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ALMANACH DER
PSYCHOANALYSE
1932
Almanach 1952
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Almanadi
der
Psychoanalyse
1932
Herausgegeben von
A. J. Storfer
Internationaler
Psychoanalytischer Verlag
Wien
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Druck der Vernay A.-C, Wien, IX., Canisiusgasse 8—10
INHALTSVERZEICHNIS
Seit«
Kalcndarium 7
Thomas Mann: Ritter zwischen Tod und Teufel ... 9
Theodore Dreiser: Bemerkungen am 6. Mai .... 11
Kurt Tucholsky: Elf Bände, die die Welt erschütter-
ten 13
Paul Federn: Der neurotische Stil ij
Felix Schottlaender: Zerstört die Psychoanalyse die
Naivität? 2 6
Ludwig J e k e 1 s: Zur Psychologie des Mitleids .... 32
Fritz Witt eis: Edelnarzißmus 52
Julius Epste in: August Aichhorn 75
Otto Fe nie hei: Hysterische Identifizierung .... 83
Otto Fenichel: Ein Fall von zwangsneurotischer
„Isolierung" 86
Otto Fenichel: Über Exhibitionismus 92
S. Ferenczi: Kinderanalysen mit Erwachsenen . . . 9$
Franz Alexander: Ein besessener Autofahrer . . .112
Maxim. Steiner: Zur psychoanalytischen Kasuistik der
männlichen Impotenz !3j
5
Seite
Karl Landauer: Das Menstruationserlebnis des Kna-
ben ?5*
Arthur K i e 1 h o 1 z: Giftmord und Vergiftungswahn . .165
Eduard Hitschmann: Vom Junggesellen, dem „un-
bekannten Neurotiker" *$*
Hanns Sachs: Baudelaire, der Verfluchte 19 1
Emil Lorenz: Hansel und Gretel 195
Verlagsanzeigen 20 3
Porträtbeilagen
August Aichhorn nach Seite 80
Ludwig Jekels vor Seite 81
Rene Laforgue nach Seite 192
Eduard Hitschmann vor Seite 193
6
KALENDARIUM FÜR DAS JAHR
1932
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Ostersonntag 27. März
Pfingstsonntag 15. Mai
.
■
-*
Bitter zwischen Tod und Teufel
Ein Brief von
lamn
an die Redaktion der „Vossischen Zeitung" am 6. Mai 1931-
Sie haben recht, einen Gruß und Glückwunsch an
Sigmund Freud zu seinem fünfundsiebzigsten Geburts-
tag von mir zu verlangen. Die aufrichtigste Bewunde-
rung für den großen Forscher im Menschlichen und sein
Wahrheitsrittertum gehört längst zu meinem inneren
Bestände. Ja, er hat viel von Dürers Ritter zwischen
Tod und Teufel, auf den Nietzsche anzuspielen scheint,
wenn er von einem anderen Verwandten Freuds, von
Schopenhauer, sagt: „Ein Mann und Ritter mit erzenem
Blick, der den Mut zu sich selber hat, der allein zu
stehen weiß und nicht erst auf Vordermänner und
höhere Winke wartet." Er hat nie Rücksicht darauf
genommen, daß der Mensch nur vernimmt, was ihm
schmeichelt, hat nicht mit dem Frommen von der Tugend
Lohn gesprochen, mit Ixion von der Wolke, mit Königen
vom Ansehen der Person und von Freiheit und Gleich-
heit mit dem Volke. Er hat Illusionen zerstört, die
Menschheit mit Erkenntnissen skandalisiert, deren radi-
kaler Naturalismus ihre „Würde" zu bedrohen schien,
und Widerstände hervorgerufen, deren Gründe ihm
offen lagen. Aber alle Kritik an seinem Werk — ich
meine natürlich jene Kritik, die nicht über die Analyse
hinaus, sondern hinter sie zurückwill — hat etwas un-
endlich Müßiges und Steriles, auch da noch, wo sie recht
hat, und es ist schwer zu verstehen, daß diejenigen, die
ttW-ÖßfifZ
sich spottend und scheltend damit abmühen, der Nutz-
losigkeit ihres Tuns nicht inne werden.
Freuds "Werk, dies persönlichkeitsgeborene und welt-
verändernde Werk eines tiefen Vorstoßes ins Menschliche
von der Seite der Krankheit her, ist heute schon einge-
gangen ins Leben und in unser aller Bewußtsein, und ich
sagte gewiß nicht zuviel, als ich es, am Ende einer aus-
führlicheren essayistischen Ehrerweisung, einen der wich-
tigsten Bausteine nannte, die beigetragen worden sind
zum Fundament der Zukunft der "Wohnung einer
freieren und wissenderen Menschheit.
Ich bin froh, daß ich doch einmal, wenn auch zu spät,
als daß noch irgendwelches Verdienst damit hätte ver-
bunden sein können, ein solches Bekenntnis zu ihm ab-
gelegt habe — , froh namentlich deshalb, weil es den
großen alten Mann gefreut hat. Seine Erkenntlichkeit
dafür, daß ich ihn „in den Zusammenhang des deutschen
Geisteslebens eingereiht hätte", ihn, „der für diese
Nation ein Fremdkörper zu sein vermeinte", hat mich
tief ergriffen. Ich wäre sehr versucht, aus dem groß-
artigen Briefe, den er mir damals schrieb, mehreres
Charakteristische und Aufschlußreiche mitzuteilen, darf
es aber nicht ohne seine Erlaubnis. Nur einen Satz noch
daraus anzuführen, will ich mir die Freiheit nehmen,
weil doch den Lesern ein unbekanntes Wort Freuds
willkommener sein muß, als jedes Wort über ihn: „Ich
habe immer Dichter bewundert und — beneidet, be-
sonders, wenn sie wie das Ideal meiner Jugend, Lessing,
ihre Kunst dem Denken unterwarfen und sie in dessen
Dienst stellten."
10
Bemerkungen am 6. Mai
Von
Theodore Dreiser
Tischrede Th. Dreisers anläßlich des Fest-
essens zu Ehren des 7$. Geburtstages von
Prof. Sigm. Freud. In Abwesenheit des verhin-
derten Autors vorgelesen von Dr. A. A. Brill,
New York, am 6. Mai 1931.
Ich habe Freud als Kopernikus der Psychologie begrüßen
hören. Also als eine Art von Gegenstück zu Darwin in der
Welt revolutionärer Gedankenarbeit. Mir erscheint er eher als
ein Napoleon oder Hannibal des Geistes, der mit der unerhört
durchdringenden Schärfe und Strategie seines Verstandes alles
vor sich hergefegt hat.
Nie werde ich die erste Begegnung mit seinen „Drei Ab-
handlungen zur Sexualtheorie", seinem „Totem und Tabu",
seiner „Traumdeutung" vergessen. Damals und auch heute
noch wurde mir jeder Abschnitt zur Erleuchtung — ein helles,
klärendes Licht in den dunkelsten Fragen, die mich und mein
Werk bedrängten und verstörten. Die Lektüre Freuds hat mir
bei meinen Studien über Leben und Menschen geholfen. Ich
sagte damals, und wiederhole es heute, daß er mich an den
Eroberer gemahnte, der eine Stadt erstürmt hat, der die
uralten, grauen Gefängnisse dieser Stadt edelmütig öffnete
und aus düsteren, verrosteten Kerkern die Gefangenen jener
Formeln, Vorurteile und Irrmeinungen freiließ, die den
Menschen hunderte und tausende von Jahren gequält und er-
schöpft haben. Ich denke heute noch so.
Das Licht, das er dem Menschengeist gebracht hat! Die
11
mächtige Hilfe gegen Trug und verblendetes Vorurteil! Ein
ungeheures, ein herrliches Ereignis!
Aber es befinden sich unter Ihnen so viele, die seine erstaun-
lichen Beiträge zum menschlichen Geistesleben aus intimer
Kenntnis und in glänzender Form zu würdigen vermögen —
mein Freund Dr. Brill zum Beispiel — daß ich lieber ver-
stumme und lausche. Aber ich betrachte es als ein ehrenvolles
Vorrecht, gleich vielen Andern hierher berufen zu sein, um
auszusprechen, was ich Freuds unschätzbarem Werk zu danken
habe. Auch, ihm Gesundheit, Kraft und eine glückliche Zu-
kunft zu wünschen. Immense wisdom he bas.
Ulli)
i
Ein ausführlicher Bericht
über die anläßlich des
75. Geburtstages von Sigmund Freud
gehaltenen Vorträge und in Zeitschriften und Zeitungen
veröffentlichten Aufsätze (mit Auszügen aus ihnen) ist
erschienen in der Zeitschrift
PSYCHOANAL YTI S CH E
BEWEGUNG
Heft 4 des Jahrganges 1931 (III. Jg.)
Preis des Heftes Mark 2. —
12
Elf Bände,
die die Welt erschütterten
Von
Kurt Tudholsky
Wir entnehmen diese Zeilen der von Siegfried Jacobsohn gegründeten,
von Carl v. Ossietzky und Kurt Tucholsky tapfer geleiteten, gehaltvollen
und lebendigen Wochenschrift „Die Weltbühne"; sie sind dort anfangs Mai
1931 — anläßlich des 7;. Geburtstags Freuds — erschienen.
Die Gesamtausgabe der Freudschen Schriften ist da. Elf
Bände, die die Welt erschütterten.
Einer der wenigen Männer, die diesen Mann richtig sehn,
scheint Freud zu sein. Mit dem Lorbeergemüse seines Ruhmes
kann er die faulen Äpfel seiner Tadler garnieren, und wenn
er weise ist, sieht er die Schar seiner Schüler an und denkt
sich sein Teil. Lassen wir die schlechten Schüler, halten wir
uns an die guten und halten wir uns an ihn.
Es ist das Schicksal der Wahrheiten, hat Schopenhauer
gesagt, daß sie erst paradox erscheinen und dann trivial. An
Freud ist das genau zu studieren. Die Gesamtausgabe seiner
Schriften zeigt aber noch etwas anderes.
Langsam beginnt sich das Fleisch von diesem Werk zu
lösen, das Zufällige, das Alltägliche — und es bleibt das
Skelett. Wir können nicht sehen, was davon noch im Jahre
1995 erhalten sein wird, und ob überhaupt noch etwas
erhalten sein wird, nämlich in der Form, die er ihm ge-
geben hat. Fortwirken wird es, das kann man sagen. Er hat
eine Tür aufgemacht, die bis dahin verschlossen war.
Es gibt Partien in diesen elf Bänden, besonders in den
13
^=^
ersten, die muten an wie ein spannender Kriminalroman.
Wie da die Theorien langsam keimen und aus den platzen-
den Hüllen kriechen, wie sie sich scheu ans Licht wagen, ins
Helle sehen und plötzlich sehr bestimmt und fest auftreten:
nun sind sie da und leben und wirken. Die Darstellungs-
kunst Freuds ist fast überall die gleiche: in den grund-
legenden Schriften, in den kleinen Aufsätzen, so in dem
wunderschönen Gedächtnisartikel für Charcot — überall ist
ein klarer, methodisch ordnender Geist am Werk.
Das Modische an diesen Schriften wird vergehen; die
kindische Freude der Amerikaner und sonstiger puritanisch
verbildeter Völker, nun einmal öffentlich über Sexualität
sprechen zu können ... das hat mit Freud nicht viel zu tun.
Bleiben wird der große Erneuerer alter, verschütteter Wahr-
heiten — dieser Wahrheit: der Wille des Menschen ist nicht
frei.
Das schön gedruckte und gut gebundene Werk ist im
Internationalen Psychoanalytischen Verlag zu Wien er-
schienen. Es finden sich darin auch die jüngsten Schriften
Freuds, auf die immer wieder hingewiesen werden muß, als
letzte die „Zukunft einer Illusion". Es fehlt noch das „Un-
behagen in der Kultur"; ein zwölfter Band wird erscheinen.
Die Grenzen Freuds werden in seinem Gesamtwerk erkennt-
lich. Er ist nicht der liebe Gott, doch hat er uns gelehrt,
wie viel Krankheitsgeschichte in den gereizten Kritiken über
ihn zu finden ist. Für halbgebildete Katholiken sei gesagt: es
ist die Bibel der Gottlosen. (Josef Wirth darf das falsch
zitieren.) Man versteht die Welt nick, wenn man diese
Bände nicht kennt. Sigmund Freud wird am sechsten Mai
fünfundsiebzig Jahre alt. Wir grüßen ihn voller Liebe und
Respekt.
14
Der eearotisdhe Stil
Von
Paul Federn
Aus dem Kongreßbericht : „I. Internationale Tagung
für angewandte Psychopathologie und Psychologie,
Wien s- bis 7. Juni 1930." Sonderausgabe von Heft 61
der „Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie und
ihren Grenzgebieten". (Mit Genehmigung des Verlags
S. Karger, Berlin.)
„Schreiben können" heißt, seine Gedanken so mitteilen, daß
sie der Leser genau und richtig kennen lernt. Damit der
Leser sie aber auch richtig verstehe und aufnehme und sie
behalten und verarbeiten könne, dazu gehört mehr als die
bloße „richtige" Mitteilung. Daß die Vorbildung des Lesenden
genügend sein muß, ist eine Bedingung, die nicht vom Schrei-
benden abhängt, die aber auch von ihm berücksichtigt werden
muß. Es ist schwerer, gemeinverständlich zu schreiben als
für Berufsgenossen, und das Schreiben wird um so leichter,
je mehr der Beruf zum Fache, zum Spezialfach, zur Spezial-
richtung im Fache sich einschränkt. Der Psychoanalytiker
aber begegnet täglich der wichtigsten Bedingung, von der die
Aufnahme und das Verstehenkönnen abhängen, es ist der
affektive Widerstand. Dieser tritt beim Patienten
und Leser in gleicher Weise auf. Zu seiner Überwindung ist
die bloß richtige Darstellung des Gegenstandes unzureichend;
man muß, wenn man seine Mitteilung verstanden, nicht nur
kennen gelernt haben will, die Widerstände berücksichtigen.
Die genaueste Argumentation kann aber nur gegen Wider-
stände wirken, die nach Inhalt, Ursache und Herkunft und
auch in ihrer vollen Intensität dem Leser bewußt sind. Wenn
der Widerstand bewußt ist, so kann man trotz desselben die
15
m
Mitteilung verstehen, sie unter dem Druck des bewußten
Widerstandes ablehnen und diesen selbst rationalisieren. Bei
unbewußtem "Widerstände mißlingt aber das Verstehen.
In reziproker Anwendung gilt das Gesagte auch vom
Schreibenden selbst. Bei einem unbewußten Wider-
stand gegen das, was man schreibt, wird es schwer, sich ver-
ständlich zu machen. Wenn es sich aber um neurotische
Widerstände handelt, also um solche, bei denen die Ver-
drängung der widerstrebenden Gegenströmung nicht voll ge-
lungen ist, kommen bestimmte Störungen zustande, die nur
einer genauen psychoanalytischen Untersuchung wert waren.
Ich kam zu dieser Arbeit dadurch, daß die Fehler im Stile
mich an bestimmte Arten von Störungen erinnerten, die man
bei der Psychoanalyse als Zeichen von Widerständen beson-
derer Art findet. Daraus schloß ich, daß diese Stilstörungen
von gleicher Herkunft seien. Bald wurde ich sicher, daß es
sich um neurotische Stilstörungen handelt. Ihre spezielle
Schilderung würde aber die Mitteilung von Beispielen mit
deren Analyse verlangen. Das würde den Rahmen dieses
Referates weit überschreiten.
Während die direkte Untersuchung des normalen Stils die
Schaffung einer psychoanalytischen Charakter- und Aus-
druckslehre zur Voraussetzung hätte, verspricht uns der hier
eingeschlagene Weg indirekt auch Belehrung über den nor-
malen Stil. Wie sonst bei psychoanalytischen Untersuchungen
suchen wir zuerst Sinn und genetische Ursache der
Störungen, um die Norm als breite Mittellage zwischen
den verschiedenen Störungen zu erkennen. Da aber eine Neu-
rose nicht nur die Art des Ausdrucks, sondern den Charakter
selbst, wenigstens im gebräuchlichen weiteren Sinne des
Wortes -— ändert, so ergänzt meine Mitteilung auch jene
16
Untersuchungen, welche den Charakter aus dem Stile er-
gründen wollten.
Einige sehr große Schriftsteller haben dies in polemischer
und erzieherischer Absicht getan. Von deutschen Schrift-
stellern haben vor allem Schopenhauer, Nietzsche
und Karl Kraus im Stile von Autoren den Ausdruck
von Unreife, Verlogenheit, Feigheit und Gemeinheit nach-
gewiesen. Voll Liebe und Verehrung für das Wunderwerk der
deutschen Sprache wecken sie das Sprachgewissen jener, welche
berufsmäßig zu schreiben haben. Die Beherrschung der
Sprachregel genügt nicht, auch nicht die der Stilgesetze. Der
Autor muß in dem, was er zu sagen hat, eine ehrliche und
entschiedene Meinung erarbeitet haben. Mit psychoanalytischer
Methode wurde bis nun der Stil eines angesehenen Mannes
untersucht, Woodrow Wilsons. Das Resultat der
Untersuchung ist so überzeugend, daß die Methode gewiß
wiederum benützt und weiter verbessert werden wird.
Haies, der Sekretär Wilsons, hatte Grund, sich am Präsi-
denten wegen Gedankenraubs zu rächen. Er schrieb deshalb
„The history of a style". Unter anderem zählt er die Adjek-
tiva und attributiven Wendungen im Verhältnis zu den
Verben aus und zählt die grundlosen Wiederholungen und
die nichtssagenden Abstrakta. Er verfolgt alle wieder-
kehrenden Gedankengänge, die nur schwulstig ein Schlag-
wort umschreiben, analysiert inhaltlich die gewählten Ab-
strakta und Schlagworte selbst und kommt zu dem Schlüsse:
Aus all dem sprechen Gedankenleere, Vorliebe für inhaltlose
suggestible Phrasen und starker Narzißmus, der das Objekt-
•
Interesse überwiegt. Daß der Charakter dieses Stils schon
w der Studentenzeit sich zu erkennen gab, und Persönlich-
keit und Stil sich parallel entwickelten, wird zu beweisen
2 AJmanacb 1932.
17
„^ ^--.r.i : a - --" ;
versucht. Meine eigenen Untersuchungen sind nicht polemisch;
im Gegenteil kann, wie so oft, auch hier die psychoanalytische
Methode zu großem Teile „exkulpieren". Sie findet neurotische
' Ursachen für ein schlechtes Schreiben, wo Schopenhauer
einfach festgestellt hätte, daß sich Unwissenheit, Verlogenheit
und „Schurkentum" hinter ihm verbergen.
Mit dem Eingreifen der Psychoanalyse wird der neurotisch
schlechte Stil etwas Heilbares. Schon lange wissen wir
Analytiker, daß oft als Nebengewinn einer Heilung eine
völlige Änderung der Schreibweise erworben wird. Befreiung
von Angst und Überwindung der Ambivalenz erlauben eine
wahrhafte und eindeutige Ausdrucksweise in Sprache und
Schrift. Seit einigen Jahren habe ich manche Autoren mit
gutem Erfolge auf ihre Stilneurose aufmerksam gemacht. In
diesen günstig verlaufenden und noch mehr in refraktären
Fällen zeigte sich zunächst der abwehrende Widerstand. Die
Abwehr ist so heftig gegenüber der objektiven Gleichgültig-
keit einer Korrektur, die Empfindlichkeit zuerst so über-
trieben, daß dadurch allein bereits die Komplexbedingtheit
der Stilstörung zu erkennen ist. Und wie in der wirklichen
Psychoanalyse läßt der "Widerstand von selbst nach, wenn
es sich um einen aktuell gesteigerten Komplex handelt. Regel-
mäßig wird der zuerst ungläubig und selbst erbost gewesene
Stilneurotiker bereit, bei sich und noch mehr bei anderen die
neurotischen Zeichen zu entdecken, nachdem die Einsicht,
die er so ungern von mir empfangen hat, ihm nach der
Passage seines Unbewußten wie spontan als eigener Fund
wiederkehrte.
Mein Untersuchungsmaterial erhielt ich durch die vielen
Manuskripte, die ich als Herausgeber, Redakteur und Lektor
lesen mußte. Solche Schriftstücke sind weniger korrigiert und
18
gefeilt als die zum Druck gebrachte endgültige Form. In
den gedruckten Zeitschriften und Büchern finden sich aber
die gleichen Störungen in geringerer Zahl. Die Autoren sind
Männer und Frauen mit Hochschulbildung, also solche, die
den Kulturschatz der Wissenschaft zu wahren haben und zu
mehren suchen. Dichter und Literaten sind nicht unter den
unabsichtlich zu Untersuchungsobjekten gewordenen Mit-
arbeitern. Dennoch waren zahlreiche Arbeiten als normal und
nicht neurotisch zu bezeichnen. Wenn die Mehrzahl der
Arbeiten gehäufte neurotische Störungen zeigte, so müssen
die Autoren, mit dem Maßstabe der Praxis gemessen, trotz-
dem nicht Neurotiker sein. Aus Gründen, die wir noch be-
sprechen werden, ist das Publizieren besonders geeignet, sonst
nicht störende Komplexe wirksam werden zu lassen. Anderer-
seits wissen wir, daß die Neurosen die verbreitetsten Kultur-
krankheiten sind, deren geziehen zu werden sich niemand
zu schämen braucht. Es dürfte ebenso schwer sein, das Hemd
des Unneurotischen zu finden wie das des Glücklichen.
Man wird einwenden, daß unsere Kollegen die Sache und
nicht die Form im Auge haben; sie seien ohne Interesse für
Sprache und Stil und gäben sich gar keine Mühe, gut zu
schreiben. Es handelt sich aber nicht um die Vortrefflichkeit
des Stils, sondern um seine Ungestörtheit. Die be-
stehende Gleichgültigkeit gegenüber der Sprache hat den ent-
gegengesetzten Einfluß, als der Einwand annimmt. Viele
Autoren, die sonst neurotisch schreiben würden, bewahren
sich davor dadurch, daß sie eine Mimikry im Schreiben an-
genommen haben, eine weitschweifige, unpersönliche Art, die
in ihrer Ganzheit der Abwehr aller persönlichen Beziehung
zu Thema und Publikum dient. Auch hier kann daher die
soziale Neurose die der Individuen ersparen. Aber völlig ent-
19
geht doch niemand den Fanggruben der Neurose oder der
vorübergehend neurosemäßig wirkenden aktuellen Konflikte.
Das wissen wir bereits durch die von Freud entdeckte
„Psychopathologie des Alltagslebens". Die Irrtümer im
Schreiben, das Verschreiben, die Verwechslungen, Umstel-
lungen, Auslassungen, Wiederholungen entstehen dann, wenn
verdrängte Regungen sich störend durchsetzen, ebenso wie
die Fehlleistungen im Lesen, Sprechen und Zuhören. Solche
Entgleisungen beweisen, wenn sie gehäuft auftreten, einen
aktuell gestörten Zustand des Schreibenden. Jede für sich zeigt
die Nähe eines Komplexes an. Für den schreibenden Autor
wirken sie wie Ventile, durch die verdrängte Kräfte einen
Ausweg finden, ohne andere Störungen des Stils zu bewirken.
Wer solche Fehlleistungen beachtet, kann durch ihre Analyse
unbewußte oder aktuell unbewußt gewordene Schwierig-
keiten, die der Gegenstand ihm machte, kennen lernen, bevor
er das „Imprimatur" erteilt.
Ich will nur ein Beispiel von komplexgestörter Stilisierung
geben und wähle eine Störung, welche jedem auffallen muß,
geringe psychoanalytische Kenntnisse voraussetzt und keine
genauere Untersuchung der Komplexstörung verlangt.
In einer ärztlichen Zeitung findet sich in einem Berichte
über Verhandlungen mit einer Krankenkasse folgender Satz:
„Es fand eine erste Besprechung statt, bei der sich zeigte, daß
die Kasse C. geneigt ist, die in dem mit der Kasse A. fest-
gelegten und auch in dem Vertragsentwurf mit der Kasse B
übernommenen prinzipiellen Bestimmungen zu akzeptieren,
welche geeignet erscheinen, das System der freien Ärztewahl
zu sichern und zu verbessern."
Jeder Leser wird den Satz schlecht geschrieben finden.
Könnte er hier ohne unbewußten Widerstand den Stand der
20
Verhandlungen einfach mitteilen, so würde er schreiben: „Bei
der ersten Besprechung zeigte sich der Vertreter der Kasse C.
geneigt, die prinzipiellen Bestimmungen, welche die freie
Ärztewahl sichern und verbessern, aus dem Vertrage mit der
Kasse A. und dem Vertragsentwurf mit der Kasse B. anzu-
nehmen."
In meiner Fassung genügen 34 Worte, die des Autors zählt
48 Worte. Meine Fassung hat einen Hauptsatz, der Neues
mitteilt, und einen Nebensatz, der erinnert, um welches be-
kannte Thema es sich handelt. Der Autor bringt die neue
Mitteilung in einem dreimal subordinierten Nebensatze und
schachtelt vor dem bloß in Erinnerung gebrachten Gegen-
stand eine überflüssige Nebensatzkonstruktion ein.
Die Abwehr des Gegenstandes zeigt sich im Hinausschieben
der Mitteilung. Kompensierend wird unpersönlich mit „Es
zeigte sich, daß . . ." begonnen, und in Form einer Tatsachen-
mitteilung möglichst lange nichts gesagt. In Fällen, die der
persönlichen Analyse zugänglich sind, kann man die Be-
stätigung dieser Begründung vom Analysierten erhalten.
Wir haben einen nicht gelungenen, aber doch begonnenen
phobischen Mechanismus vor uns. Er gelingt nicht,
weil der Wille des Schreibenden die Aufgabe der logischen
Mitteilung doch durchgesetzt hat; sein Gegenwunsch wäre,
lieber auf das Thema nicht einzugchen. So entsteht das
zögernde Kompromiß, das sich deshalb nur im Stile
äußert und nicht im Inhalte, weil die Tatsachen selbst un-
zweifelhaft gesagt werden mußten. Wo das nicht der Fall
ist, zeigt sich der Gegenwunsch in der ganz überflüssigen
Anwendung einer abschwächenden konjunktivalen Form des
Zeitwortes, oder durch Einfügung eines verallgemeinernden
Wortes. Namentlich wird das Wort „irgendein" sehr häufig
21
unrichtig angewendet, wenn es sich um etwas handelt, was
in jedem einzelnen Falle ganz bestimmt ist. Statt der ab-
schwächenden Form, oft auch mit ihr zusammen, wird sehr
oft eines der "Worte „sicher", „offenbar", „zweifellos", „un-
bedingt" gebraucht. Wo man wirklich berechtigt wäre, diese
Worte zu verwenden, braucht man sie fast niemals hinzu-
setzen, weil der Leser durch die Argumente überzeugt wer-
den konnte. Wenn in der Psychoanalyse der Patient ohne
Not allgemeine Worte, beteuernde oder versichernde Flick-
worte, meist gehäuft, anwendet, wird der Psychoanalytiker
instinktiv oder bewußter Weise darauf aufmerksam, daß ein
ungelöster Widerstand da ist. In analoger Weise sei man
skeptisch gegenüber der Richtigkeit einer geschriebenen Mit-
teilung, oder der Sicherheit des Autors in bezug auf das Mit-
geteilte, wenn dieser ohne dringenden Anlaß beteuernde Worte
gebraucht.
Anders zu beurteilen sind neurotische Stilstörungen, die
in der gleichen Form immer wieder auftreten. Dann braucht
die einzelne Störung nicht jedesmal mit dem Thema in Ver-
bindung zu stehen; sondern sie zeigen zusammen eine be-
stehende Neurose an, oder aber auch nur, daß das Schreiben
für den Autor eine konfliktvolle Aufgabe bedeutet, daß er
also an einer dauernden und allgemeinen oder nur an einer
akuten „Mitteilungsneurose" leidet.
Immer gehört zur Neurose, daß der Widerstand gegen das
zu Schreibende oder gegen das Schreiben überhaupt unbe-
wußt sei. Es können sich in der Wahl der Worte, in der
Behandlung von Thema und Publikum Ehrgeiz, Eitelkeit,
Narzißmus, Herrschsucht, Haß oder Verachtung zeigen; der
Stil wird dadurch sehr beeinflußt, ohne daß es zu den
neurotischen Störungen kommt. Der bewußt Ambitiöse schreibt
22
^■i
ungestört durch seine Ambition. Allerdings ist gerade die
Ambition, diese Mischung von Eitelkeit und Ehrgeiz, meist
noch viel größer, als dem Autor bewußt ist. Kommt nun noch
die Gegenströmung hinzu, nicht ambitiös zu erscheinen, dann
wird der Stil doch in störender Art beeinflußt. Am häufigsten
kämpfen bei jeder Art zu publizieren die Zeige lust und
die Scham, sich zu zeigen (Zeigefurcht), mit-
einander. Und zwar beruhigen sich die Konflikte zwischen
Instinkt und Reaktion meistens, nachdem die ersten Ab-
schnitte geschrieben sind, teils weil man sich an die Situation,
vor ein Publikum treten zu müssen, gewöhnt hat, teils weil
sich der unbewußte Konflikt in Fehlleistungen und neuro-
tischen Störungen erledigt hat, bis er wieder durch die An-
näherung an einen Komplex aktuell wird.
Wir sehen auch hier die allgemeine psychoanalytische Er-
fahrung bestätigt, daß das Mißlingen der Verdrän-
gung zur Neurose führt. Deshalb gibt es zwei Arten, der
Neurose und dem reaktiven Selbstverrat zu entgehen: Die
Verdrängung muß aufgehoben werden oder sie muß
gelungen sein. Aber unerwartet und trotz aller Aufmerk-
samkeit kann ein neuerliches Mißlingen, freilich immer nur
aus wichtigen Gründen, die seelische Ordnung und, in unserem
Falle, den Stil stören. Die Störung zu Beginn des Schreibens
sollte viele Autoren veranlassen, die ersten Seiten ihrer
Manuskripte nur als schriftliches Selbstgespräch und als Stil-
übung zu betrachten; da das nicht immer geschieht, sind
gerade sie mit neurotischen Zügen durchsetzt. Wir dürfen daher
kein Druckwerk nach dem ersten Abschnitt beurteilen und
es etwa unter dem Eindruck des unsicheren Stils beiseite legen.
Es ist ein allgemeiner Brauch, mit der Anführung von Be-
funden, Erklärungen und Theorien anderer Autoren zu be-
*3
ginnen. So schließt man sich seinen Vorgängern an und
hat objektiv zu berichten. Aber das Subjektive macht sich
auch in solchen Einleitungen nur zu oft störend bemerkbar.
Demnach ist beim Schreiben die gleiche Befangenheit
vorhanden — zwar geringer, aber dafür im Druck verewigt — ,
die auch geübte Vortragende am Anfang des Sprechens
verspüren und zeigen. In beiden Fallen ist das Publikum der
äußere, die übertriebene narzißtische Besetzung des Publikums
der innere Faktor, der die Befangenheit und beim Bestehen
einer narzißtischen Neurose das Lampenfieber entstehen
lassen. Alle Befangenheit hört auf, sobald die narzißtische
Besetzung durch die objektlibidinöse ersetzt ist. Sie hat sowohl
den Gegenstand als den Hörer, beziehungsweise in geringe-
rem Grade den Leser zu erfassen. Auch beim Schreiben ge-
lingt das schwerer, wenn einem die Publizität zu wichtig ist.
Solange beide Besetzungen oszillieren, ist man noch durch
sie befangen, und es machen sich Komplexstörungen um so
eher geltend. Manche Autoren können leicht Neues mitteilen,
andere sind gerade dazu fast unfähig oder müssen sich sehr
dazu zwingen. Diesen Unterschied klärt die Psychoanalyse
auf. Sofort ist der Stil neuerdings gestört, wenn das Wissen
unsicher wurde oder wenn fremdes geistiges Eigentum
für eigenes ausgegeben wird. Die weit verbreitete Ge-
wissenlosigkeit in bezug auf Diebstahl geistigen Eigentums
schützt nicht davor. Wir berühren das Thema des unbewuß-
ten Plagiats, müssen aber abbrechen und wollen nur kurz
die häufigsten Störungen, nach den benützten Mechanismen
gesondert, aufzählen. Die speziellen Zeichen, durch welche
sich der Sadismus, die anale Komponente und der Masochis-
mus im Stile äußern, lasse ich unbesprochen.
Bisher fand ich folgende Störungen: i) Unvollendete Ver-
*4
dichtung — 2) unvollendete Ablösung vom früheren Gegen-
stande — 3) der einfache phobische Mechanismus — 4) der
alternierende phobische Mechanismus — 5) zwanghaftes Fest-
halten eines Ersatzbegriffes, dazu gehört auch — 6) Über-
treibung des Gegensätzlichen - 7) Flucht in Verallgemeine-
rung — 8) Umkehrung als unvollendete paranoide Projek-
tion — 9) überflüssige Einschiebung der indirekten Darstel-
lung, meist durch angedeutete hysterische Phantasie oder durch
hysterische Identifizierung bedingt. Diese Form benützt ver-
schiedene Methoden der Synthese.
Wie neurotische Symptome durch bestimmte Mechanismen
entstehen, so auch die Stilstörungen; diese sind aber keine
vollendeten Symptome; die Mechanismen werden nicht voll-
endet. Das Schreiben leistet dem Schreibenden denselben
Dienst in ungebundener, lässiger Art wie die Psychoanalyse
dem Analysierten. Die Möglichkeit, beim Schreiben den Ab-
wehrmechanismen nachzugeben, verhütet die Symptombildung
und läßt doch, allerdings erst nach der Befriedigung der Ab-
wehr, die richtige Assoziation finden. Der Schreibende hat es
besser als der Sprechende, denn dieser muß sofort entscheidend
das Wort wählen. Deshalb kommen beim Sprechen leichter
Fehlleistungen vor. Stilstörungen treten auch beim Redner auf,
in mildester Form als unscharfe oder falsche Betonungen,
meist in Verbindung mit Flickworten und Flicksätzen.
Meine Untersuchungen sind nicht dem Wunsche ent-
sprungen, Detektiv zu spielen oder psychoanalytische Über-
legenheit zu zeigen. Der richtige Ausdruck in Sprache und
Schrift ist für uns Bedürfnis und ist auch Bedingung,
daß man ehrlich arbeite und publiziere. Zu diesem Zweck
muß vor allem die von pädagogischer Seite wiederholt gestellte
Forderung erfüllt werden, daß von der ersten Volksschulklasse
25
bis zur Dozenturarbeit niemand über Dinge zu schreiben ge-
zwungen werde, für die er nicht reif ist, auch wenn deshalb
der deutsche Aufsatz in seiner heutigen Form ganz verschwin-
den müßte. Vor allem darf er nicht zensuriert 1 werden, denn
die Note zwingt den Schüler, auch zu schreiben, wenn er
nichts zu sagen hat.
Individuell gibt die Analyse der Stilstörungen jedem die
Möglichkeit, selbst darauf aufmerksam zu werden, daß er
durch einen Mangel im sachlichen Wissen oder durch affek-
tive Voreingenommenheit gestört wird oder daß er sich noch
nicht zur Klarheit durchgerungen hat.
Zerstört die Psychoanalyse die
Naivität?
Von
Aus dem V. Jahrgang (193') der „Zeitschrift für psycho-
analytische Pädagogik". (Jährlich — 12 Hefte im Gesamt-
umfang von ca. joo Seiten — Mark io'—)
Von den vielen Einwänden, die gegen die Psychoanalyse
erhoben werden, soll hier einer herausgehoben werden, der
auf den ersten Blick etwas Bestechendes zu haben scheint.
Es handelt sich um die häufig geäußerte Befürchtung, die Ana-
lyse vernichte durch ihre Methode die „Naivität" des
Menschen, der sich mit ihr abgibt und veranlasse ihn zu einer
l) In der österreichischen Volksschule werden die deutschen Aufsätze nicht mehr
zensuriert.
16
unfruchtbaren, unerwünschten, zum mindesten aber über-
triebenen Selbstbeobachtung. Das Leben mit seinen
Ansprüchen — so wird argumentiert — lasse dem gewöhn-
lichen Sterblichen gar keine Zeit dazu, sich mit sich selbst
zu beschäftigen, zwinge ihn vielmehr dazu, sich mit einem
Minimum von Reflexion mit den Forderungen seiner Umwelt
auseinanderzusetzen, und das sei gut so, denn nur durch die
Unmittelbarkeit der Einstellung zur Außenwelt sei ein unge-
brochenes Handeln und Reagieren gewährleistet, sei außer-
dem naive Lebensfreude möglich. Umgekehrt werde der-
jenige, dem in einer oft länger als ein Jahr dauernden ana-
lytischen Behandlung so viel Zeit und Aufmerksamkeit zuge-
wandt wird, nicht mehr imstande sein, mit der gleichen
Selbstverständlichkeit zu leben und zu arbeiten. Er werde,
verwöhnt durch die übermäßige Bewertung seiner Person,
leicht dazu neigen, seinem Selbst grüblerisch nachzuhängen,
und sich auf Schritt und Tritt in unfruchtbarer, argwöh-
nischer Kritik auf seinen eigenen Wegen nachspüren.
Wenn wir uns mit diesem Einwand auseinandersetzen
wollen, so müssen wir uns zunächst darüber klar werden,
was man unter Naivität versteht. Naivität im weiteren Sinne
gilt oft schlechthin als die Eigenschaft, aus den eigenen Er-
fahrungen nicht die notwendigen Lehren zu ziehen. Die-
jenigen, die der Psychoanalyse die Gefährdung der Naivität
vorhalten, fassen jedoch — unter dem Eindruck des Schiller-
schen Gegensatzes Naiv-Sentimentalisch — einen anderen Zug
ins Auge: Die Eigenschaft, mit direkter Affektbeteiligung auf
die Außenwelt zu reagieren, im Gegensatz zum Sentimen-
talen, dessen Gefühlsaufwand dem Vorgang des eigenen Er-
lebens, nicht dem Gegenständlichen gilt. Sie sehen in der
„naiven" Reaktion auf die Außenwelteindrücke jedenfalls
etwas Positives, einen Wert, auf den nicht ohne Not ver-
zichtet werden sollte. Sie meinen so etwas wie Lebensfröhlich-
*7
keit damit, eine „gesunde" Einstellung zur Umwelt in dem
Sinne, daß der Naive ohne langes Zögern auf die von außen
auf ihn einströmenden Reize und Anforderungen reagiert,
ohne über das notwendige Minimum an Reflexion über die
eigene Art der Beantwortung dieser Reize hinauszugehen. Dem
Naiven wird in diesem Zusammenhang der Grübler als
unerwünschter Gegensatz gegenübergestellt: Der Mensch,
der nichts tun kann, sondern statt dessen darüber nachdenken
muß, warum und auf welche Weise er so und nicht anders
handeln würde, der beständig nicht nur über die Motive,
sondern auch über die Wirkungen seines Handelns reflektiert.
Wir erkennen schon, daß sich der Gegensatz zwischen naiv
und unnaiv, als erwünscht und unerwünscht, aus einem
praktischen Bedenken herleitet, aus dem Argwohn, daß der
Unnaive, der Grübler zu viel Zeit und Kraft auf sein Ich ver-
schwende, statt sie der Außenwelt, dem Objekt zuzuwenden.
