
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
als Dauerzustand nicht als Allgemeinsymptome, sondern als Herdsymptome
aufzufassen sind. Ich habe in einem solchen Falle — ich weiß nicht, ob
der von dem Vorliegenden erwähnte operierte Fall mit meinem identisch
ist •— auf Grund einer ausgesprochenen Störung der Wortfindung die
Operation über der linken Sprachregion machen lassen. Tatsächlich
fand sich eine große, tief ins Marklager des Stirnhirns eindringende Zyste.
Durch die Operation wurden die epileptischen Anfälle ebenso wie die
amnestische Störung für kurze Zeit gebessert. Aber nach kurzer Zeit
bestand trotz der Ventilbildung des Lappens, welche Krause anlegte,
der alte Zustand unverändert. Gewiß handelt es sich nicht bei allen am-
nestisch-aphasischen Störungen der Epileptiker um so große Herde,
vielfach wird es sich wohl eher um passagere Schädigungen der sensorischen
Sprachsphären handeln. Aber der Fall ist doch bemerkenswert, weil es
ach um einen typischen Epileptiker handelte, ohne weitere Herdsymptome,
bei dem man daran denken konnte, daß die Schwierigkeit der Wort¬
findung lediglich eine Partialerscheinung der allgemeinen epileptischen
Veränderung im Sinne der psychischen Verlangsamung, der Umständ¬
lichkeit und Schwerfälligkeit sei.
Dann wollte ich an den Vortragenden noch die Frage richten, ob
er nicht doch glaubt, daß bei einer Prüfung der Merkfähigkeit, die sich
lediglich auf akustische Eindrücke mit Unterlassung aller intellektueller
Hilfen erstreckte, und bei einem Vergleich der Merkfähigkeit auf optischen
und akustischen Gebieten sich bei Läsion des Gebietes der inneren Sprach¬
region eine Reduktion der akustischen und literalen Merkfähigkeit ergibt.
Ich hatte bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit doch den Eindruck,
daß Unterschiede der Merkfähigkeit auf akustischem bzw. optischem
Gebiete bestehen, je nachdem die Läsion mehr in den temporalen oder
okzipitalen Partien liegt. Die Prüfung der akustischen Merkfähigkeit macht
ja bei Störung der inneren Sprache erhebliche Schwierigkeiten.
Herr O. Foerster bemerkt bezüglich der Lokalisation der amnestischen
Aphasie, daß er dieselbe in Übereinstimmung mit den Angaben des Herrn
Vortragenden ebenfalls bei Tumoren oder Erweichungen entweder in der
Spitze des Schläfelappens oder am Übergang nach dem Parietallappen
zu, aber auch bei Herden in der 2. und 3. Temporalwindung angetroffen
hat. Letztere Lokalisation speziell hat bekanntlich Pick für die amnestische
Aphasie in Anspruch genommen. Interessant ist jedenfalls, daß die Herde,
die amnestische Aphasie machen, halbkreisförmig um das Zentrum der
Wortklangbilder in der ersten Schläfewindung herumliegen, bald vor,
bald darunter, bald dahinter, und schon diese Tatsache macht es wahr¬
scheinlich, daß die amnestische Aphasie dadurch zustande kommt, wie
es ja auch der Herr Vortragende ausgeführt hat, daß eine funktionelle
Schädigung, eine Herabsetzung der Anspruchfähigkeit der Wortklang¬
bilder durch den Herd bedingt wird. Für diese Auffassung sprechen auch
bestimmte Erscheinungen, welche bei der Restitution der amnestischen
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OBUSeatachar Verein für Psychiatrie
bzw. bei der üburjg&behandJuiig derselben zutag« treten, P. häi
iwierboU beobachtet, daß. nachdem anfangs die ainaai«iiMthe :\jvhksj>
der bekannt«» Fori» ausgesprochener opüsvböf *ieh geäußert
»tbv so' d»Ü 2,. B. der K rrni k* ^1^011;.'
tnme, aber nicht benennen konnte»; daß er d«im «her aümäthlieji die
^leifchiiiuig biam Vorhalten des Schlüssels prompt -famd« dagegen nicht
nsjliMfdie^ar, die ßo?.wthnung Schiussel xu iibdoh auf die eadachb Vdf-
«ihmg ttes Schlüssels, die düteh Beschreib*? ng gedeckt WiifdA Mar», darf
S'fil ohne weiteres aunehinen, daß der den Worikiafig&jltfer«' zufließeude
btiizu Sehe« des Sdhlöas»ds grööer' ist ais bei der tJ^cbtfTojstellüng
” ,i S.-'iiiossr-ls. Für die Auffassung, daß die AitiriesiLächt* Aphasie auf
tiwr Herabsetzung der Erregbarkeit desZenirums d et WoriklanghUder
»wühl. spricht and» die Art, wh. man <rin Storung therapeutisch beseitigen.
WWfc -Man spricht dem Kranken vorerst, wenn man ihm ein Objekt
'■■•gi. di** Bezeichnung vor, nach einiger Zeit genügt eü, wenn man nur
'• r t.-- SiSbo, viisdami nur den Anfangshueiistaben des Wurfes vorsprb’ht,
und 4 och später genügt ■$$$ w«nb mari bloß dem Kranheo die Lippeu-
ddtung, die dein Änfäpg^üehslAbe« zugf-hbet, zeigt, ohne ging» Laut
01 ^»rechen,. Es zeigt dies, daß zur Erweckung der Bereichiiung idluwiWigJfi
ttnr»er gpring«i*g Bilfsihittel, ülso . fiei/ag. notiyrömiig simiJ - •' / ; . • . •
:Heri> Bonhiteffer; lid» rno(:btg «wr kurz noch ffetrii Foerezer tu fegdicr
bwk^itig. d»U '•••$*•; AVorier weck ungddVtb : .feigfr t«r vorn Begrllf aüs? dis
A>Jii <kf |*ariphcrie her geschehe, doch därai^f aufoierksam maebrn, daß
g«u«reil slcli sn terhäjfv ' <3t*rade die tjpiseheö Fäiit* von
^-'k»rriihjg p'dc'r V^äjrttlkduögy '->$$• S^;'bei; VVoftbliodlieit Oudßj,
***&&, wie ich glaubt», meist ei« amigekehrtggVcrhaJton: fjgr Pal, findet
• 1, ~ bf-tr. Koiikreton» meist sofort, vren» man ihm z. II die Frage stellte
Pihmueht der Äluieider^’“ Er'anfWortO »Ihm* Zögern: „die Ar-hoere’'
,<Jie Xadei”. sviitiivr.it iiim wenig«- Augenblick*'- vorher oder nmb-
ite Bezeichnung für die vergehaiie»^ N-r.»»•!•.nicht eiufai.lt
• Herr Suri« /Schlußwort; betont, »laß boy ainnesttschffF Aphasie,
sfkirt ehypr Erhöhung d^r Tt^izschwoilelür <U*4n klinge« :•$$.£. : :
kkltir besteht, fbfe Prüfung; der .speziell a.k«islischt?b Afferklähigkeit ßchivie-
*%l6«(ien begejgtieti äfefd doch mit Hilf* geWisset Melho«ien möglich ist,
'Arausgesela^ daßder f>«F-repiiVe Akt im übrigeö ^aiot ßrfgoslört ist.
^vitu letzieres der. Füll .ist. ha! Vortr. bei aninc-stisofiev Aphasie oft (ßW
*'•’’■ Mtakföhigkeit für spracblivhe Eiud r ü*.ke gefunden. Iw»ch .kann auch
Pf vnp Herrn Ifü/tAu^/erib^fbüdhfbtC 1 'yerifait^ü' vorßegün..
Siückth A f^;b e r' kii n i s « h e ’S t e j l y n g ü i.MldC* e » e s e
‘ if ' r ^ w a n g 4 v i» rs tf i I 0 n g e h." ' ^ ■: '-v,';': ;•'■:•
Unter ji FüUen, dir er uni »ersuch h»„ siad !0 i»usges.prtadiem' ho«-
PP Zustamte, TI sind einfm in- Depressionszustandt* dt» 'nuiiür'di-
’^prftsMYen Irreseins, die in Heilung ausgingen. 7 weitere Fiiiile Ateiioh
■^ r 8 a «J^form£*ft zwischen diesen beiden dar, imleo» sieh bei «Hekün Aüf
378
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
dem Boden einer von Haus aus bestehenden leichten Neigung zu ängst¬
lichen Befürchtungen und zum Grübeln typische, episodisch auftretende
Depressionszustände entwickelten. Fast in allen von diesen Fällen kann
man nachweisen, daß die depressiven Symptome das zeitlich primäre
in der Entstehung der krankhaften Erscheinungen bildeten. Ferner läßt
sich ebenso in fast allen Fällen der Nachweis führen, daß es nicht reine
Depressionszustände sind, sondern daß es sich um Mischformen handelt;
an Stelle der Hemmung steht meist eine recht charakteristische Leb¬
haftigkeit der Aussprache, der Mimik und der Ausdrucksbewegungen;
aber auch andere manische Mischkomponenten sind meist zu konstatieren.
In 2 weiteren Fällen handelte es sich um eine in Heilung ausgegangene
epileptische Psychose sowie eine arteriosklerotische Erkrankung mit
Ausgang in Tod; auch diese beiden Zustände sind vorwiegend depressive
Zustände mit deutlichen manischen Mischkomponenten.
Die konstitutionellen Zustände bekommen durch diese eigenartige
Mischung ein ganz besonderes Gepräge, im übrigen ist bei ihnen ein deut¬
lich schwankender Verlauf bald in kürzeren, bald in längeren Perioden
zu konstatieren. Auch länger dauernde, als Depressionszustände impo¬
nierende Schwankungen heben sich mitunter recht deutlich ab.
Vortragender erblickt in dieser Mischung von manischen und de¬
pressiven Symptomen die Grundlage der Zwangsvorstellungen.
Er führte dann zunächst weiter aus, daß sich die Zwangsvorstellungen
fast alle auf depressive Gedankengänge zurückführen lassen. Von diesen
unterscheidet sie nur die Erkenntnis, daß es sich um etwas Krankhaftes,
dem Gedankeninhalt Fremdes handelt. Diese Erkenntnis kommt nach
dem Vortragenden dadurch zustande, daß die ursprünglich depressive
Vorstellung an einen daneben bestehenden manischen Gefühlston an-
schlägt, etwa eine aus der depressiven Verstimmung auftauchende Selbst¬
mordidee an eine daneben bestehende lebensbejahende Komponente.
Die dieser entgegengesetzte Gefühlskomponente empfindet die depressive
Vorstellung als etwas Fremdes und sucht sie mit Hilfe des ungehemmten
Willens abzuwehren; dadurch kommt der Streit gegen die Vorstellung
zustande. Es muß aber in diesem Kampfe stets der Wille unterliegen,
damit das subjektive Gefühl zustande kommen kann, daß sich die Vor¬
stellung wider Willen aufdrängt.
Auf diese Weise erklärt Vortragender die Entstehung der Zwangs¬
gedanken heraus aus einem Widerstreit entgegengesetzter Gefühle. Die
Zwangshandlungen und -halluzinationen sind sekundär als Folge von
Zwangsgedanken aufzufassen.
Klinisch gehören, wie es in der Natur der Sache liegt, die meisten
Zwangskranken dem manisch-depressiven Irresein an. Die konstitutionellen
Formen setzt er gleich den anderen konstitutionellen Zuständen, der
chronischen Manie und der konstitutionell-depressiven Verstimmung, und
erkennt ihnen wegen ihrer Eigenart das Recht einer Sonderstellung zu.
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
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Doch auch auf dem Boden jeder anderen Erkrankung können theo¬
tisch Zwangsgedanken auftreten, falls nur die Grundbedingung „Mischung
anischer und depressiver Symptome“ gegeben ist.
Im übrigen verweist Vortr. auf die ausführliche spätere Publikation.
Diskussion. — Herr Alzheimer bemerkte hierzu, daß ihm
>ch einige Fälle bekannt seien, in denen sich ein begleitender depressiver
ymptomenkomplex nicht habe nachweisen lassen, die auch keine deut-
;hen Schwankungen des Zustandes gezeigt hätten. Er glaubt, daß diese
alle doch anders zu beurteilen seien.
Herr Bonhoeffer: Der Schwierigkeit, auf welche Kollege Alzheimer
ei der Beurteilung chronischer Fälle von Zwangsvorstellungen hinweist,
in ich auch begegnet. Immerhin muß ich sagen, daß ich, je mehr ich
arauf achte, ausgesprochene Intensitätsschwankungen auch bei diesen
vranken gesehen habe. Aber es scheint mir keineswegs immer möglich,
nit Sicherheit im Einzelfall die speziell manisch-depressiven Schwankungen
leutlich nachzuweisen. Ganz besonders schwierig ist es, im Einzelfalle
len primären Charakter der depressiven Stimmung und den sekundären
ler Zwangsvorstellungen nachzuweisen; so sehr ich klinisch überzeugt
bin, daß es so ist, so ergibt sich das in manchen* Fällen doch bloß aus der
Analogie mit den einfacher liegenden Fällen.
Den periodischen Charakter der Zwangsideen und die engen Be¬
ziehungen zum Manisch-Depressiven habe ich seit Jahren in der Klinik
vertreten, dagegen ist es mir nicht so völlig sicher gewesen, daß es sich
immer um manisch-depressive Misch zustände dabei handeln muß,
"ie es der Herr Vortragende heute betont hat.
Bei den chronisch-konstitutionellen Formen von Zwangsvorstellungen
ist es mir als ein nicht unwesentliches Beweismittel für die nahen klinischen
Beziehungen zu den manisch-depressiven gewesen, daß sich in der Aszendenz
dieser Kranken auffallend häufig manisch-depressive Erkrankungen und
Buindien nachweisen ließen. Es würde mich interessieren zu hören, ob
rf uch der Herr Vortragende diese Beobachtung bestätigen kann.
Herr Neisser: Die enge Beziehung der Zwangsvorstellungen zum
manisch-depressiven Irresein wird am besten bewiesen durch Fälle von
rem zirkulärem Charakter, bei welchen gelegentlich einzelne depressive
Phasen eine Fülle ausgeprägter Zwangsvorstellungen und Phobien zeigen,
die mit Ablauf der Phase weichen. Ein Schulfall in dieser Hinsicht ist von
Beubus aus schon vor 20 Jahren mitgeteilt worden. Als besonders wichtig
tor die Neurologen und Praktiker außerhalb der Anstalten ist mir Bon-
hoegFers vor einiger Zeit gegebene Bemerkung erschienen, daß nicht selten
die leichten Formen zyklothymischer Depression durch die im Vordergrund
stehenden Zwangsvorstellungen geradezu verdeckt werden. Andererseits
ln aber auf Grund meiner Erfahrung fest überzeugt, daß diese Deutung
'eineswegs auf alle Fälle, namentlich nicht auf die schweren und chro-
n *schen Formen und auf manche im Kindesalter zu beobachtenden Fälle
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380
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
zutrifft, daß also diese Meinung des Herrn Vortragenden, wie schon Herr
Alzheimer betont hat, eine Einschränkung erfahren muß.
Im Schlußwort bemerkt V o r t r. auf die Bemerkung von
seiten des Herrn Bonhoeffer, daß auch in seinen Fällen, auch bei den kon¬
stitutionellen Formen auffällig viel Belastung mit manisch-depressivem
Irresein zu finden ist; er erwähnt insbesondere einen Fall, in dem es sich
bei dem Sohn um eine typisch konstitutionelle Form handelt, während
der Vater anscheinend durchs ganze Leben hypomanisch veranlagt war,
in den 40er Jahren mit depressiver Verstimmung und Zwangsgedanken
erkrankte, aus der heraus sich ein Dauerzustand bis zum Tode im 62. Lebens¬
jahr entwickelte.
Herr o. Kunowski-Rybnik berichtete über „Versuche zur
Behandlung der Paralyse“. Erbs Auffassung der Tabes
als einer echten syphilitischen Krankheit hatte den Vortragenden schon
vor Jahren veranlaßt, die Paralyse systematisch mit Quecksilber zu
behandeln, wobei er abweichend von früheren Methoden kleine Dosen
lange Zeiten hindurch anwandte. Versuche zur Behandlung der Tuber¬
kulose und der Pyelitis hatten ihn nämlich zu der Überzeugung gebracht,
daß bei chronischen parasitären Krankheiten nicht eine rasche Vernichtung-
der Krankheitskeime, sondern in erster Linie eine fermentative Wirkung,
eine Anregung des Körpers zur Abwehr anzustreben und dabei besonders
der Ernährungszustand im Auge zu behalten sei. Die jüngst erfolgte
Entdeckung der Spirochäten bei Paralyse bestärkten den Vortragenden
in der Absicht, die früheren, an dem beschränkten Material der Leubuser
Pension angestellten Versuche jetzt an dem großen Rybniker Material
fortzusetzen. Hier fand er aber bereits Versuche in gleicher Richtung
vor, die Oberarzt Fünfstück eingeleitet hatte, und ermutigte ihn, sie trotz
mancher Mißerfolge fortzusetzen.
Abgeschlossen liegt zunächst eine Versuchsreihe von 38 Paralytikern
vor, die mit Quecksilber vorbehandelt und dann mit Salvarsan nach-
behandelt wurden. Davon blieben 18 vorgeschrittene Fälle erfolglos,
6 Fälle zeigten eine vorübergehende deutliche Besserung mit nachfolgender
Verschlimmerung. Bei 8 Fällen hält eine weitgehende Besserung jetzt
über y 2 Jahr an, bei 3 Fällen über 1 Jahr, bei 2 Fällen über 2 und 2% Jahr.
Von diesen Gebesserten sind 8 bisher arbeitsfähig geblieben und bekleiden
zum Teil verantwortungsvolle Stellungen.
Die Quecksilberkur dauerte 6—9 Wochen, und es wurden wöchent¬
lich 6 mal 2 g einer 30 % grauen Salbe verabfolgt. Darauf folgten nach
Ablauf einer mehrwöchigen Pause bis zu 14 Salvarsaninjektionen in Höhe
von 0,1—0,3 und in Abständen von 3—8 Tagen. Die Gesamtmengen
betrugen 0,85—1,66 g. Weitere Versuche mit noch kleineren Queck¬
silbermengen und von bedeutend längerer Dauer sind im Gange.
Auffällig waren bei den bisherigen Versuchen die häufigen starken
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iwichtszunahmen bis zu 15 und 20 kg. Ferner wurde eine deutliche seda-
re Wirkung des Quecksilbers beobachtet, die vorher gereichte Schlafmittel
übrigte. Umgekehrt trat bei vorher stumpfen Kranken nicht selten
ährend des Versuches eine vorübergehende leichte Erregung ähnlichen
tiarakters auf. Die erzielten Besserungen auch bei älteren Fällen waren
hr erheblich. Eis gab kaum ein einziges Symptom der Paralyse, das
icht zum Verschwinden gebracht wurde, wenn auch nur wenige Fälle,
o sich alle zugleich bis auf leichte Andeutungen verloren. Besonders
ft schwand der Romberg, Gang- und Sprachstörung, wiederholt aber
uch die reflektorische Pupillenstarre. Durch Vergleich mit der Anamnese
urde mehrfach festgestellt, daß die zuletzt aufgetretenen Symptome
ich zuerst verloren. Sehr beeinträchtigt wurden die Ergebnisse dadurch,
aß rasch gebesserte Kranke die Anstalt gegen ärztlichen Rat verließen,
laschen Besserungen folgten dann öfter ganz plötzliche Verschlimmerungen.
)ies wurde besonders bei Fällen beobachtet, die nur kurze Zeit mit Queck-
ilber vorbehandelt waren.
Diskussion. — Herr Alzheimer betont, daß die Spirochäten -
Jefunde im Gehirn der Paralytiker unbedingt zu neuen energischen thera¬
peutischen Versuchen bei dieser Krankheit auffordern, über die an der
Breslauer Klinik bisher mit der Quecksilber-Salvarsanbehandlung er¬
hielten Resultate läßt sich bei der Kürze der Zeit noch kein Urteil fällen.
Die Kliniken sind mit ihrem fluktuierenden Krankenbestande nicht ge-
e ignet, die Versuche in größerem Maßstabe durchzuführen. Das
kann nur geschehen, wenn sich Klinik und Provinzialanstalten zu
gemeinsamem planmäßigen Handeln zusammenschließen. Es wird sich
|iann u. a. ermöglichen lassen, die in der Klinik begonnenen Kuren
in der Provinzialanstalt fortzusetzen und durch eine besonders sorgfältige
und über lange Zeit sich erstreckende Beobachtung des Verlaufs für
die schwierige Frage eines therapeutischen Erfolges sichere Anhalt-
punkte zu gewinnen.
Herr O. Fischer -Prag macht darauf aufmerksam, daß bisher die
gewöhnlich geübte spezifisch-antiluische Therapie bei der Paralyse
keinen großen Erfolg gezeigt hatte, und auch die Therapie, die der Herr
Vortragende angewendet hat, zeigt gewisse technische Abweichungen;
w enn es jetzt nach den Befunden Noguchis recht wahrscheinlich erscheint,
daß die Paralyse eine besondere Art von Spirochätenlues ist, und deshalb
eine entsprechend intensive antiluische Therapie doch Erfolge ver¬
sprechen könnte, so soll man dennoch nicht vergessen, daß die besten
Erfolge bis jetzt mit der nichtspezifischen Therapie, der Leukozytose-
therapie mittels Nuklein oder Tuberkulin erzeugt worden sind. o. Wagner
hat vorgeschlagen, neben der Leukozytosetherapie eine Hg-Kur durch¬
zuführen, und auch F. hat seit längerer Zeit ähnliche Versuche gemacht,
die recht erfreulich ausfielen; F. läßt immer eine Serie von Nukleininjek-
bonen, welches er dem Tuberkulin wegen der absoluten Ungiftigkeit vor-
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382
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
zieht, mit einer Schmierkur oder einer Injektionskur mit löslichem Queck¬
silber abwechseln, was eventuell mehrmals wiederholt wird.
Die Resultate dieser Therapie sind recht günstig, und die meisten
der Autoren, welche entsprechend günstiges Material in ähnlicherWeise
behandelt haben, konnten von recht befriedigenden Erfolgen berichten.
Deshalb ist es wohl Pflicht aller Psychiater, die Therapie der Paralyse
wieder intensiv aufzunehmen und zwar womöglich in den frühesten
Stadien der Krankheit, weil da die Chancen am besten sein müssen. Doch
möchte F. betonen, daß man bei allen diesen Versuchen alle möglichen
klinischen diagnostischen Mittel verwenden muß, namentlich müssen
solche Fälle gründlichst serologisch untersucht werden (auch der Liquor).
Es muß alles geschehen sein, damit man beweisen kann, daß man Grund
hatte, die Diagnose Paralyse zu stellen, denn sonst bleibt dem Zweifel
Tür und Tor offen, und das soll im Interesse dieser wichtigen Frage ver¬
mieden werden.
Herr O. Foerster : Ich möchte in diesem Zusammenhänge doch gewisse
neuere therapeutische Bestrebungen nicht unerwähnt lassen, welche von
der von Herrn Fischer ja bereits vorhin erwähnten Tatsache ausgehen,
daß bei der intramuskulären und intravenösen Injektion die wirksamen
Stoffe eigentlich in das Gewebe des Zentralnervensystems nicht eindringen.
Es ist festgestellt, wenn man ein Tier mit Salvarsan vergiftet, daß dann
das Arsenik in allen inneren Organen, aber nicht im Gehirn und Rücken¬
mark nachweisbar ist. Auch geht Quecksilber nur mit großer Mühe in den
Liquor cerebrospinalis über. Das einzige Präparat, dem diese Eigenschaft
zukommt, scheint das Kalomel zu sein. Man hat deswegen versucht, die
betreffenden Substanzen intralumbal zu injizieren. Von französischen
Autoren ist vor einer Reihe von Jahren den intralumbalen Quecksilber¬
injektionen das Wort geredet worden. Marinesco hat zuerst das Serum
von Kranken, denen eine Injektion von Arseno-phenylo-glycin gemacht
war, intralumbal injiziert. Dann folgten Arbeiten von Weckseimann und
auch wieder von Marinesco, die Salvarsan direkt intralumbal injizierten,
und neuerdings hat bekanntlich Swift das Serum von Kranken, die eine
Neo-Salvarsaninjektion erhalten hatten, in den Lumbalsack injiziert.
Ich habe diese letztere Methode seit 3 y 2 Monat in zahlreichen Fällen
von Tabes und auch in 6 Fällen von Paralyse angewandt, allerdings in
Kombination mit intraduralen Quecksilberinjektionen, die ich bereits
seit Jahren anwende, und zum größten Teil auch in Kombination mit
intramuskulären Kalomelinjektionen, denen ich ja, wie wohl bekannt,
seit Jahren das Wort rede. Ich will über die funktionellen Resultate,
soweit die Paralyse in Betracht kommt, hier deshalb weiter nichts an¬
geben, weil die Beobachtungszeit ja viel zu kurz ist. Ich will nur nicht
unerwähnt lassen, daß ich in einem Fall die erloschene Lichtreaktion der
Pupillen habe wiederkehren sehen, und daß sich z. B. Sprachstörungen
und Gangstörungen in einzelnen Fällen ganz auffallend gebessert haben.
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Der Umstand, der mich veranlaßt, diese Versuche hier zu erwähnen, ist
die Tatsache, daß es auf diesem Wege gelingt, im Liquor die Wasser-
mannsche Reaktion und die Lymphozytose zum Verschwinden zu bringen,
was durch die intravenösen und intramuskulären Injektionen nach meinen
Erfahrungen so gut wie ausgeschlossen ist. Ich habe bei Paralyse wohl
gelegentlich im Blut den Wassermann negativ werden sehen, im Liquor
dagegen eigentlich nie. Ich möchte deshalb schon heut unbedingt der
Fortsetzung dieser Behandlungsmethode das Wort reden.
Herr Bonhoeffer: Ich möchte im Hinblick auf die vorgeschriebene
Zeit nur ein Wort gerade im Hinblick auf das von Herrn Alzheimer vor¬
geschlagene gemeinsame Vorgehen in der Paralysentherapie sagen. Es
scheint mir doch wesentlich, darauf hinzuweisen, daß ein energisches
Vorgehen auch mit großen Quecksilber- und Salvarsandosen bei der Paralyse
meines Erachtens keine erheblichen Gefahren mit sich bringt. Es mag
ganz gut sein, auf dem von dem Herrn Vortragenden betretenen Weg mit
den kleinen Hg-Dosen zu gehen, aber jedenfalls ist der andere Weg nicht
gefährlich. Ich habe seit der intravenösen Injektion des Salvarsan von
ihm nichts Ungünstiges, freilich auch nichts Günstiges gesehen. Ich
glaube, man muß jetzt alle Wege versuchen, die eine Möglichkeit ergeben,
die Spirochäten im Gehirn anzugreifen und die Hindernisse zu über¬
winden, welche die Gefäßwandungen des Gehirns den spezifisch auf die
Spirochäten wirkenden Mitteln entgegensetzen. Wir haben versucht,
die Salvarsanwirkung dadurch zu sichern, daß wir es während der Tem¬
peratursteigerung durch nukleinsaures Natron applizierten, in der Hoff¬
nung, daß in dieser Zeit die Durchlässigkeit der Gefäße vielleicht verändert
sei. Auch die Kombination der Mittel, die der Herr Vortragende ver¬
mieden wissen will, scheint mir gerade im Hinblick auf die Ehrlichschen
Arbeiten, aus denen hervorgeht, daß unter Umständen durch andere
für sich allein unwirksame Mittel eine Steigerung der Salvarsanwirkung
erzielt werden kann, durchaus geboten. Wir wollen darum jetzt auch
die von Morgenroth bei verschiedenen Prozessen mit Erfolg angewandte
Kombination von nukleinsaurem Natron mit Salizyl und Salvarsan an¬
wenden, um zu sehen, ob nicht auch bei der Paralyse sich eine Wirkung zeigt.
Die von Herrn Foerster erwähnte Methode, die neuerdings von den
Amerikanern bei Tabes empfohlen wird, das kurz nach der Salvarsan-
injektion entnommene Serum in den Lumbalsack zu injizieren, haben
wir auch auf die Paralyse in der Weise übertragen, daß wir das Serum
durch die Hirnpunktion in den Arachnoidealraum und in die Ventrikel
injizierten. Bei vorsichtigem Handhaben haben wir davon zumeist keine
üblen Folgen beobachtet. Sowohl die Kranken wie die Angehörigen sind
von den Erfolgen angetan. Wir selbst haben noch kein Urteil über die
Wirkung. Um zu einem Urteil über die Erfolge zu kommen, scheint mir
vor allem wichtig, daß man in der Auswahl der Fälle vorsichtig ist. Man
sollte aus naheliegenden klinischen Gründen alle die Paralytiker, die sich
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384
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
in akuten psychotischen Phasen befinden, seien es manische, depressive,
delirante, stuporöse, oder auch solche, die sich schon in der Remission
befinden, nicht zur Beurteilung eines Erfolges heranziehen, sondern sich
auf die einfache demente Form beschränken.
Herr Neisser: Der Appell zu gemeinsamer Arbeit wird von Herrn
Alzheimer nicht vergeblich gerichtet werden. Ich muß persönlich zwar
sagen, daß ich nach wie vor und nach dem heute Gehörten noch mehr die
Anstalten im Vergleich zu den Kliniken nicht für die geeigneten Versuchs¬
stätten halte. Ich meine, daß eine kleine Zahl sehr sorgfältig und sach¬
kundig untersuchter und beobachteter Fälle wichtiger ist als eine Fülle
von Fällen mit etwas geringerer Zuverlässigkeit der Prüfungen, ganz
besonders bei therapeutischen Fragen. Ich bitte deshalb Herrn Alzheimer,
ein genaues Schema der Behandlung ausarbeiten und den Anstalten
mitteilen zu wollen, zwecks möglichster Einheitlichkeit des Vorgehens.
Herr O. Fischer bemerkt noch zu den Worten des Herrn Foerster,
daß man mit der Beurteilung des Liquorbefundes bei mit Salvarsan
behandelten Paralytikern recht vorsichtig sein muß. F. hat drei mit
Salvarsan behandelte Paralytiker anatomisch untersucht. In zwei
Fällen hatte die Therapie verschlechternd eingewirkt, und in allen Fällen
war der Liquor bis zum Tod höchst zellarm, und die histologische Unter¬
suchung ergab, daß die weichen Meningen des Hirns und Rückenmarks
mehr als sonst verdickt waren, und zwar derartig, daß die obersten Lagen
der Hirnhäute aus dichtem zellarmen Bindegewebe bestanden, darunter
war aber starke Infiltration, und auch die Hirnrinde selbst unterschied
sich in nichts von der eines gewöhnlichen Paralytikergehirns. Deshalb
konnten die doch sehr reichlich vorhandenen Exsudatzellen nicht in den
Liquor gelangen, weil sie von der schwartigen Oberfläche der Meningen
nicht durchgelassen werden. F. zieht daraus den Schluß, daß das Salvarsan
nur eine Art oberflächlicher narbiger Abheilung der chronischen Meningitis
herbeiführte und dementsprechend eine Veränderung des Liquors, welche
eine Besserung der Verhältnisse des Zentralnervensystems vortäuschte.
Herr v. Äu/uw'sAi-Rybnik: Die Versuchsergebnisse werden aller¬
dings dadurch etwas beeinträchtigt, daß die Diagnose nicht durch die
Lumbalpunktion von vornherein gesichert wurde. Doch waren fast alle
Fälle klinisch unzweifelhafte Paralysen, im besonderen die günstig ver¬
laufenen, und bei den zweifelhaften hatte Oberarzt Fünfstück wenigstens
das Blut auf Düngern untersucht. Er hatte zunächst rein therapeutische
Ziele im Auge gehabt und fürchtete deren Beeinträchtigung durch die
Lumbalpunktion. Seit der Vortragende die Verantwortung für die Ver¬
suche trägt, hat er auf eine regelmäßige Untersuchung des Liquor hin-
gewirkt. Die bisherigen Versuche erheben noch keinen anderen Anspruch
als den einer Anregung.
Herr Golla : Die Bedeutung der Abderhaldenschen
Serodiagnostik für die Neurologie und Psychiatrie.
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Ostdeutscher Verein für Psychiatrie.
385
Vortr. betiß&Uft ilbec die mit 4er Di^ysteyiotdbüdt?
. einer Untetsuehmi^sreihe von 238 Sera erhaltenen R»*H*Uate. Es
erden folgen^«?-:;^^«'verwendet: Gehirn.
vafium in all^ff;F&Üea. Ijrt j^iner grijißew Anzahl außerdem Lefe. MeW.
ebeimiere, bei eSäigan Fällen auch Plazenta, Hypophyse. Rii<ilce4itiai v fe v
nskei. Im ein&etit«n. Wurden wuiersueht: Paralyse 3d. Falle, 5,
.- ••iitis, MyeiUts, kombinier^; %stemerktaftkuitg, amyolrophbelk* Raleral-
lystene. 7, 10 Fälle,'bei denen iFir GifTewnturjdiagfio^ n^arüseh-depfei^ives
r «esein bzw. Dementi« praecox-bisher meid grsU-UVivmiee kannte, und
ä §Wä von Gosuivlen.
Bei «fwäst li WM? kilein positiv, die
-kra von öesnndtfh geigten • durclnveg negative' iNuihyd ri n reaktion aller
/irgancliaiysaie. ’ ’• > " • ,.y y '
Bei Parslysf fand sich tu 80% posUive Jleafetkm der Dtalysait; Hiit
ersahen durchweg, die von zerebmspiwaler bue«; in etwa §0 % nur Gehirn«,
hiw, FtücHedvmankabbäu, 1 Fall i*wt tätigt cerebri a«eb Brtdllidrüsehäbbari.
' Bet Epilepsie sind die Prözentzahfeh Itdgafd£% tridiirfl 61 »; Schild ■
tru&e n, C^thfechtsdrüsen Ü-.7C. 3Lwb»»?r \ ^(itsrie y. ’ :
"K^ed am h bei k
Vok den if Sera kii tusch'5J^a»ifÄg|k'^.'n»8l
>1®; 2 \i\-i) Schilddrüse und 4 «tal ifesefiiechl^orgab •i.bt>ehau» wahrend
*/ m%, i'kschlech^druäen 80%
c-.F'dll^iiyph ByätVKie hzw. P8yc|idp£itt|ii%zeigte poiStive
■ uhd zwar riti Fall, bei dep»
b^mtidk praermx mit '^telierhei! :■ a'iszu«i hlieUeu tsl
Bei i litonisi huiti Alfcohohsniu* und dkoholistis« he« Oerdessiörungen'
Go
e
386
Verhandlangen psychiatrischer Vereine.
fanden sich folgende positive Resultate: Gehirn 50%, Schilddrüse 16%,
Hoden 30%, Leber 30%.
Ganz im allgemeinen überwiegen also positive Reaktionen bei orga¬
nischen Gehirn- und Rückenmarkerkrankungen gegenüber funktionellen
Störungen. Hervorgehoben sei das Prävalieren von Gehirnabbau bei
Paralyse und von Geschlechtsdrüsenabbau bei Dementia praecox, wenn
im übrigen auch die Fauserschen Reaktionstypen gerade bei diesen beiden
Erkrankungen nicht bestätigt werden konnten. Positiver Ausfall des
Geschlechtsdrüsendialysates ist nicht charakteristisch für Dementia
praecox, findet sich vielmehr auch bei Epilepsie, Alkoholismus und vor
allem bei Paralyse, des weiteren auch — allerdings in beschränktem
Maße — beim manisch-depressiven Irresein. In dem einen Falle — es.
handelt sich um eine im Klimakterium befindliche Frau, die vor kurzem
wegen Kropfes operiert worden war — lassen sich die positiven Resultate¬
eventuell erklären, bei den übrigen Fällen fehlt es an Erklärungsmöglich¬
keiten.
Auf die Frage der Spezifizität und der praktischen Brauchbarkeit
kann hier nicht eingegangen werden. Eine Aufklärung der sogenannten
paradoxen Reaktionen ist möglicherweise von einer in großem Maßstabe
durchgeführten Untersuchung bei Gesunden, und zwar unter Berück¬
sichtigung des eventuellen Einflusses der Pubertät, Menstruation, Rück¬
bildung usw. zu erwarten. Der Abderhaldenschen Forderung, die Resultate
nicht lediglich statistisch zu verwerten, sondern unter Zugrundelegung
der klinischen Erscheinungen, soll in einer ausführlichen Mitteilung ent¬
sprochen werden.
► Herr &*U(g-Prag: Über histologische Veränderungen
im Kleinhirn bei tuberkulöser Meningitis.
Es wird zunächst auf die beiden Fälle von Nonne und Hauptmann
von akuter zerebellarer Ataxie bei tuberkulöser Meningitis hingewiesen.
In einer Reihe von Fällen fanden sich schwere Veränderungen an den
Purkinjezellen (Schrumpfung), selbst Ausfall derselben mit Wucherung
der Glia in der Purkinjeschicht oder Lückenbildung in und unter dieser
Schichte, wie sie bei der Paralyse oft beobachtet wird. Auch Kleinhirn-
Symptome konnten in einzelnen Fällen klinisch erhoben werden. Diese
Veränderungen sind wahrscheinlich tuberkulotoxischer Natur. Sie reihen
sich den vom Verfasser gefundenen herdförmigen Destruktionen im Gro߬
hirn an, die dem spongiösen Rindenschwund ähnlich sind, und für die
wahrscheinlich auch eine toxische Genese anzunehmen ist. Es wird auf
die Möglichkeit hingewiesen, daß dem von Foerster aufgestellten meningo¬
zerebellaren Symptomenkomplex analoge, vielleicht auch anatomisch
nachweisbare Veränderungen zugrunde liegen könnten. Weitere Unter¬
suchungen werden in Aussicht gestellt.
CI. Neißer.
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Kleinere Mitteilungen.
Der Vom D e u tp lr e i! drAVipgi rt tü r ,1? s y c Kii tt t f ver<
stattete F o r t b i l tl u n g s k U v s wird tu: diesem lalire Voiftl d- bis
>, Oktober in Beriin stattrtöije.a. Es. $<*£• Irr Aussicht . j^n&Mweuviftt.
“fveo'aeilkunde So rnucden, für jinlhuiogisehe Arun-unu- ja Stunden,
T* I 1 b 1 VrYtri.Vi n. 1 >’ . OI \ ■« A r. f'ftr. ir» *1 r.iv. n 4 *? 'tt ffiii # tl .. .<■
•••.bag jedes Teilndimm betragt HO Mark, ^üfreldungeu imd etwaig#
•fragen werden erbeten j«n Savc-R. Dt, fi'aris Lockt in fehlen darf-
> nn.seebidin, S.fiWeivnrKd
D e « i ' c h 11 V n | i .»3 t u r P s y c K i a t r i | u n d Gesell .
—M 11 D e » t.s c \i er N a I u r f o e s v- u e r >i tt d A r z t <c —
' : i riilijolir l'jlü IhU die Gesdk,c.hafi'Deutscher Abitur husch re und Ärzte
• Tritt ihr in BeziuhiHig id.rbvnd»?n 'Fa eh vereide eia nundsehrvibtrö
worin auf g«;vns«j| Sehadea des wissenächafUieheu 'Vfvsavaßt-
aKi^we^ns Mivgemnsim wird und zugleich Vorsdduge zu seinii* au-
.0*'lrir.cvd«... rr . .. T\..i it f.._• :__
itigegeü 7.o «eihi wo für seihen Beruf wiebtige 3?ra|&iL erörtert
beschrankt er sich auf JÜKMuugrHss«'*, so geht, ihm die
' mit verwandten Gebieten nur i u leicht verloren; halt er sich
; "t di** •/ij;.amni* , nfasseiiden 'vaturforsctiervev.sanrnii'an^ert so wird
■'* d»t1,.;weh%sie.n$ teilweise die einzelnen Suktiorian steht', mehr in der
frehtirea Blüte vorhin den Trat7 aller .fycauil&iernng «ler' WiaseUÄChafbuj,
1 ;)li lu!,g beh.df.eri, tun sich gt’-gmaettlg durch iuuo Anregungen zu fordern
! ’ !il ' :tu ' f>falirnt»ge*i, dir den 0 «*>.i«-l»iskreiH der einzelnen Fächer über-
h-rfKWic - • 1 .-•- . ■,■ - - ,. - .. . - ^■ • • v
. / ' r .»xi . . ruiw.ir uh nein .njruHJMduu uit ,
1 fOPj<;j<i• r V(U‘Sy11* 10iU 5 lg«jCi und Oil jtift-r gcdi/iillidieii WeHcfeidWicMmig.
‘* l S^b^ftBaaies lu,£ep0S*. . " •' \\ .. ■ ■ ■■ •_ ' V.-, r ' '
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388
Kleinere Mitteilungen.
örterung gestellt worden, ob nicht zweckmäßigerweise die einzelnen
wissenschaftlichen Gesellschaften, wie sie sich im Laufe der Jahre von
der Naturforscherversammlung abgezweigt haben, ihre Versammlungen
je in einem Jahre für sich gesondert, in jedem 2. Jahre aber im unmittel¬
baren Anschluß an die gemeinsame Naturforscher Versammlung abhalten
wollten.
Auch unserer letzten Jahresversammlung in Breslau hat diese
Anfrage Vorgelegen. Auf Antrag des Vorstands ist dort beschlossen worden,
diesem Vorschläge zunächst nicht beizutreten, ihn aber für künftig im
Auge zu behalten.
Bedenken gegen den Vorschlag sind auch aus den Kreisen anderer
Fachvereine laut geworden. Von deren selbständiger Organisation wollte
man nirgends lassen, man fürchtete ein allzu gewaltiges Anwachsen der
gemeinsamen Versammlungen, wodurch man auch in der Auswahl der
Versammlungsorte unliebsam beschränkt werde. Teilweise waren auch
die Schwierigkeiten hervorgehoben worden, die daraus erwachsen, daß
die Grenzen des Deutschen Reiches und des deutschen Sprachgebiets
recht verschiedene sind.
Zu weiterer Erörterung der Angelegenheit ist dann auf 20. September
v. Js. eine Kommissionssitzung einberufen worden, die vor Eröffnung
der Wiener Naturforscherversammlung getagt hat. Im Aufträge des
Vorstands habe ich dieser Sitzung angewohnt. Sie hatte lediglich informa¬
torische Bedeutung; was dort beraten worden ist, soll zur Beschlu߬
fassung erst der nächsten Naturforscherversammlung in Hannover unter¬
breitet werden, damit alle Fachvereine zu diesen vorläufigen Ergeb¬
nissen erst Stellung nehmen können. Für unseren Verein hat die Jahres¬
versammlung in Straßburg das entscheidende Wort zu sprechen.
Über den Austausch der zunächst recht weit auseinandergehenden
Ansichten in Wien kann hier hinweggegangen werden, weil es schließlich
zu einer Resolution gekommen ist, der nur in ihrem 3. Satze von 3 Stimmen
nicht beigepflichtet worden ist; alle anderen Sätze sind einstimmig an¬
genommen worden. Bei den Beratungen habe ich dem Beschluß der
Breslauer Versammlung entsprechend eine zuwartende Haltung beobachtet;
der Resolution selbst habe ich in allen ihren Punkten zugestimmt. Sie
lautet:
Die Versammlung hält es für wünschenswert:
1. daß im Interesse der verschiedenen Disziplinen auf naturwissen¬
schaftlich-medizinischem Gebiet zum Zweck der Verbesserung der
Abteilungssitzungen auf der Naturforscherversammlung und um
auch dort gute allgemeine Vorträge zu ermöglichen, die großen
allgemeinen Vereine auf naturwissenschaftlich-medizinischem Gebiet
sich gemäß des eventuell zu reformierenden § 16 Abs. 2 der Geschäfts¬
ordnung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte an der
Organisation beteiligen;
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Kleinere Mitteilungen.
389
2. daß diese Gesellschaften unter Änderung der Satzungen der Gesell¬
schaft Deutscher Naturforscher und Ärzte im Anschluß der Gesell¬
schaft entsprechend Vertretung Anden;
3. daß bei einer Änderung der Satzungen der Naturforschergesellschaft l )
vorzusehen ist, um vorbildlich für andere Gesellschaften zu wirken,
die Naturforscherversammlung nur alle 2 Jahre tagen zu lassen,
wobei es dann den anderen Gesellschaften überlassen bleibt, ob sie
ihre jährliche oder mehrjährige Versammlung unabhängig oder
gemeinsam mit der Naturforscherversammlung halten wollen;
4. daß die Tagung der Naturforscherversammlung womöglich verkürzt
und die geselligen Veranstaltungen vereinfacht werden;
5. daß die Naturforscherversammlung eine Zentralstelle für Ver¬
anstaltung von Kongressen aller Art auf naturwissenschaftlich-
medizinischem Gebiet organisiere, um als Informationsstelle für alle
derartigen Veranstaltungen zu dienen.
Die weitgehende Übereinstimmung, die über alle diese Punkte in der
Kommission geherrscht hat, läßt holten, daß ihre Beschlüsse auch in den
einzelnen wissenschaftlichen Vereinen Anklang Anden werden. Zunächst
möchte ich dies von seiten unseres Deutschen Vereins für Psychiatrie
wünschen.
Zu Satz 1 hat der Vorstand vorläuAg seine Zustimmung erteilt und
vorbehältlich des Einverständnisses der Jahresversammlung sich zur
Beteiligung an der Organisation der Abteilung für Neurologie und Psy¬
chiatrie auf der Naturforscherversammlung zu Hannover im Herbst d. J.
bereit erklärt. Diesem Beschlüsse möchte ich die Jahresversammlung
bitten beizutreten. Die Versammlung in Hannover ist von der in Stra߬
burg zeithch und räumlich weit genug getrennt, um zahlreichen Besuch
der Naturforscherversammlung aus unseren Kreisen zu gestatten und
um für diese Versammlung ein zugkräftiges Programm zu gewinnen. Die
diesjährige Naturforscherversammlung kann dann schon als eine Art
Probe darauf dienen, in wieweit sich die geplanten Neuerungen zur weiteren
Fortsetzung empfehlen. Für dieselben kann es uns jedenfalls stimmen,
daß der eigenen Vereinsorganisation eine unmittelbare Mitwirkung bei der
Organisation der Abteilung auf der Naturforscherversammlung zukommt.
Deren Programm wird so wesentlich unabhängiger von örtlichen Zufällig¬
keiten; es kann weit eher bestimmte Ziele im Sinne der Bestrebungen
unseres Spezialvereins verfolgen und die Bedeutung der Abteilungs¬
sitzungen dadurch so heben, daß sie unbeschadet unserer Sonderinteressen
an die Stelle einer Jahresversammlung des eigenen Vereins treten können —
nötigenfalls unter Ergänzung des wissenschaftlichen Teils durch eine
Geschäftssitzung.
Der Zusammenhang mit anderen Abteilungen und ein angemessener
*) Der Entwurf zu abgeänderten Satzungen hat mir Vorgelegen; in
Straßburg werde ich darüber Auskunft erteilen können (Zusatz bei d. Korr.).
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390
Kleinere Mitteilungen.
Einfluß auf die Naturforscherversammlung überhaupt wird gewährleistet
durch Satz 2, der uns die gebührende Vertretung im Ausschuß sichert.
Durch sie können wir es namentlich auch erreichen, Referate und Vorträge
aus unserem Gebiet, so viel als es angezeigt erscheint, für allgemeine
Sitzungen anberaumen zu lassen oder auf etwa wünschenswerte gemein¬
same Sitzungen mit anderen Abteilungen hinzuwirken. Haben wir auch
nicht über Vernachlässigung in dieser Hinsicht zu klagen, so muß die
Psychiatrie sich doch stets gegenwärtig halten, daß sie mehr als andere
medizinische Fächer um ihre Stellung auf dem Boden exakter Natur¬
wissenschaft zu kämpfen hat, und daß sie kein Mittel aus der Hand geben
darf, das ihren Einfluß im öffentlichen Leben zu stützen geeignet ist.
Wie der 3. Satz in der Kommission nicht einstimmig angenommen
worden ist, so wird er auch im Kreise unserer Berufsgenossen vielleicht
am meisten auf Bedenken stoßen. Legt er uns doch nahe, unsere eigenen
Tagungen zugunsten der Naturforscherversammlung einzuschränken, und
droht er gewissermaßen, in die Selbständigkeit unseres Vereinslebens
einzugreifen. Sorgfältig vermeidet er ja derartige Forderungen;
aber indem die Naturforscherversammlung vorbildlich wirken
will, erteilt sie doch eine unzweideutige Mahnung. Ihr Vorbild besteht
in einer Selbstbeschränkung, die in ihrer Wirkung freilich auch sofort
auf den Ersatz dessen bedacht ist, was sie preisgibt. Auch uns wird
nahegelegt, auf eine selbständige Jahresversammlung in jedem 2. Jahre
zu verzichten; an ihre Stelle soll die Abteilung der Naturforscher Versamm¬
lung treten. So hätten wir uns jedenfalls in jedem 2. Jahre der freien
Wahl des Versammlungsorts zu begeben, wenn wir uns nicht den Luxus
einer eigenen Tagung neben der Naturforscherversammlung leisten wollen.
Was wir aber gewinnen durch die mancherlei Beziehungen zu anderen
naturwissenschaftlichen Fächern und durch die Gelegenheit, an den all- -
gemeinen Sitzungen mit ihren orientierenden Vorträgen auf Gebieten,
die wir selbst zu pflegen nicht in der Lage sind, teilzunehmen, das dürfte
doch wohl die bescheidene Einbuße an Selbständigkeit reichlich auf¬
wiegen. — Dieser 3. Satz bildet den Kernpunkt der ganzen Reformfrage;
mit ihm steht und fällt alles, was in dem bedeutsamen Wunsche angestrebt
wird, einer Zersplitterung naturwissenschaftlicher Forschung und an¬
gemessener Verwertung ihrer Ergebnisse entgegenzuarbeiten. Für ihn
muß meiner Ansicht nach jeder eintreten, der in seinen Fachinteressen
sich vor Einseitigkeit bewahren will, und wohl niemand hat sich davor
mehr zu hüten als der Psychiater.
Satz 4 wird auf die allgemeine Zustimmung aller derer rechnen
dürfen, die zu den Kongressen um der Wissenschaft und nicht um des
Vergnügens willen gehen. Was an geselligen Veranstaltungen bleiben
wird zur Belebung der persönlichen Beziehungen, kann die einzelnen
Vereine von besonderen Sorgen in dieser Richtung nur entlasten.
Auch Satz 5 kann den Mitgliedern unseres Vereins nur einen Gewinn
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Kleinere Mitteilungen.
391
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üfaztps. V creme dürfte der Sejitemfer kaum W0ä%«r gelegen sein, als der
e-etolbh weUcrwendi:s<iie April Oeo Akademikern untet uns nur er-
W&&0fc yk&llriieht aus yersüm rniuhgen »in Sepieinber eine uhwülkomin euere
- ’ rtg ilifer, Ferien als in der XeH »»d'dv r Ostern.
;Ö*r*.4'<0' wohl riücft ein .eth^bttfcbes Interesse
■»».-der ^dsseflSehafflichen Bedeutung der Xatürlömberversammhjng und
r*$» der Berührung mit anderen Wissensgjdtleken vorausgesetzt werden.
Wri* mÄsteit df^tselh^n dürfte fss:iü$besQj^ieife von WWf.t Stein, wem» wieder
mit den JVeurnlo^en ..bbvgiestwllt‘^ j , < , 1.' Stätdem sie kiel»
-’k ebewfails von der N'aiurfnrsdiervef^nnmiivtug losgelöst haben, ist
kr# Fühlung zweifellos obe : rUä<‘U1»«-her. geworden, beiden Spezialgebieten
e^tnß nicht r»üirzon» Vorteil. , ' , ■,' ,*.,/■''•;/ \- t J
Für' 4i« • dUjjajmi&ta aridnaturwissenseHaftlteKß Foj'k
•tidung Sorge zu Irogeii, mag ja zunächst als Aufgabe des einzelner« gelten,
irsr Forderung wird stell aber auch ein rHandesvemyt dicht entziehen
' ;if >n*;ri, tvejvn sie erlbJgen kann unbeschadet, der Pflege des Fortschritts
• d dein eigensten Oebiet. V*m»v:h.las$igri«g de« letzteren braucht nicht
#'f&Fcfvie't ari AVer de», Weriii den .F’Acbveremen uftmltfelbarer Eiiifittß
■. ^'h*nnnd. ;#iif die '• /./a ’ •.* : ;•
/''i^ er tenWUitdjer Emägung wrrf. : d>e Früige bedürfen , ob bei den bevor-
•'••beiuieti 'Krüeruriger, Bdbehgjtvmg der <icMrridog|seiV-iisyeb>»tns>he)i
dHeil« ng mißt «ine: ^Widieilnng riei^tilbcn arigijStrebt' werden ! soll, ßs>
m hiebt vyn uns allein ab, «andern uu t< von der Sleliungnahme
^iWeurrtlog««, Piersdnlicb^Würde ich der der beiden Pacher
' n Vorzug:geben und einer Sonderung erst dann- das Wort reden, wenn
~Wh gömetnsame Tagungt-n nicht .beVvahren sollten. In Woo habeit ihdO?'
nit, b' der gemeinsamen Ai.ieib.mg leihvdsc getrennte Sitzungen statt-
Go gle
392
Kleinere Mitteilungen.
gefunden, ein Ausweg, der vielleicht auch künftig sich als gangbar er¬
weisen wird.
Eine Schattenseite bleibt es, daß die Naturforscherversammlungen,
zumal wenn ihnen aus den geplanten Änderungen eine neue Blüte er¬
wächst, auf verhältnismäßig wenig große Städte mit reichlichen Unter¬
kunftsgelegenheiten angewiesen bleiben wird. Schon in Wien hat die
Unterbringung der mehr als 5000 Teilnehmer Schwierigkeiten verursacht.
Doch wird ein Teil der Versammlungsbesucher auch in dem Schatten
der Großstädte Licht zu finden wissen. Jedenfalls werden diejenigen
unserer Kollegen, die ihr Beruf in entlegene Gegenden verschlagen hat,
auch an Zeit und Geld für die Versammlungsreisen sparen, wenn die Ent¬
scheidung über das Versammlungswesen in dem Sinne fällt, wie die Wiener
Beschlüsse dies anstreben, und die großen Verkehrszentren für die Ver¬
sammlungen hauptsächlich in Betracht kommen.
Auch unsere Vereinskasse dürfte dadurch in manchen Punkten
entlastet werden. Bei ihrem günstigen Stande hoffe ich, daß in den
Jahren, die der Naturforscherversammlung gehören würden, auf einen
Jahresbeitrag für unseren Verein verzichtet werden könnte.
So komme ich zu den Anträgen:
1. Die Jahresversammlung wolle die vom Vorstand erteilte vorläufige
Zusage zur Beteiligung an der Organisation der psychiatrisch -
neurologischen Abteilung der Naturforscherversammlung in Hannover
gutheißen.
2. Sie wolle der zu Wien gefaßten Resolution in allen 5 Sätzen bei-
treten und den Vorstand ermächtigen, im Sinne dieser Resolution
mit der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte weitere
Abmachungen zu treffen.
3. Sie wolle den Vorstand beauftragen, die dadurch etwa notwendig
werdenden Änderungen der Vereinssatzungen so vorzubereiten,
daß die Jahresversammlung 1915 darüber endgültige Beschlüsse
fassen kann.
Kreuser.
Nekrolog Bernhard Oebeke. — Nur wenige Jahre sind vorüberge¬
gangen, seitdem ich meinem alten und lieben Freunde zu seinem 50jähr.
Doktorjubiläum die Glückwünsche der rheinischen Irrenärzte über¬
bringen konnte, und jetzt kann ich zu den Kränzen auf seinem Grabe nur
noch Worten der Trauer Ausdruck verleihen, mit der uns sein Hinscheiden
erfüllt hat.
Ich hatte damals in der Psych.-neurol. Wochenschr. vom 17. Juli
1909/10 einige kurze biographische Bemerkungen hinzugefügt und darauf
hingewiesen, daß Oebekes Leben wie ein breiter Strom in geebnetem Bette
ruhig dahingeflossen und seine ärztliche Tätigkeit in der Endenicher
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WM'm
Kleinere Mitteilungen
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:^ : »i dii: i'oy um- Bonnur pvrdhtT »m< -hr*. u>-iü-'"«’: 5 . «|i v..*»•?, w-H<«*k
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sj^injai* lebhafter Itefm-rUfvu- noo- h U-. '^V- irr- vviifi# ri f -C j-Vof--
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VKöV nieder der Pranu-
fT.» \ • •*. ; s, * • - *-Ä' - • , \yj j >
Äi:-int»oe-
394
Kleinere Mitteilungen.
zialverwaltung und der einzelnen Anstaltsdirektoren konnte eine allen
genehme Neuerung recht schwierig werden, und ich habe mir damals
oft die Frage vorgelegt, ob es einer anderen Persönlichkeit in gleichem
Maße gelungen wäre, drohende Konflikte. mit geschickter Hand aus dem
Wege zu räumen und alles in das richtige Geleis zu leiten, wie dies Oebeke
getan hat.
Unter seiner sachkundigen Mitarbeit hat die Rheinprovinz ihre
fünf bestehenden Anstalten ausgebaut und erweitert und darüber hinaus
drei weitere und darunter eine für 2000 Kranke bestimmte Anstalt neu
errichtet, und an Arbeit hat es ihm wahrlich nicht gefehlt. Gar manches
Mal habe ich ihm, dessen Gesundheit in den letzten Jahren viel zu wünschen
übrig ließ, nahegelegt, die mit anstrengenden Reisen und Sitzungen ver¬
bundene Stelle doch niederzulegen und sich endlich zur Ruhe zu setzen,
der er dringend bedurfte, bis er sich nach langem Kampfe endlich dazu
entschloß.
In gleicher Weise war er in der Rheinischen Ärztekammer tätig,
deren Mitglied er 26 Jahre lang war, und die er zeitweise als zweiter
Vorsitzender leitete. Nehmen wir hierzu seine Tätigkeit als Stadtverord¬
neter und als Vorsitzender des Ärztlichen Vereines der Stadt Bonn, als
Mitglied des Vorstandes des Psychiatrischen Vereines der Rheinprovinz
und anderer ärztlicher Vereine, so fehlte es dem alternden und keines¬
wegs kräftigen Manne gewiß nicht an Arbeit. Allerdings habe ich dabei
die Empfindung gehabt, als ob er in der Arbeit Trost und Vergessenheit
suchte.
Mit dem Tode seiner Frau war es in seiner großen und schönen
Wohnung einsam geworden, und er ist seitdem nie mehr so recht frisch
und froh gewesen. Wie er ihr Zimmer unberührt gelassen hatte, und wie
alles noch so war wie einst und nur sie darin fehlte, so fehlte dem einsamen
Manne die sorgende Hand der treusten Gefährtin, und den Verlust hat
er nie überwunden. Dem Andenken der Dahingeschiedenen hat er dann
in seinem Testament durch eine hochherzige Stiftung beredten Ausdruck
gegeben. Der einsame Mann, dem eigene Kinder nicht beschieden waren,
hat sein bedeutendes Vermögen zur Errichtung einer Kinderklinik be¬
stimmt, die den Namen seiner Frau tragen und das Andenken der Stifter
wach erhalten wird, wenn seine sonstige Tätigkeit und seine verschiedenen
fachwissenschaftlichen Aufsätze längst dem allgemeinen Geschick der
Vergessenheit anheimgefallen sind.
Denn neben seiner reichen Tätigkeit innerhalb und außerhalb der
Anstalt hatte er noch die Muße gefunden, seine Erfahrungen in zahl¬
reichen wissenschaftlichen Arbeiten niederzulegen, die ich seinerzeit in
der Psych.-neurol. Wochenschr. angeführt habe, und die ihn bei seinen
Fachgenossen in den Ruf eines guten Beobachters und allzeit sicheren
Beraters gebracht hatten. Oebeke ist geboren 30. August 1837 zu Aachen,
und er ist gestorben 7. Dezember 1913.
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Kleinere Mitteilungen.
395
Als ich ihm damals unsere Glückwünsche überbrachte, habe ich
meinen kleinen Aufsatz mit den Worten geschlossen: transiit benefaciendo.
Zu jener Zeit war von seinem Testamente noch nichts bekannt.
Um wieviel mehr wird man heute jene Worte auf sein Grab setzen können,
wo er an der Seite seiner Gattin auf dem Endenicher Friedhofe von langer
Arbeit die wohlverdiente Ruhe gefunden hat.
Transiit benefaciendo I
Pelnian.
Unterstützungen für wissenschaftliche Arbeiten
auf dem Gebiete der Medizin und der angrenzenden, naturwissenschaft¬
lichen Fächer hat die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte
aus der Adelheid-Bleichröderstiftung in diesem Jahre in der Gesamthöhe
von 5790 Mk. zu vergeben. Gesuche sind in fünf Abschriften bis spätestens
31. März 1914 an den Vorstand der Gesellschaft Deutscher Naturforscher
und Ärzte, z. H. des geschäftsführenden Sekretärs Prof. Dr. B. Rassofr,
Leipzig, Nürnbergerstr. 48, zu richten. Von dieser Seite können auch die
Satzungen der Stiftung kostenlos bezogen werden. Die Verleihung der
Subventionen geschieht in der Geschäftssitzung der 86. Versammlung
Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Hannover am 24. September 1914.
Personalnachrichten.
Dr. Hermann Starke , Oberarzt in Neustadt i. H., ist zum Direktor
der Landesanstalt (Alt-) S t r e 1 i t z ,
Dr. Adolf Riebeth, Dir. der Landesanstalt Landsberg a. W., zum Dir.
der neuerbauten Landesanstalt bei Brandenburg a. H., und
Dr Georg Marthen, Oberarzt in Landsberg a. W., zum Direktor der
Landesanstalt Landsberg a. W. ernannt worden.
Dr. Heinrich Länderer , Hofrat, bisher 2. Arzt und stellvertretender
Direktor der Heilanstalt Christophsbad in Göppingen, ist aus
dieser Stellung ausgetreten, in die
Dr. Heinrich Länderer jr., bisher Anstaltsarzt daselbst, eingerückt ist.
Dr. Wilhelm Oppermann und
Dr. Valentin Faltlhauser, Anstaltsärzte in Erlangen, sind Oberärzte
daselbst,
Dr. Karl Brandt,
Dr. Karl v. Hößlin und
Dr. Franz Sendtner, Anstaltsärzte in Eglflng, sind Oberärzte daselbst,
Dr. Ferdinand Kehrer, Priv.-Doz., bisher in Kiel, ist 1. Assistenzarzt an
der Klinik in Freiburg geworden.
Dr. Ernst Schultze, o. Prof, in Göttingen, ist zum Assessor am Med.-
Kollegium der Provinz Hannover ernannt.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 2.
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Gougle
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Original from
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396
Kleinere Mitteilungen.
Dr. Hans König in Kiel und
Dr. Hans Gruhle in Heidelberg haben sich als Privatdozenten
habilitiert.
Dr. Willy Vorkastner, Priv.-Doz. in Greifswald, ist der Titel Professor
verliehen worden.
Dr. Emil Kraepelin, Prof, in München, und
Dr. Gustav Specht, Prof, in Erlangen, haben den Verdienstorden
vom hl. Michael 3. Kl.,
Dr. Hüben Schnitzer, leit. Arzt der Kückenmühler Anstalten zu Stettin,
Dr. Albert Oliven, Sanitätsrat in Lankwitz, und
Dr. Gerh. Backenköhler, San.-R., in Aplerbeck, den Roten Adler¬
orden 4. Kl. erhalten.
Dr. Guido Weber, Geh. Rat, früher Dir. des Sonnensteins, Ehrenmit¬
glied des Deutschen Vereins für Psychiatrie, ist am 15. Januar
im 77. Lebensjahr nach längerem Leiden in Dresden ge¬
storben.
Dr. S. Weir Mitchell, der bekannte Neurologe, ist, 85 Jahr alt, am 4. Januar
in Philadelphia gestorben.
bv Google
Original fro-m
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptom¬
komplex 1 ).
Von
Ernst Kretschmer-Tübingen.
Wenn wir die Umbildung der psychiatrischen Systeme betrachten,
wie sie sich in den letzten drei Jahrzehnten vollzogen hat, so sehen
wir darin mehr als das ephemere Spiel geistreicher Forscher, die eifrig
bemüht sind, eine gleichbleibende Menge von Erkenntnissen in immer
neue Formen umzugießen. Daß es sich hier um einen folgerichtigen
Entwicklungsvorgang handelt, gilt nicht nur von der Vertiefung
unseres Wissens, die uns die anatomische und ätiologische Forschung
und die Beobachtung des Krankheitsverlaufs gebracht hat, sondern
es gilt gerade auch auf dem Gebiet, wo es am meisten bestritten wird,
auf dem der psychologischen Analyse des Zustandsbilds. '
Wenn in die dominierende Stellung, die in den alten Lehrbüchern
der Wahnsinn und die Paranoia einnahmen, heute das manisch-
depressive Irresein und die Schizophrenie' eingerückt sind, wenn
heute die Klassifikation von Wahnformen durch die Beschreibung
von Gefühls- und Assoziationsstörungen, von Anomalien der Emp¬
findungen und Bewegungsantriebe in den Hintergrund gedrängt ist,
so bedeutet das doch nichts anderes, als daß wir nicht mehr die Be¬
wußtseinsinhalte, sondern in erster Linie die Bewußtseinsvorgänge
als Grundlagen der pathologischen Psychologie anerkennen. Und in
dieser Entwicklung der Psychiatrie erblicken wir einen Fortschritt,
wie überall in der Wissenschaft, wo es uns gelingt, zusammengesetzte
Erfahrungstatsachen auf einfachere zurückzuführen.
1 ) Die Erlaubnis zur Veröffentlichung der hier publizierten Fälle
verdanke ich Herrn Obermedizinalrat Dr. Kreuzer in Winnental und Herrn
Professor Dr. Gaupp in Tübingen.
Zeitschrift for Psychiatric. LXXI. 3.
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28
Original from
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398
Kretsc inner.
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Aus der Menge der Probleme, die sich durch die energische Weiti
führung der klinischen Diagnostik im angedeuteten Sinne dur
Kraepelin aufwerfen, soll hier eines herausgegriffen werden, dess
Betrachtung einerseits sehr geeignet ist, den von der pathologisch!
Psychologie überhaupt zurückgelegten Weg zu beleuchten, und a
dessen historischer Behandlung andererseits für die speziellen Ai
gaben der vorliegenden Arbeit die kritischen Gesichtspunkte hervt^
gehen. — Sogleich mit der Aufstellung der Krankheitseinheit „manisch
depressives Irresein“ begannen nämlich die Schwierigkeiten auf einet
Grenzgebiet, Es handelte sich zum eine ganze Reihe stark wahn
bildender Krankheitsformen, die bisher in einer der geläufigen Unter
gruppen des Wahnsinns oder der Paranoia zwanglos untergebne))
waren, und in denen man nun den manisch-depressiven Symptom
komplex entdeckte.
Schon kurz vor dieser Zeit hatte Mendel auf Beobachtungen hi.v
gewiesen, wo zeitlich begrenzte Anfälle von Verrücktheit mit gesundet'
Phasen und zum Teil auch mit Anfällen einfacher Manie oder MelaneMi-
alternierten. Er war der Ansicht, daß das innige Verwebtsein von Lr-
folgungs- und Größenideen, wie es seine Fälle zeigten, der Manie und der
Melancholie fremd seien, und wollte andererseits in den paranoischen
Zustandsbildern keine manisch-melancholischen Züge sehen. So mulii«
er sich auf eine rein formale Klassifikation beschränken, indem er sein-
Beobachtungen mit den erwähnten und einigen anderen Krankheits¬
gruppen unter dem Oberbegriffe „periodische Psychosen“ zusammen
faßte und jenen selbst die Bezeichnung „periodische Paranoia“ gab.
Nachdem bereits das „manisch-depressive Irresein“ sich vielerorts durch
gesetzt hatte, machte Bleuler noch einmal den Versuch, zwischen beid.i
eine mehr innere Beziehung herzustellen, indem er gleichzeitig an d-
A/ende/sehen Fällen und an einer Reihe eigener Fälle den manisch
depressiven Symptomkomplex im paranoischen Zustandsbilde nachwii-
Trotzdem entschloß er sich nicht, die Wahnbildung aus jenem zu erklärt r
sondern interpretierte sie als eine spezifische Störung des Intellekt-
Er glaubte so, den „periodischen Wahnsinn“ und das manisch
depressive Irresein vereinigen und trotzdem der „Vesania“ als eine
der Manie und der Melancholie gleichberechtigten Erscheinungsform ihr
Selbständigkeit erhalten zu können. Es gelang ihm nicht, die bluthe
A/ende/sche Schöpfung dadurch lebensfähiger zu machen. Im Lauf de
Jahre hat sich eine wenig umfangreiche Literatur über diesen Gegenstam
angesammelt ; verschiedene Autoren haben sich bemüht, teils unter den
selben Gesichtspunkten, wie Mendel, weitere Belege für dessen Auf
Stellung zu schaffen, teils ganz andersartige, diagnostisch undurchsichtig'
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Wahnbildang und manisch-depressiver Symptomkomplex.
399
Ile verschiedenster Herkunft hier unterzubringen; es sei hier nur an die
.eressanten Psychopathen Gierlichs und an den komplizierten Fall
&n/cemöllers erinnert. Im Bereich der herrschenden diagnostischen
ichtung, die sich nicht bloße Klassifikation, sondern die Auffindung
irklicher Krankheitseinheiten zum Ziel gesetzt hat, hat die periodische
aranoia von Anfang an nur wenig Anklang gefunden und die ganze
rage ist wohl heute, soweit sie mit dem manisch-depressiven Irresein
A Beziehung steht, so ziemlich im Sande verlaufen l 1 ).
Während Kraepelin die periodische Paranoia konsequenterweise
on -vornherein ablehnte, hatte er einen anderen Krankheitsbegriff, der
•benfsflls die Wahnbildung zum wesentlichen Inhalt hat, eine Zeitlang
eltost in die moderne Psychiatrie herübergerettet, nämlich den „de¬
gressiven Wahnsinn“. Daß Kraepelin in den ersten Auflagen seines
Lehrbuchs auch einen expansiven bzw. labil-halluzinatorischen Wahn¬
sinn kannte, der ein noch vergänglicheres Dasein in seinem System führte,
sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Die Krankheitsformen, die
Kraepelin früher als depressiven Wahnsinn und Melancholie zusammen¬
faßte, haben sich dem Äraepefinschen System immer nur schwer einfügen
wollen: ich meine die Depressionszustände des höheren Lebensalters.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die Beobachtungen, mit denen
Kraepelin seine Krankheitsgruppe „depressiver Wahnsinn“ aufbaute,
nicht ausschließlich dem manisch-depressiven Formenkreis angehörten.
Sicherlich spielten dabei auch die unklaren, zum Teil stark wahnbildenden
Depressionszustände des höheren Lebensalters eine Rolle, die immer
wieder die Zusammenfassung zu einem selbständigen Krankheitsbild
nahelegen, und die Gaupp einer vorläufigen Klassifikation unterzogen hat
(z. B. die „depressive klimakterielle Erregung mit Ausgang in geistige
Schwäche“). Die Tatsache, daß Kraepelin vorgeschrittene geistige
Schwächezustände im Endstadium des depressiven Wahnsinns beschrieb,
spricht dafür, daß sich auch echte Defektpsychosen unter seinem Material
befanden, die heute bei der senilen Demenz untergebracht sind. Diesen
beiden Beobachtungsreihen schienen sich endlich die Depressionszustände
zwanglos anzugliedern, deren ausgeprägte, barocke Wahnbildung durch -
gehends von einem starken, echten Depressivaffekt getragen war, und die
wir heute mit Bestimmtheit dem manisch-depressiven Irresein zurechnen;
cs sind wohl diejenigen Fälle, bei denen die Wahnideen gleichzeitig mit
dem Affekt abklangen, was Kraepelin als Charakteristikum ihrer guten
Prognose heraushob. — Kraepelin hat dann Schritt für Schritt die Konse-
M Es erübrigt sich, in diesem Zusammenhang auf die akute
Paranoia näher einzugehen, die neuerdings von Thomsen wieder auf
die Tagesordnung gebracht und von Kleist einer treffenden Kritik unter¬
zogen wurde. Sie fällt genau unter dieselben Gesichtspunkte, wie die
periodische Paranoia, und hat sich eberisowenig wie diese in weiteren
Kreisen durchzusetzen vermocht.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
400
Kretschmer,
quenzen seiner Lehre gezogen: in der 6. Auflage seines Lehrbuchs faßt« 1
er den depressiven Wahnsinn mit der Melancholie zusammen, so daß ersterer
fortan nur noch eine selbständige Untergruppe der letzteren bildete.
Hierin dokumentiert sich in charakteristischer Weise, daß für ihn. die
Tatsache selbst stärkster, scheinbar das ganze Krankheitsbild beherrschen¬
der Wahnbildung die prinzipielle Bedeutung für die Bewertung desselben
verloren hatte. Heute ist der depressive Wahnsinn aus dem Kraepelinschen
System verschwunden; wir finden nur noch eine „phantastische
Melancholie“, die nicht einmal mehr den Rang einer abgegrenzten
Unterform einnimmt, und die Umkehrung der Wortstellung zeigt aufs
deutlichste, wo der Nachdruck in der psychologischen Bewertung der
Einzelsymptome liegt.
Nicht alle sind Kraepelin auf seinem Wege bis hierher gefolgt. Als
im Jahre 1907 Dreyfus und Hübner die Vereinigung der Melancholie mit
dem manisch-depressiven Irresein Vornahmen, trennte sich ihr seitheriger
Bundesgenosse Thalbitzer von ihnen, um wenigstens dem depressiven
Wahnsinn seine Selbständigkeit zu retten. Er tat dies, indem er, genau
auf den Ausgangspunkt der Kraepelinschen Entwicklung zurückkehrend,
die Wahnbildung wieder zum selbständigen Primärsymptom erhob. Aus
der Menge der übrigen Krankheitserscheinungen griff er sodann als die
beherrschende die Affektstörung heraus und hatte damit seine beiden
Kardinalsymptome: Wahnbildung und Depression gewonnen. Darnach
teilte er sämtliche hierher gehörigen Krankheitsbilder in echte Wahn-
psychosen mit sekundärer Depression und echte Stimmungs¬
psychosen mit sekundärer Wahnbildung ein; erstere faßte er
als depressiven Wahnsinn zusammen, während er letztere zur Melancholie
schlug. Er stützte diese Einteilung einmal mit Argumenten, die wohl
nur einen subjektiven Wert beanspruchen: die größere Rolle, die größere
Konstanz der Wahnvorstellungen im depressiven Wahnsinn, die mangelnde
Proportionalität derselben mit dem Affekt, den „Eindruck“, daß letzterer
durch erstere verursacht „schiene“ usw. Dann aber wies er, hauptsächlich
in der Parallelabhandlung über den manischen Wahnsinn, mit Nach¬
druck darauf hin, wie im Verlauf solcher Krankheiten der Affekt all¬
mählich abflaut, während nun erst gerade recht die Wahnbildung und
zwar eine ausgesprochen halluzinatorisch gestützte, barocke Wahnbildung
zur Blüte kommt. Nun ist zwar den Beschreibungen Thalbüzers zu ent¬
nehmen, daß sein manischer und depressiver Wahnsinn neben den früher
erwähnten unklaren Altersdepressionen hauptsächlich auch Beobachtungen
schizophrenen bzw. paraphrenen Charakters enthält. Es ist aber eine
Tatsache, die Kraepelin in seinem Lehrbuch weder bestreitet, noch erklärt,
daß gerade auch unter sein manisch-depressives Irresein protrahiert ver¬
laufende Krankheitsbilder fallen, in denen das genannte Verhältnis zwischen
Affekt und Wahnbildung unzweifelhaft zutage tritt. Thalbitzer folgert
nus letzterem den Eintritt einer Demenz; ob mit Recht oder Unrecht,
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex.
401
soll später erörtert werden. Jedenfalls aber liegt in diesem Verhältnis
der Angelpunkt der Thalbitzerschen Beweisführung. Sein Gedankengang
hat die kurze Formel: Die manio-depressive Psychose ist die Stimmungs¬
psychose; wo kein Affekt, ist auch keine Wahnbildung; wo Wahnbildung
ohne Affekt besteht, ist kein manisch-depressives Irresein. Der letzte
Schluß ist zwingend, — wenn die Prämissen richtig sind. — Auch Thal-
bitser ist es nicht gelungen, dem depressiven Wahnsinn in dieser modi¬
fizierten Form Boden zu gewinnen. Soviel ich sehe, ist Rehm der einzige
gewesen, der sich ihm anschloß; heute ist auch diese Frage so ziemlich
von der Tagesordnung verschwunden.
Wenn wir die historische Entwicklung der Anschauungen bis
zu diesem Punkt aufmerksam verfolgt haben, so sehen wir, wie sich
die Problemstellung in einer bestimmten Richtung zuzuspitzen beginnt.
Während die Schöpfer der periodischen Paranoia eine Beziehung
zwischen Wahnbildung und manisch-depressivem Symptomenkomplex
geradezu leugneten, während Kraepelin bei seiner vorwiegend empiri¬
schen Arbeitsmethode dieser theoretischen Frage bezüglich der Ab¬
grenzung des manisch-depressiven Irreseins keine prinzipielle Be¬
achtung schenkte, war es ThaXbüzer, der im manisch-depressiven
Irresein zwischen Affekt und Wahnbildung wenigstens ein gewisses
Handinhandgehen postulierte, ohne allerdings nach dem inneren
Zusammenhang zu suchen, der einer konstanten äußeren Verkuppe¬
lung notwendig zugrunde liegen muß.
Hier war es nun Specht, der im Kampf um die chronische
Paranoia dazu überging, nicht nur das nahe Beisammenwohnen
paranoischer und manisch-depressiver Zustandsbilder empirisch zu
belegen, sondern die Frage nach dem inneren psychologischen Zu¬
sammenhang zwischen Wahnbildung und manisch-depressivem Sym¬
ptomkomplex überhaupt aufzurollen.
Hier ist allerdings vorauszuschicken, daß für eine gewisse Art von
Wahnvorstellungen, nämlich für die gewöhnlichen Kleinheits-, Ver-
«ündigungs- und Größenideen der einfachen Melancholie und Manie ein
innerer Zusammenhang mit dem entsprechenden Affekt schon immer
beinahe für selbstverständlich galt, wobei man sich allerdings begnügte,
die Wahnvorstellungen in grob intellektualistischer Weise etwa als Er¬
klärungsversuche aufzufassen. Man wagte eine solche psychologische
Abhängigkeit überall dort anzunehmen, wo bei ausgeprägter, eindeutiger
AfTektstörung die Wahnvorstellungen schon rein äußerlich als bescheidenes
und oft zeitlich nachfolgendes Nebenprodukt des Krankheitsprozesses
erschienen. Sobald dagegen neben einer starken manisch-melancholischen
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Original fro-m
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402
Kretschmer,
Verstimmung die Wahnbildung üppiger zu wuchern begann oder gar der
Affekt gegen letztere zurücktrat, sobald andererseits für zusammen¬
hängende, logisch verbundene Wahnsysteme ein wenig augenfälliger
„Mischaffekt“ nur den begleitenden Unterton zu bilden schien, da glaubte
man die Brücken abbrechen zu müssen, indem man entweder auf eine
restlose psychologische Erklärung verzichtete, oder sich mit der Annahme
einer Intellektstörung half. Die mangelnde wissenschaftliche Konsequenz
dieses Vorgehens hat Specht energisch aufgedeckt. Auch er, wie die ge¬
samte ältere Literatur, faßte das Problem hauptsächlich von der Seite
des Affekts an, baute es aber nun auf der Grundlage der Mischaffekte
weiter aus. Er gab seiner Beweisführung einen sicheren empirischen
Rückhalt in den zahlreichen klinischen Beobachtungen, bei denen wir
die Entstehung eines paranoischen Zustandsbildes in der manisch¬
melancholischen Übergangsphase wie ein Naturexperiment verfolgen
können. Und indem er die Parallele zu den Erfahrungen des gesunden
Lebens zog, zeigte er, wie der Antagonismus zwischen gehobenem Selbst¬
gefühl und Mißlaune gegen die Umgebung, der expansiv-depressive Misch¬
affekt geradezu den Mutterboden für die systematische Verfälschung des
Bewußtseinsinhalts im Sinne krankhafter Eigenbeziehung bildet. Specht
hat neben dem Mischaffekt zuerst auch die hypomanische Asso¬
ziationsstörung, „die leichte Lockerung des assoziativen Gefüges und
die assoziative Plusleistung“ zur Erklärung der Wahnbildung mit heran-
gezogen, ohne ihr allerdings eine selbständige Rolle zuzuweisen. Wenn es
ihm auch vorerst nicht gelungen ist, die Frage der chronischen Paranoia
durch seine Kritik aus der Welt zu schaffen, so hat er doch ihre Stellung
im Kraepelinschen System nach einer Seite hin geklärt und eine Reihe
von Anhängern gewonnen, die, wenn nicht ihre bedingunglose Einbe¬
ziehung, so doch wie Kleist , Stransky, Wilmanns u. a. die Zusammen¬
fassung der Paranoia mit dem manisch-depressiven Irresein in einen
gemeinsamen weiteren Rahmen verlangen.
Wir sind am Ende unseres Weges angelangt und fragen uns nicht
ohne Erstaunen, wo all die vielen Schöpfungen geblieben sind, die
hier an unserem Blick vorüberzogen. Die periodische und die akute
Paranoia und der periodische Wahnsinn, der labile und der depressive
Wahnsinn Kraepelins , Thalbitzers depressiver und manischer Wahn¬
sinn, sie alle haben einmal versucht, im Kraepelinschen System einen
Platz zu gewinnen, haben sich kurze Zeit an der Oberfläche gehalten
und sind zuletzt klanglos wieder verschwunden. Nur die chronische
Paranoia, wenn auch zwischen Dementia praecox und manisch-
depressivem Irresein immer enger zusammengedrängt und von vielen
Seiten nicht ohne gewichtige Gründe angegriffen, hat bis heute unter
dem Schutze der überragenden wissenschaftlichen Autorität Kraepelins
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Wubiibildiöig und manischHlepreKsivsfi tkniptyinkomplex. 403
♦dm- — allerdings umsrrijtene -- Existenz behauptet. Cnd. auch hier
Püranoia *<it r .Name ist noch ein Ikierrest au* der Zeit der Wahn-
psyclnmm) aus dem Bereich der ^gentjiehen. /irJcimiskripteii Krank •
heitseijihedt >? un eueren ‘$mn 'xurttckmtahen .begonnen hat. In
dieser Fassung scheidet die chronische Faranw» für die hier he-
• handelte Frage atta.
Von ihr abgesehen wäre es niüßfe, all diese kleinen Versuche und
Mißerfolge, ««samineu'inistplitm,, kenn . es sieh daher nur um liebog-
l**se, isolierte Grenisgelerlde an der äußersten Pevipiierie des manisch-
♦Wprossiven Irreseins ImmkKe, wie es dem ersten Blick Schemen mag
Aber in;ibr^r. w*s»qV;
Diese V ersuche. haben alle gememspn, daß liier 'Krankheitsgruppen
au! Grumt der TatSÄftlih ansgepriigter Wahrthilduhg vom . manisch-
depressive« Irfeseiu abgegftmzt werden sollten. indem man die Wahn-
hüdutig wle gm gieicMjerechtigtes HauptsvTnptöin «hgen depmamsi'h-
aitespidtk •; .Und diese Versuche sind
fehlgeschkgen; nicht weil sieh ihnen theoretisch-doktrinäre Bedenken
entgegen^telliwj, soliden) weil sich ihre küuhche Abgrenzung. und
eine breite syhTfpbiniatBehe KundamehtierUng als praktisch unmöglich
erwies. In ihrer Gesamtheit bähen diese praktischen Erfahrungen
den Wert eine* Kxperihp^is:-;|fe ^gei) aufs deutiiehrih daß W iiut
zwei Wege ^ibf' p»twp$?'r '%?£ diagnostizieren nadi dphi klmisrh
ausgeprägtesten Symptom'und stellen'uns damit auf den Standpunkt,
den Ziehen in der Paranoiafnige elnmmmt: dieser tiumdpunkt ist
nach einer Dichtung klar undkoBSPtjixeut ; oder wir suchen in jedem
einzelnen tW m den Störungen der Seelischen KboV»e.r»tärvnrg&hge'
Torzmlringctj. dann bestimmen diese dtp psychologische fhägmtse
(!cs Zustandshild«. auch wenn sie äußerlich kaum bervortrHojr. und
jeder zusammengesetzte St-ekovorgang ist als solcher diagnostisch
4 « , h • i ' v/••.•.'• «• -'i.' ncfi.-J, iti ’ ./ '■. w ; ; . \ :' i ‘ • ••’> Ff. . 1'
■Inhalte gegen emfaebf Bcwußisemsvorgäuge aüszuxpkkn. deren
fertige .Endprodukte sie doch nur sind; und das tun wir wenn wir
Go gle
v y > v, ..:»v*c y 1
404
Kretschmer.
im selben Krankheitsbild Wahnvorstellungen etwa gegen Gefühls¬
und Assoziationsstörungen diagnostisch ins Feld führen. Wir können
nicht ein manisch-depressives Irresein anerkennen und doch das
Symptom der Wahnbildung zu seiner Abgrenzung benutzen wollen.
Denn die Krankheitseinheit manisch-depressives Irresein ist auf
krankhaften Seelenvorgängen niedrigerer Ordnung aufgebaut, die
Wahnbildung dagegen ist eine krankhafte urteilmäßige Verbindung
zusammengesetzter Vorstellungen, ein psychischer Vorgang höchster
Ordnung, „eine allgemeine Störung des psychischen Gesamtzustandes“
(Kraepelin). Wir können eine Urteilsstörung als solche nicht zur
Gegendiagnose gegen eine Krankheitsgruppe verwerten, die als Grund¬
symptom eine Assoziationsstörung enthält, weil ein Urteilsvorgang
nur das komplizierte Resultat zahlreicher einfacher Assoziations¬
vorgänge ist und wir es den Wahnvorstellungen eines bestimmten
Krankheitsbilds von vornherein nicht ansehen können, ob sie nicht
gerade den Schlußstein aller derjenigen Störungen bilden, gegen die
sie zum Beweise dienen sollen. Wenn wir uns einmal entschlossen
haben, nicht deskriptiv, sondern analytisch vorzugehen, so sind wir
gezwungen, jeden zusammengesetzten Seelenvorgang auf einfachere
zurückzuführen, d. h. in unserem konkreten Fall, wir sind solange
nicht berechtigt, das Symptom der Wahnbildung diagnostisch über¬
haupt zu verwerten, solange nicht entweder sein restloses Hervor¬
gehen aus dem manisch-depressiven Grundkomplex oder seine ander¬
weitige Herkunft dargetan ist.
Es ist ein Wagnis, in dem heutigen ungeklärten Durcheinander¬
wogen der Meinungen auf dem Gebiet der wahnbildenden Erkrankungen
an die wissenschaftliche Bearbeitung einzelner solcher Fälle heran¬
zugehen. Wir können es nur unternehmen, wenn wir aus der historischen
Entwicklung dieser widerstreitenden Anschauungen sie kritisch zu
sichten gelernt haben und wissen, daß hier nicht Anhäufung von
Beobachtungsmaterial, sondern nur klare psychologische Begriffe
weiterhelfen. Es ist der Zweck dieser Arbeit, zwei komplizierte Krank¬
heitsbilder 1 ) auf ihre klinische Stellung zu untersuchen, die wohl
in die Reihe von Beobachtungen gehören, die Thaibüzer zur Auf-
*) Die beiden Fälle sind von Kreuser (Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 71
Heft 1) unter den paranoischen Formen seniler Involutionspsychosen
rubriziert.
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W.*b«hihiung und manisch-depressiver Svmjnomkamplex. JO&
vi^V.W
*e 44 ting des :maaJi«th<qi uti 4 4 ^ices$yen vi^ilnjiftöt haben.
VIH?^..,«a)^KQ ; und' so eb 3 ^|^i^*Fzieh^ def tMes xtt
f'rTiiiVgUcheh. tjfa sich ÄRhon ih tieo hisWfi£en Ausführungen angedeutet
Jitide«, Es bedarf wohl keiner Beiaifndung mehr, daß es -ich hier
mir ♦«*» eine .Jdausch '^yehnb^eh^. zwar um ein*- fcwwqbeäi J.
;tnikU Tl-vh-.r Bearbsytiiiiß hamldr? kann,, wenn es ans gelingen, soll,
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.gensteHkrsurfc-, ; EüW Tochter il«F iiiittdr*
Nwe-i-i b*!iftd<4 d*;h xiii/vit ]>rtsteski‘ai!k iri ein>?r Uer lau stalt Eit*
.-<tos Vaters. dm: -Jen Faimlieli na men ; von. dessen Mutier iühri;
\vy*r «nt ünodt-rli;*^.. deFtrdi raemand verkehrte und ,,uichU Ink <»l.e deß .
kr- **iii ' Vurmftjgöu eenväiteke v • ln* iibrigidi ftndthv In <1# Familie ;■
iidc/Amie 4reng gtHv^smdtaftvr Mann ' geschildert. dk- Miii'kr als' eine sehr
Hn-üslrätt von ruhig-heilerem Trnfperaümd -• t»ie Lhtt, gere>l’
«ktif ensgezefchneievsehsr snrgföltige Erziehung. wiM'ßfan blähte Siihülerin ; -
habe-Freude, tun Mi»!« 1 »!, Musizieren, njiv] Dichten feie verheiratete «ich
mit r; .(,ihren und hat vt*u da ab ein beinahe «mgetritW glückliches FahüBwi •
ieh«u iunefohrt, "tu dein ihr s*. uwet er Kummer- und grOtte .Burgen vollständig
erspart geblieben. iinVl. Zwei Sohne und zwei Tochter iehen uud sunt
o«fri’.t. fünf Kinder sind kurz na* h der Gehurt gesiorben— Von ihn-«
KtfwfaciF ixifd : : »B eine Uebenswttrdigo. üfntfitldige Frau
i’t.d.- Umäßig teil'.'reu \Tcmprraiut>td,v -von üikrouitfliehern Fleiß und
grüüt*r Pilhj&tdreinö■ Sägentuihiiöl’je sind tdhe fast nbur---
iriet^de. äitgs-tiihhe Bösöi-gm’s für ihre ngf
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«nfceF die Le'qte: jed« Euddduugv jedj>r Eesuiäv regte ^ :aur,Vvtiri a
sefai tu m.siüu aber war für sie 4a» ftejseri , vor tfctii die emv Ibrpiliehe A
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nähme ad TageskrtughisseH $ipd Lifaratiir yyar ihr tötej^sgk vorwit-geud
religiös drieritiprl. öegeo ebien stark pieüsti^h vi^tili^farVtpeistbcheii
BK
Go gle
iVVi-Ä-
406
Kretschmer,
(Dekan H.), der später in ihren Wahnvorstellungen eine große Rolle
spielt, hegte sie lebhafte Abneigung. — Spuren geistiger Erkrankung,
speziell auch AfTektanomalien, Stimmungsschwankungen in depressivem
oder exaltativem Sinn im früheren Leben der Pat. werden von den An¬
gehörigen bestimmt in Abrede gestellt. — Mit etwa 65 Jahren stellte
sich bei der Pat. eine zunehmende, starke Schwerhörigkeit ein. Schon
5—6 Jahre vor dem akuten Ausbruch der jetzigen Erkrankung, also im
Alter von etwa 70 Jahren, kam es, allmählich immer häufiger, vor, daß
die Kranke, namentlich bei Nacht, Geräusche, wie Sturmgebraus, Wasser¬
rauschen u. ä. zu hören glaubte, so daß sie aus dem Bett ging und das
nebenan schlafende Dienstmädchen weckte. Die Angehörigen glaubten
diesen Vorgang der Schwerhörigkeit zuschreiben zu sollen, doch sind sie
nachträglich nicht im Zweifel, daß schon damals ein ungewöhnliches
Angstgefühl mitgesprochen hat. — Am 1. September 1910 rief Frau K.
ihren Sohn ans Fenster und fragte ihn, ob er nicht auch schreien höre:
im Nachbarhaus sei ein Betrunkener eingesperrt. Als dieser ihr versicherte,
daß er nichts höre, war ihre Enttäuschung groß. Ihr Gesichtsausdruck
wurde tiefernst und unglücklich: es sei ihr unbegreiflich, sagte sie endlich,
daß man das nicht höre, was sie selbst doch ganz deutlich höre; dann
scheine es sich allerdings um eine Sinnestäuschung zu handeln, und es wäre
fast zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre. „Es ist gut“, fügte
sie hinzu, „daß ich es jetzt weiß; ich will dagegen kämpfen und mir alle
Mühe geben, zu glauben, daß es falsch ist, was ich höre“. — In den nächsten
Wochen erwachen, rasch um sich greifend und das ganze Seelenleben
der Kranken in ihren Bann ziehend, massenhafte Stimmen und Wahn-
gedanken. Unter steigender Angst hört sie fortwährend von Mord, Un¬
glück und Vergiftung sprechen. Es müssen Angehörige oder Hausbewohner
sein, die das alles reden. Sie bangt sich mehr um ihre Familie, als um sich
selbst. Es drückt sie, daß sie immer angelogen wird, da sie doch selbst
immer die Wahrheit gesagt und nie einem Menschen etwas zuleid getan
habe. Ganz unglücklich ist sie, durch die Stimmen traurig und herunter¬
gestimmt, nicht mehr wie sonst ihren Kindern eine heitere Mutter sein
zu können. — Die guten Zeiten, in denen sie sich im Kreis ihrer Familie
vergaß, wurden immer weniger. Auch nachts fand sie keine Ruhe mehr,
die Angst stieg zu immer größerer Höhe. In heller Verzweiflung sprach
sie mehrmals davon, sich in den nahen Fluß zu stürzen, und konnte zuletzt
gerade noch daran verhindert werden, als sie durch einen Sprung aus dem
Fenster ihrem Leben ein Ende machen wollte. — Dem zugezogenen Haus¬
arzt fiel eine „Abnahme der Intelligenz“ auf. Er schloß diese aus dem
ungeheuerlichen Inhalt der Wahnvorstellungen und der völligen Kritik¬
losigkeit der Kranken diesen gegenüber. Er stellte fest, daß sie sich für
nichts mehr interessiere und über die Ereignisse der letzten Zeit nur ganz
schlecht Bescheid geben könne, während das Gedächtnis für frühere
Zeiten gut war. Sie verhielt sich bei fortwährender Angst geordnet und
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex.
407
ieist ruhig, beklagte sich nur über die schlechte Behandlung. Da sie sich
ir geistig vollständig gesund hielt, so war sie über jeden Zwang erbittert,
igte sich aber mit der Zeit in die ärztlichen Verordnungen.
19. Dezember 1910. Aufnahme in die Heilanstalt Winnental.
20. Dezember 1910. Die Kranke war heute nacht nur y 2 Stunde
uhig, in der übrigen Zeit fortwährend in großer ängstlicher Erregung,
»ie weckte wiederholt die Wärterin; einmal glaubte sie, ihr Sohn O. sei
lier im Hause verunglückt, sei in einen Schacht gefallen; die Wärterin
nöchte nach ihm sehen und ihm helfen. Wenn dann die Wärterin auf-
itand, war es der Kranken leid, daß sie die Wärterin gestört habe. Sie
‘rzählte ihr, sie habe Glasscherben, Frösche im After u. ä.; glaubte, sie
sei hierhergekommen, damit man sie operiere, ihr die „Stöpsel“ aus dem
Leib herausschneide usf.
22. Dezember 1910. Die zweite Nacht verlief gut. Dagegen war
Pat. diesmal fast die ganze Nacht unruhig. Sie glaubte sterben zu müssen,
es gehe bald aus; zeitweise lag sie regunglos im Bett und gab keine Ant¬
wort; nachher sagte sie, sie habe sich nicht rühren dürfen. Sie wähnt
immer noch, sie werde operiert oder sei gestern operiert worden. Vor der
Tür steht der Arzt und will sie erstechen.
11. Januar 1910. Sie war die ganze Nacht schlaflos. Sie sieht Wölfe,
Hunde; das Haus fällt ein. Alle ihre Angehörigen sind schon oft gestorben.
Sie muß operiert werden, nimmt deshalb absolut kein Schlafmittel, weil
sie sonst die richtige Zeit verpassen würde.
Brief vom 26. Januar 1911 an die Anstaltsleitung:
„Euer Hoch wohlgeboren!
Darf ich Sie bitten mir zu erlauben, daß Pflegerin Marie mir darf
'»eine Schachtel holen, welche auf der oberen Bühne aufbewahrt ist.
möchte gerne einige Sachen voraus packen für meinen künftigen
Aufenthalt, welchen Sr. Majestät der König für mich bestimmt hat.
Hochachtungsvoll
J. K., geb. R.
Winnental, d. 26. Januar 1911.“
Ebenso, Ende Januar 1911:
„Euer Hoch wohlgeboren!
Bitte, daß Sie mir mein Anstaltsgeld für den Monat Februar und
März, 2000 M. zurückgeben wollen, da ich von Sr. Majestät dem König
^ Erlaubnis erhalten habe, in das Kloster Bebenhausen zu gehen.
Hochachtungsvoll
J. Ch. K., geb. R.“
8. Februar 1911. Pat. leidet viel unter Angst. Sie wird erschössen;
tern und Aale sind im Bett. Herr Medizinalrat will eindringen. Sie
verbarrikadiert ihre Tür. Nachts ist sie sehr unruhig; sträubt sich heftig
Segen Schlafmittel.
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408
Kretschmer.
1. März 1911. Die Kranke schlug heute nacht die Wärterin, drängte
zur Tür; warf ein Zweimarkstück zum Fenster hinaus. — Tagüber nimmt
sie wenig Nahrung infolge von Vergiftungsideen; sie sieht Grünspan in
der Milch usw.
2. März 1911. Nachts: Es ist jemand unter dem Bett; im Keller
ist die Königin und wird von einem wahnsinnigen Mann gewürgt. — Um
12 Uhr wurde die Kranke von der Nachtwache schlafend auf dem Fu߬
boden vorgefunden; wie das gekommen war, ließ sich nicht feststellen
(keine Verletzungen).
12. März 1911. Tagüber fortwährend große ängstliche Unruhe.
Beständige Halluzinationen und Wahnideen schreckhaften Inhalts. Es
wird zum Fenster hereingeschossen mit Kanonen. Die Königin und die
Tochter der Pat. sind unten im Keller eingeschlossen, alles Essen ist ver¬
giftet. — Wegen andauernd minimaler Nahrungsaufnahme wird Pat.
heute mit der Sonde ernährt; sie sträubt sich aufs heftigste.
15. März 1911. Nahrungsaufnahme besser; sonst keine Änderung.
Die Tage sind ganz, oft auch die Nächte zum Teil ruhelos.
23. März 1911. In allen Speisen sind Nattern, die Pat. mit großer
Umständlichkeit mit dem Löffel herausfischt. Nur aus Furcht vor der
Sondenernährung entschließt sie sich, jeweils wieder etwas zu sich zu
nehmen.
18. Mai 1911. Der Ernährungszustand geht fortwährend stark
zurück. Einmal kam es bei Versuch der Sondenernährung zu einem kurzen
Kollaps.
Juni 1911. Die Kranke ist in ständiger Aufregung und Furcht,
von zahllosen Halluzinationen des Gesichts, Gehörs und Geruchs gepeinigt
und erfüllt mit Wahnideen der Verfolgung, Beeinträchtigung, speziell
der Vergiftung. Bezüglich der Angehörigen werden die schlimmsten
Befürchtungen geäußert. — „Heute ist schon 18 mal nach mir geschossen
worden, glücklicherweise ist es meistens daneben gegangen.“ — Die Speisen
sind meist vergiftet, die Hühner bekommen Gift, damit sie giftige Eier
legen; in die Eier wird mit Nadeln, an denen Gift ist, hineingestochen;
in der Milch ist Tinte usw. usw. — Manchmal darf Pat. nichts mehr sprechen,
steht dann lange Zeit mit dem Gesicht nach der Tür, die Hände zum Gebet
erhoben. — Sie liebt falsche Personenbezeichnungen, an denen sie hart¬
näckig festhält; eine Oberwärterin ist z. B. Ihre Majestät die Königin.
Nachts ist sie öfters schlaflos, geht aus dem Bett, scheint auch manchmal
herauszufallen. Die Nahrungsaufnahme ist ganz ungenügend, der Stuhl¬
gang angehalten. Gegen Klystiere und Abführmittel wehrt sich Pat. ver¬
zweifelt.
*31. August 1911. Die lebhaften Sinnestäuschungen und Wahnideen
bestehen fort. Die Kinder der Kranken sind in der Wand eingesperrt,
es geschieht alles mögliche Unglück, nachts wird sie mißhandelt, so daß
ihr morgens noch von den Prügeln der Kopf weh tut. — Der Kräfte-
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex. 409
zustand geht stetig zurück; einmal kam es zu einem eintägigen Schwäche -
anfall mit großem Schlafbedürfnis.
22. Oktober 1911. Sie hört Stimmen in der Wand und spricht nach
Anklopfen mit den darin befindlichen Herren; „es ist ein großer Raum
drin“. Im Essen sieht und schmeckt sie das Gift. Auf der Straße drunten
sieht sie ihre Söhne, den Zaren von Rußland. — Sie wird von einer Hexe
getötet, die Frau nebenan hat den Krebs, man will sie ermorden, ihr den
Schädel einschlagen, die „Frau“ hat es gesagt. — Nach einer Reihe guter
Nächte ist sie jetzt häufig wieder sehr unruhig. Sie ist nachts oft unrein
mit Urin; neulich schob sie den Sofa weg, verrichtete hinter denselben
ihre Notdurft und schob den Sofa wieder zurück. — Dagegen zeigt sie
bei gelegentlichen Besuchen ihrer Kinder große Freude, stellt ihnen den
Arzt vor und benimmt sich dabei sehr hübsch und formgewandt.
5. November 1911. Die Kranke leidet oft schwer unter ihren Wahn¬
vorstellungen. Die Nahrung kann ihr nur mit Gewalt und unter großer
Gegenwehr beigebracht werden. Die Wärterin haßt sie deshalb. — Man
will sie umbringen, verbrennen. Die „Frau nebenan“ ist jetzt immer die
Anstifterin, weshalb sie die Tür ins Nebenzimmer meist mit einem Tisch
verbarrikadiert. — Als sie neulich wieder einmal aus demBett gefallen
und ihr Handrücken infolgedessen stark geschwollen war, sagte sie, darüber
zur Rede gestellt: „Die Frau nebenan hat mir eine Wespe hingesetzt,
die hat mich gestochen.“ — Immer möchte sie nach Hause, macht sich
häufig ein Päckchen zurecht und wartet stundenlang im Gang, bis man
sie hinauslasse. Nachts geht sie viel aus dem Bett und dreht das Licht
an. — Das Gewicht nimmt etwas zu.
20. November 1911. Nachdem Pat. in den letzten Wochen viel
ruhiger und freier war, auch das Essen anstandlos zu sich nahm, ist sie
jetzt ängstlich, hört wieder Stimmen in der Wand, hat Vergiftungsfurcht
und ist im ganzen etwas verworren; so stand sie vergangene Nacht um
2 Uhr auf, um sich zu frisieren.
18. Dezember 1911. Nachmittags plötzlicher Kollaps mit völliger
Bewußtlosigkeit (wenige Minuten). Keine Lähmungserscheinungen.
Nachher großes Schlafbedürfnis.
30. Dezember 1911. Sie sitzt auf dem Sofa und erzählt mit geheimnis¬
voller Miene, sie könne nicht aufstehen, in dem Sofa sei der Sohn vom
lErbmedizinalrat“. Daneben erzählt sie mit ausgezeichnetem Gedächtnis
von früheren Zeiten.
21. Januar 1912. Sie beklagt sich, daß man sie mit Chloroform
ausspritze, auch habe man sie schon am Gesäß angebrannt. Nachts zwinge
man sie mit der Drohung, sie werde sonst umgebracht, zum Beten. Es
sei doch schrecklich, daß man ihr in ihrem Alter zumute, auch nachts
noch zu beten. Man droht ihr mit Gift, Elektrisieren usw.
6. März 1912. Die Kranke halluziniert dauernd, bei ganz geordnetem
Verhalten, spricht viel vom König und der Königin; S. Majestät habe
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Kretschmer.
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gesagt, sie möchte ruhig dableiben, bis die Königin fort sei. — Nachts
werden ihr die Backen angestrichen, es geht aber beim Waschen wieder weg.
Brief vom 10. April:
,,Sr. Hochwohlgeboren Herrn Direktor Ivreuser in Winnental.
Geehrter Herr Direktor!
Um die gütige Erlaubnis möchte ich Sie bitten, daß ich jetzt an
einem der nächsten Tage, zu irgend einer günstigen Tageszeit abrei*?.
darf, um zu meinen Kindern und Enkelkindern zu gehen 1 Indem kh
Ihnen für Ihren freundlichen Schutz und Beistand herzlich danke, sag-
ich Ihnen, für den Fall, daß wir uns nicht mehr persönlich verabschieden
können, ein herzliches Lebewohl!
Ihre dankbare, sehr ergebene
Frau Hofrat Iv.
Winnental, den 10. April 1912.“
1. Mai 1912. Hört häufig den König und die Königin sprechen:
im Zimmer nebenan heißt es, sie solle nachts ermordet werden. Auf der
Butter sind Läuse, in der Milch Alkohol, Vitriol, Gift. — Dabei ist de
Orientierung, .auch zeitlich, stets richtig.
10. Juni 1912. Sie bringt ihre krankhaften Ideen in auffallend kind¬
lichem Tone vor. Sie hörte sagen, ein Mann solle nachts zu ihr ins Zimmer
gebracht werden, und bittet, man solle gut zuschließen. Gestern hat sir
ein Ei bekommen, das von Gift ganz schwarz gewesen ist. In dem Ort, wo
die Eier geholt wurden, gebe jemand, wie sie gehört habe, den Hühnern
eigens Gift, damit sie giftige Eier legen; sie kenne das an den Flecken
der Eierschalen.
1. Juli 1912. Man will sie zum braten haben, man beschuldigt sä.
mit dem König Umgang zu haben. Einmal gab sie an, man habe ihr nacht ;
Käfer in die Nase gesteckt; sie hatte deshalb solange in der Nase gebohrt
bis Blut kam. — Drunten habe eine Frau gesagt, sie solle heute gefrcs^ 1
werden. Von ihrer Bauchfistel (Operationsnarbe) erzählte sie, da sei
Frosch daringesessen, der sei davongesprungen. — Abgesehen von den
Konsequenzen, die sie aus ihren Sinnestäuschungen zieht (stellt Stiihl*-
an die Zimmertüre, spricht gelegentlich erregt zum Fenster hinaus, ver¬
steckt sich unter dem Bett), benimmt sich die Kranke durchaus geordnet,
ist örtlich und zeitlich gut orientiert, weiß, wann Besuch da w r ar, und wann
wieder Besuch kommt. Die Krankheitseinsicht fehlt vollkommen; häufig
bittet sie um ein Zeugnis, daß sie geistig gesund sei. Bei jedem Besuch
hofft sie, daß man sie mitnehme, läßt sich aber vertrösten, wenn man ihr
sagt, es wäre zu Hause ungeschickt u. ä. — Körperlich will sie sich nicht
untersuchen lassen; sie geniert sich dabei wie ein kleines Mädchen.
6. September 1912. Pat. ist sehr erfreut über ihre Versetzung auf
die Abteilung für ruhige Damen, die sie als das „Stift“ bezeichnet. Auch
das Spazierengehen in der Stadt, wozu sie neuerdings (mit Begleitung
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WabnhUdimg und manisch-depressiver Syniptumkomplex, 411
im
rtaulMiis hat, niacht ihr viel Freude. — Dabei bt-sibhen die Simies-
irernsmhl bklw? uml ’tftvHChuUligt bestimmte Pemmen. diese wollten
*• darum bimgen,
23. September HM2. Sir* ist jede zvrsde Narbt sf!rj< unruhig, Wird
>uöh^iidmt, ah t.e Ai»ha“ will sie umbriniferi tisw,
t j 3. Febrmvr Hat, ist nachts oft um'hhig, «cli.nU tbre
Idtöfii! knüpfea sith jetzt meist au ,,Taiüfi AoukF Ktofthe
K-, du- auf derselbe!» Abteilung ist, eine iia/in!k*e.. minose, senil
• uv» Kranke. du-■ viel uiniiergeht und vor sich liinspciehl • Imsen* I.
Hexe. trachtet ihr midi dem [.eben, will sie beerben ■ eine F0*geniv
e-n der Ki uivktm• »,Vreoele- ! genannt, und ein Deka,»» ??, -hüben eg gleich
•dl* auf so- uvMi ihre Vonvaiidtoo abgeseheni — -Ihre DkudiOi her riech, s
»■«'h llemigettv MabcltfrtaF singt • i-'a.t. out BeHd ihre* Stimmen sie
- hreibi öfters BrieTe ai» ihre .Kinder und biilei, »je tielmSiulKdi'u.
Ans ?koem Brief an ihre ToeiUvr,: , ■
..Vvinn.entd!, den »3 Februar HU3.
Lieb.' f t ; Erst gesOrrt habe ich uOch längerer Zeit einmal wieder
dhk Merkur geitrshp »mi an demDatum gkshbmi; daß Üfiih L»i»burtslatg,
i' f 12. Fei.niar, erst am vorigen Mittwth gewesen ist. Mw» hat im Wolm-
; >ü!(ier Ri dein seit,. dem lammr mron alten Kalender hiiigelumgl, »m
'•ni'iv.sR-it.längerer Zeit xu täuschen Ich wünsche Dir, liebe • >.. nonlimaFs
* ■ ‘. j* • V 4 ’ . •>. •
-,;;v ne i.tvy* * * t ,r . u.r^n uipji *r. p«rj itiuju, < i.inv «i 'mmw i r
mnm ieh daheim bei Ern h I Kindern tu K, wäre, kdiiiHr ieh Em ii 1,
*he 1, J . und alte bftsuehNH, Di»? 1. f . it«miryeiijli manchtf«il
und - iljr aUarlei cd^alden. Haft kir ihrb i-eidfen Wtfiti
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AkK’v.V ... 1 ^ w vikACr* * •*
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Partien
•l^S ßriiMy
Go gle
412
Kretschmer,
will, indem sie mir Phosphorpulver in die Augen streut und mich im Ring
herumdreht, damit ich bewußtlos werde und sie lege mich häufig dann noch
auf den kalten Boden und sage dann morgens zu den Mädchen, warum
sie nicht kommen und mich erretten, ich werde ja jede Nacht beinahe
umgebracht von einem Mann und dieser Mann solle dann gar noch d. 1.
Onkel E. sein, welchen ich doch nimmer gesehen habe, seitdem er mich
in dem anderen Haus im vorigen Frühling mit dem 1. B. einmal besucht
hat. Marie R_und Marie, meine Pflegerin und das Vrenele, Pauline
genannt, und der Dekan H. und Frl. P . 1 ) seien alles eine Verbrecherbande,
welche heute hingerichtet werden soll, weil es nach und nach bekannt
geworden ist, <laß sie bereits zusammen mehr als 1000 Menschen um das
Leben gebracht haben. Euch, liebe Kinder, habe es indessen nur geschützt,
daß Ihr meine Kinder seid und den 1. Onkel E. soll es geschützt haben,
daß er mein Schwager ist, sonst wären wir gewiß nicht mehr am Leben.
Ich will Euch die Angelegenheit noch deutlicher mitteilen, womit ich
erst gestern angenehm überrascht und erfreut worden bin, wodurch ich
aber auch erfahren habe, daß ich mancher Erbschaft willen hier so unter¬
drückt und mit dem Tod beständig bedroht worden bin. Herr v. H. war
ein Universitätsfreund von dem sei. Vater von Euch und hatte eine Tochter
von Professor G. in Tübingen zur Frau, einer Schwester der ersten Frau
von Fritz D., des verstorbenen Oberkonsistorialrats, der als zweite Frau
die Catherine Sp. von B. hatte und ein Vetter von mir war. Eine weitere
Schwägerin von Herrn v. H. war die Frau von Ho., geb. Antonie G. Die
Frau von H. hatte keine Kinder; sie ist schon längst gestorben. Herr v. H.
habe dann seine Haushaltung aufgegeben, weil er als alleinstehender Herr
nicht im Alter so verlassen sein wollte und habe mich in seinem Testament
beschenkt, weil ich in dem anderen Hause, wo ich durch bösen Willen
mehrerer hiesiger Personen wegen der Erbschaft von Herrn v. R. und
dessen Frau durch Gewalt hinübergenommen worden bin, über seinem,
Herr v. H. Zimmer ein Zimmer zum wohnen hatte. Mein Singen soll ihm
besonders gefallen haben und er mich deshalb auch, aber auch Eures
1. Vaters wegen, so reich bedacht haben. Die Zimmereinrichtung soll es
aber nicht allein sein, es sollen sich noch viele Sachen von dieser meiner
Erbschaft noch in einer Kammer auf der oberen Bühne hier befinden.
Neben der vollständigen Zimmereinrichtung soll auch noch ein ganz
neues, noch ungebrauchtes Bett sein, welches mir auch gehört. 1000 Gulden,
nicht Mark, habe ich ebenfalls von Herrn v. H. bekommen, welche die
Tochter des Herrn Fabrikant M. an sich genommen habe unter dem lügen¬
haften Vorgeben, sie sei ein früheres Kind von mir und Herrn v. H., während
ich mit Wissen Hr. v. H. nie gesehen und gekannt habe. Ich war bei Herrn
v. H.s Tod schon einige Wochen im Schloß*) und wurde, dann plötzlich
*) Eine Oberwärterin.
*) Schloß Winnental.
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomhomplex. 413
in das frühere Zimmer hineingelegt, das ich im Anfang meines hiesigen
Aufenthalts bewohnt habe, und man sagte mir soeben, man habe mir dann
das Bett samt dem Leintuch mit den Totenflecken gegeben, in welchen
Hr. v. H. gestorben sei, am Vormittag dieses Tages. Gott sei Lob und
Dank, hat es mir nichts getan....“
22. Mai 1913. Sie wird nachts chloroformiert, ihre Wangen werden
mit Gift geätzt, die Nase wird ihr hinaufgestülpt, man will ihr die Nase
abbeißen, sie ermorden, verbreitet Verläumdungen über sie, sie sei schwanger
usw. Heute Nacht hat man ihr in das eine Nasenloch vier Blutläuse und
in das andere zwei Blattläuse laufen lassen. Die Wärterinnen sind zum
Teil ausgebrochene Zuchthäuslerinnen, Jüdinnen, die ihr nach dem Leben
trachten, um sich ihr Geld anzueignen. — Trotz dieser zahllosen vermeint¬
lichen Gefahren verhält sich Pat. meist vollständig ruhig, nur nachts
ist sie gelegentlich schlaflos und umgetrieben, schreit wohl einmal einen
ihrer krankhaften Einfälle laut zum Fenster hinaus.
Postkarte vom 17. Juni 1913 an ihre Kinder:
„Herrn und Frau Bankdirektor F. K. aus C., derzeit in Bad St.
in Glarus, Vorarlberg.
Eure Nachricht aus St. habe ich richtig erhalten und mich über
Eure glückliche Ankunft daselbst gefreut. Ich hoffe, daß Euch der Aufent¬
halt in St. gut bekommt. Die Besuche nacheinander hier bei mir von
dem lieben O., von J., von Euren 1. Söhnen und zuletzt am vorigen Donners¬
tag von H. G. haben mir sehr wohl getan und meinen etwas schweren Mut
erfrischt und aufgerichtet. Und Gottes Liebe und Gnade möge unsere
Zukunft freundlich gestalten, daß wir unsere weitere Lebenszeit bald
vereint, recht bald in C. zubringen können. Herzliche Grüße mit dem
Wunsche, meine Karte möchte Euch wohl antreffen, sendet Euch Eure
treue. Euch liebende Mutter“.
Anfang Juli 1913 ist die Kranke während eines leichten Gallenstein-
anfalls, ganz gegen ihre Gewohnheit, einen Tag lang gereizt und unfreund¬
lich, rechthaberisch gegen den Arzt, ist absolut nicht ins Bett zu bringen.
Sie zählt die vielen Ärzte auf, die sich in ihrer Verwandtschaft befänden,
und zieht daraus den Schluß, daß sie das besser verstehen müßte. Es
ist ihr gesagt worden, vor 6 Uhr dürfe sie nicht zu Bett, sonst werde sie
umgebracht. Am nächsten Tag entschuldigt sie sich angelegentlich für
ihr Benehmen.
Aus einem Brief vom 2. Juli:
„Der 60 jährige sogenannte Aktuar Kreuser“ ist der Führer der
ganzen, im Schloß vorhandenen Mörder- und Nihilistenbande.
Der Anstaltsdirektor tritt meist in dieser Rolle in ihren Briefen
auf. Sobald er dagegen bei der Visite vor ihr steht, oder sie sich offiziell
schriftlich an ihn zu wenden hat, ist sie über seine Persönlichkeit voll¬
kommen klar orientiert, und sie begegnet ihm als Arzt mit der ungezwungen-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 3. 29
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414
Kretschmer.
i
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sten Freundlichkeit. Ein ähnliches Doppelleben führen auch andere
mit ihr verkehrende Personen in ihrem Bewußtsein.
Aus einem Brief an ihre Tochter vom 8. Juli 1913:
„Die Irren tun niemand was zu leid hier. Es sind 30 Nihilisten hier,
sie sollen im vergangenen Jahr 600 Personen getötet haben. Für all-
1. Besuche von Euch noch innigen Dank, auch Herrn Professor P. Mache:
keine weiteren Besuche bei mir, groß wäre ja meine Verantwortuni:
nachdem ich dies heute gehört habe. Der Besuch des 1. Sohnes O. mit
Herrn Professor Dr. P. rettete mich gestern abend vor Mißhandlung
Ich sollte um diese Zeit geschlachtet werden, d. h. bei ihnen, ich sollt-
bis aufs Hemd ausgezogen werden und sie wollten mich ins Krankenhaus
schleppen und dort in ein Bett tun und einschließen.... Sie wollten
durchaus meine Sonntagskleider verkaufen, um sich Getränke dafür
anzuschaffen. Man will uns Pensionäre auf die Bitten des Herrn Dr. Kreuser-
wohl beschützen, aber solch entsetzliche Narren, die gar kein Gewissen
haben, sind nicht zu berechnen und wir leben in steter Gefahr.... Wir
gern hätte ich Euch 1. Kindern eine Freude gemacht mit einem kleiner.
Hochzeitsstrauß und auch Onkel E. und den Enkelkindern. Auf alles
muß ich hier verzichten, was den Wunsch ihrer Kinder zu erfreuen eine:
Mutter so wichtig ist“ usw.
Aus einem Brief an ihren Sohn vom 12. Juli 1913:
,,... Es freut mich sehr, daß Dir der Aufenthalt in S. so gut getan
hat und ebenfalls für Deine 1. Frau, daß sie sogar noch einmal dahin zurück
kehren will und die 1. G. diesmal die schöne Schweiz Wiedersehen darf.
Du warst gleich bei Deiner Ankunft durch die Feier des Zeppelinfeste:
auf dem Rathaus in St. in Anspruch genommen. Durch den 1. O. hal-
ich erfahren, daß die Feier sehr gut ausfiel und daß St. eine unvergeßlich:
Feier mehr hat- Bei der Hochzeit - gehofft ... teilnehmen iu
dürfen. Tante Anna habe ich vor meinem Hiersein nicht näher gekannt_
schamlosester Weise gelogen .... chloroformiert _ das Zimmer¬
mädchen .... mich mit dem Tod bedroht. Tante Anna und auch Fmk
Notar B. (eine Patientin), welch letztere sich hier Frl. von DieffenJw'''' 1
nannte und noch nennt .... mich bewußtlos gemacht .... mißhafl'feh
Auch Frl. P.*) und Marie ö.manchmal dabei gewesen. Sie tun *
weil sie böse seien, daß Euer entschlafener Vater und Onkel E. vor \an?er
Zeit angebotene Liebesanträge von der Dieffenbach und der Tante Anna
nicht angenommen haben und auch Marie ö. und die Dieffenbachin von
ihnen und Euch, meinen Söhnen, abgewiesen worden seien. Die Frl. Dieflen-
bach und die Marie ö. hätten ein Verhältnis mit Herrn Dekan H. von H
und mit Herrn F., dem Mörder des Frl. H.; der Aktuar hier, welcher
Seeräuber und Bandit gewesen sei und die Frl. P. sei auch dabei un>l
noch einige Herrn. Wenn das Monatsgeld, 200 M., für mich kommt
x ) Eine Obemärterin.
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Wtshnbildnng and ,S t V»inij[jtöi«kumpl&jc. 4Xö
ev jedesmal durch die Marie Ö, aut der Fösi ähgehoU und dann
•.aJiien sie. nur 50 M. an tiiy Yt^waUung und das- übrige öe.{d verteilen
i- j imteiviu ander. Sie hetzen -he Leute hu SeMotL gegen imeh euL -iud
such die Einwohner im Ort, Um Obtt# i-WiUetvf sei vorsichtig m Gesell -
Big nshern .sieh inFfäuenkleidorn t>ftmäJ$i u?id freien gefilhfli-'he
Mdrder unter ihnen und haben Könige und Fürsten auf ||^ylsat<h.u .:.
Wenn m heirnreisei, will, »chlager« sie mich fast tot. . . je)> schreibe
efr nur auf «Ile Gefahr hin, weil ich es gehört habe, daß ich in den nächsten
Ti*g»n hi# sterben muö durch Gift odev TCotschiag, \#nri ich fiicftfe vorher
• ungfehe Und meine Kinder mich aidioie.ij. Dich und Peine Kinder
oixti Enkel größt pnöb itt dieser gr&ßWn Kot Deint Dich U#iende,
dankbare Matter •'
Die Schrift i&t itt «flieh; BHcfei <a»tspreiihoiid dem iiohen Alfer der
!l. ein wenig unsicher in der Unieuführuitg. aber durchweg :whr klar,
gietvhmnibg und ■sauber.
Juli VjVA Bei dt-r Abendvisite; Frau KL; Outen Alwin«; Herr Df.,
vtktifehtjbiig'i'fi ^ic» «laß # m- wenig b^uehshiäöi?^hei mir aus^feht;. Man
Hut heute Ali(lug dhe Bütte« gesonnt. suhl deshalb noch nidilganz ; •
ui Ordnung. Arzt-. Sie sind d.Geii noch glueklich beieingehricbt.. Fra»
K- Ja «»an ihreidete ,: ,js wurde wu Oewittcr kntniiiefi, Arzt; .Haben
Sie. gestern B#wkh gehabt ? Frau. K.: .Ja, Herr ^igrfKswr Dp- !*• war
- •mit meinem Neffen er-hät mir einen Strauß von kosen und Rotdorn
, ttistgebraidil. — Heute rwciiruHLig hatte ich Besuch von meiner ältesten
Tcec-tib#., A r* t: Sie haben sieh. Y^iftl sehr ,darüber gefreMi ? ';Fra ii K,:
jjj$ ifc#* Besuch.bat,iiür;biiÖ«#rfdabilii<jli.«ihJhlgetdär;Sie wohnt in C. und
fährt minebniHl nnclnriittags. Gi nur .mich Winnnnta.1 herüber. Arzt:
Frau 'fc-l^äi^t.i-ener^iidhO'
kIi bin erd p§jjj Jahre liier in der Anstalt.. Ar?.! Sie kennen gewiß das
Krankenhaus in ♦J.i'i Frau Ist Ihnen HerrOr‘. N, dort bekannt'?
i.rb war einniai längere Zeit bei ihn» in Behandlung int Jahr 1892.— Ist er
nicht ein sehr Gichtiger Arzt ? Ar z t: läetyiß, Fraü K.r Pud ilittru wären-, x . -. ■
•k .noch zwei Schwestern, die nur,h verpflegtes». Schwester A. and Schwester
B Sind -ne ivold l !-.■•: h dnrl ? Arzt : Schwester A hat jetzt die Apotheke
cü fiedienen. Frau K.: Ach das front Hwas vön ihr zu hören,
und Schwester 11.' Arzt; 'Hb? ist »««rf»"-in*.rb dort Frau K. (lächelnd):
Di^ ScbMx'ster ö, \var4 a brub? hötdi .&tWtts' iuigescbkfet? sie stammte aus
.st, und .war <-r<t, kurze Zeit da. Sw mußt« .sich von Schwester A. vieles
• I/-M- lafrs.-i, dm war schon Olt er., - .Sn«*, sin wird ja inzwisz heb auch
reih« tüchtig geworden sein. Arzt: Herrn Dr. \L können Sie sich wohl
auch noch denken? Frau K.. Jawohl, ich kenne die Familie: vor allem
kannte ich seinen svcstorböiien älteren BfUder. K: ,M; und dessen. Frau,
die eine 'geborene 11. war. ... Arzt • Outen Abend. Frau K. Frau K :
Guten .Abend, Herr Dr., 'uh danke Urnen für ihrön iVenntUicben Besurb.
Ende Juli iyt.fi ICnrperlitAbeT Betund (Alterv 59 J.i:
416
Kretschmer,
Kleine, gutgekleidete Matrone von zierlichem Körperbau, leicht gebückter
Haltung, befriedigendem Kräfte- und Ernährungszustand. Die Haut
ist welk, bei frischer Gesichtsfarbe.
Das r. Ohr ist (seit Jahren) vollkommen taub, auf dem 1. Ohr hört
die Pat., wenn man ihr mit lauter Stimme direkt ins Ohr spricht. Im
übrigen sind die Hirnnerven o. B. Motilität und Reflexe, soweit prüfbar,
o. B. Gang etwas trippelnd, rasch, in kleinen Schritten, nach Art alter
Leute, sonst o. B. Sprache, Schrift ohne Störung. Etwas Tremor der Hände.
Mäßige Rigidität der peripheren Arterien.
Eine genauere körperliche Untersuchung ist bei der erwähnten
Abneigung der Pat. gegen eine solche nicht durchführbar.
Psychischer Befund: Im gewöhnlichen Gespräch und in
kleineren schriftlichen Mitteilungen vermag sich Pat. meist kurz, klar und
richtig auszudrücken. Wenn allerdings die Rede (meist erst nach längerer
Dauer der Unterhaltung) auf ihre wahnhaften Erlebnisse kommt, so
legt sie eine zunehmende Weitschweifigkeit und Redseligkeit an den Tag;
es strömen ihr immer neue Gedanken zu, und es hält dann öfters schwer,
das Gespräch abzubrechen. Dies ist in den Briefen in ganz analoger Weise
zu beobachten. Das Gedächtnis für Altes und Jüngstvergangenes ist bei
dem hohen Alter der Pat. auffallend frisch und umfassend. Krankheits¬
einsicht fehlt vollkommen. Die Stimmung bewegt sich an vielen Tagen
kaum außerhalb der Gesundheitsbreite. Die Pat. plaudert dann sorglos
und mit Vergnügen über alle möglichen indifferenten Dinge; auch die
grotesken Mißhandlungen, die sie fortwährend erlebt, werden dann mehr
als interessanter Gesprächsstoff verwertet. Immerhin droht auch zu
solchen Zeiten die Stimmung nach längerer ruhiger Unterhaltung leicht
in einen ängstlich-weinerlichen Ton umzuschlagen. An anderen Tagen
ist die Kranke durchgehend ängstlich erregt, geht unruhig im Zimmer
hin und her und klagt mit weinerlicher Stimme unter vielen Worten über
ihre wahnhaften Erlebnisse. Auch hierbei kann sie sich im Gespräch oft
auf Augenblicke vollständig vergessen. Der Zustand steigert sich be¬
sonders nachts, ist aber in letzter Zeit immer nur von mäßigem Grad und
kurzer Dauer. Sehr selten tritt eine leichte, vorübergehende Gereiztheit
zutage. — Das Handeln der Kranken ist von den Wahnvorstellungen
im ganzen wenig beeinflußt. In der Verstimmung wird gelegentlich eine
„vergiftete“ Mahlzeit zurückgewiesen, ein andermal geht sie auf Befehl
der Stimmen nicht ins Bett oder steht eine Zeitlang unbeweglich in der
Zimmerecke. Im übrigen ist das Benehmen der Kranken durchaus ge¬
ordnet und natürlich. Sie ist von freundlichem, zugänglichem Wesen,
freut sich über jeden, auch den ärztlichen Besuch und bedankt sich jedes¬
mal ausdrücklich, wenn man ihr längere Zeit widmet. Sie zeigt dabei
durchweg die liebenswürdige Höflichkeit und die ausgeprägten Umgangs¬
formen einer alten Dame guten Standes. Sie orientiert sich immer wieder
über die Tagesereignisse und verfolgt mit liebevollem Interesse jedes
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex.
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kleine Geschehnis in ihrer ausgebreiteten Familie. Hierin, wie im täg¬
lichen Verkehr erweist sich die ausgesprochen altruistische Natur ihrer
Persönlichkeit. Beim Gespräch ist sie in Ausdruck und Geberde eher
lebhaft, erzählt recht unterhaltend; wenn sie von ihren wahnhaften Erleb¬
nissen spricht, schlägt sie öfters einen geheimnisvollen, wichtigen, stets
einen auffallend kindlich-naiven Ton an. — Sie beschäftigt sich regel¬
mäßig mit Handarbeiten und hält ihre Garderobe selbst in Ordnung.
2. Emilie Tr., geboren 1843, ledig, Telegraphistin. Der Vater
war Ratsschreiber. Geistige Krankheiten sollen bei den Eltern nicht
vorgekommen sein. Eine Schwester der Pat. ist mit 50 Jahren gestorben,
ein Bruder war Schuldirektor, hat ein höheres Lebensalter erreicht. Beide
angeblich immer normal. Die Pat. selbst war als Kind stets gesund, lernte
sehr gut in der Schule, war einige Jahre als Stütze in einem Haushalt
beschäftigt, später als Ladnerin tätig. 1870 machte sie das Examen für
den Telegraphistenberuf, den sie seither ausübte. In all diesen Stellungen
soll sie stets tüchtig und brauchbar gewesen sein. Sie wird geschildert
als eine Person von heiterem, lebhaftem Temperament, sehr geselliger
Veranlagung und gutem Charakter. Sie sei immer fleißig, dabei etwas
oberflächlich gewesen und habe sehr viel von sich selbst gehalten. Körper¬
lich hat sie keine nennenswerten Krankheiten durchgemacht. Anfang
der 80er Jahre hatte sie im Anschluß an einen heftigen Schreck eine kurz¬
dauernde Depression, die sie ohne ärztliche Behandlung überstand. 1903
(im 60. Lebensjahr) trat bei der Pat. im Zusammenhang mit einem
Bronchialkatarrh eine Erkrankung an „Verfolgungswahn“ auf, die der
jetzt noch vorhandenen ähnlich gewesen zu sein scheint. Aus dem Giemen
und Rasseln auf der Brust hörte sie damals Stimmen, namentlich: „Du
mußt sterben“. Nach 6—7 Wochen verschwanden die Stimmen und Pat.
wurde wieder voll arbeitsfähig. — Die jetzige Erkrankung begann im August
1905, also im Alter von 62 Jahren. Die Pat. setzte sich eines Tages mitten
in den Arbeitssaal, zerknitterte eine eben angekommene Depesche, lachte
fortwährend und redete mit Personen, deren Stimmen sie zu hören glaubte.
In ihre Wohnung verbracht, wähnte sie sich beständig verfolgt, glaubte,
man wolle sie ermorden. „Meine Mutter war eben da als schwarze Frau
und sagte, ich müsse in 8 Tagen sterben.“ Dann war wieder die Polizei
in ihrem Zimmer, um die „Kerle“ herauszuholen. Unter der Bettlade,
in jedem Schubfach und Kasten wähnte sie einen Eindringling. Ihr recht¬
schaffenes Dienstmädchen beschuldigte sie aller möglichen bösen Taten.
Aus Furcht vor den Verfolgern flüchtete sie schließlich zu ihrem Onkel,
dieser brachte sie am 2. Oktober 1905 ins Bürgerhospital Stuttgart. Hier
zeigte sie sich völlig orientiert; Kenntnisstand, Gedächtnis und Merk¬
fähigkeit waren nicht beeinträchtigt. Sie wahrte nach außen stets ihre
gute Haltung, benahm sich bei Unterhaltung freundlich und korrekt
und gab über ihre persönlichen Verhältnisse exakt und fließend Auskunft;
s *e pflegte dabei eine gewisse weitschweifige Geschwätzigkeit an den Tag
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Kretschmer,
zu legen. Ängstliche Erregungen mit Vergiftungsfurcht und motorischer
Unruhe zeigten sich besonders nachts. Tagüber traf man sie meist heiteren
Gesichts in leicht gehobener, der Situation wenig angemessener Stimmung
bei ruhigem Verhalten. Solche Tage wechselten mit anderen, an welchen
sie sich beständig mit Personen unterhielt, deren Stimmen sie zu hören
glaubte. Den Kopf an die Wand gedrückt, die durch Drahtleitung mit
der Bahn verbunden sei, war sie dann wohl in regem Telephongespräch
anzutreffen: „Geht Ihr gleich fort? .... Also adieu! Glückliche Reise!“
usf. Im übrigen handelte es sich bei den Dingen, die sie krankhafterweise
unablässig hörte, sah und roch, meist um ihre Verfolgung. „Herr Dr. Wilder -
muth ist heute schon 6 mal dagewesen und hat mich in der Lupe beobachtet,
die ganze Zeit bin ich hier geblendet und elektrisiert worden. In den Betten
sind lauter Geister, die ich erlösen soll und zum Teil auch schon erlöst
habe.“ — Der Arzt wurde ins Zimmer hergerufen, ob er nicht das
„Schnauben“ des „Amerikaners“ höre: „Emilie, ich habe Dich verlogen
und verlästert und verliederlicht, und jetzt muß ich sterben!“ Er hat
ihr Rache geschworen und will sie umbringen; er gehört zu den „Schwarzen“,
die können durchs Fenster gehen. — Wahnvorstellungen und Sinnes¬
täuschungen tauchen in buntem Wechsel auf und verschwinden. Bei
ruhigem Vorhalt kann Pat. oft selbst nicht recht an alles glauben. — Bei
äußeren Anlässen konnte die Kranke in lebhaften Zorn geraten: man
glaube wohl, sie sei geisteskrank, und wolle sie hier unter Kuratel stellen usw.
Ein gewisses Krankheitsgefühl war vorhanden, völlige Krankheitseinsicht
fehlte.
1. November 1905. Aufnahme in die Heilanstalt Winnental.
Die Kranke gibt bereitwillig gute Auskunft über ihre Personalien
und ihre früheren Lebensschicksale. Sie erzählt u. a.: Anfang der 80er
Jahre habe sie einen heftigen Schreck gehabt, davon sei ihr alles verleidet
gewesen, sie sei so müd gewesen. — Ihren Beruf als Telegraphengehilfin
habe sie 35 Jahre lang, bis August d. J., versehen; dann sei es nimmer
gegangen; die Beamten in Stuttgart seien alle nervös. Im Oktober 1905
sei sie ins Krankenhaus gekommen. Sie habe das Gefühl gehabt, als ob
sie betäubt werde. Strychnin hat man ihr auf den Kopf gestreut, das hat
gebrannt. Ihr linkes Ohr wurde mit Geisterstimmen verbunden, so daß
sie jetzt immerfort Stimmen hört. Ihre Augen sind verblendet; viele
Leute, die sie besuchen, sieht sie nicht. Schon in Stuttgart waren Stimmen
in der Nähe, die keine Gestalt hatten; es war ein Amerikaner vom schwarzen
Orden. Er bewegt sich durchs Zimmer; alles was vorkommt, wird ge¬
flüstert; es flüstern auch die Freunde des Amerikaners. Früher hatte
Pat. keine Ahnung, daß es schwarze Orden gibt. — Dann roch es auch
einmal nach Schwefel, und ihre Hände waren einmal ganz weiß, dann
wieder braun. — Im Saal drüben kommen, sobald das Licht gelöscht
wird, Stimmen vom Kopfkissen und vom Fußende des Betts. Sie fliegen
zu den Fenstern herein. Sanitätsrat Stauß ist hier, der macht diese Sachen.
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Wahatrildang und manisch-depressiver Sywt|>tnoifcpirtfil.«:. 41Ö
0 streut, ihr Strychnin äu! <hm hopf uiui ..Sufiliiy- , das ist. braun. Sie
irci ^ie0C;t^ntsieri. das sind Türen,
,ie man von außer» l«sttclusa'..kana;..
ihren angebracht. Es di ein indveiinlicbes Tmbcn. überall;' Geister; .„ein
.••vschnurr und Gesurr und i>suüi:,- es- ijngl hinein -.und hinaus ‘.Ist SatutiUs-
n t Dr. Stäiißd • -. All das sind natürliche ^icluju, mkIiIs h. moklndtev
Krank ist 2k*t,hbrfbaupt .nicht., »tunt soll sie nur gehen lassen.
Din -Kränke vor hi eit sich zunächst acch wod-viu» md.fi geordnet.
Ma war heitmt- Siimumdg, frcHiullidi und fm roil os.'ftraä.bi$vi;^'..sek•>»&• ^;-:vv.
Gräfin V«tüA¥ m ruitr/id'üi'tf». später werde 1 de Fürstin, und ds snEbe slerbe
->*-:• dann. Oft iräf iuJui sie inirctumd und sjiiifeüM -tfjt, lohn wieder int ' . •'- >! .
- sprach mH hMmi iftt-ri-*1iAriei>, cl»<? si* häufig sah. ' Jr*»foch schcm Ende
Uezember. $905 mä^ie-ncb an der Fm einesteigende l (»v«?h« bemerkbar:
.das Esser* war dir n'urHriitr fdE gVmt^ sin hööb nicht im fiel!, da dWcs
'.■rtwahreii.t v.u'viar.delt werde. Es folgte nun. unter rascher Abnahme
des KorpergewichiÄ•'«»> Petiutie. heftiger Erregungszustände, die im
'.' Vztenibct- Stittt» HiVe>r tldhcpsuiht .OTcklitc und mit kurzen Paus'PQ bis
$0?& «h».o- .Wajari>st.jaogafMi) itfrur.kzbi'bbäti.:
Sie wurde dorch. .^»wsihW. Mf(3bCftj^f)?ütirnge^ flutch ^ööhs 1 -
'.„».iscfauigcn jeder Art- geqUsdt, ermordet/ gebjtnidet,' «est.yhei!. vergiftet.,
>xueU gvmißbvauelH Manwollie sic m emoa Mann verwandelt». ihr
'men Kiübküpi 'machen. sie MyWiokclkitid n*»t dein Kaiser >» Gm. u Wickel
{lacken. : i'- Wimuig wies sic Ms vergiftet, zurück. Bald sprang sic in
tieftigsdei Angst aus dem Bett, sehr je durchdringend: Männer mit
.-•< tswecterii wollten ihr 'von unten dm» LGb anrsefdtUen, bald lief -sie im
Z.otvi. .scbiDvpfcini n.ml iinchcrid im Saal umher, *,y< fl sm .alles mögliche
, H» ihrem Bhtt wi&jk&ki giä!ibt«E. '.Bk Aya* äufialleiid. dct.6 sin btd alledem
ihrer IThie- gegen jemanden
aggressiv wurde- Cborhavpt begannen nun gegen Ende des Jahres Jtd‘7
n- Errcgi.uigen seit euer und weniger heftig ün werden. !>;i,- Ivirpcrgey.n Id.,
ua* von ?:!..> kg iNove-mber 1905) fortwährend bis 47 5 kg (f»ezember
fst«i6, gefallen war-.- hob. sich von der zweiten Hälfte des Jahres 1007 an
Fügsam, abur konstant. Schon im Dezember 1907 kam TiS kniii vor.
die fiTrantey-'iAtfföbfl' AOn ihren äbenteuerlit hen Erlebhj#ttyo ümi Aliß-
iiaudliingen -Tv-aiiÜi-. D.a> folgende Frühjahr verbrachte $*••; meist In
leichter heifercr Erregung und schmückte sielt gern mit. Blumen. die sie
..von IpjtTiHn»-* 5 . boknmiiVü hatte ln den langen JaliM* >»-iihöi- hat die
KVaniiheU fOcbr und mehr eium ruhigen Verlauf grmumnen, dm Ferioden
dtektiver und {»s'ychstuiutMri»c.ber Erregung sind aljixiahlkh scHe.ner
geworden, in dem psychischen Gesamtbild hat Sabh kaumetwas. verändert,
lag für Tag lebte sie in all den wunderlichen, urotosken \\ älniuleeii, Ein*
tuitfi! und Äinin-slausi'ijungen, die ihr fast 'ununterbrochen zuMrnmien:
Mao hat ihr den Bau' h krumm. t Jie Nabclschnnr fals*-h saugeseVxt,- -matt.
macht ihr ani Kopf berutn. Ufigeschem- Gäste wtdlc.n ihr das. O.esh'ht *0’,
Co gle
420
Kretschmer,
richten; am Bein hat man ihr Nerven oder Schnüre hingemacht, nachts
ihr eine Diarrhöe zusammengebraut; man hat ihr die Brustknochen
herausgemacht, sie mit einem elektrischen Spiegel geblendet, ihr das
Kreuzbein herausgesägt. Bald erzählte sie lächelnd, man habe ihr die
Zunge ausgerissen, bald entrüstete sie sich über undankbare Bekannte,
deren Stimmen sie hörte: „Ich habe ihnen schöne Kostüme gebracht,
und da gehen sie zu dritt und viert und sagen, ich hätte nichts zum an-
ziehen“. Oft hörte, sah oder fühlte sie ihre Widersacher und schimpfte
in erregtem Ton, wenn etwa Herr Müller, ein korpulenter Herr, zu ihr
gesagt hatte, sie wäre eine katholische Schnalle 1 ). Auf dem Kopfe ein
Taschentuch, als Häubchen zusammengefaltet, lief sie dann unruhig im
Saal auf und ab und führte lange, wortreiche, mit Reimen untermischte
Gespräche mit ihren vermeintlich anwesenden Feinden. Hinter dem
Pflegepersonal, wie hinter den Patientinnen witterte sie Männer, verkleidete
Bauersknechte; die Oberwärterin nannte sie „Frau Übel“, jeder der
behandelnden Ärzte hatte seinem besonderen Titel „Herr Kaiser“, „Hoheit
Prinz August“, „Herr Geheimer Hofrat“ usw. In den früheren Jahren
ihrer Erkrankung sind sichere Personenverkennungen beobachtet, späterhin
ließ sich durch eindringliches Befragen stets feststellen, daß sie über den
wirklichen Charakter der umgebenden Personen genau orientiert war.
Lange Zeit beschäftigte sie sich mit einer alten Patientin, die sie ihren
„Großvater“ nannte, und um die sie in jeder Weise rührend besorgt war;
sobald diese aus dem Bett ging, folgte sie ihr zu ihrem Schutz auf Schritt
und Tritt; oft behielt sie auch im Bett die Pantoffeln am Fuß, um ihr
sogleich beispringen zu können. Sie wurde gleich zornig und schimpfte
laut, wenn sie den „Großvater“ wahnhafterweise mißhandelt glaubte.
So lebte sie jahrelang im Wachsaal und spazierte dort tagüber meist
im Hemd hin und her; um keinen Preis ließ sie sich bewegen, Kleider
anzuziehen und herauszugehen; alles, was sich außerhalb der vier Wände
des Saals befand, schien ihr nicht geheuer; sie fürchtete, daß draußen
noch mehr merkwürdige und unangenehme Dinge ihrer warteten. Sobald
es dagegen vor 1—2 Jahren einmal gelungen war, sie zu überreden, ging
sie von da ab viel und gern in Tagsaal und Garten; dazwischen war sie
allerdings einmal wochenlang nicht außer Bett zu bringen. In dieser
Weise mißtraute die Kranke jeder kleinen Änderung in ihren täglichen
Gewohnheiten und protestierte zu Anfang jedesmal heftig, um sich sofort
nach Durchführung gern und dauernd zu fügen. Sie hörte auch in den
letzten Jahren immerfort Stimmen, die oft von gräulicher Mißhandlung
ihrer Person sprachen, und erzählte davon in harmloser Weise. Sie fühlte
sich keineswegs belästigt, wenn etwa in ihrem Unterleib fortwährend
ein Ring herumging; dagegen verwahrte sie sich dagegen, daß sie neuer¬
dings von der „Nordseite“ „maschiniert“, d. h. mit Maschinen bearbeitet
x ) Dialektausdruck für Dirne.
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werde, „der Mensch braucht doch ein Gesäß, das geht doch so unmöglich“.
Sie beobachtete mit Interesse einen Kopf, der immer kleiner wurde, wenn
sie auf ihn zuging, und zuletzt ganz verschwand, offenbar, weil er von ihr
aufgezehrt sei. Auch nachts sprach sie manchmal, machte Lacht und
klopfte an die Fenster; es war allerhand Merkwürdiges dahinter: bald sah
sie lauter kleine Männer in den Gittern sitzen, bald waren es alte Bekannte,
die sie „minnen“ wollten, worüber sie dann in Erregung geriet. Im übrigen
waren Erregungszustände in letzter Zeit sehr selten. Den Sommer über
traf man sie meist auf einer Bank im Garten sitzend, in friedlichem Gespräch
mit einer ihr befreundeten alten Patientin, die sie als „Frau Fürstin“
anredete. Sie erhob sich stets, wenn sie den Arzt von weitem den Weg
daherkommen sah, machte ihm eine tiefe Verbeugung, erkundigte sich
wohl einmal verbindlich nach seinem Befinden, plauderte mit ihm gern
über dies und das und erzählte zum Schluß lächelnd ihre neuesten merk¬
würdigen Erlebnisse. — Als Beispiel sei hier eines der gewöhnlichen Tages¬
gespräche, zu einem Teil im Wortlaut, angefügt:
Juli 1913. Arzt: „Waren Sie gestern abend auch dabei?“
Frl. Tr.: „Bei dem Gartenfest? Nein, ich bin zu Bett gegangen,
es war mir zu kühl. . Der Boden ist dann so feucht, wenn es mittags ge¬
regnet hat.“
Arzt: „Wann sind denn die anderen Patienten zurückgekommen?“
Frl. Tr.: „O, ziemlich früh, etwa um 9 Uhr“ (richtig: 10 Uhr).
„Waren Sie im Urlaub inzwischen?“
Arzt: Nein, ich war vorübergehend auf einer anderen Abteilung.
Herr Dr. H. ist augenblicklich in Ferien.“
Frl. Tr.: „Wo ist er denn?“ usw.
Frl. Tr.: Sie könnten auch wohl Urlaub brauchen, Sie sehen etwas
blaß.“
Arzt: „Ich wollte Sie bitten, mir gelegentlich über Ihr früheres
Leben etwas zu schreiben.“
Frl. Tr.: „Ich schreibe Ihnen dann einmal einen Brief von Stuttgart
aus, wenn ich hier aus der Anstalt entlassen bin.“
Arzt: „Und inzwischen?“
Frl. Tr.: „Ach, das sind ja alles ganz einfache Dinge und nichts
besonderes dran, das kann ich Ihnen so erzählen: Ich bin in Schramberg
geboren, mein Vater war Ratschreiber dort (Verwandte?). Meine Schwester
ist gestorben; mein Bruder war Schuldirektor in M.; ich habe schon lange
nichts mehr von ihm gehört, ich weiß nicht, ob er noch lebt —.“ Sie er¬
zählt auf Befragen, wie sie Telegraphistin gewesen sei, in Stuttgart, Neckar¬
straße Nr. 317, im Hause des Metzgermeisters Müller gewohnt habe; sie
habe ihren Haushalt allein geführt, mit Hilfe einer Lauffrau, namens
Schulz, die Werktags von 10—3 Uhr sie bedient habe und am Samstag,
als am Putztag, den ganzen Nachmittag dagewesen sei. Dafür habe sie
ihr — M. monatlich bezahlt usw. Als dann die Verfolgungen begonnen
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Kretschmer.
hätten, hätte sie sich zu ihrem Onkel, Franz Tr. in der — straße, ge¬
flüchtet; es sei etwa im August 1906 (richtig 1905) gewesen. Dieser habe
sie in ein Stuttgarter Krankenhaus getan; man habe ihr dann gesagt,
sie sei erholungsbedürftig und müsse eine Zeitlang in ein Sanatorium in
Urlaub gehen, und so sei sie durch katholische Schwestern hierher in die
Heilanstalt Winnental gebracht worden, wo sie jetzt seit 6 y 2 Jahren
zurückgehalten werde, obgleich sie gar nicht geisteskrank sei. Sie erzählt
von den verschiedenen Abteilungen, wo sie seither untergebracht war,
nennt sie mit Namen .und zeigt durchs Fenster die einzelnen Gebäude;
nicht überall habe es ihr gleich gut gefallen; z. B. unten, Abteilung K,
wo die Siechen untergebracht seien, und wo sie sich zuletzt befunden habe,
sei nicht das Richtige für sie gewesen.
Arzt: Hier gefällt es Ihnen besser?
Frl. Tr.: Ja, hier oben auf J habe ich mehr Unterhaltung, die
Leute sind nicht so stumpfsinnig, wie die drunten.
17. Juni 1913. Pat. soll zu einer Unterredung ins Ärztezimmer kommen;
sie ist hierzu nicht zu bewegen, zeigt großes Mißtrauen. Sie wird auf dem
Saal angetroffen in heftigem Zorn über die Wärterin, die sie hatte holen
wollen. Sobald der Arzt sie anspricht, gibt sie in freundlicher, sehr höf¬
licher Weise Antwort, zeigt hierbei raschen Umschlag in ihre gewöhnliche,
heitere Stimmung, um aber sofort wieder in zorniges Schelten zu verfallen.
Der Gegenstand desselben ist auf einmal nicht mehr die Wärterin, sondern
bald Herr und Frau Müller, bald der Franz Tr. (Onkel der Pat.), bald
die Frau Schulz. Sie zankt sich mit diesen, als ob sie vor ihr stünden.
(A. V.) Herr Müller ist ein Metzger, ihr früherer Hausherr in der Neckar¬
straße. Frau Schulz ist ihre einstige Lauffrau. Die Genannten schikanieren
sie in jeder Weise, seit sie hier ist. Frau Schulz oder Frau Müller will sie
nämlich schon lange in einen Metzgerladen auf dem Wunnenstein bringen,
um dann selbst Wunnengräfln werden zu können. Diese alle gehen täglich
hier ein und aus, sie hat sie schon oft durch die Haustür kommen sehen.
Herrn Müller sieht sie häufig auf einer Bank im Garten sitzen. Man will
sie verhandeln und vertändeln und verschandeln, man will sie verjagen
und vertragen und verschlagen. Eben jetzt sind sie wieder dort hinter
den Ventilationsgittern, man hört sie sprechen und arbeiten: Es sind
fünf Männer, Herr Müller, Herr Stötzle, Herr X, Y und Z. Diese wollen,
Pat. soll sie minnen, sie hätte nämlich alle drei miteinander einmal heiraten
sollen; sie sagen, sie soll mit ihnen ins Bett liegen. — Hauptsächlich in
unterem Stock des Hauses ists nicht geheuer, dort treiben die Oben¬
genannten vielfach ihr Wesen; die Patientinnen sollen, wie sie gehört hat,
großenteils Männer sein; auf dem Abort unten hat man sie mit allen Orten
verbunden. — Die Villa gegenüber (das Verwaltungsgebäude der Anstalt)
gehört ihr, von ihren Eltern her ; aber auch dort mischen sich Herr und
Frau Müller ein. Erst neulich hat sie einmal vom Fenster aus zugesehen,
wie dieselben die Villa ganz ausgeräumt haben. — Im übrigen hat sie noch
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex.
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Anspruch auf 800 Milliarden 78 Pfennig, das ist eine Erbschaft; zudem
bezieht sie große Apanagen vom russischen Hof, weil nämlich ihr Vater
der Kaiser von Rußland ist. (Ein andermal im Gespräch, auf Vorhalt,
daß ihr Vater doch wohl Tr. heißen müßte:) Ja ihr Vater ist der Herr Tr.,
aber ihre Mutter ist die Königin Olga; auch Herr Schwarzkopfs sind mit
der Königin O. verwandt, deren Großvater den Adler in Untersteinbach
hatte. — Die Mutter und Großmutter der Pat. leben noch (A. V., die
müßten dann sehr alt sein:), allerdings leben sie nur noch halb. Vater
und Großvater sind, wie sie gehört hat, gestern gestorben; Pat. hat sie
aber erst neulich noch hier gesehen. Auf die Frage nach ihrem Alter ziert
sich die Kranke längere Zeit; endlich gibt sie an, sie wäre etwa 47 Jahre,
wenn man die 20 Jahre im Himmel abrechnete. (A. V.) Sie wäre als
Kind im Himmel gewesen, ohne gestorben zu sein; sie weiß nichts mehr
davon, es sei aber sehr schön gewesen. Pat. hat sechs Kinder, lauter
Mädchen, das jüngste heißt Emilie (A. V.). Die Namen der anderen hat
sie vergessen; man hat sie gleich nach der Geburt fortgetan; übrigens
weiß das der „Herr Kaiser“ genau, bei dem kann mans erfahren.
30. Juni 1913. Fast täglich erzählt sie auf Befragen im Plauderton,
geheimnisvoll lächelnd die merkwürdigsten Erlebnisse: Es wird ihr etwas
„eingerichtet“, mit Schwämmen, im Unterleib; „man kann sich ja ein¬
richten so oder so, es fragt sich bloß, wie?“ Sie wird ausgenommen, der
ganze Unterleib; täglich werden ihr lange Schnitte in den Bauch gemacht;
die Wera und die Mina und die Frida, die unten aus- und eingehen, zapfen
ihr Blut ab in Fläschchen, etwa von dieser Größe; weshalb man ihr das
macht, weiß sie nicht, das könnte man doch in der Apotheke haben.
3. Juli 1913. Bei Aufforderung, aufs Arztzimmer zu kommen, ist
sie wieder sehr mißtrauisch, vermutet, sie solle auf eine andere Abteilung
versetzt werden; beginnt sofort alle Abteilungen aufzuzählen, auf denen
sie schon war. Auch zum Schreiben ist sie lange nicht zu bewegen. Auf
erneutes Drängen schreibt sie endlich in gereizter Stimmung mit großen,
flotten Zügen:
„Stuttgart.
Wenn die allerhöchsten Herrn bezweifeln wollen, ob ihre Wenigkeit
nicht mehr schreiben können, so gestatte ich mir, in kurzen Worten zeigen
zu wollen, daß ihre Schrift noch dieselbe, wie auch früher zu lesen sein
wird.
Hochachtungsvoll
Emilie Tr.
von Schramberg.“
Die Schrift ist von Anfang bis zu Ende gleichmäßig leserlich, sauber
und regelmäßig in der Anordnung.
Ende Juli 1913. Körperlicher Befund: Kleines, korpulentes altes
Fräulein, kräftig gebaut, von blühender Gesichtsfarbe und reichlichem
Haar. Der Schädel bietet keine Besonderheiten. Die Pupillen sind gleich-
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Kretschmer,
mittelweit, rund, reagieren prompt und ausgiebig auf Lichteinfall und
Akkomodation. Die Hirnnerven zeigen keine Störung. Die Reflexe sind
sämtlich in mittlerer Stärke auslösbar. Sensibilität und Motilität ist am
ganzen Körper intakt. Stärkerer Tremor besteht nicht. Die peripheren
Arterien sind mäßig rigide. Der Puls, von etwa 80 Schlägen in der Minute,
ist (seit vielen Jahren) leicht irregulär. Das Herz zeigt keine nachweis¬
baren Veränderungen, auch sonst sind die inneren Organe ohne krank¬
haften Befund. — Hör- und Sehvermögen sind beiderseits gut.
Psychischer Befund: Im gewöhnlichen, ruhigen Tagesgespräch
zeigt sich die Kranke vollkommen gut orientiert, so sehr dies oft hinter ihren
ungeheuerlichen Fabeleien sich auf den ersten Blick verbirgt. Sie faßt dabei
das Gesprochene mühelos auf und vermag auch einige Zeit auf das ein-
geschlagene Thema sich zu konzentrieren, wobei sie meist dem Arzte
das Wort läßt und selbst eine höfliche Zurückhaltung bewahrt. Anders
in der Erregung; es erscheint dann unter dem stürmischen Andrang wahn-
hafter Vorstellungen sehr zweifelhaft, ob sie in jedem Augenblick ein
klares Bild von ihrer Umgebung hat. Unter dem ausdrucksvollsten Ge¬
berdenspiel entwickelt sich dann, in Rhythmus und Reim von einem
Gedanken zum anderen springend und nach immer neuen Richtungen
sich verlierend, ein reißender Redestrom, der kaum auf einen Augenblick
zurückzudämmen ist. Eine leichtere Erregung mit mäßigem Gedanken-
und Rededrang kommt schon bei längerer Dauer eines ruhigen Gesprächs
öfters zum Vorschein. — An den meisten Tagen trifft man die Pat. in
einer leicht gehobenen, vergnügten Stimmung; das Gesicht scheint von
einer stillen inneren Heiterkeit zu glänzen. Bei scherzhafter Unterhaltung
erreicht diese Heiterkeit hohe Grade; sie antwortet dabei schlagfertig
und kommt mehr und mehr ins Lachen hinein, ohne doch ihre gute Haltung
zu verlieren. Auch ihre grotesken, inneren Erlebnisse vermögen gegen¬
wärtig nicht im mindesten ihre Stimmung zu trüben. Dagegen beant¬
wortet sie unangenehme Erfahrungen des äußeren Lebens mit kräftigen
Zornausbrüchen; auch hierbei bewahrt sie ihre Haltung und neigt nicht
zu stärkerer Betätigung. Während der zornigen Erregung läßt sich meist
ein rascher, vorübergehender Umschlag in Heiterkeit erzielen. Angst-
zustände sind in letzter Zeit nicht beobachtet. — Die Merkfähigkeit ist
im ganzen eine gute. Ebenvergangenes vermag die Kranke auf gehöriges
Befragen meist ziemlich vollständig und richtig wiederzugeben. Hierbei
kommt es ihr jedoch auf kleinere Ungenauigkeiten nicht an, obgleich
sie dieselben nach Vorhalt häufig zu korrigieren vermag. Die Ereignisse
ihres früheren Lebens hat die Kranke mit Einschluß aller Namen bis
in kleine Details und, soweit kontrollierbar, richtig zur Hand. Die Er¬
zählung vermischt sie mit luftigen Konfabulationen, die aber den chrono¬
logischen Zusammenhang der wirklichen Erlebnisse keineswegs stören.
Sie werden zeitlich gar nicht eingereiht oder gehen anderenfalls frei neben
den letzteren einher. Immerhin ist sie in zahlenmäßigen Daten öfters
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WaiinbjJdiitig und. manisch-depressiver Syraptomkomplex. 4^5
»ndf'ttt sie
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mgibt, Doch ist die mUiehe AufeitiHi»d«rf«J>re der
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i i f :»}>r zti £püt äntfibt, Doch ist diel zeitliche AofeinHioicrfuige der
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ri oii! dir führen So- verfolgt, soweit sie niepf durch 'hwre. Erlebnisse
bgftbmWt iiti nut Irtt^ressc 4i/‘ des AnstAUslebens
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uuslwtuSUeh«-!, jrc*\ve.hit<* Aiedciickscvcir-e, Zu einer BesiHnifiij/irng ist sie
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Dfer beuten : Büraüklltejt^jini^r iitfipii»! audh ali^seben vh« Jp|Nt-,
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‘»nablässigen, inamiigfalti^p ma^öhaftert SianestÄuschmi^ji einber-
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ÜWfcRSt
426
Kretschmer,
Wenden wir uns nach diesen Feststellungen, die schon ein erster
Überblick ergibt, den ungemein reichhaltigen und wechselnden
Symptombildern im einzelnen zu, so werden wir uns zunächst mit
dem affektiven Verhalten der beiden Kranken zu befassen haben.
Den Beginn der Erkrankung bezeichnet beidemal eine heftige angst¬
volle Erregung, die das ganze Seelenleben beherrscht, die Vorstellungen
und Handlungen bestimmt. Sie geht mit psychomotorischer Agitation
einher und führt speziell bei Frau K. manchmal zu nächtlichen Be¬
wußtseinstrübungen, wo sie dann verworrene Handlungen begeht,
aus dem Bett fällt, zum Fenster hinausruft, sich zu frisieren beginnt,
fortdrängt usw. Bei Frl. Tr. alternieren die Angstzustände schon
zu Anfang mit einer leichten heiteren Gehobenheit, und während erstere
bald schwächer und seltener werden, bildet letztere später den Grund¬
ton des ganzen Seelenlebens. Auch die Angst selbst enthält bei ihr
expansive Elemente, die sich in entschlossener, aktiver Reaktion auf
die vermeintlichen Verfolgungen verraten, und bald gewinnen diese
Elemente in ihr die Oberhand, wenn sie dazu übergeht, in heftigen
Zornausbrüchen ihre Widersacher zu beschimpfen. Auch Frau K.
sind expansive Stimmungen keineswegs fremd. Schon die Größen¬
ideen, die gleich zu Anfang mitten zwischen Perioden verzweifelter
Angst da und dort auftauchen, sind ohne eine solche Grundlage un¬
denkbar; und ebenso unvermutet hat sie späterhin Tage, wo sie in
selbstbewußter Gereiztheit ihren Willen energisch der Außenwelt
entgegenstellt. Im ganzen aber ist hier die Angst ebenso vorherrschend,
wie bei Frl. Tr. Zorn und Heiterkeit. Nachdem wir die gegensätz¬
lichen Stimmungen erkannt haben, die sich in den Kranken um den
Vorrang streiten, werden wir uns nicht wundern, wenn wir sie manch¬
mal auch zum ausgesprochenen „Mischaffekt“ verschmolzen finden,
wenn die Kranken mit Mißtrauen ihre Umgebung betrachten und
da und dort Hintergehung und Benachteiligung wittern. — Durchaus
übereinstimmend ist beidemal die Stellung des Affekts im Gesamt-
krankheitsverlauf: der Beginn in heftigen Affektstößen, die allmählich
seltener und leichter werden, um zuletzt einer in mäßiger Breite
schwankenden mittleren Stimmungslage Platz zu machen, die bei
Frl. Tr. mehr nach der expansiven, bei Frau K. mehr nach der de¬
pressiven Seite zu liegt. Bezeichnend ist für beide die durchgehende
affektive Labilität, die sich zu Anfang in extremen, unvermittelten
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex. 427
Affektschwankungen kundtut; und späterhin zeigt sich schon im
ruhigen Gespräch und noch mehr bei kleinen Anlässen bei Frau K.
die Tendenz, zwischen Gleichmut und Angst, bei Frl. Tr., zwischen
Zorn und Heiterkeit hin- und herzufallen. Wo aber überhaupt eine
affektive Reaktion erfolgt, da ist sie, auch in den späteren Stadien
der Erkrankung, stets kräftig und natürlich.
Wenden wir uns nun den Störungen des Assoziationsablaufs
zu, so sind diese im Fall Tr. von Anfang bis zu Ende gleichartige und
wohl auch durchaus eindeutige. Die Protokolle vom 1. November
1905 und vom 17. Juni 1913 zeigen die Kranke bei der Produktion
einer bunten Fülle rasch wechselnder, affektbetonter, inhaltlich ver¬
ständlicher, in größeren Gruppen assoziativ zusammenhängender,
aber nicht durch Obervorstellungen logisch zusammengehaltener Vor¬
stellungen, auf Zwischenfragen stets eingehend, aber rasch weiter¬
schweifend; Rhythmus und Reim beherrschen dabei den sprach¬
lichen Ausdruck in viel ausgedehnterem Maße, als es hier schriftlich
festgehalten werden konnte. Kurz, es ist das typische Bild einer
mäßigen Ideenflucht. — Weniger augenfällig, aber doch unverkennbar
sind die Assoziationsstörungen der Frau K.
Zu Beginn der Erkrankung findet sich die Notiz des Hausarztes,
daß die Pat. sich für nichts mehr interessiere, die Ereignisse der letzten
Zeit nicht mehr recht zusammenbringe und den Eindruck einer gewissen
Intellektschwäche mache. Wenn wir damit Zusammenhalten; daß Frau K.
späterhin an allen Vorkommnissen in ihrem engeren und weiteren Lebens-
kreis regen Anteil nimmt und dieselben bis ins kleinste Detail gedächtnis-
mäßig vollkommen beherrscht, so ist der Schluß nicht von der Hand zu
weisen, daß es sich damals um eine vorübergehende Denkhemmung ge¬
handelt hat. Kurze Zeit später ist dieselbe, und zwar dauernd, in das
Gegenteil umgeschlagen. Es entwickelt sich ein lebhaftes Mitteilungs¬
und Schreibbedürfnis, wie es sich in ihren sehr häufigen und sehr umfang¬
reichen Briefen (hier nur bruchstückweise wiedergegeben) ausspricht.
Wir können keinen Augenblick im Zweifel sein, daß es sich hier nicht ein¬
fach um die senile, gedankenarme Umständlichkeit und Weitschweifigkeit
des Ausdrucks handelt, wenn wir sehen, wie sich hier auf engem Raum
die bunten, lebhaften, rasch wechselnden Gedanken förmlich drängen.
Diese Gedankenreihen sind keineswegs zerfahren, sondern assoziativ gut
zvisammengehalten und lassen nur in den betreffenden Partien der Briefe
die logische Disziplin vermissen. Als klassisches Beispiel für das Verlieren
der Zielvorstellung bei gutem assoziativem Zusammenhang greife ich
aus vielen den Satz heraus: „Ich sollte um diese Zeit geschlachtet werden,
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Kretschmer,
d. h. bei ihnen, ich sollte bis aufs Hemd ausgezogen werden und sie wollten
mich ins Krankenhaus schleppen und dort in ein Bett tun und einschließen.“
Es kommt der Pat. der Einfall, sie sollte geschlachtet werden und sie
beginnt dies im Stil einer Armesünderszene zu schildern: ich sollte bis
aufs Hemd ausgezogen werden; bei dem Wort „Hemd“ entgleist sie in den
naheliegenden Vorstellungskreis „Krankenhaus“ hinüber und wird so am
Schluß des Satzes, der mit der blutigsten Hinrichtung begann, einfach
ins Bett gelegt.
Überblicken wir rasch noch einmal das genau auf Grund der
Krankengeschichte entworfene Bild, so erkennen wir darin Zug für
Zug die Schilderung wiederum einer leichten Ideenflucht. Jede andere
Interpretation, vor allem in der Richtung einer irgendwie gearteten
Demenz, widerlegt sich nicht nur durch die vorurteilslose Be¬
trachtung der Denkstörung selbst, sondern schon bei einer Inventar¬
aufnahme des Gesamtvorstellungsschatzes, wie sie später gegeben
werden soll.
Was über die Störungen des Wahrnehmungsvorganges
zu sagen ist, läßt sich zunächst kurz zusammenfassen. Die Auslösung
von Sinnestäuschungen ist bei beiden Kranken geradezu enorm er¬
leichtert; sie produzieren solche beständig, während sie ruhig im
Garten sitzen oder Briefe schreiben, auch am hellen Tag und bei
ruhiger Gemütslage.
Inhaltlich lassen sich die Sinnestäuschungen nur besprechen
als Teilerscheinung des gesamten krankhaften Vorstellungsinhalts
überhaupt. — Hier sind zuerst zwei Gruppen verfälschter Vorstellungen
zu erwähnen, die zunächst keiner weiteren Erläuterung bedürfen.
Wir finden, vorwiegend zu Beginn der Krankheit, einfache, ich möchte
sagen geordnete Vorstellungen depressiver Art, wie sie im gesunden
und kranken Leben mit den betreffenden Affekten verknüpft zu sein
pflegen: bevorstehendes Lebensende, Ermordung, Vergiftung, drohendes
Unheil für die Angehörigen, kurz, wahnhafte Einbildungen und Be¬
fürchtungen, nur in großen Umrissen vorgestellt, wie wir sie als Korrelat
der entsprechenden starken Affekte, speziell bei Melancholien, täglich
zu sehen gewohnt sind. Und ebensowenig werden wir uns wundern,
wenn wir in beiden Krankheitsfällen, bei ihrem so vielfach wechselnden
und gemischten affektiven Verlauf, da und dort auf einfache Be¬
ziehungsideen im Sinne des Mißtrauens stoßen, wenn etwa Frau K.
hinter einem Versehen beim Abreißen des Kalenders eine boshafte
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex. 429
Täuschung oder Frl. Tr. hinter der Aufforderung, ins Ärztezimmer
zu kommen, die Absicht einer unerwünschten Versetzung argwöhnt.
Sobald wir aber mit diesen beiden kleinen Gruppen von Wahn¬
ideen zu Ende sind, verlassen wir den festen Boden des geläufigen
melancholischen und paranoischen Zustandsbilds und sehen uns
umgeben von einem bunten, unabsehbaren, unaufhörlich wechselnden
Gedränge der mannigfaltigsten und ungereimtesten Ideen. Wir könnten
von „barocker“ oder „phantastischer Wahnbildung“ sprechen, wenn
damit etwas anderes ausgedrückt wäre, als eben die Tatsache, daß
wir sie nicht verstehen. Diesen rasch aufschießenden, mit Lebhaftig¬
keit erfaßten, oft schauerlich klingenden und lächelnd vorgebrachten,
bald hartnäckig festgehaltenen, bald spielend fallen gelassenen, so
unlogischen und doch so anschaulichen Gedankengebilden stehen
wir mit den gebräuchlichen Hauptkategorien von Wahnformen ratlos
gegenüber. Sie lassen sich mit den kunstvollen Gedankengebäuden
des beziehenden Paranoikers oder mit dem affektschweren Wahnsinn
des typischen Melancholikers überhaupt nicht vergleichen und nur
Ähnlichkeiten äußerlichster Art erinnern an die entgleisten Kom¬
binationen und verschrobenen Satzerfindungen des phantastischen
Schizophrenen oder das einbildungsschwache Gefasel eines senil
Verblödenden. Es bringt auch keine Klärung, wenn wir versuchen,
diesen krankhaften Vorstellungsinhalt in Halluzinationen, stabile
Wahnideen und lockere, vergängliche Fehlgedanken zu sondern;
denn es stellt sich sofort heraus, daß dies ganz undurchführbar ist.
Findet sich doch jeder denkbare Übergang von der optischen Hallu¬
zination greifbarster Sinnlichkeit (Nattern werden mit dem Löffel
aus den Speisen gefischt) über verschwommene Akoasmen (charakte¬
ristischer Konjunktiv: „und mich im Ring herumdrehe“ oder:
.,sie sollen im vergangenen Jahr 600 Personen getötet haben“) und
über Erinnerungsbilder von der konkreten Deutlichkeit sinnlich
erlebter Vorgänge („ich habe ihnen schöne Kostüme gebracht“....)
zur einfachen, subjektiv unumstößlichen Wahnidee in jeder Abstufung
des Realitätswerts und von da über zwar fest geglaubte, aber nur
einmal flüchtig auftauchende und innerlich belanglose Einbildungen
(„im Sopha ist der Sohn vom Erbmedizinalrat“) bis zu jenen lockeren
Fehlgedanken, die kaum erzeugt, schon desavouiert werden („ihr
Vater ist der Kaiser von Rußland“; nachher „ihr Vater ist Herr Tr.“).
Zeitschrift für Psychiatrie. LXX1. H. 30
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Kretschmer,
Wir fühlen schon beim Durchlesen der Krankengeschichten heraus,
daß all diese Halluzinationen, Wahnideen und Fehlgedanken inhaltlich
gleichartig, Vorstellungen eines ganz bestimmten, gemeinsamen
Typs sind, einerlei ob sie affektbetont oder nicht, festgeglaubt oder
flüchtig hingeworfen, rasch vergessen sind oder hartnäckig wieder¬
auftauchen. Es gibt wohl nur noch eine Krankheit, die allenfalls
jahrelang einen solchen Überfluß ungereimter, bizarrer halluzina¬
torischer Wahnideen zu produzieren vermag, das ist die paranoide
Dementia praecox und gerade der Vergleich mit diesen Formen ist
sehr geeignet, die gemeinsame Eigenart der hier vorliegenden Wahn¬
vorstellungen klarzumachen. Stellen wir den phantastischen Schizo¬
phrenen, dem die Gedanken abgezogen werden, dem das Hirn sich
wie in Wickeln dreht, dem die Natur aufgeregt wird, der sich in öffent¬
licher hypnotischer Haft befindet usw. gerade mit diesen seinen be¬
zeichnendsten Ideen neben unsere Kranken: man will ihnen die Nase
abbeißen, ihnen die Backen mit Farbe anstreichen, sie in einen Metzger¬
laden auf dem Wunnenstein versetzen, man läßt ihnen ins eine Nasen¬
loch vier Blutläuse und ins andere zwei Blattläuse laufen usw., so
ist der Unterschied in zwei Richtungen ein höchst augenfälliger. Es
ist einmal die klare, natürliche Ausdrucksweise, die Ungezwungenheit
der sprachlichen Fassung, was die Wahnideen unserer Kranken vor
jenen andern auszeichnet. Auch den verblümtesten Redensarten von
Frl. Tr., daß man sie „von der Nordseite maschiniere“, ihr „etwas
einrichte“, liegen, im Zusammenhang leicht verständlich, die greifbar
drastischen Vorstellungen zugrunde, daß ihr das Gesäß mit Maschinen
gewalkt und der Unterleib mit alten Schwämmen ausgestopft werde,
und sie verschleiert diese Tatsachen wiederum nur in der psychologisch
durchsichtigen Absicht, dem zuhörenden Arzt das Geheimnisvolle,
Interessante ihrer neuesten Erlebnisse recht eindringlich darzustellen
und zugleich nach Art einer alten Jungfer das Anstößige derselben
abzumildern und zu umschreiben. Und diese natürliche Verständlich¬
keit des sprachlichen Ausdrucks steht in naher Beziehung zu der
inhaltlichen Grundeigentümlichkeit dieser Wahnformen, die sie
wiederum zum konträren Gegenteil der schizophrenen Vorstellungs-
inhalte macht. Wir haben den Schlüssel zur Psychologie unserer
Kranken in Händen, sobald wir den Kontrast herausfühlen, der das
Wesen dieser ganzen Wahnbildung ausmacht, den Kontrast zwischen
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex. 431
der absolut skrupellosen logischen Ungereimtheit der Vorstellungs¬
gruppe und ihrer klaren sinnlichen Anschaulichkeit, der konkreten
Plastik ihrer Erfindung. Muten viele dieser Gebilde, die Idee von
den vier Blutläusen und zwei Blattläusen oder von dem Metzgerladen
auf dem Wunnenstein nicht geradezu an, wie naive, drollige Kinder¬
märchen ? Es ist gewiß kein Zufall, sondern beruht auf dem gekenn¬
zeichneten ästhetischen Kontrast, daß wir uns bei den Erzählungen
unserer Kranken, mögen sie noch so schauerlichen Inhalts sein, eines
Lächelns nie erwehren können. Ich kann mir keinen größeren Unter¬
schied denken, als das humoristische Behagen, das diese skurrilen,
unvermittelten Augenblicksschöpfungen in dem empfänglichen Zu¬
hörer auslösen, und den gequälten, geschraubten Eindruck, den die
schiefen, nicht nur logisch, sondern auch ästhetisch unvollziehbaren
Ideen des Schizophrenen hinterlassen. Man kann geradezu sagen,
die schizophrenen Wahnvorstellungen werden desto unanschaulicher,
je weiter sie sich von der Wirklichkeit entfernen, während umgekehrt
hier dieselben je phantastischer, desto konkreter werden.
Aber nicht nur diese krankhafte Gedankenwelt unserer Patientinnen
als solche ist durchaus eigenartig, sondern auch ihr Verhältnis zu dem
erhalten gebliebenen Bestand gesunder Vorstellungen, wie es in den
späteren Stadien der Erkrankung sich allmählich fixiert. Während
die gewöhnlichen manisch-melancholischen Wahnideen mit der ganzen
Expansionskraft der in ihnen verkörperten Affekte den gesunden
Bewußtseinsinhalt verdrängen, während der paranoische Beziehungs¬
wahn ihn wie ein feines Gewebe bis ins kleinste durchsetzt, sehen
wir hier sich zwei getrennte Vorstellungskreise bilden, die ganz ohne
Rücksicht aufeinander teils nebeneinander stehen, teils sich über¬
lagern.
Am klarsten ist diese Trennung in den Briefen von Frau K. wahr¬
zunehmen, wo sie häufig sogar räumlich durchgeführt ist. Ganz gewöhnlich
beginnt der Brief mit einer gesunden Hälfte; sie lebt hier ganz mit ihren
Kindern und Enkeln, denkt sich in ihre Häuslichkeit hinein, sehnt sich
nach ihrem Umgang, läßt auch ihre kleinsten, alltäglichsten Erlebnisse
nicht unbeachtet; sie nimmt von ferne teil an ihren Hochzeiten und
Familienfesten, begleitet sie in die Sommerfrische, freut sich über jede
Freude, die sie erleben und bekümmert sich, wenn sie krank sind. Sie
ist sich klar über ihren eigenen Aufenthalt und hat jeden Besuch, den
sie hier erhält, genau in Erinnerung; sie beschäftigt sich nicht nur mit
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432
Kretschmer,
ihren eigenen Erlebnissen und dem schon ziemlich ausgedehnten Kreis
ihrer Familie, sondern berührt auch die allgemeinen Tagesereignisse,
über die sie aus den Zeitungen Kenntnis hat. Und sie schreibt über das
alles in schlichten, geordneten Sätzen; — kurz, wenn wir diese Briefteile
herausnehmen und für sich betrachten, so lassen sie sich in nichts von den
Schriftstücken irgend einer gebildeten, liebenswürdigen, geistig regsamen
alten Dame gesunden Geistes unterscheiden. Und doch ist vielleicht
schon nach der nächsten Interpunktion das alles weggefegt von einem
ungeordneten Andrang der absurdesten Ideen, die nun ziellos in lang¬
atmigen Sätzen sich über viele Seiten fortspinnen, wo oft kaum noch ein
einziger gesunder Gedanke zu finden ist. Es bedarf nicht mehr, als des
Auftauchens der Vorstellung „Tante Anna“ u. ä., um diesen jähen Szenen¬
wechsel hervorzurufen.
Bei Frl. Tr. ist dieses Verhältnis weniger deutlich, der Komplex
gesunder Vorstellungen ist nicht so festgefügt und nicht so ausgedehnt;
und doch ist es dasselbe. Auch sie vermag über, ihre eigene Person, ihren
Anstaltsaufenthalt geordnete Auskunft zu geben; sie kennt Arzte, Pflege¬
rinnen und Patienten genau nach ihrem Namen und ihrer Stellung im
Betrieb der Anstalt; es sind ihr alle Abteilungen geläufig, auf denen sie
schon untergebracht war, ebenso ihr früheres Leben, ihre Berufstätigkeit
und die Umstände ihrer Verbringung in die Anstalt. Auch sie faßt Kleinig¬
keiten des sie umgebenden realen Lebens wohl auf und bringt sie in richtige
Beziehung; sie nimmt davon Notiz, wenn ein Fest gefeiert wird, auch
wenn sie selbst daran sich nicht beteiligt hat, und unterhält sich darüber.
Sie interessiert sich für die Persönlichkeit des sie besuchenden Arztes,
bemerkt schon kleine Unterschiede in seinem Benehmen und Aussehen,
ist besorgt für seine Gesundheit, erkundigt sich nach anderen Ärzten
und will erfahren, wo sie ihren Sommerurlaub zubringen; — kurz, auch
sie ist fähig, ihre eigene Person mit ihrer Vergangenheit und ihrer realen
Umwelt in ihren richtigen, geordneten Beziehungen, frei von wahnhaften
Elementen zu sehen, sobald man sie in ruhigem Gespräch fixiert. Und
es ist dieselbe Vergangenheit und dieselbe Umgebung, die sich ihr im
nächsten Augenblick in eine phantastische Fabelwelt auflöst, wo sie,
eben noch Emilie Tr., Telegraphistin und jetzige Patientin der Heilanstalt
Winnental, Tochter des Ratschreibers in Schramberg, sich in eine russische
Kaiserstochter mit fabelhaften Reichtümern, die Anstaltsgebäude sich
in ihre Villen, die Ärzte in hochgestellte Fürsten verwandeln; wo nichts
mehr geheuer ist, wo ihre längstverstorbenen Voreltern am hellen Tag
umhergehen und ihre ganze Umgebung nur noch ein großer Hexenkessel
ist, voll der geheimnisvollsten Einflüsse und Beziehungen, aus dem unauf¬
hörlich neue seltsame Verfolgungen und Grausamkeiten gegen sie empor¬
steigen. Denn das ist das bezeichnende an dieser Wahnbildung, daß hier
nicht bloß, wie auch sonst überall, gesunde und kranke Vorstellungen
nebeneinanderstehen, sondern daß sie ganz beziehunglos und abrupt
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Wahnbildern? and nHmbcb-depreSsii.t-r Simpi'jmkvnjplex. 43H
ncler ablösen- ^ <1&3 &> mir eir>«r «ftlspreehviuien <ubewi SiiiuhoG.
eines Stichwrerts bedarf, : utft das eine Afaf eitern geschlüsselten Kreis
inder Vorstellungen und düs-ftä-diste Mut Ehireheinioder
, Wahnidee» afi die Öb^rüäfihe z« hnage«. » 0*1 denen überhaupt keine
y:t« ziir Wirkih bk*-» ,
• Ssitir so kann es iru dem merkWbrdigeti Phänomen kommen, das
i als *iu ; - d« r pf r s. ii;>• !< •. n \Vt «. b-eibiIder be?euhnen knuiite.
; d-vi dar»» =:-••-’» ?•?. daß .von tf*uv*>lberi Qvgebsl^ad iwoi getrennte,
•mler vrSÖig md*rspv-» h-.-n-je Yf-rsteUirngsreihen abgeleitet werden-
ged*»!.«! ist dieser V'irgahK bjioin in *W Gepflogenheit beider Kranken»
Pem>öeH iltrer t'topebuiig s die sie gfcaaii
Hiu ii. danetifeu <• /> müvü tals-ihen 'Namen beizuiegen, der sie ut ihr*o
•h« hafte« \V'f**N :! ! .??)j?td;reis‘n ja BvuVhuag bringt, Weiui iich de-o.-
inptOR), wie beibeiden KnrukeLi getegeatlirh zur vmnitcrgeheiHkii
•r>.nienverketaid».g s§ »st damit t<Hvit« das WVchseththi gegvb».-u,
dt iti hüb die betTidfeode Person, das eine MaJ in ihrem n>al(?zi, da^iodere
M in ihrem; w^ahahafien Charakter^ im
.Vm aws^pogtesfeh aber finden uir di»:^ Phänemen U ‘ Frau K.
■ ■'j.-'iieti .jKr V’vrs•.!■•■ d»- Anst-altsdi'rektr th- la .-»hrem. Bewpßts»«»
glri. h •wiritt.tfeV. k*>oh-ar Ierdjjegengestd;-^; Robe»! isbl. deren etnis
•'»•alen Erieim» 5 >\ deren andere ihre wadwirarieii YorstelUuuiskmse
-■ ■:.■ Sr -i,i p. k-.-nuTi! »uT nnf die ?.uKdiig i':.'.• i. in ihr ävsgeiyot* <*>.■•
^üKebreij?*' o.r*. «toi er ist ihr da& Mms-Yitd der leitende Aiis!ai.tsar?t. dessen
:=tv.tiici,,v fnnkfinni’.n ihr ge«?t<i ?in ; Aoge« •dehen. und dem sie mit grüßtet
ftegegiiel, mit ittStibdii /UJieiKgeshlirärikieH' JFjvft.it talSgefu.hi
Uw lr ., n überzeugte« Lebhaftigkeit. mit'de** jj)r« im - nächsten
dien „Aktwar niiddSei^öbfiP 1 '.; den Fahrer wxd .A*iifdi(tt, , r niil
4 ^ r ^^Vrht(^tbi? ,s ^ «ttjf L^aiieft verai^fieut. Wird 1 i'a doch im Gruiide
" '-'anz*' AtisiaH, ja- «fcsrhaupf. di*/ g'aiu'e Umwelt von beiden Kranken
wi Werfikejbihi giiseheß. iridept M/al tp ihren VeiUefi, einfachen
'-*• :i- hi !( up n Idar erksuflt, das. andere Mal m ein wirres Labyrinth gb-
ein emai“^. e ..HnWaFes isystem auf »he eigene Pefscdi
jrreU!n>*i«<'Nr iövd &?ftd!ieb*r .Uäehte sieb verwandelt.
Mau;' .'»to»./beflöge 1 »*- : diü’ch tii.Ese symptomatische
w «W«r«ri' feteviwllr zu im!>o?i. daß die beuten vorliegenden
’V^uldieirsbi (der an- 1 'v «f H a u p t b>? s i a ?). «itvife ». einem manisdi-
'bj*yi‘ssive r[ Syiupfomkomptex nml einer eigenartigen Form der YValm-
'’ fiuue ?;i«rh '/uisanunensetxeo.. und kdimt'.- dazu uberä?eheö, au/ Grund
''"’ h »gen mielir weniger subjektiver .\rt diese odei jene« als
freseiitfiebe and primäre 0fuüdÄymptom »i. proklamieren »öd
’k'tu.waeh die beiden Krankheiten entweder dem iwmeh -depre5sir«?i
• ^^»'.iniuweisea oder ai»;^&öß|ilit «der Paranoia v»m ihm abzu-
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434
Kretschmer,
trennen. Nachdem aber der einleitende Überblick wohl zur Evidenz
gezeigt hat, wie innerlich unfruchtbar und wie wenig aussichtsreich
solche Versuche zu sein pflegen, so müssen wir uns gestehen, daß das
Problem an diesem Punkte erst beginnt. Wir sind noch weit von. dem
Verständnis eines Krankheitsbilds, solange uns noch seine Haupt¬
symptome beziehunglos nebeneinanderstehen und wir nicht den
ganzen Krankheitsvorgang als einen innerlich geschlossenen Aufbau
durchschauen, wo immer die zusammengesetzteren aus den einfacheren
Erscheinungen herauswachsen. Wenn wir in dieser Weise versuchen
wollen, den Krankheitsprozeß bis in seine Wurzeln, die Störungen
der psychischen Elementarvorgänge, aufzudecken, um von dort aus
den Zusammenhang der scheinbar so heterogenen zwei Symptom¬
gruppen zu finden, so müssen wir etwas weiter ausholen.
Das psychische Element, der einfachste Vorgang, auf den wir
bei Analyse unserer Selbstbeobachtung sämtliche psychischen Vor¬
gänge zurückführen können, ist die einfache gefühlsbetonte Empfindung.
Dieses Element bildet eine unzertrennbare, empirisch begründete
Einheit, die Tatsache seiner Zweiteilung ist keiner erfahrungmäßigen
psychologischen Analyse, sondern höchstens einer erkenntnistheoreti¬
schen Weiterverarbeitung mehr zugänglich. Es sind dies in etwas
schematisierter Form wesentlich dieselben Anschauungen, die Wundt
als Grundlagen seiner Psychologie ausführlich begründet. Und wir
müssen diese empirisch gegebene Unzertrennlichkeit von Empfindung
und Gefühl, der objektiven und subjektiven Seite desselben Vorgangs
von vornherein festhalten, weil sie zum Verständnis der manisch-
depressiven Wahnbildung unerläßlich ist. Aus der Verbindung, der
Assoziation zwischen den gefühlsbetonten Elementarempfindungen
entstehen sämtliche psychischen Gebilde, die wir, je nachdem wir
sie von der subjektiven oder objektiven Seite betrachten, als zu¬
sammengesetzte Gefühle bzw. Affekte oder als zusammengesetzte
Vorstellungen bezeichnen; auch hier ist festzuhalten, daß die Trennung
zwischen Gefühl und Vorstellung lediglich eine Abstraktion ist, während
es in Wirklichkeit kein anscheinend noch so reines Gefühl gibt, auf
dessen Grund nicht eine dunkle Organempfindung oder Erinnerungs¬
vorstellung läge, und kein Begriff so objektiv ist, daß er nicht, ab¬
gesehen von dem nur theoretisch denkbaren Fallen in den genauen
mittleren Indifferenzpunkt der Gefühlsskala, beim Passieren des
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex. 435
Bewußtseins in einem leichten Gefühlston seine Beziehung zum
Subjekt erhielte. — Wenn wir somit krankhafte Seelenvorgänge
zusammengesetzter Art in ihre Wurzeln zurückverfolgen wollen,
so gibt es auch hierfür letzten Endes nur die zwei Möglichkeiten, sie
entweder auf Störungen des psychischen Elementarvorgangs, nach
der Seite der Empfindung oder der Gefühlsbetonung hin, oder der
Verbindung psychischer Elemente, also auf Assoziationsstörungen
zurückzuführen.
Suchen wir dies Prinzip auf die Frage nach den Quellen der
Wahnbildung im manisch-depressiven Symptomkomplex anzuwenden,
so kommt uns die klinische Erfahrung nach einer Seite hin sehr ent¬
gegen, nämlich bezüglich des Zusammenhangs zwischen Affekt
und Wahnbildung. Streng genommen, ist ja auch der Affekt
als ein zusammengesetzter psychischer Vorgang ein Sekundärsymptom,
dem als Elementarstörung die krankhaft veränderte Gefühlsbetonung
jeder Einzelempfindung und -Vorstellung zugrunde liegt. Diese Störung
des psychischen Elementarvorgangs nun muß nach dem oben Ge¬
sagten mit Notwendigkeit nicht nur die Entstehung pathologischer
Affekte, sondern auch die Verfälschung des Bewußtseinsinhalts zur
Folge haben. Denn es gibt ja in der Wirklichkeit des psychischen
Lebens keine Gefühle an sich, die sich untereinander, getrennt von
den übrigen seelischen Prozessen, zu Affekten verbinden könnten,
sondern es gibt einzig und überall nur gefühlsbetonte Empfindungen
bzw. Vorstellungen; nur sie gehen als unzertrennliche Einheiten die
Verbindungen ein, aus denen sich sämtliche höheren psychischen
Vorgänge aufbauen. Wenn sich demnach eine Anzahl von Elementar¬
empfindungen von falscher Gefühlsbetonung zu einer gefühlsbetonten
Vorstellung verschmelzen, so ist damit nicht nur die Gefühlsseite
derselben, sondern bereits dieses ganze Gebilde zweiter Ordnung in
seiner unteilbaren Gesamtheit verfälscht. Die Unabweislichkeit dieser
Behauptung wird sofort klar, wenn wir zu den logisch verbundenen
Vorstellungen höherer Ordnung kommen; denn jeder Gefühlston,
der einer solchen Vorstellung beigelegt wird, involviert als solcher ein
Urteil, eine Bezugsetzung zwischen derselben und dem vorstellenden
Subjekt, eine Wertung, die sich gleichsinnig mit ihm verändert. Ist
der Gefühlston krankhaft, so ist damit auch die Wertung falsch und
dieser Urteilsfehler geht nun in die nächstzubildende Vorstellung
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436
Kretschmer.
mit ein. Die Fehler müssen sich mit jeder weiteren Ideenverbindung
potenzieren, es muß bei jeder krankhaften Gefühlslage ein ab ovo
verfälschter Bewußtseinsinhalt entstehen. Es bedarf lediglich der
Emanzipation von der in der Psychiatrie vielfach eingebürgerten Ver¬
mögenspsychologie, um die innere Notwendigkeit des empirisch so
gewöhnlichen Zusammenhangs zwischen Affekt und Wahnbildung
einzusehen. Man beseitigt selbstgeschaffene Hindernisse, wenn man
diese Krankheitssymptome erst zweien, durch eine. künstliche Ab¬
straktion streng getrennten Seelenvermögen zuweist, um nachher
wieder ebenso künstliche Brücken zwischen ihnen zu schlagen.
Wir brauchen uns ja nur der Psychologie des Alltags zuzuwenden,
um auch dort die natürliche Gesetzmäßigkeit der genannten Be¬
ziehungen wiederzufinden. Wenn wir auf der Höhe eines heftigen
Ärgers, eines quälenden Angstgefühls einen Querschnitt durch unser
Seelenleben legen, so werden wir denselben jedesmal mehr oder weniger
mit falschen Vorstellungen durchsetzt finden, wir werden meist nach¬
träglich feststellen, daß wir die Stellung unserer Person, den Charakter
und die Handlungen unserer Nebenmenschen, die Beziehungen unserer
Umwelt oft bis ins einzelne wahnhaft umgearbeitet hatten, und daß
diese Veränderung des Vorstellungsbilds der betreffenden seelischen
Phase mindestens ebensosehr das Gepräge gibt, wie die Verschiebung
der Gefühlslage. Und niemanden wird es einfallen, diese Wahnvor¬
stellungen des gesunden Lebens etwa als „Erklärungsversuche“
(Schott u. a.) des Individuums seinen Affekten gegenüber oder aus einer
Tendenz der affektgespannten Psyche zu „derivativer, affektentlasten¬
der Konkretisierung“ ( Stransky ) zu interpretieren, vielmehr wird
jedermann den natürlichen Kausalzusammenhang darin finden, daß
das Individuum falsch urteilt, weil es falsch wertet und falsch wertet,
weil es falsch fühlt. Wenn aber in der Krankheit die Wahnvorstellungen
konkretere und wirklichkeitsfremdere Formen annehmen, so liegt
darin nicht nur kein prinzipieller Unterschied, sondern es ist dies der
notwendige, gesetzmäßige Ausfluß der Tatsache, daß hier starke
Affekte von so stabiler Höhe und Dauer auf den Vorstellungsverlauf
einwirken, wie sie im gesunden Leben niemals Vorkommen.
Wenn also eine Frage beantwortet werden muß, so ist es nicht
die, wie es unter manisch-depressiven Affekten zur Wahnbildung
kommen kann, sondern im Gegenteil die, weshalb sie nicht noch viel
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex.
437
;emeiner und stärker ist. Dies liegt ganz vorwiegend daran, daß
nicht der gesamte Vorstellungsinhalt unter der Herrschaft des
thologischen Affekts erst neu gebildet wird, sondern daß stets die
if ormierten Vorstellungen aus der gesunden Zeit in die neuentstehen-
n mit eingehen und sie so teilweis zu sanieren vermögen. Daß
ise Sanierung im einen Krankheitsfall weithin, im anderen nur
(vollständig gelingt, hat seinen Grund einmal in der verschiedenen
esistenzf ähigkeit des betreffenden Individuums gegen krankmachende
inflüsse überhaupt, wie sie durch das Lebensalter und viele andere
aktoten bedingt sein kann, dann in dem unendlich variablen Ver¬
alten der Affekte selbst, ihrer Höhe, ihrem zeitlichen Verlauf, ihren
chwankungen und Mischungen; der Gedanke ist nicht ganz von der
fand zu weisen, daß auch hier schon vielleicht Verschiedenheiten
m Assoziationsablauf mitbestimmend sein mögen, wie sie die Grenzen
les Blickfelds variieren und späterhin ausführlich besprochen werden
sollen. Da sie hier zum mindesten nur eine Nebenrolle spielen und
wohl weniger auf der spezifisch krankhaften Assoziationsstörung,
als vielmehr auf individuellen Eigentümlichkeiten beruhen, so soll
die große Gruppe manisch-depressiver Wahnbildung von der ge¬
schilderten Eiitstehungsweise einfach als Affektwahn bezeichnet
werden. Unter Affektwahn ist also zu verstehen die krankhafte Weiter¬
bildung von Empfindungen und Vorstellungen im Sinne des herrschen¬
den Affekts.
Als die durchsichtigste klinische Erscheinungsform desselben
fand die Wahnbildung der reinen, unkomplizierten Manien und
Melancholien, wie sie sich auf dem Boden der einfach heiteren oder
einfach traurigen Verstimmung entwickelt, schon früher Erwähnung.
Ihre unterste Stufe bildet der krankhafte Optimismus und
Pessimismus, der hier, wie im gesunden Leben, das gesetzmäßige
Korrelat jeder gehobenen oder deprimierten Stimmung auf dem
Gebiete der Vorstellungstätigkeit bildet. Die falsche Wertung der
Vorstellungen hat sich hier noch nicht zu konkreteren Wahnideen
verdichtet, sondern der Kranke beschränkt sich darauf, allen seinen
Beziehungen und Erlebnissen im Rahmen des erfahrunggemäß Mög¬
lichen die extrem günstige resp. ungünstige Beurteilung zu geben.
Bie Sanierung durch die präformierten Vorstellungen ist also eine
denkbar vollständige. Und doch ist, streng genommen, schon die
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Kretschmer,
erhöhte Selbsteinschätzung, die jedem typischen Maniakus eigen ist,
eine Wahnidee, d. h. eine unkorrigierbare Vorstellung, die der Wirk¬
lichkeit nicht entspricht. Allerdings stehen optimistische oder pessi¬
mistische Ideen niemals in der Luft, sondern entwickeln sich ganz
unmerklich, organisch aus realen Wahrnehmungen und richtig ge¬
bildeten Vorstellungen heraus; und zwar schöpfen sie entweder aus
Empfindungen, wie sie von der Außenwelt zugeleitet, vor allem aber
von der Selbstwahrnehmung krankhaft veränderter körperlicher und
psychischer Funktionen geliefert werden, oder aus Vorstellungen,
die dem Erinnerungsschatz entnommen sind. Ist es doch augenfällig,
daß in der Melancholie die objektiven Empfindungen schweren Dar-
niederliegens aller somatischen Vorgänge und die quälende, rätsel¬
hafte Wahrnehmung der intrapsychischen und motorischen Hemmung
speziell geistig wenig differenzierte Menschen unter der Herrschaft
eines adäquaten starken Affekts mit noch viel unwiderstehlicherer
Gewalt zur wahnhaften Umdeutung und Weiterbildung drängen
müssen, als dies schon den indifferenten Wahrnehmungen des gesund
Affektiven widerfährt. Und ebenso augenfällig ist es, daß neben ständig
vorhandenen unfreundlichen Eindrücken aus der gegenwärtigen
Umgebung im Erinnerungsschatz jedes Menschen massenhaft halb¬
vergessene Erinnerungsbilder eigener Schuld und Unfähigkeit bereit -
liegen, die nur der Wiederkehr des entsprechenden Seelenzustandes
warten, um alsbald geschlossen an die Oberfläche zu tauchen. So
entstehen die drei Hauptgruppen rein pessimistischer
Vorstellungen, die zunächst nur Übertreibungen realer Erlebnisse
sind, und die zum Inhalt haben Verfall und schwere Krankheit des
eigenen Körpers oder die Schlechtigkeit und Minderwertigkeit der
eigenen Persönlichkeit, wobei die Hemmung als Gemütlosigkeit und
Dummheit empfunden wird, oder endlich von da aus auf Umwelt und
Vergangenheit weiterspinnend, allgemeines Unglück oder das Be¬
wußtsein schwerer Verschuldung (der letztere Doppelvorstellungskreis
des Nichtichs kann nicht nur diese gleichsinnige Umbildung erfahren,
sondern auch durch optimistische Kontrastfärbung das pessimistische
Gesamtgemälde noch wirkungsvoller machen).
Steigt nun der Einfluß des Affekts, so muß, gemäß den be¬
sprochenen psychischen Mechanismen, eine selektive Wirkung
erfolgen, indem die pessimistischen Vorstellungen, auf die sich im
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex.
439
Gedankenablaut jedesmal der Gefühlston legt, immer hochwertiger
werden, während alle anderen Vorstellungen, die einer depressiven
Gefühlsbetonung unzugänglich sind, infolge dieser geringeren Be¬
ziehung zum krankhaft veränderten Ich gar nicht mehr zum Anklingen
kommen und ganz in den Hintergrund gedrängt werden. Die Wirkung
dieses Selektionsprozesses auf die Kritik des Kranken muß eine ver
hängnisvolle werden; sobald nicht mehr genügend affektiv unver¬
fälschte Vorstellungen im Bewußtsein vorhanden sind, werden die
pessimistischen nicht nur nicht mehr durch Verbindung mit jenen
sich korrigieren können, sondern werden durch ausschließliche Ver¬
bindung untereinander sich potenzieren müssen. Da auf diese Weise
sich der gesamte Bewußtseinsinhalt auf die pessimistische Seite
hinüber verschoben hat, also sein durchschnittlicher Wahrheitswert
stark gesunken ist, so werden in diesem Rahmen auch Vorstellungen
jmkorrigiert bleiben, die die Grenze des subjektiv Möglichen bereits
überschritten haben. Diese aus dem Boden des selektiv eingeengten
Bewußtseinsinhalts ebenfalls wieder organisch herauswachsenden
Vorstellungsfälschungen sollen als einfacher reiner Affektwahn
bezeichnet werden. Die einfachen Affektwahnvorstellungen unter¬
scheiden sich von den optimistischen und pessimistischen Vorstellungen
nur graduell, sie sind die folgerichtige Weiterbildung der bereits dort
charakterisierten, der realen Wahrnehmung und Erinnerung ent¬
stammenden Vo stellungskreise. Aus dem primär pessimistischen
Vorstellungskreis der somatischen Selbstempfindung entwickeln sich
die hypochondrischen Wahnideen, aus dem der psychischen Selbst¬
erapfindung vorwiegend die Kleinheits- und Unwerts-, und aus dem
sekundär pessimistischen Vorstellungskreis der Vergangenheit und
Umwelt vorwiegend die Versündigungs- und Unglücksideen. Die
einfachen Affektwahnideen unterscheiden sich von ihrer Vorstufe
hauptsächlich dadurch, daß sie von der diffusen Verfälschung großer,
allgemeiner Vorstellungskomplexe ins einzelne fortschreiten; so werden
wir die Meinung, schwer körperlich krank zu sein, hier als den Wahn
wiederfinden, etwa die Kehlkopfschwindsucht zu haben, oder den
pessimistischen Selbstvorwurf, die Familie ins Unglück gebracht zu
haben, zu der unumstößlichen Idee gesteigert sehen, die Frau habe
sich ertränkt; dabei wird wohl stets durch eine belanglose Körper¬
sensation, ein flüchtig aufgefangenes Wort, eine abergläubisch ge-
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440
Kretschmer
deutete kleine Beobachtung usw. die spezielle Gedankenrichtung
gegeben, die nun in dem pessimistisch selektiv veränderten Bewußt¬
seinsinhalt keine Korrektion mehr findet. Oder die Weiterentfemung
vom Bereich des Möglichen geschieht einfach durch Steigerung, wenn
z. B. der Schaden, den der Kranke durch einen kleinen Geschäfts¬
fehler angerichtet zu haben glaubt, nun etwa nicht mehr 50 Mark,
sondern einige 1000 Mark beträgt; hier ist das rein Graduelle des
Unterschieds noch viel selbstverständlicher. — Es würde zu weit
führen, neben diesen Wahnbildungen der einfachen Depression, die
das Typische der reinen Affektwahnbildung klar hervortreten lassen,
die Angstideen, soweit sie sich von den rein depressiven inhaltlich
unterscheiden, im einzelnen zu besprechen, da die Ungeklärtheit der
psychologischen Stellung des Angstaffekts hier hindernd im Wege
steht. — Die manischen Wahnideen sind selten reine Formen, sondern
fast stets Mischprodukte der Affekt- und Assoziationsstörung, auf
die später zurückgekommen werden soll.
Auf der Höhe heftiger, vor allem depressiver Affekte kann nun
die Selektion des Vorstellungsinhalts, die Einengung des geistigen
Gesichtskreises exzessive Grade annehmen. Eine Anzahl gesunder
Vorstellungen kann dabei ganz gewöhnlich noch vorhanden sein,
wie die richtige Beantwortung von Orientierungsfragen u. ä. beweist,
allein sie sind völlig beiseite gedrängt, farblos, spielen im Gedanken¬
ablauf und damit in der Urteilsbildung gar keine Bolle mehr. Es sind
Zustände, wie sie lebhaft an die in schwerer, gemütlicher Erschütterung
durchwachten Nächte Gesunder erinnern, wo stundenlang in quälender,
eintöniger Regelmäßigkeit eine Reihe von wenigen Gedanken immer
wieder in sich selbst zurückkehrt. Und gerade dies bezeichnet auch
die klinisch wohlcharakterisierte kleine Gruppe krankhafter Gedanken-
bildungen, die man „phantastischen“ Affekt wahn nennen
könnte.. Daß hier unter der Einwirkung stärkster Unlustaffekte auf
den hochgradig eingeengten und völlig pessimistisch umgewerteten
Vorstellungsinhalt jeder Maßstab, jede vergleichende Kritik unmög¬
lich werden muß, besonders wenn bei der häufig hinzutretenden
Bewußtseinstrübung die Verbindung zwischen den Einzelvorstellungen
sich zu lockern beginnt, braucht nach dem früher Gesagten wohl nicht
mehr bewiesen zu werden. Der Vorstellungsinhalt wird ein phan¬
tastischer, d. h. er überschreitet nicht nur die Grenze des individuell,
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Wahnbüdang und manisch-depressiver Symptomkomplex.
441
adern auch des allgemein menschlich Möglichen. Hierher gehören
e schweren Angstzustände, wie sie wohl KraepeMns depressivem
r ahn8inn zum Teil zugrunde lagen. Als Beispiele wähle ich die von
ubner in den klinischen Studien über die Melancholie als Illustration
oen jener Kraepelinschen Krankheitsgruppe veröffentlichten Beob-
chtungen (Fall 5 und 6). Unter heftigsten Angstparoxysmen, unter
Schlaflosigkeit und sinnloser Agitation entwickelt sich ein eng ab-
»egrenzter Vorstellungsinhalt, wie ihn das folgende Zitat wiedergibt:
,,Sitzt händeringend aufrecht im Bett, weint und jammert mit leiser
itimme vor sich hin. Nach dem Grunde ihrer Angst befragt, antwortet
ne: Sie sei die schlechteste Person auf der ganzen Erde. Sie habe die Welt
angezündet, jetzt brenne alles auf Erden. Die Häuser ständen in Flammen,
die Menschen müßten sterben, sie höre deren Geschrei. Die Leute um
sie herum seien keine richtigen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern
nur Gestalten, ihre Angehörigen seien tot, sie selbst sei innen hohl, eigent¬
lich auch schon tot. Man solle ihr nichts zu essen geben, denn sie sei ein
fluchbeladenes, unwürdiges Geschöpf und verdiene kein Mitleid. Die Türen
des Hauses seien zugemauert, sie solle nie mehr herauskommen, habe es
ja auch nicht anders verdient. Ist zeitweise nicht im Bett zu halten, steht
auf, um vom Fenster aus die brennenden Häuser zu sehen“ (Fall 5).
Ebenso Fall 6: „Pat. ist im Bett nicht zu halten, läuft fortwährend
schreiend umher. Sei die schlechteste Person auf der Welt, habe alle
Menschen auf Erden umgebracht; die Menschen, welche sich in ihrer
Umgebung befänden, seien keine richtigen Menschen. Die Stadt sei in
einen Schutthaufen verwandelt, sei untergegangen und zwar durch ihre
Schuld. Die Pflegerinnen seien keine richtigen Menschen, sondern wandernde
Figuren. Sie hätten zwar Körperformen wie lebendige Menschen, aber
sie seien nicht mehr lebendig. Das Haus sei ein Gefängnis. Darein habe
man sie auf Lebenszeit gesperrt. Sie solle zur Strafe für ihre Sünden
hier ewig büßen. Essen solle man ihr nicht reichen, sie verdiene keins,
denn sie habe die ganze Menschheit verschlungen. Sie sei auch verändert,
ihr Fleisch sei verändert usw.“
Die Behauptung mag paradox klingen, daß diese Gedanken im
Grunde gar nicht phantastisch sind; d. h. dieser Ausdruck ist nur in
dem Sinne richtig, daß sie für einen gesunden Hörer vom Standpunkt
seines Seelenlebens aus fremdartig wirken, aber nicht in dem Sinne,
daß sie die Ausgeburten einer herrenlos schweifenden Phantasie wären
und nicht vielmehr dem Zwange der psychischen Gesamtverfassung
gesetzmäßig entsprängen. Sie erweisen sich bei näherem Zusehen
ebenfalls wieder als wahnhafte Weiterbildungen derselben, real be¬
dingten Vorstellungskreise, denen wir seither begegnet sind. Es ist
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Kretschmer,
nichts anderes, als das entstellte Bild von Ich und Außenwelt, wie
es der Spiegel der affektiv extrem verschobenen Psyche zurückwirft,
ein Bild völliger Leere und Verwüstung, wo die quälende Selbst¬
empfindung der gähnenden inneren Leere sich bis zu dem Gefühl
körperlicher Hohlheit verdichtet, wo die ratlos gehemmten Gedanken
überall an verriegelte und vermauerte Pforten stoßen, wo jeder lebendige
Eindruck sofort klanglos zu Boden fällt, so daß die Welt zuletzt als
ein einziges stummes Leichenfeld erscheint, in dem die Personen der
Umgebung als körperlose Schatten hin und her huschen, — um im
nächsten Augenblick vor dem Delirium wilder, verzweifelter Selbst¬
anklage in einem grausigen Brande aufzuflammen, aus dem das Geschrei
der Unglücklichen herübertönt. — Ist das Phantastik? so wenig,
daß man von innerer Wirklichkeit sprechen möchte; das alles ist die
getreue Wiedergabe des Weltbildes, wie es der Gesunde niemals haben
kann, wie es aber der gehemmte Affektkranke in manchen Fällen not¬
wendig haben muß: so sieht es im Innern eines schweren Melancholikers
wirklich aus. Gerade hier läßt sich der strikte Beweis erbringen, daß
Wahnbildung nicht ein Einzelsymptom ist, das man entweder als gleich¬
gültiges Nebenprodukt des Krankheitsprozesses vernachlässigen oder
gar als Ausdruck irgend einer unklaren, selbständigen Intellektstörung
dem übrigen Krankheitskomplex gegenüberstellen dürfte. Wir werden
doch nicht von Zufall sprechen wollen, wenn in beiden Fällen Hübners
ein geschlossener Ideenkreis fast in jeder Einzelvorstellung sich bis zur
Wörtlichkeit entspricht, der genau synchron dem Affekt sich ent¬
wickelt, genau mit diesem abklingt, der sofort abgeschnitten ist,
wenn, wie in Fall 6, der depressive in einen manischen Affekt um¬
schlägt, und der später mit dem alten Krankheitsbild stereotyp wieder¬
kehrt; sondern wir werden anerkennen müssen, daß ein gleicher Vor¬
stellungsinhalt unter den gleichen Umständen wörtlich sich wieder¬
holt, weil er durch eben diese Umstände bis ins einzelne gesetzmäßig
determiniert ist. — Dieser „phantastische“ Affektwahn unterscheidet
sich in jedem Punkt aufs schärfste von anderen, später zu besprechenden
Formen „phantastischer“ Wahnbildung, wie sie durch die Fälle K.
und Tr. repräsentiert sind, und die ganz anderen Gruppierungen
manisch-depressiver Grundstörungen, wenn auch ebenso gesetz¬
mäßig entspringen.
Fassen wir das Resultat der bisherigen Untersuchung
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'rigirMj
444
Kretschmer,
Vorstellungsgruppen; wir sehen im Verlauf von Tagen und Stunden
die Ausdehnung des optimistischen und pessimistischen Gebietes
gleichsinnig der Affektlage in weiten Grenzen schwanken; stets finden
wir auch innerhalb dieses Grenzgebiets eine mehr minder große Un¬
sicherheit der Wertung der Einzelvorstellung, die schon in ihrer Beein¬
flußbarkeit im Gespräch zum Ausdruck kommt, und die zu den
Schwankungen des Gefühlstons in genauer Parallele steht. — In dem
Moment aber, wo die besprochene Anordnung der Vorstellungsgrtippen
manifest zu werden beginnt, steht der manisch-depressive Paranoiker
(nicht identisch mit dem Paranoiker schlechthin) vor uns. Denn das
paranoische Zustandsbild im engeren Sinne ist determiniert 1. durch
die optimistische Wertung der eigenen Persönlichkeit, 2. durch die pessi¬
mistische Wertung der Handlungen und Absichten der Umwelt und
3. das unklare Schwanken des Gefühlstons jeder neu auftauchenden
Wahrnehmung gegenüber, wie es vom Subjekt charakteristisch als
mißtrauische Unsicherheit empfunden wird. Es ist wohl einleuchtend,
daß aus dieser Symptomgruppierung heraus eine von den seither
besprochenen Typen ganz verschiedene Form der Wahnbildung
erwachsen muß, indem einmal der Antagonismus der beiden gleich¬
starken Wertungsprinzipien die Selektion und Einengung des Vor¬
stellungsschatzes nach dem Mechanismus der reinen Affektwahn -
bildung verhindert und indem die von Augenblick zu Augenblick
fluktuierende Wertung im Grenzgebiet jedem neu auftauchenden
Detail gegenüber eine Überproduktion von Urteilen, Schlüssen und
Vermutungen hervorruft, die wir als Beziehungswahn bezeichnen,
während der Umriß des Wahnsystems durch die polaren Vorstellungs¬
komplexe fixiert bleibt. Dieser Beziehungswahn, diese gesteigerte
vorstellungsmäßige Produktivität charakterisiert die Wahnbildung
der Übergangsphase gegenüber der Vorstellungsverarmung des reinen
Affektwahns (die manische Vorstellungsproduktivität ist nicht durch
den Affekt bedingt). Für die entwickelte spezielle Auffassung des
zirkulär-paranoischen Zustandsbildes, das als Produkt der Über¬
gangsphase hauptsächlich von Specht und Laehr beschrieben wurde,
soll hier ein kurzes Beispiel eingefügt werden.
M. J., Bauer aus R. Hereditär wenig belastet. Von Hause aus
wenig intelligent, geringe Kenntnisse, enger Horizont. Erkrankte erst¬
mals Sommer 1911 im 46. Lebensjahr im Anschluß an schlechte Heuernte
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex.
445
an reiner Depression mit Lebensüberdruß, Angstideen (solle eingesperrt
werden usw.), ausgeprägter motorischer und Denkhemmung. War von
Oktober bis Dezember 1911 in Behandlung der Tübinger Klinik. Eine
leichte Depression hielt noch nach der Entlassung an bis Frühjahr 1912.
Dann begann er sehr frisch und unternehmend zu werden, kaufte Wiesen
und Vieh, „um einmal vorwärtszukommen“, alles auf Schulden. Im Spät¬
sommer zunehmende Gereiztheit; glaubte sich durch einen Feldnachbarn
rechtlich benachteiligt, querulierte, machte dem Schultheiß Grobheiten,
schimpfte auf den Gemeinderat. Im Herbst 1912 allmählicher Übergang
in reine Depression, Lebensüberdruß, keine Gedanken mehr, kein Ent¬
schluß zur Arbeit mehr. Zu Hause so herumgesessen bis Frühjahr 1913.
Wie es dann aufs Feld hinausging, wurde er wieder recht munter und auf¬
geregt, pfiff und sang, kaufte Vieh auf Schulden und hielt sich für einen
reichen Bauern. Im Herbst 1913 schlug die rein gehobene Stimmung um;
anläßlich eines kleinen, bei ihm verübten Obstdiebstahls, kam er zu der
Ansicht, es geschehe ihm Unrecht, weil der Schultheiß auf seine Anzeige
hin nicht gleich Schritte getan hatte. Er verfolgte die Sache mit großer
Hartnäckigkeit, überlief den Schultheißen, ging vors Oberamt; trotzdem
dieses die Bestrafung der Diebe veranlaßt hatte, beruhigte er sich nicht,
sondern ging als oberamtlich bestellter Feldschütz, wie er behauptete,
auf den Feldern umher, um alle vermeintlichen Obstdiebe zu notieren
und gelegentlich sogar mit dem Messer anzugreifen. Zuletzt kam es soweit,
daß er das ganze Dorf gegen sich verschworen glaubte. Er stieß Drohungen
aus gegen eine Anzahl Bürger, die er für seine Hauptwidersacher hielt.
Seine Furcht vor Verfolgung stieg soweit, daß er überall, wo er ein paar
Leute zusammenstehen sah, glaubte, sie wollten ihn angreifen und tot¬
schlagen; auch nachts hatte er keine Ruhe mehr, sondern suchte bewaffnet,
in Begleitung eines großen Hundes die Umgebung seiner Wohnung ab.
In der Tübinger Klinik, wo er vom 2. Oktober bis 9. November 1913
aufgenommen war, war er erst leicht gedrückter Stimmung, dann zu¬
nehmend gereizt, querulierend, unzufrieden, mißtrauisch, auch gegen
die Klinik (seine Briefe würden nicht abgesandt, man wolle ihn zu Unrecht
hier zurückbehalten u. ä.), zum Schluß wieder zugänglicher, eher etwas
gehobener Stimmung. Aber auch im Verlauf jedes einzelnen Tags war
seine Gemütslage oft außerordentlich wechselnd. Oft konnte man ihn
morgens im Bett sitzend antreffen, wie er mit erhobener Stimme, lebhaft
glänzenden Augen und energischer Geste betonte: „Zu Unrecht bin ich
hier, zu Recht komme ich wieder heraus, Recht muß Recht bleiben“;
oder: „Ich verklage sie, ich bringe sie alle vor Gericht“. Wenige Stunden
später schlich er in matter Haltung auf dem Gang umher und erzählte
auf Befragen, sich die Tränen aus den Augen wischend, wie er allenthalben
und von jeher gedrückt und niedergetreten werde, wie jedermann die
Schuhe an ihm abputze, wie zu Haus jetzt alles verderbe; daß er hier
sterben müsse und nicht mehr nach Hause komme. Oder er begann ein
Zeitaohrift tOr Psyohiatrie. LXXI. 3. 31
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446
Kretschmer,
Gespräch, indem er mit euphorischem Gesicht seinen Wohlstand, sein
schönes Vieh usw. schilderte, um zu Schluß desselben in beweglichen
Worten zu klagen, wie der Giebel seines Hauses dem Einstürzen nahe sei,
ohne daß die Gemeinde, gemäß ihrerVerpflichtung armen Leuten gegenüber,
denselben herstellen lasse. Einmal erzählte er mit Selbstbewußtsein,
wie er mit seinem Schultheißen auf der Straße einen Wortwechsel hatte,
zu dessen Beschluß er diesem erklärte, er sei ein schlechter Kerl, er habe
es beim Militär nur zum Sch.. .hausputzer gebracht, um damit seine
eigene Schlagfertigkeit zu illustrieren. Zwei Tage später erzählte er dieselbe
Episode wörtlich, nur mit dem Unterschied, daß der Schultheiß ihn mit
diesem Schimpfwort beleidigt habe — um nun zu zeigen, wie er wehrlos
von jedermann unterdrückt würde. Sein Wahnsystem hielt er während
der ganzen Zeit fest.
Die Krankengeschichte dieses Bauern, der in einem geschlossenen
Zyklus 2 Jahre lang im Frühjahr pfeift, singt und einkauft, im Herbst
queruliert und sich mißtrauisch verfolgt wähnt, um im Winter in
Angst und Lebensüberdruß zu versinken, zeigt in charakteristischer
Weise die Stellung der Paranoia als Mittelglied zwischen der hypo¬
manischen und melancholischen Phase. Wir sehen, wie in die reine
Gehobenheit des Frühjahrs sich nach und nach immer mehr Unlust¬
elemente einführen, so daß sie über die selbstbewußte Gereiztheit
allmählich in mißtrauische Verfolgungsangst und von da in reine
Depression übergeht; wir sehen, wie auch innerhalb der paranoischen
Phase selbst die Gemütslage durch den Antagonismus der beiden
gegensätzlichen Affektrichtungen bestimmt ist, von denen nach
Tagen, Stunden und Augenblicken bald die eine, bald die andere
die Oberhand gewinnt. Aber auch bei extremen Ausschlägen nach
der depressiven Seite bleibt ein Rest optimistischer Beurteilung,
das Bewußtsein des eigenen Rechts, an dem Ichkomplex haften,
ebenso wie auch dem gehobensten Selbstgefühl der bittere Neben¬
geschmack fremder Gemeinheit nie verloren geht. Sobald dieser
letzte Rest verschwände, wäre das Zustandsbild reiner Depression
bzw. Manie gegeben, denen sich der Patient in manchen Augenblicken
stark annähert. Diese beiden gegensätzlichen Vorstellungsgruppen,
die optimistische der eigenen Vortrefflichkeit und die pessimistische
der Schlechtigkeit gewisser Nebenmenschen, bilden die festen Pole
seines paranoischen Zustandsbildes, den allgemeinen Umriß seines
fixierten Wahnsystems, dessen spezieller Inhalt, genau wie beim
reinen Affektwahn, aus realen Erlebnissen sich organisch heraus-
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex.
447
entwickelt. Und zwischen diesen affektiv fixierten Polen kommt
das Schwanken der Wertung des Detailerlebnisses im vorliegenden
Krankheitsbild aufs schönste zum Ausdruck, das, wie die Episode
mit dem Schultheiß zeigt, bis zur vollkommen gegensätzlichen Um¬
wertung derselben Tatsache in der Richtung des momentanen affek¬
tiven Ausschlags gehen kann. Abgesehen von der mangelnden Aus¬
bildung feiner, detaillierter Beziehungsideen, die in der geringen
geistigen Beweglichkeit des wenig intelligenten Patienten ihre Er¬
klärung findet, ist dieser Fall für den psychologischen Mechanismus
der zirkulären Paranoia paradigmatisch.
Wenn nun seither der Zusammenhang krankhafter Vorstellungs-
bildung mit den drei Kardinaltypen zirkulärer Affekte, dem reinen
manischen Lustaffekt, dem reinen melancholischen Unlustaffekt und
der genau um die Mittellinie schwankenden gemütlichen Zwischen¬
lage der mißtrauischen „Paranoia“ betrachtet wurde, so ist damit
der Reichtum zirkulärer Affektwahnformen keineswegs erschöpft.
Denn der weite Affektabstand der Manie zur Melancholie ist aus¬
gefüllt von einer unendlichen Skala von Stimmungsnuancen von der
beinahe rein manischen, leicht gereiztenGehobenheit bis zu derbeinahe
rein melancholischen Verfolgungsangst, der sich die ersten Spuren
selbstbewußter Reaktion beimischen. Und ihnen entspricht das ganze
Heer von Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen von der zornigen
über die mißtrauische bis zur ausgesprochen ängstlichen Färbung.
Sie bedürten als Übergangsformen keiner gesonderten Besprechung.
Noch viel mannigfaltiger aber sind die Übergangsformen, die Bei¬
mengungen aus den anderen Quellen manisch-depressiver Vorstellungs¬
verfälschung enthalten, denen wir uns nunmehr zuzuwenden haben.
Es wurden schon an früherer Stelle die kleinen Gruppen von
Wahnbildungen herausgestellt, die in den Fällen K. und Tr. den
mehr weniger reinen oder gemischten Affektwahnformen entsprechen.
Sie sind auch zu Beginn der Krankheit selten ganz typisch und schon
stark mit Wahnelementen anderer Genese vermischt. Später ist diese
Quelle der Wahnbildung fast nur noch in der optimistischen bzw.
pessimistischen Verfärbung des gesamten Bewußtseinsinhalts erkenn¬
bar, von der auch die Wahnideen mitbetroffen sind, die im übrigen
eine ganz andere inhaltliche Struktur zeigen. Dies ist selbstverständ¬
lich, weil in den späteren Stadien nicht mehr die Affekte, sondern die
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448
Kretschmer,
sensorischen Störungen und die Anomalien des formalen Gedanken¬
ablaufs das Krankheitsbild beherrschen.
In der Tat werden wir die Annahme nicht umgehen können,
daß es sich bei unseren Kranken um eine selbständige sensorische
Störung, d. h. um eine primäre Störung des Empfindungs-
vorgangs mit zentralem Ursprung handelt. Gewiß zwingt nicht jedes
Auftreten einer Sinnestäuschung zu dieser Interpretation; finden
wir doch schon die bisher besprochenen affektiven Wahnbildungen
da und dort durch sporadische Sinnestäuschungen verstärkt (vgl.
beim phantastischen Affektwahn), die nur auf der Höhe des Affekts,
besonders bei leichter Bewußtseinstrübung, auftauchen und sich
zwanglos durch die Einwirkung abnorm lebhafter Affektvorstellungen
auf einen normalen sensorischen Apparat erklären lassen. — Daß der
Affekt im vorliegenden Fall keine wesentliche Rolle bei der Ent¬
stehung der Sinnestäuschung spielt, lehrt ein Blick auf die Kranken¬
geschichten; die vorübergehenden, leicht deliranten Zustände können
in diesem Zusammenhang außer acht bleiben. — Auch die Störungen
des Vorstellungsablaufs mit dem unmittelbaren, lebhaften In-den-
Blickpunkt-Treten der Gedanken genügen nicht zur Erklärung, denn
diese Lebhaftigkeit findet sich bei der manischen Denkstörung ganz
gewöhnlich, ohne daß es deshalb in der Mehrzahl der Fälle zu Sinnes¬
täuschungen käme. Vielmehr läßt sich dieses fortwährende Hallu¬
zinieren bei Abwesenheit jeder stärkeren psychischen Emotion nur
aus einer krankhaft gesteigerten Resonanz erklären, die schon die
gewöhnlichen Reize in den Entstehungsstätten des psychischen Wahr¬
nehmungsvorgangs, den zentralen Perzeptionsfeldern finden, eine
Auffassungsweise, wie sie, von Kahlbaum, Kraepelin u. a. mit ein¬
leuchtenden Gründen gestützt, ziemlich allgemeine Anerkennung
genießt. Es liegt nahe, im speziellen Fall diese psychosensorische
Erregung als zwar inkonstantes, aber typisch manisches Symptom
aufzufassen, das zu der psychomotorischen Erregung in genauer
Parallele stünde. Denn es sind auch sonst in der Literatur Fälle be¬
schrieben, wo die Sinnestäuschungen eine ganz selbständige, domi¬
nierende Rolle im manischen Zustandsbilde spielen, und wo ihr Zu¬
sammenhang mit einer Erregung des zentralen Empfindungsapparats
beinahe mit Händen zu greifen ist. Hierher gehört insbesondere der
von Goldstein ausführlich beschriebene Fall, wo neben psychomotorischer
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Wahnbildnng oud wenis<k 4 epw»ssi'ver Sviu|Uauikompk.y, 449
■i'-^rung und fehfofttt ideeiiihiehi subjektiv ein, (piilleiHlee Gefühl
uktt g'enehiüer • Schärfe*.? aller SmRoseiniiri.iek«; ei« jienilicher Zwang
AXlets. -beachten-inttssews und ob^ktiv-eWe Fülle von Halluzinationen
i,i eut wiekeliu die exquisit durch. indifferente äußere Situweize.
y-büeliWt wviükh und sieh auf diesem Wege experimentell studieren
fiten. Es Gt bemerkenswert. ckß diese exugen ansgelusren «Siiutey-
v^cbiing^ii kd?u‘» tnt£cbeid<mden Einfluß auf die Bildung des
U-sfeilimjpmhaits gewannen, daß das IMividuum Ihrkrr afo tdwa#
»ßerlichem. Fremdem einigermaßen objektiv gegoniiberriätui Diese
Htreiie Auslosung findet rieb auch in der «weiten Erkrankung von
■1. Tr., wo me die Geräusche des Brnncliiaikafarrlis zu bedrohenden
Vvmmeu ;»$?in^lfert!« y - ; gartz;nach' Art der Patientin Tn-
ieweit bei de? lit^nkheitsgenese rau Frais IC du- lörtanbnng und
\y dadurch etwa bedingten Reramtände im peripheren Srnnesorgan
k auslritiendes. die Entstellung vsn $nneri äus chubgen
Vom ent miigewirkt haben, mögen. entzieht sieh einer sicheren ße-
u'feilimg; eine sökhe Äasahtne ist aber m it Rücksicht «ul ander¬
weitige, bei Taubheit gern achte Beobachtungen nicht ünwfUifsehrinlieh.
>iclierlich spielen auch späterhin periphere Reize; unklare körperliche
Mtöenipfindnngeni u. ä. bei beiden Kranken eine gewisse Rolfe, aller-
ding* nur twbrnsäehlicher Art: rlomi eine derartige Beziehung ist
häufig gar nicht, dagegen der Zusammiudtang mit den inlrapstehfeehen
Vorgängen, da* Her^nswin'hseii ftgfr dem idkigefi Vomteliungsafilaid
-’ tir «hmrleT zu erkcruien. . Die Auslosung der" ÖlihÄ^tlbshh.ung-ist.
cdm hier eine totsgexprocheu !'i)d<*geiie. reperzeptiyd im ..Sinne. Ä'u/d-
Tiid diese emume Erleichterung der Keperzepthyn, die wir
um HaUbimsu .?i'-- einen hht wendigen, im gesunden Lebe» beständig
•o.h vollziehenden und im Falle der Sinnestäuschung nur pathologisch
•nsieigeru'H .Sccleiivurgniig attf fassen,. ist Mir die Ausbildung des
•••peztfls.ebcH Bewvjßtseinsiiihalts unst'rer Kranken mul damit Fr die
grväint-g'föitwiekUmg ihrer Psychose von entscheidender Bedeutung.'
Fm -aber 'len speziellen Mechanismus dieses Reperzeptions-
iti '.tWi vorliegenden Fähen zu ’.'■yrntpherc werden wir. das
üehiet ■;#$. psy dusche» . £&& die
lK-rigen Tntereuchuwgen bewep,teÄ;.'Yorläidig verlassen müssen und
hgs den Verbindungen der. psyeidschen Elemente. 'der Betrachtung
. iles A rim ?,i a tlo ns a b l a,u ft» vzuzUwendeii haben. ICi Wurde schon
Co gle
450
Kretschmer,
an früherer Stelle ausgeführt, daß die Denkstörung unserer Kranken
nur als Ideenflucht auf gef aßt werden kann; es wurden auch bereits
die eigenartigen Vorstellungsgruppen geschildert, die sich auf dieser
Grundlage entwickelt haben; wenn wir uns die unterste Stufe der¬
selben, die einfachen, lockeren, vergänglichen Fehlgedanken nochmals
vergegenwärtigen, so zeigt es sich, daß sie sich in nichts von den Ge¬
dankengebilden unterscheiden, die uns von den typischen Manien
her geläufig sind, und die wir gemeinhin als ideenflüchtige Ein¬
fälle bezeichnen. Gibt es doch Manische, die solche abenteuerlichen,
abrupt auftauchenden, mit Lebhaftigkeit vorgebrachten und rasch
wieder versinkenden Vorstellungsgruppen, die stets halb geglaubt
und halb nur spielerisch hingeworfen werden, in großer Menge produ¬
zieren, deren ganze Vorstellungstätigkeit sich oft tagelang völlig in
solchen Gebilden erschöpft.
Es befindet sich gegenwärtig in der Tübinger Klinik ein solcher
Kranker, J. S., Schuhmacher aus D., der nun schon zu wiederholten
Malen eine Psychose vom Typus der gereizten Manie mit depressivem
Initialstadium und durchgängiger Labilität nach der depressiven Seite
hin durchmacht, und der jedesmal im ersten flotten Anlauf der Erkrankung
ununterbrochen, unerschöpflich Einfälle produziert. Genau, wie unsere
Kranken, vermag er, sobald man ihn fixiert, über seine gesamte Ver¬
gangenheit, über den Zusammenhang seiner Verbringung in die Klinik,
über seine Person und seine Umgebung richtig und bis ins einzelne Aus¬
kunft zu geben. Andernfalls aber erzählt er tagelang unermüdlich: Zigeuner
hätten ihn von Japan herausgebracht und nach D. verkauft. Er sei mit
Dr. Faust auf einer Kanonenkugel durch die Luft geflogen. In seinem
8. Lebensjahr sei der Teufel als ein schwarzer Mann neben ihm gestanden
und habe gesagt, er soll sich hängen, er soll sich die Pulsader aufschneiden;
er aber habe ihm einen Schlag gegeben, daß der Teufel davongefahren sei.
Heute nacht ist die Eva bei ihm gelegen, die Schlange, jetzt noch sitzt
sie drüben im Saal. Einmal ist er an einem Kreuzweg dem wilden Heer
begegnet; er hat dann einen Herzschlag bekommen und ist 4 Wochen
lang tot gewesen. Er ist Napoleon VIII., stärker als alle, bricht eiserne
Stangen ab und hält Löwen den Rachen zu. Man will ihn vergiften, ein
Nihilist aus D. stellt ihm nach; seine Frau hat ihn verraten usw. — Ist
er stärker gereizt oder überhaupt affektiv erregt, so bringt er all diese Dinge
mit Leidenschaftlichkeit und innerer Überzeugung vor; er wird sofort
heftig, wenn man ihm irgendwie widerspricht, um sie allerdings im weiteren
Gespräch rasch fallen zu lassen. Ist er mehr gleichmütig, leicht gehobener
Laune, so läßt er sich durch Suggestivfragen die abenteuerlichsten Be¬
hauptungen und Erzählungen entlocken, von Löwenjagden in Indien,
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex.
451
denen er jedes Stück seiner Jagdbeute beschreibt, seiner Reise in den
mmel usw. Fragt man ihn dann zum Schluß: das wäre doch wohl alles
r bare Unsinn, was er heute erzählt hätte, so erwidert er, ohne sich zu
sinnen: „Das ist alles nicht so ernst gemeint; ich bin eben nerven-
dend. Man sollte mir mein Gehirn herausmachen und ein anderes ein-
tzen.“
In dieser Probe finden wir die früher an unseren beiden Kranken
ltwickelten Hauptcharakteristika wieder: Die flotte Produktivität,
Ve „Lust zu fabulieren“, den bezeichnenden Gegensatz von An-
•haulichkeit und bizarrer Unlogik und vor allem das Schwanken
es Healitätswerts. Um die Beziehung dieses wichtigen und doch
i seiner inhaltlichen Eigenart bisher recht wenig beachteten manischen
orsteüungsgebildes, des einfachen ideenflüchtigen Einfalls, zu der
irmalen Grundstörung zu verstehen, ist es notwendig, das Wesen
es ideenflüchtigen Vorstellungsablaufs klar vor Augen zu haben.
Vir betrachten als solches den Mangel der Zielvorstellung im Ge¬
lankengang des Manischen bei noch erhaltenem assoziativen Zu-
ammenhang überhaupt. Wenn wir uns daran gewöhnt haben, im
sinne Wundts die psychischen Realitäten nicht als fertige Gegenstände,
sondern ihrem wahren Charakter entsprechend als werdende Vorgänge
zu denken, so werden wir es lieber vermeiden, von Zielvorstellung
*n sprechen, was doch notwendig den Gedanken eines fertigen Dinges
erweckt, das unverändert über den Einzelvorstellungen schwebt, und
weiden uns statt dessen des Ausdrucks mangelnde Resultanten¬
bildung bedienen. Denn die Resultantenbildung ist ja eben der
grundlegende Seelenvorgang, der unseren gesamten Vorstellungsinhalt
schafft; durch Resultantenbildung, d. h. dadurch, daß aus einer Anzahl
elementarer Empfindungen je die übereinstimmenden Züge zu einem
neuen psychischen Gebilde, einer einfachen Vorstellung, zusammen¬
laufen, die das Gemeinsame aus allen enthält und das Unterschiedene
als nebensächlich unterdrückt, und daß aus diesen einfachen Vor¬
stellungen auf dieselbe Weise Vorstellungen zweiter, dritter usw. Ord¬
nung hervorgehen, baut sich der seelische Inhalt aus zusammenhang¬
losen Einzelempfindungen über die einfacheren konkreten bis zu den
abstraktesten Vorstellungen, den großen Zusammenfassungen, den
letzten Endresultanten auf, wobei immer die nächst höhere die Ober¬
vorstellung der nächstniederen bildet. Wenn wir diese Auffassungs¬
weise auf die realen Verhältnisse, d. h. den Gedankenablauf in der
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452
Kretschmer.
Zeit übertragen, so nehmen wir wahr, daß dieser Vorgang fortwährend
stattfindet, daß jedesmal die nächstfolgende mit den nächst voraus -
gegangenen Vorstellungen Resultanten bildet, deren höchste, schema¬
tisch gesprochen, die jeweilige Zielvorstellung darstellt, nicht im Sinne
eines jedesmal bewußt vollzogenen komplizierten Urteilsprozesses,
sondern genau so, wie über einem Tongewebe, kaum bewußt wahr¬
genommen, die leisen Obertöne schweben; die Zielvorstellung ist also
nichts Konstantes, sondern ein mit jedem neuen Glied der Gedanken-
reihe neu zu Bildendes. Diese fortwährende Resultantenbildung ist
es, was, im physiologischen Maßstab vorhanden, die logische Kon¬
tinuität der Gedankengänge des Gesunden garantiert; ihre mangel¬
hafte Entwicklung bedingt die Eigentümlichkeiten der ideenflüchtigen
Gedankenreihe nach der formalen, wie nach der inhaltlichen Seite hin.
Der Mangel dieser fortlaufenden dichten Verflechtung von Ober¬
vorstellungen ermöglicht der ideenflüchtigen Vorstellungsgruppe das
plötzliche, zwanglose Aufschießen und Wiederversinken ohne Rück¬
sicht auf die vergangenen und zukünftigen und damit eine Massen¬
produktion von solchen Denkeinheiten, wie sie unter der sichtenden
Logik des normalen Gedankengangs ausgeschlossen ist; er allein er¬
möglicht auch die bis zu einem momentanen Realitätsgefühl sich
steigernde Lebhaftigkeit, mit der der Manische in seiner Idee aufzugehen
vermag, eine Lebhaftigkeit, die beim Gesunden durch die sofort ent¬
stehenden logischen Resultanten kritisch abgedämpft wird.
Nun ist allerdings die Wirkung der Denkstörung auf die Vor¬
stellungsgruppe als solche je nach ihrem Grad eine sehr verschiedene.
Bei leichtester hypomanischer Ausprägung vollzieht sich die Resul¬
tantenbildung innerhalb der Einzelgruppe vollständig, d. h. bis zur
logischen Zusammenordnung, die Ideenflucht wird nur in der mangeln¬
den straffen Zusammenfassung einer längeren Reihe solcher Einheiten
erkennbar. In der schweren Manie andererseits fehlen die Resultanten
überhaupt, damit ist die Bildung von Vorstellungsgruppen aus¬
geschlossen, der Kranke produziert nicht mehr Sätze mit Subjekt
und Prädikat, sondern nach primitivsten Assoziationsverwandt¬
schaften weitertreibende Wortreihen. Zwischen beiden Extremen
aber liegt der Fall, wo die Ideenflucht nicht nur den Zusammenhang
der Vorstellungsgruppen, sondern auch diese selbst lockert, ohne sie
jedoch völlig aufzulösen. Durch die unvollständige Resultanten-
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cdanken ziiaanirnejdaswTKlrn V»rstdluM^abiau{• «be> gesimdem ,er-
<aehsCneu KitltUi'nieoÄoht'n stehenij&nbeiiu der ?rtutf, adi der mh
uch das Kind dasi in sosReiii sfeiisf-iicj't
luFbnu iiordrnivUfr v<ui de?i konkreten Anschauungen über die £>i«£e
u Ihr«? Zvisara/nwif&Bsung' birtgeschfittert ist. " Das Kind
iaubt und ■erfaßt eine M&fchenidek desto lebhafter, mcJii je logischer,
ou.dern jo »öMjiadUditt #<? ist•>-genau.^ sdd tfer fd^nfiiKbtige ^etnev
'linfail Damit; sind wir-mtl abstraktem Wege auf. dem Pimkte .an-
pahgt. zu dem uns sokop früker dk empirische Verarbeitung der
krankheitehiidet geführt.' halte’ in dieser BelernKhmg wird uns auch
cler kindliche, naivruehtige Ton, in dem. die Kranken ihre/Ideen v»>r-
mingen. nicht als Zufall emdmbiek. Kassen wir das K esu trat der
l nt ersMürh.u Mengen produzierte,
mit du-fi! I faigehnng-sKfcumfjv” -It&k&r•ausarnmcnJbMiigfnde, rasch aul*
faucheiuie ^.dKraseh'’ fersgh^'iltdeKdc,; mit Lebhaftigkeit, erfaßte
die inhaltlich nicht
Vi *» der konkreten zw krischen ■Zuse.mmenordii.u.ng tortge.selmtt.en ist.
Aul ci »hoi bisher nur kurz berührten Funkt, das- Schwanken de«
ciiig^aügejy aterden. Ks beruht
^jjinal «Ulf den lugemehnfteH des Einfalls selbst; jpkann sieb einer-
•”*b' <W - logisch geordneten Vprstcllungsgruppe, andererseits der
'’Oeetiit.iett kietnßüeHtigen Won reihe beliebig annahcrii und dadurch
'^hWtigkeft,--. der Isoliertim ßeschlbsseninnt, der zwingenden
■1‘kf'üb'chkci.t weithin verlustig gehen, während der in jeder Beziehung
b'uisiKe Einfall, wie wir täglich beobachten können, in statu naseendi
'•iai-ü fast absoluten Be&Ütät* : >'«m bis zum Grade der Einbildungs-
taysHjy ßff erreichen kann. Much mehr aber wird das »Schicksal des
Ehrfaik. bestirirtiit divrch das psychische -Milieu, in das er hereihgeboren
^rd. Ks geht auis der Ictztaldzzi'erten ICrankcrigClelHciit* mit $&/
heutUchkch' imnröt und «.teilt auch bei den beiden Hauptfkilcn außer
^wirifcl, daß liier vriedeturn dte, ,\ftektlag>vfnr dinbSteihmg im gesamten
ßt?wnßt8wr>Hnh<ilr von großer Bedeutung; ist. ln der leicht gehobenen
454
Kretschmer,
hypomanischen Laune sind die Einfälle für den Kranken nicht viel
mehr als ein buntes Gedankenspiel, dem er sich aus reiner Freude
am Fabulieren hingibt; wenn man ihm sein ganzes Kartenhaus nachher
als Unsinli bezeichnet, so ist er lachend damit einverstanden. Sobald
aber diese Gedankenwelt unter die Herrschaft ausgesprochenerer
Affekte kommt, gewinnt sie bedeutend an Festigkeit, so daß sie bereits
ohne scharfe Grenze in das Gebiet der barocken Wahnbildung hinüber¬
greift. Wenn wir trotzdem unter bloßer Affektwirkung, wie der Fall S.
und auch die anderweitige Beobachtung zeigt, den Einfall kaum zu
einem wichtigen, bestimmenden Faktor im Gesamtseelenleben werden
sehen, so mag das, abgesehen von der mit Ideenflucht häufig verbundenen
Affektlabilität vor allem daran liegen, daß Affekt und Ideenflucht
sich in ihrer Wirkung auf den Vorstellungsinhalt deshalb schlecht zu
kumulieren vermögen, weil diese Wirkung das eine Mal auf den ein¬
engenden Gedankenzwang, das andere Mal auf das ungebundene
Gedankenspiel, also in entgegengesetzter Richtung läuft.
Während aber hier, nach der Seite der starken Affekte hin, der
Einfall eine gewisse mangelnde Affinität zeigt, ist er in einem anderen
Sinne recht eigentlich präformiert, nämlich in der Richtung der Sinnes¬
täuschung. Es gehört im kranken und eigentlich auch schon im ge¬
sunden Leben zu den schwierigsten Aufgaben, gesteigerte intra-
psychische Vorstellungslebhaftigkeit und sinnliche Realität von ein¬
ander abzugrenzen, besonders wenn die Produkte der ersteren, die
Einbildungstäuschungen als Erinnerungstäuschungen in zeitlichen
Abstand gerückt werden. Gerade die Lebhaftigkeit gehört aber zu den
Haupteigentümlichkeiten des Einfalls; und ist nicht die plötzliche
Unmittelbarkeit des Auftauchens und die logische Unabhängigkeit
eine Eigenschaft, die den Einfall im Mechanismus des Vorstellungß-
ablaufs neben die Sinneswahmehmung stellt? Wenn aber schon bei
normaler Funktion der zentralen Sinnesflächen der Einfall zur Ein¬
bildungstäuschung tendiert, so muß bei sensorischer Übererregbarkeit
in spezifischer Weise dasjenige Vorstellungsgebilde zur Entstehung
kommen, das dem gesamten Krankheitsbild der Fälle K. und Tr.
vollkommen das Gepräge gibt: der reperzipierte Einfall. Frau K.
gibt selbst die beste Beschreibung dieses Vorgangs, wenn sie in einem
ihrer Briefe, nachdem sie eben von Herrn v. H.s Tod gesprochen
hatte, plötzlich mit der Wendung „und man sagte mir soeben“ auf
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iavir tfeitt Lointiirli mit den Totwi'flecken gelben“: also ein Gebilde
im der typischen Struktur des Ehrfalis. da«? in lockerem, aber ent
rtven«tw>T*‘m asozial iren Zusammenhang; oü 6 der \mr angehenden
»iSankeiueilie {»Üdziieh eAfäprwirt <md m AuftaoeUeu hatin-
iftiert wmi. Ift fet kkr, dAU Mt'h«*- nur dom Hü?ett»>n Gedanka^iuMr
r#% Krufikei» bervorj/tArmtiirrao Yuf^Kiuu^eiiiG m c djkeh dv.‘<*
m».d,d*;»r sinn liehe Ivv.iiilit'itTm eine Fixation. ''inen 'Simpel UMni:.--
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ft-r 'Mi ^ebf''».. d;tp 3i:»-*W-Meb:.’V, >i Krankm «»--ittnii ZU ln-
iÄiTyciu'?! und alle, andere» Symptomn änlioräteh •/urüekzKUrönjrnr
fnt Gqpnwtz w eh^Uelfrto if^löB 'bäaidtüt «ei. sieh »b»o
H| v «W'hvv<M!. um »n-htt: *<>'• eihzelntm
•• k&nn. daß ■ der die RfipepzepÄbid nicht br %<ir, tbi.H'u-
r.-> t-i Lrctr-n »i-riern nur »In* Bildung vVm hlt-oa idauirujei
Uiüä**i»Gr i... )ibiiUiv.k"!? mit dm,, ötörakt# niiumYitt'»ßlft-her'<Vwißhv:<.
■ • ■ »der daß tiHr der rnkbeliHs H/diuziniMüm cdm» <«;».•!• r
'Wal.uidee eTttepröigt iidei du# - an; . remu-Zipiemn umi badln -
.dtuieft.»A BüifniJni sekimrliw'e ^ahuideört UuSict^t werden.
. . phutün-UseUer“ Wahubjldppg Bat cot üO•••!.•.
aeßor der hYeftid**%ireif'. ttiM’Biijidgiitdri'de?'normiden
;.uo . rl aiipt ;iiciit $ üeti’ieiu fhtv;
l *■>»!! tu douj TM&ilw*d\ftv SfJdulV. Krlnldno« de* AffoktP? hei'ihm?er
W>ih»ü.nli^t aiitl foklivü 1biU*w.
«oll in tfioseAt Zug&rtm&diAQg noch einmal kurz dhe inier-
i ; hnitt»n«-n beleuchtet nrnd-u. daß bei im.-e»'' n K'Mok-')'
• ••. '>•:•'»■ i jtjtttuii'c vi .sm rvpw'/ipiefi.en Ei'nMlVm •.• •... nnxetr
. VoUiei; unvorein.bfli'itu Wkiuudortn: iur Bewahrtem ongestort
UerUHifetif Und dcU ^ie : ebtWÜ tnÜü^'dtfef
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KW" ;••*•..!;■ ■brehori. «»b^Unehdie'l>iiiärt»»•: -u i' s* \y\v *.•? den»
[ §&wim ei^ibii Diese paraduxe %ni|>t()r:igrupinorirnd: absurd
■: . d}i»arsißhftH ohne r>erm-nz. bc-tuh* auf den hit-cn•
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Md Jv» ilor vii&f-H Vf*tb*.clutnig der Rosultanten tia g^iirfdhb Voi -
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456
Kretschmer,
hängt durch eine ununterbrochene Kette zusammen mit den zeitlich
immer entfernteren bis hinein in^den unterbewußten Gesamtvor¬
stellungsschatz; eine einzelne Vorstellung, die dem letzteren in irgend
einem Punkte nicht adäquat ist, kann somit den Blickpunkt nicht
passieren, ohne durch diese geschlossene Leitung die Gegenvorstellung
ebenfalls ins Blickfeld zu ziehen und so ihre Korrektion zu finden. —
Tritt aber die ideenflüchtige Vorstellungsgruppe ins Blickfeld, so ist
beim Fehlen genügender Resultantenbildung dasselbe vom übrigen
Vorstellungsinhalt abgeschnitten, die isolierte Vorstellungsgruppe
füllt das Blickfeld vollkommen aus mit der Lebhaftigkeit und
Souveränität, die sich an manischen Kranken täglich beobachten
läßt. Es besteht also gar nicht die Möglichkeit, daß die widerstreitenden
Vorstellungsgruppen in ein Blickfeld gebracht und urteilmäßig in
Beziehung gesetzt werden könnten.
Daß die der realen Sinneswahmehmung und die der früheren
gesunden Denktätigkeit entstammenden Vorstellungen bei unseren
Kranken von diesem Isolierungsprozeß nicht ergriffen werden, liegt
erstens daran, daß die der realen Sinneswahrnehmung entstammenden
Vorstellungen komplexer sind, als die reperzipierten, d. h. daß sie meist
aus verschiedenen Sinnesgebieten zugleich schöpfen und somit eine
viel ausgedehntere assoziative Verankerung haben; zweitens daran,
daß sie den Vorstellungen aus früherer gesunder Zeit gleichartig sind
und also mit diesen leichter Assimilationen einzugehen vermögen;
drittens daran, daß die letzteren durch die frühere gesunde Denk¬
tätigkeit fest und mannigfach miteinander verwebt und eng mit dem
Vorstellungskem der eigenen Persönlichkeit verknüpft sind, — daß
demnach keine von allen diesen Vorstellungen ins Blickfeld treten
kann, ohne zahlreiche zugehörige Vorstellungen nach sich zu ziehen.
So kommt es zu der ziemlich strengen Scheidung zwischen dem ge¬
sunden, festen Persönlichkeitskem und den gelockerten wahnhaften
Gedankenreihen, die ihn arabeskenartig umziehen. Diese Scheidung
ermöglicht das früher beschriebene merkwürdige Phänomen der
Wechselbild er. Aus dieser Scheidung erklärt sich auch die normale
affektive und willenmäßige Reaktion der Patienten auf ihre gesunden,
und die schwankende oder fehlende auf ihre wahnhaften Vorstellungen.
Damit sind wir am Schlüsse der symptomatischen Untersuchungen
angelangt, deren Resultate hier in einem kurzen schematischen Über¬
blick zusammengestellt werden sollen:
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex. 457
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458
Kretschmer,
Wenn wir nach alledem zu einer endgültigen klinischen Ein¬
reihung der beiden Fälle übergehen, so sind hier zunächst die Ver¬
blödungsprozesse auszuschließen. Eine Kranke, wie Frau K., mit
einem frischen, lückenlosen Gedächtnis für Altes und Jüngstver¬
gangenes, mit der Fähigkeit richtiger Orientierung, einem intakten
Persönlichkeitsbewußtsein und vor allem mit einem reichen ethischen
Gefühlsleben, fähig, mitzufühlen, zu lieben und zu zürnen, ein unver-
wischter, wertvoller und sympathischer Charakter von einem in seiner
Situation geradezu rührenden Altruismus bis zu den feinen Formen
gesellschaftlicher Höflichkeit (Dingen, die sich allerdings in einer
Krankengeschichte nur mangelhaft wiedergeben lassen), — eine solche
Kranke ist nicht dement. Daß die Affektlosigkeit wie die Unsinnigkeit
der Wahnbildung nicht nur nicht, wie ThaUritzer meint, in diesem
Sinne interpretiert werden müssen, sondern vielmehr hier nur in ganz
anderer Weise interpretiert werden können, ist an früherer Stelle
ausgeführt worden. Bei Frl. Tr. läßt sich eine Demenz nicht so durch
den ersten Blick auf das Zustandsbild ablehnen; gegen eine solche
spricht aber schon die symptomatologische Übereinstimmung mit
dem Fall K. und spricht mit aller Sicherheit die genaue Analyse von
Symptomen und Verlauf mit Rücksicht auf die Krankheitskategorien
im einzelnen.
Eine senile oder arteriosklerotische Verblödung führt
bei einer Dauer von vielen Jahren stets zu schwerer körperlicher
und psychischer Destruktion, zu groben Ausfallerscheinungen, die
bei unseren Kranken durchaus fehlen. Wenn die beiden Fälle aber
den Spätformen der Dementia praecox nahestünden, so müßten
ebenfalls nach vieljährigem Verlauf wenigstens Spuren schizophrener
Symptome bemerkbar werden; man wird wohl sagen dürfen, daß
diese beweglichen, produktiven, mitteilungsbedürftigen und affektiv
ungemein lebhaften Kranken in allen Punkten das gerade Gegenteil
von alten, schizophrenen Anstaltsinsassen sind, ganz abgesehen von
dem tiefgreifenden Unterschied in der Wahnbildung, der an früherer
Stelle entwickelt wurde. Auch die prinzipiellen Gründe, aus denen
eine Aufstellung selbständiger Krankheitsgruppen auf Grund der
Wahnbildung überhaupt und speziell im Sinne von Thalbitzers
manischem und depressivem Wahnsinn abzulehnen ist, sind
genau präzisiert worden. Was haben wir denn überhaupt für unsere
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WalmhJduDg und maniBch-depfe'Sajvpr %'mptomkömplex. 459
rkenntnis gewormeiu wenn wir'die■ Wahöbitdung an?-eine IßteUekt-
terankuniT .turückführee ? Wir halten damit dock ifßderes
n-gesagt, als daß eine Storung in der Bildung rm Urteilen eben
wl einer Urteiltöruiug beruhe, d, h. wfr.liabeii .‘das' 'V^tt
mer Seite auf die andere gelegt. Die Ajinalmie einer .^artitilien
rübune; der Kritik“, wie sie von anderer Seite gemacht wurde (Kmach
a, V, ist mtch daneben
involiziehbaf» VoreteUang. . Was" diagnostisch gegen die groben
bdektpsy «simsen angeführt wifde, gilt in geringerer« Eaß auch gegen
ife feitmretr Yüibn.hildwtden Verblodungsproze^e. die Kr-'m'Un
ooterdüigs »ls Paraph?ßüien ymsaininengefaßt har. Bei Frau K.
•'Fließt schon das hohe Lebensalter, bei Frl. Tr. die dreimalige Er-
a •»ukuös mit gesunden Zwischenzeiten eine solche idagöose. aus,
ranz abgeseheifi daruti, daß-heule "Fälle sieh vom den von Kriiepdin
gezeichnet«« Untergruppen in einxelnou manj.igfael» unterscheiden,
überhaupt ist eine sulche natitrfobe Freche in Handeln und AJlekt-
Traktion nach iwt Jedaru. anch leichtestem,
'Vrhlc*duiigs|>r«>/.eß ' wühl Mudtmkbär : ':
Er gibt unter den schweren Psychosen nur eme. die bei so langer
Bauer gerate diese Kernpunkte der PwsnnlichMt unversehrt, laßt,
dasM4&* manisch -depfFssivu Ifrestun. Die l^dto^^^täme
desselben wnrden tetils als Wechselnde ßrschdbtungPb <; teils als dauernd
korutitnim-nde (ir uMlagen in 1 teideü ivtaiiklieitsbildern nagligewiesen.
Ja diese Richtung Whist bei Frl. Tr. auch der perhitUsdie Verlaut
in vorwiegend inunKchen mit schwach ad&geprtig^eja; depressiven
Phasen. lijc Schilderung ihres Charakters aus früheren Jahre»;
bfjfr>r ; lebhaft, sehr' gesellig, gutmütig, tätig, ohedlächluh. selbst
bewußt — scheint sie in die Reihe der manisch gefärbten Konstitutionen
zu st eilen, die ja in höherem Alter ganz gewöhnlich dauernd und itvar
’* n mariischem Sinne nptgiehuai. Noch Äuschanlkdier aeigt der Full K.
das Hemuswadiseit der Psychose aus .dem Boden einer abnormen
Pharakteranlöge, die dem entspricht, was Kleixi.. ’.ver;n ich üm recht
wöpjftehe v als ..angst[ich-febh&fte Kbüstitutiim" bezeichnet. Was
puustitution der Frau K, Won einer im engeren Sinne psycho*
tuu.hisuhen durChäuC imterseheider, ist die Tatsache,, daß hier ein
H «ö'RWr.'öesanillieitiebetiftiäßig gebauter. ausgegUebener Ch-araJcter
Vf gi festgr. iniierer Stii%hr "ftp* ehh« $Md* gan« -l^htiii^ttteo; Seiten
Go gle
460
Kretschmer,
hin eine gewisse affektive Uberansprechbarkeit zeigt, so daß bestimmte,
schon im normalen Leben sich auf die entsprechenden Vorstellungs¬
gruppen legende Gefühlstöne hier generell gesteigert erscheinen,
wie es in der unermüdlich pflichttreuen, ängstlichen Besorgnis der
Frau K. um ihre Angehörigen und in der ebenfalls ängstlich gefärbten
starken Abneigung gegen alle Veränderungen in ihrem Lebenskreis
nach der Seite des Fremden, Unbekannten hin sich kundtut. Diese
konstitutionell abnormen Züge steigern sich Zusehens mit dem Eintritt
in höhere Lebensjahre, um unter Mitwirkung des äußeren Moments
einer starken Schwerhörigkeit ohne scharfe Grenze ins eigentlich
Psychotische überzugehen; das akute Einsetzen der schweren Sym¬
ptome im Herbst 1910 bedeutet nur die Exazerbation einer bereits
bestehenden, bisher schleichend verlaufenen Psychose. — Die beiden
Fälle entsprechen sich also auch hinsichtlich des Verlaufs, indem
beidemal, hier mehr kontinuierlich, bei Frl. Tr. mehr schubweise
mit dem Eintritt ins Greisenalter aus einer leicht abnormen Kon¬
stitution sich eine chronische Psychose entwickelt, eine Psychose,
die die Erleichterung des Denkens und Handelns im Verein mit einer
heiter bzw. ängstlich verschobenen Affektlage als Wesenszüge erkennen
läßt, dieselben Züge, die, noch in physiologischem Maßstabe vor¬
handen, der heiter-lebhaften Konstitution von Frl. Tr. und
der ängstlich-lebhaften Konstitution der Frau K. zugrunde
liegen. Nach einer geläufigen Auffassungsweise könnte man annehmen,
daß hier gewisse, von Hause aus zu schwach angelegte Teile der
psychischen Persönlichkeit, sei es durch bloße Abnutzung durch die
gewöhnlichen Lebensreize oder außerdem unter Einwirkung seniler
Involutionsprozesse (funktioneller, nicht grob anatomischer Natur)
versagen und dadurch die eigentliche Psychose in die Erscheinung
treten lassen, deren chronischer Verlauf in der durch das ganze Leben
vorbereiteten und im hohen Alter einer Reparation schwer zugäng¬
lichen Entwicklung mit Notwendigkeit bedingt ist.
Wenn wir nach alledem keinen Anstand nehmen, beide Fälle
dem z. Z. stark erweiterten Rahmen des manisch-depressiven Irre¬
seins einzufügen, so geschieht das mit vollem Bewußtsein des großen
Unterschieds, der diese chronisch verlaufenden, komplizierten
Wechsel- und Mischzustände des Greisenalters mit der
überwuchernden Ausbildung von Sekundärsymptomen von den
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Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex.
461
typisch zirkulären Psychosen trennt. So notwendig aber der erweiterte
Rahmen für eine großzügige Diagnostik ist, die von der scholastischen
Zerlegung von Paranoien und Wahnsinnsformen sich befreien will,
und die nicht Symptömchen sammelt, sondern Grundlinien zeigt,
so notwendig erfordert er eine gründliche Durcharbeitung der
verschiedenartigen Krankheitsbilder, die er umfaßt, in Einzel-*
Studien, um auf diesem Weg zur Gewinnung brauchbarer Unter¬
gruppen zu kommen, die dringend nötig sind, wenn wir nicht aus der
Oberflächlichkeit in die Unklarheit verfallen wollen. Kleist hat mit
seinem System autochthon und reaktiv labiler Konstitutionen, noch
über die Grenzen des manisch-depressiven Irreseins hinausgreifend,
diese Arbeit in Angriff genommen, und die Ansichten von Stransky
über manisch-depressives Irresein und Paranoia, von Wilmanns u. a.
tendieren in derselben Richtung. Die vorliegende Abhandlung kann
zu dieser wichtigen Aufgabe eben nur einen Beitrag liefern; es wäre
durchaus verfrüht, mit den geschilderten Fällen die Aufstellung
einer selbständigen Gruppe versuchen zu wollen.
Jedenfalls aber ist es für unser praktisches Handeln nicht gleich¬
gültig, ob wir den bizarren Wahnsinn dieser Kranken nach einem
oberflächlichen Blick mit dem Schlagwort „Demenz“ abtun, oder
ob wir uns entschließen, darin die lebendigen, wenn auch in Unordnung
geratenen Seelenvorgänge aufzusuchen. Denn im einen Falle werden
wir an dieser Fülle seltsamer Gebilde vorübergehen, achtlos, wie an
einem toten Trümmerhaufen, andernfalls aber werden wir hinter dem
Spiel wirkender Seelenkräfte, die uns auch dann noch anziehend sind,
wenn sie in Verwirrung durcheinandergreifen, die scheinbar ver¬
schüttete Persönlichkeit finden, die zu pflegen und zu erhalten unser
Beruf ist dort, wo wir nicht heilen können.
Literatur.
'
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Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 3 . 32
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Thalbitzer, Melancholie und Depression. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 62,
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Wilmanns, Die DifTerentialdiagnostik der funktionellen Psychosen.
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Wundt, Grundriß der Psychologie.
Ziehen, Psychiatrie.
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Psych. u. Neurol. Bd. 5.
32*
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Berufsgeheimnis und Herausgabe der Kranken¬
geschichten 1 ).
Von
Medizinalrat Dr. Max Fischer, Wiesloch.
Der ärztliche Eid des Hippokrates enthält die Stelle: „Was ich
während der Behandlung eines Kranken wahmehme oder auch außer¬
halb der Behandlung im gewöhnlichen Leben erfahre, das will ich,
soweit es seiner Natur nach nicht weitererzählt werden soll, ver¬
schweigen und es für ein Geheimnis ansehen.“
Der §300 unseres heutigen Strafgesetzbuchs lautet weit nüchterner:
„., Ärzte, Wundärzte, Hebammen, sowie die Gehilfen
dieser Personen werden, wenn sie unbefugt Privatgeheimnisse offen¬
baren, die ihnen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes anvertraut
sind, mit Geldstrafe bis zu 1500 M. oder mit Gefängnis bis zu drei
Monaten bestraft. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.“
Was im Altertum, vor beiläufig 2300 Jahren, als persönlicher
freiwilliger Eid des Heilkundigen zum Ausdruck gebracht wurde, das
wird heutigentags durch das Strafgesetz unter Ahndung gehalten.
Wir können unter anderem darin einen Beweis für die Wichtigkeit,
die man von seiten des Staates und der Gesetzgebung der Verschwiegen¬
heit des Arztes als einem für die Allgemeinheit zu wahrenden Gut
beimißt, erkennen.
Daß die ärztliche Verschwiegenheit in der Tat einen Grund¬
pfeiler unseres ärztlichen Wirkens darstellt, worauf sich im Verein
mit der Persönlichkeit des Arztes das uns unentbehrliche Vertrauen
des Kranken aufbaut, daß die Wahrung des Berufsgeheimnisses für
l ) Vortrag auf der 43. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte
am 23. November 1913 in Karlsruhe in erweiterter Form.
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Original fro-rri
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Berufsgeheimnis und Herausgabe der Krankengeschichten. 465
den Arzt selbst eine sittliche Notwendigkeit und Selbst¬
verständlichkeit bedeutet, ohne welche die Ausübung unseres
Berufes überhaupt unmöglich würde, davon sind wir alle ohne Aus¬
nahme heute wie damals auch ohne den § 300 fest überzeugt.
Schon bestritten ist die Frage, in welchen bestimmten Fällen
das Berufsgeheimnis gegenüber höheren Interessen oder aus
sittlicher Pflicht hintangesetzt werden dürfe, wo wir also zur
Aussage über uns kraft unseres Berufes anvertraute Geheimnisse
berechtigt und befugt oder sogar verpflichtet sind, beziehungsweise
dazu bei Strafe angehalten werden können.
Es ist höchst interessant, allen diesen Wegen nachzugehen und
zu sehen, welche Meinungsverschiedenheiten hierüber sowohl unter
Ärzten wie Juristen im einzelnen bestehen, wenn auch über manche
wichtige Punkte nach und nach eine Einigung erreicht ist.
Hier kann ich jedoch weder auf die Details der Auslegung des
§ 300 noch auf die Vorschläge zur Verbesserung und Ergänzung des
Paragraphen im neuen Entwürfe zum Strafgesetzbuch näher ein-
gehen, sondern muß mich darauf beschränken, die Hauptgesichts¬
punkte kurz zu streifen.
Als Offenbarungspflicht wird die ärztliche Aussage im allgemeinen
anzusehen sein, wenn andere reichs- oder landesgesetzliche Be¬
stimmungen sie anordnen und damit zu einer befugten machen. Hier¬
her gehören zum Beispiel die Bestimmungen über die Anzeige von
Infektionskrankheiten, ferner die Fälle des § 139 des RStGB. (Ver-
hütung schwerer Verbrechen) usw. Übrigens ist meines Erachtens
schon hier ein Unterschied zu machen, ob über einen Kranken aus¬
führliche Mitteilungen vertraulicher Art gemacht werden, oder ob
lediglich eine Anzeige über die Art seiner Krankheit, worüber unter
Umständen auch andere als der Arzt unterrichtet sind oder sein können,
erstattet wird.
Unbedingt zur vollen Offenbarung ist der Arzt ferner gehalten,
wenn er als Gutachter im Strafprozeßverfahren auftritt. Hier hat
er als Gehilfe des Richters alles Material, soweit es irgend zur ärzt¬
lichen Beleuchtung und Aufklärung des Falles dienen kann, rück¬
haltlos vorzubringen.
Im übrigen strafgerichtlichen Verfahren ist der Arzt bekanntlich
nach § 52 der StPO, zur Zeugnisverweigerung berechtigt und soll
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Original fro-rri
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466
Fischer,
davon auch weitgehenden Gebrauch machen. Er ist aber nicht zur
Verweigerung der Aussage verpflichtet, sondern kann, wo wichtige
Interessen es ihm gebieten, nach Maßgabe des Zeugeneides straflos
sich äußern. Dasselbe gilt vom Zivilprozeß; nur daß es hier dem
Richter zum Unterschied vom Strafprozeß noch zur besonderen
Pflicht gemacht ist, daß er solche Fragen vermeide, die den Arzt in
Konflikt mit seiner Verschwiegenheitspflicht bringen.
Auf die weiteren Eventualitäten, wo der Arzt entweder zur
Wahrung seiner Ehre oder aber zur Einklagung seines Honorars
gezwungen wird, die Verschwiegenheit zu verletzen, soll hier nicht
eingegangen werden. Doch wird auch dabei das oben Gesagte, wonach
nur das für den speziellen Zweck durchaus Notwendige preisgegeben
werden soll, zu beachten sein.
Viel schwieriger zu beurteilen sind diejenigen Fälle, wo der Arzt
n icht durch gesetzliche Bestimmungen über die Direktive seines
Handelns unterrichtet wird, sondern wo er nach seinem eigenen Ge¬
wissen entscheiden muß, ob er zum Schutze anderer über seinen
Patienten aussagen darf oder muß, oder aber, ob er die stillschweigend
von ihm anerkannte oder vom Patienten ausdrücklich auferlegte
Schweigepflicht unter allen Umständen aufrechthalten soll. Hier
kann der Arzt in die schwerste Kollision der Pflichten geraten.
Indes scheint mir dabei das oberste Gesetz des Arztes: „nihil
nocere“, und das der Prophylaxe, der Verhütung von weiterem Schaden,
maßgebend zu sein. Man soll sich aber hüten, dafür allgemeine gesetz¬
liche Normen aufstellen zu wollen; ich halte es vielmehr für richtiger,
wenn jeder einzelne Arzt im jeweiligen besonderen Falle diese Ge¬
wissensfrage sich vorlegen und auch entscheiden muß.
Nur ganz im allgemeinen wird man sagen dürfen: Wo durch das
Schweigen des Arztes eine neue schwere Erkrankung bei einer oder
mehreren anderen Personen oder aber anderweitiger unwiderbring¬
licher Schaden für Leib und Leben oder Hab und Gut eines kleineren
oder größeren Kreises verursacht würde, da ist das Einhalten der
Verschwiegenheit nicht zu rechtfertigen. In solchen Fällen ist der
Arzt verpflichtet, zunächst die Einwilligung seines Patienten zur Mit¬
teilung und zur Warnung der Beteiligten einzuholen. Gelingt ihm
dies nicht, und handelt es sich auch nicht um Fälle, wo er gerichtliche
oder behördliche Hilfe in Anspruch nehmen kann, so muß der Arzt
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Berufsgeheimnis und Herausgabe der KrankengeSchithten. 467
.
üs sich heraus vör seinem (^wissen die Treffern gelbst
uf die GdWiir einer. Anzeige nach § 300 KStGB, hin. Auch für den
all, daß das Verfahren dann HnrcbgefUhrr. /würde und zu seinen
..'n^unaten ausfude. hätte er doch Vor deutschen- Geliebten angesichts
ler ihn le|i£ndi*ß «dein Motive keine erhehHebe Strafe zu beiurchten.
Zwei (©Bog werdtiu sieb aber bei eine?« derartigen Widerstreit
ler sittlichcu l'Äichten für den Arzt gar nicht selten -miUerordehtUhtt
suhwierigCi dhd. peinlicbe Lagen ergeben, woraus den tüchtigen, be¬
freienden Ausweg x« ümlen, für ihn allein mitunter kehrschwer fallen
wird: inehescmdidre dürfte, dies für junge, ««erfahrene Kollegen au
treffen, ln solchen Fällen sollte fiir den Arzt eine MdgUrhkdt; ä&b
an berufener Stelk vertraubeb anszusprecheji und zu■■ befragen, vor-
banden sehr. Und ich möchte in diesem ' .Zo«nut#jnifta.iji^e- ; i«iregen,
Hir äratlichc dkwi^eiidkonliiktv 1 -4er bes^w-Mohetien Art,'•wobei" das
Berufsgeheiitin?» w Frage steht »nd ^ zweifelhaft erscheint, ob es
Unbedingt gewährt werden, muß oder n« Sinne höherer Interessen
^«opfert-• werde«, -darf und in welchem Maße, ob statt des Sehweige-
teebts ein Aussagcrecht oder .sogar■/eine;. Hcdeftfiicht bestehe, eine
•mst&nz zn schaffen, w« der beteiligte Arzt sieb über dir Lage des
Gesetzes, über •'■•Vorentscheidungen usw unterrichten, vo» er sich
atttuntatlvcn Kat erholen und‘-kd fTU)*?! zur rtvhtigc« Hindlttitgswcige
geführt werden kan». Hierbei könnte: vielleicht un eine Anlehnung
•cs die schon bt-stehenden ärztliche« - Ehrengerichte gedacht werden.
NVh dieser .digermnaen Einfühlung gelte ich nuämehr . genauer
a “? rrn-m eigrötliVhes Thema über; näuilieh zu untersuchen. *.ib über-
rtkk Ankt^lliieiW. auch in seiner Eigenschaft als dtaatsbeaniter, zur .; •;
iieraösgabe deTärztlich geführten
'dR*r Pßegit'ö'ge arigebÄlte« werden könne oder verpflichtet sei.
Hierzu habe Uh in mein er. Anstatt von jeher den Standpunkt
■‘»ngctmmp.ien, daß die 'ärztliche Krahkcnge^-hichte mit all ihren
Amrauliehe« Angaben seitens des Kranken selbst und seiner Aii-
i^’hürjgt’fi über sein 'Vorleben,' über •'•F'annJiengcschichtc, Erblichkeit,
id>H Entstehung und Entwicklung seiner Krankheit, mit allen
Erankheitsäußerungen und ßdiriftiichen Ergüssen kein Eesfjihdtei]
»W offiziellen Anstaüsakten, sondern ein Internum des Arzfckoilegimns
Die Krankengeschichte stellt als Ganzes ein uns an vertrautes
468
Fi scher,
Privatgeheimnis im Sinne des Gesetzes dar, das unter allen Um¬
ständen von uns gewahrt werden muß. Wir haben daher bis jetzt
alle Ansuchen um Herausgabe der Krankengeschichte von seiten der
Behörden jeglicher Art, auch der Gerichtsbehörden, mit Berufung
auf den § 300 RStGB. prinzipiell abgelehnt.
Als mitteilbare Akten in diesem Sinne sind vielmehr von uns
nur die Personalakten des Kranken mit dem Aufnahmeverfahren,
wozu höchstens noch das ärztliche Aufnahmegutachten zählt, weil es
im amtlichen Aufnahmeverfahren erhoben wird, behandelt worden.
Eine Ausnahme in der Ausleihung von Krankengeschichten ist
bisher von uns lediglich bei Berufsgenossen, also Ärzten, die ein erheb¬
liches ärztliches Interesse an der Mitteilung der Krankengeschichte
erweisen konnten, gemacht worden, weil sie ja unter dem gleichen
§ 300 des Berufsgeheimnisses stehen wie wir und daher ebenfalls zur
Schweigepflicht verbunden, beziehungsweise bei deren Verletzung
unter dieselbe Strafe gestellt sind.
Auch an Gerichtsärzte und ärztliche Sachverständige haben wir
aus dem gleichen Grunde auf Ansuchen die Krankengeschichte unserer
Pfleglinge abgegeben in der Annahme, daß sie trotz ihrer Stellung
zur Rechtspflege gleichfalls dem § 300 unterstehen und von diesem
Gesichtspunkte aus die Krankengeschichte zwar, soweit für die Begut¬
achtung nötig, benützen, aber nicht weiter ausliefem werden.
Bis jetzt ist dieser Standpunkt auch von allen ansuchenden
Behörden, insbesondere von allen Staatsanwaltschaften des deutschen
Reichs ohne Ausnahme widerspruchlos anerkannt worden;, auf der
Herausgabe der Krankengeschichte ist niemals bestanden worden.
In der neuesten Zeit hat sich jedoch der erste Fall zugetragen,
daß eine Staatsanwaltschaft unsere anfängliche Ablehnung nicht
gelten ließ, sondern, nachdem sie die Personalakten des Kranken
mit Aufnahmegutachten erhalten hatte, nun auch auf der Herausgabe
der Krankengeschichte mit dem Hinweis bestand, daß wir als Staats¬
behörde nach § 96 StPO, zur Auslieferung verpflichtet seien. Sie
nehme an, daß die Krankengeschichten amtliche Schriftstücke seien
und sich in Verwahrung der Direktion, also einer Behörde befinden.
Sonach sei die Herausgabe keine unbefugte, wie überhaupt nie, wenn
sie Zwecken der Rechtspflege dienen soll. Die Mitteilung der Kranken¬
geschichte sei ihr übrigens noch von keiner deutschen Irrenanstalt
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Berufsgeheimnis und Herausgabe der Krankengeschichten. 469
verweigert worden. Dieser letzte Passus hat mich offen gestanden
bei der ganzen Sache am meisten überrascht und gewundert.
Demgegenüber haben wir unsern schon oben bezeichneten und bisher
strenge durchgeführten Standpunkt unter eingehender Begründung
dargelegt und insbesondere betont, daß die Krankengeschichte ihrer Natur
nach kein Aktenbestandteil sein könne, sondern als anvertrautes ärzt¬
liches Geheimnis gelten müsse, dessen Wahrung eigentlich gerade die
Vertreter der Justiz am ehesten anerkennen müßten. Zur Hergabe an
den Gerichtsarzt sowie zu jeder sachdienlichen Äußerung hatten wir uns
bereit erklärt. Falls die Staatsanwaltschaft diesen Standpunkt aber nicht
gelten lasse, so möge sie eine Entscheidung beim Reichsgericht herbei -
führen.
Die Staatsanwaltschaft hat sich aber dabei nicht beruhigt, sich
auch nicht an das Reichsgericht gewendet, sondern einfach bei unserer
Vorgesetzten Behörde beantragt, daß wir zur Herausgabe der Kranken¬
geschichte veranlaßt werden sollten. Unsere Behörde hat sich nun im
wesentlichen auf den Standpunkt der staatsanwaltschaftlichen Aus¬
führungen gestellt und die Herausgabe unserer Krankengeschichte an
die Staatsanwaltschaft angeordnet. Dieser Anordnung haben wir Folge
geleistet, zugleich aber hervorgehoben, daß wir unsern grundsätzlichen
Standpunkt aufrechthalten, weil bei einer allgemeinen Handhabung der
Auffassung des Gerichts die Vertrauensstellung des Arztes zum Kranken,
die mit unserer Stellung als Beamte gar nichts zu tun habe, untergraben
werden müsse. Das Prinzip der ärztlichen Freiheit und Verschwiegenheit
würde durchbrochen, und wir wären in der Folge auf Schritt und Tritt
sowohl in der Erforschung der Krankheiten als auch in der Behandlung
unserer Kranken gehemmt. Wir behielten uns vor, die für uns außer¬
ordentlich wichtige Frage weiter zu verfolgen und dann wieder zu be¬
richten.
Dies die Vorgeschichte des Falls.
Nun die Epikrise 1
Die Krankengeschichte ist in diesem Falle herausgegeben worden.
Wir haben der Anordnung der Behörde gehorcht und damit als Unter¬
gebene, als Beamte sicher korrekt gehandelt. Ob wir aber als Ärzte
einwandfrei verfahren sind, das ist eine andere Frage. Mir selbst will
es scheinen, als ob wir darin vor unserm Gewissen die Prüfung nicht
ebenso gut bestanden hätten. Allerdings war uns die Entscheidung
dadurch erleichtert worden, daß in diesem speziellen Falle durch
die Mitteilung der Krankengeschichte ihrem Inhalte nach dem
entlassenen Pfleglinge kaum geschadet werden konnte, und daß, selbst
wenn er Anzeige nach § 300 gegen uns erstattet hätte, dabei wohl
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470
Fischer,
nichts herausgekommen wäre, weil wesentliche Privatgeheimnisse
über den Inhalt der Gerichtsakten selbst hinaus nicht verraten wurden.
Ganz abgesehen davon war aber hier die Herausgabe der Kranken -
geschichte nicht freiwillig geschehen, sondern auf behördlichem Wege
von uns erzwungen worden, was wohl einer Beschlagnahme gleich zu
erachten sein wird; eine erneute Weigerung unsererseits wäre voraus¬
sichtlich nutzlos gewesen und hätte ohne Zweifel zur tatsächlichen
Beschlagnahme geführt. Trotzdem hätten wir es vielleicht darauf
ankommen lassen oder auf einem Gerichtsbeschluß beharren sollen.
Ich habe Ihnen nun diese Mitteilung über einen Spezialfall ge¬
macht, um Sie zum Nachdenken über die wichtige Materie zu ver¬
anlassen und auch, um in der Diskussion Ihre Meinungen, unter Um¬
ständen auch gegenteilige und deren Begründung zu hören. Ihnen
allen kann ja jeden Tag der gleiche Fall Vorkommen; und es ist gut,
beizeiten sich die Richtlinien seines Handelns klarzulegen.
Meine eigene Ansicht hierzu möchte ich aber in folgende Be¬
trachtungen zusammenfassen:
In unserem Falle ist die Sachlage nicht etwa so wie im bekannten
Moabiter Aufruhrprozesse, nämlich, daß wir Ärzte dem Gerichte
die Aussage überhaupt verweigert und dadurch die Beschlagnahme
der Krankengeschichte erst herbeigeführt hätten. Einmal handelt
es sich nicht um den § 139; das Verbrechen war bereits geschehen.
Sodann hatten wir uns im Gegenteil ausdrücklich zur Zeugen- und
Sachverständigenaussage sowie zu jeder weiteren Aufklärung de»
Falles angeboten, ja sogar die Herausgabe der Krankengeschichte
an den Gerichtsarzt als Berufsgenossen zugesagt. Die Erfüllung der
Rechtspflege war somit auf keine Weise behindert. Bei dieser Sach¬
lage stellt sich das Bestehen auf der Herausgabe der Krankengeschichte
als eine, wie wir es ansehen müssen, große und noch dazu ganz unnötige
Härte gegen uns dar. Ob nicht auch die Berechtigung zu diesem
Verfahren angefochten werden kann, werden wir noch zu prüfen
haben.
Die Staatsanwaltschaft beruft sich ferner darauf, daß wir als
Beamte und Behörde ihr gegenüber als Behörde überhaupt und
insbesondere in Verfolgung der Rechtspflege zur Herausgabe der
Krankengeschichte und aller auf den Kranken bezüglichen Schrift¬
stücke nach § 96 der StPO, verpflichtet seien.
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Original from
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Berufsgeheimnis und Herausgabe der KrankengeschicJuen. 473
.Demgegenüber:-fet.geltend zn machen;
Wenn wir als Anstaltädirektort’n und -ärzte auch staaitlieh«
tarnte *wd und aUe Pflichten solcher übcnitiitimen haben, «o darf :
^•hif; d+>eh auf keinen Fall das berufliche Vertrauensrcrhäiiltrrts
wmvbim Ar?.» und Kranken Irgendwie berührt oder gar geschmälert
'erden, Ala behandelnde Äyatfe i^hnten wir uns^rn 'Patienten ; gegen*
her die ejöt' wie jeder Frivntarzt auch. Darin katm
uii darf m- ifl 'Mtätni beruflichfeo WirkeR’:kttineQ;'ifnfmehied:|^bt^''
X*s unsere Kranken uns kauft '•iniaaiM ärztlichen Berufe« mitteik$,
uiU>u wir. Jinbedmgt als ;BtSfufsgeheimöie zu achten, um so mehr,
venu es- in den Krankengeschichte!) nieilergeuchiiehen ist, oder wenn
•s sich Tön der Kranken keifest handelt.
Diese Krank-mtgwvKkhten stellen keine Akten dar & dem Sinne,
wie es sonst beh,ßpdjlh%e Akten gibt, geriehtliehe Akten:, Verwaitniip'
Akten usw.: diesen entsprechen vielmehr lediglich die Fersdaaäakten
unserer Kranken mit den» Aöfnaferaeyerffthran, Kostenfestsetzuiigeri,-
FormaUen usWv Allein sefeo« wegen des im Attlnähniecerfahren er¬
hobenen ärztliehen Aufnähmegötaebtem kann: manzwi^f eihaft seih,
ob t»*. zu den Pcrm^la-kte« des. Kranken fefe5rt fc; .d<ifeif4fe : e^räflfit: viel¬
mehr io der Krardte^g^fe^bt® 'verwahrt. werden muß, Wir in Wies-
b>eh teilen dieses ph^efeteh durchaus nieJit jedetTnanp mit, sondern
«»« mit AttswaM. > Man wird sogar die Frage ml werfe«: können, ob
wir darin nicht bereit« zu weit gehen; ob nicht aitck das ärztliche ,
AnhiahmegtttaeKten uiitet aDeo Umständen ;|iälkb%tÄÄ i -lättter Ver-
scblüß zu halten sei. damit es bei der Durchführung des Aufnahme-,
»"erfahre«« und anderer Verwaltungsniaßnahmen nicht mit den übrigen
Akten Unbefugten in die Hände fallen und mißbraucht werden kann.
Bier könnte an den Vorschlag eines unserer >Iedizinälbeanit«i
gedacht werden, daß nämlich das Aufnahniegutächten yoUi Arzt
' erschlossen an die Behörde eingereicht und an die Anstalt weiter-
tfegefeen wird, wo cs in der KTankengeschicfete yerwahw wird, während
h-dielielt eine Bestätigung des Arztes., djtß er unter Beruf taig auf das
«»otivKrUvAufnahmegutachteii aus diesem oder jenem fjriimle (Selbst-
"»ler Genirtugefährliehkeit. Verwahrlosung usw,) die Aufnahme in die
AustaU für nötig erklärt, zu de« £‘ers<malaktt->n de:- Kranken genommen.
üjrfl
a;ir n.rt» matrati »^irr IbftltfiiKitur .w>, Pn-^tVjVH!nlrta»i iiviaomr
Go
472
Fischer,
Pfleglinge an Behörden keine schweren Bedenken hegen und im all¬
gemeinen Entgegenkommen zeigen können, besteht bei uns bezüglich
der ärztlicherseits geführten Krankengeschichte um so weniger Zweifel
darüber, daß sie nicht herausgegeben werden darf.
Die Krankengeschichte ist kein Aktenbestandteil; sie wird viel¬
mehr von allen anderen Akten getrennt gehalten, die Registratur
wird von den Ärzten besorgt; ihre Führung und Verwahrung ist also
eine interne, rein ärztliche Angelegenheit. Die Krankengeschichte
wird von den Abteilungsärzten geschrieben und ist schon nach Form
und Inhalt nur für Ärzte verfaßt; sie enthält die dem Arzte zu¬
gegangenen konfidentiellen Mitteilungen der Angehörigen und des
Kranken selbst, des Vertrauensarztes usw. über Entstehung und
früheren Verlauf der Erkrankung, die Schilderung des Verhaltens
innerhalb der Anstalt, die vom Arzt gemachten sonstigen Beobach¬
tungen und subjektiven Schlüsse. Sie enthält ferner das Ergebnis der
mündlichen Aussprachen, eigene schriftliche Schilderungen des Seelen-
zustandes des Kranken, Briefe, Bekenntnisse usw. Dieselben werden
dem Arzte nur mit Rücksicht auf seinen ärztlichen Beruf anvertraut
oder sonst zugänglich.
Der Kranke hat ferner, besonders nach seiner Genesung, ein
erhebliches Interesse daran, daß seine Krankheit, seine in der Krank¬
heitsgeschichte niedergelegten Krankheitsäußerungen nicht weiter
bekannt werden.
Ferner enthält die Krankheitsgeschichte Mitteilungen über die
erbliche Belastung und sonstige Erkrankungen der Angehörigen,
Eröffnungen über intime Familienverhältnisse usw. Die Angehörigen
erwarten dabei von dem Arzt selbstverständlich die berufliche Ver¬
schwiegenheit.
Die Krankengeschichte kann also nicht nur die in § 300 StGB,
genannten Privatgeheimnisse enthalten, sondern sie ist als Ganzes
als ein solches Privatgeheimnis zu betrachten.
Die Anwendung des § 300 StGB, auf diesen Teil unserer Schrift¬
stücke ergibt sich aus der Natur unserer staatlichen Institution als
eines Krankenhauses, das nicht nur den Zweck hat, Kranke zu
untersuchen, sondern auch zu behandeln. Der Umstand, daß die
Heilanstalt staatlich ist und einer Behörde gleichsteht, ändert hieran
gar nichts. Dieser staatliche Charakter hängt lediglich mit der Art
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Berufsgeheimnis und Herausgabe der Krankengeschichten. 473
der hier in Frage kommenden Kranken und der dadurch bedingten
staatlichen Fürsorge zusammen. Dadurch, daß die Heilanstalten
die Behandlung von Kranken übernehmen, gehen auch alle aus
der Behandlung der Kranken sich ergebenden ärztlichen Konsequenzen
auf sie über und damit auch die Schweigepflicht der einzelnen Ärzte
gegenüber ihren Kranken. Der Charakter als Arzt kommt hier allein
in Betracht und kann durch die gleichzeitige Eigenschaft des Beamten
nicht alteriert werden.
Befugt wird der Arzt zu einer Mitteilung, von besonderen Fällen
abzusehen, erst durch die Genehmigung der anvertrauenden
Person. Da der größte Teil unserer Kranken nicht in der Lage ist,
sich darüber zu äußern oder unbefugte Mitteilungen zu verfolgen,
so sind wir unsererseits aus ethischen Gründen zur peinlichsten Vor¬
sicht bei Mitteilung der uns durch den ärztlichen Beruf bekannt ge¬
wordenen Vorgänge gezwungen; wir müssen uns schon allein vor dem
Vorwurfe einer unbefugten Mitteilung hüten.
Die Anstaltsdirektion ist nicht in der Lage, alle aus der Mitteilung
der Krankengeschichte hervorgehenden Konsequenzen zu übersehen;
sie vermeidet irgendwelche Unannehmlichkeiten am sichersten da¬
durch, daß sie auf Grund der hier dargelegten Auffassung der Kranken¬
geschichte deren Herausgabe prinzipiell ablehnt.
Die Krankengeschichten können darnach nicht an Nichtärzte,
auch wenn es sich um Behörden handelt, mitgeteilt werden.
Unbenommen ist es dagegen den Behörden, bei uns Äußerungen
und Gutachten zu erheben, uns als Zeugen und Sachverständige zu
vernehmen; und wir sind verpflichtet, unsere durch Krankenunter¬
suchung und Krankengeschichte erworbenen Kenntnisse zur Verfügung
der Rechtspflege und der Verwaltungsbehörden zu stellen, soweit die
gesetzlichen Bestimmungen über das Berufsgeheimnis es irgend
zulassen, und sofern im Einzelfalle vor Gericht nicht vom Recht der
Zeugnisverweigerung Gebrauch gemacht werden will. Es ist aber ein
großer Unterschied, ob ich auf Grund meiner allgemeinen ärztlichen
Erfahrung und speziellen Fachausbildung, auf Grund meiner Kenntnis
des speziellen Falles nach Maßgabe des Zeugen- oder Sachverständigen¬
eides über den Kranken nach bestem Wissen und Gewissen aussage
und dadurch die Zwecke der Rechts- oder Verwaltungspflege pflicht¬
gemäß unterstütze, oder ob ich das gesamte Krankengeschichten-
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Fischer,
material mit allen mir anvertrauten Details einem Nichtfachmanne
oder Laien, seien es auch Behörden, zur beliebigen Verwendung bei
Verfolgung ihrer ganz anders gearteten, nicht ärztlichen Zwecke,
restlos überlasse und jede Kontrolle darüber aufgebe.
Die ärztlichen Krankengeschichten haben ja in der Hand der
Laienbehörde auch gar keinen Zweck; sie könnte höchstens dadurch
irregeführt werden; nur ein Arzt, ja gewöhnlich nur ein Facharzt,
kann daraus richtige Schlüsse sich bilden; gerade bezüglich der
Schriftstücke von Geisteskranken und überhaupt ihrer gesamten
Äußerungen während der Krankheitszeit wie auch bezüglich des ganzen
Inhalts der Krankengeschichte wird dies nicht bestritten werden
können. Statt einer Orientierung über den Fall wird der Staats¬
anwalt, und wäre es der erfahrenste, also mitunter geradezu auf Ab¬
wege geführt werden; er wird zum Beispiel unter Umständen Selbst¬
beschuldigungen oder paranoische Äußerungen von im übrigen be¬
sonnenen Kranken als wahr annehmen und darauf seine Untersuchung
und Strafverfolgung aufbauen. Um richtig zu sehen, Krankhaftes
und 'Wahnhaftes von Gesundem zu unterscheiden, bedarf er also
trotzdem immer des Facharztes, am besten desjenigen, der den Kranken
am genauesten kennt.
Welch’ tiefen Eingriff es bedeuten würde, wenn das Prinzip der
ärztlichen Verschwiegenheit durch eine Preisgabe der ärztlichen
Krankengeschichte auf Antrag von Behörden durchbrochen würde,
kann sich ein jeder durch ein Überdenken der nächsten Konsequenzen
klarmachen. Wer würde uns noch über die Entwicklung von Krank¬
heitszuständen eingehenden und vertraulichen Aufschluß geben,
wie er gerade bei der Erforschung und Behandlung unserer Kranken
unumgänglich notwendig ist, wenn die Kranken selbst, ihre An¬
gehörigen, ihre Hausärzte damit zu rechnen hätten, daß in gewissen
Fällen diese intimen Berichte, daß ferner die schriftlichen Äußerungen
der Kranken, ihre innersten Seelenbekenntnisse dem Arzt gegenüber,
daß die ärztliche Niederschrift des Krankheitsverlaufs während des
Anstaltsaufenthaltes Nichtärzten überantwortet werden können?
Wir müßten es vom Privatärzte hinnehmen, wenn er uns unter
diesen Umständen ein Gutachten über den aufzunehmenden Kranken,
insbesondere aber eine eingehende Schilderung der Krankheits¬
entwicklung verweigerte, ebenso aber auch von den Angehörigen,
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Berufsgeheimnis and Heraasgabe der Krankengeschichten. 475
nn sie mit ihren Mitteilungen zurückhalten. Das Vertrauen zu
3 würde untergraben.
Zwischen dem Kranken selbst und dem Arzte könnte das nötige
^Verständnis und gegenseitige vertrauliche Verhältnis sich gar
sht mehr entwickeln und die psychische Einwirkung im besonderen
re erschwert oder unmöglich gemacht.
Für den Anstaltsarzt selbst aber ergeben sich tagtäglich, je ge-
ssenhafter er ist, die schwersten Gewissenskonflikte. Kann er es mit
iner Berufspflicht und mit dem Berufsgeheimnis vereinbaren, die
rankengeschichten wie bisher mit allen intimen Details zu führen,
snn er weiß, daß diese anvertrauten Privatgeheimnisse anderen
igängig sind ? Müßten wir nicht befürchten, daß auf diese Art unsere
rankengeschichten des wichtigsten Materials vollständig verlustig
ßhen? Wäre es unseren Ärzten zu verargen, wenn sie es vorzögen,
ertrauliche Details für sich, unter Umständen in eigenen Geheim-
ufzeichnungen, zu bewahren und die Anstaltskrankengeschichten
löglichst allgemein und nichtssagend zu halten? Wer wollte gegen
olche Ärzte, die doch nur in gewissenhafter Durchführung ihrer
Schweigepflicht handeln, auftreten?
Beinahe noch bedenklicher ist, daß bei allgemeiner Handhabung
les Verfahrens ein unheilvoller Unterschied konstruiert würde zwischen
ärztlichen Beamten und Privatärzten, in unserem Fache zwischen
den Ärzten der staatlichen Anstalten und der Privatirrenanstalten
oder frei lebenden Psychiatern; es gäbe zwei Ärztekategorien: neben
der einen mit gemäß dem Gesetz voll erhaltenem Berufsgeheimnis eine
andere mit auf Grund ihres Beamtencharakters, aber entgegen dem
Gesetz, nur bedingter, teilweise aufgehobener Berufsverschwiegenheit.
Vollends bei nicht direkt staatlichen Irrenanstalten, die halb privaten,
halb öffentlichen Charakter tragen, käme eine unmögliche Zwitter¬
stellung der Ärzte gegenüber dem § 300 zutage.
Das alles ist undenkbar.
In unserm eigenen wie auch im Interesse unserer Kranken kann
man überhaupt nicht genug davor warnen, unser Beamtenverhältnis
2U 8e hr hervorzukehren auf Kosten des Vertrauensverhältnisses von
Arzt zu Patient. Es wäre sonst kein Wunder, wenn der staatliche
Änstaltsdienst noch mehr an Anziehungskraft verlöre und sogar eine
Flucht der Berufsgenossen daraus einsetzte.
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Fischer,
Gerade aber weil der staatliche Charakter des Anstaltenwesens
im übrigen so wertvoll für die Entwicklung der Irrenfürsorge ist und
wir seinen Schutz nicht entbehren wollen, dürfen wir andererseits
um so mehr auf die Gefährdung, die wir durch eine Beeinträchtigung
des Berufsgeheimnisses zu gewärtigen hätten, hinweisen.
Wir dürfen vor allem auch nicht vergessen, welche Mühe es uns
gekostet hat und noch immer kostet, das Mißtrauen und die Vorurteile
des Publikums gegen Irrenärzte und Irrenanstalten allmählich zu
beheben, für Aufklärung in weiten Kreisen gerade in dem Sinne zu
sorgen, daß die Irrenanstalten nichts anderes als andere Kranken¬
häuser auch, unser Wirken ein durchaus humanes wie jedes ärzt¬
liche sei.
Daß wir hierin nichts aufs Spiel setzen, vielmehr das gewonnene
Terrain uns erhalten wollen und deshalb zur Vorsicht mahnen, wird
man uns nicht verübeln können. Wir handeln ja damit wie in der
ganzen Sache nicht nur in unsenn eigenen, sondern im Grunde ge¬
nommen gerade auch im staatlichen Interesse.
Wichtige Prinzipien unseres ärztlichen Standes und wichtige
Interessen der Allgemeinheit, der leidenden Menschheit stehen dabei
zusammen auf dem Spiele: Die Freiheit der wissenschaftlichen For¬
schung und des ärztlichen Handelns und damit unlöslich verbunden
das ganze seit alters eingewurzelte, auf Grund der ärztlichen Ver¬
schwiegenheit aufgebaute Vertrauensverhältnis zwischen Publikum
und Arzt, ein hohes sittliches Gut, das unser Wirken und Forschen
überhaupt erst ermöglicht.
Was nun in unserem Falle den Appell der Staatsanwaltschaft
an uns als Behörde und Beamte betrifft, so ist dem auch ohne Be¬
rufung auf den § 96 StPO, ja eine Berechtigung sicher zuzusprechen.
Als Ärzte staatlicher Anstalten, als Staatsbeamte nehmen wir Be¬
hörden gegenüber in gewissem Sinne eine etwas andere Stellung ein
als Privatärzte, wenn wir auch nicht vergessen dürfen, daß jeder Arzt
durch seine Berufstätigkeit als öffentlicher Gesundheitsbeamter in
der Prophylaxe und Hygiene der Krankheiten öffentliche Interessen
vertritt und zu wahren hat und darum auch, wo es sich um solche
handelt, den Staatsbehörden, soweit es ihm die übrigen ärztlichen
Pflichten erlauben, seine Mitwirkung zu leihen berufen ist. Wieviel
mehr also die staatlich angestellten Ärzte und Anstaltsdirektionen
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Berufsgeheimnis und Herausgabe der Krankengeschichten. 477
nach ihrer Beamtenpflicht, der sie sich unterstellt haben. Staats¬
behörden sollen sich also nach Möglichkeit in ihren wechselseitigen
Bestrebungen unterstützen und ihre Akten austauschen. Wir haben
uns dem auch keineswegs entzogen; wir waren, wie schon gesagt,
sowohl zur Aussage wie auch zur Abgabe der Krankengeschichte an
die Mittelsperson des Gerichtsarztes bereit und haben auch die Personal¬
akten des Kranken mit Aufnahmegutachten, also unsere, dem offiziellen
Aktenmaterial anderer Behörden entsprechenden Akten, sofort ab¬
geschickt. Mehr zu tun, hielten wir uns aber als Ärzte nach obigen
Ausführungen nicht für befugt.
Man kann nun freilich sagen, daß die Staatsanwaltschaft als
staatliche Behörde gleich wie die Anstaltsdirektionen der amtlichen
Verschwiegenheit, dem Amtsgeheimnis unterworfen sei, und
daß sie dieser Pflicht gemäß auch bei der Verwendung unserer Kranken¬
geschichten verfahren werde; es bestehe also schon aus diesem Grunde
keine Gefahr der Preisgabe oder wenigstens der mißbräuchlichen
Benützung des Inhalts.
Auch dieser Einwurf kann nicht gänzlich von der Hand gewiesen
werden. Die Staatsanwaltschaft wird sich auch sicher in ihrem Handeln
von diesem Gesichtspunkte wenigstens bis zu einem gewissen Grade
leiten lassen, d. h. soweit, als ihre beruflichen Zwecke nicht dadurch
gestört werden. Sie wird natürlich nicht unnötigerweise den Inhalt
der ihr übergebenen Krankengeschichte heranziehen; sehr oft wird
ihr aber in Ausübung ihres Berufs die amtliche Verschwiegenheit
keinenEinhalt gebieten dürfen, wo für uns Ärzte die Berufsverschwiegen¬
heit schon längst begonnen hat. Der Staatsanwalt verlangt ja auch
unsere Krankengeschichte gerade zwecks ungehinderter Benützung
des Materials bei der Führung seiner Untersuchung. Vor allem steht
er aber außerhalb des § 300 RStGB. und braucht sich nicht danach
zu richten. Er, der auf dem Prinzip der vollen Unabhängigkeit des
Handelns bei Verfolgung seiner Zwecke fußt und fußen muß, steht
hierin zweifelsohne in einem gewissen Gegensätze zu uns Ärzten, die
wir unser Berufsgeheimnis zu wahren haben. Von uns wird ein Auf¬
geben unserer Rechte und Pflichten verlangt, damit der Richter desto
ungehemmter seinen Aufgaben und Pflichten nachkommen kann.
Es sind eben tatsächlich zwei diametral verschiedene Dinge.
Aber soviel ist trotzdem sicher, unsere Beamteneigenschaft mit
Zeiteohriit ttr Psychiatrie. LXXI. 3. 33
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Qrigiral frcrri
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478
Fischer,
ihren Pflichten kann uns von unserer Berufspflicht in keiner Weise
entbinden.
Man wird sogar sagen können: Die Beamtenpflicht darf uns
eigentlich nie in Kollision mit unserer Berufspflicht bringen; die
Berufspflicht muß vor allem zur Geltung gebracht, der anderen über¬
geordnet werden. Dadurch muß sich in jedem einzelnen Falle der
Konflikt beider Pflichten lösen lassen. Und es wird sich dann wohl
stets bei genauerem Zusehen erweisen, daß ganz allgemein derjenige
Arzt der beste Beamte ist und sein Amt am richtigsten auffaßt, der
zugleich der tüchtigste in seinem Fache ist und den ärztlichen Beruf
am gewissenhaftesten nach allen Seiten hin wahmimmt. Das gleiche
gilt für alle Beamtenkategorien, wie für den Arzt so auch für den
Geistlichen, den Techniker usw. Und nicht zum mindesten gilt es
für den Richter und Staatsanwalt; sie gerade müssen ja frei von persön¬
lichen Rücksichten und staatlichen Schranken die Untersuchung
führen und nach rein sachlichen Gesichtspunkten das Recht suchen,
ihre Entscheidungen treffen; sie werden dabei am wenigsten auf ihre
Beamteneigenschaft gegenüber der Berufspflicht exemplifizieren
wollen. Diese unbeschränkte Freiheit entbindet die Vertreter der
Justiz aber keineswegs davon, daß sie auch strenge Wahrer des Rechtes
und der Pflichten anderer Berufsarten zu sein haben; wie wäre es für
sie sonst möglich das Recht zu statuieren und der Gerechtigkeit zu
dienen. Da, wo sich, wie in unserem Falle, Konflikte mit dem Rechte
anderer zu ergeben scheinen, wird doch bei gerechter Abwägung
aller Umstände eine für beide Teile befriedigende Lösung nicht allzu
schwer zu finden sein; bei unserer Bereitwilligkeit zur Aussage war sie
ohnehin von vornherein gegeben.
Soweit wären nun wohl unsere ärztlichen Anschauungen über
das Thema nach allen Seiten hin zum Ausdruck gebracht und klar¬
gestellt worden.
1 Wir haben aber nochmals auch aut die juristische und verwaltungs¬
rechtliche Seite im Zusammenhänge zurückzukommen, um zu sehen,
ob und inwieweit schon durch die Gesetzeslage und andere Bestim¬
mungen unsere ärztlichen Interessen etwa gewahrt werden.
Zunächst unsere Beamtenstellung und deren Pflichten,
insbesondere die des Amtsgeheimnisses nach dem bestehenden
Gesetze.
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Berufsgeheimnis und Herausgabe der Krankengeschichten. 479
Der § 9 des badischen Beamtengesetzes besagt hierüber, daß
der Beamte Uber die vermöge seines Amtes ihm bekannt gewordenen
Angelegenheiten, deren Geheimhaltung ihrer Natur nach erforderlich
oder von den Vorgesetzten vorgeschrieben ist, Verschwiegenheit zu
beobachten hat, auch nachdem das Dienstverhältnis aufgelöst ist.
Es ist wohl keine Frage, daß darunter unter allen Umständen auch
der Inhalt der Krankengeschichte und der Schriftstücke unserer
Pfleglinge zu rechnen ist; insofern erhält also unsere ärztliche Berufs«
Verschwiegenheit eine Stütze durch die Pflicht des Amtsgeheimnisses.
Eine Bestimmung darüber, daß das Amtsgeheimnis der einen
Behörde (hier der die Akten fordernden) gewissermaßen das Amts¬
geheimnis der anderen, der die Akten ausliefernden, vor Verletzung
deckt, besteht unseres Wissens nicht und könnte auch nicht gut¬
geheißen werden, da es sich im Staate um viel zu verschiedenartige
Behörden mit ganz verschiedenen Zwecken handelt, so daß ein der¬
artiger Ersatz der einen Verschwiegenheit durch die andere gerade
wegen der Berufsverschiedenheit gar nicht möglich wäre, ohne die
praktische Tätigkeit der Behörden direkt zu unterbinden; wir sehen
das ja besonders prägnant in unserem Falle in die Erscheinung treten.
Die Amtsverschwiegenheit selbst bedeutet eben je nach dem Berufe
etwas ganz anderes; sie wird wesentlich gerade durch die Berufsart
und deren besondere Pflichten modifiziert und bedingt.
Über die Zeugen- und Sachverständigentätigkeit der Beamten
enthält das badische Beamtengesetz folgende Ausführungsbestim¬
mungen:
Soll ein Beamter als Zeuge vernommen werden, so hat die die
Vernehmung fordernde Behörde die Genehmigung der dem Beamten
Vorgesetzten Dienstbehörde einzuholen. Wird vom Beamten Aus¬
kunft über geheimzuhaltende Umstände begehrt, so hat er die
Genehmigung der Vorgesetzten Behörde einzuholen, die im Zweifels¬
falle die übergeordnete Behörde beträgt. Vor Erteilung der Genehmigung
hat der Beamte die Auskunft zu verweigern. Die Versagung der
Genehmigung kann nur von der Zentralbehörde verfügt werden. In
Zivil- und Strafprozeßsachen darf die Versagung der Ein¬
vernahme aber nur auf Grund der §§ 376 ZPO. und 53 StPO, er¬
folgen, d. h. wenn die Ablegung des Zeugnisses dem Wohle des Reichs
oder eines Bundesstaats Nachteil bereiten würde.
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Fischer,
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Ladung eines Beamten als
Sachverständigen und bei der Abgabe von Gutachten vor
Gericht. Nach § 76 StPO, und § 408, Absatz 2 ZPO., findet die Ver¬
nehmung eines öffentlichen Beamten als Sachverständigen jedoch
nicht statt, wenn die Vorgesetzte Behörde erklärt, daß die Vernehmung
den dienstlichen Interessen Nachteil bereiten würde; also eine
von der Bestimmung für Zeugen stark abweichende und weitergehende
Fassung. Zu dieser Erklärung sind wiederum nur die Zentralbehörden
befugt. Im Zweifelsfalle hat sich der Beamte über die Sachlage bei
der Vorgesetzten Behörde Gewißheit zu verschaffen. Ist der Beamte
aber, wie wir als Ärzte, kraft seines Amts und Berufs zur Abgabe von
Gutachten der geforderten Art allgemein verpflichtet oder befugt,
so ist die Einhaltung dieses Verfahrens nicht erforderlich. Wir können
also auch als Beamte von uns aus die Sachverständigentätigkeit
im Einzelfalle ohne Genehmigung der Behörde annehmen; ob
wir sie auch von uns aus ablehnen dürfen, ist noch die Frage; wahr¬
scheinlich in unserer Eigenschaft als Beamte nicht, sondern nur, wenn
die Behörde die Weigerung nach Prüfung der Verhältnisse genehmigt.
Dazu ordnet aber der § 75 StPO, an, daß der öffentlich zur Gutachter¬
tätigkeit bestellte Sachverständige, wie wir Anstaltsärzte es sind,
dem Ansuchen Folge zu leisten habe. Die Behörde braucht sich also
in solchen Fällen gar nicht mit der Ablehnung zu befassen und wird
es auch nicht wollen.
Darnach würde also die staatliche Behörde uns als Beamte in
unserer Zeugeneigenschaft nur in den seltenen Fällen der Gefähr¬
dung des Reichswohls dispensieren können, während es immerhin
zweifelhaft ist, ob sie uns in unserer Gutachtertätigkeit für unsere
gemäß § 300 StGB, bestehenden ärztlichen Bedenken die dienst¬
lichen Interessen nach dem Beamtengesetze zubilligen würde, noch
zweifelhafter, ob sie damit gegenüber dem § 75 StPO, durchdringen
könnte.
Wir können uns hier also nicht auf unsere Beamtenpflicht, sondern
lediglich auf unsere Eigenschaft als Ärzte und auf den ersten Ab¬
schnitt des § 76 StPO, stützen, der Ärzte zur Verweigerung des
Gutachtens berechtigt.
Dieselbe Betrachtungsweise wie wegen der Zeugenaussagen der Be¬
amten wird seitens der Behörden wohl auch bezüglich der Mitteilung
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Berufsgeheimnis und Heransgabe der Krankengeschichten. 4gl
n Krankengeschichten und ihrer Beilagen als Beweismaterials im
itersuchungsverfahren Platz greifen. Jedenfalls erscheint uns ein
:hutz vor Beschlagnahme durch die Behörde als unsicher.
Speziell über die Mitteilung der Akten von Behörde
i Behörde, welche Frage uns hier besonders interessiert, finde
li in unserm badischen Beamtengesetz keinerlei Anhaltpunkte,
agegen bestehen wohl in jedem Staate über das hierbei zu befolgende
erfahren besondere Vorschriften, auf die auch im § 169 des Gerichts¬
erfassungsgesetzes verwiesen ist. Bei uns in Baden besagen diese
ns dem Jahre 1836 stammenden Vorschriften im wesentlichen,, daß
ber Gesuche um Mitteilung von bei öffentlichen Behörden auf-
ewahrten Akten oder Urkunden diejenige Behörde entscheidet, der
ie Akten zugehören. Die Vorgesetzte Behörde aber wahrt sich die
Erledigung, wenn die Akten Eigentums- oder andere Rechte des
Staats zum Gegenstand haben. Jedesmal ist der Grund des Ver-
ingens und das rechtliche Interesse daran anzugeben. Die Behörde
oll die Mitteilung der Akten einer Staatsanstalt nur dann ge¬
tanen, wenn keine Gefährdung der Rechte der Anstalt oder des
•'iskus zu besorgen ist, oder wenn der Gesuchsteller ein Recht auf die
Aktenvorlage nachweist. Außerdem wird die Akteneinsicht auch
rechtlich Interessierten nur dann bewilligt, wenn daraus ein Nachteil
in staatspolizeilichem und überhaupt im öffentlichen Interesse nicht
zu erwarten ist.
Bequisitionen der Akten von seiten des Gerichts auf Grund
eines rechtskräftigen Erkenntnisses geschehen aber lediglich nach der
Anordnung des Richters. Dem Gerichte gegenüber scheinen somit die
Vorschriften hinsichtlich der Wahrung des staatlichen Interesses,
einschließlich des ärztlichen Berufsgeheimnisses, zu versagen, während
sie andern Personen und Behörden gegenüber wohl ausreichen.
Immerhin sind die angeführten Stellen bemerkenswert, insofern sie
für uns einige Verhütungsmaßregeln, insbesondere den vor der Heraus¬
gabe notwendigen Gerichtsbeschluß, enthalten.
Aus den hier behandelten Bestimmungen des Beamtengesetzes
und der Verordnung über Aktenmitteilung geht für uns nach ihrem
ganzen Tenor offensichtlich hervor, daß sie nicht mit Rücksicht auf
das ärztliche Wirken und auch nicht auf unsere Doppelstellung als
Beamte und Ärzte getroffen worden sind, daß ferner der Gesetzgeber
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482
Fischer,
dabei insbesondere auch nicht an die ärztlichen Krankengeschichten
gedacht hat, sondern sie offenbar als etwas ganz außerhalb des Bereichs
seiner Materie Liegendes ignoriert hat.
Darum können uns auch alle diese Vorschriften keinen sicheren
Rückhalt bieten. Soweit sie mit unserem allgemeinen ärztlichen
Berufsstandpunkt übereinstimmen, d. h. soweit die Pflicht des Amts¬
geheimnisses des Beamten die unserer ärztlichen Berufsverschwiegen¬
heit stützt, können wir sie unbedenklich heranziehen, dürfen aber
nicht vergessen, daß der § 300 StGB, darüber hinausgeht. An diesen
ganz eindeutigen Wortlaut des Strafgesetzes haben wir uns als Ärzte
vor allem zu halten und müssen da, wo die Amtsverschwiegenheit,
wie in unserm Falle der Staatsanwaltschaft gegenüber, versagt,
die Berufsverschwiegenheit als oberstes Gesetz in seine Rechte ein-
setzen.
Nun kommt aber der Staatsanwalt mit dem § 96 StPO., der für
Untersuchungssachen klipp und klar besagt: „Die Vorlegung oder
Auslieferung von Akten oder andern in amtlicher Verwahrung befind¬
lichen Schriftstücken durch Behörden und öffentliche Beamte
darf nicht gefordert werden, wenn deren oberste Dienstbehörde erklärt,
daß das Bekanntwerden des Inhalts dieser Akten oder Schriftstücke
dem Wohle des Reiches oder eines Bundesstaates Nachteil bereiten
würde.“ Im Zusammenhang mit den §§ 94 und 95 StPO., wonach
man zur Auslieferung von Gegenständen, die als Beweismittel für die
Untersuchung von Bedeutung sein können, verpflichtet ist, zieht
natürlich der Staatsanwalt aus § 96 die positive Folgerung, daß die
Anstaltsdirektion, da sie zumal bei staatlichen Betrieben unzweifelhaft
eine Behörde ist, zur Auslieferung der Krankengeschichte unbedingt
verpflichtet sei; denn von den Krankengeschichten wird nicht anerkannt
werden, daß das Bekanntwerden des Inhalts dem Wohle des Reichs
oder eines Bundesstaates nachteilig sein werde.
Wenn wir uns, um dazu Stellung zu nehmen, zunächst einmal in der
Literatur umsehen, so werden wir, so vielfach und gründlich auch das
ärztliche Berufsgeheimnis im ganzen von ärztlicher wie von juristischer
Seite behandelt worden ist, über unser heutiges spezielles Thema nur
äußerst dürftige Angaben finden. Alle Autoren sehen es zwar als selbst¬
verständlich an, daß, wie andere Schriftstücke der Kranken und über die
Kranken, so auch die Krankengeschichte selbst vom Arzte streng zu ver¬
wahren sei und niemals preisgegeben werden könne. Aber ein Eingehen
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Berufsgeheimnis und Herausgabe der Kr;iJik(-ngeschic:hU’H- 483
»i den hier von uns mi?gegrilTt.'nen Konflikt pftfctrt der Bet-ufsver-
hvViegenhe.it gemäß nach
IMS der StPÖ;, ist,.'soweit *< h ntkli «.ivkhheron Uonnk, noch nirgends
folgt.
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ach wenn es sich hni ErdkhwV V<>» B^Rjrdefivjiattdle; • und • bekräftigt:,
• i. iiiir auch ht-'iügln.li üctsere* Spe./jnU’ails aui mt-ine Anfrage hin; über
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’on juristischer- Seite Uegi Speziell über die Ileyüusgrkre von Sphrcft-
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lety.urtg des; ärztlichen 0etnjf:^eh.-ijnni>.:o's‘’. dorti wirb! auch v*v
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i einmal die Tatsache der ■Einfordenmg durch die Mraats-
AVOvrlie},v<.'i l. der Herausgabe find Beschlagnfth.mr gcRiM §§ tifi urnl la't
v etztp Bebörife über die Mifbilixig rok-Krw.rtkenge.seiuYhlv» im
V^vaildtigsvftjgti Verördhüiigtnt erlaßenköpfte,, <ik die Ivraiikchgcsehkhtc
kV? vbi .v! .1. j» Ü j 1 j. • l ^ ,:j. . ,, rv v . v _ 11 .1 .
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1 • 11 ife£0 rmttibi'n.dft hohnr» staa Ui ehe Interessen
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'•‘aeitiet „zu ».wirdefi, und %v,,t c- rutsrlujdi-h darüber neben war allerdings
vuh-fduß (Thalien.
*'-kito% a fe Arzte einerseits und als Beamte anderer-eh.- keifteswegs.
: zweifelsfrei zu UD^eni öiiösteti Jteltl Uhf*r jedenfalls die
Go gle
484
Fischer,
Angelegenheit damit noch nicht. Wir tun darum, glaube ich, recht
daran, wenn wir uns gründlich mit unserm Falle beschäftigen.
Damit erledigt sich auch zugleich der Vorwurf, den man mir etwa
machen könnte, daß ich nämlich der Angelegenheit zu großen Wert
beilege, weil es sich doch nur um seltene Ausnahmefälle handeln könne;
in solchen aber dürften wir der strafenden Justiz nicht in die Arme
fallen; oder: die Wirkung der staatsanwaltlichen Forderung für die
Allgemeinheit werde von mir überschätzt.
Wir haben sicher allen Grund, diese Einwürfe möglichst weit
von uns zu weisen; hier müssen wir vielmehr unser ärztliches Recht,
das der Schweigepflicht, in den Vordergrund stellen, es kraftvoll ver¬
teidigen und das „principiis obsta“ als Gegenruf erheben, damit kein
Präzedenzfall geschaffen werde.
Denn die Gefahr ist groß, daß, wenn die mit unserm Falle
inaugurierte Übung einreißen würde, es nicht etwa bei einzelnen,
wenigen Beispielen bleiben, sondern daß nach und nach eine Häufung
eintreten wird, indem überall da, wo die strafrechtliche Untersuchung
auf einen Anstaltspflegling stößt, dessen Krankengeschichte als
Beweisstück in irgend einer Beziehung zum Falle von uns als Behörde
einverlangt werden wird.
Ohne eine grundsätzliche Stellungnahme von unserer Seite wären
wir verloren, und es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß dann, wenn
wir hier einen Durchbruch zulassen, auch andere staatliche oder
kommunale Behörden (Landesversicherungsamt, Berufsgenossen¬
schaften, Steuerbehörden usw.) kommen werden und ebenfalls unter
Betonung ihrer gewichtigen staatlichen Zwecke die Herausgabe der
Krankengeschichte von uns verlangen.
Was läßt sich nun vom ärztlichen Standpunkte aus zu der An¬
wendung des § 96 uns als Behörden gegenüber sagen?
Erstens ist nach unserer ärztlichen Überzeugung allerdings
die Preisgabe der ärztlichen Krankengeschichte und damit des ärzt¬
lichen Berufsgeheimnisses überhaupt ein ganz entschiedener Schaden
nicht nur für den einzelnen, sondern für die Allgemeinheit. Und es
kann sehr wohl und mit guten, einfachen und greifbaren Gründen belegt
werden, daß dadurch dem Staate als der Organisation der Allgemeinheit
unübersehbare Nachteile zugefügt würden. Die Gesamtheit der Ärzte
und ihrer Klienten stellen mit der Summe ihrer Interessen und gegen-
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Berufsgeheimnis und Betäuagahe der ftr*ukf hgeschtebtetny£,'• 485
digwi Besieliaiigw, da* ärztKehe Wtfiea fin sieh mit seinen Er¬
kenn tür die Vulksgesundheit und die öffentlich^' ; Wohlfefert stellt
Ivr dmge et»» m große Macht dar, daß . tler Btmt aiie flache hat,
»* unersetzliche und unentbeltrüel«? Vertfhwcnsverhälßüs zwischen
ritt und Padiehten Regelt jede Anteehtting, von weicher öeiie sie
»iMine, zu bewahren; es möge sich doch m<m\ jeder Für seine. Person
| kouae«|M.e»?CÄ klar.hiadißo.
Man Mrd:4beriüch sehr wo hi /darauf ..nuf bauen kßitkeiu daß
er Staat dafür ejnsfehen müsw* jeden einzeln#« Paragntidiwrgeine^:
traCgesetzbuehs zu schützen, da sonst seinergasze Rechtsordnung*
as wichtigste FuRdaimht aller Staaten, iö« Waiden geriefe; nfehf
*uh hierin kikmt die nach § 96 StPO. ,. vvrlartgtc Geräln/iung des
daätSwolüsjhsSpiti'' j^.'Mhi;iht:ouii». '»üf<'ißhi'ii'd-;ÄeS«r Aush^vog
'•'.«Ul müglich, die Auslieferung der Krankengescfeicti^s hintauzuhaUen;
ä«z sicher will uns allerdings -diese'-Aussicht, nicht Vorkommen.
Davon abgesehen; fcW müSäe® 'vii uns auf. den hier schon wieder^;
mit betonten ; Stan^ninkt stelien, daß die ärztEcherseits geführte
Erankeugeschicfrh' 1 kein Aktenhestaiidtcil sei und ihrer Satyr nach
traucnsrerhültms zu den in ihrer Obhut befindliche« Pfleglingen
i» Betracht kömmt, nicht ah Behörden und Beahite zu hetraehten
Sftd. sondern als Privatärzte wie:andere auch, und daß uns gleich
'h.-seii der Schutz der gesetzlkhen Best«nm«ngee über. das Berufs-
rihein««s zur Seite stehen; /müsse,^ ‘ : . / / V V, , . ' ' ■ • ;•
In uhserni Ämter. cri*" staatlich# Änstallsflnte; Und. Direktoren
Smd wir zwar in allem, svM .dfeü Betiish und din Vervv'ahung der Ahe/
-vtalt betrifft, der Behörde veräfitlojrtlich und darin andern Staat-
i Beamte« und■-Behördenriöichzw steilen: wir wolle« was keiner
iJ dienen, daß wir unsere' «r-
billen. Eiiscfe stiutliche 'Stellung, kann uns darum auch von keiner
unserer ärztliche« ■ Pflichten entbinden oder »ms daran verkürzen,
■''"bald die J^ebandii^ nnserer in Frage steht, so Sind natur-
gwhÜÜ »iiein di* ärztliche# Ihtere^m, me in jedem ...andern Öffent-
f --r privaten Krankeuhfuise auch, maßgebend; darin können
gle
486
Fischer,
wir keinen Unterschied und vor allem keine Zurückstellung gegenüber
andern Ärzten anerkennen. Wir bleiben also an alle unsere Berufs¬
pflichten und insbesondere an die Berufsverschwiegenheit und damit
an den § 300 StGB, gebunden.
Ich kann mir auch nicht denken, daß ein Paragraph des Straf¬
gesetzbuchs, hier der § 300, durch eine scheinbar gegenteilig lautende
Bestimmung seiner Vollzugsverordnung, d. h. der Strafprozeßordnung
(§96), einfach soll annulliert werden können; der erstere geht doch
sicher vor. Die Absicht des Gesetzgebers kann es keinesfalls gewesen
sein, beamteten Ärzten das Berufsgeheimnis in Sachen der Rechts¬
pflege zu versagen. Dadurch, daß wir Staatsbeamte geworden sind,
können wir nicht des edelsten Anrechts des Arztes, der Pflicht zur
Berufsverschwiegenheit, wenn auch nur für eine bestimmte Even¬
tualität, in die aber jeder geraten kann, verlustig gehen.
Neben dem § 300 kommt also vor allem auch der § 95 StPO,
in Betracht, wonach „gegen Personen, welche nach § 52 StPO. —
wie wir Ärzte — zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind,
die Zwangsmittel zur Herausgabe von Gegenständen und Schrift¬
stücken keine Anwendung finden“, und der § 97, wonach „schrift¬
liche Mitteilungen zwischen den Beschuldigten und Personen, die
zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind, der Beschlagnahme
nicht unterliegen“. Hieraus geht auch hervor, daß die Herausgabe
der Krankengeschichte von uns mit Unrecht verlangt worden ist,
und daß die Beschlagnahme derselben nach dem Gesetze nicht an¬
gängig wäre. Denn ich glaube wiederum nicht, daß diese beiden mit
dem § 52 — Recht der Zeugnisverweigerung — eine eindeutige Sprache
redenden Paragraphen wegen des § 96 außer Wirkung gesetzt werden
können, solange es sich um die ärztliche Tätigkeit handelt, auch wenn
diese Ärzte Beamte sind; dazu käme ferner noch der § 54 StPO., der
von der Verweigerung der Zeugenaussage bei Gefahr straf gericht¬
licher Verfolgung (für uns nach § 300 StGB.) handelt.
Wenn man den ganzen Charakter unserer Anstalten als Kranken¬
anstalten und unseres Wirkens als eines ärztlichen in Betracht zieht,
so wird auch ein Unbefangener einräumen müssen, daß diese uns
Ärzte schützenden Paragraphen des Strafgesetzes und der Straf¬
prozeßordnung vor dem § 96 den Vorrang einnehmen müssen. Daran
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BerwfsgebHmnis und Herausgabe der Rrankengeschtobten. 487
iissen wir *?»)$ bait^ü und &lie* daran setzen. daß diese (Grundsätze
urehschlftgend zur Gelttmg gebracht werden.
Sie seifet iii- kurze* 2ii6ätjit)H.'iiiasäung liier Wiederholt;
Wegen der Herausgabe der ärztlichen Kraokeugq^Phtehteo an die
‘ntexsuehdngt'iiehörde in* Straf» oder ZivUprozfevfefabreü ist die
tuhlage für Privatärzte, nicht beamtete Ärzte, dureh fJsl besetz
inreieliettti geordnet und die ärztlichen Interesse« der Geheimhalfeyg
ut g^atMtc.-- Soli: ttftd darf die Kraidmngesehichte IbU*
enmsgeben: die Beschlagnahme ist unzulässig;:
Für beamtete Arzte, wozu die. Ärzte der offentlieheu
drrenan»taGl ; i)ftjh-:geb'ÖreD, erhebt sich die h'rage: Kami die Beamten-
»thcht die Berufsptliiln der ärztlichen Verschwiegenheit in bestimmten
Fällen aufltebeu und *o die Herausgabe der Krankengeseliieh te herbei-
icdidatt werden ? l»nswer Überzeugung nach ist di*js ttornüglkh.
Die ärztlicherseits geführten 'KranViigesebielit^ unserer.' frreiv-
Hustalteu,. ob sie staatliche sind oder ukht, stylen eine dufehaus
in ferne äfetlfek© Ängelegenheifc üäjr./>'ÄTztekbliegiiim
bat damit zti tun und hält »k .in Verwahrung, Der Beumtenehsrakter
spielt hier. *vü dsts mimte ärfeKfee YetiaaenÄvfehältnis allein in Frage
itehi, hkht. herein.
; 5äeb ^imwärts hftaÄen die IvianbengeschiehteB nur m be.sun<Lere«i
Pallen an BearufsjgeödsseR attsgeHehen werden: gegen dieses Ver-
UUnm wird auch bei strenger Auslegung des § 300 StliÖ. nichts ein-
'sewendät werden kbramiu dg jeder Arzt, vier die ihm unter dem Bertifs-
an vertraute K^rankengeschiehte niitibrauehen wlird^, ohne
'heiteres durch (len § BfKlzu helangim wäre. -b V\ '
Die Herausgabe an tiea iieriehtsarzt geschieht &us demselben
brunde und in der weiteren Äartähtmv daß fe vlen tnhäJfr vogpjglacht
mir .soweit benutzt, als zur Seehverständigentätigkeil unbedingt
h'tig ist. Sollte eine genauere Prüfung, die von uns nobt versucht
"•'«ntien ist. aber uns allerdings als sehr angebrafet enebemen möchte,
«fggfen, daß der Gerirhtsarzt durch seine Instruktionen dem Berichte
Äti weitergehenden Mitteilungen oder-gar znr Ahslieierung der Kränken-
gesv-hichve selbst und ihrer Anlagen Verpflichtet ist, so müßte bezüglich
dnses Verfahrens eine Hempdur rin tiefen, die den 300 auch iw dieser
Hinsicht sicherer stellt als :..bisher, Ware eine solche Bcgoiung nicht
»ngätubg, m müßte man zur'Verweigerung' dfer -.Krankeßgejlehighte
i- y* i . •- - w aV x • j * V *v*% *• k*\£
||p Co gie ■ .-, JN ' V
488
Fischer,
gegenüber diesen in einem besonderen Verhältnis zur Gerichtsbehörde
stehenden Ärzten und Sachverständigen übergehen. Dem Gerichte
würde dann immer noch freistehen, sich wegen der für das Verfahren
nötigen Informationen an die Anstalten selbst zu wenden.
Im übrigen müssen wir uns aber darüber völlig klar sein, daß
die Herausgabe der Krankengeschichte erst dann von einer unbefugten
und strafbaren zu einer befugten und straffreien wird, wenn wir
hierzu die Zustimmung des verfügungsfähigen Kranken selbst, andern¬
falls seines gerichtlich bestellten Vormundes haben. Daran haben wir
uns vor allem zu halten. Ich stehe sogar auf dem Standpunkte, daß,
selbst wenn der Kranke oder sein Vertreter der Herausgabe seiner
Krankengeschichte zugestimmt hätte, diese Maßnahme für den be¬
handelnden Arzt gerade bei dem Charakter unserer Krankengeschichten,
wo es auf die genaue psychologische und charakterologische Analy-
sierung der gesunden und kranken Persönlichkeit ankommt, doch
immer etwas Peinliches an sich hat; der Kranke weiß ja gar nicht,
was darin alles über ihn enthalten ist, was er in der Krankheit alles
geoffenbart hat. Man wird also auch in solchen Fällen streng mit sich
zu Rate gehen und erst nach genauer Erwägung aller Verhältnisse sich
entweder zur Herausgabe entschließen oder aber im Zweifelfalle lieber
dem Klienten zum Verzichte darauf raten sollen, wenn wir damit
unserm innem ärztlichen Gewissen mehr zu entsprechen glauben.
Da nun aber die Mehrzahl der Kranken nicht entmündigt, aber trotz¬
dem zu einer eigenen freien und vernunftgemäßen Entschließung
unfähig ist, so handeln wir im allgemeinen damit richtig, wenn wir
prinzipiell die Herausgabe an Nichtberufsgenossen ablehnen, unter
* Umständen, sofern wir nach Lage des Falls nicht das Recht der Zeugnis¬
verweigerung in Anspruch nehmen wollen, unter gleichzeitigem An¬
gebot unserer Zeugen- und Sachverständigenaussage dem Gerichte
oder andern berechtigten Behörden gegenüber. Wir werden es, wenu
die Gerichte auf ihrer Forderung zur Herausgabe bestehen, ruhig auf
einen Gerichtsbeschluß oder aber auf die Beschlagnahme ankommen
lassen und nur dem Zwange weichen, so daß auf diese Weise statt
unserer die reklamierende richterliche Instanz ins Unrecht gesetzt
wird.
Wenn es sich um die Herausgabe der ärztlichen Krankengeschichte
und damit um einen Einbruch in unser ärztliches Berufsgeheimnis
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Berufsgeheimnis nnd Herausgabe der Krankengeschichten. 489
bandelt, so hören nach unserer Überzeugung alle andern Pflichten
auf; hier sind wir nur Ärzte, nicht Beamte, und haben uns der Ver¬
trauensstellung zum unserer Hut übergebenen Kranken mit Hint¬
ansetzung aller sonstigen Rücksichten durchaus bewußt und ihrer
würdig zu bleiben.
Scheint sich im Einzelfalle ein Konflikt zwischen Beamten-
Stellung und Berufspflicht zu ergeben, so muß eine Lösung gesucht
werden, die in erster Linie unsem Berufspflichten und damit ins¬
besondere derjenigen der ärztlichen Verschwiegenheit keinerlei Zwang
antut, sondern ihr gerecht wird.
Wir wahren damit nicht nur unser eigenes gutes Recht und unsem
wertvollsten Besitz, sondern auch hohe Güter der Gesamtheit aller
Staatsbürger. Darum dürfen wir auch mit gutem Gewissen die staat¬
lichen Organe und die Rechtsprechung zum Schutze unseres Berufs¬
geheimnisses und zur Wahrung der damit verbundenen Interessen der
Allgemeinheit anrufen.
Sollten sich diese Ansichten aber nicht durchsetzen lassen, sollten
sie insbesondere von juristischer Seite nicht als begründet anerkannt
werden können, so müßten wir eine reichsgerichtliche Entscheidung
anstreben oder, wenn sich hier eine Lücke im Gesetze heraussteilen
sollte, durch unsere Standesvertretung auf eine Gesetzesänderung
und Ergänzung hinarbeiten. Hierzu wäre jetzt noch, solange die
Vorarbeiten für die Änderungen des Strafgesetzbuchs im Werk sind,
die beste Gelegenheit.
Ich möchte daher zum Schlüsse die direkte Anregung geben,
daß wir von uns aus in der heutigen Versammlung uns in Form einer
Resolution an den Vorstand des deutschen Vereins für Psychiatrie,
von dem ja eine Justizkommission für solche Fragen gebildet
worden ist, mit dem Ersuchen herangehen, sich mit der Materie ein¬
gehend zu befassen und geeignete Schritte zur Bewahrung des ärzt¬
lichen Berufsgeheimnisses in Unversehrtheit, handle es sich nun um
die Auslegung der bestehenden Gesetze oder um deren Abänderung
und Ergänzung durch neue Gesetzesvorlagen, zu unternehmen.
Gesetzesparagraphen, die für die Beurteilung der Materie haupt¬
sächlich in Betracht kommen:
1. Strafgesetzbuch. — § 139. Wer von dem Vorhaben eines
Hochverrats, Landesverrats, Münzverbrechens, Mordes, Raubes, Menschen-
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490
Fischer,
raubes oder eines gemeingefährlichen Verbrechens zu einer Zeit, in welcher
die Verhütung des Verbrechens möglich ist, glaubhafte Kenntnis erhält
und es unterläßt, hiervon der Behörde oder der durch das Verbrechen
bedrohten Person zur rechten Zeit Anzeige zu machen, ist, wenn das Ver¬
brechen oder ein strafbarer Versuch desselben begangen worden ist, mit
Gefängnis zu bestrafen.
§ 300. Rechtsanwälte, Advokaten, Notare, Verteidiger in Straf¬
sachen, Ärzte, Wundärzte, Hebammen, Apotheker sowie die Gehilfen
dieser Personen werden, wenn sie unbefugt Privatgeheimnisse offenbaren,
die ihnen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes anvertraut sind, mit
Geldstrafe bis zu eintausendfünfhundert Mark oder mit Gefängnis bis
zu drei Monaten bestraft.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.
2. Strafprozeßordnung. — § 52. Zur Verweigerung des Zeug¬
nisses sind ferner berechtigt:
1. Geistliche in Ansehung desjenigen, was ihnen bei Ausübung der
Seelsorge anvertraut ist;
2. Verteidiger des Beschuldigten in Ansehung desjenigen, was ihnen
in dieser ihrer Eigenschaft anvertraut ist;
3. Rechtsanwälte und Ärzte in Ansehung desjenigen, was ihnen
bei Ausübung ihres Berufs anvertraut ist.
Die unter Nr. 2, 3 bezeichneten Personen dürfen das Zeugnis nicht
verweigern, wenn sie von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit ent¬
bunden sind.
§ 53. öffentliche Beamte, auch wenn sie nicht mehr im Dienste
sind, dürfen über Umstände, auf welche sich ihre Pflicht zur Amtsver¬
schwiegenheit bezieht, als Zeugen nur mit Genehmigung ihrer Vorgesetzten
Dienstbehörde oder der ihnen zuletzt vorgesetzt gewesenen Dienstbehörde
vernommen werden. Für den Reichskanzler bedarf es der Genehmigung
des Kaisers, für die Minister der Genehmigung des Landesherrn, für die
Mitglieder der Senate der freien Hansestädte der Genehmigung des Senats.
Die Genehmigung darf nur versagt werden, wenn die Ablegung
des Zeugnisses dem Wohle des Reichs oder eines Bundesstaates Nachteil
bereiten würde.
§ 54. Jeder Zeuge kann die Auskunft auf solche Fragen verweigern,
deren Beantwortung ihm selbst oder einem der im § 51 Nr. 1—3 bezeich¬
neten Angehörigen die Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung zuziehen
würde.
§ 75. Der zum Sachverständigen Ernannte hat der Ernennung
Folge zu leisten, wenn er zur Erstattung von Gutachten der erforderten
Art öffentlich bestellt ist, oder wenn er die Wissenschaft, die Kunst oder
das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung der Begutachtung ist, öffent¬
lich zum Erwerbe ausübt, oder wenn er zur Ausübung derselben öffentlich
bestellt oder ermächtigt ist.
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%
Berufsgeheimnis und Herausgabe der Krankengeschichten. 491
Zur Erstattung des Gutachtens ist auch derjenige verpflichtet,
welcher sich zu derselben vor Gericht bereit erklärt hat.
§ 76. Dieselben Gründe, welche einen Zeugen berechtigen, das
Zeugnis zu verweigern, berechtigen einen Sachverständigen zur Ver¬
weigerung des Gutachtens. Auch aus anderen Gründen kann ein Sach¬
verständiger von der Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens ent¬
bunden werden.
Die Vernehmung eines öffentlichen Beamten als Sachverständigen
findet nicht statt, wenn die Vorgesetzte Behörde des Beamten erklärt,
daß die Vernehmung den dienstlichen Interessen Nachteil bereiten würde.
§ 94. Gegenstände, welche als Beweismittel für die Untersuchung
von Bedeutung sein können oder der Einziehung unterliegen, sind in
Verwahrung zu nehmen oder in anderer Weise sicherzustellen.
Befinden sich die Gegenstände in dem Gewahrsam einer Person
und werden dieselben nicht freiwillig herausgegeben, so bedarf es der
Beschlagnahme.
§ 95. Wer einen Gegenstand der vorbezeichneten Art in seinem
Gewahrsam hat, ist verpflichtet, denselben auf Erfordern vorzulegen und
auszuliefern. *
Er kann im Falle der Weigerung durch die im § 69 bestimmten
Zwangsmittel hierzu angehalten werden. Gegen Personen, welche zur
Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind, finden diese Zwangsmittel
keine Anwendung.
§ 96. Die Vorlegung oder Auslieferung von Akten oder anderen
in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken durch Behörden
und öffentliche Beamte darf nicht gefordert werden, wenn deren oberste
Dienstbehörde erklärt, daß das Bekanntw'erden des Inhalts dieser Akten
oder Schriftstücke dem Wohle des Reichs oder eines Bundesstaates Nach¬
teil bereiten würde.
§ 97. Schriftliche Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und
denjenigen Personen, die wegen ihres Verhältnisses zu ihm nach §§ 51, 52
zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt sind, unterliegen der Beschlag¬
nahme nicht, falls sie sich in den Händen der letzteren Personen befinden
und diese nicht einer Teilnahme, Begünstigung oder Hehlerei verdächtig
sind.
§ 159. Zu dem im vorstehenden Paragraphen bezeichneten Zwecke
kann die Staatsanwaltschaft von allen öffentlichen Behörden Auskunft
verlangen und Ermittelungen jeder Art, mit Ausschluß eidlicher Ver¬
nehmungen, entweder selbst vornehmen oder durch die Behörden und
Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes vornehmen lassen. Die
Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes sind ver¬
pflichtet, dem Ersuchen oder Aufträge der Staatsanwaltschaft zu genügen.
3. Gerichtsverfassungsgesetz. — §169. Die in einem Bundes¬
staate bestehenden Vorschriften über die Mitteilung von Akten einer
öffentlichen Behörde an ein Gericht dieses Bundesstaates kommen auch
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492 Fischer, Berufsgeheimnis und Herausgabe der Krankengeschichten.
dann zur Anwendung, wenn das ersuchende Gericht einem anderen Bundes¬
staate angehört.
4. Zivilpro zeßordnung. — §§ 376, 407, 408, die den §§ 53, 75, 76
der StPO, entsprechen.
Literatur.
M. Alsberg , Das ärztliche Berufsgeheimnis. D. med. Wschr., 34. Jg., 1908,
S. 1356.
Aschaffenburg, Berufsgeheimnis (§ 300 StGB.) und Psychiatrie. Ärztl.
Sachv.-Ztg, 1901, Nr. 23.
Böhme , Strafbarkeit der Verletzung des ärztlichen Berufsgeheimnisses.
Diese Zeitschrift Bd. 57, S. 743.
Ebermayer, Zum Zeugnisverweigerungsrecht der Ärzte und Rechtsanwälte.
Jur. Wschr., 40. Jg., 1911, Nr. 4, S. 199.
Derselbe, Die Unruhen in Berlin-Moabit und das Zeugnisverweigerungs-
recht der Ärzte. D. Jur.-Ztg., XV. Jg., 1910, Nr. 20, S. 1219i
Derselbe, Die Stellung des Arztes im Vorentwurf zu einem deutschen
Strafgesetzbuch. D. med. Wschr., 1911, Nr. 24.
Derselbe, Rechtsfragen aus der ärztlichen Praxis. D. med. Wschr. 1911,
Nr. 39; 1912, Nr. 13; 24—25, 47—49.
Exner (Heidelberg. Diss.), Über das Berufsgeheimnis des Arztes gemäß
§ 300 StGB. Ref. in D. med. Wschr., 37. Jg., 1911, Nr. 27, S. 1288.
Flügge, Das Recht des Arztes. 1903.
Fromme, Die rechtliche Stellung des Arztes und seine Pflicht zur Ver¬
schwiegenheit im Beruf. Berl. Klinik Nr. 165, März 1902.
Gaupp, Das ärztliche Berufsgeheimnis gegenüber den Behörden. Münch,
med. Wschr. 1913, Nr. 34.
Heinemann, Das ärztliche Berufsgeheimnis. D. med. Wschr., 31. Jg., 1905,
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Walter Jellinek, Der Umfang der Verschwiegenheitspflicht des Arztes und
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Köhler, Die Geheimnispflicht des Arztes. Monatsschr. f. Kriminalpsychol.
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R. Krauß, Das Berufsgeheimnis des Psychiaters. Monatsschr. f. Kriminal¬
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Nr. 4, S. 148.
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Vorkastner, Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen
Psychiatrie: § 52 StPO. Psych.-neurol. Wschr., 13. Jg., S. 26.
Wolff, Der strafrechtliche Schutz des Berufsgeheimnisses. D. med. Wschr.,
36. Jg., 1910, S. 192.
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Kasuistischer Beitrag zur Konstanz der Wahn¬
ideen und Sinnestäuschungen.
Von
Dr. Albreeht, Treptow a./R.
(Aus der Prov.-Heilanstalt Treptow a./R., Direktor: San.-Rat Dr. Mercklin).
Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen bei Geisteskranken
sind nicht nur dem Laien, sondern auch dem Psychiater recht augen¬
fällige Erscheinungen der Geistesstörungen und haben von jeher ein
besonderes Interesse beansprucht. Abgesehen von den akuten Psy¬
chosen, wo beide erfahrunggemäß rasch wechseln können, war be¬
sonders die ältere Lehre von den „fixen Ideen“ geeignet, die An¬
schauung eines lange anhaltenden und inhaltlich gleichbleibenden
Verharrens der Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen zu stützen.
Gegen diese Lehre wandte sich 1886 Koch 1 ), indem er auch bei
chronischem Verlauf die Variabilität beider Erscheinungen ähnlich
wie im Traum hervorhob und gerade die Variabilität für den Grund¬
charakter jeder Wahnvorstellung und Sinnestäuschung erklärte.
Dieser Wechsel ist nach ihm um so auffälliger, je verbreiteter beide
Symptome sind; wenn auch das Grundthema des Wahns längere
Zeit hindurch ganz oder ziemlich fix bleibt, so gibt es nach ihm doch
keine Einzelwahnvorstellung, die völlig unverändert geblieben wäre,
wenn der Kranke nur lange genug das Leben hatte. In weiterer
Analogie zu den Verhältnissen im Traum bemerkt Koch ferner, daß
Wahnvorstellungen bei Verrückten lange vor Eintritt einer psychi¬
schen Schwäche nicht den Einfluß auf Benehmen und Handeln der
Kranken ausüben wie auf einen Gesunden, und daß z. B. zwei Vor¬
stellungsreihen, Gott und Herr über alles zu sein, und daneben die
*) Koch, Die Variabilität der Wahnvorstellungen u. Sinnestäu¬
schungen, Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 42, S. 61.
Zeitschrift fttr Psychiatrie. LXXL 3. 34
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Original from
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494
A1 br e c h t,
bescheidene Wirklichkeit, Tagelöhner oder Bauer zu sein, ganz verträg¬
lich nebeneinander hergehen.
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt KöUe 1 ). Vom Variieren des
Wahns trennt er die Ausdehnung des Wahns auf immer weitere Ge¬
biete und die sekundäre Wahnbildung aus Wahn, z. B. wenn zu einem
Verfolgungswahn ein Größenwahn hinzutritt. Beim Variieren unter¬
scheidet er die Steigerung in derselben Sphäre, z. B. vom Grafen
zum Pürsten, den Wechsel des Wahns, also Fallenlassen einer Idee
und Ersatz durch eine andere, und ein Variieren im engeren Sinne,
z. B. wenn ein Kranker sich bald durch dieses, bald durch jenes Gift,
bald durch Einblasen oder andere Mittel geschädigt glaubt. In praxi
findet er jedoch die einzelnen Begriffe schwer zu trennen. KöUe be¬
merkt als besonders auffallend, daß solche Kranke sich brieflich sehr
wohl über ihre Wahnvorstellungen, aber ungern über ihre Sinnes¬
täuschungen aussprechen, und daß die Variabilität mit sinkender
Intelligenz zunimmt.
Die heutigen Anschauungen über Wahnideen, wobei ich Kräpelin 2 )
folge, sind in gedrängtester Kürze folgende: Wahnideen sind krank¬
haft verfälschte Vorstellungen, die der Berichtigung durch Beweis¬
gründe unzugänglich sind. Sie sind ebenso wie die Sinnestäuschungen
inneren Ursprungs, hängen mit dem eigenen Ich zusammen und er¬
halten ihren überragenden Einfluß auf das Seelenleben 1. durch die
lebhafte Gefühlsbetonung; vielfach stellen sie Befürchtungen und
Wünsche des betreffenden Menschen dar; 2. durch eine mehr oder
minder tiele Bewußtseintrübung und 3. durch psychische Schwa¬
che. Alle diese Erscheinungen führen zu einem Versagen der Urteils¬
fähigkeit gegenüber den wahnhaften Vorgängen. Bei länger haftender
Wahnbildung ist der Verlauf ein verschiedener; es kann kommen zu
1. einem Abblassen und Versinken des Wahns, namentlich bei Dementia
praecox und progressiver Paralyse, 2. zur Ausbildung eines sog. Resi¬
dualwahnes, 3. zur Verknöcherung der Wahnvorstellungen, und
4. kann der Wahn unsinniger und zusammenhangloser werden, durch
Neuaufnahme eine Veränderung erfahren, wie es namentlich bei den
paranoiden Formen der Dementia praecox beobachtet wird.
x ) Kölle, Über die Variabilität der Wahnvorstellungen und Sinnes¬
täuschungen, Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 49, S. 186, 1893.
*) Kräpelin, Psychiatrie, 8. Aufl., 1910..
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istischer Ifciitag; i ^Äiieen jti. BinhesfcauscJihMgtkt. - 496
Mit de« WahnvsuvtDiuMe« sind oft Sinne.stäm*kimgen ver-
(schäftet. ilu‘ Störunge« des \V ährnehinuiigsvurgawgcs tlarstelle«,
außer \»ui Bau und Leistung der Vinielued Suuiesgeljiete ebflö*
• -n\ dmu Zuscatul d«s ÖewiBt&ein* atdmßgeo. Die- hauptsäeh*
t >'0 4ad die Gehör$£äu*clmngeru die namentlich in Form der
>• >< Summen, des Teiegraphierens oft Ausdruck der geheimsten
: i ■fedariken siM. . den GetöfrktäHiK*huh£Wi Finden sieb
entlieh Bei der- 1 Ügmejifia praecox auch öfters Täuschungen des
emgefrihls, »Us Gerüche Geschmacks und des ilautsuwes, wobei
teUunge«, heirhrdiwöhM^ii einet GrUud^^ kranken
an.
j\*fÜi’Ü’iMv
Zii'hav's teilt-in seinem Lehrbuch die Wahnideen ein in 1. primäre.
ygi§ch aus anderen Wahnidee« erschlossene, 3. Wahnideen »ul
u/J von IlaHüiäDfttjitrnßn rmbhkoiitmy wobei es oft zweifelhaft ist-
das IMih&tr ist*.4,.dem Traum in das wache
<>!f aljeDHtmmeti citid, und U. Wahnideen als Bekundärsymptum
r Aftektstömog. z. 0* 'b^i,- ! iüe?ierf;!y'' Vendnidikuiigs-
l ähnliche Idme bei depreSei.tdfr Verstininiiitrigi yf : ] ; Dyy :
Aach diesem k<tram eialei temlet* Btmierkimgen möchte, ich näher
uachst^htisi^!- Wegi® .«einer .langen:y Beobachtung («6 dähr<?L
Veriaufs und Ausganges. lumierkenswer r.;«:- fall tdngehim.
h-;r Vtok-r Ferdinand T.. geh. am H>. .f-.n.i ..- jjjfcfci, v».n vomer fr'Su
^feffrby--Voter eines Sohnes,' ist dUB:h dicDilrkehrttnisgg toM Sy tWzem -
VMzi -üfiti in, JamNr - lg®?,' Wegen IfriunDd '«rifd •
ÄNifhuiglirher' Zurktfiuimtrite verurkätf und verbüßt- soU«* -h;
11 .'• _'. seit dem *<- Oktober ? 8 >n tOfno.t® sM» T i/i
öjiisunt fji Sjvi»iij-»u.
h-'o: it z-«.,$« «is des KreispKysikus C>r. E. vom icj Swptembw
- uni «i,- Spuren s.Oces Seelen i-G de m im Jahre 1*5* zu*»ge
v>• i-iv 0 tVhiersfd/.lirhkDt gegen -ui*« Autpelwf um! «-.iiiki-
*“•'■ yerhalteift gegen seihe >lrtg*h»rurenek -'mfA? 1 -.. yAsif.^äsk
•i »ij«H ;0 f.iire.-.ht geschehe«, vor derr Direktor geftkhH, recht-
/'’SG vr >J( j» s *-r werde auf der Station verfolgt weit durOf ihn
' ‘ kr-o. ■ »ad BkrzuJüee v.-rliereri sullmn. un-j »cB $u>
* Arfceiten deu Unterhalt für -vinrti Sohn oufbrirtg-o
. : 5u> y: *< «olle auf eirre andere Abteilung yeriegt
'. 'MMfCo gle
496
Albrecbt,
werden, um durch einen Gefangenen, der bereits jemanden umgebracht
habe, zur Ruhe gebracht zu werden. Solche Wahnideen vervielfältigte
T. in der Folgezeit; er wollte bei Gericht vorgemeldet werden, um eine
bedeutende Schuldforderung sicher zu stellen; er schloß aus Zetteln,
die er in seinem Gesangbuch fand, daß ein Mitgefangener ihn bei seinen
Verwandten verdächtige, sein Schwager und seine Schwester hätten
seine vor kurzem verstorbene Mutter durch Phosphor vergiftet, das Ge¬
richt nehme seine Anzeige nicht an, man drohe ihm mit Rache, wenn
er etwas sage, auch der Oberstabsarzt Dr. G. sei durch Phosphor, der
auf das Brot gestrichen sei, vergiftet. T. hörte im weiteren Verlauf seine
verstorbene Mutter öfter sprechen; eines Tages verweigerte er die Arbeit,
weil er frei sei, er sei jetzt Direktor der Anstalt, sein Sohn werde die
Tochter des bisherigen Direktors heiraten, es seien Unterschleife beim
Gericht vorgekommen. Bei seinen Vorführungen machte T. verschiedene
Fluchtversuche, er war zur ärztlichen Untersuchung nur mit Gewalt zu
bringen, weil er sich von den Ärzten verfolgt glaubte. Vor dem Kreis-
physikus gab er an, es werde bei ihm seit einigen Jahren „die Teermethode
angewandt, sein Schamglied werde von den Ärzten krank gemacht, die
Leute aus dem rauhen Hause wendeten bei ihm die Rückenzange durch
den Ahn an, durch das Ahnschlagen sei er zuerst verbrannt und dann
erfroren“. Er behauptete, er sei überhaupt ein Märtyrer, es werde in
seiner Zelle gezischelt, um ihn von der Arbeit abzuhalten, trotzdem er
sich bemühe, sich gegenüber allen Verfolgungen zu beherrschen; durch
den „Ahnäter“ sei die Hälfte der Gefangenen in der Kirche eingeschlafen.
— Trotz dieser Wahnvorstellungen und des „Anzischelns“ hat T. nach
dem ärztlichen Zeugnis von 1862 Jahre hindurch seine Arbeit geleistet,
erst in letzter Zeit ist er aufgeregter geworden, sein ruhiger Schlaf ist
geschwunden und er „tobt in die Nächte hinein“; in Gesellschaft seiner
Mitgefangenen steigert sich seine Erregung. T. ist seit Jahren in einer
Isolierzelle untergebracht und bedarf der Aufnahme in eine Irrenanstalt
zwecks „Kurversuchs“.
Nach Erledigung der mancherlei Förmlichkeiten, unter denen auch
die früher in Pommern übliche Exspektantenliste für Aufnahmen in die
Irrenanstalten eine verzögernde Rolle spielte, wurde T. am 6. Februar
1863 in die Irrenanstalt in Rügenwalde aufgenommen, in der er bis zu
ihrer Auflösung im Jahre 1900 verblieb, und dann nach der neuen Anstalt
Treptow übernommen. Es verlohnt sich, der Krankengeschichte näher
zu folgen.
1863: Fühlt sich „angezischelt“ von abwesenden und anwesenden
Personen, spürt eine „übersinnliche“ Beeinflussung durch Feinde aus
weiter Ferne, bezeichnet diesen Einfluß als „Ahngas, Ahnäther oder
Ahnathem“, der den Ärzten bekannt sei und von Ärzten, Aufseher und
Wärtern ausgehe. Durch das „Anzischeln“ wisse er, daß er begnadigt
und eigentlich frei, daß seine Mutter vergiftet sei. Klagt über Verfolgungs-
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Kasuistischer Beitrag z. Konstanz d. Wahnideen u. Sinnestäuschungen. 497
angst und Gliederschmerzen, die ihm durch das Ahngas zugefügt würden,
verbittet sich diese Barbarei; namentlich verursachen ihm die geheimen
Einwirkungen Schmerzen in den Samensträngen und geschlechtliche Er¬
regung. Zeichnet, beschäftigt sich dabei, hält sich meist ruhig.
1864: 4 Monate hindurch sehr aufgeregt und ständig isoliert.
1865: Mit dem Essen unzufrieden, meint, es werde ihm „Drank“
untergemischt, wird von „Dunst“ gequält, durch „Athemäth“ werde ihm
ein „Rippenroller“ geschlagen, „Haarbrand“ in den Mund gebracht, der
„Geschlechtssamen durch den After gezogen“, durch „Eisathmen“ seine
Zelle kalt gemacht, ihm „Weinpisse“ in die Speisen gegossen, daß sie
süß schmeckten.
1866: Durch „Flammenäth“ mache man ihn unter der Achsel
schwitzen, durch „Athemstoß“ verursache man ihm Lungengeschwüre,
die Geistlichkeit notzüchtige ihn, das ganze Beamtenkorps wolle ihn
„meucheln“, man wolle ihn durch „Wirrfutter“ zum Selbstmord oder
Entweichen bringen, durch „Zehrschleim und Grünspan“ beseitigen; man
quäle ihn mit „ätherischen Folterqualen“. Erfindet Maschinen, das
Perpetuum mobile, nennt sich Graf T.
1867: Hört Stimmen, daß er tot gemacht werden solle, bezeichnet
sich als Präsident.
1868: Fühlt sich durch die Pfaffen gequält, spuckt den Arzt an,
zerschlägt wiederholt Fensterscheiben. Systematisierter Verfolgungs- und
Hochmutswahn. Verschiedene Zettelnotizen aus dieser Zeit klagen über
körperliche Schädigungen und Schmerzen durch „Stoßweh, saures Stich¬
weh, Edstich“. So am 20. November 1868: „Ich bin seit gestern von
dem Athem der Giftmischung des schneidend sauren Blutgnuff, dem sog.
Kohlrapp und das Siechensalz fast zum Tode krank gemacht. Die Doktor¬
familie begann damit am Hinterkopf und durchstießen den ganzen Hinter¬
kopf und den Hals... um 7 Uhr stießen mir viele Weibspersonen dröhnende
Athemstöße in den Magen und die Lunge, wonach das saure Fiebergift
durch den ganzen Leib zog...die Kinder sind bei diesen Folterungen
stets die schlimmsten und stellen an ihre Eltern laut die Forderung mich
verrückt zu machen.
1869: Behauptet, bald Kaiser zu werden.
1870: Stellt in Aussicht, er werde bald das Recht haben, alle Beamte
in Kochstücke zerhauen zu lassen, werde allen die Guillotine zu kosten
geben, sobald er Kaiser sei.
1872: Gibt an, das Brot sei mit „Verzweiflungsathem“ gebacken,
damit er sich das Leben nehme.
1874: Erklärt sich für den „Gottkaiser“.
1881: Fühlt sich durch „sauren Magenknuff“ gequält.
1882: Auf einem Zettel findet sich folgende Notiz: „Das alles über¬
treffende Weh als die stärkste Töterstichkraft in meinen Kopfknochen
und Zähne gestoßen, war vom 12./13. März 1882 Tag und Nacht. Das
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Al bre ch t,
Weh zwang mich zu brüllendem Stöhnen. Der Richter N. soll dann
gleich gestorben sein.“
1883: Entwirft zwei Aquarellzeichnungen von sich, bezeichnet sich
als Kunstmaler, sein Sohn sei Kronprinz in Rom, unterschreibt sich als
,,F. T. Erster Mensch Jott“.
1884: Prophezeit alle Jahre, daß sein Sohn am 7. Februar die Welt¬
regierung übernehmen und alle hiesigen Beamten massakrieren werde.
Fühlt sich viel „geknufft“ und dadurch am Schreiben verhindert.
1885: Führt eine beginnende Erblindung (Staarbildung) auf dem
linken Auge auf Verfolgungen der Ärzte zurück, erfindet Maschinen, die
„alles leisten“, Uhren, die nie stille stehen, außer auf seinen Zuruf „Stehe“.
Fühlt sich von den Pastoren mit „Opiumgift“ verfolgt, telegraphiert
seine Leiden zum Fenster hinaus. Es würde immer behauptet, er hätte
schon längst tot sein müssen, er möchte so lange leben, wie König Wilhelm
von Preußen, der niemals Kaiser von Deutschland geworden sei, sondern
von Rom 1874 abgesetzt sei, sein Sohn sei Kaiser; der Arzt sei nicht
von Rom legitimiert; spricht deshalb zeitweilig gar nicht mit ihm.
1886: Unterschreibt seine Schriftstücke mit „F. T., Ehrfmder und
Segenschaffer für die ganze Welt und König Kaiser und Mensch Jott.“
Schimpft oft maßlos, er erkenne keine Vorgesetzten an, der Direktor
der Anstalt sei noch nicht dazu ernannt, er schreibe die Gesetze vor,
er werde die Weltregierung an treten, wenn sein Sohn, der „Mensch-Jott -
Kronprinz in Rom“ sie ihm übergebe, bei dem müßten sich alle Potentaten
um die Krone bewerben. Weist das Essen zurück, weil die „Gebärschlange“
darin sei, fühlt sich „geknufft“, mit „Turfscheinäth“ Gehirn, Herz und
Lunge aufgelöst, beschuldigt die Ärzte der Giftmischerei, die Justiz wolle
ihm seine Gedanken nehmen, Fürst Bismarck schicke Abgesandte, die
ihm zusetzen; das Essen sei verschmutzt, vergiftet, durch „Äthstöße“
werde ihm das „Abzehrweh“ verursacht, er müsse dies alles nach Rom
melden, da sein Sohn sich noch nicht mit ihm in Verbindung setzen könne,
wie es vorherbestimmt sei.
1887: Voller Größen- und Verfolgungsideen, dabei lebhaft hallu¬
zinierend, oft maßlos gereizt, so daß wiederholt Sturzbäder in Anwendung
kommen mußten. Er sei Gott und Majestät, schreibe ein neues Gesetz¬
buch, erfinde Maschinen, daß der Acker nicht mehr gepflügt, sondern mit
Maschinen umgegraben werde, auch die Kartoffeln sollten mit einer Ma¬
schine gelegt werden; im Essen und Trinken bekomme er Gift, das Wasser
enthalte Grünspan aus der Kupferleitung, das Fleisch sei Aas, sein Augen¬
licht werde ihm durch die Ärzte entzogen, an ihm solle politischer Mord
begangen werden. Spricht oft laut vor sich hin, macht allerlei Meldungen
an seinen Sohn nach Rom und empfängt von dort Befehle, hält seine
Person für vorgeschoben, um die Geisteskrankheit eines anderen zu ver¬
decken. Bezieht einen neuen Arzt in der Stadt in seine Verfolgungsideen
hinein, ebenso neue Kranke, die er als für seine Person gedungene Mörder
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ötisehiT Beitrug: s. jiunätähx rf. Wahnideen 4<J.Q
IäI iiiiKerstMt Male außerhalb der £e!ie unUdanUereti Kranken
-pielt Karben«
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nsachen fortnelunen ivörde: Adrimpft viel ob Ar ,.Seb»H«Jt.;rcieii‘*'
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500
Albrecht,
bestimmt sei, er gebe die Gesetze, über 8 Monate werde er seine Gott¬
uniform mit Diamantknöpfen anziehen, der Arzt wolle ihn nur dumm
machen oder stelle sich unschuldig, daß er ihn wie einen Geisteskranken
behandle.
1891: Fühlt sich mit „Kopftötäth“ und „Bruststößen“ gequält,
„Galläth“ werde ihm aufgesetzt, „Tötegift“ von der Tochter des Gerichts¬
schreibers in Spandau auf ihn losgelassen; schilt auf den Kaiser als „Ar-
seniklümmel“.
1892: Durch politische Intriguen sei er vor 40 Jahren in das Zucht¬
haus gebracht, der eigens für ihn bestellte Kreisphysikus habe ihm vor
einem drohenden Komplott das Leben gerettet, der Zweck seines Lebens
und seines Verbringens in die Irrenanstalt sei, daß er eine neue, gerechte
Weltordnung schreibe; Doktoren, Pfaffen und Apotheker wollten ihn um-
bringen, sobald der Arzt zu ihm herantrete, werde sein Augenlicht ver¬
dunkelt, die Cholera sei nur ein „Doktorschind“, in Wirklichkeit gebe
es keine. Ist andauernd sehr gereizt und ausfallend infolge seiner Sinnes¬
täuschungen und Wahnvorstellungen.
1893: Sein Sohn, der Kronprinz-Gott in Rom, stehe mit ihm als
Diktator wie Julius Cäsar an der Spitze von 32 Weltbundstaaten, eine
Gemeinschaft von 32 Generalen stehe ihm mit Rat und Tat zur Seite;
beschäftigt sich mit dem Problem, das Mondlicht gleich wie Elektrizität
auf Flaschen zu ziehen und nutzbar zu machen. Ist andauernd von „Gift-
äth, Soräth“ gequält.
1894: Nennt sich „T., König, Kaiser, Menschgott und Herr aller
Welten, die noch entdeckt werden“, das Weltgericht in Rom habe dies
anerkannt. Man setze ihm so sehr zu, die neue Weltordnung einzuführen,
und er könne dies allein als Gefangener doch nicht. Schmeckt im Essen
Gift, das durch Säure aus dem Nickel ausgezogen werde, fühlt sich ge¬
quält durch den Augenäth u. dgl. Ein Geburtstagsgedicht für den Ge¬
burtstag seines Sohnes in Rom 1894 lautet:
Ich weine heut, und doch fließt keine Träne,
die 48 Zahl nur zwingt mich hier dazu.
Mein Hermann, den ich nu das Weinen näme,
Hat außer Zweifel heut in Rom nicht Ruh.
Er weint vielleicht da mit noch mehren Andern
Und dänkt dabei an eine andere Zahl
Von Jakobs Söhnen her und deren Wandern
Und an ein festlich frohes Auszugmahl.
Ich ziferiere(?) Zahl und Nummern, zähle,
die 48 so wie hier nun folgen soll;
Dich Kind und Sohn ich gleich als Jot hinstelle
Und das adiert giebt 12, verstehst du wohl.
Das ist das Weltgericht der 12 Senaten;
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asuistischer Beitrag z. Konstanz d. Wahnideen u. Sinnestäuschungen. 501
In Jot Macht sprach Ihr Urteil Uns zu Jot,
Das brach die Macht der vielen Potentaten
Und gab dir Kraft zu brechen jede Not.
1895: Schimpft auf den Fürsten Hohenlohe als Null im Vergleich
u sich, hat eine Erfindung gemacht, durch die alle Schiffszusammen-
töße unmöglich gemacht werden, und die auf dem Magnetismus und
einer anziehenden und abstoßenden Kraft beruht. Bezieht den „Schein -
;önig Hohenzollern, den tollen Bosse und Koller“ in seine Wahnideen.
1896: Ist ganz erblindet. Voreingenommen gegen die Ärzte, ver¬
kittet sich deren „Schlangengruß“, deren langsames Hinmartern durch
„Gifttötäth“, 1000 Schulzen, Lehrer und Honoratioren sprechen auf ihn
mittels „Athemsprache“ ein; erklärt, ein Hermann, der Cherusker, dem
ein Denkmal im Teutoburger Wald gesetzt sei, habe niemals existiert,
das habe sein Sohn Hermann T. getan, der seit 30 Jahren alle 6 Welten
legiere, am 1. Juli werde es sich entscheiden, ob er oder Wilhelm Hohen¬
zollern den Thron in Preußen einnehmen solle, er sei der Weltengott,
den Spandauer und Potsdamer Familien müsse untersagt werden ihn zu
„gnuffen“, die Ärzte im Verein mit dem Amtsrichter und einem Pastor
seien im Komplott gegen ihn und schinden ihn, fürchtet ein Bomben-
attentat durch den Nachtwächter der Anstalt. Ist zeitweilig abweisend
gegen den Arzt, ignoriert ihn.
1897: Im Betragen oft unverschämt und flegelhaft, ist Gott, Majestät,
Vorsitzender des Weltbundes, des Weltgerichts, beschwert sich über
Zehrschleim im Essen und Trichinenfleisch.
1898: Dieselben Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen.
1901: Äußerlich geordnet, findet sich trotz seiner Blindheit in der
neuen Umgebung der Anstalt Treptow zurecht, ist über die täglichen
kleinen Ereignisse in seiner Umgebung und die politischen Vorgänge,
die er sich von einem anderen Kranken aus der Zeitung vorlesen läßt,
völlig unterrichtet. — Auf die Ärzte schlecht zu sprechen, sie verursachen
ihm Magenschmerzen, wie „Käferätze“ laufe es über seine Brust, das
sei die „Kehl- und Brusthölle“, die Ärzte hätten auch seine Augen blind
gemacht und heilten ihn nicht, trotzdem sie die dazu nötigen Platina-,
Gold- und Silbertropfen kennten; im Leibe verspüre er oft „Töterweh“,
man wolle ihn zum Selbstmord treiben, um seinen Sohn zu entehren, er
müsse als Sühn- und Marteropfer für das Unrecht der ganzen Welt leiden,
er sei der „höchste Jott-Mensch-Kaiser“ der Welt, sein Sohn sei der
Weltdiktator in Rom, so sei es vom 28. Juni bis 1. Juli 1887 verkündet,
er sei „vorempfangen“ und die Bibel auf ihn zugeschnitten; seioe Strafe
und seine Akten seien gefälscht, zweimal habe ihm der König Friedrich
Wilh. IV eine Ehrenrettung zukommen lassen, Wilhelm Hohenzollern
8 «i ein König ohne Krone, alle Fürsten sollten aufgehoben werden.
Ein Diktat von ihm aus diesem Jahre, niedergeschrieben von einem
a ü®rdings wenig gebildeten Kranken, lautet:
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502
Albrecht,
Ich der Maler Ferdinand T. weise mit den hier folgenden Kapitteln
und Verssätzen aus dem Weltbundes-Gesetz der Bibel nach, daß ich
schon mehrere hundert Jahre von dem Weltbund zu einem Weltneuerer
und Gesetzgeber vorerwählt worden bin und zwar so, daß ich die ganze
Zeit, in der das geschehen sollte, als Gefangener leben sollte und die Zeit
des Gefangenenlebens sollte von da ab beginnen, wenn der Bund mich
durch Zwang zu einem Straffall hatte bringen lassen; das weise ich jetzt
gleich mit dem 4 ten Kapittel der Epistel St. Pauli an die Epheser nach.
Die Worte weisen dennoch gleich nach, daß ich trotz der Niedrigkeit
des Gefangenenlebens mit geistigem SegenschafTen und neuen gerechten
Gesetzregeln bis zu der Ehrenhöhe Mensch Gott und Herr aller Welten,
hinauf kommen sollte. Die ganze Zeit sollte 50 Jahre sein die von dem
Tage meines Fall zum Gefangenen, auch gleich eine Acht über die ganze
Welt sein sollte. Ich sollte nach dem Vorplan in der Zeit der Weltacht
die Hauptperson sein.
Der Rechtsgang in der Achtzeit, so wie auch die Zeitdauer stehen
in dem 3 ten Buch Mose Kapitel 25 vorfestgesetzt; die ganze Acht leiteten
die 12 Weltbundes-Senaten als das Höchste in Gottkraft stehende Welt¬
gericht so, daß kein anderes Gericht in der Welt noch höher war wie Sie.
Der zwingende Beamte, der den Zwang zu meinem Fall von dem
König Friedrich Wilhelm den 4 ten von Preußen und dem Premierminister
Freiherrn von Manteufel dem Kultusminister von Brockhaus dem General
Polizeidirektor von Hinkeldei war der Dr. Leo in Regenwalde, daselbst
ich daselbst als Bürger und Maler wohnte, später ist der Dr. Leo im Kreis
Schivelbein Kreisphysikus gewesen und ist dort gestorben.
Nachdem ich dann nach dem Vorplan schon in drei Zucht-Straf¬
anstalten geschickt worden war, waren 11 Jahre vergangen und der König
von Preußen hatte mir vor seinem Tode durch eine größere Zahl hoch-
gestellter Männer 2 Mahl Ehrenerklärungen geben lassen und dann auch
noch mit dem Justiz-Minister vereint bestimmt daß eine Actenrestitution
meine ganze Reinheit als schuldlos bezeugen sollte. Nachdem was so
geschehen war, hätte ich meine Freiheit und Ehre öffentlich wieder emp¬
fangen müssen und auch darum, weil ich im Jahre 1858 in der Zucht-
Straf-Anstalt zu Spandau ein sehr werthvolles mechanisches Werk er¬
funden hatte, daß aus eigener Kraft thätig ist, so geschah das doch nicht,
sondern die schon gekennzeichnete allerhöchste Gewalt in Rom ließ mich
nach dem Weltbundes-Vorplan wie das in der Offenbarung St. Johannis
Kapitel 13 feststeht im Jahre 1863 von Spandau nach der Irren-Sichen-
Heil-Anstalt R. am Meer bringen, wo ich gegen jede Gewalt in dem für
mich vorfestgesetzten Plan nicht gehemmt oder angetastet werden durfte,
sondern ganz freien Willen zu allem dem haben sollte, mit dem ich in
Wort Schrift sowie auch mit Thaten eine neue Seegenwelt schaffen konnte.
In dem Kapitel 13 ist der Vers 9 das bestimmende Gesetz über die
Strafbarkeit des Bundes, der mit Zwanggewalt mich zum Gefangenen
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■BHMHBMMHB
vusuistischf-r Beitrag s. Kohstww »1- Wahnideen ;u. GSmnestansrhuughn: :&)&.
ietuacht hat., wie. sie sich datttt auch selbst in Vers t io dem Kphi‘.v»->*-
idwaiig-K ajiitej als Gefangene in dem Herrn geiwmueiehiiet haben .
Der Vers Ifl in dem Fi itm Kapitel kerum-iehrset meinen leibliche«
Subn in der Stadt. Rom in UaJjef» mit der« ganzen Künste mul Snegeii
schaffen Rrüftingscoilegin und dem ganzen \Veftguricbt in Rnnü das dort
gekr-na/rtr iinett' Zeichen ist. ein« 10 die in der LnfUfgiort- der
NaUiy .io>-ftr<jrfc üdonäls iat .Jahr stJieirieml zu seheit ist ; k>1r geht? folgende ■
Aufklärung 1 darüber: die ««uze Figur ist 3n' Bum um iÖ Ein*t?Jsfertig, die-
Mdboo suui aber als Munogt'iinmd itesomfere Figuren, deren eine eine ,
zeichnet, daß die <leseia* und Ordnungen alte in und zirßgmhhligkMt
sein mnefcv«. Oer J: B&cli3tabe7k*rtn?eivfan<*i' Aber ii«; Zwaugkrsift iind
Zwanggov.nit der GeSelzs'egfüer ilh.d Gesetze. Eiimn ze.oii.-m Smo kenu-
leiehnt« sie als’ Monogramm gedacht das Wort Tiirä welches doch eth
Eia» - ödd,r IVOtöjle kegt|j^eh»et;Ahs d«p dhk eigehtlielie \yerthvtd3r; bRät
t.-rausg«-i?ii»d'th werden- muß: jeia :t k-r Bitm ist aber rw-iii Vammwon
näbmlieb In di«s W&t-t. Y: .heißt t»b»«r nuoh die Whiige.’der Orre.hhttg|^.:(.,
oder Sierüerf -Pmikuvangn.
Tfie Xi« dem Y’«t* 18 sagen aflsdraidilhh daü der Sinn diier
ghri (fe B'ache jrti t überlegen als eines Mefc&dmtizMbj beraos gefunden
■’ ■-r tes; ittttß und mit ehe Zalrf '$ öiäfel 6, die wir im fhu>G.vbeb sechshundert
|||!bfc und sawhsstCg (icninm, der damit ausges|m>cher»b 8idh hot ober gar
keine Ähnlichkeit mit nieibeixi Nameo und doch stimmt das ihr Monogramm
Xtmsihö, $o wie'hier j'eftd folge« M>11.
Die 7 a Her h ist die ÖimdeszilW ?.n dem Dreibund der gähivn Mensch -
.«d in der Welt und zwar als .Fürsteiibujui. BeaHitenbund und Volks-
harnt, die in Summa bis jetzt noch der Menscii-Got.tfunid ist. nun aber
tf»r mich den vorcrHaldlefi Mann Ferdinand T. m dem Zweck vorfesl-
rO'WeUi, daß ich selbst persönlich ein Herr ein Gott mol ein Vater nach
Epticser 4 hiermit, in Harmonie stehend stimmen kann uius-oi -iw :•
.;.vt>;iifferttf-lÄtlifl&v’Bl.• Äb«jf «ioanderstchenii geMhlf werden:- m ergiebt das
uie 'Zithl d». tajgöbHiF fuih zuni heftnüdit« d eh -de* -tai'hWÜ $&*£•■& Zahn*
barfesiUcke auf einen Tisch so giebt dal< die ganze Zahl achtzig Mark
:.M$ me'iH Fa-milieu V rgiehi vtjidh "W«inä-. ■•;
Vij 'Öhciiötäir Rdibe fitji<Üt tu dgtnz.äil*.h
iter >.ji.*virUr er .da.mi *ie»t ;tu»d' tai stimmt »ij».** gamu- A.u(gekiärte doch
ä-ul das GriiaaMe ndt der tn Strrntignr. deyii. dein Welj,bundes VC/fwah 1 -
zw^ck M|id niit mwut-tu 'jysböaiipit^tt^ Mit dt’ii) ttufi soAfacb-
gewm^üibfi slinuiit: kttblt .Jahressölü isPzi übi Zrrepk
meiner Vi?i-^tzungW;irt;:«ieF ^»r^F*$traFAostM t ^paHdtrt)--jfS‘ib th»r irren-
Rechen.Jfcü-AnstiUt ft am Mver, • u 'G-'h; ' G ‘ : ..G -
Ini Jalire 1887 in de« V Td^it des 28 teil 2b teil undJ beb Jt/li
üfTgfrtal frei
Ö04
A 1 b re c h t,
hat das allerhöchste Weltgericht in Rom in Italien ein Urtheil über mich
gesprochen so, daß von den 50 allerhöchsten Senator 44 für meine persön¬
liche Ehre als Mensch-Gott und allem dazugehörenden gestimmt haben
und 4 als Senator und Spruchrichter nur mit nein und das ist gedruckt
in meine Hände gekommen als Weltgerichts-Spruchsitzungs-Nachweis.
Seit der Zeit hat das Weltgericht die ganze Welt im Konkursver¬
fahren und zur Übergabe an mir den Mensch-Gott Ferdinand T. geregelt,
daran aber schon mein leiblicher Sohn als Gott-Kronprinz das Schutz¬
recht für mich und meine ganze Familie hatte und jetzt noch so hat und
zwar jetzt in diesem Jahre bis zum 1 ten Juli künftiges Jahr als höchster
zwingender Gewalthaber gekennzeichnet mit dem römisch lateinischen
Wort Diktator, das 15 te Kapitel in der Epistel St. Pauli an die Korinther
weist als Weltgesetz vorfestgestellt in den Verssätzen 21—24 nach, daß
ich und meine Familie nach dem geschehenen Zwangfall politisch tod
erklärt worden sind, daß aber derselbe politische Tod nach Ablauf von
15 Jahren seid dem Tage des Weltgerichts Urteilspruch durch meinen
Sohn so aufgehoben werden soll, daß er damit auch gleich alle Herschaft-
Obrigkeit und Gewalt aufheben soll und mich seinen Vater und seinen
Gott aus dem Gefangenleben erlösen und mir das Reich der Welt über¬
antworten soll und die Zeit ist nun in dem kommenden Jahr 1902 am
1 ten Juli. Das Wort Juli im Ahnsinn kennzeichnet mich und damit
auch gleich meinen Sohn als Mensch Gott mit allen dazu gehörenden
Rechten mit den 12 Weltbundes-Senatoren in Rom über das ganze Haus
Gottes der ganzen Welt und meinen Sohn als den Gott-Kronprinzen.
Die Jahreszahl 1902 stimmt auf’s genauste zu der ganzen Sache
im Zifferahnsinn so; eins die alleinige Gottgewalt über das Haus der Welt
im 9 ten Gebetsinn alle Anderen null und nichts unter der Gewalt meines
Sohnes mit der Nummer 2 gekennzeichnet so lange bis er mich erlöst
und mich das Reich überantwortet hat.
Mein Sohn Hermann T. ist in dem Recht wie nachgewiesen gleich
als wahrer Gott der Sohn und hat dieselbe Macht wie ich Gott der Vater.
Dies vorstehende aus dem Weltgesetz der Bibel nachgewiesen soll
eine Aufklärung meines Recht für alle Irren-Anstalts-Beamte sein, was
ich durch einen andern mit Erlaubniß des Dr. Herrn T. habe schreiben
lassen. -
Treptow a d Rega den 22 ten Dezember 1901
F. T.
1902: Für gewöhnlich zugänglich, unterhält sich gern, zeigt ein
vorzügliches Gedächtnis für die Vergangenheit, gute Kenntnisse der
gegenwärtigen politischen Ereignisse, die er allerdings nicht anerkennt,
da sie im Gegensatz zu seinem Weltregiment stehen. Zeitweilig gereizt,
abweisend, laut schimpfend und halluzinierend, hat „Krampfschnittweh“
im Leibe, schilt auf „den wahnsinnigen, geisteszerrütteten Minister Studt
mit seinen Medizinalräten, Schinderdoktoren und Kaffschreibern, die
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asuistischer Beitrag z. Konstanz d. Wahnideen u. Sinnestäuschungen. 505
ir ins Herz bohren, wenn ich meine Erfindungen nach Rom melde“,
>rt alle Kinder von den Gerichtsschreiben bei jedem Atemzug sprechen,
e „Justizschinder, Lausedoktoren und Pfaffenpack“ wollten die Leute
re machen, weil sie ihm Jesus Vorhalten, Jesus sei ein Vagabund,
in Sohn sei der rechte.
1903: Sitzt häufig lauschend da, unterhält sich mit Rom.
1907: Derselbe Zustand. Erklärt sich für den höchsten „Mensch*
ott‘\ habe das Weltgesetz und alle Gesetze gemacht, die Geschichte
on Jesus sei eine „Wirrkomödie“ gewesen, Jesus sei zum Freimaurer
om Beamten- und Fürstenbund gezwungen, vom 1. Juli an regiere
?in Sohn, der komme mit Kriegsheer und 12 Weltbundsenaten aus Rom
ach Deutschland und befreie ihn; über ihm stehe nur der Naturgeist,
er allein Menschen und Tiere machen könne.
1908: Völlig unterrichtet. Erklärt auf Befragen: es sei überflüssig,
iber alles zu berichten, 1887 sei in Rom ein Weltgericht über ihn ab«
jehalten, daß er der Herr der Welt als „Mensch-Gott“, der klügste Mensch
ier Erde sei, wie es in der Bibel stehe, durch den Lokalanzeiger aus Berlin
labe er die Publikation empfangen, „50 Senatoren“ habe wörtlich darin
gestanden, die hätten auch an der Sitzung in Rom teilgenommen, 44
davon hätten mit Ja für ihn als Gott-Mensch-Kaiser und König gestimmt,
in der Bibel sei sein Name im „Zifferahnsinn“ zweimal genannt, ahnen
heiße denken, Ahnsinn sei mehrfacher Sinn; so habe die Jahreszahl 1908
einen „weitausahnenden“ Sinn, einmal die Jahreszahl und dann um¬
schließe sie das Weltall, die ganze Welt werde umfaßt von 1 + 9 = 10
und dazu 8 = Gott, das stimme mit Johannis Kap. 13, V. 18. Dieser
lautet: Hier ist Weisheit; wer Verstand hat, der überlege die Zahl des
Tiers, denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist 666. Er sei
durch einen Dr. Leo dazu gezwungen, eines Mädchens Jungfernhäutchen
mit dem Finger zu durchreißen, er habe es erst nachher erkannt, daß
ihm die „Geschlechtsanregung zugesetzt“ sei, er sei verurteilt und habe
geschwiegen aus Furcht, daß noch mehr Haß auf ihn gelegt werde; später
habe ihm der König selbst 2 Ehrenrettungen zu Teil werden lassen und
ihn für den reinsten Mann erklärt. Er erkenne über sich keinen Gott
an, nur einen Naturgeist, der könne wohl Menschen, Tiere und Pflanzen
schaffen, nur er aber die Kunstwelt, z. B. Wagen. Er gebe alle Gesetze
für Doktoren, Juristen, Politik, Kunst, Post, Landwirtschaft, Alchemie;
diese Gesetze werden alle 2 Jahre von einer Deputation höchster preußi¬
scher Beamten durchgesehen, auch der Bürgermeister in Cammin habe
seinerzeit der Deputation angehört. Im Körper fühle er Giftstöße anderer
Menschen, Kupfergift, Ätzgifte, so daß er schon in 8 stündigem Todes¬
kampf gelegen habe. Auf Fragen nach Stimmenhören gibt er an, er höre
die Schreiberfamilien, jetzt nannten sie es drahtlose Telegraphie, in Rtigen-
wa\de war es „Athem- oder Etschstoßen, das Sol-Etschstoßen ist nicht so
schlimm, aber was giftig ist, kaltes Gift für die Augen geschleudert, das
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Albrecht.
igt furchtbar, dann hat mir das Herz im Leibe gefroren“. — Ist über
alles vollständig orientiert, weiß Namen der Direktoren in R., ihr Todes¬
jahr, ihre Erkrankungen, den König von Preußen erkennt er aber nicht
an, der sei nur ein Schattenkönig, der nur gewisse Rechte und Pflichten
habe, die er nicht antaste, er (T.) stehe unter Rom, von dort kämen die
Befehle nach Berlin, von da nach Stettin und weiter hierher, die ver¬
fügen über ihn, und das Weltgericht habe gesagt: Du kriegst die Welt
and kriegst Gott — wir können es jetzt nicht anders machen.
1910: Völlig orientiert. Findet sich trotz seiner Blindheit auch
nach notwendiger Verlegung in andere Räume bald zurecht, ist unter¬
richtet über Namen, Aussehen, persönliche Verhältnisse seiner jetzigen
Mitkranken und Ärzte, hat ein richtiges Urteil über seine und anderer
Angelegenheiten, solange nicht seine Wahnvorstellungen hereinspielen;
kennt gegenwärtige politische Ereignisse, soweit sie ihm von gefälligen
Mitkranken vorgelesen werden. Fällt selbst in längeren Gesprächen, so¬
lange nicht seine Wahnideen berührt werden, weder psychisch noch in
seinem Gebahren auf. Gibt auf Befragen an: Sein Vater sei Schuhmacher
gewesen, war „ein kluger Mann, der dreist hätte Regierungsrat sein kön¬
nen“; der Vater müsse um 1856 gestorben sein, seine Schwester habe
ihm einmal im Zuchthaus geschrieben, daß Vater 18 Monate tot sei.
Wann seine Mutter gestorben sei, wisse, er nicht, es sei ein falscher Toten¬
schein ins Zuchthaus geschickt, 6 Monate später habe er sie noch vor
der Anstalt gehört, aber sie sei nicht hereingelassen, es müsse 1861 oder
1862 gewesen sein. Ein Onkel von ihm sei Leutnant und später Polizei¬
spitzel für den König geworden, der habe ihn überwacht, sonst hätten
ihn die Regierungsbeamten schon bei Seite geschafft. 2 Schwestern
von ihm seien in Rom, ob die noch leben, wisse er nicht, da vor ihm alles
geheimgehalten werde. Das habe der Weltbund so festgestellt; seine
Feinde, insbesondere der Freimaurerbund, fingen beim Kaiser und König
an und schwindelten es einer dem andern vor; deshalb habe der Weltbund
beschlossen, einer solle gefänglich gesetzt werden wegen eines Schein¬
mordes an einem Mädchen, dazu sei er erkoren; „ich soll geprüft und zum
Höchsten Menschgott gemacht werden“. Er habe alles erfunden, 13
mechanische Werke und eine neue Weltordnung, wie es schon in der
Bibel stehe: Siehe, ich mache alles neu. Eine Räuber- und Spitzbuben¬
bande bringe solche Erfinder wie ihn in die Anstalten und zwinge sie,
etwas zu tun, daß sie in solche Anstalten kommen müssen; es sei alles
für ihn 430 Jahre vorherbestimmt; der Dr. Leo habe es ihm durch Zwang
eingegeben, einem Mädchen mit Namen K. das Jungfernhäutchen mit
dem Finger zu durchreißen; 4 Tage später sei sie zu Tode „geterrt“, da
hieß es, er habe sie gemordet, daraufhin sei er zu „langer Lebensstrafe“
verurteilt und habe in Naugard, Moabit und Spandau im Zuchthaus
gesessen. Es stand in der Bibel, er solle in alle unterirdischen Löcher
hineinsehen und alles kennen lernen. Nach 12 Jahren habe ihm der
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:.»'«isii*ch*r Beitrag- t. Konstanz d- Wahnideen u, Sinnestäuschungen 507
iJStmg 2 ßhremei-fc{<mmgeu zukoiuiäoit' keo-e«. er hübe' die. Soldat«:« vor
Fönster singet» and verkünden lassen; „dieserMann ist der reinste
. Lande": \H« hohen Offiziere und Jöyiiprrsoneti hatten darauf-
rin seinem Böhr* zu Ehrgrt die Mützen. abgenömmeu, \tod die Spandaöer
.,iiU Land is die» 1 ’- Auch «ach R. sei er gebracht, um
,*s lijcaiitl^se Teh'gräphie, •_ • -
-Viel im Bett lycgeu '.korperlielior Schwäche, wird viel geplagt
durch- „Anatben, Atzwc-D" ij; vigl., ; halluziniert,- sei ,.biendblinri” gemacht,
in denselben \\"ahuvowidiungeii vifr Große ytid dÄ bgl^fen
wie: frühgr, hat ein Rittes Oedächid»
f r- iV e’-f**’!tV- iJ Tti tt^. A jirtA} (tj- " U s
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die Rangstti/en Vurti Sofia ?.u Gott: es werde- ei«« grolle Umwälzung
»iütEtfiibiän; gis- %be- ^ in der Bibel .«»i gut
wie die Prof^egot>>n analer) Uni vergUfttu.«; er sei dii großer Geist, vertrete
die iw.upW sttordhüng:^ ajltf/itdrätriht die; |et : 5it hgrnfebeä, haben nur mit«
: . ■ mm-ginr-ijifg von ihm. am •>»>. August Herde nun sein .Sohn den Thron
:.bestvig«n und ■AtLirilmrrsLhi'r der Welt sein, dann Hei sei« grobes Werk
voUeitii^L ■'#?! n Wappen s^/^igs'^SR^te^iis tirr^ däg; di« GntiörtnM vertrete,
besti-lm aus inner römischen X als Zeichen des Gesetzes, einem lut-
und wageW-diten Kreuz als Reiche« der Gerechtigkeit .und einem latei-
ftJsrhen T. 3/y n 8o,hn sei sch ait als Svitulkruilie»ach UjGtn geholt, sei dortP
Senat uivterrietitft und habe dm WeUregieiaivig .-.»udmrt: >kf Senat
Vestehe (tig Abteilu ngeü für Juristen, .fCfrcliehfecaftiiah «n4 GiKkthren*
Vn' seinen-' S«hn sei bereits in der Bibci hiiigf.-vGesen. ans ihr «iss« er
|pti. daß sein Sohn lebe und «L der Hehl de* großen Tages Hervorgehen
f0\$\ Sei» Kind sei' elend gemartert Word;-« von Friedneli Wilhelm
|bn. Hohen zcihn-ti sei ihm Kramptedt gegeben. däß es die Bru.ätwar/.e
dit fimivu solU« dafür habe Friedrich Withstm die Kanüle bekomme«
m, d habe in Remo gelent, das hieße rückwärts ,.u m-r"-. darrtit sei gesägt,
■tau der K.».?b.e. vinnisi ..mehr' Werden solle Seim-m Sohn, der Hermaim
heiße, »ei aweh in HoutstnlaiHl d»> Heriimnmdtmfcmal errichtet. Hängt
hm-Uiärkij? in der Idee, er der „jottmeim'h“- emi so?« Sohn der künftig«
Ifeltregetu, wird hui Widerspruch erregl,
)BV2; Wslmsvstent unverändert. Körperlich hinfällig, liegt dam-rod
ll% Bett, -.bezioht' kprp*eiichfc Eiapfmdufigen auf ,, Alifig.es. AhiiäUtvejpe
■' '.t iiiuigeri. empfangt. Mit teil (läget) ...ans. Rom «her seinen
'-•dm. Gat untetriehtef, frauidlivh, hat ei» richtiges Urteii. .solange nicht
"■'Os- '‘VidHivr.rjirUnngeu hineiflhezegen werden.
Go. gle
508
Albrecht,
1913: Im März Schlüsselbeinbruch infolge Ausgleitens beim Gang
zum Klosett; derselbe heilt, trotzdem er einen Verband nicht sitzen läßt,
da er mehr verstehe wie ein Arzt. Bezieht Urinbeschwerden auf Mani¬
pulationen von jungen Mädchen an seinem Glied. In seinem geistigen
Verhalten unverändert. Am 30. September 1913 mehrmals Durchfälle,
am 2. Oktober 1913 in plötzlichem Schwächeanfall gestorben.
Die Sektion ergab mäßigen Darmkatarrh, senile Atrophie der Organe.
Das Gehirngewicht betrug 1125 gr.
Seine zahlreichen hinterlassenen Aufzeichnungen bilden z. T. Zettel
mit den bereits in der Krankengeschichte gegebenen Belästigungen»
Empfindungen und Sinnestäuschungen; z. T. legen sie seine Weltanschau¬
ungen und Erfinderpläne dar, z. B. nimmt er gegen Beschlüsse des Kultus¬
ministeriums, die er in Zeitungen gelesen hat, durch Gegenanordnungen
Stellung oder er löst das Projekt, Schiffszusammenstöße zu verhindern,
durch Magnetismus, der bei Annäherung zweier Schiffe eine Lampe
aufleuchten und Glocke ertönen lasse. Drei dicke Diarien sind betitelt:
Satz Ordnungen zum Gemeinde-, Staaten- und Weltregieren; Erfinden
und Segenschaffen Grundplähne, entworfen in den Jahren 1863—1888;
Steuerungs- und Verbesserungsgrundpläne zur Staaten- und Weltregie¬
rung seid 1893.
Die Vorgänge am Tage der Tat, dem 25. Juni 1851, die ihm lebens¬
längliche Zuchthausstrafe eintrug, schildert er folgendermaßen: Er sei
durch einen Schlag ins Auge, den ihm ein Schneider Schmidt versetzt
habe, gezwungen gewesen; den Dr. Leo aufzusuchen, nachdem er zum
Frühstück ungewohnterweise noch 2 Glas Kümmelbranntwein getrunken
habe; so habe er nicht gemerkt, daß Dr. Leo ihm nach der Verabredung¬
in Berlin „Zwang-Ed“ in den Leib gestoßen habe; zu Hause angekommen,
habe er sich über seine Frau geärgert, die ihn ausschickte, vom Felde
für einen Hasen, den sein Sohn geschenkt erhalten hatte, Futter zu holen;
dabei habe er das Mädchen getroffen und ihr mit der Hand „unter Zwang“
das Jungfernhäutchen durchrissen; dieser „Zwang für einen Geschlechts-
fall“ sei für ihn in der Bibel Epistel Pauli an die Epheser Kap. 1, V. 1—10
„vorberaten“ und sei durch „Schnitt-Ed“ von seinen Zwingern verur¬
sacht. Darnach sei er in Untersuchungshaft in ^iaugard gekommen und
zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.
Kurz zusammengefaßt handelt es sich bei vorstehendem Fall um
einen Mann, der im Alter von 27 Jahren im Jahre 1851 wegen Un¬
zucht und versuchten Mordes zu lebenslänglichem Zuchthaus ver¬
urteilt ward und in der Isolierhaft etwa 1859 psychotisch wurde.
Die anfänglichen Krankheitserscheinungen waren Verfolgungsvor¬
stellungen: T. glaubte seine Mitgefangenen durch sich geschädigt
und fürchtete in unbegründeter Weise umgebracht zu werden. Er
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Kasuistischer Beitrag z. Konstanz d. Wahnideen u. Sinnestäuschungen. 509
schloß ferner aus Andeutungen im Gesangbuch auf Verdächtigungen
seitens anderer Gefangener, auf Giftmord an seiner Mutter und an
anderen Leuten, während er durch Drohungen mit Rache von einer
Anzeige zuriickgehalten werden solle. Um diese Zeit stellten sich
auch Sinnestäuschungen ein, er hörte seine verstorbene Mutter sprechen.
Trotz dieser Störungen setzte T. zunächst mehrere Jahre seine Arbeit
im Zuchthaus fort; eines Tages legte er diese nieder, erklärte sich
für den Direktor der Anstalt, sein Sohn werde die Tochter des bis¬
herigen Direktors heiraten, es seien Unterschleife beim Gericht vor¬
gekommen. Es stellte sich Unruhe und nächtliches Toben bei ihm
ein, die von massenhaften Sinnestäuschungen begleitet waren, er be¬
hauptete, es werde bei ihm die „Teermethode“ angewandt, sein Scham¬
glied durch die Ärzte krank gemacht, die „Rückenzange durch Ahn¬
schlagen“ angewendet, durch „Ahnäther“ die Gefangenen betäubt
und in seiner Zelle fortwährend gezischelt. In diesem Zustand offen¬
barer Geisteskrankheit wurde er seit 1863 in der Irrenanstalt zu R.
untergebracht. Hier äußert er dieselben Vorstellungen, die er auf
Arzte und Wärter bezieht: er hört „Anzischeln“, spürt „übersinnliche
Beeinflussung“ aus weiter Ferne, fühlt durch „Ahngas“ Glieder¬
schmerzen und geschlechtliche Erregung und hört, daß er begnadigt
sei. Für seine körperlichen Empfindungen gebraucht er in der Folge¬
zeit verschiedene Ausdrücke, so 1865: durch „Athemäth“ werde ihm
„Rippenroller“ geschlagen, „Haarbrand“ in den Mund gebracht,
sein Geschlechtssamen durch den After gezogen, ihm „Drank“ unter
das Essen gemischt. Verfolgungsideen und Sinnestäuschungen um¬
greifen dann weitere Gebiete; 1866 spürt er „Athemstöße“ durch
„Flammenäth“, das ganze Beamtenkorps wolle ihn „meucheln“, ihn
durch „Wirrfutter“ zum Selbstmord bringen, oder durch „Zehrschleim
und Grünspan“ beseitigen. Gleichzeitig erfindet er Maschinen und
nennt sich Graf T. Im Jahre 1867 bezeichnet er sich als Präsident,
1869 erklärt er, bald Kaiser zu werden. Gehörstäuschungen und zahl¬
reiche sonstige Sinnestäuschungen gehen auch in dieser Zeit nebenher.
Er spürt „Stichweh, Edstich, sauren Blutgnuff, dröhnende Athem¬
stöße in Magen und Lunge, saures Fiebergift“; er glaubt die Familie
des Arztes an diesen Folterungen beteiligt, fühlt sich von den Pfaffen
gequält und hört Kinderstimmen bei seinen Qualen. Unter Andauem
der Sinnestäuschungen bezeichnet er sich 1874 als „Gottkaiser“. Diese
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIJ. 3. 35
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510
Albrecht,
Wahnidee bleibt nun haften bis zu seinem Tode und erfährt nur eine
gewisse Weiterbildung. 1883 unterschreibt er sich als „Erster Mensch
Jott“, gibt seinen Sohn als Kronprinzen aus und erwartet nun all¬
jährlich, daß sein Sohn die Weltregierung in Rom übernehmen werde.
Daneben gehen Verfolgungsvorstellungen durch die Ärzte, die Pastoren
und Sinnestäuschungen, er fühlt sich „geknufft“, mit „Turfscheinäth“
seine Organe aufgelöst, spürt „Gebärschlange“ und Gift im Essen
und meldet seine vielfachen Qualen durch lautes Sprechen telegraphisch
seinem Sohn in Rom, der „Mensch-Jott-Kronprinz“ sei, bei dem sich
alle Potentaten um die Krone bewerben müßten. Zugleich unter¬
zeichnet er sich als „Ehrfinder und Segenschaffer für die ganze Welt,
Kaiser, König und Mensch-Jott“. Sein Verhalten ist dabei oft sehr
ausfallend, Ärzte und Vorgesetzte erkennt er nicht an, da sie nicht
von Rom legitimiert seien. Er bezieht neu in seinem Gesichtskreis
auftauchende Personen in seine Wahnvorstellungen, sieht sie als
gedungene Mörder an. Er erfindet Maschinen, macht sich (1888)
eine eigene Einteilung der Natur und ihrer Kräfte, hält sich für den
größten Wissensförderer; deshalb glaubt er sich verfolgt und ange¬
feindet und schützt sich gegen das „Ablauschen“ seiner Erfindungen
durch lautes Aussprechen beim Niederschreiben, damit sein Sohn und
der Weltenbund in Rom gleich Kunde davon erhalte; denn seine
Stimme und sein Denken sei wie „tönendes Stoßsprechen“ weithin
zu hören. Beginnende Alterserblindung führt er auf das „Augen-
schinden“ der Ärzte zurück, die „Äthkraft“ sei ähnlich wie die „elek¬
trische Wutkraft“, wenn er mit ihr gequält werde, fürchtet er, daß
der Blitz angezogen werde. Der Kreis seiner vermeintlichen Ver¬
folger erweitert sich mehr und mehr; er glaubt Ärzte, Bismarck und
die Hohenzollern im Bunde gegen sich, freut sich über die Entlassung
Bismarcks (22. März 1890), meint, die Hohenzollern wollten ihn
durch die Waschmädchen verführen und ihn um die Weltherrschaft
bringen; aber er sei der „Weltsegenschaffer, wie es vor hunderten von
Jahren vorausbestimmt sei, der bald seine Gottuniform mit Diamant¬
knöpfen anziehen werde“. Während seine Sinnestäuschungen und
seine Verfolgungsideen in dem Jahrzehnt von 1890—1900 gleich
bleiben und sich in massenhaften Gehörstäuschungen („1000 Schulzen,
Lehrer und Honoratioren sprechen mittels Athemsprache auf mich
ein“) und eigenartigen körperlichen Empfindungen kundgeben, für
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vjv, /’/iv/I-V ■
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stilistischer tteitrafr z. fiftustaoz d- Wahnideen u. Sinnest »k « Um .51 j
!€■: er wie früher auch besondere Bezeichnungen gebraucht. wie
Doktorsehißd, GUtäth, Sobrhth, gmiRntf^.'wföht feieBeine im jCdrtt •/.// 'f.y/!;g
averändertcn iirößenwahnt'corsteljuftgijn einen^‘eiteren Aasbiui und
egrümhuu.r. sein hinter ihm Hegendes Lebe» wird wahnhaft uni-
Meum üJU‘1 ?ntBb>Ut, Er ist durch Bi\s»diUtb des Weitgeiicte in
<*m i,KöMj^;Ei^rv.9l.eitödh^«iott' and Herr aller Welte«/ sein ckdtu
er ihn der Spitze mi M WtdttttiridAfaatft«, seiiti
nh« m sebtui ah die. Stelle Hennawi des Cheruskets getreten.'Er
ugnet in Km^(|u.ettt : c^eser-Töar^tdliiingi'n das ,^eh 3 E^ii|^^^uEh;.iier .
!"b«. i M7.(die!n und bezieht damals amtierende Minister in seine Ideen .
mein, BestieWalumustejliimren begründet er. wie auch fniher,
..wreb Gehbre täusch ungen und allerlei Zahlen im m biuat i - me n und
Auslegung vttn Bibelsteilen, wie sein .Inktal. mis dem Jahre
'•ut sehr schön naehweist. Es fällt hier, wie Kölk amh 5»eob-
a'iriet bat. apt, d^ö in deinseliien d6r' ; ^irei|§gÖu^en;iMti^^ejn
Wort gedacht >vii*d 1 ;(»indern nür der Wahotnrsteihü^eU. Ah seihet
.Valiübnduug -und seinen Sinnestäuschungen. ändert- auch seine Vn-
: uiugiu eine andere Anstalt nichts. 'Wen» neue Ausdrucke hn>*u-
Minimen Und seih Walmsfstem geordneter erschein^, sq lie&t dies
$ÄU|>t*äeb'Hch- daran, dail genauere Angaben .in der Krankengescliiehte
»‘»fliegen. Er spiirtdie ./Eehl- tavJ Brustbuile'b es laufe w'fev.;Kä/et>
I' ■ :• Y5L:gw- v LA*: &iu.Li:'
1 «|
WV‘ ’ über seine Brust, tinrc.h ..Krainpfsehnittweh' 1 und ,,Et'scn-
■''öen' : wird er geplagt...adle Kinder der Geriehtsacbrciber sprechen s>d
gafenrAtcnizug auf ihn ein. Er müsse als Märtyrer für das Unrecht
*tr ganzen Welt leiden, die Geschichte rn.it Christus sei nur „eine ..Win-
Emddie ; gewesen, er und sein Fall sei Yürauslmuimmt m der Bibel,
fir «Kn der ,.Höchste Gdtt-Menseh-Kaiser/ Bd habe das WgJtgcrichr
Koni beschlossen, sein Buh» der ..Weltdiktatur/ der mit Krieg».
*'t*er und 12 Welthimdse/mten in Deut-w.-bland «mdehcju werde; er
"i der klügste Mensch, über ihm stehe nur >l«r Naturgeist. er schaffe
Ji-
•mßkw
^ 4 f k . Ehrenerklärung zukEmmien W0 FwiJu, «ü-
^ wC^ .FrenühuTCr.^^ ycrfofgttmdhjt wegen stfiifer Größ^-;4eshat^h'fthc : r
der /Weltbund beschlossen, ein er solle gefänglich gesetzt und äc-
... - - - ■
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' ■“ ■•■■ original tTorlr
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512
A1 b r e c h t,
prüft und zum Höchsten, Mensch-Jott“ gemacht werden. So habe
es die Bibel bereits bestimmt, er solle in „unterirdische Löcher“ hin¬
einsehen und an den „Sand des Meeres (Anstalt R.) kommen. Da¬
neben gehen zahlreiche kombinatorische Umdeutungen von Bibel¬
stellen und Zahlenspielereien. Diese Angaben stellen jedoch tatsäch¬
lich nichts Neues dar; sie finden sich durchweg bereits in seinen Auf¬
zeichnungen aus den achtziger Jahren, die er jedoch bei Lebzeiten
sorgfältig hütete, so daß das lange Zurückreichen jener Vorstellungen
erst nach seinem Tode festgestellt werden konnte. Sein Zustand
blieb unverändert bis zu seinem Tode im Alter von fast 90 Jahren.
Wahnideen und Sinnestäuschungen wechselten nicht; bemerkens¬
wert war sein gutes Gedächtnis, er zeigte keine Verschrobenheiten im
Benehmen und konnte sich im Gespräche über gleichgültige, außer¬
halb seines Wahnsystems liegende Dinge völlig geordnet und
liebenswürdig unterhalten. —
Wodurch ist nun der vorstehende Fall bemerkenswert?
Erstens durch die lange Krankheits- und Beobachtungsdauer;
T. ist 54 Jahre geisteskrank bei einem Endalter von fast 90 Jahren,
und bringt davon 50 Jahre in Anstalten zu. Schon dies gehört zu den
psychiatrischen Raritäten.
Zweitens ist auffallend die Konstanz der Sinnestäuschungen und
Wahnvorstellungen. Erstere bewegen sich durchweg auf dem Gebiete
des Gehörs, des Geschmacks und des Gemeingefühls und bleiben bis
zum Tode im wesentlichen unverändert. Wenn T. bald diesen, bald
jenen Ausdruck für seine krankhaften Sensationen anwendet, so ist
dies noch kein Zeichen eines Variierens, sondern der Ausdruck zahl¬
reicher Täuschungen auf verschiedenen Sinnesgebieten, von denen es
ganz verständlich erscheint, daß sie bald auf diesem, bald auf jenem
Gebiet mehr und in anderer Nuanzierung auftreten. Da der Kranke
fast 90 Jahre alt wurde, so kann man auch nicht behaupten, daß die
Lebensdauer nicht lang gewesen ist, um eine Variabilität der Sinnes¬
täuschungen, wie sie Koch annimmt, in die Erscheinung treten zu
lassen. Auch sind die Sinnestäuschungen verbreitet genug, um nach
Koch eine möglichst günstige Vorbedingung für einen Wechsel zu
schaffen. Trotzdem bieten sie eine auffällige Konstanz, und die Klagen
des Kranken über seine Vergiftungssymptome, seine körperlichen
Sensationen und seine Gehörseindrücke sind zu Beginn der Krankheit
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Original fro-rri
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.vMUsnsHiei Beitrag i. Konstanz d. Wahnideen n. Sinnestauschiuigen.. 513
Äw litt Verlauf derselben die gleichen wie kurz vor ?.ei»eni Tode.
: «B eitlem Faüeniassen einer H&Uiuination und Ersatz
dtth .«&€? andere kaJiit jetlepfalk bei T. nicht sein.
ivrnrv- anders, jedoch ähnlich, verhält es sich mit den; Wähft-
, o<^teitujigwj des T. In den ecden Jahren drehen sjc sieh im wesent -
Gus*>i- äulrhekeu und ihn sieh 1874 als „Oottkaiser;' erklären lassen.
'!. <-> sxrh bei dem Größenwahn uni sekundäre Wahiibilduüg aus
Yaltb oder aid Gmöd doß ^hör$täuschungen uder koijdairiäturiseher
ifldusse handelt, ki Wohl schwer zu .entscheiden: jedenfalls ist liier
du Vaniervdj der Watmvnrstellungen itn Sinne einer. Steigerung nicht
■ i verkennen. Nachdem über einmal diese Idee des Guttkaisgrs in
l‘-"t kranken Gehirn Wurzel-gefaßt hat bleibt sie. fad- durch 40 Jahre
ik-soUxe und erfahrt nur, in ihrer Begrdtuiiutg und in ihren Einzel-
leiten «men gewissen Ausbau. Hierzii gehört äpelr die- v#m*ti^tlkhe
h; .'ion ab Erfinder. WeUsegenschatter jsixd, GeaetzgebtJir. : die Jahr-
wiint e Jiüuiufdi utiverändert beilrehdlren wird, Er ist ^omit durch-
•ei- gerechtfertigt, nach der rollen Ausbildung des Walm?. dir nach
Pfien Auizeidinmigeh zu- Beginn der achtziger Jahre abgesrhlUHsenist
^ wir begeifOen in späteren Schriften und »l^dUcimttrJ^itercedun^b
teiüem neiteii Ausdruck, keiner moum Vomeiiurjg tbh einer 'Kipp—
d&itz'der WithnviirsteUiihgfen kti sprfeehKn, die 3d Jahre hindurch fe
* ) seinem Tode* in die Erscheinung' tritt*). Daß Gehorstäusclamgen
eiiJ Walnv'.'nrsteUungen bei T. *>üt Wfihrseiieiulirhkeit Ausdruck der
gdieimsten inneren Gedanken sind, sie somit- also in gewissem Sinne
eute Wunsiherfiillung darsteilen, dieser Gedanke wird sieh bei den
Äußeren Verhältnissim des T. mit Leichtigkeit aiibüäiige«, wenn man
•■•it h lici. t-oj «t paranoiden Psychose wohl schwer von einer .bewußten
ddoxdit in die Krankheit", die Ersatz bietet für 'mangelnde -äußere
Gittüfände. reden kann. ' ••///■'.
»Schheßlii li ist der Fall T. <iemerkctiswe.il durch'.seinen Ausgang
kein Zyvciicl, daß. die Gpisfcskrankheit des T. zu dfsn paranoide?«
C\y< gehört, mag man sie mm als paranoide Form der Denieima
: Blr'nh -},, rO itl.'l .ui y-nioii Bmli: f»cuu*o li* pv>*.v.-ox„ H.ind-
s ’ ! ” *’ i> 5 . vmii i yt a I '• I I. n.i " ll 2 .-l.eofoib vöti eSVleC
ilje.eine VVahnid«»' Au .fahrs- tiiiuhu^Jj feitk^hoHiui hat.
Diqitized bi
Gougli
514 Alb recht, Kasuistischer Beitrag zur Konstanz der Wahnideen usw.
praecox, als Paraphrenie oder als Paranoia chronica hallucinatoria
benennen. Aber es kommt trotz des langen Bestehens — 54 Jahre
hindurch — weder zu einem Abblassen der Wahnideen, noch zu einer
zunehmenden Unsinnigkeit und Zusammenhanglosigkeit derselben;
auch eine „Verknöcherung“ des Wahns ist bei der Einbeziehung je¬
weiliger Zeitereignisse und Persönlichkeiten bis zum Schluß nicht zu
erkennen. Ebenso kann man von einem Residualwahn nicht reden.
Der Zustand bleibt an 30—40 Jahre im wesentlichen stationär und
führt auch nicht zu einer Verblödung. Eine psychische Schwäche
ist jedenfalls daraus nicht zu erschließen, daß hier die Vorstellungen
nicht den genügenden Einfluß auf das Benehmen des Kranken aus-
übten — tatsächlich bestand dieser, soweit es die Verhältnisse in einer
Anstalt gestatten, und zwar waren die Reaktionen in den ersten
Jahrzehnten recht heftig—, oder daß etwa zwei Vorstellungsreihen, die
Größenideen und Berücksichtigung der Wirklichkeit, z. B. elterliche
Abstammung, nebeneinander hergehen. Wir finden dies Symptom
bei Kranken mit Dementia praecox im Beginn, wo sicher noch keine
Verblödung besteht, sehr häufig, es ist abhängig von der Spaltung
des Bewußtseins (Breslers Zwiesinn) und hat Bleuler zu der charak¬
teristischen Bezeichnung der Dementia praecox als „Schizophrenie“
Anlaß gegeben. Verdächtig auf eine psychische Schwäche sind aller¬
dings einige Angaben, z. B. betreffs des Verkehrs der Hohenzollem
mit Waschmädchen und deren Versuch, auch ihn ähnlich zu verführen,
es ist jedoch zu berücksichtigen, daß diese Wahnvorstellungen mit
gleichartigen Sinnestäuschungen einhergehen, somit gefühlsbetonte
Komplexe betreffen, so daß ein Schluß auf geistige Schwäche nur mit
Vorsicht und nur dann gestattet ist, wenn sich auch auf anderen
Gebieten derartige Schwächeerscheinungen geltend machen. Hier fehlt
es aber bei T. an genügendem Anhalt. Es gibt somit sicher in seltenen
Fällen Erkrankungen unter den paranoiden Psychosen, die auch bei
sehr langem Bestand trotz zahlreicher Wahnvorstellungen und
Sinnestäuschungen nicht in Verblödung übergehen. Ziehen führt
in seinem Lehrbuch von der „Paranoia hallucinatoria chronica“ an,
daß sie nicht in Demenz ausgeht. Allgemein stimmt diese Angabe
nach meinen Erfahrungen nicht, doch kann derartiges in seltenen
Ausnahmefällen Vorkommen, und davon gibt vorliegender Fall
Zeugnis.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
91- Ordentliche Generalversammlung des Psychiatri¬
schen Vereins der Rheinprovinz am 22. November
1913 in Bonn.
Anwesend sind: Adams, Aschaffenburg, Baumann, Berg, Bernard,
Beyer, Beyerhaus, Bickel, Deiters, v. Ehrenwall, Fabricius, Fuchs, Gerhartz,
Gielen, Günther, Hermann, Herting, Herzfeld, Hübner, Kirch, Kleefisch,
Kröber, Lenneper, Liebmann, Loeb, Lückerath, Mappes, Märchen, Neu,
Keuhaus, Peipers, Pelman, Peretti, Pollitz, Raether, Recktenwald, Rieder,
Rosenthal, Rülf , Schaumburg, Schneider -Ensen, Schoebel, Schreiber > Schroeder,
Sieben, Sioh, Thomsen, Thywissen, Umpfenbach, Voss, Wahn, Weinbrenner,
IVerner-Bedburg, Westphal, Wiehl, Witte .
Als Gäste sind anwesend: Dr. M e&Aetmer-Galkhausen, Dr. Schneider -
Cöln, Dr. Warburg-Cö ln, Dr. Wildenrath-Pützchen.
Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung und teilt mit, daß seit der
letzten Versammlung gestorben sind die Mitglieder: Oberarzt Rademacher
und Anstaltsarzt Storch, beide zuletzt in der Provinzial-Heilanstalt Galk-
hausen tätig, und der Geh. Med.-Rat und Direktor der Irrenanstalt Gehls-
heim-Rostock Professor Schuchardt, früher II. Arzt der Provinzial-Heil¬
anstalt in Bonn. In den Verein wird aufgenommen Dr. Loeb -Ahrweiler,
Arzt der v. Ehrenwall sehen Anstalten.
Zur Aufnahme in den Verein melden sich: die Assistenzärzte
Dr. Havestadt- Düren, Dr. Köster -Grafenberg, Dr. Melsheimer- Galkhausen.
Durch Akklamation wird der bisherige Vorstand ( Oebeke , Pelman,
Thomsen, Umpfenbach , Westphal) wiedergewählt.
Es folgen die Vorträge:
Rülf- Bonn: Referat über Theorie und Entstehung der
Halluzinationen.
Rülf versucht kurz die Gesichtspunkte zu kennzeichnen, welche
bei der Betrachtung der Theorie und Entstehung der Halluzinationen
zu beachten sind. Zunächst müsse man eine richtige Definition der
Halluzination aufstellen. Am besten bezeichne man die Halluzination
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Original fram
UNIVERSETY OF MICHIGAN
516
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
als Trugwahrnehmung, da der Begriff der Sinnestäuschung bereits
von der Psychologie für Phänomene in Beschlag genommen worden sei,
die auch in der normalen Breite Vorkommen. Der Begriff der Trugwahr¬
nehmung bringe auch besser zum Ausdruck, daß das Prinzip der Täuschung
nicht in den Sinnen, sondern in der Psyche liege. Man solle auch nicht
von gegenstandlosen Wahrnehmungen sprechen, da die entoptischen
und entotischen Phänomene ebenfalls gegenstandlose Wahrnehmungen
bedeuten. Bei den Halluzinationen handelt es sich vielmehr um gegen¬
standlose Trugwahrnehmungen.
Vortragender weist dann auf die Schwierigkeiten der tatsächlichen
Feststellung und klinischen Abgrenzung der Halluzinationen von anderen
pathologischen Bewußtseinsphänomenen hin, und zwar zunächst von
denjenigen, bei welchen ein äußerer Reiz als Ursache einer Sinneswahr¬
nehmung vorliegt, dieser aber nicht seiner Qualität entsprechend perzipiert
wird. Es handelt sich im solchfen Falle um Illusionen. Sodann wird
die Abgrenzung besprochen von pathologischen Phänomenen, die sich
auf rein intellektuellem Gebiete bewegen, und zwar 1. von den wahn¬
haften Deutungen, 2. den Erinnerungsfälschungen, 3. den
Konfabulationen, 4. den Träumen, 5. den hypnagogen Hallu¬
zinationen und 6. den Halluzinationen, welche in der Narkose
oder in der durch Intoxikation hervorgerufenen Betäubung entstehen.
In den drei letzteren Fällen handelt es sich freilich um echte Halluzina¬
tionen, aber es kommen für sie nicht die in den eigentlichen Psychosen
wirkenden Ursachen in Frage. Dagegen hält es Vortragender nicht für
richtig, mit Hagen die Delirien der Hungernden, Erschöpften,
Schiffbrüchigen usw. abzutrennen, sofern in diesen Zuständen echte
Halluzinationen Vorkommen.
Vortragender geht dann dazu über, die Eigenart der Halluzination
als pathologischen Erkenntnisvorganges zu betrachten, und zwar 1. vom
erkenntnistheoretisch-logischen, 2. psychologischen, 3. hirnphysiologischen
bzw. -pathologischen, 4. psychopathologischen Standpunkte aus. Vom
ersten Standpunkte aus kennzeichnet sich die Halluzination als die zur
vermeintlichen Wahrnehmung umgewandelte Vorstellung. Es kommt
also im Bewußtsein des Halluzinierenden die Differenz hinzu, welche
überhaupt zwischen Wahrnehmung und Vorstellung besteht. Diese
Differenz ist die unmittelbare Beziehung auf einen Außen-
weltreiz, welche das eigentliche Kriterium der Wahrnehmung ist.
Vortragender polemisiert gegen die Ansicht Goldsteins, nach welcher wir
uns in der Wahrnehmung nicht unmittelbar auf die Außenwelt bezogen
fühlen sollen, sondern vermittelst eines Schlusses, welcher sich aufbaue
auf der Gesamtheit der bisherigen Erfahrungen und dem Vergleich unserer
Vorstellungen mit dem augenblicklich zur Verfügung stehenden wirk¬
lichen Wahrnehmungsfelde. Dagegen sprechen zunächst psychogenetische
Gründe; Tiere, die nicht urteilen und schließen, nehmen wahr, ebenso
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Original fro-m
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
517
Kinder in den ersten Lebensmonaten, in welchen sie noch gar kein Vor¬
stellungsleben haben, mit welchem sie die gemachten Wahrnehmungen
in Vergleich setzen könnten. Zuerst wird die Wahrnehmungswelt er¬
worben und dann erst die Vorstellungswelt. Wir orientieren diese an
jener, nicht jene an dieser. Trotzdem ist natürlich das Mitwirken von
früheren urteilmäßig gewonnenen Erfahrungen über Wahrnehmungen
und Vorstellungen im gegenwärtigen Wahrnehmungsakt psychologisch
möglich, da in allen unseren Wahrnehmungen frühere Urteile mitwirken.
Aber erstlich sind jene Urteile (Realitätsurteile) selbst erst ent¬
standen auf Grund des in der Wahrnehmung sich geltend machenden
unmittelbaren Realitätsbewußtseins, und zweitens spielen sie
gewöhnlich bei späteren Wahrnehmungen keine ausschlaggebende Rolle.
Das wesentliche bleibt immer die unmittelbare Beziehung auf die Wirk¬
lichkeit, und auch in der Halluzination findet diese unmittelbare Be¬
ziehung auf die, wenn auch nur vermeintliche, Wirklichkeit statt. Mit
Rücksicht auf das häufige Schwanken der Geisteskranken in bezug auf die
Realität ihrer Halluzinationen ist freilich anzunehmen, daß hier Urteile,
die sich auf frühere Erfahrungen über die Realität beziehen, eine wichtigere
Rolle spielen als beim normalen Wahrnehmungsakte.
Vortragender geht dann auf die psychologischen Unterschiede
zwischen Wahrnehmung und Vorstellung ein und zeigt, daß keiner von
diesen ausschlaggebend ist für das Wirklichkeitsbewußtsein der Hallu¬
zinierenden. Das wesentliche für dieses ist immer das in der unmittel¬
baren Beziehung auf die Außenwelt liegende erkenntnispraktische Moment.
Von größerer Wichtigkeit ist das Moment der Intensität auf dem Gebiet
der Gehörwahrnehmungen. So kann man nicht die Intensität des tat¬
sächlich gehörten Schalles mit der des vorgestellten Schalles vergleichen.
Im übrigen können die Vorstellungen noch so lebhaft sein, fehlt die un¬
mittelbare Beziehung auf die Außenwelt, so werden sie nie den Charakter
echter Halluzinationen annehmen. Sie werden sich höchstens als Pseudo-
Halluzinationen in dem Sinne, wie sie Kandinsky beschrieben hat,
vor das Bewußtsein stellen.
Vortragender geht dann auf den gehirnphysiologischen Standpunkt
ein und zeigt gerade mit Bezug auf die Pseudohalluzinationen, wie wenig
Aussicht vorhanden ist, die Entstehung der Halluzination durch einen
besonders verstärkten Erregungszustand in den Sinnesstätten oder durch
veränderte Leitungsverhältnisse, etwa durch eine „Reperzeption“ zu
erklären. Wir werden nie sagen können, wann eine verstärkte Erregung
oder veränderte Leitung eine Halluzination und wann sie eine Pseudo¬
halluzination hervorruft.
Mehr Aussicht auf die genetische Erklärung der Halluzinationen
und Pseudohalluzinationen bietet der letzte Gesichtspunkt, der psycho-
pathologische. Da wir Pseudohalluzinationen so häufig bei Psychopathen
und Hysterischen finden, so liegt es nahe, für die Entstehung der Pseudo-
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UKIVERSITY OF MICHIGAN
518
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
halluzinationen das degenerative Moment zur Erklärung heran zuziehen
undim übrigen anzunehmen, daß bei Pseudohalluzinationen die funktionelle-
Veränderung im Gehirn, die im übrigen nicht auf einen Teil der Hirn¬
rinde, sondern auf die ganze Hirnrinde sich erstreckt, nicht so tiefgehend
ist wie bei den echten Halluzinationen.
Hübner- Bonn: Über Trugwahrnehmungen (Klinisches).
Vortr. weist zunächst auf die Schwierigkeiten hin, welche sich einer
genaueren Analyse entgegenstellen. Es gelingt nicht allzu häufig, Pat.
zu finden, die über das, was sie wahrzunehmen glauben, auch richtig
urteilen und es exakt dem Untersucher beschreiben können.
Bei genauer klinischer Analyse kann man beobachten, wie den
Halluzinationen und Pseudohalluzinationen andere Symptome vorauf-
oder parallelgehen, welche beweisen, daß einzelne Sinneszentren sich im
Zustande gesteigerter Erregbarkeit oder Hemmung (i. S. Verworns\
befinden.
In gewissen Fällen (z. B. AlkoholdelirantenI, manche Pseudo¬
halluzinationen) spielt unvollständige oder krankhaft veränderte Wahr¬
nehmung eine große Rolle bei der Entstehung der Trugwahrnehmungen.
Bei Zirkulären, Hysterischen und manchen Degenerierten findet
man oft dieselbe • Vorstellung als Halluzination und Pseudohalluzination
weder. Es ist deshalb ein rascher Übergang der Halluzination zur Pseudo-
halluzination zu beobachten. Bei manchen Halluzinanten ist das Realitäts¬
urteil auch kein bedingungloses.
DifTerentialdiagnostisch sind die Pseudohalluzinationen insofern von
Bedeutung, als sie in zweifelhaften Fällen gegen Dementia praecox sprechen.
Unter dem Einfluß pathologischer Affekte können sich Pseudo -
halluzinationen gelegentlich in echte Halluzinationen verwandeln, d. h.
das Urteil des Kranken über die Trugwahrnehmung ändert sich.
Schließlich weist Vortr. auf die bemerkenswerte Tatsache hin, daß
auch Kranke mit Pseudohalluzinationen trotz erhaltener Kritik für das
Krankhafte und Irreale der Erscheinung durchaus dem Inhalt der Pseudo¬
halluzinationen entsprechend leben und handeln.
Diskussion. — Aschaffenburg hat Bedenken gegen die scharfe
Trennung zwischen Vorstellung, Pseudohalluzination und Halluzination,
wie sie von Herrn Rülf vorgetragen worden ist. Ihm wenigstens sei es
häufig ganz unmöglich gewesen, diese Erscheinungen voneinander zu
trennen. Die ausgeprägten Fälle der einfachen Vorstellung, einer kritisch
betrachteten Pseudohalluzination und einer für unbedingt wirklich ge¬
haltenen und nach außen verlegten deutlichen Sinnestäuschung sind
allerdings durchaus verschiedene Erscheinungen. Aber in Wirklichkeit
ist die Lebhaftigkeit des Vorstellungsvermögens individuell sehr wechselnd,
und es gibt zahlreiche Personen, deren Vorstellungen ungemein lebendig
sind. Auf der anderen Seite überwiegen bei chronisch Halluzinierenden
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz. 5U)
diejenigen, deren Stimmen und Bilder ganz verschwommen und unklar
sind, und sie stehen den Erscheinungen oft durchaus kritisch oder min¬
destens unsicher gegenüber. Noch schwieriger wird die Scheidung, wenn
man die vereinzelten Sinnestäuschungen geistig völlig gesunder Menschen
hinzunimmt. Dann verwischen sich die Unterschiede so, daß Aschaffenburg
nicht verstehen kann, worin die nach Jaspers zwischen Halluzination
und Pseudohalluzination bestehende unüberbrückbare Kluft bestehen
soll, während auch Jaspers die Pseudohalluzinationen und Vorstellungen
nicht scharf zu trennen vermag. Wir stehen also offenbar noch am Anfang
unseres Wissens, und über das eigentliche Wesen der Sinnestäuschungen
fehlen uns tatsächlich vorläufig noch alle zweifellosen Anhaltspunkte.
Hübner (Schlußwort) stimmt Herrn Aschaffenburg bei. Er hält die
von Jaspers vorgenommene Trennung in Pseudohalluzinationen und
Halluzinationen für theoretisch wichtig, glaubt aber auch nicht, daß
sie sich praktisch immer wird durchführen lassen. Er glaubt, daß das
Studium der Grenzfälle (namentlich der Hysterischen und leichteren
Zirkulären) am ehesten geeignet ist, über diese Frage Aufklärung zu
bringen.
Rülf (Schlußwort): Da der Vortragende die Aufgabe hatte, über
die Halluzination zu referieren, so kam es ihm darauf an, dieses Phänomen
begrifflich und klinisch so scharf wie möglich abzugrenzen. Im übrigen
gibt er Herrn Aschaffenburg darin durchaus Recht, daß im Bewußtsein
der Patienten die Halluzination sich keineswegs regelmäßig als fest¬
umschriebenes Phänomen darstellt, daß insbesondere der Wirklichkeits¬
charakter der Halluzinationen sich durchaus nicht immer mit besonderer
Deutlichkeit und Lebhaftigkeit im Bewußtsein der Halluzinierenden
darstellt. Vortr. möchte deshalb auch die Annahme Jaspers ’ in Zweifel
ziehen, welcher eine unüberbrückbare Kluft zwischen Halluzinationen
und Pseudohalluzinationen konstatieren zu dürfen glaubt. Auch glaubt
Vortr., daß die Zweifel des Halluzinierenden über den Wirklichkeitswert
seiner Bewußtseinsgebilde sehr häufig auf jenem Schwanken seiner ab¬
normen Bewußtseinsgebilde zwischen dem echt halluzinatorischen und
pseudohalluzinatorischen Charakter beruhen und deshalb auch in jenem
Urteil zum Ausdruck kommen müssen, welches Jaspers als psycho¬
logisches Urteil vom Realitätsurteil glaubt abtrennen zu sollen.
In vielen Fällen dürfte diese Abtrennung richtig sein, dann nämlich, wenn
der Patient nicht die intellektuelle Fähigkeit oder die Beobachtungsgabe
bat, um seine abnormen Bewrußtseinsgebilde richtig zu deuten. In den
meisten Fällen dürfte aber das sogenannte psychologische Urteil identisch
mit dem Realitätsurteil und sein Schwanken der adäquate Ausdruck
des schwankenden Bewußtseinsgebildes selbst sein.
Herr Loeb -Ahrweiler: Die Abderhaldenschen Ferment-
reaktionen und ihre Bedeutung für die Psychiatrie.
Einleitend gibt Ref. einen Überblick über die Geschichte der Fer-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
mente, in der er sich an die neue Darstellung in Oppenheimers „Fermente
und ihre Wirkungen“ anlehnt. Gleichfalls in Anlehnung an dieses Buch
definiert er Ferment als eine von lebenden Zellen erzeugte, labile Substanz
mit der spezifischen Wirkung, bestimmte chemische Vorgänge, die an sich
nur langsam, mitunter gar nicht merkbar verlaufen, unter großer Be¬
schleunigung zu Ende zu führen. Nach einer kurzen Darstellung der
wesentlichsten Eigenschaften und Merkmale der Fermente, würdigt Ref.
die großen Verdienste Abderhaldens, die sich dieser im Verein mit seinen
Schülern um den Ausbau der Lehre des Stoffwechsels erworben hat. Um
in die physiologisch-chemischen Gedankengänge Abderhaldens einzu-
führen, gibt Ref. auch einen Überblick über die verschiedensten Methoden,
deren sich Abderhalden bei seinen Fermentstudien bedient: Ferment -
hydrolyse läßt sich ohne besondere Vorkehrungen dann verfolgen, wenn
man solche Polypeptide untersucht, an deren Aufbau in Wasser schwer
lösliche Aminosäuren beteiligt sind, z. B. Tyrosin; wird abgebaut, dann
fallen Tyrosinkristalle aus. Der Nachweis von Fettspaltungen geschieht
nach Michaelis und Rona. Da die Fette viel stärker oberflächenaktive
Körper sind als ihre Spaltprodukte (Alkohole und Fettsäuren), läßt man
das Gemisch aus einer Kapillare fließen und beobachtet die Änderung
der Tropfenzahl. Die sogenannte „optische Methode“ und das „Dialysier-
verfahren“ setzt Ref. als so bekannt voraus, daß er nur kurz das Wesent¬
liche rekapituliert.
Als Vorläufer der Abderhaldenschen Arbeiten erwähnt Ref. Weinland,
der schon gefunden hatte, daß nach parenteraler Zufuhr von Rohrzucker
Invertase im Blut auftritt; Oppenheimer, dem auffiel, daß sowohl injiziertes
fremdes Serum als auch Eiereiweiß im Körper verschwindet, ohne im
Harn zu erscheinen, und der infolgedessen schon 1903 von einer „Ver¬
dauung in der Blutbahn“ sprach; Hübner, der durch seine Experimente
zu der Annahme kam, daß sich unter dem Einfluß körperfremder Eiweiß-
Stoffe im Blute ein darauf eingestelltes Ferment bilde. Der exakte Beweis
hierfür systematisch und auf breiter Basis ist aber erst von Abderhalden
und seiner Schule gebracht worden, wofür Ref. zahlreiche einzelne
Experimentalarbeiten als Dokumente anführt.
Fauser gebührt das Verdienst, die Fermentmethoden in die Psychiatrie
eingeführt zu haben. Nach ihm haben noch etwa ein Dutzend Institute
Arbeiten über serologische Befunde bei Geisteskranken veröffentlicht.
Deren Ergebnisse werden referiert und kritisch beleuchtet. Ref. wirft die
Frage auf: Für den Fall, daß es Fermente gibt, die imstande sind, „unab-
gebautes, unvollständig abgebautes oder falsch abgebautes“ Organeiweiß
abzubauen, sind diese Fermente darum fähig, das Organeiweiß in der
Form, wie wir es ihnen im Dialysierverfahren und optischen Verfahren
anbieten, anzugreifen ? Abderhalden sagt hierzu, im Gleichnis sprechend *):
1 ) E. Abderhalden, Abwehrfermente des tierischen Organismus.
2. Aufl. S. 92. 3. Aufl. S. 97.
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„Wir können mit einem auf ein bestimmtes Schloß eingestellten Schlüssel
dieses auch dann noch aufschließen, wenn es in weitgehendem Maße
zerstört und verändert ist, wenn nur noch der Schlüssel in die Führung
paßt und den Riegel zurückbringen kann. Der ganze übrige Anteil des
Schlosses kann dabei von Grund aus verändert sein.“ Wenn Ref. das
auch vollkommen zugibt, glaubt er doch nicht, daß, wenn er etwa ein
Schloß einschmilzt, gerade das Schlüsselloch und die Führung unversehrt
bleiben. Ferner weist er auf einen Widerspruch hin, in dem sich Abder¬
halden mit sich selbst befindet. Um Zweiflern klarzumachen, daß eine
unglaubliche Spezifität der Eiweißstoffe möglich ist, berechnet er einer¬
seits die Kombinationsmöglichkeit der etwa 20 bekannten Aminosäuren
nach Millionen und Abermillionen. Sucht er aber die von ihm sfelbst
empfundene Schwierigkeit zu erklären, daß dieselben Fermente die Organ¬
peptone — nämlich im optischen Verfahren — und das koagulierte Organ¬
eiweiß — nämlich im Dialysierverfahren — angreifen, dann genügt es ihm,
daß dieselbe Gruppe, auf die das Ferment eingestellt ist, in beiden
vorhanden ist. Solche kritische Überlegungen mahnen, den Schwerpunkt
der Betrachtung auf die Konstanz der Ergebnisse zu legen. Nun
haben Winiwarter und Werner von einem Serum Schwangerer 10—12
verschiedene Proben mit Plazenta angesetzt und nie konstante Resultate
gefunden. Ref. selbst hat bei seinen Untersuchungen 10 mal Serum desselben
Patienten mit drei verschiedenen Schilddrüsen angesetzt und nur 2 mal
übereinstimmende Ergebnisse erhalten; sonst herrschte ein buntes Durch¬
einander, da die positiven und negativen Resultate sich zu allen Variationen
kombinierten. Hiermit stimmt überein, daß die verschiedenen Autoren
ganz divergierende Ergebnisse beim Schilddrüsenabbau der Schizophrenen
angeben.
Ref. wendet sich dann gegen die von einigen Autoren geäußerte
Ansicht, jetzt schon der Abderhaldenschen Reaktion ein Gewicht bei der
Diagnosestellung beizumessen. Ebenso hält er es für verfrüht, thera¬
peutische Pläne auf Grund der Abderhaldenschen oder Faizserschen An¬
schauungen aufzubauen, und führt an dem Beispiel der Kastration aus,
daß sich mindestens soviel dagegen wie dafür Vorbringen läßt.
Ref. ist mit Absicht etwas einseitig negierend geblieben, betont aber zum
Schluß ausdrücklich, daß es sich weiter verlohnt, mit der Methodik resp. mit
verbesserter Methodik an einer Serologie der Geisteskrankheiten zu arbeiten.
Diskussion. — F. Sioli- Bonn berichtet über seine Untersuchungen
mittels des Dialysierverfahrens:
Es wurde abgebaut .... Gehirn
Hoden Schilddrüse
Leber
Niere
bei 10 Fällen von Paralyse
7
4 4
5
5
bei 6 Fällen von manisch-
depressivem Irresein..
0
0 1
3
2
bei 14 Fällen von Dementia
praecox.
8
2 1
8
5
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Wenn auch ein sinnfälliger Unterschied von manisch-depressivem
Irresein und Dementia praecox unverkennbar ist, so scheint doch der
spezifische Abbau nach dem Faustfrschen Schema durchaus nicht die
Regel zu sein. Äußerste Sorgfalt bei der Methode und Vorsicht in der
Verwertung der Befunde ist nötig. Eine praktische Verwendung in der
Diagnostik wäre verfrüht. Zunächst handelt es sich darum, in Einzel¬
fällen das Auftreten und den Verlauf der durch die Methode nachgewiesenen
Störungen zu verfolgen.
Moerchen -Ahrweiler: Sowohl die bisherigen Veröffentlichungen
über die Fermentreaktion bei Psychischkranken wie auch die Resultate,
die der Vortr. in unserer Anstalt erzielte, lassen noch ein sehr widerspruchs¬
volles Verhalten der Reaktion erkennen. Aber wir dürfen deshalb nicht
allzu skeptisch werden. Denn eine Tatsache hat sich mit solcher Konstanz
ergeben, daß sie schon jetzt als ein diagnostisches Hilfsmittel angesprochen
werden darf: Das fast ausnahmlose Fehlen jeder Abbaureaktion bei den
Psychosen und Neurosen, die wir als „rein funktionelle“ allerdings schon
lange zu bezeichnen pflegen, und das fast ebenso ausnahmlose Vorhanden¬
sein irgendeiner oder mehrerer Reaktionen bei den „organischen“ Psy¬
chosen mit Persönlichkeitszerfall. Jedoch müssen wir uns bis jetzt noch
sehr hüten, die serologische Methode bei der Diagnose zweifelhafter Fälle
über die klinische zu stellen.
Es muß als recht bedauerlich bezeichnet werden, daß man schon
jetzt hie und da angefangen hat, von den „therapeutischen Aussichten“
zu reden, die aus dieser bislang doch wirklich nur diagnostische Mög¬
lichkeiten eröffnenden und vor allem theoretisch interessanten Methodik
hervorgingen. Wenn solche voreiligen optimistischen Äußerungen in die
Presse gelangen, so werden sie Mißverständnisse erwecken, die in ver¬
schiedenster Hinsicht unangenehme Folgen haben können. Tatsächlich
fehlt uns bisher jeder Anhaltpunkt dafür, daß wir es mit einer „causa
nocens“ zu tun haben, wenn wir bei manchen Psychosen im Blute Ab¬
wehrfermente finden. Wir wissen nicht, ob diese Fermente ätiologisch
überhaupt eine Bedeutung haben, ob nicht sie oder die Dysfunktion
gewisser Drüsenorgane, die durch das Vorhandensein der Fermente wahr¬
scheinlich wird, die wir damit aber noch keineswegs irgendwie definieren
können, nur Begleiterscheinungen des psychotischen Prozesses
sind, die therapeutisch gar keine Bedeutung haben. Therapeutische
Versuche sind m. E. zwecklos, solange wir über die Art und die ätiologische
und pathognomische Bedeutung der Abbauvorgänge noch völlig im Dunkeln
tappen.
WieAl-Bedburg-Hau: Einige Fälle von Encephalopathia
saturnina.
Vortr. gibt einen kurzen Überblick über die geschichtliche Ent¬
wicklung und den jetzigen Stand der Lehre von den Bleivergiftungen
des Gehirns und berichtet anschließend über fünf solche selbst beobachtete
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Psychiatrischer Verein der Rheinprovinz.
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Fälle. Zum Schluß führt er aus, daß diese Fälle von Bleivergiftung in
nächster Zeit dadurch an praktischer Bedeutung gewinnen werden, daß
sie voraussichtlich bald als entschädigungspflichtige Unfälle gelten werden.
Da nach den von dem Abgeordneten Becker und Genossen (Zentrum)
in der vorletzten Sitzungsperiode des deutschen Reichstages am 5. Februar
1913 der Antrag eingebracht wurde, „der Bundesrat möge baldigst von
der ihm durch den § 547 der RVO. erteilten Ermächtigung Gebrauch
machen“, und da der § 547 der RVO. laute, „durch Beschluß des Bundes¬
rates kann die Unfallversicherung auf bestimmte gewerbliche Berufs¬
krankheiten ausgedehnt werden. Der Bundesrat ist berechtigt, für die
Durchführung besondere Vorschriften zu erlassen“, sei jetzt die Auf¬
nahme dieser gewerblichen Erkrankung in die Unfallgesetzgebung zu
erwarten. In England, Frankreich, Österreich und der Schweiz seien
jetzt schon die gewerblichen Berufskrankheiten als entschädigungs-
pllichtige Erkrankungen den Unfällen sui generis gleichgestellt. Er be¬
spricht dann noch kurz die allgemeinen Hirnerscheinungen und die Herd¬
symptome der saturninen Gehirnerkrankung in ihrer differentialdiagnosti¬
schen Bedeutung gegenüber anderen Hirnerkrankungen.
(Der Vortrag erscheint ausführlich anderweitig.)
Dr. Lückerath-Bonn : über Intelligenzprüfungen, nament¬
lich nach der Binet-5t/nonschen Methode.
Bei einer Intelligenzprüfung handelt es sich darum, festzustellen,
ob jemand geistig geschwächt ist oder eine normale Intelligenz besitzt.
William Stern definiert die Intelligenz als die adigemeine Fähigkeit eines
Individuums, sein Denken bewußt auf neue Forderungen einzustellen;
sie ist nach ihm allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Auf¬
gaben und Bedingungen des Lebens. Die eine Methode der Intelligenz-
Prüfung besteht in der Feststellung der Kenntnisse, des geistigen Besitzes;
die andere in der Feststellung, wie der betreffende seine Kenntnisse ver¬
wertet, damit operiert. Die erste Methode ist, streng genommen, keine
Intelligenzprüfung, nur insofern, als wir von jedem Menschen ein gewisses
Maß von Kenntnissen verlangen dürfen, wobei freilich nicht zu vergessen
ist, daß der geistige Besitz je nach Bildung, Stand, Milieu verschieden ist.
Alle Untersucher haben daher neben Fragen nach dem geistigen Inventar
in ihre Methoden auch Fragen aufgenommen, die die eigentliche Intelligenz
treffen sollen; es gibt eine Anzahl Methoden, z. B. die Assoziationsmethode,
die Definitions- und Kombinationsmethode nach Ebbinghaus, Masseion,
die Reproduktion von Erzählungen, die Unterschiedsfragen, die Kritik
absurder Sätze usw. Aschaffenburg, Ziehen, Sommer, Heilbronner, Ransch-
burg und andere verdienen hier Erwähnung.
Die große Anzahl der Methoden beweist, daß keine völlig genügt.
Das ist auch nicht möglich; alle treffen die eine oder andere Seite der
Intelligenz, und unter Anwendung mehrerer kann man ein Bild der Intelli-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
genz gewinnen. Es fehlt uns aber noch die Kenntnis, was wir eigentlich
an Intelligenz vom normalen Menschen erwarten dürfen. Die Unter¬
suchungen Rodenwalds , Schultzes, Rühs ’ haben gezeigt, daß der geistige
Besitzstand von normalen Soldaten ein außerordentlich geringer ist.
Noch schwieriger wie die Prüfung des Besitzes ist die Prüfung der eigent¬
lichen Intelligenz, die Untersuchung, wie sich der Erwachsene zu neuen
Anforderungen verhält. Sprachliche Gewandtheit, Bildung, Stand, Milieu
spielen eine große Rolle; die Verhältnisse sind bei den Erwachsenen zu
verschieden und gestatten nicht ohne weiteres einen Vergleich miteinander.
Will man eine Intelligenzprüfungsmethode aufstellen, so muß man
zunächst Menschen prüfen, die unter einigermaßen gleichen Verhältnissen
leben, und die ziemlich gleiche Entwicklungsbedingungen haben. Das sind
die Kinder, und wir müssen versuchen, ein Maß für die Intelligenz der
Kinder zu finden, und versuchen, auf diesem Wege weitergehend Maße
für die Erwachsenen zu finden.
Der französische Psychologe Binet hat nun in Gemeinschaft mit
dem Arzte Simon zur Prüfung der kindlichen Intelligenz eine StafTel-
methode aufgestellt, eine abgestufte Testserie für das dritte bis dreizehnte
Lebensalter. Als Test wird jede Frage, Aufgabe zur Prüfung der Intelligenz
bezeichnet. Für jedes Lebensalter wurden eine bestimmte Anzahl Tests
aufgestellt. Diese mußten gerade für dieses Alter charakteristisch sein,
also von normalen Kinder dieses Alters gelöst werden; sie mußten einfach
in ihrer Anwendung sein, durften die Kinder nicht ermüden; sie mußten
meßbar sein. Die Tests sind dem Schulwissen entnommen, ferner dem
Wissen, welches sich das Kind außerhalb der Schule erwirbt, und schlie߬
lich sind es reine Intelligenzleistungen; einzelne sind unabhängig von der
sprachlichen Gewandtheit; manche sind zu schwer, manche sind zu leicht;
bis zu einem gewissen Grad lassen sie sich kompensieren.
1908 stellten Binet und Simon ihre erste Reihe auf; für jede Alters¬
stufe 5—7 Tests; 1911 änderten sie ihre Methode etwas, schufen für jede
Altersstufe gleich viel Tests, nämlich 5; ferner änderten sie die Tests für
die 11, 12, 13 jährigen und schufen neue Tests für die 13 und 15 jährigen.
Eine gewisse Übung ist bei Anwendung der Methode nötig; bei der
Bewertung der Antworten mit plus oder minus ist eine gewisse Ungerechtig¬
keit nicht immer zu vermeiden, die Nuancen der Antworten kommen
nicht zur Geltung; dem subjektiven Ermessen des Prüfenden ist ein ziem¬
licher Spielraum gelassen.
Jedes Kind löst Tests aus verschiedenen Jahrgängen; als Grundlage
dient die Altersstufe, von der alle Tests gelöst werden; dann prüft man
die Tests der höheren Jahrgänge, für je 5 gelöste Tests, die natürlich
aus verschiedenen Altersstufen herrühren können, wird ein Jahrgang
zugeschrieben. Ein Kind, das alle Tests der 8 jährigen löst und von den
9 jährigen 3, von den 10 jährigen 2, hat das Grundalter 8 und bekommt
für die weiteren 5 gelösten Tests noch ein Jahr zugeschrieben, hat also
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das Intelligenzalter 9; das heißt, die Intelligenz des Kindes ist. gleich der
eines 9 jährigen normalen Kindes. Dies Alter nennt man das Intelligenz-
alter. Dies ist eigentlich auch etwas verschiedenes, je nachdem, aus welchen
Jahrgängen die über das Grundalter hinaus gelösten Tests stammen:
die Streuung ist bei den Kindern eine verschiedene und bei schwach¬
sinnigen Kindern größer wie bei normalen; es ist ein Mangel der Methode,
daß die Ungleichartigkeit der gelösten Tests in der Bewertung nicht zum
Ausdruck kommt. Ein Bild von der Intelligenz gibt erst das Verhältnis
von Intelligenzalter zum Lebensalter, der sogenannte Intelligenzquotient.
I. A. I. A.
,-= 1 bedeutet normale Verhältnisse, — > 1 bedeutet einen Yor-
L. A. L. A.
I. A.
sprung, ——
L. A.
< 1 bedeutet einen Rückstand der Intelligenz. Der I. Quotient
hat natürlich nur eine Bedeutung, solange noch eine Intelligenzentwicklung
statthat.
Ein Test ist dann für eine Lebensstufe normal, charakteristisch,
wenn er von 75% der Kinder dieses Alters gelöst wird.
Die Methode ist von Deutschen, Holländern, Amerikanern, Franzosen
usw. nachgeprüft worden; man kann mit ihr in y 2 Stunde bei normalen,
in y 4 Stunden bei schwachsinnigen Kindern das Intelligenzalter bestimmen.
Die Hälfte der Kinder steht auf dem Niveau ihres Alters, etwa % hat
einen Vorsprung, y 4 einen Rückstand in seiner Intelligenzentwicklung,
Intelligenzprüfung und Schulleistungen entsprechen sich, wie erklärlich,
nicht völlig. Auch eine verschiedene Begabung bei beiden Geschlechtern
hat sich ergeben.
Die Methode ist für die Kinder der unteren Volksklassen bestimmt
und bedarf zur Anwendung für Kinder besserer Stände noch einer Modi¬
fikation.
Die Differenzierung nach Jahresklassen ist eine zu grobe; es macht
sich ein Bedürfnis nach Zwischenstufen, etwa von y 2 Jahre geltend.
In Deutschland ist die Methode von Bobertag eingeführt worden;
man muß sich nach seiner für deutsche Verhältnisse angepaßten Modi¬
fikation richten. Chotzen, Cramer, Bloch und andere haben sie besonders
geprüft und für zweckmäßig befunden.
Bei schwachsinnigen Kindern hat sich ergeben, daß ihre geistige
Entwicklung verlangsamt ist, durchschnittlich um 2—4 Jahre, und daß
die Entwicklung früher zum Stillstand kommt wie bei normalen Kindern.
Die Debilen überschreiten das Intelligenzalter 9—10 nicht, die Imbezillen
das von 7 nicht und die Idioten das Intelligenzalter von 3—4 nicht.
Namentlich deutlich zeigt sich der Rückstand bei den Tests, die eigent¬
liche Verstandesleistungen darstellen.
Reizvoll ist bei der Anwendung der Methode, daß eine Anzahl von
Problemen auftauchen, deren Lösung der Zukunft noch Vorbehalten ist.
Wünschenswert ist ein Ausbau für die Entwicklungsjahre; in weiter
Zeitschrift fjjr Payohistrie. LXXI.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Ferne liegen gute Tests für Erwachsene. Über ein Tasten und Suchen
ist man bisher noch nicht herausgekommen. Bei Kindern von 14—16, 17
Jahren kann man die Tests nicht selten mit gutem Erfolg anwenden;
davon habe ich mich selbst bei der Untersuchung von etwa 100 Fürsorge¬
zöglingen überzeugt. Auf Erwachsene lassen sich die Tests nicht anwenden;
ein erwachsener Imbeziller ist doch etwas ganz anderes wie ein 7 jähriger
normaler. Für Erwachsene mit erworbenen Defekten kommt die Methode
überhaupt nicht in Betracht.
Man kann sagen, daß der Grundgedanke der Binet-Simonschen
Methode mit ihrem staffelförmigen Aufbau der Tests für die verschiedenen
Lebensjahre ein guter ist; die Zukunft wird uns noch weitere Vervoll¬
kommnungen und vielleicht eine Ausdehnung der Methode auf höhere
Lebensstufen bringen.
Bei der forensischen Beurteilung jugendlicher Personen kann sie
gelegentlich gute Dienste leisten, wenn es sich um die Frage handelt, ob
der jugendliche die erforderliche Einsicht (§ 56 StGB.) in sein Handeln
hat. Es kann von Wert sein, wenn wir z. B. bei 14 oder 15 jährigen dem
Richter sagen können, daß der Junge das Intelligenzalter etwa eines
10 oder 12 jährigen hat. Die Frage der Zurechnungsfähigkeit hängt natür¬
lich nicht nur von der Intelligenz ab; bei schwachsinnigen jugendlichen
ist die Methode aber von Wert, weil sie eine bessere Unterlage zur Be¬
urteilung gibt, als uns bisher zur Verfügung stand.
Diskussion. — Aschaffenburg hält es für nicht ganz unbedenklich,
die Binel-Simonsche Methode in der Weise zu benutzen, daß die Intelligenz
eines Menschen mit dem Intelligenzalter verglichen und daraus die zivil¬
oder strafrechtlichen Schlußfolgerungen gezogen werden. Bei demjenigen,
der in der Welt lebt, bleiben zahlreiche Kenntnisse haften, die seiner
Befähigung, mit dem Leben fertig zu werden, doch wertvolle Hilfe leihen
können, auch wenn seine Intelligenz an und für sich sehr gering ist. Außer¬
dem spielt besonders bei der Geschäftsfähigkeit die praktische Veranlagung,
die mit Hilfe der sonst so ausgezeichneten Methode doch nicht genügend
hervortritt, eine große Rolle. Damit soll nichts gegen die Methode selbst
gesagt sein, die besser als alle anderen die Prüfung der Kenntnisse mit
der Prüfung der Auffassungsfähigkeit und des Urteils verbindet.
Dr. Warburg- Cöln: Als Hilfsschularzt habe ich seit Jahren zahlreiche
Intelligenzprüfungen an Hilfsschulkindern sowie an Kindern der Normal¬
schule vorgenommen. Anfangs habe ich mir die Tests selbst auswählen
müssen; namentlich den Farbentest habe ich schätzen gelernt und habe
seinerzeit meine Erfahrungen über das Farbenbenennungsvermögen
der Kinder in der Münch, med. Wschr. ausführlich mitgeteilt. Einen
bedeutenden Fortschritt brachten die Untersuchungen von Binet-Simon
über die Intelligenzprüfung bei Schulkindern, und ich kann das günstige
Urteil des Herrn Vortragenden nur bestätigen. Auf Grund der Bt'neischen
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Methode wird noch ein weiterer Ausbau der Intelligenzprüfung sowohl
bei Kindern als auch bei Erwachsenen möglich sein. Die Bi'netschen Tests
sind Alternativtests, das heißt, das Resultat wird mit „ja“ oder „nein“
registriert. Die Tests sagen aber meist noch viel mehr aus. Der qualitative
Unterschied der Einzelresultate ist zu verschieden und zu wichtig, um
nicht für die Beurteilung der Intelligenz in die Wagschale geworfen zu
werden. Ich mache daher bei den einzelnen Testergebnissen möglichst
genaue Aufzeichnungen, die sich mir nachher bei der Beurteilung der
Gesamtintelligenz von großem Werte erwiesen haben. Man muß sich bei
der Bewertung der Tests stets vor Augen halten, was man unter „In¬
telligenz“ versteht. Wenn wohl heute keiner in der Lage ist, eine genaue
Bestimmung von dem Wesen der Intelligenz zu geben, so haben wir doch,
meiner Meinung nach, in der Intelligenzerklärung von W. Stern eine gute
Arbeitshypothese, wenn auch Meumann dieselbe wegen ihres teleologischen
Inhaltes verwirft. Ich habe mich daher gefreut, vom Herrn Vortragenden
zu hören, daß auch er die Begriffsbestimmung der Intelligenz von Stern
seinen Untersuchungen zugrunde gelegt hat. Mit der Hypothese von
Stern kann man ausgezeichnet arbeiten, namentlich, wenn man sich bei der
Bewertung der Tests im einzelnen Falle noch klar macht, ob es sich im
Sinne von Meumann um einen „Entwicklungs“- oder um einen „Milieu“-
oder um einen „ Begabungs“-Test gehandelt hat. Mit der Binet-Simon-
sehen Methode erzielt man schöne Resultate bei der Auswahl derjenigen
Kinder, die eventuell in die Hilfsschulen überwiesen werden sollen. Man
kann ziemlich sicher durch die Berechnung des Intelligenzquotienten
einmal die Kinder bezeichnen, die geistig so tief stehen, daß sie nicht in die
Hilfsschule aufgenommen werden können, dann auch die Kinder, die
wegen ihres hohen Intelligenzquotienten nicht in die Hilfsschule gehören.
Die Berechnung des Intelligenzquotienten der Schüler einer Hilfsschul¬
klasse gibt die beste Übersicht über das eigenartige Material einer solchen
Klasse. Die Intelligenzprüfung nach Binet-Simon stellt ein wertvolles
Glied in der Reihe der Untersuchungsmethoden dar, die uns die Diagnose
„Schwachsinn“ ermöglichen. Als eine Verkennung der psychiatrisch-
ärztlichen Tätigkeit des Hilfsschularztes muß ich es daher bezeichnen,
wenn Lehrer, wie z. B. in Cöln, die Forderung aufgestellt haben, daß der
Hilfsschularzt bei der Einweisung des Kindes in die Hilfsschule dasselbe
wohl körperlich und anamnestisch untersuchen soll, daß aber die Intelligenz-
Prüfung nicht von dem Arzte, sondern von dem Lehrer vorgenommen
werden soll.
Lückerath (Schlußwort): Die Ausführungen Aschaffenburgs kann
ich nur bestätigen; die kurze, mir zu Gebote stehende Zeit gestattete mir
leider nur eine Andeutung über den eventuellen Wert der Methode in Foro.
Dabei habe ich mich ja auch in demselben Sinne schon ausgesprochen.
Mil dem Herrn Kollegen IVarburg stimme ich darin überein, daß die Tests
dem Unlersucher viel mehr sagen, als die Antworten mit plus oder minus
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an zeigen. Eine genauere Bewertung der Antworten wird daher nötig
werden. Für die Auswahl der Kinder, die in die Hilfsschule gehören oder
nicht mehr in-sie hinein passen, ist die Methode sehr praktisch. Sie gehört
in die Hand des Arztes oder muß von ihm wenigstens, wenn sie geübten
Lehrern übertragen wird, kontrolliert werden.
Umpfenbach.
143. Sitzung des psychiatrischen Vereins zuBerlin
am 14. März 1914.
Anwesend: Ascher- Berlin, Bendixsohn - Berlin a. G., Borchardt-
Berlin a. G., Bra<z-Dalldorf, Bunnemann -Ballenstedt, Förster- Berlin,
GaMus-Potsdam, Heine-Dalldorf, Kramer -Berlin a. G., Hans Laehr-
Schweizerhof, LaAse-Potsdam, Lehmann -Schöneberg a. G., Lewinstein-
Schöneberg, Liepmann -Dalldorf, PfasAuda-Lübben, W. Aander-Dalldorf,
ScAmidl-Wuhlgarten, AcA/nitz-Neuruppin, Geeiert-Berlin a. G., Spliedt-
Waldfrieden, Afe/zner-Charlottenburg, Ulrich -Berlin a. G., Fierfenz-Ebers-
walde, Wasserfall -Berlin a. G., IFernecAe-Schlachtensee, fFerner-Buch,
Zmn-Eberswalde. Vorsitzender: Sander- Dalldorf.
L. Borchardt- Berlin: Demonstration einer 46 jährigen Frau, die
an periodischer Trunksucht leidet. Die Pat. ist hereditär insofern
belastet, als ein Bruder an Enuresis gelitten hat und später Potator (nicht
dipsoman) geworden ist. Der Mann der Pat. war gleichfalls Potator und
befindet sich jetzt wegen Paralyse in einer Anstalt. Die Kranke selbst
hat als 9 jähriges Mädchen einen Fuguezustand durchgemacht: sie lief
aus Furcht vor Strafe fort und irrte 3 Tage und Nächte im Wald umher,
bis sie von einem Förster aufgegrifTen wurde. Sonst war Pat. nie ernstlich
krank, hat speziell niemals an Krämpfen oder Verstimmungen gelitten.
Mit 19 Jahren akquirierte sie anscheinend eine Lues, wurde aber nicht
behandelt. Durch ihren Mann wurde sie angeblich zum Alkoholismus
verführt und hat viele Jahre täglich Schnaps und Bier zu sich genommen.
Auch das Rauchen hat sie sich angewöhnt und raucht täglich etwa 5 Zi¬
garren. Vor 7 bis 8 Jahren bekam sie körperliche Beschwerden durch
ihren chronischen Alkoholgenuß (Vomitus matutinus usw.) und versuchte,
sich den Alkohol abzugewöhnen. Es gelang ihr das anscheinend für ein
paar Monate, dann aber erkrankte sie an periodisch auftretenden Ver¬
stimmungen, in denen es sie zum übermäßigen Alkoholgenuß trieb. Sie
schildert in typischer Weise eine initiale Verstimmung, Unruhe, Angst,
die sie von Hause forttreibt, so daß sie ihre Wirtschaft vernachlässigt und
sich in den Kneipen umhertreibt. Sie trinkt in diesen Perioden fast nur
Bier, sehr selten Schnaps. Abends kommt sie regelmäßig nach Hause
und trinkt nachts nur Wasser in sehr großen Mengen. Die Anfälle treten
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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in Abständen von einigen Wochen bzw. Monaten auf und dauern i bis 3
Wochen, ln der Zwischenzeit ist sie auch nicht abstinent, trinkt aber
nur sehr mäßig.
Objektiv findet sich eine mamilläre Hypalgesie. Die Achillesreflexe
fehlen. Die Pupillen reagieren zwar nicht gut, aber doch leidlich. Die
Wassermannsche Reaktion ist negativ. Zell- und Eiweißvermehrung im
Liquor ist nicht nachweisbar. Von subjektiven somatischen Beschwerden
sei vorübergehendes Doppeltsehen erwähnt und Blasenbeschwerden im
Sinne einer leichten Erschwerung.
Es handelt sich also um einen Fall von echter Dipsomanie mit primär
auftretender Verstimmung. Daß eine andere Psychose die Ursache für
die Trinkneigung der Patientin bildet, ist differentialdiagnostisch wohl
auszuschließen. Von Epilepsie ist nichts nachzuweisen, der poriomanische
Zustand in der Kindheit dürfte als einziges in dieser Richtung verdächtiges
Symptom nicht beweisend sein. Die Komplikation mit dem somatischen,
anscheinend metasyphilitischen, Leiden ist wohl nur eine zufällige.
Förster- Berlin: Über Amusie. — Vortr. stellt einen Pat. vor mit
bemerkenswerten Störungen des musikalischen Verständnisses. Es handelt
sich um einen Pat., der früher musikalisch gewesen ist, längere Zeit Vor¬
sänger in der Synagoge war und früher auch Unterricht in Piano und Geige
gegeben hat. Er hat dreimal seit November Schlaganfälle erlitten, die
mit Lähmungen der rechten und linken Seite einhergegangen sind; beim
zweiten und dritten Anfall waren auch aphasische Störungen vorhanden,
die sich jedoch fast völlig zurückgebildet haben. Jetzt besteht keine
gröbere Lähmung. Babinski ist nicht nachweisbar, jedoch leichte athe-
totische Unruhe in der rechten Hand mit Mitbewegungen sowie ausge¬
sprochene Apraxie der Gesichlsmuskulatur und beider Hände bei Be¬
wegungen aus dem Gedächtnis, während das Hantieren mit Objekten keine
großen Störungen zeigt. Beim Schreiben allerdings kommt nur eine sehr
ungeschickte, zittrige Schrift zustande. Das Sprachverständnis ist intakt.
Pat. kann gut lesen, nur bei seltenen Buchstaben, wie x, y, z, kommen
gelegentlich Fehler vor, wenn sie allein gezeigt werden. Mo torisch -
aphasische Störungen in engerem Sinne sind nicht vorhanden, jedoch
findet der Pat. die Worte nicht immer gleich, es besteht eine stotternde und
artikulatorisch erschwerte Sprache, was vor dem Schlaganfall nicht vor¬
handen war. Bei Bezeichnung von Bildern oder Gegenständen kommen
nur ausnahmweise Verwechslungen vor, die dann bald korrigiert werden.
Das Gehör ist beiderseits völlig intakt. Flüstersprache wird beiderseits
auf 6 m Entfernung gehört. Alle Töne von 40 bis 500 Schwingungen
werden beiderseits wahrgenommen. Die Prüfung des Musikverständnisses
ergibt folgendes: Vorgespielte Melodien, die er früher gekannt hat, u. a.
auch jüdische Kirchenlieder, werden nicht mehr erkannt. Pat. vermag
nicht anzugeben, ob die vorgespieltcn Musikstücke traurig oder lustig
sind, ob es sich um einen Walzer oder ein Lied handelt. Werden ihm
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530
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Noten durcheinander vorgespielt, so vermag er nicht anzugeben, ob es
Unsinn war oder ein Musikstück. Werden ihm zwei einzelne Töne nach¬
einander angeschlagen, so kann er nicht mit Sicherheit sagen, welcher
höher ist. Er macht ungefähr in der Hälfte der Fälle hierbei falsche An¬
gaben. Von Akkorden vermag er nicht zu sagen, ob sie konsonant oder
dissonant sind. Werden ihm einzelne Töne vorgespielt mit der Aufgabe,
zu sagen, ob sie hoch, tief oder mittelhoch seien, so macht er grobe Fehler.
G bezeichnet er als mittel, ebenso c", c'" wird als tief bezeichnet. Er
kann nicht entscheiden, ob ein oder zwei dissonante Töne gleichzeitig an¬
geschlagen werden. Werden auf dem Tonvariator die Töne höher oder
tiefer variiert, so sind seine Angaben, ob der Ton höher oder tiefer wird,
fehlerhaft. Auch das Taktgefühl ist verloren gegangen. Werden mittels
Metronoms verschiedene Takte eingestellt, so vermag er sie nicht zu be¬
zeichnen, auch bei vorgespielten Melodien kann er den Takt nicht angeben;
dagegen vermag er richtig zu entscheiden, ob das Ticken des Metronoms
schneller oder langsamer eingestellt wird. Im Gegensatz hierzu steht,
daß Pat. Geräusche sehr gut zu unterscheiden vermag. Er erkennt Bürsten,
Schreiben, Feilen, Bücherblättern usw. Wenn hinter seinem Rücken drei
verschiedene ihm bekannte Personen dasselbe Wort sprechen, so vermag
er stets anzugeben, wer gesprochen hat. Er unterscheidet auch, ob auf
den Tisch, auf Metall oder auf die Fensterscheibe geklopft wird. Obwohl
er, wie schon gesagt, nicht wußte, ob die vorgespielten Töne hoch oder
tief waren, gab er die Vokalqualität der Töne stets richtig an. Hohe Töne
wurden stets als i, tiefe stets als u bezeichnet. Wurde ihm von derselben
Person ein Lied im gleichen Takt einmal vorgesprochen, ein anderes Mal
vorgesungen, so vermochte er nicht richtig anzugeben, was gesungen und
was gesprochen war. Das Lesen der Noten gelang nicht mehr, auch die
musikalischen Zeichen hatte er vergessen. Pat. gab an, daß er in den
letzten 10 Jahren vor seinen Schlaganfällen sich um Noten nicht mehr
gekümmert habe und die Zeichen und Noten schon vor dem Schlaganfall
vergessen habe. Da Pat. beim Lesen der Schriftzeichen, wie 1, ?, auch
Fehler machte, scheinen diese Angaben nicht sicher. Pat. gab an, daß
er beim Hören von Musik oder von Tönen keinerlei angenehme Emp- ,
findungen mehr habe. Werden ihm Musikstücke vorgespielt, so ist es
ihm, wie wenn ein Wagen quietscht; er leidet sehr unter dem Verlust des
Musikverständnisses. Intelligenz ist intakt.
Bei diesem Falle ist außer dem außerordentlich hohen Grade der
Störungen des Musikverständnisses besonders bemerkenswert, daß die
Vokalqualitäten erhalten geblieben waren zusammen mit dem Erhalten-
sein des Erkennens von Geräuschen, während die Tonhöhe nicht erkannt
wurde. Hierdurch erhalten die experimentellen Untersuchungen von
Jaens eine klinische Bestätigung. Der Fall scheint Vortr. auch zu be¬
weisen, daß die Anschauungen derjenigen Psychologen, die glauben, daß
mit einem Ton primär ein Gefühlston verknüpft sein müsse, falsch sind,
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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sonst müßte Pat., dem die Vokalqualität der Töne erhalten geblieben ist,
doch auch noch die Gefühlstöne haben. Nimmt man, wie Vortr. das früher
ausgeführt hat, an, daß der sogenannte Gefühlston nichts anderes ist wie
eine Art Urteilsbildung, so ist es klar verständlich, daß beim Pat. die
Vokalqualität erhalten, die sogenannten Gefühlstöne aber mit dem Urteil
über die Tonhöhe verloren gegangen sind.
Diskussion. — Liepmann -Dalldorf fragt, ob psychogene Momente
mitspielen könnten, und ob hysterische Erscheinungen bei dem Pat. sich
gezeigt haben.
Förster verneint beides.
.Brate-Dalldorf hält es nicht für verständlich, daß Pat. den tiefen Ton
mit u, den hohen Ton mit i bezeichnet, wenn er gar kein Empfinden für
die Tonhöhe hat.
Förster erwidert, daß Pat. die Tonhöhe nicht unterscheidet, aber
sehr wohl die Ähnlichkeit der Töne mit den Vokaltönen des i und u hört.
Bratz weist noch auf den Nävus des Pat. im Gesicht hin, der eine
gewisse Wichtigkeit haben könnte insofern, als auch teleangiektatische
Veränderungen im Gehirn sein könnten.
Förster sieht die Ursache der Schlaganfälle in einer spezifischen In¬
fektion.
»Sander-Dalldorf: Kann Pat. auf dem Klavier einen Ton anschlagen,
der ihm bezeichnet wird?
Förster: Nein, er kann kein c auf dem Piano anschlagen.
Kramer- Berlin stellt drei Fälle von familiärer spastischer Er¬
krankung vor. Es handelt sich um drei Brüder im Alter von 14, 10 und
9 Jahren. In der Familie sind weder ähnliche Erkrankungen noch über¬
haupt Nervenerkrankungen vorgekommen. Die Eltern sind gesund,
ebenso eine jüngere Schwester im Alter von 8 Jahren.
Bei dem ältesten Knaben begann die Erkrankung im Alter von
3 Jahren. Er fing an, auf den Fußspitzen zu gehen; allmählich bildete
sich ein immer stärkerer Spitzfuß aus. Vor 3 Jahren wurde eine Teno-
tomie vorgenommen, die die Gangstörung etwas besserte; allmählich
verschlimmerte sich jedoch die Gangstörung wieder. Auch die Arme sind
in den letzten Jahren etwas steifer geworden; das Schreiben ist schlechter
geworden. — Objektiv findet sich ein spastischer Gang, beiderseits Spitz¬
fuß mit Hohlfußbildung, Spasmen in den Beinen, gesteigerte Patellar¬
und Achillessehnenreflexe, beiderseits Babinski. In den Händen besteht
leichte Ungeschicklichkeit und leichter Tremor. Die Bauchdecken- und
Kremasterreflexe sind vorhanden. Die Pupillenreaktion ist normal; die
Augenbewegungen sind ungestört; es findet sich kein Nystagmus. Am
Augenhintergrund findet sich temporale Abblassung und parazentrales
Skotom für Farben. Die Sensibilität ist normal; die Wassermannsche
Reaktion ist negativ. Intellektuell ist der Knabe etwas zurückgeblieben.
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
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Bei dem zweiten Knaben ist seit 1 y 2 Jahren aufgefallen, daß die
Beine steifer wurden. Er wurde im Dezember wegen Halsdrüsen operiert.
Es bestand dänach eine rechtseitige Hypoglossuslähmung, die jedoch in¬
zwischen wieder vollständig verschwunden ist. Der Befund ist genau
der gleiche wie bei dem älteren Knaben, nur daß die spastischen Erschei -
nungen in den Beinen etwas weniger ausgesprochen sind als bei jenem.
Bei dem dritten Knaben ist den Eltern nichts aufgefallen. Die
Untersuchung ergibt bei ihm ebenfalls den Augenbefund einer retrobul¬
bären Neuritis. Es findet sich bei ihm beiderseits eine geringe Hohlfu߬
bildung und rechts ein positiver Babinski.
Wir finden also bei allen drei Knaben in übereinstimmender Weise
eine Kombination von spastischen Symptomen mit retrobulbärer Neuritis
optica. Die spastischen Erscheinungen sind bei dem ältesten Knaben
am stärksten ausgesprochen, weniger bei dem zweiten, beim dritten nur
angedeutet. Der Befund ließe an eine multiple Sklerose denken, doch ist
dieses in Anbetracht des jugendlichen Alters und der Familiarität un¬
wahrscheinlich. Eine luische Erkrankung wird durch den negativen Wasser¬
mann im Blut unwahrscheinlich gemacht. Es ist anzunehmen, daß hier
eine familiäre spastische Erkrankung auf heredodegenerativer Grundlage
kombiniert mit familiärer Optikuserkrankung vorliegt. H. Laehr.
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Kleinere Mitteilungen
Die Jahresversammlung des Vereins bayerischer Psychiater
findet am 2. und 3. Juni er. (Dienstag und Mittwoch nach Pfingsten)
in Deggendorf statt. Referat: Über das Pflegepersonal; Ref. Eccard-
Frankenthal. Am 2. Tage ist die Besichtigung der neuen niederbayerischen
Heil- und Pflegeanstalt Mainhofen in Aussicht genommen. Anmeldung
von Vorträgen an Dr. Rehm, München 12, Neufriedenheim, oder Dr. Vocke ,
Eglfing bei München.
Der 24. Kongreß der Psychiater und Neurologen Frank¬
reichs und des französischen Sprachgebiets findet vom 3. bis
7. August in Luxemburg statt. Referate: 1. Les Psychoses post-oniriques;
Ref. Dr. Delmas. — 2. Les Maladies mentales professionelles; Ref. Dr.
Coulonjou. — 3. Les lösions du corps thyrol'de dans la maladie de
Basedow; Ref. Dr. Roussy. — Anmeldungen an Dr. Lalanne, Dir. des
Asyls Maröville bei Nancy (M.-et-M.).
Die Vereinigung katholischer Seelsorger an deutschen
Heil- und Pflegeanstalten hält die diesjährige Generalversammlung
am 4. August im Canisianum zu Innsbruck ab. Beginn vormittags 9 Uhr.
Referate: 1. Ist der öftere Empfang der hl. Kommunion nach bedingter
Absolution zulässig? Ref. Kaplan J5«uter-Rottenmünster und Pfarrer
Simon -Eglfing. 2. Die tägliche Krankenvisite, II. Teil; Ref. Pfarrer
f amiZZer-Regensburg. 3. Die christliche Caritas und die Irrenpflege;
Ref. Kurator Dumer- Lohr. 4. Das Leben der Heiligen und die Abirrungen
moderner Psychopathologie; Ref. Fa/m'Mer-Regensburg. — Am 5. August
[Besichtigung der Heilanstalt Hall. Nähere Auskunft bei Pfarrer Dr.
jfg. Famiüer-Regensburg.
Der 3. internationale Kongreß für Gewerbekrankheiten wird in
Wien vom 21. bis 26. September tagen. Eine Reihe von Referaten
Und Vorträgen beschäftigt sich mit der Ermüdung. Auskunft erteilt
[Generalsekretär Doz. Dr. Teleky , Wien IX, Türkengasse 23.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 3.
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534
Kleinere Mitteilungen.
Die 86. Versammlung deutscher Naturforscher u. Ärzte
findet vom 20. bis 26. September in Hannover statt. Für die all¬
gemeinen Sitzungen sind folgende Vorträge vorgesehen: Hellpach- Karls¬
ruhe: Die kosmische Abhängigkeit des Seelenlebens; Lummer- Breslau:
Die Verflüssigung des Kohlenstoffes; SziZZe-Göttingen: Das tektonische
Bild des deutschen Bodens; Kubierschky-Eisenach: Die Verwertung u.
die Weiterverwendung der Kalisalze; für die Gesamtsitzung der medizi¬
nischen Hauptgruppe: Abderhalden-Halle: Uber die Abwehrmaßnahmen
des Organismus gegen blutfremde Stoffe; »ScAüiz-Berlin: Die Serodiagnose
in der Veterinärmedizin; iVocAt-Hamburg: Tropenmedizinische Fragen
von allgemeinerer Bedeutung; W ZeZancZ-S traßburg: Über Beri-Beri vom
physiologisch-chemischen Standpunkt; in der gemeinsamen Sitzung beider
Hauptgruppen: Gaupp-Tübingen: Probleme der Degeneration; Ziegler -
Stuttgart u. Dexler- Prag: Probleme der Tierpsychologie. In gemeinsamen
Sitzungen mehrerer Abteilungen werden u. a. sprechen Uhthoff-Breslau
u. Bruns- Hannover über „Ophthalmologisches zur Hirnchirurgie“ u.
Lazar-Wien „über Kinderselbstmorde“. Für den 25. u. 26. September
sind Ausflüge u. Besichtigungen geplant. Geschäftsführer sind Geh.
Med.-Rat Prof. Dr. H. Reinhold, Haltenhoffstr. 67, u. Geh. Reg.-Rat
Prof. Dr. H. Ost, Herrenhäuser Kirchweg 19. Einführende in die (24.)
Abteilung für Psychiatrie u. Neurologie: San.-Rat Prof. Dr. L. Bruns,
Lavesstraße 6, u. Geh. San.-Rat Dr. H. Hesse-Ilten.
Die Internationale Gesellschaft für Sexualforschung
(Präsident Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Julius WoZZ-Berlin) veranstaltet
am 31. Oktober, 1. und 2. November d. J. in Berlin ihren ersten Kongreß.
Er wird das gesamte Gebiet der wissenschaftlichen Sexualforschung
umfassen und voraussichtlich in eine biologisch-medizinische, eine sozial -
und kulturwissenschaftliche, eine juristische (einschließlich der Kriminal-
Anthropologie und Psychologie) und eine philosophisch-psychologisch ¬
pädagogische Sektion geteilt werden. Die Verhandlungssprachen sind
Deutsch, Englisch, Französisch; jedoch ist der Präsident befugt, für be¬
sondere Fälle auch andere Sprachen zuzulassen. Von den bisher ange-
meldeten Vorträgen nennen wir: Prof. Dr. Broman- Lund: Ursachen und
Verbreitung der natürlichen Sterilität und ihr Anteil am Geburtenrück¬
gang. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Fritsch- Berlin: Thema Vorbehalten.
Prof. Dr. Hans Groß- Graz: Vergleichende Kriminalpsychologie der Ge¬
schlechter. Prof. Dr. CA. AZumAer-Frankfurt a. M. und Pastor Wilhelm
Pfeiffer- Berlin: Was wird aus den Unehelichen? Prof. Dr. Mingazzini-
Rom: Weibliche Kriminalität und Menses. Prof. Dr. W. Mittermaier-
Gießen: Die Stellung des Strafrechts zu den Sexualdelikten im Wandel
der Geschichte. Dr. Albert AfoZZ-Berlin: Zur Psychologie, Biologie und
Soziologie der alten Jungfer. Prof. Dr. SeZZAeim-Tübingen: Fortpflanzung
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Kleinere Mitteilungen.
585
und Fortpflanzungsbereitschaft als Arbeit der Frau. Prof. Dr. E. Steinach-
Wien: Beeinflußbarkeit der Geschlechtscharaktere. Prof. Dr. S. Stein¬
metz-Amsterdam: Der individuelle Faktor in der Hassenmischung. Geh.
Reg.-Rat Prof. Dr. Julius Wolf- Berlin: Sexualwissenschaft als Kultur¬
wissenschaft. — Für die Mitglieder der Gesellschaft ist die Teilnahme
am Kongreß frei, Nichtmitglieder haben eine Einschreibegebühr von
M. 10 zu zahlen. — Anmeldungen zum Kongreß, auch von Vorträgen,
werden schon jetzt an den zweiten Schriftführer, Dr. Max Marcuse-
Berlin W 35, Lützowstr. 85, erbeten, an den auch alle sonstigen Anfragen,
betreffend den Kongreß und die Gesellschaft, zu richten sind.
Dem Verein zum Austausch der Anstaltberichte sind
die unterfränkische Heil- u. Pflegeanstalt Lohr a. M. u. die Provinzial-
Heilanstalt Stralsund beigetreten.
Berichtigung.
Im Aufsatz Dr. Lomers über Initiale Schriftveränderung bei
Paralyse im vorigen Hefte sind die Schriftproben II und IV miteinander
verwechselt worden. Die Schriftprobe S. 202 gehört auf S. 198 und
umgekehrt.
Ferner ist im Vortrag von IFtcÄeZ-Dziekanka über stationäre
Paralyse S. 363, Zeile 11, statt Dr. Fischer zu lesen: Dr. Fickler.
Personalnachrichten.
Dr. Otto Mönkemöller, Oberarzt der Prov.-Anstalt Hildesheim, ist zum
Direktor der Prov.-Anstalt Langenhagen ernannt.
Dr. Eduard Schütte, bisher in Lüneburg, ist als Oberarzt nach Hildes -
heim,
Dr. Wilhelm Tintemann , bisher in Göttingen, als Oberarzt nach Osna¬
brück,
Dr. Ernst Stolzenburg, Abt.-Arzt in Lüneburg, als Oberarzt nach Göt¬
tin gen versetzt worden.
Dr. Heinrich Kreuser, Dir. von Winnental, ist Obermedizinalrat,
Dr. Ernst Schultze, Prof, in Göttingen, ist Geh. Medizinalrat,
Dr. Wilhelm Falkenberg , Oberarzt der städt. Anstalt Herzberge in Bernn-
Lichtenberg, u.
Dr. Karl Knorr , Dir. der Landesanstalt Teupitz, sind Sanitätsräte
geworden.
Dr. Franz Simon, Geh. San.-Rat, bisher Dir. der Prov.-Anstalt Lüben,
hat den Kronenorden 3. Kl. erhalten.
Dr. Franz Völker, Direktor in Langenhagen, ist am 17. März gestorben.
Dr. Jul. Alb. Lochner, Hofrat, Dir. der städt. Heilanstalt Leipzig-Thonberg,
ist gestorben.
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Y erhältnisblödsf nn.
Von
Professor Dr. E. Bleuler, Zürich, Burghölzli.
Der Ausdruck Blödsinn bezeichnet psychische Defekte ver¬
schiedenster Art, denen gemeinsam nur das ist, daß sie ihren Tr&ger
den gewöhnlichen Anforderungen gegenüber versagen lassen. Meistens
wird dabei auch vorausgesetzt, daß der Blödsinnige im praktischen
Leben scheitere; wer sich da noch als tüchtig genug erweist, wird
nicht gern als blödsinnig bezeichnet, auch wenn seine theoretischen
Fähigkeiten im Denken und Lernen recht gering sind. Allerdings gibt
es auch unpraktische Naturen, die theoretisch Großes leisten, aber
ihre eigenen Angelegenheiten nicht richtig besorgen, ohne daß wir
sie als blödsinnig bezeichnen möchten. Es handelt sich aber da um
sehr verschiedenartige und meist komplizierte Verhältnisse. Die
Leistungen auf theoretischem Gebiet z. B. bringen die Leute in Situ¬
ationen, die mehr als Durchschnittsverstand verlangen, oder sie
nehmen so sehr die ganze Persönlichkeit in Anspruch, daß die prak¬
tischen Aufgaben vernachlässigt werden, oder es bestehen sogenannte
partielle Fähigkeiten usw.
Gewöhnlich denkt man sich unter Blödsinn nur intellektuelle
Defekte. Doch gibt es auch affektive Blödsinnsformen. An¬
geborene oder schizophrene Apathie macht auch einen ordentlichen
Verstand steril und verunmöglicht es, den Anforderungen des Lebens
nachzukommen. Hochgradige Labilität des Gemütes, sei sie angeboren
oder z. B. manisch-depressiv, macht ihren Träger zu einem Spielball
der wechselnden Stimmungen, der kein Ziel festhalten kann und
zugleich unfähig ist, sich der Umgebung anzupassen, weil er durch
seine „Reizbarkeit“ beständig in Konflikt mit derselben kommt.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 4/5. 38
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Bleuler,
Bei den gewöhnlichen Blödsinnsformen sind also der Verstand
oder die Affektivität oder beide ungenügend entwickelt. Ein Scheitern
im Sinne des Blödsinns kann aber auch durch ein ungünstiges
Verhältnis verschiedener psychischer Eigenschaften
unter sich bewirkt werden, ohne daß irgend eine Funktion, für sich
allein genommen, als Ursache bezeichnet werden könnte. Solche
Formen von Demenz möchte ich als Verhältnisblödsinn bezeichnen.
In den .mir genauer bekannten Fällen existieren hierbei gewisse Ano¬
malien der Intelligenz, die zwar an sich bedeutungslos wären, aber
dadurch wichtig werden, daß bestimmte aktive Triebe besonders
große Anforderungen an den Verstand stellen, die dieser nicht erfüllen
kann. Selbstverständlich wird es auch Vorkommen, daß gar kein
„Defekt“, kein Ausfall, besteht, indem eine Durchschnittsintelligenz
gegenüber maßlosem Streben des Individuums versagt. Doch kenne
ich keine solchen Fälle näher; sie kommen eben aus begreiflichen
Gründen nicht so leicht zur psychiatrischen Beobachtung. Allgemein
bekannt, wenn auch nicht genügend studiert, sind nur die Fälle,
wo die überhaupt zu starke Affektivität habituell mit einem Verstände
durchbrennt, der noch fähig wäre, ein Durchschnittstemperament
zu zügeln. Es soll deshalb von den Verhältnisblödsinnigen ohne
Defekt hier nicht die Rede sein. Dagegen möchte ich zunächst eine
Gruppe von Fällen besprechen, bei denen das Verhältnis von starken
speziellen Trieben zu einer bestimmten Verstandesanlage den Blödsinn
bedingt.
B. v. Gudden bezeichnete die Hauptgruppe dieser Kranken be¬
kanntlich als ,.höhere Blödsinnige“, indem er mit diesem Namen
Leute zusammenfaßte, die imstande sind, in der Gesellschaft, ev. auch in
der Schule und sogar etwa in literarischen Stellungen fort zu kommen,
eine gewisse Rolle zu spielen, in Wirklichkeit aber nichts neu kombinieren
können und im praktischen Leben scheitern. Wie ich höre, nannte Hoche
die nämlichen Kranken Salonidioten. Beide Ausdrücke sind sehr
prägnant, aber leider mißverständlich — in einer Psychiaterversammlung,
wo ich einen Vortrag über „höheren Blödsinn“ angesagt hatte, war man
sehr enttäuscht, weil man mir zugemutet hatte, ich werde unter diesem
Titel über die Kritiken der Freiwischen Lehre sprechen. Auch sind beide
Begriffe verschieden begrenzt. Der Verhältnisblödsinn umfaßt Zustände,
die nicht zum höheren Blödsinn gehören, und der letztere Begriff muß
auch auf Fälle ausgedehnt werden, die als bloße Schönschwätzer nicht
wohl verhältnisblödsinnig genannt werden können.
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Verhältnisblödsinn.
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So blieb mir nichts anderes übrig, als, wenn auch ungern, einen
len Namen vorzuschlagen.
I. Der Dichter. — Der Kaufmann A., geboren 1873, hatte 1911
ji Gasthöfe im Kanton Zürich, in denen er unter dem falschen Namen
es Hauptmanns Falk logierte, ohne Anzahlungen verlassen. Durch
■erate suchte er Haushälterinnen gegen Kaution zur Unterstützung
seine Frau, die (angeblich) bald aus einem nahen Sanatorium ent-
sen werde. Zugleich hatte er einen sonderbaren Markenhandel ange-
telt, so daß er in verschiedenen Beziehungen auffiel und in Basel
■haftet wurde. Dort gab er an, daß eine Stimme in der linken Schläfe
i zu diesen Handlungen treibe, wurde wegen „psychischer Entartung“
• unzurechnungsfähig erklärt, in den Kanton Zürich ausgeliefert und
m dann zur Untersuchung ins Burghölzli.
Der Vater des Expl. war Fabrikbesitzer und scheint normal gewesen
sein. Die Mutter war zwei Jahre lang melancholisch, nachher aber
enbar wieder normal; eine Schwester und ein Bruder (ein Amtsrichter)
ben sich in melancholischem Zustande das Leben genommen. Der
stere war zugleich Morphinist. Sechs Geschwister sind früh gestorben,
nf leben gesund. Patient fiel im Alter von sechs Jahren auf die linke
opfseite und brach zugleich den linken Arm, weswegen er vom Militär
ei wurde. Er wollte Pfarrer und Minister werden, versagte aber im
mften Jahre der Lateinschule in den alten Sprachen, während er z. B.
i Geschichte ausgezeichnet gewesen sei und sich für deren Helden, z. B.
ach für Napoleon, begeistert habe. An der Entlassung aus der Schule
i auch sein häufiges lautes Lachen schuld gewesen, das er einfach nicht
abe verhindern können, wenn ihm das Gesicht eines Mitschülers komisch
orgekommen sei.
Er kam nun als Lehrling in ein Kolonialwarengeschäft, wo er „wegen
fines hervorragenden Fleißes in allen Sparten“ und seiner „wirklich
dtenen Pflichttreue“ und „erfreulichen Auffassungsgabe“ als erster in
iesem Geschäft eine Verkürzung der Lehrzeit erhielt. „Seine aus-
czeichneten Qualifikationen sichern ihm ein rasches Vorwärtskommen“
Zeugnis des Lehrmeisters 1891).
ln einem Drogeriegeschäft blieb er bald darauf kurzerhand weg,
• eil ihm der Prinzipal zu aufgeregt vorkam. Der Vater plazierte ihn dann
ls Komptorist in eine Spinnerei, wo er mehr als ein Jahr blieb und wieder
ehr gut qualifiziert wurde: „Eifrigster, tüchtigster Beamter, vor allem
«schickt zur befriedigenden Erledigung von Reklamationen und uner-
luicklichen Korrespondenzen“. Nebenbei versuchte er sich privatim in
»nf verschiedenen Sprachen, in Klavier und Stenographie zu bilden,
ndem er einen bestimmten, ausgeklügelten Stundenplan befolgte und sich
' en Schlaf mit Kolapastillen vertrieb.
Um seiner erkrankten Mutter und der Familie näher zu sein, verließ
lT ”^‘ e ihm lieb gewordene Stellung“ und ging in ein Kolonialwaren-
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Original fram
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Bleuler,
geschält, wo er fast drei Jahre als Komptorist und Reisender blieb. Er
arbeitete „mit immer gleich unermüdlichem Fleiß und seltenem Pflicht¬
gefühl“. „Seine Bescheidenheit, Anspruchlosigkeit und Zuvorkommenheit
mir und meiner Kundschaft gegenüber machen ihn mir von Jahr zu Jahr
schätzenswerter. Sein Drang zur Selbständigkeit nötigt mich, auf seine
Mitarbeit zu verzichten. So nachteilig es für mich ist, und so leid es mir
tut, daß er mit 22 Jahren ohne eigene Mittel schon selbst ein Geschäft
gründet, spreche ich doch auch an dieser Stelle ihm Anerkennung und
Dank für seine braven Leistungen aus und verspreche, ihn mit Rat und
Tat nach Kräften im Bedarfsfälle zu unterstützen. Meiner wärmsten
Empfehlung darf er in allen Fällen sicher sein.“ (Abgangszeugnis.)
Obschon er nicht einmal hundert Mark zur Verfügung hatte, trat
er, zum ersten Mal einer inneren Stimme — wie es scheint, einer wirklichen
Halluzination — folgend, aus, um eine Zuckerwarengroßhandlung zu
gründen. Er habe im ersten Jahre 2 0 000, im zweiten 6 5 000, dann 200 000 Mk.
umgesetzt. Nun wuchs ihm die Sache über den Kopf, namentlich weil
er überall Filialen gründete, die er beliebigen Leuten ohne Prüfung und
ohne Sicherstellung übergab. So kam er, nach seiner eigenen Rechnung,
bald auf 95000 Mark Aktiven und 99000 Mark Passiven. Vor Schrecken
flüchtete er sich nach Paris, um dort als Schriftsteller, wie er meinte,
600—700 Fr. monatlich zu verdienen. Die amtliche Liquidation des
Geschäftes ergab etwa ein Drittel des von ihm erwarteten Wertes, und
Patient brachte es in Paris auf nicht mehr als sechzig bis siebzig Franken
— und er hatte in bestimmter Erwartung glänzender Einnahmen nur
250 Mark mit sich genommen. Er schrieb nun eine Posse, die immerhin
einige Aufführungen und drei Auflagen erlebte und ihm ungefähr die
Druckkosten eintrug.
1899 nahm er eine Stelle als Geschäftsreisender in Deutschland an,
verdiente 6000—10000 Mark und konnte in wenigen Jahren 11000 Mark
Schulden freiwillig abzahlen. 1903 sagte ihm die innere Stimme, er könne
in anderen Fabriken mehr verdienen, und nun wechselte er innerhalb
kurzer Zeit die Branche und die Firmen, die er vertrat, sehr oft, so daß
seine 1100 Kunden dieses Wechselfieber, wie er es nannte, nicht mitmachen
konnten. 1904 drohte er einem ungeduldigen Gläubiger mit Konkurrent,
der ihn wegen Erpressung „zwei Wochen ins Gefängnis und einige Kilometer
näher an die Irrenanstalt brachte“ (Ausdruck des Pat. selbst).
1905 heiratete er eine offenbar recht tüchtige Frau; das Geld, das
ihr Kredit ihm verschaffte, verschwand rasch, trotzdem sie ihn mit Energie
und Verständnis auf solideren Bahnen zu halten suchte. Circa 1905 fing
Patient allmählich an, sich mit Reklame zu beschäftigen, wofür er ein
eigenes System erfand. Er verfertigte eine Unmasse von Flugblättern,
ließ Hunderte von Klischees von witzig sein sollenden Zeichnungen machen,
in denen Lücken für den Namen der Firma und für den empfohlenen
Artikel offen gelassen waren. Er fertigte Reklameerzählungen an, nament-
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V er hältnisblijdsiiui.
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jßiCei* belmb^ii^vjiirclertv uhgffähr su viel eingeuojn >mn zu haben wie abs-v
.uv'-gebeti. 1907
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Alle unsere fiiü'W'äxitfe. (hä-durch. sefti bisheriges Schicksal so kräftig ge-
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begabten Kopf halte. Auf „dumnv' reagiert *c . i n der'.iiäiididien Eigen-
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CHIGAN
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Bleuler,
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greiflich und nicht als ungenügende Affektreaktion aufzufassen, wen&
er seinem Schicksal gegenüber keine tragischen Gefühle aufbringt.
Sexuell scheint Expl. nach der Anamnese wie nach der Beobachtung
ziemlich anspruchlos zu sein.
Der Ideengang ist sehr rasch, bringt eine Menge Neues: do<h
verliert er sich nicht. Es besteht keine Ideenflucht. Immerhin bewege
ihn kleine Witze und Nebensachen in einer wichtigen Angelegenheit oft
so stark wie die Hauptsache, so daß man doch von einer gewissen Nivel-
lierung der Ideen reden kann. Wenn auch keine deutlich faßbare manisch
Verstimmung vorhanden ist, so erinnert er doch stark an einen Manischen.
(Vgl. auch unten unter Intelligenz.)
Das Gedächtnis für die Unmasse von verschlungenem Lesestoff
ist glänzend. Er weiß Geschichtszahlen in Menge, hat Zitate in unheimlicher
Menge zur Verfügung. Über Einzelheiten seines kaufmännischen Berufes
kann er genaue Auskunft geben. Doch soll Patient ein ganz schlechtes
Personengedächtnis haben und auch gute Bekannte oft nicht identifizieren.
Die gewöhnlichen Methoden der Intelligenzprüfung ergaben
ein sehr gutes Resultat. Was der Durchschnittsmensch verstehen muß,
das verstand Expl. Kleine Fabeln erzählte er richtig wieder, aber während
der Normale das Wesentliche dadurch heraushebt, daß er das Unwesent¬
liche wegläßt, hob er es durch hinzugefügte Erklärungen heraus, die die
Erzählung erweiterten; auch fügte er nicht unrichtige, aber unnötige
Ausschmückungen und Witzchen hinzu.
In Schreiben und Rede braucht er viele Phrasen und gewählte
Ausdrücke, wird aber für gewöhnlich nicht unklar. Auf das Verlangen, die
„Wahrheit“ zu definieren, gibt er eine eine halbe Folioseite lange Erklärung,
die nicht falsch ist, aber Bemerkungen enthält wie die, daß, was den
einen Millionen Wahrheit, den andern Täuschung sei usw. Schlimmer
ist die Definition der Liebe. Die „ist der Inbegriff der menschlichen Glück¬
seligkeit, falls sie zwischen Mann und Weib handelt. Liebe ist die Ver¬
schönerung des menschlichen Daseins, falls sie zwischen Verwandten
ihren Platz behält. Liebe ist ein idealer Begriff, der zu jedermanns HriJ
wie zu jedermanns Fluch ausschlagen kann, falls es sich um ideelle oder
reelle Güter, wie z. B. Vaterland, Glaube, Vermögen, Souvenirs usw
handelt.“
Ein starker Defekt zeigt sich aber im geschäftlichen Leben. Überall,
wo er selbständig war, ist er trotz seiner enormen Arbeitskraft gescheitert,
und daraus ist er erst noch unfähig den logischen Schluß zu ziehen, daß
er sich in seinen Plänen etwas bescheiden sollte. Er will immer noch
als Geschäftsmann und Schriftsteller und Erfinder sein Glück machen.
Auch von der Anstalt aus will er noch Geschäfte machen und begreift
nicht, daß das aus vielen Gründen unmöglich ist. So vorzüglich sein
Gedächtnis ist für die einfachen Tatsachen seines Geschäftsbetriebes,
so wenig ist er imstande, kompliziertere Verhältnisse desselben in ihren
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V erhältnisblödsinn.
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Zusammenhängen zu erzählen. Wie die Frau berichtete, rechnete er
von je her in seinen Geschäften eine gute Situation heraus, während sie
in Wahrheit schlecht war. Er ist auch nicht fähig, zu begreifen, daß er
durch die Kreditinanspruchnahme unter Vorspiegelung falscher Tat¬
sachen in den Gasthöfen ein Verbrechen begangen hat. Hätte man ihn
machen lassen, so hätte er, wie er meint, alles in ein paar Tagen abbezahlt.
Er bleibt auch bestimmt dabei, er habe der Schweiz trotz seiner nicht
bezahlten Hotelrechnungen und trotz der langen Untersuchung keinen
Schaden, sondern nur Nutzen gebracht, da er während eines zehntägigen
Aufenthaltes 140 Fr. verbraucht habe.
Seine Reklame besteht aus einer geistlosen Ausnutzung seines
Gedächtnisses und einer gewissen Fähigkeit zu Parodien und öden Bier¬
witzen, die nur durch die unerschöpfliche Quantität wirkt.
In seinen Possen gibt es wirklich komische Situationen, die Witze-
sind recht gewöhnlich, wirken aber auch hier durch die Häufung. Auch
kann er ein ganzes Gespräch aus Zitaten zusammensetzen. Es handelt
sich, wie er mit einer gewissen Selbsterkenntnis sagt, um „Blödsinn,
sinnig eingefaßt“.
In seinen Gedichten sind einige Gefühle, einige gelungene Aus¬
drücke unter vielem Banalen oder, recht Blödem in Form und Inhalt.
Da und dort sehen wir einige Ansätze zu Pseudologia phanta-
stica. Die Art, wie er als Hauptmann mit einer kranken Frau mehrere
Haushälterinnen mit Kaution und ein ander mal, ohne ein Auto zu besitzen,
Chauffeure ebenfalls mit Kaution gesucht hat, ohne die Kaution für sich
einzustecken, sieht doch recht pseudologisch aus.
Die Moral des A. ist nicht ganz schlecht. Für seine Familie möchte
er sorgen. Er ist auch weder ein Verschwender noch ein Lebemann.
Er nimmt es ja leicht, wenn er andere schädigt, wie er es leicht nimmt,
wenn er sich selber schädigt. So bald er aber einen guten Verdienst hatte,
zahlte er Schulden aus seinem Konkurse freiwillig ab. In der finanziellen
Not machte er sich durch Lügen Kredit, und auch in der Untersuchung
hat er versucht, zu lügen. Wo aber keine solche Not zur Unwahrheit treibt,
iplt er als pflichtgetreuer Beamter.
Rätselhaft sind die Stimmen, die Patient hören will. Es scheint
sich nicht um Simulation zu handeln. Die Stimme gibt ihm plötzlich
Räte bei Gelegenheiten, aber im Sinne seiner inneren Wünsche: „Verkaufe
dein Geschäft“ 1 „Manuskriptle“! „Geh’ nach Budapest“! usw. Es handelt
sich also um eine ähnliche Erscheinung wie etwa bei der Jungfrau von
Orleans, die das, was ihr ihre Intelligenz sagte, in Form von Räten der
heiligen Jungfrau vernahm.
Auch die Lachanfälle, die schön in den Schuljahren aufgetreten
sind und ihn lange nicht verlassen haben, hatten keinen schizophrenen
Charakter. Sie sind adäquate Folgen des Ideenganges des Patienten,
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Bleuler,
der plötzlich irgend etwas komisch fand und seine labile Affektivität nicht
bezwingen konnte.
Patient ist religiös und hat seiner Frau versprochen, ihr nach dem
Tode zu erscheinen. Er hatte auch plötzliche Ahnungen, die nach Aus¬
sage der Frau eingetroffen sein sollen.
Am auffallendsten sind seine Einfälle; einmal habe er plötzlich
bei einer Familienzusammenkunft einem Schwager eine Haarlocke ab-
geschnitten, und die Aufforderungen der Stimme erscheinen für sein
Bewußtsein doch oft recht plötzlich, wenn sie auch mit seinen Strebungen
durchaus übereinstimmen. Aber all dies genügt nicht zur Diagnose der
Schizophrenie, für die wir sonst trotz allem Suchen keine Zeichen gefunden
haben. Expl. hat denn auch nach der Entlassung aus der Anstalt wieder
eine Stelle gefunden, die er mit den alten Hoffnungen ausfüllt (Brief
vom Juni 1912).
Diesen Mann als „blödsinnig“ zu bezeichnen, mag nach mancher
Anschauung nicht recht passen. Patient hat als Komptorist und
Reisender Leistungen, die über dem Durchschnitt stehen; gerade die
schwierigeren Geschäfte konnte er gut abwickeln. Er hat sich zeitweise
ein sehr gutes Einkommen verschafft; sogar in selbständiger Stellung
hat er ein Geschäft rasch auf eine ungeahnte Höhe gebracht; seine
Reklameerfindungen kann er immerhin verkaufen, und eine seiner
Possen ist mehrfach aufgeführt worden und hat die dritte Auflage
erlebt.
Es fehlt also nur wenig, so hätte er als ein besonders begabter
Kaufmann, der nebenbei als Schriftsteller dilettieren kann, sein
Glück gemacht. Aber gerade dieses Wenig bewirkt, daß er überall
scheitert und praktisch ein Blödsinniger ist.
Seine vorübergehenden Erfolge sind zu verdanken einer seltenen
Tatkraft, einem ausgezeichneten Gedächtnis und einer sehr großen
Fähigkeit, das im Gehirn angehäufte Material zu benutzen und zu
kombinieren.
Zum Verhängnis wird ihm sein zu weit gestecktes Ziel. Er will
reich werden und zwar rasch und ist deshalb mit keiner Situation zu¬
frieden, auch w’enn er ein ziemlich sicheres Einkommen von 10000 Mark
bezieht. Er muß immer wieder etwas Neues versuchen. Diesem
starken Trieb gegenüber fehlt das intellektuelle Gegengewicht. Sein
Verstand sagt ihm nicht, wie weit er gehen dürfe; er zieht aus der
Vergangenheit keine Lehren. Und das ist begreiflich nicht nur aus
der Stärke seiner Triebe, die den Verstand mit sich reißen, sondern
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V erhältnisblödsinn.
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aus der Schwäche des Verstandes. Denn dieser versagt früher, als
man nach allem erwarten sollte. Nicht nur, daß eine Selbstkritik
fehlt, wie bei vielen anderen Leuten; seine Begriffe überhaupt werden
unklar, sobald sie über das Einfachste hinausgehen. Er ist ein aus¬
gezeichneter Geschäftsmann, so lange er mit einzelnen Personen von
Fall zu Fall zu unterhandeln hat, und bringt Waren an den Mann,
wo Andere nichts ausrichten. Wenn er aber ein Geschäft als Organismus
führen soll, dann fehlt ihm auch jede Vorbedingung; hier kann er die
Einzelheiten nicht mehr zusammenordnen, nicht mehr zu einem
ineinandergreifenden Getriebe kombinieren. Wie der schwer Imbezille
bei einem Gemälde nur die einzelnen Personen und nicht die dar¬
gestellten Situationen sieht, so fehlt ihm die Beherrschung des Ganzen.
So muß er scheitern, wenn er sein ganzes Leben dirigieren soll, eine
Aufgabe, die von einem Menschen mit seinen vielfachen und weit¬
gesteckten Zielen eine weitgreifende, klare Übersicht über Zeit und
Verhältnisse und nicht ein einfallmäßiges Handeln nach momentanen
Detailsgelüsten verlangt. Er ist sprunghaft in seinem Handeln, nicht
nur weil er seinen Affekten nachgibt, sondern auch weil er sich die
Folgen nicht überlegen kann, weil er sich bei einer schlimmen Situation
nur die aktuellen Unannehmlichkeiten und Schranken vorstellt,
bei dem, was er wünscht, aber nur die guten Chancen. So gleicht er
in gewisser Beziehung dem Paralytiker.
II. Der Naturheiler 1 ). — J. H., geboren 1849. Mutter Psycho¬
pathin, Onkel mütterlicherseits Potator, ein Bruder geisteskrank. In der
Schule zeigte Patient nie Lust zum Lernen, kam schlecht vorwärts, wollte
entgegen dem Wunsche seiner Familie keine höheren Bildungsanstalten
besuchen. Mit 20 Jahren trat er bei einem Naturarzt in die Lehre und
begann kurz darauf eine unaufhörliche Betriebsamkeit zu entfalten.
Vom Jahre 1870 bis 1905 gab er viele Dutzende von Broschüren und
Büchern heraus, die sich besonders mit der natürlichen Lebens- und
Heilweise, sexuellen und philosophischen Fragen befaßten; er griff ins¬
besondere immer selbstbewußter die Ärzte und die diesen Vorschub
leistende Regierung an; es seien hier aus einer großen Liste nur einige
wenige Titel genannt:
Die Wissenschaft vom körperlichen, geistigen und sozialen Leben.
Venus und Adonis.
In diesem Falle benutze ich die Darstellung von Hans W. Maier
in seiner Arbeit über katathyme Wahnbildung und Paranoia. Zeitschr/
f- d. g. Neurol. und Psych. 1912. Or. Bd. 13, S. 555.
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Bleuler,
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Einleitung in die Grundlehre der Naturheilwissenschaft.
Menschensystem.
Einleitung in die Grundlehre der Fieberbehandlung.
Die Wissenschaft vom Menschenleben.
Die totale Nichtigkeit der medizinischen Heilmethode.
Über die Ursache des geistigen Niedergangs in Presse und Literatur.
Das mechanische Prinzip des Organismus.
Die organische Kraftbildung.
Der Erlösungsgedanke, dargelegt an dem Leitfaden der gegen¬
sätzlichen Wechselbeziehungen.
Neues Programm des Geistesbundes vereinigter Wahrheitsforscher.
Die Einheit der Grundgesetze.
Lebensmagnetismus und Lebensreiz.
Nationaler Geistesbund.
Der Erlösungsgedanke der Gottheit in dem Einheitsprinzip der
Natur und Geisteswelt.
Über die geheimnisvollen Trieb- und Heilkräfte der Phantasie.
Die Erziehung durch die Kunst und den nationalen Gedanken.
1883 wurden seine Schriften einmal in Deutschland mit Beschlag
belegt, wahrscheinlich wegen Majestätsbeleidigung; er erhielt einige
Wochen Haft. 1885 verklagten ihn einige unzufriedene Kunden wegen
Betrugs. Ein zugezogener Sachverständiger erklärte ihn für geisteskrank,
worauf sich der Patient den weiteren Verhandlungen durch die Flucht
nach der Schweiz entzog. Durch die Unmenge von Publikationen wurde
der Mann bekannt und sammelte eine Art Gemeinde um sich, die unter
dem Namen „Verein der Anhänger J. H.s“ über ganz Deutschland ver¬
breitet war und fest an die große Bedeutung des Kranken glaubte. Durch
seine ärztliche „Praxis“, die meist schriftlich betrieben wurde, hatte er
zeitweise Einnahmen von 4000—6000 Mark im Monat. Er lebte dabei
komfortabel, brauchte aber nicht übermäßig für sich, sondern gab alles
wieder für den Druck seiner neuen Werke und für Reklame aus. In seinen
Schriften erklärte er beständig von sich selbst, daß er zu den größten
Geistern aller Zeiten gehöre; er las viel, und so bestand der Inhalt seiner
Publikationen hauptsächlich aus Zitaten, die er mit vielen Fremdwörtern
und einer Reihe unverständlicher Phrasen aneinander reihte. Das „Prinzip",
das ihn früher beherrschte, und das immer wiederkehrte, war das der
„Gegensätzlichkeit“. Aus ihr sollte alles Gute entstehen, alle Gesundheit
und aller Fortschritt. Er gründete mit seinen nächsten Anhängern den
„Lebensbund“; auch gegen diesen mußte ein Gegensatz da sein, und.
da er gerade damals mit seiner Frau im Streit lag, erklärte er, daß diese
einen Teufelsbund gegen ihn gegründet habe. Die Hohlheit und Un¬
klarheit der Ausführungen des Patienten ist z. B. aus folgendem Inserat
ersichtlich: „Körperliches, geistiges und soziales Elend haben Grund¬
ursachen, welche in ihrem innersten Wesen bisher noch nicht richtig erkannt
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wurden. Leben ist Bewegung und diese ein Produkt von Druck („Reiz“)
und Gegendruck. Demgemäß kann nur aus der Aufeinanderwirkung
von Gegensätzen Leben und Kraft hervorgehen. Da nun alles Lust-,
Lebens- und Gesundheitsgefühl ein Produkt erzeugter Kraft ist, so kann
man alle körperlichen, geistigen und sozialen Krankheiten auf gestörte
Gegensätzlichkeit und die dadurch bedingte Schwäche zurückfuhren.
Im Hinblick hierauf kann man sagen, nichts für sich ist stark oder
schön, vielmehr gründet sich alle Kraft und jede Schönheit auf den Aus¬
gleich sich austauschender Gegensätze. Sehr anschaulich zeigt uns das
ein Vergleich der unorganischen Schönheit in der künstlerischen Darstel¬
lung des menschlichen Körpers. Bleiche, eingefallene Wangen zeigen
Schwäche oder Mangel an Kraftbildung in der Regel um so mehr an,
je mehr die schönen Formen des Körpers zerstört sind. In verwandter
Weise ruht die Kraft eines Bauwerkes oder eines Hauses auf der Schönheit
des rechten Winkels, sowie dem Gleichmaß der sich aus ausgleichenden
Gegensätzen bildenden Wölbung. Je baufälliger ein Haus ist, um so mehr
zeigt es die Unschönheit des spitzen oder stumpfen Winkels. Der rechte
Winkel befriedigt also nicht allein unser Schönheitsgefühl, sondern re¬
präsentiert auch das Prinzip der Kraft in der Widerstandsfähigkeit. In
ähnlicher Weise ist auch in dem Bauwerk des menschlichen Körpers alle
Kraftbildung von künstlerischen Erregungs- oder lustbegierigen Schönheits¬
empfindungen abhängig.
Es ist eine zweifellose Tatsache, daß namenloses Menschenelend
mit der Unwissenheit über den krafterzeugenden Austausch der Gegensätze
innig zusammenhängt. Was Verstand und Gemüt als Gegensätze für
das Geistesleben, das sind Nerven und Blut für das Körperleben. Je macht¬
voller diese Gegensätze sich erregen und in der erzeugten Spannung zum
Ausgleich gelangen, um so größer ist die erzeugte Kraftbildung. Für diese
ist deshalb der Grad der erzeugten Gehirn- oder Muskelspannung von
grundlegender Bedeutung, weshalb auch die Gegensätze des Körper-
und Geisteslebens insbesondere dann Kraft erzeugen, wenn sie in einen
schmerzhaften Kampf, ähnlich wie ein von patriotischen Wallungen
erregter Krieger geraten. Ein aufbrausender oder zorniger Mensch ist
zu einer gesteigerten Kraftbildung fähig, weil das Blut in einen Zustand
erhöhter Gährung oder Erregung versetzt ist und deshalb ein gesteigerter
Austausch mit den Nerven sich vollzieht. Diesen Austausch chemischer
Kräfte können wir uns an der kochenden Wirkung eines in Wasser ge¬
schütteten Brausepulvers veranschaulichen. Nerven und Blut als
Gegensätze wirken in ihren Vereinigungsbestrebungen ähnlich
wie ein von Flüssigkeit durchzogenes chemisches Pulver. Bei Vermischung
einer gelben und blauen Flüssigkeit erhalten wir grüne Flüssigkeit, weil
auch hier ein Austausch der Gegensätze sich vollzogen hat.
Es wurde eben gesagt, daß alle Kraftbildung aus dem Austausch
sich spannender und im Widerstreit bekämpfender Gegensätze hervorgehe.
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Bleuler,
Demgemäß ist die soziale Frage in letzter Instanz eine Kraftfrage, da
von dem Maß der erzeugten Kraft die Summe der vorhandenen Lebens-
giiter und Lebenswerte bedingt ist. Die Gegensätze im körperlichen,
geistigen und sozialen Leben können sich insoweit austauschen, als sie
durch Kampf oder Widerstreit in Spannung versetzt sind, weil ohne
Druck und Gegendruck Vereinigungsbestrebungen für den
Zweck des gegensätzlichen Austausches unmöglich sind.
In wie hohem Grade Störungen im Austausch der Gegensätze von
Blut und Nerven schwächend auf den Körper wirken, können wir am
besten bei einem sogenannten „eingeschlafenen Arm“ oder „eingeschlafenen
Bein“ beobachten. Je mehr durch äußeren Druck das Blut von den
Nerven abgesperrt wurde, um so größer oder umfangreicher ist auch die
hierdurch hervorgerufene Empfindungslosigkeit. Wollen wir nun rein
äußerlich sehen, daß eine unvollkommene Vereinigung ‘der Gegensätze
oder StofTteile auf Schwäche hinweist, dann vergleichen wir krankes und
gesundes Fleisch. Jenes ist aufgelockert, dieses fest; daß die Kraft, welche
aus einer solchen Vereinigung hervorgeht, an mehr oder weniger schmerz¬
hafte Erregungen gebunden, sehen wir jeden Tag an der Muskelarbeit,
welche, wenn sie mit Maß geübt wird, das Fleisch oder die gegensätzlichen
StofTteile mit der Erregung auch fester zusammenzieht oder vereinigt.
Einheit oder Vereinigung kann aber nur soweit zur Kraftbildung
in unserem Organismus führen, als eine Organisierung oder künstlerische
Gliederung des sinnlichen Stoffes stattfindet. Ohne Widerspruchserregung
mit Hülfe von Gegensätzen ist dies aber gar nicht möglich. Die Frieden¬
freunde, welche den Krieg abschaffen wollen, haben sich deshalb ein geistiges
Armutszeugnis ausgestellt, weil die Organisation des Körper- und Gehirn-
Stoffes für alle Kulturzwecke von einem unausgesetzten Kampfzustande
abhängig ist. Für diesen Zweck ist auch ein unausgesetztes Widerspruchs¬
verhältnis zwischen Wissen und Glauben notwendig. Man bekämpft
in einseitiger Weise den Unterschied zwischen Nationen und Konfessionen,
weil man es nicht weiß, daß nur der Kampf die formbildenden Kräfte
des Stoffes entfesseln kann. Wie harmlos sind die militärischen Kämpfe
gegenüber dem Hader oder Zwiespalt auf wirtschaftlichem oder geistigem
Gebiet, wo man sich vergeblich nach Geistern umsieht, welche die Gesetze
der Liebe oder Versöhnung, sich darstellend im Austausch des Gegen¬
sätzlichen, zu demonstrieren oder zu erklären vermöchten.
Nach den Lehren der Naturwissenschaften ist der Mensch ein ein¬
seitiges sinnliches Tier, dessen Lebenskraft sich nur in sinnlichen Be¬
tätigungen äußert. Die Formen und Geist bildende Kraft, welche sich
auf Glaubensvorstellungen an die Macht der Persönlichkeit stützt, wird
als Ausdruck geistiger und sittlicher Kultur bei ihren wissenschaftlichen
Beobachtungen des menschlichen Körpers nicht in Rechnung gestellt.
In der harmonischen Verbindung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren,
des Wissens mit dem Glauben oder der Denkkraft mit der Einbildungskraft
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Yerh<nisblödsinn.
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gipfeln nun aber gerade die höchsten Betätigungen geistiger, gesellschaft¬
licher und staatlicher Lebenskräfte. Den besten Beweis für diese Tat¬
sachen liefern uns die romanischen Länder, in denen der Katholizismus
eine hervorragende Rolle spielt, weil hier die entgegengesetzte Einseitigkeit
herrscht, nämlich der Glaube auf Kosten des Wissens in großen Kreisen
oder Bevölkerungsschichten in der einseitigsten Weise gepflegt wird und
infolgedessen die entsetzlichsten Zustände körperlicher, geistiger und
sittlicher Barbarei begünstigt werden.
Nach dem Vorangegangenen ist es zweifellos: Die Lehre vom
Gesetz der Gegensätzlichkeit bildet den unentbehrlichen
Schlüssel zu den tiefsten, bisher verborgenen Geheimnissen
der Natur und ist es nur auf diese Weise möglich, einen
Einblick in den komplizierten Mechanismus und in die
geheimnisvollen Bewegungskräfte des religiösen, staatlichen
und wirtschaftlichen Lebens zu gewinnen. Denn alle Krank¬
heiten sind in letzter Instanz auf gestörte Gegensätzlichkeit und den
hiedurch bedingten Schwächezustand zurückzuführen. Hierbei dürfen
wir es nicht übersehen, daß körperliche und geistige Kräfte in unserem
Organismus sich nur soweit betätigen können, als Menschenkörper einer¬
seits und Staatskörper anderseits in unausgesetzter Wechselwirkung
stehen. Die Ideen des Staats- und Gesellschaftslebens wurzeln in Fleisch
und Blut der den Staatskörper darstellenden Menschenkörper wie ein
Baum im Erdreich. Man kann deshalb auch sagen, was das Fieber für
den Körper, das sind die Leidenschaften in den Parteikämpfen für den
Geist. Ein Fieber schwächt den Körper oder führt den Tod herbei, wenn
durch eine einseitige Überspannung der Nervenkraft ein regelrechter
gegensätzlicher Austausch mit dem Blut unmöglich geworden ist.
Man kann es ohne Seife begreiflich machen, daß eine Hand die andere
wäscht und ein Bein das andere stützt. Hier sehen wir deutlich, daß die
Gegensätze gerade dadurch zum Austausch gelangen oder eine Ergänzung
stattfindet, daß ein Gegensatz sich auf Kosten des andern zu behaupten
sucht. Dies ist aber nur soweit möglich, als die Abhängigkeit oder das
Ergänzungsbedürfnis der Gegensätze empfunden wird. Im Parteileben
und im Klassenkampf gestaltet sich deshalb auch das Leben um so ein¬
seitiger und krankhafter, je weniger das Bedürfnis nach Versöhnung von
dem Bewußtsein der Ergänzungsbedürftigkeit angeregt wird.“
Für seine medizinischen Kenntnisse und Begriffe ist auch folgendes
charakteristisch:
H. kann keinen einzigen von den von ihm selber aufgestellten Be¬
griffen definieren. Er definiert z. B. „den einheitlich verbindenden
Kunstgeist“ folgendermaßen: „Der Mensch ist doch ein in sich ab¬
geschlossenes Wesen — ein organisches Wesen — einheitlich — ein in
sich abgeschlossenes organisches Wesen.“ — Seine Kritik über Virchow
begründet er mit der Schlußfolgerung: ,,Virchow verstand darum nichts
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von der Zellentätigkeit und der Krankenbehandlung, weil er im Reichstag
für Abrüstung sprach. Kr hat damit gezeigt, daß er nichts von der Idee
der Gegensätzlichkeit weiß.“ — Der Patient fühlt sich auch als Prophet.
Ref. habe ja selber gesagt, jedes Kind wisse, daß es Gegensätze gibt. Das
sei doch der beste Beweis für die Allgemeingültigkeit der Idee der Gegen¬
sätzlichkeit. — Er stellt fest: „Sommer und Winter wird erzeugt durch
die Bewegung der SonneI“
Die Abbildung eines Schulterblattes hält er für die eines Magens,
eines knöchernen Beckens für die eines weiblichen Brustkorbes; eine
Rippe kennt er nicht. Den Schädel eines Fötus ebenfalls nicht, den Magen
bezeichnet er als Leber und meint, das Herz sei in der Nabelgegend; er
weiß nicht, wie und woher der Urin in die Blase kommt.
Während seines Aufenthaltes in der Anstalt ereignete sich folgendes:
Pat. hat seit mehreren Wochen 3 mal wöchentlich Rührei. Er behauptet
nun plötzlich, er habe noch nie Rührei bekommen. Ref. versichert ihm,
das sei nicht möglich, der Patient bleibt aber bei seiner Behauptung:
Ref. könne ja nicht wissen, was er (Pat.) zu Mittag esse. Der Abteilungs¬
wärter versichert, Pat. habe immer Rührei bekommen. Pat. sagt erstaunt
zum - Wärter: „Das können Sie ja gar nicht wissen!“ Der Wärter setzt
ihm auseinander, daß er täglich das Essen selber in der Küche hole und
darum genau wissen müsse, was jeder Patient hat. Der Patient sagt
entrüstet: „Aber Sie können doch gar nicht wissen, ob ich wirklich Rührei
bekomme; die Speisen sind ja immer zugedeckt!“
Wollte J. H. mündlich vor einem größeren Publikum referieren,
so ging es gelegentlich schlecht. In Berlin mietete er einmal einen der
vornehmsten Säle und machte große Reklame für einen Vortragsabend
über den „durchsichtigen Menschen“; das Publikum merkte bald
gar zu deutlich, daß er selbst nicht wußte, was er sagen wollte, und stürmte
die Kasse, wobei er mehrere tausend Mark Schaden hatte.
Den Satz seiner Broschüren ließ er jahrelang beim Drucker stehen,
trotzdem gar kein Bedürfnis dafür vorhanden war; dabei wußte er nicht
einmal, daß er für die Miete des Satzes hohe Preise bezahlen mußte.
Schließlich wurden die geschäftlichen Verhältnisse 1903 dermaßen zer¬
rüttet, daß von allen Seiten Klagen einliefen. Er wurde zur Beobachtung
in unserer Klinik interniert, wo man einen deutlichen angeborenen Schwach¬
sinn, speziell für alle irgendwie höheren Begriffe feststellen konnte. Die
Stimmungslage war euphorisch mit leichter Reizbarkeit und Ablenkbarkeit
und recht deutlich hervortretender Ideenflucht.
Diese chronische manische Verstimmung ist erst von Herrn
Kollegen Hans W. Maier erkannt und in ihrer Bedeutung ins rechte
Licht gesetzt worden; sie war von jeher vorhanden und besteht auch
jetzt, da der Mann deutlich senil geworden ist, noch fort. Es ist selbst¬
verständlich, daß sie die Vielgeschäftigkeit und den Mangel an Hem-
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umgen gegenüber unvorsichtigem Denken wie gegenüber unüber-
•gtem Handeln erhöhte, wenn nicht ganz verursachte.
Im übrigen bedarf der Fall keines Kommentars.
111. Der Wohltäter. — Der Kaufmann C., geb. 1866, hatte in
Zürich eine Wohltätigkeitsanstalt großen Stiles, eine Bau- und Versorgungs-
mstalt zum „Vaterhaus“ gegründet, die folgende Abteilungen haben
tollte:
Abt. I. Ausbildung: Fachschulen und Lehrwerkstätten, Bau-,
Elektro- und Maschinentechnik, Chemie, Kunstgewerbe, Handelswissen -
schaft, Journalistik, Rechtspflege und Volkswirtschaft.
Abt. II. Bank-, Verkehr- und Versicherungswesen: Spar¬
und Dividendenkasse, Finanzierung und Verwertung von Erfindungen,
Bürgschaft, Heimstätten, Kranken- und Kautionsversicherung.
Abt. III. Bau- und Maschinentechnik: Baugewerbe, Eisen-
konstruktionen, Verkehrsmittel und Kriegsfahrzeuge jeder Art, Anlagen
und Maschinen für Heizung, Kühlung und Lüftung. Spezialität: rauchlose
Gasfeuerungen.
Abt. IV. Chemie: Brennstoffe, Conservierungs- und Schmiermittel,
Nahrungs- und Genußmittel, nicht-geistige Getränke. Spezialität: Alkohol¬
freie Biere.
Abt. V. Kunstgewerbe: Modellier- und Zeichenatelier für Re¬
klame, Verkehrswesen, kunstgewerbliche Werkstätten für Bekleidungs¬
wesen, Ausstattungs-, Dekorations- und Gebrauchsgegenstände für
Geschäfts- und Privatbedarf.
Abt. VI. Rechtsmittel: Rat und Rechtsschutz in allen Ge¬
schäfts- und Privatangelegenheiten unter Mitwirkung tüchtiger Rechts¬
gelehrter und Spezialsachverständiger.
Abt. VII. Versorgungs- und Heimstätten wesen : Beschaffung
und Gewährung von Heimstätten, Pension, Verpflegung und Ver¬
sorgung.
Für diese Unternehmungen, denen noch manche Details beizufügen
wären, hatte er sich eine kleine Wohnung gemietet und einen großen
Kellerraum, den er durch Drahtgitter und Verschlage in Abteilungen
für die verschiedenen Branchen geteilt hatte. Er versandte bereits Pro¬
spekte, suchte Guttempler für seine alkoholfreie Pension, nahm Aufträge
für seine Schneiderakademie entgegen, während von der ersteren gar
nichts, von der letzteren nur eine nicht abbezahlte Nähmaschine vorhanden
war. Für das Rechtsschutzbureau hatte er genaue Abonnementverträge
avisgearbeitet und einen stud. jur. engagiert. Für das Verkehrsbureau
hatte er einen Mann in Aussicht genommen, der zugleich eine Prospekt-
teitschrift mit Reklame und Feuilleton herausgeben sollte. Für letztere
suchte er schon im In- und Ausland Abonnenten.
Da er kein Geld hatte, kaufte er einiges Mobiliar, um es sofort zu
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Bleuler,
versetzen. Trotz seiner Hoffnung, nach Inbetriebsetzung seines Geschäftes
alles bezahlen zu können, wurde er wegen Betrugs eingesteckt und kam
zur Untersuchung ins Burghölzli (1903).
Sein Vater war Alkoholintolerant, nervös, dessen Vater und sein
Bruder geisteskrank, ebenso eine Schwester des Exploranden (alle drei
litten wahrscheinlich an Schizophrenie); zwei Geschwister sind nervös,
vier jung gestorben, neun sollen gesund sein.
Expl. selbst hatte leichte Klumpfüße, war in der Jugend nicht
sehr kräftig, in der Schule aber aufgeweckt. Er besuchte vier Jahre Latein¬
schule und nachher Realschule. Später studierte er viel für sich, ganze
Nächte lang. Bis zum achtzehnten Jahr litt er an Bettnässen und Nacht¬
wandeln. Er war immer alkoholintolerant und hatte einmal einen schweren
pathologischen Rausch mit Tobanfall.
Er sollte als Maschinenbauer ausgebildet werden, war aber zu schwach
dazu und ging in eine kaufmännische Lehre. Nachher war er in verschiedenen
Geschäften tätig, ging jeweilen fort, teils wegen verdienten Tadels, teils
wegen des Gefühls, daß er den Lohn nicht verdiene, oder auch mehrmals,
um eine bessere Stelle zu bekommen, oder um auf eigene Rechnung zu
arbeiten. Um einen illustrierten Katalog für ein Geschäft zu machen,
kaufte er sich einen Photographenapparat, konnte aber damit nichts
ausrichten. Mehrmals wurde er von Angestellten oder von Mitinhabern
von Geschäften betrogen. Nebenbei machte er Erfindungen: Bessere
Räder für Eisenbahnwagen, ein lenkbares Luftschiff und dgl.
Die Untersuchung ergab keine Zeichen der erwarteten Schizophrenie.
Außerdem ließen sich die Eigentümlichkeiten, die Expl. zeigte, alle in
seine Jugend zurückführen, wenn sie auch vielleicht infolge der fieber¬
haften Arbeit beim Zusammenbruch aller Hoffnungen und seiner ganzen
materiellen Existenz in letzter Zeit ausgesprochener waren.
Die Affektivität war in der Anstalt gedrückt, in deutlicher Weise
als Reaktion auf das Mißgeschick; er blieb aber voll Hoffnungen für die
Zukunft. Bei Besprechungen seines Lebens erwiesen sich die Affekte als
ganz mobil und durchaus adäquat. Gelegentlich war er beim Examen
ängstlich verdutzt, konnte aber nachträglich die richtigen Antworten
geben.
Er schreibt ganz gut, so weit nicht die Konfusion seiner Ideen den
Stil trübt. Überhaupt sind seine Schulkenntnisse gut. Dazu hat er
sich noch einen großen Wissenskram auf vielen Gebieten in den Natur¬
wissenschaften, in Jurisprudenz, in Philosophie und Sozialwissenschaft
erworben. Aber die Verknüpfung und Verarbeitung des Materials war
eine ganz unklare, konfuse. Das lenkbare Luftschiff baut er aus.
Aluminium, gibt ihm die Form einer auf der elliptischen Basis stehenden
Botanisierbüchse und will den Auftrieb allein dadurch bewirken, daß-
durch einen im Innern des Schiffes angeordneten Ventilator Luft von
oben angesaugt und nach unten ausgeworfen wird; durch ähnliche Venti-
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V erhälfnisblödsinn.
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latoren will er das Luftschiff vor- und rückwärts und seitwärts treiben,
ln der Verteilung des Gewichtes, der Anordnung des Ventilators, der
Steuerung, hat er viele ganz richtige und mechanisch mögliche Details
ausgedacht, aber die Hauptsache hat er ganz übersehen und versteht er
garnicht: die Berechnung des Luftquantums, welches angesaugt werden
müßte, der Kraft, welche die Maschine brauchte, und des Gewichtes
derselben, sowie der Kraftquelle. Hätte er eine Ahnung von diesen Dingen,
so würde er die Unmöglichkeit seiner Erfindung einsehen. Man
versucht vergeblich, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß alles andere
nur Nebensachen sind. Bei seinem Einradvelozipöde hat er in ähnlicher
Weise vergessen, die Schwerkraft zu berücksichtigen-, er meint, es könne
nicht Umfallen, wenn er durch Winkelstellungen den Sitz in ein stabiles
Verhältnis zum Drehpunkt bringt. Noch unsinniger ist seine Farben -
Photographie. Er hat in der Praxis gesehen, daß Metalle beim Härten
verschiedene Farben annehmen. Nun will er statt photographischer
Platten ganz dünne Metallamellen verwenden, so dünn, daß das Licht
durchgeht. Hinter der Lamelle soll ein Hohlspiegel das Licht wieder
sammeln und ein Bild auf die Rückseite desselben werfen. Die verschiedenen
Farben härten dann vermöge ihrer verschiedenen Wärme das Metall in
differenten Graden, und so entsteht ein farbiges Bild. Um die Sache
A sicherer zu gestalten, leitet er gleichzeitig den elektrischen Strom durch,
und um den Moment nicht zu verpassen, sieht er durch einen seitlichen
Schlitz in die Kamera. Wenn das Bild auf der Platte erscheint, läßt
er diese zum Fixieren in kaltes Wasser fallen. — Also wieder allerlei Detail-
kenntnisse, aber die blödsinnigste Kombination derselben und die Er¬
gänzung fehlender Punkte durch beliebige Suppositionen wie die, Metall
in ganz dünnen Schichten sei für Licht ungestört durchgängig. Mit den
anderen Erfindungen steht es nicht besser. Am allerunsinnigsten ist der
Vakuumakkumulator, welcher auf die Theorie des Naturphilosophen
Vogt in Leipzig basiert ist. Doch würde es zu weit führen, hierauf näher
einzutreten.
Ganz die gleiche Urteilsschwäche zeigt sich auch in seinem großen
Projekt, die allgemeine Bau- und Versorgungsanstalt zum „Vaterhaus“
zu gründen. Er ist selbst in den verschiedenen Branchen, welche sein
Institut umfassen soll, irgendwie, aber immer in untergeordneter Stellung,
tätig gewesen, doch hat er es nirgends zu etwas gebracht, wegen Mangels
an Kraft und Gesundheit, wegen des eigenen Gefühls der Unzulänglichkeit,
oder weil man ihn nicht brauchen konnte. Und nun will er auf einmal
nicht etwa nur in einer dieser Branchen, sondern in allen zugleich als
Unternehmer im großen Stil auftreten, er will Fachschulen und Lehr¬
werkstätten in diesen Gebieten einrichten, er will also in den Fächern
unterrichten, in denen er selbst gescheitert ist, er, der selbst nicht einmal
als Handlanger Arbeit gefunden hat, will großartige Arbeitsgelegenheit
schaffen, um der Kantschen Forderung zu entsprechen: „Handle so.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXIT. 4/5 39
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Bleulejr,
wie es im Interesse der Gesamtheit liegt“, er will alleinstehenden hilfs¬
bedürftigen Personen Heimstätten schaffen und alle möglichen Wohl¬
fahrtseinrichtungen gründen. Und das alles, ohne einen Rappen in der
Tasche zu haben. Bespricht man die Details mit ihm, so zeigt sich überall,
daß im ganzen brauchbare Vorstellungen auf ganz schwachsinnige Weise
ausgebaut und angepackt sind, und daß so schließlich dieses unsinnig¬
groteske Gebäude zu Stande kommt.
Er ließ sich nirgends überzeugen, daß seine Erfindungen nichts
wert wären, glaubte, daß wir uns täuschen. Wie er seine weitgehenden
Pläne ausdrücken kann, zeigen am besten die von ihm geschriebenen
„Betrachtungen“:
Motto: Scientia nostra fortuna est. —
Die Auslösung von Lauten ist eine Gegenleistung (Reaktion) der
von den Sinnesorganen (passive Nervenzentren) • durch wechselweise
Übertragung von Außenreizen hervorgerufenen Erregung des stufenmäßig
(graduell) entwickelten Denkvermögens (Intellekts).
Die Aneinanderreihung gewisser Laute als Unterscheidungsmerkmale
für verschiedene Begriffskeime ist die erste Kundgebung des Intellekts
und der Ausgangspunkt für alle Bewußtseins- und Empfindungsäuße¬
rungen.
Die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer Regelung der gegen¬
seitigen Beziehungen zwischen den einzelnen Familien- und Verwandten-
Gruppen zum Zwecke der Selbsterhaltung bildet die unmittelbare Ursache
für den Ausbau der Wortsprache und den natürlichen Markstein in dem
Werdegang des Menschengeschlechts. —
Solange nun die Tatsache als Gesetz gilt, daß jede gegebene intellek¬
tuelle oder motorische Arbeitsleistung einen entsprechenden Aufwand
an Energie erfordert, oder negativ ausgedrückt aus einem „Nichts“ auch
nichts entstehen kann, vielmehr jede Erscheinung eine ihr eigentümliche
Ursache haben muß, so können auch die seelischen Empfindungen (bzw.
Vorgänge) meiner Auffassung nach nichts anderes sein, als ein Produkt
der Ideen-Assoziation, sozusagen das geistige Destillat der Erregungs¬
zustände der produktiven Nervenzentren. — Oder mit anderen Worten:
Das Gemüts- und Seelenleben (physikalisch ausgedrückt: „Innere
(geistige) Empfindungsäußerungen“) ist ein wandelbares Spiegelbild des
geistigen Ichs, somit ein Gradmesser für die Bewertung des Individuums;
zugleich aber auch ein unumstößlicher Beweis für die stufenmäßige Ent¬
wickelungsfähigkeit des produktiven und spekulativen Intellekts. —
Die Reinheit und Tiefe der Empfindungen sind somit direkt ab¬
hängig von der mehr oder weniger zarten Beschaffenheit, der Empfind¬
lichkeit und dem Reaktionsvermögen der betreffenden Nervenzentren
und bilden die mechanische Vorbedingung für die Erlangung höherer
Begrifle in Gesittung, Vernunft und Wissen.
Der Mensch als Träger des höchsten Intellekts ist es sonach nicht
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nur sich selbst, sondern auch seinen Mitmenschen schuldig, durch Annahme
und Befolgung einer vernünftigen Lebensweise der gesunden Weiter¬
entwickelung seiner Kräfte den Weg zu ebnen.
Die durch einen solchen Läuterungsprozeß gewonnene bessere
Einsicht läßt auch sein Pflichtbewußtsein mehr und mehr erstarken und
macht ihn fähig zur geistigen Selbsterziehung.
Die Selbstbeherrschung endlich verleiht ihm die Macht, die von
seinen Vorfahren ererbten Mängel und Fehler, insbesondere die ihm noch
anhaftenden unwürdigen Eigenschaften eines rohen Zerstörers nach und
nach abzustreifen und an deren Stelle die höheren Aufgaben eines bildenden
Meisters und Schöpfers zu erfüllen. —
Der Mensch hat ferner die heilige Pflicht, sich an den herrlichen
Bildnissen und Schöpfungen erleuchteter Künstler und den Meisterwerken
der größten Denker und Dichter zu erbauen und zu erheben.
Nur die Aufnahme solcher Adelsspeise und die intellektuelle Ver¬
arbeitung derselben in geistiges Eigentum kann die Unsterblichkeit der
Leuchten auf den Gebieten der Kunst und Wissenschaften zur Wahrheit
machen, den Menschen veredeln und zur Vergeistigung seines Wesens
beitragen. —
Das Leben auszuleben, zur wahren Kunst erheben, das eigene Wesen
in allgemeines Gut und edle Tat umlegen, soll seines Geistes hehre Loosung
sein. —
Ein heiliger Ernst muß über den Menschen kommen, die Entwicke-
lungs- und Lebensbedingungen seiner Natur mit den ethischen Forderungen
eines aufstrebenden Geistes in Einklang zu bringen.
Kein Opfer darf ihm zu schwer erscheinen, eine Auslese des Besten
zu bringen für die organische Gesundung und die Erhöhung der Leistungs¬
fähigkeit des Menschengeschlechtes. —
Der Kampf ums Dasein und der Trieb der Selbsterhaltung erfordert
die Entfaltung der höchsten Energie, ein wetteiferndes Zusammenwirken
von Theorie und Praxis für die beste Art
der Ernährung und Erziehung von Geist und Leib, für eine geordnete
Erwerbs- und Wirtschaftsweise,
eine vernünftige
Fortpflanzung,
eine ausgleichende
Gerechtigkeit,
für die Regelung der
Gesundheitspflege, (Hygiene für Individuum und Rasse) die Verallge¬
meinerung und Veredelung der Künste und Wissenschaften,
eine durchgreifende Verästelung und Verzweigung der Adern, Kanäle und
Straßen des Verkehrs,
den Ausbau, die Vermehrung und Vervollkommnung der Verkehrsmittel
und Wege
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zu allgemeinem Austausch geistiger und materieller Güter.
Die friedliche Ausbreitung der sozialen Einflußsphären durch Sprache,
Kunst und Wissen..—
Die grundsätzliche Anerkennung des Anspruches der Mitmenschen
auf
soziale Existenz,
die Freiheit der Gesinnung und Sprache
die Fürsorge für Körper und Geist,
als eine Forderung der Gerechtigkeit und Menschlichkeit. —
Das Bewußtsein der Verantwortlichkeit für die Daseinsbedingungen
seiner Mitmenschen wird ihn drängen, das erhaltene Ziel als Ideal seines
Wesens zu erfassen und ihm die Kraft geben, seine herrliche Aufgabe in
edlem Wettstreite zu erfüllen. —
Das Gefühl der Pflichterfüllung kann ihm allein nur den Muth
verleihen, den Blick zu erheben zu jenen lichten Höhen, der Heimat der
Wahrheit, Kunst und Liebe und einzutreten in das Königliche Palladium
einer unsterblichen Geisteswürde. —
Wie bedeutungsvoll und erhebend ist doch der letzte Wunsch des
Dichterfürsten Göthe, welcher sterbend die Worte haucht:
„Mehr Licht!“
Es ist der mahnende Ruf eines Schöpfers durch die Welt:
„Mache Dich auf, und wandle den Pfad der Erkenntnis, denn die
Mitternacht ist vorüber und das Morgenrot bricht an!“
Zeichen von Pseudologie fehlen.
Da C. durchaus bona fide in der bestimmten Erwartung, seine Schul¬
den bezahlen zu können, gehandelt hatte, mußte er für nicht zurechnungs¬
fähig erklärt werden.
Wir haben auch hier einen unbändigen Trieb zum Wissen und
Schaffen vor uns, dem aber das Können nicht entspricht. Wäre C.
als Angestellter in den Geschäften geblieben, so hätte er es zu etwas
bringen können; Fehler, wie er sie hier gemacht hat, begegnen jedem.
Aber statt bei seiner vollen Einsicht in die Mängel seiner Leistungen
zu schließen, daß er die Anforderungen herabsetzen sollte, stellte
er sie höher und wollte nicht nur sich selbst reich machen, , sondern
ein Wohltäter der Menschheit werden wie Werner in Reutlingen oder
Barnardo in England, die auch mit nichts angefangen hatten. In
einem fieberhaften Plänemachen vergaß er für seine Existenz zu
sorgen und mit der Wirklichkeit zu rechnen, so daß er in Erfindungen
und Unternehmungen lauter Unausführbares machte. So mußte er
scheitern. Von einer eigentlichen manischen Stimmung ist bei ihm
nichts zu sehen, aber immerhin war ein übertriebenes Selbstvertrauen,
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V erhältni sblödsinn.
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;in ganz getrostes Blicken in die Zukunft durch die leichte, der Situation
ingemessene Depression hindurch deutlich zu sehen. Neben der
Unklarheit der komplizierten Ideen wurde ihm bei einer genügenden
Anlage für mittelmäßige Anforderungen sein Trieb, besonderes zu
leisten, zum Verhängnis. Diesen Anforderungen war er in keiner
Weise gewachsen, ohne es einzusehen.
Allen drei Patienten gereicht nicht die Anomalie der Intelligenz
zum Verderben. Diese hätte ihnen unter Umständen noch ein sehr
gutes Fortkommen gestattet. Auch ihr rastloses Triebleben ist an
sich kein Fehler; Leute, die vorwärtskommen, besitzen meist eine
solche Affektivität. Ihr Unglück war, daß ihr maßloser Tätigkeits¬
trieb dem Verstand Aufgaben gab, sie in Situationen riß, denen dieser
nicht mehr gewachsen war, kurz, das Verhältnis von Verstand
zu Strebung. Die letztere ist einerseits sehr stark, anderseits auf
komplizierte Ziele gerichtet, die Intelligenz kann aber nur einfachere
Verhältnisse bewältigen.
Der Wohltäter hätte ein sehr brauchbarer Geschäftsmann an
einer Vertrauensstelle mit nicht zu großen Aufgaben sein können.
Der Dichter war zweimal nahe daran, ein reicher Mann zu werden.
Der Naturheiler war es eine zeitlang und galt vielen als ein „geriebener
Geschäftsmann“. Es besteht also nur ein kleiner quantitativer Unter¬
schied zwischen unseren Kranken und glücklicheren Emporkömmlingen,
die ja gewöhnlich auch nicht geradlinig vorwärtskommen, sondern
ihr Vermögen aus einer günstigen Differenz von geglückten und ver¬
fehlten Unternehmungen bilden, und von denen manche nicht nur
wegen weiter Moral den Eindruck von Glücksrittern und Abenteurern
machen.
Die Art der Intelligenz ist bei unseren und den meisten der
ähnlichen Fälle eine eigentümliche; sie weicht so gewöhnlich in einer
ganz bestimmten Richtung ab, daß wir nicht mehr an Zufall denken
können. Es handelt sich meist um Leute, bei denen die Beschränkung
der Assoziationen, die sonst bei den angeborenen Schwachsinnsformen
das hervorragende Symptom ist, zurücktritt vor der Unklarheit
der Ideen. Sie erscheinen dem oberflächlichen Beobachter als
s sehr vielseitige Denker, dem genauer Zusehenden als Konfusionäre.
Der Naturheiler leitete alles Geschehen aus dem Prinzip der Gegen¬
sätzlichkeit ab. Dabei konfundierte er Druck mit Reiz, Bewegung
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Bleuler,
mit Leben, physische Kraft mit Kraft der Gesundheit, die Verschieden¬
heit von rot und weiß mit der Verschiedenheit von Gegensätzen,
und tausend andere Dinge. Der Wohltäter schrieb sehr ähnliches; beim
Dichter war die Anomalie weniger handgreiflich, aber qualitativ
gleichartig.
Für diese Einförmigkeit und für die Art selbst des Bildes möchte
ich zwei Gründe anführen, aber meine Erklärungen ausdrück¬
lich als vorläufig aufgefaßt wissen. Denn um die Ver¬
hältnisblödsinnigen in allen ihren Zusammenhängen zu
verstehen, bedürfen wir der Kenntnis noch neuer Fälle
und eines viel tieferen Eingehens in die Symptomatologie
des Einzelnen, als es mir bis jetzt möglich gewesen ist.
Die zwei Momente, die ich zum Verständnis der Symptomgruppe
anführen kann, sind ein intellektuelles und ein affektives. Einerseits
befördert ein gewisser Grad von Assoziationsenge die Unklarheit
und das Theoretisieren, andersteils ist mit lebhafter Affektivität
auch ein leichterer Wechsel der Assoziationen verbunden.
I. Das Grundsymptom der angeborenen intellektuellen Schwach¬
sinnsformen ist die Beschränkung der Assoziationen. Zur Bildung
einer Idee können nicht so viele Elemente herbeigezogen werden wie
normal. Das hat u. a. die Folge, daß in den Fällen gewöhnlichen
Grades weniger stark und weniger richtig abstrahiert wird als bei
Gesunden. Die Imbezillen entfernen sich im Denken wenig von der
Sinnlichkeit und von der Einfachheit.
„Der Staat, das sind die Kantonsräte“; „Tugend ist, wenn man
keinen Zucker stiehlt und die Spielsachen wieder versorgt und den
Hansli nicht haut“. Der Himmel ist für solche Leute ein zweites
Stockwerk mit einem Boden über der Erde. Die imbezillen Begriffe
sind unvollständig, aber nicht unklar gedacht. Sie sind oft in gewisser
Beziehung klarer als die der Gesunden, weil die sinnliche Komponente
meist den wichtigsten Bestandteil bildet; auch abstrakte Begriffe
der Imbezillen entfernen sich verhältnismäßig wenig von der Sinn¬
lichkeit; sie bleiben mehr oder weniger anschaulich. Schon deshalb
können sie nicht eigentlich unklar werden. Aber auch ihrer Einfachheit
wegen. Der Begriff „Strafe“ umfaßt beim Imbezillen wenige Arten
von Strafe (Prügel, Einsperren, Hungern): ein solcher Begriff kann
nicht so leicht unklar werden, wie etwa der der Strafe in der Kriminal-
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Verhältnisblödsinn.
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»hilosophie, der eine Anzahl von schwer zu übersehenden Beziehungen
imfaßt. Die imbezillen Begriffe sind ferner stereotyp, wenig variabel;
unter „Strafe“ versteht der Imbezille immer ungefähr das nämliche.
Er wird den Begriff also nicht das eine Mal in diesem Sinne, das andere
Mal in einem anderen verwenden.
Eine etwas geringere Assoziationsbeschränkung hat von einer
gewissen Höhe des Denkens an gerade die umgekehrte Wirkung.
Die Abstraktionen können dann weiter gehen; sie entfernen sich mehr
von der Sinnlichkeit; Strafe ist nicht mehr bloß eine Reihe von zu¬
gefügten Übeln, sondern eine Rache, eine Wiederherstellung der
Ordnung usw. „Druck“ ist nicht mehr bloß das, was man spürt,
wenn man gedrückt wird, sondern ev. auch eine Bedrückung, eine
Unterdrückung. „Energie“, „Naturgesetz“ sind Begriffe, die solchen
Leuten zugänglich werden. Aber sie sind zu kompliziert, als daß
sie sie ganz verstehen könnten. Da ist die Gefahr, daß abstrakte
Begriffe direkt unrichtig gebildet werden, sehr groß. Außerdem muß
vielen Begriffen die nötige Schärfe fehlen. Den Abstraktionen liegen
unter Umständen unverstandene und jedenfalls zu wenig verstandene
Erfahrungen zu Grunde. Schon dadurch werden sie selbstverständlich
unklar. Dann aber äußert sich die Beschränkung des Assoziations-
umfang8 doch häufig darin, daß nicht alle die Partialvorstellungen,
die der Bildung des Begriffes zu Grunde liegen, bei jeder Vorstellung
desselben mitklingen. Das hat zwei Folgen. Zunächst werden häufig
gerade die s innli chen Komponenten fallen gelassen, wodurch natürlich
der Begriff an Klarheit und fester Grundlage verliert und das ganz
besonders bei einem defekten Menschen, dessen Denken in Wirklichkeit
mehr als das des Normalen an die Sinnlichkeit gebunden wäre. Wer
unter der Vorstellung „Mensch“ nicht mehr die sinnliche Gestalt
desselben im Vordergrund hat, sondern vielleicht irgendwelche Be¬
ziehung der Menschen unter sich, oder weniger greifbare Eigenschaften,
wie ihre Sterblichkeit oder ihre Neigung zur Sünde, wird nicht einmal
einen solch einfachen Begriff klar denken. Aber auch wenn andere
Komponenten als die sinnlichen fehlen, ist das eine sehr wichtige
Störung. Um „Leben“ scharf von „Bewegung“ zu unterscheiden,
muß man sich aller Beziehungen mehr oder weniger deutlich bewußt
sein, die das Leben von der Bewegung auszeichnen, und das ist nur
möglich, wenn die Partialvorstellungen beider Begriffe beständig
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Bleuler.
mitklmgen. Außerdem werden bei unsem Patienten je nach der intellek -
tuellen oder affektiven Konstellation bald die einen, bald die andern
Komponenten zugezogen oder ausgeschlossen. Dadurch bekommt der
Begriff etwas variables; der Kranke braucht ihn in der verschiedensten
Bedeutung, ohne es zu merken; er bekommt wechselnde Grenzen,
wird also unklar, und mit ihm das Denken, das mit ihm operieren soll;
es entstehen die krassen Erschleichungen, wie sie unser Naturheiler aus-
führt. Alles, was solche Leute zu beweisen wünschen, kann ihnen
sofort evident sein, weil die Begriffe nach dem Bedürfnisse modifiziert
werden, dann aber auch, weil das Widersprechende überhaupt nicht
in den engen Vorstellungskreis eingeht.
Was hier von den Begriffen gesagt ist, gilt ebenso von den ganzen
Ideen. -
Die Voraussetzung, ein Individuum vermöge die von ihm selbst
gebildeten Begriffe und Ideen weniger zu übersehen, wenn es die
Fähigkeit hat, kompliziertere zu bilden, mag auffallen. Die Mög¬
lichkeit, kompliziertere Begriffe zu erfassen oder zu schaffen, und
der übersehende Verstand sind ja beide eine Funktion der Assozia¬
tionsweite und sollten also mit dieser parallel steigen. Wenn alle
Komponenten eines Begriffs gleichwertig wären, so müßten wir in
der Tat erwarten, daß man ungefähr so viele Begriffe erfassen kann,
wie man zu bilden vermag. Nun bedingt aber die Beschränkung der
Assoziationen beim Imbezillen zugleich eine Auswahl der Einzel-
bestandteile.eines Begriffes; die wenigen Komponenten eines imbezillen
Begriffs sind regelmäßig die einfachsten und zunächstliegenden (vgl.
oben das über den Begriff der „Strafe“ Gesagte). Wenn der Begriff
weiter ausgebildet wird, so addieren sich ihm die schwieriger faßbaren
Komponenten; das Verständnis für die komplizierteren Begriffe
kann deshalb mit der Fähigkeit, sie zu komplizieren, nicht Schritt
halten, was sich ja auch bei den Gesunden nachweisen läßt, deren
komplizierteste Begriffe oft — oder vielleicht immer — an Unsicherheit
denen der Erkenntnisblödsinnigen nahe kommen.
Alle diese Anomalien haben eine wichtige weitere Folge. Je mehr
rim Begriffe die feste Wurzel der Sinnlichkeit fehlt, je unscharfer die
Grenzen der Ideen sind, um so leichter, wenn auch nicht um so richtiger,
läßt sich mit ihnen operieren. Der Anlaß und die Versuchung, sich
immer w r eiter von der Sinnlichkeit abzulösen und Theorien zu bilden,
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Verhältnisblödsinn.
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cird also hier eine sehr große. Viel mehr als beim Normalen einerseits
ind beim tiefer stehenden Imbezillen andererseits können bei diesen
reuten die Bezeichnungen, die Worte, den Hauptbestandteil des
Begriffes bilden, und mit diesen läßt sich trefflich streiten.
Es ist deshalb nicht ein Zufall, daß alle diese Leute, die uns unter
A ugen kommen, in Bezug auf die Entfernung ihres Denkens von
der Sinnlichkeit im Gegensatz zu den andern Imbezillen zu stehen
scheinen, und daß sie alle in hervorragendem Maße die Neigung haben
Theorien zu bilden, Theorien anderer in sich aufzunehmen und nach
Theorien zu handeln, ohne sich um deren Anwendbarkeit für den
gegebenen Fall oder überhaupt zu kümmern. Während also die ge¬
wöhnlich beachteten höheren Grade von Imbezillität aus lauter Mangel
an Assoziationen nicht fähig sind, Vorstellungen zu bilden oder gar
zu benutzen, die sich viele Schritte von der Wahrnehmung entfernen,
sehen wir, daß ein geringerer Grad der nämlichen Störung in dieser
Beziehung das Gegenteil bewirkt, während der Normale eine be¬
herrschende ä-cheval-Stellung einnimmt, indem er sich zwar auch
von der Sinnlichkeit entfernen kann, aber ohne sie dabei aus dem
Auge zu verlieren. Wir finden somit bei den zu wenig mit der Wirk¬
lichkeit Rechnenden, unklar Denkenden leicht Neigung zur Be¬
schäftigung mit Gedankengängen, die von der Wirklichkeit wenig
beeinflußt werden, sie sind Ideen- (nicht Interessen-) Politiker, Natur-
heiler, Theosophen, Religionsmodifikanten, und sie haben dann auch
die Tendenz, sich mit Philosophie oder ausschließlich den höchsten
Problemen abzugeben. (Dabei ist es gleichgültig, ob die Abwendung
von der Wirklichkeit eine angeborene Eigentümlichkeit oder Symptom
einer erworbenen Schizophrenie ist.)
Diese Möglichkeit der Ablösung von der Sinnlichkeit bedingt
noch einen anderen, praktisch sehr wichtigen Gegensatz zum gewöhn¬
lichen Blödsinn: die Kranken scheinen in der Schule lernfähig, ja
sie gelten nicht ganz selten als gute Schüler, weil sie ohne das Gefühl
ungenügenden Verständnisses, das den schärfer Denkenden leicht
lähmt und verwirrt, in jedem beliebigen Zusammenhang alles wieder
reproduzieren können, was ihnen vorgesagt worden ist. Daß eine
solche Verkennung der geistigen Schwäche oft möglich ist, ist aller¬
dings ein schlechtes Zeugnis für unsere Pädagogik, aber wenn diese erst
einmal ernstlich darauf aufmerksam gemacht würde, so könnte ihr
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das doch auch den Anstoß geben, die Intelligenz und die Unterrichts¬
methoden etwas anders zu beurteilen und letztere zu verbessern.
Allerdings ist zu konstatieren, daß auch praktische Examinatoren
6ich etwa von solchen Leuten täuschen lassen; ja ich möchte nicht
behaupten, daß es ganz unmöglich sei, daß einmal ein nicht allzuhoch¬
gradiger Verhältnisblödsinniger nicht nur die Maturität und die fach¬
lichen Vorprüfungen, sondern auch das medizinische Staatsexamen
• passieren könnte; denn auch dann, wenn man den Defekt erkennt,
hat man ja keine Handhaben, diese Leute durchfallen zu lassen, wenn
sie über ein gewisses Gedächtniswissen verfügen, und ihre Uneinsichtig-
keit in die eigene Schwäche gibt ihnen oft eine besondere Sicherheit
und hilft ihnen auch über praktische Schwierigkeiten hinweg, die den
die Dinge besser Übersehenden verblüffen möchten. Ich kenne einen
solchen Jüngling ziemlich genau, der, ganz abgesehen von medizi¬
nischen Dingen, nicht fähig war, den Gebrauch des Telephons richtig
zu erfassen, nun aber Abhandlungen über die kompliziertesten Streit¬
fragen der Psychiatrie schreibt und mir gegenüber schon mehrfach
als Autorität ins Feld geführt worden ist. Ich kenne auch aus der
Beschreibung eines Kollegen einen anderen, der es — an einer andern
Fakultät — bis zum Privatdozenten gebracht hatte, allerdings dann
abwirtschaftete.
Zur Entschuldigung solcher Vorkommnisse muß angeführt
werden, daß viele — oder alle? — dieser Leute ein gewisses Sprach¬
talent haben oder doch eine auffallende Leichtigkeit, von anderer
Seite Gehörtes wiederzugeben in einer Form, die die Verständnis¬
losigkeit leicht verdeckt, ja sie können überhaupt gut schwatzen und
auch schreiben und damit viele Leute bestechen. Wie das zusammen¬
hängt, möchte ich nicht sicher sagen. Möglich ist viererlei: die Un¬
abhängigkeit von scharfen Begriffen erlaubt es ihnen leichter Worte
zu finden als dem Gesunden, der das Bedürfnis hat zu präzisieren;
und wie die Enge des Gedankeninhaltes eine übertriebene Loslösung
von der Sinnlichkeit ermöglicht, so kann sie auch eine Loslösung des
Wortes von den Begriffen erleichtern, wodurch das Spiel mit Worten,
die die Gedanken ersetzen, begünstigt wird.
Zweitens wird der Umstand mitwirken, daß die Leute von Jugend
auf gewohnt sind, mehr an Worten zu hängen, weil sie kompliziertere
Begriffe als solche nicht erfaßt haben. Das Wort stellt sich nicht
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Ar nachträglich ein statt des Begriffes, sondern es ersetzt diesen
ft von Anfang an in ihrem Denken.
Drittens werden diese Formen der Imbezillität sonst schon eine
leigung zur Korrelation mit sprachlicher Leichtigkeit haben; dafür
pricVit die Erfahrung, daß beides so oft zusammen aufffillt, und dann
iie gleich noch eingehender zu berücksichtigende Lebhaftigkeit ihrer
psychischen Vorgänge, die sich sowohl im Denken wie in der Affektivi¬
tät äußert und einerseits Volubilität des Denkens und anderseits die
Stärke des Trieblebens und die Höhe seiner Ziele bedingt.
Wichtiger ist vielleicht der vierte Umstand, daß die höheren
Imbezillen mit sprachlicher Gewandtheit bei oberflächlichem Verkehr
am leichtesten blenden und am ehesten nicht nur den Defekt ver¬
decken, sondern geradezu eine besonderelntelligenz Vortäuschen können.
Um so stärker fällt dem genaueren Beobachter bei ihnen der Wider¬
spruch zwischen Schein und Sein auf, und sie sind es auch, die sich
am ehesten in Konflikte hineinarbeiten und dann zur psychiatrischen
Beurteilung kommen. Ein bloß zufälliges Zusammenkommen der
Redegewandtheit mit den anderen Eigenschaften des Verhältnis-
blödsmns ist also nicht auszuschließen, trotzdem die Fälle, die zur
Beobachtung kommen, regelmäßig auch diese Symptome aufweiseu.
Die angeführten Möglichkeiten schließen einander nicht aus,
und es ist mir geradezu wahrscheinlich, daß namentlich das erste
und das vierte Moment in praxi oft Zusammenwirken, indem ein
bestimmter Grad des Blödsinns die Sprachfertigkeit begünstigt,
und die erhöhte Sprachfähigkeit den Anlaß zur Untersuchung her¬
beiführt.
Die Gewandtheit der Rede und des Benehmens ist es, was unseren
Kranken den Namen der höheren Blödsinnigen eintrug. Wir haben
gesehen, daß allerdings Anhaltpunkte da sind, einen genetischen
Zusammenhang dieser Eigenschaften mit der Art des Blödsmns
anzunehmen, wenn auch ein zufälliges Zusammen-Vorkommen möglich
ist. Äußere Gewandtheit gepaart mit hochgradiger innerer Hohlheit
macht den „höheren Blödsinn“ aus. Außer dem schon Gesagten ist
hervorzuheben, daß alle diese Leute ihr Wissen besonders gut zur
Verfügung haben. Nicht nur mit den Worten, sondern auch mit ihren
Begriffen entwickeln sie eine gewisse dialektische Fertigkeit und
können damit manchen täuschen. Ihre Redegewandtheit ist
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in gewissen Beziehungen nur eine Teilerscheinung der
Gewandtheit des Benehmens überhaupt. So gering die An¬
passungsfähigkeit der höheren Blödsinnigen und damit der Großzahl
der Verhältnisblödsinnigen ans Leben, an die tieferen Zusammenhänge
ist, so leicht passen sie sich äußerlich jeder Situation an. Sie haben
die Fähigkeit, sich die in jedem Kreise nötigen Umgangformen mühelos
anzueignen und jede Situation in ihren Äußerlichkeiten sofort zu
verstehen und entsprechend darauf zu reagieren. Wo man keine Tiefe
verlangt, gilt das als Gewandtheit („Salonblödsinn“).
Nun darf man sich nicht vorstellen, daß alle diese Leute so leicht
als gute Schüler verkannt werden. Im Gegenteil; was ich oben an¬
geführt habe, betrifft nur eine Minorität, diejenigen, die nicht den
Trieb haben, selbständig zu denken, also ungefähr die nämliche Klasse,
die auch sonst von manchen Pädagogen gerne als Musterschüler hin-
gestellt wird. Sobald sie noch ein klein wenig gescheidter oder im
Denken aktiver sind, fallen sie durch die Menge und die Unklarheit
ihrer Ideen leicht unangenehm auf, was teils zur Erkennung ihres
Defektes, teils sonst zu einer negativen Beurteilung führt. Immerhin
gibt es unter ihnen Leute, die auf den verschiedensten Gebieten Leit¬
hammel sein können, wie unser Naturheiler.
Auch von diesem Gesichtspunkt aus tritt die Relativität dieser
Arten Blödsinns deutlich ins Licht. Wie wenig eigene Gedanken-
kombinationen ein höherstehender Imbeziller produzieren, wie unklare
Ideen er haben mag, er fällt in der Schule nicht auf, wenn er sich
begnügt, das wiederzugeben, was ihm der Lehrer vorgesagt hat, und
sein Defekt wird sich auch im Leben nicht bemerkbar machen, wenn
er seine Gedanken für sich behält und sich in seiner Tätigkeit auf das
bescheidet, was er versteht.
II. Der mehr affektive Grund für die Unklarheit des Verhältnis-
blödsinnigen liegt im folgenden: Wir haben gesehen, daß die Begriffe
nicht nur unvollständig gedacht werden, sondern daß bald die eine,
bald die andere Komponentengruppe derselben ausfallen kann. Bei
vielen Leuten macht das nicht so viel aus, weil trotz dieser Möglichkeit
die Begriffe meistens in ähnlicher Weise gebraucht werden. Bei unseren
Kranken aber sind diese Veränderungen durch Komponentenwechsel
häufiger, die Beweglichkeit der Begriffe ist viel größer. Im nämlichen
Satz können diese in ganz verschiedenem Sinne gebraucht werden.
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Verhältnisbiödsinn.
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Wir sehen nun eine große Beweglichkeit des Gedanken¬
gangs, der Assoziationen überhaupt, auch häufig ver¬
bunden mit lebhaften Affekten und Trieben, mit sangu¬
inischem Temperament, mit manischen Zuständen. Die
beiden Dinge müssen also irgendwie im Zusammenhang mit einander
stehen, Ausdruck der nämlichen Disposition sein. In einer Beziehung
können wir uns diese gemeinsame Disposition vorstellen: lebhafte
sanguinische Affektivität ist nur denkbar bei einer gewissen Mobilität
der Gehirnprozesse überhaupt, die auch die Mobilität der intellektuellen
Vorgänge mit sich bringt. Neigung zum Perseverieren der aktuellen
Funktionen ist in manchen Beziehungen der unvereinbare Gegensatz
zur Lebhaftigkeit. Je schneller wir ferner ceteris paribus denken,
um so weniger denken wir aus, um so eher begehen wir Fehler in dem
Sinne der Unklarheit, in dem wir nicht alle Komponenten einer Idee
berücksichtigen, und indem wir je nach dem Zusammenhänge bald
die eine, bald die andere herbeiziehen, also die Ideen einesteils unvoll¬
ständig, andersteils verschieden fassen.
Die Schärfe des Denkens, für sich genommen, muß also bei einem
lebhaften Temperament eine stärkere sein als bei einem phlegmatischen,
wenn sie ebenso klare Einzelideen schaffen soll; je lebhafter die Triebe
sind, um so leichter treten auch im Denken Konfusionen auf, nicht
nur, weil diese das Denken direkt beeinflussen, sondern auch deswegen,
weil die nämliche Disposition, die die Gefühle labil und lebhaft macht,
auch die Begriffe labiler werden läßt.
Diese Überlegungen sind ganz besonders für die Verhältnis-
blödsinnigen zutreffend, die ja der Natur der Sache nach Leute mit
lebhaften Trieben, mit lebhaftem Temperament sein müssen.
Das erethische Temperament mit seiner Mobilität der Ideen-
Verbindung hat noch eine andere hier in Betracht fallende Seite. Die
Eigenschaft der Psyche, welche die Begriffe in ihren Komponenten
variabler gestaltet, und diejenige, die den Ideengang von den ge¬
wohnten Assoziationen häufig und stark abweichen läßt, ist offenbar
die nämliche: Eine geringere Festigkeit der dauernden Assoziationen
und dafür eine größere Leichtigkeit, neue Assoziationen zu bilden.
Dadurch wird die Neigung, sich im Gedankengang nicht nur von dem
Sinnlichen, sondern auch von dem Hergebrachten, von der Erfahrung
zu entfernen, weiter verstärkt. Diese Leute sind Erfinder und Schrift-
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566
Bleuler,
steiler oder suchen sonst auf irgend welchem Gebiete neue Bahnen.
Sie haben inbezug auf Trieb und Beweglichkeit der Ideen eine Ähn¬
lichkeit mit dem Genie, von dem sie sich durch ihren Schwachsinn,
d. h. ihre Beschränkung der Assoziationenzahl, unterscheiden 1 ).
Die Beweglichkeit der Assoziationen ist auch dann, wenn sie zur
Unschärfe der komplizierteren Begriffe führt, sehr oft ein Vorteil. Auf
Gebieten, wo die Begriffe erst zu schaffen sind, wo man also mit vor¬
läufigen Begriffen arbeiten muß, die durch jede neue Erfahrung verändert
werden mögen, muß derjenige, der nur mit fixierten Ideen arbeiten will,
am Anfang stecken bleiben, während der Mobilere die Fähigkeit hat,
wissentlich oder auch ohne es zu bemerken, bei jedem Schritte neues
in seine Ideen aufzunehmen und altes wieder fahren zu lassen. Es gibt
erstklassige Leistungen, die auf andere Weise nicht zustande gebracht
werden könnten.
Die Kombination von beweglichen Grenzen der Ideen und Begriffe
mit einer lebhaften Affektivität wird um so bedeutungsvoller, als die Affekte
ja überhaupt die Tendenz haben, die ersteren nach ihrer Richtung zu
modifizieren. So wird bei unseren Patienten der Einfluß der Affektivität
auf die jeweiligen Umgrenzungen der Ideen in doppelter Weise verstärkt,
einmal durch die Lebhaftigkeit der Gefühle und dann durch die geringe
Widerstandfähigkeit der assoziativen Bindungen.
Bei Epileptikern haben wir lebhafte Triebe, die aber nicht mobil
sind, sondern im Gegenteil eine abnorme Tendenz zu Perseveration haben,
und auf dem intellektuellen Gebiet ebenso ein langsames, wenig mobiles
Denken. Dieser Zustand muß sich prinzipiell sehr stark von den beschriebe¬
nen angeborenen Schwachsinnsformen unterscheiden, aber ich kann es
noch nicht wagen, die Unterschiede genau zu zeichnen.
Ich besitze keine genauere Beobachtung von Verhältnisblöd¬
sinn ohne unklares Denken. Ein Buch, das mir nach einem
einschlägigen Vortrag in die Hände gespielt wurde 2 ), stammt aber
vielleicht von einem Verfasser mit dieser Anlage. Vielleicht hat ein
Kollege Gelegenheit, dessen Schriften genauer zu studieren.
x ) Es wird wohl auch Erfinder mit phlegmatischem Temperament
geben; ob auch diese vielseitig sein können, oder ob sie nur in einer einmal
eingeschlagenen Richtung mit der Zähigkeit ihres Charakters arbeiten,
weiß ich nicht.
*) Carl Buttenstedt, Die Glücks-Ehe (die Offenbarung im Weibe).
Als Manuskript gedruckt. Im Selbstverläge des Verf. Friedrichshagen-
Berlin.
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V erhältnisblödsinn.
567
IV. Der Sexologe. — Biatenstedt geht in der genannten Broschüre
i dem gewiß für manchen unanfechtbaren Satz aus, daß ein allgütiger
tt nicht den Kampf ums Dasein mit seinen Greueln gewollt haben könne,
•ner konstatiert er, daß die Natur die erstrebenswerten Erlebnisse mit
st, die schädlichen mit Schmerz betonen läßt. Auch das ist im großen
d ganzen richtig. Aber daraus folgert Buttenstedt: Wenn wir den von
tt gewollten Zweck unseres Lebens erreichen wollen, haben wir das
tun, was uns gelüstet. Die Anstrengung für den Erwerb der Nahrung
uns unangenehm; die natürliche und allen angepaßte Nahrung ist also
e, die am wenigsten Mühe macht, die Nüsse. Der Koitus ist angenehm,
eburt und Sorge für Kinder aber unangenehm. Daraus folgt, daß man
im Naturzweck entspricht, wenn man Maßnahmen findet, den Koitus
1 vollziehen ohne Kinder zu erzeugen und diese meint Verf. in origineller
/eise gefunden zu haben. Damit und durch unsere Furcht vor dem Tode
>t auch bewiesen, daß wir unsterblich sein sollten, und daß wir es werden
-önnten, wenn wir richtig leben würden. . . .
Hier kann ich nicht sagen, daß die Begriffe unklar seien. Auch
lie Schlüsse sind gar nicht unrichtiger als tausend andere in berühmten
Weltanschauungen gezogenen, und doch muten sie uns so kindisch
und blödsinnig an. Der Mann übersieht, wie alle solche Leute, eine
Menge anderer Möglichkeiten. Aber er ist in seiner Logik konsequent,
und das ist sein großer Fehler. Er ist es nämlich auch da, wo sie an
den Tatsachen prüfbar wäre, und unterläßt die Prüfung oder begnügt
sich mit scheinbaren Übereinstimmungen der Wirklichkeit mit seinen
Theorien.
Als einen gewöhnlichen Debilen kann man ihn auch nicht wohl
auffassen, nicht weil er schriftstellert und zwar erst noch in einem
klaren, richtigen Stil, sondern weil er eine Menge komplizierter Dinge
gelesen und bis zu einem gewissen Grade verstanden hat und nun
auch dialektisch verwerten kann. Was er ist, weiß ich leider nicht,
weil ich nichts von ihm kenne, als das genannte Buch. Er kann nach
dem ein Schizophrene sein so gut wie ein höherer Blödsinniger. Einen
Verhältnisblödsinn zu diagnostizieren, bloß weil der Autor Probleme,
die andere auch lösen wollen, konsequenter löst als der gewöhnliche
Haufe, wage ich noch nicht.
Die Loslösung von der Wirklichkeit, verbunden mit lebhafter
geistiger Beweglichkeit und starken Affektwirkungen, welche die Ge¬
danken in der Richtung der Wünsche lenken, ist zugleich, eine Be¬
dingung für das Zustandekommen der Pseudologia phantastica,
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568
Bleuler,
die nicht zu selten mit dem Verhältnisblödsinn verbunden ist. Daß
wir bei unserem Dichter einige Anklänge an diesen Symptomenkomplex
finden, ist vielleicht nicht ohne inneren Grund, da Dichtung und
Pseudologie gewisse psychische Ähnlichkeiten haben. Ich habe auch
einen verhältnisblödsinnigen Pseudologen gekannt, der unter Um¬
ständen mit der Wirklichkeit zu rechnen wußte, denn er hat sich, wenn
er nicht im Zuchthaus saß, meist in den höchsten gesellschaftlichen
Kreisen der verschiedenen Länder Europas bewegt; er besaß aber
auch philosophisches Talent, denn wenn ich nicht inhibiert hätte,
wäre wahrscheinlich ein voluminöser Summs von ihm, der die Philoso¬
phie Jakob Boehmes fortsetzte, von einer entsprechend gearteten
Gesellschaft zum Druck angenommen worden. — Fall V in Delbrücks
„pathologischer Lüge“ 1 ), den ich genau kenne, gehört auch hieher.
Die Moral der Verhältnisblödsinnigen ist eine nahezu so ver¬
schiedene wie die der gesunden Menschen. Wir sehen bei unserem
Wohltäter, daß er nicht nur seine ganze Existenz für andere opferte,
sondern daß er schon früher als Angestellter übergewissenhaft war
und wegen kleiner Fehler meinte, er verdiene seine Besoldung nicht.
Aber eine stramme Durchführung moralischer Grundsätze kann
natürlich bei der Flüchtigkeit und der Einseitigkeit der Ziele nicht
aufkommen, und so sehen wir auch bei diesem Manne ernste Konflikte
mit geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen. Viele Verhältnis¬
schwachsinnige sind pathologische Schwindler oder sonst Verbrecher.
Der häufige Zusammenhang mit der Pseudologia phantastica beruht
natürlich nicht nur darauf, daß beideSymptomgruppen der sogenannten
Degeneration angehören, sondern auf einer inneren Verwandtschaft,
da ja große Schärfe des Denkens nicht gut vereinbar ist mit mangelnder
Unterscheidungsfähigkeit zwischen Realität und Phantasieprodukten.
Im übrigen ist es selbstverständlich, daß die Widersprüche mit der
gültigen Moral diese Leute am ehesten zu unserer Kenntnis bringen.
Der Verhältnisblödsinn hat natürlich wie alle angeborenen Ano¬
malien Übergänge nach verschiedenen Seiten. Seine Abgrenzung
kann deshalb keine scharfe sein.
Wie das unklare Denken an sich nicht besondere auffällt und
nicht viel schadet, wenn der Kranke sich in seinen Ansprüchen be-
1 ) Stuttgart. Enke 1891.
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V erbäJtnisblödsinn.
569
leidet, so kann umgekehrt ein sehr affektives, ja manisches Tempe-
tnent seinem Träger statt zu schaden nur nützen, wenn es von einer
chtigen Intelligenz unterstützt ist. Je stärker entwickelt aber die
rtive Affektivität ist, welche die Zahl und die Größe der Aufgaben
;strmmt, um so stärker muß der Verstand sein, um den Träger nicht
raktisch scheitern zu lassen, d. h. zum Verhältnisblödsinnigen zu
tempeln.
Nach einer etwas anderen Richtung weichen diejenigen ab, die
ich einfach überschätzen, obgleich natürlich bei jedem Ver-
lältnisblödsinnigen die Selbstüberschätzung eine sehr große Rolle
ipielt und in beiden Fällen die Ursache der falschen Beurteilung in
üner sehr ähnlichen affektiven Anlage begründet ist. Die Nuance der
letztem ist aber eine etwas andere bei dem, der sich bloß überschätzt;
er hat weniger den Trieb, sich in Unternehmungen zu stürzen, denen
er nicht gewachsen ist, teils weil er die Grenzen doch instinktiv fühlt,
teils weil die aktiven Triebe nicht so weit gehen, teils weil die Über¬
schätzung unschädliche Gebiete betrifft (sich schöner, stärker, ge¬
sünder fühlen als man ist; Kunstkenner, Lateiner, Politiker), während
das Arbeitsgebiet von der Täuschung mehr oder weniger frei bleibt.
Wie man sieht, ist in letzterem Falle weniger die Quantität der Triebe
als ihre Qualität das wichtige.
Die Verhältnisblödsinnigen sind ferner abzugrenzen von den
Lauten, deren Affekte die Intelligenz zu sehr beherrschen.
Dabei kann in den Grenzfällen die Affektivität normal, aber die In¬
telligenz ihr gegenüber zu gering sein, oder die Intelligenz kann normal,
aber die Affektivität zu stark sein. In den meisten Fällen werden
beide Abnormitäten neben einander bestehen und einander verstärken.
Da ist ein Arbeiter von wenig unter mittlerer Intelligenz und ganz
gutem Charakter. Doch kann er es nirgends aushalten, weil er zu
empfindlich ist, auf alles mit zu starken Affekten reagiert, denen gegen¬
über die Überlegung, die hintendrein ganz richtig urteilt, in kritischen
Momenten machtlos ist. Im Militär macht er den Vorgesetzten Grob¬
heiten, bekommt innerhalb weniger Wochen eine größere Anzahl
von Strafen, wird schließlich gegen eine Wache, die ihn in den Arrest
zurückführen soll, gewalttätig und kommt mit der Diagnose Schizo¬
phrenie in die Irrenanstalt. Es handelt sich indessen bloß um ein
schlimmes Verhältnis von Affektivität zu Intelligenz. Aber es sind
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI- 4 5. 40
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570
Bleuler,
die momentanen Affekte, die den Mann scheitern lassen, nicht die
dauernden Triebe. Er ist deswegen, so bald er wieder ruhig geworden
ist, fähig, den Unsinn, den er gemacht, einzusehen, genau wie der
Normale, der sich einmal im Zorn vergaloppiert hat. Wollte man
solche Leute doch als blödsinnig bezeichnen, so wären sie es nur vor¬
übergehend, während eines stärkeren Affektes.
Nicht blödsinnig nennen wir auch die Apathischen, die ge¬
nügende oder mehr als genügende intellektuelle Fähigkeiten haben,
um vorwärts zu kommen, denen aber der Trieb fehlt, sie anzuwenden,
die ihre Ziele zu niedrig stecken. Hier ist die ungenügende Affekt¬
ladung der Grund der sozialen Minderwertigkeit; dieses Minus wirkt
direkt. Das Verhältnis von Intelligenz und Trieb fällt außer Betracht.
Unter Umständen kann auch das Verhältnis zwischen den
einzelnen intellektuellen Fähigkeiten ein ungünstiges sein
und eine Art praktischen Blödsinns ausmachen. Einer meiner Kame¬
raden vom Gymnasium war daselbst unter den besseren Schülern
und trat in eine Handelsschule über. Später war er Bürgermeister
in einem kleinen Städtchen, das er mit Geschick dirigierte, und zwar
nicht unter leichten Verhältnissen: es waren Bahnfragen zu erledigen,
er war Protestant, das Städtchen ultramontan, er nahm sich gewisser,
nicht besonders beliebter sozialer Strebungen an und dgl. Da er
plötzlich starb, zeigte es sich, daß es er nicht nur sein recht hübsches
Vermögen verloren hatte, sondern unter Null stand. So viel ich weiß,
hatte er namentlich viel durch Bürgschaften verloren. An anderen
' Orten konnte er sehr gut Nein sagen, aber er konnte für sich nicht
rechnen. Einer seiner Brüder ist als Geschäftsmann noch rascher in
Konkurs gekommen, war aber nicht fähig, einzusehen, wie schlecht
er stand, und hatte deshalb alle guten Räte derFreunde undVerwandten
in den Wind geschlagen. Der letztere ist wohl allgemein etwas schwach,
obschon man ihm ein großes Geschäft übergeben hatte; sein verstor¬
bener Bruder aber konnte zu viel, kam dadurch in zu komplizierte
persönliche Verhältnisse, zu kompliziert deshalb, weil gerade seine
Fähigkeit, das Vermögen zusammenzuhalten, eine besonders geringe
war. Natürlich kann man auch sagen, seine Güte habe mitgespielt,
aber sicher war sein Hauptfehler ein partieller auf intellektuellem
Gebiet.
Leute mit solchen partiellen Defekten sind auch eine Art Ver-
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V erhältnisblödsinn.
571
hältnisblödsinnige, aber in einem ganz anderen Sinne als die zuerst
beschriebenen. Es würde sie nicht das ungünstige Verhältnis zweier
Eigenschaften selbst praktisch untauglich machen, sondern es wären
gewisse Eigenschaften im Verhältnis zu den anderen so
schlecht entwickelt, daß der Defekt gegenüber den besser entwickelten
der nämlichen Persönlichkeit nicht nur besonders gefährlich wird,
sondern auch besonders in die Augen fällt, während er, an der Durch¬
schnittsintelligenz gemessen, nicht als Blödsinn imponieren würde.
So kann einer eine ganz mittelmäßige Begabung für Mathematik
haben, in anderen Fächern aber hervorragend sein, so daß er sich eine
akademische Bildung erwirbt und ein berühmter Dichter wird. Der
Mathematiklehrer des Gymnasiums aber mißt ihn nicht an der mensch¬
lichen Durchschnittsbegabung für Mathematik, sondern an den Durch¬
schnittsleistungen seiner Gymnasiasten und findet ihn in seinem Fache
blödsinnig, und auch die andern Lehrer müssen ihn hier im Verhältnis
zu seinen übrigen Leistungen als einen Schwachkopf taxieren, während
in Wirklichkeit der Durchschnittsmensch, dessen mathematische
Bedürfnisse ja wenig über die Division hinausgehen, kein viel besseres
Verständnis für Zahlen hat.
Den Eindruck von höheren Blödsinnigen machen noch öfter
Leute mit partiellen Fähigkeiten, die im übrigen unter mittel¬
mäßig begabt sind. Diese Fähigkeiten für Mathematik, für eine der
Künste, sogar für etwas Schriftstellerei läßt sie als gut oder besonders
gut angelegte Menschen erscheinen, während erst bei genauerem
Zusehen die allgemeine Debilität zum Vorschein kommt.
Übergänge von den partiellen Über- und Unterentwicklungen von
Fähigkeiten zum Verhältnisblödsinn in unserem Sinne bilden die¬
jenigen Fälle, wo der besondere Trieb einer Schwäche der Begabung
entspricht, wo man „gerade das treiben will, wozu man am
wenigsten Beruf hat“. Ein geschickter Mechaniker will durch
Erfindungen reich werden; ein Bauer, der sich seinen Fähigkeiten
nach für seinen Beruf vorzüglich eignet, will Dichterruhm erwerben;
beide verarmen trotz tatkräftigen Fleißes, weil ihre Triebrichtung
nicht der Richtung ihres Intellekts entspricht.
Der Verhältnisblödsinn kann natürlich auch mit anderen Defekten
kombiniert sein. Von solchen komplizierten Fällen, die die Be-
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deutung des Defektes von anderen Seiten zu beleuchten geeignet
sind, möchte ich zwei anführen.
V. Die Hygienikerin. — Frau v. E., geb. 1864, aus vornehmer
norddeutscher Familie stammend, kam freiwillig und im Einverständnis
mit ihren Angehörigen in ein nahes Sanatorium. Weil sie mit ihrem Manne
nicht auskam und nun Fragen zu entscheiden waren, wie die nach der
Scheidung und nach der Übernahme der Kindererziehung, wurde ich
zugezogen.
Die Familie lebt von jeher in geordneten Verhältnissen, nicht excen¬
trisch wie die Patientin. Doch ist deren Mutter sonderbar. Eine Tante
und eine Tochter der Patientin leiden an Schizophrenie. Die Patientin
selbst war von jeher eigensinnig, unpraktisch, weltfremd, hatte keine
intimeren Freundinnen. Wenn man aber näher mit ihr verkehrte, hatte
man einen guten gemütlichen Rapport mit ihr. Immerhin fiel ein sonder¬
bares steifes Lachen, namentlich bei Verlegenheit, schon in der Jugend
auf. In der Schule und Pension hat sie sehr gut gelernt. Sie liebte das
Lernen um des Lernens willen. Auch war sie sehr energisch, konnte z. B.
auf Verlangen des Gesanglehrers an den Tagen, wo sie bei ihm Unterricht
hatte, bis zur Stunde vollständig schweigen und fasten.
Vor ihrer Verlobung (im 19. Jahr) ging sie zu einem Arzte, um ihn
zu fragen, ob sie die Eigenschaften habe, Mutter zu werden. Als das
bejaht wurde, erklärte sie, nun werde sie einen bestimmten Bekannten
heiraten, der aber noch nicht sehr entgegenkommend war. Sie war es
denn auch, die die Verlobung betrieb und bald die Heirat durchsetzte.
Vor der Geburt des ersten Kindes reiste sie, ohne dem Manne etwas zu
sagen, von ihrem sehr entfernten ausländischen Aufenthaltsort plötzlich
zu ihren Eltern, um der ganzen Familie, wie sie meinte, die Beschwerden
einer Reise zu ersparen, ohne aber dabei zu bedenken, daß es nun viel
mehr Trubel gab, als wenn sie mit dem Manne zusammen gereist wäre,
wie abgemacht war.
In der Ehe gab es nach und nach Differenzen. Die Frau hatte viele
Sonderbarkeiten, war sehr eigensinnig. Sexuell wurde sie mit der Zeit
kalt, konnte aber z. B. den Mann auf eine bestimmte Zeit bestellen, weil
sie wieder ein Kind haben möchte.
Die Kinder erzog sie ohne jeden Instinkt nach Prinzipien, die sie
aufgelesen hatte. Sie mußten z. B. beim ärgsten Regen ins Freie; eines
erhielt in frühester Kindheit neben der Muttermilch vegetarische Zusätze;
sie stillte möglichst lange, war unzufrieden mit ihrem Manne, als er in
einem Falle im neunten Monat das Absetzen verlangte, damit die Frau
wieder freier sei. Ein kränkliches Kind pflegte sie mit Aufopferung. Ärzt¬
liche Vorschriften befolgte sie immer aufs Peinlichste.
Sie betrieb eine excessive Reinlichkeit. Den ganzen Tag war das
Bad im Gebrauch; die Schwämme wurden desinfiziert und unter Glas-
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V erhältnisblödsinn.
573
yeken gehalten. Die Kleidung mußte konsequent und ausschließlich
ich hygienischen Forderungen gemacht werden, so daß z. B. die Schuhe
folgedessen recht unförmlich wurden. Auch Nacktkultur wurde mit
?n Töchtern und den Knaben in weitgehender Weise getrieben.
Eine geistige Beeinflussung der Kinder hielt sie für unstatthaft;
e war deren gleichberechtigte Freundin, ließ sie im übrigen machen,
ind es originell, wenn sie ihr gegenüber grobe Worte brauchten. Sie freute
ich darüber, daß einmal ein Sohn eine Aktion der Schüler gegen einen
mißliebigen Lehrer leitete. Als sich ein anderer Sohn im vierzehnten Jahre
ür Phrenologie interessierte, schickte sie ihn zu einem bekannten Phreno-
ogen, damit er die Sache gleich recht lerne.
ln wechselnder, aber immer übertriebener Weise huldigte sie dem
Sport. Einmal mußte alles radeln, einmal reiste sie mit einem Sohn nach
Norwegen, um Ski zu laufen. Dann mußten wieder Hunde oder Pferde
da sein, etc.
Sie meinte, jede Frau, also auch eine Mutter von zahlreichen Kindern,
sollte einen Beruf haben. Deshalb studierte sie eine zeitlang Geschichte,
dann Keramik, ohne es zu etwas zu bringen. In letzter Zeit wollte sie sich
für die Bühne oder wenigstens als Rezitatorin ausbilden, nahm Stunden,
übte sich so, daß die Nachbarschaft sich darüber lustig machte. Der
Gedanke an die Bühne brachte sie dazu, eine ziemlich einfältige kos¬
metische Operation machen zu lassen.
Für die Haushaltung brauchte sie enorme Summen, so daß die
Familie zurück kam; auch als sie vom Manne getrennt war, brauchte
sie unsinnig viel Geld; sie mietete sich in einer Villa ein, plante für einen
anscheinend nur vorübergehenden Aufenthalt für ca. 10000 Mark Um¬
bauten, die sie auf sich nehmen wollte.
Nie hatte sie sich etwas ausreden lassen. Wenn man auf sie ein-
sprach, so hörte sie mit steifer Miene zu, sprach nichts, machte aber dann,
was sie wollte. Auch wenn sie scheinbar nachgab, wußte sie es nachher
doch wieder so einzurichten, daß es nach ihrem Kopfe ging.
Etwa 1903 entschloß sie sich zur Trennung von ihrem Mann. Sie
•ging nun zu einem Nervenarzt, um ihn zu fragen, ob sie ihr jüngstes Kind
zu erziehen imstande sei. Bald nachher bekam ich sie zu sehen.
Bei der ersten Konsultation zeigte sie zunächst ein steifes inhalt¬
loses Lachen, wie wenn sie der wichtige Vorgang gar nichts anginge, so
daß mir im ersten Moment die Diagnose der Schizophrenie sicher schien.
Nach und nach, namentlich aber bei den ziemlich zahlreichen späteren
Konsultationen, verschwand mit ihrer Verlegenheit diese eigentümliche
Reaktion. Sie zeigte dann normale Affekte, konnte sich freuen und weinen,
plötzlich kamen aber zwischendurch wieder Gedankengänge, die sie mit
unverständlichen Gefühlsbetonungen begleitete. Für das Interesse, das
man ihr entgegenbrachte, zeigte sie sich dankbar, war aber geneigt, hierin
zu weit zu gehen.
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Bleuler,
Die Bildung der Patientin ist eine sehr gute, ihrer Schulung ent¬
sprechende. Ihre Intelligenz war auch fähig, das Gebotene zu verarbeiten.
Im Gespräch über alle möglichen Dinge, Literatur, Ästhetik, Hygiene,
Erziehung usw. schien sie zunächst ganz normal. Sie studierte Dante und
Faust, wobei sie allerdings Lücken im Verständnis zeigte, aber ich möchte
mich nicht rühmen, von solchen frei zu sein. Sie entwickelte einen die
Umgebung aufreibenden Wissenschaftsbetrieb; Verwandte und Bekannte
mußten mit ihr die schwierigsten Fragen diskutieren.
Ihre Intelligenz ist also in Bezug auf Schulwissen bedeutend
über dem Mittel. Sobald sie aber ihr Wissen praktisch verwenden soll,
macht sie Unsinn, und zwar in der Art, daß sie übertreibt. Für sie
existiert nur das theoretisch Gelernte, und ihm folgt sie
blind und einseitig. Instinkte, praktische Intuition, die Fähigkeit,
aus der Erfahrung selber auch nur in einfachen Dingen die brauchbaren
Direktiven für ihr Handeln zu gewinnen, fehlen ihr. Sie ist in dieser Be¬
ziehung ein wahrer Idiot. Sie kann zwar ihren Willen durchsetzen, viel
leichter als andere, indem sie eben einfach alle Einwände der Personen
und der Tatsachen ignoriert, woraus ein absoluter passiver Widerstand
und ein ganz freies Handeln nach ihrem eigenen Kopfe resultiert. Aber sie
kann nicht nur nicht überlegen, daß es einen Mittelweg gebe zwischen unver¬
nünftiger Abhärtung und Verzärtelung, zwischen Prüderie und Nacktkultur,
zwischen übertriebener Reinlichkeit und nützlicher Hygiene usw., sie
kann auch nicht überlegen, daß sie nicht Wohnung und Möbel bestellen
sollte für sich und alle ihre Kinder, bevor sie weiß, ob dieselben bei einer
Trennung ihr zugesprochen werden, oder ob die Trennung überhaupt
zustande kommt; und dies ist um so auffallender, als sie selbst an ihrer
Fähigkeit, die Kinder zu erziehen, zweifelt. Sie ist nicht imstande, zu
berechnen, daß sie für vorläufige Umänderungen einer ihr gar nicht ge¬
hörenden Wohnung nicht 10000 Mark ausgeben soll, wenn es sich darum
handelt, fern vom Mann mit einem kleineren Jahresgehalt auszukommen.
Ihre Haushaltung führt sie mit einer unsinnigen Verschwendung, ohne
es zu wollen, bloß, w’eil sie praktisch nicht überlegen kann, nicht zu¬
sammenbringt „so und so viel darf ich ausgeben, das macht auf die ein¬
zelnen Posten etwa so viel“. Sie hat sich gemerkt, daß man sich nicht
allzusehr um das Wetter kümmern soll, denkt aber nicht daran, daß es
auch dann noch ein großer Unsinn ist, mit kostbaren Kleidern ganz un¬
nützer Weise ohne Regenschirm durch strömenden Regen zu gehen.
Sie findet die Prüderie schädlich und gibt einem vierzehnjährigen
Sohne die Schriften Freuds in die Hand. Im Verkehr mit ihrem Manne,
mit den Angehörigen überhaupt, begeht sie beständig Ungeschicklichkeiten,
ohne bösartig zu sein. Der Instinkt, der jeden Durchschnittsmenschen
im Kontakt mit anderen Leuten leitet, fehlt ihr. Sie weiß auch ganz gut,
daß sie ebensowenig wie mit dem Manne mit den Angehörigen ihrer eigenen
Familie auskommen würde.
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Verhältnisblödsiim.
575
Aber auch über diesem ungeschickten Handeln schwebt eine theo-
^tische Intelligenz. Sie kennt sich bis zu einem gewissen Grade merk-
^ürdig gut. Sie erklärt selber mit Resignation, sie passe eben nicht zur
Erziehung und wolle ihre Kinder in Zukunft lieber fremden Leuten Ober¬
alsen (allerdings ohne es dann durchzuführen); „meine geistigen Ressour¬
cen sind erschöpft, was soll ich machen?“
Sie hat sich keine Idee gemacht, wie sie nach durchgeführter Schei-
lung ihr Leben einrichten will, läßt sich dann bereden, auf die Scheidung
tu verzichten. Sie sagt aber selber, daß sie nicht fähig wäre, ihr Vermögen
z.u verwalten, und daß sie, sich selber überlassen, durch Mißwirtschaft
oder durch Nachgiebigkeit gegen irgend welche Zumutungen von außen,
dasselbe gefährden würde.
Wenn ich gesagt habe, sie sei von den Instinkten verlassen, so gilt
das nicht ganz von der Sexualität. Diese ist stark und aggressiv,
and dennoch zeigt sie eine deutliche Schwäche im Verhältnis zum Manne,
der sie offenbar (vielleicht abgesehen von der ersten Zeit) mehr befriedigt,
wenn er ihr von Dirnenpraktiken erzählt, als wenn er selber mit ihr verkehrt.
Sie ist aber entsprechend modernen Theorien nicht nur bereit, sich selber
gegenüber „alles zu verzeihen“, sie verzeiht auch dem Manne, wenn er
nur aufrichtig ist, ja, sie würde sich für unberechtigt halten, ihre Töchter
anders als mit einigen Warnungen zurückzuhalten, wenn sie sich in die
freie Liebe stürzen wollten.
Wie die Moral der Patientin zu beurteilen ist, kann ich nicht sagen.
Die sexuelle Moral steht, wie alles bei ihr, unter dem Einfluß von Theorien.
Für ihre Kinder tut sie eifrig alles, was nach ihrer Ansicht für dieselben
gut ist. Daß die Liebe sie nicht dazu bringt, besser mit dem Manne, der
allerdings trotz seiner sonstigen hohen Intelligenz solchen Verhältnissen
in keiner Weise gewachsen ist, auszukommen, mag in dem allgemeinen
Defekt liegen, der sie verhindert, sich irgend welchen Verhältnissen praktisch
anzupassen. Um Gemeinnützigkeit kümmert sie sich nicht, obschon dieses
Gebiet theoretisch viel bearbeitet ist.
Die Intelligenz dieser Kranken ist für die Schulforderungen und
sogar für ein weiteres Studium eine sehr gute. Sie ist aber praktisch
blödsinnig und zwar nicht nur relativ zu ihren sonstigen Fähigkeiten,
sondern absolut. Es ist ja immerhin möglich, daß ihre Begabung zu
einer gewöhnlichen Hausfrau ausreichen würde, wenn sie den Trieb
hätte, sich mit praktischen Dingen zu beschäftigen, aber jedenfalls
wäre sie auch dann anderen Menschen, der Erziehung ihrer Kinder
und nur wenig komplizierten Verhältnissen gegenüber ganz ratlos.
Dem „höheren Blödsinn“ wäre also der Fall einzureihen, aber
ein Verhältnisblödsinn besteht hier nur insofern, als ihr praktischer
Blödsinn durch die einseitige Richtung der Triebe und Fähigkeiten
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Amfec^eifcs aiii'd beknunt tüo un praktischen (,;rüeliff>’miüBK^r>:
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UNIVERSSTY OF MICHIGAN
Verliältnisblödsinn.
577
Für unsere Betrachtung ist die Diagnose zunächst gleichgültig.
Sicher können solche Krankheitsbilder eine angeborene Abweichung
von der Norm sein, und ebenso sicher ist es, daß auch latente Schizo¬
phrenien solche Formen annehmen können.
VI. Die unreinliche Mutter. — Frau F. geb. 1886. Vater
Militärarzt in höherer Stellung, jähzornig, brutal, hatte viel Streit mit
seiner Frau. Vater der Mutter sonderbar. Ein Bruder der Patientin
kam nicht aus mit dem Vater, starb jung, mittellos in Kanada an Peri¬
typhlitis. Zwei Kinder der Patientin unreinlich (wohl hauptsächlich in¬
folge schlechter Erziehung), jedenfalls der jüngere, 1 y, Jahr alt, nicht
ganz normal.
Über die früheste Jugend ist nichts bekannt. Während der Schulzeit
mußte sie mehrfach den Wohnort und noch mehr die Schule wechseln.
Letzteres zum Teil, weil sie sich nicht richtig benahm. In einer Schule
wurde sie ausgewiesen. Sie w r ar unpünktlich, präparierte sich wenig, es
soll aber dennoch in der Schule ordentlich gegangen sein. Sie habe trotz
allem gut gelernt mit Ausnahme des Rechnens. Dauernde Freundschaften
hatte sie nicht. Als Vierzehnjährige ist sie einmal im Hemd aus dem Hause
gegangen und an der Dachrinne hinaufgeklettert.
In der Pubertät wurde sie stark religiös; nach der Freundschaft
mit einem Eurasier trieb sie buddhistische Studien, dann Spiritismus,
dann wurde sie Frauenrechtlerin, verteilte Propagandazettel der Suffra¬
getten, sprach und korrespondierte über Frauenrecht und Politik. Als
sie später einmal in Deutschland war, mußten ihr die zukünftigen Schwe¬
gereitern verbieten, davon zu reden, weil sie die deutschen Damen chokierte.
Wohl mit ihren feministischen Ideen hängt es zu sammen, daß sie einmal
ihrem Bräutigam schrieb, sie wolle nicht seine Kuh sein und Kinder
gebären.
Der Vater wollte sie einen Beruf erlernen lassen, sie lehnte aber
strikte ab.
Mit dreiundzwanzig Jahren gewann sie durch Klagen über ihre
Verhältnisse bei den Eltern das Mitleid und Herz eines unerfahrenen,
gleichaltrigen Mannes aus guter Familie, der sie, nachdem sie gravid
geworden, heiratete. Verlobung und Heirat und später die Geburt des
ersten Kindes wollte sie ihren Eltern nicht anzeigen.
Als sie während ihrer Verlobungszeit mit den Eltern ihres Bräuti¬
gams reiste, flirtete sie in sehr freier Weise mit einem Offizier, gelegentlich
auch mit anderen Männern. Mit dem ersteren blieb sie einige Zeit in
Korrespondenz. Sie hatte überhaupt in dieser Beziehung recht freie
Ansichten und beeinflußte ihren Bräutigam nach derselben Richtung, was
dieser als Entschuldigung für den vorehelichen Verkehr vorbringt. Sie hatte
ihm in der Brautzeit sexuelle Kälte vorgeworfen, während des ehelichen
Lebens wahrscheinlich nicht mehr, bis er sich ihr wieder entfremdete.
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578
Bleuler,
Als Hausfrau und Mutter scheiterte sie vollständig. Sie blieb den
ganzen Vormittag im Bett oder doch halb angekleidet, kam nie zur Zeit
zum Essen, auch nicht im Hotel; wenn man eine Reise machte oder nur
ausging, wurde sie mit Packen oder anderen Vorbereitungen nicht fertig,
so daß man oft ihretwegen den Zug versäumte. Mädchen konnte sie nicht
dirigieren. Bei Einladungen konnte sie mit dem Essen zwei Stunden zu
spät sein; sie hatte dann Ausreden: sie hätte zu wenig Löffel gehabt,
oder sie hatte eben alles zu spät eingekauft. In der ersten Schwanger¬
schaft zankte sie eine zeitlang mit dem Mann fast täglich, weil sie schwanger
geworden sei; für die Geburt traf sie trotz aller Mahnungen keine Vorbe¬
reitungen ; während derselben schrie sie unsinnig. Als das erste Kind
da war, liebte sie es und war auch — die einzige Periode, wo das vorkam —
recht nett mit dem Mann. Später war sie leicht eifersüchtig, besonders
als dieser es einmal für nötig fand, „offen gegen sie zu sein“, und ihr zu
sagen, daß er in eine Cousine verliebt sei. Während der zweiten Schwanger¬
schaft haßte sie den Mann geradezu, und seitdem hat sich das Verhältnis
nicht mehr viel gebessert.
Bald nach der Geburt des ersten Kindes hatte sie sich geweigert,
mit dem Manne in eine andere Stadt zu ziehen, kam aber dann doch nach.
Wenn sie in Zimmerwohnungen waren, kam sie mit den Wirtinnen nie aus.
Dem Manne, aber auch anderen Leuten, machte sie fortwährend
Szenen, drohte einmal, in einen tiefen Brunnen zu springen, brauchte
grobe Ausdrücke, die mit ihrer gesellschaftlichen Stellung sehr wenig
harmonierten.
Die Kinder hielt sie in der größten Unordnung und Unreinlichkeit,
legte sie morgens neun Uhr wieder zum Schlafen ins Bett, zog sie in der
Nacht nicht aus, nicht einmal, wenn sie naß waren, gab ihnen den Topf
ins Bett, kümmerte sich nicht darum, wenn sie auf der Stiege oder im
Bett Notdurft verrichteten, nahm sie zu sich ins Bett, wo sie in gleicher
Weise unreinlich waren, ohne daß es die Mutter störte. Sie legte sich am
Abend wieder ins beschmutzte Bett. Sie bewachte die Kleinen ungenügend,
z. B. beim Aufenthalt auf dem ungeschützten Dach, ließ ihnen Stecknadeln
und dgl. Dabei behauptete sie, ihr Erziehungssystem sei das einzig richtige;
als man einmal eine Dame anstellte, die die Kinder besorgen sollte, mußte
diese die Kleinen hinter ihrem Rücken baden.
Sie hatte einige „nervöse“ Symptome; fürchtete sich vor Insekten
verschiedener Art, schlief spät ein. Letzteres ist wohl nur Folge des un¬
geregelten Lebens, da sie in der Anstalt gut schlief.
Wegen ihrer Unordnung und der zunehmenden Szenen, die sie
machte, kam sie endlich zur Untersuchung in die Anstalt.
Hier fiel zunächst ihre Affektivität auf; sie hatte keine sichere
Grundstimmung; man wußte meist nicht recht, woran man mit ihr war.
Sie schien affektiv von einer merkwürdigen Art Steifheit. Doch konnte
sie plötzlich starken Affekt zeigen, war aber leicht ablenkbar. Sie war
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VerhältAisblödsinn.
579
ärgerlich oder traurig, wenn man über ihr Verhältnis zum Manne sprach,
konnte unmittelbar nachher aber wieder lachen. Dann erzählte sie wieder
ohne Affekt, daß man sie nicht bei den Kindern lassen wolle. Mir gegen¬
über war sie meist sehr höflich und spielte die feine Dame, so weit es ihr
gelang, entsprechend einer Erklärung vor dem Eintritt, sie wolle schon
zeigen, daß die Verwandten nicht die Wahrheit sagten. Doch verleidete
ihr der vierzehntägige Aufenthalt in der Anstalt, und dann wurde sie
gelegentlich aggressiv mit Worten auch dem Untersucher gegenüber
oder brach in Tränen aus.
Mit großer Emphase hatte sie verlangt, auf dem Wege von der
Anstalt zu einem Kurort ihre Kinder zu sehen. Nachdem sie sie im Bahnhof
getroffen, kümmerte sie sich nicht mehr um sie, dafür aber um die Toiletten
anwesender Damen. Zu gleicher Zeit, da sie dem Mann einen unverschämt
aggressiven Brief schrieb, konnte sie an die Schwiegereltern sehr liebens¬
würdig schreiben, wie wenn ihr Verhältnis sehr gut wäre. Kurz nachdem
man ihr erklärt hatte, sie dürfe ihre Kinder nicht mehr haben, für die sie
bis zum letzten zu kämpfen versprochen hatte, schrieb sie einen recht
vergnügten Bericht aus dem Kurort.
Wie schon aus diesem allem hervorgeht, ist ihre Moral keine gute.
Sie geniert sich auch nicht, bei der Untersuchung nicht nur zu verdrehen,
sondern direkt zu lügen. Sie ist auch, wie Briefe an ihren Mann zeigen,
recht streitlustig.
Die Intelligenz schien bei oberflächlichem Verkehr nicht schlecht.
Sie hatte eine sehr gewandte Art, sich mündlich und schriftlich auszu-
drücken, konnte auch sehr pointiert und kurz schreiben. Sie konversierte
über recht vieles. Ihre Ausreden gegenüber den Vorhaltungen waren so
geschickt, daß ich ihr Lügen nur durch Einvernahme anderer Personen
nachweisen konnte. Sie kann ganz nett zeichnen, soll auch gut Klavier
spielen, tat aber beides wenig.
In den Diskussionen über ihre Verhältnisse war auffällig, daß sie
von Anfang an nie auf die Hauptsachen einging. Auch wenn sie selber
davon zu sprechen anfing, so brachte sie nur einzelne Details,
nie die allgemeine Situation. Letztere war ihrem Fassungs¬
vermögen offenbar zu kompliziert.
Auf meine Aufforderung schrieb sie einen Lebensabriß, aber trotz
mehrfacher Erklärungen und meiner Abweisung des ersten Versuchs
brachte sie außer einigem Schimpfen über ihren Mann nur eine Aufzählung
von äußeren Tatsachen zustande.
Ihre Bildung und ihre Kenntnisse erweisen sich als äußerst
ärmlich. Trotzdem die Leiterin einer Schule ihr eine ganze Bibliothek
über den Spiritismus zur Verfügung gestellt hatte, kann sie mir nichts
über diese Dinge berichten, als einigermaßen erklären, was ein Spiritist
und was ein Medium sei. Sie braucht psychologische Ausdrücke, erklärt
kühn, sie habe trotz der Liebe zum zweiten Kinde ein schlechteres Ver-
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580
Bleuler,
hältnis zu ihm, weil sie aus der glücklichen Zeit nach der ersten Geburt
viele schöne Assoziationen an das erste knüpfe, aber sonst ist nichts heraus
zu bringen. Den Offizier, der ihr wegen seiner körperlichen Eigenschaften
wohl einmal gefallen habe, möchte sie lieber als Vater ihrer Kinder, ihren
Mann lieber als Gesellschafter für das Leben, weil er mehr Nüancen in
seinem Charakter habe. Hinter diesen Phrasen stecken aber nicht viel
Gedanken. Aus ihren ethnologischen Studien weiß sie nur zu sagen,
daß die Hottentotten in Südafrika und Australien leben. Mit den Suffra¬
getten mache sie eigentlich nicht mit, denn sie verderben mehr als sie
nützen. Aber sie möchte, daß für die Schule und für die Kinderversorgung
mehr weibliche Kräfte beigezogen, Frauen in die Armenpflege gewählt
würden. Die Frauen müßten sich für die Politik interessieren. Jetzt
seien sie denkfaul und selbstsüchtig. Will man aber auf diese Dinge ein-
gehen, so weiß sie auch gar nichts. Sie hat nicht einmal einen richtigen
Begriff von dem Vorgang bei der Wahl eines Abgeordneten. Es handelt
sich also meistens um aufgeschnappte Phrasen.
Ähnliches zeigt sich auch da, wo es sich um Produkte ihres eigenen
Geistes handelt. Wenn man sie frägt, was sie eigentlich wünsche, so weiß
sie gleich zu sagen: ein richtiges Haus mit einem guten Mädchen, das ihr
die grobe Arbeit abnähme. Das scheint nun vernünftig. Aber das Nämliche
wiederholt sie bei anderen Gelegenheiten, und sie kann sich keine weiteren
Vorstellungen dazu machen. An ihre Schwiegermutter schrieb sie einen
Brief über ihre Zukunftspläne, der ziemlich wörtlich wiederholte, was
sie vor Jahren auch einmal geschrieben hatte.
In das Mißliche ihrer Lage und in ihre Mitschuld hat sie eine gewisse
Einsicht. Doch sind in der Hauptsache, wie sie meint, die Verhältnisse
und andere Leute daran schuld. Bei ihren Beschönigungsversuchen hat
sie nicht gerade viel Glück, obschon sie mit einigem Geschick Tatsachen
leugnet und noch mehr verdreht.
Sie macht sich Theorien, daß es das Beste sei, die Kinder im Bette
auf den Topf zu setzen, und läßt sich von dem schlimmen Erfolg nicht
vom Gegenteil überzeugen. Wenn sie sich schlecht benehme, so sei es nur,
weil sie so sei, wie die Leute mit ihr. Sie könne sich schon bessern, wenn
sie wolle. Daß in letzterem Ausdruck ein großer Vorwurf gegen sie selbst
liegt, begreift sie nicht. Sie behauptet unmittelbar nach einander: sie
bereue manches, was sie gesagt habe, denn sie habe es nur im Affekt gesagt,
und: sie sage überhaupt nie etwas Unrichtiges, denn sie habe zu oft gesehen,
wie unangenehm es war, wenn ihr Vater ungerechte Worte wieder zurück¬
nehmen mußte. Auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, bleibt sie
einfach bei beiden Behauptungen und versichert, daß sie keinen Wider¬
spruch enthalten. Wie hier prallen überhaupt alle meine Erklärungen
ab. Sie antwortet schließlich immer mit den nämlichen Phrasen. Oft
schweift sie dann ab und wird weitläufig.
Auch mit der Wirklichkeit setzt sie sich leicht in Widerspruch.
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Verhältnisblödswn.
581
i beklagt sich über ihre erzwungene Untätigkeit in der Anstalt, läßt
h aber mit Mühe einmal dazu bringen, ihr Bett selbst zu machen und
ht unter dummen Ausreden überhaupt gar nicht auf die Lingerie, ob-
ion sie mehrfach versprochen hatte, da zu zeigen, daß sie etwas könne,
e ist überhaupt äußerst gleichgültig. Sie hatte eine Uhr verloren, war
>er nicht zu bewegen, auf die Polizei zu gehen, um nach ihr zu fragen;
i könne die Polizei nicht finden. Sie beklagte sich auch bitter über die
insperrung, vergaß aber, daß sie freiwillig gekommen war und jeden
ugenblick zum Spaziergang oder definitiv die Anstalt verlassen durfte.
Eine merkwürdige Unklarheit ist auch darin, daß sie sich von dem
i der allergewöhnlichsten Weise sicher konstatierten Tode ihres geliebten
Jruders an Perityphlitis auch jetzt noch nicht recht überzeugen läßt,
ie gibt zu, längere Zeit gar nicht daran geglaubt zu haben.
Sie hatte früher zu ihrer Entschuldigung erzählt, eine Pflegerin,
üt der sie nicht auskam, habe onaniert. Jetzt erklärt sie, sie wisse das
laraus, daß sie sie einmal nachts mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck
ind einer Kerze auf dem Nachttisch neben sich gesehen habe.
Von direkten Aufschneidereien ist in der Anstalt nichts beobachtet
vorden. Dagegen hat sie zu Hause etwa Dinge erzählt, wie: die Schwieger¬
eltern hätten gesagt, ihr Vater sei ein Alkoholiker. Sie schrieb einmal
hrem Mann, die von ihm bestellte Hausdame und Pflegerin der Kinder
hätte sie verlassen, während diese bei ihr war.
Irgend welche Zeichen von Schizophrenie waren nicht zu finden.
Der Fall ist kompliziert. Zunächst haben wir wieder die Er¬
scheinung, daß ein junges Mädchen zwar die äußere Bildung sich
aneignet, ganz gut konversieren, schreiben, zeichnen, musizieren
lernt, sich für Frauenbewegungen, Politik überhaupt, Buddhismus,
Spiritismus, Ethnologie, Psychologie interessiert, aber ohne es in
Wirklichkeit zu einem nur oberflächlichen Verständnis dieser Dinge
zu bringen. Sie wäre lange gescheit genug für die gewöhnlichen Ar¬
beiten einer Frau in ihrem Kreise. Sie hat sich auch als Mädchen
in ihren Verhältnissen bewegen können, ohne intellektuell jemand auf¬
zufallen außer den zukünftigen Schwiegereltern, die sie besonders
beobachteten, und sie hat einen jungen Gelehrten, der allerdings
nicht besonders intelligent scheint, erobert. Aber sie interessiert
sich für Buddha und Frauenstimmrecht und Ethnologie und hat die
einzige Aktivität, die sie besaß, für diese Dinge gebraucht, so daß
für eine wirkliche Tätigkeit nichts übrig bleibt. Wir haben hier nichts
manisches, aber eine falsche Richtung des Interesses auf Dinge, denen
sie auch gar nicht gewachsen ist.
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Bleuler,
Die falsche Verwendung ihrer Tatkraft ist aber nicht der einzige
Grund, warum sie so kläglich Fiasko macht. So viel wir sehen, ist
ihre Energie auch sonst eine minimale, und das ist eine zweite Ab¬
normität, die den ersten Fehler verstärkt und an der entsetzlichen
Unordnung im Hause und namentlich in der Kinderpflege mehr
schuld ist als der Verhältnisblödsinn.
Ist also das manische Temperament eine schlimme Klippe für
diese Leute, so kann es das phlegmatische ebenfalls sein, wenn es
sehr ausgesprochen ist; auch ohne die intellektuelle Störung und ohne
die falsche Richtung des Interesses muß ein solches Temperament
zu gänzlicher Unbrauchbarkeit im Leben führen.
Auch die Erziehung war hier entschieden eine ungünstige; es
ist möglich, daß die Patientin unter guten äußeren Umständen weniger
schlimm abgeschnitten hätte, und daß ein wenig mehr aus ihr zu
machen gewesen wäre; aber die angeborenen Momente sind doch das
Wesentliche an dem Büde.
Die beiden letzten Krankengeschichten zwingen uns noch zur
Erörterung zweier anderer Fragen. Bei der Hygienikerin ist die Schi¬
zophrenie nicht auszuschließen. Der Verhältnisblödsinn als
Syndrom aufgefaßt muß nicht unter allen Umständen
angeboren sein. Die Schizophrenie führt zur Einschränkung der
Assoziationen im Sinne des Blödsinns, zu Labilität und Unklarheit
der Begriffe, zur Loslösung von den gewohnten Gedanken und vom
Boden der Wirklichkeit, zur Tendenz, Neues zu suchen; und wenn
dann, wie in leichteren Fällen so häufig, die Affektivität eine erethische
ist, so kann diese Krankheit geradezu als Verhältnisblödsinn in die
Erscheinung treten. Manche schizophrene Naturheiler, Politiker,
Philosophen, Weltverbesserer aller Art gehören hierher.
Bei unserem Naturheiler sind die einzelnen Begriffsunklarheiten
nicht zu unterscheiden von ähnlichen Störungen der Schizophrenie.
Alles Suchen hat aber sonst keine Zeichen dieser Krankheit zu Tage
gefördert. Auch spricht die Unveränderlichkeit dieser Psyche während
eines langen Lebens gegen einen „Prozess“ als Krankheit.
Bei der unreinlichen Mutter erscheint die Abnormität zunächst
als eine moralische, sie besorgt die Kinder sehr schlecht, vernach¬
lässigt den Haushalt, zankt sich mit dem Mann, den sie von oben
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V erhältnisblödsinn.
583
ab behandelt, macht Szenen, ohne sich nachher zu schämen, usw.
tten wir mehr ähnliche Beobachtungen, so müßte von hier aus
e Linie zu gewissen Klassen von Verbrechern führen.
Wie es einen einfacheij moralischen Blödsinn gibt, so finden
r auch einen moralischen Verhältnisblödsinn. Eine Großzahl
n Verbrechern werden hierher gehören, so weit nicht intellektuelle
efekte eine Komplikation bilden oder eine andere Beurteilung
vlangen.
Moralische Schwäche bei übertriebener Lust an den kostspieligen
ergnügungen läßt viele Leute sich an der Kasse des Arbeitgebers
ergreifen und führt zu einer Menge von anderen Delikten. Ver-
nügvmgssucht gepaart mit gut entwickelter Moral schadet nicht
iel; umgekehrt kommen eine Unzahl von Menschen mit ebenso großer
noralischer Schwäche wie die Gescheiterten ungefährdet durchs
ueben, weil ihre Triebe sie nicht in Versuchung führen.
"Wenn auch die Vergnügungssucht eine der häufigsten Klippen
lür solche Leute bildet, so gibt es doch noch viele andere Strebungen,
an denen sie scheitern: Der Machtkomplex, der schlechte Mittel
anwenden läßt, um andere Leute zu beherrschen oderGeld zu bekommen,
das das wichtigste Mittel zur Macht ist; Interesse an bestimmtem
Sport, an Lektüre, das zur Vernachlässigung anderer Pflichten führt
und zu Geldausgaben, die auf rechtem Wege nicht zu befriedigen
sind usw.
Moralisch Schwachen kann auch statt eines Plus ebensowohl
ein Defekt gefährlich werden: Der Mangel an Arbeitstrieb ist be¬
kanntlich eine der häufigsten Mitursachen für das Kriminellwerden.
Wer arbeitsscheu, aber sonst moralisch gut angelegt ist, der wird des¬
wegen nicht zum Verbrecher, sondern nur zum Tropf, der es zu nichts
bringt; beide Defekte zusammen aber führen zum Verbrechen. Und
wie wenig different im Prinzip die ungünstige Summation von dem
ungünstigen Verhältnis ist, zeigt sich sofort, wenn man den Mangel
an Arbeitstrieb positiv benennt als Hang zum Müßiggang.
Ich versuche nicht, die Großzahl anderer Möglichkeiten zu er¬
wähnen, möchte aber noch einige Andeutungen betr. die Stellung
des moralischen Verhältnisblödsinns zur moralischen Idiotie
(moral insanity) machen.
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584
Bleuler,
Die moralischen Idioten im eigentlichen Sinne bezeichnete man
bis jetzt als Leute, die die moralischen Begriffe nicht mit Gefühlen
betonen. Man wußte aber, daß damit nicht alles gesagt war. In der
Tat gibt es viele hochgradig moralisch Defekte, die nicht zur Kenntnis
des Richters oder des Psychiaters kommen, nicht nur, weil ihnen ihre
Intelligenz erlaubt, sich dem Strafgesetz zu entziehen, sondern ^weil
sie nicht eigentlich kriminell werden. Bei vollständigem Mangel der
moralischen Gefühle allerdings glaube ich kaum, daß das letztere
möglich sei, obschon ich den in der Vierteljahrsschrift f. gerichtl.
Medizin 1893 beschriebenen Fall durch beständige Beschäftigung mit
Feldarbeit, Musik und literarischem Interesse ungefährlich zu machen
hoffte. Der Kranke ist dann gestorben, ohne daß ich zu einem be¬
stimmten Resultat kommen konnte. Ich habe auch einen Mann aus
guter Familie genauer gekannt, der allerdings einmal in der Fremde
in Ausschweifung gescheitert war, aber vorher und nachher durch
ein ausgesprochenes Ehrgefühl (und seine Intelligenz) sich über Wasser
hielt und auch für seine Familie sorgte, bei dem ich aber außer dem
Ehrgefühl keine moralischen Gefühle entdecken konnte.
Trotzdem alle diese Dinge bekannt sind, ist es meines Wissens
erst Gehry x ) der die Frage klar aufwirft, was den moralisch Schwach¬
sinnigen, den reo nato, ausmache. Er meint, der Mangel an moralischen
Gefühlen plus verbrecherische Triebe. Die Sache ist aber gewiß nicht
so einfach.
Verbrecherische Triebe hat jeder Mensch. Eine Geldsumme
sich anzueignen, die einem irgendwie gebeizt wird, ein Weib ansehen,
um es zu begehren, einen Feind irgendwie zu beseitigen, und ähnliche
Triebe stecken wohl im besten der Menschen. Bei mittlerer Ausbildung
dieser Triebe und der Moral spielen solche Strebungen gar keine
Rolle. Bei sehr schwacher oder mangelnder Moral können sie aber
die Zügel ergreifen. So ist der moralisch gänzlich Schwachsinnige
zum Verbrechen prädestiniert, auch wenn er sonst keine Fehler hat;
aber auf allen Zwischenstufen kommt es auf das Verhältnis von Trieb
und hemmender Moral an. Nun sind die Triebe selbst wieder von
sehr verschiedener Bedeutung. Grausamkeit, Rachsucht, sexuelle
Abnormitäten, pyromanische und kleptomanische Tendenzen treiben
*) Gehry, Wesen und Behandlung der moralisch Schwachsinnigen.
Korr.-Blatt f. Schweizer Ärzte, 1913, Nr. 44.
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Verhältnisblödsinn.
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ekt zum Verbrechen. Herrschsucht, Vergnügungssucht, Arbeits-
eu sind an sich keine verbrecherischen Triebe, sie führen indirekt
• Kriminalität. Speziell bei den Fällen von Oehry selbst scheint
eh seiner Beschreibung kein direkter Trieb zum Verbrechen vor-
nden zu sein. Könnte man den Leuten die Mittel zum fröhlichen
ben ohne Arbeit geben, so würden sie (abgesehen von den ins Un-
igliche wachsenden Ansprüchen) wahrscheinlich keine eigentlichen
erbrechen begehen. Solche Menschen können auch trotz aller In-
lligenz nie „verstandesgemäß erkennen“,daß es ihnen bei anständigem
eben besser ginge. Sie finden eben das dissolute Leben angenehmer,
ich wenn es sie dann und wann einmal ins Zuchthaus oder in die
rrenanstalt führt. Hier kommen überhaupt noch Fragen der affek-
iven Anpassung an die Gesellschaft, an die Welt, in die sie hinein-
;e8tellt sind, überhaupt in Betracht. Eine definitive Beantwortung
ler von Oehry aufgeworfenen Frage wäre wohl nur an Hand von neuen
Studien an einem größeren Material zu geben. Selbstverständlich
ist es ein Mangel der Anpassungsfähigkeit, wenn man in unserer Zone
keinen Arbeitstrieb hat. Mangel an affektiver Anpassungsfähigkeit
kann auch bestehen in zu großer Reizbarkeit, die nirgends auf die
Dauer auskommen läßt, sowie in allen möglichen positiven und nega¬
tiven Tendenzen, die in Konflikt mit der Gesellschaft führen, und
wohl noch in vielem anderem. Sind solche Defekte sehr ausgesprochen,
so büden sie für sich ein Krankheitsbild; sind sie geringeren Grades,
so können Kombinationen mit anderen Eigenschaften zu moralischem
Verhältnisblödsinn führen. Obschon die Kasuistik eine unerschöpf¬
liche sein muß, so wäre es beim jetzigen Stande des Wissens interessant,
die wichtigsten Kombinationen zu kennen und herauszufinden, ob
Korrelationen existieren und welche.
* *
*
Ich bin mir wohl bewußt, etwas sehr Unfertiges und Un¬
vollständiges gegeben zu haben, hoffe aber, daß andere mit neuen
Beobachtungen und neuen Studien bald ein besseres Bild von dem
Verhältnisblödsinn geben werden. Dazu wollte ich anregen.
Zusammenfassung. Es gibt Leute, welche nur deswegen im
Leben scheitern und als blödsinnig bezeichnet werden müssen, weil
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 4 / 5. 41
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnis-
blödsinn (Bleuler).
Von
Lothar Büchner ')•
Die vorliegende Arbeit verdankt ihre Entstehung einer persön¬
lichen Anregung Bleulers, meines verehrten früheren Chefs und Lehrers.
Sie enthält die ausführliche Beschreibung eines einzelnen, an sich
nicht gerade ungewöhnlichen Falles, der für sich allein nicht publiziert
worden wäre, wenn er nicht im Hinblick auf Bleulers Arbeit über den
Verhältnisblödsinn (vgL dasselbe Heft dieser Zeitschrift) einen tieferen
Hintergrund und eine allgemeinere Bedeutung erhalten hätte. Wie
der Titel sagt, will die Arbeit lediglich als klinischer Beitrag zu
Bleulers Lehre aufgefaßt sein. Sie zeigt die Fruchtbarkeit seiner
Auffassung für die klinische Analyse und Diagnose solcher Fälle und
fügt den in seiner Arbeit enthaltenen Typen höherer Blödsinnsformen
einen neuen Typus, den „Gelehrten“-Typus hinzu. Gerade die Häufig¬
keit solcher Fälle rechtfertigt es, sie einmal unter dem Bleuierschen
Gesichtspunkte näher zu betrachten.
Indem ich die Bleulersche Arbeit als bekannt voraussetze, hebe
ich daraus nur hervor, daß, während bei den gewöhnlichen Blödsinns-
formen der Verstand oder die Affektivität oder beide ungenügend
entwickelt sind, „ein Scheitern im Sinne des Blödsinns auch durch
ein ungünstiges Verhältnis verschiedener psychischer
Eigenschaften unter sich bewirkt werden kann, ohne daß irgend
eine Funktion für sich allein genommen als Ursache bezeichnet werden
könnte“. Solche Formen von Demenz bezeichnet Bleuler als Verhält-
nisblödsinn. Es handelt sich um Leute, deren „Triebe dem Verstand
588
Büchner,
Aufgaben stellen, denen dieser nicht gewachsen ist, während er unter
gewöhnlichen Verhältnissen genügen würde“. Immerhin weicht die
Art der Intelligenz dieser Kranken doch für gewöhnlich in einer ganz
bestimmten Richtung ab: „die Beschränkung der Assoziationen, die
sonst bei den angeborenen Schwachsinnsformen das hervorragende
Symptom ist, tritt zurück vor der Unklarheit der Ideen“, vor der
„Entfernung des Denkens von der Sinnlichkeit“ und vor der Neigung,
„Theorien zu bilden, Theorien anderer in sich aufzunehmen und nach
Theorien zu handeln, ohne sich um deren Anwendbarkeit für den
gegebenen Fall oder überhaupt zu kümmern“. „Solche Kranke er¬
scheinen dem oberflächlichen Beobachter als sehr vielseitige Denker,
dem genauer Zusehenden als Konfusionäre.“ „Rede und Benehmen
sind aber besonders gewandt (»höherer Blödsinn 4 ,,Salonblödsinn 4 ).“ —
„Der Verhältnisblödsinn als Syndrom aufgefaßt muß nicht unter
allen Umständen angeboren sein“, er kann unter gewissen Bedingungen
auch bei der Schizophrenie in die Erscheinung treten. Manchmal
bilden habituelle manische Verstimmungen die Grundlage
des Trieblebens der Verhältnisblödsinnigen.
ln den Schlußbemerkungen werde ich zeigen, inwieweit ich
von den hier dargelegten, von Bleuler übrigens ausdrücklich als vor¬
läufig bezeichneten Anschauungen, abweiche.
A. Vorgeschichte. — Der Patient, um den es sich hier handelt,
Herr von X., geh. 1889, befindet sich seit dem 6. VI. 1913 in der geschlosse¬
nen Abteilung unserer Anstalt. Er kam zu uns aus der Klinik zu Y., in
der er sich seit dem 14. XII. 1912 aufgehalten hatte. — Aus der Kranken¬
geschichte der Klinik zu Y. sowie den dort erstatteten strafrechtlichen
und zivilrechtlichen Gutachten entnehmen wir folgendes:
Vater etwas nervös, autokratische Natur. Mutter litt vom 16. Jahre
an an epileptischen Anfällen, von denen sie seit 15 Jahren völlig geheilt
ist. Eine ältere Schwester und zwei ältere Brüder des Pat. sind gesund. —
Pat. wurde mit einer Meningocele am Hinterkopf geboren. Im 7. Jahre
Operation des nunmehr etwa enteneigroßen, kaum mehr reponiblen
Hirnhautbruchs (Knochenverschiebung) zur Deckung der SchädelöfTnung.
Später Nachoperation zur definitiven Schließung der übrig gebliebenen
Spalte.
Schon in frühester Kindheit fiel bei dem Pat. eine aufbrausende
Heftigkeit auf, die sich in Wutausbrüchen Luft machte. Ein zweiter
Charakterzug war die Neigung zum hartnäckigsten Lügen, auch wenn er
überführt worden war. Mit 9 Jahren entwendete er seiner Mutter aus dem
Schreibtisch Geld, um damit Süßigkeiten zu kaufen. Da in der Normal-
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 589
tule mit ihm nicht auszukommen war, wurde er in eine Besserungs-
stalt versetzt. Später kam er auf ein Gymnasium und in eine Pension
einem Pastor. An beiden Stellen wurde er wegen seines widersetzlichen
*rhaltens entlassen. Auf einem neuen Gymnasium kam er auch nicht
eiter, da er, anstatt zu arbeiten, die Nächte hindurch rauchte und dabei
ine Lieblingsbeschäftigung, belletristische Lektüre, trieb.
Aus den Schulzeugnissen geht — soweit ich sie mir verschaffen
onnte — folgendes hervor:
Im Abgangszeugnis einer Realschule, die er mit 17 Jahren verließ,
vird das Betragen als tadelnswert bezeichnet wegen mutwilliger Störung
m Rückfall. Aufmerksamkeit und Fleiß genügend, Deutsch gut, neue
Sprachen genügend, Geschichte und Geographie genügend, Naturgeschichte
und Mathematik mangelhaft. In der Obersekunda eines Gymnasiums
war er laut Vierteljahrszeugnissen meist der letzte unter 20 Schülern,
einmal der 14. unter 17. Auch hier ist vermerkt, daß der Schüler sein Be¬
nehmen noch nicht den Anforderungen der Schule anzupassen vermöge,
nur selten konzentriert genug sei. Fleiß: unzureichend. Einmal jedoch
werden seine recht erfreulichen Fortschritte erwähnt, die er ,»infolge seines
anerkennenswerten Eifers und seiner nicht üblen Begabung“ gemacht
habe ; trotzdem bestehen Zweifel über seine Versetzung wegen der unge¬
nügenden Leistungen in Mathematik und naturwissenschaftlichen Fächern.
Mathematik immer ungenügend, Naturwissenschaften noch genügend oder
mangelhaft, Geschichte genügend, Deutsch gut, ein andermal mangelhaft,
Latein genügend oder mangelhaft, Geschichte genügend oder mangelhaft.
Schon während seiner Gymnasialzeit kontrahierte Herr von X.
erhebliche Schulden. Auf dem letzten Gymnasium mußte sein Vater
ca. 2000 Mark für ihn bezahlen, die er hauptsächlich in Zigaretten und
einer Menge von Büchern angelegt hatte. — Ein Jahr vor dem Abitur
wurde er wegen seines aufsässigen Wesens gegen seine Lehrer auch aus
diesem Gymnasium entlassen, worauf er sich privatim’ auf das Abitur
vorbereitete, das er mit Ach und Krach bestand. Er bezog dann die Univer¬
sität in U., um Literatur und Philosophie zu studieren, und trat dort
in ein Korps ein. Nach kurzer Zeit machte er sich durch sein direktions¬
loses Benehmen in der Betrunkenheit strafbar. Er zeigte überhaupt die
Neigung, sich sinnlos zu betrinken, so daß man Maßnahmen ergriff, um
ihn an allzu reichlichem Alkoholgenuß zu hindern. Trotz eines monatlichen
Wechsels von 500 Mark, exklusive Zuwendungen für Reisen etc. und für
seine gesamte Kleidung, machte er sinnlose Schulden. Das Schulden-
machen hatte insofern etwas Unsinniges, als er sich gleichzeitig dutzend¬
weise Monokels, Spazierstöcke, 4 Hüte etc. kaufte. Mahnende Gläubiger
— er hatte über 3000 Mark Schulden gemacht — vertröstete er mit dem
Hinweis, er werde bald wieder aktiv werden oder das Band bekommen.
Vor dem Konvent des Korps hatte er unter Ehrenwort falsche Aussagen
gemacht. Dem Vater gab er schriftlich ein wissentlich falsches Ehrenwort.
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
590
Büchner,
Von U. aus ging Herr von X. im März 1912 nach Z., wo er sein un¬
solides Leben in verstärktem Maße fortsetzte. Sein ganzes Dasein bewegte
sich — abgesehen von einigen schwächlichen Versuchen zu arbeiten —
in unsinnigem Alkohol- und Tabakgenuß, Spielen, Schuldenmachen,
Fechten und in seinen noch zu erwähnenden sexuellen Exzessen. Seit
März 1912 bis zum Eintritt in die Klinik in Y. im Dezember 1912 hatte
er über 12000 Mark Schulden gemacht, trotz des hohen Monatswechsels.
Er verkehrte fast ausschließlich mit gleich veranlagten minderwertigen
Elementen, in deren Gesellschaft er sich zu allem Schlechten verleiten
ließ. Je länger er sich in Y. aufhielt, um so verwirrter wurde seine Lage.
Seine Kumpane zogen ihn zum Spiel heran, wobei unsinnig viel geraucht
und getrunken wurde. Je größer die Schuldenlast wurde, desto größer
wurde die Abhängigkeit von den Gläubigern und um so drückender das
schlechte Gewissen vor den Eltern, das wiederum in Alkohol betäubt
wurde. Nach der Rückkehr aus den Sommerferien scheint Patient niemals
mehr in einen Zustand besonnener Nüchternheit gekommen zu sein.
Je größer der Alkoholkonsum wurde, umso lebhafter traten seine abnormen
sexuellen Strebungen hervor, die im halbwegs nüchternen Zustand das
Gefühl moralischer Minderwertigkeit hinterließen, das Herr von X. zum
Teil durch „Ramschen“ mit nachfolgenden Mensuren auszugleichen
suchte. Die letzten Monate des Jahres 1912 hatte er so zugebracht, daß
er fast nur von einer Betrunkenheit zur andern lebte, weil er sich vor dem
Nüchternwerden fürchtete.
Was die vita sexualis des Patienten anlangt, so ist folgendes zu
bemerken: Schon als Gymnasiast war er in Bordellen. Ausgesprochener
Abscheu gegen die Weiber. Er hatte auch niemals eine „ideale Liebe“
zu einem weiblichen Wesen gehabt. Masturbation angeblich erst in der
Muluszeit. Als Korpsstudent zweimal in der Betrunkenheit mit einem
Korpsbruder masturbiert. Verhängnisvoll wurde für ihn erst das Zu¬
sammentreffen mit einem raffinierten Homosexuellen in Y., der ihm die
Überzeugung beizubringen wußte, daß die Homosexualität Zeichen einer
höheren Ethik und einer verfeinerten Kulturstufe sei. Die meisten sexuellen
Handlungen wurden in der Trunkenheit ausgeübt; angeblich handelte
es sich nur um mutuelle Onanie. Seine Sexualobjekte gehörten vorwiegend
dem niedrigen Arbeiterstande an. Es mußten rohe, schmutzige und ver¬
schwitzte Menschen sein. Er nahm sie öfters abends mit nach Hause und
war verschiedentlich Bestehlungen und Erpressungen ausgesetzt. Mit
einem Kellner hatte er ein regelrechtes Verhältnis bis zur totalen finan¬
ziellem Zerrüttung. Um die vox populi irrezuführen, fmg er ein Verhältnis
mit einer jungen Schauspielerin an, verkehrte aber nur einmal nach langem
Drängen von ihrer Seite sexuell mit ihr mit sehr mangelhaftem Erfolg.
— Patient ist ferner stark masochistisch veranlagt, ließ sich gelegentlich
von einem Weibe, meist von Männern, peitschen und schlagen. Bei jeder
Mensur bemerkte er, daß er bei größeren Schmissen Erektionen, ja Ejaku-
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom VferhiUtnisMadsinn (Bleuler). {!$>j
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i*d«genheU hottejü wird nWh aasföhrUisher sehildefti w«rdfcöi PMföht
yui- zuriäch&thuid»! lähkbftr,, Atffidflfyh 1 geö?daf&, Swr #*)«*
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PjtUttH»* : auf de® Spie}# stand, wur er nkjti iieorwWPWFfcri-
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ivigern esse n bcfeaai. 'Er sprach viel v«o seinen liomes wöpfleiv Jf<^vngenv
las wird «c.*erpicrte viel, %;■&. da* Syaimi der Ethik M i von Lein. Efr
schrieb massenhaft. Btichefät^ auf «sctä p«ihfrtff f>l»lM»WltOnÄ!, sprach
vuvmer von seiner „Arbeil'A Vdtvilsihi hfa^5* 13 Ver-fälSte-r jarr^jCeir
Aufsatz .nbtat „«lüttem AjJp^Afca trahn und
Ibsen“ wurde einem Professor «Iw . .Fhdosripbte Ynrgclfgf. und wn- ihm
rV‘iht günsf % toettftslii, J£»de J Äniajhtt r«tsehajB^a er ?j# heimlich 25lg^iVen,
versuch te tu a: citifeu Böfän zu bestechen. Anfang Pfij^aT 'Sehipipfpa}»--
Xvstfteo wegen Tahafcecitzugs. ij AriLidttt nicht mehr, «iUk (ifiUHig
brütend hemm« ^a»Ab*rtii. glia.^^ntthidlif kßhieZigarren jbtfftr feefcatn,
*•'» er ganz ans dein Hänschen gewesen, wie verrückt. • Arbeitet nieder,
narhdieiö er wieder rauchen darf (Bade Ppbruer). BegründehicV^f'duc'hf,
«aß er -i?prsuchtf> uut eniweiideiieii»Schlüssel Zigarren and Zigtifidteit
• v 8tji -VoTe^tsitvhcfkirilc. 1 iln£(r.;ts^|(-.«bei^t«u. Lügt la&nrliwal
.^«hniger Weise'. Schimpft hiniemu.fcs über den Ar/.t. im Jüiii wieder
tvabarcTy »solidem er im 5lid eine relaitiv gute Zeit >hirohje«niieobi und
'.Adicii gut gcarbpuct hatte ,
Am t<'L S. JQiit war oiü strafreditöchfes Gutadften abgugrlW'worden,
ua vwicberti P^atienk als pm aebwerer k.o«n9t»tuiiüneller PBA-Adiopat]i
-•iiil hoirio'- <:\oeHer \'eranidguiUr fce/.* letinof «vir-i, dem mit LacUsii-Jit
<tUi seine ktiibfciuilto aligpfüeiß« Knnsliiutin« wnd d.eß r«ftgp»ie*3sten
. hherptäßigrr« Ä-ifc*thoikonsam der Sebütr § 54 Äk.G.B. -hiusiehfHeh
der r»*aüb«iligp«i sei. Patient vvnrdb
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UNIVERSSTY OF
692
Büchner,
schaffenheit sein Handeln so stark beeinflußten, daß kein Bedenken zu
tragen sei, Herrn von X. im Sinne des § 6 B.G.B. als geistesschwach zu
bezeichnen. Das Gericht trat dem Schlußurteil des Sachverständigen
bei, und am 26. V. 1913 wurde Patient, da er wegen Geistesschwäche
außerstande sei, seine Angelegenheiten zu besorgen, nach § 6 B.G.B.
entmündigt. Wir werden auf die in den beiden Gutachten enthaltenen
Ausführungen über das Krankheitsbild später zurückkommen.
B. Eigene Beobachtungen. — Patient trat am 6. VI. 1913,
aus der Klinik in Y. kommend, in unsere Anstalt ein. Der körperliche
Befund ergibt außer dem operativ gedeckten Schädeldefekt am Hinter¬
haupt und zahlreichen Narben von Mensuren im Gesicht, hohem Gaumen,
abstehenden großen Ohren und einem etwas asymmetrischen Gesicht
nichts Besonderes. Patient macht für gewöhnlich einen intelligenten
Eindruck. Der lebhafte Blick, die äußerst bewegliche Mimik, die Adlernase
geben seinem Äußern einen „interessanten“ Anstrich. Seine lebhaften
Gesten, die glattrasierte Oberlippe, die Spannung und die Beweglichkeit,
in die der ganze Körper beim Reden gerät, können den Eindruck erwecken,
als hätte man es mit einem Schauspieler zu tun. Wenn er in Begeisterung
gerät, was sofort eintritt, wenn man ihn nur reden, d. h. dozieren läßt
(was bei ihm ein- und dasselbe bedeutet), so gewinnt man den Eindruck
eines für seine Sache begeisterten Propheten. Sehr überraschend wirkt
dann die plötzliche Veränderung des ganzen Menschen in seinem Gesichts¬
ausdruck, seiner Körperhaltung und dem Ton seiner Stimme, wenn er
durch irgend ein zweifelndes oder tadelndes Wort aus seiner Begeisterung
herausgerissen und in die Wirklichkeit zurückgeführt wird. Er steht
dann da wie ein bestrafter Schuljunge, der den Blick nicht zum Lehrer
aufzuheben wagt. Er hat dann etwas kriecherisch Unterwürfiges, aber
nichts Bösartiges. Für gewöhnlich versucht er sich in seinem Äußern
als „Philosoph“ zu geben: er geht vornübergebeugt, den Kopf zu Boden
gesenkt, träumerisch, fährt dann plötzlich aus seinen Träumen auf wie
weltvergessen.
In der ersten Zeit seines hiesigen Aufenthalts spricht er bei den
Visiten oft in unendlichem Wortschwall von seinen literarischen und philo¬
sophischen Arbeiten und Absichten, schweift dabei leicht auf Nebengeleise
ab, bringt in dozierendem Ton eine Menge gelehrten Wustes aus den ver¬
schiedensten wissenschaftlichen Gebieten. Wartet dabei gern auf den Ein¬
druck, den seine Phrasen machen würden. Schlägt zur Bekräftigung
absolut nichtssagender Redensarten energisch auf den Tisch, redet sich
in höchste Ekstase hinein, springt zwischendurch plötzlich wieder auf.
Bei jeder Gelegenheit sucht er als der bescheidene Mann zu erscheinen,
bringt plumpe Schmeicheleien, schildert sich selbst als den vollendeten
Lumpen, für den eigentlich seine Angehörigen viel zu gut sorgten, der
froh sei, entmündigt und damit der Verantwortung für sich selbst enthoben
zu sein. Bringt eine ganze Anzahl höchst kleinlicher Wünsche vor, teilweise
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Klinischer - Beitrag zar Lehrt- vom Verhältrhsblddsinn ( Bleuler), 51Kv
rcs-iijferlUhtii« Tone, off im't rtw 4 iBegrÄurfmiK inan hhhe.ibm doch gewagt ,
■\*>llo es [riet- graf lifthen. jeglüho, .Art - *•* imponiere«,
‘irssth littet /L-h Arzt »rit Wnrlen, sodaß kaum zum prägen komme»
ii*. Gib!. tds man es ihm ant? den Kt»}»f ?iisagr> *««, sieh für diese Expek
4imne-.n lui,pra parieren,Bringt i&onÄthjs?»
LMiien für sein» Arbeiten vor, die e* aber bis zur nächstem Visite wieder
.^«•ssen hat, so daß er sie selbst auf Befhagert nicht reproduziere« kann,
taitt oft dir etufarhsten Zusammenhänge nicht. klammert sieh häutig
Kdeirngkeiten, au einzelne Wnrte und nebensäeJiiiche Bemerkungen.
e-imelueii Fragen, üifc- er b&txtljft Visite« stellt, ergibt sieb, daß ihm
it-aeh die einfachste« Gruialbegrdle Fehlen. Rwilüert oft bist wörtlich
sw»sn4ig große Stullen aus philosophischen Abhandlungen. LäßtAäich
i- simnliebeu Bibliotheken der Umgebung philosophis du mul Ubrarisebe
»*rk^ koiiiwen, eizeipiert dieselben, unterstreicht in «leb Exzefph?»
aaseiihaft mit schwarzer und roter Tinte, behandelt dann derartige-
:misUrir.d,e wie eigene geistig»? Produktionen, ist oltCnbar selbst von
uier mg-wn hervorragende« LCistungsfÄhigkeil überzeugt, Möchtr
-,u--)ii f gt •*;di idlit her Pr-'.'L-S'U werden, rümpft übet Pmutgcli-hrli-
cm Möbius. Chamberluin, ' die Nav. spricht ihrn*n alte Bedeutung ab,
.,-nrit Hermann Grimm den ^schalsten SchwvUzur unserer Litwitur-
;• " !i*■; !d• ' , ein Ausdruck., den er ' irgendwo üiifgcschimppt hat Hat
• - bsliegcmit- hieran*« he Hane,' will veriqre.» gegangene iVerke au-.graben ,
iiieranscbe Ehrbbretluflgen v&rnohnien, die .jhdfccU itteiidiußte tleutsoHe
|.leraturge.sehn hti-" mif» ubar fr»*i nach O'ämberlain!) rcmi-ooereii. Mit
• s.-iu Auftreten kontrastieren; stark seine kleinlichen Wunsche, die
•r iinmer wieder in wc-mcrli,Hem To«* verbringt und oft mit einer sehr
|«him]peiy captatu'c be/ievofentiae eknleitirt;. Stellt immer erttMc»' selhcu
■ : Hl und 't’iin- \r{ sieh hiej zu fugen, in das rechte bi- fd. ln Wirkle hkeH
b--tj'jtztc er Artlängs jede Gelegenheit. seinen Tagespiu» zu umgehen,
• ..n ifi-r AiT.- il zu drucken, iaMittSiinderß von der korpt-rinbe» Tätigkeit.
Aach mul nach wurde- er jedoch äußerst lleRbg, exzerpierte mid schrieb
gt.pjidbtt »in Tag und war tftii Müht* zum Spazierengehen oder zu
•ji-.-Uec. .i A-istlüget» zu bewegen.
ihdieitt hol zu seinem beiutiKl«M>»fi Arzt v,.n Anfang an e«R gul-'*
F'k^tcJl.tibgeAlie uip h uitd tvimh fäsf tu Schiviipmcnii übergeht, ihn abv-?"
•U-.a njdit imuleid. 'rve-nigsieie- )rn Beginn des hiesigen AUfmümil-
t v-diient Hu. .ken eher ihn xu s,},impfe?« snlee ihn mit Vorwürfen zu
nttei-SO 2 . B. bei Gidegfihei) von FragMi hiacit .seiner vR -j sexüülts,
Krki.irte darauf, man vnilh- ihn demüng«?n; mm man ihn. mnv Shw*
nelu-te., .v'.li, >..:„mge ... -u es gle'n h sagen, E.tU- i.vd-ügt H. h aber In-rua- h
lausemifarh m*Ui kb ii.iAu* man um' hb. ihm d-" '■ je st m V. rlmlten nicht
ad i 4 mhIh iom udmig '•lirenruhru.'-T I d-i ImMtc um
m ei-lHhi?k/*, : M«^ht Müh A»ifi. i^tlüift danlU>, «las \. l t\W •
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UNIVERSSTY OF
594
Büchner,
anzuschwärzen und über die andern Ärzte zu schimpfen. Versucht dabei
mehrfach, Mitpatienten gegen die Hausordnung aufzuhetzen, sie zu foppen,
macht sich über ihre Krankheitsäußerungen, speziell über absurde Wahn¬
ideen, lustig; erzählt dann, andere Patienten hätten dies getan, so etwas¬
dürfe man doch nicht dulden. Gibt dann aber schließlich zu, selbst der
Schuldige zu sein. Wenn er verstimmt ist, trägt er dies in theatralischer
Weise zur Schau, nimmt es aber nicht übel, wenn man ihn in dieser Be¬
ziehung nicht ernst nimmt.
Zum leitenden Arzt äußerlich überkorrekt und unterwürfig. Spricht
von ihm anfangs aber nur als von dem „Gefängnisdirektor“, dem „Sadisten“;
schimpft auf Spaziergängen mit seinem Wärter so laut über ihn, daß die
Passanten aufmerksam werden; er könne den Kerl nicht ausstehen, man
solle ihm diesen elenden Kerl nicht mehr nennen etc. Erklärt bei einem
Zornausbruch, der leitende Arzt werde nicht eher ruhen, als bis er „einen
Kranz am Grabe seines (des Pat.) Intellekts niedergelegt habe“. Patient
meint damit, man wolle ihn in den „Zellenbau“ versetzen. Auf die Frage,
ob er bald einmal Besuch von seiner Familie bekäme, ist er den ganzen
Tag verstimmt, da er aus der Bemerkung schließen zu müssen glaubt,
der Arzt wolle seine Eltern gegen ihn aufhetzen. Ein andermal ist er
schwer erregt, nachdem der leitende Arzt geäußert hat, Patient brauche
sich nicht mehr Blumen zu kaufen, er könne sie auch aus dem Anstalts¬
garten erhalten. Er schließt daraus, man gönne ihm die Blumen nicht.
In der letzten Zeit seines Aufenthalts wird er auch dem leitenden Arzt
gegenüber etwas zutraulicher, nachdem er gesehen, daß dieser sich für
ihn interessiert. Gibt ihm bereitwillig über alles Auskunft; gesteht, er
müsse wegen seines Verhaltens in der Anfangszeit vieles abbitten, bleibt
aber im Grunde so unzuverlässig wie zuvor. Von den übrigen Ärzten spricht
er mit Vorliebe als Schleimscheißern, elenden Hunden etc. Wenn eine Dame
ins Haus kommt, fragt er, was für eine Sau da herumgeführt worden sei.
Seinem Pfleger gegenüber spielt er mit Vorliebe den großen Herrn,
wie er sich überhaupt Subalternen gegenüber stets sehr hochfahrend be¬
nimmt. Die Verkäufer in den Läden schreit er an; nichts kann ihm gut
und rasch genug gemacht werden. Dazwischen sucht er sich gerade bei
seinem Wärter wieder anzubiedern, erzählt ihm eine Zeitlang gerne zotige
Anekdoten, sucht ihn zu erregen durch Schilderungen weiblicher Toiletten
oder Körperformen; schimpft auch ihm gegenüber auf die Ärzte, die Anstalt
und andere Patienten. Versucht immer wieder, ihn mit Klatsch und Ver¬
leumdungen zu unterhalten, bittet ihn dann aber, nur Gutes über ihn
zu berichten.
Daß er die Mitpatienten foppt und aufhetzt, wurde schon erwähnt.
Auffallend ist dabei seine erstaunliche Kritiklosigkeit in der Beurteilung
ihres Charakters und ihrer Intelligenz. Einem Imbezillen mit einer Pfropf-
hebephrenie und schweren Sinnestäuschungen und Wahnideen hält er
stundenlang philosophische Vorlesungen. Mit einem 70 jährigen Maniacus
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 595
schließt er« Duzbrüderschaft. Auf der offenen Abteilung, wo er sich
allmählich zu bestimmten Tageszeiten aufhalten darf, benimmt er sich
äußerst korrekt und liebenswürdig, so daß er von vielen gern gesehen
und als höchst interessanter Mensch beurteilt wird. Einen alten Herrn
besucht er abends häufig auf dem Zimmer, um ihm eine Freude zu machen
und ihn zu zerstreuen.
Seit Mitte Juli erhält Patient alle 4—5 Wochen Besuche von einem
Dozenten der Philosophie, der seine philosophischen Studien leitet, und
von dem er nur in Tönen höchster Verehrung und Bewunderung spricht.
Beim ersten Besuch glaubte er anfangs, daß der betreffende Dozent nicht
der ihm angekündigte Lehrer sei, sondern ein Arzt, der ihn in eine andere
Anstalt verbringen müsse. Er ist jeweils überglücklich, wenn sein Lehrer
ihm ein Lob über seine Arbeiten spendet. Alles, was ihm dieser sagt,
ist für ihn wie ein Evangelium. Seine Äußerungen wiederholt er oft wörtlich
als seine eigenen.
Was die vita sexualis unseres Patienten anlangt, so ist noch zu
bemerken, daß er auch hier anfangs sehr häufig seine Wäsche beschmutzt
hat; so kam er regelmäßig vom Tennisspiel mit beschmutzter Wäsche
zurück. Er wurde offenbar durch die Tennisjungen sexuell gereizt, was
dann zu der Stuhlentleerung führte. Der Geruch, ja der Geschmacksinn
spielen bei seiner Koprophilie eine starke Rolle. Seinen Sexualobjekten
geben Stall- und Schweißgeruch einen fetischistischen Reiz. So regen
ihn z. B. Stallknechte nur auf, wenn der Stallgeruch an ihnen haftet;
wenn er sie am Sonntag Spazierengehen sieht, reizen sie ihn nicht. Feti¬
schistische Bedeutung hat ferner Soldaten- und Matrosenuniform. Der
Geruch von Pferden an und für sich führt bei ihm zu Erektionen. (Nebenbei
bemerkt besitzt er eine Idiosynkrasie gegen Seide, deren Berührung ihm
höchst peinlich ist und sofort eine Gänsehaut hervorruft. Er ist
„wahnsinnig empfindlich“ gegen Elektrizität, hat lange Zeit auf einen
elektrischen Knopf nicht mit dem Finger, sondern nur mit dem Ellenbogen
gedrückt.) Daß er offenbar dadurch sexuell erregt wird, daß er seinen Wärter
durch Zoten und heterosexuelle Anspielungen anreizt, wurde schon erwähnt.
Eine homosexuelle Betätigung irgendwelcher Art konnte ihm während
des hiesigen Aufenthalts nicht nachgewiesen werden. Auch auf den Spazier¬
gängen, die er allein unternehmen durfte, und bei denen er öfters heimlich
kontrolliert wurde, scheint nichts vorgekommen zu sein. Patient gibt
an, nie heterosexuelle Phantasien oder Träume gehabt zu haben. Bei
der Masturbation, die der homosexuellen Betätigung vorausgegangen
ist, und die auch jetzt noch eine Rolle spielt, habe er sich früher ganze
homosexuelle Romane ausgedacht, bis es zur Erektion kam. Die Frage
nach päderastischer Betätigung weist er entrüstet von sich: „Dagegen
bäumt sich selbst in größter Besoffenheit der Ästhet in mir auf“l Ein
gutes Beispiel für den höchst relativen Charakter seines ästhetischen
Empfindens 1
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
596
Büchner,
In seiner Phantasie spielt nach seinen eigenen Angaben die Erotik
jetzt nur eine geringe Rolle; dagegen spielen die größte Rolle Wach träume
ehrgeizigen Inhalts, die ihm den Gipfel des Wissens und der höchsten
Ehren eines Gelehrten zeigen und ihn auch als moralisch makellos erscheinen
lassen. Bezeichnend ist, daß sein Wille zur Macht und zur Geltung vor den
Mitmenschen niemals zu Phantasien führt, in denen er König, Heerführer,
Minister oderdgl. wäre. Er habe immer nur „Mensch sein wollen und ein
begeisterter Gelehrter“. So sieht er sich, namentlich auf seinen Spazier¬
gängen, im Bad oder wenn er durch Musik „inspiriert“ ist, als Rektor der
Universität seiner Vaterstadt eingeführt, er hat den Nobelpreis bekommen,
seinen Doktor summa cum laude gemacht, oder er erntet als Schauspieler
Lorbeeren. Oder aber er sieht sich rehabilitiert in seinem Korps, nichts
ist vorgefallen, ihm war Unrecht geschehen, andere waren es, die auf
seinen Namen alle seine Schlechtigkeiten begangen hatten. All dies sieht
er in seinen Wachträumen „zum Greifen deutlich vor sich, geradezu illu¬
sionär“ (meint wohl visionär). Ebenso visionär erschaut er aber auch
andere Situationen, so z. B. sah er „in dem schrecklichen Gefühl, von dem
leitenden Arzt verfolgt zu werden“, deutlich vor sich, wie er in den Zellen-
bau gesperrt wurde.
Was seine Affektivität anlangt, so geht schon aus dem Bisherigen
hervor, daß wir es mit einem Menschen von stark sanguinischem Tem¬
perament zu tun haben. Seine Affektivität ist auf äußere Reize hin äußerst
lebhaft. Die Affektschwankungen durchlaufen in kürzester Zeit alle
Phasen von der begeisterten Extase und den höchsten Glücks- und Macht¬
gefühlen bis zur völligen Niedergeschlagenheit, Mutlosigkeit und Ver¬
zweiflung. Patient ist ferner empfindlich und reizbar einerseits, trägt
andererseits nicht allzu lange nach und ist durch ein gutes WoTt oder Lob
um den Finger zu wickeln. In klinischer und diagnostischer Hinsicht ist
noch bemerkenswert, daß, wie wir gesehen haben, Intensität und Inhalt
der Stimmungsschwankungen in keinem „normalen“ Verhältnis zur
äußeren Ursache stehen, sondern das Maß des Gewöhnlichen weit über¬
schreiten, und daß der äußere Anlaß oft überhaupt nur dadurch als Reiz
wirken kann, daß Patient ihn im Sinne seines Mißtrauens und seiner
Empfindlichkeit umdeutet. Ferner kommen Verstimmungszustände in
Betracht, die wohl als endogen aufgefaßt werden müssen. Abgesehen
von den nur einige Stunden oder einige Tage dauernden Verstimmungen im
Sinne erhöhter Reizbarkeit oder Niedergeschlagenheit kommen auch
länger dauernde Verstimmungszustände vor. Nachdem Patient z. B. in
der zweiten Hälfte des September einzelne kurz dauernde heftige Erregungs¬
zustände durchgemacht hat, ist er während der ganzen ersten Oktober¬
woche dauernd in einem leichten Erregungszustand, in dem er grundlos
schimpft, manchmal aber ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Geschwätzig¬
keit wortkarg ist.
Am 5. Oktober bemerkt die Krankengeschichte: Der Aufregungs-
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 597
zustand hält immernoch an, mit Mühe beherrscht sich der Patient, unter¬
drückt gröbere Ausbrüche. Auf seinen Spaziergängen rennt er mit auf¬
geregten Schritten im Park hin und her; auf Gängen außerhalb des Parks¬
hat der Pfleger Mühe, ihm zu folgen. Am 8. Oktober: Allmählich ruhiger,
bedauert selbst auf das lebhafteste, immer von Zeit zu Zeit in grundlose
Erregung hinein zu geraten, fragt, wie er dem Vorbeugen könne; arbeitet
jetzt wieder sehr viel an seinen philosophischen Studien. Mitte Oktober
war dann die Stimmung noch eine wechselnde, um allmählich in eine
gleichmäßige Stimmung überzugehen. Seither, d. h. seit Ende Oktober,
ist Patient im allgemeinen sehr viel ruhiger und gleichmäßiger als in den
ersten vier Monaten seines hiesigen Aufenthalts. Alle geschilderten Sym¬
ptome und Eigenheiten sind sehr viel geringer geworden; daneben zeigt
Patient einen erstaunlichen Fleiß und eine riesige Ausdauer in seinen
Studien.
Über seine Zukunftsgedanken befragt, äußert Patient sich jetzt
folgendermaßen:
Er sei ja hier gar nicht in einer Anstalt, sondern in einer Kloster¬
zelle. Er wolle den ganzen nächsten Sommer noch hier bleiben, besonders
wegen der hiesigen Bibliothek. Man müsse den genius loci auskosten..
Dann wolle er nach Basel in eine Pension oder zu einem Arzt mit 10 Mark
Taschengeld pro Woche. Er wolle in eine kleine Universitätsstadt, um
das hiesige Leben noch ein Jahr fortsetzen zu können, er wolle in Basel.
Häberlin und Joel hören, dann Examen in Zürich machen in Literatur
und Philosophie. Zürich habe er sich in den Kopf gesetzt, da dort doch
ein reges Leben herrsche. Er möchte in eine geregelte akademische Tätigkeit,,
um die „Wonne zu haben“, seine Gedanken einem lebenden Publikum zu
übermitteln, so wie Marx von Hamburg weg sei, weil er dort nicht genügend
auf andere wirken könne. „Ich will zehn bis fünfzehn Jahre Professor
spielen oder sein, zunächst kein Privatgelehrter.“ „Ich bedanke mich,,
mit Harden, Landsberger, Mauthner zusammen genannt zu werden..
Man muß sich nicht gegenüber der alles beherrschenden Clique stellen.“'
Aus der Intelligenzprüfung des Patienten. — Wir haben
zur Beurteilung der Intelligenz des Patienten im großen und ganzen drei
verschiedene Anhaltspunkte: 1. Seine Lebensführung überhaupt, außerhalb
und innerhalb der Anstalt, 2. die Intelligenzprüfung selbst, 3. seine schrift¬
lichen Arbeiten.
Was die Intelligenzprüfung anlangt, so konnte sie begreiflicher¬
weise nicht systematisch in allen Zweigen ausgeführt werden, da ja dem
Patienten verheimlicht werden mußte, daß es sich um eine Prüfung seiner
Intelligenz handle. Es wurde ihm als Grund der Untersuchungen nur
immer angegeben, daß man die Art seines Denkens untersuchen, wolle,,
da er philosophisch und logisch gebildet sei etc. Auf diese Weise ging er.
auf die Untersuchung leicht ein. Sein geistiges Inventar wurde, um ihn
nicht stutzig zu machen, nicht systematisch geprüft, zumal es.für die Be-
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urteilung des Falles nicht sehr wichtig ist. Soweit es sich übersehen ließ,
ergab sich, daß das Schulwissen — abgesehen von der Literaturgeschichte —
ein sehr geringes ist. In den Naturwissenschaften weiß er so gut wie nichts,
was aber auch mit dem Unterricht in den von ihm besuchten Lehranstalten
Zusammenhängen mag. Für Mathematik hat er sehr wenig Verständnis,
aber auch nicht weniger als mancher Normale. Algebraische Gleichungen,
einfache Zinseszinsrechnungen sind ihm nie recht gelungen. Hingegen
beherrscht er das große und das kleine Einmaleins sehr gut. Zu erwähnen
ist, daß er beim Kopfrechnen mit doppelstelligen Zahlen die Zahlen genau
auf dem Papier vor sich sieht und analog dem schriftlichen Verfahren
vorgeht, also bei Subtraktionen die Zahlen im Geiste untereinander stellt
und dann die eine von der andern abzieht. Bei Multiplikationen mehr¬
stelliger Zahlen behilft er sich mit besonderen technischen Tricks, auch
wenn dieselben umständlicher sind als rein gedankliche Tricks. Daß man
z. B. bei der Multiplikation mit 9,19, 29 lieber mit 10, 20, 30 multipliziert
und dann wieder den entsprechenden Betrag subtrahiert — solche gedank¬
liche technische Hilfsmittel kennt er nicht. In der Geschichte hat er ein
ganz ungeordnetes Wissen. Manchmal frappiert er durch Detailkenntnisse,
die er aber aus seinen philosophischen Studien gewonnen hat. Andererseits
fällt er aber auch durch merkwürdige Unkenntnis einzelner Details auf:
die Schlacht bei Königgrätz z. B. habe in dem in den Jahren 64—66 mit
Österreich geführten Kriege stattgefunden. Näher über diesen Krieg
befragt, erklärt er, das sei ihm vollständig unwichtig und gleichgültig.
Er könne nur geschichtliche Daten behalten, bei denen er sich auch etwas
denken könne ((),' wie z. B. die Zahl 1483 für die Eroberung von Kon¬
stantinopel als den Beginn der Renaissance, die Zahl 1518 (!) als den
Beginn der Reformation etc. Dieser Einwand ist typisch für unseren
Patienten; als ob man sich bei der Schlacht von Königgrätz und dem
Krieg Preußens gegen Österreich nichts denken könne 1 Nur er kann sich
nichts dabei denken infolge seines ganz einseitig entwickelten Interesses
für die Geschichte der Literatur und der Philosophie. Auch die Kultur¬
geschichte interessiert ihn nicht als solche, sondern nur insoweit, als er
durch das Studium der beiden andern Wissenszweige darauf gestoßen wird.
Was die „niederen Äquivalente der Intelligenz“ ( Meumann)
anlangt, so wollen wir uns zunächst an das Gedächtnis halten, ohne es
hier schon einigermaßen erschöpfend darstellen zu können. Auf die andern
niederen Äquivalente der Intelligenz, wie Anschauung, Beobachtung,
werden wir im Zusammenhang mit dem Gedächtnis und den höheren
Funktionen der Intelligenz eingehen.
Patient besitzt an und für sich von Kind an ein gutes Gedächtnis.
So behauptet er, er habe als Kind ganze Predigten wieder hersagen können.
Später scheint das visuelle Gedächtnis über das akustische, wenn man
sich so ausdrücken darf, bei weitem den Sieg davongetragen zu haben.
Das Gedächtnis für Gesichtseindrücke ist so stark entwickelt, daß er
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Jahren sich erinnert, ob bestimmte Stellen aus Büchern auf der
in oder rechten Seite, oben oder unten standen und daß er, wenn
inen bestimmten Passus sucht, oft instinktiv ein Buch an derjenigen
te aufschlagen kann, an der sich die betreffende Stelle befindet. Noch
er als das Gedächtnis für Gelesenes ist dasjenige für Selbstgeschriebenes,
in er einen Passus in einem Buche nicht versteht, schreibt er ihn
ler; sobald er ihn niedergeschrieben hat, glaubt er ihn verstanden
haben. Wenn wir mit Meumann 1 ) am Gedächtnis zwei Eigen¬
sten unterscheiden, nämlich den Umfang und die Schlagfertigkeit,
müssen wir, wie oben schon erwähnt, den Umfang als beschränkt be-
chnen auf gewisse Interessengebiete, finden ihn aber innerhalb dieser
teressengebiete relativ groß. Auf den betreffenden Gebieten (Philosophie
d Literatur) wird daher durch diese Äquivalente oder Surrogate der
^entliehen Intelligenz leicht eine wirkliche Intelligenz vorgetäuscht,
och mehr aber ist dies der Fall, wenn wir die außerordentliche Schlag-
Ttigkeit des Gedächtnisses unseres Patienten berücksichtigen, die wir
päter noch kennen lernen werden. Aber hier sei schon hervorgehoben,
aß bei näherer Betrachtung diese Schlagfertigkeit viel weniger auf dem
Vorhandensein höherer logischer Assoziationen beruht als auf dem Vor¬
walten rein zufällig empirisch erworbener Assoziationen der Ähnlichkeit
und Sukzession, sowie vor allem auch der sprachlichen Assoziationen
(Klangassoziationen usw.). Sein Gedächtnistypus ist ein vorwiegend
mechanischer und keineswegs ein logischer. Hinsichtlich seines Repro¬
duktionstypus besitzt er im allgemeinen nichts weniger als ein „typisch
treues oder vollständiges“ Gedächtnis, kein objektives oder zuverlässiges
Gedächtnis. Nur für sprachliche Symbole und einzelne visuelle Eindrücke
ist sein Gedächtnis auffallend scharf und genau. Dabei ist unverkennbar,
daß seirt gutes Gedächtnis für Worte, insbesondere für sprachlich auf¬
fallende Wortzusammensetzungen, die er bei seinen Autoren findet,
nicht nur eine eigentliche Intelligenz nach außen Vortäuschen kann,
sondern auch ihre innere Ausbildung hindert. Da ihm infolge des
schlagfertigen Reproduktionstypus immer leicht Material aus der
Erinnerung zufließt, ist er bei den bescheidenen Ansprüchen, die er an
9ein Denken stellt, und bei der vorwiegend auf Bluff und Schein
beruhenden Sprechweise der Mühe enthoben, selbständige Zusammen¬
hänge'zu suchen.
Seine Phantasie-Begabung ist, wie wir schon gesehen haben, eine
ang begrenzte; sie steht vorwiegend im Dienste der Triebe nach vermehrter
Geltung und läßt hierin eine offenkundige Überkompensation seiner
Minderwertigkeitsgefühle erkennen. Auf diesem beschränkten Gebiete
sowie vielleicht noch auf dem Gebiete des Geschlechtstriebes, das bei ihm
T ) E. Meumann, Intelligenz und Wille. 2. Aufl. 1913 bei Quelle &
Meyer in Leipzig.
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weniger studiert werden konnte, ist eine gewisse, wenn auch eher niedrige
kombinatorische Tätigkeit nachzuweisen. Jedenfalls wohnt der Phantasie
auf diesem Gebiete eine sehr starke sinnliche (visuelle) Kraft inne. Wenn
nach Meumann der Hauptunterschied zwischen Phantasie und Denken darin
liegen soll, „daß bei aller Denktätigkeit uns die Vorstellungen nur Mittel
zum Zweck sind, nämlich Mittel zum Zweck des Aufsuchens logischer
Beziehungen“, bei der Phantasietätigkeit aber „die Vorstellungen zum
Selbstzweck werden“ 1 ), so nehmen wir für unseren Fall vorweg, daß hier
der Charakter der Vorstellungen als Selbstzweck ungleich stärker aus-
gebildet ist als ihr Charakter zum Zweck des Aufsuchens logischer Bezie¬
hungen. Was das Denken und die eigentliche Intelligenz anlangt, so
wollen wir erst das uns vorliegende Material näher betrachten.
Am geeignetsten erscheinen mir stets zur Prüfung der Intelligenz
der leichteren Schwachsinnsformen der Gebildeten die Unterschieds¬
und Definitionsfragen, wie.sie z. B. im Ziehenschen Lehrbuch unter der
Prüfung der Abstraktion empfohlen werden. Aus den sonstigen üblichen
Intelligenzprüfungsmethoden ist für diese Fälle nicht viel zu holen. Es
sei nur kurz erwähnt, daß Patient z. B. die Ebbinghaussche Ergänzungs¬
prüfung ausgezeichnet besteht, daß er in den gewöhnlichen Prüfungen
der Auffassung nicht von der Norm abweicht. In mancher Beziehung
interessant, wenn auch für einen Fall wie den vorliegenden keineswegs
zu eindeutigen Resultaten führend, ist das Assoziationsexperiment,
auf das wir vorher noch kurz eingehen wollen.
In der Auffassung des Experiments ist Patient zunächst etwas
schwerfällig; es muß ihm wiederholt erklärt werden, worauf es dabei
ankommt. Patient sträubt sich zunächst dagegen, da er einmal etwas
von Psychoanalyse hat läuten hören, und meint, man wolle ihn mittels
des Experiments analysieren, wogegen ersieh heftig wehrt. Das Experiment
selbst ermüdet ihn offenkundig. Bei einem Reproduktionsversuch (es
wurden 100 Assoziationen nach Schema 1 der Züricher Klinik geprüft)
streikt er nach der 19. Reproduktion völlig, ist dabei sehr nervös und
erregt, fleht den Untersucher an, aufzuhören. Der Versuch mache ihn
furchtbar kribbelig; lieber arbeite er stundenlang. Das Experiment er¬
fordere einen kolossalen geistigen Kraftaufwand, viel mehr als die Deduktion
des größten philosophischen Systems. „Da hat man einen furchtbaren
Blödsinn geredet, und nachher erinnert man sich nicht. Für solche Sachen
habe ich gar kein Gedächtnis, dafür muß ich mich allenfalls schriftlich
präparieren“ (?). Offenbar fühlt sich Patient in seinem Intelligenz¬
komplex getroffen und verzichtet deswegen auf die weitere Fortsetzung
*) Ich erblicke in dieser Unterscheidung Meumann s einen vor¬
wiegend praktischen Vorteil, während ich theoretisch rnit Häberlin
(Wissenschaft und Philosophie, Band I) im Denken nur einen Spezialfall
. der Phantasie sehe.
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 001
des Reproduktionsversuchs, der übrigens nicht schlechter ausfiel als bei
andern affektiv erregbaren Menschen.
Was zunächst das Prozentualverhältnis der einzelnen Reaktionen
in formaler Hinsicht anlangt, so finden wir:
Innere Assoziationen 23% (davon fallen etwa die Hälfte in die
Rubrik sachliches Urteil. Werturteile nur 3).
Äußere Assoziationen 77%.
Unter diesen fallen auf Assoziationen nach Koexistenz 2%, nach
Identität 4%. Sprachlich-motor. Formen 71%
Gerade die letzte Zahl ist für unseren Fall von Interesse, da sie die
große sprachliche Gewandheit des Patienten auch experimentell beweist.
Unter den 71 sprachlich-motorischen Assoziationen fallen 61 auf „geläufige
Phrasen und Wortzusammensetzungen“, 10 auf „Sprichwörter und Zitate“.
Gerade die Zitate weisen mit ihrer in der Regel kurzen Reaktionszeit auf die
Schlagfertigkeit seines Gedächtnisses hin. Bemerkenswert ist auch, daß
wir keine Klangreaktionen und Reime finden. Die große Menge der Wort¬
zusammensetzungen und geläufigen Phrasen zeigt, daß auch die sprachlich •
motorische Begabung wiederum eine einseitige ist; sie scheint kaum
nach der Seite der Klangähnlichkeit entwickelt zu sein und sich größtenteils
auf Assoziationen zu beschränken, die durch häufige Wiederholung sprach¬
lich stark eingeübt sind.
Überblicken wir das prozentuale Gesamtverhältnis der Assoziationen,
so müssen wir unseren Patienten ohne weiteres zu den gebildeten Menschen
rechnen. Unter den neun gebildeten Männern, die Jung und Riklin 1 )
untersucht haben, hat nur einer, der als intelligent und sehr gebildet be¬
zeichnet wird, weniger innere Assoziationen und ebensoviel äußere Asso¬
ziationen wie unser Fall. Bei den meisten übrigen (noch abgesehen von
Fall 9) ist der Unterschied zwischen der Zahl der inneren und der äußeren
Assoziationen viel geringer. Keiner der 9 Fälle von Jung und Riklin
weist soviel sprachlich-motorische Assoziationen auf wie unser Fall.
Bisher sehen wir nur, daß unser Fall zu den Gebildeten gerechnet
werden muß, und wir werden sehr vorsichtig sein, daraus auf die Intelligenz
Schlüsse zu ziehen. Auch hinsichtlich der Bildung ersehen wir daraus
nicht mehr, als daß der Patient sprachlich sehr gewandt ist, und daß er
entsprechend der großen Anzahl teils seltener Sprichwörter und Zitate
viel gelesen haben muß. Zeichen von ausgeprägtem Schwachsinn wie
vor allem die Definitionstendenz waren nicht nachzuweisen. Satzreaktionen
überhaupt kamen nur in Form von Zitaten vor. Egozentrische Reaktionen
und subjektive Werturteile, die man nach der sonstigen Kenntnis des
Patienten unbedingt erwartet hätte, traten nur ganz vereinzelt auf.
Das wahrscheinliche Mittel der Reaktionszeit beträgt 2,4 Sekunden,
1 ) Diagnostische Assoziationsstudien I. Bd., I. Beitrag: Experimentelle
Untersuchungen über Assoziationen Gesunder.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 4/5. 42
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ein auffallend hoher Wert, der auch den unbefangenen Beobachter u
stutzig machen müßte. Bei gebildeten Männern fand Jung 1 ) als Durch- k
schnitt des wahrscheinlichen Mittels (W. M.) 1,3 Sekunden, bei ungebildeten »
Männern 1,8. Die durchschnittliche Reaktionsdauer seiner Gesamtversuche a
bei Männern und Frauen (gebildeten und ungebildeten) beträgt 1,8. Sehr a
viel höhere Zahlen fand hingegen Wehrlin*) im allgemeinen bei Im- &
bezillen und Idioten, und zwar durchschnittlich 3,0 Sekunden. Wir können a
natürlich aus dem einen Versuch keine irgendwie sicheren Schlüsse ziehen, fc
Es würde sich aber der Mühe lohnen, weitere ähnliche Fälle systematisch $
zu untersuchen im Hinblick darauf, ob das bisher sonst nicht beobachtete ’ a
Zusammentreffen des Überwiegens äußerer, namentlich sprachlich-moto- *,
rischer Assoziationen mit einer auffallend hohen durchschnittlichen *
Reaktionszeit sich noch öfters nachweisen ließe: es ergäbe sich daraus
ein deutlicher Unterschied gegenüber den Gebildeten einerseits (lange 5
Reaktionszeit) und gegenüber den schweren Schwachsinnsformen (starkes
Vorherrschen der äußeren Reaktionen, insbesondere der sprachlich- moto¬
rischen) andererseits.
Einzelne sehr hohe Reaktionszeiten (bis zu 15 Sekunden) und sonstige
deutliche Komplexzeichen weisen auf die affektive Erregbarkeit unseres
Kranken hin und lassen deutlich die Komplexe erkennen, die wir bei
dem Patienten schon in seiner Lebens- und Krankheitsgeschichte gefunden
haben.
Unterschieds- und Definitionsfragen. — Solche Fragen habe
ich dem Patienten zum erstenmal am 7. VII. 13 vorgelegt, die Antworten
habe ich jeweils nachstenographiert. Das Nachstenographieren und die
Erklärung, ich wolle sehen, wie weit Patient sich als Philosoph im logischen
Denken geübt habe, hatten natürlich zur Folge, daß Patient der Unter¬
suchungeine besonders große Wichtigkeit beimaß, und daß seine Ausdrucks-
weise noch geschraubter wurde als sonst. Es ist klar, daß er seine Intelli¬
genz und Bildung dabei in einem besonders hellen Licht erstrahlen lassen
wollte. Infolgedessen kommt auch noch ein gewisser Examenstupor hinzu
in der Form der emotionellen Stupidität (Jung).
Unterschied zwischen Kind und Zwerg? „Sie haben dieselbe Gestalt,
aber andere Allüren. Man kann diesen Unterschied deduktiv oder induktiv
fassen. Ich glaube an einen Ausgleich in der Natur, an einen Ausgleich,
gestützt auf die Theorie Lombrosos und gestützt auf die physiognomischen
Partikularitäten dieser Wesen; damit sind wir aber noch nicht fertig.
Das wäre nur ein äußeres Zeichen. Von diesen allgemeinen Begriffen
gehen nun allgemeine Unterabteilungen hervor. Ich habe ein Zwerg¬
quartett gesehen in einem Variötö. Es fiel mir auf, daß die Stimmen in
einem eigenartigen Mißverhältnis standen zu der Körperkleinheit, so daß
*) 1. c. IV. Beitrag.
*) 1. c. II. Beitrag.
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verbältnisblödsinn (Bleuler). 603
iurch. die Abnormität eine größere wurde. Die Stimme war unangenehm
arrend, während das Kind eine sanfte und weniger bombardierende
imme hat. Die Zwerge haben zu viel des Grellen, Quäkenden. Was
ts am Kind erfreut, beleidigt das Auge am Zwerg. Der Zwerg hat etwas
ikisches, das Kind ist heiter — kurz, seine Bewegungen sind harmonisch,
sim Zwerg nicht. Der Zwerg ist ein körperlich auf der Stufe der Kindheit
irvickgebliebenes Wesen, während die mentalen Funktionen in einem
Mißverhältnis stehen zur äußeren Gestalt ihres Trägers. Das Kind ist
benfalls von kleiner Gestalt, welche aber zu seinem Alter — falls der
Intwicklnngsgang ein normaler — proportional ist, und auf einer Pro-
»ortion der mentalen Verhältnisse zu der der Größe etc. auch dieser Stufe
sntspricht.“
Unterschied zwischen Baum und Strauch? „Der Unterschied be¬
steht in der Mannigfaltigkeit des Stammes und des Ganzen. Man könnte
sagen, daß es eine Unterabteilung des Baumes wäre, ja man könnte beinahe
den Unterschied von Mann und Zwerg fassen. Der Baum ist etwas in sich
Ganzes, während der Strauch sich von der Erde aus in verschiedene Teile
verästelt und verzweigt. Wir wollen sagen, bei einem Baum ist der Stamm
da. Dieser Stamm ist sich selbst gleich. Der Strauch ist ein Baum, aber
sein Stamm ist gleich plus minus 0, der Strauch sub specie Baum gefaßt.“
„Solche Fragen sind sehr schwer gleich auf den Tisch des Hauses
zu legen.“
Wenn wir die vorstehenden Antworten überblicken, so scheint
der Ausdruck „höherer Blödsinn“ dafür ganz besonders treffend zu sein.
Die oben erwähnten, durch die Untersuchung an sich bedingten künst¬
lichen Nebenumstände, die emotionelle Stupidität und die Absicht des
Patienten, mit seinen Antworten zu paradieren, lassen den höheren
Blödsinn in besonders hellem Licht erscheinen, verfälschen das Bild
aber keineswegs derart, daß es von dem gewöhnlichen Bild, wie es
in der einfachen Unterhaltung gewonnen wird, wesentlich abweicht.
Die Sucht nach einer besonders gewählten, ungewöhnlichen, schwer
verständlichen, möglichst persönlichen Ausdrucksweise fällt uns zu
allererst auf. Wir können hier intellektuelle und affektive Vorgänge
nicht mehr völlig trennen, dürfen aber wohl sagen, daß wir es hier
mit einem vorwiegend affektiven Moment zu tun haben, welches
den Assoziationen eine bestimmte Richtung vorschreibt. Jene Sucht
steht im Dienste des Strebens nach besonderer Geltung, also im Dienste
der Überkompensation. Sie fällt uns auf durch die gehäuften, oft ganz
unnötigen Fremdwörter und die „gesuchten“ Worte der deutschen Sprache,
lemer durch die sonderbaren Antithesen, den dozierenden Ton und den
Versuch einer möglichst wissenschaftlichen Diktion. Einzelne Abschnitte
sind nichts anderes als ein Geklapper mit Worten; es fällt mir dabei
die Äußerung eines meiner Gymnasiallehrer ein, der, sobald ein Schüler
sein Nichtwissen durch schöne Worte ersetzen wollte, ihn unterbrach mit
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dem Ansruf: „Gelt, wenns nur tönt.“ Am Schlüsse der ersten Antwort
ist das Satzgefüge gänzlich aufgehoben, und wir finden nur ein Wort¬
geklingel, dessen Sinn wohl zu ahnen, aber nicht aus dem Satzbau zu ver¬
stehen ist. Patient verspricht eingangs wohl eine logische Unterscheidung
auf deduktivem oder induktivem Wege, betritt aber nur den letzteren,
während der Versuch einer deduktiven Ableitung aus den hier ganz un¬
verständlichen Begriffen des Ausgleichs in der Natur kläglich scheitert.
Der Schluß der zweiten Antwort zeigt uns wiederum ein Geklingel mit
hochtönenden Worten, die Pat. in irgend einem Lehrbuch der Logik aufgelesen
haben muß. Dazwischen begegnen uns logisch durchaus richtige und
sprachlich gut gefaßte Wendungen, die ein besonders schlagendes Licht
auf die Zugehörigkeit unseres Falles zum Verhältnis-Blödsinn werfen.
Würde Patient sich mit den Definitionen des gesunden Menschenverstandes
begnügen, so könnte er wohl durchaus richtige Antworten geben, aus denen
niemand ein Zeichen von Schwachsinn herauszulesen vermöchte. Sein
Streben nach ganz besonderer intellektueller Höhe, das mit der ihm zu
Gebote stehenden Intelligenz aber in keinem Verhältnis steht, stört immer
wieder den klaren Gedankengang. Ein typisches Beispiel ist der Satz:
„Der Zwerg ist ein körperlich auf der Stufe der Kindheit zurückgebliebenes
Wesen, während die mentalen Funktionen in einem Mißverhältnis stehen
zur äußeren Gestalt ihres Trägers.“ Der Hauptsatz ist logisch einwandfrei;
der Nebensatz aber gerät sofort wieder aus dem Geleise. Ein gewöhn¬
licher Mensch hätte sich ungefähr folgendermaßen ausgedrückt: „Der
Zwerg ist ein körperlich auf der Stufe der Kindheit zurückgebliebenes
Wesen, während seine geistigen Fähigkeiten sich über die Stufe der Kindheit
hinaus weiter entwickelt haben“, weniger präzis: „dessen geistige Funk¬
tionen in einem Mißverhältnis stehen zur Stufe der Kindheit“. Statt des
klaren und für eine gewöhnliche Definition genügenden Allgemeinbegriffs
„Stufe der Kindheit“, der nach dem ganzen Satzbau im Nebensatz unbedingt
wieder erscheinen muß, rekurriert Patient auf den Begriff oder besser auf
die Vorstellung von der äußeren Gestalt des „Trägers der mentalen Funk¬
tionen“. Implizite enthält ja die Vorstellung von der äußeren Gestalt
des Zwergs die im Hauptsatz erwähnte Vorstellung: Stufe der Kindheit,
und logisch meint Patient wohl das Richtige. Indem er aber an Stelle
des einmal erwähnten und im Nebensatz wieder erwarteten Allgemein-
begriffs „Stufe der Kindheit“ die unpräzise Vorstellung „äußere Gestalt“
setzt, wird der Sinn unklar und das Verständnis außerordentlich erschwert.
Auch der Schlußsatz der ersten Antwort war wohl richtig gedacht und hätte
etwa heißen sollen: „Das Kind ist ebenfalls von kleiner Gestalt, welche
aber zu seinem Alter—falls der Entwicklungsgang ein normaler — propor¬
tional ist. Die Proportion der geistigen Fähigkeiten zu der der Körper¬
größe ist beim Kind eine je nach der Altersstufe wechselnde, aber für jede
Altersstufe ungefähr feststehend.“ Wir sehen, daß Patient wohl weiß,
auf welche Begriffe es ankommt, daß er sie aber in derart unklarer Weise
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhäitmsbiödsmn (Bleuler). 605
urcheinander mengt, daß das Verständnis aufhört. Vor allem sehen wir
ber ferner, daß der Patient unnötigerweise zwei Unterscheidungs-
lerkmale einführt, die er dann nicht mehr auseinander zu halten vermag,
ämlich erstens den Begriff des Stehenbleibens mit seinem Gegensatz,
iem Begriff der Entwicklung, zweitens das Verhältnis der körperlichen
Gestalt zu den geistigen Funktionen.
Es scheint vielleicht übertrieben, solche hingeworfenen geistigen
Produkte eines Patienten einem so strengen Maßstab zu unterziehen.
Dem muß aber entgegengehalten werden, daß die in den obigen Beispielen
beobachtete Unklarheit des Denkens und ihre Ursache auch in den andern,
zum Teil noch folgenden, Beispielen immer wiederkehren und auch außer¬
halb der Intelligenzprüfung immer wieder zu beobachten sind.
Sehr wesentlich für die Beurteilung unseres Falles und ähnlicher
Fälle überhaupt ist ferner neben der Verschwommenheit und dem raschen
Wechsel der Begriffe das Eingehen auf räumliche oder zeitliche Einzel¬
heiten, denen in der Regel eine übertriebene Wichtigkeit beigelegt wird.
Im obigen Fall ist es das Zwergquartett an sich und das unnötig breite
Ausmalen der Zwergstimme. Die Rücksicht auf verschwindende Aus¬
nahmen, die bei so allgemeinen Unterscheidungsfragen für den vollsinnigen
Menschen kaum in Betracht kommen, gehört auch hierher. Die obige
Einschaltung: „falls der Entwicklungsgang ein normaler“, ist hiefür ein
Beispiel. Ein anderer Patient, stärker debil als der unsrige, der auch
Philosophieprofessor, Dichter etc. werden wollte, und der an alle möglichen
Zeitungen Feuilletons der kindlichsten Art einsandte, antwortete mir
auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Kind und Zwerg sehr gut:
„Das Kind ist ein unerwachsener Mensch, der Zwerg ist ein ungewachsener
Mensch. Ungewachsen natürlich cum grano salis zu nehmen.“ Das Ein¬
teilungsmoment der Entwicklung ist hier sehr kurz und präzis angewandt.
Mit großer Wichtigkeit fügt er dann aber hinzu: Die Kleinheit des Kindes
dürfe in der Beantwortung jener Frage nicht enthalten sein, da es ja doch
auch große Kinder gäbe. Bei der Unterscheidung von Baum und Strauch
dürfe man als Einteilungsprinzip nicht das Verhältnis vom Stamm zu
den Ästen berücksichtigen, da es ja auch Bäume gäbe, „deren Äste tief
ausschlagen“. Solche leicht Schwachsinnige kommen dann gerne zur
Folgerung, solche Unterschiedsfragen seien überhaupt unsinnig, mit der
Begründung, die zur Unterscheidung vorgelegten Begriffe seien überhaupt
identisch, oder sie hätten überhaupt nichts Gemeinsames. Die Kranken
sehen dann im Moment eben nur das Gemeinsame (siehe unten: Unter¬
schied zwischen Hand und Fuß), oder nur das Trennende, und sie sind
außerstande, das Gemeinsame und das Trennende in ihrer Antwort kurz
zusammenzufassen und kurz auseinanderzuhalten. So erklärte sich der
oben erwähnte Patient außerstande, den Unterschied zwischen Irrtum
und Lüge zu definieren, da Irrtum und Lüge ja kaum etwas Gemeinsames
hätten. Die Lüge sei eine wissentlich falsche Aussage, der Irrtum habe
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damit nichts zu tun; denn Irrtum habe ja gar nichts mit Sprechen zu
tun. Wenn man den Irrtum im Gegensatz zur Lüge als unbewußte
falsche Aussage definiere, so sei dies falsch, denn „dieser eine Fall“ er¬
schöpfe den Begriff Irrtum keineswegs. Solche Patienten, wie auch der
unsrige, sind insofern als schwachsinnig zu bezeichnen, als es ihnen nicht
möglich ist, aus der Fülle der Partialvorstellungen im selben Maße wie
der Normale allgemeine Vorstellungen, in. a. W. Begriffe zu bilden, Begriff-
Symbole für die Fülle empirischer Details einzusetzen und damit zu ope¬
rieren. Beim höheren Blödsinn tritt dann an Stelle des Begriffsymbols
oft das reine Wortsymbol.
Unterschied zwischen Hand und Fuß? „Den fasse ich generell,
es ist genau dasselbe. Indem aber durch — der Fuß ist gleichsam eine
unausgebildete Hand, die Hand ist gleich Steigerungsform des Fußes.
Was der Hand an Unabgehärtetsein abgeht, hat der Fuß an Härten.
Aber da wird es wieder kompensiert durch-. Wir haben auf der
einen Seite bei der Hand Zartheit der Haut und Beweglichkeit der Glieder,
auf der andern Seite Härte der Haut und Unbeweglichkeit der Glieder,
und daher unterscheiden sie sich auch in ihrer Funktion. Wenn man
gleichsam sich Stiefel an den Händen anziehen würde, würde man es
doch nachteilig verspüren, wenn man auf etwas Spitzes oder Hartes stoßen
würde, dagegen würde es mit dem Fuß unempfindlich sein. Dagegen wenn
ich versuche, mit den Zehen etwas zu fassen, zu ergreifen, würde es gänzlich
unmöglich sein oder nur nach längerer Übung möglich sein, während
bei der Hand, wo die Finger ausgebildeter und gelenkiger sind, es leichter
fällt. Aber ich behaupte auch, daß die Ungelenkigkeit des Fußes lediglich
auf einen Instinktmangel, an Gewöhnung, dieses Glied zu brauchen,
zurückzuführen ist, denn ein ohne Hände und Arme geborener Mensch
wird sich auch der Füße eventuell bedienen können, statt der Hände.
Das führt einen auf die interessante Streitfrage: ob Raffael derselbe
Künstler gewesen wäre, wenn er ohne Hände geboren wäre, was ich un¬
bedingt verneine.“
Wir finden auch in diesem Beispiel einerseits das Nebeneinander
von höchst unklar angewandten komplizierten Begriffen (Begriff der
Entwicklung, der Funktion, des Instinkts und der Gewöhnung etc.) und
von einzelnen sinnlichen Details (Unabgehärtetsein der Haut, Beweglichkeit
der Glieder): die letzteren zeigen eine auffallende Perseverationstendenz,
die in keinem Verhältnis zu ihrem logischen Wert steht. Von den erwähnten
Allgemeinbegriffen aus, also in deduktiver Hinsicht, verschwinden die unter¬
scheidenden Merkmale. Von den sinnlichen Details aus werden sie wiederum
übertrieben. Durch das Hineinmengen biologischer Gesichtspunkte wird
die Antwort geradezu abstrus, und sie entfernt sich immer mehr von dem
Sinn und Zweck der Frage. Der intellektuelle Größenkomplex des Pa¬
tienten geht auch aus dieser Antwort deutlich hervor. —
Unterschied zwischen Fenster und Türe? „Beide erfüllen denselben
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'eck. Wir wollen zuerst das Gleiche nehmen, den Zweck eines Abschlusses,
»er nicht nur ein Abschluß. Erstens, daß da ein Abschluß gefunden werden
1; zweitens, daß die Möglichkeit gegeben ist, einen Abschluß nicht wie
einer Mauer oder, wie in einem Turm zu machen, sondern daß diese
nrichtung möglich ist zum öffnen und schließen ad libitum. Die Ur-
Stimmung ist die des Abschließens, aber mit dem Hintergedanken, daß
an es jederzeit aufmachen kann, um hinauszugehen oder um frische
ult zu schöpfen. Das Unterschiedliche geht hervor aus der verschiedenen
Bestimmung. Ein Fenster ist aus Glas resp. undurchsichtig (weil es auch
'tattes Fensterglas gibt! Ref.), daß man Licht hineinlassen kann, hinaus-
ehen kann auf die Vorgänge der Straße. Die Türe mit Glas zu versehen
>'äre unangenehm aus praktischen Gründen und aus allgemein mensch-
ichen Gründen des Komforts. Der Blick soll eine gewisse Ruhe haben.“
Auch in diesem Beispiel gelingt es dem Patienten nicht, zwischen
allgemeinen Begriffen und sinnlichen Details, zwischen Trennendem und
gemeinsamem sich hindurch zu lavieren, um zu einer logisch richtigen
und einigermaßen erschöpfenden Definition zu gelangen. Wir dürfen
es aber gerade als Zeichen der Überschätzung seiner eigenen Intelligenz
und als objektives Zeichen einer Eigenart seiner Intelligenz auffassen,
daß Patient zwischen der Unmöglichkeit, eine Definition überhaupt zu
geben, und dem Streben nach einer möglichst hochwertigen und voll¬
ständigen Definition hin- und herschwankt. Der Normale hilft sich hier
mit viel einfacheren Mitteln und sieht ein, daß er aus dem Stegreif über¬
haupt keine erschöpfende und den Ansprüchen der Logik in jeder Hinsicht
entsprechende Definition geben kann, andererseits kann er aber auch ohne
weiteres sofort darlegen,was zurErklärungdesUnterschieds z.B. einemKinde
gegenüber genügen würde. Immer wieder sehen wir, wie Patientsich umsonst
abmüht, die Aufgabe, die er sich stellt, zu erfüllen, und der Intelligenz¬
mangel liegt noch mehr in dem Mangel der Kritik Uber seine eigene Leistungs¬
fähigkeit und der falschen Auffassung der Untersuchung überhaupt, als
in dem durch diese Momente sekundär hervorgerufenen Unsinn selbst.
Zwischenhinein sehen wir auch hier wieder durchaus richtige Beobachtungen,
Merkmale wie z. B. Intelligenz, Schönheit des Baues beim Pferd zur
Unterscheidung vom Ochsen, die Einteilung in Einhufer und Tiere mit
gespaltenen Hufen, das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des
Wiederkäuens und die Beobachtungen über die Affektreaktion. Das
Gesuchte und Geschraubte der Ausdrucksweise (vgl. den Ausdruck „mittel¬
alterlicher Vorgang des Wiederkäuens“) diskreditiert den Wert der
Ausführungen des Patienten oft mehr als der Inhalt an und für sich.
Unterschied zwischen Wasser und Eis? „Das Eis ist kondensiertes,
durch den äußeren Einfluß der Luft zusammengepreßtes Wasser, durch
Kälte komprimiertes Wasser.“ Bei den geringen physikalischen Kennt¬
nissen des Patienten könnte man mit dieser Definition so weit zufrieden
sein, wenn er sich nur damit begnügte. Daß er den Unterschied zwischen
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kondensiert und komprimiert nicht kennt, ist ja lediglich eine Sache des
Wissens, nicht der Intelligenz. Er fährt dann aber fort: ,,Wie Sie alles
komprimieren können, z. B. Milch, Bouillon; Sie kennen doch diese Maggi -
Würfel!“
Patient erwähnt nachher bei der Besprechung des Beispiels, daß
ihm hier die Erinnerung an eine Szene in einem Buche über Nordpolfahrer
gekommen sei, bei der es sich um Zubereitung und Genuß kondensierter
Milch gehandelt habe. Dieses Beispiel zeigt wie so manches andere, daß es
dem Patienten schwer und oft unmöglich ist, das ihm aus seinem schlag¬
fertigen Gedächtnis stets zufließende Material zu unterdrücken. Insofern
machen sein Ausführungen oft den Eindruck einer leichten Ideenflucht,
und doch ist der Vorgang hier ein ganz anderer als dort. Während es sich
bei der Ideenflucht um eine durch einen psychophysischen Mechanismus
hervorgerufene Herabsetzung oder den Verlust der Zielvorstellung handelt
und um ein Vorherrschen höchst oberflächlicher äußerer Assoziations -
Verknüpfungen, können wir in unserem Fall die scheinbare Ideenflucht
psychologisch verstehen (im Sinne von Jaspers). Patient unterdrückt die
ihm zufließenden Assoziationen deswegen nicht, weil er damit glänzen und
paradieren will, und weil ihm dieser Zweck ungleich höher steht als die
Gebote der Logik. Es sind also viel mehr affektive verständliche Faktoren,
um die es sich hier handelt, als ein außerbewußter, krankhafter, psycho¬
physischer Mechanismus. Auch hier sehen wir wieder, wie affektive Momente
die rein intellektuellen Leistungen herabsetzen. Patient fährt fort:
„Das Eis ist eine durch Kompression zusammengeballte Wassermasse,
die im Gegensatz zum Wasser die Form des Festen hat. Sehen Sie mal,
lieber Herr Doktor, eine andere Parabel: sehen Sie mal, wie Sie es er¬
läutern können in wissenschaftlicher Weise: es ist derselbe Unterschied
wie zwischen Gefühl und Denken. Die Idee ist das komprimierte Gefühl.“
Patient führt nachher als empirischen Beweis für ein komprimiertes Gefühl
den Vorgang an: „Wenn sich eine ätherische Flüssigkeit auf dem Zahn¬
fleisch zusammenzieht.“ Die Unschärfe und Unklarheit seines Denkens
ist hier besonders deutlich. Er fährt fort:
„Ich darf Sie an die alten indischen Legenden erinnern und an den
Spruch Goethes: Schöpft des Dichters reine Hand, Wasser wird sich
ballen. Nach der alten indischen Legende soll sich in der reinen Hand
des Dichters, Denkers oder Sehers Wasser durch das Kristall . . . das ist
unnachahmlich, das kann nur aus dem indisch-arischen Denken ent¬
springen ; so kristallisiert sich das Gefühl unter der reinen Geisteshand des
Dichters und Denkers zur Idee. Ich erinnere Sie an Schlegels Worte:
Was ist Architektur? Es ist gefrorene Musik, gebundener Rhythmus.
Und nehmen Sie etwas anderes, lieber Herr Doktor. Können Sie das
verstehen, z. B. wie die zwei Weltansichten Zusammenhängen: alles ist
Musik und alles ist Zahl? Die Marburger Schule konnte behaupten,
daß Pythagoras sagte: alles ist Zahl, aber er hat zuerst gesagt: zuerst
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhättnisblödsinn (Bleuler). 609
s t die Zahl. Es ist eine sehr interessante Sache, daß man behauptet hat
- natürlich ist es von den Philologen bestritten worden, weil sie es nicht
erstehen — daß Pythagoras an einem alten Musikinstrument dieMeßklappe
erfunden hat. Nun denken Sie sich einmal, daß Pythagoreismus eine
subjektive Sache ist, daß er in den Leuten klingt, sie haben überall eine
H armonie, ein Leben, wie es so unglaublich surrt und spielt. Da kommt
der ernste Mann und sagt: da wollen wir die Gefühle ausnützen. Sehen
Sie, den Unterschied zwischen Wasser und Eis kann man ins Unendliche
ausnützen. Fragen Sie sich doch einmal, worin beruht für Sie der Reiz
einer Mona Lisa, eines Selbstporträts Dürers? Es ist nicht die virtuos
gemalte Oberfläche, sondern die Seele, die von innen nach außen strahlt.
Der moderne Psychologe hat es ja herausgebracht, daß das Leben von
innen nach außen strahlt, jedes Leben von innen nach außen. Außen
setzt es sich fest, vereist es sich gleichsam. Ich plane ein Riesenwerk über
diese Frage. Hier haben Sie alles Rohmaterial. Ich habe mich nicht
präpariert, es kommt ganz spontan, da es sich schon lange in mir bewegt.“
Der Schluß ist eine bewußte Lüge, da Patient sich gerade in jener
Zeit eifrig mit den Vorsokratikern beschäftigte und auch eine Studie über
Pythagoras schrieb. Umso bezeichnender ist es, daß es ihm nicht gelingt,
den Pythagoreismus einigermaßen anschaulich zu schildern, wenn man
auch den Eindruck gewinnt, daß er selbst bis zu einem gewissen Grade
fühlt, worum es sich handelt. Die ganze Antwort ist ein typisches Beispiel
für die Art und Weise, wie Patient „Konversation macht“ und seine
Umgebung durch sein „stupendes Wissen“ und seine „geistreiche“ Art ver¬
blüfft. Die Unklarheit und Unschärfe seiner Begriffe und das Operieren
mit Wortsymbolen macht es ihm bei seiner guten sprachlichen Begabung
leicht, seinen ehrgeizigen und eitlen Drang, geistig zu glänzen, zu befriedigen.
Da es für ihn keinen Unterschied ausmacht, ob es sich um den physi¬
kalischen Vorgang der Kompression von Wasser zu Eis oder um den
mystisch-psychologischen Vorgang der Kompression eines Gefühls zu
einer Idee handelt, und da er infolgedessen durch keine kritischen Einwen¬
dungen gehemmt wird, läuft das Bächlein seiner Rede lustig weiter.
Einzelne hochtrabende Worte und Zitate, Autorennamen aus allen Zeiten
geben seiner Rede äußerlich den Schein des gediegenen Wissens und da
und dort auch der selbständigen Kombination. Wer übrigens das Buch
von Karl Joel : „Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der
Mystik“ kennt, das Patient damals eifrig studierte und exzerpierte, wird
leicht erkennen, daß auch die scheinbar eigene Kombination in unserem
Beispiel das fertig übernommene Wissen fremder Gedankenkombina¬
tionen ist.
Die Moral unseres Kranken und ihre Beziehungen zu
der Form seiner Intelligenz. — Befragt, wie er sich zu seiner Ver¬
gangenheit stelle, erklärt er, er stünde ihr mit einem entsetzlichen Degout
gegenüber. Aber nicht das, was er den Eltern angetan habe, bedrücke
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610
Büchner,
ihn, sondern das, was er sich selber getan habe. „In unserem Jahrhundert
ist der Begriff der Reue ja ein stagnierender; für einen Menschen, der in
der Entwicklung begriffen ist, wie ich, paßt dieser Begriff nicht 1 ). << Wenn
er ein andermal doch wieder erklärt, sein Leben sei eine Sünde, oder er
habe entsetzliche Gewissensbisse, so kommt das keineswegs von innen
heraus. Er philosophiert darüber, unter welchen Gesichtspunkten man ein
Leben wie das seine betrachten könnte, ohne aber mit seinem ganzen
Ich dazu Stellung zu nehmen, es sei denn von dem Standpunkte des aller¬
oberflächlichsten Opportunismus aus. „Mein Leben ist eine Sünde oder
Geschmacklosigkeit oder Gemeinheit. Vor allem eine so furchtbare Dumm -
heit, Sinnlosigkeit, etwas so Unlogisches.“ Er hätte ein reizendes Leben
führen können, alles haben können, was er nur brauchte, und nun habe
er die bodenlose Dummheit begangen, all das zu zerstören. Er kenne
keineswegs den „Begriff“ der Sünde oder des Kummers, den er den Eltern
gemacht, da er ihnen entsetzlich kühl gegenüberstehe; sie hätten es an
der nötigen Liebe ihm gegenüber fehlen lassen. Wir sehen, daß er wohl
vom moralischen, ästhetischen und logischen Gesichtspunkte aus sein
vergangenes Leben betrachtet, aber wenn er die Moral mit hineinzieht,
so ist es nur der Vollständigkeit der Betrachtungsweise wegen, und nur
um sie gleich auch wieder auszuschalten.
Auf die Frage, wie er das Studium der Philosophie, insbesondere
der Ethik, mit seiner bisherigen Lebensführung in Zusammenhang bringen
könne, gibt er an:
„Es handelt sich hier um eine positive Kenntnis, welche ich haben
muß, um gewisse Sachen beurteilen zu können. Daß ich als ein Lernender,
Michentwickelnder mich zu einer bestimmten ethischen Richtung be¬
kennen muß, stimmt keineswegs. Glauben Sie, daß ich und Dr. X. (sein
Lehrer) alles für Wahrheit halten, was wir lesen, z. B. die Dreieinigkeit,
die unnatürliche Geburt Christi? Ich weiß wohl, daß in gewissem Sinne
Philosophie Leben ist; man muß aber nicht so weit gehen, daß, wenn
man den Kommunismus studiert, man sein Essen mit seinem Pfleger
teilt. Daß Studium und Leben sich decken, ist auf keinen Fall richtig.
Ich bin zwar in gewissem Sinne von meinem Studium beeinflußt; ja, aber
wie Goethe Tasso und Antonio in sich enthält, Schopenhauer den Pessimis -
mus vertritt und dabei reich ist, Dühring lahm und dabei Optimist-.
Bürger, E. Th. A. Hoffmann zeigen lauter Gegensätze im Leben und in
ihren Schriften. So könnte man Michel Angelo, Plato, Hadrian, Sokrates,
Friedrich den Großen einfach als homosexuell abtun. Erstens lehre ich
*) Wir sehen, wie unser Pat. eine scheinbar logische Inkompatibi¬
lität für seine Moral ausnützt. Da der Begriff des Stagnierens und der
der Entwicklung Gegensätze sind, und da der Begriff der Reue in die
erste Kategorie gehört, sein Ich aber unter die zweite, folgert er, daß es
für ihn ausgeschlossen und zwecklos sei, etwas zu bereuen.
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnis blöd sinn (Bleuler). 611
-ht und bin rein rezeptiv. Wie soll ich zu einer Einheit kommen, wenn
es nur aus. Gegensätzen besteht? Das anzunehmen, daß Studium und
;ben sich decken, ist krankhafte Subjektivität.“
Wir sehen hier, daß Patient die Frage nicht richtig aufzufassen
irmag, sei es, daß er der Anwendung auf sich selbst einfach ausweichen
ill, sei es, daß er tatsächlich im Moment nicht imstande ist einzusehen,
aß die Beantwortung der Frage keineswegs damit erschöpft ist, daß
las Studium, z. B. der Ethik, und das Leben sich'völlig decken müssen.
)aß die oben gestellte Frage implizite die spezielle Frage enthält, ob und
nwieweit er selbst sich durch das Studium der Philosophie und der Ethik
n seiner Lebensführung beeinflußt fühlt, merkt er hinterher zwar doch,
weicht aber sofort aus durch den stark hinkenden Vergleich mit historisch
oekannten Persönlichkeiten, bei denen Lehre und Leben sich nicht decken.
Er geht aber keineswegs der Sache auf den Grund und erklärt bei einer
nochmaligen Wiederholung der Frage, es handle sich bei ihm lediglich
um ein besInders großes Interesse für das Thema der Philosophie. Für
das Volk sei die Ethik unbedingt notwendig und möglich (1), weil sonst
alle Bande gelockert würden, wie es die Renaissancezeit zeige, wo die Leute
die griechischen Kunstwerke mit größter Begeisterung betrachteten und
daneben ihre Familien ermorden konnten, „es waren Menschen mit einem
Nervensystem wie ein Seismograph von beispielloser Rezeptivität; es
war der uomo universale.“ Man sieht hier deutlich, wie Patient sich mit
den Menschen der Renaissancezeit identifiziert und in dieser Identifikation
seine Befriedigung findet.
Zum drittenmal befragt, erklärt er, die Ethik habe erstens eine
persönliche Wirkung auf ihn, zweitens habe er eine Schwärmerei für die
Ethik, „und dementsprechend wechsle sie auch“.
ln die Enge getrieben, gibt er dann endlich rundweg zu, daß in
seinem vergangenen Leben „auf keinen Fall eine Beeinflussung durch
ethische Momente überhaupt erkennbar sei“. Er entschuldigt immerhin
sein Lügen damit, daß es weniger aus dem Nichtwirken ethischer Momente
als aus Angst erfolgt sei, und er sucht sich gleich wieder in ein besseres
Licht zu stellen, indem er hinzufügt: es wäre ihm unmöglich gewesen,
einer Wagneroper beizuwohnen, wenn er so „abgesoffen“ war. Sein ästheti¬
sches Gewissen ist immerhin eine Spur stärker entwickelt als das ethische.
Die Treue definiert er als eine durch Liebe diktierte Anhänglichkeit.
Mit dieser Definition könnte man ganz zufrieden sein, wenn Patient nicht
im folgenden den Hauptnachdruck auf den Zusatz: „durch Liebe diktierte“,
legen würde. Er weiß nichts von einer Treue, die um ihrer selbst willen,
existiert, um des kategorischen Imperativs willen, den er ja theoretisch
sehr gut kennt. „Wo keine Fäden hinüber- und herüberlaufen, da gibt
es für mich auch keine Treue. Ich muß von dem, was ich in mir selbst
Gutes fühle, auch anderswo ein Echo finden“; m. a. W., wo ihm ein
Mensch sympathisch ist, da glaubt er auch zu ethischem Empfinden
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Büchner',
zu sein, vyo
Empfindens.
ln der Definition der Itankbarkeiiidie er ate etwas ..ekelhaft Degou•
taute» und kolossal; Hohes“' bezeielumt, erklärt er .unumwunden, s- t;-
'dankbaren Gefühle hinge« ganz von dem Men«ehen ah, der ihm jgogeniiber-
$lehe, So sei er »eioeux oohamielnden ArzHm hödhsUüi .M*0o.-dankbar,
denn er ;aei gänzlich afietgennülzilgv behandle ihn .Immer tu reizender
Weise, schenke ihm immer volles Vertrauen, tUiterhaltc sich lange mit
ihin^ein^nsölcliHö^:itt£pi» kihntje ftr nje telügen uder lauschen: Wenn auch
sn vvar, wie erwähnt, doch imniet
zu beobachten, daß ihiiöafi iriUiH-r .»'lärm die größte ftv-üe zeigte, wem.
er den bcOrrdfoniieu Arzt ajtgotogött hatte Bier tat es ihm. %»gpfl*eheiiiikh
Paiiant gibt schlioßUch jy, daß er in moraliscKen Dinge»
• durchaus' HeUumst ist, d. h. er b»*sUtf- überhaupt feeitie .Moral »m eigen! •
iidmii Sinne. Die Gefühle der Trope,-der Dankbarkeit, der Aöbanglichkvt 1
sind bei ihm ganz uhd gar «nsclhst.amjtg, entspringen keineswegs irgemi
einem oÜdsoiieh ; Bedürfnis, sondern sie stehen ganz und gar unter der
•l)C0iiäteU#i9fli?ne . Wenn cf
in gewisser llinsichv
:hi zu btdijger» und zu hinho
t, falle» rnoraliÄche Motive völlig wes?
Sehr bez£jijiibenä;.fsf ,Äö'^tji)Cbii-..da.ß -^f.-4eh' Ä$fiMi»!itag*v
des höliandeimien Arnes üachkoimtie „nicht ans Pflichtgefühl, «nntfäta
um ihm eilten Gefallen zu tun. Ich Inlde mich•vollständig aldtOwgii vei.
»hm- 'Venn er verreist, kann' ich nicht arbeiten, dann winde i..h cm :
hi meinem Stuhl«? vor Schmerzen., Ich hafte -an der Athmnsphdre d^rfe
■cÜäniies“
sehr recht
Wenn Patient. liier auch sehr iibf-rt reibt. so hat er im Gründe i.u--:h
recht, und wir dürfen hier seine gute Solbstheohachtoiig bHWi.mh-n.
Es ist mir» sehr lehrreich, daß das, was für sein anscheinend am
diseben Mfdiveh erfolgendes Handel» gilt, i» gewisser HinsieM au-di
mornlischp.n Mötiveh erfolgendes > Jt ausiciu ^ iii^ im, jgi:
für seihp ihlnlli^eaz zdtriftt. , t jvh .'öiSkl^'t -er.
.etwssumO.;:
sagt, faßt er .{al-.H« hl)eh rasch *uid gut auf. Diese Abhkßgigk-it '
.Äü{fw»y »gsven migens von affektiven Momenten, fianienUich v-.in ■'
i.;.>in.>cecueiS,..(i Chertrag'iiig, ist ei« HsdiptiiioTimüt, das .seiner- liipdUsye.
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 613
chlichen intellektuellen Begabung für ein Hauptmerkmal des Ver-
Utnisblödsinns unseres Patienten gekennzeichnet haben, so tritt uns
er ein anderes, für seine Intelligenz ungünstiges Verhältnis entgegen, wie-
erum ein affektives Moment: das außerordentlich starke Reagieren nach
ympathie oder Antipathie untergräbt den Wert seiner intellektuellen
Begabung, die ohne jenes Moment, also bei einem gemütlich, insbesondere
>sychosexuell stumpferen Menschen reiner und ungestörter zum Vorschein
«tarne und die Kritik nicht derart herausforderte. Es braucht im übrigen
kaum darauf hingewiesen zu werden, daß beide Momente, das Streben
nach möglichst hochwertigen intellektuellen Leistungen und die Ab¬
hängigkeit von persönlichen (psychosexueilen) Gefühlseindrücken, insofern
in engem Zusammenhänge stehen, als das Streben nach Geltung nicht
um seiner selbst willen da ist, sondern wiederum darum, um vor sympa¬
thischen Menschen zu glänzen. Der psychoanalytisch geschulte Beobachter
wird leicht erkennen, daß wir hier Beziehungen zum Vaterkomplex des
Kranken Anden.
Verhängnisvoll wird jene Abhängigkeit in um so höherem Grade für
die intellektuellen Leistungen unseres Patienten, als die logischen Normen
nicht nur durch die Sympathie- oder Antipathiegefühle gegenüber lebenden
Personen in den Hintergrund gedrängt werden, sondern auch durch per¬
sönliche Sympathie- oder Antipathiegefühle gegenüber den von ihm
studierten Autoren überhaupt. Und hier ist es wiederum viel weniger
die Persönlichkeit des Autors, die ihn fasziniert und beeinflußt, als ein vor¬
wiegend äußeres Merkmal, nämlich die Art und Weise seines Schreibens
a\s solche. Wer trocken und gelehrt schreibt, vermag keinen Einfluß auf
unseren Patienten zu gewinnen; eine begeisterte, glänzende Schreibweise
wirkt stärker auf ihn als der Inhalt des Geschriebenen. Je mehr die Diktion
seiner eigenen sich nähert, desto rascher und intensiver nimmt er das
Gelesene auf.
Was das Verhältnis der Intelligenz unseres Patienten zu seiner
Affektivität anlangt, so wollen wir uns darüber klar sein, daß hier keines¬
wegs irgendwelche qualitativ neue Beziehungen anzutreffen sind, die wir
beim Normalen nicht fänden, sondern nur eine besondere Ausprägung von
Verhältnissen, die wir auch beim Gesunden in unendlich mannigfaltiger
Zusammensetzung vorfinden. Nur bei den Allerwenigsten unter uns
werden die intellektuellen Funktionen nicht durch affektive Momente
mehr oder weniger beeinflußt, und wenn Nietzsche sagt, man widerspräche
oft einer Meinung, während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vor¬
getragen wurde, unsympathisch sei, so ist wohl niemand unter uns ganz
frei von einer solchen „persönlichen“ affektiven Abhängigkeit seines
Urteils. Was wir aber hier nur im praktischen Leben und in geringem
Grade finden, während wir uns im wissenschaftlichen Denken und Forschen
möglichst davon frei machen können, so geht jene Gefühlsabhängigkeit
des Urteils bei unserem Patienten erst recht in sein wissenschaftliches
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Denken über und raubt ihm so jeden objektiven, überindividuel¬
len Wert.
Die philosophischen Studien. — Wirhaben aus der Vorgeschichte
vernommen, daß eine Studie unseres Patienten über „Julian Apostata
im Lichte von Ibsen, Dahn und Mereschkowski“ von einem Universitäts¬
professor günstig beurteilt worden war, und ich vermute, daß dieses
günstige Urteil den Begutachter mit dazu bewogen hat, die Diagnose
Schwachsinn in unserem Falle nicht zu stellen. Unsere Erwartungen
werden noch höher gespannt, wenn wir vernehmen, daß der Lehrer unseres
Kranken, für dessen Urteil ich die volle Verantwortung übernehme, zugibt,
daß Patient unter besonders günstigen Umständen imstande sei, seinen
philosophischen Doktor zu machen sowohl durch eine größere schriftliche
Arbeit als auch im mündlichen Examen, nämlich dann, wenn es dem
Examinator mehr auf das Wissen ankäme als auf eigene Gedanken¬
leistungen, was ja nicht selten der Fall ist. Auch wenn wir den Umfang
seiner von Juni bis Dezember 1913 verfaßten Arbeiten überblicken, muß
uns wenigstens sein Fleiß Respekt einflößen. Nach einer vom Patienten
selbst aufgestellten Übersicht, die durchaus der Wahrheit entspricht,
hat er in jener Zeit folgende Themata bearbeitet.
1. Menschenhaß und Weltflucht im Spiegel der Literatur (selbst-
gewähltes Thema). Umfang 268 Seiten (eines gewöhnlichen Schulhefts).
Durchgearbeitet zwei Dramen von Ibsen, eines von Lessing, drei von
Goethe, eines von Schiller, fünf von Shakespeare, eines von Kotzebue.
2. Mitte Juli begonnen, zwei Studien über Descartes.
a) Das Erkenntnisproblem bei Descartes (55 Seiten),
b) Descartes Abrechnung mit der Scholastik (28 Seiten). Selbst-
gewähltes Thema.
3. Vom September bis Oktober eine Arbeit über Anselmus von
Canterbury (173 Seiten). „Hierzu benützt 22 Bücher.“
4. Vom Oktober bis November zwei Arbeiten über Abälard, die eine
betitelt: „Das Erkenntnisproblem bei Abälard“ (118 Seiten), die andere
selbstgewählte und selbstformulierte: „Kann man behaupten, daß der
Abälards Lehre durchziehende Gegensatz zwischen Vernunft und Offen¬
barung sich in seinem Lebensgang wiederfindet als Widerstreit zwischen
Vernunft und Gefühl einerseits, Moral und Leidenschaft andererseits?“
(34 Seiten.)
5. Vom November bis Dezember fünf Studien zur Philosophie der
Vorsokratiker (260 Seiten).
Gegenwärtig arbeitet Patient über das Thema: „Wie findet die
griechische Philosophie den Ausweg aus der Sophistik?“
Wo nichts Besonderes vermerkt, sind die Themata dem Patienten
von seinem Lehrer gestellt worden. Da es unmöglich ist, auf alle Arbeiten
näher einzugehen, und da alle durchaus dieselben Merkmale aufweisen,
wollen wir nur seine letzte fertige Arbeit,
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 0X5
die Studien über die Vorsokratiker,
etwas näher betrachten.
Als Literatur zu allen fünf Aufsätzen hat Patient vermerkt:
1. C. A. Brandts, Geschichte d.Entwickl. d. griech.Philosophie. (Berlin
1862.)
2. H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker I—II, 1. (Berlin 1912.)
3. J.E. Erdmann, Grundriß d. Geschichte d. Philosophie. (Berlin 1878.)
4. Th. Gomperz, Griechische Denker I—II. (Leipzig 1896.)
5. K. Johl, Der Ursprung d. Naturphilos. a. d. Geiste d. Mystik. (Jena
1906.)
6. W. Nestle, Die Vorsokratiker. (Jena 1908.)
7. F. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen.
(Nachgelass. Werke: 1872/3 u. 1875/6.) (Leipzig 1903.)
8. H. Ritter, Geschichte d. Philosophie, alter Zeit. (Hamburg 1836.)
9. E. Rohde, Psyche II. (Tübingen u. Leipzig 1903.)
10. Überweg-Heinze, Grundriß d. Gesch. d. Philos. I. (Berlin 1876.)
11. W. Windelband, Geschichte der antiken Philos. (München 1912.)
Es ist hervorzuheben, daß Patient von seinem Lehrer jeweils einige
Winke hinsichtlich der Literatur erhält, jedoch ist das Auffinden der
Literatur im großen und ganzen dem Patienten selbst überlassen. Die
erste Studie ist betitelt:
Heraklit und Parmenides.
I. Teil. Heraklit.
Spezielle Literatur über diesen Teil:
F. Schleiermacher : Herakleitus der Dunkle. (Berlin 1846.)
F. Lassalle : Herakleitus von Ephesus. (Berlin 1858.)
Disposition zu diesem Teil.
a) Die Lehre von der Relativität und dem Fluß der
Dinge.
Siehe Diels : Fragmente der Vorsokratiker (Hinweis auf 30 Fragmente).
b) Physikalische und psychische Anwendung der Lehre
vom Urfeuer.
(Wieder etwa 30 hierher gehörende Fragmente einzeln aufgeführt.)
c) Wie gelangt der Mensch nach Heraklit zur Erkenntnis
des Absoluten und welches ist das Wesen desselben?
(35 Fragmente.)
II. Teil der ersten Studie.
Die Philosophie des Parmenides in ihrem Verhältnis zu der
Philosophie Heraklits.
Spezielle Literatur:
Paul Deußen : Die Philosophie der Griechen. (Leipzig 1911.)
Disposition zu diesem Teil,
a) Der Gegensatz zwischen Sein und Nichtsein.
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Bnchner,
1. Von Heraklit zu Parmenides.
2—3. Sein (Helle) und Nichtsein (Dunkel).
4. Wesen und Bedingungen des Werdens.
5. Der Gegensatz von Licht und Dunkel im Menschen.
6. Die Lehre vom Sein-Nichtsein als bloße „Meinung“ und der
Übergang zum einigen Sein.
b) Die Überwindung der Gegensätze von Sein und
Nichtsein.
1. Auseinandersetzung mit der Lehre vom Fluß.
2. Die Zweifel des Melissos als Ergänzung zu denen des Parmenides:
Leugnung des Werdens.
3. Einheitlichkeit, Unwandelbarkeit und Ewigkeit des Seins.
4. Die Größe der Parmenidesschen Entdeckung und die Einheit
von Denken und Sein.
5. Wertung des Parmenides.
Zweite Studie.
Heraklits Verhältnis zu seinen Vorgängern.
Ii Abschnitt.
Wesen und Ursprung der Lehre des Thaies.
Disposition.
a) Darstellung der Lehren des Thaies.
1. Falsche Verallgemeinerung in der summarischen Verwerfung
der Lehren.
2. Thaies der Physiker und Außenansicht des Metaphysikers.
3. Die Lehren des Thaies.
b) Der Ursprung der Lehren des Thaies.
1. Mystik (Gefühl) und Mythos (Tradition) als Quelle des Lebens.
2. Die Lehre von der Urgottheit der Ägypter und ihr Verhältnis
zu den Lehren des Thaies.