Naivität wird in dieser Gegenüberstellung annähernd gleich-
bedeutend mit Schlichtheit und Bescheidenheit, ihr Gegenteil
mit Eitelkeit und gesteigerter Selbstliebe.
Das Wort „naiv" hat, wenn wir es einmal aus dem ge-
schilderten Zusammenhang herausnehmen, eine ziemlich zwie-
spältige Bedeutung. Es bezeichnet im weiteren Sinne eigent-
lich nichts anderes, als den k i n d 1 i c h e n T y p der mensch-
lichen Verhaltungsweise. Was wir in der Kindheit hatten
und durch unser Älterwerden, die Fährlichkeiten und Narben
der Entwicklung und Reife, verloren glauben, war ja gerade
die spontane, von Reflexion ungetrübte Einstellung zur
Außenwelt: jener Zustand, in welchem wir, unbekümmert um
die Folgen unseres Handelns, aber auch ohne Kenntnis von
ihren inneren Antrieben dahinlebten. Nach lieber Gewohnheit
erhöht und verklärt sich jener kindliche Zustand in
der Erinnerung des Erwachsenen zu einer glücklichen Zeit,
in welcher es das Leiden noch nicht gab, in welcher das
28
Bewußtsein noch unbelastet war von Gefahr und Schuld.
Man mag zugeben, daß das Kind noch nicht so klug und auf-
geklart war wie der Erwachsene, man nimmt das Stück Tor-
heit gerne in Kauf, eben um der Lust willen, die jene Zeit
angeblich gebracht hat. Und diese Kindlichkeit, so fordern
die Anwalte des besprochenen Einwands, darf uns nicht ver-
loren gehen Sie soll, trotz aller schmerzlichen Erkenntnis,
die uns das Leben orachte, als ein Gut gehütet werden, das
auch im spateren Leben, einige Torheit schon wert ist
Wie verhält sich nun der Vorwurf, daß die Analyse jene
Naivität zerstöre, zu den objektiv nachprüfbaren Sachver-
halten, die aus der Beobachtung der „analytischen Situation-
hervorgehen? Da wäre zunächst ein sehr sonderbarer Wider-
spruch aufzukären. Wir kennen die Erscheinung des
Widerstandes als eine Grundtatsache der analytischen
Situation. Der Patient, durch die „analytische Grundregel«
veranlaßt, seine Einfälle kritiklos und ohne intellektuelle,
moralische oder ästhetische Hemmung preiszugeben, ver-
schanzt sich hinter den verschiedenartigsten Personen, Vor-
Stellungen, Begebnissen, nur um nicht gezwungen zu sein
den Weg zu seinem Unbewußten, zu seinen verdrängten Phan-
tasien und Impulsen freizugeben. Er benimmt sich also durch-
aus nicht etwa derart, als ob ihm die Beschäftigung mit seiner
Person in der analytischen Kur angenehm oder erwünscht
wäre. Im Gegenteil, er sucht sich den Andeutungen, die
seine eigenen Einfälle und Träume enthalten, auch dann noch
zu entziehen, wenn sie durch die zusammenfassende Deutung
des Arztes unbestreitbare Hinweise auf die versteckten inneren
Zusammenhänge geworden sind. Indem der Analysand im
Verlaufe der Kur immer weitere Bezirke seines Selbst ver-
stehen lernt, in immer engere Beziehungen zur unbewußten
Dynamik seines persönlichen Denkens, Fühlens und Handelns
tritt, erhöht sich - und das ist die zweite für uns beachtens-
*9
werte Tatsache - sein Interesse für die Außenwelt, für den
Umkreis der ihm Nahestehenden, aber auch der ihm zufallen-
den Pflichten. In der Übertragung auf den Analytiker, die ja
zugleich immer ein Stück Identifizierung mit diesem ist, lernt
er gerade auf Grund einer vertieften Selbsterkenntnis, seine
gestörten Beziehungen zur Realität fester und tragfähiger zu
knüpfen.
Die Gegner der Psychoanalyse gingen von der Voraus-
setzung aus, daß die Beschäftigung mit dem eigenen Ich, die
liebevolle und geduldige Anteilnahme des Analytikers für
die minutiösesten Herzensregungen des Patienten, diesem ein
Anstoß sein müßten, sich nun selber mit erhöhter Aufmerk-
samkeit zu beobachten, nun auch außerhalb der Analyse-
stunde über sein Ich zu grübeln. Aber wir müssen sehen,
daß diese Voraussetzung falsch war. Der Analysand ist viel-
mehr glücklich, die meist recht peinliche Begegnung mit sich
selber abzubrechen, die ihm in der Analysestunde widerfuhr,
und wendet sich erleichtert seinem Alltag zu, mit erhöhtem
Interesse für die Forderungen, die er bringt. I
So wäre es womöglich gerade umgekehrt, wie die Gegner I
annahmen? Vielleicht wäre es in erster Linie der Unnaive, der
Grübelsüchtige, der Eitle, der für die psychoanalytische Kur
prädestiniert ist, und die Analyse wäre der Weg, VOn
dieser unerwünschten Einstellung zum Leben loszukommen,
die verlorene Naivität, die Bescheidenheit, die festere Bin-
dung an die Realität zu erreichen? Das klingt paradox.
Können wir wirklich behaupten, daß ein Patient, der eine
analytische Kur glücklich durchlaufen hat, naiver wäre, als
vor deren Beginn?
Natürlich ist auch diese Behauptung unrichtig, jedenfalls
in so allgemeiner Form. Aber etwas Wahres dürfte in ihr
schon enthalten sein, jedenfalls mehr Wahrheit, als in ihrem
Gegenteil. Der Widerspruch löst sich, wenn wir uns Rccnen-
3°
schaft darüber geben, womit denn eigentlich der Patient
sich während der Behandlung so eingehend beschäftigt
hat. Es war ja gar nicht das eigene „Ich", der Träger des
Narzißmus, das in der Kur die Hauptrolle spielte. Im
Mittelpunkt des Interesses standen vielmehr die Beziehungen
des Ichs zu den Mächten, von denen es abhängig ist. Die
doppelte Hörigkeit dieses Ichs wurde entdeckt, die Macht
des Unbewußten, des „Es", dessen Einfluß das Ich
ausgesetzt ist, und des Über-Ichs, das mit seinen Überstrengen
Geboten die Quelle von mancherlei Leid und Schuldgefühl
wurde. Nicht also die befürchtete Erhöhung und Vergötte-
rung des Ichs war der Erfolg der analytischen Behandlung
sondern umgekehrt die Einsicht in die Schwäche und viel-
fache Abhängigkeit dieses Ichs von Gewalten, die viel mehr
als fremde Mächte empfunden werden, als ein Außenstehender
dies sich vorzustellen vermag.
So wird in gewissem Sinne in der Tat ein Stück erhöhter
„Naivität" durch die Analyse erreicht, wenn wir darunter nur
Bescheidenheit und aktivere Anerkennung der
Realität verstehen. Die K i n d e r t o r h e i t allerdings wird
preisgegeben. Der Patient lernt verstehen, wie er einerseits
viel mehr törichtes Kind geblieben war, als er ahnte, und er
lernt zugleich erkennen, daß jene gepriesene Kindheit, die
Zeit der „goldenen Unschuld", keineswegs so leicht und
heiter war, wie unsere Gegner dies annahmen und glauben
machen wollten. Wird er nach außen hin, in seiner Ein-
stellung zum Milieu, naiver und freier, so ersetzt er nach
innen, in der Richtung, aus der die Antriebe seiner Hand-
lungen und Reaktionen stammen, die törichte Kindernaivität
durch gereiftere Selbsterkenntnis und tut damit den entschei-
denden Schritt, der verspätet aus dem Reich der Kindheit
ins Reich des Erwachsenseins führt, vom L u s t - U n 1 u s t-
Prinzip zum Realitätsprinzip.
3i
Zur Psychologie des Mitleids
Von
Ludwig Jekels
Aus dem Jahrgang 1930 (Bana XVI) der von
Sigm. Freud herausgegebenen ,,Imago", Zeitschrift
für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur-
und Geisteswissenschaften. (Jährlich 4 Hefte im Ce-
samtumfang von ca. s6o Seiten — Jahresabonnement
Mark 22' — .)
Das Mitleid, — ein Problem, an dem noch kein Philosoph von
Rang achtlos vorbeigegangen ist; an dem heftigen Widerstreit
der Ansichten, deren Gegenstand dieses Phänomen seit vielen
Jahrhunderten war und wohl noch ist, sehen wir vielmehr selbst
die bedeutendsten Denker lebhaft beteiligt und emsig um seine
Klärung bemüht, wobei, — für den Analytiker gewiß bloß von
historischem Interesse, — hauptsächlich die Frage in den Vor-
dergrund gestellt wurde, ob das Mitleid eine primär egoistische
oder altruistische Empfindung ist. 1 Die Anhänger ersterer An-
sicht gingen von der Voraussetzung aus, daß das Mitleid, schon
weil es ein Gefühlserlebnis ist, eine starke Beziehung zum Ich
des Bemitleidenden besitzen, sohin „egoistisch" sein müsse. Über-
dies stützte sich diese Anschauung in hohem Maße auch auf das
der Mitleidsempfindung anhaftende hedonische Moment. Ihren
Vater gleichsam hat diese Ansicht in Aristoteles, dem wir
eine genaue Analyse des Mitleids verdanken; darin gilt es als Un-
lust über ein verderben- oder schmerzdrohendes Übel, von dem
man auch erwarten muß, daß es uns oder einen der Unserigen
treffen könnte. Eine lange Reihe von Denkern, die sich durch
die Scholastik und Aufklärungszeit bis in die modernste Philo-
sophie fortsetzt, hat diese Ansicht zu der ihrigen gemacht; wohl
als ihre Hauptvertreter sind unter den Engländern H b b e s,
unter den Franzosen Helvetius, unter den Deutschen aber
Lessing, Feuerbach, besonders aber E. v. Hartmann
und Nietzsche zu bezeichnen.
x) Nach K. Orelli: Die philosophischen Auffassungen des Mitleids.
3*
Von einer Reihe nicht minder hervorragender Denker wurde
jedoch dieser Ansicht eine andere, die „altruistische" entgegen-
gestellt. Gleichfalls vom Charakter des Gefühlserlebnisses beim
Mitleid ausgehend vermeint diese Richtung indessen, dasselbe
werde nicht, wie die „Egoisten" glauben, durch die Beziehung
auf das eigene Ich, vielmehr ausschließlich durch die primäre Be-
ziehung auf das Du bestimmt, und demgemäß als aus Liebe,
Sympathie, Zuneigung, geselligen Instinkten usw. hervorgegangen
angesehen. Wohl den frühesten Vertreter dieser Anschauung
hätten wir, L. Schmidt zufolge, in dem „Philosophen der
Liebe", dem Vorsokratiker E m p e d o k 1 e s, zu erblicken. -
In der nachscholastischen Philosophie finden wir sie vertreten
durch C u m b e r I a n d, für den das Mitleid aus der benevolenüa
entsprießt, dem Generalmotiv alles Lebens der Menschen unter-
einander. Ebenso verlegt auch Shaftesbury die Wurzel des
Mitleids in altruistische Neigungen, die ihm die natürlichen
Neigungen katexoehen sind. Wogegen Hume und Smith hier
die aus der Ähnlichkeit sich ergebende Sympathie heranziehen,
während für Ferguson und Home das Mitleid eine offenbar
primäre soziale Neigung ist. H. Spencer erblickt im Mitleid
einen Abkömmling des elterlichen Instinktes, in welchem wir,
ihm zufolge, die ursprüngliche Form des Altruismus vor uns
haben.
Keiner der Philosophen der Aufklärungszeit hat indessen diese
„altruistische" Auffassung des Mitleids mit derartigem Nachdruck
vertreten wie J. J. R o u s s e a u; ihm ähnlich unter den Deutschen
Moses Mendelssohn, dem das Mitleid als eine Gemüts-
bewegung galt, „die nichts ist, als die Liebe zu einem Gegen-
stande, verbunden mit dem Begriff eines Unglücks". Nach Kant
habe die Natur schon in den Menschen die Empfänglichkeit für
die sympatbia moralis gelegt; ihm ähnlich äußert sich auch
Herder über das Mitleid. Ihren eifrigsten und hervorragend-
sten Vertreter — namentlich unter den modernen Denkern — ■
hat indessen diese Anschauung in Schopenhauer gefunden,
dem das Mitleid als die einzige Ausnahme im grenzenlosen, all-
umfassenden Egoismus des Menschen, sohin als das einzige nicht-
egoistische Motiv gilt.
3 Almanadi 1932
p-
Das in obiger mehr als flüchtiger Überschau sich spiegelnde
gewaltige Interesse der Denkerwelt für das Mitleidsphänomen
wird verständlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß dem-
selben, allgemein und ganz unabhängig von den obigen Grund-
anschauungen, die überragendste Bedeutung als soziales
Bindemittel zugestanden wird, und daß dasselbe — wenn
auch nicht vollkommen unwidersprochen — so doch vielfach
als das grundlegende Element der Moral gilt. So meint z. B.
Rousseau: „De cette qualite decoulent toutes les vertue*
sociales" und Schopenhauer 2 äußert sich, das Mitleid sei
„die einzige nichtegoistische, somit die alleinige echt moralische
Triebfeder, als solche die Basis aller freien Gerechtigkeit, aller
echten Menschenliebe".
Zum nicht geringeren Teile scheint jedoch an dem großen
Interesse, das die Forscher aller Zeiten dem Problem entgegen-
brachten, auch die große Schwierigkeit mitbeteiligt zu sein, die
dies außerordentlich komplexe Phänomen dem psychologischen
Verständnis bietet. So bezeichnet es z. B. E. v. Hartmann
als „mehr als nach einer Richtung hin rätselhaft", und noch
vor ihm meinte Schopenhauer: 3 „Dieser Vorgang..., j n
welchem die Scheidewand, welche Wesen von Wesen durchaus
trennt, aufgehoben und das Nicht-Ich zum Ich geworden ist,
ist erstaunenswürdig, ja, mysteriös, das große Mysterium der Ethik,
ihr Urphänomen und der Grenzstein, über welchen hinaus nur
noch die metaphysische Spekulation einen Schritt wagen kann . .
Die Erklärung der Möglichkeit dieses höchst wichtigen Phänomens
ist aber nicht so leicht . . . noch auf dem bloß psychologischen
Wege zu erreichen."
Was dergestalt Schopenhauer an der Möglichkeit einer
psychologischen Erklärung verzweifeln und ihn bei der Meta-
physik Zuflucht nehmen Heß, dürfte nicht zuletzt auch der
Umstand gewesen sein, daß dies Problem, trotz der jahrtausende-
langen Forschung, dennoch ohne befriedigende Lösung geblieben
ist. Denn all die auf uns überkommenen Ansichten entbehren
selbst dort, wo sie dem richtigen Sachverhalt sich irgendwie
i) Schopenhauer: Die zwei Grundproblcme der Ediik.
3) Schopenhauer: 1. c.
34
nähern, gesicherter Stützen, verwenden als Grundelemente Be-
griffe, die noch selbst der Erklärung harren, und belassen derart
wesentliche Seiten des Phänomens unaufgehellt.
Uns will es indessen scheinen, daß ein mit den Mitteln der
Psychoanalyse unternommener Klärungsversuch aussichtsreicher
sein und erweisen könnte, daß der Pessimismus des Frankfurter
Philosophen, — so berechtigt er sonst in seiner Welt- und
Lebensanschauung gewesen sein mag — hier, in dieser uns inter-
essierenden Frage, dennoch nicht zu Recht besteht.
I
Der einzige psychoanalytische Forscher, welcher dem Mitleids-
phänomen Interesse entgegengebracht hat, ist meines Wissens
eben der Schöpfer der Psychoanalyse, Freud. Er hat es, wenn
auch bloß mit wenigen und lediglich hingestreuten, so dennoch
gehaltvollen Bemerkungen gestreift.
Diese besagen vorerst, das Mitleid komme auf dem Wege der
Identifizierung mit dem Leidenden, dem Mitleidsobjekte,
zustande und weiters bringen sie dasselbe in innigsten Zu-
sammenhang mit dem sadistischen Partialtrieb; doch soll
das Mitleid nicht etwa eine Verwandlung des Sadismus in sein
Gegenteil, sondern eine Reaktionsbildung gegen denselben
sein.
Wenden wir uns zunächst dem ersten Teil der Freud sehen
Behauptung zu, so spricht für den innigen Konnex zwischen Mit-
leid und Identifizierung schon der Umstand, daß diese Ansicht
in der Geschichte der Mitleidsforschung zahlreiche und ge-
wichtige Vorgänger aufzuweisen hat. Schon in einer im Jahre
1788 erschienenen Studie des Italieners Ubaldo Cassina:
„Saggio analitico sulla compassione", finden wir diese Ansicht
vor, wobei vom Wesen der Identifizierug eine mit der psycho-
analytischen vollkommen gleichlautenden Auffassung sich vor-
findet. Nach Schopenhauers Wiedergabe meint Cassina:
„Das Mitleid entsteht durch eine augenblickliche Täuschung der
Phantasie, indem wir uns selbst an die Stelle des Leidenden ver-
setzen und nun in der Einbildung seine Schmerzen an unserer
Person zu leiden wähnten."
r 35
I
.
Nebst vielen anderen versuchen es aber auch Rousseau und
Schopenhauer, das Mitleid durch Identifizierung zu er-
klären. Ersterer meint z. B.: „La commiskration (pitie) est d'autant
plus inergique, que l'animal speetateur s'i d e n ti f i e r a plus in-
timement avec l'animal soufirant." Bei Schopenhauer aber lesen
wir: „Dies (nämlich daß ich bei seinem Wehe als solchem ge-
radezu mitleide, sein Wehe fühle wie sonst nur meines) erfor-
dert aber, daß ich auf irgend eine Weise mit ihm identifi-
ziert sei." An einer anderen Stelle: „. . . dies setzt aber vor-
aus, daß ich mich mit dem Anderen gewissermaßen identifi-
ziert habe und folglich die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich
für den Augenblick aufgehoben sei: nur dann wird die Angelegen-
heit des Anderen unmittelbar zur meinigen."
Nur daß von den beiden letztgenannten Philosophen der Iden-
tifizierungsvorgang entgegengesetzt wie von Cassina verstanden
wird. Denn Rousseau meint, Ja pitti c'est un sentiment, qui
nous met ä la place de celui qui souffre", und noch deutlicher,
daß wir^ uns dem Mitleid überlassen „en nous transportant hors
de nous'\ . . . „en quittant notre etre pour prendre le sien", und
„ce n'est pas dans nous, c'est dans lui t que nous souffrons".
Und nicht minder scharf hebt es auch Schopenhauer her-
vor, daß wir das Leid des Anderen nicht im Ich, sondern im An-
deren erleben: „Daß ich es, obgleich mir nur als ein Äußeres, bloß
vermittelst der äußeren Anschauung oder Kunde gegeben, dennoch
mitempfinde, es als meines fühle und doch nicht in mir
sondern in einem Anderen" .. . oder „in ihm leide ich mit,
trotzdem daß seine Haut meine Nerven nicht einschließt". Ja,
Schopenhauer bestreitet sogar energisch die Ansicht Cas-
sinas und meint: „So ist es keineswegs; sondern es bleibt gerade
jeden Augenblick klar und gegenwärtig, daß E r der Leidende ist,
nicht wir; und gerade in seiner Person, nicht in unserer,
fühlen wir das Leiden. Wir leiden mit ihm, also in ihm; wir
fühlen seinen Schmerz als den seinen und haben nicht die Ein-
bildung, daß es der unserige ist."
Analytisch läßt sich der Unterschied der beiden Auffassungen:
C a s s i n a s einerseits und der von Rousseau und Schopen-
hauer andererseits, etwa so definieren, bei der ersten handle es
3«
»ich um eine echt introjektive, narzißtische, bei der der beiden Phil-
osophen um eine Identifizierung wie bei der Hysterie, bei welch
letzterer bekanntlich das Objekt erhalten und betont bleibt.
überdies wird aber die Freudsche Ableitung des Mitleids aus
de r Identifizierung wesentlich auch dadurch gestützt, daß letz-
terer, zufolge der Charakteristik der Identifizierung nach Freud,
etwas zu eigen ist, das auch, unseren gewohnten Vorstellungen und
den Autoren zufolge, mit dem Mitleid innig verbunden ist, nämlich
der Drang zur Hilfeleistung. Hat doch nach Freud
»die Identifizierung unter anderem zur Folge, daß man die Aggres-
sion gegen die Person, mit der man sich identifiziert hat, ein-
schränkt, sie verschont und ihr Hilfe leistet".
Eine weitere Stütze für die Freudsche Annahme bin ich
geneigt auch in dem Umstände zu erblicken, daß vielfach und von
sehr namhaften Untersuchern das Mitleid als ein ausgesprochen
irrationaler Vorgang deklariert wurde. Schon nach der
Stoa (Frgmt. III., 450) ist es ja eine „aegritudo", als solche „animi
adversante ratione contractio" ; desgleichen ist es für Spinoza
»per se mala et inntilis", weil der ratio zuwiderlaufend; ähnlich
bei Kant, Nietzsche, Paulsen. Wir führen es hier an,
weil mir dieses Merkmal des Irrationalen dem der Identifizierung
zugrunde liegenden Charakter eines unbewußten Vorganges zu ent-
sprechen scheint.
Treten wir indessen näher einer inhaltlichen Untersuchung der
hier stattfindenden Identifizierung, um dadurch möglicherweise
tiefere Einsicht in das Wesen und die Natur des Mitleids zu ge-
winnen.
Es ist ja zur Genüge bekannt, daß das bei der Wahrnehmung des
Leides eines Anderen beim Subjekt geweckte Schuldgefühl den
gemeinsamen ätiologischen Anspruch, gleichsam die Plattform dar-
stellt, von der aus die -— übrigens zumeist partielle — Identifi-
zierung hier erfolgt. Diese Feststellung erscheint uns indessen
keineswegs als genügende Auskunft; vielmehr meine ich, daß unsere
Einsicht erst dann bis zur gewünschten Tiefe vordringen könnte,
wenn eine ganz spezielle Frage, nämlich die nach den infantilen
Wurzeln des hier besprochenen Phänomens, ihre Beantwortung
findet. Die Berechtigung einer solchen Fragestellung steht ja
37
außerhalb jeder Diskussion, denn es kann kaum zweifelhaft
daß der Erweis eines determinierenden Kindheitserlebnisses
Untersuchung einer Charaktereigenschaft ebenso zukommt, wi
eines neurotischen Symptoms.
Und für das Mitleid reklamieren wir hiemit als eine derar ?^
infantile Determinante die Schlagephantasie. Was sc
im vorhinein dafür spricht und geeignet ist, ein etwaiges ötirt
ob dieser Behauptung zu mildern, ist vor allem die außeror
liehe Häufigkeit dieser Phantasie, ihr fast ubiquitäres Auftrete^
Weiters aber, daß beide Phänomene in einer gewissen zeitliche^
Nähe zu einander stehen; Freud zufolge sollen ja die Schlage
phantasien sich gegen das Ende oder sogar nach Ablauf des
die Entwicklung der ödipussituation beanspruchten Zeitraumes
äußern, also gewiß unferne vom Beginn der Latenzperiode, in der
beim Kinde neben anderen Reaktionsbildungen auch die des Mit-
leides zur Entwicklung gelangt. Als gewisse weitere Übereinstim-
mung könnte man auch den Umstand anführen, daß die Unlust,
mit der die die Schlagephantasie Produzierenden auf reale Kinder-
mißhandlung bekanntlich reagieren, irgendwie dem anfänglichen
Unbehagen entspricht, das uns bei Wahrnehmung des Leides eines
Anderen beschleicht. Allem anderen voran aber der Umstand, daß
beide Phänomene, sowohl das Mitleid wie die Schlagephantasie,
eine stark hervortretende sadistische Komponente zur Grundvor-
aussetzung haben. Hat doch die masochistische Schlagephantasie,
wie erinnerlich, ein als sadistisch aufzufassendes Vorstadium; und
betreffs des Mitleides scheint mir der Hinweis auf die besonders
große Barmherzigkeit der Zwangsneurotiker genügend beweisend«
Über all das hinaus aber die große inhaltliche Übereinstimmung«
Denn die Phantasie, vom Vater geschlagen zu werden, hat sich»
wie erinnerlich, durch Regression auf die prägenitale, sadistisch-
anale Libidophase aus einer anderen genitalen Phantasie ent-
wickelt, nämlich aus dem Wunsche, „vom Vater geliebt z u
werden", und zwar unter dem Drucke des Schuldgefühls, welches»
mit Freuds Worten: „keine härtere Strafe zu finden weiß ^
die Umkehrung, nein, er liebt dich nicht, denn er schlägt dich •
demnach ist sie „sowohl eine Strafe für die verpönte genitale Be-
gehung, als auch der regressive Ersatz für dieselbe", und st»
38
S5£^ V Ä? sowohl des Liebes - als auch d « s « f -
Maß auch de s J"^ S ° mit " ebst dem erotischen in hoh -
«M ' «ich den Sinn der Bestrafung.
Iy«tehe?Fot h aber i^ dIe Bisherigen Er ^ bnis " d " P#«-
wüßt« ie!l T -t 7 emen Zweife ' darÜber ' daß ™« "nbe-
Se de 8 k / f" d ' e u Mensche " verhängte Leid als eine tra-
faßt und al! r[ UDS , UnaWndbar ™* -* Gehende Schuld er-
»nd .eichen 1 T""' 2+ " * ™ hrlidl keine ™ fä »^
und S T *",,' V " mehr Cine ^««ordentlich inhalts-
des Er H T R f d ? Wendun S' w enn wir von all dem Leid
*« Erdenwallens gewöhnlich als von Schicksal s c h 1 ä g e n und
von d em v 0m Leid Betroffenen als vom Schicksal Geschlage-
^ Z Li S r e - " ei ;- Und dieS nicht nur «** «"« »
sttlut .' S*." Vlele " anderen Sprachen ist mit d « Vor-
Ä ve ES ^ ^T nt d « Schla *™ ™ hr ° d « --der
S PortuI f \ en f'\ Ch heißt " *"*«« ° d « **** o/
Ä IS ' ', 8 ^ be aUCh Spanisch ' bezdchn « «■«" « <*
Sfsche% ,°' P J ° lmSCh C "" y - Ukra;nisch ■*» J» *°8« die fran-
zosische Sprache, deren Grazie und Eleganz nicht zuletzt der von
>hr geprägten Devise zu dienen scheint: U lang«,: est dlZ *
strichen ist. ~ ^ K ° rpen S0 deutlich «««"
totbJirV" nU " -T h aUedem n ° Ch darauf v^isen, daß
enl H ? u t3S,e S ' Ch im Hinblick auf »" Vorstadium als
Moit S,en Iden f zi " U ^en darstellt, so glauben wir dam
dielfzuri- U ied ° Ch f WShr WCrden> daß ' so »"^kräftig auch
Cirtn" f M i deidS aUf die S *l^e P hantasie fü r
leid „ n !Vw.. d " Frendsch « 1 Aufstellungen über das Mit
l«d, „amhch für den Identifizierungscharakter ist, so sehr s«zt
39
er uns in einen kontradiktorischen Widerspruch mit einem
anderen, sehr essentiellen Teil seiner Behauptung. Denn, wo
doch Freud so nachdrücklich die Auffassung vertritt, das Mit-
leid sei keine Verwandlung des Sadismus in sein Gegenteil, führte
der Weg unserer Untersuchung zum ganz entgegengesetzten Er-
gebnis, nämlich: genau so wie die hier herangezogene Schlage-
phantasie sei auch das Mitleid nichts anderes, als eine ausge-
sprochene und reine Äußerung des m a so c h is t isch e n
Triebes. 1
II
Das Befremden über dies so widerspruchsvolle Ergebnis dürfte
wesentlich gemildert werden, wenn ich vorgreifend hervorhebe,
daß die soeben besprochene Genese des Mitleids keine allgemein
gültige und ausschließliche ist, vielmehr bloß einen Typus des
Mitleidsaffektes darstellt, und daß es daneben noch einen zwei
4) Als sprechender Beleg für diese hier entwickelte Auffassung des Mitleids als Identifi-
zierung auf Grundlage der Schlagephantasic, diene die nachstehende Episode, entnomn „
Z*)7 V ° Luxemburg aus dem Breslauer Gefängnis an eine Freundin
^J*Ll '^ So f Schka > ich habe hier <*»«* "*>*rfcn Schmerz erlebt: auf dem Hof
n !Tr mmen oft Wagen vom Mm *> v ° u b *p»*' «* «*•
NeuUch kam so em Wagen, bespannt, statt mit Pferden, mit Büffeln I^A*
genauere Beschreibung der Tiere.] "■**•« • . . It-olgt
Vor -einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren, die Last war
SO hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht über die Schnelle bei der ToreLl'
konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, mit dem dicken E nd
des Peitschenstieles loszuschlagen . . . Die Tiere zogen schließlich an und kam/
über den Berg, aber eines blutete. Sonitsdika, die Büffelhaut ist sprichwörtlich "*
Dicke und Zähigkeit, und die war zerrissen. Die Tiere standen dann im Ablud"
ganz still, erschöpft, und eins, das, welches blutete, schaute dabei vor sicli hin m"
einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen w'i
ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraf]
worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nidn weiß, wie es der Qual und der
rohen Gewalt entgehen soll.
. . . ich stand davor und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter
- es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzUder*
zucken, als ich in meiner Ohnmadn um dieses stille Leid zuckte.
... Oh, mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier, beide
so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehn-
sucht . . ." [Letztere Hervorhebung von mir.]
40
ten Mitleidstypus gibt, dessen Entstehung ein ungleich kompli-
zierterer Mechanismus zugrunde liegt; und der insoferne einen
vollen Gegensatz zu dem besprochenen darstellt, daß an ihm nicht
die Identifizierung, sondern eine volle Objektbeziehung das We-
sentliche ist.
Dies sollen die nachstehenden zwei, sozusagen klinischen Fälle
der Mitleidsgenese, illustrieren, von denen jedoch bloß der eine
der eigenen Beobachtung entstammt, der andere aber der klassi-
schen psychoanalytischen Literatur entlehnt ist.
Es handelt sich um einen Patienten, bei dem neben einer
passiv-femininen Einstellung auch eine sehr intensive Identifizie-
rung mit dem Vater bestand. Im Laufe der Analyse erkrankte
der Vater an einem Nabelbruch und wurde zwecks Vornahme
einer Radikaloperation in ein Sanatorium überführt. Am Tage
der Operation stellt sich beim Sohn das sichere Gefühl ein,
der Vater sei aus der Narkose nicht erwacht, sondern sei ge-
storben, welches Gefühl sich auch auf eine Unterlassung der Mutter
stützt, die ihn vom Erwachen aus der Narkose hätte rechtzeitig
verständigen sollen. Patient weint, ist untröstlich; entschließt sich
endlich im Sanatorium anzufragen, wobei er sich zuerst als
„Häuptling" vorstellen will, um sich dann „Haupt" zu nennen.
(In Wirklichkeit hat er einen ganz anderen Namen.) Vom Tage
der Überführung des Vaters ins Sanatorium und durch die ganze
Zeit seines Aufenthaltes dort, leidet Patient an intensivster Obsti-
pation, gegen die sich die zahlreichen von ihm verwendeten Ab-
führmittel wirkungslos erweisen. In der ersten Nacht nach der
Operation träumt er nun: er liegt am Diwan, der quer vor den
Elternbetten steht (in Wirklichkeit schlief er in dieser wie in den
nachfolgenden Nächten im Bette des Vaters). Auf einmal steht
der Vater auf, wirft die Decke über die Bettkante, so daß sie auf
den Patienten fällt; er erwacht im Traume, setzt sich auf, sieht
den Vater in der Unterhose dastehen mit einem schmerzverzerrten
Gesicht, als ob er infolge von Abführmitteln Bauchschmerzen hätte
(in Wirklichkeit nahm der Patient solche), empfindet mit dem
Vater Mitleid und sagt zu ihm: Warum gehst du nicht hinaus f
Die Identifizierung mit dem Vater (die Bauchschmerzen, die
auf ihn fallende Decke des Vaters, das Sich-als-„Haupt << -Bezeich-
41
=
■
I
nen) drückt dieser Traum ebenso deutlich aus, wie den starken
Wunsch, diese Identifizierung aufzuheben (das Evidenzgefühl vom
Tode des Vaters, das Schlafen im Traume nicht im Bette des
Vaters im Gegensatz zur Wirklichkeit, „Häuptling", endlich der
deutliche Appell an den Vater: warum gehst du nicht hinaus, im
Sinne des Wunsches den Vater als Kot auszuscheiden). Dies wird
übrigens durch den Traum der folgenden Nacht gesichert: „ich
bin der Sohn Goethes, habe dabei ein göttliches Gefühl" Hiezu
fällt ihm beim Erwachen sofort ein, daß Herder Goethe fol-
gendermaßen apostrophiert hat: „Ob du von Gothen, Göttern oder
vom Kothe stammst," worauf er wieder einschläft und träumt,
er spreche mit August von Goethe, dem Sohne.
Womöglich noch plastischer ergibt sich der hier behauptete
Sachverhalt aus Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose
(Ges. Sehr., VIII). Das Kind hat, wie erinnerlich, mit dreiein-
viertel Jahren eine Verführung seitens der älteren Schwester er-
litten, wies als Folge derselben eine Charakterveränderung auf;
vom vierten Geburtstage an trat als Folge und Abwehr eines ho-
mosexuellen Wunschtraumes eine Wolfsphobie auf, zu der sich ein
halbes Jahr später eine bis zum ungefähr zehnten Lebensjahre an-
haltende Zwangsneurose gesellte. Die hauptsächlichsten Symptome,
zumal der „Schlimmheit" und der Phobie, waren um intensivste
Kastrationsangst zentriert. Diese aber war Folge von Drohungen
und Abmahnungen, die das Kind bei seinen sexuellen Vorstößen
seitens dreier weiblicher Pflegepersonen über sich hatte ergehen
lassen müssen, — und fand eine starke Beglaubigung in den Wahr-
nehmungen, die das eineinhalbjährige Kind bei der Beobachtung
des elterlichen Koitus a tergo gemacht hat. Die lückenlose Deutung
des Angsttraumes, der den Ausbruch der Phobie unmittelbar vor
seinem vierten Geburtstage zur Folge hatte, hat ja das Vorhanden-
sein dieser Vorstellung vom Beischlaf der Eltern nicht allein aur-
gedeckt, sondern auch erwiesen, daß der Sinn dieser Situation
damals im vierten Lebensjahre, bereits voll erfaßt wurde.
Eines der auffälligsten Symptome nun der späteren Zwangsneu
rose des Kindes bestand darin, daß es beim Anblick von Kruppe
Bettlern, alten häßlichen und erbarmungswürdigen Leuten
intensiv ausatmen mußte; das Kind deutete diesen Zwang
4*
dahin, es tue dies, um nicht zu werden wie diese. Zunächst wurde
in der Analyse das Symptom auf den Anblick des in einem Sana-
torium wegen einer Erkrankung befindlichen Vaters zurückge-
führt, der schlecht aussah und dem Kranken sehr leid tat. Doch
tauchten im weiteren Verlaufe der Analyse noch aus einer viel
früheren Zeit Erinnerungen an solche vom kleinen Kinde bemit-
leidete Leute auf, deren Anblick es zum Ausatmen zwang: an
einen wahrscheinlich taubstummen Taglöhner, von dem die Sage
ging, man habe ihm die Zunge abgeschnitten, an Diener, die kränk-
lich oder Juden waren. „Dann wandte sich", schreibt F r e u d,
»die Analyse plötzlich im Anschluß an einen Traum in die Vorzeit
zurück und ließ ihn die Behauptung aufstellen, daß er bei dem
Koitus der Urszene das Verschwinden des Penis beobachtet und
den Vater darum bemitleidet . . . habe." Und an einer anderen
Stelle, daß der Vater ihm auch als ein Kastrierter galt und als
solcher sein Mitleid herausforderte.
*
Als psychologische Ausbeute ergibt sich aus diesen beiden Fällen
vor allem die imperative Tendenz, die vorhandene Identifizierung
aufzuheben, sich vom introjizierten Objekt zu trennen und das-
selbe zu distanzieren, indem man es ausscheidet; bei meinem Pa-
tienten durch den Darm, bei dem Freuds auf dem Wege der
Ausatmung. Und in beiden Fällen sehen wir nunmehr an Stelle
der so aufgehobenen Gemeinsamkeit, gleichsam als Ersatz
für die gelöste Identifizierung, Mitleid auftreten. Es geht somit
hier tatsächlich haargenau so zu, wie in einer zumindest in Wien
sehr verbreiteten Anekdote. Darnach ruft ein judischer Bankier,
den ein armer Mann mit bewegten Worten um Hilfe m seiner
Not angeht, seinen Angestellten zu: Werft ihn hmaus, - er
bricht mir das Herz! «Li--,
Das Verständnis, wieso es hier zur Mitle.dsentwklung kommt,
können wir am leichtesten gewinnen, wenn wir d.e hier stattfin-
dende Aufhebung der Identifizierung emer näheren Besprechung
unterziehen. Vor allem sei hier mit allem Nachdruck darauf ver-
wiesen, daß als ihr Motiv in beiden Fällen d.e Kastrat , on s-
angst gleichsam in die Augen springt.
43
Der innige Zusammenhang zwischen Furcht und Mitleid, die
integrierende Bedeutung der ersteren für die Genese des Mitleids
-- dies wurde, wenn auch natürlich in einer ganz anderen Rela-
tion und Ableitung als die unserige, von der philosophischen For-
schung seit altersher angenommen, ja, nachdrücklichst hervorge-
hoben. So nimmt schon z. B. der französische Philosoph des XVI.
Jahrhunderts, Charron, unter anderen Entstehungsmodi des
Mitleids auch den an, „daß wir bei uns selbst" („en nous-memes")
das fürchten, was jenem zugestoßen ist. Hobbes und H c 1-
v e t i u s führen die Furcht vor e i g e n e m Leiden in der Zukunft
als das Motiv an, die die Mitleid genannte Unlust in uns erweckt.
Auch Rousseau meint: „U Imagination renforgant la Sensation
m'identifie avec l'etre souffrant et me donne souvent plus d'an-
goisse, qu'il en sent lui-meme."
Kein Denker von Rang hat indessen mit einem derartigen Nach-
druck auf den Zusammenhang zwischen Furcht und Mitleid hin-
gewiesen wie Aristoteles. Sowohl in seiner Poetik, ganz be-
sonders aber in seiner Rhetorik, wo es ausdrücklich heißt: All das
sex uns fürchterlich, was, wenn es einem Anderen begegnet wäre
oder begegnen sollte, Mitleid erwecken würde.