3. Die Allbeseelungslehre.
4. Unsterblichkeit und Seelenwanderung.
Spezialliteratur:
E. Röth : Geschichte unserer abendländischen Philosophie II. (Mann¬
heim 1862.)
D. Tiedemann: Griechenlands erste Philosophen. (Leipzig 1780.)
Dritte Studie.
I. Teil.
Empedokles und seine Philosophie. ,
Spezialliteratur:
P. Deußen : Die Philosophie der Griechen. (Leipzig 1911.)
B. H. C. Lommatzsch : Die Weisheit des Empedokles.
1830.)
J
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom VeihäJtnisblodsuvo (Bleuler). 0J7
'V Utm, ' ■
ä) Der- 'Qögeiv^a t i vnn LitJlte und Hdß $}s »? r uhdpre b |em
des .0 inpe<l»»kl«4 tuen* n 0 cnk* n.>.
1. Zweifel ittti BijistbJiefi V^sheb, v^ift imd Nichteein.
2. Die luukdvUgc Deutung 4er Kräfte Liebs- atul Haß;
3. Liebe tsitjl HAß als aus tHh) Elementen erdVvjekelte Kräfte..;
4. Liebe ftnä Haß in ihrem Wesen um! gegenseitigem Ver-haHnis.
t<) Weltbild hnd Mensch als FrmduMe von Mischung
und EnIrriischuug.
1. Das Werden der Weit.
2. Erschaffung und Fähigkeiten des MebsiluuV.
• c) Die öeeteutehre des Empetloktes.
1. Pfiy^iölpg&Ciier unii phiibsripfirjseirer Seelen begriff.
Seeicui.-|.rv und Elmrumtridehrm
it led.
.Affax-äguras.
Depositum.
ä) Die Lehre von der Besehaf fenftetf der («rundstofle
■als kortMitriljx er’ Elerneotd; alten Dih«^; v . •% • ,
■
1. An^xagirnis jn«f seine' Vorgänger. —uDte Lehre von den Grund¬
stoffen.
b) Wesen Ufi<1 Wirken des Nut
1. W '-B'-’n .de?. NUm.
2. Dös W"Mi rivverden .durch die Kraft, des :\iis.
3. EfkennDifeitheoreüsches. •.
•SViu.i-iierkemd.nis: und Vcrteandeserkeuntiusu
Sp^iiaHiterntuf; • '
. dNviV itettftfn: Die.gi'ieehisciie iteilnsophie.
Viert* 8K«Hg. ■ • ., .
■ . . tWimnkrit. r, , . : h'
: 'FunftH Studie,
Die Lehren des rrüVagcuas.
' ’ ' ,, •, ' '■ etev.cdü > ' •• •'•.;. • •
'Vir selten, daß Patient nicht aufs cieralewolii an -eine Themata
hprungehtVsnmte'm sich ; nsrs! ei»mal griiridlmfc iivder -Literatur umsteht
und nutweirft v dn ladt kaiat<)t>:föG%r
fHhfJiehfcr;'M uthd ;öf!n»nögk(?it. Diese dTispftkrt buten sind für ihn yort der
gfi'ißtei* WirdiUgkeit. feiV iniiß sie vhn vocriherbia .nvaUitih? aysgearbidtet
btdbmu bevor er : sirdi aui die Arbeit selbst «vagWi kainitv Wetui er hiöhi. dte
|t’«t*.sd erfaßt' »hfi dfe größte: Angst, ter könnte
auf eihnnd „au jbiiidiirt AhgtMhd Watete auf -ökhdbttek d, ju
d^n Faden verliere o„ El keiucÄWcgs der IhgiseLv
Tvff-ttitM t« j i.
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CHtGAN
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Büchner,
der ihm in seiner Arbeit zur Wegleitung dient, vielmehr bedarf M
er eines äußeren Gerüsts, an das er sich Punkt für Punkt halten kann. ^
Es genügt ihm aber nicht, nur die einzelnen Werke auf dem Papier auf- ^
geschrieben zu haben, vielmehr muß er die einzelnen Werke selbst gesehen ®
haben; „ich muß sehen, daß alle im Buchhandel sind, muß sie selbst in der
Hand gehabt haben“. Da muß sich erst ein gewisses Bekanntheitsgefühl *
mit dem Buch als solchem durch Sinnes- und Tasteindrücke hersteilen, 4
ehe es ihm möglich ist, den Inhalt einzusehen. Infolgedessen ist sein *
Zimmer angefüllt mit Bänden aus den verschiedensten städtischen und
Universitätsbibliotheken. Dem Besucher zeigt er seine Bücher mit dem
Stolz und der Freude, wie etwa der Vater seine eigenen Kinder zeigt.
Hat er sich mit den Büchern erst bekannt gemacht, dann beginnt
das Exzerpieren, und zwar in der Regel erst des Originals, dann der '
dazu gehörenden Literatur. Nur bei den Studien über die Vorsokratiker,
über die man aus den Originalen allein sich kaum einen Überblick zu t.
verschaffen vermag, hat er zuerst die Literatur studiert und dann die n
Fragmente selbst. Sind die Exzerpte beisammen, so geht es ans Memo-
mieren derselben. Im Bad, abends im Bett, morgens beim Anziehen,
lernt er sie auswendig, „bis sie ganz im Kopf sitzen“. Sobald dies der Fall
ist, verfertigt er eine „Kladde“ und nach dieser die Reinschrift. Über |
die Rolle, welche das Gedächtnis bei seinen Arbeiten spielt, ist sich Patient
ganz klar: „Es muß eine suggestive Kraft in mir sein, daß das Gedächtnis
(bei der Arbeit) so anschwillt, daß ich die Sache weiß. Das Gedächtnis -i
kann bei mir Kolossales leisten, wenn Not am Mann ist. Ich komme dabei
immer in eine große Aufregung und Begeisterung, ja geradezu in einen
Rausch. “ In Widerspruch damit steht dann aber die immer wiederholte Be -
hauptung, daß er sich nach und nach dann gänzlich von dem rohen Gedächt •
nismaterial frei machen könne und durchaus originell schreibe. „Durch
meine Arbeit geht das Ringen nach Originalität“. Hier finden wir wieder eine
völlige Selbsttäuschung des Patienten, und die Überzeugung von seiner
Originalität ist ein besonders starkes Merkmal seiner fehlenden Selbst¬
kritik. Wir werden später ein Beispiel angeblicher Originalität, auf das
er sehr stolz ist, näher betrachten. Für originell hält er aber auch schon
den Umstand, daß er oft den einen Autor gegen den andern ausspielt
und dabei sein „kritisches Geschick“ zeigt, den herauszusuchen, der das
Wahrscheinlichste bringt. Tatsächlich zeigt Patient einen guten Instinkt,
diejenigen Autoren herauszufinden und sich an sie zu klammern, die die
größte Autorität besitzen, aber auch dies weniger aus eigenem kritischen
Urteil als deswegen, weil er aus seiner reichhaltigen Lektüre gut heraus -
fühlt, welchem Autor von den andern am meisten Rücksicht und Ehrer¬
bietung bezeugt wird. Andere Male aber verleitet ihn, wie schon erwähnt,
eine ihm besonders zusagende Schreibweise, sich den betreffenden Autor
als Führer zu erwählen.
Wenn wir eine der Arbeiten des Patienten vornehmen, so fällt uns
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 619
;h dem Bisherigen ganz besonders der Kontrast aut zwischen der schrift-
len und der mündlichen Ausdrucksweise des Kranken. Einen solchen
llimathias. wie z. B. bei seinen mündlichen Definitionen, finden wir in
n schriftlichen Arbeiten nie, ja zeitweise erhebt sich sein Stil zu einer
lr guten Diktion. Wir erkennen dann aber leicht, daß es keineswegs
n persönlicher, eigener Stil ist, sondern eine geschickte Anlehnung
irgend einen der von ihm gerade „geliebten“ Autoren (z. B. an Jo€l).
Der auch schon in seinen Briefen zeigt Patient eine Ausdrucksweise,
e wir ihm nach den obigen Beispielen kaum Zutrauen. Ich setze einen
rief hierher, mit dem er die Absendung eines Teils seiner Studien über
e Vorsokratiker an seinen Lehrer begleitet.
den 14. Dezember 1913.
Sehr geehrter Herr Doktor X.l
Mit etwas unsicheren Gefühlen und nicht ganz ohne Kleinmut
ibersende ich Ihnen hiermit meine neueste Arbeit, welche nach den Auf¬
ätzen über Descartes diejenige ist, welche am selbstständigsten dasteht,
la ich versucht habe, mich oft ganz von den Auslegern frei machend,
»uf eigenem Wege zu den Resultaten zu gelangen. Da ist es möglich,
daß gerade in dieser Arbeit mancher Irrtum unterlaufen sein mag, und daher
sehe ich mit besonders großer Spannung und nicht ohne geheime Sorgen
Ihrer Beurteilung dieser Studien entgegen. Etwas deprimierend ist für
mich auch das Gefühl, daß ich zum ersten Male Ihren auf mich gesetzten
Erwartungen nicht habe vollauf entsprechen können, wenigstens was
die Quantität des Geleisteten betrifft, sprachen Sie doch die Hoffnung aus,
daß ich bis Protagoras und Demokrit käme, und nun bin ich leider nur
bis Anaxagoras gekommen und mich erfüllt die bange Sorge, ob Sie nicht
vielleicht meine Fähigkeiten überschätzen, denn es war mir eine gänzliche
Unmöglichkeit mehr zu leisten, als ich mich bemüht habe zu schaffen,
indem ich buchstäblich 4 Wochen nichts anderes als Philosophie getrieben
habe. Bedenken Sie, daß auf 4 Wochen 7 Philosophen vorgesehen waren,
so werden Sie mir hoffentlich nicht zürnen, daß ich es nur bis zur Betrach¬
tung von fünf Denkern gebracht habe (Heraklit, Thaies, Parmenides,
Empedokles und Anaxagoras), und zwar hat mich diese Arbeit enorm
interessiert, bis zu einer gewissen Leidenschaft und Begeisterung, wie
ich wohl gestehen kann. Nichtsdestoweniger war die Arbeit eine nicht
leichte. Einmal galt es, eine geistige Umschaltung vom Mittelalter zur
Antike vorzunehmen, einen gewissen „pli de la pensöe“, so daß es einige
Tage .dauert, bis man sich überhaupt in der bisher ungewohnten Gedanken¬
welt zurecht findet. Ferner ist die Vermittelung des Auslegers bei dieser
Arbeit noch nötiger, als bei den Scholastikern, denn wennSie das Experiment
versuchen würden, einem nicht mit der Ideenwelt der Vorsokratiker Ver¬
trauten etwa Heraklit und Empedokles vorzulegen, einzig ihm die Texte
zu geben und dann zu sagen: „nun arbeiten Sie zul“, ich glaube, derjenige
würde bei einer solchen Arbeit staunend und kopfschüttelnd diese schöpf'
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620
Bß?boer,
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Libdviiuf -4 : H>f4i>*i»dß|chrK, denn gerade diese lienkerhitheB *»he ür»gi4ixblr<F 1
Cer«.* f.i *■»••<: • /Sir,L- -rf»hr*?n. k* mir n..nn mt <•!.." K-v hr«'.; i '
I;4jl«Vsir, itlfciirMtkef inan sich etwa *n i Werken., jn läuft toari J
■ - **fi»l urteilt feijc-hstens".:afwkaM*itig»; aber ■
k<-ir/»:fn Fäll tu» M'. riiy. Ich r>Hb< gelnude», daö •lur-.h vüdf,yeh» .L^-k-
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k ;. MAr»chmai i*l f#n*a t f-M winzyresy äaUcfreft. ein ärets^vuäK' <
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Gerade dädürih, daß ich diesem oft {•arä*ins<irs .intejiV.-
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). (J21
und gerade darum ist diese Gedankenwelt so fesselnd, weil sie entsprungen
ist aus dem Gefühl, aus dem Gefühl eigener Kraft. Weil aber die kurzen
Fragjmente bloße Gefühlseruptionen zum Teil darstellen, flüssige Elemente
ohne feste Rahmen oder auch syntaktischer Bindemittel entbehrende
riesenhafte, unbehauene Blöcke, so muß die Vermittelung gesucht werden
durch die Durcharbeitung von einschlägigen Werken. Nicht mit Thaies,
sondern mit Heraklit habe ich begonnen und von letzterem versucht,
die.Fäden zurückzuspinnen. Wäre ich chronologisch vorgegangen, so hätte
Ich eine allgemeine Einleitung voll mehr oder minder blutloser, schemen¬
hafter Allgemeinheiten bringen müssen. Dadurch aber, daß ich mich
gleich in medias res versetzte, gewann ich in Heraklits Fragmenten einen
festen Ausgangspunkt, etwas Gegebenes, von dem aus ich bequem in die
halb sagenhafte, nebulöse Zeit des Thaies zurückgehen konnte, hatte
in Heraklit gleichsam ein Leuchtfeuer, das mir den Weg in jenes Helldunkel
wies und eine Orientierung möglich machte, etc.“
Es ist w'ohl nicht zu viel behauptet, wenn wir annehmen, daß aus
einem solchen Brief allein keine zwingenden Schlüsse auf einen erheblichen
Schwachsinn des Verfassers gemacht werden könnten. Im Gegenteil,
viele- würden vielleicht auf eine gute intellektuelle Begabung schließen.
Wenn wir aber die Lektüre einigermaßen kennen aus der Zeit, da Patient
jene Briefe schrieb, so stoßen wir auf Schritt und Tritt auf Anklänge
oder fast wörtliche Reminiszenzen aus derselben. Wenn er z. B. schreibt:
„Vorsokratiker sind das, was uns heutzutage immer mehr abhanden zu
kommen droht, anschauliche Denker, das Schauen überwiegt hier das
Begriffliche, und gerade darum ist diese Gedankenwelt so fesselnd, weil
sie entsprungen ist aus dem Gefühl, aus dem Gefühl eigener Kraft“, so
hören wir in dem Hinweis auf das, ,,was uns heute abhanden zu kommen
droht“, auf das „Uberwiegen des Schauens über das Begriffliche“, auf
das „Entspringen der Gedankenwelt aus dem Gefühl eigener Kraft“
tatsächliche und zum Teil wörtliche Bemerkungen Joels. Auch die Be¬
urteilung der Fragmente als Stoff, „aber ohne Gefäß und festen Rahmen “
stammt nicht von ihm usw. Was wir in seinen Arbeiten finden, finden wir
auch hier. Die intellektuelle Leistung des Patienten besteht fast lediglich in
dem Wiederholen und mehr oder minder gelungenem Zusammenschweißen
von Aussprüchen eines oder mehrerer Autoren. Was aber einen solchen
Brief — wie auch oft seinen Reden — scheinbar den Charakter des Selb¬
ständigen und Eigenen gibt, das ist der durchaus an die Pseudologia
phantastica erinnernde Glaube, daß das, was er sagt, mehr oder weniger
von ihm selbst stamme, sein eigenes Gedankenprodukt sei, und die Be¬
geisterung, mit derer es vorträgt. Was eigen und selbständig ist, ist tatsäch¬
lich nur das Gefühl der Begeisterung, das unser Patient infolge seiner hervor¬
ragenden Einfühlungsgabe ebenso an die geistigen Produkte anderer
zu heften weiß, wie der Prophet oder Fanatiker, aber auch der große Denker
oder Entdecker an das, was er aus der ureigenen gedanklichen Arbeit
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
622
Bachner,
oder aus seelischen Kämpfen gefunden hat und als zu Recht bestehend
erkennt. Der Rausch, die Inspiration ist durchaus echt und verführt
wie den Patienten selbst so auch Hörer oder Leser. Sie stammt aber
keineswegs aus der Hingabe an eine eigene persönliche Sache, sondern
aus einem mystischen Überschwang des Gefühls überhaupt, für das er
in den Gedanken oder besser noch in den rhetorischen Wendungen anderer
einen Inhalt sucht.
Gehen wir nun zu den fünf Studien selbst über. Von selb*
ständigen Ansichten oder Auffassungen ist darin ebensowenig zu finden
wie in seinen übrigen philosophischen Arbeiten. Seine Arbeiten sind fast
nur Kompilationen. Natürlich muß er unter den verschiedenen Auslegern
der verschiedenen philosophischen Systeme für den einen oder andern
Partei ergreifen, was er selbst schon als originelle Leistung auffaßt; aber
wir bemerkten schon, nach welchen Kriterien diese Parteinahme erfolgt.
Ganz vereinzelt finden wir aber scheinbar originelle Ideen oder Kombina¬
tionen. Als eine solche ureigene Leistung bezeichnet Pat. z. B. die Ein¬
leitung zu der fünften Studie (über Protagoras, den ersten Sophisten).
Diese Einleitung betitelt er: „Die pessimistische Unterströmung
in dem lebensfreudigen Gedankenbau der Philosophen
von Thaies bis Demokrit als gegebener Anknüpfungs¬
punkt für dieLehrenderSophisten.“ Ich will diese Einleitung
in extenso wiedergeben, selbst auf die Gefahr hin, zu ausführlich zu werden,
aber wir besitzen ja relativ wenig eingehende Untersuchungen gerade über
derartige Intelligenzformen. Wir haben auch die Pflicht, da wir den Fall als
Schwachsinn diagnostizieren, nachzuweisen, daß die scheinbar selbständigen
höheren intellektuellen Leistungen, wenn sie sich auch nicht gerade als
schwachsinnige Leistungen entlarven lassen, jedenfalls keine höheren intel¬
lektuellen Leistungen sind. Denn wenn wir auch beim Schwachsinn genug¬
sam einseitig ausgebildete Talente kennen, so müßte doch die Diagnose
Schwachsinn unweigerlich da aufgegeben werden, wo wir eine besondere
Begabung für höhere logische Kombinationen und selbständige Ge¬
dankenarbeit finden. Patient beginnt folgendermaßen:
I.
„Als ein Regenerationsmittel für Philosophie, bei der in einem
Stadium der Überreife das Organische zum Mechanischen sich verkalkt
hat, bezeichnet Joel die Philosophie jener Vorsokratiker, welche er den
Müttern im Faust vergleicht, weil sie Jugend spenden aus den Quellen.
„Die alten, ewig jungen Weisen“ nennt Joel diese Denker, oder die „Jüng¬
linge“: Gerade mit der letzten Bezeichnung traf er das Richtige, denn
im Jugenddrange durchstürmten sie die Welt, erlebten und durchlebten
sie, setzten sich hinweg über logische Begriffe, stürmten zum Ziele; wenn
sich auch Hindernisse zeigten, diese Männer wollten sie nicht sehen,
sprangen drüber hinweg, wie Parmenides, der, dem Zeugnis seiner Augen
zum Trotz, die bunte Mannigfaltigkeit glattweg leugnete. Als strömende
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Klinischer Beitrag znr Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 623
Fülle empfanden sie das Leben, zugleich aber als rhythmische Ordnung,
als Ganzheit und Einheit. Sie kannten, weil sie gefühlsmäßig vorgingen,
noch keine scharfe Scheidung, keine schroffen Gegensätze, und bemühten
sie sich, eine Dualität zu etablieren, so war dieselbe niemals rein. Das
sahen wir bei Empedokles, Anaxagoras und bei Demokrit. Diese Männer
Scannten eben noch nicht die herbe, entsagungsvolle, farblose Strenge,
■welche die Welt unter die Lupe nimmt, sie scharf und kritisch, affektlos
beobachtend.
„Noch sind sie gleich bereit, zu weinen und zu lachen,
Sie ehren noch den Schwung, erfreuen sich am Schein;
Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen,
Ein Werdender wird immer dankbar sein“.“
In diesem Passus zitiert Patient eingangs ganz offen Joel. Durch
einen bei ihm sehr beliebten Kniff sucht er dann aber den
Schein einer eigenen Stellungnahme zu erwecken, indem er von sich
ans Joel bewertet. Vgl. „Gerade mit der letzten Bezeichnung traf
er das Richtige, denn . . .“. Nun wäre zu erwarten, daß die Begründung,
■weshalb Joel das Richtige trifft, von unserem Autor, dem Patienten
selbst begründet würde; was aber folgt, sind wiederum teils Wort für
Wort, teils dem Sinne nach Kompilationen aus Joel 1 ). Durch die sub¬
jektive Wendung: „das sehen wir bei Empedokles“ etc. sucht er wieder
den Schein eigenen Sehens oder Findens zu erwecken. Ob das Zitat am
Schlüsse von ihm selbst in diesem Zusammenhang gebracht oder ebenfalls
übernommen worden ist, weiß ich nicht.
„Selbst das Nietzsche ein eiskaltes Bad dünkende Abstraktions¬
verfahren des Parmenides zeigt eine stark mystische Unterströmung;
die Gottheit erscheint ihm als Weib, er deutet die Natur sexuell, und sein
ganzes Gedankenbild zeigt stark feminine Züge. Aus dem Subjekte drängte
das Gefühl heraus, suchte in der Welt einen Stoff, in welchem sich am
besten das Gefühl spiegelte: im wogenden Meer, im rauschenden Strom,
in dem Schwall der Töne, im lodernden Feuer und endlich auf dem höchsten
Punkte der Mystik, wo sie in Rationalismus umschlägt, in der wohlgerunde¬
ten Kugel. Nicht ein Stoffprinzip, sondern ein Lebensprinzip suchten
diese Denker in der Welt der Objekte. Der Gedanke an ein Erstorbenes,
Totes schien ihrem jugendlich-optimistischen Sinn paradox, und selbst
dem entseelten Körper schreiben sie noch Bewußtsein zu, kennen nicht
den Unterschied zwischen beseelt und unbeseelt, und selbst ein ernster
Denker wie Demokrit läßt die Pflanzen eine Seele haben, nachdem der
Nestor der griechischen Philosophie, der Milesier Thaies, von lebenden
Steinen gesprochen hatte. Mit dem Blicke jugendlichen Sehnens blicken
sie in die Natur, schauen
») L. c.
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Büchner,
„Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt,
Wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen
Und sich die goldenen Eimer reichen“.
Wie Faust wollen diese alten und doch jungen Weisen erkennen, was
die Welt im Innersten zusammenhält, auch wie Faust besonders alle
„Wirkungskraft und Samen“ schauen. In diesem frischen Streben, in
diesem Durchbrechen aller Schranken, in dieser Hingabe an das Objekt
liegt ein freudiger Optimismus, ein schönheitsbegieriger Drang der Liebe.
Maßlos aber war zuweilen ihr Streben, denn Grenze schien ihnen gleich¬
bedeutend mit Untergang.
„Immer höher muß ich steigen,
Immer weiter muß ich schaun.“
„Keine Wälle, keine Mauern,
Jeder nur sich selbst bewußt“,
so jubelt der junge Euphorion seinen Erzeugern, dem deutschen Faust
und der griechischen Helena, zu, den Eltern, welche die Hände ringend
jammernd zuschauen, wie ihr Liebling das Opfer seines tollen Treibens
wird. „Ikarus, Ikarus“, so klagt der Chor, als Euphorion dahin ist.“
Auch hier wieder nichts als Anklänge an Joel und zum Teil auch
schon an Nietzsche 1 ). Um nur einen Passus hervorzuheben, nämlich
denjenigen „von dem höchsten Punkte der Mystik, wo sie in Rationalismus
umschlägt, in der wohlgerundeten Kugel“, so handelt es sich auch hier
um Worte Joels, die aber demjenigen, der den Zusammenhang, in dem
sie bei Joel stehen, nicht kennt, nichts zu sagen vermögen. Aber auch
die ganze Betrachtungsweise ist diejenige Joels, nur mit dem Unterschied,
daß, wenn Joel seine Auffassung der Vorsokratiker als eine Seite der
Betrachtung auffaßt, unser Patient diese Betrachtungsweise auf die
Spitze treibt und sie als die einzig mögliche darstellt. Was er schreibt,
ist keineswegs sein eigenes Urteil über die Vorsokratiker, sondern wir
erkennen sehr leicht, wie Patient sich an der Auffassung und Darstellungs¬
weise Joels berauscht und das Gelesene in unklarer, unverdauter Form
von sich gibt. Die Beziehungen zu Faust sind aus dem /fischen Buche
leicht erkenntlich; die einzelnen Zitate hat wohl Patient selbst gewählt.
Man kann hier dem Pat. ein gewisses Geschick nicht absprechen,
die Zitate so zu wählen, daß sie in den Stimmungsrausch gut hinein-
passen.
1 ) Nachgelassene Werke von Friedrich Nietzsche. Nietzsches Werke
l^and 10, 2. Aufl., Leipzig 1903. Die Philosophie im tragischen Zeitalter
der Griechen, S. 5 ff.
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♦
II.
„Hat nicht die Reihe der vorsokratischen Denker ein Euphorion-
sehicksal, ein Ikaruslos gehabt? Sahen nicht auch jene Männer eine
Grenze, das Aussichtlose ihres Beginnens, wenn sie System auf System
häuften, wurde nicht ihr jugendfrischer Denkermut auch häufig abgekühlt,
folgte nicht auf das Philosophieren im Rausch die Ernüchterung, auf
eine Reihe, wie Plato sagt, Trunkener der einzige Anaxagoras, von dem
Plato nichts Höheres sagen kann, als daß er ein Nüchterner gewesen sei.
Ihr Gefühl durcheilte so hemmungslos die Welt, daß sie keine Zeit behielten,
sich der Betrachtung des Ich zu widmen, oder darf ich an die Anekdote
von Thaies erinnern, der die Augen so intensiv an den Himmel geheftet
hielt, daß er nicht bemerkte, daß er Gefahr lief, in einen Brunnen zu
stürzen? Bei aller Hast kamen diese Männer nicht zur Ruhe; weil sie ein¬
seitig den Blick auf das Objekt gerichtet hielten, ging das Subjekt leer
aus. Das unterscheidet die Forscher von Thaies bis Anaxagoras von
jenem unglücklichen Dädalossproß und von der Liebesfurcht des in Arkadiens
Gärten wandelnden Paares, daß sie nicht erst im Tode erkannten, daß
ihr Beginn und Ansinnen ein maßloses sei. Nein, sie erkannten es zu Leb¬
zeiten und das stimmte sie bei aller Hoffnungsfreudigkeit, bei allem sieg¬
haften Frohsinn pessimistisch. Nietzsche erkennt in der Philosophie der
Vorsokratiker zwei verschiedene Elemente und sagt, das Denken jener
Zeit war künstlerisch-optimistisch oder pessimistisch. Sagen wir es genau:
hier handelt es sich nicht um ein „aut—aut“, um ein Nacheinander, sondern
um ein Nebeneinander. Die Vorsokratiker waren Optimisten und Pessi¬
misten. Wie Faust, mußten auch sie bekennen:
„Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen,
Drängt immer fremd’ und fremder Stoff sich an ;“
„Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle,
Erstarren in dem irdischen Gewühle.“
Der Optimismus ist nicht etwa nur Schale, nein er ist da, aber es existiert
auch eine stark pessimistische Unterströmung. Das riesenstarke Selbst¬
vertrauen ist durchsetzt von einer skeptischen Stimmung, welche nicht
etwa nur der sinnlichen Wahrnehmungen, sondern oft auch der mensch¬
lichen Erkenntnis überhaupt die Fähigkeit abspricht, in das innerste
Wesen der Dinge hineinleuchten zu können.
„Und sehe, daß wir nichts wissen können.“ “
Die Euphorionanalogie wird hier weiter geführt, und wenn diese
Analogie tatsächlich vom Patienten stammen sollte, so wäre sie das einzige
Selbständige außer der von Nietzsche abweichenden Auffassung, daß
die Vorsokratiker Optimisten und Pessimisten waren. Im übrigen handelt
es sich um die Anhäufung weiterer Zitate über immer dasselbe Thema,
das Sichverlieren an das Objekt und die Vernachlässigung des Subjekts,
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Original from
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Büchner,
des Ichs. Nur etwas schärfer wird jetzt der aus der Maßlosigkeit des Be¬
ginnens entspringende Pessimismus betont. Nietzsche rückt jetzt in den
Vordergrund und wird auch vom Patienten selbst zitiert. Es handelt sich,
wie er selbst angibt, um ein Zitat 1 ), das ihm beim Durchblättern des
betreffenden Buches einmal aufgefallen war: „Das Denken der Griechen
im tragischen Zeitalter ist pessimistisch oder künstlerisch optimistisch.“
Für solche aphoristische Schlagworte ist unser Pat. besonders empfänglich;
er griff jenen Passus sofort auf, frug sich, was er daraus nun machen solle,
und kam zum Resultat, daß er ihn benützen könnte als Motto und
Grundlage für die vorliegende Einleitung. Sejne Gedankentat, auf
die er sich nicht wenig einbildet, ist nun die, daß er erklärt, es handle
sich nicht um ein aut—aut wie bei Nietzsche , sondern um ein Nebeneinander,
um ein Und. Wenn Nietzsche behauptet, die Vorsokratiker seien teils Opti¬
misten, teils Pessimisten gewesen, so müsse er behaupten (wie er mündlich er¬
läutert), jeder einzelne Vorsokratiker sei Optimist und Pessimist gewesen.
Aber nicht nur aus rein grammatikalischem (1) Widerspruch mit Nietzsche
entspringt diese Auffassung, sondern noch aus einer andern Überlegung,
die die Denkweise des Pat. hübsch beleuchtet. Er ging bei seiner „neuen“
Auffassung davon aus, daß Joel die Vorsokratiker „romantische Jünglinge“
nennt. Das Wort romantische Jünglinge erinnert ihn an die Pubertätszeit.
In der Pubertätszeit aber schwankt der Jüngling zwischen Optimismus
und Pessimismus hin und her. Er ist weder Nur-Optimist, noch Nur-
Pessimist, sondern abwechselnd beides. Da nun, so folgert er (bei der
mündlichen Analyse dieses Passus), der Jüngling in der Pubertätszeit
sowohl pessimistisch als optimistisch ist, und da andererseits die Vorso¬
kratiker von Joel als Jünglinge bezeichnet werden, so müssen auch die
Vorsokratiker Optimisten und Pessimisten sein. Die „eigene“ Auffassung
unseres Patienten entspringt also nicht im geringsten dem eigenen
Nachdenken über die Vorsokratiker, sondern lediglich einer dialek¬
tischen, ja man darf ruhig sagen zum Teil rein grammatikalischen
Veränderung resp. Weiterführung der Aussprüche Nietzsche s und
Joels. Das Oberflächliche und Kindliche dieses Gebarens, das an das
Vorgehen eines Gymnasiasten der Untertertia erinnern mag, ist leicht
ersichtlich.
Der Passus: „Der Optimismus ist nicht etwa nur Schale, nein er
ist da“ erinnert uns sofort an die unlogische Ausdrucksweise, die Patient
bei seinen mündlichen Definitionen gab. •
Wir können nun einen Abschnitt übergehen, der wiederum lediglich
Wiederholungen des Bisherigen enthält. Dann folgt der Schluß:
„Die Einseitigkeit der objektiven Naturbetrachtung, die Vernach¬
lässigung des eigenen Subjektes begann sich zu rächen, so daß man ins
andere Extrem verfiel, einseitig subjektiv wurde. Hier sind wir bei den
*) Nietzsche 1. c. S. 99.
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Original fro-m
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnieblödsinn (Bleuler). 627
opriiisten angelangt, deren allgemeine geistige Signatur diejenige eines
xisgesprochenen Subjektivismus wird, so daß Protagoras alle und jede
t» jektive, für alle geltende Wahrheit ableugnet. Ein ausgesprochener
Relativismus ist das Charakteristikum der Sophistik.
Diese neue Richtung brachte auch die Ethik zu Ehren, denn dieselbe
war bisher wenig oder gar nicht beachtet worden, außer von Demokrit,
dem einzigen Vorsokratiker, der zum ersten Male eine Lebenslehre entwarf,
die aber, wie Windelband so deutlich nachweist, im engen Konnex mit
seiner Erkenntnislehre, Psychologie und auch Atomenlehre steht, so
daß man fast sagen könnte, die Ethik sei hier eine Folgeerscheinung der Er¬
kenntnislehre. Weil Demokrit eine Lebenslehre hinterlassen hat, fühlten
einige Gelehrte sich veranlaßt, ihn unter die Sophisten zu zählen; am
entschiedensten verficht Ritter diesen Standpunkt, gegen welchen Windel-
band und die Neueren entschieden Front machen, da die Berührungs¬
punkte zwischen Atomisten und Sophisten nicht derart innerlich sind,
daß man beide zueinander in Parallele stellen kann. Man wird vielleicht
einwenden, daß z. B. Heraklit doch eine Ethik hinterlassen habe, aber
ich glaube, hier ist die Ethik nur Mittel zum Zweck. Wie es absurd wäre,
Descartes einen typischen Skeptiker zu nennen, weil er sich der Fiktion
des Zweifels bediente lediglich, nach Häberlins Wort, wie einer eleganten
Handbewegung, so darf man ebensowenig Heraklit einen Ethiker
nennen, denn die Lebenslehre ist hier lediglich Durchgangsstadium,
Vorstufe, Mittel zur klaren Erkenntnis; letztere ist das Wichtigste. Um
aber zu reiner Erkenntnis zu gelangen, glaubte Heraklit, daß das Denken
nicht ausreichend sei, sondern es bedurfte noch des Glaubens und der
Hoffnung. Heraklits ethische Vorschriften sind gleichsam geistige Pur-
gative, sie sollen den Menschen aufrütteln aus dem Halbschlaf, den Kopf
klären und säubern von allen Resten barbarischen Wahnes, damit er
sich erheben könne zu der Erkenntnis des Absoluten, zuvor aber erkenne,
daß alles relativ ist, alles fließt, Gegensätze die Welt erfüllen. Aus dem
Subjekte, aus den Tiefen des Gefühls war die eleatische und ionische
Lehre entsprungen, verloren hatte man sich immer mehr an das Objekt.
Lange genug hatte man die Welt mit schweifendem Auge durchirrt, lange
genug den Blick nach außen gerichtet: der Sophist bringt den Menschen
zu Ehren, das Subjekt, das Maß aller Dinge.“
Aus diesem Schlußpassus ersehen wir mit Verwunderung, daß Pat.
die leitende Idee, die er der ganzen Einleitung zugrunde legt, völlig vergißt.
Die pessimistische Unterströmung der Philosophen von Thaies bis Demo¬
krit wollte er zur Überleitung in die Lehre der Sophisten verwenden.
Nun finden wir aber in dem Schlußpassus, wo er den Anschluß an die
Lehre der Sophisten sucht, kein Wort mehr vom Pessimismus. Nicht
die pessimistische Unterströmung liefert ihm den Anknüpfungspunkt
an die Lehre der Sophisten, sondern der Gegensatz zwischen der ein¬
seitig objektiven Naturbetrachtung (Thaies bis Demokrit), und dem
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Büchner,
extremen Subjektivismus (Protagoras). Dieser Gegensatz ist die eigentliche
Überleitung. Wie in seinen Definitionen sehen wir auch hier, daß Patient
zweierlei Unterscheidungsmerkmale verwendet, die er dann nicht mehr
auseinander zu halten vermag; er merkt gar nicht, daß er das eine Unter¬
scheidungsmerkmal plötzlich ganz vergißt und lediglich mit dem andern, im
Titel und in der Leitidee gar nicht enthaltenen Merkmal schließt. Der
erste Gedanke der Einleitung lautet: da die Philosophen von Thaies bis
Demokrit sich der Grenzen und Aussichtslosigkeit ihres Beginnens bewußt
wurden und zum Teil an ihrer Aufgabe verzweifelten, stellte sich bei ihnen
eine pessimistische Unterströmung ein. Der zweite Gedanke lautet: die
Einseitigkeit der objektiven Naturbetrachtung und die damit zusammen¬
hängende Vernachlässigung des eigenen Subjekts führte zu einer extremen
Reaktion, nämlich zu dem einseitigen Subjektivismus der Sophisten. Es
gelingt dem Autor nun keineswegs, beide Gedanken in Zusammenhang
zu bringen, ja er versucht nicht einmal, einen Zusammenhang herzustellen.
Hätte er dies gewollt, so hätte er aufzeigen müssen, wie aus dem Pessimis¬
mus der Subjektivismus erfolgen kann, was ja logisch-psychologisch nicht
unschwer darzustellen wäre, ganz abgesehen davon, ob es nun historisch
richtig ist. An die Prüfung der historischen Wahrheit der Ausführungen
unseres Patienten wollen wir gar nicht erst herangehen, wissen wir doch
zur Genüge, daß es sich bei ihm keineswegs um Schlußfolgerungen aus dem
ursprünglichen Gedankenmaterial der Vorsokratiker handelt, sondern
um lose dialektische Verbindungen der Gedanken anderer über die Originale.
Eine wissenschaftliche Leistung kann dabei natürlich nicht herauskommen.
Bezeichnend ist auch noch der Passus über die Ethik, der gar nicht in den
logischen Zusammenhang gehört oder deren logischer Zusammenhang
jedenfalls nicht aufgezeigt wird. Auch hier muß aber wieder hervor-
gehoben werden, daß es weniger der Mangel an logischen Zusammen¬
hängen, die Unschärfe und die Unklarheit der Begriffe und des ganzen
Denkens sind, die uns die Diagnose „höherer Blödsinn“ erlauben, als
die maßlose Selbstüberschätzung und die darin enthaltene hochgradige
Kritiklosigkeit des Patienten über den Wert seiner Leistungen. —
Nachdem diese scheinbar selbständige Einleitung etwas näher
betrachtet worden ist, können wir es uns ersparen, auf andere Einzel¬
heiten aus den Studien über die Vorsokratiker oder den übrigen philoso¬
phischen Arbeiten unseres Autors näher einzugehen, von denen wir schon
erwähnt haben, daß es sich fast lediglich um Kompilationen handelt. Die
Gründe, warum jene Kompilationen für den unbefangenen Leser hie und da
den Eindruck des Selbständigen erwecken (besondere Tricks der Darstel¬
lung, die Überzeugung und Begeisterung, mit denen sie vorgetragen
werden, der scheinbar selbständige Stil etc.), wurden schon erwähnt.
Wenn trotz allem die Frage übrig bleibt, warum bei unserem Patienten
der Beobachter nicht ohne weiteres den Schwachsinn erkennt, und was
denn nun die positive Begabung sei, die den Anschein des Gelehrten
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 629
and über dem Durchschnitt Stehenden im ersten Moment erwecken kann,
so bleibt neben den erwähnten affektiven Momenten, zumal dem „kom¬
plexbedingten“ Trieb nach Wissen und Glänzen mit diesem Wissen,
nichts übrig als der Hinweis auf die erwähnten Eigenschaften seines Ge¬
dächtnisses, seiner sprachlichen Begabung, seiner Einfühlungsgabe.
Und wenn zum Schluß noch der Einwurf erhoben werden mag, es sei doch
sonst kein Merkmal der Schwachsinnigen, daß sie sich gerade an abstrakte
Oedankengänge heranwagen, da sie doch in der Regel gerade am Sinn¬
lichen kleben bleiben und über Partialvorstellungen nicht hinauskommen,
so verweise ich auf die ausführlichen Darstellungen Bleulers in der er¬
wähnten Arbeit, worin er zeigt, warum gerade die höheren Blödsinns¬
formen so leicht und mit solchem „Erfolg“ mit abstrakten Begriffen
operieren.
C. Schlußbemerkungen. — Daß unser Fall in psychologischer
und klinischer Hinsicht die größten Ähnlichkeiten mit den Fällen
Bleulers, namentlich mit den drei ersten, aufweist, ist unverkennbar.
Auch unserm Kranken stellt sein Streben Aufgaben, dem sein In¬
tellekt nicht gewachsen ist, auch bei ihm weicht die Intelligenz in
ganz bestimmter Richtung von derjenigen des Normalen und der
gewöhnlichen Imbezillen ab: im Sinne der Unklarheit des Denkens,
der Unschärfe der Begriffe, der Neigung zu abstrakten Gedanken¬
bildungen, der „Loslösung von der Sinnlichkeit“ usw.; auch bei ihm
finden wir die unkorrigierbare Selbstüberschätzung, die Kritiklosigkeit
gegenüber den eigenen Geistesprodukten, die Unfähigkeit, „aus der
Erfahrung die brauchbaren Direktiven seines Handelns zu finden“,
die Diskrepanz zwischen Schul- und Lebensintelligenz usw. All diese
Merkmale, seien es psychologisch-erklärende, seien es klinische oder
charakterliche, gestatten die Diagnose des Verhältnisblödsinns im
Sinne Bleulers.
Die von seinen Fällen abweichenden Merkmale sind aber auch
nicht zu übersehen: Zunächst scheitert unser Patient imLeben nicht
„infolge des ungünstigen Verhältnisses verschiedener psychischer
Eigenschaften untereinander“, sondern wohl ausschließlich infolge
eines einzelnen Defekts, nämlich seiner moralischen Schwäche
und ihren Folgen (Alkoholismus etc.). Er scheitert keineswegs im
Leben, weil sein Streben dem Verstände Aufgaben stellt, dem dieser
nicht gewachsen ist, wie es bei Bleulers drei ersten Fällen einigermaßen
der Fall ist, (nämlich durch „zu hohe“ Anforderungen an ihre In¬
telligenz), sondern durch zu geringe moralische Widerstandskraft.
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630
Büchner,
dem Leben gegenüber. Wohl fanden wir ein ungünstiges Verhältnis
zwischen Streben und Intelligenz, das seiner Intelligenz verhängnis¬
voll wird und ihn in Studien treibt, denen er nicht gewachsen ist,
das ihn aber nicht mit dem Leben in Konflikt bringt; unter anderen
Umständen hätten gerade diese Studien seine „Rettung“ sein können
als Ablenkungsmittel gegenüber denjenigen Trieben, die ihn scheitern
ließen.
Dieser Unterschied gegenüber Bleulers Fällen würde mich aber
nicht bestimmen, den Fall von jenen klinisch zu trennen, vielmehr
würde er mich veranlassen, das Moment des „Scheitems im Leben“
aus der Definition des Verhältnisblödsinns auszuschalten und es dabei
bewenden zu lassen, daß bei den Verhältnisblödsinnigen das
Streben dem Verstand Aufgaben stellt, denen dieser
nicht gewachsen ist, und daß der Verstand an und für
sich in der erwähnten Weise von demjenigen der Nor¬
malen und einfachen Imbezillen abweicht. Diese Verein¬
fachung schlage ich aber keineswegs nur auf Grund dieses einen Falles
vor, sondern vor allem auch aus methodologischen Bedenken: Ich
halte es nicht für zweckmäßig, in die Definition eines klinischen
Krankheits- oder Syndromenbegrifies ein rein praktisches Moment
einzuschließen, zumal wenn es bald vorhanden sein, bald fehlen kann.
Wir bekommen dann ganz heterogene Merkmale in die Definition hinein,
nämlich ein praktisches, ein psychologisch-erklärendes und ein klinisch-
symptomatologisches. Fällt das praktische weg, so wird die Definition
einheitlicher und, wie mir scheint, für den klinischen Gebrauch geschick¬
ter. Daß Bleuler dieses Moment so sehr in den Vordergrund stellt,
ist leicht zu begreifen, scheint doch die ganze Idee vom Verhältnis¬
blödsinn gerade aus dem starken Eindruck hervorgegangen zu sein,
den solche Fälle in praktischer Hinsicht hinterlassen. Das „Scheitern
im Leben trotz anscheinend guter Intelligenz“ war wohl das Aus¬
gangsproblem der ganzen Untersuchung; dieses Problem verschob
sich aber zusehends nach der psychologischen Richtung, wie aus der
Arbeit selbst leicht ersichtlich.
Bevor wir hier weitergehen, müssen wir noch einmal auf jenes
Unterscheidungsmerkmal unseres Falles gegenüber den Bleulerschen
zurückkommen. Bleulers Fälle zeigen alle außer dem letzten viel mehr
Aktivität im praktischen Leben als der unsrige, was zum Teil
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 681
mit dem Ziel ihres Strebens zusammenhängt: Sie wollen reich, an¬
gesehen werden, ihre Mitmenschen oder wenigstens ihre Familie
beglücken, auf andere Menschen einwirken, während die Aktivität
unseres Falles sich lediglich in seinen eng begrenzten Studien zeigt; er
will gelehrt werden, ein Philosoph sein, er verzehrt sich in dem Drange,
möglichst^viel Wissen aufzustapeln, immerhin auch, um damit Ein¬
druck zu machen, aber mehr nur einzelnen Personen. Mit der Menge
will er nichts zu tun haben. Er stellt damit einen „aristokratischeren“
Typus dar und — im Gegensatz zu dem Typus des kaufmännischen
Unternehmers, des Wohltäters, Naturheilers und der Hygienikerin —
den Typus des Gelehrten. Wenn er im übrigen, wenigstens in
seinen schriftlichen Erzeugnissen, trotz größter Ähnlichkeiten, die sich
bis auf den Satzbau und die ganze Diktion erstrecken, doch keinen
so abstrusen Unsinn hervorbringt wie jene, so darf nicht vergessen
werden, daß er viel mehr gelernt hat als jene, daß er „gebildeter“
ist, daß er sich viel näher an seine Vorbüder hält und viel weniger
selbständig-produktiv ist. Was andererseits seine Moral anlangt,
so steht er weit hinter jenen Fällen. Wir haben es bei ihm außer mit
einem intellektuellen Schwachsinn auch mit einem ausgesprochenen
moralischen Schwachsinn zu tun. Auch dieser Umstand sollte
noch bei der Bewertung der Intelligenz berücksichtigt werden. Wenn
ich auch nicht gerade so weit gehe wie Windelband x ), der sagt: „Erst
wo das Denken als eine sittliche Pflicht angesehen wird, vermag es
seine Ziele zu erreichen“, so ist dieses Moment doch nicht zu umgehen.
Und ich stimme Windelband völlig bei, wenn er sagt: „Die moralische
Kraft ist es, welche während der Zeit der Gedankenarbeit die fremden
Eindrücke, die Verlockungen der Phantasie, die persönlichen Interessen
femhalten und niederdrücken muß, damit das Bewußtsein für seine
Zwecke freien Baum bewahre. Denn das natürliche Denken des
Menschen hat einen unverwüstlichen Hang zum Spazierengehen,
und nur der sittliche Emst der Wahrheitsforschung kann es auf den
rechten Weg bringen und darauf festhalten bis ans Ende.“
Wie wir vielfach angemerkt haben, fehlt unserem Patienten dieser
„sittliche Emst“ auch in seinen philosophischen Studien. Persönliche
l ) Windelband: Präludien, II. Bd. Vierte Aufl. Über Denken und
Nachdenken. S. 24 ff. Tübingen 1911.
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Interessen (Komplexe) und die „Verlockungen der Phantasie“ sind es
vielleicht noch mehr als die Art seiner Intelligenz, die sein Denken
so minderwertig erscheinen lassen. Und nicht ohne Grund fürchtet
er selbst jeweils, daß er sich durch seine mündlichen oder schriftlichen
Ergüsse „prostituiere“. — fe»
Nachdem wir unseren Fall als zu den Verhältnisblödsinnigen
gehörig rubriziert haben, sind die diagnostischen Fragen aber noch
keineswegs erledigt.
Wir haben bereits erwähnt, daß Patient von dem Begutachter
als schwerer konstitutioneller Psychopath mit homosexueller Ver¬
anlagung bezeichnet wurde, dessen krankhafte psychische Verfassung
hauptsächlich charakterisiert sei durch grobe Defekte auf dem Gebiete
des Gefühls und der Willenshandlungen bei relativ guter intellektu¬
eller Beschaffenheit. Nun dürfen wir ja nicht vergessen, daß sich
diese Ausführungen nicht in einer wissenschaftlichen Arbeit, sondern
in einem gerichtlichen Gutachten finden, in dem es hauptsächlich auf
einen praktischen Zweck ankommt, nämlich den Richter von dem
Vorhandensein der Geistesschwäche überhaupt zu überzeugen. Mit
diesem Vorbehalt wollen wir an die Ausführungen des Begutachters
herangehen. Der Begutachter erklärt, es sei zwar zweifellos, daß
bei Herrn v. X. keine geistige Minderwertigkeit im Sinne des land¬
läufigen Schwachsinns vorliege, habe er doch sein Abitur gemacht,
sich auf der Universität als Student bewegt, und trage er auch sonst
in keiner Weise die Zeichen des angeborenen Schwachsinns im all¬
täglichen Verkehr zur Schau! Hingegen müsse man bei ihm mit Fug
und Recht von geistiger Schwäche sprechen, wenn man nur nicht
versäume, „die Taxe der Gesamtpersönlichkeit in Rechnung zu stellen:
Intellekt, Wille und Gefühl“. Wir sehen, wie auch hier auf das Ver¬
hältnis der einzelnen geistigen Vermögen zueinander abgestellt wird,
müssen aber auf Grund unserer eingehenden Untersuchung dem
folgenden widersprechen, wo die Abnormität des Intellekts lediglich
in seiner Einseitigkeitgesehen wird: „In literarisch-ästhetischer Hinsicht,
namentlich unter dem Gesichtswinkel des Feuilletons und aphoristi¬
schen Essays betrachtet“, soll Patient eine überdurchschnittliche
Begabung (!) zeigen, während er auf andern Gebieten des Wissens
absolut steril sei. Das größte intellektuelle Manko zeige sich aber
auf dem Gebiete des Urteils. Explorand sei nicht in der Lage, „die
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhähnisbiödsmn (Bleuler). 633
normalen urteilenden Beziehungen zwischen dem „Ich“ und den
durch seinen Stand, seine soziale Herkunft und seinen Bildungs¬
grad gegebenen Verpflichtungen zu konstruieren“. Dieses Urteil
sei aber das einzige untrügliche Normatif für die Willenshand¬
lungen.
Wir sehen, daß hier (im Anschluß an Maudsleys Auffassung)
der moralische Defekt durch einen intellektuellen Defekt erklärt wird,
wozu der psychiatrische Begutachter durch die deutsche Recht¬
sprechung ja gezwungen wird. Was der Begutachter hier als intellek¬
tuelles Manko bezeichnet, würden* wir gerade als moralisches Manko
auffassen, während wir da, wo er eine überdurchschnittliche Begabung
konstatiert hat, gerade einen intellektuellen Mangel nachweisen
konnten.
Einen festen Willen, heißt es ferner, besitze Herr v. X. überhaupt
nicht. Er sei ein haltloser Mensch, der nirgends aushalte und keine
Stetigkeit kenne. „Leichtsinn und Reue, rascher Impuls und schwäch¬
liches Erlahmen wechseln bei solchen Menschen ab. Immer suchen
sie die Schuld bei den anderen und in den äußeren Verhältnissen.
Sie poussieren ihre kleinen oder großen Talente, aber die nutzbringende
Arbeit scheuen sie. Sie fangen alles mit einer gewissen Begeisterung
an, lassen aber alles nach kurzer Frist resigniert und indolent liegen.“
— „Von der wechselvollen Schullaufbahn an bis auf den heutigen Tag
sehen wir bei Herrn v. X. das Unstete und Unberechenbare, verschärft
durch den Mangel an urteilenden Verstandeskrfiften. Der Alkohol
raubt dann gewöhnlich noch den letzten Rest von Willensenergie
und macht das Lebensschiff des Psychopathen steuerlos.“ Im Gefühls¬
leben des Exploranden seien dieselben Defekte wie in der Intelligenz
vorhanden, ihm fehle das Gefühl für Gut und Böse, für Mein und Dein;
wirkliche Reue zeige er nicht.
Wir sehen aus dem Vorstehenden, daß die Diagnose des land¬
läufigen angeborenen Schwachsinns hier verworfen wird wohl infolge
der Überschätzung der literarisch-ästhetischen Begabung, des gesell¬
schaftlichen Schliffs und der Lernfähigkeit (Abitur gemacht etc.) des
Exploranden. Wenn auch gerade hier die Rücksicht auf den Richter
besonders maßgebend gewesen sein muß, so ließe sich doch gerade
unter dem Gesichtspunkt der Lehre vom Verhältnisblödsinn die
geistige Schwäche unseres Patienten unschwer nachweisen. Ich
Zcitsehrift für Psychiatrie. LXXI. 4/5. 44
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Büchner.
verkenne keineswegs die Schwierigkeiten, die die Anwendung der
Lehre vom Verhältnisblödsinn überhaupt für die Beurteilung vor
Gericht in sich bürgt, nämlich in solchen Fällen, wo es sich um eine
relativ gute Intelligenz und eine relativ gute Moral und lediglich um
ein ungünstiges Verhältnis beider zueinander handelt. In unserem
Falle liegt jedoch die Sache einfacher, wenn man nur die Intelligenz
des Patienten tatsächlich für das nimmt, was sie ist, nämlich für eine
durchaus herabgesetzte, die nur infolge gewisser formaler und affek¬
tiver Momente den Schein einer guten Begabung erweckt Nachdem
dieser Schein zerstört, wären auch die Beziehungen unseres Falles
zum landläufigen angeborenen Schwachsinn und seine Besonderheiten
ihm gegenüber leicht aufzudecken. Die Beziehungen zum angeborenen
Schwachsinn finden wir in dem angeborenen Hang zum Lügen und
Stehlen, im ganzen Lebensschicksal des Patienten, das ihn von Schule
zu Schule wirft, und das ihn, sobald er sich etwas selbständiger im
Leben bewegen soll, sozial völlig scheitern läßt.. Wir finden sie
ferner in der Art und Weise seiner emotionellen Erregbarkeit, seiner
Wutausbrüche, die wir bis in die Jugend zurück verfolgen können,
der Art seiner Empfindlichkeit und seines Mißtrauens, das sich zeitweise
bis zu vorübergehenden wahnhaften Einbildungen vom Typus der
Wahnideen Imbeziller steigert, und finden diese Beziehungen auch
in den länger dauernden Erregungszuständen, die dem klinischen
Bild der Erregungszustände bei Imbezillen durchaus entsprechen.
Hier angelangt, könnte man dann das Verhalten des Patienten in
moralischer Hinsicht dem Richter leicht als Teilerscheinung des
allgemeinen Schwachsinns begreiflich machen.
So gekennzeichnet wäre das klinische Bild unseres Falles wesent¬
lich anders aufzufassen, als nach der Schilderung des Begutachters,
wenn auch die praktischen Konsequenzen beider Auffassungen die¬
selben sind. Nach dem Begutachter handelt es sich im wesentlichen
um das Bild der allgemeinen (intellektuellen plus moralischen)
angeborenen psychopathischen Degeneration Kochs. Ich
halte es nun gerade für ein Verdienst Bleulers , daß er es uns erleichtert,
einen Teil der hierzu gehörigen Fälle von der endlosen Reihe
der psychopathisch Minderwertigen und Dögönerös abzutrennen
und einer besonderen Gruppe des angeborenen Schwachsinns
zuzuweisen. Mit dieser Verschiebung der Diagnose werden wir
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 635
ich mehr auf die orgmische Grundlage solcher Fälle hinge -
lesen 1 ).
Indem ich im Vorstehenden und in der ganzen Arbeit unseren
all immer als Spezialfall des angeborenen Schwachsinns anfgefaßt
nd geschildert habe, entferne ich mich in gewisser Hinsicht wiederum
on Bleulers Auffassung. Seine Lehre vom Verhältnisblödsinn ept-
p ringt, wie wir sahen, der empirischen Erfahrung, der Beobachtung
ünzelner Fälle, und wird darüber auf induktivem Wege zu euer Idee
»der einem allgemeinen Begriff, enthaltend alle nur irgendwie denk¬
baren Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen Intellekt und Affek¬
tivität und der theoretischen und praktischen Folgen dieser Verhält¬
nisse. Mit dieser Idee schreiten wir aber, wie Bleuler selber sagt,
über das Gebiet des Krankhaften in das Gebiet des Gesunden weit
hinüber. Es bleibt uns also nichts übrig, als im einzelnen Fall erst
noch zu bestimmen, ob wir es mit einer Krankheit zu tun haben oder
nicht, was schon klinisch, noch viel mehr aber forensisch von größter
Bedeutung ist. So fruchtbar daher auch die Lehre für die Analyse
des Einzelfalles ist, so verkenne ich doch ihre Schwierigkeiten nicht,
wenn sie auch keineswegs größer sind als überall da, wo es sich um
die Anwendung (vermögens-)psychologischer Begriffe und ihrer
(assoziations-psychologischen Erklärung auf die Klinik handelt.
Diese Schwierigkeiten liegen durchaus in der psychiatrischen Disziplin
selbst. Im vorliegenden Fall werden sie noch dadurch erhöht, daß der Be¬
griff des Verhältnisblödsinns im Laufe der Arbeit Bleulers aus dem em¬
pirischen Material möglichst frei herauspräpariert, d. h. scharf ab¬
gegrenzt wird, wodurch er seinen Zusammenhang mit andern klinischen
Erscheinungen verliert, aber um so brauchbarer wird als einzelner
Symptomenkomplex. Der Verhältnisblödsinn verliert so unter der
Hand Bleulers seinen Wert als Krankheitsbegrifi. Er braucht nicht
mehr angeboren zu sein, sondern kann auch erworben werden und
kann sich als solcher bei der Schizophrenie oder im Zusammenhang
mit einer submanischen Grundstimmung (fl. W. Mayer) finden.
Demnach wäre es wohl am folgerichtigsten, den Verhältnisblödsinn
l ) In diesem Zusammenhänge sei auch die angeborene Schädel¬
anomalie unseres Falles erwähnt, auf die freilich heutzutage lange nicht
mehr das Gewicht gelegt wird wie es bei Griesinger, Schule etc. noch der
Fall war.
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Büchner,
— soweit er in den Bereich der Klinik gehört — überhaupt nur noch
als Symptomenkomplex zu betrachten und von einem Verhältnisblödsinn
bei der Schizophrenie, der chronischen Submanie (oder einzelnen
manischen Verstimmungen) oder beim-angeborenen Schwachsinn
zu sprechen. Zu dieser letzteren Kategorie würde unser Fall gehören
und gehören wohl auch die Fälle I, II und III Bleulers. Nach der
ganzen Auffassung Bleulers brauchen wir offenbar neben der Diagnose
des Verhältnisblödsinns als Symptomenkomplex noch andere klinische
Merkmale, um zur Diagnose der Krankheit zu gelangen. Ich per¬
sönlich bedaure aber diese Wandlung des Begriffs und möchte lieber
an seiner Bedeutung als Krankheitsbild festhalten, d. h. als einer
besonderen Unterabteilung des angeborenen Schwachsinns. Ich gebe
zu, daß die Schizophrenie und wohl auch die Submanie ähnliche
Bilder hervorzurufen vermögen, kann mich aber des Eindrucks nicht
erwehren, als handle es sich in solchen Fällen um angeboren
Schwachsinnige, die später schizophren oder manisch
wurden. H. W. Maier faßt Bleulers Fall II so auf. Gerade bei
unserem Falle, aber durchaus auch bei Bleulers Fällen, drängt sich
einem doch zunächst auf, daß man es mit angeboren Schwachsinnigen
von einem in sich geschlossenen, markanten Typus zu tun hat, die sich
in bestimmter Richtung von den gewöhnlichen Imbezillen unter¬
scheiden, jedoch ihnen näher stehen als den Normalen. Konsequenter¬
weise kann ich mir daher auch den Verhältnisblödsinn nicht denken
ohne eine minderwertige Intelligenz ganz an und für sich, die nur
durch ein verstärktes und in bestimmter Hinsicht gerichtetes Streben
und gewisse formale Eigenschaften den Anschein einer höherwertigen
Intelligenz erweckt. Ich verwerfe auch hier, wie ersichtlich, das Merk¬
mal des Praktischen, des Scheitems im Leben, und würde Leute,
die lediglich infolge des ungünstigen Verhältnisses zwischen Streben
und Intellekt bei an und für sich intakter Intelligenz im Leben scheitern,
nicht als verhältnisblödsinnig bezeichnen. Ich weiß wohl, daß
ich bei dieser Konsequenz in rein klinischer Hinsicht unkonsequent
in rein gedanklicher Hinsicht bin; denn wenn man einmal einen Ver¬
hältnisblödsinn überhaupt im Sinne Bleulers gelten läßt, muß man
*) H. W. Maier: Über katathyme Wahnbildung und Paranoia.
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Origin. 13. Bd. 1912, S. 592.
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Klinischer Beitrag zur Lehre vom Verhältnisblödsinn (Bleuler). 637
ich alle denkbar möglichen Übergänge gelten lassen. Daß die Konse-
itenz auf dem einen Gebiet die Konsequenz auf dem andern aus-
•hließt, ist wohl der Haupteinwand gegen die ganze Lehre. Er beruht
Ltf der Verquickung mehrerer Unterscheidungsprinzipien in ihrem
ulbau. Wie ersichtlich, helfe ich mir damit, daß ich an dem klinisch
»ststellbaren Unterscheidungsmerkmal (besonders gearteter Intelli-
enzdefekt) festhalte und innerhalb des Geltungsbereichs dieses
Umsehen Merkmals das Verhältnis zwischen Streben und Intellekt
n das gebührende Licht setze, wie Bleuler es uns gelehrt hat. Ich
weiß wohl, daß ich damit von seiner Auffassung stark abweiche und
mich wieder Guddem Auffassung vom „höheren Blödsinn“ nähere,
diese aber mit dem Bleulerachen Gedanken verbindend.
Zum Schlüsse muß ich noch auf ein wichtiges Moment aufmerksam
machen, nämlich auf das Wirken der Komplexe beim Verhältnis¬
blödsinn. Es scheint mir nämlich sicher, daß wir keineswegs immer
von dem Verhältnis des Strebens oder der Affektivität überhaupt zum
Intellekt sprechen dürfen, sondern da und dort statt Streben oder
Affektivität Komplex sagen, m. a. W., daß wir statt von angeborenen
Trieben von Komplextrieben sprechen müssen. Ich meine damit,
daß es sich nicht immer um eine angeborene oder erworbene affektive
Disposition handeln muß, sondern sich auch um einzelne gefühls¬
betonte Vorstellungsgruppen handeln kann, die, zeitlich näher bestimmt
und inhaltlich näher umgrenzt, dem Intellekt seine Richtung bis zu
einem gewissen Grade vorschreiben. Im Einzelfalle dürfte es oft nicht
leicht sein, zu entscheiden, um welchen Typus es sich handelt. Können
doch auch die komplexbedingten Strebungen — wie in unserem
Falle — sich schon in der Jugend geltend machen und lange Zeit
oder dauernd sich betätigen. Hier angelangt, müssen wir noch
weiter gehen und uns fragen, ob nicht die ganze Lehre vom
Verhältnisblödsinn sich vom komplextheoretischen
Standpunkte aus auffassen ließe. An Stelle der Ver¬
mögens- und assoziativ-psychologischen Betrachtung würde dann
die „verstehende Psychologie“ treten, d. h. die Betrachtung nach
„verständlichen“ Zusammenhängen im Sinne Jaspers. Wir wären
demnach gezwungen, in jedem einzelnen Falle zu untersuchen, ob
wir nicht die Richtung, die die Intelligenz des einzelnen Verhältnis¬
blödsinnigen einschlägt (den besonders gearteten und psychologisch
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nicht weiter zurückführbaren Intelligenzdefekt immer vorausgesetzt),
rein psychologisch verstehen können; m. a. W. es erhebt sich die Frage,
ob uns nicht die psychanalytische Betrachtungsweise hier weiter
führt als die deskriptiv-psychologische. Ich glaube, daß diese Frage
schon jetzt zu bejahen ist, undbedaure nur, daß ein tieferes psychana-
lytisches Eindringen in unseren Fall nicht möglich war. Immerhin
sei darauf hingewiesen, daß wir in der vorliegenden Arbeit den Intelli¬
genzkomplex des Patienten (im Sinne des Strebens nach Wissen und
Erkenntnis und des Glänzens mit demselben) klar hervorheben konnten,
und daß wir ihn verstanden haben als Ausdrucksmittel des Willens zur
Macht und zur Geltung l ). ln den Phantasien unseres Patienten fanden
wir diesen Willen zur Macht sehr ausgesprochen wieder, und zwar
in ganz einseitiger Gestalt: Patient sieht sich im Geiste als Rektor der
Universität in seine Vaterstadt einziehen, sieht sich als anerkannten
Gelehrten, der den Nobelpreis erhält, usw. Nur als Geistesheros will
er glänzen, herrschen oder Macht ausüben, nie als König, Feldherr,
Minister u. dgl. Viel besser als beim angeborenen Schwachsinn
ist uns diese einseitige Ausbildung des Triebes nach Macht in der
Form des Wißtriebes bekannt bei der Zwangsneurose. Mit gutem
Grund faßt Freud den Wißtrieb hier auf als „einen sublimierten, ins
Intellektuelle gehobenen Sprößling des Bemächtigungstriebes“ (des
Sadismus im Sinne des ausgedehnteren Begriffs Freuds) *). Mit dem
Hinweis auf den Sadismus füllen wir aber eine noch offene Lücke
in der Schilderung unseres Patienten aus. Denn so klar der Masochismus
bei ihm zutage trat, so wenig scharf fanden wir den Sadismus aus¬
gesprochen, wenigstens auf rein sexuellem Gebiete. Es besteht aber
für mich mit Freud kein Zweifel, daß das Gegensatzpaar Sadismus-
Masochismus wie andere triebartige Gegensatzpaare immer zusammen
Vorkommen, wenn nur die Untersuchung weit genug getrieben wird
und auch die nicht eigentlich sexuellen Abkömmlinge der betreffenden
1 ) Wir lassen es dahingestellt sein, ob wir diesen Willen zur Macht
besser verstehen im Sinne Adlers als Überkompensation der Minder¬
wertigkeitsgefühle und als „männlichen Protest“ oder im Sinne Freuds
als Ausfluß des Vaterkomplexes. Beide Betrachtungen können sehr wohl
nebeneinander bestehen, handelt es sich doch nur um verschiedene Stand¬
punkte gegenüber einem und demselben psychologischen Tatbestand.
*) Vgl. Freud, Die Disposition zur Zwangsneurose. Internat. Zeitschr.
f. Ärztl. Psychoanalyse. I. Jahrgang, Heft 6, S. 525.
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Triebe richtig aufgefaßt werden. Wir finden dann die noch offen
gelassenen Lücken im psychosexuellen Leben unseres Patienten aus-
gefüllt, wenn wir der Beziehungen gedenken, die zwischen dem Sadismus
und dem Willen zur Macht, insbesondere in seiner speziellen Aus¬
gestaltung als Trieb nach Wissen und nach Herrschen vermöge dieses
Wissens, tatsächlich zu bestehen scheinen.
Indem ich unseren Fall nur andeutungweise von der psychana-
Ivtischen Seite aus beleuchtet habe, wollte ich wiederum nur andeuten,
wie die Lehre vom Verhältnisblödsinn überhaupt durch die psychana-
lytische Betrachtungsweise befruchtet und auf eine breitere Basis
gestellt werden könnte. Denn wir begnügen uns heute nicht mehr
mit einer rein psychologisch-deskriptiven Auffassung oder assoziativ¬
psychologischen Erklärung der einzelnen psychologisch-klinischen
Wissensgebiete, sondern wir haben bereits angefangen, zu einem
psychologischen Verständnis derselben zu gelangen. Der Psychiatrie
harren hier noch eine Menge äußerst schwieriger Probleme. Wer diese
kennt oder auch nur ahnt, der wird über der Vertiefung in den einzelnen
Fall nie das allgemeine Interesse der Psychiatrie vergessen. Nur so
wird sich ihm die psychologische Kleinarbeit lohnen, und wird er die
nötige Ausdauer und Lust behalten zur möglichsten Vertiefung in
den einzelnen Fall; denn nicht die Massenvergleichung und die klinische
Betrachtungsweise sind es, die uns heute besonders not tun: im einzelnen
Falle ruhen die allgemeinen Probleme!
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Über einseitige Gehörshalluzinationeii 1 ).
Von
Dr. Hermann Goldbladt,
ordin. Arzt.
Nachdem ich einen Patienten mit eklatanten einseitigen Gehörs¬
halluzinationen bei gleichzeitig bestehender Ohraffektion entdeckt
hatte und mein Interesse in dieser Richtung geweckt war, stieß ich
bald darauf auf drei weitere ähnliche Fälle.
. Sowohl die diesbezügliche dürftige Kasuistik als das theoretische
Interesse, welches der Zusammenhang zwischen Affektion eines peri¬
pheren Sinnesorganes und Halluzinationen bietet, und zuguterletzt
gewisse therapeutische Konsequenzen, die sich aus einem solchen Zu¬
sammenhang ergeben, rechtfertigen die Veröffentlichung meiner vier
Fälle.
Fall I. N. K., 39 J. alt, verh., Tagelöhner, wird dem Krankenhause
am 16. III. 1913 von seiner Frau zugeführt.
Dieselbe macht folgende anamnestische Angaben: Ein Bruder des
Pat. litt an einer akut verlaufenden Geisteskrankheit; Pat. ist 7 Jahre
verheiratet, Ehe kinderlos, keine Aborte; auch sonst keine Hinweise auf
Lues. Seit c. 18 Jahren periodische Alkoholexzesse, früher etwa viermal
jährlich je 2—3 Tage lang, in der letzten Zeit immer häufiger, fast jeden
Monat eine ganze Woche hindurch (durchschnittlich 400,0—800,0 Schnaps
pro die). Auch früher sollen während der dipsomanischen Zustände Hal¬
luzinationen und Illusionen visueller und akustischer Natur aufgetreten
sein (hörte Musik, Geschrei, Geräusch, sah unbekannte Menschen um sich
herum, alle seine Freunde versammelt; „niemand ist da, und jemand ruft
mich“; „in meinen Ohren klingt’s und schreit’s“ usw.). Epileptische An¬
fälle resp. Äquivalente werden in Abrede gestellt.
*) Aus der akuten psychiatr. Männerabteilung des Gouvernements-
Landschafts-Krankenhauses Jekaterinoslaw — Rußland (Oberarzt Dr.
med. V. Krumbmiller).
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Uber einseitige Gehörshalluzinationen.
641
Der Alkoholabusus, welcher der jetzigen psychischen Erkrankung
vorangegangen, ist stärker als In früheren Perioden gewesen und hat
10 Tage angedauert. Nachdem schon einige Tage Gesichts- und Gehörs¬
halluzinationen sporadisch aufgetreten waren, zeigt Pat. heftige motorische
Erregung infolge schreckhafter, beängstigender Sinnestäuschungen („man
will mich zerschneiden“; „ich werde erstickt“; „nun werden die Augen
herausgerissen“ usw.); springt aus der ersten Etage durch die Fenster¬
scheibe und verletzt sich dabei die Hand. Nach dieser Episode war Pat.
niedergeschlagen, in sich gekehrt, weinte und betete stundenlang. Seit
gestern wieder stark erregt, bittet, den Wandspiegel zu entfernen, weil
dort jemand zu ihm spricht, Grimassen schneidet; ferner öffnet Pat. die
Tür und spricht in den leeren Flur hinein: „Komm doch herein 1“; „wieviel
seid ihr da?“; „Ach so, 14 Mann“ usw. Vom heutigen Morgen ab be¬
hauptet Pat. in einem fort, ihm sei jemand — ein 14 jähriger unbekannter
Schüler — ins linke Ohr hineingekrochen und unterhalte sich von dort
aus mit ihm. Pat.: „Was möchtest du? Eine Semmel? Oliven? ein
halbes Pfund?“.
Somatischer Befund: 4 cm lange, recht tiefe Schnittwunde an der
linken Handfläche. Allgemeiner leichter Vasospasmus; beschleunigte
Herztätigkeit. Tremor manuum. Gesteigerte Patellarreflexe. Sonst alles
normal.
Nach der Aufnahme ist Pat. ganz unzugänglich und verweigert jeg¬
liche Antwort, fügt sich jedoch ruhig dem Bettregime. Nach einigen
Stunden gesprächig, vollkommen zeitlich und räumlich orientiert. Erklärt
gestern „wegen des Ohres und zerrütteter Nerven“ interniert worden zu
sein. Gibt über seine Person (Wohnort, Beschäftigung, Alter usw.)
prompten Bescheid. Weist überhaupt keine intellektuellen Defekte auf.
Aufmerksamkeit gegenüber äußeren Eindrücken beträchtlich herab¬
gesetzt. Stimmung gedrückt. Ruhiges, geordnetes Benehmen. Von
seiten des rechten Ohres ausgesprochene Gehörshalluzina¬
tionen, für die Pat. in systematischer und umständlicher Weise folgende
Erklärung abgibt. Ein ihm völlig unbekannter Schüler sei in Gestalt
eines Insekts oder eines ganz kleinen Vogels in sein rechtes Ohr hinein-
gekrochen und führe dort verschiedene Gespräche, stelle Fragen, erteile
Weisungen. „Er.spricht so viel zusammen, daß ich’s vergesse“; „schimpft
mordsmäßig“; „schickt mich zum Doktor, damit er herausgenommen
werde“; „ich soll ruhig liegen bleiben, damit er’s bequem habe“; „be¬
hauptet, daß er «inen Monat im Ohr drinbleiben kann, dann wird er heraus ¬
fliegen, sich im Kreise herumdrehen und wieder der 14 jährige Schüler
werden“; „sein Familienname ist so was in der Art wie Bernstein oder
Fernstein“; Pat. erklärt fernerhin, daß „er“ zusammen mit ihm speise,
die Zeitung lese (Wie ist das möglich? — „Ich weiß selber nicht“). Der
betreffende Schüler soll bereits früher 14 Personen ins Ohr geflogen sein,
jetzt aber sei er schlimm dran, weil er nicht heraus könne. Auch habe
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642
Goldbladt,
„er“ eine „Kompagnie“ von 7 Schülern und 7 Schülerinnen, die auf -
spüren, wem er ins Ohr geflogen, um alsdann in Gestalt von Insekten oder
Vögelchen in die Wohnung des Wirtes einzudringen; „dort verwandeln
sie sich in gewöhnliche Menschen, sind aber dann splitternackt und machen,
was sie wollen, und treiben paarweise Unzucht“. Sowohl der Wirt, der
den seltsamen Gast in seinem Ohre beherbergt, als die anderen Haus¬
genossen werden — nach Angaben des Kranken — eingeschläfert; sind
im Hause nur junge Mädchen vorhanden, so käme nur die männliche
Kompagnie und mißbrauche dieselben im eingeschläferten Zustande.
Pat. betont ausdrücklich, daß er jenen verwandelten Schüler niemals
gesehen hätte und auch jetzt nicht wahrnähme, auch fühle er nicht seine
Anwesenheit, nur höre er seine dumpfe Stimme im rechten Ohr („als ob
er durch die Tür spräche“). Pat. erklärt, daß er all diese Angaben sich
nicht ausdenke, sondern alles Gesagte direkt und haarklein von dem „drin
sitzenden jungen Manne“ erfahren habe. Auf die Bemerkung, daß die
ganze Geschichte völlig unglaublich, die Umwandlung eines Menschen in
ein Insekt ein nie dagewesenes Kunststück sei, entgegnet Pat., alles ver¬
halte sich tatsächlich so und nicht anders, sei „ganz wahr“, wie die Stimme
versichere; die Umwandlung usw. wäre allerdings ein merkwürdiges
Kunststück, könne aber durch Hypnotismus erklärt werden. Auch hätte
ihm die Stimme anvertraut, daß die „Kompagnie“ diesen merkwürdigen
Modus gewählt habe, um bei ihren Orgien der Kontrolle der Schulobrigkeit
zu entgehen.
Pat. hat nicht die allergeringste Krankheitseinsicht gegenüber der
vorliegenden einseitigen Gehörshalluzinose und trägt seine drollige Ge¬
schichte mit derart ernsthafter Miene vor, daß das anwesende medizinische
Personal an sich halten muß, um nicht mit lautem Lachen herauszuplatzen.
— In den vorangegangenen deliranten Zustand zeigt Pat. eine gewisse
Kritik und Einsicht: erzählt, er habe damals außer verschiedenen Men¬
schengestalten alles mögliche Ungeziefer, auch Teufel, Alfen u. dgl., gesehen,
hörte u. a., wie eine Stimme zur anderen sprach: „Wollen wir noch einen
Dritten zu Hilfe nehmen, ihn auf’s Pflaster schleudern, dann ist er kaput“;
um der drohenden Todesgefahr zu entgehen, habe er jenen Sprung durch’s
Fenster riskiert; gegenwärtig hege er Zweifel an der tatsächlichen Existenz
des damals Gehörten und Gesehenen — „vielleicht war das ein Traum
mit offenen Augen?!“
Ohrbefund (Dr. med. Kompanejetz):
Am rechten Trommelfell ist eine beträchtliche nierenförmige Narbe
konstatierbar, welche die gesamte untere Hälfte des Trommelfells ein-
nimmt; hinter der Narbe — Depositum calcareum. Dasselbe Bild links,
wobei jedoch hier das Depos. calc. in der vorderen Trommelfellpartie ab¬
gelagert ist. Die Narben sind beiderseits beweglich.
Die Funktionsprüfung ergab folgendes: Weber nach rechts (für
Stimmgabeln a' und A); Rinne (für a') rechts negativ (—11"), links
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Über einseitige Gehörshalluzinationen.
643
positiv (+ 3"); beim Sckwabach&chen Versuche erweist sich die Knochen-
leitung etwas verlängert (ca. 3" für Stimmgabel a' und c, 2" für A). Die
untere Gehörgrenze ist rechts bis D. lt links bis D., gesteigert (Norm. C.,);
die obere Gehörgrenze ist beiderseits herabgesetzt: 1,07 Galtonpfeife
(statt Norm 0,68). Flüstersprache hört Pal. rechts auf 3 m, ca. links auf
7,5 m.
Die Perzeptionsdauer einzelner Stimmgabeln (im Prozentverhältnis
zur Norm berechnet) ist aus der beigefügten Tabelle ersichtlich. Die er¬
haltene Gehörskurve ist fürs rechte Ohr als fortlaufende, fürs linke als
unterbrochene Linie dargestellt. Man sieht, daß beide Kurven im allge¬
meinen aufsteigenden Charakter haben, d. h. eine bessere Hörfähigkeit
für hohe Töne im Vergleich zu niedrigen aufweisen und nirgends 100%
übersteigen.
Auf Grund des Untersuchungsbefundes ist der Schluß zu ziehen,
daß Pat. an doppelseitiger Erkrankung des Mittelohres leidet (Residua
otitidis mediae suppur. chron.), wobei das rechte Ohr stärker als das linke
affiziert ist; die Nn. acustici sind intakt.
Bei Untersuchung des Vestibularapparates mittels Kalorisation
konstatiert man, daß Nystagmus durch Eingießen von 400 ccm Wasser
(20* C.) erzeugt wird und ca. 2 Minuten anhält. Weder Spontannystagmus
noch Nystagmus bei Kopfneigungen wird beobachtet.
Anamnestischer Nachtrag: Pat. behauptet, schon seit vielen Jahren
an Schmerzen und Geräuschen von seiten des rechten Ohres zu leiden;
zeitweilig sei auch eitriger Ausfluß aus demselben aufgetreten, so daß Pat.
häufig Watte hineinstopfte. Die Frau des Kranken bestätigt diese Angabe
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614
Goldbladt,
und fügt hinzu, daß die Ohrerkrankung immer schlimmer werde, sich
besonders während der Trunkperioden geltend mache, indem Pat. alsdann
nahezu taub wäre, z. B. leise gesprochene Worte nicht hören könne; über¬
haupt soll schon einige Jahre lang eine gewisse Schwerhörigkeit bestehen.
Abnormitäten in der Vita sexualis des Pat., auch Eifersuchtsideen, werden
in Abrede gestellt; auch vermag die Frau keine bestimmten anamnesti¬
schen Anhaltpunkte für den sonderbaren Inhalt des vorliegenden Wahn¬
gebildes anzugeben, indem Pat. angeblich weder Beziehungen zu Schülern
oder Feldschern gehabt hat, noch jemand, dessen Name wie Bernstein
klingt, kennt; wohl aber soll Pat. ein eifriger Zeitungsleser sein und sich
vor längerer Zeit anläßlich eines Artikels über die sittliche Verwahrlosung
der lernenden Jugend aufgehalten haben.
(Ein Freudianer hätte aus dem vorliegenden Falle wohl die aben¬
teuerlichsten Dinge psychoanalytisch herausgetüftelt.)
17. III. Ruhiges, geordnetes Verhalten. Gedrückte Stimmung.
Aufmerksamkeit und Reaktion der Umgebung gegenüber herabgesetzt.
Intellektuelle Defekte nicht nachweisbar. Zuerst etwas abweisend, gibt
jedoch bald eingehende Antwort auf alle an ihn gerichteten Fragen.
Das gestern geäußerte systematisierte Wahngebilde wird aufs neue
bekräftigt, erhält jedoch einige neue Züge. Vor allem erfahren wir —
offenbar im Anschluß ans vorangegangene Examen —, der wunderliche
Ohrengast hätte schon bei seinem Einzuge erklärt: „In deinem Ohr werde
ich zugrunde gehen, weil es krank ist und läuft.“ Das sei nun tatsächlich
geschehen — in voriger Nacht sei „er“ gestorben; nun belästige den Pat.
bloß ein Rauschen und Pochen im rechten Ohre — „es ist so, als ob mit
den Zähnen ein Knorpel zerdrückt würde“.
Unverändert Mangel jeglicher Krankheitseinsicht: einen direkten
Beweis, daß es sich bei ihm nicht um eine Einbildung resp. Krankheit
handle, sieht Pat. darin, daß „er ohne Anreden seinerseits früher die
Stimme gehört hätte“. „Jetzt ist der Kerl tot. ... Bitte nehmen Sie, Herr
Doktor, die tote Mücke heraus! Vielleicht war’s auch keine Mücke, aber
jedenfalls etwas Fliegendes, denn „er“ sagte ganz deutlich: „wir fliegen“.“
18. III. Nach wie vor ruhiges, korrektes Benehmen, kein Intelligenz¬
defekt; gleichmäßige, leicht gedrückte Stimmung. „Im rechten Ohre
rauscht und knackt es wie ein Knorpel“. Dadurch schmerze auch die
rechte Kopfseite. Seitens des linken Ohres auch jetzt keine Beschwerden,
keine Gehörstäuschungen. Pat. beginnt an der realen Existenz seines
Wahngebildes zu zweifeln: „Wenn die Medizin behauptet, das wäre alles
bei mir eine Krankheit gewesen, so war’s wahrscheinlich eine Krankheit.“ —
Schlaf unzureichend. Die Handwunde zeigt, nach angelegten Nähten,
Tendenz zur Heilung.
19. III. Andauerndes Rauschen im rechten Ohre; „Knacken“
aufgehört. Keine Halluzinationen. Totale Krankheitseinsicht. Schlaf
ausreichend.
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Ober einseitige GehörshaUnzinationen.
645
20. III. Stat. idem.
21. III. Psychisch gesund. Entlassen.
Das eigenartige Krankheitsbild, das sich hier bei der klinischen
Beobachtung darbot, ist wohl als die sogenannte „akute Halluzinose
der Trinker“ aufzufassen. Zugunsten dieser Diagnose sprechen: die
erhaltene Orientierung des Kranken, das systematisch aufgebaute
Wahngebilde, die Erklärungsideen, der ausschließlich akustische
Charakter der Sinnestäuschungen.
Es handelt sich also um einen Quartalsäufer, bei welchem sich
nach einem starken Alkoholexzeß im Anschluß an ein delirantes Sta¬
dium die „akute Halluzinose“ entwickelt, wobei Gehörstäuschungen
bloß im rechten Ohre auftreten, „erst elementare Akoasmen, dann
Phoneme, dann Undeutlicherwerden der Phoneme, schließlich wieder
reine Akoasmen (Borihoeffer *). Die Ohruntersuchung zeigt, daß eine
beiderseitige, rechts stärker ausgeprägte, alte Mittelohrerkrankung
besteht, was durch die Anamnese vollauf bestätigt wird.
Die nachfolgenden drei Fälle seien nur kurz angeführt.
Fall II. M. K., 48 a. n., ledig, Tischler, wird am 30. V. 1913
aufgenommen.
Aus der Anamnese geht hervor, daß der dem Potus ergebene Pat.,
dessen Vater und Großvater gleichfalls Alkoholiker waren, sich seit Jahren
tagtäglich betrinkt, moralisch recht heruntergekommen ist und bereits
zweimal (1909 und 1912) im selben Krankenhause wegen Delirium tremens
interniert war, wobei tertiär - luische Hauterscheinungen konstatiert
wurden. Seit 2—3 Tagen sehr erregt, gesprächig, ausfahrend-aggressiv
den Angehörigen gegenüber. Manifestiert Beziehungs- und Verfolgungs¬
ideen: man habe ihn fälschlich bei der Geheimpolizei denunziert, man
komme schon ihn holen, durch die Zimmerdecke werden Löcher gebohrt,
auch höre er eine schreckliche Musik usw.
In somatischer Beziehung — außer etwas dumpfen Herztönen und
Tremor der Hände und Zunge — normaler objektiver Befund.
Bei der Aufnahme ist Pat. ängstlich-unruhig, jedoch geordnet, zeitlich
und örtlich orientiert. Behauptet, durch Machenschaften seiner Feinde
eingesperrt zu sein. Ausgesprochene Gehörshalluzinationen, und
zwar vorzugweise auf dem linken Ohr: hört seinen Namen,
Pfeifen, Weinen, Lachen, Musik und Stimmen: „Du wirst gehängt“;
„kommst nach Sibirien“; „haut ihn!“ usw. Nebenbei visuelle Halluzina¬
tionen resp. Illusionen: sieht sich von Verfolgern umringt, entdeckt im
abendlich-dunklen, menschenleeren Garten einen Spion.
Ohrbefund (Dr. med. Kompanejetz): Trommelfell links getrübt,
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Original frum
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646
Goldbladt,
rechts normal. Weber lateralisiert nach rechts; Rinne beiderseits positiv.
Flüstersprache rechts 10 m, links 3—4 m.
Diagnosis: Catarrhus chron. auris med. sin.
Verlauf : Schon nach 2 Tagen Halluzinationen ganz abgeblaßt,
normale Stimmungslage, Krankheitseinsicht. Klagt über Ohren¬
sausen resp. Klingen im linken Ohre und behauptet, schon
seit Jahren daran zu laborieren. —Rasch fortschreitende Besserung.
15. VI. Psychisch genesen. Keine Halluzinationen. Ohrenklingen
links. Entlassen.
Das Resumö dieses Falles wäre folgendes: Bei einem chronischen
Alkoholiker, der seinerzeit Lues durchgemacht hat und in den letzten
Jahren an Sausen und Klingen im linken Ohre leidet, treten während
des Delirium tremens neben Gesichtstäuschungen vorzugweise link¬
seitige Gehörshalluzinationen auf, die wiederum in Ohrenklingen der
betreffenden Seite übergehen; die otologische Untersuchung ergibt
chronischen Mittelohrkatarrh links.
Fall III. D. S., 48 a. n., ledig, Fabrikarbeiter, kam am 3. V. 1913
zur Aufnahme.
Der ihn eskortierende Eisenbahngendarm berichtete, daß Pat.
während der Fahrt in einem fort betete, sich mit den Fäusten ins Gesicht
schlug und unverständliche Selbstgespräche führte. ^Außerdem lautete
ein ärztliches Begleitschreiben dahin, daß Pat. psychisch krank sei und
sich eine schwere Halswunde durch Messerschnitt beigebracht habe. Sonst
fehlten jegliche genaueren anamnestischen Daten.
Bei der Inspektion des Kranken konstatiert man entsprechend der
Cartilago thyreoidea eine ca. 3 cm lange Halswunde mit angelegter Seiden -
naht, fernerhin diffuses Hautemphysem, das besonders stark am Hals
und Thorax ausgeprägt ist.
Von seiten der inneren Organe keine objektiv nachweisbaren Ab¬
weichungen von der Norm. R. Pupille L; Lichtreaktion träge. Tic-
artige Bewegungen der Stirnmuskulatur.
Depressiv-ängstlicher Gesichtsausdruck. Spricht nicht, reagiert in
keiner Weise auf Anreden, zeigt auch kein Interesse für die Umgebung.
Läßt sich mit leichtem Widerstreben zu Bett legen, wo er unbeweglich
und mit geschlossenen Augen liegen bleibt. Nachts (nach der Aufnahme)
leicht motorisch erregt, deutlich halluzinatorisch okkupiert. Erzählt im
Flüstertöne, am ganzen Leibe zitternd, er höre Stimmen, die ihn schmähen,
bedrohen, peinigen; man wolle ihn umbringen.
Im Laufe der ersten Tage bietet Pat. ein wechselndes Bild: liegt
zuweilen stundenlang, mit geschlossenen Augen, regungslos zu Bett, ver¬
weigert Antwort und Nahrungsaufnahme; zeitweilig jedoch motorisch
erregt, klagt über die „Stimmen, die keine Ruhe lassen“, bekreuzigt sich
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Cb« einseitige GehöeshalJuainationen.
i»n«äW«Ä ß Maie. — üttii AliKbugen
4«f Ge!|ör:;t&twchuugeiu P«t'. wird «Jglbgüdu gibt im allgeroeinen z\\-
l«‘i;ÖVudt' lakonische.Antworten» ist iw äußeren' Writ&Ueu'ruhig. korrekt;
miwoWert. öiM ytjwkienkörejv iu. v«tvmgert ajwf <£fttfi]b#r. vji^Ucbfe
£?viriAuere ArtgAbetn :;'. /' v - / '-Y '.•’/!''' ■ , - 5 ' * .- u rß .’• ,'■
Am 1. VI. voli&tätidig fiel von i iuilu/ioatlorwü. GeortlÄet^AV^eit,
Ktatikhei Iseinsichi. Macht .(blgende atta-tftfieSttoölte Angaben; i>droii seit.
J»hre!i; ab und in erhebliche Altekolexxesser vor der Ifiiemierarig eine
■.Woche hindurch tagtäglich' <-a< -Sno.o Srlmsps getjrattke'ik Der voran*
"' gelanget«--ddirafeie Zustand initsgtot 4«» Ten tarnen: $mri«Ut erscheinl
^erchPaC TfasnF’, dessen ß^|dfeöttiiyioieJiti'ökhi|5>5ri(Vttet‘licih sind.
„Mir schien es, daß man mich in die Hölle werfe« .will" ; „die BiMer ati der
Wand -.varen viV; lebendig“; , »fremde Menschen mH schrecklichen Ge¬
sichtern ki'ojjften Fmmor \ Behauptet, du- Stimmen. »ussihließ •
lieb im re- hu-i. Ohre gehört ?,u haben, vermag ober rieh Inhal) (F r
iln'hc<r>baU«xsiiütlj.)ne'.! nicht AMUgftbeiu ,,im rechten Ohr klingt es/ schon
tnehr als ein dahr*. auch jetzt h»irr er dort ein ..Klingen uml Kausi-tien’Y
Ohrbefund fi»?% med. Kompamjeis ): • Tgö-romelfüU rechts getrübt,
leieht retrnHieri; linkt normal. Weier läteraiisiert. nach rechteV Rinne
lwiderseit.s ^gsiliVt.G j^föslersjirjiighe. 4-—3C ftr, : |inks- tt> m. A
IhagiVvsis; t'Fiairiun, chrom auns mrd <Mx1.
. Weiterhin treten keine Sinflesiauacluingcü wahr auf. Pak, der
c aafeli ■ keine intellektwfcn Siferiin^tffi' h^slatigt seine , früheren
Angaben i?i.d betont, daß er dieAHimsoen nur rechis gehört habe Klagt
inuunehr über SchJafmangei und OhreHrausdum.-rechts, Glatte. Heilung
,\ii> tir VI; wird Pak als genes«a entlassen.
Auch hier hitbeo wir es «ijt ekigsit A1k«b.oftkec zu tun, der während
Btluipi r~ tlirnftfeehfr Mirtelohrkatarrh dfer betreffersti^ö Seihe
Fall IV G. Lf . n. fi;, verh., StnihmsvFrsteiier, wird afft 25. 1.
»ulgetiontmeo.
Pot., in dessen Anamnese weder erbliche Belastung n.m:h Lurü und
j^dhpjRbusus eruierbar sind , ist trüber stets gesund gewesen, hat hg*«u<ide
Kinder,
Seil % dahren psychisch, alleriert:'reizbar, schlagt Frau und Kiiub r,
begann Händel tyit den' Nachbarn, blieb tagelang cot?« Hause fort, drehte
das Haus tu Brand zu stecken. War bereits im Herbst. 1912 hferselbst
interniert.
Die ÜntersiiÄ.hjmg der innerch Organe und des Nerveitäpparalesi
ergibt keinerlei besondereil AbwekhUügep v*yti dk.v-.' &ht'*VG.. A.V V -iC#
v .V• u v ■ ... ( .d,. •••.. • ;. V,.- v ; ga ■ (KKK"^i
Cougle
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51 TY OF MICHIGAN
648
Goldbladt,
Pat. ist deprimiert, ablehnend; sitzt zusammengekauert da, gibt
ganz zutreffende, lakonische Antworten, ist vollkommen orientiert, hält
sich für gesund. Löst tadellos verschiedene Rechenaufgaben, weist gutes
Gedächtnis auf, manifestiert überhaupt keine intellektuellen Mängel.
Schläft unzureichend, geht nachts häufig im Krankenraume auf und ab.
Im weiteren Verlaufe tritt ein katatonisch-stuporöses Krankheits-
bild in den Vordergrund: Pat. steht stundenlang mit gesenktem Kopf
auf einem Fleck da, ohne Initiative, ohne jegliche Reaktion auf die Um¬
gebung; mutistisch, ablehnend. Verbringt auch den größten Teil der
Nacht stehenden Fußes neben seinem Bett, schlummert dabei ein, fällt
auch bisweilen hin, um sich gleich wieder aufzuraffen und die frühere
Stellung einzunehmen; liegt zuweilen regunglos da, das Gesicht im Kissen
vergraben.
Dazwischen ist jedoch Pat. beeinflußbar, gibt mit leiser Stimme
lakonische Antworten, behauptet nervös zu sein, klagt über Schmerzen
in der rechten Seite, „als ob dort ein Stein liege“, macht sodann im all¬
gemeinen den Eindruck eines depressiven Hemmungszustandes.
In derartigen Intervallen beschwert sich Pat. über lästige, häufig
auftretende Stimmen im rechten Ohre: „Warum kommt er nicht?“;
„wollen wir ihn totschlagen!“; „schläft er oder schläft er nicht?“. Pat.
gibt an, den Inhalt dieser Halluzinationen im Nu zu vergessen; er vergesse
überhaupt alles; wisse nicht, was mit ihm vorgehe. Doch werden vom
Kranken die Stimmen mit Bestimmtheit immer im rechten Ohr lokalisiert;
ebenso kategorisch behauptet Pat., daß es sich um Männerstimmen handle,
die „warten und rufen“. Im linken Ohr vernimmt Pat. häufig ein Klingen,
das zuweilen aufs rechte Ohr übergreift und „auch rundherum um den
Kopf sich verbreitet“. Gesichtshalluzinationen werden mit Entschieden¬
heit negiert.
Ohrbefund (Dr. med. Kompanejetz): Trommelfell beiderseits
normal. Weber nach rechts lateralisiert; Rinne rechts positiv, links negativ
(Luftleitung für a, vollkommen aufgehoben). Flüstersprache rechts
2—3 m, links 0; Konversationssprache links ad concham (mit dem ge¬
schlossenen rechten Ohre gehört, Lucae-Dennertscher Versuch). Uhr an
den Schläfen nicht hörbar.
Diagnosis: Affectio auris internae lateris utriusque.
Sobald Pat. aus dem stuporösen Status herauskommt, tritt der de¬
pressive Affekt hervor deutlich. Weint, bittet kniefällig um Verzeihung;
er sei gar nicht Stationsvorsteher, sondern ein simpler Bauer; L. sei auch
nicht sein Familienname usw. In den letzten Wochen wegen hartnäckiger
Abstinenz Sondenfütterung.
Der vorliegende Pall läßt sich bezüglich der psychiatrischen
Diagnose nicht so leicht einschachteln. Die Annahme einer Spät¬
katatonie ist nicht ganz von der Hand zu weisen, doch lassen die
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Über einseitige Gehörsh&Uuzinationen.
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außerhalb des katatonischen Stupors im Vordergrund stehende starke
depressive Verstimmung, die recht wohl erhaltene Intelligenz und das
Fehlen läppischer Züge sowie impulsiver Handlungen eher an ein mit
Gehörshalluzinationon einhergehendes melancholisches Krankheits¬
bild denken. Die Stimmen werden vom Pat ausschließlich im rechten
Ohr lokalisiert, außerdem besteht beiderseitiges Ohrenklingen. Die
Ohrenuntersuchung zeigt, daß beiderseits eine Affektion des inneren
Ohres, links besonders deutlich ausgesprochen, besteht 1 ).
Die Kasuistik der unilateralen Gehörshalluzinationen, die mit
otologischen Affektionen einhergehen, ist — wie gesagt — recht
dürftig. In psychiatrischen Lehr- und Handbüchern wird freilich in
allgemeiner Weise darauf hingewiesen, daß einseitige Gehörstäuschun¬
gen nicht selten Vorkommen, an Häufigkeit sonstige unilaterale Sinnes¬
täuschungen übertreffen und in der Regel mit Ohrerkrankungen in
Zusammenhang stehen.
Doch vermag ich von konkreten diesbezüglichen Fällen aus der mir
zugänglichen Literatur bloß die Mitteilungen von Seppilli und der von ihm
zitierten Autoren *), ferner die Mitteilung Stranskys anzuführen. Die
betreffenden Kranken von Seppilli und Stransky litten, abgesehen von den
Gehörshalluzinationen, an Ohrgeräuschen. In dem Falle des letztgenannten
Autors wies die otologische Untersuchung beiderseits Residuen einer ab¬
gelaufenen Otitis med. supp, und rechts ausgesprochene Mittelohrschwer¬
hörigkeit nach. •
Andererseits sind von Limos, Pick und Hammond einseitige Gehörs¬
täuschungen, die durch zerebrale Erkrankungen bedingt waren, be¬
schrieben worden.
In analoger Weise beobachteten Vetter und Pick, fernerhin Uhthoff
durch zerebrale resp. kortikale Störungen verursachte einseitige Gesichts¬
halluzinationen mit partieller Gesichtsfeldbeschränkung.
Zuweilen erstrecken sich einseitige Trugwahrnehmungen auf zwei
Sinnesgebiete.
1 ) Herrn Dr. med. Kompanejeta sage ich auch an dieser Stelle den
allerbesten Dank für die Erhebung des Ohrbefundes in sämtlichen 4 Fällen
und für die kompetente, liebenswürdige Unterstützung beim Abfassen
dieser Arbeit.
*) Dem mir zur Verfügung stehenden Referat der Seppillischen
Arbeit ist folgendes zu entnehmen: Michea hat als erster über unüaterale
akustische Halluzinationen berichtet; die erste spezielle Arbeit über die¬
selben stammt von Rigis-, ferner hat Raggi seinerzeit 13 entsprechende
Fälle neben zwei eigenen Beobachtungen aus der Literatur gesammelt.
Zeitschrift fttr Psychiatrie. LXXI. 4/5. 45
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Goldbladt,
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„Eine Kranke von Seglas mit linkseitigen Gesichtstäuschungen war
zugleich auf dieser Seite empfindungslos; der Kranke Ranschburgs hörte
links nur selten Stimmen, dann aber immer mit linkseitigen Empfindungen
an der Schulter“ 8 . Kombinierte unilaterale Halluzinationen optischer
und akustischer Natur beobachteten: Sepilli in einem Falle von Melancho¬
lie — bei mit beständigem Ohrensausen resp. -klingen einhergehenden
peripheren Störungen, Eskuchen bei zerebraler Affektion epileptischer
Provenienz. Sehr interessant ist der Fall von Tomaschewsky und Simono-
wixsch , wo linkseitige Sinnestäuschungen des Haut- resp. Muskelsinnes,
des Gehörs und der Sehsphäre bestanden und durch die Sektion Hirntumor
nachgewiesen werden konnte.
Lokalisierte somatische Affektionen peripherer und organischer
Art sind bei den üblichen, d. h. doppelseitigen Halluzinationen gleich¬
falls, und zwar in beträchtlichem Maße, konstatiert worden.
Besonders wertvoll erscheinen in dieser Beziehung die Untersuchun¬
gen von Redlich und Kaufmann , die an einem größeren Material von Gehörs¬
halluzinanten einen beträchtlichen Prozentsatz von Ohrenerkrankungen,
und zwar als typischen Befund Mittelohraffektion (Affektion des Schall -
leitungsapparates) mit mehr oder minder herabgesetztem Hörvermögen
konstatiert haben. So fanden diese Autoren u. a. bei 43 paranoiden
Gehörshalluzinanten in 19 Fällen sichere Veränderungen des Gehör¬
apparates, bei einem senil-dementen, halluzinierenden Pat. „einge¬
zogenes Trommelfell mit starker funktioneller Beeinträchtigung, Herab¬
setzung der Perzeption sowohl für tiefe als hohe Töne, subjektive Ge¬
räusche usw.“.
Auch sind bei Gehörshalluzinanten neben einer Hyperästhesie für
akustische Reize verschiedene Abweichungen in der elektrischen Reaktion
des Akustikus nachgewiesen worden.
Klieneberger fand bei seinen drei Gehörshalluzinänten „durchweg
chronische Veränderungen der Trommelfelle und Tuben bezw. Mittelohr¬
katarrh“, wobei der eine Fall eine „isolierte Sinnestäuschung bei einem
geistig Gesunden“ darstellt — musikalische Halluzinationen, die aus ein
fachen Akoasmen hervorgegangen waren; in einem anderen Falle die*>
Autors hatten die Halluzinationen gleichfalls Akoasmen (OhrensaustL
zur Grundlage. Goldstein beschrieb einen Fall von isolierten Gehör*-
halluzinationen bei beginnender Paralyse, wo an den Trommelfellen
Veränderungen mit Kalkablagerungen als Reizmoment wirkten un«i
subjektiv allerlei Ohrgeräusche hervorriefen. Hierher gehören ferner
die identischen Beobachtungen von Stein und Hudovernig über Gehörs¬
halluzinationen infolge eines im Gehörgang befindlichen Zeruminal- resp.
Wattepfropfes, und die umgekehrte Beobachtung von Pick , wo die Ent¬
fernung eines Zeruminalpfropfes Übertragung der Halluzinationen aus
dem anderen Ohr bewirkte. Auch Hudovernig läßt im betreffenden Falle
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Ober einseitige Gehörshallozinationen.
651,
die Halluzinationen aus Akoasmen hervorgehen, indem der Wattepfropf
ursprünglich Ohrensausen verursacht hatte.
Auch sind bekanntlich bei organischer Affektion des Schläfenlappens
bisweilen Gehörstäuschungen beobachtet worden. Die „Beobachtung
Picks, der einen Luiker mit sensorischer Aphasie verstümmelte, sinnlose
Silben halluzinieren sah“ # , mag gleichfalls hier vermerkt werden.
Über Gesichtstäuschungen infolge Hornhautläsion besitzen wir einen
wertvollen Selbstbericht von Nägeli. Recht plausibel erscheint die be¬
achtenswerte Ansicht Exners, daß die visuellen Trugwahrnehmungen der
Alkoholdeliranten entoptischen Erscheinungen resp. einem Zittern der
Ziliarmuskeln ihre Entstehung verdanken. Über Gesichtstäuschungen
infolge Affektion des Okzipitallappens existieren vielfache Beobachtungen
(Gowers, Ferrier, Westphal, Monakow u. a.).
Die peripheren Einflüsse auf die Sinnestäuschungen seitens der
Sinnesorgane äußern sich vorzugweise als Reize, die von denselben
oder auch von der Außenwelt ausgehen. Dementsprechend wirkt hierbei
ein Femhalten von Sinnesreizen gewöhnlich im Sinne einer Ab-
schwächung resp. Aufhebung der Halluzinationen (Schließen der
Augen bei Gesichts-, Verstopfen der Ohren bei Gehörshalluzinanten).
Zuweilen ist aber gerade das Gegenteil der Fall: Auftreten und Ver¬
stärkung der Halluzinationen beim Eliminieren der Reizquelle. Es sei
auf die gar nicht seltenen Gesichtstäuschungen der Blinden, die Gehörs-
täuschungen der Taubstummen resp. Starkschwerhörigen, ferner auf
die Gehörshalluzinationen bei Haftpsychosen hingewiesen. Ob die
nach A.ugenoperationen auftretenden visuellen Trugwahrnehmungen
einem Reizzustande (operatives Trauma, Druck der Binde) oder
einem Wegfall des Lichtreizes ihre Entstehung verdanken, mag dahin¬
gestellt sein.
Ini Einklang mit den vorliegenden klinischen Tatsachen stehen
mannigfaltige experimentelle Versuche verschiedener Autoren.
So ist es Jolly gelungen, bei Gehörshalluzinanten durch elektrische
Reizung des N. acusticus die Halluzinationen hervorzurufen. (In einem
Falle hörte der betreffende Pat. zuerst einen Klang, dann ein Gebet und
s ah zuletzt die Gestalt des Verf. desselben). Chvostek war imstande,
»an Personen, die vor kurzem noch spontan halluziniert hatten, durch
Galvanisierung des Ohres oder durch Vorhalten von Stimmgabeln Gehörs -
halluzinationen zu erzeugen“ u . Fernerhin hat Brenner an Kranken, deren
N. acusticus infolge meningitischer Prozesse zerstört war, durch direkte
galvanische Reizung einer Kopfhälfte resp. Hemisphäre Gehörshalluzina¬
tionen ausgelöst. Liepmanns bekannter Versuch bei Alkoholdeliranten
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Qrigiral frorn
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652
Goldbladt,
beweist, daß auch Gesichtstäuschungen von der Peripherie aus hervor¬
gerufen werden können. Was die Lichterscheinungen anbelangt, die durch
elektrische Reizung des N. opticus entstehen, so handelt es sich hierbei
um sogenannte „elementare Sinnesstörungen“ (Sterne, Feuerfunken usw.);
eine derartig bei Halluzinanten ausgelöste, ausgebildete Gesichtstäuschung
ist meines Wissens bisher nicht beschrieben worden. Auf dem Gebiete
des Hautsinnes hat Bonhöffer Wahrnehmungstäuschungen — mittels
Drucks auf die Haut — hervorgerufen, jedoch legt der Autor nach seinen
Erfahrungen „das Hauptgewicht hier auf das Einreden“ *. Eine eingehende
Arbeit über künstlich hervorgerufene Halluzinationen verdanken wir
Moravcsik, aus dessen Beobachtungen u. a. hervorgeht, daß die experi¬
mentell erzeugten Trugwahrnehmungen nicht immer im Gebiete des ge¬
reizten Sinnesorganes entstehen, sondern sich auch in anderen Sinnes¬
gebieten manifestieren können. Der Vollständigkeit halber seien auch
die auf psychischem Wege künstlich erzeugten, nämlich die durch hyp¬
notische Suggestion hervorgerufenen Halluzinationen erwähnt. Gerade
diese sind, meiner Ansicht nach, ein gewichtiger Beweis für die so¬
genannte „zentrifugale“ Theorie der Sinnestäuschungen, wogegen bei den
Träumen und auch bei den durch Gifte (Santonin, Belladonna, Kokain.
Haschisch usw.) hervorgerufenen Trugwahrnehmungen periphere „zentri¬
petale“ Reizmomente sich nicht von der Hand weisen lassen.
Diese klinischen und experimentellen Beobachtungen werfen
einiges Licht auf die „einseitigen Gehörshalluzinationen“.
Es fällt auf, daß da, wo ein Zusammenhang zwischen Gehörs¬
halluzinationen und Affektionen des peripheren Gehörapparates zu¬
tage tritt, fast durchweg elementare, subjektive Ohrgeräusche beob¬
achtet werden. Dieselben bestehen (als Kauschen, Sausen, Klingen
usw.) häufig schon jahrelang vor der betreffenden Halluzinose, erfahren
vor dem Auftreten der ausgebildeten Gehörstäuschungen eine Steige¬
rung, gehen bisweilen auch mit letzteren einher und beschließen das
klinische Bild der Halluzinose. Man gewinnt in all diesen Fällen da
Eindruck, daß es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Keizzustud
handelt, in dem Sinne, daß durch die vorliegende Ohrerkrankung sich
ein krankhafter Beiz in direkter Weise zentripetal den kortikalen
Sinneszentren mitteilt, sondern um eine ganz andere pathogenetische
Erscheinung: um Akoasmen als „Quelle der Gehörshalluzinationen“.
Nämlich — im pathologisch veränderten zentralen resp. kortikalen
Sinnesgebiet werden hierbei einfache Sinnestäuschungen falsch ge¬
deutet und zu komplexen Halluzinationen verarbeitet. Auch beim
Zustandekommen der Üblichen Halluzinationen resp. Illusionen, bei
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Ober einseitige Gehörshalluzinationen.
653
denen periphere Krankheitsprozesse keine Rolle spielen, beobachten
wir ja häufig analoge Erscheinungen, nur mit dem Unterschiede, daß
es sich bei diesen nicht um im Körper empfundene, sondern aus der
Außenwelt stammende Sinneseindrücke handelt, die von der patho¬
logischen Sinneszentrale verfälscht und in Halluzinationen umge¬
wandelt werden.
Da die Halluzinationen in ihrem Wesen zentraler Natur sind, ist
schon a priori zu erwarten, daß in der Mehrzahl der Fälle, wo ein
pathogenetischer Zusammenhang zwischen peripherer Affektion und
Halluzinationen eruierbar ist, letztere auch ohne jene, wenn auch in
anderer Form, aufgetreten wären. Diese Annahme wird durch meine
drei ersten, Alkoholiker betreffenden, Fälle, wo neben einseitigen
Gehörstäuschungen Gesichtshalluzinationen allgemeiner Art bestanden,
und in deren einem nicht-einseitige Gehörshalluzinationen voran¬
gegangen waren, bestätigt, um so mehr, als Alkoholdelirien ohne
Sinnestäuschungen ja undenkbar sind. Die Sinnestäuschungen ver¬
ankern sich eben in derartigen Fällen am kranken Ohr.
Andererseits muß jedoch aus einigen Fällen anderer Autoren und
auch aus meinem vierten Falle gefolgert werden, daß manchmal die
Halluzinationen ohne periphere Affektion wohl ausgeblieben wären.
Fernerhin ist in Betracht zu ziehen, daß beim Zustandekommen
der Halluzinationen möglicherweise gewisse Veränderungen von seiten
des betreffenden Sinnesorganes, die sich der gewöhnlichen klinischen
Beobachtung entziehen, eine auslösende, mitwirkende Rolle spielen.
Ich erlaube mir an dieser Stelle auf die Arbeit von ZyUmitsch hinzu-
weisen, der bei schwerhörig gewordenen Alkoholikern, welche aller¬
dings psychisch nicht alteriert waren, eine isolierte Neuritis der Nn.
acustici beobachtet resp. durch genaue Funktionsprüfung des Gehörs
nachgewiesen und seine klinischen Beobachtungen durch Tierexperi¬
mente gestützt hat.
Daß eine Herabsetzung des Hörvermögens bei den mit Ohr¬
erkrankungen einhergehenden Gehörshalluzinationen die pathogeneti¬
sche Hauptrolle spiele, wie das Berte zugunsten seiner Theorie („der
Ansprechbarkeit der Sinneszentren für Vorstellungen“) annimmt, ist
ganz und gar nicht plausibel Abgesehen davon, daß die Heranziehung
eines Reizzustandes im obigen Sinne einen vollständig befriedigenden
Erklärungsmodus darstellt, kommt ja die Bene sehe Theorie nur für
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654
Goldbladt,
starke resp. doppelseitige Schwerhörigkeit in Frage. Bekanntlich
beeinträchtigt eine einseitige, selbst hochgradige Herabsetzung des
Hörvermögens keineswegs-die Aufnahme von akustischen Beizen —
und darum sind die angeführten Fälle von einseitiger Gehörshalluzina¬
tion ein schwerwiegender Gegenbeweis bezüglich der Bene sehen
hypothetischen Ansicht.
Eine „Hyperaesthesia acustica“ wurde bei meinen vier Gehörs¬
halluzinanten nicht beobachtet — weder im Sinne einer gesteigerten
Empfänglichkeit für akustische Beize noch im Sinne einer krankhaften
Empfindlichkeit für hohe Töne und Geräusche. Selbstredend wage
ich es nicht, dieses negative Ergebnis irgendwie zu verallgemeinern.
Aus dem vorliegenden kasuistischen Material im Zusammenhang
mit meinen Fällen ziehe ich folgende Schlüsse:
1. Die Möglichkeit der Entstehung von Halluzinationen in den
höheren Sinnes- und Vorstellungszentren ohne periphere Beeinflussung
seitens des betreffenden Sinnesorganes ist vollkommen erwiesen.
2. Dagegen können periphere Momente ohne „besondere psychische
Disposition und Alteration“ 11 nicht ausgebildete Halluzinationen
erzeugen.
3. Besteht jedoch diese Disposition, so spielen die peripheren
Momente eine beträchtliche, noch zu wenig gewürdigte Bolle als
auslösende und mitwkende Faktoren.
4. In der Regel kommt hierbei ein Beizzustand von seiten der
Sinnesorgane, in der Minderzahl der diesbezüglichen Fälle Ausschalten
von Sinnesreizen, in Betracht.
5. Bei den einseitigen Halluzinationen lassen sich immer somatische
Affektionen nachweisen, und zwar hauptsächlich pathologische Zu¬
stände des betreffenden peripheren Sinnesorganes, zuweilen jedoch
lokalisierte zerebrale resp. kortikale Krankheitsprozesse.
6. Die Ohrerkrankungen, die beim Zustandekommen der Gehörs¬
halluzinationen eine Bolle spielen, können sowohl das mittlere als das
innere Ohr betreffen, wobei die Mittelohraffektionen überwiegen.
7. Die Gehörshalluzinationen entwickeln sich in derartigen Fällen
in der Begel aus Akoasmen.
8. Einseitige Gehörshalluzinationen werden verhältnismäßig selten
darum beobachtet, weil man auf dieselben nicht fahndet.
9. Das Auffinden von peripheren Affektionen bei Halluzinanten
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Uber einseitige Gehörshallozinationen.
655
bietet nicht nur theoretisches, psychopathologisches Interesse, sondern
vermag auch therapeutische Früchte zu zeitigen.
So erzielte Klieneberger (s. o.) bei seinen Gehörshalluzinanten durch
Behandlung des Ohrleidens vorübergehende Besserung. Auch die oben¬
erwähnten Fälle von Stern und Hudovcrnig, wo Entfernung von Zeruminal-
massen die Gehörstäuschungen zum Schwinden brachte, sind nicht nur
in pathogenetischer, sondern auch in therapeutischer Hinsicht lehrreich.
Jedenfalls scheint es geboten, beim Vorhandensein von Sinnes¬
täuschungen einen genaueren somatischen Befund, insbesondere von
seiten der Sinnesorgane, zu erheben, als das gemeinhin geschieht.
Benutzte Literatur.
1. Berse, Bemerkungen zur Theorie der Halluzinationen. Arch. f. Psych.
u. Nervenkr. 1910, Bd. 46, S. 1009.
2. Bonkoeffer, Die alkoholischen Geistesstörungen. Deutsche Klinik
1906.
3. Enzyklopädie der Ohrenheilkunde, red. von Blau , 1900.
4. Eskuchen, Über einseitige (hemiopische) Gesichtshalluzinationen und
einseitige optische Störungen (Dissert. Heidelberg 1911). Aus¬
führliches Ref. in der Revue neurol. 1913, Nr. 13, S. 37.
5. Hudovernig , Demonstration eines Falles von peripher entstandener
Halluzination. Neur. Zentralbl. 1906, S. 682.
6. Klieneberger , Gehörstäuschungen bei Ohrerkrankungen. Allg. Ztschr.
f. Psych. 1912, Bd. 69, S. 285.
7. Korsakow , Kursus der Psychiatrie, 1913 (russ.).
8. Kraepelin, Psychiatrie 1909.
9. Limos, Hallucinations unilaterales de l’oui'e (Original italienisch).
Ref. Annales mödico-psychologiques 1913, Nr. 1, S. 108.
10. Moravesik, Über künstlich hervorgerufene Halluzinationen (Original
ungarisch). Ref. Neur. Zentralbl. 1904, S. 1008.
11. Obersteiner, Die Sinnestäuschungen. Forens. Psychiatrie Bd. II (in
Dittrichs Handbuch d. ärztl. Sachverständigentätigkeit).
12. Seppilli, Contributo all etudo delle allucinazioni unilaterali. Ref.
Archiv Psychiatrii, Neurologii i sud. Psychopathologii 1888,
Bd. 18, Nr. 1, S. 116 (russ.).
13. Stransky, Unilaterales Gedankenecho. Neurol. Zentralbl. 1911, S. 1230.
14. Tomaschewsky und Simonowitsch, Zur Pathogenese der Halluzinationen
und der Epilepsie. Wjestnik klin. i sud. psychiatrii i nevropatho-
logii 1888, 6. Jahrg., Lief. 1, S. 60 (russ.).
15. Weygandt, Atlas und Grundriß der Psychiatrie.
16. Zytowitsch, Die klinischen Formen der Alkoholneuritis. Wjestnik
uschnych, gorlowych i nwsowych boljesnej 1910, S. 86 (russ.).
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Uber Agyrie and Heterotopie am Großhirn.
Von
Dr. A. Ehrhardt,
Arzt an der Anstalt Carlshof bei Rastenburg.
Mit 3 Abbildungen und 2 Tafeln.
’ In seiner Arbeit über den Bau des vollständig balkenlosen Gro߬
hirns erwähnt Probst, daß bisher in der Literatur 15 Fälle von Hetero¬
topie, d. h. Verlagerung der grauen Rindensubstanz in das weiße
Marklager des Groß- oder Kleinhirns, veröffentlicht seien. Die erste
derartige Beobachtung habe Virchow im Jahre 1867 gemacht, und
ihm hätten sich dann die Beobachtungen von Tüngel, Meschede,
Bülau, Hoffmann, Otto, Wicke, Marchand und Matell angeschlossen,
denen Probst dann einen eigenen Fall anschließt. Diese Aufzählung
ist aber unvollständig.
Denn im gleichen Jahre mit Virchow (1867) hat auch Merkel eine
solche Beobachtung mitgeteüt; ferner haben Ritter und zur gleichen Zeit
mit Probst Koschetkowa je einen Fall von Heterotopie grauer Hirnsubstanz
beschrieben, und von Autoren, deren Arbeiten mir nicht Vorgelegen haben,
haben auch Luys und Rokitansky solche Fälle erwähnt. Ferner haben schon
vor Virchow einige Ärzte, welche an Idiotenanstalten tätig waren, diese
Entwicklungshemmung des Gehirns wahrgenommen, ohne sie aber so
genau untersucht zu haben, wie dies Virchow tat, der ihr auch den Namen
gegeben hat. Jene Autoren waren Stahl, Rösch, Ntipce und Griesinger.
In der großen Mehrzahl dieser Fälle handelte es sich um einzelne, kleine,
erbsen- bis haselnußgroße oder mehr scheibenförmige, etwa pfenniggroße
graue Herde, die meist seitlich vom Nucleus caudatus in der oberen oder
seitlichen Wand der Seitenventrikel, und zwar im Vorder-, Seiten- oder
Unterhorn unmittelbar unterhalb des Ependyms gelegen waren; seltener
fanden sich die Herde dicht unter der Hirnrinde des Vorder-, Scheitel-,
Zentral- oder Hinterhirns, wie beispielweise in den Fällen jener älteren
Autoren und in dem von Probst mitgeteüten Falle. Hier war außer einigen
kleinen, in beiden Hirnhälften zerstreuten ein größerer walnußgroßer
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Über Agyrie and Heterotopie am Großhirn.
657
Herd vorhanden, welcher mit dem linken Scheitelhirn zusammenhing und
das Mark bis zum Ventrikel durchsetzte. Kleine Herde lagen auch im
Nachhirn, nahe den Oliven. In jenen Fällen, wo graue Herde mitten im
weißen Marklager gefunden wurden, waren sie nur erbsengroß. Im Mark¬
lager des Kleinhirns hat bisher nur Meschede einen solchen abnormen
grauen Herd gefunden, der die winzige Größe eines Stecknadelkopfes hatte.
Außer dem Prosaischen Falle hatten die grauen Herde noch eine be¬
merkenswert große Ausdehnung in der von Erman veröffentlichten Beob¬
achtung, wo sich in beiden Seitenventrikeln zahlreiche erbsengroße, in
die Ventrikelhöhle höckerig vorspringende Herde fanden, welche im
linken Ventrikel etwas spärlicher waren, im rechten aber die ganze Wand
vom Vorder- bis ins Hinter- und Unterhorn seitlich vom Schwanzkern
und Sehhügel durchzogen. Dieser Fall ist noch dadurch besonders be¬
merkenswert, daß er im Gegensatz zu allen anderen, welche Idioten, Epi¬
leptiker und Geisteskranke im kindlichen oder jüngeren Alter von höchstens
40 Jahren betrafen, sich bei einer geistig gesunden Frau im Alter von
62 Jahren vorfand. Sie war einem Bronchialkatarrh erlegen.
Der merkwürdigste von allen diesen Fällen ist indes von Matell
bekannt gegeben. Er zeigt die Mißbildung im ausgedehntesten Maße
und weist dadurch zugleich am deutlichsten auf das Entstehen dieser
Entwicklungshemmungen des Gehirns hin. Während die Fälle der
anderen Autoren nur einen kleinen Herd zeigten oder da, wo vielfache
Herde oder ein größerer Einzelherd gefunden wurden, diese sich aus
einzelnen erbsen- bis bohnengroßen, von Marksträngen umzogenen
und so abgegrenzten Einzelherden zusammensetzten, war in Matelk
Fall das weiße Marklager beider Großhimhälften von der grauen Hirn¬
rinde halbwegs bis zum Ependym von einer zusammenhängenden,
einheitlichen Schicht grauer Himsubstanz eingenommen. Nur ein
linienförmiger, von weißen Assoziationsfasem eingenommener Streifen
weißer Substanz trennte die Masse von der Hirnrinde, und ein zweiter
Streifen weißer Substanz von gleicher Breite wie die abnorme Schicht
schied diese vom Ependym der Ventrikel. Da der Fall, welchen ich
mitteilen will, demjenigen Matetts im allgemeinen gleicht und sich von
ihm nur dadurch unterscheidet, daß hier die normale Hirnentwicklung
noch in einem etwas früheren Zeitpunkte gehemmt wurde, so daß
eine zweite, in jenem Falle nur angedeutete Wachstumsstörung, ein
fleckenweises Verstrichensein der normalen Hirnwindungen in meinem
Falle mit Ausnahme des Stirnhirns und einer Andeutung der Sylvisehen
Furche vollkommen ausgebildet ist, die Agyrie, wie ich diese bisher
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658
Ehrhardt,
unbekannte Hemmungsbildung nenne, so will ich den Fall Matelte
hier etwas ausführlicher schildern.
Die im Jahre 1891 in ihrem 27. Lebensjahre in der Breslauer psychia¬
trischen Klinik verstorbene Kranke war nach früherer schwerer Krankheit
seit dem 6. Jahre mit epileptischen Krämpfen behaftet. Man gab ihr
später zu Hause etwas Unterricht im Lesen und Schreiben, doch vergaß
sie alles, bevor sie es noch völlig erlernt hatte, war also, wie mir scheint,
immer eine hochgradig schwachsinnige, doch nicht ganz blöde Idiotin.
Die einzigen geistigen Äußerungen, welche Maxell aus ihrem 27. Jahre
erwähnt, beweisen das auch. Sie sagte: „Ich heiße Fräulein von Luise
von Guttmann“, und als ihr etwas zum Lesen vorgelegt wurde, erkannte
sie einige Buchstaben und rief freudig: „Das erinnere ich mir noch aus
meiner Kindheit.“ Auch erwähnte sie, daß ihre Verwandten sie besuchen
würden. Sie war im Wachstum erheblich zurückgeblieben und wog trotz
guter Eßlust nur 38 kg. Sie aß selbst, und, da Maxell von Bewegungs¬
störungen nichts erwähnt, so muß man annehmen, daß sie auch gehen
konnte. Sie litt monatlich ein- bis zweimal an epileptischen Krämpfen
und starb in einem Status epilepticus.
Der Schädelumfang maß 50 cm, das Gehirn wog 918 g. Seine Furchen
waren stellenweise ein- oder zweimal in ihrem Verlaufe unterbrochen und
durch Hirnmasse überbrückt. Im allgemeinen waren sie indes, wie die
Bilder zeigen, gut ausgeprägt, und keine von ihnen fehlte vollkommen.
Auf den frontalen Durchschnitten zeigte sich, daß das weiße Marklager
in seiner äußeren Hälfte durch graue Rindenmasse ersetzt war, welche
sich nur in der Inselgegend entsprechend der äußeren Kapsel etwas ver¬
schmälert, sonst in gleicher Mächtigkeit in beiden Hemisphären durch alle
Hirnlappen hinzog. Von der Hirnrinde war sie nur durch einen linien¬
förmigen, von den subkortikalen Assoziationsfasern gebildeten weißen
Markstreifen getrennt. Die äußere Hälfte des Marklagers wurde also
allenthalben von grauer, die innere von weißer Substanz gebildet. Der
Streifenkörper, die innere Kapsel, der Hirnstamm, das Klein- und Nach¬
hirn waren unverändert. Schon mit bloßem Auge zeigte sich, wie auch
auf den Bildern zu sehen ist, daß die weiße Substanz gegen die abnorme
graue Schicht mit pfeilerartigen Fortsätzen hervorsprang und daß an der
Spitze dieser Pfeiler viele weiße Markstränge strahlenförmig durch die
graue Schicht gegen die Hirnrinde zogen und sich stellenweise auch durch
Quer- und Schrägstreifen netzförmig miteinander verbanden. So war
also die graue Schicht nicht einheitlich, sondern durch weiße Substanz
viel gefächert und netzförmig durchflochten. Hieraus wäre also, wie dies
auch Matell anzunehmen scheint, zu schließen, daß die weiße Marksubstanz
im wesentlichen nicht von der Hirnrinde aus peripheriewärts auswächst,
wie wohl heute ohne genügende entwicklungsgeschichtliche Begründung
für die Mehrzahl der dieselbe bildenden Fasern angenommen wird — nur
die von den basalen Ganglienzellen des Hirnstammes zur Rinde wachsenden
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Über Agvrie und Heterotopie am Großhirn.
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m wvinl-ti um ii Oicsen Annatitricti ci»t Aus 11 o i t»i e uc* cl»ou —, .sonderu
vl&s vfHÜe Mark wüide s*ü;h vom Zentrum des Gehirns aÜm&hlkh zur ilirn-
rinde durch eine eriibryonale. der graue» Rhute ähnliche und vou Ganglien :
•«dien und ihren rtrurkfmeri Ausläufern gebildete Schiebt, vermutlich ur<D )
Beteiligung des Ausläufer dieser Ganglienzellen, allmählich' gegen'dm
Hirnrinde entwickeln. Busse . Annahme würde sich auch auf die Forschun¬
gen Flechums MiUzui kAuhen. %bf dessen wir.iä äillohthalb*»»
seben v tlijtt Von zuerst enfstandeöeo zentralen Mafkkern ilgs
Gehiras, agä pV dfid .gföfteren und H7 idealeren Schüben ÄlijnähHch w.ö{iie
Markstrahlert gegen die. Hirnrinde • CTnp.orspifosr.t*i>. welche *u»o Beweise
ihrer zentralen ••Entstehung sich gegen die llirnüiK-rUäi hc *u«eh*vt<te •.' ■■'
schmalen». Würde das: Markweiß zuerst Utttcrliälfe der Hinirtberiläche:
en tstehen* also: von der H irnriiicl« seinm X?«pi'üog rkhi&en, $0 Arfirden
wir das ur&gekehri« Bild^ sehfin. inöissfin, d.Mh »hin; der :lltr»friftde müßten,
sobald das erst*>HarkS«eiÖ ffti embryiniäle.« Gehirn >.,« sehen wäre, alloul -
halben mehr oder weniger große, kegelförmig*, weiße Streifen mit korti-.
kaler Basis wrul miiralek -nach xiern Ijlrnstiu^rinv.gerichteter Spitze zu
wblickori »ein. _ ’,: .■ / ,'• ,* ••-.
Iti wurde also, apsi#d» w»d m Übem»&tä>a»»uig »dt Maleil.
es ftlr.fc&iett .$u ßinvRgterp &hluli' halte», änztmohmen, daß nur das
■subkortikaleBand seine' Ngr^iilaÄefiä. von den Ruidenzdh!» erhält*
das weiße Xf&fjklager aber seüie Fasern anfangs augsehikßUch. von den
Ganglieujeüea : dei* Bin» stamme? bezieht Erat in späterer Zeit würde
mit der Ausbilduüg der ze»trifugaieii. motorischen und sensorischen
Ig>ituBg«i auch ein markwäris gerißhteteR Wachstum der Markscheiden
an den betretende» .üerviaifaseni zu; venhaten 01a
Matelk Fäll kt also Pate deutliche Erläuterung der nöri>tah?a Ent*
slehungsweise des weiß».« Markl^ers.-d» wir seit J'leehvig und RwnwM
wissen; daß das embryo&»ioGehmi bis zuni oetmtcii Monat des Fötal*
lebens eine jpuUe Farbe xeigt und sich erst Ive? jnikr o?kopischer Be¬
trachtung entscheiden lädt, wo die: Binde aufbert und da? Mark
beginnt. Bei mikrosfeopische? Betrachtung seiner abnormen gmueu
Schickt' fand, deoü swieh MäteU in übereinstimmuag mit den Unter-'
suchungeh der geiiftrtuten Autoreip daß sie aus pyranndeiiförniijpui
Oder mehr ''hnit^intäßig.'i^ö^i^^^gUenzellen'.hirt gr(Aß«n Kern
vmd körnigem, pigmentiertem Pmiopjasnia. und einer sie Umgebende«
feinkörnigen Masse bestand, die bei Anwendung der fldgkehe n Färbung
sich in ein ;^eix #iher fteuroeliä nnd Alervenfasem äufgefei haben
Be mß^äw0. viar m Mateßt Fäll noch, daß die'Hirnrinde
nornndetj Bau zeigte, daß also- auf eine äußere • -
a ■ ■
Co> igli
Original fram
INIVERSSTY OF MICHIGAN
660
Ehrhardt,
eine Lage kleinerer, dann eine größerer Pyramidenzeilen folgte, die
jedoch in ihrem feineren Bau nicht den normalen Zellen eines gesunden
Menschen glichen, und daß in der vierten Schicht, welche vielfach
durch radiäre Markfasem zerteilt war und dem subkortikalen Bande
auflag, die Ganglienzellen in radiäre Reihen geordnet waren. Neben
ihnen fanden sich in dieser Schicht auch zahlreiche Kernchen und
Zellen mit mittelgroßen, von einem schmalen, beinahe homogenen
Protoplasmaring umgebenen Kernen, die ebenfalls in eine äußerst
feinkörnige Grundsubstanz eingebettet waren. Ein wahres Kapillar-
netz breitete sich in dieser Schicht aus. Auch in der abnormen grauen
Substanz waren die Ganglienzellen, wenn die Markfasemetze eng
waren, in radiäre Reihen geordnet.
Matell zieht nun aus seinem Falle und Vignab Untersuchungen
über das normale Gehirn eines 5% Monate alten Fötus den Schluß,
daß das Gehirn seiner Kranken etwa im sechsten Monat in der nor¬
malen Entwicklung gehemmt wurde, und daß mit Rücksicht auf
Fuchs' Untersuchungen über das Entstehen der Markfasem, deren
Wachstum erst im achten Lebensjahre beendet sei, anzunehmen sei,
daß die Entwicklungsstörung des Gehirns sich noch auf die ersten
Lebensjahre der Kranken erstreckt habe. Und er schließt seine Arbeit
mit der Vermutung, daß die abnorme graue Substanz sich entwickelt
habe, um den leeren Raum auszufüllen, der durch die fehlende Aus¬
bildung der weißen Markmasse frei geblieben war.
Die Krankengeschichte der von mir in der Idiotenanstalt in R.
einst behandelten Kranken ist nach einer brieflichen Auskunft der
Mutter und dem ärztlichen Aufnahmezeugnis folgende.
Gertrud R. wurde am 16. IV. 1896 in Strasburg Wpr. als Tochter
eines Tischlers geboren. Ihr damals 28 Jahre alter Vater war körperlich
schwächlich, ruhigen Gemütes, aber stark dem Trünke ergeben. In
späteren Jahren entwöhnte er sich des Alkohols etwas und trank nur noch
zeitweise. Die Mutter ist Gesindevermieterin, hat ein ruhiges, freund¬
liches Wesen und ist nicht trunksüchtig. Sie machte in zehnjähriger Ehe
7 Geburten durch. Alle Kinder außer der Gertrud blieben geistig und
körperlich gesund und am Leben. Diese war ihr zweites Kind. Nach der
Erinnerung der Mutter ist „sie vor der Geburt des Kindes nicht bett¬
lägerig krank gewesen und hat nur in der letzten Zeit wie bei allen Kindern
viel an Übelkeiten zu leiden gehabt. Im 4. oder 5. Monat war sie auf
einem Jahrmarkt an einer Schaubude, in der eine Seejungfrau gezeigt
wurde. Sie mochte nicht hineingehen, sah sich aber draußen das Bild an,
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Über Agyrie und Heterotopie am Großhirn.
661
hörte das Quietschen der „Seejungfrau“ und gab an, ganz solche Töne
hätte auch die Kleine immer hervorgebracht (ländlicher Aberglaube).
Das Kind war bei der Geburt sehr klein, und das Wasser, worin es die
Pflegerin sofort badete, schien zu kalt zu sein. Jedenfalls war es nach dem
Bade ganz blau geworden (infolge des bei der Leiche nachweisbaren
angeborenen Herzfehlers) und stöhnte immer leise. Die Eltern ließen
das Kind deshalb rasch taufen, und die Mutter nahm es zu sich ins Bett,
um es zu erwärmen. Danach hörte das Stöhnen auf. Während der „Schon¬
zeit“ litt die Mutter zuweilen an Schwindel. Das Kind konnte gleich im
ersten Jahre seine Beine nicht bewegen.“ Es blieb kränklich und schwach.
Im zweiten Lebensjahre stellten sich Krämpfe ein, welche sich bis zum
Tode in etwa monatlichen Abständen je ein- oder zweimal wiederholten.
Das Kind blieb blöde, konnte weder gehen noch sprechen; dagegen griff
es mit den Händen und hielt ihm gereichte Gegenstände fest, führte auch
Brot zum Munde. Die Kranke merkte auf, wenn sie angesprochen wurde,
und legte dann einen Arm an die Augen. Weil ihre Beine dünn und
schwach blieben, wurde sie viel im Bett gehalten. Sie zeigte ein stumpfes
Wesen, mußte gefüttert werden und beschmutzte Bett und Kleider.
Die Hände fühlten sich warm an, doch zeigten sie Froströte und kleine
Frostnarben. Die Füße waren immer kühl. Vor Ablauf des 8. Jahres
wurde die Kranke der Idiotenanstalt übergeben. Hier wurden die geschil¬
derten Erscheinungen einer zerebralen Kinderlähmung bestätigt. Die
Kranke glich nach Körpergröße und Gebaren einem zweijährigen, aber
blöden und völlig stumpfen Kinde. Sie war 104 cm lang und wog 30 Pfund.
Ihr Kopfumfang betrug 44 cm. Wegen ihrer Lähmung und Unsauberkeit
wurde sie dauernd im Bett gehalten. Sie sah und hörte gut; denn sie
schaute nach dem Arzte und der Pflegerin hin und achtete auf ihre Anrede.
Doch war sie blöde und brachte als einzige sprachliche Äußerung nur
einige piepsende und grunzende Laute hervor. Sie mußte gefüttert und
gereinigt werden. Im Gesicht zeigte sich keine Lähmung oder Kon¬
traktur. Der Schädel war mesozephal, gleichmäßig gerundet. Das Gesicht
zeigte angenehme, regelmäßige, kindliche Züge. Die Bewegung der Arme
und Hände war frei, doch waren auch ihre Muskeln schwach entwickelt.
Beide Beine waren gelähmt und wurden lang ausgestreckt gehalten. Sie
waren nach außen rotiert, so daß die Füße mit ihrem Außenrande dem
Bette auflagen. Weder aktiv noch passiv waren an den Gelenken der
Beine Bewegungen ausführbar. Die Sehnenreflexe waren an den Beinen
. spastisch gesteigert. Die Sensibilität war nicht gestört, da die Kranke auf
Nadelstiche zuckte. Das ganze Skelett wies normale Formen auf. Ins¬
besondere waren an Brustkorb und Wirbelsäule keine rachitischen Ver¬
dickungen und Verbiegungen sichtbar. Die Kranke war blutarm, sehr
schwach genährt (die Muskulatur war überall, namentlich an den Beinen,
atrophisch), zeigte aber an den inneren Organen keine krankhaften Ver¬
änderungen. Während ihres lVijährigen Anstaltsaufenthaltes ent*
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Ehrhardt,
wickelte sich bei ihr eine Lungentuberkulose und ein Pyothorax rechter-
seits, der 2 Monate vor dem Tode eine Rippenresektion nötig machte,
worauf sich sogleich V* 1 Eiter entleerte. Die Eiterabsonderung hörte all¬
mählich auf, doch blieb die tuberkulöse Pneumonie bestehen und führte
zusammen mit einem chronischen Dickdarmkatarrh und mangelhafter
Nahrungsaufnahme den Tod am 2. März 1905 herbei. Bei der Sektion
zeigte sich der Schädel von regelmäßiger Form. Er war mesozephal und
rund, ohne hydrozephalisch gedehnt zu sein. Er hatte eine Dicke von
1 cm und war von blasser Farbe, blutlos. Seine Nähte waren kaum ver¬
wachsen. Die harte Hirnhaut war sehnig weiß, nicht abnorm verwachsen.
Die weiche Hirnhaut war durch mäßig viel wässerige Flüssigkeit vom
Hirn abgehoben. Die Venen der Hirnoberfläche waren stark blutgefüllt,
stricknadeldick, die Arterien frei von miliaren Tuberkeln. Die weichen
Hirnhäute waren als eine leicht verdickte und daher derbe, wenn auch
noch durchscheinende Bindegewebshaut im Zusammenhänge abziehbar,
ohne daß Telle der Hirnoberfläche an ihnen haften blieben. Die Stirn-
furchen waren mangelhaft ausgebildet, noch kümmerlicher die Schläfen-
furchen, die fast verstrichen waren und nur als etwa 3 cm lange, y 2 cm
tiefe, leicht gekrümmte, strichförmige Vertiefungen erschienen. Die
Zentral-, Parietal- und Okzipitalfurchen fehlten ganz, und da auch an der
medialen Fläche des Gehirns die Furchen ebenso wie auf der Unterfläche
außer im Bereich des Stirnhirns vollkommen fehlten, so war die Him-
oberfläche in ihren hinteren drei Vierteln völlig glatt und nach außen
konvex gewölbt. Von der Seite betrachtet, setzte sich der Schläfenlappen
beiderseits am freien Rande zwar deutlich vom Stirnlappen wie gewöhnlich
als Vorsprung ab; die Fossa Sylvii aber war nicht ausgebildet. Nur drei
oder vier einem dreistrahligen Sterne gleichende, je y 2 mm tiefe und sich
nach jeder Richtung 1—2 mm weit fortsetzende, unbedeutende, gruben¬
förmige Vertiefungen im Bereich des Parietookzipitalhirns deuteten jeder-
seits auf den Anfang einer Furchenbildung hin. Beide Hirnhälften glichen
sich in ihrem Aussehen auf der Oberfläche, wie im alsbald zu beschreiben
den inneren Aufbau vollkommen. Das Bild der Hirnoberfläche gibt die
hier beigefügte Skizze nach der Erinnerung wieder.
Abb. 1. Ansicht des Gehirns von der Außenseite: Agyrie.
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Über Agyrie und Heteroto|ne aru ßrößhirn
Da? Him vrog .800 g. Es war Mufarn»bl«%t&uweid utid Von nor-
mabn Knnshdyiw. Die Himhdhien wareu-nainp.tiUi'dtiu *l«rt'•KittterUunnm-,.
stark ..erweitert, vuVn 5. hinten 2 1 4 cm im Dürchtnesser weit,.Der Mantel
war ! - > <m dick, Unter der 2 tom brejieir ittrdmdp faitd sieb , in den
hinderen, drei Vierteln (gebläfeu-, Zentral.-, Ü^fiefsö- nbd Qk^pjfelhippehU
mir durch i-hvmi v.vjiVn, iinieiifbrring *. k.rnaleU Streif, ri vi>n jhr ,
eine ebenfalls graufub?; gallWtig duröhseboi.fH*fhJ*? und;' «iakfoskoj>Wdi
völlig der grbOen 'JJImtiadn gl(‘ietie«dn, i *■> cm hreitf Sclii.-ili vm nor¬
maler Hiriikuiitdsteo?.. Unter ihr folgt «uhe 1 /» curjun DiJi’Ch^hiHtt/imsendo
weiße MarUsdiii hl. welche die Venink'-lhötiie umgibt. Dia* -Unturmy grbue
Masse ».wsW-rki >'.idv in gh n ■<>■-<< Brodi- uhnj» vom. hiv zt, fii..*r l'M.nlid-
< h.-m . welche »h-rn sviMiclnnt iVir<!..-i r*,\ischeu ‘■duu- und s. ld.inekou- c
- nHpfiebt. ln dieser Liiiii- hm! >'•* i'-l pUi'li-lj imbu' /-ii'Ub*uug -u.d,
«ab <!-r i MHVIiS'bniit des Sliutliirnc gh-nlii. da in-..* Jfpjj 'Ih-m u,- || ni“
.Mw-.«* fehlt und die t »lx*tHa» !,,- gefurcht :A>.. völlig d»*m om mal hi bilde,
!^0rsieh auch Ihrv im Anschluß an; den^iklrraltrn Bamt ife&chwaös:
teriik* .jde-. ober dorch etwas vy*!lh- Suie-kin? fort ihii. gHr.MUit Und wmit
HU J V;*r [it- des 'VnitdorhirTi* gelegeny jndnrsriis eine mehr als xd'cn.iiggrntve,'
kreisrunde und 2 mm dir km, a bc; es [ mengte S'huhf grauer Sub-lau?; ft&S
Efiem'yn. der liindibhbOt wt glatt und /.eigi snn*i nirgends .tbtmi ine griiue.
Süfcslan?- Der Scbvvmfz> utiii L.insi
stamm mgen io allen Teilen riipkt
Hgitizec
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664
Ehrhardt,
wenig fiel mir am Rückenmark eine Atrophie der Pyramidenbahnen auf.
Ich halte es aber für wahrscheinlich, daß eine solche bestand, aber von mir
übersehen wurde, ein Fehler, den ich leider nicht gut machen kann, da ich
mir nicht das ganze Gehirn, sondern nur zwei Stücke desselben aufhob,
deren Querschnittsbild.er hier naturgetreu wiedergegeben sind. Das eine
zeigt den Querschnitt einer Stirnhirnhälfte, wobei man seitlich vom
Schwanzkern die zuletzt erwähnte isolierte graue, heterotopische Sub¬
stanz auf dem Durchschnitte sieht. Das zweite Bild gibt ebenfalls in
natürlicher Größe einen Sagittalschnitt durch die Gegend der Zentral -
windungen wieder.
Aus dem übrigen Sektionsprotokoll sei erwähnt, daß die Leiche ab-
gemagert war und an Armen und Beinen nur bleistiftdicke Reste von
Muskulatur aufwies, und daß auf dem Kreuzbein ein talergroßer Druck¬
brand bestand. Beide Lungen zeigten ausgedehnte tuberkulöse Pneumo¬
nie mit Kavernenbildung und rechts einen operativ eröiTneten Pyopneumo-
thorax. Das Zwerchfell stand deshalb beiderseits bei der 8. Rippe in der
Brustwarzenlinie. Am Herzen zeigte sich ein offenes, kleinerbsengroßes
Foramen ovale, das im linken Vorhof an eine strahlig sehnige Narbe an¬
grenzte, die vielleicht durch einen alten Entzündungsprozeß hervor¬
gerufen war. Auch war der Ductus Botalli offen und für eine Sonde durch¬
gängig. Das Herz war infolgedessen in beiden Hälften vergrößert und
1 %mal so groß als die rechte Faust der Leiche. Der Herzmuskel maß
links 1 cm, rechts 3 mm im Durchschnitt. Das Gewebe des Herzens, der
Nieren und Leber war leicht getrübt; die Milz zeigte das Aussehen der
chronischen Stauungsmilz und war 10,5 cm lang und 1 cm dick. Magen
und Darm zeigten außer Anämie und leichter katarrhalischer Schwellung
nichts Wesentliches. Die untere Hälfte des Dickdarmes bot dagegen eine
stark verdickte, sulzig gequollene Schleimhaut dar, die mit reichlichem
Schleim bedeckt war. Während der Dünndarm keine tuberkulösen Ver¬
änderungen aufwies, zeigte die Außenseite des Dickdarmes zahlreiche
miliare Tuberkeln. Die Geschlechtsteile waren infantil und verkümmert.
Die Scheide war für einen Bleistift durchgängig- die Gebärmutter 1 y 2 cm
lang, 1 cm breit, ihre Muskulatur grauweiß, die Eierstöcke 1 cm lang und
3 mm breit.
Außer tuberkulösen Veränderungen und agonalem Hirnödem fanden
sich also intrauterin erworbene Hemmungsbildungen am Herzen und den
Geschlechtsteilen, Lähmung der Beine, weniger der Arme, Sprachlosigkeit
und, was hier besonders interessiert, fast allgemeine Agyrie und Hetero-
topie der grauen Substanz im Hirn mit etwa mittelweitem Hydrocephalus
internus.
Um einen genauen Einblick in den mikroskopischen Aufbau des
gewucherten Rindengraus zu gewinnen, färbte ich die Schnitte, die ich
von den beiden Hirnstücken anfertigte, in verschiedener Art. Die Weigert-
sehe Markscheidenfärbung zeigte nur das eine, daß sich in der ganzen
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Über Agyrie and Heterotopie am Großhirn.
665
grauen Substanz keine Markstrahlen befanden. Die Nissls che Zellfärbung,
von der ich hier zwei von dem Königsberger Architekten und Lehrer an
der Kunstgewerbeschule Herrn Renzel vollendet gezeichnete Bilder bei*
füge, ergab besonders schöne Bilder, die meine Beschreibung der abnormen
grauen Substanz trefflich erläutern. Ich verglich ein solches Zellfärbungs-
bild mit demjenigen eines normalen Gehirns bei derselben 400 fachen
V ergrößerung.
Die vergleichende Messung beider Schnitte auf dem Kreuztisch des
Mikroskopes lieferte folgende Zahlen: Die normale Hirnrinde war im
gehärteten Zustande 1,9 mm breit, das pathologisch gewucherte Grau
meines Falles — der Schnitt entstammt der Gegend der Zentralwindun¬
gen — zeigte dagegen, ebenfalls im gehärteten Zustande, eine Gesamtdicke
von 10,9 mm, wovon 0,6 mm auf die äußere Tangentialfaserschicht kamen,
während das weiße Marklager eine Breite von 6,3 mm aufwies, wovon
0,04 mm auf das Ependym zu rechnen waren. Die Dicke des ganzen Hirn¬
mantels betrug also im gehärteten Zustande 17,8 mm. Nirgends war eine
abnorme Anhäufung von Rundzellen oder eine chronische Verdickung der
Arterienwände wahrnehmbar, so daß die Entstehung der Hirnanomalie
auf keinen akuten oder chronischen Entzündungsvorgang zurückzuführen
ist. Ebensowenig fanden sich irgendwelche tuberkulösen Herde oder
Tuberkelbazillen. Die Tuberkulose der Brust- und Bauchorgane hatte
also noch nicht zu einer Blutinfektion geführt. Die Wucherung der Hirn¬
rinde stellte sich mithin als eine einfache Wachstumsanomalie dar, ge¬
kennzeichnet einerseits durch einen Stillstand der Hirnrindendifferen¬
zierung am Ende des dritten Fötalmonats, andererseits durch eine hyper¬
plastische Wucherung der Hirnrinde nach der Tiefe hin. Im einzelnen
zeigte der mikroskopische Schnitt folgende Beschaffenheit: Zu äußerst
liegt die 4,8 mm breite Rinde, welche aus den normalen vier Schichten:
Tangentialfaserschicht, Schicht der kleinen und der großen Pyramiden-
zellen und zu unterst derjenigen der polymorphen Ganglienzellen besteht
und durch einen 0,1 mm breiten, subkortikalen Markstreifen von der
nunmehr folgenden abnormen grauen Schicht getrennt ist. Diese Schicht
ist 7,1 mm breit und enthält große, sternförmige Ganglienzellen. Sie
erreichen nicht ganz die Größe der großen Pyramidenzellen der normalen
Hirnrinde und zeigen nirgends Pyramidenform, sondern nur die eines
unregelmäßigen Sterns mit 4 oder mehr Zacken. Sie messen 20—30 p im
Durchmesser und liegen weniger dicht als die 25—30 p großen Riesen-
Pyramidenzellen eines normalen Gehirns. Auf 1,2 mm Fläche und 15 p
Dicke kommen in meinem Falle 30—40 große Ganglienzellen, im normalen
Hirn dagegen 25—30 große Pyramidenzellen. Zwischen den großen Stern-
zellen finden sich 3—4 mal so häufig kleine Sternzellen, welche kaum halb
so groß sind wie jene. Nur ausnahmweise zeigt eine davon Pyramiden-
form. Zwischen den Zellen liegt ein Netzwerk von Glia- und marklosen'
Nervenfasern, die sich bei Awsf-Färbung nur undeutlich wahrnehmen
Zeitschrift für Psyohimtrie. LXXI. 4/5. 46
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666
Ehrhardt,
lassen, weshalb sie der Zeichner nicht wiedergeben konnte; auf Photo¬
graphien markierten sie sich deutlich als Fasern. Die beiden mikro¬
skopischen Bilder entstammen dem äußeren und inneren Rande dieser
Schicht und liegen also 0,7 mm voneinander entfernt. Sie gleichen einander
vollkommen, wie denn auch die ganze Schicht einen gleichmäßigen Bau
zeigt. Neben den beiden Arten von Ganglienzellen finden sich in der grauen
Masse auch Gliazellen in gewöhnlicher Menge. Die innere Struktur der
Ganglienzellen zeigt keine Besonderheiten: Der helle, bläschenförmige
Kern ist umgeben von dem regelmäßig gekörnten äußeren Protoplasma-
leibe der.Zelle. Nahe dem unteren Rande der grauen Schicht haben sich
die Zellen zu einer- tangentialen Reihe angeordnet und stehen hier etwas
dichter, so daß sie sich zum Teil überlagern; einige haben auch Pyra¬
midenform angenommen. Es scheint so, als wenn die Zellen hier in Wuche¬
rung begriffen waren, als wenn hier die Keimstätte liege, aus deren Teilung
die Ganglienzellen der ganzen grauen Schicht hervorgegangen seien. Ich
würde also glauben, daß die Keimschicht durch Abstoßung von Tochter¬
zellen allmählich in die Tiefe gerückt ist und nicht eine allgemeine gleich¬
mäßige Wucherung der Ganglienzellen nach allen Richtungen des Raumes
stattgefunden hat.
Das unter der grauen Masse folgende weiße Marklager zeigt eine
deutliche Teilung in drei Lagen: zu äußerst besteht eine 3,1 mm breite
Lage netzförmig sich kreuzender Fasern, dann folgt eine 2,4 mm breite
Lage tangential verlaufender Markfasern und darunter wieder eine 0,8 mm
breite Lage netzförmig sich hinziehender Fasern. Alsdann folgt das aus
einer Zellage bestehende Ependym, welches den hydrozephalisch ge¬
dehnten Ventrikel umkleidet. Radiär verlaufende Markfasern, welche den
Pyramidenbahnen entsprechen würden, haben sich ausgebildet. Bezüglich
des mittleren Längsbündels kann ich leider nicht angeben, ob es in sagit-
taler oder frontaler Richtung verläuft, da ich nicht mehr weiß, wie die
Längsachse des von mir ausgeschnittenen Rindenstückes gerichtet ist.
Der von mir beobachtete Fall zeigt also verschiedene Abweichun¬
gen von dem, welchen MateU beschrieben hat. Die Mißbildung ist
hier offenbar in einer früheren Entwicklungszeit entstanden als in dem
Falle dieses Autors. Dort waren die Hirnwindungen normal ent¬
wickelt; schon makroskopisch zeigte sich die graue Schicht durch
radiär verlaufende Markstrahlen in einzelne Herde grauer Substanz
gegliedert und durch einen feinen Streifen tangentialer Markfasem
von der oberflächlichen normalen Hirnrinde geschieden, der aller¬
dings auch in meinem Falle, aber schwächer, ausgeprägt ist. Die
mikroskopische Betrachtung bestätigte dies. Die äußere Bindenschicht
der MateUschen Kranken zeigte sich von der Tangentialfaserschicht,
der Schicht der kleinen und derjenigen der großen Pyramidenzellen
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über Agyrie and Heterotopie am Großhirn.
667
gebildet, dann folgte jener weiße tangentiale, subkortikale Mark-
Streifen und nunmehr die von radiären Markstrahlen zerschnittene
abnorme graue Substanz mit ihren Ganglienzellen- In meinem Krank¬
heitsfälle dagegen zeigten die hinteren zwei Drittel der Himoberfläche’
noch keine Furchung und Gliederung in Windungen, und die unter.der
Binde liegende abnorme graue Masse zeigte neben vereinzelten Pyra¬
midenzellen nur polygonale Stemzellen iyid war nicht durch radi&re
Markstrahlen zerteilt. Es handelt sich also um einen sehr frühen
Stillstand und eine Mißbildung bei der Himentwicklung. Dem im
einzelnen verschiedenen Befunde entspricht es auch, daß jene Krank»
i sowohl gehen als auch sprechen, sogar manche einfache Fragen be-
! antworten und vielleicht selbst ein kindliches Gespräch führen konnte
und erst im 27. Jahre verstorben ist, während die von mir beobachtete
Kranke auf ganz infantiler Stufe des Körperwachstums stehen geblieben
"war, weder gehen noch sprechen — wohl aber etwas greifen und auf¬
merken — konnte und schon im neunten Jahre an erschöpfter Lebens¬
kraft und Verfall in Schwindsucht starb. Bezüglich der Deutung der
Abnormität schließe ich mich Mateüs Ansicht an, der im Hinblick
, auf den Befund Vignal s an dem Hirn eines 5% Monate alten Fötus,
, I bei welchem Hirnrinde und Mark nur undeutlich differenziert sind,
annimmt, daß die normale Markentwicklung ausgeblieben und die
1 untere Grenzschicht der Rinde in Wucherung geraten sei Ohne
] eine solche Hyperplasie ist auch jene Verlagerung grauer Substanz
t nicht zu erklären, wo sich ein grauer Herd an einer Stelle mitten im
Marklager findet. So zeigt sich auch in meinem Falle seitlich vom
Nudeus caudatus, und zwar im Dache des Vorderhorns, ein heterotoper
t Herd grauer Masse (s. Abb. 3), also an einer Stelle, in deren Nähe beim
b Erwachsenen nie graue Substanz liegt. Auch dieser Herd zeigte bei
mikroskopischer Betrachtung denselben Aufbau aus größeren und
h kleinen, sternförmigen Ganglienzellen. Anderenfalls muß man die
ii Lage dieses Herdes durch die Annahm e zu erklären suchen, daß der
b Nucleus caudatus auch im normalen Gehirn bei seiner ersten Aus-
r* bildung sich auch auf das Dach des Ventrikels erstrecke und sich erst
ie mit dem Entstehen des Balkens allmählich auf den Boden zurückziehe.
it i Die beiden hier nebeneinander gestellten Fälle von fötaler Him-
t, ; rindenmißbildung weisen auf eine Lücke in unseren Kenntnissen der
d normalen Himrindenentwicklung hin, deren Ausfüllung eine dankbare
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668
Ehrhardt,
Aufgabe für Embryologen wäre. Seit His kennt man zwar die Ent»
Wicklung des menschlichen Gehirns in den drei ersten Fötalmonaten,
auf das genaueste. Man hat außer derjenigen Vignal s noch keine
embryologische Arbeit, die in Wort und Bild zeigt, welche makro- und
mikroskopischen Veränderungen der Himmantel, insbesondere die
Abgrenzung der Hirnrinde und des Marks, sowie die absolute Breite
dieser Schichten, die Zahl, Lage und Form der Ganglienzellen zwischen
dem vierten Fötalmonate und dem Zeitpunkte der Geburt durchmacht,
d. h. in der Zeit, in welcher die bis dahin ungefurchte Hirnrinde ihre
endgültige Gliederung durch Furchen in die charakteristischen Win¬
dungen erfährt. Auf das Vorhandensein dieser Lücke möchte ich
hiermit hingewiesen haben.
Tafelerklärungen.
Abb. 2. Ein Stück der agyrischen Windungen auf dem Durch¬
schnitt (in Zelloidineinbettung, die einige Luftblasen einschließt). Ich
bemerke, daß die Breite des Hirnmantels hier 22 mm aufweist, während
der mikroskopische Schnitt, vermutlich durch Schrumpfung bei der Vor¬
bereitung mit Xylol, nur 18 mm mißt. Die im Text angegebenen Zahlen,
welche sich auf das mikroskopische Präparat beziehen, sind daher alle mit
“/» oder einer noch etwas größeren Zahl zu multiplizieren, etwa mit
ll /» oder 13 /», wenn man ihre Größe im frischen, ungehärteten Zustande
haben will, a Rindenschicht bis zum subkortikalen tangentialen Mark¬
streifen, der auf der Photographie wegen seiner geringen Ausbildung nicht
sichtbar ist; b abnorme graue Masse unterhalb dieses Streifens, hebt sich
von der Schicht a durch hellere Farbe ab, da jene leider durch Fäulnis
etwas gelitten hat; c weißes Marklager; d Rand des Seitenventrikels.
Abb. 3. Schnitt durch das normal gefurchte Stirnhirn, a Hirn¬
rinde; b äußere Kapsel; c Linsenkern; d innere Kapsel; e Kopf des Schwan z-
kerns; / Rand des Vorderhorns; g abnorme heterotope graue Masse im
Dache des Vorderhorns.
Abb. 4. Äußerer Rand der grauen Schicht, unterhalb des sub¬
kortikalen Markstreifens, 4,4 mm unterhalb der Hirnoberlläche. a große,
sternförmige Ganglienzellen; b kleine, stern- und spindelförmige Ganglien¬
zellen; c Gliazellen.
Abb. 5. Innerer Bau der abnormen grauen Schicht, an das Mark
angrenzend, 11,5 mm unterhalb der Hirnoberfläche. Die Wuchernngszone
der Ganglienzellen ist auf dem Bilde zufällig wenig ausgeprägt. Bezeichnun¬
gen dieselben wie auf Abb. 4.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober Agyrie and Heterotopie am Großhirn.
669
Literatur über die Heterotopie im Großhirn.
1. Fr. Ermann und Bülau, Heterotopie grauer Substanz. Arch. f. pathol.
Anat. u. Phys. 1872, Bd. 56.
2. P. Grawits, Ein Fall von Aplasie der Großhirnhemisphären. D. med.
Wschr. 1891.
3. Griesinger, Pathol. und Therapie der psychischen Krankheiten. 4. Aufl.
1876, S. 366.
4. E. K. Hoffmann, Über Heterotopie grauer Hirnsubstanz. Zeitschr. f.
rationelle Medizin 1869, Bd. 34.
5. Luys, L’encäphale I, 1881, p. 198.
6. M. Matett, Ein Fall von Heterotopie der grauen Substanz in beiden
Hemisphären des Großhirns. Arch. f. Psych. Bd. 25, 1893.
7. S. Fuchs, Zur Histogenese der menschlichen Großhirnrinde. Sitzungs»
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8. L. Kotschetkowa, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Mikro»
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9. Meine, Heterotopie grauer Substanz. Arch. f. Psych. 1898, Bd. 30.
10. p. Mihalkooics, Entwicklungsgeschichte des Gehirns. Leipzig 1877.
11. Merkel, Hyperplasie der Rinde und Neubildung grauer Substanz.
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14. Fr. Meschede, Virch. Arch. Bd. 37, 1866.
15. Meschede, Virch. Arch. Bd. 50.
16. Niepce, Traitä du goltre et du crätinisme. 2 Bde. Paris 1851, 52.
17. Otto, Hyperplasie der Hirnrinde in Form von kleinen Geschwülsten
und über Heterotopie grauer Substanz. Virch. Arch. Bd. 110,
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18. L. Pfleger, Beobachtungen über Heterotopie grauer Substanz im
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19. M. Probst, 'Über den Bau des vollständig balkenlosen Großhirns sowie
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f. Psych. Bd. 34, 1901.
20. W. Reubold, Zur Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns.
Festschrift zur 3. Säkularfeier der Alma Jul. Max., gewidmet
von der med. Fakultät. Würzburg 1882, Bd. I.
21. B. Ritter, Heterotopie der grauen Hirnsubstanz. Württemberger med.
Korresp.-Bl. 1869.
22. Rösch, Beobachtungen über den Kretinismus. 3 Hefte. Tübingen
1850—52.
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Original fn>m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
I..V \ wr. UV);, , ", .ftV5U.ll V>‘
■;: .
Ehrhardt, Ober Agyrie and Heterotopie im Großhirn.
25. Stahl, Klinische Studien, Diese fctschr.-Bd. 11, 1854, S. 545.
■SC>. -Stahl, %ut Lehre üb. d. orgaiw Aaksfcn s«rn Irrsinn. Diese ZUehr.
Bd. |ß, 1859. 5. 1.
27. Vlreh--Aceh Bd. 16, 1859,
28 . Vign<il, Beeherbhes sar fe düveJer “—-“ 4 ■*--■" : --- J -
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Über die Unterbringung geisteskranker Rechts¬
brecher 1 ).
Von
Dr. Anglist Hegar,
Oberarzt an der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch.
Für ein auf der Jahresversammlung südwestdeutscher Irrenärzte
im Jahre 1908 erstattetes Referat *) „Über die Unterbringung geistes¬
kranker Rechtsbrecher“ hatte ich als Grundlage für meine Schlüsse
eine Untersuchung der in den Landesanstalten des Großherzogtums
Baden untergebrachten männlichen Geisteskranken, die sich gegen
die Strafgesetze vergangen hatten, vorgenommen. Es erschien mir
nun nicht unzweckmäßig, nach einem größeren Zeitraum eine solche
statistische Übersicht zu wiederholen. Da die neue Untersuchung
unter den gleichen Bedingungen vorgenommen werden konnte, ist
ein Vergleich mit den früher gewonnenen Ergebnissen ausführbar und
ermöglicht einen guten Einblick in die durch die Unterbringung der
zahlreichen kriminellen Kranken geschaffenen Verhältnisse in unsem
Anstalten.
Meine Untersuchung erstreckt sich also auf die in den Heil- und
Pflegeanstalten Pforzheim, Illenau, Emmendingen und Wiesloch
untergebrachten männlichen Kranken, die sich gegen die Strafgesetze
vergangen hatten; es kommen in Betracht Verbrechen und Vergehen
gegen die Reichsgesetze; von Übertretungen wurden nur die Bestrafun¬
gen wegen § 361—363, Bettel und Landstreicherei berücksichtigt. Es
geschah dies, um den solchen Statistiken gern gemachten Vorwurf zu
vermeiden, daß die großen Zahlen durch die Einrechnung aller Bagatell-
*) Nach einem auf der Versammlung der südwestdeutschen Irren¬
ärzte 1913 gehaltenen Vortrag.
*) Ztschr. f. Psych. Bd. 66.
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672
Hegar,
Bachen entstünden. Ebenso sind von Delikten während der militäri¬
schen Dienstzeit nur die gezählt, die auch unter das bürgerliche Straf¬
gesetzbuch fallen würden; alle rein militärischen Vergehen, wie Ach¬
tungsverletzung, Gehorsamsverweigerung, Fahnenflucht usw., scheiden
daher aus.
Die Zählung wurde vorgenommen nach dem Stande vom 1. Juni
1913. Es kamen mit den Strafgesetzen in Konflikt bei einem Kranken¬
stand von 1954 Männern: 487 = 24,9%, während es am 1. Juli 1908
bei einem Krankenstände von 1774 Männern: 350 = 19,7% gewesen
waren. Der größte Teil der Kranken befindet sich in den Anstalten
Emmendingen (228) und Wiesloch (199).
Die Bevölkerungsziffer des Großherzogtums Baden betrug im
Jahre 1910: 2 142 833.
I. Heredität (nur direkte von den Eltern).
beide
1 .
Psychose und Neurose ....
Vater
25
Mutter
36
Eltern
4
65
2.
Potus.
... 46
2
2
50
3.
Verbrechen .
4
3
4
11
4.
Kombiniert 1 , 2 und 3 ...
4
6
10
Unehelich Geborene: 54 (41,08%).
Da ich nur die von den Eltern herrührende Belastung berücksichtigt
und nur ganz sichere Angaben verwendet habe, so dürfte die erbliche Be¬
lastung in Wirklichkeit weit höher sein. Die verbrecherische Vergangen¬
heit der Erzeuger ist natürlich kein eigentlicher hereditärer Faktor, kann
aber als degeneratives Moment nicht außer acht gelassen werden.
Die Prozentzahl der unehelich Geborenen unter unseren Kranken
ist eine sehr hohe. Die Durchschnittszahl der in Baden l ) in den Jahren
1901 bis 1910 unehelich Geborenen beträgt 7,4%.
II. Anlage und Entwicklung in der Jugend.
1. Beschränkt bis hochgradig schwachsinnig. 27
2. Schlechte intellektuelle und moralische Entwicklung 68
3. Schlechte Schüler (exkl. 1 und 2). 105
4. Ethisch defekt . 14
5. Neuro- und psychopathisch . 21
6. Intellektuell gut, aber ethisch defekt, eigenartig, er¬
regbar . 7
7. -Gute Anlage und Schulbildung betont . 49
8. Ohne sichere Angabe. 196
1 ) Statistisches Jahrbuch für das Großherzogtum Baden, 40. Jahrg.
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Digiti.
Über
673
Auch hier wurde« nurganz «schere Anamnesen verWhri|öt; Ösatvach
können H% : der KjMtnaeUeU iijs vöti Jugend an ausgeapiöclän schwach-
sinnig bezeichnet werden; ein Teil davon ist überhaupt nicht bildungs¬
fähig. '$9 % sind von Jugend an als geistig nündenvertig zu betraeiifcen.
U!-’ ßeaöfidere Erziehungsmittel.
Waisenhaus ... . ..... ?
Idiotenanstalt .. .... 3
Trinkerheilstätt« . . .. 1
Erziehungsanstalt .. ; . 4
Rettucgs-, Besserungsanstalt .. 7
Erziehungs-, dann Zwahg5m.iehwngsöiiStaJt...... .. .;. . #
ZwangserziehungsafiSfait ..... .... , . |
tt. .. r.j .... i .,1. . . t. *v -t a•_ ‘n.. i... .i.-j t..... ...
Es M hierzu Zü bemerken,, -
Kranken diese Erziehungsmittel vollständig versagten- Alte Zöglinge
wurden schon während der Zwaripmiehung und sofort nach Ablauf
derselben wieder krimhudi.
IV. Personenstand. *
Verheiratet ... . . - -. -... . .. öS
'Verwitwet... 13 {iSi % j
Geschieden .-,,'*4.,i- : 2-1 (4,5% •-
läntlg .. *15v ( i '1. i■
Diese T'abeUe bedarf keiner besondefen. ErlSut^rung. Ich verweise
auch auf meine früheren Ausführungen im Jahre iih)h.
V. her,,?'.
OCL
- r.-. - •#•;* »'O»-* i r.» ‘ r>. ou
* • 24
Kein Beruf
Ausbildung hl* Lehrling
Oeseile, öehii/e « - r - 116 j
Knecht in Lajidwiftsdn,ft . .... 32 - Gelegehheits-
Tag^öltner, Fabrikarbeiter .. „... . 184? | Arbeiter
Selbständige Handwerker.. ti
.Landwirt aelbsUinflig i- .5
unselbständig ... .... f.S
Kaufmann Abständig ... Ä
oristdbsiändtg ... . 15
Händler .. i.;. ... tt
Korb-, Bürsten-, ft^c.henmachec, Blumen» und Bretzel-
Verkäufer, CdoWA, Seiltänzer, Bereiter .. , 13
Schreiber, Uterät> Kellner, Photograph, Bierbrauer.
Bauunteroehmer, Beebtsäüwalt, Lehrer, Priester,
Bankier, Chemiker, Privat. ,Y*.16.
Die ersteh toeidefii 2abteO gehen nai f}k> -ihv gȊsUg Tief-
stehendsten an. m handelt, sich rameisi ■■■'■< ‘ ..i, .
M- Pp!}
Jgf
müm : -
Göc igle
Original fram
JNIVERSST7 OF MICHIGAN
Google
674
Hegar,
nicht imstande waren,sich Volksscänsitiidimg su erwerben, und schon in der
Lehrieit scheiterte», Bei der* dbrig^ß handelt es sich uni OeiegeahcH^'
arbaiter, die, wenn überhaupt, »ttr kurze Zeit das erlernte Bsndtraü
betrieben. Die Berüläbezeichsttö^ scbtep|tt;»ich ohne waiteren Sinn , durch
Aktenund Strafregister fört. Die Zahl iie? friiher selbständigen Existenten
ist sehr gering, -
VI. Fbrm der PgysKase..
gering.
Dementia praecox ..
257
#}' * ; * ■;> ff jS *. ri V*" *•:
Angeborener umt erworbener Sehwflcbsinalafiü
Idiotie? '■ X~\* V
Epilepsie , .:, ,. ,
Alkohdlisoius . . . s .,«Vp^V 1 i
Psychopathische >•.
Zirkuläre Psychose ... - ...
Dementia paralytiea . --
Paranoia quacruJatoria ... .
Senile Psychose
i
77
44
4f
38
11
6
i*% >
{*,*%)
twM
Hier fällt sofort die grobe Zahl der .aß Paihentta. pr»«ri>.x leidend*«
Kranken, ^uf; sie entspricht jedoch dem .Vrauilcliieil»
form int Oesamikrankeosntmt Ich habe unter dieser- Bezeichnung dir
losen, die sexuell WrVeräsh- und sonstig)? Psychopathen,
'. Die: übrigen Diagnosen .bedürfen keiner Erlautmmg.
■ 'Stellt • maa den Beginns, der Kriminalität unserer Kraiäen.
nach Zahl und Lebensalter indKet-Ehrve dar^so erhält mäti wo* i$. Jahr?
an einen seht steilen Anstieg, der seine Höhe im- 2h.. ' .Jahre; erreicht, dann
Irnrftirjij* Tsncphp-rhW »hhv t ii r& - naoli rjnrJ'.
kotthM ein ebenso rasober ühtl iiefer Sturz bis zum 22. Jahre;hach fjnie?-
Kurve dAcc
.Aufsatz?.
mmmmm _bpi
Vtl. Verbr e<: h erei r> t ei tun g.
1. Nicht vorbestraft:
a) hach erstem Delikt $ 51 c. .,G -•'•-;<- • •
b) einmal bestraft , .......,.
44 \
71 |
HS
dadured» eine brauchbare Abgrenzung. Die Diagnose »»nie von ver-
öchied'men Beobachtern geeilt, «*> ijsdt kB. ^aube reohtfertigrp
zu können. Die Diagoose Päränoia, die ich noch 1908 steifte: systetnali-
eierfe iSähhbüdilßg bei Efhättäog rtßi geordneter» Persfth^dhkoit «ci
fohlen des Zerfalls, ist mir unter dyn Fingern zerronnen. Der größte Thl
ist unter die Ovuientia praecox gefallen, bei eVrietj* kiemeren Teil bandelt*
es sich tt«>. H^tpsycböseB bei Jfaycbopatfiktii
Original fn
SITY OF
:higan
Über die Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher.
675
2. Vorbestraft
handelt ...
(resp. mehrmals kriminell und nach } 51 he«
372
Zufallverbrecher.
Berufsverbrecher.
Gelegenheitsverbrecher .
Vorbedachtsverbrecher ..
(Falschmünzerei, Meineid, falsche Anschuldigung, Bi¬
gamie, Totschlag in Gemeinschaft, Unterschlagung,
Erpressung, Betrug, Urkundenfälschung)
Affektverbrecher:
einmaliges Delikt.
Wiederholung desselben Delikts.
Gewohnheitsverbrecher.
Von diesen letzteren wurden bestraft
wegen Verbrechens:
einmal Zuchthaus.
zwei- bis fünfmal Zuchthaus. .
wegen Vergehens:
2—5 Gefängnisstrafen.
10 „ .
fl—20 „ .
32 „ .
wegen Übertretung (§ 361—363):
2—5 Haftstrafen ..
6—10
H—20
20—50 „ .
65 „ .
wegen Vergehens und Übertretung:
2—5 Strafen .
6—10
11—20
15
21
94
78
16 _
357 (73%)
21—50
51—70
71-r^86
' 97
41 1
22 J
62
17
10
23
12
15
11
1
24
33
27
35
5
5
1
63
90
62
130
Aus der Zusammenstellung geht hervor, wie sehr die Zahl der Vor¬
bestraften und die der Gewohnheitsverbrecher überwiegt.
Bei der Einteilung habe ich wieder die AschaffenburgKhs *) gewählt
roit einer kleinen Modifikation, indem ich die Rubrik Rückfallverbrecher
weggelassen habe. Zufallverbrecher fehlen wieder wie bei der letzten
Zählung, ebenso Berufsverbrecher; bei den letzteren ist dies ja erklärlich,
*) Aschaffenburg : Das Verbrechen und seine Bekämpfung.
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Gck igle
Original frorri
UNIVERSETY OF MICHIGAN
i>t>vv<*nfca
(laih-ni
ZirkulÄ^f.
Psychose
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YIE Beteiligung der Psychosen an den Formen des Verbrechens-
Ober die Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher.
677
da die Minderwertigkeit unserer Kranken ein planmäßiges und auf längere
Zeit hinaus vorbedachtes Handeln wohl immer ausschließt. Bei den Ge¬
legenheitsverbrechern handelt es sich um einzelne Diebstähle, meist in
jüngeren Jahren ausgeführt; auch die Vorbedachtsverbrechen fallen in
die gesunde Zeit.
Unter den Affektverbrechern sind die Alkoholiker und Epileptiker
am meisten vertreten. Bei der Wiederholung des gleichen Delikts handelt
es sich um Körperverletzungen, Beleidigungen und Bedrohungen, wie sie
von Epileptikern, Querulanten und ähnlichen Affektmenschen so oft be¬
gangen werden. Die verbrecherische Grundlage fehlt in dieser Rubrik.
Dann kommt die große Masse der Gewohnheitsverbrecher; bei der
Zuteilung habe ich den Nachdruck auf die verbrecherische, antisoziale,
ungeordnete Lebensführung gelegt. Die ganze Übersicht ist den Straf¬
registerauszügen 1 ) entnommen. Bei den früher mit Zuchthaus bestraften
Kranken finden sich natürlich noch zahlreiche andere Bestrafungen. Bei
den Übertretungen sind die Verurteilungen zu Arbeitshaus eingerechnet.
Die Tabelle gibt auch ohne besondere Erläuterung ein Bild der verbreche¬
rischen Vergangenheit der großen Masse unserer kriminellen Kränken.
VIII. Hier (S. 876) finden Sie eine Übersicht, wie sich die Psychosen an
den Formen des Verbrechens beteiligen. Eine genaue Scheidung ist bei der
wechselnden Mischung der Delikte bei zahlreichen Gewohnheitsverbrechern
nicht immer leicht. Doch heben sich die Richtung und Hinneigung zu
einzelnen Verbrechen oft deutlich hervor, es wiederholen sich dieselben
Delikte vielfach nacheinander, während andere nur gelegentlich erscheinen;
auch die Eigenart des Täters ist dabei zu berücksichtigen. Manche Diebe
halten sich ganz frei vom Betteln oder von Gewaltakten, während umge¬
kehrt bei den mehrfach wegen Körperverletzung bestraften Personen keine
Eigentumsdelikte Vorkommen.
In erster Reihe stehen der Häufigkeit nach die Eigentumsverbrechen.
Die nächste Rubrik: Bettel und Landstreicherei ist ja wegen des
Einbeziehens der Gefängnisstrafe in der zweiten Unterabteilung juristisch
nicht einwandfrei. Die mit Gefängnis geahndeten Delikte sind jedoch so
charakteristisch für diese Persönlichkeiten, daß eine Trennung Unklar¬
heiten geschaffen hätte. Es handelt sich um Beamtenbeleidigung, Wider¬
stand, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Fälschung von Legitima¬
tionspapieren u. a. Bestrafungen wegen Diebstahl, Erregung öffentlichen
Ärgernisses sind dann auch noch vereinzelt in der Strafliste vorhanden.
Der Typus des Landstreichers bleibt aber gewahrt.
*) Man muß auch bei der Erhebung der Strafregisterauszüge mit
manchem Versagen rechnen; so ergab der Auszug bei drei Kranken keine
Strafe, obgleich dieselben nach eigener Aussage und nach den Akten mehr¬
fach bestraft waren; bei andern konnte die Persönlichkeit nicht fest¬
gestellt werden. Die Zahl dieser unbestimmten Auskünfte ist jedoch so
klein, daß eine besondere Nachforschung unterbleiben konnte.
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Gougle
Original fram
UNIVERSfTY OF MICHIGAN
678
Hegar,
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Bei der dritten Rubrik ist die große Zahl der Delikte an Kindern
bemerkenswert.
Die übrigen Rubriken bedürfen keiner Besprechung.
Ich möchte nur noch auf die Zahlen am Rande der Tabelle auf-,
merksam machen. Um einen Vergleich mit den Verurteilungen der gesun¬
den Bevölkerung zu gewinnen, habe ich den Durchschnitt der in Baden
in den Jahren 1901—1910 wegen derselben Art der strafbaren Handlungen
rechtskräftig verurteilten Personen berechnet 1 ). Es sind dabei einzelne
Fehler nicht zu vermeiden; der eine ist der, daß unsere Kranken größten¬
teils, soweit sie von badischen Gerichten verurteilt wurden, in den von der
Kriminalstatistik angeführten Zahlen bereits enthalten sind, ferner daß
die Delikte unserer Kranken zum Teil außerhalb der Jahre 1901—1910
liegen. Der erste Fehler wird wohl durch die zum Teil sehr hohen Zahlen
der bestraften Bevölkerung (so wurden rund 30 000 wegen Eigentums¬
vergehen, rund 5000 wegen Sittlichkeitsverbrechen, 52 000 wegen Körper¬
verletzung in den zehn Jahren verurteilt) völlig ausgeglichen. Der zweite
Fehler fällt deswegen wohl nicht so sehr ins Gewicht, weil die Zahl der
außerhalb dieser Jahre liegenden Delikte nicht sehr groß ist. Man sieht
aus der Berechnung, daß das Verhältnis der Eigentumsdelikte bei beiden
Teilen ziemlich das gleiche ist; während bei der gesunden Bevölkerung
die Körperverletzungen sehr überwiegen, sind die Geisteskranken wieder
viel stärker bei den Sittlichkeitsverbrechen beteiligt. Für Brandstiftung,
Mord und Totschlag habe ich lediglich die in den Jahren 1901—1910 ver¬
urteilten Kranken berücksichtigt, da in der Kriminalstatistik nur kleine
Zahlen gegenüberstanden (89 wegen Mord und Totschlag, 349 wegen
Brandstiftung Verurteilte). Es ergibt sich daraus, daß die geisteskranken
Kriminellen bei diesen schweren Verbrechen in weit höherem Maße als
die gesunde Bevölkerung beteiligt sind. Die Delikte wurden in allen Fällen
bereits in krankem Zustande verübt.
A.
IX. Art der Aufnahme.
Bestand: 487
Im Anschluß an ein Delikt
1. sistiert, zum Teil schon nach § 51 behandelt.
2. aus Untersuchungshaft (Psychose in Haft ausgebrochen
oder Haft nach § 51 aufgehoben) .
3. Strafhaft
a) aus den Strafanstalten . 56 \
aus der Irrenabteilung Bruchsal: I
1. mit Unterbrechung der Strafe . 14 >
2. mit Strafende . 28 |
b) aus dem Arbeitshaus . 62 J
57
189
160
1 ) Statistisches Jahrbuch, Jahrg. 40.
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober die Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher.
679
B. Ohne Zusammenhang mit einem Delikt
a) früheres Delikt liegt meist weit ab von der Psychose 34 ■
(Gelegenheits- und Affekt Verbrecher) g
b) Psychotische und kriminelle Erscheinungen wech •
sein ab, mehrfach § 51 (Gewohnheitsverbrecher) . 47 .
Es ist hier der derzeitige Bestand an Kriminellen nach der Art der
Aufnahme geordnet. Sie sehen aus B. b, daß eine erhebliche Zahl von
Gewohnheitsverbrechern auch ohne Zusammenhang mit einem Delikt in
die Anstalt kommt; meist sind sie vorher in Krankenhäusern gewesen,
einzelne lassen sich freiwillig aufnehmen.
X.
Verbleib der im Jahre 1908 festgestellten
Rechtsbrecher.
Dauernd in der Anstalt .
Gestorben.
Entlassen:
in Kreispflegeanstalten .
in auswärtige Anstalten .
ausgewandert.
Gute Führung nach Entlassung:
seit 1—2 Jahren . 15 1
seit 3—5 Jahren . 29 J
Schlechte Führung:
wieder kriminell . 18 1
wieder vagabundierend. 7 J
geisteskranken
223 (63,5%)
41 (11,7%)
13
2
2
44
\ 86 (24,7%)
25
Der größte Teil der im Jahre 1908 gezählten Kriminellen ist in der
Anstalt geblieben. Über die Führung der Entlassenen sind wir gut unter¬
richtet. Besonders wenn diese mit den Strafgesetzen in Konflikt kommen
oder wieder krank werden, so treffen sicher die Anfragen der Staats¬
anwaltschaften, der Bezirksämter, die Ersuchen um Mitteilung der Kran¬
kengeschichte seitens anderer Anstalten, Anfragen auswärtiger Armen¬
verbände usw. schon nach kurzer Zeit ein. Viele Kranke bleiben bei uns
in Baden schon aus Unterstützungsgründen in Konnex mit der Anstalt,
wenden sich brieflich und persönlich an diese. Erfreulich ist, daß wenig¬
stens ein Teil der Entlassenen sich gut geführt hat, und zwar sind es eine
Anzahl kriminell schwer belasteter Individuen. Es wäre eine dankbare
Aufgabe, den Gründen dieser Wandlung nachzugehen; die Gutachten
hatten ihnen dauernd jede Hemmung abgesprochen.
XI. Besondere Verwahrung
bedürfen 63=13% der Kriminellen = 3 % des männlichen Kranken¬
standes; davon
Isolierung . 13
Separierung. 10
gemeinsame Verpflegung. 40
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
680
Hegaj,
Art ihrer Aufnahme und Diagnose:
•
Psycho¬
path.
Persön¬
lichkeit
Demen¬
tia prae-
oox
Imbe-
sillitU
Epi¬
lepsie
Alooh.
ohron.
Untersuchungshaft.
10
10
3
2
—
25
Strafhaft.
4
19
2
3
28
Arhpitshans .
4
2
6
polizeiliche Sistierung .
—
—
i
1
ohne vorheriges Delikt.
—
2
—
i
—
3
Summe
14
35
7
6
i
63
Bei der besonderen Verwahrung handelt es sich um die Unter¬
bringung der gefährlichen kriminellen Kranken, also solcher mit ausge¬
sprochenen verbrecherischen Neigungen, die sie außerhalb und innerhalb
der Anstalt betätigen. Ich kann von einer genaueren Schilderung absehen
und verweise auf meine früheren Ausführungen. Die Kranken brauchen
zu ihrer Überwachung besondere bauliche Sicherungen und Einrichtun¬
gen; es muß für sie die Möglichkeit gegeben sein, sie zu isolieren, d. h. sie
in einem Raum unterzubringen, der jede Kommunikation nach außen
und jede Beschädigung ausschließt, oder man muß sie separieren können,
d. h. sie vorübergehend und des Nachts von den andern Kranken trennen,
sie allein in einem Raum beschäftigen können. Der größere Teil kann
bei gesicherter Bauweise gemeinsam verpflegt werden. Die Zahl dieser
Kranken beträgt 63, gegen 58 bei der Zählung im Jahre 1908.
Wie aus den zu Anfang angeführten Zahlen hervorgeht, ist die
Zahl der geisteskranken Rechtsbrecher seit 1908 um 5,2% gestiegen;
diese erhebliche Vermehrung wird durch eine andere Berechnung noch
besser hervorgehoben. Der Gesamtkrankenstand (an Männern) hat
in den letzten fünf Jahren um 180 Köpfe zugenommen, die Krimi¬
nellen haben zugenommen um 137 Köpfe! Es hat also zugenommen
der Gesamtkrankenstand in diesen fünf Jahren um 10,1%, der der
Kriminellen um 39%, letztere also fast viermal so viel!
Bei dieser Zunahme handelt es sich nun nicht, wie man vielleicht
annehmen könnte, um das Ergebnis einer sorgfältigeren Zählung,
durch die noch versteckte kriminelle Kranke aufgefunden wurden (ich
habe nur zwei Kranke gefunden, die der Zählung von 1908 entgangen
waren), sondern um eine tatsächliche Vermehrung 1 ). Dieselbe ist
*) Diese Vermehrung steht auch nicht in Zusammenhang mit der
allgemeinen Kriminalität. Nach der Reichskriminalstatistik ist die Zahl
der Verurteilten in den hier besonders in Betracht kommenden Jahren
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher.
681
»©dingt einerseits durch die langsamere Entlassung und stärkere
Zurückhaltung derartiger Kranken, andererseits durch die Vermehrung
ler kriminellen Aufnahmen. Es besteht entschieden die Tendenz, alle
^antisozialen Elemente, besonders Landstreicher, Epileptiker, Alko¬
holiker in die Irrenanstalten zu schicken. Die „sichernden Ma߬
nahmen“,. wie sie in den §§ 43, 63 und 6ö des Vorentwurfs zu einem
Strafgesetzbuch später zur Wirksamkeit kommen sollen, werden jetzt
schon praktisch angewendet, indem man die Leute, da ja keine beson¬
dere Anstalten vorhanden sind, in die Irrenanstalten einweist. Dieses
Bestreben wird sich bei der Furcht des Publikums vor Gewalttaten
Geisteskranker noch mehr verstärken. Auch die Aufnahme abnormer
Bürsorgezöglinge wächst. Sollte der Vorentwurf zum Strafgesetzbuch
in dieser Form Gesetz werden, so werden dann auch die vermindert
Zurechnungsfähigen zum größten Teil den Irrenanstalten zufließen.
Wie groß diese Zahl sein wird, läßt sich natürlich schwer sagen, die
ganze Sache ist ja ein Sprung ins Dunkle. Wir haben nur einige An¬
haltpunkte für eine Schätzung: In den Jahren 1305—1910 wurden in
Baden in Kliniken und Anstalten*) eingewiesen nach § 81 St.-P.-0.
zur Beobachtung ihres Geisteszustandes 325 Männer, davon wurde
bei 176 angenommen, daß § 51 vorliege, der weitaus größte Teil von
ihnen blieb gleich in der Anstalt, die früheren Verzögerungen der Auf¬
nahme kommen erfreulicherweise kaum mehr vor. Bei 149 Unter¬
suchungsgefangenen wurde § 51 nicht geltend gemacht, sie wurden
aber in den Gutachten meist als minderwertig bezeichnet, bei einer
Anzahl ist die Diagnose beigefügt: Epilepsie, Hysterie, Alkoholismus,
leichter Schwachsinn, leichte senile Veränderungen und ähnliches, am
häufigsten Psychopathie. Es ist wohl kein Zweifel, daß bei diesen
Leuten die Voraussetzungen des § 65 des Vorentwurfs zutreffen werden,
und daß im Interesse der öffentlichen Sicherheit das Gericht die Ver¬
wahrung in einer öffentlichen Heil- und Pfiegeanstalt anordnen wird.
Man wird daher den jährlichen Zuwachs auf mindestens 30 Köpfe
berechnen müssen.
Eine Minderung der kriminellen Elemente ist also nicht zu er¬
warten, wir müssen im Gegenteil damit rechnen, daß schließlich die
1905—1911 etwas zurückgegangen. Erst im Jahre 1912 hat sich eine
starke Zunahme bei fast allen Verbrechen und Vergehen gezeigt.
*) Jahresberichte.
Zeitschrift für Psychiatric. LX1I. 4/5. 47
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Gougle
Original frurn
UNIVERSETY OF MICHIGAN
682
Hegar,
Zahl der männlichen Kranken mit krimineller Vergangenheit und die
ohne solche sich gleichen wird. Es wird sich fragen, ob die Irren¬
anstalten diesen verstärkten Anforderungen im nächsten Dezennium
gewachsen sein werden. Es wird wohl wieder der Buf nach einer
Sonderanstalt für kriminelle Geisteskranke sich erheben. Selbst wenn
wir die Entlastung der vorhandenen Anstalten durch eine solche in
Bechnung ziehen, stehen doch die enormen Kosten und großen Schwie¬
rigkeiten des Betriebs in keinem Verhältnis zu den Vorteilen. Daß die
Irrenanstalten dann dauernd frei werden von kriminellen Elementen,
davon kann keine Bede sein. Ich verweise darauf, daß sich Aschaffen¬
burg x ) auch in seiner neuesten Arbeit gegen die Sonderanstalten aus¬
spricht.
Ich bin auch jetzt noch der Ansicht, daß durch eine richtige Ver¬
teilung auf die einzelnen zahlreichen Anstalten noch auf lange Zeit
hinaus die durch die Kriminellen verursachten Schwierigkeiten über¬
wunden werden können. Bestärkt werde ich darin durch die Fest¬
stellung, daß die Zahl der einer „besonderen Verwahrung“ bedürftigen
Kranken nicht in der gleichen Weise gewachsen ist Es ist natürlich
ein Fehler, wenn eine neue große Anstalt ohne alle etwas festere Ver¬
wahrungsräume oder Abteilungen gebaut wird. Man braucht dabei
durchaus nicht an die Erbauung kostspieliger, mit allen Schikanen
eingerichteter „gesicherter Häuser“ zu denken, wie sie jetzt überall
gefordert werden. Diese entwickeln sich allmählich als Fremdkörper,
als Adnexe, verlieren den organischen Zusammenhang mit der übrigen
Anstalt, besonders wenn noch behördliche Bestimmungen über die
Belegung bestehen; sie sind auch im Betrieb teuer; man wird bei jedem
einzelnen Kranken zu prüfen haben, ob der mit seiner Überwachung
getriebene Aufwand auch notwendig ist. Eis sind in jeder großen An¬
stalt drei oder vier Häuser, die etwas gesicherter gebaut werden, da
wir schließlich auch noch andere Kranke haben, die am Zerstören und
Entweichen gehindert werden müssen. Es lassen sich an jedem Hause,
graduell verschieden, ganz gut An- oder Einbauten herstellen, die
allen Ansprüchen genügen. Die Ausnützung der Plätze ist besser, die
Kranken sind in ihren unschädlichen Perioden leichter zu verlegen,
x ) Die Sicherung der Gesellschaft gegen gemeingefährliche Geistes¬
kranke. 1912.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober die Unterbringung geisteskranker Rechtsbrecher.
683
die Sonderung der konspirierenden Personen ist leichter, die sehr
wichtige Mischung mit indifferenten Kranken wird ausführbar, die
Teilnahme an Arbeit und Unterhaltung wird ermöglicht. Der Kranken-
bauscharakter wird dadurch sicher besser gewahrt als durch Errichtung
von abgesonderten Häusern. Die Grundforderung wird bei der Unter¬
bringung der geisteskranken Rechtsbrecher immer die Verteilung auf
möglichst viele Anstalten bleiben müssen.
Die spätere Entwicklung bei Aufnahme einer größeren Zahl von
vermindert Zurechnungsfähigen in die Anstalten, mit ihren juristi¬
schen Konsequenzen, wird allerdings viel, komplizierter werden.
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Gck igle
47*
Origiral frcm
UMIVERSITY OF MICHIGAN
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Göttinger psychologisch-forensische Vereinigung.
Sitzung am 16. Februar 1914.
Prof. Dr. v. Hippel: Strafverschärfung im neuen Straf¬
gesetzentwurf.
Kritische Darstellung der im neuen Strafgesetzentwurf geplanten
Schärfungen der Zuchthaus- und Gefängnisstrafe durch Kostschmälerung
und harte Lagerstätte gegenüber solchen Verbrechern, deren Tat von
besonderer Roheit, Bosheit oder Grausamkeit zeugt. Der Vortr. sprach
sich zugunsten derartiger Vorschriften aus, betonte aber, daß dieselben sich
in vorsichtig bemessenen Grenzen bewegen müßten, wie dies im Entwurf
geschehen sei.
Prof. Dr. Lochte : a) Demonstration eines Schädels mit mehr¬
fachen Verletzungen, die durch Einwirkung einer stumpfen Gewalt zu¬
stande gekommen sind. Es konnte der Nachweis erbracht werden, daß die
Verletzungen mittels eines Hammers (Niethammers) mit runder Schlag¬
fläche hervorgerufen worden waren, und zwar entsprach die Größe der
Schlagfläche genau der Größe der an dem Schädel vorhandenen Loch¬
brüche.
b) Über forensische Haaruntersuchungen (mitLichtbildern).
Der Vortr. schilderte einleitend die Anatomie des menschlichen
Haares und die natürlichen Abnutzungs- und Zerfallserscheinungen, ferner
die Unterschiede von Tierhaaren und von Fasern verschiedener Herkunft.
Eine eingehende Darstellung erfuhren danach die Verletzungen des Haares
durch stumpfe Gewalt, ferner die Verletzungen durch Einwirkung der
Hitze und durch unvollständig verbrannte Pulverbestandteile bei Nahe¬
schüssen. Daran anschließend demonstrierte der Vortr. die Verletzungen
der Haare durch Überfahren. Am Schluß seines Vortrages zeigte X.
diejenigen Haarveränderungen, die unter dem Einfluß faulender Sub¬
stanzen sowie unter Einwirkung des Verwitterungsprozesses zustande
kommen.
In der Diskussion äußerte X. sich darüber, welche Gesichtspunkte
bei der Feststellung der Identität der Haare von Bedeutung sind.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Deutscher Verein für Psychiatrie. 685
Sitzung am 31. März 1914.'
Dr. Rettich: Sittlichkeitsdelikte im Greisenalter (Kranken¬
demonstration).
Nach einleitenden Bemerkungen über Physiologie und Pathologie
des Greisenalters bespricht Vortr. an der Hand verschiedener statistischer
Tabellen die relative Häufigkeit der Sittlichkeitsvergehen sowie die große
Anzahl der nicht vorbestraften Greise. Vorstellung eines 72 jährigen,
nicht vorbestraften Mannes, der wegen Sittlichkeitsvergehens (Exhibitio¬
nismus) zweimal mit dem Strafgesetz in Konflikt kam. Die Untersuchung
in der Klinik ergab keine Anhaltpunkte für Anwendung des § 51 R.-St.-G.
Prof. Dr. Höpfner: Das portrait parl6 (Signalementslehre).
Redner äußerte sich zunächst über den Wert des portrait parlö, die
Bedeutung dieses Identifikationsmittels neben Daktyloskopie und Photo¬
graphie. Er setzte sodann die Prinzipien, nach denen beim pp. die Per¬
sonenbeschreibung erfolgt, auseinander, indem er besonders auf die wichtig¬
sten an Stirn, Nase und Ohr zu beachtenden Merkmale einging. Die Dar¬
legungen waren durch Vorführungen von Lichtbildern unterstützt. Redner
schloß mit dem Wunsche, daß die Kenntnis des pp. bei den Polizei- und
Sicherheitsbeamten weitere Verbreitung finden möge, wobei er die Möglich¬
keit zugab, daß dasselbe einer Vereinfachung fähig und bedürftig sei.
Jedenfalls sei anzustreben, daß jeder Polizei- und Sicherheitsbeamte ein
brauchbares Signalement aufzunehmen und zu benutzen imstande sei.
Klieneberger- Göttingen.
Jahresversammlung des Deutschen Vereins für
Psychiatrie in Straßburg i. E. am 24./25. April 1914.
Die Sitzungen fanden in der Aula der Universität statt.
Anwesend waren die Herren: Achermann-Großschweidnitz, Adams-
Andernach, Alt-Uchtspringe, Alter-Lindenhaus, Aschaffenburg- Köln, Ast-
Haar, Backenköhler-Aplerbeck, Barbo - Pforzheim, Bauer-Alt-Scherbitz,
Baunach - Frankfurt, Binswanger- Kreuzüngen, Boedecker - Schlachtensee,
Bdfcelmann-Stephansfeld, Böttcher- Colditz, Bonhoeffer- Berlin, Bott - St.
Getreu, Bouman - Amsterdam, Brüuner-Lüneburg, Brandt - Straßburg,
Braunert- Ückermünde, Brodmann -Tübingen, BrücÄner-Hamburg, Brügel -
mann -Konstanz, Buddeberg- Merzig, Büchner-Hildburghausen, Bufe- Ucht-
springe, Bundschuh- Illenau, van Calker - Straßburg, CAiari-Straßburg,
Christoffel-Ztirich, Christoph- Kosten, Clemens-Eichelborn i. W T ., Cohen-
Hamburg, Colla- Bethel, Dabeistein - Neustadt, Dannenberger - Goddelau,
Dees-Gabersee, .Dingel-Saargemünd, G. L. Drey/us-Frankfurt a. M., Dubbers-
Allenberg, Eccard-Frankenthal, Max Betel-Charlottenburg, v. Ehrenwatt-
Ahrweiler, Eichbaum - Schleswig, Eichelberg - Hedemünden, Eisen - Kauf •
beuern, Bnche-Ückermünde, Bahricius-Düren, Bauser-Stuttgart, Feld-
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Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
686 Verbaodlangen psychiatrischer Vereine.
iapseA'Epäm^ndiogwrj, FeldMechner-RegembuTg, Fr. Fischer-Ptonh^iai.
AI. Fischer- W'ieSloch, Q. &itcker~Pt*&. Fisther-PTeßburg. Farster-Burin..
feants-Frdnk^öthaii jFü/rr-Raus Rockt-na?J,
Gaupp -TühjngCti, Gef&tjfahrrg - Lüneburg, (?£«»•-Haina, €ias-Miin<h>>,
Göti> ig-Oießco, Greise -Leipzig. ßw/J-RuIafh, Großmann ■ All -Bchrrtb ■
M iUiihsn, Hpupiftittiw -Freife'«^» Jlaymän «-ivty»s(.ai)j, e, fleeker-ftor&ÜtiyLre,:.
Hegar-yVi&lodhi //c^’/rw«»"M}ißsU!j‘. 1; W*, #*?/ipiKft'Karlsnihe > ffntong-
LÄhgenhape'«, im- der .fielt*.- fkxui -EotJ'-nkiv, flerfeUt’&.i\sir.irh l .Herrn .. ■
CiaThhaüsen, TL. ife-fe%-Marsberg' fierrtn an «- W u r zburg,
ftiUferi -H eideUfärg,-' •• ti'äche- Fmbtirg; Hock -ßöjWöth, v. ftiß&*lin<-Eg[ü'
Htdtmiatnt-Fiv^unii Jhtttibur^pr^H^iÜKlbeTg. fforstmanH-SU-a.hanfi, Hühner- '
Bonn, Hugei- Ongeiiminmor, Inikcf- Hmr, Jakol-lUmbmrp. Ja*~pr-
Heidelberg, >/««ecL>-Osoai>riJck, Joiufntn-l Saargomniiit, Kofha -Hambner j
Ä'fl/-w4vliiiijei(munstcr, Hastnn- Königsberg, ÄVrn-St.iiUgafL Kirchhen 1
P'mitkSort, .]Xt#fl*foig z H*iiii: kleiner- Mitiister i. W., Kinin - Erlang.
ÄiMge-Polsdam, Kraepclin -München. Krc,usg- Kemienburg, Ferner- Winnen¬
thal, Kürtdi - Öijggewdort,- Ff*n* £&*%? St'hwei^jr'b&f, M, Laefir • Hart-
Schönow, fl Landen >g-C*b.p}ii«geKi, • Lmhüts -.ft?«»wge-• Wnuttst er, L
Straßburg, Lieben ■ t itif- ntii, Ltenau- Hatnbuj'g, Ziep>mnn Berlin, Longani
Sigma ringen, JCMü-ttanibiirg, Luther - Laueuluit#, H. W. Metier- Zün
Malcus -Marburg! E. Mu>teT-i'iiklU^m. ffle&tfa&geri&t ra Bfcorg, Aferekhe
Treptow a. ’R., Moeti- Bßrlm, • A/utsr/ 1 -Straßburg. Xeu**4'u$- Bombt»*,
Netthaus - Dussel/loyf, ’ Wutssl <?. Mnyemtorf - Leipzig, Nissl - Heidelfaen.'
Üfei^j^i^^^lSljeder’igbtitihijjiisrro. ÖppeiOtfonn-'ErlajtgTO. j
P«wftj-Alt-Scheri»ite T Papst Egifing. £fer/feii>PäUchftt^ /V-rtfi-Orafenbev
Petersen - Brieg. JPfctsdorff - Slra&burg, : > ptagnieux - Lürchingerj, Pta*
München, Pöhlmcnn -Stfaßburg, L/aMoj-NeustfuH ,i. Wpr., e, ■fiad-'S ftrnberc..
Rauche- Frankfurt, RHttschoff^Miiph» n*b*lU, Ä^^rtAwg-HaTi^iurgy Rehs-
Neufri&fiftiheim.. /{ew-ObrJitz, Reise- Ansbach, Heiss 'Tübingen, jRrnninpr L;.-.
Rt^onsburg, Ridhn-Vwiburg, Fientann -Eberswalde. Fittersham -f lauuwev-
Ä^wicr-iUeriaü, Rönnen- Luiidsberg, Äojfn/ctd'Strajßburg. Rosenpeä - 0jpjk>*
borg, ÄandnenLörchingou, Sauemann-MM'Zfg, Schäfer-Htnahnrg. Sch^fie
Roda, Scharnhe-StruSharg, $diarpfdP.UMhgm*' Sckawtt 'Sch wted-tfjdHfa ; ; .
Merxhatiwn, $cffc.\tnger-§trßbiiutg,$chmeei-i\li'iy, SchmidtSviLC-i, S*h»ifc-'
Wargtei», Schneitirr Kölü. 'Sehtüti^jW^ähn^y.Sehhiistr'fBt^f.iia , Schuir-
lüeoau, Schuten *■'Marvirerg, ..Sckv-'ttht! • PJayen, Stetig - Herberge, Stät:.-
Neurnppiß, .V&^W-OtdkhWJSftri, i^e^/j^-JjÄbenburg, Simm *Oö$ersä«ti..
SiäU-Jimi Tti Stieß ■- HwrhtTrp. ySieiner- Slraßbtfi^, Stdrtl - Rfwslau. Stirn
Rappersnil, Stoltetthnff ♦ Koftaü,'7Ve#fej»ttazg*T9onenfeid, 7'itrtdntld- E^gninÄ.
Thomsen-Bürm, Tucieh ji.-Marbujf{, Uhknhuth-äirtiiiUttfg. Ungemach-
Lohr. J’wgent’r-iSfr^BbHjg, FwrA^i^tihgv. Witckr-
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Original from
JIVERSSTY OF MICHIGAN
Deutscher Verein für Psychiatrie.
687
PPornfein-Sorau, Wolff- Katzenellenbogen, Wollenberg- Straßburg, Zinn -
El>erswalde. 215 Teilnehmer.
Vorsitzender: Afoe/i-Lichtenberg; Schriftführer: Rosenfeld -, Pfers -
cLorff-y Steiner-StTä&burg.
Der Vorsitzende eröffnet kurz nach 9 Uhr die Versammlung, begrüßt
die Anwesenden und erteilt zunächst das Wort
Herrn Geh. Medizinalrat Holtzmann : Mir ist die ehrenvolle Aufgabe
geworden, den deutschen Verein für Psychiatrie, dessen Jahresversamm¬
lung in unserer Landeshauptstadt heute beginnt, im Namen der Landes¬
verwaltung willkommen zu heißen. Insbesondere habe ich den Auftrag,
Ihnen die Grüße Sr. Exzellenz des Herrn Staatssekretärs Grafen v. Rödern
zu überbringen, der zu seinem Bedauern verhindert ist, an der Eröffnung
Ihrer Versammlung teilzunehmen und Ihnen persönlich den Willkomm-
grüß zu entbieten.
M. H. In dieser Versammlung, wo ich die berufensten Vertreter
der psychiatrischen Wissenschaft aus dem ganzen Reiche vor mir sehe,
werden Sie nicht von mir erwarten, daß ich mich in Ausführungen ergehe
über die Leistungen und Erfolge, die in Ihrer Wissenschaft errungen worden
sind. Dazu geht mir die Befähigung ab, und es kann auch meine Aufgabe
als Vertreter der Landesbehörde nicht sein, diese Seite zu beleuchten.
Aber die Landesverwaltung und insbesondere die Medizinalverwaltung
nimmt an Ihrer Versammlung schon deswegen ein großes Interesse, weil
ein wichtiger Teil des weiten Gebietes der Psychiatrie, nämlich die Pflege
der Geisteskranken, sowohl in administrativer als in medizinischer Hin¬
sicht die Tätigkeit der Behörden ständig in Anspruch nimmt. Und auf
dem Gebiete der Irrenpflege hoffe und wünsche ich, daß Sie bei uns auch
manches finden, was Ihres Interesses wert erscheint.
Die Landesverwaltung als solche ist ja nicht unmittelbar an der
Irrenpflege beteiligt, da diese der Bezirksverwaltung unterstellt ist. In
allen drei Bezirken haben wir Heil- und Pilegeanstalten, von denen die zu
Rufach im Ober-Elsaß und zu Lörchingen in Lothringen in den letzten Jahren
errichtet worden sind. Nach Ihrer Tagesordnung werden Sie Gelegenheit
haben, die Anstalt in Rufach in Augenschein zu nehmen, und ich gebe
mich der Hoffnung hin, daß sie Ihren Beifall finden wird; sie ist nach den
modernen Anschauungen Ihrer Wissenschaft hergestellt unter vollständiger
Durchführung des no restrain, dessen Vorkämpfer in Deutschland ja, wie
aus der Tagesordnung ersichtlich, auch von dieser Versammlung eine
Ehrung erfahren soll. Wir haben ferner, von den drei Bezirken gemeinsam
errichtet, ein neues gesichertes Haus für geisteskranke Verbrecher in der
Nähe Straßburgs, in Hördt, das vielleicht der Besichtigung lohnt.
M. H. Abgesehen von Ihrer wissenschaftlichen Betätigung werden
Sie aber, wie die Tagesordnung zeigt, auch landschaftliche Besichtigungen
vornehmen. Ein Besuch unserer schönen Vogesen ist vorgesehen. Ich
hoffe, daß auch diese Besichtigung Ihr Gefallen finden wird, und daß Sie
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UNIVERSETY OF MICHIGAN
688
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
von unserem Lande und dessen Bewohnern nur angenehme 'Eindrücke
empfangen werden.
Der Wunsch, den ich Ihnen somit im Namen der Landesverwaltung
überbringe, ist der, daß Ihre Verhandlungen anregende und fruchtbrin¬
gende seien, und daß Sie von Ihrer Tagung im Elsaß nur gute Erinnerungen
in Ihre Heimat mitnehmen mögen.
Herr Bezirkspräsident Pöhlmann : Gestatten Sie mir, daß auch ich
als Vertreter der unterelsässischen Bezirksverwaltung Ihnen einen freund¬
lichen Willkommgruß entbiete. Zwar hat Sie bei Ihrem Hierherkommen
eindruckvoller und poetischer, als wir trockenen Aktenmenschen dies zu
tun vermögen, unser im bräutlichen Frühlingsschmucke prangendes Land
begrüßt, aber doch möchte ich es mir nicht versagen, mit wenigen, aber
um so herzlicheren Worten zum Ausdruck zu bringen, wie sehr es uns zur
Ehre und Freude gereicht, daß Sie sich entschlossen haben, Ihre dies-
* jährige Tagung auf unterelsässischem Boden abzuhalten.
Sie, meine verehrten Herren, sind uns keine Fremdlinge, denn Sie
als Vertreter der Wissenschaft und der ärztlichen Praxis und uns als Ver¬
waltungsbeamte verbindet ein geistiges Band zu gemeinsamer, ernster
Arbeit. Was Sie in unablässigem Schaffen als Ergebnis Ihrer wissen¬
schaftlichen Forschungen zutage fördern, davon setzen wir unablässig
einen großen Teil in unseren Anstalten in die Tat um, und nicht ohne
eine gewisse Beklemmung kann ich es aussprechen, daß die sich hieraus
ergebenden, fortgesetzt anwachsenden finanziellen Lasten für unsere Ver¬
tretungskörper eine nie versiegende Quelle der Sorge bilden.
Mit dem lebhaftesten Interesse verfolgen wir Ihre Beratungen und
wünschen Ihnen, daß Ihre diesjährige Tagung abermals einen wichtigen
Markstein an dem steilen Pfade Ihrer wissenschaftlichen Betätigung dar¬
stellen möge.
Sind Sie aber nach getaner Arbeit entschlossen, dem Lockrufe zu
folgen, mit welchem unsere herrlichen Berge zu Ihnen herübergrüßen,
dann hoffen wir, daß Sie auf Ihren Wanderungen eine Fülle schöner und
befriedigender Eindrücke in Ihre Heimat zurückbringen, und daß wir in
Ihnen, die Sie zu unserer lebhaften Freude in so stattlicher Anzahl zu uns
gekommen sind, ebenso viele alte und neue Freunde unseres schönen Elsaß
gewonnen haben.
Herr Beigeordneter Peiß er: Meine Damen und Herren 1 In Ver¬
tretung des Herrn Bürgermeisters Dr. Schwander , der lebhaft bedauert,
an der heutigen Eröffnungssitzung nicht teilnehmen zu können, habe ich
die Ehre, Ihnen die Grüße der Stadtverwaltung zu der bevorstehenden
Tagung zu übermitteln. Wir freuen uns, daß Sie Straßburg als Ort Ihrer
Tagung gewählt haben, und heißen Sie von Herzen willkommen. Ist doch
die Stadt Straßburg stolz darauf, daß bedeutende klangvolle Namen
gerade Ihrer Disziplin eng mit Straßburg verknüpft sind, ich nenne Kraßt-
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Deutscher Verein für Psychiatrie. ggg
-Ebing, Joüy und Fiirstner, die einst Zierden der hiesigen Landesuniversität
und Bürger der Stadt Straßburg waren.
Wir wünschen Ihrer Tagung einen ersprießlichen Verlauf und hoffen,
-daß Sie während derselben Gelegenheit finden, die neuen Spitalanlagen
unserer Stadt, insbesondere auch die Sie vornehmlich interessierende neue
Nervenklinik zu besichtigen und sich mit uns Straßburgern an diesen
.schönen Anstalten zu freuen.
Mögen die gegenwärtigen schönen Frühlingstage, welche Sie hierher
geführt haben, dazu beitragen, daß Sie einen möglichst angenehmen Ein¬
druck von dem Aufenthalt in unserer Stadt mit in die Heimat nehmen.
In diesem Sinne heiße ich Sie nochmals herzlich willkommen in Straßburg.
Herr Hofrat Chiari: Es gereicht mir als derzeitigem Rektor der
Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg zur besonderen Freude, den
-deutschen Verein für Psychiatrie in unserer Aula begrüßen zu können.
Ich betrachte den Umstand, daß Sie in der Aula unserer Universitas
litterarum tagen, als eine gute Vorbedeutung für den Nutzen, den auch
die anderen Wissenschaften aus Ihren Verhandlungen ziehen werden. Ge¬
rade die Psychiatrie ist in ausgesprochenem Maße eine Wissenschaft, welche
anderen Wissenschaften vielfache Anregung zu geben vermag und, ich
möchte sagen, jeden geistigen Arbeiter, der sich ihr naht, anziehen muß.
Sie verdankt das einerseits der Natur ihres Faches, andererseits der hohen
Blüte, die sie gerade in den letzten Dezennien erreicht hat. Sie bearbeitet
ihr Forschungsgebiet in einer selten vollkommenen Weise sowohl theo¬
retisch als klinisch. Sie hat auch gerade in der neuesten Zeit die wahre
Humanität auf ihre Fahne geschrieben. Das wird jedem klar, der die
alten, finsteren Irrenanstalten und die modernen Heil- und Pflegeanstalten
für Geisteskranke gesehen hat.
Möge diese Jahresversammlung sich würdig den früheren anschließen 1
Herr Geheimrat Wollenberg: Als Dekan der Fakultät begrüße ich die
Versammlung. Die medizinische Fakultät hat hier ihr Interesse für die
Psychiatrie besonders auch dadurch gezeigt, daß sie für die Umwandlung
•der alten Psychiatrischen Klinik in eine moderne Psychiatrische und
Nervenklinik nachdrücklich eingetreten ist. Ich hoffe, daß die Teilnehmer
der Versammlung Zeit haben werden, sich davon zu überzeugen; sie
würden dann sehen, daß die Klinik im Zentrum der medizinischen In¬
stitute liegt. Als Psychiater sehe ich darin ein Symbol der zentralen Be¬
deutung der Psychiatrie, als Dekan kann ich nur sagen, daß diese Lage
das angenehmste Zusammenarbeiten mit den Vertretern der anderen
medizinischen Disziplinen ermöglicht.
Im Namen der medizinischen Fakultät wünsche ich der Versamm¬
lung einen ergebnisreichen Verlauf.
Der Vorsitzende dankt den Herren, welche die Versammlung be¬
grüßt haben, und gedenkt dann der im Laufe des letzten Jahres verstorbe¬
nen Mitglieder des Vereins: Tiling, Näcke, Serger, Schuchardt, Oebeke,
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Original fram
UNIVERSSTY OF MICHIGAN
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VerhaodlaiigHi psrciuatDMh«- Vereine.
liömhdä. £LfiU'i*nkQn?l. fC*e$ y Väkker und des EhrenmiUdiedts
DU» ...ViivVieieudeic erheben sich zu Ehre« der V erstorbenen von *3ea Sdt;-
Jkbpiftlkbe «atßdteB Sctmlis* -OdBingen. £crin.eWi/*£ -KjE.
Aidtei-fti#/ - Bmsiaii, SOmtnar -Gießen, Turäett-Maibtirg, Slrtmsky-'^ vc
Üjcw-Dauxig Jena., d'peclti- Erlangen. G. Getlach -Münstex nai
JP^bni/n rjfdjiä.
Ais aBW^ndes Ehrenmitglied wird Geheimrat Schüft vc#iu
sitzender* .besonder* begrüßt.
EsTölgfc das Iteferat über die «egenanftte Ttt-miodet'lft ZV ■
rech« iK.gifabigkt-tt..
1. Referent Azchnßenburg Külo| .-4. geht von der klinkejf£ »j übest:
baren flbaefte atG.däß' dje^ä^echjjseQ und.dk' givjsiugit ;
.suiidheif das grüßfi üefcföt der GrenzzikUnmte eiii.sdüeb<\ das sieb ihr
nicht, mit den* ^Ira/md.tlieben Begriff' der verminderten ZurechßUii«. j
rabigk^it v<d% <fer.kß.. ; : Da. afts^e Utesetzgehunger* aut dem St^uidiHtsü |
stehen, (he Jiechfeb%efr?dr Ätrafbön; Haiidiungc’h von iieffi ’ 'V*>c.linn.rfetsiR'ss I
.ic-r *V>rsebiuldiiHg inehr «der weniger abhängig iu ; .machen, 'so se» **
forderlich. die Ziislkinhr verroiip.tcrteir Zutrchnuagsfabigkeit za ,ber;>.
sichtigen. Er sucht der* Begriff .so zw «mit hreibdii; Vermindert zurr.
iuuigsf4hig tsi VJerj^uge. .h*'j deai dav FUhigkeit, die .Stra/barkoii siduV,
Tat cum>wlier* oder dieser Einsicht. gHfwaü zu handeln, nicht ausrek-Jn
‘•lit'.vicki-li iss;
Fiel, erörtert dann die.AuävMeft der öegn«r einer gesetzlichen A f -
erkeiumug der v^rhiindeftcu :Zuröcli<i«ng>f;ini!gkeit f die nn aligen.eil
weniger die '! tengueo ; daO- derartig* Süsiöiid»? vorhanden &*•.
als .'ich gegenv die Kinu*qu«iimm ihren eiraheehUieben Berikksütitixw;;
a.ufkd'iieiü'i . i. h* weiter die ErWiiGi'UngkoVioen der eermindor
^iirechiningvrahigkraE. die sieh ia«*-'
it» die <ier iisyehopathisch^n ! P»j^örffhhk?M. irt die der FdUfeti ehrötuiw'
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tidhpiv und der akuten Vergifte
uv der Gesundheit zur Krankt
trig-siusiande. und in die dei
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minderung der Zurechnuagsfäi
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ligkeit bedingt sein, sie k an
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dadurch bedingt sein.
'weh einem Hinweis aut die Vnzuiimgiii iiheit des in* deutsch**«
-.Q.-B... versuchten Ersatzes der verminderte« Znwehiiungsfähigk* •'
durch dig rtdiderndiar Umstand*) and einer llurieit Erhrtettitig der Sehwie
rigkeuer* der richtigep Beurteilung aller Io Frage kommenden patjmhigt
sehen Zustande leimt, Bef. die prinzipielle Mrurmihlerurig als folg- .1»;
verniimtecfen Zureetimuigsfirhigkeit ab. da der verminderten Zuisehnoitirf•
fähigkeii oft erhöhte Geiiieiagefährliehkeit entspricht,. Die'' gtjscuheb*
BngeinngaW verwundertch Ztirechiiungsfähigkeit in dein deulscheh Vttr- ;
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
Deutscher Verein für Psychiatrie.
691
ntwurf lasse sehr viel Wünsche offen, besser ist der österreichische Ent-
srurf, obgleich auch gegen diesen mancher Einwand zu erheben ist. Nach
Besprechung des Verhaltens der vermindert Zurechnungsfähigen im
Strafvollzug, der geringen Wirkung der Strafverbüßung auf die Besserung
m Sinne einer größeren sozialen Tauglichkeit einerseits, der Gefährdung
ier Gesundheit anderseits stellt A. folgendes Programm der staatlichen
Reaktion gegen vermindert Zurechnungsfähige auf:
Bei harmlosen Delikten vermindert Zurechnungsfähiger geringe
Strafe, unter Umständen sogar Verzicht auf jede Strafe oder Anwendung
der bedingten Verurteilung. Ist die Straftat, auch wenn sie strafrechtlich
von geringer Bedeutung ist, der Ausdruck einer Gemeingefährlichkeit,
deren Wurzel in der psychischen Anomalie zu erblicken ist, so kann der
Richter statt der Strafe oder muß, wenn er auf die Strafe nicht verzichten
zu können glaubt, neben der Strafe die Zulässigkeit sichernder Maßnahmen
im Urteil aussprechen. Die beste Form der Sicherung ist die Heilung
des krankhaften Zustandes. Ist diese nicht zu erreichen, so muß die Sicher¬
heit der Gesellschaft den Interessen des Kranken voranstehen. Um aber
auch den Kranken nicht ungeschützt zu lassen, sind gesetzliche Bestim¬
mungen zu treffen, die sich im Prinzip an die Bestimmungen über die Ent¬
mündigung und an die des österreichischen Vorentwurfs für das Straf¬
prozeßrecht anschließen. Und diesen Forderungen möchte er am Schluß
noch den Wunsch anreihen, die psychologische und psychiatrische Aus¬
bildung aller Organe der Strafrechtspflege zu fördern, damit ein gemein¬
sames Arbeiten ohne gegenseitiges Mißtrauen und Mißverstehen ermöglicht
wird. Wir Psychiater haben mit der Aufstellung dieses Programms und
mit seiner Begründung unsere Pflicht getan, es wird jetzt die Sache der
Juristen sein, die gesetzliche Formulierung zu finden.
Der 2. Referent JFi7ma/in^-Heidelbergbegründet folgende Leitsätze :
1. Das Gebiet der verminderten Zurechnungsfähigkeit liegt weniger in
den relativ seltenen, erworbenen krankhaften Veränderungen
der Persönlichkeit, die wenigstens im Prinzip eine scharfe Scheidung
zwischen normalen und pathologischen Seelenzuständen gestatten,
als vielmehr in den unendlich verbreiteten und mannigfaltigen ab¬
normen Veranlagungen und Charakteren, die das eigentliche
Zwischengebiet zwischen Gesundheit und Krankheit darstellen. Da
die Begriffe „krankhaft“ und „in hohem Grade“ sehr ver¬
schieden definiert werden, ist auch die Umgrenzung der krankhaft
bedingten, im hohen Grade verminderten Zurechnungsfähigkeit
vom subjektiven Ermessen sehr stark abhängig.
2. Die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Begriffs verminderte
Zurechnungsfähigkeit machen es unvermeidlich, daß er einerseits
auf Unzurechnungsfähige, andererseits auf Zurechnungs¬
fähige Anwendung finden wird, so daß sowohl großeHärten als
auch ungerechtfertigte Milden in der Rechtsprechung die Folge
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
sein werden. Daß die Milden überwiegend den Besitzenden zu¬
gute kommen werden, liegt auf der Hand.
3. Die Zustände im hohen Grade verminderter Zurechnungsfähigkeit
sind außerordentlich verbreitet. Die Untersuchungen zahlreicher
Forscher an Fürsorgezöglingen, Prostituierten, Bettlern, Land¬
streichern, Sittlichkeitsverbrechem und anderen gewohnheitsmäßigen
und tiefstehenden Rechtsbrechern lassen erkennen, daß sie sich
ungefähr zur Hälfte aus im hohen Grade vermindert Zurechnungs¬
fähigen zusammensetzen..
4. Es liegt im Wesen der Zustände im hohen Grade verminderter
Zurechnungsfähigkeit begründet, daß sie der Richter nur in Aus¬
nahmefällen erkennen kann. Daher wird auch eine bessere Vor¬
bildung des Richters und eine Vertiefung des richterlichen Ver¬
fahrens die Feststellung und Berücksichtigung dieser Zustände
nicht erheblich fördern können.
5. Eine Berücksichtigung des Geisteszustandes vermindert Zurech¬
nungsfähiger kann im gewöhnlichen Strafvollzüge nicht stattfinden.
Das ist nur in besonderen, ausschließlich für sie bestimmten An¬
stalten oder Abteilungen möglich. Der Sachverständige wird jedoch
nur bei einem kleinen Teile der als vermindert zurechnungsfähig
erkannten Rechtsbrecher entscheiden können, ob der Angeklagte
der Behandlung in einer Sonderabteilung bedürfen wird. Eine Aus¬
lese der für den gewöhnlichen Strafvollzug ungeeigneten ver¬
mindert Zurechnungsfähigen ist daher auf diesem Wege nicht
möglich.
6. Von den als vermindert zurechnungsfähig erkannten Rechtsbrechern
wird ein sehr großer Teil sicherungsbedürftig sein, und zwar
nicht nur die gemeingefährlichen Verbrecher, sondern auch die
gemeinlästigen Bettler, Landstreicher und Müßiggänger. Daß
jedoch der Richter von der Möglichkeit der Verwahrung den er¬
hofften Gebrauch machen wird, erscheint zweifelhaft. Denn der
Strafrichter wird sich über die Tatsache nicht hinwegsetzen können,
daß die Sicherung eine Maßregel von ungewöhnlicher Härte ist, die
sich fast ausschließlich gegen den Proletarier wendet.
Den Schwierigkeiten der Durchführung der Bestimmungen
über die verminderte Zurechnungsfähigkeit dadurch aus dem Wege
zu gehen, daß man ihre Anwendung fakultativ gestaltet, ist ganz
verwerflich.
7. Die Erkennung und Beurteilung der Zustände verminderter Zu¬
rechnungsfähigkeit söwie die Entscheidung der Frage nach der ge¬
eigneten Behandlung, Fürsorge und Sicherung dieser geistig Minder¬
wertigen ist nur nach gründlicher Beobachtungund Beschäfti¬
gung mit ihnen möglich, d. h. im Strafvollzug. Das erstrebte
Ziel — mildere Strafe, individualisierende Behandlung im Straf-
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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Vollzug und Sicherung, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert —
ist erreichbar auf der Grundlage: Berücksichtigung der besonders
leichten Fälle bei allen Straftaten, Reform des Strafvollzugs und
Schaffung eines besonderen Sicherungsgesetzes.
M. H.l Als Berater des Gesetzgebers ist es unsere Aufgabe, ihm die
Ergebnisse unserer Wissenschaft objektiv darzulegen, dabei die Grenzen
nseres Wissens nicht zu verschweigen, die Schwierigkeiten hervorzu-
eben, die sich der Anwendung und Verwertung naturwissenschaftlicher
Erfahrungen im Strafrecht entgegenstellen, die Tragweite der Gesetze zu
srwägen, die sich auf psychiatrischen Grundlagen aufbauen. Von diesem
Gesichtspunkte bitte ich meine Ausführungen zu verstehen.
Um Forderungen zu stellen und zu begründen, bedarf es meist
weniger Worte, als um sie abzulehnen und ihre Unerfüllbarkeit zu erweisen.
Ich kann daher heute nicht alles, was ich behaupte, mit Gründen belegen 1 ).
Ich beschränke mich darauf, das Wesentliche, was ich in den sieben ihnen
überreichten Sätzen niedergelegt habe, näher zu erläutern.
Erster Satz. — Ich beginne mit Satz 1. Er bezieht sich zunächst
auf die klinischen Tatbestände, die verminderte Zurechnungsfähigkeit
bedingen, und spricht alsdann von der Möglichkeit einer scharfen Um*
grenzung des Gebietes.
I. Die Angaben des Herrn Referenten ermöglichen es mir, meine
Ausführungen auf folgendes zu beschränken. Innerhalb der Vielheit der
eigentlichen „Störungen“ der Geistestätigkeit, d. h. der Zustände, die sich
als Äußerungen organischer Gehirnkrankheiten als etwas Neues, Fremdes
auf einer mehr oder weniger normalen Persönlichkeit entwickeln, sie ver¬
ändern, zerstören, innerhalb dieser psychischen Prozesse liegt das Gebiet
der Unzurechnungsfähigkeit. Die Tatsache, daß eine Gehirnkrank¬
heit mit zumeist ausgesprochener Tendenz zum Fortschreiten das eigent¬
liche Wesen der Persönlichkeit vernichtet hat, daß eine andere, krankhaft
beeinflußte sich entwickelt hat, bestimmt den Richter, die freie Willens¬
bestimmung zumal in den Fällen für ausgeschlossen zu erachten, wo
Straftat und ursprünglicher Charakter des Täters miteinander in Wider¬
spruch stehen. Zustände v. Zkt. spielen schon wegen der relativen Selten¬
heit dieser psychischen Prozesse eine nur bescheidene Rolle; praktisch
wichtig ist nur der chronische Alkoholismus, doch würden Personen mit
leichtem epileptischen Schwachsinn, mit den ersten Störungen der senilen
und arteriosklerotischen Demenz auch noch als Zge. mit geminderter Schuld
zu bezeichnen sein. Innerhalb der vielgegliederten Einheit der abnormen
Anlagen hingegen ziehen wir die Grenzen der Uzkt. sehr eng. Unzurech¬
nungsfähig ist — abgesehen von den aus inneren oder äußeren Gründen
erwachsenden psychischen Ausnahmezuständen und Reaktionen — nur
*) Eine eingehende Begründung meiner Ansichten erscheint dem¬
nächst.
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694
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
die kleine Gruppe konstitutionell Abnormer, deren Regelwidrigkeit so
hochgradig ist, daß sie in ihrer Wirkung auf die Willensfreiheit einer
Geisteskrankheit im engeren Sinne gleichgestellt werden darf. Hier aber,
auf dem eigentlichen Grenzgebiete zwischen Gesundheit und Krankheit,
wo eine lückenlose Reihe von der Norm über die Regelwidrigkeit zur aus¬
gesprochenen Krankheit führt, hier, innerhalb der pathologischen Varia¬
tionen der Norm, in den krankhaften Konstitutionen, den Psychopathien,
den geistig Minderwertigen, liegt das weite Gebiet der v. Z k t. Die torpiden
und eretischen Imbezillen, die sogenannten moralischen Idioten, die Halt¬
losen, die hysterischen Charaktere, die Epileptoiden, die Zyklothymen,
konstitutionell Verstimmten und Erregten, die Neurastheniker, die an
Zwangsvorstellungen Leidenden, die sexuell Abnormen, Homosexuellen,
Sadisten, Masochisten, Fetischisten usw. usw., sie alle können in ihrer
Zkt. in hohem Grade beeinträchtigt sein, besonders bei Begehung von
Handlungen, die als die Auswirkung ihrer speziellen krankhaften Eigen¬
schaften betrachtet werden müssen.
M. H.l Das ist eine sehr wichtige Tatsache. Denn aus diesen
Abnormen, den Imbezillen, Hysterikern, Epileptoiden usw. rekrutiert
sich — wie ich noch zeigen werde — ein sehr großer Teil unserer gewohn¬
heitsmäßigen Rechtsbrecher, an denen unser heutiges Strafsystem wir¬
kungslos bleibt, aus ihnen aber auch diejenigen Verbrecher, die sich in den
Strafvollzug nicht einfügen und den Beamten die allergrößten Schwierig¬
keiten machen. S i e sollen also künftig Gegenstand einer besonderen Be¬
handlung im Gesetze sein. Kahl hat daher gewiß recht, wenn er meint,
daß die Wirkung einer solchen Reform nicht nur die Peripherie, sondern
vielfach zentrale Nerven des Strafrechts und Strafprozesses berührt!
II. 1. Die Tatsache, daß das eigentliche Gebiet der v. Zkt. innerhalb
des unendlich weiten und vielgestaltigen Grenzgebietes geistiger Gesund¬
heit und Krankheit liegt, hat früh zu Versuchen geführt, diesen vieldeuti¬
gen, verschwommenen und dehnbaren Begriff durch einen bestimmteren,
schärferen und engeren zu ersetzen. Krohne wollte den — wie er
meinte — „recht bedenklichen“ Ausdruck v. Zkt. durch den „klaren,
fest umschriebenen und unzweideutigen“ Begriff der geistigen Minder¬
wertigkeit ersetzen. Aschaffenburg hielt aber gerade diesen für eine
„wenig klare Bezeichnung“; denn „geistig minderwertig“ seien die Ver¬
brecher durchweg. Cramer wiederum machte sich verbindlich, „jeden
Menschen für gemindert zurechnungsfähig“ zu erklären und befürwortete
mit viel Wärme die Einführung des Begriffs „geistige Minderwertigkeit“.
Das Ergebnis der Diskussionen war, daß uns der — um mit Leppmann
und Cramer zu reden — „uferlose“ und „kautschukartige“ Begriff der
v. Zkt. erhalten blieb.
2. Da es nicht gelungen war, den vagen Begriff „v. Zkt.“ durch einen
schärferen zu ersetzen, bemühte man sich, ihn durch gewisse Ein¬
schränkungen für gesetzgeberische Zwecke brauchbar zu gestalten.
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Psychiatrischer Verein za Berlin.
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Der Begrenzung legte man die Dauer, das Wesen und den Grad der
geistigen Minderwertigkeit zugrunde. Es ist zu untersuchen, wieweit sich
diese Einschränkungen rechtfertigen lassen, und wieweit sie praktischen
Wert beanspruchen dürfen.
a) Weingart, Kahl u. a. sind dafür eingetreten, den Begriff der v. Zkt.
auf die Dauerzustände geistiger Minderwertigkeit zu beschränken.
Logisch ist das nicht. Denn wenn schon der v. Zge. im Strafmaß milder
behandelt werden soll, so ist nicht zu - verstehen, warum sich nur der
'dauernd v. Zge. dieser Bevorzugung erfreuen soll. Gerade von Kahl,
der vom Standpunkte der Gerechtigkeit die v. Zkt. berücksichtigt
sehen will und es „als gegen das Gewissen des Strafrechts, gegen die Grund¬
lagen des Rechtsstaates gehend“ bezeichnet, daß gegen die geistig minder¬
wertigen Verbrecher eine die Schuld übersteigende Strafe ausgesprochen
wird, gerade von ihm hätte man eine solche Inkonsequenz nicht erwarten
sollen. Denn diese „Gerechtigkeit“ dürfte doch nicht auf die Dauer¬
zustände beschränkt werden, sondern müßte auch den an vorüber¬
gehenden krankhaften Zuständen Leidenden widerfahren. Und wenn
sich Kahl auf Wollenberg, Koch und Lenz beruft, nach denen sowohl der
Rechtsbrecher als seine Angehörigen Wert darauf legen müssen, den
krankhaften Strafmilderungsgrund deutlich erkennbar zum Ausdruck ge¬
bracht zu sehen, so sollte das gleiche doch auch für die in vorübergehen¬
den Zuständen Handelnden Geltung haben müssen. Kahl muß daher auch
zugeben, daß die von ihm empfohlene Beschränkung des gesetzlichen Be¬
griffes auf die psychopathischen Dauerzustände lediglich praktischen
Bedürfnissen entspringt. Die von ihm mehr oder weniger klar erkannte
Unmöglichkeit, an allen v. Zgen. seine Vorschläge durchzuführen, zwingt
ihn, irgendwo einen Schnitt zu machen, und er vollführt ihn, indem er
die Anwendung der besonderen Bestimmungen auf die Dauerzustände
beschränkt. Der VE. hat sich mit Recht der Kahlschen Willkür nicht
angeschlossen, sondern konsequenterweise die Möglichkeit des Vorliegens
v. Zkt. auch bei vorübergehenden psychopathischen Zuständen an¬
erkannt. Ich kann mir daher auszuführen ersparen, zu welchen In¬
konsequenzen und Widersprüchen gerade vom ärztlichen Standpunkte aus
die ausschließliche Berücksichtigung der Dauerzustände führen würde.
b) Die zweite Einschränkung betrifft das Wesen der Zustände.
Aschaffenburg, Cramer, Kahl, Weingart u. a. legen einen stärkeren Nach¬
druck auf die Krankhaftigkeit des Zustandes und betrachten ihren
Nachweis als einen wesentlichen Schutz gegen die mißbräuchliche An¬
wendung des Begriffes. Auch der VE. sucht durch die Versicherung be¬
ruhigend zu wirken, daß „immer eine Krankheit vorausgesetzt“ werde
und „bloße sittliche Verirrungen geistig gesunder Menschen“ als
Zustände v. Zkt. nicht in Frage kommen. Aber was ist Krankheit?
Krankheit ist für den Naturwissenschaftler die Abweichung von der Norm,
die Norm ist der Durchschnitt, und den Durchschnitt können wir Psychiater
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
statistisch nicht erfassen. Mithin läuft die Entscheidung, ob eine auffällige
Persönlichkeit noch gesund oder bereits krank ist, in vielen Fällen auf
eine Bewertung, m. a. W. auf subjektives Ermessen hinaus.
Wie unsicher die Grenzen zwischen gesund und krank sind, und wie sehr
die Ansichten der Beurteiler auf diesem Gebiet auseinandergehen müssen,
lehren Kohls eigene Ausführungen. Wenn er z. B. „den Welt verbesse¬
rungstrieb des unbelehrbaren Anachronisten“ und den „vom Größenwahn
angekränkelten Anarchisten“ als krankhaft bezeichnet und diesen Zu¬
ständen als nicht krankhaft die Gelüste der Schwangeren und diu
Tappigkeiten und Bosheiten bestimmter Altersperioden gegenüberstellt,
so dürfte er in unserem Kreise kaum damit auf Zustimmung hoffen dürfen.
Gewiß muß es das Gesetz zum Ausdruck bringen, daß der Zustand v. Zkt.
krankhafter Natur sein muß, schon um Anschauungen, wie sie von
Engelen auf dem Kongreß für Kriminalanthropologie in Köln geäußert
sind, ihren Einfluß auf die Rechtsprechung zu verwehren. Aber man täusche
sich nicht über die Undefinierbarkeit und Dehnbarkeit des Krankheits-
begriffes. Man bleibe sich klar, daß bei der Beantwortung der Frage:
Krankhaft oder gesund ? das subjektive Ermessen eine große Rolle spielen
muß, und daß die Entscheidung, ob „ein krankhafter Zustand“ oder eine
„bloße sittliche Verirrung“ eines geistig gesunden Menschen vorliegt,
vielfach auf Willkür hinauslaufen wird.
c) Einer dritten Einengung des Begriffes liegt der Grad der Beein¬
trächtigung der Willensfreiheit zugrunde. Auch der VE. hat diesen Weg
gewählt, um das Gebiet der v. Zkt. möglichst einzuengen, und macht die
gesetzliche Berücksichtigung geistig Minderwertiger davon abhängig, daß
ihre freie Willensbestimmung in hohem Grade vermindert sei. Bei
welchen Geisteszuständen ist die Willensfreiheit i. h. G. vermindert?
Will der Gesetzgeber unter der i. h. G. v. Zkt. nur die Zustände verstehen,
die an Unzurechnungsfähigkeit grenzen, wie wohl vereinzelt geäußert
worden ist? Dann würde der Erfolg der ganzen Reform ein Schlag .ins
Wasser sein; denn die im strengen Sinne des Wortes „i. h. G. v. Zgen.“
werden nach geltendem Rechte, wie noch gezeigt werden soll, mehr oder
weniger als Unzurechnungsfähige behandelt. Oder will der VE. unter
dieser Bezeichnung diejenigen verstehen, die in so hohem Grade geistig
abnorm sind, daß sie nicht wie Vollwertige zu strafen, nicht in dem auf den
Durchschnittsmenschen abgestellten Strafvollzüge ohne Schädigung zu
halten, nicht unter der gegenwärtigen Behandlung zu bessern sind?
Offenbar ist das gemeint; dafür spricht die Begründung, die der Gesetz¬
geber den Bestimmungen gibt, und in der er Geisteszustände, wie erbliche
Belastung, erwähnt, welche die Willensfreiheit nur in diesem Sinne
i. h. G. vermindern können. Der Gesetzgeber will durch diese graduelle
Bezeichnung nur vermeiden, daß „auch nur geringfügige geistige Defekte
zu einer ausnahmweise milden Bestrafung führen können“, er will die
besondere Behandlung auf die schweren Fälle geistiger Abnormität be-
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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lursLnkt wissen. Allein, daß auch trotz dieser Einschränkung das Gebiet
:r *v. Zkt. ein unbegrenzbares und ungeheuer großes bleibt;
erde ich noch zeigen.
Zweiter Satz. — Ich gehe zur Erörterung des zweiten Satzes
ber. Er behandelt die Frage, wie der Begriff v. Zkt. im praktischen
eben umgrenzt werden wird.
M. H.l Solange überhaupt eine Frage der v. Zkt. besteht, ist der
Befürchtung Ausdruck gegeben, daß einerseits Zurechnungsfähige, anderer-
eits aber auch Unzurechnungsfähige als v. Zge. behandelt werden könnten,
ichon in der Sitzung des preußischen Staatsrates im Jahre 1845 wurde
lie Einführung einer besonderen Bestimmung über v. Zkt. abgelehnt,
,da sie auf der einen Seite zu sehr milden Entscheidungen, aber auf der
anderen Seite zu großen Härten führen würde“. Sind diese Bedenken
jetzt noch gerechtfertigt?
I. Zunächst: Ist zu befürchten, daß künftig Personen, die jetzt als
unzurechnungsfähig freigesprochen, als v. Zge. bestraft werden ? Gewiß,
sowohl der Sachverständige wie der Richter werden das Gebiet der
Unzurechnungsfähigkeit zugunsten der v. Zkt. enger begrenzen.
1. a) Der Sachverständige pflegt gegenwärtig, wo das Straf¬
gesetz nur das starre Entweder — Oder kennt, kein Mittel unversucht zu
lassen, über den Geisteszustand des Beschuldigten ins Klare zu kommen.
Vermag er es nicht durch eigene Untersuchung, so weist er ihn zur Beob¬
achtung in eine Irrenanstalt ein. Ob in Zukunft, besonders yro der einzelne
Gerichtsarzt mit Gutachten weit mehr überladen sein wird als jetzt, mit
der gleichen Sorgfalt und Gründlichkeit vorgegangen werden wird? Von
vielen Seiten wird das bezweifelt, m. E. mit Recht. Die Berücksichtigung
einer v. Zkt. wird die Verantwortlichkeit des Sachverständigen verringern
und ihn dadurch zur Oberflächlichkeit und Unwissenschaftlichkeit ver¬
leiten.
b) Optimisten werden meinen, daß dieser Gefahr durch gründlichere
Vorbildung und Arbeitsentlastung der Gerichtsärzte begegnet werden
könne. Allein auch der wissenschaftliche und gewissenhafte Sachver¬
ständige, ja gerade dieser, wird den Kreis der Unzurechnungsfähigen
enger fassen müssen, als er es jetzt tut, und zwar aus folgenden Gründen.
Einen Menschen, der im neurasthenischen Vorstadium der Paralyse
einen Diebstahl begeht, erklären wir gegenwärtig mit Rücksicht auf die
tiefgreifende Veränderung seiner Persönlichkeit für willensunfrei; daß
aber in diesem Falle die normale Bestimmbarkeit durch Motive wirklich
ganz ausgeschlossen ist, daß nicht doch noch Reste davon vorhanden
sind, können wir nicht verbürgen. Ja, wir erklären auch einen patho¬
logischen Schwindler für einen Betrug, einen Imbezillen für eine Unter¬
schlagung für nicht verantwortlich, obschon wir überzeugt sind, daß er
gewisse Hemmungen dem verbrecherischen Antriebe hätte entgegenwirken
lassen können. Entscheidend für unser Urteil ist die Tatsache, daß diese
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXL 4/5. 48
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Hemmungen im Vergleiche zu den krankhaften Antrieben unwesentlich
sind, daß — wenn man so sagen darf — der Rest von Zkt. bedeutungslos
ist gegenüber der weit überwiegenden Uzkt. Künftig jedoch wird der
gewissenhafte Sachverständige in allen Fällen, in denen er nicht von dem
absoluten Ausschluß der freien Willensbestimmung überzeugt ist,
i. h. G. v. Zkt. annehmen müssen.
Soweit es sich dabei um Imbezille, Hysteriker, pathologische
Schwindler handelt, d. h. um Personen, bei denen die Straftat ihrem ur¬
sprünglichen Wesen entspringt, braucht dieser Umschwung in der Be¬
urteilung m. E. nicht schwer genommen zu werden. Denn bei diesen
Personen ist es im Grunde unerheblich, ob sie eine milde Gefängnisstrafe,
zumal unter Berücksichtigung ihres Geisteszustandes, erhalten und dann
in einer Sicherungsanstalt verwahrt werden, oder ob die Versorgung sofort
nach erfolgtem Freispruche eintritt. Eine große Härte würde es aber sein,
wenn auch beginnende Geisteskranke im engeren Sinne, Paralytiker,
Schizophrene, künftig noch häufiger als jetzt schon die Folgen ihrer Er¬
krankung im Gefängnis büßen sollten.
2. a) Mag aber auch die Mehrzahl der Sachverständigen fernerhin
an der geltenden Beurteilung beginnender Geisteskrankheiten im engeren
Sinne festhalten, daß es der Richter tun wird, ist sehr fraglich. Der
Richter steht einem psychiatrischen Gutachten, das einen Paralytiker im
neurasthenischen Vorstadium, d. h. einen im Sinne des Laien leicht ner¬
vösen Menschen für unzurechnungsfähig erklärt, wie demjenigen eines
technischen Sachverständigen gegenüber, dessen Beweisführung er ebenso¬
wenig zu kontrollieren vermag. Immerhin pflegt der Richter, wo das
geltende Recht ihm nur die Wahl zwischen Freispruch und schwerer Strafe
läßt, im allgemeinen die Überlegenheit des Sachverständigenurteils an¬
zuerkennen und das Gutachten autoritativ entgegenzunehmen. Künftig
aber wird — trotz der gegenteiligen Versicherungen Kahla — die Annahme
einer v. Zkt. ein willkommener Ausweg in Fällen sein, wo das eigene laien¬
hafte Urteil und die wissenschaftliche Anschauung des Sachverständigen
miteinander im Kampfe liegen.
Wie nahe diese Gefahr liegt, zeigen Ihnen die Ausführungen auch der
auf diesem Gebiete führenden Juristen Kahl, v. Liszt, v. Calker, Engelen,
v. Gleispach usw., die ohne Bedenken ausgesprochene Psychosen wie be¬
ginnende Paralyse, epileptische Dämmerzustände, Intoxikationspsychosen,
manisch-depressives Irresein als Zustände v. Zkt. erwähnen.
b) Aber nicht nur in den Fällen, wo der Richter, zumal der Laien¬
richter, der Geschworene, das Sachverständigengutachten auf seine Be¬
weiskraft nicht zu beurteilen vermag, sondern besonders auch in den¬
jenigen, wo Rücksichten auf die Rechtsanschauungen der breiten Masse
und eigenes Gefühl gegen den Freispruch eines Geisteskranken sprechen,
wird die v. Zkt. ein bequemer Ausweg sein; denn sie gestattet einerseits
das Bestehen einer Geisteskrankheit anzuerkennen, andererseits dem
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Rechtsbewußtsein des Volkes durch Ausspruch einer Strafe entgegenzu-
iomraen.
Kurzum, wenn von älteren Autoren Roller, Nasse, Westphal, Mendel,
von jüngeren Longard, Straßmann, Werner die Befürchtung äußerten,
■daß die gesetzliche Berücksichtigung der v. Zkt. zur häufigeren Ver¬
urteilung von Geisteskranken im engeren Sinne führen würde, so wird man
ihnen recht geben müssen. Daß also die großen Härten eintreten müssen,
steht außer Zweifel.
II. Es bleibt nur noch die Frage zu erörtern, ob auch mit „sehr
milden Entscheidungen“ gerechnet werden muß. Bei ihrer Beant¬
wortung kann ich mich kurz fassen. Erinnern Sie sich daran, daß die
Domäne der v. Zkt. die abnormen Anlagen sind, ein Gebiet unendlich
mannigfaltiger und verbreiteter Regelwidrigkeiten, die lediglich Varia¬
tionen der Norm sind, ein Gebiet, das seinem Wesen nach unbegrenzbar
; ist, in dem sich wohl künstliche Grenzen ziehen lassen, aber nicht ver¬
mittelst so unbestimmter und dehnbarer Begriffe, wie sie „krankhaft“
| und „im hohen Grade“ sind. Ist man sich klar, daß auch die auf krank-
j hafter Grundlage erwachsene i. h. G. v. Zkt. ein Begriff mit verwaschenen
i Grenzen bleibt, so muß man auch damit rechnen, daß er mißbräuchlich
| auf Zge. angewendet wird. Insbesondere wird sich der Laienrichter bei
| Verbrechen, die ihren Ursprung in heftigen, aber noch normalen Affekten
haben, aus Billigkeitsgründen zu der Annahme v. Zkt. bestimmen lassen.
Vor allem aber werden — wie Cramer u. a. betonten — die Verteidiger
die Dehnbarkeit und Unklarheit auszunützen bestrebt sein. Bei der unge¬
heuren Verbreitung kleiner psychischer Regelwidrigkeiten wird es der
Dialektik eines geschickten Anwaltes nicht schwer fallen, alle die kleinen
seelischen Auffälligkeiten aus der Vergangenheit seines Klienten zusammen¬
zutragen und aus der Fülle der Abnormitäten, von denen jede einzelne
für sich betrachtet belanglos ist, wird dann für den Richter überzeugend
die geistige Minderwertigkeit und mit ihr die v. Zkt. konstruiert werden
können. Also trotz allen Einwänden Kohls : Die Gefahr der Klassen-
1 Justiz liegt auf der Hand.
Dritter Satz. — Ich gehe zum Satz 3 über: Was ist über die
Verbreitung der v. Zkt. zu sagen?
I. Über die Häufigkeit der v. Zkt. in der freien Bevölkerung
wissen wir bisher nichts. Cramer und Kielhorn haben den Versuch gemacht,
die Zahl der geistig Minderwertigen ungefähr zu berechnen; beide gehen
jedoch dabei von so unrichtigen Voraussetzungen voraus, daß ich ihre Er¬
gebnisse nicht erwähne.
II. Sehr viel besser sind wir über die Verbreitung der v. Zkt. unter
•den Insassen unserer Strafanstalten orientiert. Eine offizielle
Statistik besitzen wir zwar nicht darüber. Die statistischen Angaben
«über die Häufigkeit geistig Minderwertiger bei preußischen Fürsorge-
Zöglingen und die Mitteilungen der Leiter von Korrigendenanstalten
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über die Verbreitung geistiger Mängel unter den Arbeitshäuslern
sind nur geeignet, uns ein Bild von dem bedauerlichen Mangel an Verständ¬
nis zu geben, mit dem diese Anstaltsleiter ihren erzieherischen Aufgaben
gegenüberstehen. Aufschluß über die Verbreitung der Zustände v. Zkt.
vermögen wir uns nur aus den Arbeiten unserer Fachgenossen zu holen.
1. Ich teile Ihnen zunächst die Ergebnisse mit, soweit sie sich auf
die Häufigkeit seelischer Abnormitäten beziehen, später erst soll
die Rede davon sein, wieweit diese auch v. Zkt. und i. h. G. v. Zkt. be¬
dingen.
a) Die zahlreichsten und gründlichsten Arbeiten über die Ver¬
breitung geistiger Minderwertigkeit sind an Fürsorgezöglingen ge¬
leistet worden. Aus den Untersuchungen von Cramer, Mönkemöller t
Schnitzer, Rizor und Siefert ersehen Sie, daß die Zahl der als geistig abnorm
bezeichneten Zöglinge je nach dem untersuchten Material und der Be¬
grenzung, die von den einzelnen Forschern der Norm gegeben wurde,
zwischen 34 und 86% schwankt, die Mehrzahl von ihnen gibt etwa 50%
an. Was die klinische Stellung der geistigen Regelwidrigkeiten anlangt,
so handelt es sich fast ausschließlich um angeborene Defekte, um Im¬
bezillität leichteren und schwereren Grades und um pathologische Cha¬
raktere.
b) Ähnliche Ergebnisse hatte die Untersuchung von Sichel an jungen
Frankfurter Prostituierten. Sichel bezeichnet ebenfalls 68,4% als geistig
krankhaft. Auch in diesem Material haben sich erworbene Mängel noch
nicht entwickeln können. Die Hälfte der Abnormen ist psychopathisch
und hysterisch, die andere angeboren schwachsinnig. Wenn Sie mit diesen
Resultaten diejenigen von MiiUer an Kölner Prostituierten vergleichen,
so finden Sie etwa die gleiche klinische Zusammensetzung. Müller fand
zwar 80% geistig abnorm, davon aber wiederum 68% mit angeborenen
Defekten, 12% mit erworbenen, und zwar mit chronischem Alkoholismus.
Diese Feststellungen führen hinüber zu Bonhoeffers Untersuchungen an
Breslauer Prostituierten — der unter 68% Abnormen 21% chronische
Alkoholistinnen fand. Daß dieser Defekt sich ganz überwiegend bei den
Spätprostituierten, d. h. bei denjenigen findet, die erst nach dem 25. Lebens¬
jahre Prostistuierte wurden, war zu vermuten. Von den Frühprostituierten
waren 14%, von den Spätprostituierten 46% Säuferinnen.
c) Tiefer noch als die Großstadtdirnen stehen die vagierenden
Prostituierten und Landstreicherinnen. Bei sehr enger Fassung des Be¬
griffs „krankhaft“ fand Mönkemöller nur 30% der Korrigendinnen des
Arbeitshauses Himmelstür gesund, etwa 25% litt an angeborenen Män¬
geln und etwa ebensoviel an chronischem Alkoholismus. Zu diesen traten
aber noch etwa 15% andere erworbene Defekte, Geisteskrankheiten und
Verblödungen hinzu.
d) Ganz ähnliche Ergebnisse hatten die Untersuchungen an männ¬
lichen Korrigenden, von denen die umfassendsten von.jKnörr, Riebeth ,
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Marthen an Brandenburger Arbeitshäuslern vorgenommen wurden.
Aus ihren Arbeiten geht hervor, daß unter Korrigenden vor allem die
erworbenen Defekte eine sehr große Rolle spielen und neben 35%
Säufern über 20% Geisteskranke gezählt wurden. Die Forschungen
Bonhoeffers an großstädtischen Bettlern zeigen wieder das Vorherrschen
des Schwachsinns unter den angeborenen, des Alkoholismus unter den
erworbenen Defekten, während Geisteskranke im engeren Sinne in der
Stadt leichter auffällig werden und infolgedessen unter diesen Müßig¬
gängern mehr zurücktrettfn.
e) Daß aber nicht nur diese verhältnismäßig harmlosen Asozialen,
sondern auch die Verbrecher von höchster Gemeingefährlichkeit
eine große Zahl von Minderwertigen in ihren Reihen zählen, lehren die
Arbeiten Rüdins, Liepmanns, Többens, Viernsteins und Lumpps.
f) Von den Untersuchungen bestimmter Verbrechertypen sind be¬
sonders Aschaffenburgs, Leppmanns und Bonhoeffers Studien an Sittlich¬
keitsverbrechern zu erwähnen. Die Resultate der drei Forscher decken
sich insofern, als wiederum nur ein kleiner Teil der Untersuchten als
normal bezeichnet werden konnte: Leppmann fand 33,3%, Bonhoeffer 26%,
Aschaffenburg gar nur 22,5% geistig Gesunde. Aschaffenburg äußerte
gelegentlich auf den Einwand, daß die besondere Behandlung und Ver¬
wahrung dieser zahllosen Abnormen ein Ding der Unmöglichkeit sei, daß
gerade unter den Sittlichkeitsverbrechern ein ganz besonders hoher Pro¬
zentsatz krankhaft sei. Daß das nicht richtig ist, lehren Bonhoeffers Unter¬
suchungen an 50 rückfälligen Körperverletzern; Bonhoeffer , der die
Norm etwa in der gleichen Weise wie Aschaffenburg umgrenzt, fand unter
ihnen ebenfalls nur 28% Normale.
Ich bin daher auch von der Richtigkeit der Ansicht Bonhoeffers
überzeugt, daß eine psychiatrische Untersuchung an anderen gewohnheits¬
mäßig Antisozialen die gleichen Zahlen geistig Abnormer eigeben würde.
Der naheliegende Einwand, daß die Untersucher jede kleine Abweichung
'vom Durchschnitt als krankhaft bezeichnet haben könnten, wird von
Aschaffenburg bekämpft und von Mönkemöüer und Riebeth überzeugend
widerlegt. An der Tatsache, daß 50 bis 75% und mehr unserer Bettler,
Gewohnheitsdiebe, Sittlichkeitsverbrecher usw. geistig abnorm sind, kann
also nicht gezweifelt werden.
2. Bei der großen Häufigkeit geistiger Minderwertigkeiten unter
den untersuchten Kriminellen wird man naturgemäß eine erhebliche
Anzahl vermindert Zurechnungsfähiger unter ihnen erwarten
dürfen. Nur einige der erwähnten Forscher — Aschaffenburg , Bonhoeffer ,
Mönkemöüer, Riebeth — geben uns hierüber Auskunft. Aus ihren Be¬
rechnungen geht hervor, daß die Zahl der voll Zgen. bei den Sittlich-
heitsverbrechern, Großstadtbettlern, Korrigenden und Korrigendinnen
unter 50% bleibt, bei den Großstadtbettlern sogar auf 13% herabsinkt,
während die Zahl der Uzgen. zwischen 12 und 22, der v. Zgen. zwischen
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28,5 und 75% schwankt. Der Einwand, daß der Begriff v. Zkt. auf aller
festgestellten Minderwertigkeiten angewandt sei, trifft allenfalls auf die-
Bonhoefferschen Zahlen zu, nicht aber auf die Feststellungen der übrigen.
Forscher. Aschafferiburg rechnet sogar unter seine 99 voll Zgen. nicht,
weniger als 20 Imbezille, 17 Epileptiker, 10 Neurastheniker, Psychopathen,
und Hysteriker und 7 Trunkenbolde und nur 45 Gesunde, von denen noch'
12 betrunken waren.
3. Da aber trotzdem der Einwurf gemacht werden könnte, daB-
diese Zahlen zwar die v. Zgen., nibht aber die im VE. allein berücksichtigten
i. h. G. v. Zgen. wiedergeben, so habe ich eine Anzahl Forscher ausdrück¬
lich um Angaben über die Verbreitung der i. h. G. v. Zkt. im Sinne des.
VE. gebeten: die Zahlen schwanken zwischen etwa 35 und 63%.
Vierter Satz. — M. H.l Daß der Sachverständige künftig eine¬
unübersehbare Zahl von Personen als v. Zge. bezeichnen wird, daß be¬
sonders die Armeen unserer gewohnheitmäßig Asozialen und Antisozialen
zur guten Hälfte dazu gerechnet werden müssen, glaube ich überzeugend
nachgewiesen zu haben. Die konsequente Durchführung der Bestimmun¬
gen wird also davon abhängen, ob der Rat der Sachverständigen auch in
der Mehrzahl der einschlägigen Fälle eingeholt werden wird. Dann fällt,
aber die Frage: „Ist eine einigermaßen gleichmäßige Anwendung der Be¬
stimmungen über die v. Zkt. zu erwarten?“ mit einer anderen zusammen:
„Wird der Richter imstande sein, das Bestehen dieser geistigen Regelwidrig¬
keiten im Strafverfahren zu erkennen ?“ Damit kommen wir zu Satz 4..
1. Daß der Untersuchungsrichter im heutigen Prozesse der Per¬
sönlichkeit des Täters, seinen intellektuellen und moralischen Anlagen,,
den Einflüssen der Umwelt, seiner Erziehung und seiner Entwicklung nur
wenig Beachtung schenken kann, wird niemand bestreiten. Das hegt
nicht allein an dem geltenden Recht, das — wie das Schlagwort lautet —
die Tat bestraft und nicht den Täter, auch nicht an der dem Durchschnitts¬
richter eigenen Interesselosigkeit an psychologischen Problemen, sondern
an der praktischen Unmöglichkeit, sich die Grundlagen für die Beur¬
teilung einer Persönlichkeit in kurzer Zeit zu verschaffen. Aber selbst»
wo das in Ausnahmefällen geschehen kann, ist dadurch noch keine Garantie
dafür geboten, daß der Richter in der Hauptverhandlung die aktenmäßig-
niedergelegten Tatsachen sinnvoll verwertet und das Gebahren, das der
Angeklagte in dieser ungewöhnlichen und erregenden Situation an den
Tag legt, richtig versteht, daß m. a.W. der Eindruck der Tat und der
Eindruck des Täters ihn nicht zu Trugschlüssen verleitet. Dieser Gefahr
muß der Richter um so häufiger unterliegen, als er die Strafsache oft in
einer Eile und Flüchtigkeit erledigen muß, die hart an das grenzt, was
noch mit der Würde des Gerichtes vereinbar ist. Kurzum, man wird
9 . Liszt, 9 . Calker, Finger , Mittermaier, Aachaffenburg u. v. a. recht geben
müssen, eine Beurteilung des Charakters und der Gesinnung ist dem
Richter in der Mehrzahl der Fälle nicht möglich.
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2. Es wird freilich der Einwand gemacht werden können: Was für
die Beurteilung eines Durchschnittsverbrechers gilt, trifft nicht
ohne weiteres für die Erkennung geistiger Abnormitäten zu. Der
Einwand ist richtig, soweit es sich um sinnfällige Geisteskranke handelt,
falsch, soweit die geistige Abnormität weniger aufdringlich in Erscheinung
tritt. Der Richter wird Zweifel an der geistigen Gesundheit und Zu¬
rechnungsfähigkeit eines Beschuldigten hegen, wenn der Täter sich selbst
als geisteskrank bezeichnet oder von einem Dritten als solcher beurteilt
wird, wenn das Verhalten oder die Äußerungen des Rechtsbrechers irgend¬
wie ungeordnet oder auffällig sind, wenn die Tat als solche oder unter Be¬
rücksichtigrung des Täters, seiner Anlagen, Erziehung, Umgebung, Stellung,
kurz seiner Gesamtpersönlichkeit uneinfühlbar, unverständlich ist. Han¬
delt es sich aber um einen alltäglichen Rechtsbruch, etwa um einen Ge¬
legenheitsdiebstahl oder um eine Körperverletzung, wurde er von einem
Menschen begangen, bei dem die Tat unter Berücksichtigung seiner ge¬
sellschaftlichen Stellung und seines Berufes nicht aus dem Rahmen seiner
Persönlichkeit herauszufallen scheint, gibt er vielmehr ohne Umschweife
geordnete Auskunft über seine Person und seine Handlungen, gesteht er
seine Straftat ohne Zögern zu, und macht er selbst nicht den Versuch,
seine Zurechnungsfähigkeit in Zweifel zu setzen, so liegen für den Richter
keinerlei Gründe vor, an der vollen Verantwortlichkeit des Täters zu
zweifeln. Die Folge dävon ist, daß gegenwärtig unzählige, an schweren,
zu bleibenden, tiefgreifenden Defekten führenden Erkrankungen leidende
Personen jahraus jahrein von Strafanstalt zu Strafanstalt wandern und
Dutzende von Gerichtsverhandlungen über sich ergehen lassen, ohne daß
je ein Richter den Verdacht auf das Bestehen einer Geisteskrankheit
faßt. Wie aber müssen sich die Justizirrtümer häufen, wenn nicht nur
die verhältnismäßig seltenen, zumeist auffälligen Zustände, welche die freie
Willensbestimmung ausschließen, vom Richter berücksichtigt werden
sollen, sondern auch die unendlich verbreiteteren, in ihren Äußerungen
zumeist weit weniger auffallenden Zustände v. Zktl
3. Man könnte einwenden, daß das richterliche Verfahren einer Ver¬
tiefung und Verbreiterung fähig sei, daß eine gründlichere Vorbildung
des Richters, eine eingehendere Beschäftigung mit dem Beschuldigten, die
Erkennung auch der leichteren Formen geistiger Störung gewährleisten
würde. Allein alle diese Vorschläge können nur Rechtsbrechern zugute
kommen, die eine Straftat von einiger Erheblichkeit begangen haben;
die kleine Kriminalität wird stets die summarische und oberflächliche
Behandlung erfahren müssen, die ihr heutzutage zuteil wird. Auch bei
gründlicherer psychologischer Vorbildung wird der Richter in einer sehr
erheblichen Zahl von Fällen v. Zkt. nicht einmal den Verdacht auf das
Vorliegen eines solchen Zustandes fassen.
4. Von verschiedenen Seiten ist eine ständige Hinzuziehung des
ärztlichen Sachverständigen zu den Verhören und Verhandlungen
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Verhandlnngen psychiatrischer Vereine.
gefordert worden. Aber — ganz abgesehen von den vielen Einwänden,
die man gegen diesen Vorschlag machen kann — wesentlich gefördert
würde auch dadurch die Erkennung der geistigen Minderwertigkeit nicht.
Aschaffenburg hat wiederholt mit Recht darauf hingewiesen, wie schwierig
die Erkennung des angeborenen Schwachsinns im Laufe der Untersuchung
oder Verhandlung sei. Und dabei sind gerade die mit intellektuellen
Mängeln Behafteten diejenigen v. Zgen., die dem Arzte sowohl wie dem
Richter noch am leichtesten als krankhafte Persönlichkeiten auffallen
werden. Sehr viel schwieriger wird jedenfalls die Erkennung und Beur¬
teilung einer geistigen Regelwidrigkeit, wenn sie sich weniger in intellek¬
tuellen als vielmehr in affektiven Mängeln äußert. Affektive Abnormitäten
spielen jedoch als Zustände v. Zkt. eine große Rolle, und gerade diese —
die sogenannten eretischen Imbezillen, die hysterischen Charaktere, die
Epileptoiden — kurzum gerade diejenigen, um derentwillen die Ein¬
führung besonderer Bestimmungen in das Strafgesetzbuch gefordert wird,
gerade sie werden zumeist auch dann nicht erkannt werden, wenn ein
psychiatrischer Sachverständiger zu jeder Hauptversammlung zugezogen
werden sollte. Denn, wie Aschaffenburg an einer Stelle richtig bemerkt,
die Feststellung dieser Zustände durch den Arzt wird in der Regel nicht
bei der ersten Untersuchung möglich sein, sondern erst im Laufe längerer
Beobachtung. Der gewissenhafte Sachverständige wird daher die Verant¬
wortung einer Entscheidung sehr oft nicht auf sich nehmen können und
den Beschuldigten zu längerer Beobachtung einer Irrenanstalt überweisen
müssen. Hoppe vertritt sogar den Standpunkt, überhaupt in allen Fällen,
in denen v. Zkt. in Frage kommt, auf Anstaltsbeobachtung anzutragen,
da die Beurteilung dieser Grenzfälle stets Schwierigkeiten machen werde.
Der Vorschlag ist gewiß durchaus folgerichtig, praktisch aber mit Rück¬
sicht auf die Verbreitung der Zustände natürlich undurchführbar.
5. Mag aber die Entscheidung, ob v. Zkt. vorliegt oder nicht, vom
Gerichtsarzte oder vom Irrenanstaltsarzte gefällt werden, stets wird ein
gründliches Studium des Beschuldigten vorausgehen müssen. Dieses wird
aber nur in Ausnahmefällen möglich sein, nämlich einmal bei dem ver¬
mögenden Rechtsbrecher, dessen Verteidiger schon dafür sorgen wird,
daß die geistigen Mängel richtig erkannt und gewürdigt werden, und dann
bei Rechtsbrüchen von einiger Erheblichkeit. Wie sich diese in
ihrer Häufigkeit zu den kleineren Vergehen verhalten, zeigt Ihnen die
Kriminalstatistik. Aus ihr ersehen Sie, daß etwa 190 000 Strafen unter
3 Monaten Gefängnis, etwa 70 000 Strafen von 3 Monaten Gefängnis bis
zu lebenslänglichem Zuchthaus gegenüberstehen. Weitaus die Mehrzahl
aller Strafen — von denjenigen wegen Übertretung ganz abgesehen —
richten sich gegen leichte Vergehen. Eine Erkennung und Berück¬
sichtigung der v. Zkt. kann demnach in der Mehrzahl aller Straftaten
überhaupt nicht in Frage kommen. Ich teile demnach auch in diesem
Punkte die Ansicht Aschaffenburgs, die er gelegentlich einer Diskussion
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►er die Abschaffung des Strafmaßes äußerte, daß der Richter die Zu-
äja.d.e v. Zkt. zum großen Teile nicht festzustellen vermag.
M. H.I Folgende Tatsachen sind demnach erwiesen. Die geistigen
egpeliddrigkeiten, die v. Zkt. bedingen, liegen zumeist in einem Gebiete,
o ein scharfer Gegensatz zwischen Krankheit und Gesundheit nicht be-
.elit, und wo die Grenzbestimmung zwischen Norm und abnorm vom sub-
stctivren Ermessen stark beeinflußt wird. Das Gebiet der v. Zkt. ist un-
;okaeuier ausgedehnt, und auch die Einschränkung des gesetzlichen Begriffs
luf krankhafte Zustände, die im hohen Grade die freie Willensbestimmung
•renmindern, wird nicht verhindern, daß etwa die Hälfte unserer Gewohn¬
heitsverbrecher, Vagabunden, Prostituierten und Fürsorgezöglinge darunter-
~ällt. Die Flüchtigkeit des richterlichen Verfahrens zumal bei kleineren
Vergehen, besonders aber die klinische Eigenart der Zustände v. Zkt.
bringen es mit sich, daß sie nur in einem kleinen Bruchteile der einschlägi¬
gen Fälle erkannt und berücksichtigt werden können. Und schließlich
besteht bei der Dehnbarkeit, Unklarheit und Verschwommenheit des Be¬
griffes die Gefahr mißbräuchlicher Anwendung in hohem Maße.
M. H.! Mit diesen Feststellungen ist die Frage, ob die verminderte
Zurechnungsfähigkeit im Strafgesetze berücksichtigt werden soll, für
mich erledigt. Ich könnte daher davon absehen, auf die Behandlung
<ier v. Zgen. im Strafvollzug und auf die Sicherung der Gemeingefährlichen
einzugehen. Da aber Kahl u. a. die gesetzliche Einführung des Begriffs
gerade damit begründen, daß nur so die individualisierende Berücksichti¬
gung und die nachfolgende Sicherung der geistig Minderwertigen gewähr¬
leistet werden könne, so ist auch dieser Punkte noch mit wenigen Worten
zu gedenken.
Fünfter Satz. — Der VE. bestimmt, daß die Freiheitsstrafen an
v- Zgen. unter Berücksichtigung ihres Geisteszustandes und, soweit es
dieser erfordert, in besonderen, für sie ausschließlich bestimmten An¬
stalten oder Abteilungen vollstreckt werden.
1. Also ein Teil der v. Zgen. soll in den gewöhnlichen Strafvollzug
kommen, aber die Strafe soll unter Berücksichtigung ihres Geisteszustandes
vollstreckt werden. Individualisierende Behandlung ist ein beliebtes
Schlagwort in den Kreisen der Strafvollzugsbeamten, aber nicht viel mehr
als das. Ein vorschriftsmäßiger Strafvollzug und eine individualisierende
Behandlung sind miteinander unvereinbare Dinge, wenigstens wenn unter
Individualisieren das verstanden wird, was wir darunter verstehen. Und
dann, wer soll den v. Zgen. diese besondere Berücksichtigung angedeihen
lassen? Etwa die Anstaltsleiter, die in Preußen zum überwiegenden
Teile Unteroffiziere ohne Fachausbildung sind? Vielleicht in den 10 Mi¬
nuten, die der Beamte nach Krohne s Anordnung jedem Gefangenen
monatlich widmen soll? Oder die Aufseher, die — wie Krohne sich
äußerte — „einfachen, schlichten Menschen“, denen es nach seinem eigenen
Geständnis sehr schwer fällt, beizubringen, daß ein Untersuchungs-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
gefangener anders als ein Strafgefangener behandelt werden muß? Oder
gar der Arzt, der in den Gefängnissen im Nebenamt tätig ist und selbst
an der Minderwertigenabteilung in Brandenburg ein chirurgischer Spe-
zialist ohne jede psychiatrische Vorbildung ist?
Nein, eine individualisierende Behandlung im gewöhnlichen Straf¬
vollzüge ist an sich ein Unding.
2. Aus diesem Grunde sieht ja auch der VE. die Möglichkeit einer* .
Verwahrung in ausdrücklich für v. Zge. bestimmten Abteilungen oder
Anstalten vor. Aber, um sie dort unterbringen zu können, muß der Sach¬
verständige mit einiger Wahrscheinlichkeit Voraussagen können, daß sie
dieser besonderen Behandlung auch bedürfen. Und wie oft wird er das-
können ? Gewiß, wenn es sich um Epileptiker, um schwere Psychopathen,
oder gar um Personen handelt, die bereits in früheren Fällen ihre An¬
passungsunfähigkeit an den gewöhnlichen Strafvollzug bewiesen haben,
dann wird die Entscheidung für den Sachverständigen nicht allzu schwer¬
sein. Aber wie unsicher ist unsere Prognose in der überwiegenden Mehr¬
zahl der Fälle, über die wir uns künftig äußern müßten! Wie oft beob¬
achten wir, daß einerseits die schwersten Fälle geistiger Minderwertigkeit
den Strafvollzug überraschend gut überstehen, und wieviel häufiger noch,
daß anscheinend kaum vom Durchschnitt Abweichende unter ihm zu¬
sammenbrechen! Also die Gefahr besteht, daß — je nachdem die Sach¬
verständigen mit größerer oder geringerer Liberalität den Strafvollzug ia
Sonderabteilungen empfehlen werden — sich diese mit Personen füllen,
die dieser Rücksicht nicht eigentlich bedürften, oder aber, daß auch die
wenigen vom Richter als v. Zge. erkannten nach wie vor im Strafvollzug
das Kreuz der Beamten bleiben.
3. Aber setzen wir den Fall: der Gefangene sei auf das Gutachtea
des Sachverständigen in eine Sonderabteilung verbracht worden, welche
besondere Behandlung wird ihm dort zuteil werden? Wer sich ein Bild
davon machen will, besuche die Abteilung für Minderwertige in Branden¬
burg oder lese den Bericht ihres früheren Arztes Kluge und erinnere sich,
daß er sowohl wie Staiger erklärt haben, ohne scharfe Disziplinarstrafea
bei der Behandlung der geistig Minderwertigen nicht auskommen zu
können.
Kurzum, wenn wir den v. Zgen. eine ihrer Eigenart entsprechende
Behandlung gewähren wollen, so bedarf es zunächst einer durchgreifenden
Reform des Strafvollzuges.
Sechster Satz. — Und nun endlich noch einige Worte zu dem
letzten Satz, der die Sicherungsmaßregeln betrifft. Ich führe nicht
weiter aus, warum das Gericht über die Notwendigkeit der Sicherung in
vielen Fällen überhaupt kein Urteil abgeben kann, betone nicht nochmals
die Gründe, weshalb Heil- und Pflegeanstalten nicht zur Verwahrung
v. Zger. dienen können, gehe nicht auf die Schwierigkeiten ein, die sich
einer dauernden Verwahrung gewisser v. Zger. entgegenstellen, übergehe
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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dt die finanziellen Lasten, welche die Zurückhaltung gemeingefährlicher,
l «irdischer und intellektuell nicht wesentlich geschädigter Verbrecher in
ns~fc,alten ohne Ubelscharakter machen muß; nur einige Bedenken all-
iner Natur sollen noch geäußert werden.
1. Wir vergleichen die Sicherung v. zger. Verbrecher gern mit der
erwahrung gemeingefährlicher Geisteskranker. Allein der Vergleich
riift nicht ganz zu. Geisteskrankheiten entwickeln sich ganz überwiegend
inneren Ursachen; Zustände v. Zkt. sind in vielen Fällen das Produkt
lus krankhafter Veranlagung und Milieuschäden, die den abnormen
KLeim erst zur Entfaltung und Entwicklung brachten. Geisteskranke ver-
vsübüren wir vorwiegend aus Individualursachen; ein Paralytiker,
iin Katatoniker ist absolut unfähig, sich in Freiheit zu halten; zur Zurück¬
haltung eines Imbezillen, eines Epileptoiden zwingen uns in einer großen
Z.alil von Fällen in erster Linie Sozialursachen; gelänge es uns, für
verständnisvolle Behandlung und geeignete Arbeit zu finden, so könnten
sie ebenso wie viele andere ähnlich Geartete auf beschränktem Gebiete
Ordentliches leisten, und von ihrer Sicherung dürfte abgesehen werden.
Soziale Ursachen sind es aber endlich, die den Minderwertigen überhaupt
erst kriminell werden lassen; der vermögende Imbezille erfreut sich
zumeist der Achtung seiner Mitbürger.
Also kurz gesagt: Die Sicherungsmaßregeln wenden sich gegen den
vermögenlosen v. Zgen, da der besitzende vor der Gefahr der Ver¬
wahrlosung und Kriminalität leichter als jener geschützt werden kann.
Die Schuld wird bei beiden durch die gleiche Strafe vergolten. Nach ihrer
Vollstreckung kommt der eine in Freiheit oder in die Obhut der Familie,
der andere aber hat eine Freiheitsentziehung zu gewärtigen, die unter
Umständen weit schwerer zu ertragen ist als die überstandene Strafe.
M. H.l An diesen Tatsachen wird m. E. die reichliche Anwendung der
Sicherungsmaßregeln, die Kahl u. a. erwarten, scheitern.
Aber noch eins: Die Verwahrung des zu einer milden Strafe Ver¬
urteilten soll erfolgen, „wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert“. Was
heißt das ? Erfordert es die öffentliche Sicherheit, daß beispielweise ein
Bettler, ein'Landstreicher verwahrt wird? Im allgemeinen wohl nicht.
Wenn nun aber ein derartiger asozialer Müßiggänger einen Dieb¬
stahl begeht? Auch dann wird man kaum von einer Gefährdung der
öffentlichen .Sicherheit sprechen können. Man wird also den v. zgen.
Bettler oder Dieb milder strafen und laufen lassen ?! Sie sehen, das wird
erst recht nicht möglich sein; daß ein Müßiggänger milder bestraft wird
als ein Vollwertiger, der aus Not, vielleicht in unverschuldeter Arbeitslosig¬
keit stahl, widerstrebt dem Rechtsgefühl der weitesten Kreise. Man wird
also auch den v. zgen. Bettler, der eine Körperverletzung, einen Diebstahl
begangen, da die Gefahr des Rückfalls sehr groß ist, auf unabsehbare Zeit
verwahren müssen. Das bedeutet die dauernde Sicherung von etwa
30- bis 40 000 professionellen Bettlern und Landstreichern!
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708 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
3. Solche Fälle mögen Kahl und Aschaffenburg vorgeschwebt haben,
als sie als einen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten empfahlen, die An¬
wendung der Bestimmungen über die v. Zkt. fakultativ zu gestalten,
es dem Ermessen des Richters zu überlassen, wie er den Rechtsbrecher
behandeln will. Das ist aber ein Kompromiß von so bedenklichen Konse¬
quenzen, daß ihn der VE. mit Recht entschieden abgelehnt hat und ich es
für ausgeschlossen halte, daß eine Volksvertretung ihn je zum Gesetze
erheben wird.
Siebenter Satz. — M. H.! Mein Thema lautete: Die v. Zkt.
im VE. Es ist daher nicht mehr meine Aufgabe, im einzelnen auszuführen,
in welcher Weise das unbedingt erstrebenswerte Ziel — Berücksichtigung
der v. Zgen. im Strafvollzüge, ihre Sicherung nach Ablauf der Strafe,
soweit sie gefährlich sind — ohne Gefährdung der Rechtssicherheit erreicht
werden kann. Nur die Richtung, in welcher die Reform sich bewegen
müßte, erlauben Sie mir noch anzudeuten.
1. Vorausschicken will ich, daß Longard u. a. hervorhoben, daß
der Kreis der Unzurechnungsfähigkeit weiter gefaßt werden könne, wenn
der Richter die Garantie hätte, daß der freigesprechene Geisteskranke im
Falle seiner Gefährlichkeit auch in einer Anstalt verwahrt werden könnte.
Diese Gewähr bietet der VE., und auch ich bin überzeugt, daß die Zahl
der wegen Geisteskrankheit Freigesprochenen allmählich wachsen wird,
viel mehr als der VE. auf Grund mißverstandener Angaben Heilbronners
annimmt. Denn der Begriff der Zurechnungsfähigkeit ist kein feststehen¬
der, sondern im höchsten Maße entwicklungsfähiger, seine Um¬
grenzung ist abhängig von dem kulturellen und wissenschaftlichen Niveau
des Volkes. Wie schnell die Entwicklung vor sich geht, werden die Älteren
von Ihnen, meine Herren, aus eigener Erfahrung bestätigen und Straßmann
zugeben müssen, daß die Fälle, mit denen Kirn vor 15 Jahren die Not¬
wendigkeit des gesetzlichen Begriffs „v. Zkt.“ zu begründen suchte, daß
diese Fälle heutigen Tages zumeist zu den Uzgen. gerechnet werden würden.
2. Also ein Teil der i. h. G. v. Zgen. würde auch ohne Einführung
der v. Zkt. einer besonderen Behandlung und Sicherung teilhaftig werden
können. Die große Masse freilich nicht. Ihre Erkennung und Berück¬
sichtigung ist nur von der Stelle aus möglich, wo Zeit und Gelegen¬
heit dazu gegeben ist, nämlich, wie besonders Mendel und später auch
Bonhoeffer mit Nachdruck betont haben, im Strafvollzug.
Die Entwicklung unserer Ziele wäre somit auf folgenden Grundlagen
möglich:
a) Berücksichtigung mildernder Umstände oder besonders leichter
Fälle bei allen Straftaten.
b) Reform des Strafvollzugs an Haupt und Gliedern.
c) Schaffung eines Sicherungsgesetzes.
3. So würden künftig die geistigen Mängel, soweit sie der Richter
zu erkennen vermag, ebenso wie hochgradiger Affekt, Verführung, Not,
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offenes Geständnis, Reue über die Tat, bei allen Straftaten mildernd
im Strafmaß berücksichtigt werden können. An die Stelle der dilettanten-
haften Verquickung von Verwalter, Landwirt, Fabrikant und Kerker¬
meister würde künftig der wissenschaftlich gebildete Strafvollzugsbeamte
treten müssen. Der Strafvollzug würde nicht mehr ausschließlich der
Übelszufügung dienen, sondern dem Studium des Rechtsbrechers, der
Erforschung der Ursachen seines Scheiterns, der Suche nach Möglich¬
keiten, ihn vor Rückfällen zu schützen, d. h. der Einleitung einer in¬
dividualisierenden Fürsorge, wie sie bisher nicht besteht, da sie nur auf
Grund eines Erfassens der Persönlichkeit möglich ist. Hier im Strafvoll¬
züge wird der Ort der Auslese der aus körperlichen Gründen Siechen
sowie der infolge geistiger Mängel zu einer selbständigen sozialen Lebens¬
führung Untauglichen sein. Hier erst kann die von Kraepelin als ideal
hingestellte,Auflösung der Rechtsbrecher in ihre klinischen Gruppen ge¬
schehen, d. h. die Entscheidung stattfinden, in welcher Weise die Fürsorge
für den v. Zgen. stattfinden soll, ob die einfache Überwachung genügt,
ob die Verwahrung in einer der freiwilligen Arbeiterkolonie entsprechenden
Anstalt mit möglichst freier Behandlung wünschenswert oder ob die Ein-
sperrung in einem sogenannten festen Hause nicht zu umgehen ist. Die
Sicherung muß aber mit allen Garantien richterlicher Unabhängigkeit
umgeben und an ein der Entmündigung nachgebildetes Verfahren ge¬
bunden sein.
4. Auf diese Weise wird verhütet, daß unsere Rechtsprechung
plötzlich durch Einführung eines so bedenklichen Begriffs Gefahr läuft,
in ihren Grundfesten erschüttert zu werden, und dafür gesorgt, daß eine
allmähliche Entwicklung der Sicherung gemeingefährlicher v. Zger.
stattfindet. Es wird verhindert, daß Maßregeln in das Strafgesetzbuch
hineingetragen werden, die streng genommen nichts mit ihm zu tun haben,
und daß der Richter vor Aufgaben gestellt wird, die er nicht zu lösen
vermag. Und gerade denjenigen von Ihnen, denen die Abschaffung des
Strafmaßes als Ideal vorschwebt, eben weil der Richter die Persönlichkeit
des Rechtsbrechers nicht zu erfassen vermag, müßte diese Lösung des
Problems der v. Zkt. als die befriedigendste, ja als die einzig mögliche
erscheinen. —
Es wird beschlossen, die Besprechung der Referate mit der der beiden
folgenden Vorträge zu vereinigen.
Jtei/?-Tübingen: Über verminderte Zurechnungsfähigkeit
bei Schwerverbrechern.
Von den 13t Gefangenen des Zuchthauses zu Ludwigsburg, die
Vortr. eingehend untersucht hat, erwiesen sich nur 43 als einigermaßen
normal, selbst wenn man ethische Defekte ganz außer Acht läßt. Unter
den zurückbleibenden 88 lassen sich 36 als besonders schwer defekt heraus¬
heben. Sie würden bei engster Einschränkung der v. Zkt. unter diesen
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Paragraphen fallen. Aber trotzdem es sich bei ihnen um schwer patho¬
logische Menschen handelt, ist nur 12 mal vor Gericht an ärztliche Begut¬
achtung gedacht und nur 6 mal v. Zkt. anerkannt worden. Die Veran¬
lassung zur Begutachtung war in 4 Fällen die vorausgegangene Gefängnis¬
psychose. Von den zurückbleibenden 52 mit deutlichen pathologischen
Erscheinungen sind überhaupt nur 2 gerichtsärztlich untersucht und nur
bei einem seine pathologische Persönlichkeit berücksichtigt worden. Diese
Tatsachen lehren, daß die Erkennung der v. Zkt. im Gerichtsverfahren
vor der Hand nur vom Zufall abhängig ist, und zeigen, welche Schwierig¬
keiten einer praktischen Anwendung des Paragraphen über die v. Zkt.
heute wenigstens noch entgegenstehen. Noch deutlicher lehrt das der
Strafvollzug. Von den 52 pathologisch Veranlagten, die nicht mehr zu
denv. Zgen. gerechnet wurden, haben sich nur 23 in der Strafanstalt ordent¬
lich geführt. Neben schwierigen, unbotmäßigen Elementen, teilweise mit
Beeinträchtigungsideen, finden sich 13, die richtige Gefängnispsychosen
durchgemacht haben. So bleibt bei enger Fassung der v. Zkt. ein großer
Prozentsatz (etwa die Hälfte) der schwierigen Elemente im Strafvollzug
zurück. Soll das vermieden werden, so müßten alle Verbrecher mit ausge¬
sprochenen pathologischen Zügen zu den v. Zgen. gerechnet werden.
Damit entzögen wir aber drei Viertel der Zuchthausinsassen dem normalen
Strafvollzug, was natürlich ausgeschlossen ist. Ähnliches ergibt sich für
die Sicherung der Gesellschaft. Denn während ein ziemlich großer Prozent¬
satz der schwer Defekten, als v. Zge. angenommen, verhältnismäßig harm¬
los ist, finden sich gerade unter den pathologisch Veranlagten, die bei enger
Fassung nicht unter die v. Zgen. fallen, viele der schwer gemeingefähr¬
lichen Gewohnheitsverbrecher. So kann uns die Einführung des Para¬
graphen über die v. Zkt. wenigstens bei den Schwerverbrechern praktisch
weder für den Strafvollzug noch für die Sicherung der Gesellschaft einen
Erfolg versprechen.
Wo/fenfcrg-Straßburg: Über psychiatrische Sachverständi¬
gentätigkeit mit besonderer Berücksichtigung der Minder¬
zurechnungsfähigen.
Seit der Hallenser Tagung dieses Vereins vor 16 Jahren hat das
Studium der psychischen Grenzzustände eine ziemlich klare Vorstellung
von dem für die verminderte Zurechnungsfähigkeit in Betracht kommen¬
den klinischen Material und der Vorentwurf des Strafgesetzbuches eine
bestimmte Umschreibung des Begriffs der verminderten Zurechnungs¬
fähigkeit gebracht. Die in Betracht kommenden praktischen Fragen werden
sich zumeist erst lösen lassen, wenn der Entwurf Gesetz geworden ist.
Doch gibt es immerhin einige Möglichkeiten, jetzt schon zu einer ungefähren
Schätzung der Wirkung des § 63* zu kommen. Die Vorredner haben dieses
an ihrem Material gezeigt; Vortr. hat zu diesem Zweck 106 Fälle, die in
den letzten Jahren in der Straßburger Klinik strafrechtlich begutachtet
wurden, retrospektiv durchgearbeitet, um auf diese Weise ein Urteil
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darüber zu gewinnen, wie oft der Begriff der verminderten Zurechnungs¬
fähigkeit im Sinne des § 63* wohl Anwendung finden könnte. Nach Abzug
von 3 Fällen, in denen ein non liquet angenommen werden mußte, ergaben
sich 30, die schlechthin als zurechnungsfähig begutachtet wurden, 25 un¬
zurechnungsfähige, wozu aber noch 11 mit erheblichen Zweifeln kommen,
und endlich 37 Fälle, die zwar zurechnungsfähig, aber mit mehr oder
weniger erheblichen psychischen Mängeln behaftet waren und mit mildern¬
den Umständen verurteilt wurden. Es stehen also den 36 Unzurechnungs¬
fähigen 67 Zurechnungsfähige gegenüber, die aber auch noch die 37 in
irgendeiner Richtung minderwertigen enthalten. Die gegebenen Zahlen
entsprechen annähernd auch den Prozentziffern.
Diese Gruppe von 67 Fällen hat der Vortr. durchgearbeitet, um
festzustellen, welche von ihnen im Sinne des Vorentwurfs als vermindert
zurechnungsfähig anzusehen wären. Dabei ergaben sich unter den 37
Minderwertigen nur 11, bei denen von einer in hohem Grade verminderten
Zurechnungsfähigkeit gesprochen werden konnte, und davon gingen noch
4 ab, die der Unzurechnungsfähigkeit ganz nahe standen. Demgegenüber
stehen 26, bei denen noch psychische Mängel von einer gewissen Erheblich¬
keit vorhanden waren, und 30, bei denen auch davon nicht die Rede sein
konnte.
Diese Zahlen sind sehr klein, wenn man sie mit den von den Vor¬
rednern gewonnenen vergleicht. Dies liegt vielleicht an dem benutzten
Material, welches eine verhältnismäßig große Zahl ganz leichter psychischer
Abweichungen enthält. Die obigen Angaben bedürfen demnach der
; Nachprüfung an einem größeren und vielseitigeren Material, sie sind aber
( an sich doch auch nicht ohne Interesse, da sie zu beweisen scheinen, daß
' die gefürchtete ungeheure Ausdehnung der verminderten Zurechnungs-
| fähigkeit dann nicht eintreten wird, wenn dieser Begriff eng genug gefaßt
| wird. Dazu ist allerdings eine Sicherheit der Beurteilung und ein Maß
der Erfahrung notwendig, welches besonders tüchtige psychiatrische Sach¬
verständige voraussetzt.
In seinen weiteren Ausführungen polemisiert der Vortr. unter Hin¬
weis auf die Zahl von Exkulpierungen wegen Geisteskrankheit gegen die
Vorwürfe, welche der psychiatrischen Sachverständigentätigkeit noch in
| neuester Zeit im Reichstag erhoben worden sind, und geht dann speziell
1 Auf einige Punkte ein, die von großer praktischer Bedeutung sind, nämlich:
1 die Auswahl der psychiatrischen Sachverständigen durch die Gerichte,
die psychiatrische Ausbildung der Ärzte und Richter, endlich die Auf¬
klärung des Publikums in psychiatrischen Dingen.
(Der Vortrag wird an anderer Stelle ausführlich veröffentlicht.)
Vor der Diskussion bemerkt der Vorsitzende als Darlegung der
bisherigen Tätigkeit des Vereins in der Richtung der geminderten Zu¬
rechnungsfähigkeit : In Stuttgart wurde 1910 in These III (A. Z. 68,
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
S. 544) bei Angeschuldigten mit mäßigen psychischen Mängeln, die der
Gruppe v. Zger. zugeteilt werden können, nur verlangt: möglichste Freiheit
des Richters, weitere eingehende Erwägungen über die praktischen Siche¬
rungsmaßregeln, dabei wurde Ausbildung von Hilfs- und Fürsorgema߬
nahmen betont. Darauf konnten sich auch die einigen, die Gegner der
bisherigen Vorschläge über die Abgrenzung und strafrechtliche Behandlung
der sogenannten gemind. Zgen. waren. Diesmal sind formulierte Sätze
nur von Herrn Wilmanns zur Sitzung .vorgelegt. Diese Sätze erwähnen
in den ersten Nummern außer den statistischen Angaben die Schwierig¬
keiten für Richter und Sachverständige, die wohl anerkannt werden
können, ohne zur grundsätzlichen Ablehnung der bisherigen gesetz¬
geberischen Vorschläge zu führen. Die These 7 verdient daher das be¬
sondere Augenmerk in der jetzt zu eröffnenden Diskussion.
Schäfer -Hamburg gibt einen statistischen Beitrag zu der Frage,
wieviel Plätze nötig sein würden, wenn man „Zwischenanstalten“ für
vermindert Zurechnungsfähige einführen würde. Unter den ca. 6000 in
den Hamburger Gefängnissen und Irrenanstalten untergebrachten Personen
sind nach den Angaben der (psychiatrisch gebildeten) Ärzte ca. 300 ver¬
mindert Zurechnungsfähige. Für diese Zahl mindestens würden also
Plätze in einer „Zwischenanstalt“ vorzusehen sein. Ref. nimmt an, daß
die Zahl noch erheblich größer sein würde.
Prof. v. Ca/Arer-Straßburg spricht den Referenten herzlichen Dank
für die Anregungen, die er als Professor des Strafrechts und als Mitglied
des Reichstags aus ihren Ausführungen empfangen hat, aus. Der Gesetz¬
geber könne seinerseits keine Probleme lösen, er sei auf die Vorarbeit der
Sachverständigen auf allen Gebieten angewiesen, v. C. bittet, auch die
Frage in die Diskussion zu ziehen, ob schon vor der Reform des Straf¬
gesetzbuchs die spezielle Frage des Schutzes der Gesellschaft gegen gemein¬
gefährliche Geisteskranke auf dem Wege der Gesetzgebung geregelt
werden solle.
Ao/igard-Sigmaringen: Die heutigen Ausführungen haben mir
wiederum die großen Bedenken und Schwierigkeiten vor Augen geführt,
die sich der Einführung der v. Zkt. in das St.-G.-B. entgegenstellen. Daß
dadurch die strenge Handhabung des Rechts gefährdet wird, war immer
meine Ansicht. Wo geistige Mängel vorhanden sind, welche deshalb die
Zufechnungsfähigkeit oft zweifelhaft erscheinen lassen, da vermißt der
Richter, wie ich vielfach von praktischen Juristen hörte, eine solche
Zwischenbestimmung, und hauptsächlich aus diesem Gesichtspunkte
heraus sind viele Juristen für Einführung der v. Zkt. Die soziale Seite
liegt ihnen viel ferner.
Nun haben die heutigen Darlegungen gezeigt, daß doch in einem
großen Prozentsatz von Rechtsbrechern geistige Minderwertigkeit zu
konstatieren ist, mögen die Prozentzahlen auch schwanken. Sie werden
noch mehr schwanken in foro, und die Behandlung wird hier weit ungleich-
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mäßiger werden, wie dies jetzt der Fall ist unter dem § 51 St.-G.-B., wo
wir uns doch nicht auf diesem unsicheren Boden der v. Zkt. befinden.
Die Bestimmung der v. Zkt. ist zweifellos von tief einschneidender Be¬
deutung, weit mehr, als wohl gemeiniglich angenommen wird. Wie schwierig
wird nach allen Seiten hin der Stand der ärztlichen Sachverständigen,
namentlich bei den Schwurgerichten, wo mit allen zu Gebote stehenden
Mitteln auf die Geschworenen einzuwirken gesucht wird. Das Ansehen
der Psychiatrie und ihrer Vertreter, welches, wie jeder Tag zeigt, immer
noch labil ist, wird dadurch nicht gefördert. Es ist auch für das Rechts¬
bewußtsein und das gesunde Volksempfinden mit seinem strengen Ver¬
antwortlichkeitsgefühl vor dem Gesetz nicht günstig, wenn allzusehr,
d. h. über das notwendige Bedürfnis hinaus, das Krankhafte in die Rechts¬
pflege hineingetragen wird.
Daß bei der Hauptverhandlung selbst nicht schon über die spätere
Behandlung und Sicherung geurteilt und bestimmt werden kann, ist auch
meine Meinung. Wir dürfen uns auch von der individuellen Behandlung
namentlich, wo so hohe Zahlen in Betracht kommen, nicht allzuviel ver¬
sprechen. Ich habe schon vor Jahren ausgesprochen, daß sich ein großer
Teil geistig Minderwertiger auch im gewöhnlichen Strafvollzug ganz gut
macht; ich wurde dazu damals veranlaßt durch die allzu weitgehende
Forderung einiger Irrenärzte, möglichst alle diese Individuen in psych¬
iatrische Obhut und Einfluß zu bekommen. Diese Zeit ist ja jetzt aller¬
dings vorüber. Andererseits habe ich aber stets betont, daß die Ein¬
richtungen durchaus nicht genügen, und daß es hohe Zeit ist, daß etwas
Gründliches geschehe. Ist der Strafvollzug nach dieser Richtung zweck¬
entsprechend ausgebaut und eingerichtet, so ist ein wesentlicher Teil
dessen, was durch die Bestimmung der v. Zkt. erreicht werden soll, erfüllt.
Dann hört auch das von uns allen beklagte Hin- und Herschieben von
Minderwertigen, welches nur ein Beweis ist für die Mangelhaftigkeit des
Strafvollzugs, auf. Wir wissen ja doch, daß ein Teil der Minderwertigen
den normalen Strafvollzug nicht erträgt, und daß hauptsächlich durch
ihn jene schweren Krankheitserscheinungen ausgelöst werden, welche
schließlich die Überführung in die Irrenanstalten notwendig machen.
Diese Maßregel wirkt schädlich nach jeder Richtung, schädlich für die
Irrenanstalten, schädlich für die Minderwertigen selbst und auch schädlich
für den Strafvollzug, der wieder in Aussicht steht. Von einer ruhigen,
sachgemäßen Behandlung kann ja auch unter den besonderen Umständen
in unseren Anstalten meist gar keine Rede sein.
Wir alle erstreben ja das gleiche Ziel, zweckentsprechende Behand¬
lung und Schutz der Gesellschaft. Beide Forderungen sind heute nicht
erfüllt. Nur über das „Wie“ trennen sich unsere Wege.
Weygandt- Hamburg: Klinisch diagnostizierbare Fälle psychischer
Erkrankung sind nicht eo ipso als unzurechnungsfähig anzusehen; es gibt
formes frustes vieler Psychosen, leicht manische und depressive Fälle,
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 4/5. 49
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714
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
beginnende Lues cerebri und Hirnarteriosklerose usw\, die forensisch als
vermindert zurechnungsfähig gelten müssen.
Wilmanns wandte sich gegen das Unklare des Begriffs der v. Zkt.
Die Abgrenzungsschwierigkeit teilt dieser mit vielen unentbehrlichen Be¬
griffen, wie z. B. Gemeingefährlichkeit. Im Bereich der v. Zkt. gibt es
ifatürlich die verschiedensten Grade, so daß man an eine prozentuale Ab¬
schätzung denken könnte. Bereits F. J. Gail wies vor 100 Jahren darauf
hin. Mittelstufen stellen auch die verminderte Geschäftsfähigkeit im
bürgerlichen Recht, die verminderte Erwerbsfähigkeit im Versicherungs¬
recht, die verminderte Militärfähigkeit usw. dar.
Es kommt darauf an, ob der jetzige Zustand befriedigend ist, was
sich schwer behaupten läßt. Ein bedenklicher Ausweg ist die Reichs -
gerichtsentscheidung vom 23. Oktober 1890, wonach schon bei be¬
gründeten Zweifeln der Zurechnungsfähigkeit das Urteil zugunsten des
Betreffenden lauten muß, da die Zurechnungsfähigkeit ein Bestandteil
des Schuldnachweises ist.
Selbstverständlich ist die isolierte Anerkennung der verminderten
Zurechnungsfähigkeit unzureichend ohne tiefgreifende Änderung des
Strafvollzugs und Einführung von Sicherungsmaßregeln.
In der Kritik der Flüchtigkeit des richterlichen Verfahrens sollten wir
Zurückhaltung üben. Die vom zweiten Ref. erwähnte mögliche Vorzug¬
stellung der vermögenden Rechtsbrecher könnte bedenklich mißverstanden
werden. Mag auch der Reiche sich einen renommierten Verteidiger aus¬
suchen, während der Arme vielfach auf den Offizialverteidiger angewiesen
ist, so kommen doch derartige Differenzen für den Ausfall der psychiatri¬
schen Begutachtung in keiner Weise in Betracht.
Jede Reform bringt neue Schwierigkeiten, das darf kein Hinderungs-
grund sein; das Bessere ist doch der Feind des weniger Guten.
i/eü/mcA-Karlsruhe: Die drei wirklich relevanten Bedenken sind:
die Zahl der g. Zgen. und die Dauer ihrer Beurteilung, die zur Obstru-
ierung des Strafprozesses, gerade des Bagatellprozesses, führen wird
(ähnlich wie im Zivilrecht); die Unverbesserlichkeit eines großen Teils
der g. Zgen., die zu einem Bankerott der Heilbehandlung und damit zu
sehr bedenklichen Schädigungen unserer Bestrebungen auf Reform des
allgemeinen Strafvollzugs führen muß; endlich die schlechte Wirkung,
welche die Abstempelung als g. Zge. gerade auf die besserungsfähigen
g. Zgen. als Enthemmungsmoment ausüben muß, ähnlich wie der Renten¬
anspruch in der Sozialversicherung als Krankheitssuggestion. Die
richtige Stellung zu den g. Zgen. kann nicht zuerst im Strafrecht, sondern
nur vom reformierten Strafvollzug her gewonnen werden, andernfalls steht
die Reformpyramide auf der Spitze.
Wilmanns (Schlußwort) stellt fest, daß seine Anschauungen keine
Widerlegungen gefunden haben, und begrüßt die Untersuchungen von
Reiß als eine wertvolle Bestätigung der geäußerten Bedenken. Zum
Schlüsse betont er noch, daß die Berücksichtigung einer verminderten Zu-
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iun££sfähigkeit in früheren Gesetzbüchern nicht für die Einführung
Begriffes in das künftige Strafrecht herangezogen werden dürfe, da
Begriff eine ganz andere Bedeutung bekommen habe. Während man
; als Zustände v. Zkt. in erster Linie die krankhaften Variationen der
m verstehe, seien in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auch
kunende Geisteskrankheiten dazugezählt worden, Zustände, die nach
tiger Auffassung die Verantwortlichkeit ausschließen. Auch waren
Gründe, welche den Gesetzgeber zur Einführung des Begriffes bestimm -
, ganz andere als diejenigen, mit denen jetzt die Notwendigkeit der
rücksichtigung der v. Zkt. gestützt wird. In den Strafgesetzbüchern
irttembergs, Sachsens u. a. wurde ihre Einführung damit begründet,
ß nur auf diese Weise der allzuleichten Annahme der Unzurechnungs-
ligkeit entgegengewirkt werden könne. Die Juristen des 19. Jahr-
inderts forderten somit die Möglichkeit, auch die Tat eines Geistes -
ranken strafrechtlich zu ahnden, die Psychiater des 20. Jahrhunderts
?anspruchen eine andere Behandlung des zurechnungsfähigen, aber
egen seiner Minderwertigkeit weniger schuldhaften Rechtsbrechers. Das
t ein grundlegender Unterschied.
Aschaffenburg (Schlußwort): Alle gegen die v. Zkt. vorgebrachten
Jründe richten sich nicht gegen das Bestehen von Zuständen, die eine
lerabminderung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bedingen, sondern
;egen die Schwierigkeiten, sie zu erkennen, sie in einer für den Richter
rerwendbaren Formel zu kennzeichnen und vor allem, für sie die im
Interesse der Rechtssicherheit erforderlichen zweckmäßigsten Rechts¬
folgen zu finden. Aber alle diese Bedenken, denen ich mich durchaus
nicht verschließe, können doch die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß
solche Zustände überaus häufig Vorkommen.
So wenig wir auf die Straflosigkeit der Straftaten Unzurechnungs¬
fähiger verzichten werden, weil die Freisprechung den Gesellschafts -
schütz außer Acht läßt, sondern daraus nur die Folgerung ableiten, daß
neben der Exkulpierung noch weitere, sichernde Maßnahmen vorgesehen
werden müssen, so wenig dürfen uns die Schwierigkeiten, die einer gesetz¬
lichen Anerkennung der verminderten Zurechnungsfähigkeit entgegen-
stehen, hindern, diese Anerkennung zu verlangen, und gerade diejenigen,
die wie Wümanns sich um die klinische Stellung der psychopathischen Zu*
stände verdient gemacht haben, sollten doch nicht vor der konsequenten
Durchführung ihrer Auffassung und deren Übertragung auf die rechtlichen
und sozialen Verhältnisse zurückscheuen.
Ich habe bereits in meinem Referat darauf hingewiesen, daß sich die
Abweichungen von der Norm, die einer Minderung der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit entsprechen, vielfach erst im Laufe des Strafvollzugs
feststellen lassen, und daß insbesondere erst durch diese Beobachtung
Anhaltpunkte dafür hervortreten werden, welche Maßnahmen im Interesse
des Gesellschaftsschutzes und des abnormen Menschen selbst angebracht
sind. Deshalb wird ein Teil und vielleicht der wichtigste der Entscheidung
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
über das weitere Schicksal der v. Zgen. erst währen d der Strafverbüßung
getroffen werden können. Ich kann es verstehen, wenn die Juristen sich
dem widersetzen, weil sie darin den ersten Schritt zur Abschaffung des.
Strafmaßes, die erste Etappe des Weges zum unbestimmten Strafmaß
erblicken; aber es ist mir unverständlich, weshalb wir uns als Psychiater
dem widersetzen sollen.
Wer auch nur einigermaßen die Literatur über unser Thema kennt,
wird zugeben müssen, daß auch die Kreise reformfeindlicher Juristen gegen
die Anerkennung der v. Zkt. keinen ernsten Widerstand mehr leisten; den
besten Beweis liefert der doch gewiß nicht allzu moderne Vorentwurf, der,
wie die meisten alten und durchweg alle neuen Strafgesetzbücher und Ent¬
würfe, die v. Zkt. gesetzlich zu regeln versucht hat. Sollen wir nun, nach¬
dem wir in jahrelanger mühsamer Arbeit den Karren ins Rollen gebracht
haben, nun hemmend in die Speichen eingreifen, weil die Lösung des Vor¬
entwurfs unbrauchbar, eine befriedigende Lösung schwierig ist? Ich
glaube, das wäre sehr verkehrt.
Die einfachste Lösung wäre wohl die, jede Straftat — ohne weit¬
gehende Rücksicht auf die sonst üblichen strafgesetzlichen Rechtsfolgen —
zum Ausgangspunkt der Behandlungsart zu machen, die am meisten Erfolg
verspricht. Treten dadurch bei einer Anzahl der Grenzfälle die ärztlichen
Wünsche in den Vordergrund, so kann das vielleicht einen in starrer Theorie
auf der Fiktion gerechter Vergeltung beharrenden Juristen schrecken, sicher
aber keinen Kriminalpolitiker und doch wohl erst recht keinen Mediziner.
Und deshalb möchte ich zum Schlüsse nochmals betonen, daß nicht senti¬
mentale Anwandlungen uns zwingen, auf der gesetzlichen Anerkennung der
v. Zkt. zu bestehen, sondern die unerträglichen Verhältnisse, die bei der
Nichtanerkennung unvermeidlich sind, und unter denen die vermindert
Zurechnungsfähigen, die Strafrechtspflege und der Strafvollzug, am
meisten aber die öffentliche Rechtssicherheit leiden. J )
Vorsitzender: Wie gegenüber dem allgemein anerkannten Be¬
dürfnis, auch die geringeren psychischen Mängel bei Angeklagten zu
berücksichtigen, den praktischen Forderungen genügt wird, steht noch
dahin. Daß die Entscheidung grundsätzlich in den Strafvollzug verlegt
wird, so daß nur eine fast der Verurteilung mit unbestimmter Frist ähn¬
liche Anordnung geschaffen würde, kann wohl kaum erwartet werden.
Dagegen erscheint sowohl der Verzicht auf die gerichtlich ausgesprochene
Sicherung als die nachträgliche Anwendung der Sicherung erreichbar.
Hoffentlich wird die heutige Aussprache für die weitere Entwicklung nicht
wertlos bleiben.
2. Sitzung,
24. April, 2 Uhr nachmittags.
Der Vorsitzende schlägt im Namen des Vorstandes vor, die nächste
Jahresversammlung in Göttingen am 23. und 24. April 1915 abzu-
J ) Vgl. dazu Görmg-Gießen, dieses Heft, Kleinere Mitteilungen.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
717
und als Referat zu bestimmen: Die Fürsorge für die Geisteskranken
rrhalb und unabhängig von den Anstalten. Dem wird zugestimmt,
satzunggemäß ausscheidenden Vorstandmitglieder Siemens und
jtser werden, da sich kein Widerspruch erhebt, durch Zuruf wieder-
äLhlt. —
Der Antrag Kreuser , unter der Voraussetzung, daß die Natur for-
h erversammlung künftig nur alle 2 Jahre stattfindet, in diesen Jahren
äLchst versuchweise die Jahresversammlung unseres Vereins ausfallen
lassen und den Vorstand zu ermächtigen, hierüber mit dem Vorstand
• Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte ein Abkommen zu
*einbaren, das der nächsten Jahresversammlung (1915) zur Genehmigung
rzulegen ist 1 ), wird nach kurzer Begründung durch den Antragsteller auf
erschlag des Vorsitzenden ohne weitere Besprechung angenommen. —
Der Antrag Weygandt: der Verein wolle einen Beitrag bewilligen
i einer dem Andenken Ludwig Meyers, des Vorkämpfers des no-restraint
i Deutschland, und Wilhelm Reyes gewidmeten künstlerischen Ehrung,
ie im Park der Irrenanstalt Friedrichsberg (in Form von Medaillons oder
lermen) aufzustellen wäre, wird abgelehnt, nachdem der Vorsitzende im
tarnen des Vorstandes prinzipielle Bedenken gegen eine derartige Beitrag-
>ewilligung geäußert hat. —
Über das geplante Forschungsinstitut für Psychiatrie kann
ler Vorsitzende zurzeit genauere Angaben nicht machen; es bestehe aller-
lings die Hoffnung, daß der Plan vielleicht in abgeänderter Form und
beschränktem Umfange verwirklicht werde. —
Fweher -Wiesloch berichtet folgendes:
Auf Grund meines Vortrags: „Berufsgeheimnis und Herausgabe der
Krankengeschichten“ (Allg. Ztschr. f. Psych., Bd. 71, S. 464 ff.) faßte die
43. Versammlung der südwestdeutschen Irrenärzte in Karls¬
ruhe am 23. November 1913 den Beschluß, an den Vorstand des deut¬
schen Vereins für Psychiatrie mit der Bitte heranzugehen, die im
Vortrage behandelte Materie einer eingehenden Prüfung zu unterziehen,
und zwar hauptsächlich in dem Sinne, ob für unsere irrenärztlichen Be¬
dürfnisse, insbesondere auch bei unserer Stellung als öffentliche Be¬
amte, die bestehenden oder bei der Neuregelung beabsichtigten Gesetzes¬
bestimmungen nach allen Richtungen hin zum Schutze des ärztlichen
Berufsgeheimnisses ausreichen, insbesondere auch, ob unsere Position
beim Verlangen der Herausgabe der ärztlicherseits geführten Kranken¬
geschichten der öffentlichen Irrenanstalten nach auswärts, an nichtärzt¬
liche Behörden, z. B. an die Staatsanwaltschaften, genügend gesichert sei.
Ich machte dabei noch auf folgende Einzelpunkte aufmerksam:
1. Kann der staatlich angestellte Irrenarzt oder Direktor öffentlicher
Anstalten auch in seiner Eigenschaft als Arzt, d. h. in seinem Vertrauens-
l ) Vgl. Allg. Ztschr. f. Psych.. Bd. 71, S. 387 ff.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Verhältnis zum einzelnen Kranken, als Beamter angesprochen werden,
und gelten für ihn andern Behörden gegenüber und besonders beim gericht¬
lichen Verfahren in dieser Beziehung die betreffenden §§ 53, 75, 96 und.
159 der Str.-P.-O., oder aber untersteht er nach wie vor dem § 300 (Berufs¬
geheimnis) und den diesen schützenden Vollzugsbestimmungen, nämlich
den §§ 52, 54, 76, 95, letztem Satz, und 97 der Str.-P.-O.?
Kann also die Beamtenpflicht in gewissen Fällen die Berufspflicht
der Verschwiegenheit gefährden oder nicht?
2. Sind die Krankengeschichten der öffentlichen Irrenanstalten als
Aktenbestandteil nach § 96 Str.-P.-O. anzusehen, und unterliegen sie der
Beschlagnahme ?
Oder aber bilden sie einen Bestandteil des ärztlichen Berufsgeheim¬
nisses, und sind sie unter allen Umständen dadurch gemäß § 95, letztem
Satz, und § 97 Str.-P.-O. geschützt?
3. Kann die Mitteilung der Krankengeschichte auch von andern
als gerichtlichen Behörden mit Recht verlangt werden? Oder darf hier
die Herausgabe bedingunglos abgelehnt werden?
4. Ist die Krankengeschichte an Berufsgenossen mitteilbar, unein¬
geschränkt oder nur bedingungsweise und unter welchen Bedingungen?
5. Ist sie insbesondere, einmal abgesehen von der Frage der ärzt¬
lichen Zeugnisverweigerung und des Widerspruchs des Patienten, mitteil¬
bar, oder muß sie sogar mitgeteilt werden an öffentlich bestellte Ge¬
richtsärzte ?
6. Können diese Sachverständigen den Inhalt nach ihrem Gut¬
dünken Gerichtsbehörden, Staatsanwälten offenbaren, oder sind sie, ab¬
gesehen von ihrer Gutachtertätigkeit, an die Bewahrung des Berufs¬
geheimnisses wenigstens insoweit gebunden, daß sie die Krankengeschichte
selbst samt Anlagen nicht dem Gerichte auszuhändigen haben; dies unter
keinen Umständen oder aber bei welchen Ausnahmen?
Auf den ersten Blick und rein nur nach unserem ärztlichen Gefühl
wird ja die Antwort auf alle diese Fragen jedem von uns sehr einfach er¬
scheinen, ob aber auch nach dem gültigen Recht und nach der bestehenden
Rechtspraxis, das ist hier die Frage, und das muß erst die genauere Prüfung
ergeben.
Für Privatärzte liegt die Situation nun ganz klar; sie können sich
immer auf den § 300 R.-Str.-G.-B. berufen und die Herausgabe der
Krankengeschichte unter Hinweis auf § 95 letzten Satz und § 97 Str.-P.-O.
verweigern; eine Beschlagnahme ist nicht zulässig.
Bei beamteten Ärzten in staatlicher Stellung, der die kom¬
munale oder provinziale, weil mittelbar ebenfalls dem Staatszwecke
dienend, gleich zu erachten ist, bestehen dagegen, obwohl sie ihren ärzt¬
lichen Charakter durch ihr Amt natürlich nicht verloren haben können,
auf Grund gemachter Einzelerfahrungen immerhin Zweifel, ob für sie be-
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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ers in der Rechtspflege die gleichen Grundsätze uneingeschränkte
Agheit haben.
Man kann hierbei zweierlei Auffassung sein: die eine, strengere, hält
£anz selbstverständlich daran fest, daß wir auch als Beamte alle unsere
.liehen Rechte und Pflichten unvermindert beibehalten haben; es
ne und dürfe also auch in bezug auf das Berufsgeheimnis und die
rsoisgabe der Krankengeschichte keinen Unterschied zwischen privaten
d beamteten Ärzten geben. Der § 300 spricht ja gerade auch von
ivatgeheimnissen, die uns kraft unseres Amtes, Standes oder Ge-
rbes an vertraut sind. Die unser ärztliches Wirken schützenden Para-
aphen des Reichsstrafgesetzbuchs und der Strafprozeßordnung müssen
>o unter allen Umständen jenen, die in anderer als dieser Beziehung auf
\seren Beamtencharakter abheben, vorangehen, ihnen naturgemäß
bergeordnet sein.
Die zweite, mildere Auffassung geht dahin, daß wir als Beamte oder
Behörden andern Beamten und Behörden, die für die Verfolgung ihrer
leichfalls staatlichen, jedoch nichtärztlichen Zwecke unsere Kranken¬
geschichten verlangen, Entgegenkommen zeigen müßten. Das Amts¬
geheimnis, unter dem auch diese Behörden gleich uns stehen, könne in
gewissem Sinne das Berufsgeheimnis ersetzen. Es treffe also für uns
\nstaltsdirektoren und Ärzte vor allem der § 96 Str.-P.-O. zu, wonach
jnsere Akten und Schriftstücke im Strafverfahren der Staatsanwaltschaft
tuszuliefern wären, da von deren Herausgabe nicht zu befürchten sei,
laß damit dem Wohle des Reichs oder eines Bundesstaates Nachteil ent¬
stünde. Die ärztliche Krankengeschichte gehöre, als in Verwahrung der
Anstaltsdirektion (einer Behörde) und ihrer staatlich angestellten Ärzte
(also öffentlicher Beamten) befindlich, unzweifelhaft unter den Begriff
der hier gemeinten Akten und Schriftstücke.
Diesen Zwiespalt gilt es nun aufzuklären und zu beseitigen.
Ich selbst schließe mich der strengeren Auffassung an.
Seine Anzeigepflicht muß der Arzt in den gesetzlich festgelegten
Punkten erfüllen; seine Zeugen- und Gutachtertätigkeit kann er jederzeit
ausüben, wenn er will, oder wenn er dazu verpflichtet worden ist; er kann
sie auch je nach Lage des einzelnen Falles unter Berufung auf den § 300
R.-Str.-G.-B. ablehnen. Die Herausgabe der ärztlichen Krankengeschichte
an T Behörden wird er dagegen am besten unter Berufung auf § 95 letzten
Satz und § 97 Str.-P.-O., ebenso wie der Privatarzt, grundsätzlich ab¬
lehnen.
Es ist etwas ganz anderes, ob ich auf Grund meiner Kenntnis des
Falles und der Krankengeschichte als Zeuge oder Gutachter ärztlich über
einen Kranken aussage, oder ob ich seine in der Krankengeschichte und
eigenen schriftlichen Bekenntnissen niedergelegten Privatgeheimnisse
in toto andern Behörden uneingeschränkt und für nichtärztliche
Zwecke zugänglich mache. Ganz abgesehen vom Vertrauensbruch an sich
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
gebe ich damit jede weitere Kontrolle über ihre Geheimhaltung und Ver¬
wahrung aus der Hand. Andererseits kann aber der Nichtarzt diese nur
für den Fachmann verständliche Materie ohne unsere Mithilfe und Er¬
klärung überhaupt nicht richtig verwerten; die Herausgabe ist also zudem
noch zweckwidrig.
Soweit wir es irgend mit unserem Berufsgeheimnis und unserem
ärztlichen Gewissen vereinbaren können, werden wir, weil wir uns als
unentbehrliche Glieder der öffentlichen Gesundheitspflege fühlen, immer
bereit sein — das beweisen wir ja täglich überall —, die Zwecke und
Interessen des Staates und seiner Behörden, insbesondere der Rechts¬
pflege, nach Kräften zu unterstützen und zu fördern. Darüber hinaus
aber können wir nicht gehen, und zwar gerade deshalb nicht, weil auch
das ärztliche Berufsgeheimnis ein unentbehrlicher Grundbestandteil der
Rechtsordnung eines jeden Staatswesens wie nicht minder ein hohes sitt¬
liches Gut der Menschheit und eine Notwendigkeit für die Volksgesundheit
und öffentliche Wohlfahrt ist.
Je rigoroser wir darin handeln, desto besser werden wir unserem
ärztlichen Stande und Ansehen und mittelbar der staatlichen Ordnung
dienen.
Im Hinblick auf die nachteiligen, ja sogar verderblichen Konsequen¬
zen für das Ansehen unseres ärztlichen Standes und für unser ganzes
berufliches Wirken, wenn wir uns in diesem Punkte, der unser ärztliches
Gewissen im Kerne trifft, nachgiebig zeigten, müssen wir es klar und
eindeutig betonen, daß wir auch als Beamte durchaus Ärzte geblieben
sind; ja, daß wir eigentlich desto bessere Beamte und Staatsdiener sein
werden, je gewissenhafter wir es mit unseren ärztlichen Berufspflichten
und dem Berufsgeheimnis nehmen. Wo sich Konflikte ergeben, soll ein vor
allem unsere ärztlichen Interessen wahrender Ausweg gefunden werden;
die Garantien für unser frei verantwortliches ärztliches Handeln und für
die Wahrung unseres Berufsgeheimnisses — auch in unserer Beamten-
Stellung und auch andern Behörden gegenüber — müssen nicht nur nach
unserem ärztlichen Gewissen, sondern auch durch das Gesetz durchaus
sichergestellt werden. Da nun aber manche Punkte der Materie sowohl
unter den Organen der Verwaltung und der Rechtspflege als auch merk¬
würdigerweise in Ärztekreisen selbst noch als strittig gelten und ein einheit¬
liches Handeln sich darin noch nicht durchgesetzt hat, so erscheint mir
unsere Anregung, durch die Justizkommission des deutschen Ver¬
eins für Psychiatrie eine eingehende Untersuchung und Prüfung der
ganzen Frage vornehmen zu lassen, als wohlberechtigt. Hier kann von
berufenen Sachverständigen aus beiden Lagern durch eine gründliche
Bearbeitung des Problems eine Klärung herbeigeführt werden. Ich
möchte Sie daher alle bitten, angesichts der für unsern ganzen ärztlichen
Stand so wichtigen Angelegenheit unserem Karlsruher Anträge beizu-
stimmen.
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Deutscher Verein für Psychiatrie. - 721
Zur Diskussion sprechen Gaupp-Tübingen und Ransohoff- Ste-
lsfeld.
Der Vorsitzende empfiehlt ein langsames Vorgehen in dieser Sache
ist dafür, bis zum nächsten Jahre eine Vertagung der Angelegenheit
reten zu lassen. Inzwischen können ja von seiten des Vorstands des
iins Erhebungen stattfinden. —
For/re-Eglfing teilt mit, daß das von der statistischen Kom-
ssion in Breslau vorgelegte provisorische und von der dortigen Jahres¬
sammlung gebilligte und zur Erprobung empfohlene neue Schema der
steskrankheiten (s. diese Ztschr. Bd. 70, S. 797 ff.) ab 1. 1.1914 für die
itistik der drei psychiatrischen Kliniken und der öffentlichen und pri-
;en Anstalten in Bayern bis auf weiteres zur Einführung gelangt ist.
isgetüllt und vorgelegt werden nur Tabelle I über die allgemeine Kranken-
wegung und XI über die Mortalität. V. hält es für wünschenswert,
di diejenigen Herren, welche über die Einführung des neuen Schemas
anderen Bundesgebieten oder Provinzen positive Mitteilungen machen
mnen, dies heute hier mündlich tun bezw. künftig davon unter der
dresse des Vortr. der statistischen Kommission des Deutschen Vereins
ir Psychiatrie davon Nachricht geben.
Weber- Chemnitz teilt im Anschluß daran mit, daß das neue Schema
n Königreich Sachsen ebenfalls zur Einführung gelangt ist, und zwar
ückwirkend für das Jahr 1913. —
Äreuw-Winnenthal erstattet den Kassenbericht. Ihm wird auf
»rund des gedruckten Rechenschaftberichts, dessen Richtigkeit von
^wcAer-Wiesloch und Dubbers -Allenberg geprüft ist, Entlastung erteilt.
>er Jahresbeitrag wird wieder auf 5 M. festgesetzt. —
Dem Vorstande der Heinrich-Laehr-Stiftung wird Entlastung
rteUt, nachdem Perem’-Grafenberg und Gro/?-Rufach die Abrechnung als
ichtig festgestellt haben. —
Es folgen weitere Vorträge.
Kastan - Königsberg: Die Pathogenese der Psychosen im
Lichte der Abderkaldenschen Anschauungen.
Die Abbauerscheinungen lassen sich als koordinierte, superordinierte
und subordinierte unterscheiden, je nachdem sie die psychiatrischen Er¬
scheinungen begleiten oder verursachen oder durch diese erst bedingt sind.
Bei der Paralyse wird sich mit dem Abderkaldenschen Verfahren über die
Genese erst etwas sagen lassen, wenn dauernde Kontrolluntersuchungen
Irischer Syphilitiker und aller Phasen der Syphilis bis zum Ausbruch der
Paralyse vorgenommen sind. Bei der Dementia praecox wird fast immer
außer Gehirn auch Keimdrüsen- und oft Thyreoideagew’ebe, manchmal
Nebenniere abgebaut. Der Abbau ist nicht gleichzeitig. Die klinischen
und anatomischen Befunde bei der Dementia praecox lassen sich erklären,
uenn man als Dysfunktion der Thyreoidea eine dem Myxödem ähnliche
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
annimmt und die Dysfunktion der Keimdrüsen mit dem Thymus in Ver¬
bindung bringt, der scheinbar während der Zeit der Entwicklung der
Keimdrüsen untergeht. Auslösende Ursachen machen die Dementia
praecox manifest, weil dann andere Eiweiße ins Plasma treten und auch
gegen diese Abwehrfermente gebildet werden, so daß das Gehirn schutzlos-
wird gegen Keimdrüseneiweiß. Gefunden wurde z. B. vom Vortr. Abbau
von Kasein durch Puerperalserum. Symptomatische Psychosen gleichen,
sich selbst und den Alkoholpsychosen vielleicht deshalb, weil alle sie ver¬
ursachenden körperlichen Zustände mit Lipämie und Hyperglykämie
einhergehen können oder einhergehen, so daß Alkohol mit Fett und Zucker
abgespalten werden kann. Bei der echten (genuinen) Epilepsie hat Vortr.
nach Anfällen wie andere Autoren Gehirnabbau gefunden, bei allen Stadien
der echten Epilepsie immer (auch im Intervall) Dünndarmabbau. Für
das Petit mal gilt das gleiche wie für den epileptischen Anfall. Das Äqui¬
valent der Verstimmung führt nicht zu Gehirnabbau. Die Alkoholepilepti¬
ker zeigen keinen Dünndarm- und Gehirnabbau. Bei unkompliziertem
Alkoholismus konnte Vortr. keine Abbauvorgänge feststellen, bei Delirium
tremens wurde Leber, manchmal auch Lunge abgebaut. Funktionelle
Psychosen zeigen auch keinerlei Abbau. Die Abbauvorgänge bei Melan¬
cholischen sind nicht charakteristisch für die Psychosen. Sie sind vom
Affekt und der durch ihn bedingten Zirkulationsverschiebung (Blut¬
überfüllung des Bauchaortengebiets bei Unlust) abhängig. Sie treten
auch z. B. bei depressiven Epileptikern auf. Sie erstrecken sich auf alle
von den Bauchaorten abhängigen Organe. (Der Vortrag erscheint aus¬
führlich im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten.)
Fauser- Stuttgart: Über dysglanduläre Psychosen.
Vortr. nimmt zunächst auf seinen bei der letzten (Breslauer) Ver¬
sammlung gehaltenen Vortrag Bezug; er will diesmal „in erster Linie
nicht über die einigermaßen konstant erhobenen Befunde sprechen, son¬
dern über die von ihm schon vor längerer Zeit betonten Schwankungen
im einzelnen“; fernerhin über einige diagnostische Ausblicke von dem
gewonnenen Standpunkt aus und zum Schluß noch andeutungweise über
pathogenetische Probleme. Dabei nimmt er auf die Weiterentwicklung
der Abdcrhaldenschen Anschauungen Rücksicht, nach denen es sich unter
Umständen vielleicht lediglich um die Abgabe von spezifischen Fermenten
seitens der dysfunktionierenden Organe an die Blutbahn handelt.
Vortr. betont gleich zu Anfang, daß bei strenger Durchführung der
.4.sehen Vorschriften der Fall nicht allzu häufig eintritt, daß man bei der
Prüfung mit Ninhydrin im Zweifel darüber ist, ob die Farbenreaktion als
„pos.“ oder als „neg.“ zu bewerten ist. Die besondere Schärfe, mit der
der Kampf um die psychiatrisch-serologischen Fragen manchmal geführt
wurde, sind zum Teil auf die Außerachtlassung der A .sehen Forderungen
zurückzuführen. Wie man sich gegebenenfalls vor Autosuggestionen
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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:z.en kann, hat Ref. schon längst (D. med. Wschr. Nr. 7, M. raed.
vT. 1913, Nr. 11) an Beispielen gezeigt. Bei in der letzten Zeit vorge-
menen serologischen Untersuchungen von 20 Kranken der Münchener
hlatrischen Klinik wurde die Geschlechtsspezifität, soweit sie über-
>t zum Ausdruck kommen konnte, durchweg gewahrt; in bezug auf
Dementia praecox- und Paralysefälle waren die positiven Resultate
it in dem Maße überwiegend, wie bei den zahlreichen Untersuchungen
F.s eigenen Kranken; es wurde fernerhin bei zwei „Manisch-Depres-
?n 4 ‘ und bei einigen „Psychopathen“ positive Reaktion gefunden. Der
'tr. geht diese sämtlichen Fälle der Reihe nach durch.
Seine Befunde bei den ,»massiven“ Geistesstörungen: der De-
ntia-praecox-Gruppe, den Psychosen bei gröberen Erkrankungen der
nWddrüse, der progressiven Paralyse sind im wesentlichen dieselben,
? er bereits bei seiner allerersten Veröffentlichung (D. med. Wschr. 1912,
c. 52) und dann später wiederholt bekanntgegeben hat: speziell bei der
ementia praecox in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Ferment
»wohl gegen Geschlechtsdrüse wie gegen Hirnrinde, in der Minderheit
ur gegen Geschlechtsdrüse oder nur gegen Hirnrinde, in einer noch
eringeren Minderheit entweder zeitweise oder dauernd weder Ferment
egen Geschlechtsdrüse noch gegen Hirnrinde. Ob es sich bei der vdh ihm
mehrere Male gemachten Beobachtung — wonach Dementia-praecox-
vranke im Beginn der Erkrankung nur Ferment gegen Keimdrüse, erst
päter auch gegen Hirnrinde und dann in einem späteren Stadium der Er¬
krankung resp. im Zustand relativer Genesung nur wieder Ferment gegen
Keimdrüse zeigten — um bloße Zufälligkeiten oder doch um eine gewisse
Gesetzmäßigkeit handelt, möchte Ref. unentschieden lassen.
Bei Paralyse konnte Fauser positive Reaktion gegenüber Testikel
a\cht so häufig finden wie andere Beobachter. Interessant wäre es, etwas
darüber zu erfahren, ob bei den Paralysefällen mit katatonischen
Symptomen vielleicht häufiger oder regelmäßig eine positive Reaktion
mit Testikel (oder Schilddrüse) gefunden wird. Auch zur Erklärung man¬
cher nichtsyphilitischer und nichtmetasyphilitischer nervöser
Erkrankungen der Deszendenten von Paralytikern wäre es wichtig, wenn
festgestellt werden könnte, daß die Geschlechtsdrüsen der Paralytiker,
auch ohne daß diese Drüsen selbst syphilitisch infiziert zu sein brauchen,
eine serologisch nachweisbare Dysfunktion zeigen können.
Bei dem manisch-depressiven Irresein konnte F . an seinen
eigenen Fällen nicht ein einziges Mal eine positive Reaktion gegen irgendein
Organ nachweisen; er hat allerdings absichtlich nur solche Fälle, die er
für ganz reine und absolut sichere halten mußte, dazu gerechnet,
namentlich keine Fälle, bei denen die Abgrenzung gegen die katatonische
Erregung schwieriger war, fernerhin auch keine Fälle von einfach-chroni¬
scher Depression. Wie er schon in seinem Breslauer Vortrag betont hat,
ist aber damit noch gar nicht gesagt, es handle sich beim manisch-depres¬
siven Irresein um keine dysglanduläre Erkrankung.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Was die Verhältnisse bei den „Psychisch-nervösen“, „Psychopathen“,
„Degenerierten“ usw. betrifft, so wiederholt F. seine schon in seiner aller¬
ersten Arbeit (D. med. Wschr. 1912, Nr. 52) ausgesprochene Vermutung,
daß es sich bei einem großen Teil dieser Krankheits,,zustande“ in Wirk¬
lichkeit um Krankheits,,prozesse“ handle, die bei eingehender ätio¬
logischer und klinischer Prüfung sich ebenso in eine Anzahl differenter
Krankheitsformen zerlegen lassen werden, wie dies Kraepelin z. B. für die
infektiösen und postinfektiösen Psychosen bereits unternommen hat. Im
Laufe der letzten 12 Monate hat F. — anfangs zu seiner Überraschung —
bei sogenannten „Neurasthenikern“, „Psychopathen“ usw. mit nachweis¬
barer, wenn auch häufig kleiner, Struma nicht selten positive Reaktion
mit Schilddrüse gefunden. Eventuell kommt hier eine Strumektomie in
Frage; der Rat zu einer Schilddrüsenoperation bei vorhandenem Kropf
wird ja auch ohne ausgesprochene nervöse Erkrankung bei dem heutigen
Stande der chirurgischen Technik nicht gerade schwer genommen.
Bei Epilepsie hatte F. ähnliche Resultate wie früher; bei „epilep¬
toiden“ Zuständen fand er einige Male Fermente gegen Schilddrüse und
gegen Testikel.
Auch bei Alkoholismus waren seine Befunde dieselben wie früher.
Im Anschluß an die von ihm gefundene Dysfunktion des Testikels bei
einem von der Münchener psychiatrischen Klinik ihm übersandten Serum
eines „chronischen Alkoholikers“ erinnert F. an die Ähnlichkeit, die
chronische alkoholische Psychosen und Dementia praecox manchmal mit¬
einander haben (und die daraus sich event. ergebenden diagnostischen
Irrtümer); er gibt fernerhin zu bedenken, ob nicht durch das Alkoholgift
der Testikel zur Dysfunktion gebracht und dadurch die Ähnlichkeit man¬
cher alkoholischer und Dementia-praecox-Psychosen hervorgerufen
werden kann.
In bezug auf die diagnostische Bedeutung der von ihm aufge¬
fundenen serologischen Reaktionen warnt F. zunächst vor dem formal-
logischen Irrtum, zu meinen, daß, wenn bei einer bestimmten Krankheits¬
form ein bestimmter serologischer Befund vorkomme, umgekehrt dann
das Vorkommen dieses serologischen Befundes auch das Vorhandensein
dieser bestimmten Krankheitsform beweisen müsse. Er hat sich hierüber
schon längst (Münch, med. Wschr. 1913, Nr. 36) klar und deutlich ausge¬
sprochen: ein bestimmter, mittels des Dialysierverfahrens erhobener sero¬
logischer Befund kann zwar gewisse klinische Vermutungen, größere oder
geringere Wahrscheinlichkeiten wachrufen, für die Richtung der klinischen
Untersuchung bestimmte Direktiven geben, zu einer Nachprüfung der
Anamnese und des Status praesens veranlassen und damit unter Um¬
ständen zu einer Korrektur der Diagnose führen, aber eine sichere Diagnose
wird vorerst nur zusammen mit dem klinischen — besonders dem psychi¬
schen — Befund gestellt werden können. Wir haben mit der sachlichen
Schwierigkeit zu rechnen, daß die Untersuchung mittels des Dialysier-
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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Verfahrens uns bis jetzt nur ein grobes Bild von den Verhältnissen dar¬
bietet, ähnlich etwa dem makroskopischen Verhalten bei anatomischen
OiganVeränderungen. Eine zweite sachliche Schwierigkeit für die dia¬
gnostische Bewertung der serologischen Befunde in der Psychiatrie liegt
darin, daß wir es noch nicht durchweg zur Aufstellung sicher umschriebener
und allseitig anerkannter Krankheitsformen gebracht haben. Die Be¬
deutung der serologischen Befunde kann deshalb dadurch nicht erschüttert
werden, daß sie mit manchen zurzeit herrschenden klinischen Anschauungen
und Krankheitsaufstellungen in Konflikt geraten. Die serologischeAuffassung
ist nicht „konservativ“, sondern „fortschrittlich“ — wie es übrigens der Geist
der klinischen Psychiatrie der letzten Jahrzehnte ohnedies ist. F. erinnert
hier an die bahnbrechenden experimentellen Untersuchungen Kraepelins
und seiner Schüler über die spezifisch verschiedenen psychischen Wirkun¬
gen der Arznei- und Genußmitte), an die (ebenfalls nach Kr.) spezifische
Verschiedenheit der infektiösen und postinfektiösen Psychosen: es wäre
lediglich die Verfolgung desselben Weges, wenn uns die Serologie künftig
in den Stand setzte, nach den ,,ektotoxischen“ nunmehr auch die
„endotoxischen“ — die ,,dysglandulären“ — Psychosen feiner zu
differenzieren — von den groben, wie wir sie in der Dementia-praecox -
Gruppe vor uns haben, angefangen bis herab zu den feineren, dem großen
Heer der „degenerativen Psychosen“, „Psychopathien“, „Hysterien“, „epi¬
leptoiden Zustände“ und wie die Sammelnamen alle heißen.
Speziell von der Dementia-praecox-Gruppe hat F. die Vermutung,
daß sie manche Formen in sich begreife, welche zwar ebenfalls dysglandu¬
lären Ursprungs sind, die aber wegen des vorübergehenden, relativ
gutartigen Charakters dieser Dysfunktion keine schlechte Prognose zu
haben brauchen. Als Ursache dieser transitorischen Dysfunktionen
innersekretorischer Drüsen werden wir namentlich auch die vorübergehende
oder ausschaltbare schädliche Einwirkung seitens eines anderen, mit der
geschädigten Drüse in Korrelation stehenden innersekretorischen Organs,
i- B. der Placenta oder eines Kropfes, ins Auge fassen müssen. (Vgl. die
entsprechenden Veröffentlichungen von F.)
Im Anschluß daran geht F. noch kurz auf die pathogenetische
Bedeutung der von ihm auf Grund der Aschen Anschauungen bis jetzt
erhobenen Befunde ein. Er mahnt zur Vorsicht in bezug auf das Ziehen
von Analogien zwischen der Aschen Fermenttheorie und den bisherigen
Immunitätstheorien; manche Eigenschaften der Aschen Fermente
sprechen eher dafür, daß es sich dabei um besondere, bisher noch nicht
näher studierte Körper, nicht um einen der bisher gefundenen Anti¬
körper handelt. — Von den vielen Fragen, die sich weiterhin daran an-
knüpfen, stehen folgende für ihn zurzeit im Mittelpunkt des Interesses:
1. Ist das, was wir mittels des Dialysierverfahrens nachweisen — nämlich
das Vorhandensein von Fermenten — die Hauptsache oder etwas
anderes, was unserer Untersuchung bis jetzt nicht zugänglich ist, etwa
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
eine der Dysfunktion parallelgehende quantitative oder qualitative Ver¬
änderung der betreffenden spezifischen Organsekrete, der Hormone?
2. Wodurch werden die betreffenden Organe: die Testikel, die Ovarien,
die Schilddrüse, die Hirnrinde zur Dysfunktion (oder vielleicht auch
gleichzeitig zu einer Änderung ihrer spezifischen Organsekretion) ver¬
anlaßt? Liegen die veranlassenden Momente außerhalb des betreffenden
Organs (des Testikels, der Hirnrinde), vielleicht in der Weise, daß an
anderen Stellen des Körpers — etwa von korrelativen innersekretorischen
Drüsen (auch solchen im weiteren Sinne des Worts, z. B. Muskeln) —
Stoffe gebildet werden, die durch ihr Übermaß oder durch ihre veränderte
Qualität das betreffende, mit ihnen in Korrelation stehende Organ über¬
mäßig stark in Anspruch nehmen und es dadurch zur Dysfunktion bringen ?
Oder liegt die krankmachende Ursache von Haus aus in den betreffen¬
den Organen (Testikel, Schilddrüse usw.) selbst — in der Weise, daß
sie infolge einer angeborenen oder erworbenen Unzulänglichkeit schon
den normalen Einflüssen des Stoffwechsels nicht gewachsen sind und
deshalb schon normale Anforderungen — z. B. während der Pubertät —
durch eine Dysfunktion beantworten? 3. Welches überhaupt ist die Be¬
deutung der Fermente in pathogenetischer Hinsicht? Stellen sie eine
nützliche oder eine schädliche Reaktion — N. B. vom Standpunkte der
Oesamtökonomie des Körpers aus gesehen — dar? F. erinnert hier an
die in seiner ersten Veröffentlichung bereits hervorgehobene pathogeneti¬
sche Bedeutung der Fermente und die praktisch-therapeutischen Ge¬
sichtspunkte, die sich hieraus ergeben. 4. Da es sich bei den dysglandu¬
lären Psychosen häufig um eine Dysfunktion mehrerer innersekretori¬
scher Drüsen handelt, welches ist das innersekretorische Organ, von dem
aus — gleichsam wie von einem seismischen Zentrum — ein größerer oder
kleinerer Teil des glandulären Systems gewissermaßen in seismische Mit-
bewegung versetzt wird? Da es sich bei den dysglandulären Psychosen
fernerhin grundsätzlich um eine Schädigung nicht bloß der innersekre¬
torischen Drüsen, sondern auch der Hirnrinde handelt: Welches ist das
erste? Werden die innersekretorischen Drüsen von der Hirnrinde oder
wird die Hirnrinde von den innersekretorischen Drüsen beeinflußt, oder
findet beides — also eine Wechselwirkung — statt? Weiterhin: Findet
die Beeinflussung des drüsigen Organs seitens der Hirnrinde (oder auch
umgekehrt) durch Vermittlung der Nervenbahn oder auf chemischem
Wege statt? F. führt verschiedene Tatsachen an, die für die eine oder
die andere dieser Möglichkeiten sprechen, namentlich auch die interessante
Beobachtung eines amerikanischen Physiologen, der gefunden hat, daß,
wenn man Tiere (Katzen) in einen längerdauernden Angstaffekt versetzt,
in ihrem Blut sich eine Vermehrung der Adrenalinsubstanzen nachweisen
läßt. —
Zum Schluß erinnert F. an die vor bereits annähernd fünf Jahren
von ihm erfolgte Inangriffnahme derselben Probleme mittels der Kom-
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
727
plementbindungsmethode (vgl. D. med. Wschr. 1912, Nr. 52) und
spricht die Hoffnung aus, daß eine Wiederaufnahme der Untersuchungen
mittels der Komplementbindungsmethode — vielleicht mit einer besseren
Technik, als sie ihm im Jahre 1909 zu Gebote stand — zu einem positiven
Ergebnis führen und daß dann vielleicht auch darüber Klarheit geschaffen
werden könnte, ob seine schon längst ausgesprochene Vermutung hinsicht¬
lich der Auffassung mancher psychischer Symptomkomplexe (namentlich
der „Anfälle“) als anaphylaktischer Phänomene richtig ist oder
nicht. Wir stehen, was F. stets immer wieder hervorgehoben hat, erst
am Anfang; aber der Anfang ist gemacht, und wir dürfen hoffen, daß
wir bei ruhigem, besonnenem Arbeiten dem Ziel einer pathologischen
Serologie der Psychosen uns immer mehr nähern werden. (Der
Vortrag erscheint ausführlich in der D. med. Wschr.)
Äa/Ara-Hamburg-Friedrichsberg: Die Abderhaldenschen Sero¬
reaktionen in der Psychiatrie.
Es werden vor allem einige Punkte der Technik des Dialysierver-
fahrens besprochen. Tierversuche, bei denen es gelang, organspezifische
Fermente zu erzeugen, haben K. gelehrt, daß im Versuche am Kranken¬
bette die Hauptfehler in den verwendeten Organen und dem Kranken-
serum selbst liegen. Dies bezieht sich aber nur auf die alterprobten
Hülsen; verschiedene Erfahrungen weisen darauf hin, daß die Hülsen in
neuerer Zeit sehr schlecht geworden sind. Um aber bei guten Hülsen die
Bedingungen im Versuche am Krankenbette besser zu gestalten, rät K.
in besonderen Fällen (Gravidenserum, Luikerserum usw.) mit den Serum¬
mengen noch weiter unter 1 ccm herabzugehen, um unspezifische Reak¬
tionen unmöglich zu machen. K. weist auch darauf hin, daß er eine neue
Organkontrolle dargestellt hat, indem er mit dem zur Verwendung kom¬
menden Organ das Serum eines Kaninchens, welches mit roten Blut¬
körperchen vorbehandelt worden ist, einsetzt. Vielleicht ist auch eine
Prüfung der Hülsen auf Durchgängigkeit für Globuline, wie sie Mazkie-
witsch vorschlägt, notwendig. Ferner weist K. auf die Bedeutung der Vor¬
dialyse des Serums und die häufige Wiederholung der Untersuchung zum
Ausschluß temporärer Reaktionen hin.
Nach einigen Worten über den heutigen Stand der Theorie der
Abwehrfermente geht K. auf Untersuchungen betreffend den Übergang
dieser Körper in andere Körperflüssigkeiten ein. In der Spinalflüssigkeit
von Graviden, Paralytikern und an akuten Meningitiden Leidenden waren
bisher auch bei Verwendung größerer Flüssigkeitsmengen Abwehrfermente
nicht nachzuweisen. In dem Pleuraexsudat eines Paralytikers konnten
jedoch bei Ansetzung größerer Mengen der aktiven zentrifugierten Flüssig¬
keit die gleichen Abwehrfermente wie im Serum gefunden werden. Im
Urin konnte K. die gleichen Abwehrfermente wie im Serum nachweisen,
wenn er den Harn 5 bis 6 Stunden der Vordialyse gegen fließendes Wasser
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Original fro-m
UMIVERSITY OF MICHIGAN
728
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
unterwarf. Es muß stets frischer Morgenharn verwendet werden; reagiert
der Harn alkalisch, muß er neutralisiert werden; werden inaktive Kon¬
trollen eingesetzt, dann muß vor der Vordialyse 1 Stunde inaktiviert
werden. Bisher wurden 62 Urine mit dem besten Erfolge untersucht.
K. geht dann auf sein Material (rund 400 Fälle mit rund 500 Unter¬
suchungen) ein und bespricht bloß jene Fälle, bei denen ihm von klinischer
Seite sichere Diagnose gegeben wurde; es resultieren so 300 Fälle, darunter
27 Normalfälle, 114 Fälle von Dementia praecox, 18 von manisch-depres¬
sivem Irresein, 20 von Psychopathie, ferner 17 Paralysen, 5 Fälle von
Lues cerebri, 17 von genuiner Epilepsie, 5 senile Psychosen, eine große
Anzahl organischer Erkrankungen des Zentralnervensystems und mehrere
Fälle von klinisch nachweisbaren Störungen der Drüsen mit innerer Se¬
kretion. Die Resultate waren folgende.
Normale, 27 Fälle:
keinmal Abbau von Gehirnrinde,
1 mal Abbau von Gehirnmark (siehe weiter),
keinmal Abbau von Geschlechtsdrüse,
keinmal Abbau von Schilddrüse,
keinmal Abbau von Nebenniere;
früher beschriebener Milzabbau ist auf das Substrat zu beziehen.
I
Dementia praecox, 114 Fälle:
I. Abbau von Gehirn. in 79,4 %
bei Trennung von
Gehirnrinde . in 69 %
Gehirnmark . in 97,6%
Geschlechtsdrüsen. in 62 %
Schilddrüse. in 40,3 %
Nebenniere. in 25,2%
II. Gruppierungen (bei Einstellung von Gehirn, Geschlechtsdrüse,
Schilddrüse, Nebenniere).
Gehirn allein. in 17,3%
Gehirnmark allein . in 6,4%
Gehirn + Geschlechtsdrüse. in 32,2 %
Gehirn + Geschlechtsdrüse -f Schild¬
drüse .in 10,7 %
Gehirn -f Geschlechtsdrüse + Schild¬
drüse + Nebenniere . in 4,2%
Gehirn + Schilddrüse. in 4,2%
Geschlechtsdrüse + Schilddrüse. in 2,1 %
Geschlechtsdrüse allein . in 2,1 %
Gehirn + Geschlechtsdrüse + Neben¬
niere . in 3,2%
Gehirn -f- Nebenniere.in 4,2%
Gehirn + Schilddrüse + Nebenniere . in 2,1 %
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729
Geschlechtsdrüse + Schilddrüse + Neben¬
niere . in 2,1 %
L 11. a) Paranoide Fälle reagieren wie andere.
b) Katatone zeigen nicht immer Schilddrüsenabbau.
c) Pfropfhebephrenien zeigen relativ oft negativen Abbau.
d) Schwangerschaftspsychosen zeigen oft negativen Placenta-
abbau.
e) Parallelismus zwischen Krankheitsstadium und Abbaubefund
noch nicht herstellbar.
Manisch-depressives Irresein, 18 Fälle:
Gehirnabbau . 9 mal,
Gehirnmarkabbau. 6 mal,
Geschlechtsdrüsenabbau . keinmal,
Schilddrüsenabbau. 1 mal,
Nebennierenabbau . 4 mal.
Psychopathie, 20 Fälle:
Gehirnabbau in 20 Fällen . 10 mal,
Gehirnmarkabbau in 20 Fällen. 6 mal,
Geschlechtsdrüsenabbau in 18 Fällen . 1 mal,
Schilddrüsenabbau in 17 Fällen. 2 mal,
Nebennierenabbau in 17 Fällen . 1 mal.
Paralyse, 17 Fälle:
Gehirnabbau unter 16 Fällen . 15 mal,
Geschlechtsdrüsenabbau unter 16 Fällen 5 mal,
Schilddrüsenabbau unter 14 Fällen. 10 mal,
Nebennierenabbau unter 11 Fällen ... 5 mal.
Lues cerebri, 5 Fälle:
Gehirnabbau unter 5 Fällen . 5 mal,
Geschlechtsdrüsenabbau unter 5 Fällen 1 mal fraglich,
Schilddrüsenabbau unter 5 Fällen .... 2 mal,
Nebennierenabbau unter 3 Fällen .... keinmal.
Genuine Epilepsie, 17 Fälle:
Gehirnabbau unter 17 Fällen . 8 mal
(1 mal Gehirnmarkabbau),
Geschlechtsdrüsenabbau unter 17 Fällen 2 mal fraglich,
Schilddrüsenabbau unter 17 Fällen ... 8 mal,
unter 7 im Paroxysmus untersuchten
Fällen . 7 mal,
Nebennierenabbau unter 17 Fällen ... 1 mal.
Senile Psychosen meist nur Abbau von Gehirn. —
Organische Nervenerkrankungen + Psychose
(multiple Sklerose, Chorea, Tumor usw.),
teils nur Abbau von Gehirn oder Rückenmark (multiple Sklerose,
Tabes, Tumor);
Zeitschrift für Psychiatrie. LX11. 4/5. 50
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
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teils pluriglandulärer Abbau (gewisse Choreaformen, heredi¬
tärer Tremor + Psychose, organische Epilepsieformen). —
Klinisch nachgewiesene Störungen der Drüsen mit inne¬
rer Sekretion mit Psychose oder Idiotie:
A- oder Hypofunktion der Geschlechtsdrüsen kein Abbau;
Dysfunktionen der Schilddrüse: verschiedene Befunde;
Dysfunktionen der Nebenniere (Hypertrichosis, addisonartige
Syndrome): meist Abbau;
Dysfunktionen der Hypophyse (Akromegalie, Tumor): Abbau;
Störungen der Drüsen mit innerer Sekretion bei alten Dementia-
praecox-Fällen: ohne nachweisbaren spezifischen Abbau.
An gehörigen Untersuchung:
1. Patient, Dementia praecox 4 mal untersucht, Abbau von
Gehirnrinde, -mark, Hoden;
Vater des p.: kein Abbau,
Bruder des p.: kein Abbau,
1. Schwester des p.: kein Abbau,
2. Schwester des p. (sehr nervös): Abbau von Gehirnmark.
2. Patientin, familiärer Tremor + Psychose, Abbau von Ge¬
hirn, Schilddrüse, Hypophyse;
Schwester, familiärer Tremor + Nervosität, nur Abbau von
Gehirn.
3. genesener Patient, Dementia praecox?, Abbau von Gehirn-
mark,
Bruder gesund: kein Abbau. —
Hervorzuheben ist besonders 1. das negative Verhalten der Sera und
Urine geistig und körperlich Normaler, 2. die seltenen (mit Geschlechts¬
drüsen stets negativen) Reaktionen der Manisch-depressiven gegen¬
über den Dementia-praecox-Fällen, wo pluriglanduläre Typen mit be¬
sonderer Beteiligung der Geschlechtsdrüsen (62%) vorherrschen. Gehirn¬
rindenabbau kam bei Manisch-depressiven, wenn auch selten, vor; 3. der
seltene Abbau von endokrinen Drüsen bei Psychopathen; 4. der häufige
Abbau endokriner Drüsen bei Paralysen gegenüber dem seltenen bei Lues
cerebri; 5. der seltene Abbau der Geschlechtsdrüsen der Epileptiker, der
fast immer vorhandene Abbau von Schilddrüse im Paroxysmus. —
Ausführliche Protokolle mit besonderer Angabe der Ergebnisse mit
anderen eingestellten Organen werden demnächst veröffentlicht.
Unsere Befunde scheinen günstigere zu sein, wenn durch häufige
Untersuchung desselben Falles temporäre Reaktionen ausgeschaltet
werden. Die Gehirnabbaureaktionen sind anders zu beurteilen als jene,
wo nach Trennung von Gehirnrinde und -mark jedes Substrat einzeln ein¬
gestellt wurde. — Am Schlüsse betont K., daß wir trotz aller Kämpfe
schon heute in den erzielten Resultaten etwas Bedeutungsvolles zu sehen
haben, daß aber dringend geraten werden muß, 1. zur häufigen Wieder-
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
731
holung der Untersuchung, 2. in besonderen Fällen zum Herabgehen mit
den Serummengen und zur Komplementierung nach Stephan , 3. in be¬
sonderen Fällen zur Anwendung der Vordialyse.
Kirchberg - Frankfurt a. M.: Die differentialdiagnostische
Verwertbarkeit des Dialysierverfahrens zur Erkennung der
klinischen Stellung von Krampfzuständen.
Die Mitteilung Binswangen, daß es möglich sei, mit Hilfe der Abder-
haldenschen Dialysiermethode epileptische Anfälle von hysterischen zu
unterscheiden, beansprucht hohes theoretisches und praktisches Interesse.
Eine Nachprüfung seiner Befunde ist aber im Hinblick auf die abweichen¬
den Ergebnisse Mayen dringend erforderlich. — Verf. bespricht seine
eigenen bisherigen Ergebnisse in 25 Epilepsiefällen, wovon 15 Erwachsene
und 10 Kinder betreffen. Bei der Untersuchung wurden vor allem Gehirn,
Keimdrüse, öfters Thyreoidea verwandt. — Bei den Erwachsenen war
intervallär die Reaktion stets negativ. — Nach dem Anfall war die Re¬
aktion in 4 Fällen positiv, in 3 zweifelhaft. Bei den Kindern fiel die Re¬
aktion in 8 Fällen negativ aus, davon wurden 2 positiv nach Status epi-
lepticus, 2 andere Kinder, die häufige Anfälle hatten, zeigten schon nach
einem Anfall positive Reaktion. Bei den Erwachsenen war die Reaktion
mit Keimdrüse 4 mal, mit Thyreoidea 1 mal positiv, bei den Kindern mit
Keimdrüse 6 mal, mit Thyreoidea 2 mal positiv. Bei Hysterie, auch im
Anschluß an Anfälle, stets negative Reaktion. 2 fragliche Fälle, es
handelte sich um hysterische hochgradig Imbezille, bei denen differential -
diagnostisch die klinische Beobachtung schon Hebephrenie vermuten ließ,
boten positive Reaktion mit Keimdrüse, mit Gehirn zweifelhafte Reaktion.
— Kurze Zusammenfassung: Positiver Ausfall scheint demnach bei Hysterie
im Gegensatz zu Epilepsie ungewöhnlich zu sein. Jedenfalls ist aber die
Methode bisher nicht geeignet zu sicherer Unterscheidung epileptischer
Störungen gegenüber hebephrenen Erkrankungen, noch auch ist sie im¬
stande, uns für prognostische Beurteilungen von Epilepsiefällen sichere
Hinweise zu geben; ihr negativer Ausfall findet sich auch bei klinisch
einwandfreien Epilepsiefällen, besonders bei Kindern; doch wurde auch
bei diesen ein positiver Ausfall gegenüber Gehirn bei gehäuften Anfällen
öfters beobachtet. Es ist auffallend, daß bei jugendlichen Anfällen öfters
Keimdrüsen, zuweilen Thyreoidea, abgebaut werden. Es wäre daher
möglicherweise noch zu erwägen, ob nicht einzelne dieser Jugendlichen
gar nicht zu den Epileptikern zu rechnen sind, sondern daß es sich um
epileptiforme Anfälle im Beginn der Dementia praecox handeln könnte,
oder daß einzelne dieser Anfälle bei den Kindern in die Tetaniegruppe zu
rechnen wären. Bei unseren Fällen hatten wir bisher nicht diesen Eindruck.
Plaut -München: Das Abderhaldensche Dialysierverfahren
in der Psychiatrie.
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732
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Die theoretischen Grundlagen des Verfahrens können noch keines¬
wegs als gesichert angesehen werden. Es ist weder bewiesen, daß es sich um
spezifische Fermente handelt, noch daß überhaupt das bei der Reaktion
ausschlaggebende Prinzip, d. h. die Träger der behaupteten Spezifizität
der Reaktion, Fermente sind. Es könnte sich ebensowohl um Antikörper
handeln.' Dann weiß man nicht, ob eine Vermehrung von dialysablen
AbbaustoiTen bei dem 16 stündigen Aufenthalt der Schläuche im Brut¬
schrank überhaupt auf einen Abbau der Organstückchen schließen läßt;
so haben wir an Stelle von Organstückchen nicht abbaufähige anorganische
Substanzen (Kaolin, Bariumsulfat u. a.) verwendet und damit auch posi¬
tive Reaktionen erzielen können. Auch Friedemann und Schönfeld, die
Stärke an Stelle der Organstückchen benutzt haben, erhielten positive
Reaktionen. Diese Erfahrungen weisen darauf hin, daß es sich gar nicht
um Organabbau in jedem Falle handeln muß, sondern daß es sich um
eine infolge der Anwesenheit von korpuskulären Elementen im Dialysier-
schlauch veranlaßte Steigerung der Abbauvorgänge im Serum handeln
könnte.
Schließlich 1 ist von einer Reihe von Autoren, u. a. von Michaelis, die
Methodik infolge der verschiedenen Durchlässigkeit der Schläuche für
prinzipiell unbrauchbar erklärt worden.
Die Möglichkeit, daß die Reaktion von falschen Voraussetzungen
ausgeht, beweist natürlich wenig gegen ihre praktische Brauchbarkeit.
Bei der Wasser/nan/ischen Reaktion mußte die Theorie auch häufig
umgebaut werden, und sie ist immer noch nicht völlig klargelegt. Trotzdem
gestattet uns die JVassermannsche Reaktion, die Diagnose auf Syphilis
zu stellen.
Ebenso werden wir den klinischen Wert des Abderhaldenschen Dialy-
sierverfahrens lediglich davon abhängig machen müssen, ob sich seine Er¬
gebnisse mit den klinischen Diagnosen zur Deckung bringen lassen.
Fauser ist es nun bekanntlich gelungen, sehr bemerkenswerte Unter¬
schiede im Verhalten der Sera bei verschiedenen psychischen Erkrankungen
ausfindig zu machen, und eine Anzahl von Autoren haben Fausers Befunde
bestätigt. Um nur das Wichtigste zu nennen, soll ein ziemlich regel¬
mäßiger Abbau von Keimdrüsen sich bei Dementia praecox finden, ein
Abbau von Gehirn nur bei „nicht funktionellen“ Gehirnkrankheiten, be¬
sonders regelmäßig bei der Paralyse, während nicht organische Erkrankun¬
gen, wie Hysterie oder manisch-depressives Irresein, keinen Gehirn- und
keinen Keimdrüsenabbau zeigen.
Ich habe an unserer Klinik in München die Untersuchungen aufge¬
nommen, nachdem ich unter Leitung des an die Rombergsche Klinik in
München übergesiedelten Assistenten Abderhaldens, Dr. Lampt, auf das
gründlichste mich in alle Feinheiten der komplizierten Methodik einge¬
arbeitet hatte.
Die Resultate, die ich dann mit einer Technik, die wirklich nicht
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
733
' verbesserungsfähig war, erhielt, stimmten keineswegs mit den
?erschen Befunden überein.
Gewiß sahen auch wir positive Reaktionen bei Dementia praecox
nüber Keimdrüsen, aber auch Manisch-depressive und Hysterische
ten Keimdrüsen ab. Ganz entsprechend fielen die Befunde aus gegen-
r Gehirn; neben Paralysen und Dementia-praecox-Fällen reagierten
h Hysterische und Manisch-depressive positiv. Und was nun besonders
enklich ist und zahlenmäßige Angaben ziemlich wertlos macht, ist der
istand, daß ein und dasselbe Serum, mit mehreren gleichartigen Organen,
ra mit drei verschiedenen Hoden, im gleichen Versuche eingestellt, meist
iz verschiedene Resultate liefert. Sie können dann einen solchen Fall
t demselben Recht unter die positiven wie unter die negativen Resultate
^istrieren.
Das einzige, was wir bestätigen können, ist, daß weibliche Sera keine
öden und männliche Sera keine Ovarien abbauen. Von irgendwelchen
athognostischen Beziehungen zwischen Serum und Organ kann jedoch nach
nseren Erfahrungen bei keiner psychiatrischen Krankheitsform gesprochen
rerden. Wir müssen also, so sehr wir das selbst bedauern, die Methode
As dilferentialdiagnostisches Hilfsmittel auf unserem Gebiet ablehnen.
Wir haben uns dabei nun nicht beruhigt, sondern zuerst Herrn Dr.
Lampe und später Herrn Dr. Fauser gebeten, Sera von Kranken unserer
Klinik ohne vorherige Mitteilung der Diagnose zu untersuchen.
Herr Dr. Lampe hat nur Untersuchungen gegen Hoden vorgenommen,
und zwar bei 17Fällen. Es reagierten sicher positiv von 9 Dem.-präc.-Fällen 5,
von 4 Hysterien 3; zweifelhaft positiv reagierte ein weiterer Fall von De¬
mentia praecox, ferner ein chronischer Alkoholist und ein Epileptiker.
Negativ gegen Hoden reagierten 3 Fälle von Dementia praecox, ein Hy¬
sterischer, ein Manisch-depressiver und ein Epileptiker.