Bekanntlich hat Lessing in seiner Hamburgischen Drama-
turgie diese Stelle der Rhetorik zur Interpretation des aristote-
lischen Begriffes der Katharsis herangezogen. Wir lesen bei ihm-
„Seine (des Aristoteles) Furcht ist durchaus nicht die Furcht'
welche uns das bevorstehende Übel eines Anderen für diesen
Anderen erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer
Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt- es
ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diesen verhängt
sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der be-
mitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese
Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid." Und weiter: „Daß der
Stagirit dem Mitleid hier die Furcht, nur die Furcht und keine
andere Leidenschaft, beigesellt hat, auch dies geht klar aus dessen
Auffassung vom Mitleid hervor. Er glaubte nämlich, daß das Übel,
welches Gegenstand unseres Mitleids werden sollte, notwendig von
der Beschaffenheit sein müsse, daß wir es auch für uns selbst oder
für einen von den Unserigen zu befürchten hätten. Wo diese Furcht
44
nicht sei, könne auch kein Mitleiden stattfinden/« An einer anderen
Melle: „Diese Furcht . . ., daß unser Schicksal gar leicht dem
scinigen ebenso ähnlich werden könne,... diese Furcht
sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife
bringt." Und weiters daß: „nichts unser Mitleid erregt, als was
zugleich unsere Furcht erwecken kann." Derart ist, Le s s i n g zu-
folge, im Sinne von Aristoteles, „die Furcht ein notwendiges In-
grediens des Mitleids". In der Fortsetzung seiner Polemik meint
L es sing weiter, aus der Grundauffassung des großen Philo-
sophen gehe Ja klar hervor, daß . . . „sobald (dergleichen Hand-
lungen der Tragödie) unser Mitleid zu erwecken fähig wären,
müßten sie auch Furcht für uns erwecken; oder vielmehr nur
durch diese Furcht erweckten sie Mitleid".
Die oben nachgewiesene Kastrationsangst -ist hier
ihrem Wesen und ihrer Funktion nach gleichsam der Antagonist
der der Identifizierung zugrunde liegenden Schlagephantasie, die
ihr voll entgegenwirkende Kraft. An und für sich schon Ausdruck
des zähen Festhaltens an der Genitalstufe, zeigt sie uns in ihrer
Auswirkung, dem Bestreben die Gemeinsamkeit mit dem Leidenden
aufzuheben, daß das Mitleidsobjekt die Regression, wie sie beim
Objekt stattgefunden hat, nicht mitmachen will, und damit das
Schuldgefühl und die Bestrafung aufs entschiedenste ablehnt. Dem-
zufolge wird hier das durch die anfängliche Identifizierung
provozierte passagere Rückfluten der Libido durch eine Progression
zur genitalen Stufe rückgängig gemacht und nunmehr an letzterer
unverrückt festgehalten: Wie prägnant und plastisch schildert
doch diesen Sachverhalt Nietzsche: „Zunächst Nachbilden
eines fremden Schmerzes. Darauf muß eine Reaktion erfolgen . . .,
gewaltsam sich — aus dem Sinne — schlagen, davonlaufen."
Allem Anschein nach ist somit der Sinn dieser Gemeinsam-
keitstrennung die Wiederherstellung des ursprünglichen Inhalts
der Phantasie; auf die knappe F r e u d sehe Formel gebracht:
„Nein, nicht geschlagen will ich werden wie jener vom Vater,
sondern geliebt will ich von ihm werden." Nicht wie jenen möge
das zur dunklen Schicksalsmacht ausgebaute Uber-Ich mein Ich
züchtigen, sondern es lieben und ihm hilfreich beistehen! Damit
ist der Kern der Mitleidseinstellung formuliert.
45
»
I
Zwei Fälle des „Mitleids mit sich selbst" sind es, die
ich zur Stütze für diese Auffassung anführen will.
Der erste betrifft einen Zwangsneurotiker eigener Beobachtungi
dem das Schicksal wiederholte und stets recht schwere Prüfungen
auferlegt hat. Auf der Höhe seiner seelischen Bedrängnis pflegte er
sich öfters vor den Spiegel zu stellen und sein Gesicht zärtlich mit
den Worten zu streicheln: „Ach, was bist du für ein armes, armes
Kerlchen." Das zweite Beispiel entnehme ich einer Mitteilung von
Anna Freud im Kreise der Wiener Psychoanalytischen Ver-
einigung, wonach im Falle einer zyklischen Melancholie die jedes-
malige Besserung durch den Zustand eines Sich-selbst-Bemitleidens
eingeleitet wurde. Wenn auch weniger beredt als der erste, so
erscheint mir dieser Fall dennoch in dem von mir behaupteten
Sinne gut verwendbar, mit Rücksicht auf die sonst sonderbare
Vergesellschaftung: des grausamen Uber-Ich des Melancholischen
und der für die Genese dieses Leidens so bedeutsamen introjek-
tiven Identifizierung, mit dem die Restitution einleitenden Mitleid
mit sich selbst.
Dieser bei der Wahrnehmung des Leids eines Anderen in der
Seele des Bemitleidenden rege gewordene Wunsch seines Ichs,
vom Uber-Ich liebevoll und gütig behandelt zu werden, wird nun
auf den Leidenden projiziert; er gelangt derart gleichsam zur
Verwirklichung, indem nunmehr der Leidende völlig in das Ver-
hältnis eines Objektes zum Bemitleidenden gerät und von ihm so
behandelt wird, wie das Mitleidssubjekt sein Ich vom Uber-Ich
behandelt wissen möchte. Wobei nicht unerwähnt bleiben mag»
daß diese Projektion, diese Ersetzung des Ich durch das Du, hier
wesentlich begünstigt wird durch den Umstand, daß, wie wir e s
den Beispielen des „Mitleids mit sich selbst" entnehmen können»
die Spannung zwischen Uber-Ich und Ich bis zu so weit gehendem
Abrücken vom Ich zu führen vermag, daß das Ich dadurch ohne-
hin gleichsam in das Verhältnis des Nicht- Ich, des Du, gegenüber
dem Ichideal gerät.
Dies mag ja letzten Endes das innerste Wesen des hervorg
hobenen Wunsches des Ich ausmachen, daß es diese^ s P ann ^
beseitigt und sich in völliger Einheitlichkeit und Einheit mit c
Über-Ich wissen möchte. Vielleicht ist darnach die metaphysisc
*
4 6
Erklärung Schopenhauers: Das Mitleid sei möglich, nur
weil die Vielheit (individuatio) bloß scheinbar, nur eine Täuschung
ist, das Ding an sich aber nur Eines und identisches Wesen,
— nichts anderes als bloße metaphysische Verkleidung dieses
Wunsches des Ich nach Wiederherstellung der durch das Schuld-
gefühl gestörten Einheit.
Obigen Ausführungen zufolge ist somit das rätselhafte Phäno-
men des Mitleids im Grunde unser eigener, auf die von uns
erwünschte Weise erledigter Konflikt, — am Anderen zum Aus-
druck gebracht. Es stimmt sehr gut dazu, was wir bei E. von
Hartmann lesen: „Das Mitleid bietet eine Täuschung dar;
wir empfinden ein Gefühl, das nirgends anders als in unserer Seele
existiert; wir denken aber nicht an dieses unser eigenes Ge-
fühl, sondern an dasjenige, welches unser Mitgefühl erweckt; so
bilden wir uns ein, gleichsam in fremder Seele zu fühlen."
Ähnlich Nietzsche: „Mitleiden ist daher immer unser Leiden,
von dem der Leidende selbst frei ist; es ist uns zu eigen, wie ihm
das seinige. Nur das eigene Leiden ist es, das wir abtun wollen
durch die Tat des Mitleids."
Ifl
Zwei psychologisch außerordentlich von einander unterschiedene
Spielarten hat demnach die Untersuchung herausgehoben, von
denen die eine eine pure Identifizierung ist, die andere aber sich
als eine volle Objektbesetzung darstellt, wo nicht, wie bei der
ersten, das Subjekt und Objekt ineinander verschwimmen, wo
vielmehr ganz im Sinne von Rousseau und Schopen-
hauer, aber auch des Phänomenologen Scheler, der die
„phänomenale Ichdistanz" zur Voraussetzung des Mitleids macht,
zwischen Subjekt und Objekt eine scharfe Distanz besteht, wo
dem Ich ein betontes Du gegenübersteht. 5
S) Orelli zufolge forderte schon die Stoa eine Trennung zwischen Subjekt und
dem Gegenstand seines Mitleids. Von den Neueren verlangt auch z. B. Her bar t und
nach ihm 2i 11 er für das echte Mitleid diese Trennung zwischen Subjekt undObjekt.
Auch Rothe meint, nur im wei chli ch en Mitleid dürfte das „Ich" und das „Du" ver-
schwimmen. Indessen: In jedem unmittelbar gefühlten Mitleid wird aber wen.gstens für
Augenblicke diese Trennung verschwinden müssen.
47
Wenn auch bloß vereinzelte, so gab es dennoch Forscher, welche
diese Tatsache, daß das Mitleid gleichsam in zwei Varietäten auf-
tritt, irgendwie erkannt haben. So meint schon Charron : „il
y a double misericorde," die er schon dem Ursprung nach unter-
scheidet; es entstehe entweder „par un secret consentement" oder
dadurch daß wir bei uns selbst das fürchten, was jenem zugestoßen
ist. Das eine ist dumm, weibisch, leidenschaftlich, aus Schlaffheit
und Schwäche (mollesse) hervorgehend; das andere, aus Wille und
Tatkraft stammend, ist tapfer, gut, tugendhaft, dem Bedrängten
hilfeleistend.
Auch bei Hegel: „Wie die Furcht, hat auch das Mitleid
zweierlei Gegenstände." Der erste ist die gewöhnliche Rührung mit
dem Leiden anderer, die er als Eigenschaft „kleinstädtischer
Weiber" bezeichnet; das andere, das „wahrhafte Mitleiden", die
Sympathie mit der zugleich sittlichen Berechtigung des Leidenden.
Aber überdies scheint mir diese Tatsache auch darin zum Aus-
druck zu kommen, daß von den anderen Untersuchern dem Mitleid
fast polar entgegengesetzte Eigenschaften zugesprochen werden.
E. v. Hartmann hält es für eine durchaus passive Reak-
tion und für dasjenige Moralprinzip, welches unter allen am
meisten den passiven Charakter besitzt; somit kaum verwunderlich
daß es ihm als der „Sittlichkeitsstandpunkt weibischer Männer und
guter, aber unbedeutender Frauen ohne tieferen Fond" gilt.
Wobei in Kürze darauf verwiesen werden soll, daß wir der
nämlichen Charakterisierung des Mitleids als „weibliche Eigen-
schaft" sowohl in der Antike (z. B. P 1 a t o, die S t o a, bei
Seneca: infirmitas muliebris animi), wie auch bei den Denkern
des Mittelalters und der Übergangszeit vielfach begegnen
(Spinoza: muliebris misericordia, Mandeville, Hume,
Montaigne usw.). 6
Gegenüber dieser Ansicht vom Mitleid, wonach dasselbe durch
das ihm innewohnende Schmelzende, Lösende lähmend wirkt und
ein Hindernis für tätige Hilfe darstellt, somit ein Quietiv ist,
finden wir die schroff entgegengesetzte nicht minder zahlreich und
energisch vertreten; diese bezeichnet große Aktivität, Drang zur
6) Nach K. O r e 1 1 i : Die philosophische Auffassung des Mitleids.
4 8
■
Tätigkeit und Hilfeleistung, dem Mitleid als immanent, und erhebt
es dergestalt zu einem Motiv. So z. B. bei Fichte mit polemischer
Beziehung auf Kant: „Da kann nicht die Rede sein vom Spielen
anderer auf meiner Seele, dem ich passiv ausgeliefert bin";
Fichte hebt auch die Beteiligung des „handelnden Ich" und
dessen Tätigkeit am Mitleid hervor, wie ja vor ihm schon
P 1 a t n e r das Mitleid als „tätige Teilnahme" bezeichnet hat
und vor ihm, schon Jahrhunderte zurück, auch Thomas
d'A q u i n o und andere diese Ansicht vertraten.
Wir meinen, daß die hier angeführten kontradiktorischen Auf-
fassungen sich nunmehr, nach unserer analytischen Ableitung,
zwangslos kategorisieren und vereinigen lassen, worin wir zu-
gleich einen nicht zu unterschätzenden Beweis für die Richtigkeit
unserer Auffassung erblicken. Darnach sind die Ansichten über
das sogenannte „weibliche" Mitleid fraglos auf unseren erstbe-
sprochenen Typus, das Mitleid als Identifizierung, zu beziehen,
wogegen die anderen, „aktivistischen", unserem zweiten Typus,
dem reaktiv entstandenen Mitleid, fraglos zuzurechnen sind.
Denn wir wissen es ja, daß die Schlagephantasie die Grundlage
der hier stattfindenden Identifizierung, zugleich auch eine grund-
legende Äußerung des femininen Masochismus ist. Wissen aber nun-
mehr auch, daß das reaktive Mitleid sich durch die bedrohte nar-
zißtische Männlichkeit entwickelt und der zähen Verteidigung
derselben ihren Ursprung verdankt.
Somit scheint es kaum eine Vergewaltigung der Tatsachen zu
sein, wenn man die beiden Typen unter der Bezeichnung des
weiblichen und männlichen Mitleids voneinander unter-
scheidet und sie einander entgegenstellt.
Denn nach unseren Ausführungen ist es ja beim weiblichen Mit-
leid das masochistische, nach Strafe dürstende Ich, welches
derart Triebbefriedigung sucht und findet, so daß dieses Mitleid
nichts als Sexualbefriedigung ist. Ganz so wie Nietzsche es
auffaßte: „Sein (Schopenhauers) Mitleid ist die eigentliche
Perversitä t." Auf diese weibliche, aus Leidlust und Leid-
suche aufgekeimte Type ist somit das von den Autoren so viel-
fach hervorgehobene Merkmal des Mitleids einzuschränken, wo-
nach dasselbe, wiewohl sein Grundelement Unlust ist, dennoch auch
4 Almanach 1932
49
ein ausgesprochenes Lust-, ein hedonisches Element in sich t>ergcn
soll. Denn wenn der heilige Augustinus in seinen Konfessionen
meint, daß das Leiden zwar niemandem gefalle wohl aber das
Mitleiden, und er die Süßigkeit der Mitleidstränen rühmt, wenn
Sbaftcsbury das Mitleid derart erfreuend findet, daß das
depressive Moment in ihm zurücktritt, Rousseau wiederholt
betont, „la pitie est douce", Moses Mendelssohn ekstatisch
ausruft: „Welche Wollust muß sich aus der Quelle des Mitleids
ergießen", und Herbert Spencer von der „Wonne des Mitleids
spricht: ja, tönt uns da nicht ausgesprochen masochistische Leidlust
entgegen?
Dieses weibliche Mitleid ist es, von dem die Worte des unver-
gleichlich ahnenden Nietzsche gelten: „Und wie artig weiß
die Hündin Sinnlichkeit um ein Stück Geist zu betteln, wenn im
ein Stück Fleisch versagt wird. Ihr liebt Trauerspiele und alles,
was das Herz zerbricht? Aber ich bin mißtrauisch gegen eure
Hündin. Ihr habt mir zu grausame Augen und blickt lüstern nach
Leidenden. Hat sich nicht nur eure Wollust ver-
kleidet und heißt sich Mitleiden?"
Nichts von alledem beim männlichen Mitleid.
Das Ich sucht hier nicht nur nicht das Leid und schwelgt nicht
darin, aber es ist leidverneinend, ja, sogar leidfeindlich. Denn hier
und nur hier ist dem Ich der Drang zur Hilfeleistung immanent
und eigentümlich; durch die helfende Tat soll aber das Leid auf-
gehoben, es soll vertilgt werden.
Unbeschwert vom Schuldgefühl, frei vom Strafbedürfnis WO*
sich hier das Ich wissen; es wehrt diesen Triebanspruch des J»
energisch und auf mehrfache Art ab. Zunächst durch die Progres-
sion und durch Besetzung des Objektes mit narzißtischer, de *
sexualisierter Libido mit dem Ziele der Hilfeleistung.
Aber entsinnen wir uns doch, daß das Mitleid von so z ah
reichen Ethikern zu solch überragendem Moralprinzip erhol?
wurde. ..
Dann aber wird diese Untersuchung und ihr Ergebnis zum v0
gültigen Beleg und beredter Illustration der Freudschen Untc
Scheidung zwischen moralischem Masochismus und echter Mo
jener Unterscheidung, die den moralischen Masochismus als
jo
xualisierung der Moral vollkommen getrennt wissen will von der
echten Moral, die der Desexualisierung ihren Ursprung verdankt.
Nunmehr wissen wir aber auch, was, seiner so ausschließenden
Definition zur Folge, Freud als Mitleid und somit auch als
Moral gilt.
Es ist das männliche, tätige; jenes, dessen hier mühevoll ent-
wickelte Genese Nietzsche gleichfalls voll vorausahnte, als er
da „von den Mitleidigen" meinte:
„Mich selber bringe ich meiner Liebe dar und
meinen Nächsten gleich mir, so geht die Rede
aller Schaffenden."
Zur psychoanalytischen Kriminologie
Reik: Geständniszwdng und Strafbedürfnis. In
Ganzleinen Mark 10' —
„Die hochinteressante Arbeit eines tiefgründigen Denkers und scharfen
Beobachters" {österreühisdie Riditerzeitung)
Alexander und Staub: Der Verbrecher und seine
Richter. In Ganzleinen Mark 9' -
Ein Arzt und ein Anwalt haben eine Keule gegen die Richter ge-
schwungen, die nur deshalb nicht tödlich trifft, weil man die Gummi-
götzen verbrennen muß . . ." (Peter Panter in der . Weltbuhne' )
Marie Bonaparte: Der Fall Lefebvre. In Ganzleinen
Mark 3'80
Die Psychoanalyse einer Mörderin
Sonderheft „Kriminologie" der „Image" (heraus-
gegeben von Sigm. Freud. Preis Mark 6 -)
Mit Beitrag«, von Minder, Staub, Froaun, Bemfdd, Hau» u,w.
J 1
Edelnarzi^nnus
Von
Fritz Witteis
I) Einstein und Freud
Die Mathematiker haben ihr Haupt unter uns hoch er-
hoben und es gibt kaum eine aufregendere Lektüre als die
Mitteilung ihrer Ergebnisse. Seitdem die Psychologie die
Lehre vom „sinnerfüllten Leben" geworden ist, konnte
sie es nicht mehr zugeben, daß der denkende Mensch eine
durchaus auf Kausalität eingestellte Maschine sei. Die mathe-
matischen Physiker kommen nach und beweisen mit ihren
Zahlen, daß auch das Weltall keineswegs als Maschine er-
klärt werden kann, in welcher Folgerichtigkeit herrschte. Sie
finden eine gewisse Willkür in den Erscheinungen der Strah-
lung, die sich zwar mit den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit
berechnen, jedoch nicht im Sinne Newtons kausal darstellen
läßt. Das Universum war nicht immer, es ist vor Millionen
und Abermillionen Jahren einmal geschaffen worden. Damit
fällt auch die Ewigkeit des Zeitbegriffes. Die Zeit — so un-
faßbar das klingen mag — hat einmal angefangen und wird
auch nicht immer sein. Das zweite thermodynamische Prin-
zip macht es — wenigsten für viele leitende Mathematiker
wie Sir Arthur Eddington und Sir James Jeans — zur Gewi»"
heit, daß dieses Weltall mit Raum, Zeit und Kausalität ein-
mal aufhören muß zu sein. Dieser Raum des Weltalls, m
dem wir leben, ist nicht unendlich, das Weltall hat Grenzen
und es ist nicht einmal immer gleich groß, sondern es wächst
und wird immer größer. Die Annahme eines schöpferischen
5*
Prinzips, das außerhalb der Kantschen Denkformen steht
(Piatos Eros), ist unabweislich. Das Vorhandensein eines
zum Tode führenden Prinzipes ist so gut wie sicher. Die
Materie scheint durchaus aus Strahlung und Bewegung zu
bestehen, sie ist von einem mathematischen Gedanken erfüllt.
Der primitive Gedanke, daß die Welt von uns ähnlichen
Lebewesen geschaffen und gelenkt wurde, ist seit langem
abgetan. Der moderne Gedanke einer Maschinerie, der noch
zur Zeit des jungen Freud allgemein als die letzte Lösung
(Haeckels Welträtsel!) angesehen wurde, ist von der Mathe-
matik und ihrer Lichtlehre entthront. Das Weltall ist
nicht eine Maschine sondern ein mathematisches Programm.
Das Leben, das nur unter sehr begrenzten Temperatur-
bedingungen existieren kann, ist ein Zufall, der an das
KohlenstofTatom gebunden ist, das ist an einen Kern, um den
genau sechs Elektrone kreisen. Die Nachbarn in der Elemen-
tenreihe: Bor und Stickstoff unterscheiden sich vom
Kohlenstoffatom durch das Kreisen von fünf und sieben
Elektronen um ein Proton (einen Kern) anstatt der sechs
im Kohlenstoff. Dieses eine Elektron macht den für uns so
überwältigenden Unterschied zwischen belebter und unbe-
lebter Substanz aus. Die Natur zeigt ähnliche kapriziöse
Neigungen, wenn sie den Magnetismus an das Eisen mit
seinen Nachbarn Nickel und Kobalt knüpft (26-28 Ekk-
tronen) und die Radioaktivität an 83-92 Elektronen. Der
Mathematiker sieht im Vorhandensein des Lebens nur eine
der vielen schöpferischen und vorübergehenden Launen der
Natur. Ich entnehme diese Ausführungen dem Buche „The
Mysterious Universe" von Sir James Jeans. Die Mathematik,
sagt dieser große Gelehrte, ist im Gehirne des Menschen ent-
standen, zunächst unabhängig und ohne Anwendung auf
53
Physik, Chemie und Astronomie. Dieses theoretische Ge-
bilde schien also zunächst eine Art Spielerei eines winzigen
Lebewesens zu sein, das auf dem Bruchstück eines Sandkorns
existiert. Durch irgend eine andere Laune der Natur ist
unsere Erde von der Sonne losgebrochen worden. Launische
Schöpfung überall, jedoch Schöpfung eines ungeheueren
Mathematikers. Was die biologische (anthropomorphe) Theo-
rie und die Maschinentheorie nicht erklären konnten, das
ist nun durch die Mathematiker klar geworden, alles stimmt,
alles wird erklärt, wenn man es dem Rechenstifte des Mathe-
matikers übergibt.
Es ist ein großartiger Gedanke für uns, seit Kopernikus
in einem letzten "Winkel des Weltalls für kurze Zeit einge-
mietete Menschen, daß unser Geist in seinem mathematischen
Können dem Geiste des Weltschöpfers gleicht, und wir
wollen nur hoffen, daß es eine Zeit lang dabei bleibt. Wir
Nicht-Mathematiker müssen den Mathematikern ohnehin
alles aufs Wort glauben, was sie sagen, und wir nehmen das
Antlitz eines Einstein, sein ruhiges Lächeln als Beweis. Sie
sagen, Mathematik erklärt alles. Wir, von der „verstehenden
Psychologie" sagen dagegen: Mathematik erklärt nichts, kann
nichts erklären. Daß unser Leben an die sechs Elektrone des
Kohlenstoffs gebunden ist, kann zum Verständnis des
Lebens nichts beitragen. Die Billionen Lichtjahre machen uns
nicht warm. Gerade dort, wo die Astronomen das schöp-
ferische Prinzip im Größten des Weltalls und im Kleinsten
des Wasserstoffatoms erklären sollen, dort versagen sie und
verweisen auf Metaphysik und Religion. Was nützt es uns,
wenn sie uns sagen, wie viele Billionen Elektronen nebenein-
ander gelegt werden müssen, um die Länge eines Zolles z u
erreichen?
II I
k^
54
Somit kehren wir nach vorübergehender Trunkenheit
von dem astronomischen Turme auf Mount Wilson, Kali-
fornien, wieder zu unserer Psychoanalyse zurück. Ich
könnte mir einen Diener der Kirche vorstellen, der über
die Feststellung der Mathematiker, daß ein Schöpfer das
Licht geschaffen haben müsse, gar nicht besonders erschüt-
tert ist. Diese Herren von der Wissenschaft! Noch gestern
haben sie erklärt, der Mensch sei eine Maschine, heute sagen sie,
daß man einen Schöpfer annehmen müsse, was werden sie
morgen sagen? Wer seine Überzeugung aus religiösen Quellen
bezieht, braucht sich um die wissenschaftlichen Moden nicht
zu kümmern. Ebensowenig wie der Priester braucht sich die
junge Psychoanalyse um die uralte, neuerdings so wunderbar
verjüngte mathematische Physik zu kümmern. Zwar sieht
man merkwürdige Übereinstimmungen zwischen dem Kor-
per-Seelc-Problem und den modernen Theorien über Materie
und Strahlung. Diese Übereinstimmungen führen aber zu
keinem tieferen Verständnis des bio-psycholo gl schen Ratseis.
Noch viel merkwürdiger sind die Übereinstimmungen
zwischen dem Universum und Freuds Es. Wir haben ja
gesehen oder zu sehen versucht, daß Zeit, Raum und Kausa-
lität im Es (im Primärvorgang) nicht existieren, daß sie schon
im magischen Denken primitiver Völker eine auffallend
geringe Rolle spielen. Die Mathematik freilich scheint de
schwache Punkt' im Es zu sein. Es weiß nichts von ^d
und Ungerade, es ist ihm gleichgültig, ob zwei mal zwei v e
oder fünf ist. Noch Kinder und M^ -£ ^f
Stück dieses Schwachsinnes. Da Mathematik W jto J£
danklichen Gebilden das zwingendste ist und ogar noch
die unberechenbare Laune (Plancks Konstante h) m* hrer
Wahrscheinlichkeitsberechnung zwingt, müssen wir sie
55
das edelste Produkt des Zwangsmechanismus — zum Sekun-
därvorgang zählen.
Freud hält den Sekundärvorgang für die Hülle, mit
mit der das Es sich umgibt, um die Außenwelt zu
begreifen und abzuwehren. Ich finde für mich selbst bei
geringer mathematischer Begabung keine zwingende Not-
wendigkeit, den Nebel in Coma Berenices, der 50 Millionen
Lichtjahre von uns entfernt ist, zu begreifen oder abzu-
wehren. Was also Zeit und Relativität mathematisch sei,
das zu ergründen muß ich anderen überlassen. Einstein lehrt,
daß der endlos vorwärts fließende Lauf der Zeit als solcher
nicht bewiesen werden kann. Er könnte ebenso gut nach rück-
wärts fließen. Das post hoc ist für die Relativitätstheorie
eine Illusion. Freud hat die Meinung ausgesprochen, daß Zeit
eine durch Aufschub schützende Einrichtung sei. Um nicht
von den Eindrücken überwältigt zu werden, bringen wir sie
in zeitliche Reihenfolge. In Träumen und neurotischen
Symptomen beobachten wir häufig die Umkehrung der Zeit.
Bekannt ist der Traum Maurys (von Freud mitgeteilt): Er
träumte von der Schreckensherrschaft zur Zeit der Revolu-
tion, machte greuliche Mordszenen mit und wurde dann end-
lich selbst vor den Gerichtshof zitiert. Dort sah er Robes-
pierre, Marat, Fouquier-Tinville und alle die Helden jener
Epoche, stand ihnen Rede, wurde nach allerlei Zwischen-
fällen verurteilt und dann, von einer unübersehbaren
Menge begleitet, auf den Richtplatz geführt. Er steigt aufs
Schafott, der Scharfrichter bindet ihn aufs Brett; es kippt
um; das Messer fällt herab; er fühlt, wie sein Haupt vom
Rumpfe getrennt wird, wacht in der entsetzlichsten Angst
auf — und findet, daß der Bettaufsatz herabgefallen war
J6
!
und seine Halswirbel, wirklich ähnlich wie das Messer einer
Guillotine, getroffen hatte.
Die Zeit läuft in diesem Traume umgekehrt ab, wie (im
Kino) manchmal die Speichen schnell rollender Räder. Eine
ähnliche Umkehrung der Zeit beobachtete Freud bei der
Deutung zwangsneurotischer Symptome. Man braucht nur
ein Weniges in das System des Unbewußten zu tauchen und
schon verwirren sich die logischen Begriffe. Freuds
(Nietzsches) Verbrecher aus Schuldgefühl gibt uns eine
Ahnung von dieser umgekehrten Dialektik. Die Umkehrung
des Zeitbegriffes, die Umkehrung von Ursache und Wirkung
sind aber die geringere Leistung, wenn man die vollkommene
Annullierung der Zeit betrachtet, wie sie für den Primärvor-
gang nachgewiesen ist. Wie in der mathematischen Physik
bleibt auch im Es nichts anderes übrig als die Welle
mit ihrem ewigen Hin und Her, der ewigen Wiederkehr
des Gleichen. Die Psychoanalyse sieht in der Libido die
schöpferische, aufbauende Energie und hat sie in ihren
psychologischen Gestalten beschrieben. Die mathematische
Physik kann diese Energie vorläufig nicht brauchen. Sie ist
noch nicht meßbar, obgleich in absehbarer Zeit der Charak-
ter eines Menschen vielleicht in Libidoprozenten angegeben
werden kann: so viel Prozent Narzißmus, so viel Homo-,
so viel Heterosexualität, Sadismus und so weiter. Unsere
Terminologie, die von einer Besetzung mit Libido spricht,
setzt ein Vehikel voraus, das sich von der Libido besetzen
läßt: Objekte, die dem Begriffe des Äthers entsprechen, der
von der modernen Physik abgeschafft worden ist. Falls auch
unser psychisches Geschehen reine Strahlung der Libido ist,
wie das des Weltalls Lichtstrahlung, wäre hier neuerlich eine
Verführung zum Monismus gegeben.
57
II) Verwundeter Narzißmus
Im Ganzen scheint mir ein Vergleich zwischen Psycho-
analyse und Astronomie unfruchtbar. Die Mathematiker
können uns und wir sie — vorläufig — nicht verwenden.
Das übergroße Interesse an den Gesetzen des Himmels und
der Sternenwelt ist der Psychoanalyse verdächtig wie jede
Übertreibung. Ich behandelte eine Patientin, die wegen
zwanghafter Störungen ihr Leben so ziemlich verfehlt hatte.
Sie hielt begeisterte Reden über Einstein. „Verstehen Sie ihn
denn?" — Sie verstand seine Theorien nicht im geringsten.
„Warum bewundern Sie ihn dann?" — „O", erwiderte sie
mit einer verzückten Handbewegung, „er macht mich so
frei!" Einstein hat Lehren, an die man seit Newton, ja seit
Euklid fest geglaubt hat, erschüttert, teilweise vernichtet.
Er ist der Riese, der die Drachen der Zwangsneurotiker
Du mußt und Ist es so? tötet, er ist anbetungswürdig.
Seine Präzision und mathematische Beweiskraft kann die
Menge nicht beurteilen. Aber er ist der große erfolgreiche
Zweifler unter den erfolglosen, den Neurotikern.
Es spricht für die Weisheit Einsteins, daß er in seiner
Adresse an die amerikanische Nation eine gerechte
Verteilung der Güter für das Hauptproblem der
Zeit erklärt. Er fand anläßlich seines Besuches in Amerika
auch starke Worte zu Gunsten des Pazifismus. Er weiß,
daß die Menge, die ihn umbrandet, ganz andere Sorgen hat,
als die Geheimnisse des Weltalls zu ergründen, und eben
wegen dieser unlösbaren Sorgen jede Gelegenheit gierig er-
greift, um wegzuschauen. Die Psychoanalyse nennt das:
Gegenbesetzung. Statt sich am mathematischen Gepränge
zu berauschen, soll man lieber einen anderen Hauptzug
58
unserer Zeit beachten. Es wird dem sozialen Gewissen immer
unerträglicher, daß so viele Menschen Not leiden. Die
mathematische Physik gibt uns ein trügerisches Freiheits-
gefühl. Auch die moderne Technik gibt uns Freiheits-
gefühl, wenn sie den Widerstand des Raumes überwindet.
Nun sollen Wissenschaft und Technik noch einen Schritt
weiter gehen und machen, daß wir alle diese Errungen-
schaften auch bezahlen können, wenigstens unseres täglichen
Brotes sicher werden, wenn wir schon nicht alle über den
Ozean fliegen, schwimmen, telephonieren können. Daß die
Verteilung der Güter so unerträglich ungerecht und grau-
sam ist, geht — psychoanalytisch gesehen — auf den Sadis-
mus der einen und den Masochismus der anderen zurück.
Unser Narzißmus hat das Ich geschaffen, nun will sich das
Ich auch durchsetzen gegen die Gier der einen und die lust-
betonte Ergebenheit der anderen. Ohne Masochismus ist
Zivilisation kaum denkbar. Er muß aber nicht so weit
gehen, daß wir Hunger und Elend als dauernde Einrichtun-
gen anerkennen.
Jedes Zeitalter zeigt seine die Zeit kennzeichnende Form
und Spannung des Narzißmus. Auch der Wilde leidet, wenn
ihn hungert. Aber sein Leiden ist nicht verschärft durch
den narzißtischen Gedanken: das dürfte nicht so sein, das sei
gegen Menschenwürde und Menschenrecht. Die Libido des
primitiven Menschen kennt noch kein Ich in unserem Sinne.
Das Ich und sein Narzißmus will sein Recht. Die Forderung
ist heute so stark, daß sie auch gesicherte Existenzen ansteckt.
Gesichert zu sein wird immer mehr eine Verlegenheit, weil
so viele nicht Gesicherte um die wenigen Gesicherten herum-
stehen. Ob und wie man die ungesicherten Existenzen in
gesicherte verwandeln könnte, weiß die Psychoanalyse natür-
59
I I
!
lieh nicht. Aber sie weiß, was mit der als Narzißmus im Ich
investierten Libido geschieht, wenn sie ihre Befriedigung
nicht findet. Die Psychoanalyse hat diese Kenntnis an patho-
logischen Fällen erworben, an Formen und Graden von
Narzißmus, den keine denkbare Gemeinschaft befriedigen
kann. Wir sprechen aber hier vom normalen Narzißmus, das
ist von jener Menge Libido, die notwendig ist, um das kultu-
relle Ichgefühl zu schaffen und zu erhalten. Wenn man es
verwundet, dann zerfällt die Harmonie des Ichs und er-
scheint in Form der Teiltriebe, von denen Sadismus und
Masochismus am deutlichsten sichtbar sind. Wir können
unsere Frauen, unsere Brüder, unsere Kinder, unseren Beruf,
unsere Kunst nicht lieben, wenn wir aus narzißtischen
Gründen um unser Ich zu sehr besorgt sein müssen. Weit
davon entfernt, unsere Feinde zu lieben, hassen wir unsere
Freunde, Geliebte und uns selbst. Wir hören allenthalben,
daß der Weltkrieg uns sehr verwandelt habe. Ich glaube das
nicht. Der Weltkrieg war nur eine Erscheinungsform des
Zerstörungstriebes, der allgemeinen Wut, die in uns steckt
und immer auf die Gelegenheit lauert, loszubrechen. Wir
sind nicht durch den Weltkrieg brutaler geworden als vor-
her, sondern die Brutalität ist im neunzehnten Jahrhundert
durch die sozialen Verhältnisse immer höher gestiegen. Der
Weltkrieg zeigte den Zerstörungstrieb und seine Gewalt
anno 19 14— 191 8 wie in einem Barometer an. Die Brutalität
wächst weiter und wird uns bald wieder von ihrer unheim-
lichen Gewalt überzeugen. Man wird dann sagen, was man ja
schon heute voraus sagt, der Weltkrieg sei nur ein unbe-
deutendes Vorspiel gewesen.
Man spricht überhaupt zu viel vom Kriege und über-
schätzt seine Bedeutung als zerstörendes Element. Ein preußi-
60
scher General hat den Satz aufgestellt: „Der Krieg ist nur
eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln." Er hätte
auch sagen können: der Friede ist nur eine Fortsetzung des
Mordens mit anderen Mitteln. In den letzten fünfzig Jahren
sind allein durch den Stockfischfang Hunderttausende
Menschen zugrunde gegangen. Der Krieg ist eine Teil-
erscheinung im sozialen Getriebe und bei aller Gräßlichkeit
unparteiischer als der gemeine Hunger. Die Granaten haben
zwischen Aristokraten und Proletariern keinen grundlegen-
den Unterschied gemacht. Auch ist der Krieg e.n Ausnahme-
fall; der mörderische Friede ist die Regel. Der Arbeiter
wird im Durchschnitt nur vierzig Jahre alt, Tuberkulose,
Unterernährung, Sorge, Berufskrankheiten fallen **■
Statistiker haben berechnet, daß der Wirtschaftskampf des
letzten Jahrhunderts in Europa sechsunddreißig Milliarden
von menschlichen Lebensjahren verschlungen hat (nach
Nicolai, Biologie des Krieges). Da haben wir „astronomische
Zahlen auf Erden, und was sind die paar Millionen Knegs-
leichen dagegen?
Wenn nun alle diese Grausamkeit und Hilflosigkeit den
Narzißmus von Millionen und Abermillionen Menschen er-
bittert, so mag uns eine Ahnung aufsteigen, wie vie
Sadismus und Masochismus vorhanden sind und besagt
werden könnten, wenn es der Wissenschaf« gelang^ den
Zustand zu erreichen, daß alle gleichmäßig ihren Hunger
stillen können. , . , 7 •«.„„
Der Genius der Menschheit hat in ««^"^
auf verschiedene Arten versucht, seiner Unvollkommenhe
und seiner Angst Herr zu werden. In alten Ze.ten h e
sich bemüht, den Tod zu überwinden durch Je narzdksche
Idee von der Unsterblichkeit der Seele und dem ew.gen
61
Leben. Er hat in den Leistungen Mosis und der anderen
Religionsstifter übersinnliche Gewalten beschworen. Zu
anderen Zeiten hat er in Kunstwerken das Göttliche geformt.
Solche Zeiten sind nicht die unseren. Der Rausch des
Christentums, des brausenden Islams ist verraucht; der
Traum des griechischen Himmels, der Renaissance mit ihrem
letzten Ausläufer Goethe ist nahe von uns und doch schon
ferne von uns ausgeträumt. Wir dienen aber der ewigen Idee
nicht minder: wir dienen ihr heute in der Form der Wissen-
schaft und des technischen Aufschwungs. Wurde der
Christenmensch frei durch seinen Glauben, der Künstler
durch seine Schöpferkraft, so erreicht der Wissenschaftler
seine Freiheit durch Sicherheit. Sicherheit ist Freiheit. Der
wissenschaftliche Beweis, die wissenschaftliche Methode ist
sicher. Alles strebt im modernen Zeitalter nach Sicherheit.