Die Resultate stimmen also mit den unserigen überein: positive
Hodenreaktion bei Dementia praecox, aber ebensowohl bei anderen Krank¬
heitsformen.
Die Befunde, welche Herr Dr. Fauser bei den ihm von uns über
sandten Seren erhielt, ergeben sich aus nachfolgender Tabelle:
Zahl
der
Fälle
Rinde
Hoden
Schild¬
drüse
+ 0
+ 0
+ 0
Dem. praecox.
4
3 1
2 2
1
Hyster. Psychopath.
4
2 2
2 2
1
Man. depr. Irres.
2
2
1 1
1
Paralyse ...
3
1 2
0 3
Alkoholismus.
1
1
1
1
Arterioskler. Dem.
1
1
1
1
15
9
6
0
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Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
734
Verhand langen psychiatrischer Vereine.
Dann wurden noch zur Bestimmung der Geschlechtsspezifizität
5 Sera von Dementia praecox, 4 Frauen und 1 Mann, nach Stuttgart
gesandt, und die Resultate trafen zu; wie ja auch wir — wie bereits erwähnt
— bestätigen konnten, daß Männer nicht mit Ovarien und Frauen nicht
mit Hoden reagieren.
Erwähnenswert ist noch, daß Herr Fauser zu dem Ausfall eines
Versuches, in dem ein Alkoholist und ein Katatoniker Hoden und Gehirn,
und zwar beide Kranke Hoden stärker als Gehirn, abbauten, schrieb, die
Reaktionen dieser beiden Fälle ließen sich kolorimetrisch nicht unter¬
scheiden.
Man wird verstehen, daß wir nach diesen Erfahrungen die Über¬
zeugung von der Unbrauchbarkeit der Methode in diagnostischer Be¬
ziehung gewinnen mußten. Die Methode versagt offenbar auch bei Herrn
Dr. Fauser, sobald er die Fälle ohne Kenntnis der klinischen Diagnosen
untersucht. Es bleibt also zur Erklärung der stimmigen Resultate, die
erzielt worden sind, nur übrig, daß die Untersuchungen sie nicht in objek¬
tiver Weise ergeben haben, sondern daß sie hineininterpretiert worden
sind. Die Methode gestattet nun subjektive Deutungen in ganz besonderem
Maße, und sie fügt sich gewissermaßen, sobald der Glaube stark genug ist.
Sobald etwas der Erwartung nicht entspricht, werden die zahlreichen
erkennbaren und nicht erkennbaren Fehlerquellen herangezogen, um die
unstimmigen Resultate zu erklären. Die Methode ist förmlich von einem
Wall von Fehlerquellen umgeben, hinter dem man immer Deckung findet,
wenn man sie braucht. Abderhalden hat die Parole ausgegeben, wenn es
nicht stimmt, liege es an Versuchsfehlern. Man kann sich unschwer vor¬
stellen, welche Suggestion ein derartiger Satz ausüben muß; es ist wohl
begreiflich, daß manche einer solchen Suggestion nicht standhalten konnten.
Nun ist gewiß nicht zu erwarten, daß Fauser und seine Anhänger
sehr bald von ihrem Glauben lassen werden. Aber das müssen wir von
ihnen verlangen, daß sie bei praktischen Entscheidungen nicht ihre Dialyse¬
resultate mitsprechen lassen, daß sie nicht Entbindungen einleiten, Opera¬
tionen veranlassen, Kriminelle exkulpieren. Wenn die Herren damit fort¬
fahren, wird die Sache bedenklich. (Der Vortrag erscheint ausführlich
an anderer Stelle.)
Die Besprechung dieser Vorträge wird auf die letzte Sitzung ver¬
schoben.
3. Sitzung,
25. April, 9 Uhr vormittags.
C/AfenAidA-Straßburg: Über experimentelle Syphilisfor¬
schung.
Die bisherigen Arbeiten des Vortr. und seiner Mitarbeiter, vor allem
von Mulzer, erstrecken sich, wie sie sich historisch entwickelt haben,
1. auf die experimentelle Therapie der Syphilis,
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Deutscher Verein für Psychiatrie. 735
2. auf den Infektionsmodus, das klinische Bild und den Verlauf
der Impfsyphilis bei Tieren, insbesondere bei Kaninchen,
3. auf die Infektiosität des Blutes und anderer Körperflüssigkeiten
syphilitischer Menschen,
4. auf das Studium der sogenannten parasyphilitischen Erkrankun¬
gen, insbesondere der Paralyse und der Tabes.
Ausgehend von den Erfolgen Kochs bei der Atoxylbehandlung der
Schlafkrankheit versuchte U. dieses Mittel bei der Dourine der Pferde und
weiterhin bei der Spirillose der Hühner und hatte hierbei unzweifelhafte
kurative und präventive Erfolge. Auch bei der Rekurrenserkrankung und
bei der Affen- und Kaninchensyphilis war die Behandlung mit Atoxyl
erfolgreich. Beim Menschen hatte dagegen die Anwendung des Mittels
die bekannten unangenehmen Nebenwirkungen. So kam U. dazu, ein
Kombinationspräparat von Quecksilber und Atoxyl herzustellen, das
atoxylsaure Quecksilber, das sich im Tierversuch bei experimenteller
Kaninchensyphilis und auch beim Menschen als dem Quecksilber über*
legen erwies. Vom Atoxyl ausgehend ist dann Ehrlich durch chemische
reduzierende Modellierung des Atoxyls zum Salvarsan gelangt, das be¬
züglich seiner wissenschaftlichen Genese aus dem Atoxyl hervorge¬
gangen ist. Auch Antimonpräparate hatten recht gute schützende und
heilende Eigenschaften gegenüber der experimentellen Kaninchensyphilis,
ln neuerer Zeit wurden von U. eine ganze Anzahl von Antimonpräparaten
bei Spirochäten- und Trypanosomenkrankheiten hinsichtlich ihrer chemo¬
therapeutischen Wirkung studiert und insbesondere das kolloidale Antimon
als recht gut wirkendes Mittel bei Trypanosomenerkrankungen, weniger
bei Hühnerspirillose und Syphilis gefunden. Interessant ist auch die Tat¬
sache, daß die dem Atoxyl und Salvarsan der chemischen Konstitution
nach entsprechenden Antimonpräparate bei Syphilis und Hühnerspirillose
sich als unwirksam erwiesen haben.
Bezüglich der Kaninchensyphilis geht U. zunächst auf die Impf¬
technik ein und erwähnt dann, daß die Virulenz der Spirochaeten in den
höheren Passagen gestiegen ist. Das dokumentierte sich vor allem in dem
großen Prozentsatz positiver Impferfolge in den höheren Passagen, in der
Verkürzung der Inkubationsdauer und in der Zunahme der Intensität und
Schwere der Hodenerkrankung. Bis jetzt konnten die Spirochäten bis
zur 31. Kaninchenhodenpassage fortgeimpft werden. Von anfänglich
8 bis 25 % positiven Impfungen stieg der Prozentsatz auf 75 bis 100. Nach
Beschreibung des klinischen und pathologisch-anatomischen Bildes der
Hodenerkrankungen, die als primäre Kaninchensyphilis zu bezeichnen
sind, weist U. darauf hin, daß auch diese scheinbar rein lokale Erkrankung
doch als Allgemeininfektion anzusehen ist. Es erkranken nämlich die
benachbarten Leistendrüsen, es kann der andere nicht geimpfte Hoden
erkranken, es gibt gelegentlich sekundäre Hornhauterkrankungen, die
Überimpfungen von Leber-Milz-Knochenmark-Brei eines lokal hoden-
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736 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
kranken Kaninchens fallen positiv aus. Schon 8 Tage nach der Ein¬
impfung in den Hoden sind das Blut und nach weiteren 8 Tagen die inneren
Organe (Leber, Milz) infektiös, was sich durch Überimpfung des Blutes
und der Organe auf Kaninchenhoden beweisen ließ.
Interessant sind die Ergebnisse U.s mit seiner Methode der intra¬
venösen bezw. intrakardialen Einimpfung von Spirochätenhodenemulsion,
vor allem bei jungen Tieren. Fast 100% der geimpften Tiere erkranken
an schwerster Allgemeinsyphilis. 6 bis 8 bis 10 Wochen nach der Ein¬
spritzung fängt das Fell des Tieres an, struppig zu werden, die Freßlust
scheint vermindert, eine allgemeine Abmagerung macht sich geltend.
Kurze Zeit nachher zeigt sich als erstes manifestes Symptom der Syphilis
beiderseits an der knorpeligen Nasen Öffnung ein kleiner, derb-elastischer
Tumor. Auch am Schwanzende tritt eine Auftreibung auf, fernerhin
kommt es an verschiedenen Stellen des Gesichts zu eigenartigen runden
oder ovalen Tumoren von Linsen- bis Erbsengröße; ähnliches zeigt sich
an den Lidrändern. Es kommt zu einer Konjunktivitis, mitunter auch
zu einer typischen Keratitis parenchymatosa, ferner zu Auftreibungen der
Endglieder verschiedener Zehen, zu Paronychien und ähnlichem mehr.
Auch erwachsene Kaninchen konnten durch die intravenöse Impfung in
ähnlicher Weise allgemein syphilitisch gemacht werden. Interessant ist
die Tatsache, daß auch nach intravenöser Impfung eine besondere Affinität
des Virus zum Hoden zu beobachten ist. Es zeigen sich nämlich häufig
dieselben Hodenerkrankungen wie nach lokaler Einimpfung in den Hoden.
Als Beweis für die syphilitische Natur der Erkrankung führt U. an: die
charakteristische Inkubationszeit, das typische, den menschlichen mani¬
festen Syphiliserscheinungen ähnliche klinische und anatomische Bild,
das Vorkommen der Spirochaeta pallida in den Krankheitsprodukten und
in der Blutbahn, die Möglichkeit der Überimpfung von Krankheitspro¬
dukten auf andere Kaninchen, von da auf Affen und wieder zurück auf
Kaninchen, endlich die Möglichkeit der Heilung durch spezifische Heilmittel.
Eine Immunitätswirkung scheint bei der Kaninchensyphilis nicht
einzutreten. Der Nachweis spezifischer Antikörper gelang nicht. Auch
über Vererbungsversuche berichtet U. kurz.
Mit Blut von primär- und sekundärsyphilitischen Menschen konnten
durch Überimpfung in einem hohen Prozentsatz typische Spirochäten-
haltige Hodenerkrankungen des Kaninchens erzielt werden. Ein Paralle¬
lismus zwischen positivem Wassermann und positivem Spirochätenbefund
scheint nicht zu bestehen. Auch mit Sperma und Milch von sekundär¬
syphilitischen Menschen konnten Impferfolge erzielt werden.
Impfungen mit Spriochätenhodenemulsion in einer Verdünnung von
1 :10 000 (davon 2 ccm) ergaben noch positive Resultate.
Zum Schluß geht U. auf die Anwendung seiner Forschungen auf
das neurologische und psychiatrische Gebiet über. Verimpfungen von
Spinalflüssigkeit in Gemeinschaft mit Steiner ergaben nur bei Sekundär-
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
737
litilcern positive Erfolge, von 11 Fällen waren 3 positiv. Auffällig
im Liquor pathologische Reaktionen fehlten. Spinalflüssigkeit
Sj>ätsyphilitikern und von Tabikern und Paralytikern ergaben nie
Resultate. Von 6 Paralytikergehirnen wurden einige Stunden
dem Tode Verimpfungen' auf Kaninchenhoden vorgenommen, es
Le nur einmal ein positives Resultat (50 Tage nach der Einimpfung
en Hoden) erzielt. Mit öehirnbrei syphilitischer Kaninchen konnte
lehreren Fällen bis jetzt nie und mit Rückenmark nur einmal ein typi-
r spirochätenhaltiger Hodentumor erzeugt werden, während Blut,
er und Milz derselben syphilitischen Kaninchen sich jedesmal als in-
Aös erwiesen. Es kann dies mit der Menge der Spirochäten im Gehirn
immenhängen.
Schließlich werden noch die im Beginn stehenden Untersuchungen
*r direkte intraspinale und intraneurale Einimpfung von Spirochäten-
kVeriai und die Kombinationsversuche erwähnt, die in der Weise aus¬
führt waren, daß die syphilitisch gemachten Tiere auch noch in irgend¬
wer anderen Weise geschädigt wurden.
Eine große Anzahl von Diapositiven, von Präparaten und Moulagen
>ranschaulichte den außerordentlich interessanten Vortrag.
♦Sfeiner-Straßburg: Beiträge zur experimentellen Syphilis
es Nervensystems.
Vortr. geht von der eigenartigen Erscheinung aus, daß nur ein Teil
er manifest-syphilitischen ausgewachsenen Kaninchen krankhafte Ver-
nderungen am Zentralnervensystem aufweist, und stellt sich die Frage,
)b es möglich sei, durch eine besondere Anordnung der Impftechnik bei
edem Tier syphilitische Veränderungen im Zentralnervensystem zu er¬
zeugen. Es wurden deshalb eine größere Anzahl von Kaninchen, und zwar
Albinos, da die Empfänglichkeit des Zentralnervensystems bei diesen Tieren
uischeinend eine größere ist, im Verlauf mehrerer Monate 4- bis 5 mal
nit Spirochätenhodenaufschwemmung in einer Menge von 5 bis 10 ccm
intravenös geimpft. Von den bis jetzt getöteten Tieren weisen alle genau
den gleichen krankhaften Befund auf, der am Schluß des Vortrages an
Diapositiven demonstriert wird. Offenbar wird durch die Häufigkeit des
Ansturms der Spirochäten gegen das Zentralnervensystem eine Ansiedlung
der Erreger in ihm eher ermöglicht. So ist es wohl zu erklären, daß mit
Hille der mehrfachen intravenösen Impfung mit Spirochätenhodenauf-
^chwemmung ausgewachsene Kaninchen in ihrem Zentralnervensystem
ohne Ausnahme syphilitisch zu machen sind. Die Veränderungen zeigen
den Charakter von primärentzündlichen Prozesse^, es fehlen dagegen
primärdegenerative Veränderungen, wie sie der menschlichen Tabes und
der progressiven Paralyse zukommen.
Mit Methoden, die den experimentellsyphilitischen Kaninchen noch
sonstige akute oder chronische Schädigungen zufügten, wurden bisher
schwerere syphilitische Veränderungen des Zentralnervensystems nicht
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738
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
erzielt. Auch die direkte Einimpfung der Spirochäten in das Zentral¬
nervensystem ergibt nur bei einem Teil der Kaninchen schwerere Ver¬
änderungen, die schon verhältnismäßig bald nach der Einimpfung auf-
treten. Der Spirochätennachweis in solchen Veränderungen ist dem
Vortr. nie gelungen. Man muß wohl, vor allem mit Rücksicht auf die
bei einem großen Teil der ins Gehirn geimpften Tiere fehlenden krank¬
haften Veränderungen des Nervensystems und im Hinblick auf die nega¬
tiven Ausfälle der von Uhlenhuth und Mulzer vorgenommenen Überimpfung
von Gehirn und Rückenmark syphilitischer Kaninchen eine verhältnismäßig
große Resistenz des Zentralnervensystems des Kaninchens gegenüber
der Spirochäteninfektion annehmen. Eine neue Versuchsreihe, die Vortr.
unternommen hat, stellt einen weiteren Beweis für die Resistenz des
Zentralnervensystems des Kaninchens gegenüber der Spirochäteninfek¬
tion dar.
Mit Hilfe einer besonderen Methode lassen sich beim Kaninchen
einige Kubikzentimeter (2 bis 4) Liquor cerebrospinalis rein gewinnen,
ohne daß das Tier darunter wesentlich geschädigt wird. Es ist auch möglich,
nach der Liquorentnahme Flüssigkeit zu injizieren, die nur in den Liquor
gelangt und ohne besondere Schädigung des zentralen Nervensystems
eingeführt werden kann. So wurden in den Liquor von 6 Kaninchen 1 bis
1 y 2 ccm Spirochätenhodenaufschwemmung injiziert. Die Wassermann&chet
Reaktion war bei allen Tieren vorher negativ gewesen, eine Zellvermehrung
wurde ebensowenig wie eine Erhöhung des Eiweißgehaltes festgestellt. In
Abständen von 14 Tagen, 4 Wochen, 5 Wochen, 6 Wochen und 9 y 2 Wochen
wurde je ein Tier wiederum punktiert und der Liquor untersucht. Die
Wassermaimsche Reaktion war jedesmal negativ, eine Zellvermehrung
fand sich nicht. In keinem Falle konnten bei der Dunkelfelduntersuchung
Spirochäten nachgewiesen werden, obwohl jedesmal mehrere Präparate
durchsucht wurden. Eine Eiweißuntersuchung konnte wegen der zu
kleinen Menge Liquor nicht immer vorgenommen werden. Ein Kaninchen
ist Anfangs April zum zweiten Mal in den Liquor mitSpirochätenhodenauf-
schwemmung geimpft worden, nach 14 Tagen wurde Liquor entnommen
Es zeigte sich wieder eine n ega ti ve FF asserman nsche Reaktion, Spirochäten
waren ebenfalls nicht nachweisbar. Alle Tiere blieben bis jetzt gesund;
syphilitische Erscheinungen fanden sich an ihnen nicht, während die in
den Hoden geimpften Kontrolliere nach der üblichen Inkubationszeit in
typischer Weise erkrankten. Die direkte Einimpfung der Spirochäten, die
sich bei Einiihpfung in den Hoden als virulent erweisen, in das das Zentral¬
nervensystem umspülende Medium führt also nicht zu einer Infektion.
Bemerkenswert ist weiterhin, daß die eingeführten Spirochäten auch bei
ihrem Zugrundegehen keine Entzündungserscheinungen im Liquor hervor¬
gebracht haben, und daß die Spirochäten bezw. die Spirochätenleichen
nicht genügt haben, eine positive TFassermannsche Reaktion im Liquor
der Kaninchen hervorzurufen. Nach v. Wassermann hat ja auch seine
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
739
Reaktion keine direkte Beziehung zu den Spirochäten selbst, sondern zu
den zeUigen Bestandteilen, vornehmlich den Lymphozyten. Zu Kontroll-
zwecken haben wir uns auch davon überzeugt, ob der Liquor nicht schon
an und für sich hämolytisch wirke, dies war nie der Fall. Kontrollunter-
suchungen des Liquor bei normalen Tieren ergaben immer negativen
Wassermann im Liquor. Auch bei 4 schwer syphilitischen Tieren fand Vortr.
das Liquorpunktat ebenfalls auf Wassermann negativ reagierend. Wichtig
ist bei allen diesen Versuchen, daß der Liquor nicht mit Blut vermischt
wird, weil die Wassermannsche Reaktion im Blutserum auch bei ganz
gesunden Kaninchen häufig positiv ist und eine Blutbeimengung zum
Liquor leicht eine positive Reaktion der Spinalflüssigkeit Vortäuschen kann.
Worauf die Resistenz des Zentralnervensystems gegenüber dem
Erreger beruht, ist nur an der Hand neuer Erfahrungstatsachen zu ent¬
scheiden. Versuche hierüber sind im Gange.
WeygantU und Jafroft-Hamburg: Beiträge zur experimentellen
Syphilis des Nervensystems.
In der Irrenanstalt Friedrichsberg wurde, neben der Untersuchung
von intra vitam exstirpierten Großhirnrindenteilen und der Überimpfung
des Bluts und Liquors von Paralytikern auf Kaninchen, vor allem das
Nervensystem syphilitischer Kaninchen und Affen untersucht. Eine große
Versuchsreihe sollte das Schicksal der in das Hirn eingeführten Spiro¬
chäten feststellen; die Tiere wurden Stunden, Tage, Wochen oder Monate
nach der zerebralen Injektion abgetötet, aber lebende Spirochäten waren
nur zweimal nachweisbar, einmal nach 17 Tagen und einmal nach 5 Mona¬
ten. Anscheinend ist das Hirngewebe kein günstiger Nährboden für unser
Spirochätenmaterial. Im Gegensatz zu den Straßburger Versuchen sind
in Hamburg die syphilitischen Affekte der Haut recht selten gewesen,
dagegen zeigte die Mehrzahl der überhaupt mit Erfolg geimpften Kaninchen
anatomisch Veränderungen im Nervensystem. Von 34 intravenös ge¬
impften Tieren zeigten 63 %, von 28 intratestikulär mit Erfolg geimpften
72% Veränderungen im Zentralnervensystem, wobei auch ganz zirkum¬
skripte leichte meningeale Infiltrationen als positiv gelten. Ferner wurden
noch Affen intralumbal und Affen und Kaninchen intrazerebral geimpft.
Am häufigsten war das Zentralnervensystem betroffen bei den Hoden-
tieren. Meist bestand meningeale Reizung, mehrfach von der Meningitis
ausgehend auch enzephalitische Veränderungen in den äußeren Rinden¬
teilen, und einigemal fanden sich auch herdförmige Erkrankungen im
zentralen oder peripheren Nervensystem. Mehrfach zeigte sich bei den
zerebral geimpften Tieren wohl eine Meningoenzephalitis, aber die In¬
jektionsstelle selbst war reaktionslos.
Von den Lueseffekten außerhalb des Nervensystems war gelegentlich
das Zurückbleiben des Gesamtwuchses gegenüber gleichaltrigen normalen
Tieren zu erkennen. Manchmal wurde das Fell struppig. Viermal wurde
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Keratitis parenchymatosa beobachtet. Mehrfach kam es zu extremer
Abmagerung trotz reger Freßlust. Die beobachtete schiefe Haltung des
Kopfes beruhte zweimal auf Labyrintheiterung. Ein Tier fiel durch tor¬
pides Verhalten auf. Mehrere Tiere zeigten ante mortem Krämpfe und
spastische Extremitätenhaltung.
Unter den Veränderungen des Zentralnervensystems sind zu
unterscheiden: 1. meningeale Reizung, 2. endarteriitische und infiltrative
Erscheinungen mit Lymphozyten und Plasmazellen, 3. granulomartige
Bildungen, an miliare Gummen erinnernd, 4. periarteriitische Erscheinun¬
gen mit Ausstreuung von Plasmazellen in das umliegende Gewebe, 5. par¬
enchymatöse Veränderungen mit Gliawucherung und Nervenzellverände-
rung ohne direkte entzündliche Momente. Letzteres spricht dafür, daß
neben entzündlichen Prozessen auch toxische Vorgänge in Betracht
kommen.
Bestimmte Anhaltpunkte für eine neurotrope Eigenart einzelner
Stämme haben sich noch nicht ergeben. Zur Untersuchung, inwiefern eine
individuelle Empfänglichkeit die Nervensyphilis begünstige, wurden schon
1913 Kombinationsversuche vorgenommen, von denen bisher folgende
in Untersuchung begriffen sind: 1. Trauma capitis, 2. Trauma medullae
spinalis, 3. Alkoholfütterung, 4. Cholesterinfütterung. Besonders deutliche
Erfolge der Kombination eines solchen Faktors mit Syphilisimpfung sind
noch nicht zu erkennen; die Cholesterintiere, sowohl die syphilitischen
als auch die ohne Lues, zeigten nach längerer Fütterung ausgesprochene
Atheromatose der Aorta.
Anatomisch untersucht sind bis jetzt im ganzen etwas über 110 Tiere
mit Einschluß der Tiere mit zweifellosen Mischinfektionen, deren histo¬
logische Veränderungen, soweit wir bis jetzt sehen konnten, anders geartet
sind.
An der Hand von Diapositiven werden die charakteristischsten
histologischen Befunde im Nervensystem der syphilitisch infizier¬
ten Kaninchen erläutert und dabei betont, daß sich die Veränderungen
bei den intravenös und intrazerebral geimpften Tieren sowohl als auch
bei den positiven Hodenkaninchen in allen histologischen Einzelheiten
entsprechen. Die entzündlichen Veränderungen, häufig nur in den binde¬
gewebigen Hüllen lokalisiert, sind bei diesen Tieren nur auf eng begrenzte
Gebiete beschränkt, bei anderen zeigen sich mehr diffuse Infiltrationen
mit gleichzeitiger Affektion des pialen Randsaums und der von den Hüllen
in das Nervengewebe einstrahlenden Gefäße, und schließlich kommt es
bei einigen Tieren zu diffus verbreiteten, von den meningealen Affektionen
unabhängigen entzündlichen Veränderungen mit Entwicklung enzepha-
litischer Prozesse und kleiner Granulome, die offenbar alle von Gefäßen
ihren Ausgang nehmen. Die Granulome zeigen im Zentrum Zerfalls -
erscheinungen, epitheloide, zum Teil mehrkernige Zellformen und bestehen
in ihren peripheren Zonen aus Schichtungen von Lymphozyten und Plasma-
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
741
i. Manchmal läßt sich beobachten, wie bei mehrschichtig infiltrierten
Öen das Lumen durch schwere, endarteriitische Prozesse verlegt wird
Entstehungsweg der Granulome). Auffallend häufig ist die Am-
shornformation bei den syphilitisch infizierten Tieren Sitz der
ländlichen Veränderungen. Ähnliche infiltrative Vorgänge — nur
ner — finden sich auch in peripheren Nerven.
Von besonderer Wichtigkeit sind noch die bei einigen Tieren unver-
nbar ausgesprochenen, von den entzündlichen Erscheinungen unab-
gig einhergehenden Parenchymerkrankungen, die in Ganglien¬
degenerationen und namentlich in deutlichen Gliaproliferationen ihren
»druck finden. Sie zeigen sich offenbar mehr bei bezüglich der syphi-
ichen Infektion älteren Tieren und sind am hochgradigsten bei einem in-
zerebral geimpften Kaninchen entwickelt, bei dem sich 5 Monate nach
r Impfung noch lebende Spirochäten im Dunkelfeld nachweisen ließen;
k Zentralnervensystem dieses Tieres sind nur sehr seltene und gering-
adige, infiltrativ-entzündliche Vorgänge zu beobachten. Bei einem ande¬
rn, intrazerebral geimpften Tiere, bei dem der Injektionskanal in den
entrikel führte, und bei dem ebenfalls 17 Tage nach der Injektion noch
bende Spirochäten im Dunkelfeld festgestellt werden konnten, zeigt sich
ine leichte basale Meningitis und ein kleiner Granulationsherd im Plexus.
Was die Schwere der Veränderungen, namentlich der entzünd-
«hen, angeht, so sind die ganz jung intravenös geimpften Tiere bevor-
ugt; aber auch bei Tieren mit Hodensyphilis können sie sehr intensiv
■ntwickelt sein. Sehr virulente Stämme scheinen auch die Affektionen
les Zentralnervensystems zu begünstigen. Jedenfalls gab uns ein außer¬
ordentlich virulenter Stamm, der in über 90% bei Hodenimpfung anging,
mh die meisten Oehirnbefunde. Auffallend ist, daß dieser Stamm bei
weiteren Passagen sehr rasch seine Virulenz einbüßte. Weitaus am
schwersten im Nervensystem affiziert ist ein Tier mit Hodensyphilomen,
das in relativ kurzer Zeit stark abmagerte; Milz- und Leberbrei von diesem
Tiere zwei anderen Kaninchen in die Hoden verimpft, erzeugte nach
Tagen doppelseitige spirochätenreiche Skrotaltumoren.
Zum Schlüsse werden die histologischen Befunde am Nervensystem
der syphilitischen Kaninchen mit ähnlichen Erscheinungen der mensch¬
lichen Paralyse verglichen und entsprechende Photogramme demon¬
striert, wo sich — namentlich bei akut verlaufenen oder im Status ge¬
storbenen Paralysen— nicht zu selten enzephalitische Vorgänge (zahlreiche
Plasmazellen frei im Gewebe) und kleinere Lymphozyten und Plasmazell¬
herde in der Hirnrinde auffinden lassen, die den bei den Kaninchen ge¬
fundenen herdförmigen Prozessen sehr ähnlich sind. Besonders inter¬
essante Vergleichsbilder lieferte ein Fall von progressiver Paralyse,
wo sich neben zahlreichen kleinen Infiltrationsherden in der Nähe der
Gefäße miliare Gummen neben dem charakteristischen Prozeß der
Paralyse in der Hirnrinde entwickelt hatten.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Förster- Berlin: Tierimpfungen mit Spirochäten von Para¬
lytikern.
F. berichtet über Versuche zur Frage der Paralysespirochäte, die
er gemeinschaftlich mit Tomasczewski angestellt hat. Es wurden von
61 Paralytikern mittels der Neisser-Pollackschen Hirnpunktion Hirn-
zylinder entnommen und im Dunkelfeld untersucht. 27 mal, d. h. in 44 %,
wurden Spirochäten gefunden. Das Punktionsmaterial von 53 Fällen
wurde 60 Kaninchenböcken in die Hoden geimpft. 15 Tiere wurden über
2, 40 über 4 Monate beobachtet, ohne daß irgendwelche Infektionserschei¬
nungen auftraten. Außerdem wurden 13 Affen ausschließlich mit spiro¬
chätenreichem Punktionsmaterial in die Lider geimpft. Von diesen Affen
waren 7 über 4 Monate in Behandlung, einer starb 27 Tage nach der In¬
fektion, 5 zwischen 60 und 90 Tagen. Aus diesen Versuchen geht hervor,
daß die Spirochäte des Paralytikergehirns biologisch verändert sein muß.
Ob diese Veränderungen, wie Ehrlich das theoretisch vermutet, daran liegen,
daß besondere Spirochätenstämme sich allmählich dem Hirn anpassen,
ist noch nicht sicher. Es sind Untersuchungen im Gange, ob die Lipoid¬
substanz des Hirns allein die Virulenz nicht schon herabsetzt. Bei der
Spärlichkeit der Beobachtungen anderer Autoren über geglückte Infek¬
tionen mit Paralysehirn ist vielleicht daran zu denken, daß in solchen Fällen
eine Kombination von Paralyse- und Hirnsyphilis vorlag. Von diesen Ge¬
sichtspunkten aus wäre es wichtig, näheres über den Patienten zu erfahren,
mit dessen Hirn Uhlenhuth eine Infektion geglückt ist.
Wenn die Frage der Beziehungen zwischen Spirochäte und Paralyse
auch noch keineswegs geklärt ist, so bahnt sich doch durch diesen Nachweis
der biologischen Veränderung der Paralysespirochäte ein Verständnis an.
Jedenfalls kann die Ansicht Rüdins, daß kulturelle Verschiedenheiten von
direktem (also nicht auf dem Umwege von anderen Lebensgewohnheiten
usw.) Einfluß auf das Zustandekommen der Paralyse sind, nunmehr als
definitiv erledigt gelten.
O. Fischer- Prag: Über das Vorkommen von gummös-lui-
schen Veränderungen im Rückenmark von Paralytikern.
Die miliaren Gummen Sträußlers kommen etwa in 4% der paralyti¬
schen Gehirne vor; aber auch im Rückenmark von Paralytikern findet F.
recht häufig, wenn auch nur vornehmlich mikroskopisch sichtbare, gum¬
möse Veränderungen. Es werden Präparate folgender Fälle demonstriert:
1. Paralyse mit radikulärer Tabes, wobei die Wurzeldegeneration
durch gummöse Veränderungen von mikroskopischer Größe hervor¬
gerufen war.
2. Paralyse mit gummöser Myelitis des Hinterstranges.
3. Paralyse mit einem mikroskopischen Gummi des Ligamentum
denticulatum mit reichlichen Riesenzellen und einem kleinen Gefäßgummi
des Seitenstranges.
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743
4. Paralytisches Rückenmark mit zirkumskripter schwieliger Ver-
ung der Meningen an der hinteren Peripherie und mehrerer kleinster
imiknötchen in dem Hinterstrang mit eingelagerten Riesenzellen.
Diese 4 Fälle ergeben sich bei der systematischen Durchsuchung
1 15 paralytischen Rückenmarken, und mit dem Prozentsatz der miliaren
ngummen ergibt sich eine ganz besondere Häufigkeit gummöser Yer-
lerungen im Zentralnervensystem bei Paralytikern. F. betont dabei,
1 die Rindengummen noch viel häufiger sein müssen, da sie nur solitär
rkommen und man bei der gewöhnlichen Hirnuntersuchung kaum Viooo«
• Hirnrinde durchsucht. F. findet weiter recht häufig kleinste narben-
ige Veränderungen in der paralytischen Hirnrinde, von denen zum minde-
n ein großer Teil auf derartige ausgeheilte miliare Gummen zu beziehen
, was ja nicht verwunderlich ist, da Gummen nicht selten recht kurz-
>ige Bildungen sind.
Wenn auch erst ein recht kleines Material einer derartig Systemati¬
ken Untersuchung unterzogen wurde, so ist trotzdem schon aus diesen
lehr vorläufigen Untersuchungen ersichtlich, daß gummöse Veränderun-
en im Zentralnervensystem von Paralytikern so häufig sind, daß sie für
ie Frage der Pathologie und eventuell auch der Therapie berücksichtigt
werden sollen.
Diskussion. — Pfaut-München: Wir haben mit Mitteln, die uns
lie Laehr -Stiftung zur Verfügung stellte, seit Jahren Impfversuche mit
Paralytikermaterial gemacht. Da uns nicht die Möglichkeit gegeben war,
lebensfrisches Hirngewebe durch Himpunktion zu entnehmen, waren wir
aut Leichenmaterial angewiesen. Wir entnahmen die Organe möglichst
bald nach dem Tode — in einigen Fällen konnte dies schon 1 Stunde post
mortem geschehen — und impften zunächst auf Affen. Neben Gehirn,
Rückenmark und Pia wurden Leber, Milz, Knochenmark, Lymphdrüsen
und Hoden verwendet. In keinem Falle konnte ein Primäraffekt erzeugt
werden. Wir haben nach diesen Mißerfolgen schon vor 4 Jahren versucht,
eine Übertragung durch den Liquor herbeizuführen und haben bis in die
letzte Zeit hinein derartige Versuche gemacht. Es wurde jeweils eine
größere Menge Liquor unter Vermeidung von Abkühlung bei geringer
Tourenzahl zentrifugiert und das Sediment anfänglich Affen und späterhin
ausschließlich Kaninchen in die Testikel gespritzt.
Hin und wieder traten Vergrößerungen oder Schrumpfungen der
Testikel ein, Spirochäten ließen sich jedoch nie nachweisen, und auch die
histologischen Untersuchungen, die Herr Prof. Alzheimer an diesen Hoden
vornahm, ergaben keinen charakteristischen. Befund.
Unter einer größeren Anzahl von Untersuchungen von Paralyse-
Spinalflüssigkeiten im Dunkelfeld sahen wir zweimal sehr Spirochäten-
^wdächtige Gebilde mit lebhafter Eigenbewegung. Die Präparate, die mit
diesen Sedimenten nach der Fontanas chen Methode gemacht wurden,
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
ließen jedoch keine Spirochäten erkennen, und auch die Impfungen auf
Kaninchen verliefen erfolglos.
Es ist uns daher wieder zweifelhaft geworden, ob es sich um Spiro¬
chäten in jenen beiden Spinalflüssigkeiten gehandelt hat.
Jedenfalls können wir auf Grund unserer Untersuchungen die An¬
schauung Försters bestätigen, daß die Infektiosität der Paralysespirochäten
als sehr gering oder überhaupt zweifelhaft anzusehen ist.
Wenn es ja auch nicht ausgeschlossen werden kann, daß an den
negativen Impfversuchen sekundäre Momente beteiligt sind, so ist doch
die Möglichkeit, daß hier eine biologische Eigenart der Paralysespirochäten
im Sinne Försters zum Ausdruck gelangt, sehr naheliegend. Die Ent¬
scheidung der Frage kann von sehr weittragender Bedeutung für die
Pathogenese der sogenannten parasyphilitischen Erkrankungen werden.
i/aupfmann-Freiburg berichtet über Impfversuche mit Blut und
Liquor von Paralytikern in Kaninchenhoden und intravenös, die bisher
(5 Monate) resultatlos geblieben sind. In gleicher Weise negativ ver¬
liefen bisher (1 Monat) Züchtungsversuche von Spirochäten mit der
Schereschewskischen Methode aus Blut und Liquor von Paralytikern.
l7MenAu<A-Straßburg: Die von Herrn Weygandt berichtete Schief¬
haltung des Kopfes ist eine auch bei nicht syphilitischen Kaninchen
beobachtete Erscheinung; sie beruht häufig auf dem Vorhandensein von
Ohrmilben. Bezüglich der Impftechnik möchte ich an Herrn Förster die
Anfrage richten, ob er in die Hoden- oder unter die Hodenhüllen der Kanin¬
chen geimpft hat. Das Nichtangehen seiner Überimpfungsversuche mit
Paralytikergehirn kann mit der verhältnismäßig geringen Anzahl der über¬
impften Spirochäten Zusammenhängen, es kann dadurch verursacht sein,
daß die Spirochäten — wie es uns ja bei der Paralyse bekannt ist — sehr
ungleichmäßig im Gehirn verteilt sind, es kann aber auch — wie ja auch
Herr Förster annimmt—eine biologische Veränderung der Paralysespirochäte
eingetreten sein, die ihre Virulenz speziell für den Kaninchenhoden auf¬
gehoben hat. Analoga hierzu kennen wir aus der Protozoenkunde; so sind
z. B. Trypanosomen, nachdem sie durch Mäuse geschickt sind, für Meer¬
schweinchen nicht mehr pathogen. Auch ist in der Bakteriologie neuer¬
dings vielfach von sogenannten Mutationen die Rede. So können wichtige
Eigenschaften der Bakterien, z. B. die Agglutinationsfähigkeit, ver¬
loren gehen.
Daß biologische Veränderungen im Gehirn vielleicht besonders leicht
auftreten, könnte damit Zusammenhängen, daß das Gehirn überhaupt
kein günstiger Nährboden ist. So könnte das wenig zahlreiche Angehen
der Überimpfungen von Paralytikergehirnmaterial zu erklären sein.
Von unseren 6 Überimpfungen haben wir einen positiven Fall zu
verzeichnen; wenn wir auf so kleine Zahlen schon eine prozentuale Be¬
rechnung aufbauen dürfen, so stellt dies doch schon einen ziemlich großen
Prozentsatz dar. Daß der überimpfte positive Fall eine richtige Paralyse
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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war, darüber wird Herr Sanitätsrat Ransohoff nähere Auskunft geben
können.
O. Fischer-Prag berichtet über seine ebenfalls negativen Resultate
bei der Überimpfung von Paralytikergehirnmaterial auf Kaninchenhoden.
RansoAo#-Stephansfeld: Der Fall, über den Herr Uhlenhuth be¬
richtet hat, war eine klinisch und anatomisch einwandfreie Paralyse.
Mikroskopisch ist nicht untersucht worden. Von Einzelheiten kann ich
heute nichts angeben.
Steiner -Straßburg weist, um Mißverständnissen zu begegnen, noch¬
mals daraufhin, daß zur Erzeugung einer sicheren, anatomisch nachweisbaren
Syphilis des Zentralnervensystems beim erwachsenen Kaninchen die Methode
der mehrmaligen intravenösen Impfung mit Spirochätenhodenemulsion
von ihm empfohlen worden ist, im Gegensatz zu der Hoden- und der ein¬
maligen intravenösen Impfung, bei der eben immer Versager Vorkommen.
Förster -Berlin geht genauer auf die von ihm angewandte Impftechnik
(bei Kaninchen stets intraparenchymatös) ein und betont die Möglichkeit,
daß in den positiven Fällen von Überimpfung paralytischen Gehirn -
materials bezw. Liquors eine Kombination von Paralyse und zerebro-
sginaler Syphilis Vorgelegen haben könne.
Hilffert und Rosentaf-Heidelberg: Zur Frage der klinischen
Verwertbarkeit des Abderhaldenschen Dialysierverfahrens in
der Psychiatrie..
W. Hilffert berichtet über die zusammen mit Dr. Rosental an der
Heidelberger psychiatrischen Klinik ausgeführten Untersuchungen. Die
im Beginn der Untersuchungen allzu häufig auftretende Positivität der
Reaktionen ließ Zweifel an der Richtigkeit der ursprünglich bei Dementia
praecox erhobenen positiven Befunde aufkommen und gab Veranlassung
zu einer gründlichen Nachprüfung der Versuchsanordnung. Die Erfahrungen
hierbei deckten sich im wesentlichen mit den von Oeller und Stephan (Leipzig)
gemachten. Die wechselnde Durchlässigkeit der Schläuche für Pepton
führte dazu, die Versuche doppelt, d. h. zwei Schläuche mit dem gleichen
Organ und Serum, anzusetzen. Eine andere methodische Forderung
besteht in der Einführung der inaktiven Kontrollen. Die inaktiven Kon¬
trollen sind jedoch nur als eine Sicherung gegen die Verwertung derjenigen
positiven Reaktionen aufzufassen, welche nicht auf Fermentwirkung des
Serums, sondern auf dialysablen Substanzen anderen Ursprungs beruhen.
Aber auch die inaktiven Kontrollen genügen allein noch nicht allen Kon-
trollanforderungen. Für den Fall nämlich, daß ein im Versuch gebrauchtes
Organ Blut enthielt, konnte der fermentative Abbau des koagulierten Blut¬
körpereiweißes durch die gegen dieses auch im Normalserum enthaltenen
Fermente bedingt sein. Nach dem Vorgang von Römer und Bundschuh
(Illenau) wird deshalb als weitere Kontrolle die Verwendung von aktivem
Normalserum im Versuch nachdrücklich gefordert. Nach Anstellung der
Ninhydrinreaktion wird eine scharfe Trennung zwischen Registrierung
Z«itachrift iür Psychiatrie. LXXI. 4/5.
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der Farbreaktion und ihrer späteren praktischen Beurteilung als not¬
wendig bezeichnet. Bei der Aufstellung der Farbenskala ist es zweck¬
mäßig, zwischen die Kategorien negativ und positiv die Kategorie der
fraglichen Reaktionen (— ? und ±) einzuschalten, weil in dieser Kategorie
möglicherweise Vorstufen schwach positiver Reaktionen enthalten sein
können; im wesentlichen jedoch entsprechen wohl die fraglichen Befunde
dem negativen Ausfall einer Reaktion.
Die bei Beobachtung all dieser methodischen Kautelen durchge¬
führten Untersuchungen erstrecken sich bis jetzt auf 160 Fälle. Es wurden
62 Fälle der Dementia praecox untersucht. 38 Männer, 24 Frauen. Unter
den 38 Männern waren 3, d. h. 8 %, mit allen Organen (Gehirn, Schilddrüse
Hoden) negativ. 4 Fälle gaben positive Reaktionen mit allen Organen.
26 Fälle (63%) reagierten mit mindestens einem Organ positiv. Aus¬
schließlich fragliche Reaktionen traten 9 mal, d. h. in 22,5 % der Fälle,
auf. In 9 Fällen waren positive Reaktionen mit je 2 Organen aufge¬
treten. Bei den übrigen 13 Fällen war nur je eine positive Reaktion zu
verzeichnen.
Unter den 24 Frauen, die an Dementia praecox erkrankt waren,
waren 8% mit allen Organen negativ. Jedoch fand sich ein positives Er¬
gebnis mit 3 Organen bei den Frauen häufiger (25%) als bei den Männern
(9,5%). Es zeigte sich eine erhebliche Differenz zwischen Männern und
Frauen in bezug auf das Reaktionsverhältnis der Geschlechtsdrüsen. Es
reagierten nämlich 58% der Männer, dagegen nur 12% der Frauen negativ
mit Geschlechtsdrüse.
Bei den nicht schizophrenen Psychopathien und Normalfällen zeigten
sich folgende Ergebnisse. Es wurden 36 Fälle untersucht. Hiervon ge¬
hörten 20 Fälle dem manisch-depressiven Irresein an. Unter 10 manisch-
depressiven Männern war keine positive Reaktion vorhanden. 5 Fälle
zeigten fragliche Reaktionen. 5 waren glatt negativ. Bei den Frauen
traten in 4 Fällen, und zwar vorzugweise bei klimakterischen Depressionen,
positive Reaktionen auf. Ein Fall war mit Gehirn positiv, 3 Fälle reagierten
positiv mit Ovar. Die übrigen 6 manisch-depressiven Frauen zeigten
vereinzelte fragliche Reaktionen. Bei Hysterien (9) und Normalfällen (7)
wurden zwar keine positiven Reaktionen beobachtet, dagegen traten eben¬
falls einige fragliche Reaktionen auf. Trotz der fraglichen Befunde wurde
in keinem Falle der nicht schizophrenen Psychopathien ein
gleichzeitiger Abbau von Gehirn und Geschlechtsdrüse beob¬
achtet. Bei der Paralyse, der organischen Epilepsie sowie anderen de-
struktivea Krankheitsprozessen des Gehirns wurden in einer Anzahl der
Fälle keine Abbaufermente nachgewiesen, andere besaßen solche, und zwar
manchmal nicht nur gegen Gehirn, sondern gelegentlich auch gegen Thy¬
reoidea und Geschlechtsdrüse. — Das Untersuchungsergebnis zeigte, daß
aus den serologischen Befunden allein keine bestimmten diagnostischen
Schlüsse zu ziehen sind.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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Z?rüc*ner-Hamburg: Über die diagnostische Bedeutung der
^c il-Kafkaseben Hämolysinreaktion für die Psychiatrie.
B. stellte die Reaktion an in 100 Fällen fast ausschließlich rein
sychiatrischen Materials, darunter 40 Kontrollfälle „einfacher Seelen-
.örung“, 58 Paralysen und 2 sonstige syphilitische Erkrankungen des
»entralnervensystems. — Alle Kontrollfälle reagierten negativ, die Para-
ysen mit wenigen Ausnahmen positiv; aber auch ein Fall von Lues cerebri
iud einer von Lues latens zeigten positive Reaktionen. — Wenn somit
luch die Weil-Kafkasche Reaktion, wofür auch Befunde von Boas sprechen,
ebensowenig wie die Wassermannsehe geeignet erscheint, sichere Dif-
erentialdiagnosen zwischen Paralyse und anderen syphilitischen Er-
trajikungen des Zentralnervensystems zu gestatten, so ist sie doch des¬
wegen praktisch nicht überflüssig, da Fälle Vorkommen, in denen alle
anderen üblichen Methoden — ausgenommen die GotasoJ-Reaktion — im
Stich lassen, während die Weil-Kafkasehe Reaktion noch positive Resul¬
tate gibt. (Der Vortrag erscheint ausführlich im Archiv für Psychiatrie.)
Diskussion. — Hauptmann-Fve\b\xvg\ Die Fehlerquellen des Abder¬
haldenachen Verfahrens sind so groß, daß sie die praktische Brauchbar¬
keit einstweilen illusorisch machen; fast immer ist es möglich, Resultate,
die von der ursprünglich von Fauser aufgestellten Theorie ab weichen, zu
eliminieren, indem man irgendwelche Fehler ausfindig macht. Jede Ob¬
jektivität in der Bewertung des Abderhaldenschen Dialysierverfahrens für
die Psychiatrie hängt ab von der Beseitigung resp. Beherrschung aller
Fehlerquellen. — H. kann die Plautsehen Untersuchungen über den Ein¬
fluß anorganischer Substrate auf den Ausfall der Ninhydrinreaktion be¬
stätigen. Er hat ferner Versuche angestellt über den Grund des positiven
Ausfalles mancher Serumkontrollen, den er — entgegen den Abderhalden -
sehen Anschauungen — in einem spezifischen Abbau im Serum vor¬
handener blutfremder Eiweißkörper durch Fermente während des Ver-
weilens der Versuche im Brutschrank erblickt, wodurch manche scheinbar
unerklärlichen Resultate bedingt sein können. — Unabhängig von Stephan
kommt H . durch eigene Versuche zu der Anschauung, daß es sich bei
dem .4.-Verfahren um Körper handelt von Amboceptor-Komple-
mentbau (Reaktivierung durch Meerschweinchenserum); auch Kom-
plementbindungsversuche mit Organextrakten scheinen diese. Annahme
zu stützen. Manche negativen Resultate bei dem bisher geübten ^L.-Ver
fahren beruhen auf dem Fehlen des Komplementes im Serum, wie durch-
den positiven Erfolg bei Zusatz von Meerschweinchenserum (Kontrollen
ergaben negative Resultate) bewiesen wird. — Hoffentlich bringt die An¬
wendung des von A. angegebenen Verfahrens mit gefärbten Substraten
oder des Komplementbindungsverfahrens eindeutigere Resultate.
F. Sioli- Bonn: S . fand bei 16 Manisch-depressiven 1 mal Abbau
von Gehirn, 1 mal von Keimdrüse, 4 mal von Schilddrüse. Bei 34 Fällen
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von Dementia praecox fand er 13 mal Abbau von Gehirn, 13 mal von
Keimdrüse, 15 mal von Schilddrüse, mehrmals von Leber und Niere; bei
6 Fällen fand sich weder von Gehirn noch Keimdrüse noch Schilddrüse
Abbau. — Bei 21 Paralytikern fand sich 8 mal positive Serumkontrolle
(bei dei) über 80 Nichtparalytikern fand sich nur 2 mal positive Serum -
kontrolle), dieser Befund kann wohl nicht auf Versuchsfehlern beruhen,
sondern muß auf einer Eigenheit des Paralytikerserums beruhen, ein
gleicher Befund wurde nur von Hussels erwähnt. Im übrigen fand sich
bei den Paralytikern 7 mal kein Abbau von Gehirn, oft aber ein Abbau
von Keimdrüse, Schilddrüse, Leber, Niere. — Bei Fällen charakteristischer
seniler Demenz wäre wohl ein sehr häufiger Abbau von Gehirn zu erwarten;
S. fand ihn aber bei 13 Fällen nur 5 mal, dagegen vereinzelt den Abbau
von Keimdrüse und Schilddrüse. — Diese Befunde zeigen einen unver¬
kennbaren Unterschied von manisch-depressiven und anderen Psychosen,
wie er auch aus der Literatur immer wieder hervorgeht, mit den Fauser-
schen Reaktionstypen stimmen die Befunde andrerseits durchaus nicht
überein. — S. hat weiterhin eine Versuchsreihe, vorzugweise von senilen
Fällen, gleichzeitig mit den Gehirnen von Normalem, Katatoniker, Para¬
lytiker, Senilem begonnen: diese zeigt bemerkenswerte Unterschiede, indem
die senilen Fälle fast regelmäßig das senile Gehirn, vereinzelt aber nur
die andern Gehirne abbauen, Katatoniker- und Paralytikerserum aber
nicht das senile Gehirn abbaut. Vielleicht kann diese sonst ungeprüfte
Möglichkeit manche der widersprechenden Angaben der Literatur er¬
klären. — Es ist zu folgern, daß wir noch in einem Stadium der kritischen
Vorversuche sind, nicht der klinischen Versuchsreihen. Die unverkenn¬
baren Unterschiede lassen Plauts Verwerfung der Methode als ungerecht¬
fertigt erscheinen.
RtttersAau$-Hamburg: Die Ausführungen Plauts scheinen nicht ganz
beweisend zu sein. Er hat nur ca. 70 Fälle gegenüber einer weit größeren
Zahl anderer Untersucher. Dieselben Einwände, die man heute gegen
Abderhalden-Fauser vorbringt, hat man doch auch gegen die Wasser-
mannsche Reaktion gemacht, auch hier gibt es zweifelhafte Fälle, eine
negative und pseudonegative Schwankung und keineswegs 100% einwand¬
freie Resultate. Plaut schließt die Unzuverlässigkeit der Methode einmal
daraus, daß Dementia-praecox-Fälle negativ reagierten, er hatte dabei
aber nur Gehirn und Geschlechtsdrüsen eingestellt. Vielleicht hätten bei
entsprechender Untersuchung gerade diese Fälle Abbau anderer Organe
gezeigt. Ferner reagierten einige Manisch-melancholische und Hysterische
positiv auf Gehirn, teilweise auch auf Geschlechtsdrüsen. Nun müssen
wir aber doch gerade bei diesen Erkrankungen mehr als sonst mit der
Möglichkeit diagnostischer Überraschungen rechnen, ohne daß man sich
deshalb auf den Ursteinschea Standpunkt zu stellen braucht. Es kann
sich immer noch, auch in den scheinbar klarsten Fällen, eine Dementia
praecox entwickeln, oder das Leiden verläuft ausgesprochen chronisch und
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führt zu einer gewissen Demenz. Solche Fälle, für die R. früher den
Namen „perniziöse Manie“ bezw. „Melancholie“ vorgeschlagen hatte,
ergeben auch teilweise den Abbau von Hirnmark und -rinde. Die wider¬
sprechenden Befunde Plauts sind vielleicht ein wichtiger diagnostischer
Fingerzeig für die Zukunft.
Nissl- Heidelberg: Nach den gestrigen Vorträgen vertrat ein Teil
der Redner einen enthusiastischen Standpunkt bezüglich der Abderhalden -
Reaktion, auf der anderen Seite verwarf Kollege Plaut die Abderhaldensche
Untersuchungstechnik und die ihr zugrunde liegenden hypothetischen
Anschauungen absolut. Die Sache hat für ihn nur mehr noch ein psycho¬
logisches Interesse. Die heute zu Worte gekommenen Redner nahmen
einen mehr zurückhaltenden, abwartenden Standpunkt ein. Nach unseren
Heidelberger Ergebnissen schließe ich mich den letzteren an, ohne zu
leugnen, daß ich mich mehr noch nach links in der Richtung Plauts stellen
möchte. Es kann zurzeit absolut noch nicht davon die Rede sein, den
Ausfall der Reaktion irgendwie klinisch zu verwerten. Aber einer so de¬
finitiven Aburteilung, wie ich sie gestern von Plaut gehört habe, kann ich
durchaus nicht zustimmen. Vor allem habe ich in dem Vortrage von
Plaut eine überzeugende Begründung seines Urteils vermißt. — Mag auch
die Technik zurzeit noch recht ungenügend sein, mögen auch die hypotheti¬
schen Grundlagen, die zu dieser Technik geführt haben, falsch sein, eines
läßt sich nicht einfach wegdisputieren, daß nämlich bei sorgfältigster und
kritischer Ausführung der bisherigen Technik, bei größeren Kontrbll-
ansprüchen, als sie selbst Abderhalden verlangt, bei Ausschaltung des
psychologischen Momentes dadurch, daß der die Befunde registrierende
und durch einen zweiten kontrollierte Arzt keine Ahnung hat, um welche
Fälle es sich handelt, und endlich bei Einführung von Zwischengraden
zwischen den klar ausgesprochenen negativen und den positiven Be¬
funden — allerdings zunächst klar nur bei dem männlichen Geschlecht
die nicht schizophrenen Psychopathen ein übereinstimmendes und ein
wesentlich anderes Resultat geben als andere Fälle. Dieses Ergebnis gibt
zu denken. Ich bitte Sie, betrachten Sie einmal genau unsere Heidel¬
berger Tabellen. Ist da die Vermutung unberechtigt, daß hinter der kom¬
plizierten Seite nicht doch ein richtiger Kern steckt? Es ist recht billig,
einfach zu sagen, daß das gesamte Resultat ein Zufall sein kann. Ich
möchte vielmehr sagen, daß wir die Pflicht haben, weiterzuarbeiten und
uns zu bemühen, die Technik zu vervollkommnen. Der Grundgedanke der
Wassermarenschen Reaktion ist doch auch recht hypothetisch, um nicht
zu sagen falsch, und wir arbeiten bei ihr im Grunde wie mit einer Gleichung
mit vielen Unbekannten, und doch hat sich die Wasaermannsche Reaktion
als ein wichtiges Hilfsmittel für die Klinik erwiesen. Also Weiterarbeiten
und nicht ohne weiteres bei viel widersprechenden und unverständlichen
Resultaten das Kind mit dem Bade ausschütten. Auf der anderen Seite
über halte ich es für einen groben Unfug, heute schon die Resultate klinisch
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zu verwerten oder gar in forensischen Gutachtenfällen oder zur Indika¬
tionsstellung für chirurgische Eingriffe sie mitzubenutzen.
-BundscAuA-lllenau weist auf seine zahlreichen, gemeinsam mit
Roemer ausgeführten Untersuchungen hin, deren Ergebnisse im großen
ganzen mit denen Fausers und besonders Kafkas übereinstimmen, und bei
denen sie mit allen Kautelen vorgingen. Neben der Kontrolle des Serums
(1,5 ccm), die stets negativ war, wurden namentlich die Organsubstrate,,
von deren Darstellung und Beschaffenheit der ganze Erfolg des Dialysier-
verfahrens vor allem abhängig ist, einer sehr scharfen Prüfung und Kon¬
trolle unterworfen, einmal, indem sie jeweils mit inaktivem Serum ange¬
setzt, dann indem sie durch die Versuchsanordnung 1 ) selbst kontrolliert
wurden; so wurde in fast jedem Versuche ein Gesunder mituntersucht,,
dessen Serum nach ihren eigenen zahlreichen und auch anderweitigen.
Untersuchungen niemals einen Abbau zeigt; dann wurden die meisten
Seren in demselben Versuche gleichzeitig mit mehreren Organen derselben
Art, aber verschiedener Provenienz untersucht, und zwar fast 'durchweg
mit demselben Ausschlage; ferner wurde der Hoden mit weiblichem und
das Ovarium mit männlichem Serum 'zusammengebracht. Der Versuch
selbst wurde vor Anstellung der Ninhydrinreaktion, die durch ein drittes,
mit der Diagnose der Fälle nicht Vertrautes ausgeführt wurde, ganz regellos¬
durcheinandergestellt und völlig unabhängig vom Versuchsprotokoll ab¬
gelesen und notiert. Außerdem wurden die Ablesungen vielfach durch
Andere, Unbeteiligte nachgeprüft. Dabei wurden zur Untersuchung aus
prinzipiellen Gründen nur solche Fälle herangezogen, deren klinische Dia¬
gnosen von vornherein absolut feststanden. Der etwaige Einwand einer
Korrektur der Diagnosen je nach dem Ausfälle der Reaktion ist deshalb
hinfällig. — Die auf diese Weise gewonnenen und zudem mit denen anderer
Forscher übereinstimmenden Ergebnisse müssen den ablehnenden Stand¬
punkt Plauts widerlegen, der zudem nicht genügend motiviert und schon
deshalb nicht haltbar ist. Es ist doch ganz undenkbar, daß die mit einer
derartig komplizierten Technik und Versuchsanordnung und zwar von
den verschiedensten Seiten erhobenen und übereinstimmenden Befunde
nur ein Spiel des Zufalles sind. — Infolge der verschiedenen Fehlerquellen,,
mit denen in erster Reihe die widersprechenden Ergebnisse, wohl auch die
Plauts, zu erklären sind, ist die Dialysiermethode noch kein ganz ideales-
Untersuchungsverfahren. Auf der andern Seite sind die Fehlerquellen
aber auch nicht zu überschätzen, und es ist nicht angängig, nur sie, speziell
auch den Hülsenfehler, für die Versager verantwortlich zu machen; denn
bei einwandfreier Technik ist es sehr wohl möglich, mit der Dialysier¬
methode brauchbare und zuverlässige Resultate zu erhalten, wie auch die
Untersuchungen auf nicht-psychiatrischem Gebiete gezeigt haben, die in
derselben Richtung liegen wie die psychiatrischen. Da die widersprechen-
J ) Vgl. Psychiatrisch-neurologische Wochenschr. Nr. 48, 1913/14.
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l ÄÄitteilungen zum Teil auch auf die verschiedenartige klinische Auf-
iVLng zurückzuführen sind, ist die Veröffentlichung der Krankheits-
otaichten unter allen Umständen zu verlangen. — Die vorliegenden
^iti^ven Befunde sind zweifellos vom wissenschaftlichen Standpunkte
• JF^athogenese aus von allerhöchstem Interesse und von größter Be-
ltung. Eine andere Frage ist die, ob die neue Methodik bereits für
fex-entialdiagnostische Zwecke verwendet werden kann, was nur dann
^g^llch ist, wenn die serologischen Ergebnisse konstante sind, und zwar
ckit. nur für das ungefähre Gros der Fälle; es müßten sich klinische Krank -
ütsform und serologischer Reaktionstypus regelmäßig decken. Dies ist
an nach ihren zahlreichen, mehrmals (3- bis 4 mal) wiederholten Nach-
ntersuchungen nicht ganz der Fall; so zeigten vereinzelte, sichere De-
i^nlia-praecox-Kranke bei Nachuntersuchung gelegentlich keinen Abbau,
n<i bei Manisch-depressiven fand sich, allerdings sehr selten, zeitweise
im Abbau von Gehirn oder Geschlechts- oder Schilddrüse. Worauf diese
Differenzen beruhen, läßt sich noch nicht entscheiden; es können innere
Ursachen sein oder aber auch äußere, durch die Technik bedingte Momente
mitspielen. Infolge der letzteren Möglichkeit ist die Nachprüfung der Er¬
gebnisse des Dialysierverfahrens durch eine zweite Methode, die optische,
dringend geboten. — Als ein zuverlässiges differentialdiagnostisches Hilfs¬
mittel kann also die neue Methode zurzeit noch nicht angesehen werden.
Erst weitere genaue klinische und serologische Parallelbeobachtungen von
längerer Dauer können aus dem Stadium der wissenschaftlichen Unter¬
suchung in das der praktischen Verwertbarkeit weiterführen.
Stertz- Breslau berichtet, daß die an der Breslauer Klinik von Golla
eingestellten Versuche mit 238 Seren zu ähnlichen Resultatengeführt haben,
wie sie Herr Sioli soeben darlegte. Auch dort zeigte sich ein Überwiegen
von Organabbau bei Paralyse, Dementia praecox, während bei Psycho¬
pathen und Manisch-depressiven die entsprechenden Reaktionen nur in
kleiner Minderzahl gefunden wurden. Es kam vor, daß das gleiche Serum
bei wiederholter Untersuchung verschieden reagierte. Ein spezieller Re¬
aktionstypus im Sinne Abderhaldens war nicht immer zu konstatieren,
auch die Geschlechtsspezifizität traf gelegentlich nicht zu. Diagnostische
und therapeutische Anhaltpunkte sind aus der Methode in ihrer gegen¬
wärtigen Form nicht herzuleiten.
Roemer -Illenau weist auf die Resultate seiner gemeinsam mit Bund¬
schuh ausgeführten Untersuchungen hin, die er auf der Versammlung süd¬
westdeutscher Irrenärzte im November 1913 mitgeteilt hat x ), und die
durch die inzwischen erweiterten Erfahrungen in allen wesentlichen Punk¬
ten bestätigt wurden: Gesunde zeigten niemals Abbau irgendwelcher Or¬
gane, bei den thyreogenen Psychoneurosen ergab sich neben oder ohne
Abbau von Gehirn stets Abbau von Schilddrüse, Struma oder Basedow -
l ) Vgl. den Bericht Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 71, S. 309 ff.
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Schilddrüse; es ist somit die Qualität der verwendeten Schilddrüsensub¬
stanz jeweils zu berücksichtigen. Bei der Dementia praecox fand sich
zwar kein gesetzmäßiger Reaktionstypus beim Abbau von Gehirn, Schild¬
drüse und Geschlechtsdrüse, immerhin überwog ganz unverkennbar der
Typus mit Gehirn und Geschlechtsdrüse positiv, mit Schilddrüse negativ,
und zwar bei allen Stadien, Verlaufsarten (inklusive den periodischen)
und klinischen Formen. Bei den katatonen Formen konnten die Unter¬
sucher die von Wegener behauptete Häufigkeit des Schilddrüsenabbaus
nicht bestätigen. Bei den mehrfach untersuchten Schizophreniefäilen
sahen sie vereinzelt und episodisch negative Reaktion mit allen drei Or¬
ganen. Was die Manisch-depressiven anlangt, so wurde ein Abbau stets
vermißt bis auf 3 Fälle, von denen bei Nachuntersuchungen einer einmal
mit Schilddrüse (bei vorhandener Struma), einer einmal mit Testikel und
bei einmaliger Untersuchung einer mit allen drei Organen positiv war.
Somit bietet das ganze überwiegende Gros der Fälle die von Fauser ent¬
deckte Regelmäßigkeit. Was die erwähnten „Ausnahmen“ betrifft, so
müssen diese Fälle natürlich klinisch und serologisch genau weiterver¬
folgt und hierbei die Dialysierversuche durch eine zweite Methode kon¬
trolliert werden. Demnach handelt es sich um eine relative, nicht um
eine absolute Konstanz der serologischen Befunde bei den uns heute
bekannten Krankheitsformen. Dieser Tatbestand kann nur den über¬
raschen, der bisher der Meinung war, die serologischen Reaktionstypen
und die zurzeit unterschiedenen klinischen Krankheitsformen stellten
Kreise vor, die sich in vollem Umfange decken müßten. Diese
Annahme haben wir von Anfang an als durchaus unwahrscheinlich abge¬
lehnt, und zwar aus mehrfachen Gründen; einmal weist die Geschichte
der klinischen Psychiatrie während der letzten zwei Jahrzehnte, speziell
hinsichtlich der Abgrenzung zwischen manisch-depressivem Irresein und
Dementia praecox, so häufige und so ausgiebige Schwankungen der An¬
schauungen auf, daß es ein außerordentlicher Zufall sein müßte, ließe sich
gerade die heutige Lehre auf serologischem Wege in allen Einzelheiten als
zutreffend erhärten —- ganz abgesehen von den sicher vorhandenen Dif¬
ferenzen in der klinischen Beurteilung seitens der verschiedenen Unter¬
sucher. Hierzu kommt dann, daß der biologische Charakter der Abder-
haldenschen Untersuchungsmethoden ein unerläßliches exaktes Zu¬
sammengehen der serologischen Reaktionen mit bestimmten Krankheits¬
zuständen im Sinne eines mathematischen Rechenexempels von vorn¬
herein nicht erwarten läßt: eine positive Reaktion kann durch bisher
noch nicht genügend kontrollierbare Vorgänge längere oder kürzere Zeit
verdeckt werden oder infolge einer vorübergehenden oder dauernden
reaktiven Insuffizienz des Organismus ausbleiben. Endlich wird man mit
Schwankungen im Fermentgehalt des Blutes zu rechnen haben, so daß
eine einmalige Untersuchung zur Erhebung des charakteristischen sero¬
logischen Bildes nicht ausreicht. Und schließlich muß auch die Möglich-
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zufälliger somatischer Komplikationen sehr berücksichtigt werden,
ier diesen Umständen muß die bisher schon weitgehende Überein-
nmung unter der weitaus überwiegenden Zahl der Untersucher ungleich
werer wiegen als die bisher bekannt gewordenen Differenzen. Wir
inden uns aber, wie schon früher ausgeführt, mit der Anwendung der
i&rhaldenschen Methoden auf die Psychiatrie noch durchaus im Stadium
• wissenschaftlichen Untersuchung, noch nicht in dem der praktischen
rwertbarkeit für unser therapeutisches Handeln und unser diagnostisches
wägen. Entspricht der Ausfall der serologischen Reaktion der Er-
urtung, so kann er unter größter Reserve vielleicht — als Adjuvans ge-
ssermaßen — bei der diagnostischen Überlegung mit eingerechnet
>rden; entspricht er der Erwartung nicht, so kann er die klinische Dia-
ose auf keinen Fall umstoßen. Damit ist aber schon gesagt, daß die
jue Methodik uns ein differentialdiagnostisches Kriterium im eigent-
zhen Sinne zurzeit noch nicht in die Hand gibt. Um dies Ziel zu er-
?ichen, bedarf es der Sammlung ausführlicher Krankheitsgeschichten
üt fortlaufender klinischer und serologischer Beobachtung. Hierzu
ollten nur ganz sichere und seit längerer Zeit bekannte Fälle ausgesucht
rerden, wächst doch erfahrunggemäß die diagnostische Sicherheit mit
ter Dauer der Beobachtung. Wie die noch unlängst von angesehenen
r orschern angezweifelte Serodiagnostik der Schwangerschaft heute wohl
allgemein anerkannt ist, so dürfte sich auch die Verwertung der Abder-
laldenschen Methodik für die Psychiatrie in dem von Fauser inaugurierten
Sinne trotz der Einwendungen Plauts in Bälde durchsetzen. Hierbei
vird kein Untersucher darüber im unklaren sein, daß das Dialysierver-
fahren in seiner jetzigen Form der Vervollkommnung bedürftig, aber auch
fähig ist und die von Abderhalden selbst am lebhaftesten verlangte Ergän¬
zung durch die optische Methode erfordert. Bezüglich der vorläufigen
pathogenetischen Bewertung der Befunde wird auf die frühere Mitteilung
verwiesen.
Äosen/eta-Straßburg berichtet über 50 Fälle, welche nach dem Abder-
haldenschen Dialysierverfahren untersucht waren. Es ergab sich, daß in
Fällen von Dementia praecox positive Reaktionen auf Gehirn und Testikel
häufiger sind als bei den anderen, funktionellen psychischen Störungen,
namentlich beim manisch-depressiven Irresein. Von 19 Fällen von De¬
mentia praecox reagierten 12 positiv auf Gehirn, 10 positiv auf Testikel.
Auch bei echten Epileptikern war die Zahl der Fälle, welche Abwehrfer¬
mente gegen Gehirn und Testikel erkennen ließen, recht erheblich. Be¬
achtung verdient vielleicht noch, daß in 2 Fällen von Epilepsie die positive
Reaktion auf Gehirn nicht gleich, d. h. am 1. und 2. Tage nach dem Anfall
vorhanden war, sondern erst nach etwa 8 bis 10 Tagen. Bei 2 normalen
Männern im Alter von 21 bis 40 Jahren wurde in 2 verschiedenen Unter¬
suchungen deutliche positive Reaktion auf Testikel gefunden. (Die Unter¬
suchungen werden später in einer Doktorarbeit zusammengestellt werden.)
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
.Stemens-Lauenburg: Alle Bestrebungen, welche darauf hinzielen,
das Dunkel zu lüften, welches bedauerlicherweise noch über den patho¬
genetischen Grundzuständen der Geisteskrankheiten lagert, sind mit
Freuden zu begrüßen. Wenn die serologischen Untersuchungen eine Solche
Aussicht eröffneten, so ist das sicher in hohem Grade unserer Beachtung
wert. — Daß den bisherigen Methoden noch Unsicherheiten und Fehler
anhaften, das teilen sie mit allen andern derartigen Versuchen. Die andern
sollten sich dieserhalb nicht überheben, und zu Spott und Hohn scheint
mir und andern noch kein Grund vorhanden zu sein.
Kastan (Schlußwort): Es gibt verschiedene Abbauvorgänge. Ein
Organ kann in mannigfaltiger Weise dysfunktionieren, wie ihm ja auch
verschiedene Funktionen zukommen. Aus der Reaktion allein lassen sich
ohne genaue klinische Beobachtung differentialdiagnostische Schlüsse
nicht ziehen. Gerade die Abderhaldens che Reaktion wird durch gewisse
körperliche Vorgänge erheblich beeinflußt. Das optische Verfahren wird
bessere Resultate liefern. Nach Erwähnung einer geeigneten Kontroll-
methode weist K. noch darauf hin, daß auch jugendliche Dementia praecox -
Kranke in der Weise untersucht werden müßten, ob ihr Serum die eigenen
Keimdrüsen oder Thymus abbaut. Sektionen katatonisch-stuporöser
Kranker ergaben in 2 Fällen Thymuspersistenz.
Fauser (Schlußwort): Manche in den übrigen Vorträgen und während
der Diskussion gegen meine Befunde und Ansichten erhobenen Einwände
sind teils durch meinen eigenen Vortrag, teils durch die Diskussion selbst
schon widerlegt worden. Auf die besonders von Herrn Hauptmann be¬
tonten technischen Schwierigkeiten habe ich selbst schon oft hingewiesen.
Die Weiterentwicklung der Abderhaldenschen Grundanschauungen in der
letzten Zeit habe ich in meinem Vortrag ausdrücklich berücksichtigt
(namentlich auch in dem mit Rücksicht auf die Zeit nicht zum Vortrag
gebrachten Schlußabschnitt, der sich mit pathogenetischen Problemen
beschäftigt). Herrn Nissl muß ich erwidern, daß es mir niemals einge¬
fallen ist, zu behaupten, man könne sich bei forensischen Begutach¬
tungen lediglich auf den serologischen Befund stützen; der serologische
Befund kann wohl für den Gang der klinischen Untersuchung Direktiven
geben, mehr oder minder wahrscheinliche Vermutungen erwecken, aber
eine klinische Diagnose kann nur unter Berücksichtigung aller Symptome,
insbesondere auch der psychischen, gestellt werden. Schilddrüsen -
Operationen bei nervösen und psychischen Störungen kommen, wie aus
meinem Vortrag hervorgeht, für mich nur in Frage bei vorhandener
Struma, wenn sich im Blut Ferment gegen Schilddrüse nachweisen läßt.
Strumektomien werden doch schon auch bisher, auch ohne Ferment¬
nachweis und ohne psychische Symptome, gemacht, ich vermag nicht ein¬
zusehen, warum das Vorhandensein der letzteren eine Kontraindikation
abgeben soll. Herr Nissl kann also mit seinen Bemerkungen nicht auf
meinen Vortrag abgezielt haben. — Nach dem Vortrage des Herrn Plaut
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*e ja eigentlich eine Diskussion gar nicht mehr nötig: für Herrn Plaut
die Sache wissenschaftlich endgültig erledigt, für ihn hat die Sache
ur auch ein gewisses psychiatrisches Interesse, aber lediglich unter dem
lichtspunkte des Geisteszustandes ihrer Urheber und Verbreiter. Aber
rr Plaut hat sich seine Beweisführung doch etwas sehr leicht gemacht,
n den 20 Fällen, die wir in Stuttgart für ihn untersucht haben, brauche
nicht mehr zu sprechen, ich habe dieselben Fall für Fall bereits durch-
lommen. Die Zahl der eigenen Untersuchungen des Herrn Plaut ist
ie recht kleine, ich selbst habe allein mindestens 10 mal mehr Fälle
tersucht als Herr Plaut ; im Verhältnis zu der sehr großen Zahl der
Versuchungen anderer sind die Zahlen des Herrn Plaut vollends sehr
nne. Aher Herr Plaut hat hierfür ein sehr einfaches Rezept: ein Teil
r Befunde anderer ist deswegen wertlos, weil sie mit den diagnostischen
hematen, die Herrn Plaut geläufig sind, nicht übereinstimmen, ein anderer
iil, weil resp. obgleich sie mit ihnen übereinstimmen — in letzterem Falle
iben nämlich, wie Herr Plaut meint, die Untersucher die klinischen
iagnosen im voraus gekannt. Aber sie haben sie dann doch auch gekannt
denjenigen Fällen, wo sie zu abweichenden serologischen Befunden
jkommen sind; warum hat sich denn dann der hypnoseähnliche Zustand,
i dem sich diese Untersucher nach Herrn Plaut befunden haben, nicht auch
ul diejenigen serologischen Befunde erstreckt, die über die herrschenden
linischen Krankheitserscheinungen hinausgreifen? Und Herrn Plaut
lüßte doch eigentich auch bekannt sein, daß ich selbst schon vor mehr
ls Jahresfrist eine Arbeit veröffentlicht habe, worin ich ein Verfahren
childerte, mit dem man seinen eigenen, im eigenen Laboratorium auszu-
ührenden Untersuchungen vollständig fremd und unparteiisch gegen-
iberstehen kann, und daß ich eine Anzahl von Fällen veröffentlicht habe,
die nach dieser Methode untersucht worden sind. Ich hätte doch eigentlich
erwarten dürfen, daß Herr Plaut meine Arbeiten vorher liest, ehe er in so
d>fälliger Weise sich darüber äußert. Herr Plaut hat dann u. a. gesagt:
,Herr Fauser und seine Anhänger werden von ihrem Glauben doch nicht
^blassen.“ Darauf bemerke ich: in dieser Frage gibt es keine „Anhänger“,
teine Sekte, sondern nur selbständige, ernsthafte Arbeiter; hier gibt es
mch keinen „Glauben“, sondern nur wissenschaftliche Ansichten. Meine
Ansichten sind auf wissenschaftlichem Wege gewonnen, sie können nur
*uf demselben Wege widerlegt werden. Damit aber, daß Herr Plaut
gesprochen hat, und nach der Art und Weise, wie er gesprochen hat, ist
die Sache für mich und für andere noch lange nicht erledigt.
Kafka (Schlußwort) betont, daß ihn Plauts Vorwurf nicht treffen
könne, da sich, wie aus seiner Zusammenstellung ersichtlich war, doch
genug Unstimmigkeiten ergaben, da ferner der Serologe bei einem großen
Teil der Fälle die Diagnose vorher gar nicht erfuhr, und er die Reaktionen
last immer den Herren zeigte, die ihm das Blut geschickt hatten, und auch
besondere Versuche in ärztlichen Versammlungen demonstrierte. K.
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möchte vor allem hervorheben, daß sich nur aus der Zusammenfassung
eines großen Materials, dem die Fehler einzelner Fälle nicht mehr so an¬
hatten, die naturwissenschaftliche Bedeutung der Methode ergibt und
sich dann zeigt, daß wir einzelnes schon als sicher annehmen können, und
daß hinter der Methode etwas steckt. Ganz besonders unterstützt uns
da der Tierversuch, mit dessen Hilfe es gelingt, eine ganz neue Abwehr¬
maßregel des tierischen Organismus, die Bildung organspeziflscher Ab¬
wehrfermente, zu studieren, und der uns Fingerzeige gibt, solche Bedingun¬
gen auch für das Krankenserum herzustellen. Daß wir auf diesem Wege
sind, daß uns hier die Urinkontrolle gute Dienste leistet, daß Herabgehen
mit der Serummenge, Vordialyse und vieles andere nun versucht werden
muß, hat K. in seinem Vortrage hervorgehoben. Es hat ihn auch ganz
besonders befriedigt, daß Hauptmann Stephans Ergebnisse bestätigen
kann, denn hierdurch würde sich die Möglichkeit, auch am Krankenbette
mit dem Serum sicherer zu arbeiten, ergeben, ganz abgesehen von dem
großen theoretischen Wert dieser Feststellungen. Es wäre nochmals darauf
hinzuweisen, daß temporärer Abbau eines Organes Vorkommen kann und
daher mehrmalige Untersuchung nötig ist; auch aus diesem Grunde ist der
Urinversuch wertvoll. — Herr Hauptmann sei in einem Punkte noch
berichtigt: K. konnte die Familie eines Dementia-praecox-Kranken unter¬
suchen ; der Patient selbst bot bei mehrmaliger Untersuchung Abbau von
Gehirnrinde, Gehirnmark und Hoden, Vater, Bruder und eine Schwester
zeigten ganz negativen Befund, während die andere Schwester im Serum
Abbau von Gehirnmark erkennen ließ. Als wir später erfuhren, daß
gerade diese Schwester sehr nervös ist, mußte das doch registriert werden,
vielleicht hat sie Anwartschaft auf Dementia praecox. — Herrn Brückner
gegenüber möchte K. hervorheben, daß er selbst mit Rautenberg sich in
der letzten Arbeit dahin geäußert hat, daß bei der Paralyse die Hämo¬
lysinreaktion in den positiven Fällen ständig und unabhängig von den
anderen Liquorreaktionen vorkommt, bei der Lues cerebri jedoch, wenn
überhaupt, nur vorübergehend und von hohen Liquorreaktionen begleitet
ist. Es dürfte daher wohl der eine Fall von Lues cerebri, bei dem die Re-
aktion einmal negativ, einmal positiv war, nicht zu verwerten sein, ebenso
wie der andere Fall, der mit hohen Reaktionen einhergeht, weiterer Unter¬
suchung bedarf.
Plaut (Schlußwort): Ich habe mit all der Sorgfalt, welche die An¬
gelegenheit verdient, mich bemüht, ein sicheres Urteil über die Brauchbar¬
keit der Methode zu gewinnen. Neben 65 von mir selbst untersuchten
Fällen verfüge ich, um dies nochmals hervorzuheben, über 17 Fälle, die
Herr Dr. Lampt , und über 20 Fälle, die Herr Dr. Fauser ohne Kenntnis
der Diagnosen für uns untersuchte; das macht reichlich 100 Fälle. Wie ich
bereits betont habe, haben zahlenmäßige Angaben deshalb einen nur
problematischen Wert, weil man bei Benutzung des entsprechenden Organs
verschiedener Menschen sehr divergierende Resultate erhalten kann.
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Jedenfalls ist die Zahl der untersuchten Fälle groß genug, um zu prüfen,
ob die positive Reaktion mit Keimdrüsen sich für die Diagnose der De¬
mentia praecox und die positive Reaktion mit Gehirn sich für die Annahme
einer nicht funktionellen Erkrankung des Gehirns verwerten läßt. Ich
bin hier absichtlich nur auf diese beiden Fragen eingegangen, und ich
kann nach unseren Erfahrungen nicht anders, als sie verneinen. — Die
Versuche, die von verschiedenen Seiten gemacht worden sind, unsere Fehl¬
resultate auf die Unsicherheit der klinischen Diagnostik zurückzuführen,
sind erstaunlich. Denn gerade die Herren, welche die Methode empfehlen
und in annähernd 100 % positiven Keimdrüsenabbau bei Dementia praecox
und in 100 % negatives Verhalten bei manisch-depressivem Irresein fanden,
haben hierdurch doch gerade der klinischen Diagnostik das glänzendste
Zeugnis ausgestellt. Sie haben gezeigt, daß die klinische Diagnostik die
Fälle besser sortiert, als wir bis dahin annehmen konnten. — Wenn ich
von suggestiven Einflüssen für das Zustandekommen der stimmigen Re¬
sultate gesprochen habe, so war das keineswegs scherzhaft gemeint, sondern
der Ausdruck meiner wissenschaftlichen Überzeugung. Gerade weil die
der Methode zugrunde liegenden Vorstellungen so ingeniös sind, ist ihre
suggestive Kraft eine sehr hohe. Die Richtigkeit dieser Vorstellungen wird
nun durch eine Methodik zu stützen versucht, die in weitestem Maße sub¬
jektive Deutungen gestattet. Da läßt sich die Wirkung der Autosuggestion
nur sehr schwer vermeiden. Ich war selbst eine Zeitlang, während ich
mit der Methode arbeitete, sehr nahe daran, ihr zu verfallen. — Da ich
mich davon überzeugt habe, daß die Dialysiermethode in ihrer gegen¬
wärtigen Ausgestaltung so eindeutige Resultate, wie sie eine Anzahl von
Autoren erhielt, gar nicht zu liefern vermag, sehe ich keine andere Er¬
klärung für ihr Zustandekommen als die gegebene. Nun hätte man gewiß
keinen Anlaß, mit Schärfe dieser Strömung entgegenzutreten, wenn sie
sich im Rahmen einer vorsichtig tastenden und zunächst einfach re¬
gistrierenden Forschung gehalten hätte. Das ist jedoch keineswegs gesche¬
hen. Man hat vielmehr bereits die Dialysierresultate bei der Diagnose¬
stellung mitsprechen lassen, und, was besonders beunruhigend ist, man
hat sie für die Ausführung chirurgischer Eingriffe und sogar für Ent¬
scheidungen in foro verwertet. Die Mehrzahl der Herren, und besondes
Herr Fauser, haben sich heute schon sehr viel vorsichtiger ausgedrückt.
Daß manche jedoch bisher weniger vorsichtig waren, geht aus ihren Publika¬
tionen mit aller Deutlichkeit hervor. — Daß die Forschungsrichtung, die
Abderhalden eingeleitet hat, in ihrer unbestreitbaren Genialität noch einmal
etwas für die psychiatrische Diagnostik Wertvolles zu bringen vermag,
soll keineswegs bestritten werden. Das gegenwärtig Erreichte kann ich
jedoch nicht als wertvoll anerkennen. Die nahe Zukunft wird lehren, ob
die Bejaher oder die Verneiner Recht behalten. Niemand würde sich
mehr freuen als ich, wenn die Bejaher trotz allem recht behielten, aber
ich glaube nicht daran.
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Rosental faßt im Schlußwort zu den von Hilffert mitgeteilten gemein¬
samen Untersuchungsergebnissen den Standpunkt der Heidelberger
Klinik folgendermaßen zusammen: 1. Die Forschungsrichtung Abder¬
haldens beruht wohl auf richtigen Oedankengängen, das sogenannte Di-
alysierverfahren ist aber wegen der vielen Fehlerquellen bei klinischen
Fragfesteilungen keine zuverlässige Methode zum Nachweis der Abwehr¬
fermente. 2. Durch die doppelte Schlauchführung und inaktive Kon¬
trollen können manche Versuchsfehler aufgedeckt werden; es ist also
nicht zu verstehen, weshalb diese Maßnahmen von Abderhalden nicht
befürwortet werden. Doch zeigt sich bei derartig erweiterter Versuchs¬
anordnung, daß es zwischen dem positiven und negativen Ausfall der
Reaktion Übergangstufen gibt, und daß die untere Positivitätsgrenze
relativ ist. 3. Mit Rücksicht auf diese Erfahrungen muß der Wert der¬
jenigen Veröffentlichungen angezweifelt werden, durch welche die An¬
gaben Fausers ohne jede Einschränkung bestätigt worden sind. — Es ist
nicht richtig, daß bei sämtlichen Schizophrenen durchwegs positive Re¬
aktionen mit Hirnrinde und Geschlechtsdrüse gefunden werden, während
andererseits bei Manisch-depressiven diese Reaktionen immer glatt negativ
ausfallen sollen. Abgesehen von den glatt negativ reagierenden Fällen
der Dementia praecox gibt es doch bei Schizophrenen eine Anzahl der
„fraglichen“ Reaktionen, welche ebenso bei nicht Schizophrenen und
Normalen Vorkommen können. Insbesondere das Fehlen dieser „fraglichen“
Reaktionen in den meisten Kasuistiken läßt sich nur durch den verführe¬
rischen Einfluß der klinischen Diagnose erklären. — In klinischer Hinsicht
ist mit diesen „fraglichen“ Reaktionen gar nichts anzufangen, ebenso
wie mit den negativen. Anderseits unterliegt es im Lichte der vorge¬
brachten Kasuistik keinem Zweifel, daß das Dialysierverfahren bei der
Mehrzahl der Dementia-praecox-Kranken positive Befunde liefert und
die serologische Reaktionsweise bei Schizophrenen, wenn man von organi¬
schen Erkrankungsprozessen des Gehirns absieht, trotz der negativen Be¬
funde, im ganzen wohl eine wesentlich andere ist wie bei den nicht
Schizophrenen. Bei männlichen Psychopathen und in Normalfällen
wurde bis jetzt keine einzige positive Reaktion gefunden; die Zahl der
positiven Befunde bei weiblichen Psychopathen ist verschwindend klein
im Vergleich mit der Häufigkeit derartiger Reaktionen bei dementia-
praecox-kranken Frauen. — Aus diesem Grunde müssen die Behaup¬
tungen Plauts entschieden zurückgewiesen werden, daß bei manisch-
depressiven sich ebenso wie bei Dementia-praecox-Kranken der Abbau
verschiedener Substrate findet. Vor allem hat Plaut kein auf einheitlicher
Methodik beruhendes statistisches Material geliefert, durch welches er
seine Aufstellungen stützen könnte; außerdem geht es aus seiner früheren
Veröffentlichung unzweideutig hervor, daß seine eigene Untersuchungs¬
methodik große Fehler enthält.
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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4. Sitzung,
25. April, 2 Uhr nachmittags.
IVießl 9. Mayendorf-Leipzig: Über die funktionellen Wech-
Ll>eZiehungen zwischen beiden Hemisphären.
Die Erforschung der funktionellen Einflüsse einer Großhirnhälfte auf
3 andere wird für ihre Schlüsse Tatsachen herbeizuziehen und zu sam-
eln haben, welche dreifacher Erfahrungsrichtung angehören: 1. der Kennt -
s von den anatomischen Zusammenhängen beider Hemisphären; 2. den
rsclieinungen, welche sich aus der Lösung dieser Verbindungen ergeben;
den Erscheinungen, welche bei Zerstörung einer Hemisphäre aus deren
xilttioneller Ausschaltung sich zeigen. Der Balken besteht, wie sich
lit den feineren Methoden der sekundären Degeneration nachweisen läßt,
ur aus Kommissurenbündeln und aus Faserzügen, die, den Balken als
treuzungsgebiet benutzend, in die kontralaterale innere Kapsel ein-
trahlen (die Existenz der bisher geleugneten Stabkranz-Balkenzüge
verde ich in einer demnächst erscheinenden Abhandlung beweisen)
Balkenlängsbündel oder sich im Balken kreuzende Assoziations¬
systeme habe ich bei keiner Schnittrichtung wahrnehmen können. Die
Kasuistik der Balkenerkrankungen läßt bei unvoreingenommener Be¬
frachtung die vollständige Abwesenheit aller Symptome als das Sym¬
ptom der Isolierung der beiden Hemisphären voneinander hervortreten.
Geschwülste, die auch die Balkenmitte einnehmen, sind nicht verwertbar.
Daran leiden die Anschauungen über den der Apraxie zugrunde liegenden
Himmechanismus. Theoretisch möglich wäre Apraxie bei pathologischer
Unterbrechung der die Zentralwindungen beider Hemisphären in leitende
Beziehung setzenden Faserbrücke, indem durch den gleichzeitigen Unter¬
gang der sich hier kreuzenden Stabkranzbündel die Einwirkung der linken
Ca. auf die rechte Ca. aufgehoben und eine Apraxie oder Dyspraxie der
linken oberen Extremität die Folge sein müßte. Eine ganz auf den fron¬
talen Balken beschränkte Erweichung bleibt stets symptomenlos. Das¬
selbe gilt für die Herde im Splenium, wenn sie auf keine der beiden Hemi¬
sphären hinübergreifen. Das Symptom der Seelenblindheit, welches bei
ein- oder beiderseitiger Durchbrechung der Sehstrahlung beschrieben wird,
steht in keiner kausalen Abhängigkeit von der gleichzeitig, meist gar nicht
einmal primären Läsion des Spleniums, wie die Autoren vermuten.
Die funktionellen Ausfälle, die sich nach dem Untergang einer
Hemisphäre bemerkbar machen, sind ihrem Charakter und ihrer Schwere
nach von der Seite abhängig, welcher die zumeist im Gebrauch stehende
Extremität angehört, und zwar ist es, wie bekannt, die entgegengesetzte
Großhirnhälfte, die sich dann an der Gesamtheit aller nervösen Leistungen
in hervorragendstem Maße beteiligt. Würden die beiden Hemisphären
zwei Kugelhälften darstellen, die aus ihrer vereinigten Tätigkeit ein
Neues, ein Ganzes, eine funktionelle Einheit wie das Bewußtsein hervor-
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
gehen lassen, müßte der Verlust einer Hemisphärenfunktion Bewußtseins¬
zerfall nach sich ziehen. Dies ist aber nicht der Fall. Wir sehen entweder
nur die Folgen einer schweren Gehirnerkrankung in ihrer Wirkung auf
die Funktionen der gesunden Großhirnhälfte oder, wenn die sonst im Ge¬
brauch stehende leistungsunfähig wird, ein ungeübtes, aber analog tätiges
Organ vor uns spielen. Hieraus ergibt sich zweierlei: 1. Jede Hemisphäre
enthält ein abgeschlossenes Weltbild, indem sie die zentrale Projektion,
des ganzen Körpers repräsentiert. 2. Die bewundernswerte unüberseh¬
bare Zahl der kombinierten Funktionen wird nur durch die funktionelle
Überwertigkeit einer Hemisphäre über die andere erreicht. Die
Bildung von Vorstellungen über die Vereinigung beider, je ein ganzes
Bewußtsein konstituierenden Hemisphärenleben zu einer Einheit würde
über den Rahmen der aus der greifbarsten Empirie zwangweise resul¬
tierenden Folgerungen hinwegeilen, ebenso wie Gedanken über Höhe und
Entwicklung des einseitigen Hemisphärenlebens sich der Schwelle einer
plausiblen Hypothese kaum näherten. (Ausführlich: Arch. f. Psych.)
K. Brodmann-Tübingen: Fall familiärer Idiotie mit neu¬
artigem anatomischen Befund.
Das klinische Bild hat symptomatologisch gewisse Ähnlichkeit mit
der sogenannten familiären amaurotischen Idiotie, namentlich mit dem
spätinfantilen Typus. Die Erkrankung betrifft 3 von Geburt gesunde
Kinder aus nichtjüdischer Familie mit konvergenter Blutsverwandtschaft.
Keine Lues, kein Potus. Beginn im 4. Jahre, Dauer 9 bzw. 5 Jahre. Lang¬
sam progressive Verblödung und Erblindung unter Krämpfen, Ataxie und
Lähmungserscheinungen. Einfache Optikusatrophie. Kein Makulafleck.
Keine Retinaveränderungen. Jahrelanges Terminalstadium. Paralyseähn¬
licher Zustand mit tiefstem Blödsinn und körperlich schwerstem Siechtum.
Anatomisch (13 jähriger Knabe): Diffuser Massenschwund des
ganzen Zentralnervensystems, namentlich der Hemisphären. Schwartige
Leptomeningitis. Hochgradiger Hydrocephalus externus, Hirngewicht
450 g statt 1300 g Durchschnittsgewicht. Exzessive Atrophie aller Teile
um fast zwei Drittel des Normalvolumens (im Gegensatz zur amauroti¬
schen Idiotie, wo makroskopisch keine oder nur geringfügige Verände¬
rungen beobachtet werden). Sehr kleines Kleinhirn, Gewicht 64 g statt
180 g. — Mikroskopisch: Ausgebreiteter Untergang aller nervösen
Elemente und entsprechende schwerste Verödung von Rinden- und Mark¬
substanz. Ubiquitäre Ganglienzellenerkrankung mit Aufblähung der Zell¬
körper (im Kleinhirn auch der Dendriten). Ablagerung eines pigment¬
ähnlichen, körnigen Abbaustoffes in denselben und späterer Zerfall der
Zellen. Über weite Windungsgebiete völliger Schwund der Rinde (spon¬
giöser Rindenschwund). Im Marklager Untergang der Markscheiden- und
Achsenzylinder unter Bildung massenhafter Fettkörnchenzellen. Starke
Gliawucherungen, Zerfall der normalen Glia, Auftreten massenhafter
faserbildender Riesengliazellen und amöboider Gliazellen. Wiederabbau
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Deutscher Verein für Psychiatrie.
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t gewucherten Gliaelemente. Keine Herde, diffuse Beteiligung aller
öschnitte. In den Hemisphären überwiegende Erkrankung der spätmark-
ifen Gebiete. Völliges Fehlen der Körnersc&icht im Kleinhirn, Wuche-
n g einer supragranulären Gliaschicht und Untergang der Purkinje sehen
sllen. Ausgeprägte Strangdegeneration in Hirnstamm und Rückenmark.
\ den Gefäßen reichlich Fettkörnchenzellen.
Trotz mancher Übereinstimmungen, insbesondere der Ganglien¬
ellenerkrankung, handelt es sich um einen besonderen histopathologischen
*rozeß, der im Hinblick auf die wesentlichen anatomischen Unterschiede
chronische Leptomeningitis, Massenschwund des Nervengewebes, Bevor-
ugung gewisser Windungsgebiete, Beteiligung der Marksubstanz an dem
SerfaHprozeß, schwere GliaVeränderungen, Strangdegenerationen) von der
eigentlichen amaurotischen Idiotie zu trennen ist.
HittersAaus-Hamburg: Untersuchungen der Aufmerksam -
keitsschwankungen.
Zur experimentellen Untersuchung von Aufmerksamkeitsschwankun¬
gen schlägt Vortr. eine Modifikation des Bourdons chen Verfahrens vor
(Buchstabenausstreichen) und benutzt nach dem Beispiele von Mikulski
einen sinnlosen Text, nur aus Konsonanten bestehend. Mit Hilfe von
zwei Stoppuhren wird fortlaufend die Zeit gemessen, die zu jeder einzelnen
Zeile gebraucht wird, und das Resultat in Kurvenform graphisch darge¬
stellt. Schon bei gleichbleibendem Reiz, d. h. wenn sich in jeder Zeile
die gleiche Anzahl des zu suchenden Buchstabens befindet, zeigen sich
beim Normalen zahlreiche Zacken der Kurve, die zum Teil sicherlich auf
die bekannten, auch sonst experimentell nachweisbaren Schwankungen
der Aufmerksamkeit zurückzuführen sind. Vortr. schlägt für diese physio¬
logischen, kleinen Schwankungen die Bezeichnung „Oszillationen der
Aufmerksamkeit“ vor, im Gegensatz zu den viel gröberen Schwankungen
unter pathologischen Verhältnissen.
Bei ungleichmäßigem Reiz ist das Verhältnis zwischen der Zeit- und
der Buchstabenkurve sehr charakteristisch. Vorführung einiger Resultate,
die auch differentialdiagnostisch von Bedeutung zu sein scheinen. Aus¬
führliche Veröffentlichung an anderem Ort.
Hoche -Freiburg, zur Geschäftsordnung: Durch einen Irrtum über die
Dauer der Diskussion bin ich gestern (ebenso wie andere) nicht in die Lage
gekommen, meine Stellung zur Frage der verminderten Zu¬
rechnungsfähigkeit zu präzisieren. Ich bedaure das, weil so der
Eindruck erweckt werden kann, als ob die Versammlung im wesent¬
lichen mit dem ablehnenden Standpunkte Wilmanns einverstanden ge¬
wesen wäre; das Gegenteil dürfte richtig sein. Ich halte Wilmanns Be¬
denken für zu weitgehend und seine Vorschläge nicht für glücklich. Die
Frage der Behandlung der v. Zgen. ist ohne Rest nicht zu lösen; nachdem nun
endlich unser alter Wunsch nach gesetzlicher Einführung des Begriffes
Zeitschrift für Psyohietrie. LXXI. 4/5. 52
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
der v. Zkt. der Erfüllung entgegengeht, halte ich es für bedenklich, durch
neue Skrupel unserer früheren Stellungnahme die Stoßkraft zu nehmen.
Von den möglichen Wegen ist der im Vorentwurf beschrittene der beste
und aussichtvollste.
Bonhoeffer- Berlin: Ich bin gestern demselben Irrtum verfallen
wie Herr Kollege Hoche , und ich möchte gleichfalls zum Ausdruck bringen
und halte mich dazu besonders verpflichtet, weil Untersuchungen von
mir mit zur Grundlage gegenteiliger Anschauungen gemacht worden
sind, daß ich die Einführung der v. Zkt. in das Strafgesetzbuch für durch¬
aus notwendig halte.
Kraepelin -München schließt sich den beiden Vorrednern an.
ifosen/eirf-Straßburg: Untersuchungen über Störungen des
rhythmischen Gefühls.
Vortr. berichtet über Untersuchungen, welche sich damit beschäfti¬
gen, zu prüfen, ob taktmäßige oder rhythmische Vorgänge von einer Ver¬
suchsperson in richtiger Weise nachgeahmt werden können, ob eine Ver¬
suchsperson imstande ist, eine rhythmische Folge von Geräuschen durch
eine entsprechende Körperbewegung genau zu reproduzieren, d. h. also die
eigene Motorik auf einen bestimmten Rhythmus einzustellen. Es handelt
sich also um die Fähigkeit zu rhythmischen Körperbewegungen, wie sie
z. B. beim Tanz, dann auch beim Marsch und bei gewissen Formen gemein¬
samer gleichmäßiger Arbeit von jedem geleistet werden können — die be¬
kannten drei Formen rhythmischer Körperbewegungen, welche aber unter
sich noch in bezug auf ihren psychologischen Mechanismus sehr verschieden
sind. — Welche Überlegungen ließen es nun zweckmäßig erscheinen,
diese Fähigkeit zum Nachahmen rhythmischer Vorgänge außer uns bei
psychisch Kranken zu prüfen? Von psychologischer Seite ist darauf hin¬
gewiesen worden, daß das Gefühl für taktmäßige rhythmische Vorgänge
dem Tiere fehlt. Wallascheck erwähnt das mangelnde Gefühl für Rhythmus
bei Pferden und weist auf die Schwierigkeit hin, bei gewissen Dressur¬
produktionen dieser Tiere den Schein des Gefühls für taktmäßige Vorgänge
aufrechtzuerhalten. Die genauere Beobachtung rhythmischer Vorgänge
außer uns veranlaßt unwillkürlich beim Menschen ein leises Mittun resp.
Nachahmen der betreffenden taktmäßigen Vorgänge. Es gehört aber
dazu — wie Mach sagt — eine größere, feinere psychische Empfindlich¬
keit, zu der besonders vielleicht allein die menschliche Psyche befähigt
ist. Vortr. weist kurz auf die Beziehungen der sogenannten rhythmischen
Gefühle zu den Affekten hin. Unter den zusammengesetzten Gefühlen ist
das rhythmische Gefühl besonders geeignet, Affekte zu entwickeln. Sie
stellen infolge des Gebundenseins an einen bestimmten zeitlichen Ablauf
den nächsten Übergang zu den Affekten dar. Nun ist es bekannt, daß die
Fähigkeit, rhythmische Vorgänge, welche sich außer uns abspielen, zu
reproduzieren, sich ihnen anzupassen und die eigene Motorik mehr oder
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763
liger bewußt darauf einzustellen, bei den verschiedenen Menschen
r verschieden ausgebildet sein kann. Von feineren Vorgängen dieser
, sei hier ganz abgesehen. Wir können aber feststellen, daß gewisse
mitive Vorgänge der genannten Art sich mit großer Regelmäßigkeit
m Menschen finden. So ist es ja bekannt, daß beim gemeinsamen
rschieren — man kann sagen ganz instinktiv — das Streben auftritt,
i auf den Rhythmus, in welchem der Nebenmann marschiert, einzu-
llen. Es fehlt also die mehr oder weniger bewußte Einstellung auf
rthmische Vorgänge außer uns beim Gesunden wohl nie vollständig,
e verhält sich nun diese Fähigkeit bei psychisch Kranken ? Vortr. hat
h bei seinen Versuchen allein darauf beschränkt, zu prüfen, inwieweit
Le Versuchsperson imstande ist, eine ihm zu Gehör gebrachte rhyth-
ische Folge von Geräuschen zu reproduzieren, d. h. also mit Hilfe irgend-
ler Bewegung den wahrgenommenen Rhythmus nachzuahmen. Die
ersuche wurden nun zunächst in der Weise angestellt, daß Vortr. der
ersuchsperson mit irgend zwei Gegenständen einen bestimmten Rhyth-
us eine Zeitlang vorklopfte und die Versuchsperson dann aufforderte,
demselben Rhythmus mitzuklopfen und den Rhythmus so nachzu-
imen. Mit dieser sehr primitiven Versuchsanordnung ließen sich schon
•obe Differenzen in dem Verhalten mancher Gruppen von Kranken fest¬
eilen. Um die Vorgänge aber etwas genauer zu prüfen und namentlich
i einer graphischen Darstellung der Leistungen der Versuchsperson zu
dangen, hat sich Vortr. folgender Versuchsanordnung bedient. Der
ersuchsperson wurde aufgegeben, den Taster eines einfachen Strom-
nterbrechers niederzudrücken und loszulassen und diese Bewegungen
i einem bestimmten Rhythmus auszuführen, welcher der Versuchsperson
orher oder auch während des Versuches von dem Vortr. vorgeklopft
-urde. In den Stromkreis war außer dem Stromunterbrecher noch ein
leiner Elektromagnet mit Schreibhebel armiert eingeschaltet, welcher
iie Bewegungen des Stromunterbrechers auf der Trommel eines Kymo-
raphions markierte. Vortr. demonstrierte die so erhaltenen Kurven,
welche von Normalen, von hysterischen und manisch-depressiven Kranken
md von Kranken der Dementia-praecox-Gruppe stammen. Das Verhalten
ler Versuchsperson der letzten Gruppe war ein grundsätzlich verschiedenes
v ’on demjenigen der Versuchsperson der beiden ersten Gruppen. Es trat
üe Unfähigkeit der Kranken der Katatonikergruppe, eine Folge von
rhythmischen Geräuschen in der oben angegebenen Weise nachzuahmen,
ieutlich hervor. Es ließen sich noch verschiedene Intensitätsgrade der
genannten Störung unterscheiden. In manchen Fällen ließ sich die Neigung
Bewegungsstereotypien auf diese Weise gut zur Darstellung bringen. —
Da das Verhalten der Fälle der Dementia-praecox-Gruppe von denjenigen
der anderen Versuchspersonen so sehr verschieden war, so erscheint die
Frage berechtigt, ob das Verhalten der Kranken bei der oben mitgeteilten
Versuchsanordnung zur Differentialdiagnose verwertet werden kann.
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764 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Zwar nicht gerade zur Differentialdiagnose zwischen Dementia praecox
und manisch-depressivem Irresein. Wohl aber vielleicht zur Beurteilung
der Frage nach der bei einem Kranken vorhandenen affektiven Ansprech -
barkeit. (Die Untersuchungen werden demnächst im Archiv für Psy¬
chiatrie ausführlich mitgeteilt werden.)
•Kleist-Erlangen: Über paranoide Erkrankungen.
Außer den im Rückbildungsalter auftretenden paranoischen Er¬
krankungen, die der Vortr. unter der Bezeichnung Involutionsparanoia
beschrieben hat, und außer den mit Wahnvorstellungen einhergehenden
Fällen von Dementia praecox kommen endogene wahnbildende Erkran¬
kungen vor: paranoide Defektpsychosen. Sie stimmen zu einem erheb¬
lichen Teil mit den von Kraepelin so genannten Paraphrenien überein. Bei
Männern sind diese Erkrankungen etwas häufiger als bei Frauen. Beginn
meistens zwischen 30. und 40. Lebensjahr. Es ließen sich — wenn auch
nicht scharf — zwei Formen unterscheiden: eine kleinere Gruppe halluzina¬
torisch-paranoider und eine größere Gruppe phantastisch-paranoider Er¬
krankungen.
Die halluzinatorisch-paranoiden Erkrankungen (endogene
Halluzinosen) erinnern, besonders im Anfang, sehr an die Trinkerhalluzi-
nose. Unter den Paraphrenien Kraepelins finden sie sich nicht geschildert.
Verlauf teils allmählich ansteigend, teils schubweise remittierend. Massen¬
hafte Phoneme, wenig andere Halluzinationen. Die Kranken leiden unter
den Sinnestäuschungen, betrachten sie besonders anfangs als etwas Krank¬
haftes. Im Inhalt der Stimmen treten neben Vorwürfen und Drohungen
mehr und mehr beliebige andere Vorstellungen hervor (halluzinatorisches
Anklingen fast aller Einfälle und Gedanken). Die Erklärungsideen und
anderen Wahnvorstellungen wechseln im weiteren Verlauf und wider¬
sprechen sich zum Teil. In den Wahnvorstellungen und im Inhalt der
Sinnestäuschungen macht sich mehr oder weniger deutlich ein phantasti¬
sches Element bemerkbar (5000 M. Lösegeld sollen für den Kranken
bezahlt werden, ein Zeitungsroman wird über ihn veröffentlicht, die ganze
Anstalt ist voll von seinen Verfolgern). Dabei treten auch andeutungweise
und zweifelnd geäußert Größengedanken auf (der Kranke sei im Talmud
als Prophet geweissagt). Die Wahnvorstellungen'haben nicht den starken
Affektwert wie z. B. bei Querulanten und bei der Involutionsparanoia.
Es besteht nicht dauernd eine mißtrauisch-feindselige Stimmung, Zorn-
ausbrüche gehen rasch vorüber, der Kranke verkehrt zwischendurch mit
seinen Feinden, der Wahn hat nicht den vollen Wert der Wirklichkeit.
Die Krankheit läßt große Teile der Psyche unberührt. Es entwickelt sich
nur ein gewisser Ausfall an Betätigung, doch ohne katatonische Zeichen.
Einzelne sprachlich falsch gebildete Termini und vereinzelte andere falsch
gebildete Worte werden gelegentlich beobachtet.
Die phantastisch paranoiden Erkrankungen sind durch
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ne phantastische Störung des Vorstellungslebens und phantastische
/ahnbildung gekennzeichnet. Halluzinationen treten zurück und können
*hlen. Im späteren Verlauf treten hier häufiger als bei der halluzinatori-
ihen Form sprachliche Verfehlung und einzelne motorische Störungen
besonders Gesichtsparakinesen) auf. Die Spontaneität der Kranken läßt
fter mehr nach als bei den halluzinatorischen Formen. Trotzdem bleiben
bese Symptome gering, und es erscheint nicht angängig, die Fälle zur
Katatonie zu zählen. Auch die dem Vortr. für Schizophrenie kennzeich-
lend erscheinenden „paralogischen“ Vertauschungen und Verquickungen
dnfacher Gegenstandsvorstellungen fehlen diesen Kranken. Die phan-
astische Störung betrifft die höheren zusammengesetzten Vorstellungs-
rerbände. Demgemäß treten Verkennungen der Personen und der Um¬
gebung, falsche Vorstellungen über die Beschaffenheit des eigenen Körpers
(Verwandlung des Geschlechts, Menschen, Tiere im Leib) und Fehlvor¬
stellungen über die eigene Persönlichkeit (besonders phantastische Größen¬
vorstellungen) auf. Die phantastische Störung des Vorstellens äußert sich
in Einfällen, Erinnerungstäuschungen und Wahrnehmungsverfälschungen.
Besonders groß ist die Rolle der Erinnerungsfälschungen. Die phantasti¬
sche Störung läßt sich auch außerhalb der Wahnbildung als eine allge¬
meine Störung in der Aktivierung höherer Vorstellungskoraplexe nach-
weisen. Sie ist gewissen Störungen des Vorstellens im Traume nahe ver¬
wandt. Die Fehlvorstellungen wechseln vielfach, widersprechen sich
häufig und lassen die richtige Auffassung der Dinge neben sich bestehen.
Der Affektwert der Wahngebilde ist verhältnismäßig gering, keine dauernd
mißtrauische Verstimmung, vorübergehende Affektausbrüche, ohne daß
die Kranken aus ihrem Wahn die vollen Konsequenzen zögen. Die Wahn¬
welt bleibt auch darin der Traumwelt verwandt.
Die phantastisch-paranoiden Fälle weisen untereinander manche
Verschiedenheiten auf. Aber die Unterformen, die man aufstellen kann,
sind durch viele Übergänge miteinander verbunden. Einzelne Kranke
zeichnen sich durch ungemein zahlreiche Erinnerungsfälschungen hin¬
sichtlich persönlicher Erlebnisse aus (konfabulierende Form, entsprechend
Kraepelins konfabulierender Paraphrenie und Neissers Paraphrenia con-
fabulans). Einige andere Kranke zeigen Ideenflucht, leichten Rede- und
Bewegungsdrang, gehobene Stimmung: ideenflüchtige Form. Es sind
wohl dieselben Fälle, die Kraepelin als expansive Paraphrenie bezeichnet,
nur scheint mir das Ideenflüchtige, Manieartige für diese Kranken mehr
und ausschließlicher kennzeichnend zu sein als das Expansive. Die übrig-
bleibenden Fälle dürften im wesentlichen Kraepelins phantastischer Para¬
phrenie entsprechen. Doch sind sie untereinander auch nicht gleichartig.
Nach der Art des Wahns und dem Befallensein der einzelnen Bewußtseins-
gebiete kann man in Anlehnung an Wernickes Schilderung der paranoischen
Zustände autopsychisch-expansive, allopsychisch-persekutorische und so-
matopsychische Formen unterscheiden. Endlich verdient Erwähnung,
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
daß die phantastische Störung und Wahnbildung bei einzelnen Erkrankun¬
gen, die langsam ansteigend verlaufen, erst spät abenteuerlichere Formen
annimmt. Die Wahnbildung ist anfangs lange Zeit umschrieben, an ein
affektvoll überwertiges Erlebnis geknüpft (Eifersuchts- und Vergewalti¬
gungswahn). Vielleicht sind die vom Vortr. in dieser Weise aufgefaßten
Fälle in Kräpelins Paraphrenia systematica enthalten, für deren Auf¬
stellung das Material des Vortr. sonst keinen Anhalt gab.
Pfersdorff- Straßburg: Uber Paraphrenien.
Vortr. berichtet über die paraphrenieartigen Erkrankungen, die in
den letzten 20 Jahren in der Straßburger Klinik und in der Bezirksheil¬
anstalt Stephansfeld zur Beobachtung kamen. Diese Fälle, die erst im.
zweiten Dezennium der Psychose die Symptome der Demenz (die zumeist
nicht stark entwickelt sind) zu zeigen pflegen, lassen zahlreiche Beziehun¬
gen erkennen zu gewissen chronischen Verlaufsarten der Dementia praecox,
(cf. Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. 1911, Bd. 30, H. 3). Es sind dies
jene Verlaufsarten, die keinen Wechsel der Verblödungsrichtung zeigen,,
bei denen das Rezidiv sich klinisch ebenso gestaltet wie die erstmalige
Erkrankung; in der Remission sind die Symptome des akuten Stadiums
weniger stark entwickelt, oder sie fehlen ganz, je nach der Art der beteiligten
Komplexe. Diese „periodischen“ Verlaufsarten lassen sich in 4 Gruppen
einteilen, deren wesentliche Merkmale hier in aller Kürze mitgeteilt werden
müssen. >
1. Gruppe: Akutes Stadium ist ausgezeichnet durch Sinnestäuschun¬
gen auf allen Sinnesgebieten, zumeist elementarer Art; Muskelsinn¬
halluzinationen. Zu gleicher Zeit wird physikalischer Verfolgungswahn
produziert. — In der Remission ist affektive Stumpfheit vorhanden;
gelegentlich treten Stimmungsschwankungen auf.
2. Gruppe: Das akute Stadium ist charakterisiert durch die depres¬
sive Stimmungslage (entweder depressive Erregung oder anfallweise auf¬
tretende ängstliche Erregung). Zahlreiche akustische Sinnestäuschungen
(schimpfende Stimmen, depressive Eigenbeziehung ist stark entwickelt). —
In der Remission besteht Indifferenz mit Neigung zu depressiver Ver¬
stimmung. Die Kranken ermüden rasch, sind arbeitsunfähig.
3. Gruppe: Das akute Stadium zeigt eine eigenartige motorische
Erregung, die sich im wesentlichen auf die sprachlichen und mimischen
Bewegungen beschränkt. Beide sind manieriert, „stilisiert“; die Ausdrucks¬
weise ist unpräzis, mit absonderlicher Wortwahl, bisweilen eigene Ter¬
minologie; häufiger Stimmungswechsel. Schimpfanfälle. Keine Wahn¬
ideen; keine Sinnestäuschungen. — Die Remission zeigt leichte Manieriert¬
heit, „scheues“ Benehmen. Bisweilen Stimmungsschwankungen.
4. Gruppe: Akutes Stadium: motorische Erregung (elementarer
Bewegungsdrang mit Neigung zu Stereotypie). Die Erregung wechselt
rasch; Schimpfanfälle. Geringe Beeinflußbarkeit. Bisweilen Zustände
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on Gebundenheit; keine Vorbeireaktionen. — Die Remission ist durch den
'hasenwechsel sämtlicher Symptome ausgezeichnet. Reizbarkeit mit
leigung zu exzessiven Affektausbrüchen. In späteren Jahren hebt sich
ie Remission nicht mehr deutlich ab.
Die paraphrenen Erkrankungen lassen eine Gruppierung erkennen,
lie zu den soeben kurz skizzierten Gruppen in Beziehung steht.
Der Gruppe 1 (mit anfallweise auf tretendem physikalischen Ver¬
folgungswahn usw.) stehen die Formen nahe, die Kraepelin nach dem
Vorgänge Magnans als „Paraphrenia systematica“ beschrieben hat. Diese
Form unterscheidet sich von der Gruppe 1 dadurch, daß keine freie Re¬
mission bei ihr zustande kommt; ferner sind die Sinnestäuschungen kom¬
plizierter (innersprachliche Halluzinationen; Gedankenabziehen, -laut¬
werden, Beeinflussung durch „Hypnose“ usw.). Auf Einzelheiten kann
im Referat nicht eingegangen werden. Bei der Analyse unseres Kranken-
materials gewinnt man den Eindruck, daß die Gruppe der „Paraphrenia
systematica“ mindestens zur Hälfte auch noch von andersartigen Formen
gestellt wird; von Formen, die der oben kurz geschilderten Gruppe 2 und
der 4. Gruppe nahestehen. Vortr. möchte diese Gruppen wegen der zahl¬
reichen Berührungspunkte mit dem manisch-depressiven Irresein als
manisch-depressiven Typus der Verlaufsart bezeichnen. Die hierher
gehörigen paraphrenen Formen unterscheiden sich von den oben kurz be¬
schriebenen periodischen Gruppen durch die Entwicklung von Sinnes¬
täuschungen, durch die starke Eigenbeziehung, durch Wahnbildung; dies
gilt besonders für die Abgrenzung gegenüber der Gruppe 4, mit denen die
paraphrenen Gruppen vorzugweise das motorische Verhalten gemeinsam
haben. Die Gruppe 2 (der periodischen Verlaufsarten) zeigt genau, wie
die entsprechende paraphrene Gruppe zahlreiche Sinnestäuschungen und
stark entwickelte Eigenbeziehung. Hervorzuheben ist, daß in diesem
manisch-depressiven Typus die Sinnestäuschungen affektiv gefärbt sind,
und daß ihr Inhalt vom Kranken als berechtigt anerkannt wird; es ist
dies eine Stellungnahme, die die uns im echten manisch-depressiven Anfall
nahezu stets begegnet. Diese Formen stellen nun, wie ich glaube, auch
ein Kontingent zur Paraphrenia systematica, sie zeigen auch eine Evolu¬
tion, die lediglich durch Stimmungsschwankungen bedingt wird. Die
religiöse Form (mit Vorwiegen optischer und deliriöser Sinnestäuschun¬
gen), die Kraepelin beschreibt, gehört dieser Gruppe zu. Die religiösen
Formen waren in unserem Material sogar stark vertreten.
Der Gruppe 3 stehen die Formen von Paraphrenie nahe, die mit
Manieriertheit besonders auf sprachlichem Gebiet einhergehen, nur daß
auch hier wieder die paraphrene Gruppe außer der Manieriertheit noch
Wahnideen und Sinnestäuschungen (ausschließlich akustische) produziert.
Diese Gruppe zeigt die katatonen Züge am deutlichsten, auch pflegt die
Verblödung bei ihr rascher einzusetzen und sich stärker zu entwickeln
wie bei den übrigen Formen.
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Die konfabulierende Form fand sich sehr selten. — Die phantastische
Form (die frühere Dementia paranoides) war ziemlich häufig vertreten.
Hervorzuheben ist, daß alle Gruppen (die 3. dauernd) sprachliche
Anomalien zeigen, die nicht im Detail geschildert werden können, von
denen jedoch hier nur hervorgehoben sei, daß sie in den einzelnen Gruppen
verschieden sich präsentieren: die „systematische“ Form produziert eine
eigene Terminologie (die leicht als Sprachverwirrtheit imponiert). In der
manierierten Gruppe ist vorzugweise die Ausdrucksweise manieriert, im
„manisch-depressiven“ Typus ist Neigung zu Stereotypien vorhanden.
Zusammenfassend läßt sich sagen: Die von Kraepelin aufgestellten
Formen fanden sich sämtlich auch in unserem Material vor; außerdem
lassen sich noch andere Formen nachweisen. Die zahlreichen Berührungs¬
punkte mit den periodischen Verlaufsarten der Dementia praecox lassen
eine Gruppierung der Fälle im Anschluß an die Symptomatologie der
periodischen Verlaufsarten als zweckmäßig erscheinen; im Rahmen des
Referats läßt sich diese Gruppierung nur ganz schematisch geben. Die
Möglichkeit einer derartigen Gruppierung beweist, daß die Paraphrenien
tatsächlich der Gruppe der Dementia praecox zuzurechnen sind.
o. Hattingberg- München: Die systematischen Spaltungen der
schizophrenen Psyche.
Alle psychischen Spaltungshypothesen enthalten implizite die oft
gar nicht ausgesprochene Annahme, daß durch den Spaltungsvorgang das
psychische Ganze in Einheiten zerfalle, die schon vordem in irgendeiner
Weise, sei es auch nur als „funktionelle“, existiert haben. Die niedrigsten
dieser supponierten Einheiten sind die einzelnen „Vorstellungen“, in die
nach Wernicke bei der Sejunktion und ebenso nach Bleuler bei der „pri¬
mären Assoziationsstörung“ das bis dahin einheitliche psychische Ganze
aufgelöst würde. Wernickes Anschauung liegt die für unser heutiges Denken
unannehmbare Idee von einer Lokalisation einzelner Vorstellungen zu¬
grunde. Bleuler lehnt zwar diese Konsequenz ausdrücklich ab, ohne jedoch
anzugeben, welchen Erklärungswert sein rein deskriptiver und gerade in
dieser Beziehung zu unklarer Begriff dann noch haben kann. Die An¬
nahme einer Spaltung in Vorstellungs„komplexe“ wurde von Jung aus¬
gebaut und erweitert, und zwar so, daß eigentlich zweierlei Arten von
psychischen Elementarverbänden als Komplexe bezeichnet werden. —
Die einen, die „unqualifizierten“ Komplexe, wie man sie nennen könnte,
sind „funktionelle Einheiten aus Sinnesempfindungen und intellektuellen
Komponenten, die durch den gleichen Gefühlston charakterisiert werden“.
Eine derartige Annahme wird selbst durch Kraepelins Kritik nicht ge¬
troffen, und die konsequente Weiterbildung einer darauf begründeten
Anschauung gestattet eine viel klarere begriffliche Durchdringung und
Darstellung der Mechanismen des „affektiven“ Denkens, als es bisher
möglich war. — Die anderen, die „autonomen“ Komplexe, die „kleinen
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Sekundärseelen“, wohl am kürzesten die „qualifizierten“ Komplexe,
haben außer den Merkmalen der „unqualifizierten“ noch andere, ihnen
allein zukommende. Einmal die „Verdrängung“ des betreffenden Er¬
innerungsmateriales oder eines Teiles davon, weiter eine besondere Be¬
ziehung zur Sexualität, vor allem jedoch eine viel größere Selbständigkeit
und viel größeren Einfluß auf die psychischen Abläufe. Jungs Ansichten
über die Bedeutung der Verdrängung und die Beziehung zur Sexualität,
die ganz offensichtlich unter dem Einfluß von Freuds Hypothese über das
ätiologisch wirksame psychische Trauma (Komplex = Lebenswunde)
stehen, wurden auch von Bleuler ebenso wie die Annahme einer Spaltung
in Komplexe für die Schizophrenie in Anspruch genommen. — Nur eine
sehr eingehende Darstellung dürfte versuchen, die einzelnen Elemente
dieser Anschauung kritisch zu werten. Daß aber zumindest in einzelnen
Fällen etwas wie „Spaltung der Persönlichkeit“ direkt zu beobachten ist
und nicht, wie Stransky meint, hineininterpretiert werden muß, beweist
eine außerordentlich interessante Selbstschilderung, die unter dem Titel
„Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft“ (L. Staudenmayer ,
Leipzig 1912) vor kurzem erschienen ist. Deren Verfasser beschreibt in
unübertrefflich anschaulicher Weise, die jeden Unbefangenen von der Er¬
lebnisechtheit überzeugen muß, das Auftreten von „Personifikationen“,
die ganz überraschend weitgehende Analogien zu den Komplexen auf-
weisen. Ebenfalls in dieser Selbstschilderung sind zahlreiche außer¬
ordentlich interessante Hinweise darauf enthalten, daß bei der Schizo¬
phrenie außer der Spaltung in Komplexe noch eine ganz andersartige vor¬
kommt, die uns schon aus der Psychologie sowohl des Normalen als
der Neurotiker bekannt ist. — Während die Komplexe einander neben¬
geordnete seelische Bezirke sind, die Spaltung also bildlich genommen
eine „vertikale“, werden bei der „horizontalen“, als welche sie seit langem
schon in der Literatur graphisch verdeutlicht zu werden pflegt, durch den
trennenden Strich Sphären geschieden, deren gegenseitiges Verhältnis das
einer Über- und Unterordnung ist wie bei Dessoirs „Ober- und Unter¬
bewußtsein“, Janets „Bewußtem und Unbewußtem“ usw. Auch Stranskys
Unterscheidung zwischen „Noo- und Thymopsyche“ gehört hierher, die
es im Gegensatz zu den übrigen „horizontalen“ Spaltungshypothesen ver¬
meidet, die Bewußtseinsqualität zum unterscheidenden Kriterium zu
machen — analog zu Freuds , Jungs und Bleulers Unterscheidung zwischen
den zwei Arten des Denkens.
Ihr Mangel liegt in der Begriffsbestimmung der „Thymopsyche“.
Wenn auch alle Empfindungen der „Noopsyche“ zugeteilt werden, ergibt
sich mit Notwendigkeit eine rein und ausschließlich dynamische Auffassung
des Affektes und als letzte Konsequenz eine Art „Libidotheorie“ wie die
Jungs. Ein Affekt, der einerseits jedes „Inhaltes“, jeder „Bezogenheit“
und andererseits natürlich auch der Organempfindungs- und aller vis¬
zeralen Komponenten beraubt wird, kann nur als eine wirkende Kraft,
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nur als eine Energie gedacht werden. Damit würde aber das Bild der
„intrapsychischen Ataxie“ unhaltbar, denn nur irgendwie Geformtes kann
gegen ein anderes Geformtes ataktisch verschoben werden; außer wenn
man für jeden einzelnen Affekt eine spezifische Energie und zugleich eine
psychische Instanz annehmen wollte, die die einzelnen Vorstellungen
richtig oder irrig mit der entsprechenden Affektfarbe kolorieren würde. —
Diese Schwierigkeiten fallen gänzlich weg, und zugleich ergibt sich die
Möglichkeit, das Wertvolle der Jung-Bleulerschen und der &/-ansftyschen
Anschauungen zu vereinigen bei einer Korrektur ungefähr in folgendem
Sinne: Die Thymopsyche, oder wie ich es nennen will, das „Affekt-
Instinktsystem“, genauer ein ausschließlich innerhalb dieses Systems
verlaufendes Denken wäre durch folgende Momente charakterisiert: es
ist 1. ausschließlich affektiv bestimmt und geleitet, 2. es kennt nur die
direkte Ichbeziehung, dagegen keine Sachbeziehung oder keine Beziehung
der einzelnen Komponenten der verschiedenen Simultankomplexe von
Sinnesempfindungen aufeinander, die nur durch die Assoziation durch
Gleichzeitigkeit (im Sinne R. Semons), vor allem aber durch die assoziative
Zentrierung um den Kern der gleichen affektiven Situation zusammen -
gebunden werden. Daher gibt es hier keine „Dinge“ oder Sachbegriffe
wie den Baum, sondern nur z. B. Baumeindrücke und keine „abstrakten
Begriffe“. — Alle mit einem bestimmten Affekt oder in einer bestimmten
„affektiven Situation“ erlebten Simultankomplexe von Sinnesempfindun¬
gen werden eben durch diesen Affekt zu Komplexen (unqualifizierten)
zusammengebunden, und zwar so, daß (bei ausschließlich im Affekt¬
instinktsystem verlaufendem Denken) die betreffenden Simultankomplex-
Engramme nur unter der Wirkung des gleichen Affektes wieder ek-
phoriert werden können oder, anders ausgedrückt, daß das nur in einer
bestimmten affektiven Situation erworbene Erinnerungsmaterial auch nur
bei Wiederkehr der gleichen affektiven Situation dem Individuum zur
Verfügung steht. — Diesem „Affektinstinktsystem“ steht gegenüber die
„Noopsyche“ oder das „Intellektsystem“, dessen Denken am kürzesten
zu charakterisieren wäre als „aktmäßiges“ im Sinne von Ach , Messer ,
Külpe usw. oder als „beziehendes“, durch begriffliche Beziehungen ge¬
richtetes Denken. Hier allein gibt es „Dinge“, z. B. „den Baum“, ab¬
strakte Begriffe, Urteil und Schluß. Im Sinne von Wundt wäre es als
„apperzeptives“ Denken zu charakterisieren. Es ist zugleich fast aus¬
schließlich Denken in Sprachform, unterliegt damit den Regeln der Gram¬
matik, d. h. es ist logisch gerichtet, im Gegensatz zu dem rein affek¬
tiven Denken, das nur die ganz andersartige affektive Richtung kennt. —
Beim Normalen sind diese beiden Arten des Denkens zu einer innigen
„Zweieinigkeit“ verschmolzen, und zwar so, daß weder die eine noch die
andere überwiegenden Einfluß haben kann, wie z. B. das affektive Prinzip
beim „symbolischen“ Denken. Die Psychopathologie kennt eine ganze
Reihe von Störungen, die wesentlich nur das eine System treffen, andere,
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o das Verhältnis der beiden zueinander den Angriffspunkt bildet. So
t z. B. nach Jaspers bei der Amentia im wesentlichen nur das „akt-
täßige“ Denken (das Denken im Intellektsystem) beeinträchtigt, und
\everoch hat sehr interessante Fälle beschrieben, bei denen ebenfalls die
unktion des „Intellektsystems“ in' eigenartiger Weise modifiziert ist,
o daß das Ichbewußtsein sowie die Bildung abstrakter Begriffe besonders
les Zeitbegriffs gestört sind, alles Funktionen auch nach seiner Auffassung
‘iner besonderen psychischen Instanz, die er „Ichtum“ nennt. Bei der
Schizophrenie wäre mit Stransky eine eigenartige Störung in dem Ver-
lältnis beider Systeme anzunehmen, die treffend durch den Ausdruck
ler „intrapsychischen Ataxie“ gekennzeichnet werden kann. Neben
iieser horizontalen fanden wir aber im Sinne Jungs und Bleulers auch
noch die als „vertikale“ bezeichnete Spaltung in die Komplexe, und gerade
sie wird durch die „Ataxie“ ganz besonders deutlich, d. h. in einer be¬
sonderen Weise manifest gemacht. Die „horizontale Spaltung“ oder die
„intrapsychische Ataxie“ wäre jenes von Jung mit Neisser als „Steifigkeit
der Affekte“ bezeichnete Moment, das die Schizophrenie besonders von
der Hysterie unterscheidet, das Jung vergeblich durch die Annahme von
Komplextoxinen und Bleuler ebenfalls unzureichend durch die Hypothese
von der „primären Assoziationsstörung“ zu erklären versucht haben.
Die hier entwickelte Anschauung stützt sich einmal auf Beob¬
achtungen wie die zitierte Selbstschilderung, auf Bleulers großes Material
in seiner Darstellung der Schizophrenie, weiter auf Beobachtungen aus
der Traumpsychologie, der Psychologie der Neurotiker, wie die Psycho¬
analyse sie zeigt, auf Beobachtungen an normalen gesunden Menschen,
besonders an Primitiven und Kindern und zuletzt auf ein großes Material
von Beobachtungen der Tierpsychologen. Der Versuch, die hier kaum
in den Grundlinien angedeutete Auffassung auch nur wahrscheinlich zu
machen, muß einer ausführlichen Publikation Vorbehalten bleiben.
/fegar-Wiesloch: Über abnorme Behaarung bei weiblichen
Geisteskranken.
Während die Dermatologie und Gynäkologie den Behaarungsano¬
malien schon seit längerer Zeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat, ist
in der psychiatrischen Literatur über diese für die Erblichkeitsfrage nicht
unwichtige Erscheinung nichts zu finden. Der Vortr. hat eine große Zahl
von .weiblichen Kranken auf Behaarungsanomalien untersucht; um eine
schärfere Abgrenzung vom normalen Behaarungstypus zu erreichen,
wurden nur Frauen gewählt, die in geschlechtsreifem Alter standen, und
nur die Behaarung berücksichtigt, die in stärkerem Maße an für das Weib
atypischen Stellen auftrat. Die Anomalien verteilen sich sehr ungleich¬
mäßig auf die einzelnen Kranken, am häufigsten kommt die Behaarung
des Gesichtes vor. Der Vortr. gibt an der Hand von Photographien eine
Übersicht über eine Reihe von Kranken mit starkem Bartwuchs. Ge-
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meinsam ist allen die geregelte Tätigkeit der Generationsorgane. Fast alle
waren direkt erblich belastet mit Geistesstörung; der Bartwuchs ließ sich
bis auf die Mädchenjahre zurückverfolgen. Es fanden sich bei ihnen noch
weitere Stigmata und konträre Sexualmerkmale. Eine Kranke mit
enormer kumulativer erblicher Belastung hatte einen Bruder von durchaus
femininer Bildung. Nur bei einer Kranken blieb die Auffassung des Weiber¬
bartes als vererbter Entwicklungsstörung zweifelhaft; bei ihr stellte sich
gleichzeitig mit der sehr starken Bartentwicklung eine monströse Fett¬
sucht ein. — Eine sichere Erklärung der Behaarungsanomalien ist noch
nicht möglich, es bedarf noch weiterer Untersuchungen, um allmählich
Ordnung in die anscheinende Regellosigkeit der epidermoidalen Ver¬
änderungen zu bringen. Zunächst müssen die seitens der Blutdrüsen
ausgelösten Störungen in der Behaarung getrennt werden von den er¬
erbten Anomalien. (Der Vortrag erscheint in erweiterter Form; „Bei¬
träge zur Geburtshilfe und Gynäkologie“.)
ScAä/er-Langenhorn: Demonstration eines Planes für ein
gesichertes Haus.
Forftasmer-Greifswald: Dementia praecox und Epilepsie.
Anfälle epileptischen Charakters vergesellschaften sich nach älteren
und jüngeren Erfahrungen nicht selten mit Krankheitsbildern der De-
mentia-praecox-Gruppe. Die psychiatrische Diagnostik befindet sich der¬
artigen Vorkommnissen gegenüber in schwieriger Lage. Es erhebt sich
die Frage der Abhängigkeitsbeziehungen beider Symptomenreihen. Sind
im Einzelfalle die epileptischen Erscheinungen ein Ausdruck der Dementia
praecox, oder ist umgekehrt das Dementia-praecox-Bild ein atypisches
Bild der Epilepsie, oder besitzen beide Symptomenreihen Selbständigkeit,
handelt es sich um eine Kombination? Am ehesten wird man eine sym¬
ptomatische Abhängigkeit der epileptiformen Attacken von der Dementia
praecox annehmen können, wenn sie im Verlauf dieser ayftreten, respektive
die Szene einleiten, wenn sie vereinzelt respektive selten und unregelmäßig
sind und den Charakter des „Grand mal“ wahren. In naher Beziehung
zu den epileptischen Anfällen stehen Schwindel- und Ohnmachtsanfälle.
Abzulehnen ist nach unseren sonstigen Erfahrungen wohl, daß Dämmer¬
zustände und Verstimmungen als epileptogene Äquivalente sympto¬
matisch, d. h. als Symptome der Dementia praecox auftreten. In solchen
Fällen ist der Gedanke einer Kombination naheliegend. Die Unterschei¬
dung von Dämmerzuständen und akuten Schüben der Dementia praecox
ist zuweilen nicht leicht und daher eine sichere Entscheidung unmöglich.
Auch die Verstimmungen machen diagnostische Schwierigkeiten. Post-
paroxysmelle Verwirrtheitszustände kommen vielleicht bei symptomati¬
schen Anfällen vor. Bei Häufung der Anfälle wird der symptomatische
Charakter unsicher, ebenso, wenn sie erst im höheren Lebensalter auf-
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treten, wo die Möglichkeit einer Kombination mit arteriosklerotischer
Epilepsie vorliegt. Vortr. fand symptomatisch zu deutende Anfälle in
198 Fällen nur 7 mal, also in 3,5%. Die Zahl erhöht sich auf 7%, wenn
unsichere Fälle hinzugenommen werden. Eine andere Gruppe bilden die
Fälle, in denen die epileptischen Anfälle längere Zeit isoliert bestehen und
sich erst dann ein Dementia-praecox-Bild entwickelt. Dabei ist zu fordern,
daß dieses typisch sei; von Schwierigkeiten der Differentialdiagnose
zwischen Dämmerzuständen und akuten Schüben der Dementia praecox
ist abzusehen. Die Neigung einiger Autoren, in solchen Fällen anzu¬
nehmen, daß die Epilepsie gelegentlich ein der Dementia praecox ent¬
sprechendes Bild erzeugen könne, entbehrt stichhaltiger Begründungen.
Näher liegt es, an eine Kombination zu denken. Vortr. schildert einen
hierher gehörigen Fall seiner Beobachtung:
Bei einem 28 jährigen jungen Mädchen bestehen seit dem 13. Lebens¬
jahr epileptische Anfälle mit Äquivalenten (Petit-mal-Anfälle). Seit
2 Jahren hat sich ohne Häufung der Anfälle — sie sind im Gegenteil in
letzter Zeit zurückgetreten — langsam eine Charakterveränderung im
Sinne der Dementia praecox entwickelt. Die vorher regsame und fleißige
Patientin ist nachlässig, faul und interesselos geworden. Jetzt gemütliche
Verblödung, vereinzelt Sinnestäuschunegn und Wahnbildungen, häufig
Negativismus. Epileptische Anfälle treten noch vereinzelt auf.
Die serologischen Befunde sind heutzutage noch mit großer Reserve
zu verwerten. Unwiderlegt ist bisher, daß sich Abbau von Geschlechts¬
drüsen ganz besonders häufig bei Kranken der Dementia-praecox-Gruppe
findet. Bei Epilepsie wurde ein solcher nur gelegentlich beobachtet. Im
Anschluß teilt Vortr. die von ihm bei Epilepsie erhobenen serologischen
Befunde mit. ln dem erwähnten Fall wurde Ovarialsubstanz abgebaut.
Das spricht, falls das bisher Unwiderlegte richtig ist, mehr für eine De¬
mentia praecox als für eine epileptische Psychose. Man kann gegen die
Annahme einer Kombination einwenden, daß sich möglicherweise eine
Dementia praecox jahrelang durch epileptiforme Anfälle dokumentiert
habe. Denkt man doch heutzutage daran, gewisse Schwachsinnsformen,
gewisse Psychopathien als Frühformen der Dementia praecox auf zu-
fassen. Von derartigen Erscheinungen ist bei der Patientin nichts zu
eruieren. Außerdem spricht für das Vorliegen einer genuinen Epilepsie
die Häufigkeit der Anfälle, das Vorhandensein von Petit-mal-Anfällen
und schließlich die Tatsache, daß die Mutter der Patientin an einer typi¬
schen Epilepsie leidet. Der serologische Befund ist bei ihr negativ. In
derartigen Fällen liegt es nach dem heutigen Stande des Wissens am
nächsten, eine Kombination anzunehmen. Vortragender geht dann auf
die Frage der chronischen paranoischen Psychosen bei der Epilepsie ein.
Die Annahme einer chronischen epileptischen Paranoia ( Ziehen ) wird
abgelehnt. Die paranoiden Ideen kann man nur dann mit der Epilepsie
in Verbindung setzen, wenn sich nachweisen läßt, daß es sich um das
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Festhalten von in Dämmerzuständen konzipierten Wahnideen handelt.
In andern Fällen ist auch afl eine Kombination zu denken. Es kommt
hier besonders die Dementia praecox paranoides in Betracht. Mit der
Annahme von Kombinationen sind die Schwierigkeiten nicht beseitiget.
Außerordentlich schwierig erscheint in „Kombinationsfällen“ die Ent¬
scheidung, ob gewisse Erscheinungen der einen oder der anderen Reihe
zuzuteilen sind (Verstimmungen, Charakterveränderungen). Unabhängig
davon, wenn auch nahe verwandt, erscheint die Frage des Einflusses
gewisser schon bestehender Symptome der einen Symptomenreihe auf
neu entstehende Symptome der anderen, der Färbung des einen Krank¬
heitsbildes durch Symptome des anderen (reziproke Wirkung der Krank¬
heitsbilder). Dahin gehört, daß die Wahnideen der Dementia praecox
nicht selten an die epileptischen Anfälle anknüpfen; es ist zu erwägen,
daß die bestehende Bigotterie des Epileptikers die Wahnbildungen der
Dementia praecox in bestimmter Richtung lenken kann, daß sich umge¬
kehrt Züge der Dementia praecox in etwa auftretende epileptische Dämmer¬
zustände verflechten können.
Schließlich wirft Vortr. die Frage auf, inwieweit durch innere Be¬
ziehungen das Zusammentreffen der Epilepsie mit der Dementia praecox
bedingt erscheint. Es läßt sich nicht verkennen, daß beide Krankheiten
manches Gemeinsame haben (Fehlen von Ursachen in der Außenwelt,
gewisse, wenn auch nicht überragende Bedeutung der Heredität, Ausgang
in eigenartige geistige Schwächezustände, noch zu bestätigende Befunde
im Blut und Urin, die auf das Bestehen von Stoffwechselanomalien hin-
weisen). Alles das deutet auf verwandtschaftliche Beziehungen und
rückt die Möglichkeit eines häufigeren Zusammentreffens nahe.
Pfersdorf. Rosenfeld. Steiner.
49. Versammlung des Vereins der Irrenärzte Nieder¬
sachsens und Westfalens am 2. Mai 1914 in Hannover.
Anwesend waren: ^4k-Uchtspringe, Bartels- Hameln, BeAr-Lüneburg,
Benning- Bremen, Benno-Goslar, BorcAers-Hildesheim, Bräuner-Lüneburg,
Brunotte -Gandersheim, Bruns-Hannover, Buddee-Göttingen, Dammann-
Marsberg, Deetfen -Wilhelmshöhe, DieA/nann-Volmerdingsen, Draeck -
Aplerbeck, Ernestus-Göttingen, FacWa/n-Suderode, Fröhlich- Langenhagen,
Gellhorn -Goslar, Gerstenierg-Hildesheim, Gerstenfcerg-Lüneburg, Grimme-
Hildesheim, Grütter-Lüneburg, GüntAer-Warstein, Hampe- Braunschweig,
BocAer-Göttingen, Beine-Hannover, Heüwig -Langenhagen, Holzer-Wzx-
stein, Boppe-Rinteln, /acoii-Münster, ÄtfteZ-Göttingen, Klieneberger-
Göttingen, ÄVacfte-Lüneburg, Lockte- Göttingen, Löu'entAaZ-Braunschweig.
.LüAAers-Hannover, ATa/Jmann-Liebenburg, Matthes- Blankenburg, Mönke-
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Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens.
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möüer-Hildesheim, Orland -Uchtspringe, Osann-Hannover, Peltzer- Bremen,
Reckmann -Oeynhausen, Rehm- Bremen, ÄeinÄoW-Hannover, Richard-Göt-
tingen, Scherenberg -Warstein, Sehrdder-Uchtspringe, Schultz«-Göttingen,
«Snett-Lüneburg, Stamm-Ilten, Stiüer-Hildesheim, Folgt-Oeynhausen, Wah-
rendorf- Ilten, Widmann -Marsberg.
Zum Vorsitzenden wird GerstonÄerg-Hildesheim gewählt, zum
Schriftführer Stöäsr-Hildesheim.
Nachdem der Vorsitzende den verstorbenen Mitgliedern Geh. Medi¬
zinalrat //üpeden-Hannover und Direktor PöMrer-Langenhagen einen
Nachruf gewidmet hat, erteilt er Bruns-Hannover das Wort.
•
Bruns-Hannover: 1. Neueres zur Diagnose und speziell zur
Segmentdiagnose des Rückenmarktumors.
B. bespricht einige Tatsachen, die uns die neueren Erfahrungen auf
dem Gebiete der Rückenmarkstumoren und speziell der Chirurgie dieser
Erkrankungen gebracht haben. Vielfach ist z. B. die Beobachtung ge¬
macht, daß bei hochsitzenden Tumoren, bei denen im übrigen die Gefühls¬
störungen bis an die obere Grenze des Tumors reichten, das Sakralgebiet
mehr oder weniger von der Anästhesie verschont war. Wichtiger noch
für die Segmentdiagnose ist die Tatsache, daß oft längere Zeit weit unter¬
halb des Tumors Schmerzen und Hyperästhesien bestehen, die man als
radikulär bedingt, also als Segmentsymptome auffassen würde, wodurch
man dann entweder den Tumor zu tief lokalisieren oder 2 Tumoren an-
nehmen würde. In Wirklichkeit können es exzentrisch projizierte Schmer¬
zen sein. In einem Falle, den B. mit Professor Vogt im Juli 1913 in Wies¬
baden sah, bestand eine Herabsetzung der Empfindung für alle Gefühls¬
qualitäten von unten bis zur 2. Rippe — in einem Teile des Sakralgebietes
beiderseits war aber die Temperaturempfindung erhalten. Ferner be¬
standen andauernd Schmerzen und Hyperanästhesie an der Vorderseite
beider Oberschenkel, also im Lumbalgebiete. Damit hatte das Leiden
begonnen. Nach den Symptomen mußte ein Tumor am obersten Dorsal¬
marke sitzen; es fragte sich nur, ob nicht noch ein zweiter am Lenden¬
marke sitzen würde. B. nahm aber an, daß die Schmerzen im Lumbal¬
gebiete exzentrisch projizierte seien, und riet zur Operation am obersten
Dorsalmarke; wenn es 2 Tumoren waren, so mußte ja jedenfalls erst der
oberste entfernt werden. Der Tumor wurde am untersten Hals -und
obersten Dorsalmarke gefunden. Ein halbes Jahr später konnte die
Patientin, die an einer schweren spastischen Lähmung der Beine und
schweren spinalen Störungen gelitten hatte, wieder Berge steigen; nur
im direkt ergriffenen Wurzelgebiete 1. bestanden noch Schmerzen. Ein
zweiter Tumor im Lendenmarke war also nicht vorhanden.
Ferner spricht B. über die besonders von Babinski ausgehenden
Bemühungen, nicht nur den oberen Rand, sondern auch den unteren
deß Tumors und damit seine ganze Längenausdehnung zu bestimmen.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Während der obere Rand aus der oberen Grenze der Sensibilitätsstörungen
und aus etwaigen objektiv deutlichen radikulären Symptomen bestimmt
wird, will Babinski die untere Grenze aus der Ausdehnung des sogenannten
Reflexe de döfense bestimmen. Man versteht darunter krampfhafte
Streck- und vor allem Beugebewegungen der unteren Extremitäten, die
bei Reizungen der Haut an Beinen und Rumpf — auch bei totaler An¬
ästhesie — auftreten können — sie treten oft auch scheinbar spontan ein.
Babinski und andere haben nun nachgewiesen, daß dieser Reflexe de dö-
fense sich in einzelnen Fällen bis zu den Hautgebieten feststellen läßt, die
der untersten Grenze des Tumors entsprechen. Zwischen dieser Grenze
und der oberen Gefühlsstörungsgrenze liegt dann ein mehr weniger langes
Gebiet — das der Längenausdehnung des Tumors entspricht. Natürlich
würde es für operative Zwecke sehr nützlich sein, wenn man vor der Opera¬
tion eines Tumors sich ein Bild von seiner Längenausdehnung machen
kann — außerdem meint Babinski, daß sehr lange Tumoren eher extra¬
durale, meist maligne sind. Eigene Erfahrungen über diese Angaben
Babinskis hat Bruns bisher nicht.
Klopft man mit einem Perkussionshammer auf das untere Radius¬
ende, so tritt eine Beugung des Unterarmes allein oder mit Beugung der
Finger ein. Niemals aber die letztere allein. Bei Affektionen, die das
5. Zervikalsegment treffen und die darunterliegenden vom 6. oder 7. an
freilassen, zugleich aber die Pyramidenbahn über dem unteren Teile der
Halsanschwellung schädigen, fällt die Beugung des Unterarmes aus,
während die Beugung der Finger allein eintritt. (Inversion des Radius¬
reflexes). Auch hieraus kann man dann die Ausdehnung des Rücken¬
marksleidens noch näher bestimmen. In einem Falle von Bruns, wo alles
für einen ganz hoch am Halsmarke, oberhalb der Halsanschwellung,
sitzenden Tumor sprach, war keine Inversion des Radiusreflexes vorhan¬
den, was mit diesem Sitze übereinstimmte. In diesem Falle hatte die Er¬
krankung mit Parästhesien und leichten Muskelatrophien an der rechten
Hand begonnen; bei der übrigen Symptomatologie glaubte aber B., daß
es sich hier um eine Fernwirkung durch Liquordruck unterhalb des Tumors
handle, eine Beobachtung, die auch schon von anderer Seite gemacht ist.
Hier fand sich bei der Operation — obgleich in zwei Zeiten das gesamte
Halsmark freigelegt wurde, gar nichts; auch am Marke selbst nichts Ver¬
dächtiges (s. die letzten Mitteilungen von Nonne). Der Kranke starb einige
Monate später — er war zuletzt an beiden Armen und Beinen spastisch
gelähmt. Hirnerscheinungen hatten nie bestanden. Eine Sek¬
tion konnte nicht gemacht werden. Trotz Entfernung der Wirbelbögen
vom dritten Hals- bis ersten Brustwirbel inklusive war die Kopfhaltung
nicht wesentlich gestört.
2. Kurze Mitteilungen über eine Epidemie spinaler
Kinderlähmung in Hannover und Umgegend im Jahre 1913.
Im Frühjahr, etwa Mai, 1913 kamen zunächst häufiger Fälle von
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Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens.
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nderlähmung aus der Umgegend von Hannover in der Poliklinik und
inik der Kinderheilanstalt zur Beobachtung. Die Epidemie erreichte
en Höhepunkt im August, September und vor allem Oktober 1913 und
rte im November auf. In diesen Monaten kamen auch in der Privat¬
axis 2?.s eine große Anzahl von Fällen vor. Im ganzen sah B. über 80
die mit ausgesprochenen Lähmungen. Von anderen Ärzten wurde ihm
►er mehr als 20 solcher Fälle berichtet. Noch jetzt kommen öfters
ille mit Residualerscheinungen aus der vorjährigen Epidemie zur Beob-
ihtung. Nimmt man an, daß die meist nicht erkannten Abortivfälle im
erhältnis zu den Lähmungsfällen ebenso häufig waren wie z. B. in den
tzten schwedischen Epidemien, so kann man die Zahl der Erkrankungen
ohl auf mehr als 200 schätzen. Die Krankheit betraf Kinder jeden Alters
ls in die Pubertätsjahre und auch einige Erwachsene. Sie betraf gleich-
läßig Kinder aus guten und ärmlichen Verhältnissen. Landkinder
urden häufiger betroffen, namentlich im Beginn der Epidemie.
Die Symptomatologie bot nicht viel Neues. Auffällig waren die
tarken spontanen und bei Bewegungen auftretenden Schmerzen —
Kernigs Symptom. In fast allen Fällen bestand im Anfang starkes
Schwitzen; in einzelnen Durchfälle oder Anginen. Die Lähmung trat
neist sehr bald nach dem initialen Fieber ein — in einzelnen Fällen nach
dnem scheinbar gesunden Intervall. Die Lähmung war im Anfang sehr
lusgebreitet oder gleich sehr umschrieben. Auffällig war die Prädilektion
ür den Quadrizeps; im Anfang war auch fast immer Rumpf-, Bauch- und
Sackenmuskulatur beteiligt. Die Blasenfunktion war oft, die des Mast-
ilarmes seltener gestört. Eine große Anzahl von Fällen heilte rasch bis auf
geringe Reste; in andern blieben aber sehr ausgedehnte Lähmungen — alle
vier Extremitäten, Bauch und Rumpf — bestehen.
Es wurden alle beschriebenen Unterformen beobachtet — auch
bulbäre — ein Fall mit Facialis-, Gaumen-, Rachen- und Kehlkopflähmung
mit tödlichem Ausgange — dann meningitische und vor allem eine große
Anzahl abortiver Formen. Erscheinungen von Großhirnenzephalitis hat
B. nicht gesehen.
Im Anfang war wegen der Schmerzhaftigkeit die Diagnose vielfach
auf Gelenkerkrankung, Trauma, auch Influenza gestellt.
Mehrfache Fälle von dauernder Lähmung in einer Familie sah B.
zweimal. Es bestand jedesmal ein Intervall zwischen Fall 1 und 2 von
14 Tagen. Häufiger sah er mehrfache abortive Fälle und einen mit dauern¬
der Lähmung bei Kindern derselben Familie. Die Übertragung von Kran¬
ken zu Kranken ist jedenfalls nicht häufig — häufiger wohl erfolgt die
Übertragung durch gesunde Mittelspersonen oder auch durch abortive
Fälle. Die erstere Form der Übertragung konnte B. in 2 Fällen bestimmt
feststellen. Deutliche Bevorzugungen einzelner Stadtteile ließen sich
nicht nachweisen.
Zeitschrift für Psychiatrie LXXI. 4 5. 53
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
2?eAr-Langenhagen stellt ein idiotisches Geschwisterpaar mit fa¬
miliärer Erkrankung des Zentralnervensystems vor.
Die Kranken stammen aus einfachen ländlichen, aber geordneten
Verhältnissen, der Vater, Häusling, ist gesund, kein Trinker. Mutter an
Lungenentzündung gestorben. Keine Geisteskrankheiten in der Aszendenz,
besonders sollen niemals Krankheitsbilder, wie die vorgestellten Kranken
sie zeigen, vorgekommen sein. 8 Kinder, davon 1 im ersten Lebensjahre
an Krämpfen gestorben, 3 gesund, 4 Kinder idiotisch; von diesen ist eine
Tochter im Alter von 13 Jahren in der Anstalt verstorben, 3 Kinder zurzeit
noch in Anstaltspflege. Keine Lues. Die Untersuchung nach Wassermann
absolut negativ.
Friedrich Sch., 37 Jahre alt, seit 1888 in Anstaltspflege, normale
Geburt, Idiotie angeboren. Bekam verspätet die Zähne, lernte mit 4 Jahren
Gehen und Sprechen, niemals Krämpfe, auch sonst keine erheblichen
körperlichen Erkrankungen. Das kreisärztliche Aufnahmegutachten er¬
wähnt, daß alle Bewegungen etwas schleppend und langsam, aber ko¬
ordiniert verliefen; keine Störungen der Reflexe, kein Nystagmus. Auch
die Untersuchung nach der Aufnahme ergab nur leichte spastische Er¬
scheinungen an den unteren Extremitäten. 1898 ist in der Kranken¬
geschichte bemerkt: Sprache skandierend, ataktische Bewegungen der
Arme und Beine, sehr unsicherer Gang. 1906 wird zum ersten Male Ny¬
stagmus erwähnt. Seit 6 Jahren Zustand durchaus stationär.
Zurzeit bietet der Kranke, abgesehen von einer ziemlich hochgradigen
Idiotie, folgende Erscheinungen:
Auffallend starrer, maskenartiger Gesichtsausdruck, wenig Mienen -
spiel. Sprache deutlich gestört, die Worte werden nur mit Mühe kurz
abgerissen hervorgestoßen. Keine Augenmuskellähmung. Pupillen gleich,
Reaktion gut erhalten. Starker horizontaler Nystagmus. Facialis unge¬
stört. Keine Atrophien der Lippen, Zunge, überhaupt keine Bulbär-
symptome. Ausgesprochen spastisch-ataktischer Gang, deutliche Spasmen
an den unteren Extremitäten. Patellarreflexe lebhaft, Babinski beiderseits
positiv. An den oberen Extremitäten ebenfalls ausgesprochene ataktische
Erscheinungen mit Erhöhung der Reflexe. Spasmen weniger lebhaft.
Keine Muskelatrophie, keine Störungen der Sensibilität. Blase und Mast¬
darm intakt. Untersuchung des Augenhintergrundes (Prof. Erdmann -
Hannover): r. leichte temporale Abblassung der Papille, 1. die Abblassung
viel deutlicher ausgesprochen. L. schmaler temporaler Konus. Gefäße
auffallend eng, der Augenhintergrund erscheint schmutziggrau meliert.
Wilhelm Sch., 22 Jahre alt, seit 1901 in der Anstalt, jüngstes Kind
der Familie. Angeboren idiotisch. Zähne verspätet. Mit 3 Jahren etwas
Sprechen gelernt. Sprachvermögen nur auf wenige Worte beschränkt
geblieben. Gehen stets sehr mangelhaft. Keine Krämpfe. Keine ernst¬
lichen körperlichen Erkrankungen. Das kreisärztliche Gutachten erwähnt:
Mangelhafter schwankender Gang, Schielen auf dem r. Auge, geschwächte
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Original fro-m
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Verein der Irrenärzte Niedersachsens and Westfalens.
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Sehkraft, aber normale Koordination in den Bewegungen und normales
Verhalten der Sensibilität und der Reflexe. Die Untersuchung nach der
Aufnahme ergab: r. Strabismus convergens. Normale Reaktion der Pu¬
pillen. Ataxie und Spasmen mäßigen Grades in sämtlichen Extremitäten.
Steigerung der Reflexe.
Der Kranke macht zunächst im Gehen gewisse Fortschritte. Dann
verschlechterte sich sein Zustand wieder erheblich. Auch jetzt ist der
Prozeß noch nicht zum Stillstand gekommen.
Neben hochgradiger Idiotie bietet der Kranke zurzeit folgende Er¬
scheinungen: Starrer, maskenartiger Gesichtsausdruck, Sprache stark
gestört. Pat. spricht selten und stößt die Worte dann kurz, ruckartig aus.
Sprachvermögen nur auf wenige Worte beschränkt. Strabismus convergens
rechts. Keine Ptosis, kein Nystagmus. Pupillenreaktion prompt. Links
leichte Facialisparese. Keine Bulbärsymptome. Starke spastisch-atak¬
tische Erscheinungen an den Extremitäten. Beginnende Kontrakturen,
besonders im Kniegelenk. Reflexe gesteigert, beiderseits Babinski.
Gang stark gestört. Pat. kann sich nur mit Unterstützung etwas vor¬
wärts bewegen. Starke Koordinationsstörungen an den oberen Ex¬
tremitäten. Sensibilität völlig intakt. Keine Muskelatrophien. Blasen-
und Mastdarmfunktion ungestört. Augenhintergrund: ohne wesent¬
liche Veränderungen. Keine deutliche Abblassung der temporalen
Papille.
Margarethe Sch., 25 Jahre alt, seit 1898 in Anstaltspflege. Von
Geburt an idiotisch, aber nicht in dem Grade wie die Geschwister. Zähne
mit 1 Jahr, mit 2 Jahren Gehen und Sprechen gelernt. Keine Krämpfe,
keine ernstlichen körperlichen Erkrankungen. Das kreisärztliche Auf¬
nahmegutachten erwähnt: Schielen auf dem 1. Auge, Kurzsichtigkeit,
schlecht artikulierte Sprache und unsicherer, schwankender Gang. In
der Anstalt wurde nach der Aufnahme nur ein linkseitiger Strabismus
converg. festgestellt, sonst keine gröberen Störungen. Die Kranke hat die
Anstaltschule ohne nennenswerten Erfolg besucht, ohne Konfirmation
entlassen. Geistiger und körperlicher Rückgang im Verlaufe der letzten
Jahre, besonders hat das Sehen sich verschlechtert, das Gesichtsfeld
scheint stark eingeengt, genauere Untersuchung bei dem geistigen Tief¬
stand unmöglich. Während der Gang sich nur wenig verschlechtert hat,
sind die Bewegungen in den oberen Extremitäten unsicherer und atakti¬
scher geworden.
Zurzeit besteht neben der Idiotie eine leichte Facialisparese links,
Strabismus converg. links, ausgesprochener Nystagmus. Pupillenreaktion
prompt. Leichtes Skandieren beim Sprechen. Mäßige spastisch-ataktische
Erscheinungen an den Extremitäten mit Erhöhung der Reflexe, an den
Armen deutlicher wie an den Beinen. Babinski fehlt. Der Gang etwas
breitspurig und ataktisch, aber sicher. Sensibilität normal, keine Atro¬
phien, keine Blasen- und Mastdarmstörung. Die Untersuchung des
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Original from
UMIVERSITY OF MICHIGAN
780
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Augenhintergrundes ergab beiderseits eine leichte temporale Abblassung
der Papille. Gefäße stark verengt, sonst keine gröberen Störungen.
Bei der im Alter von 13 Jahren verstorbenen Schwester führt die
Krankengeschichte nur einen Strabismus converg. r. und spastische Er¬
scheinungen an den unteren Extremitäten. In dem Sektionsprotokoll ist
lediglich ein thrombotischer Verschluß des Sin. longitud. und ein hämor¬
rhagischer Erweichungsherd im Gehirn vermerkt, nähere Angaben fehlen.
Vortr. weist auf die prinzipielle Übereinstimmung der nervösen
Symptome bei den drei Geschwistern hin, graduell weichen sie voneinander
ab. Das klinische Bild ähnelt in mancher Beziehung dem der multiplen
Sklerose, unterscheidet sich aber in der Entwicklung des Krankheitsbildes
und in manchen anderen Punkten wieder wesentlich von ihm. Die 1885
von Pelizaeus veröffentlichten Fälle, die klinisch ganz ähnliche Erschei¬
nungen boten wie die vorliegenden Fälle und der multiplen Sklerose zu¬
gerechnet wurden, und der von Merzbacker in einem dieser Fälle erhobene
eigenartige histo-pathologische Befund, den er als Aplasia axialis extra-
corticalis congenita bezeichnet, weisen darauf hin, daß man init der Dia¬
gnose derartiger Symptomkomplexe gerade bei den familiären Erkrankun¬
gen des Zentralnervensystems sehr vorsichtig sein muß, auch dann, wenn,
wie in den vorliegenden Fällen, zweifellos eine Ähnlichkeit mit bekannten
Krankheitstypen vorhanden ist. Auch in diesem Falle wird erst der
weitere Verlauf und der histo-pathologische Befund entscheiden können.
Vortr. berichtet ferner über ein Geschwisterpaar, das neben der Idiotie
bislang das Bild der spastischen Spinalparalyse zeigt.
Hugo und Otto L., 29 resp. 24 Jahre alt, stammen von einem trunk¬
süchtigen Vater, der vor dem Tode völlig gelähmt gewesen sein soll.
Näheres war bislang darüber nicht zu erfahren. Sonst keine Heredität.
Von 11 Geschwistern ist eine Schwester im späteren Leben erblindet, Ur¬
sache unbekannt, die übrigen Kinder sind angeblich gesund. Beide Brüder
sind normal und rechtzeitig geboren. Sie sind von Kindheit an geistig
zurückgeblieben, haben aber rechtzeitig Gehen und Sprechen gelernt.
Krämpfe sind niemals beobachtet, auch sonst keine ernstlichen Erkran¬
kungen. Keine Lues. Beide haben die Schule mit mäßigem Erfolg
besucht, sind zur Konfirmation zugelassen. Bei beiden Brüdern haben
sich etwa mit dem 12. Lebensjahre Gehstörungen eingestellt, die seitdem
langsam, aber ständig zugenommen haben, gleichzeitig sind sie auch
geistig mehr zurückgegangen. Bis vor 4 bis 5 Jahren noch mit Steine¬
klopfen u. dergl. beschäftigt, konnten selbständig ihre Arbeitstelle zu Fuß
aufsuchen. Seit 3 resp. 2 Jahren in Anstaltspflege. Die Gehstörungen
haben auch im Verlauf der letzten Jahre ständig zugenommen, die Kranken
sind jetzt völlig gelähmt. Zurzeit zeigen beide starke spastische Lähmung
beider Beine mit Erhöhung der Reflexe, positiven Babinski. Ausgedehnte
sekundäre Kontrakturen an den Füßen und den Knien. Keine Verände¬
rungen in den Augen, Sprache völlig ungestört, keine Atrophien, keine.
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Verein der Irrenärzte Niedersachsens und Westfalens.
781
nsibilitätsstörungen, Blase und Mastdarm intakt. Erst in letzter Zeit
llt eine leichte Ataxie in den Armen beim Greifen nach Gegenständen auf.
Auch in diesen Fällen wird erst der weitere Verlauf voraussichtlich
>er die Art der Erkrankung nähere Aufschlüsse geben können.
In der Diskussion sprechen Bruns-Hannover und .4Jf-Uchtspringe.
Rehm- Bremen-Ellen: Verhalten der Menstruation und des
Körpergewichts bei chronischen Psychosen.
Bericht über 290 Fälle verschiedener Psychosen, von denen die
Mehrzahl dem manisch-depressiven Irresein und der Dementia praecox
ngehört. Zeitweises Fehlen der Menstruation wurde bei Hysterie
i 29, Epilepsie in 9, Dementia praecox in 46, manisch-depressivem Irresein
i 36 und Paralyse in 21%, gänzliches Fehlen bei Dementia praecox in 4
nd Paralyse in 43% der Fälle beobachtet. Das Körpergewicht sinkt
>ei Epilepsie in der Regel mit Häufung der Anfälle; die Paralyse zeigt
gewisse Typen; lange dauernde Fälle von Dementia.praecox unterscheiden
ich von chronisch manisch-depressiven charakteristisch. Beiden Psy¬
chosen ist das Aussetzen der Menses auf der Höhe der Krankheit im
^.Vellental der Gewichtskurve gemeinsam. Bei Dementia praecox tritt
[läufig im chronischen Stadium ohne erkennbare psychisch? und körper-
iehe Veränderung bei gleichbleibendem Gewicht Amenorrhoe ein. —
Notwendig ist bei Konstruktion einer Gewichtskurve die Bestimmung
ies Xormalkörpergewichts aus der Körpergröße. (Ausführliche Veröffent¬
lichung folgt.)
Grimme-Hildesheirn: Über einen jahrzehntelang bestehen¬
den Fall von Eifersuchtswahn.
Der Eifersuchtswahn trat 10 Jahre nach einem Unfall auf, bei dem
der Kranke sich seine äußeren Geschlechtsteile anscheinend nicht sehr
erheblich verletzt hatte. Der Unfall erweckte allerlei Befürchtungen und
eine Neigung zu hypochondrischer Beobachtung. Unter den Befürchtun¬
gen spielte der Gedanke, eine unheilbare Erkrankung seines Geschlechts¬
organes, die die Ausübung des Geschlechtsverkehrs hindere, bei dem
Unfall erworben zu haben, eine große Rolle. Diese Vorstellungen traten
aber im Laufe der nächsten Jahre wieder sehr zurück und wurden erst
wieder rege, als der Kranke 10 Jahre später im Alter von 29 Jahren
heiratete. Auf ihrer Grundlage entwickelte sich jetzt sofort ein Eifer¬
suchtswahn, als der Kranke am Tage nach der Hochzeit seine Frau von
dem Hofe eines Nachbarn kommen sah, mit dem sie zusammen groß
geworden war. Die vorher vorhandenen Befürchtungen verdichteten
sich jetzt zu Erklärungswahnideen. Weiter traten Beziehungsvorstellun¬
gen auf, die sich aber in engen Grenzen hielten und nur unter dem Einfluß
seines Nebenbuhlers in Erscheinung traten. Zu einer Ausdehnung des
Eifersuchtswahnes auf andere Personen und zu anderen Beeinträchtigungs-
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
782
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
ideen kam es nicht. Nur in den späteren Jahren kam es auf Grund einer
körperlichen Erkrankung seiner Frau noch einmal zu einer neuen Er¬
klärungswahnidee. Im übrigen blieb der eng umschriebene Symptomen-
komplex bei unverändertem Affekt über 30 Jahre bestehen. Eine Beein¬
trächtigung der Persönlichkeit trat nicht ein. Verf. faßt den Fall auf als
eine zirkumskripte Autopsychose auf Grund einer überwerti¬
gen Idee und sieht eine Beziehung zu den Fällen Wernickes, Pfeifers r
Friedmanns. Der klinischen Stellung nach rechnet er alle derartigen Fälle
soweit in ihnen die Wahnbildung und der Inhalt des Wahnsystems mit Ent¬
stehung und Bedeutung der Wahnvorstellungen bei der Paranoia Kraepe-
lins — allerdings nicht der neuesten Datums — übereinstimmt, zu den
reinen primären paranoischen Erkrankungen. Er schließt sich der engen
Umgrenzung der Paranoia Kraepelins als einer ganz langsam sich ent¬
wickelnden und bis zur tiefgreifenden Umwandlung der Persönlichkeit
fortschreitenden Erkrankung' nicht an, sondern meint, daß der gleiche
Vorgang auch akut beginnen, frühzeitig wieder haltmachen und auch —
wenigstens für die praktische Brauchbarkeit im täglichen Leben — wieder
abheilen kann.
Loewenthal- Braunschweig stellt einen geheilten Fall von allge¬
meiner Zystizerkose mit Beteiligung des Gehirns vor.
Pat. litt seit etwa einem Jahre an vereinzelten, ausgebildeten epi-
leptiformen Krämpfen, ferner an Zuckungen und Bewußtseinsstörungen,
zeitweise auch an erheblichen psychischen Störungen. Durch Bestrahlung
der gesamten Körperoberfläche mit hart gefilterten Röntgenstrahlen
wurden in einigen Wochen sämtliche Finnen der Haut beseitigt.
Durch besondere Bestrahlung des Schädels scheinen auch die ner¬
vösen Störungen völlig verschwunden zu sein. Demnach ist anzunehmen,
daß durch die Bestrahlung eine Ausheilung dieser Erkrankung erzielt ist^
Grütter und Brauner-Lüneburg berichten über den pathologisch-
anatomischen Befund von 4 juvenilen Paralysen, die von ihnen
untersucht sind. Die Veränderungen des Kleinhirns, besonders die der
Purkinje-Zellen, entsprechen im ganzen den bisher veröffentlichten Be¬
funden. In einem Falle fand sich eine Verbindung von juveniler Paralyse
mit tertiär-luischen Veränderungen, in primärer Nekrosenbildung und
enormer Gefäßwandzellenwucherung bestehend. Auch in anderen Fällen
fand sich Lues der Gefäße, die zu Erweichungen und Blutungen Anlaß
gegeben hatte.
Die Arbeit wird an anderer Stelle ausführlich veröffentlicht.
Schließlich erhält JhcAard-Göttingen das Wort; sein Vortrag ,,Cber
degenerative Psychosen“ wird an anderer Stelle veröffentlicht
werden. StüAer-Hildesheim.
Difitized
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Nordostdeutscher Verein für Psychiatrie.
783
Versammlung des Nordostdeutschen Vereins für
ychiatrie am 7. Juni 1914 im Festsaal der Provin¬
zialheilanstalt zu Lauenburg i. Pomm.
Anwesend: Banse-Lauenburg, v. Blomberg- Kosten, Braune- Konrad-
de Camp -Lauenburg, EnAre-Ückermünde, Fromraer-Lauenburg,
aumann-Lauenburg, J/einse-Neustadt, Hermes -Neustadt, Herse-'Seu-
adt, H ieronymus -Lauenburg, Hirschberg -Lauenburg, Horstmann - Stral -
md, Hoff mann -Konradstein, Äat/ser-Dziekanka, Feto-Schwetz, Krebs -
Uenberg, Krüger- Tapiau, Lullies- Kortau, FufÄer-Lauenburg, Mercklin-
reptow a. R., Afooto-Konradstein, A ieszytka-T apiau, Poddey -Lauenburg,
>/mAre-Owinsk, Rohde -Lauenburg, Schröder -Lauenburg, Siemens -Lauen-
urg, Werner -Owinsk, TFic/reZ-Dziekanka.
Siemens als Vorsitzender begrüßt zunächst die Erschienenen und
/erliest die eingegangenen Begrüßungsschreiben und Telegramme von
Stoltenhoff- Kortau, Wallenberg- Danzig, Dukers-Allenberg, Neumeister-
Stettin, A’lese/-Stettin (für die pommersche Vereinigung für Psychiatrie
und Neurologie), Rabbas- Neustadt, Warschauer- Hohensalza, Knecht- Halle
t früher ückermünde), Tornasc/my-Stralsund, Steinert -Speichersdorf. Er
dankt sodann für die Glückwünsche, die anläßlich des 25 jährigen Be¬
stehens der Heilanstalt Lauenburg ihm und der Anstalt dargebracht sind.
Für den Ort der nächsten Sitzung liegen zwei Anträge vor. A/eyer-Königs-
berg beantragt, die nächste Versammlung in Königsberg, und Wallenberg -
Danzig, die Sitzung in Danzig abzuhalten. Da der Deutsche Verein für
Psychiatrie im nächsten Jahre vielleicht in Königsberg tagt, beantragt
Siemens , vorläufig hierüber noch keinen festen Beschluß zu fassen, sondern
die Festsetzung des Ortes für die nächste Sitzung den Geschäftsführern
zu überlassen.
v. Blomberg berichtet über die Rechnungsprüfung und beantragt
Entlastung, welche erteilt wird.
Zu Geschäftsführern für das nächste Jahr werden auf Antrag von
Siemens die Herren Meyer- Königsberg und Schauen -Schwetz gewählt.
Fayser-Dziekanka beantragt, Geheimrat Siemens , den Gründer,
langjährigen Leiter und Förderer des Vereins zum Ehrenmitgliede des
Xordostdeutschen Vereins für Psychiatrie und Neurologie zu ernennen.
Der Antrag wird durch Zuruf angenommen.
Es folgen die Vorträge:
Botat-Graudenz: Zur Frage der Simulation von Geistes¬
störungen.
Boldt berichtet über 2 Fälle, die er jetzt nun schon 10 bis 12 Monate
lang in der Irrenabteilung bei der Strafanstalt Graudenz zu beobachten
Gelegenheit hatte. Er weist nach, wie leicht möglich heute noch immer
trotz Berücksichtigung aller Untersuchungsmethoden Fehldiagnosen bei
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784 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
forensischen Fällen sind; daß speziell bei epileptischen und hysterischen
Störungen, aber auch bei der Dementia praecox die bisher übliche Be¬
obachtungsdauer von 6 Wochen oft vollkommen unzureichend ist, und
daß endlich noch viel zu häufig die betreffenden Gutachter aus ganz
fälsch angebrachter Scheu glauben, ein definitives Gutachten erstatten
zu müssen, anstatt die Erklärung abzugeben, daß der Fall noch nicht
geklärt genug sei.
Diskussion. — //emze-Neustadt bemerkt bezüglich des Fall I,
daß der betreffende Angeklagte sich nur 2 Tage in der Anstalt befunden
hat und dann auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft abgeholt worden ist.
Die Frage, ob er geisteskrank war oder nicht, ist dabei nicht aufgeworfen
worden. Später ist ein Gutachten von der Anstalt nicht eingefordert, auch
zur Verhandlung ein Anstaltsarzt als Sachverständiger nicht zugezogen
’ worden.
Horstmann-Stralsund: In praktischer Hinsicht haben sich die Ver¬
hältnisse jetzt verschoben. Das Wiederaufnahmeverfahren wird dem
Angeklagten Ungünstigeres bringen. Es wird ihm dauernde Internierung
in einem Verwahrungshause bringen, die heutzutage allgemein mehr ge¬
fürchtet wird als die zeitlich begrenzte Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe.
AiessytÄa-Tapiau: Ergebnisse der A bderhalden -Methoden
für die Psychiatrie.
Nach kurzer Darlegung der Theorie des Dialysierverfahrens wird
daran erinnert, daß dieses sich bei der Schwangerschaftsdiagnose in der
Hand zahlreicher Untersucher nicht nur unübertrefflich bewährt, sondern
auch häufig durch die Polarisationsebene kontrolliert ist. Bei letzterer
sind zwar graduelle Beobachtungsfehler möglich, aber vollkommene
Täuschung ebenso ausgeschlossen wie für die photographische Platte.
Bei diesem sicheren Fundamente des Dialysierverfahrens für die
Schwangerschaftsdiagnose verdienen auch Untersuchungen mittels des¬
selben von psychiatrischer Seite Vertrauen, obwohl hier der Beweis für
die Richtigkeit der Dialysierergebnisse nicht so überzeugend geliefert
werden kann wie von den Gynäkologen.
Eine Zusammenstellung der bisher veröffentlichten Protokolle, so¬
weit Ref. ihrer habhaft werden konnte, ergibt
Abbau von
Hirn
Ge¬
schlechts
drüse
Schild¬
drüse
Neben¬
niere
Niere
Pan¬
kreas
Leber
Rücken
mark
bei 635 Dem.-praec.-
Fällen in % .
70,9
82,4
38,2
27,6
16,3
12,2
11,3
—
bei 196 Paralysis-progr.-
Fällen in % .
bei 123 Epilepsiefällen
80,6
30,8
27,9
21,7
45,7
29,4
51,5
f n n
4 /
in " 0 .
45,9
21,0
17,9
4,7
16,6
9,5
—
—
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Nordostdeutscher Verein für Psychiatrie.
785
Dabei zeigen die Grundzahlen zu dieser Zusammenstellung für die
aralyse und namentlich die Dementia praecox ein viel einheitlicheres
ild, als sich nach den Erläuterungen der einzelnen Untersucher zu ihren
rotokollen erwarten ließ.
Auf Grund derselben sowie infolge seiner eigenen Untersuchungen
ommt Ref. zu folgender Auffassung:
Die Differentialdiagnose der Dementia praecox gegenüber anderen
n Frage kommenden Psychosen wird durch den Nachweis von Geschlechts-
Irüsenabbau gesichert. Die serologische Diagnose der Dementia praecox
iberwiegt an Sicherheit die klinische, vermag aber letztere nicht zu er-
etzen. Die serologische Trennung der Unterformen der Dementia praecox
st noch nicht hinreichend gesichert. Psychosen mit gleichzeitigen Störun¬
gen der Geschlechtsdrüsenfunktion sind häufiger als bisher angenommen.
Das Dialysierverfahren ist zurzeit das einzige Mittel zur objektiven
Feststellung, ob Geisteskrankheit oder Simulation vorliegt. Seine forensi¬
sche Verwertung wegen der Möglichkeit falscher Resultate darf ebenso¬
wenig abgelehnt werden, wie man deshalb etwa die Perkussion und Aus¬
kultation ablehnen dürfte.
Bezüglich der funktionellen Psychosen werden die früheren Angaben
Fausers durch die Mehrzahl der Untersucher bestätigt.
Die Regellosigkeit der Abderhalden-Re&ktion mit Gehirn bei Epi¬
leptikern wird nur verständlich, wenn man die epileptischen Krämpfe
als anaphylaktischen Shock auffaßt, wobei teils völliger Komplement¬
schwund, teils Eintritt der Antianaphylaxie negative Resultate nach
schweren Anfällen erklären kann.
Über die Natur der Abderhalden -Fermente steht heute fest, daß ein
„fermenthaltiges“, „aktives“ Serum durch Erhitzen auf 56° in 20 Minuten
inaktiviert und durch Zusatz von Meerschweinchenkomplement reaktiviert
werden kann, ferner daß während der Dialyse Bindung der „Fermente“
an das Organsubstrat im Abderhalden -Schlauche erfolgt. Auch ist Kom¬
plementbindung von Stephan behauptet worden. Hämolytische Bestim¬
mungen des Komplementgehalts dialysierter Sera haben dem Ref. gezeigt,
daß jener in Abderhalden-negativen Röhrchen immer der gleiche ist wie
in der Serumkontrolle, dagegen in Abderhalden-positiven Röhrchen an¬
scheinend geringer. Es erfolgt also in der Tat auch höchstwahrscheinlich
Komplementbindung. Somit ist der Antitoxincharakter der „Fermente“
bewiesen. Ob sie tatsächlich den Hämo-, Bakterio- und Zytolysinen
gleichzusetzen oder nur nahe Verwandte dieser, wie etwa Agglutinine und
Bakteriolysine, oder Vorläufer jener sind, erscheint von sekundärer Be¬
deutung.
Da schon lange bekannt ist, daß aktive Immunität als Folge par¬
enteraler Ehveißzufuhr eintritt, andererseits Abderhalden und seine
Schule bewiesen hat, daß daraufhin Verdauungsfermente im Blute mobili¬
siert w r erden t ergibt sich aus obigem die Erklärung der aktiven Immunität
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786
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
als Folge einer Verdauung im Blute. Ferner folgt daraus die grundsätzliche
Übereinstimmung des „spezifischen Organabbaus“ im Tierkörper, wo immer
er durch das Dialysierverfahren bekannt geworden ist, mit Immunitäts¬
vorgängen gegen körpereigenes Organeiweiß.
Abgesehen von der Möglichkeit, die häufige Erkrankung Geistes¬
kranker an ubiquitären Infektionserregern sowie die vielfache Besserung
von Geistes- nach interkurrenten Infektionskrankheiten besser zu erklären
als bisher, ist sehr interessant, daß nach obiger Tabelle bei Paralyse rund
dreimal so häufig Nierenabbau gefunden wird als bei Dementia praecox
und Epilepsie. Bei ersterer kommt Schädigung der Nieren durch bak¬
terielle und endogene Toxine, bei letzteren wohl nur durch diese in Frage.
Aus der Feststellung von Immunitätsreaktionen im Verlaufe von
Psychosen ergibt sich die Notwendigkeit therapeutischer Versuche mit
aktiver und passiver Immunisierung gegen die im Einzelfalle als afflziert
erwiesenen Organe.
Endlich erscheint die Frage der Prüfung wert, ob in der Immunitäts¬
therapie von Infektionskrankheiten Fortschritte erzielt werden können
durch gleichzeitige Berücksichtigung der endogenen Toxine, da bisher nur
gegen die bakteriellen, ektogenen immunisiert wurde.
Diskussion. — Boldt -Graudenz ist auf Grund persönlicher In¬
formationen von der Zuverlässigkeit der Binswangtr-Wegenerschen An¬
schauungen über den Wert der Abderhaldenschen Methode gegenüber
der Epilepsie nicht überzeugt.
Z/ierony/nus-Lauenburg: Die für den Psychiater brauch¬
baren Modifikationen der IFa.-R.
Der Vortr. bespricht nach einigen einleitenden Worten über die
Technik der Originalmethode die Modifikationen nach Bauer, Hecht,
Stern, Noguchi und von Düngern. Die beiden ersteren lehnt er auf Grund
seiner Versuche über die hämolytische Wirkung des Blutserums der
Geisteskranken wegen des häufigen Mangels an Normalambozeptoren ab,
die beiden letzteren verwirft er aus rein technischen Gründen. Nur der
Fernsehen Modifikation mißt er für den Psychiater größeren Wert zu und
empfiehlt sie als wertvolle Unterstützung des Originalverfahrens. Von den
einfachen Abänderungen der Versuchsanordnung (Jakobsthal, Kromayer
und Trinchese, Wechselmann) bezeichnet er nur die Erhöhung der Serum-
dosis als brauchbar, die besonders bei den häufigen unspezifischen Hem¬
mungen sich bewährt hat. Der Vortrag wird demnächst ausführlich ver¬
öffentlicht werden.
Diskussion. — Aieszyt/ra-Tapiau: Es erscheint bedenklich, das
Blut mit der Fernsehen und den Liquor des gleichen Patienten mit der
Originalmethode der Wassermannschen Reaktion zu prüfen, da die quali-
und quantitativen Vorgänge bei der Wa.-R. noch viel zu w^nig bekannt
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Nordostdeutscher Verein für Psychiatrie.
78 ?
nd. Höchstens ist ein Vergleich möglich, wenn man Blut und Liquor
ach beiden Methoden untersucht.
iu/Äer-Lauenburg: Zur Frage der verminderten Zurech-
ungsf ähigkeit.
In den letzten 10 Jahren wurden in der Anstalt L. in strafrechtlicher
Beziehung begutachtet 82 M. und 8 F. Davon fielen sicher oder wahr-
cheinlich unter den § 51: 41 M. und 6 F. Von dem Rest waren vermindert
zurechnungsfähig in hohem Grade (entsprechend dem § 63, Absatz II
les Vorentwurfs) 24 M. und 1 F., der Rest bestand aus Minderwertigen
eichteren Grades; geistig Vollwertige kamen nicht zur Beobachtung.
Unter den 47 als unzurechnungsfähig Begutachteten waren 15 es
nur zur Zeit der Tat, während sie sonst als gemindert zurechnungsfähig zu
betrachten waren. In zwei Drittel der Fälle war es der Alkohol, der aus
gemindert Zurechnungsfähigen Unzurechnungsfähige machte. Nur etwa
30 waren als Schwerverbrecher anzusehen.
Die Zahl der im Strafvollzug vermutlich schwierigen Elemente war
unter den gemindert Zurechnungsfähigen hohen Grades verhältnismäßig
erheblich höher als unter den Minderwertigen leichteren Grades.
Als gemindert zurechnungsfähig in hohem Grade werden angesehen
die Haltlosen nur insoweit, als Pubertät oder sonstige schädigende Mo¬
mente init in Betracht zu ziehen sind, moralisch Defekte nur, sofern gleich¬
zeitig ein gewisser Grad von Schwachsinn besteht, ferner nur die stark
ausgeprägten Fälle von Neurasthenie, Hysterie und epileptoider Reizbar¬
keit. Bei Personen, die zu Haftpsychosen neigen, wird man dies Moment
im allgemeinen mit für Anwendung des § 63 II sprechen lassen. Stets ist
von Fall zu Fall zu entscheiden.
Besprochen werden sodann die Einwände, die von psychiatrischer
Seite gegen die Einführung der geminderten Zurechnungsfähigkeit erhoben
worden sind. Ein Teil dieser Einwände wird zu widerlegen versucht, ein
anderer Teil wird anerkannt, so z. B. der Einwand Wilmanns , daß nur
ein kleiner Teil der v. Zgen. vor Gericht erkennbar sein werde. Eine Besse¬
rung dieses Zustandes wäre nur durch bessere Schulung des Gefängnis¬
personals und durch ein Zusammenarbeiten von Untersuchungsrichter,
Gefängnisarzt und Gefängnisbeamten zu erreichen. Bei Rückfälligen, die
bereits im Strafvollzug waren und sich hier als minderwertig herausstellten,
ließe sich diese Frage durch Eintragung einer gutachtlichen Äußerung
der Strafanstaltsdirektion in das Strafregister lösen. Unbedingt zu fordern
ist die Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens bei Nichtberück¬
sichtigung des Moments der geminderten Zurechnungsfähigkeit. Wahr¬
scheinlich würde diese Maßregel auch das Gute haben, daß der Richter
von vornherein dieser Frage sein Interesse mehr zuwenden müßte.
Gegenüber der Ansicht Longards und Wilmanns , daß die Aussichten
auf Besserung bei den gemindert Zurechnungsfähigen ungünstig seien,
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
warnt Vortr. davor, allzu pessimistisch zu sein, und führt aus seinem
doch nur kleinen Material eine Anzahl von Besserungen in sozialer Hinsicht
an, die nicht nur allein jüngere Individuen betreffen.
Es wird als sicher angenommen, daß in Preußen auf Grund des Dota¬
tionsgesetzes und nach der bisherigen Haltung des Ministeriums die Ver¬
wahrung der gemindert Zurechnungsfähigen Sache der Provinzen sein wird.
Von den zu verwahrenden gemindert Zurechnungsfähigen ist ein
kleiner Teil, die Psycholabilen, die zu psychotischen Zuständen neigen,
am besten in den Irrenanstalten gemeinsam mit den andern Kranken
unterzubringen. Für die Mehrzahl bedarf es besonderer Adnexe oder
besser besonderer Anstalten, in denen auch Disziplinarmaßregeln in be¬
schränktem Umfange zuzulassen sind. Die Erwägung, daß man schwerlich
ohne diese Maßregeln wird auskommen können, spricht entschieden gegen
die Vereinigung dieser Verwahrungshäuser mit einer Irrenanstalt. Psych¬
iatrische Leitung für diese Anstalten ist ein selbstverständliches Er¬
fordernis.
Besprochen wird die Notwendigkeit einer Reform der Korrektions-
anstalten. Aus diesen wird man die bisher in ihnen enthaltenen zahlreichen
Minderwertigen herausnehmen und in die oben erwähnten Verwahrungs¬
anstalten unterbringen müssen. Der frei werdende Platz wird dann wahr¬
scheinlich durch die der Verwahrung bedürftigen nicht geisteskranken
Verbrecher ausgefüllt werden. Um die Errichtung besonderer Anstalten
für geistig Minderwertige dürfte man schwerlich herumkommen.
Vortr. steht auf dem Standpunkte, daß sich zwar gegen die Ein¬
führung der geminderten Zurechnungsfähigkeit eine Menge gewichtiger
Einwände erheben lassen, daß aber trotzdem ihre Einführung einen erheb¬
lichen Fortschritt auf einer später immer weiter auszubauenden Bahn dar¬
stellt. Das erstrebenswerte Ziel ist die Bekämpfung des Verbrechens vom
ärztlich-pädagogischen Standpunkt aus.
Keine Diskussion.
JFidrel-Dziekanka: über die Ausbildung des Pflegeper¬
sonals.
Wickel gibt einen kurzen geschichtlichen Überblick über den Unter¬
richt des Pflegepersonals in den letzten 20 Jahren unter besonderer Be¬
rücksichtigung der Frage einer Prüfung als Abschluß des Pflegeunter¬
richtes. Es werden dann die Beziehungen der Ausbildung des Irren¬
pflegepersonals zu dem Ministerialerlaß vom 10. Mai 1907, betreffend Vor¬
schriften über die staatliche Prüfung von Krankenpflegepersonen, und dem
Erlaß vom 29. Mai 1910, der es als wünschenswert bezeichnet, einen Teil
der Stellen an den öffentlichen Anstalten für Geisteskranke, insbesondere
die der Oberpfleger oder des in gehobenen Stellen tätigen Personals mit
staatlich anerkannten Krankenpflegepersonen zu besetzen, besprochen.
II’. kommt zu dem Schluß, daß mindestens bestimmte behördliche Vor-
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Nordostdeutscher Verein für Psychiatrie.
789
chriften darüber erwünscht sind, wie der Unterricht zu gestalten ist,
rer den Unterricht zu erteilen hat, wie und vor wem das obligatorische
Examen abzulegen ist. Es würde das gewissermaßen eine provinzielle Ap-
»robation sein. Das vielfach inoffizielle Examen genügt nicht. Es würde
ich also um offizielle Regelung des Unterrichtswesens von seiten der Pro¬
vinzen handeln.
Für das richtigste hält er es, daß die Irrenanstalten als Kranken-
pflegeschulen staatlich anerkannt werden. Jeder Pfleger und jede Pflegerin
muß sich an dem Lehrgang beteiligen und sich dem Examen unterziehen.
Mit dem Bestehen des Examens muß höheres Gehalt und feste Anstellung
verbunden sein. Vor dem bestandenen Examen genügt ein verhältnis¬
mäßig niedriges Gehalt, denn es handelt sich da ja um Personen, die erst
etwas lernen sollen, die also von der Anstalt etwas erhalten. Wer das
Examen nicht besteht, muß auf die dadurch zu erlangenden Vorteile ver¬
zichten. Will man nicht so weit gehen, so wäre generell zu erstreben, daß
das in den Irrenanstalten ausgebildete Pflegepersonal, soweit es sich dem
Examen für staatliche Anerkennung unterziehen will, um in Oberpfleger¬
oder gehobene Stellen aufrücken zu können, ohne weiteres an dem Examen
der nächsten staatlich anerkannten Krankenpflegeschule teilnehmen kann.
An allgemeinen Krankenanstalten ausgebildetes, staatlich anerkanntes
Pflegepersonal für die Oberpfleger- oder gehobenen Stellungen der Irren¬
anstalten anzunehmen, wird wohl niemand gut heißen. Die Ausbildung
des Pflegepersonals der öffentlichen Anstalten für Geisteskranke hat in
den letzten zwei Dezennien bereits gewaltige Fortschritte gemacht. In
erster Linie ist das dem Vorgehen von Siemens und seiner Schule zu
danken. Dem gesamten Irrenwesen, wovon uns heute die Besichtigung
seiner vollendeten Anstalt einen neuen sprechenden Beweis gebracht hat,
so auch diesem Zweige war und ist er ein weitblickender, energischer
Förderer. Sein Name wird mit der fortschrittlichen Entwicklung unseres
Irrenwesens stets auf das engste verknüpft sein. — (Der Vortrag soll in
der Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift erscheinen.)
Diskussion. — Kayser -Dziekanka: Eine offizielle Prüfung ist
staatlich erwünscht und daher durchzuführen. Einen Unterschied zwischen
Krankenpflegern und Irrenpflegern zu machen, scheint nicht nötig, da der
Anfangsunterricht für beide der gleiche sein kann und die weitere Ausbil¬
dung in spezieller Irrenpflege in einem zweiten Kursus erfolgen kann. Wir
haben in Dziekanka einen Kurs für Anhänger und einen für fortgeschrittene
Irrenpfleger. Daß das Bestehen einer Prüfung mit einer Besserung der
Stellung in pekuniärer Hinsicht verbunden sein muß, halte ich für selbst¬
verständlich, eine feste Anstellung aber, d. h. eine pensionsberechtigte
Anstellung, kann etatsmäßig erst nach 10 Jahren erfolgen und nicht
bereits nach bestandener Prüfung, d. h. nach etwa 2 Jahren Dienst. Daß
die Prüfung unter Hinzuziehung staatlicher Vertreter stattfinde, halte ich
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790 '
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
nicht für nötig. Die Anstalten sind ausreichend groß und haben eine so
große Anzahl von Krankenpflegern, daß sie m. E. als staatlich anzuer¬
kennende Krankenpflegeschulen betrachtet werden können. Die be¬
treffende Prüfung könnte durch den Anstaltsarzt, der den Unterricht ge¬
leitet hat, unter Vorsitz des Direktors stattfinden.
Siemens -Lauenburg: Unter den Verhältnissen, wie sie zurzeit in
den meisten Anstalten bezüglich der Unterrichtskurse für Pfleger und
Pflegerinnen bestehen, wird schwerlich eine staatliche Anerkennung mit
Diplomverleihung für unser Pflegepersonal zu erlangen sein. Es müßte
doch erheblich mehr für diese Kurse aufgewendet werden.
Ketz- Sclvwetz: Das Pflegepersonal, besonders das weibliche, wech¬
selt in Schwetz sehr stark, bis 80% im Jahre, so daß sich eine Prüfung
behufs Anstellung nicht empfiehlt, zumal das Pflegepersonal nach ein¬
vierteljähriger Dienstzeit bei Brauchbarkeit Beamteneigenschaft erhält.
Sollte durch die Prüfung eine Besserung erreicht werden, so müßte das
Gehalt in starker Weise erhöht werden, um das Personal mehr seßhaft zu
machen..
iVieszyffca-Tapiau: Wir haben mit den Prüfungen, besonders der
Pflegerinnen, schlechte Erfahrungen gemacht. Gerade die praktisch
brauchbarsten Personen sind vielfach aus Furcht vor der Prüfung aus¬
getreten. Andere, die wider eigenes Erwarten diese gut bestanden, waren
nach Empfang des Zeugnisses überzeugt, daß sie es anderswo besser ver¬
werten könnten, und kündigten alsbald deshalb, während sie es sonst zu¬
gestandenermaßen nicht getan hätten. Wir haben daher jetzt nach jahre¬
langem Bestände die Prüfung abgeschafft, während der Unterricht weiter¬
erteilt wird.
Banse -Lauenburg: Eine unter dem Bilde der Katatonie
verlaufende Psychose bei Hirnlues.
B. stellt einen 40 jährigen Mann vor, der vor 5 Jahren paranoide,
schlecht systematisierte Wahnvorstellungen äußerte, dann allmählich in
zunehmender Stärke katatonische Zeichen, Stupor, Katalepsie, Manieren,
Agrammatismus, Sperrungen u. dergl. in buntem Wechsel bot. Diese Zu¬
stände wechseln unregelmäßig ab mit freieren Intervallen, in denen der
Kranke stumpf und leicht abweisend ist. Wassermann in Blut und Liquor
(ohne Auswertung!), Phase I. — Reaktion positiv. Pleozytose. Anfangs
Reflexsteigerung, dann Ungleichheit der Haut- und Sehnenreflexe. Herab¬
setzung, vorübergehend Ungleichheit der Lichtreaktion. Vorübergehende
Atrophie der Muskulatur eines Daumenballens. Niemals Artikulations¬
störung der Sprache oder Schrift. Keine „Demenz“ im Sinne der Para¬
lysis progressiva. Diese Diagnose ist trotz des Liquorbefundes mit
Wahrscheinlichkeit abzulehnen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine
auf dem Boden einer Hirnlues entstandene katatoniforme Psychose, wenn
auch natürlich ein zufälliges Zusammentreffen einer Hirnlues mit De-
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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entia praecox vor der Hand nicht ausgeschlossen ist. Der Fall spricht
ifür, daß entgegen der landläufigen Auffassung eine Psychose bei
irnlues unter dem Bilde der Katatonie verlaufen kann. Wenn,
ie hier, psychische Erscheinungen früher auftreten als deutliche nervöse
ymptome, so bleiben diese Fälle ohne systematisch durchgeführte sero-
►gische Untersuchung aller Aufnahmen unerkannt. Ihre Häufigkeit ist
ohl größer, als man annimmt.
/Vomm^r-Lauenburg stellt einen Fall von Dem. praecox vor,
ei dem neben der katatonen Verblödung seit einigen Jahren die ausge-
prochenen Zeichen einer Paral. agitans (typisches Zittern, Pro- und
fcetropulsion, charakteristische Haltung des Rumpfes) vorhanden sind,
eines Wissens der erste bisher veröffentlichte derartige Fall.
Dr. Frommer , Schriftführer.
144. Sitzung des Psychiatrischen Vereins zu Berlin
am 20. Juni 1914.
Anwesend: Ascher -, Bendixsohn - (a. G.), Bieling- (a. G.), Borchardt-
(a.G.), Bonhoeffer- Berlin, Birnbaum-Buch, Falkenberg -Lichtenberg, Geheeb-
Lieberknecht-Zehlendort, Gröning- Haus Schönow (a.G.), Hebold- Wuhl-
garten, Klipstein -Lichtenberg, Kramer- Berlin (a. G.), Kutzinski- Berlin
(a. G.), H . Laehr- Schweizerhof, Lehmann- (a. G.), Levinstein- Schöneberg,
Liepmann -Dalldorf, Marcuse -, Moeli- Lichtenberg, Munter -Berlin, Oestrei-
eher- Nordend, Placzek- Berlin, Richter- Buch, »Sander-Dalldorf, Schwarz-
(a.G.), Schuster -, Seelert- (a.G.) Berlin, *9te/zner-Charlottenburg, Wasser-
/wAr-Berlin (a. G.), TFeder-Westend. — Vorsitzender Bonhoeffer- Berlin.
Die Versammlung ehrt das Andenken des verstorbenen Vereins¬
mitglieds Hofrat Lochner , Direktor der städtischen Anstalt Leipzig-
Thonberg, durch Erheben von den Sitzen.
Von G.-R. W. Körte , Vorsitzendem der Bau- und Geschäftskommis¬
sion des Langenbeck-Virchow-Hauses, ist die Anfrage gestellt, ob der
Verein den Vertrag mit der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, nach
dem ihm gegen einmalige Zahlung von 1000 M. das Recht zusteht, viertel¬
jährlich einmal den kleinen Saal des Langenbeck-Hauses ohne besondere
Vergütung zu benutzen, auch künftig beizubehalten bereit ist, wenn statt
des Langenbeckhauses das neu erbaute und am 1. April 1915 zu eröffnende
Langenbeck-Virchow-Haus ein tritt. Die Versammlung beschließt, den
\ ertrag auch auf das Langenbeck-Virchow-Haus zu übertragen.
Dem Kassenwart Zinn , dessen Rechnungsaufstellung von Hoff mann-
und Gi7kvaW-Ebers walde geprüft ist und einen derzeitigen Vermögens-
bestand von 2351 M. ergibt, wird Entlastung erteilt.
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792
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Der bisherige Vorstand (Moeli, Sander, Bonhoeffer, H. Laehr, Zinn)
wird durch Zuruf wiedergewählt.
Bonhoeffer- Berlin: Zur Pathogenese psychogener Lähmungen.
Vortr. berichtet über 2 Kranke, die er vorstellen wollte, die aber aus¬
geblieben sind.
Der erste Kranke ist ein jetzt 58 jähriger Mann, der zuletzt am
5. September 1912 in die Charitö eingeliefert worden ist. Er zeigte körper¬
lich das Bild der Astasie und Abasie. Stellte man ihn auf die Füße, so
knickte er zusammen oder machte einige taumelnde Schritte vorwärts
und fiel dann hin. Dieser astatische Symptomenkomplex zeigte alle
Kriterien eines hysterischen, er wechselte in der Intensität, ward bei der
Untersuchung theatralisch übertrieben und besserte sich bei abgelenkter
Aufmerksamkeit. Neurologisch zeigte sich der Kranke sonst ohne patho¬
logischen Befund. Dieser Zustand dauerte mit leichten Schwankungen
bis Ende Oktober und besserte sich unter faradischer Behandlung all¬
mählich.
Einen ganz ähnlichen Zustand zeigte der Kranke im Jahre 1910,
wo er auch in der Klinik aufgenommen worden war. Auch damals konnte
er nicht stehen, knickte zusammen, ließ sich hinfallen. Der Zustand dauerte
einige Wochen und klang unter Suggestivbehandlung ab.
Nach der Angabe des Bruders hatten sich schon früher in den Jahren
1888, 1895 und 1910 solche Episoden von Gehunfähigkeit bei dem Pat.
gezeigt.
Was die Entwicklung der funktionellen Lähmung anlangt, so war
folgendes bekannt: Irgend ein akutes psychisches Trauma ließ sich nicht
nachweisen. Etwa 3 Wochen vor Beginn der letzten Erkrankung fühlte
der Pat. sich mutlos und hatte das Gefühl, daß er seine Arbeit nicht mehr
leisten könne. In der Klinik zeigte er sich stark gehemmt, fühlte sich
unfähig, sich zu beschäftigen; er müsse jeden Satz zwei- oder dreimal lesen,
bis er ihn verstehe; nach 4 Zeilen sei er ermattet. Er spricht spontan kaum,
interessiert sich nicht auf der Abteilung, ist trübe gestimmt und ohne
Initiative. Auf Befragen kommen vereinzelte hypochondrische Klagen
über Stuhlverstopfung usw. Ganz ähnlich war das Bild bei der früheren
Einlieferung gewesen. Es war auch hier ein einleitendes depressives Stadium
der Entwicklung der Lähmung vorangegangen. Die Stimmung war ge¬
drückt geworden. Er gab damals an, daß ihm die Energie zur Arbeit ge¬
fehlt habe; er sei willenlos und haltlos geworden; Suizidgedanken seien ihm
gekommen, und er glaubte, daß er nicht wieder gesund werde. Potenz
und Libido seien auch geschwunden; alles, was ihn früher interessiert
habe, lasse ihn jetzt gleichgültig.
Während des Zustandes im Jahre 1888, wo er auch plötzlich „den
Mut und die Kraft“ verloren habe, die Feder nicht mehr halten und auf den
Beinen kaum mehr stehen konnte, spielten Angst Vorstellungen, die Schutz-
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
793
ite könnten kommen, eine Rolle; er sprach seiner Wirtin davon, daß sie
m Lysol besorgen solle.
Die von dem Bruder und dem Sohne des Pat. erhobene Anamnese
gab weiterhin folgendes: Nach Angabe des Sohnes ging dem Depressions-
id Lähmungsstadium eine 2- bis 3 monatliche Phase gehobener Stirn-
ung voran. In dieser Zeit war er geschäftlich sehr zuversichtlich, sehr
3ißig, stand um 4 oder 5 Uhr morgens auf, war verschwenderisch, hob
eld von dem Sparkassenbuch seines Sohnes ab, war sexuell leicht
rregbar, schrieb brutale Drohbriefe an seine Geschwister, aß viel und
3igte sich äußerlich sehr unordentlich. Auf diese Phase folgte dann nach
nsicht der Angehörigen meist „die Reaktion“ und der Umschlag ins
egen teil. Nach Ansicht des Bruders geht die Neigung zu starken Stirn -
\ungsschwankungen nicht bis zur Kindheit zurück, sondern setzte etwa
n 30 t Lebensjahre ein.
Der zweite Kranke, H. H., 35 Jahre alt, Koch, ist ein von Jugend
mf psychopathisches Individuum. Er hatte in der Jugend ein Kopf-
rauma, später war er in Australien, Indien, Afrika und Amerika als Koch
tätig und hat im ganzen eine Neigung zur Unstetigkeit gezeigt. Seit 1903
trinkt er periodisch, und zwar scheint es sich nach seiner und seiner Frau
Angaben um echte, mit Unruhe und Schlaflosigkeit sich einleitende Ver¬
stimmungen zu handeln. Er läuft plötzlich aus dem Geschäft weg,
kommt Tage und Nächte nicht nach Hause, versetzt in dieser Zeit skrupel¬
los. Gelegentlich kam es in diesen Zeiten auch zu Exzessen, in denen er
Scheiben zerschlagen und sich verletzt hat, ohne nachher dafür Erinnerung
zu haben. Anschließend an eine derartige Trinkperiode soll nach seiner
und seiner Frau Angabe plötzlich die linkseitige Lähmung aufgetreten
sein, Taubheitsgefühl und heftige Kopfschmerzen, wegen deren er in die
Klinik aufgenommen wurde.
Die Untersuchung ergab eine einwandfreie funktionelle Lähmung
mit Hemianästhesie. Die motorische Lähmung verschwand unter Sug¬
gestivbehandlung. Der Kranke wurde mit fortbestehender Sensibilitäts¬
störung wieder nach Hause entlassen. Irgendwelche affektiven Erlebnisse,
Rentenwünsche waren nicht zu eruieren, trotz spezieller in dieser Richtung
gehender Anamnese. Es konnte so scheinen, als ob lediglich eine endogene
Verstimmung eine hysterische Halbseitenlähmung verursacht habe. Tat¬
sächlich ergab sich aber, als ich den Kranken mir später noch einmal
wieder bestellte, um ihn noch einmal zu explorieren, eine Klärung, die patho¬
genetisch bedeutsam war. Als H. auf die Aufforderung hin bei mir er¬
schienen war, fragte er etwas befangen, ob eine besondere Ursache für die
Untersuchung vorliege. Es stellte sich dann heraus, daß "er während seiner
letzten Trinkepisode an seine Verwandten um Geld telegraphiert hatte,
mit der erfundenen Begründung, daß seine Frau gestorben sei. Diese hatten
ihm schon damals, als der Schwindel sich herausgestellt hatte, noch ehe er
zur Klinik kam, entrüstet geschrieben und mit Strafantrag gedroht.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 4/5. 54
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Es ist wohl kein Zweifel, daß wir es im ersten Falle mit einem In¬
dividuum von zyklothymer Veranlagung mit deutlich abgesetzten De¬
pressionen und hypomanischen Schwankungen zu tun hatten. Im zweiten
Falle lag anscheinend eine endogene epileptoide Verstimmung vor, die
zum dipsomanen Anfall führte.
Was mir die Fälle bemerkenswert machte, ist der Umstand, daß es
den Anschein hatte, als ob hier endogene Verstimmungen hysterische Zu¬
standsbilder ausgelöst hätten ohne Vermittlung spezieller psychischer
Faktoren vom Charakter affektiv betonter Wunsch- und Willensbestre¬
bungen. Der zweite Fall verliert an Interesse, weil die Nachuntersuchung
ergeben hat, daß tatsächlich innerhalb der Verstimmungsphase sich Er¬
eignisse zugetragen hatten, die als ausreichender psychischer Faktor gelten
können, um eine hysterische Lähmung auszulösen.
Bemerkenswert bleibt der erste Fall. Zwar ist das Interkurrieren
hysterischer Symptome beim Manisch-Depressiven nichts Ungewöhnliches,
wenn ich auch glaube, daß vielfach manische Züge, die sich in die De¬
pression hereinmengen, als hysterische mißdeutet werden. Jedenfalls ist
es selten, daß immer nur die Depressionsphase und daß jede stärkere
Depression ein so einheitliches und anhaltendes hysterisches Symptomen-
bild zur Auslösung bringt.
Was die Spezialpathogenese des hysterischen Symptomenkomplexes
hier anlangt, so scheint der Fall der Auffassung zu widersprechen, daß sich
als pathogenetischer Faktor der hysterischen Symptome stets ein Wunsch¬
oder Willensfaktor nachweisen läßt. Eine von den gewöhnlichen Begeh-
rungsvorstellungen spielt offenbar keine Rolle. Trotzdem ergibt sich,
wenn man die individuellen Umstände des Pat. während seiner Depression
ins Auge faßt, doch ein in der ersten Depression im Jahre 1888 besonders
ausgesprochenes und in allen Depressionen wiederkehrendes psychisches
Moment. Es ist das ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis von seinen
Geschwistern, in das der Kranke infolge seiner vielen Erkrankungen ge¬
raten ist. Diese hatten vielfach für ihn einzutreten, besorgten während
seiner Erkrankung den Verkauf des Geschäftes für ihn und ähnliches, aber
sie dachten doch wohl lange Zeit bei ihrem Bruder an das Mitspielen einer
mala voluntas während der Depressionszeit. Es ist wahrscheinlich, daß
dadurch der Wunsch nach einer besonders markannten Krankheitsdar¬
stellung für die subjektiv gefühlte Schwäche und Insuffizienz un¬
bewußt in dem Pat. wirksam geworden ist. In diesem Sinne ist wohl
auch die Mitteilung des Bruders aufzufassen, daß der Pat., wenn er im
Beginn seiner Erkrankung zu seinem Bruder kam, ehe er jemand begrüßt
hatte, sich sofort auf das Sofa warf.
Es scheint mir also auch hier die genauere Betrachtung den Nachweis
eines psychogenen Wunschfaktors in dem hysterischen Zustandsbilde zu
ergeben. Als Besonderheit des Falles bleibt also lediglich die Gebundenheit
des hysterischen Komplexes an die depressive Phase der Zyklothymie und
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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e Seltenheit gerade des Symptomenbildes der hysterischen Astasie und
basie innerhalb der Zyklothymie.
Förster-Berlin bespricht zwei Fälle, bei denen auf dem Boden
iner organischen Hirnerkrankung pseudodemente Symptome
ufgetreten waren. Bei dem einen Pat., der vor Jahren einen schweren
,'nfall erlitten hatte, waren organische Symptome im Leben nicht mehr
achweisbar gewesen, so daß ihm, da er nur das Bild der Pseudodemenz
ot, eine Rente bei der Begutachtung nicht zugebilligt worden wäre,
fahrend der Beobachtung starb er in der Klinik plötzlich. An der Basis
es Stirnhirns und am rechten Schläfenlappen fanden sich braun verfärbte
teilen, die nur von einer traumatischen Erweichung herrühren konnten,
egenüber dem Herd im Schläfenlappen war noch ein Rest der Fissur der
abula interna des Schläfenknochens zu erkennen.
Bei dem anderen Pat. handelte es sich um einen alten Verbrecher,
er schon seit langer Zeit stets dann das Bild der ausgeprägten Pseudo-
emenz geboten hatte, wenn er mit Kriminalbeamten oder mit dem Unter-
lchungsrichter in Berührung kam, in der Zwischenzeit aber, wie eine aus-
ihrliche Beobachtung eines Kriminalbeamten ergab, sein Wettbureau
lit großer Gewandtheit geleitet hatte. Während das Verfahren gegen ihn
:hwebte, wurde er in ein Krankenhaus aufgenommen. Er wurde dann
ur Beobachtung nach der Charitö verlegt. Hier bot er wieder das Bild
er plumpen Pseudodemenz. Daneben bestand aber Flimmern der Gesichts¬
ind Zungenmuskulatur beim Sprechen, Wassermann war im Blut und
5pinalflüssigkeit positiv, es bestand starke Lymphozytose und vermehrter
Siweißgehalt der letzteren. Die Diagnose mußte demnach auf Dementia
>aralytica gestellt werden.
Man kann nicht annehmen, daß die Pseudodemenz die direkte Folge
ler organischen Hirnerkrankungen gewesen ist. Man muß sich vielmehr
orsteüen, daß die Neigung zu pseudodementer Reaktion, die vielleicht
n gesunden Tagen unterdrückt worden wäre, nunmehr infolge der Schädl¬
ing des Hirns zur ungehemmten Betätigung gelangen konnte. Im zweiten
"alle wäre es wahrscheinlich auch ohne die Paralyse zur Pseudodemenz
;ekommen, wie ja vielleicht das erste Auftreten der Pseudodemenz hier
>chon vor den Beginn der Paralyse fällt; vielleicht wäre allerdings ohne
üese die Pseudodemenz etwas weniger plump ausgefallen.
Diskussion. — Liepmann-Dalldori erinnert sich einer paralyti-
chen Frau, die exquisit hysterische Symptome darbot, insbesondere auf
ferbalsuggestion zu Boden stürzte und sich jede beliebige Krampfform
tufsuggerieren ließ.
tfe&ota-Wuhlgarten: Da im ersten Fall eine Blutung aus dem linken
)hr bei der Kopfverletzung aufgetreten ist, hat wahrscheinlich eine Basis-
raktur Vorgelegen, die hinter dem linken Felsenbein verlaufen ist. Die
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Verletzungen am Gehirn betreffen die Lieblingsstellen, wie sie bei Fall
auf den Hinterkopf durch Gegenstoß entstehen. Eine solche bevorzugte
Stelle ist die im Präparat sichtbare am r. Schläfenlappen. Ich nehme
daher an, daß nicht an dieser Stelle des Knochens eine Fraktur gewesen
ist, sondern der schwere Fall auf die linke Hälfte des Hinterkopfes geschah.
Daß die Verletzungen am Orbitallappen und der Außenseite des Schläfen-
lappens stattfinden, liegt an den besonders am Orbitalteil ausgeprägten
Impressiones digitatae und für den Schläfenlappen in der Unnachgiebigkeit
und Rauhigkeit der Wände der mittleren Schädelgrube, an denen die
oberflächliche Gehirnsubstanz zerquetscht wird.
Placzek- Berlin: Könnte der Herr Vortr. mir vielleicht sagen, welchen
Befund ich seinerzeit erhob?
Bonhoeffer- Berlin: Auf die praktische Wichtigkeit solcher Beob¬
achtungen, wie die von Herrn Förster demonstrierten, habe ich schon
früher hingewiesen. Sie zeigen, daß ein ausgesprochener Ganserscher
Symptomenkomplex die Reaktion eines psychopathischen Individuums
auf einen organischen Grundprozeß sein kann bei gleichzeitig bestehenden
Wunschvorstellungen. Es ist deshalb geboten, sich in jedem Fälle solcher
hysterischer Pseudodemenz auch die Frage vorzulegen, ob nicht hinter
dem hysterischen Symptomenkomplex noch etwas anderes steckt.
Förster: Die Annahme H. Hebolds scheint mir sehr wahrscheinlich.
Von H. Placzek sind s. Z. ebenfalls keine organischen Symptome fest¬
gestellt worden.
%
Kutzinski -Berlin: Progressive, nicht paralytische Demenz
(Alzheimersche Krankheit).
Im ersten Falle handelt es sich um eine 58 jährige Frau, welche seit
9 Jahren erkrankt ist. Lues und chronischer Alkoholmißbrauch werden
negiert; Lähmungen sind nicht vorhanden. Die wiederholte Blutunter¬
suchung fiel einmal positiv, sonst negativ aus; der serologische Befund
im Liquor negativ; es besteht eine geringe Lymphozytose. Langsam und
schleichend ohne Anfälle von Bewußtlosigkeit oder Krämpfe hat sich ein
Zustand tiefer Demenz entwickelt, aus der sich aphasische, apraktische
und agnostische Störungen herausheben. Die genauere Analyse der Herd¬
symptome begegnete großen Schwierigkeiten wegen der Demenz und dem
Widerstreben der Kranken. Soviel scheint sicher, daß die Sprachstörung
der transkortikalen Aphasie zuzurechnen ist; die expressive Komponente
der Sprache ist verhältnismäßig gut. Pat. spricht gelegentlich echolalisch
nach, zeigt sehr viel Paraphasien. Das Wort- und Satzverständnis ist faßt
total aufgehoben, nur auf vereinzelte Reize, wie Namenanruf und „hier
ist Essen“ reagiert sie. Von den apraktischen Störungen treten die
idea torischen in den Vordergrund, motorisch-apraktische sind schwer
nachzuweisen. Von seiten der Sehsphäre besteht eine wahrscheinliche
Einengung der oberen Gesichtshälften. Die Fixation von Objekten in den
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Psychiatrischer Verein zu Berlin.
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seitlichen Gesichtsfeldern ist oft erschwert, oft zeigt Pat. aber, daß sie
prompt sieht (aperzeptive Blindheit Picks). Sie hat Störungen der Tiefen¬
lokalisation (Vorbeigreifen, Greifen nach Schatten u. ä.) geboten. Hören
ist intakt. Auf intensive Schmerz-, Temperatur-, Geruchs- und Ge¬
schmackreize reagiert sie deutlich. Halluzinationen und Wahnbildungen
konnten weder anamnestisch noch durch die Beobachtung nachgewiesen
werden.
Die Analyse der psychischen Störungen ergab neben der Gedächtnis¬
schwäche vor allem eine Herabsetzung der Aufmerksamkeit, die sich in
erschwerter Anregbarkeit und Fixierbarkeit äußerte. Auf motorischem
Gebiet ist die Zerstörungswut, der Sammeltrieb, die dauernde Bewegungs¬
unruhe hervorzuheben. In affektiver Beziehung ist der fortwährende
Wechsel zwischen depressiven und manischen Zuständen bemerkenswert.
Während der zweijährigen Beobachtung ist eine erhebliche Veränderungi
des Krankheitsbildes kaum zu verzeichnen, höchstens ist die Verarmung
des Wortschatzes noch größer geworden.
Bei Erörterung der differentialdiagnostischen Möglichkeiten wird
vor allem eine atypische Lissauersche Paralyse in Erwägung gezogen und
schließlich die Alzheimersche Form der Dementia senilis für wahrscheinlich
gehalten.
Im zweiten Falle handelt es sich um einen 46 jährigen Mann, bei
dem Lues und Potus keine Rolle spielen. Der serologische und zyto-
logische Befund war stets negativ. Niemals Lähmungen, Krämpfe,
Schwindelanfälle, Insulte. Es hat sich seit 6 Jahren allmählich ein Zustand
schwerer Demenz entwickelt, beginnend mit Gedächtnisstörung und affek¬
tiver Stumpfheit. Gleichzeitig traten Herdsymptome auf, zunächst über¬
wiegend motorisch-aphasische und motorisch-apraktische Störungen, dann
sensorisch-aphasische, ideatorisch -apraktische und agnostische Symptome.
Sehen und Hören ist im wesentlichen intakt. Allmählich kam Pat. zur
fast völligen Sprachlosigkeit und zu fast völligem Fehlen des Wortver¬
ständnisses. Auf intensive Schmerz-, Temperatur-, Geruchs- und Ge¬
schmacksreize reagierte er deutlich. Sichere Anhaltpunkte für Hallu¬
zinationen und Wahnbildungen fanden sich nicht. Psychisch besteht die
anamnestisch festgestellte schwere Gedächtnisschwäche, eine auffallend
geringe Spontaneität: Pat. steht meist umher und blickt ins Leere,
daneben zeigt er gemütliche Stumpfheit, nur gelegentlich kommt es, wenn
er gereizt wird, zu Zornausbrüchen. Die Aufmerksamkeit ist schwer erreg¬
bar und schwer zu fixieren.
Auch hier wird das Vorhandensein einer Alzheimerschen Krankheit
für wahrscheinlich gehalten.
H. Laehr.
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Kleinere Mitteilungen
Auf dem Internationalen Kongreß für Neurologie, Psy¬
chiatrie und Psychologie, der vom- 7. bis 12. September 1914 in
Bern stattfindet (s. diese Ztschr. Bd. 70, S. 657), werden folgende Referat¬
themata behandelt werden: I. Inder neurologischen Abteilung 1. Re¬
generation im Nervengewebe (Alzheimer- Breslau und Ramon y Cajal-
Madrid); 2 a. Aufbau der Reflexe im Rückenmark und im Hirnstamm
(Sherrington-Oxford), b) Die Bedeutung der Reflexstörungen in der Patho¬
logie ( Pierre Marie und Foür-Paris); 3. Entwicklung und Wachstum des
Gehirns (DonaWson-Philadelphia und Edmger-Frankfurt a. M.); 4 a. Tabes
und Paralyse seit Entdeckung der Spirochäten (EArficA-Frankfurt a. M.),
b. Die EAr/icAschen Salze in der Behandlung der nervösen und geistigen
Störungen der Syphilis (Crocq- Brüssel); 5. Aphasie und Agnosie (Mingaz-
zini- Rom und v. Staufienberg-München ); 6. Organisation und Verlauf der
akustischen Bahnen (Winkler- Amsterdam und Fuse- Japan); 7. Pathologie
des Vestibularapparates (Edrdny-Wien und Brünings- Jena); 8. Innere
Sekretion und Nervensystem (Biedl- Wien und Laignel-Lavastine- Paris);
9. Les radiculites (De/erine-Paris); 10. Formenreichtum der multiplen
Sklerose (OppenAeim-Berlin); 11. Das Membranproblem in der Neurologie
(Zangger-Zürich). II. In der psychiatrischen Abteilung: 1. Die
Periodizität in der Psychopathologie (Geifer-München und Pailhas-Aibi);
2. Die Klassifikation in der Psychopathologie (Gaupp-Tübingen und Deny-
Paris); 3 a Gegenwärtiger Stand der Frage der Dementia praecox (Dupri-
Paris und .Stra/isAy-Wien), b. Demenz und Pseudodemenz (Tamburini-
Rom); 4. Pathogenese und Behandlung der Phobien (Bechterew -Peters¬
burg und Isserlin- München); 5a. Die Rolle der Emotion in der Genese
der Psychopathien (Lepine -Lyon); b. Die körperlichen Begleiterscheinun¬
gen psychischer Zustände (Hartmann -Graz); 6. Pathogenese und Ausgang
der Schreckpsychosen (d’.<4A«/ufo-Catania und /füAner-Bonn); 7. Senile
Geistesstörungen (Redl ich-"Wien und A nglade- Bordeaux; 8. Bedeutung der
Abwehrfermente in der Pathologie (Abderhalden- Halle, Binswanger- Jena
und Lampe-München. III. In der psychologischen Abteilung: 1. Die
Heredität in der Psychologie (Mott-London und Ladame-Gent)‘, 2. Die
Erziehung junger Delinquenten (EerraW-Imola-Bologna); 3. Die Psycho-
bv Google
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Kleinere Mitteilungen.
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logie in der Schule ( van Wayenfcurg-Amsterdam und Ferriire-Gent);
4. Die biologischen Grundlagen der Psychologie (Pefzotat-Charlottenburg);
5. Die Prüfzeichen der Intelligenz (ZieAen-Wiesbaden, £i/non-St. Yon-
Rouen und Frl. Descoeudres -Genf); 6. Das Bewußtsein, das Unbewußte
und die Aufmerksamkeit (Morton-Prince-Boslon und Rignano -Mailand);
7. Die Psychologie des Traumes ( Sante de .Sanctis-Rom und Jung-Zürich).
Außerdem waren bis zum 1. Juni 21 neurologische, 9 psychiatrische und
12 psychologische Vorträge angemeldet. Anfragen und Anmeldungen an
das Generalsekretariat, Bern, Monbijoustr. 31.
Die Vereinigung mitteldeutscher Psychiater und Neuro¬
logen wird am 25. Oktober d. J. in Dresden tagen. Vortraganmeldungen
bis 1. September an Geh.-R. Dr. Ganser, Dresden, Städt. Heil- und Pflege¬
anstalt.
Über die ,,geminderte Zurechnungsfähigkeit“. Bemerkung
zu den Referaten von Aschaffenburg und Wilmanns auf der Versammlung
des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu Straßburg. Von Dr. jur. et med.
M. H. Göring-Gießen.
Zunächst möchte ich mir die Frage erlauben, ob die Gegner der Ein¬
führung der geminderten Zurechnungsfähigkeit glauben, daß die Juristen
innerhalb der nächsten Jahrzehnte bereit sein werden, den gesamten Straf¬
vollzug zu ändern. Wir Psychiater haben fast nur zu der modernen Straf¬
rechtsschule Beziehungen; in ihr werden sich wohl manche Anden, die
geneigt wären, den Wunsch nach einer Änderung des Strafvollzugs im
allgemeinen zu erfüllen. Wir dürfen aber nicht nur mit der modernen,
sondern müssen auch mit der klassischen Schule rechnen, an deren Spitze
Birkmeyer steht. Wenn sie auch weniger von sich reden macht, so ist sie
doch nicht zu unterschätzen. Sie wird nie der von Wilmanns vorge¬
schlagenen Änderung des Strafvollzuges zustimmen. — Wir wollen Mög¬
liches fordern! Wir wollen froh sein, daß Richter und Strafvollzugs-
beamte bereit sind, einen Teil der Sträflinge in einen für sie passenden
Strafvollzug zu bringen. Liest man die Verhandlungen der IKV. und die
Aufsätze der Strafvollzugsbeamten, z. B. den erst kürzlich erschienenen
Artikel des Strafanstaltsdirektors von Michaelis (Groß’ Archiv Bd. 57,
S. 40), so müssen wir sagen: sie alle sehnen sich förmlich danach, daß wir
ihnen die „geminderte Zurechnungsfähigkeit“ im Gesetz verschaffen.
Kommen wir ihnen doch entgegen! Ideales gibt es nicht, Fehler werden
überall gemacht; ich bin aber davon überzeugt, daß wir Richtern und
Strafvollzugsbeamten geben können, was sie von uns erwarten. — Ich
wiederhole: eine Änderung des Strafvollzuges werden wir nicht erhalten!
Sollen wir, weil wir das Ideale nicht erreichen werden, nun wieder alles
beim alten lassen? Sollen wir nicht das, was wir erhalten können, das,
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
800
Kleinere Mitteilungen.
was wir mühevoll erkämpft haben, festhalten? — Wenn dann die Juristen
sehen, daß die Zahl derer, die aus dem ordentlichen Strafvollzüge aus-
scheiden, groß ist, werden wir vielleicht Wilmanns ’ Ziel erreichen.
Zum Schluß kurz noch ein Vorschlag. Van Calker , der Straßburger
Strafrechtslehrer, teilte auf der Versammlung mit, daß noch 6 bis 8 Jahre
vergehen würden, bis das neue Strafgesetzbuch zur Geltung kommen
werde. Ich möchte nun vorschlagen, möglichst bald die Richter und
Sachverständigen eines Oberlandesgerichtsbezirkes zu ersuchen, 2 oder
3 Jahre lang bei jedem in Betracht kommenden Falle in einem ganz
kurzen Berichte — es brauchen nur einige Zeilen zu sein — ihre Ansicht
über die verminderte Zurechnungsfähigkeit und die in dem einzelnen Falle
zu ziehenden Konsequenzen mitzuteilen. Die Berichte könnten beim
Oberverwaltungsgericht gesammelt werden. In Anbetracht der außer¬
ordentlichen Wichtigkeit der Frage werden Richter und Sachverständige
sicher gern die Mehrarbeit auf sich nehmen.
Nekrolog Guido Weber. — W. wurde am 4. Juni 1837 in Reval
geboren, bezog mit 17 Jahren die Universität Dorpat und siedelte dann
mit seinem Vater, der Pastor war, nach Deutschland über. In Jena war
er ein begeistertes Mitglied der Burschenschaft Germania. Staatsexamen
und Doktorprüfung bestand er in Leipzig; auch studierte er ein Semester
in Wien.
Nachdem er ein Jahr lang in der Königlich Sächsischen Landesanstalt
zu Colditz tätig gewesen war, wurde er am 1. August 1861 an die Königlich
Sächsische Heilanstalt Sonnenstein versetzt, an der er 49 Jahre zuerst als
Arzt, dann als Direktor gewirkt hat. Wie sich das Heidelberger Schloß
oberhalb der alten Pfalzgrafenstadt erhebt, so ragt das alte Schloß Sonnen¬
stein über dem altertümlichen Städtchen Pirna. Der Sonnenstein spielte
in früheren Jahrhunderten als festes Haus und Schloß und im 30 jährigen
Krieg als uneinnehmbare Festung eine Rolle; seit 1811 dient er den fried¬
lichen Zwecken einer Königlichen Heilanstalt für Geisteskranke. Diese
alte Anstalt hat Weber als ihr dritter Direktor durch mehrfache Umbauten
und Neuanlagen auf die Höhe seiner Zeit gebracht. Den Kranken war
Weber ein unermüdlicher Arzt und ein väterlicher Freund; mit allen
Mitteln erstrebte er ihre Heilung und legte den größten Wert darauf, daß
sie ihren Aufenthalt in der Anstalt als Kur auffaßten. Durch Gründung
des Hilfsvereins für entlassene Geisteskranke bot er den Bedürftigen auch
nach ihrem Abgang aus der Anstalt Rat und Hilfe dar. Neben den An¬
gelegenheiten der Anstaltsverwaltung war das Hauptinteresse Webers den
medizinischen Tagesfragen und der psychiatrischen Wissenschaft gewidmet.
Er gehörte keiner eigentlichen Schule an, hatte sich vielmehr ein eigenes
Urteil über manche klinische Frage gebildet und prüfte fortdauernd neu
auftauchende Lehren an dem reichen Material seiner Anstalt; je siegreicher
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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Kteiaere. Mitteilungen,
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c die Krapelinschm. FoTScliungen-.vorwärts. sehrötefr, um so mehrüMr-
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vv.it wo ejt nur anging/ ' bemüht; die ideelle» und realen I hiei-wsen u*-r
■faktischen Arzte zu vertreten, deren tVrf.faur'fi.erin hohem Grade genoö.
*us Königliche Ministerium des Ijiiiern inächte IVVöe/stJifet) und Srfahnri.'g
üMrkeh für das gesamt^ näi'ftg)is<;i»e ItVenwesen nutzbar und voflvödte,
km bei vielen Gelegenheit««^ als sguzieiletn fsatgeber i^Öjlljriijeh ^VtÜte
1 '?her die Eiozrijahivsheffefito der saehsisehen IrreudnslaliKdirekioren
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UNIVERSfTY OF MICHIGAN
802
Kleinere Mitteilungen.
Seinen Ärzten und Beamten war Weber ein wohlmeinender, treuer
Berater, der es verstand, die Leitung in der Hand zu behalten und doch
dem Untergebenen die Freude selbständiger Tätigkeit zu überlassen.
Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wuchs die besondere Vertrauensstellung, die
er weit über seine Anstalt hinaus genoß. Der Verein deutscher Irrenärzte
ernannte ihn vor wenigen Jahren zum Ehrenmitglied.
Nicht nur auf medizinischem Gebiete verfügte Weber über ein großes
Wissen — nein, sein lebhaftes Interesse umfaßte viele Fragen des Kultur¬
lebens, es galt jedem Wohl und Wehe des deutschen Volkes; dem Verein
zum Schutze der Deutschen im Auslande gehörte er als Ortsgruppenvor¬
sitzender lange Zeit an. Ein weiter Blick, ein kluges, besonnenes Urteil,
eine vornehme Gesinnung waren ihm eigen. Vor allem war auch sein
Gemütsleben sehr fein ausgebildet. Zu wahrhafter Kollegialität erzog er
die vielen Ärzte, die unter seiner Leitung arbeiteten. Großzügig und ideal
faßte er seinen Beruf auf, Licht und Freude brachte er in die Herzen
aller, mit denen er und für die er arbeitete. Selbst der Verbrecher, dessen
Geisteszustand er zu ergründen hatte, mußte es fühlen, daß er diesem
ehrwürdigen Manne nicht nur Objekt kalten Studiums war, sondern daß
auch ihm hier menschliches Gefühl und Mitleid entgegengebracht wurde.
Se. Majestät der König von Sachsen verlieh Weber das Ritterkreuz
1. Klasse des Verdienstordens, das Offizierskreuz des Albrechtsordens, die
Komthure des Albrechts- und des Verdienstordens und ernannte ihn an
seinem 70. Geburtstage zum Geheimen Rat, eine Auszeichnung, die im
Lande noch keinem Irrenarzt zuteil ward.
Am 15. Januar 1914 wurde Weber durch einen sanften Tod erlöst,
nachdem sich die Beschwerden des Alters immer deutlicher bemerkbar
gemacht hatten; seine vortreffliche Frau war ihm schon viele Jahre im
Tode vorangegangen. Seinem Wunsche gemäß wurde er auf dem alten
Sonnensteiner Anstaltsfriedhof beigesetzt; gelegentlich seines Begräbnisses
trat die große Wertschätzung, die er in weiten Kreisen und namentlich
auch bei hohen Behörden genossen hatte, noch einmal zutage.
Georg Ilberg.
Eine medizinische Vereinigung für Sonderdruckauslausch
(Geschäftsführer: Oberstabsarzt a. D. Dr. Berger , Berlin-Friedenau,
Knausstraße 12) hat sich gebildet.
Die Mitgliedschaft wird auf Lebenszeit durch einmalige Zahlung
von 100 Mk. oder durch jährlichen Beitrag erworben. Dieser beträgt
10 Mk., welche mit den entstehenden Austauschgebühren (s. Ausführungs-
bestiinmungen I B 3) in Gegenrechnung gestellt werden, oder 3 Mk.,
welche mit den entstehenden Austauschgebühren nicht in Gegenrechnung
gestellt werden.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Kleinere Mitteilungen.
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Die Vereinigung hat eine „Sonderdruck-Zentrale“ und ein „Sonder¬
druck-Archiv“ errichtet. Näheres ist aus folgenden „vorläufigen Aus¬
führungsbestimmungen“ zu ersehen:
I. Die Sonderdruck-Zentrale.
A. Laufender Austausch. — Die S.-Z. liefert jedem Mitgliede
auf Wunsch laufend sämtliche neu erschienenen Sonderdrucke aus dem
von ihm jeweils angegebenen engeren Interessengebiete. — Die Gebühren-
berechnung erfolgt, wie unter B.
B. Einzel-Austausch. — 1. Die S.-Z. übernimmt die Versendung
von Sonderdrucken im Aufträge des Verf. an Einzelpersonen, Redaktionen,
Bibliotheken, Behörden. Am besten beauftragt der Verf. die Druckerei
der betr. Zschr., die Sonderdrucke seiner demnächst erscheinenden Arbeit
unmittelbar an die S.-Z. zu schicken, oder er schickt selbst die erforderliche
Anzahl von Sonderabdrucken seiner Arbeit an die S.-Z., welche dann die
weitere Verteilung nach dem Aufträge des Verf. vornimmt. — Die Mit¬
glieder, welche von Außenstehenden um Überlassung eines Sonderabdrucks
gebeten werden, überweisen diese Bitte der S.-Z. zur Ausführung und
teilen dies dem Außenstehenden mit.
2. Die S.-Z. übernimmt die Anforderung von Sonderdrucken
von dem Verf. im Aufträge des anfordernden Kollegen.
3. Die Gebühr für die Versendung wie für die Anforderung jeden
Sonderabdrucks beträgt 10 Pfg. nebst den erwachsenden Portokosten.
Die Abrechnung erfolgt mit Beginn jeden neuen Jahres.
4. Die S.-Z. erteilt auf die eingehenden Aufträge nur in den Fällen
Antwort, in welchen sie den Auftrag aus irgendeinem Grunde nicht über¬
nehmen kann. Sonst wird nur auf besonderen Antrag Auskunft über
den Verlauf des eingeleiteten Verfahrens erteilt.
II. Das Sonderdruck-Archiv.
1. Jedes Mitglied verpflichtet sich, von jeder seiner Zeitschriften-
arbeiten möglichst kurz nach ihrem Erscheinen 2 Exemplare dem S.-A.
zu überweisen.
2. Es ist dringend wünschenswert, daß dem S.-A. alle ihren Be¬
sitzern entbehrlichen Bestände an Sonderabdrucken eigener und fremder
Arbeiten überwiesen werden.
3. Über die Bestände des S.-A. wird von der S.-Z. laufend ein
Zettel-Katalog in zweifacher Ausfertigung geführt, deren eine nach alpha¬
betischer Reihenfolge der Autornamen und deren andere nach Themen¬
gruppen geordnet und klassifiziert ist. Sobald es die Mittel gestatten, soll
späterhin jedem Mitgliede ein Abdruck des Kataloges und in regelmäßigen
Zeiträumen seiner Nachträge zugestellt werden.
4. Die Bestände des S.-A. können an Mitglieder gegen eine Gebühr
von 10 Pfg. pro Monat und Heft verliehen werden, an Nichtmitglieder
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
804
Kleinere Mitteilangen.
gegen eine Gebühr von 50 Pfg. und unter vorheriger Hinterlegung des
Barwertes. — Der Verkauf überschüssiger Exemplare an Mitglieder
wird zu einem mäßigen Durchschnittspreise in Aussicht genommen.
5. In den Leihverkehr des S.-A. können in Privatbesitz befindliche
Bestände an Sonderdrucken, deren genaue Bezeichnung der S.-Z. zu
diesem Zweck zugeht, miteinbezogen werden.
Dem Verein zum Austausch der Anstaltberichte ist die
Landes heil- und Pflegeanstalt Alzey (Großh. Hessen) beigetreten.
Personalnachrichten.
Dr. Carl Moeli, Prof., Geh. Obermed.-R., Dir. d. städt. Anstalt Herzberge,
Dr. Friedr. Siemens, Geh. Med.-R., Dir. der Prov.-Anstalt Lauenburg, und
Dr. Franz Tuczek, Prof., Geh. Med.-R., Dir. d. Landesanstalt Marburg,
treten am 1. Oktober von der Direktion ihrer Anstalten zurück.
Dr. Hermann Vortisch ist zum leitenden Arzt der Anst. f. Epil. in Kork
ernannt.
Dr. Franz Mugdan ist als leitender Arzt in Dr. Fischers Kurhaus f.
Nerven- u. Gemütskranke in Neckargemünd eingetreten.
Dr. Friedrich Märchen, bisher in Ahrweiler, hat die Leitung d. Sanat.
Dietenmühle bei Wiesbaden übernommen.
Dr. Alfred Linke, bisher Oberarzt in Lüben, ist nach Kreuzburg,
Dr. Felix Stüber von Hildesheim als Oberarzt nach Lüneburg,
Dr. Ernst Wittermann von Rufach als Oberarzt nach Winnental
versetzt worden.
Dr. M. Heinr. Göring, Ass.-A. an der psychiatr. Klinik in Gießen, hat
sich als Privatdozent habilitiert.
Dr. Georg Sterz, Priv.-Doz. in Breslau, hat den Titel Professor erhalten.
Dr. Adolf Riebeth, Dir. der Landesanstalt Brandenburg, ist Sanitätsrat
geworden.
Dr. Heinr. Obersteiner, Prof, in Wien, hat das Komturkreuz des Franz-
Josef-Ordens erhalten.
Dr. Robert Walter, San.-R., Dir. d. Privatanstalt f. Nerven- u. Psychisch-
Kranke in Deutsch-Lissa, ist im 79. Lebensjahre am 22. Juni
gestorben.
Dr. Hermann Schulze, Abt.-Arzt in Hördt, ist gestorben.
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ZcitscJu'Lft für Psychiatrie Bei. LXXf.
Tafl.
(Ehrhiu'dt )
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Xrifsc/uiff für f&yc/ttah ie UtLIXXl
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Feier des zwanzigjährigen Bestehens der
Landesheilanstalt Uchtspringe.
Direktor: Professor Dr. Alt.
Hochverehrter, lieber Lehrer und Meister!
Zwanzig Jahre sind verflossen, seit Ihnen, dem Sohn der sagen-
und weinfrohen Mosel, auf dem Sandboden märkischer Heide eine
neue Heimat entstand. Mehr als eine Heimat! eine selbstgeschaffene
Stätte segensreichsten Wirkens weit über den Rahmen dieser Anstalt
hinaus. Nicht leicht, nicht ohne Mühen und Kämpfe ist Urnen der
Erfolg zugefallen. Aber Sie haben ausgehalten durch gute und schlimme
Jahre, und heute, auf der Höhe Ihres Lebens und Ihres Lebenswerkes,
können Sie mit Genugtuung auf die verflossenen Jahre zurückblicken.
Als das preußische Gesetz über die Fürsorge für Epileptiker und
Idioten der Irrenheilkunde neue Arbeitsgebiete zuwies, eröffnete Ucht¬
springe den Reigen der großen, neugegründeten Anstalten.. Als eine
Anstalt für „Epileptiker, Blöde und unheilbare Geisteskranke“ war
Uchtspringe gedacht: unter Ihrer schöpferischen Hand wurde daraus
eine Heilstätte für alle Formen nervöser und psychischer Erkrankun¬
gen, ein Zentrum für die ärztliche und wissenschaftliche Erforschung
dieser Krankheiten, eine Stätte, von der weit über die Grenzen
Deutschlands hinaus Belehrung und Anregung in allen diese Gebiete
berührenden Fragen ausging.
Ohne eine erschöpfende Aufzählung aller Einzelheiten wollen wir
nur gedenken der systematisch durchgeführten körperlichen Be¬
handlung der Epileptiker und Geisteskranken, der Prüfung und
erstmaligen Anwendung neuer Heilmittel, die seitdem Gemein¬
gut der Ärzte oder besondere Kleinode unseres Heilschatzes geworden
sind, ferner der in Uchtspringe zuerst von allen Anstalten eingerichteten
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 6.
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J
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Weber,
Zt
Laboratorien für anatomische und Stoffwechselunter- ei
Buchungen, endlich der Angliederung einer Poliklinik für die ambu-
lante Behandlung von Epileptikern, Nervösen und Kranksinnigen.
In vorbildlicher Vollkommenheit haben Sie die Arbeitsthera- UI
pie durchgeführt, und die prächtigen Gärten und Anlagen, die aus \}
diesem Sandboden hervorgewachsen sind, die Erzeugnisse Ihrer Anstalts - Tt
Werkstätten geben Kunde, wie Ihre und Ihrer Kranken gemeinsame {{
Arbeit gesegnet war. WJ
Die Anwendung der freien Behandlung bei allen Geisteskranken ^
hat dazu geführt, daß von Uchtspringe aus ihre vollendetste Form, \]
die Familienpflege, für Deutschland neue Bedeutung und prak- :j
tische Gestaltung erlangte. In die stillen Heidedörfer rings um Ucht- 3l
springe ist mit der Familienpflege neues, fröhliches Leben eingekehrt, r
In der richtigen Erkenntnis, daß das beste ärztliche Wissen und
Können bei unseren Kranken nicht ausreicht, wurde die Hebung des
Irrenpflegerstandes durch Fachausbildung, Gewährung aus¬
reichender Erholungszeit und der Möglichkeit eines eigenen Heims
gefördert. Die schmucken Pflegerdörfchen, die jetzt an allen
größeren Anstalten entstehen, sind Ihr eigenster, origineller Gedanke.
Die Anstaltsärzte selbst verdanken Ihrer unermüdlichen Ein¬
wirkung auf die Verwaltungsbehörden die Verbesserung ihrer beruf¬
lichen und materiellen Stellung, die Gelegenheit zur Fortbildung und
zur wissenschaftlichen Arbeit an den Anstaltslaboratorien und die
Möglichkeit, sich durch größere dienstliche Selbständigkeit für ihr
schweres Amt berufsfreudig und leistungsfähig zu erhalten.
Durch Ärztekurse, durch Belehrung in Wort und Schrift, durch
Ihr tatkräftiges Wirken auf Kongressen und Ausstellungen und, indem
Sie Ihre Erfahrung auch bei der Schöpfung anderer Anstalten zur Ver¬
fügung stellten, haben Sie die Errungenschaften von Uchtspringe den
weitesten Kreisen der Ärzte nicht nur deutscher Zunge, sondern des
ganzen Auslands zugängig gemacht und damit dem Ruhmeskranz
deutscher Wissenschaft und Humanität einen herrlichen Zweig zu-
gefügt.
Daß Ihnen bei all dieser organisatorischen Tätigkeit eine weit-
schauende Verwaltungsbehörde mit materieller und moralischer Unter¬
stützung treu zur Seite stand, haben Sie durch Ihr unermüdliches
Wirken, Ihre überzeugenden Darlegungen und — nicht zum wenig-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zur Feier des 20jähr. Bestehens der Landesheilanstalt Uchtapringe. 807
sten — dadurch erreicht, daß Sie zur rechten Zeit und am rechten Orte
mit weiser Sparsamkeit im Kleinen die Mittel für Großes bereit hielten.
In all diesem Wirken im großen und im kleinen, in Wissenschaft
und Praxis ist der Kern Ihrer Persönlichkeit der gleiche geblieben.
Daß nur mit reichem ärztlichen Wissen und Können all dies zu er¬
reichen war, ist selbstverständlich; Sie, der einen Gerhardt , Leube ,
Riegel , Hitzig zum Lehrer hatte, um nur einige Namen zu nennen,
waren dazu in geeigneter Weise vorgebildet. Aber — was mehr ist
und was weiter dazu nötig ist —: Sie sind von jeher auch ein guter
Arzt gewesen, „gut“ im wahrsten Sinne des Wortes, wie es nur ein
guter Mensch sein kann: mit persönlicher Teilnahme für Ihre Kranken,
mit Optimismus und Selbstvertrauen, in festem Glauben an den
Erfolg sind Sie an Ihre Mission gegangen, und nur so konnteh Sie
auch unter schwierigen Verhältnissen Ihr Ziel .erreichen.
Mit Bewunderung und Dankbarkeit blicken heute zahlreiche
Schüler, Verehrer und Freunde im Inland und Ausland zu Ihnen auf
und nehmen, soweit sie nicht selbst kommen konnten, im Geiste teil
an diese Erinnerungsfeier. Einige davon haben zur Erinnerung an
diesen Tag und als Zeichen der Zuneigung und Dankbarkeit Ihnen
die folgenden Arbeiten gewidmet, die wir Sie bitten, freundlichst
annehmen zu wollen.
JFe&er-Chemnitz.
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Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Über die Bedeutung großer Katastrophen für die
Ätiologie einiger psychischen und Nervenkrank¬
heiten 1 2 ).
Von Prof. Dr. N. Bajenow -Moskau *).
Die betitelte Frage ist erfreulicherweise nur in sehr seltenen Fällen
Gegenstand unserer Erörterung. Es vergehen Dezennien und noch
mehr, ehe sich irgendeine außergewöhnliche Katastrophe ereignet,
welche dem Arzt das nötige Material für die Beurteilung des Problems
gibt, das nicht nur dank der exquisiten Eigenartigkeit des ätiologischen
Faktors, sondern auch deswegen ganz besonderes Interesse bean¬
sprucht, weil es noch eine andere, mehr allgemeine Frage über das
psychogene Moment in der Gruppe derjenigen Ursachen streift, durch
welche psychische und Nervenkrankheiten hervorgerufen werden.
Aus diesem Grunde beeile ich mich immer, sozusagen auf frischer
Fährte, wenn ein extraordinärer Fall vorliegt, die Folgen der betreffen¬
den Katastrophe vom psychiatrischen und neurologischen Standpunkt
aus persönlich kennen zu lernen.
1 ) Vortrag, gehalten in der Moskauer neurologischen und psychiatri¬
schen Gesellschaft in der Sitzung vom 28. März 1914.
2 ) Ich möchte meiner besonderen Freude Ausdruck geben, daß sieb
mir die Gelegenheit bietet, an der Jubiläumsfeier des Professors Alt teilzu-
nehmen. Und zwar nicht allein, weil er mein alter guter Freund ist, mit-
dem mich unsere gemeinsame Arbeit an der öffentlichen Fürsorge der
Geisteskranken aufs innigste verbindet, sondern auch weil ich hiermit
als Vertreter vieler russischer Psychiater erscheine, die Professor Alt
Dank schuldig sind, da sie in dem von ihm geleiteten Hospital gearbeitet,
dort vieles gelernt und sich in ihrem Schaffen ihn als Vorbild gestellt haben.
In Deutschland wissen wohl viele nicht, daß in der russischen psych¬
iatrischen Welt zwei deutsche Namen besonders bekannt und populär
sind: Alt-Scherbitz und Uchtspringe, und daß ferner auf die Entwicklung
der russischen Hospitalpsychiatrie in den letzten 30 bis 40 Jahren zwei
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ober die Bedeutung großer Katastrophen für die Ätiologie usw. 809
Vor mehr als fünf Jahren reiste ich, nachdem Mitteilungen über
das Erdbeben in Messina und überhaupt in Süditalien eingelaufen
waren, dorthin und machte vor Sizilien und Kalabrien einen Aufent¬
halt in Neapel, wo ich die psychiatrische Klinik von Professor Bianchi,
die psychiatrische Abteilung des städtischen Hospitals und das neue
große, damals noch nicht eröffnete psychiatrische Provinzialkranken¬
haus aufsuchte, wo die ersten durch das Erdbeben verunglückten Per¬
sonen aus Messina, einige Hundert an der Zahl, interniert waren.
Von demselben Standpunkt aus fesselten mein Interesse die
Zeitungsmeldungen über die Katastrophe an der Küste des Asowschen
Meeres, hervorgerufen durch einen Zyklon, welcher dort genau vor einem
Monat, am 28. Februar 1914, gewütet hatte; dies alles bewog mich, in
dieLimane und das Delta vom Don und Kuban zu reisen, um die Fol¬
gen dieser Katastrophe an Ort und Stelle zu untersuchen.
Wenn ich nun zu dem Gesagten noch meine Beobachtungen an
den während des russisch-japanischen Krieges vom Kriegsschauplatz
nach Moskau evakuierten Soldaten hinzufüge, so erhält man eine
Summe von Beobachtungen, die nur in außerordentlich seltenen Fällen
dem Arzt zur Verfügung stehen.
Ich glaube, bei den gegenwärtigen Methoden der Kriegfüh¬
rung, wo das persönliche Tapferkeitsgefühl in Form aktiver, ag¬
gressiver Handlungen in den Hintergrund tritt, wo die Emotion und
der Affekt, welche mit dem persönlichen Kampf verknüpft sind,
fehlen und die Menschen zuweilen aus meilenlanger Entfernung durch
Kanonen mit großer Schußweite getroffen werden, ohne den Feind
überhaupt gesehen zu haben, so daß eine Schlacht heutzutage
deutsche Psychiater — Geheimrat Paetz und Professor AU — besonderen
Einfluß ausgeübt haben. Ich kann mit Freuden bezeugen, daß schon im
Laufe einiger Dezennien in allen Bauprojekten, Erweiterungs- und Re¬
organisationsplänen russischer psychiatrischer Krankenhäuser, beson¬
ders der provinzialen, diese beiden hervorragenden Organisatoren, ihre
Ideen und Beispiele der von ihnen geleiteten Anstalten immer wieder
zitiert werden, und daß ihr Einfluß auf die russische öffentliche Fürsorge
der Geisteskranken unvergeßlich bleiben wird.
Prof. N. Bajenow,
Vorsitzender des Vereins russischer Psychiater und Neuropathologen,
Chefarzt des Preobrajenski-Hospitals für Geisteskranke, Direktor
der psychiatrischen Klinik zu Moskau.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
810
Bajenow,
sich von dem blutigsten Kampf vor 100 und sogar 50 Jahren voll¬
ständig unterscheidet, können vom psychiatrischen Standpunkt aus
die Kriegsoperationen von heute als solche betrachtet werden, die
dem Typus ihrer psychischen Wirkung nach zur Kategorie derjenigen
Ereignisse gehören, die ich hier unter dem Namen „große Kata¬
strophe“ zusammenfasse.
Es sei mir gestattet, in dieser Abhandlung ganz anders zu ver¬
fahren, als es gebräuchlich ist, und zwar, bevor ich meine genauen
Beobachtungen wiedergebe, direkt mit den Schlußfolgerungen zu
beginnen.
Ganz unerwartet und entgegengesetzt dem, was man a priori an¬
nehmen kann, sind die nervös-psychischen Folgen der furchtbarsten
Katastrophen viel unbedeutender, als man es erwarten könnte. Der
Mensch erträgt eben alles.
Wie der elektrische Strom von gewisser Spannung schon physio¬
logisch vom Organismus nicht empfunden wird und der Mensch den¬
selben durch sich selbst ohne Folgen durchleiten und sogar in seinen
Händen eine elektrische Lampe anzünden kann, so stellt man sich vor,
daß auch psychologisch dem Leiden eine Grenze gesetzt ist; außerhalb
gewisser Grenzen des Unglücks verstärken sich die Kraft und der Grad
des seelischen Schmerzes nicht.
Und in der Tat — in solchen Katastrophen, wie es das Erdbeben
in Messina war, oder während der letzten Überschwemmung an der
Küste des Asowschen Meeres, wo der Mensch im Laufe kurzer Zeit alle
seine Nächsten, seine ganze Familie, sein ganzes Vermögen verlor und
im Alter von 40 oder 50 Jahren in die Lage eines Menschen versetzt
wurde, der das Leben von neuem aufnehmen und von neuem wirken
und schaffen muß, in solchen Fällen, wo scheinbar der Kulminations¬
punkt des Tragischen erreicht ist, wo nur Stimmen des Fluches und
der Verzweiflung laut werden müßten, konnte ich sowohl in Süd¬
italien vor 5 Jahren als auch jetzt am Kuban häufig Zustände von
gewisser Betäubung und Verwirrtsein konstatieren, die an Gleich¬
gültigkeit und Teilnahmlosigkeit grenzten, oder ich sah Bilder einer
derartig rührenden christlichen Demut, die an die Bibelsage über Hiob
erinnerten, der nach allen seinen Mißgeschicken auf seinem Eiterlager
lag und immer wiederholte: „Gott hat gegeben, Gott hat genommen.“
Dieselben Befunde haben auch andere Forscher erhoben, die sich
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Uber die Bedeutung großer Katastrophen für die Ätiologie usw. gll
mit dieser Frage beschäftigten. So schreibt Dr. Stierlin, daß ihm bei
der psychologischen Untersuchung von Personen, die beim Erdbeben
in Messina verunglückt waren, eine eigentümliche Apathie, sogar
vollkommene Gleichgültigkeit vieler Geretteter gegen ihr Unglück
auffiel, und bezieht sich ferner auf den Eindruck vieler Ärzte und
T^ichtärzte, mit denen er gesprochen hatte.
Ich war in Süditalien viel früher als Stierlin, 12 Tage nach der
Katastrophe, und kann bestätigen, daß in der Tat dieser Indifferen¬
tismus, der mit den Schrecknissen der Katastrophe in solchem Kon¬
trast steht, zuweilen sogar seelisches Wohlbefinden der Geretteten,
besonders ins Auge fiel. Ich erinnere mich eines biederen alten
Mannes, im Alter von ungefähr 70 Jahren, der bei der Katastrophe
seine Frau, seine sieben Söhne und sein ganzes Hab und Gut verloren
hatte; er sprach mit unverborgener Freudigkeit von seiner Rettung,
als ob das Leben ihm noch irgend etwas Heiteres bieten könnte.
Zu dieser Kategorie psychologischer Phänomene gehört eine höchst
interessante Selbstbeobachtung des ehemaligen Leiters der ersten medi¬
zinischen Schule in Japan, Professors Bälz, über die er in der Sitzung
des deutschen Psychiatervereins in Berlin im April 1901 berichtete 1 ).
Er war Zeuge eines großen Erdbebens in Tokio. Die nächste Folge
davon war Ausfall höherer Empfindungen, die er als Emotionslähmung
bezeichnet: es schwanden bei ihm für einige Zeit bei vollständigem Er¬
haltensein der intellektuellen Sphäre sämtliche Gefühle höherer Ordnung,
wie Mitleidsgefühl, Sorge und Unruhe für seine Familie, sogar Angstgefühl
usw. Allem diesem folgte eine Empfindung der Erleichterung der
Gedankensphäre; bald kehrte alles zur Norm zurück.
Was die Resignation anbelangt, über die auch andere Autoren
sprechen, welche sich mit dieser Frage beschäftigt haben, so möchte
ich als charakteristische und krasse Illustration zu dem Gesagten über
einen Fischer aus einem am Dondelta gelegenen Dorf (Gossudarew-
Chutov) berichten, der sich in der Fischerei an einem anderen Arm des
Flußdeltas in einiger Entfernung von seinem Hause während des
Sturmes befand.
Als der Sturm ausbrach und die Dimensionen der Katastrophe sich
allmählich klärten, eUte er nach Hause. Zurückgekehrt, fand er weder
seine Hütte, die vom Wasser mit allem Hab und Gut weggeschwemmt
worden war, noch seine Frau und seine sechs Kinder, die alle untergegangen
waren.
1 ) Bälz, Uber Emotionslähmung, diese Ztschr., Bd. 58, S. 717.
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Bajeno w.
Nicht im dramatischen, sondern im epischen Tone, ohne sein
meßliches Unglück mit Mienen oder Gesten besonders hervorzuhet*-
erzählte er mir vom Geschehenen.
Er will nach Kiew als Pilger gehen und noch andere heilige Orte ai;.
suchen. „Gott hat uns für unsere Sünden gestraft.“ Er überlegt sich ur
zieht andere zu Rate, wie er sein weiteres Leben einrichten soll.
In der psychologischen Wissenschaft ist die Lehre von den psyeb
physiologischen Schutzreaktionen nur angedeutet und noch gar nk-r
ausgearbeitet. Einiges Material gibt in dieser Beziehung das Studiur
der Fakta und Ereignisse, welche nach großen Katastrophen kor
statiert werden. Als ich z. B. mit Prof. Bianchi Personen befrag
die nach dem Erdbeben in Messina gerettet wurden, so erwies es sit:
daß die nächste Folgeerscheinung der Katastrophe, die erste direlr
psychologische Störung sich im Verlust der Zeitempfindung äußert'
Personen, die sich kein psychisches Trauma zugezogen und nur unte:
den Trümmern der zusammengestürzten Häuser begraben waren m
in diesem Zustande einige Stunden und sogar mehr als 24 Stunden
verbracht haben (wie bekannt, kam die erste Hilfe 26 Stunden nach
der Katastrophe mit dem russischen Panzerschiffe), konnten sich über
die Zeitdauer, in welcher sie sich in der obenerwähnten Lage befand«,
absolut keine Rechenschaft geben.
Objektiv geurteilt, kann es wohl kaum etwas Entsetzlicheres geben,
als sich lebend begraben zu fühlen, wenn auch für einige Stunden, in
Todesangst sich zu fragen, ob Hilfe und Rettung kommen werde, in
Verzweiflung die sich lang hinziehenden Minuten zu zählen. In Wirk¬
lichkeit aber erwies es sich, daß die Verunglückten sich über die Sach¬
lage keine Rechenschaft gaben und sich nicht erinnern konnten, ob
sie sich in diesem Zustande einige Sekunden oder Stunden befanden
Professor Bianchi erzählte mir, daß merkwürdigerweise bei diesen
lebend Begrabenen sogar Stillstand oder Verlangsamung physio¬
logischer Funktionen des Organismus beobachtet werden konnte, $<■
z. B. der Urinabsonderung und Defäkation; es lag somit hier ein dem
Winterschlaf der Tiere analoger Zustand vor.
Diese Erscheinung kann selbstverständlich nicht anders bezeichnet
werden als eine psycho-physiologische Schutzreaktion. In dieselbe
Kategorie gehört auch wahrscheinlich die Beobachtung von meinem
Freunde Ferrari , Professor an der Universität Bologna und Direktor
des psychiatrischen Krankenhauses in Reggio-Emilia, und von Nach,
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Uber die Bedeutung großer Katastrophen für die Ätiologie usw. 813
ie ich gleicherweise weder in Italien noch im Dongebiet konstatieren
onnte, weil hierzu ein direkter Kontakt mit der Bevölkerung und
sündiges Leben mit derselben gehören. Ferrari bezeichnet dieses
sychologische Phänomen als „Revolte contre la mort“,
7äcke (Archiv für Kriminalanthropologie) faßt dasselbe auf als einen
Lusfall hemmender Vorstellungen und Hervortreten der gewöhnlich
iei versteckten Empfindungen und Instinkte.
Diese indirekte, weniger naheliegende Folgeerscheinung der großen
Katastrophe besteht im Sinken der sexuellen Sittlichkeit in der Be¬
völkerung, in Steigerung der sexuellen Initiative unter den Männern
und Verringerung des Widerstandes unter den Frauen und Mädchen.
Dieses Faktum kann vermutlich mit einer anderen psychologi¬
schen, allgemein bekannten, aber bislang noch nicht aufgeklärten Be¬
obachtung gleichgestellt werden und zwar mit der gesteigerten Zahl
der Geburten in einem Lande in dem Jahre nach einem Kriege. Mit
gewisser Reserve und in Form einer Hypothese kann so auch das
Sinken der sexuellen Moral erklärt werden, das in Rußland in den
Jahren unmittelbar nach der Revolution von 1905 in Form ver¬
schiedener Vereine „der freien Liebe“, der „Ogarki“ 1 ) usw., beobachtet
worden, worüber schon in der damaligen Presse berichtet wurde, und
was einige Psychiater in ihrer eigenen Praxis verzeichnen konnten.
Während meiner Exkursion nach Süditalien nach der ganz ex¬
quisiten Katastrophe, wo im Laufe einiger Minuten Zehntausende von
Menschen ihren Tod gefunden haben, reiche, blühende Städte zer¬
stört und immense Reichtümer vernichtet wurden (es genügt hervor¬
zuheben, daß schon zwei Wochen nach dem Erdbeben allein auf Messina
in den Banken Wechsel auf 25 Millionen Lire vorgestellt wurden, die
von keinem und nirgend eingelöst werden konnten, später vermutlich
noch mehr), fand ich in den neapolitanischen Krankenhäusern, wohin
sämtliche nach dem Erdbeben Erkrankte schon evakuiert waren,
unter denselben nur 17 psychisch Kranke, von denen einige ausge¬
schlossen werden mußten, deren Krankheit mit der Katastrophe nur
in einem zufälligen Zusammenhang stand, z. B. zwei progressive Para¬
lytiker, an deren Leiden selbstverständlich die Schrecken des über¬
standenen Erdbebens nicht schuld sein konnten; man könnte höchstens
„Ogarok“ heißt wörtlich eine fast ausgebrannte Kerze.
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814
Bajenow,
annehmen, daß sie als Impuls zur Manifestation der vorhandenen Er¬
krankung dienten.
Fast alle übrigen Fälle erinnerten mich an diejenigen psycho¬
pathischen Zustände, die ich an den vom letzten Kriegsschauplatz in
der Mandschurei evakuierten Soldaten beobachten konnte, und für die
nach Ansicht fast aller Psychiater, welche sich mit diesem pathologi¬
schen Symptomenkomplex beschäftigten, eine eigentümliche Verbin¬
dung von melancholischer Depression und eigenartiger Betäubung
oder Abstumpfung charakteristisch ist.
So bezeichnete Schaikewiisch diese Psychose als Vesania depres-
sivo-stuporosa, Ssuchanow teilt die von ihm beobachteten Psychosen
in Formen ein, die augenscheinlich nur gewisse Grade oder Nuancen ein
und derselben Psychose darstellen, und zwar in die 1. depressiv-melan¬
cholische Form, 2. depressiv-amentive, 3. depressiv-stuporöse und 4. de¬
pressiv-paranoische; Jakubowitsch. stellt mit nicht geringerem Recht 5 For¬
men auf: l.die depressive, 2.depressiv-amentive, 3.depressiv-paranoische,
4. dement-apathische und 5. depressiv-hypochondrische Form. Voraus¬
sichtlich ist dieser außergewöhnliche Symptomenkomplex für alle soge¬
nannten Schreckpsychosen charakteristisch, d. h. für solche psycho¬
pathischen Zustände, wo als ätiologisches Moment das psychische Trauma
in Form eines plötzlichen unbeschreiblichen Entsetzens die Hauptrolle
spielt.
Dr. Stierlin 1 ), der ebenfalls in Messina gewesen ist, allerdings zwei
Monate später als ich, bestätigt nicht nur meine Eindrücke über die Ver¬
unglückten in Süditalien, sondern ergänzt sie noch durch Mitteilungen
über das Erdbeben in Valparaiso von 1906 und charakterisiert den psycho¬
pathischen Zustand der Erkrankten mit folgenden Worten: „... der eigen¬
tümliche, stuporöse, lähmungsartige Zustand, der jedes vernünftige Han¬
deln und zielbewußte Vorgehen, jede ruhige Überlegung unmöglich macht“.
Dr. Phleps 2 ) erwähnt ebenfalls in seiner Abhandlung „Psychosen
nach Erdbeben“, in der er das psychopathologische Material nach dem
Erdbeben von 1895 in Steiermark und Krain bearbeitet hat, daß nach dem
moralischen Chok als erste mehr oder weniger stürmische Exazerbation
der Psychose „eine längere Phase eines melancholisch-stuporösen Zu¬
standes“ folgt.
Während meiner letzten Exkursion an die Küste des Asowschen
Meeres habe ich andauernde Psychosen von diesem Typus nicht ge¬
sehen; jedoch muß ich folgendes vorwegnehmen:
l ) E. Stierlin, Über psycho-neuropathische Folgezustände bei den
tiberlebenden der Katastrophe von Courriäres am 10. März 1906. Mtschr.
f. Psych. u. Neurol. Bd. 25.
*) Jahrb. f. Psych. 1903. Bd. 23, S. 382.
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Cber die Bedeutung großer Katastrophen für die Ätiologie usw. gl5
1. Wenn derartige Erkrankungen noch nicht aufgetreten sind, so
folgt daraus noch nicht, daß sie in Zukunft auch fehlen werden,
denn die Erfahrung des gegenwärtigen Krieges, der Erdbeben in Krain,
in Süditalien und Valparaiso und die Katastrophe in den Kohlen¬
gruben von Courrieres lehrt uns, daß zwischen der Katastrophe und
derartigen Erkrankungen ein gewisser Zeitraum liegen kann, und
2. ist es möglich, daß solche Erkrankungen schon jetzt vorhanden sind,
jedoch der Beobachtung entgehen. Man muß die große Schwierig¬
keit in Betracht ziehen, mit welcher derartige Untersuchungen in sol¬
chen Gegenden wie das Dondelta und das Kubansche Gebiet ver¬
bunden sind. Das betreffende Gebiet ist kolossal groß; seine Dimensio¬
nen kommen denen eines ganzen westeuropäischen Staates gleich;
unfahrbare Wege, zumal in dieser Jahreszeit, die so schlecht sind,
daß sogar der an alles gewöhnte Russe ratlos dasteht. Die
Katastrophe war ausgebrochen unter der Bevölkerung der Meeres¬
küste, auf schmalen Landzungen, die ins Meer hereinragen und von
Fischern bewohnt sind; die Fischereien (leichte, aus Schilf gebaute und
mit Lehm bestrichene Hütten, wo die Fischer leben und der Betrieb
vor sich geht) liegen zuweilen einige Werst voneinander entfernt;
dort arbeiteten zahlreiche, nirgends registrierte Arbeiter, weshalb auch
die Zahl der Toten eigentlich unaufgeklärt geblieben ist. Nach der
Überschwemmung endlich, die von den Landzungen alles, was sich
auf denselben befand — Menschen, Bauten, Geräte, Vieh — fort-
gerissen hatte, zerstreuten sich die Geretteten nach allen Gegenden hin
und entgingen somit der weiteren Beobachtung; zum Schluß sei noch
das fast vollständige Fehlen der medizinischen Hilfe in den betreffenden
Ortschaften und der psychiatrischen Hilfe im ganzen Gebiet erwähnt;
eine Vorstellung darüber erhält man, wenn man weiß, daß im Kuban¬
gebiet mit einer Bevölkerung von mehr als 2,5 Millionen Einwohnern
in der Stadt Ekaterinodar 50 Betten nur für psychisch kranke Männer
und in einem Dorf noch 30 Betten für chronische Kranke vorhanden
sind; als Beispiel dafür, wie es sich mit der medizinischen Hilfe über¬
haupt in diesem reichsten Gebiet, der Getreidekammer Rußlands, ver¬
hält, wo die ganze Bevölkerung die Einführung des Semstwo sehn¬
süchtig erwartet, führe ich denselben berühmten Ort — Primorsko-
Achtarskaja — an. In der Tat ist dieser Ort ein großer Hafen, wohin
Schiffe aus Europa einlaufen, wo ausländische Getreideexportfirmen
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816
Bajeno w,
ihre Kontore haben, wo reiche Menschen von amerikanischem Schliff
wohnen; hier ist das Zentrum des russischen Fischbetriebes (der be¬
rühmte Atschnewsche Kaviar). Die ständige Bevölkerung beträgt
15 000 Einwohner, und trotz aller dieser Bedingungen fehlt hier ein
Arzt, es fehlt sogar eine Ambulanz, geschweige denn ein Krankenbett.
Es wohnt hier freilich ein frei praktizierender Arzt, aber auch er will
fort. Nachdem vor einigen Monaten in die Primorsko-Achtarskaja
aus Ekaterinodar eine Eisenbahn durchgeführt worden, gibt es auch
einen Eisenbahnarzt, aber der hat mit der Bevölkerung nichts zu tun.
Kurz vor meiner Ankunft ist aus einem anderen Dorf ein Arzt mit
Personal kommandiert worden, welcher ein kleines Lazarett des Roten
Kreuzes eröffnete; das war aber eine Extramaßregel. Gewöhnlich hat
aber dieser reiche Handelshafen mit 15 000 Einwohnern gar keine
medizinische Hilfe.
Für eine Untersuchung aber, wie ich sie mir zur Aufgabe gestellt
hatte, ist es unumgänglich notwendig, sich an die vorhandene medi¬
zinische Organisation — kleine Krankenhäuser, Ambulatorien usw. —
zu halten. Dort, wo es möglich war, wie z. B. in Kagalnik, benutzte
ich larga manu das Aufnahmejournal des dortigen Arztes. Es müssen
alle diese außergewöhnlichen Schwierigkeiten der Untersuchung der
verunglückten Bevölkerung vom psychiatrischen Standpunkt aus in
Betracht gezogen werden; die Frage nach dem Vorhandensein von
andauernden Psychosen unter den Einwohnern, die sich unter dem
Einfluß der großen Katastrophe entwickelt hatten, muß vorerst offen
gelassen werden.
Wie aus folgendem kurzen Resümee meiner Beobachtungen an
Ort und Stelle zu ersehen, in dem ich die Symptomatologie den Grund¬
zügen nach notiert habe, beobachtete ich vorübergehende Psychosen,
die zur Gruppe der sogenannten Schreckpsychosen gehören und
Nervenaffektionen von längerer Dauer nach sich zogen; diese ner¬
vösen Störungen gehören ihrem Symptomenkomplex nach zur Gruppe
der traumatischen Hysterie oder traumatischen Neurose.
Ich beginne mit einem Fall von reinem moralischen Chok:
1. Marie Bukadarowa, 27 Jahre alt. Persönlich hat sie bei
der Katastrophe nicht gelitten. Während der Überschwemmung befand
sie sich in der Kirche. Bei der Heimkehr sah sie, daß ihr Haus wegge¬
schwemmt war und die Mutter verschwunden; sie fiel in Ohnmacht. In
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Über die Bedentang großer Katastrophen für die Ätiologie nsw. 317
ezug auf die drei nächstfolgenden Tage — vollständige Amnesie. Die
wester erzählte, daß sie delirierte, indem sie verschiedenen Unsinn
^ <dete. Jetzt schläft sie die Nächte gar nicht oder schlecht. Wenn es
■^ü^end wird, macht sie sich zur Mutter auf und läuft sinnlos umher;
► ^i der Anrede antwortet sie häufig nicht, augenscheinlich versteht sie
kicht, was man spricht.
Stimmung und Mimik deutlich depressiv. Sie weint die ganze Zeit.
v"Vahnideen wurden bei der Untersuchung nicht konstatiert, dagegen
iH^törung der Aufmerksamkeit. Kehlkopf- und konjunktivaler Reflex fehlt,
1F*atellarreflex sehr schlaff. Globus hystericus.
2. Paul Gubenko, 19 Jahre alt. Vor dem Sturm war er
^anz gesund und arbeitete bei einem Schuster. Er wurde samt seiner
ganzen Familie vom Dach gerettet, auf das er während der Überschwemmung
^gestiegen war; jetzt arbeitsunfähig; tagelang geht er umher oder liegt und
schweigt. „Es ist ihm schwer ums Herz.“ Mimik depressiv, hypochondri¬
sche Klagen; im Laufe von 3 Tagen nach der Katastrophe — Schlaflosig¬
keit ; nachher hat sich der Schlaf gebessert; jetzt schläft er wieder schlecht.
3. Akulina Bukodarowa, 21 Jahre alt, hatte sich auf einen
Akazienbaum mit ihrem Manne und ihrem Kinde gerettet; auf einen
anderen Baum wollte sich ihre Tante retten; der Baum neigte sich ins
Wasser, und die Tante ertrank unter ihren Augen. Der Mann hielt sie am
Zopf und verdeckte ihre Augen, damit sie den Tod der Tante nicht sehen
sollte. Auf den Armen hielt sie ihr Kind.
Vollständige Amnesie der unmittelbar nach der Katastrophe vorge¬
fallenen Ereignisse: sie erinnert sich nicht, von wem und wie sie gerettet
wurde. In den nächsten Tagen nach der Katastrophe soll sie, den Aus¬
sagen des Mannes zufolge, Unsinn geredet haben. Jetzt — stark ausge¬
prägte Störung des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit; führt einige
wirtschaftlichen Angelegenheiten aus und vergißt, was sie eigentlich tun
soll; geht an eine Stelle und kommt an eine andere. Die Stimmung ist de¬
pressiv; Schlaflosigkeit; sehr schlechter Appetit; Verstopfung; Krämpfe
in den Extremitäten. Herabsetzung aller Empfindungstypen links, Kehl¬
kopfreflex fehlt, Konjunktivalreflex vorhanden, Patellarreflex gesteigert.
4. Akulina Abramenko, 50 Jahre alt; hatte sich mit ihrer
Enkelin auf einem Faß gerettet. Was weiter war, dessen erinnert sie sich
nicht. Im Laufe der 4 nächsten Tage nach der Katastrophe — derartig
starke Schwindelanfälle, daß sie sich nicht aufrichten konnte; sie schrie
fortwährend: „Rettet, ich ertrinke.“ Es bestanden starke Gesichts- und
Gehörshalluzinationen, die sich auf die überlebten Ereignisse bezogen;
sie treten auch jetzt auf, vorzugsweise in der Nacht. Wahnideen fehlen.
Intellektuelle Sphäre ohne Abweichung von der Norm.
5. Chawronja Jeremenko, 35 Jahre alt. Vor der Überschwem¬
mung war sie gesund. Jetzt: Schwindelanfälle, Herzklopfen, Krämpfe
in den Extremitäten und im Körper. Albdrücken. Kehlkopfreflex herab-
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B a j e o o w,
gesetzt, Patellarreflex fehlt, unbedeutender Romberg. Störung der
Schmerzempfindung in der rechten Hand und in der rechten Stirnseite.
6. Strjapko, 42 Jahre alt. Dienender auf der Jassenskaja-
Landzunge, wo fast alle Eisenbahnarbeiter untergegangen waren. Er
erzählt: Ich wurde ungefähr um 3 y 2 Uhr nachts geweckt. Ich lief zur
Lokomotive, auf welcher, sowie auch auf dem Ballastzuge, schon viele
Rettung suchten. Als die Waggons überschwemmt wurden, mußte die
Wand eines derselben durchbrochen werden, um die Frauen und Kinder
auf die Lokomotive überzuführen; jedoch wurde letztere von den Wogen
umgeworfen. Einer nebenstehenden Frau wurde ihr Kind von der
Welle aus dem Arm gerissen; es ging sofort unter. Ich verlor die Besinnung
und erinnere mich des Geschehenen nicht; wie es sich später erwies, ver¬
blieb ich 6 Stunden auf der Lokomotive. Als letztere schon auf der Seite
lag und ich ungefähr alle 3 Minuten überschwemmt wurde, empfand ich
unüberwindliches Verlangen, zu schlafen. Jedoch schlief ich nicht ein,
weil der verrückt gewordene Arbeiter Sspurnikow mich auf den Rücken
zu schlagen begann (er starb bald darauf). Das Wasser trat zurück; gegen
11 Uhr morgens hatte sich neben der Lokomotive eine kleine Insel aus
angeschwemmtem Ballast gebildet; ich wurde von jemandem dorthin
befördert; dieses Momentes entsinne ich mich noch undeutlich. Ich kam
zu mir erst dann, als mich meine Frau zu rütteln und herumzuführen
begann. Später brachten mich die Arbeiter in eine erhalten gebliebene
Badestube, wo ich mich erwärmte. Darauf kam Hilfe der Lokalbehörden
und der Eisenbahnadministration; im Laufe von 3 Tagen glaubte ich das
Sehvermögen verloren zu haben: vor den Augen stand die ganze Zeit
ein Nebel von Wasserstaub, der während des Sturmes und der Über¬
schwemmung entstanden war. Das Gehörvermögen war ebenfalls abge¬
schwächt. Die Stimmung war eine gleichgültige. Den Aussagen eines
Eisenbahningenieurs zufolge, der den Verunglückten sofort nach der
Katastrophe sah und ihn nach Primorsko-Achtarskaja gebracht hatte,
sprach der Kranke wirres Zeug, von einem Gegenstände zum andern
springend. Jetzt ist der Kranke sehr reizbar; lautes Gespräch, Streit,
sogar das Anzünden eines Streichhölzchens ist ihm unangenehm. Hypna-
gogische Halluzinationen — ein ins Wasser gefallenes Kind, Gruppe von
Arbeitern, die vor seinen Augen untergegangen waren, usw. Häufige
Schwindelanfälle, Appetitlosigkeit.
6. Zu derselben Gruppe der nach der Überschwemmung auf der
Jassenskaja-Landzunge Geretteten gehört Katharine Jaitschni-
kowa, 25 Jahre alt. Sie hatte sich zuerst auf den Eisenbahnwagen
gerettet, darauf begab sie sich auf den Tender und die Lokomotive.
Nachdem letztere umgeworfen war, wurde sie durch eine Welle ins Wasser
geschleudert und wäre ertrunken, wenn der Schaffner Grizai sie nicht
gerettet hätte. Darauf gelangte sie auf das oben erwähnte Sandinselchen
samt ihrem Retter. Sie sah ihren Mann auf einem Kasten schwimmen;
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über die Bedeutung großer Katastrophen für die Ätiologie usw. 819
verabschiedete sich von ihr, seit der Zeit weiß man nichts mehr von
n. Auf ihren Armen hielt sie ihr Kind von ungefähr 4 Jahren, das bald
roren war; der Knabe bat fortwährend: „Mama, ich will schlafen“;
selbst empfand ein unüberwindliches Verlangen, zu schlafen, und
dief auch ein. Sie verlor die Besinnung und kam zu sich erst im Eisen-
hnambulatorium in Primorsko-Achtarskaja. Die ersten 24 Stunden
lirierte sie: schrie, daß sie ertrinke, rief nach ihrem Manne. Seit der
it leidet sie an derartig arger Schlaflosigkeit, daß Schlafmittel (Veronal
id andere) nicht wirken. Hartnäckige Kopfschmerzen. Schroffer und
imotivierter Stimmungswechsel, Weinerlichkeit ohne besondere Ur-
chen. Schwindelanfälle. Schwächegefühl. Hysterische Anfälle. Globus
fstericus. Analgesie, besonders bemerkbar bei Verbänden; Reflexe normal.
7. Eudokija Ussenko, 29 Jahre alt. Aus derselben Gruppe der
«retteten. Sie versuchte, sich zu retten, zuerst auf den Eisenbahn¬
wagen, dann auf den Tender, schließlich in die Badestube. Sie fiel von
ier Lokomotive ins Wasser. Unüberwindliches Verlangen, zu schlafen,
iie wurde ins Ambulatorium in einem erregten Zustande gebracht, sie
ehimpfte. Am nächsten Tage depressiver Zustand. Hartnäckige Schlaf-
osigkeit, die durch keine Mittel beeinflußt werden kann. Hypnagogische
rlalluzinationen und Albdrücken. Sie kann nicht einschlafen infolge
jampfhafter Zuckungen. Schwächegefühl. Hartnäckige Kopfschmerzen.
Reflexe und Sensibilität normal.
8. Ksenija Ssitnikowa, 26 Jahre alt. Vor dem Sturm immer
;esund gewesen; ihre Schwester erzählt, daß sie die ersten Tage nach der
Katastrophe .wie wahnsinnig war, wirres Zeug sprach und schrie, halluzi-
lierte, indem sie die Katastrophe von neuem durchlebte. Jetzt besteht
Amnesie, die sich auf die Katastrophe und die ersten Tage nach derselben
Dezieht, dann Gedächtnisstörung, hypnagogische Halluzinationen.
Albdrücken.
9. Martschinenko, 50 Jahre alt; früher, immer gesund ge¬
wesen; während der Überschwemmung fing sie an, das Vieh zu retten,
und wurde von einer Welle umgeworfen. Sie lief in die Hütte, durchbrach
die Decke und rettete sich in den Dachraum. Das Haus schwankte; um
11 Uhr morgens wurde die ganze Familie auf ein Boot evakuiert. Jetzt
bestehen hartnäckige Kopfschmerzen, Schwindelanfälle und Bewußt¬
seinsstörung. Deutlich ausgeprägter allgemeiner Tremor; Schwermut:
*Mes schmerzt. Schläft nur des Abends, dann erwacht sie unter der
Wirkung von Albdrücken oder hypnagogischen Halluzinationen und kann
weht mehr einschlafen. Auf dem Bett kann sie nicht liegen, da alles zu
schwanken beginnt; sie legt sich auf die Diele. Appetit ist vorhanden,
jedoch kann sie nichts essen, da der Geschmackssinn vollständig verloren
•st. Anästhesie in Form von Handschuhen und Strümpfen: an den-
^Iben Stellen vollständige thermische Anästhesie. An den Ober- und
Unterarmen im Gegenteil Hyperästhesie. Sämtliche Reflexe gesteigert.
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820
Bajenow,
10. Demetrius Mussorow. Mit seinem Sohn hielt er sich auf
einem Balken über Wasser. Anfangs bestand Störung des Orientierungs¬
sinnes; er konnte sich keine Rechenschaft geben, wo er sich befinde;
er sah seine Fischerei, die aber in Wirklichkeit vernichtet war. Jetzt leidet
er an starken Kopfschmerzen ; sein 12 jähriger Sohn beklagt sich auch
über Kopfschmerzen und Schwindel. Vollständige Amnesie des Geschehe¬
nen ; er entsinnt sich nur, wie er sich vor dem Sturm schlafen gelegt; von
diesem Moment an bis Ende des zweiten Tages inklusive hat er alles ver¬
gessen und erinnert sich sogar der Katastrophe nicht. Die erste Zeit nach
der Katastrophe lag er. Im Schlaf schreit er; Krämpfe. Allgemeine Hyper-
algesie und thermische Hyperästhesie.
11. Tatjana Petritschenko, 33 Jahre alt. Nach der Rettung
war sie 2 Tage ohne Besinnung. Jetzt besteht Zerfahrenheit, Störung
der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses. Sie vergißt, was sie zu tun
hat. Hartnäckige Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, Appetitlosigkeit.
Kehlkopfreflex fehlt, Patellarreflex gesteigert. Sensibilitätsstörung in
Form von Plaques. Früher gesund gewesen.
12. Iwanow, 40 Jahre alt. Augenscheinlich schon früher Neura¬
stheniker gewesen. Vor seinen Augen ging seine ganze Familie zugrunde:
Frau und 7 Kinder. Im Beginn der Überschwemmung lief er aus seinem
Hause heraus, um ein Boot herbeizuholen, jedoch wurde dasselbe durch
die Welle zur Seite geworfen, wobei er ein Ruder verlor. Das Haus konnte
er nicht mehr erreichen. Von weitem sah er den Untergang seiner Familie;
er sah, wie sie aufs Dach gestiegen waren, wie das Haus zusammenstürzte,
wie das Dach aus den Fugen ging und sie weggeschwemmt werden. Jetzt
ist er wiedergekommen, um die Leichen der Seinen zu suchen; er fand alle,
außer einer Tochter. Der psychische Zustand ist ein tief depressiver;
spricht sehr langsam und leise, weint fortwährend. Beim Gespräch mit
ihm konstatiert man Störung der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses.
Klagt über Bewußtseinsstörung und Vergessenheit. Schwindelanfälle.
13. Warwara Gila, 55 Jahre alt. Klagt jetzt über starke
Kopfschmerzen, Gedächtnisschwäche, Schlaflosigkeit. Störung der Auf¬
merksamkeit. Handschuhanästhesie. Krämpfe in den Extremitäten.
14. Elisabeth Orlowskaja, 30 Jahre alt. Früher gesund
gewesen. Während der Überschwemmung befand sie sich auf der Land¬
zunge. Durch die Wellen wurde die Wand der Hütte, die zum Meere
gekehrt ist, durchgebrochen. Das Haus schwankte. Sie rettete sich auf
den Dachraum und das Dach. Hier wurde sie von einem Boot (Bar¬
kasse) aufgenommen. Klagen: Kopfschmerzen, Schwindelanfälle. Angst¬
gefühl. Weint tags und nachts. Albdrücken. Hypnagogische Halluzina¬
tionen.
15. Michail Titow, 28 Jahre alt. Während der Überschwem¬
mung wurde er ungefähr 5 Werst weit auf einem Dach getrieben, bis er
strandete. Jetzt klagt er über hartnäckige Kopfschmerzen und Schwindel-
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Uber die Bedeutung großer Katastrophen für die Ätiologie usw. 821
anfälle. Bei der Arbeit vergißt er plötzlich, was er zu tun hat. Es be¬
standen bei ihm Gehörshalluzinationen. Schlaflosigkeit. Anorexie. Bei
seiner Frau — vollständige Amnesie in bezug auf die Katastrophe selbst
und die nächstfolgenden Tage.
Aus Zeit- und Raumersparnis veröffentliche ich den größeren Teil
meiner Notizen nicht, da sich in denselben ungefähr das gleiche Bild der
Katastrophe und analoge Klagen der Verunglückten wiederholen.
Indem ich meine Arbeit abschließe, möchte ich nochmals hervor¬
heben, daß meine Beobachtungen an der Küste des Asowschen Meeres
sich mit meinen früheren in Süditalien und mit den Beschreibungen
anderer, wenn auch nicht zahlreicher Autoren decken, die über die¬
selbe Frage bezüglich der Erdbeben in Österreich oder Südamerika
und der Katastrophe in den Kohlengruben von Courrieres berichtet
haben.
Aus diesem nervös-psychopathischen Symptomenkomplex müssen
als besonders konstant folgende Erscheinungen hervorgehoben
werden: 1. hartnäckige Kopfschmerzen, 2. Schwindelanfälle, 3. außer¬
gewöhnliche Schlaflosigkeit, 4. Appetitlosigkeit, 5. Albdrücken und
wahrscheinlich auch hypnagogische Halluzinationen, 6. in allen Fällen
vollständige Amnesie der Katastrophe selbst und der nächstfolgenden
Tage, 7. länger dauernde Störung des Gedächtnisses und der Aufmerk¬
samkeit sowie auch Zerfahrenheit, 8. apathisch-depressiver Zustand,
9. hysterische Symptome in Form von Krämpfen, Sensibilitätsstörung
und Störung der Reflexe, Globus hystericus, Weinerlichkeit usw.;
10. andauernde Psychosen nach großen Katastrophen sind nicht
zahlreich und zeichnen sich durch ihren eigenartigen Charakter aus —
Vereinigung melancholischer Symptome mit dementiven.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 6.
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Eine neue Markscheidenschnellfärbemethode.
Von Dr. Kurt Sehroeder,
Oberarzt an der Landesheilanstalt Uchtspringe.
Unter den Methoden, die uns zur Erforschung des Zentralnerven¬
systems zur Verfügung stehen, nimmt trotz aller Bereicherungen der
histologischen Technik die Weigert sehe Markscheidenfärbung noch
immer einen der allerersten Plätze ein. Durch die Schönheit der Bilder
und die Sicherheit des Erfolges bildet sie einen der bemerkenswertesten
Marksteine in der Geschichte unserer Untersuchungsipethoden. Freilich
ist die hetzerische Methode besonders in ihrer ursprünglichen Form
und bei der Verarbeitung größerer Ge webstücke recht zeitraubend.
Es sind daher mancherlei Modifikationen angegeben worden, die eine
Verkürzung der erforderlichen Zeit zum Ziele haben.
Weigert selbst verdanken wir die wichtigsten Abänderungen seiner
Methode. So führte er die Chromierung im Thermostaten und die Schnell -
beize ein. Bei ersterer wurde die Zeitdauer der Chromierung von Monaten
auf einige Wochen herabgesetzt. Bei Anwendung der Fluorchrombeize
können kleine Gewebstücke bereits in einigen Tagen genügend chromiert
werden. Sie dringt jedoch wenig in die Tiefe und ist daher nur an Ob¬
jekten von wenigen Millimetern Dicke anwendbar. Bei beiden Modi¬
fikationen sind die Stücke in Zelloidin einzubetten, was ja besonders bei
größeren Blöcken außerordentlich zeitraubend ist.
Eine wesentlich schnellere Herstellung von Markfaserpräparaten
gelang durch die Färbung der Myelinscheiden am Gefrierschnitt, wie sie
von Spielmeyer *) und von mir 1 2 ) angegeben worden ist. Es liegt jedoch
1 ) Spielmeyer, Markscheidenfärbung am Gefrierschnitt. Neurol.
Zentralbl. XXIX, 7.
2 ) K. Schröder, Der Faserverlauf im Vorderhirn des Huhns. Darge¬
stellt auf Grund von entwicklungsgeschichtlichen (myelogenetischen)
Untersuchungen, nebst Beobachtungen über die Bildungsweise und Ent¬
wicklungsrichtung der Markscheiden. Journ. f. Psych. u. Neur. Bd. XVIII,
1911, S. 157.
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Eine neue Markscheidenschnellfärbemethode.
823
in der Natur der Gefrierschnittechnik, daß hierbei nur sehr dünne Geweb-
stücke von mäßigem Umfange verarbeitet werden und keine lückenlosen
Schnittserien damit hergestellt werden können. Auf beides kann aber bei
Faserverlaufsuntersuchungen, die ja einen sehr wesentlichen Teil des An¬
wendungsgebietes der Markscheidenfärbung darstellen, nicht verzichtet
werden.
Ich suchte daher eine Methode ausfindig zu machen, bei der auch
von größeren Gewebstücken in kurzer Zeit Markfaserpräparate in
lückenloser Serie hergestellt werden können.
Da die Chromierung der Blöcke und die nachfolgende Zelloidinein¬
bettung die meiste Zeit in Anspruch nimmt, schien es mir darauf anzu¬
kommen, einmal die Einbettung ganz auszuschalten und die Chromierung
nicht an den Stücken, sondern erst an den Schnitten vorzunehmen. Die
■zum Beizen erforderliche Zeitdauer ist ja dem Volumen des Objektes
direkt proportional. Während sie bei größeren Blöcken wochen- und
monatelang dauert, sind Schnitte schon in Stunden, höchstens wenig
Tagen genügend chromiert. Zweckmäßig schien es mir, von der Formahn¬
fixierung auszugehen, da sie ja das am häufigsten angewandte Härtungs¬
mittel ist. Da hierbei das Gewebe noch nicht die zum Schneiden erforder¬
liche Konsistenz erlangt, so war ein Härtungsmittel zu suchen, das den
bei der Weigertschen Methode sich färbenden Bestandteil der Markscheiden
in keiner Weise verändert. Ich muß daher zunächst auf die Histochemie
der Myelinfärbung eingehen.
Bekanntlich besteht die Markscheide aus verschiedenen Substanzen,
vor allem aus Lezithin, Protagon, Cholesterin und Neurokeratin. Die
Frage, welche dieser Substanzen sich bei der Weigertschen Methode färbt,
ist schon mehrfach behandelt, doch sehr verschieden beantwortet worden.
Während zuerst Ambronn und Held 1 ), später auch Reich 2 ), eine Färbung
des Lezithins annahmen, sprach Wlassak 3 ) das Protagon für den Stoff an,
auf dem die Markscheidenfärbung beruht. Schieferdecker 4 ) und Kap-
x ) Ambronn und Held, Beiträge zur Kenntnis des Nervenmarks. I.
Über die Entwickelung und Bedeutung des Nervenmarks. Arch.f.Anat.
u. Phys., Anat. Abt., 1896.
*) Reich, F., Über den zelligen Aufbau der Nervenfaser auf Grund
mikrohistochemischer Untersuchungen. I. Teil. Die chemischen Bestand¬
teile des Nervenmarks; ihr mikrochemisches und färberisches Verhalten.
Journ. f. Psych. u. Neur. Bd. VIII, 1907.
3 ) Wlassak, Die Herkunft des Myelins. Ein Beitrag zur Physiologie
des nervösen Stützgewebes. Arch. f. Entwicklungsmechanik d. Organis¬
men Bd. VI, 4, 1898.
4 ) Schieferdecker, P., Die Weigertsche Hämatoxylin-Blutlaugensalz-
färbung bei anderen als nervösen Teilen. Anat. Anz. Bd. II, 1887.
Derselbe: Beiträge zur Kenntnis des Baues der Nervenfasern. Arch.
i. mikr. Anat. Bd. XXX, 1887.
bl*
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824
Schroeder,
pers 1 ) aber glauben, daß eine bestimmte-Substanz, die gefärbt wird, bei der
genannten Methode nicht vorhanden ist. Es gelang mir*) dann vor einigen
Jahren, den Nachweis zu erbringen, daß sich bei der JFeigerfschen Mark*
scheidenfärbung das Lezithin färbt, daß aber eine Mitfärbung des Neuro¬
keratins stattfindet. Von den chemischen Eigenschaften des Lezithins ist
schon seit langem bekannt, daß es in Alkohol bei Zimmertemperatur leicht
löslich ist, und daß die Alkohollöslichkeit durch Formalinvorbehandlung
nicht beeinflußt wird. Zur Nachfärbung von Gewebstücken, die in For¬
malin fixiert sind und zur Myelinfärbung verwandt werden sollen, kann
also niemals Alkohol in Frage kommen. Ich untersuchte nun das Verhalten
des rein dargestellten, von Grübler (Leipzig) bezogenen Lezithins gegen¬
über zahlreichen Flüssigkeiten und hebe von den Resultaten nur hervor,
daß es in Azeton auch bei wochenlanger Einwirkung unlöslich ist. Da
Azeton zur Härtung vorzüglich geeignet ist, so war damit ein Mittel ge¬
funden, das geeignet erschien, dem in Formalin fixierten Gewebe die zum
Schneiden erforderliche Konsistenz zu verleihen. Es war nun naheliegend,
die Azetonbehandlung unmittelbar an die Formalinhärtung anzuschließen.
Längere Zeit habe ich mit einer solchen Methode gearbeitet, doch war das
Ergebnis zwar leidlich gut, doch nicht immer befriedigend. Oft gelangen
recht gute Faserbilder, doch war das Resultat nicht immer ein gleichmäßig
gutes. Bemerkenswert war, daß die Schnitte sich vorzüglich zur Nißl-
Färbung eigneten, so daß ich schon glaubte, der Erfüllung eines von mir
seit Jahren verfolgten Lieblingswunsches nahe zu sein, nämlich eine Me¬
thode zu finden, bei der sich die Schnitte gleich gut für Zell- wie für Faser¬
färbung eignen. Es ist dies ja ein trotz mannigfacher Versuche noch immer
ungelöstes Problem. Wegen der nicht ganz befriedigenden Ergebnisse
kam ich auf den Gedanken, zwischen die Formalinbehandlung und die
Azetonhärtung eine kurz dauernde Chromierung einzuschalten, die end¬
gültige Beizung aber an den Schnitten erst vorzunehmen. Nach mehr¬
fachen Versuchen mit verschiedenen Chromsalzlösungen ergab sich, daß
die besten Bilder dann gewonnen wurden, wenn zur Vorchromierung zu¬
nächst eine der OrtAschen Lösung ähnliche Mischung (Formaldehyd, solut. 1,
öprozentige Lösung von Kal. bichromic. 9) bei 37°, dann eine 5 prozentige
Kal. bichromic.-Lösung ohne Formalinzusatz bei derselben Temperatur
angewandt wurde. Die Formalin-Chrommischung habe ich 24 Stunden
einwirken lassen und in dieser Zeit die Flüssigkeit mehrmals erneuert.
Es bildet sich nämlich bald ein Niederschlag, der zwar die Wirksamkeit
nicht aufhebt, aber eine Erneuerung der Lösung wünschenswert erscheinen
läßt. Mit der 5 prozentigen Chromkalium-Lösung habe ich die Stücke 1 bis
*) Ariens Kappers , Recherches sur le döveloppement des gaines
dans le tube nerveux. Petrus Camper , Nederlandsche Bijdragen tot de
Anatomie. II. Teil. Haarlem und Jena 1904.
2 ) Schröder, K., Der Faserverlauf im Vorderhirn des Huhnes usw.
Journ. f. Psych. u. Neurol. Bd. XVIII, 1911.
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Eine nene Markscheidenschnellfärbemethode.
825
3 Tage behandelt, je nach ihrer Dicke. Die Objekte werden nun mit Filtrier¬
papier abgetrocknet und in 50 prozentiges Azeton gebracht. In immer
stärkeren, von 10 zu 10% steigenden Azetonlösungen wird nun nachge¬
härtet, bis die Blöcke in reinem Azeton liegen. Auch hier richtet sich die
Zeit nach der Größe des Gewebstückes. Bei ca. 2 cm dicken Stücken
habe ich die Azeton-Lösung täglich gewechselt und verstärkt. Bei kleineren
Blöcken kommt man mit kürzeren Zeiten aus, so daß bei kleinen Objekten
die Azetonhärtung in-1 % bis 2 Tagen beendigt ist.
Das Schneiden hat ohne Einbettung unter Azeton, zu geschehen.
Reines Azeton ist hierzu jedoch nicht geeignet, da es zu rasch verdunstet.
Auch dünne Lösungen kommen nicht in Betracht, da sie das Mikrotom¬
messer nicht gleichmäßig benetzen. Als geeignet hierzu hat sich 85 pro¬
zentiges Azeton erwiesen.
Zum Befestigen der Gewebstücke wird beim Schneiden ohne Ein¬
bettung gewöhnlich Gummi arabicum oder Siegellack benutzt. Beides
erwies sich als ungeeignet. Ich habe daher Paraffin vom Schmelzpunkt 36°
angewandt. Den Schmelzpunkt habe ich so niedrig gewählt, damit ober¬
flächlich anhaftendes oder in die Unterseite des Blockes eingedrungenes
Paraffin bei der Nachbehandlung der Schnitte im Thermostaten bei 37°
ausschmilzt und nicht durch besondere Lösungsmittel entfernt zu werden
braucht. Das Aufkleben des Objektes geschieht nun in folgender Weise.
Man bringt das Stück aus dem reinen Azeton für kurze Zeit in 85 pro¬
zentiges Azeton und legt es dann mit der anzuschneidenden Fläche auf
eine mehrfache Lage mit 85proz. Azeton befeuchteten Filtrierpapiers, um
die Schnittfläche vor dem Austrocknen zu schützen. Auf einem Holz¬
klotz bringt man etwas Paraffin (36°) mit angewärmtem Spatel zum
Schmelzen, und ebenso ein wenig auf der vorher gut mit Filtrierpapier
abgetrockneten Unterseite des Gewebstückes. Nun setzt man dieses
rasch auf das noch flüssige Paraffin auf und verteilt es mit angewärmtem
Spatel rings um den Fußteil des Blockes. Hierbei muß rasch gearbeitet
werden und das Objekt sofort nach dem Aufsetzen mit einem in 85 proz.
Azeton getauchten Pinsel befeuchtet werden, um das Trockenwerden des
Gewebes zu verhindern. Obgleich die Objekte durch die Azetonhärtung
eine sehr derbe Konsistenz erhalten, so können doch überhängende Teile
etwas federn und müssen daher durch Paraffin in geeigneter Weise ge¬
stützt werden.
Beim Schneiden ist zu beachten, daß 85 proz. Azeton leicht verdunstet ;
nach jedem Schnitte ist daher Messer und Block zu befeuchten. Die
Schnittfähigkeit ist eine sehr gute. Selbst viel dünnere Schnitte als für
Markfaserpräparate üblich sind, gelingen mit großer Regelmäßigkeit.
Die Schnitte werden mit dem Pinsel zunächst in 85proz. Azeton, später mit
einem Glashaken durch zwei Schalen destillierten Wassers in Weigerts
Fluorchromschnellbeize gebracht und im Thermostaten bei 37° der end¬
gültigen Chromierung unterzogen. Eine eintägige Beizung ist dazu voll-
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826
Schroeder,
kommen ausreichend. Längerer Aufenthalt schadet natürlich nichts,
scheint aber auch nicht zu nützen. Mit einer Beizung von einigen Stunden
.kommt man auch aus. Ja selbst wenn man die Schnitte in einem Uhr¬
schälchen fünf Minuten über der Flamme vorsichtig erwärmt, erhält man
ganz schöne Bilder. Doch möchte ich am meisten die eintägige Chro-
mierung empfehlen. Wegfallen darf sie nicht, da die Objekte bei der kurzen
Stückbeizung nicht genügend Chrom aufnehmen. Da die Schnitte bei den
weiteren Prozeduren wie alle Schnitte von uneingebettetem Material sehr
empfindlich sind und leicht beschädigt werden können, empfiehlt es sich,
sie nach der Serienschnittmethode von Obregia weiter zu behandeln. Sie
kommen zu dem Zwecke aus der Beize nach zweimaligem Abspülen mit
destilliertem Wasser in Alkohol (80proz.) und werden nun in der bekannten
Weise zu Photoxylinplatten verarbeitet. Man achte vor allem darauf,
daß das Klosettpapier beim Auf drücken auf die Dextrin-Zuckerplatte nur
noch wenig feucht ist, und warte mit dem Aufgießen der Photoxylin-Lösung
so lange, als es ohne Gefahr des Trockenwerdens der Schnitte möglich ist.
Die Photoxylin-Platte kommt hierauf nochmals für einige Stunden oder
einen Tag in die Fluorchrombeize bei 37° und wird nach zweimaligem
sorgfältigen Abspülen gefärbt. Ich benutze hierzu stets gekochte Lösungen,
indem ich von der üblichen 10 prozentigen alkoholischen Hämatoxylin-
lösung 5 ccm mit 100 ccm Aq. dest. mische, eine Viertelstunde kochen
lasse, nach dem Erkalten 5% einer gesättigten Lithion carbonicum-Lösung
zusetze und im Thermostaten bei 37° färbe. Die Differenzierung nehme
ich nach ein- bis mehrstündigem Aufenthalt in Leitungswasser nach Lust¬
garten-Pal vor, verdünne aber die Lösung etwas, lasse die Schnitte nur
Bruchteile einer Minute darin und wiederhole die Prozedur mehrmals, bis
das gewünschte Resultat eben erreicht ist. So ist die bei nicht genügender
Vorsicht leicht erfolgende Entfärbung der feinsten Fasern mit Sicherheit
zu vermeiden. Nach der Differenzierung ist natürlich mehrere Stunden,
am besten einen Tag lang in mehrmals zu wechselndem Leitungswasser
auszuwaschen. Von der Photoxylinplattenmethode kann abgesehen
werden, wenn von einer größeren Anzahl von Schnitten nur wenige ver¬
wandt werden sollen, da von den losen Schnitten trotz ihrer Empfindlich¬
keit viele ohne Schaden alle genannten Maßnahmen überstehen. Unent¬
behrlich ist die Photoxylinplattenmethode aber dann, wenn es sich um
die Herstellung von Serienschnitten handelt. Für diese möchte ich noch
einige besondere Winke geben.
Zur Aufnahme der Schnitte verwendet man am besten Porzellan-
tafeln mit numerierten Vertiefungen, die mit 85 proz. Azeton zu füllen sind.
Die Schnitte werden dann mit Spatel und Pinsel durch zwei Wasserschalen
in ein Gefäß mit der Schnellbeize gebracht und zwischen je zwei eine mit
Bleistift numerierte Filtrierpapierscheibe von der Größe der Schale gelegt.
Man achte darauf, daß die Schnitte möglichst faltenlos in die Beize kommen.
Nach ein- bis mehrtägiger Chromierung und ev. Wechseln der Beize werden
die Schnitte nach Abspülen und kurzdauernder Durchtränkung mit
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Eine nene Markscheidenschnellfärbemethode.
827
SO proz. Alkohol nach der oben erwähnten Methode zu Photoxylinplatten
'verarbeitet und nach nochmaliger mehrstündiger Beizung gefärbt.
Nach Weigerts Vorschlag wird bei der Markscheidenfärbung bis
beute Wert darauf gelegt, daß die alkoholische Hämatoxylinstammlösung,
die den Ausgangspunkt der Farblösung bildet, ein Alter von mehreren
Monaten hat, also ausgereift ist. Die von mir oben zur Verwendung emp¬
fohlene, gekochte Hämatoxylinlösung wird zwar in den Techniken nicht
erwähnt, aber doch in manchen Laboratorien angewandt. Stets wurde
bisher aber Wert auf Benutzung einer monatelang ausgereiften Stamm -
lösung gelegt. Da dies ev. unbequem sein kann, habe ich die Frage unter¬
sucht, ob das Alter der Hämatoxylinlösung wirklich die ihm bisher zuge¬
schriebene Rolle spielt. Ich stellte zu diesem Zwecke Färbeversuche mit
drei 10 prozentigen alkoholischen Hämatoxylinlösungen an, einer mehrere
Monate alten ausgereiften, einer ganz frischen, erst am Verwendungstage
Tiergesteilten und einer 6 Tage alten Lösung. In allen Fällen kochte
ich von der Stammlösung eine 5 prozentige wässerige Lösung, fügte nach
dem Erkalten 5% einer gesättigten Lithion carbonicum-Lösung zu und
färbte 15 bis 20 Stunden bei 37°. Vor dem Kochen ist die frische Häma¬
toxylinlösung fast wasserklar, die andern entsprechend dunkler. Während
des V 4 stündigen Kochens wird auch die frische Lösung rasch dunkel. Nach
dem Lithionzusatz ist kein Farbunterschied mehr zu sehen, und die Färbe¬
kraft ist bei allen Lösungen vollkommen die gleiche. Die Präparate weisen
nicht den geringsten Unterschied auf. Das Ausreifen der Hämatoxylin¬
lösungen beruht bekanntlich auf einer Oxydation des Hämatoxylins zu
Hämateln. Dieser Prozeß, der bei Zimmertemperatur nur langsam vor
sich geht, vollzieht sich offenbar beim Kochen sehr schnell. Es spielt also
bei der Verwendung gekochter Lösungen das Alter der alkoholischen
Hämatoxylinstammlösung keine Rolle.
Die bei der angegebenen Methode gewonnenen Schnitte eignen sich
jedoch nicht nur zur Darstellung der Markfasern, sondern auch für eine
Zellübersichtsfärbung. Zu diesem Zwecke werden die Schnitte, die einige
Zeit in 85 proz. Azeton aufgehoben werden können, zweimal mit Wasser ab¬
gespült und 48 Stunden bei 37° in einer wäßrigen Toluidinblaulösung (l%o)
gefärbt. Die Differenzierung geschieht nach ca. 5 Minuten langem Auf¬
enthalt in destilliertem Wasser in steigendem Alkohol ev. auch unter Ver¬
wendung von Anilin-Alkohol, wonach aber natürlich gut mit Alkohol wieder
ausgewaschen werden muß. Die Aufhellung geschieht in Kajeputöl, Xylol,
Einschluß in Xylol-Kanadabalsam. Wenn auch an diesen Präparaten
bisweilen das Nißl -Bild deutlich hervortritt, so können sie natürlich nicht
zu feineren Zellstudien Verwendung finden. Doch geben sie ein gutes Bild
der Zellgruppierung und eignen sich daher zu zytoarchitektonischen
Studien. Zellkern mit Kernkörperchen tritt deutlich hervor, und besonders
schön sind die Gliakerne mit Kerngerüst gefärbt. Vielleicht gelingt es
später einmal, eine Methode zu finden, bei der sich die Schnitte gleich gut
für Zell- wie für Faserfärbung eignen.
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828
Schroeder,
Der Vorteil meiner Methode ist also der, daß es bei ihr gelingt,
in viel kürzerer Zeit als bisher Markfaserpräparate in lückenloser Serie
zu erhalten, bei denen, wie an Rindenschnitten ersichtlich ist, auch die
feinsten Fasern gefärbt sind. Der Vorteil ist besonders bei der Ver¬
arbeitung größerer Stücke ersichtlich.
Will man z. B. ein 2 cm dickes, median halbiertes Stück der Vier-
hügelgegend verarbeiten, so braucht man hierzu bei meiner Methode
folgende Zeiten:
Formalinfixierung, die stets sehr sorg¬
fältig zu geschehen hat. 5 Tage,
Chrom-Formalinmischung 37° . 1 Tag,
Chrom 5% 37° . 3 Tage,
Azeton 50% bis absolut. 6 Tage,
Beizen der Schnitte bei 37° . 1 Tag,
Beizen der Photoxylinplatten-ca. 5 Stunden,
Hämatoxylinfärbung .ca. 20 Stunden,
Leitungswasser . einige Stunden,
Wässern der differenzierten Schnitte . 1 Tag,
Gesamtdauer . 18 Tage.
Vergleicht man hiermit das bisherige Verfahren, so ist zu beachten,
daß sich bei so dicken Stücken die Anwendung der Schnellbeize wegen
ihrer geringen Tiefenwirkung nicht empfiehlt. Die sichersten Resultate
gab in solchen Fällen die kalte Chromierung nach Formalinfixierung, die
aber bei dicken Stücken ca. ein Vierteljahr dauert. Chromierung im
Thermostaten führt zwar in einigen Wochen zum Ziele, macht aber bei
so langer Dauer die Blöcke leicht brüchig. Immerhin will ich sie bei der
Berechnung zugrunde legen. Es ergeben sich dann folgende Zeiten:
Formalinfixierung. 5 Tage,
Chromierung im Thermostaten. 3 Wochen,
Auswaschen in Alkohol 70%. 4 Tage,
Alkohol 80 % bis absolut .... 5 Tage,
Alkohol-Äther. 2 Tage,
dünnes, mittleres, dickes Zelloidin, min¬
destens je 2 Wochen. 6 Wochen,
allmähliches Erstarrenlassen . 3 Tage,
Alkohol 80%.. 2 Tage,
Beizen der Schnitte. 1 Tag,
Färben . 1 Tag,
Wässern der differenzierten Schnitte . 1 Tag,
Gesamtdauer . Vi Jahr.
Bei der von mir angegebenen Methode reduziert sich also die
Herstellungsdauer auf fast ein Fünftel der bisher notwendigen Zeit.
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Eine neue Markscheidenschnellfärbemethode.
829
Bei kleineren Objekten (Rinden- oder Rückenmarkstücken) ist natür¬
lich die Herstellungsdauer eine erheblich kürzere, so daß man bequem
in einer Woche vom Tage der Sektion ab zum Ziele kommt.
Kurz zusammengefaßt stellt sich also die Methode folgender¬
maßen dar:
1. Sorgfältige Formalinfixierung (1 bis 5 Tage, je nach Größe).
Mehrmaliger Wechsel des Formalins.
2. Beizung der Stücke in Formald. solut. 1, 5proz. Lösung von
Kalium bichromicum 9. 24 Stunden bei 37°. Die Flüssigkeit ist mehr¬
mals zu wechseln.
3. Beizen der Stücke in 5 proz. Lösung von Kalium bichromicum
bei 37°. 1 bis 3 Tage lang, je nach der Größe der Stücke. Täglicher
Wechsel der Flüssigkeit.
4. Abtrocknen der Stücke und Nachhärtung in Azeton, 50 proz.
bis absolut, steigend von 10 zu 10%. Bei großen Stücken wird täglich
um 10% gestiegen, bei kleineren in kürzeren Intervallen (% bis * «tägig).
5. Nach kurzem Verweilen in 85proz. Azeton Aufkleben der
Stücke mittels geschmolzenen Paraffins vom Schmelzpunkt 36°.
6. Schneiden unter 85 proz. Azeton.
7. Übertragen der Schnitte in Weigerts Fluorchrom-Schnellbeize
nach kurzdauerndem Wässern in einmal zu wechselndem destillierten
Wasser. Eintägiges Beizen bei 37°.
8. Abspülen in Aq. dest., 80 proz. Alkohol für kurze Zeit, Photoxy-
linplattenmethode nach Obre r jii.
9. Mehrstündiges Beizen der Photoxylinplatten in Weigerts Fluor¬
chrombeize bei 37°.
10. Abspülen in Aq. dest. und Färben 15 bis 24 Stunden bei 37°
in folgender Mischung: 10 proz. alkoholische Hämatoxylinlösung von
beliebigem Alter 5,0, Aq. dest. 100,0. Die Farblösung ist y 4 Stunde
lang zu kochen, nach dem Erkalten auf 100 aufzufüllen und 5 ccm
einer gesättigten Lithion carbonicum-Lösung zuzusetzen.
11. Ein- bis mehrstündiges Wässern in Leitungswasser. Differen¬
zieren nach Lnsigarten-Pal in halb mit Wasser verdünnten Lösungen,
jedesmal Bruchteile einer Minute.
12. Ein- oder mehrtägiges wässern in mehrmals zu wechselndem
Leitungswasser, Alkohol, 80 proz., 96 proz., Karbolxylol, Xylol, Xylol-
Kanadabalsam.
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Biologische Betrachtungen über das Wesen der
Paralyse.
Von P. Ehrlieh, Frankfurt a. M.
Die Bedeutung der Arbeitsmethoden, welche die experimentelle
Therapie gelehrt hat, ist nicht nur dadurch begründet, daß in ratio¬
neller Weise auf großzügiger Basis Heilstoffe aufgefunden werden,
welche der Bekämpfung verheerender Infektionskrankheiten dienen.
Man wird diesen direkten Einfluß, den die experimentell-therapeutische
Arbeitsrichtung auf die praktische Medizin hat, natürlich an erster
Stelle schätzen müssen, aber darum keineswegs übersehen dürfen,
daß auch in anderer Hinsicht die experimentell-therapeutischen Stu¬
dien von hoher Bedeutung sind, wenn auch hierbei der Nutzen für die
praktische Therapie ein mehr indirekter ist. Vor allem war es die
Entwicklung der Chemotherapie, welche durch die sachgemäße Auf¬
findung und Erprobung von Heilmitteln zugleich die Biologie der
Krankheitserreger auf neuartige Weise zu beleuchten und ihre Kenntnis
zu vertiefen imstande war. So ist bereits ein umfassendes Wissensgebiet
entstanden, das man treffend als die therapeutische Biologie der Mikro¬
organismen bezeichnen kann, und das uns eine Reihe von Einblicken
in die Pathologie, zumal die Pathogenese der Infektionskrankheiten
gewährt, dadurch aber zugleich wiederum unsere therapeutischen
Maximen zweckmäßig zu gestalten gestattet.
Zwei fundamentale Erkenntnisse sind es, welche den Mittelpunkt
unserer Kenntnisse von den durch chemotherapeutische Studien auf-
gedeckten Eigenschaften der Parasiten darstellen: die Lehre von
den Chemozeptoren und die Lehre von den Nutrizeptoren
Die Chemozeptorenlehre ist relativ einfach in ihren Konsequenzen für
die Theorie und Praxis. Sie zeigt uns, daß die Wirkung der Arznei¬
stoffe eine spezifische ist, und daß durch ihren Einfluß die Empfind¬
lichkeit der Parasiten gegenüber den parasitiziden Stoffen in spezifischer
Weise verändert werden kann, so zwar, daß in praktischer Hinsicht
eine spezifische Resistenz eintritt, die wir als Arzneifestigkeit be-
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Biologische Betrachtungen über das Wesen der Paralyse. 831
zeichnen. Komplizierter erscheinen jedoch die Bedingungen, wenn
man die Nutrizeptoren der Parasiten betrachtet, d. h. diejenigen
P ar t i alf unktionen der Zelle, welche für die Auslösung und Wirkung
von spezifischen Antikörpern maßgebend sind. Hier hat man auf
Grund der chemotherapeutischen Studien eine unendlich mannig¬
faltige Variabilität kennen gelernt, welche vielfach bis dahin schwer
verständliche Erscheinungen des Krankheitsverlaufs, vor allem das
Entstehen der Rezidive, zu entwirren und ihre Gesetzmäßigkeit dar¬
zutun gestattet. Das Wesentliche der neugewonnenen Erkenntnisse
besteht darin, daß die Parasitenzelle eine große Anzahl latenter
Rezeptorfunktionen enthält, welche vikariierend manifest werden,
sobald die vorher funktionstüchtigen Rezeptortypen schwinden. Der
Schwund wird bedingt durch eine Inaktivitätsatrophie, welche als
Folge der Antikörpereinwirkung aufzufassen ist. Mit der Ausbildung
der vorher latent gewesenen Rezeptoreigenschaften ist eine neue Vitali¬
tät der Parasiten verbunden, und so entstehen aus den antikörper-
(serum-)fest gewordenen lebensuntüchtigen Stämmen neue, wieder
lebensfähige Abarten, welche zwar gegenüber den gleichen Anti¬
körperarten ebenso serumfest wie die Ausgangsstämme sind, aber
andersartige, als Antigene fungierende, also zur Auslösung von Anti¬
körpern geeignete Rezeptoren besitzen. Mit der Ausbildung dieser
Stämme sind auch die infektiösen Eigenschaften der Parasiten wieder
aufgetreten; die vorher gewissermaßen schlummernden Organismen
sind wieder zu Infektionserregern geworden und bewirken nunmehr
ein Rezidiv. Es liegt ohne weiteres auf der Hand, von welch großer
Bedeutung diese biologischen Phänomene für das Verständnis des
Verlaufs der Infektionskrankheiten sind, und vor allem wechseln ja,
wie bekannt, bei den durch tierische Parasiten hervorgerufenen In¬
fektionen, insbesondere auch bei der Syphilis, krankheitsfreie Inter¬
valle mit einem Wiederausbrechen des Infektionsprozesses.
Wenn ich mich bei einer näheren Betrachtung an dieser Stelle auf
eine bestimmte Krankheitsform beschränke, so sei es mir gestattet, die
Verhältnisse etwas näher für die progressive Paralyse zu illu¬
strieren, zumal sie eine von den wichtigen Krankheitsformen darstellt,
denen die Lebensarbeit Conrad Alts — und ihm sollen ja diese Blätter
ein Zeichen herzlicher Verehrung bedeuten — gewidmet ist. War
doch Alt auch der erste, der die durch die experimentelle Chemothera-
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832
Ehrlich,
pie geschaffenen Arsenpräparate mit größtem Verständnis und kriti¬
scher Umsicht in der menschlichen Pathologie anwandte, und der durch
scharfe klinische Beobachtung der neuen Therapie Wege und Ziel wies.
Nachdem Noguchi der Nachweis von Spirochäten im Gehirn von
Paralytikern gelungen ist, hat die Anschauung, welche die Paralyse
als eine metasyphilitische Erkrankung betrachtete, ihre Berechtigung
verloren. Wir werden anzunehmen haben, daß es sich nicht um eine
Folgeerscheinung einer aktiven syphilitischen Infektion handelt, viel¬
mehr noch um einen syphilitischen Infektionsprozeß. Wenn man
dieser Definition folgt, so ergibt sich sofort für charakteristische Merk¬
male beim Krankheitsverlauf der Paralyse eine befriedigende Er¬
klärung. Wir finden ja gerade bei der Paralyse jenes wechselvolle Bild
von mehr oder weniger schweren Krankheitsattacken und Remissionen,
das — sonst schwer verständlich — durch die Charakterisierung der
Paralyse als aktiven Infektionsprozeß eine einfache Erklärung findet.
Auch die Remissionen bei der Paralyse werden wir uns nicht anders
vorzustellen haben als Krankheitsintervalle, welche, durch die Aus¬
lösung von Antikörpern hervorgerufen, eine Heilung Vortäuschen
können. Haben sich dann die zurückgebliebenen Spirochäten der
Antikörperwirkung angepaßt, und sind sie derart serumfest geworden,
so entsteht ein Wiederauf fl ackern des Prozesses, ein Rezidiv. Die
krankheitsfreien Stadien sind also als die Folge einer temporären spi-
rilliziden Serumwirkung aufzufassen, und ich habe sie daher schon
früher als spirillolytische Intervalle bezeichnet, unter Hinweis
darauf, daß man zu solchen Zeiten natürlich wenig oder gar keine Aus¬
sicht hat, Spirochäten aufzufinden, wie das ja in der Tat für einen
großen Teil der Paralysefälle zutrifft. Man kann um so mehr auf der¬
artige negative Befunde gefaßt sein, als die spirillolytische Antikörper¬
wirkung ein lebensbedrohender Vorgang sein kann. Denn durch den
plötzlichen massenhaften Zerfall der Spirochäten gelangen ihre giftigen
Leibessubstanzen, die Endotoxine, rasch zur Resorption, und es kann
daher durch eine akute Endotoxin Vergiftung eine klinische Ver¬
schlimmerung, ja der Tod eintreten, und dann ist der scheinbar para¬
doxe Befund „Exitus ohne Spirochäten“ ohne weiteres verständlich.
Aus dem gleichen Grunde ist auch gerade bei der Paralyse, bei der die
Spirochäten diffus in einem so lebenswichtigen Organe lokalisiert sind,
besondere Vorsicht bei der Anwendung chemotherapeutischer spirilli-
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Biologische Betrachtungen über das Wesen der Paralyse.
83a
zider Mittel erforderlich. Denn es kann eben durch allzu raschen Zerfall
der Krankheitserreger infolge der freiwerdenden Endotoxine gleich¬
zeitig Schaden angerichtet werden. Es ist ein weiteres Verdienst
Alts, zuerst auf dieses Moment die Aufmerksamkeit gelenkt zu haben.
Alt warnte vor der Anwendung stark spirillizider Mittel, zumal in
höheren Dosen, insbesondere bei solchen Paralytikern, deren klinisches
Verhalten auf ein akutes Aufflackern des Hirnprozesses hinwies.
Wie berechtigt diese Mahnung war, zeigt u. a. ein von Leredde et Jamin
mitgeteilter Todesfall nach Salvarsaninjektion. Es handelte sich dabei
um einen 59 jährigen Paralytiker, der die kleine Dosis von 0,15 g
Salvarsan erhalten hatte, und bei dem sich nach 1K Stunden bereits
epileptische Krämpfe entwickelten und nach 5 Stunden im Koma der
Exitus erfolgte. Hier handelte es sich augenscheinlich um eine rasche
Abtötung der Spirochäten und dadurch bedingte Endotoxinvergiftung.
Andererseits erscheinen aber gerade durch den Nachweis der Spiro¬
chäten im Paralytikergehirn die chemotherapeutischen Bestrebungen,
die Paralyse günstig zu beeinflussen und zu heilen, durchaus berechtigt.
Man wird dabei nur zu berücksichtigen haben, daß durch die zahlreich
wiederholte Bildung von Rezidivstämmen, die während des lang¬
dauernden Zeitraums vom Beginn der Infektion bis zum Auftreten
der paralytischen Erscheinungen stattgefunden hat, hier offenbar Re-
zidivstämme vorliegen, die nicht nur durch ihr differentes Verhalten
gegenüber den gewöhnlichen Spirochätenantikörpern, sondern auch
durch eine erhebliche Resistenz gegenüber chemischen Arzneistoffen
ausgezeichnet sind. So ist es verständlich, daß die Quecksilberbehand¬
lung überhaupt versagt und das Salvarsan, wenn es auch bei syste¬
matischer Anwendung Remissionen bewirkt (ich verweise nur auf die
Arbeiten von Raecke, Runge u. a.), doch nicht zu einer vollständigen
Heilung führt. Berücksichtigt man aber dabei, daß die Paralyse nun
als eine ätiologisch geklärte Krankheit erscheint, und daß offenbar
die Spirochäten bei Paralyse, sei es durch ihre biologische Beschaffen¬
heit, sei es durch ihre Lokalisation den Heilmitteln gegenüber nur eine
wesentlich gesteigerte Widerstandsfähigkeit besitzen, so wird man mit
frischem Mut auch bei dieser Krankheit das Heilungsproblem in Angriff
nehmen dürfen und durch Verwendung stark wirkender Stoffe und
ihre Kombination es versuchen, auch bei der Paralyse der Spirochäten
Herr zu werden.
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Das Treponema der allgemeinen Paralyse.
Von A. Marie (de Villejuif) und C. LevadltL 1 )
Wir haben uns die Aufgabe gestellt, in dieser Mitteilung den Nach¬
weis zu führen, daß das Treponema der allgemeinen Paralyse in bio¬
logischer Beziehung von der Spirochaete pallida der syphilitischen
Erkrankung der Haut und Schleimhaut verschieden ist. Die Kliniker
haben schon die Hypothese von der Beteiligung eines besonderen
syphilitischen Giftes in der Ätiologie der Paralyse und der Tabes auf-
gestellt. Sie haben einerseits das Auftreten paralytischer und tabischer
Krankheitserscheinungen bei mehreren Personen beobachtet, deren
Ansteckungsstoß aus derselben Quelle stammte, und anderseits die
Häufigkeit der syphilitischen Erkrankung des Nervensystems bei
Eheleuten.
Die Beobachtungen von Morel und Fournier, von Babinski (zwei
Studenten, die sich an derselben Geliebten angesteckt haben, werden zur
selben Zeit paralytisch), von Mott (zwei Milchbrüder, die durch die Amme
syphilitisch geworden sind, werden 10 Jahre später paralytisch), von
Bros ins (von 7 Glasbläsern, die sich durch dieselbe Glasröhre an den
Lippen infiziert haben, erkranken nach Verlauf von 10 Jahren 5 an Tabes
oder Paralyse), von Marie und Beaussart (von 2 Brüdern, die sich an der¬
selben Frau syphilitisch infiziert haben, erkrankt der eine an Tabes, der
andere an Paralyse), alle diese Beobachtungen zeigen, daß gewisse Quellen
des spezifischen Giftes mehr als andere zu Erkrankungen der zerebro-
spinalen Nervensystems führen. Anderseits lassen die von Marie und
Beaussart mitgeteüten Tatsachen keinen Zweifel an der Häufigkeit der
Paralyse und Tabes bei Eheleuten aufkommen.
Der Nachweis des Treponemas im Gehirn der Paralytiker (No-
guchi ) und die Möglichkeit, das Treponema auf Kaninchen zu über¬
tragen ( Noguchi, Berger, Uhlenhuth und Mulzer, Graves , Levaditi,
Volk, Mattauschek und Arzt) haben uns in die Lage versetzt, die
Richtigkeit dieser Hypothese nachzuweisen.
x ) Übersetzung von Dr. //an/refn-Chemnitz.
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Das Treponema der allgemeinen Paralyse.
835
Unser Gift PG stammt von einem Paralytiker, der seit 15 Jahren
syphilitisch ist x ). Das Blut, das mehreren Kaninchen unter die Haut
des Skrotums gespritzt wurde, erzeugte bei einem von ihnen Haut-
veränderungen, in denen zahlreiche Spirochäten vorhanden waren.
Wir haben mit diesem Gift weitere Überimpfungen vorgenommen
und es mit dem syphilitischen Virus von Trüffe verglichen, das 6 Jahre
lang in gleicher Weise auf Kaninchen fortgezüchtet worden war.
Diese vergleichende Studie hat uns folgende Eigentümlichkeiten
gezeigt:
1. Inkubationsperiode. Die Periode der Inkubation ist bei
dem Virus PG eigentümlich lang. Sie betrug 127 Tage bei der ersten
Ansteckung und 94, 46 und 49 Tage bei den folgenden Überimpfungen.
In den beiden positiven Fällen von Noguchi war die Inkubation 87
und 102 Tage (zerebrales Virus), in denen von Graves (Virus aus dem
Blut) 7 und 9 Wochen.
2. Aussehen der krankhaften Veränderungen, a) Makro¬
skopisch: Das Virus PG erzeugt oberflächliche Veränderungen,
Erosionen, die mit Schuppen bedeckt und von einer Infiltrationszone
in der Haut umgeben sind. Niemals haben wir mit Geschwürsbildung
oder Induration einhergehende Schädigungen beobachtet oder solche,
die in die Tiefe des Gewebes hineingingen, indem sie gleichzeitig die
Haut und die Schleimhaut der Scheide in Mitleidenschaft zogen,
Störungen, wie sie das spezifische Gift von Trüffi hervorruft.
b) Mikroskopisch: Die Schädigung bei dem Virus PG erscheint
als eine Verdickung der Haut und als Infiltration der Papillen und aller
oberflächlichen Hautsehichten mit mononukleären und Plasmazellen.
Die Epidermis schuppt sich ab und zerfällt schließlich geschwürig.
Endarteriitis wird wenig beobachtet, wohl aber eine starke Peri-
vaskulation ohne Verstopfung der Blutgefäße. Bei den durch das
Gift von Trüffi erzeugten Veränderungen dagegen sind die Infiltration
und die Endarteriitis stärker und das in der Tiefe liegende Gewebe viel
deutlicher an dem Krankheitsprozeß beteiligt. Endlich, was besonders
auffällig ist, das ist die ganz eigentümliche Verwandtschaft des Virus
PG zu den Epithelien der Epidermis. Die Spirochäten wuchern vor¬
zugsweise in dieser Epithelschicht, lösen die Zellen von der Unterlage
und scheinen selbst in diese Zellen einzudringen.
*) Levadili, €. R. de l’Acad. d. Sc. 1913, t. 157, p. 864.
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836
Marie (de Yillejnif) und Levaditi,
3. Verlauf. Das Virus PG unterscheidet sich vom Gifte Trüifi
auch dadurch, daß die von ihm hervorgerufenen Krankheitserscheinun-
gen nur mit einer außerordentlichen Langsamkeit heilen (in 169 und
195 Tagen).
4. Giftigkeit. Das Virus Trüffi zeigt sich trotz seiner zahlreichen
Überimpfungen auf Kaninchen pathogen für die niederen Affen (In¬
kubation: 26, 25 und 24 Tage) und für den Schimpansen (Inkubation:
45 Tage). Ein bemerkenswerter Laboratoriumszufall hat den Beweis
erbracht, daß es auch für den Menschen pathogen ist (Inkub.: 45
Tage, flechtenartige krankhafte Veränderungen, Wassermann positiv,
keine Sekundärerscheinungen). Das Virus PG hat nicht die syphi¬
litische Erkrankung der Haut auf niedere Affen und auf den
Schimpansen übertragen; es scheint nur für das Kaninchen pathogen
zu sein.
5. Gekreuzte Immunität. Man weiß, daß die Spontan¬
heilung des syphilitischen Schankers beim Kaninchen Immunitä:
erzeugt. Ein Versuch hat uns gezeigt, daß das Virus PG keine Im¬
munität gegenüber der Spirochäte von Trüffi herbeiführt und um¬
gekehrt. Ein Kaninchen, das von der Affektion PG genesen war.
und 4 Versuchstiere werden mit dem Virus Trüffi infiziert; sie erkranken
nach Verlauf von 26 Tagen an Syphilis. Ein anderes Kaninchen, das
von der Affektion Trüffi genesen war, und 2 Versuchstiere werden
mit dem Virus PG infiziert; am 49. Tage kann man Spirochäten nach-
weisen. Gekreuzte Immunität konnte in diesem Versuche nicht fest-
gestellt werden. Wir stellen weitere Beobachtungen an.
Wenn man ferner die schwache Giftigkeit der Spirochäte der
Paralyse (Gehirn) für das Kaninchen berücksichtigt (60 Übertragun¬
gen von Förster und Tomasczeicski x ), sämtlich negativ), so muß man
eine deutlich erkennbare biologische Verschiedenartigkeit zwischen
dem Gift der Paralyse und dem der syphilitischen Erkrankung der
Haut und der Schleimhaut annehmen.
Wir halten das Treponema der Paralyse für eine besondere
neurotrope Abart von der Spirochaete pallida. Seine nahe Ver¬
wandtschaft zum Nervengewebe erklärt die langsame Ausbreitung
*) Diese Autoren stützen sich auf diesen geringen Grad der Krank¬
heitserregbarkeit, um das Gift PG in biologischer Hinsicht als verschieden
vom gewöhnlichen syphilitischen Virus anzusehen.
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Das Treponema der allgemeinen Paralyse.
837
der Gehirnsymptome; sein Vorkommen — vielleicht in Symbiose mit
dem Typ Treponema — auf gewissen Infektionswegen erklärt uns
das Auftreten der Paralyse bei jenen Syphilitikern, die sich auf diesem
Wege und nicht an anderen Quellen infizieren. Zum Schluß bemerken
wir noch, daß die Unwirksamkeit der Behandlung mit Arsenik bei
der Paralyse nicht von der Widerstandsfähigkeit des Virus PG gegen
Arsenik herrührt, da sich dieser Infektionserreger gegenüber Arseno-
benzol empfindlich zeigt (Versuch mit Kaninchen).
Zeitschrift für Psyohiatrie. LXXI. 6.
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Die heutige Behandlung der Epilepsie auf Grand
der Erfahrungen in der Landesheilanstalt CJcht-
springe 1 ).
Von Oberarzt Dr. J. Hoppe.
Die Erfahrungen der neueren Zeit, besonders die Fortschritte in
der Serologie, die Ergebnisse der physiologischen und pathologischen
Chemie, die den Resultaten der Stoffwechsellehre sich anpassende
diätetische Therapie haben auch die Therapie der Geistes- ,und Nerven¬
krankheiten wiederum, und zwar zu ihrem Vorteil, der inneren Medizin
näher gebracht. All , der Schöpfer der Uchtspringer Anstalt, war der
erste und zu Anfang auch der einzige, der immer wieder auf den Zu¬
sammenhang der psychiatrischen mit der inneren Klinik hinwies, der
in unermüdlichem Optimismus immer wieder von der inneren Medizin
Vorteile für die Behandlung der Nerven- und Geisteskrankheiten er¬
hoffte und mit rastlosem Eifer und Ausdauer erstrebte. Die Grund¬
züge so mancher Behandlungsarten, so z. B. der Toulouse-Richetschen
Methode, waren schon längst in Uchtspringe erforscht und festgelegt,
ehe sie von anderer Seite als eigene Behandlungsmethoden geprägt
wurden. Schon bei meinem Eintritt in die Uchtspringer Anstalt
(1897) waren eingehende Versuche über die Rolle, die das Chlornatrium
bei den epileptischen Erscheinungen und bei der Wirkung der Brom-
salze spielt, angestellt. Von dem, was damals unter Alt festgestellt
wurde, brauchte auch nichts geändert oder verbessert zu werden, als
jetzt die Neurologen durch das Toulouse-Richetache Verfahren wieder¬
um auf die Bedeutung einer richtigen, konsequent durchgeführten
Ernährung bei der Epilepsie hingewiesen wurden. — Daß bei der Be¬
handlung der Epilepsie der Neurologe darauf angewiesen ist, Hand in
Hand mit dem inneren Kliniker zu arbeiten, wird einem sofort klar,
l ) Aus der Landesheilanstalt Uchtspringe. Dir.: Professor Dr. Alt.
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Die heutige Behandlung der Epilepsie usw.
839
wenn man an den Zusammenhang denkt, welchen die epileptischen
Erscheinungen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch mit
inneren Krankheiten haben. Besonders bekannt und untersucht sind
diese Beziehungen bei der sogenannten harnsauren Diathese, bei In¬
fektionskrankheiten, darunter vor allem der Lues und Tuberkulose
und der Rachitis.
Wenig fruchtbringend für die Therapie der Epilepsie erwies sich
bisher die Ansicht, daß die epileptischen Erscheinungen in Zusammen¬
hang stünden mit
Störungen der Harnsäurebildung oder -ausfuhr.
Krainski war wohl der erste, der diesen Zusammenhang be¬
hauptete und nachweisen wollte. Die auf seiner Hypothese aufge¬
bauten therapeutischen Vorschläge, die Epilepsie mit Lithiumsalzen
zu behandeln, erwiesen sich jedoch bei eingehender Nachprüfung als
wirkungslos. Eine der allerwirksamsten Mittel, auf den Stoffwechsel
der Harnsäure einzuwirken, ist das uns von der pharmazeutischen
Chemie in neuerer Zeit geschenkte Atophan. — Besteht irgendein
Zusammenhang zwischen Epilepsie und Harnsäurebildung, so müßte
sich dies unter dem Einfluß dieses äußerst wirksamen Mittels auch
zeigen. Von diesem Gesichtspunkte waren hier, ehe das Atophan
(2 Phenylchinolin / 4 Karbonsäure) dem Handel und der Öffentlich¬
keit übergeben war, eingehende Versuche damit bei Epileptikern unter
ständiger Kontrolle des Stoffwechsels angestellt. Die Stoffwechsel¬
untersuchungen, die bei streng gleichmäßiger Kost angestellt waren,
zeigten denn auch, daß im Harnsäurestoffwechsel eine bedeutende
Veränderung eintrat, daß die Ausscheidung von 0,3 bis 0,5 g um das
Dreifache bis auf 1,0 bis 1,5 g stieg; eine sichtliche Änderung im Krank¬
heitsbilde machte sich jedoch meist nicht bemerkbar; nur zeigte sich
bei einigen ein vermehrtes Auftreten der Anfälle, für welches jedoch
andere Ursachen nicht gänzlich ausgeschlossen sind. Soviel geht
jedoch hervor, therapeutisch wie bei Gicht lassen sich die bei Harn¬
säurestörungen wirksamen Mittel für Epileptiker nicht ohne weiteres
verwenden; immerhin wird man aus den Erfahrungen hier angestellter
Ernährungsversuche gut tun, stark nukleinhaltige Nahrungsmittel bei
Epileptikern, ähnlich wie bei Gichtikern, zu verbieten oder wenigstens
doch stark einzuschränken.
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840
Hoppe,
über den
Zusammenhang von Epilepsie und Lues
geht die allgemeine Ansicht jetzt meist dahin, daß ein ätiologischer
Zusammenhang zwischen beiden Krankheiten sehr selten besteht.
Man neigt jetzt mehr zu der Meinung, daß Lues ätiologisch für Epi¬
lepsie nur ausnahmweise in Frage kommt. Die hiesigen Erfahrungen
stimmen hiermit nicht ganz überein. Besonders bei epileptischen
Kindern mit hereditärer Syphilis erwies sich eine sachgemäß durch¬
geführte antiluische Behandlung äußerst wirksam. Die Kinder ver¬
loren nicht nur ihre Anfälle dauernd, sondern wurden auch geistig und
körperlich wesentlich frischer und konnten, woran vorher gar nicht
zu denken war, nach der Behandlung die Schule mit gutem Erfolg
besuchen. Therapeutisch weniger günstig ist es, wenn ein erwachsener
Epileptiker sich eine luische Infektion zuzieht und beide Krankheiten
nun nebeneinander verlaufen. Doch der Grundsatz, bei einem epi¬
leptisch Kranken jede nur erkennbare körperliche Störung sach¬
gemäß und genau zu behandeln, bringt auch hier oft großen Nutzen.
Ohne daß die Lues Ursache des epileptischen Leidens zu sein braucht,
verschlimmert bei einem Weitergreifen oder Wiederaufflackern der
Syphilis sich gleichzeitig auch das epileptische Leiden. Bei genauerer
Kontrolle der Wassermannschen Reaktion stellt sich sehr oft heraus,
daß ein Häufigerwerden der epileptischen Erscheinungen gleichzeitig
Hand in Hand geht mit dem Wiederauftreten oder Stärkerwerden der
Wassermann sehen Reaktion. Grund genug, um regelmäßig das Blut¬
serum zu kontrollieren und bei positivem Befund mit antiluetischer
Behandlung einzugreifen. Als wirksamstes Mittel zur Bekämpfung
der Lues bei Epileptikern erwies sich das zuerst durch Uchtspringe er¬
probte und eingeführte Salvarsan. Ob Neo- oder ^IK-Salvarsan benutzt
wird, macht therapeutisch keinen Unterschied. Dosen von 0,3 g ge¬
nügen meist! Die intravenöse Injektion ist für den Kranken zwar
angenehmer, meist wirkt jedoch bei der Lues des Nervensystems
Salvarsan in der zuerst von Alt empfohlenen Anwendung (intramus¬
kulär) besser und nachhaltiger; bei Epileptikern mit Neigung zu Status
epilepticus sowie bei vielen Kranken mit geschwächter Herz- und
Nierentätigkeit darf Salvarsan intravenös nur mit allergrößter Vor¬
sicht, keinesfalls in hypertonischer Lösung, eingeführt werden. — Eine
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Die heutige Behandlung der Epilepsie usw.
841
Jromordination darf während der Salvarsanbehandlung nicht unter¬
brochen, höchstens etwa eine Woche um ein Drittel der Dosis herab-
esetzt werden. Bei anderweitiger Verordnung von narkotischen
titteln ist jedoch große Vorsicht geboten und streng zu prüfen, ob
ich die Kombination der gewählten Narkotika mit der Salvarsan-
»ehandlung verträgt. Die jetzt vielfach, bisweilen etwas kritiklos
•mpfohlene Luminalbehandlung muß jedenfalls unterbrochen und erst
ängere Zeit abgewartet werden, ehe mit der Salvarsanbehandlung
begonnen wird. Es scheint, als ob gerade die Phenylgruppe bei Luminal
auf die Dauer eine Nierenschwächung herbeigeführt, die bei größeren
Salvarsandosen verhängnisvoll werden kann, zumal die Ausscheidung
des Arsens durch Luminal verzögert wird. — Erzielt man bei luischen
Epileptikern mit Salvarsan allein nicht den gewünschten Erfolg, was
nicht selten vorkommt, weil die Empfänglichkeit vieler Epileptiker
durch vorangegangene As-Medikation verändert ist, so erweist sich
eine kombinierte As-Hg-Behandlung oft recht wirksam, wenn man
diese Behandlungen vorsichtig nacheinander durchführen läßt und
Salvarsan erst dann einführt, wenn Hg bereits wieder vollständig aus-
geschieden ist. Will man eine Schmierkur vermeiden, so können mit
großem Nutzen oft innerliche Präparate, besonders Mergal (3 mal
täglich 1 Tablette bis zu 150 Tabletten) angewendet werden.
Die
Jodbehandlung,
welche bei tertiärer Lues oft sehr schnelle und auffallende Erfolge
erzielt, ist auch bei luischen Epileptikern fast stets wirksam, besonders
dort, wo man auf ausgedehntere örtliche Erkrankungen schließen kann.
Daß Jod überhaupt bei Epileptikern, bei denen die Erkrankung auf
organischer Veränderung des Zentralnervensystems beruht, eines
der wirksamsten antiepileptischen Mittel ist, scheint noch ziemlich
unbekannt, obgleich von Alt schon seit langer Zeit wiederholt darauf hin-
gewiesen ist. Freilich darf die Jodmedikation nicht wähl- und ziellos
vorgenommen, sondern muß systematisch und vorsichtig zugleich durch -
geführt werden. Gelegentliche Jodgaben haben gar keinen Zweck.
Wer aber dort, wo nach Infektionskrankheiten organische Veränderun¬
gen im Zentralnervensystem zurückgeblieben sind, vorsichtig und
zielbewußt eine systematische Jodkur durchführt, wird oft sehr schöne
Erfolge sehen. Das Jodpräparat muß durchschnittlich etwa einen
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842
Hoppe,
Monat hindurch unter ständiger Kontrolle etwaiger Vergiftungserschei¬
nungen verabfolgt werden. Bisweilen zeigt sich schon während der
Joddarreichung auffallende Besserung, mitunter aber treten bald
häufigere und schwerere Anfälle auf, vermutlich ein Zeichen dafür, daß
Jod auf die vorhandenen Herde bereits eingewirkt hat. Hiermit ist
das Zeichen gegeben, daß die Jodbehandlung abgebrochen und erneut
eine längere Brombehandlung eingeleitet werden muß. Versäumt man,
während der Joddarreichung auf etwaige Vergiftungserscheinungen
zu achten, so kann leicht ein schwerer Status eintreten und das Leben
des Kranken gefährden. — Gewöhnlich genügen tägliche Dosen von 1 g
Jodkalium oder Jodnatrium völlig; zweckmäßiger noch ist die Verab¬
reichung von Jodkalzium in Mengen von 0,5 g täglich, zumal die Neben¬
wirkungen des Jod (ebenso wie des Brom) durch gleichzeitige Kalk¬
gaben vermindert werden 1 ). Recht unzweckmäßig, mitunter ver¬
hängnisvoll gefährlich für Epileptiker ist die Verordnung von Sajodin
(bezw. Sabromin). Diese Präparate haben zwar den Vorzug, zunächst
im Magen keine Beschwerden hervorzurufen und geschmacklos zu sein;
ihr Verhalten im Tierkörper nach der Resorption ist jedoch ein der¬
artiges, daß sie oft unwirksam, mitunter aber auch gefährlich werden
können. Wie durch Untersuchungen von Prof. EUinger und auch
durch hiesige Versuche festgestellt ist, wird Brom und Jod aus diesen
Verbindungen zum großen Teil im Fett abgelagert und bleibt untätig
und unwirksam oft im Bauchfett liegen, woraus sich zunächst auch
die so häufig gerühmte Ungiftigkeit dieser Präparate zwanglos erklärt.
Magert nun nach einiger Zeit ein Epileptiker ab und schwindet sein
Fett, so können nun auf einmal nach langer Zeit sich Jod- und Brom¬
intoxikationen einstellen, ohne daß man zunächst entdeckt, «-woher
diese stammen. Es ist also die Unzuverlässigkeit der Wirkung, was diese
Präparate für eine länger dauernde Behandlung bei Epileptikern un¬
zweckmäßig erscheinen läßt.
Auf örtliche Erkrankungen, aber radikaler suchen bisweilen die
Chirurgen bei Epilepsie
einzugreifen. So sehr auch einzelne Erfolge ins Auge fallen, im allge¬
meinen wird aber selbst bei Epileptikern, bei denen man, wie besonders
x ) Vgl. Prof. E. Frey-Marburg: Die Vermeidung der Nebenwirkun¬
gen bei Brom- und Jodkuren durch gleichzeitige Kalkgaben. Med. Klinik
1914, Nr. 9.
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Die heutige Behandlung der Epilepsie usw.
843
nach einzelnen Infektionen, lokale enzephalitische Herde vermutet,
wenig geleistet. Am günstigsten für die chirurgische Behandlung liegt
noch die traumatische Epilepsie, aber auch nur dann, wie Binswanger
mit Recht hervorhebt, wenn zur rechten Zeit, d. h. frühzeitig operiert
werden kann. Bekanntlich hob schon der auch auf diesem Gebiet sehr
erfahrene v. Bergmann hervor, daß man 4 Jahre nach Eintritt der
Epilepsie nicht mehr mit Erfolg operieren könne.
Nur in gewisser Hinsicht, ähnlich wie durch Lues, wird die
Epilepsie durch Tuberkulose
beeinflußt. Auch hier gilt als Hauptregel, die Tuberkulose und Skrophu-
lose mit allen nur möglichen Hilfsmitteln energisch zu behandeln.
Bessert sich das Allgemeinbefinden, so bessert sich auch gewöhnlich
das epileptische Leiden. Doch wirkt bei der Tuberkulose oft noch ein
weiterer Umstand mit, von dem weiter unten bei der Behandlung mit
Brom ausführlich die Rede sein wird: das Fieber 1 Während des
Fiebers treten bei akuten Infektionskrankheiten die epileptischen An¬
fälle oft in ganz auffallender Weise zurück; dasselbe ist gleichfalls meist
bei der Tuberkulose in schwererem Stadium der Fall, wenn das Fieber
in stärkerer Form auf tritt; auch bei Tuberkulösen, die durch ihr Leiden
stark mitgenommen werden, zeigen sich die Anfälle oft wesentlich
seltener oder bleiben ganz aus, sodaß es bisweilen den Eindruck macht,
als ob der geschwächte Organismus auf die epileptischen Reize gar
nicht mehr reagieren kann. Gelingt es, diese Kranken wieder zu
bessern und erheblich zu kräftigen, so stellen sich auch wieder die An¬
fälle in alter, bisweilen sogar verstärkter Weise ein. — Sehr auffällig
war der Einfluß der Rekonvaleszenz auf die epileptischen Erscheinun¬
gen bei der Behandlung mit dem Friedmannschen Tuberkuloseserum.
Die heilende Wirkung dieses Serums hängt anscheinend von Faktoren
ab, die wir vorläufig noch nicht übersehen, jedenfalls äußert sich die
ihm nachgerühmte Wirkung nur in einzelnen, dann allerdings nahezu
verblüffenden Fällen, während die größere Anzahl Tuberkulöser (be¬
sonders Darmkranker) anscheinend nur wenig beeinflußt wird. Bei
diesen Kranken nun, deren tuberkulöses Leiden durch die Friedmann-
sche Behandlung nicht beeinflußt wurde, blieben auch die epileptischen
Krankheitserscheinungen die gleichen. Wo aber nach der Friedmann-
schen Behandlung in kürzester Zeit eine auffallende Besserung eintrat,
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844
Hoppe,
wo das Fieber und die Krankheitserscheinungen schwanden und der
Kranke kräftig wurde und an Gewicht zunahm, da stellten sich außer
anderen früheren regelmäßigen Erscheinungen, z. B. Menses, auch die
epileptischen Anfälle in gewohnter Weise wieder ein. Gerade die Zeit
der Rekonvaleszenz ist es, die bei Epileptikern sorgfältig beobachtet
werden muß, und in der der Neurologe durch sein Eingreifen, z. B.
durch eine sachgemäße Bromkur, schöne und dauernde Erfolge er¬
zielen kann.
Wenn es auch bisher ein spezifisches Mittel, z. B. ein Serum,
gegen die Epilepsie nicht gibt, so rühmt man doch viele Arzneimittel,
wie besonders die Brompräparate, Luminal usw. als direkte Anti¬
epileptika. Zu diesen Antiepileptika im weiteren Sinne zählen jedoch
nicht nur die sogenannten Nervina, sondern auch andere Präparate,
die der innere Mediziner an wendet; besonders solche, welche die bei
Epileptikern oft gestörte und darniederliegende Herz- und Darm¬
tätigkeit regeln. Nur der mit den Regeln der inneren Medizin und der
Diätetik genau vertraute Arzt wird auf die Dauer auch Epileptiker
mit Erfolg behandeln können. Denn nur allzuoft geben Störungen im
Darm, der Herz- oder Nierentätigkeit Anlaß zu gehäuften, den Gesamt¬
organismus schwer schädigenden epileptischen Anfällen. Grundregel
einer jeden Behandlung der Epileptiker ist daher, einer jeden körper¬
lichen Störung aufs genaueste nachzugehen und sie aufs gewissen¬
hafteste zu behandeln. Sehr oft gelingt es durch ein Herzmittel oder
ein Präparat, das die Herztätigkeit regelt, die epileptischen Anfälle
wesentlich einzuschränken und das Befinden des Kranken wesentlich
zu bessern. Wer ein neues, unschädliches Herzanregungsmittel finden
würde, das auch auf die Dauer verwendbar ist, würde sich um die Be¬
handlung der Epilepsie mindestens ebenso verdient machen wie durch
Herstellung einer allerneuesten sinnreichen Bromkombination mit
Maggi oder einer anderen noch geschmackvolleren Beimengung. Über
den Nutzen einer sachgemäßen und durchdachten
Brombehandlung der Epileptiker
ist man sich jetzt wohl im allgemeinen einig. Es gibt gewiß eine Anzahl
epileptisch Kranker, die sich ohne Brom wohler und freier fühlen,
eine Anzahl, die für Brompräparate eine gewisse Intoleranz zeigen
und aus diesem Grunde zweckmäßig ohne Brom behandelt werden,
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Die heutige Behandlung der Epilepsie usw.
845
im allgemeinen aber wird der Nervenarzt bei der Belyindlung der Epi¬
leptischen das Brom nicht missen wollen, da die Vorteile, die es den
Kranken bringt, bei weitem etwaige Nachteile, die sich noch zum
größten Teil vermeiden lassen, überwiegen. Aber gleichwie das Opera¬
tionsmesser in der ungeübten Hand nur wenig Nutzen, mitunter gar
Schaden bringt, in des chirurgischen Meisters Hand aber zum Wohle
der Kranken oft Wunder wirkt, so nützen auch die besten Brom¬
präparate nichts oder schaden, wenn sie handwerkmäßig schablonen¬
haft angewendet werden, — wer aber Eigenart, Wirkung und Ver¬
halten seines Medikamentes genau kennt, wird es zum größten Vorteil
seines Kranken verwenden. Mit der allgemeinen Verordnung: den
Epileptikern 4 bis 6 g Bromkalium täglich, ist gar nichts erreicht.
Erst will die Eigenart der Kranken erforscht, erst seine Ernährung
und sein Verhalten geregelt sein, ehe er den Nutzen seiner Verordnung
erfährt. Im großen und ganzen sind die Grundzüge der Brombehand¬
lung der Epileptiker schon von Laudenheimer, Nencki und Simanowski
im allgemeinen richtig dargelegt und später besonders das Verhältnis
von Brom zum Salz der Nahrung durch Wyss, Ellinger u. a. noch näher
bestimmt worden. Es steht fest, daß das Brom nicht gleich vom
ersten Tage der Verordnung auf die epileptischen Erscheinungen
wirkt; erst muß eine gewisse Menge Brom im Organismus, besonders
im Blut, aufgespeichert sein, ehe die Wirkung auf die Epilepsie deutlich
hervortritt. Ich konnte 1906 x ) zeigen, daß die Wirkung deutlich dann
eintritt, wenn ein Viertel bis ein Drittel des Chlors im Blute durch
äquivalente 2 ) Brommengen ersetzt wird. Ist dieser Zeitpunkt erreicht,
dann haben wir darauf zu achten, daß dieses Verhältnis ein gleiches
bleibt und nicht verschoben wird. Tritt eine Verschiebung zugunsten
des Brom ein, so liegt die Gefahr einer Bromintoxikation nahe, wird
das Verhältnis aber zugunsten des Chlors verschoben, so wird die
Bromwirkung eine ungenügende, d. h. zum Auslösen der Anfälle sind
dann zu wenig Widerstände eingeschaltet, und die Gefahr, daß sich
wieder häufige und schwere Anfälle einstellen, wird nähergerückt.
Daraus ergibt sich ohne weiteres, daß die Hauptaufgabe einer sach-
*) Hoppe, Die Beziehungen der Bromwirkung zum Stoffwechsel der
Epileptiker. Neurol. Zentralbl. 1906, Nr. 22.
*) Gewichtsmengen entsprechen durchaus nicht äquivalenten
Mengen.
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846
Hoppe,
gemäßen Brombehandlung darin liegt, außer einer zweckmäßigen
Bromordination die Ernährung des Kranken so zu regeln, daß kein
Schwanken im Verhalten des Br : CI eintritt, d. h. mit anderen Worten:
Der Salzgehalt der Nahrung muß unbedingt ein gleich¬
mäßiger sein, wenn man auf Erfolg seiner Arzeneien rechnen will. Ist
der Kochsalzgehalz der Nahrung ein hoher, dann sind, um das ge¬
wünschte Verhältnis von Br: CI aufrechtzuerhalten, auch große
Brommengen in der Verordnung nötig; dies verbietet sich auf die Dauer
aber von selbst, weil gerade die Salze an die Leistungsfähigkeit der
Nieren die größten Anforderungen stellen und die Nieren an sich schon
bei Epileptikern oft geschwächt sind. Hauptregel für die Ernährung
der epileptisch Kranken wird demnach sein, mäßiger, vor allem aber
gleichmäßiger Salzgehalt der Nahrung, dann werden wir auch mit
relativ geringen Bromverordnungen, die zudem auch weit länger und
besser vertragen werden, mehr erreichen und in bezug auf die Anfälle
bessere Erfolge erzielen als mit großen Bromdosen und schwankender
Diät. Die Frage, die vor nicht allzu langer Zeit zu lebhaftem Meinungs¬
austausch führte, ob KBr oder Na Br den Kranken zweckdienlicher
sei, wird denn auch für jeden Einsichtigen, sofern er nicht eine ganz
genau geregelte Kost verschreibt, ziemlich überflüssig. Was nützt es,
tiefsinnige Betrachtungen darüber anzustellen, ob 2 bis 4 g KBr
oder NaBr zweckmäßiger sind, ob 2 g K-Salze wirklich die angebliche
Herzschädigung hervorrufen, wenn wir dabei ohne Bedenken einen
Epileptiker, z. B. mit einer reichlichen Kartoffelmahlzeit 20 bis 25 g
Kalisalze durchgehen lassen! Wenn es zweckmäßig ist, daß der Salz¬
gehalt der Nahrung für die Epileptiker ständig ein mäßiger ist, so ist
damit doch nicht gesagt, daß er auch ein so geringer sein soll, wie er
oft und durchaus nicht immer zum Nutzen des Kranken bei der soge¬
nannten Toulouse-RichetsQhen Behandlung verordnet wird. Die Salze
sind ebenso wichtige Bestandteile der Nahrung wie Eiweiße und die
anderen Nahrungstoffe, und eine Salzhungerkur dürfen wir mit
der sogenannten salzarmen Behandlung nicht einleiten, da sie mit¬
unter zu schweren, konstitutionellen Schädigungen des Gesamtorga¬
nismus führt und die Gefahren einer Bromvergiftung steigert. Wenn
wir dafür sorgen, daß ein Epileptiker mit seiner Nahrung nicht mehr
als etwa 8 g Kochsalz einnimmt, dabei aber aufs sorgfältigste ver¬
meiden, daß im Salzgehalt Schwankungen eintreten, erreichen wir
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Die heutige Behandlung der Epilepsie usw.
847
mehr als mit zeitweiliger salzloser Kost und werden noch immer mit
verhältnismäßig geringen Brommengen auskommen. Für den Er¬
wachsenen reichen dann 3 bis 4 g NaBr oder KBr vollständig. Daß
der Salzgehalt der Nahrung für die Heilwirkung unserer Bromverord¬
nung die allergrößte Bedeutung hat, konnte ich schon 1906 zeigen.
Die Bromwirkung auf die epileptischen Erscheinungen tritt bekannt¬
lich erst dann deutlich ein, wenn etwa der dritte Teil des CI im Blut
durch äquivalente Brommengen ersetzt wird. Der Zeitraum, in dem
dies geschieht, ist nun bei der salzarmen Kost der kürzeste (etwa
3 bis 5 Tage). In seinem Salzhunger reißt der Organismus eben die
anderen Halogene, also hier Brom, schnell an sich, um sie statt des
mangelnden CI zu verwenden. Bei einer Kost mit mäßigem, aber
gleichbleibendem Salzgehalt (etwa 8 g) macht sich die Bromwirkung
auf die Anfälle etwa in 8 Tagen bemerkbar. Regelt man aber den Salz¬
gehalt nicht und überläßt ihn zufälligen Schwankungen, so läßt selbst
bei hohen Dosen die Bromwirkung recht lange (mitunter 3 bis 4
Wochen) auf sich warten. Wie die pharmokodynamische Wirkung
des Brom zustande kommt, ist im einzelnen noch nicht mit Sicherheit
erforscht, soviel ist klar: die Wirkung auf die Anfälle kommt nicht
etwa durch Cl-Mangel, sondern nur durch die Bromionen zu¬
stande, welche vermöge ihrer physikal-chemischen Eigenart dem Aus¬
lösen der Anfälle größeren Widerstand entgegensetzen können. Vom
rein physikalisch-chemischen Standpunkt aus erscheint auch die ver¬
mehrte Wirkung der salzarmen Kost durchaus begreiflich, da, je ver¬
dünnter eine Lösung ist, die Ionisierung eine stärkere wird, und doch
gerade die Ionen die Träger der pharmokodynamischen Wirkung sind;
man braucht also, wenn man die größere Wirkung des Brom bei salz¬
armer Kost erklären will, durchaus nicht auf homöopathische Hypo¬
thesen zurückzugreifen. Von praktischer Bedeutung für die Unter¬
suchung des Chemismus von Epileptikern ist die Tatsache, daß auch
im Magensaft, der doch aus diesem oder jenem Grunde bei Epileptikern
zweckmäßig öfter untersucht wird, zwischen CI und Br sich dasselbe
Verhältnis einstellt wie im Blut, man kann sich deshalb, w r enn man
einen Magensaft quantitativ untersucht, die Blutentnahme sparen*).
Bei der Menge, in der gerade Brompräparate auf den Markt gebracht
undangepriesen werden, fällt es dem Fernerstehenden, der wenigGelegen-
1 ) Näheres Hoppe, Ncurol. Zentralbl. 1006, Xr. 21.
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Hoppe,
heit hat, sich ein eigenes Urteil zu bilden, oft schwer, aus der Fülle das
passende Präparat auszusuchen. Sieht man von besonders gearteten Fallen
ab, in denen Kranke aus diesem oder jenem Grunde, z. B. wegen ge¬
schwächter Nieren- oder Herzfunktion, gegen Bromsalze intolerant sind,
wird man im allgemeinen mit den alten bewährten Präparaten, dem
Bromkalium oder Bromnatrium, gut auskommen. Vor allem muß man.
wenn von dieser Verordnung Erfolg erwartet wird, darauf sehen, daß der
Salzgehalt ein gleichmäßiger bleibt, wie vorhin ausgeführt wurde. E'as
Bestreben, die — sich freilich besonders oft nur bei ungeregelter Salzzufuhr
und zu hoch gegriffener Dosierung einstellenden — Intoxikationserschei¬
nungen zu vermeiden, hat eine Anzahl Brompräparate gezeitigt, von denen
einige für bestimmte Zwecke sicher Vorteile gewähren. Da die Wirkun,
des Broms hauptsächlich für das Nervensystem gewünscht ist, ist der Ge¬
danke sehr verlockend, das Brom in einer organischen Bindung einzuver¬
leiben, in der es hauptsächlich dem Nervensystem nahegebracht und
hauptsächlich an dieses gebunden wird. Dieser Absicht entgegen wirk*
jedoch der lebhafte Chemismus im Magen und Darm, durch den das Prä¬
parat oft derart abgebaut und verändert wird, daß wir nicht wissen, in
welcher Form es resorbiert wird und an das Nervensystem gelangt. —
Ähnlich wie bei der Narkose erhoffte man besondere Wirkungen, wenn man
das Brom in Form von Lipoid Verordnungen verabreicht, man dacht?
und hoffte, auf diese Weise mit weniger Brom auszukommen und außerdem
andere Organe, wie Leber, Nieren und Blut, weniger zu belasten, wenn
das Brom mit seiner Verbindung hauptsächlich an das Nervensystem
heranträte. Das in dieser Beziehung aussichtsreichste Präparat ist un¬
zweifelhaft das von Prof. Ellinger eingeführte Zebromal (Dibromzimt-
säureäthylester). Eingehende Versuche von Joedicke und Mangelsdon
sowie auch Untersuchungen in der hiesigen Anstalt haben unzweifelhaft
ergeben, daß dem Zebromal in einigen Fällen eine starke Bromwirkung
eigen ist, diese Wirkung ist jedoch nicht immer zu erwarten und daher
auch eine unzuverlässige. Durch den Darm werden dabei oft recht be¬
trächtliche Mengen, weit größere als bei der gewöhnlichen Bromordination,
ausgeschieden, mitunter 75%, wobei es zweifelhaft erscheint, ob es sieh
hierbei nur um nicht resorbiertes oder teilweise auch schon um wieder¬
ausgeschiedenes Brom handelt. Jedenfalls zeigt die zeitweise auffallend
starke Ausscheidung durch den Darm an, daß man nicht mit Sicherheit
auf Resorption und somit auch auf Wirkung des Präparates rechnen kann.