Unsere Reisen vollziehen sich nicht nur mit größerer
Schnelligkeit als früher, sondern auch mit einer unvergleich-
lichen technischen Sicherheit. Wir kennen auf das Kilo-
gramm die Tragfähigkeit der Brücken; wir wissen, daß
unsere Kessel nicht explodieren, unsere Züge nicht zu-
sammenstoßen, unsere Strecken durch Unwetter und Hoch-
wasser nicht gefährdet sind. Soweit aber diese Gefahren noch
bestehen, arbeiten Armeen von Sachverständigen an weiter-
reichenden Sicherungen, an der Befreiung von Unvoll-
kommenheit. Unsere Gesundheitspflege hat so große Fort-
schritte gemacht, daß manche Krankheiten, die den
Schrecken früherer Zeitalter gebildet haben, fast völlig aus
der Kulturmenschheit getilgt wurden. Nach Sicherheit ruft
man, Sicherheit erreicht man allenthalben. Nur die scheinbar
einfachste Sicherheit besteht nicht, und sie wird zwar von
jedem einzelnen mit aller Macht erstrebt, aber der ein-
*
61
zelne hat nur selten das Glück, sein ökonomisches Ziel, die
Sicherheit der Existenz, zu erreichen. Die Gesellschaft hilft
ihm nicht dazu. Es liegt durchaus im Geiste unserer wissen-
schaftlichen Epoche, daß Techniker jeden einzelnen von uns
vor Not schützen. Ich habe mir sagen lassen, daß die Frage
technisch schon gelöst ist, daß die Gesellschaftstechniker
jedoch auf politische Widerstände stoßen. Politische Wider-
stände kann die Psychoanalyse nicht beurteilen. Sie sieht
auch an den sozialen Erscheinungen nur die wirksamen
Triebkonflikte.
In Wien lebte bis zum Jahre 1921 Josef Popper-
L y n k e u s, ein Ingenieur und Mathematiker, der fünfzig
Jahre lang — er war 84 als er starb — die Meinung vertrat,
die soziale Frage als Magenfrage sei nur vom einzelnen
Individuum aus zu lösen und nicht im kollektiven Sinne des
Sozialismus. Er meinte, wie die Kirche hinter jedem ihrer
Söhne stehe, bei seiner Taufe, Hochzeit, Tod, so müsse auch
die Gesellschaft hinter jedem einzelnen stehen, um ihn vor
Not zu sichern. Er wollte das durch eine nationale Arbeits-
armee erreichen, in der jeder Mann und jede Frau einige
Jahre ihres Lebens zu dienen hätten und alles erzeugen
sollten, was zum Mindesten des Lebens für alle gehört, also
Nahrung, Kleidung, Obdach. 1 Er meinte, Jesus Christus habe
das religiöse Individuum entdeckt, Rousseau das politische,
Kant das moralische. Das physische Individuum mit seiner
körperlichen Not sei aber noch immer nicht anerkannt,
obgleich es die Voraussetzung aller anderen ist. Wenn ich
diese Einteilung in verschiedene Ansichten des Ichbegriffes
in unsere psychoanalytische Sprache übersetzen sollte, würde
1) Siehe mein Buch: An End to poverty, Allen & Unwin London 192 j
63
ich sagen: das religiöse Individuum entspricht einem christ-
lichen Ich-Ideal, das politische einem demokratischen, das
moralische einem ethischen Ich-Ideal. Das physische Ich muß
sich sein Ideal erst erkämpfen. Die in anderen Idealen groß
gewordenen Menschen getrauen sich noch nicht, mit Ein-
verständnis ihres Ober-Ichs das Ideal der Sattheit und Sicher-
heit zu verehren. Und doch sind wir auf dem Wege dazu.
Ich schlage vor, dieses Ideal Edel-Narzißmus zu
benennen.
III) Sozialer Masodiismus
Der Masochismus der Massen, ihre willige Unterordnung
unter irgend eine Vateridee, ihre unwiderstehliche Sucht
nach Diktatur und möglichst grausamer Führung ist von
allen Instinkten der erstaunlichste. Es gibt keinen noch so
armseligen Menschen, der nicht wenigstens in gewissen Feier-
stunden seines Lebens fühlte, daß er „zu etwas Höherem"
geboren sei. Von übersinnlichen Gewalten fühlen wir uns
umwittert, sie weben in uns wie außer uns, und es bedeutet
Glück — masochistisches Glück — sich ihnen hinzugeben.
In unseres Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben ....
(Goethe, Trilogie der Leidenschaft)
Ich fürchte sehr, daß dieses edle Gefühl in der Welt-
geschichte immer wieder mißbraucht wurde.
Unter geschickter Benützung des allgemein verbreiteten
Masochismus wird die Meinung verbreitet, daß die Kultur
nur durch die Not vorwärts getrieben werde, und daß alles
Streben nach Höherem, also die Idee der Menscheit aufhören
müsse, wenn die Not aus der Welt geschafft sei. Schon das
6 4
bloße Streben nach einer Sicherung aller Existenzen vor Not
sei kulturwidrig. Die gesicherten Existenzen von heute sind
also nicht nur von Not und Sorge befreit, sie allein sind
ohne Verpflichtung, die Kultur zu fördern, da ja glück-
licherweise die große Masse genügend tief im Dreck steckt,
um die Gewissen der Gesicherten zu beruhigen. Sie könnten
sonst aus Sorge um den Fortschritt der Kultur nicht
schlafen. Wenn ein Juwelenschieber, ein Valutenspekulant,
ein Getreidewucherer, der früher als ein Habenichts zum
kulturfördernden Dünger gehört hat, jetzt auf einmal
duftendes Frauenfleisch bezahlen kann, in Palästen wohnt
und sich dem Fraß ergibt: der zwar ist befreit davon,
sein Scherflein an Kummer zur Gesamtnot beizutragen, die
der Menschheit angeblich unentbehrlich ist. Aber ein
Spinoza mußte Gläser schleifen, ein Rousseau Noten ab-
schreiben, und das geht so bis auf den heutigen Tag und
man darf das nicht ändern, oder die Kultur ist verloren.
Dieser masochistische Unsinn wird noch immer geglaubt,
besonders gern von der Jugend, die in ihrem schönen Idealis-
mus leicht einen Vorwand annimmt, der ihr sogar schmutzige
Not als göttlich und die Idee der Menschheit fördernd ver-
goldet. Wer die furchtbaren Kämpfe Tausender begabter
und genialer Menschen überblickt — aber wer könnte sie
überblicken? — und sich für einen Augenblick vorstellt,
alle diese Köpfe wären von dem aufreibenden Kampfe um
die nackte Existenz befreit und könnten ihre Gaben ohne
Kraftverlust in den Dienst der Kultur stellen, der wird nicht
leicht glauben, daß die Not kulturfördernd wirkt. Ohne
Schwächung hat sich keiner durchgerungen; viele sind zu-
grunde gegangen. Hundert Bände lassen sich füllen mit den
Mühen der Größten, den niedrigsten Sorgen und Fron-
S Almanach 1932 (Je
diensten, die ihre göttliche Sendung angefressen und auf-
gezehrt haben.
IV) Der Christ
Der Psalmist singt: „Unser Leben währet siebenzig Jahr,
und wenn es hochkommt, sind es achtzig Jahr, und wenn es
köstlich gewesen ist, so ist's Mühe und Arbeit gewesen."
Aber es ist doch wohl ein Unterschied, ob ein Staatsmann
sich aus freien Stücken, nur aus innerem Antrieb die Größe
seines Landes zur Aufgabe setzt und diese Aufgabe seines
Lebens unter unsäglichen Mühen und Gefahren löst; ob ein
wohlhabender Dichter, wie Goethe, den mühevoller Weg
zur Vollkommenheit wandelt oder ob ein Buchhalter über
die Strazza gebückt bis in sein zittriges Greisenalter Ziffern
einschreibt, ob ein Handlungsgehilfe in einem langen Leben
mehrere hunderttausend Pakete zusammenschnürt. Man
muß diesen Unterschied immer wieder hervorheben. Wer
getraute sich zu leugnen, daß die Mühe und Arbeit eines
ausgedienten Briefträgers, Kohlenarbeiters, Kanalräumers,
Buchhalters unsagbar traurig gewesen ist, und daß i{i
solch einem Leben gewiß gar nichts köstlich war als
ein paar Lichtblicke, die trotz der Tretmühle des Brot-
erwerbes selten genug in das graue Leben gefallen sind?
Wer das leugnen wollte? Der gläubige Christ leugnet es
und das mit Recht. Denn er weiß, daß dem, der hienieden
kummervoll unter dem Kreuze wandelt, drüben das gl° r "
reichste Schicksal bereitet ist. Nur durch Mühe und Arbeit
ist der Himmel zu verdienen. Es geht den Menschen schlecht
auf der Erde, und sie haben sich dafür das Paradies im
Jenseits ersonnen. Auf einem Berge in Galiläa wurden die
Sätze geprägt: Selig Ihr Armen, denn Euer ist das Reich
66
Gottes. Selig, die Ihr jetzt hungert, denn Ihr werdet gesättigt
werden. Selig, die Ihr jetzt weinet, denn Ihr werdet lachen.
Sowie diese gewaltigen Aphorismen in der Welt waren,
konnte es den Christen gar nicht schlecht genug auf Erden
gehen. Es hieß nur diese Sätze zu Ende denken, wenn man
das Leben haßte, in Wüsten floh, sich kreuzigen, braten,
spießen ließ. Da aber die meisten für Einsiedelei und Marter-
tod nicht geboren sind, so nahmen sie das tägliche Kreuz,
den Schmutz, die Gebresten, die Seuchen, den Hunger von
Jerusalem auf sich und, weil es ihnen schlecht erging, mußte
es ihnen um 50 schlechter gehen, damit sie gewißlich das
Himmelreich errangen.
Der Himmel ist eine schöne Aussicht und eine auch
dem geringsten Verstand einleuchtende Begründung, warum
es auf Erden trotz Gottes Liebe gar so ungerecht zugeht,
und warum man nach Verbesserung von Grund auf nicht
streben dürfe. Man darf das Zeitliche nicht zu sehr be-
treiben, sonst verliert man sein Ewiges. Es ist nur eine Be-
dingung dabei: man muß daran glauben. Den Glauben hat
unser Zeitalter verloren, die Entsagung hat keinen religiösen
Sinn mehr, steckt uns aber dennoch in den Knochen. Am
wenigsten findet man sie in der Welt, wo man die großen
und meistens guten Geschäfte macht. Sie wird aber gerade
von dort aus mächtig gefordert. „Das Volk muß Religion
haben." Wo in der Welt fänden die Sadisten eme bequemere
Weltanschauung zur Entwaffnung ihrer Opfer?
Das verzückte Starren nach dem Himmel hat das Gehirn
der Europäer, und insbesondere ihr soziales Gewissen viele
Jahrhunderte lang ganz unglaublich geschwächt Ungeheure
Armeen von schwarzen Kutten haben den Erdteil über-
schwemmt und Frömmigkeit gepredigt, die sie durch die
s"
67
Angst vor Höllenstrafen verstärkten, wo die Versprechung
des Paradieses nicht ausreichte. Sie haben alles herangezogen,
was ihre Lehre vertiefen konnte. Nichts war zu dumm, alles
wurde geglaubt, ja sogar von erlesenen Geistern philosophisch
begründet. Der Sexualakt unserer Eltern, unsere Zeugung
sei eine tragische Schuld, die wir durch ein langes Leben voll
Leiden büßen müssen. Sogar bei Schopenhauer kann man
das nachlesen.
V) Indien
Das großartige und zugleich fürchterlichste Erzeugnis des
Masochismus ist die indische Philosophie. Sie lehrt, daß alles
menschliche Streben nach Glück vergeblich sei und nur die
Leiden noch vermehre. Es gibt keinen Himmel, es gibt nur
eine Hölle, und diese Hölle ist die Erde, auf der die
Menschen wohnen. Ein Irrtum zu wähnen, der Mensch
werde glücklich, wenn er seine Bedürfnisse befriedige. Es
kommen immer neue Bedürfnisse, wenn die alten befriedigt
sind, und werden dann gerade so heftig und schmerzlich
empfunden wie vorher die nun befriedigten. Man muß die
Menschen dazu erziehen, daß sie keine Bedürfnisse haben,
daß sie frei werden von allen Sorgen, wenn sie nichts mehr
wollen, wenn sie das Nichts wollen. Sie sollen absterben; nichts
lieben, nichts hassen, nichts erstreben, keine Freude und keinen
Kummer haben. Solche Heilige werden am Ganges verehrt.
Sie hocken regungslos am "Wege und, die vorübergehen,
stecken ihnen Beeren in den Mund. Diese Heiligen, die nicht
spüren, wenn man sie sticht, die man vergraben kann, ohne
daß sie ersticken, haben in der Tat in ihrer Art Vollkommen-
heit erreicht. Weder fürchten sie den Tod, noch sehnen sie
sich nach ihm. Sie würden niemals die Hand ausstrecken,
62
um sich selbst zu töten. Denn sie haben ihren Willen ertötet,
sie sind nicht irdisch, trotzdem sie atmen und ihre Augen
manchmal öffnen.
Sagten griechische Weise: Du kannst nur froh sein, wenn
du möglichst wenig Bedürfnisse hast, und genoß Diogenes
fröhlich den Sonnenschein vor seiner Tonne, so predigt
Indien: Du kannst überhaupt nicht froh werden, du kannst
dich höchstens vor dem Leben, das ist vor hoffnungslosem
Leiden schützen, wenn du dich in einen lebenden Leichnam
verzückst. Schopenhauer hat uns diese Lehre erneuert. Er
selbst lebte in geordneten Vermögensverhältnissen. Das harte
Herz eines verbitterten Genies, das Menschenleben und
Menschenschicksal verachtet, blickt uns aus seinem be-
rühmten Altersbildnis entgegen. Man hat seiner Philosophie,
dieser durch Sprachgewalt und mächtige Vision über-
wältigenden Leistung immer wieder den flachen, aber be-
zeichnenden Einwand gemacht: Warum hat sich der Herr
im Gasthaus „Zum Schwan" zu Frankfurt das tägliche Essen
so viele Jahre gut schmecken lassen? Er hat dort nicht von
Beeren gelebt.
Es gibt Sittenlehren, die völlige Entsagung oder überhaupt
Entsagung nicht verlangen, und dennoch zu einem hohen
Grad von Vollkommenheit geleiten. Die Lehre des Con-
fucius ist so eine Sittenlehre. Es mag aber sein, daß die
indische Weltanschauung tiefer ist, tiefer als Confucius,
tiefer als der Galiläer. Vielleicht gibt es keinen anderen
Schutz vor Leid, als herzliche Hingabe an das Nichts. Dann
ist jeder zu preisen, ja zu beneiden, der diesen Ausweg
findet und ihn zu gehen vermag. Er ist Herr über alle
irdische Not, über alle Gefahren, die uns bedrohen, ist voll-
kommen und scheidet aus. Was aber geschieht mit den
69
anderen, die Hunger haben und essen wollen, denen die
indische Entsagung wider die Natur geht, die in dem Irrtum
befangen sind, sie müßten sich sichern und es gäbe wohl
Wege, um sie vor Not und Elend zu schützen? Für dieses
niedrige Geschmeiß hat ein indischer Weiser nur Lehren
übrig, die es nicht versteht. Es wäre besser, wenn er ein
fühlendes Herz hätte. Aber sein Herz hat er ja abgetötet,
um nicht leiden zu müssen durch den Anblick fremder
Leiden, wie der Prinz Sidharta, der später Buddha wurde,
litt, als er zum erstenmal menschliches Elend sah. Auch die
indische Weisheit wurzelt im Mitgefühl. Masochismus aber
hat sie zu Ende geführt in Tiefen, wo unser Herz nicht
schlägt.
In solchen Tiefen sollten wir nicht verweilen, wenn unseres
Bruders Not zum Himmel schreit. Wir sollten ihn nicht
hungern lassen, bis er die Tiefe des Stammgastes im Wirts-
haus „Zum Schwan" erreicht, und auch nicht Bekehrungs-
versuche an ihm vornehmen, bis er durch seinen Glauben
an den Himmel die Hölle auf Erden als Vorbereitung
empfindet. Dem Bettelvolke in Jerusalem und in Benares
war nur mit übersinnlichen Gedanken über des Lebens nackte
Not zu helfen. Ihnen fehlten unsere Wissenschaft, unsere
Technik, unsere gesellschaftlichen Möglichkeiten. Ent-
behrung war ihr unentrinnbares Geschick. Die Anschauung,
daß dennoch alles gerecht zugehe, weil der Himmel alle
Leidenden versöhnt, und die Anschauung, daß diese Welt
so schlecht sei, daß sie nur durch Abtötung des Willens
überwunden werden kann: sind beide Kinder des äußersten
Elends und entsprachen der materiellen und sozialen Hilf-
losigkeit des antiken Orients. Das überhitzte Elend
explodierte und zeigte der Welt das strahlende Wunder
70
'
Jesu Christi, des Erscheinens von Gottes Sohn auf Erden.
An den Folgen oU eser Explosion tragen wir noch heute, so
wenig wir geneigt sind, an Wunder zu glauben.
Christian Science behauptet, daß Leiden nur Schein sei.
Es ist aber die Not ein furchtbarer Schein. Wird man viel-
leicht durch Philosophie, durch starken Glauben bis zu
einem hohen Grade Herr über die eigene Not, so ist man
es doch nicht im geringsten über die Not, die andere drückt.
Daher das philosophische Begreifen, die metaphysische Be-
gründung von Not und Schmerz anderer immer bedenklich
ist und Herzlosigkeit bedeutet.
VI) Universalisten
„Wissen Sie nicht", ruft einer, „daß von hunderttausend
Apfelblüten nur sehr wenige reifen, und daß immer
Tausende Blüten zugrunde gehen müssen, damit die Früchte
desto besser gedeihen?"
j_>as ist eine nichtswürdige Verwundung meines Narzißmus,
ausgedacht vom Sadisten, geglaubt vom Masochisten. Andere
vergleichen das Individuum mit einem Rade in der
Maschine. Wir werden auch die Maschinerie des Staates nicht
als Moloch anerkennen, demzuliebe wir unseren Narzißmus
vollkommen aufzugeben hätten. Wir sehen die Staatsrechts-
lehrer geteilt in Individualisten und Universalisten. Einer der
Universalisten in Wien (Othmar Spann) ruft aus: „Das
Ganze [daher ,Universalist'] ist die Amme des einzelnen!"
Die Amme hat sich oftmals grausam gegen ihren Pflegling
betragen. Der aber merkte nicht, was für eine furchtbare
Amme er hatte, weil ihm der Verstand dazu noch fehlte.
Die Sklaven glaubten dem Aristoteles, daß sie von Natur aus
zur Sklaverei bestimmt seien; der Papua glaubte seinem
7 l
Feinde, daß der ein Recht habe, ihn aufzufressen; die indische
Witwe dem Brahmanen, daß sie sich verbrennen lassen
müsse. Ebenso glauben viele brave Soldaten, daß sie sich
müßten totschießen lassen, und glauben andere, daß sie sich
ohne Hoffnung zu Tode rackern müssen. Es war, es ist eine
Amme da, die dem Moloch gleicht und ihr eigenes Kind
verzehrt.
Aber nur Säuglinge brauchen eine Amme. Der Säugling
ist ein Riese geworden. Wehe der Amme, wenn sie ihm sein
Recht nicht freiwillig gibt. Das Individuum ist nicht wie
eine Blüte am Baume, nicht wie ein Ton in der Harmonie,
nicht wie ein Glied im Organismus einer Maschine. Das sind
lauter unzutreffende und unerlaubte Vergleiche der
Universalisten von rechts und links. Das Individuum ist
einig und einzig. Es ist mit nichts anderem auf dem Erden-
runde zu vergleichen. Oder leiden Apfelblüten Schmerz?
Hat ein Ton Todesangst? Weint ein Maschinenteil?
VII) Edelnarzißmus
Alle diese Vergleiche, besonders der mit der Maschine, der
von Descartes bis Haeckel so unabweisbar klang, sind ja
sogar von den Mathematikern des Weltalls als unzutreffend
erkannt worden. Sie gelten nicht einmal für einen Himmels-
körper, der scheinbar leblos nach bestimmten Gesetzen seine
Bahn dahinzieht. Und da sollten sie dem Narzißmus des
Kulturmenschen Stand halten? Im Weltall stecken nicht
Ursache und Wirkung als treibende Kräfte, sondern eine
Idee. Diese Idee ist von der Astronomie mathematisch, von
der Psychoanalyse psychologisch erkannt worden. Der
narzißtische Teil dieser Idee fordert heute Sicherung der
Existenz für jedermann.
7*
)
Seit man weiß, daß die Gemeinschaft vor dem Individuum
da war, und daß sich der einzelne im Laufe der Kultur erst
aus der Gemeinschaft entwickelt hat und noch weiter ent-
wickelt, wundert man sich nicht mehr, wenn das Rechts-
bewußtsein des Kulturmenschen für den einzelnen immer
neue Rücksichten verlangt und erkämpft. Das Recht des
Individuums wächst mit ihm.
Falls in sehr alten Zeiten die Sklaven ihr Los als
unabänderlich und nicht als Unrecht empfanden, dann war
die Sklaverei damals gerecht. Der freie antike Mensch war
zweifellos davon überzeugt, daß die Gesellschaft ohne
Sklaverei nicht bestehen könne. Haben doch die amerikani-
schen Südstaaten noch Lincoln gegenüber so gesprochen.
Der Staat kann angeblich immer nur mit allen Opfern be-
stehen, die er dem Individuum auferlegt.
Schon der erste Sklavenaufstand beweist aber ein sittliches
Einzelbewußtsein, das sich verletzt empfindet, und schon
Spartakus hat den Sieg der Sklavenbefreiung entschieden.
Seit dem ersten Sklavenaufstand ist die Idee der Sklaverei
unsittlich, ungerecht gewesen und war mehrere tausend
Jahre ein fressendes Geschwür am Gewissen der Gesellschaft.
So lange kann es dauern, bis sittliche Gefühle sich durch-
setzen. Gottes Mühlen mahlen langsam.
Die mittelalterliche Rechtspflege des Staates mußte das
Individuum foltern, rädern, verbrennen. Die letzte Hexe
wurde 1782 zu Glarus verbrannt. Damals war der Aufklärer
Voltaire schon seit sechs Jahren tot. Die letzte Hinrichtung
mit dem Rade: 1838! Im ancien regime besaß der adelige
Herr das Recht auf die erste Nacht der Neuvermählten; und
jedes Recht besitzt man im Namen des Staates.
Das Recht des Individuums, das ist sein kulturell gerecht-
73
fertigter Narzißmus, liegt beständig im Kampf mit dem
Staat und seinen angeblichen Notwendigkeiten. Das In-
dividuum, der schwache einzelne Mensch kämpft mit dem
Kolossus von privilegiertem Staat. Das Individuum von
heute kommt zu seiner bösen Amme und fordert einmal die
absolute Sicherheit vor Ermordung.
Unter gar keinem Vorwand, wie immer er formuliert sei,
darf die Gemeinschaft vom Individuum verlangen, daß es
sich gegen seinen Willen und im Vollgefühl seiner Unschuld
ermorden lasse. Dieses ist das lebendige narzißtische Rechts-
bewußtsein aller nicht hypnotisierten Kulturmenschen. Die
Generäle sagen, daß die Gemeinschaft bei so geringer „Opfer-
willigkeit" des Individuums nicht bestehen kann. Also wie-
derum ein angeblich unlösbarer Gegensatz zwischen der Idee
des Individuums und der Idee des Staates. Der schreckt uns
nicht.
Das Individuum fordert noch mehr, nämlich die absolute
Sicherstellung seiner Existenz. Fachmänner haben ihm er-
klärt, daß seine Sicherstellung technisch ausführbar ist. Mehr
braucht das Individuum nicht zu wissen, um die Sicher-
stellung zu verlangen. Man muß ein Professor der universali-
stischen Volkswirtschaftslehre sein, um nur einen Augen-
blick daran zu zweifeln, daß das unaufhaltsame Individuum
auch diesen neuen Sieg erringen wird. Der "Weg scheint
allerdings durch Ströme von Blut zu führen. Naturgemäß
auch durch eine Periode allgemeiner Nervosität. Unser
Narzißmus wird täglich so sehr gekränkt, daß die anderen
Partialtriebe ihm zu Hilfe kommen und ihren Hexensabbat
aufführen.
74
Auöust Aidiliora
Von
Julius Epstein
Wir entnehmen diese« Aufsatz dem Juniheft 193 1
der in Genf erscheinenden von der »Union Inter-
nationale de Secours aux Enfants« (U. I. S. E.) heraus-
gegebenen »Revue Internationale de l'Enfant". — Von
Aichhorns Buch »Verwahrloste Jugend" ist
soeben im Internationalen Psychoanalytischen Verlag,
Wien, die 2. Auflage (mit einem Geleitwort von
Sigmund Freud) erschienen. (Geheftet Mark (r — , in
Ganzleinen Mark 8* — )
Wie wäre ich glücklich gewesen, in meiner Jugend jemals
einem Lehrer, einem Freund, einem Mann wie Aichhorn begegnet
zu sein! Einem Manne, von dem ein derartiger Liebesstrom aus-
geht, daß er es freilich leicht hat, alle Kinder wirklich zu ver-
stehen. Weil er weiß, daß das Recht ihrer Entwicklung auf ihrer
Seite ist. Daß es nur darauf ankommt, auf die Logik und damit
f das Recht ihrer tiefen, geheimen und schmerzensreichen
t jden zu kommen, um diese auch schon zu rechtfertigen. Er
versteht das Bedürfnis der Jugend, die Wirklichkeit ganz einfach
über den Haufen zu werfen und sofort, ohne Zeitverlust, das
Reich des Paradieses zu errichten. In dem Maße des Verstehens
dieser jugendlichen Ansprüche vermag er Manchem die An-
nassung an diese Wirklichkeit bedeutend zu erleichtern.
Wer ist August Aichhorn? August Aichhorn ist Direktor einer
Wiener Fürsorgeabteilung. Der schon seit vielen Jahren - von
der sogenannten großen Öffentlichkeit ziemlich unbemerkt _
seine durch Freud geschulte Erziehungstätigkeit ausübt. Und der
erst vor kurzem auf der Dresdener Tagung der Deutschen Psycho-
analytischen Gesellschaft etwas davon erzählte. Der Autor dieses
Aufsatzes hatte das Vergnügen, sowohl diesen Vortrag Aichhorns
in Dresden zu hören, als auch seinen Urheber bereits vor Mo-
naten in Wien kennen gelernt zu haben.
Es genügt, diesen Menschen zu sehen, um es ihm zu glauben,
daß er mit dem Verwahrlostesten, der längst schon von der
75
Polizei aufgegriffen, zu ihm als zur letzten Instanz der Wiener
Fürsorgeerziehung gebracht worden ist, zunächst von seinen
Leiden und Schmerzen spricht, niemals von seinen Streichen. Er
gibt auch noch dem Verwahrlostesten Recht, weil er ihn versteht,
also auch die Genese seiner Streiche, auch der schlimmsten. Aus
diesem tiefen, unausrottbaren Bewußtsein der Berechtigung aller
Schhmmheiten wird dieser große Künstler ein Verbündeter der
Verwahrlosten und oft wird er ein Verbündeter gegen die Eltern
und bisherigen Erzieher. Wie muß ihn der Junge geliebt haben,
der völlig verwahrlost zu ihm gebracht wurde und über den die
Mutter stundenlang schimpfte und dem er zunächst - einzig
sichtbare Tat des Erziehers - einen Fußball kaufen ließ! Ver-
wirklichung des geliebtesten Traumes! Als die Mutter, eine arme
Frau sich darüber beklagte, weil der Junge jetzt noch mehr
Schuhe zerreißen würde, ließ Aichhorn diesem auch noch ein
Paar Schuhe kaufen.
Aichhorn sagte mir einmal, er sei der Ansicht, daß alle Men-
schen ausnahmslos kriminelle Triebe haben. Und daß sie alle
ebenso ,n dem Maße verwahrlosen, asozial oder neurotisch wer-
den m welchem es ihnen nicht gelingt, sich mit der gegebenen
Realität unserer Kulturwelt zu versöhnen. Das Zeichen dieser
Versöhnung ,st die gelungene Dissimulation. Die gute, brave
Welt der Burger, besonders die der Spießbürger, beschwindelt
dauernd sich und andere, indem sie dauernd die Meinung ver-
nn7 e V e 3? ' m GrUnde ihr « Wesens 8«™°. ««W wertvoll
™t nde A r % D '"f- Da , d " Alle gegenseitig dauernd tun, obwohl
slen d C -t 8 " te . S ' Ch dabei Schon wi ^nder zublinzeln - nur
"gen durien s.e's mcht - ist alles in bester Ordnung. Der Leser
hat schon gemerkt, daß dies eigentlich die Theorie Freuds vom
Wesen unserer Kultur ist, nur daß Aichhorn das, was Freud Ver-
drängung nennt, Dissimulation betitelt. (Die natürlich auch un-
bewußt erfolgt.) Gewiß ist das eine der genialen Entdeckungen
i-reuds. Es .st aber das Verdienst Aichhorns, diese Theorie speziell
aut d,e Praxis der Verwahrlostenfürsorge angewandt zu haben.
tr hat m.t dieser Entdeckung Freuds täglich praktische Arbeit ge-
eist« und sie so in sich aufgenommen, daß er auf den ersten
sieht, wie sehr „Recht" der Verwahrloste hat und wie sehr
76
da wieder einmal die „normale" Umgebung Anständigkeit dis-
simuliert. Das fühlt dann natürlich jedes Kind und es entdeckt
daher in dieser letzten und gefürchtetsten Erziehungsinstanz der
Gesellschaft, es entdeckt in dem Fürsorgedirektor Aichhorn den
wahren Freund, den Mann seiner Partei. Das erste, was Aichhorn
mit jedem zu ihm Gebrachten tut, ist, daß er ihn reden läßt, das
heißt in den meisten Fällen, daß er ihn schimpfen läßt. Auf wen
und was er will, in welcher Tonart es ihm behagt. So entstehen
die ersten Gefühlsbindungen des Kindes zu diesem Erzieher.
Ich glaube, daß das Wesen der Aichhornschen Arbeit am
klarsten wird, wenn wir uns nach diesen skizzierenden Andeu-
tungen die Grundzüge seines großartigen Vortrages, gehalten auf
der zweiten Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesell-
schaft in Dresden, vor Augen führen. Denn dieser Vortrag ent-
hüllt nicht nur die theoretischen Grundlagen psychoanalytisch-
aichhornscher Erziehungsarbeit, sondern er zeigt die tägliche
Praxis. Ich lasse also ein kurzes Resume* des Vortrages folgen,
das nach sofort nachgeschriebenen Notizen gemacht ist, wobei
meist die Formulierungen Aichhorns beibehalten sind.
Er sagte: „So viel die Psychoanalyse aufgedeckt hat, so wenig
Gesichertes wissen wir über den Mechanismus der Verwahrlosung.
Ich komme mitten aus der praktischen Arbeit. Meine absolut
optimistische Einstellung zur Erziehungsarbeit wird mir oft zum
Hindernis. Weil mir die Zusammenhänge oft blitzartig einleuch-
ten, und ich mich dann gar nicht frage, ob sie das auch für andere
tun. Warum nimmt die Fürsorgearbeit, die ich durchführe, die
Psychoanalyse zur Grundlage und nicht eine andere Systematik?
Diese Frage werde ich beantworten. Ich formuliere P rak " sch >
nicht wissenschaftlich. Wir müssen uns vorstellen, daß jedes Kind
bei der Geburt gewissermaßen eine Waage mitkriegt. Das erste
eine Apothekerwaage, das zweite eine Krämerwaage und das dritte
eine Brückenwaage. Aus dieser Tatsache folgt die großartige
Differenzierung des Menschen. Wenn wir nämlich das wissen, ver-
stehen wir auch, daß jedes dieser Kinder auf äußere und innere
Erlebnisse vollständig anders reagieren wird. Was das Kind mit
der Krämer- oder gar mit der Brückenwaage kaum berührt, wird
das mit der Apothekerwaage außerordentlich erschüttern. Es ist
77
II"
ungeheuer wichtig, daß wir genau entscheiden können, was für
eine Waage nun ein Kind mitgekriegt hat. Leider kommen die
Eltern immer erst dann, wenn sie sich schon wirklich gar nicht
mehr zu helfen wissen. Dann wird der Verwahrloste gebracht.
Wir hören, wie unmöglich er sich aufführt. Man verlangt von
uns, daß unbedingt etwas geschieht. Wir erkundigen uns. Wir
sprechen mit dem Verwahrlosten selbst. Dann treffen wir unsere
Anordnungen. Alles geschieht und die Geschichte geht nicht. Wir
sind über den Mißerfolg ungemein überrascht. Wir haben einen
Fehler gemacht. Wir bildeten uns schon beim Zuhören eine feste
Konstruktion. Wir hörten das, was da nicht hineinpaßt, gar nicht.
Wir sind jetzt zwar nicht mehr „unsicher", wir haben solange
gedreht, bis der Fall in unsere Theorie hineingepaßt hat. Jedes
Typisieren ist aber ungemein gefährlich. Je einfacher der Fall,
desto mißtrauischer müssen wir sein. Wir sind heute noch nicht
in der Lage, auf dem Gebiete der Verwahrlosung eine psychische
Lungenentzündung von einem psychischen Rheumatismus unter-
scheiden zu können. Wir haben noch keine Symptomatologie der
Verwahrlosung. Ich glaube, man soll auch nicht immer gleich mit
nur Psychologie an den Verwahrlosten herantreten. Man darf sich
nur vom Fall selbst in die Tiefe führen lassen. Es verwahrlosen
ja sehr viele psychisch vollkommen normale Menschen, einfach
aus Wirtschaftsnot 1 . Das Familienleben besteht da sehr oft nur
der Form nach. Gatten leben völlig nebeneinander. Häufig wur-
den durchaus Normale als schwere Psychopathen beschrieben.
Das kam daher, weil sich diese Menschen, wenn man sie nicht
mit Liebe behandelt, ganz so zu benehmen verstehen, als ob sie
psychopathisch seien.
Warum ist der Mensch überhaupt erziehbar? Weil er fähig ist,
Gefühlsbindungen mit den Anderen einzugehen. Die Verwahr-
losung des Milieus hat nun zur Folge, daß gefühlsmäßige Bindun-
gen nicht mehr zustande kommen können. — Wir sprechen mit
dem Verwahrlosten nur von seinen Interessen, nicht von seinen
i) Dr. Meng, Frankfurt a. M., zitier« in einem anderen Vortrag der Dresdener
öS hl" 16 nC " e .„ StatIstik - ™™& von 200 deutschen Kindern heute ,6 9 - es ist kein
^samrnen'sAIat^ ****** l6 * ! " kein ei 8 enes Be » &** und daher rait ***"
78
Missetaten. Wenn er seine Wut bei uns abreagieren kann, stellt
er bereits eine Gefühlsbindung her. Er hat ein Liebesobjekt ge-
funden. Es sieht aus, als ob wir Wunder wirken würden. Schule
und Elternhaus liegen platt auf dem Bauch. Das Benehmen des
Jugendlichen ändert sich sehr rasch, dann ändert sich auch das
Benehmen der Erwachsenen. So kommt es vor, daß sich der
Jugendliche und seine erwachsene Umgebung gegenseitig hinauf
lizitieren, wie sie sich früher herunterlizitiert haben. Allerdings
wird diese Entwicklung oft durch das Haus mit seinem Familien-
leben illusorisch gemacht. Jene Gefühlsbindungen, die der Ver-
wahrloste bei seinem Verkehr mit uns herstellt, werden durch
das Haus wieder aufgelöst.
Wir wissen durch die Psychoanalyse, daß die jugendlichen Ge-
fühlsbindungen Prozesse der Identifikation sind. Es kommt alles
darauf an, mit wem das Kind sich identifizieren kann. Hier
liegt die große Bedeutung des sozialen und psychischen Milieus.
Das diebische Kind einer Diebsfamilie ist vollständig normal ent-
wickelt. Es nimmt sich den väterlichen Imperativ: „Stehlen darfst
du, aber erwischen darfst du dich nicht lassen!" zum Ident.fika-
tionsziel. Die Gesellschaft nennt so ein stehlendes Kind oft erblich
belastet, anormal, nur deshalb, weil sie nur die Tatsache sieht
daß hier schon mehrere Generationen stehlen. Das ist natürlich
eine völlig falsche Auffassung.
Manche Identifizierungen ergreifen nur Teile aus dem Ich des
Kindes. Ich erinnere mich da eines bettelnden Mädchens Es
bettelte trotz strengen Verbotes. Als ich mit ihm sprach, erzahlte
es mir, daß es etwas Geld „verdienen" müsse, um dem Vater zu
helfen. Sein Lieblingsspiel sei das mit einer Puppe. Ich fragte es:
„Was spielst du denn mit der Puppe?" Da sagte es ^„Die
Puppe bringt mir Geld nach Hause, wenn ich krank bin. Aur
meine Frage, woher denn die Puppe das Geld nähme, kam die
bemerkenswerte Antwort: „Die Puppe hat gebettelt^
Ein anderer Fall, der beweist, wie Kinder oft ihre Wirklich-
keit ins Spiel übertragen, ist der eines sechsjährigen Madchens,
das zu mir gebracht wird, weil es immer von zu Hause davon
läuft. Auf der Polizei wird es stets trotzig, wenn die Beamten
nach dem Grund fragen. Ich spreche zunächst von ganz anderen
79
Dingen mit dem Kinde. So kommt ungefähr folgender Dialog
zustande:
„Woher hast du denn die schöne Masche im Haar?" — „Von
der Mama."
„Hast du noch mehr solcher Maschen?" — „Ja, zwei rote und
eine blaue."
„Hast du auch Puppen?" — „Ja, eine sehr schlimme."
„So, wieso ist sie denn so schlimm?" — „Sie läuft immer
davon."
„Ja, warum läuft sie denn immer davon?" — „Weil es so
furchtbar langweilig ist!"
Ich rate in diesem Fall zu Gespielinnen. Mein Rat wird be-
folgt. Das Kind ist nicht mehr davongelaufen.
Es kommen auch Fälle vor, in denen das Kind vom Standpunkt
der Gesellschaft aus gesehen vollständig normal ist und die Um-
gebung krank. Da wird mir zum Beispiel ein sechsjähriger Bub
gebracht, den mir die Mutter als schrecklich schlimm schildert.
Es entwickelt sich folgendes Gespräch:
„Was tut denn der Bub so Schlimmes?" — „Na, heute wollte
er sich zum Beispiel nach dem Essen die Hände durchaus nicht
waschen."
Ich werde etwas stutzig. Denn häufiges Händewaschen, noch
dazu nach dem Essen, ist ja in diesen Kreisen einer einfachen
Arbeiterin nicht üblich. Ich frage: „Nun, ist das denn gar so arg?
Was macht er sonst?" — „Er wollte sich aber auch vor dem
Essen nicht waschen und sträubte sich gestern vor dem täglichen
Bad mit Lysoformzusatz."
„Ja, wie oft waschen Sie sich denn selbst die Hände am Tage?"
— „So ungefähr fünfunddreißig bis vierzig Mal."
Es stellte sich also heraus, daß in diesem Fall die Mutter an
einem schweren Waschzwang litt und ihren Jungen nur deshalb
quälte, weil er diesen nicht teilte. Die ganze Schwercrziehbarkeit
des Buben stellte sich als erklärliche Reaktion auf die Verrückt-
heit der Mutter heraus. Wir schickten diese in eine psychoana-
lytische Behandlung.
Ein anderer Fall: Ein siebenjähriger Junge wird zu mir ge-
bracht. Die Mutter klagt stundenlang über ihn und seine Streiche.