In einzelnen Fällen erschien vor allem die erstrebte neurotropische Wir¬
kung schon nach kurzer Verabfolgung eingetreten zu sein, da ziemlich
schweres Benommensein und Schläfrigkeit sowie Herabsetzung der Reflexe
eintraten, während andere Intoxikationserscheinungen, z. B. von der Haut,
fehlten und gleichzeitig die Brommengen im Urin, Kot und irn Blut noch
verhältnismäßig geringe waren. Wenn somit Zebromal vorläufig in prakti¬
scher Beziehung wenige Bedeutung hat, so erregt es doch theoretisch
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größtes Interesse und macht Fortsetzung dieser Versuche sehr erwünscht.
Die beiden anderen Hauptvertreter der fettähnlichen Brompräparate sind
das Bromipin und Sabromin. Besonders das letztere wurde vielfach
gerühmt und die angeblich geringen toxischen Eigenschaften sehr hervor¬
gehoben. Daß Sabromin für den Geschmack indifferent und zunächst
sehr wenig toxisch wirkt, ist auch völlig zutreffend. Verfolgt man jedoch
das Schicksal dieses Präparats im Körper näher, so stellt sich heraus, daß
es auch weit weniger wie die Bromsalze (und auch Zebromal) im Blute
kreist, dagegen ähnlich wie das Bromipin sehr viel mehr im Fettgewebe
abgelagert wird und dadurch verhältnismäßig wenig zur Wirkung kommt
und zunächst auch keine Intoxikationserscheinungen hervorrufen kann.
Die Wirkung ist somit eine recht unsichere und unzuverlässige. Was sollen
wir schließlich auch mit einem Präparat, dessen Wirkung wir im Nerven¬
system oder im Blut wünschen, das sich aber hauptsächlich in der Leber
und im Bauchspeck ablagert 1 ).
Unzuverlässig und unberechenbar in der Wirkung sind auch die
Bromeiweißpräparate (Bromeigone, Bromokoll, Bromglidine), die
einen verhältnismäßig recht geringen Bromgehalt besitzen, daher in
großen Mengen verordnet werden müssen und im Darm zudem derart ver¬
ändert werden, daß es ganz unsicher ist, in welcher Form sie resorbiert
werden; vielleicht ist ihre Anwendung in der Rekonvaleszenz nach fieber¬
haften Erkrankungen sehr angebracht, doch stehen über diese Frage ein¬
gehende Versuche noch aus. Andere in neuerer Zeit häufig, zum Teil mit
großer Reklame, eingeführte Brompräparate, wie besonders Episan,
Spasmosan, Sedobrol usw., sind durchaus keine neuen Verbindungen mit
neuen Vorzügen, sondern nur Mischungen des Brom mit anderen, zum Teil
indifferenten Stoffen und Geschmackskorrigentien (Valeriansäure, Zink¬
oxyd, Maggi usw.).
Der Gedanke, bei drohender Bromintoxikation und bei mangel¬
hafter Ausscheidung des Brom ein Mittel verabfolgen zu können,
welches das für den Kranken unbedingt erforderliche Verhältnis von
CI zu Br konstant erhält, aber andererseits die sich durch die man¬
gelnde Ausscheidung anhäufenden und zur Intoxikation führenden
Brommengen durch Anregung der Ausscheidungs- und Herztätigkeit
wieder herausschaßt, ließen uns für diese Zwecke eine Kalziumharnstoff¬
verbindung mit Brom herstellen, das Ureabromin. Es ist also
hauptsächlich für Epileptiker bestimmt, die zur Bromintoxikation
*) Ellinger und Kotake, Die Verteüung des Broms im Organismus
nach Darreichung anorganischer und organischer Brompräparate. Archiv
f. experim. Path. u. Pharm. Bd. 65.
2 ) Gutknecht, Über das Verhalten von organischen und anorganischen
Brompräparaten im Tierkörper. Ztschr. f. klin. Med. Bd. 78, H. 1/2.
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neigen oder deren Ausscheidungsfähigkeit und Herztätigkeit dar¬
niederliegt 1 ). Die Kalziumbeimengung, die schon an sich, wie von
Prof. Frey nachgewiesen ist, die unangenehmen Nebenwirkungen von
Brom und Jod vermeidet, läßt es besonders auch für die Fälle geeignet
erscheinen, in denen eine gesteigerte Erregbarkeit des Muskel- und
Nervensystems vorhanden ist, wie besonders bei den spasmophilen
Zuständen und den vielen rachitischen Epileptikern.
In engem chemischen Zusammenhang mit Ureabromin steht das
Calmonal, eine Bromkalziumurethan-Verbindung 2 ). Beide Ver¬
bindungen haben vermöge ihrer Harnstoffkomponente die Eigenschaft,
sehr schnell, noch schneller wie die gewöhnlichen Bromsalze, wieder
ausgeschieden zu werden, führen also weniger leicht zu Intoxikationen
und können demnach unbedenklich längere Zeit verabfolgt werden.
Die Verbindung des Brom im Kalmonal mit dem unschädlichsten der
Schlafmittel, dem Urethan, machen dies Präparat sehr verwendbar
für die sogenannte Epilepsia nocturna sowie für alle nervösen Störun¬
gen des Schlafes überhaupt. Es gelang in der Tat, durch Kalmonal
Epileptiker, die an ausgesprochener nächtlicher Epilepsie leiden, anfall¬
frei zu erhalten und dadurch vielen Mißständen vorzubeugen. Für
Epileptiker sind hierfür Mengen von 2 bis 3 g vor dem Schlafengehen
notwendig, bei jugendlichen Kranken sowie bei Zuständen nervöser
Schlaflosigkeit genügen 1 bis 2 g. Die Harmlosigkeit dieser Verbindung
erhellt daraus, daß es infolge der schnellen Ausscheidung monatelang
fortgesetzt ohne Schaden gegeben werden kann. Hervorzuheben und
recht angenehm ist noch die sedative Wirkung bei Kranken, die infolge
von irgendwelchen Reizzuständen der Blase an nächtlichem Bett¬
nässen leiden, ohne daß eine larvierte, nächtliche Epilepsie vorliegt.
Eine ähnlich günstige Wirkung auf die nächtliche Epilepsie wie
überhaupt auf nächtliche Verwirrungszustände der Epileptiker war theo¬
retisch auch von der Bromverbindung des im allgemeinen vorzüglichen
Schlafmittels Veronal zu erwarten. In der Tat wird auch Diogenal in
Mengen von zweimal täglich 1 g gegen Epilepsie empfohlen. Diogenal
ist ein Abkömmling des Veronals, nämlich Dibrompropyldiäthylbarbitur-
säure, es enthält genügend Brom (42%), geht durch den Magen unver¬
ändert ab und kommt erst im alkalischen Darmsaft zur Lösung und Auf-
*) Dosierung: Für Erwachsene etwa 6 g, für Kinder 3 bis 4 g täglich.
*) Vgl. Bufe, Über Calmonal; Seegers, Über das Verhalten von
Calmonal im menschlichen Körper.
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nähme. Das Brom im Diogenal verhält sich nun ganz verschieden von
den des Calmonals. Während das Brom aus Calciumbromurethan ver¬
hältnismäßig sehr schnell wieder ausgeschieden wird, bleibt Brom vom
Diogenal im Körper zurück und sammelt sich im Organismus an. Seine
Wirkung ist darum auch nachhaltiger, somit aber auch leichter toxisch.
Die hier angestellten praktischen Versuche bestätigen im allgemeinen den
günstigen Verlauf des Diogenal auf Krampfanfälle und nächtliche Epi¬
lepsie nicht, wohl aber wirkt es bisweilen bei motorischer Unruhe und
Schlaflosigkeit günstig ein. Mengen über 2 g wurden nicht verabfolgt,
weil bei diesen Dosen sich bisweilen schon Benommenheit und Stumpfheit
anüngen, bemerkbar zu machen.
Ebenfalls in engem Zusammenhang mit Veronal steht das jetzt
so vielfach
bei Epilepsie empfohlene Luminal.
Luminal ist in chemischer Beziehung fast genau so gebaut wie
Veronal, nur daß eine Äthylgruppe durch eine Phenylgruppe
ersetzt ist. Dadurch, daß eine ungleichartige Gruppe ins Veronal für
Äthyl eingetreten ist, wurde die Wirkung in ganz auffallender Weise
geändert und verstärkt. Luminal ist sicherlich eine wertvolle
Bereicherung des Arzneischatzes und eines der kräftigsten Schlafmittel,
da man selbst bei starker Unruhe, Verwirrungszuständen und Schlaf¬
losigkeit mit 0,4 bis 0,5 g Luminal fast sicher Ruhe und Schlaf erzielt.
Während der Einfluß des ihm sehr ähnlichen Veronals auf die epi¬
leptischen Anfälle ein sehr geringer ist, wirkt Luminal auf eine Art
der Anfälle in recht auffallender Weise ein, und zwar auf die Schwindel¬
anfälle und sogenannten petits mals, während jedoch die schweren
epileptischen Krampfanfälle mit ausgesprochenen Muskelzuckungen
nur wenig beeinflußt werden. Es gelingt, mit Luminal in Gaben von
zwei- bis dreimal täglich 0,05 bis 0,1 g diese leichten Schwindelattacken,
auf welche man durch Brom oft sehr wenig einwirken kann, meist
zum Aufhören zu bringen, leider jedoch nicht auf die Dauer,
denn nach einem halben oder dreiviertel Jahr läßt die Wirkung nach,
wenn man nicht zu größeren Gaben greifen will. Eine höhere Dosierung
hat aber große Bedenken, weil bei dauernder Verabreichung von
Luminal, wie sie bei Epileptikern ja notwendig ist, vermutlich durch
die Phenylgruppe leicht eine Nierenreizung zustande kommen kann;
es ist also unbedingt geboten, während einer Luminalbehandlung den
Urin ständig zu untersuchen. Ähnlich wie Veronal läßt sich auch
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Luminal durch die Verknüpfung mit Natrium wasserlöslich machen,
was für die praktische Verwendbarkeit große Vorteile bietet. Gelingt
es nicht, einem unruhigen, aufgeregten Kranken Luminal per os bei¬
zubringen, so steht durch die Löslichkeit des Luminalnatriums der
Weg per anum oder auch die subkutane Anwendung zur Verfügung.
0,3, 0,4 bis 0,6 g Luminal im Einlauf führen oft sogar noch schneller
als bei der Darreichung per os zur Beruhigung und Schlaf. Ebenso
läßt sich Luminalnatrium sehr gut in Mengen von 0,4 bis 0,6 g zur
Bekämpfung des gefährlichen Status epilepticus verwenden, der
nach diesem Einlauf meist sehr bald zum Stillstand kommt. Ähnlich
wie Luminal wirken auf die Schwindelanfälle und petits mals be¬
kanntlich auch Amylenhydrat, Dormiol u. a. Mittel dieser Reihe.
Zur Bekämpfung des eben genannten Status epilepticus steht in
praktischer Beziehung noch immer das Amylenhydrat in erster Reihe,
da 2 bis 3 g Amylen fast stets sicher wirken. Ist die Amylen-
wirkung eine unsichere, dann versagt auch meist Luminalnatrium im
Einlauf, und man muß zur Chloroform-Sauerstoffnarkose greifen, wenn
man nicht vorher einen Versuch mit intravenöser Injektion von etwa
6 g Ureabromin in alkalischer — ungefähr dem Alkaleszenzgrad des
Blutes entsprechender — Lösung machen will, was jedoch wiederum
Übung und Vorbereitungen beansprucht und wohl nur für Kliniken und
Krankenhäuser in Betracht kommt.
Es gibt für die Behandlung der Epilepsie noch eine Menge anderer
Mittel, die vielfach empfohlen werden, und auf die hier bisher nicht
eingegangen ist, wie Borax, Zinkoxyd, Baldrianpräparate usw. Alle
diese Mittel können in besonders gearteten Fällen wohl zeitweise
einigen Nutzen bringen, kommen aber für die allgemeine Behandlung
nicht in Betracht, es soll daher auch in diesem immerhin kurzen Abriß
nicht näher auf sie eingegangen werden; wünschenswert erscheint,
daß der Einfluß von Atropin und Belladonnapräparaten auf die epi¬
leptischen Erscheinungen näher untersucht wird, da durch diese Mittel
günstige Beeinflussung der Epileptiker mit häufigen vasomotorischen
Störungen sehr leicht möglich ist.
Von einem völlig andern Standpunkt als bisher versuchten in
allemeuster Zeit Spangier , Fackeriheim u. a., auf die Epilepsie einzu-
wirken. Man nahm an, daß die epileptischen Anfälle durch Gerinnungs-
vorgänge im Blute zustande kämen und glaubte durch Versuche fest-
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Die heutige Behandlung der Epilepsie usw.
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gestellt zu haben, daß das Blut der Epileptiker sich durch größere
Gerinnungsfähigkeit auszeichne. Da das Gift der Klapperschlange,
Crotalin,
eiweißartige Stoße enthält, welche eine hämolytische Wirkung be¬
sitzen, vermutete man in diesem ein Heilmittel für Epileptiker, die
damit erzielten Resultate sollten überaus günstig sein. Die hier wie
auch anderswo mit größter Vorsicht angestellten Nachprüfungsver¬
suche konnten jedoch keinen Einfluß des Crotalin auf die epilepti¬
schen Erscheinungen feststellen, auch ließen sich bisher bei dieser Be¬
handlung im Blute keine erkennbaren Veränderungen nachweisen.
Es werden daher noch weitere Untersuchungen und Versuche abge¬
wartet werden müssen, ob sich diese Annahme überhaupt zur Be¬
handlung von epileptischen Kranken verwerten läßt.
Schon vorher bei der Besprechung der Tuberkulose ist der Einfluß,
den Fieber und Infektionskrankheiten auf die epileptischen Erschei¬
nungen ausüben, kurz gestreßt worden. Sehr häufig wird durch eine
andere, plötzlich dazwischenkommende akute Krankheit das Bild der
Epilepsie (wie auch vieler Psychosen) ein völlig anderes. Oft tritt eine
sichtliche Verschlimmerung, häufiger wohl aber eine auffallende
Besserung ein. Auf Grund dieser Erfahrung hatte man bekanntlich
früher den Vorschlag gemacht, Paralytikern Erysipel einzuimpfen.
Wie diese Wirkung zustande kommt, ist noch völlig unklar, möglich
ist, daß ein schweres Fieber den Körper derart schwächt, daß er nicht
mehr imstande ist, auf die gegebenen Reize wie sonst durch epileptische
Anfälle zu reagieren, und diese Anfälle sich erst dann wieder einstellen,
wenn der Körper in der Rekonvaleszenz gekräftigt ist; möglich aber
ist auch, in sehr vielen Fällen auch sogar wahrscheinlich, daß durch
die ganz anderen Stofiwechselvorgänge, wie sie ein heftiges Infek¬
tionsfieber mit sich bringt, alte Herde im Nervensystem wieder be¬
rührt, entzündet und hernach möglicherweise resorbiert werden. Die
Natur stellt dann gleichsam experimentelle Heilversuche an, die wir
noch nicht nachahmen können, da uns die Kenntnis des ursächlichen
Zusammenhangs fehlt und wir nur die Wirkungen sehen. Sehr wichtig
für Epileptiker, die mit Brom behandelt sind, ist der Eintritt einer
Pneumonie. Diese Krankheit hat in einer Beziehung mehr wie andere
Infektionskrankheiten eine eigentümliche Stoßwechselstörung im
Zeitschrift fttr Psychiatrie. LXXl. 8. 69
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Gefolge. Sofort, zugleich mit dem plötzlichen Einsetzen der Lungen¬
entzündung, geht die Salzausscheidung auf ein Minimum zurück,
sei es, daß durch ein Gift der Pneumonie die Tätigkeit der Nieren
versagt, sei es, daß das Salz vielleicht anderswo im Körper ange¬
sammelt wird. Die Ausscheidung tritt sofort und meist in verstärktem
Grade wieder ein, wenn die Pneumonie zur Lösung kommt. Gibt man
also während der Pneumonie Bromsalze in der gewöhnlichen Menge
weiter, so kann es sehr leicht Vorkommen, daß nun auf einmal 40 bis
50 g Bromsalze zurückbehalten werden, und diese Menge genügt dann
Vollkommen, um die Epilepsie und-das Leben auf immer
zum Stillstand zu bringen. Auffallend oft sind Epileptiker einer
Lungenentzündung erlegen! Bei Eintritt einer kruppösen Pneumonie
gilt also als Grundregel, sofort bei Eintritt der Krankheit die Brom-
ordination auf ein Minimum zu beschränken, hernach aber in der Re¬
konvaleszenz mit kräftigen Dosen einzugreifen. Bei andern Infek¬
tionskrankheiten — Erysipel, Angina, Gelenkrheumatismus usw. —
ist der Salzstoffwechsel nicht in derselben auffallenden Art verändert,
jedoch wohl stets etwas herabgesetzt; man wird daher auch im allge¬
meinen gut tun, die Brommengen, wie überhaupt auch andere Anti¬
epileptika, nach Möglichkeit im fieberhaften Stadium einzuschränken.
In der Rekonvaleszenz wird häufig Eiweiß neu angesetzt, hier scheint
nun unter Umständen die Möglichkeit gegeben, mit Hilfe von Eiwei߬
präparaten das gewünschte Mittel an Organe heranzubringen; Versuche,
gerade hier Bromeiweißpräparate oder auch fettähnliche (lipoide)
Bromverbindungen anzuwenden, sind darum voll gerechtfertigt. Wie¬
weit es möglich sein wird, durch künstliche Sera (z. B. Streptokokken,
Tuberkulosesera) die von der Natur durch akute Infektionskrank¬
heiten angestellten Heilversuche zielbewußt nachzuahmen, bleibt ab¬
zuwarten. Vor allem müssen die anatomischen und Stoffwechsel¬
vorgänge, die eine Infektionskrankheit bei Epilepsie und Psychosen
mit sich bringt, genau erforscht und festgestellt werden, ehe wir daran
denken können, Heilsera zum Wohle der Kranken zielbewußt an¬
wenden zu können; eine Fülle Arbeit, die zwar Fleiß und vor allem
Geduld erfordert, aber wohl der Mühe lohnt!
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Zur Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des
Parietallappens.
Von Prof. Dr. W. Wendel 1 ).
Ein glücklicher Zufall hat mir Gelegenheit gegeben, in Verhältnis«
mäßig kurzer Zeit dreimal einen erfolgreichen operativen Eingriff bei
Großhirntumoren auszuführen, welche ausschließlich oder vorwiegend
im Parietallappen entwickelt waren. Ihre zusammenhängende Dar¬
stellung wird schon durch das Interesse gerechtfertigt, welches dem
Neurologen und dem Chirurgen eine Hirnprovinz aufnötigt, die noch
zu v. Bergmanna Zeiten als „stumm“ und deshalb nicht als Gebiet
chirurgischer Intervention galt. Daß diese „stummen“ Gebiete so
vernehmlich „sprechen“ gelernt haben, ist ein Erfolg des Zusammen-
arbeitens von Neurologie und Chirurgie. So sei dieser bescheidene
chirurgische Beitrag zur Festschrift für Alt zugleich eine Huldigung
für die auch von ihm vertretene Wissenschaft der Neurologie.
Für die topische Diagnose kommt beim Scheitellappen in Frage
in erster Linie seine Nachbarschaft zur Zentralregion, dem Schläfen-
und Hinterhauptslappen, welche zum Teil sehr wichtige Nachbar-
* Schaftssymptome zu liefern vermögen, in zweiter Linie die Symptome,
welche an sich dem Parietalhirn zukommen. In dieser Beziehung ist
von Bedeutung, daß sich der Parietallappen an der zentralen Innerva¬
tion der anderen Körperseite beteiligt, und zwar besonders die Berüh-
rungs- und Schmerzempfindung vermittelt. Störungen der Tiefen¬
sensibilität, des Lagegefühls, Tastlähmung, Astereognose, Ataxie sind
die in Betracht kommenden Symptome. Für den linken Gyrus angu¬
laris kommen dann Ataxie, Agraphie, Hemianopsie in Betracht.
Ferner hat sich die von H. Liepmann begründete Lehre der aprakti-
l ) Aus der chirurgischen Abteilung der Städtischen Krankenanstalt
Magdeburg-Sudenburg (Oberarzt Prof. Dr. W. Wendel).
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sehen Störungen auch in unseren Fällen als fruchtbar erwiesen. Jeden¬
falls ist die neurologische Lokaldiagnose in den drei Fällen mit solcher
Präzision gestellt worden, daß die Operation möglich wurde und nur
unbedeutende Korrekturen bei der Operation gemacht zu werden
brauchten. Inwieweit eine Ergänzung der neurologischen Lokal¬
diagnose nötig wurde und besonders auch die Rolle, welche dabei die
Hirnpunktion spielte, soll später näher beleuchtet werden. Ich lasse
jetzt zunächst die Krankengeschichten folgen:
Fall 1. S., Albert, 29 Jahre alt, Marine-Zahlmeisteraspirant.
Diagnose: Tumor cerebri, Endotheliom der Falx cerebri major.
Operation: Exstirpation nach Trepanation.
Aufnahme am 19. 8. 1909.
Abgang am 19. 10. 1909 als geheilt.
Anamnese: Pat. machte vor 2 Jahren in Kiel eine Operation hinter
dem Ohre durch, anscheinend nur eine Weich teileiterung, da ein Knochen -
defekt nicht vorhanden ist.
Am 29. 9. v. J. wurde er in der Krankenanstalt Sudenburg wegen
schwerer Epityphlitis mit freier eitriger Peritonitis operiert. Schon damals
fiel während des Krankenlagers auf, daß das rechte Bein nicht erhoben
werden konnte und besonders im Hüftgelenk Schmerzen und eine spastische
Kontraktur vorhanden war. Damals wurde angenommen, daß eine Be¬
teiligung des rechten Psoas durch die schwere Entzündung die Ursache
sei, zumal da nach dem Aufstehen die Beschwerden bald schwanden.
In der Folgezeit sollen nun seit Juni d. J. gewisse Beschwerden im rechten
Fuße aufgetreten sein, so daß Pat. nicht mehr wie früher weite Spazier¬
gänge unternehmen konnte; seit dieser Zeit sollen auch Kopfschmerzen
vorhanden gewesen sein.
Die Untersuchung gelegentlich einer Konsultation ergab eine
spastische Kontraktur des rechten Fußgelenks in Plantarflexion, also eine
spastische Peronäuslähmung, welche beim Gehen durch die Schwere
etwas ausgeglichen wurde. Wegen Verdachtes auf Zerebralursprung
wurde ein Neurologe *) konsultiert; dieser stellte eine verwaschene Papille
im Augenhintergrunde beiderseits fest und den zweifellos zerebralen Ur¬
sprung der spastischen Kontraktur des rechten Fußes. Außer dieser ließ
sich eine ganz geringe Parese und Ataxie des rechten Beines und des rechten
Armes feststellen und mit dem Dynamometer eine Abnahme der groben
Kraft und eine schnelle Ermüdung an der rechten Hand nachweisen. An
den Augen verschlechterte sich der Zustand schnell, und es entwickelte
sich ein ausgesprochener Grad von Stauungspapille. Hiernach ließ sich
mit Sicherheit eine herdförmige Erkrankung mit Beteiligung der linken
l ) Die neurologische Untersuchung dieses und der folgenden Fälle
hat stets Herr Sanitätsrat Dr. Völsch vorgenommen.
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Zar Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. $57
psychomotorischen Region annehmen. Der Pat., der sich zunächst über
die Schwere der Erkrankung täuschte, wurde durch einen Anfall von hefti¬
gem Kopfschmerz und Erbrechen veranlaßt, das Krankenhaus aufzusuchen.
Hier bestätigte die wiederholte Untersuchung den früheren Befund.
Temperatur stets normal, kein Druckpuls; Fazialisgebiet vollkommen
frei, Kopfschmerz wechselnd, meist linkseitig, aber sonst ohne strengere
Lokalisation. Die Muskel- und Sehnenreflexe sind lebhaft gesteigert,
Patellarklonus, Fußklonus, positiver Babinski; Sensibilität ganz intakt;
grobe Kraft des rechten Beines, geschätzt nach dem Widerstande bei
aktiven und passiven Bewegungen, zweifellos geringer als links. Die Fuß*
kontraktur ist nicht so energisch, daß sie manuell nicht überwunden
werden kann.
26. 8. 09. Hirnpunktion. Zur Sicherung der Diagnose wurde
am 26. 8. die Hirnpunktion nach Neisser vorgenommen. Bestimmung der
linken vorderen Zentralwindung nach Kocher, sodann wurden streng nach
Neisserscher Vorschrift mit feinem elektrischen Bohrer im ganzen fünf
Bohrlöcher angelegt. Allen gemeinsam war die große Leichtigkeit der
Ausführung und die genaue Fühlbarkeit des Widerstandes der verschiedenen
Schädelschichten. Anästhesie wurde mit y 2 % Novokainlösung erreicht
in durchaus zufriedenstellender Weise. Von den Bohrlöchern wurden zwei
in die vordere Zentralfurche gelegt, das dritte in die erste Stirnwindung;
durch die Bohrlöcher Punktion bis 5 cm Tiefe. Diese drei Punkte ergaben
nur etwas Blut, die vierte und fünfte Punktion wurde dann in der hinteren
Zentralwindung vorgenommen und hier beide Male Geschwulstgewebe
aspiriert. Die Untersuchung desselben durch Professor Ricker ergab mit
Sicherheit eine Neubildung, mit größter Wahrscheinlichkeit ein Endo-
theliom der harten Hirnhaut. Infolgedessen wurde dem'Pat. die Ent¬
fernung der Hirngeschwulst empfohlen.
31. 8. 09 Operation (Prof. Wendel). Blutleere mit Gummibinde
um Stirn und Hinterhaupt. Umschneidung eines länglichrunden Lappens
mit unterer Basis im größten Durchmesser 5 cm, dessen Zentrum die
Punktion in der hinteren Zentralwindung bildet. Eröffnung des Schädels
mit der Giglischen Drahtsäge nach Anlegung von vier Bohrlöchern mit
Doyenscher Fräse. Dura stark gespannt, nur ganz unmerklich pulsierend.
Nach Eröffnung derselben parallel der Trepanationsöffnung, aber mit
umgekehrter Basis, findet man die Gehirnoberfläche nicht, wie erwartet,
von der Geschwulst bedeckt, doch ergibt die Palpation und die fast völlig
fehlende Pulsation, daß im Innern eine Geschwulst liegen muß. Daher
wird in der Längsrichtung der Gehirnwindung, entsprechend der deutlich
erkennbaren Punktionsstelle, ein Einschnitt gemacht bis 2 cm Tiefe. Nach
völliger Durchtrennung der Rindensubstanz findet man in der weißen
Hirnsubstanz einen kleinen, kugelschalenförmigen Bluterguß, offenbar
von der Punktion stammend, und unter ihm einen großen Hirntumor; er
läßt sich mit dem Finger, trotzdem er ziemlich weiche Konsistenz hat,
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W endel,
ziemlich gut ausschälen, und dabei wird festgestellt, daß er mit der Falx
der Dura fest verbunden ist. Er ist also von dem Spalt zwischen beiden
Hirnhalbkugeln aus in die linke Großhirnhälfte hineingewachsen. Seine
Entwicklung erfordert noch einen auf den ersten in senkrechter Richtung
aufgesetzten Schnitt, welcher die nach der Sagittallinie hin dünner wer¬
dende Hirndecke des Tumors durchtrennt. Von dem vorderen medialen
Bohrloch aus wird in der Richtung dieses Schnittes, also nach vorn und
medial hin, ein etwa 2 cm langes und 1*4 cm breites Schädelstück mit
der Zuerschen Zange fortgenommen, da die erste Trepanationsöffnung
etwas zu weit und lateral von dem Tumor gelegen ist. Jetzt gelingt die
Entwicklung leicht, die Verbindung mit der Dura läßt sich ebenfalls stumpf
lösen. Die Blutung nach der Entwicklung der Geschwulst hält sich in
mäßigen Grenzen und wird durch einen in die Höhlung eingeführten Tam¬
pon beherrscht. Trotz des großen Defektes, der zunächst ein Einsinken
der benachbarten Gehirnteile verursacht, entwickelt sich offenbar durch
ödematöse Schwellung sehr schnell ein Hirnprolaps, der die Naht der Dura-
wunde sehr erschwert. Ein zurückbleibender Defekt wird durch einen
zwischen Schädel und Dura geschobenen flächenhaften Tampon bedeckt.
Nach genauer Einpassung des Knochenlappens steht die Blutung so gut
wie völlig. Die beiden Tampons werden durch die oben erwähnte, mit
der Zuerschen Zange hergestellte quere Lücke nach außen geleitet. Naht
der Haut und der Galea durch eine tiefgreifende, fortlaufende Seidennaht
zwecks Blutstillung. Druckverband, welcher auch nach Abnahme der
umschnürenden Gummibinde nicht durchblutet wird. Der Tumor hat
ein Gewicht von 77 g und eine Größe von 7 y 2 : 5 y 2 : 4% cm. Er hat
das Aussehen der Gehirnrinde sowohl durch die Färbung als auch durch
eine den Hirnwindungen ähnliche Oberflächenzeichnung, nur sind die
Windungen schmäler. Die Konsistenz ist von der des Hirns kaum ver¬
schieden, er wird deshalb zunächst gehärtet.
Der Pat. erwacht ziemlich bald nach der Operation zum Bewußtsein,
doch ist seine Stimmung zunächst sehr deprimiert, und er ist mehrere Tage
auffallend schlafsüchtig. Der rechte Arm und das rechte Bein sind völlig
gelähmt. Geringe aktive Bewegungen stellen sich am 4. Tage zuerst im
rechten Bein ein und werden von da ab täglich etwas besser. Die Tampons
werden nach 6 Tagen entfernt und gleichzeitig die Nähte, da primäre
Heilung der Nahtlinie eingetreten ist. Der abgenommene Verband ist ganz
trocken und sehr wenig durchblutet. Nach Entfernung der Tampons
sickert nur sehr wenig frisches Blut nach. In die schon stark verkleinerte
Höhle wird ein feines Gummidrain eingelegt.
9. 9. Die ersten feinen Bewegungen am rechten Daumen bemerkbar.
19. 9. Bewegungen bessern sich ständig. Wunde gut, sezerniert sehr
wenig. Knochenlappen federt noch stark. Gutes Allgemeinbefinden.
Pat. steht auf.
22. 9. Abnahme der Stauungspapille. Rechter Arm in allen Gelenken
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Znr Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. 859
bewegbar, doch ist überall die Streckung nicht so kräftig und ausgiebig
als die Beugung.
19. 10. Geheilt entlassen. Knochenlappen fest. Rechter Arm fast
normal. Rechtes Bein noch ataktisch, kontrakt. Pat. geht im Zimmer,
indem er sich an Möbeln etwas hält, im Freien läßt er sich etwas stützen.
Sonst keine Beschwerden, vor allem kein Kopfschmerz.
Pathologisch-anatomische Untersuchung des ausge¬
schälten Tumors: Apfelgroße dünngestielte wulstige Geschwulst von
derber Konsistenz (nach erfolgter Härtung).
Mikroskopisch: Sehr zellreicher Tumor, bestehend aus vielgestalti¬
gen, meist langgestreckten, großkernigen Zellen. Vielfach sind die Ele¬
mente konzentrisch geschichtet und weisen wenig hyaline Zwischensub¬
stanz auf. — Hyaline Beschaffenheit der Gefäßwände. An der binde¬
gewebigen Geschwulstkapsel haften minimale Reste von weicher Hirnhaut
und Hirnrinde.
Diagnose: Duraendotheliom mit Zellanordnung des Psammoms.
Späterer Verlauf. In der Folgezeit allmähliche, ständige Besse¬
rung. Nur im Sommer 1911 ein epileptiformer Anfall nach Überan¬
strengung.
Letzte Nachuntersuchung Januar 1914: Keine Wiederholung des
Anfalls in den letzten Jahren. Keine wesentlichen Beschwerden. Es
besteht nur noch eine Schwäche im rechten Peronäusgebiet. S. ist in
seinem Beruf als Marinezahlmeister nach wie vor dienstfähig.
Letzte Nachricht vom 23. 5. 14 meldet ungestörtes Wohlbefinden.
Epikrise. Der neurologische Befund in diesem Falle ergab eine
rechtseitige spastische Peronäuslähmung und Störungen in der Beweg¬
lichkeit des rechten Hüftgelenks, Erscheinungen, die in ihren Anfängen
10 Monate zurücklagen. Ferner bestanden ganz geringe Parese und
Ataxie des rechten Beines und des rechten Armes und dynamometrische
Abnahme der groben Kraft und leichte Ermüdung der rechten Hand.
Außerdem ließ sich auch eine Abnahme der groben Kraft des rechten
Beines feststellen. Von Allgemeinsymptomen fanden sich Kopfschmerz
(besonders linkseitig), in seiner Intensität wechselnd, und Erbrechen,
ferner bestand eine Stauungspapille, deren stetiges Fortschreiten auf
einen progressiven Charakter des Leidens schließen ließ. Der neurologische
Befund ließ also mit Sicherheit einen fortschreitenden Prozeß mit Be¬
teiligung der linken psychomotorischen Region annehmen, nämlich der
Gegend des Arm- und Beinzentrums der linken Zentralwindungen. Für eine
Beteiligung der hinteren Zentralwindung und des linken Scheitellappens
sprach besonders die geringe Ataxie in den rechten Extremitäten; gegen eine
Beteiligung des linken Scheitellappens sprach das Fehlen jeglicher Sensibili¬
tätsstörungen, das Fehlen von Alexie, Agraphie, Apraxie usw., so daß die vor¬
handenen geringen ataktischen Störungen auch teilweise als Nachbarschafts-
Symptome gedeutet werden konnten. Die neurologische Lokaldiagnose sprach
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Wendel,
sich demnach für einen Sitz vor oder hinter der 1. Zentralregion aus. Sie
neigte mehr dem vorderen Sitze der Geschwulst zu. Eine Ergänzung der
Diagnose durch die Hirnpunktion erschien daher angezeigt, da nicht nur
eine genauere Lokalisation im Interesse einer möglichst geringen opera¬
tiven Schädigung lag, sondern auch die Entstehung der ersten Symptome
im Anschluß an eine schwere eitrige Baucherkrankung einen Abszeß nicht
als ausgeschlossen erscheinen ließ. Die Neissersche Hirnpunktion an
5 verschiedenen Stellen ergab in der Gegend der hinteren Zentralwindung
Geschwulstmaterial, lokalisierte also den Tumor etwas weiter nach hinten
als die neurologische Diagnostik und gab außerdem Aufschluß über die
Art des Tumors. Bei der Radikaloperation schließlich wird der Tumor
zwar an der Stelle der Punktion, aber erst in ca. 2 cm Tiefe angetrolTen.
Fassen wir also für diesen Fall unsere Befunde zusammen, so ergibt sich:
Die neurologische Untersuchung hat eine ungefähre Lokalisation des
Tumors ermöglicht, die Neissersche Hirnpunktion hat diesen Befund in
einer für die Operation wertvollen Weise präzisiert und eine ungefähre,
aber keine sichere Tiefenlokalisation ermöglicht.
Es handelte sich in diesem Falle um einen gut abgrenzbaren, von
der Falx cerebri ausgehenden, subkortikal sitzenden Tumor, der im Grenz¬
gebiet des Scheitellappens und der Zentralwindungen saß und durch seine
Größe weithin in beide Gebiete sich erstreckte. Durch seinen subkortikalen
Sitz schädigte er besonders im Gebiete der Zentralregion nicht so sehr die
Rindenzentren selbst als die zu ihnen ziehenden und von ihnen ausgehenden
Bahnen. Dadurch, daß der Tumor nicht infiltrierend und zerstörend in
das Hirngewebe hineingewachsen ist, sondern bei seinem Wachstum das
Hirngewebe verdrängt hat, erklären sich die verhältnismäßig geringen,
auf Druckwirkung und Druckatrophie zurückzuführenden Schädigungen
der lokalen Hirnfunktionen. Insbesondere erklären sich so die geringen,
vom linken Scheitellappen ausgehenden Störungen, dessen Funktionen
sich offenbar den veränderten Druckverhältnissen leichter angepaßt haben.
Fall 2 l ). Z., Hermann, 53 Jahre alt, Arbeiter.
Diagnose: Tumor cerebri lobi parietalis sinistri.
Operation: osteoplastische Trepanation, Inzision, stumpfe Aus¬
schälung.
Aufnahme: am 1. 3. 12, 9 Uhr morgens.
Abgang: am 8. 6. 12 als geheilt.
Anamnese: Mutter an Altersschwäche im Alter von 90 Jahren ge¬
storben. Todesursache des Vaters unbekannt. Sonstige Familienanamnese
o. B.
1 ) Der Fall wurde 1912 auf dem Chirurgenkongreß besprochen
(Verhdl. d. Deutsch. Ges. f. Chir. 1912, S. 112 ff.). Damals Ausgangspunkt
des Tumors nicht sicher bekannt. Jetzt durch vorliegenden, im folgenden
angeführten autoptischen Befund definitiv als metastatischer Hirntumor
aufgeklärt.
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Zur Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. 861
Als Kind hatte Pat. Scharlach, im Alter von 40 Jahren litt er an
Rheumatismus.
Seit 7 bis 8 Monaten will Pat. zeitweise Kopfschmerzen, besonders
linkseitig, Zucken und Schmerzen in den Gliedern haben, will außerdem
viel an Rückenschmerzen, Schwindel und Schlaflosigkeit leiden. Die Seh¬
kraft beider Augen soll zeitweise geschwächt sein. Die Frau des Pat. will
bereits im Dezember 1911 rechtseitige Armkrämpfe beobachtet haben.
Am 28. 2. gab die Frau an, daß ihr Mann am 11. 12. von der Treppe ge¬
stürzt sei, am Tage darauf sollen sich die Krankheitserscheinungen ein¬
gestellt haben.
Am 13. 1. 12 wurde Pat. auf die innere Abteilung aufgenommen und
daselbst bis zum 29. Februar 1912 behandelt und beobachtet. Am 1. 3. 12
wurde er mit der Diagnose: Hirntumor, Sitz in der Gegend der linken
Zentralwindung (?) auf die chirurgische Abteilung zwecks eventueller
Operation verlegt. Das Untersuchungsergebnis auf der inneren Abteilung
ist auszugweise folgendes:
Etwas unterernährter Mann.
Lungen o. B.; Herz: normale Grenzen, Töne leise, rein. Puls 64,
weich. Arterien geschlängelt. Klagen über heftige Schmerzen in der linken
Stirnseite, die sich bis nach der linken Scheitelgegend hinziehen sollen.
Patellarrellexe lebhaft, besonders rechts entschieden gesteigert. Babinski
nicht deutlich dorsal, genau wegen Hyperreflexie der rechten Fußsohle
nicht festzustellen. In klareren Momenten leidlich verläßliche Angaben,
wobei sich eine erhebliche Störung der Berührungsempfindung nicht fest¬
stellen läßt. Spitz und stumpf wird unterschieden. Es werden Zuckungen,
die in der rechten Hand auftreten, dann auf den Arm und schließlich auf
das Bein übergehen, beobachtet. Es scheinen auch geringe Zuckungen
im rechten Fazialis zu bestehen. Lidschluß rechts zuweilen unvollkommen.
Auch sonst geringe Fazialisschwäche rechts.
16. 1. Augenuntersuchung: Neuritis optica mit vereinzelten Blu¬
tungsresten, besonders links. Augenbewegungen intakt.
23. 1. Für Lues kein Anhaltspunkt: Lumbalpunktion: klares
Punktat ohne wesentlich erhöhten Druck. Zeitiger Zerfall nicht vermehrt.
Ganz vereinzelte Lymphozyten. Wassermann in allen Konzentrationen
negativ, Blut nach Wassermann und Stern negativ. — Kein Druckpuls.
3. 2. Nach vorübergehender Besserung seit heute wieder Ver¬
schlechterung. Starke Somnolenz.
29. 2. In der letzten Zeit die mehrfach oben beschriebenen Krämpfe.
Augenuntersuchung: Stauungspapille beiderseits, stärker links.
Verlegt (nach der chirurgischen Abteilung).
2. 3. Neurologische Untersuchung: Linkseitige Ptosis pal-
pebrae. Linke Pupille weiter als die rechte. Lichtreaktion rechts gering,
linke Pupille anscheinend liehtstarr. Kornealreflexe beiderseits prompt.
Schädel links in der Gegend der Zentralwindung auf Beklopfen schmerz-
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Wendel,
haft, rechts keine Schmerzhaftigkeit. Zunge belegt, zittert beim Heraus¬
strecken. Im rechten Arm deutlicher Spasmus (Ellenbogengelenk), der
linke Arm ist auch nicht ganz frei davon. Starker Tremor der rechten Hand.
Kraft der Hände rechts stärker als links, nicht besonders herabgesetzt.
Armreflexe rechts wie links lebhaft. Bei Bewegungen der Arme besteht
deutliche Dyspraxie. Radiusperiostreflex rechts stärker als links. Tri¬
zepssehnenreflex beiderseits gleich. An Armen und Brust besteht Hyper¬
ästhesie. Patellarreflex rechts lebhafter als links. Kein Fußklonus, Pa-
tellarklonus rechts angedeutet. Links deutlicher Babinski, rechts Plantar¬
flexion. Bauchdeckenreflexe beiderseits sehr schwach. Abdomen stark
eingezogen, gespannt. In den Beinen erheblicher Widerstand bei pas¬
siven Bewegungen, Adduktoren am meisten gespannt. Blasen- und Mast¬
darmstörung.
3. 3. Pat. hat die Nacht ohne Narkotika verbracht. Bei der Unter¬
suchung besteht anfangs eine ziemlich starke Benommenheit, die die
Möglichkeit der Untersuchung in Frage stellt. Ferner besteht starke Kon¬
traktur in beiden Beinen und Armen, rechts etwas mehr als links. Dabei
kurze, krampfhafte Zuckungen im rechten Arm (hier beginnend) und
rechten Bein. Zittern der rechten Extremitäten. Nach einiger Zeit läßt
die Benommenheit nach, die Kontrakturen in den Extremitäten ebenfalls,
doch bleibt immer noch ein spastischer Zustand zurück. Es besteht beim
Pat. ein ziemliches, wohl auch pathologisches Unlustgefühl, sich unter¬
suchen zu lassen, er ist müde und gähnt des öfteren. Es wird nach längerer
Zeit erreicht, daß Pat. Augenbewegungen nach rechts ausführt, doch er¬
scheinen sie etwas gehemmt, auch kann er nach rechts nicht fixieren.
Sensibilitätsstörungen sind nicht deutlich nachzuweisen. Das Erkennen
von Gegenständen nach dem Gefühl geht gut, wenn auch etwas verlang¬
samt, vonstatten.. In der oberen und unteren Extremität zeigt sich eine
deutliche Dyspraxie, keine Ataxie. Es fehlt dem Pat. beim Greifen nach
Gegenständen die Tiefenempfindung.
4. 3. Gehör anscheinend links etwas schwächer als rechts. Links
ziemlich erhebliche Sehstörung. Pat. vermag heute nach rechts zu fixieren.
Finger-Nasenspitzenbewegung auch heute deutlich dyspraktisch, nicht
ataktisch. Bewegungen (Stiefelputzen, Winken) werden ziemlich prompt
ausgeführt. Linker Mundfazialis wird ein wenig stärker innerviert. Keine
Hemianopsie. Angaben über Lagegefühl unzuverlässig. Die Diagnose wird
auf einen Tumor in der Tiefe des linken Scheitellappens gestellt.
5. 3. Operation in Narkose (Prof. Wendel).
Operationsbericht: Auf dem rasierten Schädel wird die Median¬
linie, die Zentralfurche und die Sylvische Furche aufgezeichnet. Die Tre¬
panationsöffnung wird in Form eines länglichen Vierecks mit nach oben
gerichteter Basis angelegt, so daß die vordere schmale Seite von etwa
6 cm Länge hinter der hinteren Zentralwindung verläuft, die untere etwa
10 cm lange Längsseite in ganzer Länge oberhalb der Fossa Sylvii bleibt
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Zur Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. 863
und die hintere Schmalseite der vorderen an Länge entspricht und ihr
parallel läuft. Durchtrennung des Schädels erfolgt von einem einzigen
mit der Fräse am hinteren unteren Winkel angelegten Bohrloche aus
mittels Dahlgreenscher Zange sehr glatt und ohne Schwierigkeiten. Die
Weichteilblutung wird durch vorher angelegte Heidenhainsche Hinterstich¬
naht vollständig vermieden. Der Knochenlappen wird nach oben hin auf¬
gebrochen, die Dura pulsiert in der Mitte der TrepanationsöfTnung nicht,
an den Rändern nur wenig. Sie wird in Form eines x gespalten, dabei
■werden einige Gefäße umstochen. An der Hirnoberfläche keine Verände¬
rungen sichtbar bis auf die fehlende Pulsation, bei Druck Konsistenz in
der Tiefe anfangs vermehrt, da aber das Hirn schnell aus der Trepanations¬
öfTnung herausquillt, verliert sich dies bald wieder; mehrere Punktionen
erfolglos, daher wird im vorderen Drittel der TrepanationsöfTnung die
Hirnrinde in vertikaler Richtung 3 cm lang durchtrennt. Der eingeführte
Zeigefinger konstatiert sehr deutlich eine Vermehrung der Konsistenz
gegen die Tiefe und kömmt beim stumpfen Vordringen in 5% cm Tiefe
auf die rundliche Oberfläche eines gut abgegrenzten harten Tumors, und
zwar in der Nähe seines vorderen Poles. Es gelingt leicht, die der Hirn¬
rinde zugekehrte Fläche des Tumors trotz der beträchtlichen Tiefe von der
Hirnmasse abzudrängen, doch ist die Lösung seiner unteren Fläche nicht
ohne Zerquetschung von Hirnsubstanz möglich, da die Länge des Fingers
nicht ausreicht, um ihn hier überall zu erreichen. Trotzdem wird mit
Rücksicht auf die Lage im Parietallappen der Tumor entfernt, weil er sich
so mühelos ausschälen läßt, daß die dabei erfolgende Hirnquetschung
die einzige Komplikation darstellt. Die Entfernung des Tumors gelingt
ganz leicht, keine wesentliche Blutung, doch fließt Liquor aus dem offenbar
eröffneten Seitenventrikel ab. Der Defekt im Hirn schließt sich durch Nach¬
drängen der benachbarten Hirnmassen sofort, so daß bei der fehlenden
Blutung eine Tamponade oder Drainage nicht nötig ist. Um die Dura
exakt nähen zu können, ist es nötig, die sich vordrängenden gequetschten
Hirnteile abzutragen, dann gelingt ein exakter Verschluß; durch das
etwas erweiterte Bohrloch im hinteren unteren Winkel wird ein dünnes
Drain und zwei schmale Tampons, welche extradural liegen, nach außen
geleitet, der Knochendeckel zurückgeklappt, durch exakte Naht von Galea
und Perikranium sicher fixiert, Hautknopfnähte mit Seide, die Hinterstich¬
naht bleibt einige Tage liegen.
Pathologisch-anatomische Untersuchung der ausgelösten
Hirngeschwulst. Größe: 6: 4*4: 4 cm. Oberfläche grob gebuckelt,
Schnittfläche leicht gefeldert, grau mit zahlreichen käsigen und eiterähn¬
lichen Stellen. Mikroskopisch: Außen stellenweise etwas Gehirngewebe,
an das das Geschwulstparenchym unmittelbar anstößt.
Schmales Stroma aus faserreichem Bindegewebe. Parenchym besteht
aus großen, zwischensubstanzlosen Zellen mit scharfer Abgrenzung gegen
das Stroma. Zahlreiche Mitosen. Parenchymzellen und der ganze Habitus
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Wendel,
des Karzinoms erinnern an ein Plattenepithelkarzinom; Horn nicht nach¬
weisbar, dagegen stellenweise ausgesprochener faseriger Bau des Proto¬
plasmas (cf. die Epithelfasern der Epidermis und vieler Plattenepithel-
karzinome). Scharf begrenzte, zerfallene Stellen im Zentrum der großen
Zellzüge. Stellenweise wiegt das Stroma stark über das Parenchym vor.
Metastatischer Charakter nicht zu beweisen, aber denkbar oder wahr¬
scheinlich. Primäre Hirngeschwülste mit Plattenepithel sind nur als
Ependymgeschwülste bekannt.
Die Untersuchung der abgetragenen Gehirnmassen, welche beim
Verschluß der Dura hervorgequollen sind, ergibt: Hirnsubstanz und
weiche Hirnhaut mit (frischen) Blutungen.
5. 3. Noch auf der Bahre hört Pat. plötzlich auf zu atmen. Er wird
rasch zu Bett gebracht, und es wird künstliche Atmung eingeleitet. Der
Puls war ebenfalls ausgeblieben, kam aber nach Kampherinjektion wieder.
Nach ca. 8 Minuten künstlicher Atmung und Sauerstoffinhalation kommt
die Atmung wieder in Gang. Pat. erwacht ca. y 2 1 Uhr aus der Narkose,
ist unruhig, spricht viel, aber unverständlich. Nhch ca. 1 Stunde schläft
Pat. wieder ein. Tropfeinlauf, der jedoch nicht sehr lange gehalten wird.
Da Pat. außerdem durch Trinken, ohne zu erbrechen, reichlich Flüssigkeits¬
zufuhr hat, wird der Tropfeinlauf abgenommen. Pat. läßt fast halbstündlich
Urin unter sich. Puls abends etwas schwächer und beschleunigt.
6. 3. Die Nacht vom 5. zum 6. war ziemlich unruhig, Pat. schlief
hin und wieder ein, um bald wieder aufzuwachen. Narkotika wurden nicht
gegeben. Puls morgens ziemlich schwach, bald auch wieder besser, wech¬
selnd. Digalen 0,5. Pat. spricht ziemlich viel, immer noch unverständlich,
macht mit der rechten Hand häufig reibende Bewegungen auf dem Leib*
und greift nach der linken Kopfseite. Er öffnet häufig sehr weit die Augen.
Gegen Abend wird Pat. etwas klarer und verlangt zum ersten Male die
Urinflasche. Bei Darreichung von Nahrung äußert er Wohlbehagen.
Abends sind beide Pupillen sehr weit, rechte weiter als linke, reagieren aber
auf Lichteinfall. Pat. trinkt reichlich.
7. 3. Pat. hat bis 1 Uhr nachts kaum geschlafen, war unruhig und
ließ unter sich. Von 1 Uhr bis 8 Uhr ruhiger Schlaf. Pat. sieht morgens
bedeutend besser aus wie tags zuvor. Guter Appetit auf Flüssigkeiten.
Pat. ist bedeutend ruhiger, hat nicht unter sich gelassen, meldet seine Be¬
dürfnisse an. Nachmittags rechte Pupille bedeutend weiter als die linke.
Beim Darreichen von Getränken greift Pat. mit der rechten Hand stets
vorbei, die linke Hand greift ziemlich sicher, weniger dyspraktisch wie vor
der Operation.
8. 3. Pat. hat die Nacht ziemlich ruhig geschlafen, hin und wieder
kurzes Erwachen, bei dem er zu trinken wünscht und seine Zufriedenheit
über die Darreichung der Getränke äußert. Pat. bekommt etwas festere
Nahrung, die er erkennt und bezeichnet. Abends 7 Uhr spricht er vorüber¬
gehend unverständlich.
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Zur Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. 865
9. 3. Pat. hat die Nacht ziemlich ruhig zugebracht, nur hin und
wieder etwas geredet, zu trinken verlangt usw. Die neurologische Unter¬
suchung ergibt Paraphasie. Sonst tagüber nichts Besonderes; klare,
verständliche Sprache. Viel Durst.
10. 3. Nacht ohne Besonderheiten. Morgens 6 Uhr wird von der
Schwester ein ganz kurz dauernder Anfall beobachtet, während dessen er
die zum Trinken erhobene Tasse fallen läßt, die Augen schließt, den linken
Arm fallen läßt und bleich wird. Dauer vielleicht y* Minute. Vormittags
undeutliches, unverständliches Sprechen. Verbandwechsel: Entfernung
der Hinterstichnaht, wobei Pat. Schmerzen äußert und behauptet, lieber
tot sein zu wollen. Nachmittags spricht er wieder verständlich.
11. und 12. 3. Nichts besonders Auffälliges, man hat den Eindruck,
daß Pat. immer klarer wird. Er schläft gut, ißt und trinkt mit Appetit.
13. 3. Neurologische Untersuchung. Tiefenempfindung noch er¬
heblich gestört; Taktilität gebessert. Sprachstörungen ebenfalls geringer.
Erkennungsvermögen von Gegenständen, das nach der Operation gestört
war, gebessert, besonders rechts, woselbst die stärkere Störung vorhanden
war, aber immer noch geringer wie links.
Ophthalmologische Untersuchung: Links zurückgehende Stauungs¬
papille. Rechts ist die Stauungspapille noch stärker, ist weniger zurück¬
gegangen wie die linke. Das Gesichtsfeld scheint auf beiden Augen für
Handbewegungen intakt.
15. 3. Verbandwechsel: Nähte entfernt. Heilung per primam.
19. 3. Besserung schreitet rasch vorwärts, doch steht die aphasische
Störung noch im Vordergrund. Pat. erkennt allerlei Gegenstände, z. B.
Spielkarten, gut, doch fehlt ihm häufig der passende Ausdruck dafür.
Er gibt an, den Gegenstand zu erkennen, aber ihn nicht bezeichnen zu
können. Die Tiefenempfindung ist gebessert, doch ist besonders an der
rechten Hand immer noch eine Dyspraxie vorhanden, die sich allerdings
auch schon gebessert hat. Morgens beobachtet die Schwester einen
2 Stunden dauernden, allmählich nachlassenden Anfall von Steifigkeit
der rechten Extremitäten. Auch bei der Morgenvisite ist noch etwas ver¬
mehrter Tonus vorhanden.
26. 3. Dauernde Besserung. Sprache freier. Pat. hat gestern das
Bett verlassen, doch ist das Gehvermögen noch sehr gering, er kann nur
mit Unterstützung gehen und hat die Neigung, nach rechts zu gehen.
Augenuntersuchung: Beiderseits noch spritzerförmige Blutungen
um die Papille vorhanden. Links ist die Stauungspapille fast vollständig
zurückgegangen. Rechts schreitet auffallenderweise die Rückbildung
langsamer vorwärts. Augenbewegungen für grobe Untersuchung beider¬
seits frei. Keine Hemianopsie. Sehvermögen wie früher rechts schwächer.
Grobe Gesichtsfeldprüfung ergibt intakte periphere Gesichtsfeldgrenzen.
30. 3. Pat. vermag jetzt kurze Strecken ohne Unterstützung zu
gehen und allein aus dem Bett zu steigen. Er kann auch jetzt mit der
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Wendel,
rechten Hand, wenn auch etwas ungeschickt, essen. Ein eingetretenes Ge¬
witter erkennt er genau, auch den Hagelschlag, und gibt hierfür die richti¬
gen Bezeichnungen an. Der Appetit ist ausgezeichnet. Die Kopfwunde
ist vollkommen geheilt.
10. 4. Pat. befindet sich seit etwa 6. 4. dauernd außer Bett.
11. 4. Am hinteren Wundwinkel geringe Sekretion, da Pat. ge¬
kratzt hat.
17. 4. Wunde wieder völlig heil. Gute Gewichtszunahme, in
5 Wochen 10,9 kg. Dauerndes Wohlbefinden. Pat. selbst gibt noch
Störung des Gefühls in der rechten Hand und Kraftmangel im rechten
Arm als ziemlich die einzigen Beschwerden an, die er noch hat.
Augenuntersuchung: Links vollkommen abgeschwollene Stauungs¬
papille, eine kleine Blutung am temporalen Optikusrande. Am rechten
Auge genau derselbe Befund. Beiderseits einige atrophische Fasern.
Die Gesichtsfelder weisen darauf hin, daß der linke Traktus eine Läsion
erfahren hat, entweder durch Druck der Geschwulst oder bei ihrer Ent¬
fernung. Die Sehschärfe des rechten Auges beträgt V«. die des linken nur
V eo , da links durch die hochgradigere Stauungspapille mehr Sehnerven¬
fasern untergegangen sind; auch besteht links eine ziemlich erhebliche
Farbenstörung für grün.
9. 5. Im allgemeinen Status idem, dauerndes Wohlbefinden, doch
klagt Pat. zuweilen über Schmerzen in der Wunde am hinteren Wund-
winkel. Es findet sich daselbst eine kleine Rötung und Schwellung, die
undeutlich fluktuiert. Eine Inzision entleert ganz wenig Eiter, man
kommt mit der Sonde auf rauhen Knochen. Kleines Drain, Verband.
Augenuntersuchung: Beiderseits teilweise Atrophie, nichts, was auf
Rezidiv schließen ließe.
29. 5. Augenuntersuchung: Atrophie beiderseits, keine Stauung
mehr. Inzision eines linkseitigen Chalazeons.
8. 6. Auf Wunsch als geheilt entlassen. Entlassungsstatus: Ge¬
hirnnerven frei. Geringe Kraftabnahme im rechten Arme im Vergleich zu
links. Leichte Hypertonie sowie starke Lagegefühlsstörungen im rechten
Arm, besonders in den peripheren Gelenken. Taktilität in der rechten
Hand verlangsamt, dagegen scheinen Schmerzempfindungen deutlich
bemerkt zu werden. Ziemlich starke Unsicherheit beim Suchen der Nase
mit dem Finger. Winken, Drohen, Türaufschließen werden langsam und
ungeschickt gemacht. Bewegungen beim Anziehen werden ziemlich gut
ausgeführt. Im rechten Arm leichter Spasmus, Patellarreflex rechts stärker
als links. Achillessehnenreflexe fehlen beiderseits. Auch in den Beinen
taktile Störung, in den peripheren Gelenken ausgesprochene Unsicherheit
und Tiefenstörungen, rechts Ataxie; in den oberen Gelenken bessere Funk¬
tion. Wunde am Kopf geheilt, trocken.
27. 6. 12. Augennachuntersuchung: Derselbe funktionelle und
ophthalmoskopische Befund wie vor 4 Wochen, so daß von seiten der
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Zur Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. 367
Augen keine Indikation zu einem erneuten operativen Eingriff gestellt
werden kann.
Am 6. 8. 12. Wiederaufnahme.
Diagnose: Karzinom des linken Scheitellappens (Lokalrezidiv).
Exitus letalis am 20. 8. 12, 12 Uhr mittags.
Nach Angaben der Frau hat sich der Zustand des Pat. seit 5 Wochen
von Tag zu Tag verschlechtert. Er leidet seitdem an Kopfschmerzen
und vermochte nur unsicher zu gehen. Seit etwa 8 Tagen ist die rechte
Seite gelähmt, Pat. läßt Urin und Stuhlgang unter sich und hat wenig
Appetit. Seine Sprache ist undeutlich und unklar. Seit derselben Zeit
bemerkte die Frau in der Nähe der alten Operationsnarbe eine Geschwulst,
die sich allmählich vergrößert hat.
Status: Pat. macht einen etwas benommenen Eindruck, ist weiner¬
licher Stimmung und vermag an ihn gerichtete Fragen nicht zu beant¬
worten. Am hinteren oberen Winkel der Operationsnarbe findet sich eine
kugelsegmentartige Geschwulst vom Umfange eines Dreimarkstückes,
die sich derb anfühlt. Die Haut darüber ist gut verschieblich, dagegen
besteht eine sehr geringe Verschieblichkeit der Geschwulst gegen die Unter¬
lage. Auch sonst finden sich in der Operationsgegend noch einige flache
Anschwellungen.
Im rechten Arm, der vollkommen motorisch gelähmt ist, besteht
ein ziemlich starker Spasmus. Ein geringerer Spasmus ist in der unteren
rechten Extremität vorhanden, mit welcher Pat. im Knie- und Hüftgelenk
geringe aktive Bewegungen ausführen kann. Schmerzempfindung besteht
an beiden Extremitäten. Der rechte Fazialis ist paretisch. Die linke
Pupille ist weiter als die rechte, reagiert im Gegensatz zur rechten nur
schwach auf Lichteinfall. Der Kornealreflex ist beiderseits erhalten.
Rachenreflex positiv, Trizepssehnenreflex beiderseits vorhanden, Bauch-
deckenreflex und Kremasterreflex nur links vorhanden, Patellarreflex
rechts gesteigert, Babinski rechts positiv, links negativ. Sensibilitäts¬
störungen sind nicht nachzuweisen, allerdings sind die Angaben des Pat.
so unzuverlässig, daß die Prüfung nicht einwandfrei möglich ist. Kein
Fuß- und Patellarklonus.
9. 8. 12. Untersuchung durch den Neurologen, der den Befund
der rechtseitigen Hemiparese bestätigt und ihre Entstehung durch Tumor¬
metastase für äußerst wahrscheinlich hält. Am heutigen Tage wie sonst
schon zuweilen ist Pat. imstande, Gehörtes aufzufassen, doch ist seine Aus¬
drucksweise die gleich schwerfällige wie zuvor.
Probeexzision aus dem oben beschriebenen Tumor (in Lokalanästhe¬
sie, Prof. Wendel), zwecks Untersuchung im pathologischen Institut; diese
ergibt: Derselbe Bau der Geschwulst wie bei der früheren Untersuchung
nach der ersten Operation.
Leichtes Beklopfen der linken Hälfte des Schädeldachs schmerzhaft.
13. 8. 12. Die neurologische Untersuchung ergibt leichte Ptosis
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Wendel,
des linken Augenlides, eine unscharf begrenzte weiße Papille mit stark
geschlängelten Venen. Links findet sich nur eine geringe Lichtreaktion
Paraphasie, Astereognosie. Rechts findet sich ebenfalls eine unscharf be¬
grenzte weiße Papille mit stark geschlängelten Venen und eine vollkommene
Lichtreaktion.
19. 8. Der Tumor unter der Kopfschwarte vergrößert sich rasch,
ist jetzt auch an einigen anderen Stellen der Umgebung ebenso groß wie
das bei der Aufnahme vorhandene sichtbare Rezidiv. Allgemeinbefinden
verschlechtert sich zusehends. Pat. ist seit einigen Tagen ganz apathisch.
20. 8. 12. Exitus letalis gegen 12 Uhr mittags.
Sektionsergebnis: Mannsfaustgroße Geschwulst der linken Neben¬
niere. Über apfelgroße Geschwulstknoten in den beiderseitigen Lymph-
drüsen an den Lungenhilus. — An der linken Großhirnhalbkugel Ge¬
sell wulstknoten, die auf die knöcherne Schädelkapsel und auf die Kopf¬
schwarte tibergreifen.
Ausgedehnte Blutungen im Endokard.
Leicht verdickte Mitralklappe und Aortenklappe.
Lobuläre graue Hepatisation im rechten Unterlappen der Lunge.
Starker Plattfuß beiderseits.
Blutungen in der Magen- und Duodenalschleimhaut.
Oberflächliches Dekubitalgeschwtir am Gesäß.
Epikrise. Es handelt sich in diesem Falle um einen Tumor im
Bereiche des linken Parietallappens, und zwar in beträchtlicher Tiefe.
Die neurologischen Symptome zeigten sowohl eine Schädigung der von
den linken Zentralwindungen ausgeübten Funktionen als auch deutliche
Hinweise auf eine Beteiligung des linken Parietallappens. Sowohl in den
rechtseitigen Extremitäten als auch im rechten Fazialisgebiet traten
deutliche Reizerscheinungen und Lähmungserscheinungen (besonders
spastische) auf. Die in der rechten Hand auftretenden und von da sich
rechtseitig ausbreitenden Zuckungen (also analog den Erscheinungen
einer Rindenepilepsie) sprachen für eine Beteiligung der linken Zentral -
Windungen. Die zeitweise auftretenden spastischen Erscheinungen in den
linken Extremitäten waren jedenfalls geringer als rechts.
Besonders deutlich traten in diesem Falle die Störungen von Funk¬
tionen auf, die für den Parietallappen und teilweise besonders für den
linken Parietallappen spezifisch sind. Hierher gehört das Fehlen der
Tiefenempfindung und die Störungen des Lagegefühls. Die Dyspraxie
beider Arme und beider Beine wäre so zu erklären, daß gerade das Zentrum
für die Praxie bei Rechtshändern im wesentlichen im linken Scheitel -
lappen lokalisiert ist und von hier aus auch die linkseitigen Extremitäten
bis zu einem gewissen Grade mitversorgt werden. Der tiefe subkortikale
Sitz des Tumors im Parietallappen macht es erklärlich, daß dessen Funk¬
tionen nur teilweise gestört waren und insbesondere keine weiteren Sensi¬
bilitätsstörungen und keine Agraphie und Aphasie nachweisbar waren,
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Zar Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. 869
wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß wohl die während der meisten
Zeit bestehende Benommenheit und die Unlust des Pat., sich untersuchen
zu lassen, die Untersuchung wesentlich erschwert und beeinträchtigt haben,
so daß auch die sicher vorher schon vorhandene Paraphasie sich erst
nach der Operation feststellen ließ, als das Sensorium freier war. Be¬
sonders auffällig wäre ferner das Fehlen von reiner Alexie und Hemi¬
anopsie, die bei # tiefer sitzenden Tumoren besonders in der Gegend des
Gyrus angularis meist vorhanden sind. Es entspricht dies teilweise jedoch
auch einer Beobachtung von Bruns , daß Tumoren in der Markmasse des
linken Parietalhirns bisweilen ohne jedes auf ihren genaueren Sitz hin¬
weisende Symptom verlaufen; ferner dürfte auch die Untersuchung auf
Alexie durch die vor der Operation bestehende Beeinträchtigung des Be¬
wußtseins sehr erschwert gewesen sein. Schwieriger zu beantworten ist die
Frage, wie die Störungen der von den vorderen linken Zentralwindungen
ausgeübten Funktionen in diesem Falle zu deuten sind. Am leichtesten
lassen sie sich als Nachbarschaftssymptome erklären, besonders wenn man
noch berücksichtigt, daß sie in ihrer Intensität stark wechselten, und zwar
dürften es bei dem tiefen subkortikalen Sitz des Tumors im wesentlichen
Druckwirkungen auf den motorischen Stabkranz gewesen sein, die zu den
genannten Störungen geführt haben.
Die Blasen- und Mastdarmstörungen lassen sich am besten als
Fernsymptome, in diesem Falle als Schädigung der Medulla oblongata
durch die Druckerhöhung, erklären. Auch die unmittelbar nach der Opera¬
tion beim Hinüberlegen des Pat. in sein Bett beobachtete Atemlähmung
beweist, daß die Medulla oblongata unter der Einwirkung der Druckver¬
hältnisse stand, welche der Tumor und seine operative Entfernung im
Gehirn auslösten. Solche Einwirkungen auf das Atemzentrum bei Opera¬
tionen von Tumoren der hinteren Schädelgrube sind bekannt. Daß auch
entferntere Tumoren noch solche Einwirkungen haben können, ist nicht
wunderbar, wenn sie eine gewisse Größe erreicht haben.
Die Lokaldiagnose des Tumors auf neurologischem Wege ist also
hier in ziemlich vollkommener Weise gelungen, besonders infolge richtiger
Bewertung der zutage getretenen Symptome zugunsten des Parietal-
lappens. Nach Eröffnung der Schädelhöhle zeigte sich in der Mitte der
freigelegten Hirnoberfläche ein Fehlen der Pulsation und eine Vermehrung
der Konsistenz als weitere Symptome für einen hier sitzenden Tumor,
und zwar weiter in der Tiefe. Da mehrere Punktionen ergebnislos ver¬
liefen, wahrscheinlich infolge zu fester Beschaffenheit des Tumors, so
mußte man jetzt zur weiteren Diagnose der Hirngeschwulst und gleich¬
zeitig zu ihrer Entfernung die Spaltung der deckenden Hirnmassen vor¬
nehmen, die dann auch das gewünschte Ergebnis hatte.
Es verdient noch erwähnt zu werden, daß die Eröffnung des Seiten-
Ventrikels keine sichtliche Störung hervorrief. Die Wunde schloß sich durch
die zusammendrückenden Hirnmassen sofort und so vollkommen, daß
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Wendel,
auch bei der Nachbehandlung kein Liquor abfloß. Bei der Sektion war
die Heilung so vollkommen eingetreten, daß die Stelle des Einrisses nur
vermutet werden konnte.
3. P., Marie, 26 Jahre alt, Kutschersfrau.
Diagnose: Duraendotheliom, zum Teil zystisch zerfallen.
Operation: Exstirpation mit Duraplastik.
Aufnahme am 25. 2. 13.
Abgang am 16. 4. 13 als geheilt.
Anamnese: Pat. bemerkte vor 5 /* Jahren, daß der linke Arm sehr
leicht ermüdete, einige Wochen später zeigte sich auch eine Schwäche im
linken Bein, dasselbe wurde beim Gehen nachgezogen. Die Schwäche
nahm mit der Zeit noch zu, und alle angewandten Mittel (Kohlensäure¬
bäder, Elektrisieren usw.) brachten keine Besserung. Vor 5 Tagen kam
Pat. zum Neurologen, welcher sie heute der hiesigen chirurgischen Ab¬
teilung überwies. Pat. war früher immer gesund, sie machte eine Normal-
und eine Fehlgeburt vor drei Jahren durch. Mann und Kind sowie Eltern
und ein Bruder sind gesund.
Seit y 4 Jahr Kopfschmerzen, kein Erbrechen, leichtes Schwindel-
gefühl.
Befund: Gut genährte, kräftig gebaute Pat. Herz und Lungen
gesund. Keine Temperatursteigerung. Puls 80—90, von normaler Span¬
nung. Abdomen weich, nirgends druckempfindlich. Leber und Milz in
normalen Grenzen.
Nervensystem: Klarer Geisteszustand. Kopf rechts druckempfind¬
licher als links. Innere und äußere Augenmuskeln ungestört. Gute Seh¬
kraft. Geruch und Gehör nicht verändert. Linker Fazialis außer Ramus
frontalis paretisch. Zunge weicht beim Herausstrecken nach links ab.
Sehr starker Spasmus im linken Arm, besonders im Schulter- und Ellen¬
bogengelenk, auch im linken Bein, besonders im Kniegelenk. Mäßige
Parese im linken Bein und stärkere Parese im linken Arm. Starke Ataxie
im finken Arm und Bein. Stereognostische Agnosie in der finken Hand.
Zweifelhafte Tiefensensibilitätsstörungen in der finken Hand und im Unken
Bein. Blase und Mastdarm frei. Übrige Sensibilität ganz wenig gestört.
Augenhintergrund nicht verändert.
26. 2. 13. Hirnpunktion (Prof. Wendel ): Infiltration der Kopf¬
schwarte und des Perikraniums mit einigen Kubikzentimetern Novokain-
lösung, wodurch die folgende Hirnpunktion vollkommen schmerzlos ge¬
macht wurde. Als Punktionsstelle wird vom Neurologen (Sanitätsrat
Völsch) ein Punkt bezeichnet, welcher über dem rechten Parietallappen
gelegen, von der nach Kocher konstruierten vorderen Zentralwindung 5 cm
nach hinten liegt und ebensoweit von der Mittellinie entfernt bleibt.
Elektrische Durchbohrung des Knochens. Zwischen Dura und Knochen
keine abnorme Flüssigkeit. Einführung der spitzen Kanüle durch die
Bohröffnung bis 5 cm von der äußeren Haut, nachdem vorher festgestellt
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Zur Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. 871
ist, daß der Abstand der Dura von der infiltrierten Hautoberfläche 1,7 cm
beträgt. Die erste Punktion ergibt nur Blut und Hirnsubstanz, die zweite
liefert eine gelbe, durch frisches Blut gefärbte Flüssigkeit; durch eine dritte
Punktion gelingt es, eine vollkommen klare, sehr stark eiweißhaltige,
bernsteingelbe Flüssigkeit ablaufen zu lassen, welche zuerst im pulsierenden
Strahle abläuft, sehr bald aber nur tropfenweise und dann versiegt. Im
ganzen werden 14 ccm durch diese Punktion entleert; beim Zurückziehen
der Kanüle unter negativem Spritzendruck wird noch etwas von der
gleichen, aber wieder blutig gefärbten Flüssigkeit und ein Gewebstück
aspiriert. Das Gewebstück erweist sich als zerfallendes Gewebe, welches
bei der frischen Untersuchung nicht näher identifiziert werden kann.
Die gelbe Flüssigkeit muß als Inhalt einer Zerfallshöhle angesprochen
werden, da die Lumbalpunktion vollkommen klaren, normalen Liquor
ergibt, der sehr deutlich von der gelben Flüssigkeit verschieden ist. Der
hohe Eiweißgehalt der Flüssigkeit ergibt sich aus einer schon nach wenigen
Minuten eintretenden Gerinnung. Die Punktion wird mit diesem Ergebnis
abgebrochen und die weitere Untersuchung abgewartet.
28. 2. 13. Pathologisch-anatomisches Untersuchungsergebnis des
Hirnpunktionsmaterials (Prof. Ricker): Mikroskopische Untersuchung
am gehärteten und gefärbten Material: Zerfallenes Gewebe, mindestens
zum Teil keine Hirnsubstanz. Befund kann am besten mit Herkunft aus
einer Geschwulst in Einklang gebracht werden.
5. 3. 13. Die Nachuntersuchung des Nervensystems ergibt: Besse¬
rung des stereognostischen Erkennungsvermögens; Spasmen, Atonie un¬
verändert. Seit 2 Tagen wieder Kopfschmerzen. Allgemeinbefinden gut.
Die Untersuchung des Zysteninhalts ergibt, daß es sicher kein Liquor,
sondern ein sehr eiweißreicher, fadenziehender Inhalt einer Zyste ist. Wäh¬
rend der Neurologe, Sanitätsrat Völsch, geneigt ist, einen zystischen
Tumor anzunehmen, spricht das zerfallene Gewebe, welches Prof. Ricker
gefunden hat, mehr für eine Zerfalls- resp. Pseudozyste. Nach det* Punk¬
tion bessert sich nach Angabe der Pat. die Parese ein wenig; keinerlei
Störungen treten auf. Objektiv keine Besserung; Operation dringend
empfohlen.
Operation 8. 3. 13 (Professor Wendel): Bildung eines Hautperiost¬
knochenlappens mit abgerundeten Ecken. Basis nahe der Mittellinie,
Länge 10 cm, Breite 7 cm. Der hintere Punkt der Basis liegt etwa 3 cm
nach vorn von der Spitze der Lambdanaht. Der Knochen ist auffallend
dick. Nach Aufklappen findet man leicht die Punktionsstelle in der Dura.
Dura stark gespannt, drängt sich in den Defekt, pulsiert nicht. Beim Ein¬
schnitt in die Dura kommt man in eine von der Dura ausgehende, ziemlich
weiche Geschwulst von gelapptem Bau, gelblichgrauer Farbe, sehr wenig
gefäßreich. Die Geschwulst sitzt breitbasig der Innenfläche der Dura auf,
und es gelingt, sie nach vorn zu umgreifen, nachdem hier die Dura bis an
den Knochendefektrand gespalten ist. Der Finger dringt jetzt an der
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Wendel,
vorderen Geschwulstgrenze vorbei in eine große Höhle, welche mit der¬
selben klaren gelben Flüssigkeit gefüllt ist, die bei der Punktion gefunden
war. Man muß den ganzen Zeigefinger einführen, um den Grund der
Höhle zu erreichen. Mit der Kanüle werden 30 ccm von der Flüssigkeit
ausgesaugt, etwa ebensoviel ist spontan abgeflossen. Von der Höhle aus
wird nun die Geschwulst an ihrer Innenfläche abgetastet. Ihre Basis hat
etwa die Größe eines Fünfmarkstückes oder etwas mehr. Es gelingt, die
Geschwulst stumpf ringsum abzulösen und mit einem entsprechenden
Stück der Dura zu exstirpieren. Ein kleiner, nach vorn und der Mitte zu
gelegener Lappen wird noch besonders entfernt, ebenso rings herum die
Dura so weit exstirpiert, bis sicher gesundes Gewebe vorliegt. Man sieht
jetzt in den großen, in der rechten Hemisphäre gelegenen Defekt hinein.
Blutung ist gering und wird durch kurze Tamponade völlig gestillt. Die
kleinere, der Geschwulst selbst entsprechende Höhle hat die Größe einer
großen Walnuß mit einigen kleinen Buchten, nach unten von ihr schließt
sich der apfelgroße, der Zyste entsprechende Teil der Höhle an. Dieser
ist von einer glatten Wand begrenzt, die Farbe und Aussehen der weißen
Hirnsubstanz trägt und auf der deutlich Gefäßverzweigungen sichtbar
sind. Die Konsistenz bei Fingerdruck ist derber, als der normalen weißen
Hirnsubstanz entspricht. Nach der Oberfläche zu wird der Defekt von
grauer Hirnsubstanz begrenzt, auf deren Oberfläche man deutlich Furchen
und Windungen unterscheiden kann, die aber stark abgeplattet sind. Noch
längere Zeit nach der Entleerung der Höhle ist keine Pulsation wahrnehm¬
bar, allmählich aber hebt sich der Boden der Höhle heraus, die Seiten-
wände fallen zusammen, so daß hierdurch der Defekt in der Hirnsubstanz
selbst bis auf eine Delle verschwindet und dafür ein mehr als fingerdicker
Hohlraum zwischen Schädelknochen und Dura entsteht. Der Defekt
der Dura läßt sich nur zum Teil durch Naht schließen, der Rest von der
Größe eines Daumenballens wird durch einen freien, aus der linken Fascia
lata entnommenen Lappen gedeckt und der große Hohlraum zwischen
Knochen und Dura durch einen handflächengroßen Unterhautfettlappen
vom linken Oberschenkel ausgefüllt. Da die Blutung völlig steht, kann
man auf Drainage und Tamponade verzichten. Der Knochenlappen wird
reponiert und durch tiefgreifende Nähte der Kopfschwarte exakt fixiert.
Druckverband.
Gewicht der entfernten Geschwulstmassen (ohne die Flüssigkeit) 25 g.
9. 3. 13. Lähmung des linken Armes und linken Beines. Gesichts¬
nerven unverändert. Kopfschmerzen, kein Erbrechen, Puls und Atmung
gut.
12. 3. 13. Lähmung des linken Armes und linken Beines bis zum
Handgelenk resp. Fußgelenk verschwunden. Stereognostische Agnosie
ausgesprochen. Sensibilität intakt. Allgemeinbefinden relativ gut.
Kopfschmerzen noch vorhanden, Puls gut, kein Erbrechen, kein Fieber.
14. 3. 13. Heilung, p. p. Nähte entfernt, Kollodiumverband.
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Zur Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. 873
16. 4. 13. Kopfwunde, Oberschenkelwunde fest verheilt. Pat. geht
allein umher. Lähmung der Extremitäten gänzlich verschwunden. Stereo-
gnostische Agnosie fast völlig beseitigt. Keine Kopfschmerzen, kein
Schwindel, guter Allgemeinzustand. Pat. entlassen.
Mikroskopische Untersuchung der Hirngeschwulst (Prof. Ricker ):
Sogenanntes Endotheliom in typischer Ausbildung, mit besonders ausge¬
sprochener deutlicher Verflechtung der Zellzüge. Kollagenzwischen-
substanz, sonst meist reichlich, fehlt fast ganz. Einige kleine, durch Ver¬
flüssigungsnekrose entstandene Hohlräume (vergleichbar dem großen,
durch Punktion entleerten). Sämtliche 4 Durastückchen mit sich an¬
schließender Geschwulst.
Spätere Nachrichten ergaben, daß die Pat. anfangs öfter unter Kopf¬
schmerzen zu leiden hatte, bald aber sich völlig gesund fühlte. Jetzt unge¬
störtes Wohlbefinden, keine Ausfalls- oder Reizerscheinungen seitens des
Zentralnervensystems.
Epikrise. Dieser Fall betraf einen rechtseitigen Parietalhirntumor,
dementsprechend finden wir die hauptsächlichsten Funktionsstörungen in
den linken Extremitäten. Auffallend ist wieder die Störung auch der von
der rechten vorderen Zentralwindung ausgeübten Funktionen; hierhin
gehören die Spasmen und Paresen im linken Arm und Bein, die linkseitige
Hypoglossus- und Fazialisparese. Mit der hinteren Zentralwindung und
besonders mit dem Scheitellappen in Beziehung zu bringen sind dagegen
die Ataxie im linken Arm und Bein, die stereognostische Agnosie in der
linken Hand und die in diesem Falle nicht ganz sicher nachgewiesenen
Störungen der Tiefensensibilität in der linken Hand und im linken Bein.
Auch in diesem Falle waren die Erscheinungen von seiten der vorderen
Zentralwindung wohl im wesentlichen als Reiz- und Nachbarschafts¬
symptome anzusprechen, während die Ataxie und die stereognostische
Agnosie als Herdsymptome aufzufassen waren und im wesentlichen auf
den oberen Scheitellappen und den angrenzenden Gyrus supramarginalis
hinwiesen. In diesem Gebiete war dann auch die Hirnpunktion er¬
folgreich, und der Tumor wurde bei der Operation an dieser Stelle sub-
dural, von der Dura selbst ausgehend, gefunden.
Die drei Fälle verhielten sich also bezüglich der parietalen Herd¬
symptome verschieden. Im ersten Falle fehlten fast alle Symptome,
welche für das Parietalhirn sprachen, in den beiden anderen Fällen
waren sie sehr typisch. Daß dieser Unterschied in dem Ursprung, der
Art, der Wachstumsweise der betreffenden Tumoren seine Erklärung
findet, ist anzunehmen, ohne daß doch absolut klar wäre, wie hier im
einzelnen Ursache und Wirkung zueinander liegen. Wie wichtig nicht
nur Herd-, sondern auch Nachbarschaftssymptome sein können, liegt
hierbei auf der Hand. Ganz besondere Bedeutung hat in diesem
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Wendel,
Falle die Hirnpunktion gehabt. Denn ich bin überzeugt, daß der von
der Falx ausgehende Tumor nicht gefunden worden wäre, wenn ent¬
sprechend der Wahrscheinlichkeit der neurologischen Diagnose im
Stirnhim trepaniert worden wäre. Daß gerade in diesem Falle die für
den so besonders befriedigenden Verlauf maßgebliche topische Diagnose
und zugleich auch die histologische Diagnose durch die Hirnpunktion
gestellt wurde, ist ein entschiedener Erfolg der Hirnpunktion. Über
ihre Wertung wird verschieden geurteilt.
In unseren drei Fällen wurde sie zweimal ausgeführt. Schädi¬
gungen haben sich in beiden Fällen nicht ergeben, wohl aber ziemlich
bedeutende Vorteile. Bei dem Pat. S. wurde neben der Artdiagnose
des Tumors die neurologische Lokaldiagnose so korrigiert, daß die
Trepanationsstelle mit wesentlich größerer Sicherheit und Genauig¬
keit bestimmt werden konnte, was besonders bei subkortikalen Ge¬
schwülsten von großem Wert sein dürfte. Bei der Patientin P. erhielt
man durch die Punktion wertvolle Aufschlüsse über die Art des Tumors,
indem neben dem Tumor das Vorhandensein einer Zyste festgestellt
wurde. Erst nach diesem Ergebnis der Punktion gab sie ihre Ein¬
willigung zur Trepanation. Man muß betonen, daß die Patienten selbst
nicht selten zu einer Punktion drängen, besonders, wenn sie vorher
mit ihrem Hausarzte darüber gesprochen haben. Sie verlangen, ehe
sie sich zur Exstirpation eines diagnostizierten Tumors entschließen,
größere Sicherheit über Lokalisation, Art und Operabilität des Tumors,
als man ihnen bisweilen geben kann. Und man darf doch nicht ver¬
gessen, daß noch nicht alle Himgegenden aufgehört haben, „stumm“
zu sein. Ein in seiner Bedeutung zweifelhaftes Symptom kann in
einem solchen Falle sehr wohl die Indikation für eine Punktion geben,
während man daraufhin nicht trepanieren würde. Ich habe bisher mit
der Punktion keinem meiner Patienten geschadet, vielen sehr erheblich
genützt. Ich bin daher der Ansicht, daß man nur nach strenger In¬
dikation punktieren soll, dann aber vorteilhaft davon Gebrauch
machen wird. Allerdings gehört dazu ein auch in Untersuchung frischen
Materials erfahrener pathologischer Anatom. In meiner Abteilung sitzt
im Nebenraum Herr Prof. Richer am Mikroskop und untersucht sofort
das punktierte Material. Die Punktion geschieht stets in Lokal¬
anästhesie, so daß also ruhig auf das Resultat der Untersuchung ge¬
wartet werden kann. Eine etwa sofort nötig werdende Trepanation
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Zur Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. 875
ist vorbereitet. Immerhin dürfte die Warnung Krauses vor kritik¬
loser Anwendung der. Hirnpunktion ihre volle Berechtigung haben,
da sich eine Verletzung von Blutgefäßen auch bei der größten Vorsicht
nie mit Sicherheit vermeiden läßt und bei harten Tumoren die Punktion
ergebnislos verlaufen kann, indem nichts aspiriert wird, dagegen durch
den sich bietenden Widerstand und die Druckschwankungen Schädi¬
gungen für den Patienten ausgelöst werden können. Zu bemerken
wäre hier noch, daß sich auch bei unserem ersten Fall (S.) an der
Punktionsstelle in der Tiefe über dem Tumor ein offenbar von der
Punktion herrührender kleiner Bluterguß fand. Daß die Punktion
bei Hirnabszessen und Solitärtuberkeln stets die Gefahr einer Menin¬
gitis in sich birgt, ist einleuchtend. Man wird deshalb in solchen Fällen
für die Punktion ganz besonders strenge Indikationen fordern.
Mit einigen Worten möchte ich auf die von mir im Fall III erfolg¬
reich ausgeführte Autoplastik eingehen. Sie hatte den Zweck, den
großen Duradefekt zu ersetzen, welcher gemacht werden mußte, da
die Dura selbst die Matrix der Geschwulst bildete, und außerdem den
nach der Geschwulstexstirpation bleibenden Hirndefekt plastisch aus-
zufüllen. Über die Notwendigkeit eines plastischen Duraersatzes kann
heutzutage kein Zweifel mehr herrschen. Auch die Faszie hat sich als
geeignetes Material bewährt. Strittig aber kann es sein, ob man einen
bestehenden Hirndefekt plastisch ausfüllen soll. In den meisten Fällen
hat man bei Exstirpation von Hirntumoren nicht mit Defekten zu
rechnen, sondern im Gegenteil mit Prolapsen. Aber nach meiner Über¬
zeugung wäre es ein Fehler gewesen, wenn man einen nach Operation
eines zystischen Tumors bleibenden Defekt nur mit Tampons ausge¬
füllt hätte. Nach ihrer Entfernung wäre mit größter Wahrscheinlich¬
keit wieder eine Zyste entstanden. Dagegen ist ein autoplastischer
Fettlappen ein ideales Material, um sich einer vielbuchtigen, unregel¬
mäßigen Höhle eng anzulegen, man kann Überschüssiges leicht ab-
tragen, man wird auf die Blutstillung einen günstigen Einfluß erwarten
können. Mich hat die Fetttransplantation nach jeder Hinsicht so be¬
friedigt, daß ich sie für einen wesentlichen Fortschritt gegenüber der
Tamponade mit ihren vielen Fehlerquellen und Gefahren bezüglich
Asepsis, Liquorfistel, Adhäsionsbildung, Zystenbildung usw. halte.
Ebenso, wie man in der Bauchhöhle eine Tamponade nur als kleineres
Übel anwenden wird, soll man auch in der Schädelhöhle möglichst
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Wendel,
primär verschließen. Daraus folgt eigentlich von selbst, daß man vor
dem Zurückklappen des Knochendeckels bleibende Hohlräume auto-
plastisch verschließen soll.
Wenn wir die operativen Resultate zusammenfassen, so kann
man sie als durchaus günstig bezeichnen. In jedem Falle trat Heilung
ein. Daß sie im 2. Falle nicht dauernd sein konnte, war in der meta¬
statischen Natur des Tumors begründet.
Bei dem ersten Falle (S.) fand sich nach der Operation zunächst
eine Lähmung der rechtseitigen Extremitäten, wahrscheinlich infolge des
operativen Eingriffs in Verbindung mit dem sich in diesen Fällen oft im
Operationsgebiet entwickelnden ödem, auch mitbedingt durch die plötz¬
lichen lokalen Verschiebungen und Druckschwankungen. Aber schon am
4. Tage nach der Operation begannen die Lähmungen zu verschwinden,
gleichfalls besserten sich die übrigen vor der Operation vorhandenen
Krankheitserscheinungen, so daß nach 7 Wochen bei der Entlassung nur
noch die Kontraktur und eine mäßige Ataxie im rechten Bein vorhanden
war. In der Folgezeit hielt die Besserung weiter an, und es trat schließlich
völlige Heilung ein, so daß der Pat. wieder voll dienstfähig wurde. Einmal
nach ca. 2 Jahren trat ein Krampfanlall nach Art der Rindenepilepsie auf,
wahrscheinlich durch die Duranarbe im Operationsgebiet bedingt. Diese
Narbe dürfte verantwortlich zu machen sein, da nach Entwicklung des
Tumors die Dura sich nicht wieder exakt durch Naht vereinigen ließ,
sondern an einer Stelle eine Lücke blieb, die mit einem Tampon bedeckt
wurde. In der ferneren Zeit sind jedoch keine weiteren Krampfanfälle
aufgetreten.
In dem zweiten Falle (Z.) wurde nach der Operation das Sensorium
wesentlich freier als in der ganzen vorherigen Beobachtungszeit. Es wurde
daher auch als weiteres auf den Scheitellappen hinweisendes Symptom
die vorher sicher schon vorhandene Paraphasie festgestellt. Auch die
übrigen Krankheitserscheinungen besserten sich wesentlich, wenn auch
langsam, so daß der Pat. schließlich ohne stärkere Störungen seiner körper¬
lichen und seiner Sinnesfunktionen entlassen werden konnte. Ca. 2 Monate
später wird Pat. mit den Erscheinungen eines Lokalrezidivs wieder ein-
geliefert, das denn auch bald den Tod herbeiführt. Die Autopsie bestätigte
die schon bei der Untersuchung des bei der Operation gewonnenen Tumors
vom Pathologen ausgesprochene Vermutung, daß es sich hier um einen
metastatischen Tumor handle; es fand sich als primärer Tumor eine link¬
seitige Nebennierengeschwulst, die außer der Hirnmetastase auch noch
Lymphdrüsenmetastasen an den Lungenhilus gemacht hatte.
In dem letzten Falle (P.) schließlich finden wir analog dem ersten
Fall am Tage nach der Operation Lähmung der Extremitäten der gegen¬
überliegenden Seite, die auf dieselbe Weise zu erklären ist, und die auch in
der Folgezeit völlig wieder schwindet. Auch die übrigen Symptome
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Zur Chirurgie der Hirntumoren im Bereiche des Parietallappens. 877
bilden sich, wenn auch teilweise etwas langsamer, so doch vollständig
zurück, so daß der endgültige Befund bei der Entlassung einer Restitutio
ad integrum gleichkommt.
Was die Blutstillungsmethoden anbetrifft, so wurde zur Stillung
der Weichteilblutungen im ersten Fall (S.) eine Gummibinde um
Stirn und Hinterhaupt gelegt, in dem zweiten Falle (Z.) wurde von
der Heidenhainschen Hinterstichnaht Gebrauch gemacht, beide Me¬
thoden erfüllten ihren Zweck in völlig zufriedenstellender Weise.
Eine wesentliche Blutung aus den durchtrennten Knochen (Diploe)
trat in keinem Fall auf, weder bei der Durchtrennung mit Gigfitscher
Drahtsäge noch bei der Anwendung der Dahlgreenschen Knochenzange.
Als Methode der Wahl ziehe ich die Durchtrennung mit Dahlyreenscher
Knochenzange vor, da hierzu die Anlegung nur eines Bohrloches nötig
ist und durch das Durchkneifen des Knochens gleichzeitig eine gewisse
Kompression der Diploe stattfindet und so stärkere Blutungen aus
der Diploe mit größerer Sicherheit vermieden werden. Jedenfalls war
in keinem von unseren Fällen eine kompliziertere Methode, wie
Einschlagen von Elfenbeinstiften usw., zur Stillung der Knochen¬
blutung nötig.
Etwas verschieden verhielt sich die Blutung aus den Hirngefäßen
nach Entwicklung des Tumors. Es ist dies auch teilweise mit abhängig
davon, ob der Tumor mit den umgebenden Hirnmassen enger ver¬
wachsen ist, was besonders eintritt, wenn er ein infiltrierendes Wachs¬
tum zeigt, oder ob er gut abgekapselt ist und im wesentlichen ver¬
drängend gewirkt hat. Das letztere war bei unseren drei besprochenen
Geschwülsten der Fall. Die Blutung war daher auch bei allen drei
Fällen gering oder fehlte fast ganz, zumal auch die Ausschälung des
Tumors stumpf mit dem Finger vorgenommen wurde.
In dem ersten Falle (S.) wurde die mäßige Blutung durch Tamponade
leicht beherrscht, in den übrigen Fällen war eine Tamponade der Wund¬
höhle nicht nötig.
Bei dem Pat. S. wurde nach der Beendigung der Operation, um einer
Blutung nach Abnahme der Gummibinde vorzubeugen, Haut und Galea
mit tiefgreifender fortlaufender Seitennaht genäht und ein Druckverband
angelegt mit dem Erfolge, daß nach Abnahme der Gummibinde der Druck¬
verband nicht durchblutet wurde. Es trat bei dieser Behandlung primäre,
fast reaktionslose Heilung ein, Tampon und Nähte wurden nach 6 Tagen
entfernt, der Verband war trocken, sehr wenig durchblutet, und auch in
der Folgezeit zeigte sich nur geringes Wundsekret; die Temperatur stieg
in den nächsten Tagen nach der Operation nicht über 37,2°.
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Wendel, Zar Chirurgie der Hirntumoren usw.
Bei dem Pat. Z. blieben nach der Operation nur ein dünnes Drain
und zwei schmale, extradurale Tampons liegen, im übrigen wurde auch
primär genäht; die Hinterstichnaht blieb zunächst noch liegen, so daß
man einen Kompressionsverband entbehren konnte. Nach 10 Tagen
wurden die Nähte entfernt, es war auch eine primäre Heilung ohne wesent¬
liche Störungen und Temperatursteigerungen eingetreten.
In dem dritten Falle (P.) läßt sich die geringe Blutung nach Aus¬
schälung des Tumors durch kurze Tamponade beherrschen und durch die
Fettransplantation völlig stillen. Hier ist der Wundverlauf, da kein Drain,
kein Tampon stört, völlig ideal. 6 Tage nach der Operation werden die
Nähte entfernt und ein Kollodiumverband gemacht. Auch der spätere
Verlauf beweist ein glattes Einheilen der freien Transplantate. Bisher sind
weder epileptische Zustände noch sonstige Beschwerden eingetreten, bei
der Größe des Tumors ein gewiß beachtenswertes Resultat. Man kann
also sagen, daß die Transplantation in diese'm Falle nicht nur erhebliche
Vorteile für die unmittelbare Wund Versorgung gehabt hat, sondern auch
funktionell sich bewährt hat.
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Die Behandlung der Erregungszustände in der
Anstalt.
Von
T’rof. Dr. Weber,
Dir. der städtischen Nervenheilanstalt zu Chemnitz.
Daß die wechselnden Anschauungen über Krankheitsbehandlung
ihren äußeren, steinernen Ausdruck in der Form des Krankenhaus¬
baues finden, ist eine nicht nur dem Psychiater geläufige Tatsache.
Weniger entzückt sind von dieser Tatsache die Verwaltungsbehörden.
Dem leider zu früh verstorbenen, um die Förderung des hannoverschen
Irrenwesens hochverdienten Landeshauptmann Lichtenberg hielt ich
einmal in Vertretung meines damaligen Chefs, Cramer, eine lange,
begeisterte Rede, um ihn zu überzeugen, daß im Interesse der Durch¬
lüftung der anstoßenden Abteilungen die Wandelhallen der Anstalt
teilweise ihres Daches entkleidet werden müßten. Als ich meine Rede,
wie ich glaubte, mit bestem Erfolg geendet hatte, hörte ich nur die
Antwort: „Das ist ganz schön, und in 10 Jahren kommt einer und will
das alles wieder hergestellt haben, wie es früher war.“ Ich kann ihm
nicht so unrecht geben. Unser Anstaltswesen, namentlich die finan¬
zielle Seite, leidet darunter, daß jeder ärztliche Leiter glaubt, er könne
nur mit ganz besonderen baulichen Einrichtungen seinen therapeuti¬
schen Aufgaben und Absichten gerecht werden. Besonders ein¬
schneidend und kostspielig sind die baulichen Maßnahmen, die durch
die häufig wechselnden Anschauungen über die Behandlung der er¬
regten Kranken bedingt werden. Das rechtfertigt es, einmal zusam¬
menfassend die Frage zu prüfen, welche Mittel und Maßregeln stehen
uns überhaupt für die Behandlung erregter und gewalttätiger Kranker
zur Verfügung, und wieweit sind sie mit den modernen Anschauungen
über freie Behandlung vereinbar?
Es kommen in Betracht: mechanische Beschränkung durch
Zwangsjacken und Gitterbetten, durch Isolierungen, chemische Be-
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Weber,
einflussung durch Narkotika, hydrotherapeutische Maßnahmen und
endlich Ablenkung und Beeinflussung der Kranken durch Verlegung
und Beschäftigung.
1. Von den Zwangsjacken, Zwangsstühlen usw. will
heute mit Recht niemand mehr etwas wissen; die jüngere Psychiater¬
generation hat sie überhaupt, außer in historischen Sammlungen,
nicht mehr zu sehen bekommen.
Ich erwähne sie nur, weil der ganze Kampf gegen die Zwangsjacken
gewissermaßen programmatisch für unser Thema ist. Stellen wir uns einmal
einen erregbaren, zu impulsiven, brutalen Gtewalthandlungen neigenden,
nicht schwer verwirrten Patienten vor; jeder mit einiger Anstaltserfahrung
kennt solche Lieblinge unter den kriminellen oder unter den psychopathi¬
schen, hysterischen Fürsorgezöglingen. Zweifellos würde für derartige
Kranke während der Perioden ihrer Erregungszustände — sie treten ja
meist periodisch auf — eine Zwangsjacke das einfachste, bUligste und wirk*
samste Mittel gegen die Versuche, andauernd Scheiben einzuschlagen,
die Mitkranken und das Personal zu maltraitieren, Betten und Kleider
zu zerreißen, sein. Wir dürfen es in der Anstalt nicht mehr anwenden,
weil die Gefahr besteht, daß es doch einmal, dem Personal oder uner¬
fahrenen Ärzten überlassen, kritiklos auf andere motorische Störungen
angewandt wird, für die es grundfalsch wäre, ferner aus dem äußerlichen,
aber sehr berechtigten Grunde, daß wir nur dann mit gutem Ge¬
wissen den Vorwurf einer zwangsmäßigen Behandlung widerlegen
können, wenn wir sagen können, wir brauchen überhaupt keine Zwangs¬
jacken mehr.
Wären diese beiden, durch die menschliche Unvollkommenheit be¬
dingten Gründe nicht so wüßte ich wirklich nicht, was uns hindern sollte,
auch im Lichte einer neueren Erkenntnis, solche Fälle, wie ich sie oben
andeutete, zeitweise mit einer Zwangsjacke zu versehen. Wenn wir sie
aber entfernen, dann müssen wir auch konsequent sein und dürfen nicht
auf unseren Krankenabteilungen Dinge dulden, die der Zwangsjacke
ähnlich sind. Dahin zähle ich: die sogenannten festen Hemden aus Segel¬
tuch, die auf dem Rücken mit sinnreichen Schlüsselknöpfen geschlossen
werden; halten tun diese Einrichtungen ja ohnehin nicht. Ferner das,
wie ich festgestellt habe, durchaus noch nicht so selten gewordene
Festschnallen oder Festbinden mit einem Leintuch oder Gurt auf dem
Bett oder Stuhl. Da man mit dieser Maßregel höchstens geschwächte,
senile, delirierende oder leicht unruhige Kranke ruhig halten kann, halte
ich sie für besonders unnötig, unzweckmäßig und grausam.' Wenn einer
oder der andere Kranke einmal ganz gut damit zu behandeln wäre: gerade
diese Maßregel führt zu leicht zu einer unkontrollierten Anwendung durch
das Personal und wird dann brutal und urteilslos verwandt; man muß
also auch hier das Kind mit dem Bade ausschütten.
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Die Behandlung der Erregungsznstände in der Anstalt.
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Weiter gehören hierher kleine, beruhigende Maßnahmen, wie
Fausthandschuhe, steife Verbände an den Händen bei Kranken, die immer
wieder Verbände abreißen, die Hände in den Mund stecken und dergleichen.
In eiserner Konsequenz müßten auch diese verbannt werden. Ich kann
mich dazu nicht entschließen, weil sie immer noch eine gewisse Bewe¬
gungsfreiheit gestatten, weil sie oft die einzige Möglichkeit des Schutzes
darstellen, wenn man nicht eine unsinnige Vergeudung an Personal und
Ermüdung desselben durch kleinliche Aufgaben treiben will, endlich aus
dem etwas äußerlichen, aber hier ins Gewicht fallenden Grunde, daß solche
Dinge, namentlich Verbände, einer ärztlichen Maßnahme ähnlichersehen,
als einer Freiheitsbeschränkung.
Wir wollen uns aber bei dieser Gelegenheit doch auch nicht ver¬
hehlen, daß die sogenannte feuchte Packung da, wo sie schematisch ange¬
wandt wird, gar nichts anderes ist als eine Zwangsjacke in der gröbsten
und schlimmsten Form: gewaltsames Festhalten beim Einwickeln, wobei
es oft zu recht heftigen Kämpfen zwischen Kranken und Personal kommt,
Zustecken der Wolldecken mit vielen Sicherheitsnadeln oder gar Ein-
nähen, abnorm langes Ausharren in der feuchten Packung sind Gepflogen¬
heiten, die außerordentlich leicht einreißen, wo man für diese Behandlung
schwärmt. Auch verliert sie nichts von ihrem zwangsmäßigen Charakter,
wenn dann der eingewickelte Kranke auf die Veranda oder in den Garten
gelegt wird, um gleichzeitig Freiluftbehandlung zu genießen. Das mag
ja ganz schön sein; aber man soll doch nicht von „freier Behandlung“
reden, wenn eingewickelte und zugenähte Kranke wie Würmer auf dem
Sand umherrollen! Ich wende mich ausdrücklich nur gegen den Mi߬
brauch der feuchten Packung in der Hand unerfahrener Ärzte oder des
Pflegepersonals; daß solche Mißbräuche, die dann eben eine verschleierte
Zwangsjacke sind, vorgekommen sind, weiß ich. Im übrigen komme ich
auf die feuchte Packung noch bei den hydrotherapeutischen Maßnahmen
zurück. Auch die von verschiedenen Seiten und in verschiedenen Formen
neuerdings wieder empfohlenen Gitterbetten sind doch nichts anderes
als eine grob-mechanische Beschränkung der körperlichen Bewegungs¬
freiheit, mag es sich um feststehende Käfigbetten oder um hängematten¬
artige, zugebundene Netze handeln, in welchen die Kranken wie das Ge¬
flügel in einem Sack stecken.
Endlich möchte ich bei dem Punkt „Zwangsjacke“ die Aufmerksam¬
keit der Fachkollegen einmal auf die Frage lenken: „Wie soll der Transport
erregter gewalttätiger Geisteskranker vom Dorf, vom kleinen Bezirks-
krankenhaus auf Landwegen, mit Sekundärbahnen unter öfterem Um-
steigen, durch nicht geschulte Begleiter vor sich gehen?“
Ich habe diese Frage von den verschiedensten Seiten kennen gelernt:
als aufnehmender Arzt an der Provinzialanstalt, da war man natürlich
sehr entrüstet, wenn ein Kranker in der Zwangsjacke oder gar in Hand¬
schellen ankam und hat nicht unterlassen, ihn in diesem Ornat zu photo-
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882
Weber,
graphieren. An derselben Anstalt hatte ich in regelmäßigen Intervallen
die Überführung chronischer Kranker in Pflegeanstalten zu besorgen.
Ferner als Arzt an einem Stadtasyl mit sehr vielen Aufnahmen und der
Verpflichtung, Kranke aller Art und Erregung innerhalb einer bestimmten
Zeit in die zuständige Staatsanstalt abzuliefern. Endlich in der Privat-
praxjs, wenn es sich darum handelte, widerstrebende, erregte Kranke gegen
ihren Willen in die entfernt liegende Anstalt zu überführen. Und ich kann
wohl sagen, daß ich in den 20 Jahren meiner psychiatrischen Praxis sehr
viele Krankenüberführungen sowohl im einzelnen als größere Mengen mit
gutem Erfolg persönlich ausgeführt habe. Die wohleingerichtete Pro¬
vinzialanstalt hat es am leichtesten; sie überführt selten und dann abge¬
lagerte Kranke, die man genau kennt und bei denen man den Zeitpunkt
der Überführung meist selbst bestimmen kann. Auch das Stadtasyl hat
noch einige dieser Vorteile, verfügt meist auch über einigermaßen ge¬
schultes Personal, muß allerdings öfter und auch unangenehmere Kranke
überführen. Ein Massentransport von Geisteskranken aller Art ist übrigens
lange nicht so unangenehm als der eines einzelnen: da hat man meist
Wagen und Coupös zur unbeschränkten Verfügung, kann sich bequem
einrichten, im Notfall während der Reise Narkotika geben und hat genug
Hilfskräfte. Und die ganze Aufmachung ist so installiert, daß sie sich dem
Publikum doch nicht verbergen läßt; da kommt es dann auf einen, der
„richtig tobt“, auch nicht an.
Anders der Bezirksarzt oder der Gemeindevorsteher, die aus ihrem
kleinen Krankenhaus mit 20 Betten oder aus dem Spritzenhaus den toben¬
den Kranken, der alles zusammenschlagen will, lärmt und seine Umgebung
bedroht, möglichst rasch und unauffällig nach der nächsten Irrenanstalt
bringen wollen. Abwarten geht hier nicht; denn der Kranke verweigert
die Nahrung und ist von der Gefahr des Delirium acutum bedroht, ist
außerdem für die Umgebung zu störend. Gewöhnlich geben wir den Rat,
den Kranken zu narkotisieren mit Chloral oder mit Duboisin. Daß viele
Kranke überhaupt nicht auf Hyoszin oder Duboisin reagieren, besonders
wenn die Lösungen nicht frisch sind (und wo soll der Landapotheker
diese Lösungen, die alle paar Monate gebraucht werden, frisch herbe¬
kommen?), weiß jeder. Schonend ist es für einen abgetobten, erschöpften
und vielleicht durch Stoffwechselprodukte vergifteten Kranken auch
gerade nicht, wenn man ihm so viel Narkotika eingießt oder einspritzt, daß
er sich nicht mehr regen kann. Und wie soll der unerfahrene Begleiter
(im besten Fall sind es zwei, aber nicht mit der Irrenpflege vertraute)
mit dem halb gelähmten, halb bewußtlosen, verwirrten, schreienden
Menschen viele Stunden Wagen- oder Bahntransport bewerkstelligen?
Ein Bezirksarzt wurde anläßlich eines derartigen Falles von seiner Behörde
zu generellen Vorschlägen für die 6 Krankenhäuser seines Bezirks veran¬
laßt. Er fragte mich, ob man vom heutigen Standpunkt der Irrenpflege
etwas gegen folgende Vorschläge ein wenden und bessere Vorschläge machen
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Die Behandlung der Erregongs zustande in der Anstalt. 883
könne: „In jedem Krankenhaus soll eine Vorrichtung zur Fesselung tob¬
süchtiger Geisteskranker vorhanden sein. Die Fesselung ist nur im äußer¬
sten Fall für kurze Zeit zulässig. Verwendet wird dazu ein Fesselgurt,
an dem seitwärts verstellbare Riemen für das Schließen der Handgelenke
angebracht sind.“ Ich mußte darauf erwidern, daß die Fesselung Geistes¬
kranker den Prinzipien der freien Behandlung widerspricht, daß ich aber
bessere Vorschläge nicht machen könne; er möge die Sache aber durch
das Bezirksamt „hinuntergehen lassen“, damit nicht sein, des Arztes,
Name dahinter stehe.
Mir erscheint in diesen Fällen die vorübergehende Fesselung des zu
transportierenden tobsüchtigen Kranken als das geringere Übel, wenn er
nur schnell dadurch in geeignete Behandlung gebracht wird. In manchen
Fällen kann eine Fesselung auf der Tragbahre erfolgen; dann sieht die Sache
nicht so auffällig aus. Zum Transport eines gefesselten, wenn auch
schimpfenden Menschen braucht es weniger geschultes Personal; das kann
auch der Gendarm, wenn auch in Zivil. Hier ist also die Prinzipien¬
reiterei nicht am Platze.
2. Die Isolierzelle hat den größten Wechsel ihrer Wertschätzung
im Laufe der Zeiten erfahren.
Die Göttinger Anstalt war im Jahre 1865 für ca. 250 Kranke erbaut
worden mit etwa 12 Isolierzellen auf jeder Geschlechtsseite. Anfang der
achtziger Jahre hielt man eine Vermehrung dieser Zellen um etwa 8 Stück
auf jeder Seite für erforderlich. Anfang 1900 wurden die Zellen wieder
reduziert, so daß es nur noch 5 auf jeder Geschlechtsseite gab, obwohl die
Zahl der Kranken inzwischen auf etwa 500 gestiegen war. Die eine Hälfte
des Zellkorridors wurde ganz abgetrennt und in eine Abteilung für Infek¬
tionskranke verwandelt.. Und wieviel Scharfsinn, Witz und Geld wurde
auf den Bau der Zellen, auf ihre Ausstattung mit „sicheren“ Fenstern,
Türen, Lüftung, Heizung, Beleuchtung, mit „festem“ Mobiliar verwandt;
das zeigen noch heute die Einrichtungen alter Anstalten. Da gab es Zellen,
die 3 Stockwerke beanspruchten; d. h. im Parterre saß der Kranke, im
Obergeschoß war ein Fenster oder eine Tür zu seiner Beobachtung, im
Souterrain ein Raum zur Aufnahme des Kübels, in den sich ein „festes
Klosett“ ergoß. Zellen mit stallukenartigen Fenstern oder nur mit Decken¬
oberlicht, Zellen mit einem Palisadengitter, hinter dem ein Pfleger
„schlief“, Zellen mit abgerundeten Ecken und Vermeidung aller Vor¬
sprünge zur Verhinderung des Aufhängens, Polsterzellen, die noch heute
in der Phantasie des Volkes eine grausig-schöne Rolle spielen. Dann —
Mitte der neunziger Jahre — schien dies alles auf einmal entbehrlich,
und jetzt wieder sehen wir in jedem Bauprogramm einer modernen An¬
stalt, nicht nur im „festen Haus“ für kriminelle Kranke, sondern auch
in der „Abteilung für Unruhige“, die Zellen in gemäßigter Anzahl
wieder erscheinen. Es scheint also doch nicht, daß die freie Behandlung
ganz ohne Isolierung auskommen kann.
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
884
W eber,
In dem ganzen Streit über die Isolierung wird m. E. ein Gegensatz
zu scharf betont: der zwischen Anstalten mit vielem frischen Auf¬
nahmematerial und Pflegeanstalten. Man hörte oft die Ansicht, daß
die letzteren mit ihrem „ruhigen“ Krankenmaterial sehr gut ohne
Zellen auskommen können, während Anstalten mit zahlreichen frischen
Aufnahmen von erregten Kranken das Isolieren nicht entraten könnten.
Ich habe schon früher, als ich noch an der Göttinger Anstalt mit relativ
zahlreichen Pflegekranken, darunter vielen Kriminellen, arbeitete, die
Unrichtigkeit dieser Ansicht betont, und jetzt, da ich seit 3 Jahren
ein Stadtasyl mit großem Krankenwechsel (ca. 900 Aufnahmen auf
300 Betten) leite, kann ich nur noch einmal betonen, daß unter soge¬
nannten Pflegekranken ein viel größerer Prozentsatz chronisch un¬
ruhiger, störender Elemente ist. Denn gerade die chronischen Schizo¬
phrenen, Schwachsinnige oder chronische Alkoholiker mit zeitweiligen
Erregungszuständen bleiben Jahrzehnte in diesen Anstalten sitzen, und
ihre Erregungszustände werden nicht seltener und nicht milder. Nament¬
lich gehören außer den erwähnten Formen dazu viele aus der Gruppe
der Psychopathen mit ethischen Defekten und kriminellen Neigungen
und derartige Insassen in Gestalt von kriminellen Geisteskranken
oder geisteskranken Verbrechern, ferner psychopathische Fürsorge¬
zöglinge, besonders weiblichen Geschlechts, häufen sich neuerdings
fast in jeder Anstalt mit Dauermaterial; man kann wohl sagen, daß
die Zunahme und Vergrößerung der Anstalten weniger durch typische
Geisteskranke als durch unsoziale Grenzzustände bedingt wird, die
der Erzieher, Verwaltungsbeamte, Strafrichter und Strafvollzugs¬
beamte mangels anderer Unterbringungsmöglichkeiten der Irren¬
anstalt überweist.
Diese Insassen sind es, die ihren Mitkranken wie dem Personal das
Leben vergällen. Mit vielen Patienten, mit allen Schwächen der Anstalt
und des Personals vertraut, ohne jedes ethische Gefühl, meist zielbewußt
auch in ihren Erregungszuständen, üben sie oft auf ihrer Abteilung eine
brutale Tyrannei aus, vor der die Mitkranken wie das Personal zittern.
Hier hilft alle „psychiatrische Behandlung“, Beschäftigung, Bettruhe, nur
vorübergehend; jahrelang, immer wieder erlebt man dieselben Attacken
und die Schädigung von Kranken, Personal, Einrichtungsgegenständen,
ganz abgesehen von raffinierten Entweichungsversuchen. Ob man der¬
artige Zerstörungssucht Bosheit oder motorische Erregung oder irgendwie
nennen will: jedenfalls sind solche Kranke während ihrer Attacken am
besten isoliert, wenigstens wenn sie nicht auch noch Selbstmordversuche
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Die Behandlung der Erregungszustände in der Anstalt ■ 885
machen. Man schützt die Kranken, das Personal und Sachen auf diese
Weise am einfachsten vor ihnen und — was ihnen selbst zugute kommt —
man verhütet damit einigermaßen, daß das Personal, dem das Absicht¬
liche und Boshafte derartiger Szenen noch deutlicher vor Augen steht
als uns Ärzten, dauernd gegen diese Kranken eingenommen wird und sie
bei Gelegenheit mißhandelt; denn irgendwo hat auch die Geduld des ge¬
duldigsten Pflegers ein Ende.
Eine Debatte darüber, wieviel Isolierzimraer für derartige Zwecke
zur Verfügung stehen müssen, ist überflüssig. Das hängt ganz vom
Krankenmaterial der Anstalt ab und wird am meisten von der Menge
der zu verpflegenden psychopathischen Elemente mit unsozialen
Neigungen bestimmt.
Im Verwahrungshaus in Göttingen, das für 60 ausschließlich gemein¬
gefährliche Insassen bestimmt ist, sind 30 feste Isolierzimmer, wobei aller¬
dings ein Teil dieser Zimmer für Beschäftigungszwecke je eines Kranken
verwandt wird, der nachts eine zweite Zelle zum Schlafen erhält. Unter
diesen Elementen finden sich auch solche, bei denen es wenigstens in
gewissen Perioden gar keinen Zweck hat, daß der Arzt sie jeden Tag in
ihrer Zelle aufsucht, oder daß man sie täglich herausnimmt oder ins Freie
führt. Man würde damit nur tägliche Erregungszustände und gefährliche
Situationen schaffen und einen unmäßigen Aufwand an Personal ver¬
brauchen. Das sind meist Psychopathen oder auch schwer Geisteskranke,
die nach jahrelanger Haft schwere Erregungszustände bekommen, in denen
sie zielbewußt Gewalttaten oder Befreiung planen. Es ist möglich, daß
diese Zustände die Folge der „Isolierbehandlung“ sind; aber angesichts
der Gefährlichkeit dieser Individuen und der den Anstaltsleitern aufer¬
legten Verantwortung verbietet sich jeder Versuch einer freien Behandlung
von selbst.
Bei vielen anderen Kranken des Verwahrungshauses war eine länger
dauernde Isolierung nur wegen ihrer ständigen Neigung zum Komplot¬
tieren oder wegen ihrer Reizbarkeit erforderlich. Sie erhielten aber unter
sorgfältiger Kontrolle Beschäftigung im Isolierzimmer; es handelt sich
also mehr um ein „Separieren“. In der Heil- und Pflegeanstalt Göttingen,
die immer sehr viel kriminelle und unsoziale Kranke beherbergt, hatten
wir auch vor Errichtung des Verwahrungshauses auf ca. 500 Kranke nur
ca. 10 einigermaßen gesicherte Einzelzimmer und sind damit vollkommen
ausgekommen. Abgesehen von den wirklich dauernd gefährlichen, auf
Entweichung sinnenden Kranken ist es in einer größeren Anstalt möglich,
die Reizbarkeit anderer Kranker durch vielfaches Hin- und Herverlegen
auf den verschiedenen AbteUungen zu bekämpfen, so daß die eigentliche
Isolierung nur immer kurze Zeit nötig ist.
In der Klinik, dem Stadtasyl, kurz in der Anstalt mit fluktuieren¬
dem Krankenmaterial lernt man derartige Kranke in ihrer ganzen
Zeitschrift für Psyohistrie» LXXI. 6. 01
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886
Weber,
Schönheit gar nicht kennen, weil sie abgeschoben werden, ehe sich
diese Eigenschaften entfalten. Die frisch aufgenommenen Kranken
aber, die unruhig sind: Deliranten, Paralytiker, frische Attacken einer
Dementia praecox und andere sind es nur für kurze Zeit, sind neu,
nehmen das Interesse und die Fürsorge von Ärzten und Personal auch
oft wegen der körperlichen und psychischen Erscheinungen in An¬
spruch. Sie können im Bett, im Dauerbad oder im offenen Einzel¬
zimmer, im Notfall unter Aufwendung einer besonderen Wache, ganz
gut so lange gehalten werden, bis die Attacke abklingt. In derartigen
Anstalten sind Einzelzellen nur erforderlich, wenn gelegentlich ein
„Schwerverbrecher“ zur Beobachtung kommt, dessen Entweichung
auf alle Fälle verhindert werden soll, und dann, um andere Kranke und
vielleicht auch die Umgebung der Klinik vor dem Lärm des unruhigen
Kranken zu schützen.
Zu dem letzteren Zweck genügen allerdings oft auch Isolierzimmer
nicht, man müßte denn die Räume auch akustisch isoliert haben, und das
ist eine kostspielige bauliche Angelegenheit, namentlich in unseren mo¬
dernen Eisenbetonbauten, die jeden Schall fortleiten wie ein Resonanz¬
boden. Gelegentlich kommt auch ein schwerer tobsüchtiger Zustand
eines Epileptikers vor, den man am schonendsten und unter geringstem
Personalaufwand im festen Einzelzimmer behandelt. Zu solchen Zwecken
möchte ich auch in den Stadtasylen das Einzelzimmer nicht ganz ver¬
missen; es spielt auch weder in räumlicher noch in finanzieller'Beziehung
eine Rolle, wenn man, wie hier in Chemnitz, auf 300 Betten je ein Einzel¬
zimmer für Männer- und Frauenseite hat. Wenn Meyer 1 ) bei der Ein¬
richtung der Königsberger Klinik die ursprünglich geplanten Isolier¬
zimmer wegfallen ließ, so mag dabei wohl auch die konsequente Durch¬
führung des Prinzips und das Bemühen, der Klinik in jeder Hinsicht den
Charakter eines gewöhnlichen Krankenhauses zu geben, bestimmend ge¬
wesen sein. Tatsächlich haben aber sogar die modernsten Krankenhäuser
wenigstens kleinerer Städte ein festes Zimmer für die vorübergehende
Unterbringung erregter Kranker vorgesehen. Ich würde also das Beispiel
der Königsberger Klinik, die als Lehrinstitut auch die äußeren Formen
des Prinzips vertreten muß, nicht für vorbüdlich halten bei der Errichtung
von Stadtasylen. Hier steht der andere Zweck voran, die übrigen Kranken
vor gelegentlichen Erregungen und Beunruhigungen zu schützen und im
Notfall die absolut sichere Verwahrung eines Eingelieferten für einige Zeit
zu garantieren; dafür ist die Bereitstellung eines solchen Zimmers erforder¬
lich. Länger als einen Tag (von morgens bis abends) oder eine Nacht eine
l ) Arch. f. Psych. Bd. 53, H. 2.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Behandlung der Erregungszustände in der Anstalt. 887
solche Isolierung ohne Unterbrechung durchzuführen, habe ich nie nötig
gehabt.
Endlich möchte ich noch darauf hinweisen, daß gerade die kleine¬
ren Krankenhäuser, die allen Aufgaben der Krankenpflege gerecht
werden sollen, ein gut gebautes und gesichertes Isolierzimmer nicht
entbehren können.
Wenn auf dem platten Lande, entfernt von der regionären Irren¬
anstalt, eine akute geistige Störung ausbricht, so ist eine Unterbringung
im nächsten Krankenhaus oft für mehrere Tage bis Wochen gar nicht
immer zu umgehen, schon weil dank der Angst vor „Freiheitsberaubung“
und gesetzwidriger Internierung im Irrenhause oder auch aus administra¬
tiven Gründen die Aufnahme in eine Irrenanstalt gar nicht immer so schnell
erfolgen kann. Wie soll nun das Krankenhaus, das über 30 bis 60 Betten
und einen Arzt im Nebenamt verfügt, mit den verwirrten, erregten, ge¬
walttätigen, lärmenden Kranken fertig werden? Unsere Mittel: Bett¬
ruhe, Bäder, Narkotika versagen sehr häufig, besonders da Einrichtungen
für Dauerbäder meist fehlen und auch ohne ausreichendes und geschultes'
Personal ganz nutzlos sind. Die übrigen Kranken müssen aber unter allen
Umständen vor dem Lärm tfnd der Belästigung geschützt werden. Da
bleibt das Isolierzimmer als einziges Hilfsmittel und unter diesen Um¬
ständen schonendstes Verfahren übrig. Freilich genügt es nicht, den
Kranken da hineinzusperren, sondern man muß unter zeitweiligem Aufwand
von Personal den Kranken reinigen, ihm die Nahrung reichen und immer
wieder durch gelegentliche Narkotika eine Beruhigung zu erzielen suchen,
damit er in den allgemeinen Saal zurückgelegt werden kann. Manchmal
wird man auch dauernd einen Pfleger aufwenden müssen, der ihn vor
Selbstverletzungen bewahrt.
Wenn ich damit für die beschränkte Anwendung des Isolierzim¬
mers bei allen Formen auch der modernen Anstalt eintrete, möchte
ich in technischer Beziehung noch darauf hinweisen, daß besonders
raffinierte oder kostspielige Einrichtungen für diese Zimmer nicht
erforderlich sind. Für Bau und Einrichtung muß bestimmend sein,
daß Selbstmordverdächtige oder hartnäckig auf Selbstverstümmelung
bedachte Kranke nicht ins Isolierzimmer gehören.
Wir brauchen uns also nicht mit Einrichtungen abzuplagen, die
solche Ereignisse verhüten sollen und doch nicht können. Alle Polster¬
zellen usw. sind damit unnötig. Die Haupterfordernisse in technischer
Beziehung, die freilich auch bei Neubauten noch nicht überall durchgeführt
werden, sind: glatte Wand-, Tür- und Fensterflächen, die ein Hoch¬
klettern und Abstürzen verhindern, Festigkeit dieser Flächen, die erreicht
wird durch Zementputz, starke, dreifach geleimte Türen, 20 mm starkes,
in Eichenholz mit aufgeschraubten Eisenschieqen verlegtes Glas, eiserne,
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Weber,
in der Wand verankerte Tür- und Fensterrahmen, Vermeidung jedes kom¬
plizierten Mechanismus beim Verschluß der Türen und Fenster und an
Heizungs- und Lüftungseinrichtungen. Diese technischen Einzelheiten
habe ich gelegentlich beschrieben (L. W. Weber , Das Isolierzimmer des
kleinen Krankenhauses. Münch, med. Wschr.). Die innere Einrichtung wird
im allgemeinen von fest angebrachten Mobilien (Bett, Tisch usw.) absehen;
ist ein Kranker so erregt, daß er die Bettstelle herumwirft, so wird diese
entfernt und der Kranke auf die Matratze am Boden gebettet. Im Ver¬
wahrungshaus in Göttingen habe ich in einzelnen Isolierzimmern eine
Einrichtung zum Festschrauben der Bettstellen am Fußboden anbringen
lassen. Sie hat sich für die länger dauernde Unterbringung der oben er¬
wähnten gefährlichen Kranken gut bewährt, muß aber technisch sehr sorg¬
fältig ausgeführt werden. Ein Kranker hatte sich mit dem Rücken an die
Wand, mit den Füßen an eine seitliche Backe des eisernen Bettes gestemmt
und auf diese Weise ein gebogenes Eisenrohr losgebrochen, das er als Waffe
benutzen wollte.
Für größere Anstalten erwächst die Frage, ob man die als nötig
erachteten Isolierzimmer auf die einzelnen Abteilungen verteilen oder
zu einer etwas abseits gelegenen „unruhigen“ Station vereinigen will
Beide Einrichtungen haben ihre Vor- und Nachteile, und ich weiß,
daß namentlich Alt eine große Abneigung gegen eine solche „unruhige
Station“ hat. In Göttingen bestand seit Erbauung der Anstalt eine
sogenannte „Zellstation“, die wir unter Cramers Direktion allmählich
durch Umbauten auf etwa 5 Einzelzimmer reduzierten. Sie hat sich
gut bewährt, seitdem neben den Einzelzimmern dort ein besonderer
Wachsaal mit Dauerbad angegliedert war. Auch in anderen großen
Anstalten macht man gute Erfahrungen mit einer solchen nicht nur
aus Isolierzimmern bestehenden Station, wenn Wachsaal, Dauerbad,
Garten dabei ist und auch diese Bäume gegen absichtlichen Zer¬
störungstrieb und impulsive Handlungen einigermaßen geschützt sind.
Dahin rechne ich etwas festere Fenster, die das sofortige Einschlagen
der Scheiben, wie es besonders die reizbaren Psychopathen lieben, un¬
möglich machen. Ferner auch Gitter an den Fenstern! Ich sehe wirklich
nicht ein, warum wir unser Pflegepersonal, das für die Krankenpflege aus¬
gebildet ist, dazu verwenden sollen, in einer WachabteUung als Sta¬
tisten am geöffneten Fenster zu stehen, wenn wir uns dies durch An¬
bringung eines einfachen Gitters ersparen können. Und den Kranken
ist es auch lieber, wenn sie gelegentlich ein Fenster selbst aufmachen und
frische Luft hereinlassen können, als wenn dazu immer ein Pfleger gerufen
und mit diesem wegen nicht geöffneten oder nicht verschlossenen Fensters
gezankt werden muß. Im Verwahrungshaus in Göttingen hatte ich einen
Korridor als Tageraum für die unruhigsten und reizbarsten Kranken so
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Die Behandlung der Erregungszustände in der Anstalt. gg9
eingerichtet, daß die geöffneten Fensterflügel an der Wand kurz ange¬
schlossen werden konnten, weil ein Kranker einmal den Fensterflügel so
herumriß, daß auch die festen Scheiben zerbrachen. Der Garten der un¬
ruhigen Abteilung soll und braucht nicht an den alten ,,Tobhof“ zu er¬
innern. In Göttingen hatten wir in diesem Garten einen Kaninchenstall,
den die Kranken selbst gebaut hatten, Rasenplätze und Blumenbeete und
Einrichtungen für Bäder im Freien. Für wesentlich halte ich es aber, daß
man in einer größeren Anstalt die Möglichkeit hat, erregte Kranke sich im
Freien auf halten und betätigen lassen zu können, ohne daß andere Kranke
oder Besucher sich fortwährend an der Unruhe, dem Lärm oder der mangel¬
haften Toilette solcher Kranken stoßen und davon übertriebene Berichte
in die Öffentlichkeit tragen.
Auch in der Klinik oder kleineren Aufnahmestationen wäre eine
kleine derartige Abteilung erwünscht, läßt sich aber des beschränkten
Raumes wegen meist schwer durchführen; auch hat man da gewöhnlich
nicht so viele unruhige Kranke. Man wird also hier das oder die
Einzelzimmer in die Nähe der Aufnahmestation legen müssen. Das
hat seine Nachteile, besonders wegen der Schallundichtigkeit der mo¬
dernen Eisenbetonbauten. Es ist andrerseits auch nicht unvorteilhaft,
wenn sich direkt neben dem Wachsaal und von ihm aus mit zu über¬
wachen ein Einzelzimmer befindet, das ja nicht immer für unruhige
Patienten verwendet wird.
So wertvoll auch die Wachsaalbehandlung für die frische Psychose
ist, läßt sich doch nicht leugnen, daß es mancher nicht verwirrte und über
seine Umgebung orientierte Patient drückend und peinlich empfindet,
mitten unter allen möglichen fremden Menschen liegen zu müssen, von
denen zudem noch viele ihre menschlichsten Bedürfnisse ungeniert be¬
tätigen; und dieses Empfinden haben durchaus nicht nur die Leute, die sich
die Mehrausgabe einer höheren Verpflegungsklasse leisten können. Cramer
mit seinem gesunden Gefühl für die Realitäten des Lebens hat auf diesen
Nachteil der Wachsaalbehandlung oft hingewiesen; auf seine Anregung
wurden auf der ruhigen Wachstation in Göttingen einzelne Betten durch
eine zwischengebaute Glaswand voneinander separiert, und in der Anstalt
für psychopathische Fürsorgezöglinge hat er das Projekt eines Wach¬
saales mit radial gestellten und von der Nachtwache kontrollierbaren
Einzelkojen zu verwirklichen gesucht. Die Aufgabe des Isolierzimmers,
neben dem Wachsaal einem ruhigen, überwachungsbedürftigen Pa¬
tienten einen von den übrigen etwas getrennten Aufenthalt zu gewähren,
sollte man bei der Neuanlage von Wachstationen deshalb nicht übersehen.
Das Isolierzimmer läßt sich leicht so einrichten, daß es sowohl für die
vorübergehende Beherbergung eines unruhigen Kranken wie für die
freundliche Ausstattung zur Aufnahme eines ruhigen Kranken geeignet ist.
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Weber,
3. Die Narkotika. Auch diese „chemische Zwangsjacke“ sollte
eine Zeitlang durch die neueren Behandlungsmethoden überflüssig
werden. Daß dies erreicht ist, scheint mir nach den zahlreichen neuen
Präparaten, die unsere Industrie alljährlich auf den Markt wirft,
zweifelhaft.
Im ganzen glaube ich auch, daß ihre Anwendung zur Beruhi¬
gung erregter Kranken am wenigsten der Gefahr des Mißbrauchs
ausgesetzt ist. Denn ihre unbeschränkte Anwendung verbietet sich
einmal dadurch, daß man die Höhe der Dosen nicht beliebig steigern
kann und in vielen Fällen sehr bald die Unwirksamkeit der Narkotika
erkennt, außerdem auch aus finanziellen Gründen. Es scheint mir
aber eine der wichtigsten und dankbarsten Aufgaben eines Anstalts¬
leiters oder selbständigen Oberarztes zu sein, von Zeit zu Zeit den
Bericht über die auf einer Abteilung gebrauchten Narkotika zu kon¬
trollieren und von den ordinierenden Kollegen darüber Rechenschaft
zu fordern; damit ist auch ein zu freigebiger Gebrauch einzu¬
dämmen.
Wendet man aber solche Vorsichtsmaßregeln an, so kann man
die chemischen Beruhigungsmittel nicht als Zwangsmittel bezeichnen,
namentlich wenn sie nur als Vorbereitung auf andere, besonders hydro¬
therapeutische Maßnahmen benutzt werden oder nur dazu dienen,
eine heftige Erregung, dauernde motorische Unruhe auf ein für den
Kranken und seine Umgebung erträgliches Maß herabzumindern,
nicht ganz zu lähmen. Es kommt dazu, daß die Auswahl der von der
Industrie zur Verfügung gestellten Mittel und ihre Kombination mit¬
einander und mit Herzmitteln die Möglichkeit gewährt, abzuwechseln,
Kumulationen und andere Schädigungen zu vermeiden. Wünschens¬
wert wäre es nur, noch genauere Indikationen der einzelnen Mittel
für spezielle Formen der Erregung zu finden; dabei darf man hier wohl
weniger Spezifizierung nach den Krankheitseinheiten als nach den
symptomatischen Bildern erwarten, zum Beispiel in der Weise, daß
für die halluzinatorische Erregung, für die ängstliche Erregung, für die
primäre motorische Unruhe verschiedene Mittel sich wirksam erweisen.
Bei dem unter unseren Aufnahmen sehr häufigen Delirium tremens
geben wir gar keine Narkotika (aber auch keine Dauerbäder) und
kommen mit der Darreichung von Herzmitteln aus.
Die vielgepriesene Trias der modernen Irrenbehandlung sind die
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Die Behandlung der Erregungszustände in der Anstalt. 891
Bettruhe, die Bäder und die Beschäftigung der Kranken. Sehen wir
zu, ob sie allen Bedürfnissen gerecht werden.
4. Die Bettruhe. Hier darf vielleicht einmal darauf hinge¬
wiesen werden, daß Ludwig Meyer schon 1866 in der damals neuen
Göttinger Anstalt für jede Geschlechtsseite einen Wachsaal mit regel¬
mäßiger Bettbehandlung für die frisch aufgenommenen Kranken ein¬
gerichtet hatte, also lange vor der Zeit, in der die „Bett- und Wachsaal¬
behandlung“ Gemeingut aller Anstalten wurde.
Zweifellos ist es nicht nur in bezug auf die äußere Gestaltung der
Anstalten, sondern vor allem für den ganzen Charakter und Ton des
Anstaltsbetriebes von größter Bedeutung geworden, daß die ausge¬
dehnte Anwendung der Bettbehandlung die Anstalt weitgehend dem
gewöhnlichen Krankenhaus ähnlich gemacht hat. Man darf aber bei
dem Bestreben, diese Ähnlichkeit noch weiter zu treiben, nicht ver¬
gessen, daß das wünschenswerte Ideal der Irrenbehandlung nie ganz
identisch sein wird mit der Behandlung rein körperlich Kranker.
Wenn ein an Pneumonie, an einem chirurgischen Leiden erkrankter
Mensch statt 4 bis 8 Wochen 1, 2 und noch mehr Jahre in dem modernsten
und komfortabelsten Krankenhaus zubringen müßte — dabei noch be¬
züglich seines Verkehrs, seiner Korrespondenz so überwacht würde, wie es
nun einmal bei vielen Geisteskranken nötig ist —, er würde es trotz aller
modernen Einrichtungen nicht aushalten und unzufrieden werden. Die
Aufgabe wenigstens der großen Irrenanstalten ist bei sicher 2 /» ihrer In¬
sassen weniger eine tägliche Behandlung als eine Unterbringung, die den
Kranken und das Publikum vor den aus seinem krankhaften Geistes¬
zustand hervorgehenden Schädigungen bewahrt. Soll diese Unterbringung
einigermaßen den Kranken befriedigen, so muß die Anstalt über Einrichtun¬
gen verfügen, die sie weitgehend vom Krankenhaus unterscheiden: Tage¬
räume, Gelegenheit zur Beschäftigung und zur Erholung, Einrichtungen,
um Kranke entgegen ihrem Willen möglichst ohne Eingreifen des Per¬
sonals zurückzuhalten. Das eben Gesagte ist ja jedem Praktiker bekannt;
aber man hört die Phrase, die moderne Irrenanstalt sei nichts anderes als
ein körperliches Krankenhaus, so oft, daß doch einmal ihre prinzipielle
Unrichtigkeit festgestellt werden muß.
Auch die Bettbehandlung der Irrenanstalt unterscheidet sich
einigermaßen von der des Krankenhauses, weil sie untrennbar ver¬
bunden sein muß mit der Durchführung eines sehr sorgfältigen Wach¬
dienstes, wie ihn das Krankenhaus höchstens für einige Schwerkranke
kennt. Bettbehandlung und Wachsaal gehören zusammen und sind
ohne einander nicht durchführbar.
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Weber,
Daß dazu eine wirklich geschulte Nachtwache nötig ist, darüber
sind sich heute wohl alle Praktiker einig; daß alle Nacht eine andere
Pflegerin, die tagüber Dienst hat, müde, verdrossen und schläfrig im Wach¬
saal sitzt, ist auch, wenn zufällig einmal nichts passiert, kein ausreichender
Wachdienst. Hier darf darauf hingewiesen werden, daß Uchtspringe
wohl die erste deutsche Anstalt war, an der — schon 1895 — die Dauer¬
nachtwache systematisch durchgeführt wurde. Weiter ist zu einer sach¬
gemäßen Durchführung der Bettbehandlung erforderlich, daß man —
auch an kleineren Anstalten und Aufnahmeasylen — nicht eine, sondern
mindestens zwei Wachstationen, am besten aber drei für jede Geschlechts¬
seite hat, nämlich den ruhigen Wachsaal für die frischen Aufnahmen,
die äußerlich ruhig und geordnet, aber dringend überwachungsbedürftig
sind, die Wachstation für motorisch unruhige, lärmende Kranke und wo¬
möglich noch eine Abteilung, in der körperlich schwer Kranke, gebrechliche,
sieche Kranke hauptsächlich zur Verhinderung von Unreinlichkeit und
Dekubitus unter dauernder Wachaufsicht gehalten werden. Nur so kann
man neu aufgenommenen Melancholikern, Grenzzuständen, Neurastheni¬
kern, wie sie heute jede Anstalt bekommt, den unangenehmen Eindruck
lärmender oder durch Unreinlichkeit störender Kranken ersparen, ohne
das Erfordernis einer sorgfältigen Wache zu umgehen. Und eigentlich
wird nur die „ruhige Wachabteilung“ eine weitgehende Ähnlichkeit mit
einer Krankenhausstation aufweisen; deshalb sollte sie aber auch nicht
die neuerdings so beliebten Klosette im Wachsaal, sondern in einem leicht
kontrollierbaren Nebenraum enthalten.
Wir wissen heute, daß wir auch bei frischeren Fällen geistiger
Störung die Bettbehandlung nicht übertreiben dürfen. W T ir lassen
die Kranken nicht mehr alle im Bett, bis die Erscheinungen, welche
die Aufnahme und Bettruhe nötig machten, abgelaufen sind. Stupo¬
rösen Katatonikern bekommt die lange fortgesetzte Bettruhe nicht
besonders; dasselbe gilt von manchen Paralysen; sie bekommen bei
zu lange fortgesetzter Bettruhe Lähmungen und Kontrakturen. Und
auch für die erregten Kranken ist die Bettruhe kein Allheilmittel.
Deliranten, deren Herzverhältnisse nicht zu schlecht sind, lassen wir,
wenn auch unangezogen, ruhig umherlaufen, geben sie auch, wenn es
geht, ins Freie und erreichen damit so viel wie mit Dauerbädern.
Bei der wirklichen Manie und bei der manischen Phase der Dementia
praecox, bei Erregungszuständen der Idioten muß man sehr häufig
die Bettbehandlung abbrechen und sieht erstaunt, daß der
so ungebärdige Kranke sich ruhig ankleidet, seine Kleider anläßt und
sich im Tageraum oder Garten sachgemäß beschäftigt. Hier lassen
sich keine Regeln aufstellen: immer wieder probieren und durch einen
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Die Behandlnng der Erregungszustände in der Anstalt.
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Mißerfolg nicht abgeschreckt werden, ist das einzig Mögliche. Jeden¬
falls kommt man damit weiter, als wenn man den unruhigen Kranken
mit eiserner Konsequenz aus dem Bett ins Dauerbad und von da
wieder ins Bett schleppt und dazwischen schwer narkotisiert. Dagegen
ist allerdings in anderen Fällen eine systematische Vorbereitung des
unruhigen Kranken wenigstens für die nächtliche Bettruhe von Erfolg,
indem man ihn mit kleinen, wiederholten Dosen von narkotischen
Mitteln versieht, ihn dabei aufstehen läßt, dann nachmittags einige
Stunden ins Bad gibt und ihn gegen Abend zu Bett bringt. Wertvoll
ist es auch, leichter unruhigen Kranken im Bett eine ablenkende Be¬
schäftigung zu geben: Stricken mit Holznadeln, Klosettpapier an¬
fertigen, Düten kleben, Hülsenfrüchte auslesen usw. Daß ohne solche
Abwechslung die lange fortgesetzte Bettbehandlung wohl abstumpfend,
aber nicht beruhigend wirkt, geht schon aus dem Verwaltungsbericht
hervor, in welchem über einen gefährlichen Verbrecher nach raffinierten
Entweichungsversuchen gesagt wurde: „Wir haben ihn behufs rascherer
Verblödung von jetzt ab mit Bettruhe behandelt.“
5. Die Dauerbäder. Auch hier sei ein kleiner historischer Ex¬
kurs gestattet: In den alten Bänden der Allg. Ztschr. f. Psych. finden
sich einige von Bresler (Psych.-neur. Wschr. Bd. 14, S. 454) gelegent¬
lich wiedergegebene Notizen, wonach schon vor 70 Jahren protrahierte
warme Bäder zur Behandlung des akuten Wahnsinns verwandt
wurden. In Uchtspringe haben wir schon 1894 Manien mit Tag
und Nacht fortgesetzten Bädern behandelt. Aber erst nach 1900
fanden die Dauerbäder allgemeinen Eingang und sollten nun alle
anderen Mittel in der Behandlung der unruhigen und erregten Kranken
ersetzen.
Die Dauerbäder sind weder in der baulichen und technischen Ein¬
richtung, noch im Betrieb eine billige Behandlungsmethode. Baulich
ist die Frage, ob man die Dauerbäder neben dem Wachsaal einrichten
oder in einem besonderen, etwas entfernten Raum legen soll. Die
letztere Einrichtung wird empfohlen, um die im Bad unruhigen
Kranken für sich zu haben und gleichzeitig eine größere Zahl, etwa
4 bis 6 Kranke, unter Obhut eines besonderen Badepflegers lassen zu
können. Wenn aber das Dauerbad wirklich seine beruhigende Wirkung
ausübt, werden auch die übrigen Kranken des Wachsaals nicht von den
im Bad befindlichen Kranken belästigt. Die besonders gelegene Bade-
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894
Weber,
stube hat zudem noch den Nachteil, daß ein Pfleger dort für sich allein
ist; er wird in dem heißen, dampfgefüllten Raum leicht ermüden, oder
es ist nicht immer Hilfe bei der Hand, wenn ein oder mehrere Kranke
unruhiger werden. So werden, nachdem der erste Enthusiasmus für
die Dauerbäder sich abgekühlt hat, ihre Erfolge auch nicht mehr ein¬
geschätzt, daß man etwa eine richtige Wachstation einrichten wollte,
in der statt der Betten Badewannen stehen, die dauernd von unruhigen
Kranken belegt sind. Nach meinen Erfahrungen erscheint es völlig
ausreichend, wenn man direkt neben dem Wachsaal einen Baderaum
mit zwei Wannen für Dauerbäder zur Verfügung hat. Der Badepfleger
ist so in Seh- und Hörweite des übrigen Personals des Wachsaales,
kann sich mit den anderen Pflegern verständigen und ihre Hilfe haben,
und der Kranke kommt beim Beginn und Verlassen des Bades nicht
wieder ln andere Räume, sondern direkt aus dem Bett ins Bad und
wieder zurück. Die Dauerbäder im Freien werden doch wohl mehr
Kuriosa bleiben, schon weil man aus klimatischen Rücksichten nur
wenige Monate davon Gebrauch machen kann; in Göttingen waren sie
bei den Kranken sehr beliebt.
Die teuren Mischbatterien, welche die automatische Regulierung
der Wassertemperatur ermöglichen sollen, bewähren sich nur, wenn bei
der ganzen Anlage der Wasserleitung von vornherein Bedacht darauf
genommen ist, daß der Druck des kalten und warmen Wassers gleich stark
ist. Wenn nachträgliche Einrichtungen geschaffen werden sollen, ist es
billiger und sicherer, darauf zu verzichten und dem Personal die Verantwor¬
tung für die richtige Mischung und Kontrolle des Wassers zu übertragen.
Die Einrichtungen, durch übergespannte Segeltücher oder einen
Blechdeckel mit Schlitz für. den Kopf den Kranken gewaltsam im Dauer¬
bad zu halten, ist geradezu ein Hohn auf die angeblich zwanglose Behand¬
lung des Bade$. Ich habe dies Verfahren noch vor zirka 10 Jahren in einer
Anstalt gesehen, die — in Publikationen! — in der Behandlung der Er¬
regungszustände ohne Isolierzimmer vorbildlich war. Jetzt ist es wohl
überall beseitigt. Einlagen in die Wanne, wie sie zum Beispiel Cramer
angab, um dem Kranken einen bequemeren Sitz und eine Ruhelage zu er¬
möglichen, sind zweckmäßig. Ich habe aber auch erlebt, daß ein erregter
Katatoniker seine Finger in die Löcher der perforierten Blecheinlage
steckte; dann schwollen die Finger an, und der Kranke lag wie ein Ge¬
kreuzigter auf der Unterlage; wir konnten ihn erst mit Hilfe einer Blech¬
schere mühsam-wieder befreien.
Wenn wir nun die Wirkung der Dauerbäder betrachten, so haben
die letzten Jahrzehnte wohl erwiesen, daß sie ein in jedem Fall sicher wir¬
kendes Beruhigungsmittel nicht sind. Viele Kranke sind auch nach sehr
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Die Behandlung der Erregungszustände in der Anstalt.
895
langem Dauerbad noch ebenso unruhig wie zuvor; höchstens fällt ihre Un¬
ruhe nicht mehr so auf, weil sie eben nicht mehr im Wachsaal sich abspielt.
Ob die Wirkung des Dauerbades nur bei bestimmten klinischen Formen ver¬
sagt, ist mir zweifelhaft; kasuistisch erinnere ich mich besonders an Fälle
schwer manischer Erregung (sogenannte verworrene Manie) und an manche
motorische Erregungszustände der Katatoniker, die sich ganz refraktär
erwiesen, während Deliranten, leichtere epileptische Erregungen, die Er¬
regungszustände der Imbezillen besser reagieren. Man muß auch daran
denken, daß neben der Einwirkung des warmen Wassers auf Blutzirkula¬
tion und Stoffwechsel doch auch das andere Moment des Dauerbades in
Betracht kommt: wenn ich einen oder höchstens zwei Kranke unter Obhut
eines besonderen Pflegers in einen gesonderten Raum bringe, wo sie in
Reichweite nichts zu zerstören finden, sondern ihre Bewegungsunruhe
dauernd an einem unzerstörbaren und doch nachgiebigen Material be¬
tätigen können, so ist das eine ideale Form der Isolierung oder Separierung,
die nur in Anbetracht der aufgewandten Mittel an Wasser und Personal
etwas teuer ist. Die zielbewußten Erregungen der Psychopathen mit
Neigung zum Zerstören, Mißhandeln oder zu Selbstverletzungen — gerade
diese Zustände stören am meisten den geordneten Anstaltsbetrieb —
scheinen mir gar nicht für die Badebehandlung geeignet.
Die nächtlichen Dauerbäder oder die Fortsetzung des Dauerbades die
Nacht hindurch haben wir in Uchtspringe und Göttingen ursprünglich
auch angewandt, sind aber davon abgekommen, weil die Erfolge den auf¬
gewandten Mitteln nicht entsprachen. Inzwischen habe ich noch folgende
Erfahrung gemacht: in einer Anstalt, die (laut Publikation) ohne Nar¬
kotika arbeitete, war es üblich geworden, daß das Nachtwachpersonal
jeden Kranken, der unruhig wurde, sei es mit, sei es ohne telephonisch ein¬
geholte Genehmigung, ins Dauerbad brachte. Dabei ging es ohne Ring¬
kämpfe zwischen Kranken und Personal nicht ab; die Folgen waren eine
Anzahl von Krankenmißhandlungen, die sich, wie ich aktenmäßig fest¬
stellen konnte, gerade,bei dieser Anwendung der Dauerbäder abspielten.
In derselben Anstalt wurde bei „schwereren“ Erregungszuständen reichlich
von der feuchten Packung Gebrauch gemacht, aber so, daß Kranke bis zu
12 Stunden drin verblieben, und zwar in mehrere Bettlaken und mehrere
Wolltücher eingewickelt und mit Sicherheitsnadeln zugesteckt. Eine der¬
artige Maßregel ist keine hydrotherapeutische Prozedur mehr, sondern
eine Zwangsjacke in der schlimmsten Form, die noch dazu viel bedenk¬
licher für Atmung und Herztätigkeit werden kann als die alte Zwangs¬
jacke. Cratner , der sonst kein Prinzipienreiter war, hat deshalb sich gegen
die Anwendung feuchter Packungen auf das äußerste gesträubt und sie
auch bei harmlosen Fällen und in kurzer Form nicht geduldet. Und wenn
man einwenden wollte, daß eben solche Mißbräuche vermieden werden,
wenn die Maßregel nur auf spezielle ärztliche Anordnung und unter ärzt¬
licher Kontrolle ausgeführt wird — was ich für ganz selbstverständlich
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Weber,
halte —, so gilt das auch für das so sehr bekämpfte Isolierzimmer. Gewiß
kommen auch da Mißbräuche vor, wenn die Isolierung ohne ärztliche Kon¬
trolle oder unter einem in diesen Dingen nicht erfahrenen Arzt ausgeführt
wird. Das darf aber kein Grund sein, das ganze Verfahren zu verwerfen,
ebensowenig wie ich die feuchte Packung gänzlich verwerfe, deren An¬
wendung ich bereits im Jahre 1895 in Uchtspringe kennen gelernt und
seitdem bei geeigneten Fällen geübt habe. Aber bei den schweren Fällen
von Unruhe und Erregung, bei den Fällen, deren Behandlung uns gerade
Mühe macht, wirkt die feuchte Packung nicht anders als durch ihren
mechanischen Zwang und muß als solcher gewertet werden.
6. Die Beschäftigung. Darunter darf nicht nur die Zuteilung
des Kranken an eine Arbeitskolonne oder Werkstätte oder Arbeits¬
stube verstanden werden, sondern das ganze Eingehen des Arztes und
Pflegepersonals auf die Individualität des Kranken. Wenn man die
Beschäftigung des Kranken und mit dem Kranken in diesem Sinne
nimmt, dessen ideale Ausführung wir ja nie erreichen werden, dann ist
sie allerdings das vornehmste und beste Behandlungsmittel auch bei
sehr vielen Erregungszuständen, an denen wir andere Mittel ohne Erfolg
und höchstens zum Nachteil der Kranken verschwendet haben.
Es gibt klinisch kaum einen Zustand von Unruhe und Erregung,
der nicht schon in einzelnen Fällen — günstig beeinflußt worden ist
dadurch, daß der Kranke aus dem Isolierzimmer, aus dem Bett oder Bad
herausgenommen, in seine Kleider gesteckt und an eine geeignete Arbeit
gestellt wurde. Und wenn es zehnmal mißlingt, das elfte Mal gelingt es
dann doch. Daß die manischen, auch die paralytischen Erregungen
hierzu sich ganz besonders eignen, ist bekannt; es geht aber auch bei Er¬
regungszuständen und motorischer Unruhe der Katatoniker, ebenso wie
bei den Stuporzuständen dieser Kranken. Dasselbe gilt für die reizbaren,
ethisch Defekten, zu kriminellen Handlungen geneigten Psychopathen.
Man muß nur die Umgebung einigermaßen vor impulsiven Handlungen
schützen können. Zur Wirkung der Beschäftigung trägt natürlich auch
bei — und das gehört mit dazu: der Wechsel des Aufenthalts und der Um¬
gebung, die Einwirkung der frischen Luft bei der Arbeit, im Freien und andere
Momente, die ja oft genug geschildert worden sind. Auch die Art der Be¬
schäftigung: wenn in einer Abteilung krimineller Kranken jahraus, jahrein
in Rücksicht auf die Sicherheit nur Düten geklebt oder Federn geschleißt
werden, so ist das allerdings nicht geeignet, von Reizbarkeit und Erregung
abzulenken. Im Verwahrungshaus in Göttingen hatte ich seit der Er¬
öffnung von 60 Kranken zirka 40 bis 45 ständig beschäftigt, und zwar
meist mit handwerksmäßigen Arbeiten: Tischler, Schuhmacher, Korb¬
flechter, Buchbinder, Mattenflechter usw. Gerade in solchen Verwah¬
rungshäusern, die nicht die Möglichkeit gärtnerischer oder landwirtschaft-
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Die Behandlung der Erregungszustände in der Anstalt.
897
licher Betätigung haben, müssen Arbeitsformen eingeführt werden, die
etwas Anregung bieten. Das läßt sich nach meiner Erfahrung technisch
gefahrlos durchführen, namentlich mit Hilfe der hier reichlich zu Gebote
stehenden Einzelzimmer; mir ist in 3 Jahren im Verwahrungshaus kein
Unglücksfall passiert.
Zu den Erregungszustände günstig beeinflussenden Umständen
gehört weiter die häufige Verlegung auf andere Abteilungen und unter
eine andere Umgebung, ein Mittel, das ja in größeren Anstalten zur
Verfügung steht. Und endlich gehört dazu, daß der Kranke bei allem,
was man mit ihm vornimmt, Verlegung, Beschäftigung oder Behand¬
lung, das Bewußtsein hat, daß die verantwortliche Stelle sich gerade
um ihn speziell kümmert und die Maßnahmen seiner Individualität
entsprechend auswählt.
Zur Beruhigung eines unzufriedenen, reizbaren, querulatorischen
Kranken tut man mehr, wenn man ihm einmal außer der Reihe persönlich
einen Brief besorgt oder sonst etwas, woran er das persönliche Interesse
wahrnimmt, als wenn man ihn nach allen Regeln der Psychiatrie mit den
üblichen Beruhigungsmitteln behandelt oder durch das Personal be¬
handeln läßt. In dieser Beziehung haben die kleineren Anstalten zweifellos
den Vorteil, in denen der dirigierende Arzt wenigstens die Möglichkeit hat,
mit jedem Kranken gelegentlich einmal zu sprechen, wenn er sich auch
dazu erst über dessen Verhältnisse noch etwas orientieren muß. Die Men¬
schen sind nun einmal so, daß sie von dem, der an der allerobersten Spitze
irgendeiner Organisation steht, immer noch etwas mehr erwarten als
von jeder wenn auch noch so selbständigen nachgeordneten Stelle. Und
ich glaube, wir dürfen auch bei den schweren und chronischen Geistes¬
kranken in dieser und vielen anderen Beziehungen nicht zu sehr der nor¬
malen Durchschnittspsychologie fremdartige Gedankengänge vermuten.
Jedenfalls die Neigung, alle ihre persönlichen Angelegenheiten und An¬
liegen, auch die kleinsten, als das wichtigste, als den Mittelpunkt ihrer
Umwelt zu nehmen, teilen sie mit den meisten normalsinnigen Menschen;
wer in der Behandlung dieser Auffassung Rechnung trägt, erzielt gute Er¬
folge bei der Bekämpfung der Erregung und Reizbarkeit.
Vielleicht zeigt die vorstehende Betrachtung, daß keine der Ma߬
nahmen, die der modernen Anstalt zur Verfügung stehen, für sich allein
ausreicht, alle Erregungszustände zu beseitigen. Unsere Aufgabe ist
es, sie für jeden Fall kritisch auszuwählen und individuell anzuwenden,
wobei wir uns vor spezieller Bevorzugung oder Ausschließung eines
Mittels und vor der schematischen, dem Personal überlassenen An¬
wendung aller Mittel hüten müssen. Das ist nur möglich, wenn sich
der Anstaltsleiter durch die „Verwaltungstätigkeit“ nicht ganz von
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898 Weber, Die Behandlung der Erregungszustände in der Anstalt
seiner vornehmsten Aufgabe, der ärztlichen Leitung, abdrängen läßt
oder wenn die Tätigkeit der anderen Ärzte so gestaltet ist, daß sie sich
persönliches Interesse, Elastizität und Initiative bewahren, um immer
wieder persönlich einzugreifen, zu prüfen, Versuche zu machen und
der Individualität des Kranken gerecht zu werden. Dann wird es mit
den aufgezählten Behandlungsmethoden gelingen, ohne groben Zwang
der größten Zahl der krankhaften Erregungszustände Herr zu werden,
der krankhaften in dem Sinne, daß sie bei ausgesprochen psychotischen
Zuständen auftreten. Die Reizbarkeit, die Affektausbrüche, impul¬
siven oder zielbewußten gewalttätigen und insozialen Handlungen
der Grenzzustände, die ich hier öfter erwähnt habe, werden wir auch
mit diesen Maßnahmen nicht ganz aus der Anstalt entfernen können.
Hier erhebt sich dringend der Wunsch nach allmählicher Entfernung
dieser mehr insozialen als kranken Elemente aus der eigentlichen
Irrenanstalt, wenn diese nicht allmählich ihren Charakter als Kranken¬
anstalt, als „Heil- und Pflegeanstalt“ verlieren soll.
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Die zahnärztliche Behandlung in Irrenanstalten.
Von
Dr. phil. Ktthns, Zahnarzt, Hannover.
Nachdem die physiologische Bedeutung der Zähne als wichtige
Organe für die Erhaltung der Gesundheit jetzt eine allgemeine Würdi¬
gung gefunden hat, ist es nur noch eine formelle Frage, wann der Zahn¬
heilkunde als vollberechtigten medizinischen Wissenschaft gleiche
Stellung mit den übrigen medizinischen Spezialwissenschaften ein-
geräumt werden soll.
Nur der Umstand, daß das Studium derselben durch die wesent¬
lich mit ihr verbundene Prothetik andere Wege als die allgemeine
Heilkunde notwendig macht, hat noch verhindert, daß ihr als eben¬
bürtiger Schwester gleiche Rechte eingeräumt sind. Aber es kann
keinem Widerspruch mehr begegnen, daß, wie überhaupt, so auch bei
den in den Irrenanstalten untergebrachten Kranken eine ausgedehnte
zahnärztliche Behandlung nicht mehr ausgeschaltet werden darf,
wenn man sich nicht dem Vorwürfe ungenügender Fürsorge für deren
körperliches Wohl aussetzen will. Herrn Prof. Dr. Alt gebührt das
Verdienst, soweit mir bekannt, als erster diese Notwendigkeit erkannt
und derselben in der ihm unterstellten Landesheil- und Pflege¬
anstalt Uchtspringe durch Errichtung einer zahnärztlichen Station
und regelmäßiger zahnärztlicher Behandlung der Insassen Rechnung
getragen zu haben.
Es ist ja eine Forderung allgemein ethischer und sozialer Natur,
daß die Fürsorge für die Erhaltung so wichtiger Organe für die Gesundheit
und das Wohlbefinden auch während des Aufenthaltes der Kranken in den
Anstalten in vollem Maße Berücksichtigung finde, daß zahnärztliche
Stationen geschaffen und eine stete zahnärztliche Aufsicht, Behandlung
und Zahnpflege in allen Anstalten für Irre platzgreifen müßte.
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900
Kühns,
Ist dem schon aus allgemein menschlichen Rücksichten Geltung zu
verschaffen, so wird sie aus hygienischen Gründen zu einer besonders
berechtigten. Eine ungepflegte Mundhöhle ist der Aufenthaltsort üppig
wuchernder Bakterien aller, auch gelegentlich pathogener Art; die An¬
häufung solcher Individuen in den Schlafsälen und ihre nahe Berührung
schon ist als eine stete Infektionsgefahr anzusehen. Sie wird es mehr
noch angesichts der rapid wachsenden Degenerationserscheinungen des
menschlichen Gebisses, des hohen Prozentsatzes kranker Zähne mit ihren
in Fäulnis befindlichen Speiseresten und der damit sowohl für den Träger
als seine Umgebung bedingten Folgen.
Wird bei den doch vielfach mit Anämie und rachitischer Veran¬
lagung behafteten Geisteskranken während eines auch nur ein oder wenige
Jahre dauernden Anstaltsaufenthalts jegliche Zahnfürsorge ausgeschaltet,
so muß ein hochgradiger Verfall der Zähne die Folge sein.
Besonders aber ins Gewicht fällt, daß die gleichen Ursachen, welche
in den weitaus meisten Fällen die Veranlassung zu geistiger Erkrankung
bilden, alle Arten erblicher Belastung konstitutioneller Art, auch gerade
auf die Degeneration des menschlichen Gebisses, der Kiefer und der Zähne,
hinwirken und auf diese von ganz besonders schädlichem Einflüsse sind.
Nirgends finden wir eine solche Häufung von Anomalien der Kiefer¬
bildung, abnormer Größenmaße, der Zahnstellung, ihrer Unter- und
Überzahl sowie der Form- und Größenverhältnisse der Zähne als bei
Idioten, so daß Näcke dieselben auf 100% angibt. In einem Zeitraum
von 8 Jahren zahnärztlicher Tätigkeit in der Heilanstalt zu Uchtspringe
und in der von mir dort angelegten Sammlung von Gebißmodellen von
Idioten ist mir kein Fall vorgekommen, der frei von jeglicher Anomalie war.
Dr. Bourneville , Arzt an der Irrenanstalt Bicetre, hebt das ver¬
mehrte Volumen der Unterlippe (bei Skrofulösen das der Oberlippe) bei
Blödsinnigen hervor, den großen, meist geöffneten Mund. „Die Zähne sind
nur ausnahmweise schön und symmetrisch, meist schwarz oder gelblich
und von unregelmäßiger Stellung. Die großen Schneidezähne nach vorn
geneigt, immer sehr breit und kürzer als die seitlichen Schneidezähne,
vielfach mit Schmelzatrophie behaftet. Die unteren Incisivi meist
verlängert, nach den Schneiden zu atrophisch. Der Zahnbogen
meist unregelmäßig, oft Zickzackgebiß, die Okklusion der Zahnreihen
mangelhaft.“
Besonders häufig ist der harte Gaumen bei Degenerierten von anor¬
maler Bildung.
Petersons, der 1000 Geisteskranke, 100 Verbrecher, 600 Idioten und
500 Neuropathen untersucht hat, glaubt sich zu dem Ausspruch berechtigt:
„Zeig mir deinen Gaumen, und ich werde wahrscheinlich dir sagen können,
ob du zu der großen Klasse der durch Heredität Entarteten gehörst, die
viele Geisteskranke, Schwachsinnige, Verbrecher, Exzentrische, Epileptiker,
Hysterische oder Neurasthenische in sich schließt.“ Wenn er den defor-
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
Die zahnärztliche Behandlung in Irrenanstalten.
901
mierten Gaumen für sich allein auch nicht als Stigma der Degeneration
aufgeführt wissen will, so deutet er ihn doch als solches, sobald er mit
Anomalien des Schädels und des Ohres und anderen Degenerationszeichen
verbunden ist.
Talbot fand 43% abnormer Gaumen bei 1605 Schwachsinnigen.
Ireland schätzt die Zahl auf 50%, Charon fand 82% bei Idioten, 76%
bei Epileptikern, 70% bei Öysterischen, 35% bei allgemeiner Paralyse.
Diese anomale Gaumenbildung besteht entweder in Asymmetrie oder dem
sogenannten V-förmigen Kiefer, prognathischem Überstellen des Ober¬
kiefers, sattelförmiger Gestalt des Zahnbogens oder der als Torus pala-
tinus bezeichneten, mehr oder minder großen exostotischen Bildung der
Sutura palatina.
Daß namentlich bei den vielen mit rachitischer Veranlagung be¬
fallenen Geisteskranken neben schwach entwickelten Zähnen auch die
Stellungsanomalien derselben sehr häufig sind, ergibt sich aus dem Um¬
stande, daß die Rachitis gerade auf das Größenwachstum der Kiefer
hemmend einwirkt. Da von dieser Beeinträchtigung die Zähne in bezug
auf ihre Größe nur in seltenen Fällen mitbetroffen werden, so entsteht
ein Mißverhältnis zwischen beiden, die Zähne stehen sehr oft stark ge¬
drängt und unregelmäßig in einem zu kleinen Kiefer, und die später durch¬
brechenden finden den ihnen zukommenden Platz nicht mehr frei. Die
kleinen Schneidezähne z. B. stehen häufig gaumenseits hinter den mitt¬
leren, die beiden Bicuspidaten finden wir oft im Dreieck mit dem ersten
Molaren stehen. Noch verschlimmert wird dieser Zustand dadurch, daß
durch die fehlerhafte Stellung der durchbrechenden Zähne die Resorption
der Milchzahnwurzeln nicht normal erfolgen kann, sie bleiben häufig
zwischen den bleibenden Zähnen stehen und bieten so weiteren Unter¬
schlupf für Fäulnisstoffe und zur kariösen Zerstörung ihrer Nachbarn.
Nicht ganz selten habe ich bei Idioten drei und mehr solcher Milchzahn¬
reste in einer Kieferseite vorgefunden.
Schon dieser Umstand sollte eine zahnärztliche Beaufsichtigung
der im Zahn Wechsel befindlichen Schwachsinnigen als nötigerscheinen lassen.
Zwingen freiliegende, entzündete Pulpen durch die damit ver¬
bundenen Schmerzen gesunde Menschen bald zur Behandlung derselben, sei
es durch Abtöten derselben oder letzten Falles durch die Extraktion des
Übeltäters, so werden diese bei indolenten Geistesschwachen, wenn sie
unbeachtet bleiben, oft zu erheblich nachteiligeren Folgen Veranlassung
geben.
Das Unvermögen, mit derartig erkrankten Zähnen zu kauen, wird oft¬
mals Nahrungsverweigerung zur Folge haben, wie sie ja so häufig bei
Melancholikern beobachtet wird, die später nicht selten auftretenden Er¬
krankungen des Periostes bedingen Kiefererkrankungen und Eiterungen,
die lange Zeit unbemerkt bleiben können; der Eiter wird mit verschluckt
oder gefährdet durch Senkung tieferliegende Organe.
ZelUohrilt (Br PiyohUtri«. LXXI. 6. 62
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902
Kühns,
Wie freiliegende Pulpen oftmals die Ursache heftiger Trigeminus¬
neuralgien sind, so geben sie nachgewiesenermaßen auch oft Veranlassung
zu epileptischen Anfällen. Hirschkron führt solche Fälle an, auch Bruraker ,
Bakowski und Liebert, ebenfalls kann die Dentitio difficilis des Molar III
solche reflektorische Wirkungen hervorrufen. Halle berichtet von einem
Kranken, bei dem eine 20 Jahre lang bestehende Neurose durch Extraktion
des Weisheitszahns geheilt wurde.
Es kann demnach wohl kaum bestritten werden, daß eine syste¬
matische zahnärztliche Behandlung der Anstaltsinsassen sowohl im
allgemein menschlichen und hygienischen als im speziellen Interesse einer
möglichsten Ausschaltung reflektorisch wirkender Reizursachen ge¬
boten, und daß die Konservierung der Zähne als notwendiger Organe
zur Ernährung ebenso wie die Gesunderhaltung aller übrigen an¬
zustreben ist.
Es fragt sich nun, in welchem Umfange die zahnärztliche Behand¬
lung sich mit dem Verhalten der Irren und dem sonstigen Zuschnitt der
Irrenanstalten vereinigen läßt. Es muß unbedingt zunächst gefordert
werden, daß zur Behandlung nur Zahnärzte herangezogen werden. Viel
mehr noch als bei geistig Gesunden ist zu fordern, daß es ausgeschlossen
sein muß, daß Nichtapprobierte je zur Behandlung zugelassen werden,
auch nicht zur Extraktion der Zähne. Welcher für das Wohl seiner
Kranken bestellte Anstaltsleiter könnte wohl die Verantwortung für deren
durch keine Wissenschaft kontrollierte Tätigkeit trägen ? Auch die zahn¬
ärztliche Behandlung durch Ärzte, da sie allgemein wohl nur auf die
Extraktion der Zähne sich beschränken würde, kann nicht als genügend
betrachtet werden.
Soweit es der sonstige Zustand des Kranken erlaubt, sollte eine volle
konservative und prothetische Behandlung auch der Geisteskranken das
Ziel sein. Dazu ist die Errichtung einer zahnärztlichen Station notwendig
und die Anstellung eines Zahnarztes, der in regelmäßigen Zwischenräumen
nach Bedarf in Tätigkeit tritt.
Gar bald gewöhnen sich die Kranken an eine wiederkehrende Kon¬
trolle, sobald es dem Zahnarzt gelingt, durch eine zielbewußte, aber freund¬
liche Behandlung der Kranken deren Mißtrauen zu besiegen, durch ein
schnelles und sicheres Eingreifen sich ihre Anerkennung zu erwerben.
Selten habe ich so viel Dankbarkeit für meine auch mit nicht zu um¬
gehenden Schmerzen verbundene Tätigkeit gefunden als bei den Irren.
Freilich wird man auch oft einer scharfen Kritik gegenüber ihrer in der
Freiheit noch genossenen zahnärztlichen Behandlung ausgesetzt sein.
Bei schmerzhaften Eingriffen die Narkose auszuschalten, liegt kein
Grund vor; auch namentlich die-heute fast auschließliche Anwendung
lokaler Anästhesie wird meistens anstandlos vertragen und dankbar
empfunden. Oftmals macht ja freilich die Tolarenz und Unempfindlichkeit
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die zahnärztliche Behandlung in Irrenanstalten.
903
gegen Schmerzen bei an Manie Erkrankten jegliches Narkotikum über¬
flüssig.
Wenn auch während gelegentlicher Erregungszustände der Kranken
zahnärztliche Eingriffe selbstverständlich nicht vorgenommen werden
sollen, so können sich solche trotz aller Vorsicht während oder nach zahn¬
ärztlicher Behandlung ereignen, ebenso wie epileptische Anfälle. Deshalb
ist außer der selbstverständlichen Assistenz durch eine Pflegerin auch die
stete Hilfsbereitschaft eines Pflegers anzufordern. Wie weit die zahn¬
ärztliche Tätigkeit sich in jedem Falle zu erstrecken hat, muß dem Urteil
des Zahnarztes überlassen bleiben und sich im Einverständnis mit dem
Anstaltsarzt wesentlich nach der Behandlungsmöglichkeit des Kranken
richten.
Viel häufiger wird man zur Zange greifen müssen, wo bei Normalen
eine Füllung noch möglich gewesen wäre; bei den mehr oder weniger Ver¬
blödeten wird dies sogar die Regel sein. Wenigstens aber sollte auch bei
ihnen auf die ‘Zahnwechselerscheinungen Acht gegeben und Zähne, die
aus irgendwelchen Gründen nicht zu erhalten sind, aus hygienischer Rück¬
sicht entfernt werden. An künstliche Gebisse gewöhnen sich die Kranken
meist recht bald, sie pflegen sie als einen großen Schatz zu betrachten, den
sie meist sorgsam behüten. Daß bei diesen auf den festen Sitz und große
Haltbarkeit besonderer Wert gelegt werden muß, ist eine selbstverständ¬
liche Forderung; aber für ihre Beschaffung, wo sie aus physiologischen
Gründen notwendig und sonst zulässig sind, sollten auch etatsmäBige
Mittel vorhanden sein. Nicht ganz selten wird ja eine kräftige Ernährungs¬
möglichkeit die Vorbedingung zur Wiedergenesung sein. Obligatorisch
eingeführt muß der Gebrauch der Zahnbürste werden; die durch das
hygienische Komitee derConföderation Dentaire Internationale empfohlen,
in allen Kulturländern gleichmäßig eingeführte, gute und billige Zahn¬
bürste „der Zahnfreund“ *) kann wohl jede Verwaltung ihren Kranken
gewähren. Wenigstens morgens, noch besser auch abends, sollte eine
Reinigung der Zähne mittels Bürste und einprozentigem Salzwasser
obligatorisch stattflnden. Daran werden die meisten Insassen zu ge¬
wöhnen sein.
Alles in allem: Eine möglichst auch auf die Erhaltung und Ersatz
der Zähne ausgedehnte zahnärztliche Behandlung und eine geregelte
Zahnpflege ist aus allgemein hygienischen Gründen und spezieller
Rücksicht auf die Gesundheitsverhältnisse der Insassen in allen An¬
stalten für Geisteskranke eine nicht mehr abzuweisende Forderung.
Erfreulicherweise ist diese Erkenntnis bereits in vielen größeren
Irrenanstalten durch Errichtung zahnärztlicher Stationen zum Aus¬
druck gekommen.
*) Generalvertretung für Deutschland: Dr. Roth, Straßburg i. E.
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Original fro-m
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904 Kühns, Die zahnärztliche Behandlung in Irrenanstalten.
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Literatur.
Bourneville, Dr., Gaz. des höpitaux 1864.
Peterson, Deform, d. hart. Gaumens b. Degen. Intern. Dent. Journ. Ri.
16, Dez. 1895.
Nücke, P., Dr., Arch. f. Psych. Bd. 25, S. 478.
Hirschkron, Wien. Deutsche Ärzte*Ztg. 1902.
Halle, Herrn., Dr., Deutsche Monatsschr. f. Zhhlkd. 1899, S. 36.
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Original fro-m
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Über Calmonal (Bromcalciumurethan) 1 ).
Von
Oberarzt Dr. Bufe, Uchtspringe.
Auf Anregung von Alt haben Hoppe und Fischer 1 im Jahre 1911
Bromcalciumharnstoff (Ureabromin) von der Formel Ca Br 2 4 CO
(NH 2 ) 2 in den Arzneischatz eingeführt. Nach den in Uchtspringe
(einschließlich Kurhaus Wilhelmshof) und anderwärts von Böhmig 2 ,
Jach 2 , Mangelsdorf 46 , Johannessohn ®, Schwabe 910 und JödicTce 11
gewonnenen Erfahrungen entfaltet das Ureabromin bei weitgehendster
Vermeidung Von Bromintoxikationserscheinungen eine ausgezeichnete
Bromwirkung. Gute Arbeit des Herzens und der Nieren ist Vorbe¬
dingung für Femhaltung des Bromismus. Das im Ureabromin ent¬
haltene Calcium wirkt günstig auf das Herz, der Harnstoff befördert
die Nierenausscheidung und sorgt dadurch für Schonung der Haut.
Bromakne unterbleibt oder verschwindet bei Darreichung von Urea¬
bromin zuallermeist in überraschender Weise; dasselbe gilt vom fötor
ex ore, vom Appetitmangel, von den psychischen Veränderungen (Reizbar¬
keit, Stumpfheit). Verf. 8 konnte auf Grund der im Kurhaus Wilhelmshof
gemachten Beobachtungen feststellen, daß das Ureabromin im Gegensatz
zu den Bromalkalien von der schwererkrankten Magenschleimhaut vor¬
züglich vertragen wurde. Daß Calciumverbindungen des Broms ganz
allgemein weniger giftig wirken als die Bromalkalien, hat kürzlich erst
Frey 11 dargetan, welcher zufolge eingehender Versuche empfiehlt, zur
Vermeidung der entzündlichen Erscheinungen der Haut und Schleimhaut
bei Bromkuren calcium bromatum zu verwenden.
Ureabromin enthält 36% Brom, welches nach den Untersuchungen
von Hoppe und Fischer 1 aus dem menschlichen Organismus schneller aus¬
geschieden wird als das Brom der Bromalkalien. Hierauf mag die bereits
betonte relativ geringe Toxizität des Ureabromin zum großen Teil mit¬
beruhen. Mittel mit langsamer Bromausscheidung (wie z. B. Diogenal)
1 ) Aus der Landesheilanstalt Uchtspringe, Altmark (Direktor Prof.
Dr. AU).
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Bufe,
wirken zwar mit der Zeit nachhaltiger und stärker, haben aber den Nach¬
teil, daß sie giftiger sind und nicht so lange gegeben werden können. Das
Brom des Ureabromin entfaltet im Körper, obgleich es verhältnismäßig
schnell ausgeschieden wird, eine ausgezeichnete antispasmodische, sedative
und besonders auch hypnotische Wirkung.
Die günstigen Erfolge, welche durch Ureabromin außer bei epi¬
leptischen Krankheitserscheinungen auch bei nervösen Reizzuständen
und bei Schlaflosigkeit erzielt wurden, legten den Gedanken nahe, die
beruhigende und schlafmachende Wirkung durch Einschieben einer
Äthylgruppe noch zu verstärken, also die sedativen Wirkungen des
Bromcalciums mit denen eines harmlosen Schlafmittels, wie es das
Urethan ist, zu kombinieren. In dieser Absicht wurde von der Firma
Gehe & Co. in Dresden, welche das Ureabromin herstellt, dem Brom¬
calciumcarbamid noch eine Äthylgruppe zugefügt und eine neue Ver¬
bindung von der Formel Ca Br 2 4 CO(NH 2 ) OC 2 H 5 + 2 H 2 0 herge¬
stellt. Diese Verbindung wurde Calmonal genannt und der Anstalt
Uchtspringe zur Verfügung überlassen.
Das Calmonal stellt ein weißliches, kristallinisches Pulver da, das
wenig hyroskopisch ist und sich leicht in Wasser und Alkohol löst. Sein
Bromgehalt beträgt etwa 27 %. Der Schmelzpunkt liegt bei 107 bis 107,5®.
Der Geschmack der Lösung ist etwas salzig-bitter, aber nicht unangenehm
aufdringlich.
J/oppe-Uchtspringe machte vor etwa 2 Jahren in Uchtspringe die
erstmaligen planmäßigen und grundlegenden Versuche mit dem neuen
Mittel. Sämtliche gesunden Versuchspersonen und alle Kranken nahmen
es anstandlos auch längere Zeit hindurch. Das Verhalten des Calmonal
im Organismus ähnelt, wie länger dauernde Ausscheidungsversuche zeigen,
dem des Ureabromin; hierüber wird Negers-Uchtspringe in dieser Zeit¬
schrift genaueres veröffentlichen. Das Brom des Calmonal wird schneller
ausgeschieden als aus den gewöhnlich verordneten Brommitteln, den
Bromalkalien. Demgemäß kommen selbst bei längerer Darreichung von
Calmonal seltener und schwerer Bromvergiftungserscheinungen zustande.
Calmonal kann in den bisher verabfolgten Dosen (etwa 2 g pro die) monate¬
lang ohne Schaden gegeben werden.
An schlafmachender Wirkung übertrifft es in Dosen von 1 bis 2 g
sowohl die gewöhnlichen Bromalkalien und das Ureabromin, wie auch
andere als leichtere Schlafmittel bekannte Brompräparate, z. B. das
Bromural und Adalin. In der vorbeugenden Bekämpfung nächtlicher Auf-
regungs- und Verwirrungszustände hat sich das Calmonal besonders gut
bewährt. Gibt man Personen, die erfahrunggemäß zu derartigen nächt¬
lichen Zuständen neigen, vor dem Einschlafen das Calmonal in Dosen von
1 bis 2 g, so treten diese gefürchteten Attacken, wie monatelange Ver-
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Über Calmonal (Bromcalciumnrethan).
907
suche zeigen, zuallermeist überhaupt nicht auf, und viel Unruhe wie auch
große Mengen stark wirkender, den Organismus angreifender Schlafmittel
werden hierdurch erspart.
Die Hauptversuche mit Calmonal erstreckten sich auf die Wirkung
bei vorwiegend nächtlichen epileptischen Krampfanfällen. Große Ver¬
suchsreihen von langfristiger bis zu 18 Monaten sich erstreckender Beob¬
achtungsdauer zeigten, daß hier Calmonal allen anderen Brompräparaten
weit überlegen ist. Sämtliche Kranke dieser Art wurden durch Calmonal
so günstig beeinflußt, wie es mit anderen Brompräparaten nicht entfernt
möglich gewesen war; bei einer großen Anzahl verloren sich die nächt¬
lichen Krampfanfälle gänzlich. Auffallend war, daß trotz dieser über¬
raschenden Besserung Bromintoxikationserscheinungen selbst bei monate¬
langem Gebrauch von Calmonal nicht nur nicht auftraten, sondern sogar
schwanden, wenn sie etwa infolge voraufgegangener Darreichung von
Bromalkalien hervorgerufen waren: die Patienten verloren die Bromakne
und den fötor ex ore, sie fühlten sich wesentlich wohler, waren geistig
regsamer und frischer; abgeschwächte Reflexe kehrten zur Norm zurück,
Reizbarkeit und Stumpfheit schwanden. Das Calmonal gleicht demnach
bezüglich Ungiftigkeit dem Ureabromin völlig.
Schließlich verdient eine erfreuliche Nebenbeobachtung erwähnt zu
werden. Es zeigte sich, daß auf den Abteilungen für Kinder (aber auch
für Erwachsene) seit Einführung des Calmonals das nächtliche Bettnässen
ganz erheblich zurückging; und zwar erstreckte sich diese Beobachtung
zunächst auf Fälle mit epileptischer Grundlage. Als dann Dosen von 1 bis
2 g Calmonal vor dem Einschlafen auch solchen Kranken gegeben wurden,
bei denen die enuresis nocturna sicher nicht auf Epilepsie beruhte, war
auch hier meist derselbe erfreuliche Erfolg zu verzeichnen; vermutlich
hatte das Calmonal in diesen Fällen sedativ auf nervöse Reizzustände
der Blase (vielleicht auch der Geschlechtsorgane) gewirkt.
Im allgemeinen zeigt somit das Calmonal ein ähnliches Verhalten
im Organismus wie das Ureabromin; es wird ebenso schnell ausge¬
schieden, indem es die Nieren- und Herztätigkeit anregt; es ist dem¬
zufolge von gleicher relativer Ungiftigkeit; es übertrifft aber das Urea¬
bromin an schlafmachender Wirkung und zeigt einen besonders günsti¬
gen Einfluß bei nächtlicher Epilepsie sowie bei psychischen und ner¬
vösen Reizzuständen.
Literatur.
1. Hoppe und Fischer, Über BromcalciumharnstoiT (Ureabromin).
Berl. klin. Wschr. 1911, Nr. 41.
2. Böhmig , Über Ureabromin. Psych.-neurol. Wschr. XIII, Nr. 47.
3. Jach, Über Ureabromin. Ther. d. Gegenw. Okt. 1912.
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908
Bufe, Über Calmonal (Bromcalciumurethan).
4. Mangelsdorf , Erfahrungen mit Ureabromin bei Epileptikern. Psych.-
neur. Wschr. Bd. 14, Nr. 47.
5. Mangelsdorf, Uber die innerliche Anwendung von Brompräparaten,
besonders bei der Epilepsie. Ztschr. f. d. Erf. u. Beh. d. jugendl.
Schwachsinns Bd. 7, H. 1—3, 1913.
6. Johannessohn, Klin. Beitrag zur Bewertung von Ureabromin (Brom-
calciumharnstoit). D. med. Wschr. 1913, Nr. 6.
7. Biltz, Ureabromin. Pharmazeutische Zentralstelle 1912, Nr. 10.
8. Bufe, Erfahrungen mit Ureabromin bei der Alkoholentziehung. Münch.
med. Wschr. Nr. 47, 1913.
9. Schwabe, Einige Beobachtungen über Ureabromin bei Epilepsie.
Diss. Rostock 1913.
10. Schwabe, Einige Beobachtungen über Ureabromin bei Epilepsie.
Psych.-Neurol. Wschr. Bd. 15, Nr. 44, 1914.
11. Jödicke, Über moderne Behandlung der genuinen Epilepsie. Ztschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 18, H. 1 u. 2, 1913.
12. Frey, Die Vermeidung der Nebenwirkungen bei Brom- und Jodkuren
durch gleichzeitige Kalkgaben. Med. Klin. 1914, Nr. 9.
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Über das Verhalten des Calmonals im mensch¬
lichen Körper 1 )*
Von
Dr. phil. K. Seegere, appr. Nahrungsmittelchemiker.
In dem chemischen Laboratorium der Landesheilanstalt Ucht-
springe gelangen nicht nur regelmäßig die für die Anstalt angekauften
Lebensmittel, Gebrauchsgegenstände und technischen Produkte zur
Untersuchung, sondern es werden darin auch in ausgedehntem Maße
Stoffwechseluntersuchungen ausgeführt.
Es ist das große Verdienst des Direktors, Prof. Dr. Alt, die Wichtig¬
keit der Untersuchungen in Landesheilanstalten zuerst erkannt und
zu deren Ausführung Laboratorien mit allen Apparaten der modernen
Chemie geschaffen zu haben.
Neben den regelmäßigen Stoffwechseluntersuchungen bei Nerven-
und Geisteskranken werden auch vielfach Versuche mit neuen Arznei¬
mitteln angestellt, die planmäßig aufgebaut zu sein scheinen.
Ehe die Präparate in den Arzneischatz eingeführt werden, ge¬
langen sie hier vielfach durch klinische Beobachtungen, durch längere
Zeit durchgeführte genaue Stoffwechseluntersuchungen zur Prüfung
und Erprobung.
So hat insbesondere seinerzeit die Landesheilanstalt Uchtspringe
die ehrenvolle und dankbare Aufgabe gehabt, das so schnell rühmlichst
bekannt gewordene Salvarsan, die geniale Erfindung Sr. Ex. Prof.
Ehrlich, als erste von allen Krankenanstalten klinisch und experimentell
erproben zu dürfen. Von neuen Präparaten wurden dann planmäßig
u. a. mit Ureabromin, Hexal, Luminal, Adalin und Zebromal viele
eingehende Versuche und Untersuchungen angestellt. Dem Urea-
l ) Aus dem chemischen Laboratorium der Landesheilanstalt Ucht¬
springe (Direktor: Prof. Dr. Alt).
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910
Seegers,
bromin nahe steht das an dieser Stelle zu behandelnde Calmonal.
Beide Präparate werden von der bekannten Firma Gehe & Co., Akt.-
Ges., Chemische Fabrik in Dresden-N., hergestellt. Ureabromin, die
ältere Verbindung ist Bromcalciumharnstoff, das Calmonal Brom-
calciumurethan, entsprechend der Formel:
Ca Br 2 .4 C0(NH 2 )0. 1 2 H s + 2 H 2 0.
Das Calmonal ist ein kristallinisches Pulver, leicht löslich in Wasser
und Alkohol. Hygroskopische Eigenschaften zeigt es nur in schwachem
Maße; die Substanz schmilzt bei 107 bis 107,5°. Die verschiedenen Sendun¬
gen entnommenen Proben gaben einen einheitlichen Bromgehalt von
ca. 27%. Es gelangt in Pulver- und Tablettenform in den Handel.
Es wurden einige zuverlässige Patienten ausgewählt, von denen die
einen längere Zeit Bromnatrium, die anderen Calmonal einnahmen. Die
Mengen wurden so berechnet, daß diese Patienten täglich die gleiche Menge
Brom bekamen, so daß dann aus dem Bromgehalt von Urin und Kot die
Schnelligkeit der Bromausscheidung ersichtlich und zu vergleichen war.
In den folgenden Tabellen sind die Ergebnisse des Urins von zwei Pa¬
tienten zusammengestellt:
Täglich ]
Pat. K.
Gramm Bromnatrium
Täglich
Pat. L.
3 Gramm Calmonal
Broragehalt
Kalkgehalt,
berechnet auf
CaO
Bromgehalt
Kalkgehalt,
berechnet aal
CaO
er
g
g
g
1. Tag
0,126
0,066
1. Tag
0,077
0,037
2. „
0,268
0,086
2. „
0,269
0,094
3. „
0,537
0,096
3. „
0,723
0,122
4- „
0,398
0,073
4. „
0,605
0,087
5. „
0,712
0,085
5. „
0,645
0,091
6. „
0,394
0,088
6. „
0,467
0,079
7. „
0,659
0,049
7. „
0,784
0,082
8. „
0,672
0,076
8. „
0,660
0,084
9. „
0,532
0,072
9. „
0,661
0,083
10. „
0,558
0,074
10. „
0,570
0,088
11. „
0,453
0,046
11. „
0,510
0,095
12. „
0,430
0,048
12. „
0,457
0,096
Die Brombestimmung wurde folgendermaßen ausgeführt:
50 ccm Urin wurden mit etwas Kal. und Natriumkarbonat einge¬
dampft, der Rückstand getrocknet und verascht. Die Asche wurde gut
mit heißem Wasser ausgezogen und die Flüssigkeit auf ca. 100 ccm, nach
dem völligen Erkalten genau auf die Marke aufgefüllt.
50 ccm wurden zur Brombestimmung verwandt. Sie wurden in einen
Kolben gemessen, durch den mittels einer Wasserstrahlluftpumpe Luft
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über das Verhalten deB Calmonals im menschlichen Körper. 911
gesogen wurde. Zu der bromhaltigen Flüssigkeit setzte ich 5 g gepulvertes
Kaliumbichromat und ließ durch ein Ansatzrohr langsam unter Umschüt¬
teln des Kolbens 5 ccm konzentrierte Schwefelsäure hinzulließen. Dieser
Kolben war mittels Druckschlauchs mit drei hintereinander befindlichen
Waschflaschen verbunden, in denen sich zur Aufnahme des freiwerdenden
Broms eine Jodkalilösung von 10,5 resp. 2% befand. Der Kolben mit der
bromhaltigen Flüssigkeit wurde zur schnelleren Reaktion auf ein kochendes
Wasserbad gestellt und nun die Luft durch den Kolben und die drei Wasch -
flaschen gesogen. Je nach der in Freiheit gesetzten Brommenge färbte
sich die Flüssigkeit in der ersten Flasche mit 10% Jodkalilösung schwach¬
gelb bis gelbbraun; das hier bei eventuell zu schnellem Durchleiten nicht
absorbierte Brom wurde dann in der zweiten Waschflasche zurückgehalten;
die dritte Waschflasche war nur zur Sicherung des exakten Verlaufes ein¬
geschaltet; in diese ging selten noch Brom über. Nach 24 Stunden war
alles Brom aus der Kochflasche ausgetrieben; zur Kontrolle wurde öfter
noch länger durchgeleitet, doch ging fast ausnahmlos nach 24 Stunden
kein Brom mehr über. Das freigemachte Brom wurde mit VlO Natriumthio¬
sulfatlösung, Stärkelösung als Indikator, titriert. 1 ccm 4 /io Thiosulfat =
0,008 g Brom.
Die Tabellen zeigen, daß die Bromausscheidung bei dem Cahnonal
noch schneller stattiindet als beim Bromnatrium. Hand in Hand mit
dieser raschen Bromausscheidung beim Calmonal geht auch eine er¬
höhte Salzabscheidung. Da das Calmonal ein Bromcalciumurethan
ist, war es von Interesse, auch die Kalkausscheidungsweise durch
quantitative Bestimmungen zu erfahren. Die Tabellen zeigen, daß
der Urin des Calmonalpatienten erheblich kalkreicher wird; ein
Zeichen, daß das aus dem Calmonal stammende Calcium auch in das
Blut übergegangen ist und so dem Organismus zugeführt wurde. Es
findet nach der Art der Ausscheidung demnach beim Brom keine
Kumulation statt; es scheint daher auch ausgeschlossen, daß eine
schädliche Wirkung durch Anreicherung der beiden schlafmachenden
Komponenten (Brom und Urethan) im Körper stattfindet.
Da die Ausscheidung, wie gesagt, eine schnelle und vollständige
gewesen ist, konnte man annehmen, daß im Kot keine Bromsalze mehr
vorhanden waren. Die Richtigkeit dieser Annahme bestätigten die
tagelangen Untersuchungen des Kotes; es fanden sich stets nur geringe
Spuren von Brom darin.
Ein mit Calmonal behandelter Patient litt an einer Nephritis.
Eiweißbestimmungen ergaben, daß durch wochenlange Verabreichung
von Calmonal kein schädlicher Einfluß ausgeübt wurde, daß im
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912 Seegers, Über das Verhalten des Calmonals im menschlichen Körper.
Gegenteil der Eiweißgehalt etwas zurückging. Wird man also bei
geschwächten Nieren in die Lage versetzt, Bromverbindungen geben
zu müssen, so wird in erster Linie Bromcalciumharnstoff (Ureabromin)
und Calmonal dafür in Betracht kommen.
Neuerdings findet man in Arbeiten über Brompräparate die An¬
sicht vertreten, daß eine langsame Bromausscheidung aus dem Körper
eine nachhaltigere und stärkere Wirkung ausübe. Es kann aus den
Versuchen mit Calmonal nur besonders hervorgehoben werden, daß
trotz der hier festgestellten schnellen Bromausscheidung gute klinische
Erfolge erzielt wurden. Hingegen hat eine schnelle Ausscheidungs¬
möglichkeit immer den Vorteil, daß nur schwer eine schädliche Neben¬
wirkung durch Kumulation eintreten kann.
bv Google
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Über familiäre Irrenpflege.
Von
Dr. M. Stamm, Ilten.
Konrad Alt hat im Jahre 1899 durch seine Schrift „Uber familiäre
Irrenpflege“ die Aufmerksamkeit auf eine schon lange bekannte, aber
nur an vereinzelten Anstalten mit sichtlichem Interesse und Erfolge
geübte Art der Irrenbehandlung gelenkt. Sein begeistertes Eintreten
für dieses Irrenpflegesystem hat fruchtbringend gewirkt, und seine
Worte sind nicht nur in Deutschland, sondern auch in fast allen Kultur¬
staaten beherzigt worden. An vielen Anstalten ist seitdem die freieste
aller Verpflegungsformen für Geisteskranke eingeführt worden. Auch
in Deutschland ist während der verflossenen 15 Jahre die Zahl der
geisteskranken Familienpfleglinge von einigen Hundert auf mehrere
Tausend gestiegen. So erfreulich dieses Resultat auch ist, und obschon
es bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck eines Totalerfolges
macht, so finden wir doch bei genauer Nachprüfung, daß dieses wichtige
und wertvolle Irrenpflegesystem noch keineswegs bei uns die ihm ge¬
bührende Anerkennung und Verbreitung gefunden hat. Die Durch¬
sicht der jüngsten Anstaltsberichte belehrt uns vielmehr, daß die Fa¬
milienpflege an vielen deutschen Anstalten noch ein mehr als be¬
scheidenes Dasein führt, ja daß sie an den meisten über das Stadium
mehr oder minder wohlwollender Erwägungen noch nicht hinaus-
gelangt ist.
Leider hat das Sprichwort: „Gut Ding will Weile haben“ in der
Psychiatrie verschiedentlich eine mehr als berechtigte Rolle gespielt;
so hat das No-restraint-System erst nach einem Zeitraum von vielen
Jahrzehnten sich überall Eingang verschafft, und die Kolonisierung
der Geisteskranken, deren Vorzüge von Altmeister Paetz hervorgehoben
wurden, hat heute noch nicht allenthalben die ihr zustehende Berück-
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914
Stamm,
ßichtigung gefunden. Die familiäre Irrenpflege ist offenbar nicht
besser dran. In einer Zeit aber, wo die Zahl der anstaltspflegebedürfti¬
gen Kranksinnigen stetig ansteigt, auf die Erbauung neuer kost¬
spieliger Anstalten drängt und die Kosten der Irrenfürsorge von Jahr
zu Jahr immer stärker anschwellen läßt, sollte man stärkeres Interesse
einem Verpflegungssystem zu wenden, welches die Unterbringung
einer sehr beträchtlichen Zahl von Geisteskranken außerhalb der
Anstalten gestattet, die Kosten der Irrenfürsorge in erklecklichem
Maße zu verringern geeignet ist und daneben hervorragende Heilerfolge
aufzuweisen hat. In der Annahme nun, daß es dem einen oder anderen
Kollegen ernstlich um die Einführung einer rentablen Familienpflege
zu tun ist und Fingerzeige zu diesem Zwecke willkommen sind, will
ich einige Punkte besprechen, welche mir auf Grund langjähriger Er¬
fahrung von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung und Durch¬
führung einer gedeihlichen Familienpflege zu sein scheinen.
In Deutschland haben wir bereits eine ganze Anzahl gut prospe¬
rierender Familienpflegen. Wer nun wirkliches Interesse für dieses
Verpflegungssystem hat, wird sich am besten nicht lange mit theo¬
retischen Erwägungen aufhalten, sondern an einer Anstalt mit gut
entwickelter Familienpflege einige Wochen praktische Studien machen.
Mit den viel geübten kurzen Besichtigungen dieser oder jener Fa¬
milienpflege ist, selbst wenn noch so viele Pflegequartiere besichtigt werden,
nur selten etwas zu erreichen. Man kann durch Besichtigungen sich wohl
über die Art der Unterbringung der Kranken und über das Milieu der
Pflegefamilien orientieren, aber man wird sich über andere zunächst wichti¬
gere Dinge eingehende Kenntnisse nicht verschaffen. Flüchtige Besichti¬
gungen verleiten oft nur zu einer oberflächlichen und daher meist unge¬
nauen oder gar unrichtigen Kritik. Ein längeres Verweilen an einer Anstalt
wird hingegen nicht nur über speziell die Familienpflege betreffende Fragen
Aufschluß geben, sondern vor allem auch ein eingehendes Studium der
Anstalt ermöglichen.
Gerade der Anstaltsbetrieb, die Methoden der praktischen Kranken¬
pflege, das Krankenmaterial im allgemeinen und der Familienpfleglinge im
besonderen verdienen eine gründliche Würdigung, weil sie die Basis für den
Aufbau der Famüienpflege bilden. Erst nach einem genauen Einblick in
alle diese Dinge wird man in der Lage sein, ein zutreffendes, gerechtes und
für die heimischen Verhältnisse verwertbares Urteil zu fällen.
Kann der Anstaltsleiter aus gewichtigen Gründen nicht selbst die
“■«^Einführung des familiären Verpflegungssystems an seiner Anstalt in die
"*and nehmen, so wird er sich mit Vorteil eines seiner untergebenen Ärzte
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Ober familiäre Irrenptiege.
915
bedienen, welcher Vertrautheit mit dem Landleben, Geschick im Verkehr
mit den für dieses System in Betracht kommenden Bevölkerungsschichten,
eine gute Dosis Menschenkenntnis sowie besonderes Interesse für praktische
Beschäftigung der Geisteskranken besitzt.
Gerade der letztgenannte Punkt verdient besondere Beachtung;
denn eine möglichst ausgiebig durchgeführte Beschäftigungstherapie ist
nicht nur für das gesamte Anstaltsgetriebe von der größten Wichtigkeit,
sondern auch für Familienpflegezwecke. Der hervorragend günstige,
häufig direkt zur Heilung führende Einfluß, den eine zweckmäßige Be¬
schäftigung auf Kranksinnige der verschiedensten Art ausübt, ist allgemein
bekannt. Bekannt ist auch die beruhigende und besänftigende Wirkung,
die eine mit Geschick und Energie durchgeführte Beschäftigungstherapie
selbst bei bis dahin sehr reizbaren, lärmenden und unsozialen Elementen
erzielt, eine Erfahrung, auf die vor allem Paetz in seiner trefflichen Schrift
über die Kolonisierung der Geisteskranken hingewiesen hat. Aber wie
stiefmütterlich wird dieses Kapitel der Irrenpflege vielfach noch behandelt!
Gewiß, an allen Anstalten werden Kranke beschäftigt und an manchen
geradezu künstlerische Leistungen vollbracht, aber beschränkt man sich
häufig auch dort nicht darauf, nur die zum Anstaltsbetriebe eben not¬
wendigen Hilfskräfte aus den arbeitswilligen Patienten zu entnehmen,
während man die Unzugänglichen, Abweisenden, Erregten, Stumpfen und
Verblödeten in Untätigkeit verharren läßt!
Wie auf einer Abteilung bei unzulänglichen ärztlichen Maßnahmen
die Nahrungsverweigerung fast endemisch auftreten kann, so greift auch
in manchen Anstalten bei geringem ärztlichen Interesse für Beschäftigung
unter dem gesamten arbeitsfähigen Krankenbestande ganz allgemein Ab¬
neigung gegen jegliche Arbeitsbetätigung um sich, während die Zahl der
Lärmmacher, Störenfriede und Stumpfsinnigen zusehends wächst. Die
Ärzte solcher Anstalt sind dann gar oft in dem Glauben, daß ihnen gerade
besonders schwierige und lästige Patienten zugewiesen werden, während
man anderswo in dieser Beziehung günstiger gestellt sei. Bemerkungen
wie: „Solche Leute, die Sie in Familienpflege haben, würden wir glatt
entlassen“ oder „Solch ruhige Elemente wie in Ihrer Anstalt haben wir
überhaupt nicht“ kann man dann oft zu hören bekommen. Während man
als gerichtlicher Sachverständiger bei Abgabe eines Gutachtens auf eine
mehrwöchentliche Untersuchungs- und Beobachtungszeit des zu Begutach¬
tenden nicht verzichtet, so glaubt mancher, Kollegen gegenüber weniger
skrupulös sein zu dürfen, und hält sich für kompetent genug, über eine An¬
zahl von unbekannten Pfleglingen nach Musterung mit kurzem Seitenblick
ein abschließendes Urteil zu fällen. Daß die „Diagnose auf den ersten
Blick“ recht oft daneben haut, und daß sich Patienten heute von der besten
Seite zeigen, morgen ganz anders verhalten können, weiß man zwar, kehrt
sich aber nicht daran. Kurz, wer sich ein exaktes Urteil über eine Familien¬
pflege verschaffen will, der tue vor allem einen genauen Einblick in das
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916
Stamm,
Anstaltsgetriebe selbst. Ferdinand Wahrendorff, der Schöpfer der ersten
großen Familienpflege in Deutschland, sein langjähriger Mitarbeiter Geh.
Rat Hesse und Alt haben sich wochenlang in Gheel zu Studienzwecken
aufgehalten.
Da, wie ich schon ausführte, eine Besserung und Pazifizierung des
Krankenbestandes nur durch eine möglichst ausgiebige Beschäftigungs¬
therapie zu erzielen ist, so möchte ich, soweit es der Rahmen dieser
kleinen Abhandlung gestattet, etwas näher auf dieses rein praktische
Gebiet der Irrenpflege eingehen.
Die Bewegung im Freien regt den Stoffwechsel an, fördert dadurch
die Körperfunktionen, hebt das natürliche Schlafbedürfnis und schafft
damit auch die Vorbedingungen für psychische Besserungen. In erster
Linie ist daher eine methodische, sich allmählich steigernde Bewegung
im Freien bei körperlich rüstigen Patienten anzustreben. Die meisten
Anstaltskranken werden zwar alltäglich mehrere Stunden in den Garten
geschickt, viele voll ihnen sitzen dort aber ebenso stumpfsinnig und re¬
gungslos herum wie auf der Abteilung und verblöden immer mehr, so daß
sie schließlich bei ungenügender Überwachung ihre Exkremente unter
sich gehen lassen. Um solche Kranke in Bewegung zu setzen, nehme man
sie in Gruppen von 6 bis 8 vor leichte Handwagen und lasse sie in Begleitung
eines Pflegers Küchenbedürfnisse aus den Gärten, sowie Unkraut, Sand,
Schnee usw. an- oder abfahren. Diese Tätigkeit, bei der man dem Pfleger
einen verläßlichen, arbeitsamen Patienten zur Unterstützung beigeben
kann, wird fast ausnahmlos willig ausgeführt. Auch leicht erregte Kranke
lassen sich so beschäftigen, oder man gibt ihnen leichte Lasten in kleinen
oder halb gefüllten Säcken oder Körben mit Sand, Laub, Unkraut usw.
zu tragen, oder veranlaßt sie, Karren mit Erde, Sand, Schnee und dergl.
zu schieben. Bei diesen Arten von Beschäftigung kommt es zunächst
weniger auf die Arbeitsleistung als vielmehr auf reichliche Bewegung im
Freien an. Allmählich werden sich einige dieser Patienten regsamer bzw.
ruhiger zeigen, und man kann sie zu Arbeiterkolonnen, welche leichte
Gartenarbeiten, wie Graben, Hacken usw., verrichten, versetzen und andere
rücken an ihre Stelle. Namentlich Schizophrene sollte man nicht, wie
vielfach üblich ist, zu lange mit Bettruhe und Dauerbädern versorgen.
Da sie zumeist den kräftigeren Lebensaltern angehören, vertragen sie den
Aufenthalt im Freien recht gut. Sobald das akute manische oder katatone
Stadium im Abklingen ist, empfiehlt es sich, sie in der oben angegebenen
Weise heranzunehmen. Vielfach wird der Versuch gemacht, Schizophrene
gleich in ihrem früheren Berufe zu beschäftigen; in ihrem läppischen,
albernen Wesen verüben erregtere aber manchmal derartigen Unfug, daß
dauernd auf ihre Betätigung verzichtet und von neuem Bettruhe und
Dauerbäder zu Hüfe genommen werden. Leichtgehemmte stehen regungslos-
herum und zeigen sich ebenfalls unbrauchbar. Verfährt man hingegen so,
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Über familiäre Irrenpflege.
917
daß erst durch Bewegung und Beschäftigung im Freien größere Beruhi¬
gung bzw. Regsamkeit angestrebt wird, so wird man späterhin schon
tüchtige Außenarbeiter und Handwerker erhalten. Bei Rückfällen, die
auch bei leichtester Beschäftigung nicht immer ausbleiben, tritt von
neuem die klinische Behandlung in ihr Recht, jedoch erneuere man, sobald
eine gewisse Besserung zu konstatieren ist, die Beschäftigungsversuche im
Freien. Bei vorübergehenden Erregungen oder störrischem Verhalten
erzielt man oft bessere und nachhaltigere Wirkung durch Applikation
einer Duboisininjektion ( y 2 Pravazspritze Sol. Duboisin sulf. 0,01 :10,0)
als mit längerer Bettruhe und Dauerbädern 1 ).
Idioten, Imbezille und Demente müssen erforderlichenfalls erst zur
Ordnung und Reinlichkeit erzogen werden, bevor man sie zur Beschäfti¬
gung anlernt, dann aber hat man meist gewonnenes Spiel, und die Ein¬
übung dieser oder jener mechanischen Fertigkeiten gelingt oft wider Er¬
warten recht gut.
Durch Gewährung von kleinen Fleisch Zulagen, durch zeitweilige
Verabreichung von gern gegessenen Gerichten (Bratkartoffeln usw.), von
Kau-, Schnupf-, Rauchtabak und durch Entgegenkommen bei kleinen
Wünschen (Spaziergänge, Ausflüge usw.) kann man die Arbeitslust ganz
erheblich und allgemein steigern, und innerhalb Jahresfrist schon wird
man ein ganz anders geartetes, gebessertes, friedfertigeres und leistungs¬
fähigeres Krankenmaterial besitzen.
Ein unbedingtes Erfordernis ist es, daß alle für die Beschäftigungen
der Kranken getroffenen Maßnahmen und das damit betraute Personal
unter scharfer ärztlicher Kontrolle stehen. Die Ärzte dürfen sich daher
nicht auf die Abteilungsvisite beschränken, sondern müssen sich auch
täglich während der Beschäftigungszeit an Ort und Stelle über das Ver¬
halten der Kranken und des Pflegepersonals orientieren. Hier ist dem einen
Patienten die zugemutete Arbeit zu schwer, oder sie sagt ihm nicht zu,
oder er stellt sich zu ungeschickt an, er wird besser zu einer anderen Tätig¬
keit angelernt, dort verfügt ein Pfleger nicht über das nötige Geschick
im Verkehr mit den Kranken, ist grob und barsch in seinen Reden, neckt
oder schlägt gar einen Kranken oder zeigt sich für die ihm zugedachte Auf¬
gabe ungeeignet, während er vielleicht an anderer Stelle am Platze ist.
Viele unangenehme Vorkommnisse, die sonst einfach auf das Schuld¬
konto der Kranken gesetzt werden, lassen sich durch Aufmerksamkeit des
Arztes vermeiden.
Nicht selten fällt dem Arzt auch die Aufgabe zu, erst Mittel und
Wege zu finden und Einrichtungen zu schaffen, welche die Beschäftigung
1 ) Die Injektion ist völlig ungefährlich und unbedenklich. Die Wir¬
kung des Duboisins ist ähnlich der des Hyoseins, jedoch nicht so kräftig
und ruft nicht so unangenehme Empfindungen hervor wie letztere. Nach
20 Minuten setzt Schlafbedürfnis ein und hält etwa 7 Stunden an.
Z«itsehrift für PsjohUtri«. LXli 6 . 63
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Stamm,
der Kranken in ausgedehntem Maße ermöglichen. Der landwirtschaftliche
Betrieb z. B. bietet vielfach nicht in dem Maße die Gelegenheit zu Kranken¬
betätigung, wie man wohl allgemein annimmt. Der ex- und intensive
Landwirt interessiert sich namentlich bei günstigen Bodenverhältnissen
fast ausschließlich für Leute, welche geübte Landarbeiter sind und Feld-
und Hofarbeiten zu seiner Zufriedenheit ausführen, während er mit Un¬
geübten nichts anzufangen weiß und auch das Anlernen solcher ungern
oder gar nicht unterstützt. Ein wesentlich größeres Arbeitsfeld für unsere
Zwecke gewährt meist die Gärtnerei, die man eventuell entsprechend er¬
weitern muß. Am günstigsten sind in dieser Beziehung Anstalten gestellt,
welche neben kultiviertem Acker- und Gartenboden auch ödländerei und
Waldparzellen besitzen. Hier können bei der Schaffung von allen mög¬
lichen Nutz- und Verschönerungsanlagen Anfänger wie Geübte im Sommer
und Winter nach Herzenslust wirken.
Eine möglichst ausgedehnte Krankenbeschäftigung trägt letzten
Endes nicht nur zur Besserung und Pazifizierung des Krankemnaterials
bei, sondern erzeugt auch bald Überfluß an Arbeitern für den Anstalts¬
betrieb, so daß auch stets Leute für Familienpflegezwecke zur Ver¬
fügung stehen.
So sehr uns aus den angegebenen Gründen eine umfassende, sozu¬
sagen offensive Beschäftigungstherapie am Herzen liegen muß, so brauchen
wir doch unsere diesbezüglichen Maßnahmen nicht voll und ganz durchge¬
führt zu haben, ehe wir an die Einführung des famüiären Verpflegungs-
systems herantreten. Anfänglich geht man ja doch nur langsam und sorg¬
fältig mit der Herausgabe von Pfleglingen vor, zumal sich erst die Be¬
völkerung an den Verkehr mit Kranken gewöhnen muß. Jedenfalls braucht
man nicht zu fürchten, daß bei Herausgabe von Pfleglingen dem Anstalts•
betriebe die notwendigen Hilfskräfte entzogen werden, sondern man wird
eher das Gegenteil erfahren. Zur Stütze dieser Behauptung will ich einen
Ausspruch meines leider allzu früh dahingegangenen Lehrers, August
Cramer, anführen, den er ein Jahr nach Einrichtung der Göttinger Fa¬
milienpflege tat: „Im großen und ganzen wird immer noch ein Nutzen
der Familienpflege zu leicht übersehen, und zwar der, daß das Personal
bei Fortnehmen arbeitender Kranker gezwungen ist, selbst neuen, kräftigen
Nachwuchs heranzuziehen, was es auch tut. Die Familienpflege entzieht
den Anstalten de facto nicht die Arbeitskräfte, sondern trägt vielmehr
dazu bei, die Anzahl der arbeitenden Kranken durch Heranbildung neuen
Nachwuchses zu vergrößern.“ „Das sind goldene Worte“, sagte Alt auf dem
internationalen Antwerpener Kongreß, „deren Wahrheit jeder Anstaltsleiter
erproben kann und muß“. Tatsächlich verfügen denn auch durchschnitt¬
lich alle Anstalten mit einer prosperierenden Familienpflege über einen
erheblich höheren Prozentsatz arbeitender Anstaltsinsassen als solche,
die sich bisher der freiesten Verpflegungsart ferngehalten haben.
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Ober familiäre Irrenpflege.
919
Hat die Bevölkerung erst ihre Scheu vor Geisteskranken überwunden
und Vertrauen zu der Anstalt und den von ihr offerierten Kranken gefaßt,
so kann man auch friedfertige Patienten zu Familien geben, welche sich in
der Anstalt jahre- und jahrzehntelang hartnäckig gegen jede Beschäftigung
sträubten, und wird oft genug erleben, daß sie in ihrem neuen Heime vom
ersten Tage an bei der Arbeit mit zur Hand gehen. In den meisten Fällen
bleibt auch der wiedererwachte Beschäftigungstrieb weiter bestehen, falls
sie aus diesen oder jenen Gründen wieder zur Anstalt zurückversetzt
werden müssen. So gibt also die Anstalt nicht nur Arbeitskräfte an die
Familien ab, sondern erhält auch manchmal solche zurück.
Die familiäre Verpflegung ist nicht ein spezifisches Heilmittel für
bestimmte, wissenschaftlich wohlumschriebene Krankheitsformen,
sondern ein Behandlungsverfahren, dessen man sich bei den verschie¬
densten Psychosen in geeigneten Fällen zwecks Erzielung schnellerer
Heilung, weitgehender Besserung, Gewährung größtmöglichster Be¬
wegungsfreiheit und Verringerung der Irrenverpflegungskosten be¬
dient. Die Auswahl der Pfleglinge erledigt sich deshalb nach empirisch
gewonnenen Gesichtspunkten. Im allgemeinen kommen für Familien¬
pflege aus den vorerwähnten Gründen Patienten in Frage, von denen
mit großer Wahrscheinlichkeit eine Gefahr für sich und ihre Umgebung
nicht zu erwarten ist. Personen mit starken Affektzuständen, mit
Neigungen zu impulsiven Gewaltakten oder gar Verbrechen, Flucht-
verdächtige, Unsaubere, körperlich kranke und dekrepide Personen
bleiben außer Betracht.
Die Herausgabe sehr arbeitsamer, leistungsfähiger Kranker ist,
dafern nicht gewichtige Gründe, wie in Aussicht stehende Entlassung,
Wünsche der Angehörigen und dergleichen es erfordern, nicht emp¬
fehlenswert. Man behalte sie zu Nutz und Frommen in der Anstalt
und gewähre ihnen dort weitgehende Bewegungsfreiheit. Tüchtige
Arbeiter werden nämlich gar zu leicht, teils durch allzu große An¬
sprüche an ihre Leistungsfähigkeit seitens der Familien, teils infolge
eigenen, oft übertriebenen Ehrgeizes stark ausgenutzt. Hierdurch und *
infolge einer in gewissen Zeiten (Landbestellung, Ernte usw.) zu be¬
achtenden unregelmäßigen Lebensweise und Verköstigung gehen sie
körperlich stark zurück und werden auch nicht selten in ihrem psychi¬
schen Zustande nachteilig beeinflußt.
Die Evakuierung hervorragender Arbeiter hat aber auch noch den
Nachteil, daß die Pflegefamilien solcher ob ihres Schutzbefohlenen be-
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Stamm,
neidet werden. Entweder wird nun die Anstalt fortgesetzt um gleich
arbeitsame Kranke angegangen, oder aber man sucht durch freund¬
liches Anreden und Geschenke den gewünschten Pflegling seiner
Familie abspenstig zu machen. Alle möglichen Reibereien zwischen
den Pflegefamilien, welche auch der Anstalt Unannehmlichkeiten be¬
reiten, sind die Folge. Man kann deswegen auch oft bei rein bäuer¬
licher Bevölkerung minderwertigere Pfleglinge nicht unterbringen,
weil die Familien vorziehen, zu warten, bis sie auch einen so „guten
Knecht“ oder auch so eine „tüchtige Magd“, wie die Familie N. hat,
bekommen.
Diesen bisweilen zu völliger Stagnation in der Entwicklung einer
Familienpflege führenden Umstand kann man auch dadurch nicht
beseitigen, daß man für sehr arbeitstüchtige Patienten überhaupt kein
oder erheblich geringeres Pflegegeld wie für weniger arbeitsame Kranke
zahlt, weil die auf ihren Vorteil bedachten Familien leicht erkennen,
daß der Nutzen, den sie von der Anstelligkeit und dem Fleiß eines
Kranken haben, erheblich höher zu bewerten ist als die für gewöhnlich
geringe Pflegegeldreduzierung. Eine Anstalt, welche die Höhe des
Pflegesatzes nach der Arbeitsfähigkeit eines Kranken bemißt, rückt,
wenn auch unbeabsichtigt, selbst das materielle Interesse der Pflege-
familien in den Vordergrund, indem sie den Familien gewissermaßen
einen Fingerzeig gibt, sich durch vermehrte Anforderungen an die
Arbeitskraft des Kranken für den etwaigen Ausfall an Pflegegeld zu
entschädigen. Daß also hierbei das Interesse für die Kranken leicht
in das Hintertreffen geraten kann, ist wohl einleuchtend. Um die Be¬
gehrlichkeit der Familien nicht zu entfachen, werden ohne triftige
Gründe am besten nur Kranke in Pflege gegeben, welche bei leichten
Haus-, Garten- und Feldarbeiten oder auch im Handwerk (Schuh¬
macher, Schneider, Tischler usw.) etwas zur Hand gehen und auch die
Reinhaltung ihres Zimmers besorgen können. Stets behalte man ein
und denselben Pflegesatz bei allen Pfleglingen bei.
Für die gedeihliche Entwicklung einer Familienpflege ist nun
erste Vorbedingung, daß in der Nachbarschaft einer Anstalt eine Be¬
völkerung vorhanden ist, welche die für die Verpflegung Kranksinniger
erforderlichen Eigenschaften besitzt.
Nach Ferdinand, WahrendLorff , dem Vater der deutschen Familien¬
pflege, wird man zur Einrichtung einer lebensfähigen und aussichtsreichen
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Über familiäre Irrenpflege.
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Familienpflege ländliche Gegenden mit solchen Familien bevorzugen,
welche eine redliche, menschenfreundliche und geduldige Gemütsart, dann
aber auch eine gewisse Intelligenz und mittleren Wohlstand aufweisen.
Die gleichen Ansichten hat Alt. Dieser hält kleine Ackerbürger, Hand¬
werker, aktive und pensionierte Unterbeamte für die geeignetsten Pfleger.
Er legt Gewicht darauf, daß diese Familien etwas Acker-, Garten- und
Viehwirtschaft besitzen, aus denen ihnen die erforderlichsten Nahrungs¬
mittel gewissermaßen von selbst Zuwachsen.
In dieser Beziehung werden manche Anstalten allerdings ziemlich
ungünstig gestellt sein. Namentlich in Industrieorten, wo nur ein geringer
Teil der Bevölkerung eine gewisse Bodenständigkeit aufweist, während
andererseits ein umfangreiches Kostgängertum zu finden ist. Letzteres
pflegt durch seine meist geringe moralische Qualität recht üble sittliche
Zustände herbeizuführen und auch zu starker Sittenverrohung der Alt¬
eingesessenen beizutragen.
Aber auch eine sehr wohlhabende Landbevölkerung, ausgedehnter
Grundbesitz und Gegenden mit starkem Fremdenverkehr bieten wenig
Aussicht auf erfolgreichen Ausbau des familiären Verpflegungssystems.
Anstalten mit derartiger Umgebung werden nur in recht beschränktem
Umfange Familienpflege betreiben können und zur Evakuierung von
Pfleglingen nach einem in günstiger Gegend angelegten Landesasyl
schreiten müssen, wie Alt solches in Vorschlag gebracht hat.
Selbstverständlich wird man auch bei einer sehr dünn gesäten Be¬
völkerung den erwähnten Ausweg betreten müssen.
Abgesehen von diesen Einschränkungen, wird es jedoch nicht schwer
fallen, bis zu einem befriedigenden Grade das familiäre Verpflegungs¬
system erfolgreich ein- und durchzuführen.
Ferdinand Wahrendorff und Geheimrat Hesse, die jahrelang in Ilten
und Umgebung auch als praktische Ärzte wirkten, fiel es leicht, derartige
Pflegestellen für Kranke zu finden, weil erstens die Bevölkerung der
Iltencr Gegend den vorerwähnten Voraussetzungen entsprach und den ihr
bekannten Ärzten Vertrauen und Zuneigung entgegenbrachte. Anderer¬
seitswaren jene infolge ihrer beruflichen Tätigkeit mit den Charaktereigen¬
schaften der einzelnen Familien auf das innigste vertraut.
AU, dem Land und Leute bei der Übernahme der Uchtspringer Anstalt
fremd waren, benutzte das von ihm geschaffene Pflegerdörfchen Wilhelms¬
eich zur Entfaltung der Familienpflege. Er wurde dabei von der Absicht
geleitet, seinen dort angesiedelten Pflegern die Haushaltsführung zu er¬
leichtern und zu verbilligen, die Nachbarbevölkerung an denVerkehr mit
Kranken zu gewöhnen und dadurch das Interesse für Familienpflege auch
bei ihr zu erwecken. Nachdem die von ihm gehegten Erwartungen in jeder
Weise glänzend in Erfüllung gegangen waren, schritt er zur Gründung einer
Familienpflege in der 14 km von Uchtspringe entfernten Kreisstadt Garde¬
legen, weil seine hauptsächlich von mächtigen Wald- und Heiderevieren
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Stamm,
umlagerte Anstalt nur wenig benachbarte Dörfer und Ansiedlungen hat.
Der Hauptbeweggrund für ihn war nach seinen Worten: „zu zeigen, daß
auch bei uns in Deutschland ohne langjährige Vorbereitung der Bevölke¬
rung diese Verpflegungsform rasch eingebürgert werden könne, und daß
die geeigneten Kranken sich in der Familienpflege glücklicher fühlen als
selbst in einer Anstalt wie Uchtspringe mit der denkbar weitgehendsten
freien Behandlung.
Nachdem einige aufklärende Vorträge von Uchtspringer Ärzten in
Gardelegen gehalten waren, ist dieses freundliche, 8000 Einwohner zählende
Landstädtchen mit seinen vielen Ackerbürgern, Handwerkern, Heim-
(Knopf- und Zigarrenmachern) und sonstigen Arbeiterfamilien aller Art
ein sich rasch vergrößernder „Infektionsherd“ für das familiäre Ver¬
pflegungssystem geworden, obwohl es auch nicht an Oppositionsgeistern
fehlte. Stadtmagistrat und Geistliche wurden in Ermangelung von Ver¬
trauensmännern über Leumund und wirtschaftliche Verhältnisse der sich
meldenden Familien befragt, während die ärztlichen Obliegenheiten von
Uchtspringe aus anfänglich erledigt wurden.
Als sich nach einem Zeitraum von 4 Jahren die Zahl der in Garde-
legen untergebrachten weiblichen Pfleglinge auf über 80 belief, wurde dort
ein Arzt für die Familienpflege stationiert; diesem lag es auch ob, die
Dörfer und Gehöfte in der Nachbarschaft für die Unterbringung von
männlichen Kranken zu erobern, was denn auch ohne nennenswerte
Schwierigkeiten gelang. Zur Unterstützung wurde dem Arzt eine erprobte
Oberpflegerin beigegeben. Bei der fasch wachsenden Zahl der weiblichen
Pfleglinge leistete dann ein in einem ermieteten Privathaus eingerichtetes
Lazarett für körperlich erkrankte und psychisch vorübergehend erregte
Pfleglinge gute Dienste.
In Göttingen fiel es bei der großen Zahl nahe gelegener Dörfer eben¬
falls nicht schwer, unter kleineren Bauern und Handwerkern geeignete
Pflegestellen zu finden. Zunächst wurde eine vom Landrat aufgeforderte
Anzahl Gemeindevorsteher durch Geheimrat Cramer über Zwecke und
Ziele der familiären Verpflegung Geisteskranker aufgeklärt. Als dann in
einzelnen Dörfern geeignet erscheinende Familien ärztlicherseits über das
Wesen und Verhalten ruhiger Patienten im besonderen unterrichtet
waren, liefen reichlich Meldungen zu Pflegestellen ein. Bei weiterem Aus¬
bau der Familienpflege haben sich auch in der Stadt Göttingen Quartiere
namentlich für Pensionäre der I. und II. Verpflegungsklasse gefunden.
Aus den angezogenen Beispielen können wir die Mittel und Wege,
welche zum Erfolg führen, leicht erkennen. Einige Familien, welche für
Pflegezwecke geeignet sind, werden wohl den Ärzten oder Anstaltsbeamten
bei jeder Anstalt bekannt sein. Wenn man diese also sich in dieser Be¬
ziehung nutzbar macht, so werden sich schon von diesen aus, namentlich
wenn einige ärztliche Vorträge über Wesen und Zweck des familiären Ver-
pflegungssystems für Aufklärung der Anwohnerschaft sorgen, die nötigen
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Über familiäre Irrenpflege.
923
„Infektionsherde“ bilden. Andernfalls muß man, wie Alt, die Familien
der Anstaltspfleger, welche in benachbarten Ortschaften ihr Domizil haben,
zu Hilfe nehmen und wird dann hierdurch zum Ziele kommen.
Bei der Beurteilung einer Bevölkerung hinsichtlich der für Fa¬
milienpflege erforderlichen Eigenschaften muß man auch in Erwägung
ziehen, daß sie für die Unterbringung männlicher Patienten ungeeignet
erscheinen kann, während dies für weibliche nicht zutrifft und um¬
gekehrt.
Weibliche Pfleglinge entlasten in Haus, Küche, Stall usw. die Pflege¬
mutter ganz erheblich. Leichte Hausarbeiten wie Kinderwartung, Hand¬
arbeiten, KartofTelschälen, Wasserholen, Zimmerreinigung, Bereitung des
Viehfutters und dergleichen mehr sind Beschäftigungen, denen sich
Patientinnen gern unterziehen, und durch deren Übernahme sie sich Dank
und Zuneigung ihrer Pflegemutter im höchsten Maße erwerben.
Kleinbäuerliche Wirtschaftsbetriebe, städtische Arbeiter- und Be¬
amtenfamilien, deren Ernährer tagüber auf ferner Arbeitsstätte weilt,
bieten vielfach bei dem Mangel an genügender Außenarbeit eine recht
schätzenswerte Unterkunftstätte für weibliche Kranke. Leider haben
sich bis heute manche Anstalten vorzugweise mit der familiären Verpflegung
männlicher Kranken befaßt und das andere Geschlecht aus Gründen, auf
welche ich später eingehen werde, weniger berücksichtigt.
Daß die Inpflegenahme von Geisteskranken seitens der Familien
nicht lediglich auf Samariterregungen zurückzuführen ist, sondern daß
dabei mit einem gewissen realen Nutzen gerechnet wird, ist selbstver¬
ständlich. Die Hoffnung, etwas Hilfe bei Haus-, Hof-, Garten-, Feld¬
arbeiten und dergleichen zu bekommen, veranlaßt die einen Familien
zu Meldungen zur Krankenpflege. Andere wollen ein leerstehendes
Zimmer oder eine kleine Wohnung nutzbringend verwerten, wieder
andere erstreben auch durch die Aufnahme von Kranken sich der
Scherereien mit Mietsleuten zu entledigen und wollen ihr Besitztum
für sich allein haben. In Gardelegen wurde wenigstens die Wahr¬
nehmung gemacht, daß viele Familien lieber Kranke in Pflege nahmen
als an Schlafburschen und kleine Familien abvermieteten. Durch die
Ausbreitung der Familienpflege wurde auch eine regere Bautätigkeit
entfacht, während zugleich zweifelhafte Elemente aus Wohnungs¬
mangel der Stadt den Rücken kehrten. Bei allen Pflegefamilien aber
bildet das prompt und in klingender Münze gezahlte Pflegegeld eine
gern gesehene Beihilfe zur Bestreitung des Haushaltes und wird zu¬
meist nutzbringend angelegt. Der wirtschaftliche Aufschwung der
Pflegefamilien war überall deutlich zu konstatieren.
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Stamm,
Bei der Belegung der Pflegefamilien erspart man sich viel Mähe
und Enttäuschungen, wenn man darauf achtet, daß die Patienten nach
Möglichkeit in altgewohnte oder ihnen zusagende Verhältnisse kommen.
Man wird in der Anamnese der Kranken nach diesbezüglichen Anhalt -
punkten suchen, die Wünsche intelligenterer Patienten möglichst er¬
füllen und durch Fragen etwaige Liebhabereien feststellen.
Die einen Kranken fühlen sich in kinderreichen Familien wohl, andere
wiederum wollen nur mit Erwachsenen zu tun haben. Männliche Patienten
haben oft eine Abneigung gegen weibliche Personen und lassen sich nicht
gern etwas von ihnen sagen. Solche werden darob nicht in Quartier?
gelegt, wo der Mann tagüber auf ferngelegener Arbeitsstätte weilt und
der Frau hauptsächlich die Beaufsichtigung und Beschäftigung des Kranker
überläßt. Andernfalls maßt sich der Patient nicht selten das Regiment
im Hause an und wird unfolgsam, widerspenstig und drohend. Gelernt.
Handwerker bevorzugen mitunter Zunftgenossen, andere wieder ziehen
Quartiere vor, wo sie eine in der Anstalt erlernte Beschäftigung weiter
treiben können. Freunden dieser oder jener Tiergattung kann man oft
eine angenehme Unterkunft in Quartieren verschaffen, wo ihr Begehr
gestillt wird. Häufig genug ist man jedoch, teils infolge geistiger Stumpf¬
heit der Patienten, teils aus Mangel an Quartieren, in denen geäußerte
Wünsche berücksichtigt werden können, auf die Belegung von Pflege-
stellen angewiesen, welche nur den allgemeinen Anforderungen entsprechen.
Je mehr und je länger man sich mit Familienpflege beschäftigt, desto mehr
kommt dabei die Erfahrung zu Hilfe. Aber auch dem ältesten und gewiegte¬
sten Praktikus passiert es, daß er für manche seiner Patienten auf den ersten
Wurf nicht das Richtige trifft. Wie im gewöhnlichen Leben die ersten Ein¬
drücke beim Zusammentreffen von Personen in nicht geringem Maße für die
Ausgestaltung weiterer Beziehungen ausschlaggebend sind, so spielen auch
Syn- und Antipathien bei der Belegung von Pflegestellen eine große
Rolle. Manche Familien können sifh an das Aussehen, die Manieren usw.
eines Kranken von Anfang an nicht gewöhnen, und umgekehrt sagt oft
einem Patienten seine Pflegefamilie nicht zu. Er bringt dies durch Un¬
folgsamkeit und Untätigkeit zum Ausdruck. Während man anfangs nun
aus Mangel an genügender Erfahrung allzu leicht geneigt ist, den einen
oder anderen Teil als ungeeignet für Familienpflegezwecke zu befinden,
wird man späterhin nicht so rasch und vorschnell urteilen. Es ereignet
sich gar nicht selten, daß für einen Patienten erst nach zwei-, dreimaligem
oder noch öfterem Quartierwechsel eine Familie gefunden wird, wo fast
überraschend gegenseitiges Einverständnis erfolgt. Ebenso wird nicht
jede sonst als brauchbar befundene Pflegefamilie mit dem ersten besten
ihr zugedachten Kranken fertig. Selbst altbewährte Quartiere, in denen
jahrelang andere Pfleglinge sich sehr wohl befunden haben, versagen zu¬
weilen völlig bei einem Patienten, der ein etwas anderes Wesen und Ge-
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Ober familiäre Irrenpflege.
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haben zeigt, wie sein Vorgänger. Im allgemeinen wird man die Wahrneh¬
mung machen, daß Patienten jugendlichen und mittleren Alters lieber
genommen werden und sich auch ihrerseits rascher einleben als bejahrte.
Namentlich alte Frauen sind meist nicht sehr begehrt. Bei bejahrten
Patienten und senilen Psychosen muß man damit rechnen, daß trotz
jahrelang beobachteten, gleichmäßig ruhigen Verhaltens infolge des Um-
gebungs- und Ortswechsels mitunter Verwirrtheits- und Erregungszu¬
stände auftreten, welche Zurücknahme in die Anstalt erfordern.
Altbewährte Pflegefamilien bedenke man, wenn ihre Pfleglinge ent¬
lassen oder zur Anstalt zurückgenommen wurden, in erster Linie mit
Kranken. Familien, welche sich neu um Pfleglinge beworben haben, lasse
man, auch wenn sie alle an sie zu stellenden Forderungen prompt erfüllt
haben, bei augenblicklichem Mangel an geeigneten Patienten ruhig warten.
Man wird auf diese Weise schon viel Spreu von dem Weizen scheiden;
denn in der Regel ziehen die, denen es hauptsächlich um den eigenen
Vorteil zu tun ist, nach kurzem Warten ihre Bewerbung zurück.
Verlegungen von Kranken von einer Familie zu einer andern werden
zuweilen nötig dadurch, daß sich Pfleger und Pflegling nicht aneinander
gewöhnen können oder im Laufe der Zeit nicht mehr zusammen passen
usw. Bei solchen Verlegungen lasse man nie den Patienten direkt von
seiner bisherigen Familie zu seinem neuen Heim bringen oder die neue
Familie den zugeteilten Pflegling aus seiner früheren Pflegestelle abholen,
sondern nehme ihn, wenn auch nur für Stunden, zur Anstalt oder einem
anderen passenden unparteiischen Orte und verlege ihn von da aus in sein
neues Quartier. Es passiert nämlich nicht allzu selten, daß Familien, ver¬
ärgert über ihren Mißerfolg, ihren früheren Schutzbefohlenen derartig bei
seiner neuen Umgebung anschwärzen, daß auch diese von vornherein ver¬
sagt. Aus diesen Gründen vermeide man auch eine Verlegung in die Nähe
des früheren Quartiers; am empfehlenswertesten ist sogar, einen solchen
Kranken tunlichst an einem ganz anderen Wohnorte unterzubringen. Auch
bei leichten psychischen Verstimmungen ziehe man einen Kranken in die
Anstalt ein oder nehme ihn zu einem etwa vorhandenen Lazarett. Hier
kann am ehesten festgestellt werden, ob es sich um eine vorübergehende
unbedenkliche psychische Verstimmung oder um die ersten Vorboten einer
Attacke von längerer Dauer handelt. Je nach dem Beobachtungsergebnis
kann der Pflegling nach wenigen Tagen wieder zu seiner bisherigen
Familie zurückkehren, eventuell zu einer anderen gegeben oder für längere
Zeit zur Anstalt zurückgenommen werden.
Schwere körperliche Erkrankungen werden am besten in der Anstalt
oder im Lazarett behandelt.
Nach Möglichkeit strebe man danach, möglichst viele Kranke an
einem und demselben Wohnorte unterzubringen und belege nicht mit
wenigen zahlreiche Ortschaften. Ein enges Zusammenliegen der
Pflegequartiere erleichtert ganz wesentlich die Anstaltskontrolle und
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hat auch zur Folge, daß die Pflegefamilien eine im Interesse der
Krankenpflege recht wertvolle gegenseitige Beaufsichtigung ausüben.
Aufkeimende Mißstände und Unzuträglichkeiten werden hierdurch
recht bald bekannt und können alsbald abgestellt werden.
Bei der Auswahl von Patienten ist ferner darauf Rücksicht zu nehmen,
daß die Kinder oder die Nachbarschaft der Pflegefamilien von den Patienten
keine unangenehme oder gar nachteilige Eindrücke bekommt. So wird
man z. B. epileptische Kranke wegen ihrer Krampfanfälle besser dahin
geben, wo Kinder nicht vorhanden sind. Ebenso werden Patienten,
welche hin und wieder unziemliche Reden führen, nicht in eine kinder¬
reiche Umgebung gebracht. Sehr häßliche Personen passen nicht gerade
in verkehrsreichere Straßen, wo sie leicht auffallen, sondern besser für ein¬
zelne in der weiteren Peripherie der Ortschaften gelegene Gehöfte.
In den weitaus meisten Fällen gestaltet sich das Verhältnis zwischen
den Familien und ihren Pflegebefohlenen zu einem recht befriedigenden,
ja herzlichen. Wenn auch, wie erwähnt, zur Übernahme der Kranken-
fürsorge ein gewisses materielles Interesse den Pflegefamilien die erste
Veranlassung gab, so ist doch selten zu beobachten, daß jene lediglich ihre
eigenen Interessen verfolgen und es nur auf Gewinn abgesehen haben.
Freundliches Entgegenkommen, Wohlwollen, hilfreiche Unterstützung
finden die Pfleglinge vielmehr überall, vielfach beobachtet man Beziehun¬
gen zwischen Pflegern und Kranken, wie sie zwischen Verwandten nicht
besser sein können. Namentlich kinderlieben Patienten wendet sich über¬
raschend schnell die allseitige Zuneigung von Groß und Klein zu, und ich
könnte eine ganze Reihe von Fällen aufzählen, wo zwischen Pflegeeltern
und Pfleglingen innige Freundschaftsbande geschlossen wurden, die auch
Entlassungen überdauerten. Kranke, welche wegen körperlicher Leiden
oder psychischer Exazerbationen vorübergehend in die Anstalt zurück¬
genommen wurden, gingen der Liebe und Zuneigung ihrer bisherigen Für¬
sorger nicht verlustig, sondern wurden von ihnen durch Besuche und
Liebesgaben, wie Würste, Gebäck, Obst usw., erfreut.
Die Verköstigung ist im allgemeinen nicht nur ausreichend, sondern,
wie man bei Visiten während der Essenzeiten konstatieren kann, meist
eine reichliche. Auch sagt die Familienkost den Kranken fast durchweg
mehr zu wie die Anstaltskost. Hinsichtlich Arbeitsleistungen werden
durchschnittlich keine allzu großen Anforderungen an die Pfleglinge ge¬
stellt. Auch mangelt es nicht an kleinen Geschenken als Anerkennung
für vollbrachte Leistungen.
Die Vorsicht, Patienten nur gut beleumundeten Familien anzuver¬
trauen, schützt natürlich nicht davor, daß man auch Erfahrungen mit
Leuten macht, welche sich zur Krankenverpflegung unbrauchbar erweisen.
Familien, welche ihre Schutzbefohlenen kurz und barsch behandeln oder
gar, gereizt durch störrisches Verhalten, mitunter auch in wohlgemeinter.
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Über familiäre Irrenpflege- 927
vorwitziger Absicht, ihre Kranken mit Schlägen zur Raison bringen wollen,
lassen sich nicht immer von vornherein ausschalten. Fälle, in denen
Pfleglinge gewohnheitsmäßig schlecht traktiert oder gar mißhandelt
wurden, habe ich allerdings bisher nicht kennen gelernt. Eine öftere und
eingehende Anstaltskontrolle gestattet allerdings solche unliebsamen Er¬
scheinungen frühzeitig zu entdecken und Remedur eintreten zu lassen.
Zudem pflegt das mehr oder minder gespannte Verhältnis, welches fast
stets zwischen Nachbarsleuten in den niederen Volksschichten herrscht,
leicht Zuschriften auch anonymer Art an die Anstalt zu veranlassen, durch
welche etwaige schlechte Behandlung der Kranken oder sonstige Vor¬
kommnisse zur Kenntnis der Anstalt kommen.
Eine ungenügende Ernährung der Pfleglinge wird leicht bei dem
allmonatlich stattflndenden Baden und Wiegen der Kranken erkannt.
Der Wohlstand der einzelnen Familien dokumentiert sich nicht immer bei
der Verköstigung der Kranken. Fälle unzureichender Verköstigung kom¬
men eher bei besser Situierten als wirtschaftlich minder gut gestellten
Familien vor. Eindringliche ärztliche Ermahnung oder, wenn diese nicht
fruchtet, vorübergehende Wegnahme der Patienten schafft hier nach¬
haltigen Wandel. Leute, denen die Pfleglinge wegen schlechter Ver¬
köstigung entzogen werden, haben nämlich sehr unter dem Spott und dem
Gerede ihrer engeren oder weiteren Nachbarschaft zu leiden und sind
glücklich, Kranke wieder zu erhalten, an denen sie ihre früheren Unter¬
lassungssünden gutmachen können.
Hin und wieder zu konstatierende Überanstrengungen der Kranken
werden nur selten dadurch hervorgerufen, daß seitens der Familie zur
Arbeit getrieben wird, wohl aber dadurch verursacht, daß nicht mit dem
nötigen Nachdruck auf Innehaltung der vorgeschriebenen Ruhepausen
hingewirkt wurde. Auch hier gelingt es dem Arzte leicht, Abhilfe zu
schaffen.
Damit der Anreiz des Familienlebens auf die Patienten genügend
einwirken kann, die Familien ihrerseits aber auch in der Lage sind, sich
ihrer Pfleglinge ausgiebig genug zu widmen, wird man zweckmäßigerweise
für gewöhnlich nicht mehr als 2 Kranke, und zwar gleichen Geschlechts,
in eine Familie geben. Die Iltener und Uchtspringer Methode, nach
Möglichkeit einen intelligenteren, arbeitsfähigen mit einem stumpferen,
weniger oder gar nichts leistenden Patienten zusammenzulegen, hat sich
recht gut bewährt. Die Pflegefamilien haben sich dadurch von Anfang
an daran gewöhnt, auch sonst weniger begehrtes Krankenmaterial mit in
den Kauf zu nehmen. Nach kürzerer oder längerer Zeit wird man ein¬
zelne Pflegestellen entdecken, welche besonderes Geschick im Umgang
mit Kranken, großes Interesse für ihre Pfleglinge und absolute Zuver¬
lässigkeit in der Ausführung der ärztlichen Anordnungen an den Tag
legen. Diesen Leuten kann man dann auch, sofern es ihre Wohnungs¬
und Wirtschaftsverhältnisse gestatten, unbedenklich einen dritten Kranken
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Stamm,
versuchweise in Pflege geben, falls bei jenem Zweifel über seine Quali¬
fikation zum Familienpflegling noch vorhanden sind. Besteht der Kranke
die Probe, so kann durch seine Verlegung zu einer anderen Familie sein
Platz für ein neues Versuchsobjekt frei gemacht werden. Man kann auf
diese Weise viele Patienten, welche man wegen ihrer Vorgeschichte oder
wegen mancher früherer Krankheitserscheinungen, wie Suizidgedanken,
Gewaltakten, sexueller Neigungen usw., nicht ohne weiteres die größt¬
möglichste Bewegungsfreiheit zugestehen möchte, der Familienpflege zu-
führen. Die durch Verdienste begründete Bevorzugung mancher Familien
spornt auch andere zum Wetteifer in der Krankenpflege an und trägt zur
Verbesserung der Pflegequalitäten nicht unwesentlich bei.
Die in Familienpflege verlegten Patienten werden durch das neue
Leben in altgewohnten Verhältnissen, den ungezwungenen Umgang mit
ihresgleichen, weitgehendste Bewegungsfreiheit, zusagende Beschäftigung,
gewohnte Kost, anregende Erlebnisse und Begebenheiten in Dorf- und
Stadtleben, freundliches Entgegenkommen der Familienmitglieder u. a. m.
mit Daseinsfreude erfüllt und empfangen dadurch Anreiz zu gesteigerter
Geistes- und Körpertätigkeit. Intelligentere Kranke sind glücklich, den
Anstaltsfesseln entronnen zu sein, mag die Anstaltsüberwachung auch
noch so milde gehandhabt worden sein und ihnen weitgehendste Be¬
wegungsfreiheit gestattet haben. Das Gefühl, wieder wie Gesunde unter
Gesunden leben und wirken zu können, läßt viele die Unterbringung in
Familienpflege der Anstaltsinternierung den Vorzug geben.
Außerdem hat das familiäre System den Vorzug vor der Anstalts¬
behandlung, daß es neben den eben erwähnten Momenten eine viel inten¬
sivere Anregung der Patienten dadurch gestattet, daß es einem jeden
Kranksinnigen gewissermaßen mehrere Pfleger zur Seite stellt, während die
Anstalt mit Rücksicht auf die Unterhaltungskosten nur eine Pflegeperson
für eine mehr oder minder große Anzahl von Patienten zu bieten vermag.
Der Mangel an Schulung in der Krankenwartung fällt bei diesen Laien-
pflegern nicht sehr ins Gewicht, weil die ihnen anvertrauten Kranken
einer streng sachmäßigen Wartung entbehren können und lediglich einen
stärkeren Anreiz zur Hebung ihres Wohlbefindens und zur Förderung
ihres Geisteszustandes erfahren sollen.
Daß einzelne Patienten, die sonst als sehr geeignet für Familien¬
pflege erscheinen, sich in derselben nicht Wohlbefinden, sich vielmehr
wieder nach der Anstalt zurücksehnen, kommt natürlich auch vor. Kranke,
die jahre- oder jahrzehntelang in Anstalten gelebt, daselbst eine bevor¬
zugte Stellung innegehabt haben oder sich dort besondere Freiheiten
herausnehmen durften, mögen sich oft nicht von der Anstalt trennen,
namentlich wenn sie sich dem dolce far niente nach Kräften widmen
konnten. Leute, welche den besseren Kreisen entstammen, aber von der
Ungunst der Verhältnisse in die niedrigste Verpflegungsklasse verschlagen
wurden, haben zuweilen bei sonst ziemlich tiefem geistigen Niveau doch
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Ober familiäre Irrcnpflege.
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noch soviel Empfinden für die Zugehörigkeit zu einer höheren Gesell¬
schaftsklasse, daß sie wenigstens öffentlich einer in geringerem Ansehen
stehenden Bevölkerung nicht zugerechnet werden wollen. Sie drängen
daher teils mit Rücksicht auf ihre Verwandtschaft, teils auch mit Rück¬
sicht auf ihre eigene Persönlichkeit wieder auf Anstaltsverpflegung. Gro߬
städter und bessere Handwerker vermögen sich mitunter nicht an das
einfache Landleben zu gewöhnen und mit der ungewohnten Beschäftigung
anzufreunden. Sie empfinden die Versetzung in eine ländliche Umgebung
gar nicht selten als eine gewisse Zurücksetzung und Erniedrigung. Ist
man in der Lage' eine ihren Lebensansprüchen zusagendere Unterkunft
bei Beamten, Lehrern, Förstern usw. oder eine ihrem Berufe entsprechen¬
dere Beschäftigung nachzuweisen, was ja natürlich nicht überall der Fall
ist, so lassen sie sich sehr wohl in Familienpflege halten.
Die erdrückende Mehrzahl der Pfleglinge zieht jedenfalls den Auf¬
enthalt in der Familie, dem in der Anstalt vor, insbesondere weibliche
Kranke und idiotische und imbezille Kinder. Daß sich Kinder im
Familienkreise und in Gesellschaft von vergnügten Altersgenossen
am wohlsten füllen, ist ohne weiteres verständlich 1 ).
Aber auch weibliche Kranke in allen Lebensaltern geben der Fa¬
milie den Vorzug vor der Anstalt. Familie und Haus sind ja gerade
der ureigenste Wirkungskreis für die Frauenwelt. Hier finden sie die
ihnen zusagenden Anregungen und damit die erstrebte Ablenkung
von ihren kranken Ideen. Diese recht nahe liegende Betrachtung
hätte eigentlich zu dem Ergebnis führen müssen, daß in erster Linie
und vornehmlich weiblichen Kranken die Wohltaten und Segnungen des
familiären Verpflegungssystems teilhaftig geworden wären, dieses ist
jedoch leider, wie die Statistik vieler Familienpflegen ergibt, nicht der
Fall, und die Zahl der männlichen Pfleglinge überwiegt bei weitem.
Zumeist ist es die Furcht vor Schwängerungen, welche viele Irren¬
ärzte zu größter Vorsicht mahnt und sie von einer Evakuierung weiblicher
Kranker in gewissen Lebensaltern abhält. Aber ist die cupido sexualis
beim Weibe wirklich so beängstigend? und gibt es keine Mittel, welche
die der Weiblichkeit drohenden Gefahren so gut wie völlig fernzuhalten
vermögen ?
In Uchtspringe und Gardelegen sind seit vielen Jahren Hunderte
von weiblichen Kranken aller Lebensalter in Familienpflege, ohne daß
ein Fall von Schwängerung eingetreten wäre. Zwei Sittlichkeitsattentate,
welche während eines Zeitraumes von fast 16 Jahren versucht wurden,
x ) Ihre Verlegung in Familienpflege erfolgt seitens der Anstalt jedoch
nur dann, wenn nach Äußerung der Lehrkräfte irgendeine geistige Förde¬
rung in der Schule absolut nicht zu erreichen ist.
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Stamm,
sind rechtzeitig durch die Aufmerksamkeit der Pflegefamilien vereitelt
und gerichtlich streng geahndet worden. In den erwähnten Fällen waren
die Betroffenen ohne jegliche Avancen ihrerseits von unbekannten Männern
überfallen worden. Also eine geschlechtliche Erregung der Pfleglinge
kam hier überhaupt nicht in Frage. Die Vorsichtsmaßregeln, welche sich
bisher auf das Beste bewährt haben, bestanden und bestehen darin, daß
nur solche weibliche Patienten verfänglichen Alters in Pflege kommen,
welche nach ihrer Vorgeschichte und ihrem Verhalten in der Anstalt frei
von stärkeren erotischen Neigungen befunden werden. Sie kommen nur
zu Familien, bei welchen selbst oder in deren unmittelbarer Nachbarschaft
sich männliche Personen im Alter von 14 bis 20 Jahren nicht aufhalten.
Die weiblichen Pfleglinge tragen auch bei der Familie Anstaltskleidung,
welche sie als Zugehörige zur Anstalt der Bevölkerung kenntlich macht.
Patientinnen, welche vielleicht wegen ihres sittlichen Verhaltens zu Be¬
denken Anlaß geben könnten, werden zu besonders zuverlässigen Familien,
womöglich in Gesellschaft einer intelligenten, achtsamen, älteren Kranken,
in Pflege gegeben. Die in Betracht kommenden Familien werden ein¬
dringlichst auf eine gute Beaufsichtigung, welche namentlich eine An¬
näherung von Männern ausschließt, aufmerksam geroacht. Weibliche
Kranke dürfen ohne Begleitung nur bei ausdrücklicher ärztlicher Ge¬
nehmigung Botengänge in die weitere Nachbarschaft machen. Endlich
sorgt eine häufige und genaue Kontrolle von seiten der Anstalt durch ge¬
schultes weibliches Ober- und Pflegepersonal sowie der Arzt für präzise
Innehaltung dieser Vorschriften. Die Oberin hat auch eine genaue Menses¬
liste zu führen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Vorkehrungen
auch anderwärts ausreichen werden, und es wäre zu wünschen, daß auch
dort die Unterbringung weiblicher Kranken bei Familien in den durch
Erfahrung gesetzten Grenzen erfolgte.
Sind doch die Frauen in den Anstalten hinsichtlich Umfang und Viel¬
seitigkeit der Beschäftigungsgelegenheiten für gewöhnlich ungünstiger
gestellt als die Männer, während andererseits die Familienpflege eine recht
förderliche Rücksichtnahme auf ihre Individualität in weitgehendstem
Maße gestattet. Eine allzu große Ängstlichkeit ist auch nicht am Platze,
wenn wir uns vor Augen halten, daß Sittlichkeitsdelikte in der Regel in
der Außenwelt nur erfolgen, wo soziale Mißstände, schlechte Erziehung
und Verwahrlosung begünstigende Momente abgeben. Bei einer straff
organisierten und gut beaufsichtigten Familienpflege sind aber derartige
Mißstände ausgeschlossen. Die bloße Möglichkeit, daß eine Schwängerung
oder ein Sittlichkeitsdelikt Vorkommen kann, darf nicht als ausreichender
Grund angesehen werden, daß man Tausenden weiblicher Kranken das
familiäre System vorenthält und manchen dadurch einen günstigen
Krankheitsausgang verschließt.
Wenn ich nun dazu übergehe, einige Angaben darüber zu machen,
welches Kontingent dte hauptsächlichsten Psychosen für die Familien-
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Ober familiäre Irrenpflege.
931
pflege stellen, so möchte ich von statistischen Zahlenreihen Abstand
nehmen. Zweck- und Aufnahmebestimmungen der Anstalten sind zu
verschieden, als daß, abgesehen von anderen wichtigen Faktoren,
Zahlenangaben irgendwelcher brauchbarer Wert zuzuerkenenn wäre.
Idioten und Imbezille jeglichen Lebensalters eignen sich recht gut
zur Unterbringung in Familien und erfahren dort nicht selten erstaunliche
Förderung. Bei Anstalten, welche speziell für sie vorgesehen sind, kann
ein ziemlich hoher Prozentsatz für Familienpflege in Betracht kommen.
Patienten, welche mit Angst- oder Erregungszuständen behaftet sind,
solche mit besonders moralischem Tiefstand bei relativ guter Intelligenz
(kriminelle Neigungen, Racheakte) oder solche, die einen unverbesserlichen
Hang zu Verwahrlosung und Unsauberkeit besitzen, endlich solche mit
ausgeprägtestem intellektuellen Tiefstand müssen jedoch hierbei aus-
scheiden. Gutmütiger Charakter und gleichmäßige zufriedene Stimmung
eröffnen die besten Aussichten.
Schizophrene kommen bei Besserungen nach den ersten Krankheits¬
stadien und in jüngeren Lebensaltern zumeist für Entlassung in die Heimat
in Betracht und nur zum geringen Teil auf kürzere oder längere Zeit¬
abschnitte für Familienpflege. Hingegen finden sich unter bejahrten Per¬
sonen und unter den späteren Krankheitsstadien recht viele für Familien-
pflege geeignete Elemente. Starke Affekte, jäher Stimmungswechsel,
Impulsivität, lebhafte Halluzinationen, weit vorgeschrittene Verblödung
und Hang zu Unsauberkeit sind Kontraindikationen. Nicht selten wird
durch den Anreiz des Familienlebens erhebliche Besserung, häufig Krank¬
heitsstillstand erzielt, so daß oft nach Jahren noch Entlassungen erfolgen
können.
Paranoiker kommen in frühen Krankheitsstadien selten in Frage,
meist kann erst bei Eintritt des Seniums eine Verlegung in Familienpflege
erfolgen. Zurücktreten der Affekte, Verblassen der Wahnideen und
Sinnestäuschungen, gutmütiger Charakter ist Vorbedingung. Da auch
nach langjähriger Beruhigung ein starkes Aufflackern der Krankheits-
Symptome nicht selten zu beobachten ist, so erfordern diese Patienten
stets eine besondere ärztliche Kontrolle in der Familienpflege. Zumal die
Paranoiker vielfach recht brauchbare Arbeiter sind, wird man sie möglichst
lange, am besten bis zu erheblichem Rückgang ihrer Leistungsfähigkeit,
in der Anstalt behalten und ihnen dort entsprechende Bewegungsfreiheit
gewähren.
Erschöpfungspsychosen kommen, sofern der Krankheitsverlauf
nicht andere Richtwege weist, vorwiegend zwecks Beschleunigung der
Rekonvaleszenz zu Familien.
Reine Manien und Melancholien sind ja ziemlich selten. Ihre Ver¬
legung in Familienpflege erfolgt ebenfalls, um einen schnelleren Fortgang
der Genesung zu erzielen. Sie werden tunlichst zu besonders zuver-
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Stamm,
lässigen Pflegefamilien gegeben und möglichst häufig durch geschultes
Personal und Arzt besucht. Chronische Manien und Melancholien sowie
Manisch-depressive eignen sich in freien Intervallen oft recht gut für
Familien, doch sind häufige, wenn auch vorübergehende Rückversetzungen
zur Anstalt nicht zu umgehen.
Paralytiker in Remissionsstadien, Senildemente, Arteriosklerotiker
lassen sich, weil ihr somatisches Befinden ebenfalls Aufmerksamkeit des
Arztes verlangt, nicht gerade häufig in Familien halten.
Epileptiker und Hysterische, welche keine starken Affekte auf¬
weisen, nicht allzu häufig von Anfällen heimgesucht werden und in ihrem
Wohlbefinden nicht von der Innehaltung besonderer Diät abhängig sind,
können mitunter brauchbare Familienpfleglinge abgeben. Bei ihnen ist
jedoch ein öfterer Wechsel der Pflegefamilien von nöten, da sie sich selten
längere Zeit bei ein und derselben Familie wohl fühlen. Geisteskranke
Epileptiker sind meist so stumpf, reizbar oder verwirrt, daß sie mit ver¬
schwindenden Ausnahmen der Anstaltspflege nicht entraten können.
Alkoholpsychosen hingegen halten sich meist recht gut bei Familien.
Im großen ganzen diene bei der Beurteilung eines Patienten hin¬
sichtlich seiner Qualität für Familienpflege als Richtschnur, daß aus der
Krankheitsform nur allgemeine Schlußfolgerungen gezogen werden können,
daß vielmehr eine genaue Prüfung seines Vorlebens, seiner Charaktereigen¬
schaften, seiner vorherrschenden Gemütsstimmung und seines Verhaltens
in der Anstalt ausschlaggebend sein muß. Das Reüssieren eines Pfleglings
hängt oft sehr davon ab, daß ebenso wie in der Anstalt auch bei der Fa¬
milie ganz methodisch in der Heranziehung zur Arbeit vorgegangen wird.
Zuerst darf nur ein und dieselbe Handreichung verlangt und erst ganz all¬
mählich zu anderen übergegangen werden. Auch vertragen es viele Pa¬
tienten nicht, daß sie von einer Beschäftigung, mit der sie sich gerade be¬
fassen, zu einer anderen plötzlich abgerufen werden. Auf Reinlichkeit in
der Körperpflege und Ordnung in der Kleidung muß stets gesehen werden.
Späße und Neckereien sind, falls die Autorität nicht untergraben werden
soll, zu unterlassen. Ruhiges, geduldiges, freundliches, wenn auch be¬
stimmtes Auftreten von seiten erwachsener Familienmitglieder ist unbe¬
dingtes Erfordernis. Arzt und Pflegepersonal müssen mit zweckmäßigen
Ratschlägen und Belehrungen oft zur Hand gehen.
Wie mitunter die Erreichung eines zufriedenstellenden Einver¬
nehmens zwischen Pflegling und Familie von ganz unscheinbaren
Nebenumständen abhängig sein kann, dafür nur ein Beispiel.
Ein Kleinbauer erbat sich einen Pflegling, der hauptsächlich seiner
Frau eine größere Quantität Wasser zum Tränken des Viehes aus einem
Ziehbrunnen heraufbefördern sollte. Zum Schöpfen mittelst Eimers diente
eine Stange, an deren einem Ende ein Nagel eingetrieben war, an welchen
der Henkel des Eimers angehängt wurde. Einem 20 jährigen, kräftigen
Idioten, der als passender Pflegling ausersehen war, gelang es nun nicht, mit
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Über familiäre Irrenpflege.
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Eimer und Stange fertig zu werden, sondern bei jedem Versuche, Wasser
zu schöpfen, fiel der Eimer in den Brunnen. Der Bauer war nach einigen
Tagen über die Unbeholfenheit seines Gehilfen recht unglücklich und
wollte ihn absolut nicht länger behalten. Auch der Patient, der wohl die
Unzufriedenheit seines Pflegevaters aus dessen unzufriedenen Mienen er¬
kannte, schaute verdrießlich drein. Als dann ärztlicherseits der Rat
gegeben wurde, die Stange mit einem Karabinerhaken zu versehen, ließ sich
der Bauer auf einen weiteren Versuch mit seinem Pflegling ein. Und siehe
da, als dem Pflegling die Heraufbeförderung des Wassers nunmehr ohne
Mühe gelang, war der Pflegling voll Freude und Stolz über sein Können.
Aber auch der Bauer war zufrieden und gab sich, gewitzigt durch dieses
Vorkommnis, mit seinem Schutzbefohlenen die größte Mühe. Beide haben
sich im Laufe der Zeit so aufeinander eingespielt, daß sie sich wie Brüder
lieben.
Wie schon verschiedentlich beiläufig bemerkt wurde, ist eine
häufige Kontrolle der Pflegefamilien und ihrer Schutzbefohlenen von
größtem Nutzen. Die einzelnen Familien sind vom geschulten Pflege¬
personal je nach Anordnung des Arztes in Intervallen von 1—8 Tagen
zu besuchen. Der Arzt richtet die Häufigkeit seiner Visiten nach
den alltäglichen Rapporten des Pflegepersonals sowie nach eigenem
durch die Sachlage gebotenen Pflichtgefühl ein. Vor Ablauf eines
Zeitraumes von vier Wochen muß auch er jeden Pflegling mindestens
einmal aufgesucht haben. Die Pflegefamilien empfinden die häufigen
Kontrollen keineswegs unangenehm. Jedenfalls aber werden durch
zahlreiche Besuche aufkommende psychische Veränderungen recht¬
zeitig entdeckt, Unzuträglichkeiten im Entstehen beseitigt und un¬
liebsame Vorkommnisse vermieden.
Die ärztliche Beaufsichtigung der Familienpflege liegt am besten
in der Hand eines älteren Arztes, dem, wennschon er dem Anstaltsleiter
unterstellt ist, eine gewisse Selbständigkeit und Verantwortlichkeit ein¬
zuräumen ist. Die strikte Innehaltung der seitens der Anstalt erlassenen
Vorschriften für die Pflegefamüien ist unbedingt erforderlich. Im Ver¬
hältnis zu der Kopfzahl der Pfleglinge wird ihm ein geschultes Ober-
bzw. Pflegepersonal von der Anstalt beigegeben.
Der Arzt wird in der Familienpflege Mühe und Arbeit gar bald von
schönen Erfolgen gekrönt sehen, die heilsame Wirkung, welche das famüiäre
Verpflegungssystem allgemein, mitunter sogar bei ziemlich aussichtslosen
Fällen, ausübt, wird ihm sicherlich nicht entgehen und ihn oft mit der¬
selben Freude erfüllen, wie sie der Chirurg nach einer schwierigen, aber
erfolgreichen Operation verspürt. Ich könnte gar manchen Fall erwähnen,
wo langjährige Anstaltsbehandlung keinen nennenswerten Erfolg hatte,
ja stetige Rückschritte unverkennbar waren, der in relativ kurzer Zeit
SMUehrilt tar PayohUtri«. LXXI. 6.
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Stamm,
in der Familienpflege staunenswerte Besserung erfuhr. Daß es sich nicht
um zufällig eintretende Besserungen handelte, kann ich wohl damit dartun,
daß sie auch bei Kranken, die mir von meiner Assistentenzeit in Hildes -
heim und Göttingen her bekannt waren, und die ich nach vielen Jahren
fast in derselben Verfassung wie früher in der geschlossenen Anstalt in
Ilten vorfand, eintraten, sobald sie zu Familien verlegt wurden.
Wenn 14- bis 15 jährige und noch ältere Idioten, die nur lallen, aber
kein einziges Wort deutlich auszusprechen vermochten, im Verkehr mit
den aufwachsenden Kindern ihrer Pflegefamilien sich recht gut sprachlich
auszudrücken lernten, wenn Familienmütter, die jahrelang ein teilnahm -
loses und unzugängliches Wesen in der Anstalt zeigten, nach einem Auf¬
enthalt von wenigen Monaten in Familienpflege frei von allen Krankheits-
symptomen zu ihrer und ihrer Angehörigen Freude in ihre Heimat zurück¬
kehren konnten, wenn Männer, die jahrelang untätig herumsaßen und für
nichts mehr Interesse zeigten, in der Familienpflege in kurzer Zeit wieder
zu Lebensfreude erwachten und nicht selten wieder als erwerbsfähig in die
Außenwelt treten konnten, sollten das Zufallsprodukte gewesen sein?
Freilich erreichen wir vielfach nicht ganze Erfolge, sondern müssen uns
damit bescheiden, den Kranken eine angenehme Heimstätte zu bieten, in
der sie sich wohl und zufrieden fühlen.
Schließlich hat die Familienpflege noch den Vorzug, daß sie uns als
wichtiges Hilfsmittel dient bei der Entscheidung über die Entlassungs¬
fähigkeit von Kranken, deren Vorleben ihren Übertritt in die Außenwelt
nicht unbedenklich erscheinen läßt. Frühere Verbrecher, Säufer, Fürsorge -
Zöglinge usw. führen sich in der Anstalt oft derartig zufriedenstellend,
daß ihrem Drängen auf Entlassung triftige Gründe für ein weiteres Ver¬
bleiben in der Anstalt kaum entgegengestellt werden können. Die größere
Bewegungsfreiheit in der Familienpflege, die scheinbar geringere Aufsicht,
dann aber auch das größere Zutrauen zu Leuten ihresgleichen lassen gar
bald erkennen, ob ihr gutes Betragen in der Anstalt vonDauer ist oder nur auf
den Mangel an Gelegenheit zu Entgleisungen und auf die straffe Anstalts-
disziplin zurückzuführen war. Je nach dem Ausfall der Probe wird man
seine Entscheidung mit Sicherheit treffen und bei negativem Resultate
dem Drängen aus der Anstalt mit überzeugenden Gründen begegnen
-Können.
Die Beobachtungen, welche man tagtäglich in der Familienpfleg¬
machen kann, beweisen evident, daß die Anschauungen mancher Psychi¬
ater, die Kranken fühlten sich durchweg in schönen, komfortabel und
hygienisch eingerichteten Anstaltsräumen und unter sorgsamer, sach¬
gemäßer Obhut wohler und zufriedener und würden dort in ihrem geistigen
Befinden besser gefördert werden, bei einem großen Teil der Anstalts¬
insassen nicht zutreffend sind. Gewiß findet sich in der Häuslichkeit und
in den Gepflogenheiten vieler Pflegefamilien manches, was betreffs Hy¬
giene, Ordnung, Sauberkeit, Komfort usw. einen Vergleich mit der Anstalt
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Über familiäre Irrenpflege.
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licht aushält, jedoch liegt es an uns selbst, die notwendigen sanitären
Forderungen zu stellen, und sie werden auch bei einiger Energie zugleich
u Nutz und Frommen der Familien selbst in zufriedenstellendem Grade
*rreicht. Praktische Ärzte und Geistliche, denen die Verhältnisse in den
Pflegefamilien lange genau bekannt waren, haben sich oft genug aner¬
kennend und lobend über den Aufschwung der Familien in hygiehischer
und wirtschaftlicher Hinsicht seit ihrer Belegung mit Kranken ausge¬
sprochen. Das warme Interesse, welches wir Irrenärzte für unsere Pflege¬
befohlenen haben, darf nun nicht dadurch zum Ausdruck gebracht werden,
daß wir jene zu größeren Ansprüchen an Komfort und Wohlleben erziehen.
Wir müssen uns vielmehr an unsere rein ärztliche Pflicht erinnern und
demnach zu erstreben suchen, daß sie in Verhältnissen, welche ihrer früheren
sozialen Lage entsprechen, nach Möglichkeit leistungs- und erwerbsfähig
gemacht werden. Auch wo dies nicht oder nur in geringem Maße
gelingt, sind wir nicht berechtigt, Kranke an Dinge zu gewöhnen, welche
ihnen in ihrem früheren Leben entbehrlich schienen, und für die sie jetzt
kaum noch Verständnis besitzen.
Angesichts der von Jahr zu Jahr gewaltig ansteigenden Kosten,
welche die Irrenfürsorge erheischt, muß uns Ärzten daran gelegen sein,
die kostspieligen Anstaltsplätze und -Einrichtungen lediglich nur für
Kranksinnige zu benutzen, welche ihrer nach ärztlichem Ermessen durch¬
aus nicht entraten können. Wir dürfen es daher nicht im Interesse unserer
Schutzbefohlenen darauf ankommen lassen, daß schließlich die Behörden
auf Grund schwieriger Finanzzustände unseren, den wissenschaftlichen Er¬
fahrungen und Fortschritten Rechnung tragenden Forderungen hemmend
oder gar hindernd entgegentreten. Vielmehr sollten wir jegliches Mittel
auch in praxi ernstlich prüfen, welches ohne Schaden für unsere Kranken
einen günstigen Einfluß auf die Lösung der leidigen Kostenfrage zu ge¬
winnen vermag.
Wenn ich nunmehr zur Besprechung der Kostenfrage übergehe,
so lege ich dabei hauptsächlich die finanziellen Ergebnisse bei den An¬
stalten Uchtspringe und Ilten zugrunde.
In Uchtspringe werden für erwachsene Kranke der III. Verpflegungs¬
klasse seitens der Provinz Sachsen 1,50 M. pro Kopf und Tag an Unter¬
haltungskosten in Rechnung gestellt. Für Familienpfleglinge in Gardelegen
und den übrigen Ortschaften wurde pro Kopf und Tag ein Pflegesatz von
0,80 M. bezahlt. In Ilten erstattet die Provinz Hannover ein Pflegegeld
von 1,40 M. pro Kopf und Tag, während die Anstalt für den Familien¬
pflegling an Kostgeld 0,75 M. pro Kopf und Tag ausgibt. An beiden An«
stalten kommt zu diesem Pflegegeld ein Betrag von ca. 30 bis 40 M. pro
Kopf und Jahr für Bekleidung, Anstaltsaufsicht, Bäder, Tabaklieferungen
usw. hinzu.
Nun wird in Uchtspringe bzw. Gardelegen durch Verlegung von Pensio¬
nären der I. und II. Verpflegungsklasse ein Reingewinn von 1 bis 2 M.
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bzw. 0,75 bis 1 M. pro Kopf und Tag erzielt — Unkosten für Bekleidung
usw. fallen ja bei Pensionären weg — und damit die Betriebskosten wesent¬
lich herabgemindert.
In Ilten werden Ersparnisse dadurch gemacht, daß wegen der großen
Nähe umfangreicher Ortschaften für die Familienpflege kein besonderes
Arzt- und Pflegepersonal angestellt zu werden braucht. Die Unterhaltungs¬
kosten für einen Familienpflegling sind daher an beiden Anstalten um
V« bis V» geringer als die für einen Anstaltsinsassen. Mit einem Pflegesatze
von 0,80 M. pro Kopf und Tag dürfte man wohl im allgemeinen auskommen,
und es wird sich mindestens eine Verbilligung um % selbst bei ungünstigen
Verhältnissen anderwärts erzielen lassen.
Die Ansicht Alts, daß von den nach dem Gesetz vom 11. Juli 1891
in den preußischen Provinzialanstalten unterzubringenden Geisteskranken
ca. 25 % sich für das familiäre Verpflegungssystem eignen, ist nach meinem
Dafürhalten, soweit das Krankenmaterial einer ganzen Provinz in Frage
kommt, zutreffend und nicht zu hoch gegriffen. An den einzelnen Anstalten
kann allerdings das Prozentverhältnis allein infolge der Verschiedenartig¬
keit des zugewiesenen Krankenmaterials (Idioten-, Epileptiker- usw.
Anstalten) erheblich differieren. So ist Uchtspringe an der bereits über
700 Köpfe zählenden Familienpflege der Provinz Sachsen mit über 30%
beteiligt. Ilten, welches Kranke der III. Verpflegungsklasse aus den An¬
stalten Göttingen, Hildesheim, Lüneburg und Osnabrück in Pflege erhält,
hat bei einem Bestand von 781 männlichen Provinzialkranken 176 = 22 y t %
in Familienpflege, obwohl nur unheilbare und im Durchschnitt nicht gerade
angenehme Kranke überwiesen werden.
Man kann an Hand dieser Angaben leicht für heimische Verhältnisse
eine Berechnung darüber anstellen, welche Verminderung den Unterhal¬
tungskosten für Geisteskranke nach hinlänglicher Einführung des in Rede
stehenden Verpflegungssystems in Aussicht stände.
Über den Einwurf, daß durch die Familienpflege eine große Zahl
entlassungsfähiger Patienten zurückgehalten wurden, verliere ich kein
Wort. Jeder Kollege kann sich durch genaue Prüfung der einschlägigen
Verhältnisse jeder Zeit davon überzeugen, ob dieser Einwurf bei dieser
oder jener Familienpflege berechtigt ist.
Am Schlüsse meiner Ausführungen möchte ich nicht zu betonen
verfehlen, daß ich objektiv und ohne jede Schönfärberei die Vorzüge
des familiären Verpflegungssystems auf Grund 15 jähriger Erfahrung
bei den Anstalten Göttingen, Uchtspringe und Uten darzutun ver¬
sucht habe. Von unangenehmen Ereignissen weiß ich, abgesehen von
den zwei Sittlichkeitsattentaten, gottlob nur 2 Fälle zu berichten,
obschon ich viele Hundert Patienten in Familienpflege gegeben und
eine ganze Anzahl neuer Ortschaften diesem Verpflegungssystem er¬
schlossen habe.
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Über familiäre Irrenpflege.
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Eine Patientin verlor ich durch Verbrennung. Sie war mit ihren
Kleidern dem offenen Herdfeuer zu nahe gekommen, und diese standen
üsbald in Flammen, ln ihrer Angst suchte sie sich ins Freie zu retten
and konnte erst von ihrer Pflegefamilie eingeholt und von den Flammen
oefreit werden, nachdem tödliche Verletzungen eingetreten waren. Der
tweite Fall betraf einen Suizid versuch, den ein bejahrter Pflegling in
einem Asthmaanfall mit einem Rasiermesser vorgenommen hatte, welches
ihm von seinem Sohne (Bahnbeamter) gelegentlich eines Besuches heimlich
zugesteckt war. Durch rechtzeitiges Eingreifen seiner Pflegefamilie kam
es nur zu stark blutenden Hautwunden am Halse, welche zur Heilung
gebracht wurden.
Entweichungen kamen zwar alljährlich mehrere vor, hauptsäch¬
lich bei halluzinierenden Patienten, doch hatten sie nachteilige Folgen
weder für die betreffenden noch für dritte Personen. In den meisten
Fällen erfolgte die alsbaldige Einlieferung in die Anstalt.
Gegenüber den dargelegten Vorteilen des familiären Pflegesystems
können solche vereinzelten bedauerlichen Vorfälle, welche sich auch
in den Anstalten trotz größter Aufmerksamkeit und Sorgfalt nicht
immer vermeiden lassen, nicht ins Gewicht fallen. Mit gutem Ge¬
wissen kann ich daher jedem Anstaltsleiter empfehlen, einen prakti¬
schen Versuch mit Familienpflege zu unternehmen. Sollten ihm meine
Darlegungen hierbei etwas von Nutzen sein können, so würde ich dies
im Interesse der bedauernswertesten aller Menschen mit aufrichtiger
Freude begrüßen.
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, Original frcm
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Über das numerische Verhältnis der Ärzte und
Pilegepersonen in den öffentlichen und privaten
Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke zur
Anzahl der Kranken.
Von
Regierungsrat Dr. H.Schlöss, Dir. der Landesanstalt „Am Steinhof“ bei Wien.
Um das numerische Verhältnis der in öffentlichen und privaten
Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke angestellten Ärzte zur
Anzahl der Kranken einesteils, andernteils das numerische Verhältnis
der in diesen Anstalten bediensteten Pflegepersonen zur Anzahl der
Kranken studieren zu können, habe ich im Winter 1912 Fragebogen
an die österreichischen, deutschen, französischen, englischen, italieni¬
schen, belgischen, niederländischen und schweizerischen Anstalts¬
direktionen geschickt. Da der Bedarf an Ärzten in einer Heil- und
Pflegeanstalt auch von der Zahl der zur Aufnahme gelangenden
Kranken beeinflußt werden muß, bezog sich eine der Fragen auch auf
die Aufnahmezahl. Es wäre wohl richtiger gewesen, die durchschnitt¬
liche Aufnahmezahl in den letzten 5 oder 10 Jahren zu erbitten.
Da ich aber aus Erfahrung weiß, daß Fragebögen, wenn sie nicht leicht
und sozusagen von der Hand weg beantwortet werden können, in
häufigen Fällen unbeantwortet bleiben, habe ich mich mit der Auf¬
nahmezahl im Jahre 1911 begnügt, wie denn überhaupt alle Fragen —
die Arbeit wurde 1912 begonnen — sich auf das Jahr 1911 bezogen.
Diese Fragen, welche je nach dem Sitze der Anstalt in deutscher,
französischer, englischer oder italienischer Sprache verfaßt waren, lauteten:
1. Wie groß ist die systemisierte Anzahl der Ärzte in der dortigen
Anstalt ?
2. Wie groß war die Anzahl der Pflegepersonen in der dortigen Anstalt
im Jahre 1911?
3. Wie groß war der Krankenstand Ende 1911?
4. Wie groß war die Aufnahmezahl im Jahre 1911?
Das Werk von Hans Laehr : „Die Anstalten für Psychisch-Kranke
in Deutschland, Deutsch-Österreich, der Schweiz und den baltischen Län¬
dern“ gab mir Aufschluß über die Anstalten in den angeführten Ländern.
Ein Verzeichnis der französischen Anstalten erhielt ich durch die Güte
des Herrn Kollegen A. Marie in Villejuif, Seine-Departement; bezüglich
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über das numerische Verhältnis der Ärzte and Pflegepersonen asw. 939
der englischen Anstalten wandte ich mich an Dr. C. Easterbrook , med.
Superintendenten in Dumfries (Scotland), Crichton royal Institution. Ein
Verzeichnis der italienischen Anstalten erhielt ich von Dr. Quirto, Direktor
im Manicomio di Palermo. Die belgischen Anstalten wurden mir von
Herrn Direktor Dr. Peeters in Gheel namhaft gemacht. Das Verzeichnis
der niederländischen Anstalten erhielt ich durch die Güte des Herrn
Staats-Inspektors Dr. van Deventer. An der Hand dieser Verzeichnisse
konnte ich mich an die einzelnen Anstalten wenden. Herr Dr. Easterbrook
sandte mir zwar kein Verzeichnis, wohl aber das Werk: „Hospitals and
Charities 1910, the Year Book of Philanthropy and Hospital Annual“ von
Sir Henry Burdett, wechem Werke die gewünschten Daten mit Aus¬
nahme der Zahl der Aufnahmen entnommen werden konnten. Der Inhalt
dieses Werkes war für den Zweck der vorliegenden Arbeit um so wert¬
voller, als aus demselben nicht nur die gewünschten Daten der Anstalten
in England und Wales, Schottland und Irland, sondern auch jene der eng¬
lischen Kolonien, ferner jene der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika
entnommen werden konnten.
Es würde die Übersichtlichkeit meiner Arbeit beeinträchtigen,
wollte ich die einzelnen Anstalten anführen mit den Zahlen von Ärzten,
Pflegepersonen usw. Es handelt sich auch nicht darum, die numerischen
Verhältnisse zwischen Ärzten und Kranken und zwischen Pflegepersonen
und Kranken in den einzelnen Anstalten festzustellen, vielmehr
darum, diese Verhältniszahlen in den einzelnen Ländern zu er¬
mitteln. Ich habe daher nach den einzelnen Ländern die betreffenden
Durchschnittszahlen berechnet, wobei ich bemerke, daß nur bei Gro߬
britannien und seinen Kolonien, ferner bei den Vereinigten Staaten von
Nordamerika sämtliche in diesen Ländern existierende öffentliche An¬
stalten in Betracht gezogen werden konnten, während bei den übrigen
Ländern (Österreich, Deutschland, Frankreich, Italien, Schweiz, Belgien
und Niederlande) nur jene Anstalten in Rechnung kommen konnten, welche
meinen Fragebogen einer Antwort gewürdigt haben.
Es kommen dem Gesagten zufolge in Betracht:
in Österreich (mit Ausnahme von Niederösterreich) 15 Anstalten
, Deutschland . 107
, Frankreich. 38
, Italien . 7
, der Schweiz . 14
, Belgien. 24
, den Niederlanden . 22
, Großbritannien und seinen Kolonien . 266
, Nordamerika . 138
Die niederösterreichischen Anstalten werden des Vergleichs wegen
im folgenden gesondert betrachtet.
Die nachstehenden Tabellen geben in übersichtlicher Weise die
Anzahl der Ärzte, der Pflegepersonen, der Kranken, der Aufnahmen an —
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Schlöss
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sämtliche Daten auf das Jahr 1911 bezüglich — und in den weiteren Ru¬
briken, wie viele Kranke und wie viele Aufnahmen durchschnittlich au.'
einen Arzt, endlich wie viele Kranke durchschnittlich auf eine Pflege per?«
kommen.
Name des Landes
Zahl
der
Ärzte
Zahl
der
Pflege¬
per¬
sonen
Kranken¬
stand
Ende
1911
Auf¬
nahmen
1911
Es kommt
mithin ein
Arzt auf
PtSfT-
persrr
Kranke
A*f-
aal -
Krank?
Österreich mit Aus¬
nahme von Nieder¬
österreich .
96
1710
11051
5061
115
53
6.4i
Deutschland.
726
13741
81270
32855
112
45
5^i
Frankreich.
160
3308
33814
7446
225
50
10±!
Italien. :
23
227
2844
3953
124
172
12ji
Schweiz.
52
888
6058
2697
116
52
6.82
Belgien mit Aus¬
nahme von Gheel
und Lierneux 1 )...
49
980
7615
1933
155
39
7.77
Niederlande.
67
1767
9240
2762
138
41
5.2-2
Großbritannien 2 )
(England u. Wales,
Schottland, Irland,
Kanal-Inseln und
Insel Man).
Britische Besitzun¬
gen in Australien
Kanada.
Sonstige britische
Besitzungen.
549
67
52
64
15472
1861
1387
1293
Summe der
Kranken in
sämt¬
lichen
Anstalten
153319
20153
14319
15881
Summe der
Kranken in
jenen An¬
stalten, deren
Pflegerstand
verzeichnet
war«)
141769
19891
14319
13821
279
301
275
248
9J6
10.6S
10.32
10.68
Summe
732
20013
203672
189800
278
9.48
Vereinigte Staaten
von Nordamerika
662
13192
182334
180600
275
13.69
*) Die auf Gheel und Lierneux bezüglichen Daten wurden ausge¬
schaltet, da in der Familienpflege andere Verhältnisse vorliegen als in der
Anstalt.
*) Die Daten in bezug auf Großbritannien und Nordamerika sind
dem Werk Burdetts : Hospitals and Charities 1910, entnommen.
*) In dem angeführten Werke findet sich zwar bei vielen, aber nicht
bei allen Anstalten die Anzahl der Pfleger verzeichnet.
Gck igle
Orig inal fro-m
UNIV^W^'F MICHIGAN
Über das numerische Verhältnis der ...Ärzte' und Ptlegejiersonen usw. 941
Aus diesen Zusomünensteliungon ergeben sich interessante Daten.
■Nahmen wir raieTst das ii«nierisc1i« Verhältnis der Anstallskrzbe zur Anzahl
<J*?z Kranken. Es komnil ein Arzt,
io Deutschland ..... .....'.
. r / Osltnreich (joil Ausnalnpme von Nieder-
Österreich) .....--..
inif 112: Kranke
r-cAvi !? !üfcv«fc£
„ der Schweiz .
Italien
* i >
,, den Ndeder hindert
.. Belgien-.
,, Frankreich ......
Mördameriku «
„ U5
„ iü
124
,, m
A,V 155
P 225
p:
. ...27h
ii
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Aufnahmen
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|
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f l-T- •>, * * r* i V~' .V *
.. Großbritannien....
Deutschland weist also in dieser Beziehung die guhstigsl^tlv
briiaunieu dienrigiilistigstem Verhältnisse auf. A'/vA.:,:,
Anders' steht die Suche, wenn wir «las turnerische Verhijltfils der
A nstaitsärzle zur Zahl der Aufnahmen fesistelJeri. Es komnit ein Atzt
in .Brlgicfi' &>»*£ • - -. ... • • • > • > ■ - ; • äuf 3® A
,j den- A'ie.jerlanden .. .. 4t
Deutschland -w- ,t ; 45; 7
Frankreich .. .$.. .. 5*»
,, der Schweiz ... . .. • 52.
Ij|l; ;'| V|'-J »( >i'' (>' • . . . b m ... «. . • .* .. . ■ .J. . 5.1 ,
Italien . . -. ....... . 1/2
Auffallend sind die aus Italien berichteten Ziffern. Ks: haben
7italienische Anstalten dkr Fragebögen beantwortet ln
fand sich tüi Jahre lt(!I ein Oesamikj-ankenstand von 2844 hei 3953
.VulrwihHueu, wahrend in itUeii änderen Ländern das Verhältnis 'tun um-
'•.•gekehrtes ist f ).
■ Das' numerische 'Verhältnis der Pllegepevsouen. zuni Krankenstand
sieht sich wie folgt dar;
Es kommt , siüi#.. 'Pöegepersou AA/VA;
in «Jen tvieclerltMiden .. . ... auf 5.22 Kranke
„ Widsehland .. ...... . .. 5.1«*. ,,
». 'VsfiTrotcb (außer NtHderösterrwch),, 5 46
,, .jäef.'.SfcllVf^t ••••. • » ' ' n ; a2
IBelgieri —.... >'*.. ... v._.... v^«. ^♦. / * «7
„Großbritannien....- ‘.«.4*
. c.'v
l*
iß ”.
i y
. Krankreich ..
MjM
n
L 1 Obw-ahl zwei dieser Anstalten ausdrücklich als ,manioouiio‘' be¬
zeichne! sind, dürfte m sich »loch in fliesen zwei Fällen nur um psychia.tri-
»che AMteiiurvgen aUgcmeiner Krankenhäuser, in den Öbrilir.v C'iAf
>ui* Kraukonhauser handeln, die auch 'psychisch Kranke
^.ry-
Go gle
’sSddi^al-firön’-
3R T&ütLRy
942
Schloss,
in Italien . „ 12.52 Kranke
„ Nordamerika .. 13.69 „
Es ist natürlich nicht möglich, für alle diese Verhältnisse eine Auf¬
klärung zu geben. Bezüglich des ungünstigen numerischen Verhältnisses
der Ärzte zur Anzahl der Kranken in Großbritannien (1 : 278) habe ich
mich an Dr. Easterbrook, Superintendent in der Anstalt zu Dumfries (Scot¬
land) um Aufklärung gewendet. Er erklärt mir brieflich die verhältnis¬
mäßig geringe Anzahl der Ärzte in den englischen Anstalten mit folgenden
Worten: „Even in the largest asylums in this country, the great majority
of the population is a permanently resident one. The largest asylums in
the country, e. g. those in the London district and in Lancashire, containing
about 2400 beds, admit only 600 patients a year, as compared with the
3000 patients who are admitted annually into Steinhof.“ Der Schwer¬
punkt dieser Mitteilung liegt in der Tatsache, daß die englischen Anstalten
bei ihrer verhältnismäßig bescheidenen Anzahl von Aufnahmen mit einer
relativ geringen Zahl von Ärzten ihr Auskommen finden können.
In den niederösterreichischen Anstalten stellen sich die besproche¬
nen Verhältnisse wie folgt:
Name der Anstalt
Zahl
der
Ärzte
Zahl
der
Pflege¬
per¬
sonen
Kran¬
ken¬
stand
Ende
1911
Auf¬
nah¬
men
1911
Es kommt
mithin ein j
Arzt auf
Eine
Pflege¬
person
auf
Kranke
Kranke
Auf¬
nahme
Wien (Steinhof).
24
532
3310
3051
137
127
6.21
Mauer-Oehling.
9
215
1494
276
166
30
6.94
Klosterneuburg.
5
93
664
147
133
30
7.13
Gugging.
7
130
1072
275
153
40
8.24
Ybbs.
4
93
716
91
180
22
7.68
49
1063
7256
3840
148
78
6.82
Vergleichen wir diese Ziffern mit den für andere Länder erhobenen
Durchschnittszahlen, so kommen wir zu folgenden Ergebnissen:
In den niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalten für
Geisteskranke kommt ein Arzt auf 148 Kranke. Diesbezüglich sind die
Verhältnisse günstiger
in Deutschland (1 : 112),
,, den übrigen österreichischen Provinzen (1 : 115),
„ der Schweiz (1 :116),
„ Italien (1 : 124),
„ den Niederlanden (1 : 138).
In den niederösterreichischen Anstalten kommt ferner ein Arzt
durchschnittlich auf 78 Aufnahmen. Diesbezüglich liegen — wie ein Blick
auf die entsprechende Tabelle zeigt — die Verhältnisse überall günstiger
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Gck igle
Original fro-m
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Über das numerische Verhältnis der Ärzte und Pflegepersonen usw. 943
als in Niederösterreich. Nur in Italien — dessen Angaben, wie bereits
gesagt, gerechte Zweifel einflößen — kommt ein Arzt auf 172 Kranke.
Was das Verhältnis der Zahl der Pflegepersonen zu jener der Kranken
anbelangt, so kommt in Niederösterreich eine Pflegeperson auf 6.82 Kranke.
Diesbezüglich sind die Verhältnisse in den Niederlanden, in Deutschland,
in den übrigen österreichischen Provinzen günstiger, in der Schweiz liegt
das gleiche Zahlenverhältnis .vor.
Am ungünstigsten liegen die Verhältnisse am Steinhof, und die vor¬
stehenden Tabellen geben der Überbürdung der Ärzte in dieser Anstalt
beredten Ausdruck. Noch drastischer tritt dieses Faktum zutage, wenn
die auf die Heil- und Pflegeanstalt am Steinhof bezüglichen Daten und
jene des Sanatoriums getrennt und erstere mit den Daten der Heil- und
Pflegeanstalten in Österreich und fremden Ländern, letztere mit den Daten,
welche andere Sanatorien für Geisteskranke geliefert haben, verglichen
werden.
Name der Anstalt
•
Zahl
der
Ärzte
Zahl
der
Pflege¬
per¬
sonen
Kran¬
ken¬
stand
Ende
1911
Auf¬
nah¬
men
1911
Es kommt
ein Arzt auf
Eine
Pflege¬
person
an!
Kranke
Kranke
Auf¬
nahmen
Stqjnhof Gesamtanstalt...
24
632
3310
3051
137
127
6.21
Heil- und Pflegeanstalt am
Steinhof.
19
386
2983
2687
167
140
7.74
Sanatorium Steinhof.
6
147
327
364
65
73
2.22
Es kommt mithin in der Heil- und Pflegeanstalt ein Arzt auf 157
Kranke und auf 140 Aufnahmen, eine Pflegeperson auf mehr als 7 Kranke.
Die Ziffern, welche das Sanatorium anbelangt, können nur richtig
eingeschätzt werden, wenn sie mit den von anderen Sanatorien gelieferten
Daten in Vergleich gestellt werden. In 20 Sanatorien für Geisteskranke
(diese Sanatorien befinden sich teils in Österreich, teils in Deutschland,
teils in der Schweiz) kommt im Durchschnitt ein Arzt auf 56 Kranke,
27 Aufnahmen, eine Pflegeperson auf 4.28 Kranke. Das numerische Ver¬
hältnis der Pflegepersonen zur Zahl der Kranken (1 : 2 . 22 ) gestaltet sich
im Sanatorium Steinhof deswegen günstiger, als der Durchschnitt in den
anderen in Rechnung gezogenen Sanatorien (1 : 4.28), weil unter letzteren
auch solche Privatanstalten für Geisteskranke angeführt sind, welche auf
öffentliche Kosten Geisteskranke verpflegen, in welchen Anstalten natürlich
das numerische Verhältnis zwischen Pflegepersonen und Kranken nicht
Sanatoriumsverhältnissen entspricht, wodurch der Durchschnitt natürlich
beeinflußt wird.
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Die soziale Stellung des Anstaltarztes.
Von
Prof. Dr. van Deventer, Amsterdam.
Der Wirkungskreis des Anstaltarztes sowie der des Psychiaters
überhaupt hat sich im Laufe der letzten Dezennien bedeutend geändert.
Seine Aufgabe hat sich erheblich ausgedehnt, ist immer mehr
sozialer Art geworden. Allgemein ist das Bestreben nach einer Differen¬
zierung nach der Unterbringung des Kranken in einem ihm geeigneten
Milieu. Im Zusammenhang hiermit haben die Hilfsmittel zu seiner
Genesung oder Besserung, zu seiner gesellschaftlichen Anpassung zu¬
genommen.
An die Stelle der Irrenanstalt sensu strictiore, des Universalheil¬
mittels der früheren Zeit, sind eine Anzahl Behandlungs-, Verpflegungs¬
und Versorgungsverfahren getreten; die Verpflegung in der Familie
nimmt unter diesen eine wichtige Stelle ein.
Der Begriff Geisteskrankheit hat sich erweitert, umfaßt nicht nur
die Irrsinnigen, sondern auch die Psychopathen, und zwar die Alters¬
schwachen, die schwachsinnigen und geistig zurückgebliebenen Kinder,
die geistig Minderwertigen, die Epileptiker, die Alkoholiker und der¬
gleichen.
Allenthalben bricht sich der Gedanke Bahn, daß seitens der Re¬
gierung dafür Sorge getragen werden müsse, daß jedem, der wegen Ab¬
normität der Stütze, Leitung oder Aufsicht bedarf, dieselbe nicht
vorenthalten werde, daß es keinen prinzipiellen, sondern nur einen
graduellen Unterschied zwischen dem Geisteskranken und dem Irr¬
sinnigen gebe. Sobald als möglich müßten die Interessen aller geistig
Minderwertigen, welche dabei in Betracht kommen, gewahrt werden.
Durch genaue Beobachtung der Elementarschüler, sowohl was den
Schul- wie den Fachunterricht betrifft, sowie auch der Kinder, die wegen
Abnormität die gewöhnliche Schule nicht besuchen, kann dieser Anforde-
Difitized
bv Google
Original fro-m
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Die soziale Stellung des Anstaltarztes.
945
rung leicht Rechnung getragen werden. Diese Beaufsichtigung gehört zu
der Aufgabe des Psychiaters. Dessen Arbeit beschränkt sich nicht mehr
wie früher ausschließlich auf die Anstalt, sondern erstreckt sich über eine
Menge Irrsinnige und Geisteskranke, welche in eigener Wohnung, bei
Verwandten, in fremden Familien, in Armen- und Arbeitshäusern, Männer¬
und Frauenheimen oder andern philanthropischen Anstalten verpflegt
werden. Ein nicht unerheblicher Prozentsatz der Bevölkerung dieser
Versorgungsanstalten gehört zu den Geistesabnormen.
Solches gilt ebenfalls von den Zwangserziehungsanstalten, den
Staatserziehungsanstalten, den Staatsarbeitsanstalten, den Strafgefäng¬
nissen und dergleichen.
Im Zusammenhang mit den neueren Anforderungen haben sich auch
in den Zentren der Bevölkerung in wachsender Zahl Spezialisten der
Psychiatrie niedergelassen.
Auch Sanatorien für Nerven- und Geisteskranke werden allmählich
I
in allen Kulturstaaten errichtet und die Leitung derselben einem Psychiater¬
sachverständigen übertragen. Seit der Errichtung von Sanatorien für
bestimmte Kategorien von Geisteskranken sowie für Alkoholiker, für
Epileptiker und dergleichen trat hell zutage, wie schwierig es sein kann
und oft ist, eine schaffe Grenze zwischen Irrsinn und Geisteskrankheit zu
ziehen, z. B. zu entscheiden, ob ein Patient ein Trunkenbold, ein Alko¬
holiker oder ein Irrsinniger ist; Trunksucht ist oft verbunden mit Ver¬
brechen, mit Epilepsie und verschiedenen andern Formen der Geistes¬
störung, wobei es fraglich ist, welche Abweichung als die primäre zu
betrachten sei. Vom theoretischen Gesichtspunkt ist es oft schwer, der¬
gleichen Fragen mit genügender Sicherheit zu beantworten. So kann
z. B. ein Epileptiker bald als normal imponieren, bald hingegen ganz das
Bild eines gefährlichen und schädlichen Irrsinnigen zeigen. Aus praktisch¬
psychiatrischem Gesichtspunkt haben solche theoretischen Schwierig¬
keiten wenig auf sich; muß doch der Patient in seinem Zustand ent¬
sprechende Verhältnisse gebracht werden. Für ihn gilt die Regel non
nocere, daß ihm kein Schaden zugefügt werde. Diese Bedingung schließt
in sich, daß dem Geisteskranken befugte ärztliche Hilfe nicht vorent¬
halten werden darf.
Ein großer Prozentsatz der Geistesabnormen kann in eigener Um¬
gebung verpflegt werden, falls den von sachverständiger Seite zu stellenden
Anforderungen genügt werden kann. In jeder Gemeinde, auch auf dem
Lande, soll die Ortsaufsicht über die Geisteskranken außerhalb der Irren¬
anstalten und der diesen ähnlichen Anstalten organisiert werden; es soll
nicht nur der Patient selbst, sondern auch das Milieu berücksichtigt werden,
in dem er untergebracht worden ist; weiter soll den gesellschaftlichen
Interessen, den Forderungen der Sicherheit, Ordnung und Sittlichkeit
Rechnung getragen werden.
In bezug auf die speziellen Anforderungen, welche die Geisteskrank-
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
van Deventer,
946
heit stellt, ist es erwünscht, d^ß dem Arzt bei seiner Arbeit die Kranken¬
pflegerinnen für die Familienpflege (holl, wykverpleging) zur Seite stehen.
In jeder Gemeinde oder in jedem Komplex kleinerer Gemeinden soll
es ein Krankenhaus geben, den Geisteskranken observieren und zeitweilig
verpflegen zu können. Durch den Zustand des Patienten wird bedingt,
ob er wieder in seine frühere Umgebung zurückkehren, ob ihm eine ge¬
eignete Familie, eine Versorgungs- oder Pflegeanstalt am Orte oder anders¬
wo angewiesen werden oder aber, ob er in eine Irrenanstalt oder eine
dieser ähnlichen Anstalt aufgenommen werden soll.
Die Rückkehr in die Gesellschaft werde so viel als möglich gefördert,
und es werde verhütet, daß der Patient regelrecht zu einem Anstalt¬
bewohner erzogen werde.
Wie aus obigem hervorgeht, hat sich in der jetzigen Zeit den
Psychiatern außerhalb der Irrenanstalt ein weites Arbeitsfeld er¬
schlossen. Psychiater, welche ehemals zu dem Stab der Anstaltärzte
gehörten, betrachten jetzt oft die*Irrenanstalt als ein Passantenhaus,
als eine Schule für Psychiater, für ihre praktische Ausbildung zum
Spezialisten. Ihre Zahl wächst fortwährend. Auf diese Weise werden
vorzügliche Kräfte dem Anstaltdienst entzogen.
Was die Irrenanstalt betrifft, sei darauf hingewiesen, daß auch
das Arbeitsfeld des Anstaltarztes gradatim bedeutend größer geworden
ist, und zwar in dem Maße, daß auf die Dauer der Arzt-Direktor nicht
mehr das Ganze zu umfassen vermag, wo jetzt die Anforderungen fort¬
während sich steigern, an Intensität und Extensität zunehmen.
Die Anstalt hat sich tatsächlich in ein Krankenhaus für eine be¬
stimmte Gruppe von Patienten verwandelt und kann in jeder Hinsicht
den Vergleich mit andern Krankenhäusern aushalten, sowohl in bezug auf
Bau, Einrichtung und Betrieb als wissenschaftliche Arbeit; dies gilt
namentlich von deutschen Irrenanstalten.
Der Anstaltirrsinnige wird nicht nur auf dem eigentlichen Anstalt¬
gebiet verpflegt, sondern auch außerhalb desselben, in der Familie, in or¬
ganischem Zusammenhang mit der Anstalt.
In der modernen Irrenanstalt gibt es eine wissenschaftliche Ab¬
teilung mit den dazu gehörigen Laboratorien, deren Zahl immer größer
wird und sowohl dem wissenschaftlichen Studium der psycho pathologi¬
schen und der damit zusammenhängenden Probleme wie der genauen
Untersuchung des Geisteskranken dienen.
Für den eben aufgenommenen Patienten ist eine Spezialabteilung,
die Observationsabteilung, bestimmt, wo er genau observiert, die In¬
dikation gestellt, die Lebensregel vorgeschrieben wird, und von wo aus
er in der ihm angewiesenen Abteilung untergebracht wird.
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Die soziale Stellung des Anstaltarztes.
947
Die Hilfsmittel zur Untersuchung des Patienten haben fortwährend
zugenommen und erfordern spezielle Kenntnisse. Dasselbe gilt und in nicht
geringerem Maße von den Mitteln, die Genesung oder die Besserung des
Geisteskranken zu befördern. Als Beispiel sei nur auf die Bewegungsthera¬
pie und die Arbeitsverschaffung hingewiesen.
Das Behandlungs- und Verpflegungsverfahren hat sich im allge¬
meinen ganz geändert; an Stelle des Zwanges ist die freie Behandlung ge¬
treten, die sogenannte gebundene Freiheit, was permanente und genaue
Überwachung, also größere Verantwortlichkeit des Anstaltarztes, in sich
schließt.
Eine Wichtige Aufgabe, welche dem Anstaltarzt obliegt, ist die
Heranbildung des Anstaltpersonals, nicht nur der Krankenpfleger, sondern
aller, welche mit der Sorge für und der Aufsicht über die Patienten beauf¬
tragt sind, also auch der Verpflegerfachleute, der Beamten für Schul- und
Fachunterricht.
Aus diesem und jenem ergibt sich, daß an den Anstaltarzt sehr
schwere und weitgehende Anforderungen gestellt werden müssen. Die
speziellen Kenntnisse, welche er besitzen muß, haben nach und nach solch
einen Umfang erreicht, daß schon jetzt für den Anstaltarzt eine Ver¬
teilung der Arbeit notwendig geworden ist.
Sehr verschiedenartig sind nicht nur das wissenschaftliche Studium
s. s. und die praktische Psychiatrie, z. B. die eigentliche klinische Arbeit;
dies gilt ebenfalls von den Unterabteilungen.
An den Arzt-Direktor werden naturgemäß sehr hohe Anforderungen
gestellt. Als leitender Direktor soll er ein Organisator sein, der die immer
zunehmenden und wechselnden Anforderungen zu berücksichtigen weiß,
ein Kliniker, ein Expert der forensischen Psychiatrie, ein Administrator,
ein Soziolog, ein Ökonom, ein Pädagog, ein Spezialist auf dem Gebiet des
Krankenhausbaues und der Einrichtung eines Krankenhauses, der rechte
Berater in mehrfachen sozial-medizinischen Fragen, speziell was die
Psychologie und die Psychopathologie betrifft, für welche dieselben Grund¬
sätze gelten, zwischen welchen es einen allmählichen Übergang gibt.
Außerdem wird er als der rechte Berater in einer Reihe speziell gesellschaft¬
lich-medizinischer Fragen betrachtet, z. B. der Bekämpfung von Volks¬
übeln, wie Alkoholismus, Syphilis, Tuberkulose und dergleichen, des Ein¬
flusses des Trauma auf die psychische Beschaffenheit, der Prophylaxis
des Irrsinns.
Schon jetzt ist man bemüht, das Arbeitsfeld des Arzt-Direktors zu
beschränken.
In mehreren Anstalten beschränkt der Arzt-Direktor sich auf die
allgemeine Leitung. Die Folge dessen wird sehr leicht sein, daß der Vor¬
steher auf die Dauer nicht genügend von dem Lauf der Angelegenheiten,
von den zu stellenden Anforderungen unterrichtet sein wird, eine Gefahr,
welche besonders, eintreten wird, wenn er keine eigene Krankenabteilung
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
948
van Deventer,
hat, den klinischen Angelegenheiten fernbleibt, sich in administrativen
und daraus erwachsenden Angelegenheiten verliert.
In bezug auf die Irrenanstalt selbst ist allmählich aus ökonomischen
und andern Gründen das Bestreben in den Vordergrund getreten, die An¬
stalt für eine übergroße Anzahl Patienten zu bestimmen, bedeutend größer
als das, was erfahrene Psychiater als Maximum ansehen.
Auf dem Internationalen Kongreß für Irrenpflege, der im vergangenen
Januar in Moskau abgehalten wurde, hat AU nochmals auf die durchaus
nicht bewiesene Behauptung aufmerksam gemacht, daß die betreffenden
Riesenanstalten, was Bau, Einrichtung und Betrieb angeht, aus finan¬
ziellen Rücksichten den Vorzug hätten vor einer Anstalt für 600 bis 800
Irrsinnige. Er wies u. a. auf eine Schwierigkeit hin, welche nicht gering¬
geschätzt werden darf, daß mit der Ausdehnung der Anstalt die für den
Anstaltarzt doch schon so geringe Aussicht beschränkt wird, später als
Arzt-Direktor in Betracht zu kommen. Selbstverständlich muß dies
die Zufuhr geeigneter und bleibender Arbeitskräfte beeinflussen.
Zu den obenerwähnten Schwierigkeiten tritt noch eine andere von
sehr ernster Art, welche m. E. die Furcht berechtigt, daß der Wirkungs¬
kreis des Anstaltpsychiaters au! die Dauer immer weniger begehrenswert
werden, daß die Anzahl sich anbietender geeigneter Kräfte sich ver¬
ringern und ein Notstand eintreten wird, wenn dem nicht rechtzeitig
Rechnung getragen, dem nicht abgeholfen wird, um so mehr, als sich
dem Psychiater so viele verschiedene Gebiete erschlossen haben und
eine Mannigfaltigkeit der Arbeit sich darbietet. Gemeint ist der un¬
erwünschte Ruf, in dem im allgemeinen der Anstaltarzt noch
immer steht, völlig im Gegensatz zu den andern Medizinern, sowohl zu
den allgemeinen Heilkundigen wie den Spezialisten einschließlich der
Psychiater, welche nicht in Anstalten tätig sind.
Über die Anstalten und besonders über die Anstaltärzte wird meistens
eine abfällige Kritik geübt, ohne das audi et alteram partem anzuwenden.
In den Fachzeitschriften wird freilich schon seit lange auf das Unbe¬
gründete der geäußerten Klagen hingewiesen, allein diese Stimme bleibt
die eines Predigers in der Wüste.
In Deutschland haben die Psychiater in letzter Zeit diesem Problem
ihre besondere Aufmerksamkeit zugewandt, anfangs anscheinend ohne
irgendwelchen Erfolg. Dank ihrer Ausdauer, ihrem organisierenden Talent,
ihrem Streben nach gemeinsamer Arbeit erzielten sie am 17. Juni 1912
das von ihnen angestrebte Resultat: die Herstellung eines Bandes zwischen
der Irrenanstalt und der Gesellschaft. Man hat also einen Weg einge¬
schlagen, auf dem die Schwierigkeiten beseitigt werden können. Es darf
nicht übersehen werden, daß von entgegengesetzten Interessen nicht die
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Die soziale Stellung des Anstaltarztes.
949
Rede ist, daß im Gegenteil die Interessen des Patienten und die seiner
nächsten Umgebung sowie die der Gesellschaft und die des Psychiaters
Hand in Hand gehen.
Es ist eine Tatsache, daß die Irrenanstalten noch immer falsch beur¬
teilt werden, daß die alten Vorurteile noch immer nachwirken. Die unlieb¬
samen Folgen erfährt an erster Stelle der Anstaltarzt, trotz seiner Arbeit
und Bemühung. In seiner Tätigkeit stellt er die Interessen des seiner Sorge
anvertrauten Patienten in den Vordergrund; diesem gewährt er so viel
als möglich Selbständigkeit, Freiheit und freie Bewegung.
Nichtsdestoweniger ist das Publikum überhaupt noch der Meinung,
daß in der Irrenanstalt „hinter den vier Wänden“ sich Szenen abspielen,
welche das Tageslicht scheuen. Daß die moderne, die freie Irrenanstalt
keine „Wände“ kennt, die Einzel- oder Separatzimmer die ehemaligen
Isolierzellen ersetzt haben, ist dem Publikum noch unbekannt.
In dem Glauben, daß eine Untersuchung des Geisteskranken wie die
des körperlich Kranken vollends ausgeschlossen wäre (handelt es sich doch
um die Krankheit des Geistes, um „unsichtbare Dinge“), ist der Laie der
Ansicht, daß tatsächlich zwischen Leiden und Gesundheit des Geistes
keine Grenze zu ziehen wäre, daß also in den Anstalten Leute verweilten,
eingesperrt wären, welche nicht krank wären.
Jeder Fall behaupteter unrechtmäßiger Freiheitsberaubung findet
beim Publikum denn auch leicht Glauben. Wiederholt wird die Klage
laut, daß ein Pflegling, ohne krank zu sein, wider seinen Willen in der
Anstalt gehalten würde. Diese Klage bezieht sich sowohl auf gefährliche,
schädliche und verbrecherische Irrsinnige, die seitens der Justiz inter¬
niert, nicht ohne deren Bewilligung entlassen werden dürfen, als auf
Patienten, die große Freiheit genießen, frei spazieren dürfen, ihre Ver¬
wandten zu regelmäßigen Zeiten besuchen, in der Familienpflege unter¬
gebracht sind u. a. m. Und der Anstaltarzt solle bestrebt sein, den
Patienten möglichst lange in der Anstalt zu behalten.
Weiter hat sich die Meinung viel verbreitet, daß die Unterbringung
in einer Anstalt ausschließlich geschähe laut Gutachten des Mediziners
und des von ihm befragten Psychiaters, speziell des Anstaltarztes. Der
Sachverständige sollte sich dabei ganz auf die Mitteilungen der Umgebung
des Patienten verlassen, ohne ihn selbst zu beobachten, sogar ohne ihn
gesehen zu haben. Es koste nicht die geringste Mühe, also wird be¬
hauptet, einen Verbrecher den Händen der Justiz zu entziehen. Es werden
Fälle angeführt betreffs Personen, die vom Psychiater für unzurechnungs¬
fähig erklärt würden, nachdem sie sich vorher strafbare Handlungen hätten
zuschulden kommen lassen, obgleich ein jeder wisse, daß sie vollkommen
normal seien.
Von unter Kuratel Gestellten sind ähnliche Geschichten verbreitet,
von begüterten, vollständig normalen Leuten, denen von ihren Versorgern
kaum das Leben gegönnt werde, seitdem sie entmündigt worden seien,
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. 6. 65
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
950
van Deventer,
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während die Kuratoren mit ihrem Anhang von dem ihnen anvertrauten
Vermögen es sich wohl sein ließen. Ähnliche Geschichten werden im stillen
verbreitet ; die betreffenden Mediziner erfahren hiervon nichts, wenn sie
nicht scharf auf alle Reden achten.
Fälle wie die obigen werden generalisiert, führen dazu, dem Psychiater
die Macht zuzuschreiben, jeden Irrsinnigen für unzurechnungsfähig er¬
klären oder entmündigen zu können.
Die Folge von diesem und jenem ist, daß ein Gefühl der Furcht
vor dem Anstaltarzt erweckt wird, vor dessen autoritärem Benehmen,
vor dessen Scheinmacht. Diese Furcht wird genährt durch Äußerungen
von Anstaltpatienten, von nicht als genesen entlassenen Irrsinnigen,
Querulanten und dergleichen. Auf versteckte Weise werden Beschuldi¬
gungen gegen die Anstalt geäußert wegen behaupteter Cbelstände,
Wahrheit und Dichtung gemischt; auf diese Weise kommt die Anstalt
in Mißkredit, ohne daß es möglich wäre, der Lästerrede ein Ziel zu
setzen, die Axt an die Wurzel des Übels zu legen.
Kennzeichnend ist, wie sogar die Bettverpflegung des Geisteskranken
in einem gemeinschaftlichen Krankensaal, welche völlig lege artis geschieht
ohne irgendwelchen Zwang, zu den phantastischsten Geschichten Anlaß
geben kann; wie von schlechter oder inhumaner Behandlung gesprochen
wird.
Dasselbe gilt — und in noch höherem Grade — von der Badbehand¬
lung. Tagp-, wochen-, sogar monatelang soll der arme Kranke ununter¬
brochen in dem warmen Bade verweilen, nach der Laienmeinung eine
gräßliche Folter. Auf diese Weise wird über die Anwendung der methodi¬
schen Badbehandlung — nach der communis opinio der Psychiater eins
der vorzüglichsten therapeutischen Mittel — von den Nichtsachver¬
ständigen der Stab gebrochen.
Eine erhebliche Schwierigkeit in dieser Hinsicht ist, daß der Psychi¬
ater, durch sein Amtsgeheimnis gebunden, sich nicht gebührend ver¬
teidigen kann, sich nicht auslassen darf über den Zustand der seinen Sorgen
anvertrauten Verpflegten und über das, was damit zusammenhängt; von
Anfang an sind seine Waffen also stumpf. Daß der ärztliche Stab der
Anstalt sich nicht verteidigt, wird öfters als Beweis des Schuldbewußtseins
angeführt.
Als ernstlicher Vorwurf wird weiter gegen die Anstalt angeführt,
daß ruhige und arbeitsame Patienten in der Anstalt gehalten würden, um
Nutzen von ihnen zu ziehen, daß hingegen gefährlichen oder lästigen Irr¬
sinnigen die Gelegenheit geboten würde, zu entfliehen, sie m. a. W. faktisch
auf die Gesellschaft losgelassen würden, bloß in der Absicht, sie loszu-
werden.
Bei Unfällen, wie Selbstmord, Mordversuchen, schlägt die Wage der
öffentlichen Meinung immer und immer wieder zuungunsten des Psychi¬
aters aus.
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Die soziale Stellung des Anstaltarztes.
951
Daß andere Umstände im Spiel sein können, denen die Mißstände
zuzuschreiben sind, daß z. B. in der Anstalt die nötigen Hilfsmittel —
genügende lebendige oder tote Hilfskräfte — fehlen, die Anstalt für die
dort verpflegten Geisteskranken nicht geeignet ist, daran denkt das Publi¬
kum nicht.
Jahrelang können Klagen laut werden über das fortwährende Ent¬
fliehen schädlicher, gefährlicher, krimineller Irrsinnigen aus der Irren¬
anstalt, welche sich ganz und gar nicht zur Verpflegung solcher Personen
eignet, ohne daß sich bei dem Nichtpsychiater die Frage regt, ob wirklich
die Schuld bei dem ärztlichen Stab der Anstalt zu suchen sei, ob es keine
andern Umstände gebe, welche ihnen nicht vorzuwerfen sind.
Auch auf anderem Gebiet werden wirkliche oder behauptete Irr-
tümer und Mängel dem Psychiater schwerer angerechnet als andern Sach¬
verständigen, ohne daß Milderungsgründe angeführt werden. So ist der
Psychiater als Gerichtlich-Sachverständiger leicht der Gefahr ausgesetzt,
der Gegenstand des öffentlichen Spottes zu werden, der Leichtfertigkeit,
des Mangels an wissenschaftlichem Sinn, der grenzenlosen Unbescheiden¬
heit und dergleichen beschuldigt zu werden, so ernst er seine Aufgabe
auch genommen haben mag. Von dem Richter begangene Irrtümer, ge¬
richtliche Expertisen anderer Sachverständigen, z. B. der Schriftkundigen,
finden eine ganz andere Aufnahme, eine mildere Beurteilung.
Dies und jenes führt dahin, daß der Anstaltarzt, „der sich in ge¬
heimnisvolles Schweigen hüllt“, eine Sprache redet, welche nicht ver¬
standen wird, daß er dem Laien ein Rätsel ist. Das Publikum wird in der
Meinung bestärkt, daß der fortwährende Aufenthalt inmitten der Irrsinni¬
gen seinen Einfluß auf den Anstaltarzt geltend machen, ihn degenerieren,
ihn um den praktischen Blick für Personen und Verhältnisse bringen müsse.
Im Ernst ist die Rede von einer Paranoia psychiatrica, von sogenanntem
Anstaltirrsinn, der infolge des ungünstigen Einflusses des Irrsinnigen auf
seine geistesgesunde Umgebung auf trete.
Bezeichnend wird der Kopf des Anstaltarztes mit dem „Kopf des
kleinen Lukas“ verglichen, dem hölzernen Kopf mit Mechanismus auf den
Jahrmärkten, worauf die Jahrmarktbesucher durch einen Schlag mit dem
Schlegel ihre Kräfte messen.
Der Wirkungskreis des Anstaltarztes ist ein mühevoller, ein verant¬
wortlicher und gefährlicher. Mancher Psychiater fiel als Opfer seines nobile
officium. Und wäre auch der Anstaltarzt so geduldig wie Hiob, so weise wie
Salomo, er würde, wo so viele und ernste Pflichten ihm obliegen, Schwierig¬
keiten nicht vermeiden können. Seine Aufgabe ist es, immer vorwärts zu
schreiten, wo nötig Verbesserungen anzubringen, die immer wachsenden
Anforderungen zu berücksichtigen.
Wie schon früher bemerkt wurde, sind alle Verbesserungen auf dem
Gebiete des Irrenwesens von den Psychiatern selbst angeregt worden.
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Original fram
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952
van Deventer,
Die Psychiatrie hat, in wissenschaftlicher wie in gesellschaftlicher Hin¬
sicht, eine Höhe erreicht, welche ruhig den Vergleich mit andern Teilen der
medizinischen Wissenschaft aushalten kann, ln mancher Hinsicht hat
sie die neueren Ideen angebahnt.
Diese „subtile Wissenschaft“ gab eine bessere Einsicht in vielerlei
Probleme allgemeiner Art, wie den engen Zusammenhang zwischen Psycho¬
logie und Psychopathologie, den Einfluß der individuellen Anlage, nicht
nur in bezug auf den Intellekt, sondern auch auf die Gefühlssphäre, das
Latentbleiben von Krankheitszuständen, die Notwendigkeit, jeden Pa¬
tienten komplet zu untersuchen und vollständig zu behandeln, die Be¬
rücksichtigung des Milieus, die Pathogenese, die Prophylaxis e tutti quanti.
Um die großen, in verhältnismäßig kurzer Zeit gemachten Fort¬
schritte zu beleuchten, sei an dieser Stelle erinnert an den ersten, vom 1.
bis zum 7. September 1902 in Antwerpen abgehaltenen internationalen
Kongreß für Irrenpflege, speziell Familienpflege, wo ein friedlicher Streit
zwischen dem Restraint- und No-restraintsystem geführt wurde. In
Belgien, dem Lande, wo der Kongreß abgehalten wurde, wurde nach den
Erkundigungen, die man auf dem Kongreß wie bei den verschiedenen Be¬
suchen der Irrenanstalten einholte, in gut 40% der Fälle Zwang ange¬
wendet, und zwar Einsperrung in Zellen, Anwendung der Zwangsjacken,
Zwangsstühle, Fußeisen und dergleichen. Beispiele wurden angeführt von
ersten Ärzten, welche in einer Distanz von gut 60 km von der Anstalt
wohnten, wo 400 bis 500 Patienten verpflegt wurden, während in der
Nacht kein Arzt anwesend war.
Auf dem Kongreß zeigte sich in seiner vollen Kraft Konrad Alt , der
Verfechter der Familienpflege in Deutschland, der bekannte Arzt-Direktor
der Anstalt Uchtspringe in Altmark, der begeisterte Wortführer „der
reichsdeutschen Kollegen“, deren Zahl sich auf 23 belief. Mit großer Be¬
redsamkeit, mit suggestiver Kraft wußte er den hohen Wert der freien
Verpflegung hervorzuheben.
Ein bedeutungsvoller Augenblick war es, als der allgemein bekannte
und mit großem organisatorischen Talent begabte Pöre Amidee, Fröre
Stokmans, der leitende Vorsteher von mehr als 60 philanthropischen Anstal¬
ten für Irrsinnige, Taubstumme, Blinde und andere Stiefkinder der Gesell¬
schaft in Belgien und andern Ländern, der sich lebhaft an den Diskussionen
beteiligt und den von ihm eingenommenen Standpunkt zu verteidigen gewußt
hatte, auf der Schlußsitzung am 7. September 1902 mit großer Geste, durch
Aufhebung der Hand, ganz allein gegen den Antrag stimmte, daß der
Arzt-Direktor das verantwortliche Haupt der Irrenanstalt sein müsse.
In der Überzeugung, daß die ganze deutsche Gruppe auf seiner Seite stand,
hatte Alt, der diesen Antrag gestellt hatte, auf die ihm eigene meisterhafte
Weise den Antrag verteidigt. Das erzielte Resultat wurde von der ganzen
Versammlung mit donnerndem Applaus begrüßt, und in dieser Weise
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Die soziale Stellung des Anstaltarztes.
953
irde den beiden Kraftmännern, die in der Diskussion in der ersten Linie
standen hatten, ein Ehrengruß dargebracht.
In Berücksichtigung der schon erzielten Resultate darf man der
ilcunft mit Zuversicht entgegensehen und unbekümmert erwarten, daß
e Sonne der Gerechtigkeit und Wahrheit schließlich die Nebel zerreißen
ird und alle Hand in Hand Vorgehen werden.
Heutzutage sprechen sowohl der größte Teil der entlassenen Anstalt-
itienten wie ihre Verwandten ihre Erkenntlichkeit für die Sorgfalt aus,
eiche der Anstaltarzt und sein Stab von Mithelfern ihnen zugewandt
iben, und gehen sie um Rat an, wenn sie dessen bedürfen. Die frühere
lee, daß die Aufgabe des Anstaltarztes eine durchaus undankbare wäre,
aß Irrsinn und Unheilbarkeit sich deckten, hat allmählich besseren Ein-
eilten den Platz geräumt.
Bezeichnend ist es, daß in Deutschland, das, was Bau, Einrichtung
nd Organisation der Irrenanstalten betrifft, andern Staaten als Vorbild
vif gestellt wird, das so hoch angeschrieben steht, solche namhaften
■*sychiater zählt, wo Freiheit und Öffentlichkeit angestrebt werden, die
geschlossene Irrenanstalt sich völlig in eine offene Krankenanstalt ver-
.vandelt hat — trotzdem fortwährend gegen die Irrenanstalten angekämpft
und versucht wird, gegen den Anstaltarzt Mißtrauen zu erwecken. Zu
diesem Zweck erscheinen eigene Zeitschriften gegen die Gefährlichkeit
der Sachverständigen, gegen die Macht des Psychiaters, gegen die ihm
zuerkannten Rechte, man will die Mißstände in den Anstalten welt¬
kundig machen, für die Interessen der Opfer eintreten.
Statt nützliche Arbeit zu verrichten, drischt der Anstaltarzt leeres
Stroh, pflügt Sand, führt falsche Wagen, zertritt Wahrheit und Recht;
also wird er dargestellt und der Öffentlichkeit preisgegeben.
Diese Bewegung gegen den Anstaltarzt, gegen dessen wirkliche oder
behauptete Macht wird im allgemeinen von Leuten angeregt, welche sich
hintergangen glauben, gegen begangenes Unrecht Einspruch erheben,
durch ein stark entwickeltes Gemütsleben geführt werden. Solches gilt
auch von ihren Adepten. Böse Absichten brauchen gar nicht im Spiel
zu sein. Meistens handelt es sich um disharmonisch entwickelte, des-
esquilibrierte Naturen, Psychopathen und aperte Irrsinnige. Vermöge
ihres Temperamentes, ihres Gefühls werden sie zusammengeführt.
Eine Studie derartiger Personen, einer Gruppe von Personen, welche
unter den oben erwähnten Umständen zusammengetreten sind und eine
Partei bilden, ist sehr lehrreich, und zwar besonders, um zu konstatieren,
welcher Wert ihren Aussagen beizulegen ist; für die folie ä deux, den soge¬
nannten gemeinschaftlichen Irrsinn, der endemisch und epidemisch auf-
tritt, gilt im allgemeinen genau dasselbe.
Noch ist auf einen bedeutenden Faktor hinzudeuten, und zwar
auf die Presse, die Stellung, welche sie dem Irrenwesen, speziell
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van Deventer,
den Anstaltärzten, gegenüber einnimmt, sowohl denen an den öffent¬
lichen Anstalten wie an den Privatanstalten.
Von einer großen Anzahl in gutem Rufe stehender Zeitungen ist die
Stellung keineswegs eine wohlgesinnte; von mehreren gilt das Gegenteil.
Eingesandtes wird aufgenommen, Artikel werden gedruckt, welche
gewiß nicht veröffentlicht worden wären, wenn eine gehörige Prüfung
vorangegangen wäre, eine Anforderung, welche an eine gute Jour¬
nalistik zweifelsohne gestellt werden darf, besonders wo es sich wie hier
um eine Angelegenheit von allgemeinem Interesse handelt.
Es kommt sogar vor, daß anonyme „geehrte Einsender“ die ernst-
lichsten Klagen über die Weise, wie die Interessen der Geisteskranken
gewahrt werden, ohne Namen zu nennen, veröffentlichen und unterlassen,
auf das Ansuchen der Staatsaufsicht um nähere vertrauliche Mitteilungen
zu antworten. Mehrere Fälle bringen den Nachweis, daß das Vertrauen
von Verwandten von Anstaltirrsinnigon hinsichtlich der Anstalt erschüttert
wurde, einzig und allein infolge Zeitungsnachrichten. Unter dem Eindruck
von allem, was sie hören, halten öfters die Verwandten sich für verpflichtet,
den Patienten aus der Anstalt herauszunehmen, sogar ohne daß sie
jemals etwas an der Verpflegung auszusetzen hatten.
Zum Schaden des Patienten selbst in eine für ihn nicht geeignete
Umgebung zurückgekehrt, kommt er nicht selten, manchmal schon nach
kurzer Zeit, wieder in die Anstalt zurück, dem ausdrücklichen Wunsch der
Verwandten gemäß, welche es bedauern, daß sie sich auf Kosten des
Patienten durch unrichtige Angaben haben bestimmen lassen.
Eine abfällige Kritik üben, welche nicht auf einer tatsächlichen
Grundlage beruht — wie es so oft geschieht —, ist gewiß nicht die Aufgabe
der Presse. Und wenn auch die Nachrichten so vorsichtig als möglich
abgefaßt worden sind, unter Vorbehalt, das Publikum legt denselben leicht
Glauben bei: „die Presse wird es doch schon wissen“.
Die Aufgabe der Presse muß eine höhere sein, eine schöpferische,
eine Belehrung, eine Erziehung des Publikums. Auf dem Gebiet des Irren-
wesens liegt so mancherlei Mißverständnis vor, das auf dem oben ange¬
gebenen Wege beseitigt werden kann.
Eben in der jetzigen Zeit, wo immer mehr die Interessen der
Schwächeren tätlich gewahrt werden, macht sich das als erwünscht fühlbar.
Solches soll doch auch für den Geistesschwachen gelten, in dessen Zustand
der Laie sich noch immer nicht versetzen kann, was zur Folge hat, daß
das Publikum keine Teilnahme für ihn hegt; sogar das beklagenswerteste
geistig abnorme Individuum erregt statt des Mitleids meistens die Spott¬
lust. Dergleichen Individuen finden sich in den elendesten Verhältnissen,
worin sie seit Jahren gewesen sind, ohne daß jemals ein Versuch gemacht
wurde, dem Ubelstand abzuhelfen.
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Die soziale Stellung des Anstaltarztes.
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Die Aufgabe der Presse ist es, auf die Bestimmungen hinzuweisen,
eiche hinsichtlich der Aufnahme und des Aufenthaltes des Geisteskranken
i der Irrenanstalt bestehen, um zu beleuchten, daß so viel als möglich
?gen unrechtmäßige Freiheitsberaubung jede billige Gewähr geleistet
ird. So kann mit Erfolg darauf hingewiesen werden, daß der Geistes¬
ranke, der keine Irrsinnserscheinungen mehr zeigt, aus der Anstalt
atlassen werden muß. Das Vorhandensein der Irrsinnserscheinungen
mß sich erweisen aus dem ärztlichen Zeugnis und den ärztlichen Notizen
es behandelnden Anstaltarztes, welche zu bestimmten Zeiten der Ge-
ichtsbehörde unterbreitet werden müssen, und die zu der Entscheidung
ähren, ob Ermächtigung zur endgültigen Aufnahme oder zum fortge-
etzten Aufenthalt des Pfleglings erteilt werden soll oder nicht.
Obenerwähnte Krankheitserscheinungen — hierauf kann auch hin-
cewiesen werden — sind ebenso wie bei dem Körperkranken Erscheinungen
ler lebenden Materie, haben eine naturwissenschaftliche Grundlage und
können als solche wahrgenominen werden. In dieser Hinsicht gibt es
zwischen beiden Kategorien keinen prinzipiellen Unterschied. Der Unter¬
schied zwischen Geisteskrankheit und Irrsinn ist bloß ein gradueller. Das
Wort „Kranksinnigkeit“, welche Benennung von Alt auch in Deutschland
eingeführt worden ist, gibt deutlich und richtig die Meinung an: Krank¬
heit der Sinne.
Die Verwechslung, welche noch immer und besonders beim Publikum
herrscht, hängt zu einem bedeutenden Teil damit zusammen, daß noch
immer, auch von Ärzten, gesprochen wird von Seelenkrankheit statt von
Geisteskrankheit. In bezug auf die Seele handelt es sich um das Über¬
sinnliche. In dieser Beziehung ist der Psychiater ebensowenig sach¬
verständig als bezüglich der Frage der Zurechnungsfähigkeit; ersteres
gehört zum Gebiet des Theologen, letzteres zu dem des Juristen. Be¬
sonders für den Psychiater ist es unbedingt notwendig, daß er auf seinem
eigenen Gebiet bleibt.
Ein Thema, das durch die Presse weiter mit Erfolg ausgeführt werden
kann, ist die Entmündigung. Diesbezüglich gilt genau dasselbe wie vom
Obenerwähnten. Die Bemühung des Psychiaters beschränkt sich einzig
und allein darauf, das Gericht über den Geisteszustand desjenigen aufzu¬
klären, dessen Entmündigung nachgesucht wird. Eine Entscheidung über
die zu treffenden Maßregeln, die die Interessen des Kurandus nach Gebühr
wahren und sein Vermögen in seinem Interesse sichern sollen, gehört zu der
Zuständigkeit des Richters. Auch in dieser Hinsicht werden in der Tages¬
presse immer noch ganz falsche Ansichten über die Tätigkeit des Psychi¬
aters verbreitet.
Wie auch dem Laien bekannt, werden eine große Anzahl Irrsinnige
und Geisteskranke in Familien oder philanthropischen Anstalten verpflegt,
und ihre Verpflegung läßt nicht selten zu wünschen übrig. Empörende
Mißstände kommen vor, sogar in Bevölkerungszentren, ohne daß es auf-
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van Deventer,
fällt, sehr zum Schaden des Patienten. Dies ist besonders augenfällig, wo
es sich um ehemalige Anstaltpatienten handelt, welche in der Anstalt in
den günstigsten Verhältnissen waren und ; in die Gesellschaft zurück¬
gekehrt, ein erbärmliches Dasein führen.
Diesbezügliche Aufklärung des Publikums durch die Presse ist
sicher erwünscht. Soll die Staatsaufsicht sich wirklich über alle Per¬
sonen erstrecken, die wegen geistigen Defektes der Stütze, Leitung
oder Aufsicht bedürfen, so wird dabei die Mitwirkung des Publikums
für die mit dieser Arbeit beauftragten Beamten von großem Wert sein.
Schon oben wurde bemerkt, daß die Psychiater bestrebt sind, die
Gewähr zu vergrößern, daß die Interessen des Anstaltirrsinnigen nach
Gebühr wahrgenommen werden. Als Beleg seien hier zwei Beispiele
aus den letzten Jahren angeführt, auf deren Vorhandensein die Presse
hätte hinweisen können.
ln Holland ist von der Staatsaufsicht im Einklang mit der Ansicht
der Anstaltärzte die Bestimmung gemacht worden, daß die Irrsinnigen
in den Irren- und ähnlichen Anstalten mit den dazu angewiesenen Be¬
amten freien Briefverkehr haben. In den königlichen Erlässen bezüg¬
lich dieser Anstalten ist danach die Bestimmung aufgenömmen worden,
daß es verboten ist, den Irrsinnigen zu verwehren, sich schriftlich an
die Vorsteher der Departemente, an den Inspektor und an den Staats¬
anwalt zu wenden. Die Maßregel, den Patienten es zu ermöglichen,
ihre wirklichen oder behaupteten Klagen immer und zu jeder Zeit ein¬
zureichen, also nicht nur mündlich bei den Besuchen, welche die In¬
spektoren und der Staatsanwalt der Anstalt machen, sondern auch
schriftlich, hat ohne Zweifel ihre Wirkung nicht verfehlt.
Das zweite Beispiel bezieht sich auf Deutschland. Nach vielerlei
Bemühungen wurde daselbst eine gemischte Vertrauenskommission
für Irrenrecbtsfragen eingesetzt, aus Vertretern der Presse, Rechts¬
kundigen und Psychiatern bestehend. Der Reichsverband der deut¬
schen Presse delegierte aus ihrer Mitte zwei Mitglieder. Der deutsche
Verein ärztlicher Privatanstaltleiter wählte ebenfalls zwei ärztliche
Anstaltleiter zu Vertretern.
Den Vorsitz übernahm ein Professor des Strafrechts; als schrift-
führendes Mitglied trat ein Gerichtsassessor auf, an den Mitteilungen
und Anfragen zu richten sind.
Die Aufgabe dieser Kommission besteht in Prüfung und mög-
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Die soziale Stellung des Anstaltarztes.
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lichster Klarstellung aller wirklichen und behaupteten Mißstände auf
rechtlichem und administrativem Gebiet des Irrenwesens (unrecht¬
mäßige Internierung, ungeeignete Behandlung, Entmündigungs¬
fragen usw.). Die Zusammensetzung der Kommission bietet die Gewähr
für eine völlig unparteiische und objektive Tätigkeit.
Obiges kurz zusammenfassend, darf sicherlich der Schluß gezogen
werden, daß eine bessere Würdigung der Irrenanstalt und des An¬
staltarztes dringend erwünscht ist. Hiermit hängen unmittelbar die
Interessen des Irrsinnigen zusammen.
Es ist die höchste Zeit, diese Angelegenheit in den Vordergrund
zu rücken, das Publikum nach Wahrheit und Recht aufzuklären.
Eben die Festschrift, aus Dankbarkeit und Verehrung Professor
AU gewidmet, der auf dem Gebiete des Irrenwesens solch eine hervor¬
ragende Stelle einnimmt, dessen fruchtbringende Arbeit in der psychi¬
atrischen Welt allgemein anerkannt wird, ist ohne Zweifel wie keine
andere dazu geeignet, auf obige Ausführungen die Aufmerksamkeit
zu lenken.
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Über Prosektnren an Irrenanstalten.
Von
Prof. Dr. phil. et med. W. Weygandt, Hamburg-Friedrichsberg.
Lange bevor es in Deutschland psychiatrische Kliniken gab,
herrschte doch im Bereich der Irrenheilkunde wissenschaftliches Leben,
wovon zahlreiche Lehrbücher, monographische Werke und Zeit¬
schriftenjahrgänge, vor allem die der Allgemeinen Zeitschrift für
Psychiatrie, Zeugnis ablegen. Vor allem haben hervorragende Psychi¬
ater bei ihrer Tätigkeit an Irrenanstalten wissenschaftlichen Studien
obgelegen, klinischer, psychologischer und auch anatomischer Art.
Bekanntlich haben auch viele der Zierden unserer Wissenschaft, die
später Lehrstühle inne hatten und in ihren Werken heute noch bedeut¬
samen Einfluß ausüben, die Grundlage ihrer wissenschaftlichen Wirk¬
samkeit im Rahmen von Irrenanstalten geschaffen, wie v. Kraflt-
Ebing, Gudden, auch Jolly und Hitzig u. a. m.; andere Führer unseres
Faches, wie Schule, haben lediglich in ihrer Eigenschaft als Anstalt¬
ärzte ihre bedeutsamen Studien getrieben und Werke geschaffen, ohne
den gebotenen Lockungen eines Lehrstuhles zu folgen.
Allmählich freilich sind auf sämtlichen Hochschulen Deutschlands
Lehrstühle der Psychiatrie erstanden, und die in den letzten Jahr¬
zehnten ausgebildete Generation von Ärzten erblickt in diesen die
wesentlichste Stätte der wissenschaftlichen Bearbeitung der Psychi¬
atrie. Ja, in höherem Grade ruht diese Prätention bei den psychi¬
atrischen Kliniken, als es heute noch bei anderen medizinischen Dis¬
ziplinen zutrifft. Die wissenschaftliche Bearbeitung weiter medi¬
zinischer Gebiete und wesentlicher Probleme der verschiedensten Spe¬
zialfächer wird gegenwärtig von großstädtischen Krankenhäusern
ebenso und vielfach an wesentlich größerem Krankenmaterial und mit
technisch vollendeteren Laboratoriumseinrichtungen vollzogen als an
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Über Prosekturen an Irrenanstalten.
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den Kliniken kleiner und mittlerer Universitäten. Die gewaltigen und
modern vollkommen ausgestatteten Krankenanstalten in Dresden,
Köln, Frankfurt, die städtischen Krankenhäuser in Berlin, die Staats¬
krankenhäuser in Hamburg werden als Pflanzstätten der wissenschaft¬
lichen Forschung der wichtigsten medizinischen Disziplinen auch von
den Universitätsklinikern anerkannt, was sich ja auch dadurch bereits
kundgegeben hat, daß manche namhafte Ärzte den Lehrstuhl einer
Mitteluniversität opferten zugunsten der Leitung eines modernen,
großstädtischen Krankenhauses.
Diese Entwicklung ist im Bereich der Irrenheilkunde noch keines¬
wegs soweit gediehen. Wohl wurden immer wieder beachtenswerte
Arbeiten von Anstaltärzten veröffentlicht, aber es sind doch im ganzen
vereinzelte Erscheinungen. Die meisten Anstalten haben auch einen
kleinen Raum mit Mikrotom, Thermostat und Mikroskop vorgesehen,
und gelegentlich wurde in geschickter Weise eine pathologisch-ana¬
tomische Sammlung organisiert, wie es z. B. in Winnenthal geschah.
Im ganzen aber ist von einem Schritthalten der Anstalten mit der
wissenschaftlichen Arbeit der Kliniken nicht die Rede. Von vornherein
mußte dies ausgeschlossen erscheinen, da es den Anstalten eben an
den für theoretische Zwecke bestimmten Mitteln mehr oder weniger
mangelte, vor allem aber auch, weil sie entfernt nicht über die Arbeits¬
kräfte verfügten, wie die Kliniken, wo schon die Doktoranden will¬
kommene Helfer für die Kleinarbeit abgeben und wo gewöhnlich ein
stattlicher Assistentenstab zu finden ist, manchmal unter Heran¬
ziehung von zahlreichen, als Volontäre bezeichneten, völlig unbe¬
soldeten Hilfskräften, in einer den modernen nationalökonomischen
Begriffen von der Bewertung der Arbeitskraft nicht mehr ganz ent¬
sprechenden Weise.
Daß dieser Zustand im Bereich der Irrenanstalten nichts Be¬
friedigendes hat, liegt auf der Hand. Einerseits werden berechtigte
Klagen über die unzulängliche Ausnutzung wertvollen Materials laut,
andererseits führt jene Sachlage leicht zu einer bedauerlichen Unter¬
scheidung von Irrenärzten 1. und 2. Klasse.
Freilich wurde schon seit Jahren an mehreren Stellen versucht,
die Anstaltspsychiatrie wissenschaftlich zu fördern durch Einrichtung
besonderer, für die wissenschaftliche Verarbeitung des Materials be¬
stimmter Stellen.
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960
Weygandt,
Zunächst wurde im April 1899 in Hamburg-Friedrichsberg eine Pro-
sektur errichtet. Die Stelle hatte, wie ja zu jener Zeit die meisten Anstalt¬
arztstellen, nicht den Charakter einer festen, pensionsfähigen Beamten¬
stelle. 1911 ist es gelungen, die Stelle in eine sogenannte feste, pensions¬
fähige Stelle umzuwandeln und in bezug auf den Gehalt den Oberärzten
2. Klasse (6000 bis 7800 M.) gleichzusetzen.
Die wesentlichste Aufgabe des Prosektors ist die Überwachung der
Obduktionen und die wissenschaftliche Verarbeitung des anatomischen
Materials. Daneben aber war ihm auch stets eine klinische Abteilung zu¬
gewiesen, die jahrelang aus 3 Männer- und 2 Frauenpavillons bestand;
zwei dieser Gebäude waren lediglich Baracken. 1909 wurden noch zwei
neue Baracken, eine für Männer, eine für Frauen, der Prosektorabteilung
hinzugefügt, so daß sie einen Stand von etwa 300 Kranken aufwies.
Während früher der Prosektor nur ganz allein, ohne irgendwelche Hilfs¬
kraft, die ärztliche Versorgung dieser beträchtlichen Krankenzahl zu
leisten hatte, was namentlich hinsichtlich kurzer Vertretungen große
Schwierigkeiten brachte, wurde ihm seit 1909 ein Assistent oder auch ein
festangestellter Abteilungsarzt an die Seite gesetzt. Neuerdings ist die
Abteilung reduziert worden auf einen Frauenpavillon, eine Frauenbaracke,
einen Männerpavillon und eine Männerbaracke mit etwa 180 Kranken.
Ich muß gestehen, daß sich dies System durchaus bewährt und auch den
Inhabern der Stelle ganz erwünscht ist. Zunächst ergibt sich dadurch eine
engere Fühlung mit den rein klinischen Fragen; dann kann auch der be¬
treffende Arzt einzelne ihm von vornherein besonders interessant erschei¬
nende Fälle Jahr und Tag eingehender beobachten, ehe ihre histologische
Untersuchung erfolgt; schließlich wird dadurch auch dem Prosektor die
Möglichkeit offen gehalten, später in eine der recht hochdotierten Stellen
eines Oberarztes 1. Klasse (9000 bis 12 000 M.) überzutreten.
Zu betonen ist auch, daß nach der bisherigen Organisation die sero¬
logischen Arbeiten dem Prosektor nicht auferlegt sind, sondern dafür be¬
sondere ärztliche Kräfte tätig sind, immerhin im Anschluß an das ana¬
tomische Laboratorium. Während der vorwiegend serologisch tätige Arzt
natürlich auch die Untersuchungen nach Abderhalden ausführt und ver¬
schiedene, speziellere technische Untersuchungen gelegentlich vornimmt,
untersteht dem Prosektor die anatomische Sammlung. Nicht zu seinem
Ressort gehören das experimental-psychologische Laboratorium sowie die
Sammlungen für Psychologie, klinische Psychiatrie und Geschichte der
Irrenheilkunde.
An Laboratoriumpersonal sind zurzeit vorhanden ein Aufseher mit
Beamteneigenschaft und 2550 M. Gehalt; ferner zwei Hilfsarbeiter, die
zurzeit auf der Stufe von sogenannten 2. Wärtern stehen, doch wird einer
voraussichtlich in einiger Zeit Oberwärterrang erhalten. Außerdem wirken
dort zwei jugendliche Hilfsarbeiter und eine Mikrotomarbeiterin sowie
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Über Prosektaren an Irrenanstalten.
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nelirere ruhige Patienten. Viel beschäftigt, doch unter Stundenlohn,
vird ein Zeichner und Maler.
Die für dieses Personal, einschließlich Prosektor und Zeichner aufge-
vandten Mittel betrugen 1914 etwa 18 000 M., während für wissenschaft-
iche Zwecke, Bücher, Zeitschriften, Apparate, Reagentien, Präparate,
Photographieren, Versuchstiere u. a., insgesamt über 10 000 M. zur Ver¬
fügung stehen. Größere Anschaffungen und Bestellungen erfolgen im
Einvernehmen mit dem Direktor; die Richtigkeit der einlaufenden Rech¬
nungen muß durch den Prosektor und den Direktor bestätigt werden.
In einer der alten Baracken sind zurzeit mehrere hundert Versuchs¬
kaninchen untergebracht, ferner dient ein Zimmer dort für Tieropera¬
tionen, während ein anderer Abschnitt als provisorischer Obduktionsraum,
während des Leichenhausumbaues, aushelfen muß. Die Versuchsaffen
sind zurzeit in einer Reihe von Doppelkäfigen mit heizbaren Innenräumen
und luftigen Ausläufen untergebracht. Die Hammel, Ziegen, Kaninchen
und Meerschweinchen für wissenschaftliche Zwecke sind wieder ander¬
weitig, meist in Gärten von Krankenabteilungen, untergebracht.
Mit der Reorganisation der Irrenanstalt Friedrichsberg werden neue,
wesentlich größere Räumlichkeiten für wissenschaftliche Zwecke ge¬
schaffen. Die Laboratorien für Anatomie, Serologie, Psychologie usw.,
für Photographie, Mikrophotographie und Röntgenuntersuchungen sowie
die Sammlungen werden dann einen größeren Raum zur Verfügung
haben.
Sehr erfreulicherweise wurde vor mehreren Jahren eine Prosektur
in Uchtspringe geschaffen, wie es bei dem dort herrschenden regen
wissenschaftlichen Leben besonders nahe lag. Im Etat war sie besonders
damit begründet, daß die noch wenig entwickelte Gehirnpathologie der
Epileptiker und Idioten, deren Mehrzahl (aus der Provinz Sachsen) in
Uchtspringe untergebracht ist, eine Erforschung der Krankheitsursachen
aus dem anatomischen Gehirnbefunde im Interesse einer wirksamen Be-
. handlung und einer vorbeugenden Bekämpfung dieser beiden Krankheits¬
gruppen dringend erheische. Die Stelle war mit Beamteneigenschaft ver¬
sehen und entsprach den Oberarztstellen mit einem Anfangsgehalt von
. 4500 M., alle 3 Jahre steigend, zweimal um je 600 M. und dreimal um je
500 M. bis zum Höchstgehalt von 7200 M., außerdem mit freier Familien¬
wohnung. 1914/15 besteht die Prosektur allerdings nicht mehr, sondern sie
ist nun für Nietleben vorgesehen, mit den gleichen Bezügen, doch unter
einer Entschädigung für Familienwohnung in der Höhe von 1200 M. sowie
freier Arznei. Für die Vervollständigung der vorher noch bescheidenen
Laboratoriumsausstattung wurden hier etwa 6000 M. verwandt und für
laufende Ausgaben 1600 M. jährlich zur Verfügung gestellt. 3000 M. sind
für den Bau eines Tierstalles bestimmt. Unter Umständen können noch
weitere Mittel herangezogen werden. Der Laboratoriumstitel untersteht
dem Prosektor unter eigener Verantwortlichkeit; Bestellungen und Be-
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Weygandt,
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stätigungen der entsprechenden Rechnungen hat er zu besorgen. Ein
Laboratoriumsdiener und geeignete Patienten leisten Hilfe.
In der rheinischen Anstalt Bedburg-Hau bei Cleve, die ja in
bezug auf die große Patientenzahl eine ganz besondere Stellung einnimmt,
ist eine Prosektur eingerichtet, die durch einen besonders vorgebildeten
Oberarzt besorgt wird; das Oberarztgehalt seiner Stufe beträgt zurzeit
5100 M. Vom Abteilungsdienst ist er völlig befreit, höchstens in Notfällen
könnte er einmal mitwirken. Auch die Vertretung des Direktors kommt
für ihn nicht in Betracht. Ein Pfleger steht ihm dauernd, im Notfälle auch
noch ein zweiter, zur Verfügung. Er besorgt oder überwacht die Ob¬
duktionen, verarbeitet das Sektionsmaterial, untersucht Stuhl, Urin, Blut,
Auswurf usw., führt die Untersuchungen nach Wassermann und Abder¬
halden sowie bakteriologische und sonstige serologische Untersuchungen
aus, fertigt Mikrophotographien und Diapositive an usw. Im pathologisch¬
anatomischen und bakteriologischen Laboratorium beschäftigen sich bei
ihm andere Ärzte und Praktikanten. Neben dem Seziersaal mit zwei
Tischen findet sich ein Untersuchungsraum für frische Leichenteile. 1913
fanden 121 Sektionen statt, doch wird ihre Zahl noch steigen, sobald die
Anstalt voll belegt ist. Aus der Etatposition von 14 400 M. für Arznei
und ärztliche Instrumente werden auch die Bedürfnisse für die Laboratorien.
Röntgenplatten usw. gedeckt.
Seit 1910 besteht auch eine besondere Prosektur in der Privatanstalt
Bethel bei Bielefeld. Der Prosektor hat alle Obduktionen und alle Unter¬
suchungen histologischer, serologischer und bakteriologischer Art auszu¬
führen. Er steht im Range eines Oberarztes und bezieht, entsprechend
den Vorschlägen des deutschen Vereins für Psychiatrie, ein Oberarzt¬
gehalt, das bis zu 7200 M. aufsteigt, neben freier Dienstwohnung und 400 M.
für Heizung und Licht. Er ist festangestellt und pensionsberechtigt.
Jährlich finden 200 bis 250 Obduktionen statt. Nach Mitteilung der ärzt¬
lichen Anstaltsleitung hat sich die Einrichtung bisher vorzüglich bewährt.
Andere Prosekturen an deutschen Anstalten sind mir bisher nicht
bekannt. Selbstverständlich werden in dieser Darstellung die mit einer
Klinik verbundenen Anstalten (Göttingen, Bonn, Marburg) nicht mit¬
gerechnet. Selbst in den Berliner Anstalten findet sich keine eigentliche
Prosektur. Dalldorf hat neben dem Sektionssaal noch drei große
Zimmer für mikroskopische, serologische und chemische Zwecke, ferner
noch ein kleineres sowie eine Kammer für Photographie. Die Mittel fließen
aus der Etatsposition für Apotheke und Instrumente.
Es darf nicht übergangen werden, daß man an manchen Orten recht
geräumige und auch ziemlich reich ausgestattete Laboratorien einge¬
richtet hat oder wenigstens plant. So wurde in Hamburg-Langenhorn
ein großer Saal mit Fenstern an drei Seiten, etwa einem Dutzend Arbeits¬
plätzen, Verdunkelungsvorrichtung usw.bereitgestellt. In Neustadt i. 11.
sind stattliche Räume für wissenschaftliche Zwecke vorgesehen, ein sehr
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Über Prosekturen an Irrenanstalten.
963
geräumiges serologisches Laboratorium, ein chemischer Raum, besondere
Zimmer für die Zentrifuge, für die Wage, für Drogen, eine Dunkelkammer
sowie zwei Räume für pathologische Anatomie.
Von Interesse ist die Berücksichtigung der einschlägigen Verhält¬
nisse in den angelsächsischen Landen.
Eigentliche Kliniken existieren mit geringen Ausnahmen noch nicht
in England und in den Vereinigten Staaten; lediglich in New’ York und
in Baltimore sind derartige Einrichtungen zu finden. Aus dem von
Adolf Meyer aus Baltimore auf dem XVII. Internationalen Medizinischen
Kongreß, London 1913, erstatteten Referat „The psychiatric Clinique,
its aims (educational and therapeutic), and the results obtained in respect
to promotion of recovery“ geht wohl der Wunsch nach Ausdehnung
solcher vorwiegend wissenschaftlichen Institute hervor. Die Anstalten
sind dort an und für sich weit sparsamer mit Ärzten ausgestattet als unsere
deutschen, von der Proportion eines Arztes auf 100 Kranke ist noch
keine Rede. Aber doch ist hervorzuheben, daß man an vielen Irren¬
anstalten eine Art von Prosektur besitzt und gewöhnlich ein besonderer
Spezialist für d ; e theoretischen Probleme zu finden ist. So finden sich in
der bekannten Londoner Anstalt Bethlam royal hospital mit etwa 700
Betten und nicht ganz 200 Aufnahmen im Jahre neben dem ärztlichen
Direktor noch zwei medical officers und ein „Pathologist“, außerdem aber
ein konsultativer Stab, zu dem ein Chirurg, ein Gynäkolog, ein Augenarzt,
ein Kehlkopfarzt, ein Arzt für Narkosen und ein Zahnarzt gehören.
In der schönen, neuen Anstalt bei Cardiff mit 800 Plätzen wirken
neben dem Direktor noch zwei klinische Ärzte, ein pathologischer Anatom
und ein Chemiker.
In der opulenten, viele Pensionäre beherbergenden Anstalt Royal
Edinburgh asylum, Morningside, sind neben dem ärztlichen Direktor noch
vier Hilfsärzte und ein „Pathologist“ tätig.
Wenn uns auch die englischen Anstalten weniger durch ihre ärztliche
Versorgung als vielmehr durch manche hygienische Einrichtungen, ins¬
besondere den hohen Standard of life des gesamten Personals vorbildlich
sein können, so ist doch wenigstens die Einrichtung der Stelle eines Theo¬
retikers von besonderem Wert und trägt sicher ganz besonders dazu bei,
daß die psychiatrische Wissenschaft in England doch noch eine geachtete
Stellung einnimmt.
Die erwähnten deutschen Einrichtungen hinsichtlich der wissen¬
schaftlichen Betätigung der Irrenanstalten, insonderheit der vereinzel¬
ten Versuche, eigene Prosekturen zu errichten, haben noch nicht zur
Ausbildung ganz besonderer Bichtlinien geführt; die wenigen Stellen
sind unter sich noch recht verschieden. Trotz der Verlegung der Stelle
in der Provinz Sachsen ist festzustellen, daß die Einrichtung da,
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964 Weygandt, Uber Prosekturen an Irrenanstalten.
wo man sie durchgefiihrt hat, sich auch entschieden bewährte. Natür¬
lich ist es ganz ausgeschlossen, daß an jeder Anstalt eine Prosektur
errichtet wird. Es kann sich nur um die ganz großen Anstalten, vor
allem um jene mit zahlreichen Aufnahmen und viel akutem Kranken¬
material, handeln. Für solche müßte aber das Beispiel der Provinz
Sachsen und der Anstalten Bedburg, Friedrichsberg und Bethel
eifriger als bisher befolgt werden. Gerade die Anstalten mit 1500 und
mehr Betten und 150 Sektionen sollten durchweg heute schon der Auf¬
gabe näher treten, um so mehr, als die Anforderunegn serologischer
Art neuerdings rasch angewachsen sind. Auf die Frage der zweck¬
mäßigsten Anstaltsgröße einzugehen, liegt mir in diesem Zusammen¬
hänge fern. Indes sind bereits eine große Anzahl von Anstalten mit
1500 und mehr Betten vorhanden, und sie werden sicher noch zu¬
nehmen, wenn auch der Versuch des Steinhof so bald nicht wiederholt
wird und solche Anstaltsungeheuer wie die im Staate New York mit
4500 Kranken bei uns wohl nicht nachgeahmt werden.
Sollte die Forderung nach Prosekturen für Anstalten von 1500
und mehr Betten erfüllt werden, so wird es gewiß der wissenschaft¬
lichen Forschung zur Förderung und unserem Kranken zum Segen
gereichen.
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Die neuen Aufnahmegebäude der Anstalt Leipzig-
Dösen.
Von
Oberarzt Dr. Helmut Müller.
(Mit 4 Abbildungen.)
Wenngleich unsere Zeit voll Hoffnung auf die Forschungen blickt,
welche Aussicht eröffnen, dereinst die Geisteskrankheiten an der Wurzel
zu bekämpfen, so sehen wir uns doch einstweilen fast ganz darauf
beschränkt, durch Mittel der Pflege und äußere Einwirkungen den
körperlichen und seelischen Zustand der Kranken zu bessern oder
wenigstens ihr Loos zu lindern. Drum rasten die Bemühungen nicht,
die für Geisteskranke bestimmten Heilanstalten immer vollkommener
einzurichten und dem kranken Seelenzustande anzupassen. „Es gibt“,
sagt Alt, der selbst mit so schönem Erfolg am Ausbau der praktischen
Psychiatrie mitgewirkt hat, „kaum einen untrüglicheren Gradmesser
zur Beurteilung der Kulturstufe eines Volkes und einer Zeitepoche,
als die jeweilige Betätigung der Fürsorge für die allerunglücklichsten
Mitglieder der menschlichen Gesellschaft.“
So ist denn auch bei den letzten Neubauten der Anstalt Dösen
versucht worden, die neuesten Errungenschaften des Anstaltswesens
zu verwerten und neue Wege zu suchen.
Als am Ende der neunziger Jahre die Pläne für die Leipziger Anstalt
Dösen aufgestellt wurden, glaubte man, sie zur Hälfte für körperlich Sieche
und Erholungsbedürftige bestimmen zu können. Aber bald nach der im
Jahre 1901 erfolgten Eröffnung zeigte es sich, daß die Anstaltsplätze aus¬
schließlich den Geisteskranken Vorbehalten werden mußten, ja es ver¬
strichen knapp 7 Jahre, da war man genötigt, zu beraten, wie einer drohen¬
den Überfüllung der rund 1000 Plätze zählenden Anstalt vorzubeugen sei.
Beschränkung der Aufnahmen auf Leipziger Kranke, reichliche Ent¬
lassungen, Überführungen in die städtischen Pfleghäuser und die in der
Stadt selbst eingeführte Familienpflege machten für einige Jahre Luft.
Zeitschrift für Psyohiatrie. LXXL 6. 66
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966
Müller,
Dann aber trat die Notwendigkeit, neue Plätze zu schaffen, unabweisbar
an die Stadtverwaltung heran; denn der Staat war nach damaligen Ge¬
setzen nicht verpflichtet, den großen Städten Kranke abzunehmen, konnte
es auch nicht, da seine eigenen Anstalten überfüllt waren 1 ).
Vom ärztlichen Standpunkt erschien der Bau einer zweiten Anstalt
als der beste Ausweg. Er war aber wegen der Kosten von vornherein aus¬
geschlossen, auch in der — weniger guten — Form in der Nähe der alten
Anstalt einige neue Häuser zu errichten und zunächst von dort ärztlich
und wirtschaftlich zu versorgen, bei weiterem Platzbedürfnis aber zu
einer selbständigen Anstalt zu erweitern. Es blieb deshalb nur übrig,
was die Geräumigkeit der Wirtschaftsgebäude vorläufig noch gestattete,
die Anstalt zu vergrößern.
Die städtische Verwaltung zog für die Neubauten von Anfang an
nur dreistöckige Gebäude in Frage, teils um zu sparen, teils in der Er¬
wägung, daß kleine Pavillons nicht recht zu dem Bilde der aus lauter
großen Häusern zusammengesetzten Anstalt passen würden. So kam es
zu dem Entschlüsse, ein Männer- und ein Frauenhaus für je 110 Kranke
zu errichten. Sie wurden für Überwachungsabteilungen bestimmt und
im Frühjahr 1912 in Betrieb genommen. Ein Platz für neue Häuser war
zwischen den Gebäuden XVIII bzw. XIX und XX bzw. XXI des Lage¬
planes *) schon bei Erbauung der Anstalt vorgesehen worden.
Dem großen Übelstande des dreistöckigen Typus wurde dadurch
wirkungsvoll begegnet, daß man das oberste Geschoß für bettlägerige
Sieche bestimmte, bei denen nicht die Gefahr des Hinunterstürzens besteht
und die lästigen Störungen fortfallen, welche nicht zu vermeiden sind,
wenn die Kranken, um ins Freie zu gelangen, jedesmal die Treppen hinauf
und hinunter geführt werden müssen. Die für jene so wichtigen hygieni¬
schen Verhältnisse (Licht und Luft) sind dort oben sogar besonders gut,
und Liegehallen gewähren den Aufenthalt im Freien. Der Übelstand, die
hinfälligen Kranken bei der Verlegung die Treppen hinauf tragen zu
müssen, konnte leicht durch einen Fahrstuhl vermieden werden.
Durch die großen, an Mietskasernen erinnernden Häuser verliert
freilich das ganze Bild der Anstalt das Wohnliche, Behagliche, was gerade
unseren Kranken so wohltätig ist. Wir werden sehen, daß sich auch im
Betriebe so großer Gebäude Schwierigkeiten ergeben können.
In den Gebäuden enthält jedes Stockwerk zwei getrennte Wach-
abteilungen, verbunden durch einen kleinen Korridor, von dem eine Glastür
zu dem völlig abgesondert gelegenen Treppenhause führt. Die beiden
Abteilungen sind in den unteren Stockwerken ganz getrennt, während das
oberste Geschoß, indem die Türen zum Korridor offen bleiben, als ganzes
1 ) Seit Dösen am 1. Januar 1913 in den Besitz des Staates über¬
gegangen ist, hat sich der Aufnahmebezirk sogar noch vergrößert.
*) Bresler , Deutsche Heil- und Pflegeanstalten S. 459.
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968
Müller,
ben sein, die Kranken überall gut zu beobachten, empfindlichere in kleineren
Räumen unterzubringen, Dauerbäder und Freiluftbehandlung bequem
auszuführen. Da die Abteilungen für frische Erkrankungen und für
schwerere Krankheitsstadien bestimmt waren, so wurde den Betträumen
der größte Platz Vorbehalten. Bei allen Einrichtungen herrschte das Be¬
streben, den Krankenhauscharakter immer mehr herauszuarbeiten, alles
Gefängnismäßige und Abstoßende zu beseitigen und freundliche Eindrücke
zu bieten.