80
w.
August Aidihorn
Ludwig Jekcls
Nach langem Anhören rate ich ihr, die auch eine einfache Pro-
letarierin ist, ihren Jungen doch einmal eine ganze Woche lang
machen zu lassen, was er will. Sie willigt in das Opfer ein. Und
nun geht's zu Hause los. In der ersten Woche verspritzt der Bub
den Inhalt eines Tintenfläschchens auf Möbel, Wände und Fuß-
boden. Die Mutter kratzt die Wände ab, reinigt den Fußboden
und die Möbel, damit der heimkehrende Vater nichts merke. Der
Bub stülpt in der Küche die Kohlenkiste um und wäscht sich
darauf solange die Hände, bis das ganze Stück Seife aufgebraucht
ist. Die Mutter sagt nichts. Der Junge geht dazu über, ihr an-
dauernd den Gasherd auszudrehen, so daß die Frau am Kochen
verhindert ist. In der zweiten Woche, in der auf meinen Rat das
Gewährenlassen fortgesetzt wird, bohrt der Junge plötzlich die
Milchkanne an, so daß am Morgen die ganze Milch ausläuft. Auf
meine Frage, warum er denn das getan habe, sagt er mir, er und
sein Vater hätten schon alles kaputte Metallgeschirr gelötet. Da
hätten sie begreiflicherweise für nächsten Sonntag etwas zum
Löten gebraucht. Deshalb habe er die Milchkanne angebohrt.
Dann zieht er mit seiner Uhrwerklokomotive tiefe Rillen in das
Holz des Fensterbrettes. Auch diesen Schaden repariert die
Mutter, damit der Vater nichts merke und den Jungen mcht
schlecht behandle. Das Experiment wird auch in der dritten
Woche noch fortgesetzt. Der Junge verspeist da auf einmal das
Dreifache des ihm zugedachten Quantums an Pfannkuchen und
hierauf ein halbes Pfund Staubzucker. (Was übrigens keinerlei
Magenbeschwerden zur Folge hatte.) Damit war sein Rache-
bedürfnis befriedigt. Eine offenbar sehr tiefe narzißtische Kran-
kung war mit der Summe dieser Taten abreagiert. Das großartige
Opfer, das diese Mutter hier gebracht hat, hätte auch vergeblich
sein können. Ich habe diese einfache Frau, die Vollbringen«! einer
grandiosen Leistung, der Wiener Elternversammlung vorgestellt.
*
Dies ist freilich nur in aller Kürze das Wichtigste au S dem
wundervollen Vortrag, den Aichhorn m Dresden ££*>£
Der Leser erkennt daraus die Grundzuge der A.chho n chen
Theorie und vor allem die seiner Prax>s. Er nebt , wie sehr un-
theoretisch dieser Mann arbeitet. Dies kann er, we.1 er d.e wen.-
6 Almanadi 1951
8l
gen großen theoretischen Wahrheiten, die die Psychoanalyse auf
dem Gebiete der Verwahrlostenpsychologie erkannt hat, so leben-
dig in sich aufgenommen hat, daß sie in ihren Anwendungen
schon ganz selbstverständliche Praxis geworden sind.
Es ist ein großes Glück für die Menschheit, daß es solche
Männer wie Aichhorn gibt. Ein großes Glück für unseren opti-
mistischen Glauben an die Erde. Ein einziger solcher Mensch er-
laubt uns wieder mehr Mut zu fassen, wenn wir manchmal,
angesichts des grenzenlosen Erziehungsblödsinns, den wir sahen
und erlebten, an uns und an anderen, zu verzweifeln drohten.
Ein solcher Mensch beweist uns, daß alle Wunder der Technik
nichts sind, gemessen an den möglichen Wundern der Erziehung.
Wird diese nur ausgeübt von einem Mann wie Aichhorn, der die
Liebe und das Rüstzeug der Erkenntnisse moderner Psychologie
besitzt! Und der darüber hinaus den unüberwindlichen Mut hat,
zu sagen, was ist, und zu tun, was er für richtig hält.
Wir beneiden Wien um diesen Mann.
! i
■
g Soeben erschien in 2. Aullage
§ August Aichhorn
| VERWAHRLOSTE JUGEND
fj Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung
Mit einem Geleitwort von Sigmund Freud
Geheftet Mark 6—, in Ganzleinen Mark 8.—
_i „Aichhorns Buch trägt die Bestimmung in sich, an aufklärender Erzie-
P^ hungsarbeit viel beizusteuern. Durch die Bildhaftigkeit seiner Ausdrucks-
-j weise, durch seine geschickte Verbrämung der praktischen Fürsorgecrgebniss e
p mit den theoretischen Erklärungen hat er diesen zehn Vorträgen die Spannung
|y von der ersten bis zur letzten Seite erhalten." (Soziale Arbeit)
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien
ülllilü!
Ii7*
82
Hysterische Identifizierunj
Von
Otto Fenidbel
Wir geben hier ein kleines Bruchstück aus dem I. Kapitel des soeben
erschienenen Buches „Hysterien und Zwangsneurosen" von Otto
Fenichel wieder. Dieses Buch und ein gleichzeitig erschienenes zweites Buch
desselben Verfassers (.Perversionen, Psychosen, Charakterstörungen«) tragen einem
lange empfundenen Bedürfnis Rechnung: sie geben die erste ausführliche und syste-
matische Darstellung der psychoanalytischen spe2iellen Neurosenlehre. Das Buch
„Hysterien und Zwangsneurosen" (Geh. Mark 7—» M Ganzleinen Mark $•—)
behandelt im ersten Kapitel die Hysterie, in einem zweiten die Angsthystcne und in
den weiteren Kapiteln die hysceriformen Krankheiten, die Zwangsneurose, und die
prägenitalen Konversionsneurosen (Stottern, Asthma bronchiale, psychogener Tic).
Ein umfassendes Literaturverzeichnis (mit nahezu 400 Titeln) und ein sehr
detailliertes Register schließen das Werk ab.
Neben den direkten Gefühlsbeziehungen zu Objekten, Liebe
und Haß, gibt es noch eine zweite Möglichkeit von Beziehungen
zwischen einem Subjekt und Objekten, die Identifizierung, die
Angleichung des eigenen Ichs an das Vorbild des anderen, d.e
durchaus unbewußt und praktisch meist als Ersatz für eine ver-
loren gegangene eigentliche Objektbeziehung eintritt Solche
Identifizierungen spielen bei der Hysterie in mehrfacher Form
eine große Rolle. , ,
a) Am verständlichsten ist die „Identifizierung auf Orund des
gleichen ätiologischen Anspruchs". Daß die Hysterie ■£*"»£
Lite» nachahmt, war stets bekannt. Was *m •*£*£
dazu? „Die Sucht aufzufallen" kann uns -cht wirklich etw, ein
Epidemie von chorea maior erklären. ▼»»*»• »J* £V£ t
spiel Freuds, die Anfälle des ersten Madchens -taM
nach einem Liebesbrief aufgetreten snd, so «^. m ^'J^
dann auch alle anderen Mädchen Anfälle P'°duz.«en. SkjoU«
auch Liebesbriefe bekommen. Sie sagen s.ch gleich am, wenn man
von einem solcnen Anlaß j^SftW
längst ersehnten Wunsch erfüllt bekommen hat, also „auf Grund
83
einer rezenten Gemeinsamkeit«, ohne daß vorher zu dem be-
treffenden Objekt irgend welche Beziehungen bestanden haben
müssen. Warum aber bekommen die Mädchen Anfälle, also
Schmerzen, Leidenssymptome? Hier müssen wir uns daran er-
innern, daß das Symptom ja ein Kompromiß darstellt. Es muß
auch den verdrängenden Kräften Genüge tun. Diese Kräfte sind
es, die etwa sagen: Du wolltest so glücklich sein wie die X...
- nun sei zur Strafe so unglücklich wie die X...! Es geht so
zu wie in der Sage von Midas, der bestraft wird, indem er durch
das ihm gewährte viele Gold zugrundegeht. Immerhin sei hier be-
merkt, daß die beiden Bedeutungen der hysterischen Symptome,
eine Triebbefriedigung und eine Strafbefriedigung darzustellen,
nicht gleichwertig erscheinen, sondern daß der entstellte Befriedi-
gungscharakter überwiegt. Von reinen Hemmungssymptomen ab-
gesehen (z. B. Impotenz - siehe später -) scheint es keine
hysterischen Symptome zu geben, die nur die verdrängenden
Kräfte befriedigen und nicht den Trieb. Dagegen ist es wahr-
scheinlich, daß es umgekehrt triebbefriedigende Symptome gibt,
denen aber keine Strafbedeutung zukommt; man denke etwa an
die sogenannten hysterischen Stigmata, von denen der Patient
selbst nichts weiß.
b) Vom gleichen Typ ist die hysterische Identifi-
zierung mit dem glücklichen Rivalen. Freuds
I atientin Dora (Bruchstück einer Hysterieanalyse, Ges. Sehr. VIII)
bekommt denselben Husten, den ihre unbewußte Rivalin, Frau K.,
hatte. Die Analyse wies den Ödipuskomplex nach; sie liebte den
Vater und wäre gerne an Stelle der Geliebten des Vaters. Nun
heißt es wieder wie bei Midas: Du wolltest selbst die Geliebte
des Vaters sein; sei sie nun dort, wo sie leidet. Die Identifizie-
rung , n der Schuld ist so der Index für die intendierte Identifi-
zierung im Triebverlangen. So wird dieser Fall identisch mit dem
Mechanismus, den Freud als „entlehntes Schuldgefühl" be-
zeichnet hat („Das Ich und das Es", Ges. Sehr. VI, 395.) Nach
dem gleichen Typus identifizieren sich hysterische Mädchen
häufig mit ihrer Mutter, wobei dann nicht eine gefühlsindiffercnte
erson auf Grund einer rezenten Gemeinsamkeit nachgeahmt
wird, sondern gerade die, an deren Stelle zu sein einem alten
84
tiefen Triebwunsch entspricht, nur durch den Einfluß des Schuld-
gefühls an einer anderen Stelle als ursprünglich beabsichtigt.
c) Ein anderer Typus von hysterischer Identifizierung ist
schwerer zu verstehen. Es kommt vor, daß die am Ödipus-
komplex erkrankte Hysterika sich nicht mit der Rivalin Mutter,
sondern mit dem geliebten Vater identifiziert. Das ist eine tiefere
Angelegenheit, zu deren vollem Verständnis uns erst das ana-
lytische Studium der Melancholie führt. Hier nur so viel: Wird
man gezwungen, ein Objekt aufzugeben, so versucht man den
Verlust dadurch wettzumachen, daß man sich mit ihm identifi-
ziert. Übernimmt die Hysterika die Krankheit des Vaters, so
beweist sie uns, daß sie vergebens danach strebt, sich von ihm zu
lösen. (Die Hysterie einer Patientin ahmte jahrelang eine Tuber-
kulose nach. Ihr Vater hatte als junger Mann eine Tuberkulose
durchgemacht. Sie selbst hat den Beruf des Vaters ergriffen und
war der manifesten Homosexualität sehr nahe.)
Eine solche Identifizierung mit dem andersgeschlechtlichen
Elternteil bietet natürlich gleichzeitig Gelegenheit zur Befriedi-
gung des „negativen Ödipuskomplexes", wird durch konstitutio-
nelle Erhöhung der Bisexualität erleichtert und wird uns als
„geschlechtliche Fehlidentifizierung" in den folgenden Kapiteln
öfter begegnen.
d) Es gibt aber auch „multiple" Identifizierungen. Die Hysterika
kann gleichzeitig oder nacheinander verschiedene Personen, mit
denen sie sich nach den Typen a, b oder c identifiziert hat, dar-
stellen. Besonders die Anfälle stellen oft ganze Dramen dar.
Klassisch dafür ist das Beispiel der Patientin von Freud, die
mit der linken Hand sich das Kleid herunterzureißen, mit der
rechten es aber festzuhalten sucht; so identifizierte sie sich gleich-
zeitig mit dem vergewaltigenden Mann und der Überfallenen Frau.
(„Hysterische Phantasien und ihre Beziehungen zur Bisexualität.
Ges. Sehr. V, 2,3.) Ein etwas komplizierteres Beispiel ist der
folgende Fall, der allerdings nicht einem hysterischen Anfall,
sondern einem onanistischen Spiel entnommen ist: Ein Patient
tanzt erst nackt vor einem Spiegel, bekommt dann Stuhldrang
und den Einfall, er könnte im Zimmer defäzieren, worauf die
85
Ejakulation eintritt. Seinen Einfällen nach stellte der Tanz ein
Paar im Geschlechtsverkehr dar, der Stuhldrang aber die Regun-
gen eines zusehenden Kindes. So hatte er sich mit drei Personen
gleichzeitig identifiziert.
Ein Fall vom zwangsneuro*
tisdier »Isolierung«
Von
Otto Fenichel
Aus dem soeben erschienenen Bude „Hysterien
und Zwangsneurosen." (Siehe die Vorbe-
merkung zum vorangehenden Beitrag: .Hysterische
Identifizierung".)
Wie etwa ein Fall von Hysterie, der ganz bestimmte Tage seines
Lebens nicht erinnern kann, sich zur Demonstration der Verdrän-
gung ganz besonders eignete, obwohl doch alle Hysterien ver-
drängen, so gibt es auch besondere „Isolierungs"-Fälle unter den
Zwangsneurotikern, obwohl doch alle Zwangsneurotiker isolieren.
Ein 17-jähriger Mann erkrankte im Anschluß an den Kampf um
die Onanieabgewöhnung. Nach kurzer Zeit schuldfreier onanisti-
scher Befriedigung — die stets im Alleinsein erfolgt war, während
er öfter mutueller Onanie seiner Kollegen, selbst unbeteiligt, zuge-
sehen hatte — hielt der Pastor einmal eine Rede gegen die
Onanie, in der er den Rat erteilte, mit Jungen, die so was täten,
nicht mehr zu verkehren. Die Genitalität unseres Patienten war
in der Kindheit durch eine überstarke Kastrationsangst gehemmt
gewesen. Eine passiv-anale Fixierung erleichterte die neuerliche
Regression. Er nahm sich die Rede des Pastors sehr zu Herzen,
beschloß, seinen Rat zu befolgen und besonders mit einem
Jungen, der es am schlimmsten getrieben hatte, nicht mehr zu
reden. Eine Zeitlang ging das gut. Dann aber verlangte die Ver-
suchungsgefahr stärkere Abwehr, die Vermeidung des Verkehrs
nahm phobische Formen an und mußte durch zwangsneurotische
86
Maßnahmen gesichert werden: Wenn er mit dem Jungen zu-
sammentraf, mußte er ausspucken; ein Zahlenzeremoniell be-
treffend die zwanghafte Festsetzung der Anzahl der nötigen
Spuckakte konnte im Verlauf der kurzen Analyse nicht genügend
durchschaut werden. Die Phobie nahm an Umfang zu: Auch der
Verkehr mit Angehörigen und Freunden des „Gemiedenen" (so
nannte ihn der Patient, weil er seinen Namen nicht aussprechen
durfte) mußte eingestellt werden, dann — der „Gemiedene" war
Sohn eines Barbiers — der Besuch dieses Barbierladens, dann der
Besuch jedes Barbierladens, dann der Verkehr mit Menschen, die
sich rasieren lassen, dann der Besuch des Stadtteiles, in dem der
Barbierladen lag.
Die weitere Entwicklung dieser von Beginn an von Zwangs-
symptomen durchsetzten Phobie führte nun zur — sit venia
verbo — „Isolierungsneurose". Bisher war aus der Symptomatik
nichts über die Ursachen der Hemmung zu sehen gewesen, auf
die seine Pubertätsgenitalität stieß. Nun aber trat die Forderung
auf, auch die Angehörigen, bei denen er wohnte — vor allem die
weiblichen: Mutter, Großmutter und Schwester — , dürften nicht
in den verbotenen Stadtteil gehen. Der Patient litt sehr darunter,
daß die Angehörigen sich solche Einschränkungen ihrer Be-
wegungsfreiheit nicht gefallen lassen wollten. Er selbst unterwarf
sich zwar dem Verbot, suchte die verbotenen Gegenden nicht
auf, um so mehr mußte er aber in zwanghafter Weise an sie
d e n k e n. Daß ihm das peinlich war, ist begreiflich. Er begrün-
dete diese Peinlichkeit aber in unerwarteter Weise: Er sehe zu
Hause Mutter und Großmutter und deshalb dürfe er mchwn
„unsympathische" Personen oder ^ff^J^'^
der Patient den Zusammenhang **t **g3 W ; m ^
Onaniekampf kannte, „ignorierte" er ihn, die ünan
bar ganz leicht geschwunden, das ^»Jg* £s n e ur o-
mehr auf, an seine Stelle trat nun immer *~£aSrf- und
tische Bestreben, die W-f- ^^^1^
„unsympathische Personen und örtlichKeit
halten, sie zu i s o 1 i e r e n.
rv , ,. a* nun der Hauptinhalt der Neurose, die
Diese Isolierung wurde nun aer "«"i 7 ,.
uicsc Isolierung w Patient konnte nun wohl
Phobie trat in den Hintergrund. Der 1 atient »u
«7
wieder an Unsympathisches denken, aber nicht gleichzeitig an
„sympathische" Menschen. So verriet er den Ödipuskomplex als
das anstößige Moment seiner Onanie. Im Ausbau dieses Isolie-
rungsbestrebens des Ichs als Abwehr des in der Pubertät aktivier-
ten Ödipuskomplexes bildete sich jetzt in wenigen Monaten eine
Zwangsneurose allerschwerster Art aus.
Es erging dem Patienten, wie es dem Mann bei W e d e k i n d
erging, der an keinen Bären denken sollte. Wenn er etwa an den
Barbierladen dachte, fiel ihm sofort die Großmutter ein. Dieses
quälendste Symptom nannte er die „Verknüpfung". Gegen sie half
nur ein Mittel: Die Abwehr durch „Ungeschehenmachen". Das
war m diesem Falle die sogenannte „Auseinanderknüpfung".
Wenn er nach gleichzeitigem Denken an verbotenen Ort und
sympathischen Menschen völlig isoliert das reine Bild des
von allem sympathischen Beiwerk befreiten Unsympathischen
sehen konnte, so war alles wieder gutgemacht und der Patient
beruhigt. Schon nach kurzer Zeit war er vom Morgen bis zum
Abend einzig mit „Auseinanderknüpfungen" beschäftigt.
Nun traten die zwei Erscheinungen dazu, die eine sich ausbil-
dende Zwangsneurose zu erschweren pflegen: Eine großartige
Umfangserweiterung des Symptombereiches und der Durchbruch
der abgewehrten Regung im Symptom selbst.
Die Einteilung der Objekte in „sympathische" und „unsym-
pathische" umfaßte zunächst sämtliche Personen und örtlich-
keiten. Nicht nur alle Mitschüler wurden unsympathisch, alle
Verwandten sympathisch, sondern alle anderen Menschen wurden
nach oberflächlichen Assoziationen auch einer der beiden Kate-
gorien zugeordnet und verfielen damit dem Bereich der Ver-
knüpfung und Auseinanderknüpfung (z. B. wurden Freunde und
Berufsgenossen von Leuten, die er etwa auf dem Weg in den ver-
botenen Stadtteil sah, unsympathisch, fast alle Frauen, wenn
gegen sie nichts Besonderes vorlag, sympathisch). Das Analoge
geschah mit allen örtlichkeiten, so daß es eine Anzahl Varia-
tionen der „Verknüpfung" (sympathischer Mensch an unsympa-
thischem Ort, unsympathischer Mensch an sympathischem Ort,
sympathischer Mensch gleichzeitig mit unsympathischem Mensch,
sympathischer Ort mit unsympathischem Ort, „Mischperson", d. &
88
solche, die Züge von sympathischen und unsympathischen Men-
schen vereinigte, z. B. die Großmutter mit Gesichtszügen der
Mutter des Gemiedenen, „Mischorte") und „Auseinanderknüpfung"
gab. — Des weiteren gelangten alle Konkreta in den Symptom-
bereich (z. B. wurden Spiegel, die an den Barbierladen erinnerten,
unsympathisch, so daß die Erscheinung „das Bild der Schwester
in einem Spiegel" eine quälende Verknüpfung war), dann auch
Abstrakta, z. B. wurden einige Worte, die er von unsympathischen
Menschen gehört hatte, unsympathisch, so daß er sie nicht in
Sätzen gebrauchen konnte, in denen sympathische Worte vor-
kamen.
Fortwährend traten die anstößigen „Verknüpfungen" (die ver-
pönten ödipusregungen) ins Bewußtsein, fortwährend mußten sie
durch „Auseinanderknüpfungen", d.h. mit Hilfe des „Ungeschehen-
machens", das in diesem Falle mit der „Isolierung" zusammenfiel, ab-
gewehrt werden, widrigenfalls Angst und quälende Spannungsgefühle
entstanden. Dabei galt noch eine schwere Bedingung: Bevor die Aus-
einanderknüpfung gelungen war, durfte der Ort, an dem sich der
Patient zur Zeit der Verknüpfung befunden hatte, nicht verlassen,
die Beschäftigung, der er zur Zeit der Verknüpfung hingegeben war,
nicht unterbrochen werden. Diese Bedingung war die sozial
schädigendste: Da eine Auseinanderknüpfung gelegentlich Stunden
benötigte, kam es vor, daß der Patient stundenlang still stehen
oder eine sinnlose Beschäftigung fortsetzen mußte. So war es
immer fraglich, ob es nach der Analysenstunde gelingen werde,
das Sofa zu verlassen, und die Angst, eventuell zwischen Ver-
knüpfung und Auseinanderknüpfung eine Behandlungsstunde ab-
brechen zu müssen, quälte den Patienten die ganzen Stunden hin-
durch. Ginge die Auseinanderknüpfung auch nur in einem ge-
ringen Detail anders vor sich als die Verknüpfung, so bliebe sie
wirkungslos; ein, wie mir scheint, für den Mechanismus des Un-
geschehenmachens charakteristischer Zug.
Endlich wurden die zur Abwehr bestimmten Symptome selbst
Ausdruck der verpönten Triebregungen: Der Zwang zur Ausein-
anderknüpfung machte es nötig, daß der Patient immer genügend
unsympathische Menschen, örtlichkeiten, Dinge, Eigenschaften
„parat" habe. Die Sehnsucht, die quälenden Spannungen rasch zu
beendigen, besiegte die Phobie und brachte die Wiederkehr des
Verdrängten: Der Patient suchte unsympathische Orte auf, sah
sich unsympathische Menschen möglichst genau an, damit er sie
gegebenenfalls parat habe! Allerdings gelang das nicht mit allem
Unsympathischen: der „Gemiedene" z. B. blieb auch weiterhin
gemieden; es stellte sich schließlich eine Reihe gradueller Ver-
schiedenheiten her: Es gab ganz Unsympathisches, das phobisch
gemieden wurde, weniger Unsympathisches, das er mit Vor-
liebe aufsuchte, um, wenn Sympathisches erscheint, rasch aus-
einanderknüpfen zu können, wenig Indifferentes, leicht Sym-
pathisches, ganz Sympathisches. Am Ende dachte er bewußt und
angestrengt fast nur an Unsympathisches, in der Hoffnung, da-
durch die Auseinanderknüpf ung rascher bewältigen zu können;
erinnert man sich daran, daß die Gedanken an Umsympathisches
eigentlich die Onanie bedeuteten, so onanierte er nun also un-
unterbrochen. Und tatsächlich: War die Spannung aufs höchste
gestiegen und wollte die Auseinanderknüpfung trotz höchster An-
strengung nicht gelingen, so kam es gelegentlich, zur Überraschung
des Patienten, zur Pollution.
Auch die Verknüpfung selbst, d. h. das Zusammenbringen
sympathischer Menschen mit unsympathischen Worten, setzte
sich nun, dem Patienten unbemerkt, gegen das isolierende Ich
durch. Einer seiner zahlreichen sekundären Krankheitsgewinne
war, daß er sich wie ein kleines Kind anziehen ließ, weil sonst
das Anziehen durch die zahlreichen eingeschalteten Auseinander-
knüpfungen stundenlang dauerte. Wenn ihn nun seine Großmutter
anzog, so fuhr er plötzlich mit den wüstesten Schimpfworten los.
Damit meinte er aber nicht die Großmutter, sondern die unsym-
pathischen Menschen, deren Bilder ihm während dieser Beschäf-
tigung, so eine Verknüpfung bildend, in den Sinn kamen.
In einem zweiten Fall ließ sich etwas Ähnliches beobachten:
Ein schwer grübel- und zweifelsüchtiger Patient, mit dem sich
wegen der Schwere seiner Krankheit die analytische Arbeit kaum
durchführen ließ, protestierte gegen die Grundregel. Es stellte
sich schließlich heraus, daß er bestrebt war, die Existenz einer
Freundin zu verschweigen. Aber nicht etwa, weil er darüber über-
haupt nicht sprechen oder die Betreffende nicht bloßstellen wollte,
90
L
sondern, weil er in der Analyse bereits über Onanie gesprochen
hatte und alle grobe Sexualität von dieser Freundin isoliert ge-
halten bleiben mußte. Er wollte eventuell von ihr doch reden,
meinte der Patient, wenn er nur sicher wäre, daß ihm dann in
der gleichen Stunde nicht noch vielleicht etwas grob Sexuelles
einfallen werde. Die Idee, daß auch in diesem Falle solche „Aus-
cinanderknüpfung" die Antwort auf eine zwanghafte „Ver-
knüpfung", die Abwehr der ödipusregung war, fand erst viel
später Bestätigung. Das Symptom, das der Patient am ängstlich-
sten hütete und am ausgiebigsten zu dissimulieren suchte, bestand
darin, daß er, wenn er die Freundin sah oder ihr Name genannt
wurde, den Zwangseinfall hatte: „Kleine Hure". Dieses Symptom
also entsprach dem Ödipus-Triebanspruch, gegen den das Ich sich
mit dem Mittel der Isolierung zur Wehr setzte. Wir werden
daran gemahnt, daß die von Freud geschilderte, für unseren
Kulturkreis und speziell für die Pubertätszeit charakteristische
Spaltung der Sexualität in Sinnlichkeit und Zärtlichkeit durch
„Isolierungs"-Maßnahmen gehalten wird, die das Ich ins Werk
setzt, um den Durchbruch der ursprünglich ebenfalls auf das
Zärtlichkeitsobjekt (Inzestobjekt) gerichteten Sinnlichkeit zu ver-
hindern. — Interessant war, wie dieser zu paranoiden Mechanis-
men neigende Patient die Triebabwehr der Isolierung mit der der
Projektion verband. Einen schwer überwindbaren Widerstand
setzte ich durch folgende Unvorsichtigkeit: Als der Patient
einmal, um die Psychoanalyse ad absurdum zu führen, meinte,
es falle einem ja doch nur ein, was man wolle, antwortete ich,
ihm falle ja doch „kleine Hure" ein, obwohl er es nicht wolle.
Tagelang warf mir nun der Patient vor, wie gemein und sinnlich
ich wäre, weil ich seine Freundin eine Hure nenne und, was er
einmal gestanden hätte, ausnutzte, um ihn einer Schweinerei mit
seiner Freundin zu bezichtigen; letztere gehöre eben, wie er gleich
gewußt hätte, nicht in die Analyse.
Ein anderer Patient hatte durch seine Eheschließung eine groß-
artige Isolierung geschaffen. Das Zusammenleben mit seiner Frau
sollte mit der infantilen Vorzeit keinen Zusammenhang haben.
An den Punkten, an denen sich gegen die Isolierungsabsicht
infantil-sexuelle Strebungen in die Ehe eingedrängt hatten, waren
9*
schwere abwehrende Zwangssymptome entstanden. Diese Isolie-
rung bewirkte, daß eine tiefgehende Analyse der Kindheit thera-
peutisch erfolglos blieb, bis auch der volle Zusammenhang dieser
mit der Ehe durchgearbeitet und die die Isolierung behütenden
Widerstände überwunden waren.
Von einem weiteren Fall sei noch angeführt, wie er die Isolie-
rung in den Dienst des Widerstandes stellte. Wenn er einmal
verdrängtem Material, d. h. vom Ich abgewehrten Inhalten, sich
mit seinen Einfällen näherte, so tat er das in der Weise, daß
er etwa zehn Minuten vor Ende der Stunde damit abbrach und
dann unwichtiges Zeug brachte. Der Übergang von wichtigem zu
unwichtigem Material spielte sich plötzlich und ruckartig ab. Der
unbewußte Zweck dieser Technik war, eine Einflußnahme des
analytischen Materials auf die Realität hintanzuhalten. Das Un-
wichtige am Ende der Stunde ist im wörtlichen Sinn eine
Isolierschicht, die die Berührung des in der Analyse Vor-
gebrachten mit dem Alltag verhindert, indem sie sich zwischen
beide einschiebt.
Häufig wird diese Isolierschicht dadurch gesichert, daß der
Kranke in einer gewissen zeremoniell festgelegten Weise zählen
(Zeit messen) muß, bevor er eine neue Betätigung beginnen darf,
— eine der unbewußten Absichten des Zählzwanges.
über Exhibitionismus
Von
Otto Femichel
Gleichzeitig mit dem Buche »Hysterien und Zwangsneurosen'
von
"•—"■-»"••■b »*»«. uhu uuuic »nysiencn una z.wai»t;s» t "* w
Otto Fenichel erschien soeben noch ein zweites Buch desselben
Verfassers: .Perversionen, Psychosen, C h ar ak t c rst °-
rungen" (Geh. M. 8-—, in Ganzleinen M. io-— ). Aus dem I. Kapxte
dieses Buches geben wir hier den Exkurs über Exhibitionismus wieder-
Soweit Analysen von Exhibitionisten vorliegen, ergeben
sie alle, daß ihr Tun eine ewige Leugnung der Kastration dar-
stellt. Dieser kastrationsverleugnende Sinn ist ein doppelter: In
S*
oberflächlicherer Schicht fordert der Exhibitionist durch die
Demonstration seines Penis alle Menschen auf, ihm dessen Vor-
handensein zu bestätigen. In tieferer Schicht bedeutet das Zeigen
eine Aufforderung an die Frauen und Mädchen, denen gegenüber
es geschieht, sich selbst ebenso zu zeigen. Hinter der manifesten
Exhibition ist also eine latente Schaulust verborgen, und die
Demonstration des Penis erweist sich dabei als eine Art magischer
Geste, die den Frauen zeigt, was der Patient bei ihnen zu sehen
wünscht: daß auch sie einen Penis haben. Beim Exhibitionisten
sehen wir zum ersten Mal, wie die Bewältigung der den Ödipus-
komplex bedrohenden Kastrationsangst durch einfache Hyper-
trophie eines infantilen Partialtriebes versucht wird. Das Zurück-
greifen auf die prägenitale exhibitionistische Lust der Kinderjahre,
sicher nur ermöglicht durch besondere Fixierung an diesen Partial-
trieb, dient hier regressiv der Verdrängung der genitalen Kon-
flikte. Durch die Häufigkeit und Ausschließlichkeit, mit der dieser
Trieb das gesamte Sexualleben des Perversen beherrscht, verrat er,
daß er die Libidoquanten auch anderer und gewichtigerer ^ Trieb-
regungen auf sich gezogen hat, deren Bewältigung gerade dadurch
SÄrÄ des Exhibitionismus als Versuch, äj Kastra-
tionsangst zu überlinden, kann für das weibliche Geschlecht nie t
zutreffen. Tatsächlich findet man kaum Frauen mit einer an-
gesprochen genital-exhibitionistischen Perversion. Dagegen ist di
nicht-genitale Exhibition aller übrigen Körperteile als nicht zu
Endlust führendes sexuelles Vorspiel beim ^J-^
schlecht um so häufiger (Eitelkeit). X i^|^g
Unterschied zwischen männlichem und weW«»
mus eben aus der Differenz des *«°™^™ l tihlichen
Geschlechtern ^Ä^ÄÄ Kränkung
Geschlecht nicht vorhanden ist und dasjusji*^^^^^__
, . n Fa n von Exhibitionismus war der Kastrations-
i) In einem von mir analysierten Fall vc \ n<l verknüpft . Der reale Vater,
komplex in merkwürdiger Weise mit einem „ram^ « »--^ ^ unbewußte Erwartung,
der als „niedriger Stiefvater- perz.piert WS . ^ ^ ^ p^^ seine hohe
kastrieren. Am narzißtisch überschätzten 1 enis Demonstration des Penis, ihn vor
Abkunft an, deren Anerkennung, provoziert durch ex
der Kaitrationsgefahr schützen würde.
93
perzipiert wird, muß beim Mädchen die infantile Zeigelust vom
Genitale weg auf das Körperganze verlegt werden. Eben des-
wegen eignet sich die verschobene Zeigelust dann nicht zum
angsterledigenden Sexualersatz, so daß eine orgasmusfähige Per-
version sich nicht entwickelt.
Die Bestätigung dafür gibt die Analyse weiblicher Exhibitions-
tendenzen, die jedesmal eine unbewußte genitale Basis erkennen
läßt, die aus der Zeit vor der Erfassung des Geschlechtsunter-
schiedes stammt. Diese genitale Tendenz ging etwa dahin, beim
Urinieren beobachtet zu werden, wurde aber dann durch Scham,
nämlich durch die Angst, wegen der Penislosigkeit verlacht oder
wenigstens nicht anerkannt zu werden, gehemmt, was eine genito-
fugale Verschiebung notwendig machte. So hatte eine Patientin
einen merkwürdigen Stolz auf Photographien, auf denen sie bar-
fuß dargestellt war. Die unbewußt-phallische Natur dieser Ex-
hibition wurde durch das hysterische Symptom geklärt, während
des Sexualverkehrs die großen Zehen strecken und spreizen zu
müssen.
Die seltenen Ausnahmen, bei denen doch auch die Tendenz, das
weibliche Genitale zu exhibieren, eine bedeutendere Rolle im
Sexualleben spielt, erklären sich in der Analyse als weitgehende
männliche Identifizierungen.
So konnte die weibliche Onaniephantasie, die Patientin werde
gezwungen, ihr Kleid in der Genitalgegend so auszuschneiden, daß
das Genitale sichtbar werde, die kombiniert mit einer Bevor-
zugung des Cunnilingus als Sexualbefriedigung auftrat, auf die
unbewußte Phantasie zurückgeführt werden, es sei tief im Genitale
dennoch ein Penis verborgen. Die Patientin war als kleines Mäd-
chen von ihrem Bruder wegen analer Inkontinenz verlacht worden.
Es war auch ein analer Anlaß gewesen, bei dem sie sich die Über-
zeugung von der Existenz des verborgenen Penis geholt hatte.
(Man hatte ihrem Stuhldrang nicht getraut.) Nun fordert ihre
Perversion die Männer auf, sich doch davon zu überzeugen,
daß,
wenn man nur genau hinsehe, doch ein Penis da sei, dient a so
ganz in männlicher Art der Kastrationsverleugnung.
94
Kiederaoalysee mit
Erwachsenen
Von
,
S. Fereoczi
Festvonrag, gehalten anläßlich des fiinfundsieb/ig-
sten Geburtstages von Professor Freud in der .Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung" am 6. Mai 193 '•
Erschienen in der Internat, Zeitschrift für Psycho-
analyse, Bd. XVII (193 0. " eft 2 -
Meine Damen und Herren!
Es bedarf einer Erklärung oder Entschuldigung, daß in einer
Vereinigung, in deren Mitte so viele Würdige und Würdigere
dieses Amtes walten könnten, gerade ich, ein Fremder, zum Red-
ner unserer heutigen Feier erkoren wurde. Die Anciennität allein,
die 25 Jahre, die ich an der Seite des Meisters und unter seiner
Führung erleben durfte, macht es nicht aus; sitzen doch m Ihren
Reihen Kollegen, die ihm noch länger als ich treue Gefolgschaft
leisten. Lassen Sie mich also eine andere Begründung konstruieren.
Vielleicht wollten Sie diese Gelegenheit dazu benutzen, um eine
weitverbreitete und von Uneingeweihten und Widerstandischen
gerne gehörte Lüge aus der Welt zu schaffen. Unzählige Male
hört man leichtsinnig hingeworfene Äußerungen über die Unduld-
samkeit, die „Orthodoxie" unseres Lehrers. Er lasse in seinem
Kreise keine Kritik seiner Theorien zu. Er dränge alle selbständigen
Talente aus diesem Kreise heraus, um tyrannisch seinen .wissen-
schaftlichen Willen durchzusetzen. Einige sprechen von ™»
testamentarischen Strenge, die sie ^^^^tÄ
den wollen. Nun, es ist eine traurige Wahrheit, a
hervorragende Talente ^ff^^^Z^^^
nach kurzer oder längerer Gefolgscha t den Ruck ^ g
Sind sie wirklich rein wissenschaftlichen Motiven g g
meine, ihre wissenschaftliche Unfruchtbarkeit seit der Abkehr
spricht nicht zu ihren Gasten ^ ^ Argu _
Ich möchte nun Ihre freundliche fciniaaui g
1. ^ l j^; a Apt Internationalen Vereinigung unu
ment gegen die Orthodoxie der int«»«"
95
'■
ihres geistigen Führers, Professor Freud, in die Wagschale
werfen. Ohne mich an Bedeutung mit den Kollegen, auf die ich
anspiele, messen zu wollen, Tatsache ist, daß ich ziemlich allge-
mein als ein unruhiger Geist, oder wie man mir es unlängst in
Oxford sagte, als enfant terrible der Psychoanalyse bekannt bin.
Die Vorschläge, die ich in technischer und theoretischer Hin-
sicht Ihrem Urteil unterbreitete, werden von einer respektablen
Mehrheit als phantastisch, allzu originell, bekrittelt. Ich kann auch
nicht behaupten, daß Freud selber mit allem, was ich publiziere,
einverstanden ist. Er nahm kein Blatt vor den Mund, als ich ihn
um seine Meinung bat. Er setzte aber gleich hinzu, daß die Zu-
kunft in mancher Hinsicht mir recht geben mag, und weder ihm
noch mir fällt es ein, wegen dieser Differenzen bezüglich der Me-
thodik und der Theorie unsere Zusammenarbeit zu unterbrechen;
sind wir doch über die wichtigsten Grundsätze der Psychoanalyse
vollkommen einer Meinung.
In einer Hinsicht ist Freud allerdings orthodox. Er schuf
Werke, die seit mehreren Jahrzehnten unverändert, unangetastet,
wie kristallisiert dastehen. Die Traumdeutung z. B. ist ein solch
scharfgeschliffenes Juwel, inhaltlich und formal so festgefügt, daß
sie allen Wandlungen der Zeiten und der Libido widersteht, so
daß sich die Kritik kaum an sie heranwagt. Danken wir dem
Schicksal, daß wir das Glück haben, mit diesem großen und, wie
wir es laut verkünden können, liberalen Geiste zusammenwirken
zu dürfen. Hoffen wir, daß sein 75. Lebensjahr ihm zur unge-
brochenen geistigen Frische auch die Herstellung der Körperkräfte
bringen wird.