Die großen Krankensäle sind weite, lichte Räume mit meist
12 Betten, welche durch die einander gegenüberliegenden Fensterreihen
ausgiebig gelüftet werden können. Die Betten stehen, wie auf der Skizze
angegeben, in zwei Reihen, die Fußenden dem Zwischenweg zugewandt,
und lassen an der einen Langseite des Saales einen Gang frei. Hier sind
im Saale selbst neben dem Badezimmer 2 Klosetts und an der andern Seite
4 Porzellanwaschbecken angebracht.
Gewährt der große Saal die Möglichkeit, eine größere Anzahl von
Kranken leicht zu überwachen, so dienen das behaglichere kleine Schlaf¬
zimmer und die beiden freundlichen Einzelstübchen dem Bedürfnis,
für empfindsame Kranke kleinere, besonders wohnliche Räume zu haben,
in denen sie dem großen Getriebe der Abteilung fern sind und leichter dem
Einflüsse anderer Kranken entzogen werden können. Nur die Pflege¬
abteilung, wo man mehr große, luftige Räume bedarf, hat auf der West¬
seite 2 große Bettsäle. An den ersten Saal schließt sich hier ein einbettiges
Einzelzimmer mit besonderem Ausgang zum Mittelbau, durch den ver¬
storbene Kranke hinausgetragen werden können.
Der Tagesraum konnte verhältnismäßig klein gewählt werden,
da auch in den beiden unteren Stockwerken mit einer ausgedehnten Bett-
behandlung zu rechnen war. Mit einfachem Mobiliar ausgestattet, durch
die davorliegende Liegehalle nur wenig verdunkelt, trägt er einen wohn¬
lichen Charakter. Die Pflegeabteilung hat nur auf der Ostseite einen
Tagesraum.
Das anstoßende Pflegerzimmer ermöglicht es der Nachtwache,
sich nötigenfalls Hilfe zu holen. Im übrigen sind für das Pflegepersonal
im Dachgeschoß reichlich Schlafräume geschaffen worden. Unter den
Kranken schläft das Pflegepersonal in Dösen auf keiner Abteilung. Wo
eine Aufsicht nötig erscheint, ist Nachtwache.
Für die Garderoben mußte verhältnismäßig viel Raum vorge¬
sehen werden, da sie die Schränke aufnehmen sollten und in unserer Anstalt
jeder Patient für seine Kleidung und andere Sachen einen eigenen ver¬
schließbaren Schrank hat. Ein Putz- und Besenraum ist natürlich überall
vorhanden. Auf der Ostseite ist die Anordnung etwas anders, weil hier
jedes Geschoß, direkt von der Seitentreppe zugänglich, ein Besuchszimmer
hat. Über die Notwendigkeit, hierfür passende Räumlichkeiten zu be¬
sitzen, braucht man wohl kein Wort zu verlieren, wenigstens nicht für
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Die neuen Aufnahmegebäude der Anstalt Leipzig-Dösen. 969
großstädtische Anstalten, wo allwöchentlich die Besucher nach Hunderten
zählen. Bei den Seitenräumen befinden sich Aborte für Besucher und Pflege¬
personal. Die großen, nach Süden gelegenen Liegehallen könnenbequem
12 Betten aufnehmen. Die weiten Öffnungen sind durch ein gefälliges
Gitterwerk gesichert, um allen Gefahren vorzubeugen; im Sommer schützen
V orhänge gegen die blendende Sonne. Eine Erleuchtung ist durch drei an
der Decke angebrachte Lampen möglich.
Hell und freundlich sind die geräumigen Spülküchen mit ihrer
weißen, buntgeränderten Wandbekleidung aus Kacheln. Zum Anwärmen
ist ein kleiner Gasherd vorhanden. Bequem sind die hier schon seit Jahren
erprobten Spülvorrichtungen aus zwei mit Wasserablauf, Heiß- und Kalt¬
wasserhahn ausgerüsteten verkupferten Becken, denen eine Platte aus
gleichem Metall zum Absetzen des gespülten Geschirres angefügt ist. Die
Apparate geben, wenn sie sorgfältig geputzt werden, Gewähr für vollstän¬
dige Reinlichkeit und bilden in ihrem spiegelnden Metallglanz einen
Schmuck des Raumes. Das Putzen verursacht freilich etwas Mühe, wird
aber von Kranken gern übernommen, da sie den Erfolg ihrer Arbeit
sehen und Lob ernten können. Das Aussehen des Apparates ist ein guter
Probierstein für den Ordnungssinn des Pflegepersonals.
Von großer Bedeutung sind im heutigen Anstaltsbetriebe die Bade-
räume. Ihre Lage unmittelbar neben dem Wachsaale bietet große Vor¬
teile, und das Bedenken, daß auf Abteilungen für Unruhige der Lärm
des Dauerbades die Kranken im Wachsaal belästigt und unruhig macht,
fällt für ein Aufnahmehaus nicht ins Gewicht, da man sehr störende Kranke
so wie so nicht lange dort läßt.
Die Größe der Badezimmer ist den Bedürfnissen der einzelnen Ab¬
teilungen angepaßt worden. Im 1. Obergeschoß enthält das Bad 5 Wannen,
damit bei den unruhigen Kranken reichlich Dauerbäder verabreicht
werden können. Sie sind häufig sämtlich in Benutzung. Im Erdgeschoß
werden im allgemeinen nur abends Bäder von y 2 bis 1 Stunde gegeben;
hier stehen 3 Wannen, auch sie werden oft gleichzeitig gebraucht. Auf
der Pflegeabteilung ist, um Reinigungs-, unter Umständen auch Dauer¬
bäder zu erleichtern, jederseits an den großen Schlafsaal ein Badezimmer
mit 3 Wannen angeschlossen worden. Im ganzen sind also für 110 Kranke
14 Wannen vorgesehen. Nachts sind bisher Dauerbäder nur ausnahm-
weise zur Anwendung gekommen, da Kranke, die nächtlicher Dauerbäder
bedürfen, im Gebäude für Unruhige untergebracht werden.
Die von der Firma Goebel in Leipzig gelieferten englischen Fayence¬
wannen kosten je 510 M. Wannen gleicher Art sind hier seit dem Jahre
1908 in Gebrauch; ihre Abnutzung ist außerordentlich gering. Nur an der
Außenseite, welche nicht glasiert, sondern mit Emaillefarbe gestrichen ist,
finden sich einige abgestoßene Stellen; doch hat das Aussehen wenig
dadurch gelitten. Wichtiger ist, daß die Glasur der inneren Wand und des
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Qrigiral from
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970
Müller,
gewölbten Randes sich tadellos erhalten hat, so daß keinerlei Schmutz
haften kann.
Am unteren Wannenende befindet sich oben der Zulauf, unten der
Ablauf für das Wasser.
Das Wasser wird den Wannen mittels eines von der Firma Butzke
& Co., Berlin S 42, gelieferten Mischapparates zugeführt, wie er in
unseren Dauerbädern der Häuser für Unruhige bereits seit dem Jahre 1903
zu voller Zufriedenheit arbeitet. Sowohl das heiße wie auch das kalte
Wasser kommen aus Behältern vom Dachboden, so daß — was sehr wichtig
ist — beides unter gleichem Druck steht; das heiße wird dort oben in
einem Boiler bereitet. Das Wasser kommt durch die Leitungen a und a'
(siehe die Abbildung), kann durch die nicht frei zugänglichen Hähne b
und b' beliebig abgesperrt werden, mischt sich in c, wo durch einen Hebel
der gewünschte Wärmegrad einzustellen ist, wird von Thermometer d
gemessen und durch die Hähne e zu den einzelnen
Wannen abgelassen Der Heißwasserhahn b' wird
nun vom Maschinenpersonal soweit geschlossen,
daß das abströmende Wasser bei der höchsten
Boilertemperatur und bei der weitesten Einstellung
auf „warm“ (beic) niemals eine bestimmte Tempe¬
ratur (45° C) überschreitet. Die Vorrichtung ist
so einfach, daß ein Versagen kaum denkbar er¬
scheint. Der Hahn b' geht sehr straff, so daß er
nicht etwa von selbst sich weiter öffnen kann. Mo¬
natlich wird von sachkundiger Hand nachgeprüft,
ob der Apparat völlig in Ordnung ist.
Es läßt sich darüber streiten, ob es ratsamer ist, die Temperatur des
Badewassers durch irgendeine mechanisch arbeitende Sicherungseinrich¬
tung zu regeln oder auf die Gewissenhaftigkeit des Pflegepersonals das
ganze Gewicht zu legen. Früher neigte man wohl mehr zu der letzteren
Auffassung, neuerdings ist aber durch wohlgelungene Erfindungen die
erstgenannte Methode immer mehr in Aufschwung gekommen.. Derartige
zum Teil fein durchdachte Apparate sind in mehreren Anstalten und
Kliniken eingeführt worden. Anderswo hat man absichtlich davon Ab¬
stand genommen. In dem Breslauer Kommissionsbericht 1 ) heißt es, daß
Sicherungsvorrichtungen vielfach wegen ihrer Unzuverlässigkeit zu
Klagen Veranlassung gegeben hätten, ja sogar zu ihrer Entfernung (Bre¬
men).
Die Tatsache, daß man immer wieder von Verbrühungen Kranker
durch heißes Wasser hört, beweist die Wichtigkeit dieser Frage. Es ist
J ) Bericht über die zur Besichtigung von Irrenhausbauten und
deren Einrichtungen unternommene Studienreise 1908.
u Jf
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Die netten Aufnahmegebäude der Anstalt Leipzig-Dösen. 971
nicht zu bezweifeln, daß jede Vorrichtung, die selbsttätig der Gefahr Vor¬
beugen soll, dahin wirkt, die Aufmerksamkeit des Pflegepersonals einzu¬
schläfern. Durch Ermahnungen wird es nicht gelingen, ihre Achtsamkeit
auf die Wärme des Wassers so scharf zu erhalten, als wenn ihnen bewußt
ist, daß von ihrer Sorgfalt alles abhängt, und daß eine große Gefahr droht.
Andererseits würde uns natürlich eine wirklich sichere mechanische
Vorrichtung von der menschlichen Schwäche des Pflegepersonals, die wir
nie aus der Welt schaffen können, unabhängig machen und eine sonst nicht
erreichbare Sicherheit gewähren. Arbeiten die Apparate aber wirklich ganz
zuverlässig? Wird nicht immer wieder einmal eine Störung und damit
wahrscheinlich ein Unglücksfall Vorkommen ? Offenbar bedarf die Frage
noch der Klärung, und die Ansichten werden sich gegenwärtig noch nicht
vereinigen lassen. Es ist genau wie beim Eisenbahnbetriebe, und man
wird, so wie dort, auch bei uns immer weiter danach streben, das Problem
selbsttätiger Sicherung zu lösen, wird auch der Lösung wahrscheinlich
immer näher kommen. Ich wiederhole, daß unsere Einrichtung sich bisher
durchaus bewährt hat.
In den Baderäumen genügt im allgemeinen für 5 Kranke 1 Pfleger.
Man muß dabei aber den Zustand der Kranken sorgsam berücksichtigen,
vor allem die Gefahr, in welche Epileptiker beim Baden durch den Aus¬
bruch eines Anfalles geraten.
Zur Dämpfung des Schalles ist in den Badezimmern der Aufnahme¬
häuser versucht worden, an der Decke mehrere Tücher nach Art von
Lambrequins zu spannen. Tatsächlich wird ein gewisser Erfolg dadurch
erreicht.
Die Wannen lassen sich nach Bedarf durch wasserdichte, braune Segel¬
tuchvorhänge, welche an Stangen befestigt und verschiebbar sind, vonein¬
ander trennen, um zu verhindern, daß Kranke sich gegenseitig schlecht beein¬
flussen. Eine genügende Überwachung ist trotz der Vorhänge möglich.
Zwischen den Wannen liegen Lattenroste. An der Wand ist eine
Stange zum Überhängen der Badetücher angebracht. In einer Ecke des
Badezimmers steht ein Klosettbecken. Eine niedrige Badebank (46 cm
hoch) mit dünnem, von Wachstuch überzogenem Polster dient den Kranken
als Sitz oder Lager, z. B. beim Abtrocknen, und ist sehr bequem zur Aus¬
führung der Einläufe. Ganz ähnliche Bänke, etwas höher (85 cm) dienen
bei der körperlichen Untersuchung in den ärztlichen Zimmern.
Schwierig ist es, den Kranken im Dauerbade eine Zerstreuung zu
bieten. Einer der großen Vorzüge der Gartenbäder liegt darin, daß die
Kranken immer etwas sehen,was ihre Gedanken ablenkt; im Badezimmer
dagegen blicken sie nur auf kahle Wände und mehr oder weniger unruhige
Leidensgenossen. Um dem Auge wenigstens etwas zu bieten, ist an den
Wänden oberhalb der 2 m hohen weißen Kachelbekleidung von künst¬
lerischer Hand ein bunter Fries gemalt, der scherzhafte Wasserszenen,
Fische, Schiffe und dergleichen zur Darstellung bringt.
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972
Müller,
Ein kleines eigenes Badezimmer mit einer Wanne ist im Erdgeschoß
gleich neben dem Eingänge für die neu aufgenommenen 'Kranken eingerichtet.
Bei den Fenstern der Aufnahmehäuser wollte man alles Gefängnis¬
mäßige vermeiden und doch einen Schutz dagegen bieten, daß Kranke
ohne weiteres hinausspringen. Dabei sollte es möglich sein, sie bequem
zu bedienen und vor allem sie weit zu öffnen. Die Frage, ob und wie man
die Fenster sichern soll, ist ja schon viel erörtert worden und wird sehr
verschiedenartig beantwortet. Die beste Sicherung wird gewiß stets in
der Aufmerksamkeit des Pflegepersonals liegen. Fehlt es hieran, so werden
gewitzte Kranke immer wieder eine günstige Gelegenheit zu erhaschen
wissen. Wir meinen aber, daß man gegen plötzliche, überraschende
Ausbrüche doch einen Schutz schaffen soll, wenn nicht etwa die Kranken
so harmlos sind, daß man nichts zu befürchten hat. Dabei kommt es also
für Wachsäle gar nicht auf die Abwehr roher Kraft oder raffinierter Be¬
schädigung an, sondern nur auf Schutz gegen den ersten Anprall. Bei sehr
reichlichem Pflegepersonal kann man sich natürlich eher behelfen; aber
dadurch, daß die Pfleger immerfort den Fenstern ihre größte Aufmerksam¬
keit zuwenden müssen, wird eine Menge Arbeitskraft gebunden, die auf
andere Art besser verwandt werden kann. Meist scheint man demgemäß
jetzt eine gewisse Sicherung vorzunehmen und zwar die dreiteiligen Fenster
mit Drehflügel zu bevorzugen, die wohl genügenden Schutz, jedoch nur
eine zu schmale Öffnung bieten.
Zum Lüften muß man aber eine weite Fläche öffnen und ohne be¬
sondere Bewachung offen stehen lassen können. Dabei sollte man nicht
versäumen, den Kranken die Möglichkeit zu gewähren, sich selbst die
Fenster zu öffnen, um frische Luft und einen weiteren Blick nach außen
zu genießen; immer wieder hört man von ihnen, wie angenehm sie diese
Freiheit empfinden. Alle diese Bedingungen müssen aber erfüllt werden,
ohne daß dabei das Aussehen des Fensters leidet. Es wird zwar gesagt,
man solle den Kranken keine Freiheit Vortäuschen, die sie nicht haben,
und Gitter, falls sie nicht zu entbehren sind, offen zutage treten lassen. Es
ist aber doch durchaus nicht gleichgültig, ob man eine Wahrheit grob
oder schonungsvoll sagt, und immer wieder haben es gut beobachtende
Irrenärzte ausgesprochen, in wie auffallendem Maße sich die Eindrücke
der Umgebung in dem äußeren Wesen der Kranken wiederspiegeln.
Nach verschiedenen Versuchen ist für unsere Aufnahmehäuser eine
Form gewählt worden, welche allen Forderungen zu genügen scheint
(sieheAbbildungen). DieFenstersindsehrhochundbreit, etwa 2,00x 1,50 m
in lichter Öffnung. Das untere Paar der Fensterscheiben ist von
dünnem Glas, die Flügel haben einen Baskülverschluß und können von
den Kranken selbst geöffnet werden. Nach der Straße zu wölbt sich ein
architektonisch geformtes Korbgitter vor, welches ein Hinausspringen
hindert, dabei aber durchaus den Eindruck eines Zierrates gewährt, wie er
bei modernen Bauten beliebt ist.
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Die netten Aufnahmegebäude der Anstalt Leipzig-Dösen.
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Die mittleren
Flügel tragen keine
Vergitterung, haben
aber 1 cm dickes Spie¬
gelglas und sind nur
mit einem Dreikant zu
öffnen. Für einen
Wachsaal bieten sie ge¬
nügend Schutz. Stehen
mehr Mittel zur Verfü¬
gung, so wird man
besser richtiges Hart¬
glas nehmen und nöti¬
genfalls zum Schutz
gegen das Einschlagen
auch die unteren Schei -
ben ebenso hersteilen.
Die obersten
Fig. 3. Außen. Innen.
Fensterscheiben sind wieder aus dünnem Glas gefertigt und außen durch
senkrechte, in Holzfarbe gestrichene Eisenstäbe geschützt. Diese fallen
hier gar nicht ins Auge, zumal man selten den Blick so hoch richtet.
Der eine dieser oberen Flügel ist als Kippfenster von unten her durch
einen frei zugänglichen Hebel zu öffnen, und zwar wegen der Größe der
Fenster nur der eine und nicht die ganze Breite des oberen Fensterdrittels,
da derartig schwere Klappen erfahrunggemäß oft Störungen erleiden. Bei
der Leichtigkeit, mit der durch die unteren Flügel frische Luft eingeführt
werden kann, brauchte auf die Kippfenster weniger Wert gelegt zu werden.
Sind die Kranken nicht im Saale, so kann man auch noch die mittleren
Fensterdrittel zum Lüften heranziehen.
Wegen der dem Winde ausgesetzten Lage der Anstalt war es ein
unumgängliches Erfordernis, überall Doppelfenster anzubringen. Die
äußeren Scheiben sind sämtlich aus dünnerem Glas. In den Einzelzimmern
sind die inneren Fensterscheiben sämtlich aus starkem Glas, in den Bade¬
räumen die äußeren aus Mattglas.
Die Fenster haben bisher ihren Zweck durchaus erfüllt. Licht und
Luft lassen sie reichlich in die Räume hinein. Das Gefängnismäßige ist
durch das Freibleiben der mittleren Scheiben von jeder Vergitterung
ganz vermieden worden. Das ansprechende Äußere wird noch durch Topf¬
gewächse und Blumenkästen gehoben, welche im Winter auf die Fenster¬
bretter, im Sommer zwischen Fenster und Ziergitter gestellt werden.
Es wird mancher vielleicht Anstoß daran nehmen, daß in den Bett¬
sälen Klosetts angebracht worden sind, nach den überaus günstigen Er¬
fahrungen anderer Anstalten schien dieser Versuch aber doch angezeigt.
Die Sitze sind voneinander und nach der Seite zu durch Wände geschützt.
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bv Google
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974
Müller,
welche in den beiden unteren Stockwerken 1,32 m, im Pflegegeschoß aber
nur 0,87 m Höhe haben. Auf der Pflegeabteilung tragen die Wände feste
Griffe zum Anhalten und hinten, querüber zwischen die beiden Wände
gespannt, einen Gurt, an den sich die Kranken anlehnen können. Zur
Wahrung des Schamgefühls ist man bald dazu gekommen, vorn einen
niedrigen Bettschirm vor die Klosettsitze zu stellen. Der Kranke wird
dadurch nicht so sehr den Blicken des Pflegepersonals entzogen, daß die
Überwachung wesentlich leidet.
Die Saalklosetts bedeuten bei Pflegekranken, wo man sonst Nacht¬
stühle verwendete, zweifellos einen Fortschritt, da sie den Vorzug weit
größerer Sauberkeit haben und viel einfacher zu bedienen sind. Man muß
nur Einrichtungen treffen, daß die Kranken sich gut anlehnen können.
Auf Abteilungen mit besonnenen Kranken, vor allem bei gebildeten,
empfindlichen und bei neu zugeführten, denen der Anstaltsbetrieb noch
fremd ist, muß man die Klosetts aber so unauffällig und abgesondert an¬
bringen, daß jedes Anstößige vermieden wird. In dieser Hinsicht ist
unsere Einrichtung sicherlich verbesserungsbedürftig, es ist aber anzu¬
nehmen, daß sich der Übelstand durch eine kleine Änderung beseitigen
läßt. Außerdem ist zu bedenken, daß in den Aufnahmehäusern die Kranken
im allgemeinen nur kürzere Zeit verweilen und daß man solche, die Anstoß
an dieser Einrichtung nehmen, natürlich sofort auf ein anderes Haus verlegt.
Geruchlosigkeit ist nach unseren Erfahrungen bei sorgfältiger Her¬
stellung und peinlicher Sauberkeit vollständig erreichbar. Eine schwierige
Frage ist aber die, auf welche Weise man das störende Geräusch beim
Spülen vermeiden kann, welches besonders nachts den Kranken sehr
lästig ist.
Man sollte jedoch versuchen, alle diese Schwierigkeiten aus dem
Wege zu räumen, um Wachabteilungen mit Klosetts zu versehen, die vom
Saale aus überwacht werden. Denn immer wieder hört man von Selbst¬
morden, die im Klosett ausgeführt worden sind, und es ist doch eine be¬
trächtliche Störung des Dienstes, wenn jedesmal beim Austreten eines
Kranken eine Pflegeperson dem Krankensaale entzogen wird.
Bei den Klosettbecken ist der größeren Reinlichkeit wegen ein Holz-
sitz, der doch immer die Feuchtigkeit des Urins eindringen läßt, ganz
vermieden worden. Zum Schutze gegen die unangenehme Kälte des
Steinguts sind an der Sitzstelle Einlagen von Hartgummi eingefügt.
Anfangs lösten sie sich mehrfach bald wieder ab, indem das Kittmaterial
abbröckelte. Jetzt hat die Firma *) sie so sicher befestigt, daß selten eine
Ausbesserung notwendig geworden ist. Die Sitze sind sehr einfach sauber
zu halten und geben zu Klagen der Kranken keinen Anlaß. Die Spülung
wird durch einen Druckknopf ausgelöst, die Zugvorrichtung ist in die Wand
hineinverlegt und so der Beschädigung durch Kranke entzogen.
*) Katzenberger, München. Die Becken stammen aus der Fabrik
V r illeroy und Boch.
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Die neuen Aufnahmegebäude der Anstalt Leipzig-Dösen. 975
Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, daß auch die Wasch -
scken im Bettsaale selbst angebracht worden sind. Man wird vielleicht
iwenden, daß sich das große allgemeine Waschen am Morgen besser in
geilen Wasch- oder in Baderäumen abspielt, und daß man dann ganz gern
nmal alle Kranken aus dem Saale entfernt, um gehörig auslüften und
\nigen zu können. Andererseits bietet unsere Einrichtung den Vorteil,
aß sie die Überwachung sehr erleichtert und die Kranken anregt, auch
igüber vom Waschen häufiger Gebrauch zu machen.
Jedes Waschbecken hat über sich einen frei zugänglichen Kalt-
r asserhahn und am Grunde einen Wasserablauf, der durch Umlegen eines
eben dem Wasserhahn gelegenen Bügels geöffnet und geschlossen werden
ann. Kippbecken sind vermieden worden, weil sie nicht so sauber sind
md häufige Reparaturen nötig machen. Oberhalb des Waschbeckens
teilen auf einem Glasbrett die Mundwassergläser. Zur Seite sehen wir den
Spiegel und ein Gestell, an welchem für jeden Kranken sein Handtuch
nid seine Zahnbürste hängen; hier finden auch die Kämme Platz. Für
Kranke in Einzelzimmern werden gelegentlich fahrbare Waschbecken
verwendet.
Für wohnliche Ausstattung der Räume, Bilder und Blumen
ist natürlich reichlich, aber nicht zu üppig gesorgt. In den großen Sälen
stehen auf den Abteilungen für ruhige Kranke Fächerpalmen. Es kommt
kaum vor, daß die Kranken sich daran vergreifen.
Sehr praktisch sind kleine Wandschränke, die schon beim Bau im
Mauerw r erk ausgespart wurden. Sie werden z. B. im ärztlichen Zimmer
zur Aufbewahrung von Reagenzien und dergleichen verwendet.
Treppenabsätze und Vorplätze haben Stabfußboden, Bäder,
Spülküchen und Liegehallen Steinplatten, ebenso auch die Stellen der
Saalklosetts und Wascheinrichtungen, alle anderen Räumlichkeiten, vor
allem also sämtliche Krankenräume, Linoleum. Die Wände sind bis zu
1,30 bis 1,65 m Höhe mit Ölfarbe gestrichen, wo nicht, wie in den Spül¬
küchen, Bädern, hinter den Saalklosetts, Waschvorrichtungen und Heiz¬
körpern w r eiße Kacheln verwendet wurden sind.
Die Beleuchtung erfolgt elektrisch durch Metallfadenlampen, der
Strom wird von der Anstaltsanlage geliefert. In den Schlafräumen und
ärztlichen Untersuchungszimmern können die unter Blendschirmen ange¬
brachten Birnen bis zum Fußboden herabgezogen werden, in den Schlaf-
räumen läßt sich außerdem die Helligkeit durch Drehknöpfe, durch welche
Widerstände eingeschaltet werden, auf jeden beliebigen Grad abstufen.
Auf diese Weise gelingt es leicht, nachts überall die gewünschte Helligkeit
zu schaffen, besonders, wenn man noch Lampenschirme verwendet.
Stübchen, Badezimmer, Liegehallen, Spülküchen, Korridore und
Treppen haben Deckenlampen.
Alle Schaltungen sind offen angebracht, die Lampen der Stübchen
werden außerhalb derselben bedient. Unfug wird von den Kranken nur
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UMIVERSITY OF MICHIGAN
976
Mülle r,
sollen mH der Beleuchtung getrieben, ernstere Schädigungen und W'ieb-
teil«, sind nicht dadurch t?ntstond*Ti. ; V-, ‘v v -.>V ;
Jeder .Raum eofhalt eine einfache Dnsbmipe. welch*.’ hei Versagen
des elektrischen Strome.' ult- NutMCuchiönK' dienen soll.
.ledes Haus hat eine Wa-r»riVasfs-eVJiMt«ntag'g V auch aii • den
kältesten Tagen hat sie eiisgcreiiht. Die HeUkÖrpei; th*gHi frei in Xis*-Uei!
üvijer den Finistcni. Die »m Keller gelegene Kicssetmdnge iwi&öflgi ; '
Haus auch mit warme uj Wasser .für den Sumnierherrieb *>>i ein- klein wer
Kessel bestimmt;
Ein«: [(cserv-..--).uft.iii'i'MiUK. mit der sich vim,\ künstliche LuÜüngs-
anlago verbindet, ist bisher' nicht in Wirksamkeit getreb «i.
Hie Hauser sind vollständig untorkeliert. ln jeden» Keller befind**i
?i* h ein ßadorimmer für das ldtogejier.son;d. im Mamef huose außerdem
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jisvebningisclic .Laboratorium rtiVg^riej)t»s! 'W'ürileri, g ^ ■ s XOv
■
Go li 1
Die neuen Aufnahmegebäude der Anstalt Leipzig-Dösen. 977
Als Feuerlöschmittel hat jedes Stockwerk einen Hydranten mit ange¬
schlossenem 20 m langem Schlauch in einem verglasten Kasten des Vor-
raums. Die Treppen sind feuersicher aus Beton gebaut, haben aber
Holzbelag.
Der Luftraum für jeden Kranken beträgt in den Betträumen
35 cbm. Jedes Haus ist von einem durch einen mäßig hohen Staketzaun
abgeschlossenen Garten umgeben, in den man durch den Süd- oder den
Seitenausgang gelangt.
Die Baukosten betragen für jedes Haus einschließlich Mobiliar
etwa 345 000 M.
Werfen wir nun noch einen Blick darauf, wie sich der Betrieb in
diesem großen Organismus abspielt. Alle neu zugeführten Kranken
kommen zunächst hierher, die ruhigen ins Erdgeschoß, die unruhigen ins
1. Obergeschoß, die Siechen nach oben, und zwar in jedem Stockwerk zu¬
nächst immer auf die zu besonders scharfer Überwachung eingerichtete
Seite (die westliche). Von hier werden sie nach Bedürfnis auf die etwas
freiere Ostseite oder, wenn man sie genügend kennen gelernt hat, un¬
mittelbar nach demjenigen Krankengebäude verlegt, für welches sie sich
nach ihrem Zustande eignen. Die Pflegeabteilung behält natürlich stets
ihre Kranken längere Zeit und sammelt die siech werdenden aus den
anderen Anstaltsgebäuden. Die Abteilungen der beiden unteren Stock¬
werke sind dagegen grundsätzlich Durchgangstationen, in denen immer
wieder Platz freigemacht werden muß. Je nach den Umständen muß man
aber natürlich von der Regel abweichen und zuweilen Kranke längere Zeit
auf den Aufnahmeabteilungen belassen, wenn sie dort besonders gut auf¬
gehoben sind, oder wenn man sie aus irgendeinem Grunde von den anderen
Häusern fernhalten will.
Die der Anstalt zugeführten Kranken werden sofort nach dem Auf¬
nahmehaus und hier in das Aufnahmebad geführt, wo sie der Arzt ansieht,
um sie je nach ihrem Zustande einem der drei Stockwerke zuzuweisen.
Kommen die Kranken, wie gewöhnlich, mit einem Wagen, so fährt dieser
direkt vor das Haus.
Während auf der Männerseite wegen der größeren Zahl der Auf¬
nahmen das Haus von Anfang an auf zwei Ärzte verteilt war, lag das
Frauengebäude in der Hand eines Arztes. In gewisser Beziehung ist diese
letztere Verteilungsart natürlich günstiger, zumal dann in ausgiebigster
Weise im Hause unter den einzelnen Abteilungen ein Aushelfen und Aus¬
tauschen möglich ist, wozu sich so häufig Anlaß bietet. Wegen der über¬
großen ärztlichen Arbeit infolge der hohen Aufnahmeziffer ließ sich diese
Dienstverteilung aber doch nicht durchführen. Dazu kommt, daß die
interessante Tätigkeit bei frisch zugeführten Kranken und die Erhebung
des ersten Krankheitsbefundes möglichst vielen Ärzten gegeben werden
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
978
Müller,
möchte. Es ist deshalb jetzt so eingerichtet worden, daß jedes Stockwerk
einem anderen Arzte untersteht, der dann außerdem noch eine weitere
Abteilung der Anstalt unter sich hat. Man wird erst längere Erfahrungen
sammeln müssen, wie diese Verteilung sich bewährt.
Natürlich kann man in Hinblick auf diese Nachteile fragen, ob es
sich überhaupt empfiehlt, für die Neuaufnahmen ein besonderes Haus zu
bestimmen, wie man es doch in so vielen Anstalten findet. Manche'großen
Vorteile bietet es sicherlich. Der ganze Betrieb ist ein für allemal darauf
eingerichtet und eingelebt, .die leitenden Pflegepersonen, die nur selten
wechseln, sind in den Aufnahmebetrieb und die dabei nötigen Vorsichts¬
maßregeln eingearbeitet, kennen die Bedürfnisse neu aufgenommener
Kranker und sammeln Erfahrungen. Man kann anderen Abteilungen die
Unruhe des unausgesetzten Krankenwechsels fernhalten, den Aufnahme¬
stationen dagegen unangenehme Eindrücke durch besonders störende und
häßliche Angewohnheiten zeigende Kranke. Gerade darin wird eine
wichtige Aufgabe dieser Stationen bestehen, daß sie die neuen Kranken
vor schlechten Einflüssen schützen.
Die Behandlung der Kranken ist im Aufnahmehause ganz auf Ruhe
und Beruhigung abgestimmt. Die Beschäftigungstherapie, sonst unser
bestes Hilfsmittel, tritt hier zurück; außerhalb des Hauses, in Werkstätten
und Arbeitskolonnen, sind nur ausnahmweise Kranke tätig.
Auf der Pflegeabteilung wird die Pflege hinfälliger Kranker mit aller
Sorgfalt und allen Hilfsmitteln durchgeführt. Der Dienst auf ihr ist be¬
sonders geeignet zur ersten Schulung des neu eintretenden Pflegepersonals.
Nachtwache ist natürlich auf jeder der 6 Abteilungen des Hauses.
Auch für die Pflegeabteilung ist es wichtig, Tag und Nacht eine ständige
Wache zu haben. Ohnedem wären die Aufgaben der Pflege Hinfälliger,
vor allem die Sauberkeit, gar nicht durchzuführen.
Für jedes der Häuser sind im ganzen 25 bis 27 Pflegepersonen be¬
stimmt, davon sind am Tage gewöhnlich 16 bis 17 auf den Abteilungen im
Dienst, nachts 7.
Die Freiluftbehandlung ist so weit wie möglich ausgedehnt
worden. Abgesehen davon, daß die nicht bettlägerigen Kranken bei gutem
Wetter vor- und nachmittags sich längere Zeit im Garten aufhalten, wird
vor allem von den Liegehallen der ausgiebigste Gebrauch gemacht, indem
die Betten sämtlicher bettlägeriger Kranken hinausgefahren werden.
Hierzu werden zwei Rollgestelle (Bettfahrer) verwendet, die, am Kopf
und Fußende angesetzt, die Bettstelle hochheben, so daß sie auf den
Rollen leicht zu fahren ist. In warmen Sommernächten können die Kranken
auch nachts im Freien verbleiben. Da wir hier schon seit Jahren die Er¬
fahrung gemacht haben, daß es sich sehr leicht durchführen läßt, auf die
Kranken sogar besonders günstig wirkt, wenn man die Freiluftbehandlung
nicht immer wieder unterbricht, sondern die Kranken längere Zeit an¬
dauernd im Freien läßt, so ist in den letzten Sommern zur Zeit der größten
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Die neuen Aufnahmegebäude der Anstalt Leipzig-Dösen. 979
Wärme eine große Anzahl von bettlägerigen Kranken 4 bis 6 Wochen ohne
Unterbrechung Tag und Nacht im Freien gewesen. Mit dem Eintreten
kälterer Jahreszeit wird der Aufenthalt im Freien allmählich eingeschränkt,
aber auch im Winter werden die Kranken an sonnigen Tagen mittags in
den Betten auf die Veranden hinausgefahren.
Die Erfahrung ergibt nun, daß die Freiluftbehandlung nicht nur dem
körperlichen Zustand der Kranken förderlich ist, sondern auch eine Ab¬
nahme der Unruhe herbeiführt. Immer wieder hat sich uns dieser Eindruck
aufgedrängt, und auch vom Pflegepersonal, das doch in gewisser Hinsicht
den Zustand der Kranken zuweilen besser kennt, weil es beständig bei ihnen
weilt, hört man immer wieder äußern, daß die Kranken im Freien ruhiger
seien als im Saal. Man vergegenwärtige sich, wie auch bei Gesunden der
Aufenthalt in freier Luft eine behagliche Stimmung auslöst und — das
würde wohl der Kernpunkt sein — ermüdend wirkt. Dazu kommt in man¬
chen Fällen die beruhigende Wirkung der Ablenkung durch die Beob¬
achtung der Natur und des Lebens im Freien.
Auch von den Kranken selbst wird der Aufenthalt im Freien wohl¬
tuend empfunden. Viele bitten geradezu darum oder verlangen sogar
energisch, ins Freie gelegt zu werden. Die Kranken härten sich bald ab,
Erkältungen treten bei vorsichtiger Durchführung nicht ein.
Störungen der Umgebung durch Lärm, anstößige Worte und der¬
gleichen kommen natürlich gelegentlich vor. Meist sind sie so gering¬
fügig, daß man sie mit in Kauf nehmen kann, und nur ganz vereinzelt ist es
vorgekommen, daß deshalb bei einem Kranken der Aufenthalt auf der
Veranda unterbrochen werden mußte. Bei den Häusern für Unruhige sind
die Liegehallen am Garten, fern vom allgemeinen Wege, gelegen.
Die Aufnahmehäuser erfüllen ihren Zweck, wie sich in diesen
zwei Jahren ergeben hat, in sehr vollkommener Weise. Da aber alles
gerade für die Dösener Verhältnisse berechnet ist, so liegt es auf der
Hand, daß gewisse Einrichtungen nicht ebenso für jede andere Anstalt
übernommen werden können.
Die Entwürfe zu den Häusern und ihren Einrichtungen stammen
von Herrn Geheimen Medizinalrat Dr. Lehmann zu Dösen. Es ist
mir eine angenehme Pflicht, ihm für die Erlaubnis der Veröffentlichung
und für seine freundliche Beihilfe meinen wärmsten Dank auszu¬
sprechen.
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Jugendpflege in den Heilanstalten.
Von
R. Fitster, Hauptlehrer, Uchtspringe.
Es ist eine anerkannte Tatsache, daß der Erziehungsgedanke in
unserer Zeit nicht nur mehr als vordem in den Vordergrund gedrängt
ist, sondern auch weitere Schichten des Volkes erfaßt hat als in früheren
Zeiten. In der Reihe der Erziehungsgedanken ist neuerdings das Pro¬
blem der Jugendpflege besonders stark hervorgetreten. Wer die Be¬
deutung derselben unterschätzt, hat dafür nicht das volle Verständnis,
wer sie aber als das anerkennt, was sie ist, als eine Verpflichtung der
um das Volkswohl ernstlich Bemühten, der ist auch von ihrer Wichtig¬
keit durchdrungen. Der Erlaß des preußischen Kultusministers vom
18. Januar 1911 über die Jugendpflege bringt diese Auffassung voll
zum Ausdruck und gibt in den angefügten Grundsätzen und
Ratschlägen gleichzeitig einen schätzenswerten systematischen Über¬
blick über das, was bisher getan worden ist und in Zukunft in größerem
Umfange getan werden soll.
In dem Erlaß wird naturgemäß der Blick zunächst nur auf die
gesunde Jugend gerichtet und zu Maßnahmen aufgefordert, das Ge¬
sunde gesund, das Starke stark zu erhalten. Gleichwohl werden sich
aber alle Veranstaltungen unter denselben stellen, ihn für sich ma߬
gebend erachten, sofern solchen auch die Fürsorge für Jugendliche
obliegt: Blinden- und Taubstummenanstalten, Krüppelheime, Heil¬
anstalten (für Kranksinnige, Epileptiker und Geisteskranke); denn
sie alle haben die Aufgabe, nicht nur zu behandeln und zu pflegen,
sondern auch zu erziehen. In allen diesen Anstalten hat man es nicht
mit den Kommenden zu tun, wie dort bei den Jugendlichen, die vom
öffentlichen Leben umwoben werden, nicht mit der Hoffnung der
älteren Generation, und dabei doch mit Menschen, denen auch eine
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Jagendpflege in den Heilanstalten.
981
Zukunft bevorsteht. Gewiß ist die Aufgabe schwierig, die schulent¬
lassenen normalen Knaben und Mädchen unter die im freien Volks¬
leben gefundenen erzieherischen Grundsätze zu stellen, aber schwerer
die, volkserzieherische Grundsätze da zur Anwendung zu bringen, wo
nicht die öffentliche gesellschaftliche Organisation, nicht die Familie
mitleitend und planmäßig beeinflussend eintreten kann, und wo die
Erziehungsmöglichkeiten ganz andere sind. Dabei ist noch der Um¬
stand in Erwägung zu ziehen, daß die erwähnten Anstalten dem zu-
streben müssen, so weit als angängig die minderwertigen Elemente,
die in einer Zeit wirtschaftlichen Aufschwunges als Last empfunden
werden, da ihre Versorgung eine unproduktive Verwendung des
Nationalvermögens bedeutet, durch alle Mittel heranzuziehen zu nütz¬
lichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft. Trotz dieser und
mannigfacher anderer Schwierigkeiten haben sich einsichtige Anstalts¬
leiter in mustergültiger Weise der Jugendpflege angenommen, sich um
die Jugend verdient gemacht und reiche Erfahrungen auf dem Gebiete
gesammelt. Insonderheit den Heilanstalten mich zuwendend, möchte
ich als einen solchen Anstaltsleiter den Direktor Professor Dr. Alt-
Ucht8pringe nennen, der auch in Anerkennung seiner Verdienste auf
diesem Gebiete zum Mitgliede des Bezirksausschusses für Jugendpflege
berufen worden ist.
In Uchtspringe ist der Gedanke der Jugendpflege ebenfalls nicht
neu, und sie besteht seit Begründung der Anstalt. Die für ihren Betrieb
maßgebenden Gedanken kommen in den nachstehenden Skizzen zum
Ausdruck.
I. Das Spiel, ein belebender und lebensfähiger Gegenstand in dem
Organismus der Anstalt.
Schon äußere Gründe sprechen dafür, an unseren Anstalten dem
Bewegungsspiel Beachtung zu schenken und seine Benutzung als zweck¬
mäßig zu erachten.
Ist uns doch in dem Bewegungsspiel ein Mittel an die Hand gegeben,
die körperliche Bewegung, ohne welche körperliche Gesundheit nicht
bestehen kann, anzuregen und zu fördern. Wie leibliche Tätigkeit und
Übung für die Gesunderhaltung wie auch zur Beseitigung von Krank¬
heiten eine Notwendigkeit ist, braucht nur angedeutet zu werden. Die
Erfahrung, daß Leute, welche viel Bewegung haben, sich einer heiteren,
frischen Seelenstim'mung erfreuen, führt uns darauf, wie das Spiel mit
seiner vielseitigen Bewegung auch von großem Einflüsse ist auf den eigent¬
lichen Regulator des äußeren Organismus, das Nervensystem. Kann es
ZtiUchrUt für Piyohiatrie. LXXL 6. 67
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F1 i s t e r,
auch bezüglich des Verhältnisses von Körper und Geist bei vielen unserer
Zöglinge nicht heißen, daß in einem gesunden Leibe ein gesunder Geist
wohnen muß, so doch, daß ein gepflegter Körper eine für die Erziehung
empfänglichere Seele beherbergen wird. Bedarf es dazu wirklich des
Spieles? Darauf habe ich in Ansehung unserer besonderen Verhältnisse
ein bedingungsloses „Ja“. Ich beachte wohl den Einwand, daß Arbeit
recht gut dazu angetan sei, das vorgenannte Ziel zu erreichen. Arbeit in
Ehren, und gern bringe ich zum Ausdruck, daß Arbeit nicht allein zu den
ersten Pflichten des Menschen gehört, sondern auch zu seinen vornehmsten
Rechten. Aber eben deshalb, weil sie Pflicht ist, wird sie von vielen als
Druck empfunden, und da ihre Ausführung mit Mühe verbunden ist, so ist
ihr ein Teil unserer Schutzbefohlenen nicht gewachsen; denn nach ihrer
Naturanlage sind sie nicht auf Anstrengung eingerichtet, mag sie geistiger
oder leiblicher Art sein. Daß teilweise Arbeitsunfähigkeit besteht, geht
schon aus dem Begriff Arbeit hervor. Des Segens körperlicher Bewegung
müßten die Arbeitsunfähigen verlustig gehen, und wie der Rost am ruhen¬
den Eisen zehrt, so bei ihnen Gemächlichkeit und Ruhe an der Kraft,
dem Wüchse und Ausbaue des Körpers. Dem mag entgegengehalten werden,
daß zu irgendeiner Handarbeit doch beinahe jeder Pflegebefohlene heran¬
zuziehen sei. Aber derartige Beschäftigung ist oft so mechanisch, daß nur ein
Glied zur Ausführung gebraucht wird und der ganze Organismus, weil die
Bewegung auf Handgriffe beschränkt bleibt, Schaden leidet zum Nach¬
teile der Gesundheit des Leibes und der Seele. An vielen dieser letzt¬
erwähnten Patienten läßt sich einsehen, wie unzureichende Bewegung
ihre lähmende Rückwirkung auf Geist und Gemüt äußert. Sie sind ver¬
stimmt, zeigen gestörte Aufmerksamkeit, sind zerstreut, fallen auf durch
Unlust und Lässigkeit. Die geistige Kraft wird bei ihnen je länger je mehr
gebunden.
Auch dem Wandern in Form der Spaziergänge soll dabei Gerechtig¬
keit werden; denn neben dem, daß es den Sinn für Gottes herrliche Natur
zu wecken und zu vertiefen vermag, zur Bereicherung des Seeleninhaltes
beiträgt, bei Reizungen beruhigend und ablenkend wirkt, trägt es durch
die in ihm liegenden Anforderungen an Körperkraft auch zur Pflege des
Körpers bei. Gegen das Spiel jedoch ist es einseitig und unzureichend;
auch kann es nur bei gutem Wetter erfolgen und muß bei unfreundlicher,
veränderlicher Witterung fortfallen.
Die bisherige Ausführung läßt sich dahin zusammenfassen: Gesund¬
heit und Kraft des Leibes bilden die Grundlage, auf welcher das Vollgefühl
des körperlichen Wohlseins beruht. Gesundheits- «und Kraftgefühl werden
durch geeignete körperliche Bewegung entwickelt und gestärkt. Neben der
Arbeit ist dem Spiele, seines physischen und diätetischen Einflusses halber,
Beachtung zu schenken.
Der Mensch besteht aus Körper und Geist, und es kann nicht zweifel¬
haft sein, daß beiden auch im Anstaltsleben eine gleiche Sorgfalt zu widmen
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Jugendpflege in den Heilanstalten.
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ist. Naturgemäß ist die erste Rücksicht der Gesundheit des Körpers zuzu¬
wenden, aber ebensowenig darf sich die Anstalt der ernsten Pflicht ent¬
ziehen, ihre Fürsorge der Ausbildung des Geistes zuteil werden zu lassen.
Wollen wir deshalb dem Spiel das Wort reden, so müssen wir auch die
Frage erwägen: Inwiefern nimmt das Spiel Anteil an der geistigen Aus¬
bildung unserer Schutzbefohlenen?
Spiel unterscheidet sich scharf von Arbeit. Das Merkmal der Ziel-
und Zwecklosigkeit trennt es von jener. Im Unterschied zu Arbeit ist
Spiel absichtsloses Tun, das Lust gewährt und nur wegen der Lust gesucht
wird; es ist und bleibt heiterer Scherz, und der tiefe Ernst, der in ihm liegt,
beruht auf der poetischen Illusion, die auch dem Spiele ideellen Wert gibt.
Das Spiel nimmt alle Seelenkräfte in Anspruch. Es weckt nicht nur
Vorstellungen und gewöhnt an schnelles Auffassen, sondern weckt auch
die Neigung, die gewonnenen Vorstellungen in die vielseitigsten Verbin¬
dungen zu bringen. Wenn nun auch die durch die Spieltätigkeit gewonne¬
nen Kombinationen zunächst nur die Bedeutung augenblicklicher und an
sich wertloser Einfälle haben, so ist doch die dadurch erweckte Aufmerk¬
samkeit sowie Gelenkigkeit der Vorstellungsbewegung ein großer Gewinn
für das geistige Leben. Wie sich das Spiel für die denkende Seele befruch¬
tend erweist, so nicht minder für ihr Gemütsleben. Spiel ist seinem Wesen
nach Lust und Scherz. Jedes Wölkchen der Unlust und des Unmutes
wird verscheucht durch die Heiterkeit des Spieles, und „Heiterkeit ist der
Himmel, unter dem alles gedeiht“. Möchten wir es dieserhalb nicht auch
denen zugänglich machen, die geschickt zu ernster Arbeit sind und in der¬
selben die dem Leibe wohltuende Bewegungsform haben? Diesen sei das
Spiel Erholung nach rechter Arbeit, verleihe ihnen neue Spannkraft durch
Darbietung von Lebensgenuß und Lebensfreude. Auch dem Wollen werden
von dem Spiel die wirksamsten Anregungen zuteil. Das Wollen kann sich
frei und ungehindert betätigen; hier erhallt es Aufgaben, an die es zwar
seine volle Kraft setzen kann, die ihm aber doch nicht einen in der Ferne
liegenden Erfolg in Aussicht stellen, sondern im Tun und Handeln selbst
unmittelbar und fortwährend ihre Lösung finden. Indem das Spiel alle
Seelenkräfte in geeigneter Weise in Anspruch nimmt und pflegt, läßt es
uns auch einen Blick tun in die geistige Eigenart des Patienten. Das ist
aber für die Erziehung von der größten Bedeutung; denn in der Individuali¬
tät sieht alle Erziehung den Ausgangspunkt ihrer Bemühungen und in
ihrer gewissenhaften Beachtung eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Eigen¬
tümlichkeiten des Pfleglings, die bei dem Ernst der Arbeit sich nicht in
gleicher Weise geltend machen konnten oder durch den im Anstaltsleben
liegenden Zwang unterdrückt wurden, treten beim Spiel unverhüllt hervor.
Dais gemeinsam nach verabredeten Ordnungen zu erfolgende Tun im Spiel
erzieht zur Ordnungsfähigkeit. Es führt den einzelnen zum Bewußtsein
des notwendigen Verhaltens zum Ganzen und gewöhnt dadurch an frei¬
willigen Gehorsam. Die oft ungeschminkt hervortretende Selbstsucht
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Flister,
wird kräftig unterdrückt und der Gemeinsinn geweckt. Der Eigensinnige
lernt sich fügen und steht von der Geltendmachung seines Willens ab, der
Ungebärdige unterwirft sich freiwillig.
Es gibt daher schwerlich ein Mittel, welches wie dieses imstande ist,
Leib und Seele zu stärken, die geistige Ermüdung zu beheben, zur Arbeit
fähig und freudig zu machen, und welches in so hohem Maße geeignet ist,
an der Besserung eines normalen Jugendlebens zu arbeiten.
Anschließend mögen einige Winke für den Spielbetrieb folgen.
Wo soll gespielt werden? Bei günstiger Witterung wird im Freien
gespielt; sei es nun auf den die Gebäude begrenzenden Rasenflächen oder
auf geeigneten Plätzen, welche bei Gelegenheit der Spaziergänge berührt
werden, oder auf einem sonderlich diesem Zwecke dienenden lauschigen
Platze unter schattenden Bäumen. Je näher der in der Regel benutzte
Spielplatz dem Gebäude liegt, desto besser ist es für die besonderen Ver¬
hältnisse. Zudem wird dadurch ermöglicht, denjenigen das vergnügliche
Zuschauen zu gewähren, die sich aus irgendeinem Grunde nicht am Spiel
beteiligen können. Ungünstige Witterung nötigt, die vielleicht zur Ver¬
fügung stehende Turnhalle oder den Tagesraum zu benutzen; auch würde
bei einzelnen Spielen an die etwa vorhandenen Veranden gedacht werden
können.
Wann soll gespielt werden? Für die Kranken, welche zur Arbeit
nicht herangezogen werden können, ist leicht eine Zeit gefunden. Um
aber den Arbeitenden gerecht zu werden, so wäre am besten eine Zeit
ins Auge zu fassen, die am Schlüsse der Arbeit oder auch nach einer Ruhe¬
pause liegt. Für den Sommer ergibt sich die Zeit von 7 bis 8 Uhr abends
als geeignet. Auch während des Winters ruht das Spiel nicht.
Wie oft und wie lange soll gespielt werden ? Den nicht bei der Arbeit
Beteiligten ist die Möglichkeit des Spielens öfter zu bereiten als denen,
welche die Bewegungsform der Arbeit genießen können. Ersteren möchte
zum mindesten eine Stunde täglich für das Spiel gewährt werden, den
letzteren aber so oft es angängig und mit dem sonstigen Anstaltsgetriebe
vereinbar ist, wenigstens aber an den arbeitsfreien Sonn- und Festtagen.
Für das Wielange? ist der Maßstab in den Spielenden selbst zu suchen.
Mit einer Stunde möchte das Höchstmaß bezeichnet sein. Die ganze
Zeitfrage ist zudem gelöst, sobald man von dem Werte des Spieles über¬
zeugt ist.
Wie soll gespielt werden? Ein frischer, froher Sinn muß bei dem
Spiele herrschen, und doch geschehe alles mit Maß und Ordnung. Jede
Überreizung und Überanstrengung ist ebenso zu vermeiden wie ertötendes
Einerlei. Aufregendes Spiel muß mit beruhigendem in Wechsel gebracht
werden. Die Auswahl ist dieserhalb zweckmäßig zu gestalten. Der Spiel¬
leiter hat das Spiel in die richtige Bahn zu lenken und die notwendige ein¬
schränkende Grenze zu ziehen, ohne jedoch durch fortwährendes Drein-
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Jugendpflege in den Heilanstalten.
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und Zwischenreden den Unmut zu erregen und die Lust am Spiel zu ver¬
kümmern. Die Spielleitung muß mit Takt geschehen.
Was soll gespielt werden ? Wie bezüglich der Art und Weise des Spiel¬
betriebes Anleitung für die Spielleiter notwendig ist, so auch bezüglich des
Spielstoffes. Diese Anleitung und Belehrung zu geben ist aber nur ein er¬
fahrener Pädagoge imstande. Derselbe gibt in besonderen Stunden dem
Wartepersonal Belehrung und Anleitung und überwacht den gesamten
Spielbetrieb. Daß diese Oberleitung des Spieles in steter Fühlung mit dem
Arzt zu stehen hat, bedarf wohl kaum der weiteren Erwähnung.
II. Der Gesang ein notwendiges Glied der Anstaltserziehung. .
Für jeden Anstaltsverband bildet die Unterhaltung der Pflege¬
befohlenen einen Gegenstand von hoher Bedeutung, gleichzeitig aber auch
in den meisten Fällen einen Gegenstand, welcher der Leitung viel Schwierig¬
keiten bietet. Gilt dies von allen Anstalten, so um so mehr von den in Frage
stehenden Heilanstalten für Nerven- und Geisteskranke. Der Unterhaltung
dienend werden Feste abgehalten, theatralische Aufführungen veranstaltet,
Spiele angeordnet. Während diese Unterhaltungsmittel aber einesteils
aus naheliegenden Gründen dem einen versagt sein müssen, also nicht allen
zugänglich gemacht werden können, so sind sie andernteils manchmal
nur mit großen Schwierigkeiten und unter großem Kostenaufwande durch¬
führbar, so daß sie nur in größeren Zwischenräumen zu ermöglichen sind.
Als allzeit bereite Helferin bietet sich uns da die Musik an. In einzel¬
nen Abteilungen steht ein Klavier oder ein Harmonium zur Verfügung,
dort sammeln Geige, Cello, Zither einen Zuhörerkreis um sich, am anderen
Ort finden Mund- und Ziehharmonika dankbares Publikum; sogar der
Leierkasten hat sich guter Aufnahme zu erfreuen. Tritt Frau Musika
aber nur in diesen Rollen auf, so zieht sie doch wiederum nur einen kleinen
Teil in ihren Bannkreis. Es soll durchaus nicht gesagt werden, daß nur
diejenigen des Segens der Musik teilhaftig werden, welche sie selbst auf
diesem oder jenem Instrumente ausüben. Gewiß haben auch die Anteil
daran, die aufmerksame Hörer sind. Aber umfassender, ja alle um¬
schließend wirkt die Musik im Gesänge. In diesem sind alle ausübend
und genießend zugleich.
In dem Gesänge haben wir aber nicht nur ein treffliches Unter¬
haltungsmittel, sondern wir betrachten ihn auch als ein notwendiges Glied
der Anstaltserziehung. Wie gelingt es oft durch ihn, die Unruhe abzu¬
leiten, wie ist er Mittel, die verschiedensten Elemente zu einigen und zu
binden! Da kehrt eine größere Zahl kranker Außenarbeiter vom Felde
heim. In Reih und Glied kommen sie angezogen. Der Wärter hat ein
Lied angestimmt. Leicht fügt sich alle.; den Fesseln des Gesanges. Der
Pflegling fühlt sich oft vereinsamt; im Gesänge fühlt er den Segen des
vereinten Wirkens, da fühlt er sich mit den andern verbunden, sein Herz
wird in Liebe erwärmt, und das Gefühl für Freundschaft wird erweckt und
gepflegt. Ein aus der hiesigen Anstalt entlassener Pflegling konnte deshalb
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Flister,
aus seiner Heimat einem hier gewonnenen Freunde schreiben: „Heute
machten wir bei schönem Wetter einen Ausflug in die Thekenberge; es
war ein herrliches Vergnügen. Da stiegen mir beim Singen der dort ge¬
lernten Lieder auch wieder freundliche Erinnerungen auf, wie schön wir dort
so manche liebe Stunde verbracht haben.“ Auch mit Pflegern und Pflege¬
rinnen, die es verstehen das rechte Lied anzustimmen, fühlen sich die
Kranken fester verbunden, und beide Teile erhellen einander das Dasein.
Da wird am Geburtstage des Patienten sein Lieblingslied angestimmt.
Seine Bereitwilligkeit ist geweckt, und beide Teile kommen einander nahe.
So knüpft der Gesang das Band der Einheit, erhebt das Gemüt und ist
als wesentlicher Faktor anzusehen, das Aristaltsleben zu veredeln und
zu heben.
Im Liede, im Gesänge kommt am vollkommensten zum Ausdruck,
„was Menschenbrust durchbebt, was Menschenherz erhebt“, und deshalb
ist er uns Mittel, in das tiefinnerste Leben der Seele einzudringen, wie es
durch Wort und Schrift, die stets eine Vermittlung durch das Denken
voraussetzen, nie geschehen^ kann. Durch den Gesang sind wir darum
imstande, die edelsten Saiten des menschlichen Herzens anzuschlagen,
die tiefsten Regungen der Seele zu wecken; mit seiner Hilfe greifen wir
in das innerste Seelenleben ein, impfen Gefühle, Bestrebungen ein, die ohne
ihn niemals zu erlangen wären, bereichern mit Gedanken, die nie hätten
gewonnen werden können. Ziehen wir hieraus die weitere Folgerung: durch
Bildung des Gedankenkreises im Gesänge werden Leitsterne für das Tun
gegeben, der Wille wird beeinflußt, der Charakter gebildet.
Was sollen wir singen? Nicht alles; denn es gibt auch einen Sirenen¬
gesang. Läßt du dir den christlichen Volksgesang angelegen sein, so hast
du gewonnenes Spiel, und die Zotenlieder und Gassenhauer werden bald
verschwinden. Die Beobachtung können wir im Anstaltsleben immer
wieder machen, wenn wir die Pfleglinge, die sich bisher selbst überlassen
waren, solchen gegenüberstellen, die nun in der Anstalt erzogen sind.
Darum greife hinein in den reichen Schatz des deutschen Volks¬
liedes, in dem Innigkeit und gewaltige Kraft, in dem des deutschen
Volkes Freud und Leid liegt, in dem Kunst und Natur sich vereinigen.
Die gestellte Forderung: Dem christlichen Volksgesange ist der
Stoff zu entnehmen, weist neben dem Volksliede aber auch dem Kirchen -
liede, dem Choral, seine gebührende Stellung ein; denn in dem geistlichen
Volkslicde kommen wie in keinem anderen Liede die Gefühle des Glaubens,
des Gottvertrauens, des Trostes, des Dankes, der Liebe und der Erhebung
zum Ausdruck.
Die Frage, wann und wie soll gesungen werden? ist schwer zu
beantworten. Das Richtige ist leichter zu fühlen als auszusprechen. Man
singe des Morgens und des Abends bei der Andacht, bei der Arbeit, beim
Spazierengehen, bei besonderen Gelegenheiten: an Geburtstagen, oder
wenn ein Todesfall sich ereignete, an Sonn- und Festtagen, und doch singe
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Jugendpflege in den Heilanstalten.
987
in nicht regellos; denn wie alles regellose Tun in Langweiligkeit endet,
auch regelloses Singen.
Wie soll gesungen werden? Es ist darauf zu achten, daß gesungen
d nicht geschricn werde. Ob ein-, zwei- oder mehrstimmig gesungen
*rden soll, ist eine Sache von untergeordneter Bedeutung. Wird gut
nstimmig gesungen, so ist viel, sehr viel erreicht. Ist der Pfleger oder
e Pflegerin in der Lage, eine natürliche zweite Stimme dazu zu singen,
ist noch mehr erreicht; vielleicht finden sich gar unter den Zöglingen
liehe, die das zu leisten vermögen, und dann ist es noch besser. Von
ehrstimmigem Gesänge möchte ich überhaupt abraten, damit der Kunst
le Natur nicht verloren gehe. Von hochgespannten Erwartungen ist also
on vornherein abzusehen. Am besten ist diese Frage gelöst, wenn die
Einrichtung getroffen wird, daß sich Kranke und Pfleger zu gemeinsamer
bung zusammen finden unter Leitung eines Sangeskundigen, in der
tegel eines Anstaltslehrers.
Im Sinne obiger Ausführungen wirken die meisten Heilanstalten,
um der heranwachsenden Jugend mit alledem zu dienen, das sie stark
macht an Leib und Seele. Es liegt in ihrem Wesen begründet, daß die
körperliche Gesundheit hoch gewertet wird, aber letztes Ziel der Jugend¬
pflege ist auch hier: sittliche Hebung des Individuums, dessen wahres
Glück in der Freimachung seiner höheren geistigen und sittlichen
Kräfte beruht.
Die Wege, auf denen diesem Ziele zugestrebt wird, sind verschieden.
Es wird geturnt, gesungen, gewandert, gelesen, Lichtbildervorträge
werden gehalten, vaterländische und örtliche Gedenktage gefeiert,
Tierschutz und Blumenpflege geübt. Und zwar wird das alles nicht
einseitig betrieben, sondern in harmonischer Verbindung, damit vor
allem ein schablonenhaftes Vorgehen vermieden werde, welches der
freiwilligen Jugendpflege nicht wohl anstehen würde. So allein ist der
freien Entwicklung der Kräfte der gebührende Baum gegeben, wie
außerdem die Teilnahme der Jugendlichen keineswegs auf Zwang be¬
ruhen darf, sondern einzig und allein auf freiem Willen. Nur so wird
Form und Betrieb dem Wesen der Jugendpflege entsprochen, deren
Bestrebungen völlig freiwilliger Art sind, die freiwilligem Vorgehen
ihre Gründung, freiwilliger Art ihren Erfolg verdanken.
Der Altersgrenze der Teilnehmer ist in den Anstalten ein größerer
Spielraum gegeben. An allen zunächst für die Jugendlichen berechne¬
ten Veranstaltungen können sich je nach ihrer Art auch ältere Insassen
beteiligen. Vor allem wird die Beteiligung eine allgemeine sein bei
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988
Flister, Jugendpflege in den Heilanstalten.
festlichen Veranstaltungen und bei Lichtbilder- oder kinematographi-
schen Vorführungen, während Turnen und Bewegungsspiel mehr der
eigentlichen Jugend Vorbehalten bleibt. Es sei auch darauf hinge -
wiesen, daß die Anstaltsjugendpflege beide Geschlechter umfaßt.
Im Wesen der Anstalt ist es auch begründet, daß die Oberleitung
der Jugendpflege in den Händen der Direktion bleibt. Deren Aufgabe
ist es, eine Persönlichkeit mit der Ausführung zu betrauen, die Gewähr
bietet für die rechte Auffassung des Problems der Jugendpflege und für
das rechte Verständnis der jugendlichen Psyche der seelisch Schwachen.
Um Helfer wird man nicht verlegen sein. Unter den Pflegerinnen und
Pflegern werden sich leicht solche ausfindig machen lassen, denen eine
besondere Begabung für diese Sache geschenkt ist, und bei denen es
nicht schwerhält, durch Anleitung brauchbare Hilfskräfte heranzu¬
ziehen. Zudem könnte der Aufgabenkreis der bestehenden Kurse
für das Pflegepersonal in den Heilanstalten recht gut eine Ausgestaltung
nach dieser Seite hin erfahren. Was für den Leiter gilt, ist auch für
die Helfer zutreffend: wer kein Verständnis für die Anstaltszöglinge
hat und sich nicht mit ganzer Teilnahme in Freud und Leid derselben
versetzen kann, der bleibe der Jugendpflege fern; denn er wird nur
verkümmern lassen, was er entwickeln helfen, was er pflegen sollte.
Daß weiter ein einmütiges Zusammenarbeiten yon Jugendpfleger und
Arzt dem Gedeihen der Jugendpflege nur förderlich sein kann, ist
selbstverständlich. So richte jeder der Berufenen seinen Blick auf das
Ganze, und auch dieses Werk der Jugendpflege wird Erfolge zeitigen
zum Wohle der Anstalten und ihrer Schutzbefohlenen.
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Uber di© Notwendigkeit psychiatrischer Fort¬
bildungskurse für Kreisärzte.
Von
Kreisarzt Medizinalrat Dr. Kluge, Wolmirstedt.
Unter den in den letzten Jahrzehnten auf fast allen Gebieten der
ledizinischen Wissenschaft und speziell in der Krankenbehandlung
emachten Fortschritten sind die der Psychiatrie mit die bedeutend-
ten. Dieselben erstrecken sich sowohl auf die Erkenntnis der Ur-
achen und der Entstehung der Geisteskrankheiten als auch, zum Teil
venigstens, auf die Festlegung pathologisch-anatomischer Befunde,
erner auf die Deutung der klinischen Erscheinungen und endlich,
vas für unsere Mitmenschen die Hauptsache ist, auf die Behandlung.
Für die Fortschritte in der Behandlung Geisteskranker bieten unsere
nodernen Heil- und Pflegeanstalten den sichtbaren Beweis. Wer die
Ybleilungen für Geisteskranke in der Charite zu Berlin noch gekannt hat,
.ver die mehr Gefängnissen als Krankenhäusern gleichenden alten An¬
stalten noch selbst gesehen und nun die jetzigen modernen Heil- und
Pflegeanstalten kennen gelernt hat, kann allein daraus einen Maßstab für
die gewaltigen Fortschritte in der Behandlung der Kranksinnigen gewinnen:
früher absoluter Abschluß der Kranken von der Außenwelt ohne Rück¬
sicht auf die Umgebung des unglücklichen Kranken, jetzt Aufenthalt in
behaglichen Wohnräumen mit Gewährung freier Bewegung, so weit die¬
selbe nur irgend zulässig erscheint.
Bei solchen Fortschritten, die ja auch dem Laien nicht unbekannt
geblieben sind, nimmt es nicht Wunder, wenn die frühere Abneigung von
Angehörigen Geisteskranker, diese in einer geschlossenen Anstalt unter¬
zubringen, fast in das Gegenteil umgeschlagen ist. Die Anstalten sind
überall trotz ihrer in den letzten Jahrzehnten außerordentlich starken
Vermehrung überfüllt; nicht etwa dadurch, daß die Zahl der Geistes¬
kranken an sich so beträchtlich zugenommen hätte, sondern in der Haupt¬
sache dadurch, daß infolge der modernen Behandlung die Scheu der Men¬
schen vor der Unterbringung geisteskranker Angehöriger in die Anstalten
geschwunden ist.
Diese Überfüllung der Anstalten hat nun in jüngster Zeit den
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990
Kluge.
Chef der Provinzialverwaltung der Provinz Sachsen zu einer Ver¬
fügung veranlaßt, der zufolge die Aufnahmen Geisteskranker in die
öffentlichen Heil- und Pflegeanstalten der Provinz nach Möglichkeit
einzuschränken, jedenfalls auf die Fälle zu beschränken sind, deren
Überweisung in Anstalten entweder aus Gründen der allgemeinen
Sicherheit oder aus der Notwendigkeit des Schutzes für den Kranken
selbst unbedingt erforderlich ist. In dem Erlaß ist besonders betont,
daß, wenn eine solche Beschränkung der Aufnahmen jetzt nicht einträte,
in der Provinz etwa alle 4 Jahre eine neue Anstalt erbaut werden müßte.
Eine Folge dieses Erlasses wird naturgemäß sein, daß sich die zurzeit
nicht übermäßig große Zahl von in der eigenen oder in einer fremden Fa¬
milie untergebrachten Geisteskranken, Idioten und Epileptischen stark
vermehren wird. Für den öffentlichen Gesundheitsbeamten des Kreises,
den Kreisarzt, bedeutet dieses Verbleiben einer nicht unbeträchtlichen
Anzahl von Geisteskranken, Epileptikern und Idioten außerhalb der
Anstalten eine wesentliche Vergrößerung seines an sich schon nicht
geringen Fürsorgegebiets. Nach dem Abschnitt XXIX §§ 104 und 105
der Dienstanweisung liegt dem Kreisarzt die Mitwirkung bei der
Aufnahme dieser Kranken in Anstalten und die Beaufsichtigung der
in Familienpflege untergebrachten Kranken ob. Daß die Zahl der in
der eigenen Familie verbleibenden, bzw. in anderen Familien zur Pflege
untergebrachten Kranksinnigen unter der Einwirkung des oben be¬
sprochenen Erlasses zunehmen wird, unterliegt keinem Zweifel. Schon
dadurch wird dem Kreisarzt wegen der mehr Zeit in Anspruch nehmen¬
den Beaufsichtigung auch Mehrarbeit erwachsen; es wird sich aber
ferner als unumgänglich notwendig erweisen, daß die Beaufsichtigung
eine viel häufigere und intensivere als bisher werden muß. Denn von
jetzt ab werden nicht nur, wie bisher, harmlose Idioten, Epileptiker
oder unschädliche chronische Geisteskranke anderer Art in den Fa¬
milien bleiben, sondern auch eine Anzahl von Kranken, die für gewöhn¬
lich nicht unbedingt einer längeren Anstaltsbehandlung bedürftig sind,
deren Krankheit aber doch häufiger in Erscheinungen übergeht, welche
ärztliche bzw. sogar fachärztliche Überwachung erfordern. Letztere ist
notwendig, um eine Überführung in eine Anstalt gegebenen Falles
rechtzeitig zu veranlassen. Den bisherigen Imbezillen bzw. Idioten, Epi¬
leptischen usw. in den Familien werden sich jetzt häufiger Geisteskranke
zugesellen, deren Zustände wechselnd sind, deren Krankheit in Inter¬
vallen verläuft, also besonders auch solche, bei denen depressive Stimmungen
oder manische Erregungen mit anscheinend fast normalen Stimmungen
abwechseln, ferner chronische Paranoiker, die monatelang für die Um¬
gebung harmlos, dann aber wieder, je nach der Art ihrer Wahnideen, für die
Umgebung sehr lästig oder gemeingefährlich werden können. Alle diese
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Über die Notwendigkeit psychiatrischer Fortbildungskurse für Kreisärzte. 991
Kranken wird der Kreisarzt unter seine Aufsicht nehmen, wird sie von
Zeit zu Zeit sehen müssen; er wird die Angehörigen oder die Pfleger darüber
aufzuklären und zu belehren haben, welche Erscheinungen sie veran¬
lassen müssen; sich möglichst schnell sachverständigen ärztlichen Rat
zu erbitten. Der praktische Arzt gibt sich im allgemeinen aus naheliegenden
Gründen nicht gern mit derartiger ärztlicher Tätigkeit ab, und eine Über¬
weisung solcher Geisteskranken in allgemeine Krankenhäuser ist nur in
seltenen Ausnahmefällen möglich.
Durch die infolge des Erlasses wenigstens zunächst in der Provinz
Sachsen erschwerte Überweisung Kranksinniger in die öffentlichen Heil-
und Pflegeanstalten wird sich also wahrscheinlich eine Art von Familien-
pflege einbürgern, die selbstverständlich nicht den Anforderungen ent¬
sprechen kann, welche der Psychiater an die jetzt seit 20 bis 30 Jahren in¬
augurierte Familienpflege stellt und stellen muß. Was bei einer solchen
Krankenpflege verlangt werden muß, zeigen in musterhafter Weise die
Einrichtungen, wie sie in den Dörfern in der unmittelbaren Nähe der
Anstalt Uchtspringe und in Gardelegen und Jerichow getroffen sind. Auf¬
gabe des Kreisarztes wird es aber sein, soweit ihm das bei seiner weit¬
verzweigten und mannigfaltigen Tätigkeit möglich sein wird, hier nach
Kräften Zustände herbeizuführen oder wenigstens anzustreben, die den
billigen Bedürfnissen der unglücklichen Kranken auf der einen Seite und
auch denen der Umgebung auf der anderen Seite gerecht werden, und die
einer geordneten Familienpflege wie in den obengenannten Orten wenig¬
stens nahe zu kommen versuchen müssen. Neben einer gewissen organisa¬
torischen Tätigkeit wird der Kreisarzt dazu vor allen Dingen einer steten
Auffrischung seiner psychiatrischen Kennntisse bedürfen. Dazu muß er
möglichst in stetem Konnex sowie in regem Verkehr und Gedankenaus¬
tausch mit Psychiatern bleiben. Die an sich vortrefflichen Fortbildungs¬
kurse für Medizinalbeamte in Berlin reichen zu diesem Zweck nicht aus.
Abgesehen davon, daß die Mehrzahl der Kreisärzte nur alle 6 bis 8 Jahre
zu einem solchen Kursus herangezogen werden kann, ist das dort Gebotene
derartig mannigfaltig, daß die Zeit für besonders eingehende psychiatrische
Studien nicht ausreicht, um das wissenswerte Neue auf dem Gebiete der
Psychiatrie kennen zu lernen und das frühere Wissen wieder zu befestigen.
Es ist dringend zu wünschen, daß wieder besondere, nur der Fort¬
bildung in der Psychiatrie dienende Kurse speziell für Medizinalbeamte
eingerichtet werden, wie sie schon vor etwa 15 bis 20 Jahren in Halle
und Marburg stattfanden; allerdings vielleicht in etwas anderer Weise.
Die seit etwa 10 Jahren von dem Direktor der Uchtspringer Anstalt,
Herrn Professor Dr. Alt, wiederholt abgehaltenen Kurse haben allent¬
halben bei den Ärzten Anklang gefunden und waren in besonderem
Maße geeignet, die speziell auch dem Kreisarzt notwendigen psych¬
iatrischen Kenntnisse neu einzuprägen bezw. aufzufrischen. Es ist dazu
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992 Kluge, Uber die Notwendigkeit psychiatrischer Fortbildungskurse usw.
neben den Vorträgen und Vorstellungen von Kranken die Teilnahme
an den ärztlichen Visiten erforderlich, es ist unbedingt nötig, aus
eigener Anschauung den Betrieb in den Familienpflegen genau kennen
zu lernen. Eine dreiwöchige, im Notfälle auch zweiwöchige Dauer
eines solchen Kursus, in dem eben nur Psychiatrie getrieben wird,
kann diesen Zweck erfüllen. Zugleich wird in diesen Kursen sich stets
Gelegenheit bieten zu eingehenden Besprechungen über psychiatrische
Sachverständigentätigkeit, wie sie der Kreisarzt als Gerichtsarzt
seines Kreises häufig ausüben muß.
Die Begutachtung Geisteskranker in bezug auf die Beurteilung der
Zurechnungsfähigkeit nach § 51 des Str.-G.-B. und in bezug auf die Not¬
wendigkeit von Entmündigungen nach § 6 des B.G.B., die doch recht oft
mit zu den schwierigsten psychiatrischen Problemen gehört, kann nicht
oft genug besprochen und an geeigneten Fällen geübt werden. Den Ge¬
richten, namentlich den Amtsgerichten, stehen nicht jederzeit Psychiater
zur Verfügung zu sachverständigen Begutachtungen, sei es in Straf- oder
in Zivilsachen. Hier wird der Kreisarzt — er mag wollen oder nicht —
herangezogen werden. Klarheit und Sicherheit der sachverständigen
Beurteilung ist aber gerade in der gerichtlichen Psychiatrie unentbehr¬
lich für den Richter, der sein Urteil meist allein auf das Urteil der Sach¬
verständigen gründen muß.
Mit großem Dank gedenkt eine größere Anzahl von Ärzten und
speziell von Kreisärzten der Anregungen, die sie in der Uchtspringer An¬
stalt von dem Leiter derselben in den wissenschaftlichen Zusammen¬
künften auf psychiatrischem Gebiet vor Jahren erhalten haben; es waren
unvergeßliche Stunden, die durch den daraus hervorgegangenen
kollegialen Verkehr noch ihren besonderen Reiz erhielten. Die
dann sich später an diese Zusammenkünfte anschließenden, bereits
oben erwähnten Kurse boten die Erneuerung und Auffrischung der psych¬
iatrischen Kenntnisse gewissermaßen in einem Guß.
Die jetzt durch den erwähnten Erlaß des Herrn Landeshaupt¬
manns an die Kreisärzte sicher herantretende Forderung einer beson¬
ders intensiven Fürsorge für diejenigen Geisteskranken, die nicht in
geschlossenen Anstalten Aufnahme finden können, läßt das Bedürfnis
nach psychiatrischen Kursen in der Form, wie sie eine Anzahl der
Kreisärzte in der Uchtspringer Anstalt schon genießen konnte, in ver¬
stärktem Maße wieder hervortreten. Dem Leiter der Uchtspringer
Kurse wissen alle die, welche an ihnen teilnehmen durften, für alles
das, was er als Psychiater und als Kollege den Kollegen geboten hat,
unvergeßlichen Dank.
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Verhandlungen psychiatrischer Vereine
14. Jahresversammlung des Vereins Norddeutscher
Psychiater und Neurologen in Lübeck am 9. Mai 1914.
Anwesend sind die Herren: ylAraAam-Schleswig, RartscA-Lüneburg,
Benning- Bremen-Rockwinckel, Rernd«-Hamburg, Biss -Lübeck, Böttiger-,
Hamburg, Bren necke - H amburg, RrücAner-Langenhorn, Ci/nAaZ-Altona,
Dabeistein Neustadt i. H., Delbrück- Bremen -Ellen, Rietz-Hamburg, Dock *
Aorn-Lübeck, Doctorow itseA - B re me n - Elle n, Draeseke -Hamburg, Enge-
Lübeck, von GraAe-Hamburg, Hassin -Amerika, Hoffmann-Lübeck, Holz¬
mann-Hamburg, JacoA-Ham bürg, Jacobsthal- Hamburg, Jens- Schwerin,
Äa/Aa-Hamburg, K irchhoff - Sch les wig, Klapper-Kiel, König- Kiel, Krömer-
Schleswig, ZeAne-Rinteln, Rienau-Hamburg, Rua-Hamburg, Matusch-
Sachsenberg, Metz-Neustadt i. H., Meyersohn- Schwerin, de la Motte-
Bremen-Ellen, iVonne-Hamburg, RiedeZ-Lübeck, RitterAaus-Hamburg,
Runge- Kiel, »Sänger-Hamburg, »StarAe-Strelitz-Alt, Steyerthal- Kleinen,
»Stern-Kiel, »StorcA-Hamburg, Straub -Neustadt i. H., »StraAer/aAn-Lübeck,
von Schubert-Altona, Schultze - Schleswig, Thoemmes -Lübeck, Troemner-
Hamburg, Urban -Hamburg, W attenberg-LÜbeck, WaZter-Neustadt i. H.,
FFaZter-Rostock, Weygandt- Hamburg, W ilhelmi - Sch wer i n.
I. Sitzung
vormittags 9 Uhr im Festsaal der Heilanstalt Strecknitz.
Herr Cimbal eröffnet die Sitzung. Herr Medizinalrat Physikus
Dr. Riedel begrüßt die Anwesenden namens des Lübecker Medizinal¬
kollegiums, Herr Dr. Wattenberg namens der Vorsteherschaft der Heil¬
anstalt. Zum Vorsitzenden wird Herr WattenAerg-Lübeck, zu Schrift¬
führern die Herren Enge-Lübeck und Riss-Lübeck gewählt.
Als Ort der nächstjährigen Versammlung wird Rostock bestimmt.
Sodann wird über die Reihenfolge der Vorträge beschlossen.
Vorträge:
Herr Runge- Kiel demonstriert zwei Brüder mit einer sehr seltenen
familiären Trophoneurose der unteren Extremitäten (vgl.
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994
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Münchener medizinische Wochenschrift 1914, Nr. 2) und berichtet über
zwei weitere neu untersuchte Mitglieder derselben Familie sowie einen
von Professor Göbell in Kiel untersuchten Fall.
Bei den beiden Brüdern Wilhelm W. (49 J.) und Hinrich W.
(54 J.) entwickelten sich einmal im 19., einmal im 41. Lebensjahre unter
Blasenbildung Geschwüre an den Großzehenballen, nachdem bei dem
einen seit dem 10. Lebensjahre, bei dem anderen seit der Militärzeit
Schmerzen, Reißen, Kribbeln in den Zehen und Füßen aufgetreten waren
und sich die Zehennägel öfter unter Schwarzwerden abgestoßen hatten.
Die Geschwüre kehrten immer wieder, bei dem jüngeren Bruder stießen
sich am linken Fuß Knochenteile ab, so daß schließlich Fußwurzeln und
Mittelfußknochen fehlten und im Mai 1913 bei der Aufnahme ins Anschar¬
haus in Kiel der linke Unterschenkel stark geschwollen und gerötet war,
an der Fußsohle ein fünfmarkstückgroßes Geschwür, dessen Grund von
dem abgeschliffenen Ende der Tibia gebildet wurde, bestand und von
Professor Göbell die Amputatio Femoris osteoplastica nach Gritti vor¬
genommen werden mußte. Im amputierten Unterschenkel konnten keine
Lepra- oder Tuberkelbazillen, keine Spirochäten nachgewiesen werden.
Dem älteren Bruder mußte im April 1913 die linke große Zehe amputiert
werden, später bestanden Geschwüre an der Fußsohle. Die neurologische
Untersuchung ergab nur Hypästhesie, Hypalgesie, sowie teilweise Therm-
hypästhesie an den Zehen, teilweise auch an den Füßen selbst, in dem
einen Fall Fehlen des rechten Achillesreflexes, sowie hier leichte Atrophie
des ganzen rechten Beines, die immer bestanden haben soll. Die Lumbal¬
punktion ergab in einem Fall nichts Besonderes, die Wassermannsche
Reaktion im Blut war bei beiden negativ (anfangs zweifelhaft). Im Urin
hatte der eine Bruder anfangs Spuren von Eiweiß, später nicht mehr.
Fußpulse gut zu fühlen, rechts* gleich links.
Ein Vetter dieser beiden Brüder, Johannes W. (50 J.), ist neu
untersucht: In der Militärzeit Blasen- und Geschwürbildung an der linken
Großzehe, damals Amputation der Großzehe. Weitere Geschwüre an
den Zehen und Fußsohlen, Knochenteile stießen sich häufig ab. Ist noch
arbeitsfähig.
Befund: Beide Füße stark verkürzt und verbreitert. An den meisten
Zehen, welche nur lose Weichteilstummel bilden, fehlen die Phalangen.
Mittelfußknochen beiderseits nur teilweise erhalten. An der rechten
Fußsohle verschiedene Narben, ebenso an der linken, hier aber in der
Mitte des Mittelfußes tiefes Geschwür. Haut der Sohlen stark verdickt.
Achillesreflexe fehlen beiderseits. Keine Atrophien, mangelhaftes Lokali¬
sationsvermögen im unteren Drittel beider Unterschenkel, an Füßen
und Zehen, besonders an Fußsohlen, Schmerzempflndung leidlich, Tem-
peraturempfindung an Sohle und Zehen herabgesetzt. Wassermannsche
Reaktion im Blut negativ.
Die beiden Söhne desWilhelm W., ChristianW. (Schneider,
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
995
22 J.) und August W. ( Kellner, 21 J.) klagen seit Jahren über Schmerzen
und Reißen in den Füßen und Zehen besonders nach Anstrengungen.
Bei beiden zeigten sich ähnliche Sensibilitätsstörungen an den Zehen
und Fußsohlen wie bei den anderen Patienten. Bei beiden Caput obstipum,
Reste überstandener Rachitis. Bei August W. im r. Großzehen im Inter-
phalangealgelenk leichtes Krepitieren. Die Wassermannsche Reaktion
war bei ihm im Blut negativ. Bei sämtlichen fünf Patienten waren niemals
Blasen- oder Mastdarmstörungen aufgetreten. Bei vier fehlten sichere
Anzeichen einer Spina bifida occulta (Christian W. ist nicht näher darauf
untersucht), die Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule und des Os
sacrum der beiden Brüder Wilhelm und Heinrich W. ergab ebenfalls
keine Anhaltpunkte dafür. Der übrige neurologische Befund war völlig
negativ.
Die Röntgenaufnahmen der Füße (Professor GöbeU), die
demonstriert werden, zeigten bei den beiden älteren Brüdern ostarthritische
Prozesse, deutliche Knochenwucherungen in der Umgebung der Gelenke
sowie auch Knochenatrophien. Bei August W. waren Knochenverände-
rungen am rechten Interphalangealgelenk der großen Zehe angedeutet,
bei Christian W. fehlten deutliche Veränderungen. Bei Johann W. konnten
bisher Röntgenaufnahmen nicht gemacht werden.
Der Stammbaum der Familie W., der demonstriert wird,
zeigt bisher 12 Fälle derselben Trophoneurose der unteren Extremitäten.
Großvater und Großmutter väterlicherseits der Patienten Wilhelm und
Heinrich W. waren völlig gesund, starben hochbetagt; die Erkrankungen
begannen bei dem Vater der Patienten und dessen Brüdern. Auffallend
ist, daß nur männliche Personen erkrankten, daß die Krankheit auch
nicht durch weibliche Personen weiter übertragen wurde, daß in den
beiden Linien, die frei von der Erkrankung blieben, nämlich der des älteren
Onkels und der der einzigen Tante väterlicherseits der Gebrüder W. anders¬
artige eigentümliche Erkrankungen unbekannter Art vorgekommen sind:
einmal Verkrüppelung der Beine von Geburt an bei einem Mann mit
auffallendem Maltalent, einmal Erblindung bei einem Mann, der auch
an „Zuckungen“ des Kopfes leiden soll.
Im ganzen sind sechs Mitglieder der Familie an der Erkrankung
gestorben.
Die Diagnose ist sehr schwer zu stellen. Vortragender glaubt
Lepra, Raynaudsche Krankheit, die gewöhnlichen Formen von Syringo¬
myelie sowie Lues und Spina bifida occulta, bei der fast genau dieselben
Störungen beobachtet werden, mit Sicherheit ausschließen zu können.
Er weist auf ähnliche von Oehlecker und Bruns mitgeteilte Fälle
hin, bei denen die Diagnose ungewiß blieb. Es kann sich nur um eine
Erkrankung des unteren Rückenmarkabschnittes handeln und zwar,
der Lokalisation der Symptome nach, entweder um einen Prozeß etwa in
der Höhe des 5. Lumbal- bis 2. Sakralsegmentes, im sogenannten Epikonus,
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996
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
oder um eine Caudaerkrankung; jedoch ist erstere Lokalisation wahr¬
scheinlicher. Welcher Natur der Prozeß ist, läßt sich bei den mangelnden
anatomischen Untersuchungen bisher nicht feststellen, vielleicht handelt
es sich um Hydromyelie oder eine eigentümliche Form des Mo/vanschen
Typus der Syringomyelie.
Diskussion. — Herr 7>dmner-Hamburg stellt noch — auf Grund
eines mit Zenckel beobachteten Falles — die ebenfalls auf kongenitaler
Anlage erwachsenden Zysten resp. Dermoidzysten in Frage, bei denen
ebenfalls trophische Störungen im lumbo-sakralen Wurzelgebiet domi¬
nieren können.
Herr Draese/ce-Hamburg fragt an der Hand der Tafel über die Ab¬
stammungsverhältnisse der betreffenden Familie an, ob keine Kinder
klein verstorben sind. Es ließen sich dort vielleicht aus Bildungsanomalien
usw. noch weitere wichtige Schlüsse ziehen.
Herr Runge-Kiel (Schlußwort) erwiedert Herrn Draeseke, daß Nach¬
forschungen nach den Erkrankungen und Todesfällen der jüngsten Mit¬
glieder der Familie W. ganz besonders sorgfältig angestellt sind, daß sich
aber nichts Besonderes in dieser Beziehung ergeben habe.
Herr Sänger -Hamburg demonstrierte ein 16 jähriges Mädchen, das
an einer rezidivierenden Okulomotoriuslähmung leidet. Die
Lähmung trat vor mehr als 10 Jahren nach einer mit Kopfschmerzen und
Erbrechen verbundenen Erkrankung erstmalig auf, verschwand dann
wieder und kehrte dann in immer größer werdenden Zeitabständen unter
den gleichen Begleiterscheinungen wieder. Der Fall ist klinisch und auch
serologisch genau untersucht, ohne daß sich bestimmte Anhaltpunkte in
ätiologischer Beziehung ergeben haben.
Diskussion. — Herr Walter-Rostock: Der Herr Vortragende hat
angegeben, daß die Liquoruntersuchung der Patientin einen normalen
Befund ergeben habe und dabei einen Zellbefund von 18/3 im cmm Liquor
registriert. Nach meinen eigenen Erfahrungen muß ich diese Lympho¬
zytenzahl aber bereits als pathologisch ansehen, da ich bei völlig intaktem
Nervensystem fast nie mehr als eine Zelle pro cmm fand. Es ist besonders
von französischer Seite schon seit längerer Zeit darauf hingewiesen, daß
die gewöhnlich in den Lehrbüchern angegebenen Zahlen, wonach 5—8
Zellen pro cmm Liquor noch als normal anzusehen sind, wesentlich zu
hoch gegriffen sind. Erst kürzlich ist übrigens in einer deutschen Arbeit
sogar 0,5 Zellen pro cmm als Normalzahl angegeben.
Herr Äa/Äa-Hamburg: Die Zahl von 6 im cmm, die allein ja nichts
besagt, ist immerhin auffällig. K. fragt daher, ob die Goldsolreaktion
der Spinalflüssigkeit oder die intrakutane Luetinreaktion vorgenommen ist.
Herr Sänger-Hamburg erwidert Herrn Kafka , daß auch Goldsol¬
reaktion und Luetinreaktion vorgenommen seien mit negativem Er¬
gebnis.
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
997
Herr Nonne-Hamburg erklärt, daß nach seiner Erfahrung 6/3—8/3
•Uen im Liquor spinalis noch als im Bereich der Norm liegend betrachtet
?rden müssen. Er hat durchaus nicht selten diese Zeitzahl bei Gesunden
id bei von syphilogenen Nervenkrankheiten definitiv ausgeheilt ge-
esenen Individuen angetroffen. N. glaubt, daß die alte Annahme, 10/3
*llen im cmm als die obere Grenze der Norm anzusehen, im wesentlichen
as Richtige trifft.
Herr Holzmann Hamburg hält gleichfalls die Zahl 6 im cmm für
u hoch für normalen Liquor, auch Rehm gebe an, daß er 5 Zellen fast
ur im Falle von überstandener Lues gefunden habe.
Da jetzt bekannt ist, daß schon bei primärer und sekundärer Lues
echt häufig Lymphozytose auftritt, so müssen in solchen Fällen die
• Zellen als Restsymptome einer meningitischen Aflektion angesehen
.verden können.
Die Franzosen, z. B. Nikme, Nageotte, geben y 2 —1 y 2 Zellen im cmm
als Norm an und fanden die Zahl durch Untersuchung von Liquoren,
die von Lumbalanästhesierungen stammten. Die Franzosen benützen
eine Zählkammer, die ganz analog der Fuchs-Rosenthalschen die Zahl
im cmm angeben läßt.
Herr Nonne demonstriert die Präparate eines Falles von an¬
geborenem zystisch entartetem Teratom der Hypophyse mit Be¬
sprechung der dabei in Frage kommenden anatomischen, physiologischen
und klinischen Möglichkeiten.
Diskussion. — Herr Wet/gandf-Hamburg betont, daß der ge¬
schilderte höchst interessante Fall vor der Röntgenuntersuchung noch
keineswegs unbedingt als hypophysär aufzufassen war, vielmehr erinnerte
er zunächst am meisten an eunuchoiden Längenwuchs. Zwergwuchs auf
hypophysärer Grundlage ist selten in der Literatur, nur ganz vereinzelte
Fälle von Benda , Hueter, Wood und Hutchinson sind bekannt. Der kretinöse
Zwergwuchs ist sicher hypothyreoid bedingt, was das Experiment mit
thyriektomierten jungen Tieren jederzeit erweisen kann.
Außerordentlich schwer zu erklären ist die vom Vortragenden beob¬
achtete und in der Literatur einige Male zu findende Durchbrechung der
Wachstumshemmung in späteren Jahrzehnten.
Herr JFafter-Rostock: Immer wieder findet man in der Literatur
die Anschauung vertreten, daß der Hinterlappen der Hypophyse ein
innersekretorisches Organ für sich sei. Nach meinen eigenen Unter¬
suchungen, die sich auf etwa 50 Hypophysen erstrecken, muß ich aber
diese Annahme als sehr unwahrscheinlich bezeichnen, da sich in diesem
Teile überhaupt keine Elemente finden, denen man eine innersekretorische
Funktion zusprechen könnte, worauf bereits Marburs hingewiesen hat.
Außer dem Bindegewebe, das auffallend kernarm ist, lassen sich dagegen
reichliche Nervenfasergeflechte hier nachweisen.
Zeitschrift für Psyohistrie. LXXI. 6. 68
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998 Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Den experimentellen Untersuchungen mit Extrakt aus dem Hypo¬
physen-Hinterlappen kann ich deshalb keine zwingende Beweiskraft
zuerkennen, weil man häufig aus dem Vorderlappen eingewucherte Drüsen¬
läppchen hier findet, abgesehen davon, daß es fast unmöglich ist, den
Hinterlappen ohne Zerstörung des Mittellappens loszulösen.
Herr /aArofc-Hamburg fragt Herrn Nonne, wie der Hypophysen¬
stiel beschaffen ist und ob sich noch Reste von Hypophysengewebe mikro¬
skopisch nachweisen ließen. In einem Falle arteriosklerotischer Demenz
fand J. eine zystisch erweichte Hypophyse mit ganz dünner, größtenteils
verkalkter Wandung, im deutlich vergrößerten Türkensattel gelegen.
Mikroskopisch zeigte sich, daß der Hypophysenstiel nicht wesentlich
verändert und noch kleine Reste vom Vorder- und Hinterlappen in der
Zystenwandung nachweisbar waren. Klinisch bestanden keine hypo¬
physären Ausfallsymptome, vielleicht ein Beweis dafür, daß selbst kleine
Hypophysenreste genügen zur Aufrechterhaltung ihrer physiologischen
Funktionen. Des weiteren erwähnt J. einen Fall von Infantilismus mit
Bewegungsstörungen und phsychischer Minderentwicklung, wo sich eine
Hypoplasie der Aorta und der Genitalien, Verfettung der Leber und ein
Adenom in dem Vorderlappen der Hypophyse fand. Ähnliche Erschei¬
nungen an der Aorta, Leber und den Genitalien sah J. in einem Fall von
intellektueller Minderentwicklung auf der Basis von kongenitaler Lues.
Über Technik und Erfolge der Neosalvarsanbehandlung
syphilitischer Nerven- und Geisteskrankheiten sprach Herr
von Schubert-Altona, an Hand der Erfahrungen, welche an der psychiatr.
Abt. des Altonaer Stadtkrankenhauses (Oberarzt Dr. Cimbal) gemacht
wurden, und zwar erstens intravenös, zweitens intralumbal. Bei der
intravenösen Behandlung diente eine besondere, von ihm zuerst
angegebene (Münch, med. Wchnschr. 1913, Nr. 52) Methodik, welche den
Zweck hat, das Medikament in der denkbar schonendsten Weise dem
Pat. beizubringen. Die Methode besteht darin, daß man durch Blut¬
entnahme von dem Pat. selbst sich Serum verschafft, hierin das Neo-
salvarsan auflöst und das Gemisch injiziert. Man begann dabei immer
mit einer Dosierung von 0,15 Neosalvarsan, nach einer Woche gab man
0,3, nach einer weiteren Woche 0,45 und diese Dosis weiter alle 7 Tage
bis zu zehnmal. Die zur Lösung verwandte Serummenge betrug immer
5 ccm. Technisch hat die Methode sehr befriedigt; es wurden unter
400 Injektionen nur zwei Schüttelfröste und drei Fälle von Erbrechen
gesehen, Fieber trat fast nie auf. Auch konnte Spiethoff in Jena an anders¬
artigem klinischen Material und im Tierversuch die gute Bekömmlichkeit
dieser Methode bestätigen. Die klinischen Erfolge waren bei myelitischen
und meningeal -luischen Prozessen sehr gute. Bei Tabes konnte durch
rein intravenöse Behandlung in mehreren Fällen eine bedeutende sub¬
jektive Besserung erzielt werden. Es gelang, gastrische Krisen zum Ver-
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie.
999
schwinden zu bringen, lanzinierende Schmerzen zu beseitigen und atak¬
tische Symptome zu bessern. — Bei der Paralyse sah man nach jeder
einzelnen Injektion in dem augenblicklichen psychischen und körperlichen
Befinden eine deutliche momentane Besserung; besonders fiel es oft auf,
daß die erregten Formen der Krankheit durch das Mittel geradezu beruhigt
wurden. Auf körperlichem Gebiet sah man unverkennbares Ansteigen
der Gewichtskurve, eine Hebung des Gesamtbefindens, eine Neigung
selbst schwerer Formen von Dekubitus zur Heilung.
Mit endolumbalen Versuchen wurde im Herbst 1913 begonnen,
wobei auf die ursprünglichen direkten Versuche von Wechselmann und
Marinesco zurückgegriffen wurde, welche durch die Warnungen des letz¬
teren damals allgemein verlassen waren. Man erklärte sich die Mißerfolge
Marinescos in Altona zum Teil durch Nebenwirkungen des von ihm ver¬
wendeten Lösungsmittels, worauf vor allem die fast regelmäßigen Tem¬
peratursteigerungen bei seinen Kranken hinwiesen. Man verwandte daher
in Altona den vom Patienten selbst gewonnenen Liquor als Lösungsmittel
und sah damit einen fieberfreien Verlauf. Leider war man aber damals
über die Dosierung des Neosalvarsans selbst noch ohne genügende Er¬
fahrung, so daß die Versuche bei der damals angewandten Uberdosierung
nicht zur Fortsetzung ermunterten und wieder eingestellt wurden.
Erst als Gennerich die erträgliche Neosalvarsandosis für die endo-
lumbale Methode empirisch festgestellt und darüber in entgegenkommend¬
ster Weise eingehende Mitteilungen gemacht hatte, war es möglich, die
Versuche wieder aufzunehmen und eine Reihe von 50 endolumbalen
Neosalvarsaninjektionen auszuführen. Man bediente sich dabei unter
Anlehnung an Gennerichs Technik und unter Verwendung von Patienten¬
liquor als Lösungsmittel folgenden Verfahrens:
Man gewann durch Lumbalpunktion etwa 10 ccm Liquor; dann
befestigte man an der Punktionnadel einen etwa 40 cm langen Schlauch
durch einen passenden Konus und ließ den Liquor durch Senken des
Schlauches in ein am anderen Ende des Schlauches angebrachtes trichter¬
förmiges Glasgefäß eintreten. Von dem zuerst gewonnenen Liquor wurden
nun genau 3 ccm abgemessen und in ein Uhrschälchen gebracht, welches
trockenes Neosalvarsan in einer Menge von 45 mg enthielt (diese Dosis
wurde von den Höchster Farbwerken zu diesem Zwecke hergestellt
und befindet sich im Handel). Das Neosalvarsan löst sich sofort im Liquor,
und von der Mischung wurden nun mit einer in Vioo ccm geteilten Pipette
0,1 bis 0,2 ccm entnommen und in die in dem Glastrichter aufgestiegene
Liquorsäule eingetragen. Durch Erhebung des Glastrichters tritt dann
das Gemisch mit Leichtigkeit in den Lumbalkanal (Münchener medizinische
Wochenschrift 1914, Nr. 15). Ein Punkt, der dabei sehr wesentlich ist,
und auf den Gennerich wiederholt hingewiesen hat, ist der, daß eine mög¬
lichst große Verdünnung des Medikamentes erreicht wird. Man soll daher
in den Glastrichter mindestens 10 ccm, noch lieber 20 ccm oder mehr
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Liquor eintreten lassen, ehe man das Neosalvarsan dazu gibt. Die 50 endo-
lumbalen Eingriffe wurden an 27 Patienten vorgenommen. Es waren
16 Paralysen, ein Hirntumor, 5 Tabes und 5 gemischte Formen von Lues.
Von den 16 Paralysen konnte bei 4 der drohende ungünstige Verlauf nicht
aufgehalten werden. Es kamen ad exitum 2 nach der dritten, 1 nach der
zweiten, 1 nach der ersten Punktion. Die Sektion ergab in allein Fällen
weit vorgeschrittene Veränderungen an den inneren Organen, welche
auch uhne den Eingriff zum Tode geführt haben würden. Diese Fälle
zeigten in den letzten Tagen eine eigenartige Blasenstörung, derart, daß
die Blase durch Druck von außen leicht entleert werden konnte, von
selbst aber keinen Urin entleerte. Man fand anatomisch verschiedene
schwere Formen von Zystitis. Von den übrigen 12 Paralysen zeigten 10
eine Besserung in ihrem psychischen und körperlichen Verhalten, nahmen
an Gewicht zu und konnten zum Teil sogar nach Hause entlassen werden.
Zwei Fälle blieben unbeeinflußt. In zwei der gebesserten Fälle
konnte die Wassermannsche Reaktion im Liquor von zwei¬
fach positiv auf negativ gebracht werden bei nur zwei¬
maliger therapeutischer Punktion. Zweimal wurden leichte, bald
vorübergehende Blasenmastdarmstörungen gesehen. Der Hirntumor
blieb unbeeinflußt. Die fünf gemischten Fälle betrafen folgende Krank¬
heitsbilder:
1. Eine luische Paraplegie mit meningealen Reizerscheinungen
bei einem jungen Mädchen. Der Liquor war trüb und enthielt große
amorphe Fetzen. Eine einmalige therapeutische Punktion brachte in
wenigen Tagen bedeutende Besserung. Patientin konnte nach 3 Wochen
wieder gehen und verließ schließlich das Krankenhaus geheilt.
2. Ein Fall von luischem Kopfschmerz in der Sekundärperiode
mit dreifach positivem Wassermann im Liquor verlor durch
einmalige Punktion das Kopfweh und hatte 8 Wochen später
(bei fortgesetzter intravenöser Behandlung) einen negativen
Wassermann im Liquor.
3. Ein Fall von luischer Polyneuritis wurde durch zwei Punktionen
gebessert.
4. Ein Fall von luischer Epilepsie entzog sich der Behandlung.
5. Ein Fall von luischem Kopfschmerz und erheblicher zentraler
Hörstörung verlor das Kopfweh nach einmaliger Punktion und lernte
wieder besser hören.
Endlich waren fünf Fälle von Tabes zur Behandlung gekommen,
die sich besonders günstig verhielten:
1. Ein Fall konnte durch einmalige Punktion von lanzinierenden
Schmerzen befreit werden.
2. Ein Fall verlor seine gastrischen Krisen.
3. Ein Fall wurde von quälenden Parästhesien geheilt.
4. Ein Fall entzog sich der Behandlung.
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5. Ein Fall von Tabes, welcher seit 17 Jahren lanzinierende Schmerzen
gehabt hatte und seit 5 Jahren mit Harnträufeln behaftet war, verlor
die lanzinierenden Schmerzen nach den beiden ersten Punktionen fast
ganz, die Blasenfunktion besserte sich erheblich. Die dritte Punktion,
welche der zweiten zu bald nachfolgte, verdarb dieses Resultat und setzte
eine schwere Wurzelneuritis mit Motilitätsstörungen in den Beinen, Wurzel¬
schmerzen, kompleter Blasenlähmung, nachfolgendem Dekubitus.
Dieser Fall zeigt, daß man mit der Reihenfolge der Injektionen
sehr vorsichtig sein muß. Man muß kleine Dosen (höchstens 3 mg, eventuell
weniger), starke Verdünnung (1 : 3000, besser 1 : 6000) und große Pausen
zwischen den Injektionen nehmen, mindestens 3—6 Wochen. Besonders
bei dem geschädigten Nervensystem bei Tabes ist ein sehr vorsichtiges
Vorgehen am Platze, wie auch Gennerich wiederholt betont hat.
Wenn man alle diese Kautelen anwendet, ist zu hollen, daß man mit
den direkten endolumbalen Methoden, deren Wiedereinführung Gennerich
zu danken ist, Erfolge auch da erzielen wird, wo alle anderen Methoden,
selbst das Verfahren von Smith und Ellis, versagen.
Insbesondere konnte bisher auf keine Weise die Wassermannsche
Reaktion im Liquor so leicht beeinflußt werden.
Herr Weygandt und Jacob- Hamburg: Klinische und experi¬
mentelle Erfahrungen bei Salvarsan-Injektionen in das
Zentralnervensystem.
1. Herr Weygandt : Bei der endolumbalen Salvarsanbehandlung der
Paralytiker waren wir bestrebt, uns zunächst genau an die von Gennerich
demonstrierte Technik zu halten. Um ganz sicher zu gehen, wurden vorher
eine Reihe von Tierversuchungen angestellt.
24 männliche und 1 weibliche Paralyse wurden daraufhin behandelt.
Hinsichtlich etwaiger Schädigungen ist zu erwähnen, daß bei drei Patienten
Erbrechen auftrat. Bei drei bis vier Kopfweh, meist nur für wenige Tage,
gelegentlich auch nach wiederholter Injektion. Bei einem Patienten
traten zwischen der ersten und zweiten Injektion paralytische Anfälle
auf, bei einem anderen zwischen der zweiten und dritten, ein anderer
hatte zwei Tage nach der dritten Injektion zwei Anfälle. Einmal wurde
nach der ersten Injektion Nackensteifheit beobachtet, die später ver¬
schwand. Bei einem traten am Tage nach der Injektion Magenbeschwerden
auf. Die Inkontinenz fand nur einmal eine Verschlechterung. Bei einem
wurde die Sprachstörung noch deutlicher, auch traten nach der zweiten
Injektion fibrilläre Zuckungen auf.
öfter wurden Temperaturstörungen beobachtet, in der Regel erst
am Tage nach der Injektion. Meist freilich ging die Rektaltemperatur
nicht viel über 37 — 37,5; Wohl folgten der ersten Injektion häufiger
Temperatursteigerungen als der zweiten, doch kam es auch vor, daß
die erste oder die beiden ersten Injektionen kein Fieber hervorriefen,
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wohl aber die späteren Injektionen. Selten stieg die Temperatur auf 39,
vereinzelt auf 40,5. Gelegentlich wurde längere Zeit nach einer Injektion
wieder eine fieberhafte Temperatur beobachtet, so tauchte eine solche
noch am 38. Tage auf.
Bei einem Fall, der am 6. Tage nach einer Injektion gestorben war,
ergab die Obduktion Bronchopneumonie und Myodegeneratio cordis
bei paralytischem Hirnbefund.
Bemerkenswert war, daß in drei Fällen die Wiederholung der Lum¬
balpunktion schwieriger war, als die erste Punktion, möglicherweise infolge
von Verwachsungen, die infolge des Salvarsanreizes auf das Bindegewebe
entstanden waren.
An Erfolgen ist einiges zu erwähnen, obwohl aus Vorsicht zunächst
nur recht vorgeschrittene Fälle herangezogen waren, die wenig Hoffnung
auf Besserung ließen. Dreimal wurde die Sprache besser, einmal die
Fazialisparese. Ein Patient erholte sich soweit, daß er wieder im Garten
spazieren gehen konnte. Einer wurde als gebessert beurlaubt. Ein anderer
erschien weniger gehemmt. Wieder ein anderer konnte sich klarer aus-
drücken. Sechsmal trat deutlich eine Beruhigung ein. Zweimal fand
sich in zwei bis drei Wochen eine Gewichtszunahme von 4 bis 6 Pfund.
Bei einem konnte bald nach der ersten Injektion von der Sondenfütterung
Abstand genommen werden. Einer konnte aufstehen und Daten berechnen,
was er früher nicht vermocht hatte. Einer erschien nach der ersten In¬
jektion frischer und gesprächiger, während er nach der zweiten hinfälliger
wurde.
Es wäre verfrüht, so kleine Schwankungen klinischer Art als be¬
trächtliche Erfolge zu bezeichnen, zumal ja Spontanbesserungen bei
Paralyse häufig sind. Allerdings waren es vorgeschrittene hoffnungslose
Fälle, so daß es immerhin bemerkenswert ist, daß in 15 von 25 Fällen
nach irgend einer Richtung hin eine symptomatische Besserung zu beob¬
achten war.
Bemerkenswerter ist der günstige Einfluß auf die spezifischen Reak¬
tionen. In 6 von 9 Fällen wurde Wassermann-Liquor deutlich besser,
zweimal nach der ersten Injektion bereits ganz negativ, einmal nach der
zweiten; 8 von 10 Fällen zeigten Besserung der Serumreaktion. Bei einem
Pat. wurde die Serumreaktion nach der zweiten Injektion ganz negativ,
bei einem andren nahezu völlig negativ. Dabei erfuhr ersterer klinisch
eine vorübergehende Verschlechterung des Gesamtbefindens.
Lymphozytose wurde sechsmal geringer, einmal blieb sie gleich,
einmal nahm sie nach anfänglicher Besserung wieder zu.
Einmal wurde ein Liquorbefund im Sinne einer Herxheimersdwn
Reaktion festgestellt, doch ohne klinische Symptome.
2. Herr /aÄoft-Hamburg bespricht die klinischen und anatomischen
Ergebnisse der mit Herrn Professor Weygandt gemeinsam ausgeführten
experimentellen Untersuchungen zum Studium der Schädi-
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gungsmöglichkeiten des Neosalvarsans bei direkter Ein¬
führung in das Zentralnervensystem von Affen. Von einer
Lösung von 0,15 Neosalvarsan auf 100 ccm 0,4 % Kochsalzlösung wurden
einem Affen 3 ccm, zwei weiteren je 2 ccm intralumbal injiziert nach
vorheriger Ablassung der entsprechenden Liquormenge. Von diesen
Tieren blieb der Affe mit 3 ccm völlig symptomlos und gesund und wurde
nach 13 Tagen getötet mit makroskopisch negativem Sektionsbefund:
desgleichen der eine Affe mit 2 ccm, der nach 10 Tagen getötet wurde.
Dagegen starb der andere Affe mit 2 ccm in der darauffolgenden Nacht,
der Affe mit 1 ccm bekam nach zwei Tagen eine Lähmung aller, besonders
der hinteren Extremitäten, die in den nächsten Tagen zunahm; da das
Tier allmählich schwächer wurde, wurde es 7 Tage nach der Injektion
getötet {makroskopischer Befund negativ). Bei dem Affen mit 0,4 ccm
trat nach zwei Tagen Parese und nach drei Tagen der Tod ein; bei dem
Affen mit 0,2 ccm erfolgte nach zwei Tagen der Exitus. Mikroskopisch
fanden sich bei allen Tieren, auch bei denen ohne klinische Symptome,
Veränderungen im Rückenmark, nämlich schwere Endothelwucherungen
der Dura mit Entwicklung ganzer Membranen von Fibroblasten, Degene¬
rationserscheinungen in den Randpartien der austretenden Wurzelbündel,
Endothelwucherung in den Piagefäßen, seltener mit Blutaustritten, und
schließlich auch Degenerationserscheinungen in den Randzonen des
Rückenmarks, in den Vorderhornganglienzellen proliferative Vorgänge
an den Gliazellen und Gefäßendothelien. Besonders ausgesprochen waren
diese Veränderungen im Parenchym des Zentralnervensystems selbst
bei den Affen mit 1 ccm intralumbaler Injektion, wo herdförmige Störungen
sogar noch in der Medulla oblongata nachweisbar waren. Gewöhnlich
waren die Veränderungen im Lumbalmark am deutlichsten.
Zwei Affen wurden von der gleichen Lösung je 2 ccm subdural
und intrazerebral injiziert; daß eine dieser Tiere starb nach drei Tagen,
das andere bekam am nächsten Tage eine linkseitige Parese und nach
zwei Tagen schwere epileptische Anfälle und starb mit zunehmender
Schwere der epileptischen Attacken und der Lähmungserscheinungen
am sechsten Tage. Bei diesem Tiere finden sich in der Umgebung der
Einstichstelle kleine Blutaustritte, in den ganzen Randpartien der vorderen
Hälfte des Gehirns ausgedehnte Gefäßendothelwucherungen, Gefä߬
sprossungen, Gliaproliferationen und Ganglienzellentartungen bei hyper¬
plastischen Vorgängen in der Pia. Im ganzen Gehirn ist eine allgemeine
Wucherung der Gliaelemente nachweisbar. Auch im Rückenmark zeigen
sich ähnliche Erscheinungen. Bei dem anderen Affen sind entsprechende
Veränderungen nur in der Umgebung der Injektionsstelle aufzuflnden.
Schließlich wurden noch zwei Affen von einer Lösung von 0,15/300
Neosalvarsan 0,6 ccm subdural und 0,4 ccm intralumbal injiziert; sie
boten klinisch nichts, wurden nach 7 resp. 24 Tagen getötet und zeigten
histologisch. so gut wie keine Veränderungen.
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1004
Verhandlungen psychiatrischer Vereine.
Aus diesen experimentellen Befunden ist zu schließen, daß für das
Salvarsan gute Zirkulationsbedingungen im Zentralnervensystem
gegeben sind, daß hoch konzentrierte Neosalvarsanlösungen leicht
schaden können, daß aber Neosalvarsanlösungen in geringer Konzentration
und in kleineren Mengen in das Zentralnervensystem offenbar ohne Schaden
eingeführt werden können.
Um 12 Uhr wird die Reihe der Vorträge unterbrochen und eine
Besichtigung der Anstalt vorgenommen, nach dem Herr Wattenberg einen
kurzen Überblick über Anlage, Bau und Einrichtungen derselben gegeben
hatte.
II. Sitzung
nachmittags 3 Uhr im Festsaal der Heilanstalt Strecknitz.
Diskussion zu den Vorträgen von v. Schubert und Weygandt-Jakob •
Herr Äa//ra-Hamburg-Friedrichsberg bespricht an der Hand der
Tabelle die Ergebnisse der Blut- und Liquoruntersuchung in einer Reihe
der endolumbal mit Salvarsan behandelten Fälle. Er bespricht aus¬
führlich die dabei angeführten Untersuchungsmethoden und hebt als das
Bedeutungsvollste hervor, daß vor allem in der Spinalflüssigkeit, aber
auch im Blutserum die Wassermannsche Reaktion in einer Reihe von
Fällen allmählich negativ geworden ist, ein Faktum, wie man es sonst
bei Paralysen nicht sieht. In einigen Fällen war das Verschwinden der
Wassermannschen Reaktion auch von einem Besserwerden der anderen
Reaktion begleitet, in anderen wieder stand es isoliert da oder zeigten
die Eiweißreaktionen Veränderungen im Sinne der Verschlechterung.
Gerade diese Erscheinung machte in einem Falle parallel mit einer auf¬
fälligen Zell Vermehrung den Eindruck einer Herxheimerschen Reaktion.
Sie ging auch nach der zweiten Injektion wieder zurück. Es scheint, daß
die Liquoruntersuchung uns vielleicht Winke dafür wird geben können,
in welchen Intervallen die einzelnen Injektionen bei einem Individuum
auszuführen sind. Auffällig ist, daß im Blutserum nur die Wassermannsche
Reaktion des inaktiven Serums zurückging, daß aber Sterns und Jakobs¬
thals Modifikationen stark positiv blieben.
Über die Entstehung des Phänomens kann man sich nur Hypothesen
bilden; auch muß abgewartet werden, ob die Veränderung der Wasser¬
mannschen Reaktion im Liquor nicht nur ein vorübergehendes Symptom
darstellt.
Herr Runge- Kiel hält die bisherigen Ergebnisse der endolumbalen
Behandlung nicht für sehr ermutigend und die Beobachtungszeit für
zu kurz, um endgültige Schlüsse ziehen zu können. Weit bessere Resultate
konnte er in der Kieler psychiatrischen und Nervenklinik bei der Paralyse
mit der intravenösen Injektion von hohen Dosen von Alt-Sarvarsan
erzielen, wie sie Dreyfus bei der Tabes anwandte und bisher nur Räcke
bei der Paralyse mitgeteilt hat. Er hat bisher rund 100 Paralytiker intra-
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venös mit Alt-Salvarsan behandelt, darunter etwa die Hälfte mit Dosen
von über 1,0 bis 10,0 g Salvarsan. In letzteren Fällen traten in etwa 60 %
Remissionen ein, die mindestens zwei Monate anhielten, während bei
denen, die mit kleinen Salvarsandosen unter 1,0 % behandelt wurden,
sich nur in 14 % Remissionen zeigten. Auffallend war der Unterschied
der Einwirkung: Einzelne Fälle verhielten sich absolut refraktär auch
gegen große Salvarsandosen, andere reagierten vorzüglich darauf. In
14 % haben die Remissionen bis heute angehalten, darunter in 5 Fällen
1—2 Jahre, 4 Fälle blieben 2—3 Jahre stationär. Sonst traten meist
wieder Rückfälle ein. Arbeitsfähig wurden 14 %. Die Zahlen werden
sich vermutlich noch bei weiterer Anwendung von höheren Gesamtdosen
bessern. Auffallend war, daß die Paralytiker mehrfach bei kleinen Sal¬
varsandosen zunächst mit einer Erregung reagierten, diese dann aber
nach Anwendung größerer Dosen wieder zurückging. Eine Erscheinung,
die vielleicht als Herxheimersche Reaktion aufzufassen ist. Eine Ein¬
wirkung auf das Gehirn muß also angenommen werden, wenn auch ver¬
mutlich nur indirekter Art. Gewöhnlich gingen die Besserungen mit einer
ganz erheblichen Gewichtzunahme, die bis zu 33 Pfund betragen konnte,
Hand in Hand, während eine solche sich in den Fällen, wo das Salvarsan
ohne Einfluß blieb, öfter auch nach Verabfolgung von 2—3—4 g nicht
zeigte.
Runge empfiehlt in allen Initialfällen der Paralyse Anwendung
von Salvarsan in möglichst großen Gesamtdosen von 5—10 g. Da der
Einwand oft mit Recht gemacht worden ist, daß sich Besserungen auch
ohne jede Behandlung der Paralyse zeigen, hat R. zum Vergleich 555
Fälle von nicht mit Salvarsan, sondern gar nicht oder nur mit Jod oder
Quecksilber behandelten Paralysen herangezogen. Hier zeigten sich
Remissionen nur in 3—9 %, also ein ganz erheblicher Unterschied gegen¬
über den Resultaten bei der Behandlung mit hohen Salvarsandosen.
Vielleicht wäre in den Fällen, wo diese Behandlungsmethoden erfolglos
blieb, die endolumbale Methode zu versuchen (siehe auch Deutsche med.
Wochenschrift 1914, Nr. 20).
Herr Holzmann -Hainburg fragt bei v. Schubert an, nach welchen
Kriterien er heute im voraus eine Überdosierung des Salvarsans bei der
zweiten und dritten Injektion bestimme. Keineswegs könne man ohne
weiteres für jeden Patienten die Salvarsanmenge gleich groß wählen.
Die individuellen konstitutionellen Verhältnisse seien zu berücksichtigen.
Das gehe schon daraus hervor, daß die verschiedenen Autoren die Aus¬
scheidungszeiten des Arsens bei den gleichen Injektionsmengen und der
gleichen Applikationsart ganz verschieden gefunden haben. Die Angaben
schwanken von 4 Tagen bis zu 9 Monaten. H. fand jüngst bei einem Falle
von frischer Syphilis 9 Wochen nach der letzten intravenösen Injektion
von im ganzen nur 1,1 g Salvarsan, das innerhalb eines Monats intravenös
gegeben wurde, noch deutlich Arsen im Blut und spurweise im Liquor
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sowohl wie im Harn; dabei war sowohl im Blut wie im Liquor die Wasser -
mannsche Reaktion negativ und der Liquor bis auf eine Lymphozyten -
Grenzzahl 4 vollständig normal. Es läge auf der Hand, daß bei einer
derartig mangelhaften Arsenausscheidung eine Überdosierung sehr leicht
eintreten könne. Im erwähnten Falle sind im Anschluß an ein leichtes
psychisches Trauma, während in der Zwischenzeit ein toxisches (Arsen-)
Exanthem bestanden hatte, noch nach 9 Wochen enzephalitische Krämpfe
zusammen mit Magen- und Darmstörungen aufgetreten. Im übrigen
sei, im Gegensatz zu der Auffassung von Runge, vor einer zu großen
Dosierung des Salvarsans im allgemeinen zu warnen. Runge beruft sich
auf Dreyfus, der allerdings sehr hohe Dosen empfohlen hatte, bis zu 5,4 g.
Dreyfus sei aber selbst wohl durch unangenehme Zufälle veranlaßt, von
diesen hohen Gaben wieder zurückgekommen. Auch Runge gebe zu,
das recht häufig im Beginn der Salvarsanmedikation eine Reizwirkung
der Meningen, die in einer verstärkten Liquorveränderung ihren Ausdruck
finde, in die Erscheinung trete.
Nach dem Vorbilde von Dreyfus will Runge diese meningitischen
Reizzustände durch verstärkte Mengen von Salvarsan wieder beseitigen.
Aus den Arbeiten von Dreyfus geht aber hervor, daß das keineswegs
in allen Fällen gelingt. Um so weniger dürfte das gelingen, als Dr. die
Conditio sine qua non, die er früher selber aufgestellt hat (sehr hohe Dosen),
heute selber nicht mehr erfüllt. Das ist wichtig für die Prognose der früh¬
syphilitischen Erkrankungen. Eine im Anfang mit durch die Salvarsan-
applikation hervorgerufene akute meningitische Reizung könne dann
eben, wenn sie nicht vollständig beseitigt würde, zu einer subakuten und
zu einer chronischen Meningitis führen. Da die Tabes nach den wohl
begründeten heutigen Auffassungen als Folgezustand einer chronischen
Meningitis aufzufassen sei, so liege die Gefahr einer durch die Salvarsan-
therapie heraufbeschworenen metaluischen Erkrankung nahe.
Herr Runge-Kiel entgegnet Holzmann, daß selbstverständlich bei
der Anwendung hoher Dosen von Salvarsan sehr individualisierend vor¬
gegangen werden muß, daß insbesondere zu Anfang der Kur eine gewisse
Vorsicht obzuwalten hat, um festzustellen, ob etwa eine Idiosynkrasie
gegen Salvarsan vorliegt. An schweren Erscheinungen im Verlauf der
Behandlung wurden einige Male Arsendermatitiden beobachtet, die aber
bei geeigneter Behandlung zurückgingen. In letzterer Zeit ist bei vor¬
sichtiger Anwendung (etwa 0,3—0,4 g etwa alle 6—8 Tage) etwas Der¬
artiges nicht mehr beobachtet worden.
Herr Kafka -Hamburg-Friedrichsberg bespricht die Zählung der
Zellen der Spinalflüssigkeit. — Bezüglich der Ausscheidung des Salvarsans
scheinen ganz besondere, noch nicht gekannte Verhältnisse vorzuliegen,
die eingehenden Studiums bedürfen. — Herrn Runge möchte K. nach
den Liquorbefunden in den intravenös behandelten Paralysefällen fragen.
Er berichtet, daß auch in Friedrichsberg Versuche im Gange sind, intra-
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venös Salvarsan einzuverleiben unter Anwendung von Mitteln, die geeignet
sind, die Permeabilität der Meningen zu erhöhen, z. B. von Urotropin.
Herr BrücAwer-Langenhorn hält die endolumbale Salvarsanbehand-
lung für theoretisch nicht begründet, da es sich bei den sogenannten
metaluischen Erkrankungen nicht um örtliche Prozesse, sondern um
echt syphilitische Allgemeinerkrankungen handelt, deren Bekämpfung
vom Lumbalsack aus keine Vorteile versprechen kann. Die anscheinenden
Besserungen sind problematisch und erinnern an die Erfolge Alts im
Beginn der Salvarsanperiode, von denen leider sehr bald nichts mehr
verlautete.
Praktisch scheint ihm der Eingriff, wenn man sich nicht auf homöo-
patlysche Dosen beschränkt, bedenklich. Das lehren in der Literatur
bereits niedergelegte Erfahrungen sowie eigene Beobachtungen und nicht
zuletzt die von Herrn Jacob demonstrierten Präparate.
Herr Aonne-Hamburg betont, daß alle Mitteilungen über die Wir¬
kung von Salvarsan bei syphilogenen Nervenkrankheiten, die sich
auf eine Beobachtungsdauer von weniger als etwa 2 Jahre beziehen,
einen sehr problematischen Wert haben. Wir können erst über die Wir¬
kungsweise des Salvarsans urteilen, wenn etwa 2 Jahre verflossen sind.
Die Publikationen sollten in der Weise erfolgen, daß eine größere Anzahl
von Fällen systematisch je nach den verschiedenen Salvarsan-Applikations¬
methoden behandelt wird und die Fälle dann 1 y 2 bis 2 Jahre unter Kon¬
trolle bleiben. Von der streng nach Gennerich durchgeführten Methode
sah N. mehrere Male bedrohliche Erscheinungen (Kollaps, höheres Fieber
Schüttelfrost, Meningismus). Die Methode der Applikation von sal-
varsanisiertem Blutserum ist offenbar weniger gefährlich.
Nach N .s Auffassung stehen wir betreffs der Erfahrungen über
den Effekt des Salvarsans bei syphilogenen Nervenkrankheiten erst im
Beginn unserer Erfahrung. Die experimentell anatomischen Erfahrungen
von Herrn Jacob einerseits sowie die von Herren Cimbal-Schubert und von
Herrn Weygandt mitgeteilten Erfahrungen vom Zurückgehen der Wasser-
mannschen Reaktion im Blut und im Liquor andererseits ermahnen uns
einerseits von neuem zu Vorsicht und berechtigen andererseits zu einem
gewissen therapeutischen Optimismus.
Herr E. Jacotatftaf-Hamburg: Gewiß ist es merkwürdig, wenn durch
so wenig Salvarsan beim Paralytiker die Wassermannsche Reaktion im
Blut und Liquor negativ wird, aber es ist nicht, wie Herr Brückner meint,
unerklärlich. Bestehen doch mancherlei Anhaltpunkte dafür, daß der
Wassermannsche Reaktionskörper von den syphilitisch erkrankten Ge¬
weben ausgeschieden wird; der von mir zuerst erhobene Befund positiver
Reaktion im Liquor bei negativer im Blut spricht ebenfalls dafür. Hier
wirkt das Salvarsan direkt auf die erkrankten Gewebe des Rückenmarks
und die Lymphozyten, die sich an der Bildung der Reaktionskörper be¬
teiligen, daher treten die Reaktionskörper gar nicht erst in das Blut ein.
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Noch eine Kleinigkeit; man liest und hört oft: Zellzählung war
wegen Blutbeimengung nicht möglich. Wenn man sich aber die Zahlen -
Verhältnisse klar macht, erkennt man, daß tatsächlich nur sehr selten
eine Blutbeimengung die Zellzählung unmöglich machen kann. Auf
1000 rote Blutkörperchen kommen erst ®/s weiße Blutkörperchen und
erst auf etwa 5000 rote Blutkörperchen ein Lymphozyt. Selbst bei be¬
trächtlicher Blutbeimengung in der Fuchs-Rosenthalschen Kammer findet
man wohl niemals so zahlreiche rote Blutkörperchen. Kommt es jedoch
auf ganz genaue Zählung an, so kann man den Liquor noch einmal mit
Kochsalzlösung anstatt mit Essigsäurelösung verdünnt auf die Zahl der
roten Blutkörperchen auszählen und auf je 5000 davon einen Lymphozyten
abrechnen, vorausgesetzt natürlich, daß keine Blutkrankheit besteht.
Herr Ciiribal -Altona macht auf die technischen Schwierigkeiten
bei öfteren intravenösen Injektionen aufmerksam, da dabei häufig narbige
Veränderungen — Verwachsungen — entständen, die weitere Injektionen
einfach unmöglich machten.
Herr .Runge-Kiel kann die Erfahrung Herrn Professor Nonne s be¬
stätigen, daß die klinischen Besserungen der Paralyse absolut nicht Hand
in Hand gehen mit einer Besserung der vier Reaktionen. In den meisten
mit Salvarsan behandelten Fällen blieben dieselben trotz der Besserung
unverändert, fünfmal zeigte sich völliges Verschwinden der Lymphozyten.
In 10 Fällen wurde die Wassermannsche Reaktion im Blut negativ, viermal
im Liquor resp. hier insofern schwächer, als sie erst bei höherer Aus¬
wertung positiv war als vorher. Runge erwiedert Dr. Cimbal und Professor
Nonne, daß sich im Anfang der Behandlung mit hohen Dosen zwar große
Schwierigkeiten bei den intravenösen Injektionen insofern zeigten, als
die Venen häufig verödeten und dadurch eine Fortsetzung der Kur un¬
möglich wurde. Mit Hilfe der Gennerichschen Spritzmethode, später
mit der Methode von Dreyfus (intravenöse Einspritzung von konzen¬
triertem Altsalvarsan mittels einer Glasspritze), konnten allerdings nach
einiger Übung alle Schwierigkeiten überwunden werden.
Herr Weygandt (Schlußwort): Wenn ein Diskussionsredner gemeint
hat, es seien bei den Friedrichsberger Untersuchungen vielleicht Mi߬
erfolge verschwiegen worden, so muß eine solche Annahme, die mit den
klaren Darlegungen der Vorträge unvereinbar ist, auf das Bestimmteste
zurückgewiesen werden. Die Ansicht, als ob die Therapie der syphilidogenen
Erkrankungen des Zentralnervensystems heute noch nicht weiter sei,
als zur Zeit der Versuche, den Paralytikerschädel mit BrechWeinstein -
salbe zu behandeln, ist irrig. Selbst die intravenöse Salvarsanbehandlung
der Paralytiker in Friedrichsberg hat wenigstens einige Symptome, wie
lanzinierende Schmerzen oder chronische Obstipation, zu bessern vermocht.
Auch die hygienischen Maßregeln sind bei Paralyse oft von großem sympto¬
matischen Erfolg begleitet, insbesondere die Dauerbadbehandlung, auf
Grund deren nicht nur häufig das Leben um Jahr und Tag verlängert
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Norddeutscher Verein für Psychiatrie und Neurologie. 1009
)
wird, sondern auch der Eintritt günstiger Remissionen ermöglicht wird,
in denen der Kranke noch auf geraume Zeit seinem Beruf nachgehen und
seine Familie ernähren kann. Das Problem der Behandlung der Lues
cerebri und Paralyse erfordert noch viel ernste, vorsichtige Arbeit, aber
zum absprechenden Pessimismus ist kein Anlaß.
Herr Jacob (Schlußwort) betont, daß auch bei der endolumbalen
Salvarsantherapie individuelle Ausscheidungsverhältnisse eine Rolle zu
spielen scheinen, wie aus dem Fehlen klinischer Erscheinungen bei ein¬
zelnen Affen mit hohen endolumbalen Salvarsandosen zu schließen ist;
er mahnt zu größter Vorsicht, namentlich bei wiederholten endolumbalen
Behandlungen und bei strenger Berücksichtigung etwaiger klinischer
Erscheinungen von seiten des Lumbosakralmarkes, die uns kleine Läsionen
verraten und als Warnungszeichen dienen können. Mit größter Vorsicht,
aber doch auch mit einen gewissen Optimismus muß auch dieser thera¬
peutische Weg versucht werden.
Herr Brückner- Langenhorn spricht über Arsalyt, ein neues
Arsenpräparat, und beschreibt kurz dessen Anwendung. (Vortrag er¬
scheint ausführlich in der Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift.)
Herr Jacobsthal und Saenger-Hamburg: „Erfahrungen über die
Langesche Goldsolreaktion.“
Die Vortragenden zeigen an einer Anzahl von Kurven zunächst
die typischen Reaktionen. Große Unterschiede zwischen Lues cerebro¬
spinalis, Tabes und Paralyse wurden von ihnen nicht an den Kurven
beobachtet. Für Lues I und II fand sich eine sonst niemals beobachtete
stärkste Absenkung der Kurve im 3. bis 6. Röhrchen, was im Sinne einer
Herxheimerschen Reaktion und besonders starker Absonderung des Lange¬
schen Reaktionskörpers in den Liquor spricht.
Herr Kafka - Hamburg - Friedrichsberg : Beiträge zur Liquor¬
diagnostik und -theorie.
K. empfiehlt, zur diagnostischen und theoretischen Verwertung
der Liquorbefunde nicht einzelne Reaktionen anzuwenden, sondern sich
des Gesamtbildes verschiedener, auch neuerer Reaktionen zu bedienen.
Daß es verfehlt ist, aus einem Parallelismus in extremen Fällen ursächliche
Beziehungen zwischen verschiedenen Reaktionen zu stiften und eine
durch die andere ersetzen zu wollen, beweist K. an der Hand von aus¬
gedehnten Untersuchungen über den Eiweißgehalt der Spinalflüssigkeit.
Er hat die schon mit Rautenberg veröffentlichten Untersuchungen über
die bei niedrigen Ammoniumsulfatkonzentrationen gefällten Liquor¬
globuline dahin ergänzt, daß er die erhaltenen Niederschläge im Nißl-
Röhrchen zentrifugierte. Es zeigte sich, daß die Globulinkurve bei der
Paralyse anders verläuft als bei der akuten Meningitis, und daß bei gleicher
Menge der bei 50 % gefällten Globuline ihre Art in beiden Fällen eine
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andere ist, daß also eine gleich positive Phase I in beiden Fällen etwas
anderes besagt, und daß daher die Ausführung der Fällung bei 28 und
33 prozentiger Ammoniumsulfatkonzentration mit nachfolgender Zentri¬
fugierung ijn iVissi-Röhrchen praktisch und theoretisch von Wert ist.
Auf diese Weise wurde auch übereinstimmend mit Kronfeld gefunden,
daß das Verhältnis der bei 50 % Amiponiumsulfat gefällten Globuline
und Anwendung von 1 ccm Liquor zu dem nach Nissl gefällten Gesamt¬
eiweiß bei Paralysen durchschnittlich 1:1 y 2 ist, ein Faktum, das nicht
ohne Bedeutung ist.
Nach Besprechung der Beziehungen der Globulinfraktionen zur
Hämolysinreaktion geht K. noch auf die Reaktion nach Pandy und die
Goldsolreaktion ein, gibt an, wie man mit geringer Liquormenge alle
notwendigen Reaktionen aUsführen kann, und bespricht die Wichtigkeit
eines solchen Vorgehens nicht nur für die Diagnostik, sondern auch zur
Förderung unserer Erkenntnisse über Liquorveränderungen bei gewissen
Erkrankungen sowie über die Natur der Spinalflüssigkeit selbst. (Er¬
scheint ausführlich an anderem Orte.)
Herr Draeseke- Hamburg: Zur Kenntnis der Hilfsschul¬
kinder.
Im Oktober 1913 eröfTnete Hamburg eine nach neuzeitlichen An¬
forderungen erbaute und eingerichtete Hilfsschule. Zu dem kleinen Stamm
von Schülern der alten Hilfsschule, die ersetzt werden mußte, kamen
viele neue Kinder.
Da von den Schülern aber bereits nach y 2 Jahr 16 Knaben und
1 Mädchen zu Ostern 1914 entlassen werden mußten, so wurden besonders
in Rücksicht auf spätere Anfragen der Militärbehörden und aus eigenem
Interesse diese Kinder ganz eingehend nach folgenden Gesichtspunkten
von dem Hilfsschulleiter Herrn Herms und dem Arzt untersucht. Natur¬
gemäß ergab sich für beide eine Arbeitsteilung, die Ergebnisse aber wurden
immer verglichen, nachkontrolliert und gemeinsam ergänzt.
Es wurde von jedem Kinde ärztlicherseits durch wiederholte Haus¬
besuche und sonstige Erkundigungen eine genaue Familiengeschichte
bis zu den beiderseitigen Großeltern reichend erhoben, dann das Kind
nach anthropologischen und medizinischen Gesichtspuhkten eingehend
untersucht und zum Schluß eine genaue Aufnahme des Intelligenzzustandes
vorgenommen.
Die Untersuchungsergebnisse einer so eingehenden Aufschließung
von Hilfsschulkindern konnten bei dem auf nur 10 Minuten angesetzten
Vortrage naturgemäß nur kurz angedeutet werden. Es seien darum nur
hier erwähnt: die Familienforschung ergab für diese Kinder fast auf der
ganzen Linie ihrer nächsten Verwandten bereits mindere Geistesgaben
bei durchschnittlich großem Kinderreichtum. Alkoholismus, Tuberkulose
standen nicht als besonders keimschädigend im Vordergründe; ein gleiches
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kann man von der Lues sagen, gegen deren Vorhandensein als schwerkeim -
schädigendes Moment bis zu einem gewissen Grade ein großer Kinder¬
reichtum spricht. Serologische Untersuchungen sind in der Hilfsschule
vorläufig ausgeschlossen.
Von der körperlichen Untersuchung sei neben den vielen Degenera¬
tionszeichen und sonstigen Befunden die eigenartige Entwicklung der
sekundären Geschlechtsmerkmale erwähnt. Gerade hier kommen viel¬
fache Störungen vor: axillare Behaarung bei gleichzeitigem völligen
Fehlen der Schamhaare, Deszensusstörungen und sehr verschiedene Größe
der Testes und des Membrum. Die Intelligenzprüfung, die von dem Hilfs¬
schulleiter Herms und mir zum Teil gemeinsam vorgenommen wurde,
brachte uns erst die Schwierigkeit, ein brauchbares Untersuchungsschema
zur Ermittelung des geistigen Besitzstandes festzulegen. Da die in Frage
kommenden Kinder vom Hilfsschulleiter ständig gesehen, selbst beobachtet
und zum Teil unterrichtet wurden, so entschlossen wir uns, neben der
Beachtung eines Teiles der von Ziehen gegebenen Gesichtspunkte die
intellektuellen Fähigkeiten unserer 17 Hilfsschulkinder an der Hand des
Binet-Simonschen Schemas zu prüfen, um so in gewissen Umrissen die
Kinder gruppieren zu können. Wir machten unter anderen besonders
die Beobachtung, daß die Binet-Simonsche Methode dem Milieu unserer
Hilfsschulkinder oft nicht gerecht wird.
Besonders dürfte noch interessieren, daß diese über 14 Jahre alten
Hilfsschulkinder durchaus nicht alle das Ziel der Hilfsschule in deren
höchsten Klasse erreichten, nein, sie saßen in verschiedenen Klassen,
ein Knabe sogar in der untersten derselben.
Ein weiteres Andeuten der Ergebnisse war bei der Kürze der Zeit
einfach unmöglich. Eine ausführliche Publikation der Ergebnisse unserer
gemeinsamen Untersuchungen wird später erfolgen.
Herr Lienau - Hamburg, Heilanstalt „Eichenhain“, spricht über
„Grenzfälle bei Gebildeten“.
Der Psychiater kommt gelegentlich in die Lage, in guten Familien
bei kritischen Familienereignissen zu Rate gezogen zu werden, bei denen
es nicht sich nur um Fragen der Gesundung eines einzelnen Familien¬
mitgliedes handelt, sondern um die Ehre, das Ansehen, den Namen der
ganzen Familie, bei Ereignissen, wo die „Ehre der Familie“ nur gerettet
werden kann durch den Nachweis, daß die Verfehlung unter dem Einfluß
krankhafter Seelenstörung geschehen und daher nicht zu verurteilen ist.
In dem Zeitraum von 13 Jahren sind 16 derartige Fälle in meine Anstalt
gekommen, nachdem die Aufnahme in die geschlossene Anstalt vom
Hausarzt angeraten war. In keinem Falle lag Strafverfolgung vor; es
waren Dinge passiert, die gesellschaftlich „unmöglich“ machten und die
Karriere bedrohten. Die Anstaltsbeobachtung und -behandlung erschein
bei der für die Familie kritischen Situation als ultimum refugium. Die
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Verantwortung, welche dadurch der attestierende Arzt und der aufnehmende
Anstaltsarzt zu tragen haben, ist natürlich sehr groß, und der Privat¬
anstaltsarzt ist in der Beziehung wohl noch übler dran als der Arzt der
Staatsanstalten. Strafgesetz, Haftpflicht und nicht zuletzt das fragende
Gewissen, ob auch der Aufenthalt in einer Irrenanstalt einem solchen
Menschen schaden könnte, erschweren die Entscheidung. L. hat nach
dieser Richtung nie Schwierigkeiten gefunden, weil er sich zur Aufnahme
nur nach sorgfältigster Prüfung der Persönlichkeiten, mit denen er zu tun
hatte, und ihrer Motive entschloß und immer nach kurzer Zeit die Ein¬
verständniserklärung des Aufgenommenen verlangte und erreichte. Aller¬
dings erreichte er die Einverständniserklärung mitunter nur mit der An¬
drohung einer zwangweisen Verlegung in die Staatsanstalt
In einer Gruppe von 7 Fällen — Männer in guter Lebensstellung —
waren Alkohol - und Nikotinvergiftung, liederlicher Lebenswandel, Schulden
und Verkehr mit minderwertigen Frauenzimmern die Veranlassung zu
Zuständen seelischen Zusammenbruchs mit und ohne Selbstmordneigung
und zum Teil im Anschluß an unmittelbar vorhergegangene und bekannt
gewordene „ehrlose“ Verfehlungen. Es waren mehr weniger kritische
Situationen, in welchen jedenfalls zur Rettung der Ehre nichts möglich
schien als Selbstmord oder — der Psychiater, welcher die krankhafte
Grundlage der Verfehlung bescheinigte. Bei drei Patienten ist nach L.s
Überzeugung der sonst sichere Selbstmord durch die Verbringung in die
Anstalt verhütet worden. -Für den Anstaltsarzt waren keine Schwierig¬
keiten vorhanden, da die Patienten nach erfolgter Aussprache mit dem
Anstaltsarzt sich als freiwillige Pensionäre mit der Aufnahme einver¬
standen erklärten. Die Zweckmäßigkeit dieser Aufnahme zu bescheinigen,
war natürlich ein Leichtes, weil die Anstaltsruhe den erschöpften Orga¬
nismen nur gut sein konnte. Die drei Kranken boten das Bild völliger
körperlicher und seelischer Erschöpfung. Ein Fall sah fast aus wie ein
katatonischer Stupor, einer imponierte mehr als Hysterie, einer als hebephren.
Alle drei erholten sich nach Entziehung der schädigenden Gifte bei Bettruhe
rasch, zwei bis jetzt dauernd. Der Verlauf zeigte, daß es sich um akute,
jedenfalls durch Alkohol und Nikotin veranlaßte Symptomenkomplexe
handelte. 4 Fälle moralischer Minderwertigkeit bewegten sich an der
Grenze der Schizophrenie, und es ist mir nicht zweifelhaft, daß sich durch
weitere Anfälle diese Diagnose bestätigen wird.
In einer zweiten Gruppe von drei Fällen führten „eheliche Szenen“
zu schweren Erregungszuständen der Frauen, welche wegen Selbstmord-
gefahr und in einem Falle wegen Gemeingefährlichkeit die Aufnahme
in die Anstalt erheischten; in zwei Fällen von hysterischem Charakter
wurde ein gewisser Erfolg erzielt, in einem Falle handelte es sich offenbar
um weiblichen Sadismus.
In einer dritten Gruppe von zwei Fällen lagen gemeingefährliche
Handlungen gegen die Umgebung vor und drohten sich zu wiederholen;
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1013
beide Fälle dürfen der Dementia praecox einzureihen sein, wenngleich
schwerere intellektuelle Störungen nicht nachweisbar waren, nur das
Verhältnis zwischen Affekt- und Intellektvorgängen gestört schien. Der
Altruismus war verdrängt, es herrschte krassester Autismus. In einem
Falle wurde ein Mordversuch seitens eines früheren Studenten verhütet,
der schon einmal eine Braut erschossen hatte und wieder aus Eifersucht
unter gleichen Anzeichen wie früher seine neue Braut bedroht hatte;
im anderen Falle erfolgte nach der gegen ärztlichen Rat erfolgten Ent¬
lassung der Kranken Mordversuch und Selbstmord. Die Kranke ver¬
suchte, ihren Mann zu erschießen, und erschoß sich selbst. Sie fühlte sich
nicht genügend geliebt, liebte ihn aber so, daß sie ihn „mit ins Jenseits
nehmen, aber keinem anderen gönnen“ wollte.
In einer vierten Gruppe handelte es sich um vier junge Mädchen,
eines von 22 und drei von 18 Jahren, welche infolge von Liebesabenteuern
in Konflikt mit den Eltern gerieten dadurch, daß sie eine ihren Verhält¬
nissen durchaus unangemessene und unkluge Ehe eingehen wollten. In
zwei Fällen lag ein Selbstmordversuch bereits vor, in zwei Fällen wurde
den Elternim Falle der Nichteinwilligung mit gemeinsamem Selbstmord ge¬
droht; in diesen zwei Fällen handelte es sich um Entführung der 18jährigen
Mädchen. In drei Fällen kamen die kindlichen Gemüter hier zu Besinnung,
gaben die Liebesgeschichte auf und sind ganz glücklich geworden — eine
hat sich später verheiratet, zwei befinden sich in Stellung —, das vierte
der derzeit 18 jährigen Kinder gilt seit mehr als 4 Jahren als verschollen.
Gemeinsam waren dreien eine starke Beschäftigung mit Philosophie
und schwierigen Schriftstellern, Neigung zum Reimen und stark ideal-
phantastische Veranlagung.
Von den skizzierten 16 Fällen sind 9 erblich belastet, darunter 5
weibliche und 4 männliche Kranke, durch väterlichen Alkoholismus 3.
Eine schlechte Kinderstube haben durchgemacht insgesamt 4 Kranke,
darunter 3 weibliche und 1 männlicher Kranker. Mit überspannter und
ungeeigneter Lektüre, welche ihren psychischen Fähigkeiten inadäquat
war, haben sich insgesamt 5 Kranke, darunter 3 weibliche und 2 männ¬
liche beschäftigt.
Es erhebt sich nun die Frage, ob man berechtigt ist, Leute, welche
sittlich und körperlich vollständig abgewirtschaftet haben und in einem
Zustand der Erschöpfung sich befinden, zwangsweise in die Anstalt auf¬
zunehmen.
Der von mir gesehene Erfolg bei der ersten Gruppe beweist mir,
daß die Verbringung in die Anstalt für die Betreffenden und ihre Familien
sicher ein gutes Werk war, und die Einverständniserklärung sowie das
Bleiben der Betreffenden, daß auch sie das eingesehen haben. So gut
wir einen Ertrinkenden retten werden, auch wenn er uns zuruft aus dem
Wasser, daß er nicht gerettet sein, sondern sterben will, so dürfen wir
meiner Meinung nach auch Menschen, welche sittlich oder hinsichtlich
Zeitschrift für Psychiatrie. LZXI. 6.
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Verhandlungen psychiatrischer Ve/eine.
des point d’honneur zu ertrinken drohen, gegen ihren Willen zur Be¬
handlung zwingen, wenn ihre Willensenergie durch schädliche Einflüsse
geschwächt und ihre ganze Persönlichkeit krank erscheint. Ich für meine
Person trage keine Bedenken, in solchen Fällen die Geisteskrankheit zu
bescheinigen und die Aufnahme in eine Staatsanstalt zu erzwingen. Privat -
anstalten halte ich für zweifelhafte Fälle, in denen ein Einverständnis
nicht erreicht werden kann, für ungeeignet. Ich bemerke noch, daß ich
die genannten Kranken strafrechtlich schwerlich exkulpiert haben würde.
Es war mir sehr angenehm, daß ich in keinem Falle um derartige Begut¬
achtung angegangen wurde. Ich stehe allgemein auf dem Standpunkt,
daß strafrechtliche Exkulpierung nur beim Vorliegen sittlicher Mängel
im Verein mit ausgesprochener intellektueller Störung erfolgen soll,
nicht fußen darf allein auf mangelnder Equilibristik der Affekte.
In der zweiten Gruppe von Fällen handelt es sich um Frauen, bei
denen die Anstaltsbehandlung eine heilsame Maßregelung darstellt, und
wo teilweise der verständige Zuspruch des Arztes, teilweise die Erkenntnis,
zu welch traurigem Ende die Fortführung der ehelichen Szenen führen
muß, zu Heilfaktoren werden. In 2 von 3 Fällen wird ein dauernder Erfolg
zugegeben.
In der dritten Gruppe von Fällen handelt es sich um ausgesprochen
Gemeingefährliche, wo die Sache sehr einfach liegt.
In den letzten 4 Fällen potenzierten Affektes soll die Anstalt den
Familien die Garantie bieten, daß ihre von nicht standesgemäßen Lieb¬
habern bedrohten Töchter vor weiteren Verfolgungen und vor der Aus¬
führung des Selbstmordes bewahrt bleiben, aus ihrem Liebesrausch zur
Ruhe und Besinnung kommen und ihre Entscheidung erst nach ruhiger
Sammlung treffen.
Gerade in den letzten Fällen ist mir die psychiatrische Beeinflussung
solcher schwer bedrohten und ihrem Unglück mit Sicherheit verfallenen
Seelen als eine besonders dankbare, schöne und in 3 von 4 Fällen erfolg¬
reiche Tätigkeit erschienen.
Herr Walter- Rostock: Über die normale und patholo¬
gische Histologie der Zirbeldrüse.
W. geht zuerst kurz auf den Bau der normalen Zirbeldrüse ein und
weist besonders auf die Tatsache hin, daß hier zwei morphologisch und
ihrer Entwicklung nach offenbar völlig verschiedene Elemente nach¬
weisbar sind, nämlich:
1. die „epitheloiden“ Zellen, die wohl als innersekretorische an¬
gesehen werden müssen und vielleicht mit der Genitalentwicklung im
Zusammenhang stehen, und
2. Elemente, die durch reichliche Fortsätze mit dicken Endkolben
charakterisiert sind, die zweifellos mit einer inneren Sekretion nichts
zu tun haben.
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Trotz ihrer großen Ähnlichkeit mit Nervenzellen hält W. ihren
nervösen Charakter nicht für erwiesen, da sie unter pathologischen Ver¬
hältnissen eine deutliche Hypertrophie zeigen können, die außer durch
die Vermehrung der Fortsätze vor allem auch durch eine Vermehrung
des Plasmas des Zelleibes wie besonders der Fortsätze charakterisiert ist.
Sie werden deshalb kurz als spezifische Zellen der Epiphyse bezeichnet.
Sodann weist W. auf den engen anatomischen Zusammenhang
zwischen der Zirbel und der Pia hin: Die Epiphyse ist von einer Kapsel
der Pia eingeschlossen, die zahlreiche Septen in das Innere der Drüse
schickt, und mit der marklose Nerven und Gefäße eintreten. Während
die Nervenfasern an den Zellen der Zirbel mit Endkolben endigen, sind
die Piasepten und die Gefäße regelmäßig von dichten Geflechten ein¬
gefaßt, die im wesentlichen durch die Fortsätze der beschriebenen „spezi¬
fischen“ Zellen gebildet werden.
Durch diese engen anatomischen Verbindungen wird der Gedanke
eines funktionellen Zusammenhanges nahegelegt.
Da die Pia und vor allem die von ihr gebildeten Plexus chorioidei
für die Liquorsekretion von großer Bedeutung sind, so hat W. untersucht,
inwiefern primäre Zirbeldrüsenerkrankungen mit Störungen der Liquor¬
produktion einhergehen, und ob bei ausgesprochenem Hydrocephalus
internus Veränderungen in der Epiphyse nachweisbar sind.
In 3 Fällen fand er eine ausgesprochene Hyperplasie der „spezifischen“
Elemente der Zirbel, die alle eine starke Liquorvermehrung aufwiesen;
2 infolge von Kleinhirntumor, 1 wahrscheinlich als Folge einer Herz¬
insuffizienz.
Unter drei hochgradigen, kongenitalen Hydrozephalien fehlte bei
zweien die Epiphyse, bei einer war sie stark atrophisch.
Diese Befunde stimmen mit den Literaturangaben, wonach bei
primären Epiphysenerkrankungen regelmäßig ein meist starker Hydro¬
cephalus internus besteht, gut überein.
Alle diese Beobachtungen zusammen haben W. zu der Annahme
geführt, daß die Zirbeldrüse möglicherweise regulatorisch auf die Liquor¬
sekretion einwirkt, und er bittet deshalb bei Gelegenheit auf derartige
Zusammenhänge zu achten, da nur zahlreiche Erfahrungen hier zu einer
sicheren Beantwortung der Frage führen können.
En^e-Lübeck.
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Kleinere Mitteilungen
Der diesjährige vom Deutschen Verein für Psychiatrie vorbereitete
Fortbildungskurs für Psychiater, der vom 8. bis 28. Oktober
in Berlin stattfinden sollte, fällt des Krieges halber aus.
JPersonalnachrichten.
Dr. Friedr. Siemens, Geh. Med.-R., legt die Direktion der Prov.-Anstalt
Lauenburg i. P. nicht am 1. Okt. 1914, wie S. 804 dieses Jahr¬
gangs irrtümlich berichtet wurde, sondern im folgenden
Jahre nieder. Dagegen tritt
Dr. Wilh. Sander, Geh. Med.-R., Dir. der städt. Heilanstalt Dalldorf, am
1. Okt. 1914 von der Leitung der Anstalt zurück.
Dr. EmilSioli , Dir. der städtischen Heilanstalt, wird als ord. Professor,
Dr. Julius Räche, Oberarzt, als ao. Professor die Psychiatrie an der
neuen Universität Frankfurt a. M. vertreten.
Dr. Fr. Wilh. Kortum, Geh. Sanitätsrat, Oberarzt in Dalldorf, wurde zum
Direktor dieser Anstalt,
Dr. Hugo Liepmann, Prof., Oberarzt in Dalldorf, zum Direktor der
städtischen Anstalt Herzberge,
Dr. Wilhelm Falkenberg, San.-R., Oberarzt in Herzberge, zum Direktor
der im Bau befindlichen zweiten Irrenanstalt in Buch ernannt.
Dr. Robert Thomsen, Prof., Dir. der Dr. Hertzschen Privatanstalt in Bonn
u. Mitglied des Med.-Koll. der Rheinprovinz, ist Medizinal¬
rat geworden.
Dr. Franz Nißl, o. Prof, in Heidelberg, hat den Titel Geh. Hofra t erhalten.
Dr. Hubert von Grashey, Prof., Geheimer Rat und Ministerialrat a. D.,
Mitredakteur dieser Zeitschrift, ist im 75. Lebensjahr nach
längerem Leiden am 24. August gestorben.
Dr. Karl Heilbronner, Prof, in Utrecht, ist, 44 Jahre alt, gestorben.
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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
FÜR
PSYCHIATRIE
UND
PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN
HERAUSGEGEBEN VON
DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN
UNTER DER MITREDAKTION VON
BONHOEFFER KREUSER PELMAN SCHÜLE
BERLIN WINNENTAL BONN ILLENAU
DURCH
HANS LAEHR
SCHWEIZERHOF
EINUNDSIEBZIGSTER BAND
I. LITERATURHEFT
BERLIN
W. 10. GENTHINERSTRASSE 38
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1914
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BERICHT
ÜBER DIE
PSYCHIATRISCHE LITERATUR
IM JAHKE 1913
REDIGIERT
VON
OTTO SNELL
DIREKTOR DER HEIL- U. PFLEGE ANSTALT LÜNEBÜRO
I.
I. LITERATURHEFT
ZUM 71. BANDE
DER ALLGEMEINEN ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE
BERLIN
W. 10. GENTHINERSTRASSE 38
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1914
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1. Psychologie und Psychophysik.
Ref.: M. Isserlin-München.
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Journ. de psychol. normale et pathol. no. 6, p. 491.
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cryptomnesique. Journ. de psychol. normale et pathol.
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Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit. &
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J. F. Lehmann. (S. 42*.)
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Intern. Zentralbl. f. exp. Phonetik Bd. 23, H. 1,15 S.
Von zusammenfassenden Darstellungen des Gesamtgebiets .ist zu nennen
der 2. Band von Meutnanns experimenteller Pädagogik (299), der wichtige
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30 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Kapitel der reinen und angewandten Psychologie mit reichlichen Literatur¬
angaben abhandelt. Von demselben Verfasser liegt gleichfalls in neuer Auflage die
Abhandlung über „Intelligenz und Wille“ (298) vor. Inder Psycholo¬
gischen Einleitung zu Aschaffenburgs Handbuch (233) der Psychiatrie sucht
Isserlin die wichtigsten Tatsachen und Probleme der Psychologie zur Ein¬
führung in die Psychopathologie zusammenzufassen und zu diskutieren. Sehr viel
Psychologisches, vor allem methodologisch Wertvolles, bringt Jaspers (237) in
seiner Allgemeinen Psychopathologie. Leider ist diese in übertriebener
Weise auf das Prinzip der Einfühlung hin orientiert, und gerade durch die Kom¬
bination von sehr viel Geist und Dogmatismus nicht ungefährlich. Auf direkt
entgegengesetztem Standpunkt steht Bechterews „Objektive Psychologie“
(46). Diese will nur „die Beziehungen des Lebewesens zu den Bedingungen des
Milieus, die auf den Organismus irgendeinen Einfluß haben, erforschen und er¬
klären, ohne dabei jene inneren oder subjektiven Erlebnisse aufklären zu wollen,
die unter dem Namen der Bewußtseinserscheinungen bekannt sind, und die nur
der Beobachtung zugänglich sind. Deshalb schließt die objektive Psychologie
oder Psychoreflexologie ... die Methode der Selbstbeobachtung aus der Be¬
obachtung und dem Experiment vollständig aus, alle psychischen Funktionen
müssen nur objektiv registriert und kontrolliert werden“. Es ist interessant,
eine Zusammenstellung von objektiven Methoden in Händen zu haben, wenn
in Wahrheit auch eine solche „objektive Psychologie“ ohne Rücksicht auf das
Innenleben eine Utopie ist. Genannt sei ferner an dieser Stelle Ziehens psycho¬
physiologische Erkenntnistheorie (415).
Von Einzeluntersuchungen seien zunächst aus dem Gebiete der Sinnes¬
psychologie F. Hackers Beobachtungen an einer Hautstelle mit disso¬
ziierter Empfindungslähmung (195) in ihren Ergebnissen wiedergegeben;
sie nehmen zu wichtigen, von Head aufgeworfenen Problemen Stellung.
Hacker führte die Beobachtungen an sich selbst, an einer durch Verletzung
in Narbengewebe umgewandelten Hautstello durch. Seine sorgfältigen Unter¬
suchungen ergaben, daß diese Hautstelle im Vergleich zur normalen Haut eine sehr
unvollständige Innervation besaß. Nur die Wärmepunkte erwiesen sich als gut
entwickelt, Kälte und Druckpunkte dagegen waren gar nicht vorhanden, Schmerz¬
punkte nur ganz vereinzelt.
Stichschmerzen auszulösen gelang ausschließlich an diesen Schmerzpunkten,
sonst auf keinem Flächenteil. Dagegen ließ sich der sogenannte dumpfe Schmerz
sowohl durch mechanische wie durch elektrische Reizung überall auslösen. Dabei
war die Schwelle für diesen Schmerz erheblich niedriger als auf der normalen Haut,
und es zeigte sich, daß bei mechanischer Reizung zur Auslösung der Schmerz¬
empfindung ein um so größerer Druck nötig war, je kleinflächiger das Reizmittel
war, da eben der dumpfe Schmerz auf einer Tiefenwirkung beruht. Hitzempfindung
ließ sich durch keine Temperaturen erzeugen, denn wegen des Fehlens der Kälte¬
punkte konnten die für die Hitzempfindung charakteristischen Kälteempfindungen
nicht auftreten. Die Empfindung des Brennendheißen wurde nur an den Stellen
der Schmerzpunkte wahrgenommen.
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Isserlin, Psychologie und Psychophysik.
31 *
:a«Is Ansicht, daß die Adaptation nicht an die Temperaturpunkte gebunden
idem an die dazwischenliegenden temperaturempfindlichen Hautstellen,
b der genügenden Begründung ebenso wie seine Hypothese von dem proto-
len Nervensystem, das nach Nervenverletzungen im ersten Stadium der
ivtion die Sinnesfunktionen vermittle.
or allem ist der charakteristische unlustbetonte Schmerz, der dem proto-
len Gebiet eigen sein soll, eine dem dumpfen Schmerz auf der normalen
naloge Sensation. Daß die Druckempfindungen auf dem für Berührungs-
nästhetischen Gebiet nicht dem tiefen Drucksinn zuzuschreiben sind, wie
nnimmt, wird durch ihre relativ hohe Schwelle sowie damit bewiesen, daß
ngebung der anästhetischen Hautstellen von einer Mitbeteiligung an der
ng ausgeschaltet wird.
dadurch erhöht sich die Schwelle auf dem unempfindlichen Gebiet um mehr
=. Zehnfache. Die scharfe Trennung von Berührung und Druck, zu der Trotter
)avies durch ihre Versuche mit Nervendurchsehneidungen kommen, wird
^geführt auf die falsche Deutung der bei pathologisch veränderten Haut¬
en besonders leicht auslösbaren Empfindungen dumpfen Schmerzes, die
tiefliegende Nerven vermittelt werden.
Für die normalen Sinnesempfindungen ist eine funktionelle Scheidung von
irung und Druck unzulässig.
Wichtige sinnespsychologische Fragen behandelt auch Ziehen in seinen
riraentellen Untersuchungen über die räumlichen Eigenschaften
;er Empfindungsgruppen (414).
Nach seinen Ergebnissen zerfällt die kinästhetische (arthrische) Wahr-
uung in einen Empfindungs- und einen Vorstellungsanteil. Der
findungsanteil ist eine mechanische, in den Gelenken und deren
barschaft lokalisierte Empfindung. Der Vorstellungsanteil
■ht bei dem Sehendgeborenen ganz vorzugsweise in einer optischen
j- bzw. Bewegungsvorstellung.
Die Annahme spezifischer Bewegungsempfindungen und -vor-
lungen schwebt ganz in der Luft. Auch unsere klinischen Er-
ungen bei Seelenblindheit, Astereognosie und Apraxie lassen sich ohne eine
te Annahme sehr wohl erklären.
Die Annahme eines besonderen kinästhetischen Zentrums in der Großhim-
e erscheint daher auch überflüssig. Sein Nachweis ist auch stets vergeblich
ucht worden.
Auch die sogenannten Tastvorstellungen des Sehendgeborenen spielen keine
ibliche Rolle. Im wesentlichen sind die Tastempfindungen nur „Signale“,
ch welche optische Vorstellungen ausgelöst werden.
Bei den Blindgeborenen bekommen die Tastvorstellungen infolge
Wegfalls der optischen Vorstellungen größere Bedeutung. Die Be-
gungsvorstellungen sind bei ihnen wahrscheinlich taktil-vesti-
lar. Die Existenz spezifischer Bewegungsvorstellungen ist auch bei den
ndgeborenen nicht erwiesen.
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32 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Der Zeitfehler hat, soweit er auf der ideativen Modifikation der ersten Empfin¬
dung bei der Methode der richtigen und falschen Fälle beruht, anscheinend nur
für die Intensität der Empfindung eine durchgängige negative Tendenz. Für die
Qualität und für die Extensität besteht eine solche durchgängige Tendenz wahr¬
scheinlich nicht oder wenigstens nicht in demselben Maße.
Bei der Vergleichung von Längen (gerader und gekrümmter), sie mag ein¬
fach taktil oder aktiv- oder passiv-kinästhetisch erfolgen, sowie bei der Ver¬
gleichung von Krümmungen zeigt sich im Bereich der angestellten Versuche viel¬
fach ein annähernd neutraler Zeitfehler.
Bei einzelnen Personen scheint eine individuelle Tendenz zu einem negativ
oder positiv gerichteten Zeitfehler zu bestehen.
Die Zahl der richtigen Fälle ist im Bereich der angestellten Versuche bei aktiv-
kinästhetischer Vergleichung kaum größer als bei passiv-kmästhetischer.
Die Zahl der richtigen Fälle scheint bei manchen der angewendeten Versuchs¬
anordnungen bei den Blindgeborenen etwas größer zu sein als bei den Sehend-
geborenen.
Stärkere Krümmung wird bei den angestellten Versuchen, wenigstens den
aktiv-kinästhetisclien, oft im Sinne einer größeren Länge gedeutet.
Zur Nachprüfung der bekannten Auffassungs- und Merkversuche
Finzis hat Gabriele Gräfin v. Wartensleben Untersuchungen über den Einfluß
der Zwischenzeit auf die Reproduktion gelesener Buchstaben“ an¬
gestellt (895). Sie verwandte als Gesichtsreize Buchstaben, Zahlen und sinnlose Silben
bei einer Expositionszeit von Vio Sek. Aus ihren Resultaten seien folgende Tat¬
sachen angeführt: Das Gesamtbild der Versuche zeigt, daß für die Vorgänge, welche
in die Zwischenzeit hineinfallen, jeweils so sehr verschiedenartige Umstände in
Betracht kommen, daß weder überhaupt noch auch für ein einzelne Vp. die Länge
der notwendigsten oder optimalen Zwischenzeit zahlenmäßig bestimmbar ist. Es
ergab sich vielmehr, daß die einzelnen Vp. infolge der verschiedenartigen in der
Zwischenzeit spielenden Prozesse von Versuch zu Versuch Schwankungen hin¬
sichtlich der notwendigen und der optimalen Zeit ausgesetzt waren, Schwankungen,
die zwischen 0" bis 15" liegen und in ihrer Verursachung durchaus diskrepant
sind. Es kam häufig vor — besonders bei einer Zwischenzeit von 0"—4", daß
die Vp angaben mit dem Erkennen, Einordnen der Buchstaben oder Umsetzen
in das akustisch-motorische Lautbild nicht fertig zu sein. Interessant ist die Beob¬
achtung, daß beim Erkennen die Aufmerksamkeit nach der Wahrnehmung an
einen Platz gelangt und dort Bilder heraushebt, an welchen zur Zeit der Wahr¬
nehmung keine oder nur völlig unerkannte Gestalten sich befanden. — Ein ein¬
deutiger Einfluß der Zwischenzeit auf den Umfang der richtigen Reproduktion
hat sich nicht ergeben.
Bei den als „sicher richtig“ bezeichneten Buchstaben war die Zuverlässigkeit
der subjektiven Sicherheit eine ziemlich hohe (100—92°/ 0 ). Die falschen Buch¬
staben wurden meist als unsicher bezeichnet; verhältnismäßig zahlreich sind aber
die richtig reproduzierten und doch als „unsicher“ bezeichneten Buchstaben
(5—17 % der richtigen).
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Isser 1 in, Psychologie und Psychophysik.
33 *
Die Versuche Clemens Kraskowskis über die Abhängigkeit des Umfangs
der Aufmerksamkeit von ihrem Spannungszustande (260) sollen etwas
eingehender berichtet werden, weil das von ihm angewendete Verfahren — trotz
wichtiger zu erhebender Einwendungen gegen Versuchsanordnung und Inter¬
pretation der Ergebnisse — nicht ungeeignet scheint, für entsprechende Modi¬
fikationen zum Zweck psychopathologischer Untersuchungen, Anregung zu geben.
Die Methode, welche Verfasser anwendete, bestand in der tachistokopischen Dar¬
bietung von 4—fiziffrigen Zahlen, welche erkannt werden sollte; unmittelbar
nach vollzogener Erkennung hatte die Vp. eine Reaktionsbewegung zu machen
(die Reaktionszeit wurde am Hipp&chen Chronoskop gemessen). Eine Reihe be¬
sonderer Bedingungen sollte die speziellen Aufmerksamkeitsverteilungen bewirken.
So sollte reagiert werden, wenn eine verabredete Ziffer 1. an einer bestimmten
Stelle der Zahl a) vorkommt, b) nicht vorkommt, 2. überhaupt in der Zahl a) vor¬
kommt, b) nicht vorkommt Die beiden ersten Aufgaben haben den Effekt der
Konzentration auf die bestimmte Stelle, die beiden letzten sollen eine Verteilung
der Aufmerksamkeit auf die ganze Zahl, hervorrufen. Insbesondere 2 b wird als
die Aufgabe betrachtet, welche die gleichmäßigste, normal zu nennende Verteilung
der Aufmerksamkeit bedingt. Bei der Feststellung der Erkennungsleistung be¬
diente sich Kraskowski im Anschluß an Witasek eines Verfahrens zur Abschätzung
der Fehlerarten nach ihrer Wertigkeit (Abstufung nach Fehlergewichten). Die
Reaktionszeiten wurden mit Vorsicht verwertet, arithmetische Mittel und als
Streuungsmaß mittlere Fehler berechnet. Verf. kommt zu folgenden Ergebnissen:
Der Umfang der Apperzeption ist außer von der Individualität des einzelnen
und dem Grade der Übung auch noch von dem Spannungs zustande der Aufmerk¬
samkeit abhängig.
Möglichst gleichmäßig verteilte und normal gespannte Aufmerksamkeit
bietet die besten Bedingungen für eine umfangreiche Apperzeption.
Bei Konzentration der Aufmerksamkeit ist unter den eingehaltenen Versuchs -
bedingungen die zur Erkennungsleistung erforderliche Spannung eine höhere und
mit dem Grade der Konzentration zunehmend, der Umfang der Auffassung da¬
gegen ein geringerer. Dabei ist aber die in Betracht kommende Stelle von beson¬
derer Bedeutung. An der Grenze der Auffassung, bei sechsstelligen Zahlen, tritt dies
am meisten zutage.
Die Untersuchung der näheren Verteilungsverhältnisse der Aufmerksamkeit
zeigt, daß eine Verteilung wirklich möglich ist und mit dem Grade der Übung gleich¬
mäßiger wird. Es bleiben aber gewisse Wertunterschiede der einzelnen Stellen
bestehen. Für die Erkennung bilden einige, besonders die begrenzenden ersten
und letzten, und die mittelsten Stellen gewissermaßen die dominierenden Elemente;
die zweiten, vierten und vorletzten dagegen sind für die Erkennung am ungün¬
stigsten. Mit der Länge der Zahlen tritt eine Verschiebung der Wertigkeit der
einzelnen Stelle in der Leserichtung in der Art ein, daß die rechte Hälfte gegenüber
der linken mehr in den Vordergrund tritt, also die vorletzten und letzten Stellen
günstiger werden'als die zweiten und ersten.
Bei Konzentration der Aufmerksamkeit im Verlauf des Apperzeptions-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit. C
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34 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Prozesses auf eine vorher unbestimmte und wechselnde Stelle ist der die Erkennungs¬
leistung verringernde Einfluß der Ablenkung an den mehr hervortretenden günstigen
Stellen größer als an den ungünstigen, und zwar an ersteren etwa 30, an letzteren
etwa 20% gegenüber der Apperzeptionsleistung bei normaler Verteilung. Bei
Konzentration der Aufmerksamkeit auf eine vorher bestimmte Stelle dagegen
ist der verringernde Einfluß an den günstigen Stellen geringer, und zwar etwa
25 %, an den ungünstigen jedoch etwa 50 %. Die Erkennungsleistung ist demnach
bei ungünstigster Verteilung nur etwa halb so groß als bei günstigster Verteilung.
Die Auffassung der Zahlen geschieht in Gruppen. Vierstellige werden in
zwei und zwei Ziffern zerlegt, bei großer Übung aber häufig noch als Ganzes gelesen.
Daher üben bei ihnen die verschiedenartigen Einstellungsformen der Aufmerk¬
samkeit fast gar keinen oder kaum merklichen Einfluß auf die Erkennung aus.
Bei fünfstelligen Zahlen herrscht Unsicherheit, da sie in Gruppen zu drei und zwei
oder zwei und drei Ziffern gegliedert werden können. Deshalb sind fünfstellige Zahlen
oft langsamer zu erkennen als sechsstellige, und vor allem sind die Schwankungen
in der Apperzeption, d. h. die mittleren Fehler, größer. Man könnte vielleicht all¬
gemein den Satz aussprechen, daß die Auffassung ungerader Zahlen größere
Schwierigkeiten bietet als die der geraden, da sie nur in ungleiche Gruppen zerlegt
werden können. Mit zunehmender Übung wird aber die Sicherheit in der Gruppierung
meistens dann in zwei und drei Ziffern, gefestigt und infolgedessen auch der Wert
der Reaktionszeiten und mittleren Fehler verringert.
Die Größe der Objekte ist für die Güte der Apperzeption von Bedeutung.
Mit wachsender Größe nimmt nicht auch unbedingt die Erkennung zu, sondern
sie findet bei einer bestimmten Größe ihre Grenze. Diese liegt für kleinere Zahlen
höher als für größere. Autor wagt jedoch nicht ein bestimmtes Gesetz aus seinen
Versuchen abzuleiten. Es wäre nach seiner Meinung nach den Ergebnissen möglich,
daß, um gleiche relative Erkennungsleistungen zu erzielen, die Größe der Ziffern
in demselben Maße abnehmen muß, als die Länge der Zahlen zunimmt. Für eine
bestimmte Länge des Objekts scheint fernerhin in der Nähe der die beste Erkennung
bedingenden Größe der Ziffern die Apperzeptionsleistung ebenfalls im .umgekehrten
Verhältnis der Größe zu stehen. Eine nähere Untersuchung dieser Frage wäre
nach Meinung des Autors schon aus dem Grunde wünschenswert, weil bei allen
psychologischen Versuchen, und insbesondere bei Apperzeptionsprozessen, es immer
angestrebt werden muß, die möglichst günstigsten Bedingungen anzuwenden.
Gegen die Arbeit können Bedenken nicht unterdrückt werden. Die einfache
Parallelsetzung von Konzentration und Spannung erscheint untunlich, die Organi¬
sation von Haupt- und Nebenaufgaben in der Versuchsanordnung unglücklich,
die begriffliche Bestimmung von Aufmerksamkeit, Apperzeption und ihre Be¬
ziehungen zur Abstraktion unklar. Eine eingehende Besprechung gibt Seifert
(Arch. f. d. ges. Psychol. 31, 49).
Die wichtige Arbeit Ranschburgs (333) über die Wechselwirkung gleichzeitiger
Reize kann aus Raumrücksichten nur genannt werden, ebenso das Buch Benussis
über die Zeitwahrnehmung (57) und Buhlers umfassende Arbeit über die Gestalt¬
unternehmungen (108). Ein Thema aus dem letzteren, über das der Autor schon an
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Isserlin, Psychologie ond Psychophysik.
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anderer Stelle berichtet hatte, ist im Vorjahre referiert worden. Von den Gestalts¬
qualitäten handelt auch Ackerknecht (8).
Zur Psychologie des Gedächtnisses liegt das ansgezeichnete zusammenfassende
Buch Öffners (314) in neuer Auflage vor. G. E. Müller bringt in dem 3. Band seines
großen Werks (309) Zusammenfassendes, Kritisches, aber auch Ergebnisse neuer Ver¬
suche. Besonders aktuell sind die Kapitel über Erinnerungsgewißheit und
die undeutlichen Vorstellungsbilder. Die Kritik der modernen „Denkpsychologie“,
welche hier gegeben wird, erscheint jedoch nicht ganz zulänglich.
Eine wichtige Frage der Gedächtnispsychologie behandelt Aaü (1). Es handelt
sich um die Unterscheidung eines von ihm sogenannten Gelegenheits- und
Lebensgedächtnisses. Er meint damit den Unterschied des Lernens bzw.
Behalte ns zu einem bestimmten Zweck und Zeitpunkt (Examen usw.) und einem
solchen für die Dauer.
Aall kommt auf Grund seiner Experimente zu folgenden Anschauungen:
Er glaubt nach seinen Versuchen, daß es für das Behalten der Eindrücke wesentlich
sei, ob uns die reproduktive Verwertung der Eindrücke etwas mehr als eine vorüber¬
gehende oder gar völlig gleichgültige Angelegenheit bedeutet. Vielleicht liege
es schon an der Einprägung, daß ein kurzsichtiges Lernen der betreffenden Inhalte
von geringerer Dauerwirkung als ein langsichtiges Lernen ist. Jedenfalls seien
deutliche Anzeichen vorhanden, daß es einen Gedächtnisverlust bezeichnet, wenn
zu einer bestimmten Zeit die Vorstellung in uns Raum gewinnt, daß an dem Auf¬
bewahren des Inhalts hinfort nichts gelegen ist. Nach seinen Versuchen meint
Verfasser, dieses Gesetz für den Fall als gültig nachgewiesen zu haben, wo diese
Selbstentlastung des Gedächtnisses an dem nächstfolgenden Tag stattfindet. Das
Problem, das Aall aufwirft, ist interessant. Es ist jedoch sehr schwierig, entsprechende
Versuche wirklich einwandfrei durchzuführen.
. Interessante, auch für psychopathologische Fragestellungen wichtige Aus¬
führungen über Schreibfehler macht Sloll (372) auf Grund besonderer Unter¬
suchungen.
Die beim Abschreiben von Texten vorkommenden Fehler sind Aus¬
lassungen von Zeilen, Worten, Wort- und Buchstabenteilen, Fälschungen von
Wort- oder Wortteilen, Zusätze von Worten, Wort- oder Buchstabenteilen und
Umstellungen von Worten im Satze oder Lauten im Worte.
Beim Abschreiben sinnvoller Texte stehen die Auslassungsfehler
der Zahl nach an erster, die Fälschungen an zweiter Stelle. Zusätze sind seltener,
Umstellungen am seltensten.
Beim Abschreiben sinnloser (vom Schreiber nicht verstandener) Texte
kommen nur Fälschungen, Auslassungen, Zusätze und Umstellungen innerhalb
eines Wortes vor; die Fälschungen sind hier die weitaus häufigste Fehlerart. Aus¬
lassungen und Zusätze sind weit seltener, Umstellungen am seltensten.
Die beim Abschreiben vorkommenden Schreibfehler lassen sich auf die
größere Sprachgeläufigkeit, die Ranschburgsche Hemmung gleicher und ähnlicher
Elemente, die Perseveration, welche als Vor- und Nachwirkung auftritt und auf
reproduktive Nebenvorstellungen als ihre psychologischen Ursachen zurückführen.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Es können auch zwei oder mehrere der genannten Fehlerursachen bei der Ent¬
stehung eines Fehlers zusammengewirkt haben.
Die Fälschungen innerhalb des Wortes beim Abschreiben sinnloser Texte
bestehen fast ausnahmslos in der Substitution eines anderen, dem berechtigten
entweder optisch oder akustisch ähnlichen Buchstabens oder Lautes.
Die Substitution eines optisch oder akustisch ähnlichen Zeichens beim Ab-
schreiben sinnloser Texte sowie die Substitution sinn- oder bedeutungsähnlicher
Worte beim Abschreiben sinnvoller Texte erfolgt meistens in der Richtung der
größeren Sprachgeläufigkeit.
Die Auslassung von Worten innerhalb des Satzes (in sinnvollen Texten),
von Lauten innerhalb des Wortes und auch von Buchstabenteilen erfolgt meistens
dann, wenn benachbarte Teile des Satzes funktionsähnlich, benachbarte Worte
oder Wortteile einander gleich oder optisch oder akustisch ähnlich sind. Die Aus¬
lassung betrifft dann eines dieser mehrfach vorhandenen gleichen oder ähnlichen
Elemente und ist bedingt durch Ranschburgsche Hemmung.
Die im Satze infolge Ranschburgschet Hemmung ausgelassenen Worte sind
meist für den Sinn des Satzes ohne Bedeutung.
Innerhalb des Wortes erfolgt die Auslassung im Sinne der Ranschburgschen
Hemmung am leichtesten, wenn durch die Auslassung des Wortteiles wiederum
ein sinnvolles Wort entsteht.
Häufig ist das durch Ranschburgsche Hemmung erzeugte sinnvolle Fehlwort
zugleich sprachgebräuchlicher als das Textwort, vermutlich deshalb, weil auch
in der sprachgeschichtlichen Entwicklung der Ausfall einzelner Laute eine Folge
Ranschburgscher Hemmung ist.
Die Ranschburgschz Hemmung kann sich auch in der Weise geltend machen,
daß an die Stelle eines der gleichen oder ähnlichen Elemente des Wortes oder
Satzes ein anderes gesetzt wird. Das substituierte Element ist dann in der Regel
dem verdrängten benachbart oder ähnlich, oder es ist sprachgeläufiger als dieses.
Im letzteren Falle ist die Ranschburgsche Hemmung als die primäre Fehlerursache,
die größere Sprachgeläufigkeit als die sekundäre Fehlerursache aufzufassen.
Die Vor- und Nachwirkung unter den Schreibfehlern geht aus von dem im
visuellen Wortbild dominierenden Buchstaben oder den im akustischen und sprach¬
motorischen Wortbild dominierenden Lauten oder ist eine (auf sprechmotorisch-
akustischer Grundlage erfolgende) Analogiebildung.
Alle Arten von Vor- und Nachwirkung lassen sich als Perseverationen auf¬
fassen.
Durch die Vorwirkung der im Wortbilde dominierenden Elemente entstehen
häufig Umstellungen, durch Vorwirkung der langen Buchstaben auch Auslassungen
mittelzeiliger Elemente.
Zusätze von Worten im Satze und von Lauten im Worte sind meist Persevera¬
tionen.
Auch ein Teil der Fälschungen, hauptsächlich jene Substitutionen, die primär
durch Ranschburgsche Hemmung bedingt sind, haben Perseverationen zur sekun¬
dären Fehlerursache.
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Iss erlin, Psychologie and Psychophysik.
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Durch Analogiebildungen zu benachbarten Worten oder Silben werden auch
Auslassungen von Wort* oder Silbenteilen erzeugt.
Die Umstellungen von Worten im Satze und ein Teil der Umstellungen inner¬
halb der Worte sind bedingt durch die größere Sprachgeläufigkeit der falschen
Wort- oder Buchstabenstellung.
Die beim Abschreiben sinnloser Texte auftretenden Fälschungen sind bei
manchen Versuchspersonen überwiegend akustischer, bei anderen überwiegend
visueller Art. Das überwiegende Auftreten der Fehler der einen oder anderen Art
hängt mit dem Vorstellungstypus des Abschreibenden zusammen.
Auch die Vor- und Nachwirkungen (Perseverationen) zeigen bei den einzelnen
Versuchspersonen einen Zusammenhang mit dem Vorstellungstypus. Bei den
einen kommen überwiegend Perseverationen vor, welche durch die im visuellen
Wortbild dominierenden Elemente bedingt sind, bei den anderen überwiegen Perse¬
verationen infolge der Dominanz akustischer Elemente des Wortes oder infolge
akustisch-sprechmotorischer Analogiebildung. Die erstere Art der Perseveration
verrät den visuellen, die andere den akustisch-motorischen Wortvorstellungstypus
der Abschreibenden.
Nach Stotts Ansicht haben es seine Versuche wahrscheinlich gemacht, daß
ein großer Teil der in schriftlichen Überlieferungen vorliegenden Textvarianten
als Schreibfehler anzusehen sind.
Die Methode des Orthographieunterrichts müsse auf Verdeutlichung der
akustischen, sprechmotorischen und visuellen Wortbilder Bedacht nehmen, das
Buchstabieren pflegen und auf das etymologische Verständnis der zu schreibenden
Worte hinarbeiten.
Zur Frage der Intelligenzprüfungsmethoden liegen besonders Arbeiten zur
Verwertung der Binet- Swnonschen Staffelmethode vor. Bobertag (80. 81) hat
das Verfahren deutschen Verhältnissen angepaßt und erprobt Hierzu auch
Chotzen (115) und Bloch und Preiß (77).
Eine Keihe wichtiger Arbeiten über den Ausdruck von Gefühlsvorgängen
liegen vor. So hat Gregor (186) Beobachtungen über das psychogalvanische Reflex¬
phänomen unter psychologischen Gesichtspunkten angestellt. Die von ihm an¬
gewendete Methode widmete den Elektrodenverhältnissen die gebührende Sorg¬
falt. Es wurden mannigfache psychische Reize angewendet, insbesondere auch
neben den experimentell gesetzten natürlich auftretende und länger dauernde
besondere Affektlagen ausgenutzt. Selbstbeobachtungen wurden in systematischer
Weise angestellt und verwertet. G. faßt seine Ergebnisse in folgenden Sätzen zu¬
sammen:
Empfindungen von differenter Gefühlsbetonung sind von qualitativ gleichen
psychogalvanischen Reaktionen begleitet, und zwar gilt dieser Satz sowohl für
die durch epi- wie endosomatische elektromotorische Kräfte bedingten Schwan¬
kungen.
Ausgesprochene psychogalvanische Reaktionen sind auch im Gefolge von
Reizen, die Empfindungen mit indifferenter Gefühlsbetonung auslösen, zu beob¬
achten.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Die Intensität der durch den Reiz ausgelösten affektiven Erregung bzw. der
veranlaßten intellektuellen Inanspruchnahme findet wenigstens bei Anwendung
starrer Elektroden in der quantitativen Seite der Reaktion einen Ausdruck.
Eine willkürliche Verstärkung oder Abschwächung der psychogalvanischen
Reaktion ist Versuchspersonen, die mit der Verhaltungsweise von Simulanten
größtenteils vertraut waren, niemals gelungen. Eine reine Durchführung derartiger
Versuche macht die Verwendung flüssiger Elektroden erforderlich.
Aktuelle Affekte können unter Verwendung von starren Elektroden einen
sehr ausgesprochenen elektromotorischen Ausdruck finden, und zwar ergaben
sich für Erregungs- und Spannungszustände besonders charakteristische Kurven -
formen, an deren Zustandekommen die Tätigkeit der Schweißdrüsen wesentlich
beteiligt ist.
Zwischen dem Ausdruck aktueller und reproduktiv ausgelöster Affekte be¬
stehen quantitative Übergänge. Die Qualität des reproduzierten Affektes kommt
im Kurvenbild nicht zum Ausdruck.
Das Studium der psychischen Bedingungen der Reaktion ließ nachstehende
Beziehungen erkennen:
Geistige Ermüdung bewirkt eine Herabsetzung der Reaktionsfähigkeit.
Im Affekte sind psychogalvanische Reaktionen auf äußere Reize vermindert oder
fehlen ganz. Als Ursache hierfür kommen bei Verwendung flüssiger Elektroden
physiologische und psychologische Momente in Betracht. Bei starren Elektroden
ist hierbei das Auftreten deutlicher psychogalvanischer Reaktionen auch physi¬
kalisch erschwert.
Bei Wiederholung eines Reizes erfolgt eine individuell verschieden rasch
eintretende und anhaltende Verminderung der psychogalvanischen Reaktion,
welche auf einer Abstumpfung der affektiven Wirkung des Reizes beruht.
Gregor hat auch—in Gemeinschaft mit Gom (184) — an psychisch Erkrankten
unter analogen Gesichtspunkten Versuche über das psychogalvanische Phänomen
angestellt. Die Autoren geben im wesentlichen folgende Zusammenfassung ihrer
Resultate:
Die Untersuchung eines ausgedehnteren pathologischen Materials hat zunächst
eine Vertiefung der Kenntnisse über die Bedingungen des psychogalvanischen
Phänomen ergeben. Sie zeigt einen Mangel oder stärkere Reduktion der psycho¬
galvanischen Reaktionen in Fällen, in denen eine dauernde gemütliche Stumpfheit
oder temporäre Affektlosigkeit vorlag. Ferner war das Phänomen dann zu ver¬
missen, wenn die vom Reiz ausgehende affektive Erregung durch äußere oder innere
Ursachen in ihrer Entwicklung gestört war. Von inneren Ursachen waren in diesem
Sinne insbesondere jene wirksam, die eine geringe Intensität des durch den Reiz
ausgelösten Eindrucks zur Folge hatten: Mangelnde Konzentration des Individuums,
Erschöpfung seiner psychischen Energie bei schweren Krankheitsprozessen, ander¬
weitige (etwa krankhaft bedingte) Affekte. Die innigen Beziehungen zwischen
Affektivität und psychogalvanischen Reaktionen traten besonders deutlich bei
den Melancholikern hervor. Von diesen zeigten namentlich jene deutliche Reak¬
tionen, bei denen gelegentlich auch spontan mehr oder weniger lebhafte Affekte
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Isserlin, Psychologie und Psychophysik. 39*
in Erscheinung traten, während in affektlosen Krankheitsperioden keine Reaktionen
auslösbar waren.
Eine Steigerung der psychogalvanischen Reaktion war in Recbenversuchen
bei Zuständen psychischer Hemmung nachzuweisen, in denen die geistige Ver¬
arbeitung vom Eindruck erschwert war und einfache Rechenoperationen au*
strengende und konzentrierte Denkarbeit erforderten. Bei differenten Krankheits-
prozessen war eine differente Ansprechbarkeit auf Reize nachzuweisen. Gegen¬
sätzlich standen sich namentlich die gemütliche Stumpfheit und die psychische
Hemmung gegenüber. Im ersten Falle fand sich ein Überwiegen der Schmerz¬
reaktion über die Rechenreaktion, im zweiten ein relativ kleines psychogalvanisches
Phänomens auf Schmerzreize. Auch traten Beziehungen der Reaktion zum Inhalt
verwendeter Reizworte hervor.
Ein Zusammenhang zwischen intellektueller Entwicklung und Art und Größe
des psychogalvanischen Phänomens besteht nicht. Den quantitativen Verände¬
rungen der psychogalvanischen Reaktion ist die öfters beobachtete, abnorm rasche
Erschöpfbarekit derselben in aufeinanderfolgenden Versuchen zuzuzählen. Da¬
neben konnten auch qualitative Veränderungen des Phänomens festgestellt werden.
Die Ruhekurve zeigte für verschiedene affektive Zustände des Falles charakte¬
ristische Verlaufsformen. In allen k allen waren die quantitativen Veränderungen
der psychogalvanischen Reaktionen auf psychische Ursachen zurückzuführen.
Die stets erwogene Möglichkeit von Störungen in der Projektion, in dem Sinne,
daß vorhandene oder ausgelöste affektive Erregungen von einiger Lebhaftigkeit
keinen Ausdruck im psychogalvanischen Phänomen finden, schien in den sich auf
alle Altersstufen erstreckenden Versuchen nicht verwirklicht. Für die Größe des
psychogalvanischen Phänomens sind auch individuelle Momente von Bedeutung.
Komplikationen durch abnormen Hautwiderstand sind leicht kontrollierbar. Als
Komplexreaktion kommen neben oder statt des psychogalvanischen Phänomens
auch durch motorische Effekte des Reizes bedingte Saitenschwankungen in Betracht.
Die speziellen Befunde bei den einzelnen Krankheitsformen
fassen die Autoren in folgenden Sätzen zusammen:
Der psychischen Hemmung bei der Katatonie geht eine Verminderung
des psychogalvanischen Phänomens parallel, welche mit dem motorischen Ver¬
halten in indirektem Zusammenhang steht. Mit Lösung des katatonen Stupors
erfolgt bei benignem Krankheitsverlauf eine Änderung der Ruhekurve und eine
Zunahme der Reaktionen. Progrediente schwere Fälle von Katatonie zeigten
Mangel psychogalvanischer Reaktion. Bei terminalen Fällen war, soweit gemüt¬
liche Verödung bestand, konstantes Fehlen der Reaktionen zu beobachten.
Bei transitorischen (psychogenen) Stuporzuständen im Verlaufe der Katatonie
waren normale Reaktionen auszulösen.
In einem leichten Falle von Hebephrenie war eine Zunahme der Reaktions¬
fähigkeit mit fortschreitender Besserung zu verfolgen. Terminale Fälle mit gemüt¬
lichen Defekten zeigten Mangel psychogalvanischer Reaktionen. Akute Fälle
boten dem wechselnden Bewußtseinszustande entsprechend in verschiedenen
Zeiten verschiedene Reaktionen, wobei das Überwiegen der Schmerzreaktion hervor-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
trat. Im Zustande hebephrener Erregung von hypomanischem Charakter war
ein Fehlen der Reaktion auffällig.
Beim angeborenen Schwachsinn fanden sich gerade auf den niedersten
Stufen (Imbezillität, Idiotie) Reaktionen von normaler Größe.
Unter den Epileptikern zeigten gemütsstumpfe Individuen kleine oder
fehlende Reaktionen. Im übrigen waren auch in dieser Gruppe bei Dementen normale
Reaktionen zu finden.
Bei der Paralyse traten deutliche Beziehungen der Reaktionsweise zu
gemütlichen Funktionen hervor. Individuen mit hochgradiger Gemütsstumpfheit
ließen konstant psychogalvanische Reaktionen vermissen und ergaben auch eigen¬
artige Ruhekurven. Ein normales psychogalvanisches Phänomen fand sich nur
bei Paralytikern in der Remission und bei einem jugendlichen Falle mit erhaltener
gemütlicher Erregbarkeit. In der paralytischen Erregung von hypomanischem
Gepräge waren Reaktionen zu vermissen.
Beim manisch-depressiven Irresein konnten auf der Höhe der de¬
pressiven Phase im affektlosen Stupor lineare, horizontale Ruhekurven und man¬
gelnde oder stark reduzierte Reaktionen festgestellt werden. Mit Besserung des
Zustandsbildes erfolgte in beiden Richtungen eine Rückkehr zur Norm. Diese
Änderung ging zuweilen der klinisch merklichen Besserung voran. Klinisch
leichtere Fälle unterschieden sich auch in der Reaktionsweise von schwereren.
In allen Fällen von Hypomanie fanden sich deutliche Reaktionen.
Psychasthenische Individuen zeigten auf der Höhe psychischer Er¬
schöpfung eine starke Herabsetzung der Reaktionsfähigkeit mit Beginn der Er¬
holung normale Reaktionen. Die Untersuchung legt nach Ansicht der Autoren
eine klinische Verwertung der Aufnahme des psychogalvanischen Phänomens nach
folgenden Richtungen nahe:
Zur Beu r teilung der Auffassung und Verarbeitung von Eindrücken bei stupo-
rösen Patienten oder unzugänglichen Individuen; zur Unterscheidung benigner
psychasthenischer Hemmung von ähnlichen Zuständen im Verlaufe progredienter
Krankheitsprozesse; zur objektiven Charakterisierung affektiver Zustände und als
Kriterium für die affektive Erregbarkeit; zur prognostischen Beurteilung des Ver¬
laufes einzelner Psychosen (Melancholie, Katatonie); zur Unterscheidung der
hypomanischen von der paralytischen oder hebephrenen Erregung; als Unter¬
suchungsmethode beim Verdachte der Simulation.
Versuche über das galvanische Reflexphänomen hat auch Leva (Ober einige
körperliche Begleiterscheinungen psychischer Vorgänge mit besonderer Berück¬
sichtigung des psychogalvanischen Reflexphänomens) (268) angestellt. Er zieht aus
seinen Beobachtungen den Schluß, daß das psychogalvanische Reflexphänomen
an die Schweißdrüsen gebunden ist. Andererseits kann die wichtige Tatsache ge¬
folgert werden, daß unsere Schweißdrüsen nicht nur in Tätigkeit sind, wenn es zu
deutlich erkennbaren Schweißausbrüchen kommt; sondern daß auch bei einfachen
psychischen Vorgängen ähnliche Änderungen der Schweißdrüsentätigkeit statt¬
finden, wie sie am Gefäßsystem beobachtet werden.
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Isserlin, Psychologie and Psychophysik.
41*
Ober die physikalisch-chemischen Vorgänge beim psychog&lvanischen
nomen berichtet M. Gildemeister (178).
Einige plethysmographische, pneamographische, sphygmographische Unter-
hungen liegen vor. Genannt sei die Arbeit von W. Westphal (401) wegen des
thodischen Gedankens, den Reaktionsversuch mit Aasdrucksmethoden za
binden.
Die Ergebnisse sorgfältiger plethysmographischer Untersuchungen
Dementia-praecox-Kranken veröffentlicht Küppers (263). Nach seinen
igaben wurde in einem erheblichen Prozentsatz der untersuchten Kranken
von 14) mittels des Armplethysmographen ein Symptom nachgewiesen, das
; „reaktive Volumstarre“ bezeichnet werden kann und sich in der Volumkurve
s Arms in charakteristischer Weise äußert.
Die wesentliche zentralnervöse Vorbedingung der Erscheinung scheint eine
auernde Hemmung des Vasomotorenzentrums zu sein.
Der zugrunde liegende krankhafte zentrale Prozeß zeigt in seinen körper-
ichen Äußerungen weitgehende Übereinstimmung mit einem Zustand des nor-
na\en Seelenlebens, nämlich mit der gespannten Erwartung.
Zusammenfassendes über „Übung und Ermüdung“ bringt ein Artikel des
Handwörterbuchs der Naturwissenschaften (234).
Interessantes zur Ergographie bringen die Arbeiten von Rose (342) und
Trüschel (388).
Von der Natur der menschlichen Sprachlaute handelt Jaensch (235).
Er benutzte — mit unwesentlichen Modifikationen — eine Versuchsanordnung,
die Otto Weiß zur Demonstration von Schallphänomenen des Herzens verwendet
hat. Das Prinzip des Verfahrens ist die Hervorrufung von Schallphänomenen
in einem Telephon durch wechselnde Belichtung (Widerstandsänderungen) einer
in den Stromkreis des Telephons eingeschalteten Selenzelle. Jaensch bewirkte
Belichtungswechsel der Selenzelle durch Rotieren von Scheiben vor der Lichtquelle.
In den Rand der Scheiben schnitt er Wellenformen verschiedener Art (Sinus¬
schwingungen gleicher und verschiedener Wellenlänge). Er fand nun, daß Sinus¬
schwingungen gleicher Wellenlänge einen Ton, Sinusschwingungen verschiedener
Wellenlänge ein Geräusch erzeugten. Veränderte er die Kurvenform systematisch,
so ging das Schallphänomen kontinuierlich von einem reinen Ton in einen Klang
mit Vokalcharakter, von da in ein Geräusch über. Daraus schließt J., daß ein Vokal
dann entstünde, wenn unser Ohr in raschem Wechsel von Sinusschwingungen
getroffen würde, deren Wellenlänge nur wenig verschieden ist. Soll also ein Ton
in einen Vokal übergeführt werden, so muß der Schallkurve auf irgendeine Weise
die Eigenschaft der Periodizität genommen, d. h. die Schallkurve in der Richtung
auf die Geräuschkurve hin verändert, der letzteren angeglichen werden. Diese
und andere theoretische Ausführungen der interessanten Arbeit sind nicht ohne
Widersprach hinzunehmen.
Über die Beziehungen zwischen Kinästhesie und Rhythmus Wahrnehmung
hat Ruckmich (345) interessante Ausführungen auf Grund von Experimenten
gemacht
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42*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Zur Psychologie des Denkens liegen umfassende Ausführungen von
Stk (360) vor.
Hier wären auch die programmatischen Ausführungen Husserls (227) zur
Phänomenologie zu nennen, wie das von diesem herausgegebene Jahrbuch.
Über Ethik handelt ein kleines populäres Buch von Wentscher (399), über
Hypnose ein brauchbares Büchlein von Trömner (387), in die Psychoanalyse
A. Adlers führt ein zusammenfassender Aufsatz von diesem gut (13) ein.
2. Gerichtliche Psychopathologie.
Referent Karl Wendenburg-Bochum.
I. Allgemeine gerichtliche Psychiatrie.
1. v. Heutig , H. (München), Zur Frage der Verhandlungsfähigkeit.
Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtswesen, 10. Jahrg.,
S. 463. (S. 45*.)
2. Hübner , A. H. (Bonn), Lehrbuch der forensischen Psychiatrie.
Bonn 1914, A. Marcus u. E. Webers Verl. (Dr. jur. Alb. Ahn).
1066 S. (S. 43*.)
3. Leers, 0. (Essen), Gerichtsärztliche Untersuchungen. Berlin,
J. Springer. 162 S. 4 M.
4. Lochte, Th. (Göttingen), Über die Zukunft der gerichtlichen
Medizin in Preußen. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 13, S. 269.
5. Oppermann, Die Aufgabe des ärztlichen Gutachtens. Mtschr. f.
Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref. S. 229. (S. 43*.)
6. RaecTce, Zur Intelligenzprüfung nach der Binet-Simonsschen
Methode. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 14. (S. 45*.)
7. Reimann, E., Zur Einführung in die forensische Psychiatrie.
Wien. klin. Wschr. Bd. 26, S. 1987.
8. Siebert, Chr., Über psychiatrische Gutachten vor Gericht. Petersb.
med. Ztschr. Nr. 1. (S. 45*.)
9. Straßmann, Zur Frage der Verhandlungsfähigkeit. Mtechr. f.
Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref. 10. Jahrg., S. 686.
(S. 45*.)
10. Vorkastner, W. (Greifswald), Wichtige Entscheidungen auf dem
Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie. Aus der Literatur
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
43*
des Jahres 1912 zusammengestellt. Halle, C. Marhold. 51 S.
1 M. (S. 45*.)
11. Ziernke, E. (Kiel), Der Ritualmord in Kiew und die ärztlichen
Sachverständigen. Deutsche med. Wschr. Nr. 42. (S. 44*.)
Die Hochflut der forensisch-psychiatrischen Literatur, welche durch die
Strafprozeßnovelle und die Vorentwürfe zu den Strafgesetzbüchern verschiedener
Länder erzeugt war, ebbt allmählich ab. Auch die Beziehungen zwischen Fürsorge¬
erziehung und Psychiatrie sind durch ausgedehnte Untersuchungen klargestellt
und der eine Zeitlang recht hochgehende Strom der schriftstellerischen Produktion
fließt wieder ruhiger in seinem Bette dahin. Trotzdem fehlt es auch in diesem
Jahre nicht an zahlreichen, guten Einzelarbeiten. Namentlich in Frankreich, wo
das alte Irrengesetz von 1838 durch einen neuen Gesetzentwurf abgelöst werden
soll, regen sich die Federn. In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist es stiller
geworden und da der geforderte Entwurf einer gesetzlichen Regelung des Irren -
wesens in Preußen noch nicht erschienen ist, fehlt es der Kritik an Material. Be¬
sonders wenig Arbeiten lagen dies Jahr aus dem Gebiete der Militärpsychiatrie
vor. Es ist zu hoffen, daß diese Erscheinung nur vorübergehend ist und daß der
Rückgang der früher so zahlreichen Arbeiten auf diesem Gebiet mit der Einrichtdng
militärischer Beobachtungsstationen nichts zu tun hat, durch welche dem Gros
der Psychiater die Begutachtung von Militärpersonen entzogen ist.
Ein stattliches Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie hat A. H. Hübner (2)
herausgegeben. Es ist rund 1000 Seiten stark und verdankt diesen, für das Lehr¬
buch eines Zweiges unserer Spezialwissenschaft nicht gewöhnlichen Umfang der
Tatsache, daß neben dem Straf- und Zivilrecht in seiner ganzen Ausdehnung auch
das Disziplinarrecht, die Militärstrafgesetzgebung und die Versicherungsgesetze
in ihren Beziehungen zur Psychiatrie geschildert sind. Als vor etwa 20 Jahren
Cramers gerichtliche Psychiatrie erschien, war es ein Büchlein noch nicht zwei
Finger stark. Ein Vergleich mit dem Hübnerschm Buch zeigt recht deutlich, wie
sehr der Kreis der psychiatrischen Aufgaben in foro sich erweitert hat und wieviel
größer und schwieriger die Aufgaben sind, welche dem Gerichtsarzt heute gestellt
werden. Denn das Hübnersche Buch bringt trotz seiner Stärke nur Notwendiges
und Wissenswertes und dies in klarer und verständlicher Form. Die illustrierenden
Beispiele aus der Praxis sind knapp, kurz und treffend, die Gesetzesparagraphen
und ihre Erläuterungen recht vollständig. Die Einleitung bildet ein kurzer Abriß
der Psychopathologie, in dem auch kurz die hauptsächlichsten und für den Gerichts¬
arzt wichtigen Obduktionsbefunde gestreift werden. Am Schluß findet sich ein
sorgfältiges Namen- und Sachregister.
Einen schönen Aufsatz über die Aufgaben des ärztlichen Gutachtens bringt
Oppermann (5). Er skizziert die rechtlichen Grundlagen des ärztlichen Gutachtens
im Straf-, Zivil- und Versicherungsrecht und betont für die Praxis namentlich die
Notwendigkeit der sachverständigen Beobachtung von Einzelsymptomen der
Krankheit durch den Arzt, die wuchtiger ist als eine scharfe Diagnose, denn der
Richter urteilt nicht nach der Diagnose, sondern auf Grund angeführter, einzelner Tat-
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44*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Sachen, aus denen sich z. B. Geschäftsunfähigkeit, Unfähigkeit der freien Willens-
bestimmung oder Arbeitsunfähigkeit juristisch ableiten läßt. Die Diagnose gewinnt
für die forense Tätigkeit nur dann Wert, wenn sich aus ihr zugleich die Prognose
ableiten läßt Dies kommt namentlich in Frage, wenn es sich um Dauerzustände
handelt, also vor allem bei Entmündigungen oder Rentenansprüchen, die dauernde
Geschäftsunfähigkeit oder dauernde Erwerbsunfähigkeit voraussetzen. Der Artikel
ist namentlich für alle Ärzte lesenswert, die sich in die forensische und Gutachter*
tätigkeit einarbeiten wollen.
TV. M. Bechterew (11), der hervorragendste Sachverständige für „psychiatrisch-
psychologische“ Fragen in dem bekannten Kiewer Ritualmordprozeß, schildert
die eigenartigen Aufgaben, die die Sachverständigen in diesem Prozesse zu lösen
hatten. Bekanntlich ist dieser Prozeß zum guten Teil deshalb zustande gekommen,
weil der vom Untersuchungsrichter zur Meinungsäußerung aufgeforderte Psychiater
Prof. Sikorski sein Gutachten dahin abgegeben hat, daß der Mord an dem Knaben
Juschtschinski weder von einem Geisteskranken noch von einem Perverssexuellen,
sondern von mehreren Juden zu rituellen Zwecken begangen worden ist. Nach
Prof. Sikorski zeigten die Mörder, die von vornherein nicht nur auf Blutgewinnung
(zu Ritualzwecken), sondern auf Marterung und Tötung ihres Opfers ausgegangen
waren, bei ihrem planmäßigen Vorgehen große Sachkenntnis und Kaltblütigkeit
(„kalte herzlose Arbeit“), da sich die Anklage auf ein psychiatrisches Gutachten
stützte, mußten auch bei der Verhandlung Psychiater als Sachverständige gehört
werden. Sie wurden unter anderem auch darüber befragt, ob sie die Nationalität
und den Beruf der Mörder bestimmen könnten, ob der Mord in Ruhe ausgeführt
wurde, ob Zeichen religiöser Motive der Tat vorhanden sind. In der vorliegenden
Abhandlung bringt Bechterew die Sektionsprotokolle, die Gutachten des ProL Si¬
korski und des Mönchs Ambrosius (dieser weiß aus eigener Kenntnis nichts aus¬
zusagen» hat aber gehört, daß die Juden Christenblut zu verschiedenen rituellen
Zwecken brauchen) und motiviert seine eigenen vor Gericht gemachten Aussagen.
Auf diesem Prozeß ist wohl zum erstenmal der Versuch einer psychologischen
Begutachtung gemacht worden. Verf. zeigt aber, wie schwer solche Grenzen für
einen Sachverständigen einzuhalten sind. Bechterew gibt eine Darstellung der
himanatomischen Verhältnisse und schließt aus dem Sektionsbefunde, der in keiner
Weise dem Ritualschema entspricht, daß hier keinerlei Anhaltspunkte für religiöse
Motive der Mörder vorliegen, daß die Art der Mordausführung die für Zwecke der
Blutgewinnung denkbar ungeeigneteste ist, daß von einem ruhigen, kaltblütigen
und planmäßigen Vorgehen keine Rede sein kann. Verf. bestreitet auch, daß eine
Marterung des ermordeten Knaben stattgefunden hat, da die Bewußtlosigkeit
gleich nach den ersten Verwundungen eingetreten war. Nichts spricht auch dafür,
daß die Mörder irgendwelche anatomische Kenntnisse besessen haben. Natürlich
bestreitet B. die Möglichkeit, etwas über die Nationalität des Mörders auszusagen.
(Fletschmann-Kiew.)
Karpimki (11), der ebenfalls dem Kiewer Ritualmordprozesse als Sach¬
verständiger beigewohnt hat, erörtert die Frage der Zweckmäßigkeit einer „psycho¬
logisch-psychiatrischen“ Begutachtung. Bei der Wichtigkeit, die hier der Bestim-
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
45*
mung des Zeitpunktes des Bewußtseinsverlustes beim Knaben Juschtschinski
beigemessen werden maßte, konnten Spezialkenntnisse der Psychiater und Nerven¬
ärzte sehr wohl verwertet werden. Von einer psychologischen Expertise konnte
in diesem Prozesse aber schon deshalb kaum die Rede sein, weil die Psychiater
an den meisten Verhandlungstagen „dispensiert“ waren und sie ihr Gutachten
hauptsächlich auf Grund der Sektionsprotokolle und der früheren Begutachtungen
abgeben mußten. Auch in einer anderen Beziehung war die Lage der als Sach¬
verständige vorgeladenen Psychiater sonderbar. Gewöhnlich befassen sich solche
Sachverständige mit der Persönlichkeit des Angeklagten. Hier gab es nur einen
Angeklagten, und von keiner Seite wurden Zweifel an seiner geistigen Intaktheit
geäußert. Die Psychiater hatten also eine gerichtlich-psychopathologische Analyse
der Tat zu geben, während diese Analyse in gar keinen Zusammenhang mit der
Persönlichkeit des Angeklagten gebracht werden konnte. Es fehlte also die Haupt¬
grundlage eines psychologischen Gutachtens. (Fleischmann-Kiew .)
Auch Ziemke (11) protestiert lebhaft dagegen, daß in diesem Prozeß ärztliche
Sachverständige die Grenzen verlassen haben, die ihnen durch Beruf und Wissen¬
schaft gezogen sind. Die Leistungen der russischen Psychiater und Gerichtsärzte,
die Z. anführt, muten in unserer Zeit geradezu ungeheuerlich an. Sie scheinen aber
in Rußland nichts allzu Seltenes zu sein, denn auch Siebert (8) klagt sehr über wenig
sachverständig abgefaßte Gutachten der russischen Ärzte.
Bei der forensischen Beurteilung einer Persönlichkeit darf man sich immer
nur auf das Ergebnis der vollständgen Untersuchung verlassen, aber niemals auf
das Resultat einer einzelnen Untersuchungsmethode. Raecke (6) warnt mit vollem
Recht vor solchen Auffassungen, wie Bloch sie hegt, der mit der Btnefschen In¬
telligenzprüfungsmethode den Nachweis der verminderten Zurechnungsfähigkeit
führen will.
Auf eine neue Möglichkeit der Verbrecher, sich der Verurteilung zu entziehen,
weist t ). Heutig (1) hin, das ist der Eintritt der Verhandlungsunfähigkeit.
Er wünscht den Begriff und seine Anwendungsmöglichkeit genauer umschrieben
zu sehen vor allem aber hält er die Möglichkeit der Verhandlung in Abwesenheit
des Angeklagten für dringend notwendig, um solchen Fällen begegnen zu können,
welche die öffentliche Meinung nicht mit Unrecht erregen.
Straßmann (9) korrigiert v. Hentig dahin, daß nicht psychiatrische, sondern
körperliche Krankheitserscheinungen im Prozeß Eulenbuig Vorgelegen hätten,
hält aber trotz dieses irrtümlichen Ausgangspunktes v. Hentigs Ausführungen
im übrigen für durchaus begründet. Namentlich manche Fälle von Hysterie setzen
der Verhandlungsfähigkeit große Schwierigkeiten entgegen und hindern oft
jahrelang den Fortgang eines Prozesses. Wie ein mitgeteilter Fall zeigt, kann die
Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten nicht nur verhindern, daß seine Schuld
erwiesen und er verurteilt wird, es kann auch Vorkommen, daß es unmöglich wird,
die Unschuld eines Angeklagten zu erweisen, wenn eine Verhandlung durch fort¬
gesetzte Krankheit unmöglich wird.
Vorkastner (10) hat in dankenswerterweise auch die zwölfte Folge der wichtigen
Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie zusammengestellt.
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46*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
II. Psychiatrie und Strafrecht.
1. Bonhoeffer, K. (Berlin), Bemerkungen zur Frage der Einführung
der verminderten Zurechnungsfähigkeit. Charite-Annalen
Bd. 37.
2. Charon, R., et Courhon, P., Anormalite psychique et responsabilit6
relative. L’Enc6phale no. 10, p. 315. (S. 48*.)
3. Chemnitz, Über Schnapsvergiftung vom forensischen Standpunkt
mit besonderer Berücksichtigung der billigen, besonders
schädlichen Ersatzmittel des Äthylalkohols. Friedreichs BL
f. gerichtl. Med. S. 81.
4. Dupre, Condamnation pour vol d’un paralytique general avance.
L’Enc6phale 1912, p. 376.
5. Engelen, E. (Zuptschen), Behandlung der sogenannten ver-
* mindert Zurechnungsfähigen. Jur.-psych. Grenzfr. Bd. 9,
H. 1. (Verl. C. Marhold, Halle.)
6. Grasset (Montpellier), La responsabilite attenuSe des inculp£s.
Question m^dico-sociale. Montpellier, Roum6gons et D6han.
96 f. (S. 48*.)
7. Günther, Carl, Die Zurechnnng im Strafrecht. 3. Aufl. Berlin u.
Leipzig, Wattenbach. 96 S. 3 M.
8. Hegar (Wiesloch), Der Taubstumme als Zeuge vor dem Straf¬
richter. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 70, H. 3 u. 4, S. 554.
9. Herold, E., Zwei Fälle von Brandstiftung bei Hysterie und Im¬
bezillität. Inaug.-Diss. Kiel. (S. 50*.)
10. Jolly, Ph. (Halle a. S.), Simulation von Geistesstörung. Ärztl.
Sachv.-Ztg. Nr. 10, S. 214.
11. Kahl, W. (Berlin), Der Stand der europäischen Gesetzgebung
über verminderte Zurechnungsfähigkeit. Jur.-psych. Grenzfr.
Bd. 9, H. 1. Halle, C. Marhold.
12. Kinberg, Olaf (Stockholm), Über das strafprozessuale Verfahren
in Schweden bei wegen Verbrechen angeklagten Personen
zweifelhaften Geisteszustandes, nebst Reformvorschlägen.
Jur.-psych. Grenzfr. Bd. 9, H. 2/4. Halle, C. Marhold. 152 S.
3,60 M. (S. 48*.)
13. Lagriffe, Luden, Contribution ä l’ötude des attentats simulös.
Du ligotage. Ann. med. -psychol. 71. ann. 11° 3, p. 299.
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie. 47*
14. Maier , H. W. (Burghölzli-Zürich), Die Behandlung der ver¬
mindert Zurechnungsfähigen im Entwurf zu einem schweize¬
rischen Strafgesetzbuch von 1912. Schweizerische Ztschr. f.
Strafrecht 26. Jahrg., H. 3. (S. 48*.)
15. Marcuse, H. (Herzberge), Ein Fall von Simulation. Med. Klinik
Nr. 1.
16. Meyer, E. (Königsberg), Jugendliche und Zurechnungsfähigkeit
Recht u. Wirtschaft Jahrg. 2, Nr. 2, S. 51.
17. Mezger, E., Die Klippe des Zurechnungsproblems. Jur.-psych.
Grenzfr. Bd. 9, H. 1. Halle, C. Marhold.
18. Paris, A. (Maröville), ParalysSs g6n6raux condamn6s et incarc£r6s.
Arch. intern, de Neurol. no. 3, p. 137. (S. 49*.)
19. Pieper, A., Zur forensischen Beurteilung der Schwachsinns¬
zustände. Diss. Kiel. (S. 50*.)
20. Puppel, Richard, Über Alkoholvergiftung vom gerichtsärztlichen
Standpunkt. Friedreichs Bl. f. gerichtl. Med. S. 27.
21. Reiter (Bozen), Ein Fall von akuter Geistesstörung unter dem
Eindruck der Schwurgerichtsverhandlung. Arch. f. Kriminal-
anthrop. u. Kriminalistik Bd. 52, H. 3—4, S. 332.
22. Roesen (Landsberg a. W.), Kasuistischer Beitrag zur Frage der
forensisch-psychiatrischen Beurteilung der Heimwehver-
brecherinnen. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 70, H. 6, S. 975.
23. Schäfer, F. (Lengerich), Zur Zurechnungsfähigkeit und zur Trinker¬
behandlung im künftigen deutschen Strafgesetzbuch. Mtschr.
f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref. 10. Jahrg., H. 7, S. 414.
(S. 48*.)
24. Schikoff, L., De la responsabilite des Spileptiques. Inaug.-Diss.
■ Genf.
25. Schilling, Karl (Berlin-Schöneberg), Ein Beitrag zur forensischen
Beurteilung degenerativer Geisteszustände. Ärztl. Sachv.-
Ztg. Nr. 9, S. 188.
26. Schlue , B., Ein Beitrag zur Lehre von den epileptischen Ver¬
wirrtheitszuständen nebst ihrer forensischen Würdigung.
Inaug.-Diss. Kiel.
27. Schmid-Guisan, Hans (Lausanne), Rapport m6dico-16gal sur
l’ötat mental d’un hysterique accusö de quinze Attentats
ä la pudeur avec violence. Ann. möd.-psychol. 71, no.l,p.23.
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48*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
28. Seggelke, Karl, Forensische Beurteilung der Remissionen im
Verlauf der Dementia praecox. Inaug.-Diss. Freiburg.
29. Strauß, A., Zur forensischen Beurteilung von Brandstiftung durch
Geisteskranke. Diss. Kiel. (S. 50*.)
30. Szalkbwski, W., Beitrag zur forensischen Beurteilung des patho¬
logischen Bausches.' Inaug.-Diss. Kiel.
31. Thormahlen, M., Progressive Paralyse und ihre forensische Be¬
deutung. Inaug.-Diss. Kiel. (S. 49*.)
32. Vossenberg, Heinrich, Beitrag zur Lehre der Paranoia chronica
persecutiva und ihrer forensischen Bedeutung. Inaug.-Diss.
Kiel.
33. Wassermeyer, Zur Begutachtung bei Raubmord. Friedreichs Bl.
f. gerichtl. Med. S. 1, 127. (S. 49*.)
34. Weiler, Karl, Mord im epileptischen Dämmerzustand. Friedreichs
Bl. f. gerichtl. Med. S. 161. (S. 49*.)
35. Weiler, Karl, Mord. Triebhandlung bei Dementia praecox.
Friedreichs Bl. f. gerichtl. Med. S. 364, 433. (S. 49*.)
36. Weygandt, A., Begutachtung der Paralyse und Syphilis des Zentral¬
nervensystems. Vjhrschr. f. gerichtl. Med. 47. Suppl. S. 2.
(S. 49*.)
37. Ziemke, E., Verminderte Zurechnungsfähigkeit. Realenzyklopädie
d. ges. Heilk. S. 304. (S. 48*.)
Ziemke (37) hat die verminderte Zurechnungsfähigkeit für Eulenburgs Real-
enzyklopädie bearbeitet. Sein Artikel bringt Bekanntes.
Dem schwedischen Strafrecht machen die kriminellen Geisteskranken ähn¬
liche Schwierigkeiten, wie bei uns unter dem geltenden Recht. Olaf Kitiberg (12)
hat in den juristisch-psychiatrischen Grenzfragen eine sehr eingehende Arbeit
über das jetzige strafprozessuale Verfahren bei zweifelhaftem Geistes¬
zustand in Schweden veröffentlicht, die eine Fülle von Material enthält. Er macht
Abänderungsvorschläge, die im großen und ganzen auf dasselbe hinauslaufen, wie
es die Vorentwürfe zu den Strafgesetzbüchern in den Ländern deutscher Zunge tun.
H. W. Maier (14) begrüßt den schweizerischen Entwurf des Strafgesetz¬
buches als einen Fortschritt. Namentlich die vermindert Zurechnungsfähigen
werden in ihm recht zweckmäßig behandelt, einige Abänderungswünsche scheinen
ihm noch erforderlich, besonders der Straferlaß bei Wohlverhalten und die An¬
rechnung der Zwangsbehandlung des Trinkers auf die Strafzeit.
Von französischen Arbeiten über die verminderte Zurechnungsfähigkeit sei
hier auf die Arbeiten von Charon und Courhon (2) und Grasset (6) hingewiesen.
Schäfer (23) wünscht die Einführung des Begriffes der Zurechnungs¬
fähigkeit in dem Vorentwurf zum Strafgesetzbuch, die Bestrafung öffentlicher
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
49*
Trunkenheit und der Verführung Trunksüchtiger zum Alkoholgenuß. Der Unter¬
bringung von Trunksüchtigen in Korrigendenanstalten zum Zwecke der Heilung
muß er dagegen aufs schärfste widersprechen, obwohl er von einem Psychiater,
Delbrück , ausgegangen ist.
Thormahleri (31) bringt drei interessante Fälle von Sittlichkeitsverbrechen,
Geschäftsunfähigkeit und Disziplinarvergehen infolge Paralyse. Der eine Fall
wurde erst spät erkannt und es erfolgte zunächst Verurteilung und Strafverbüßung.
Eine kurze, aber recht eingehende Arbeit Weygandts (36) schildert die bei der Begut¬
achtung von Paralytikern und von Leuten mit Syphilis des Zentralnervensystems
in bezug auf strafrechtliche Handlungen, Entmündigung, Eherecht, Vertrags¬
anfechtung und Unfallgesetzgebung zu beachtenden Punkte. Notwendig ist immer
der Nachweis einer qualifizierten Geistesstörung. Dieser ist oft nicht leicht, nament¬
lich bei nachträglichen Begutachtungen post mortem, muß aber immer klipp und
klar sein. Bei der Bejahung des Zusammenhangs von Unfall und Paralyse sei man
zurückhaltend.
A. Päri8 (18) schildert eine Reihe von Paralytikern, deren Krankheit über¬
sehen war, und die deshalb verurteilt und in Haft genommen waren.
Wassermeyer (33) veröffentlicht zwei Gutachten über Raubmörder. Der erste
Fall beweist wiederum, wie schwierig die Bewertung einer Amnesie ist, wenn der
Täter schon oft vorbestraft und übel beleumundet ist und die Tat ihm zugetraut
werden kann. Trotzdem betont IV. mit Recht, daß im vorliegendem Fall mit großer
Wahrscheinlichkeit ein Dämmerzustand, wahrscheinlich ein pathologischer Rausch
Vorgelegen hat. Das Gericht schloß sich dieser Ansicht an, die auch vom Medizinal¬
kollegium geteilt war. Zutreffend wird im zweiten Gutachten zur Feststellung
eines etwaigen Schwachsinns weniger Wert auf die Intelligenzprobe, der ja doch
viele Fehlerquellen anhaften, gelegt, als auf die Lebensführung. (Schultee.)
Weiler (35) veröffentlicht ein ausführliches und lesenswertes Gutachten,
in dem er eine Mordtat als die Triebhandlung eines an Dementia praecox leidenden
Kranken dartut. Der Täter, der sich übrigens selbst ein Jahr nach der Tat der
Staatsanwaltschaft stellte, gab sowohl schriftlich wie mündlich eine sehr ausführ¬
liche, erschreckend objektive Schilderung seiner Straftat. Von besonderer Be¬
deutung für die Begutachtung war der Nachweis der fehlenden Pupillenunruhe
und der nur sehr geringen Pupillenerweiterung auf psychische Reize und Schmerz¬
reize. Da andere organische Himerkrankungen auszuschließen waren, machte
schon dieser Befund das Voriiegen von Dementia praecox wahrscheinlich; hierfür
sprach auch die psychische Untersuchung. (Schultee.)
Ein eingehendes Gutachten veröffentlicht Weiler (34) über einen Epileptiker,
der angeklagt war, seine Frau durch zwei bis auf die Wirbelsäule gehende Schnitte
in den Hals getötet zu haben; er bestritt die Tat und behauptete, die Frau müsse
sich durch einen Fall auf die Ofentür oder die Dreckschippe verletzt haben. Sehr
bald tauchten Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit auf, nicht sowohl wegen seiner
Schilderung der kritischen Zeit und seines auffälligen Benehmens unmittelbar nach
der Tat, als auch, weil er nach der Verhaftung einen epileptischen Anfall bekam.
Die Anstaltsbeobachtung schloß die Unzurechnungsfähigkeit aus, vor allem, weil
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit. d
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50* Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Dämmerzustände bei dem Angeklagten niemals beobachtet seien und weil er eine
genaue, wenn auch mehrfach wechselnde Schilderung der angeblichen Vorgänge
gegeben habe. Zum entgegengesetzten Ergebnis führte das Gutachten des Verf.,
der den Täter fast zwei Monate in der Klinik beobachten konnte. Jedes annehm¬
bare Motiv für die Tat fehlte, und der Angeklagte schilderte mehr wie ein Augen¬
zeuge denn als ein Angeklagter die Tat, die seinem Inneren ganz fremd schien. Das
Verfahren wurde eingestellt. (Schnitze.)
Pieper (19) bespricht die verschiedenen Formen und Grade des Schwachsinns
und berichtet über einen Imbezillen, der zwei Schweine erstochen hat, damit er sie
nicht mehr zu füttern brauchte. Der Angeklagte wurde exkulpiert Strauß (29),
der einen psychopathischen Brandstifter schildert, gelangte dagegen zur Annahme,
daß der Angeklagte zurechnungsfähig sei, weil sein Schwachsinn keinen besonderen
Grad erreichte und nur etwa der verminderten Zurechnungsfähigkeit entsprechen
würde. Herold (9) mußte das Vorliegen von Geisteskrankheit im Sinne des § 61
bei zwei hysterischen Brandstifterinnen feststellen.
III. Kriminalanthropologie und -psychologie.
1. Aschaffenburg (Köln a.Rh.), Degenerationspsychosen und Dementia
praecox bei Kriminellen. Vjhrschr. f. gerichtl. Med. u. öSentl.
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3. Barras, L., Le fetichisme. Restif de la Bretonne fut-il fetichiste?
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d’une cause criminelle c61ebre. Affaire Lafarge. Une rehabili-
tation, qui s’impose. Paris, A. Maloine.
5. Belletrud et Froissard (Pierrefeu), Meurtre, tentative de meurtre
et tentative de suicide chez un d6g6n6r6 k ascendance epi-
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lichen Psychopathen. Arch. f. Kriminalanthrop. u. Krimi¬
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8. Bowers, P. E., Prison psychosis. A pseudonym? The american
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9. Breieille, Ch., fitude historique et m6dico-16gale du masochisme.
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
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10. Briand , M., et Salomon, J., Epilepsie avec impulsions 6rotiques,
fötichisme du mouchoir chez un fröleur et f6tichisme de la
soie chez une voleuse des grands magasins. Bull, de la soc.
clin. de m6d. ment. no. 5, p. 206.
11. Briand, M., et Salomon, J., Utilisation d’un debile d&irant pour
commettre des escroqueries. Bull, de la soc. clin. de m6d.
ment. no. 5, p. 214.
12. Briand, M., ?t Salomon, J., Un maculateur de statues agissant dans
un but philanthropique. Bull, de la soc. clin. de med. ment,
no. 5, p. 218.
13. Briand, M., et Salomon, J., Faux exhibitionisme; attentats ä la
pudeur par deux d6g6n6r& satumins, alcooliques, dont l’un
atteint de psychose intermittente. Bull, de la soc. clin. de
m6d. ment. no. 4, p. 168.
14. Charpentier, R., Ali6nation mentale et criminalitA Statistique
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nement d’ali6n6s dans le d6partement de la Seine pendant
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16. Cuylitz, Ch. (Tournai), Les ali6n6s voleurs. Bull, de la soc. de
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17. Dußler, H., Zur Kasuistik des Wandertriebes auf psychopathischer
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18. East, W. N. (Manchester), On attempted suicide, with an analysis
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vol. 59, no. 246, p. 429.
19. Eulenburg (Berlin), Kinder- und Jugendselbstmorde. Halle a. S.,
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20. Garnier, Une 6pouse conjugicide au point de vue medico-16gal.
Ann. m^d.-psychol. 71 e, no. 3, p. 372.
21. Gaupp, R., Die wissenschaftliche Bedeutung des Falles Wagner.
Münch, med. Wschr. Nr. 12, S. 633. (S. 56*.)
22. Gemgroß, Fr. L., Sterilisation und Kastration als Hilfsmittel im
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Kampfe gegen das Verbrechen. München, J. F. Lehmann.
42 S. 1,20 M. (S. 57*.)
23. Gruhle und Wetzel, Verbrechertypen. Bd. I, H. 1—3. (S. 56*.)
24. Haßmann, W. (Henau), Ein Beitrag zur Psychopathologie des
Familienmords durch Geisteskranke. Allg. Ztschr. f. Psych.
Bd. 70, H. 3 u. 4, S. 410.
25. Heilung, A. (Berlin-Friedenau), Ein neuer Hexenprozeß aus
Thüringen. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechtsref.
10. Jahrg., H. 9, S. 552.
26. Hirschfeld, M., und Burchard, E. (Berlin), Der sexuelle Infantilis¬
mus. Jur.-psychol. Grenzfr. IX. Bd., H. 5. Halle a. S.,
C. Marhold. 46 S. 1,20 M.
27. Hirschfeld, M., und Burchard, E. (Berlin), Ein Fall von Trans¬
vestitismus bei musikalischem Genie.. Neurol. Zentralbl.
Nr. 15, S. 946.
28. Horstmann (Stralsund), Zur forensen Bedeutung der Chorea.
Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 70, H. 3 u. 4, S. 540.
29. Hotter, Carl (Landshut a. Isar), Alkohol und Verbrechen in der
bayrischen Rheinpfalz. Mtschr. f. Kriminalpsychol. u.
Strafrechtsref. H. 9, S. 542. (S. 55*.)
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35. Ladame, P. L. (Genf), Alcool et exhibitionistes. Arch. d’anthro-
pol. crimin. vol. 28, p. 266.
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sexualitk Arch. d’anthropol. crimin. no. 238, p. 239.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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46. v. Olshausen, Kastration und Sterilisation in sozialpolitischer
Betrachtung. Med. Klinik Nr. 41, S. 1706.
47. Pazzi-Muzio, Vecchie e nuove vedute sulla struttura del cervello
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in rapporto con l’indirizzo modemo della scienza penale.
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48. Plaut (München), Zur forensischen Beurteilung der kongenital
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51. Roerner, H. (Illenau), Zur Kenntnis des psychisch abnormen
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54. Schefold und Werner, Der Aberglaube im Rechtsleben. Jur.-
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61. Sträußler, E., Über Haftpsychosen und deren Beziehungen zur Art
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73. Ziemke, E. (Kiel), Geisteskranke Verbrecher. Med. Klinik Nr. 19,
S. 739. (S. 55*.)
Bayern marschiert im Reich in bezug auf die Gesamtkriminalität an
der Spitze und liefert auch die meisten gefährlichen Körperverletzungen. Merk¬
würdigerweise sind hieran aber nicht die biertrinkenden Kreise Altbayems am
höchsten beteiligt, sondern die weintrinkende Pfalz. In ihr kommen die meisten
Körperverletzungen, Beleidigungen und die Delikte gegen die öffentliche Ordnung
vor. Hotter (29) hat den Anteil des Alkohols an ihnen genauer untersucht und
gefunden, daß ein großer Teil der Reate auf ihn allein zurückzuführen ist. Da die
Staatsregierung aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen die Alkoholinteressen
eher fördern muß, so müßten hier die alkoholgegnerischen Kreise eingreifen, um
den gerade in Bayern noch festeingewurzelten Alkoholwahn zu bekämpfen.
frn Mezger (43) ist auch der nicht nachweisbar schwachsinnige Gewohn¬
heitsverbrecher in der Regel ein seelisch Minderwertiger, ein Kranker, denn M.
sieht im moralischen Defekt ebensogut eine Krankheit wie im Intelligenzdefekt.
Der moralische Defekt kann aber niemals, auch nicht in seinen höheren und höchsten
Graden, den Ausschluß der Zurechnungsfähigkeit bewirken.
Die kurze Abhandlung Ziemkes (73) über geisteskranke Verbrecher ist in
erster Linie für den praktischen Arzt bestimmt. Sie ist trotz ihrer Kürze von hin¬
reichend orientierender Vollständigkeit up*^ n Ue wichtigen Fragen. Auch
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56* Bericht über die psychiatrische Literatar 1913.
Ziemke ist mit Siemerling der Ansicht, daß Simulation von Geisteskrankheit
bei Verbrechern nicht allzu selten ist. Bedenklich und durch die praktischen
Erfahrungen der Psychiater nicht gerechtfertigt ist nur seine Ansicht, daß die
Verwahrung geisteskranker Verbrecher nach der Strafverbüßung am besten in
gewöhnlichen Irrenanstalten erfolgte. So richtig die für diese Meinung von ihm
angeführten Gründe an sich sind, so wenig genügt in der Praxis eine derartige Ver¬
wahrung. Die festen Häuser sind das Minimum, was gefordert werden muß, damit
der Allgemeinheit der von ihr mit Recht zu fordernde Schutz vor derartigen Ele¬
menten gewährt wird.
Roug£ (52) beschreibt einen Mann, der des Mordversuchs angeklagt war,
und eine stupide Form der Katatonie simulierte.
Gruhle und Wetzel (23) geben eine Sammlung psychologischer Studien von
Verbrechen heraus, deren erstes Heft Geliebtenmörder behandelt Die Hefte
sollen einzelne Fälle ohne Abhandlungen auf Grund wissenschaftlicher Unter¬
suchungen schildern, gewissermaßen ein Archiv bilden, aus dem sich Richter,
Kriminalpsychologen und Ärzte jederzeit die Persönlichkeit eines Verbrechers
oder einer Gruppe von Verbrechern wieder vor Augen führen können. Gleich die
erste Gruppe der Geliebtenmörder zeigt, daß das gleiche Verbrechen von ganz
verschieden veranlagten Personen begangen werden kann und daß die Motive, welche
die Veranlassung zum Morde der Geliebten gaben, ebenfalls sehr verschieden sind,
bei dem einen spielt die Eifersucht eine Rolle, der andere ist ohne eigenen Entschluß
der Geliebten zu Willen, die ihm nicht dauernd angehören soll, der Dritte ist eine
so komplizierte Persönlichkeit, daß zahlreiche Einzelmotive ihn zur Tat veranlassen,
während von einem Hauptmotiv nicht die Rede sein kann. Die dargestellten Typen
repräsentieren also nur Gruppen einer Verbrecherkategorie, stellen aber keineswegs
den Durchschnittstyp dar.
In derselben Sammlung hat Gaupp (23) einen Beitrag zur Psychologie des
Massenmörders an dem Beispiel des Lehrers Wagner von Degerloch geliefert.
Dieses seltene Vorkommnis, daß ein intellektuell hochstehender Mensch durch
Selbstbiographie und Tagebuchaufzeichnungen einen großen Teil der Entstehungs¬
geschichte seiner Krankheit selbst objektiv schildert, ist von Gaupp zu einer gro߬
angelegten, eingehenden Studie verwertet, auf deren hochinteressanten Inhalt hier
nur hingewiesen werden kann. Den Schluß bildet das Wolfenfergsche Gutachten
über denselben Fall und eine Literaturübersicht über den Massenmord, zusammen¬
gestellt durch die Herausgeber der Verbrechertypen, Gruhle und Wetzel.
Gaupp (21) hat den „Fall Wagner“ a. a. 0. genau analysiert und kann auf
Grund seiner Untersuchungen die Ansicht bestätigen, daß die Genese* der Paranoia
rein affektiv ist. . Auch in die psychologische Weiterentwickelung der Krankheit
und ihren Anteil an dem furchtbaren Verbrechen des Lehrers Wagner gewährt
die Selbstbiographie dieses intellektuell gut veranlagten Paranoikers einen guten
Einblick.
Für das Handbuch der praktischen Hygiene, herausgegeben von R. Abel,
hat Ziemke (72) den Abschnitt über Hygiene der Gefangenen bearbeitet, von
dem hier besonders die Angaben über den Einfluß der Haft auf die geistige Gesund-
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
57*
heit und die dem Gefängnisarzt zu Gebote stehenden Mittel zur Bekämpfung des
Ausbruchs von Geistesstörungen bei Gefangenen hingewiesen sein solL
Der für die Bekämpfung von Verbrechen und Irresein vorgeschlagene Weg
der zwangsweisen Kastration und Sterilisation erfährt eine helle Beleuchtung
durch die schöne Studie von Gemgroß (22). Das kleine Werk ist ein guter Berater
in dieser hochmodernen Frage. Gemgroß selbst ist ein Anhänger des Verfahrens,
freilich will er es erst gesetzlich eingeführt wissen, bevor es angewandt wird. Er
macht Vorschläge für ein derartiges Gesetz.
In einer eingehenden Arbeit, welche die Literatur in ausgiebigem Maße berück¬
sichtigt und zahlreiche eigene Fälle bringt, untersucht H. König (32) den Einfluß
von Menstruation, Gravidität und Geburt auf die Kriminalität. Ein zeitliches
Zusammentreffen der Generationsvorgänge mit einer kriminellen Handlung ist an
sich noch kein die Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigendes Moment, es sollte
aber in jedem Falle der Anlaß zur ärztlichen Beobachtung sein. Dies gilt für die
Menstruation, besonders aber für die Gravidität, welche bestehende, krankhafte
Anlagen verstärken und manifest werden lassen kann. Der Geisteszustand der
Gebärenden ist immer als ein von der Norm abweichender anzusehen, deshalb er¬
fordert der Kindesmord unter allen Umständen eine gesonderte psychologische
Betrachtung. Ein Unterschied zwischen unehelich und ehelich dürfte dabei eigent¬
lich nicht gemacht werden. Die Geburt kann die verschiedensten krankhaften
psychischen Veränderungen auslösen je nach der Prädisposition, von der Ohnmacht
nicht disponierter bis zu den Erregungs- und Dämmerzuständen der Hysterischen,
Epileptischen und Eklamptischen. Auch Fieberdelirien und Psychosen verschiedener
Art werden durch die Geburt ausgelöst
Kaecke (49) berichtet über 70 kriminelle Kinder aus der Kieler Klinik und
redet den erzieherischen Maßnahmen auch bei der Fürsorgeerziehung der
Psychopathen das Wort. Die Tätigkeit des Arztes könnte auf eine genaue Auf¬
nahmeuntersuchung beschränkt bleiben.
Mönkemöller (44) bespricht in einer umfänglichen Arbeit 10 Exhibitionisten
und die Frage nach ihrer gerichtlichen und ärztlichen Behandlung.
Birnbaum (6, 7), der schon viele gute Arbeiten über die Degenerierten ge¬
liefert hat, beschäftigt sich in zwei Arbeiten mit der forensischen Eigenart der
sexuellen Psychopathien und der kriminellen Eigenart der weiblichen
Psychopathen. Bei diesen spielen die Phasen des weiblichen Sexuallebens eine
große Rolle, und hieraus entspringt eine gewisse Häufigkeit mancher ihrer Delikte,
ohne daß man freilich von spezifisch weiblichen, psychopathischen Delikten reden
darf. Beim Zusammentreffen von Psychopathie, Generationsvorgang und krimineller
Betätigung sind die Bedingungen für eine temporäre Herabminderung der Zu¬
rechnungsfähigkeit meist gegeben, die gelegentlich auch ganz aufgehoben sein
kann. Bei den sexuellen Psychopathien ist die abnorme Steigerung des Geschlechts¬
triebes und die abnorme Schnelligkeit seines Anstiegs verbunden mit Besserungs-
unfähigkeit ein regelmäßiges pathologisches Moment. Häufig findet man diese
Trias mit Anomalien der natürlichen Entwicklung vergesellschaftet. Alkohol¬
genuß pflegt den Trieb zu steigern, oder es kommen episodische oder periodische
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58*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Schwankungen bei ihm vor. Die Delikte der sexuellen Psychopathen sind aber
keineswegs pathognomonisch für sie, und die Art des Verbrechens ist deshalb kein
Beweis für das Bestehen sexueller Psychopathie, die sich nicht einmal imme r in
deutlicher Weise durch sexuelle Delikte zu äußern braucht. Dieser Punkt ist in
forensischer Hinsicht ganz besonders wichtig, ebenso wie der, daß die Triebhand-
lungen keineswegs immer der Ausfluß verminderter oder aufgehobener Zurechnungs¬
fähigkeit sind. Dafür, ob diese vorliegt oder nicht, kann allein die Berücksichtigung
der Gesamtpersönlichkeit maßgebend sein.
IV. Zivilrechtliche Psychiatrie. Psychologie der Aussage.
1. Älter, Ein Fall von Selbstbeschuldigung. Ztschr. f. d. ges. Neurol.
u. Psych. Bd. XV, S. 470.
2. Altmann, Zum Kapitel Zeugenaussagen. H. Groß* Arch. Bd.55,
H. 1/2, S. 40. (S. 61*.)
3. Bahn, Justizirrtum und Kinderaussagen. Mtschr. f. Kriminal-
psychol. u. Strafrechtsref. S. 434. (S. 61*.)
4. Burchard, Zur Psychologie der Selbstbezichtigung. Lungwitz’
Beiträge Bd. I, H. 5. (S. 62*.)
5. Carstensen, Hermann, Über Selbstanzeigen Geisteskranker. Inaug.-
Diss. Kiel.
6. Füassier et Salomon, J. (Paris), Contribution au probleme du
divorce et de l’ali^nation. Bull, de la Soc. de m6d. ment,
de Belgique no. 116, p. 110.
7. Groß, Zur Frage der Zeugenaussagen. H. Groß’ Arch. Bd. 56,
H. 3/4, S. 334. (S. 61*.)
8. Gudden, Hans, Falsche Beschuldigungen auf Grund von Geistes¬
störung. Friedreichs Bl. f. gerichtl. Med. S.197, 268. (S.62*.)
9. Heß, E. (Görlitz), Entmündigung als Heilmittel bei Psychopathen.
Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 18, H. 1 u. 2, S. 203.
(S. 60*.)
10. Juquelier et Fülassier, Quelques resultats d’une enquete sur le
mariage et la vie conjugale de mille ali6n6s parisiens. Ann.
möd.-psychol. Mars. (S. 60*.)
11. Leppmann, A., und Hahn, Mängel des Pflegschafts- und Ent¬
mündigungsverfahrens. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 5, S. 45.
12. Ley et Menzerath, Le t^moignage des normaux et des ali6n6s.
Bull. m6d. 27, no. 73, p. 812.
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
59*
13. Ley et Menzerath , Le temoignage des anormaux et des ali6n6s.
L’enfance anormale no. 24, p. 770.
14. Liepmann, H. (Berlin), Die freie Selbstbestimmung bei der Wahl
des Aufenthaltsorts nach dem Reichsgesetz über den Unter¬
stützungswohnsitz. (Sammlung zwangl. Abhandl. aus dem
Gebiete der Nerven- u. Geisteskrankheiten, herausgegeben
von Prof. ÄocÄe-Freiburg, Bd. 10, H. 5.) Halle, C. Marhold.
56 S. 1,20 M. (S. 59*.)
15. Lucien-Graux, Le divorce des alienßs. Paris, A. Maloine, 1912.
S. 358 f. 4 Fr. (S. 60*.)
16. Mothes, Zur Psychologie der bewußt unwahren Zeugenaussagen.
H. Groß’ Arch. Bd. 56, H. 3/4, S. 242. (S. 61*.)
17. Peretti, Jos. (Düsseldorf-Grafenberg), Die freie Selbstbestimmung
bei der Wahl des Aufenthaltsortes. Psychol.-neurol. Wschr.
Nr. 35, S. 425.
18. Pick, Pathologische Beiträge zur Psychologie der Aussage. H. Groß’
Arch. Bd. 57, H. 3, S. 193. (S. 61*.)
19. Raecke, J. (Frankfurt a. M.), Eifersuchtswahn bei Frauen. Zwei
Entmündigungsgutachten. Friedreichs Bl. f. gerichtl Med.
(S. 60*.)
20. Reichel , Ein Fall von Personenverwechslung. H. Groß’ Arch.
Bd. 45, H. 1/2, S. 45. (S. 61*.)
21. Schilling , Zur forensischen Beurteilung degenerativer Geistes¬
zustände. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 9. (S. 60*.)
22. Slaudacher, Paul, Ehescheidung wegen Geisteskrankheit. Inaug.-
Diss. Bonn.
23. Türkei, Ein Beitrag zur Psychologie der Zeugenaussage. H. Groß’
Arch. Bd. 57, H. 3, S. 279. (S. 61*.)
24. Willmanns, Zur Psychologie der Kinderaussagen vor Gericht.
Vjhrschr. f. gerichtl. Med. 47, 3. (S. 61*.)
25. Wolff (Stuttgart), Die Entmündigung wegen Trunksucht. Die
Alkoholfrage Jahrg. 9, Nr. 3, S. 193.
Einer besonders dankenswerten Aufgabe hat sich Liepmann (14) gewidmet,
der die Frage der freien Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsortes nach
dem Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz unter psychiatrischen Gesichts¬
punkten bespricht. Über die Frage sind in unserer Literatur bisher nur zwei kleine
Arbeiten erschienen, sie verdiente aber eine eingehende Erörterung, da nach den
Entscheidungen des Bundesamts für das Heimatswesen noch eine große Diskrepanz
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Original from
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60*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
zwischen psychiatrischem Gutachten und gerichtlicher Entscheidung besteht,
während man sich auf dem Gebiet der Straf- und Zivilgesetzgebung im übrigen
schon ziemlich geeinigt hat Zum Beweise bringt L. eine Fülle von einschlägigen
Fällen aus den Entscheidungen vor, die er kritisiert. Auf diesem Gebiet scheint
sich der Psychiatrie tatsächlich noch ein dankbares Arbeitsfeld zu erschließen und
deshalb sei auf die Liepmannsche Arbeit auch an dieser Stelle aufmerksam gemacht.
Baecke (19) veröffentlicht zwei Entmündigungsgutaehten über Frauen, die
an Eifersuchtswahn litten. Zutreffend hebt er die Schwierigkeiten der zu
treffenden Beurteilung von Eifersuchtsideen hervor. In dem ersten Falle war eine
Anstaltsbeobachtung vorausgegangen. „Abgesehen von den Eifersuchtsideen,
die möglich erschienen, ließe sich kein Verfolgungswahn nachweisen. Bloßer Eifer¬
suchtswahn sei bei Frauen selten. Es lasse sich nicht feststellen, daß ein solcher
hier vorliege. Um nicht unnötige Verzögerung zu verursachen, sei auf weitere
Zeugenaussagen verzichtet worden.“ So das Gutachten des Anstaltsarztes! Der
Antrag des Ehegatten auf Entmündigung wurde abgewiesen. Die Frau strengte
von neuem die Ehescheidungsklage an und erwirkte die einstweilige, später wieder
aufgehobene Verfügung, daß sie getrennt leben dürfe und ihr Mann zum Unterhalt
verpflichtet sei. Die Frau wurde später entmündigt wegen Geisteskrankheit 2?.
trat diesem Gutachten bei. In dem zweiten Fall handelte es sich um eine Trinkerin,
die den Potus, wie manche weibliche Alkoholistin, heimlich betrieb. Der vorläufige
Vormund bekämpfte mit aller Entschiedenheit die Entmündigung, nach seiner
Auffassung war die Frau lediglich infolge unglücklicher Familienverhältnisse und
nach einer berechtigten Eifersucht zum Trinken gekommen. Auf Grund einer
Anstaltsbeobachtung und zahlreicher Zeugenaussagen befürwortete Verf. die Ent¬
mündigung wegen Geistesschwäche. (Schnitze.)
Schilling (21) hält gegenüber dem kriminellen Psychopathen die Entmündigung
und Internierung für das einzig Richtige. Freilich ist beides oft schwer dem Richter
klarzumachen, und das Gutachten muß entsprechend abgefaßt sein. Auf anderem
Wege kann man diesen Naturen, bei denen rezidivierende Geistesstörungen auf
dem Boden der Psychopathie oft jede Verhandlungs- und Strafvollzugsfähigkeit
ausschließen, nicht beikommen.
Heß (9) tritt der auch schon von anderer Seite erhobenen Forderung, man
solle asoziale Psychopathen nach Möglichkeit entmündigen, auf Grund eigener
Erfahrungen bei. Selbst der gescheiterte Versuch einer Entmündigung kann durch
den Eindruck des aufgebotenen gerichtlichen Apparates heilsam und hemmend
auf solche Naturen einwirken. Dagegen soll man bei Psychopathen die militärische
Diensttauglichkeit im allgemeinen verneinen.
Die Resultate einer durch die Gazette M6dicale veranstalteten Umfrage über
die Ehescheidung der Geisteskranken veröffentlicht Lucien-Graux (15). Die
Umfrage ist von 68 Psychiatern und Rechtslehrem der verschiedensten Länder
beantwortet und ist veranlaßt durch den neuen Gesetzentwurf für Irrenrecht in
Frankreich. Juquelier und Fillassier (10) haben Untersuchungen über die Heirat
und des Eheleben von 1000 Pariser Geisteskranken veranstaltet und geben einen
statistischen Bericht darüber.
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Wendenbarg, Gerichtliche Psychopathologie.
61 *
Mit der Psychologie der Zeugenaussagen beschäftigt sich Piek (18) in
einem längeren Artikel. Er sucht an der Hand einfacher und komplizierter patho¬
logischer Erinnerungsstörungen die praktisch wichtigen Fehlerquellen der Zeugen¬
aussagen zu erläutern. Türkei s (23) Mitteilung zweier Berichte von geistig hoch¬
stehenden Leuten über dieselbe Angelegenheit illustrieren praktisch, wie ver¬
schieden Begebnisse im Gedächtnis haften können, an die man sich sogar oft und
gern erinnert hat, während Attmanm (2) Mitteilung von nicht weniger als zwölf
verschiedenen Aussagen öber einen Vorgang, der sich schnell vor den Zeugen ab¬
spielte, die Gefahr des nachträglichen Erklärens und Sichzurechtlegens demonstriert.
Charakteristisch ist auch der Fall von Personenverwechslung, über den Reichel (20)
berichtet. Ein Sohn verprügelte in Gemeinschaft mit einem anderen namens Ernst T.
seinen Vater und wurde mitsamt seinem Komplicen verhaftet, zur Wache gebracht
und dort bis zum anderen Morgen behalten. Auf der Wache gab Ernst T. den Vor¬
namen seines Bruders Karl an. Dieser Bruder wurde angeklagt und verurteilt,
weil sämtliche Zeugen und Polizeimannschaften ihn unter Eid als Täter bezeichneten.
Diese Angaben wiederholten sämtliche Zeugen auch in der Berufungsverhandlung,
als beide Brüder gegenübergestellt wurden, und erst auf das Geständnis des wirk¬
lichen Täters hin und auf Grund eines unzweifelhaften Alibinachweises erfolgte
Freisprechung. Zu diesen Beispielen unbewußten, falschen Zeugnisses fügt Groß (7)
noch eins aus dem täglichen Leben, bei dem aber falsche Scham auch bewußt Falsches
hinzufügte, während die von Moihes (16) mitgeteilte falsche Zeugenaussage durch
Scham und Furcht vor Erschossenwerden zustande kam. Möglicherweise spielte
auch Schwangerschaft — die Vernehmung fand einen Tag vor der Niederkunft
statt — eine gewisse Rolle.
Bahn (3) teilt einen besonders krassen Fall mit, in dem ein Drogist auf eine
Kinderaussage hin wegen Sittlichkeitsverbrechens zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt
war. Das Mädchen hatte eine Aussage» gemacht, deren Richtigkeit schon bei der
Verhandlung sehr ip Frage gestellt wurde. Sie hatte angegeben, der Angeklagte
hätte sie auf einem Sofa, während sie die Beine übereinandergeschlagen hätte,
gebraucht, und zwar jedesmal in dieser höchst eigenartigen Beinstellung. Ein
Sofa hatte sich in dem angegebenen Raume aber nie befunden. Trotzdem erfolgte
Verurteilung, „weil die Klägerin genaue, detaillierte Angaben erst auf wiederholtes
Zureden unter Tränen“ gemacht hätte. Später stellte sich heraus, daß die Angaben
von dem Mädchen durch die Hausdame ihres Vaters durch Stockschläge erpreßt
waren. Bahn weist mit Recht darauf hin, daß die Richter sich mit der Psychologie
von solchen Kinderaussagen mehr vertraut machen müßten.
Einen sehr eingehenden Bericht über eine falsche Kinderaussage liefert
Willmanns (24). Ein Mädchen von 9 Jahren hatte einen harmlosen Schwach¬
sinnigen eines Sittlichkeitsverbrechens beschuldigt, was dieser bei der Vernehmung
durch den Gendarmen auch zugestand. Später stellte sich heraus, daß er es nur
aus Angs t, zugegeben hatte, während das Mädchen wahrscheinlich die ganze Ge¬
schichte frei erfunden hatte. Dies ging für TV. aus den widersprechenden Aussagen
und dem ganzen Charakter des Kindes hervor. Interessant an dem Fall ist, daß
das Gericht auf die psychologische Würdigung des Angeklagten, den es einem Kinde
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62 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
von 10 Jahren gleich erachtete, einging und ihn als nicht strafbar ansah. Dagegen
prüfte es nicht die Richtigkeit des objektiven Tatbestandes.
Gudden (8) berichtet über sechs Personen, die wegen falscher Beschul¬
digung angeklagt waren, einmal handelte es sich um ein manisch-depressives
Irresein, in einem weiteren Fall um chronischen Alkoholismus, dann um Dementia
paranoides, in allen anderen Fällen um Hysterie. (Schnitze.)
Unter den Fällen von falscher Selbstbezichtigung, die Burchard (4)
teils eigener Erfahrung, teils der wissenschaftlichen oder Tagespresse entnimmt,
fanden sich neben vielen imklaren Fällen auch einige zweifellos psychopathische,
namentlich hysterische.
V. Irrenrecht. Verwahrungsmaßnahmen.
1. Ballet, Gilbert, Le projet de revision de la loi de 1838 sur les-alienes.
Revue de Psych. et de Psychol. experimentale no. 5, p. 185.
2. Ballet, Gilbert, Quelques observations ä propos du projet de revision
de la loi de 1838 sur les ali6n£s vote par la Chambre des
D6put6s et soumis au S6nat. Le bulletin medical no. 36,
p. 423.
3. Bleuler, E. (Zürich), Sichernde Maßnahmen gegenüber unzu¬
rechnungsfähigen und vermindert zurechnungsfähigen Ver¬
brechern. Schweizer. Juristenztg. X. Jahrg., H. 12. (S. 64*.)
4. Dewey, Richard (Wauwatosa), The jury law for comittment of
the insane in Illinois (1867—1893) and Mrs. E. P. W. Packard,
its author, also later developments in lunacy legislation
in Illinois. The americ. journ. of insan. vol. 69, fase. 3,
p. 571.
5. Eisath, Georg (Hall i. Tirol), Die Fortschritte des irrenärztlichen
Heilverfahrens und die Gesetzgebung in Österreich. Ztschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 16, H. 1 u. 2, S. 175.
6. Fillassier, A., La rßforme de la loi de 1838 sur les altänös et la
commission du Sönat. Ann. m6d.-psychol. no. 6, p. 684.
7. Fischer , Max , Gesundheitsaufsicht bei Geisteskranken außerhalb
der Anstalten. Halbmtschr. f. soz. Hygiene Nr. 18, ref.
Ärztl. Zentral. Anz. Nr. 37. (S. 64*.)
8. v. Heutig, H. (München), Die Verwahrung gefährlicher Elemente
nach dem Entwurf eines französischen Irrengesetzes. Österr.
Ztschr. f. Strafrecht Jahrg. 4, S. 217. (S. 64*.)
9. Moeli, Einige Bemerkungen zur Regelung der Rechtsverhältnisse
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Wenden bürg. Gerichtliche Psychopathologie.
63 *
der in Anstaltsbehandlung oder in Pflege befindlichen Geistes¬
kranken in Preußen. Mtschr. f. KriminalpsychoL u. Straf-
rechtsref. S. 449. (S. 63*.)
10. MönkemöUer (Hildesheim), Psychiatrie und Fürsorgeerziehung.
Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 70, H. 5, S. 743.
11. Nöldeke (Hamburg), Sicherung gegen geisteskranke Verbrecher.
Voss. Ztg. 25. Okt. 1913.
12. Nogues, J. 0., Necesidad de que los mßdicos de las prisiones
posean conocimientos präcticos de psiquiatria. Revista
de la Sociedad de psiquiatria, neurologia y medicina legal
p. 30.
13. Runge, Über die ärztliche Seite der Trinkerfürsorge. Friedreichs
Bl. f. d. gerichtl. Med. S. 303.
14. Samana, M. F., Loi italienne du 14 f6vrier 1904 sur les asiles
d’altänes (manicomici) et sur les alien6s. L’Assistance mai
1913, p. 81.
15. Schäfer, F. (Lengerich), Die Unterbringung der geisteskranken
Verbrecher. Psych.-neurol. Wschr. 14. Jahrg., Nr. 52.
16. Strauß, M. Paul, La nouvelle loi sur le rägime des alienGs. Revue
de Psych. et de Psychol. experimentale no. 3.
17. Subotic (Belgrad), Irrengesetze in Serbien. Allg. Ztschr. f. Psych.
Bd. 70, H. 3 u. 4, S. 549.
Der Antrag der Justizkommission des Abgeordnetenhauses auf Vorlegung
eines Gesetzentwurfes zur Regelung des Irrenrechts in Preußen gibt Moeli (9)
Veranlassung zu Bemerkungen über die Rechtsverhältnisse der in Anstaltsbehand¬
lung oder in Pflege fremder Personen befindlichen Geisteskranken. M. referiert
kurz und knapp alle bestehenden Gesetzesvorschriften, Ministerialerlasse und Ober-
verwaltungsgcrichtsentscheidungen, nach denen jetzt die Aufnahme, Zurück¬
haltung gegen den Willen des Kranken oder seines gesetzlichen Vertreters und die
Entlassung stattfindet. Sodann macht er Vorschläge, wie die jetzigen Bestimmungen
in einem späteren Entwurf eines Irrengesetzes zu vervollständigen und den Bedürf¬
nissen der Praxis anzupassen wären. Sie erstrecken sich auf Form und Inhalt
der ärztlichen Aufnahmegutachten, die einschlägigen Paragraphen des Vorentwurfs
zum Strafgesetzbuche über Einweisung auf Gerichtsbeschluß und beschäftigen
sich auch mit der Frage des „Fürsorgers“. Auf jeden Fall müßte, ähnlich wie den
Entmündigten, auch den gegen ihren Willen Aufgenommenen das Recht zustehen,
selbst das erforderliche Rechtsmittel gegen die Aufnahme einzulegen. Besondere
Anordnungen wären auch nötig im Falle des Fehlens eines gesetzlichen Vertreters,
für den Schriftverkehr der Kranken mit den Behörden und für ihren Briefwechsel.
Jedenfalls müßten allgemeine juristische Grundsätze und die praktische Erfahrung
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64 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
im ganzen Verfahren den Ausschlag geben. Die Einsetzung einer mit juristischen
Funktionen ausgestatteten Behörde mit psychiatrischen Mitgliedern, welche über
Behaltung in Anstalten zu entscheiden hätte, dürfte dagegen wohl erheblichen
Bedenken unterliegen.
Für die Behandlung der vermindert Zurechnungsfähigen nach den Vor¬
entwürfen wird von Bleuler (3) auch die Familienpflege empfohlen. Sie würde
mehr leisten als Adnexe an Strafanstalten oder Zentralantftalten für unzurechnungs¬
fähige Rechtsbrecher.
Auch in Frankreich, in dem noch immer das alte Irrengesetz von 1838 gilt,
regen sich Bestrebungen, die Gesetze mehr den neuzeitlichen Forderungen der
Strafrechtspflege anzupassen. Augenblicklich wird ein Entwurf bearbeitet, der
die Verwahrung asozialer Geisteskranken regelt. Nach diesem soll der Staat
mehrere Kriminalasyle bauen, in denen alle rechtsbrechenden, geisteskranken
Individuen Aufnahme finden, die zu mehr als einem Jahre verurteilt sind, oder
sonst als gefährlich zu gelten haben. Auch die Epileptiker werden ihnen zugezählt,
wie v. Heutig (8) berichtet. Die Einweisung erfolgt auf Landgerichtsbeschluß, ebenso
die Entlassung. Wird diese beantragt, der Antrag aber vom Gericht abgewiesen,
so kann ein neuer Antrag erst nach 6 Monaten gestellt werden. Auf diese Weise
werden die Querulanten kalt gestellt.
Max Fischer (7) tritt mit Rücksicht auf viele Schreckenstaten von Geistes¬
kranken für die Einführung einer Gesundheitsaufsicht außerhalb der An¬
stalten ein. Für Durchführung derselben wäre die gesetzliche Einführ ung der An¬
zeigepflicht bei bestimmten Fällen von Geisteskrankheit, ähnlich wie beim Seuchen¬
gesetz, notwendig.
VI. Psychiatrie und soziale Gesetzgebung.
1. Ädolphi, Gerhard, Über Aggravation bei den nach Unfällen ent¬
stehenden Neuropsychosen. Diss. Kiel (S. 68*.)
2. Becker, W. H. (Weilmünster), Die sozial-ärztlichen Aufgaben
in der Irrentherapie. Beiträge zur forensischen Medizin,
herausgegeben von H. bungwitz, Bd. 1, H. 4. Berlin, Adler-
Verlag. 27 S. 1 M.
3. Benon, R. (Nantes), Traitß clinique et m6dico-16gal des troubles
psychiques et nevrosiques post-traumatiques. Paris, G.
Steinheil. 456 S. 10 fr. (S. 66*.)
4. Booth, D. (St. Louis), The Simulation of organic by functional
nervous diseases. Railway surgical Joum. Iss. of. April.
5. Cirribal , W. (Altona), Beruht das psychiatrische und Unfall-
nervengutachten besser auf der Diagnose oder unmittelbar
auf dem Befund? Vjhrschr. f. gerichtl. Med. u. öffentl.
Sanitätswesen Bd. 45, Suppl. 1.
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
65 *
6. Foerster, Rud. (Charlottenburg), Psychologie des Unfalls. Ztschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 15, H. 1 u. 2, S. 107. (S. 67*.)
7. Foerster, Rud. (Charlottenburg), Zur Psychologie der Aussagen
Unfallverletzter. Münch, med. Wschr. Nr. 34, S.1880. (S.67*.)
8. Froehlich, E. (Berlin), Einige Bemerkungen über die Begut¬
achtung nervöser Unfallfolgen. Psych.-neurol. Wschr.
Nr. 14, S. 169.
9. Honigmann, Unfallneurose und Versicherungsgesetz. Ärztl.
Sachv.-Ztg. 1914, Nr. 8. (S. 68*.)
10. Horn, Paul, Nervöse Erkrankungen nach Eisenbahnunfällen.
Bonn, A. Marcus u. E. Weber. 152 S. 4 M. (S. 66*.)
11. Horn, P. (Bonn), Über Simulation bei Unfallverletzten und
Invaliden. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 11.
12. Jentsch, E., Die Degenerationszeichen bei Unfallnervenkranken.
Neurol. Zentralbl. Bd. 32, S. 1138.
13. Lüderitz, Begutachtung der nach dem Unfall entstandenen Neuro-
psychosen. Diss. Kiel. (S. 67*.)
14. Maier, H. W., Unfallheilkunde und Psychiatrie. Rev. suisse des
accidents du travail 7. Jahrg. Juli. (S. 66*.)
15. Marcuse, Ein Fall von Simulation. Med. Klinik Nr. 1. (S. 68*.)
16. Meitzer, 0. (Freiberg), Die Schätzung der Erwerbsunfähigkeit
bei der Epilepsie. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 24, S. 515.
17. Mendel, K. (Berlin), Selbstmord bei Unfallverletzten. Mtschr.
f. Psych. u. Neurol. Bd. 33, H. 4.
18. Mönkemöller, Beitrag zur forensischen Wertung des Betruges im
Rentenkampfe. .Friedreichs Bl. f. gerichtl. Med. S. 241.
(S. 67*.)
19. Mönkemöller, 0. (Hildesheim), Zum Kapitel der Simulation.
Vjhrschr. f. gerichtl. Med. u. öffentl. Sanitätswesen H. 4.
20. Mönkemöller, 0. (Hildesheim), Traumatische Hysterie und Simu- »
lation. Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 11, S. 233.
21. Reckzeh (Bochum), Ein Fall von außergewöhnlicher Simulation.
Ärztl. Sachv.-Ztg. Nr. 11, S. 230.
22. Uhlmann, Ein Fall von subakuter Psychose nach Schädeltrauma.
Psych.-neurol. Wschr. 12. Juli. (S. 68*.)
23. Weiler, Karl, Unfall und progressive Paralyse. Friedreichs Bl.
f. gerichtl. Med. S. 273. (S. 67*.)
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit. e
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66 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
24. Weiler, Karl, Einige für die ärztliche und rechtliche Beurteilung
von Unfallkranken nicht uninteressante Fälle. Friedreichs
Bl. f. gerichtl. Med. S. 449.
25. Wohlwitt, Fr., Zum Kapitel der posttraumatischen Psychosen.
Mtschr. f. Unfallheilk. Nr. 3. (S. 68*.)
Paul Horn (10) hat unter der Ägide von Th. Rumpf eine Arbeit über nervöse
Erkrankungen nach Eisenbahnunfäüen verfaßt, welche wir wohl den besten zu¬
zählen dürfen von allen Arbeiten, die in den letzten Jahren überhaupt über trau¬
matische, nervöse Krankheiten erschienen sind. Die Eisenbahnunfälle liefern ein
nicht unwesentliches Material von Unfallncurotikem, die den Kliniker und Praktiker
beschäftigen. Deshalb war es eine dankbare Aufgabe, auf Grund eines großen
Aktenmaterials Entstehung, Verlauf und Behandlung der Krankheit zusammen¬
fassend darzustellen, und Horn hat diese Aufgabe in klarer und gründlicher Weise
gelöst. Bei der wichtigen Frage der Entschädigung spricht sich Horn unbedingt
für Kapitalabfindung aus. Die nervösen Störungen sind prinzipiell heilbar, ihre
Prognose ist jedoch wesentlich abhängig von der Art des Entschädigungsverfahrens.
Deshalb sollte Rente nur in zweifelhaften Ausnahmefällen gewährt werden. Wichtig
ist eine baldige und möglichst genaue erstmalige Untersuchung. Von Behandlung
und Kuraufenthalt sieht man nur selten günstige Erfolge, sie sollen deshalb im
allgemeinen unterbleiben. Ganz zwecklos sind sie in Fällen von Simulationsver¬
suchen. Hilft die erste Kur nicht, so bleibt auch die zweite wirkungslos, Wieder¬
holungen sind deshalb ärztlich zu widerraten, da nur unnütze Kosten entstehen.
In frischen Fällen ohne Komplikation kann man für die Abfindung durchschnittlich
eine Erwerbsbeschränkung von etwa 337a % für 2—4 Jahre, vom Tage der Schlu߬
begutachtung an gerechnet, zugrunde legen und bei vorhandener Komplikation
mit Gefäßleiden, Alkoholismus, hereditärer Belastung eine solche für 4—6 Jahre
in gleicher Höhe. Diese Schätzung braucht nur selten überschritten zu werden.
Länger dauernde Rentengewährung trägt nur dazu bei, die nervösen Beschwerden
zu fixieren und den Wert späterer Abfindung zu beeinträchtigen. Besonders lehr¬
reich ist die Zusammenstellung der sämtlichen bearbeiteten Fälle am Schluß des
Buches.
Eine recht gute Arbeit aus französischer Feder über das Thema Unfall und
Nerven- und Geisteskrankheiten stammt von Benon (3). Er schildert, gestützt
auf eine recht eingehende Kenntnis der in- und ausländischen Literatur und auf
Gnind zahlreicher Eigenbeobachtungen, die Krankheitsbilder und den Verlauf
psychischer und organischer Erkrankungen, als deren auslösende Ursache eine
Gewalteinwirkung anzusehen ist.
II. IV. Maier (14) bespricht die allgemeinen Zusammenhänge in der Frage
Unfallheilkunde und Psychiatrie und betont speziell die Häufigkeit, mit
der psychisch Defekte von Unfällen betroffen werden. Er tritt dafür ein, daß der¬
artige Individuen durch Bevormundung oder ähnliche rechtliche Maßnahmen
von gefährlichen Berufen femgehalten werden. Für die Behandlung neurotischer
Unfallfolgen hält er eine geeignete, unter ärztlicher Aufsicht organisierte Familie 0 '
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
67 *
pflege für weit vorteilhafter wie die Ansammlung derartiger Kranker in Nerven-
heilstätten. Für die Prophylaxe könnte eine bessere psychologische Durchbildung
der praktischen Ärzte, die oft unbewußt Unfallneurosen provozieren, von großem
Nutzen sein. Die Tendenz, daß auch die funktionellen oder organischen traumati¬
schen Störungen des Zentralnervensystems und die damit zusammenhängenden
Fragen von den meist einseitig chirurgisch gebildeten Unfallspezialisten begut¬
achtet und behandelt werden, hält er für falsch. Er hält die Mitwirkung des neuro¬
logisch gebildeten Psychiaters für praktisch und wissenschaftlich unerläßlich.
(Autoreferat.)
Foersier (6) will der Häufigkeit der Unfälle, von denen die Hälfte auf Ver¬
schulden des Arbeiters oder Mitarbeiters zurückzuführen ist, durch Untersuchung
der psychologischen Momente begegnen, welche Unfälle veranlassen. Dafür sind
Veranlagung, Lebensalter, Übermüdung und dadurch sinkende Vorsicht zu rechnen.
Auch der Alkoholismus spielt eine Rolle. In einer zweiten Arbeit (7) weist er auf
die Störungen der Zeugnisfähigkeit Unfallverletzter hin. Diese spielen namentlich
bei den Telephonunfällen eine große Rolle, weil der Verletzte gewöhnlich der einzige
Zeuge ist.
Die beiden von büderitz (13) geschilderten Fälle von traumatischer Hysterie
machten der Rentenabschätzung große Schwierigkeiten, weil der Anteil der Aggra¬
vation bzw. Simulation am Krankheitsbild nicht unerheblich war.
Mönkemöller (18) berichtet über eine Arbeitersfrau, die nach einem nicht
sehr erheblichen Unfall jahrelang Vollrente erhielt. Er begutachtete sie als Simu¬
lantin auf dem Boden der psychischen Degeneration; es ließen sich höchstens
psychische Krankheitssymptome nachwcisen, und diese traten nur dann auf, wenn
sie beobachtet wurde. Die Rente wurde ihr entzogen, ihr Rekurs beim Reichs-
versicherungsamt war vergeblich. Die Berufsgenossenschaft hatte aber keinen
Erfolg mit ihrer Klage auf Betrug. Auch M. konnte bei ihrer angeborenen geistigen
Schwäche mit wesentlich degenerativem Charakter Zweifel an ihrer Zurechnungs¬
fähigkeit nicht unterdrücken. ( Schulte .)
In zwei Gutachten bespricht Weiler (23) den Zusammenhang zwischen Un¬
fall und progressiver Paralyse. Zu dem ersten Fall traten sehr bald nach dem
Unfall, der mit einem heftigen Schrecken, aber nicht mit einer Gehirnerschütterung
verbunden war, die deutlichen Zeichen der Paralyse auf. Der Zusammenhang
wurde geleugnet. Auch wenn der Verletzte schon zur Zeit des Unfalls paralytisch
war, kann diesem kein wesentlicher Einfluß auf den Verlauf der Gehimerkrankung
zugeschrieben werden. Zu dem zweiten Fall traten nach dem Unfall, der nicht mit
Gehirnerschütterung einherging, die Symptome eines Bruchs der Wirbelsäule
im Bereiche des unteren Brustteils und einer Rückenmarksverletzung auf. Nach
10 Monaten Aufnahme in eine psychiatrische Klinik wegen eines Erregungszustandes,
der auf Paralyse zurückgeführt wurde. In der Folge zahlreiche Begutachtungen,
die, wenn sie auch die Paralyse nicht mit einiger Sicherheit als Unfallfolge an-
sprachen oder einen Zusammenhang völlig leugneten, doch untereinander erheblich
abwichen. Aus Gründen, die an Ort und Stelle nachgelescn werden mögen, be¬
zeichnet Verf. die Möglichkeit eines Zusammenhangs der Paralyse mit dem Unfall
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68*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913:
als so gering, daß faktisch mit ihr nicht gerechnet werden kann. Das Reichsver¬
sicherungsamt wies die Rentenansprüche zurück. * (Schnitze.)
Honigmann (9) kann sich nicht entschließen, den Begehrungsvorstellungen
„der Rentensucht“ einen so großen Einfluß auf die Entstehung von Rentenneurosen
einzuräumen, wie das Placzek z. B. tut. Nach seinen Erfahrungen erkrankt nur
ein verhältnismäßig kleiner Teil körperlich Verletzter an traumatischer Neurose;
und das sind dann Disponierte, psychisch Minderwertige. Die Begehrungsvor¬
stellungen erzeugen nicht bei ihnen die Neurose, sondern sie lösen sie nur aus, färben
sie typisch und verhindern ihre Heilung. Empfehlenswert ist zur Beurteilung ein
Anfangsattest, wie es die privaten Versicherungen haben. Die Rentenabschätzung
läßt sich nur von Fall zu Fall regeln, am heilsamsten ist die Kapitalabfindung. Im
Gegensatz zu H. macht Adolphi (1) die Rentensucht für die vorkommende Aggra¬
vation verantwortlich. Auch er sieht in den' Begehrungsvorstellungen das retar¬
dierende Moment für die'Heilung.
Bei einem 49 jährigen Arbeiter, der etwa ein halbes Jahr nach'einem mit
schweren Kommotionserscheinungen einhergehenden Schädeltrauma Zeichen
psychischer Veränderung und ein Jahr nach der Verletzung eine schwere Angst¬
psychose bekam, konnte Wohlwill (25) erst nach dem Tode den Zusammenhang
der Psychose mit dem Unfall auf Grund des Sektionsergebnisses und der mikro¬
skopischen Untersuchung feststellen. Es fanden sich Blutungen und Erweichungen
neben ausgedehnten leptomeningitischen Veränderungen. Die Hirnveränderungen
saßen hauptsächlich an der in vivo verletzten Stelle, am rechten Scheitellappen.
Die Begutachtung von Telephonunfällen stößt oft auf Schwierigkeiten,
weil die technischen Einrichtungen verschieden sind und ärztliche und technische
Sachverständige unter sich oft zu ganz verschiedenen Gutachten koipmen. Förster
(7) verlangt deshalb zur Klärung der Frage Statistiken über die körperliche und
psychische Verfassung des Verletzten, die Umstände des Unfallhergangs und darüber,
ob bei den Ämtern mit Kurbelanruf mehr Unfälle Vorkommen, als bei den modernen
Ämtern mit optischen Signalen, die nach Abheben des Hörers betätigt werden.
Uhlmann (22) beschreibt einen Fall von subakuter Psychose mit Paragraphie
und Gedächtnisschwäche, der 8 Tage nach einem Fall auf den Hinterkopf ohne
nachfolgende Bewußtlosigkeit auftrat. Er begann mit Charakterveränderungen
und heilte nach 2 Monaten. Später trat ein Rückfall ein, an dem wahrscheinlich
Alkohol schuld war.
Marcuse (15) beklagt, daß bei einer nicht geringen Zahl von Ärzten der Unfall
genügt, um eine Neurose zu erkennen, und daß andererseits der Mangel an objektiven
Symptomen den Ausschluß einer bestehenden Rentenneurose erschwert. Man
kann sich da oft nur damit helfen, daß man den Verletzten durch Detektive be¬
obachten läßt. Solche Beobachtungen haben oft überraschende Resultate, wie
ein näher mitgeteilter Fall zeigt. Es handelte sich um einen Mann, der nach einer
unbedeutenden Kopfverletzung Gangstöningen, Zittern und Erscheinungen fort¬
schreitender Geisteskrankheit bekam und von vielen Autoritäten als traumatische
Neurose mit progressivem Blödsinn vorgestellt, ja als gemeingefährlicher Geistes¬
kranker in Irrenanstalten eingewiesen wurde. Dieser zuletzt völlig hilflose Mann
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Wendenburg, Gerichtliche Psychopathologie.
69 *
konnte ganze Nächte durchkneipen, sich angeregt unterhalten und geordnet be¬
nehmen, wenn er sich unbeobachtet glaubte.' Er wurde wegen Betruges verurteilt.
VII. Psychiatrie und Militär.
1. Becker, Th. (Metz), Über Epilepsie und ihre forensische Bedeutung.
Deutsche militärärztl. Ztschr. Nr. 23. (S. 69*.)
2. Eckart, J. (Nürnberg), Zur Frage der Dienstbeschädigung bei
hysterischen Hörstörungen. Deutsche militärärztl. Ztschr.
H. 8. (S. 69*. )
3. Haury, Les anormaux et les malades mentaux au rßgiment. Paris,
Masson. 376 S.
4. Laures, 0., Les anormaux psychiques militaires devant la justice.
Arch. d’anthropol. criminelle, de möd. legale et de psychol.
normale et pathologique vol. 28, no. 240, p. 881.
5. Meeus (Gheel), L’invalidite mentale dans l’armöe. Bull, de la Soc.
de m6d. ment, de Belgique no. 166, p. 79.
6. Padet, Deux condamn6s militaires. Bull, de la Soc. clin. de med.
ment. no. 5, p. 190.
7. Simonin, J., L’expertise psychiatrique dans l’armee. Annales
d’hygiene publique et de m6d. legale 20. nov., p. 443.
8. Weifert (Posen), Psychische Grenzzustände und Dienstfähigkeit.
Deutsche militärärztl. Ztschr. 1913, H. 7, S. 241.
Der Zugang an Epileptikern auf "der Station für Nerven- und Geistes¬
kranke des Gamisonlazaretts zu Metz betrug in 3 >4 Jahren 101 Fälle. Die Epi¬
lepsie ist also bei den Soldaten nicht selten. Th. Becker (1) macht darauf aufmerk¬
sam, daß der Truppe ohne große Kosten viel Scherereien und Mühe erspart werden
könnten, wenn diese Leute schon bei der Einstellung auf Grund genauer Erhebungen
bei den Zivilersatzbehörden ausgesondert werden könnten. Er schildert dann die
typischen und atypischen epileptischen Erscheinungen in ihren Beziehungen zum
Militärdienst, wie sie namentlich bei Rekruten, oft aber auch bei altgedienten
Leuten beobachtet werden. Bei diesen ist nicht selten Alkoholgenuß der Anlaß
zum Ausbruch einer bis dahin latenten Epilepsie. Ab und zu werden die schon
weit verbreiteten Kenntnisse von den Dämmerzuständen auch zu Simulations¬
versuchen benutzt. Auch unter den kriminell gewordenen Mannschaften befindet
sich ein nicht unerheblicher Prozentsatz Epileptiker.
Eckart (2) macht darauf aufmerksam, daß hysterische Taubheit, ein¬
oderdoppelseitige, gelegentlich auch beim Militär vorkommt. Die Diagnose
ist nicht leicht, gelingt aber stets, wenn man die Symptome genau beobachtet
und daneben die ganze Persönlichkeit des Untersuchten nicht außer acht läßt.
War die Hysterie, die Grundlage des Leidens, schon vor der Einstellung da, so
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70 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
kommtfür die hysterische Taubheit Dienstbeschädigung nicht in Frage, und Renten¬
ansprüche sind abzulehnen. Höchstens ließe sich die Frage nach Dienstbeschädigung
im Sinne einer Leidensverschlimmerung erwägen. Einseitige Taubheit oder doppel¬
seitige Schwerhörigkeit ist überhaupt kein Grund zur Beschränkung der Erwerbs¬
fähigkeit, nur doppelseitig hysterisch Taube müssen ähnlich wie organisch Kranke
entschädigt werden.
3. Neurosen» Epilepsie und Erkrankungen der
inneren Drüsen.
Ref.: L. W. Web er-Chemnitz.
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4. Assatiani, M. M., Die bedingten Reflexe in ihrer Anwendung
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5. Austregesüo, Pinheiro et Marques, Sur un cas de svndrome pluri-
glandulaire endocrinique. L’enc6phale. (S. 103*.)
6. Balint, R., Die Kochsalzentziehung in der Behandlung der Epi¬
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7. BaUas, M., Über das Vorkommen von Hysterie in der Gravidität.
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8. Basch, Über die Thymusdrüse. Deutsche med. Wschr. Nr. 30.
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9. Bauer, J. (Innsbruck), Fortschritte in der Klinik der Schild¬
drüsenerkrankungen. Beihefte zur Med. Klinik IX. Jahrg.,
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10. Beaucamp, C., Über einige mit Opium-Brom behandelte Fälle
von Epilepsie nach der Flechsigsehen (Ziehensehe Modi¬
fikation) Methode. Inaug.-Diss. Bonn.
11. Behrenrodt, E. (Greifswald), Die sexuelle Herzneurose („Phreno¬
kardie“). Deutsche med. Wschr. Nr. 3, S. 106. (S. 88*.)
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
71 *
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14. Benon, R., Les nevroses traumatiques. Gaz. des hop. no. 98,
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15. Bensch, Rudolf, Zur Kasuistik der epileptischen Dämmerzustände.
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A. Allgemeines.
Oppenheims (140) Lehrbuch der Nervenkrankheiten, das in 6. Auflage er¬
schienen ist, nimmt zu den zahlreichen neuen Problemen der Nervenpathologie,
die die letzten Jahre gebracht haben, Stellung. In der Einteilung des Stoffes ist
das erheblich vergrößerte Werk gleich geblieben. In der allgemeinen Anatomie
und Pathologie sind besonders die Verhältnisse und Beziehungen des sympathischen
und autonomen Systems zu den endokrinen Drüsen berücksichtigt. Bei der Dia¬
gnostik sind die Lumbalpunktion und die Methoden der Liquoruntersuchung, ferner
die von Barany ausgearbeiteten Methoden der Prüfung auf Kleinhirn- und Vesti-
bularerkrankungen eingehend beschrieben. Bei der Polyomyelitis wird nach den
Erfahrungen der letzten Epidemien der infektöse Charakter der Erkrankung nach¬
drücklich betont und die Abweichungen vom typischen klinischen Bild besonders
hervorgehoben. Neu sind viele Einzelheiten über die athetotischen Bewegungs¬
störungen und das Symptomenbild der Dystonia deformans. In der Therapie ist
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
85*
O. der vorsichtige Skeptiker geblieben, der alle Vorschläge gewissenhaft prüft,
aber das „nil nocere“ als vornehmsten Grundsatz festhält. Die hervorragende
Bedeutung der Salvarsantherapie für die akuten Fälle wird anerkannt, dabei aber
der Wert der alten Quecksilberbehandlung betont. Unter den chirurgischen Be¬
handlungsmethoden wird namentlich die Operation der Rückenmarks- und Hirn¬
tumoren und die neuen Fortschritte auf diesem Gebiet eingehend besprochen und
ebenso sind die Förster&che und Stoftelsche Methode der Wurzel- und Nerven-
resektion gebührend erwähnt und beschrieben.
Die Zahl der Lehrbücher der Nervenkrankheiten ist vermehrt durch das
von Bing (23) und das von Jakobsohn (79). Beide, von praktisch erfahrenen
Autoren geschriebenen Bücher bringen in gedrängter und einheitlicher Form das
gesamte Material der Nervenkrankheiten zur Darstellung, berücksichtigen dabei
die neuesten Forschungsergebnisse und geben vielfach schöne, instruktive Bilder
und Schemata; wir möchten dabei aber meinen, daß wenigstens für die nächsten
Jahre, das Bedürfnis des deutschen ärztlichen Publikums nach neuen Darstellungen
der Nervenkrankheiten vollauf befriedigt wäre; es kann wenigstens sachlich nichts
Neues mehr gebracht werden und die Darstellung muß sich doch auch mehr oder
weniger an den durch den Stoff gegebenen Rahmen halten.
Von dem Lewandowskyschen Handbuch (106) ist im Berichtjahr der 4. Band
erschienen, der die Krankheiten der Blutdrüsen in ihren Beziehungen zu den Er¬
krankungen des Nervensystems enthält. Die einzelnen Kapitel sind von bewährteri
Autoren übernommen und in erschöpfender Weise dargestellt. Dabei ist entgegen
manchen ganz modernen Bestrebungen die Basedowerkrankung in der Bearbeitung
von Eppinger als klinische Krankheitseinheit weitergeführt und nicht in den etwas
uferlosen Begriff der endokrinen Störungen aufgenommen. Die letzteren finden
aber eine eigene Bearbeitung in dem Abschnitt über die multiglandulären Störungen,
wobei der „thyreo-testikulär-hypophysäre“ Symptomenkomplex als ein eigenes
Syndrom herausgestellt wird; auch der Status thymico-lymphaticus wird in einem
besonderen Kapitel besprochen. Übrigens ist inzwischen auch der Schlußband
des Handbuches erschienen und damit das groß angelegte Werk zum Abschluß
gekommen.
BoQimann (166) gibt in einem kurzen Bericht die Eindrücke von der neuro¬
logischen Sektion des internationalen Kongresses in London wieder und deutet
dabei namentlich darauf hin, daß die Neurologie ihren großen Aufgaben bezüglich
Diagnose und Therapie nur dann gerecht werden kann, wenn besondere Forschungs¬
institute für diese Disziplin entstehen.
B. Neurasthenie und Nervosität.
Steyerihal (195) hat den Begriff der Neurasthenie beschränkt anf jene reiz¬
bare psychische Schwäche, die der vorher gesunde leistungsfähige Mensch im Kampf
ums Dasein erwirbt; dabei wird nachdrücklich die psychische Grundlage aller
neurasthenischen Symptome betont. „Wer die Nervenschwäche mit auf die Welt
bringt, ist kein Neurastheniker, sondern ein Psychopath oder Psychastheniker.
Abzugrenzen sind auch die unter den gleichen Symptomen verlaufenden Formen
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86 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
von Nervenschwäche, die das Prodromalstadium einer schwereren psychischen Er¬
krankung darstellen oder symptomatisch bei einer schweren körperlichen Erkrankung
auftreten. Man kann diesen Ausführungen zustimmen, aber die Gerechtigkeit
hätte es erfordert zu erwähnen, daß der verstorbene Cramer bereits vor 5 Jahren
in seinem Buch über „Nervosität“ diesen Unterschied zwischen der angeborenen
und erworbenen Neurasthenie ebenso scharf hervorgehoben hat, ohne damit sehr
viel Anklang zu finden. Ferner, wenn man alle Fälle angeborener Schwäche von
der Bezeichnung „Neurasthenie“ ausschließen •will, werden dieser Krankheits¬
bezeichnung sehr wenig Fälle übrig bleiben. Denn die Menschen, die aus voller
körperlicher und geistiger Gesundheit heraus infolge äußerer Schädigungen neur-
asthenisch werden, sind sehr selten, wie auch schon Cramer betont hat. Endlich
ist bei diesen seltenen Fällen auch eine völlige Heilung durch Beseitigung der Krank-
__ heitsursache, nicht nur eine Erziehung zur Gesundheit zu erreichen. Als Beard
den Begriff der Neurasthenie auf stellte, war offenbar die Bedeutung der endogenen
Disposition für das Entstehen der Nervenschwäche noch nicht so bekannt, wie heute;
er hat viele Fälle, die auf dem Boden angeborener Veranlagung entstanden waren,
für erworben gehalten. Daß aber die große Mehrzahl der „Neurastheniker“ von
Haus aus disponiert sind und deshalb nicht geheilt, sondern nur erzogen werden
können, hat namentlich wieder Cramer scharf hervorgehoben und für diese Fälle
im Gegensatz zu der selteneren, echten (erworbenen) Neurasthenie die Bezeichnung
„endogene Nervosität“ vorgeschlagen.
Auch Siebert (177) findet aus der Untersuchung eines größeren Kranken¬
materials, daß die sogenannten neurasthenischen Zustände in der geringsten Anzahl
als erworben anzusprechen sind, sondern sich meist die Kriterien der angeborenen
Schädigung der psychisch-nervösen Funktionen nachweisen lassen. Er betont
weiter die ausgesprochene Periodizität im Ablauf vieler funktioneller Neurosen
und schließt daraus eine nahe Verwandtschaft zwischen Neurose und Psychose,
die nach seiner Ansicht auch aus der längeren Beobachtung dieser Fälle oder aus
der nicht in allen Fällen zu erhaltenden genaueren Anamnese hervorgeht. Nament¬
lich findet er enge Beziehungen zwischen Neurosen und manisch-depressivem
Irresein. Hier muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß die sogenannte
manisch-depressive Konstitution noch nicht identisch ist mit Geistesstörung und
daß nach den an einem stationären Material gewonnenen Erfahrungen des Refe¬
renten die wirklichen Neurosen, seien sie erworben oder endogen bedingt, fast nie
in eine wirkliche Psychose übergehen; wo solche Übergänge Vorkommen, handelt
es sich fast durchweg um die Initialstadien einer zu dieser Zeit noch latenten echten
Psychose.
Im Gegensatz zu den genannten Autoren wirft Rumpf (169 a) die exogenen
und endogenen Ursachen der Neurasthenie wieder zusammen und glaubt, daß bei
der Ätiologie in den meisten Fällen beide Ursachen in Frage kommen. Das primäre
bei der Neurasthenie sei aber die „organische nervöse Depression“, nicht die psychi¬
schen Veränderungen; deshalb sei die Neurasthenie durch bloße Psychotherapie
auch nicht zu heilen. Die Neurasthenie sei seltener als man gewöhnlich annehme;
denn sehr viele Fälle, die unter diesem Namen geführt würden, gehörten zu der
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
87*
Hysterie, die der Verfasser als eine rein psychische, durch Auto- und Hetero¬
suggestion entstandene Krankheit auffaßt.
Aus der Anschauung, daß die Neurosen in erster Linie Störungen der psy¬
chischen Funktionen seien, ja daß sie aus dem individuellen Charakter hervor¬
gehen, sind in den letzten Jahren eine Anzahl Publikationen entstanden, die dem
Patienten durch Aufklärung über Art und Entstehung seines Leidens Heilung
bringen sollen.
Dahin gehört das Buch von Bergmann (16) und das von Scholz (186). Beide
Werke sind' bestimmt, dem Patienten in die Hand gegeben zu werden; sie sind
gewandt geschrieben und vermeiden die Klippe, ein Lehr- und Behandlungsbuch
für Kurpfuscher, anstatt ein Aufklärungsbuch zu sein. Wenn sie dem Patienten
in die Hand gegeben werden, ist aber immer zu bedenken, daß sie das gesprochene
Wort des Arztes nicht ersetzen und doch auch dem Arzt viel von dem wegnehmen,
was er zu sagen hat; der Patient weiß eben das dann auch schon.
Adler (1) faßt die Ausführungen seiner früheren Arbeiten in einem kurzen
Vortrage zusammen: der Neurose liegt das Gefühl der Minderwertigkeit aus an¬
geborener Anlage zugrunde; um dieses Defizit zu verdecken, konstruiert sich der
Patient ein fiktives Lebensideal, zu dessen Erreichung er die Hilfsmittel der neuro¬
tischen Symptome benutzt. Diese stellen vielfach eine Überkompensation der
aus der angeborenen Minderwertigkeit hervorgehenden Defektleistung dar. Die
psychische Behandlung muß davon ausgehen, daß alle Krankheitsäußerungen
einheitlich dem Zweck dienen sollen, den fiktiven Lebensplan durchzuführen.
Das Buch von Löwenfeld (109) über die Beziehungen von Sexualleben und
Nervenleiden ist in 5. Auflage erschienen. Es stellt in umfassender Weise das ge¬
samte Thema dar, nimmt auch zu den Frawfechen Theorien Stellung und gibt
eigene Anschauungen hierzu wieder. Bemerkenswert ist, daß er Äußerungen der
Sexualität im Kindesalter von einer besonderen sexuellen Konstitution abhängig
macht. Das ganze Werk ist., wie die früheren Auflagen sehr vorsichtig und kritisch
gehalten, verläßt nie den Boden der klinischen Beobachtung und ist wohl das beste
auf diesem Gebiete.
Eine bemerkenswerte Darstellung und Interpretation der Freudschen Theorie
gibt Jung (86). Im Gegensatz zu Freud sieht er die Hauptursache der Neurosen
in Gegenwartskonflikten, nicht in kindlichen Sexualerlebnissen. Den „Libido“-
begriff faßt er noch weiter als Freud und versteht darunter nicht nur den Sexual¬
trieb, sondern alle Willensenergie, die den Menschen zur Erhaltung des Individuums
und der Art antreibt.
Eine scharfe Kritik an Freuds Psychoanalyse eines Fünfjährigen gibt der
Breslauer Psychologe Stern (194). Er macht darauf aufmerksam, daß Freud zu
ganz falschen Schlußfolgerungen kommt und daß die Methode überhaupt aus
pädagogischen und anderen Gründen sehr bedenklich sei; angesichts des immer
weiter um sich greifenden Unfugs, daß Geistliche, Lehrer und „Erzieher“ die Psycho¬
analyse in ähnlicher Form, wie in dem Freudschen Musterbeispiel bei den ihnen
anvertrauten Kindern anwenden, ist dieser Protest, dem sich auch weitere Kreise
angeschlossen haben, nur zu berechtigt.
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88*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Ladame (100) gibt ein kritisches Referat der Freudschen Theorien, in dem
fast alle Arbeiten der Freudschen Schule berücksichtigt werden und auch die Gegner
fast vollzählig angeführt sind. Er kommt im ganzen zu einer Ablehnung der Freud¬
schen Anschauungen, wenn er auch einzelne Punkte darunter als berechtigt an¬
erkennt.
Behrenroth (11) schildert nochmal die von Herz als „Phrenokardie“ ab¬
gegrenzte Herzneurose mit ihrer auf unbefriedigte sexuelle Erregungen zurück¬
zuführenden Ätiologie. Die Hauptsymptome sind Herzschmerzen, Atemstörungen,
Veränderungen der Herztätigkeit. Die Therapie muß die ätiologischen Momente
berücksichtigen.
Lilienstein (108) will als „Kardiothymie“ einen Symptomenkomplex be¬
zeichnen, der bei Herzerkrankungen, namentlich nach Dekompensation entsteht
Von den eigentlichen Herzneurosen ist dieses Bild abzugrenzen, weil die Symptome:
Schlaflosigkeit, chronische Obstipation, Verstimmung, manchmal delirante Zu¬
stände, nicht ausschließlich auf das Herz beschränkt, sondern Allgemeinerscheinungen
sind. Die Neurose wird in Verlauf und Therapie von der Grunderkrankung be¬
stimmt.
Benon (14) beschreibt Neurosen, die mit epigastrischen Sensationen vom
Gefühl der Schwäche oder Angst einhergehen, aber nicht mit Magenerkrankungen
Zusammenhängen, sondern rein psychisch bedingt sind.
Horn (74) hat unter der Leitung von Rumpf an einem größeren Material
von Eisenbahnunfällen die hierbei entstehenden Neurosen studiert und kommt
zu folgenden Schlußfolgerungen: Den Begriff der traumatischen Neurose kann
man in eine Anzahl von Unterformen nach den speziellen ätiologischen Gesichts¬
punkten auflösen: infolge direkter Einwirkung entstehen „Schreckneurosen“,
Kommotionneurosen, wozu jedoch nicht die durch schwerere Verletzungen hervor¬
gerufenen organischen Erkrankungen zu rechnen sind; etwas anders geartet und
deshalb symptomatologisch abzugrenzen sind die nach lokalen Traumen und die
nach allgemeiner Erschütterung entstehenden Neurosen. Als mittelbare Unfall-
folgen unter der Einwirkung von Befürchtungs- und Begehrungsvorstellungen
entstehen Rentenkampf- und Abfindungsneurosen. Die Prognose der Eisenbahn¬
neurosen ist im allgemeinen günstig, hängt jedoch wesentlich von der Art des Knt-
schädigungsverfahrens ab. Dabei wird in sehr nachdrücklicher Weise die einmalige
Abfindung befürwortet, deren etwaige Nachteile durch sorgfältige erstmalige Begut¬
achtung zu vermeiden sind. Besondere Grundsätze für die Festlegung der Ab¬
findungssumme werden angegeben. Wenn die nach Betriebsunfällen entstehenden
Neurosen wegen der meist fehlenden Schreckwirkung etwas anders zu beurteilen
sind, so werden doch auch für sie die entwickelten Gesichtspunkte, namentlich
bezüglich der einmaligen Abfindung zutreffen; diese wird deshalb auch für diese
Fälle warm befürwortet.
Veraguth (211 a) meint, daß die Psychologie der traumatischen Neurosen noch
zu wenig ausgebaut sei; mit dem Schlagwort ,,Begehrlichkeitsvorstellungen“ und
„Rentenhysterie“ sei sie nicht erledigt. Er führt den Begriff der biologischen
Korrekturen ein: psychische Leistungen, die bei jedem Unfall in Aktion treten und
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
89*
deren Wirkung durch die Unfallgesetzgebung weitgehend paralysiert werde. Weiter
sei es erforderlich, die Individualpsychologie der Unfallneurotiker mit Hilf e der
Komplexforschung zu studieren. Er gibt aber selbst zu, daß die Psychoanalyse
teils in Form der freien Aussprache, teils mit Hilfe des Assoziationsexperimentes
und des von ihm ausgebauten psychogalvanischen Versuches nur bei den Patienten
durchführbar ist, die nicht unter der Versicherungsgesetzgebung stehen. Nach
seiner Meinung spielen in der Psychologie der Unfallneurosen namentlich die Kom¬
plexe eine Rolle, die im Moment des Unfalles in besonderer Stärke vorhanden waren,
dann aber auch später einsetzende Komplexe. Das sind aber meines Erachtens
Momente, die wohl psychologisch ganz interessant sein können, aber nicht als
pathogen gewertet werden dürfen; denn es handelt sich hier doch um ubiquitäre
Dinge: irgendwelche Komplexe hat schließlich jeder in jedem Moment; tragen
wir erst diesen Gesichtspunkt noch in die Untersuchung der „Verunfallten“ hinein,
so werden wir noch die Fälle von Komplexncurose bekommen und dann wird es
wohl bald überhaupt keinen Unfall ohne Neurose mehr geben. Vom praktischen
Gesichtspunkt aus sind also die Ausführungen Veraguths nicht zu brauchen; sie
bringen nur eine Anzahl neuer komplizierter Ausdrücke für schon länger bekannte
normalpsychische Vorgänge und komplizieren dadurch das ganze Problem noch
etwas.
Die Abhandlung von Murri (132) bringt zu der Frage der traumatischen
Neurosen nichts Neues, sondern gibt nur eine historische Entwicklung und kritische
Darstellung der verschiedenen Anschauungen.
Thomson *(203) gibt eine Theorie über die Entwicklung der traumatischen
Neurosen, die mit einer Ernährungsstörung der Hirnzentren und ihrer Zellen rechnet.
Er stellt ein Schema auf, das die möglichen Beziehungen zwischen den höheren
und tieferen Himfunktionen erläutern soll.
Kasuistik, auf Grund welcher Kodym (89) betreffs Prognose folgende Schlüsse
zieht: die Prognose bei traumatischer Neurasthenie ist nicht so schlimm, denn
etwa der Patienten wird geheilt, etwa Y> wesentlich gebessert und nur der Rest
bleibt ungeheilt. Prognostisch verwerten lassen sich hauptsächlich objektiv nach¬
weisbare Symptome nur dann, wenn sie in größerer Anzahl gleichzeitig auftreten
(Pulsveränderungen, erhöhte vasomotorische Reizbarkeit, Tremor der Zunge und
der Finger, Verengerung des Gesichtsfeldes usw.). Die Arteriosklerose, die ein
Symptom sein soll, ist ganz zufällige Erscheinung. (Jar. Stuchlik-Zöiich.)
Sichert (175) stellt, ohne wesentlich Neues zu bringen, die exogenen Ursachen
der Neuritis dar, die infektiösen, toxischen, mechanischen Momente und macht
auf die praktische Bedeutung der einzelnen ätiologischen Formen aufmerksam.
Berum (13) schildert als periodischen Schwächezustand ein von Zeit zu Zeit
auftretendes Gefühl von äußerster Schwäche ohne Schmerzen, ohne psychische
Störungen, aber mit dem äußersten Gefühl der Ermüdung und Depression; der
Zustand ist zum erstenmal aufgetreten im Anschluß an schwere Verstimmung
über den Tod eines Kindes. Der ganze Symptomenkomplex weist doch darauf hin.
daß hier eine leichte Form periodischer Melancholie vorliegt.
Breiger (31) hat an dem Material der Heilstätte Schönow Untersuchungen
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90*
• Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
mit Hilfe des Plethysmographen angestellt und gefunden, daß bei Nervenkranken,
wie bei Gesunden, während körperlicher oder geistiger Arbeitsleistung im Plethysmo¬
gramm Veränderungen auftreten, die einen gesetzmäßigen Verlauf zeigen. Im
allgemeinen tritt nach Bewegung des einen Armes eine Volumzunahme des anderen
Armes auf. Bei Ermüdung, nervösen Schmerzen fand sich manchmal eine Um¬
kehrung dieser Erscheinung, so daß die Arbeitsleistung von einem Sinken des
Volumens begleitet wurde. Bei Erwartung, Depression, Spannung blieb die Reaktion
überhaupt aus. Die plethysmographischen Untersuchungen können daher nur in
beschränktem Maße bei der Beobachtung von Nervenkranken herangezogen werden.
Bunnemann (34) führt aus, daß eine Reihe von schmerzhaften Zuständen
auf rein psychogenem Weg entstehen, also dadurch, daß irgendein Sinneseindruck
unter dem Einfluß eines gleichzeitigen Affektes oder einer affektbesetzten Vorstellung
besonders nachhaltig wirkt. Eine Reihe von Beispielen erläutert diesen Mechanis¬
mus, der aus der Hysterielehre eigentlich schon bekannt ist.
Burnke (34 a) hat festgestellt, daß bei normalen Menschen mit schwachen
galvanischen Strömen eine Lichtempfindung durch Applikation am Auge hervor¬
gerufen weilen kann; nicht viel höhere Ströme genügen, um am anderen Auge
eine mäßige Pnpillenbewegung hervorzurufen. Bei stark ermüdeten Menschen,
ferner bei der durch exogene Ursachen hervorgerufenen Neurasthenie (Infektion,
Intoxikation, Blutverlust, Anämie) ist dieses Verhältnis verschoben; die Strom¬
stärke, bei der die Pupillenbewegung ausgelöst wird, ist durchschnittlich 10 mal
so groß als die für die Lichtempfindung erforderliche.
Trömner (207 a) führt aus, daß das Stottern nicht, wie Kußmaul meinte, auf
spastischen Innervationen der Sprachmuskeln beruht, sondern auf Innervations¬
hemmungen, die eingeschaltet sind auf dem Weg vom Sprachplan zum Sprachakt.
Die Ursachen sind, wie bei anderen Zwangsneurosen, psychische und beruhen
darauf, daß nervöse Störungen, welche gelegentlich aufgetreten sind, sich später
vermöge einer pathologischen Fixationstendenz auch ohne die primäre Ursache
unter dem Gefühl eines inneren Zwanges wiederholen. Das Stottern hat mit der
Zwangsneurose des Tiks gemeinsam die häufige neuropathische Grundlage, die
Entstehung durch Gelegenheitsursachen, z. B. himschwächende Einflüsse, die
Beeinflußbarkeit durch Aufmerksamkeit, Vorstellungen und Angst
Assatiani (4) versucht, die Pawlowschen bedingten Reflexe zur Erklärung
verschiedener Symptome einiger Neurosen heranzuziehen. Das Wesen der be¬
dingten Reflexe besteht bekanntlich darin, daß ein Vorgang, der sich regelmäßig
zusammen mit einem Reiz abspielt, der an und für sich einen bestimmten (absoluten,
unbedingten) Reflex hervorzurufen pflegt, mit der Zeit die Eigenschaft zeigt, auch
selbständig, ohne den betreffenden Reiz diesen (nunmehr bedingten) Reflex hervor¬
zurufen. Wird z. B. einem Hunde Fleisch vorgehalten, so erfolgt reflektorisch
Speichelabsonderung. Geschieht das mehrmals und erschallt z. B. jedesmal dabei
ein bestimmter Ton, so wird nach einiger Zeit dieser Ton allein die reflektorische
Speichelabsonderung bewirken. Assatiani meint, daß verschiedene Symptome
mancher Neurosen nach dem Mechanismus der bedingten Reflexe durch Erschei¬
nungen hervorgerufen werden, die an und für sich psychisch indifferent sind, aber
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen. 91*
dadurch wirken können, daß sie in zeitlichem Zusammenhang mit unangenehmen
quälenden Vorgängen stehen. (Verf. scheint aber zu übersehen, daß für das Zu¬
standekommen eines bedingten Reflexes ein mehrmaliges Zusammentreffen
der schädigenden mit den indifferenten Erscheinungen erforderlich ist, was hier
wohl nur sehr selten, in den vom Verf. angeführten Beispielen überhaupt nicht,
zutrifft. Ref.) (Fleischmann-Kiev /.)
Cornelius (39) bespricht in einem größeren Werk, das als 2. Band einer
Gesamtdarstellung erschienen ist, die von ihm aufgestellte Nervenpunktlehre.
Sie beruht auf der Anschauung, daß bei vielen Neuralgien und Neurosen die Ursache
nicht in rein zentralen, nur psychisch bedingten Störungen zu suchen sei, sondern
beruhen auf peripheren Nervenpunkten. Diese sind durch eine besonders fein
ausgebildete Untersuchungstechnik zu ermitteln; sie sind schon bei leisem Dmck
schmerzhaft und lassen als weitere Reaktion eine umschriebene Muskelspannung
erkennen. Die Ursache können periphere Schädigungen aller Art sein; C. meint
aber, daß auch allgemeine Schädigungen imstande sind, Nervenpunkte zu erregen.
Durch eine besondere Massagemethode sollen die Nervenkpunkte beruhigt werden
und damit eine Heilung sehr vieler Neuralgien und Neurosen erzielt werden. Den
1. und 2. Teil des Buches nimmt eine sehr breit ausgesponnene Polemik gegen die
Kritiker der Nervenpunktlehre und die ablehnende Haltung der Schulneurologie ein.
Stoffel (196) wendet die von ihm früher publizierten Grundsätze auch auf
die Behandlung der Ischias an. Nach seiner Anschauung ist der Ischiadikus kein
einheitlicher Nerv, sondern ein Konglomerat motorischer und sensibler Nerven¬
bündel. Die Ischias ist deshalb eine Neuralgie eines oder mehrerer dieser sensiblen
Bündel. Mit Hilfe der Querschnittstopographie des Nervenstammes kann das
jeweils afffzierte Bündel bestimmt, von den übrigen isoliert und auf eine Strecke
reseziert werden. Dadurch sollen die Schmerzen auihören, ohne daß eine störende
Sensibilitätsverminderung zuriickblcibt.
Braun (30) schildert in mehreren Publikationen ausführlich die von Dubois
als Persuasion bezeichnet« Methode der Psychotherapie und empfiehlt ihre An¬
wendung bei den Neurosen. Durch alle auch die hier nicht besprochenen Publi¬
kationen auf therapeutischem Gebiet geht zu sehr das Bestreben ausschließlich auf
die Bedeutung einer Methode zu schwören und die anderen als minderwertig zu
bezeichnen. Zudem findet man sehr häufig eine „Methode“ als etwas vollständig
Neues und Grundlegendes erwähnt, während mindestens die Grundzüge jedem
denkenden Arzt schon bekannt waren.
C. Epilepsie.
Die große Monographie von Binswanger (26) ist in 2. Auflage erschienen.
Wenn im allgemeinen die Einteilung der ersten Auflage beibehalten ist, so sind
doch die einzelnen Abschnitte entsprechend den Fortschritten in der Erkenntnis
weitgehend umgearbeitet und verbessert. An die Spitze seiner Erörterungen stellt
B. den Satz, daß die Epilepsie eine chronische Erkrankung des Nervensystems
ist; ihre Äußerungen bestehen in wiederkehrenden Krampfanfällen mit Bewußt¬
losigkeit oder in psychopathischen Begleit- und Folgeerscheinungen. Wenn B.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
damit an dom Epilepsiebegriff als einer Krankheitseinheit festhält, so rechnet
er doch nur die Fälle dazu, bei denen die weitere Beobachtung zeigt, daß der einzelne
Anfall nur die Teilerscheinung eines chronischen Krankheitsprozesses ist Die
isolierte Reizung bestimmter Himrindenregionen ruft nie das Gesamtbild des
epileptischen Anfalls hervor; dazu ist Ausbreitung der Erregung in der Fläche
und in die Tiefe (weitere Rindengebiete und Stammganglien) erforderlich. Unter
den vorbereitenden Ursachen der Epilepsie wird besonderer Nachdruck auf die
angeborene Prädisposition gelegt, die nach B. in mehr als der Hälfte der Fälle
vorhanden ist. Die Anhäufung giftiger Substanzen im Blut während der epilepti¬
schen Ladung beruht auf einer Störung in der Arbeitsleistung der zentralen Nerven¬
zelle, ist aber nicht die primäre Ursache der Epilepsie.
Errmkow (48) schreibt über „Hystero-Epilepsie“. Er gibt zuerst die be¬
kannten differentialdiagnostischen Merkmale zwischen epileptischem und hysteri¬
schem Anfall, dann schildert er vier Fälle, die auf degenerativem Boden unter dem
Eindruck äußerer, psychogen wirkender Erlebnisse Anfälle bekamen, die äußerlich
epileptischen Anfällen gleichsehen, aber unter einer suggestiven Behandlung ver¬
schwinden. Richtiger würde man diese Erkrankung, die der Verfasser Epilepsie
hysterique nennt, wohl als Hysterie von epileptischem Charakter bezeichnen.
Lomer (110) geht von dem Gedanken aus, daß die Epilepsie auf einer hereditär¬
toxisch bedingten Giftwirkung beruht, die eine erhöhte Reizbarkeit der Hirnrinde
und raschere Auslösung motorischer Abläufe bedingt. Eine der äußeren Reizungen,
die auf dieser Grundlage den einzelnen Anfall auslöst, seien Schwankungen des
Barometerstandes oder des durch den Barometerstand angezeigten Luftdruckes.
Man solle die Epileptiker in Gegenden mit möglichst gleichmäßigem Luftdruck
versetzen.
Bensch (15) schildert in seiner Dissertation aus der Bonner Klinik zwei Fälle
von typischem epileptischem Dämmerzustand, von denen der eine durch ungewöhn¬
lich lange, über Monate sich erstreckende Dauer ausgezeichnet ist.
Benon und Legal (12) geben eine systematische Darstellung der epileptischen
Demenz; sie schildern ihre psychologischen Elemente, wobei allerdings die affektive
Seite dieser Störungen sehr wenig berücksichtigt wird; ebenso wird die eigen¬
tümliche Weitschweifigkeit und Umständlichkeit beim Sprechen kurz mit dem
Ausdruck Manieren abgetan. Als verschiedene Formen bezeichnen die Verfasser
die durch die Entwicklung, das Lebensalter, bestimmte Züge hervorgerufenen
Unterschiede in den Erscheinungsformen der epileptischen Demenz. Differential¬
diagnostisch muß die Demenz abgetrennt werden von anderen psychischen Äuße¬
rungen der Epilepsie, der Verwirrtheit, den Dämmerzuständen, den psychischen
Störungen, ferner von anderen Demenzformen, der Idiotie, der Dementia praecox,
der senilen Demenz; nicht leicht ist ihre Abgrenzung gegenüber der durch organische
Himerkrankungen bedingten Demenz.
Mayer (120) hat die Abderhalden sehe Reaktion bei Epileptikern nachgeprüft
Im Gegensatz zu Binswanger fand er selten Gehimabbauvorgänge weder innerhalb
noch vor oder zwischen den Anfällen. Es gelingt auch nicht, die konstitutionell¬
dynamische Epilepsie damit von der organisch-bedingten abzutrennen. Man kann
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deshalb keine diagnostischen oder therapeutischen Schlüsse auf die Reaktion auf¬
bauen.
Bei seinem Falle von ophthalmoplegischer Migräne konnte Prochazka (155)
einen interessanten Wechsel der grollen (vierwöchentlichen) und kleinen (zwei-
bis dreitägigen) Anfälle konstatieren: nach jedem großen Anfalle kamen für lange
Zeit (etwa 4 Jahre) auch die kleinen nicht vor, ebenso wie bei Epilepsie nach dem
Grand mal die Petits mals nicht aufzutreten pflegen. ( Jar . Stuchlik-Zürich.)
Jödicke (86) will die Tatsache, daß jeder echt-epileptische Anfall, auch
in der Form des Petit mal, von einer Hyperleukozytose gefolgt ist, zur differential¬
diagnostischen Abgrenzung der echt-epileptischen Paroxysmen gegen hysterische
und andere funktionelle Zustände benutzen. Vielleicht ist hier auch ein Weg gegeben
zur weiteren Analyse der affektepileptischen Anfälle.
Toulouse und Marchand (206) haben die Beziehungen zwischen Menstruation
und epileptischen Anfällen an statistischen Beobachtungen festgestellt. Bestimmte,
gesetzmäßige Beziehungen können sie nicht auffinden; in manchen schließt sich
der Ausbruch der Epilepsie an das erste Auftreten der Menses an; manchmal häufen
sich in der Menstruationszeit die epileptischen Anfälle. Auch die Dysmennorrhoe
und Amenorrhoe üben keinen gesetzmäßigen Einfluß auf den Gang der Epilepsie aus.
Pollock und Treadway (153) haben den Einfluß der Zirkulation und Respiration
auf den Gang der Epilepsie studiert und kommen zu folgenden Schlüssen: In manchen
Fällen gibt es rhythmische Schwankungen des Blutdruckes unabhängig von der
Respiration. Häufig tritt vor einem Anfall eine Blutdrucksteigerung und dann
ein plötzlicher Abfall des Druckes auf, dem dann der Anfall folgt.. Die Veränderungen
der Zirkulation und Respiration vor und während des epileptischen Anfalles weisen
auf die Beteiligung der Medulla oblongata hin.
Tichomirow (202) beschreibt einen letal verlaufenen Fall von Status epilepticus,
der in unmittelbarem Anschluß an ein psychisches Trauma ausgebrochen war.
Vor dieser seelischen Erschütterung hatte der Patient wahrscheinlich nie epileptische
Anfälle. Verf. knüpft an die Beschreibung des Falles Betrachtungen über den
kausalen Zusammenhang zwischen seelischen Erschütterungen und dem Ausbruch
von Epilepsie resp. einzelnen epileptischen Entladungen. Er tritt gegen die Auf¬
fassung auf, wonach die Erkrankungen und Anfälle, die auf dem Boden von seelischen
Emotionen auf treten, als Fälle von Hysterie oder Hysteroepilepsie zu behandeln
sind, und führt seinen Fall, der einen tödlichen Verlauf genommen hat, als Beweis
gegen diese ziemlich verbreitete Auffassung ins Feld. (Fleischmann-Kiew.)
Hebold (66) hat bei mehreren Epileptikern, die einen Naevus vasculosus
des Gesichts hatten, bei der Obduktion ein diesem Naevus entsprechendes Angiom
der Pia der gleichen Gehimseite mit Entwicklungsstörungen des Gehirns fest¬
gestellt. Es handelt sich also hier um organisch bedingte Epilepsien; die Naevi
entstehen in einer sehr frühen Entwicklungsstufe, wo die obere Kieferspalte noch
nicht geschlossen ist.
Krumholz (97) beschreibt die Erkrankung eines 16 jährigen Mädchens,
bei der nach kurzen Prodromen fortgesetzte Zuckungen der rechten Gesichtsseite
und des rechten Armes ohne Bewußtseinsverlust, dann auch generalisierte Anfälle
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auftraten. Es fand sich eine umschriebene Erkrankung in der linken motorischen
Rinde vom Charakter der hämorrhagischen Enzephalitis, die bereits zu starker
Glianeubildung geführt hatte.
Kastan (88) hat die Versuche von Claude zur experimentellen Erzeugung
von Krampfanfällen nachgeprüft und gefunden, daß zur Hervorrufung des Anfalles
zwei Momente nötig sind: eine prädisponierende Umstimmung der Hirnrinde, die
er teils durch lokale Schädigung—Verätzung mit Chlorzink—, teils durch chronische
Alkoholintoxikation hervorrief, und ein sekundäres Auslösungsmoment. Dazu
benutzte er die Injektion eines krampferregenden Mittels: Coriamyrthin; dies
in einer noch nicht toxisch wirkenden Dosis eingespritzt, erzeugte bei nicht vor¬
behandelten Kontrollieren keine Krämpfe, bei den in der erwähnten Weise ge¬
schädigten Tieren rief es deutliche Krampferscheinungen hervor.
Jakob (81) beschreibt verschiedene Fälle organisch bedingter Epilepsie
mit seltener Ätiologie. In einem Fall fanden sich paralytische Veränderungen,
in zwei Fällen tuberöse Sklerose, in einem Fall eine frische in einem anderen Fall
eine alte Enzephalitis. Vielfach handelt es sich um Differenzierungs- und Anlage¬
störungen als Grundlage der genuinen Epilepsie.
Hahn (64) beschreibt eine Anzahl von syphilitisch bedingten Epilepsie¬
fällen; es handelt sich teils um angeborene, teils um erworbene Syphilis; in einigen
Fällen wurde durch das Auftreten der Syphilis die bereits vorhandene Epilepsie
verstärkt oder von neuem mobil gemacht; in mehreren Fällen handelte es sich
um echte progressive Paralyse, die mit einem epileptischen Vorstadium begann
und dann eine ungewöhnlich lange Dauer — bis zu 12 Jahren — hatte.
hülf (169) beobachtete in einer alkoholisch belasteten, psychopathischen
Familie, daß der Vater und drei Kinder an derselben Form funktionellerJacfoonsche
Krämpfe litten: Beim Versuch, sich rasch von der Stelle zu bewegen, treten tonische
Krämpfe in einem Bein, dann im gleichseitigen Arm auf, die gelegentlich auch zu
starkem Schlagen beider Arme führen; das Bewußtsein bleibt erhalten. Es handelt
sich um eine hereditär erworbene funktionelle Disposition der motorischen Hirn¬
rinde zu Krämpfen.
Flood und Collins (52) kommen bezüglich der Heredität bei der Entstehung
der Epilepsie zu folgenden Schlußfolgerungen: ein sicherer Beweis für den Einfluß
des Alkoholismus der Eltern auf die Epilepsie der Nachkommenschaft kann nicht
erbracht werden. Alkoholismus der Epileptiker ist oft nur ein konkommitierendes
Symptom für eine nervöse Widerstandsunfähigkeit. Es läßt sich auch nicht mit
Sicherheit entscheiden, ob die Epilepsie lediglich als solche vererbt wird oder ob
Epilepsie, angeborener Schwachsinn, Geistesstörung verschiedene Formen ein
und derselben ererbten Schädlichkeit sind.
OberhoUer (138) hat in einer sehr interessanten Studie, die viel gründlicher
als die vorher referierte englische ist, den Erbgang in einer Epileptikerfamilie
beschrieben. Die Epilepsie erbt sich durchaus gleichartig fort, indem in der Des¬
zendenz keine anderen psychotischen oder neurotischen Störungen auftreten.
Die epileptischen Erscheinungen selbst sind sehr mannigfaltig und zeigen alle
möglichen körperlichen und psychischen Störungen der Epilepsie in bunter Reihen-
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folge. Bei der älteren Generationen beherrschen die Krämpfe das Krankheitsbild,
während in der weiteren Deszendenz die abgeschwächten und leichteren Störungen
auftreten. Es macht sich also eine Neigung zur Spontanheilung bemerkbar; am
hartnäckigsten werden die epileptischen Charakterveränderungen festgehalten.
Steiner (191) weist von neuem auf das häufige Zusammentreffen von Epilepsie,
Linkshändigkeit und Sprachstörung (Stottern) innerhalb desselben Familien¬
kreises hin. Die familiäre Korrelation dieser Symptome, zu denen sich gelegentlich
noch Enuresis nocturna gesellt, erlaubt die Aufstellung einer besonderen Epilepsie¬
form, die er als endogene oder originäre bezeichnet. Mit der durch organische Rinden¬
erkrankung erworbenen Epilepsie und Linkshändigkeit hat diese Epilepsie nichts
zu tun; vielleicht handelt cs sich um eine Störung in der funktionellen Überordnung
der einen Hemisphäre über die andere.
Halberstadt (66) will die Zustände, die in der deutschen Literatur seit den
Publikationen von Bratz unter dem Namen der Affektepilcpsie beschrieben worden
sind, als „epileptoide Anfälle der Degenerierten“ zusammenfassen. Wie man auch
über ihre nosologische Stellung denkt, ist doch ihre klinische Selbständigkeit prak¬
tisch wichtig, da sie prognostisch und therapeutisch von der gewöhnlichen Epilepsie
zu unterscheiden sind. Der Verf. versucht, einzelne Unterformen nach Lebensalter
und Art der auftretenden Attacken abzugrenzen.
Gurewüsch (61) beschreibt ebenfalls zwei Fälle von epileptoiden Zuständen:
gehäufte Anfälle, Dämmerzustände, Narkolepsie bei schwer psychopathischer
Grundlage. Der gutartige Krankheitsverlauf läßt die Fälle von der echten Epilepsie
abgrenzen. G. schlägt den wenig schönen Namen: „psychopathisches Epileptoid“
für diese Fälle vor, da ihm der Name: Affektepilepsie nicht gefällt.
Jödicke (84) bespricht an der Hand der statistischen Bearbeitung von etwa
350Epilepsiefällen ätiologische und prognostische Fragen. Erbliche Belastung fand
sich in der Hälfte aller Fälle; darunter direkte, epileptische Belastung bei 26,8 %.
Bei 31,9 % bestand Alkoholabusus in der Aszendenz. Als auslösende Ursache
kam in 4,5 % ein Trauma in Betracht; dabei wird die chirurgische Behandlung
auch kleinerer Schädelnarben dringend empfohlen. 86 % aller Fälle beginnen
vor dem 20. Lebensjahr, nur 5,3 % zwischen dem 20. und 30. Jahr; die nach dem
39. Jahr beginnenden Fälle sind durchweg symptomatische Epilepsien, denen
eine körperliche Erkrankung zugunde liegt. Die Mortalität beträgt auch in dem
Material des Verf. 8,6 %, wobei die Sterblichkeit am höchsten ist bis zum 40. Lebens¬
jahr und dann rasch wieder sinkt. Direkt an epileptischen Anfällen sind 11,4 %
gestorben. Eine Anzahl interessanter pathologisch-anatomischer Befunde werden
mitgeteilt, ohne daß besondere Schlüsse für die Pathogenese daraus gezogen werden.
Hahn (63) hat von 1903 bis 1908 bei denselben Epileptikern Assoziations¬
versuche mit denselben Reizworten wiederholt. Der Ablauf der Assoziationen
M igt die Veränderungen im Geisteszustand und gibt Anhaltspunkte dafür, ob
einfacher Stillstand der geistigen Entwicklung oder Fortschreiten der Verblödung
eingetreten ist. Auch eine im Laufe der Behandlung eingetretene Besserung läßt
sich an der Hand der Assoziationsversuche objektiv nach weisen.
Jahnet (80) beobachtete bei zwei Fällen von Eklampsie Kreißender nach
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der Geburt psychische Störungen von delirantem Charakter. Die Erinnerungen
an die Geburt fehlten; die an die Ereignisse während der deliranten Periode waren
im ganzen in groben Zügen erhalten. Differential-diagnostisch kommen epileptische
Dämmerzustände und echte Puerperalpsychosen in Betracht. Die Prognose richtet
sich nach dem Verlauf der Eklampsie.
Wie Schamke (184) ausführt, zeigen Röntgenuntersuchungen, daß bei Kindern
wie bei Erwachsenen (Rekruten) die Enuresis häufig auf einer angeborenen mangel¬
haften Entwicklung oder Mißbildung des Rückenmarks (Myelodysplasie) beruht,
die außerdem durch Anomalien in der Entwicklung der Zehen (Syndaktilie), Reflex¬
anomalien und Sensibilitätsstörungen zu erkennen ist Die Befunde sind nament¬
lich auch für den Militärarzt wichtig zur Unterscheidung der echten Enuresis von
der Simulation.
Imchanitzky-Ries (77) fand das Blut der Epileptiker arsenhaltig und glaubt,
daß bei der Epilepsie eine ererbte Degeneration der Arsenspeicherungs- und Aus¬
scheidungsorgane vorliegt und gleichzeitig eine verminderte Widerstandskraft
der nervösen Elemente vorhanden sein muß. Die allmähliche Summierung des
durch die Nahrung oder medikamentös aufgenommenen Arsens bedingt die Perio¬
dizität der epileptischen Erscheinungen, die also durch eine Anhäufung von Arsen
im Blute zustande kommen.
In drei Dissertationen aus der Kieler Klinik von Spornberger (180), Perlia (146),
Dütemeyer (43a) werden typische epileptische Dämmerzustände beschrieben, ohne
Neues zu dem Thema beizubringen.
Raecke (156) bespricht Fälle von kindlicher Epilepsie mit Neigung zu krimi¬
nellen und antisozialen Handlungen und die dabei zu ergreifenden Maßnahmen.
In leichteren Fällen muß therapeutische Beeinflussung der Epilepsie versucht
werden und die Fürsorgeerziehung angestrebt werden; dies ist aber nur möglich,
wenn die Vergehen nicht unter den Schutz des § 51 gestellt werden, weil sonst die
Voraussetzungen für die Verhängung der Fürsorgeerziehung fehlen. In schweren
Fällen, bei denen Freispruch erfolgen muß, ist der Kranke als gemeingefährlich
einer geschlossenen Anstalt zuzuführen. Erziehung in besonderen Jugendabteilungen
ist erwünscht.
Thiemich (201) hält bei der Einteilung der kindlichen Krämpfe an der scharfen
Trennung der spasmophilen von den übrigen Krampfformen fest. Da die Patho¬
genese der Spasmophilie noch nicht sichergestellt ist, ist von einer kausalen Therapie
nichts zu erwarten. Unter den diätetischen Maßnahmen ist die Verabreichung
von Frauenmilch, wo diese nicht zu erhalten, wenig Kuhmilch, Fett, tierisches
und pflanzliches Eiweiß zu empfehlen. Medikamentös Phosphorlebertran und bei
schweren Attacken Chloralhydrat im Einlauf.
Mangelsdorf (114) berichtet über günstige Erfolge mit Ureabromin, das
sich sowohl zur Verminderung der Anfälle bei Fällen alter Epilepsie bewährt hat,
als zur Bekämpfung von Bromekzemen und Bromexanthemen sich geeignet erwies.
v. Wyß (218) schildert als Grundlagen der Bromtherapie das Verhältnis der
Chlor- und Bromionen im Blutserum; beide Halogene müssen in einem bestimmten
Verhältnis stehen; die Bromtherapie muß also gleichzeitig die Kochsalzdarreichung
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berücksichtigen. Nur wenn die Konzentration der Chlorionen unter die Norm
gesunken ist, kann die Bromzufuhr anfallherabsetzend wirken. Es muß also die
Brommenge soweit erhöht oder die Kochsalzzufuhr soviel herabgesetzt werden,
bis das Chlordefizit im Blut eingetreten ist.
Veil (211) berichtet über die Erfolge operativer Epilepsiebehandlung: Bei
einer Epilepsie nach Schußverletzung wurde die zertrümmerte Himsubstanz im
Bereich des krampfenden Rindengebietes entfernt; im zweiten Fall — genuine
Epilepsie mit Anfällen von halbseitigem Typus — wurde das unverändert gefundene
krampfende Rindenzentrum entfernt, sodann ein Ventil gebildet. In beiden Fällen
trat trotz nachfolgender .Brombehandlung keine definitive Heilung ein.
Fuchs (64) hat in den meisten Fällen von Epilepsie, die damit behandelt
wurden, gute Erfolge vom Luminal bezüglich der Verminderung der Anfälle
gesehen. Er hält das Mittel geradezu für ein Anfallsspezifikum, das auch die psy¬
chischen Störungen der Epilepsie günstig beeinflußt. Beim Aussetzen des Mittels
können schwere Abstinenzerscheinungen auftreten, die man durch allmähliches
Einschalten von Brompräparaten verhüten kann.
Erlenmeyer (47) gibt eine Darstellung der Gesamttherapie, ohne wesentlich
Neues zu bringen, aber mit mancherlei, einer alten Erfahrung entstammenden
praktischen Winken. Besonders betont er auch den Wert einer mit der Brom¬
medikation verbundenen Joddarreichung, namentlich, wo man Reste alter enze-
phalitischer Prozesse als Ursache der Epilepsie vermutet. In solchen Fällen setzt
er auch Haarseile. Von seinen diagnostischen Erörterungen muß die Behauptung
bestritten werden, die meisten Exhibitionisten seien Epileptiker.
Donath (44 a) hat gute Erfolge vom Sedobrol gesehen, das er in Suppenform
mit 3—4 Würfel täglich unter möglichster Herabsetzung der übrigen Kochsalz¬
darreichung gibt.
Deroiüe (43) weist auf die alte Anschauung hin, daß bei der Pathogenese
der Epilepsie außer der besonderen epileptischen Veränderung als auslösendes
Moment eine Intoxikation vom Darmtraktus eine Rolle spiele. Zu ihrer Bekämpfung
schlägt er die regelmäßige Verabreichung von fermentierter Milch, besonders
Kefyr, vor.
Ulrich (209) schildert noch einmal die Anwendung der von ihm inaugurierten
Sedobroltherapie und gibt Proben von Speisezetteln aus seiner Anstalt. Die von
ihm behauptete Einfachheit eines kochsalzarraen Regimes besteht allerdings nur
da, wo der größte Teil der Anstaltsinsassen Epileptiker sind und wo die landes¬
übliche Kost die tägliche Verabreichung von Suppen nötig macht, an denen man
den Ersatz des Kochsalzes durch Brom leicht durchführen kann. Im übrigen betont
er die Notwendigkeit, jede Bromtherapie längere Zeit fortzusetzen.
Rodlet (169) hat Epileptiker mehrere Monate lang auf einer ganz reinen vege¬
tabilischen Diät mit Ausschluß der Milch gehalten: dabei sank die Zahl der Anfälle
bedeutend; wenn aber, um die Kost etwas schmackhafter zu machen, der gleich¬
zeitige Genuß von auch nur wenig Kaffee gestattet wurde, stieg der Blutdruck
bei den Kranken höher als er bei gewöhnlicher, gemischter Diät war. Die rein
vegetabile Diät muß also gleichzeitig mit der Vermeidung von Kaffee und anderen
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit. g
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Nervina einhergehen — und wird sich im größeren Maßstab wenigstens in unseren
deutschen Anstalten nicht durchführen lassen.
Steffen (190) schildert ebenfalls aus der Ulrichschen Anstalt die Anwendung
der salzarmen Kost und noch mit Nachdruck die Wirkung des Kochsalzes bei allen
Bromintoxikationen. Bei Bromdosen von 3—6 g genügt zur Unterdrückung der
epileptischen Anfälle eine Reduktion des täglichen Kochsalzes auf 8—12 g.
Jödicke (83) gibt eine zusammenfassende Darstellung der modernen Epi¬
lepsietherapie, die alle im vorgehenden besprochenen Verfahren erwähnt und sie
kritisch sichtet.
' D. Chorea und andere motorische Neurosen.
v. Holtum (73) teilt in einer Dissertation aus der Kieler Klinik die choreatische
Erkrankung eines 20 jährigen Mädchens mit, die nervös disponiert, aber nicht
endokarditisch erkrankt war. Im Anschluß an ein psychisches Trauma traten gleich¬
zeitig die choreatischen Symptome und eine Psychose auf, bei der Verwirrtheit,
Halluzinationen und starke motorische Hemmung im Vordergrund der Erschei¬
nungen standen. Die Hemmung scheint in der Störung des Vorstellungsablaufes
bedingt und nicht katatonischer Natur zu sein. Mit der Besserung der choreatischen
Symptome heilte auch die Psychose.
Golch (57) teilt in einer Kieler Dissertation zwei Fälle von infektiöser Chorea
mit. Im ersten Fall traten die hemichoreatischen Erscheinungen nach einer Di¬
phtherieerkrankung auf; im zweiten Fall war 2 Jahre früher nach Masern, jetzt nach
Gelenkrheumatismus die Chorea aufgetreten. Die in beiden Fällen beobachteten
Paresen werden auf die hypotonische Muskelschwäche zurückgeführt; sie haben
die motorischen Störungen überdauert. Mit den choreatischen Erkrankungen
gehen leichte psychische Störungen: Reizbarkeit, Vergeßlichkeit, Jähzorn einher.
Heilung erfolgte in beiden Fällen.
Leioe (107) teilt in einer Kieler Dissertation vier Fälle von Chorea mit, die
im allgemeinen den typischen Verlauf hatten. Der eine Fall war durch eine Struma
mit einzelnen Basedowsymptomen kompliziert. Der andere Fall war hereditär
luetisch belastet und hatte positiven Wassermann; Salvarsan war hier von gutem
Erfolg.
Kalkhof und Ranke (87) haben eine Familie mit zahlreichen Erkrankungen
an Huntingtonschcr Chorea genealogisch, klinisch und in einem Mitglied auch
pathologisch-anatomisch untersucht. In der ersten Generation ist die Erkrankung
bei einem männlichen Mitglied zum erstenmal aufgetreten und hat sich dann in
dessen Familie auf männliche und weibliche Nachkommen gleichmäßig vererbt,
ohne daß von Muttersseite ein besonderes Krankheitsmoment neu hinzugekommen
wäre. Die Vererbung ist absolut gleichartig; Erkrankungen an anderen Neurosen
oder Psychosen sind in der Familie nicht vorgekommen. Der Verlauf ist der typische
mit psychischem Verfall; allerdings stehen die motorischen Störungen im Vorder¬
grund der klinischen Erscheinungen. Ein erkranktes Familienmitglied kam im
52. Jahr zur Sektion und wurde pathologisch-anatomisch genau untersucht; die
Erkrankung hatte zu dieser Zeit 12 Jahre bestanden. Es fanden sich diffuse degene-
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
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rative Veränderungen der Nervenzellen, der Glia und der Gefäße ohne besondere
Lokalisation und ohne Anzeichen einer Entwicklungsstörung als Ursache. Nur
im Rückenmark wurde als Nebenbefund, der auf eine Entwicklungsanomalie hin¬
wies, eine Syringomyelie aufgefunden. Nähere Beziehungen zwischen dem patho¬
logischen Prozeß im Zentralnervensystem und dem klinischen Verlauf ließen sich
nicht feststellen.
Nießl v . Mayendorf (137) hat einen Fall von chronischer Chorea anatomisch
untersucht: die Großhirnrinde zeigt Zellen- und Gefäßveränderungen, die Verf.
als die Zeichen eines chronisch entzündlichen Ödems auffaßt und für die Ursache
der im Verlauf der Chorea entstandenen Demenz hält. Für die choreatischen Be¬
wegungsstörungen macht er Veränderungen in den kortiko-zerebellaren Bahnen
verantwortlich, die sich in seinem Fall in der distalen Endstation derselben, im
Nucleus dentatus fanden.
Sioli (179) untersuchte einen Fall von Myoklonus-Epilepsie histologisch.
Er fand bei dieser eigenartigen, der chronischen Chorea nahestehenden Erkrankung
hochgradige Abbauvorgänge in der Umgebung des Nucleus dentatus des Klein¬
hirns. Er glaubt, daß ein Zusammenhang der myoklonischen Bewegungsstörungen
mit den durch diese Veränderungen beeinträchtigten Funktionen des Kleinhirns
bestehe.
Sievert (176) beschreibt in einer Dissertation aus der Kieler Klinik einen
Fall von Tic convulsif, der in unwillkürlichen Bewegungen des Kopfes nach links
und Hebung der linken Schulter bestand. Die Erkrankung zeigte unter psychischer
Behandlung eine wesentliche Besserung.
E. Hysterie.
Lewandowslcy (105) hat die Bearbeitung der Hysterie in seinem Handbuch
auch als Monographie erscheinen lassen. Seine Darstellung dieses schwierigsten
Kapitels der Neuropathologie ist, wie alles aus der Feder dieses Autors, geistvoll
und kritisch. Er verzichtet auf eine theoretische Definition der Hysterie durch
Festlegung in einer Formel. Dafür gibt er eine Darstellung zuerst der körperlichen,
dann der psychischen Symptome, um dann auszuführen, daß alle Symptome
psychisch bedingt sind und daß ihnen zugrunde liegt die unbewußte Spaltung
einer schwachen Persönlichkeit durch den Affekt. Da die hysterische Reaktions-
weise eine einheitliche ist, so muß auch an der Hysterie als Krankheitseinheit fest¬
gehalten werden, zumal auch außerhalb der hysterischen Reaktion der zugrunde
liegende psychische Zustand ein einheitlicher ist; freilich darf man keine einheitliche
Verlaufsform dieser Erkrankung erwarten. In den Schlußkapiteln wird Differential¬
diagnose und Prognose sowie die Therapie besprochen. Auch L. steht der An¬
wendung der Psychoanalyse ablehnend gegenüber.
Bianchini (21) gibt eine ausführliche Darstellung der Geschichte der Hysterie,
berührt dabei die verschiedenen Anschauungen von den alten griechischen Ärzten
bis auf Freud und endet mit einer eigenen Theorie. Sie läuft im wesentlichen darauf
hinaus, daß er gleichfalls an der Krankheitseinheit der Hysterie festhält, sie als
eine Psychoneurose bezeichnet, bei der auf der Grundlage einer hereditären Kon-
g*
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
stitutionsauomalie eine Dissoziation der psychischen und nervösen Systeme eintritt
(diatesi bioscisaria), insbesondere der kortikalen und der sympathischen Funk¬
tionen, wobei sich B. eine besondere, zu Reizerscheinungen disponierende Be¬
schaffenheit der Rinde vorstellt. Neben der hereditär-degenerativen Grundlage
gibt er auch eine Entstehung der Hysterie durch erworbene Schädigungen zu.
Raimist (161) führt an der Hand instruktiver Krankengeschichten aus, daß
die hysterischen Symptome die objektive Äußerung einer „Erinnerungsemotion“'
seien, deren subjektive Seite vom Kranken selbst nicht aus seinen sonstigen Er¬
lebnissen hervorgehoben wird. Er meint damit, daß affektbetontes Erlebnis zu¬
nächst bei jedem, auch bei nicht hysterischen Menschen, eine körperliche Äußerung
hervorrufen kann, die man als „emotives Symptom“ bezeichnen kann. Aber erst
wenn das Symptom bestehen bleibt, trotzdem der Betreffende das auslösende Erlebnis
vergessen hat, wird es zum hysterischen Symptom; R. schlägt dafür die Bezeichnung
„mnemotiv“ vor. Als solches ist es in seiner pathogenetischen Bedeutung für die
Hysterie charakteristisch.
Wachsmiäh (212) zeigt an mehreren Fällen, wie trotz jahrelanger Beobachtung
organische Gehimerkrankungen oder schwere funktionelle Psychosen als hysterische
Geistesstörungen imponieren können, so daß erst die Sektion die richtige Diagnose
erkennen läßt.
Hinrichsen (71) führt bezüglich der affektbetonten Erlebnisse der Hysteriker
aus, daß diese schon von vornherein anders seien, als die Erlebnisse der Normalen.
Ihre Auffassung ist subjektiver; sie treten schon mit einem vorgefaßten subjektiven
Affekt an das Erlebnis heran und es kommt infolge dessen leichter zu einer Amnesie.
Das Erleben der Hysterischen und ihre Reaktion darauf wird durch eine vt»n vorn¬
herein falsche Zielsetzung bestimmt und dadurch, daß sie nicht imstande sind,
sich ihren Verhältnissen entsprechende, erreichbare Ziele zu stecken. Da sie von
dem falschen Ziel nicht loskommen, ist es ihnen auch nicht möglich, auf ein Erlebnis
abzureagieren. Der Verf. zieht daraus die praktische Folgerung, daß man sich
unter der „Abreaktion“ nicht einen isolierten psychischen Vorgang von besonders
eigenartigem Mechanismus darstellen darf.
Stern (193) versteht unter „hysterischen Situationspsychosen“ geistige Er¬
krankungen der Untersuchungshaft, die gewöhnlich akut auf dem Boden psycho¬
pathischer Konstitution entstehen mit oder ohne hysterische Antezedentien; dabei
spielt der Affekt über die Verhaftung und der Krankheitswunsch eine bedeutende
ätiologische Rolle. Die Erkrankungen stellen sich als leichtere oder schwerere
Stupor- oder Verwirrtheitszustände dar, die bei längerem Verlauf wechseln. Sie
sind ausgezeichnet durch äußere Beeinflußbarkeit, durch theatralische Färbung,
auch dadurch, daß trotz scheinbar schwerer Verwirrtheit die Orientierung erhalten
bleibt. Reine Simulation des ganzen Krankheitsbildes ist nicht wahrscheinlich,
aber häufig Kombination echter und simulierter Symptome; die Prognose ist günstig.
Myerson (133) beobachtete in einem Fall von einwandsfrei sicher gestellter
hysterischer Erkrankung einen unerschöpflichen Fußklonus der rechten Seite,
während links nur einige Ausschläge auszulösen waren. Dabei fehlten alle sonstigen
organischen Symptome und der weitere Verlauf zeigte, daß eine rein hysterische
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankungen.
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Erkrankung vorlag. Verf. verbreitet sich an der Hand der Literatur ausführlich
über die Seltenheit des Symptoms bei reiner Hysterie.
Hensgen (70 a) berichtet von einem Unfallhysteriker, der eine ausgesprochen
hysterische Bewegungs- und Gefühlslähmung in einer Extremität und schwere,
mit Pupillenstarre einhergehende Krämpfe hatte, die bei dem geringsten äußeren
Anlaß auftraten. Den Versuch der suggestiv-mechanischen Behandlung in einer
Universitätsklinik beantwortete er mit Anzeigen bei der Polizei, und entzog sich
auch weiteren Behandlungsversuchen unter der zum Teil durch ärztliche Zeugnisse
gestützten Angabe, daß er wegen seiner Krämpfe nicht reisen könne. Er erhielt
sich auf diese Weise eine Rente von wachsender Höhe, obwohl er zeitweise arbeitete
Und gelegentlich auch bei einer Messerstecherei verwickelt war; er wurde aller¬
dings wegen Notwehr freigesprochen. Der Verf. hat nicht den Eindruck, als ob
bei diesem Hysteriker eine psychische Minderwertigkeit vorliege. Um so mehr
muß man bedauern, daß dieser „Unfallkranke“ nicht bei der zuletzt erwähnten
Gelegenheit eine ordentliche Gefängnisstrafe bekam; die hätte vielleicht auch seine
Hysterie geheilt.
Sträußler (198) publiziert die Beobachtung eines Soldaten, der nach einer
Rüge durch einen Vorgesetzten in einen durch einen Anfall eingeleiteten Dämmer¬
zustand verfiel. Dabei traten zahlreiche Ga »«ersehe Züge (Vorbeireden) auf; der
Kranke war sowohl im Dämmerzustand wie nachher sich des auslösenden Ereig¬
nisses, des Anfalls und selbst des Vorbeiredens bewußt Trotzdem glaubt St. Simu¬
lation ausschließen zu können. Eine psychologische Erklärung für das Vorbeireden
sieht er darin, daß dabei die naive Vorstellung von der Art, wie Geisteskranke
reden, eine Rolle spielt.
Piqu6 (149) erörtert die Beziehungen zwischen Hysterie und chirurgischen
Eingriffen. Abgesehen von den Fällen, in denen dringende Lebensgefahr einen
chirurgischen Eingriff erfordert, soll man mit Operationen bei hysterischen sehr
vorsichtig sein; die Hysterischen mit schweren psychischen Erscheinungen (ä grandes
reactions mentales) lassen am meisten eine Verschlimmerung durch Operation
befürchten. Anderseits glaubt er, daß die operative Behebung einer umschriebenen
körperlichen Erkrankung die lokalen und allgemeinen Äußerungen der Hysterie
beseitigen kann. An einigen Fällen von Blinddarmentzündung wird der Einfluß
der Operation auf den Verlauf der Hysterie geschildert und die Differentialdiagnose
zwischen wirklicher Appendizitis und den durch Hysterie vorgetäuschten Sym¬
ptomen einer solchen erörtert.
Gelik (56) beschreibt eine Reihe epidemieartig aufgetretener hysterischer
Erkrankungen. Die Erkrankten gehörten sämtlich zum Personal des Provinzial¬
krankenhauses. Zunächst erkrankte ein Pfleger an einer akuten hysterischen Psychose
und mußte schließlich nach einer Irrenanstalt geschafft werden. Am Tage seiner
Abfahrt erkrankte eine in der Apotheke beschäftigte Person. Zehn Tage später
erkrankten nacheinander eine Heilgehilfin, die Köchin des Arztes, eine Hebamme
und noch zwei Angehörige des Krankenhauspersonals.
Die Krankheit zeigte bei einigen Personen den Charakter einer Psychose,
bei den anderen handelte es sich nur um hysterische Erscheinungen verschiedener
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Natur. Man konnte feststellen, daß die Krankheit sich auf dem Wege der An¬
steckung, von einer Person zur anderen, verbreitet hatte. Von besonderem Interesse
ist es, daß hier die Epidemie unter ziemlich stark beschäftigten Personen, mitten
in der gewohnten Arbeit, und nicht wie sonst nach außergewöhnlichen, erschütternd
wirkenden Ereignissen ausbrach. (Fleischmann-Kiew.)
F. Basedow und Erkrankungen anderer endokriner Drüsen.
Münzer (131) gibt eine zusammenfassende Darstellung der Beziehungen
zwischen innerer Sekretion und Nervensystem. Wahrscheinlich beeinflussen die
Produkte der Blutdrüsen lediglich das Nervensystem, und zwar nur bestimmte
Gebiete sowohl des zentralen wie des vegetativen Systems. Die Sekrete der Blut¬
drüsen beeinflussen hauptsächlich den Tonus des Nervensystems; darnach werden
sympathikotonische, spinotonischc usw. Blutdrüsen unterschieden.
Kutschera (99) führt aus, daß Kropf- und Kretinismusepidemien nur in
Wohnungsgemeinschaften, niemals in Wassergemeinschaften (Kropfquellen) beob¬
achtet werden. Die Tierexperimente beweisen, daß Kropf und Kretinismus auch
ohne Wasser entstehen können. Die epidemiologischen Erfahrungen weisen darauf
hin, daß die Ursache beider Störungen im Hause oder in der nächsten Umgebung
der Kranken oder in diesen selbst zu suchen ist. Die Übertragung der Krankheit
durch einen Zwischenwirt hat große Wahrscheinlichkeit für sich.
Colla (38) teilt einen Fall von Basedowpsychose mit, die durch Operation
der Struma geheilt wurde. Ferner einen Fall, bei dem die psychischen Symptome
periodisch und gleichzeitig mit dem Anschwellen der Struma auftreten und sich
auch durch Deutlichwerden der nervösen Symptome einleiten.
J. Hallervorden (62) berichtet über 100 Fälle von Basedowerkrankung,
die in 13 Jahren in der Heilstätte Schönow behandelt wurden. Es handelt sich
meist um abortive Fälle, um Basedowoide nach der Nomenklatur von Stern. Be¬
züglich der einzelnen Symptome wird bemerkt, daß sich in allen, auch den leichtesten
Fällen, pathologische Befunde an der Schilddrüse nachweisen ließen, wenn nicht
eine Vergrößerung der Drüse selbst, doch Arterienschwirren bei leicht aufgesetztem
Stethoskop. Auch am Herzen findet sich in den meisten Fällen eine, wenigstens
funktionelle Veränderung, z. B. starke Betonung des ersten Tones über der Spitze.
Dabei müssen auch die funktionellen Herzbeschwerden berücksichtigt werden,
die man bei Psychopathen außerdem sehr häufig findet; die abortiven Formen
des Basedow sind oft mit angeborener Psychopathie vergesellschaftet. Auf den
chronischen und periodischen Verlauf wird besonders hingewiesen. Die Blutunter¬
suchung ist kein absolutes diagnostisches Hilfsmittel, da sich dieselbe Veränderung
auch bei anderen nervösen Erkrankungen findet. Therapeutisch wird bei schweren
und progredient verlaufenden Fällen die Operation empfohlen. In leichteren Fällen
wurden mit Ruhe, psychischer Behandlung und hydrotheapeutischen Maßnahmen
gute Erfolge erzielt, während Rodagen, Natr. phosphor. gar nicht, Antithyreoidin
nur in seltenen Fällen nützten; vor der Anwendung von Jod und Thyreoidin wird
gewarnt.
Grober (58) berichtet von einer Basedowerkrankung, die bei einer Frau
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Weber, Neurosen und Schilddrüsenerkrankiingen.
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rasch entstand und die typischen Symptome zeigte. Die Schilddrüse war vergrößert
und weich; man hörte blasende Geräusche über ihr. Die Basedowerscheinungen
verschwanden völlig, als eine tuberkulöse Lungenerkrankung mit Kavemenbildung
einsetzte.
Rubino (168) unterscheidet bei der Basedowtherapie die Thyreoidin- und
die Antithyreoidinbehandlung und die chirurgische Therapie. Bei torpiden Zu¬
ständen, verlangsamtem Stoffwechsel gestattet er unter genauer Kontrolle einen
Versuch mit Tbyreoidinpräparaten. Im übrigen rät er zu Antithyreoidinbehandlung
in regelmäßigem Turnus unter Berücksichtigung des individuellen Zustandes;
in den Pausen gibt er Arsen- und Phosphorpräparate. Versagen diese Mittel, so
soll Galvanisation des Halssympathikus, Faradisation oder Röntgenbestrahlung
des Kropfes angewandt werden; bei fortschreitender Zunahme des Kropfes ist
Operation am Platze.
Hirsch (72) hat eine Anzahl von Basedowkranken mit Thymusextrakt
behandelt, ausgehend von der Tatsache, daß Kinder, bei denen die Thymusdrüse
noch erhalten ist, größere Mengen Schilddrüsensubstanz vertragen können, als
Erwachsene. Mit dem als Thymin bezeichneten, durch die Finna Poehl hergestellten
Extrakt wurden gute Erfolge in mehreren schweren Fällen erzielt. Nebenbei zeigte
sich auch ein günstiger Einfluß des Thymin bei Zuständen nervöser Schlaflosigkeit.
Schnee (185) hat bei einzelnen Fällen von Basedow gute Erfolge mit einer
Kombination von Antithyreoidin und Pankreon (Pankreasextrakt) gesehen, nament¬
lich wenn starke Diarrhöen mit Anzeichen von Fettstuhl bestanden. In einem
Fall war die vorausgegangene operative Behandlung erfolglos geblieben, während
die Besserung nach der erwähnten Kombination eintrat. Verf. glaubt, daß in
schweren Fällen eben nicht die Thyreoidea allein erkrankt ist, sondern auch andere
innere Drüsen.
Sokolow (181) faßt seine Betrachtungen über das Verhalten der Thymusdrüse
bei Kindern zusammen: Das Wachstum der Thymusdrüse geht bis zum 6. Jahr
ziemlich energisch. Vom 14. Jahr ab tritt in der Drüse eine Fett- und Bindegewebs-
entwicklung ein. Die Exstirpation der Thymusdrüse ruft bei Tieren eine Ver¬
mehrung der Erythrozyten, aber keine Veränderung der weißen Blutkörperchen
hervor. Die Thymusdrüse kann man statt der Schilddrüse therapeutisch verfüttern,
weil ihre Funktionen parallel gehen. Der plötzliche Thymustod ist die Folge von
Stoffwechselveränderungen.
Basch (8) hält die Thymus für ein Wachstumsorgan, das Beziehungen
zur Entwicklung der Knochen, zur Erregbarkeit des Nervensystems und zum
Pupillarapparat der Augen aufweist. Sie steht in Verbindung mit den übrigen
inneren Drüsen, mit dem Geschlechtsapparat und dem Lymphdrüsenapparat.
Maase (111) stellt eine 24 jährige Person vor, bei der sich anfangs Augen¬
muskellähmungen, dann eine auffällige Verkleinerung Hand in Hand mit zunehmen¬
der Adipositas entwickelte. Als Ursache muß eine vielleicht luetisch bedingte
Hypophysenerkrankung angenommen werden.
In einer kasuistischen Mitteilung von Austrtgesilo, Pinheiro und Marques (6)
wird eine „endokrine pluriglanduläre Erkrankung“ beschrieben. Es handelt sich
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
um Störungen der Haut (Myxödem), Haarausfall, Blindheit und Taubheit, Herab¬
setzung des Blutdruckes, Hypoplasie der Genitalien und Wachstumsanomalien;
alle Symptome sind auf der Basis angeborener Anlage nach und nach aufgetreten
und werden von den Verfassern auf Erkrankungen der Thyreoidea, der Hypophyse,
der Nebennieren und der Hoden zurückgeführt. Die 2 Jahre später vorgenommene
Sektion bestätigte die Annahme der Verfasser.
Die Beziehungen der inneren Sekretion zu den Erkrankungen der Mund¬
höhle und ihrer Behandlung faßt Periiz (144) zusammen: die innere Sekretion
beeinflußt die Dentition, welche durch Hypofunktion der Schilddrüse, Neben¬
schilddrüse und Hypophyse gestört wird. Die Hyperfunktion der Hypophyse
wirkt durch die entstehende Akromegalie auf die Zahnstellung. Die Ausbildung
der Zähne, ihre Dentinentwicklung, ihre Ernährung und Form werden bei Tieren
durch Entfernung der Nebenschilddrüse beeinträchtigt, wahrscheinlich durch
Veränderung des Kalkstoffwechsels. Der für Zahnärzte wichtige plötzliche Tod
in der Narkose steht wahrscheinlich mit Störungen der Thymussekretion in Zu¬
sammenhang.
Parhon und Urechia (143) haben bei Tieren nach Exstirpation der Schild¬
drüse den Einfluß von Pilokarpin auf die Darmperistaltik und Darmdrüsensekretion
untersucht. Sie fanden, daß die Kotmengen bei den operierten Tieren viel geringer
waren, als bei den Versuchstieren und führen dies auf die geringere Darmperistaltik
infolge Schilddrüsenmangels zurück; auch scheint bei den Tieren ohne Schilddrüse
eine Hypertrophie und Hypersekretion der Speicheldrüsen einzutreten.
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96. Sterling, Klinische Studien über den Eunuchoidismus und ver¬
wandte Krankheitszustände: Späteunuchoidismus ( Falta).
Degeneratio genito-sclerodermica (Noorden). Ztschr. f. d. ges.
Neurol. u. Psych. Bd. 16. (S. 119*.)
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie.
111*
. iS Her, Psychiatrie und Fürsorgeerziehung mit besonderer Berück¬
sichtigung der psychopathischen Kinder. Mtschr. !. Psych.
u. Neurol. Bd. 34.
>. Stier, Wandertrieb und pathologisches Fortlaufen bei Kindern.
Jena, Gustav Fischer.
d. Tanfani, Intomo ad un caso di mongolismo con sindattilia. Note
e rivist. di psichiatr. vol. 6.
00. Vidoni, Contributo allo Studio dell’ infantilismo. Giornale di
psichiatr. clinic. e tecnic. manicom. ann. vol. 40.
01. Vigoureux, Anderes d’arrets (classes d’arret et d’apprentissage).
L’enfance anormale.
L02. Warburg, Über scapula scaphoidea. Med. Klinik.
103. Wehrhahn, Deutsche Hilfsschulen in Wort und Bild. Halle,
C. Marhold. (S. 122*.)
104. Weichsel, Angeborener Schwachsinn bei Zwillingen. Ztschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 15. (S. 115*.)
105. Weygandt, Über Infantilismus und Idiotie. Ztschr. f. d. ges.
Neurol. u. Psych. Bd. 17. (S. 114*.)
106. Widffen, Das Kind, sein Wesen und seine Entartung. Berlin,
Langenscheidt.
107. Ziehen, Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich der
sogenannten psychopathischen Konstitutionen. Beiträge
zur Kinderforschung und Heilerziehung, Heft 112. Langen¬
salza, Beyer u. Söhne.
I. Allgemeines.
Als größere zusammenfassende Darstellung auf dem Gebiete des jugend¬
lichen Schwachsinns liegt diesmal nur die wertvolle Arbeit von Schlesinger (88)
vor. Schlesinger teüt die Resultate der eingehenden und vielseitigen Untersuchungen
mit, die von ihm an etwa 300 Straßburger Hilfsschulkindern angestcllt worden
sind und sich auf längere Zeit erstrecken. In dem Kapitel über die Ätiologie dürften
besonders seine Untersuchungen über die Wesenseigenheiten der Trinkerkinder
interessieren. Wie andere Untersucher, so hat auch Schlesinger bei Untersuchung
des körperlich gesundheitlichen Entwicklungsganges feststellen können, daß die
Hilfsschulkinder eine auffallend große Morbidität zeigen; besonders eingehend
werden namentlich auch die krankhaften Störungen der Sinnesorgane besprochen.
Recht gelungen sind die Ausführungen über den Intelligenzdefekt und seine Ent¬
wicklung und die Charakterentwicklung der Schwachbegabten. Den Intelligenz-
defekt untersucht Schlesinger zunächst vom pädagogisch-kritischen Standpunkte
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112*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
unter Zuhilfenahme der Aufzeichnungen über die Schulleistungen. Er kommt
dabei zur Aufstellung von vier Gruppen, die im übrigen auch prognostisch gut
ausgesprochene Differenzen zeigen: 1. Unterrichtsfähige Imbezille. 2. Stark Debile.
3. Mäßig Schwachbegabte Debile. 4. Leicht Schwachbegabte Debile. Von diesen
zeigten auch in der Hilfsschule keine Fortschritte 6,4 %, gleichmäßig anhaltende
Fortschritte 37,4 %, sich steigernde Fortschritte (nach sehr langsamer Anfangs¬
entwicklung) 26,7 %, nachlassende Fortschritte (nach guter Anfangsentwicklung)
26,1 %, Stillstand und Rückgang nach anfänglichem Fortschritt 3,2 %. Als un¬
günstige exogene Momente waren dabei besonders ungünstige häusliche Verhältnisse
und langwierige Erkrankungen zu verzeichnen. Eine gesonderte Besprechung
ist den Fortschritten in den einzelnen Fächern gewidmet. In zweiter Linie hat
Schlesinger die üblichen psychologischen Methoden angewendet, dabei fand er
mit der Methode von Binet-Simon, daß die Debilen meist um 2—3 (—4) Jahre
rückständig waren. Hinsichtlich des psychischen Verhaltens und der Charakter¬
entwicklung teilt Schlesinger die Schwachbegabten in fünf Gruppen ein: 1. Schwach¬
begabte ohne auffallendes psychisches Verhalten. 2. Harmlose, haltlose apathische
Debile. 3. Reizbare, impulsive Egoisten. 4. Stark psychopathische Debile mit
schweren Charakterfehlem. 6. Psychopathisch minderwertige, moralisch ver¬
kommene Debile mit zurücktretendem Intelligenzdefekt. Auch die schulentlassenen
Schwachbegabten hat Schlesinger in den Kreis seiner Untersuchungen einbezogen
und ihre weitere Entwicklung in gesundheitlicher und sozialer Beziehung verfolgt
(Arbeitsverhältnisse, Militärdienst, Eheleben, Straftaten usw.). In den letzten
Kapiteln werden die Fürsorgeeinrichtungen für die schulpflichtigen und schul¬
entlassenen Schwachbegabten gewürdigt. Der Inhalt der beiden anderen Arbeiten
Schiesingen (89, 90) entspricht im wesentlichen dem Inhalt der zusammenfassenden
Darstellung.
Unter den Methoden der Intelligenzprüfung steht zurzeit die von Binet-
Simon im Vordergrund des Interesses. Chotzen (17) ist von ihrem Werte überzeugt.
Nach Chotzen hat die Anwendung der Methode an Schwachsinnigen zum ersten Male
einen tieferen Einblick in die intellektuelle Entwicklung beim Schwachsinn geboten,
wo sie gegenüber der normalen stark verlangsamt und begrenzt ist. Idioten, Im¬
bezille und Debile überschreiten die Entwicklungshöhe drei- bzw. sieben- bzw.
neunjähriger Normaler nicht. Wenn die Schwachsinnigen auch auf einer bestimmten
Entwicklungshöhe jüngerer Normaler stehen bleiben, so gleichen sie diesen doch
nicht ganz. Schwachsinnige und Normale zeigen Unterschiede in der Lösung der
verschiedenen Tests, die auf einer verschiedenen Wertigkeit dieser Tests in bezug
auf die Intelligenz beruhen. Bei den einen hängt nämlich die Leistung mehr von
der Intelligenz ab, bei den anderen ist sie mehr eine Funktion der Altersentwicklung,
und zu beiden verhalten sich die Schwachsinnigen verschieden. Der Unterschied
gegenüber den Normalen kann in einer Ungleichmäßigkeit der Entwicklung auf
verschiedenen Gebieten oder auch in einzelnen Ausfällen liegen. Abgesehen davon
verläuft aber die Entwicklung ähnlich wie beim Normalen. Infolge der Entwick¬
lungsverzögerung und des endlichen Stillstandes gerät die Entwicklung in immer
größeren Rückstand gegenüber der dem Lebensalter entsprechenden Höhe; ein
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Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie.
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bestimmter, zeitlich begrenzter Rückstand hat daher je nach dem Alter verschiedene
Bedeutung; der gleiche zeitliche Rückstand muß um so bedenklicher sein, je jünger,
um so harmloser, je älter ein Kind ist. Von einer bestimmten Höhe ab, die für
verschiedene Lebensalter verschieden sein muß, beweist ein Rückstand immer
Schwachsinn (so bei Intelligenzrückstand von 2 Jahren im Alter von 8—9 Jahren,
von 3 Jahren im Alter von 10—12 Jahren). Je größer die Intelligenzschwäche,
desto niedriger ist das Intelligenzalter, desto größer ist der Intelligenzrückstand
bei gleichem Lebensalter. Aus dem Verhältnis des Intelligenzrückstandes zum
Lebensalter kann man Anhaltspunkte für die Diagnose auf die verschiedenen
Schwachsinnsgrade und auch für die Prognosestellung gewinnen. Besonders wichtig
ist es auch, daß die Methode erkennen läßt, ob die Schulunfähigkeit der Kinder
lediglich durch intellektuelle Defekte oder durch andere Momente verursacht ist
(Verwahrlosung, psychopathische Anlage usw.). Bloch (13) hat in Kattowitz 155
Kinder der Normalschule (79 Knaben, 76 Mädchen) und 71 Hilfsschüler (41 Knaben,
30 Mädchen) mittels der Binet-S iwcmschen Methode untersucht. Er kommt zu
folgenden Resultaten: Die Binet-Smon-Methode gestattet schnell und sicher,
das jedesmalige Intelligenzalter eines Kindes von 3—12 Jahren festzustellen. Die
Methode zeigt, daß Normalkinder den Forderungen des täglichen Lebens besser
gewachsen sind als die Schwachsinnigen. Die geistige Entwicklung beim Schwach¬
sinn folgt im großen und ganzen der des normalen Kindes; nur ist sie einmal stark
verzögert — durchschnittlich um 2 —4 Jahre —, zum anderen bleibt sie viel früher
stehen. Zur ein wandsfreien und schnellen Feststellung des Schwachsinns eignen
sich nach Bloch besonders folgende Tests: Nachsprechen von fünf Zahlen, Münzen¬
kenntnis, Ordnen von fünf Gewichten, Wiedergabe einer vorerzählten Geschichte,
Abschreiben geschriebener Worte, Diktatschreiben, Aufsagen der Wochentage
und Monate, Angabe des Tagesdatums, Vergleichen zweier Gegenstände aus dem
Gedächtnis, das Geduldspiel, Unterschied zwischen Vor- und Nachmittag. Die
Methode, die im Gegensatz zu anderen Methoden die Kinder wenig anstrengt,
verspricht ein wertvolles Hilfsmittel für frühzeitige Aussonderung der Schwach¬
sinnigen in der Schule, für Erkennung von frühzeitigen Geistesstörungen und für
die Sachverständigentätigkeit vor Gericht zu werden. Auch Kramer (54) hält auf
Grund eigener Untersuchungen die Binet-Simon-Uethodc für gut verwendbar;
für Beurteilung der Schulfähigkeit muß aber neben dem Intelligenzdefekt noch die
ganze sonstige geistige Persönlichkeit berücksichtigt werden.
Kleefisch (52) gibt eine recht lesenswerte Übersicht über die Methode, die er
anwendet, um ein genaues Bild von jedem Einzelfall zu gewinnen, was er für die
einzuleitende heilpädagogische Behandlung für unerläßlich erachtet. Nötig ist
vor allem, daß vor Prüfung des intellektuellen Zustandes eine genaue Untersuchung
der Sinnes- und andererseits der Bcwegungs- und Ausdrucksorgane vorgenommen
wird. Der Geisteszustand des schwachsinnigen Kindes erheischt es, alle Unter¬
suchungsmethoden unter der Form des Spiels zu verkleiden.
Um den Richter und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß auch die
feineren Entwicklungshemmungen, die im psychischen Verhalten der Jugendlichen
Abweichungen verursachen, krankhafter Natur sind, dazu sind die üblichen In-
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit. h
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114* Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
tclligenzprüfungen allein oft ungeeignet. Cimbal (19) empfiehlt zur Prüfung be¬
sonders die Spiele von FrÖbel und gewisse neue Bilderbücher; er warnt vor Über¬
schätzung der Prüfung der Schwercempfindung mittels gleichschwerer oder ungleich¬
schwerer Gegenstände und vor Überschätzung der Prüfung des Farbensinns. Ein
größerer Wert wird auf Feststellung gewisser körperlicher Befunde gelegt ; Mängel
in der Koordination der Muskulatur (Muskelunruhe), Zittern, übermäßiges Schwitzen,
übermäßiges Nachröten, Überempfindlichkeit der Unterbauchgegend als Zeichen
vorzeitiger Reizung der Genitalsphäre.
Weygandt (105) bringt eine neue Gruppierung des jugendlichen Schwachsinns;
er stellt 29 Einzelgruppen auf, von denen auf die verschiedenen Formen des In¬
fantilismus mit ihren zwei Hauptabteilungen, dystrophischer und glandulärer
Infantilismus, auf Grund neuerer Forschungen ein großer Anteil entfällt. In einer
30. Gruppe faßt er alle die Fälle zusammen, bei denen die Spezialklassifikation
vorläufig noch versagt.
Berkhan (9) fordert, daß einheitliche Maße am Schädel von Schwachsinnigen
zu nehmen sind; mit dem Tasterzirkel sind zu messen: 1. Der größte Längsdurch¬
messer von Stimnasenwulst bis zum äußeren Hinterhauptsstachel. 2. Der größte
Breitendiuchmesser (Scheitelhöcker bis Scheitelhöcker). Mit dem Bandmaß ist
der größte Kopfumfang über Mitte der Augenbrauenbogen und Hinterhauptsstachel
festzustellen. Abbildungen von Kopfformen Schwachsinniger sollten nur nach der
sogenannten „Frankfurter Verständigung“ der Anthropologen hergestellt werden.
Plaskuda (75), der bereits früher über Stereotypien und katatone Erschei¬
nungen bei Idioten gearbeitet hat, hat neuerdings bei ganz verschiedenen klinischen
Formen der Idiotie Beobachtungen über das Auftreten periodischer Zustände
gemacht. Er unterscheidet 7 Formen: 1. Einfachste Erregungszustände mit Heulen
und Schreien. 2. Erregungszustände mit Heulen und Schreien, erhöhter Reizbarkeit.
motorischer Unruhe, Triebhandlungen. 3. Erregungszustände, in denen es nur zu
Triebhandlungen kommt. 4. Periodisch reizbare Verstimmung mit motorischer
Unruhe und Triebhandlungen. 5. Periodisch ängstliche Erregung. 6. Zustände
tobsüchtiger Erregung mit Triebhandlungen und Neigung zu Selbstverletzung.
7. Mißzustände von dauernder Erregung ohne Periodizität. Erotische und apathische
Formen gehen häufig ineinander über. Offenbar handelt es sich bei der Idiotie
vielfach um fortschreitende Krankheitsprozesse, die dauernd psychiatrische Be¬
handlung erheischen.
Luther (61) teilt die Psychosen, die er bei Idioten und Imbezillen beobachtet
hat, in drei Gruppen ein: 1. Periodische Formen; die epileptischen, manisch-
depressiven, hypochondrischen Zustandsbilder und ihre Übergänge, die zuweilen
auch eine katatonische Form annehmen können, entsprechen im wesentlichen dem
gewöhnlichen degeneittiven und manisch-depressiven Irresein. 2. Die episodischen
Formen, ebenfalls den degenerativen Zuständen gleichend, entspringen in der
Mehrzahl einer besonderen psychogenen Reaktionsweise. 3. Chronische bzw. in
Verblödung ausgehende Psychosen (epileptische Erregungen mit zunehmender
Verblödung, Stuporzustände, ' chronische Halluzinosen, Pfropfhebephreniel.
deren Prognose durchaus nicht immer ganz ungünstig ist, und Zustände, die weder
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Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie.
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in den Rahmen der Dementia praecox noch in ein sonstiges Krankheitsbild hinein¬
passen und wahrscheinlich für Schwachsinn spezifisch sind. Die Ausgestaltung
der Psychosen ist gewöhnlich entsprechend dem geringen Vorstellungsschatz sehr
ärmlich; Größenideen und ausgeprägter Versündigungswahn sind selten. Die Be¬
wegungsstörungen gleichen oft katatonen Störungen.
II. Ätiologie. Spezielle Pathologie und pathologische
Anatomie.
Klotz (53) gibt eine übersieht über die verschiedenen, teilweise sehr aus¬
einandergehenden Ansichten, die in der Literatur über die Bedeutung der Geburts¬
traumen für die körperliche und geistige Entwicklung, insbesondere auch für die
Ätiologie der Lütleschen Krankheit, niedergelegt sind. Klotz selbst fand bei 144
Idioten und Epileptikern 19 mal abnorme Geburt als Ursache angegeben; davon
war bei 11 Kindern (7,6 %) irgendwelches andere ätiologische oder prädisponierende
Moment nicht vorhanden. Auffälligerweise war bei keinem der 18 Fälle von Little-
scher Krankheit, die unter den 144 Kindern vorhanden waren, Geburtstrauma
oder Frühgeburt als Ursache nachzuweisen. Weichsel (104) teilt 7 Fälle mit, in denen
sich angeborener Schwachsinn bei einem oder beiden Zwillingen fand. Er nimmt
an, daß bei Zwillings- bzw. Mehrgeburten die Möglichkeit einer Schädigung des
kindlichen Gehirns in der Entwicklung durch mangelhafte Ernährung gegeben
sein kann. Infolgedessen ist bei Zwillingen eine erhöhte Disposition zu Schwach¬
sinn vorhanden.
Aus der interessanten Arbeit von Junius und Arndt (47) seien hier folgende
Punkte angeführt: Die Zahl der Kinderlosigkeit, der Fehl- und Totgeburten und
frühsterbenden Kinder ist in Paralytikerchen besonders groß. Nerven- und geistes¬
kranke Kinder bilden einen beträchtlichen Prozentsatz der gesamten Paralytiker¬
deszendenz. Die angeborenen geistigen Schwächezustände in ihren verschiedenen
Intensitätsgraden bilden ein besonders häufiges Vorkommnis, nicht selten sind auch
Fälle von abnormem Charakter, Moral insanity, Suizidneigung, schwerer Nervosität,
Psychopathie aller Art, Taubstummheit. Clemens (20) gibt eine Übersicht über
die wichtigsten Symptome der Erblues bei Schwachsinnigen; besonders wichtig
ist der Nachweis der Wassermannschen Reaktion; von seinen bis zu 20 Jahre alten
Patienten zeigten 3 %, von den älteren 1,1 % positiven Ausfall der Reaktion. Im
übrigen werden die wichtigsten Veränderungen an Augen, Haut und Schleimhäuten,
im Skelettbau und auf neurologischem Gebiete aufgezählt. Von den Luetikern
hatten 60 % Scapula scaphoidea. Wie schon frühere Untersucher, so lehnt auch
Dräsecke (29) ab, daß in der Ätiologie dieser Abnormität die Lues eine so hervor¬
ragende Rolle spielt, wie Graves behauptet; Dräsecke möchte auch der Rhachitis
eine größere Bedeutung für das Zustandekommen der Scapula scaphoidea bei¬
messen. Kellner (49) fand unter 920—930 Pfleglingen der Alsterdorfer Anstalten
38 = 4 % Erbsyphilitiker; die Wassermannsche Reaktion war 29 mal positiv,
7 mal negativ; 2 mal zweifelhaft, öfters zeigen Schwachsinnige infolge Erblues
ein antisoziales Verhalten. Von 400 schwachsinnigen Kindern, die Gordon (39)
untersucht hat, hatten 66 positive Wassermannsche Reaktion, darunter von 153
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Epileptikern 33. Fraser (32) sah bei 89 Hilfsschülem 40 mal positiven, 11 mal
zweifelhaften und 38 mal negativen Ausfall der Wassermannschen Reaktion, bei
105 Kindern, die noch nicht schulpflichtig waren oder infolge geistigen Defektes
die Schule nicht besuchen konnten, 61 mal positiven, 9 mal zweifelhaften und
45 mal negativen Ausfall; namentlich bei Epilepsie im frühen Kindesalter war die
Wassermannsche Reaktion oft positiv. Frösch (34) hat unter 102 Schwachsinnigen
und 10 Taubstummen nur einmal positiven Ausfall der Wassermannschen Reaktion,
dagegen 60 mal mehr oder weniger leichte Hemmung der Hämolyse gesehen, die
nicht als positiver Wassermann aufzufassen war. Es gelang Frösch , mit Hilfe eines
künstlichen Lipoidgomisches bei Fällen von angeborenem Schwachsinn Komplement¬
bindung zu erzielen; es kann scheinbar positiver Ausfall der Wassermannschen
Reaktion vielleicht auch durch Luesextrakte hervorgerufen werden, die dem an¬
gewandten Lipoidgemisch ähnliche physikalisch-chemische Eigenschaften besitzen.
Es muß deshalb bei Verwertung der Wassermann-positiven Falle sehr vorsichtig
vorgegangen werden. Fickler (31) beschreibt an der Hand von drei Kranken¬
geschichten ein Krankheitsbild, das sich einmal aus Erscheinungen von Idiotie
mit epileptischen Anfällen und andererseits aus einem Svmptomenkomplex zu¬
sammensetzt, der große Ähnlichkeit mit Bulbärparalyse hat. Im Gebiete der
motorischen Himnerven (namentlich Mm. massetcr, temporalis und im Facialis-
Hypoglossus-Gebiet: Artikulationsstörungen, Kau- und Schluckbeschwerden,
Schwäche der Nackenmuskulatur) bestanden Lähmungserscheinungen, während
das Gebiet der Rückenmarksnerven im allgemeinen verschont war. Muskelatrophien
und Entartungsreaktion fehlten. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine
Entwicklungsstörung im Großhirn. Ätiologisch kommt wahrscheinlich Syphilis
(positiver Ausfall der Wassermannschen Reaktion in allen drei Fällen) in Betracht
Schott (92) konnte in der Vorgeschichte von 942 Schwachsinnigen Tuberkulose
neben anderen ätiologischen Momenten 116 mal (12,3 %), als alleiniges ursächliches
Moment nur 25 mal (2,6 %) nachwcisen. Wenn somit die tuberkulöse Belastung
allein unter den Ursachen des angeborenen Schwachsinns keine allzugroße Rolle
zu spielen scheint, muß doch auch von irrenärztlicher Seite aus die Bekämpfung
der Tuberkulose gefördert werden.
Amöline (2) wendet sich in einer kurzen Abhandlung dagegen, daß so oft
Krankheitserscheinungen auf die angebliche Überbürdung in der Schule zurück-
geführt werden.
Eine größere Reihe von Publikationen ist wieder der amaurotischen Idiotie
gewidmet.
Die drei hereditär belasteten Geschwister, die Bielschowsky (10) beschreibt,
stammten aus nicht jüdischen Familien. Die Krankheit begann im 4. Lebensjahre
mit epileptischen Anfällen, dann folgten Rückgang der Intelligenz, Apathie, Verlust
des Sprechvermögens, nach 2 jähriger Krankheitsdancr bestand Idiotie. Später
entwickelten sich Sehstörungen bzw. Erblindung mit Atrophia n. optici und insel¬
förmige Atrophie der Netzhaut, Unsicherheit des Ganges, leichte Spasmen, Krank-
heitsdauer 4 bzw. 3 V, Jahre. Die Sektion (2 Fälle) ergab Kleinheit des Gehirns
mit Leptomeningitis fibrosa, Atrophie des Kleinhirns. Sowohl das NissF wie das
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Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie.
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Fibrillenbild entsprach dem Bild der juvenilen Form; in der Fissura calcarina
bestand zirkumskripter spongiöser Rindenschwund, im Kleinhirn landen sich
Sklerose der Körner-, aber auch der Molekularschicht, Auftreibungen der Dendriten
und Achsenzylinder, Fehlen der Kletter- und Moosfasem; in der Retina fehlten
Stäbchen und Zapfen sowie die äußere Körnerschicht; die Ganglienzellen waren
hier nur mäßig erkrankt. Auch in Bergers (8) Fällen handelt es sich um die juvenile
Form. Bei den beiden Geschwistern von christlicher Abstammung entwickelte
sich das Krankheitsbild vom 8. Jahre ab. Verlauf und Symptome stimmten bei
beiden nicht ganz überein; gemeinsam waren epileptische Anfälle und geistiger
Rückgang, verschieden war der Augenbefund; in einem Falle typische Retinitis
pigmentosa, im anderen Atrophia nervi optici mit chorioretinitischen (Pfeffer und
Salz) Herden. Die anatomische Untersuchung, die bisher in einem Falle vor¬
genommen werden konnte, ergab ebenfalls das typische Bild der juvenilen Form.
Hymanson (44) teilt die Krankengeschichte von 6 Fällen von infantiler Form
mit; alle 6 stammten aus jüdischen Familien. Im Stoffwechsel von 2 Fällen ließen
sich keine bestimmten Störungen nach weisen; zwei Fälle betrafen Zwillinge; bei
zwei Fällen lag Blutsverwandtschaft der Eltern vor (Heirat zweier Brüder mit zwei
Kusinen ersten Grades). Frey (33) konnte in einem infantilen Falle die von Schaffer
charakterisierten typischen Befunde erheben; die Spinalganglienzellen wiesen,
abgesehen von mäßiger Blähung, keine typischen Veränderungen auf. Schaffer (87)
hat neuerlich auch der Kleinhimveränderungen bei der infantilen Form besondere
Aufmerksamkeit gewidmet. Er konnte an den Dendriten diffuse und lokale Auf¬
treibungen nachweisen, wie sie bislang nur bei der juvenilen Form bekannt waren.
Auch die Achsenzylinder zeigten lokale Schwellungsvorgänge und zwar entweder
als lockere Auftreibungen mit Lockerung der Fibrillen oder als dunkle homogene
Knoten. In der Molekularschicht fehlten namentlich die Tangentialfasern (Korb-
fasem) in der Kömerschicht die Kletterfasern und die großen multipolaren Ganglien¬
zellen. In einer weiteren interessanten Arbeit versucht derselbe Autor (86) nach¬
zuweisen, daß den hereditären Krankheiten als Fundamentalveränderung eine
abnorme Anlage des Hyaloplasma zugrunde liegt. Das Hyaloplasma kann im
gangliozellulären oder axonalen Teil des Neurons erkranken, und zwar kann es zu
einer Hypertrophie (amaurotische Idiotie) oder Atrophie (Vorderhomzellen bei
Muskeldystrophic) des Hyaloplasma kommen. Fibrillen und NissF -Körper erleiden
nur sekundäre Veränderungen. Stark atypische Fälle, deren Zugehörigkeit zur
amaurotischen Idiotie nicht ohne weiteres in die Augen springt, teilen Lüttge (62)
und Savini-Castans und Savini (85) mit. In dem Fall von Lüttge stimmt namentlich
auch das anatomische Zellbild kaum zum Bild der amaurotischen Idiotie.
Eine eigenartige familiäre Erkrankung beschreibt Minna Christinger (18);
bei drei Schwestern nach normaler erster Jugend im Alter von 9—11 Jahren Auf¬
treten epileptischer Anfälle, dann rasch zunehmende Verblödung, zwischen 15. und
20. Jahre Hinzutreten von Gleichgewichtsstörungen, danach choreatisch-athetotische
Bewegungen, eigenartige Veränderung des Muskeltonus, daneben Infantilismus,
Fehlen der Menstruation und der sekundären Geschlcchtscharaktere. Klinisch
zeigte das Bild noch am meisten Ähnlichkeit mit der heredozerebellaren Ataxie
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
{Mark). Makroskopisch fanden sich bei der Sektion eine kombinierte Atrophie des
Groß- und Kleinhirns; mikroskopisch konnte bisher nur eine Randgliose nach¬
gewiesen werden. Die weitere Bearbeitung wird noch erfolgen.
Einen Fall von Vererbung der tuberösen Sklerose teilt Berg (7) mit: ein Kind
zeigte hochgradige tuberöse Sklerose und einen kleinen Nierentumor, beim Vater
waren neben Naevus sebaceus ein großer Nierentumor und eine mäßige tuberöse
Sklerose beobachtet worden, bei dessen Vater war ebenfalls ein großer Nieren¬
tumor vorhanden gewesen.
Rufs (57) bringt in seiner schönen Arbeit neun Krankengeschichten von
Fällen, in denen die Diagnose der tuberösen Sklerose auf Grund der Trias: Haut¬
veränderungen (Adenoma sebaceum, Typus Pringle, Barlow oder Rothe, daneben
weiche Hautfibrome, einmal auch eigenartige Wucherungen an der vorderen Zungen¬
hälfte), Epilepsie und Idiotie: gestellt werden konnte. In zwei Fällen, die zur Autopsie
kamen, fanden sich tuberöse Tumoren der Rinde und Ventrikeltumoren, einmal
auch im Kleinhirn, weiter Nierentumoren, in einem Falle auch Uterusmyome und
eine kleine akzessorische Nebenniere in einem Ovarium. Auch der mikroskopische
Befund war typisch für tuberöse Sklerose. Die großen atypischen Zellen hält auch
Rufs teils für ganglionär, teils für gliös; vielleicht sind sie der Ausdruck einer mangel¬
haften Differenzierung von Spongio- und Neuroblasten. In den Ventrikcltumoren
haben die Zellen nur gliösen Charakter: Heterotypien im Gehirn stützen die Ansicht,
daß der tuberösen Sklerose eine allgemeine Mißbildung zugrunde liegt. Auch Biel-
schowsky (11), der gemeinsam mit Gallus eine monographische Darstellung des
Leidens verfaßt hat, sieht das Wesen des Prozesses in einer geschwulstartigen Ent¬
wicklung der Spongioblasten, deren Beginn in die letzten Fötalmonate zu legen ist
(zirkumskripte zentrale Spongioblastose). Die tuberöse Sklerose weist aber auch
im späteren Leben noch eine Weiterentwicklung auf. Auch nach B. sind die großen
atypischen Zellen teils als echte plasmareiche Gliazellen, teils als Ganglienzellen
anzusehen. Bedeutungsvoll ist, daß bei der Recklinghausenschen Krankheit ganz
ähnliche Zellen in der Rinde Vorkommen; auch sonst bestehen noch enge klinische
Beziehungen zwischen der tuberösen Sklerose und der Recklinghausenschen Krank¬
heit, bei der die Tumoren von der entwicklungsgeschichtlich den Gliazellen gleich¬
stehenden Schwannschen Scheide ausgehen (periphere Spongioblastose). Im klini¬
schen Teil weist Gallus auf die schwere hereditäre Belastung hin; die Epilepsie
ist wenig charakteristisch, zuweilen zeigt sie Neigung zu Progressiva.
Zahlreiche Arbeiten befassen sich mit den Störungen, die wenigstens größten¬
teils auf die Erkrankung der Drüsen mit innerer Sekretion znrückgeführt werden: (
Infantilismus, Athyreosis usw.
Dearbom (23) kommt auf Grund seiner gründlichen Untersuchungen, bei
denen auch ausgedehnte Messungen und Blutuntersuchungen angestellt wurden,
zu dem Ergebnis, daß vier Typen des Infantilismus (Dysthyreoidismus, Dysgenitalis¬
mus, Infantilismus dystrophicus und Mongolismus) für gewöhnlich unabhängig
von anderen klinischen Erscheinungen lediglich durch körperliche und geistige
Vergleichspunkte unterschieden werden können. Die Fälle von Dysthyreoidismus
sind hinsichtlich der Skelettverhältnisse und Größe von typisch-infantiler Art
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Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie.
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lier Kopf, langer Rumpf, kurze Beine); die psychische Entwicklungshe mmun g
Harakterisiert durch Trägheit und Schwerfälligkeit in allen Äußerungen. Die
e von Dysgenitalismus zeigen eunuchoiden Typus neben mehr oder weniger
resprochener Neigung zu Hyperadultismus, Gigantismus (lange Extremitäten
lge Fortdauer des Wachstums durch Aplasie der Genitaldrüsen). Intellektuell
st gut begabt, lassen sic die Zeichen männlicher Reife, Zielbewußtsein und
bilität, oft vermissen. Die Fälle von dystrophischem Infantilismus sind meist
hl differenziert (Erwachsene en miniature), doch kommen Ausnahmen mit infan-
■n Skelett Verhältnissen vor. Psychisch oft zurückgeblieben, zeigen sie doch nicht
eigentümliche Verdummung der Kretinen, die spezifische Mangelhaftigkeit der
»ngoloiden oder die psychopathische Minderwertigkeit der Vertreter des Dys-
oitalismus. Die Mongoloiden sind charakterisiert in körperlicher Beziehung durch
sondere weit zurückgehende Entwicklungshemmungen (besonders die geschlitzten
ugen), psychisch durch die Nachahmungsgabe und die daraus resultierenden
ähigkeiten bei sonstigem geistigen Tiefstand.
Aul Grund seiner Studien über Eunuchoidismus und verwandte Zustände
ieht Sterling (96) folgende Schlußfolgerungen: An die erste Stelle tritt eine spezifische
'vmptomentrias und zwar 1. ein spezieller Typus der Fettsucht mit Bevorzugung
er Gegend der Brustwarzen (Gynäkomastie), der Bauchdecken und der Cristae
liacae, 2. ein spezieller Typus der Behaarungsdefekte: Bartlosigkeit (auch Nasen -
ücher), Fehlen der Behaarung in Achselhöhlen und Schamgegend, 3. Hypoplasie
ler Genitalorgane mit Funktionsunfähigkeit, die entweder von vornherein besteht
>iler vorzeitig sich entwickelt. Sehr häufig sind noch Defekte der Zähne ( Caries
und mangelhafte Entwicklung), Anomalien im Skelettbau (übermäßige Länge
der Extremitäten, Überwiegen der Unterlänge über die Länge des Oberkörpers),
weiter als besondere Erscheinung des Feminismus das Auftreten der sogenannten
Michailisschen Raute, Erscheinungen von sogenannter Vagotonie (Tachykardie,
Schwitzen, Blutwallung, Arythmie, Zittern der Hände, Ohnmachtsgefühl usw.),
endlich Epilepsie. Hinsichtlich des psychischen Verhaltens teilt er die Eunuchoiden
in drei Gruppen ein:
I. Eunuchoiden mit geringen Abweichungen; soziale, vielleicht etwas apathische
Individuen.
II. Mäßig stumpfe, aber im «allgemeinen soziale Imbezille.
III. Eunuchoiden vom Parasitentypus: bei verhältnismäßig guten psychischen
l/'istungen sind sie instabil, absolut untüchtig für das Leben und meist erwerbs¬
unfähig. In der Pathogenese spielt eine primäre Erkrankung der Keimdrüsen wahr¬
scheinlich eine größere Rolle; möglicherweise ist auch das Verhalten der Hypophyse
nicht bedeutungslos.
An dieser Stelle sei auch auf die Arbeit von Peritz (72) verwiesen, die einen
recht guten Überblick über die jetzigen Anschauungen der Beziehungen zwischen
Genitaldrüsen und Hypophyse gibt. Entwicklungsstörungen in der Lagerung der
Genitaldrüsen sind bei Schwachsinnigen recht häufig, wenngleich sie sich vielfach
bis zum Eintritt der Pubertät noch ausgleichen.
Kellner (48) fand bei 558 Knaben (im Alter von 6—17 Jahren) Kryptorchismus
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
64 mal, Monorchismus 44 mal (28 rechts, 16 links), doppelseitigen Leistenhoden
30 mal, einseitigen Leistenhoden 16 mal (10 rechts, 6 links), unvollständigen
Deszensus 22 mal.
Parhon und Tupa (71) beschreiben einen Fall von Infantilismus bei einem
Idioten mit mikrogyrischem Gehirn. Klinisch bot der Kranke: Bartlosigkeit, Fehlen
der Achselhöhlen- und Schamhaare, linksseitigen Monokryptorchismus, Kleinheit
des rechten Hodens, Strabismus, spastische Hemiplegie usw. Das großenteils mikro-
gyrische kleine Gehirn wies hochgradige Störungen der Zytoarchitektonik auf;
in den Hoden fehlten alle Zeichen von Spermatogenese, besonders auffällig war
der Mangel an Lipoidstoffen in den interstitiellen Drüsenzellen. Die Verfasser
neigen der Ansicht zu, daß der Mangel dieser Lipoidstoffe in den Geschlechtsdrüsen
eine bedeutende Rolle in der Pathogenese des Infantilismus spielt An anderer
Stelle veröffentlicht Parhon gemeinsam mit Sekunda (70) eine Mitteilung über
3 Fälle von ausgeprägter Achondroplasie und 1 Fall, den er als forme fruste dieser
Erkrankung bezeichnet. Einer der Kranken war wahrscheinlich von Haus aus
schwachsinnig; der letzte Fall war durch eine interkurrente Psychose von manischer
Färbung kompliziert. Nach den Verfassern beruht die Achondroplasie wahr¬
scheinlich auf einer Hyperfunktion der Genitaldrüsen bei gleichzeitiger Hypo¬
funktion der Schilddrüse, Hypophyse und vielleicht der Thymus.
In dem interessanten Falle von Goldstein (38) hatten sich klini sch alle Zeichen
des Myxödems nachweisen lassen, während bei der Autopsie eine zwar verkleinerte,
aber sonst makroskopisch wie mikroskopisch normale Schilddrüse gefunden wurde.
Der gleiche Befund war bei dem Bruder des Patienten erhoben worden; es zeigten
aber, abgesehen von der Leber alle Organe, namentlich die Drüsen mit innerer
Sekretion eine deutliche Gewichtsverringerung. Gröbere Veränderungen fanden
sich in den Hoden; sie waren klein, weich, wiesen in den Hodenkanälchen nur ein¬
schichtiges Epithel und völligen Mangel der Spermatogenese auf. Als wesentliche
Ursache des Myxödems möchte Goldstein in seinem Falle neben der eventuell vor¬
liegenden Hypoplasie der Schilddrüse die gleichzeitige Funktionsstörung der übrigen
Drüsen, wie das dadurch geschaffene mangelhafte Zusammenarbeiten aller Drüsen
ansehen. Die Entwicklungshemmungen, die sich im Gehirn fanden (Störungen
in der Lagerung der Ganglienzellen, schlechte Abgrenzung der Schichten, Ver¬
lagerung in die weiße Substanz, abnorme Größe und Kleinheit einzelner Mündungen),
faßt Goldstein als koordiniert mit der Entwicklungsstörung der endokrinen Drüsen
auf.
Bei dem Kranken von Pönitz (76), der seit seinem 12. Jahre an einer der
Katatonie am meisten gleichenden Psychose litt, bestanden außerdem Symptome,
die auf eine Hypofunktion der Schilddrüse hinwiesen; leicht pastöser Habitus,
kleines Genitale, Zurückbleiben im Längenwachstum, leicht eingedrückte Nasen¬
wurzel und besonders auch eine auffällige Toleranz für Zucker und die mangelhafte
Ansprechbarkeit des sympathischen und auch des autonomen vegetativen Nerven¬
systems, die sich in fehlender bzw. höchst mangelhafter Beeinflußbarkeit durch
Adrenalin, Atropin und Pilokarpin kundgab.
Joedicke (45) fand bei Myxödem und Mongolismus die Assimilationsgrenze
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Schob, Idiotie, Imbezillität, Debilität, Psychopathie. 121*
für Dextrose wesentlich erhöht; eine glykosurische Wirkung gleichzeitiger Adrenalin¬
gaben konnte er wenigstens bei Athyreosis nicht nachweisen, dagegen trat nach
weiterer Darreichung minimaler Kokaindosen (0,005 subkutan) Zucker auf. Durch
diese Versuche wird die Hypothese gestützt, die bei Myxödem eine Hyperfunktion
des Pankreas infolge Ausschaltung der Thyreoidea annimmt. Laevulose ist anderen
Assimilationsbedingungen unterlegen wie Dextrose. Nach Joedicke ist der Mon¬
golismus wahrscheinlich auf Ausfallserscheinungen der Keimdrüsensekretiön zurück¬
zuführen, es scheint also Hyperfunktion des Pankreas nach J. auch nach Wegfall
der Keimdrüsen aufzutreten. Versuche, die J. bei Myxödem gleichzeitig mit Atropin
(verstärkte Wirkung) und Pilokarpin machte (verringerte Wirkung), bestätigen
die Angaben von Freudenberg, nach dem eine ganze Reihe von Symptomen des
Myxödems, verengte Lidspalte, rauhe Sprache, Impotenz, Obstipation, als Äußerung
eines niedrigen Tonus der autonomen Nerven zu betrachten sind. Joedicke (46)
hat 7 Fälle von Mongolismus mittels des Dialysierverfahrens nach Abderhalden
auf Abbau von Gehirn, Schilddrüse, Geschlechtsdrüsen, Nebennieren, Leber,
Pankreas und Muskel untersucht. Die Ergebnisse waren nicht ganz gleichförmig;
aber daraus, daß in 6 Fällen Fermente gegen Geschlechtsdrüsen nachweisbar waren,
glaubt Joedicke schließen zu dürfen, daß den Keimdrüsen eine besondere Bedeutung
für die Pathogenese des Mongolismus zuzuschreiben ist.
Nach Kellner (50) ist der Mongolismus bei der städtischen wie ländlichen
Bevölkerung im Zunehmen begriffen. Die Beobachtung des Mongolismus beim
Neugeborenen lehrt, daß der Mongolismus auf einer intrauterinen Erkrankung
des keimenden Organismus beruht. Von den Symptomen hebt Kellner besonders
auch die große Muskelschwäche hervor, als deren Teilerscheinung bei fast allen
Mongoloiden eine auffällige Herzschwäche zu beobachten ist; einmal sah Kellner
auch Komplikation der Erkrankung durch Myxidiotic.
Weniger reichhaltig ist die Literatur über Mißbildungen; os sei hier nur einer
Veröffentlichung von Rittershaus (78) Erwähnung getan. Der Fall ist einmal dadurch
auffällig, daß der Patient trotz hochgradiger Hydrozephalie (77 cm Umfang) das
Alter von 16 Jahren erreicht hat, zum anderen dadurch, daß hier (nach den anani-
nestischen Angaben zu schließen) gleich nach der Geburt vielleicht eine Kranioschisis
Vorgelegen hatte, die sich später wieder geschlossen hat. Möglicherweise aber lassen
die Angaben der Mutter allerdings auch die Deutung zu, daß ein schon während
der Schwangerschaft bestehender Hydrozephalus kurz vor der Geburt eine so weit¬
gehende temporäre Rückbildung erfahren hat, daß die Kopfschwarte geradezu
eingesunken war.
III. Fürsorge für Schwachsinnige und Psychopathen.
Fürsorgeerziehung. Prophylaxe.
Nach Eleonore Abramotvsky (1) ist der Stand der Fürsorge für die Schwach¬
sinnigen im Staate Massachusetts besonders gut. Einmal wird die Anstaltsfürsorge,
namentlich die Schule von Waverlcy, gerühmt, zum anderen wird die Zentralisation
der gesamten Fürsorge für Schwachsinnige, Irrsinnige, Epileptiker und Trinker
unter eine Behörde (State Board of Insanity) lobend anerkannt. In Massachusetts
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
ist man zurzeit auch damit beschäftigt, eine genaue Zählung und Statistik über das
Vorkommen geistiger Minderwertigkeit durchzuführen.
Einen vorzüglichen Überblick über den Stand des deutschen Hilfsschulwesens
gibt das von Wehrhahn (103) herausgegebene Werk über die deutschen Hilfsschulen
in Wort und Eild. Über die Entwicklung und dem derzeitigen Ausbau der Anstalts¬
schule zu Alsterdorf berichtet Gerhardt (37). Eine kurze, aber anregend geschriebene
Abhandlung von Kirmse (51) ist die Entwicklung der Schwachsinnigenfärsorge
Deutschlands und der übrigen Länder gewidmet.
Die Bestrebungen, die wissenschaftliche Ausbildung der Personen, die sich
in der Fürsorge-, namentlich aber in der Erziehungsarbeit an Schwachsinnigen
betätigen wollen, wesentlich zu vertiefen, werden durch die Eröffnung des ersten
heilpädagogischen Seminars in Essen eine willkommene Förderung erfahren. Über
die Organisation des Seminars, an dem auch besondere Kurse für ärztliche Teil¬
nehmer geplant sind, machen Büttner (15) und Meitzer (64) einige Mitteilungen.
Zur Ausbildung des Pflegepersonals in Schwachsinnigenanstalten dürfte der
kurze Leitfaden von Meitzer (63) gut geeignet sein.
Mönkemöller (67) wünscht, daß auch die psychisch abnormen Fürsorge-
Zöglinge, soweit es nur einigermaßen durchführbar ist, in Erziehungsanstalten
untergebracht werden. Die Erzieher müssen aber mit den wesentlichsten Kennt¬
nissen dieser Krankheitsbilder ausgestattet werden. Dazu sind Ausbildungskurse,
aber namentlich regelmäßig wiederkehrende Untersuchungen der Zöglinge durch
Psychiater von größtem Nutzen; bietet sich doch gerade dabei reichlich Gelegenheit
zu belehrenden Aussprachen. Nötig ist es aber auch, daß die Fürsorgczöglinge
möglichst frühzeitig psychiatrisch untersucht werden, damit die Erzieher gleich
zu Beginn des Erziehungswerkes wissen, ob sie es im gegebenen Falle mit einem
Psychopathen zu tun haben. M. fordert deswegen die Errichtung von Aufnahme¬
stationen, in denen alle Fürsorgezöglinge zu beobachten wären, bevor sie den eigent¬
lichen Erziehungsanstalten überwiesen werden. Diese Beobachtungsanstalten
hätten auch solche Zöglinge aufzunehmen, bei denen sich erst später Defekte heraus¬
steilen. Für die schwersten Formen psychopathischer Minderwertigkeit sind Sonder¬
anstalten, möglichst unter psychiatrischer Leitung, zu schaffen, sie wären am besten
den Beobachtungsansta'ten anzugliedem, mit denen auch die Nachhilfsschulen
für schwachsinnige Fürsorgezöglinge zweckmäßigerweise zu verbinden wären.
Sonstige etwas schwierigere Psychopathen müßten am besten in größeren Anstalten
untergebracht werden, wo sie nicht ganz so leicht ihren verderblichen Einfluß
geltend machen können wie in kleinen Erziehungsanstalten. Für die absolut Un¬
erziehbaren muß auch nach Ablauf der Fürsorgeerziehung durch Errichtung von
Zwischenanstalten, in denen sie unschädlich zu machen sind, gesorgt werden. Ähn¬
liche Gedanken entwickelt Schnitzer (91); er fordert außerdem Einführung von
Berufsvormundschaft für die herangewachsenen Psychopathen. Besonderen Wert,
legt Schnitzer auf die Gewinnung eines geeigneten Erzieherpersonals. Er fordert
die Errichtung von Erzieherschulen an einzelnen geeigneten Anstalten.
Hinrichs (42) empfiehlt, zur Unterrichtung erwachsener straffälliger Psycho¬
pathen, die sich weder für den Strafvollzug noch für die Irrenanstalt eignen, die
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen. 123*
luung von Zwischenanstalten; solche Anstalten sind auch für die unerziehbaren
-tiopathischen Fürsorgezöglinge zu errichten.
Gehry (36) gibt in seiner kurzen Arbeit zwei vorzügliche Krankheitsgeschichten
Moral insanity, die er definiert als einen völligen oder teilweisen Mangel an
ralischen Gefühlen bei genügender Intelligenz, verbunden mit einem Trieb zum
rV>rechen. Gehry ist aus praktischen Gründen durchaus dafür, sie als zurechnungs-
üg dem Richter zur Unterbringung in den Strafanstalten zu überlassen. Anstatt
stspielige Experimente mit den moralisch Schwachsinnigen in Irrenanstalten
machen, wo sie nicht hineinpassen, soll man lieber eine bessere Prophylaxe durch
isgedehnte Jugendfürsorge betreiben. Gegen diese Anschauungen nimmt Bleuler
2) entschieden Stellung. Nach ihm sind die Strafanstalten durchaus nicht geeignet
lr Aufnahme der moralisch Schwachsinnigen; sie können mit ihren Einrichtungen
ur strafen, nicht behandeln — dazu sind eben vorläufig nur die Irrenanstalten
cfähigt — und schützen die Gesellschaft doch nicht genügend, da die moralisch
Schwachsinnigen nach Verbüßung ihrer Strafe immer wieder auf die Menschheit
osgelassen werden.
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a) Manisch-depressives Irresein.
Bonhoeffer (29) bringt die Analyse eines Krankheitsfalles. Es handelt sich
am echte Zwangsvorstellungen, um Zwangsdenken. Dabei bestehen ausgesprochen
depressive und manische Züge. Die betreffende Kranke hatte dieselbe Krankheit
bereits zweimal durchgemacht; mit anderen Worten, es handelt sich hier demnach
um ein ausgesprochen periodisches Auftreten von Zwangsvorstellungen. Die Be¬
ziehungen zum Manisch-depressiven sind also recht intim. Dafür spricht auch das
Vorkommen beider Krankheiten bei Mitgliedern derselben Familie.
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen.
145*
Gattis (94) Fall von Recklnujhausemcher Krankheit zeigt ausgesprochene
T>epressionszustände bis zu Selbstmordneigung.
Parhon, MaUesco und Tupa (208) haben einem seit 6 Jahren melancholischen
Mann mehreremal Serum von manischen Kranken injiziert mit dem Erfolg, daß
er nach 2 Monaten wesentlich gebessert entlassen werden konnte. Die Versuche mit
Serum von Melancholikern bei manischen Kranken hatte dagegen nur wenig Erfolg.
Paris ’ Mitteilung (209) ist dadurch interessant, daß Eheleute zu derselben
Zeit psychisch erkranken. Nach einem großen Vermögensverlust und nach einem
kurzen Prodromalstadium erkrankte die Frau an akuter Manie, der Ehemann einige
Tage später. Beide mußten zugleich in die Anstalt gebracht werden, welche sie
nach 4 Wochen zugleich wieder verlassen konnten. Während die Frau aus gesunder
Familie stammte, war der Mann erblich belastet Beide Ehegatten waren bisher
geistig gesund gewesen. Zur Zeit der Erkrankung waren sie 31 resp. 38 Jahre alt.
b) Dementia praecox.
Benedek und Deök (18) haben 45 Kaninchen mit dem Blute von 160 ver¬
schiedenen Individuen behandelt, mit normalem menschlichen Blutserum, mit
Blutserum von Paralytikern und mit dem Serum von Dementia-praecox-Kranken.
Sie kamen zu folgenden Resultaten:
1. Die Kaninchenimpfungen mit Paralytikerserum führten ständig zu 200
bis 600 g Gewichtsverlust.
2. Bei Dementia praecox zeigte sich in 2 von 7 Fällen danach schwere Nephritis,
bei Paralyse in keinem einzigen Falle.
3. Keratitis, Pneumonie zeigte sich in keinem einzigen Fall.
4. Die hämolytische Wirkung der Blutsera der gegen die Sera immunisierten
Kaninchen wird durch Immunhämolysine verursacht.
6. Die als Antigene dienenden Stromarezeptoren sind in dem paralytischen
Blutserum in sehr geringer Menge oder molekulär verändert vorhanden, während
das Blutserum der Praecox-Kranken an Hämolysinantigenen reich sind.
6. Die Wirkung der Agglutinine, Präzipitine, Eiweiß-Antikörper, Lipoide,
Antiisolysine kann bei der Differenz in der Stärke der Hämolyse mit vollem Recht
ausgeschlossen werden.
7. Die kolloide Kieselsäure ist imstande, die Wirkung der Immunhämolysine
in vitro bis zu einem gewissen Grade zu vertreten.
8. Sublimat (als Blutgift) gegenüber zeigen die roten Blutkörperchen der mit
Paralytikerblutserum geimpften Kaninchen eine verringerte, diejenigen der mit
Serum von Dementia-praecox-Kranken geimpften eine gesteigerte Resistenz.
9. Lezithin und Quecksilberchloridinjektionen beeinflussen die hämolytische
Wirkung der Immunhämolysine in keiner Weise.
Cazzamalli (46) hat nach Masitig und Sahli mit Kombination von Rim-
Rostischau- Apparat und Sphygmographen bei Dementia praecox untersucht. Er
schließt: Der systolische Blutdruck bei Dementia praecox ist in der Regel unter
der Norm oder in physiologischen Grenzen, nur ausnahmsweise etwas höher, dann
handelt es sich um einen vorgeschrittenen Zustand; es finden sich oft Unterschiede
Zeitschrift ftlr Psychiatrie. LXXI. Lit. k
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146*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
im Blutdruck beider Arme (5—18 mm Hg.), meist zugunsten des rechten; es herrscht
eine Erhöhung der Pulszahl vor, Rhythmus und Gleichheit des Pulses ist normal,
gelegentlich eine gewisse Trägheit; die Größe liegt unter der Norm, besonders bei
Katatonie; das Sphygmogramm hat besonders bei Katatonie fast stets eine charakte -
ristische runde und plateauförmige Spitzengestalt; der Puls ist katakrot, die dikrote
Welle ist vorhanden und in Sitz und Umfang annähernd normal, in der Form ist
sie flach, die vordikrote Elastizitätselevation ist bei den meisten Fällen verschwunden,
wenn vorhanden, ist sie mit dem Gipfel verschmolzen; die postdikrote Elastizitäts¬
elevation ist meist abwesend oder kaum sichtbar. Die genannten Eigenschaften
des Pulses und der aktuelle Unterdrück machen sich gesondert bei der katatonen
Form der Dementia praecox bemerkbar: bei katatonen Zuständen zeigen sich
verschiedene Störungen der peripheren Zirkulation, vielleicht auf einen spastischen
Zustand der glatten Gefäßmuskulatur zurückzuführen.
(Stob-Bonn.)
Donath berichtet (69) über 14 Fälle von Dementia praecox, die er in den letzten
6 Jahren wie Lundvall mit Natr. nucleinicum behandelt hat. Sie erhielten pro Person
5,2—29,0 g in 6—11 Injektionen. D. erzielte damit in 57 % Heilungen resp. Besse¬
rungen ( Lundvall 72 %), also wesentlich mehr als die Statistiken von Kraepelin,
E. Meyer , H. Mayer und Stearns aufweisen. Donath schließt daraus, daß die Nuclein-
Behandlung bei Dementia praecox einen weit höheren Prozentsatz von Heilungen
und Besserungen aufweist als die Spontanheilungen. Ein zuwartendes imtätiges
Verhalten sei auch bei dieser psychischen Erkrankung nicht mehr gerechtfertigt.
Der Kranke von Enge (81), ein 57 jähriger Katatoniker, befand sich seit
10 Jahren in Anstaltspflege; seit Jahren unnahbar. Er liebte es, stundenlang sich
mit großer Schnelligkeit in kreisförmigen Linien zu bewegen. Nach einer solchen
Übung wird er eines Tages tot im Bett gefunden. Es fand sich an der Vorderwand
des Herzens nahe der Herzspitze eine in dem linken Ventrikel führende 3 cm lange
Rißstelle mit unregelmäßigen Rändern. Ursache cor adiposum.
Auf Gregors und Gorn s (99) Untersuchungen, soweit sie eine Vertiefung unserer
Kenntnisse über die Bedingungen des psychogalvanischen Phänomens ergeben
und soweit sie sich mit den anderen Psychosen befassen, sei hier nur kurz hingewiesen.
Für die funktionellen Psychosen ergibt sich Folgendes: der psychischen Hemmung
bei der Katatonie geht eine Verminderung des psychogalvanischen Phänomens
parallel, welche mit dem motorischen Verhalten in indirektem Zusammenhang
steht. Mit Lösimg des katatonen Stupors erfolgt bei benignem Krankheitsverlauf
eine Änderung der Ruhekurve und eine Zunahme der Reaktionen. Progrediente,
schwere Fälle von Katatonie zeigen Mangel psychogalvanischer Reaktionen. Bei
terminalen Fällen war, soweit gemütliche Verödung bestand, konstantes Fehlen
der Reaktionen zu beobachten. Bei transitorischen (psychogenen) Stuporzuständen
im Verlaufe der Katatonie waren normale - Reaktionen auszulösen.
In einem leichten Falle von Hebephrenie war eine Zunahme der Reaktions¬
fähigkeit mit fortschreitender Besserung zu verfolgen. Terminale Fälle mit gemüt¬
lichen Defekten zeigten Mangel psychogalvanischer Reaktionen. Akute Fälle
boten dem wechselnden Bewußtseinszustande entsprechend in verschiedenen Zeiten
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Urapfenbach, Funktionelle Psychosen.
147*
verschiedene Reaktionen, wobei das Überwiegen der Schmerzreaktion hervortrat.
Im Zustande hebephrener Erregung von hypomanischem Charakter war ein Fehlen
der Reaktion auffällig.
Bejm manisch-depressiven Irresein wurden auf der Höhe der depressiven
Phase im affektlosen Stupor lineare, horizontale Ruhekurven und mangelnde oder
stark reduzierte Reaktionen festgestellt. Mit Besserung des Zustandsbildes erfolgte
in beiden Richtungen eine Rückkehr zur Norm. Diese Änderung ging zuweilen
der klinisch-merklichen Besserung voran. Klinisch leichtere Fälle unterschieden
sich auch in der Reaktionsweise von schwereren. In allen Fällen von Hypomanie
fanden sich deutliche Reaktionen.
Psychasthenische Individuen zeigten auf der Höhe psychischer Erschöpfung
eine starke Herabsetzung der Reaktionsfähigkeit, mit Beginn der Erholung normale
Reaktionen.
Die Untersuchungen von Gregor und Gom sprechen für den großen Wert
der Aufnahme des psychogalvanischen Phänomens in bezug auf Diagnose, namentlich
Differentialdiagnose und Prognose bestimmter Psychosen. Diese Untersuchungs-
•nethode ist auch allen Anschein nach von Wert beim Verdacht auf Simulation.
Halberstadt macht (105) seine Landsleute mit den paranoiden Verblödungen
(Paraphrenien) bekannt, wie sie Kraepelin in der neuesten Auflage seiner Psychiatrie
(1913) unter Ausschluß der alkoholischen und syphilitischen Formen bearbeitet
hat. Im ganzen scheint H. mit Kraepelin übereinzustimmen, auch mit dessen Ein¬
teilung in Paraphrenia systematica, — des D61ire chronique ä Evolution syst6matique
Magnans, — in die expansive, konfabulierende und phantastische Form der Para¬
phrenie. Doch will sich Halberstadt noch nicht festlegen bis weiteres Material ge¬
sammelt ist.
Weiterhin empfiehlt Hatberstadt (107) seinen Landsleuten, die Lektüre der
Arbeit von Urstein, Das Manisch-depressive und periodische Irresein als Erscheinungs¬
form der Katatonie, bedauert dabei aber, daß Urstein die dahingehörige Literatur
nicht erwähnt, vermißt namentlich die französischen Autoren, Magnan , Ballet usw.,
■die doch den Anstoß zur Aufstellung des manisch-depressiven Irreseins gegeben
hätten. Im übrigen kommt H. zu anderen Schlüssen als Urstein, Es ist zuzugeben,
daß eine ganze Reihe von Fällen, die sich später als Dementia praecox entwickeln,
anfangs durch ihren mehr periodischen Verlauf als manisch-depressives Irresein
imponieren; diese sind aber trotzdem nach H. zur Dementia praecox zu rechnen.
Für Mischformen kann sich H. nicht begeistern, er ist für eine reinliche Scheidung
zwischen Dementia praecox und manisch-depressivem Irresein.
Haßmann und Zängerle (109) betonen zunächst, daß oft bei den Dementia-
praecox-Kranken die Neigung der Kinder, Vorstellungen durch Zeichnungen zur
Darstellung zu bringen, von neuem auftaucht. Eine krankhafte Lebhaftigkeit
optischer Vorstellungen scheint dabei eine Rolle zu spielen.
Verf. bringen hier eine eingehende Analyse von Zeichnungen zweier Dementia-
praecox-Kranken der gebildeten Stände und anderen schriftlichen Erläuterungen.
Der Drang dieser Kranken zum Zeichnen ist analog dem Rededrang. Inhaltlich
bieten die Zeichnungen teilweise ein Bild dessen, was man auf sprachlichem Gebiete
k*
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148* Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
als Wortsalat bezeichnet Im Gegensatz zu den Zeichnungen von Verwirrten, sind
hier die Darstellungen genau ausgearbeitet, eine Flüchtigkeit der Vorstellungen,
ein rasches Schwinden derselben, wie bei Ideenflucht, ist nicht vorhanden. Es
fehlt aber die Verarbeitung zu einer sinnvollen Zusammenfassung im Sipne eines
normalen Gedankenganges, — es besteht eine Form des bildlichen Agrammatismus,
Depeschenstil (Kleist). Die den Bildern zugegebenen Worte der Kranken beweisen,
daß eine Dissoziation des optischen Teils des Vorstellungslebens vom sprachlichen
sicher nicht besteht, andererseits läßt sie eine Tendenz zum Haftenbleiben (Perse- «
verationstendenz) nicht verkennen. Die Wortassoziationen sind teilweise manieriert.
Die bildlichen Äußerungen einer wüsten Sexualphantasie verraten einen bereits
weitgehenden Defekt des ethischen Empfindens bei diesen Kranken. Weiterhin
finden sich Wortstereotypien, perseveratorische Wiederholungen, Perseveration
der Ausdrucksform usw. usw., auch eine gewisse Form von Paragrammatismus.
Weiterhin erkennt man eine gewisse Perseverationstendenz und Neigung zu Klang*
assoziation, was Verf. für charakteristisch für Schizophrenie halten.
Die Zeichnungen der Geisteskranken bilden, — worauf Mohr bereits früher
hinwies, — das Ausdrucksmittel der gestörten Geistestätigkeit; sie ermöglichen
einen direkten Einblick in das seelische Leben, eröffnen ein tieferes Verständnis
mancher der charakteristischen Symptome und stellen dadurch ein richtiges Hilfs¬
mittel der Diagnose und Differentialdiagnose dar.
Küppers (149) hat die Versuche von Bumke und Kehrer (Archiv Bd. 47)
wieder aufgenommen und bestätigt im wesentlichen die Resultate derselben. Aus
früheren plethysmographischen Untersuchungen ergibt sich, daß alle Eindrücke,
gleichgültig welcher Qualität, eine Volumveränderung der äußeren Körperteile
herbeiführen; das gilt auch für die lustbetonten Eindrücke, — eine Tatsache, die
uns von der feineren Selbstbeobachtung der Versuchspersonen unabhängig macht.
Darin liegt auch der Vorteil, den für die vorliegenden Zwecke die Plethysmographie
vor der Sphygmographie hat. — Von großer Bedeutung ist die Beobachtung von
Lehmann über den Einfluß des sogenannten Spannungszustandes, der sich nach
ihm körperlich kennzeichnet durch geringeres Armvolum und geringere Pulshöhe
bei unveränderter Pulsfrequenz. K. hat seine Versuche an 18 männlichen Kranken
der Freiburger Klinik angestellt, davon litten 14 an Dementia praecox. Benutzt
wurden der Pneumograph nach Best und die Armplethysmographen von Mosso
und Lehmann.
Bei den Kurven der geistig Gesunden zeigte die Ruhephase fast stets Atem-
schwankungen und May ersehe Wellen. Beide Erscheinungen wurden in der Phase
der Reizwirkung mehr oder weniger abgeschwächt, die Mayerschen Wellen meist
ganz unterdrückt. Fast alle Eindrücke, die die Aufmerksamkeit fesselten, waren
von Volumabnahme begleitet. Die Regelmäßigkeit, mit der Volumsenkungen
auf die benutzten Reize erfolgten, wurden fast ausschließlich durch das Vorkommen
des Spannungszustandes beeinflußt
In einem erheblichen Prozentsatz der Dementia-praecox-Kranken, die von
K. untersucht wurden, konnte aber keine Reaktion auf Reize nachgewiesen werden,
das Volum änderte sich nicht, ein Symptom, das K. als reaktive Volumstarre be-
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen.
149*
zeichnen möchte. Diese äußert sich in der Volumkurve des Arms in charakteristischer
Weise. Die wesentliche zentralnervöse Vorbedingung der Erscheinung scheint
eine dauernde Hemmung des Vasomotorenzentrums zu sein. Der zugrundeliegende
krankhafte zentrale Prozeß zeigt in seinen körperlichen Äußerungen weitgehende
Übereinstimmung mit einem Zustand des normalen Seelenlebens, nämlich mit
der gespannten Erwartung. — Der wesentliche Unterschied liegt darin, daß es sich
beim physiologischen Spannungszustand um eine vorübergehende, durch die Ver¬
suchsumstände hervorgerufene und durch geeignete Maßnahmen wieder aufhebbare
Bewußtseinslage handelt, während der reaktiven Volumstarre ein krankhafter
psychophysiologischer Zustand zugrunde liegt, der sich zwar mit dem Krankheits¬
verlauf ändert, aber sich nicht durch Reize oder veränderte psychologische Be¬
dingungen beeinflussen läßt
Soukhanoff macht (260) darauf aufmerksam, daß eine ganze Reihe von Krank¬
heitsfällen, die jetzt noch als Paranoia alcoholica oder als alkoholische Demenz
rangieren, zur Dementia praecox gehören. Mitunter ist das Delirium tremens nichts
anderes als ein plötzlicher Beginn oder eine plötzliche Verschlimmerung eines Falles
von Dementia praecox, verursacht oder ausgelöst durch Alkoholmißbrauch. Es hat
auch keinen Zweck, in solchen Fällen von einer kombinierten Psychose zu sprechen.
Eine Differentialdiagnose ist in manchen solcher Fälle im Anfänge sehr schwer
oder sogar unmöglich. Soukhanoff glaubt, ein großes Gewicht auf die bei Potatoren
meist vorhandene gute Laune legen zu müssen. Fehlt diese, so ist an Dementia
praecox zu denken. Ebenso übrigens, wenn die Kranken beim Nachlassen des
scheinbaren Delirium tremens von einer Komödie sprechen, die mit ihm gespielt
worden wäre. Bestehen hebephrene oder katatone Erscheinungen, so ist die Diagnose
zugunsten der Dementia praecox nicht schwer.
Urstein (284) setzt seine Studien über Dementia praecox fort (Dementia
praecox und ihre Stellung zum manisch-depressiven Irresein 1909. Manisch-
depressives Irresein als Erscheinung der Katatonie 1912). Er beschäftigt sich hier
nur mit solchen Fällen, die nachweislich früher geistig ganz gesund waren, und bei
denen die Krankheit bestimmt erst nach dem 40. Lebensjahre aufgetreten ist.
Die 40, zum großen Teil aus den Laehr sehen Anstalten stammenden Kranken¬
geschichten nehmen ungefähr 400 Seiten des Buches ein. Von den betreffenden
Kranken waren 23 bei Beginn der Psychsoe 40—50 Jahre alt, 50—60 Jahre 13,
über 60 Jahre 4, darunter einer mit 70 Jahren. Zweimal handelt es sich um Mutter
und Tochter, von denen das eine Paar 51 und 55, das andere 52 und 47 Jahr alt
war bei Beginn der Erkrankung.
Urstein will jetzt den Beweis bringen, daß die Späterkrankungen katatoner
Art hinsichtlich der klinischen Bilder, Verlaufsform und Prognose in nichts von
dem abweichen, was wir bei analogen, in der Pubertät sich entwickelnden, Prozessen
festzustellen vermögen. Die Katatonien nach dem 40. Lebensjahr zeigen sämtliche
Symptome, die man in früheren Lebensjahren findet. Die auf Störung der Gemein¬
empfindung zurückzuführenden Gefühlstäuschungen, Sensationen, Parästhesien
findet man bei den Spätformen der Katatonien viel häufiger. Sie bedingen nicht
selten ganz unsinnige hypochondrische Vorstellungen oder monströse Ideenver-
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150* Bericht über die psychiatrische Literatur 1918.
bindungen physikalischer, dämonischer und sympathischer Art. Eine Art von
Wahnideen aber, die 17. als somatisch-nihilistische bezeichnet, kommt nur bei
Spätkatatonie vor, jedenfalls erst in den Rückbildungs- bzw. Greisenjahren. U.
rechnet dahin z. B. die Idee, keinen Kopf, keinen Hals, Magen usw. mehr zu haben,
keinen Stuhl, auch die Idee, es gäbe keine Städte, Häuser, überhaupt keine Welt mehr
u. dgl. Ausgesprochene Verwirrungsideen, die gleichsam einen Nihilismus zur
Voraussetzung haben, kommen nach U. nur im späteren Alter vor.
Häufig sind bei Spätkatatonien Zwangsvorstellungen, -befürchtungen und
•handlungen. Negative megalomanische Vorstellungen kennzeichnen das Alter,
z. B. die Befürchtung, 1000 Jahre alt zu werden, oder nie zu sterben. Die paranoiden
und präsenilen Wahnideen sind im allgemeinen flüchtig, werden selten verarbeitet.
Katatone Anfälle sind selten. Vielfach sah U. Augenstörungen, Magen- und Darm¬
störungen sind häufig, namentlich Obstipation.
Das Wesen der Spätkatatonien ist in autotoxischen Prozessen zu suchen
und wird durch die pathologische Anatomie schwerlich geklärt werden; Verände¬
rungen, welche man anatomisch findet, können Umwandlungs- und Zerfallsprozesse
darstellen, verursacht durch das im Zerebrum zirkulierende Gift.
Heredität lag in 58 % der Fälle vor. Bei dem Material von U. waren die
Frauen etwa viermal so häufig als die Männer beteiligt. Die Spätkatatonie ent¬
wickelt sich mehr schleichend. — 19 % der Fälle genesen von der ersten Attacke,
während nur 'i % zwei oder mehrere Anfälle schadlos überstanden. Ob es Dauer¬
heilung gibt, mufi in Anbetracht des oft hohen Lebensalters unentschieden bleiben.
Die mit präsenilen Erscheinungen einsetzenden Fälle haben eine absolut schlechte
Prognose. Den präsenilen Verfolgungswahn rechnet U. zur Katatonie. — V. ver¬
spricht eine weitere Arbeit über hysterische und degenerative Formen der Katatonie.
Auf Grund eines sehr umfangreichen Materials, das über 800 Fälle von
Dementia praecox umfaßt, gibt Worotynsky (296) eine kritische Analyse der
Ansichten Kraepelim und seiner Schule über diese Krankheitsform. Nach einem
kurzen historischen Überblick über die Entwicklung der Lehre von Dementia
praecox stellt W. zunächst fest, daß die Kahlbaumsche Katatonie, die Heckersche
Hebephrenie und die Kraepelinsche Dementia praecox nur verschiedene Abarten
einer und derselben Krankheitsform bilden. Daß die Dementia praecox eine durch
Stoffwechselanomalien hervorgerufene Erkrankung ist, bestreitet der Verfasser.
Nach seiner Meinung handelt es sich hierbei vielmehr um eine Psychose erblich
degenerativen Charakters, die durch organische Veränderungen der Himsubstanz
bedingt ist. Dementia praecox gehört darum in die Gruppe der Degenerations¬
psychosen. Die Bezeichnung „Dementia praecox“ findet W. unzutreffend. Er
schlägt den Namen „Dementia primaria degenerativa“ vor. Nach dem vom Verf.
bearbeiteten Material kommt diese Krankheit am häufigsten im Alter von 15 bis
25 Jahren, etwas seltener zwischen 25—35 Jahren und nur ganz vereinzelt nach
35 Jahren vor. Die Prognose stellt sich absolut ungünstig: es kommen zwar
Remissionen, Besserungen vor, eine Genesung im eigentlichen Sinne tritt nie ein.
Der Beginn ist gewöhnlich schleichend, später entwickelt sich die Krankheit sprung¬
weise, in Anfällen, denen längere Remissionen folgen können; während dieser hält
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Urapfenbach, Funktionelle Psychosen.
151*
i Umgebung den Patienten für genesen, doch bleibt der Rückschlag nie ans. Die
izelnen Anfälle bieten verschiedene klinische Bilder: es kann sich um manische,
pressive, stuporöse, paranoische oder hebephrenische Zustände handeln. Es
»mmt oft vor, daß mehrere Mitglieder einer Familie an Dementia primaria degene-
tiva erkranken. Dieser Umstand kann als Beweis dafür gelten, daß diese Krank-
?it auf dem Boden einer hereditären Psychopathie zur Entwicklung gelangt. Da
er Beginn der Erkrankung oft einen manisch-depressiven Charakter trägt, so ist
ie Differentialdiagnose zwischen „Dementia primaria degenerativa“ und manich-
epressivem Irresein in diesen Fällen nicht leicht. Nun ist aber nach dem Verfasser
ie Berechtigung einer Sonderexistenz der manisch-depressiven Psychose nicht
enügend fundiert. Wenn man die periodische Manie, die zirkulären Psychosen
nd die manisch-depressiven Stadien der „Dementia primaria degenerativa“ an-
rkennen will, so läßt sich das manisch-depressive Irresein aus der Klassifikation
’ollständig streichen. Daß die Dementia praecox — oder nach dem Verf. die Dementia
jrimar. degenerativa — innerhalb er letzten zwei Dezennien zur häufigsten Krank-
leitsform geworden ist, läßt sich nach W. durch die ungeheure Verbreitung des
Vlkoholismus, der Syphilis und der Tuberkulose in den weitesten Bevölkerungs-
Schichten erklären, da die entsprechenden Nervengifte nicht nur den Organismus
der affizierten Individuen zerstören, sondern auch die Nachkommenschaft schwer
schädigen. Die ererbte krankhafte, leicht lädirbare neuro-psychische Organisation
spielt eben bei der Entwicklung dieser Demenz die Hauptrolle.
(Fleischmann-Kiew .)
c) Paranoia.
Bechterew (15) kommt auf eine von ihm bereits früher beschriebene Krank¬
heitsform zurück, Jür die er die Bezeichnung „Paranoia suggestio delira“ vorschlägt.
Es handelt sich um aus neuropathischen Familien stammende Personen, deren
systematischer und chronischer Wahn nur darin besteht, daß sie sich auf hypnoti¬
schem Wegeheeinflußt, beherrscht, verzaubert glauben. Von Paranoia unterscheidet
sich diese Erkrankung durch das Fehlen einer längeren Prodromalperiode, durch
den bestimmten umschriebenen Inhalt des Wahns, durch den passiven Zustand
der Patienten, die bei Ärzten Hilfe suchen, um „enthypnotisiert“ zu werden, durch
das Vorhandensein von Erscheinungen der Verdoppelung der Persönlichkeit und
durch Automatic der Handlungen. Das Vorhandensein hysterischer Stigmata
und gewisser psychischer Züge spricht für nahe Beziehungen dieser Krankheits¬
form zur Hysterie und zu gewissen Obsessionsformen. Manche Patienten nehmen
angeblich unter der Einwirkung der hypnotischen Suggestion — an sich Verstümme¬
lung vor, andere machen auch Selbstmordversuche. Entgegen der von ihm früher
geäußerten Ansicht, konnte sich Verf. an weiteren Fällen davon überzeugen, daß
bei diesen Erkrankungen auch Größenwahn beobachtet werden kann, was aber
auch bei hysterischen Obsessionen zuweilen der Fall ist. Trotz des chronischen
hartnäckigen Charakters der Erkrankung ist eine Genesung — namentlich im Beginn
— nicht ausgeschlossen. Ein zur Sektion gekommener Fall zeigte wie das auch
anzunehmen war — an der Himsubstanz keine charakteristischen pathologischen
Veränderungen. (Fletschmann-Kiew.)
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152*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Berger (23) beweist hier nach einen historischen Überblick über die Paranoia-
Frage an der Hand von 18 ausführlichen Krankengeschichten, daß die Paranoia
chronica trotz Wemicke und Kraepelin eine wohlcharakterisierte klinische Krank¬
heitsform darstellt, welche das Vorkommen paranoiaähnlicher Krankheitsbilder
bei der Dementia proecox trotz der Hypothese Lugaros und die wichtige Tatsache
der Wahnbildung auf degenerativer Basis keineswegs erschüttern konnte. Die
Paranoia chronica ist nach B. eine seltene, in der zweiten Lebenshälfte sich schleichend
entwickelnde, mit systematisierter Wahnproduktion einhergehende Erkrankung,
bei der Sinnestäuschungen Vorkommen oder auch fehlen können, und welche trotz
der jahrelangen Dauer und ihrer Unheilbarkeit nicht zur Verblödung führt. Gegen
gewisse Formen der Dementia praecox kann die mit Sinnestäuschungen einher¬
gehende Form der Paranoia in vielen Fällen durch das höhere Lebensalter, in anderen
durch das Ausbleiben aller katatonischen Symptome und jeder gemütlichen und
intellektuellen Verblödung und vor allem durch das dauernde Fehlen jener eigen¬
tümlichen Zerspaltung der Persönlichkeit (Schizophrenie) abgegrenzt werden.
Wichtig scheint Berger auch in differenzialdiagnostischer Beziehung gegenüber der
Dementia praecox der Umstand, daß in der Mehrzahl der Fälle von Paranoia hallu-
cinatoria die paranoische Färbung des Denkinhaltes oft schon jahrelang den Sinnes¬
täuschungen voranzugehen pflegt und die Sinnestäuschungen meist nur eine Be¬
stätigung der Wahnideen des Erkrankten darbieten. Dagegen kann dem Wahn
der körperlichen Beeinflussung der Wert eines sicheren Unterscheidungsmerkmals
der Dementia praecox von der Paranoia chronica nicht zuerkannt werden, wenn
auch zugegeben werden mag, daß derselbe verhältnismäßig oft, aber keineswegs
ausschließlich bei der Dementia praecox vorkommt.
In der Mehrzahl der Fälle wird auch das Wechselnde der Wahnproduktion,
ihre Korrigierbarkeit und anderes mehr die Abgrenzung der Wahnbildung auf
degenerativer Basis von der Paranoia ermöglichen, in anderen seltenen Fällen
dagegen kann nur der weitere Verlauf der Erkrankung oder der eventuelle Ausgang
nachträglich die Diagnose in dem einen oder anderen Sinne sichern.
Riva (232) gibt eine historische Darstellung der Geschichte der Paranoia¬
frage.
Schaikewüsch (245) befaßt sich in einer ausführlichen klinisch-literarischen
Abhandlung mit der Paranoiafrage und kommt zu folgenden Schlüssen: Unter
den ziemlich häufig vorkommenden seelischen Störungen, bei denen vorzugsweise
das Gebiet des Intellekts affiziert ist und die als Paranoia oder paranoide Erkran¬
kungen bezeichnet werden, müssen angeborene, meist degenerative, psychopathische
Zustände mit Defekten der Verstandestätigkeit, Paraphrenien und echte Geistes¬
krankheiten, Phrenopathien unterschieden werden. Bei der ersten Form haben
wir es mit der sogenannten paraphrenischen Persönlichkeit zu tun. Es kann sich
daraus eine eigentümliche Zwischenform, die Paraphrenia interpretatoria
entwickeln. Die Grundlage dieser Zustände sieht der Verf. in affektiven Störungen
eines übermäßig egozentrischen Charakters. Bei der zweiten Form haben wir es
mit echten Psychosen zu tun, die meistens auf dem Boden einer paraphrenischen
Konstitution entstehen und die ebenfalls affektive egozentrische Unterlage er-
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Umpfenbach: Funktionelle Psychosen. 163*
kennen lassen. Doch ist hier sehr bald eine intensive Störung des intellektuellen
Apparates bemerkbar. Eben diese Psychosen, bei denen die Störung der Verstandes¬
tätigkeit besonders auffällt und die sich qualitativ von dem Boden, auf dem sie
entstanden sind, abheben, sollen als Paranoiafälle bezeichnet werden. Die bei
beiden Formen zum Vorschein kommenden Grundstörungen der Verstandestätigkeit
bestehen in Paralogismus, einer übergroßen Beweglichkeit der Assoziationen, und
ip einer allgemeinen Abschwächung der Kritik. Man kann eine Paranoia
combinatoria, hallucinatoria, juvenilis (Sanders), querularis und confabulatoria
unterscheiden. Die sogenannte akute und periodische Paranoia gehören in die
Kategorie der Degenerationspsychosen (in engerem Sinne dieses Wortes). Da die
psychologische Struktur der Kraepelimchen Dementia paranoides ihren Ausgang
aus der paraphrenischen Persönlichkeit nimmt und da diese Form sich nach dem
Paranoiatypus entwickelt, so betrachtet sie der Verf. als eine Abart der Paranoia
und schlägt für sie die Bezeichnung Paranoia confuso-dementica vor.
Die Grundlage aller Paranoiapsychosen bildet nach Sch. die paraphrenische
degenerative Persönlichkeit mit Egozentrismus der Gefühle, Paralogismus des
Denkens und Schwäche der Kritik, also mit relativer Demenz.
(Fleischmann-Kievr .)
d) Sonstiges.
Aschaffenburg (8): Die Haft und die mit der Haft verbundenen psychischen
Erregungen können bei prädisponierten Menschen neben anderen Formen der
Psychosen auch Syndrome auslösen, die einen deutlich psychogenen Charakter
tragen. Weder die Entstehung dieser Zustände in der Haft, noch ihr Schwinden
nach der Enthaftung beweisen, daß es sich um psychogene Entartungszustände
handeln muß. Es sind vielleicht weit öfter als allgemein angenommen wird, nur
Exazerbationen oder die ersten deutlichen Symptome der Dementia praecox. Die
Haft gibt ihm nur die eigentümliche Färbung, die sie mit den sehr viel selteneren,
wirklich psychogenen Haftpsychosen gemeinsam haben.
Es handelt sich hier (28) um Bonhoeffers Referat auf dem XVII. internationalen
Kongreß in London. Spezifische Psychosen, die für bestimmte Infektionserreger
charakteristisch wären, gibt es nicht. Die Einteilung in Initialdelirien, Infektions¬
delirien, Kollapsdelirien und Erschöpfungspsychosen hat in der klinischen Erfahrung
keine zureichende Grundlage. Die durch Infektionskrankheiten hervorgerufenen
Psychosen charakterisieren sich nicht als spezifische Psychosen, die sich von Psy¬
chosen anderer, insbesondere anderer exogener Entstehung unterscheiden. Patho-
gnomonisch für die exogene Ätiologie ist imm er das amnestische Zustandsbild,
das Korsakoffsche Syndrom, ebenso die deliranten Zustände, die dem amnestischen
Zustandsbihji aufs engste verwandt sind. Das Korsakoffsche Syndrom und echte
Delirien finden sich niemals bei den endogenen Psychosen, beim manisch-depressiven
Irresein, der Dementia praecox. Für das Vorkommen spezifischer psychischer
Erkrankungsformen spricht auch bei den autotoxischen Prozessen nichts. Man
kann nicht von spezifischen, hepatogenen, renalen und anderen Autointoxikations¬
psychosen reden. Doch ist es wahrscheinlich, daß Autointoxikationen Vorkommen,
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154*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
auch wenn man über die Natur des erkrankten Organs noch ganz im unklaren ist.
Hierher gehört auch das Delirium tremens. Besondere Verhältnisse liegen vielleicht
bei Erkrankungen der Drüsen mit innerer Sekretion vor. Die Erfahrungen mit der
Thyreoidea sprechen dafür.
Fauser (86) bringt hier die Ergebnisse von 33 weiteren Fällen, die er mittels
des DialyBierverfahrens untersucht hat; darunter 13 Fälle von Dementia praecox
und 7 Fälle von Depression resp. manisch-depressiven Irresein. Indem wir upp
an dieser Stelle nur auf die funktionellen Psychosen beschränken, — glaubt Fauser
heute schon folgendes vermutungsweise aussprechen zu dürfen:
„Für die Mehrzahl der Fälle der Dementia-praecox-Gruppe kommt als das
primär Schädigende eine Dysfunktion (d. h. eine Störung des Zellstoffwechsels)
der Geschlechtsdrüsen, für eine Minderzahl (nach meinen bisherigen Eindrücken
handelt es sich hier außer den Fällen, die man schon jetzt als thyreogenes Irresein
bezeichnet hat, namentlich um gewisse katatonische Erregungszustände) eine
Dysfunktion der Schilddrüse in Betracht. Daß eine Dysfunktion nur dieser beiden
Organsysteme in Frage steht, vermag ich bis jetzt weder zu behaupten noch zu
verneinen. Worauf die Dysfunktion der genannten Drüsen weiterhin zurück¬
zuführen ist, kann vorerst nur vermutet werden: bei den Geschlechtsdrüsen wird
man in erster Linie an hereditäre, bei der Schilddrüse mindestens zum Teil an er¬
worbene Eigenschaften denken müssen. Das von diesen Drüsen in das Blut ab¬
gegebene, nicht oder ungenügend oder falsch abgebaute, jedenfalls also blutfremde
Organeiweiß regt dann die Leukozyten zur Produktion eines spezifischen Ferments
an, durch das jenes Organeiweiß ^weiterhin gespalten wird; die dabei auf tretenden
Zwischenprodukte, oder wenigstens ein Teil derselben, wirken dann weiterhin
schädigend auf die Hirnrinde und bewirken auch hier eine Dysfunktion, die sich
klinisch in bestimmten Krankheitssymptomen, serologisch in den Nachweis eines
zweiten Schutzferments, nämlich gegen Hirn, resp. in dem daran erkennbaren
Übertritt von blutfremden Gehimmaterial ins Blut äußert. Von den dabei auf¬
tretenden Zwischenprodukten, möglicherweise auch von dem Ferment, — werden
wiederum Störungen der Hirnrinde zu erwarten sein.
Ich füge, auf früheres zurückkommend, hier noch an, daß ich bis jetzt bei
Sera von Dementia-praecox-kranken Männern niemals einen Abbau von Ovarium,
von Dementia-praecox-kranken Frauen niemals einen Abbau von Testikel fest¬
stellen konnte, ferner, daß sich auch die Geschlechtsdrüsen von ganz alten Männern
und Frauen für den Versuch als brauchbar erwiesen haben. —
Bemerkenswert ist ferner, daß ich beim manisch-depressiven Irresein bis
jetzt im Dialysierverfahren niemals Schutzferment gegen Hirn, Geschlechtsdrüsen
und Schilddrüse auffinden konnte.“
Haymann (115) hat gefunden, daß das Verhältnis der beiden Zahlen, die
angeben, welche Stromstärken notwendig sind, um das eine Mal optisch wahr¬
genommen zu werden, das andere Mal einen pupillomotorischen Effekt hervor¬
zurufen, in pathologischen Fällen von der Norm abweicht. Wie bei den Erschöpfungs¬
zuständen Gesunder erhöht sich die Verhältniszahl auf das Zwei- bis Vierfache
und mehr in Fällen von Hysterie, konstitutioneller und Erschöpfungsneurasthenie,
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen.
155*
ährend sie namentlich bei funktionellen Psychosen durchaus innerhalb der Norm
leibt, diese bei exogen toxisch bedingten nur wenig überschreitet, hier aber etwas
tärkere Schwankungen aufweist und bei Epilepsie ganz besonders starke Schwan-
ungen zeigt. Erhöhte Werte zeigen auch organische Psychosen und durch körper-
iche Krankheit hervorgerufene Erschöpfungszustände.
Iinhof (128) bespricht hier 15 Fälle, 2 Männer und 13 Frauen, bei denen Osteo-
nalazie zur Psychose hinzutrat; bei letzteren handelt es sich um ausschließlich
dicht puerperale Fälle; von den Frauen haben nur 6 geboren; die Krankheit brach
?twa 20—30 Jahre nach der letzten Geburt aus. Paralyse, nachweisbar luetische
Symptome, karzinomatöse oder tuberkulöse Knochenerkrankungen waren aus¬
geschlossen. Imhof schließt: Es kommt bei Geisteskranken, wenn auch selten,
aber doch häufiger als früher erkannt, eine chronische Osteopathie in Form aus¬
gesprochener Osteomalazie vor. Auffallend ist, daß die Psychosen, bei denen Osteo¬
malazie zur Beobachtung kommt, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle der
Gruppe der Dementia praecox angehören. Im Verhältnis werden von dem osteo¬
malazischen Krankheitsprozeß Frauen in weit größerem Maße betroffen als Männer.
Der Beginn der Erkrankung ist zeitlich nur ungenau zu fixieren, wenigstens läßt
sich über die Zeit der Entstehung vom rein pathologisch-anatomischen Stand¬
punkte aus nur mit einiger Wahrscheinlichkeit etwas Bestimmtes nicht sagen.
Ober den kausalen Zusammenhang der Osteomalazie mit der von dieser bevor¬
zugten Psychose steht bislang noch nichts Sicheres fest.
Wie Luther (173) darlegt, können die auf dem Boden der Idiotie und aus¬
gesprochenen Imbezillität entstehenden Psychosen entsprechend dem niedrigen
intellektuellen und ethischen Niveau und dem geringen Vorstellungsschatz eine
nur ärmliche Ausgestaltung zeigen; Größenideen kamen deshalb nur in Andeutungen
vor, ein Versündigungswahn kann sich nicht bilden, es kommt höchstens zu einigen
schwächlichen Verfehlungsvorstellungen und Ansätzen von Besessenheitswahn;
die viel verbreiteten Beeinträchtigungsvorstellungen bleiben ohne nähere Ver¬
knüpfung und Systematisierung. Echte Sinnestäuschungen kommen vorwiegend
den chronischen Formen zu, es kamen Halluzinationen auf allen Sinnesgebieten vor.
Die depressive Stimmung äußert sich häufiger in der Form der Hemmung
als in ängstlicher Erregung. Eine nur Idioten zukommende Reaktionsweise ist
ein anhaltender Heulzustand nach Art scheuer und unartiger kleiner Kinder. Es
kamen Bewegungsstörungen vor, die äußerlich einen katatonen Charakter tragen,
sie finden sich vornehmlich bei Zuständen psychogener Genese.
Die periodischen Formen, epileptoide, manisch-depressive, hypochondrische
Zustandsbilder und ihre Übergänge, die zuweilen auch eine katatone Färbung
annehmen können, entsprechen im wesentlichen dem gewöhnlichen degenerativen
und manisch-depressiven Irresein.
Die episodischen Formen zeigen größtenteils ebenfalls eine Verwandtschaft
za den degenerativen Zuständen und entspringen in der Mehrzahl einer psycho¬
genen Reaktionsweise.
Zu den chronischen bzw. in Verblödung ausgehenden Psychosen gehören
einmal gewisse epileptoide Erregungen mit zunehmendem Blödsinn, die sich jedoch
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156*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
von der Epilepsie abgrenzen lassen, weiter die Pfropfschizophrenie und schließlich
verschiedene Fälle von Stupor, chronische Halluzinose u. dgl., die teils sicher, teils
mit großer Wahrscheinlichkeit von den schizophrenen Zuständen abzugrenzen
sind, und für die wir in unserem gewöhnlichen System keine Vorbilder haben, so daß
es sich hier offenbar um Zustände handelt, die für den angeborenen Schwachsinn
spezifisch sind.
Die Diagnose auf Pfropfschizophrenie kann im Beginn der Erkrankung viel¬
fach nicht mit Sicherheit gestellt werden, da sie sich anfangs nicht selten unter
einer anderen Verlaufsform verbirgt, und andererseits namentlich psychogen aus¬
gelöste Störungen oft längere Zeit ein schizophrenes Gepräge tragen können.
Daß der Verlauf der Pfropfschizophrenie besonders schwer und ungünstig
ist und zu besonders tiefer Verblödung führt, hat Luther nicht feststellen können.
Mayer (187) berichtet hier über die Versuche in der Tübinger Klinik. Paradoxe
Reaktionen sind Ausfluß von Versuchsfehlem. Das Serum von Dementia-praecox-
Kranken enthält immer Abwehrfermente gegen Geschlechtsdrüsen, es enthält
meist Fermente gegen Hirnrinde und Thyreoidea. In der Groppe der funktionellen
Psychosen ist kein Abwehrferment im Blute gefunden worden. Das Serum von
Paralytikern enthält meist eine Reihe von Abwehrfermenten gegen die verschiedenen
Organe, immer gegen Hirnrinde. Als differentialdiagnostisches Hilfsmittel bei der
Fragestellung Dementia praecox oder manisch-depressives Irresein (bzw. Psycho¬
pathie) kommt die Dialysiermethode wohl in Betracht.
Nüsche (198) will an der Hand eines Krankheitsfalles darauf hinweisen, daß
„es auf der Grundlage der psychopathischen Degeneration eigentümliche atypische
Krankheitsbilder gibt, die sich den bekannten klinischen Krankheitstypen nicht
einfügen lassen, die einen anscheinend regellosen Verlauf haben und vor allem
ein sehr polymorphes, uneinheitliches Bild darbieten, das eben dieser Unregel¬
mäßigkeit und Vielgestaltigkeit wegen unter Umständen den Verdacht erwecken
kann, es handle sich um eine Verblödungspsychose. Eine genauere Analyse ergibt
indessen, daß die einzelnen Komponenten der Psychose auf eine eigenartige degene-
rative Anlage zurückzuführen ist, daß es sich um eine zusammengesetzte Degene¬
rationspsychose handelt“. Solche zusammengesetzte Krankheitsbilder auf der
Grundlage der psychopathischen Degeneration scheinen nach N. nicht so selten
zu sein. Sie liefern oft recht eigenartige, schwer verständliche Bilder und können
Anlaß geben zur Verwechselung mit progredienten Krankheitsprozessen. Ihr
wichtigstes differentialdiagnostisches Kriterium ist der Nachweis des degenerativen
Grundzustandes in seiner spezifischen Gestaltung und seiner Wiederspiegelung
in der Symptomatologie der Psychose.
PaUa (207) bezieht sich beim Überblick auf die Gesamtheit der symptomati¬
schen Psychosen im Gefolge von akuten Infektionen und inneren Erkrankungen
auf die Arbeiten von Krasser (Wiener klinische Rundschau 1912), Bonhoeffer,
Siemerling und Cramer. Der Mannigfaltigkeit der Grundkrankheiten steht eine
große Gleichförmigkeit der psychischen Bilder gegenüber. Pathologisch-anatomisch
bemerkenswert ist die Beteiligung der Nebenniere bei den symptomatischen Psy¬
chosen im Gefolge von akuten Infektionskrankheiten. Schädigung der Neben-
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Umpfenbach, Funktionelle Psychosen.
157*
ierenfonktion findet man auch bei M. Addison. P. weist dann des längeren auf
ie in vieler Hinsicht gleichen Symptome, namentlich auf körperlichem Gebiete,
»ei den beiderlei Erkrankungen hin, wobei sicher eine mangelhafte oder gesteigerte
kdrenalinsekretion eine große Rolle spielt. Während wir bei M. Addison über
;roße pathologisch-anatomische Erfahrungen verfügen, besitzt die Psychiatrie
bisher nur spärliche Untersuchungen bei den in Betracht kommenden Psychosen,
eigentlich nur bei dem Delirium acutum. Möglicherweise handelt es sich bei diesen
symptomatischen Psychosen auch nur über mehr funktionelle Störungen der Adrena¬
linsekretion. Es ist auch nicht unmöglich, daß die Hypoplasie des chromaffinen
Systems, welche die Vorbedingung zum Addison darstellt, auch die Prädistination
für den Ausbruch der akuten symptomatischen Psychosen bei Infektion und die
letale Prognose des akuten Delir bedingt.
Rotuagna-Manoja (234) ist Schüler von Mingazzini. Dieser und Pacetti sprechen
sich in betreff der zephalalgischen resp. hemikranischen Psychosen dahin aus, daß
ein Teil derselben mit Hysterie und Epilepsie nichts zu tun haben, und erklären
die Einwürfe, die gegen die Entität dieser Psychosen erhoben werden, für nicht
stichhaltig. Auch Flatau und Pelz sprechen sich neuerdings in ähnlichem Sinne
aus. — R. berichtet hier über vier diesbezügliche Fälle, wobei alle hysterischen
oder epileptischen Zeichen fehlten. Es bestanden Gesichtshalluzinationen, Wahn¬
ideen depressiver Natur, vollständige Kohärenz zwischen Gefühlszustand und
Inhalt der krankhaften Ideen. In dem einen Fall kam es zu Selbstmordversuchen.
Daß die psychischen Störungen direkte Folge des schweren Kopfschmerzes sind,
läßt sich natürlich nicht bestimmt beweisen, doch ist es unter Umständen sehr
wahrscheinlich. R. schließt, daß bei den sogenannten Migränepsychosen, neben
den psychopathischen Formen in enger Verbindung mit Epilepsie und Hysterie,
zweifellos eine Anzahl psychotischer Zustände, zephalalgische, Migränepsychosen,
besteht, die nicht sehr häufig sind und ein einförmiges klinisches Bild darbieten,
die ihren Ursprung anscheinend aus einem Schmerz nehmen, der häufiger ein zephalal-
gischer Schmerz, bisweilen eine Migräne, seltener ein prosopalgischer ist, und die
extraenzephalen Nerven befällt In vielen dieser Fälle besteht eine neuropathische
Konstitution oder eine neuropsychopathische Belastung. Jedoch fehlen sämtliche
physischen und psychische Zeichen einer hysterischen oder epileptischen Kon¬
stitution und häufig auch objektive Angaben eines toxischen Zustandes (des Magen-
katarrhs, der Nieren).
Die Arbeit von Savoureux (244) hat vorzugsweise historisches Interesse.
Le spieen, auch Mdlancolie anglaise, Melancolia anglica genannt, — scheint auf¬
fallend häufig im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England,
weniger in Frankreich, beobachtet worden zu sein. Nachher verschwindet er aus
der Literatur. Sauvayes fügt in seiner Nosologie mdthodique Paris 1773 hinzu
appelde taedium vitae. Ohne alle nachweisbare Ursache, bei Abwesenheit jeder
gemütlichen Depression oder von Angstgefühlen haben oder bekommen die be¬
treffenden Individuen einen Ebel am Leben und ein Verlangen, dasselbe durch
Selbstmord abzukürzen. — Aus dem historischen Überblick, den S. gibt, erkennt
man, daß die damaligen Psychiater — es handelt sich nur um englische und franzö-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
sische Autoren, — diesen spieen genau unterschieden von den eigentlichen Melan¬
cholien und sonstigen Depressionszuständen.
Die 17 ausführlichen Krankengeschichten gehören meist vergangenen Jahr¬
hunderten an, 4 sind eigene Beobachtungen. Sie zeigen die Abwesenheit jeder
ausgesprochenen Depression, jeder Halluzination, Verwirrtheit usw. Die Leute
sind geistig völlig normal. Sie gehören offenbar zu den Degenerierten, sind erblich
belastet. Sie haben meist dauernd einen Widerwillen am Leben und haben eine gewisse
Sucht, dasselbe abzukürzen. Bei ihnen ist der sogenannte Erhaltungstrieb alteriert. —
Offen bleibt die Frage, ob man berechtigt ist, solche Individuen, sobald sie mal einen
Selbstmordversuch gemacht haben, zu internieren.
Es handelt sich hier (246) um den Abdruck von Scheers Inauguraldissertation
Osteomalacie en Psychose, Amsterdam 1912. Verf. bespricht ausführlich die bei
Geisteskranken oft beobachtete erhöhte Knochenbrüchigkeit, gibt eine Übersicht
über die aus der Literatur gesammelten Fälle von Osteomalazie und Psychose,
um dann 10 eigene Fälle zu bringen. In 8 derselben handelt es sich um Osteomalazie
bei an chronischer Psychose Erkrankten. Die ersten Zeichen für Osteomalazie
stellten sich fast immer erst längere Zeit nach dem Beginn der Psychose ein. In
6 Fällen handelte es sich um Dementia praecox, van der Scheer glaubt annehmen
zu müssen, daß das Knochensystem bei einigen chronischen Psychosen schädlichen
Agentien gegenüber empfindlicher ist als bei geistig normalen Individuen.
Stern (261) versteht unter Kulturkreis die Summe von geistigen und sozialen
Elementen, die auf das Seelenleben eines Menschen einwirken. Hat der Kultur¬
kreis einen Einfluß auf die Häufigkeitsquote der Psychosen? Ist die Häufigkeits¬
quote der einzelnen geistigen Erkrankungen eine Funktion des Kulturkreises?
Kulturkreis und soziale Lage decken sich nicht — Stern hat sein Augenmerk vor
allem auf die funktionellen Psychosen gerichtet. Sein Material stammt aus der
Freiburger Klinik. Er bewertet die einzelnen Bevölkerungsgruppen nach der Höhe
der psychischen Inanspruchnahme im allgemeinen, der intellektuellen im besonderen,
d. h. es ist maßgebend: 1. wie stark hat der Einzelne in seiner Stellung im Leben
die psychischen Funktionen gegenüber den körperlichen anzustrengen, 2. wie groß
ist die soziale Abhängigkeit des Einzelnen. Demnach redet er von niederen und
höheren Kulturkreisen. —
Wenn wir uns an dieser Stelle auf die funktionellen Psychosen beschränken,
so folgt aus der Zusammenstellung von Stern: Mit der Höhe des Kulturkreises
nehmen zu die Häufigkeitsquoten der Manie, des periodischen und zirkulären Irre¬
seins, der Paranoia und des manisch-depressiven Irreseins, als die Summe der
Affektpsychosen. Zu der Melancholie liefern die niederen Kreise, vorzüglich aber
die Landbewohner, einen großen Prozentsatz, während bei der Manie die Städter
mehr beteiligt sind. Die Psychopathie ist einesteils in höheren Kreisen häufiger,
anderenteils ist hier der Einfluß des städtischen Milieus und des Alkoholismus
zu erkennen. Die Dementia praecox nimmt fast stufenweise mit dem Steigen des
Kulturkreises ab. Amentia bevorzugt die Selbständigen. Das städtische Milieu
übt einen entscheidenden Einfluß aus auf die Häufigkeitsquote der Manie, das
ländliche dagegen bei der Melancholie. Diese Befunde widersprechen teilweise
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Umpfenb&ch, Funktionelle Psychosen.
159*
den Resultaten von Gaupp. — Die funktionellen Psychosen nehmen nach Stern
fast genau mit der Höhe des Kulturkreises zu, die Dementia praecox dagegen ab.
Ähnlich ist es mit dem manisch-depressiven Irresein. Dasselbe Resultat erhält man,
wenn man Völker auf verschiedene Kulturstufen miteinander vergleicht. In dem
Verhältnis des manisch-depressiven Irreseins zur Dementia praecox spiegelt sich
die Stärke der pathologischen Einwirkung der Kultur auf das Seelenleben des
Volkes wieder. Diesen Quotienten, mit 100 multipliziert, nennen wir den psycho-
pathologischen Index der Kultur. Die Dementia praecox stellt für Stern den Haupt¬
typus der organischen Psychosen dar. Er macht weiterhin darauf aufmerksam,
daß während Dementia praecox bei Juden und Christen in gleicher Prozentzahl
vorkamen, die Juden sechsmal häufiger an zirkulären Psychosen leiden. Die Manie
bevorzugt weiterhin die wärmeren und heißeren Zonen, während Melancholie und
Selbstmord in den Ländern mit kälterem Klima überwiegen. Stern schließt, daß
die Kultur die einzelnen psychischen Funktionen ausbildet und ganz besonders
die Form, in der das Seelenleben wie. alles biologische Geschehen überhaupt, sich
äußert, die Periodizität. Die Kultur stellt einen Faktor in der Ätiologie der funk¬
tionellen Psychosen dar. Dieser ist in einem Aufbrauch der nervösen Organe im
Sinne Edingers zu suchen. Hierbei kann es sich aber nur um einen Aufbrauch bei
den Aszendenten handeln, da diese Krankheiten angeborene Störungen des Seelen¬
lebens sind.
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ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT
FÜR
PSYCHIATRIE
UND
PSYCHISCH-GERICHTLICHE MEDIZIN
HERAUSGEGEBEN VON
DEUTSCHLANDS IRRENÄRZTEN
UNTER DER MITREDAKTION VON
BONHOEFFER KREUSER PELMAN SCHÜLE
BERLIN WINNENTAL BONN ILLEN AU
DURCH
HANS LAEHR
SCHWEIZERHOF
EINUNDSIEBZIGSTER BAND
II. LITERATURHEFT
BERLIN
W. 10. GENTHINERSTRAS8B 38
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1915
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BERICHT
ÜBER DIE
PSYCHIATRISCHE LITERATUR
IM JAHRE 1913
REDIGIERT
VÖN
OTTO SNELL
DIREKTOR DER HEIL- D. PFLEGEANSTALT LÜNBBURO
II.
II. LITERATURHEFT
ZUM 71. BANDE
DER ALLGEMEINEN ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHIATRIE
BERLIN
W. 10. GENTHINERSTRASSE 88
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1915
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Rassegna di studi psichiatrici 3, fase. 3, p. 187.
1. Progressive Paralyse und syphilitische Erkrankungen
des Zentralnervensystems.
Benon und Cier (19) ignorieren bei ihren differentialdiagnostischen Erwägungen
zwischen Neurasthenie und Paralyse die Fortschritte der Serologie.
Donath (56) spricht über seine Erfahrungen bei der Behandlung der Tabes
und Paralyse. Er wendet vor allem intravenöse Salvarsaninjektionen und Enesol
an. Er erwähnt auch die Leukozytenbehandlung nach DölUcen.
0. Fischer (64) behandelt hauptsächlich auf Grund der Arbeiten anderer
Autoren die Frage der Lues nervosa. Er kritisiert das vorhandene Material sehr
eingehend und kommt schließlich zu der Anschauung, daß eine Lues nervosa tat¬
sächlich besteht.
Goldstein (81). Der interessante Fall Goldsteins weist auf die innersekretori¬
schen Vorgänge hin, die heute durch die Abderhaldenschea Untersuchungen der
Aufklärung entgegenzugehen scheinen.
Grsywo-Dabrowski (83) beschreibt drei Fälle von progressiver Paralyse mit
starker netzartiger und besenartiger Wucherung des Adventitialbindegewebes.
Boche (94) betont, daß der Nachweis der Spirochaeta pallida am Gehirn
von Paralytikern die schwierigsten Punkte der Paralysefrage noch nicht geklärt
hat. H. hält die toxische Beeinflussung des Gehirns für ausschlaggebend und hält
es für unmöglich, daß die chronisch degenerativen Veränderungen im Zentral¬
organ von den dort lokalisierten Spirochäten unmittelbar abhängen sollten.
Jakob (96) hat drei Fälle von Salvarsantod untersucht. Er kommt vor allem
auf Grund der eingehenden anatomischen Untersuchung zu dem Schluß, daß es
sich bei den Todesfällen nicht um eine toxische Wirkung des Salvarsans handelt,
sondern um eine ungünstige Reaktion auf einen syphilitischen Krankheitsprozeß.
Es handelt sich nicht um ein Versagen der Niere, wie Wechselmann annahm, sondern
um meningeale und zerebrale luetische Veränderungen. Das Wesen der Salvarsan-
todesfälle steht dem der Neurorezidive sehr nahe. Bei den drei beschriebenen
Fällen boten Meningen und Zerebrum auf die Einwirkung des Salvarsans hin reak¬
tive und degenerative Erscheinungen.
Die von Jakob und Weygandt (97) an Affen und Kaninchen ausgeführten
Versuche ergaben im wesentlichen folgende Ergebnisse: Auch die Tiersyphilis
neigt im allgemeinen zur Generalisierung des Virus. Das zentrale und periphere
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Pförringer, Organische Psychosen.
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Nervensystem werden relativ frühzeitig — zunächst im Sinne einer Meningeal-
infektion — ergriffen. Die Befunde haben das Gemeinsame, daß es sich um schwere
entzündliche infiltrative Prozesse handelt, welche in den mesodermalen Hüllen
und den Gefäßen des gesamten Nervensystems ihre ursprüngliche Lokalisation
finden und von da aus das Nervenparenchym selbst angreifen. Die infiltrativen
Elemente bestehen in der Hauptsache aus Lymphozyten, Plasmazellen und Poly-
blasten. Wichtig sind die beobachteten herdförmigen Prozesse: Granulationsherde
mit großen Mengen von Plasmazellen, denen der Charakter von Tumoren zukommt,
und herdförmige Ansammlungen von Plasmazellen in der Umgebung stark infil¬
trierter Gefäße, die zu schweren degenerativen und proliferatorischen Vorgängen
im benachbarten nervösen Gewebe geführt haben.
Junius und Arndt (102) haben an einem großen Material die Deszendenz der
Paralytiker studiert. Unter den Ergebnissen sind folgende besonders zu erwähnen.
Die Zahl der kinderlosen Ehen ist bei den Paralytischen sehr viel größer als bei
der gesunden Bevölkerung, und zwar ist dies in viel stärkerem Maße der Fall,
wenn die Frau, als wenn der Mann paralytisch ist. — Die durchschnittliche Kinder¬
zahl einer Paralytikerehe ist um 1,6 Kinder geringer als die mittlere Kinderzahl
einer Ehe der Gesamtbevölkerung. — In den Ehen der paralytischen Frauen sind
die Prozentzahlen der lebenden Kinder viel niedriger als in denen der paralytischen
Männer. — Die Familien der Paralytischen haben, in toto betrachtet, die Tendenz
zum Aussterben. — Die Zahl der Totgeburten ist in den Familien der Paralytischen
etwa doppelt so hoch, als bei der Gesamtbevölkerung. Ähnlich liegt es mit der
Zahl der Aborte. Im allgemeinen erweist sich die Paralyse der Frau als für die
Nachkommenschaft verderblicher gegenüber der Paralyse des Mannes. — Als
Ursache der schlechten Geburtsverhältnisse in den Ehen der Paralytiker und Tabiker
kommt wesentlich oder nur die Syphilis in Betracht. — Über die qualitative Be¬
schaffenheit der Paralytikerdeszendenz ist ein abschließendes Urteil noch nicht
möglich. Aus einem erheblichen Teil der Paralytikerehen gehen nerven- und geistes¬
kranke Kinder hervor. Die angeborenen geistigen Schwächezustände in ihren
verschiedenen Intensitätsgraden bilden ein besonders häufiges Vorkommnis bei der
Paralytikerdeszendenz. Am häufigsten finden sich organische Affektionen des
Gehirns, an denen die Kinder meist in frühen Jahren zugrunde gehen. Ein großer
Tefl der Paralytikerkinder bleibt geistig und körperlich gesund. Ob die Paralyse
als solche selbst Schädigungen nervöser oder psychischer Natur bei der Deszendenz
hervorruft, ist zweifelhaft. Wahrscheinlich werden diejenigen Kinder, welche
der syphilitischen Infektion zeitlich am nächsten geboren sind, am meisten
psychoneurotisch geschädigt.
Einleitend bespricht Nonne (164) in seinem Vortrag über den heutigen Stand
der Lues-Paralysefrage, ihre geschichtliche Entwicklung, von der Lehre der Para¬
syphilis, von der Vergiftungstheorie, über den Nachweis der Lymphozytose zu
den Ergebnissen der Wassematmschen Reaktion und der Äbderhaldenschen Abbau¬
methode. Eingehend spricht er dann von den wesentlichen, prinzipiell wichtigen
Unterschieden zwischen Lues cerebrospinalis und der Tajjes resp. Paralyse. Weder
die klinischen Erscheinungen noch die Ergebnisse der anatomischen Untersuchungen
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182*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
oder die therapeutischen Erfahrungen lassen einen prinzipiellen Unterschied
gegenüber anderen syphilogenen Erkrankungen erkennen. — Nonne berichtet
weiter über die Erfahrungen, welche systematische Untersuchungen in Familien
von Tabikern und Paralytikern gebracht haben. Sie alle sprechen für die Annahme,
daß Tabes und Paralyse noch aktive Lues darstellen, er betont, daß die Resultate
der durch Jahre sich hinziehenden Forschungen immer mehr zu dem Endresultat
hindrängten, daß Paralyse und Tabes durch den Erreger der Syphilis selbst her¬
vorgerufen würden. Diese Forderung wurde schließlich erfüllt durch Noguchis
Entdeckung. Tabes und Paralyse sind als Spirillosen des Gehirns und Rücken¬
marks zu bezeichnen. Die früher schwebenden Fragen, ob eine frühere Syphilis
unbedingte Voraussetzung für die spätere Tabes und Paralyse sei, und ob noch
Syphilis bestände, während Tabes und Paralyse sich abspielen, sind heute mit
Ja zu beantworten. Die Paralyse ist eine Erkrankung des gesamten Nerven¬
systems. Tabes und Paralyse sind nicht Nachkrankheiten der Syphilis, sondern folgen
einer Vergiftung seitens der aktiv am Nervensystem sich betätigenden Spirochäten.
Nonne beschäftigt sich dann weiter mit der immer wieder auftauchenden Frage
der Lues nervosa. Beweise für die Annahme einer besonderen Rasse der Spiro¬
chäten fehlen bis heute. Sie können erst erbracht werden, wenn die Lebensbedin¬
gungen der Spirochäta näher studiert sind. Daß die neuropathische Anlage, der
Alkohol, Strapazen eine wesentliche Rolle in der Entstehung von Tabes und
Paralyse spielen, glaubt N. nicht. Er begnügt sich einstweilen noch mit der Fest¬
stellung der Tatsache, daß eine Reihe von Individuen nach syphilitischer Infektion
nervenkrank werden. — Neuere Untersuchungen ergaben dann weiterhin, daß
schon recht frühzeitig die Meningen ergriffen sein können. Es ist anzunehmen,
daß bei der Infektion mit Syphilis der ganze Organismus, auch die Meningen von
Spirochäten angegriffen werden. Bei einer gewissen Anzahl von Personen werden
nun die Meningen geradezu bevorzugt. Mit der Sammlung dieser neuen Erkennt¬
nisse ist das Wesen der Tabes und Paralyse aber noch nicht erkannt. Wenn die
Frage erhoben wird, wie es kommt, daß das Krankheitsbild ein so typisches ist,
so muß geantwortet werden: Die Krankheiten sind nur für die klassischen Fälle
typisch, für eine große Minorität aber atypisch. Für die klassischen Paralyse
ist anzunehmen, daß die Spirochäten durch die Arteria cerebri anterior einge¬
schwemmt wurden, für die Tabesfälle, daß die Spirochäten auf dem Wege der
perineuralen Lymphräume der hinteren Wurzeln und der Pia des Rückenmarks
eingedrungen sind. Nonne hebt hervor, daß man auch heute noch das Vorhanden¬
sein eines Giftes annehmen muß, das in Intervallen produziert wird und das Nerven¬
system angreift. Vielleicht hat ein Gift eine spezielle Vorliebe für bestimmte Ge-
himteile. Damit wäre auch die oft festgestellte Inkongruenz zwischen der Schwere
der klinischen Erscheinungen und dem anatomischen Befunde geklärt. Schließ-
licu äußert sich N. noch über die Therapie. Für die primäre, sekundäre und ter¬
tiäre Lues tritt die chronisch intermittierende Behandlung über Jahre hinaus
in Kraft. Die Therapie der „metasyphilitischen“ Erkrankungen ist noch nicht
festgelegt; sie befindet sich noch im Stadium des Versuchs und erst eine über Jahre
sich erstreckende kritische Beobachtung wird entscheidend wirken.
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Pförringer, Organische Psychosen.
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Bisgaard (26) hat sehr eingehende Untersuchungen über die Eiweiß- und
Stickstoffverhältnisse des Liquor cerebrospinalis gemacht und dabei den chemi¬
schen Grundlagen viel Raum gewidmet. Von den Ergebnissen seiner Untersuchungen
seien erwähnt: Bei progressiver Paralyse wird mit zunehmenden Eiweißwerten in
der Regel ein steigender prozentischer Anteil des Eiweißes durch Ammoniumsulfat
in halbgesättigter Lösung gefällt; dieses ist bei Tumor cerebri, Lues cercbri und
akuten meningischen Leiden nicht der Fall.
Das Eiweiß der Phase I ist in seinen Eigenschaften mit dem Serumglobulin,
das Eiweiß der Phase II mit dem Serumalbumin verwandt. In der Phase II können
jedoch auch Substanzen Vorkommen, die ähnliche Eigenschaften wie die Protein¬
stoffe mit niedrigeren Molekülzahlen besitzen.
Formol bildet mit den Eiweißstoffen der Spinalflüssigkeit und gewissen
anderen Eiweißstoffen Verbindungen, welche die Reaktionswerte des Am a S0 4 und
der HNO, verändern. Der Prozeß hatte keinen bestimmten Zeitverlauf und kann
als analog dem bei der Verbindung des Ammoniaks und der Formols in Gegenwart
von Aminosäuren verlaufenden Prozesse, der zur Bildung von Hexamethylen¬
tetramin führt, angesehen werden. Das Phänomen scheint keine klinische Bedeu¬
tung zu haben.
Zur Bestimmung von so kleinen Stickstoff mengen, wie die in der Spinal¬
flüssigkeit enthaltenen, kann eine Kombination der Methoden von Kjelddhl und
Neßler angewandt werden.
Der Eiweißstickstoff, aus dem durch IINO s nachweisbaren Anteil des Eiweißes
berechnet, beträgt 10—20 % des Gesamtstickstoffes. Eine bedeutende Menge von
Reststickstoff wird auch nach der Ausfüllung des Eiweißes durch Trichloressig-
säure gefunden, so daß alle früher angegebenen Eiweißprozente, die aus dem Ge¬
samtstickstoff durch Multiplikation mit 6,25 berechnet wurden, als falsch angesehen
werden müssen.
Die physiologischen Grenzen des Gesamtstickstoffes der Spinalflüssigkeit
können vorläufig auf 0,01 % und 0,025 % veranschlagt werden. Der Reststickstoff
beträgt selten weniger als 0,009 %.
Bei organischen Leiden des Zentralnervensystems steigt mit dem Eiweiß
der Spinalflüssigkeit auch das Verhältnis zwischen Eiweißstickstoff und Gesamt¬
stickstoff. Der Reststickstoff wird selten in einer 0,03 % übersteigenden Menge
gefunden.
Stickstoffbestimmungen gewähren in klinischer Beziehung keinen wesent¬
lichen Vorteil gegenüber der Eiweißbestimmung.
Ungefähr beim Eintritt der Agonie findet in der Regel eine starke Zunahme
des Gesamtstickstoffs ohne gleichzeitige Vermehrung des Eiweißes statt.
Der Stickstoff und die Formolreaktion scheinen voneinander unabhängig zu
sein.
Die Publikationen über die Erfahrungen mit Salvarsan wurden fortgesetzt.
Unter ihnen sei zunächst die Arbeit von Allmann und Dreyfus (4) erwähnt, die sich
vor allem auf die Frühlues und den Einfluß des Salvarsans auf diese bezieht. Es
wurde festgestellt, daß bei der unbehandelten Lues im Frühstadium nach Aus-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Schluß der Fälle, bei denen der Druck nicht bestimmt wurde, nur 16 %, bei deren
Einrechnung 22 % völlig normale Liquores gefunden wurden. Das Salvarsan
hatte auf den Liquordruck den Einfluß, daß er in den Fällen, in denen er vor der
Behandlung erhöht war, meist zu normalen Druckwerten zurückkehrte. Wichtiger
als dieser Befund war die Beeinflussung des chomisch-zytologischen Verhaltens:
In allen Stadien der Frühsyphilis wurden die Liquorbefunde bei intensiver Be¬
handlung günstig beeinflußt, in dem sie zu normalen oder fast normalen Befunden
zurückkehrten. Wurden zu kleine Salvarsandosen gegeben, so verschlechterte sich
das Liquorbild, um sich bei fortgesetzter Behandlung wieder zu verbessern. Die
Meningorezidive Ravauts stehen also in Parallele zu den Neurorezidiven. Die Verf.
sind der Anschauung, daß Liquorveränderungen in jedem Stadium der Lues bis zur
Erreichung normaler Befunde behandelt werden müssen. Sie treten mit bester
Begründung für eine energische Salvarsan-Quecksilbertherapie ein, und warnen
vor allem vor einer Verzettelung der Behandlung. In einer weiteren Arbeit spricht
Dreyfue (57) über das Neosalvarsan. Er berichtet über technische Einzelheiten
und über die Einzel- und Gesamtdosierung des Neosalvarsans. Bezüglich der
Wirksamkeit des Medikaments äußert er, daß bei frischer Hirnlues, Lues cerebro¬
spinalis und Tabes die Wirkungen des Salvarsans intensivere zu sein scheinen,
als die des Neosalvarsans. Ebenso war die Liquorbeeinflussung beim Altsalvars&n
eine stärkere. Bei unkomplizierten syphilitischen Erkrankungen des Zentral¬
nervensystems ist das Altsalvarsan vorzuziehen. Dagegen empfiehlt sich das neue
Präparat zur Ausführung milder Kuren, so bei luetischer Meningitis zur Einleitung,
bei spezifischen Gefäßerkrankungen oder endarteriitischen Prozessen im Zerebrum.
Benedek und Deik (18) fanden in bezug auf die Auslösung von Immunhämo¬
lysinen: Die Hämolyse der gegen Paralytikerserum vorhandenen Immunsera ist
am geringsten den roten Blutkröperchen Paralytischer gegenüber. Die Hämolyse
der gegen Serum von Dementia-präcox-Kranken gebildeten Immunsera ist gegen¬
über roten Blutkörperchen am stärksten, die Stärke der Hämolyse der Immunsera
steigt proportional dem Steigen der Gewichtsmengen. Ferner fanden die Verfasser:
Die Kaninchenimpfungen mit Paralytikerserum führten ständig zu 200—260 g
Gewichtsverlust. Die hämolytische Wirkung der Blutsera der gegen die Sera immu¬
nisierten Kaninchen wird durch Immunhämolysine verursacht. Die als Antigone
dienenden Stromarezeptoren sind in dem paralytischen Blutserum in sehr geringer
Menge oder molekulär verändert vorhanden, während das Blutserum der Präcox¬
kranken an Hämolysinantigonen reich ist. Die Wirkung der Agglutinine, Präzipi¬
tine, Eiweißantikörper, Lipoide, Antiisolysine kann bei der Differenz in der Stärke
der Hämolyse ausgeschlossen werden. Die kolloidale Kieselsäure ist imstande,
die Wirkung der Immunhämolysine in vitro bis zu einem gewissen Grade zu ver¬
treten. Sublimat gegenüber zeigen die roten Blutkörperchen der mit Paralytiker¬
blutserum geimpften Kaninchen eine verringerte, diejenigen der mit Serum Präcox¬
kranker geimpften eine gesteigerte Resistenz. Lezithin- und Quecksilberchlorid¬
injektionen beeinflussen die hämolytische Wirkung der Immunhämolysine nicht.
Kafka (104) faßt in seinem Vortrage die Erfahrungen über ein großes Beob¬
achtungsmaterial zusammen, das sich auf die Serologie des Zentralnervensystems
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Pförringer, Organische Psychosen.
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bezieht. Einleitend spricht er von den Verfeinerungen, deren Bedeutung er darin
sieht, daß sie zur Klarstellung häufig direkt notwendig sind, daß sie weiterhin oft
ein Verfolgen des Krankheitsbildes erlauben bis in Stadien hinein, in denen die
Originalmethode keine Antwort mehr gibt, daß sie schließlich notwendig sind, bei
der Beobachtung des serologischen Blutbildes bei Behandlungsversuchen der pro¬
gressiven Paralyse. Wichtig erscheinen die Verfeinerungen auch in den Fällen von
Syphilis ohne Komplikation von seiten des Zentralnervensystems und bei der
Untersuchung Familienangehöriger von Syphilitikern und Paralytikern. K. äußert
sich ferner über die Eigenhemmung im inaktiven Serum und im Liquor und über
die hämolytischen Veränderungen des Blutserums. Die Hämolysinreaktion hat
sich auch weiterhin bewährt. Abgesehen von Fällen akuter Meningitis wurde bisher
kein Fall von Lues cerebri oder einer anderen Erkrankung positiv gefunden. —
Die Neuroreaktion spricht, wenn sie im Liquor stark positiv ist, bei negativer
Seroreaktion, sehr für Paralyse. — Einige Worte verliert K. noch über die neuen
Befunde mit Hilfe der Dialysiermethode.
Benedek (16) hat die Luetinreaktion nachgeprüft. Im wesentlichen decken
sich seine Erfahrungen mit denen anderer Untersucher. Auffallend waren bei
einigen Fällen von Lues cerebri „gummaartige“ Reaktionen, wie sie bei der Paralyse
nie beobachtet wurden. Die Arbeit bringt einige Mikrophotogramme.
Berger (20) verimpfte Himzylinder von lebenden Paralytikern auf Kaninchen¬
hoden. Von 20 Versuchen fielen 17 negativ aus, bei 3 positiv. Es konnten nur gering¬
fügige lokale Veränderungen nachgewiesen werden, die aber sicher als solche syphi¬
litischer Natur nach dem Befund von Spirochäten angesehen werden mußten. Die
drei Befunde brachten den Beweis, daß die Spirochäten des Paralytikergehims
nicht nur noch lebend, sondern auch imstande sind, lokale luetische Veränderungen
hervorrofen.
Kafka (107) fand bei Anwendung der Luetinreaktion in 76 % der Fälle von
Lues cerebri, in 60 % der Fälle von Paralyse und bei den drei untersuchten Tabes¬
fällen positiven Ausfall. Eine positive Reaktion ließ sich im allgemeinen bereits
nach 24—32 Stunden erkennen. Ihren praktischen Wert sieht K. in ihrer Spezifität
für Syphilis, daß sie in Fällen tertiärer Lues so außerordentlich häufig ist, wohl
auch bei Tabes und daß sich Unterschiede in der Reaktion der Fälle van Paralyse
und Lues cerebri zeigen.
Noguchi (162) teilt mit, daß er in 12 von 70 von ihm untersuchten Paralytiker -
gehimen die typische Spirochaeta pallida gefunden hat. Er bespricht kurz die
Verteilung der Spirochäte im Gehirn der Paralytiker, ihre Beziehungen zu den
einzelnen Strukturelementen und knüpft einige Bemerkungen bezüglich der Technik
der anatomischen Untersuchung an. Bezüglich der Pathogenese der Paralyse und
Tabes erklärt er, daß die Läsionen unmittelbar auf die Gegenwart der Pallida be¬
zogen werden müssen, nachdem sie im Sitz der pathologischen Veränderungen
gefunden sind.
Brückner (34) wandte das Arsalyt bei einer Reihe von Paralytikern an. Er
gab im ganzen 100 Injektionen. Die höchste verabreichte Dosis war 2,4 g. Zweimal
wurden Kopfschmerzen beobachtet, Temeratursteigerung trat nur ein einziges Mal
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
auf. Die Kuren, die an sechs Fällen vorgenommen wurden, wurden anstandslos
vertragen. Die Kranken bekamen 6—10 Injektionen in Abständen von 3—8 Tagen.
Bezüglich einer therapeutischen Einwirkung sind Schlüsse noch nicht möglich,
immerhin ist hervorzuheben, daß bei zwei Fällen der Titer der W.-Reaktion auf
7,o zurückging, bei gleichzeitigem Absinken der Pleozytose. In einem dritten Fall
verschwand die W.-R. vollständig, nachdem sie vor der Behandlung bei 0,6 im
Liquor positiv gewesen war. Wesentlich ist, daß das Arsalyt sehr gut vertragen
wird, daß es nicht kumuliert und daß keine anaphylaktischen Erscheinungen zur
Beobachtung kamen. Als Vorzüge des Arsalyts hebt Br. hervor: Es kommt ge¬
brauchsfertig aus der Fabrik und ist absolut haltbar. Bei der Anwendungsweise
des Arsalyt fallen Glas- und Wasserfehler weg. Die Schmerzhaftigkeit ist bei Venen¬
wandverletzungen sehr gering. Die Venen zeigen bei seiner Anwendung keinerlei
Neigung zu Thrombosierung. Sehr angenehm ist die Einfachheit der Anwendung.
Martens (144) hat die Weil-Kafkasche Hämolysinreaktion nachgeprüft. In
seinen Untersuchungen zeigte sich, daß
1. bei akuten, nicht-luetischen Meningitiden in 100 % der Fälle Normal¬
ambozeptoren im Liquor auf treten, in vielen Fällen auch Komplement.
2. bei Paralysen allein in 79 %, bei Paralysen und Taboparalysen zusammen
in 81 % der Fälle Normalambozeptoren im Liquor auftreten,
3. auch in einer prozentualiter noch nicht näher zu bestimmenden Anzahl
von Fällen von Lues cerebrospinalis und in einer ganz geringen Anzahl von Fällen
von Tabes dorsalis die Weil-Kafkasche Reaktion auftreten kann.
Shukow (211) behandelte 61 Paralytiker mit Tuberkulininjektionen nach
Wagner. Nach den erzielten Resultaten teilt er die Patienten in vier Gruppen ein.
Die erste Gruppe aus 30 Patienten — darunter 24 Frauen — blieb gänzlich un¬
beeinflußt. Es handelte sich um ziemlich vorgeschrittene Fälle (23 Patienten mit
dementer, 3 mit manischer Form, 3 mit Taboparjilyse). Bei der zweiten Gruppe,
die 17 Patienten (26,6 %) umfaßte, war eine günstige Wirkung der Behandlung
darin zu bemerken, daß die Patienten sauberer, ruhiger und kräftiger wurden.
In der dritten Gruppe (14 Patienten, also 21,8 %) war die Besserung so bedeutend,
daß mehrere Patienten aus der Anstalt entlassen werden konnten. Bei allen war
eine beträchtliche Gewichtszunahme zu verzeichnen. Sie wurden munterer, reger,
arbeiteten gern, mit sicherer Überlegung. Es handelte sich hier in 7 Fällen um
demente, in 5 um manische und in 2 um taboparalytische Form. Die Krankheit
bestand zum Teil bereits längere Zeit (bei 4 Kranken 3 Jahre, bei 6 Patienten
2 Jahre). Schließlich bewirkte die Behandlung in der vierten Gruppe (3 Patienten)
dauernde und so weitgehende Besserung, daß die Patienten zu ihrer früheren
Lebensweise zurückkehren konnten und von ihrer Umgebung für gesund gehalten
werden. Unter diesen Patienten befand sich ein Staatsbeamter, den seine Vor¬
gesetzte Behörde amtlich untersuchen ließ, mit dem Ergebnis, daß er zur Aus¬
übung seines früheren Amts zugelassen wurde. Ein Jahr später wurde er vom Verf.
untersucht, ohne daß dieser irgendwelche Zeichen geistiger Störung feststellen
konnte. (Fleischmann-Kiew.)
v. Veress u. Szoibo (236) haben die Karvanetischc Reaktion nachuntersncht.
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Pförringer. Organische Psychosen.
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Die Resultate der Konglatinationsreaktion stimmten im allgemeinen mit der W.-R.
überein. Bei primärer Syphilis ist die Konglutinationsreaktion früher positiv als
die W.-R. Bei Lues latens ist die Konglutinationsreaktion häufiger positiv als
die W.-R. Bei heilender Syphilis ist die Konglutinationsreaktion oft auch dann
noch positiv, wenn die W.-R. schon negativ ist. Die W.-R. ist bei Paralyse fast
stets positiv, dagegen sind 20 % der Karvon enschen Reaktion nicht positiv. Bei
Ehegatten und Kindern paralytischer Personen gibt die A.-R. ähnliche Resultate
wie bei Lues latens, sie ist häufiger positiv als die W.-R. Mit paralytischem Liquor
cerebrospinalis vorgenommene Ä'.-R. sind ähnlich der W.-R. meist positiv, aber
in geringen Prozenten. Die Verf. glauben, daß die K.- R. für die allgemeine Praxis
nicht geeignet ist, da die Resultate in einigen Fällen zweifelhaft, in anderen Fällen
schwer abzulesen ist und subjektive Beurteilung zulassen. Außerdem sind Auto-
tropien relativ häufig. Da die W.-R. bei progressiver Paralyse weit häufiger positiv
ist, als die A'.-R., bei Syphilis dagegen umgekehrt, werfen die Verf. die Frage auf,
ob bei den beiden Erkrankungen nicht vielleicht zwei voneinander chemisch ver¬
schiedene Substanzen die Reaktionen veranlassen.
Weygandt und Jakob (249) impften Kaninchen und Affen intratestikulär und
intravenös und injizierten spirochätenhaltige Emulsionen in den Lumbalsack und
in das Gehirn selbst. Die klinischen Befunde waren nicht sehr wesentlich. Dagegen
fanden sich bei den mit Spirochäten in den Hoden oder intravenös geimpften Tieren
Veränderungen entzündlich-exsudativ-infiltrativer Art, die meist die Pia des
Gehirns und Rückenmarks, die perineuralen Scheiden der austretenden Rücken¬
marksnerven und die bindegewebigen Hüllen der peripheren Nerven betrafen.
Wichtiger sind herdförmige Prozesse. (Granulationsherd hauptsächlich aus zahl¬
reichen mit Plasmazellen besetzten GefäßeD.) Diese Erscheinungen entwickeln sich
offenbar unabhängig von den Piaaffektionen: Deutliche, von solchen Gefäßerschei¬
nungen unabhängige nervöse Parenchymdegenerationen wurden noch nicht be¬
obachtet. Bei einigen Tieren fanden sich diffuse, über das ganze Gehirn ausgebreitete,
z. T. herdförmige Störungen. Neben interessanten Aufschlüssen über die Infektions¬
wege und -Zeiten, die diese experimentellen Studien eröffnen, zeigen sich weiterhin
die bisherigen Befunde am Nervensystem der mit Spirochäten testikulär und intra¬
venös geimpften wie jene der zerebral injizierten Kaninchen unter sich im histolo¬
gischen Bilde wesensverwandt und gleichartig, große Ähnlichkeit, ja oft völlige
Übereinstimmung mit der Hemingoencephalitis luica und an manchen Stellen auch
mit dem paralytischen Riesenprozeß des Menschen. Verf. widmen der Frage der
Lues nervosa am Schluß noch einige Worte.
Dahm (47) faßt die Resultate ihrer Untersuchungen über den Stoffwechsel
bei progressiver Paralyse in folgenden Sätzen zusammen: Die flüchtigen Fett¬
säuren des Harns sind, meist nicht vermehrt. Es kommen neben den auch beim
Normalen auftretenden Schwankungen der Ausscheidung plötzliche Erhöhungen
derselben vor, für die im Verhalten des Kranken eine Erklärung nicht gefunden
werden kann.
Es gibt im Verlaufe der Paralyse zumindest bei manchen Kranken Perioden
einer stark vermehrten Ausscheidung der flüchtigen Fettsäuren. Es fallen aber
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
diese Perioden nicht zusammen mit denen der Verstärkung der sonstigen Stoff¬
wechselstörungen, als deren Indikator der Gang der Stickstoffausscheidung an¬
gesehen werden darf. Wir haben daher aus unseren Versuchen keinen Hinweis
auf die Bedeutung einer Azidose für das Wesen der paralytischen Stoffwecbsel-
störangen entnehmen können.
Niedere Fettsäuren werden anscheinend vom paralytischen Organismus in
ebenso großem Maße verbrannt wie vom normalen. Auch die höheren Fett¬
säuren der Butter werden vollständig oxydiert.
Dem Salvarsan kommt manchmal ein bisher noch nicht bestimmbarer Einfluß
auf die Ausscheidung organischer Säuren zu.
Marie, A. (137) bespricht die Stellung der Syphilis zu Tabes, Paralyse und
den syphilitischen Geistesstörungen und kritisiert besonders die serologischen Be¬
funde.
Marie (138) behandelt in seinen Ausführungen, die sich auf eingehende Lite¬
raturkenntnis und eigene Erfahrungen stützen, alle Geistesstörungen, die mit Lues
irgendwie in Verbindungen stehen können. Die Auseinandersetzungen Af.s ent¬
halten eine Fülle alter und neuer Erkenntisse.
Moerchen (162) bringt zwei Beobachtungen, die sehr für das Bestehen einer
Lues nervosa sprechen. Im einen Fall handelte es sich um mehrere Studenten,
welche sich sämtlich an einer Prostituierten infizierten. Alle bekamen metalue¬
tische Erkrankungen. Im zweiten Falle gingen 10 Offiziere, die sich auch an einer
Prostituierten infiziert hatten, an Paralyse zugrunde, bzw. waren an dieser er¬
krankt.
Naecke (167) verficht, wie früher, eine endogene, spezifische Veranlagung
mancher Gehirne für die Dementia paralytica. Er sagt: 1. Die erbliche Belastung
der Paralytiker erscheint der bei den übrigen Psychosen nahestehend. 2. Eine
abweichende Charakterveranlagung der Paralytiker ist häufiger als bei Gesunden.
3. Körperliche Entartungszeichen sind bei Paralytikern bedeutend häufiger zu
finden, als bei Gesunden und nähern sich in bezug auf Zahl und Schwere auch den
bei den anderen Geisteskrankheiten gefundenen. Wo Entartungszeichen reichlich,
in starker Ausprägung, in schwerer Form und weit verbreitet auftreten, besonders
am Kopfe, sind sie als „Signale“ anzusehen. Die Minderwertigkeit nimmt mit
Zahl, Schwere und Ausbreitung zu. Psychische und soziale Stigmen sind wichtiger
als die körperlichen. 4. Die Nachkommen von Paralytikern sind anerkanntermaßen
körperlich und geistig viel öfter krank als die der Normalen, was nicht allein auf
die Lues des Vaters oder der Mutter zu beziehen ist, sondern z. T. wenigstens auf
eine etwaige Minderwertigkeit derselben. Die Wahrscheinlichkeit, daß das para¬
lytische Gehirn ab ovo ein abnormes ist, ist sehr groß. Ein ab ovo minderwertiges,
invalides Gehirn braucht noch lange nicht ein minderwertiges im Sinne einer ge¬
ringeren Leistungsfähigkeit zu sein.
Neue und Vorkastner (168) fassen ihre Erfahrungen folgendermaßen zu¬
sammen: Der Prozentsatz positiver Wassermann-Reaktionen bei Paralyse beträgt
für das Blutserum 96, für den Liquor 96,6. In einigen Fällen zeigt sich die positive
Reaktion im Serum nur durch die Methodik nach Kromayer und Trinchese und im
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Pförringer, Organische Psychosen.
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)r nur durch die Auswertungsmethode nach Hauptmann. Seit Anwendung
verbesserten Methoden war die luische Ätiologie der progressiven Paralyse
dem Falle nachweisbar. Die positive Wasserman nsche Reaktion ist nicht in
Fällen in beiden Körperflüssigkeiten gleichzeitig zu erhalten, im Liquor scheint
:onstanter zu sein, als im Blutserum. Das Schwanken der Wassemannschen
stion kommt auch bei der Paralyse in unbestimmten längeren und kürzeren
xbständen vor. In seltenen Ausnahmefällen stellt die positive Reaktion, be-
Lers der Lumbalflüssigkeit, eine nicht unerhebliche Erschwerung der Diagnostik
Hier muß das klinische Bild in vollstem Maße bewertet werden.
Räche (181) ist der Ansicht, daß Salvarsan bei vorsichtiger Anwendung
ilytikera nicht schadet. Es scheint im Gegenteil Häufigkeit und Dauer der
lissionen zu fördern. Jedenfalls seien wir berechtigt, Paralytikern den Versuch
r methodischen Salvarsankur zu empfehlen.
Lern (123) fand Aneurysmen in 24 % der Fälle von sicherer Aortitis. Bei
Alyse fand sich Aortitis nicht häufiger als sonst bei Syphilis. Niemals fand er
'alyse und Aneurysma kombiniert. Aortitis ist die häufigste Form der Syphilis,
dürfte in einem Viertel aller Syphilisfälle zur Entwicklung kommen. Aortitis
eint, ebenso wie Paralyse und Tabes in neuerer Zeit häufiger zu werden, was
ch Selektionswirkungen unter den Treponemastämmen zu erklären sein dürfte.
Levadiii , Marie und Bankowski (122) bestätigen die Befunde über den Spiro-
itenfund Nogttchis im Gehirn und fassen ihre Anschauungen über die Ätiologie
1 Pathologie der Paralysie folgendermaßen zusammen: Die progressive Paralyse
eine Erkrankung, welche an die Ausbreitung der Treponema in der Gehirn-
de gebunden ist und die Verletzungen, die diese Ausbreitung verursacht. Das
rdringen der Parasiten scheint schubweise vor sich zu gehen. Ihre Lokalisation
i wankt in den einzelnen Fällen; meist liegt sie in den vorderen Zonen des Gehirns,
besteht eine ausgesprochene Analogie zwischen den Schüben der Parasiten
Gehirn und dem periodischen Auftreten von spezifischen Haut- und Schleim¬
uterscheinungen. Man könnte diese multiplen Herde mit Rindensyphilomen
rgleichen, die nach ihrem Verschwinden Sklerosen hinterlassen. Wenn ein para-
ärer Herd sich reinigt, nachdem er unauslöschliche Verletzungen gesetzt hat,
Iden sich neue Herde in der noch gesunden Umgebung. Daraus erklärt sich,
lB die Partien des Gehirns, die makroskopisch die schwersten Schädigungen
igen, nicht immer am reichsten an Parasiten sind. Endlich erscheint es wahr-
heinlich, daß die apoplektiformen Insulte akuten Ausbreitungsschüben der Tre-
)nemen entsprechen, hauptsächlich, wenn diese Schübe motorischen Regionen
ltsprechen. Man wird daher mehr Aussichten haben, die Treponemen zu ent-
ecken, wenn man Gehirne von Paralytikern untersucht, die im Anfall gestorben
nd, als von solchen, welche in einem freien Intervall oder durch interkurrente
Erkrankungen geendet haben.
Jäger und Goldstein (98) fanden: Die Goldsolreaktion gibt bei progressiver
’aralyse und Lues cerebrospinalis in 100 % starke, charakteristische Ausflockung;
ieselbe wird auch bei einem Teil der Fälle von Tabes dorsalis erzielt. In den
ibrigen organischen oder funktionellen Erkrankungen des Zentralnervensystems
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
gibt die Goldsolreaktion keine differentialdiagnostischen Unterschiede, speziell
konnte die als charakteristisch angegebene Verschiebung des Ausflockungsmaxi¬
mums nach oben bei bestimmten organischen Erkrankungen nicht bestätigt werden.
Ein Vorteil der Methode ist der geringe Verbrauch an Liquor. Inwieweit es möglich
ist, die ersten Anfänge einer luetischen Affektion des Zentralnervensystems mit der
Reaktion festzustellen, ist noch nicht mit Sicherheit zu sagen.
Moore (163) hat in 12 Paralytikergehirnen die Spirochaeta pallida nach¬
gewiesen. Er meint, die Annahme „ohne Syphilis keine Paralyse“ erhalte erst dann
eine weitere Stütze, wenn es gelänge, die Spirochäte in allen Fällen von Paralyse
nachzuweisen. Er läßt die Frage, ob die Paralyse wahre Syphilis sei, offen.
Moreira und Vianna (154) berichten über zwei Fälle von Paralyse, von denen
der eine bei Beginn der Erkrankung 70, der andere 99 Jahre alt war. Beide waren
Söhne von afrikanischen Negern.
Auf Grund seiner Untersuchungen stellt Atters (2) fest, daß zumindest gewisse
Stadien der Paralyse mit schweren Stoffwechselstörungen einhergehen. Dieselben
stellen sich als eine Reihe von Erscheinungen dar, die eine quantitative Steigerung
des endogenen Eiweißumsatzes beweisen, wobei der Organismus nicht imstande
ist, den Abbau bis zu den normalen Endprodukten durchzuführen. Infolgedessen
werden intermediäre Stoffwechselprodukte ausgeschieden.
Benedek (17) kam auf Grund der Neumann- und Hermannschen Reaktion
zu dem Resultat, daß die Cholesteurin-Ester im Blute einer großen Anzahl von
Paralytischen gegenüber denen Normaler quantitativ gesteigert sind. Die Neumgnn-
Hermann&che Graviditätsreaktion ist zur Differenzierung nur mit Vorsicht zu
verwenden.
Steiner (220) fand: 1. Entzündliche Gewebsreaktionen ließen sich in den
bindegewebigen Hüllen, wie auch an den Gefäßen im Zentralnervensystem der
syphilitischen Kaninchen nachweisen; dagegen mißlang der Nachweis primär-
degenerativer Erscheinungen. 2. Die entzündlichen Reaktionen stellten sich im
allgemeinen dar als Gefäßinfiltrationen in den Hüllen des Zentralnervensystems,
in einzelnen Spinalganglienzellengruppen, aber auch in der Großhirnrinde, hier
in herdförmiger Lokalisation und als typische, rein adventitielle Infiltrationen. Bei
einigen Tieren konnte auch eine diffuse perineurale Infiltrationszellanschwellung
im Perineurium einzelner den Rückenmarksquerschnitt begleitender Spinalnerven¬
bündel beobachtet werden. Auch im periduralen Fettgewebe und in den Duplika-
turen, die zwischen dem Perineurium einzelner Spinalnerven und den duralen
Hüllen sonst sich bilden, fanden sich, oft in herdförmiger Anordnung zahlreiche
Infiltrationszellansammlungen. 3. Die infiltrierenden Zellen bestanden fast aus¬
schließlich aus typischen Plasmazellen und Lymphozyten. 4. Die mehr kaudal
gelegenen Partien des Rückenmarks zeigten die histopathologischen Veränderungen
in stärkerem Grade.
In eingehenden Auseinandersetzungen bespricht Steiner (221) den Nachweis
der Syphilis im allgemeinen und bei den syphilogenen Krankheiten des Nerven¬
systems mit Einschluß der Metasyphilis, dann die Theorien des Zusammenhanges
zwischen Syphilis und Metaphysik bzw. anderen syphilogenen Erkrankungen des
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P1 ö r r i n g e r, < )t£aniach<? Pay choseo.
aln^.rvensystem». 1h einem driften Kapitel behandelt er da» Wesen der
lis. ln den beiden letzten Kapiteln wird die Histopathologie des SSentraJ-
nsystems syphilitischer Kaninchen bcsprpehen und die Bedeutung der Be- ; ■
4 auseinandergesetsL /;/'[•' .'y{,■ y ■ • \ y X'l
Theobald i'225.1; fand bei Anwendung, der Abwehrfermontfeaktibö ein Vor
«W deifi! Abbaues paml^Ö&tfer Organe gegenüber beim Klein-
und Keim Rückenmark. Am Mu%*tei;. viirne Kleinhirn »Lgebüut. Verhalt-,
niedrig: war die Ziffer des Abbaues: üob öroßJnmrmd'e, besonders bei den
> suhriffcnmi Paralysen; (uiutiger war der 'Altbau bei ihmdeti Fallen,
i’huti < 1 i (egt.seiner Arbeit die Frage zugrunde,dib «ttf ttef ßasTs der Syphilis
titis«.dr ehtsiehati kfianeft, tiefen Haüptsymptmive^^S^^än^n»g»*Vu«d Wahn-
i süwl und die nicht de» Verlauf in einen pandyseähnlichen Sehwaeheriislnnd
hl«*»*- jSaAh eingehenden tjnspreyhuhgen 4«r, vier Reaktionen erkennt er, daß
tu* Diagnose der Lues ceiebrospiualis in .riiererster Linie die WfiswnutMimhv
kt km im attiee wertet*« Liquor m Betracht kommt, der gegentibc? die andere«
kttonen an Wkhtigken zurucktreten- Den Ausführungen P.s liegen zehn
nktmgwtclüchten rugrandB; iih Verlauf dei T^yrhose» mi t den obengenannten
f|3t*>tnen ;fcjK«fr; *&>■ Bewmannbeit stets erhiheu; Dinsn; wie drei im Ardwifg ;
»weilte Fälle-im Senium, kamen nicht zu körperlichem oder psychischem ZerfölL
Kafka rtbpt stellt tost, daß da? malttiy#’Byriiih von Luikern und MffWilijkern
h&*ßger alii das von tivht:-S jpii^tfe4>hw ; ^»i i Ü»w.«htfethe Fähigkeitverliert.
h«c Mfehruiiti tfer, Fälle Hegt dies daran, daü der Zvisclmikörper fehlt ; «der.yer--
Prt-. r»tv in.iter Mindarzahl daran, daß das inaktivierte Sermn Aiitikoinjdementiir
kfi •• ßej luihchen und nifeWtttisi’hen. Erkrankftngeii tefdt ivederiitn harifig diy>j -'
iMdvti>:die Fähigkeit des aktiven s>ntms. Diese Befunde können wichtig sein,
wmle-ts in V erbiaditng mir d«n anderen serologischen
-iriplil yler ^jtqphdötöt^ehWiulä scheint ilie wtrtsjefpt ^*^t l rlrti<irh«t
f meKi.sypliilj» Weber Verändutungon des Zentfiliticrverisystemv zu stüi aeii ■
■ Wtslhoff •($&}.) vhält •»he pqrogrteisiine Paralyse für ei»*'. BasaanlirSiahbwL:
a,r A^äjbH jtiiireind Erkrankung der germanischen
germanischen Völkern «rklärt m mit der geriogynAnshrt‘itang der
philis. däs Vorkommen auch bei nirht-gemmni&rlutv ßysscri mitAtiirtniae.bmigen
> '.-»riuaften. !>ad die fierrrinnen — diesen Bcgrill faßt W, wen •■•■ sps/irl.l .-/.ur
kiurdcUng an Paralyse neigen deutet Verf. »iinnit, <Jal( «me Rasse, je hühee4$<:
ihropologiseli stein nu> so mehr $a. Erkrankungen oeigr.
FwsU* und Tbumc-Moki (BIM konnten m zwei Fallen/von Paralyse, bei
••eben durch Punktion de- .rechten Srtrnhinis HmizyU»der gewonnen waren.
aTOchäfen rtachvchfeert: In ttjer writeitm Falten blieb (brr Erfolg ans. ' .
.Nachdem Xf^vrlt iftöj in 2iXi iVchinien von Pamlviik-cru 4h .mal die .Sjurio
a^ta paffida gefaddeu hiitte, ging er zur Tteqbadifimg riet TtTLfekfiosifäsf 4#'^irp-'
öi)ur. iudöH) ef rff‘ Kanht(heh mit Eittfii«k*nMi au^ s**chs häsehon Faralytik#r- ‘
•hirnön iufizierte. Bei hufa?» eittstandcn kleine, atier typische Verbartiiftgcn
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fdtmne^ hrro'hff — oben falls nach einer F •;**, indit-
■ Go gle : ,
192*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
rierte Läsionen hervor. Aach der Frage bezüglich des langen Zeitraumes zwischen
dem syphilitischen Primäraffekt und der Entwicklung von Symptomen der Para¬
lyse trat N. näher. Er nahm als wahrscheinlich an, daß die Gewebe der Tiere erst
sensibilisiert werden müßten. Er behandelte also Tiere durch 6 Monate hindurch
mit wiederholten intravenösen Injektionen der abgetöteten und lebenden Spiro¬
chäte vor und brachte dann Emulsionen von Hodensyphüomen oder kleine Stück¬
chen von solchen in die Himsubstanz direkt hinein. Nach Ablauf von 2 Monaten
wurden einige der sensibilisierten Tiere matt und stuporös, nahmen ab und zeigten
Spasmen der Hinterbeine und Ataxie. Die Symptome steigerten sich und die
W ossermannsche Reaktion wurde positiv. Die Mikroskopie der Gehirne von zwölf
sensibilisierten Tieren ergab dreimal diffuse, nicht eitrige exsudative Meningitis,
einmal eine ausgesprochene unilaterale Atrophie der Stirnlappen, zweimal diffuse
Sklerose des Gehirns und einmal einige kleine gelbe Flecken in der Temporalgegend.
Stellenweise fanden sich Infiltrationen und Gliawucherungen. Die Nervenzellen
waren meist intakt.
Stargardt (217) wendet sich in einer großen Arbeit an der Hand eines be¬
deutenden Materials und unter Berücksichtigung der gesamten Literatur gegen
die Annahme einer toxischen Genese der Sehnervenatrophie. Er betont, daß es
keine einzige Vergiftung gibt, die in der Sehbahn Veränderungen schafft, die der
tabischen bzw. paralytischen Atrophie an die Seite gestellt werden können. Als
entscheidend für die Beurteilung der Atrophie bei Tabes und Paralyse hält St.
das Auftreten der exsudativen Prozesse. Bezüglich der Frage nach dem Zusammen¬
hang zwischen den degenerativen und exsudativen Prozessen, nimmt St. an, daß
wohl beide Prozesse voneinander unabhängig, aber auf ein und dieselbe Ursache
zurückzuführen sind. Als Ursache der Erscheinungen sieht er das organisierte
Virus an, das zuerst in der Pia sitzt und von da aus in das Innere des Chiasmas und
der Optici eindringt. Diese Anschauung hält St. vor allem auch durch das über¬
wiegende Vorhandensein von Plasmazellen für gestützt. Die Spirochäte selbst
aufzufinden, ist St. noch nicht gelungen, doch ist dies kein Gegenbeweis gegen seine
Ansicht.
2. Erkrankungen des Rückbildungs- und Greisenalters.
Arsimoles und Halberstadt (7) teilen ihr Thema in die drei Gruppen präsenile
Psychosen, arteriosklerotische Verwirrungszustände und senile Psychosen ein. In
den näheren Ausführungen halten sie sich im wesentlichen an die Forschungs¬
ergebnisse deutscher Autoren.
Bessiire (22) glaubt, daß mit den bisherigen Untersuchungen die Einheit
der Alzheimer sehen Krankheit noch nicht bewiesen ist.
Damage (48) rät, bei Alterserkrankungen in erhöhtem Maße auf die Ver¬
änderungen der inneren Organe zu achten.
Tamarin (227) berichtet über 4 Fälle von arteriosklerotischer Geistesstörung.
Der I. Fall zeigt den typischen Verlauf einer apoplektisch-arteriosklerotischen Ver¬
blödung im gewöhnlichen Alter. Fall II und III zeigen arteriosklerotische Störungen
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Pförringer, Organische Psychosen.
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mit schwerer Demenz schon in relativ frühem Alter. Im Fall II trat die Demenz
ohne ausgesprochenen Alkoholismus bereits in den fünfziger Jahren ein. und führte
langsam zu einem vollständigen Untergang der Persönlichkeit. Im III. Fall begann
die Demenz im Anschluß an sehr schweren Alkoholismus. Bei sehr schwerer here¬
ditärer Belastung mit ähnlichen Krankheitszuständen schon im 35. Lebensjahr und
führte zu einem der paralytischen Verblödung sehr ähnlichen Krankheitsbilde.
Fall IV stellt eine Kombination arteriosklerotischer Krankheitserscheinungen mit
progressiver Paralyse dar.
Klieneberger (116) zweifelt nicht an dem Vorkommen einfacher Optikus¬
atrophie bei zerebraler Arteriosklerose, was nicht nur vom klinischen Standpunkte
von Bedeutung ist, sondern bezüglich der Therapie nicht gleichgültig erscheint.
Die wesentliche Schädigung des Optikus geschieht nicht vielleicht durch den Druck
der arteriosklerotisch erkrankten Carotis, sondern durch die arteriosklerotische
Erkrankung der kleinen Gefäße, welche von der Carotis interna aus den intra¬
kraniellen Optikus versorgen.
Seelert (206) berichtet über eine 57 jährige Frau, die schon als Mädchen auf¬
fällig gewesen war und vielfach Störungen auf affektivem Gebiet gezeigt hatte.
Mit ca. 50 Jahren bekam sie krankhafte Eigenbeziehungen, wurde sehr mißtrauisch
usw. Später plötzliche Steigerung der Krankheitserscheinungen mit zahlreichen
Halluzinationen. Dieser Zustand, verbunden mit Reizbarkeit und Erregungen,
hält an. Nach 7 jähriger Dauer des Leidens ist von einer Verblödung noch nicht
die Rede. Die Klagen über Mißempfindungen sind als Mißdeutungen tatsächlicher
Erlebnisse aufzufassen — sie hat tatsächlich Störungen durch ihre Arteriosklerose.
Verf. glaubt, daß es sich um eine paranoide Erkrankung eigener Art handelt. Die
arteriosklerotischen Symptome würden in wahnhafter Weise mißdeutet. Die bei
der Kranken bestehende abnorme Veranlagung, besonders nach der affektiven
Seite soll ebenfalls auf einen von der paranoiden Demenz abweichenden Krank¬
heitsprozeß hinweisen.
Bender (15) hat das Löwysche Symptom nachgeprüft, und zwar an 40 Fällen
von Himerkr ankun gen nicht arteriosklerotischer Art und bei Arteriosclerosis cerebri.
B. konnte im ganzen die Befunde Löwys nicht bestätigen und betont, daß das
Löiry-Symptom nicht zur Differentialdiagnose des Frühstadiums der Arterio¬
sklerose herangezogen werden dürfe gegenüber der Neurasthenie und dem depres¬
siven Stadium des manisch-depressiven Irreseins. Nach Ansicht der Verfasserin
spielt eine psychische Komplikation die größte Rolle und das Symptom kommt
auch sehr oft bei rein funktionellen Störungen vor.
3. Hirntumoren.
Heinidee (89) teilt einen Fall von Akromegalie mit, für dessen Ätiologie er
— gegenüber der Möglichkeit eines Hypophysentumors — einen hydrozephalischen
Druck verantwortlich macht.
Rein (185) berichtet: Bei der Sektion einer 77 jährigen senil-dementen Frau
ergab sich als zufälliger Befund ein Cysticercus racemosus fossae Sylvii, der intra
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
vitam keinerlei Krankheitserscbeinungen gemacht hatte. Der Parasit bestand ans
einem zuammenhängenden racemösen Gebilde von neun Blasen, einigen größeren
und kleineren, teils bucbtigen Einzelblasen und einigen Resten abgestorbener Zysten,
die sämtlich in der erweiterten rechten Fossa Sylvii lagen. Mikroskopisch fand
sich neben atrophischen und arteriosklerotischen Veränderungen Druckatrophie
der dem Parasiten benachbarten Rinde und Zystizerkenmeningitis.
Wree (265) beschreibt einen Fall von Tumor cerebri, der lange Zeit nur All¬
gemeinsymptome zeigte. Erst gegen Ende der Krankheit waren Symptome auf¬
getreten, die lokalisatorisch verwertet werden konnten. Es handelte sich um ein
Gliom der großen Ganglien.
«. Klebelsberg (113) berichtet über einen Fall von seniler Demenz, bei dessen
Sektion eine faustgroße Zyste in der weichen Hirnhaut der rechten Sylvischen
Furche mit Zurückdrängung des Stimlappens als unerwarteter Befund festgestellt
wurde. Die Zyste hatte keinerlei klinische Erscheinungen hervorgerufen. Verf.
glaubt, daß der Befund auf einer früh entstandenen Entwicklungsstörung beruht.
Förster (67) berichtet über einen Fall, der mit Müdigkeit und Mattigkeit
erkrankte. Schließlich entstand Unfähigkeit zu gehen. Es entstanden Spasmen,
Babmski , leichte Benommenheit, Verschleierung der Papille, unterdrückbare Be¬
wegungen der Arme und Beine. Keine aphasischen Störungen, aber deutliche
dyspraktische, links stärker als rechts. Auffallender Mangel an Bewegungsantrieben.
Die gesamte Körpermuskulatur geriet mit dem Fortschreiten der Erkrankung
immer mehr in Spannung. Exitus nach einem Monat. Es wurde die Diagnose
Balkentumor gestellt. Die Sektion ergab ein Gliom, das den vorderen Teil des
Balkens einnahm und sich nach hinten bis in den mittleren Teil des Balkens aus¬
dehnte, bis in die Gegend der Verbindungen zwischen den Zentralwindungen.
Nach den Seiten war der Tumor etwas in die Hemisphären hineingewachsen. F.
bespricht die theoretischen Zusammenhänge und betont u. a., daß in der Gegend
vor der vorderen Zentralwindung die Erregungen zusammenlaufen, die aus den
dem Gedächtnis dienenden Hirnpartien geliefert werden und zum Zustandekommen
der Handlung erforderlich sind, während die von den Empfindungen stammenden
und zur Handlungsfolge erforderlichen Erregungen im Gyrus supramarginalis ge¬
sammelt werden.
Rvper (193) berichtet über einen Fall, der kurz nach einem psychischen Trauma
über lähmungsartige Schwäche der r. Körperhälfte und ziehende Schmerzen klagte.
Im Verlauf eines Jahres verschlechterte sich der Zustand wesentlich, Pat. wurde
unklar, war ständig benommen. Die Untersuchung ergab Symptome, welche den
Verdacht eines Tumors nahelegten; als die Erscheinungen immer deutlicher wurden,
wurde operiert. Der Tumor war im Hinterhauptslappen vermutet Bei der Punktion
wurde sehr viel Liquor entleert, ein Tumor wurde bei der Operation selbst nicht
gefunden. — Der psychische Zustand war nach der Operation wechselnd: bald
war der Patient klar und einigermaßen geordnet, dann wieder gehemmt, be¬
nommen usw. Einige Zeit nach der Operation zeigte sich ein Prolaps in der Gegend
der Operationsnarbe, der mehrmals punktiert wurde. Pat. blieb vor allem gehemmt,
war desorientiert. Allmählich nahm das Kiankheitsbild einen stationären Charakter
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Pförringer, Organische Psychosen.
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an. Körperlich: rechts lähmnngsartige Schwäche der Glieder, Abnahme des Seh¬
vermögens, Gesichtsfeldausfall rechts usw. Psychisch stand im Vordergrund eine
Abnahme der intellektuellen Fähigkeiten; daneben bestand die Unfähigkeit, sich
mündlich oder schriftlich zusammenhängend auszudrücken. Pat. wurde entmündigt
und ungeheilt XI. 1901 nach Hause entlassen. 11 Jahre später mußte Pat. wegen
eines Karzinoms neuerdings aufgenommen werden, nachdem er über 10 Jahre
hindurch sein Brot selbst verdient hatte. Er starb bald darauf. Die Sektion des
Gehirns ergab an der Basis des 1. Temporallappens unterhalb des Nucleus lenti-
formis und in diesen hineinreichend einen derben haselnußgroßen Tumor; in seiner
Umgebung zwei kleine Zysten. Es handelt sich um ein derbfaseriges Fibrom, dessen
Ausgangspunkt in den weichen Hirnhäuten zu suchen ist. Das Fibrom ist ödematös
geworden, erweicht und stellenweise zu Zysten zerfallen. Verf. nimmt an, daß
lange vor der ersten Aufnahme das Fibrom schon bestand. Mit dem Wachsen
der Geschwulst entstanden immer schwerere Himdruckerscheinungen, es bildete
sich eine Hydrocephalus internus, durch die Operation wurde der Tumor unter
andere mechanische und Emährungsverhältnisse gestellt und kam dadurch zu
Erweichung und zystischem Zerfall.
Bruns (35) betont, daß die Aussicht auf Erfolg bei der Operation eines Ge¬
hirntumors von drei Umständen abhängt. 1 von der pathologisch-anatomischen
Natur des Tumors, 2. von der Möglichkeit einer sicheren Allgemein- und Lokal¬
diagnose und 3. davon, ob der Tumor an einer chirurgisch zugänglichen Stelle
des Gehirns sitzt. Sehr wichtig ist das Verhalten des Tumors gegenüber seiner
Umgebung. Der Operation günstiger liegen die scharf umschriebenen Geschwülste
gegenüber den infiltrierenden. Zur ersten Gruppe gehören vor allem die Sarkome,
Endotheliome, Fibrome, die infektiösen Granulome und die Parasiten, der wich¬
tigste und dabei sehr häufige Vertreter der zweiten Gruppe ist das Gliom. Von
allen Geschwülsten bieten die beste Aussicht für die Operation die extrazerebral
entstehenden Endotheliome, manche Sarkome und die Neurofibrome. B. bedauert,
daß die Diagnostik der pathologisch-anatomischen Natur der Geschwülste, die ja
die Indikation für die Behandlung abgibt, am Krankenbette heute noch vielfach
versagt, ganz besonders häufig gegenüber den wichtigsten Tumoren, den Gliomen,
Sarkomen und Endotheliomen. Bezüglich der Lokaldiagnose stehen die Tumoren
der Zentralwindungen, die des Pons und der hinteren und mittleren Schädelgrube
obenan. Auch die des Kleinhirns hat sich gebessert. In zweiter Linie stehen die
Geschwülste der Vierhügel, der Okzipitalwindungen und der Parietallappen. Die
chirurgische Angreifbarkeit der Hirntumoren ist durch die Fortschritte der Chirurgie
sehr erweitert worden, unangreifbar werden aber immer die Geschwülste im Hirn¬
stamm, den Vierhügeln, dem Pons, der Medulla oblongata und die im dritten
Ventrikel bleiben. Nach B.s Erfahrungen bringt die Chirurgie in 3—4 % aller
Hirntumoren Heilung. Zum Schluß bespricht B. die Indikationen der heute viel
geübten Palliativoperationen.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
4. Psychosen bei Herderkrankungen und anderes.
Bickel (26) beschreibt einen Fall von funikulärer Myelitis, bei der neben
Optikusneuritis allgemeine Druckschmerzhaftigkeit der Nervenstämme und der
Muskulatur und eine doppelseitige Radialislähmung bestand.
Edmger und Fischer (61) berichten über einen Fall vollkommenen Mangels
des Großhirns. Das Geschöpf wurde 3% Jahre alt. Das Kind schlief fast immer.
Es schrie viel, besonders nach dem 1. Jahr; Saugbewegungen wurden ausgeführt.
Es lag ständig vollständig steif, ohne sich zu bewegen. Keine Spur einer psychi¬
schen Entwicklung. Die Hemisphären waren in ganz dünne vielgefaltete Membranen
verwandelt. Es entstand dadurch eine Blase, die im wesentlichen aus Gliagewebe
bestand. Das Paläencephalon war vollkommen ausgebildet. Die Blasen zeigten,
in Wasser gelegt, Gestalt und Größe einer Hemisphäre; an ihrer Innenfläche waren
kleine Klümpchen weißer Substanz zu erkennen. Rückwärts vom Chiasma nähern
sich die Verhältnisse dem normalen Bilde. Die Pyramidenstränge fehlen voll¬
ständig; der Himstamm ist vollkommen intakt. Verf. glauben, daß es sich in dem
beschriebenen Fall um einen von den Gefäßen ausgehenden Prozeß gehandelt hat,
der nach dem 6. Monat eingesetzt haben muß. Die mikroskopische Untersuchung
ergab: Fehlen der Pyramidenbahn; Oblongata normal bis in die Brückengegend,
Corpus dentatum gelichtet, Himschenkelfuß gänzlich marklos, das Pulvinar ent¬
hält keine Nervenfasern, die Thalamusganglien fehlen vollständig; der Optikus
fehlt usw. — Von den Hemisphären ist keine Spur vorhanden. Verf. heben noch
besonders hervor, daß dieses Kind ohne Großhirn viel weniger leistete als ein Fisch
oder Frosch ohne Großhirn.
Frankel und Jakob (71). Im klinischen Teil schildert Fränkel einen Fall von
akuter multipler Sklerose, der sich durch auffallend raschen Wechsel der Symptome
und den kurzen Verlauf (2% Monate) auszeichnet. Verf. nimmt an, daß der frühe
letale Ausgang vornehmlich auf den pontinen und bulbären Sitz der Herde zurück¬
zuführen ist, die wichtige Zentren der vegetativen Funktionen schädigten. — Die
anatomische Untersuchung des Falles führte Jakib aus, der folgende Schlu߬
folgerungen gibt: Eine prinzipielle Sonderstellung kommt der akuten Form der
multiplen Sklerose gegenüber der gewöhnlichen, mehr chronischen Verlaufsart
nicht zu, sie ist als deren akute Form hinreichend charakterisiert. Die multiple
Sklerose zeigt im anatomischen Bilde nahe Verwandtschaft mit der nicht eitrigen
Myelitis.
Reusch (187) fordert im Anschluß an einen Exitus nach Lumbalpunktion bei
einer Urämischen — die Patientin war an einer Blutung in die linke Capsula interna
gestorben —, daß bei Urämikem mit sehr hohem Blutdrucke die Lumbalpunktion
abgebrochen werden muß, wenn bei derselben ein relativ geringer Lumbaldruck
gemessen wird. Bei Fällen mit hohem Lumbal- und niedrigem Blutdruck wird die
Gefahr einer Blutung geringer sein.
Rothmann (195) hat am Hund die Funktionen der Kleinhimrinde im Gebiet
des Mittellappens studiert. Auch hier besteht eine funktionelle Differenzierung.
Die reine Ausschaltung des Lobus ant. bedingt Störungen der Nacken- und Hals-
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Pförringer, Organische Psychosen.
197*
muskulatur, zugleich eine Schwäche der Kiefer- und Zungenmuskulatur neben
anderen Störungen. Reine Ausschaltung der Rinde des Lob. med. post, bedingt
Unsicherheit in der Kopfhaltung, und eine hochgradige Rumpfmuskelschwäche.
Wird nur der vordere Abschnitt des Lob. med. post, zerstört, so entwickelt sich
Kopftremor, wird der hintere Abschnitt zerstört, so entsteht Schwäche und Ataxie
des Hinterkörpers. Völlige Zerstörung der Rinde des Mittelteils des Kleinhirns
bewirkt anfangs völlige Aufhebung der Lokomotion. Beim Menschen ist die Aus¬
bildung des Mittelteils des Kleinhirns durch die Annahme des aufrechten Ganges
und die besondere Ausbildung der Arme zu Greiforganen wesentlich verändert.
Trömner und Jakob, A. (234). Ein achtjähriges Mädchen zeigte 6 Wochen
nach einer diphtheritischen Injektion Fazialisparese, später Schluckstörungen,
dann auch noch Paresen des Lev. pulp., Rectus sup. u. int., Gaumenparese, Schluck-
und dysarthritische Sprachstörung und Schwäche der Kopfbewegungen. Schließlich
Zuckungen im Gesicht .und in der Gliedmuskulatur. Nach 5% Monaten Tod an
Schluckpneumonie. Die von Jakob unternommene anatomische Untersuchung
ergab entzündliche Veränderungen der Gefäße, im Bulbus ältere und frische Blu¬
tungen, Lymphozyteninfilträte, stellenweise Beginn einer weißen Thromben -
bildung und Ganglienzellendegenerationen. In den peripheren Nerven war das
Perineurium entzündlich infiltriert, das Nervenparenchym stellenweise durch
Lymphorrhagien zerstört.
Ulrich, M. (236) faßt die Ergebnisse ihrer Untersuchungen über die Lehre
vom angeborenen Kemmangel folgendermaßen zusammen: Unter „angeborenem
Kemmangel“ verstehen wir eine fehlende bzw. unvollkommene Entwicklung der
motorischen Himnervenkeme, die sich klinisch durch entsprechende Beweglich¬
keitsdefekte äußert. Die klinischen Erscheinungen können bereits bei der Geburt
vorhanden sein (angeborene Form) oder erst im Laufe des extrauterinen Lebens
zutage treten (abiotrophische Form). Im ersten Falle ist der Zustand meist von
Geburt an ein stationärer, ja sogar bisweilen einer gewissen Besserung fähig. Im
zweiten Fall wird entweder eine gewisse Höhe der krankhaften Erscheinungen
erreicht, auf der sie weiterhin verharren, oder es findet eine dauernde Progression
statt, die aber im allgemeinen keino gleichmäßige ist, sondern in einzelnen Schüben
verläuft, welche durch Zeiten des Stillstandes oder solche mehr oder weniger voll¬
ständiger Besserung getrennt sind. Auf diese Weise entstehen Krankheitsbilder,
die klinisch teils in die Gruppe der progressiven Nuklearerkrankungen, teils in
die der rezidivierenden resp. periodischen Okulumotoriuslähmung hineingehören.
Durch die, namentlich bei den abiotrophischen Formen, nicht selten unter dem
Einfluß der Ermüdung auftretenden momentanen Schwankungen entsteht ge¬
legentlich eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit der Myasthenie, der aber höchst¬
wahrscheinlich keine innere Verwandtschaft zugrunde liegt. Die den abiotrophi¬
schen Formen entsprechenden Entwicklungsstörungen im Rückenmark sind unter
dem Namen der frühinfantilen spinalen Muskelatrophie bekannt, während unsere
Kenntnisse von den angeborenen Formen, ebenso wie von den analogen Entwick¬
lungsstörungen an den sensiblen Himnervenkemen noch sehr unsichere sind. Die
echten Kemaphasien und -hypoplasien sind endogener Natur und gehören daher
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198* Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
ihrer klinischen Stellung nach in die Gruppe der hereditären Degenerationen; da¬
neben gibt es noch sog. dysplastische Formen, welche auf äußeren Schädlichkeiten
beruhen, die den noch unfertigen Kern treffen und in seiner Entwicklung hemmen.
Sie können klinisch die gleichen Erscheinungen machen, wie die echten endogenen
Aphasien, sind aber, als exogene Erkrankungen, theoretisch prinzipiell von diesen
zu trennen.
Weslphal, A. (248) bemerkt, daß der klinische Verlauf der Pseudosklerosen in
Verbindung mit den eigenartigen, auch auf eine frühe, vielleicht schon embryonale
Entstehungszeit hinweisenden zirrhotischen Veränderungen, es wahrscheinlich
macht, daß Schädlichkeiten, Alkoholismus, Syphilis vorwiegend, vielleicht aus¬
schließlich ihre Wirkung auf noch in der Entwicklung begriffene Organe ausüben.
Damit könnte eine Brücke zwischen den heute sich gegenüberstehenden Auffassun¬
gen von der exogenen oder endogenen Entstehung der Erkrankung geschlagen
werden.
Krüger (118) fand: Bei der Dementia paralytica kommt es zu einer der Krank¬
heitsdauer etwa proportionalen Himatrophie. — Bei der Dementia senilis kommt
es ebenfalls zu einer Verringerung des Hirngewichts, die die normale im Alter auf¬
tretende Abnahme desselben weit überschreitet. — Auch bei den an Dementia
arteriosclerotica Verstorbenen ergab sich eine Abnahme der Himsubstanz (große
Differenz zwischen Hirngewicht und Schädelkapazität). Das Himgewicht bleibt
dem normalen etwa gleich. — Bei Dementia-präcox-Kranken kommt es in einem
Teil der Fälle zu einer Himatrophie. — Bei der Epilepsie bleibt in der Regel ein
hohes Gehirogewicht erhalten; doch tritt in einzelnen Fällen auch beträchtliche
Atrophie ein. — Bei angeborenen Schwachsinnigen scheint eine wesentliche Atro¬
phie des Gehirns im Laufe des Lebens nicht einzutreten. — Bei den funktionellen
Psychosen sind die Himgewichte normal. — Alle Fälle sog. Amentia weisen auf
Grund der Reichardtschm Himschwellung Volumen Vermehrung auf.
Goldstein, K. (80) faßt die Ergebnisse seiner Unersuchungen in folgenden
Sätzen zusammen: 1. Der grammatikalische Aufbau der Sprache verdankt seine
Entstehung zwei verschiedenen Grundvermögen. Er basiert auf der „Grammatik
des Denkens“, der syntaktischen Ordnung der einzelnen Gedankenglieder in einer
Reihe, die die einheitliche Zusammengehörigkeit der Teilglieder zu einem einheit¬
lichen Ganzen wiederspiegelt. Er findet seinen äußeren Ausdruck durch die Um¬
setzung der geordneten Gedanken in die rein sprachlichen Formen. Der grammati¬
kalische Aufbau ist also vom Denken resp. dem Denkorgan und von der Sprache
resp. dem Sprachfelde abhängig.
2. Dementsprechend sind grammatikale Störungen, (ie von den Störungen
der Sprache abhängen, von solchen zu unterscheiden, die von den Störungen des
Denkens abhängen. Beide Arten von Störungen sind auch rein symptomatisch
völlig verschieden.
3. Bei den „sprachlichen“ Formen des Agrammatismus sind wiederum ver¬
schiedene zu unterscheiden, die sich als Folge der durch die zugrunde liegende
Sprachstörung gesetzten Defekte erklären lassen. So ist der sogenannte Depeschen-
stil bedingt durch eine rein motorische Erschwerung und durch den Defekt, den
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Pförringer, Organische Psychosen.
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die gleichzeitig bestehende zentrale Aphasie setzt. Der sogenannte sensorische
Agrammatismus ist eine Folge der amnestischen Aphasie und der zentralen Aphasie.
Die reinsten Formen des rein sprachlich bedingten Agrammatismus, die einen Ausfall
der rein sprachlich bedingten spezifisch grammatikalischen Formen zeigen, sind eine
notwendige Folge der Funktionsstörung bei der zentralen Aphasie.
4. Die von den Störungen der Gedankentätigkeit abhängigen Formen des
Agrammatismus sind vor allem bei den „eigentlichen transkortikalen Aphasien“,
<L h. den durch eine Läsion des Begriffsfeldes bedingten, zu beobachten und doku¬
mentieren sich vor allem in fehlerhafter Stellung der an sich erhaltenen Sprach-
formen in gedanklicher Unordnung.
Bisgaard (28) stellt fest, daß bei den von ihm herangezogenen organischen
Erkrankungen in der Spinalflüssigkeit bald eine Alb umin -, bald eine Globulin¬
vermehrung stattfindet, am häufigsten sind beide vermehrt; dann aber ist, mit
Ausnahme der progressiven Paralyse, die Albuminfraktion am stärksten. Bezüg¬
lich der Nonne-ApettschenEiweißprobe betont er, daß sie für klinische Zwecke nicht
vollständig sei, weil die quantitative Schätzung sehr unsicher sei, und weil sie
ausschließlich eine Globulinprobe geworden sei.
Lomer (125) hat einen Fall von syphilitischer Pseudoparalyse mit Salvarsan,
dann mit Tuberkulininjektionen behandelt. Nach 2 x 0,6 Salvarsan hatte sich
nur eine Besserung in Schrift, Sprache und Gang gezeigt. Später Natr. nuclein.
und wieder Salvarsan. Im allgemeinen besserte sich der Zustand — Pat. beschäftigt
sich mit Bureauarbeiten —, doch ist er durchaus nicht gesund. Ein zweiter Fall
— eine Paralyse — wurde ganz ohne Erfolg mit Natr. nucl. behandelt.
Pfersdorf} (174) spricht über die Beziehungen zwischen den Sprachstörungen,
welche organisch begründet sind, und solchen, die rein psychotischen Ursprungs
sind. Die sensorisch-aphasischen, transkortikal-sensorischen und amnestischen
Störungen mit ihrem Rededrang führen zu Veränderungen im Einzelwort wie im
Satzbau. Auch der Agrammatismus mit verwandten Störungen ist zu nennen.
Agrammatismus und Störungen des Einzelwortes lassen sich bei psychotischen
Sprachstörungen kombiniert feststellen. Pf. berichtet über einen Fall mit schwerer
Kommotion. Nach Ablauf der ersten acht Tage bot Pat. durch mehrere Monate
hindurch folgendes: Die mitteilende Spontansprache ist nicht gestört; das Nach-
sprechen ist nicht gestört. Dagegen sind die sprachlichen Leistungen, die zur Repro¬
duktion dienen, gestört, und zwar wird nur in kurzen Sätzen gesprochen, einzelne
Worte werden perseveriert; die Auswahl der Worte ist verschroben. Nebenvor¬
stellungen, die assoziativ angeregt wurden, werden ausgesprochen und stören da¬
durch den S inn. Längere Aufforderungen und längere Gedankenreihen werden
nicht verstanden. Ähnliche Erscheinungen sind gelegentlich bei Katatonie oder
überhaupt bei spontanem Rededrang zu beobachten. Pf. bespricht schließlich
den Unterschied zwischen aphasischen und psychologischen Störungen; er betont,
daß es sich bei den Geisteskrankheiten meist um Reiz-, bei den Aphasien dagegen
um Ausfallserscheinungen handle.
Steiner (219) stellt zwei Fälle Friedreichscher hereditärer Ataxie vor und
bespricht im Anschluß daran die Differentialdiagnose gegenüber Tabes, multipler
Sklerose und Dystrophia musculorum progressiva.
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200* Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Weber (245) stellt fest, daß einer scheinbar funktionellen Psychose oft ana¬
tomisch nachweisbare Veränderungen verschiedener Art zugrunde liegen können.
In den meisten Fällen bandelt es sich darum, daß auf einen chronischen Prozeß
im Gehirn eine akute Schädigung einwirkt. Diese erst verursacht durch ihre Ein¬
wirkung auf das bereits geschädigte Gehirn stärkere Funktionsstörungen. Als
solche Momente kommen in Betracht: Traumen, Kreislaufstörungen, Infektionen
usw. Gewiß liegen die Verhältnisse in manchen Fällen so, wo bisher die Hypothese
von einer angeborenen Prädisposition aushelfen mußte.
Witte (253) fand bei einem Fall von perniziöser Anämie Degenerationsherde
hauptsächlich n den Hintersträngen. An den kleinsten Herden ist zu erkennen,
daß die Myelinscheiden der weißen Markfasern aufgequollen sind. Entzündliche
Erscheinungen fehlen. Viele kleine Arterien zeigen eine hyalin veränderte Media.
— In einem Fall von Atrophie olivo-ponto-cöröbelleuse fand sich eine chronische
Leptomeningitis des Großhirns. Das Kleinhirn war auffallend klein (90 g); mikro¬
skopisch zeigte sich eine Sklerose des Cerebellum. Besonders Atrophie der mole¬
kularen Schicht, Lichtung der Kömerschicht und Verschmälerung der Mark¬
substanz. Die Purkinje sehen Zellen waren vollständig verschwunden. Von den
Kleinhimbahnen sind die zur Vierhügelgegend intakt und die zur Brücke gelichtet.
Die Fibrae arcuatae int. u. oliv.-cerebell. sind fast ganz zugrunde gegangen. Die
Oliven sind atrophiert und zeigen starke Gliawucherung.
Liepnumn (124) betont, daß die bisherigen Forschungen das Überwiegen der
linken Hemisphäre bei allen Sprachverrichtungen bewiesen haben. Seine Unter¬
suchungen haben nun weiter gezeigt, daß die linke Hemisphäre für die Praxis
überhaupt überwiegt, und zwar hat sich speziell herausgestellt, daß die rechte
Hemisphäre nicht imstande ist, Bewegungen ohne Objekt zu machen: Die rechte
Hemisphäre ist für die freien Bewegungen auf die Hilfe der linken angewiesen. —
Das Sprechen ist eine freie objektlose Bewegung. Dio Minderwertigkeit der rechten
Hemisphäre für Phasie und Praxie basieren beide auf der nämlichen Unzulänglich¬
keit: Bewegungen ohne Objekte zu dirigieren.
Nieuwenhuijse (159) stellt fest: Die tuberkulöse Sklerose und die multiple
Neurofibromatosis stellen sowohl in ihrqn klinischen Erscheinungen' wie in ihren
anatomischen Veränderungen zwei durchaus verschiedene Affektionen dar. Die
Hautfibrome haben für jede Krankheit ihre besondere Eigenart. Im Gehirn findet
sich eine Reihe typischer Prozesse in den seltenen Fällen, in denen die ReckUng-
hausensche Erkrankung mit Hirn Veränderungen einhergeht. Diese Veränderungen
stimmen mit den Befunden bei der tuberösen Sklerose meist überein.
Obersteiner (168) ist überzeugt, daß in der Pathogenese der meisten, wenn
nicht aller Nervenkrankheiten neben einem exogenen noch ein endogener Faktor
mitwirkt, wenn auch letzterer oft versteckt, erst nach genauer Prüfung auffindbar
ist. 0. bespricht eine ganze Reihe von Abweichungen im Zentralnervensystem,
die auf Anlagefehlern beruhen.
Apraxie präzisiert Heveroch (92) als eine Störung der Handlung, wobei die
Handlung als Resultat einzelner zu bestimmtem Zweck ausgeführten Bewegungen
zu betrachten ist. Die Störung liegt darin, daß der Pat. entweder etwas anderes
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Pförringer, Organische Psychosen.
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macht, als man von ihm verlangt, oder die einzelnen Komponenten der Handlung
ao zusammenordnet, daß er die geforderte Aufgabe nicht zustande bringen kann.
Der Pat. muß aber unsere Fragen verstanden haben. Mit anderen in Endresultaten
zuweilen gleichen Erscheinungen darf Apraxie nicht verwechselt werden und ist
scharf von der Paralyse-Lähmung der Muskeln, der Ataxie-Bewegungsstörung
und Störung der Form der Handlung und den Tremor-Störungen infolge Vibra¬
tionen der Extremität zu unterscheiden, Bei der Apraxie lassen sich noch drei
Typen unterscheiden: 1. Die Unfähigkeit zu koordinierten Bewegungen infolge
des Willensunvermögens den Automatismus zur Tätigkeit zu bringen, 2. infolge der
Störungen in der automatischen F unk tion der Handlung und 3. infolge beider
dieser Störungen zugleich und einer Störung der Fähigkeit, sich einzelne Bewegungen
als Komponenten nacheinander bewußt zu machen. Autor pointiert die erste Form.
Reiche Kasuistik. Auf die eingehende Kritik der betr. Literatur, namentlich der
Liepmarmsehen Arbeit, kann im Referat nicht eingegangen werden.
(. Jar . Sluch&fc-Zürich.)
Die reine Alexie, die auf Wortblindheit oder Worttaubheit besteht ist nach
Sierba (222) ziemlich selten. In vielen als Alexie figurierten Fällen handelt es sich
um Anopsie (Kasuistik), weil dabei durch Verengerung des Gesichtsfeldes nur das
Bild eines Buchstaben auf der Macula entstehen kann, aber nicht des ganzen Wortes;
schon beim Gesunden kann man konstatieren, daß, was außerhalb des 6° großen
Sehwinkels liegt, nicht mehr als lesbar bezeichnet werden kann.
(Jar. Stuchlik- Zürich.)
Für die Sprachstörungen, Dysphemie, schlägt Peluas (172) folgende Klassi¬
fikation und Terminologie vor: 1. Aphasische Dysphemie — die schwere Form
Aphasie; 2. intermediäre Dysphemie — die Aphemie oder sog. reine motorische
Aphasie; 3. paretische Dysphemie (Dysarthrie) — Anarthrie. Analog für die Schreib¬
störungen. Die Termini Paraphasie und Paragraphie soll man wegen ihrer Un¬
bestimmtheit lieber verlassen; für intermediäre Dysfunktionen könnte man gut
den Heverochschen Begriff „meristische Funktionen“ anwenden. Was die ana¬
tomische Lokalisation einzelner Funktionen betrifft, zeigt Verf. an der Kompli¬
ziertheit der Frage und unsere vollkommen ungenügende Kenntnisse darüber
(im Ref. läßt sich die Diskussion nicht wiedergeben). Mitteilung eines Falles, bei
welchem es sich um Dysarthrie mit Dysgraphie handelt (der Pat. versteht richtig,
entwickelt die motorischen Wortbilder richtig, spricht aber schlecht aus und schreibt
dazu noch schlecht). Im Heverochschen Schema (vgl. die Ref. über Uweroch) aus¬
gedrückt:
F 2 - F s (arthr.)
/ ~
F\ -=
£*- F, (grf.)
(Unterstrichene Funktionen gestört.) (Jar. Stuchlik-Züiich.)
Szabo (224) untersuchte die Fermentwirkungen des Liquor cerebrospinalis
bei verschiedenen Geisteskrankheiten und fand: Der Liquor enthält nur wenige
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
und schwach wirkende Enzyme. Diastase fand sich, wenn auch in geringem Grade,
in der vielleicht als normal anzusehenden Zerebrospinalflüssigkeit bei Hysterie
und Manie. Bei neutraler und schwach alkalischer Reaktion besitzt die Zerebro¬
spinalflüssigkeit eine fettspaltende Eigenschaft. Der Liquor enthält ein ziemlich
stark wirkendes oxydationvermittelndes Enzym. Der Liquor übt auch eine schwache
katalytische Wirkung aus. Die pathologische Rückenmarksflüssigkeit übt stärkere
Fermentwirkungen aus als die normale. Die Enzymbildung dürfte mit der Sekre¬
tionstätigkeit des Plexus chorioideus Zusammenhängen. Die Enzymwirkungen
des Liquor cerebrospinalis beweisen, dafl diese Flüssigkeit im Stoffwechsel des
Zentralnervensystems sowohl unter normalen wie unter krankhaften Verhältnissen
eine aktive Funktion erfüllt.
Giese (78) untersuchte im Anschluß an einen Fall zahlreiche Geisteskranke
auf die Erscheinungen der Pseudoneuritis optica. Er fand, daß die Abweichungen,
welche die Pseudoneuritis von dem normalen Bau des Sehnervenkopfes bietet,
kongenitale Anomalien sind. Dies scheint auch bestätigt zu werden durch die Beob¬
achtung, daß diese Erscheinungen vier- bis fünfmal häufiger bei solchen Kranken
gefunden wurden, deren psychisches Leiden nachweisbar auf Entwicklungsstörung
des Gehirns basierte (besonders bei Imbezillen und Idioten).
Heveroch (93) weist literarisch nach, daß Broea nicht die sog. motorische
Aphasie beschrieben hat, sondern eine Störung, bei welcher der Pat. „a perdu non
la m6moire des mots, mais la mömoire des moyens de coordinations que l’on emploie
pour articuler les mots“, d. i. also Amerisia in Verf.s Sinne. Die kortikale moto¬
rische Aphasie hat er auch nicht beschrieben, denn diese Störung ist eine kompli¬
zierte, die man nun ganz falsch dem Broca zuschreibt (vgl. Ref. über Amerisia.)
(Jar. Stuchlik- Zürich.)
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
235 *
Wittermann, E., Psychiatrische Familienforschungen. Ztschr.
f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 20, S. 153.
Wolf , E. (Gießen), Ferdinand August Maria Franz von Rittgen.
Ein Beitrag zur Geschichte der Medizin und Naturphilosophie.
48 S. Halle, C. Marhold. 1,50 M.
Woolej/, J. M. (Port Blair), Suicide among Indian convicts under
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Thacker Sprinck & Co., 1912. (S. 238*.)
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0. Ziem, L’alienation mentale en Oceanie. Le caducee no. 11, p. 148.
Areh. intern, de Neurol. no. 4, p. 240.
I. Allgemeines.
Cuno (86), Chefredakteur der „Berliner Morgenpost“, gibt zu, daß in der
esse über alles psychiatrische Wesen vielfach noch gänzlich ungeklärte, schiefe,
r die Sache selbst überaus schädliche Vorstellungen herrschen, betont aber, daß
} Presse hieran nicht allein schuld sei. Er fordert die Psychiater auf, aufklärend
wirken durch Abhaltung allgemeinvferständlicher Vorträge über psychiatrische
inge zunächst für Vertreter der Presse, und gibt hierfür beachtenswerte Winke.
Becker (25) gibt eine kurze Übersicht über die sozialen Aufgaben des psy-
natrisch tätigen Arztes und würdigt besonders seine forensische Wirksamkeit.
Lauche (256): Es ist eine kurze, aber inhaltsreiche Abhandlung über den
chlaf und die Störungen des Schlafes. Das Buch hat durchaus wissenschaftlichen
'harakter, bringt ein, wenn auch bei dem großen Umfang der Literatur nicht voll-
tündiges, aber doch ausreichendes Literaturverzeichnis neben vielfachen Hin-
veisen im Texte selbst. Neben der Schlaflosigkeit wird auch die Schlafsucht be¬
handelt. Ausführlich sind die theoretischen Grundlagen behandelt. (Grimme.)
Engelen (121): Eine recht flotte Schrift, die gegen die schon so häufig be¬
sprochene, aber immer wieder neu empfundene, etwas schematische und pedantische
und den Zusammenhang mit dem Leben nicht immer wahrende Lehrmethode
unserer höheren Schulen zu Felde zieht. Dabei verzichtet der Verfasser auf spezielle
Erörterungen und hält sich an allgemeine, höhere Gesichtspunkte, die nicht
Schlagworte darstellen, sondern wirklich von uns gebraucht werden können, wie
z. B. völkisches Selbstbewußtsein, nationaler Stolz und Vermeidung einer Über¬
treibung in der Entwicklung des Gefühlslebens bei der Frau. Der Abschnitt über
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die Hygiene des geistigen Axbeitens kann jedem Erzieher und jedem Arbeitenden
besonders empfohlen werden. Man sieht es dem Schriftchen nicht ohne weiteres
an, daß es von einem Arzte geschrieben ist; es könnte auch von jedem im Leben
stehenden Manne verfaßt sein. Das ist ein besonderer Vorteil. Aber da es von
einem Arzte geschrieben ist, der in seiner Sprechstunde die Schäden kennen lernt,
gewinnt sie an tatsächlichem Werte. Doch wird man angesichts dessen, was unser
Volk in dem Kriegsjahre 1914 zum blöden Erstaunen der ganzen Welt schon ge¬
leistet hat und noch leisten wird, nicht auch den humanistischen Unterrichts¬
anstalten wieder freundlicher gesinnt werden? (Grimme-Hildesheim.)
Von Kraepelins (249) Lehrbuch der Psychiatrie liegt der II. Teil des III. Bandes
vor. Er behandelt die endogenen Verblödungen, das epileptische und das manisch-
depressive Irresein. In erster Linie interessiert naturgemäß die Fassung der Dementia
praecox. Sie stellt die Hauptform der endogenen Verblödungen dar und zerfällt
ihren Verlaufsformen nach in zehn Gruppen. Als besondere klinische Formen
werden unterschieden: die einfache, schleichende Verblödung, Dementia simplex;
die läppische Verblödung, Hebephrenie; die depressive oder stupuröse Verblödung;
die depressive Verblödung mit Wahnbildungen; die zirkuläre, agitierte, periodische
Form, die Katatonie, die paranoiden Formen und die mit Sprachverwirrtheit einher¬
gehenden Formen = Schizophasie. Die zweite Hauptform der endogenen Ver¬
blödung bilden die paranoiden Verblödungen = Paraphrenien. Hier wird unter¬
schieden zwischen Paraphrenia systematica und schleichender Entwicklung stetig
fortschreitenden Verfolgungswahns und später sich anschließenden Größenideen
ohne Zerfall der Persönlichkeit —, Paraphrenia expansiva mit üppigem Größen¬
wahn, gehobener Stimmung und leichter Erregung —, Paraphrenia confabulans,
ausgezeichnet durch die beherrschende Rolle von Erinnerungsfälschungen, mit
Wesensänderung, Erzählung abenteuerlicher Erlebnisse im Sinne eines Verfolgungs¬
und Größenwahns —, Paraphrenia (Dementia) phantastica mit abenteuerlichen,
zusammenhangslosen, wechselnden Wahnvorstellungen. — Das manisch-depressive
Irresein umfaßt das ganze Gebiet des sogenannten periodischen und zirkulären
Irreseins, die einfache Manie, den größten Teil der als Melancholie bezeichneten
Krankheitsbilder und eine nicht unerhebliche Anzahl von Amentiafällen; dazu
gerechnet werden auch gewisse leichte und leichteste, teils periodische, teils dauernde
krankhafte Stimmungsfärbungen, die einerseits als Vorstufe schwerer Störungen
anzusehen sind, andererseits ohne scharfe Grenze in das Gebiet der persönlichen
Veranlagungen übergehen. In allen diesen Krankheitsbildem sieht der Autor nur
Erscheinungsformen eines einzigen Krankheitsvorganges. Einen bestimmten
engen Kreis von Störungen findet er bei allen Formen des manisch-depressiven
Irreseins wieder; alle hier zu einer klinischen Einheit zusammengefaßten Krank¬
heitsformen gehen ohne erkennbare Grenzen ineinander über, sie können sich auch
in ein und demselben Krankheitsbilde ablösen und vertreten; alle hier zusammen¬
gefaßten Formen haben eine einheitliche Prognose, sie können sich auch in der
Vererbung gegenseitig vertreten. — Bezüglich der genuinen Epilepsie wird betont,
daß ihre genauere Durchforschung eine Reihe von Erfahrungen zutage fördert,
die darauf hinweisen, daß die epileptischen Krankheitserscheinungen von all-
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gemeinen Umwälzungen im Köiperhaushalte begleitet sind. „So liegt jedenfalls
die Annahme am nächsten, daß wir es bei der genuinen Epilepsie mit krankhaften
Abweichungen im Körperhaushalt zu tun haben, durch die im Gehirn bestimmte
Veränderungen als nächste Ursache der epileptischen Krankheitserscheinungen
hervorgerufen werden; fraglich ist nur, welcher Art die Stoffwechselerkrankung
ist, und wo sie ihren Sitz hat.“
Rosenfeld (364) gibt in der II. Abteilung des allgemeinen Teils von Aschaffen -
burgs Handbuch der Psychiatrie eine vorzügliche Übersicht über die Physiologie
des Großhirns und zeigt, welche Rolle das Großhirn des erwachsenen Menschen
im Laufe seiner phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklung übernommen
hat. Der Autor behandelt zunächst die Physiologie der Großhimzirkulation, be¬
spricht dabei die Theorie des Himdrucks, dann eine orientierende Übersicht über
die Lehre von der Lokalisation psychischer Funktionen in der Großhirnrinde und
schließt daran die Physiologie der Großhimganglien, des Balkens und der Hypo¬
physe.
In demselben Bande behandelt lsserlin (207) die Stellung der Psychologie
in der Psychiatrie. Der bekannte Autor erörtert kurz die grundlegenden Begriffe,
welche die Psychopathologie der allgemeinen Psychologie entnimmt, und betont
die Bedeutung der Psychologie für die Psychiatrie. Die wertvollen, interessanten
Ausführungen und Erörterungen erfüllen ihren Zweck, für die Psychopathologie
vorzubereiten, in ausgezeichneter Weise.
Fuhrmann (149) hat die zweite Auflage seines kurzen Lehrbuches heraus¬
gegeben. Die erste erschien 1903. Es besteht aus zwei Teilen, einem allgemeinen
und einem speziellen. Gegenüber der ersten Auflage ist der erste Teil nur wenig
verändert; der zweite naturgemäß recht erheblich. In dem Vorwort heißt es, daß
dieses Kompendium rein praktische Ziele verfolgt und daß alles Theoretische bei¬
seite gelassen ist. Überall sei eine möglichst exakte Kürze des Ausdrucks angestrebt.
Man muß zugeben, daß dies gelungen ist. Das Buch zeichnet sich durch eine wohl¬
tuende Kürze aus; die Ausführungen und Schilderungen sind klar und bestimmt.
Der allgemeine Teil führt recht gut in das wirre Bild psychiatrischer Erscheinungen
hinein. Gerade wegen des Fehlens theoretischer Ausführungen wird er dem An¬
fänger das Eindringen in den Stoff erleichtern. Er zeigt, wie man an die Unter¬
suchung eines Geisteskranken herangehen soll. Wünschenswert wäre ein noch
genaueres Eingehen auf die Serodiagnostik gewesen. Die Meinung Fuhrmanns ,
daß der positive Ausfall der Nonne-Apelt sehen Reaktion nur bei Paralyse und
Himlues eintritt, wird fraglos in einer dritten Auflage nicht wiederholt werden.
Im speziellen Teile wird man nicht in allen Teilen der Einteilung folgen.
Es ist dies allerdings ein viel umstrittenes Gebiet, das auch in Zukunft noch
manche Änderung erfahren wird. Ich z. B. glaube nicht, daß die Aufstellung
eines besonderen Krankheitsbildes der Katatonie neben der Dementia praecox
Anklang finden wird. Fuhrmanns Beweisführung ist recht wenig stichhaltig; ich
fürchte, daß hierauf sogar Anfänger aufmerksam werden können. Er sagt, daß
*/, aller Fälle von Dementia praecox catatonica zur Geistesschwäche oder Blöd¬
sinn führten und daß 1 / t in völlige Genesung überginge. Dieses eine Drittel sondert
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er ab, obgleich er unmittelbar darauf zugibt, daß sich beide Psychosen in ihren
klinischen Zustandsbildem und ihrer gesamten Symptomatologie nach unseren
bisherigen Kenntnissen so wenig voneinander unterschieden, daß es kaum möglich
sei, bei einem ausgeprägten katatonischen Zustandsbilde zu sagen, ob eine Dementia
praecox catatonica oder eine Katatonie vorliege, ob Blödsinn oder Genesung ein¬
träte. Ebenso kann man Einwendungen machen bei dem Krankheitsbilde der
„Hystero-Hypochondrie“. Dagegen hätte der Begriff Amentia erwähnt werden
müssen; denn dieser Begriff ist noch nicht ausgestorben und wird auch in den nicht
spezialärztlichen Kreisen noch viel gebraucht. Eine Erwähnung der neu abge¬
sonderten Krankheitsbilder (AbheimerscYie Krankheit u. a.) erübrigte sich mit
Recht im Interesse der Einfachheit und Klarheit der Darstellung.
Die Therapie ist nicht erwähnt. Es ist wohl nur eine der Psychiatrie zu¬
kommende Beschränkung, daß man ein Lehrbuch schreiben kann über die Diagnostik
und Prognostik von Krankheiten, ohne die Behandlung zu berücksichtigen. Es
ist ja wahr, daß die Behandlung nur zum kleinsten Teile den praktischen Ärzten
überlassen bleiben kann; aber diese Ärzte werden doch nicht ganz ausgeschaltet.
Und vor allen Dingen muß es auf jeden Arzt einen merkwürdigen Eindruck machen,
wenn er, um sich zu unterrichten, ein Lehrbuch aufschlägt und die Behandlung
überhaupt nicht erwähnt findet. Die erste Frage, die der Arzt stellt, ist: Was muß
ich jetzt tun? Die Behandlung der Geisteskrankheiten ist vielen Ärzten ein Buch
mit sieben Siegeln; es gibt manch einen unter ihnen, der nie eine Irrenanstalt be¬
sichtigt hat und die Einrichtung nicht kennt. Um so mehr müßten die, die ein
Lehrbuch schreiben, auch die Behandlung schildern. (Grimme.)
Cirribals (76) Taschenbuch zur Untersuchung nervöser und psychischer Krank¬
heiten liegt in zweiter Auflage vor. Die allgemeine Anordnung des Stoffes ist nicht
geändert. Wesentlich erweitert sind die Untersuchungsschemata für Jugendliche
und Unfallnervenkranke, die neurologische Untersuchung, die diagnostischen
Schemata und Tabellen und die Abschnitte über die Funktionsprüfungen der Sinnes¬
organe und des vegetativen Nervensystems. Das Taschenbuch ist ein vorzügliches
Hilfsmittel bei der Untersuchung und Begutachtung Nerven- und Geisteskranker.
Der Grundriß der Psychiatrie von White (459) trägt allen neueren Richtungen
der Psychiatrie Rechnung. Auch die Psychoanalyse ist aufgenommen. Die deutsche
Literatur ist überall berücksichtigt ( Kraepelin, Bleuler, Borihoefler, Alzheimer, Nissl,
Ganser usw.). Den Schluß bildet die Darstellung der Intelligenzprüfungsmethoden,
wobei besonders ausführlich das Binet -Stmonsche System abgehandelt wird. Ein
eingehendes Untersuchungsschema über den geistigen und körperlichen Befund
soll dem Arzt ein Führer sein. ( Ganter .)
Wright (468): Das Büchlein soll ein Leitfaden sein für die in Indien prakti¬
zierenden Ärzte. In der Darstellung folgt Verf. englischen Autoren. Für uns inter¬
essant ist die Frage nach dem Unterschied zwischen den Psychosen in Europa
und in Indien. Die Krankheitsbilder sind im großen ganzen dieselben. Eine der
Hauptursachen der Erkrankungen des eingewanderten Europäers sieht Verf. in
■. der Beibehaltung der alten Lebensweise (viel Fleisch, Alkohol). Das Amoklaufen
hat meist seine Ursache in dem übermäßigen Genuß von Cannabis indica. Im
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Punjab kommen verhältnismäßig viele mikrozephale Idioten vor. In den Anstalten
begegnet man vielen maniakalischen Formen, da die ruhigeren Fälle zu Hause
behalten werden. (Ganter.)
Becker (26) hat sich der Aufgabe unterzogen, die Prognose der einzelnen
Formen der Seelenstörungen für sich eingehender zu behandeln. Bei der Wichtig¬
keit, Schwierigkeit und Unsicherheit der Prognosenstellung in der Psychiatrie
verdienen seine Ausführungen besondere Anerkennung.
Marcuse (283) unternimmt den Versuch, eine neue Theorie der psychopatho-
logischen Erscheinungen, wie sie die Geisteskrankheiten darbieten, aufzustellen.
Er geht aus von dem Grundsatz, daß alle pathologischen Erscheinungen sich un¬
gezwungen aus den normalen erklären lassen müssen. Alles psychische Geschehen
sei denselben Gesetzen unterworfen. Er verwirft deshalb Begriffe wie Dissoziation,
Sejunktion, Spaltung der Persönlichkeit. Als Ausgangslehre dient ihm die Psycho¬
logie Jodls, der den Satz auf st eilte, daß alles psychische Geschehen spezifische
Energie des Zentralnervensystems ist, eine Funktion der organischen Substanz,
die an den Zustand der Substanz gebunden und von ihr abhängig ist. Die Er¬
scheinungsformen dieser Funktion äußern sich im Empfinden, im Fühlen (Affekte,
Lust- und Unlustgefühle), im Streben (d. i. Wollen) und im Vorstellen lind unter¬
scheiden sich weiterhin in „Rezeptivität“ (Empfinden und Fühlen) und „Spon¬
taneität“ (Streben). Es sind das Reaktionsvorgänge, die also einen Reiz zur Voraus¬
setzung haben. Die Erscheinungsformen kommen nicht jede für sich allein vor,
sondern die eine nicht ohne die anderen; dagegen wird oft eine Form das Über¬
gewicht vor den anderen haben und dem Bewußtseinszustande das Gepräge geben.
Die Bewußtseinstätigkeit wird wieder eingeteilt in eine primäre und eine sekundäre.
Die primäre setzt sich zusammen aus Empfindung, Gefühl und Streben, wobei
Empfindung und Gefühl die Rezeptivität, das Streben die Spontaneität darstellt.
Das Vorstellen bildet die sekundäre Bewußtseinstätigkeit. Die Bewußtseinstätigkeit
unterscheidet sich aber nicht nur durch überwiegen einer der Erscheinungsformen
Empfinden, Fühlen, Streben, sondern auch quantitativ. Man kann Erregung und
Hemmung unterscheiden. Im normalen Zustande: erhöhte Spannkraft, gesteigerte
Leistungsfähigkeit oder Erschlaffung, Ermüdung, Abstumpfung. Es muß also
bei der psychologischen Analyse gefragt werden, ob Erregungs- oder Hemmungs¬
zustand besteht, welche Qualität überwiegt, ob der Zustand auf den Funktionen
der primären Bewußtseinstätigkeit beruht oder auf Vorstellungen. Eine weitere
Charakterisierung der Bewußtseinstätigkeit des einzelnen wird gegeben durch die
Konstitution, d. i. durch den jeweiligen organischen Zustand des Zentralnerven¬
systems, wie ihn namentlich die Entwicklung mit sich bringt und die das Verhältnis
der primären zur sekundären Funktion ausmacht, ferner durch die Konstellation,
die die Gesamtheit der psychischen Erlebnisse darstellt, die ein Individuum bis
zu einem bestimmten Moment gehabt hat. Durch die Konstitution ist präformiert,
was erlebt werden kann. — Unter Hemmung versteht M. nicht einen aktiven Vor¬
gang, bei dem etwas zurückgchulten wird, sondern nur ein Damiederliegen der
Funktion. — Bei einem normalen Bewußtseinszustande stehen die sekundäre und
die primäre Komponente zueinander im gleichen Verhältnis. Eine krankhafte
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psychische Reaktion hat man dann, wenn die Reaktion ohne äußeren Reiz eintritt
oder in ihrer Stärke dem gegebenen Reize nicht proportional ist.
Eine Steigerung der Erregung der sekundären Komponente gibt einen Grund¬
typus der Bewußtseinstätigkeit, den M. als den „hysterischen“ bezeichnet. Dabei
wird dieser Begriff weit über die bekannte Deutung ausgedehnt, so daß er alles
umfaßt, was man psychogen oder durch Vorstellungen bedingt nennen kann. —
Den Gegensatz zu diesem Grundtypus bildet der andere Grundtypus, der „imbezille“;
bedingt durch eine Hypofunktion der sekundären Komponente. Die reinen Formen
dieser Grundtypen schließen einander aus. Eine Vermischung kommt aber vor,
wenn einmal die primäre Komponente unter die Norm der Erregbarkeit sinkt,
oder wenn die sekundäre von der primären überragt wird bei einer nicht verkleinerten
psychischen Gesamtenergie. Solche Zustände, die er durch Anführung klinischer
Hinweise weiter erklärt, nennt M. „relative Hysterie“ und „relative Imbezillität“.
Die funktionellen Psychosen vereinigt M. in die beiden Gruppen der katatonischen
und hysterischen. Er dehnt dabei den Begriff „katatonisch“ auf alle Symptome
aus, die von der primären Komponente der Bewußtseinstätigkeit ihren Ausgang
nehmen, bleibt also nicht bei den katatonischen Erregungen, die eine rein primäre
Funktion darstellen, stehen. Zu den krankhaften Symptomen der primären Bewußt¬
seinstätigkeit werden von ihm gerechnet: einmal die elementaren und „reprodu¬
zierten“ Halluzinationen, das sind solche, bei denen der Versuch gemacht wird,
die halluzinatorische Erregung der primären Komponente zu identifizieren; sie
stellen eine krankhafte Erregung des Empfindens dar. Ferner von den krankhaften
Erregungszuständen des Fühlens die elementaren Affekte und die reproduzierten,
wie sie im manisch-depressiven Irresein auftreten; weiterhin von den krankhaften
Erregungszuständen des Wollens die Triebhandlungen und diejenigen Willens¬
handlungen, die durch Störungen im Bereich der primären Funktion veranlaßt
werden. Auch die Paranoia Kraepelins wird den katatonen Formen zugezählt;
denn sie hat ihre Ursache in einer Erregung der sämtlichen drei primären Qualitäten,
die mit einer Hyperfunktion des sekundären TeUs der Bewußtseinstätigkeit ver¬
gesellschaftet ist und von dieser vielfach verdeckt wird. Desgleichen das manisch-
depressive Irresein. Stuporzustände, die mit Halluzinationen, Affekten, Muskel¬
spannungen einhergehen, sind Erregungszustände, auch die Depression und die
Angst. Es handelt sich beim manisch-depressiven Irresein nicht um entgegen¬
gesetzte Zustände, sondern um verschiedene Erscheinungsformen gesteigerter
Energie, wobei der Wechsel des Affektes bzw. die Vorherrschaft der Lust- und
Unlustempfindungen nur von der Konstellation abhängig ist. „Ob jemand Größen¬
ideen bekommt oder sich Vorwürfe macht, ist psychologisch gleichwertig; ein
Unterschied, der nur den Inhalt der affektiven Erregung betrifft.“ Weiter gehören
zu den katatonen Formen die Dementia praecox, die Halluzinose, der depressive
Wahn, der Querulantenwahn. Zu den hysterischen Psychosen alle psychogenen
Zustände, also die Haftpsychose, traumatische Neurose, die Dämmerzustände
und die Melancholie. Auch auf die Prognose geht M. auf Grund der „energetischen
Theorie“ ein.
Die Arbeit ist außerordentlich gedankenreich und wird zu weiteren Frage¬
stellungen anregen. (Grimme.)
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Thoden van Velzen (430): Unter diesem Titel gibt S. K. Thoden van Yeteen
aus Joachimsthal in der Mark in Form von lose zusammenhängenden Abhandlungen
philosophische und psychotische Betrachtungen aus dem Gebiete der Psychologie,
der Psychiatrie und der Gehimanatomie. Zum Teil stammen diese Abhandlungen
von seinem Vater her. Das Buch erscheint jetzt in der 6. Auflage; die erste erschien
1909. Der Inhalt und die Darstellungsweise haben etwas Originales. Besprochen
werden, zum Teil nur in der Form recht kurzer Streiflichter, die aber auch so eine
sehr große Belesenheit des Verfassers erkennen lassen, u. a.: „Die Wissenschaft
unserer Seele und ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaften“; „Über sinnliche
Bilder und ihren Einfluß“ mit den Unterabteilungen: „Wie hat man sich das
Verhältnis zwischen sinnlichen Wahrnehmungen und Geistestätigkeiten ge¬
dacht“; „Über die Bilder, von den Sinnen entworfen“; „Uber den Einfluß
der Bilder, von den Sinnen entworfen“; „Über Fühlen“; „Sind Geistestätig¬
keiten, die Lust- oder Unlustfühlen sind und durch Sinnesbilder entstehen,
Gesundheits- oder Krankheitsgefühle?“; „Unser aktives Fühlen“; „Über unser
Bewußtsein“ u. a. m. Es soll im einzelnen auf die Gedanken des Verf. nicht ein¬
gegangen werden. Zur Charakteristik seines naturwissenschaftlichen und medi¬
zinischen Standpunktes seien nur folgende Sätze herausgehoben: „Da das Wachsen
ihren Grund in der Seele hat, die in den Vierhügeln liegt.“ „Da es geisteskranke
Personen gibt, deren Hirnrinde völlig normal ist.“ „Fassen wir den Geist (unser
Ich) als ein materielles Wesen auf, versehen mit enormen Kräften, so ist es erklär¬
lich, daß derselbe zwar der Nerven bedarf, um die Phänomene des Geistes darzu¬
stellen, jedoch kann er auch existieren, ohne unmittelbaren Zusammenhang mit
einem Teile des Nervensystems, so bei Hysterie.“ „Psychische Krankheiten be¬
stehen keineswegs aus anormalem Verhalten des Vorstellens und Wollens. Das Vor¬
stellen und das Wollen sind keine Tätigkeiten des Geistes.“ „Nach Binswanger
sind psychische Krankheiten Allgemeinerkrankungen der Großhirnrinde. Da die
Großhirnrinde selten erkrankt ist bei Geisteskranken, so bestreite ich das.“ „Die
Psyche ist keine Hirnfunktion.“ „Die Idee, als ob die Großhirnrinde der Sitz der
psychischen Vorgänge ist, stimmt nicht. Wenn jemand z. B. durch Schreck Demenz
akquiriert, so hat dieses mit der Rinde nichts zu tun. Auch Flechsig betont als Sitz
mehr die subkortikalen Partien.“ „Leugnet man das Dasein der Seele, wie das
jetzt bei einer Anzahl von Medizinern der Fall ist, dann würden alle Sprachen sich
fortwährend falsch ausdrücken. Der herrliche Satz mens sana in corpore sano,
dieser weise Spruch der Alten, hätte keinen Wert. Glücklicherweise bleiben wir
auf Grund exaktester Forschung beim Alten.“ „Bei Hemmungen sind die Vor¬
stellungen verdunkelt.“ „Wenn wir das Wachstum als eine Funktion des Geistes
auffassen, und die Bahnen, welche der Geist braucht, um ein Glied herzustellen,
z. B. einen Fuß, zerstört sind, meinetwegen das Beinzentrum, so ist es klar, daß
der Fuß verstümmelt wird. Wir sehen daher bei Idioten oft Klumpfüße, kurz und
gut alle möglichen körperlichen Monstrositäten.“ „Der Geist hat körperbildende
Vorstellungen und benutzt diese auch wählend zum Aufbau des Körpers.“ „Nach
meiner Meinung besteht unsere Seele aus zwei Wesen, dem Geiste und dem Gedächt¬
nisse.“ „Die Hirnrinde ist nicht nötig zum Denken.“ (Grimme.)
Zeitschrift für Psychiatrie. LXX 1 . Lit.
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Original from
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Lombrosos (267) Tochter hat die in den verschiedensten Zeitschriften in einem
Zeitraum von 60 Jahren (1869—1909) von ihrem Vater veröffentlichten Arbeiten
zu einem Bande vereinigt. Es ist aber kein einfaches Zusammenstoppeln, sondern
das Werk macht durchaus den Eindruck eines organischen Ganzen. Lombroso
selbst trug sich mit dem Gedanken, ein klinisches Werk über die Geisteskrankheiten
zu schreiben. Die Tochter hat also sozusagen einen Akt der Pietät erfüllt. Wie alles,
was Lonibroso geschrieben hat, ist auch dieses Werk sehr interessant zu lesen, zu¬
dem bringt es eine Fülle von Tatsachen. Freilich Lombrosos Klassifikation der
Psychosen ist überwunden. Der Uomo alienato ist als ein Gegenstück zum Uomo
delinquente gedacht, und demgemäß stimmt auch die Anordnung des Stoffes in
beiden Werken überein. Der Begriff des Uomo alienato indessen, wenn er eine
Abart vom Typus Mensch bezeichnen soll, wird keine Anhänger finden. Lugaro
hat in seinem Werke „Probleme der Psychiatrie“ gezeigt, daß auch im Vaterlande
Lombrosos die psychiatrische Forschung neue Wege eingeschlagen hat. (Ganter.)
Kurelias (253) Werk ist das Ergebnis einer jahrzehntelang betriebenen Forscher¬
tätigkeit. Es handelt sich um die Untersuchungen über die produktive Veranlagung.
Angeregt durch die Tatsache, daß so häufig die bei den Vorfahren vorhandene
Veranlagung zu geistigen und künstlerischen Interessen sich bei den Nachkommen
nicht mehr vorfindet oder nicht von ihnen gepflegt wird, ging K. dem Wesen und
der Vererbung der Begabung nach und untersuchte die Stellung der Intellektuellen
im heutigen Wirtschaftsleben, wobei er zu recht pessimistischen Aussichten für
die Zukunft kommt. K. unterscheidet drei Grundelemente der Begabung, die
ideologische (intellektuelle), die wirtschaftliche und die technische; soweit die
Tätigkeit in Frage kommt, teilt er die Menschen ein in die Praktiker und in die
Intellektuellen (einschließlich aller künstlerischen Tätigkeit). Die Grundlage des
geistigen und künstlerischen Lebens unseres Volkes, des modernen Europas, sieht
KureUa gegeben in der evangelischen Kirche, dem Handwerk und dem Bauern¬
stände. Den hieraus entspringenden kulturellen Kräften tritt der Kapitalismus
entgegen. In dem werdenden Kapitalismus erblickt Kurelia den Unterdrücker
aller echten künstlerischen und geistigen Bestrebungen, weil sie von ihm immer
mehr in den Dienst rein wirtschaftlichen Eigennutzes gestellt werden. In dem mit
beißender Kritik gespickten Kapitel: Künstler und Publikum wird dieser Einfluß
des modernen Wirtschaftslebens auf die künstlerische Tätigkeit geschildert. K.
bezeichnet direkt als „eine der wichtigsten Funktionen des im Trustsystem
triumphierenden Kapitalismus und Mammonismus“ die systematische Ausrottung
der für Kunst und Wissenschaft begabten Schichten der Bevölkerung. So groß
ist sein Pessimismus, daß er sagen kann: „daß wir mehr und mehr russischen Kultur¬
zuständen zutreiben, das ist den Eingeweihten längst klar.“ — Das geistreiche
Buch bringt manchen trefflichen Beitrag zur Beurteilung der modernen Gesellschaft;
es enthält in seinen Folgerungen viele, oft bittere Wahrheiten und regt sehr zum
Nachdenken an. Ohne in allem mit K. rückhaltlos übereinzustimmen — denn es
handelt sich vielfach auch nur um subjektive Empfindungen z. B. in der Erörterung
über den künstlerischen Geschmack —, wird man anerkennen müssen, daß sein
Buch fraglos mit zu den bedeutenderen Erscheinungen unter der Literatur über
diesen Gegenstand gehört. (Grimme- Hildesheim.)
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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Gruhles (166) Ausführungen geben einen kurzen Überblick über die zurzeit
in der Psychiatrie herrschenden Richtungen und ihre Entwicklung: Kraepelin —
Hoehe — Freud.
Hoche (193) glaubt, daß die pathologische Anatomie nur in beschränktem
Maße dazu berufen ist, bei der Erklärung der Entstehung seelischer Störungen
und ihrer Gruppierung mitzuwirken. Beim Zustandekommen normaler und krank¬
hafter seelischer Prozesse denkt der Autor sich regelmäßig einen sehr großen Teil
des spezifischen Himparenchyms gleichzeitig beteiligt und will psychische Ab¬
normitäten viel eher durch eine Verschiebung in den dynamischen Gegenseitigkeits¬
verhältnissen großer Himabschnitte als durfch lokalisierte Störungen anatomischer
Einzelelemente erklären; anatomische Erkrankungen können den Anstoß zu solchen
Verschiebungen geben, aber sie allein sind nicht das Wesentliche. Auf den un¬
befriedigenden Zustand unserer speziellen Formenlehre wird in entsprechender
Weise hingewiesen. Bei Erörterung der Erblichkeitsfrage macht Verf. auf die
Unzulänglichkeit unserer bisherigen Methoden der Erblichkeitsforschung auf¬
merksam; sie soll mehr in genealogischem Sinne betrieben werden.
Franz (142): Ein kurzer, aber recht anschaulicher Überblick über anatomische
und psysiologische Tatsachen und Theorien, über Bau, Entwicklung und Funktion
der Nervenelemente und über das Wesen der Funktion. Der eigene Standpunkt
des Verf. in den mancherlei Fragen wird kenntlich gemacht. Doch ist ein abschließen¬
des Urteil natürlich nicht immer möglich. Ob es jemals dahin kommen wird? Ob
jemals die Frage „der Umsetzung der Nerven Vorgänge in Bewußtseinsvorgänge“
einer befriedigenden Klärung zugängig werden wird? (Griunne- Hildesheim.)
Hajos (169) hat an einer Anzahl Medullen ein abnormes Bündel festgestellt,
dessen Verlauf er folgendermaßen beschreibt: Es gibt Medullen, an welchen man
ein bogenförmiges Bündel variabler Stärke findet, welches am hinteren Brücken¬
rand an der Oberfläche der bulbären Pyramide als distinkter Strang bemerkbar
wird; dieser verläuft an der Pyramide bis zum unteren Pol der Olive, wendet sich
hier lateralwärts bogenförmig, umfaßt hierbei den untersten Abschnitt der Olive
und gelangt schließlich zum Strickkörper, an welchem er auf- und einwärts zieht,
somit zum Brückenkleinhimwinkel strebt, woselbst er in der Masse des Strick¬
körpers einschmilzt. Dieses bogenförmige Bündel der Oblongata erscheint a) uni¬
lateral und b) bilateral, in beiden Fällen entweder als ungeteilter kompakter oder
als in schmächtigere Strängchen aufgelöster Strang. Die Stärke variiert von eben
sichtbarer Dünne (etwa 0,5 mm) bis zu einer Stärke von 5 mm. Das bogenförmige
Bündel kann in einzelnen Fällen akzessorische Strängchen abgeben, welche ins¬
gesamt die Tendenz haben, spinalwärts zu ziehen, hierbei entweder an der Pyramiden¬
oberfläche verlaufend, in der Höhe der Pyramidenkreuzung sich in die vordere
Fissur einsenken oder aber an der Oberfläche des Seitenstranges gelegen sind und
sich hier verlieren, indem sie zusehends verflachen. Eine Eigenheit des geschilderten
Bündels dürfte noch sein, daß es in unilateraler Form vorwiegend links ausgebildet
ist.“ Weiter ist bemerkenswert, daß es hauptsächlich bei Paralysen gefunden
wurde.
Mikroskopisch wurde festgestellt: „Der absteigende Schenkel des Bündels
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244 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
stammt aus der Pyramide, von welcher es als individueller Strang ein dünnes Septum
trennt, und während es als Scheitel die Olive umkreist, bleibt es von dieser sowie
von deren umkreisenden Nervenfasern (Fibrae arc. extern, ant.) ganz separiert,
legt sich ferner als aufsteigender Schenkel dem unteren äußeren Abschnitt des
Strickkörpers an, um schließlich in die Markmasse des letzteren einzutreten.“
Es handelt sich also um ein Bündel aus der Pyramide zum Strickkörper bzw.
in das Kleinhirn und stellt eine direkte zerebro-zerebellare Bahn dar, genauer
„zerebro-bulbo-zerebellare Bahn“. Von einem abnormen Bündel kann also nicht
gesprochen werden, sondern nur von einem verlagerten. Hajös weist auf ähnliche
Befunde in der Literatur hin ( Probst , Karplus , Ziehen). (Grimme.)
Schaffer (379) macht in einer gedankenreichen und anregenden Abhandlung
den Versuch, für die hereditären oder familiären Nervenkrankheiten, die familiären
Muskelatrophien und Hypertrophien, die Indrassik schon 1896 klinisch unter der
Bezeichnung „Heredodegeneration“ zusammenfaßte, auch pathologisch-anatomisch
eine allen gemeinsame Grundlage zu finden. Er legt dabei die Ergebnisse seiner
Untersuchungen über die Fibrillen zugrunde. Unter Berücksichtigung von Unter¬
suchungen anderer Autoren, namentlich der Ergebnisse Sträußlers (36 jähriges
Mädchen erkrankt an Aufregungszuständen und intellektueller Schwäche und zeigte
nebst leichter Atrophie der Großhirnrinde starke Atrophie des Kleinhirnes, des
Himstammes, des verlängerten und des Rückenmarkes mit einer Zellveränderung,
die der bei der infantilen amaurotischen Idiotie entsprach und Fälle von infantiler
progressiver Paralyse mit Atrophie des Rhombenzephalons). fragt er, ob die
Affektion der interfibrillären plasmatischen Substanz außer der familiären amauro¬
tischen Idiotie auch bei anderen heredofamiliären Erkrankungen sich findet, und
kommt zu dem Schluß, „daß sich für eine Zahl von different erscheinenden heredo¬
familiären Erkrankungen, die klinisch Kombinationen mehrerer Formen darstellen,
eine gemeinsame Fundamentalveränderung, die abnorme Zunahme des Hyaloplasmas,
finden läßt“. Doch gibt es in dieser übereinstimmenden Alteration des Hyaloplasma
graduelle Verschiedenheiten in der Intensität und Extensität des zytopathologischen
Prozesses. An der Spitze steht die infantile ( Tay-Sachs ) Form der amaurotischen
Idiotie; dann kommt die juvenile Form ( Spielmeyer-Vogt ); weiter der Fall Sträußlers
mit Aufregungszuständen und Kleinhirnatrophie und endlich die Fälle Sträußlers
von hereditärer Paralyse.
Die Erkrankung des Hyaloplasmas kann sowohl den gangliozellulären wie den
axionalen Teil des Neurons ergreifen. Bei der Art der Affektion handelt es sich
zunächst um eine Hypertrophie des Hyaloplasma (infantile Form der amaurotischen
Idiotie; juvenile Form — Spielmeyer, Vogt, Rogaiski, Jansky, Schob — Fälle von
Sträußler). Die Schwellung geht Hand in Hand mit der Bildung von Abbaustoffen;
doch ist die Schwellung das Primäre. Verschiedenheiten im Grade und in der Ver¬
teilung des Prozesses: „allörtliche Zytopathologie“ und Fälle mit „segmentärer“
Beschränkung.
Zweite Art der Affektion ist die Atrophie des Hyaloplasma (abnorm kleine,
atrophische Vorderhomzellen bei der Dystrophie; der axionale Teil des Neurons
bei der infantilen amaurotischen Idiotie; Fälle von Merzbacher). Aufzufassen wäre
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
245*
trophie vielleicht als sekundäre Erscheinung bei von Anfang an nicht „normal
rüsteten“ Nervenzellen, die der Erschöpfung verfallen sind. Der Beginn der
löpfung äußert sich in einer mit Chromolyse verbundenen hyaloplasmatischen
ankung. Die ursprüngliche und ausschließliche Erkrankungsart des Hyalo-
na sei die Hypertrophie. Die sogenannten Fibrillen spielen keine aktive Rolle
er Zytopathologie der heredodegenerativen Krankheiten. (Grimme.)
Schaffer (380): In der mit zahlreichen, recht deutlichen Abbildungen ver-
nen Abhandlung gibt Schaffer zunächst eine Zusammenstellung seiner eigenen
ersuchungen. Es sei folgendes hieraus hervorgehoben: 1. „Den Purkinjeschen
en streben aus der tiefsten Kömerschicht bzw. aus der Marksubstanz Fasern
die zu Bündeln vereinigt sind; diese Fasern bestehen aus feinen und aus mittel-
•ken Elementen, die stellenweise zu einer gigantischen Faser verklebt sind, sich
ler Höhe der Purkinjeschen Zellen aber wieder trennen, wobei sie einesteils in die
sterfaserschicht, anderenteils in den Faserkorb der Purkinjeschen Zellen ein¬
ten.“ 2. „Aus der Kömerschicht wie auch aus der Marksubstanz steigen breite
sem empor, die unterhalb der Purkinjeschen Zellen höchst launenhafte Ver¬
dingungen, Glomerulusbildungen abwickelnd, nun in den Faserkorb eintreten,
>sen aber in der tieferen Lage der Molekularschicht verlassen und sich deren
mzontalfasem anschließen.“ 3. „Die Kletterfasem schmiegen sich im allgemeinen
>hl innig den Purkinje sehen Dendriten an, doch keineswegs in deren ganzem
erlaufe, denn sie lenken nach einer kürzeren oder längeren Gemeinschaft ab und
?rden zu einer Horizontal- oder Schieffaser der Molekularschicht.“ 4. „Die Korb-
Uenkollateralen weisen folgende Verlaufstypen auf: a) als echte Korbfaser, welche
mit zur Bildung des Purkinjeschen Faserkorbes beiträgt; diese kann manchmal
ne kurze Strecke entlang dem Purkinjeschen Axion hinab- und hinaufgleiten,
mit zum Faserkorb zurückkehren, b) als verschmelzende Korbfaser, worunter
t verstehen sei, daß die Kollateralfaser zur Zusammenfassung von 2—3 Purkinje-
hen Zellen dient. Infolge Durchschlingung mehrerer solcher Fasern kommt es
ir sogenannten Hängemattenbildung, c) als eine Faser, die, teils und vorüber-
•hend dem Faserkorb angehörend, teils von diesem unabhängig die Lage der
urkinje sehen Zellen durchdringend, in die Kömerschicht gelangt und hier eine
uffaserung erleidet.“ Im einzelnen muß auf das Original verwiesen werden. —
m speziellen Teil schildert er seine Untersuchungen am Kleinhirn in einem Falle
er Tay-Sachsschen Form der familiären amaurotischen Idiotie, wobei er zu dem
'fhluß kommt, daß es möglich sei, die Krankheit aus dem Fibrillenbild zu erkennen;
emer in einem Falle der Taboparalyse und der senilen Demenz, die beide außer-
udentlich hochgradige Veränderungen boten. Auch hier muß auf das Original
.•erwiesen werden. (Grimme.)
Krueger (250) stellt fest, daß die funktionellen Psychosen normale Him-
»cwichte und normale Differenzen zwischen diesen und der Schädelkapazität zeigen.
Fälle, die unter dem Bilde der Amentia verlaufen, weisen durchweg Volumver¬
mehrungen des Gehirns auf infolge von Hiraschwellung (Reichardt). Bei der Epi¬
lepsie bleibt in der Regel ein hohes Gewicht des Gehirnes erhalten. Fälle, die im
Status oder im Anfall sterben, zeigten relativ zu schwere Gehirne. Bei der Gruppe
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246 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
der Dementia praecox kommt es in einem Teil der Fälle zu einer Hirnatrophie,
eine große Anzahl von Gehirnen behält aber ihr normales Gewicht. Bei der Paralyse
kommt es zu einer der Krankheitsdauer etwa proportionalen Hirnatrophie; dem¬
entsprechend tritt Vermehrung des Liquor im Sinne des Hydrocephalus ex- und
internus ein. Bei der Dementia senilis kommt es ebenfalls zu einer Verringerung
des Himgewichts, welche die normale, im Alter auftretende Abnahme desselben
weit überschreitet. Bei den an Dementia arteriosclerotica Verstorbenen ergibt
sich teilweise eine Abnahme der Himsubstanz, absolut bleibt das Himgewicht
dem normalen etwa gleich; es scheint, als ob gerade die schweren Gehirne vom
arteriosklerotischen Prozeß am stärksten angegriffen werden.
Lugaro (271): In einem Vorwort zu der Übersetzung hebt Clouston rühmend
dieses Werk hervor. Keinem ist es so gut gelungen wie Lugaro, die Psychiatrie
in so enge Verbindung mit den anderen medizinischen Disziplinen zu bringen, daß
sie selbst als ein Zweig am Baume der medizinischen Wissenschaft erscheint. Nach
einer historischen Einleitung, die die Hauptzüge der psychiatrischen Forschung
und Betrachtungsweise des vorigen Jahrhunderts vorführt, beschäftigt sich Verf.
in größeren Abschnitten mit, wie die Überschriften lauten, den psychologischen,
anatomischen, pathogenetischen, ätiologischen, nosologischen und praktischen
Problemen der Psychiatrie. Überall sind die wichtigsten Lehren und Anschauungen
in ihren Grundzügen dargestellt, kritisiert, überall wird darauf hingewiesen, welche
Probleme noch zu lösen sind und welches der beste Weg hierfür ist. Verf. bemüht
sich, die psychischen Erscheinungen soweit wie möglich in Einklang zu bringen
mit den anatomischen Tatsachen. Er ist ein Anhänger des psycho-physischen
Parallelismus, der Lokalisationslehre nach Flechsig. Die Forschungen über die
Hirnrinde in ihrer Beziehung zu den geistigen Störungen werden dargestellt, des¬
gleichen auch die gröberen Himveränderungen. Die praktischen Probleme handeln
vom Anstaltswesen, von der Unterbringung der geisteskranken Verbrecher, von
der Prophylaxe. (Ganter.)
Nissl (317) macht auf den oft empfundenen lockeren Zusammenhang zwischen
Krankenabteilung und anatomischem Laboratorium aufmerksam und betont mit
Recht die Notwendigkeit entsprechenden Zusammenarbeitens. In seiner Klinik
hat der Autor gemeinsame Besprechungen eingeführt, woran alle Ärzte teilnehmen.
Hier werden die verstorbenen Fälle nach ihrem klinischen Verlauf und nach ihrem
anatomischen Befunde von dem Gesichtspunkt aus erörtert, ein möglichst voll¬
ständiges Gesamtbild des Einzelfalles zu gewinnen. Demselben Zweck sollen die
„Beiträge“ dienen. Das vorliegende erste Heft bringt drei klinisch und anatomisch
gleichmäßig gut studierte organische Fälle. Sicher wird die klinische Psychiatrie
aus dem verdienstvollen Vorgehen des Autors Nutzen ziehen.
Müller (307) hat die vasomotorischen Erscheinungen auf der Haut eingehend
untersucht und erörtert die Frage, wieweit aus dem Auftreten oder Fehlen von
vasomotorischen Erscheinungen nach Hautreizen auf pathologische Verhältnisse
ein Rückschluß gezogen werden darf. Er hat bei Geisteskrankheiten einen Unter¬
schied im Auftreten des vasomotorischen Nachrötens gegenüber der Norm nicht
feststellen können. Lebhafte vasomotorische Erregbarkeit ist kein neuropathisches
Zeichen.
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
247 *
Piotromki (341) hat bei Perkussion des Musculus tibialis anterior entweder
eine reflektorische Dorsalflexion und Supination des Fußes (Antikusreflex) oder
eine reflektorische Plantarflexion des Fußes (antagonistischer Plantarreflex) oder
eine reflektorische Plantarflexion der Zehen (antagonistischer Zehenreflex) beob¬
achtet. Der Antikusreflex ist bei Gesunden inkonstant und a priori kein patho¬
logischer Reflex. Erst durch Charakterveränderung wird er ein pathognomisches
Zeichen und ist dann bei organischen Erkrankungen des Zentralnervensystems
anzutreffen. Der antagonistische Plantarreflex kommt bei Gesunden nicht vor,
er ist pathologischer Natur, seine Existenz deutet auf Organerkrankung des Nerven¬
systems hin. Auch der antagonistische Zehenreflex scheint ein pathologischer
Reflex zu sein. Alle drei Phänomene bilden ein Gegenstück zum Babinskischen
Zeichen. Verf. will sich nicht mit dem Babinski-Zeichen begnügen und, wenn
dasselbe fehlt, eine organische Erkrankung ausschließen; häufig ist ein anderes
der genannten Phänomene vorhanden und Babinski nicht, so bei einem seiner Fälle.
Hier war nur der antagonistische Plantarreflex da und ermöglichte die Erkennung
des organischen Leidens.
Warburg (456) hält die Scapula scaphoidea nicht für pathognomisch für
Syphilis der Aszendenten; sie ist auch kein Degenerationszeichen, sondern eine
normale Varietät, die sich vielleicht bei schwächlichen Kindern häufiger findet als
bei kräftigen.
Münzer (309) faßt seine bemerkenswerten Ausführungen in die Sätze zusammen:
Wir sind auf Grund neuer Forschungsergebnisse gehalten, das Gehirn nicht nur
in seinen Funktionen als Zentralorgan, sondern auch in seinem Wechselverhältnis
zu den übrigen Körperorganen zu betrachten. Die mit Hilfe der Abderhaldenschen
Untersuchungen an Geisteskranken gewonnenen Resultate zwingen uns, die psy¬
chischen Störungen teilweise zu „dezentralisieren“, d. h. ihren Ursprung nicht in
das Zentralorgan, sondern in periphere Körperorgane zu verlegen. Das Gehirn
ist in diesem Fall als Reizorgan aufzufassen; hierunter ist zu verstehen, daß es
durch seine Organisation speziell befähigt ist, krankhafte Reize mit abnormer
Leichtigkeit aufzunehmen, sie jedoch nicht auszugleichen vermag. Durch die
partielle „Dezentralisation“ psychischer Störungen werden für die Therapie neue
Wege geschaffen.
Correns und Goldschmidt (82): Correns stützt seine Darstellungen vorwiegend
auf Züchtungsversuche mit Pflanzen. Er bespricht in einer Einleitung ganz kurz
den Hermaphroditismus, die Zwischenstufen, die den Hermaphroditismus und den
rein geschlechtlichen Zustand verbinden und den Zeitpunkt der Geschlechts¬
bestimmung. Dann bespricht er die Vorausset zungen für eine Theorie der Geschlechts¬
bestimmung und die Anwendung der neuen Vererbungsgesetze auf das Problem
der Geschlechtsbestimmung.
Jedes Geschlecht enthält auch die Anlagen des anderen. In ihren Anlagen
sind beide Geschlechter gleich; beide sind eigentlich Zwitter. Die Geschlechts-
bestimmung muß dadurch zustande kommen, daß nur ein Teil von den entfalt-
baren Merkmalen zum Erscheinen bestimmt wird; wird der männliche Teil der
Anlage unterdrückt, so entsteht ein Weibchen, und umgekehrt. Auch jede Keim-
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248 * Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
zelle enthält die Anlage für beide Geschlechter. In jedem Individuum müssen
demnach viererlei Anlagen vorhanden sein; zweimal die für das männliche, zweimal
die für das weibliche, jedesmal die einen von der männlichen, die anderen von der
weiblichen Keimzelle herstammend. Von diesen viererlei Anlagen entfaltet sich
nur eine, die anderen bleiben latent. Die Keimzellen haben schon eine bestimmte
Tendenz zur Unterdrückung des einen Anlagekomplexes. Die einen Forscher sprechen
den Keimzellen dieselbe Tendenz zu, die das Individuum besitzt; also Spermatozoon
hätten männliche, die Eizelle weibliche Tendenz. Andere nehmen gekreuzte Tendenz
an. Das Geschlecht des Nachkommen wird aber erst bei der Befruchtung bestimmt.
Bei ungleichen Tendenzen wird ein ererbter Unterschied in der Stärke der Tendenzen
für das Geschlecht bestimmend. Es besteht die Annahme, daß in vielen Fällen
das eine Geschlecht nur einerlei Keimzellen hervorbringt — homogametisch —,
das andere nur zweierlei — heterogametisch. Es ist bald das männliche, bald das
weibliche Geschlecht heterogametisch. „Entweder stimmt die Tendenz der Keim¬
zelle jedesmal mit dem Geschlecht des Individuums, das sie hervorbringt, überein,
und die zweierlei Keimzellen des heterogametischen Individuums unterscheiden
sich dann nur in der Stärke dieser Tendenz. Oder das homogametische Geschlecht
bildet Keimzellen, die alle mit ihm in ihrer Tendenz übereinstimmen; das hetero¬
gametische Geschlecht aber zur Hälfte Keimzellen, die seine Tendenz besitzen,
zur Hälfte Keimzellen mit der entgegengesetzten Tendenz, also der des homo-
gametischen Geschlechtes. Die Bestimmung des Geschlechts würde bei der Be¬
fruchtung so zustande kommen: Die eine Art Keimzellen des heterogametischen
Geschlechts dominiert mit ihrer Tendenz über die der Keimzellen des homogame¬
tischen Geschlechts und es entsteht das heterogametische Geschlecht aufs neue.
Die andere Art Keimzellen des heterogametischen Geschlechts hat dieselbe Tendenz
wie die Keimzellen des homogametischen und gibt wieder dieses Geschlecht. Die
zweierlei Keimzellen kommen durch das Spalten der Tendenzen während der
Reduktionsteilung zustande. Die Entscheidung über das Geschlecht des Em¬
bryo tritt erst beim Zusammentreffen der Keimzellen im Augenblick der Be¬
fruchtung ein.
Zum Schluß erörtert Correns noch die Möglichkeiten über die willkürliche
Bestimmung des Geschlechtes.
Demay (102): Es gibt keine besonderen Formen von familiären Geisteskrank¬
heiten. Die gleichartigen Psychosen, die in gewissen Familien Vorkommen, sind
sehr mannigfaltig und unterscheiden sich ihrer Symptomatologie und Entwicklung
nach nicht von den isoliert auftretenden Psychosen. Unter den familiären Psychosen
kann man zwei Gruppen unterscheiden: 1. Psychosen, bei denen die geistige An¬
steckung oder der Einfluß der Glieder der Familie sekundär erfolgt, zu welcher
Gruppe besonders das halluzinatorische Irresein und der Beziehungswahn gehören,
2. die eigentlichen familiären Psychosen, von denen die Manie = Melancholie und
die Dementia praecox die häufigsten sind. Die Tatsache, daß die Dementia praecox
ziemlich oft als familiäre Krankheit auftritt, spricht für ihren konstitutionellen
Charakter. Das Zwillingsirresein ist keine besondere Krankheitsform, sondern
gehört zu den familiären Psychosen. (Ganter.)
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
249 *
Birnbaum (35) erörtert Wert und Bedeutung des „Konstitutionsbegriffes“
l weist auf die Schwierigkeit seiner Verwendung in der Psychiatrie hin.
Lehmann (259) liefert einen vorzüglichen Überblick über die Ergebnisse,
tclze das Experiment auf dem Gebiet der Vererbungs- und Abstammungslehre
seitigt hat. Die Wichtigkeit der Mendelsehen Regeln wird eingehend erläutert,
E die Bedeutung der Ergebnisse der experimentellen Forschung für die Ent-
c klung des Menschengeschlechtes besonders hingewiesen.
JoUy (216) betont, daß die Anzahl der Belasteten unter den Geisteskranken
"ht sehr viel höher ist wie bei den Geistesgesunden, 64,5% gegen 46,6%; auf
n belasteten Geisteskranken treffen etwas mehr Belastungsmomente wie auf
‘n. belasteten Gesunden, 2 gegen 1,6. Als Belastungsmomente für Geisteskranke
»ramen eigentlich nur Geisteskrankheit, Charakteranomalien, die diesen nahe-
ehende Trunksucht, Selbstmord in Betracht. Die Rolle der erblichen Belastung
ei Paralyse ist sehr fraglich. Bei Trinkern sind Alkoholismus und Suizid wesent-
ch. häufiger in der Familie wie bei Gesunden.
Jolly (217) hat an dem reichen Material der Hallenser Klinik eingehende
Intersuchungen über die hereditären Verhältnisse bei Psychosen angestellt und
:ommt dabei zu folgenden Ergebnissen: „Die Lehre von einem Polymorphismus
lor Vererbung kann nicht aufrecht erhalten werden; sie ist als eine irreführende
Bezeichnung für das Vorkommen miteinander nicht in Beziehung stehender psy-
•hischer und nervöser Störungen, von durch Keimschädigung hervorgerufenen
Krscheinungcn und schließlich für wirklich vererbte Krankheiten in einer und
derselben Familie abzulehnen. Bei Blutsverwandten können die verschieden¬
artigsten Psychosen Vorkommen. Insbesondere besteht nicht ein Ausschließungs¬
verhältnis zwischen affektiven und schizophrenen Psychosen; es ist sicher erwiesen,
daß dieselben nebeneinander bei Geschwistern sowie bei Eltern und Kindern Vor¬
kommen können. Es ist aber unverkennbar, daß besonders die Affektpsychosen
und hier wieder am meisten die Melancholie eine große Neigung zu familiärem
Auftreten haben. Es können verschiedenartige affektive Störungen bei Verwandten
Vorkommen. Bei den Affektpsychosen erkranken Geschwister, meist im gleichen
Alter, Kinder in der Regel früher wie die Eltern. Die klimakterische Melancholie
hat in hereditärer Beziehung keine Sonderstellung. Auch bei den Psychosen der
Katatoniegruppe findet man meist, wenn auch etwas seltener, daß die Psychose
der Verwandten derselben Gruppe angehört. Besonders häufig sind Geschwister
davon betroffen. Es ist nicht die Regel, daß die Deszendenten früher erkranken
als die Aszendenten. Es findet sich bei den Psychosen dieser Gruppe, besonders
im Vergleich mit den affektiven Psychosen, nicht selten Trunksucht des Vaters.
Paralyse und Lues der Eltern spielen keine Rolle. Abnorme Persönlichkeiten sind
unter den Verwandten der Kranken nicht selten, es ist aber keineswegs eine Aus¬
nahme, daß die Eltern normal sind. Vielleicht ist auch die öfter angegebene Trunk¬
sucht des Vaters als Ausdruck einer abnormen Persönlichkeit aufzufassen. Es
handelt sich bei dieser Psychosengruppe wahrscheinlich um eine auf Grund einer
spezifischen Anlage vererbte Geisteskrankheit. Bei Amentia sind erbliche Einflüsse
bedeutungslos. Bei Paralyse spielt Heredität im üblichen Sinne keine Rolle. Die
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250 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
paranoischen Psychosen des höheren Lebensalters zeigen kein familiäres Auftreten.
Sie treffen häufig mit schizophrenen Psychosen in einer Familie zusammen, nur
selten mit affektiven Psychosen, so daß wohl keine Verwandtschaft mit dieser
Gruppe besteht. Die affektiven Psychosen zeigen keine einfache dominante Ver¬
erbung nach Mendel, vielleicht aber eine geschlechtsabhängige dominante Ver¬
erbung mit Bevorzugung des weiblichen Geschlechts, vielleicht handelt es sich
jedoch um eine einfache rezessive Vererbung. Die Psychosen der Katatoniegruppe
vererben sich nicht dominant nach Mendel ; es ist aber sehr wohl möglich, daß bei
denselben rezessive Vererbung statthat.
Rosano ff (363) studiert unter Anführung vieler Krankengeschichten und von
Stammbäumen die ungleichartige Vererbung der Geisteskrankheiten und versucht
die Mendelschen Vererbungsgesetze auf sie anzuwenden. Es besteht eine hereditäre
Verwandtschaft zwischen den verschiedenen klinisch scharf voneinander geschiedenen
neuropathischen Zuständen. Solches gilt von der Epilepsie, Dementia praecox,
dem manisch-depressiven Irresein, der Imbezillität, der Involutionsmelancholie,
den paranoischen Zuständen, der akuten Halluzinose und einigen verwandten
Psychosen. Diese neuropathischen Zustände verhalten sich rezessiv gegenüber
dem Normalzustand. Sie verhalten sich ähnlich zueinander, wie z. B. die Haar¬
farben der Mäuse, so daß man auch für sie eine Dominantenskala aufstellen kann.
Doch läßt sich bisher nur die folgende Dominantenskala aufstellen: N (normal¬
psychischer Faktor), M (manisch-depressiver Faktor), D (Dementia praecox-Faktor),
E (epileptischer Faktor). In derselben klinischen Gruppe gibt es zahlreiche quanti¬
tative Variationen bis ins Normale hinein. Diese sind in dem Keimplasma voraus¬
bestimmt. Viele Fälle zeigen eine Vermischung von aus verschiedenen klinischen
Gruppen herübergenommenen Symptomen. Diese Fälle sind Übergangsformen,
die von einer Minus-Variation der Dominanten bedingt sind. Wenn der normal¬
psychische Faktor nur imvollkommen dominiert, so mögen damit die Bedingungen
gegeben sein für das mildere Auftreten ncuropathischer Symptome, möglicherweise
auch gewisser normaler Charakterzüge. Die geistige Kraft scheint von der Stärke
und Menge und nicht von der Mannigfaltigkeit der psychischen Determinanten
abzuhängen. Individuen, die zu einer der Gruppen gehören: Psychisch-Stabile,
Manisch-Depressive, Demente (praecox), Epileptische, können schwachsinnig sein,
aber die Möglichkeit hierfür nimmt zu, je tiefer sie auf der Dominantenskala stehen.
Die Beziehung des Schwachsinns zu anderen neuropathischen Zuständen und zum
normalen Zustand ist die einer heterogenen Gruppe von Minus-Varianten, die auf
einem allgemeinen Defekt der Stärke und Menge aller psychischen Determinanten
beruhen. Schwachsinnige, ebenso wie Durchschnitts- und über dem Durchschnitt
stehende Individuen können psychisch stabil oder Anfällen' von Erregung oder
Depression unterworfen sein, oder es können bei ihnen katatone und paranoide
Symptome auftreten, oder sie können an epileptischen Anfällen leiden.
(Ganter.)
v. Hoffmann (194) berichtet nach kurzer Würdigung der Grundlehren der
Rassenhygiene über die Verbreitung rassenhygienischer Ideen in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika und schildert die dortigen rassenhygienischen Maß-
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
251 *
nahmen — Regelung der Ehe im rassenhygienischen Sinne, Unfruchtbarmachung
der Minderwertigen, Auslese der Einwanderer — und ihre Ergebnisse. Die inter¬
essanten eingehenden Schilderungen geben ein getreues Bild der amerikanischen
Maßnahmen und Erfolge. Als Anhang sind die in Frage kommenden Gesetze im
Wortlaut aufgeführt. Ebenso findet sich dort ein Verzeichnis der einschlägigen
Schriften. Ein kurzes Schlagwörterverzeichnis trägt zur leichten Orientierung bei.
Strohmayer (420) schildert die Bedeutung des Mendelismus für die klinische
Vererbungslehre und weist dabei auf die Fehler unserer bisherigen Erblichkeits¬
forschung hin. Er verkennt nicht die Schwierigkeiten der Mendelforschung beim
Menschen, hält sie aber nicht für unüberwindlich. Vorwärts wird uns die „Familien¬
forschung“ bringen. „Die Ursachenforschung und das Studium der Vererbung
muß in ihren Elementen im Rahmen der Familie geleistet, das Beobachtungs- und
Erfahrungsmaterial des einzelnen muß zur Sichtung und Verarbeitung an Zentral¬
stellen für Familienforschung vereinigt werden.“ Krankheiten, die sich erwiesener¬
maßen dominant vererben und nicht lediglich eine für den Träger und das Gemein¬
wohl gleichgültige Abnormität darstellen, sollen mit dem Eheverbot belegt werden.
Bezüglich der mit gemeingefährlichen, verbrecherischen und antisozialen Instinkten
begabten geistigen Defektmenschen hofft Verf., daß wir bald dem amerikanischen
und schweizerischen Beispiel folgen und diese Schädlinge des Volkskörpers durch
Sterilisierung unschädlich machen.
Hegar (182) gibt wertvolle Hinweise und Beispiele für die Indikation einer
Sterilisierung aus rassenhygienischen Gründen. Kriminalität will er als Anzeige
für die rassenhygienische Sterilisation nicht verwerten.
Friedei (145) hält die gesetzliche Einführung obligatorischer Sterilisierung
gewisser Geisteskranker aus sozialer Indikation für deutsche Verhältnisse noch
nicht für möglich; um so dringender bedarf daher die freiwillige Sterilisierung der
Erprobung und Durchführung; hierzu sind besonders geeignet gewisse Kategorien
von weiblichen Schwachsinnigen.
Strohmayer (421) hält es für unzulässig, von einer Unsitte der Verwandtschafts -
heirat zu sprechen und sie ausnahmslos gesetzlich zu verbieten. Seit Mendel wissen
wir, wie wir mit der Inzucht daran sind. „Man soll in Zukunft nicht mehr in einer
Weise von der Inzucht sprechen, daß eine Verwechslung ihrer Wirkung mit den
Folgen der gametischen Beschaffenheit der gepaarten Individuen möglich ist.“
Parhon et Urechia (327): Versuche an Hunden und Kaninchen. Die Kastration
schützt nicht in nennenswerter Weise vor den Folgen der Strychninvergiftung.
In 3 von 5 Fällen waren die Konvulsionen (Strychnininjektion) bei den der Schild¬
drüse beraubten Tieren viel stärker als bei den Kontrollieren, nur einmal zeigte
sich das Gegenteil. Die Schwere der Vergiftung war im allgemeinen bei den operierten
Tieren viel größer, denn es starben 2 von 5, während die Kontrolliere am Leben
blieben. In 8 Versuchen wurde festgestellt, daß die nach der Strvchnininjekion
auftretenden Konvulsionen bei den mit Schilddrüse vorbehandelten Tieren aus¬
gesprochener waren als bei den Kontrollieren. Die der Schild- und Nebenschild¬
drüse beraubten Tiere zeigten gegenüber dem Strychnin kein anderes Verhalten
als die Kontrolliere. Nur schien ihre Widerstandsfähigkeit herabgesetzt, sie starben
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252 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
schneller als die Kontrolltiere. Die operierten Tiere erlagen alle, von 5 Kontroll-
tieren blieb eines am Leben. In 5 Versuchen wurden Schild- und Nebenschilddrüse
entfernt und die Tiere mit großen Dosen Schilddrüse gefüttert: sie reagierten nicht
anders auf Strychnin wie die Kontrolltiere. (Ganter.)
Lomer (268) glaubt, daß sich der eigentümliche Zusammenhang von Keim¬
drüsen'und Psyche schon in den Gewichtsverhältnissen beider Organgruppen in
gewisser Hinsicht ausspricht und daß auch die mehr sekundären Geschlechts -
Charaktere, Körperbehaarung und weibliche Brustentwicklung, dem Einfluß der
Keimdrüsenhormone unterliegen.
Der von Plaut, Rehm und Schottmüller (343) bearbeitete Leitfaden zur Unter¬
suchung der Zerebrospinalflüssigkeit kommt einem dringenden Bedürfnis entgegen.
Bei den Fortschritten, die die Lehre von der Zerebrospinalflüssigkeit und ihren
pathologischen Veränderungen in den letzten Jahren gemacht hat, und bei der
Wichtigkeit dieser Untersuchungen für die Klinik, besonders der organischen Er¬
krankungen des Zentralnervensystems, war es an der Zeit, die verstreuten Resultate
der bisherigen Forschungen zu sammeln und zusammenfassend darzustellen. In
dem jetzt vorliegenden Leitfaden hat Rehm den physikalischen, chemischen und
zytologischen Teil, Plaut den serologischen und Schottmüller den bakteriologischen
Teil bearbeitet. Der spezielle Teil wurde aus den gemeinsamen Beiträgen zusammen¬
gestellt. Ihre Aufgabe ist den Autoren glänzend gelungen, das Buch enthält in
prägnanter Darstellung alles, was auf diesem Gebiet wissenswert, und bekannt
ist. Eine Reihe vortrefflicher, zum Teil farbiger Tafeln erläutern den Text. Das
Buch kann zum Studium und zur Orientierung warm empfohlen werden.
Carhone e Nizzis (70) Untersuchungen lassen es als möglich erscheinen, daß
das Cholestearin einen Teil des bei der Wassermannschen Reaktion in Wirksamkeit
tretenden syphilitischen Serums bildet. (Ganter.)
Hauptmann (175) schildert in seinem glänzenden Vortrag die diagnostische
Bedeutung der Lumbalpunktion; er zeigt, was die Liquoruntersuchung bisher
an diagnostisch verwertbaren Tatsachen zutage gefördert, wie sie unsere Diagnostik
bereichert hat und der pathogenetischen Erforschung neue Wege weist.
Donath (111) schildert kurz und übersichtlich Technik, diagnostischen und
therapeutischen Wert der Lumbalpunktion und zeigt, wie wichtig die Untersuchung
der Zerebrospinalflüssigkeit ist. „Zwei Zugänge bieten sich uns dar, um einen
Einblick in das Zentralnervensystem zu gewinnen: der Augenhintergrund und die
Zerebrospinalflüssigkeit. Die Kenntnis der letzteren ist noch lange nicht erschöpft
und wird gewiß noch weitere therapeutische Möglichkeiten darbieten.“
Biegaard (36) hat 234 Liquores von verschiedenen Krankheiten auf Globuline
und Albumine untersucht und gefunden, daß bald nur die Globuline, bald die Albu¬
mine vermehrt sind; häufiger beide zusammen. Hierbei sind bei der Paralyse die
Globuline, sonst die Albumine stärker vermehrt. Beiden Teilen, auch den Globulinen,
erkennt er ein physiologisches Vorkommen in gewissen Grenzen zu. Die Vermehrung
des Eiweißes trifft stets mit einer organischen Krankheit zusammen; doch ist eine
solche nicht unbedingt mit einer Eiweißvermehrung verbunden. Negativ sind
Dementia praecox, Dementia alcoh., Epilepsie, arteriosklerotische und senile Demenz.
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
253 *
ei Tabesfälle hatten keine Nonne sehe Reaktion, so daß er zur Nachprüfung
Tabes rät. Bei Tumor cerebri fand er dagegen beträchtliche Eiweißmengen;
.'h Globuline. Globulinvermehrung fand er in 97 %; Gesamteiweißvermehrung
1)3%; beide zusammen in 98% der Fälle. (Grimme.)
Jaeger und Goldstein (209) haben den Liquor von 107 verschiedenen Krank¬
itszuständen nach der Goldsol-Reaktion untersucht; darunter 33 Paralysen und
Fälle von Lues cerebrospinalis. Ergebnis: Bei Paralysen und Lues cerebrospinalis
100 % stark positive Reaktion. Bei Tabes dieselbe starke Reaktion nur bei
nem Teil der Fälle; einmal auch bei liimabszeß nach Schädelschuß. In den übrigen
■ganisehen oder funktionellen Erkrankungen gibt die Goldsol-Reaktion keine diffe-
mtialdiagnostischen Unterschiede; speziell können die Verfasser die als charakte-
s tisch angegebene Verschiebung des Ausflockungsmaximums nach oben bei be-
riinmten organischen Erkrankungen nicht bestätigen. Die Reaktion ist aber
r egen des häufigen Mißlingens der Lösung für den klinischen Gebrauch weniger
eeignet. Die positive Reaktion erscheint ihnen erst beweisend, wenn sie so stark
vie bei der Paralyse auftritt. Der Ausfall der W.-R. stimmt nicht immer mit dem
Ausfall der Goldsol-Reaktion überein. (Grimme.)
Fauser (127): In seinem Vortrage im Deutschen Verein für Psychiatrie schildert
Fauser , welche Überlegungen ihn zu seinen serodiagnostischen Untersuchungen
geführt haben, und geht dann besonders auf seine an etwa 250 Geisteskranken
gewonnenen Befunde ein, unter geistvoller Darlegung dessen, was von der neuen
Methode zu erwarten ist. Bei der Dementia praecox fand Fauser Schutzfermente
gegen Geschlechtsdrüsen und Hirnrinde. Diese Schutzfermente sind das Sekundäre,
eine Folge der Dysfunktion der Drüsen. Sie sollen den unvollkommenen Abbau¬
prozeß im Blute nachholen. Infolge dieses nachträglichen Abbaus entstehen Zwischen -
Produkte, die eine Rindenvergiftung bewirken. Bei der Dysfunktion der Geschlechts¬
drüsen denkt Fauser an hereditäre Einflüsse. Schilddrüse und Geschlechtsdrüse
stehen zueinander im Korrelationsverhältnis; deshalb erhält man bei Dementia
praecox auch Abbau von Schilddrüse. Er betont die Geschlechtsspezifität und die
Brauchbarkeit der Geschlechtsdrüsen ganz alter Personen. Die Dysfunktion der
Geschlechtsdrüsen und der Hirnrinde scheint eine intermittierende zu sein, denn
die Ergebnisse wechseln. Mit Sicherheit konnte Schutzferment gegen Geschlechts¬
drüsen nur bei Dementia praecox nachgewiesen werden. Bei Basedow-Psychosen
fand sich Schutzferment gegen Schilddrüse und Hirnrinde. Bei der Paralyse in
der Mehrzahl Schutzferment gegen Hirnrinde. In ganz seltenen Fällen sicherer
Paralyse fehlte es. Bei weit vorgeschrittener Paralyse, die gleichfalls einen Abbau
vermissen ließen, nimmt Fauser an, daß sie ähnlich, wie bei Tuberkulose, nicht mehr
imstande sind, Schutzfermente zu produzieren. Im Liquor wurde kein Schutz¬
ferment nachgewiesen. Fauser nimmt an, daß es sich bei der Paralyse um Spiro-
chäteneiweiß handelt, das in die Blutbahn eingedrungen ist. Bei rein funktionellen
Psychosen fand Fauser niemals Schutzferment gegen Rinde, Geschlechtsdrüse
und Schilddrüse, auch nicht gegen Hypophyse, Zirbeldrüse, Nebenniere, Niere,
Leber. Es ist möglich, daß es sich bei den funktionellen Psychosen nicht um quali¬
tative Veränderungen der Drüsensekrete handelt, sondern um quantitative. Bei
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
epileptischen und alkoholischen Geistesstörungen fand Fauser in einigen schweren
Fallen Schutzferment gegen Rinde; bei chronischen Alkoholikern mit Leber-
Schwellung Schutzferment gegen Leber. (Grimme.)
Fauser (125) zeigt unter Schilderung seines eigenen Arbeitens und seiner
eigenen Überlegungen und unter Anführung der Arbeiten anderer Autoren (Much,
Holzmann usw.), wo die Wurzeln der neuen serologischen Untersuchungstechnik,
soweit die Psychiatrie in Frage kommt, zu suchen sind, und führt sodann weitere
Fälle an, die auf das beste die Brauchbarkeit der Abderhaldenschm Reaktion er¬
kennen lassen. Bei Fall 1 konnte er durch sie eine alkoholische Psychose als Dementia
praecox feststellen. Es wurden Testikel, Hirnrinde, Leber und Schilddrüse abgebaut.
Der Kranke hatte eine leichte Vergrößerung der Schilddrüse. Bei einer Patientin
mit jahrelang bestehender Depression und einem kleinen Kropf wurden Ovarium,
Schilddrüse, Hypophyse, Hirnrinde abgebaut. Nach einer Strumektomie psychische
Besserung und nur noch Abbau von Ovarium. Den Einfluß der Struma auf das
Entstehen der Psychosen machen Fälle klar, bei denen nach einer Strumaoperation
psychische Störungen auftraten. Hauser denkt daran, daß während oder gleich
nach der Operation unvollständig abgebaute Substanz in den Körper eingedrungen
ist. Es wurde Schilddrüse und Hirnrinde abgebaut. Hauser erörtert dann noch
den Abbau verschiedener Drüsen bei einer psychischen Erkrankung und weist
darauf hin, daß ein Organ in verschiedenem Sinne „dysfunktionieren“ könne.
(Grimme.)
Fauser (130) berichtet über seine schon früher veröffentlichten Untersuchungs¬
ergebnisse, schildert, wie er bei seinen Untersuchungen vorgeht, wie er sich selbst
kontrolliert, und bespricht die Einwendungen, die man der Methode gegenüber
gemacht hat und die er sich selbst machte.
Fauser (128) betont, daß er die von ihm als Erstem gemachte Anwendung
der neuen physiologischen Anschauungen und der Methodik Abderhaldens auf
das Problem der Dementia praecox u. a. auch der Idee nach als selbstständig und
unabhängig von Abderhalden von ihm selbst gefaßt und durchdacht betrachtet.
(Grimme.)
Beyer (34): Kurze Schilderung von Fällen, die die Bedeutung der Abder¬
haldenschen Reaktion beweisen sollen; einige sind forensische Fälle. Ihretwegen
ein inzwischen viel kritisierter Hinweis auf die Wichtigkeit der Abderhaldenschen
Reaktion für die forensische Praxis. (Grimme.)
Fischer (137): Schilderung des Verfahrens bei der Abderhaldenschen Reaktion.
Die Sera von Kranken mit Dementia praecox bauten ziemlich konstant Hirnrinde
und Geschlechtsdrüsen ab; das Serum von Frauen nur Ovarium, das von Männern
nur Hoden. Fälle von Paralyse bauten Hirnrinde ab; von manisch-depressivem
Irresein und ein Fall von Epilepsie keine Organe. (Grimme.)
Fischer (136): Ergebnis der von ihm angcstellten Abderhaldenschen Reaktion.
Untersucht sind 87 Fälle. Bei der Dementia praecox wurde Hirnrinde ziemlich
konstant abgebaut, mit Ausnahme einiger „stationärer Defektzustände“, einer
starken Remission, eines frischen Falles und einiger Fälle, in denen ein Zusa mm en -
hang zwischen Zustandsbild und Reaktion möglich erschien. Diese Patienten waren
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5, antworteten sinngemäß und halluzinierten wenig oder gar nicht. Schild¬
enabbau erhielt er bei 37 Untersuchungen nur 10 mal, ohne daß eine bestimmte
rvkJheitsform besonders beteiligt war. Nebennierenabbau in 7 untersuchten
en keinmal; ebenso Pankreas bei 10 Fällen. Von 16 Fällen genuiner Epilepsie
de nur einmal Rinde abgebaut. Bei Paralyse wurde Rinde nicht abgebaut
einem stationären Falle; bei weitgehender Remission und bei einem schweren,
aell verlaufenden Falle. Selten wurden bei Paralyse andere Organe abgebaut,
rorgane wurden von menschlichen Seren nicht abgebaut. Die Abwehrfermente
1 durchaus spezifisch. (Grimme.)
Bundschuh (62): Schilderung der Abderhaldenschen Reaktion. Nach seinen
ahrungen hat es den Anschein, als ob Serum von Kranken mit Dementia praecox
Organen von solchen Kranken stärker reagiert, als mit Organen von normalen
iten. Jedes Organ ist genau zu charakterisieren. Ein „Einstellen“ eines Organs
bei der geringen Menge einzelner Organe nicht immer möglich. Die Kontrolle
gan + Aq. dest. ist ungenügend; besser, aber auch nicht genügend ist die Kon-
dle Organ + inaktiviertes Serum. Das Serum eines Gesunden ist mit einzustellen.
(Grimme.)
Bundschuh und Römer (63): Besprechung ihrer Ergebnisse der Abderhalden-
taen Reaktion. Aus der von ihnen angewandten Technik ist hervorzuheben:
lut entnähme mit trockener Nadel; Waschen der stark zerkleinerten Organe mit
iritungswasser und Kochsalz; Ausschluß von Organen von Leichen, bei denen
ne sämtliche Organe angreifende Krankheit die Todesursache war; Einschaltung
m Serum eines Gesunden oder von sicher negativ reagierenden Seren anderer
ranken und endlich — solange die Technik noch im Anfangsstadium ist — Aus-
ahl von klinisch einwandfrei diagnostizierten Krankheitsfällen. Untersucht
nd 72 Fälle; nach Möglichkeit jedesmal mit zwei gleichartigen Organsubstraten.
Gesunde reagierten negativ mit Gehirnrinde, Schilddrüse und Geschlechtsdrüse.
Manisch-Depressive ebenfalls negativ mit Ausnahme eines Patienten, der mit
childdrüse einen schwachen Abbau gab. Er hatte eine Struma. 41 Fälle von
iementia praecox bauten 35 mal Rinde, 34 mal Geschlechtsdrüsen und 14 mal
ichilddrüse ab. Von 13 Paralytikern reagierten 11 mit Rinde und 2 mit Testikel,
mit Rinde, 10 mit Testikel und sämtlich mit Schilddrüse negativ. (Grimme.)
Roetner (359) berichtet über die mit Bundschuh ausgeführten Untersuchungen
nittels der Abderhaldenschen Reaktion. 14 Gesunde, 6 Psychopathen, 11 Manisch-
Depressive; 48Fälle von Dementia praecox; 13 Paralytiker. Die drei ersten Kate¬
gorien reagierten negativ gegenüber Gehirn, Schilddrüse, Geschlechtsdrüse. Bei
der Dementia praecox wurde 41 mal Hirnrinde, 17 mal Schilddrüse, 43 mal Ge¬
schlechtsdrüse abgebaut. Die Geschlechtsspezifität wurde gewahrt. 13 Para¬
lytikern reagierten sämtlich mit Rinde positiv, mit Schilddrüse negativ und sämt¬
lich bis auf einen Testikel negativ. Der Liquor wurde bei 7 Paralytikern frei von
Abwehrferment gefunden. Der negative serologische Befund bei den Anfällen
des manisch-depressiven Irreseins bedarf nach der Auffassung des Verfassers
noch umfangreicher Nachprüfungen. Die gleichzeitige Dysfunktion anderer Organe
bei gewissen Gruppen von Geisteskrankheiten zusammen mit dem Abbau von
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Hirnrinde wird von R. erörtert und im Hinblick auf diese Dysfunktion wird auf
die Erkenntnis der Grundlage mancher Psychosen hingewiesen. (Grimme.)
Hussels (203): Kurze Mitteilung der Ergebnisse der Abderhalden sehen Reak¬
tion. Bei Gesunden und Hysterikern keinerlei Abbau. Bei Dementia praecox
regelmäßig Abbau von Gehirn und Hoden; nie von Plazenta. Bei einem gehemmten
Katatoniker keine Reaktion. Bei 14 Paralytikern Abbau von Gehirn regelmäßig,
dreimal von Hoden, auch zweimal von Plazenta. Dies wird für einen Versuchs¬
fehler erklärt. In 20 verschiedenen Fällen wurde auch Karzinom und Leber ab¬
gebaut. Abbau von Karzinom fand sich nur bei einem auf Karzinom dringend
verdächtigen Kranken; Leber gab dreimal mit Paralytikerserum positive Reaktion,
so daß an der Blutreinheit der Leber gezweifelt wurde. Das Waschen mit Wasser¬
stoffsuperoxyd wird verworfen. (Grimme.)
Mayer (290): Abderhaldensche Reaktion an 47 Fällen. Die Ergebnisse stimmen
vollkommen mit denen von Fauser u. a. überein. Bei Dementia praecox findet
sich immer Abbau von Geschlechtsdrüsen; meistens auch von Hirnrinde und Schild¬
drüse. Bei funktionellen Psychosen keine Abwehrfermente. Bei Paralytikern
solche gegen verschiedene Organe, immer gegen Hirnrinde. Im Liquor der Para¬
lytiker wurden dagegen nie Abwehrfermente gefunden. Serologisch läßt sich das
Paralytikerserum von dem einer Dementia praecox und dem bei einer Paralyse
fast immer vorhandenen Leberabbau unterscheiden. Auch ein Endzustand bei
Dementia praecox reagierte positiv. Bei fortschreitender klinischer Besserung
eines Dementia praecox-Kranken keine Änderung der positiven Reaktion.
(Grimme.)
Mayer (291) beschreibt seine Versuche, die die absolute Organspezifität der
Abderhaldemehen Abwehrfermente beweisen und gleichzeitig keine Anhaltspunkte
dafür ergeben, daß ein Ferment ein anderes verdecken kann, so daß dessen Wirkung
im Abderhaldensehen Versuch nicht zum Vorschein kommt. Es waren mehreren
Kaninchen verschieden große Mengen Kaninchenhim und Kaninchenleber in die
Bauchhöhle injiziert. In den Abderhaldenschen Versuchen ergaben dann jedesmal
nur Leber und Hirnrinde einen Abbau. (Grimme.)
Münzer (310) bespricht die Bedeutung der Abderhaldensehen Reaktion für
die Erkennung mancher bisher unklarer, auf Dysfunktion von Drüsen beruhenden
Krankheiten, z. B. des Diabetes, und gibt Ausblicke auf die Diagnostik und Therapie
der Psychosen. Er weist darauf hin, daß auch der Liquor auf Himsubstanz, Keim¬
drüsen, Schilddrüsen untersucht werden muß. Auch an die Tetanie und Myasthenie
sei zu denken. Für die Therapie rät er antagonistische Organe zu verabreichen.
(Grimme.)
Szabö (425) hat den Liquor von 60 an verschiedenen Geisteskrankheiten
leidenden Kranken auf die verschiedensten Fermente untersucht und ist zu folgenden
Ergebnissen gekommen: Der Liquor enthält nur wenige und schwach wirkende
Fermente. Niemals fand sich eine invertase-zymose-pepsin- oder antipeptische,
eine tryptische oder antitryptische oder eine Labfermentwirkung; ebenso fehlte
Tyrosinase und Aldehydase. Diastase fand sich bei Hysterie und Manie. Der Liquor
in Fällen von Dementia praecox, Alkoholpsychosen, seniler Demenz, präsenilen
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>sen hat eine stärkere amylotische Wirkung als der bei Paralyse. Bei neu-
und schwach alkalischer Reaktion hat der Liquor eine fettspaltende Eigen-
; am stärksten bei Paralyse. Jeder Liquor enthält ein oxydatives vermittelndes
‘nt, das im Stoffwechsel des Zentralnervensystems eine wichtige Rolle spielen
nd übt eine katalytische Wirkung aus. Der pathologische Liquor hat stärkere
entwirkungen als der normale. Sz. hält es für wahrscheinlich, daß die Bildung
'ermente mit der Sekretionstätigkeit des Plexus im Zusammenhänge steht.
(Grimme.)
Theobalds (429) Untersuchungen umfassen 165 Fälle mit 1000 Protokoll-
nern. 10 mal fand er selbst reagierende Seren. Bei 58 Fällen von Dementia
:ox wurde in 60 % Hirnrinde, in 58 % spezifische Geschlechtsdrüse, in 64 %
ddrüse, in 12 % nichts abgebaut. Bei 25 Fällen von Idiotie reagierte Hirn-
• 7 mal; spezifische Geschlechtsdrüse 9 mal. Bei 10 Fällen von manisch-
essivem Irresein wurden nur einmal wiederholt Hirnrinde, Testikel und Schild-
e abgebaut. Bei 7 Fällen arteriosklerotischen Irreseins 6 mal Hirnrinde, 4 mal
enwand, 3 mal Testikel, je 1 mal Leber und harte Hirnhaut und 1 mal Schild-
e. Bei 18 Fällen von Dementia senil. 7 mal Hirnrinde, 1 mal Testikel, 2 mal
:a, 3 mal Niere, 1 mal Dura. Bei 19 Paralytikern 1 mal Testikel, 4 mal Leber,
■d Pia, 12 mal Hirnrinde. Eine stationäre Paralyse war negativ. Bei Alkoholis-
t, Hysterie, Psychopathie negative Befunde. (Grimme.)
Theobald (428) berichtet über zwei Kastrierte, von denen der eine nicht mehr
Hoden in der Abderhaldenschen Reaktion reagierte; der andere dagegen noch,
dieser auffallenden Reaktion wird gedacht, an verlagerte bei der Operation
ückgebliebene Hodengebilde — der Kranke hat noch Pollutionen und Erek-
len — oder an ein Eintreten von Samenstrang und Samenbläschen, die vielleicht
Jiche Bausteingruppen enthalten. Größere Bedeutung wird aber dem fort-
etzten Gebrauch von Schlafmitteln zugeschrieben, die einen Abbau aller mög-
ten Organe bedingen sollen. (Grimme.)
Maas (275) hält die Verwendung kleinerer Serummengen (0.1) und die An-
ndung des Wasserstoffsuperoxyds beim Waschen der Organe nicht für zweck-
ßig. Beruft sich aber auf eine mündliche Mitteilung Abderhaldens, nach der
t kleinere Serummenge bei fieberhaften Erkrankungen oft geboten ist, da das
rum allein schon mit Ninhydrin reagierende Stoffe enthält. Eine Kontrolle mit
>chsalz ist unzweckmäßig, da sie nur eingeengt verwertbar ist. M. verzichtet
f die doppelte Versuchsausführung. Verwendung von Paralytikergehimen bei
iralytikem zeigte keinen wesentlichen Unterschied. Besprochen werden 213
ntersuchungen. Er hält die Mitführung eines normalen Falles in jeder Versuchs-
ihe für erforderlich. Bei 21 normalen Fällen fand sich nur je einmal schwache
ermentbildung gegen Schilddrüse und gegen Gehirn. Wahrscheinlich Versuchs¬
thier. Bei der Dementia praecox häufige Fermentbildung gegen Gehirn, Keim-
rüse und — weniger häufig — gegen Schilddrüse und Nebenniere. Eine Abgrenzung
inerhalb der Gruppe war nicht möglich; auch keine Übereinstimmung mit dem
lustandsbilde. Nur zeigten chronische Fälle seltener Gehimabbau. Bei akuten
'allen intermittierender Abbau. 10 Manisch-Depressive, dabei zweimal Schild-
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drüsenabbau. Erklärung möglich. Einmal Gehimabbau; vielleicht auf temporären
Abbau im Sinne Kafkas zu beziehen. Bei Paralysen in zwei terminalen Fällen
stärkste Reaktion. Fast immer Gehimabbau; er fehlte bei einem Patienten mit
erhaltenem Intellekt. Daneben Abbau von Keim- und Schilddrüse. Im Liquor
keinerlei Abbau. 15 Fälle von Imbezillität lassen einen äußerlich ähnlichen Abbau¬
typus wie Dementia praecox erkennen. 10 Epileptiker zeigten bis auf 2 Gehim¬
abbau ; Keimdrüsenabbau 4 mal. Bei einfachen psychopathischen Zuständen
keine Fermentbildung gegen Gehirn und Keimdrüse; dagegen häufiger gegen Schild¬
drüse. Wegen der Würdigung des Abbaus von Keimdrüsen wird auf die Notwendig¬
keit von Untersuchungen unter physiologischen Bedingungen und in gewissen
Lebensabschnitten, auch bei endogener Schwachsinnsbildung hingewiesen.
(Grimme.)
Neue (314): Von 14 männlichen Fällen von Dementia praecox zeigten 11
Abbau von Hoden, 2 von Schilddrüse, 1 von Hoden und Schilddrüse, 13 von Gehirn.
Der mit Gehirn negative Fall war eine seit Jahren unveränderte Dementia paranoides.
Von 12 weiblichen Fällen war bei 8 Abbau von Ovarium, bei 1 von Schilddrüse,
bei 2 von Ovarium und Schilddrüse, bei 10 von Gehirn. Bei den zwei mit Gehirn
negativ reagierenden Fällen handelte es sich wieder um alte Fälle. Doch auch unter
den Gehirn abbauenden Fällen waren alte, klinisch abgelaufene. Geschlechts¬
spezifität wurde gewahrt. Bei sämtlichen Paralysen mit einer Ausnahme Abbau
von Gehirn. Bei diesem einen Falle handelt es sich um eine vor ganz kurzer Zeit
in Erscheinung getretene Paralyse. Von 7 Untersuchungen des Liquor einmal
eine positive Reaktion gegen Gehirn bei 2 und 3 ccm Flüssigkeit. Die Kontrollen
waren negativ. 3 Fälle von Lues cerebri bauten Gehimsubstanz ab; ebenso 1 Fall
von Tabes. Bei 8 Fällen von Dementia sen. 7 mal Abbau von Gehirn und Prostata;
daneben auch von anderen Organen. 2 Fälle von Addisonscher Krankheit bauten
Nebenniere ab. Ein Fall von Entartung reagierte positiv mit Hirnrinde; ein Psy¬
chopath mit Hoden; 2 Frauen im Klimakterium mit Ovarium. Bei 9 gesunden
Pflegern je einmal Schutzferment gegen Schilddrüse, Niere und Pankreas. Die
Spezifität der Schutzfermente hält N. nicht für bewiesen, weil die Zahl der Unter¬
suchungen zu gering sei. (Grimme.)
Kafka (224): Die kurze Veröffentlichung Kafkas wird fraglos überall sehr
dankbar auf genommen werden und sehr viel zur Verbreitung der serologischen
Untersuchungen beitragen. Denn er gibt für die einzelnen Krankheitszustände
in wundervoll übersichtlichen Kurven ein Gesamtbild aller vorzunehmenden Einzel¬
untersuchungen. Kafka untersucht jedesmal: die Fibringlobuline, Phase I, Gesamt¬
eiweiß, Zellen im Kubikmillimeter, N.-A. im Liquor, Komplement im Liquor, W.-R.
im Liquor, N.-A. im Blute, Komplement im Blute, W.-R. im Blute. Wir finden
eine Kurve für den Normalen, für die akute, nicht luische Meningitis, die akute,
luische Meningitis, die Paralyse, die Lues cerebrosp., die Tabes, besondere Formen
von Tumor cerebri oder spin., für Xanthochromie nach Blutung. Gerade solche
anschauliche Übersicht schafft erst das volle Verständnis für die serologischen
Untersuchungen. Kafka hat sich durch ihre Schaffung ein großes Verdienst er¬
worben. (Grimme.)
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Kafka (223): Ergebnisse der Abderhalden sehen Reaktion an 70 Fällen. 17
iale, 25 Fälle von Dementia praecox, 4 Manisch-Depressive, 6 mal Lues,
es cerebri, ferner Akromegalie, Basedow und Hypophysentumor, Epilepsie,
ie, Paralysen. Die normalen Fälle frei von Abbau; nur zweimal eine schwache
:tion auf Milz. Die Fälle von Dementia praecox boten den Fauser&chen Typus;
in wenigen Fällen auch Abbau von Nebenniere. Dasselbe zeigten die Fälle
manisch-depressivem Irresein; in einem Falle schwerer Erregung auch Gehirn -
iu. Bei Epilepsie im Anfall Schilddrüse und andere Organe. Ein Hypophysen-
or baute Gehirn und Hypophyse stark ab. (Grimme.)
An Kafkas (222) Arbeit ist zunächst wichtig das genauere Eingehen auf die
wierigkeiten in der Technik. Er betont, daß zum Waschen der Organe oft
Stunden nötig seien, daß häufig die vollkommen ninhydrinfreien Organe in
ligen Tagen wieder unbrauchbar werden; ferner die Schwierigkeiten in der
irteilung der Reaktion. 1 ccm Serum hält er für die Reaktion für genügend,
t ersucht wurden 120 Fälle. Aus seinen Ergebnissen seien folgende Sätze hervor-
voben: Die Dialysiermethode ist imstande, uns über bestimmte Störungen im
hirnstoffweehsel und im Spiele der Drüsen mit innerer Sekretion zu unterrichten,
»wehrfermente gegen Gehirn werden gebildet, wenn das Gehirn selbst schon er-
ankt ist, oder wenn Schädigungen dauernd oder plötzlich und intensiv auf seinen
offwechsel einwirken. Damit ist nicht gesagt, daß bei jeder Erkrankung des
ehims Schutzfermente im Blute nachweisbar sind. Abwehrfermente gegen Ge-
hlechtsdrüsen sind für Dementia praecox charakteristisch; sie scheinen sich
>nst nur bei Paralyse oder selten im epileptischen Anfall zu finden. Die Idiotie-
nd Infantilismusformen dysgenitaler Natur müssen nach dieser Richtung hin
och untersucht werden. Abwehrfermente gegen Nebenniere finden sich bei Dementia
raecox. Abwehrfermente gegen Schilddrüse sind in erster Linie bei Dementia
raecox nachweisbar, ferner bei Paralyse. Bei der Epilepsie scheinen sie in Be¬
lebung zu den Paroxysmen zu stehen. Gewisse Basedowformen neigen nur in
;eringem Maße zur Bildung derartiger Abwehrfermente. Solche gegen Hypophyse
anden sich nur bei Akromegalie und Hypophysentumor. Die Befunde der Fermente
;egen Geschlechtsdrüsen scheinen schon jetzt diagnostische und prognostische
Brauchbarkeit für das Gebiet der Dementia praecox zu haben. Hier scheint sich
auch die Möglichkeit zu ergeben, gewissen Fällen eine besondere Stellung einzu-
räuinen. Hypothesen über die Spezifität einzelner Fermente sind heute noch nicht
diskussionsfähig. Bei einem Falle stark manischer Erregung fand sich Gehirnabbau.
Eine schwere Chorea zeigte Abwehrfermente gegen Gehirn; eine andere gegen
Rückenmark; eine multiple Sklerose keine Abwehrfermente. (Grimme.)
Kafka (221) untersuchte als Erster den Urin auf Abwehrfermente. Der Urin
wird in ein steriles Gefäß entleert, durch ein steriles Filter filtriert und zentrifugiert
und durch mehrstündige Dialyse gegen fließendes Wasser von den mit Ninhydrin
reagierenden Stoffen befreit. Dann Versuch wie bei der Reaktion mit Serum. Zwei
Fälle von Dementia praecox reagierten mit Urin sowie mit Serum, wenn auch in
anderen Stärkegraden gegen Gehimmark und -rinde, Hoden, Schilddrüse. Eine
Gravida reagierte im Serum nicht, aber zweimal mit Urin gegen Plazenta. Zwei
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normale reagierten im Urin und im Serum negativ. Es gehen also spezifische Ab¬
wehrfermente in den Urin über und sind in ihm nachzuweisen. (Grimme.)
Schulte (388) hat Blutuntersuchungen an Epileptikern und Dementia praecox-
Kranken angestellt. Schon bekannt war, daß dem epileptischen Anfall eine Leuko¬
zytose folgt, an der besonders die lymphozvtären Elemente beteiligt sind. Schulte
hat nun das Blut in der Aura und in den Intervallen untersucht und festgestellt,
daß sich der Anfall oft stunden- und tagelang vorher durch Blutveränderungen
ankündigt, die nach dem Anfall bei frischen Fällen rasch wieder dem normalen
Blutbilde Platz machen; bei chronischen Fällen aber dem Blutbilde der chronischen
epileptischen Veränderung (eine ausgesprochene relative und absolute Lympho¬
zytose mit besonderer Beteiligung der Mononukleären- und Übergangsformen).
In der Aura steigen, die Lymphozyten und polynukleären Elemente stark an. Er
hält es für sicher, daß diese Veränderungen mit dem Wesen des epileptischen Pro¬
zesses Zusammenhängen, und weist auf den Status lymphaticus bei 20% der genuinen
Epileptiker hin. Bei der Dementia praecox hebt er speziell den von ihm erhobenen
Befund hervor, daß sich oft eine auffallende Vermehrung der Erythrozyten findet,
sogenannte „kapilläre Erythrostase“. Besteht diese Vermehrung nach Ablauf
akuter Erscheinungen weiter, so soll der Kranke in Gefahr sein, zu verblöden. Er
stellt den Befund zusammen mit den vasomotorischen Störungen dieser Kranken.
Sch. will den Befund zur Differentialdiagnose benutzen. Da eine Vermehrung der
Erythrozyten sich auch findet bei gewissen Vorgängen in der Geschlechtssphäre,
erinnert Sch. an die Forschungen Abderhaldens. (Grimme.)
Kafka (225) berichtet über 70 Fälle, an denen er die intrakutane Luetin-
reaktion nach Noguchi angestellt hat. Er betont, daß die Injektion auch wirklich
eine intrakutane sein müsse und daß nur die von Noguchi empfohlene Menge (0,035
Luetin + 0,035 physiologische Kochsalzlösung) injiziert werden dürfe. Das Material
bestand aus 4 Nichtlues, 1 Lues, 9 Lues latens, 11 Lues congen., 8 Lues cerebrosp.,
2 fragliche Lues cerebrosp., 27 sichere und 5 fragliche Paralysen, 3 Tabes. Ergebnis:
Nichtlues und Lues II negativ. Lues latens: 4 Fälle deutlich positiv und 3 Fälle
Spur Reaktion; Lues cong. einmal schwach positiv. Lues cerebri in 75 % der Fälle,
Paralyse in 60 %, Tabes 100 %. Die positive Reaktion zeigt sich schon nach 24 bis
32 Stunden an der Stärke der Rötung und Infiltration. Die negativen Reaktionen,
bei denen nur leichte Rötung oder kaum fühlbare Papelbildung vorhanden war,
waren meist nach 48 Stunden verschwunden. Er unterscheidet zwei Typen der
Reaktion: eine gerötete Papel mit Hofbildung, die sich 7 Tage hielt, und ausgedehnte
Rötung mit derber Infiltration. Die Reaktion ist spezifisch und ergänzt dieW.-R.
(Grimme.)
Kaslan (231) untersuchte 17 Imbezille und Idioten und stellte fest, daß 11
eine erhebliche Herabsetzung des Adrenalingehaltes im Blutplasma, 3 eine mäßige
Verringerung und 3 normale Werte zeigten. Von 4 senilen Psychosen ließen 2
(senile Demenz) keine Abweichung erkennen. Bei einer Presbyophrenie und einem
präsenilen Beeinträchtigungswahn erweiterten sich die Gefäße im Experiment;
doch will K. hierbei nicht an eine Überproduktion von Adrenalin denken, sondern
an eine andere, die Gefäße erweiternde Substanz, die im Blute kreist. Bei der Be-
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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gründung des Befundes an den Idioten schließt sich K. der Anschauung Weigerts
an, der eine das Gehirn und die Nebennieren in der Entwicklung störende Schädigung
annimmt. K. sieht in solchen Untersuchungen eine Möglichkeit, den Nachweis
darüber führen zu können, ob eine Idiotie oder eine stärkere Imbezillität erworben
ist oder schon in der ersten Anlage vorgebildet ist. (Grimme.)
Hirschfeld (192) behandelt im dritten Bande des Handbuches der gesamten
Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen die Homosexualität des Mannes und
des Weibes. Das Werk zerfällt in zwei Hauptteile. Der erste Teil behandelt den
homosexuellen Mann und die homosexuelle Frau als Einzelerscheinung. Nach der
Begriffsbestimmung werden zunächst ausführlich die Zeichen der Homosexualität
besprochen. Dann folgt eine Einteilung der Homosexuellen nach den verschiedensten
Gesichtspunkten, nach ihrer persönlichen Eigenart, nach ihrer Geschmacksrichtung
und den Betätigungsformen, nach Entstehung und Begleiterscheinungen. Hieran
schließt sich eine kritische Übersicht über die Erklärungsversuche und die Be¬
handlungsmethoden der Homosexualität. Der zweite Teil schildert die Homosexuali¬
tät des Mannes und des Weibes als Massenerscheinung. Zunächst wird die Ver¬
breitung und dann die Vergesellschaftung der Homosexuellen eingehend geschildert
und dann ein Bild ihrer wechselreichen Geschichte von den Anfängen der Kultur
bis auf die Gegenwart gegeben. Zur wissenschaftlichen Bearbeitung dieses schwie¬
rigen Stoffes war der Autor durch seine große Erfahrung besonders geeignet. Es
ist ihm denn auch gelungen, eine einzig dastehende einheitliche, umfassende, über¬
sichtliche Darstellung, eine Enzyklopädie der Homosexualität des Mannes und
des Weibes zu geben. Übersichtliche Anordnung und ein ausführliches Namen-,
Länder-, Orts- und Sachregister ermöglichen rascheste Orientierung.
Senf (396) schildert unter der Bezeichnung Narzißmus Erscheinungsformen
sexuellen Empfindens, bei denen auf der Grundlage eines homosexuellen Charakters
die eigene Person zum Mittelpunkt und Gegenstand des Geschlechtslebens gemacht
wird. Solche Erscheinungsformen bezeichnet er als „Integritätserotik“, als „In¬
spirationserotik“ und als „Konturerotik“. — Unter Integritätserotik versteht
er ein sexuelles Mißempfinden, das das imbewußte Verlangen nach dem Unberührt¬
bleiben als Grundlage des sexuellen Empfindens hat; in dem Kampfe zwischen
der aufsteigenden Begehrlichkeit und dem Anstreben gegen ein Unterliegen sein
sexuelles Erlebnis und in dem Gefühl, unberührt geblieben zu sein, den Sexual-
genuß findet. Auf dem Boden dieses Kontrastes der Empfindungen, bei starkem
sexuellem Antrieb einerseits und der Scheu vor sexuellen Handlungen andererseits
sollen auch Sexualverbrechen entstehen können.
Unter Inspirationserotik versteht er „das psychische Phänomen, wonach
die sexuelle Entspannung und die Quelle aller Lust in dem eigenen seelischen Wirken
gefunden wird“. An Stelle des sexuellen Verlangens soll der Zwang zum Schaffen
treten, der sich nun in intellektuellen oder in künstlerischen Bestrebungen äußert
und denselben Drang zur Entladung zeigt, wie die sexuellen Empfindungen. Diese
Individuen erscheinen asexuell in dem gewöhnlichen Sinne und frei von allem
Liebesgefühl.
Unter Konturerotik versteht er die Erscheinung, „daß ein seltsames Gefühl
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
des eigenen Körpers, das dem normalen Menschen fremd ist, die sexuelle Ent¬
spannung vermittelt“. Derartige Individuen finden einen sexuellen Genuß in der
Freude an den Konturen ihres Körpers. Dieser Genuß veranlaßt sie zur besonderen
Körperpflege und zur besonderen Rücksichtnahme auf die Konturen ihres Körpers
bei der Kleidung. (Grimme.)
Senf (397): Es handelt sich um eine kurze Erwiderung auf einen Angriff
Näcke s und eine kurze Besprechung der Theorien über den Ursprung der Homo¬
sexualität. Senf weist namentlich die Annahme zurück, er habe behauptet, ein
wirklich Heterosexueller könne durch Verführung, Onanie, Lektüre usw. zum
Urning werden. (Grimme.)
Ellis (120) möchte für Transvestismus, Verkleidungstrieb, die Bezeichnung
sexualästhetische Inversion einführen, da jener Begriff zu eng ist. Verf. bringt
4 Fälle. Der erste Fall betrifft eine verheiratete Frau, die von sich als einem seiner
Geliebten den Hof machenden jungen Manne träumt. Der zweite Fall handelt
von einem verheirateten Manne, dessen höchste Wollust es ist, ein Frauenkorsett
anzuhaben. Dieser Fall hat nach Verf. etwas von Fetischismus an sich. Der dritte
ist ein voll ausgebildeter Fall: Sehnsucht nach weiblicher Kleidung, weiblicher
Gestalt, weiblichen Vergnügungen und Zärtlichkeitsbedürfnissen. Ähnlich der
vierte Fall. In allen Fällen war sonst der geschlechtliche Verkehr normal.
(Ganter.)
Gildemeister (154) berichtet über die physikalisch-chemische und physiologische
Seite des psycho-galvanischen Reflexes.
Gregor und Goms (163) Untersuchungen legen eine klinische Verwertung
der Aufnahme des psychogalvanischen Phänomens nach folgenden Richtungen
nahe: Zur Beurteilung der Auffassung und Verarbeitung von Eindrücken bei stupo-
rösen Patienten oder unzugänglichen Individuen; zur Unterscheidung benigner
psychasthenischer Hemmung von ähnlichen Zuständen im Verlaufe progredienter
Krankheitsprozesse; zur objektiven Charakterisierung affektiver Zustände und
als Kriterium für die affektive Erregbarkeit; zur prognostischen Beurteilung des
Verlaufes einzelner Psychosen (Melancholie, Katatonie); für die Unterscheidung
der hypomanischen von der paralytischen oder hebephrenen Erregung; als Unter¬
suchungsmethode beim Verdachte auf Simulation.
Bloch (37—38) nennt die Prüfungsmethode von Binet-Simon ein wertvolles
Glied in der Kette der Intelligenzprüfungen; sie gestattet schnell und sicher das
jedesmalige Intelligenzalter eines Kindes von 3—12 Jahren fcstzustellen und gibt
darüber Auskunft, worin normale Kinder die weniger intelligenten übertreffen:
die Normalen sind den Anforderungen des täglichen Lebens besser gewachsen als
die Schwachsinnigen. Sie läßt ferner erkennen, daß bei Schwachsinnigen die geistige
Entwicklung um 2 bis 4 Jahre verzögert ist, andererseits bleibt sie auf einer viel
früheren Stufe stehen als bei Normalen. Sie ermüdet nicht, regt vielmehr die Auf¬
merksamkeit an und verspricht ein vorzügliches Hilfsmittel zu werden bei der
frühen Erkennung von manchen Geisteskrankheiten, bei der Aussonderung Schwach¬
begabter Kinder für die Hilfsschule. Auch dem Arzt als Sachverständigen vor
Gericht leistet sie gute Dienste.
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263 *
Mikulski (296) gibt eine Methode zur Prüfung der Aufmerksamkeit an, die
noch zweckmäßiger erscheint als die von Toulouse. Das Experiment beruht auch
hier wie bei Bourdon auf dem überstreichen eines gewissen Buchstaben. Der Autor
hat damit festgestellt, daß die Durchschnittszahl der Fehler bei Kranken bedeutend
höher ist als bei Gesunden, sehr hoch bei Paralyse, etwas kleiner bei manisch-
depressivem Irresein und bei Dementia praecox. Die Methode leistet auch gute
Dienste bei Feststellung von Simulation.
Im 4. Heft des 8. Bandes der Klinik für psychische und nervöse Krankheiten
hat Stoeckenius (415) die motorische, speziell sprachliche Reaktion auf akustische
Reize bei Normalen, Nervösen und Geisteskranken bearbeitet. Die überaus mühe¬
vollen, gründlichen Untersuchungen haben feststellen können, daß die Reaktions¬
zeiten der Nervösen und Geisteskranken in den allermeisten Fällen länger und
unregelmäßiger sind als bei Gesunden. Dasselbe Heft enthält Kommers (405)
Vortrag über elektrochemische Therapie, gehalten in Wien in der psychiatrisch -
neurologischen Sektion der Naturforscherversammlung. Die interessanten, an¬
regenden Ausführungen geben neue originelle Gesichtspunkte für die Anwendung
der Elektrotherapie.
Slrasburger (416) hat die Beeinflussung der Gehimzirkulation durch thermische
Reize bei Personen mit Schädeldefekten studiert. Seine Ergebnisse stimmen im
wesentlichen mit den im Tierversuch nach elektrischen, chemischen und mechani¬
schen Reizen erzielten Resultaten überein, thermische wirken in der Hauptsache
ebenso auf die Gehirngefäße wie andersartige Reize. Starke thermische Reize,
Kälte wie Hitze bewirken eine rasche Erweiterung der Gehirngefäße, der alsdann
meist rasche Verengerung folgt. Bei weniger intensiven Reizen kommt es gleich
zur Verengerung der Gehimgefäße, der später wieder Erweiterung folgt.
Steiner (409) liefert in seinem im Straßburger naturwissenschaftlich-medi¬
zinischen Verein gehaltenen Vortrag einen vorzüglichen Überblick über die Physio¬
logie und Pathologie der Linkshändigkeit und erläutert deren große praktische
Bedeutung. Links- und Rechtshändigkeit sind darnach als auf endogener Dis¬
position gegründete, funktionelle Asymetrien aufzufassen. Rechts- und Links¬
händigkeit reihen sich ein in eine Gruppe von Organisationsmerkmalen und Lei¬
stungen, aus denen mit Sicherheit der Schluß auf eine übergeordnete Tätigkeit
der einen Großhimhälfte über die andere gezogen werden darf.
Olpe (321), ein evangelischer Theologe, schildert auf Grund reichen Materials
und großer eigener Erfahrung die weite Verbreitung des Selbstmordes und macht
dann Vorschläge zur wirksamen Bekämpfung der Selbstmordepidemien. Den
originellen, anschaulichen Ausführungen ist ein Literaturnachweis über die Selbst¬
mordfrage angefügt.
Noruood (319): Die Selbstmordkandidaten aus London und einigen um¬
liegenden Grafschaften kommen in das für Männer bestimmte Brixton-Gefängnis
(Selbstmord wird in England mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bestraft). Verf., Ge¬
fängnisarzt, hat die von 1907—1910 eingelieferten 1000 Fälle einer eingehenden
Untersuchung unterzogen. Selbstmordversuche und Selbstmord kommen besonders
bei Arbeitslosigkeit und Trunkenheit vor, am häufigsten in den heißen Monaten.
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264 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
In 27,10 % fanden sich Unmäßigkeit, in 10,2 % Geisteskrankheit, in 0,6 % Epilepsie
bei den Eltern, Zahlen, die wahrscheinlich zu niedrig sind. Die gewöhnlichsten
Ursachen sind: Alkoholismus, Geisteskrankheit, mißliche häusliche Verhältnisse,
Psychopathie. In 39,3 % spielte der Alkohol die ausschließliche oder fast aus¬
schließliche Ursache. Personen, die eines Vergehens gegen eine Person angeklagt
sind, machen häufiger Selbstmordversuche als solche, die wegen eines Sachvergehens
verfolgt werden. Schwachsinnige begehen oft aus nichtigen Anlässen Selbstmord.
(Ganter.)
Jentsch (213): Das Bestreben, die psychische Verfassung derjenigen Persön¬
lichkeiten genauer kennen zu lernen, die uns künstlerische Geschenke beschert oder
in irgendeiner anderen Beziehung einen Einfluß auf uns ausgeübt haben, ist durch¬
aus berechtigt. Es reizt dies nicht nur den Psychiater, sondern ergibt sich ganz
selbstverständlich für einen jeden, der nachdenkend dem folgt, was er innerlich
erlebt. Die Zeitgenossen werden oft schon durch die Persönlichkeit des betreffenden
Menschen allein zu solch einer Fragestellung gezwungen. Solche Untersuchungen von
seiten der Psychiater sind aber nicht immer mit Wohlwollen aufgenommen; man
fühlte sich verletzt, wenn manches, was man bisher vielleicht nur der allgemeinen
menschlichen Unvollkommenheit zuschob, jetzt direkt einem abnormen psychischen
Verhalten zur Last gelegt wurde. Oft war solches Empfinden unberechtigt; manch¬
mal aber auch berechtigt; namentlich dann, wenn historische Persönlichkeiten
unter die psychiatrische Lupe genommen wurden oder solche Männer, die für einen
Teil des Volkes ein „noli me tangere“ bilden; In solch einem Falle wird man beiden
Teilen recht geben müssen, dem forschenden Psychiater sowohl, wie dem Volke,
das eine irrenärztliche Begutachtung der von ihm verehrten Personen nicht wünscht.
In derartigen Fällen muß der Psychiater dem Reize widerstehen können, seine
Untersuchungen der allgemeinen Öffentlichkeit zu übergeben. Denn wir müssen
doch zugeben, daß der subjektiven Auffassung so manchen Symptomes doch noch
oft ein weiter Spielraum gelassen ist. Das Buch von Jentsch wird sicher überall
anerkannt werden. Es bringt eine vorzügliche Darstellung der Persönlichkeit des
Verfassers „vom Erbförster“. Wir sehen Otto Ludwig mit mancherlei psychischen
Gebrechen behaftet, können aber zum Glück nicht von einer geistigen Abnormität
bei ihm sprechen. Otto Ludwig ist ein recht sensibler, zu Selbstbeobachtung und
Hypochondrie neigender Mensch, mit vielen endogenen Zügen; von weichem Ge-
müte, unpraktisch, zaghaft, weltfremd, der den Anschluß an Seinesgleichen lange
Zeit nicht hat finden können und am liebsten in seinem vom Vater ererbten Garten
sich einspann; aber mit scharfer Beobachtungsgabe ausgerüstet und die schärfste
Kritik stets an sich selbst anlegend. Viele körperliche Leiden beeinflußten seine
Stimmung, lähmten aber seine Schaffenskraft wenig. Auch die Analyse seines
Charakters schwächt den sympathischen Eindruck nicht ab, den die Persönlichkeit
Otto Ludwigs macht. (Grimme-Hildesheim.)
Heß (190) gibt eine Pathographie des Malers Gabriel Schilling in Gerhart
llauptmanns Drama; er hält ihn für einen Paralytiker.
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
260 *
II. Ätiologie.
Kalmus (228) weist in seinem im Verein Deutscher Ärzte in Prag gehaltenen
Vortrag auf die Ursachen der Geisteskrankheiten hin und zeigt, welche große Rolle
Alkoholismus, Syphilis und ererbte Disposition in dieser Beziehung spielen. Er
fordert mehr Interesse für diesen Gegenstand, betont die Notwendigkeit wirksamer
Prophylaxe und gibt hierfür Mittel und Wege.
Stern (411) führt aus, mit der Höhe des Kulturkreises nehmen die funk¬
tioneilen Psychosen und die Paralyse zu, die Dementia praecox, die Epilepsie und
die Imbezillität dagegen ab. Was auf die Gesamtheit der funktionellen Psychosen
zutrifft, gilt innerhalb dieser Krankheitsgruppe ganz besonders für die Manie, das
periodische und das zirkuläre Irresein wie die Paranoia. Die Prozentzahlen des
Alkoholismus sind in niederen Kulturkreisen etwas höher. Auf die Unterschiede
einzelner Völker in den Häufigkeitsquoten der Manie auf der einen, der Melancholie
und des Suizids auf der anderen Seite ist das Klima von Bedeutung: die Manie
bevorzugt die wärmeren und heißen Zonen, während Melancholie und Selbst¬
mord — zwischen beiden findet sich eine Wechselbeziehung — in Ländern mit
kälterem Klima überwiegen. Die Juden differieren in ihren geistigen und anderen
Krankheiten wie in ihrem sozialen Verhalten nur quantitativ von den übrigen
Kulturvölkern und verhalten sich wie die höheren Bevölkerungskreise dieser.
Fuchs (148) gibt in seinem auf Veranlassung der Ortskrankenkasse in Konstanz
gehaltenen Vortrag einen kurzen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung
der Irrenpflege, beschäftigt sich dann eingehender mit den Ursachen der Geistes¬
krankheiten und ihrer Prophylaxe, schließt hieran eine Übersicht über die badische
Irrenpflege und beschreibt dann kurz die neue Staatsanstalt am Bodensee und ihre
Organisation.
Moreira (300) erwähnt einleitend die Schilderungen der Dichter von der
Psyche der Tuberkulösen. Durch Rundfragen bei Heilstättenärzten, auf Grund
seiner persönlichen Nachforschungen in Heilstätten der Schweiz, Tirols, Ober¬
und Unterägyptens, Brasiliens, ferner auf Grund der an Tuberkulösen angestellten
Versuche kommt Verf. zum Schluß, daß es keinen für die Tuberkulösen charakte¬
ristischen Seelenzustand, keine besondere Psychosis tuberculosa gibt. Die bei
Tuberkulösen sich findenden psychischen Veränderungen: Euphorie, Erotik,
Depression usw. sind durch andere Umstände bedingt und haben nichts der Tuber¬
kulose Eigentümliches an sich. (Ganter.)
Raecke (349) behandelt in seinem auf Veranlassung des Institutes für Gewerbe¬
hygiene in Frankfurt a. M. gehaltenen Vortrag in kritischer Weise den Zusammen¬
hang zwischen Trauma und Psychose und Neurose. Auch für die Paralyse läßt
der Autor unbeschadet ihrer syphilitischen Natur Trauma als ätiologisches Moment
gelten und zeigt an einem selbst beobachteten Fall, daß am Ort des Traumas der
Ausgangspunkt der Paralyse gewesen.
Mayer (289) kritisiert als Gynäkologe Bossis „Triumph der gynäkologischen
Prophylaxe des Irrcsinns“; er tritt Bossi energisch entgegen.
Herman et Holländer (188) berichten, daß bei den 1911 und 1912 in die Irren¬
anstalt Mons aufgenommenen Geisteskranken die W.-Reaktion in 36 von 136
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Fällen = in 26,47 % positiv ausfiel. In 62 Fällen von progr. Paralyse war sie 56 mal
= 90,32 % positiv. In bezug auf die Ätiologie und die Diagnostizierung der Psy¬
chosen im allgemeinen und der progr. Paralyse im besondem hat die negative
W.-Reaktion keine Bedeutung. Was die progr. Paralyse betrifft, so dient die positive
W.-Reaktion in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht nur zur Bestätigung
der klinischen Diagnose, sondern sie gibt auch den Ausschlag in den verkannten
und verdächtigen Fällen. Nur die klinische Beobachtung ist imstande, die Diffe¬
rentialdiagnose zwischen der progr. Paralyse, der tertiären Himsyphilis und der
syphilitischen Demenz zu stellen. Die vier Reaktionen (W.-Reaktion des Blutes,
W.-Reaktion des Liquors, Lymphozytose, Nonne I) sollen in den Fällen angestellt
werden, wo es gilt, die durch die W.-Reaktion nachgewiesene syphilitische Diathese
von einer möglicherweise von dieser Diathese abhängigen Psychose abzutrennen.
Das Ausbleiben der Reaktionen des Liquor bei positiver W.-Reaktion des Blutes
erlaubt nicht, unbedingt die Syphilis als Ursache der Sklerose der Himarterien
auszuschließen. Die vier Reaktionen nebst der klinischen Beobachtung und der
Histopathologie der Hirnrinde sind berufen, Licht zu verbreiten über einige mangel¬
haft umschriebene psvchopathologische Zustände, wie über die anormal verlaufende
progr. Paralyse, die Himsyphilis und vor allem die Demenzzustände des höheren
Alters. (Ganter.)
Cygielstreich (87) will nachweisen, daß Gemütsbewegungen zu Stoffwechsel¬
störungen und damit zur Bildung von Giftstoffen im Körper führen, die dann die
letzte Ursache bestimmter geistiger Störungen abgeben. (Ganter.)
Bönnigers (41) Hunde versuche zeigen den großen Einfluß der Psyche auf die
Magenfunktion. Bei starker Ängstigung persistiert sowohl Sekretion wie Motilität
mehr oder weniger völlig. Alle stärkeren psychischen Emotionen, soweit sie nicht
die Freßlust des Tieres erregen, hemmen die Magenfunktionen. Eine Abhängigkeit
der Sekretion oder Motilität von der Art der Ernährung konnte bei jungen Hunden
nicht festgestellt werden.
Togamis (432) Beobachtungen ergeben, daß Sekretions- und Empfindungs¬
störungen des Magens in den meisten Fällen die wichtigste ätiologische Rolle für
Magenbeschwerden bei Geistesgesunden wie bei psychisch Kranken spielen. Die
merkwürdige Erscheinung, daß Geisteskranke trotz gewaltiger Funktionsstörungen
nicht über Magenbeschwerden klagen, „kann der Störung der Gefühlstöne oder
der Empfindung der Magenschleimhaut zugeschrieben werden“. Bei Melancholie
und Katatonie ist die Salzsäuresekretion stark vermehrt, die Pepsinausscheidung
gehemmt. Bei Stupor ließ sich totale Aufhebung der Pepsinabsonderung nachweisen
ohne Verminderung der Azidität. Zomaffekt hat starke Vermehrung der Pepsin-
und Salzsekretion zur Folge.
UI. Pathologie.
Worcester State hospital papers (467): Zu Ehren des nach 20 Jahren Dienst¬
zeit zurücktretenden verdienten Direktors Dr. Quinby verfaßten seine Schüler
eine Festschrift. Cotton schreibt über die Vererbung der Geisteskrankheiten. Bassoe
schildert den Fall eines 16 jährigen Italieners mit nur die linke Seite betreffender
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267 *
Hypertrophie aller Teile (einseitigem Gigantismus, Hemimakrosomie). Coriai
schreibt über Apraxie. Hoch veröffentlicht eine interessante statistische Arbeit
über das manisch-depressive Irresein. Orton handelt von der Technik der Hirn¬
schnitte. A. Meyer beschreibt einen Fall von Adenom der Thyreoidea mit teilweise
krebsig entarteten Metastasen. Miller versucht zu beweisen, daß Pellagra nicht
die Folge des Maisgenusses ist. Barreti beschreibt ein diffuses Gliom der Pia mater,
A. Meyer einen Hypophysentumor, in dem er als Merkwürdigkeit eine Neubildung
von Nervenzellen mit Nisslkörpem fand. Orion bringt den mikroskopischen Befund
bei einem an Himtod gestorbenen Fall von Katatonie. Southard schildert seine
Himuntersuchungen bei verschiedenen Geisteskrankheiten. W. Nitney beschreibt
ein Endotheliom der Stimgegend. Nobl schreibt über die Heilbarkeit der Geistes¬
krankheiten, Scribner über Epilepsie. (Ganter.)
Rohleder (360) schildert in vorbildlicher, streng wissenschaftlicher Weise
vom rein sexologischen Standpunkt aus die Funktionsstörungen der Zeugung beim
Manne und gibt einen vorzüglichen Überblick über dies wichtige Thema; er erörtert
in kritischer Weise alle einschlägigen Fragen und bespricht eingehend auch die
Therapie dieser Zustände. Besondere Beachtung verdienen die ätiologischen Vor¬
bemerkungen zu den Funktionsstörungen. Das vorliegende Buch berücksichtigt
nicht nur die Bedürfnisse der ärztlichen Beratungstätigkeit, sondern auch die
gerichtliche Sachverständigentätigkeit.
Traugott (437) bespricht in einer leicht zu lesenden Schrift, die in dritter
vermehrter Aufgabe erscheint, die nervösen Schlafstörungen. Nach einer kurzen
Einleitung, in der er die Theorien des Schlafes erörtert, schildert er die verschiedenen
Arten der Schlaflosigkeit, ihre objektiven Zeichen, ihre Ursachen und geht dann
über zur Besprechung der Verhütung und der Behandlung der nervösen Schlaf¬
losigkeit. Es ist speziell die Behandlung ausführlicher gegeben. Die neueren Schlaf¬
mittel sind sämtlich erwähnt. Das Schriftchen soll wesentlich praktischen Zwecken
dienen; seine Leser werden sich nicht allein aus Ärztekreisen zusammensetzen.
Hinweise auf Literatur und Quellenangaben unterstützen den wissenschaftlichen
Charakter des Buches. (O'rtwme-Hildesheim.)
Stier (414) gibt eine eingehende Darstellung über den Wandertrieb und das
pathologische Fortlaufen bei Kindern und zeigt, daß Wandertrieb, Fortlaufen,
Schulschwänzen häufige Erscheinungen bei Kindern sind und bei Knaben häufiger
beobachtet werden als bei Mädchen. Sehr oft sind pathologische Momente die
einzige oder wesentliche Teilursache des Fortlaufens. Das Hauptkontingent stellen
die Psychopathen und Schwachsinnigen. Sehr viel geringer ist die Zahl der Epi¬
leptiker unter den gewohnheitsmäßig fortlaufenden Kindern, selten ausgesprochene
Hysterie, am seltensten echte Psychosen. Zahlreiche selbst beobachtete Fälle
illustrieren die klaren Ausführungen. Die Therapie wird eingehend gewürdigt.
Pilcz (340) zeigt, daß sich Häufigkeit und Symptomatologie der Nerven-
und Geisteskrankheiten bei katholischen Priestern und Nonnen im allgemeinen
nicht wesentlich von den Verhältnissen bei anderen Berufsklassen unterscheiden.
Relativ häufig sind Fälle von Schizophrenie und arteriosklerotisch bedingter Ätio¬
logie. Progressive Paralyse ist außerordentlich selten; eine paralytische Nonne
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
ist noch nicht beobachtet. Gegenüber der Freudschen Schule betont Pilcz, daß
Hysterien, Angstneurosen usw. nur selten Vorkommen, auf keinen Fall häufiger
als bei anderen Berufen.
Moreira (301) kommt auf Grund einer 20 jährigen Erfahrung zum Schlüsse:
Es gibt weder in der heißen, noch in der gemäßigten oder der kalten Zone Brasiliens
irgendwelche Formen von Geisteskrankheiten, die sich von den bisher bekannten
unterscheiden. Nur im Innern des Landes wurde von dem brasilianischen Arzte
Chagas eine neue Trypanosdmenkrankheit entdeckt, die besonders das Nerven¬
system in Mitleidenschaft zieht (Paralysen, Kontrakturen inf. der Lokalisation
im Gehirn). Meteorologische Einflüsse auf die Geisteskrankheiten konnten nicht
nachgewiesen werden. Etwas dem Cafard (Amoklaufen) Ähnliches gibt es in Bra¬
silien nicht. Tabes, progressive Paralyse und andere syphilitische Erkrankungen
des Nervensystems werden in den großen Städten immer häufiger. Die verschiedenen
Rassen zeigen in ihren geistigen und nervösen Erkrankungen keine besonderen
Eigentümlichkeiten. (Ganter.)
Luther (273) hat an größerem Material auf dem Boden der Idiotie und Imbe¬
zillität entstandene Psychosen untersucht und kommt dabei zu dem Schluß: Solche
Psychosen zeigen entsprechend dem niedrigen intellektuellen und ethischen Niveau
und dem geringen Vorstellungsschatz eine ärmliche Ausgestaltung; Größenideen
kommen nur in Andeutungen vor; ein Versündigungswahn kann sich nicht bilden,
es kommt höchstens zu einigen schwächlichen Verfehlungsvorstellungen und An¬
sätzen von Besessenheitswahn; die viel verbreiteten Beeinträchtiguflgsvorstellungen
bleiben ohne nähere Verknüpfung und Systematisierung. Echte Sinnestäuschungen
kommen vorwiegend den chronischen Formen zu, es kommen Halluzinationen
auf allen Sinnesgebieten vor. Die depressive Stimmung äußert sich häufiger in der
Form von Hemmung als in ängstlicher Erregung. Eine nur Idioten zukommende
Reaktionsweise ist ein anhaltender Heulzustand nach Art scheuer und imartiger
kleiner Kinder. Es kommen Bewegungsstörungen vor, die äußerlich einen katar
tonischen Charakter tragen, sie finden sich vornehmlich bei Zuständen psychogener
Genese. Die periodischen Formen, epileptoide, manisch-depressive, hypochondrische
Zustandsbilder und ihre Übergänge, die zuweilen auch eine katatonische Färbung
annehmen können, entsprechen im wesentlichen dem gewöhnlichen degenerativen
und manisch-depressiven Irresein. Die episodischen Formen zeigen größtenteils
ebenfalls eine Verwandtschaft zu den degenerativen Zuständen und entspringen
in der Mehrzahl einer psychogenen Reaktionsweise. Zu den chronischen bzw. in
Verblödung ausgehenden Psychosen gehören einmal gewisse epileptoide Erregungen
mit zunehmendem Blödsinn, die sich jedoch von der Epilepsie abgrenzen lassen,
weiter die Pfropfschizophrenie und schließlich verschiedenartige Fälle von Stupor,
chronischer Halluzinose u. dgl., die teils sicher, teils mit großer Wahrscheinlichkeit
von den schizophrenen Zuständen abzugrenzen sind und für die wir in unserem
gewöhnlichen System keine Vorbilder haben, so daß es sich hier offenbar um Zu¬
stände handelt, die für den angeborenen Schwachsinn spezifisch sind. Die Diagnose
auf Pfropfschizophrenie kann im Beginn der Erkrankung vielfach nicht mit Sicher¬
heit gestellt werden; daß der Verlauf der Pfropfschizophrenie besonders schwer
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und ungünstig ist und zu besonders tiefer Verblödung führt, hat Verf. nicht fest¬
stellen können.
Haymann (180) führt aus, daß die Cessatio mensium eine bei Psychosen sehr
häufige Erscheinung ist. Sie kann in allen Stadien der Psychosen auftreten; eine
ursächliche Bedeutung für den Ausbruch der Psychose besitzt sie nicht. Sie scheint
gar nicht vorzukommen bei der chronischen Paranoia und findet sich nur selten
bei Imbezillität, hysterischen Psychosen, Psychopathien und degenerativem Irre¬
sein. Unter den Intoxikationspsychosen zeigen die endogenen sie häufiger als die
exogenen. Bei den epileptischen Psychosen findet sie sich in annähernd der Hälfte
aller Fälle. Das manisch-depressive Irresein zeigt Cessatio mensium in einem Drittel
der Fälle, und zwar die Manie nicht seltener als die Melancholie. Am ausgeprägtesten
ist die Erscheinung bei der Dementia praecox und innerhalb dieser Gruppe ganz
besonders bei der Katatonie. Ungefähr ebenso häufig findet sie sich bei.den grob
organisch bedingten Psychosen (einschließlich der Paralyse). In prognostischer
Hinsicht verdient die Cessatio nahezu die gleiche Wertung wie Ab- und Zunahme
des Gewichts. Als diagnostisches Hilfsmittel hat sie weniger Bedeutung. Bis zu
einem gewissen Grad kann man in der Häufigkeit der Cessatio bei einer Psychose
einen Maßstab für die Schwere der Erkrankung sehen.
Kirchberg (236) beschreibt 5 Fälle rasch vorübergehender psychischer Stö¬
rungen während der Geburt. Es handelt sich um Verwirrtheitszustände mit großer
motorischer Unruhe, Halluzinationen und völliger Amnesie für den Geburtsvorgang.
Die forensische Bedeutung solcher Fälle wird entsprechend betont.
Passow (330) berichtet über eine Schwangerschaftspsychose, die alle Indi¬
kationen für eine künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft bot und dadurch
geheilt wurde.
Jahnel (210) teilt zwei Fälle von eklamptischer Psychose mit und knüpft
daran kritische Bemerkungen. Auch diese Fälle zeigen die Ähnlichkeit eklamptischer
Delirien mit alkoholischen. Forensisch wichtig ist das auch hier beobachtete Vor¬
kommen retrograder Amnesie.
Nücke (312) betont, daß nur der Vergleich mit in gesunden Tagen ausgeführten
Zeichnungen usw. im allgemeinen einen einigermaßen sicheren Schluß auf Irrsinn
zuläßt. Nur auf der Höhe der Krankheit und bei einer gewissen Stärke derselben
lassen sich mit ziemlicher Sicherheit die verschiedenen Hauptformen der Psychosen
nachweisen, und zwar durch ähnliche Charaktere wie die bei den entsprechenden
mündlichen und schriftlichen Äußerungen der Kranken.
Alter (5) teilt einen interessanten Fall von Selbstbeschuldigung mit und
würdigt ihn kritisch. Völlig aufgeklärt wird der Fall dabei nicht. Bei der ganzen
Sachlage ist das auch nicht möglich.
Ilberg (204) berichtet über einen pathologischen Lügner und Schwindler.
Es handelt sich um einen erblich belasteten, mangelhaft erzogenen, in der Schule
vielfach versagenden, mit Entartungszeichen und hysterischen Symptomen be¬
hafteten Knaben.
Hübner (199) schildert die wichtigsten Symptome, die bei Degenerierten
Vorkommen, hebt besonders die gesteigerte Affekterregbarkeit, die krankhafte
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Abhängigkeit von Stimmungen, das frühzeitige Versagen bei verhältnismäßig
geringfügigen Anforderungen, den Mangel an Stetigkeit bei der Arbeit, die Über¬
schätzung der eigenen Persönlichketi, die Ungleichmäßigkeit in der intellektuellen
Ausbildung, die Unstetigkeit der Lebensführung, die auffallende Beeinflußbarkeit
des Gefühlslebens, Neigung zum Querulieren und knüpft daran bemerkenswerte
therapeutische Hinweise.
Vidoni (447) bringt einen Fall von Infantilismus, um die Schwierigkeit der
Abgrenzung der verschiedenen Formen zu zeigen. 16 jähriges Mädchen mit dem
Aussehen eines 8 jährigen, erblich belastet. Hat einige Zeit epileptische Anfälle
gehabt. Genitalien kindlich, keine Behaarung, vorspringende Stimhöcker, platte
Nase, rachitische Erscheinungen an den Beinen. (Radiographisch): Erweiterung
der Sella turcica. Für eine Vergrößerung der Hypophyse dagegen lassen sich keine
Annahmen gewinnen. Schwachsinn. Verf. rechnet den Fall zum Infantilismus
vom Typus Lorain , dessen Kennzeichen das Stehenbleiben des Organismus auf
einer kindlichen Stufe bildet. In der Ätiologie spielen in dem Falle des Verf. erbliche
Belastung, Rachitis und Hydrozephalus eine Rolle. (Ganter.)
Meyer (294) schildert religiöse Wahnideen ihrer Form und ihrem Inhalt nach
und zeigt, bei welchen Arten psychischer Störung sie vor allem auftreten; er illustriert
seine interessanten Ausführungen durch zahlreiche selbstbeobachtete Fälle und
erörtert schließlich auch die Fragen: welche Eigenschaften lassen religiöse Ideen
als Wahnideen erkennen, welche Momente begünstigen die Entstehung von Wahn¬
ideen religiösen Gepräges, bieten religiöse Wahnideen nach Gestalt und Inhalt
besondere Eigenart?
Sittig (401) teilt vier Fälle von Dysmegalopsie mit und kommt auf Grund
seiner Untersuchungen zu folgenden Ergebnissen: „Die hysterische Dysmegalopsie
kann einseitig auftreten und ist mit Störungen der Größenschätzung durch den
Tastsinn kombiniert. Diese Kombination auf verschiedenen Sinnesgebieten weist
darauf hin, daß ihnen eine gemeinsame, in der Pathologie der Hysterie gelegene
Ursache zugrunde liegt. Es hat sich ergeben, daß bei der hysterischen Dysmegalopsie
sich nicht solche Gesetzmäßigkeiten aufflnden lassen wie bei der kortikalen; Ma-
kropsie kann mit Makrographie vergesellschaftet Vorkommen. Die einseitigen
Störungen der Größenschätzung mit dem Gesichtssinn können durch eine Art
Unterdrückung oder Kombination des veränderten und des normalen Bildes zu
verschiedenen Formen führen. Bei transkortikaler Dysmegalopsie scheint das
Schreiben mit geschlossenen Augen nicht in normaler, sondern in entsprechend
veränderter Größe zu geschehen, was ein differentialdiagnostisches Kriterium
zwischen kortikaler und transkortikaler Dysmegalopsie wäre.
Runge (368) hat bei rund 200 Geistes-, Nervenkranken und Gesunden Pupillen¬
untersuchungen vorgenommen, und zwar sowohl im Dunkelzimmer bei einer Be¬
leuchtung von 9 Meterkerzen wie auch bei Tageslicht, und hierbei festgestellt: Bei
Gesunden fehlen Pupillenunruhe und Erweiterungsreaktionen in jugendlichem
Alter bis etwa zum 45. Lebensjahr nie. Bei den Kranken der Katatoniegruppe
schwinden Pupillenunruhe und Reflexe in erheblichem Prozentsatz oder sind doch
pathologisch herabgesetzt, und zwar um so häufiger, je länger die Krankheit besteht.
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
271 *
Die sensiblen Reflexe bleiben länger erhalten als die Pupillenunruhe und die psy¬
chischen Reflexe. Bei mehrjähriger Dauer der Krankheit und völliger Verblödung
scheinen Unruhe und Erweiterungsreflexe immer zu fehlen. Das Bumke sehe Sym¬
ptom ist kein Frühsymptom der Katatonie, kann aber in gewissen Fällen sehr
frühzeitig auftreten und ist dann ein prognostisch ungünstiges Symptom. Es kann
aber auch bei ausgesprochen katatonen Erscheinungen fehlen. Weiter findet es sich
zuweilen bei Imbezillen, häufiger bei Idioten, bei epileptischer Demenz, alkoholischer
Demenz, sehr häufig bei progressiver Paralyse und Tabes.
Frey (144) beschreibt als „zurückspringende Pupille“ die Pupille, die auf
Belichtung sich zusammenzieht, sofort aber wieder in die frühere Stellung zurück¬
schnellt, in der sie verharrt, solange der Lichtreiz sich nicht ändert. Diese Er¬
scheinung, die nichts mit dem Hippus, der paradoxen Pupillenreaktion und der
spastischen Mydriasis zu tun hat, hat Verf. häufig bei syphilitischen und neur-
asthenischen Kranken gefunden. Sie beruht auf einem mangelnden Tonus des
Musculus constrictor. (Ganter.)
Hauptmann (176) hat Untersuchungen darüber angestellt, ob die Himdruck-
symptome eine Folge der Zirkulationsstörungen in der Schädelhöhle sind, oder
ob sie durch eine Kompression der Gehimsubstanz bedingt sind. Er kommt dabei
zu dem Schluß: „Die Himdrucksymptome sind hervorgerufen durch direkte Sub¬
stanzkompression des Gehirns, sie sind von den Zirkulationsstörungen nur insofern
abhängig, als durch das Leergepreßtwerden der Gefäße der Himdruck erst imstande
ist, die einzelnen nervösen Elementarorganismen (Zellen, Fasern usw.) gegen¬
einander zu verschieben, und auf diese Weise die Substanzkompression zu be¬
wirken.“
Richter (356): Nach den Ergebnissen der neuesten Untersuchungen wird die
Erkrankung an Beriberi hervorgerufen durch ein im geschälten Reis vorhandenes
Toxin, dessen Giftwirkung hervortreten kann, weil das Antitoxin, das in der Reis¬
kleie vorhanden ist, mit dem Schälen fortgefallen ist.
Richter beobachtete fünf Tauben, die mit geschältem Reis gefüttert waren,
und untersuchte sie nach dem Tode. Klinisch ist hervorzuheben, daß die Ver¬
giftungserscheinungen ziemlich früh, schon in der dritten Woche, auftraten. Die
Erscheinungen beim Menschen sollen nicht mit denen bei der Taube übereinstimmen.
Die ganze Art und Weise der Vergiftung soll da? mit sich bringen. Bei der Taube
steht eine eigentümliche schwere zerebellare Gehstörung im Vordergründe der
Erscheinung. Aus dem anatomischen Befunde ist hervorzuheben, daß der Eintritt
des Todes keineswegs von den nachweisbaren Veränderungen abzuhängen braucht.
Gefunden wurde nebst hochgradiger Hyperämie und Extravasaten im Zentral¬
nervensystem hauptsächlich ein fortschreitender Degenerationsprozeß der Nerven¬
zellen. Weiter ständig eine hochgradige Veränderung einer im B. bigeminum (Lobus
opticus) gelegenen Zellgruppe, die er in den Einflußbereich des Kleinhirns rechnet,
und deren Veränderungen er mit den Vergiftungssymptomen in Zusammenhang
bringen zu können glaubt. Im allgemeinen soll aber der histologische Befund den
morphologischen Veränderungen gleichen, die nach Intoxikationen verschiedener
Herkunft im Zentralnervensystem vorgefunden werden. (Grimme.)
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Wiersmas (463) Untersuchungen pathologischer Fälle stimmen in ihren Er¬
gebnissen mit denjenigen normaler Personen überein, sie entsprechen dem im voraus
bekannten Bewußtseinszustand der Melancholiker, der stumpfen Imbezillen usw.
Auch hat sich bei diesen Untersuchungen gezeigt, daß die Praecox-Kranken im
allgemeinen viel mehr geistig tätig sind, als ihre Äußerungen vermuten lassen;
das gilt besonders für die stupurüsen Katatoniker.
Flatau (139) behandelt die Frage: Gibt es, abgesehen von der Ätiologie, noch
andere Unterschiede zwischen den hysterischen Dämmerzuständen der Kriminellen
und Nichtkriminellen? Er hat eine Verschiedenheit im Symptomenbild nicht
feststellen können, aber gefunden, daß bei Nichtkriminellen das (/onsersche
Syndrom im allgemeinen rascher verläuft und die Bewußtseinsstörung weniger
intensiv ist als bei Kriminellen. Für länger dauernde Dämmerzustände mit ruhigem
Verlauf wird auch die Beschäftigungstherapie empfohlen.
Kirchberg (235) hat bei seinen Untersuchungen ebenfalls die bekannte Ge¬
wichtsabnahme bei Paralyse und seniler Demenz sowie eine regelmäßige Erhöhung
des Himgewichts bei Epilepsie und Katatonie festgestellt.
Imhof (205) beschreibt 15 Fälle von Osteomalazie und Geisteskrankheit —
13 Frauen, 2 Männer — und knüpft daran kritische Bemerkungen. Er betont,
daß die Psychosen, bei denen Osteomalazie zur Beobachtung kommt, in der über¬
wiegenden Mehrzahl der Fälle der Gruppe der Dementia praecox angehören, daß
vom osteomalazischen Krankheitsprozeß Frauen in weit größerem Maße betroffen
werden als Männer, daß der kausale Zusammenhang der Osteomalazie mit der
Dementia praecox höchstwahrscheinlich auf Stoffwechselstörungen, auf Störungen
der inneren Sekretion beruht.
v. d. Scheer (381) zeigt, daß die Organe mit innerer Sekretion in der Patho¬
genese der Osteomalazie eine große Rolle spielen. Da nun chronisch Geisteskranke
besonders zur Osteomalazie prädisponiert sind, so glaubt er, daß auch den Drüsen
mit innerer Sekretion eine bestimmte Rolle in der Pathogenese bestimmter Formen
von Geisteskrankheit zukommt. Die ausführliche, gründliche Arbeit bildet einen
sehr beachtenswerten Beitrag zur Erklärung der in ihrer Ätiologie und Pathogenese
noch so dunklen Psychosen.
IV. Therapie.
Pierre Bonnier (47): Auch in der Medizin tauchen mitunter wunderliche
Lehren auf. Zum Abenteuerlichsten gehört jedenfalls die „Zentrotherapie“. Fließ
hat 1897 die etwas anrüchige Lehre von der Beeinflussung der Menstruations-
vorgängc durch Kokainisierung der Nasenschleimhaut aufgebracht. Davon geht
Verf. aus. In der Med. obl. werden alle Lebensvorgänge ausgelöst. Hier sind z. B.
die Zentren für die Gefäßspannung, für die Geschlechtsvorgänge, Darmbewegungen
usw. Der Trigeminus vermittelt ihre Verbindung mit bestimmten Punkten der
Nasenschleimhaut. Durch milde Kauterisation dieser P unk te k ann man durch
jene Zentren die verschiedensten Vorgänge im Körper beeinflussen. Alphabetisch
führt uns Verf. alle die Krankheiten vor, die er auf diese Weise geheilt hat. Es
sind fast so ziemlich alle drin, die das Lexikon kennt. Dabei versichert uns Verf.,
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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daß Suggestion absolut nicht in Frage komme, da er die schönsten Resnltate bei
Verdauungsstörungen (Enteritis) der Säuglinge erzielt habe. Als Objekt der psy¬
chiatrischen Untersuchung ist das Buch sehr interessant. (Ganter.)
Stelener (410) fordert schulärztliche Versorgung auch der höheren Schulen
und betont, daß es für den Schularzt auch dort eine Reihe von Funktionen gibt,
die weder das Elternhaus noch der Hausarzt erfüllen können. Leicht Schwach¬
sinnige, schulunreife Kinder und psychoneuropathische Individuen leiden ganz
besonders unter dem Schulmilieu und den Schulforderungen und bedürfen schul¬
ärztlicher Aufsicht und entsprechender Behandlung.
Bayerthai (24) zeigt, wie die Schule mit Hilfe des Schularztes „disponierte“
Kinder durch geeignete unterrichtliche und erzieherische Maßregeln von Beginn
des Schulbesuches an vor sozial ungünstigen Nerven- und Geisteskrankheiten
zu bewahren vermag.
Sommer (404) weist wieder auf die große sozial-hygienische Bedeutung der
schon 1902 geforderten öffentlichen Schlaf- und Ruhehallen hin und schildert ihre
Form und Einrichtung. Ihre sozial-prophylaktische Aufgabe besteht darin, in der
Hast und Unruhe des modernen Lebens Ruhegelegenheiten zu schaffen, die eine
Gelegenheit zu kurzdauerndem Ausruhen und zur Erholung der Nervenkraft bieten.
Anton und Bramann (10) haben in einem umfangreichen, mit vielen Photo¬
graphien versehenen Werke ihre Erfahrungen über die Behandlung der angeborenen
und erworbenen Gehirnkrankheiten mit Hilfe des Balkenstiches niedergelegt. Es
ist ein sehr übersichtliches Werk, dessen Bedeutung nicht zum mindesten in der
ausführlichen Wiedergabe der Krankengeschichten besteht. Gerade diese breite
Schilderung der einzelnen Krankheitsfälle zum Teil mit der ausführlichen Wieder¬
gabe des pathologisch-anatomischen Befundes trägt viel dazu bei, die Bedeutung
der Operation zu erkennen. Sie ist geschildert 1. an 17 Fällen von einfacher und
komplizierter Hydrozephalie, wobei die Verfasser zu dem Urteil kommen, daß die
Operation bei kindlichen Hydrozephalien vor dem Einsetzen einer Druckatrophie
angezeigt ist. 2. Weiterhin bei 6 Fähen von Hypophysentumoren und Tumoren
der Vierhügelgegend. Bei der Erkrankung der Hypophysis leistete die Druck¬
entlastung noch in solchen Fällen Beträchtliches, in denen eine endgültige Heilung
schon nicht mehr in Betracht kommen konnte. 3. ln 4 Fällen mit der Diagnose
Tumor im 4. Ventrikel. Bei zwei dieser Fälle wurde auch der 4. Ventrikel operativ
eröffnet. 4. Bei 3 Fällen von zentralen (ventrikulären) Tumoren, durch die fest¬
gestellt wurde, daß die Diagnose der Plexuserkrankungen in den Seitenventrikeln
durch die Gehimsondierung leicht gestellt werden kann. 5. Bei 6 Fällen von Cysti-
cercosis cerebri. 6. Bei 4 Fällen von Epilepsie. Es waren dies Fälle mit Stauungs¬
erscheinungen oder mit Befunden an den Nerven. Selbstverständlich ist die Indi¬
kationsstellung bei der Epilepsie noch keine festgelegte. Die Erfolge der Autoren
waren gute. 7. Bei einem Falle von Meningitis serosa und einem Falle von Menin¬
gitis syphilitica. Bei der Meningitis serosa konnte direkt von kompletter Heilung
und Verhinderung der Erblindung gesprochen werden. 8. Bei einem Falle von
Stauungserscheinungen bei Turmschädel. 9. Bei 9 Fällen von äußeren und basalen
Tumoren, die schwere Formen und große Tumoren mit ungünstigem Sitze betrafen.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit. S
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Der Balkenstich konnte Besserung der schweren Symptome herbeiführen und
durch Beseitigung der Stauungserscheinungen zum Teil erst die Diagnose ermög¬
lichen.
Durch diese in einem umfassenden Werke in Zusammenhang niedergelegte
Übersicht über ihre diagnostische und therapeutische Tätigkeit in diesen bisher
so wenig aussichtsreichen Fällen haben die Verfasser sich ein großes Verdienst
erworben. Der Eindruck, den die bisherigen Veröffentlichungen gegeben haben,
daß hier ein gewaltiges und dankbares therapeutisches Gebiet von ihnen erschlossen
ist, wird durch dies Werk weiterhin bestärkt. (Grinmie-Hildesheim.)
Sopp (406) gibt eine gemeinverständliche Darstellung der Suggestion und
Hypnose. Die Darstellung ist kurz gehalten, bringt aber das Wesentliche, vielfach
unter Anführung von Beispielen aus dem alltäglichen Leben, und wirkt so recht
anschaulich. Sopp redet der Anwendung der Hypnose in der Therapie das Wort,
macht aber auch auf ihre Gefahren aufmerksam bei ihrer Anwendung durch im¬
berufene Hände. (Grimme.)
Strasser (419): Es werden die Grundsätze besprochen, nach denen man im
Greisenalter hydrotherapeutische Verordnungen treffen kann. Strasser geht davon
aus, daß die greisenhaften Veränderungen sich unschwer aus der „kardiorenalen
Insuffizienz“ erklären lassen. Er spricht deshalb vom „kardiorenalen Greis“ als
dem Typus des physiologischen Greisentums. Die Veränderung der Gefäße be¬
dingt eine veränderte Reaktion der Gefäße auf thermische Reize; doch ist diese
nicht allgemein und kann durch geeignete Therapie gebessert werden. Dagegen
ist die Wärmeökonomie der Greise schwerer gestört und die Anpassungsfähigkeit
ungenügend. Nur kurz dauernde Abkühlungen werden vertragen, aber auch nicht
mehr, wenn sie sich häufen. Dasselbe gilt von Überhitzungen, doch kann man
feststellen, daß einzelne Überhitzungen aller Art oft noch gut vertragen werden.
Denn es ist der regulatorische Ausgleich einer Überhitzung mit viel weniger Auf¬
wand verbunden als der einer Abkühlung; sie geschieht durch die Haut allein.
Gehäufte Überhitzungen ermüden aber sehr rasch und nachhaltig; ebenso forciertes
Schwitzen. Sollen aus irgendeinem Grunde Schwitzprozeduren durchgeführt
werden, so müssen solche Prozeduren gewählt werden, die den regulatorischen
Schweiß erleichtern, also Heißluft- und Lichtbäder, nicht aber heiße Wasserbäder
von langer Dauer. (Grimme.)
Franks (141) Buch ist auf den Ergebnissen der psychoanalytischen Forschung
aufgebaut. Er gibt unter Anführung zahlreicher und außerordentlich ausführlicher
Krankengeschichten seine Erfahrungen über die Ätiologie und die Behandlung
psychoneurotischer Störungen wieder. Er nennt sie Affektstörungen entsprechend
dem Ergebnis der Analysenlehre und seinen eigenen Forschungen, nach denen
die Verdrängung eines Affektes die Grundlage dieser Störungen bildet. Geschildert
werden die Neurasthenie und verschiedenartige Neurosen (Ärger, Eifersucht, Wut,
Libido, Schmerz, Müdigkeit und Unlust, Schreibkrampf, Schwindelgefühl, Neurose
des Fremdgefühls, hysterische Dämmerzustände, neurasthenische Verstimmungen).
Weiter die Angstneurosen in ihren bunten Bildern des einfachen Angstzustandes;
der Übertragungen der Angst auf Gegenstände, Orte, Situationen; der Verbindung
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Schroeder, Allgemeine Psychiatrie.
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der Angst mit Störungen in der Magen- und Darmtätigkeit; der Schlafstörungen;
des Stotterns; der Errötungsfurcht und der Zwangsneurosen. Endlich werden
noch die sexuellen Anomalien abgehandelt Frank steht durchaus auf dem Boden
der Lehre von Breuer und Freud, doch halten sich seine Ausführungen frei von
den sonst so vielfach mit der Lehre verbundenen Spekulationen und unwahr¬
scheinlichen Deutungen. Vor allen Dingen tritt das sexuelle Moment ganz in den
Hintergrund. Dies berührt fraglos angenehm. Das Buch soll in erster Linie die
Kenntnis der Behandlung der psychoneurotischen Neurose zu verbreiten helfen.
Die Behandlung ist diesmal ganz der Ausfluß der Anschauung über die Entstehung
dieser Zustände. Es ist die „Psychokatharsis“, d. h. die Methode, die versucht,
durch „Abreagieren“ einen Affekt, der mit früheren, jetzt in das Unterbewußtsein
eingegangenen Ereignissen verbunden ist und verdrängt ist, durch Rückrufen
dieser Erlebnisse wieder erleben zu lassen und damit die durch Verdrängung des
Affektes entstandenen nervösen Zustände zu heben. Die Behandlung besteht
entweder darin, daß im wachen Zustande versucht wird, die Erinnerung an die
Ereignisse zurückzurufen oder aufklärend zu wirken oder im Zustande leichter
Hypnose das Wiedererleben der affektbetonten Ereignisse zu erleichtern. Selbst¬
verständlich ist die Psychokatharsis nicht ganz frei von suggestiven Momenten;
doch beschränken sie sich eigentlich nur auf die Erklärung dessen, worauf es an¬
kommt. Es wird bei dieser Methode, wie die Krankengeschichten beweisen, zu
enormen affektiven Erregungen kommen; die Szenen werden mit aller Lebhaftigkeit
wieder durchlebt. Frank hält die Anwendbarkeit dieser Methode für sehr weit¬
gehend; seine Beispiele sind deshalb auch ganz verschiedenartig. Er vertritt ener¬
gisch die Benutzung der Hypnosezu Heilzwecken und ihre völlige Unschädlichkeit
und beklagt zum Schluß sehr das Fehlen eines allgemeinen Unterrichtes über Psycho¬
logie an den Universitäten. Eine große Anschaulichkeit zeichnet die Heraushebung
des Bildes des „Psychoneurotikers“ aus. Es sei das wichtigste Ergebnis seiner
Beobachtung, daß alle die geschilderten Störungen nur bei Menschen mit einer
ganz bestimmten affektiven Anlage, eben den von ihm so bezeichneten Psycho-
neurotikem, Vorkommen.
Das Buch führt mit großer Anschaulichkeit in die therapeutisch bisher so
undankbaren Gebiete dieser Psychoneurosen ein und wird manchem recht will¬
kommen sein. Frank sucht aber keineswegs ausschließlich das Heil in der Psycho¬
katharsis, sondern macht auch auf den Wert einer allgemeinen Psychotherapie
aufmerksam. {Grimme- Hildesheim.)
Friedländer (146) setzt auf die pyrogenetische Behandlung große Hoffnungen
und beschreibt seine Behandlungsweise. Bei der Paralyse empfiehlt er eine Kom¬
bination der Salvarsan-Quecksilber-Jod- und der pyrogenetischen Behandlung.
De Block (39) machte in 20 Fällen vou Geistesstörung, darunter 16 Fälle
von progressiver Paralyse, subkutane Injektionen von Natr. nucleinicum (Präparat
von Leprince und Merck) unter die Bauchhaut. Lösung 2—6 %, Anfangsdosis 0,3,
Maximaldosis 2—3 g Natr. nucl., alle 4—6 Tage. Über 9,6 g in 17 Tagen wurde
nicht gegangen. Der Schmerz war nur wenig ausgesprochen, die etwaige Röte
und Schwellung verschwand bald. Der Injektion folgte Unbehagen und meist
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Fiebersteigerung. Regelmäßig stellte sich Hyperleukozytose ein. In dem geistigen
Zustand der Behandelten ließ sich keine weitere Besserung beobachten, als sie
auch sonst oft ohne jedes Medikament eintreten kann. Verf. rät demnach von
dieser Behandlungsart bei Geisteskranken ab. (Ganter.)
Dominici, Marchand, Chiron et Petit (110) behandelten verschiedene Psy¬
chosen (Dementia praecox, Verwirrtheit, Melancholie usw.) mit Injektionen von
1. einfachem Pferdeserum, 2. einfachem Pferdeserum, das durch Zusatz von
2 Tausendstel mgr Radiumbromid auf 10 ccm Serum radioaktiviert worden war,
3. mit Serum vom Pferde, dem vorher intravenöse Injektionen von schwefelsaurem
Radium gemacht worden waren (in vivo radioaktiviertes Serum), 4. mit in vivo
und in vitro durch Zusatz von 2 Tausendstel mgr Radiumbromid auf 10 ccm Serum
radioaktiviertem Serum, 6. mit isotonischer Radiumbromidlösung in der täglichen
Dosis von 2 Tausendstel mgr. Die Seruminjektionen wurden nach den üblichen
Regeln gemacht. Die isotonische Radiumbromidlösung wurde 20 Tage lang täglich
einmal unter die Haut des Oberschenkels eingespritzt. Dann wurde eine Pause
von 10 Tagen gemacht, und wenn keine Besserung eintrat, die Serie wiederholt.
Verschiedene Besserungen wurden erzielt. Tuberkulose bildet eine Gegenanzeige
wegen der zu stark ausgesprochenen Reaktionen, zum mindesten muß man vor¬
sichtiger verfahren. Am wirksamsten erwies sich Pferdeserum, das zugleich in vivo
und in vitro durch Zusatz von Radium aktiviert worden war. (Ganter.)
Dana, Berkeley and Cornett (96) haben etwa 50 geistig zurückgebliebene
Kinder mit Epiphysensubstanz mehrere Monate hindurch behandelt. 12 Epiphysen
von Ochsen wurden mit Milchzucker verrieben, getrocknet und in 100 Teile (Kapseln)
geteilt. Täglich zwei Kapseln. Die Verf. wollen eine psychische Besserung in ver¬
schiedenen Fällen festgestellt haben, eine körperliche Besserung hingegen ließ sich
nicht nachweisen. (Ganter.)
Toulouse et Puillet (436): In der Annahme, daß die akuten Psychosen durch
Ernährungsstörungen infolge Überarbeitung und Vergiftung bedingt sind, wobei
der Oxydationsprozeß nicht mehr in der richtigen Weise vonstatten geht, haben
die Verf. zunächst Sauerstoffklystiere angewandt und sind dann zu den wirksameren
subkutanen Sauerstoffinjektionen übergegangen. Es wurden bei der ersten Injektion
120—160, bei der zweiten 200—260, bei den folgenden 600 ccm Sauerstoff subkutan
am Oberschenkel jeden zweiten Tag injiziert (abwechselnd rechts und links). Der
Schmerz ist gering, das subkutane Emphysem verschwindet in 6—12 Stunden.
Das Körpergewicht stieg, der Appetit besserte sich, die Kranken überkam ein
beruhigendes Gefühl, der Schlaf wurde tiefer. Die Erregtheit und Verwirrtheit
ging auffallend rasch zurück. Nach einigen Tagen war die geistige Störung oft
ganz geschwunden. So bei der Manie, der Verwirrtheit, dem manisch-depressiven
Irresein. Auch Epileptiker wollen die Verf. so behandeln. (Ganter.)
Bachem (14) gibt eine vorzügliche Übersicht über die neueren Schlafmittel,
ihre chemische Zusammensetzung, ihre pharmakotherapeutischen Eigenschaften
und ihre klinische Verwendung.
Topp (434) empfiehlt Leukrol als allgemeines und Nerventonikum bei nicht
organischen Nerven- und Geisteskrankheiten und hebt dabei seine Unschädlichkeit
und den billigen Preis hervor.
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Vidoni (448) gab das Luminal in Dosen von 0,2—0,6 in Fällen von Schlaf¬
losigkeit und Erregung. Nach y 2 —2 Stunden stellte sich ein 6—9 ständiger Schlaf
ein. Gelegentlich traten Nebenwirkungen auf: Benommenheit, Kopfschmerzen,
Übelkeit, Schwäche der Beine, geringe Temperaturerhöhung. Luminal ist demnach
kein harmloses Mittel und darf nicht längere fortgegeben werden. (Ganter.)
v. Klebeisberg (240) hat Luminal als Beruhigungsmittel bei verschiedenen
Krankheitsformen mit gutem Erfolg angewandt und damit besonders bei Epilepsie
günstige Resultate erzielt. Wegen seiner Nebenwirkungen mahnt er aber zur Vor¬
sicht und empfiehlt, zunächst kleine Dosen (0,1) zu versuchen.
Lomer (269) hat bei seinen Versuchen mit Luminal festgestellt, daß es
zwar andere Narkotika ersetzen und gelegentlich für sie eintreten kann, daß es
jedoch ebensowenig von schädlichen Nebenwirkungen frei ist, wie die bisher ge¬
bräuchlichen Mittel.
Heim (185) nennt Diogenal, ein bromhaltiges Derivat des Veronals = Dibrom-
propyldiäthylbarbitursäure, ein mildes Schlafmittel und gutes Sedativum. Zum
Zweck der Schlaferzeugung sind von Diogenal 3—4 mal größere Dosen erforderlich
als von Veronal. Die Unschädlichkeit des Diogenals erlaubt größere einmalige
Dosen und längere Verabreichung.
Märchen (298) nennt Diogenal ein vorzügliches Sedativum, das auch in größeren
Dosen (4,0—5,0 täglich) keine unangenehmen Nebenwirkungen erzeugt und nicht
kumulierend wirkt. Es eignet sich zur Anwendung bei allen Formen von Nerven¬
krankheiten und Psychosen, bei denen Sedativa indiziert sind. 3 x 1,0 bei stärkeren
Erregungszuständen, 3 x 0,5 bei leichterer Unruhe.
Leva (261) empfiehlt Kodeonal als Schlafmittel bei Zuständen von leichter
allgemeiner nervöser Erregbarkeit und Erschöpfung sowie bei organischen Nerven-
affektionen, die mit körperlichen Schmerzen einhergehen. Bei Psychosen und
Neuropsychosen, die mit allgemeiner motorischer Unruhe und schweren affektiven
Erregungszuständen einhergehen, reicht es als Sedativum nicht aus. Kodeonal
ist ein Arzneigemisch von Kodelnum und Natrium diaethylbarbituricum.
Zahn und Kaiser (469) empfehlen Valamin (Valerianester des Amylenhydrats)
bei depressiven Erregungszuständen, nervöser Schlaflosigkeit, neurasthenischen
Erregungssymptomen, Magenneurosen, Angina pectoris und Asthma bronchiale.
Stein (408) hat Valamin als Schlafmittel in Dosen zu 0,5—0,75 und als Seda¬
tivum in Dosen von 0,25 mit Erfolg angewandt und keine unangenehmen Neben¬
erscheinungen bemerkt.
Simonsohn (399) lobt Valamin ebenfalls und betont, daß es niemals am nächsten
Tag, wenn es abends als Schlafmittel gegeben wurde, Müdigkeit und den Eindruck
künstlichen Schlafes zurückläßt; er empfiehlt, Valamin möglichst immittelbar
nach dem Essen zu geben, da sonst unangenehmes Aufstoßen eintreten kann.
Bräutigam (52) hat Valamin bei nervösen Erregungszifetänden der ver¬
schiedensten Art mit Erfolg angewandt; er empfiehlt es als wirksames Sedativum
und harmloses Schlafmittel.
v. Spindler (407) macht auf den Wert von Fichtennadelbädem bei allen durch
Überlastung des Nervensystems entstandenen Erkrankungen aufmerksam.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
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med. association vol. 61, nr. 26 (27. Dezember 1913).
a) Allgemeines.
Friedländer (40) bespricht in gemeinverständlicher Form den Morphinismus,
Kokainismus, Alkoholismus und Satumismus „für Arzte, Gewerbeinspektoren,
Versicherungsgesellschaften“. Es ist eine Erweiterung des Beitrages zu dem von
Vogt herausgegebenen Handbuch der Therapie der Nervenkrankheiten.
b) Alkoholismus.
Schäfer (101) gibt eine gemeinverständliche Darstellung der Alkohol-Geistes¬
störungen als Grundlage der praktischen und strafrechtlichen Trinkerfürsorge.
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Snell, Intoxikations-Psychosen.
287*
Fürer (42) beobachtete, daß die meisten an chronischem Alkoholismus leiden¬
den Kranken in auffälliger Weise versagen, wenn man von ihnen das Festhalten
an einer bestimmten, gewisse systematische Arbeit zu bestimmten Zeiten verlangen¬
den Tageseinteilung verlangt. Auch intelligente Kranke, die sonst stets guten
Willen zeigten, machten Schwierigkeiten, wenn sie regelmäßig zu gymnastischen
Übungen oder anderer körperlicher Arbeit sich einfinden sollten. Solchen Kranken
darf keine Willefisanstrengung zugemutet werden, die über ihre Kräfte geht. Fürer
untersuchte die Zerebrospinalflüssigkeit in 26 Fällen von chronischem Alkoholismus.
Unter 13 Fällen von typischem chronischem Alkoholismus fanden sich 10 Fälle,
also 77 %, mit positiv pathologischem Befunde, von denen 3 Fälle im Verlauf der
Behandlung eine weitgehende Besserung erfuhren. Diese Konstatierung erscheint
geeignet, eine Stütze für die Annahme einer Schonungsbedüritigkeit des Nerven¬
systems bei dem chronischen Alkoholismus zu bilden.
Ferrari (36) fand, daß beim chronischen Alkoholismus kein Antagonismus
zwischen Sehnenreflexen und Hautreflexen besteht. Meistens findet man eine all¬
gemeine Steigerung der Reflexe.
E. Meyer (79) weist auf die vielfachen Beziehungen der epileptoiden Zu¬
stände zur Alkoholvergiftung hin. Wie die akute Alkoholintoxikation epileptoide
Reaktion bei den verschiedenen Formen zerebraler Minderwertigkeit mit Vorliebe
auslöst, so hat auch speziell die chronische Alkoholvergiftung neben der deliranten
eine ausgesprochen epileptoide Komponente. Die Ähnlichkeit des Habitualzu-
standes des chronischen Alkoholisten mit dem des echten Epileptikers ist hierin
begründet.
Satter (100) fand bei Fällen von chronischem Alkoholismus häufig das dauernde
oder zeitweilige Fehlen des Bauchdeckenreflexes, entweder an allen Stellen oder nur
über oder unter dem Nabel oder nur auf einer Seite. Er hält das Verhalten der
Bauchdeckenreflexe für diagnostisch viel wertvoller als das Quinquaudsche Phän¬
omen, das er nur ausnahmsweise fand.
P. Schröder (103) hat Versuche mit chronischer Alkoholintoxikation bei Kanin¬
chen angestellt. Die akuten Erscheinungen des chronischen Alkoholismus treten
beim Menschen erst auf, wenn Alkohol in reichlicher Menge durch eine lange Reihe
von Jahren genossen worden ist. Sie sind ihrem Wesen nach etwas ganz anderes
als die Erscheinungen der akuten Alkoholintoxikation. Experimentelle Versuche,
bei Tieren chronischen Alkoholismus zu erzeugen, stoßen auf die Schwierigkeit,
daß die Lebensdauer der kleineren Tiere, wie Kaninchen, wohl überhaupt nicht
groß genug dafür ist. Man kann versuchen, an Stelle des zu kurzen Lebens des
Einzeltieres das Leben einer aufeinanderfolgenden Reihe voneinander abstammen¬
der, dauernd mit Alkohol gefütterter Tiere zu setzen. Derartige Versuche, die
Sehr, anstellte, haben zwar bezüglich der Erzeugung von chronischem Alkoholismus
ein negatives Resultat gehabt, jedoch sonst manches Interessante ergeben. Die
Kaninchen wurden mit Hafer gefüttert, der mit reichlichen Mengen von 25pro-
zentigem Spiritus versetzt war. Es wurde erreicht, daß jedes Tier einmal am
Tage betrunken (müde, schläfrig) war. Die jungen Tiere erhielten etwa von
der 4. Lebenswoche an Alkohol. Unter dem Einflüsse der fortgesetzten Betrunken-
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288*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
heit entwickelten sich verhältnismäßig rasch Erscheinungen, die mit den für mensch¬
liche Trinkerfamilien bekannten Erscheinungen der körperlichen Entartung und des
sozialen Rückganges weitgehende Übereinstimmung zeigten: große Morbidität,
häufiges Zurückbleiben der Jungen im Wachstum und in der Entwicklung, große
Sterblichkeit, geringe Nachkommenschaft, Vernachlässigung der Jungen, Vernach¬
lässigung des eigenen Äußeren. Auffallend häufig war das „Verwerfen“. Zweifellos
trächtige Weibchen bauten ein Nest, in dem aber keine Jungen vorgefunden wurden.
Wahrscheinlich hatte die Mutter die Jungen gleich nach der Geburt aufgefressen.
Da der Stamm der Alkoholkaninchen mehrmals auszusterben drohte, mußte die
Verabreichung von Alkohol zeitweise ausgesetzt werden. Bis jetzt sind in 4 Jahren
5 Generationen gezüchtet.
Condomine und Devaux (22) teilen die Krankengeschichte eines 34 jährigen
1 Mannes mit, der an alkoholischer Pseudoparalyse litt und Zechprellereien, Diebstahl
und andere geringe Vergehen begangen hatte.
v. Heutig (50) berichtet über die bayerische Kriminalstatistik des Jahres 1912.
Es wurden 8448 Verurteilungen von Personen rechtskräftig, die eine strafbare
Handlung (Verbrechen oder Vergehen gegen ein Reichsgesetz) im Zustande der
Trunkenheit begangen hatten. Er berechnet, daß auf 100 Fälle schwerer Körper¬
verletzung 66 Verurteilungen von Personen kamen, die das Verbrechen oder Ver¬
gehen in der Trunkenheit begingen. Bei Vergehen gegen die Religion betrug der
Prozentsatz 48, bei Widerstand gegen die Staatsgewalt 45, bei Sachbeschädigung 33
usw.
Hotter (53) teilt eine Statistik mit über die von dem pfälzischen Schwur¬
gericht zu Zweibrücken im Jahre 1912 abgeurteilten Verbrechen. Von 76 abgeur¬
teilten Fällen waren mindestens 29 auf das Konto des Alkohols zu setzen; obenan
stehen Totschlag und Körperverletzung mit Todeserfolg. Bayern steht in der
Kriminalstatistik am ungünstigsten da im Deutschen Reiche und unter den bayrischen
Regierungskreisen am imgünstigsten die Pfalz.
Runge (97) hielt in der Versammlung der Leiter der Trinkerfürsorge-Anstalten
der Provinz Schleswig-Holstein zu Kiel einen Vortrag über die ärztliche Seite der
Trinkerfürsorge. In der Kieler psychiatrischen und Nervenklinik wurden von 1901
bis 1912 etwa1900Personen wegen Trunksucht oder sonstiger, durch übermäßigen Alko¬
holgenuß hervorgerufenen Störungen aufgenommen, darunter 52 Frauen. In 410 Fäl¬
len handelte es sich um Delirium tremens. Bei 60% der Aufnahmen ließ sich chroni¬
scher Alkoholismus nachweisen. 511 Fälle von echten alkoholischen Geisteskrank¬
heiten kamen zur Behandlung. Vorbedingungen für die erfolgreiche Bekämpfung
dieser Krankheiten sind völlige Enthaltsamkeit und frühzeitiger Beginn der ärzt¬
lichen Behandlung. Je später die Behandlung einsetzt, um so aussichtsloser ist sie.
Die Heilergebnisse in den Irrenanstalten sind schlecht, hauptsächlich deshalb, weil
die Trinker die Anstalten in den meisten Fällen viel zu früh verlassen. Wenn sie
nach kurzem Aufenthalt in der Anstalt die schwersten Erscheinungen verloren
haben und Besserung geloben, werden sie meistens von den Angehörigen heraus¬
genommen. Sie gegen den Willen ihrer Familie zurückzuhalten, ist nur möglich,
wenn sie für gemeingefährlich erklärt werden können; dann aber ist gewöhnlich
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S'iH) 11, Intosjkälions-Psychosen.
289*
jedf. Aussicht- auf Dwlüng verfoiqn. i$i& Tönkerheiißtättsm haben aux geringe
Krfolgc, weil die Zahl der mfüghamj Plätze zu gering Kt und weil rie die Trinker
«tj r atii deren Wunsch aofuehmen imd wdaxtge es timen beliebt, behalten können.
Jis bleibr rüstv ein weiten. Feld übrig für die- soziale Liebestäügkeit, insbesondere
für die Trinker-FüRorgestellen und die ätatmeni*# Verein«. Durch das Zusammen*
'Wirtes, der Ärzte und der Abstmenzvereine können viele Trinker geheilt werden.
ätegruemn (lllt erörtert die Graids&tie, die- fiir die Aaswalil der Alkohol-
tortuakwi für die iteilstättenbehandluiig- in Seeirieden bei Möritzbnrg in Sachsen
gelten. Vorbedingung ist, daß die .Kranken ihr Leiden selbst 'erfeenßwj die !S'öt-
wehd^kcsit der Behandlirng einsehen and freiwillig nw ihre ..Aufnahme bitten.
«Geist*,kraitke - sind atmziistshlieJkn. ausgenommen di* leichteren Falle des a&gebnre-
«*n oder yrworbeaen Schwachsinns. Eine gewisse körperliche Kfcstigkeit ist. «♦
laiäarliithi weil rlk kndwirisdwtfoüchft BasnhiiUtigang das webrigste Kunnifctef: der
fej Äois&fctmsciiie : Psvefe &w< V'v-Gl
A'iorite (20) beobachtete eü»e 'kvrsaköimh» Psychose» di«bei einem ööjährigen,
dem Trunk« ergebenen 'Mahne nach einem Sturz auf die reihte, Srrnvgegend »nitrat.
D*j Kranke stach an einer Pnemmmie. Die Obduktion ergab einen l-jrvfriebiiBgs-
herd im rechten &timlitppi*n. " ' • . V \ ' ’ '' .
Ü| Tabak.
■ Btixler (13) vmiffentluTit das zweite Urft sein«- ..Tabacukiguv «mi'ncmhUs,
.Literarisch« Studien über den Tabak in meditini« her Beziehung”. und behandelt
dnnii den Tabak i* gewtobehygieihscher Beziehung Die Ansicht»’« über den
svliÄiibcben Kiuiluil, den die Bearbeitung des Tabak*, binrendere d<w Kitiatinw von
Tabakstaub, aal ‘he Arbeiter xuvfibt gehen. «och '$c’hr weif auseinander. ’.ViaAt. kann
ober wohl sagen, daß die; G«eandheit»k , h*tli)^ngt?A..d)e vorn Tabak an sich beim
Tabakgewerbe ausgehen. tDiweise überschätzt werden,, ; Andererseits basiert die
Lehre yon der gewerblichen Tahafevergtffcuttg hiirjetzt zu sehr
' • ’ Statistik;feKDn ö deshalb nene trr»terMKhuagrn mit .modernus Methoden erionlwlich.
P»Jtholog\3di-anatcrmische üntcriötötejbgen tm Leichen von Verstorbenen, die sehr
lange m Tabakhibriken gearbeitet haben, fehlen so gut wie gänzlich.
-<’) Andere Gift?.
Burr (IBf beobachtete bei einer &2 jährigen Frau, die 5) Wochen lang alle ’S
Stunden eine Arreprnlösnng tu die Augen eingeträuMt hatte, eine
Von ü wöchiger Dauer mit Sinnestäuschungen und Erregung!??
Original fr$m. :
ÜNlVtft'SiTY ÖF MlCHK
290*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
ästhesie und Parästhesien, lokalisierte motorische Störungen und Amnesie. Das
Vorkommen von deliranten Verwirrungszuständen und Krankheitsbildem, die der
progressiven Paralyse ähneln, ist zweifelhaft. Die chronische Kohlenoxydvergiftung
begünstigt die Entwickelung der Tuberkulose.
Kolossow (62) hat 12 Fälle von Ergotismus beobachtet, in denen verschiedene
Geistesstörungen bestanden. Er bekam die Patienten bald nach ihrer Erkrankung
in Behandlung; bei einigen entwickelte sich die Geistesstörung gleichsam unter
seinen Augen. In 2 von diesen 12 Fällen bestand akute Verwirrtheit, in einem
Falle deprimierte Gemütsstimmung mit Erschwerung des Denkens bei fast klarem
Sensorium, im dritten das Bild von reinem Stupor, in 5 Fällen vorübergehender
Erregungszustand und schließlich in einem Falle eigentümliche motorische Erregung
mit Mutazismus und Verlust des Bewußtseins. Das Ergebnis seiner Beobachtungen
faßt er zusammen: Geistesstörung als Komplikation des Ergotismus wird häufig
beobachtet (bei ihm in 27,8 % aller Fälle). Sie kann sich ohne pathologische Heredi¬
tät und ohne Alkoholismus und Syphilis in der Anamnese entwickeln. Besonders
prädisponiert sind junge Individuen. Die ersten Erscheinungen der Geistesstörung
können sich schon in der ersten Krankheitswoche zeigen. Je nach dem Grade der
Vergiftung und des persönlichen Verhaltens eines jeden Kranken dem Gifte gegen¬
über kann sich die Geistesstörung in verschiedenen Formen äußern: von vorüber¬
gehendem Verlust des Bewußtseins mit Erregungserscheinungen bis zu ausge¬
prägter Psychose. Fälle, in denen neben der Geistesstörung epileptiforme Anfälle
auftreten, verlaufen gewöhnlich schwer. Eine besondere Form von Ergotinpsychose
gibt es nicht. Häufig geht die Psychose bei Ergotismus ebenso rasch vorüber, wie
sie eingetreten ist. In der Mehrzahl der Fälle wird die Geistesstörung bei Ergotis¬
mus von objektiv nachweisbaren Veränderungen des Nervensystems begleitet:
Herabsetzung oder Fehlen der Kniereflexe, Erweiterung, bisweilen Ungleichheit
der Pupillen, Anfälle von klonischen Krämpfen, Haminkontinenz.
f) Pellagra.
Devoto (31) bespricht die Ätiologie und Klinik der Pellagra. Er unterscheidet
4 Stadien: das präpellagröse, in dem häufig, aber nicht immer, Erytheme an den
von der Sonne getroffenen Hautstellen auftreten, die leichte Form, die durch ent¬
zündliche Reaktionen seitens der serösen Häute, der Gefäße, der Leber, Nieren und
Lungen charakterisiert wird, die mittelschwere Form, wenn lebenswichtige Organe
ergriffen werden, und die schwere Form mit irreparablen Strukturveränderungen
der Organe (Sklerose des Myokardiums, chronische Nephritis, Demenz, Tabes).
Ätiologisch hält er an dem Satze fest: Ohne Mais keine Pellagra. Allerdin g s kann
nicht nur verdorbener Mais Pellagra verursachen, sondern es kann auch — was
freilich äußerst selten vorkommt — ein Mensch, der sich lange und in überwiegender
Menge von gesundem Mais nährt, an Pellagra erkranken. In Oberitalien ist die
Häufigkeit der Pellagra in 12 Jahren um 75 % zurückgegangen.
Carbone und Cazzamalli (19) veröffentlichen Untersuchungen über die Ätio¬
logie der Pellagra. Ratten können monatelang leben, ohne irgendwelche Störungen
zu zeigen, bei ausschließlicher Ernährung mit gesundem Mais. Der Schimmelpilz
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S n e 11, Intoxikations-Psychosen.
291*
Aspergillus fumigatus erwies sich als pathogen, aber wenig giftig für Kaninchen.
Andere Schimmelpilze waren nicht pathogen, aber toxisch. Gegen alkoholischen
Extrakt aus Schimmelpilzen waren Ratten ebenso empfindlich wie Meerschweinchen.
Eine Ratte, die mit Mais gefüttert wurde, der mit einem Schimmelpilz Penicillus
verunreinigt war, starb nach 23 Tagen und zeigte Veränderungen der Haut, des
Darmes, der Leber und der Milz.
Seppilli (107) weist darauf hin, daß Pellagra nicht selten mit Alkoholismus
zusammentrifft, was durch den Aberglauben begünstigt wird, die Erscheinungen
der Pellagra könnten mit Wein bekämpft werden. Er teilt die Krankengeschichte
von zwei weiblichen Kranken mit, die an Symptomen von Pellagra erkrankten,
ohne daß Ernährung durch Mais stattgefunden hatte, wohl aber Mißbrauch im
Genuß von Wein und Spirituosen.
Malfüatre und Devaux (75) haben in der Irrenanstalt zu Saint-Lizier drei
Kranke beobachtet, die von Seiten der Haut, des Darmes und des Nervensystems
das Bild der Pellagra boten, ohne daß sie einer Ernährung mit verdorbenem Mus
oder dem Sonnenbrand ausgesetzt gewesen waren. Zwei von ihnen waren tuber¬
kulös, der dritte unterernährt und epileptisch.
Bariin (4) untersuchte an drei Fällen von Pellagra bei Negerinnen das Blut
und fand während des akuten Stadiums der Krankheit eine stetig zunehmende
Lymphozytose.
Derselbe Verfasser (5) bestätigt diesen Befund bei 7 andern Fällen von Pel¬
lagra bei Negern.