*
Nun, zum Thema meines heutigen Vortrages. Es fügte sich, daß
sich im Laufe der letzten Jahre bei mir gewisse Erfahrungstat-
sachen der Analyse um Ideen gruppierten, die mich dazu drängen,
den bisher so scharfen Gegensatz zwischen der Analyse der Kinder
und Erwachsenen wesentlich zu mildern.
Die ersten Ansätze der Kinderanalyse stammen aus Ihrer Gruppe-
Abgesehen von einem einzigen, allerdings wegweisenden Versuc e
Freuds, war die Wiener Analytikerin v. Hug-Hellmut
die erste, die sich methodisch mit der Analyse von Kindern be-
96
faßte. Ihr verdanken wir die Idee, die Analyse mit Kindern sozu-
sagen als Kinderspiel zu beginnen. Sie und später Melanie Kl e i n
sahen sich genötigt, wollten sie sich mit Kindern analytisch be-
schäftigen, wesentliche Änderungen an der Technik der Erwacn-
senenanalyse vorzunehmen, meist im Sinne einer Milderung der
sonst üblichen technischen Strenge. Allgemein bekannt und geschätzt
sind die systematischen Arbeiten Ihres Mitgliedes Anna Freud
über diesen Gegenstand und die meisterhaft geschickten Kunstgriffe
Aichhorns, auch die schwierigsten Kinder gefügig zu machen.
Ich selber hatte mit Kindern analytisch sehr wenig zu tun, und es
ist für mich selber eine Überraschung, nun von einer ganz anderen
Seite her auf die Probleme der Kinderanalytik zu stoßen. Wie kam
ich eigentlich dazu? Es ist in wenigen Worten erzählt, es ist aber
nicht überflüssig, bevor ich diese Frage beantworte, Ihnen von einer
persönlichen Eigenheit meiner Arbeitsrichtung Mitteilung zu
machen. Eine Art fanatischen Glaubens an die Leistungsfähigkeit
der Tiefenpsychologie ließ mich die gelegentlichen Mißerfolge
weniger als Folgen der „Unheilbarkeit", denn als die Konsequenz
unseres eigenen Ungeschicks ansehen, eine Voraussetzung, die rmch
AI dL führte, in schweren, mit der **££**
nicht zu bewältigenden Fällen Änderungen an dieser Technik vor
zunehmen. , ,
Ich entschließe mich also nur höchst ungern ta» .»*£
Ehesten Fall aufzugeben, und entwickelte mich zu «•*■»
listen besonders schwerer Fälle, mit denen ich «^ 7*22Ä
hindurch befasse. Urteile, wie: der Verstand des P«
unbezwingbar, oder, der Narzißmus ge statte es n.ch m dem
weiter vorzudringen, oder ^ »ÄÄSÖ***.
sogenannte Versandung eines Falles, Hieben ,» m.ch ^
Ich dachte mir, so lange der Patient ^«haupt ^ ^
der letzte Faden der Hoffnung nicht S™ widerstiin d des
immer wieder die Frage stellen .st "»"■» vlelmehr unsere
Patienten die Ursache des Mißerfolges und mdu m ^ ^
eigene Bequemlichkeit, die es ; verschmäh s anscheinend
Person auch in **^Jfi£££* recht lange Zeiten
versandeten Fällen, in denen die An y ^ Fortschritte
hindurch weder neue Einsichten noch tne p
7 Almanach 19 3*
97
brachte, bekam ich die Empfindung, daß das, was wir freie Asso-
ziation nennen, immer noch zu sehr bewußte Gedankenauswahl ist,
drängte also die Patienten zu tieferer Relaxation, zu vollständigerer
Hingebung an die ganz spontan auftauchenden inneren Eindrücke,
Tendenzen und Emotionen. Je freier nun die Assoziation wirklicn
wurde, um so naiver — man könnte sagen, kindischer — wurden
die Äußerungen und sonstigen Manifestationen der Patienten,
immer häufiger mengten sich unter die Gedanken und bildmäßigen
Vorstellungen auch kleine Ausdrucksbewegungen, gelegentlich auc
„passagere Symptome", die dann, wie alles übrige auch, der Ana-
lyse unterzogen wurden. Nun erwies sich in einigen Fällen die
kühl zuwartende Stummheit und Reaktionslosigkeit des Analytikers
als eine Störung der Assoziationsfreiheit. Kaum, daß sich der P* -
tient bereitfindet, wirklich selbstvergessen alles herzugeben, was in
ihm vorgeht, erwacht er wie mit einem Ruck plötzlich aus der
Versunkenheit und beklagt sich, er könne doch unmöglich seine
Gemütsbewegungen ernst nehmen, wenn er sieht, daß ich ruhig
hinter ihm sitze, meine Zigarette rauche, und höchstens etwa teil-
nahmslos und kühl mit der stereotypen Frage reagiere: „Nun, was
fällt Ihnen dazu ein?" Da dachte ich mir denn, daß es Mittel und
Wege geben müßte, diese Assoziationsstörung zu beseitigen und dem
Patienten Gelegenheit zu bieten, die um Durchbruch ringende
Wiederholungstendenz in weiterem Ausmaß zu entfalten. Es
dauerte aber recht lange, bis ich die ersten Anregungen dazu emp-
fing, und zwar wieder von den Patienten selbst. Hier ein Beispiel:
Ein im besten Mannesalter stehender Patient entschließt sich nach
Überwindung schwerer Widerstände, insbesondere seines starken
Mißtrauens, sich Vorgänge seiner frühesten Kindheit zu vergegen-
wärtigen. Dank der analytischen Aufhellung seiner Vorzeit weiß
ich bereits, daß er mich in der wiederbelebten Szene mit seinem
Großvater identifiziert. Auf einmal — mitten im Gespräch -^
schlingt er seinen Arm um meinen Hals und flüstert mir ins Ohr:
„Du, Großpapa, ich fürchte, ich werde ein kleines Kind bekom-
men!" Da verfiel ich auf die, wie mir scheint, glückliche Idee, ihm
zunächst nichts von Übertragung u. dgl. zu sagen, sondern »m
gleichen Flüsterton die Rückfrage an ihn zu richten: „Ja, warum
glaubst du denn das?" Wie Sie sehen, habe ich mich da in cin
k*.
9 8
Spiel eingelassen, das man Frage- und Antwortspiel nennen könnte,
durchaus den Vorgängen analog, die uns die Kinderanalynker be-
richten, und ich bin mit diesem kleinen Kunstgriff eine Zeitlang
gut gefahren. Glauben Sie aber ja nicht, daß ich in der Lage bin,
in einem solchen Spiele alle möglichen Fragen zu stellen. Ist meine
Frage nicht einfach genug, nicht wirklich der Fassungskraft eines
Kindes angepaßt, so ist das Zwiegespräch bald abgebrochen, ja,
mancher Patient sagt es mir gradwegs ins Gesicht, ich hätte mich
ungeschickt benommen, sozusagen das Spiel verdorben. Das pas-
sierte mir nicht selten in der Art, daß ich in meine Antworten und
Fragen Dinge einmischte, von denen das Kind seinerzeit unmöglich
wissen konnte. Eine noch energischere Zurückweisung wurde mir
zuteil, wenn ich gar gelehrte, wissenschaftliche Deutungen zu
geben versuchte. — Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß
meine erste Reaktion auf solche Vorkommnisse eine Art autori-
tärer Empörung war. Für einen Moment fühlte ich mich durch
die Zumutung verletzt, daß der Patient oder Schüler die Sachen
besser wissen solle als ich selbst, zum Glück kam mir aber sofort
der andere Gedanke, am Ende müsse er ja die Dinge = über ^ sich
wirklich besser wissen als ich sie erraten könne. Ich *a > a * *
Möglichkeit des Irrtums meinerseits zu, und die Folge war nicht
da Verlieren meiner Autorität, sondern die Steigerung seines Ver-
trauens zu mir. Nebenbei gesagt, waren einzelne Pauenten darube
empört, daß ich dieses Verfahren ein Spiel nannte. Sie sagten da
sei ein Zeichen, daß ich die Sache nicht ernst nehme. Auch« anu
hat es seine Richtigkeit; bald mußte ich mir ff£$***
tienten eingestehen, daß diese Spielereien . v»d JW >**• « Jg»
Realitäten des Kindesalters versteckt «*^^^ pWer ischen
ich, als einzelne Patienten pteff.^Äi
Gehaben in eine Art halluzinatorischer 2~**£ unbewußte
in der sie mir traumatische Vorgänge J^^^-^
Erinnerung auch hinter dem »g-gjÄ^ analytischen
weise machte ich bereits m den Antang ^
Laufbahn eine ähnliche Beobachtung^ E^^ Dämmer -
im Zwiegespräch mit nur in einer A ^^ ^ Mann
zustand eine Szene zu agieren, len ^ £nde
recht energisch und schrie ihn an, er soii
99
I
was er mir soeben sagen wollte. Diese Aufmunterung half, er ge-
wann durch meine Person, wenn auch nur in eingeschränktem
Maße ckn Kontakt mit der Außenwelt wieder und konnte mir
einiges von seinen verborgenen Konflikten, statt in der Gebärden-
sprache seiner Hysterie, in verständlichen Sätzen mitteilen.
Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, habe ich bei meinem
Vorgehen den technischen Kunstgriff der „Spielanalyse" mit einem
— allerdings auf eine Reihe von Beobachtungen gestützten — Vor-
urteil verbunden, dem nämlich, daß man sich mit keiner Analyse
zufriedengeben darf, solange sie nicht die reale Reproduktion der
traumatischen Vorgänge der Urverdrängung herbeigeführt hat,
auf der Charakter und Symptombildung schließlich beruhen. Wenn
Sie bedenken, daß nach unseren bisherigen Erfahrungen und Vor-
aussetzungen die Mehrzahl der pathogenen Erschütterungen in die
Kinderzeit fällt, werden Sie sich nicht darüber wundern, daß der
Patient beim Versuch, die Genese seines Leidens preiszugeben,
plötzlich ins Kindische oder Kindliche verfällt. Nun erheben sich
aber einige wichtige Fragen, die ich auch mir selber stellen mußte.
Hat man etwas davon, wenn man einen Patienten in die kindliche
Primitivität sinken und ihn in diesem Zustande frei agieren läßt?
Ist damit wirklich eine analytische Aufgabe erfüllt? Ist das nicht
etwa die Bekräftigung des uns vielfach gemachten Vorwurfs, die
Analyse erziehe die Menschen zu unbeherrschter Triebhaftigkeit,
oder sie provoziere einfach hysterische Anfälle, die doch auch ohne
analytische Hilfe, aus äußeren Gründen, plötzlich auftreten können,
ohne dem Menschen mehr als eine vorübergehende Erleichterung
zu bringen? Und überhaupt, wie weit darf so ein analytisches
Kinderspiel gehen? Gibt es Kriterien, die uns gestatten, die Grenze
zu bestimmen, bis zu der die kindliche Relaxation gestattet werden
darf, und bei der die erzieherische Versagung beginnen muß?
Natürlich ist mit der Reaktivierung der Kindlichkeit und mit
der Reproduktion der Traumata im Agieren die analytische Aufgabe
nicht erfüllt. Das spielerisch agierte oder sonstwie wiederholte Ma-
terial muß einer gründlichen analytischen Durchforschung unter-
zogen werden. Natürlich hat Freud recht, wenn er uns lehrt,
d aß es ein Triumph der Analyse ist, wenn es gelingt, das
Agieren durch Erinnerung zu ersetzen; ich meine aber, es ist auch
ioo
von Vorteil, bedeutsames Aktionsmaterial zu beschaffen, das man
dann in Erinnerung umsetzen kann. Auch ich bin im Prinzip gegen
unkontrollierte Ausbrüche, meine aber, daß es zweckdienlich ist,
die verborgenen Aktionstendenzen möglichst breit aufzudecken,
bevor man an die gedankliche Bearbeitung und damit gleichzeitig
an die Erziehung zur Selbstbeherrschung herangeht. Auch die Nürn-
berger hängen keinen Dieb, sie hätten ihn denn. Glauben Sie also
nicht, daß meine Analysen, die ich gelegentlich zum Kinderspiel
degradiere, im Grunde so verschieden von den bisherigen sind. Die
Stunden beginnen, wie immer, mit Gedanken, die von der psychi-
schen Oberfläche ausgehen, befassen sich — wie auch sonst — recht
viel mit den Ereignissen des Vortages, dann kommt etwa eine
„normale" Traumanalyse, die allerdings schon gerne ins Infantile
oder in die Aktion ausartet. Aber ich lasse keine Stunde ver-
gehen, ohne das Aktionsmaterial gründlich zu analysieren, natür-
lich unter voller Verwertung alles dessen, was wir von Über-
tragung und Widerstand und von der Metapsychologie der Sym-
ptombildung wissen und dem Patienten bewußt zu machen haben.
Auf die zweite Frage, wie weit die Aktion im Kinderspiel gehen
darf, kann man antworten: auch der Erwachsene sollte in der
Analyse sich wie ein schlimmes, d. h. unbeherrschtes Kind beneh-
men dürfen, wenn er aber selber in den Fehler verfällt, den er uns
gelegentlich vorwirft, wenn er also beim Spiel aus der Rolle fallt
und darauf ausgeht, die infantile Realität in den Aktionen eines
Erwachsenen auszuleben, dann muß man ihm zeigen, daß nun eben
er der Spielverderber ist; und es muß so gelingen, ?J "* °*
mit Mühe, ihn dazu zu bringen, Art und Umfang «^^
auf das Kindliche zu beschränken. In diesem *W*gg
möchte ich der Vermutung Ausdruck geben, daß *• JjggJ
Ausdrucksbewegungen des Kindes, -besondere au W^ l^dmo
sen, im Grunde auf das ^^^^^
gehen und daß die Elemente der Bosheit, der i-e
der unbeherrschten Perversion meist schon che F Igen t ktloser^ g
handlung seitens der Umgebung sind, -r *s ist r
von Vorteil, wenn es dem Mgf3 ÖBSTSi
loser Geduld, Verständnis, Wohlwollen una
Patienten soweit als möglich entgegenzukommen. Man schafft S1 ch
JOI
so einen Fond, auf den gestützt man die früher oder später un-
vermeidlichen Konflikte mit Aussicht auf Versöhnung auskämpfen
kann. Der Patient wird dann unser Benehmen als Kontrast zu
den Erlebnissen in der wirklichen Familie empfinden, und da er
sich nun vor der Wiederholung geschützt weiß, getraut er sich, in
die Reproduktion der unlustvollen Vergangenheit zu versinken.
Die Vorgänge, die sich dabei abspielen, erinnern lebhaft an jene,
die uns von den Kinderanalytikern berichtet werden. Es kommt
z. B. vor, daß der Patient beim Bekennen einer Schuld plötzlich
unsere Hand erfaßt und uns bittet, ihn ja nicht zu schlagen. Recht
häufig versuchen es die Kranken, den bei uns vermuteten versteck-
ten bösen Willen durch ihre Schlimmheit, Sarkasmus, Zynismus,
verschiedene Unarten, auch Grimassen, zu provozieren. Es ist nicht
vorteilhaft, auch unter diesen Umständen den immer Guten und
Nachsichtigen zu spielen, es ist ratsamer, ehrlich einzugestehen,
sein Benehmen berühre uns unangenehm, daß wir uns aber beherr-
schen müssen, wissend, daß er sich nicht ohne Grund der Mühe
des Schlimmseins unterziehe. Man erfährt dann auf diese Weise so
manches von der Unaufrichtigkeit und der Hypokrisie, die der Pa-
tient in seiner Umgebung in der Form von zur Schau getragener
oder behaupteter Liebe oft beobachten mußte, seine Kritik vor
Allen, später auch vor sich selber verbergend.
Nicht selten bringen uns die Patienten, oft mitten in der As-
soziation, kleine selbstgemachte Geschichten, oder gar Gedichte,
Reime, manchmal verlangen sie nach einem Zeichenstift, um uns
irgend ein meist sehr naives Bild zum Geschenk zu machen. Natür-
lich lasse ich sie gewähren und diese kleinen Gaben zum Ausgangs-
punkt weiterer Phantasiebildungen nehmen, die ich nachher der
Analyse unterziehe. Klingt nicht schon das allein wie ein Stück
kinderanalytischer Erfahrung? — Gestatten Sie übrigens, daß ich
bei dieser Gelegenheit einen taktischen Fehler bekenne, dessen
Gutmachung mir in einer prinzipiell wichtigen Frage zu einer bes-
seren Einsicht verhalf. Ich meine das Problem, inwieferne das, was
ich mit meinen Patienten treibe, Suggestion oder Hypnose ist-
Unsere Kollegin, Elisabeth Severn, die sich bei mir in Lebr-
analyse befindet, machte mich, über dieses Thema, wie über manches
andere disputierend — einmal darauf aufmerksam, daß ich zeit-
102
weise mit meinen Fragen und Antworten die Spontaneität der
Phantasieproduktion störe. Ich sollte meine Hilfe bei der Produk-
tion darauf beschränken, die etwa erlahmende Kraft des Geistes zu
weiterer Tätigkeit anzuspornen, ängstliche Hemmungen zu über-
winden u. dgl. Noch besser sei es, wenn ich die Anregung in die
Form von sehr einfachen Fragen, statt Behauptungen, kleide, die
den Analysanden zwingen, die Arbeit mit eigenen Mitteln fortzu-
setzen. Die theoretische Formulierung, die daraus folgt, und deren
Befolgung ich so manche Einsicht verdanke, ist die, daß die Sug-
gestion, die man sich auch in Analysen gestatten darf, eher
allgemeine Ermutigung als spezielle Wegweisung sein soll. Ich
denke, das ist wesenhaft von den sonst bei Psychotherapeuten üb-
lichen Suggestionen verschieden; es ist eigentlich nur eine Ver-
stärkung der in der Analyse doch unvermeidlichen Aufgabestellung:
nun legen Sie sich hin, lassen Sie Ihre Gedanken frei spielen und
sagen Sie uns alles, was Ihnen in den Sinn kommt. Auch das 1 han-
tasiespiel ist nur eine ähnliche, allerdings verstärkte Ermutigung.
Was die Frage der Hypnose anbelangt, mag sie in gleicher Weise
beantwortet werden. Elemente der selbstvergessenen Entruckung
sind bei jeder freien Assoziation unvermeidlich; die Aufforderung,
hier weiter und tiefer zu gehen, führt allerdings gelegentlich -
ehrlich gestanden, bei mir recht häufig - zur Entstehung tieferer
Entrücktheit, die man, wenn sie sich gleichsam halluzinatorisch ge-
bärdet, meinetwegen Autohypnose nennen darf; meine Patienten
nennen es gerne einen Trancezustand. Wichtig ist daß man dieses
gewiß viel hilflosere Stadium nicht dazu ^braucht eigene T heo
rien und eigene Phantasiegebilde in *^^^Äto
Patienten zu pressen, sondern f^jf^E Eigen-
Einfluß dazu verwertet, de Fähigkeit :c « Pa tiefen g^
Produktionen zu vertiefen. Mit einem * W*U je ^
Ausdruck könnte man also f^ ^Xl^leren; heraussug-
den Patienten hineinsuggerieren oder , ^ p • f örde rlich.
suggerieren oder -hypnotisieren 1St .^"Lfeutsar;- Ausblick auf
Und hier eröffnet sich «.P^S-ffSnd«m«h«ng be-
den Weg, den man auch in der rationell Neigung,
treten so Ute. Die Beeinflußbarkeit der Kind ^*™\™^*
sich in Momenten der Hilflosigkeit widerstandslos auf
103
„Großen" zu stützen, also ein Stück Hypnotismus in der Bezie-
hung zwischen Kindern und Erwachsenen, ist unleugbare Tatsache,
mit der man sich abfinden muß. Doch anstatt, wie üblich, die
große Macht, die die Erwachsenen den Kindern gegenüber haben,
immer noch dazu zu verwenden, die eigenen starren Regeln in
die plastische Seele des Kindes wie etwas von außen Aufoktroyier-
tes einzudrücken, könnte sie zu einem Mittel zur Erziehung ZV
größerer Selbständigkeit und Mut ausgestaltet werden.
Fühlt sich der Patient in der analytischen Situation verletzt,
enttäuscht, im Stich gelassen, so beginnt er manchmal wie ein ver-
lassenes Kind mit sich selbst zu spielen. Man hat entschieden den
Eindruck, daß Verlassensein eine Persönlichkeitsspaltung nach sich
zieht. Ein Teil der eigenen Person beginnt Mutter- oder Vaterrolle
mit dem restlichen Teile zu spielen und macht dadurch das Ver-
lassensein sozusagen ungeschehen. Merkwürdigerweise werden bei
diesem Spiele nicht nur einzelne Körperteile, wie Hand, Finger,
Füße, Genitalien, Kopf, Nase, Auge, Vertreter der ganzen eigenen
Person, an der alle Peripetien der eigenen Tragödie zur Darstellung
gebracht und dann zu einem versöhnlichen Ende geführt werden,
sondern man bekommt Einblicke in die Vorgänge jener von mir
so benannten narzißtischen Selbstspaltung in der
geistigen Sphäre selbst. Man erstaunt über die große Menge auto-
symbolischer Selbstwahrnehmung oder unbewußter Psychologie, die
in den Phantasieproduktionen der Analysanden, wie offenbar in
denen der Kinder zutage treten. Es wurden mir kleine Märchen
erzählt, in denen etwa ein böses Tier einen Gallertfisch mit seinen
Zähnen und Krallen vernichten will, ihm aber nichts anhaben
kann, weil er wegen seiner Geschmeidigkeit vor jedem Stiche und
Bisse ausweicht und dann seine Kugelform wiedererlangt. Diese
Geschichte läßt zwei Deutungen zu: sie drückt einerseits die pas-
sive Resistenz aus, die der Patient den Angriffen der Umwelt ent-
gegensetzt, anderseits ist sie die Darstellung der Spaltung der
eigenen Person in einen schmerzlich fühlenden, brutal destruierten
und in einen gleichsam alles wissenden, aber fühllosen Teil. Noch
deutlicher wird dieser Urvorgang der Verdrängung in Phantasien
und Träumen ausgedrückt, in denen der Kopf, d. h. das Denk-
organ, vom übrigen Körper abgetrennt auf eigenen Füßen geh 1 »
ic 4
oder mit dem übrigen Körper nur durch einen Faden verbunden
ist, alles Dinge, die nicht nur nach historischer, sondern auch nach
autosymbolischer Auslegung verlangen.
Über die metapsychologische Bedeutsamkeit aller dieser Spo-
ttings- und Wiederverwachsungsvorgänge will ich mich bei dieser
Gelegenheit nicht näher auslassen. Es genügt mir, wenn ich Ihnen
meine Ahnung übermitteln konnte, daß wir in der Tat von unseren
Kranken, unseren Schülern und offenbar auch von den Kindern
noch so manches zu lernen haben.
Schon vor vielen Jahren machte ich kurze Mitteilung über die
relative Häufigkeit eines typischen Traumes; ich nannte ihn den
Traum vom gelehrten Säugling. Es sind das Träume, in denen ein
eben geborenes Kind oder ein Säugling in der Wiege plötzlich zu
reden beginnt und den Eltern oder sonstigen Erwachsenen weise
Ratschläge erteilt. In einem meiner Fälle nun gebärdete sich die In-
telligenz des unglücklichen Kindes in der analytischen Phantasie
wiederum als besondere Person, deren Aufgabe es war, einem bei-
nahe tödlich verletzten Kinde rasch Hilfe zu bringen. „Rasch,
rasch, was soll ich machen? Man hat mein Kind verwundet! Nie-
mand da, der ihm helfen kann! Es verblutet ja! Es atmet kaum
mehr' Ich muß die Wunde selbst verbinden. Nun, Kind, atme tief,
sonst stirbst du. Jetzt stockt das Herz! Es stirbt! Es stirbt!..."
Nun hörten die Assoziationen, die sich an eine Traumanalyse
knüpften, auf, der Patient bekommt einen Opisthotonus, macht
Bewegungen, wie zum Schutze des Unterleibs. Es gelang mir aber,
den Kontakt mit dem beinahe komatösen Kranken wiederherzu-
stellen und ihn mit Hilfe der oben charakterisierten Ermutigung
und Fragestellungen zum Aussagen über ein im f^fjW"
erlittenes' Sexualtrauma zu zwingen. Was ich jetzt ^oAeben
möchte, ist das Licht, das diese und ähnliche IfM
die Genese der narzißtischen Selbstspaltung werfen ****
wirklich, daß unter dem Drucke einer ^mm-ten Gefah em
Stück unserer selbst sich als selbstwahrnehmende und .h selbst
helfen-wollende Instanz abspalte, möglicherweise chon ^ ruhen
und allerfrühesten Kindesalter. Ist es uns doch ata befam^ daß
Kinder, die moralisch oder körperlich viel *^ "*j" *
sichtszüge des Alters und der Klugheit bekommen. Sie netgen dazu,
105
auch andere zu bemuttern, sie dehnen dabei offenbar die Kennt-
nisse, die sie beim Behandeln des eigenen Leidens schmerzlich er-
rungen haben, auch auf andere aus, sie werden gut und hilfsbereit.
Nicht alle gehen so weit in der Bewältigung der eigenen Schmerzen,
manche bleiben in Selbstbeobachtung und Hypochondrie stecken.
Zweifellos aber ist, daß hier der vereinigten Kraft der Analyse
und der Kinderbeobachtung noch ungeheuere Aufgaben gestellt
sind, Fragestellungen, zu denen uns wesentlich die Gemeinsam-
keiten in den Analysen von Kindern und Erwachsenen verhelfen.
Das Verfahren, das ich meinen Analysanden gegenüber anwende,
kann man mit Recht eine Verzärtelung nennen. Mit Aufopferung
aller Rücksichten auf eigene Bequemlichkeit gibt man den Wün-
schen und Regungen, soweit als irgend möglich, nach. Man ver-
längert die Analysenstunde, bis eine Ausgleichung der vom Ma-
terial angeregten Emotionen erreicht ist; man läßt den Patienten
nicht allein, bevor die unvermeidlichen Konflikte in der analyti-
schen Situation durch Aufklärung der Mißverständnisse und Rück-
führung auf die infantilen Erlebnisse in versöhnlichem Sinne ge-
löst sind. Man verfahrt also etwa wie eine zärtliche Mutter, die
abends nicht schlafen geht, ehe sie alle schwebenden kleinen und
großen Sorgen, Ängste, bösen Absichten, Gewissensskrupel mit dem
Kinde durchgesprochen und in beruhigendem Sinne erledigt hat.
Mit dieser Hilfe gelingt es uns, den Patienten in alle frühen
Stadien der passiven Objektliebe versinken zu lassen, in denen er
— wirklich wie ein eben einschlafendes Kind — in hingemurmel-
ten Sätzen Einsicht in seine Traumwelt gewährt. Ewig kann aber
dieses zärtliche Verhältnis auch in der Analyse nicht dauern.
L'appetit vient en mangeant. Der zum Kind gewordene Patient
geht mit seinen Ansprüchen weiter und weiter, verzögert das
Eintreten der Versöhnungssituation immer mehr und mehr, um
dem Alleinsein, d. h. dem Gefühle des Nichtgeliebtwerdens, zu
entgehen, oder er trachtet mit mehr und mehr gefährlich werden-
den Drohungen uns zu einer Strafhandlung zu veranlassen. Je
tiefer und ersprießlicher die Übertragungssituation war, um so
größer wird natürlich der traumatische Effekt des Momentes sein,
in dem man sich schließlich gezwungen sieht, der Schrankenlosig-
keit ein Ende zu setzen. Der Patient gerät in die uns so wohl-
106
bekannte Versagungssituation, die zunächst die hilflose Wut und
die darauffolgende Lähmung aus der Vergangenheit reproduziert,
und es gehört viel Mühe und taktvolles Verständnis dazu, die
Versöhnung auch unter solchen Umständen im Gegensatz zur
dauernden Entfremdung in der Kindheitssituation wiederherzu-
stellen. Dabei hat man Gelegenheit, einiges davon zu sehen, was
den Mechanismus der Traumatogenese ausmacht: zunächst die voll-
kommene Lähmung jeder Spontaneität, auch jeder Denkarbeit, ja
schockartige oder komatöse Zustände auch auf körperlichem Ge-
biete, dann die Herstellung einer neuen — verschobenen —
Gleichgewichtssituation. Gelingt es uns, den Kontakt auch in diesen
Stadien herzustellen, so erfahren wir, daß das sich verlassen füh-
lende Kind sozusagen alle Lebenslust verliert, oder wie wir es mit
Freud sagen müßten, die Aggression gegen die eigene Person
wendet. Dies geht manchmal so weit, daß der Patient anfängt, die
Gefühle des Vergehens und Sterbens zu erleben, man sieht das Auf-
treten tödlicher Blässe im Gesicht, auch ohnmachtähnliche Zustände,
oder allgemeine Steigerung des Muskeltonus, die den Grad eines
Opisthotonus erreichen kann. Was sich da vor uns abspielt, ist die
Reproduktion der seelischen und körperlichen Agonie, die unfaß-
barer und unerträglicher Schmerz nach sich zieht. Nur nebenbei
bemerke ich, daß mir die „sterbenden" Patienten auch interessante
Nachrichten aus dem Jenseits und über die Natur des Seins nach
dem Tode bringen, Äußerungen, deren psychologische Würdigung
zu weit führen würde. Die oft bedrohlichen Erscheinungen, über
die ich mich mit Kollegen Dr. Rickman aus London aussprach,
regten ihn zur Frage an, ob ich denn Medikamente zur Hand
habe, um gegebenenfalls lebensrettend einzugreifen. Ich konnte
auf diese Frage bejahend antworten, bisher kam es aber nie dazu,
ein solches in Anwendung zu bringen. Taktvoll beruhigende Worte,
unterstützt etwa von ermutigendem Händedruck, wenn das nicht
genügt, freundliches Streicheln des Kopfes, mildern die Reaktion
zu einem Grade, bei dem der Patient wieder zugänglich wird. Als
Kontrast zu unserer Handlungsweise erfahren wir dann vom Pa-
tienten von unzweckmäßigen Aktionen und Reaktionen der Er-
wachsenen beim Manifestwerden kindlich traumatischer Erschüt-
terungen. Das Schlimmste ist wohl die Verleugnung, die Behaup-
107
tung, es sei nichts geschehen, es tue nichts weh, oder gar Ge-
schlagen- oder Beschimpftwerden bei Äußerungen traumatischer
Denk- und Bewegungslähmung; diese machen erst das Trauma
pathogen. Man hat den Eindruck, daß auch schwere Erschütterun-
gen ohne Amnesie und neurotische Folgen überwunden werden,
wenn die Mutter mit ihrem Verständnis und ihrer Zärtlichkeit
und, was das seltenste ist, mit voller Aufrichtigkeit bei der Hand
ist.
Ich bin hier auf die Einwendung gefaßt, ob es denn notwendig
sei, den Patienten zuerst durch Verzärtelung in den Wahn gren-
zenloser Sicherheit einzuwiegen, um ihn dann ein um so schmerz-
licheres Trauma erleben zu lassen. Meine Entschuldigung ist die,
daß ich diesen Vorgang nicht absichtlich herbeigeführt habe, er
entwickelte sich als Folge des meines Erachtens legitimen Versuchs,
die Freiheit der Assoziationen zu verstärken; ich habe eine gewisse
Achtung vor solchen spontan sich ergebenden Reaktionen, lasse sie
also ungestört eintreten und vermute, daß sie Reproduktionstenden-
zen manifestieren, die man — wie ich meine — nicht hemmen,
sondern zur Entfaltung bringen soll, ehe man sie zu meistern ver-
sucht. Ich muß den Pädagogen die Entscheidung darüber über-
lassen, inwieweit solche Erfahrungen auch in der gewöhnlichen
Kindererziehung zu finden sind.
Höchst merkwürdig, ich kann auch getrost sagen bedeutsam, ist
das Benehmen der Patienten nach dem Erwachen aus solcher in-
fantil-traumatischer Entrückung. Man gewinnt da förmlich Ein-
blick in die Schaffung von Prädilektionsstellen der bei späteren
Erschütterungen einsetzenden Symptome. Eine Patientin z. B., die
während der traumatischen Konvulsion ungeheueren Blutandrang
im Kopfe bekam, so daß sie blau im Gesicht wurde, erwacht wie
aus einem Traume und weiß von den Vorgängen und ihren Ur-
sachen nichts, sie fühlt nur den Kopfschmerz, eines ihrer ge-
wöhnlichen Symptome, außerordentlich verstärkt. Ist man da nicht
auf der Spur der physiologischen Prozesse, die die hysterische
Verschiebung von einer rein psychischen Gemütsbewegung auf ein
Körperorgan zustande bringen? Ich könnte Ihnen ein halbes
Dutzend solcher Beispiele mit Leichtigkeit zitieren, einige mögen
genügen. Ein Patient, der als Kind von Vater, Mutter, ich möchte
108
I
sagen von allen Göttern verlassen, den peinlichsten körperlichen
und seelischen Leiden ausgesetzt war, erwacht aus dem trauma-
tischen Koma mit Unempfindlichkeit und leichenhafter Blässe einer
Hand, im übrigen ist er, abgesehen von der Amnesie, ziemlicn
gefaßt und fast plötzlich leistungsfähig. Es war nicht schwer, die
Verschiebung alles Leidens, ja des Sterbens, auf einen einzelnen
Körperteil, sozusagen in flagranti, zu ertappen: die leichenblasse
Hand repräsentierte die ganze leidende Person und den Ausklang
ihres Kampfes in Empfindungslosigkeit und Ersterben. Ein anderer
begann nach der Traumareproduktion zu hinken: die mittlere
Zehe eines Fußes wurde schlaff und nötigte den Patienten, auf
jeden Schritt mit bewußter Aufmerksamkeit zu achten. Abgesehen
von der sexualsymbolischen Bedeutung der mittleren Zehe, drückte
sie mit ihrem Benehmen die sich selbst gegebene Warnung aus: Sei
vorsichtig, bevor du einen Schritt machst, damit dir nicht wieder
dergleichen passiert. Der englisch redende Patient ergänzte meine
Deutung mit der Bemerkung: „Sie meinen etwa, ich stelle nur die
englische Redensart dar: Watch your step"
Wenn ich da plötzlich innehalte und mir die Worte vergegen-
wärtige, die auf den Lippen meiner Zuhörer schweben, so höre ich
gleichsam von allen Seiten die erstaunte Frage: Ist denn das eigent-
lich noch Psychoanalyse zu nennen, was in den Kinderanalysen
der Erwachsenen vorgeht? Sie reden ja fast ausschließlich von
Gefühlsausbrüchen, von lebhaften, ja halluzinatorischen ReP rodu £
tionen traumatischer Szenen, von Krämpfen und ^-asthesien di
man getrost hysterische Anfälle nennen kann. Wo .^'^ *
feine, ökonomisch-topisch-dynamische Zerkgung und der W ed
aufbau der Symptomatik, das Verfolgen der wechselnden Energ,
besetzungen /es I* und des Über-Ichs, die d* m£e ^J
charakterisieren? Tatsächlich beschränkte ich ^mich nta V*
trag fast ausschließlich auf die Würdigung des ««g?g»
mentes, was natürlich in meinen Ana y,n au ^^^
sten der Fall ist. Monate- *JJjJ^J^ intrapS ychi-
Analysen auf dem Niveau der ^Jg» « c J^
sehen Energien. Bei Zwangsneuro tikern £* t ^
ein Jahr und noch länger, bevor das ^f ouoncu £
Sprache kommt; auf Grund des auftauchenden Materials können
109
*w
\\
der Patient und ich in diesen Zeiten nichts anderes leisten, als den
Entstehungsursachen der Vorbeugungsmaßnahmen, der Ambivalenz
in der Gefühlseinstellung und in der Handlungsweise, den Motiven
der masochistischen Selbstpeinigung usw. intellektuell nachzugehen.
Soweit aber meine Erfahrung reicht, kommt es früher oder später,
allerdings oft sehr spät zum Zusammenbruch des intellektuellen
Überbaues und zum Durchbruch der doch stets primitiven, stark
emotiven Grundlage, und nun erst beginnt die Wiederholung und
Neuerledigung des ursprünglichen Konflikts zwischen dem Ich und
der Umwelt, wie sie sich in der Infantilzeit abgespielt haben muß.
Vergessen wir nicht, daß die Reaktionen des kleinen Kindes auf
Unlust zunächst immer körperlicher Natur sind; erst später lernt
das Kind seine Ausdrucksbewegungen, diese Vorbilder jedes hyste-
rischen Symptoms, beherrschen. Man muß also zwar den Nerven-
ärzten darin rechtgeben, daß der moderne Mensch viel seltener
offenkundige Hysterien produziert, als sie noch vor wenigen Jahr-
zehnten, als ziemlich allgemein verbreitet, beschrieben worden
sind. Es scheint, als ob mit vorschreitender Kultur auch die Neu-
rosen kultivierter und erwachsener geworden wären, ich meine
aber, daß bei entsprechender Geduld und Ausdauer auch festge-
baute, rein intrapsychische Mechanismen abgebaut und auf das
Niveau des infantilen Traumas reduziert werden können.
Eine andere heikle Frage, die man mir unverzüglich vorlegen
wird, ist die der therapeutischen Resultate. Sie werden es nur zu
gut verstehen, daß ich mich diesbezüglich einer dezidierten
Äußerung noch enthalte. Zwei Dinge muß ich aber gestehen;
meine Hoffnung, die Analyse mit Hilfe von Relaxation und
Katharsis wesentlich zu verkürzen, hat sich vorläufig nicht
erfüllt, und die Mühseligkeit der Arbeit für die Analytiker wurde
durch sie wesentlich gesteigert. Was aber durch sie gefördert
wurde, und, wie ich hoffe, noch bedeutend gefördert werden wird.
ist die Tiefe unserer Einsicht in die Tätigkeit der gesunden und
kranken Menschensecle und die berechtigte Hoffnung, daß der
therapeutische Erfolg, der sich auf diese tieferen Grundlagen stützt,
soweit er zustande kommt, mehr Aussicht auf Bestand haben
wird.
Und nun zum Schluß eine praktisch wichtige Frage. Müssen und
HO
können auch die Lehranalysen bis zu dieser tiefen Infantil-
schichte vordringen? Bei der Terminlosigkeit meiner Analysen fuhrt
das zu ungeheuren praktischen Schwierigkeiten; und doch glaube
ich, daß jeder, der die Ambition hat, andere verstehen und
anderen helfen zu wollen, dieses große Opfer nicht scheuen sollte.
Auch die rein aus beruflichen Gründen Analysierten müssen also
im Laufe ihrer Analyse ein bißchen hysterisch, also ein bißchen
krank werden, und da zeigt sich denn, daß auch die Charakter-
formung als entfernte Folge von recht starken Infantiltraumen
anzusehen ist. Ich glaube aber, daß das kathartische Resultat dieses
Untertauchens in Neurose und Kindheit am Ende erquickend wirkt
und, wenn zu Ende geführt, keinesfalls schadet Jedenfalls ist
dieses Verfahren viel weniger gefährlich als die opferwilligen ver-
suche mancher Kollegen, die Infektionen und Vergiftungen am
eigenen Leibe studiert haben. .
Meine Damen und Herren! Sollten die Gedanken und Ges.chts-
punkte, die ich Ihnen heute mitteilte, irgendwann Anerkennung
finden, so wird das Verdienst ehrlieh zwischen nur und me.nen
Patienten und Kollegen geteilt werden müssen. Naturhch auch
mit den oben bereits genannten Kinderanalyt.kern tch wäre gluck
lieh, wenn es mir gelungen wäre, wemgstens ^Anfange
intimeren Kooperation mit ihnen angebahnt zu haben
Es würde mich nicht wundern, wenn S.e TOn /' esem J£""t '
wie von einigen anderen, die ich in den letzten Jahren publ z,e te
den Eindruck einer gewissen Naivität der Anschauung empan e„
hätten. Wenn jemand nach ^^^Zn^Z
arbeit plötzlich anfängt, d.« Tatsache ^ w£* » ^
anzustaunen, so mag er Ihnen ebenso merkwurd «
wie jener mir bekannte ^«£*£ ££** 2Ur Bahn-
Dienstzeit in Pension gmg, «d . « ede - anzustaunen , oft mit
Station begab, um den eben abfahrenden * ug wunderba re Er-
den, Ausruf: „Ist dem. die Lokomonve n cht «K ^w
findung!« Es ist möglich, ^^^J^L^a Lehrer
keit zum «i«" An ^ UC \ d : ;n f»tserer gemeinsamen, mir un-
erlauscht habe, der wahrend eures un r g^ ^ ^
vergeßlichen Sommeraufenthal e »*«?»£ '^ ,„ wirk l ich
teilung überraschte: „Sehen S.e, Ferencz., der
in
eine Wunscherfüllung!" und mir seinen letzten Traum erzählte,
der allerdings eine glänzende Bestätigung seiner genialen Traum-
theorie war.
Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß Sie das von mir Mit-
geteilte nicht sofort verwerfen, sondern Ihr Urteil aufschieben
werden, bis Sie sich Erfahrungen unter den nämlichen Bedingungen
geholt haben. Jedenfalls danke ich für die freundliche Geduld, mit
der Sie meine Ausführungen anhörten.
illlllllllllllllllllllli
Ein besessener Autofahrer
Ein psychoanalytisches Gutachten
Von
Franz Alexander
Aus dem im Sommer 193 1 erschienenen Sonderheft „Kriminologie" der
.1 m a g o, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und
Geisteswissenschaften" (herausgegeben von Sigm. Freud). Das Sonderheft enthält
noch folgende Beiträge : Alexander: Psychische Hygiene und Kriminalität
— Staub: Psychoanalyse und Strafrecht — Staub: Einige praktische Schwierig-
keiten der psychoanalytischen Kriminalistik — Fromm: Zur Psychologie des
Verbrechers und der strafenden Gesellschaft — B e r n f e 1 d : Die Tantalus-
Situation -Haun: Strafe für Psychopathen ? (Preis des Sonderheftes Mark 6—).
112
I) Allgemeine Vorbemerkungen
Dies ist ein Versuch, im Rahmen eines psychoanalytischen Gut-
achtens, das ich vor dem Gericht erstattet habe, zu zeigen, wie sich
die Anwendung der Psychoanalyse in der kriminalistischen Praxis
gestaltet. Der analytische Teil meiner Darstellung ist sicherlich
dürftig, es handelt sich ja nicht um einen analysierten Fall, son-
dern um die Ergebnisse einer relativ kurzen analytischen Explo-
ration, die in dem Untersuchungsgefängnis in sieben je zwei Stun-
den dauernden Sitzungen erfolgte. Allerdings sind die Ziele einer
solchen relativ kurzen psychoanalytischen Untersuchung andere
als die einer Behandlung. Eine solche Untersuchung steht nicht
im Dienste von therapeutischen Absichten, sondern soll uns nur
1
das psychologische Verständnis einer kriminellen Tat und des Tä-
ters vermitteln. Auch in der Behandlung ist es uns meistens mög-
lich, schon nach relativ kurzer Zeit die Psychogenese einer Neu-
rose zu verstehen; die lange Dauer der Behandlung ist in unserer
therapeutischen Zielsetzung begründet. Eine solche psychoanalyti-
sche Aufklärung einer kriminellen Tat hat besonders in jenen patho-
logischen Fällen ein besonderes praktisches Interesse, in welchen
der Richter der Tat und dem Täter verständnislos gegenübersteht.
Das sind die Handlungen solcher Menschen, die man neuerdings
psychopathische Persönlichkeiten nennt. Das sind Grenzfälle, die
keine eindeutige psychiatrische Diagnose zulassen, Menschen ohne
ausgesprochene neurotische und psychotische Symptome. Das Krank-
hafte kommt in ihrer Lebensweise zum Ausdruck, und oft gelingt
es nur durch nähere Untersuchung, sie als Kranke zu erkennen.
Solche Fälle erfordern eine nähere Kenntnis der Persönlichkeit
und man kommt mit der üblichen psychiatrischen Deskription, die
ja hauptsächlich das äußere Verhalten berücksichtigt und deshalb
nur lärmende Symptome exakt entdecken kann, nicht aus. Diese
Fälle verursachen sowohl den Richtern wie den Psychiatern viel
Kopfzerbrechen. Der Richter fühlt oft, daß es sich hier nicht um
einen gewöhnlichen Verbrecher handelt, fühlt auch, daß etwas
Krankhaftes dahintersteckt und befragt deshalb den Psychiater.
Die Antwort, die er von dem Gerichtsarzt erhält, ist meistens so
nichtssagend, daß selbst die Richter es schon wissen, daß sie von
dem Gerichtsarzt nicht mehr als eine unsicher klingende Diagnose
erhalten werden, in der von einer mehr oder weniger eingeschränk-
ten Zurechnungsfähigkeit die Rede ist.
Die erste Aufgabe eines psychoanalytischen Gutachtens wäre
also die Stellung einer exakten Diagnose, die kranke und nicht-
kranke Kriminelle scheidet. Man könnte meinen, damit ist auch
die Aufgabe der Psychoanalyse im Gerichtssaal erschöpft. Wenn
der Gerichtsarzt dem Richter ohne Zaudern sagen könnte, welche
Tat als die Folge von pathologischen Seelenvorgängen anzusehen
ist und welche nicht, so würde damit den praktischen Bedürfnissen
des Gerichtsverfahrens Genüge getan. Es wäre dann nur noch die
sozialhygienische Frage zu lösen, was mit diesen pathologischen
Kriminellen zu geschehen hat. Dem ist aber nicht so. Die Bestre-
8 AlmanaA 1932 II3
.
bung der heutigen Justiz ist, — und in diesem einzigen Punkte
kann ich einen gewissen Fortschritt in der sonst so konservativen
Justiz sehen, — daß der Richter nicht nur zu dem objektiven Tat-
bestand, sondern auch zu den Motiven der Tat, also zu dem Täter
Stellung nehmen soll. Der Richter muß — oder besser gesagt: will
— die Tat psychologisch verstehen. Nun wissen wir am besten,
daß es nicht zweierlei Psychologien gibt, eine Psychologie der
pathologischen und eine der normalen Seelenvorgänge. Wenn der
Richter also die Tat des psychopathischen Täters verstehen will,
so braucht er dazu ebenso Psychologie, wie zum Verständnis der
gewöhnlichen Tat. Nun ist aber eines der allgemeinsten Merkmale
der Taten psychopathischer Verbrecher, daß sie unverständlich er-
scheinen und den gesunden Menschenverstand keine zureichende
rationelle Motivierung erkennen lassen. Diese Unverständlichkeit
beruht darauf, daß die Handlungen solcher seelisch kranker Täter in
viel höherem Maße unbewußten Motiven unterworfen sind, als die
Handlungen von normalen Menschen. Ein solcher Täter selbst kann
nicht die wirklichen Motive seiner Handlungen angeben. Wenn
man ihn beim Verhör zwingt, Motive für seine Handlungen anzu-
geben, so muß er oft solche erfinden oder geringfügige rationelle
Beimischungen angeben, die' aber nicht ausreichen, die Tat zu er-
klären. Um die Taten psychopathischer Persönlichkeiten zu ver-
stehen, braucht der Richter die Psychoanalyse. Ich sehe also die
Aufgabe eines psychoanalytischen Sachverständigen im Gerichtssaal
heute darin, nicht nur eine Diagnose zu stellen, d. h. den Täter
zu klassifizieren, sondern dem Richter zu helfen, die Tat zu ver-
stehen. Es ist eine ganz besonders peinliche Aufgabe, zu einer Tat
Stellung zu nehmen, die man nicht versteht.
Ich kann das unerwartet große Interesse der Richter für die An-
wendung der Psychoanalyse, das ich in der letzten Zeit Gelegen-
heit hatte zu beobachten, nur aus dem richterlichen Gewissen er-
klären. Ich glaube, daß es kaum noch eine Beschäftigung gibt, die
so geeignet ist, Gewissenskonflikte hervorzurufen, wie die, über
das Schicksal seiner Mitmenschen zu entscheiden. Einen großen
Teil der Einrichtungen im heutigen Gerichtsverfahren kann man
nur aus der Flucht vor der Verantwortung des Richters erklären:
so z. B. die Einführung mehrerer Richter, der Laienrichter, die
114
Verteilung der Rollen der Verteidigung und der Anklage auf zwei
verschiedene Personen und auch die Hinzuziehung des medizini-
schen Sachverständigen.
Wir haben mit Herrn Staub einen psychoanalytischen Kursus
für Juristen eröffnet. Zu unserer Überraschung meldeten sich zu
diesem Kursus unter anderen ein Teil der großen juristischen Auto-
ritäten, eine Reihe der führenden Richter in Berlin. Ich glaube
kaum, daß es bis jetzt häufig vorkam, daß die Psychoanalyse vor
solchen staatlich beglaubigten Autoritäten doziert v™/ ae - ™ ir
konnten feststellen, daß die Juristen das lebhafte Bedürfnis haben
die Persönlichkeit des Täters zu verstehen, sie haben aber selbe
bekennen müssen, daß sie bei einer Reihe yon Taten, gerade be,
den Taten der psychopathischen Persönlichkeiten die W MB
rotische oder triebhafte Charaktere nennen, mit der Oberflacnen-
psychologie nicht auskommen. In diesem Punkte glauben wir den
Juristen helfen zu können, indem wir ihnen die psychologische
Aufklärung der pathologischen Taten zur Verfugung stellen.
Die Aufgabe des Psychoanalytikers im Gerichtssaal ist also eine
doppelte, eLns eine klinische Diagnose •*"«-£ ?*?
Iog^he Aufklärung des Täters und seiner T t zu geben.
Die praktische Bedeutung einer exakten Abgrenzung von ge-
wö^nlicCn und psychopathischen Rechtsbrechern ifa» > man .er
dann beurteilen, wenn man weiß, wie verbreitet, *~ J^
Gru ppe is, Nach den Untersuchungen vor , europ aisch n und **-
rikanischen Psychiatern, wie von Bon ^ r ° Ti ' der Kriminellen
bürg, Bernhard Gl u eck, ist *n großer Teil to
seelisch abnormal. Wenn man noch bedenkt ^ da ß ^
chiatrische Untersuchung einen großen 1^ £ ric(ltigen
sehe Fälle übersieht, so wird man erst die l g
Diagnose begreifen. Dem Psychopath, chen R ecb ^
über sind ja ganz andere Maßnahmen n ezap »J^ sie
gewöhnlichen. Die Strafen sind nicht imstand^, ^ ^ ^
gehören der Therapie Wenn die J USI ^ he dcr „„geheuren
gehende praktische Folge ™8 en au Z zoge „ hat und noch heute
Anzahl der ^^f^J^l in Heilanstalten umgewan-
nicht ein großer Teil der Stratanstai p syc hiatne mit
delt worden ist, so liegt dies daran, da» Q
"5
r
diesen Fällen bis jetzt wenig anzufangen weiß. Sie kann sie weder
eindeutig diagnostizieren, noch heilen. Die übliche Diagnose ist
kaum mehr als die Verwendung eines Fachausdruckes ohne die
nähere Kenntnis des Wesens der Charakterstörungen. Die Erkran-
kung solcher Krimineller ist nämlich, wie bereits erwähnt, mehr
eine Charakterstörung, als eine Krankheit mit umschriebenen Krank-
heitssymptomen.
Der Fachausdruck wandelte sich im Laufe der Zeiten von „moral
insanity" zu psychopathischen Persönlichkeiten, oder ganz modern:
zu hysterischen, epileptischen, schizoiden oder schizothymen oder
zyklothymen Charakteren. Die so in Mißkredit geratene Dia-
gnose „moral insanity" wird durch diese wissenschaftlich klingen-
den Bezeichnungen aber nur für kurze Zeit gerettet. Ich betrachte
die Rolle der so verbreiteten Gruppen der psychopathischen Per-
sönlichkeiten in der Forensik als dieselbe, die die Hysterie in der
Psychopathologie gespielt hat. Diese Gruppe bildet die Pforte für
das Eindringen der Psychoanalyse in den Gerichtssaal, ebenso wie
die Hysterie ihre Ernbruchspforte in die Medizin darstellte.
Ich bin sogar optimistisch genug, anzunehmen, daß die größten
Aussichten einer staatlichen Verwendung der Psychoanalyse zuerst
auf diesem Gebiete bestehen. Die Behandlung der psychopathischen
Rechtsbrecher ist ein viel größeres Staatsinteresse als die Behand-
lung der harmlosen Neurotischen. Die Anwendung der Psycho-
analyse auf den Kriminellen wird zunächst ermöglichen, daß die
psychopathischen Rechtsbrecher anders behandelt werden als die
gewöhnlichen, nämlich therapeutisch. Nachdem die Psychoanalyse,
die ja im Wesen die Erforschung der Persönlichkeit bedeutet, das
Wesen dieser kranken Charaktere aufgeklärt hat, kann man auch
diese Menschen einer ätiologischen Therapie unterwerfen.
Bei dem vorliegenden Fall wurde ich von dem Gericht als Sach-
verständiger geladen. Das Gutachten bestand aus zwei Teilen. Der
erste betraf die Diagnose, die psychiatrische Klassifizierung des
Täters, und der zweite war ein Versuch, den Gerichtspersonen die
Motive einer scheinbar vollständig sinnlosen Tat verständlich zu
machen. Es handelte sich — um zunächst das äußere Bild voraus-
zuschicken — um einen 21jährigen Kellner, der wegen derselben
Art Strafhandlung zweimal und wegen eines anderen Deliktes ein
116
drittesmal bestraft wurde. Zwei medizinische Gutachten wurden
bis jetzt eingefordert von zwei Gerichtspsychiatern, die beide die
Diagnose „psychopathische Persönlichkeit mit verminderter Zurech-
nungsfähigkeit" gestellt haben; trotzdem verhängte das Gericht in
allen Fällen eine Freiheitsstrafe. Nach meinem Gutachten und der
Verteidigungsrede von Rechtsanwalt Staub hat der Staatsanwalt
Freisprechung beantragt, und der Richter hat den Täter freigespro-
chen und ihm geraten, sich in eine psychoanalytische Behandlung
zu begeben.
II) Die Taten — Die klinisdie Diagnose
Der Kellner Friedrich, einundzwanzig Jahre alt, von guter eher
überdurchschnittlicher Intelligenz, besitzt eine gute praktische Urien
tierung in der Welt und Kenntnisse, die bei seiner Erziehung und
Umgebung größer sind, als man im allgemeinen erwartet. Er ver-
fügt über ein schnelles Auffassungsvermögen und hat «»«".«
empfindliches, in sich gekehrtes und verschlossenes : Wejdh .Er grü-
belt über sich selbst und über seine strafbaren Hand hingen viel
nach und verrät bei psychoneurotisch Veranlagten häufig vorhan-
^ S^^^St^ JaH- viermal strafbare Hand-
Jungen die S zunächst durch ihre frappante Gleichförmigst auf-
tauen Er fährt nachweislich ziellos oder wenigstens ohne jede
a onelle Begründung größere Strecken mit einer Au-ax, kann
die Fahrt am Ende nicht bezahle« ^™ A ^J^7te
einem Vorwand vor den Augen des Chauffeurs hm erlaßt
immer in den Händen des Chrfeungi»^ Jg^ ^
haltspunkte, um **** { J^^^'täiUpä ge-
Fahrt in Gasthäusern Halt, bezahlt aber sein
wohnlich nicht. c rra f t aten wurde er i 9 *7 wegen
Neben diesen ungewöhnlichen Strafen ^ ^^^ beI
kleinerer Unterschlagungen bestratt , nQch eine n i c htbezahlte
denen er gefaßt worden ist, unter " a ™ der Benörden gekommen
Autofahrt, ohne daß diese zur Kenntnis odef Kellner
wäre. Er war in seinen Ste lungen als H ^
brauchbar und führte sich gut, wechselte
manchmal ohne sichtbaren Grund.
117
Die nähere Untersuchung der früheren Straftaten ergab keine
nachweisbare Motivierung für die Handlungen. Auch die kleineren
Unterschlagungen unternahm er nicht aus Gewinnsucht, sie dienten
teilweise zur Bestreitung von Fahrten, oder das Geld wurde zweck-
los für Hotelrechnungen und auch für Trinken ausgegeben. Bei
der Beurteilung des jetzt vorliegenden Falles ist es von Wichtig-
keit, diese mit den früheren ähnlichen Straftaten zu vergleichen.
Da der äußere, aktenmäßig festgestellte objektive Verlauf seiner
Handlungen uns keine Aufklärung über die Motive dieser so un-
zweckmäßig erscheinenden Handlungen ergibt, ist die subjektive
Schilderung der Ereignisse durch den Täter von besonderem Inter-
esse.
Er meint, daß er die Autofahrten stets in einem Erregungs-
zustand unternimmt und daß dieser Erregungszustand irgendwie
immer mit seiner Mutter im Zusammenhang steht, jedoch in einer
für ihn nicht ganz klaren Weise. Aber auch die erste Straftat, die
er 1927 beging (eine Unterschlagung), hat er in einer aufgeregten
Stimmung begangen, die ein Zusammentreffen mit der Mutter ver-
ursacht hat. Damals diente er als Hausdiener in Nieder-Poyritz,
nachdem er das Elternhaus verließ, ohne seine Eltern davon zu
verständigen, wohin er ging. Eine Zeitlang diente er so „verborgen
vor der Mutter" in Nieder-Poyritz, bis eines Tages die Mutter
seinen Aufenthaltsort erfuhr und ihn besuchte. Dieser Besuch hat
ihn so aufgeregt, daß er ihm anvertrautes Geld in einem Lokal
vertrank. Nachdem er für diese Tat mit sechs Wochen Gefängnis
bestraft wurde und von den sechs Wochen vier Wochen auch ver-
büßt hatte, kam er wieder nach Haoise. Die Mutter war so ver-
zweifelt, daß sie sich und den Sohn angeblich mit Gas vergiften
wollte. Bald nachher fährt er zu seinem Stiefbruder nach West-
falen, um durch seine Hilfe eine Stellung zu bekommen, findet
aber keine Stellung und kommt wieder nach Hause. Er dient dann
bald als Kellner, bald als Page, wohnt aber nicht mehr zu Hause,
weil, wie er sagt, die Stiefschwestern und der Stiefvater ihn nicht
zu Hause haben wollen.
Seine zweite Straftat, die er im Jahre 1928 begeht, ist bereits
eine unbezahlte Autofahrt. Damals fuhr er nach Leipzig, um dort
eine Stellung zu finden, als sein Stiefvater ihn wieder sehr be-
ll«
drängte, vom Hause wegzugehen. In Leipzig fand er keine Stellung
und fuhr mit einem Auto wieder zurück nach Dresden. Er be-
schreibt seinen Seelenzustand vor der Autofahrt, die er von Leip-
zig nach Dresden unternahm, als eine große Sehnsucht nach der
Mutter, die aber mit einem Angstgefühl vor der Mutter gemischt
war. Die Fahrt kann er nicht bezahlen, verschwindet, hinterläßt
aber seine Papiere bei dem Chauffeur, weil er „es vorzog, bestraft
zu werden, als herumzuirren und sich zu verstecken". Er wurde
mit drei Monaten Gefängnis bestraft, fühlte sich im Gefängnis
wohl, nur wenn er an die Mutter dachte, wurde er aufgeregt.
Auch die dritte Straftat will er begangen haben, nachdem er die
Mutter zu Hause besucht hatte. Damals diente er als Kellner und
wohnte nicht zu Hause. Er besuchte die Mutter an einem Vor-
mittag, als er wußte, daß der Stiefvater nicht zu Hause war. Nach
diesem Besuch fühlte er sich sehr erregt und unternahm am Nach-
mittag unmotiviert die Fahrt nach Görlitz, die er auch nicht be-
zahlen konnte und welche auch zu seiner Bestrafung führte.
Ahnlich schildert er eine unbezahlte Autofahrt, die jedoch nicht
herauskam. Diese geschah im vorigen Jahr. Auch diesmal ist er
vormittags zu Hause bei der Mutter. Es kommt zu einer kleinen
Auseinandersetzung. Die Mutter wirft ihm das Trinken vor. Er
ist den ganzen Tag erregt, bestellt ein Auto und fährt zu seinem
Onkel, der in Dresden ein Kaffeehaus besitzt. Dort trinkt er mit
dem Chauffeur sechs Grogs, fährt weiter nach Gotha, merkt jedoch
schon während der Fahrt, daß sein Geld nicht mehr ausreicht, die
Fahrt zu bezahlen. Er fordert den Chauffeur auf, zur Wache zu
fahren, wo er sich selbst anzeigt. Der Wachtmeister läßt ihn jedoch
fort und verheißt ihm, morgen zu bezahlen. Der nichtbezahlte Rest-
betrag scheint diesmal klein gewesen zu sein, so daß er ihn am
nächsten Tage begleichen konnte.
Alle diese Angaben gibt er erinnerungsmäßig wieder und weiß
die meisten Einzelheiten nicht mehr genau. Genauer kann er den
Hergang und die seelischen Begleitumstände seiner letzten Tat an-
geben, für welche er sich jetzt zu verantworten hat. Im Frühjahr
1929 hat er sich ein Fahrrad auf Abzahlung gekauft. Eine Rate
hat er bereits bezahlt. Angeblich auf Veranlassung der Stiefgeschwi-
ster befiehlt der Stiefvater, daß er das Rad zurückgibt, obzwar
119
•
schon eine Rate bezahlt war und obwohl auch sein Stiefbruder
ein Rad auf Teilzahlung gekauft hat. Alles redet ihm zu, er solle
dem Wunsche des Stiefvaters nachgeben, sowohl die Mutter, die
Streitigkeiten vermeiden will, wie auch seine Braut, die in dem
elterlichen Hause verkehrt. Der Stiefvater nimmt ihm das Rad
weg. Er gerät in Wut, kann aber, wie er sagt, „nicht losschimpfen,
er verbeißt nur wie immer die Wut in sich hinein". Er rennt
wütend von zu Hause weg, ohne sich von der Braut zu verab-
schieden, mit der er sich auch gezankt hat. Er schreibt sofort eine
Karte der Mutter, sie soll die Braut abends in die Wirtschaft
schicken, in der er als Kellner dient, um sich mit seiner Braut
auszusprechen. Abends bemerkt er anstatt seiner Braut die Mutter
in dem Gartenrestaurant. Die Mutter bestellt bei ihm Eis. Er gerät
bereits bei dem Anblick der Mutter in einen Erregungszustand und
„zittert am ganzen Körper". Seine Kollegen machen ihn aufmerk-
sam, daß seine Braut draußen auf der Straße auf ihn wartet. Als
er gerade zum Abrechnen gehen will, sieht er die Mutter und die
Braut zusammen auf der Straße stehen. Plötzlich zieht er seine
Straßen Jacke an, liefert die 180 RM, die er einkassiert hat, nicht
ab, sondern geht hinaus zu Mutter und Braut. Die Mutter schickt
er weg, spricht aber auch mit der Braut nur wenig, springt, fort-
während in größter Erregung, in ein Auto und phantasiert dabei,
daß die Mutter ihm vielleicht mit einem anderen Wagen folgt. Er
fährt mit dem Wagen bis nach Meißen, dann am nächsten Tag
weiter mit dem Postomnibus nach Leipzig und von dort mit dem
Zug nach Berlin. Von Berlin unternimmt er dann gleich nach der
Ankunft die erste Fahrt nach Kummersdorf. Über die Wahl dieses
Ortes als Ziel der Reise kann er nur sehr mangelhafte Erklärungen
abgeben. Seine Angaben wechseln: bald will er dort, d. h. in der
Nähe (Baruth), die frühere Braut des Stiefbruders besuchen, bald
den Stiefbruder selbst, der dort als Reichswehrsoldat dient. In
Kummersdorf erfährt er, daß sein Bruder nicht da ist, und so
fährt er zurück nach Berlin, setzt sich mit dem Chauffeur zu einem
Glas Bier ins Bahnhofrestaurant, geht unter einem Vorwand hin-
aus, läßt aber seine Papiere absichtlich auf dem Tisch liegen. Dann
nimmt er eine andere- Droschke und fährt damit wieder zurück
nach Kummersdorf und dann weiter nach dem in der Nähe be-
120
findlichen Ort Baruth, wo die Familie K. der gewesenen Braut
seines Stiefbruders wohnt. Er bleibt nur ganz flüchtig einige Minu-
ten in der Wohnung, spricht über die Affäre seines Stiefbruders,
notiert die Adresse der verlassenen Braut und fährt dann weiter
nach Kottbus. Über die Wahl dieses Ortes kann er gar keine Aus-
kunft mehr geben. Hier in Kottbus endet die sinnlose Fahrerei,
nachdem er den Chauffeur in ein Gasthaus eingeladen hatte und
nicht bezahlen konnte, weil er angeblich seine Brieftasche ver-
loren habe. Von dieser Geschichte ist aktenmäßig die erste Fahrt
nach Kummersdorf und von da über Baruth nach Kottbus fest-
gestellt. Die Vorgeschichte, das Zanken wegen des Rades zu Hause,
das Zusammentreffen am selben Abend mit Mutter und Braut in
der Gastwirtschaft, die darauffolgende Autofahrt von Dresden
nach Meißen und von Meißen über Leipzig nach Berlin, die er ja
noch bezahlen konnte, ist nur aus seiner Schilderung bekannt. Die
ganze Geschichte nimmt also ihren Anfang am 23. Mai 1929 früh
mit der Auseinandersetzung zu Hause. Noch am selben Abend be-
gann die Fahrt nach Meißen, dann am nächsten Tag nach Leipzig,
von Leipzig nach Berlin und von Berlin nach Kummersdorf und
zurück nach Berlin und anschließend daran die zweite Fahrt nach
Kottbus, welche abends ihr Ende nahm.
Ich habe keinen Grund anzunehmen, daß irgend welche Angaben
von Friedrich der Wahrheit nicht entsprechen oder bewußte Fäl-
schungen seien. Ich habe ihn öfters untersucht, und es gelang mir,
in ein Vertrauensverhältnis zu ihm zu gelangen. Die einzelnen
Fahrten sind vollständig zwecklos, d. h. sie sind bei ihm mit
keinen bestimmten Zweckvorstellungen verknüpft, aber sie sind in
einem hohen Grade auch ziellos. Er fährt aufs Geratewohl los, wie
es ihm in dem Augenblick einfällt. Die Wahl der verschiedenen
Ziele der Autofahrten ist aus bewußten Motiven unerklärbar. Aber
auch die unbewußten Motive sind nicht immer zu finden, nur die
Fahrt nach Kummersdorf läßt sich nach seinen unbewußten Moti-
ven mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annähernd rekonstruieren.
Darüber soll noch später berichtet werden. Seine Handlungen sind
zwar nicht in einem wirklichen Dämmerzustand ausgeführt, doch
in einem Ausnahmezustand, in welchem die Handlungen nicht so
sehr dem bewußten Willen unterworfen sind, als triebhaften und
121
ihm, dem Täter, selbst unbewußten Motiven. Diese
Autofahrt, ebenso wie seine früheren, ist eine triebhafte Handlung-
Der Impuls zu der Handlung erscheint im Bewußtsein zwangartig
und steht mit den übrigen bewußten Seeleninhalten in keinem oder
nur in einem lockeren Zusammenhange. Er wirkt fremdkörper-
artig im Bewußtsein und ist aus dem bewußten Seelenleben nicht
erklärbar. Deshalb erscheinen diese Handlungen sinnlos. Ihr Sinn
läßt sich erst dann rekonstruieren, wenn jene unbewußten Motive
erkannt werden, die diesen Handlungen zugrunde liegen. Es han-
delt sich hier also um Handlungen, die gleichwertig sind
mit psychoneurotischen Krankheitssymptomen.
Die Handlungen entsprechen fremden, aus dem Bewußtsein ver-
drängten Strebungen. Diese Strebungen lassen sich aber erst
aus der Lebensgeschichte und den näheren Lebensumständen des
Täters verstehen. Soweit mir eine solche Rekonstruktion jener ver-
drängten Regungen, die die Tat bedingt haben, mit Hilfe der kur-
zen psychoanalytischen Exploration gelungen ist, versuche ich, sie
kurz darzustellen.
Eine solche nähere Darstellung der Motive erscheint mir des-
halb nötig, weil die bloße Behauptung, daß es sich hier um un-
bewußte Motivationen handelt, erst dann einen faßbaren
Inhalt erhält, wenn diese Motive wenigstens in grober Annäherung
angegeben werden. Allerdings auch unabhängig von dieser
näheren Untersuchung der verdrängten und hier wirksamen
Motive läßt sich die Handlungsweise des Täters rein klinisch
deskriptiv als ein Fall von neurotischem Agieren
(triebhaftes, zwanghaftes Handeln) beschreiben. Für das neuro-
tische Agieren sind vor allem drei Merkmale charakteristisch:
I) Der irrationale Charakter der Handlungen-
Das Fehlen zweckmäßiger oder aus bewußten Affekten erklärbarer
Motive.
II) Die Stereotypie der Handlungen. Die ver-
schiedenen Strafhandlungen sind in ihrem äußeren Ablauf ahn-
lich, sie haben einen blinden, triebhaften Charakter und zeigen
keine Rücksichtnahme auf die äußere Situation. Auch '
schlechten Erfahrungen (Strafen) der Vergangenheit können den
Ablauf dieser Handlungen nicht beeinflussen, als ob ein blinder
122
4 -
Trieb sich ohne Rücksicht auf frühere Erfahrungen und auf die
gegebenen Situationen, also unabhängig von jeder fcinsicnt,
immer auf dieselbe Weise durchsetzen würde.
III) Das Vorhandensein eines seelischen Kon-
fliktes. Dieses dritte Merkmal zeigt sich darin daß der Jäter
seine Handlungen selbst verurteilt und die Strafe selbst herbei-
führt aus einer Sühnebedürftigkeit, welche wenigstens kurz ^ nach
der Tat so stark ist, daß sie ihn zur mehr oder W^"***P
Selbstanzeige veranlaßt. Auch die häufig auftretenden, ™™ »» h
nicht ganz ernst zu nehmenden Selbstmordabsichten spr chen
für das Vorhandensein eines inneren Konfliktes. Dieser seel ch
Konflikt entsteht dadurch, daß der bewußte Teil seiner Person
lichkeit das triebhafte Agieren ablehnt, diesem fremd gegenüber
steht, wenn auch nicht imstande ist, dem zwanghaft en Drangen
des Triebes zu widerstehen. Da diese dre. khn.schen M erkmale
des neurotischen Agierens: i r r a t i o n a 1 er C h a r a k t
Handlungen, Stereotypie de r H a ndlu „ V««*"
seelische Konflikt bei Friedrich zweifellos vorhanden
ZI 'so .assen sich seine *^^ * ÄX
SÄÄ^Ä^ einer pathologischen
Persönlichkeit sind.
111) Varsteüung der unbewußten (idifremden) JMotive,
die den Straftaten zugrunde liegen
Friedrich ist unehelich geboren und hat seine ersten sechs
Lebensjahre bei Verwandten verbracht. Nachdem Jk M«*r
geheiratet hatte, wurde er in die Familie -^"»"J^
Stiefvater hatte neun Stiefgeschwister V*. f^°™*£2
die tei,s jünger, teils ä.ter als er ~ "r«^ £ ^
ersten sechs Lebensjahre kaum noch Aber auch d
jähre hat er fast ganz vergessen. Er weiß won , Lu n2en-
mit acht Jahren in einer Lungenheilanstalt war wegen Lungen
ieiden, Er war ein £-££*££ tLJen £
Schulkameraden zurückgezogen. Seme iruiie . .
teten sich auf Botanik und besonders auf Chemie. Diesen
i*3
r
essen folgt er, als er ungefähr mit dreizehn bis vierzehn Jahren
Drogist werden will. Er wird auch als Lehrling in einem Drogi-
stengeschäft angestellt. Er erinnert sich, daß sein Chef sehr
streng war. Um zu Hause experimentieren zu können, stiehlt er
Chemikalien. Dies kommt heraus. Deswegen, und scheinbar auch,
weil sein Stiefvater wünscht, daß er schon Geld verdienen soll,
gibt er diesen Beruf auf. In dieser Zeit war die Mutter sehr auf-
geregt, hat Anfälle bekommen, drohte ihm mit Selbstmord und
wollte ihn auch in den Tod mitnehmen. Diese Szenen wirken
außerordentlich stark auf ihn. Auch sonst war die Mutter oft
krank und er pflegte sie mit der größten Sorgfalt. Diese Kranken-
pflege erwähnt die Mutter auch heute noch in ihren Briefen, wie
ich mich selbst aus einem in das Gefängnis geschriebenen Brief
überzeugen konnte. Man kann sich allmählich über die Verhält-
nisse im Elternhaus aus seinen Erzählungen, die mehr und mehr
vertrauensvoll wurden, ein ungefähres Bild machen. Die Mutter
leidet viel unter den Vorwürfen der Stiefkinder, daß sie den
eigenen Jungen verwöhnt, ja sogar, daß sie nur geheiratet habe,
um ihren Jungen unterzubringen. Er und seine Mutter hängen
tatsächlich ungewöhnlich stark aneinander, die Mutter mindestens
so stark an ihm, wie er an der Mutter. Diese lebt in einem stän-
digen inneren Konflikt. Unter den Vorwürfen der Stiefkinder
und vielleicht auch des Ehemannes, aber auch unter dem Druck
des eigenen Pflichtgefühls, versucht sie die starke, überzärtliche
Mutterliebe zu ihrem einzigen Kinde dadurch zugunsten der
anderen Kinder auszugleichen, daß sie oft streng gegen den
eigenen Jungen ist und wenigstens scheinbar die Partei der
anderen ergreift. Friedrich fühlt sich von den anderen Stief-
geschwistern ganz verschieden, „er ist von einem ganz anderen
Schlag." Die Stiefgeschwister sind robuste, praktische, tüchtige
Menschen, er ist zart und empfindlich. Charakteristisch dafür sind
kleine Einzelheiten. Er wird zum Beispiel in die Stadt geschickt,
um Besorgungen zu machen. Er fährt gerne mit der Straßenbahn.
Weil aber die Stiefgeschwister bei Besorgungen zu Fuß gehen
müssen, so steckt ihm die Mutter das Fahrgeld heimlich zu. Wenn
« jedoch herauskommt, daß er gefahren ist, so muß die Mutter
ihn offiziell tadeln. Aus diesen und ähnlichen Begebenheiten des
124
**
Alltags können wir uns die konfliktvolle Lage des Kindes in der
Familie vorstellen. Eine heimliche, zärtliche, aber so konfliktvolle,
beiderseitig durch Schuldgefühle belastete Liebe bindet Sohn und
Mutter aneinander. Diese Liebe bringt die Mutter in Konflikt mit
der Familie, den Jungen bringt sie in eine Ausnahmestellung, die
er vor sich nicht verantworten kann. Auch die Geburt der sieben
Jahre jüngeren Schwester ändert nichts an dieser Situation Die
Schwester wird sowohl von Friedrich wie auch von der Mutter
als zu der Gegenpartei gehörig empfunden.
Stiefvater und Stiefgeschwister drängen immer mehr darauf,
daß der Junge aus dem Hause kommt. Diese konfliktvolle Situa-
tion erklärt uns sein heimliches Verschwinden von zu Hause
das er dreimal wiederholte. Das erstemal - fünfzehn Jahre alt
- fuhr er nach Hamburg, um Seemann zu werden, wurde aber
noch am Bahnhof von einem Kriminalbeamten aufgegriffen, den
der Vater telephonisch anrief. Der Vater holte ihn dann zurucK.
Kurze Zeit darauf riß er nach Leipzig aus, um Arbeit zu
suchen, angeblich deshalb, weil damals die Mutter sehr streng zu
ihm war und ihn nie von zu Hause weggehen ließ
Das tztSS äcs^äse
IttX* Ät Tage aufsahen. Da • keine A * g
a„d, fuhr er zurück nach Dresden und fand dort «»*£«£
Viehhof Arbeit. Ein Freund verriet »-/""^
Mutter und diese kommt auch ihn zu besuchen. Nachdem e m»
seinen Aufenthaltsort entdeckt weiß, künd.gt er sofort und «*«
„ach Nieder-Poyritz, wo er als «-^ETÄ^S
Tag, an welchem die Mutter *^'?*J^ Unterschlagung
begeht er seine erste bereits erwähnte Straftat, oie
von 200 RM. vierzehnten Lebensjahr
Im ganzen kann man sem Leber vo ^ ^ ^
an ziemlich bewegt nennen. Bald * er ^^ ^
arbeitet er in einer Fabrik, m welcher er ^ ^ Vä&m,
Gehirnerschütterung erlebt ** a f*W f einem G ut herr-
überwindet es aber bald. Emmal wd ^ ^ ^ und
schaftlicher Kutscher werden hal fo Zeit Ubt
geht wieder zurück zum KeünerDerur.
12$
er bald zu Hause, bald nicht. Wenn er nicht zu Hause wohnt,
hat er ein sehr zwiespältiges Gefühl. Er hat zwar große Sehn-
sucht nach der Mutter, aber kaum, daß er sie besucht oder sieht,
treibt es ihn wieder weg von ihr. Man könnte diese Gefühle am
besten als eine mit Angst gemischte Sehnsucht be-
schreiben.
Den stärksten Eindruck auf ihn machten die Verzweiflungsaus-
brüche der Mutter, wenn diese Selbstmordabsichten äußert und
angeblich auch ihn in den Tod mitzunehmen dioht. Einmal soll
die Mutter diese Absicht mit Gas auszuführen versucht haben. Im
Jahre 1927 soll die Mutter ihn sogar zur Elbe geschleppt haben,
um mit ihm zusammen ins Wasser zu gehen. Er bekam wahnsinnige
Angst und riß sich los. Eine ziemlich durchsichtige Anspielung
in einem der Briefe der Mutter, den ich zu Gesicht bekam, macht
diese Angaben glaubwürdig. Der Ton der verschiedenen Briefe der
Mutter ist recht zwiespältig. Diese Briefe bestätigen unzweideutig
das Bild von den Gefühlsbeziehungen zwischen Mutter und Sohn,
das wir aus den Erzählungen Friedrichs gewonnen und bereits
angedeutet haben. Bald ist der Ton der Briefe zärtlich, ihr ge-
meinsames Schicksal wird hervorgehoben, ihre Zusammengehörig-
keit gegenüber der restlichen Familie kommt fast unverhüllt zum
Vorschein. Der Ehemann und die Stiefkinder werden als Fremde
behandelt. Aus anderen Briefen klingt wieder eine ganz andere
Stimmung. Die Ehefrau mit ihren Pflichten überwindet in ihr die
Mutter, sie macht dem mißratenen Sohne bittere Vorwürfe, wirft
ihm vor, daß er den Namen des Stiefvaters in den Schmutz ge-
zogen habe. Den Höhepunkt in diesem Konflikt zwischen Mutter-
liebe und Pflichten gegen die Familie bedeuten die hysterischen
Selbstmordabsichten und der Wunsch nach einem gemeinsamen
Sterben mit dem Sohn. Dieses Motiv des Liebestodes ist typisch
für Liebespaare, deren Wunsch, einander zu gehören, im Leben
nicht erfüllt werden kann. Der auf den Sohn gerichtete unbewußte
Inzestwunsch der Mutter kommt in diesen Selbstmordszencn un-
verkennbar zum Ausdruck. Mutter und Sohn sollen sich im Tode
vereinigen.