Lui und Bacceüi (73) konnten in dem Blutserum von Kranken, die an Pellagra
litten, Maispräzipitin nicht nachweisen.
Kleiminger (59), der 13 Fälle von Pellagra bei Geisteskranken beobachtet hat,
kommt in seinen „neuen Beiträgen zur Pellagralehre k< zu den Schlußsätzen: Es
gibt keine Pellagra sui generis. Mangels einer einheitlichen Ätiologie können wir
nur von einem pellagrösen Symptomenkomplex sprechen. Die Disposition liefern
Stoffwechselstörungen. Das Wesen der Krankheit ist ein infektiöser Darmkatarrh
verschiedener Art. Durch die Darmtoxine kommt mit Hilfe äußerer Reize das
4
Erythem zustande. Durch diese Toxine werden bei längerer Dauer Nervenstörungen
hervorgerufen, die nicht spezifisch sind. Für die Praxis ergibt sich aus dieser Kennt¬
nis folgender Schluß: Eine rationelle Bekämpfung der endemischen Pellagra hat
mit einer sozialen Hebung der niederen Volksschichten in den betreffenden Ländern
einzusetzen, durch die auch die kleinen Leute instand gesetzt werden, genügend
animalisches Eiweiß zu sich zu nehmen: Anlegung von Fischzüchtereien, Ver¬
mehrung des Viehstandes durch staatliche Maßnahmen. Durch polizeiliche An¬
ordnungen ist dafür zu sorgen, daß nur einwandfreier Mais genossen wird. Daß
die Bewohner unserer Gegenden nicht an Pellagra erkranken, liegt an dem ver¬
hältnismäßig reichlichen Fleischgenuß, der bei dem jährlich steigenden Viehbestand
in Deutschland, der noch durch Kultivierung von Ödländereien gewaltigen Auf¬
schwung verspricht, eine weitere Steigerung erwarten läßt. Die Gefahr einer Pel¬
lagraendemie in Deutschland erscheint daher nicht groß. Die Fälle in den Irren¬
anstalten werden sich bei rechtzeitigen prophylaktischen Maßnahmen offenbar in
bescheidenen Grenzen halten lassen.
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292*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
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.yiSyl I Bll TO. II *§%. 761, i i ;\•• ,'V ; >■ : Ay V ; .
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Alter (1) schildert die Anfänge der Irrenpflege in Schlesien, die sich in ähn¬
licher Weise entwickelt hat wie in anderen Provinzen Preußens. Genannt werden
besonders die Anstalten in Breslau, Brieg und Leubus, in denen sich die bescheide¬
nen Anfänge schlesischer Irrenfürsorge abgespielt haben. In den achtziger Jahren
des 18. Jahrhunderts begann in Schlesien die ärztliche Behandlung der Geistes¬
kranken.
In ähnlicher Weise wie Alter für Schlesien beschreibt Knecht (30) die Ent¬
wicklung der Irrenfürsorge in der Kurmark. Seine Ausführungen beziehen sich vor¬
zugsweise auf die Anstalt Neu-Ruppin, die Ausgangs des 18. Jahrhunderts errichtet
war und in der humanen Art der Unterbringung und Verpflegung der Geisteskranken
einen wesentlichen Fortschritt gegen die früheren durchaus mangelhaften und
traurigen Verhältnisse mit sich brachte.
In längeren Ausführungen untersucht Starlinger (62) die Frage über die zweck¬
mäßige Grüße der Anstalten für Geisteskranke. Nach ihm haben sich die großen
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Anstalten (über 1000 Kranke) nicht bewährt; ganz zu verwerfen sind die „Mammut¬
anstalten“, auch die modernen Zwillingsanstalten bieten ärztliche Vorteile gegen¬
über einzelnen und gleichgroßen keineswegs.
Im Juli 1913 ist die psychiatrische und Nervenklinik zu Königsberg eröffnet
worden, die Meyer (37) beschreibt. Sie lehnt sich in ihren Plänen an die psychiatri¬
sche Klinik in Breslau an, ist für 80 Betten bestimmt und hat einen Aufwand von
980000 M. erfordert. Grundrisse und einige Abbildungen sind beigefügt.
Baumann (3) beschreibt das erste städtische Nervensanatorium Deutsch¬
lands, das bei Essen auf der Grundlage einer privaten Stiftung errichtet, durch die
Stadt unterhalten wird. Es bietet Platz für 30 Personen des gebildeten und erwerbs¬
tätigen Mittelstandes, alle Arten nervöser Erkrankungen werden behandelt.
Schubart (60) zeigt an dem Beispiel Dresdens, daß ein freies Aufnahmever¬
fahren durchaus im Interesse der Geisteskranken wie der Allgemeinheit liegt. So
besteht in Dresden die Möglichkeit, Geisteskranke in ähnlicher Weise aufzunehmen,
wie es in den allgemeinen Krankenhäusern geschieht. Mißstände haben sich nicht
ergeben. Nur etwa 20% der Aufnahmen werden zwangsweise eingeliefert. Jeden¬
falls ist es in Dresden in weitem Umfange und ohne Zeitverlust möglich, einem
Geisteskranken die erforderliche Anstaltsbehandlung zuteil werden zu lassen, ohne
daß das freie Aufnahmeverfahren etwa weniger Sicherheit gegen imgerechtfertigte
Internierung in einer Irrenanstalt als das allgemein übliche Verfahren an Staats¬
irrenanstalten böte. Besonders bei Trinkern und Krampfkranken bewährt sich das
freie Aufnahmeverfahren.
Werner (71) gibt eine genauere Beschreibung der inneren Einrichtungen an
der Anstalt Bedburg.
Heilbronner (20) beschreibt die neue Utrechter Klinik, deren Errichtung ihm
nach mehrjährigem Bemühen gelungen ist und die nach modernen Grundsätzen in
Anpassung an die besondere Umgebung gebaut ist. Pläne sind beigefügt.
Horstmann (23) schildert die neue pommersche Anstalt Stralsund, deren
erste Bauperiode (bisher Platz für 278 Männer, 171 Frauen und 50 im Verwahrungs-
hause) im Juni 1912 abgeschlossen wurde. Die Anstalt ist nach ihrer Fertigstellung
für 1000 Kranke III. Klasse und 50 besonders gefährliche und kriminelle Geistes¬
kranke bestimmt. Areal 400 Morgen, 2 km von Stralsund, Femwarmwasserheizung,
elektrisches Licht. Besonders reichlich Liegeplätze für Bettbehandlung und Wannen
für Dauerbäder. Nischenklosetts. Beobachtungsmöglichkeit dreier Liegesäle und
eines Dauerbades durch eine Person von einem panoptischen Punkt aus. Einige
Zellen neben Dauerbad für den Notfall. Das Pflegepersonal schläft allein, eigene
Badezimmer, zum Teil auch eigene Eßzimmer. Verwahrungshaus mit 4y z m hoher
Betonmauer, starken Zellen, Gittern, Alarmtüren, Alarmsignalen. Verhältnis des
Pflegepersonals zu Kranken 1 :7, bei den Kriminellen 1:2. Am 1. April 1914
beginnt der erste Erweiterungsbau, und zwar im Interesse der Konzentrierung und
des ärztlichen Dienstes mit Errichtung besonders großer Krankenhäuser nach dem
Muster von Haar.
Uber seine Eindrücke beim Besuch der Kongresse in London und Gent und
von Anstaltsbesichtigungen in Großbritannien und Belgien berichtet Weygandt (72).
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
299*
In einzelnen englischen Anstalten tritt die Bettbehandlung zurück hinter der Form
der Isolierung (Gummizelle) einerseits und der Unterbringung der angekleideten
Kranken in Gesellschaftsräumen andrerseits. Die Anstalt in Cardiff stellt das
Extrem einer Entwicklung dar, die wir in Deutschland noch in den Anfängen sehen,
das Zusammenlegen mehrerer kleiner Pavillons in größere Gebäude. Die innere
Einrichtung der Anstalten ist hygienisch und komfortabel. Auf 10 Kranke-eine
Pflegeperson. Die Einrichtung der Räume für das Pflegepersonal luxuriös. Das
Broadmor Criminal Lunatic Asylum ist für 800 kriminelle Geisteskranke einge¬
richtet. 1 Frau auf 2,6 Männer, 90% der Frauen sind Kindsmörderinnen. Dauer¬
bäder in den englischen Anstalten nicht so ausgiebig wie bei uns, ausgedehnte Frei¬
luftbehandlung. Reinlichkeit und hygienische Einrichtung sind in England muster¬
haft, ebenso die Fürsorge für das vortreffliche Pflegepersonal. — Kurze Schilderung
der belgischen Irrenkolonie Gheel.
Schaefer (58) legt kurz die Gründe dar, weshalb man das Problem der Unter¬
bringung der geisteskranken Verbrecher anders ansehen kann, als es die Mehrzahl
der Psychiater heutzutage tut, und kommt zu dem Schluß, daß vielleicht auch
andere Wege zu einem befriedigenden Resultate führen, als bisher vorgeschlagen.
Besonders sollte der Staat die Provinzen bei dem Bau der Bewahrhäuser finanziell
unterstützen. Eine Teilung der Fürsorge in eine solche für gemeingefährliche und
kriminelle Kranke und nichtkriminelle würde schädlich sein.
Hermkes (21) kommt in seinen Ausführungen zu folgenden Schlüssen: 1. Das
mit der allgemeinen Irrenanstalt verbundene Bewahrhaus für Geisteskranke mit
gemeingefährlichen Neigungen soll ausschließlich für Kranke bestimmt sein, die
in ihrem eigenen Interesse anstaltspflegebedürftig sind, die aber wegen ihrer gefähr¬
lichen Eigenschaften einer festen Bewahrung bedürfen. 2. Strafgefangene Geistes¬
kranke sollen möglichst schnell in psychiatrischen Strafanstaltsadnexen Aufnahme
finden; den allgemeinen Irrenanstalten sollen sie erst dann überwiesen werden,
wenn der Strafvollzug beendet oder wegen unheilbarer Geisteskrankheit aufge¬
hoben ist und die Kranken selbst in ihrem eigenen Interesse anstaltspflegebedürftig
sind. 3. Die nicht ausgesprochen geisteskranken Psychopathen, welche im Interesse
der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht in Freiheit gelassen werden können,
gehören nicht in die allgemeinen Irrenanstalten, sondern in andere Anstalten, etwa
in entsprechend eingerichtete Arbeits- bzw. Korrektionshäuser.
Im Königreich Sachsen regelt das Gesetz über die Anstaltsfürsorge
(56) vom 12. Nov. 1912 das Verhältnis der Landesirrenanstalten zu den Orts¬
armenverbänden und Gemeinden. Zur Aufnahme ist ein Gutachten eines staatlich
approbierten Arztes erforderlich; die Aufnahme wird beantragt von den Gemeinden
und Ortsarmenverbänden; die Entscheidung über die Aufnahme trifft die Anstalts-
direktion, eine Ablehnung hat sie zu begründen. Über die Beschwerden hingegen
befindet die für den Ortsarmenverband oder die Gemeinde zuständige Kreis-
hauptmannschaft.
Die vom Deutschen Verein für Psychiatrie auf der Versammlung in Kiel ge¬
wählte statistische Kommission hat, wie Vocke (69) berichtet, Vorschläge an den
Vereinsvorstand vereinbart, nach denen durch Fortfall überflüssiger Punkte die
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Statistik vereinfacht und dadurch ein detailliertes Diagnosenschema aufgenommen
werden kann. Eine entsprechende Einteilung von Krankheitsformen wird mit¬
geteilt, es wird die zunächst provisorische Einführung empfohlen zur Erprobung der
praktischen Verwendbarkeit.
Römer (60) untersucht die Frage, worin heute eigentlich noch die wissen¬
schaftliche Aufgabe einer zeitgemäßen Reichs-Irrenstatistik zu erblicken ist. Nach
ihm bildet den Hauptgegenstand einer allgemeinen Statistik die Erfassung der
demographischen Verhältnisse der Anstalten und Kliniken. Von einer solchen
Statistik darf als wissenschaftlicher Gewinn die fortschreitende Vertiefung unseres
Wissens über die allgemeinen, speziell die sozialen Ursachen der Geisteskrankheiten
erwartet werden. Zur Einrichtung einer solchen geeigneten Reichsirrenstatistik
werden Vorschläge gemacht.
Lomer (32) beschäftigt sich mit den Angriffen, die von Laien gegen die Irren¬
ärzte seit langer Zeit unternommen wurden und bringt Vorschläge zur Abhilfe
einiger wirklich bestehender Mißstände bei Aufnahme und Entlassung, Entmündi¬
gung Geisteskranker usw. Zur Aufklärung des Publikums wird besonders Auf¬
klärung der Massen auf breitester Basis empfohlen.
Ein außerordentlich verdienstliches Buch ist das von Riüershaus (47) über
„Irrsinn und Presse“. Er hat alle Meldungen der Hamburger Presse im Lauf eines
Jahres gesammelt und kritisch besprochen, die auf irgendwelche psychiatrische
Fragen Bezug hatten. Daraus ist nun ein sehr buntes, aber instruktives Bild ent¬
standen, das besonders der Presse selbst zeigt, welchen Einfluß sie auf die Beur¬
teilung dieser Dinge durch das große Publikum hat und welchen Nutzen es allen
Beteiligten bringen würde, wenn die Berichterstattung darüber in verständige
sachliche Wege geleitet winrde.
Moeli (38) empfiehlt die Beiratstelle als Form der Fürsorge für aus An¬
stalten entlassene Geisteskranke, wie sie seit etwa einem Jahre in Berlin für den
Bezirk der Anstalt Herzberge eingerichtet ist. Sie bietet nicht nur den der Beirat¬
stelle überwiesenen entlassenen Kranken besonders in bezug auf Versorgung, An¬
leitung, Beschäftigung Gutes, sondern sie setzt auch in Stand, die Mitarbeit nicht¬
ärztlicher, von Verständnis für die Aufgabe erfüllter Persönlichkeiten zu gewinnen.
Peretti (43) nimmt in mehreren Gutachten Stellung zu der Frage der freien
Selbstbestimmung bei der Wahl des Aufenthaltsortes. Bei dem Mangel an Literatur
über diese Materie werden diese Fälle und die daran geknüpften Betrachtungen
und Folgerungen, die zu den Entscheidungen des Bundesamtes für Heimatwesen
in Beziehung gesetzt werden, für den Psychiater von Interesse und Wichtigkeit sein.
Eisath (14) protestiert in längeren Ausführungen gegen einzelne Paragraphen
des neuen österreichischen Irrengesetzes, besonders gegen die richterliche Kon¬
statierung des Geisteszustandes von in die Anstalt Einzuliefemden und zu Ent¬
mündigenden, Eingriffe, die schwere Gefahren für die Kranken bedeuten können
und die geeignet sind, die Bewertung der ärztlichen Tätigkeit und den Charakter
der Irrenanstalten als Krankenhäuser herabzusetzen.
Plaseller (44) teilt Krankengeschichten und Sektionsprotokolle über die von
1888—1904 (bzw. 1911) in der Anstalt Hall in Tirol Verstorbenen mit Lungen-
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
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entzündung war in 32,76 %» Tuberkulose in 23,74 %, maligne Tumoren in 3,63 %,
Dysenterie in 1,67 %, Typhus in 1,53 %, Suffocatio in 1,39 %, Suizid in 1,25 %
der Todesfälle Todesursache.
Campbell (6) gibt eine Übersicht über die Familienpflege der Stadt Dresden,
die im Jahre 1904 begonnen wurde. Die Zahl der Familienpfleglinge, die größtenteils
in einem kleineren Städtchen in der Nahe Dresdens untergebracht wurden, ist von
34 auf 74 Kranke im Jahre 1912 angewachsen. Die Erfahrungen mit der Familien¬
pflege sind sehr gut, die größte Zahl der in Familienpflege untergebrachten Gruppen
gehört zur Gruppe des angeborenen Schwachsinns; die günstige Wirkung äußert
sich sowohl in der Besserung der gesteigerten Erregbarkeit einerseits als der ab¬
normen Stumpfheit andererseits. Die zweitgrößte Gruppe bilden die chronisch
Geisteskranken, besonders die an Endzuständen der Dementia praecox leidenden
Kranken. Bei den Psychopathen, Degenerierten ist der Erfolg häufig zweifelhaft.
Bei Epileptischen wurde die Familienpflege nur wenig angewandt. In der Familien¬
pflege ist eine wertvolle Bereicherung der psychiatrischen Behandlungsmethoden
zu erblicken.
Wie Dees (9) berichtet, hat er gute Erfahrungen mit der Beschäftigung der
Kranken im Walde gemacht, die er deshalb warm empfiehlt.
Über einen Streik des Pflege- und Dienstpersonals an der städtischen Heil-
und Pflegeanstalt Triest berichtet Satz (57). Der Streik, dem sich fast das gesamte
Pflege- und Dienstpersonal der Anstalt anschloß, wurde dadurch zugunsten der
Anstalt entschieden, daß die Ärzte und Oberwärter im Verein mit wenigen dem Streik
femgebliebenen Pflegern die Pflegedienste auf den einzelnen Abteilungen versaheii.
Interessante Ausführungen über den Stand der Irrenpflege in Hannover zur
Franzosenzeit, die sich an seine früheren Schilderungen des Zucht- und Tollhauses
Celle anschließen, macht Mönkemöller (39). Von besonderem Interesse ist ein ärzt¬
liches Gutachten über den Geisteszustand einer kriminellen Frau aus jener Zeit,
aus dem zu ersehen ist, daß die Psychiater jener Tage auf Grund ihrer praktischen
Erfahrung und ihrer Menschenkenntnis zu durchaus logischen Ergebnissen kamen,
die unserer modernen Psychiatrie keine Unehre machen würden.
Toulouse (68) berichtet unter Erwähnung der noch bestehenden Mängel über
die von ihm durchgesetzten Reformen der Seine-Irrenanstalten. Vieles bleibt zu
tun. In 10 Jahren sind die Ausgaben um etwa 45 % gestiegen, während die allge¬
meine Bevölkerung nur um 13 % zugenommen hat. Die Folge ist eine zu große
Anhäufung der Kranken. In Villejuif z. B. leben 100 erregte Kranke in einem Saal
zusammen. Oft sind die Höfe eng. Für die Unterhaltung der Kranken geschieht
fast nichts. Die therapeutischen Hilfsmittel sind noch im Entwicklungsstadium.
Ein Zentrallaboratorium fehlt. Vielfach scheut man Ausgaben, weil man fälsch¬
licherweise die Geisteskrankheiten für unheilbar hält. Und doch wurden 191113 %
der behandelten Kranken geheilt oder gebessert entlassen, eine Zahl, die noch
steigerungsfähig ist. — Auf Veranlassung des Verf. ist ein psychologisches Labora¬
torium geschaffen worden. Verf. hat mit Richet die bekannte Behandlung der Epi¬
lepsie eingeführt. Ferner schuf Verf. die Behandlung der Geisteskranken mit sub¬
kutanen Sauerstoffinjektionen, die Ernährung melancholischer und erregter Kranken
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
mit fortgesetzten Zuckergaben von 100—200—300 g, die Bettbehandlung der neu an¬
genommenen Fälle mit Unterbrechung von einigen Stunden täglich (um Synkope
zu vermeiden). Er führte weiter ein: die genaueste Untersuchung der aufgenomme¬
nen Kranken, die schriftliche Berichterstattung des Pflegepersonals an der Hand
eines Fragebogens, die Ausschmückung der Säle, die Verbesserung des Mobiliars,
die Überwachungsstation, die materielle Besserstellung von Personal und Ärzten,
die Entsendung von Ärzten zu Studienzwecken ins Ausland. — Vorschläge: die
Schaffung einer großen Kolonie für 5000—10 000 Kranke in der Nähe von Paris,
wohin die Anstalten ihre chronischen Fälle abgeben könnten, so daß sie sich besser
der akuten Fälle annehmen könnten. Die chronischen Fälle kosten zu viel, für die
akuten wird zu wenig getan. Errichtung eines Lehrstuhls für die chirurgische Be¬
handlung der Geisteskranken. Ausstattung der Anstalten mit einem Laboratorium.
Ganter.
Rodiet (48), Direktor der Kolonie Dun-sur-Auron (für geisteskranke Frauen),
bespricht auf Grund seiner Erfahrung einige Mängel und Gefahren der kolonialen
Verpflegung. Nicht geeignet sind Verfolgungswahnsinnige mit Halluzinationen,
Fälle von moral insanity, Maniakalische, Alkoholikerinnen, nur bedingt geeignet
junge Schwachsinnige. Unangenehm ist, daß der Briefverkehr nicht so gut wie in
der Anstalt überwacht werden kann. In 3 Jahren kamen 6 Entweichungen vor.
Manche Familien wollen an den Kranken Ersparnisse machen. Für gute Behand¬
lung werden kleine Prämien von 6—20 Fr. gewährt. Besondere Unglücksfälle
sind nicht vorgekommen. Auf 1000 Kranke entfallen 6 Ärzte. Auf den Arzt kommen
20—25 Besuche im Tag. Ganter.
Lwoff und Syriern (34) erhielten 1910 den Auftrag, das Irrenwesen in Marokko
zu studieren und zu reformieren. Die Geisteskranken in Marokko sind — entgegen
der Legende, die Muselmänner sehen in den Geisteskranken Heilige — in den Ge¬
fängnissen untergebracht, die weniger gefährlichen in den Moristans, die sich nicht
viel von den Gefängnissen unterscheiden. In diesen werden sie angekettet. Die
Mehrzahl indessen treibt sich frei herum. Die Verf. schlagen vor, zunächst die
Moristans etwas zu modernisieren und imter ärztliche Leitung zu stellen. Die in der
Freiheit lebenden Geisteskranken sollten ärztlich überwacht werden. Für die
Europäer ist zunächst ein Pavillon von 50—100 Betten zu errichten. Auch die
Krankenhäuser in den größeren Städten sollten einige Geisteskranke aufnehmen
können. Ganter.
Strieux und Libert (61) weisen auf Grund ihrer archivalischen Studien nach,
daß in Frankreich schon im 18. Jahrhundert bestimmte gesetzliche Vorschriften
über die Aufnahme und Entlassung von Geisteskranken bestanden, die vielfach in
das Gesetz von 1838 herübergenommen wurden. Der Kranke konnte nur auf Grund
des Ordre du roi (lettre de cachet) aufgenommen werden, imd ehe ein solcher erging,
wurden Erhebungen angestellt. Besonders die Brüder vom hl. Johannes von Gott
beschäftigten sich mit der Pflege Geisteskranker. Sie besaßen 32 Spitäler im Jahre
1790. Die Irrenhäuser wurden öfters revidiert. Der Obere mußte über alle Vor¬
kommnisse berichten, er überwachte den Briefverkehr, die Besuche und dergleichen.
Das Spital hatte verschiedene Abteilungen, je nachdem die Kranken für einen mehr
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
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oder weniger freien Verkehr geeignet waren. Aufgeregte Kranke kamen in den
cachot, ein etwas stärkeres Zimmer, als die andern es waren. Was die ärztliche
Tätigkeit betrifft, von der wir nirgends etwas zu hören bekommen, so meinen die
Verf., unter den Brüdern seien selbst Ärzte gewesen. Ganter.
Van Deoenter (13) berichtet vom 3. intern, psychiatr.-neurol. Kongreß in Gent,
20.—26. August. Schon seit 1864 besteht in den Niederlanden eine staatliche Auf¬
sicht über die in der Freiheit lebenden Geisteskranken, die Idioten und Imbezillen
mit eingeschlossen. Die Bürgermeister führen eine Liste der in ihrer Gemeinde sich
befindenden Kranken, die alljährlich dem Inspektor des Irrenwesens mit entsprechen¬
den Berichten eingereicht wird. 1912 wurden auf diese Weise 3478 Geisteskranke
gezählt, natürlich sind es viel mehr, für ganz Holland schätzungsweise 22 522. An
der Aufsicht über die Kranken sind auch Pflegepersonen beteiligt, denen ein be¬
stimmter Stadtteil zugeteilt ist. Auch die Ärzte wirken mit. Ganter.
Auf Grund seiner statistischen Untersuchungen fand Swift (65), daß in
Massachusetts die Zahl der Geisteskranken unter der zugewanderten Bevölkerung
relativ größer ist als unter der einheimischen. Außer Vererbung, Alkohol und Syp hilis
ist also auch die Einwanderung schuld an der Überfüllung der amerikanischen
Irrenanstalten. Ganter.
Nach Ryons (54) Ausführungen werden nur in etwas über der Hälfte der Be¬
zirke des Staates New York die Geisteskranken, gegen die ein Strafverfahren
schwebt, in entsprechenderWeise untergebracht. Verf. schlägt vor, in den Bezirken
besondere Pavillons zu dem genannten Zwecke zu errichten. In größeren Städten
könnten besondere Aufnahmestationen an den Krankenhäusern geschaffen werden.
Ganter.
Aus dem von Jones (26) gehaltenen Vortrag ist zu ersehen, daß in Amerika
viel Wert auf die Unterhaltungsliteratur der Kranken (und des Pflegepersonals)
gelegt wird. 3 oder 4 Anstalten haben sogar allezeit offene besondere Bibliotheks¬
gebäude. Ganter.
L’Ospedale maggiore (33) ist eine illustrierte Monatsschrift für die Geschichte,
Verwaltung, Bautechnik und Hygiene mit Beziehung auf den Hospitaldienst im
allgemeinen und den des Ospedale maggiore zu Mailand im besonderen. (Die Zeit¬
schrift bringt auch interessante Krankengeschichten.) Leitung: Boni, Chefarzt,
Gaggi, Generalsekretär, Rolla, Bibliothekar. Ganter.
Reid (46) folgert auf Grund eingehender Untersuchungen, daß die Mannit
vergährenden Stämme der Dysenteriebazillen die Ursache der in den Anstalten
Englands herrschenden Dysenterie sind. Diese Stämme sind nicht mit den bisher
bekannten identisch, doch haben die von verschiedenen Anstalten gezüchteten
dieselben kulturellen Eigenschaften. Es ist wahrscheinlich, daß ein aus einer Anzahl
dieser Stämme hergestelltes Immunserum einen besonderen therapeutischen Wert
besitzen würde. Ganter.
IL Anstaltsberichte.
75. Alsterdorfer Anstalten in Hamburg-Alsterdorf. Bericht für
1912. Dir.: Oberarzt Dr. Kellner. (S. 323*.)
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304*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
76. Badische Irrenanstalten. Berichte der Psychiatr. u. Nerven-
kliniken zu Heidelberg und Freiburg i. B., der Heil- u. Pflege¬
anstalten Illenau, Pforzheim, Emmendingen und, Wiesloch
für 1911 u. 1912. Mitgeteilt vom Großherzogi. Badischen
Ministerium d. L (S. 340*.)
77. Bamberg, St. Getreu. Stadt. Heil-und Pflegeanstalt. Jahresber.
für 1911,1912 u. 1913. Dir.: Dr. Amandus Bott. (S. 336*.)
78. Bayreuth, Oberfränkische Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1912. Dir.: Dr. Hoch (S. 335*.)
79. Beelitz (Mark), „Wilh.-Aug.-Viktoria-Stiftung“. Israelitische
Erziehungsanstalt für geistig zurückgebliebene Kinder. Ver¬
einsberichte 1909—1912. (S. 315*.)
80. Bergmannswohl, Unfall-Nervenheilanstalt der Knappsch.-
B.-G. Schkeuditz (Bez. Halle a. S.). Bericht für 1912.
Chefarzt: Dr. Quensel. (S. 331.)
81. Berlin. Bericht der Deputation für die Städtische Irrenpflege.
Berichte über die Anstalten Dalldorf, Herzberge, Buch und
Wuhlgarten. Verw.-Bericht des Magistrats zu Berlin. Etats¬
jahr 1912. (S. 313*.)
82. Blankenhain i. Thür., Carl-Friedrich-Hospital. GroßherzogL
Sächs. Landes-Irrenheil- und Pflegeanstalt mit Siechenab¬
teilung. Bericht für 1908—1912. Dir.: Dr. Lüderitz .
(S. 335*.)
83. Brandenburgischer Hilfsverein für Geisteskranke zu Ebers¬
walde. 39. Jahresbericht f. d. Geschäftsj. 1912. (S. 313*.)
84. Brandenburgischer Provinzialausschuß. Berichte über die
Anstalten Eberswalde, Sorau, Landsberg, Neuruppin, Teupitz,
Wittstock, Lübben, Wilhelmsstift usw. Auszug aus dem
Verwaltungsbericht vom 10. Feb. 1913. (S. 312*.)
85. Breslau, Städtische Heilanstalt für Nerven- und Gemütskranke.
Bericht für 1912. Dir.: San.-Rat Dr. Hahn. (S. 315*.)
86. Brieg, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1912.
Dir.: San.-Rat Dr. Petersen. (S. 315*.)
87. Brünn, Mährische Landesirrenanstalt. Bericht für 1912. Dir.:
Med.-Rat Dr. Heilung. (S. 348*.)
88. Bunzlau, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1912.
Dir.: San.-Rat Dr. Neisser. (S. 316*.)
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
305 *
89. Burghölzli (Zürich), Kantonale Irrenanstalt. Bericht für 1912.
Dir.: Prof. Dr. Bleuler. (S. 349*.)
90. Cery, Rapport annuel de l’asile de Cery. 1912. (S. 353*.)
• 91. Conradstein, Westpreußische Provinzial-Heil- und Pflege¬
anstalt. Bericht für 1912. Dir.: Dr. Braune. (S. 310*.)
92. Dresden, Heil- und Pflegeanstalt. Aus dem Verwaltungsbericht
des Rates der Königl. Haupt- und Residenzstadt Dresden
auf die Jahre 1911 und 1912. (S. 334*.)
93. Eglfing bei München, Oberbayerische Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht über das Jahr 1912. Dir.: Med.-Rat Dr. Vocke.
(S. 336*.)
94. Eichberg im Rheingau. Landes-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht
für 1912/13. Dir.: Dr. Wachsmuth. (S. 327*.)
95. Ellen (Bremen), St. Jürgen-Asyl für Geistes- und Nervenkranke.
Bericht für 1912. Dir.: San.-Rat Dr. Delbrück. (S. 324*.)
96. Ellikon a. d. Thur (Zürich), Trinkerheilstätte. Bericht für 1912.
(S. 349*.)
97. Freiburg i. Schles., Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht
für 1912. Dir.: San.-Rat Dr. Buttenberg. (S. 316*.)
98. Friedmatt (Basel), Kantonale Heil- und Pflegeanstalt. Bericht
für 1912. Dir.: Prof. Dr. G. Wolff. (S. 350*.)
99. Gabersee, Oberbayerische Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1912. Dir.: Kgl. Med.-Rat Dr. Dees. (S. 337*.)
100. Gehlsheim b. Rostock. Großherzogi. Mecklenburgische Irren-
Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1912. Dir.: Geh. Med.-
Rat Dr. Schuchardt. (S. 322*.)
101. Göttingen, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1912/13. Dir.: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. E. Schütze. (S. 319*.)
102. Haar b. München, Oberbayerische Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht 1912. Dir.: Dr. Blachian. (S. 337*.)
103. Hall i. Tirol, Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke.
Bericht für die Jahre 1905—1911. Dir.: K. K. San.-Rat
Dr. Offer. (S. 347*.)
104. Hamburg. Die Irrenanstalten Friedrichsberg (Dir.: Prof. Dr.
Weygandt ) und Langenhorn (Dir.: Prof. Dr. Neuberger). Aus
dem Jahresbericht des Krankenhauskollegiums für das Jahr
1912. (S. 323*, 324*.)
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit. U
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306 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1918.
105. Hannover, Provinz; Krankenbewegungstabelle der Heil- und
Pflegeanstalten für das Rechnungsjahr 1912. (S. 319*.)
106. „Haus Schönow“, Zehlendorf-Berlin, Heilstätte für Nerven¬
kranke. Bericht für 1912. Dir.: Prof. Dr. M. Laehr.
(S. 314*.)
107. Herborn, Landes-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1912.
Dir.: San.-Rat Dr. R. Snell. (S. 328*.)
108. Hessen (Großherzogt.); Hilfsverein für die Geisteskranken in
Hessen. Bericht für 1912. (S. 328*.)
109. Hildesheim, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1912/13. Dir.: Geh. San.-Rat Dr. Gerstenberg. (S. 320*.)
110. Hördt; Bericht der gemeinsamen Irrenanstalt für 1912/13.
Dir.: Dr. Haberkant. (S. 345*.)
111. Isenwald bei Gifhorn (Hann.); Stift für Alkoholkranke. Bericht
für 1911/12. (S. 322*.)
112. Kaufbeuren, Kreis-Heil- und Pflegeanstalten. Bericht für
1912. Dir.: K. Med.-Rat Dr. Primzing. (S. 337*.)
113. Königsfelden (Aargau), Kantonale Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1912. Dir.: Dr. Frölich. (S. 352*.)
114. Kremsier, Mährische Kaiser Franz Josef I. Landes-Heil- und
Pflegeanstalt. Bericht für 1912. Dir.: K. K. Med.-Rat Dr.
Navrat. (S. 348*.)
115. Kreuzburg (Schlesien), Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1912. Dir.: San.-Rat Dr. Schubert. (S. 317*.)
116. Kutzenberg, Oberfränkische Heil-und Pflegeanstalt. 8. Jahres¬
bericht für 1912. Dir.: Dr. Oetter. (S. 336*.)
117. Langenhagen, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt für Geistes¬
schwache mit Filiale Himmelsthür bei Hildesheim und der
Beobachtungsstation für Hannover. Bericht für 1912/13.
Dir.: Dr. Völker f. (S. 321*.)
118. Leubus, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für 1912.
Dir.: San.-Rat Dr. Dinter. (S. 317*.)
119. Lewenberg, Kinderheim zu Schwerin; Großherzogi. Heil- und
Pflegeanstalt für geistesschwache Kinder. Bericht für 1912/13.
Dir.: Med.-Rat Dr. Jem. (S. 322*.)
120. Limoux (D6p. de l’Aude), Asil d’aliönös. Jahresbericht.
(S. 353*.)
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
307 *
121. Lindenhaus bei Lemgo, Fürstlich Lippische Heil- und Pflege¬
anstalt. Bericht für 1912. Dir.: Med.-Rat Dr. Alter. (S. 328*.)
122. Lüben i. Schles., Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht
für 1912/13. Dir.: Geh. San.-Rat Dr. Simon. (S. 318*.)
123. Lüneburg, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1912/13. Dir.: San.-Rat Dr. 0. Snell. (S. 321*.)
124. Luzern, Hilfsverein für arme Irre des Kantons Luzern. Bericht
für 1912. (S. 353*.)
125. Mariaberg, O.-A. Reutlingen, Württemberg; Heil- und Pflege¬
anstalt für Schwachsinnige. Bericht für 1912/13. (S. 340*.)
126. Michigan, Statepsychopathic Hospital. University of Michigan.
3. Bericht, 1. VII. 10 — 30. VI. 12. (S. 355*.)
127. Münsterlingen, Thurgauische Irrenanstalt. Bericht für 1912.
Dir.: Dr. WiUe. (S. 352*.)
128. Neuruppin, Brandenburgische Landesirrenanstalt. Bericht für
1908—1912. Dir.: San.-Rat Dr. Seile. (S. 312*.)
129. Neustadt i. Holstein, Provinzial-Irrenanstalt. Bericht für
1912/13. Dir.: San.-Rat Dabeistein. (S. 318*.)
130. Neustadt i. Westpr., Westpreußische Provinzial-Heil- und
Pflegeanstalt. Bericht für 1912. Dir.: San.-Rat Dr. Rabbas.
(S. 311.)
131. Niedernhart in Linz, Oberösterreichische Landesirrenanstalt.
Bericht für 1912. Dir.: Dr. Schnopfhagen. (S. 346*.)
132. Niederösterreich. Die Landesirrenanstalten und die Fürsorge
des Landes Niederösterreich für schwachsinnige Kinder.
Berichte für 1910/11 und 1911/12, erstattet vom Referenten
H. Bielohlawck. (S. 345*.)
133. Osnabrück, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1912. Dir.: San.-Rat Dr. Schneider. (S. 320.)
134. Ostpreußen, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten Allenberg,
Kortau und Tapiau. Bericht für 1912. (S. 310*.)
135. Pennsylvania training school. 60. Bericht. 1911/12 und
61. Bericht 1912/13. (S. 354*.)
136. Pr6fargier, Maison de Sant6. 64. Bericht. Dir.: Dr. Dardel.
(S. 353*.)
137. Rheinprovinz, Hilfsverein für Geisteskranke. Bericht für
1912. (S. 330*.)
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Original from
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308 *
Bericht Uber die psychiatrische Literatur 1913.
138. Rheinprovinz, Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten Ander¬
nach, Bedburg-Hau, Bonn, Düren, Galkhausen, Grafenberg,
Johannistal, Merzig und Brauweiler. Bericht für das Rech¬
nungsjahr 1912/13. (S. 329*.)
139. Roda, Herzogi. Sächsisches Genesungshaus. Bericht für 1912.
Dir.: Med.-Rat. Dr. Schäfer. (S. 334*.)
140. Roda, Herzogi. Sächsisches Martinshaus, Idiotenanstalt für
Knaben und Mädchen von 6—16 Jahren. Bericht für 1912.
Dir.: Med.-Rat Dr. Schäfer. (S. 334*.)
141. Rosegg, Heil- und Pflegeanstalt im Kanton Solothurn. Bericht
für 1912. Dir.: Dr. Greppin. (S. 350*.)
142. Ruf ach, Oberelsässische Bezirks-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht
für 1912. Dir.: Dr. Groß. (S. 345*.)
143. Saargemünd, Bezirks-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1912. Dir.: Geh. San.-Rat Dr. Dütmar. (S. 344*.)
144. Sachsen. Das Irrenwesen im Königreich Sachsen im Jahre 1911.
Berichte über die Landes-Heil- und Pflegeanstalten Sonnen¬
stein, Untergöltzsch, Großschweidnitz, Zschadraß, Hubertus¬
burg, die Pflegeanstalt Colditz und die Heil- und Pflege-
anstatt für Epileptische zu Hochweitzschen. Aus dem
43. Jahresbericht des Königl. Landes-Medizinalkollegiums.
(S. 331*.)
145. Sachsenberg bei Schwerin, Großherzogi. Mecklenburgische
Irrenanstalt. Bericht für 1912. Dir.: Obermed.-Rat Dr.
Maiusch. (S. 322*.)
146. Santiago (Chile). Casa de Orates de Santiago. Jahresbericht
1911. (S. 355*.)
147. Schleswig, Provinzial-Irren-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht
für 1912/13. Dir.: Prof. Dr. Kirchhoff. (S. 319*.)
148. Schleswig, Provinzial-Idiotenanstalt. Bericht für 1912/13.
Dir.: Dr. Zappe. (S. 319*.)
149. Schwetz, Westpreußische Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1912. Dir.: San.-Rat Dr. Schauen. (S. 311*.)
150. Scotland, 55. annual report of the general board of commis-
sioners in lunacy for Scotland. 1912. (S. 353*.)
151. Sigmaringen, Fürst Carl-Landesspital, Abt. für Geisteskranke.
Bericht für 1912/13. Dir.: San.-Rat Dr. Longard. (S. 335*.)
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
309 *
152. Sonnenhalde bei Riehen (Basel), Evangelische Heilanstalt für
weibliche Gemütskranke. Bericht für 1912/13. (S. 350*.)
153. Stackein, Livländische Heil- und Pflegeanstalt. Dir.: Dr.
A. Behr. (S. 353*.)
154. St. Andreasberg, Wormditt (Ostpr.); Heilstätte für Epi¬
leptische. Leitender Arzt: Dr. Ganter. (S. 310*.)
155. Stephansfeld bei Straßburg i. E., Bezirksheilanstalt. Bericht
für 1912/13. Dir.: Dr. Ransohoff. (S. 344*.)
156. Stetten im Remstal (Württemberg), Heil- und Pflegeanstalt für
Schwachsinnige und Epileptische. Bericht für 1912/13.
Oberarzt Dr. Schott. (S. 340*.)
157. St. Pirminsberg (St. Gallen), Kantonale Heil- und Pflege¬
anstalt. Bericht für 1912. Dir.: Dr. Haeberlin. (S. 351*.)
158. Strecknitz (Lübeck), Heilanstalt. Bericht für 1912. Dir.:
Dr. Waltenberg. (S. 323*.)
159. Strelitz (Alt-), Großherzogi. Landesirrenanstalt. Bericht über
die Jahre 1911 und 1912. Dir.: Dr. Serger f. (S. 323*.)
160. Tannenhof bei Lüttringhausen (Rheinl.), Evangelische Heil-
und Pflegeanstalt für Gemüts- und Geisteskranke. Bericht
für 1912/13. Dir.: Dr. Beelitz. (S. 330*.)
161. Tost (Oberschlesien), Provinzial-Heil-und Pflegeanstalt. Bericht
für 1912. Dir.: San.-Rat Dr. Schütze. (S. 317*.)
162. Waldau, Münsingen, Belleley; Bemische kantonale Irrenanstal¬
ten. Bericht für 1912. (S. 349*, 350*.)
163. Waldhaus (Chur), Kantonale Irren- und Krankenanstalt. Be¬
richt für 1912. Dir.: Dr. Järger. (S. 352*.)
164. Waverley, Mass., McLean Hospital Waverley. Bericht.
(S. 355*.)
165. Wehnen, Großherzogi. Oldenburgische Heil- und Pflegeanstalt.
Bericht für 1912. Dir.: Med.-Rat Dr. Brümmer. (S. 324*.)
166. Weilmünster, Landes-Heil- und Pflegeanstalt. Bericht für
1912/13. Dir.: San.-Rat Dr. Lantzius-Beningna. (S. 327*.)
167. Werningerode - Hasserode, Erziehungshaus „Zum guten
Hirten“ für schwach- und blödsinnige Mädchen. 40. Jahres¬
bericht. (S. 322*.)
168. Westfalen, Berichte über die Provinzialanstalten für Geistes¬
kranke und Idioten zu Marsberg, Lengerich, Münster, Apler-
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310 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
beck, Warstein, Eickelborn und St. Johannisstift zu Nieder -
Marsberg. Geschäftsjahr 1911. (S. 324*.)
169. Wil (St. Gallen), Kantonales Asyl. Bericht 1912. Dir.: Dr.
Schüler. (S. 351*.)
170. Württemberg, Berichte über die Anstalten in Schussenried,
Weinsberg, Weißenau, Winnental, Zwiefalten und über
die Privatirrenanstalten. Aus dem Berichte über die im
Königreich Württemberg bestehenden Staats- und Privat¬
anstalten für Geisteskranke, Schwachsinnige und Epileptische
für 1911 und für 1912. Herausgegeben von dem K. Medizinal¬
kollegium. (S. 338*.)
In den Ostpreußischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten Allenberg,
Kortau und Tapiau (134) war ein Gesamtanfangsbestand von 3174 (1526 M.
1648 Fr.). Neu aufgenommen sind in Allenberg 364 (186 M. 178 Fr.), in Kortau 354
(181 M. 173 Fr.), in Tapiau 244 (36 M. 209 Fr.). Entlassen aus Allenberg geheüt 26,
gebessert 132, ungeheilt 89, nicht geisteskrank 12; entlassen aus Kortau geheilt 33,
gebessert 134, ungeheilt 170, nicht geisteskrank 2; entlassen aus Tapiau geheilt 8,
gebessert 13, ungeheilt 8. Unter 259 ungeheilt Entlassenen befinden sich 152 Frauen,
die nach Tapiau in das dortige neue Frauenhaus überführt wurden. Das Ver¬
hältnis der geheilt Entlassenen zu den Neuaufnahmen entspricht in Allenberg
7,1 %, in Kortau 9,32 %. Gestorben sind in Allenberg 87 = 6,7 % der Verpflegten,
in Kortau 103 = 7,7 %, in Tapiau 101. In Tapiau wurden 2 M. in das Bewahrungs¬
haus verlegt. In Familienpflege befanden sich am Schluß des Berichtsjahres 168 Kr.,
davon aus Allenberg 85 (47 m., 38 w.), aus Kortau 63 (41 m., 22 w.), aus Tapiau 18
(7 m., 11 w.). In Allenberg waren 71 % der Kranken regelmäßig beschäftigt. Dem
Bericht ist eine Übei sicht über die Zugänge in den drei Anstalten seit 1887 voran -
gestellt, aus der ein Zuwachs von rund 95 Kr. im Jahresdurchschnitt sich ergibt.
Die Privatanstalt St. Andreasberg in Ostpreußen (154), 1902 gegründet,
ist jetzt auf' 4 Häuser erweitert und dient zur Aufnahme von Epileptischen und
Schwachsinnigen katholischer Konfession aus den beiden Provinzen Ost- und
Westpreußen. Bestand am 1. Jan. 1913:317 (164 M. 163 Fr.), aufgenommen wurden
56 (29 M. 27 Fr.). Gesamtzahl der verpflegten Kranken 379 (156 M. 165 Fr.,
68 Kinder). Entlassen wurden 35 (16 M. 19 Fr.), und zwar geheUt 2, gebessert 6, un¬
geheilt 12, gestorben 16. Bestand am 31. Dezember 1913 : 344 (179 M. 165 Fr.).
Ganter.
Conradstein (91): Anfangsbestand 1322 (700 M. 622 Fr.). Zugang 311
(172 M. 139 Fr.). Abgang 195 (96 M. 99 Fr.). Bleibt Bestand 1438 (776 M.
662 Fr.), hiervon in Familienpflege 134. Vom Zugang litten an einfacher Seelen¬
störung 214 (97 M. 117 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 22 (20 M. 2 Fr.),
an Seelenstörung mit Epilepsie 20 (16 M. 4 Fr.), Imbezillität, Idiotie 16 (9 M.
7 Fr.), Hysterie 6 Fr., Alkoholismus 17 (16 M. 1 Fr.). Zur Beobachtung 16
(14 M. 2 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 2 Monat bei 73,3—6 Monate
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Grätter, Anstaltswesen und Statistik.
311 *
jei 36, bis 1 Jahr bei 63, 2 und mehr Jahre 139. Heredität bei 104, Trunksucht
Dei 40. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 60 (54 M. 6 Fr.). Entlassen
gelteilt 12 (7 M. 5 Fr.), gebessert 50 (24 M. 26 Fr.), ungeheilt 16 (9 M. 6 Fr.),
ivicht geisteskrank 15 (13 M. 2 Fr.). Gestorben sind 103 (43 M. 60 Fr.), davon
infolge Paralyse 14 (12 M. 2 Fr.), an Lungenschwindsucht 26 (11 M. 15 Fr.),
an Karzinom 3 Fr., Typhus 4 (1 M. 3 Fr.). Nach Abklingen der Typhusepidemie
des Vorjahres kamen einzelne Fälle sowohl im Krankenbestand als auch beim
Personal noch vor. Die Zahl der in den Typhushäusem isolierten Bazillenträger be¬
trug zum Schluß des Berichtsjahres noch 54 (32 M. 22 Fr.). Die Untersuchung der
Dejekte durch das Kgl. Med. Untersuchungsamt in Danzig wird weiterhin monat¬
lich zweimal fortgesetzt. Die Frequenz der Familienpflege hat unter der Typhus¬
gefahr sehr gelitten, im September hatte sie mit 110 Kr. den niedrigsten Stand. —
Gearbeitet haben pro Monat durchschnittlich 236,8 M. und 234,6 Fr. — Gesamt¬
ausgaben 752 111,13 M.
Neustadt i. Westpr. (130): Anfangsbestand 604 (301 M. 303 Fr.). Zugang
99 (47 M. 52 Fr.). Abgang 112 (56 M. 56 Fr.). Bleibt Bestand 691 (292 M.
299 Fr.), hiervon in Familienpflege 41. Vom Zugang litten an einfacher Seelen¬
störung 78 (29 M. 49 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 5 M., an Epilepsie,
Hysteroepilepsie 3 M., Imbezillität, Idiotie 6 (3 M. 3 Fr.), Alkoholismus 4 M.;
zur Beobachtung 4 M., davon nicht geisteskrank 3. Erbliche Belastung bei
38 (14 M. 24 Fr.) = 38,4 % der Aufnahmen. Häufigste Krankheitsursachen
Trunksucht, dann Syphilis und Kopfverletzung. Mit dem Strafgesetz in Konflikt
geraten 14 (12 M. 2 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 22,
bis zu 2 Monaten 11, 6 Monate 17, bis 1 Jahr 6, 2 und mehr Jahre 40. Entlassen
geheilt 25 (7 M. 18 Fr.), gebessert 13 (7 M. 6 Fr.), ungeheilt 18 (12 M. 6 Fr.).
Gestorben sind 63 (27 M. 26 Fr.), davon infolge Paralyse 8, an Lungentuberkulose 7.
Eine Typhuserkrankung. Bei erregten Kranken wurde Netzbehandlung mit Erfolg
angewandt. Vom durchschnittlichen Krankenbestand arbeiteten 32,96% der
Männer gegen 34,68 % im Vorjahr, Frauen 36,01 % gegen 36,83 %. — Gesamt¬
ausgabe: 393 790,85 M.
Sch wetz (149): Anfangsbestand 889 (468 M. 421 Fr.). Zugang 252
(143 M. 109 Fr.). Abgang 286 (153 M. 133 Fr.). Bleibt Bestand 865 (468 M.
397 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Geistesstörung 166 (79 M. 87 Fr.), an
paralytischer Seelenstörung 29 (26 M. 3 Fr.), an Imbezillität 9 (5 M. 4 Fr.),
Idiotie 14 (9 M. 5 Fr.), Epilepsie mit Seelenstörung 16 (10 M. 6 Fr.), Hysterie
2 (1 M. 1 Fr.), Alkoholismus 9 (8 M. 1 Fr.), Lues cerebri 1 M. Zur Beob¬
achtung 6 (4 M. 2 Fr.). An Dementia praecox litten 67 (40 M. 27 Fr.), manisch-
depressivem Irresein 12 (6 M. 7 Fr.), an halluzinatorischer Verrücktheit 39 (17 M.
22 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 36 (23 M. M. 13 Fr.),
1-6 Monate 42 (19 M. 23 Fr.), fr-12 Monate 12 (7 M. 6 Fr.), 1—2 Jahre 17
(10 M. 7 Fr.), die übrigen länger als 2 Jahre; unbestimmte Dauer bei 48 (27 M.
21 Fr.), von Jugend auf 6 (4 M. 2 Fr.). Heredität bei 56 (30 M. 26 Fr.), Alkohol
und andere ursächliche Einwirkungen insgesamt bei 196 (108 M. 88 Fr.) fest-
gestellt. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 43 (36 M. 8 Fr.). Entlassen
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312 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
geheilt 10 (6 M. 4 Fr.), gebessert 52 (26 M. 26 Fr.), ungeheilt 97 (48 M. 49 Fr.);
in Familienpflege verblieben 48. Gestorben sind 97 (48 M. 49 Fr.) = 8,5 % der
Verpflegten gegen 7,02 % im Vorjahre. Paralytiker starben 18, an Lungentuberkulose
erkrankt waren 14, an Typhus 1 M., an Erysipel 19, Karzinom 4, an Magen- und
Darmkatarrh 41 (25 M. 16 Fr.). — Gesamtausgabe 447 517,18 M.
Nach dem Auszug aus dem Vcrwaltungsbericht des Brandenburgischen
Provinzialausschusses (84) war in den Anstalten Eberswalde, Sorau,
Landsberg, Neuruppin, Teupitz, Wittstock, Lübben, Wilhelmsstift und
Anstalt für Epileptische im Berichtsjahr 1912 ein Anfangsbestand von 8037 (4169 M.
3868 Fr.). Zugang 2856 (1599 M. 1257 Fr.). Abgang 2543 (1431 M. 1112 FrX
Bleibt Bestand 8350 (4337 M. 4013 Fr.), in Familienpflege außerdem 436 (206 M.
230 Fr.) und in Privatanstalten 228 (168 M. 60 Fr.), mithin Gesamtschlußbestand
9014 (4711 M. 4303 Fr.). Die Steigerung gegen das Vorjahr beträgt 399 (205 M.
194 Fr.). Gemäß § 81 Str.-P.-O. wurden 30 Personen aufgenommen, davon für
verantwortlich erklärt 10. Geheilt bzw. gebessert entlassen wurden 699 (391 M.
308 Fr.). Gestorben sind 805 (450 M. 355 Fr.). Die Krankenbewegung war be¬
sonders stark infolge der Überführungen aus den Potsdamer Anstalten nach der
erweiterten Anstalt in Sorau und nach Lübben, ebenso sind nach dem Gutshof der
Anstalt in Görden 31 Kr. überführt. Die Normalbelegung in Eberswalde ist um
151 Köpfe überschritten worden, an Privatanstalten wurden 120 Trinker und 106
jugendliche Idioten und Kranke mit kombinierten Leiden abgegeben. Die Familien¬
pflege entwickelte sich aus einem Anfangsbestand von 374 (185 M. 189 Fr.),
Zugang 258 (130 M. 128 Fr.), Abgang 196 (109 M. 87 Fr.), zu einem Schlu߬
bestand von 436 (206 M. 230 Fr.). Die Treuenbrietzener Familienpflege wird sich
noch weiter entwickeln, da dortselbst ein umfangreiches Gelände für Zwecke der
Wanderfürsorge, Fürsorgeerziehung und Siechenbehandlung erworben ist. Die Ge¬
samtdurchschnittsdauer der Anstaltspflege betrug bei den Männern 493, bei den
Frauen 746 Verpflegungstage, mehr als im Vorjahr 105 bzw. 240. Idioten und
Imbezille sowie Epileptiker mit und ohne Seelenstörung zeigten die längste Durch¬
schnittsdauer des Anstaltsaufenthaltes und dementsprechend auch den höchsten
durchschnittlichen Verpflegungsaufwand. Die zur Entlassung gekommenen Alko¬
holiker weisen etwa die gleiche Aufenthaltsdauer wie im Vorjahr auf und eine im
Verhältnis zu anderen Krankheitsformen kurze durchschnittliche Dauer der An¬
staltspflege, weniger begründet durch den Heilerfolg als durch die'wiederkehrende
Erwerbsfähigkeit. Der Verlauf der Paralyse mit ihrem im Verhältnis kurzen Ent¬
wicklungsgang bietet nichts von den Tabellen vorhergehender Jahre Abweichendes.
Darin hat auch die nunmehr annähernd zwei Jahre erprobte Salvarsanbehandlung
nichts geändert. Bei den Entlassenen und Gestorbenen der an einfacher Seelenstörung
Erkrankten weisen die Männer eine etwas längere Dauer der Anstaltsbehandlung
auf als im Vorjahre. In Eberswalde ist die neue elektrothcrapeutische Abteilung,
auch für Glühlichtbehandlung nach Strümpell in Benutzung genommen.
Neuruppin (128): Der Bericht enthält einen Rückblick auf die Jahre
1908—1911; Berichte sind bislang erschienen über die Jahre 1897—1902 und
1903—1907. Vorangestellt ist zunächst eine Übersicht der Krankenbewegung seit
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
313 *
Eröffnung der Anstalt 1897 bis Ende 1911. Hiernach haben in diesem Zeitraum
»494(3729 M. 2766 Fr.) Aufnahmen und 4861 (2913 M. 1948 Fr.) Abgänge statt-
gefunden. Gestorben sind 1985 (1112 M. 873 Fr.). Anfangsbestand 1908 ist 1609
(.806 M. 804 Fr.). Schlußbestand 1911 ist 1633 (816 M. 817 Fr.). Zugang 1912 =
296 (173 M. 122 Fr.). Abgang 306 (162 M. 143 Fr.). Bleibt Bestand 1623
(827 M. 796 Fr.). An einfacher Seelenstörung litten vom Zugang 177 (86 M.
91 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 27 (20 M. 7 Fr.), an Seelenstörung mit
Epilepsie 14 (9 M. 5 Fr.), an Imbezillität, Idiotie 44 (31 M. 13 Fr.), an chroni¬
schem Alkoholismus 26 (21 M. 4 Fr.), an Hysterie 1 M. Zur Beobachtung 7 (6 M.
2 Fr.), davon nach § 81 Str.-P.-O. 6 (3 M. 2 Fr.). Entlassen sind 164 (84 M.
70 Fr.), und zwar geheilt, gebessert 99 (64 M. 46 Fr.), ungeheilt 19 (6 M. 13 Fr.),
an andere Anstalten überwiesen 17 (16 M. 1 Fr.), in Familienpflege gegeben 29
(13 M. 16 Fr.). Entwichen sind 10 (6 M. 6 Fr.). Gestorben 141 (73 M. 68 Fr.),
davon an Epilepsie 11, Tuberkulose 28, an Furunkulose 1, an Karzinom 1, Druck¬
brand 5, Selbstmord 3. — Vom Gesamtdurchschnitt war Tuberkulose in 13 % der
Todesfälle Todesursache. Im Sommer 1907 Typhusepidemie (10 Personen),
2 Bazillenträgerinnen wurden gefunden und isoliert. Bei der Pflege infizierte sich eine
Wärterin 1911 mit leichtem Typhus. Eine der Bazillenträgerinnen starb 1912, in
der Gallenblase und Leber fast eine Keimaussaat von Typhusbazillen, obwohl bei
den regelmäßig angestellten bakteriologischen Untersuchungen meist keine Typhus¬
bazillen gefunden waren.
Der Brandenburgische Hilfsverein zu Eberswalde (83): verausgabte
im Berichtsjahre an baren Geldunterstätzungen an Geisteskranke 6627,15 M.
Dem Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin (81) über die städtische
Irrenpflege ist zu entnehmen für:
Dalldorf: Anfangsbestand 3133 (1703 m. 1430 w.). Zugang 1036 (702 m.
334 w.). Abgang 1153 (813 m. 340 w.). Bleibt Bestand 3013 (1692 m. 1421 w.),
davon in der Hauptanstalt 1177 (673 m. 604 w.), in der Idiotenanstalt 164 (106 m.
68 w.), in Privatanstalten 1284 (600 m. 684 w.), in Familienpflege 391 (213 m.
178 w.). Vom Zugang litten an allgemeiner Seelenstörung 367 (152 m. 206 w.),
an paralytischer Seelenstörung 166 (126 m. 41 w.), an Seelenstörung mit Epi¬
lepsie und Hysterie 36 (21 m. 14 w.), an Idiotie und Imbezillität 160 (91 m. 69 w.),
an chronischem Alkoholismus 305 (292 m. 13 w.). Zur Beobachtung überwiesen
und wieder abgegeben 23 (21 m. 2 w.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 263
(255 m. 8 w.), gewohnheitsmäßig dem Alkoholmißbrauch ergeben 345 (328 m.
17 w.). Entlassen geheilt oder gebessert 660 (456 m. 204 w.), ungeheilt 143
117 m. 26 w.). Gestorben 327 (219 m. 108 w.), davon an Altersschwäche 14
(6 m. 8 w.), an Herzkrankheiten 139 (104 m. 35 w.), Hirnkrankheiten 63 (60 in.
13 w.), an Tuberkulose 25 (17 m. 8 w.), Selbstmord 2 Fr.
Herzberge: Anfangsbestand 1726 (964 m. 772 w.). Zugang 1862 (1468 m.
394 w.), Abgang 1855 (1466 m. 390 w.). Bleibt Bestand 1733 (957 m. 776 w.),
davon in der Hauptanstalt 1197 (693 m. 504 w.), in Privatanstalten 392 (180 m.
212 w.), in Familienpflege 144 (84 m. 60 w.). Vom Zugang litten an einfacher
Seelenstörung 1465 (1151 m. 314 w.), an paralytischer Seelenstörung 138 (104 m.
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314 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
34 w.), an Seelenstörung mit Epilepsie und Hysterie 136 (118 m. 17 w.), an
Idiotie und Imbezillität 94 (68 m. 26 w.), an chronischem Alkoholismus 1 Fr.
Zur Beobachtung überwiesen und wieder abgegeben 29 (27 m. 2 w.). Mit dem
Strafgesetz waren in Konflikt geraten 708 (678 m. 30 w.), gewohnheitsmäßig dem
Alkoholmißbrauch ergeben 909 (874 m. 35 w.). Entlassen als geheilt oder ge¬
bessert 1212 (1065 m. 147 w.), ungeheilt 368 (244 m. 124 w.). Gestorben 244
(127 m. 117 w.), davon an Altersschwäche 47 (5 m. 42 w.), an Herzkrankheiten 67
(54 m. 13 w.), an Himkrankheiten 42 (40 m. 2 w.), an Tuberkulose 6 (3 m. 3 w.),
Selbstmord 1 M.
Buch: Anfangsbestand 2259 (1160 m. 1099 w.). Zugang 1400 (1047 m.
353 w.). Abgang 1343 (1049 m. 294 w.). Bleibt Bestand 2316 (1158 m. 1158 w.),
davon in der Hauptanstalt 1732 (888 m. 844 w.), in Privatanstalten 459 (220 m.
239 w.), in Familienpflege 125 (50 m. 75 w.). Vom Zugang litten an einfacher
Seelenstörung 616 (264 m. 251 w.), an paralytischer Seelenstörung 193 (147 m.
46 w.), an Seelenstörung mit Epilepsie und Hysterie 70 (55 ra. 15 w.), an Idiotie
und Imbezillität 118 (85 m. 33 w.), an chronischem* Alkoholismus 481 (475 m.
6 w.). Zur Beobachtung kamen und wurden wieder abgegeben 23 (21 m. 2 w.).
Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 682 (663 m. 19 w.), gewohnheitsmäßi¬
ger Alkoholmißbrauch bei 508 (502 m. 6 w.). Entlassen als geheilt oder
gebessert 829 (723 m. 106 w.), ungeheilt 216 (135 m. 81 w.). Gestorben 273
(168 m. 105 w.), davon an Altersschwäche 11 (6 m. 5 w.), an Herzkrankheiten 122
(62 m. 60 w.), an Himkrankheiten 48 (35 m. 13 w.), an Tuberkulose 22 (9 m.
13 w.), im paralytsichen Anfall 25 M. Selbstmord 2 Fr.
Wuhlgarten: Anfangsbestand 1527 (974 m. 553 w.). Zugang 881 (737 m.
144 w.). Abgang 910 (791 m. 119 w.). Bleibt Bestand 1498 (920 m. 678 w.),
davon in der Hauptanstalt 1218 (684 m. 534 w.), in der Idiotenanstalt 104 (70 m.
34 w.), in Privatanstalten 166 (156 m. 10 w.), in Familienpflege 10 m. Vom
Zugang litten an einfacher Seelenstörung 14 m., an paralytischer Seelenstörung 8
(5 m. 3 w.), an Seelenstörung mit Epilepsie und Hysterie 820 (687 m. 133 w.),
an Idiotie und Imbezillität 12 (7 m. 5 w.), an chronischem Alkoholismus 24 (22 ni.
2 w.). Bestraft waren von den Männern 67,5 %, von den Frauen 4,6 %. Erbliche
Belastung, hauptsächlich von trunksüchtigen Eltern, konnte bei den an Epilepsie,
Hysterie und Hystero-Epilepsie Erkrankten nachgewiesen werden bei 362 M.
(54 %), bei 60 Fr. (50 %), bei 13 Knaben (59 %) und bei 6 Mädchen (43 %). Ent¬
lassen geheilt oder gebessert 811 (728 m. 83 w.), ungeheilt 28 (20 m. 8 w.). Ge¬
storben sind 68 (41 m. 27 w.), davon an Himkrankheiten 8 (3 m. 6 w.), an
Lungenentzündung 24 (14 m. 10 w.), an Tuberkulose 7 (6 m. 1 w.), im epilepti¬
schen Anfall 5 (3 m. 2 w.), Selbstmord 1 m.
Haus Schönow (106): Anfangsbestand 104 (66 m. 38 w.). Zugang 848
(617 m. 331 w.), Abgang 850 (524 m. 326 w.). Bleibt Bestand 102 (59 m. 43 w.).
Vom Abgang litten an peripherischen Nerven- und Muskelkrankheiten 17 (16 m.
2 w.), an organischen Erkrankungen des Zentralnervensystems 77 (58 m. 19 w.),
an Neurosen 652 (384 m. 268 w.), an Psychosen 92 (57 m. 35 w.), an inneren und
äußeren Krankheiten 12 (10 m. 2 w.). Entlassen als geheilt oder gebessert 76,9 %
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Gr öfter, Anstaltaweseii und Statistik. 315*
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iß Ko, ä Md,). Bleibt. Bcsteml 15(32 Kn. . 13 Md.). Es bandelt sich :mi <äne Ar
stalfc für geistig ruröf-ktfeblu-in ii*- nf*h'bildungsfähig« Mim U*j jährige ft« Aüfnahme-
altcf v.tii"7— H .Jahren. Unterrichtet wird m 3. Klassen. Hie körperliche .Ent-
wickliing «nd der rrnitierbib begivnztf- geistige Fort sthritf lassem nichts zb .wfiiumften
übrig.
ltreslau An fängst wsi arid 200 f07 m. H6 w.i, Zugang 1.1 Oil (766 m.
337' w..j.• Abgang 1121 (776 in. 345 w-.i. • Bleib« .Bestand 182 (87 n., HS w).
Vom Zugang litten tut "einfach erworbene». ..Fsytlttwen Oft (67 in. 23 w.).' davon
im m<miscb.-4epi:essjveirt faTe#eitt>3fJ! (27 nn 1$ MtÄtnijfe 38 (151 fr<,14 w.\,
ou Hebepltreni« 4T:(14 m. 33 w. j. PaßiMua 7 (2 ni. ö w. j, an konstirutioneUen
PSjvchuKen SB (67 m. 23 wvl. an e^öefil^ehshystftriüt'heiji'. Fnnne-n. 134- (75 tu.',
bft w.). an alkoholischen und »ndemi toxischen Psychosen388 (343 uj. 45
an 'pantlytisd'i-snnüfn tuid «wistigw organischen F. eisresfct ankheit«n 2* >6 (123 m.
83 w.). davon an ifementia pöndytua 82 (62 m. 26 w.). Dii* adkohnlbcfent Formen
der Mäinier»uftiahBien tifehen mit 343 wiederum iiß yVirdorgrund titnl zwar mit
72 Fidlen vles lleJirivmi tremens', v.n f lassen als geheilt 313 (253 rn. 6<> >.i. sFbessrrt
423 (292 iv. 131 w.) f ungeheiltäj(*7 {lfil oi. 1(M» w.j, ilavmi an atidere AitstaSfen
abgegeben 177 (HU nr. '76 y.j. Nii iu geisfeVkixiiiir 8 (7 nr.. 1 w.i. Gestorben 118
hl* ••^g^;.Pnlik^k'- ,:, wubägtt('.lVd (43 u». ,76 V.) Fälle behandelf.
t'n-:vaHit.ifi>-gaben '208 <i2U,Wi M
ÜiHv, (86): AafähgshoAtaiui ohne Beurlaubte••■'3)2'$^ M. *2*»< Fr.). /,ü-
gang;ÄI^> M. 4ti Fr.). Abgang 88 (41» M/U Ft.). BU-Jbr Best am? 525 (251 M.
27! Fr. t. In FairiUitnipfleg«* 65 (24 M. 1‘* Fr.). Vom Zugang litten an einfar-ber
'^clenstdrung 53 (’tK Mf 35 Fr,), ttp {varolktfeilwt 'Äwlgn-stAfiing 9 (7 Af. 2 Fr.01:
(min^illitat. IdiotR’ s (2 11, 6 Fr.i< au Fpii'iwic 1 (4 M ."■) Fr.), an AlkohoUsmus
2 M ; Kic.ht; gewt<)»{iTank^^ waren It Al, . is/ankheitMaitcr y<u der Auluahme Üts
zu 1 .Moiiiif bei !i (4 M. 5 Fr. j von t—V Mrroatr M (3 M. 12 Fi.), 1 - 2 .laht-e 13
(ft M 4 Fr.). 2—77 dahrn 6 ).% ‘M. > Fr, l. •">.H' .Jahre 5 t» M. 2 Fr.i. Hcreditrtt.
sar he* 32 <14 M. !8 Fr.i. Syphilis bei [ß <4 M. 1 Fr.) (4 (nisitive Wus.sermaim),
b*»j:4 Hfiß.-.' 4|kiiMönShhimeh bei 0 (5 M.; 1 FVy), Militärdieoöf htd;,
'v>. ‘I’spl'us Bei 2 Fr . G;v.Hi:na)ret bei :1 (i jjp 2 Fr.) KrünkhcitHiitsache. Alit
'jlem Fti^Jgiesefzrn K<MiHiktg;ciAlen w.\rrn 17 (32 SJ. 5 Fr.j. Entlasscti aKgeheilt M
|i y< * m. s Ft). - •
Co gle bnive^hB
316 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
sind 28 (10 M. 18 Fr.). Todesursachen: Paralysen 6 (3 M. 3 Fr.), Epilepsie 8
(5 M. 3 Fr.), Alkoholismus 1 M. Durchschnittliche tägliche Beschäftigung der
M. 61,08 % gegen 59,39 % im Vorjahre, der Fr. 65,69 % gegen 54,03 %. In Familien¬
pflege befanden sich 8,13 % des durchschnittlichen Krankenbestandes. Salvarsan
in 3 Fällen ohne unangenehme Nebenwirkungen angewandt. Als außergewöhnliche
Erkrankungen zeigten sich im März und April des Berichtsjahres Ruhrverdacht
bei 14 Fr. und 2 Pflegerinnen. Blutuntersuchung positiv in 4 Fällen, keine Ba¬
zillenfunde. Im August erneutes Auftreten an 9 Kr. und 2 Pfl. der gleichen Station.
In 6 Fällen Blutuntersuchung positiv, Bazillen fehlen. Tinctura Uzara ohne augen¬
fällige Wirkung. Ursache voraussichtlich kontagiöse Übertragung.
Bunzlau (88): Anfangsbestand 765 (430 M. 336 Fr.). Zugang 209 (114 M.
95 Fr.). Abgang 218 (131 M. 87 Fr.). Bleibt Bestand 766 (413 M. 343 Fr.).
Entlassen als geheilt 8 (4 M. 4 Fr.), gebessert 67 (38 M. 19 Fr.), ungeheilt 9
(2 M. 7 Fr.), nach Beobachtung entlassen 7 (6 M. 1 Fr.). Gestorben 67 (41 M.
26 Fr.). Mit dem Strafgesetz erheblich in Konflikt geraten waren 12 M. 19 M.
waren Paralytiker, d. s. 16,6 % der Aufgenommenen, 20 M. mit ursächlichem Alko¬
holismus, d. s. 22,8 %. Vereinzelte Dysenteriefälle, ohne weitere endemische Aus¬
breitung traten noch auf. Bevor die bakteriologischen Untersuchungen nicht an
Ort und Stelle ausgeführt werden können, ist bei der großen Zahl der als Keimträger
Verdächtigen eine Absonderung nicht möglich. In das Absonderungshaus zu Frei-
burg ist eine weitere Typhusbazillenträgerin verlegt. Diese und die dort noch be¬
findlichen 6 Patienten haben noch nach wie vor Bazillen im Stuhl. Die Anstalts¬
bauten nähern sich der Vollendung. Gesamtausgaben 487 666 M.
Freiburg i. Schlesien (97): Krankenbestand am 1. April ausschließlich der
Beurlaubten 630 (291 M. 339 Fr.), außerdem in Familienpflege 49 (24 M. 25 F.).
Aufgenommen sind 179 (104 M. 75 Fr.). Vom Zugang litten an Idiotie 6 (5 M.
1 Fr.), an Imbezillität 12 (9 M. 3 Fr.), an Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 26
(20 M. 6 Fr.), an einfacher Seelenstörung 122 (60 M. 62 Fr.), an Dementia para-
lvtica 8 (7 M. 1 Fr.), an Hysterie 1 Fr. Nicht gesiteskrank waren 4 (3 M. 1 Fr.).
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bei einfacher Seelenstörung und Dementia
paralytica bis 3 Monate bei 43 (21 M. 22 Fr.), 3—6 Monate bei 26 (10 M. 16 Fr.),
6—12 Monate bei 21 (14 M. 7 Fr.), 1—2 Jahre bei 11 (6 M. 5 Fr.), über 2 Jahre
bei 29 (15 M. 14 Fr.), mit imbekannter Dauer 1 M. Krankheitsdauer bei Epi¬
lepsie 3—10 Jahre bei 6 M., 10—20 Jahre bei 6 (3 M. 2 Fr.), über 20 Jahre bei 6
(5 M. 1 Fr.). Als Krankheitsursachen sind angegeben: Unfall bei 1 M., Potus bei
8 M., Gravidität usw. bei 5 Fr., Senium bei 10 (5 M. 6 Fr.), Arteriosklerose 1 M.,
Haft bei 4 M. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren 30 (24 M. 6 Fr.).
Auf Grund § 81 Str.-P.-O. zur Beobachtung überwiesen 2 M. 1 Md. Entlassen als
geheilt 16 (7 M. 9 Fr.), gebessert 36 (21 M. 14 Fr.), ungeheilt 11 (9 M. 2 Fr.).
In Familienpflege waren am Schluß des Jahres 49 (24 M. 25 Fr.). Gestorben sind 61
(35 M. 26 Fr.), davon an Gehimlähmung 10 (6 M. 4 Fr.), im epileptischen Anfall
oder Status 5 (1 M. 4 Fr.), durch Lungen- und Danntuberkulose 7 (4 M. 3 Fr.),
an Altersschwäche 2 M. Einzelne Erkrankungen von Scharlach und Typhus, ohne
Verbreitung auf die Anstaltsinsassen, betrafen Pflegepersonal und einige jugendliche
Pfleglinge. Gesamtausgabe 316 186,62 M.
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
317 *
Kreuzburg (115): Anfangsbestand 646 (381 M. 265 Fr.). Zugang 116
(78 M. 38 Fr.). Abgang 116 (82 M. 34 Fr.). Bleibt Bestand 605 (356 M.
249 Fr.), davon in Familienpflege 25 (10 M. 15 Fr.). Vom Zugang litten an ein¬
facher Seelenstörung 79 (46 M. 33 Fr.), paralytischer UM., epileptischer Seelen-
Störung 9 (6 M. 3 Fr.), Alkoholismus 4 M.; nicht geisteskrank 5 M. .Die Krank¬
heitsdauer vor der Aufnahme betrug bis zu 1 Monat bei 13 (6 M. 7 Fr.), bis 3 Monate
10 (6 M. 4 Fr.), bis 6 Monate 10 (8 M. 2 Fr.), bis 1 Jahr 19 (11 M. 8 Fr.), bis
2 Jahre 13 (9 M. 4 Fr.), bis 5 Jahre 16 (12 M. 4 Fr.), länger als 5 Jahre 2 M.,
als 10 Jahre 12 (8 M. 4 Fr.), als 20 Jahre 5 (3 M. 2 Fr.), von Kindheit an bei 9
(7 M. 2 Fr.). Krankheitsursache: Haft bei 3 M., Trunksucht 7 (6 M. 1 Fr.),
Syphilis bei 7 M. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 26 (25 M. 1 Fr.).
4 M. und 1 Fr. waren auf Grund § 81 Str.-Pr.-O. zur Beobachtung aufgenommen,
davon 3 (2 M. 1 Fr.) außer Verfolgung gesetzt. Entlassen wurden geheilt 8 (4 M.
4 Fr.), gebessert 21 (17 M. 4 Fr.), ungeheilt 26 (22 M. 4 Fr.). Gestorben sind 56
(34 M. 22 Fr.), davon an Paralyse 8 (6 M. 2 Fr.), an Lungen- und Darmtuber¬
kulose 10 (5 M. 5 Fr.). Nach Fertigstellung der 3 Pflegehäuser konnten bei 6
dort wohnenden verheirateten Pflegern zurächst 12 Frauen in Familienpflege ge¬
geben werden. Gesamtausgabe 38 931,83 M.
Leubus (118): Anfangsbestand 762 (396 M. 366 Fr.). Zugang 243 (135 M.
108 Fr.). Abgang 171 (91 M. 80 Fr.). Bleibt Bestand 834 (440 M. 394 Fr.).
Hiervon befanden sich in der alten Anstalt 145 (71 M. 74 Fr.), in der neuen Anstalt
680 (360 M. 320 Fr.), in Familienpflege 9 M. Vom Zugang litten an einfacher
Seelenstörung 185 (91 M. 94 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 21 (16 M.
5 Fr.), Imbezillität, Idiotie 10 (7 M. 3 Fr.), Epilepsie mit Seelenstörung 21 (16 M.
6 Fr.), Delirium alc. 1 M., Tabes 1 M., Gehimgeschwulst 1 M.; nicht geisteskrank
3 M. 8,6 % der Aufgenommenen litten an Paralyse, gegen 9,7 % im Vorjahre
und 15,2 % im vorletzten Jahre. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren 46
(38 M. 8 Fr.) = 19 % der Aufgenommenen. Krankheitsdauer vor der^Aufnahme
bis 1 Monat bei 19 (10 M. 9 Fr.), 1—3 Monate 24 (14 M. 10 Fr.), 3—6 Monate
25 (14 M. 11 Fr.), 6—12 Monate 28 (12 M. 16 Fr.), 1—5 Jahre 63 (31 M. 32 Fr.),
über 6 Jahre 60 (38 M. 22 Fr.), von Kindheit an 12 (8 M. 4 Fr.), mit unbekannter
Dauer 9 (5 M. 4 Fr.). Heredität bekannt bei 84 (39 M. 45 Fr.). Entlassen geheilt
2 M., gebessert 70 (30 M. 40 Fr.), ungeheilt 37 (24 M. 13 Fr.). Gestorben sind 59
(32 M. 27 Fr.), davon an Tuberkulose 11 (4 M. 7 Fr.), Karzinom 5 (1 M. 4 Fr.),
außerdem als tuberkulös in Behandlung 10 (6 M. 4 Fr.), Dysenterie mit 16 Er¬
krankungen (Frauenseite) und 2 Todesfällen. In der Pensionsanstalt war ein An¬
fangsbestand von 62 (30 H. 32 D.). Zugang 17 (6 H. 11 D.). Abgang 13 (6 H.
7 D.). Schlußbestand 66 (30 H. 36 D.). Von den Aufgenommenen litten an ein¬
facher Seelenstörung 14 (3 H. 11 D.), an Paralyse 3 H. Gebessert entlassen 4 D„
ungeheilt in die Anstalt übernommen 1 H. 1 D. Gestorben 7 (5 H. 2 D.), davon
2 D. an Altersschwäche bzw. Entkräftung, 3 H. infolge Paralyse. — Gesamtausgabe
509482,68 M.
Tost (161): Anfangsbestand 600 (295 M. 305 Fr.). Zugang 138 (89 M.
49 Fr.). Abgang 99 (66 M. 33 Fr.). Bleibt Bestand 639 (318 M. 321 Fr.), hiervon
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318 *
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
beurlaubt 21 (11 M. 10 Fr.) und in Familienpflege 4 (1 M. 3 Fr.). Vom Zugang
litten an einfacher Seelenstörung 97 (57 M. 40 Fr.), an paralytischer Seelen¬
störung 13 (11 M. 2 Fr.), an Epilepsie 10 (7 M. 3 Fr.), Hysterie 2 (1 M. 1 Fr.),
an Imbezillität, Idiotie 11 (8 M. 3 Fr.), Neurasthenie 1 M., nicht geisteskrank
waren 4 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 1 Monat bei 20 (10 M.
10 Fr.), 1—3 Monate 19 (12 M. 7 Fr.), 3—6 Monate 9 (6 M. 3 Fr.), 6—12 Monate
bei 12 (7 M. 5 Fr.), 1—2 Jahre bei 14 (10 M. 4 Fr.), 2—6 Jahre bei 13 (9 M.
4 Fr.), 5—10 Jahre bei 11 (7 M. 4 Fr.), über 10 Jahre bei 23 (16 M. 7 Fr.), von
Jugend auf bei 11 (8 M. 3 Fr,). Heredität bei 60 (43 M. 17 Fr.), darunter 16 M.
und 2 Fr. durch Trunksucht erblich belastet. Andere Krankheitsursachen: Trunk¬
sucht bei 16(14 M. 1 Fr.), Syphilis bei 9 (7 M. 2 Fr.), Strafhaft bei 8 M., Arterio¬
sklerose bei 3 (1 M. 2 Fr.), Kopfverletzung bei 6 M., Greisenalter 5 Fr. Mit dem
Strafgesetz in Konflikt geraten 31 (29 M. 2 Fr.). Entlassen geheilt 19 (10 M.
9 Fr,), gebessert 22 (16 M. 7 Fr.), ungeheilt 9 (7 M. 2 Fr.), in andere Anstalten
versetzt 18 (14 M. 4 Fr.). Gestorben 19 (10 M. 9 Fr.), davon an Paralyse 6
(4 M. 1 Fr.), an Tuberkulose 1 Fr. 2 Beamtenwohnhäuser sind fertiggestellt.
Gesamtausgabe 320 600 M.
Lüben (122): Anfangsbestand 1070 (608 M. 662 Fr.). Zugang 279 (143 M.
136 Fr.). Abgang 255 (139 M. 116 Fr.). Bleibt Bestand 1094 (612 M. 682 Fr.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 193 (80 M. 113 Fr.), an paralyti¬
scher 33 (26 M. 8 Fr.), an Epilepsie mit Seelenstörung 21 (15 M. 6 Fr.), Im¬
bezillität, Idiotie 13 (8 M. 5 Fr.), Alkoholismus 6 M. Krankheitsdauer vor der
Aufnahme bis 1 Monat bei 23 (6 M. 17 Fr.), bis 3 Monate bei 31 (15 M. 16 Fr.),
bis 6 Monate bei 25 (7 M. 18 Fr.), bis 1 Jahr bei 34 (16 M. 18 Fr.), bis 5 Jahre 68
(40 M. 28 Fr.), bis 10 Jahre 26 (14 M. 12 Fr.), über 10 Jahre 27 (15 M. 12 Fr.),
von Kindheit an bei 19 (14 M. 5 Fr.). Heredität bei 105 (66 M. 49 Fr.). Krank¬
heitsursache: Syphilis bei 21 (20 M. 1 Fr.), Trunksucht 31 (29 M. 2 Fr.), Kopf¬
verletzungen bei 7 (5 M. 2 Fr.), sonstige Unfälle bei 2 M., Haft bei 4 (2 M. 2 Fr.).
Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 46 (37 M. 9 Fr.). Beobachtet gemäfi
§ 81 Str.-P.-O. 8 (6 M. 2 Fr.), auf Antrag des Generalkommandos 1 M. Entlassen
sind 141 (81 M. 60 Fr.), davon geheilt 42 (20 M. 22 Fr.), gebessert 63 (42 M.
21 Fr.), ungeheilt 27 (10 M. 17 Fr.). Gestorben 111 (66 M. 66 Fr.), davon an
Tuberkulose 6 (2 M. 4 Fr.), an Gehimlähmung 32 (24 M. 8 Fr.). 2 Typusfälle
an Pfleglingen, als erste seit Eröffnung der Anstalt (Nov. 1906) zu verzeichnen,
isoliert, beide genesen. Ansteckung wahrscheinlich durch Einschleppung bei Besuch.
Gesamtausgabe 487 671,76 M.
Neustadt i. Holstein (129): Bestand bei Beginn des Berichtsjahres 975
(515 M. 460 Fr.). Zugang 220 (162 M. 68 Fr.). Abgang 238 (126 M. 113 F.).
Bleibt Bestand 957 (662 M. 406 Fr.), davon in Familienpflege 104 (42 M. 62 Fr.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 103 (66 M. 37 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 21 (18 M. 3 Fr.), an Idiotie, Imbezillität, Kretinismus 62 (44 M.
8 Fr.), Epilepsie 17 (13 M. 4 Fr.), Hysterie 10 (4 M. 6 Fr.), Alkoholismus 11 M.
Zur Beobachtung 5 M. Entlassen geheilt 6 (6 M. 1 Fr.), gebessert 93 (56 M.
37 Fr.), ungeheilt in die Familie 9 M., in andere Anstalten 37 (8 M. 29 Fr.). Ge-
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Grütter. Anstaltsweeen und Statistik.
319*
ä
-v-rbea $p (.4» M. 4*5 Fr.). davon' au Ltmgi*nsdtwind$ufivi 8 (H M U Fi.). ob
A ifhirttärtdag ä M-. an Gehime.Wßichung ii (1 i M. .8 ft ), Danakatatrh 4 (3 M
4 Fr.>. Stibsrrnrifd sf Ai •ftm .de« VVjtKtijrtioftrtrt waren erkrankt an einfacher
ft't,denstürac,g £>0(22M. 28 ft.); m ,M. <i Fr. i,
1»n '
Wl
»>eaR«a«gfei iieidiifch auest-glicheri,
einfacher fteleiiKturunc -350 (14« M. fr.).
■ j .n par;5|\ ti.st'lK-v ftdcn«osaiig;i9 (28 M Ji Seelensrörung mit 'Epilepsie t.i
\* r .t nij /«W u 't.t k&J.k 4
2b Fr. >; gf-Hcsücn KJtt (t»4 51. 56 ft. i, angeheilt IH (5ti Ai. 3b Fr.). Gestörter,
iind l($ i&j M. £4 ft,i; d|»v<m an ftmg««t}ift.rkuli)s<* 13 (ß Al. -7 EY/)„ daitm
behandelt wurden 3i>: (14 AI. 22 Pi-V gfg^n Iß (Tod) bzw, 20 / fthitmlbtftg) im
Vujrjahre;an $tarben (14 M' r - 1 :ftvk -445« :-ft ßiR8,i& :
bl der Frrtyinzirfl-Riiitttfiiiinstitjif zu SF(il«sAvig (14#j beiandpn wb bet
(»•ginn do^ Berichtsjahres hks (!<■> «o liö wj. Zugang 83 (81 m 22 w, j. Abg.iog
78 (47 w, ä »'|. Hiribt: 'Bestand 368 (i'.t:t in. 146 w.j. Vom Zugang litten an
i ii-ttu* 2(> (15 ou Imbfziiü*:« 28 (16 m. 12 w\). 5 Pfleglinge ll in. 4 v,|
tot hä® tUs Atilnabhtfsütftfvori-6: Jahwn nofftitJt'ljt emfiebt ßnüaasei» worden
gebesvert $• -M.. dicht ''gebessert. 3’,) (21 •». 18 wo. Gi^TuriK-jt (18 in. 8 w.i.
davon V) a» Tuberkulose. 16« gesteigerte Zahl d er T'Hiesialle ja TuVrkidwe macht
die Einrichtung yon Abteilungen für Tubevkulttsr wfinsebouvwor). Schulbesuch 87
[W m. 3? vr~) gegenOS (6C» m. :3b w;| des Vtirjuhres, ;;
f»fc Heil- und Pflegeansfcalteh der Provinz Hannover (10.5) hatten ini lic-
rirhtsjHhre (riuen A'ftri*ttegnjngsberttxnd von. 7ÜU3 Kranken: urid ein Mehr von *>8
Kranken gegen <Lm Vorjahr. Die Unterhaltungskosten waten in(liidesheiul »Xi tt „
germger, in Qbttjtigvn <1,1? % höhcK in Osfliabrüek tX|i7 genngej. ju Lüneloirg
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Zugang fast iwn J(j0 gegen das zmiv^dFäuöiih':/
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Abteijtiilgeft; .>.•••' t-vW RmojC «« i-i(da>'li«'.f v,.,.ie«3st.iin»«g ZU ■ ' ' ’d Vt '.
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0.1
320*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
(4 M. 5 Fr.). Heredität bei 75 (45 M. 30 Fr.), Alkoholmißbrauch bei 36 M.,
Lues 25 (20 M. 5 Fr.), Krankheitsdauer vor der Aufnahme 1—6 Wochen bei 102
(65 M. 37 Fr.), 3 Monate 39 (25 M. 14 Fr.), 3—6 Monate 26 (18 M. 8 Fr.),
1—2 Jahre 19 (13 M. 6 Fr.), 2—5 Jahre 25 (14 M. 11 Fr.), über 5 Jahre 34
(12 M. 22 Fr.); angeboren krank 17 (9 M. 8 Fr.). Entlassen geheilt 31 (29 M.
2 Fr.), gebessert 86 (60 M. 36 Fr.), ungeheilt 120 (59 M. 61 Fr.). In Familien-
pflege durchschnittlich 67 Kr. pro Tag, gegen 65 im Vorjahre. Gestorben sind 33
(19 M. 14 Fr.), davon infolge Paralyse 8, an Tuberkulose 3; Selbstmord 1.
I Typhusbazillenträger, von dem über eine Erkrankung anamnestisch nichts
bekannt war, wurde bis zu seiner baldigst erfolgten Entlassung >n der Infektions¬
abteilung gehalten. Kosten der Verpflegung (ohne Klassifizierung) pro Kopf
80,31 Pf. gegen 72,876 Pf. im Vorjahre.
Im Provinzial-Verwahrungshaus war ein Anfangsbestand von 49 Kr.
Zugang 7, davon zur Beobachtung 1. Abgang 6. Bleibt Bestand 50. Von 56 Be¬
handelten waren mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 51; davon nach Freispruch
gemäß § 51 Str.-G.-B. der Anstalt überwiesen 11, verurteilt und in Strafhaft er¬
krankt 23, früher verurteilt, zuletzt wegen § 51 freigesprochen 14. Ausgesprochene
Psychose bei 37, Grenzzustände (geistige Minderwertigkeit) bei 4, Idiotie, Im¬
bezillität bei 15. Entlassen zur Aburteilung 2, zum Strafvollzug 1, in offene Heil-
und Pflegeanstalt überführt 3. Von durchschnittlich 49 Kr. arbeiteten durch¬
schnittlich 38 Kr. an 12 014 Tagen, davon im Einzelzimmer beschäftigt durch¬
schnittlich 10 Kr. mit 2920 Tagen. Höchste Zahl der insgesamt Arbeitenden pro Tag
41 Kr., geringste 35. Die Zahl der Entweichungsversuche (6 mal bei 3 Kr.) war
größer als im Vorjahre, sie konnten sämtlich verhindert werden. Die Zahl der
Aufnahmen ist. auch gegenüber dem Vorjahre (7 :18), erfreulicherweise weit¬
gehend zurückgegangen.
Hildesheim (109): Anfangsbestand 667 (370 M. 297 Fr.). Zugang 278
(144 M. 134 Fr.). Abgang 270 (118 M. 152 Fr.). Bleibt Bestand 675 (396 M.
279 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 192 (85 M. 107 Fr.),
Paralyse 40 (30 M. 10 Fr.), Hysterie oder Epilepsie mit Seelenstörung 20 (9 M.
II Fr.), Imbezillität, Idiotie II (7 M. 4 Fr.), Morphinismus 1 M.; zur Beob¬
achtung 14 (12 M. 2 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme unter 3 Monaten
bei 58 (24 M. 34 Fr.), 3—6 Monate 19 (7 M. 12 Fr.), 6—12 Monate 32 (16 M.
16 Fr.), 1—2 Jahre 48 (34 M. 14 Fr.), über 2 Jahre 98 (46 M. 62 Fr.), ange¬
boren 14 (10 M. 4 Fr.); nicht geisteskrank 9 (7 M. 2 Fr.). Heredität bei 51
(22 M. 29 Fr.), Alkoholmißbrauch 13 (9 M. 4 Fr.). Entlassen geheilt 7 (3 M.
4 Fr.), gebessert 47 (30 M. 17 Fr.), ungeheilt 128 (27 M. 101 Fr.). Gestorben
sind 79 (51 M. 28 Fr.), davon infolge Paralyse 23, an Karzinom 3, an Tuberkulose
6 (4 M. 2 Fr.) = 7,88 % aller Todesfälle. Verpflegungskosten pro Kopf und Tag
gegen das Vorjahr erhöht um 14,481 Pf. bei Kl. 1, um 10,455 Pf. bei Kl. II, um
4,521 Pf. bei Kl. III. Gesamtausgabe 881 708,20 M.
Osnabrück (133): Anfangsbestand 409 (193 M. 216 Fr.). Zugang 189
(113 M. 76 Fr.). Abgang 209 (127 M. 82 Fr.). Bleibt Bestand 389 (179 M.
210 Fr.). Vom Zugang litten .-in einfacher Seelcnstörung 143 (78 MT. 65 Fr.), an
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Gr Jitter, AnstÄiisweseii i'md Statistik.
i ra—fisciier 10 (9 M. 1 Fr,), an •»piiepttseher ö (4 J!,^ Fr.), an hvstmsrJwr S.
>!. 2 Fr/i, Idiotie 17 (il M. t! Fr.). Alkohtilismus 4kl. Nicht ginsts*fcrauk 6kl.
itoijkheitsiiaunr vor dar Aufnahme weniger, als .3 Monate 68 (46 M. ä2 Ft.),
•—*» Monat!’ U (ö M. ii Fr.), 0-12 Monate 3t; ((Itl 6 Fr.), 1—2 Uabro 10
'S M. 6 Fr.), länger ;Js 2 Jahre öl (22 M, 29 Fr.), angeboren 1.5 (11 M, 4 Fr.),
i-i Kr:xnkheit,sarsaelnr ist angegeben. AlkohoJismus hei 12 (11 kl 1 Fr, ), Lues
<n -1 (3 M. 1 Fr.), Senium 6 (4 M, 2 Fr.). Trauma bei i äi, Halt 2 M. Wuchert¬
et*- <4 Fr,, Uereditat bei, 63 (ÖS M. 25 FV2I. 'Frbliche i^lttlltiilig yiB^Oaamt 79
19 M. 39 Ff.). ; :,En'th««wi- «ind 170 (107 M, täMt. -SÄl gelmitr «> (2 A—
Fr.), gebessert 74 (46 M. 7S Ft.), nicht gebeert (3t (§£ M 17 Fr.), nicht
«üsteskrank 10 )7 M. 12 Fr.). (Irrst».tbc« 3.9 (20 .31 19 Fr.)• davon <mGehirn-
cteoficinmg 5 Ma liirnhauC»rrit*iihdutig 3 (1 >1 .t Ff.» ’
urzid 1 M. I« Konflikt mit dem Strafgesetz gersten 16. M- ? Fr.
Lüneburg (123); Afttaiursteesfcand 951 (Sflt? M, 445 Fr.!, Zugang 34?«
ftß M. ir.2 Fr.). Abgang 329 M. HK Fr.i. .BWbl ßcm»4 ’tftf (508>!.
Fr.) Vom Zugang littet, etr eir.iaeber Seehmstonrng 22?*. \H M. 1.20 Fr.).,
n piurtijytiiteJier See)$Oiiti.»ritng^ iU ‘t^ AL FF; ; K'yEpifoj^ mir SeeloasüHung 12
9 *L.'». Fr >, btibevüfiiiit Idüitiv &t» (22 M. 14 Fr.). MknhulUmus und TteiiniW»
<0 (14 M. .1 Ff ;. U'v.stene F d M. 7 Fr,). .Zur Beobachtung irefgemms- •
;«’tt 17 ?.1.5 V). 2 Fi.]. Kraakbeitsdaiur vor der Aufnahme unter 3 Akuujteo bei 12(1
P M. 93 Pjv }. 3-6 Monate t*i 25 (11 M. 16 Fr.L G—12 Monate hei 15 (9 |p|
f Fr.), 1—2 Jahre bot 4f t2:< VI. i3 Fr.), über 2 Jahre fwi 77 (35 M. 42. Fr,),
,«geboten 32'(IS M. 14 Fr.), nnbekannt her 26 (IS AL S Fr i. Ate Krankheii»-
he ajisuftehrrieu Heredität bei 95 <v2 M. 57 Fi.i, Atkohulmüibram'i* bei So
:2b Al. 4 Fr *. Syi.iluü.-: bei 23 (20 M 3 Fr K Tianma bei 11 0 M. 2 Fu, Sfhvan-
irüfsehafL Wochenbefly Klimaktoriuiii bei 7 Fr.„ M<9pJtnusmiis I Ai, Entlns-sen als -
öTreiif 14 (5) M « Fi t, gebessert H(41 M. 43 Ft.t. »»geheilt JOO (KV M. 37 Kr. i,
l&yfsa in andere Anstalten übertüiiit 4(r (33 Al; 19 Fr.), niebt. pM&kmik .Jan
jgt(Sä—Ji $ i2j:<-,,Grs t or ben sind 113 (53 M. -Öä?jp£i£ t&tfbto- 720
14 Al.. G —r^^hbürtaalo^ 32 (G At. l’F f>.)V öe«Jtrit*uiagatK!^ 1 498,66 A3,
Langenhagen (317j; A. Anstaif für (reist*:,kranke, Airbtugshestanti 78G
-4.11 M. 399 w ). Zugang75(47 rn. 28 w.l. Abgang oft (29 nt, 3 ). w.). Bleibt
'.h'staivit bQ2 )43G m. S»ü> »:.t. Entlassen, als geberrsdi IS (19 m. & kj. ni> ht
• rp,bt» 3 Mt 22 (lg ni. 10 w.).. Gesrutbeu 1Ö (fe rn. 13 —jlävoia —aii TuWirfeilnse'.
im Lazarett biTiandelt 4.73 (214 m. U>9 \v.), PnTehsrhnitt—leleguii^ 1*4 Kt. mit
Itochschnittht'b 19,15; Tagen. Von l5S Epileptikeni' int Laufe lies Ja)uTj uhne An-
{SB»; 4-4 (26 m.. 35 w.V. Schnlbf'surh bei Beginn -:!ev Srhaljahres 3,54 (9‘> m.
h<' .Beginn des W'lnl rrhelbjahrs l(i;i (!>9 m. 62 v.). •.SrbuUmrJa.sseu.
17 (1$ m. —w:). J$r Föi&Iir Hfrqmelstlrtir^ Anfangs-;
f :•■ !•: •}. fii-i'. .• ;ö: :•••;
,l3est-A*(V4—'... f“7 für (.{«iste-kraoin*; Awipetutiütuft» wv>4‘fno
2y\Wct.r»5 ••AyiACit*' i • t- v ( v.. 7,8'.^;'',
Wl VE R 5 [TY
322*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
3 M., an Hysterie 9 (1 M.) 8 Fr.). Nicht geisteskrank waren 12 (11 M. 1 Fr.).
Heredität war bei 102 (46 M. 57 Fr.), Lues bei 43 (31 M. 12 Fr.), Alkohol bei
60 (62 M. 8 Fr.), Apoplexie bei 7 (6 M. 2 Fr.), Alter bei 31 (11 M. 20 Fr.),
Haft bei*17 (10 M. 7 Fr.) Krankheitsursache. Gestorben sind 21 (11 M. 10 Fr.),
einer Anstalt überwiesen 148 (70 M. 78 Fr.).
Das Stift Isenwald bei Gifhorn (111): hatte im Berichtsjahre 1911/12
einen Zugang von 76 P. Abgang 77 P. Durchschnittsaufenthalt. der Pfleglinge
172 Tage. Beachtenswert ist die hohe Zahl der seitens der Behörden — vorzüglich
der Postbehörden — mit Unterstützung zum Besuch des Stifts beurlaubten Be-
• amten (12) und der von den Landesversicherungsanstalten überwiesenen Pfleg¬
linge (24).
Im Erziehungshaus „Zum guten Hirten“ zu Werningerode-Hasserode
(167) sind im Berichtsjahre verpflegt 33 Mädchen, davon waren 12 ausschließlich
in Haus, Stall und Garten beschäftigt, 9 besuchten Schulunterricht, 12 konnten
weder beschäftigt noch mit Erfolg unterrichtet werden.
Gehlsheim (100): Anfangsbestand 327 (178 M. 149 Fr.). Zugang 210
<110 M. 100 Fr.). Abgang 188 (97 M. 91 Fr.). Bleibt Bestand 349 (191 M.
158 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 153 (74 M. 79 Fr.),
paralytischer Seelenstörung 8 (6 M. 2 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 18 (13 M.
5 Fr.), Idiotie und Kretinismus 15 (8 M. 7 Fr.), Delirium potatorum 3 M., nicht
geisteskrank 13 (6 M. 7 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme: bis 1 Monat 36
(17 M. 19 Fr.), 2-3 Monate 21 (9 M. 12 Fr.), 4—12 Monate 17 (5 M. 12 Fr.),
1—2 Jahre 98 (53 M. 45 Fr.), unbestimmte Dauer 22 (17 M. 5 Fr.). Heredität
bei 75 (31 M. 44 Fr.). Entlassen als genesen 17 (12 M. 5 Fr.), gebessert 76
(42 M. 34 Fr.), ungeheilt 49 (23 M. 26 Fr.). Die Genesungsziffer beträgt 8,6 %
der Aufnahmen. Gestorben sind 34 (15 M. 19 Fr.), davon an Tuberkulose 5
(1 M. 4 Fr.). Gesamtausgabe 272 270,18 M.
Sachsenberg (145): Anfangsbestand 581 (292 M. 289 Fr.). Zugang 136
(74 M. 62 Fr.). Abgang 133 (74 M. 59 Fr.). Bleibt Bestand 584 (292 M.
292 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 113 (66 M. 67 Fr.),
paralytischer Seelenstörung 9 (6 M. 3 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie 7 (6 M.
1 Fr.), Idiotie und Kretinismus 4 (3 M. 1 Fr.), Delirium potatorum 0. Nicht
geisteskrank waren 3 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 1 Monat 33
(18 M. 15 Fr.), 2—3 Monate 9 (6 M. 3 Fr.), 4—12 Monate 10 (6 M. 4 Fr.),
1—2 Jahre 11 (4 M. 7 Fr.), mehr als 2 Jahre 60 (31 M. 29 Fr.). Heredität bei
51 (22 M. 29 Fr.). Entlassen genesen 24 (12 M. 12 Fr.), gebessert 37 (19 M.
18 Fr.), ungeheilt 25 (22 M. 3 Fr.). Gestorben 46 (20 M. 26 Fr.), davon an
Tuberkulose 7 (5 M. 2 Fr.), an Karzinom 3 Fr. Gesamtausgabe 436 117,37 M.
Lewenberg (119): Anfangsbestand 243 (133 m. 110 w.). Zugang 32 (19 m.
13 w.). Abgang 20 (10 m. 10 w.). Bleibt Bestand 265 (142 m. 113 w.) und 2 ex¬
terne Knaben. Vom Zugang litten an Epilepsie 5 (3 m. 2 w.), Hydrocephalus 2 m.,
Mikrocephalus 6 (3 m. 2 w.), Porenzephalie 2 (1 m. 1 w.), an motorischer Aphasie
2 m., Mongolentypus bei 2 m., Nasonomie bei 1 w., Heredität bei 33 (20 m. 13 w.),
ferner anamnestisch als Krankheitsursachen Erkrankung der Mutter während der
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
323
*
Gravidität bei 6 (3 m. 3 w.), schwere Geburt bei 5 (4 m. 1 w.), Erkrankungen
des Gehirns, der Hirnhäute und des Rückenmarks im späteren Lebensalter bei 6
(3 m. 2 w.), Schädelverletzung bei 1 m. Entlassen sind gebessert 9 (6 m. 3 w.),
nicht gebessert 6 (1 m. 5 w.). Es starben 5 (3 m. 2 w.), davon 2 infolge Tuber¬
kulose. Bei einem 20 jährigen männlichen Pflegling trat Thymustod beim Faradi-
sieren ein. Im Durchschnitt beträgt der Abgang 7,22 (9,26) % der Verpflegten.
Unterrichtet wurden 99 = 33,12 % der Verpflegten.
Strelitz (Alt-) (159): Der Bericht behandelt die Jahre 1910/1911. An¬
fangsbestand 1910: 190 (91 M. 99 Fr.). Zugang 59 (28 M. 31 Fr.). Abgang 53
(28 M. 25 Fr.). Bleibt Bestand für 1911: 196 (91 M. 105 Fr.). Zugang 1911: 73
(33 M. 40 Fr.). Abgang 72 (30 M. 42 Fr.). Bleibt Schlußbestand 1911: 197
(94 M. 103 Fr.). Vom Gesamtzugang (132) litten an einfacher Seelenstörung 77
(23 M. 54 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 7 (6 M. 1 Fr.), an Epilepsie mit
und ohne Seelenstörung 13 (9 M. 4 Fr.), an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 11
(7 M. 4 Fr.); nicht geisteskrank 2 (1 M. 1 Fr.). Krankheitsdauer bis zu 1 Monat
bei 32 (10 M. 22 Fr.), 2—3 Monate 11 (4 M. 7 Fr.), 4—6 Monate 7 (5 M. 2 Fr.),
7—12 Monate 8 (3 M. 5 Fr.), im 2. Jahre 4 M., über 2 Jahre 54 (26 M. 28 Fr.).
Erblichkeit vorhanden bei 72 (30 M. 42 Fr.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt
geraten 16 (11 M. 5 Fr.). Entlassen genesen 26 (26 M. 14 Fr.), gebessert 23
(13 M. 10 Fr.), ungeheilt 36 (21 M. 15 Fr.). Gestorben sind in beiden Berichts¬
jahren zusammen 40 (12 M. 28 Fr.), 20% davon an Tuberkulose. Gesamt¬
ausgabe 1910: 146 182,67 M., 1911: 157 247,52 M.
Strecknitz (158): Bestand 295 (125 M. 143 Fr.). Zugang 109 (61 M.
48 Fr.). Entlassen als geheilt 17 (8 M. 9 Fr.), gebessert 14 (5 M. 9 Fr.), unge¬
heilt 26 (13 M. 13 Fr.). Gestorben 30 (16 M. 14 Fr.). Bleibt Bestand 314
(170 M. 144 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 76 (40 M.
36 Fr.), an Paralyse 10 M., an Epilepsie 9 (4 M. 5 Fr.), Imbezillität 10 (5 M.
6 Fr.), Alkoholismus 2 (1 M. 1 Fr.). Erblich belastet vom Bestand 49,49 %,
vom Zugang 28,86 %. Beschäftigung der M. im Monat imd Tag durchschnittlich
41 M. 4 x /i Stunden, der Fr. 27 durchschnittlich 3V4 Stunden. Strecknitz wurde
am 24. Oktober als Heilanstalt eröffnet, die bisherige Staats-Irrenanstalt geschlossen.
Gesamtausgabe: 304122,76 M.
Alsterdorfer Anstalten (75): Anfangsbestand 905 (624 m. 381 w.).
Zugang 133 (80 m. 53 w.). Abgang 116 (77 m. 39 w.). Bleibt Bestand 922
(527 m. 395 w.). Vom Zugang litten an Imbezillität, Idiotie 108 (65 m. 43 w.),
Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 23 (13 m. 10 w.). Vom Gesamtbestand
waren an Tuberkulose erkrankt 29, infolge einer Diphtheritisepidemie 103 (mit
nur 3 Todesfällen). Gestorben sind 46, in eine Irrenanstalt überführt 15. Zahl der
Verpflegungstage 332 294. Der Etat balanziert mit 500 000 M.
Friedrichsberg (104): Anfangsbestand 1445 (785 m. 660 w.). Zugang
1096 (599 m. 497 w.). Abgang 1231 (676 m. 555 w.). Bleibt Bestand 1310
(708 m. 602 w.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 583 (232 m.
361 w.), paralytischer Seelenstörung 191 (142 m. 49 w.), Imbezillität, Idiotie 83
(67 ro. 26 w.), Epilepsie mit und ohne Geistesstörung 53 (33 m. 20 w.), Hysterie
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V*
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324*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
21 (5 in. 16 w.), Alkoholismus 83 (73 m. 10 w.), Morphinismus u. a. 7 M., nicht
geisteskrank 20 (19 m. 1 w.). Heredität nachgewiesen bei 125 (12 m. 113 w.).
Alkoholmißbrauch bei 49 (41 m. 8 w.). Zur Beobachtung auf Grund §81 Str.-P.-O.
aufgenommen 34 (31 m. 3 w.). Entlassen geheilt 56 (22 m. 34 w.), gebessert 353
(176 m. 178 w.), ungebessert 621 (357 m. 264 w.). Gestorben sind 201 (122 m.
79 w.), davon infolge Paralyse 56 (48 m. 8 w.). Selbstmord 1. Abgegebene Gut*
achten: 163. Der Umbau der Anstalt und ihre Reorganisation ist der Durchführung
näher gebracht. 6 große Pavillons sind im Bau. Die wissenschaftlichen Abende
(Demonstrationen und Vorträge) zeigen regen Besuch von Ärzten aus Hamburg
und Umgebung.
Langenhorn (104): Anfangsbestand 1421. Zugang 480. Abgang 248.
Bleibt Bestand 1653. Entlassen sind 170, gestorben 78. Aus den Gefängnissen von
Fuhlsbüttel zugeführt 19 geisteskranke M., zur Beobachtung laut Gerichtsbeschluß 12
(11 M. 1 Fr.). Von den Erweiterungsbauten der dritten Vergrößerung sind u. a.
ein zweites gesichertes Haus, ein Beobachtungshaus für Männer, ein Pflegehaus
zur Inbetriebnahme für Mitte 1913 fertiggestellt, 4 Pavillons, 2 Lazarette und
2 Überwachungshäuser in Angriff genommen.
Ellen (95): Anfangsbestand 600 (330 M. 270 Fr.). Zugang 450 (260 M.
190 Fr.). Abgang 442 (268 M. 174 Fr.). Bleibt Bestand 608 (322 M. 286 Fr.).
Vom Zugang litten an Dementia praecox 124 (75 M. 49 Fr.), an Paranoia 3 M.,
an manisch-depressivem Irresein 72 (11 M. 61 Fr.), an Imbezillität 27 (16 M.
11 Fr.), apoplektischem Irresein 10 (5 M. 5 Fr.), an Dementia senilis 28 (19 M.
9 Fr.), an Lues cerebri 4 (1 M. 3 Fr.), an Paralyse und Tabesparalyse 30 (24 M.
6 Fr.), an konstitutioneller Psychopathie 21 (17 M. 4 Fr.), Hysterie 37 (14 M.
23 Fr.), an Epilepsie 22 (16 M. 6 Fr.) und an chronischem Alkoholismus 32 (30 M.
2 Fr.). Entlassen wurden 380 (233 M. 147 Fr.), davon geheilt 47 (= 10,63 %),
gebessert 217 (= 49,66 %), ungeheilt 98 (= 22,17 %). Gestorben sind 62
(= 14,03 %). In Familienpflege am Schluß des Berichtsjahres 147 (74 M. 73 Fr.).
Aus der Familienpflege in die Anstalt zurückverlegt wurden 58 (32 M. 26 Fr.).
Beschäftigt 53 % der Männer, 41,5 % der Frauen. Überfüllung auf der Männerseite
noch nicht behoben.
Wehnen (165): Anfangsbestand 310 (164 m. 146 w.). Zugang 131 (56 m.
76 w.). Abgang 124 (49 m. 76 w.). Bleibt Bestand 317 (171 m. 146 w.).
Krankheitsformen der Auf genommenen: Paralyse 9 m., Geistesstörung bei Hirn¬
erkrankung 3 m., epileptisches Irresein 6 (4 m. 1 w.), Alkoholismus 5 (3 m. 2 w.),
Dementia praecox 41 (16 m. 25 w.), manisch-depressives Irresein 33 (10 m. 23 w.),
seniles Irresein 13 (2 m. 11 w.), angeborener Schwachsinn 2 w., Hysterie 6 (1 m.
5 w.), andere Formen des Irreseins 6 (2 m. 3 w.), psychopathische Konstitution
(6 m. 3 w.). Entlassen geheilt 27 (8 m. 19 w.), gebessert 43 (16 m. 27 w.), un¬
geheilt 18 (5 m. 13 w.). Zur Beobachtung aufgenommen im Sinne § 81 St.-P.-0. 5
(4 m. 1 w.). An Tuberkulose erkrankt 11 P. Gestorben sind 30 (16 m. 14 w.),
davon an Lungenschwindsucht 5. — Gesamtausgabe: 358 468,45 M.
In den Provinzialanstalten Westfalens (168) war am 1. April 1911 ein
Anfangsbestand von 4571 Kr. Zugang 1317. Abgang 1130. Bleibt Bestand 4758.
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
325*
Marsberg: Anfangsbestand 669. Zugang 145 (77 M. 68 Fr.). Abgang* 187
(109 M. 78 Fr.). Bleibt Bestand 565. Vom Zugang litten an einfacher Seelen¬
störung 118 (59 M. 59 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 4 M., Epilepsie mit
Seelenstörung 6 M., Imbezillität, Idiotie 7 (4 M. 3 Fr.), Alkoholismus 2 M.; zur
Beobachtung aufgenommen 5 (2 M. 3 Fr.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme
bis 1 Monat bei 28 (15 M. 13 Fr.), 2—3 Monate bei 12 (6 M. 6 Fr.), bis 6 Monate
bei 10 (5 M. 6 Fr.), 6—12 Monate bei 11 (8 M. 3 Fr.), bis zu 2 Jahren bei 16
(7 M. 9 Fr.), 3—5 Jahre bei 7 (3 M. 4 Fr.), über 6 Jahre bei 22 (14 M. 8 Fr.),
unbekannt 31 (17 M. 14 Fr.). Als Krankheitsursache angegeben Trunksucht bei
6 M., Trauma bei 2 M., Haft bei 1 M., Wochenbett usw. bei 10 Fr. Erbliche Be¬
lastung bei 13 (7 M. 6 Fr.). Entlassen als geheilt 36 (14 M. 22 Fr.), ira Ver¬
hältnis zu den Aufnahmen 31,58%, gebessert 54 (32 M. 22 Fr.), ungeheilt 17
(16 M. 1 Fr.), aus der Beobachtung 4 (1 M. 3 Fr.). Gestorben sind 38 (23 M.
15 Fr.) oder 6,32 % der Verpflegten, davon infolge Paralyse 2 M., Tuberkulose 10
(6 M. 4 Fr.), an Hitzschlag 1 M. Gesundheitszustand im ganzen gut.
Lengerich: Anfangsbestand 672 (371 M. 301 Fr.). Zugang 155 (102 M.
53 Fr.). Abgang 121 (73 M. 48 Fr.). Bleibt Bestand 706 (400 M. 306 Fr.),
davon in Familienpflege 116 (69 M. 46 Fr.); zur Beobachtung eingeliefert 10
(9 M. 1 Fr.), darunter 2 m. Fürsorgezöglinge. Vom Zugang litten an einfacher
Seelenstörung 114 (71 M. 43 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 1 M., an Seelen¬
störung mit Epilepsie 2 M., Imbezillität, Idiotie 16 (10 M. 6 Fr.), Alkoholismus,
Delirium pot. 8 (6 M. 2 Fr.), Hysterie 2 (1 M. 1 Fr.). Erbliche Belastung bei 84
(68 M. 26 Fr.), sonstige Krankheitsursachen: Trunksucht bei 19 (17 M. 2 Fr.),
Körperverletzungen bei 9 (7 M. 2 Fr.), Haft bei 3 M., Lues bei 1 M., Schwanger¬
schaft, Wochenbett usw. bei 8 Fr. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat
bei 14 (10 M. 4 Fr.), bis 3 Monate bei 21 (13 M. 8 Fr.), 3—6 Monate bei 13 (10 M.
3 Fr.), bis 1 Jahr bei 13 (7 M. 6 Fr.), bis zu 2 Jahren bei 14 (8 M. 6 Fr.), ange¬
boren 12 (6 M. 6 Fr.), unbekannt bei 13 (6 M. 7 Fr.). Entlassen geheilt 19
(12 M. 7 Fr.), gebessert 43 (23 M. 20 Fr.), ungeheilt 26 (16 M. 9 Fr.), davon
13 in andere Anstalten öbergeführt, aus der Beobachtung entlassen 8 (7 M. 1 Fr.),
als ungeeignet 1 P. Gestorben sind 26 (14 M. 11 Fr.) oder 3,7 % der Verpflegten.
Es starben davon an Tuberkulose 7 (3 M. 4 Fr.), Krebs 2 (1 M. 1 Fr.). Drei
Fälle von Rose waren zu beobachten und häufigere Tuberkulose, ohne daß sich
eine besondere Ursache erkennen ließ.
Münster: Anfangsbestand 630 (254 M. 376 Fr.). Zugang 177 (93 M.
84 Fr.). Abgang 184 (98 M. 86 Fr.). Bleibt Bestand 623 (249 M. 374 Fr.).
Zur Beobachtung aufgenommen 22 (12 M. 10 Fr.), davon 8 Fürsorgezöglinge.
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 137 (66 M. 72 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 9 M., Seelenstörung mit Epilepsie 6 M., Imbezillität 3 (1 M. 2 Fr.).
Erbliche^ Belastung angenommen bei 66 (31 M. 34 Fr.), als sonstige Krankheits¬
ursache Trunksucht bei 9 M., Unfall bei 2 M., Lues bei 7 M., Schwangerschaft,
Wochenbett usw. bei 11 Fr. Krankheitsdauer von der Aufnahme 1 Monat bei 14
(4 M. 10 Fr.), bis 3 Monate bei 29 (11 M. 18 Fr.), bis 6 Monate bei 16 (8 M.
7 Fr.), bis 1 Jahr bei 27 (16 M. 12 Fr.), bis 2 Jahre 13 (7 M. 6 Fr.), 5 und mehr
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326*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Jahre bei 62 (41 M. 21 Fr.), unbekannt bei 2 M. Entlassen ab geheilt 34 (8 M.
26 Fr.), gebessert 42 (26 M. 16 Fr.), ungeheilt 67 (40 M. 27 Fr.), nach Beob¬
achtung 23 (14 M. 9 Fr.). Gestorben sind 18 (10 M. 8 Fr.) oder 2,21 % der
Verpflegten, infolge Tuberkulose starben 2.
Aplerbeck: Anfangsbestand 621 (329 M. 292 Fr.). Zugang 192 (86 M.
106 Fr.). Abgang 177 (95 M. 82 Fr.). Bleibt Bestand 648. In Familienpflege 21
(9 M. 12 Fr.); zur Beobachtung aufgenommen 41 (28 M. 13 Fr.), darunter 12
Fürsorgezöglinge. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 122 (37 M,
85 .Fr.), an paralytischer Seelenstörung 10 M., Seelenstörung mit Epilepsie,
Hysterie 8 (4 M. 4 Fr.), Imbezillität, Idiotie 6 (2 M. 4 Fr.), Alkoholismus 4 M.
Unter den Paralytikern ausgesprochene Trunksucht bei 6 (4 M. 2 Fr.). Here¬
dität bei 41 (16 M. 25 Fr.), sonstige Krankheitsursache: Trunksucht bei 6
(2 M. 4 Fr.), Lues bei 10 M., Trauma bei 3 Fr., Schwangerschaft., Geburt usw.
bei 10 Fr. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 24 (11 M.
13 Fr.), bis 3 Monate bei 16 Fr., 3—6 Monate bei 15 (5 M. 10 Fr.), 6—12 Monate
bei 10 (4 M. 6 Fr.), 1—2 Jahre bei 16 (7 M. 8 Fr.), über 2 Jahre bei 48
(23 M. 26 Fr.), lebenslänglich bei 6 (1 M. 4 Fr.), unbekannt bei 17 (7 M.
10 Fr.). Entlassen als geheilt 22 (7 M. 15 Fr.), gebessert 33 (11 M. 22 Fr.),
ungeheilt 50 (31 M. 19 Fr.), nach Beobachtung 28 (24 M. 4 Fr.). Gestorben
sind 44 (22 M. 22 Fr.) oder 5,33 % der Verpflegten, davon infolge Paralyse 7
(6 M. 1 Fr.), Tuberkulose 13 (6 M. 7 Fr.), an Karzinom 1 M., an Hitzschlag 1 M.
Warstein: Anfangsbestand 1260 (659 M. 691 Fr.). Zugang 410 (262 M.
148 Fr.), hiervon aus anderen Anstalten 93 (65 M. 28 Fr.). Abgang 373 (238 M.
135 Fr.). Bleibt Bestand 1287 (683 M. 604 Fr.), davon in Familienpflege 54
(15 M. 39 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 295 (166 M.
129 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 39 (34 M. 6 Fr.), an Epilepsie mit Seelen¬
störung 14 (13 M. 1 Fr.), Imbezillität, Idiotie 30 (20 M. 10 Fr.), Hysterie,
Neurasthenie 3 M., Alkoholismus 15 (13 M. 2 Fr.); zur Beobachtung 23 (20 M.
3 Fr.), nicht geisteskrank 13 (12 M. 1 Fr.), mit dem Strafgesetz in Konflikt ge¬
wesen 39 (36 M. 3 Fr.). Erbliche Belastung bei 49 (37 M. 12 Fr.), sonstige
Krankheitsursache Syphilis bei 31 (26 M. 6 Fr.), Trunksucht bei 25 (21 M. 4 Fr.),
Unfall bei 9 (7 M. 2 Fr.), Strafhaft bei 6 (5 M. 1 Fr.), Geburt, Wochenbett usw.
bei 9 Fr. Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis 1 Monat bei 52 (26 M. 26 Fr.),
1—3 Monate bei 66 (35 M. 21 Fr.), 3—12 Monate bei 106 (71 M. 35 Fr.), über
1 Jahr bei 130 (96 M. 34 Fr.), unbekannt bei 66 (34 M. 32 Fr.). Entlassen als
geheilt 72 (36 M. 36 Fr.), gebessert 141 (84 M. 67 Fr.), ungeheilt 56 (36 M.
21 Fr.), nicht geisteskrank 6 (6 M. 1 Fr.), nach Beobachtung 16 M. Gestorben
sind 82 (62 M. 20 Fr.) oder 4,94 % der Verpflegten. Es starben infolge Paralyse 31
(25 M. 6 Fr.), Tuberkulose 11 (7 M. 4 Fr.), Typhus 1 M., Karzinom 2 Fr.,
Rose 1 M.
Eickelborn: Anfangsbestand 817 (411 M. 406 Fr.). Zugang 238 (107 M.
131 Fr.). Abgang 126 (80 M. 46 Fr.). Bleibt Bestand 929 (438 M. 491 Fr.),
davon im Bewahrhause 54 M., in Familienpflege 20 (11 M. 9 Fr.). Vom Zugang
litten an einfacher Seelenstörung 169 (70 M. 99 Fr.), an paralytischer Seelen-
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Grätter, Anstaltswesen und Statistik.
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örung 11 (10 M. 1 Fr.), Imbezillität, Idiotie 39 (18 M. 21 Fr.), Seelenstörung
lit [Epilepsie 11 (4 M. 7 Fr.), Alkoholismus 4 (3 M. lFr.); 63 Kr. waren aus
aderen Anstalten übernommen, 20 Kr. der Neuaufnahmen erblich belastet. Zur
Beobachtung 3 (2 M. 1 Fr.). Entlassen als geheilt 24 (16 M. 8 Fr.), gebessert 27
17 M. 10 Fr.), ungeheilt 8 (7 M. 1 Fr.), in andere Anstalten versetzt 7 (3 M.
: Fr.), nach Beobachtung entlassen 3 (2 M. 1 Fr.), als nicht anstaltspflegebedürftig
. M. Gestorben sind 66 Kr. oder 6,33 % der Verpflegten, es starben infolge Paralyse
1 M., Tuberkulose 13 (11 M. 2 Fr.), Krebs 2 Fr., Rose 2 M.
Eichberg (94): Anfangsbestand 736 (399 M. 336 Fr.). Zugang 231 (134 M.
yi Fr.). Abgang 207 (125 M. 82 Fr.). Bleibt Bestand 769 (408 M. 361 Fr.),
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 3 Monaten bei 66 (24 M. 31 Fr.),
3—6 Monate 21 (9M. 12 Fr.), mehr als 6 Monate bei 141 (95 M. 46 Fr.). Vom
Zugang litten an einfacher Seelenstörung 134 (63 M. 71 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 22 (21 M. 1 Fr.), an Imbezillität, Idiotie 34 (20 M. 14 Fr.), an
[Epilepsie 16 (14 M. 2 Fr.), Hysterie 7 (1 M. 6 Fr.), an Alkoholismus 10. Heredi¬
tät bei 59 (40 M. 19 Fr.), Belastung durch Alkoholismus der Eltern 14 (12 M.
2 Fr.). Früherer Alkoholmifibrauch bei 34 der Aufgenommenen. Sonstige Krank¬
heitsursachen: Syphilis bei 11 M., Arteriosklerose bei 5 (3 M. 2 Fr.), Senium 13
(12 M. 1 Fr.), Haft bei 4 (1 M. 3 Fr.), Kopfverletzung bei 8 M., Pubertät bei
1 M., Puerperium bei 1 Fr. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 62 (43 M.
9 Fr.). Entlassen wurden als genesen 10 (6 M. 4 Fr.), gebessert 72 (46 M. 26 Fr.),
ungebessert 71 (41 M. 30 Fr.). Nicht geisteskrank 6 (3 M. 3 Fr.). Gestorben
sind 48 (29 M. 19 Fr.), davon an Altersschwäche 14 (10 M. 4 Fr.), an Paralyse 8
(6 M. 2 Fr.), an Tuberkulose 5 (3 M. 2 Fr.). In Familienpflege waren im Anfang
des Berichtsjahres 102 (37 M. 66 Fr.), am Schlüsse desselben 107 (39 M. 68 Fr.). —
Gesamtausgaben: 663 187,95 M.
St. Johannisstift zu Nieder-Marsberg: Die 1881 eröffnete Anstalt
für Idioten wurde im April 1911 von der Provinz übernommen. Der Anfangsbestand
im Berichtsjahre war 617 Pfleglinge. Zugang 82, Abgang 60. Bleibt Bestand 639.
Vom Zugang litten an angeborener Idiotie, Imbezillität 42 (24 m. 18 w.), an er¬
worbener 11 (8 m. 3 w.), an Epilepsie mit Idiotie 3 w., Hydrozephalie 5 (3 m.
2 w.), zerebralen Lähmungen 15 (10 m. 5 w.), Dystrophia muscularis und Idiotie
1 m., Mongolismus 5 (2 m. 3 w.). Erbliche Belastung bei 46 (32 m. 13 w.).
9 der Aufgenommenen waren unter 6 Jahre, 46 5—10, 24 10—15, 4 15—20 Jahre
alt. Gebessert entlassen wurden 26 (13 m. 13 w.), ungeheilt 17 (16 m. 1 w.).
Gestorben sind 16 (12 m. 4 w.), davon infolge Tuberkulose 11 (7 m. 4 w.).
Der Unterstützungsfonds der westfälischen Provinzialanstalten verausgabte
im Berichtsjahr an Unterstützungen 3506,63 M. Der Fonds belief sich auf
32 967,86 M.
Weilmünster (166): Anfangsbestand 928 (463 M. 466 Fr.). Zugang 101
(62 M. 39 Fr.). Abgang 118 (67 M. 51 Fr.). Bleibt Bestand 911 (468 M.
453 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 61 (23 M. 28 Fr.),
Paralyse 8 (7 M. 1 Fr.), Epilepsie mit Seelenstörung 5 (2 M. 3 Fr.), Hysterie
2 Fr., Imbezillität, Idiotie 18 (14 M. 4 Fr.), Alkoholismus 16 M. Krankheitsdauer
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Bericht Aber die psychiatrische Literatur 1913.
vor der Aufnahme bis 3 Monate 28 (18 M. 10 Fr.), 3—6 Monate 12 (5 M. 7 Fr.),
über 6 Monate 60 (39 M. 21 Fr.). Von 100 Aufgenommenen erblich belastet 62,
40 M. = 60 %, 22 Fr. = 60 %. Sonstige Ursachen für den Ausbruch der Geistes¬
störung: Alkoholmißbrauch bei 28 (26 M. 2 Fr.), Syphilis 9 (7 M. 2 Fr.), Ar¬
teriosklerose 3 (2 M. 1 Fr.), Apoplexie 4 (3 M. 1 Fr.), Kopfverletzung 6 M., Haft
6 M., Senium 11 (4 M. 7 Fr.), Klimakterium, Wochenbett usw. 10 Fr. Entlassen
geheilt 12 (10 M. 2 Fr.), gebessert 31 (11 M. 20 Fr.), ungeheilt 15 (10 M. 5 Fr.),
nicht geisteskrank 2 M. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 35 M. 2 Fr., d. h.
57 % der zugeführten Männer, höchster bisher erreichter Prozentsatz. Gestorben
sind 58 (34 M. 24 Fr.), davon an Tuberkulose 8 (6 M. 2 Fr.), an Typhus ab¬
dominalis 1 Fr. — Gesamtausgabe 661 306,56 M.
Herborn (107): Anfangsbestand 209 (118 M. 91 Fr.). Zugang 209 (112 M.
97 Fr.). Abgang 103 (55 M. 48 Fr.). Bleibt Bestand 315 (175 M 140 Fr.).
Vom Zugang litten an einfaches Seelenstörung 131 (56 M. 75 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 21 (17 M. 4 Fr.), Imbezillität, Idiotie 15 (10 M. 6 Fr.), an Seelen¬
störung mit Epilepsie 14 (12 M. 2 Fr.), an hysterischer Seelenstörung 9 (2 M.
7 Fr.), Alkoholismus 18 (14 M. 4 Fr.); nicht geisteskrank 1 M. Erblichkeit durch
Nerven- oder Geisteskrankheiten nachgewiesen in 86 Fällen, Belastung durch Al¬
koholismus der Eltern in 25 Fällen. Ursachen des Ausbruchs der Geistesstörungen:
erbliche Belastung bei 111 (60 M. 51 Fr.), Alkoholmißbrauch bei 22 (19 M. 3 Fr.),
eine Zahl, die hinter der Wirklichkeit sicher weit zurückbleibt, Syphilis bei 11 (9 M.
2 Fr.), Haft bei 3 M. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 68 (65 M. 13 Fr.),
bei den Männern also ca. die Hälfte der Aufgenommenen. Krankheitsdauer vor der
Aufnahme bis 3 Monate bei 20 (11 M. 9 Fr.), 3—6 Monate bei 13 (10 M. 3 Fr.),
mehr als 6 Monate bei 169 (86 M. 83 Fr.), von imbekannter Dauer bei 6 (4 M.
2 Fr.). Entlassen geheilt 13 (6 M. 7 Fr.), gebessert 27 (16 M. 11 Fr.), unge-
bessert 24 (18 M. 6 Fr.). Gestorben sind 38 (14 M. 24 Fr.), davon infolge Para¬
lyse 14 (10 M. 4 Fr.), an Tuberkulose 4 Fr. Für den Verlauf der Tuberkulose ist
das rauhe Klima ungünstig. Die Gebäude des ersten Bauteils sind fertiggestellt,
ein weiteres Krankenhaus in Betrieb genommen. Aus der Frankfurter Irrenanstalt
sind im Berichtsjahr 120 P. übernommen. — Gesamtausgabe 355 804,07 M.
Der Hilfsverein für die Geisteskranken in Hessen (108) hatte im Jahre 1912
eine Ausgabe von 45 485,50 M. und eine Einnahme von 45 555,11 M. Für 59 in
Anstalten befindliche Pfleglinge wurden 1004,24 M. aufgewandt, bei und nach der
Entlassung erhielten 208 Pers. 13 687,49 M., Angehörige von 108 Pfl. 9369,90 M..
für 12 psychisch Nervöse 1092,16 M., während für in Familien untergebrachte
Pfleglinge 11 839,06 M. ausgegeben wurden. Eine besondere Propagandakommis¬
sion ist begründet worden.
Lindenhaus (121): Anfangsbestand 383 (189 M. 194 Fr.). Zugang 104
(62 M. 42 Fr.). Abgang 107 (66 M. 42 Fr.). Bleibt Bestand 380 (186 M. 194 Fr.).
Von den Verpflegten litten an einfacher Seelenstörung 372 (177 M. 195 Fr.), an
Seelenstörung durch Syphilis 14 (11 M. 3 Fr.), an Imbezillität, Idiotie 32 (12 M.
20 Fr.), an Epilepsie 36 (24 M. 12 Fr.), Alkoholismus 20 M., Hysterie 7 (2 M.
5 Fr.); nicht geisteskrank 1 M. Krankheitsdauer vor der Aufnahme: unter 1 Jahr
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
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bei 99 (20,3%), 1—2 Jahre 37 (7,6%), 2—4 Jahre 47 (9,6%), 4—6 Jahre 64
(13,1 %), 6—8 Jahre 46 (9,4 %), 8—10 Jahre 44 (9 %), mehr als 10 Jahre 130
(26,6 %), mit unbekannter Zeit 20 (4,1 %). Heredität bei Geisteskrankheit und
Nervenleiden 232 (115 M. 117 Fr.) = 47,5 %, bei Trunksucht 112 (79 M. 33 Fr.)
= 22,9 %, Syphilis 30 (13 M. 17 Fr.) = 6 %, Tuberkulose 44 (24 M. 20 Fr.) =
8,9 %. Als Trinker bekannt waren 70 (60 M. 10 Fr.) = 16,4 %; mit dem Straf¬
gesetz in Konflikt 76 (61 M. 15 Fr.) = 15,6 %. Erkrankt waren im Anschluß an
Entwicklungsjahre 12 = 2,4 %, Wechseljahre 29 = 5,9 %, Schwangerschaft, Ent¬
bindung 31 = 6,3 %, Haft 16 = 3,2 %, Gefäßverkalkung 36 = 7,3 %, Syphilis
20 = 4,1 %, Tuberkulose 12 = 2,4 %, Typhus 7 = 1,4 %. Zur Beobachtung über¬
wiesen 4 M. Entlassen als erwerbsfähig 31 (22 M. 9 Fr.) = 43,1 %, gebessert,
nicht erwerbsfähig 34 (15 M. 19 Fr.) = 47,2 %, ungeheilt 7 (3 M. 4 Fr.) = 9,7 %.
Gestorben sind 27 = 5,5 %, und zwar im Durchschnittsalter von 48 Jahren, davon
an Lungenentzündung 9, an Lungenschwindsucht 4, an allgemeiner Tuberkulose 2.
Beschäftigung in immer größerem Umfang. — Gesamtausgabe: 61 338,99 M.
In den Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten der Kheinprovinz (138) war
der Anfangsbestand insgesamt 6789 (3629 M. 3160 Fr.). Zugang 4474 (2633 M.
1841 Fr.). Abgang 3860 (2296 M. 1664 Fr.). Bleibt Bestand 7403 (3966 M.
3437 Fr.). Davon entfielen auf
Andernach: Anfangsbestand 556 (287 M. 269 Fr ). Zugang 297 (144 M.
153 Fr.). Abgang 283 (145 M. 138 Fr.). Bleibt Bestand 670 (286 M. 284 Fr.).
Bedburg-Hau: Anfangsbestand 977 (535 M. 442 Fr.). Zugang 994 (623 M.
371 Fr.). Abgang 364 (232 M. 122 Fr.). Bleibt Bestand 1617 (926 M. 691 Fr.).
Bonn: Anfangsbestand 890 (451 M. 439 Fr.) Zugang 638 (363 M. 275 Fr.).
Abgang 626 (373 M. 252 Fr.). Bleibt Bestand 903 (441 M. 462 Fr.).
Düren: Anfangsbestand 715 (384 M. 331 Fr.). Zugang 234 (113 M. 121 Fr.).
Abgang 281 (149 M. 132 Fr.). Bleibt Bestand 668 (348 M. 320 Fr.).
Galkhausen: Anfangsbestand 872 (440 M. 432 Fr.). Zugang 590 (312 M.
278 Fr.). Abgang 625 (340 M. 285 Fr.). Bleibt Bestand 837 (412 M. 426 Fr.).
Grafenberg: Anfangsbestand 893 (494 M. 399 Fr.). Zugang 771 (500 M.
271 Fr.). Abgang 750 (492 M. 258 Fr.). Bleibt Bestand S14 (502 M. 412 Fr.).
Johannistal: Anfangsbestand 1050 (586 M. 464 Fr.). Zugang539 (331 M.
208 Fr.). Abgang 502 (311 M. 191 Fr.). Bleibt Bestand 1087 (606 M. 481 Fr.).
Merzig: Anfangsbestand 772 (388 M. 384 Fr.). Zugang 383 (219 M.
164 Fr.). Abgang 411 (225 M. 186 Fr.). Bleibt Bestand 744 (382 M. 362 Fr.).
Brauweiler: Anfangsbestand 64 Männer. Zugang 28. Abgang 29. Bleibt
Bestand 63.
Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 2932 (1491 M. 1441 Fr.),
an paralytischer Seelenstörung 338 (266 M. 73 Fr.), an Seelenstörung mit Epi¬
lepsie 427 (317 M. 110 Fr.), an Epilepsie 136 (101 M. 35 Fr.), Imbezillität,
Idiotie, Kretinismus 299 (154 M. 145 Fr.), am Delirium potatorum 203 (183 M.
20 Fr.); nicht geisteskrank 139 (122 M. 17 Fr.). Vor der Aufnahme mit dem
Strafgesetz in Konflikt geraten 663 (699 M. 64 Fr.) = 12,6% gegen 14,3% im
Vorjahr. Die drei Bewahrhäuser für geisteskranke Verbrecher, in Düren 48, Brau-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
weiler 60, Bedburg-Hau 58, sind voll belegt. Erbliche Belastung bestand bei 1190
(672 M. 518 Fr.) = 25,2 % der Aufgenommenen (im Vorjahre 30,6 %). Alkohol¬
mißbrauch dem Ausbruch der Geisteskrankheit vorhergegangen bei 447 (397 M.
60 Fr.) = 9,9 % gegen 8,4 % im Vorjahr. Syphilitische Ansteckung bei 206 (177 M.
29 Fr.) der Aufnahmen = 4,6 %, wie im Vorjahr, eine solche unter den Para¬
lytikern (338 [266 M. 73 Fr.]) bei 153 (131 M. 22 Fr.) = 45,2% gegen 53,4 %
im Vorjahr. Entlassen genesen sind 670 (363 M. 207 Fr.), gebessert 1041 (583 M.
458 Fr.), ungeheilt 1354 (772 M. 582 Fr.), davon an andere Anstalten überwiesen
848 (619 M. 329 Fr.), als nicht geisteskrank ausgeschieden 142 (126 M. 16 Fr.).
Von den geheilt und gebessert Entlassenen kommen im Verhältnis zu den Auf¬
nahmen auf Andernach 11,7 %, Bedburg-Hau 8,7 %, Bonn 17,1 %, Düren 10,8 %,
Galkhausen 19,3 %, Grafenberg 17,8 %, Johannistal 13,3 %, Merzig 13,7 %, Brau¬
weiler 16,2 %. — Gestorben sind 753 (462 M. 301 Fr.) = 6,6 % des Verpflegungs¬
bestandes (6,7 % im Vorjahre); infolge Paralyse starben 193 (160 M. 33 Fr) =
25,6 % der Todesfälle, 1,3 % mehr als im Vorjahr; durch Unglücksfälle starben 2,
durch Selbstmord 1. —Von den Verpflegten waren tuberkulös 119 (63 M. 66 Fr.) =
14 % gegen 1.4 % im Vorjahr, tuberkuloseverdächtig 66 (21 M. 45 Fr.) = 0,5 %.
Infolge Tuberkusloe starben 52 (31 M. 21 Fr.) = 0,6 % der Verpflegten (0,6 %
im Vorjahr), höchstbeteiligt waren Bedburg-Hau mit 18 %, Düren mit 17,1 % der
Tuberkulosen. An Karzinom erkrankt 6, gestorben 1. Erysipel in allen Anstalten,
außer Brauweiler, mit 71 Fällen und 3 mal tötlichem Verlauf; Typhus sporadisch
in Andernach, Bedburg-Hau, Bonn und Brauweiler, auch in Merzig Typhusbazillen¬
träger. Die Ruhr in Düren konnte noch nicht zum Erlöschen gebracht werden,
dort sind am Schluß des Berichtsjahres abgesondert 48 (35 M. 13 Fr.), davon in
der Abteilung für Infektionskrankheiten 36. — Beschäftigt wurden durchschnittlich
in Andernach 53%, Bedburg-Hau 60%, Bonn 64%, Düren 69%, Galkhausen
69,1 %, Grafenburg 53 %, Johannistal 57 %, Merzig 50,5 %, Brauweiler 71,4 % der
Kranken IV. Klasse. — Durchschnittskosten pro Tag und Kranken 1,94 M. gegen
1,95 M. im Vorjahr. — Gesamtausgabe 6 101 870,90 M., davon an außergewöhn¬
lichen Bauausgaben 49 036 M.
Der Hilfsverein für Geisteskranke in der Rheinprovinz (137) verausgabte
im Jahre 1912 an Unterstützungen an Kranke oder deren Angehörige 23 778,86 M.
An den Beiträgen beteiligen sich die Regierungsbezirke mit namhaften Summen
(Koblenz 10 400 M., Düsseldorf 12 600 M.), es sind insgesamt 36 932,64 M. ver¬
einnahmt. Das Mitgliederverzeichnis gibt einen Ausweis über die laufenden und
einmaligen Beiträge. Der Verein dient der Verhütung von Geisteskrankheit, der
sachkundigen Belehrung und der Unterstützung, auch der Entlassenen.
Tannenhof (160): Anfangsbestand 481 (235 M. 246 Fr.). Zugang 156
(91 M. 65 Fr.). Abgang 163 (99 M. 64 Fr.). Bleibt Bestand 474 (227 M.
247 Fr.). An einfacher Seelenstörung litten 113 (57 M. 66 Fr.), an Paralyse 25
(24 M. 1 Fr.), an Lues cerebrospinalis 2 M., an Imbezillität und Instabilität 5
(4 M. 1 Fr.), an Epilepsie mit Seelenstörung 3 M., an Alkoholismus 4 M., an
Morphinismus und an Opiophagie 3 (2 M. 1 Fr.). Entlassen als genesen 8 (4 M.
4 Fr.), gebessert 49 (30 M. 19 Fr.), ungeheilt 46 (24 M. 22 Fr.); nicht geistes-
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Urütter, Anstaltswesen und Statistik.
331*
krank 6 (5 M. 1 Fr.). Gestorben sind 54 (36 M. 18 Fr.), davon infolge Paralyse 16
(15 M. 1 Fr.), an Tuberkulose 1 M. — Gesamtausgabe ca. 500000 M.
Bergmannswohl (80): Aufnahmen 1533 Unfall- und Nervenkranke. Von
1478 im Berichtsjahr entlassenen Kranken entfallen auf 1254 zur Beobachtung
Aufgenommene 8062 Verpflegungstage, durchschnittlich = 6,4 Tage, auf 224 zur
Behandlung Aufgenommene 10 334 Verpflegungstage, durchschnittlich = 46 Tage
für die Person. Mit Erfolg sind behandelt 198, ohne Erfolg 26. Wesentliche Ver¬
änderungen sind im Betriebe der Anstalt nicht vorgenommen.
In den Heil- und Pflegeanstalten des Königreichs Sachsen (144) betrug
der Gesamtbestand im Beginn des Jahres 1911: 6237 (2470 m. 2767 w.), Bestand
demnach um 94 (50 m. 44 w.) höher als zu Beginn des vorhergehenden Jahres.
Zugang insgesamt 801 (429 m. 372 w.). Abgang insgesamt 912 (483 m. 429 w.).
Bleibt Gesamtschlußbestand 5126 (2416 m. 2710 w.). — Am Gesamtergebnis
waren beteiligt: Sonnenstein: Anfangsbestand 650 (347 m. 303 w.). Zugang 121
(68 m. 53 w.). Abgang 124 (75 m. 49 w.). Bleibt Bestand 647 (340 m. 307 w.).
Untergöltzsch: Anfangsbestand 600 (278 m. 322 w.). Zugang 132 (73 m.
59 w.). Abgang 180 (93 m. 87 w.). Bleibt Bestand 552 (258 m. 294 w.).
Großschweidnitz: Anfangsbestand 534 (241 m. 293 w.). Zugang 114 (57 m.
57 w.). Abgang 125 (57 m. 68 w.). Bleibt Bestand 523 (241 m. 282 w.).
Zschadraß: Anfangsbestand 548 (272 m. 276 w.). Zugang 115 (48 m. 67 w.).
Abgang 87 (39 m. 48 w.). Bleibt Bestand 576 (281 m. 295 w.). Hubertus¬
burg : Anfangsbestand 1549 (603 m. 946 w.). Zugang 166 (84 m. 82 w.) Ab¬
gang 265 (120 m. 145 w.). Bleibt Bestand 1450 (567 m. 883 w.). Colditz:
Anfangsbestand 587 (301 m. 286 w.). Zugang 46 (33 m. 13 w.). Abgang 45,
(32 m. 13 w.). Bleibt Bestand 588 (302 m. 286 w.). Hochweitzschen: An¬
fangsbestand 769 (428 m. 341 w.). Zugang 107 (66 m. 41 w.). Abgang 86
(67 m. 19 w.). Bleibt Bestand 790 (427 m. 363 w.). (Die Landesanstalt für
Geisteskranke zu Waldheim, mit einem Bestand von 218 Kranken, wird ge¬
sondert behandelt und ist an vorstehendem Gesamtergebnis nicht beteiligt.)
Vom Gesamtzugang litten an einfacher Seelenstörung 510 (214 m. 296 w.),
an paralytischer Seelenstörung 78 (68 m. 10 w.), an Seelenstörung mit Epilepsie
und Hysteroepilepsie 15 (1 m. 14 w.), an chronischem Alkoholismus 11 (10 m.
1 w.), an Imbezillität und Idiotie 39 (26 m. 13 w.), an manisch-depressivem Irre¬
sein 133 (46 m. 87 w.). Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 3 Monaten
in 180, bis zu 6 Monat in 81, bis zu 12 Monat in 80, bis 2 Jahre in 57, 5 Jahre 19,
über 5 Jahre 94, von Kindheit an in 33 Fällen. In Colditz finden sich infolge der
Aufnahme hauptsächlich chronisch Kranker zumeist längere vorherige Krankheits¬
zeiten, und zwar bei 46 Aufnahmen Fälle bis zu 12 Monat 3, 2 Jahre 4, 5 Jahre 14,
über 5 Jahre 14, von Kindheit an 6. Von den in der Anstalt für Epileptische in
Hochweitzschen aufgenommenen Kranken litten an Epilepsie 10 (5 m. 5 w.),
an Epilepsie mit Schwachsinn 82 (52 M. 30 Fr.), mit Blödsinn 11 (7 m. 4 w.),
nicht an Epilepsie 4 (2 m. 2 w.). Insgesamt 86,5 % der aufgenommenen Epilekti-
ker litten an Geistesschwäche, teils von Geburt an, teils später erworben. Die Ein¬
teilung der Epileptiker (103) auf Grund vorwiegend ätiologischen Prinzips ergibt.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
folgende Prozentzahlen: genuine Epilepsie 87,4%. Epilepsie bei Herderkrankung
5,8%, traumatische 4,8 %, Spätepilepsie 1 %, Trinkerepilepsie 1 %. — Heredität
fand sich beim Gesamtzugang von 302 mit 46,1 %, bei den 103 in Hoch Weitzschen
aufgenommenen Epileptikern unter 76 Kranken = 72,8 %. — In ca. 60 Fällen des
Gesamtzugangs war Alkoholmifibrauch Mitursache der Geistesstörung. — Bei nur
6% der Epileptiker war Kopfverletzung, bei einer Anzahl Syphilis nachgewiesen.
Als genesen bzw. wesentlich gebessert wurden insgesamt beurlaubt oder ent¬
lassen 316 (160 m. 166 w.), und zwar in Sonnenstein 67, Untergöltzsch 80,
Grofischweidnitz 64, Zschadraß47, Hubertusburg67. Aus der Pflegeanstalt
Colditz sind 10 (3 m. 7 w.) genesen bzw. gebessert entlassen, aus der Anstalt
für Epileptische in Hochweitzschen 33 (27 m. 6 w.), wovon 4 (3 m. 1 w.) als
geheilt, 29 (24 m. 6 w.) als gebessert bezeichnet werden konnten. — Das Ver¬
hältnis der Geheilten und Gebesserten zu den Zuführungen betrug in den Heil-
und Pflegeanstalten 316 : 648 = 48,6 %, in der Pflegeanstalt Colditz 10 : 46
= 22 %, in der Anstalt für Epileptische (Hochweitzschen) 33 :107 = 30,8 %.
Gestorben sind in den Heil- und Pflegeanstalten eines natürlichen Todes ins¬
gesamt 277 (163 m. 114 w.), davon in Sonnenstein 44, Untergöltzsch 54,
Großschweidnitz 41, Zschadraß 26, Hubertusburg 86, Colditz 26. Mor¬
talität demnach etwa 6,2% des Durchschnittsbestandes (4449). Von den Epi¬
leptikern in Hochweitzschen starben insgesamt 34 (26 m. 9 w.), 67,6% der
Todesfälle mittelbarer oder unmittelbarer Ausgang der Epilepsie. — In den übrigen
Anstalten war Todesursache u. a. Paralyse an sich in 78 (68 m. 10 w.), Arterio¬
sklerose in 9, Tuberkulose verschiedener Form in 61 Fällen; Typhus 1, Dysenterie 1,
Selbstmord insgesamt 2. — Epidemische Erkrankungen in größerem Maßstabe
sind weiter nicht zu verzeichnen, in Großschweidnitz 4, in Colditz 2 Typhusfälle,
in Hubertusburg keiner, hier starben 2 Bazillenträgerinnen, bei der einen wuchsen
auf den von Galle, Milz und Knochenmark angelegten Agarplatten Reinkulturen
von Typhusbazillen. — Ein Haus für 48 unruhige epileptische Frauen ist in Hoch-
weitzschen im Bau, ein allen Anforderungen entsprechendes Krankenhaus wird
in Großschweidriitz errichtet, das zur Aufnahme ruhiger, körperlich kranker
Pfleger und Pflegerinnen bestimmt ist. — Bei den zur Beobachtung gerichtsseitig
Zugewiesenen handelte es sich um 26 Straf- und um 3 Zivilsachen.
In der Landesanstalt zu Waldheim war der Anfangsbestand 1911: 218
(196 frei Verpflegte, 22 zu beobachtende Strafgefangene). Zugang 66. Abgang 41.
Bleibt Bestand 233 (210 frei Verpflegte, 23 Strafgefangene). Direkt aus Strafvollzug
kamen 34 = 60,7 %, zur Beobachtung nach § 81 Str.-P.-O. 6 Pers. Von den Zuge¬
führten waren erkrankt an einfacher Seelenstörung 46 = 86,6 %, an Seelenstörung
mit Epilepsie 3 = 6,8 %, Imbezillität 4 = 7,7 %. Heredität nachgewiesen in 20,
angeborene Anlage in 36, Alkoholmißbrauch in 14, Haft in 19, Kopfverletzung,
Syphilis in je 4 Fällen. Von den Abgegangenen gelangten in Strafhaft zurück 10,
in andere Anstalten 7. Gestorben sind 6. Ein Homosexueller (mit begangenem
Lustmord) wurde nach 15 jährigem Aufenthalt entlassen.
In der Strafanstalt zu Bautzen war der Anfangsbestand 1911: 69; Zugang
18. Abgang 23. Verblieben am Jahresschluß 64 Kranke.
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Grötter, Anstaltswesen and Statistik.
333*
Die psychiatrische und Nervenklinik der Universität Leipzig
besaß einen Anfangsbestand von 149. Zugang 929. 18 Pers. waren unter 16 Jahre
alt, bei 212 konnte Erblichkeit, bei 225 Alkoholmißbrauch nachgewiesen werden.
In der Heilabteilung der städtischen Heil- und Pflegeanstalt zu Dresden
sind 1270 (749 m. 521 w.) behandelt; hierunter befanden sich 667 Geisteskranke,
196 Nervenkranke und 309 Alkoholkranke. Bei 460 war Erblichkeit, bei 418 Al¬
koholmißbrauch nachweisbar. — Die Pflegeabteilung hatte einen Krankenbestand
von 1984 (912 m. 1072 w.), hiervon Geisteskranke 1143, Nervenkranke 255,
Alkoholkranke 104. — Im Luisenhaus Dresden-Löbtau war der Anfangs¬
bestand 185. Zugang 31. Abgang 29 und ein Endbestand von 187 (118 M. 69 Fr.).
— In der Heilanstalt der Stadt Dresden zu Klingenberg waren 49, der Haupt¬
sache nach trunksüchtige Männer mit 8817 Verpflegungstagen untergebracht.
An der Heilanstalt Dösen der Stadt Leipzig war zu Beginn des Berichts¬
jahres (1911) ein Anfangsbestand von 1207 (655 m. 551 w.). Zugang 604 (431 m.
173 w.). Entlassen 625 (459 m. 166 w.). Schlußbestand 1186 (628 m. 668 w.).
Die Anstalt leidet an Überfüllung. Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 271.
(171 m. 100 w.), an paralytischer 87 (62 m. 25 w.), an Imbezillität, Idiotie 54
(38 m. 16 w.), an Epilepsie 52 (40 m. 12 w.), an Hysterie 19 (7 m. 12 w.), an
Alkoholismus 100 (96 m. 4 w.). Progressive Paralyse war mit 14,4% (bei 87),
Alkoholmißbrauch mit 16,5 % (bei 100) aller Zuführungen beteiligt. Erblichkeit
wurde nachgewiesen bei 42,7 % aller Aufgenommenen, und zwar bei 44,3 % der
Männer und 38,7 % der Frauen. Unter den an einfacher Seelenstörung Leidenden
waren erblich belastet 44,6%, unter den Paralytikern 14,9%, Imbezillen und
Idioten 48,1 %, Epileptikern 36,5 %, Hysterischen 62,6 %, und von den Alkohol¬
kranken 62 %. Entlassen als geheilt wurden 30 (26 m. 4 w.), gebessert 303
(242 m. 61 w.), ungeheilt 124 (76 m. 48 w.), hiervon in andere Anstalten über¬
führt 95 (67 m. 38 w.). Verstorben sind 168 (115 m. 53 w.), 10,7 % aller Todes¬
fälle betrafen Tuberkulose. In Familienpflege befanden sich: Bestand 1910 in 32
Pflegefamilien 65 (34 m. 31 w.). Zugang zu 12 Pflegefamilien 60 (29 m. 21 w.).
Abgang aus 5 Pflegefamilien 32 (20 m. 12 w.). Bleibt Schlußbestand Ende 1911
bei 39 Pflegefamilien 83 (43 m. 40 w.). Entlassen aus der Familienpflege sind 5
(3 m. 2 w.). Verstorben 1 M. Die übrigen wurden in die Anstalt zurückverlegt.
Das Zahlenverhältnis der in Pflege Gegebenen zu den in die Anstalt Zurückgenomme¬
nen hat sich infolge sorgfältigerer Auswahl mit 50 :26, gegen 27 :32 im Vorjahre
gebessert. Die Belassung von Alkoholikern in Familienpflege bietet auch hier
Schwierigkeiten. In der sog. Außenabteilung, in der Alkoholiker mit Gartenarbeit
beschäftigt werden, betrug der Anfangsbestand 10. Schlußbestand 8. Im Jahres-
verlatti dorthin verlegt 26, in die Anstalt zurückgenommen 3, gänzlich entlassen 25.
Die Anstalt der Stadt Leipzig in Leipzig-Thonberg hatte einen An¬
fangsbestand von 33, einen Zu- und Abgang von je 12. Gesamtverpflegung 64
(30 M. 34 Fr.).
Die Städtische Nervenheilanstalt Chemnitz behandelte bei 326 Betten
823 (507) m. 316 w.) Kranke, davon 471 Geisteskranke, 100 Nervenkranke und
68 Alkoholkranke.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
In den Privatirren- und Nervenheilanstalten in Neukoswig (Lindenhof),
Tharandt, Möckern, Prödel, Elsterberg und Erdmannshain sind bei
einer Gesamtbettenzahl von 245 insgesamt 548 (267 m. 281 w.) Kranke unter¬
gebracht gewesen.
Die] Landesanstalt Chemnitz-Altendorf hatte in der Abteilung für
Schwachsinnige einen Anfangsbestand von 545 und einen Zugang von 122 (62 Kn.
60 Md.). 13,1 % des Zugangs war unehelicher Herkunft, bei 47,5 % Nerven- und
Geisteskrankheit in der Verwandtschaft. In 18 Fällen war Alkoholmißbrauch der
Eltern und Voreltern alleinige, in 16 Fällen mitwirkende Ursache. Rachitis bei
23,8 %, Skrofulöse bei 31, Tuberkulose der Eltern in 10 Fällen erwiesen.
Dresden (92): Im Jahre 1912 wurden insgesamt verpflegt 3585 (1784 M.
1801 Fr.) gegen 3188 (1620 M. 1568 Fr.) i. J. 1910. In Familienpflege befanden
sich 1910: 103, 1911: 113, 1912: 99. Aufnahmen in der Heilanstalt gesteigert von
1173 i. J. 1910 auf 1326 i. J. 1912, in der Heilanstalt für geistig Sieche 1910: 561,
1912: 616. Von den in der Heilanstalt Aufgenommenen waren erkrankt an fort¬
schreitender Himlähmung 1909: 103 (78 M. 25 Fr.), 1910: 134 (95 M. 39 Fr.),
1911: 118 (87 M. 31 Fr.), 1912: 159 (122 M. 37 Fr.), mit nachweisbarer syphi¬
litischer Ansteckung 1909 : 33 (23 M. 10 Fr.), 1910: 58 (48 M. 10 Fr.), 1911: 71
(65 M. 6 Fr.), 1912: 144 (114 M. 30 Fr.); an einer Trinkerkrankheit erkrankt
1909: 34,17%, 1910: 29%, 1911: 36,57%, 1912 : 38,85% aller verpflegten Männer.
Geheilt entlassen 1909: 197 (123 M. 74 Fr.), 1910:160 (109 M. 51 Fr.), 1911: 165
(122 M. 43 Fr.), 1912: 141 (106 M. 35 Fr.). Verstorben 1909 : 53 (33 M. 20 Fr.),
1910: 59 (44 M. 15 Fr.), 1911: 40 (25 M. 15 Fr.), 1912: 53 (29 M. 24 Fr.), davon
an Lungenentzündung 1912: 6Pers., in den Vorjahren 11, 6 u. 6, an fortschreitender
Himlähmung 9 bzw. 5, 7 u. 6, an Schlaganfall 7 bzw. 0, 6 u. 9. In der Pflege¬
anstalt starben 1912 bei einem Bestand von 1022 Verpfl. 25 Pers., 1909 von 960
Verpfl. 38, 1910 von 986 Verpfl. 28, 1911 von 909 Verpfl. 23. — Gesamtausgabe
1910: 1162 287,39 M., 1912: 1221 046,78 M.
Roda, Genesungshaus (139): Anfangsbestand 433 (230 m. 203 w.). Zugang
177 (89 m. 88 w.). Abgang 168 (77 m. 91 w.). Bleibt Bestand 442 (242 m.
200 w.). In Familienpflege befanden sich zu Beginn des Berichtsjahres 33 (16 M.
17 Fr.), am Schluß des Jahres 1912: 34 (17 M. 17 Fr.). Vom Zugang litten
an einfacher Seelenstörung 118 (47 m. 71 w.), an paralytischer Seelenstörung
23 (16 m. 7 w.), an Idiotie, Imbezillität 11 (9 m. 2 w.), an Epilepsie mit und
ohne Seelenstörung 8 (5 m. 3 w.), an Hysterie 7 (2 m. 5 w.), an Alkoholismus
5 M. Heredität nachgewiesen bei 116 (58 m. 58 w.), Alkoholmißbrauch bei 25 (22
m. 3 w.). Entlassen geheilt 36 (13 m. 23 w.), gebessert 60 (28 m. 32 w.), unge-
heilt 20 (9 m. 11 w.). Gestorben 52 (27 m. 25 w.), davon an Lungenentzündung
23 (11 m. 12 w.), an Lungentuberkulose 2 (1 m. 1 w.), an Marasmus 11 (4 m.
7 w.), an Typhus abdominalis 2 M.
Roda, Martinshaus (140): Anfangsbestand 84 (50 m. 34 w.). Zugang 21
(12 m. 9 w.), Abgang 18 (13 m. 5 w.). Bleibt Bestand 87 (49 m. 38 w.). Von
den im Berichtsjahre verpflegten Idioten waren behaftet mit Epilepsie allein 21
(15 m. 6 w.), mit Chorea 6 m., mit Lähmungen der Himnerven 9 (5 m. 4 w.).
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
335*
der Gliedmaßen 7 (1 m. 6 w.), mit Epilepsie und Lähmungen 1 m. Von 105 Idioten
besuchten die Schule 76 (44 m. 32 w.), davon mit Erfolg 60 (34 m. 26 w.). Erb¬
liche Disposition war vorhanden rücksichtlich Geistes- und Nervenkrankheiten
bei 51, Alkoholismus 20 (10 m. 10 w.), Syphilis 6, Tuberkulose 11 (6 m. 5 w.).
Gestorben sind 12, davon, im Status epilepticus 1 m., an Lungenentzündung 1 w.
Blankenhain i. Thür. (82): Der Bericht umfaßt die Jahre 1908—1912.
Anfangsbestand 1908 : 574 (273 M. 301 Fr.). Gesamtzugang 464 (239 M. 225 Fr.),
davon im Jahre 1912: 111 (62 M. 49 Fr.). Abgang insgesamt 428 (228 M.
220 Fr.). Bleibt Schlußbestand 1912 : 610 (284 M. 326 Fr.). In der Siechen¬
abteilung Anfangsbestand 15 (6 M. 9 Fr.), Schlußbestand 11 (6 M. 6 Fr.). Vom
Zugang 1912 litten an einfacher Seelenstörung 59 (25 M. 34 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 4 (3 M. 1 Fr.), Idiotie, Imbezillität 33 (24 M., 9 Fr.), an Epilepsie
mit oder ohne Seelenstörung 7 (5 M. 2 Fr.), an Alkoholismus 6 (5 M. 1 Fr.).
Erbliche Belastung fand sich in den Berichtsjahren zu 43 % bei den Männern, zu
40 % bei den Frauen. Entlassen geheilt sind insgesamt 3 (2 M. 1 Fr.), gebessert
bzw. beurlaubt 186 (92 M. 93 Fr.), ungeheilt oder in andere Anstalten übergeführt
111 (76 M. 35 Fr.). Gestorben sind insgesamt 119 (54 M. 65 Fr.), davon infolge
Tuberkulose 20 (9 M. 11 Fr.), an Karzinom 6 (1 M. 5 Fr.), Typhus 1 M. In den
letzten 2 Jahren zeigten sich Typhuserkrankungen häufiger. Bei 20 Kranken wurden
Typhus- und Parabazillen gefunden. 2 Döckersche Baracken wurden mit Bazillen¬
trägern belegt, worauf, nachdem auch aus den Küchen einige entfernt waren,
die zwar keine Bazillenausscheidung, jedoch positiven Yidal zeigten, keine Neu¬
erkrankungen mehr vorkamen. Das Typhuslaboratorium arbeitet seit 1912. — Be¬
schäftigt werden im Durchschnitt 40 %. In Familienpflege befanden sich seit
1908:10—12 Personen. Eine Vergrößerung und Modernisierung der Anstalt ist un¬
bedingtes Erfordernis. — Gesamtausgabe 1912 : 393 055,77 M.
Sigmaringen (151): In der Abteilung für Geisteskranke war ein Anfangs¬
bestand von 156 (79 M. 77 Fr.). Zugang 44 (29 M. 15 Fr.). Bleibt Bestand 172
(91 M. 81 Fr.). Vom Gesamtbestand, 200 (108 M. 92 Fr.), litten an einfacher
Seelenstörung 133 (67 M. 66 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 1 M., an Idiotie,
Imbezillität, Kretinismus 41 (27 M. 14 Fr.), an Epilepsie mit Geistesstörung 19
(11 M. 8 Fr.), an Hysterie 4 Fr., an Alkoholismus 2 M. Entlassen als geheilt sind
6 (4 M. 2 Fr.), gebessert 6 (3 M. 3 Fr.), ungeheilt 5 (3 M. 2 Fr.). Gestorben
sind 11 (7 M. 4 Fr.). Die Überweisung gefährlicher Kranker (2) ist für die kleine
Anstalt ein mißlicher Übelstand, der im Interesse der öffentlichen Sicherheit bald
beseitigt werden müßte.
Bayreuth (78): Anfangsbestand 647 (362 M. 285 Fr.). Zugang 153 (90 M.
63 Fr.). Abgang 149 (91 M. 58 Fr.). Bleibt Bestand 651 (361 M. 290 Fr.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 107 (54 M. 53 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 7 (5 M. 2 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie, Hysteroepilepsie 13
(7 M. 6 Fr.), Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 13 (12 M. 1 Fr.), Alkoholismus
10 M. Entlassen geheilt 26 (14 M. 12 Fr.) = 18 %, gebessert 49 (27 M. 22 Fr.) =
34%, ungebessert 26 (16 M. 10 Fr.) = 18%; nicht geisteskrank 5. Gestorben
sind 43 (32 M. 11 Fr.), davon an Tuberkulose 8 (5 M. 3 Fr.), an Karzinom 1 M.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Heredität nachgewiesen bei 72 (41 m. 31 w.), Alkoholmißbrauch bei 20 (19 m.
1 w.). Der Alkoholkonsum in der Anstalt zeigt einen weiteren Rückgang (70 241 1
gegen 99400 i. J. 1909). Gesamtausgabe: 605 352,60 M.
St. Getreu zu Bamberg (77): Der Bericht umfaßt die Jahre 1911,12 u. 13.
Anfangsbestand 1911: 138 (59 M. 79 Fr.). Zugang 91,(54 M. 37 Fr.). Abgang
84 (55 M. 29 Fr.). Bleibt Bestand für 1912: 146 (58 M. 87 Fr.). Zugang 93
(60 M. 33 Fr.). Abgang 80 (46 M. 35 Fr.). Bleibt Bestand für 1913:158 (73 M .
86 Fr.). Zugang 98 (62 M. 36 Fr.). Abgang 104 (68 M. 36 Fr.). Bleibt Schlu߬
bestand 1913: 152 (67 M. 85 Fr.). Vom Zugang 1913 litten an einfacher Seelen¬
störung 82 (48 M. 34 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 2 M., Seelenstörung mit
Epilepsie, Hysteroepilepsie 5 (4 M. 1 Fr.), Imbezillität 5 (4 M. 1 Fr.), Delir,
potator. 4 M., während vom Zugang 1911 und 1912 gelitten hatten an einfacher
Seelenstörung 79 (46 M. 33 Fr.) bzw. 73 (43 M. 30 Fr.), an paralytischer Seelen-
Störung 1912: 6 (5 M. 1 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie 3 M. bzw. 11 (10 M.
1 Fr.), an Imbezillität, Idiotie 5 (3 M. 2 Fr.) bzw. 1 M., an Delirium potatorum
4 (2 M. 2 Fr.) bzw. 1 Fr. — Unter den Krankheitsformen fanden sich 1913 akute
halluzinatorische Verwirrtheit bei 3, chronische Halluzinose bei 4, manisch-depres¬
sive Formen bei 13, Alkoholpsychosen bei 13, Formen der Dementia praecox bei 20,
Dementia senilis bei 6, mit Arteriosklerose bei 4, progressive Paralyse bei 2 Kranken.
1911 waren 17 und 1912 15 Alkoholpsychosen zu konstatieren. Erbliche Be¬
lastung 1913 in 32, 1911 und 1912 in 30 bzw. 25 Fällen als erwiesen anzusehen.
Entlassen als genesen wurden 1913: 16 (11 M. 5 Fr.), gebessert 49 (34 M. 15 Fr.),
ungebessert 26 (16 M. 10 Fr.), davon in andere Anstalten überführt 20, während
in den beiden Vorjahren 18 (11 M. 7 Fr.) bzw. 9 (3 M. 6 Fr.) als genesen, 33
(24 M. 9 Fr.) bzw. 44 (30 M. 14 Fr.) als gebessert, 26 (14 M. 12 Fr.) bzw. 15
(7 M. 8 Fr.) ungebessert entlassen waren, wovon 11 in andere Anstalten überführt
wurden. Gestorben sind 1913 = 13 (7 M. 6 Fr.) gegen 7 (6 M. 1 Fr.) und 11
(4 M. 7 Fr.) in den Vorjahren, entsprechend einem Mortalitätsverhältnis zum
Gesamtbestand von 5 % pro 1913, 3 % pro 1911 und 4,7 % für 1912. Insgesamt
2 Todesfälle infolge Tuberkulose, 1 Selbstmord. — Gesamtausgaben: 1911:
131399,25 M., 1912: 145 379,27 M., 1913: 156 688,21 M.
Kutzenberg (116): Anfangsbestand 312 (167 M. 145 Fr.). Zugang 118
(60 M. 58 Fr.). Abgang 149 (75 M. 74 Fr.). Bleibt Bestand281 (162 M. 129 Fr.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 91 (43 M. 48 Fr.), an paralytischer
Seelenstörung 5 (4 M. 1 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie und Hysteroepi¬
lepsie 10 (3 M. 7 Fr.), an Idiotie, Imbezillität 4 (2 M. 2 Fr.), an Alkoholismus
8 M. Entlassen sind geheilt 37 (20 M. 17 Fr.), gebessert 65 (34 M. 31 Fr.), un-
geheilt 14 (7 M. 7 Fr.), davon in andere Anstalten überführt 6. Mit dem Straf¬
gesetz in Konflikt 22 (20 M. 2 Fr.). In Familienpflege zu Beginn des Berichts¬
jahres 12 (6 M. 6 Fr.), 7 P. im Verlauf des Jahres zurückverlegt. Todesfälle 33
(14 M. 19 Fr.), davon 3 an Lungen- und Darmtuberkulose. Gesamtmortalität
11,6% des Durchschnittsbestandes (285); Tuberkulosesterblichkeit 9,1% der
Verstorbenen. Gesamtausgabe: 236876,48M.
Eglfing (93): Anfangsbestand 1374 (685 M. 689 Fr.). Zugang 612 (353 M.
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
337*
259 Fr.). Abgang 883 (489 M. 394 Fr.). Bleibt Bestand 1103 (549 M. 554 Fr.).
Zur Beobachtung gemäß § 81 Str.-P.-O. eingewiesen 13 (12 M. 1 Fr.), davon 4
(3 M. 1 Fr.) unzurechnungsfähig bzw. geisteskrank. An andere Anstalten (haupt¬
sächlich Haar) wurden überführt 465 (241 M. 224 Fr.). Von den Aufnahmen litten
an einfacher Seelenstörung 372 (171 M. 201 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 115
(75 M. 40 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie oder Hysteroepilepsie 28 (22 M.
6 Fr.), an Idiotie, Imbezillität, Kretinismus 13 (8 M. 5 Fr.), an Delir, pot. 75
(68 M. 7 Fr.); nicht geisteskrank 9 M. Entlassen als geheilt 43 (26 M. 17 Fr.),
gebessert 192 (121 M. 71 Fr.). Gestorben sind 126 (70 M. 56 Fr.), davon infolge
Tuberkulose 29 (16 M. 13 Fr.), Krebs 3 M. Auf 100 Paralytische des Durch¬
schnittsbestandes trafen 32,9 Todesfälle (im Vorjahr 59), auf je 100 Nichtpara¬
lytische 6,8 (im Vorjahr 7,9). — Gesamtausgabe: 1361248,12 M.
Haar (102): Die Anstalt ist im Oktober 1912 in Betrieb genommen. Auf¬
nahmen 394 (202 M. 192 Fr.). Abgang 10 (4 M. 6 Fr.). Bleibt Bestand 384
(198 M. 186 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 236 (92 M.
144 Fr.), an paralytischer Seelenstörung 71 (43 M. 28 Fr.), Seelenstörung mit
Epilepsie, Hysteroepilepsie 32 (19 M. 13 Fr.), Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 31
(26 M. 5 Fr.), Alkoholismus 24 (22 M. 2 Fr.). Entlassen gebessert 1 M., unge-
bessert 6 (2 M. 4 Fr.), davon in andere Anstalten überführt 3 (1 M. 2 Fr.). Ge¬
storben sind 3 (1 M. 2 Fr.), infolge Paralyse. — Die Mehrzahl der anfänglich Auf-
genommenen war aus der überfüllten Anstalt Eglfing transferiert. — Gesamtaus¬
gabe: 90 930,53 M.
Gabersee (99): Anfangsbestand 812 (415 M. 397 Fr.). Zugang 247 (129 M.
118 Fr.). Abgang 228 (101 M. 127 Fr.). Bleibt Bestand 831 (443 M. 388 Fr.).
Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 166 = 74,5 % (31,4 % M. 43,1 % Fr.),
an paralytischer Seelenstörung 19 = 8,5% (4,9% M. 3,6% Fr.), Epilepsie mit
Seelenstörung 11 = 4,9 % (3,6 % M. 1,3 % Fr.), Imbezillität 14 = 6,3 % (4,9% M.
1,3% Fr.), Alkoholismus (inkl.Morphinismus) 11 = 4,9% (4,0% M. 0,9% Fr.);
nicht geisteskrank 2 gemäß § 81 Str.-P.-O. eingewiesene Männer. Abgegangen sind
genesen 41 = 18,4 %, gebessert 66 = 29 %, ungeheilt 40 = 17,5 %. Von den
Genesenen waren vor der Aufnahme krank 1—2 Monate 26, 3—6 Monate 5, 1—2
Jahre 7, über 2 Jahre 1, unbestimmbare Zeit 2. Gestorben sind 80 = 35,1 % des
Abgangs (13,6% M. 21,6% Fr.), davon an Tuberkulose 21, infolge Paralyse 12,
Karzinom 3. Typhuserkrankung 1. Bestand der Bazillenträgerinnen vom
Vorjahre 3, Zugang 3, gestorben 2, Schlußbestand 4. Zahl der beschäftigten ra.
und w. Pfleglinge während des Berichtsjahres mehr als 50 %. Tageskosten pro
Pflegling im Durchschnitt 2,14 M. gegen 2,02 im Vorjahr. — Gesamtausgabe:
663 161,13 M.
Kaufbeuren (112): Anfangsbestand 672 (340 M. 332 Fr.). Zugang 381
(204 M. 177 Fr.). Abgang 342 (182 M. 160 Fr.). Bleibt Bestand 698 (352 M.
346 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 247 (108 M. 139 Fr.),
an paralytischer Seelenstörung 31 (21 M. 10 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie
und Hysteroepilepsie 38 (16 M. 22 Fr.), an Imbezillität, Idiotie, Kretinismus 16
(13 M. 3 Fr.), an Alkoholismus 37 (36 M. 1 Fr.); nicht geisteskrank 12 (10 M.
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit.
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
2 Fr.). Beobachtet auf Grund § 81 Str.-P.-O. 32 (26 M. 6 Fr.), auf Grund § 51
Str.-G.-B. außer Verfolgung gesetzt 16 M. 6 Fr. Entlassen als genesen 40 (21 M.
19 Fr.) = 11,7%, gebessert 150 (81 M. 69 Fr. =)43,8%, ungeheilt 107 (58 M.
49 Fr.) = 31,2 %. Gestorben 45 (22 M. 23 Fr.) = 13 %, davon an Tuberkulose
6 = 15,5 %, an Karzinom 1 M. 36,5 % der Verstorbenen waren Paralytiker. Die
bakteriologische Untersuchung auf Typhusbazillen wird fortgesetzt (1 Krarikenfall),
eine Bazillenträgerin ausfindig gemacht und isoliert. Die ganze Anstalt erhielt Neu¬
kanalisation. — Gesamtausgabe: 736 111,79 M.
In der Pflegeanstalt lrsee war der Anfangsbestand 267 (124 M. 143 Fr.).
Zugang 26 (7 M. 19 Fr.). Abgang 24 (5 M. 19 Fr.). Bleibt Bestand 269 (126 M.
143 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 13 (2 M. 11 Fr.), an
paralytischer Seelenstörung 9 (2 M. 7 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie und
Hysterie 1 Fr., an Imbezillität 3 M. Gebessert 2 (1 M. 1 Fr.), in eine andere
Anstalt verlegt 2 Fr.; gestorben 20 (4 M. 16 Fr.), davon an Lungentuberkulose
6 Fr., an Magenkrebs 1 M. — Gesamtausgabe: 243 383,69 M.
In den fünf Staatsirrenanstalten Württembergs (170), Schussenried,
Weinsberg, Weißenau, Winnental und Zwiefalten warim Berichtsjahr 1911
der Anfangsbestand 2624. Zugang 691 (360 M. 331 Fr.). Abgang 601 (327 M.
274 Fr.). Bleibt Bestand 2714 (1404 M. 1310 Fr.). Hierzu trat für das Berichts¬
jahr 1912 ein Zugang von 626 (334 M. 292 Fr.), es verblieb bei einem Abgang von
582 (298 M. 284 Fr.) Ende 1912 ein Schlußbestand von 2758 (1440 M. 1318 Fr.).
Auf die Gesamtzahl betrug der Bestand zu Beginn 1912: 81,3% (1911: 79,2%),
der Zugang 18,7 % (1911: 20,8), Abgang 17,4% (1911: 18,1 %) und der Schlu߬
bestand der Behandelten 82,6% (1911: 81,9 %); hiervon 52,2 % M. u. 47,8% Fr.
(1911: 48,3 % u. 51,7 %). Unter der Gesamtzahl der 1912 Aufgenommenen, davon
erste Aufnahmen 66,9% (1911: 67,7%), litten 6,3% an Idiotie und Imbezillität
(1911: 3,2%), an degenerativen Psychosen 4,6% (1911: 6,4%), an affektiven
Psychosen 21,7 % (24,5 %), an Dementia praecox 30,2 % (30,5 %), an chronisch¬
paranoischen Formen 8,2 % (6,9 %), an Infektions- und Erschöpfungspsychosen
2,9 % (2,3 %), traumatischen Geistesstörungen 0,3 % (1,2 %), Morphinismus u. a.
narkotischen Vergiftungen 0,2 % (0,1 %), Dementia paralytica und Lues cerebri
6,9% (5,6%), arteriosklerotischen und senilen Psychosen 5,6% (7,1%), Psy¬
chosen bei schwerem organischem Hirnleiden 0,6 % (0,1 %), Epilepsie mit Geistes¬
störung 5,8 % (4,1 %), diagnostisch unklar 0,6 % (0,9 %); nicht geisteskrank 4,9 %
(3 %). Die häufigsten Erkrankungen fallen in beiden Berichtsjahren wiederum in
die Altersstufen vom 21.—25. und vom 26.—36. Jahr. Vor dem 25. Jahr sind die
M. mehr gefährdet als die Fr., zwischen 30.—50. Jahr tritt Ausgleich ein, nach dem
50. Jahr Uberwiegt die Häufigkeit der Erkrankungen der Fr. — Zur Beobachtung
eingewiesen 1912: 32 Pers., davon nicht geisteskrank 28 (1911: 33 bzw. 18). Auf
Grund § 16 des Statuts der Staatsirrenanstalten polizeilich eingewiesen 1912: 6
(4 M. 2 Fr.), 1911: 3 (2 M. 1 Fr.). In forensischer Beziehung eingewiesen
1912: 43 (41 m. 2 w.), 1911: 36 m., davon 40 (1911: 33 m.) auf Grund § 81
Str.-P.-O. und 3 (1911: 3) nach § 217 Mil.-Str.-G.-O., davon 1912:16 (16 m. 1 w.),
1911: 17 m. als unzurechnungsfähig erklärt. — Erbliche Belastung in 46,5 % der
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Griitter, Anstaltswesen nnd Statistik.
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Vufnahmen (1911: 47,3%; 1910: 47,9%; 1909 : 49,3%). Geisteskrankheit bei
len Eltern der direkt Belasteten in 28% der Fälle (1911: 39%, 1910: 37%;
1909: 49 %), Trunksucht in 33 % (1911: 20 %; 1910: 40 %; 1909: 21 %). Direkte
Erblichkeit von Vaterseite überwiegt mit 67 bei 111 in Betracht kommenden Kran¬
ken (1912). Trunksucht und Erblichkeit allein 33 %; Trunksucht, Erblichkeit und
Familienanlage 22,2 %. Alkoholmißbrauch neben erblicher Veranlagung bei 11 %
(gegen 9,3 %, 10,4 %, 7,1 % in den Vorjahren). Neben Erblichkeit Intoxikationen
bei 0,5%, Lues 4,8% (1911: 5%), akute Infektion 1,2% (2,3%), chronische
körperliche Krankheit 2,6 % (2,1 %), Schwangerschaft, Geburt usw. 2,4 % (1,7 %),
Klimakterium 1 % (0,6 %), Kopfverletzungen 1,7 % (6 %), andere Verletzungen,
chirurgische Eingriffe 0,2 % (0,4 %), psychische Einflüsse 7,5 % (8,5 %), sonstige
bekannte Ursachen 5,6% (1,5%). Alkohol im allgemeinen ursächliche Bedeutung bei
11,6% der Aufnahmen (1911: 8,9%; 1910: 12%; 1909: 9%). — Krankheits¬
dauer vor der Aufnahme (in Prozenten der Genesungen): einmonatige Dauer
45,8% (1911: 53,9%; 1910: 39,6%; 1909: 51%), 2—3 Monate 27,1% (1911:
23,7%; 1910: 30,2%, 1909 : 22,5%), 4—6 Monate 18,8% (1911: 11,8%; 1910:
15,1%; 1909: 10,2%), 7—12 Monate 2,1% (1911: 4%, 1910: 11,3%; 1909:
8,2 %), nach einem Jahr 6,2 % (1911: 6,6 %; 1910: 3,8 %; 1909: 8,1 %). — Ent¬
lassen geheilt und gebessert 45,7 % (1911: 56,2 %) des Gesamtabgangs, gegenüber
einem 7 jährigen Durchschnitt (1906—1912) von 54,9 %. — Die Gesamtzahl der
Todesfälle in den 5 Staatsanstalten pro 1912 betrug 156 = 26,8% (1911: 148 =
25,6 %) des Abgangs und auf die Gesamtzahl der Verpflegten berechnet: 4,7 %
(1911: 4,5%), und zwar bei einem Durchschnittsprozentsatz von 4,66%. —
Tuberkulose Todesursache bei 21,8% (1911: 13,5%; 1910: 18,1 %; 1909 : 24,3%;
1908: 30%; 1907: 19,3%; 1906: 26,6%; 1905: 23,7%). Dementia paralytica
Todesursache in 19,9 % (1911: 21,6 %; 1910: 16,2 %). An der Gesamtsterblichkeit
waren mit Tuberkulosefällen höchstbeziffert Weißenau 1912 mit 28,6 %, Zwie¬
falten 1911 mit 19 %, Winnental 1910 mit 33 %, Zwiefalten 1909 mit 33,3 % und
Weinsberg 1908 mit 35 %. — Familienpflege hat im allgemeinen Rückgang erfahren
(1912: 66 Kr. gegen 69 im Vorjahr). In den Anstalten keine wesentliche epidemische
Erkrankungen, wenig Entweichungen, 3 Selbstmorde. — Keine größeren baulichen
Veränderungen.
Die Gesamtzahl der in den Privatanstalten Württembergs uhtergebrachten
Geisteskranken betrug i. J. 1912: 1794 (1911: 1768; 1910: 1679; 1909: 1704; 1908:
1638; 1907: 1590), darunter 54% (1911: 52%) Staatspfleglinge. Bei den Auf¬
nahmen überwiegend affektive Psychosen 27,1 % und Dementia praecox 32,2 %.
Erblich veranlagt 48 % der Aufnahmen. Todesfälle 25 % (1911: 28 %) der Gesamt¬
zahl der Entlassenen (gegen 26,8 % in den Staatsanstalten).
In der Irrenabteilung für Strafgefangene auf Hohcnasperg war i. J. 1912
die Gesamtzahl der Verpflegten 54 (1911: 56), bei einem Anfangsbestand von 29,
Zugang 25, Abgang 31 nnd Schlußbestand von 23 m. Insassen.
Abgesehen von den in der Tübinger psychiatrischen Klinik Verweilenden
kommt für 1912 unter Zugrundelegung der Volkszählung 1910 eine in einer Irren¬
anstalt des Landes untergebrachte Person auf 576 Einwohner gegen 584 Einwohner
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
i. J. 1911 (1910: 599; 1909: 600; 1908: 610; 1907 : 626; 1906: 646; 1905: 668;
1904: 684; 1903: 706; 1902 : 726; 1901: 757; 1900: 787; 1899: 810; 1898: .803).
Stetten i. Remstal (156): Verpflegte insgesamt im Berichtsjahr 581 (349 m.
232 w.). Zugang 89. Abgang 92. Davon entfielen auf die Abteilung für
Schwachsinnige 314 (209 m. 105 w.). Zugang 46 (36 m. 13 w.). Abgang 63
(27 m. 26 w.). Zur Entlassung kamen gebessert 23 (12 m. 14 w.), unge-
bessert24(ll m. 13 w.), davon 14 in eine andere Anstalt. Gestorben 6 (4 m.
2 w.). Erbliche Belastung in 60% aller Fälle, Trunksucht der Erzeuger vor¬
wiegend. Die Krankheitsgeschichte von 942 Schwachsinnigen wurde auf die
ursächlichen Beziehungen zwischen Tuberkulose und Schwachsinn durchforscht,
mit dem Ergebnis, dafi Tuberkulose neben anderen ursächlichen Einflüssen in
12,3 % (116 Fällen), als alleiniger ursächlicher Umstand in 2.6 % (25 Fällen)
vorlag. Demnach scheint Tuberkulose von keiner großen Bedeutung für die
Entstehung des Schwachsinns zu sein, ln der Abteilung für Epileptische wurden
insgesamt verpflegt 267 (140 m. 127 w.). Zugang 43 (22 m. 21 w.). Abgang
39 (23 m. 16 w.). Erbliche Belastung bei 46,6 % der Aufnahmen. Gebessert
entlassen 14 (6 m. 8 w.), in andere Anstalten überführt 6 m. und 1 Kind. Gestorben
12 (7 m. 8 w.), davon 6 im Status epilepticus. Versuche mit Sedobrol ergaben
recht gute Erfolge als anfnllmildemdes Mittel.
Mariaberg (125): Anfangsbestand 168 (126 m. 43 w.). Zugang 25 (15 m.
10 w.). Abgang 14 (10 m. 4 w.). Bleibt Bestand 172. Hiervon nehmen am
Unterricht teil 59, arbeitsfähige Erwachsene sind 60, bildungs- und arbeitsunfähige
Zöglinge 53 vorhanden. Gestorben sind 7 (6 m. 1 w.), davon 3 infolge Herz¬
leidens. Diphtherie trat in 8 Fällen auf, davon 2 tödlich.
Der Bericht der badischen Anstalten (76) enthält die Angaben für die
Berichtsjahre 1911 und 1912.
Heidelberg: Anfangsbestand 1911: 106 (61 M. 44 Fr.). Zugang 757
(466 M. 292 Fr.). Abgang 763 (469 M. 284 Fr.). Bleibt Bestand für 1912: 109
(57 M. 62 Fr.). Zugang 1912: 706 (444 M. 261 Fr.). Abgang 670 (418 M.
252 Fr.). Bleibt Schlußbestand für 1912:144 (83 M. 61 Fr.). — Im Jahre 1911
sind entlassen geheilt 87, gebessert 184, imgebessert 72, nicht geisteskrank 12, nach
Abschluß der Beobachtung in Unfall- usw. Sachen 62, nach Hause 417, in andere
Anstalten 306. Gestorben 30 (14 M. 16 Fr.), davon an Erkrankung des Gehirns 8
(3 M. 5 Fr.), des Herzens 8 (4 M. 4 Fr.), an Lungentuberkulose 1 M. 3 Fr., an
allgemeiner Arteriosklerose 1 M. Es fanden sich manisch-depressives Irresein
bei 21, hysterischer Charakter bei 19, Haftpsychose bei 4, traumatische Neurose
bei 44, Idiotie, Imbezillität bei 4, alkoholische Psychosen bei 52, darunter
chronischer Alkoholismus 34 und Delirium tremens 16; Morphinismus usw. bei 7,
progressive Paralyse 60, Dementia praecox 230, Epilepsie 33, senile und arterio¬
sklerotische Prozesse bei 18. Nicht geisteskrank oder psychopathisch waren 20.
Auf Grund § 81 Str.-P.-0.18 (15 M. 3 Fr.) zur Beobachtung eingewiesen, im Sinne
§ 61 Str.-G.-B. entschieden bei 4. Gemäß § 8 des Irrengesetzes 5 zur Beobachtung
eingewiesen. Gemäß § 656 Z.-P.-0. fand 1 Aufnahme statt. Im Jahre 1912
sind .als geheilt entlassen 73, gebessert 176, ungebessert 82, nicht geisteskrank 14,
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Grüfcter, Anstaltswesen and Statistik.
341*
nach Abschluß der Beobachtung in Unfall- usw. Sachen 64, nach Hause 409, in
andere Anstalten 230. Gestorben sind 31 (16 M. 16 Fr.), davon an Erkrankung
des Gehirns 9 (7 M. 2 Fr.), des Herzens 6 (3 M. 3 Fr.), an Lungentuberkulose
1 M., an Dysenterie 4 Fr., an allgemeiner Arteriosklerose 1 M., Karzinom und
Karzinomatose 2 Fr. Es litten an manisch-depressivem Irresein 86, an angeborenem
Schwachsinn 17, Hysterie 20, an sonstigen psychopathischen konstitutionellen
Formen 64, an traumatischer Neurose 42. Idiotie, Imbezillität fand sich bei 6,
chronischer Alkoholismus bei 23, Delirium tremens 12, progressive Paralyse 53, De¬
mentia praecox 253, senile und arteriosklerotische Prozesse bei 25. Unklare akute
Fälle 10, weder geisteskrank noch psychopathisch 10. Einweisung zur Beobachtung
auf Grund § 81 Str.-P.-O. 16 (13 M. 2 Fr.), davon 7 im Sinne § 61 Str.-G.-B.
geisteskrank. Im Juni 1912 erkrankte eine größere Zahl von Patienten im allge¬
meinen leicht an Dysenterie, jedoch mit 4 Todesfällen. Zur Verhinderung der
Ausbreitung der Krankheit wurde die Frauenseite vom 12. Juni bis 20. Juli, die
Männerseite auf einige Tage geschlossen. — Gesamtaufwand 1911: 202 436,89 M.,
1912: 192 907,18 M.
Freiburg i. B.: Anfangsbestand 1911: 134 (72 M. 62 Fr.). Zugang 636
(287 M. 249 Fr.). Abgang 640 (288 M. 252 Fr.). Bleibt Bestand für 1912:
130 (71 M. 69 Fr.). Zugang 1912: 606 (312 M. 294 Fr.). Abgang 601 (313 M.
288 Fr.). Bleibt Schlußbestand 1912: 136 (70 M. 66 Fr.). Im Jahre 1911
sind entlassen geheilt 114, gebessert 103, ungebessert 67, nach abgeschlossener Be¬
obachtung nach Hause 5, versetzt in andere Anstalten 186. Einfache Seelenstörung
zeigten 90 (46 M. 44 Fr.), paralytische 8 M., Idiotie, Imbezillität 7 (4 M. 3 Fr.),
Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 8 (3 M. 6 Fr.), Alkoholismus 8 (7 M. 1 Fr.).
Gestorben sind 1911: 46 (28 M. 17 Fr.), davon an progressiver Paralyse 7, De¬
mentia senilis 7, arteriosklerotischer Demenz 2, an Tumor cerebri 1. — Im Jahre
1912 sind entlassen als geheilt 116, gebessert 187, ungebessert 48, nach abge¬
schlossener Beobachtung 4, in andere Anstalten versetzt 196. An einfacher Seelen¬
störung litten 80 (30 M. 60 Fr.), an paralytischer 17 (14 M. 3 Fr.), an Idiotie,
Imbezillität 7 (3 M. 4 Fr.), an Epilepsie mit und ohne Seelenstörung 7 (4 M.
3 Fr.), Alkoholismus 13 M. Gestorben sind 1912: 60, davon an progressiver Para¬
lyse 11, Dementia senilis 4, arteriosklerotischer Demenz 6, an Meningitis tubercu-
losa 2. — In der Abteilung für Nervenkranke war der Anfangsbestand im Jahre 1911:
26 (14 M. 12 Fr.), Zugang 1911: 360 (195 M. 166 Fr.). Abgang 361 (200 M.
161 Fr.). Anfangsbestand 1912: 26 (9 M. 16 Fr.). Zugang 349 (214 M. 136 Fr.).
Abgang 344 (207 M. 137 Fr.). Bleibt Schlußbestand 1912: 30 (16 M. 14 Fr.). —
In der Poliklinik wurden im Jahre 1911 bei einem Zugang von 603 im ganzen 634
Kranke (264 M. 370 Fr.) behandelt, im Jahre 1912 bei einem Zugang von 646 im
ganzen 630 (368 M. 262 Fr.). — Bezüglich der Gefährlichkeit Geisteskranker für
Dritte und der Rückfälligkeitschance wird im allgemeinen Anstaltsinteresse auf die
R.-G.-Entscheidungen bez. § 5 Abs. 1 des Irrengesetzes vom 13. X. 1910 und
vom 23. V. 1911 hingewiesen. — Gesamtausgabe 1911: 261175,57 M., 1912:
274 066,28 M.
Illenau: Anfangsbestand 1911: 666 (314 M. 341 Fr.). Zugang 604 (297 M.
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342*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
307 Fr.). Abgang 584 (290 M. 294 Fr.). Bleibt Bestand für 1912 : 675 (321 M.
354 Fr.). Zugang 1912: 691 (289 M. 302 Fr.). Abgang 586 (296 M. 291 Fr.).
Bleibt Schlußbestand 1912 : 680 (316 M. 365 Fr.). Im Jahre 1911 sind ent¬
lassen als geheilt 69 (45 M. 24 Fr.), gebessert 340 (157 M. 183 Fr.), ungebessert 15
(8 M. 7 Fr.), versetzt in andere Anstalten 87, nicht geisteskrank bzw. nach er¬
folgter Beobachtung entlassen 8 M. Vom Zugang litten an originär paranoischen
Formen 3 (1 M. 2 Fr.), an manisch-depressivem Irresein 121 (29 M. 92 Fr.), an
Imbezillität 9 (1 M. 8 Fr.), Alkoholismus 51 (44 M. 7 Fr.), an progressiver Para¬
lyse 31 (26 M. 5 Fr.), Lues cerebri 1 M, Dementia praecox 189 (90 M. 99 Fr.),
Epilepsie 4 (3 M. 1 Fr.), an senilen und arteriosklerotischen Formen 43 (24 M.
19 Fr.). Gestorben sind 65 (33 M. 32 Fr.), davon an Tuberkulose 8. Im Jahre
1912 sind entlassen geheilt 84 (49 M. 35 Fr.), gebessert 336 (161 M. 175 Fr.),
ungebessert 19 (6 M. 14 Fr.), versetzt in andere Anstalten 71 (34 M. 37 Fr.).
Vom Zugang litten an originär-paranoischen Formen 4 Fr., an manisch-depressivem
Irresein 148 (48 M. 100 Fr.), an Imbezillität, Idiotie 12 (4 M. 8 Fr.), an Alko¬
holismus 45 (43 M. 2 Fr.), progressiver Paralyse 22 (20 M. 2 Fr.), Lues cerebri
5 M., Dementia praecox 188 (80 M. 108 Fr ), Epilepsie 7 (4 M. 3 Fr.), an senilen
und arteriosklerotischen Prozessen 36 (21 M. 15 Fr.). Gestorben sind 1912: 62
(32 M. 30 Fr.), davon an Altersschwäche und arteriosklerotischer Herzdegenera¬
tion 14 (4 M. 10 Fr.), an Tuberkulose 3 (1 M. 2 Fr.) und an Veronalvergiftung (?)
1 M. (Selbstmord). Nach § 81 Str.-P.-O. wurden 1911 = 14 P., 1912 = 16 P.,
nach § 217 Milit.-Str.-Ger.-0. im Jahre 1911 = 2, 1912 = 1 Soldat aufgenommen.
Von den durch das Zivilgericht eingewiesenen Personen wurden als geisteskrank im
Sinne § 51 R.-Str.-G.-B. erklärt und als unzurechnungsfähig begutachtet 1911 = 5,
1912 = 6 Pers. — Gesamtausgabe 1911: 888 473,67 M., 1912: 917 837,95 M.
Pforzheim: Anfangsbestand 1911: 592 (297 m. 295 w.). Zugang 55
(28 m. 27 w.). Abgang 88 (49 m. 39 w.). Bleibt Bestand für 1912: 659
(276 m. 283 w.). Zugang 1912: 31 (18 m. 13 w.). Abgang 79 (46 m. 33 w.).
Bleibt Schlußbestand 1912 : 511 (248 m. 263 w.). Entlassen wurden 1911 ge¬
bessert 24, ungebessert 3, in Familienpflege 6, in andere Anstalten 21. An einfacher
Seelenstörung litten 461 (210 M. 251 Fr.), an paralytischer 81 (54 M. 27 Fr.),
an Epilepsie mit Seelenstörung 14 (9 M. 5 Fr.), an Imbezillität, Idiotie und Kre¬
tinismus 86 (49 M. 37 Fr.). Gestorben sind 1911: 61 (38 M. 23 Fr.), davon an
paralytischer Demenz 22 (16 M. 6 Fr.), an Tuberkulose 9, Typhus 1 M. Bei
einem w. Pflegling fand sich ein faustgroßer unilokulärer Echinokokkus mit zahl¬
reichen Tochterblasen in der Leber. Im Jahre 1912 wurden entlassen als gebessert 8,
ungebessert 9* in Familienpflege 1, in andere Anstalten 16. An einfacher Seelen¬
störung litten 425 (192 M. 233 Fr.), an paralytischer 60 (37 M. 23 Fr.), an Epi¬
lepsie mit Seelenstörung 14 (9 M. 5 Fr.), an Idiotie, Imbezillität und Kretinis¬
mus 84 (51 M. 33 Fr.), an Alkoholismus 1 M. — Gestorben sind 1912: 62 (32 M.
30 Fr.), davon infolge Paralyse 18, an Tuberkulose 9, an Typhus 1 M. An Typhus
mehrfache Erkrankungen, so 1911 im Januar und Februar je 1 Fall, einer mit letalem
Ausgang, 1912 je ein Fall im Februar und Oktober, alsdann erkrankte im Dezember
ein Anstaltsbäcker, und im Anschluß daran von den Pfleglingen 11 (8 M. 3 Fr.)
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
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vom Personal 20 (1 m. 19 w.). Ein Werkmeister und ein Pflegling starben,
Übrigen Fälle verliefen günstig, jedoch mit auffallend vielen Rezidiven. Das
ional wurde in das Ortskrankenhaus verbracht. Infektionsquelle zweifellos der
‘senkte Bäcker. Gesamtausgabe 1911: 371 258,40 M., 1912: 364 992,67 M.
Emmen dingen: Anfangsbestand 1911:1371 (752 M. 619 Ft.). Zugang 292
6 M. 156 Fr.). Abgang 305 (146 M. 169 Fr.). Bleibt Bestand für 1912: 1358
2 M. 616 Fr.). Zugang 1912: 281 (146 M. 135 Fr.). Abgang 245 (130 M.
> Fr.). Bleibt Schlufibestand 1912: 1394 (758 M. 636 Fr.). Entlassen wurden
11 : geheilt 2, gebessert 189, ungebessert 24, entlassen in Familienpflege 184, in
dere Anstalten 31; entlassen 1912: gebessert 159, ungebessert 19, in Familien-
lege 143, in andere Anstalten 35. Form der Psychosen, 1911: einfache Seelen-
nrung 1295, Paralyse 6, Imbezillität, Idiotie 159, Epilepsie mit ^eelenstörung 150,
vsterie 14, Alkoholismus 36, Morphinismus 1, andere Krankheiten des Nerven-
:stems 1, 1912: einfache Seelenstörung 1299, Paralyse 7, Imbezillität, Idiotie 152,
ipilepsie mit Seelenstörung 70, Hysterie 10, Alkoholismus 38, andere Erkrankungen
es Nervensystems 3. Gestorben sind im Jahre 1911 insgesamt 90 (38 M. 62 Fr.),
912 insgesamt 67 (37 M. 30 Fr.). Todesursache waren Tuberkulose in 44 Fällen,
rCrebs in 13, Epilepsie in 11, Hirnblutung in 8, Paralyse 7, Altersschwäche in 7,
Typhus in 2 Fällen. Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten waren 1911 = 266 M.
55 Fr., 1912 = 273 M. 56 Fr. Tuberkuloseerkrankungen aller Art 1911 = 46
(13 M. 33 Fr.), 1912 = 32 (14 M. 18 Fr.). Typhusfälle 1911 = 3 Fr., 1912 =
4 Fr. 1 M. Die Untersuchungen auf Bazillenträger wurden fortgesetzt. Vom
Hygienischen Institut in Freiburg wurden unter 216 Kranken und 64 Angestellten
gefunden: Paratyphusbazillen bei 22 Pat. (2 M. 20 Fr.) und bei 9 Angestellten
(2 m. 5 w.), Typhusbazillen bei 7 kranken Frauen und bei 1 M. zugleich mit
Parabazillen. Dysenteriebazillen konstatiert bei 6 Patientinnen. Bei der großen
Zahl der Kranken und der Überfüllung der Anstalt ist die größte Sorgfalt zur Ver¬
hütung epidemischer Ausbreitung von Infektionen fortgesetzt geboten. Gesamt¬
aufwand im ordentlichen Etat 1911: 1569 444,86 M., im außerordentlichen
57 756,26; 1912: im ordentlichen Etat 1580 077,72 M.; im außerordentlichen
73 289,40 M. Bauaufwand für bauliche Veränderungen und Neubauten in Höhe
des außerordentlichen Etats.
Wiesloch: Anfangsbestand 1911: 1094 (671 M. 623 Fr.). Zugang 446
(•236 M. 210 Fr.). Abgang 376 (210 M. 166 Fr.). Bleibt Bestand für 1912:
1167 (699 M. 568 Fr.). Zugang 1912: 438 (248 M. 190 Fr.). Abgang 363 (222 M.
141 Fr.). Bleibt Schlußbestand 1912:1241 (624 M. 617 Fr.). Entlassungen 1911:
genesen 2 M., gebessert 232 (116 M. 116 Fr.), ungebessert 33 (24 M. 9 Fr.), in
andere Anstalten usw. verlegt 36. Entlassungen 1912: genesen 1 M., gebessert 224
(139 M. 86 Fr.), ungebessert 23 (17 M. 6 Fr.). In andere Anstalten usw. ver¬
legt 47. Form der Psychosen aller Verpflegten: 1911: einfache Seelenstörung 1158,
Paralyse 47, Idiotie, Imbezillität 105, Epilepsie mit Seelenstörung 106, Hysterie 11,
Alkoholismus 58; 1912: einfache Seelenstörung 1147, Paralyse 66, Idiotie, Im¬
bezillität 124, Epilepsie mit Seelenstörung 113, Hysterie 15, Alkoholismus 78. Ge¬
storben sind im Jahre 1911 insgesamt 73 (42 M. 31 Fr.), davon an Phthisis pul-
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
monum 18 (6 M. 12 Fr.), sonstigen tuberkulösen Erkrankungen ö, an Arterio¬
sklerose 3, Dysenterie 2, infolge Paralyse 11, Status epilepticus 3, Apoplexie 2,
Marasmus senilis 6, gewaltsam 1. Im Jahre 1912 insgesamt 68 (35 M. 33 Fr.)
Todesfälle, darunter Phthisis pulmonum 19, sonstige tuberkulöse Erkrankungen 2,
Arteriosklerose (cerebri) 1, Karzinom 3, Typhus 1, Paralyse 8, Status epilepticus 1,
Marasmus senilis 5. Nach dem Stand vom Dezember 1912 befanden sich unter 624
männlichen Kranken 176, die mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen waren;
also 28,2 % gegen 28,5 % am 31. Dezembet 1910. Typhuserkrankungen: 1 Er¬
krankung im September 1911 in demselben Hause, in dem im vorigen Jahre eine
Typhusepidemie ausgebrochen war. Das Haus wurde bis Ende Oktober für den
Kranken verkehr gesperrt. Die bakteriologische Durchprüfung wird fortgesetzt,
bei einer früheren Arbeiterin dieses Hauses wurden im Februar 1912 Paratyphus -
bazillen gefunden. Die Betreffende ist isoliert. Gesamtaufwand 1911:1093 024,05 M.
1912: 1184 509,95 M.
Der Bericht der badischen Anstalten schließt mit einer Übersicht über die
Krankenbewegung der staatlichen Anstalten und des Etats seit 1870. — Der Ge¬
samtkrankenbestand wuchs von 976 im Jahre 1870 auf 4103 im Jahre 1912, die
Gesamtausgabe betrug im Jahre 1870: 815 923 M., im Jahre 1912: 4 546 157 M.
Saargemünd (143): Anfangsbestand 456 (224 M. 232 Fr.). Zugang 214
(130 M. 84 Fr.). Abgang 188 (116 M. 72 Fr.). Bleibt Bestand 482 (238 M.
244 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 138 (77 M. 61 Fr.),
paralytischer Seelenstörung 32 (19 M. 13 Fr.), Seelenstörung mit Epilepsie und
Hysterie 15 (11 M. 4 Fr.), Idiotie, Imbezillität 25 (18 M. 7 Fr.), alkoholischer
Seelenstörung 8 M.; nicht geisteskrank 7 (5 M. 2 Fr.). Auf Grund § 81 Str.-P.-O.
zur Beobachtung überwiesen 9 (8 M. 1 Fr.), außerdem mit dem Strafgesetz in
Konflikt geraten .32 (28 M. 4 Fr.). Heredität der Aufgenommenen bei 42%
der M., 47,12 % der Fr. Alkoholmißbrauch der Aufnahmen 26,22 % in 59 Fällen.
Entlassen genesen 52, gebessert 51, ungeheilt in andere Anstalten 24, nach Hause 17.
Gestorben 30 (14 M. 16 Fr.), davon an Tuberkulose 7 (1 M. 6 Fr.), Karzinom
1 Fr. Mortalität allgemein 8,6%, an Dementia paralytica 30% des Gesamtbe¬
standes. — Gesamtausgabe 392 062,86 M.
Stephansfeld (155): Anfangsbestand 925 (420'M. 505 Fr.). Zugang 290
(152 M. 138 Fr.). Abgang 294 (161 M. 133 Fr.). Bleibt Bestand 921 (411 M.
610 Fr.). Vom Zugang litten an einfacher Seelenstörung 178 (70 M. 108 Fr.),
an paralytischer Seelenstörung 25 (21 M. 4 Fr.), an sonstigen organischen Psy¬
chosen 14 (9 M. 5 Fr.), an Hysterie und Epilepsie 30 (22 M. 8 Fr.), an Idiotie,
Imbezillität 20 (11 M. 9 Fr.), an Alkoholismus 13 (12 M. 1 Fr.). Nicht geistes¬
krank waren 9 (7 M. 2 Fr.). Heredität vorhanden bei 30 %. der Aufgenommenen.
Zur Beobachtung eingewiesen waren 9 M., davon 3 geisteskrank im Sinne § 51
Str.-G.-B. Entlassen als genesen 34 (17 M. 17 Fr.), gebessert 82 (61 M. 31 Fr.),
ungeheilt in die Familie 17 (9 M. 8 Fr.), in andere Anstalten 86 (44 M. 41 Fr.).
Die Genesenen machen 11,7 %, die Gebesserten 40 % der Aufnahmen aus. Die
Behandlungsdauer genesen und gebessert Entlassener betrug bis 1 Monat bei 21
(17 M. 4 Fr.), 1—3 Monat bei 42 (24 M. 18 Fr.), 4^-6 Monat bei 18 (13 M.
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Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
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5 Fr.), 7—12 Monat bei 15 (7 M. 8 Fr.), 1—2 Jahre bei 7 (3 M. 4 Fr.), 2—5
Jahre bei 8 (2 M. 6 Fr.), über 5 Jahre bei 5 (2 M. 3 Fr.). Gestorben sind 66
(30 M. 36 Fr.), d. s. 6,4 % aller Verpflegten. Tuberkulose war in 16 Fällen, Nerven¬
leiden in 19 Fällen Todesursache. Mit Eröffnung des Verwabrungshauses in Rufach
wurden zunächst 3, alsdann weitere 4 gefährliche bzw. kriminelle Kranke dorthin
verbracht, eine Maßnahme, die sich in erfreulicher Weise bemerkbar machte.
Die Typhusträgerin blieb auch fernerhin isoliert. Vereinzelte Ruhrerkrankungen
ohne endemischen Charakter fielen vor. Bei 9 Patienten waren 13 Befunde positiv.
— Gesamtausgabe: 671 419,32 M.
Hördt (110): AnfangsbeBtand 410 (227 M. 183 Fr.). Zugang 110 (76 M.
34 Fr.). Abgang 51 (26 M. 26 Fr.). Bleibt Bestand 496 (277 M. 192 Fr.).
Auf das feste Haus entfielen vom Zugang 28, vom Abgang 2. Vom Zugang litten
an einfacher Seelenstörung 89 (60 M. 29 Fr.), an Seelenstörung mit Epilepsie
2 M., an Imbezillität, Idiotie 15 (10 M. 6 Fr.), Paralyse 2 M., alkoholischer Geistes¬
störung 2 M. Als genauere klinische Krankheitsformen sind u. a. anzuführen De¬
mentia praecox bzw. paranoides 53 Fälle (53 M. 22 Fr.), manisch-depressives
Irresein 14 (9 M. 5 Fr.), Haftpsychose 5 bei 6 M. Von den ins feste Haus Auf¬
genommenen litten an Dementia praecox 7 M., manisch-depressivem Irresein 2 M.,
progressiver Paralyse 1 M., Seelenstörung mit Epilepsie 1 M., Imbezillität 1 M.,
Psychopathie 5 M., Haftpsychose 5 M. Paranoia 1 M. Diagnostisch unklare Fälle
bei 5 M. Entlassungen fanden 5 statt, davon als gebessert 2. Gestorben sind 45
(21 M. 24 Fr.) = 8,7 % der Verpflegten, davon 13 (3 M. 10 Fr.) an Tuberkulose.
Selbstmord 1 M. Dysenteriefälle im Gegensatz zum Vorjahre vereinzelt. Von den
Typhusbazillenträgem starb 1 Fr., 1 m. und 1 w. Typhusbazillenträger sind noch
zugegen. Das neu erbaute Verwahrungshaus konnte im Mai 1912 in Betrieb ge¬
nommen werden. Hördt ist seit 1. April 1912 selbständige Anstalt und auch wirt¬
schaftlich von Stephansfeld völlig abgetrennt. — Ausgabe: 228 356,58 M.
Rufach (142): Anfangsbestand 706 (327 M. 379 Fr.). Zugang 520 (274 M.
246 Fr.). Abgang 448 (258 M. 190 Fr.). Bleibt Bestand 778 (343 M. 436 Fr.).
Vom Zugang litten an alkoholischer Seelenstörung 79 (77 M. 2 Fr.), Dementia
paralytica 32 (22 M. 10 Fr.), arterioskler. Seelenstörung 19 (14 M. 5 Fr.), De¬
mentia senilis 34 (16 M. 18 Fr.), Dementia praecox 148 (63 M. 85 Fr.), an para¬
noider Demenz 34 (18 M. 16 Fr.), manisch-depressiver Seelenstörung 67 (16 M.
51 Fr.), Imbezillität, Idiotie 8 (2 M. 6 Fr.); nicht geisteskrank 3 M. Heredität
bei 58 %, Alkoholmißbrauch bei 26 % der Aufnahmen. Zur Beobachtung 10,
darunter 7 gemäß § 81 Str.-P.-O. eingewiesen. Entlassen genesen 66 (52 M. 14 Fr.),
erheblich gebessert 193 (91 M. 102 Fr.) ungeheilt in andere Anstalten 34 (30 M.
4 Fr.), zur Familie 38 (21 M. 17 Fr.); entwichen 7 M., nach Beobachtung ent¬
lassen 10 (8 M. 2 Fr.). Gestorben sind 100 (49 M. 51 Fr.), davon an Tuber¬
kulose 18 (4 M. 14 Fr.), Karzinom 6 (4 M. 1 Fr.), Sublimatvergiftung 1 Fr., an
Herzschwäche 9 (6 M. 3 Fr.), chron. Herzkrankheiten 17 (7 M. 10 Fr.), Marasmus
21 (9 M. 12 Fr.). Mortalität 8,1 % der Verpflegten (gegen 8,2 % i. V.). — Gesamt¬
ausgabe 621 398,86 M.
In den Landesirrenanstalten Niederösterreichs (132) „Am Steinhof' 1
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Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Wien, Mauer-Öhling, Ybbs, Klosterneuburg und Gugging war 1910 ein
Anfangsbestand von 5436 Geisteskranken und 1539 Kolonisten und -Siechen, also ein
Gesamtbestand von 6975 Kranken. Der Zugang 1910 betrug 4210 (2393 M. 1817 Fr.).
Abgang 3935 (2263 M. 1682 Fr.). Bleibt Bestand für 1911 mit 7250 (3803 M.
3447 Fr.). Zugang ferner 3949 (2293 M. 1656 Fr.). Abgang 3943 (2347 M.
1596 Fr.). Bleibt Schlußbestand 1911 mit 7256 (37.49 M. 3507 Fr.). Von den
1911 Aufgenommenen hatten die an Dementia Leidenden mit 23,87 den höchsten
Prozentsatz gegen 23,77 % im Vorjahre; Paralytiker folgen mit 15,37 % gegen
16,64 %, Alkoholiker mit 12,87 % gegen 13,41 %, primäre Verrücktheit mit 8,32 %
gegen 10,20 %’ angeborener Schwachsinn mit 6,96 und 6,93 % gegen 6,19 und
5,58 %, Epileptiker mit 6,61 % gegen 6,19 % des Vorjahres. Akute Psychosen
stehen mit 13,14 % gegen 10,76 % im Jahre 1910, Paralytiker um 1,27 % günstiger,
auch ist die Zahl der aufgenommenen Alkoholiker um 0,54 % gefallen. Unter den
Aufnahmen der Kolonisten der Geistessiechen sind an Dementia Leidende mit
31,94 % beteiligt, Paralytiker mit 24,61 %, Imbezille mit 18,21 %, Idioten 7,03 %,
während Epileptiker wieder 12,14 %, Paranoiker 3,83 beanspruchen, und Hysterische
mit 0,32 %, ebenso wie Alkoholiker mit 0,64 % inkl. der übrigen Formen geringe
Prozentsätze aufweisen. Entlassen als geheilt wurden von 11186 Verpflegten des
Jahres 1910 im ganzen 870 = 7,77 % gegen 9,62 % entsprechend 886 geheilt Ent¬
lassener des gesamt verpflegten Bestandes von 11199 Kr. ult. 1911, d. i. ein um
2,05 günstigeres Heilprozent als im ersten der beiden Berichtsjahre. — 1911 sind
insgesamt gestorben 997, und zwar 807 (462 M. 345 Fr.) der Geisteskranken und
190 (118 M. 72 Fr.) der Kolonisten und Geistessiechen = 8,73 bzw. 9,56 % der
Verpflegungsbestände, entsprechend einer Gesamtmortalität von 8,9 % gegen eine
solche von 8,77 % im Jahre 1910. Tuberkulose fand sich bei 2,24 %; im sonstigen
war die zweijährige Berichtsperiode frei von epidemischen Erkrankungen. Die
neu eingeführte familiäre Verpflegungsform hat günstigen Erfolg. Mit Schluß des
Jahres 1911 waren in Familienpflege 237 Pfl. gegen 240 im Vorjahre. Zur Durch¬
führung der kolonialen Behandlung stehen Kolonie und Meierhof der Kaiser Franz
Joseph-Heilanstalt in Mauer-Öhling, die Kolonie Haschhoff in Gugging sowie die
den Landesanstalten angegliederten landwirtschaftlichen Betriebe zur Verfügung.
Die Berichte enthalten reiches statistisches Material.
In den niederösterreichischen Anstalten zur Pflege und Erziehung schwach¬
sinniger Kinder in Gugging, Oberhollabrunn, Bruck a. d. Mur, Biedermannsdorf,
Perchtoldsdorf und in der Idiotenabteilung zu Mödling waren 1911 untergebracht 710
(424 m. 286 w.) Kinder gegen 690 i. J. 1910. Vom Bestand 1911 litten an idioti¬
schem Blödsinn 15,4 %, hochgradigem Schwachsinn 34,2 %, an Schwachsinn mitt¬
leren Grades 40,6 % und an Schwachsinn niederen Grades 9,8 %. In den Anstalten
werden die an Schwachsinn Leidenden einer entsprechend rationellen und indivi¬
duellen Behandlung zugeführt.
Niedernhart (131): Anfangsbestand 823 (395 M. 428 Fr.). Zugang 412
(196 M. 216 Fr.). Abgang 376 (204 M. 172 Fr.). Bleibt Bestand 859 (387 M.
472 Fr.). Vom Zugang litten an Imbezillität, Idiotie 25 (12 M. 13 Fr.), an Melan¬
cholie und Manie 26 (4 M. 22 Fr.), Amentia 10 (2 M. 8 Fr.), Paranoia 34 (14 M.
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Grütter, Anstaltswesen und Statistik.
347*
20 Fr.), Psychosis periodica 48 (11 M. 37 Fr.), Dementia 136 (63 M. 72 Fr.),
progressiver Paralyse 50 (31 M. 19 Fr.), an Epilepsie mit Geistesstörung 23 (18 M.
5 Fr.), an Hysterie, Neurasthenie 19 (8 M. 11 Fr.), Geistesstörung mit Herd¬
erkrankung 3 (2 M. 1 Fr.), Alkoholismus 34 (27 M. 7 Fr.); nicht geisteskrank 5
(4 M. 1 Fr.). Heredität nachweisbar bei 63. Mit dem Strafgesetz in Konflikt
geraten 29. Krankheitsdauer bis 1 Monat bei 76 (38 M. 38 Fr.), bis 2 Monate 35
(10 M. 26 Fr.), bis 3 Monate 31 (13 M. 18 Fr.), bis 6 Monate 48 (26 M. 22 Fr.),
bis 1 Jahr 37 (15 M. 22 Fr.), bis 2 Jahre 33 (16 M. 17 Fr.), mehr als 2 Jahre 147
(74 M. 73 Fr.). Entlassen geheilt 60 (24 M. 36 Fr.), im sonstigen 169 (80 M.
89 Fr.); in andere Anstalten überführt 28 (17 M. 11 Fr.). Gestorben sind 119
(83 M. 36 Fr.), davon infolge Paralyse 38 (34 M. 4 Fr.), an Tuberkulose 26 (13 M.
13 Fr.), Karzinom 1M., Selbstmord 1M. Ein neuer Männertrakt ist erbaut, dennoch
aber droht Überfüllung auch hier von neuem, wie sie auf der Frauenseite in hohem
Grade herrscht.
Hall in Tirol (103): Der Bericht umfaßt die Jahre 1906—1911. Der Anfangs¬
bestand 1905 war 419 (246 M. 173 Fr.). Der Gesamtzugang betrug 2266 (1310 M.
955 Fr.). Der Gesamtabgang 2102 (1178 M. 924 Fr.). 1911 verblieb ein Schlu߬
bestand von 592 (378 M. 214 Fr.). Die Zahl der Aufnahmen ist stetig gestiegen,
und zwar von 262 Kr. im Jahre 1905 auf 339 im Jahre 1911. Mehr aufgenommen
als entlassen sind 173. Die Psychosen der Gesamtbestände verteilen sich wie folgt:
Angeborener Blödsinn 24 (22 M. 2 Fr.), angeborener Schwachsinn 388 (295 M.
93 Fr.), Selbstanklagewahn 398 (91 M. 297 Fr.), Tollheit 169 (39 M. 130 Fr.),
Verwirrtheit, allgemeiner Wahnsinn 169 (33 M. 136 Fr.), primäre Verrücktheit,
partieller Wahnsinn 266 (130 M. 133 Fr.), periodische Geistesstörung 542 (295 M.
247 Fr.), erworbener Blödsinn 2740 (1719 M. 1021 Fr.), paralytische Geistes¬
störung 274 (209 M. 65 Fr.), epileptische Geistesstörung 325 (261 M. 64 Fr.),
hysterische 65 (13 M. 62 Fr.), neurasthenische Geistesstörung 27 (13 M. 14 Fr.),
Geistesstörung mit Herderkrankung 59 (38 M. 21 Fr.), mit Pellagra 4 M., Alko¬
holismus 533 (438 M. 95 Fr.), Morphinismus usw. 2 M.; Simulation 1 Fr.; zur Be¬
obachtung 5 M. Geheilt und gebessert entlassen sind 1147 (541 M. 606 Fr.).
Kriminelle Kranke insgesamt aufgenommen 97 (81 M. 16 Fr.), im letzten Berichts¬
jahre allein mehr als 10 % aller Kranken. Auffallend gering ist die Zahl der Para¬
lytiker, 4,76 % zum Gesamtbestand, im letzten Berichtsjahre nur 3 %. Perzentsatz
der epileptischen Psychosen 5,3 %, der Alkoholpsychosen 8,87 %, letztere im Ver¬
hältnis zu den Aufnahmen 1905 = 12,6 %, 1911 = 13,8 %, Verblödungsprozesse
rund 46 % des Gesamtbestandes, Imbezille 6,37 %. Hauptsächlichste Erkrankungs¬
ursachen sind Alkohol und Erblichkeit, und zwar Durchschnittszahlen für Alkohol
23,7 %, für hereditäre Anlage 18 %. Heredität der Alkoholaufnahmen 1905 =
18,4%, 1906 = 16,2%, 1907 = 13,5%, 1908 = 20%, 1909 = 21,3%, 1910 =
22 %, 1911 = 17 %. Delirium tremens-Aufnahmen in der Anstalt an sich
selten, in den Krankenhäusern des Landes jedoch p. a. mehrere 100 zur Behand¬
lung. Die ausführliche Alkoholstatistik des Oberarztes Dr. Wassermann bildet
Beweis für erhöhte Notwendigkeit einer besonderen Alkoholkrankenfürsorge im
Lande Tirol. — Gestorben sind insgesamt in den Berichtsjahren 396 (225 M.
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348*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
170 Fr.), relativ die Mehrzahl bei einem Aufenthalt von 2—6 Jahren (18 %), die
Hälfte der Alkoholkranken innerhalb des 1. Monats. An Tuberkulose starben 71 —
21,32 %, an Dysenterie 7 (2 M. 5 Fr.) = 2,01 %, an Typhus 5 Fr. = 1,5 %.
Typhusepidemie 1902 mit 11 Erkrankungsfällen, Ursache Einschleppung. Dysenterie
endemisch allg. leichteren Charakters in den Berichtsjahren hier und da aufge¬
treten. Todesfälle infolge Karzinoms 10. Selbstmord in der ganzen Berichtszeit
nur 1 Fall. Die Neu- und Erweiterungsbauten nach der 1902 erfolgten behördlichen
Genehmigung werden inzwischen durchgeführt (vgl. Sonderdruck Hall i. T. aus
„Die Irrenpflege in Österreich in Wort und Bild“. 1912. C. Marhold. Halle a. S.). —
Die Gesamtausgaben betrugen i. J. 1902 211017 Kr. — 1906: 332 605. — 1911:
517 835.
Brünn (87): Anfangsbestand 753 (408 M. 345 Fr.). Zugang 547 (334 M.
213 Fr.). Abgang 528 (326 M. 202 Fr.). Bleibt Bestand 772 (416 M. 366 Fr.).
Vom Zugang litten an Idiotie, Imbezillität 32 (24 M. 8 Fr.), an Melancholia 20
(5 M. 15 Fr.), Mania 13 (4 M. 9 Fr.), Amentia 111 (54 M. 57 Fr.), Paranoia 3
(1 M. 2 Fr.), Psychosis periodica 3 M., Dementia 165 (77 M. 88 Fr.), Paralysis
progressiva 75 (67 M. 8 Fr.), an epileptischer Geistesstörung 40 (26 M. 14 Fr.),
an Hysterie 2 Fr., Neurasthenie 7 (2 M. 6 Fr.), Geistesstörung mit Herderkrankung
3 (1 M. 2 Fr.), Alkoholismus 68 (66 M. 2 Fr.); zur Beobachtung 6 (4M.
1 Fr.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 19 (18 M. 1 Fr.). Entlassen
geheilt 53 (28 M. 25 Fr.), gebessert 148 (107 M. 41 Fr.), ungeheilt 35 (18 M.
17 Fr.); in andere Anstalten 95 (64 M. 31 Fr.), in Familienpflege gegeben 8 (4 M.
4 Fr.). Prozentüalität der geheilt Entlassenen zum Gesamtbestand 4,08 %» zur
Aufnahme 9,69 %, zum Abgang 10,04 %. Gestorben sind 144 (80 M. 64 Fr.), d. s.
11,08 % des Gesamtbestandes, 26,33 % der Aufnahmen, 27,27 % des Abgangs.
Als Todesursache fanden sich Atrophia cerebri allein bei 40 <34 M. 6 Fr.), diese bei
progressiver Paralyse und Tuberkulose bei 9 (7 M. 2 Fr.), Tuberkulose allein
bei 34 (12 M. 22 Fr.). Die Unkosten, auf den Kopf eines Pfleglings berechnet,
betrugen 1893:138,14 Kr., 1912: 202,29 Kr. Die Anstalt feiert das Jubiläum ihres
50 jährigen Bestehens.
Kremsier (114): Anfangsbestand 1233 (698 M. 536 Fr.). Zugang 531
(312 M. 219 Fr.). Abgang 572 (335 M. 237 Fr.). Bleibt Bestand 1192 (675 M.
517 Fr.). Vom Zugang litten an Idiotie, Imbezillität 39 (30 M. 9 Fr.), Melancholie
und Manie 24 (12 M. 12 Fr.), Amentia 78 (15 M. 63 Fr.), Paranoia 29 (21 M.
8 Fr.), Psychosis periodica 19 (1 M. 18 Fr.), Dementia 134 (79 M. 55 Fr.), an
progressiver Paralyse 41 (31 M. 10 Fr.), Epilepsie mit Seelenstörung 40 (26 M.
15 Fr.), Hysterie, Neurasthenie 20 (6 M. 14 Fr.), Geistesstörung mit Herderkran¬
kung 9 (6 M. 3 Fr.), Alkoholismus 88 (80 M. 8 Fr.). Zur Beobachtung 10 (6 M.
4 Fr.). Heredität nachweisbar bei 336 (218 M. 118 Fr.), Alkoholmißbrauch bei 123
(105 M. 18 Fr.). Mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten 13 (11 M. 2 Fr.).
Krankheitsdauer vor der Aufnahme bis zu 14 Tage bei 130 (86 M. 44 Fr.), bis
1 Monat 36 (20 M. 16 Fr.), bis 2 Monate 34 (19 M. 15 Fr.), bis 3 Monate 31
(12 M. 19 Fr.), bis 6 Monate 38 (18 M. 20 Fr.), bis 1 Jahr 34 (16 M. 19 Fr.),
bis 2 Jahre 27 (17 M. 10 Fr.), mehr als 2 Jahre 201 (125 M. 76 Fr.). Entlassen
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Grötter, Anstaltswesen und Statistik.
349*
ilt 130 (83 M. 47 Fr. = 7,36 % des Gesamtbestandes, in andere Anstalten
geführt 13 (12 M. 1 Fr.). Gestorben sind 221 (118 M. 103 Fr.) = 12,62 %
Gesamtbestandes. Tuberkulose war bei 67 (36 M. 31 Fr.), Karzinom bei 8
VI. 4 Fr.), Typhus abdom. bei 1 Fr. Todesursache. Beschäftigt im Durchschnitt
M. = 37 %, 186 Fr. = 34,6 %.
Burghölzli (89): Anfangsbestand 417 (202 M. 216 Fr.). Zugang 637
1 M. 226 Fr.). Abgang 552 (310 M. 242 Fr.). Bleibt Bestand 402 (203 M.
) Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Psychosen 22 (18 M. 4 Fr.), kon-
tutionellen Psychosen 24 (10 M. 14 Fr.), an manisch-depressiven Formen 22
3 M. 12 Fr.). Verblödungsformen 183 (76 M. 107 Fr.), an anderen erworbenen
iopathischen Psychosen 7 (4 M. 3 Fr.), an organischen Störungen 61 (39 M.
*, Fr.), epileptischen Störungen 15 (10 M. 5 Fr.), an Intqxikationspsychosen 92
(Q M. 12 Fr.); nicht geisteskrank 15 (14 M. 1 Fr.). Entlassen geheilt 33 (28 M.
Fr.), gebessert 252 (132 M. 120 Fr.), ungebessert 199 (104 M. 95 Fr.), davon
i andere Anstalten usw. übergeführt 196. Gestorben sind 49 (28 M. 21 Fr.), davon
n Hirnkrankheiten 17 (10 M. 7 Fr.), an Karzinom 2 (1 M. 1 Fr.). Anhäufung von
7 erbrechem, im sonstigen Überfüllung erträglich. Anwendung von Bettgurten bei
1 M. 3 Fr., Maillot für 1 Fr. 131 Stunden wegen Selbstbeschädigung. Vom Schlu߬
bestand haben sich regelmäßig oder teilweise beschäftigt 148 M. = 73 %, 170 Fr. =
85 %. — In der psychiatrischen Poliklinik behandelt bzw. begutachtet 165 P. —
Wirkliche Betriebsausgabe 475 624,53 Fr. Gesamtausgabe: 619 828,81 Fr.
Ellikon (96): Anfangsbestand 38 Pfl. Zugang 56. Abgang 60. Bleibt
Bestand 33. Chronischer Alkoholismus vorliegend bei 22, mit Delirium tremens 6
mit Psychopathie 9, mit Debilität 4, mit Charakterschwäche 5, mit Verfolgungs¬
wahn 1, mit Epilepsie 2, mit Hirnverletzung und epileptischen Anfällen 1, mit be¬
ginnender Alkoholdemenz, Dipsomanie mit Gewalttaten, Dementia praecox je 1,
einfache Trunksucht bei 2. Die eingegangene Verpflichtungszeit eingehalten haben 30.
Davon mit 12 Monaten Kurzeit 10, mit 11 Monaten 1, mit 10 Monaten 1, mit
9 Monaten 11, mit 8 Monaten 4, mit 6 Monaten 3; hiervon abstinent geblieben 63,3 %,
rückfällig 30%, fraglich 6,7 %. Von den 1911 entlassenen 34 Pfl. sind noch ab¬
stinent 70,5 %, rückfällig 17,7 %, fraglich 5,9 %, gestorben 5,9 %. An den Jahres¬
versammlungen in der Anstalt nehmen über 100 ehemalige Pfleglinge teil.
Waldau (162): Anfangsbestand 678 (328 M. 350 Fr.). Zugang 147 (70 M.
77 Fr.). Abgang 139 (68 M. 71 Fr.). Bleibt Bestand 686 (330 M. 356 Fr.)
Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 6 (4 M. 2 Fr.), an konstitutionellen
Störungen 4 (1 M. 3 Fr.), an erworbenen einfachen Störungen 92 (36 M. 57 Fr.),
an paralytischen, senil-organischen Störungen 28 (16 M. 12 Fr.), epileptischen
Störungen 6 (3 M. 3 Fr.), Intoxikationspsychosen 11 M. Zur Beobachtung und
gerichtl. Begutachtung eingewiesen 7 (4 M. 3 Fr.), davon verurteilt 2. Entlassen
geheilt 19 (11 M. 8 Fr.), gebessert 57 (20 M. 37 Fr.), ungebessert 21 (13 M.
8 Fr.), einer anderen Anstalt zugeführt 12 (7 M. 6 Fr.). Gestorben sind 42 (24 M.
18 Fr.) = 6,09 % des Gesamtbestandes, davon infolge Tuberkulose 6 (6 M. 1 Fr.):
Typhus 1, Karzinom 2 Todesfälle. Durchschnittskosten pro Kranken und Pflegetag
2,40,6 Fr. — Gesamtausgabe: 623 693,63 Ff.
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350*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Münsingen (162): Anfangsbestand 816 (393 M. 423 Fr.). Zugang 119
(68 M. 51 Fr.). Abgang 108 (60 M. 48 Fr.). Bleibt Bestand 827 (401 M. 426 Fr.),
davon in Familienpflege 42 (17 M. 25 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen
Störungen 5 M., an konstitutionellen 25 (11 M. 14 Fr.), an erworbenen einfachen
Störungen 60 (32 M. 28 Fr.), an paralytischen, senil-organischen Störungen 1&
(9 M. 6 Fr.), an epileptischen 2 M., alkoholischen Störungen 4 (3 M. 1 Fr.). Zur
Beobachtung 16 (11 M. 4 Fr.), nicht geisteskrank 8 (6 M. 2 Fr.). Entlassen
genesen 5 (4 M. 1 Fr.), gebessert 49 (24 M. 25 Fr.), ungebessert 19 (10 M. 9 Fr.).
Zur Gesamtzahl der Verpflegten genesen oder wesentlich gebessert 5,8 %. Gestorben
sind 24 (14 M. 10 Fr.) = 2,6% des Gesamtbestandes. An tuberkulösen Affektio¬
nen starben 4 (3 M. 1 Fr.), infolge Paralyse 3 (1 M. 2 Fr.), Dementia senilis 7
(2 M. 5 Fr.), 1 Kropftod. Der Krankenbestand ist seit Eröffnung der Anstalt
i. J. 1901 von 572 auf 827 gewachsen, die Aufnahmen sind von 499 auf 119 ge¬
sunken; die für 590 Kranke berechnete Anstalt ist überfüllt. Durchschnittskosten
pro Tag und Kranken 1,898 Fr. Gesamtausgabe: 687 071,30 Fr.
Bellelay (162): Anfangsbestand 328 (133 M. 195 Fr.). Zugang 23 (9 M.
14 Fr.). Abgang 23 (8 M. 15 Fr.). Bleibt Bestand 328 (134 M. 194 Fr.). Vom
Zugang litten an angeborenen Störungen 2 (1 M. 1 Fr.), an konstitutionellen 11
(5 M. 6 Fr.), an erworbenen einfachen Störungen 3 Fr., an senilen und paralyti¬
schen 2 Fr., an epileptischen 4 (1 M. 3 Fr.). Zur Begutachtung 2 M., nicht geistes¬
krank 1 M. Entlassen geheilt 3 Fr., gebessert 2 Fr., ungebessert 3 (2 M. 1 Fr.).
Gestorben sind 13 (5 M. 8 Fr.) = 3,7 % der Verpflegten. 1 Tuberkuose- und
1 Krebsfall. Durchschnittskosten pro Kranken und Tag 2,13,1 Fr. Gesamtaus¬
gabe: 108100,91 Fr.
Friedmatt (98): Anfangsbestand 279 (129 M. 150 Fr.). Zugang 235
(118 M. 117 Fr.). Abgang 223 (112 M. 111 Fr.). Bleibt Bestand 292 (136 M.
156 Fr.). Vom Zugang litten an angeborenen Psychosen 14 (10 M. 4 Fr.), an er¬
worbenen und einfachen Formen 94 (23 M. 71 Fr.), an konstitutionellen 45 (23 M.
(2 Fr.), an Epilepsie 4 M., an Paralyse 15 (14 M. 1 Fr.), an senilen Formen 19
28 M. 11 Fr.), an alkoholischen 38 (34 M. 4 Fr.). Nicht geisteskrank war 1 Fr.
Entlassen geheilt 31 (17 M. 14 Fr.), gebessert 77 (27 M. 50 Fr.), ungebessert 8M
(42 M. 38 Fr.). Gestorben sind 34 (26 M. 8 Fr.), davon an Tuberkulose 1 M.
Erstellung eines Neubaus für die Männerseite dringendes Bedürfnis.
Sonncnhalde (152): Anfangsbestand 33. Zugang 118. Abgang 114.
Summe der Pflegetage 13,060. Vom Abgang waren nicht gemütskrank 6; es litten
an manisch-depressiven Formen 22, an Dementia praecox 48, an akuter Verwirrt -
heit 2, an genuiner Paranoia und Zwangsideen je 2, an organischen Formen 4, an
Intoxikationspsychosen 4. Vollständig geheilt wurden 10, rekonvaleszent und in
hohem Grade gebessert 18, gebessert 47, ungebessert 33. Gestorben sind 3. — »
Bleibt Bestand 37.
Rosegg (141): Anfangsbestand 318 (175 M. 143 Fr.). Zugang 43 (23 M.
20 Fr.). Abgang 41 (19 M. 22 Fr.). Bleibt Bestand 320 (179 M. 141 Fr.).
Vom Zugang litten an angeborenen Störungen 6 (4 M. 2 Fr.), an konstuittionellen
3 Fr., an erworbenen einfachen Störungen 20 (11 M. 9 Fr.), an epileptischen 3 M.,
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Griitter, Anstaltswesen und Statistik.
351*
«lytisch, senil-organischen Störungen 5 (2 M. 3 Fr.), an Alkoholismus 6 (3 M.
. ? r.). Heredität nachweisbar bei 23 (13 M. 10 Fr.) = 69,6% der Aufnahmen,
r Beobachtung anfgenommen 15 (11 M. 4 Fr.). Entlassen als geheilt 8 (3 M.
Fr.), gebessert 12 (7 M. 5 Fr.), ungeheilt 4 (3 M. 1 Fr.). Gestorben sind 17
M. 11 Fr.), davon infolge Lungentuberkulose 2 Fr. Arbeitstätigkeit 55,8%
mittleren Bestandes. Die Erweitemng der Anstalt steht in Aussicht. — Gesamt -
usgabe: 339 438,05 Fr.
St. Pirminsberg (157): Anfangsbestand 255 (118 M. 137 Fr.). Zu-
ang 170 (81 M. 89 Fr.). Abgang 128 (57 M. 71 Fr.). Bleibt Bestand 297
142 M. 155 Fr.). Vom Zugang sogenannte frische Aufnahmen 159 (72 M.
>7 Fr.). Es litten vom Zugang an angeborenen Psychosen 6 (3 M. 2 Fr.), an
ronstitutionellen 5 (3 M. 2 Fr.), an erworbenen einfachen 122 (47 M. 75 Fr.),
an epileptischen 6 (4 M. 2 Fr.), an organischen 16 (10 M. 6 Fr.), an Intoxi¬
kationspsychosen 15 (13 M. 2 Fr.). Nicht geisteskrank 1 M. Die Verhältniszahlen
der „Kriminellen“ sind unverändert hoch geblieben. Heredität bei 100 des
Neuzugangs = 76 %. Vorherige Krankheitsdauer des frisch Aufgenommenen bis
1 Monat 62 (26 M. 36 Fr.), 1—3 Monat bei 28 (12 M. 16 Fr.), 3—6 Monat bei 13
(5 M. 8 Fr.), 6—12 Monat bei 14 (7 M. 7 Fr,), 1—2 Jahre 11 (7 M. 4 Fr.),
2—5 Jahre 15 (8 M. 7 Fr.), über 5 Jahre 15 (6 M. 9 Fr.). Entlassen genesen 41
(18 M. 23 Fr.), gebessert 42 (22 M. 20 Fr.), ungebessert 23 (7 M. 16 Fr.), davon
in andere Anstalten 13 (4 M. 9 Fr.). Gestorben sind 22 (10 M. 12 Fr.). Der
größte Teil der als genesen Entlassenen hatte an erworbenen einfachen Psychosen
gelitten. Bei der Mehrzahl der Genesenen betrug die Krankheitsdauer vor der Auf¬
nahme bis zu einem Monat. An Lungentuberkulose sind 1 P., durch Suicidium
2 gestorben.
Wil (169): Anfangsbestand 831 (415 M. 416 Fr.). Zugang 381 (193 M.
188 Fr.). Abgang 366 (187 M. 179 Fr). Bleibt Bestand 846 (421 M. 425 Fr.). Von
348 (160 M. 188 Fr.) Geisteskranken der Aufnahme litten an angeborenen Störun¬
gen (Idiotie usw.) 22 (13 M. 9 Fr.), an konstitutionellen Störungen 16 (8 M.
8 Fr.), einfachen erworbenen Störungen 154 (59 M. 95 Fr.), erworbenen Störungen
der paralytischen, senilen und organischen Gruppe 67 (30 M. 37 Fr.), Störungen
auf Grundlage der Epilepsie 13 (8 M. 5 Fr.), Intoxikationspsychosen 46 (42 M.
4 Fr.). Körperlich Kranke und Altersschwache 62 (32 M. 30 Fr.). Zur Beob¬
achtung und nicht geisteskrank 1 M. Heredität bei 126 (66 M. 60 Fr.) erwiesen,
zweifelhaft bei 21 (6 M. 15 Fr.). Alkoholmißbrauch bei 55 (50 M. 5 Fr.). Mit
dem Strafgesetz in Konflikt geraten 34 (33 M. 1 Fr.). Krankheitsdauer vor der
Aufnahme bis 1 Monat bei 50 (32 M. 18 Fr.), 1—6 Monate bei 35 (17 M. 18 Fr.),
6—12 Monate 18 (9 M. 9 Fr.), 1—3 Jahre bei 75 (26 M. 49 Fr.), die übrigen mit
3- bis zu 20- und mehrjähriger Dauer. Entlassen geheilt sind 45 (31 M. 14 Fr.),
gebessert 140 (70 M. 70 Fr.), ungebessert 65 (34 M. 31 Fr.), davon in andere
Anstalten übergeführt 23 (10 M. 13 Fr.). Gestorben sind 115 (51 M. 64 Fr.) =
9,4 % der Verpflegten. 31 Todesfälle kommen auf die Altersschwachen = 14 %
dieser Gruppe. Von den Geisteskranken starben 84 (37 M. 47 Fr.) = 8,5 % des
Bestandes Geisteskranker, paralytische, senile und org. Psychosen waren mit 48%
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352* Bericht über die psychiatrische Literatur 1918.
beteiligt. Infolge Tuberkulose starben insgesamt 8, an Karzinom 11. Ein Kranken¬
tag kommt auf 1,84,3 Fr., ein Verpflegungstag auf 1,69,3 Fr. zu stehen. — Gesamt¬
ausgabe: 568 675,47 Fr.
Münsterlingen (127): Anfangsbestand 402 (174 M. 228 Fr.). Zugang 177
(85 M. 92 Fr.). Abgang 175 (98 M. 77 Fr.). Bleibt Bestand404 (161 M. 243 Fr.)
Vom Zugang litten an angeborenen Psychosen 12 (4 M. 8 Fr.), an Psychopathie
und Hysterie 8 (4 M. 4 Fr.), an manisch-depressivem Irresein 24 (7 M. 17 Fr.),
Formen der Dementia praecox 91 (38 M. 53 Fr.), organischen Psychosen 13
(8 M. 5 Fr.), an epileptischen Psychosen 9 (7 M. 2 Fr.), an Intoxikationspsychosen
20 (17 M. 3 Fr.), darunter chron. Alkoholismus 6 M., Delirium tremens 7 M.; nicht
geisteskrank 1 M. Entlassen geheilt 13 (8 M. 6 Fr.), gebessert 70 (31 M. 39 Fr.),
ungebessert 66 (47 M. 19 Fr.). Krankheitsdauer der geheilt Entlassenen bis
3 Monate bei 11, bis 6 Monate 1, 2 Jahre 1. Gestorben 25 (11 M. 14 Fr.) = 4 %
aller Verpflegten, 6 Fr. davon an Tuberkulose. Mehrfache Anwendung des Deckel¬
bades. Das neu erbaute Pensionärhaus (Grundriß des Parterre im Bericht) ist in
Betrieb genommen. — Gesamtausgabe 339 996,95 Fr.; Unterhaltungskosten pro
Pflegling und Tag 2,32,5 Fr.
Königsfelden (113): Anfangsbestand 828 (364 M. 464 Fr.). Zugang 264
(147 M. 117 Fr.). Abgang 288 (148 M. 140 Fr.). Bleibt Bestand 804 (363 M.
441 Fr.). Vom Zugang litten an Idiotie, Kretinismus 18 (8 M. 10 Fr.), an ange¬
boren konstitutionellen und originären Formen 10 (8 M. 2 Fr.), an einfachen er¬
worbenen Störungen 144 (61 M. 83 Fr.), an paralytischen, senilen Störungen 34
(16 M. 18 Fr.), an epileptischen Formen 9 (6 M. 3 Fr.), Intoxikationspsychosen 48
(45 M..3 Fr.); nicht geisteskrank 1 M. Die Krankheitsdauer vor der Aufnahme
betrug bei 92 Kr. 1—3 Monate, bei 22 Kr. 4—6 Monate, bei 18 Kr. 7—12 Monate,
bei 41 Kr. 1—3 Jahre, bei 17 Kr. 3—5 Jahre, bei 69 Kr. über 5 Jahre. Alkohol-
mißbrauch als ursächliches Moment bei 35 % der Aufgenommenen. Heredität der
Aufgenommenen an sich bei 60 %. Entlassen als geheilt 32; gebessert 145, unver¬
ändert 57. Gestorben sind 54 = 19 % der Entlassenen; 2 letale Typhusfälle bei
4 Erkrankungen. — Gesamtausgabe: 610 285,02 Fr.
Waldhaus (163): Anfangsbestand 304 (162 M. 142 Fr.). Zugang 65
(33 M. 32 Fr.). Abgang 66 (36 M. 30 Fr.). Bleibt Bestand 303 (159 M. 144 Fr.).
Von den frischen Aufnahmen litten an angeborenen Störungen, Idiotie 5 (3 M.
2 Fr.), an erworbenen einfachen Psychosen 25 (10 M. 15 Fr.), an paralytischen,
senilen und organischen Formen 6 (3 M. 2 Fr.), Störungen mit Epilepsie 2 (1 M.
1 Fr.), Intoxikationspsychosen 7 M.; nicht geisteskrank 1 M. Entlassen als genesen
15 (10 M. 6 Fr.), gebessert 17 (10 M. 7 Fr.), ungebessert. 14 (7 M. 7 Fr.), davon
in andere Anstalten verlegt 4 (1 M. 3 Fr.). Gestorben sind 20 (9 M. 11 Fr.),
davon an Tuberkulose 3 (1 M. 2 Fr.), an Karzinom 3 (1 M. 2 Fr.). Das Verhältnis
der Genesenen beträgt zum Abgang 21,2 %, zu der Summe der Verpflegten 3,7 %,
die Mortalität zum Abgang 30,3 %, zum Gesamtbestand 5,4 %. Gerichtsärztlich
begutachtet sind 7 Fälle. Relativ hohe Zahl alkoholischer Formen bei den Auf¬
nahmen der M. (10 von 33 Aufnahmen). — Gesamtausgaben exkl. Bauzins:
240 391,62 Fr.
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Griitter, Anstaltswesen und Statistik.
353*
)er Hilfaverein für arme Irre des Kantons Luzern (124) leistete im Jahre 1912
itützungen. im Betrage von 16 359,45 Fr. an und für 223 Personen. Vermögen
Annahmen beliefen sich auf 53 929,68 Fr..
Stackein, Riga (153): Zurzeit werden in der Anstalt, die 1907 eröffnet ist,
. 111 Fr., und in der Kolonie 16 M. 4 Fr. behandelt. Vorübergehend in der
isoliert waren in den Betriebsjahren 1907—1912 1 M. und 2 Fr. bei einem
ntbestande von 792 (417 M. 375 Fr.). Der Behandlung der Bewegungsarmut
m Thilo wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt, auch wurden gute Er-
erzielt, ebenso wird die Arbeitstherapie in weitestem Umfange gepflegt. 1911
eten bei einem Tagesdurchschnittsbestande von 112—133 M. und 99—115 Fr.
h durchschnittlich 57—70 % der Männer und 62,6—70,3 % der Frauen,
coloniale Verpflegung begann 1911, im Durchschnitt wurden täglich 16 M.
4 Frauen mit Feld- und Hofarbeiten beschäftigt.
In Pr6f argier (136) sind aufgenommen 93 (37 M. 66 Fr.), entlassen 105
M. 55 Fr.), davon als geheilt 11 M. 16 Fr., gebessert 13 M. 11 Fr., ungeheilt
I. 24 Fr., gestorben 10 M. 5 Fr. Bestand am 31. Dez. 1912: 140 (60 M.
r.). Ganter.
Cery (90): Bestand am 1. Jan. 1912: 513 (248 M. 265 Fr.), aufgenommen
(227 M. 161 Fr.), entlassen 359 (203 M. 156 Fr.), und zwar als geheilt 74
M. 27 Fr.), gebessert 111 (64 M. 47 Fr.), ungeheilt 109 (59 M. 50 Fr.), ge¬
ben 64 (33 M. 31 Fr.). Gesamtzahl der Verpflegten 901 (475 M. 426 Fr.
fand am 31. Dez. 1912 : 542 (272 M. 270 Fr.). Ganter.
In Limoux (120) war der Bestand am 1. Jan. 1912 : 987 (470 M. 517 Fr.),
renommen 170 (88 M. 82 Fr.), entlassen 80 (44 M. 36 Fr.), und zwar geheilt 43
M. 19 Fr.), geb. 34 (18 M. 16 Fr.), aus andern Gründen 3 (2 M. 1 Fr.). Es
ben 61 (31 M. 30 Fr.). Gesamtzahl der Verpflegten 1157 (558 M. 599 Fr.),
tand am 31. Dez. 1912: 1016. Ganter.
Scotland (150): Zahl der Geisteskranken am 1. Jan. 1913:
Ort der Anstalt:
M.
F.
S.
M.
F.
S.
M.
F.
S.
Privatkranke
Arme Kranke
königl. Anstalten ..
1743
1978
3721
868
1063
1931
8/5
915
1790
Distriktsanstalten .
5447
5212 10659
120
192
312
5327
5020 10347
Privatanstalten....
34
48
82
34
48
82
—
—
—
Gemeindeanstalten
131
97
228
—
—
—
131
97
228
Armenhäusern....
425
416
841
—
—
—
425
416
841
Privatwohnungen .
1315
1706
3021
33
79
112
1282
1627
2909
Summe:
9095
9457
18552
1055
1382
2437
8040
8075 16115
der Verbr.-Irrenan¬
stalt zu Perth ...
den Anstalten für
50
6
56
—
—
—
—
—
—
•Schwachsinnige ...
359
221
580
82
68
150
277
153
430
Summe:
9504
9684 19188
1137
1450
2587
8317
8228 16646
Im Jahre 1912 wurden aufgenommen 3469 (1719 M. 1750 Fr.), davon waren
Zeitschrift für Psychiatrie. LXXI. Lit. X
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
354*
Bericht über die psychiatrische Literatur 1913.
Privatkranke 552 (236 M. 316 Fr.), arme Kranke 2917 (1483 M. 1434 Fr.). Die
Aufnahmen waren um 92 Fälle weniger als im Vorjahre, 73,2 auf 100 000 Einwohner.
416 Kranke wurden in andere Anstalten versetzt. 116 Kranke traten freiwillig ein.
Entlassen wurden 3340 (562 Privatkranke und 2778 arme Kranke), und zwar
geheilt 1288 (198 Pr. 1090 a. Kr.), ungeheilt 629 (136 Pr. 393 a. Kr.), gestorben
1523 (228 Pr. 1295 a. Kr.).
Verhältnis der Geheilten Verhältnis der Todesfälle
zu den Aufnahmen zur Zahl d. Verpflegten
in %
in %
M.
F.
S.
M.
F.
S.
in
den kgl. u. Distriktsanstalten
31,4
35,8
33,6
10,2
10,0
10,1
den Privatanstalten.
—
—
—
14,7
8,1
10,8
ii
den Gemeindeanstalten ...
26,5
43,5
31,9
11,5
7,4
9,7
ii
den Armenhäusern .
16,7
15,2
15,9
6,5
5,7
6,1
148 Kranke wurden beurlaubt, davon konnten 51 zu Hause bleiben, 25 kehrten
zurück, 2 starben.
143 Kranke entwichen. Von den 22 nicht zurückgebrachten Kranken konnten
6 als geheilt, 9 als gebessert und 8 als ungeheilt betrachtet werden. Es ereigneten
sich 164 Unfälle. Davon endeten 16 tödlich, worunter 12 Selbstmordfälle. Der
Selbstmord erfolgte 5 mal durch Ertränken, 2 mal durch Halsabschneiden, 1 mal
durch Erhängen, 1 mal durch Strangulieren, 1 mal durch Verbrennen, 1 mal durch
Schädelbruch, 1 mal durch Erstickung. 3 der Selbstmorde geschahen während des
Urlaubs. Was die andern 4 tödlichen Unfälle betrifft, so fiel ein Kranker in einen
mit kochender Suppe gefüllten Kochkessel, ein anderer trank eine beim Reinigen
verwandte Flasche Lysol aus, eine 72 jährige Kranke starb infolge eines Ober¬
schenkelbruchs, ein auf Urlaub befindlicher Kranker stürzte von einem Felsen und
brach sich die Wirbelsäule. Unter den Unfällen befanden sich weiter 60 Frakturen
und Luxationen und 40 Kopfverletzungen.
Die Verpflegung der armen Kranken kostete 427 495 £., durchschnittlich für
den einzelnen Kranken im Tag 1 s. 6*4 d.
Der Abgang des Pflegepersonals betrug 1312, wovon 1066 freiwillig gingen.
47 gaben den Dienst wegen Krankheit auf, 9 starben, 43 blieben weg, 29 wurden
wegen Unfähigkeit, 113 wegen schlechter Aufführung entlassen, 5 waren entbehrlich.
Ganter.
In der Pennsylvania training school (135) war die Zahl der schwachsinnigen
Kinder im Beginn des 1. Berichtsjahres 1071 (609 Knaben, 462 Mädchen). Aufge¬
nommen wurden 62 (34 K. 28 M.), entlassen 38 (31 K. 7 M.), es starben 14
(8 K. 6 M.). Am Schluß des Jahres: 1081 (604 K. 477 M.). Von den Entlassenen
waren gebessert 36 (26 K. 10 M.), etwas gebessert 8 (7 K. 1 M.), ungeheilt 8
(6 K. 2 M.).
1912/13: Zahl der schwachsinnigen Kinder im Beginn des Berichtsjahres 1081
(604 K. 477 M.). Aufgenommen wurden 89 (27 K. 62 M.), entlassen 62 (32 K.
30 M.), es starben 36 (23 K. 13 M.). Am Schluß des Jahres: 1072 (676 K. 496 M.).
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Grütter, Anstaltswesen and Statistik.
355 *
n den Entlassenen waren gebessert 41 (26 M. 15 M.), etwas gebessert 14 (4 K.
MO, ungeheilt 43 (25 K. 18 M.). Ganter.
Nach dem 3. Bericht der Irrenanstalt des Staates Michigan (126) wurden
den zwei Berichtsjahren 457 Kranke behandelt. Im 1. Berichtsjahr wurden aufge-
mmen 192 (96 M. 96 Fr.), entlassen 187 (94 M. 93 Fr.), und zwar gebeilt 23,
bessert 51, ungeheilt 98, nicht geisteskrank 8, gestorben 7. Im 2. Berichtsjahr
bschließend am 30. Juni 1912) wurden aulgenommen 219 (118 M. 101 Fr.), ent-
ssen 104 (187 M. 117 Fr.), und zwar geheilt 26, gebessert 59, ungeheilt 111, nicht
“isteskrank 12, gestorben 13. Bestand am 30. Juni 1912: 47 (25 M. 22 Fr.).
Ganter.
Das McLean Hospital in Waverlev, Maas. (164) ist eine Frivatanstalt,
röffnet. 1818, Pavillonsystem, eingerichtet für 220 Geisteskranke. Ganter.
ln der chilenischen Irrenanstalt Casa de Orates zu Santiago (146) war
er Bestand am 31. Dez. 1910:1739 (795 M. 944 Fr.). Aufgenommen 911 (490 M.
21 Fr.). Gesamtsumme der Verpflegten 2660. Entlassen 887 (465 M. 422 Fr.),
tnd zwar geheilt. 262 (129 M. 133 Fr.), gebessert 95 (49 M. 46 Fr.), ungeheilt 259
147 M. 112 Fr.), gestorben 241 (115 M. 126 Fr.), entwichen 21 (17 M. 4 Fr.),
\icht geisteskrank 7 (6 M. 1 Fr.). Bestand am 31. Dez. 1911:1763 (820 M. 943 Fr.).
Die Heilungen betrugen 39 %, nach Abzug des Delirium alcoh. 26 % der Auf¬
nahmen. Bei 43,28 % der aufgenommenen Männer und 3,94 % der aufgenommenen
Frauen war der Alkohol die Ursache der Geisteskrankheit. Der Durchschnitts¬
aufenthalt der Geheilten betrag 131 Tage. Der Prozentsatz der Todesfälle zu der
Gesamtzahl der Verpflegten war 9,09 %. Ganter.
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t *
UNIVERS1TY OF MICHIGAN
Alphabetisches Inhaltsverzeichnis des Literatur¬
berichtes.
(Die Zahlen mit einem Sternchen (*) bedeuten die Seiten des Literatur-
berichtes, die Zahlen ohne Stern die Nummern der angeführten Veröffent¬
lichungen.)
1. Sachregister.
Abderhaldensche Forschung 224* 310,
Abderhaldensche Methodik 211* 126,
127, 128, 131, 132.
Abderhaldensche Reaktion 218* 223. j
Abderhaldensches Dialysiervcrfahren
129* 85, 86, 87, 89, 90. 131* 111. I
136* 174. 136* 187. 137* 195. J
143* 283.
Aberglaube im Rechtsleben 54* 54. |
Abhärtung 231* 417. |
Abreagieren 74* 71. i
Abstammungs- und Vererbungslehre !
220* 259. !
Abstinenzbewegung, fanatische 282* 58.
Abstinenzerscheinungen 281* 46. |
Abstinenzübertreibung 285* 112.
Abwehrfermentc 206* 54. 218* 221.
222* 291.
Abwehrfermentreaktion 178* 229. 232*
428.
Achondroplasie 109* 70. 225* 328.
Adenokarzinom 166* 81.
Adiposis dolorosa 219* 242.
Adrenalin 219* 231.
Ästhesiometer 203* 12.
Ästhetischer Genuß 12* 171.
Affektstörungen 109* 73. 212* 141.
Akkomodationsmechanismus 6* 83.
Akkordfolgen 24* 353.
Akondroplasie 124* 17.
Akromegalie 165* 63. 167* 89. 213* 156.
226* 345.
Akustische Experimente, Apparat
4* 53.
Akustische Reize 231* 416.
Akustische Schwingungen 15* 213.
Digitized by
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für
I
!
Akustische Untersuchungen 13* 190.
17* 254.
Aleudrin 206* 58.
Alexie 177* 222.
Alkoholforschungsinstitute 282* 69, 70.
Alkoholfrage 280* 35. 281*46. 284* 90.
Alkoholfreie Getränke 281* 52.
Alkoholhalluzinose 285* 106.
Alkohol in der Spinalflüssigkeit 284* 102.
285* 104. 286* 120.
Alkoholismus 278* 2, 7, 8, 9. 279* 22,
23,24,25,27,28. 280* 36,42. 281*
54. 283* 74. 284* 100. 286* 124,
125.
Alkoholismus und Epilepsie 70* 2. 77*
116. 286* 126.
Alkohol und Exhibitionismus 52* 35.
Alkoholkranke und Heilstättenbehand¬
lung 285* 111.
Alkohol und Rassenhygiene 284* 93.
Alkohol und Verbrechen 52* 29. 281*
47, 53.
Alkoholvergiftung 46* 3. 47* 20. 284*
96, 103.
Allgemeinempfindung 4* 54.
Alstcrdorfer Anstalten 107* 37. 303* 75.
Alter, Geschlecht und geistige Störungen
228* 371.
Alterspsychosen 164* 48.
Altgriechische Prosa 27* 379.
Alzheimersche Krankheit 162* 13, 22.
180* 259.
Amaurotische Idiotie 105* 8, 10. 106*
33. 107* 44. 110* 85.
Ambidextrie 17* 241, 250. 20* 279.169*
111 .
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
357*
Ambitio nervosa 227* 351.
Amentia 132* 119. 139* 218. 142* 267.
Amnesie, retrograde 224* 315.
Amphibien 2* 26, 27.
Analyse des Urteils 12* 177.
Anarchie, psychiatrische 203* 11.
Anatomie des Gehirns 180* 257.
Angioma cavemosum 177* 223.
Angstneurosen 73* 51.
Angstneurose und Angsthysterie 16*
240.
Angstpsychosen 204* 29.
Angstzustände, nächtliche 80* 152. 81*
170.
Anorexie 128* 72.
Anormale im Regiment 69* 3, 4.
Anormale Kinder 9* 130. 104* 4. 106*
25,26,27. 107* 43.
Anormaler Charakter 226* 337.
Anovarthyreoidserum 216* 396.
Anpassung, psychophysiologische 18*
266.
Anstaltsbau 293* 17. 297* 70, 74.
Anstaltsbüchereien 294* 26.
Anstaltsinsassen, alte 138* 213.
Anstaltsweberei 294* 29.
Aortitis 178* 238, 239.
Aphasie 166* 72, 169* 110. 170* 124,
126. 178* 231.
Aphemie Broca 167* 93.
Aphonie 72* 35. 80* 160.
Aphrodeimia 228* 374.
Aponal 231* 413.
Appetitlosigkeit 79* 148.
Apraxie 164* 44. 165* 67. 166* 79.
173* 161.
Arbeitskurve und Praxis 28* 398.
Arbeitsunfähigkeit 84* 219.
Areflexie der Kornea 179* 254.
Arsalyt 163* 34.
Arsen 75* 77.
Arteriosklerotische Gehimerkrankung
162* 10. 174* 182.
Artikulierte Geräusche 24* 340.
Artikulierte Sprache 11* 167. 166* 73.
Asiles de la Seine 297* 68.
Assoziationsversuche 18* 266 b. 24*
341. 74* 63.
Asthenie 71* 13. 124* 21. 204* 28.
Astoaxie und Apraxie 167* 92.
Ataxie Friedreich 177* 219.
Athrophia olivo-ponto-cerebellosa 179*
253.
Athyreosis 107* 45.
Atropinvergiftung 279* 18.
Aufbau der Systeme 13* 188.
Auffassungskategorien 25* 359.
Auffassungskraft 208* 85.
Auffassung von Figuren 17* 244.
Aufgeregte Geisteskranke 137* 196.
Aufmerksamkeitsprüfungen 1* 9. 21*
302. 23* 327. 223* 295.
Aufnahmeverfahren 296* 60.
Augenbewegungen beim Lesen 25* 354.
Augenmuskellähmung 177* 215.
Augenwendung 12* 174.
Ausdruck, Wesen des 14* 202. 17* 252.
Aussage 59* 18.
Aussageversuche 142* 264.
Aussperrung der Psychologen 15* 216.
Auswendiglernen 18* 266 a.
Autistisches Denken 5* 70.
Autoimitation 73* 55.
Automatismus 228* 376.
Autopsychose 129* 91. 212* 140.
Autosuggestion 126* 53143* 280.208* 81.
Babinski 81* 178. 216* 191. 230* 400.
Baden 293* 22.
Badische Irrenanstalten 303* 76.
Bakteriologie 206* 55.
Balkenstich 203* 10.
Bamberg, St. Getreu 303* 77.
Basedowkrankheit 126* 50. 129* 83.
143* 277.
Basedowoider Zustand 130* 103.
Basedowpsychosen 72* 38. 73* 58.
74* 62. 77* 118, 121, 168. 83* 208.
Bayreuth 304* 78.
Bedburg 297* 71.
Beeinflussungswahn 141* 254.
Beelitz (Mark) 304* 79.
Befestigte Städte 55* 70.
Begutachtung Unfallkranker 65* 8.
66* 24.
Beiratstelle für Entlassene 294* 38.
Belgien 292* 11.
BeUelay 309* 162.
Benvenuto Cellini 233* 444.
Beobachtungsanstalt 292* 5.
Beobachtungsfehler 3* 43.
Bergmannswohl 304* 80.
Bergson 9* 124. 17* 246.
Benberi 227* 351. 281* 43.
Berlin, Anstaltsberichte 304* 81.
Beruf und metasyphil. Erkrankungen
163* 29.
Beschäftigung Geisteskranker 213* 160.
215* 179. 227* 355. 292* 9.
Besessenheitswahn 128* 75. 136* 182,
190. 202* 4.
Betrug im Rentenkampf 65* 18.
Original fro-m
UNIVERSETY OF MICHJGAN
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358*
Inhaltsverzeichnis.
Bewahrhäuser 292* 10. I
Bewegungsempfindungen 10* 145.
Bewegungserlebnisse 18* 257. j
Bewegungsgefühl 29* 405. *
Bewegungsnachbild 26* 376.
Bewegungsstörungen 84* 216. !
Bewegungsvorstellungen 21* 300. j
Bewußtheitstäuschungen 16* 236. |
Bewußtsein 6* 85. 86. 19* 275.
Bewußtsein — Unbewußtsein 6* 67. j
Bewußtseinsinhalte 20* 289.
Bewußtseinsstörungen 129* 88, 211*
135.
Bewußtseinszerfall 219* 241.
Bewußtseinszwang 7* 100.
Bezoldscher Sprachtext 11* 159. j
Bibliographia phonetica 8* 111.
Bibliographie 1912: 5* 64.
Bilderunterricht 14* 199.
Binet 3* 34. 5* 63. -
Binnenkontakt 5* 68, 69.
Bisexualität und „Niels Lyhne“ 6* 78.
Blankenhain i. Thür. 304* 82.
Blitzneurose 127* 58. 209* 97.
Blutdruck 131* 114. 228* 373.
Blutdruckmessungen 284* 92.
Blutdrüsen 210* 124.
Blutreaktion 204* 27.
Blutserum 124* 18, 19. !
Blutsverwandtschaft 218* 230.
Blutuntersuchung 218* 224.
Bossi 134* 156. 222* 289.
Bout&iko 226* 347.
Brandenburgischer Hilfsverein 304* 83.
Brandenburgischer Provinzialausschuß,
Anstaltsber. 304* 84.
Brandstiftung 46* 9. 48* 29.
Brasilien 223* 301.
Breslau 304* 85.
Brieg 304* 86.
British Columbia 209* 109.
Brompräparate 203* 9.
Bromtherapie 84* 218.
Brom und salzarme Kost 83* 209.
Brünn 304* 87.
Bulbärlähmung 178* 234.
Bunzlau 304* 88.
Burghölzli 305* 89.
Cafard 55* 66.
Cery 305* 90. I
Chorea 52* 28. 76* 101. 78* 137.
Chorea Huntington 73* 59. 75* 87.
7ft* 1 QK 137* 1 QA
Chorea minor 74* 73 77* 107. 84* 214.
132* 120.
Cleveland meeting 3* 30.
Commotio cerebri 179* 244.
Conradstein 305* 91.
Cornelius 226* 346.
Cortisches Organ 6* 82.
Cyclophrenie 140* 242.
Cysticercus fossae Sylvii 174* 185.
Dämmerzustände 74* 68, 69. 81* 180.
83* 198.
Datura Stramonium 278* 10.
Degeneration 216* 199.
Degenerationspsychosen 50* 1.
Degenerationszeichen 65* 12. 210* 118.
212* 150.
Degenerative Geisteszustände 47* 25.
Delirium, albuminurisches 212* 147.
Delirium, chronisches 136* 183. 222*
287 , 288.
Delirium, seelisches 135* 167.
Delirium tremens 279* 21. 282* 63, 71.
Dementia praecox 7* 96. 14* 201. 48*
28. 123* 4, 5, 6, 8. 125* 31, 32, 33.
126* 45. 127* 63,64. 128* 71. 129*
82. 130* 104. 131* 107, 108, 109,
110,113. 132* 123,125,130,131,136.
133* 142, 147, 148. 134* 154, 155.
136* 188, 189. 137* 192. 138* 204,
216.' 139* 228, 229. 140* 239, 243.
141* 267. 258, 260. 142* 266, 270,
271, 275, 143* 279. 144* 296. 279*
26. 285* 110. 286* 119.
Dementia praecox paranoides 137* 199.
Dementia praecox und Alkohol 143* 287,
Denk- und Phantasietypen 21* 308.
Denkverlauf 25* 360.
Depression 132* 132.
Dermographismus 224* 307.
Deszendenz der Paralytiker 107* 47.
Deutungswahn 127* 55, 66. 128* 74.
130* 97. 134* 159. 135* 168, 169.
141* 255, 256. 210* 114. 213* 159.
220* 260.
Dezentralisation 224* 309.
Diät bei Epilepsie 80* 159.
Dialysierverfahren 204* 34. 206* 62, 63.
211* 130, 136, 137. 216* 203. 218*
222. 221* 275. 222* 290. 224* 314.
227* 359. 233* 442. 334* 458.
Diebstahl Geisteskranker 51* 16.
Dienstfähigkeit 69* 8.
Diktat 19* 266 d.
Diogenal 215* 185. 223* 298.
Dissimulation 53* 42.
Doct. Pomme 218* 220.
Dresden 292* 6. 305* 92.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
359*
>oissche Behandlung 206* 53.
i-sur-Auron 295* 48, 49.
rstwahn 226* 348.
ry-les Amiens 292* 8.
äaxthrie und Dysgraphie 173* 172.
senterie in Anstalten 293* 18. 295*
15 .
smegalopsie 230* 401.
strophia adiposo-genitalis 109* 81.
■binghaussche Kombinationsmethode
->o* 41 ^
;lfing 305* 93.
lepsychosen 217* 219. 218* 233.
xescheidung 59* 22.
io und Vererbung 211* 133.
tchberg 305* 94.
ickelbora 293* 21.
ifersuchtswahn 59* 19. 124* 14. 127*
02. 139* 221. 209* 100. 280* 32.
Inbildung 233* 438.
inlühlung 9* 135. 19* 273.
inzelne, der, und Zuschauer 12* 170.
isenbahnunfälle 65* 10. 75* 74.
usenreaktion 167 * 88.
Eklampsie 75* 80. 217* 210.
iklamptische Delirien 134* 153. 220*
254.
Harsön 76* 90. 77* 112. 82* 182.
ilektrochemische Therapie 230* 405.
£li Todd, Hartford 295* 42.
Sllcn (Bremen) 305* 95.
Silikon 305* 96.
Eltemverantwortlichkeit 52* 31.
Emotion 83* 202.
Empfindungen und Urteilstäuschungen
18* 255.
Empfindungsbegriff 15* 222.
Empfindungsgruppen 29* 414.
Empfindungslähmung 13* 195.
Empfindung und Vergleich 23* 326.
Endotheliom der Dura 179* 251.
Entartung 213* 152.
Entartung und Hysterie 77* 113.
Entmündigung 58* 9. 69* 25.
Enuresis 80* 164. 82* 184.
Enzephalitis 76* 97. 170* 128.
Ependymitis granularis 170* 132.
Epilepsie 71* 12, 26. 72* 41, 43. 73*
45, 53. 74* 67. 75* 81, 82. 76* 95.
80* 154,157. 81* 172,172 a. 82* 191.
Epilepsiebehandlung 73* 47, 50. 76*
98. 83* 211.
Epilepsie, genuine 71* 28. 75* 83.
Epilepsie, hysterische 73* 48, 49.
Epilepsie nach Kopfverletzung 73* 44.
Epilepsie, Pathologie der 79* 150. 80*
151.
Epilepsie, psychische 77* 104.
Epilepsie, traumatische 77* 115.
Epilepsie und Asthma 76* 102.
Epilepsie und Luminal 73* 54.
Epilepsie und Typhus 78* 126.
Epileptiker 70* 3. 73* 52. 75* 84. 78*
123.
Epileptikerblut 81* 173.
Epileptikerfamilie 79* 138.
Epileptische Dämmerzustände 71* 15.
79* 146.
Epileptische Kinder 80* 156.
Epileptische Krisen 72* 40. 80* 1G3.
Epileptischer Status 72* 36.
Epileptoide Zustände 74* 61, 65. 77*
110. 283* 79.
Erblichkeit bei Dem. praecox 137* 202,
203.
Erblichkeitsstudien 215* 187.
Erbsyphilis 107* 39, 49.
Ergotismus 282* 62.
Erinnerungstäuschungen und Paranoia
140* 237.
Erinnerungsvorgänge 23* 325.
Erkenntnistheorie 29* 415.
Erkenntnis und Logik 27* 384.
Ermüdung, geistige 4* 52. 217* 218.
Erotische Träume 81* 174.
Erregungseinfluß 208* 87.
Errötensfurcht 80* 165.
Erschöpfung, nervöse 206* 59, 60.
Erwartungsformen 9* 133.
Erwerbsunfähigkeit 65* 16.
Essen i. Rheinpr. 292* 3.
Ethik 28* 399.
Eugenik 6* 87. 216* 200. 282* 68.
Eunuchoidismus 110* 96.
Euphorie 126* 42.
Evolution 229* 378.
Exhibitionismus 51* 13. 53* 44, 50.
Falsche Beschuldigungen 58* 8.
Falschhören 19* 269* 270.
Familienforschung 221* 272. 235* 464.
Familienmord 52* 24.
Familienpsychosen 108* 62. 127 * 60, 61.
209* 102.
Faradlscher Reiz 20* 288.
Farbenanordnung 12* 182.
Farbenhören 16* 226. 28* 396.
Farbensättigung 12* 172.
Farbenwertung 23* 331.
Farblose Blutzellen HO* 162.
Felix Plater 213* 151. •
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
360*
Inhaltsverzeichnis.
Fermentative und hämolytische Pro¬
zesse 233’" 296.
Fetischismus 50* 3. 55* 67.
Fibel für Hilfsschulen 109* 69.
Fichtennadelbäder 231* 407.
Fixation 20* 291.
Folie ä double forme 123* 2. 203* 3.
Forensische Beurteilung 59* 21.
Franzosenzeit 294* 39.
Freiburg i. Schles. 305* 97.
Freud 5* 73. 15* 218. 21* 304. 23*
335. 26* 370. 28* 397. 125* 26.
Freud und Adler 15* 217.
Freud und Bleuler 10* 147.
Friedmatt 305* 98.
Friedrichsberg 305* 104.
Frosch 2* 25.
Frühkatatonie 109* 76. 138* 207.
Frühsymptome 216* 198. 226* 336.
Friihsvphilis 161* 4.
Fürsorgebestrebungen 110* 94.
Fürsorgeerziehung 106* 21, 22. 109* 67.
110* 91. 111* 97, 107.
Fürsorgeerziehungsanstalten 110* 95.
Fürsorgereglement in Frankreich 29* 31.
Fürsorgezöglinge 105* 14, 108* 56
Funktionsstörungen 216* 193.
Furunkulosen und Dermatiden 221* 273.
Fußsohlenkitzel 3* 40.
Gabersee 305* 99.
Gabriel Schilling 215* 190.
Galvanische Reize 7* 106.
Galvanischer Lichtreflex 131* 115. 215*
181.
Ganserscher Symptomenkomplex 212*
139. 214* 168.
Gasbomben 206* 56.
Gattenmord 51* 20.
Gattenpsychosen 138* 209.
Geburtstrauma 108* 53.
Geburt und Wochenbett 133* 138. 219*
236, 238.
Gedächtnisgesetz 1* 1.
Gedächtnis Hysterischer und Psycho¬
pathen 75* 75.
Gedächtnisspanne 14* 207.
Gedächtnistätigkeit und Vorstellungs¬
verlauf 21* 309.
Gedächtnisversuche 21* 297.
Gedanke ohne Vorstellung 23* 337.
Gefangene in Stafford 54* 59.
Gefangenenhygiene 55* 72.
Gefühle, Echtheit und Unechtheit der
13* 193.
Gefühl, nach Wundt 18* 265.
| Gehimarteriosklerose 173* 166.
Gehirne, anscheinend normale 177* 216.
Gehirn, Keimdrüsen, Organismus 221*
268.
Gehimkrankheiten 166* 80. 207* 67.
Gehimlokalisation 177* 218.
Gehimschwellung 204* 22.
Gehirn und Leber 229* 336.
Gehirn und Rückenmark 108* 65.
Gehimuntersuchung 173* 169.
Gehimverletzungen 221* 276.
Gehlsheim 305* 100.
Geisteshygiene, Kongreß 9* 138.
Geisteskranke an Bord 207* 78.
Geisteskranke außerhalb der Anstalten
293* 16.
Geisteskranke Verbrecher 296* 58.
Geisteskrankheiten, Lehrbuch der 212*
149.
Geistesstörungen, syphilitische und para-
syphil 136* 178.
Geistige Arbeit 18* 276. 24* 352.
Geistige Invalidität 69* 5.
Geistige Unzulänglichkeit 24* 351.
Gelenkrheumatismus 134* 157. 220* 258.
Geliebtenmördcr 55* 69.
Gemälde eines Schizophrenen 140* 235.
Generationspsvchosen 133* 141. 219*
245. 220* '264.
Geometrisch-optische Illusionen 23* 329.
Geopsychologische Mitteilung 14* 209.
Gerichtliche Medizin 42* 4.
Gerichtsärztliche Untersuchungen 42* 3.
Gesche Gottfried 54* 65.
Geschlechtsbestimmung 208* 82.
Geschlechtsunterschiede 14* 197.
Geschwister Weilemann 105* 18.207* 74.
Gesetzgebung in Österreich 293* 14.
Gesetz (1912) in Sachsen 296* 56.
Gesichtsausdruck 18* 262.
Gesinnungen, Psychologie der 22* 321.
Gestaltsqualität i* 8.
Gestaltswahmehmungen 8* 108.
Gewichtsversuche 12* 169. 27* 388.
28* 389 a, 390
Glans penis 3* 29.
Gliomatose der Hirnventrikel 170* 133.
Glykobrom 217* 206.
Göthe und Aphasie 165* 59.
Göttingen 305* 101.
Goldsolreaktion 168* 98. 217* 209.
Graphische Funktion 10* 140.
Graviditätspsychose 144* 295.
Grippe 278* 6. m
Größe der Anstalten 296* 62.
Großeltern 1* 4.
Difitized
bv Google
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
361*
taßhim 227* 364; ohne 10* 143.
roßvaterkomplex 10* 149.
utachten 42* 5.
vnäkologie 206* 50, 61, 61.
ynäkologische Erkrankungen 133* 143.
laar 305* 102.
iaemangioma cavemosura 176* 205.
lämatologische Untersuchungen 229*
338.
tlämolysinrcaktion 171* 144.
.lattpsychosen 50* 8. 54* 61. 124* 11.
139* 222. 142* 266.
Halbnarren 213* 161. 221* 270.
Halbschatten 22* 317.
Hall i. Tirol 295* 44. 305* 103.
Halluzinationen 203* 15, 19. 204* 32.
<290* ORl ')'U I» *400
HaUuzinose 124* 12. 143* 288. 282*60.
Hamburg 303* 76. 305* 104.
Hamilton 8* 110.
Handfertigkeit 20* 287.
Handschrift 17* 251.
Hannover 306* 105.
Harmonielehre 28* 394.
Harnuntersuchung, bakt. bei Paralvse
179* 250.
Hausarbeiten 17* 247.
Haus Schönow 306* 106.
Hautelektrische Erscheinungen 13* 186
Hautemptindung 23* 330.
Hautreize 207* 69.
Hcbephrenie 76* 94. 133* 144. 137*191,
Heddsche Zonen 229* 382.
Heilpädagogisches Seminar 105* 15.
108* 64.
Heim weh verbrecherinnen 47* 22.
Heiratswahn 127* 57.
Hellsehen 22* 316.
Hemichorea 73* 57.
Hemiplegie 135* 171; kortikale 164* 38.
Hcrbom 306* 107.
Heredodegeneration 110* 86. 229* 379.
Ileredosvphilis 164* 49.
Heredotuberkulose 78* 122.
Herzruptur 128* 81.
Hessischer Hilfsverein 306* 108.
Hexenprozeß, neuer 62* 25.
Hildesheim 306* 109.
Hilfsschulen 111* 103.
Hippursäuresynthese 176* 208.
Hirndnick 215* 176, 177.
Himfunktionen 19* 271.
Hirngewicht 219* 235. 228* 367.
Hirngewicht und Schädelkapazität 133*
146. 169* 118* 220* 250.
Hirnrinde 161* 5.
Himrindenschädigung 76* 88.
Hirnsklerose 172* 159.
Himsyphilis 167* 90.
Himtod 138* 205.
! Hirntumor 163* 35. 170* 134. 175* 193.
Hodenretention 107* 48.
Hördt 306* 110.
| Hörorgan der Vögel 12* 180.
| Hörstörung 69* 2.
■ Homosexualität 52* 36. 210* 120. 216*
; 192. 230* 397. 280* 30.
I Homosexuelle 54* 53, 57.
j Hydrotherawie 232* 418, 419.
1 Hydrozephalie 109* 78. 177* 228.
i Hygiene der Nervösen 77* 119.
Hyperphalangie 106* 35.
Hypnotischer Zustand bei Tieren 26*
373.
Hypnotismus 5* 61.
Hypnotismus und Suggestion 27* 387.
233* 439.
Hypochondrische Melancholie 130* 98.
Hypochondrisches Syndrom 109* 74.
Hypophysiserkrankungen 77* 111. 109*
72. 169* 120. 172* 148. 226* 335.
Hysterie 71* 18. 76* 96. 77* 105. 78*
133, 136.
Hysterieepidemie 73* 56.
Hysterie, Fehldiagnosen 84* 212.
Hysterie im Kindesalter 73* 46. 83* 205.
Hysterie oder Dem. praecox 129* 93.
Hysterie und Chirurgie 79* 149.
Hysterie und Gravidität 70* 7.
Hysterie und Simulation 65* 20.
Hysterische Situationspsychosen 82*
193.
Hysterische Symptome 80* 161.
Hysterische und choreatische Bewe¬
gungsstörungen 77* 117.
Hysterismus 71* 20, 21, 22.
Ideenflucht 204* 21.
Ideen und Instinkte 3* 42.
Idiotherapie 72* 29.
Idiotie 107* 41.
Idiotie und Imbezillität 108* 61. 135*
173.
Iktus 161* 6. 208* 92.
Immunhämolysen 162* 18.
Indianer 216* 202.
Indien 235* 468.
Induziertes Irresein 123* 3. 125* 35.
141*250. 229* 335.
! Infantilismus 24* 348. 52* 26. 106* 23.
109* 71. 111* 100, 105. 234* 447.
Digitized by
Gck igle
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
362*
Inhaltsverzeichnis.
Digitized by
Infektionsdeliricn 282* 72.
Infektions- und Autoinfektionspsycho¬
sen 125* 28.
Innensprache 23* 328.
Innere Sekretion 78* 131. 79* 144.
136* 186. 213* 158. 225* 327. 226*
334. 227* 353.
Innervation der Gefäße 224* 308.
Intellektuelle und Gesellschaft 220* 253.
Intelligenzprüfungen 6* 77, 80, 81. 8*
114,115. 23* 334. 42* 6. 105* 13,17.
108* 54. 205*37,38. 208* 94. 227*
350.
Intelligenz und Wille 21* 298.
Interessengesetze 52* 33.
Intoxikationspsychosen 278* 11,28. 283*
81.
Introspektion 6* 84. 27 * 381.
Introspektive Analyse 2* 19.
Intuition 5* 62.
Inversion, sexo-ästhetische 14* 204.
Involutionsparanoia 133* 139. 139* 220.
Inzuchtfrage 232* 421.
Ironie bei Katatonie 134* 163.
Irrenärzte und ihre Gegner 294* 32.
Irrenanstalt an der Lagune 294** 35.
Irrenfürsorge 205* 43, 44. 207* 68.
292* 1. 293* 13, 15. 294* 34.
Irrenfürsorge in den U. S. A. 293* 24.
296* 54, 55. 297* 73.
Irrenproblem 206* 57.
Irrenstatistik 294* 36. 295* 50.
Irrenwesen in Frankreich, XVIII. Jahr¬
hundert 296* 61.
Irrsinn und Presse 227* 357. 295* 47.
Ischias 82* 196.
Isenwald 306* 111.
Isolierkur 210* 113.
Jcssdcis 4^ 51
Jesusforschung 7* 104. 229* 389. 230*
390, 391.
J. J. Rousseau 234* 453.
Jodlsche Psychologie 20* 286.
Jodmedikation 82* 183.
Johann Christian Reil 224* 313.
Jugendfürsorge 217* 208. 228* 369.
Jugendkunde 21* 296.
Jugendliche und Zurechnungsfähigkeit
47* 16.
Jugendpsychoanalyse 10* 146.
Julisch-Claudische Regenten 223* 306.
Juristen 26* 368.
Justizirrtum 58* 3.
Kampf ums Dasein 29* 412.
Go igle
Karvonensche Reaktion 176* 2s£.
Katalepsie 210* 123.
Katatonie 128* 67, 80. 132* 1 2L 1
136. 134* 152. 143* 284, 265
Katholische Geistliche und Könnet ~
340.
Katholiken 3* 32.
Kaufbeuren 306* 112.
Kemmangel 178* 235.
Kinästhesie 9* 126, 127, 128. 24*
Kind 111* 106.
Kinderarbeit 110* 83.
Kinderaussagen 59* 24.
Kinderpsychologie 17 * 244 a.
Kinderpsychosen 133* 137. 218* .
i Kinderseele 15* 225.
[ Kindersprache 19* 277. 25* 356.
I Kinder-und Jugendselbstmorde 51*
Kindesmörderinnen 134* 150.
j Kindheitserinnerungen 14* 208.
! Kinematohaptische Erscheinunger :
I 56. I
I Kläranlagen 297* 67.
Kleinhirn 53* 47. 210* 119; -Btftfc
i tiunor 174* 184. i
Kleinhimrinde 110* 87. 229*
Kleinhirntumoren 169* 114.
Klinischer Verlauf und anatomkb- (
Befund 224* 315.
Klinisches Handbuch 209* 108. I
| Klonisches Zittern 170* 129.
Kobragift 133* 140. 219* 244. j
Kochsalzentziehung 70* 6. I
Kodeinomanie 285* 109.
Kodeonal 205* 40. 209* 108. 220* i:
Koenigsberg 294* 37.
I Königsfelden 306* 113.
Kohlenoxydvergiftung 284* 95. -•
116.
Kokainomaner Affe 279* 16.
Komplementbindungsreaktion 106* *
Komplexforschung 23* 339. 227* ^
Komplikationsversuche 29* 406.
Komplimentablenkung 125 * 38.
Kongenital Luische 53* 48.
Kongreß in London 80* 166. 226* &
234* 449; und Gent 297* 72
Kongreß 1912, med. 16* 232.
Konstitutionsbeeriff 205* 35.^
Kontinuierliche Reize 21* 305.
Konturenzeichnungen 29* 416.
Kopfmaße 105* 9. v
Kopfneigung und Augenbewegung '->■
403.
Kopfverletzung 223* 305.
Komeareflex 9* 134.’
Original fram
UNIVERSETY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
363*
Korrelationskoeffizient 25* 363, 364.
Korsakoffsche Psychose 278* 3. 280*
29, 33. 281* 56, 57. 283* 86. 285*
114, 115. 286* 121.
Korsakoffscher Symptomenkomplex
173* 173.
Krämpfe im Kindesalter 83* 201, 204.
Krampfformen und Blutbild 75* 85.
Krampfzustände, professionelle 84* 215.
Krankheitsbewußtsein 126* 48.
Kranksinnigenstatistik 293* 19.
Kremasterreflex 221* 266.
Kremsier 306* 114.
Kretinismus 76* 99.
Kreuzburg 306* 115.
Kriegspsychosen 126* 51. 208* 80.
209* 96. 213* 157. 220* 252.
Kriminalität, kindliche 53* 49.
Kryptolalie, Kryptographie 22* 323.
Kulturgefahren 225* 322.
Kulturkreis 141* 261. 231* 411.
Kutzenberg 306* 116.
Laboratoriumausstattung 9* 137. 20*
290.
Lafarge, Fall 50* 4.
Landsberg a. W. 295* 51.
Landstreichertum 53* 51.
Langenhagen 306* 117.
Langenhorn 305* 104.
Lautgebung 5* 66.
Lehrbuch der Nervenkrankheiten 71*
23. 79* 140.
Leidenschaften 6* 90.
Leubus 306* 118.
Leuchtgasvergiftung 71* 19.
Leukozyten 78* 128.
Leukrol 233* 434.
L4visches Zeichen 221* 265.
Lewenberg 306* 119.
Lichterscheinungen bei Erdbeben 13*
187.
Lichtsinn der Nachtvögel 17* 245.
Liebcsprozeß 2* 14.
Lirooux 295* 52. 306* 120.
Lindenhaus 307* 121.
Linkshändigkeit 231* 409.
Lipoidhemic 225* 329.
Lipps, Urteilslehre 2* 18.
Literarisches Genie 132* 122. 139* 224.
Literatur, neue 7* 105.
Löwysches Phänomen 162* 15.
Loinbroso 221* 267.
L’Ospedaie maggiore 294* 33.
Lourdes 205* 42.
Lüben 307* 122.
Lügner und Schwindler, pathol. 52* 30.
•2i ß* oni
Lüneburg 307* 123.
Lues nervosa 165* 64. 172* 152.
Lues-Paralysefrage 173* 164.
Luetin Noguchi 162* 16.
Luefinreaktion 218* 225.
Luetische Infektion 171* 147.
Luische Spätfnnn 170* 125.
Lumbalpunktion 165* 56. 167* 87.
175* 187. 210* 111. 214* 175; und
Venaepunktion 162* 21.
Luminal 209* 98. 210* 112. 214* 173.
219* 240. 221* 269. 227 * 3.54. 234*
448.
Lungentuberkulöse 224* 311.
Lustmörder 13* 189.
| Luzern 307* 124.
Lymphozystose 75* 76. 81* 171.
Magenfunktion 205* 41.
Maggi, Fall 53* 40.
Manganvergiftung 285* 105.
Maniakalischer Anfall 134* 161.
Manie 125* 34.
Manie bei Hirntumor 126* 62. 164* 46.
Manie und Idiotie 105* 6. 124* 20, 22.
Manisch-depressives Irresein 130* 100.
140* 236. 144* 300. 222* 286.
Manisch-depressive Psychosen 136* 180,
181.
Manisch-depressive Zustände 26* 371,
372 a.
Manisch-depressive Zustände, Ataxie-
Marie, Friedreich 79* 147, 138* 215.
Mariaberg 307* 125.
Masturbation 232* 426.
Materialisation 20* 292. 202* 2.
Masochismus 50* 9. 53* 38.
Massenerziehung 210* 121.
Melancholie 125* 37. 139* 219,230, 231.
Mendelismus 215* 189. 232* 420.
Meningitis 165* 58.
Menschliche Arbeit 18* 261.
Mensch ohne Großhirn 10* 143. 106*
30. 165* 61.
Menstruation, Gravidität, Geburt, foren-
sisch 52^* 32
Menstruationspsychosen 132* 134. 218*
232.
Menstruationsstörungen 215* 180.
Menstruation und Epilepsie 83* 206.
Merkfähigkeit 228* 375.
Meskalin 219* 246. 285* 108.
Methodologische Fragen 13* 196.
! Methylalkoholvergiftung 282* 65.
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364*
Inhaltsverzeichnis.
Meyer, Conrad Ferdinand 4* 44.
Michigan 307* 126.
Mikromelie 125* 56.
Mikroorganismen 125* 36.
Mikrozephale Battista 109* 79; Ma-
chouta 104* 3.
Mikrozephalie 110* 84.
Milchfermente 80* 158.
Minderwertigkeit und Verbrechen 54*
62, 63.
Mittellappen des Kleinhirns 175* 195.
228* 366.
Moderne Behandlung in England und
Amerika 334* 461.
Mongolenblut 107* 46.
Mongoloide Idiotie 107* 50.
Mongolismus 111* 99.
Monismus 15* 215.
Moral insanity 108* 58.
Moralische Erziehung Anormaler 108*
60.
Moralisch-Schwachsinnige 106* 36.
Moralischer Defekt 53* 43.
Morbus Basedowii 74* 60. 82* 185.
Mord im Dämmerzustand 48* 34, 35.
60* 5. 55* 68.
Morphiumentziehung 283* 76. 284* 89.
Morphiumsucht 279* 14, 15. 280* 34,
40, 41.
Mors thymica 81* 181.
Moskau 295* 53.
Münsingen 309* 162.
Münsterlingen 307* 127.
Multiple Sklerose 162* 24 166* 71.
174* 183.
Musikalische Intervalle 20* 282.
Musikalische Reproduktion 139* 226,
227.
Musik und Psychosen 234* 451.
Muskelkontraktion 16* 230.
Myoklonie 79* 139.
Myoklonusepilepsie 81* 179.
Mystizismus 136* 177. 171* 139.
Myxidiotie 107* 38.
Nachbild 2* 17. 11* 158.
Nachdenken 24* 350.
Nachsprechen 12* 176.
Naevus vasculosus 74* 66.
Napoleon 218* 229.
Narkolepsie 219* 243.
Narkotika imd Bromsalze 219* 239.
Narzißmus 54* 56. 230* 396.
Natrium nucleinicum 128* 69, 70. 137*
193. 168* 101. 172* 155. 205* 39.
Nebenniere 138* 207. 225* 324, 325.
Negativismus 136* 184, 185. 221* 27*.
Neosalvarsan 165* 57. 168* 99. 1767
201 .
Nervenelemcnte 212* 142.
Nervenerregende Winde 215* 184.
Nervenkranke Kinder 82* 189.
Nervenkrankheiten 70* 1. 72* 37.
75* 79.
Nervenleidende 84* 220.
Nervenraassage 84* 217.
Nervenpunktlehre 72* 39.
Nervensystem 232* 433.
Nervös 82* 186.
Nervöse Schulkinder 109* 66.
Neumann- und Hermannsche Reaktion
162* 17.
Neurasthenie 72* 42. 82* 188, 195.
Neurasthenie, traumatische 76* 89. 83*
203.
Neuritis 81* 175.
Neuro-epitheliales Irresein 127* 59.
138* 206.
Neurologie, Handbuch 77* 106.
Neurologische Beiträge 71* 24.
Neurondegeneration 172* 156.
Neuropsychosen 64* 1. 65* 13.
Neurosen 2* 13. 74* 70. 81* 177. 207*
71.
Neurosenlehre 11* 164.
Neurosen, traumatische 71* 14. 76* 91.
78* 125, 132.
Neurotiker und Sexualität 76* 100.
Neuruppin 307* 128.
Neustadt i. Holst. 307* 129.
Neustadt i. Westpr. 307* 130.
Niedernhart 307* 131.
Niederösterreich 307* 132.
Non-reconnaissance 7* 95.
Normale Kinder 105* 19.
Oedipus-Mythos 10* 150.
Onanie 9* 136. 15* 219.
Ophthalmologie 80* 155.
Opium 225* 323.
Opium-Brom 70* 10. 72* 33.
Opiumentziehung 284* 91.
Opiumraueher 278* 1.
Opsonogen 215* 186.
Optikusatrophie 169* 116.
Optische Täuschungen 17* 249.
Optische Verschmelzung 28* 400.
Omamentationsversuche 22* 312.
Osnabrück 307* 133.
Osteomalazie 132* 128. 140* 246. 216*
205. 229* 381.
Ostpreußen 307* 134.
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Inhaltsverzeichnis.
365*
Otto Ludwig 217* 213.
Ozeanien 235* 470.
Pädagogik 10* 154. 21* 299. 22* 322.
207* 79.
Pädagogisch-psychologische Probleme
16* 228.
Palladiumhydrooxydul 130* 96.
Pamphrenie 130* 105.
Paradoxon 10* 141.
Paralyse 48* 36. 126* 43. 161* 1.
166* 77. 167* 85. 168* 102. 170*
131, 142. 172* 149, 150, 151. 173*
162.
Paralysefrage, historisch 169* 109.
Paralyse, juvenile 169* 19. 175* 188.
177* 226.
Paralysis agitans 71* 17.
Paralysis post tabem 170* 127.
Paralysetherapie 165* 65.
Paralytisches Syndrom 164* 45, 50, 51.
Paramnesie 25* 361.
Paranoia 124* 23, 24. 132* 126. 133*
145. 139* 232. 144* 294. 222* 280.
Paranoia chronica 137* 200. 144* 290.
Paranoia chronica persecutiva 48* 32.
Paranoiafrage 141* 249.
Paranoia-Psychosen 140* 245.
Paranoia suggestiva-delirans 124* 15.
Paranoider Zustand 130* 95. 131* 116,
117. 132* 129. 134* 160. 141* 252,
253. 176* 206.
Paraphrenien 214* 170.
Parasyphilis 176* 200.
Parathyreoidin 78* 127.
Parese 162* 12.
Pariser Ehen 58* 10.
Passionierter Idealismus 209* 104, 105,
106, 107. 220* 263.
Pathologischer Rausch 48* 30.
Patriot 233* 446.
Pellagra 278* 4, 5, 12. 279* 19. 280*
31,37,39. 281* 44,47,48,55. 282*
59,73,75,77. 283* 82,83,88. 284*
93, 98. 285* 107, 118.
Pennsylvania 307* 135.
Periodisches Irresein 208* 90.
Peripheres Sehen 9* 125.
Persönlichkeitsbewußtsein 11* 156. 230*
403.
Personenverwechslung 59* 20.
Perversität 62* 34. 55* 71.
Pferde von Elberfeld 8* 118.
Pflanzengifte 279* 20.
Pflegepersonal 294* 40. 296* 66.
Pflegerstreik 296* 57.
Pflegschaft 58* 11.
Pforzheim 296* 63.
Phänomenologie und Philosophie 16*
227. 229.
Phantasie und wissenschaftliches Den¬
ken 10* 144.
Phobie 143* 282.
Phonetik 13* 192. 20* 292 a.
Phosphor 76* 103.
Photographierte Gespräche 22* 320.
Phrenokardie 70* 11.
Physisches Kranksein 226* 335.
Pia mater 162* 14. 171* 143.
Piblokto 72* 32.
Pilokarpin 79* 143.
Pinel 230* 395.
Plethysmographische Untersuchungen
18* 263. 72* 31. 126* 40. 134* 149.
135* 164.
Pluriglanduläres Syndrom 70* 6. 203*
13.
Poetisches Bild 26* 369.
Politische Ereignisse 130* 101. 214* 165.
Polydaktylie 210* 117. 223* 302.
Polyneuritis 283* 76. 284* 99.
Poriomanie 52* 37. 135* 166.
Potenz 82* 192.
Prefargier 307* 136.
Presbiophrenie Wemicke 173* 167.
Primitive Rassen 7* 107.
Problem der Sprache 12* 181.
Prognose der Geisteskrankheiten 124*
16. 204* 26.
Progressive Paralyse 48* 31. 161* 2, 3.
I 162* 12, 19. 163* 31. 164* 39, 41,
! 43. 165* 60, 62. 167* 83, 86. 169*
| 117. 170* 135. 172* 154. 173* 170.
174* 180, 181, 186. 175* 189, 191,
192, 196, 197. 176* 202, 204, 207,
210, 211. 177* 213. 178* 233. 240,
241, 242. 179* 246, 247. 204* 24.
207* 73. 212* 148. 218* 228. 226*
344. 292* 2.
Prostata und Hypophyse 136* 176.
222* 282.
Prostituierte 54* 58.
Pseudobulbärparalyse 106* 31.
Pseudohalluzinatorische V orstellungen
128* 76.
Pseudoneuritis 166* 78.
Pseudosklerose (Westphal-Strümpell)
179* 248.
Psychiatrie 204* 26, 30. 207* 72. 214*
166. 217* 212. 226* 338.
Psychiatrie, gerichtliche 42* 2, 7, 10.
Psychiatrie, klinische 220* 249.
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366*
Inhaltsverzeichnis.
Psychiatrie Kraepelin 3* 35. 203* 20.
Psychiatrie, moderne 208* 89, 91. 221*
271.
Psychiatrie und Presse 208* 86. 234*
454.
Psvchiatrische Lehren und Diagnostik
228* 372.
Psychiatrische Untersuchung in der
Armee 69* 7.
Psychiatrisches Gutachten 42* 8; und
Unfallnerven- 64* 5.
Psychische Anomalien 78* 130.
Psychische Anormalität 46* 2.
Psychische Behandlung der Kinder
107* 40.
Psychische Depression 218* 227.
Psychische Kausalität 21* 306.
Psychische Tätigkeit 4* 47.
Psychoanalyse 11* 161, 163. 13* 194.
15* 221. 20* 293,294. 23* 332. 82*
194.
Psychoanalytische Theorie 17* 242. 75*
86 .
Psychoenzephale Studien 232* 430.
Psvchogalvanik und Bespiration 10*
i42.
Psychogalvanisches Reflexphänomen
12* 178. 13* 184. 19* 268. 22* 311.
130* 99. 213* 154, 163.
Psychogene Schmerzen 72* 34. 206* 64.
Psychologie 6* 89. 8* 119. 21* 295.
23* 324. 24* 349.
Psychologie, biologische 16* 231.
Psychologie der Aussage 3* 39. 65* 7.
Psychologie des Unfalls 65* 6.
Psychologie, forensische 20* 284.
Psychologie, Philosophie und Erziehung
22* 316.
Psychologie und ärztliche Schule 1* 2.
Psychologische Einleitung 16* 233. 217*
207.
Psychologische Forschung 19* 267.
Psychologische Profile 24* 343.
Psychologisches Experiment 9* 139.
Psychoneurosen 70* 4. 77* 108.
Psychopathen 50* 7. 107* 42.
Psychopathologie 16* 237. 217* 211.
Psychophysik 28* 391. 29* 407.
Psychoreflexologie 4* 45, 46, 48, 49.
Psychosen, akute 144* 291, 292. 179*
245. 334* 457.
Psychosen, arteriosklerotische 177* 227.
Psychosen, assoziierte 127* 54. 137* 198.
Psychosen, degenerative 214* 172.
Psychosen, funktionelle 125* 39. 163*
36.
Psychosen, paranoide 144* 299.
Psychosen, parasyphilitische 171*
138.
Psychosen, periodische 128* 73.
143* 286.
Psychosen, postemotionelle
Psychosen, post traumatisch** 2 («V -
Psychosen, senile und präsemle ;
274. 161* 7. 178* 232.
Psychosen, traumatische 21*4* 31. _
153. 227* 349. 232* 422. 23?.* -
Psychosen und abnorme Bewain**
zustände 222* 283.
Psychosen und gynäkologische Erfcr.
kungen 219* 2*47.
Psychosen, zephalalgische und b-
kranielle 140* 234. 227* 361.
Psychosen, zirkuläre 135* 172.
Psychotherapie 5* 60, 65. 72* 30. 2 '
66. 214* 174. 233* 445. 234* 456 4 .
Puerperalpsvchosen 131* 118. 134* ■*.
144* 297.* 216* 197.
Puls 230* 398; und Atmung 334* +•
Pupillenreaktion 229* 383.
Pupillenstarre 142* 263. 283* 76
Pupillenuntersuchungen 140* 24*'. 2-
228* 368.
Pupillenverändemngen 124* 10.
Pyrogenetische Mittel 212* 1447
I Querulantenwahn 134* 158.
1 Radiumbromid 210* 110.
Räsonnement 23* 338.
I Raptus melancholicus 128* 68.
Rassenhygiene 3* 37. 53* 46. 204* -
! 212* i45. 215* 182. 216* 194. 221‘
i 274.
Rasse und Geisteskninkheit 232* 42
296* 65.
} Raubmord 48* 33.
• Raumanschauung 9* 129.
* Raumgefühl 8* 120.
Raumillusionen 8* 113.
Reaktionsvorgang 18* 259.
^Reaktionszeiten 20* 285.
| Rechenkünstler 7* 101. 203* 8.
I Rechtsansprüche 78* 134.
! Rechtschreibung Taubstummer 19* 274.
i Recklinghausensche Krankheit 12t»* 94.
’ 166* 74.
i Reflexhalluzinationen 227* 362.
I Reflexometer 213* 155.
I Reflexpsychose 144* 289. 232* 421.
I 234* 455.
Regenerationserscheinungen 6* 88.
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Original frorn
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Inhaltsverzeichnis.
367*
Relativität der Zeit 6* 59.
Relativitätsprinzip 7* 103.
Reproduktion von Buchstaben 28* 395;
und Figuren 21* 301.
Residualwahn 123* 7. 144* 298. .
Respiration 80* 153.
Rheinischer Hilfsverein 307* 137.
Rheinprovinz, Anstaltsberichte 308*
138.
Rhythmische Reflexe 5* 58.
Rhythmus 28* 392.
Richtungssinn 26* 374; der Ameisen 8*
121 .
Rindenkrampf 81* 169.
Rindenverödung 132* 124.
von Ritgen 29* 411. 235* 465.
Ritualmord 42* 11.
Robespierre 212* 143.
Roda 308* 139, 140.
Rosegg 308* 141.
Rot-Grün-Blindheit 16* 238.
Rückle 22* 310.
Rufach 308* 142.
Ruhehallen 230* 404.
Saargemünd 308* 143.
Sachsen, Anstaltsberichte 308* 144.
Sachsenberg 308* 145.
Sadismus, Masochismus 10* 148. 50* 2.
Salvarsan 165* 66. 171* 146. 179* 256.
Salvarsantod 168* 96.
Salzarme Kost 82* 190, 197.
Santiago 308* 146.
Sarkombildung 179* 252.
Sauerstoffinjektion 233* 436.
Scapula scaphoidea 106* 29. 111* 102.
234* 456.
Schädel und Schädelindex 2* 21.
Schallreize 2* 20. 17* 253. 27* 389.
Scheidung 58* 6. 59* 15.
Schilddrüse 70* 90. 78* 124. 79* 141,
142. 84* 213; Beischilddrüse, Him-
anhang 76* 92.
Schizophrenie 135* 175. 142* 268.
Schizophrenie Bleuler und Dementia
praecox Kraepelin 130* 102.
Schläferin von Oknö 129* 92.
Schlaf 8* 117. 27* 378.
Schlaflosigkeit 83* 207. 210* 116. 223*
303. 233* 437.
Schlafmittel 203* 14.
Schlaf mittel Vergiftungen 207* 75.
Schlafstörungen 1* 11. 220* 257.
Schleimhautreflexe 213* 162.
"Schleswig 308* 147, 148.
Schreibfehler 26* 372.
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Schulärztliche Tätigkeit 231* 410.
Schularbeit 9* 131.
Schulüberbürdung 104* 2. 203* 7.
Schule und Leben 7* 99.
Schutzfermente im Serum 129* 84.
Schwachbegabte Schüler 108* 59. 109*
77. 110* 88, 89. 111* 101.
Schwachsinn 47* 19. 105* 16; ange¬
borener 109* 75. 111* 104.
Schwachsinn mit Wutanfällen 108* 55.
Schwachsinnige (soziales Problem) 104*
5. 105* 12.
Schwachsinnige Kinder 106* 24. 108*
| 52. 109* 80. 110* 90.
I Schwachsinnigenfürsorgc 104* 1. 106*
! 28. 107* 51. 109* 68.
i Schwachsinnigen-und Blödenpflege 108*
63.
Schwachsinn und Paranoia 126* 41.
Schwangerschaft 126* 47. 135* 170.
138* 211, 212. 225* 330, 331.
Schwangerschaftspsychosen 207* 77.
Schweden 46* 12.
! Schwellenempfindlichkeit der Netzhaut
! 7* 94.
| Schwere 7* 97, 98.
j Schwetz 308* 149.
1 Schwurgcrichtsverhandlung 47* 21.139*
i 225.
Scotland 308* 150.
Sedobrol 71* 27. 82* 187. 210* 122.
Seelenforschung 222* 281.
Seelenleben des Kindes 15* 224.
Seelenstörungen, senile 164* 42.
Seelischer Vorgang und Gedächtnis 3*
33.
Sehfeld 10* 152.
Sehnervenschwund 177* 217.
Sehraum 6* 79.
Sehrichtung 15* 223.
Seinedepartement 51* 14.
Sekundärempfindungen 5* 72.
Selbstanzeigen 58* 5.
Selbstbefreiung 71* 16.
Selbstbeobachtung und Unterbrechungs-
! versuche 2* 22, 23, 24.
j Selbstbeschuldigung 8* 109. 58* 1, 4.
! 202* 5.
Selbstbewußtsein 25* 357. 140* 247.
Selbstmord 53* 39. 65* 17. 225* 321.
235* 466. 334* 462.
Selbstmordversuch 51* 18. 53* 39.
136* 179. 225* 319.
Selbstvergiftung und Entgiftung 223*
I 299.
; Selbstverletzungen 141* 248. 232* 431.
'
UNIVERSITY OF MICHIGAN
368*
Inhaltsverzeichnis.
Selbstverstümmelung 128* 77. 139* 233.
142* 272. 163* 32. 210* 115. 219*
234.
Senile Geistesstörungen 126* 44.
Sensorische Lemweise 11* 160.
Serodiagnostik 77* 120. 232* 429.
Serologie 210* 125. 218*226. 225*326.
Seroreaktion 71* 25.
Serum Maniakalischer und Melancholi¬
scher 138* 208.
Serum- und Kutanreaktion und Sy¬
philisdiagnose 163* 33.
Serumwirkung 138* 214.
Sexualität 50* 6.
Sexualleben und Nervenleiden 77* 109.
Sexualwiderstand 6* 76.
Sexuelle Neurasthenie 83* 210.
Sicherheitszellen 294* 27.
Sigmaringen 308* 151.
Silbenakzent, dynamischer 29* 417.
Silvaticus 54* 65.
Simulation 46* 10, 13. 47* 15. 54* 52,
65. 64* 4. 65* 11, 15,19, 21. 125* 30.
140* 238.
Sinnenleben des Neugeborenen 8* 112.
Sinnesorgane 11* 166.
Sinnestäuschungen 219* 248.
Sioli-Jubiläum 203* 6.
Sittlichkeitsverbrechen 47* 27. 53* 41.
Sklerose, amyotrophische 170* 130.
Sklerose der Aorta 170* 123.
Skorbut 165* 52.
Sondenernährung 222* 278.
Sonnenhalde 309* 162.
Sozial-ärztliche Aufgaben 64* 2.
Spätkatonie 137* 197.
Spätparalyse und Unfall 169* 121.
Spannungszustand 18* 260.
Spasmophilie 79* 145.
Spektral färben 27* 385, 386.
Spinalflüssigkeit und Blut 166* 76.
171* 145.
Spinalnarkose 163* 30.
Spirochaete pallida 172* 160. 173* 163.
178* 237.
Spirochäten bei Paralyse 162* 20.
166* 68, 69, 75. 167* 94; bei Sy¬
philis 95.
Spleen 140* 244. 227* 377.
Sprachauslegung 15* 220.
Sprachbahnen 172* 151.
Sprache, Psychologie und Logik 25* 368.
Sprachlaute 16* 235.
Sprachschutz und Sprachpflege 3* 36.
Sprachstörungen 173* 147. 174* 177.
178* 230. 214* 167.
Digitized by
Gck igle
Staaroperation 138* 210.
Stackein 292* 4. 309* 153.
St. Andreasberg 309* 154.
Statischer Apparat 4* 50.
Statistische Berichte in Österreich 296*
59.
Statistische Kommission d. I). V. f.
Psychiatrie 297* 69.
Statuenbeschädigung 61* 12.
Stendhal 225* 332.
Stephansfeld 309* 155.
Stereoptrische Abbildung 12* 175.
Sterilisation und Kastration 51* 22.
Stetten 309* 156.
Stimmlippenbewegung 14* 206.
Stoffwechsel 15* 211. 164* 47. 204* 33.
206* 49. 232* 432.
Stomatologie 217* 214.
Stottern 222* 292.
St. Pirminsberg 309* 157.
Stralsund 293* 23.
Strangerkrankungen des Rückenmarks
175* 194.
Strecknitz 309* 158.
Strelitz (Alt-) 309* 159.
Streuungswerte 9* 132.
Stuporzustände 220* 255.
Subjektive Gleichheit und mittlere
Fehler 26* 367.
Subpatellardelle 212* 138.
Südchina 230* 394.
Südseevölker 27* 380.
Suggestibilität 7* 92. 12* 179.
Suggestion 13* 191. 230* 393; und
Hypnose 25* 362. 231* 406.
Suggestive Erscheinungen 4* 55. 207*
65.
Swedenborg 22* 313.
Symbolik und Kosmogonie 5* 71.
Symmetromanie 142* 262. 231* 412.
Synopsien, akustisch-chromat. 19* 266c.
Syphilis 74* 64. 76* 93. 105* 20.
106* 32. 166* 70. 167* 82. 168* 97.
174* 178. 179* 249.
Syphilisforschung und Neuropathologie
177* 221.
Syphilogone Erkrankungen 173* 165.
Tabacologia medicinalis 278* 13.
Tabakrauch 280* 38.
Tabes dorsalis 177* 214.
Tabes, juvenile 168* 100.
Tabes, oligosymptomatische 161* 8.
Tabes und Paralyse 165* 55.
Täuschungen 220* 262; geometrisch -
optische 14* 200.
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
369*
Tannenhol 309* 160.
Taschenbuch zur Untersuchung 207* 76.
Tastempfindung 12* 173. 29* 406.
Tastpunkte 3* 38.
Taubstumme 46* 8.
Telepathie 1* 6.
Temperaturempfindungcn 3* 41. 24*
344.
Temperatursinn der Haut 29* 410.
Tenon 292* 7.
Tetanie 83* 199.
Text und Komposition 27* 382.
Therapie 209* 93.
Thermische Hautreize 231* 416.
Thymin 74* 72.
Thymusdrüse 70* 8.
Tickkrankheit 75* 78. 81* 176.
Tierische Hypnose 20* 283.
Tierpsychologie 16* 243.
Tierseele 28* 404.
Töne 3* 31.
Tokioer Institut 176* 209.
Tonpsychologie 15* 212. 23* 336.
Tonverschmelzung 17* 248.
Torsionsspasmus 205* 45.
Tost 309* 161.
Toulouse 295 * 46.
Trägheit, pathologische 11* 155. 131*
112. 215* 178.
Transitivismus 214* 171.
Transvestitismus 52* 27. 53* 45.
Traumatismus 173* 171.
Traum, Träume 11* 168. 27* 383;
Träumer 209* 99.
Traumdeutung 1* 12. 5* 74. 7* 102.
Traumexperimente 26* 366.
Traumfunktion 20* 281.
Traumproblem 20* 280.
Traumpsychologie 18* 256.
Treponema pallidum 169* 122. 171*
136, 140, 141. 172* 153.
Triebäußerungen 223* 293.
Triebhandlungen 144* 293.
Trinkerfürsorge 282* 61, 64. 283* 87.
284* 97, 101.
Trinkerheilstätte 282* 66.
Tuberkulin 143* 276.
Tuberkulose 110* 92. 223* 3<X>.
Tuberöse Sklerose 105* 7, 11. 108* 57.
Tumor cerebri 162* 23. 179* 225.
Typenvorstellungen 21* 307.
Typhus 293* 25. 295* 41.
Typhusträger 296* 64.
Übermüdung 229* 334.
Übung und Ermüdung 16* 234.
pj Zeitsc^rift^fty r^yjpljij|Ärio. LXXI. Lit.
Unbewußte Bewegungen 25* 355.
Unbewußte, das 6* 75.
Unfälle und nervöse Folgen 226* 342.
Unfallheilkunde 65* 14. 220* 279.
Unfallncurose und Versicherungsgesetz
65* 9.
Unfall und progressive Paralyse 65* 23.
Unheilbarkeit 224* 316.
Uni- und bilaterale Reaktion 24* 346,
347.
Unlustgefühle 24* 342.
Unmittelbares Behalten 28* 393.
Uranismus 51* 15.
i Ureabromin 77* 114. 217* 215. 279*
17 .
Urethritis 161* 9.
Ursprung der Sprache 13* 183.
Utrecht 293* 20.
I
Vagabundage 125* 27.
Valamin 206* 52. 230* 339. 231* 408.
235* 469.
' Verantwortlichkeit 47* 24.
I Verblödungsprozesse 143* 281.
| Verbildung der Mediziner 22* 319.
Verbrechen und Altruismus 54* 64.
I Verbrecher 55* 73. 125* 25.
! Verbrechermotive 1* 3.
i Verbrechertypen 52* 23.
Verdauungsstörungen 132* 127.
i Vererbung 208* 83. 209* 101. 217*
I 216, 217. 223* 304. 227* 363.
j Vererbungsdaten 216* 195.
1 Verfolgungswahn 110* 82. 123 *1. 124*
13. 132* 133. 202* 1. 211* 134.
| Vergessenskurve 10* 153. 11* 167.
I Verhandlungsfähigkeit 42* 1, 9.
! Verhinderung von Reflexen 22* 318
| Verlegenheit 14* 210.
Verleitung zu Straftaten 51* 11.
Verminderte Zurechnungsfähigkeit 46*
1, 5, 6, 11. 47* 14. 48* 37.
: Veronalbehandlung 214* 164; -Ver¬
giftung 285* 113, 117.
Veronazetin 223* 297.
I Versmelodie 27* 377.
j Verstand, individueller und sozialer 7*
93.
' Verurteilte Soldaten 69* 6-.
I Verurteilung Paralystischer 46* 4. 47*
1 18.
: Verwirrtheit 47* 26. 137* 201.
Vier Reaktionen 174* 175, 176.
| Vokal- und Sprachmelodie 29* 409.
I Vorderhimabschnünmg 167* 91.
| Vorstellungsablauf 18* 264.
Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
370*
Inhaltsverzeichnis.
Wachträumen 216* 183.
Wagner, Fall 51* 21.
Wahl des Aufenthaltsorts 59* 14, 17.
295* 43.
Wahlfreiheit 8* 123.
Wahlreaktionen 28* 401.
Wahnbildung 126* 46.
Wahnideen 223* 294.
Wahrhaftigkeit 2* 15.
Wahrnehmung 14* 205.
Wahrnehmungstörungen 180* 258.
Wahrnehmungstäuschungen 26* 365.
Waldau 309* 162.
Waldhaus 309* 163.
Wandertrieb 51* 17. 111* 98. 128* 78.
231* 414.
Wassermannsche Reaktion 163* 37.
164*40. 167* 84. 169*112. 172*158.
176* 203, 212. 207* 70. 215* 188.
281* 51.
Waverley 309* 164.
Wechselwirkung gleichartiger Reize 23*
333.
Wehnen 309* 165.
Weilmünster 309* 166.
Weißes Licht 15* 214.
Wemingerode-Hasserode 309* 167.
Westfalen, Anstaltsberichte 309* 168.
Wil 310* 169.
Wilde, der, und Neurotiker 11* 162.
Willen 1* 6, 7.
Wille zum Glauben 1* 10.
Wirklichkeitssinn 10* 151.
Wirths mathematische Grundlagen 19*
272.
Worcester papers 236* 467.
Wortbildende Vorstellungen 8* 116.
Wortblindheit 110* 93.
Württemberg, Anstaltsberichte 310* 170.
Zahlengedächtnis 2* 16.
Zeitauffassung 4* 67. 14* 203.
Zeichnungen Geisteskranker 134* 151.
224* 312.
Zeitproblem 11* 165.
Zenkersche Theorie 21* 303.
Zensuren 3* 28.
Zentralnervensystem 173* 168. 205* 47.
226* 320; syphilitischer Kaninchen
177* 220.
Zerebro-bulbo-zerebelläre Pyramiden¬
bahn 214* 169.
Zerebrospinalflüssigkeit 83* 200. 142*
269. 163* 26,27,28. 165* 63.169* 151.
174* 179. 175* 190, 198, 199. 177*
224, 235. 205* 36. 226* 343. 232* 425.
Zeugenaussagen 8* 122. 19* 278. 28*
402. 58* 2, 7. 59* 12, 13, 16, 23.
Zeugung 227* 360; im Rausche 283*
84, 85.
Zeugungsalter 233* 443.
Zirbeldrüse 209* 96.
Zukunftsstudium 139* 223.
Zurechnung im Strafrecht 46* 7.
Zurechnungsfähigkeit und Trinkerbe¬
handlung 47* 23.
Zurechnungsproblem 47* 17.
Zwangsneurose 16* 239.
Zwangsvorgänge und Wille 14* 198.
Zwangsvorstellungen 125* 29. 205* 46.
220* 251.
Zwecktätigkeit 18* 258.
Zwillingspsychosen 124* 9. 141* 261.
259. 203* 17. 229* 337.
Zoanthropoidismus 208* 84.
Zysten der weichen Hirnhäute 169* 113.
Aall 1*.
Abadie 278*.
Abbot 1*.
Abels 1*.
Abraham 1*.
Abramowski 1*.
Abramowsky 104*.
Ach 1*.
Ackerknecht 1*.
Adam 123* 202*.
Adams 1*.
Digitized by
Gov igle
2. Autorenregister.
Adler 1* 2*.
Adolphi 64* 70*.
Agostini e Sepilli 70*.
Albös 161*.
Aletrino 2*.
Alexander 2* 70*.
Alexandre-Bisson 202*.
Alford 2*.
Allaman 123* 202*.
Allere 161*.
Alix et Dunan 123* 202*.
Alter 58* 202*.
Alter, W. 292* 307* 121.
Altmann 58*.
Altmann und Drevfus
161*.
Alzheimer 123* 161* 203*.
Amaldi 278*.
Amaldi, Antonini e Ma-
sini 292*.
Ameline 104* 203*.
Amman 203*.
Original frnm
UNIVERSETY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
371*
gell and Root 2*.
schütz 2*.
theaume und Pique-
nal 161*.
ton und v. Bramann
203 *:
naud 203*.
ps 2*.
ps und Klemm 2*.
simoles und Halber*
stadt 161*.
schaffenburg 60* 123*.
snavourow 50*.
ssatiani 70*.
uerbach 2* 203*.
ustregesilo 161*.
ustregesilo, Pinheiro et
Marques 70* 203*.
zboukine 104* 278*.
laade 2*.
labak 2*.
iachem 203*.
tlackman und Gustav 2*.
Hader 3*.
Hagliani 3*.
Haguer 104*.
Hahn 58*.
Hahr “203*.
Hainwel 3*.
Baird 3*. 161*.
Bajenoff 124* 203*.
Bakody, von 124*.
Baldwin 3*.
Baley 3* 161*.
Ballas 70*.
Ballet 62* 124* 203*.
Ballet et Gallais 124*.
Ballet et Mailet 203*.
Balint 70*.
Balke 162*.
Barat 3* 203*.
Barbieri und (’arbone
204*.
ßardin 278*.
Barnes 162*.
Barr 104* 204*.
Barras 50*.
Barth 3*.
ßarucci 3*.
Basch 3* 70*.
Basler 3*.
Baureis 3*.
Bauch 3*.
Bauehai 3*.
Baudeant 50*.
Digitized by Gougle
Bauer 70*.
Baumann 292*.
j Baumgarten 4*.
| Bayer 204*.
Bayerthal 204*.
Beaucamp 70*.
| Beaussart 124*.
Bechterew 124*.
Beck 4*.
• Becker, Th. 69*.
! Becker, W. H. 64* 124*
204*.
I Beelitz 309* 160.
Beermann 4*.
! Befani 124*.
Behr 292* 309* 153.
Behrenrodt 70*.
Belletrud et Froissard
50*.
Bender 162*.
Benedek 162*.
Benedek, und Deäk 124*
162*.
Benetti 4*.
Benigni 204*.
Benon 71* 105*.
Benon, P. 278*.
Benon, R. 64* 124* 204*.
Benon et Cier 162*.
Benon, R., et Legal 71*.
Bensch 71*.
, Bentley, Boring und
| Rucicmich 4*.
! Benussi 4*.
j Berg 105*.
i Berger 105* 124 162*.
; Bergl 162*.
i Bergmann 71*.
, Bdrillon 278*.
Beritoff 5*.
, Berkhan 105*.
BerUner 71* 292*.
[ Bernhard 5*.
Bemheim 5* 71* 204*.
Bernstein 204*.
Berrot 5*.
Berry 5*.
| Bertholet 278*.
I Bessiere 124* 162*.
i Betz 25* 71*.
Beving 162*.
Beyer, B. 204*.
Beyer, E. 71*.
Bianchini 71*.
! Bick 163*.
1 Bieling 5*.
Bielohlawck 307* 132.
Bielschowsky 105*.
Bielschowsky und Gallus
105*.
Bing 71*.
Bingham 5*.
Binswanger 71*.
Birnbaum 50* 125* 205*.
Bisgaard 163* 205*.
Bjerre 5*.
Blachian 305* 102.
Blachowski 5*.
Bleuler 5* 6* 62* 105*
125* 305* 89.
Bloch 105* 205*.
Bloch und Preiß 6*.
de Block 205*.
Blondel 125*.
Bliiher 6*.
Blumenfeld 6*.
Boas 163*.
Bobertag 6*.
Bocci 6*.
Bode 6*.
Bodey 6*.
j Boecke 6*.
j Böckelmann 163*.
) Bönniger 205*.
I Bönning 205*.
Böß 71*.
I Boghassian 278*.
Bohn 6*.
' Boigev 6*.
Bolten 71*.
j Bon 205*.
I Bonaventura 7*.
Bonazzi 7*.
Boncour 72*.
Bond, C. 205*.
Bond, D. 205*.
Bonhoeffer 46* 125* 205*
278*.
Bonnier 205*.
Boodin 7*.
Booth 64* 125*.
Borchardt 7*.
Borda 125* 205*.
I Borei 7*.
Boring 7* 125*.
! Bomstein 206*.
I Bossi 206*.
! Bott 304* 77.
| Bourdon 7*.
! Boutet 125*.
| Boutrouse 7*.
Bovet 7*.
Original fram
UNIVERSETY OF MICHIGAN
372*
Inhaltsverzeichnis.
Bowers 50*.
Box 278*. |
Boyd 126*. j
Bräutigam 206*.
Brahn 7*.
Brandam 163*.
Brandeis 7*.
Brassert 163*.
Braun 72* 206*. j
Braune 305* 91. j
Breiger 72*.
Bresler 206* 278*. j
Breteille 50*.
Briand 125* 206* 279*.
Briand und Salomon 51*.
Briggs 206*.
Brill 72*.
Brillouin 7*.
Brink 72*. :
Brou 7*. j
Brown 7*.
Bruce 125*.
Brückner 206*.
Brückner und Kirsch 7*.
Brümmer 309* 165. j
Brünes 7*. j
Bruns 163*.
Buckley 125* 163*. I
Buder 105*.
Bühler 8*.
Büttner 105*.
Bufe 278*.
Bumke 126* 206*. !
Bundschuh 163*.
Bundschuh und Roemer
206*.
Bunnemann 4* 72* 206* |
207*.
Burchard 8* 58*. I
Burlereaux 207*. j
Burr 279*.
Buttenberg 305* 97. j
Butler 8*. !
Bychowski 164* 207*.
Byon 207*.
Caligaris 207*. |
Calzia 8*. i
Campbell 292*.
Camus 126*.
Camus und Dumont 126*.
Canestrini 8*.
Capgras und Morel 126*
164*.
Carbone und Cazzamalli
279*.
Difitized
by Google
Carbone und Nizzi 207*
164*.
Carlisle 207*.
Carr 8*.
Carstensen 58* 126*
164*.
Casamajor 279*.
Caussade und Marie 292*.
Cazzamalli 126*.
Cerlctti 105* 207*.
Chambers 207*.
Charon und Courbon 46*
292*.
Charpentier 51*.
Chemnitz 46*.
Child 164*.
Chotzen 8* 105* 126*.
Christinger 105* 207*.
Cimbal 64* 105* 207*.
Citelli 72*.
Claparede 8*.
Clark 72*.
Clarke 126* 207*.
Claude et Loyez 164*.
Claussen 279*.
Clcmenz 105*.
Clerambanlt 126*.
Clerc 207*.
Cohn 8* 72*.
Colin 51*.
Colla 72* 126*.
Colonval 207*.
Condomnie und Dev au\
164* 279*.
Consiglio 126* 208*.
Cpok 8*.
Cooper 279*.
Cordes 126* 164*.
Cornelius, A. 72*.
Cornelius, R. 126* 208*.
Cometz 8*.
Correns und Goldschmidt
208*.
Cotton 208*.
Courbon 127* 208*.
Crespin-Bonnet 127*.
Cropp 106*.
Crothers 279*.
Cuno 208*.
Cutten 279*.
Cuylitz 51*.
Cygielstreich 208*.
Cyriax 106*.
Dabeistein 307* 129.
Dahm 164*.
Dainave 72* 104* .
279*.
1 )amavt‘ et Mann;-
Dana 208* 2«et*.
Danen 127* 1K'>*
Dardel 307* 1%.
Dauber 8*.
Dauriac 8* O*.
Day 9*.
1 Dearbnrn 9* 1 • *»*.
Debray 10t>*.
Decrolv 106*.
; Dees 292* 3»C>* :*•
Degenkolb (Altecr..
127*.
Degenkolb < Am*!«-! _
209*.
Degenkolb ( D*i|iij.
Deist 209*.
Dejerine und io
72*.
Delage 209*.
Delavigne 2**2*.
I Delbrück 279*.
| Delfino 279*.
! Demav 209*.
1 Demav und Lib-rt ..
1 209*.
Delmus und lU.u'-i
127*.
Demi nt 127* 2>e**
Deroitte 72* 280*
Derrien. Kuziere. 1. i
165*.
Descouedres 9* li*>\
Deuchler 9*.
Deutsch 280*.
Deventer. van 293*.
Devoto 280*.
Dewev 62*.
Dide 209*.
Dide und Carras 1.
209*.
Dide und Ia-vequ«- i.
209*.
Dietz 209*.
Dimitz 165*.
Dinter 306* 118.
Dittmar 308* 143.
Dobrochotow 128*.
Dodge 9*.
Döring 9*.
Doglia und Banchicri :•
Dohertv 209*.
Dolcnc 128*.
Doll 9*.
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Inhalt sv erzeichnis.
373*
Dominici, Marchand, Cha¬
ron, et Petit 210*.
Donath 128* 165* 210*.
Dosio 210*.
Douglas 106*.
Douglas-Siuger 128*.
Doyonan und Thorndikc
9*.
Downey 10*.
Draesecke 106*.
Dreyfds 165*.
Drowatzki 165*.
Drügg 280*.
Dubois 128* 210*.
Duclos 128*.
Ducostö 128* 210*.
Dürr 280*.
Dugas 10*.
Dunlap 10*.
Dupong 128*.
Duprö 46*.
Dupre und Marmico 210*.
Dupr6 und Marinier 128*.
Dußler 51* 128*.
Duzlos 128*.
Dwyer 280*.
East 51*.
Ebstein 165* 210*.
Eckart 69*.
Economo 165*.
Edinger 210*.
Edinger und Fischer 10*
106*. 165*.
Eguchi 73*.
Ehrhardt 73*.
Eisath 62* 293*.
Elfes 128*.
Ellis 210*.
Enge 128*.
Engel 73*.
Engelen (Zuptschen) 46*.
Engelen(l)üsseldorf)210*.
Engels 165*.
Erdniann 10*.
Erismann 10*.
Erlenmeyer 73*.
Ermakow 10* 73* 165*
210*.
Eulenburg 51* 73*.
Falta 210*.
Fankhauser 129*.
Fauser 210* 211*.
Fehling 211*.
Fels 280*.
i Ferenczi 10*.
Ferrand und Piquemal
| 211 *.
| Ferrari, G. 293*.
! Ferrari, M. 280*.
i Ferree 10*.
Fickler 106*.
Filassier 62*.
! Filassier und Salomon 58*.
: Finato und Novello 280*.
i Fingerhut 129* 211*.
J Finkenbinder 10*.
; Fischer 11*.
i Fischer, A. 10*.
Fischer, J. 129* 211*.
Fischer, M. 62* 293*.
Fischer, O. 165*.
Fitzmaurice-Kellv 165*.
Flatau, E., und Sterling
212 *.
Flatau,’ G. 73* 212*.
Flood und Collins 73.*
Floumoy 73*.
Foerster 65*.
Foersterling 11*.
Förster 129* 165* 166*.
Förster 212*.
Förster und Tomaczewski
166*.
Foucault 11*.
Fraeser und Watson 166*.
Frankel und Jakob 166*.
Frank 212*.
Frank, Angell und Röot
11 *.
Frankfurther und Thiele
I n *'
i von Frankl-Hochwart
i 280*.
I Franz 212*.
j von Franzoni 280*.
j Fraser 106*.
! Freimark 212*.
Freud 11*.
Frey 106*.
Frey, F. R. 212*.
Friedei 212*.
Friedländer 212* 280*.
Frischeisen-Köhler 11*.
Fröderström 129*.
Frölich 306* 113.
! Froelich, E. 65*.
| Fröhlich, W. 11*.
1 Frösch 106*.
Froment und Monod 11*
! 166*.
Digitized by
Google
Froment, Boulud und
Pillon 212*.
Frost 11*.
Fuchs 73* 212*.
Fürer 280*.
Fuhrmann 212*.
Funk 281*.
Galvink 106*.
Ganter 212*.
Gardner 281*.
Garnier 51*.
Garvin 129*.
Gaßmann 12*.
Gatti 73* 129* 166*.
Gaupp 51*.
Geber und Benedek 166*.
von Gebsattel 12*.
Gehry 106*.
Geiger 12*.
Geißler 12* 166*.
Gelik 73*.
Gemelli 12*.
Gerstenberg 306* 109.
Genil-Perrin 213*.
Gemgroß 51*.
Gerhardt 107*.
Gertz 12*.
Geßner 213*.
Gettings 293*.
Geyser 12*.
Giese 166*.
Gildemeister 12* 213*.
Giraud 12*.
Glaseock 166*.
Goebel 12*.
Golch 73*.
Goldbladt 213*.
Goldner 12*.
Goldstein 107* 213*.
Goldstein, K. 166*.
Goldstein, M. 166*.
Golla 130*.
Gönnet 281*.
Gordon 12* 107*.
Gom 130*.
Gorrieri 213*.
Gorriti, F. 213*.
Gorriti, J. 130*
Goß. 213.*
Gra£ 130*.
Grasset 46* 213*.
Grasset 213*.
Graßler 13*.
Grau 213*.
Graves 167*.
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
374*
Inhaltsverzeichnis.
Gregor 13*.
Gregor und Gorn 13* 130*
213*.
Gregory 130*.
Greppin 308* 141.
Grißlich 214*.
Grober 73*.
Groos 13*.
Grosch 13*.
Groß 13* 58* 308* 142.
Groß, C., und Pappen -
heira 130* 214*.
Grove 73*.
von Gruber 281*.
Gruhle 130* 214*.
Gruhle und Wetzel 62*.
Grzywo-Dabrowski 167*.
Gudden 58*.
Günther 46*.
Günzel 74*.
Gurewitsch 74*.
Gutzraann 13* 214*.
Haas 13*
Haberkant 306* 110.
Habermann 13*.
Hacker 13*.
Haeberlin 309* 157.
Haenisch 214*.
Haering 13*.
Haggerty und Kempe 14*.
Hahn 74* 304* 85.
Hainsford 281*.
Hajös 214*.
Halberstadt 74* 130* 131* j
214*. I
Hallervorden 74*. \
Hammond 167* 281*. ,
Hamburger 107*. j
Hart und Spearmann
131*.
Hartmann 293*.
Hartung 167* 214*.
Hartwig 281*.
Hasserodt 14*.
Haßmann, O., und Zin-
gerle 14* 131* 167*. '
Haßmann, W. 52*. 1
Hatschek 214*. i
Hauptmann 14* 131*
167* 214* 216*. !
Hauptmann und Bumke
131*.
Haury 69* 131* 215*.
Haushalter 131*.
von Havay 14*.
Digitized by
Gougle
Havelock 14*.
Haviland 215*.
Hawley 131*.
Hayashi 107* 167*.
Haymann 131* 215*.
Hazav, v. 14*.
Heboid 74*.
Hegar 46* 215*.
Hegener und Panacon-
celli-Calzia 14*.
Heidelberg 74*.
Heidenheim 74*.
Heilbronner 215* 293*.
Heilig 74*.
Heim 216*.
Heinicke 167*.
Heintschel 14*.
Heinz 216*.
Heise 215*.
Heller 74*.
von Hellmuth 14*.
Hellpach 14* 16*.
Hellwig 52* 314* 87.
Henderson 167*.
Henneberg und Westen-
höfer 167*.
Henrichs 216*.
von Hentig 42* 62* 281*.
Hentschel 16*.
Hermann 15*.
Herman und Holländer
215*.
Herman und d’Holländer
281*.
Hermkes 298*.
Herold 46*.
Heron 215*.
Heß 58* 216*.
Hesse 281*.
Heveroch 167*.
Heymans 15*.
HiUebrand 15*.
Hinrichs 107*.
Hinrichsen 15* 74*.
Hirsch 74*.
Hirschfeld, M. 216*.
Hirschfeld, M„ undBurch-
hard 52*.
Hirschfeld, R., und Le-
wandowsky 216*.
Hirt 293*.
Hitschmann 15*.
Hocart 15*.
Hoche 15* 167* 216*.
Hock 304* 78.
von Hößlin 131*.
Hoffmann, E. 167*.
Hoffmann, G. 216*.
Hofmann, H. 15*.
Hohmann 131* 216*.
Holländer 216*.
Hollingworth 132*.
von Holtum 74* 132*.
Honigmann 65*.
Hoppeier 15*.
Horn 65* 75*.
Horstmann 52* 293*.
Horwitz 75*.
Hotter 52* 281*.
Hoven 107*.
Hübner 42* 216*.
Hülsken 132*.
von Hug-Hellmuth 15*
16*.
Hughes 216* 281*.
Hummer 216*.
Hurd 293*.
Hussels 216*.
Husserl 16*.
Huther 16*.
Huzar 281*.
Hymanson 107*.
Ilberg 52* 216*.
Imbert 16* 132*.
Imchanitzky-Ries 75*.
Imhof 132* 216*.
Ingenieros 16*.
Inone und Hayaski 75*.
Isham 132*.
von Issokutz 217*.
Isserlin 16* 217*.
Isserlin und Gudden 217*.
| Itten 132*.
, Jacobsohn 75* 132*.
j Jacquin 132*.
Jaeger und Goldstein
217* 168*.
Jaensch 16*.
Jahnel 75* 217*.
j Jakob 76* 168*.
I Jakob und Wevgandt.
| 168*.
I Janssens 132*.
| Jaspers 16* 132* 217*.
Jeanselme, Vernes et
Bloch 168*.
JeUiffe 132* 217*.
Jentsch 65* 217*.
Jenz 306* 119.
Jerchel 16*.
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
375*
Jerzycki 168*.
Jödicke 75* 107* 217*.
Jörger 309* 163.
Johannessohn 217*.
Jolly 46* 217*.
Jolowicz 168*.
Jonas 293*.
Jones 16*.
Joteiko 217*.
Joteyko 17*.
Juquelier 294*.
Juquelier et FiUassier 58*
217*.
Juquelier et Vinchow
218*.
Jung 17* 76*.
Junius und Arndt 107*
168*.
Kaess 168*.
Kafka, G. 17*.
Kafka, V. 168* 218*.
Kahane 132* 218*.
Kahl 46*.
Kahn 52*.
Kaplan 168*.
Kalkhof und Ranke 75*.
Kalmus 218*.
Kannegießer 218*.
Kastan 76* 218*.
Katahira 132* 218*.
Katz 17*.
Katz und R6v6sz 17*.
Kauffmann, A. 281*.
Kauffmann, M. 282*.
Kawczynski 169*.
Kehr 17*.
Kehrer 169*.
Kellner (Chemnitz) 107*.
Kellner (Hamburg) 107*
303* 75.
Kellog 218*.
Kemp 17*.
Kemsies 17*.
Keniston 219*.
Kenkel 17*.
Kent 132*.
Kinberg 46*.
Kipiani 17* 169*.
Kirby 133*.
Kirchberg 133* 169*
219*.
Kirchh’off 308* 147.
Kirmse 107*.
Kiuchi 133*.
Klages 17*.
Digitized by Gougle
Klammer 219*.
von Klebeisberg 169*
219*.
Kleefisch 108* 294*.
Klein 169*.
Kleininger 282*.
Kleist 133* 219*.
Klemm 17*.
Klien 169*.
Klieneberger 169* 219*.
Klinke 294*.
Klippel und Weil 219*.
Klippel, Weil und Lew
133*.
Klotz 108*. 0
Knappe 133* 219*.
Knauer und Maloney 219*.
Knecht ‘294*.
Kodym 76*.
von Koehler 133*.
König 52*.
König und Linzenmeier
133* 219*.
Köhler, P. 18*.
Köhler, W. 17* 18*.
Koffka 18*.
Kohlmann 282*.
Kohn 282*.
Kohnstamm 18* 76*.
Kolossow 282*.
Koustorum 219*.
Kraepelin 220*.
Kraskowski 18*.
Kramer 108* 282*.
Kramers 18*.
Kraß 282*.
Krasser 169*.
Kraus 76*.
Krause 108*.
Krebs 76*.
Kreuser 76* 108* 133*.
Kröl 282*.
Krüger, P. 18* 220*.
Krüger, H. 133* 169*
220 *.
Krugath 76*.
Krukenberg 18*.
Krumholz 76*.
Küppers 18* 133* 134*.
Kürbitz 134*.
Kufs 108*.
Kukula 76*.
Kundt 282*.
Kure 76* 108* 220*.
Kurella 220*.
Kutschern 76*.
Kutzinski 18* 134* 220*.
Kutzner 18*.
Kyrie 282*.
Laache 220*.
Ladame, Ch. 52*.
Ladaroe, P. 52* 76* 282*.
Laehr, M. 306* 106.
Lafora 169*.
Lagriffe 46* 134*.
Lahy 18*.
Laignel-Lavastine 169*.
Lakenan 18*.
Lampe 169*.
Landecker 134*.
Lang, E. 170*.
Lang, J. 18*.
Lang, M. 220*.
Lang, N. 134*.
Langenbeck 19*.
Langmead 76*.
Lantzius-Beninga 309*
166.
Laquer 282*.
Laßmann 134*.
Laurüs 69*.
Laurent 108*.
Leclerc 108*.
Leers 42*.
Legrain 294*.
Lehmann 220*.
Lenz 170*.
Leppmann 58*.
Lerat 134* 220*.
Leroy, A. 76*.
Leroy, R. 134*.
Lerov, B., und Boutet
134*.
Leroy, B., und Genil-
Perrin 135*.
Leschke 135*.
Leubuscher 76*.
v. Leupoldt 19*.
Leva 19* 220*.
Levaditi, Marie und Ban -
kowski 169*.
Lövöque 52* 135*.
Levy und Costeodat 77*.
L4vy-Valensi und Genil-
Perrin 135*.
Lewandowsky 77*.
Lewe 77*.
Ley und Menzerath 58*
59*.
Ley 282*.
Leyendecker 220*.
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
376*
Inhaltsverzeichnis.
Lidbetter und Netteiship
990*
Liebau" 282*.
Liebermann und Revesz
19*.
Libert 135» 220*.
Lienau 135*.
Liepmann 19* 59* 170*.
Lilienstein 77*.
Lindner 19*.
Lipps 19*.
Livet 221*.
Lochte 42*.
Löwenfeld 19* 77*.
Loewy 221*.
Lombardi 135*.
Lombroso 221*.
Lomer 77* 135* 170*
091 * 9CU*
Longard 308* 151.
Loubet und Grasset 221*.
Lucangeli 170*.
Lucien-Graux 59*.
Lüderitz 65* 304* 82.
Liittgc 108*.
Lugaro 221*.
Lui 282*.
Lundborg 221*.
Luther 108* 135* 221*.
Lwoff und Sörieux 294*.
Lydston 221*.
Maas 221*.
Maase 77*.
Maaß 135*.
Maccagno 19*.
Mac Dougall 19*.
Mc Gaffin 221*.
von Mach 19*.
Macnaughtan-Jones 20*.
Maeder 20*.
Mager 221*.
Magnan und Fillassier
283*.
Maier, G. 112* 278*.
Maier, H. W. 47* 53*
65* 135* 222*.
Mailhouse und Verdi
170*.
Mairet und Margaret
77*.
Malfilatre und Devaux
283*.
v. Malzew 20*.
Mandrila 136* 222*.
Mangelsdorf 77*.
Digitized by
Gck igle
Mangold 20*.
Marbe 20*.
Marchand 77*.
Marohand und Duponv
170*.
Marchand und Petit 170*.
Marchand und Usse 293*.
Marcus 170*.
Marcuse 20* 47* 65*
222 *.
Margulies 77*.
Margulis 170*
Marie 135* 171* 294*.
Marie und Levaditi 170*;
und Bankowski 171*.
Marimoqi 77*.
Marinesco und Minea
171*.
Markowitsch 53* 136*.
Markus 20* 171*.
Marro und Socrate 53*.
Martens 171*.
Martin 283*.
Martin, L. 20*.
Martin, Porter und Nice
20 *.
Martini 136*.
Maruyama 171*.
Marx 20*.
Masseion 53* 130* 222*.
Matusch 308* 145.
Mattauschek 171*.
Mattauschek und Pilcz
171*.
Maurice und Fleury 77*.
May 294*.
Mayer 77*.
Mayer, A. 222*.
Mayer, B. 136*.
Mayer, W. 136* 222*.
Maxwell 20*.
Mees 283*.
Meeus 69*.
Meige 222*.
Meinhof 20*.
Meitzer 65* 108*.
Mendel 65* T7*.
Mensendieck 20*.
Menzerath 21* 53*.
Mercier 78*.
Merzbacher 78*.
Messer 21.
•Meumann 21*.
Meumann und Gold¬
schmidt 21*.
Meyer, A. 78* 172*.
Meyer, E. 47* 172* 223*
283* 294*.
Mever, P. 21*.
Meyer, S. 21*.
Mezger 47* 53*.
Michel 136*.
Mignard 136* 137*.
Mignot 172*.
Mignot und Usse 283*.
Mikulski 21* 223*.
Miller 283*.
Mingazzini 172*.
Minkowski 21*.
Mittenzwey 21*.
Miyake und Komme 223*.
Miyata 78*.
Modena 108* 137*.
Moede 21*.
Moeli 62* 294*.
Mönkemöller 53* 63* 65*
109* 223* 294*.
Moerchen 172* 223*.
Moll 109*.
Monissel und Folliet 78*.
Moore 172*.
Morawitz 223*.
Moreira 223*.
Moreira und Vianna 172*.
Morel, J. 294*.
Morel, L. 78*.
Moretti 137* 172*.
Moslener 223*.
Moszeick 223*.
Mothes 59*.
Mott 172* 223* 283*.
Müller, E. 223*.
Müller, G. E. 21* 22*.
Müller, J. 295*.
Müller, L. 224'.
Müller, L., und Glaser
224*.
Müller,’ P. 78*.
Müller, V. 22*.
Müller-Freienfels 21*.
Münzer 78* 224*.
Muirhead 109*.
v. Muralt 224'.
Murri 78*.
Murtfeld 109**.
Muth 22*.
Myerson 78.
! Näcke 172* 224* 283*.
' Naegeli 78*.
I Nakamura 283*.
! Nathan 78* 137*.
Original fro-m
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
377*
Nävrat 306* 114.
Neißer 304* 88.
Neu 78*.
Neuburger 224* 305* 104.
Neue 137* 224*.
Neue und Vorkastner
172*.
Neuendorf 137*.
Neuendorff 224*.
Nicolauer 137*.
Nietsche 224*.
Nieuwenhuijse 172*.
Nikols und Hough 172*.
Nippe 283*.
Nissl, F. 224*.
v. Nissl-Mayendorf 78*.
Nitsche 137*.
Noble 224*.
Nöldeke 63*.
Noethe 173*.
Nöga-Nikolskaja 137 1 -.
Noguchi 172*.
Nogues 63*.
Nolden 137*.
Nonne 173*.
Norman 22*.
Norwood 225*.
Nouet, H. 137* 173*.
Nouct (Washington) 173*.
Oberholzer 79* 137*.
Obersteiner 173* 225*.
Obregia, Parhon und
Urechia 138*.
Oddo und Corsv 79*.
Oehming 53*.
Oetter 306* 116.
Offer 305* 103.
Offner 22*.
Ogden 22*.
Olpe 225*.
v. Olshausen 53*.
Oppenheim 79*.
Oppermann 42*.
Orton 138* 173*.
Osaki 283*.
Osbome 225*.
Osty 22*.
Oswald 79*.
Pactet 69*.
Page 284* 295*.
Paine 173*.
Pal 225*.
Palla 138* 225*.
Parhon 138*.
Digitized b)
Gougle
Parhon und Schunda
109* 225*.
Parhon und Tupa 109*.
Parhon, Mateesco und
Tupa 79* 225*.
Parhon und Urechia 79*
225*.
Parhon, Urechia und
Popea 225*.
Parhon und Zugravu
225*.
Paris (Mareville) 47*
173*.
Paris (Nancy) 138*.
Parker 138*.
Parted und Yigouroux
138*.
Paschen 22*.
Passow 138*.
Passow 225*.
Pasturel und ('arras 225*.
Patridge 284*.
Pawlow 22*.
Pazzi-Muzio 53*.
Peachell 226*.
Peluds 173*.
Penon 138*.
Peretti 59* 295*.
Peritz 79* 109* 226'.
Perlia 79*.
Peters 22*.
Petersen 304* 86.
Petery 226*.
Petrow 173*.
Pfänder 22*.
Pfeiffer 138*.
Pfersdorff 173*.
Pfister 22*.
Pflüger 174*.
Pförringer 109*.
von der Pfordten 23*.
Philippe 226*.
Piazza 138*.
Pick 59* 79* 174* 226*.
Picqu6 79*.
Picque und Georghiu
226*.
Pieper 47*.
Pißron 23*.
Pierret 79*.
Pighini 80*.
Pikier 23*.
Pilcz 23*.
Pillsburv 23*.
Pini 138*.
Pintner 23*.
Piotrowski 226*.
Piquemal 109*.
Placzek 226*.
Plaseller 295*.
Plaskuda 109*.
I Plaut 53*.
! Plaut 174*.
Plaut, Rehm, Schott-
müller 174* 226*.
Plicque 80* 284*.
Podall 226*.
i Poggemann 139*.
Pönitz 109* 138*.
Poindeckcr 22(5*.
Polimanti 23*.
Pollock und Treadwav
80*.
, Ponzo 23*.
| Port 226*.
Porteous 139*.
Powelson. Inez und Wash-
: bum 23*.
Price 80*.
Prinee und Telle 226*.
! Prinzing 306* 112.
| Prochazka 80*.
Puillet 174*.
’ Puillet und Morel 139*.
Puppel 47*.
j Quensel 304* 80.
I Quintens 226*.
Rabbas 307* 130.
Raecke 42* 53* 59* 80*
139* 174* 227*.
Raff 284*.
Rahner 284*.
Raimann 42* 139*.
Rainsford 284*.
Raisky 174*.
Ramdohr 174*.
Rank 23*.
Ranschburg 23*.
Ransohoff 309* 155.
Raschke 23*.
Ratner 139* 227*.
Reckzeh 65*.
R6gis und Hcsnard 23*
80*.
Reichel 59*.
Reimist 80*.
Rein 174*.
van Reisschoot 227*.
Reiter 47* 139*.
Remkv 53*.
Original fro-m
UNIVERS1TY OF MICHIGAN
378*
Inhaltsverzeichnis.
Remond 109* 295*.
Remond und Roger .Sau-
vage 174* 227*.
Repond 139*.
Reusch 175*.
R4v6sz 23*.
Rezza 139*.
Rezza und Vedrani 175*.
Ribot 23*.
Ricci 139*.
Richsher 227*.
Richter 227*.
Riebes 80*.
Rignano 23*.
Rittershaus 23* 109* 227*
295*.
Ritti 139*.
Riva 109* 139*.
Robertson 175*.
Roblee und Washbum
24*.
Rodiet 80* 139* 295*.
Boeder 80*.
Roeraer 53* 227 * 295*.
Röper 175*.
Roepert 80*.
Roesen 47* 295*.
Roger 175*.
Roger-Mignot 175*.
Rogers 109*.
Rogues de Fursac 284*.
Rogues de Fursac et
G6nil-Perrin 175*.
Rohleder 227*.
Romagna-Manoja 140*
227*.
Rorschach 140* 227*.
Rosanoff 227*.
Rosanoff, J., und Rosa¬
noff, A. 24*.
Rose 24*.
Rosenfeld 140* 227*.
Roshem 80*.
Rossilimo 24*.
Rothfeld 109* 284*.
Rothmann 80* 175* 228*.
Roubinovitsch 110*.
Roubinowitsch 140*.
Roug6, C. 54*.
Roug6, C. und F. 295*.
Rousset und Bouvat 140*.
Roux 81*.
Rubin 24*.
Rubino 81*.
Ruckmich 24*.
Rudolph 228*.
Difitized
Rülf 81*.
Rulot 110*.
Runge 63* 140* 228*
284*.
Rupprecht 228*.
Russell 228*.
Rybakow 110* 140* 228*
295*.
Ryon 296*.
Sadger 54*.
Sagrini 228*.
Sainton 81*.
Saiz 296*.
Salin und Azemar 175*.
Salow 24*.
Samana 63*.
Sambon 284*.
de Sanctis 24*.
Sandy 284*.
Sanguineti 228*.
Saphra 228*.
Sartorius 24*.
Sauer 81* 284*.
Savage 228*.
Savini Castano und Sa-
vini 110*.
Savoureux 140* 229*.
Sawyer 54*.
Schackwitz 25*.
Schäfer, F. 47* 63* 284*
296*.
Schäfer, J. 175*.
Schäfer, K. 26*.
Schäfer 308* 139. 140.
Schaffer 110* 229*.
Schaikewisch 140*.
Schaller 175*.
Schauen 308* 149.
van der Scheer 140* 229*.
Schefold und Werner 64*.
Schikoff 47*.
Schilder 25* 140*.
Schiller 310* 169.
Schilling 47* 59*.
Schlesinger 110* 229*.
Schloß 296*.
Schlue 47*.
Schlüchterer 175*.
Schmid-Guisan 47*.
Schmidt, A. 229*.
Schmidt, G. 25*.
Schmitt, H. 25*.
Schnee 82*.
Schneider 307* 133.
Schnitzer 110*.
Schnitzler 141*.
Schnizer 141*.
Schnopfhagen 307* 131.
Schönbom 176*.
Schoenhals 141* 229*.
Scholz 54* 82*.
Schott »82* 110* 309*
156.
Schottmüller u. Schümm
284*.
Schröck 110*.
Schröder, E. 26*.
Schröder, P. 284*.
Schrumpf 82*. ,
Schubart 296*.
v. Schubert 176*.
Schubert 306* 115.
Schuchardt 305* 100.
Schütte 229*.
Schütze 309* 161.
Schultes 141* 229*.
Schultz 176* 229*.
Schultze 305* 101.
Schultze, Fr. 176*.
Schümm und Fleisch -
mann 285*.
Schweitzer 230*.
Schweyer 176*.
Scribner 81*.
Seelert 141* 176* 285*.
Seelig 110*.
Seggelke 48*.
S6glas und Barat 141*
230*.
Seiffert 110*.
Seige 176*.
Seiden 230*.
Seile 307* 128.
Selz 25*.
Semilaigue 230*.
Senf 64* 230*.
SeppiUi 285*.
Serejskv 176*.
Serger 309* 159.
S^rieux und Libert. 141*
296*.
Serko 286*.
Serobianz 81*.
Shimoda 176*.
Shukow 176*.
Sibley 81*.
SIcard 176*.
Sichel 54* 177*.
Sichert 42* 81*.
Siegrist 177*.
Sievert 81*.
Original from
UNIVERSfTY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
379*
Sierba 177*.
Sikorsky 230*.
Simon 81* 307* 122.
Simonin 69*.
Simonsohn 230*.
Singer 230* 177*.
Sioli 81* 141*.
Sittig 25* 230'.
Smith, M. 54*.
Smith, Ph. 141*.
Snell, O. 307* 123.
Snell, R. 306* 107.
Sollier 230* 285*.
Sommer 230*.
Sop 25* 231*.
Soukhanoff 14* 285*.
Southard 177*.
Spearman 25*.
Specht 26*.
Spindler 231*.
Spornberger 81*.
Ssokolow 81*.
Stadelmann 82*.
Stärke 26*.
Stargardt 177*.
Starlinger 296*.
Staudacher 59*.
Stauffenberg 177*.
Steffen 82*.
Stegmann 285*.
Steen 54*.
Stein 231*.
Steiner, G. 231* 177*.
Steiner. M. 82*.
Steiner, H. 231*.
Stemmer 296*.
Stephanowitsch 26'.
Stepp 296*.
Sterling 110*.
Stern, F. 82*.
Stern, L. 141* 231*.
Stern, W. 26* 82*.
Sternberg, M. 142* 231*.
Sternberg, W. 231* 285*.
Stertz 142*.
Sterzinger 26*.
Steyerthal 82*.
Stier 111* 231*.
Stoeckenius 231*.
Störring 26*.
Stoffel 82*.
StoU 26*.
Storch, A. 142*.
Storch, H. 26*.
Storz 142*.
Sträußler 54* 83* 142*.
Digitized hy Go«, 'gle
Stransky 142*.
Straßburger 231*.
Strasser 231* 232*.
Straßmann 42*.
Strauß, A. 48*.
Strauß, H. 82*.
Strauß, M. 63*.
Strohmeyer 232*.
Strong 26*.
Stmbe 232*.
Sturrock 54*.
Subotic 63*.
Sußmann 82*.
Sutter 82*.
Sweasev-Powers 177*.
Swift, H. 232*.
Swift. M. 296*.
Swift, W. 232*.
j Szabö 142* 177* 232*.
Szalkowski 48*.
; Szecsi 177*.
Szeluk 142*.
; Szymanski 26*.
i Takeo 26*.
j Takeuchi 177*.
Talmey 232*.
Tamarin 177*.
Tamburini und Mongeri
296*.
Tanfani 111*.
Tarassewitsch 83*.
I Tenner 27*.
! Terman und Hocking 27*.
j Terrien 142*.
Tetzner 177*.
; Thabuis und Barbä 83*.
' Thecor 232*.
Theobald 178* 232*.
Thiemich 83*.
Thoden und Velzen 232*.
Tholl 285*.
Thoma 285*.
j Thomas 54*.
Thomson 83*.
Thormählen 48*.
Thorspecken 83*.
Thumb 27*.
, Thumm 297*.
j Thumwald 27*.
. Tichomirow 83*.
Tintemann 142* 232*.
Titchener 27*.
! Tobias 83*.
Todoroff 27*.
1 Todt. 178*.
Többen 178*.
Togami 232*.
Tomlinson 232*.
Topp 233*.
van der Torren 142* 233 *.
Toulouse 297*.
Toulouse und Marchand
83*.
Toulouse und Puillet
233*.
Traugott 27* 83* 233*.
Treadway 142* 178*.
Trebitsch 27*.
Treiber 142* 143*.
Trendelenburg 27*.
Tränel 178*.
Trönel und Capgras 83*
143*.
Tränet und Raynier 143*
233*.
Träpsat 143*.
Trömner 27* 233*.
Trömner und Jakob 178*.
Truelle und Eissen 143*.
Truelle, W. 285*.
Trüschel 12* 27*.
Tuczek 143*.
Türkei 59*.
Tumiati 233*.
Uhlmann 65* 233*.
Ulrich 83* 178*.
Underhill 83*.
Urban 27* 28*.
Urstein 143* 233*.
Vaerting 233*.
Vallon und Bessiere 285*.
Vallon und Gänil-Perrin
54.
Valtorta 285*.
Varenne 55* 233*.
Veit 83*.
Vcraguth 233*.
Veress und Szabo 178*.
Vemet 233*.
Verrier 28*.
Versöe 178*.
Vidoni 111* 178* 234*.
Viel 234*.
Vigouroux 111* 234*.
Vigouroux und Härisson-
Laparre 143* 178*.
Vigouroux und Pruvot
286*.
Vinehon 55* 234*.
Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
380 *
Inhaltsverzeichnis.
Digitized by
Vocke 297* 305* 93.
Völker 306* 117.
Vogt 234*.
Voivenel 55* 234*.
Volk und Pappenhehn
178*.
Vorkastner 42* 143* 234*.
Vorkastner und Neue
286*.
Voß 144* 234*.
Vossenberg 48* 144*.
Wachsmuth 84* 305* 94
309* 158.
Wada 286*.
Wagner 28*.
Wagner v. Jauregg 178*.
Waiblinger 28*.
Walter 84*.
Warburg 111* 234*.
v. Wartensleben 28*.
Warth 286*.
Wassermeyer 48*.
Watson 178*.
Wattenberg 309* 158.
Weber 144* 179* 234*.
Wegener 234*.
Wehofer 28*.
Wehrhahn 111*.
Weicksel 111*.
Weiler 48* 65* 66* 144*.
WeUl 84*.
Weißfeld 28*.
Wells 28*.
Wentscher 28*.
Werner, G. 297*.
Werner, H. 28*.
Westhoff 179*.
Westphal 28*.
Wetzel und Wihnanns
55*.
Wevert 69*.
Weygandt 48* 111 *279*
305* 104.
Wevgandt und Jakob
179*.
Whipple 28*.
White 179* 297*.
White und Jelliffe 234*.
Wichodzew 28*.
Wickel 234* 297*.
Wiersma 234*.
Wilker 286*.
Wille 307* 127.
Williams 55* 84*.
Willige 144*.
Willmanns 59*.
Wilser 28*.
Wilson 286*.
Wimmer 84*.
Wimmer und Hall 179*.
Winter 29*.
Wirth 29*.
Wirth und Klemm 29*.
Wiswianski 84*.
Withney 179*.
Wittermaiui
Witt mann 29*.
Wohlgemut!» 29
Wohl will 66*.
Wolf 29* 179*
Wolff 59* 306*
Wollenberg 14J*
Woods 286*.
Wooley 235*.
Worotvnslri 144*.
Wree 179*.
Wright 235*.
W ulffen 111*.
Wundt 29*.
von Wyß 84*.
Yoshikawa 175*.
Zahn 84*.
Zahn und
Zappe 306* 148L
Zeiß 144*.
Zetlin 144*.
Ziegelroth 84*.
Ziehen 29* 111*
Ziem 235*.
Ziemke 43* 48*
Zimkin 29*.
Zimmer 29*.
Zingerlc 180*.
Ziveri 144*.
Zuccari 144* 180*. I
Zwaardemaker 29*. I
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Original from
UNIVERSETY OF MICHIGAN
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