Es ist unschwer, die entsprechenden Gefühle in Friedrichs Un-
bewußtem aufzufinden. Friedrichs Sexualleben war bis jetzt ziem-
126
"
lieh dürftig. In der Pubertät hat er wenig Interesse für Mädchen.
Die übliche Pubertätsmasturbation ist bei ihm sehr stark inzestuös
gefärbt. In seinen Masturbationsphantasien taucht oft das Bild der
Mutter auf. In dieser Zeit empfindet er manchmal die Mutter in
den Phantasien als Frau. Er scheucht diese Phantasien von sich
weg, unterdrückt schuldbewußt und angstvoll diese Gefühle. Solche
Erscheinungen allein sind aber noch nicht außergewöhnlich, noch
nicht unbedingt pathologisch. Friedrich gelingt es aber nicht, sich
in den nächsten Jahren normalerweise von der Mutterbindung zu
befreien. Es gelingt ihm zwar, den sinnlichen Teil dieser Bindung
ins Unbewußte zu verdrängen, doch es bleibt die angstvolle, kon-
fliktvolle Sehnsucht nach der Mutter zurück, die er selbst
nach seinem eigenen Gefühl, ohne die Herkunft und
den tieferen Sinn dieser Gefühle zu kennen, als die Ursache
seiner triebhaften Straftaten empfindet. Nach-
dem er zu mir eine vertrauensvolle Beziehung erwarb und mir ver-
sicherte, daß es ihm zum erstenmal gelang, sich frei auszuspre-
chen, fragte ich ihn öfters, wie er sich selbst seine Handlungen
erklärt. Er gab mir immer wieder die stereotype Antwort, daß es
irgendwie mit der Mutter zusammenhängt. Wenn
er in ein Auto steigt, so fühlt er, daß er vor der Mutter
flüchtet. Immer wieder kommt er auf die Selbstmordszenen
der Mutter und auf deren Drohung, auch ihn umzubringen, zu-
rück. Er beschreibt seine Gefühle wörtlich wie folgt:
„Ich bin in ständiger Furcht vor meiner Mutter. Ich brauche
nur an meine Mutter zu denken, dann bin ich in einer derartigen
Aufregung, daß ich nicht weiß, was ich tue. Es steigen dann
fürchterliche Bilder in meinem Kopfe auf, und mein Gedanke ist,
nur fortfliehen, irgendwohin. Ich fühle dann immer jemand hinter
mir herkommen."
In solcher Gefühlslage besteigt er dann das Auto und phanta-
siert, daß jemand nachjagt, wahrscheinlich die Mutter. Dann
wünscht er weit zu fahren, je größer die Entfernung, um so besser.
Im Auto sitzend fühlt er, daß die Entfernung zu dem Verfolger
bald kleiner, bald wieder größer wird. Wenn er wieder zum klaren
Verstand kommt, dann fühlt er, „als wenn er aus einer großen
Ohnmacht erwachen würde". Er fühlt sich nachher müde, „ganz
127
schwach, als wenn er zusammenbrechen würde". Den Angstgefüh-
len, die er im Auto hat, mischt sich auch etwas Wollüstiges bei,
was aber keinen direkten sexuellen Charakter hat.
Die Symptomhandlung — so wollen wir das triebhafte Auto-
fahren bezeichnen — stellt sich also als eine Art Flucht im Auto
dar und kommt auf einem bei den Psychoneurosen sehr häufigen
Wege zustande. Eine in das Unbewußte verdrängte Triebtendenz,
die die bewußte Persönlichkeit angstvoll ablehnt, wird von dem
bewußten Ich als eine innere Gefahr gewertet und ebenso behan-
delt, wie eine äußere Gefahr. Friedrich flüchtet vor seiner ver-
drängten Inzestliebe zu seiner Mutter, also vor seinem eigenen ver-
drängten Wunsch, so, als ob dieser eine äußere Gefahr wäre. Er
steigt in das Auto und will vor der Gefahr, vor der Mutter, fliehen.
Man kann aber vor sich selbst nicht entfliehen, er trägt ja auch
den verpönten Wunsch, nicht nur die Angst vor diesem in sich
selbst. Dieses gleichzeitige Verlangen und Flüchten kommt dann in
den Angstphantasien im Auto zum Ausdruck. Die unklare Vor-
stellung: „die Mutter jagt ihm nach" ist nicht nur eine Angst-
vorstellung, sondern drückt auch den Wunsch nach der Mutter aus.
Dieser verpönte Wunsch wird aber von dem inzestablehnenden
Bewußtsein nur als Angst empfunden. Auch das Gefühl, daß der
Abstand zwischen ihm und seinem Verfolger bald größer, bald
kleiner wird, entspricht diesem Kräftespiel zwischen Verlangen und
Ablehnung.
Friedrichs Beziehungen zu Frauen sind auf Grund dieser starken
Bindung an die Mutter recht armselig ausgefallen. Mit siebzehn
Jahren kommt er erstmalig zum einmaligen Geschlechtsverkehr mit
einem Büfettfräulein. Vor diesem hat er nur zweimal harmlose Be-
ziehungen zu älteren Mädchen (Muttervertreterinnen) gehabt.
Der erste Geschlechtsakt bleibt dann lange ohne Fortsetzung. Im
Jahre 1926, also mit achtzehn Jahren, hat er für kurze Zeit Be-
ziehungen zu einem Mädchen, aber es kommt nicht zum Ge-
schlechtsverkehr. Fraglos spielt die übermäßig zärtliche Liebe der
Mutter, deren unbewußten Inzestcharakter der Sohn, wenn auch
nicht bewußt, so doch instinktiv fühlt, eine große Rolle für seine
sexuelle Entwicklung. Die Mutter schimpft hauptsächlich dann auf
ihn, wenn er spät nach Hause kommt. Er spürt, daß die Mutter
128
irgendwie eifersüchtig ist und ihn an sich fesseln möchte. „Sogar
auf gute Freunde war sie eifersüchtig." Erst im Jahre 1928 lernt
er seine heutige Braut kennen, mit der er einen ziemlich regel-
mäßigen Sexualverkehr ausübt. Doch er selbst bekennt, daß seine
Gefühle zu der Braut „nicht ganz richtig sind". Er spricht mei-
stens gleichzeitig von Mutter und Braut, aber die Braut spielt
immer in diesen Erzählungen die zweite Rolle. Seine stärksten
Gefühle, Angst und Sehnsucht, geltan der Mutter.
Die Mutter versucht, ihre Eifersucht auf die Braut mit einer
großen Sympathie für sie zu übertönen. Freilich gelingt es ihr
nicht, die verdrängte Eifersucht ganz zu verbergen. So beschimpft
sie häufig den Sohn, wenn er spät abends mit der Braut ausge-
blieben ist. Er hat sich schon öfters gedacht, daß „die Mutter
ihn von der Braut trennen will, um ihn für sich zu behalten".
Einmal schrieb er auch einem der Stiefbrüder, daß ihm Mutters
zu große Fürsorge lästig sei. Es läßt sich leicht vorstellen, wie
die mütterliche, wenn auch unbewußte Inzestliebe einerseits seine
eigene verdrängte Inzestliebe immer wach hält, anderseits die
Flucht vor der Mutter stärkt. So wird die Mutter für ihn eine
v/irkliche Gefahrenquelle," die ihn in die konfliktvolle Ver-
suchungssituation bringt. Es wird uns jetzt verständlich, warum
er die Autofahrten immer nach einem Zusammentreffen mit der
Mutter ausführt. Besonders deutlich kommt dies auch bei seiner
letzten Tat zum Ausdruck. Nach der Auseinandersetzung mit
der Braut schreibt er der Mutter einen Brief, in dem er sie bittet,
die Braut zu ihm zu schicken. Der unbewußte Sinn dieses Briefes
ist: „. .. laß mich endlich los, laß mich zu meiner Braut!" Aber
er schreibt diesen Brief unsinnigerweise der Mutter und nicht
direkt der Braut. Der Brief bedeutet also gleichzeitig auch eine
heimliche Werbung um die Mutter. Und tatsächlich erscheint
auch abends die Mutter in dem Wirtshaus und setzt sich so, daß
er sie bedienen muß. Sie hat offenbar aus unbewußter Eifersucht
nicht die Braut geschickt, sondern ist selbst zu ihrem Sohn ge-
kommen. Als Friedrich die Mutter erblickt, gerät er in eine
furchtbare Aufregung. Er zittert am ganzen Körper wie ein Ver-
liebter, wenn die Geliebte erscheint. Diese Aufregung ist auf eine
andere Weise nach der Kenntnis der Vorgeschichte nicht zu cr-
9 Almaatch 1932 129
klären. Er schickt die Mutter fort und auch die Braut, doch den
aufgeweckten, verdrängten Wunsch nach der Mutter kann er
nicht fortschicken. Und dann kommt die neurotische Symptom-
handlung, die Flucht im Auto, der krankhafte Versuch, vor dem
eigenen Unbewußten zu fliehen.
Auf unzweideutige Weise kommt die unbewußte, verdrängte
Eifersucht der Mutter auf die Braut in ihren Briefen an den Sohn
zum Ausdruck. In einem moralischen, formal klingenden Ton
wird immer die Braut angepriesen und der Sohn gebeten, sich
um ihretwillen zu bessern. Ihre tiefe und wahre Gefühlseinstellung
verrät sich aber in einem frappanten Verschreiben. Sie schreibt:
„Sorge dich nicht so um Gertrud, das ist ein verständiges Mäd-
chen, sieh lieber, daß du gesund wirst, und wenn du wieder
arbeiten kannst, dann lebe und sorge für Gertrud und geh nur
mit ihr fort und bleibt bei mir, dann wirst du auch nicht
in Versuchung kommen, Dummheiten zu begehen." Der Wider-
spruch: „geh nur mit ihr fort" — „bleibt bei mir" ist offenbar.
Bewußt wollte sie schreiben: „und bleib bei ihr", unbe-
wußt hat sie aber gemeint: „bleibe bei mir." Das Kompromiß
zwischen den beiden widerstrebenden Tendenzen kam in dem
Ausdruck „und bleibt bei mir" zustande. Auch das Wörtchen
„nur" ist nicht am Platze. Es bedeutet ja: „also gut, geh nur mit
ihr fort" und drückt damit ihren innerlichen Widerwillen gegen
dieses Fortgehen aus.
Der scheinbar vollständig unsinnige Besuch in Baruth bei der
Familie K., der verlassenen Braut des Stiefbruders, läßt sich im
Lichte dieser Aufklärungen verstehen. Die Autofahrt bedeutet
eine Flucht vor der Mutter. Die Braut des Stiefbruders ist ein
Ersatzobjekt für die Frau des Stiefvaters, d. h. für die Mutter.
Doch diese Braut hat der Stiefbruder treulos verlassen. Er flüchtet
von dem verbotenen Liebesobjekt, von der Mutter, zu dem
Ersatzobjekt, zur Braut seines Stiefbruders, die dadurch erlaubt
geworden ist, weil sie von dem Stiefbruder treulos verlassen
wurde. Aus dieser unbewußten Ideenverknüpfung erklärt sich
die sonst unerklärliche doppelte Fahrt nach Kummersdorf und
der so unsinnig und unmotiviert erscheinende Besuch bei der
Familie K., wo er über das schmähliche Verlassen der Braut
130
gesprochen hat, als ob er die sündhaften Wünsche gegenüber dei
Mutter damit gut machen wollte, daß er für die Tat des Bruders
aufkommt.
Es ist uns jetzt auch verständlich, warum er sich nach den
Autofahrten absichtlich in die Hände der Polizei spielt. Die Jagd
im Auto bedeutet ja eine Flucht vor seinem eigenen Gewissen,
die durch die Sehnsucht nach der Mutter erweckt wird. In diesem
Zustande der Gewissensspannung bedeutet die Strafe eine Befrei-
ung von Gewissensbissen. Außerdem bedeutet die Autofahrt nicht
nur die Flucht vor der Mutter, sie hat gleichzeitig einen Befrie-
digungswert für ihn, sie ist die symbolische Befriedigung einer
verdrängten sexuellen Spannung. Dieser sexuelle Charakter kommt
wie im allgemeinen bei den neurotischen Symptomen zwar nicht
bewußt zum Ausdruck, doch er verrät sich in der merkwürdigen
wollüstigen Empfindung, die sich der Angst beimischt. Um jedoch
diese tiefere komplexhafte sexuelle Bedeutung des Autofahrens,
das ja tatsächlich jedem als eine merkwürdige Leidenschaft
dieser pathologischen Persönlichkeit erscheinen muß, eindeutig
nachzuweisen, ist es nötig, noch einige Funde der psychoanalyti-
schen Exploration des Täters nachzutragen.
IV) Zum Komplexdiarakter des Autofahrens
Das Fahren mit Verkehrsmitteln nimmt in Friedrichs
Erinnerungsmaterial geradezu eine Ausnahmsstellung ein. Eine
seiner frühesten Erinnerungen — ungefähr aus dem achten
Lebensjahr — ist eine Eisenbahnfahrt mit dem Stiefvater, Mutter
und Stiefgeschwistern zur Sommerfrische nach dem Riesen-
gebirge. Am Bahnhof verschwindet er plötzlich mit der Ausrede,
zu Hause etwas vergessen zu haben, und hat die Absicht, den
Zug zu versäumen. Er kann diese Absicht heute nicht mehr
motivieren. Er bemerkt nur, daß der Stiefvater freie Fahrt bei
der Eisenbahn gehabt hat, weil er Beamter bei den Staats-
bahnen war.
Bei Schulausflügen, wenn sie in eine fremde Stadt kamen, er-
innert er sich, daß er sich öfters heimlich von den übrigen Aus-
flüglern trennte und in der Stadt allein mit der elektrischen
Bahn herumfuhr.
9" 131
Mit vierzehn Jahren will er Chauffeur werden, aber er sieht
einmal einen Autozusammenstoß auf der Straße und dann war
dieser Wunsch abgetan. Bei seinen Autofahrten denkt er auch oft
daran, daß er verunglücken könnte, und gibt auch dieses Motiv,
um seine unsinnigen Fahrten zu erklären, als eine Art Selbstmord-
absicht an. Dann wollte er einmal, wie schon erwähnt, herr-
schaftlicher Kutscher werden. Als Kind hat er oft die merkwürdige
Neigung gehabt, wenn er in der Straßenbahn gefahren ist, eine
Karte für Erwachsene zu lösen. Er wollte also beim Fahren den
Großen gleich sein. Daß es sich hier um einen merkwürdigen
Sublimierungsversuch des infantilen Sexualwunsches handelt, wird
einem eindeutig klar, wenn man die sexualsymbolische Bedeutung
des Fahrens aus dem Traumleben der Menschen kennt (vgl. auch
den deutschen Sprachgebrauch „Verkehr" — „Sexualverkehr"). Daß
das Straßenbahnfahren ein gemeinsames und verbotenes Geheimnis *
für ihn und die Mutter bedeutete, haben wir bereits erwähnt. Die
Mutter gab ihm heimlich das Fahrgeld, doch mußten diese Fahrten
vor den übrigen Familienmitgliedern verheimlicht werden.
Besonders bezeichnend ist Friedrichs Behauptung, daß er die
glücklichste Zeit seines Lebens als Kellner bei der Mitropa gehabt
hatte. Damals konnte er seine komplexbetonte Vorliebe für
Fahrten in einer ichgerechten Form befriedigen. Wie labil
dieses Gleichgewicht war, wie stark das Fahren mit Schuldgefühlen
verknüpft ist, zeigt uns seine fast ganz unmotivierte Kündigung
dieser Stellung. Er hat Angst gehabt, daß der Stiefbruder
ihn verraten könnte, daß er vorbestraft sei. Das Fahren ist
mit dem Inzestwunsch im Unbewußten assoziiert, deshalb
entsteht die Angst vor dem Stiefbruder, von dem er die Mutter-
liebe ja tatsächlich wegnahm.
Auch das Fahrrad spielt eine Rolle bei seiner letzten Straftat.
Wie schon erwähnt, hat er auf Abzahlung sich ein Fahrrad ge-
kauft, um, wie er behauptet, „mit der Braut, die auch ein Fahr-
rad besitzt, zusammen fahren zu können". Doch wurde ihm dieses
Fahrrad von dem Stiefvater weggenommen. Und das gab den
Anlaß zu dem Wutanfall.
Wir sehen eindeutig: das Fahren ist bei ihm weit zurück in die
Kindheit komplexhaft gefühlsbetont, es hat die Bedeutung einer
•
'
132
verbotenen Lust und es ist mit tiefen Schuldgefühlen verquickt.
Schon das Ausreißen vor der Sommerfahrt weist deutlich in diese
Richtung und zeigt, daß schon in diesem Alter das Fahren mit
Angst und Schuldgefühlen verknüpft war, weil es eine verbotene
Lustquelle für das Kind bedeutete.
Dieser Lustcharakter des Fahrens ist in der Psychoanalyse gut
bekannt, wenn auch sein Ursprung noch nicht ganz feststeht. Es
handelt sich um eine frühzeitige B e w e g u n g s lust, die bei
rhythmischen Bewegungen auftritt und beim Schaukeln von vielen
Kindern als deutliche sexuelle Lust empfunden wird. Manches
Kind entdeckt die Masturbation während des Schaukeins. Vielleicht
gehen die Wurzeln dieser Lustgefühle auf die allerfrüheste Säug-
lingszeit zurück, auf die Lustempfindungen, die das Kind bei dem
Gewiegtwerden in dem Arm der Mutter oder in der Wiege emp-
findet. Auch er erinnert sich, daß ihm als Kind das Schaukeln
eine ausgesprochene sexuelle Lust verursacht hat. Dieses Gefühl
beim Schaukeln findet er noch am ähnlichsten jenem Lustgefühl,
das er beim Autofahren hat.
Friedrich hat seine ersten Sexualgefühle, die bei jedem Kind
inzestgefärbt sind, sehr frühzeitig schon auf die rhythmische Bewe-
gungslust, die beim Fahren entsteht, verschoben, und so erhielt das
Fahren die unbewußte Bedeutung der verbotenen sexuellen Wunsche
zu seiner Mutter. §
Zum Schluß sei noch ein Traum mitgeteilt, den er im Gefängnis
geträumt hatte, ein Traum, der uns eine frappante Bestätigung der
oben entwickelten Erklärungen gibt.
Es träumt ihm, daß er spät nach Hause kommt - sie wollten
zusammen mit Mutter und Braut ausgehen - aber es ist schon zu
spät dazu. Dann plötzlich sitzt er in einem Auto, die Mutter fahrt
mit und sitzt neben ihm.
Der Sinn dieses Traumes ist nach dem Gesagten eindeutig klar.
Im Traum bringt er den verdrängten Inzestwunsch zur symboli-
schen Darstellung. Wovor er im Wachleben angstvoll flüchtet das
kann er im Traum befriedigen, und gerade in der Form, in welcher
er seine strafbaren Handlungen ausgeführt hat. Im Wachleben im
Auto sitzend flüchtet er vor der Mutter, im Traum fahrt er zu-
sammen mit ihr. Das Zusammenfahren mit der Mutter hat die
133
symbolische Bedeutung des Geschlechtsverkehrs. Es ist leicht zu
verstehen, wieso er im Traum diese zu schuldbelastete Autofahrt
ausführen darf. Er hat ja für dieses Autofahren bereits durch die
Gefängnisstrafe gebüßt. Er gönnt sich im Traum das, wovor er im
Leben, von seiner Gewissensangst gepeinigt, immer flüchten muß.
V) Das Gutachten
Friedrich ist eine psychopathische Persönlichkeit, ein neurotischer
(triebhafter) Charakter. Er ist in krankhafter Weise in einem Le-
bensalter an die Mutter fixiert, in welchem der normale Mensch
seine Inzestbindung gewöhnlich bereits überwunden hat. Seine straf-
baren Handlungen erweisen sich als neurotisches Agieren, sie sind
einem Krankheitssymptom gleichwertig und bedeuten den Versuch,
von einer unerträglichen, unbewußten Triebspannung sich zu be-
freien, von einer Triebspannung, die einen für das Bewußtsein un-
erträglichen Inhalt hat, nämlich die inzestuöse Sehnsucht nach der
Mutter. Die scheinbar völlig sinn- und zwecklosen
Autofahrten haben einen unbewußten Sinn, sie
bedeuten die angstvolle Flucht vor der Inzestsehnsucht, aber gleich-
Zeitig auch die symbolische Befriedigung dieses verdrängten "Wun-
sches. Die Strafhandlungen verfolgen sonst keine kriminellen Ziele
(wie Betrug, Beschädigung u. a.). Die Straftaten kommen dadurch
zustande, daß er von der beschriebenen Triebspannung auf dem
gesunden Wege sich nicht befreien kann. Und diese Triebspannung
ist stärker als die Hemmungseinflüsse der bewußten Persönlichkeit.
Die Handlungen also sind eindeutige Folgen einer krankhaften
Störung im Affektleben, deren nähere Natur kurz angedeutet wurde.
Eine Bestrafung, wie die früheren Strafen bereits zeigen, würde
ihn von weiterem neurotischen Agieren nicht zurückhalten. Im
Gegenteil: durch die Bestrafung nimmt die Gewissenshemmung ab
und das Gleichgewicht verschiebt sich wieder zugunsten der ver-
drängten Triebansprüche. Natürlich kann man auch von der Straf-
losigkeit keine günstigen Folgen erwarten, wenn nicht eine psycho-
therapeutische Behandlung vorgenommen wird. Von dem thera-
peutischen Standpunkt aus würde das geeignetste Vorgehen die
Aufnahme in einer Anstalt sein, wo er wenigstens für die erste
Zeit einer psychoanalytischen Behandlung unter Aufsicht stünde.
»34
VI) Epilog
Kurz nach seiner Freisprechung unterschlug Friedrich von einer
Fürsorgestelle, der er anvertraut war, eine größere Summe und hat
diese zum größten Teil für ziellose Eisenbahn- und Autofahrten
verausgabt. Diesmal wurde er mit einer Freiheitsstrafe bestraft.
Die Voraussage des Gutachtens hat so bald eine experimentelle
Bestätigung erfahren. Für diese neurotisch erkrankten Rechtsbre-
cher fehlen heute entsprechende Institutionen und Rechtsmaß-
nahmen. Sowohl einfache Freisprechung wie auch Bestrafung er-
weisen sich zwangsläufig als ungeeignete Maßnahmen.
Zw psydhoaoalytisdhee Kasuistik
der männlidieii Impotenz
Von
Maxim. Steiner
mit
Im Nachfolgenden sollen einige Krankengeschichten vorgeführt
werden, die namentlich auf das psychische Verhalten der Patienten
ein Licht werfen. Selbst diese Kasuistik, die sich nur auf wenige
Im Verlag Franz Deuticke, Leipzig und Wien, ist vom Buch: Dr. Maxim
Steiner, „Die psychischen Störungen der männlichen Impotenz, Eine neue, ver-
besserte Behandlungstechnik" soeben die „vierte, vermehrte Auflage" (Preis
Mark. 4'—) erschienen. „Die Zeit ist hoffentlich nicht ferne," — schrieb Professor
Freud 1913 im Vorwort zur ersten Auflage dieser Arbeit, — „in welcher die
Einsicht allgemein wird, daß man keinerlei nervöse Störung verstehen und be-
handeln kann, wenn man nicht die Gesichtspunkte, oft auch die Tedinik der
Psychoanalyse zu Hilfe nimmt. Die Behauptung mag heute wie eine anmaßende
Übertreibung klingen; ich getraue mich vor herzusagen, daß sie dazu bestimmt
ist, ein Gemeinplatz zu werden. Es wird aber ein bleibendes Verdienst des Autors
dieser Schrift sein, daß er diese Zeit nicht abgewartet hat, um die Psychoanalyse
in die Therapie der nervösen Leiden seines Spezialgebietes einzulassen.« Seit 191 3
hat die Schrift Dr. Steiners von Auflage zu Auflage Ergänzungen entsprechend
den seitherigen Fortschritten der psychoanalytischen Theorie und Technik
erfahren. Die jetzt erschienene 4. Auflage enthält, neben neuen theoretischen
Abschnitten, auch eine Erweiterung des Kapitels „Kasuistik", das wir
Genehmigung des Verfassers und des Verlags hier wiedergeben.
135
Fälle erstreckt, die interessanteren, die ich meiner reichhaltigen
Sammlung entnehme, wird zeigen, welch mächtigen Einfluß die
sexuellen Vorgänge auf die Psyche nehmen. Aber bei aller Ver-
schiedenheit der psychischen Äußerungen rindet der Praktiker bei
den in Betracht kommenden Patienten gewisse gemeinsame
Merkmale ausgeprägt. Das auffallendste Stigma ist das Fehlen
der für den Normalen so charakteristischen Aggression. Der Impo-
tente geht am Weib vorbei, anstatt auf sie loszugehen. Es fehlt
diesen Patenten meistens nicht an Gelegenheit zum Verkehr mit
dem anderen Geschlecht, nur lassen sie sie unbenutzt, und Begeg-
nungen, die für den normalen Mann zum Ausgangspunkt von Aben-
teuern würden, bleiben bei ihnen ohne weitere Konsequenzen.
Es sind lauter Romane, die im ersten Kapitel abbrechen. 1
Manchmal werden sie trotzdem weitergeführt, um vor dem ent-
scheidenden Punkte ein jähes Ende zu finden. Sie haben es in der
Kunst, der Entscheidung auszuweichen, geradezu zur Meisterschaft
gebracht. Freilich stellen die Patienten die Sache meist so dar, als
ob der andere Teil im kritischen Augenblick die Flucht ergriffen
hätte. Es ist klar, daß Männer, die dem Weibe gegenüber ein so
maßvolles Verhalten an den Tag legen, von diesem eine Zeitlang
mehr geschätzt werden und durch ihre scheinbare Frigidität beim
anderen Teile sexuelle Erregung hervorrufen. So erklärt es sich
daß gerade die psychisch Impotenten bei den Frauen die meisten
Chancen haben. Freilich wird ihnen der Segen zum Fluch, wie
weiland König Midas.
Fall ii Offizier. Unvollständige Analyse infolge äußerer Hin-
dernisse. Impotenz infolge verdrängter Wutregungen gegen seine
Frau, von der er sich nicht mit Unrecht verachtet und betrogen
glaubt, ohne es sich aber einzugestehen, da er sie aus Opposition
gegen sein Elternhaus, seine Erziehung und seine ganze Vergangen-
heit geheiratet hat.
Fall 2. Student mit Onaniezwang, der ihn nicht zum Weibe
kommen läßt. Begründung der Onanie durch Trotz gegen die El-
tern, von denen er sich immer zurückgesetzt glaubt. Er gibt die
l) Es ist nicht uninteressant, daß psychisch impotente Männer sich sehr häufig gerade
zu anästhetischen Frauen hingezogen fühlen.
136
Onanie nicht auf, weil sie ihn von den Eltern unabhängiger macht,
denen er das zur Befriedigung seines sexuellen Bedürfnisses nötige
Geld nicht abbetteln will. Große Beschämung in den Pubertäts-
jahren wegen der Entdeckung eines sexuellen Attentats auf eine
etwas jüngere Verwandte. Bei den ersten Koitusversuchen erweist
er sich impotent, doch kommt er schließlich im Laufe der Behand-
lung zu einer normalen Potenz.
Fall 3. Philosoph. Besondere Intelligenz und sexuelle Frühreife.
Stark perverse Betätigung in früher Kindheit, besonders Analerotik.
Bei Beginn der Behandlung gehäufte Pollutionen, volle Arbeits-
unfähigkeit, Klage über Mangel an Beziehung zur Außenwelt, ab-
solute Impotenz trotz ungewöhnlich günstiger Verkehrsgelegen-
heiten. Die Impotenz ist bedingt durch Fixation an die Mutter, die
in besonderer Intimität mit ihm gelebt hatte. Er wird durch Phan-
tasien beherrscht, welche an die Entkleidungen der Mutter an-
knüpfen (Kleiderfetischismus). Die Libido ging späterhin auf seine
um zwei Jahre jüngere Schwester über. Im Laufe der Behandlung
überwand er bei großer Besserung des Allgemeinbefindens die Im-
potenz und brachte es bei mehreren Frauen zu Leistungen, durch
welche sich diese höchlich befriedigt zeigten, während er selbst in
gewissem Grade anästhetisch blieb. Im Beisammensein mit der
Mutter, nach Abbruch der Behandlung, traten die Pollutionen
wieder auf.
Fall 4. Großindustrieller. Allmähliche Verschlechterung einer
normal einsetzenden Potenz, bis zum endlichen Versagen. Fixierung
an die Mutter, deren einziges Kind er ist, Gegnerschaft gegen den
Vater. Unzufriedenheit mit der Aussicht, in das Geschäft des
Vaters einzutreten. Er gewinnt in der Kur die volle Potenz wieder
und findet sich mit der Notwendigkeit ab, die Stelle des Vaters im
Geschäft einzunehmen.
Fall 5. Kaufmann, gutmütiger tüchtiger Mann, der mit
34 Jahren geheiratet und bis dahin keinen Koitus versucht
hatte. Volle Impotenz, die durch keinerlei somatische Behandlung
beeinflußt werden konnte. Kräftige Erektionen stellten sich während
der vierjährigen Ehe nur ein, wenn die Frau die Periode hatte, und
zur Zeit, als ihr wegen einer gynäkologischen Operation der Ver-
kehr untersagt wurde. Seine sexuelle Befriedigung erzielte er bis
137
zur Heirat durch Masturbation, geknüpft an eine Phantasie, in
welcher er sich unter allerlei Zeremoniell von Frauen abschlachten
ließ. 2 Die Entwicklung dieser masochistischen Phantasie reicht bis
in die Vorpubertät zurück; sie stellt eine Reaktion auf frühzeitige
sadistische Regungen dar. Dazwischen läuft eine Geburtsphantasie,
in der er das Weib (die Mutter) darstellt. Er war schon als kleiner
Knabe an die Mutter fixiert und von dem strengen Vater über-
mäßig eingeschüchtert. Seit der Heirat hat er die Onanie aufgege-
ben. Zum Versuch mit anderen Frauen ist er nicht bereit.
Fall 6. Advokat. Begabter, aber sehr zerfahrener Mann, mit
bewegtem, an bunten Abenteuern reichem Vorleben. Wiederholte
Gonorrhöe, außerordentliche Phantasietätigkeit, unmäßige Onanie,
die durch sexuellen Verkehr nicht gehemmt wird. Allmähliche Ab-
nahme der Potenz, häufiges Versagen und sehr verfrühte Ejakula-
tion, allmähliche Entwicklung von Herzangst, Eisenbahnangst,
Klaustrophobie und anderen Angstzuständen, die seine Existenz
sehr erschweren. Er gewinnt in der Behandlung bei weitgehender
Herstellung von seinen Beschwerden seine gute Potenz, entsagt der
Onanie und tritt in befriedigende Liebesbeziehungen ein.
Fall 7. Junger Amerikaner, dessen Sexualleben eine normale
Entwicklung einschlug, der aber im 23. Jahre den Sexual verkehr
plötzlich aufgab und durch 14 Jahre ohne Schaden abstinierte.
Nach dem Tode seines Vaters versuchte er im 37. Lebensjahre
wieder zu koitieren, fand sich aber völlig impotent und wurde
nach erfolgter örtlicher Behandlung nach Wien geschickt. Seine
Potenz kehrte hier schon während der Lokalbehandlung wieder
und gestaltete sich während der Psychoanalyse zu einer in jeder
Hinsicht normalen. Seine Libido war an die Mutter fixiert, er
hatte den sexuellen Verkehr aufgegeben, als er von einem galanten
Abenteuer des Vaters Kenntnis erhielt, und getraute sich erst nach
dessen Ableben den Verkehr wieder aufzunehmen. Er heiratete
nach der Rückkehr in seine Heimat ein junges Mädchen.
Fall 8. Junger Mann in angeblich glücklichster Ehe (Liebes-
2) Für die prognostische Beurteilung des einzelnen Falles ist der Charakter
Onanier-Phantasie von großer Bedeutung. Sind es, wie im vorliegenden Falle, tnat
chistische Phantasien komplizierterer Art, so ist wegen ihrer schweren Realisierbarkeit
die Prognose meist ungünstig.
138
heirat, schöne Frau, ein Kind von wenigen Monaten), der nach
seiner ersten Untreue auf der Reise von einer schweren Depression
befallen wird, seiner Frau eine Beichte ablegt, aber trotzdem in
hypochondrischer Verstimmung verbleibt. Fixation der Libido an
eine jüngere Schwester, die, selbst an ihn gebunden, seine Heirat
mit einer Hysterie beantwortet und seine Frau mit Feindseligkeit
verfolgt. — Heilung der Depression.
Fall 9. Gendarm. Hat bis zum 40. Jahr keinen Koitusversuch
unternommen, dagegen viel onaniert. Er geht im 4°- Lebensjahr
eine Vernunftehe mit einer älteren reizlosen Frau ein und erweist
sich als vollkommen impotent. Die Lokalbehandlung bleibt zu-
nächst ohne Erfolg. Die Analyse des sehr intelligenten Patienten,
der eine Unmasse von Träumen von dem charakteristischen Unzu-
länglichkeitstypus produziert, ergibt eine Fixierung an die Mutter
und stark ausgeprägten Vaterhaß. Der anfängliche Erfolg wird
nach einem kurzen Besuch bei der noch lebenden, aber an einem
anderen Orte wohnenden Mutter durch neuerliche Mißerfolge ab-
gelöst. Die Fortsetzung der Analyse fördert abermals neues Mate-
rial zutage. Patient reist in seinen Dienstort ab und es gehngt ihm
zunächst, mehrmals den Koitus - allerdings nicht bei der«««
Frau - auszuführen. Da Patient nicht mehr in der Lage ist,
neuerdings nach Wien zu kommen, gebe ich ihm den Rat, die Ana-
lyse, soweit es geht, selbständig fortzusetzen, seine Traume aufzu-
zeichnen und mir einzusenden. Ich sende sie ihm zurück mit der
Aufforderung, auch seine Deutungsversuche beizufügen .Zug ch
mit diesen bekomme ich einige Tage später auch die Nachricht
von dem ersten bei der eigenen Frau vollzogenen »
(Weit häufiger, als man erwarten sollte, hatte ich MM
helleren Carmen Fälle von g^^HÄ
tat Es handelt sich stets um gjJ^SÄ 1*< schon in
Menschen mit relativ großer Intelligenz verdr ängten un-
der Berufswahl dieser Leute ein *+~-^£ den Vater
bewußten Komplex [aufrühren «***«"* ^ " an Loya l itat
und ihre Überkompensation durch bewußt £«£*£ J ^
und Gesetzesachtung]. Sicher ist, da » Patienten stets die
Wichen «■* "*SÄÄt ^ ""
stereotype Antwort geben, der ueru*
139
SS
II
fordere ein sehr reserviertes Benehmen; sie dürften, um nicht die
Achtung der Bevölkerung zu verscherzen, sich nicht in Heimlich-
keiten und Liebesverhältnisse einlassen, lebten unter steter Kontrolle
der Behörden und der Bevölkerung, überdies biete ihnen der an-
strengende Dienst und der damit verbundene Ortswechsel kaum Ge-
legenheit, sich irgendwo zu engagieren.)
Fall 10. Junger Fabrikant. Sucht mich wegen Magen- und
Darmbeschwerden, namentlich einer hartnäckigen Obstipation, auf,
obwohl ihm genau bekannt ist, daß ich kein Spezialist für die er-
wähnten Krankheiten bin. Er ist sehr nervös, leidet an Pollutionen.
Onanie wird anfangs geleugnet, aber später spontan eingestanden.
Objektive Untersuchung ergibt bei dem jungen Mann, der nie eine
Geschlechtskrankheit hatte, chronische Prostatitis und Uberempfind-
lichkeit der pars prostatica urethrae. Nach Beseitigung der genann-
ten Zustände durch lokale Behandlung tritt eine auffallende Bes-
serung der Magen-Darm-Beschwerden ein, die offenbar auf Sexual-
neurasthenic hinweisen. Um dieser abzuhelfen, verordne ich regel-
mäßigen Koitus, der bei der Dirne auch anstandslos gelingt, ohne
aber Vergnügen zu bereiten, im Gegenteil wieder die ursprünglichen
Beschwerden hervorruft. Patient hat selbst die Empfindung, daß
ihm der Koitus mit einer gleichwertigen Person nottut. Auch er
sieht darin die Lösung seines Problems. Doch kann er sich nicht
entschließen, eine Beziehung anzuknüpfen, da ihm der Mut fehlt,
die Initiative bei einem anständigen Weibe zu ergreifen. Der Zu-
stand verschlechtert sich zusehends, eine abermalige lokale Behand-
lung beseitigt die Verdauungsbeschwerden. Um nicht neuerdings zu
Prostituierten gehen zu müssen, nimmt er die Onanie wieder auf,
die aber ebenfalls schlecht vertragen wird und die alten Beschwer-
den verursacht. Zwei durch einen gefälligen Freund vermittelte Ver-
hältnisse mit besseren Mädchen löst er nach kurzer Zeit, ohne daß
es zu einem Koitus gekommen wäre; er gibt an, daß ihn diese Be-
ziehungen noch nervöser gemacht hätten. Patient war das jüngste
Kind betagter Eltern, die Mutter war gestorben, kurz bevor er in
meine Behandlung trat. Der alte Vater hing zwar am Sohn mit
großer Zärtlichkeit, doch hielt er ihn sehr knapp und ließ ihm
wenig Freiheit. Das ist auch nach Ansicht des Patienten der
Grund, warum er zu keinem richtigen Sexualverkehr kommen
140
1
könne, da die stete Kontrolle ihn irritiere. Kurz nachdem der Vater
gestorben war, ging er ein neues Verhältnis ein, das zwar abermals
durch Vermittlung zustande kam, in dem Patient aber sofort eine
normale Potenz zeigte und bis heute derselben Person gegenüber
behalten hat. In den Verdauungsbeschwerden sind nur gelegentlich
leichte, bald vorübergehende Rückfälle vorgekommen. — Bei die-
sem Falle, der bis zum endgültigen Erfolg nahezu drei Jahre in
meiner Behandlung stand, habe ich keine eigentliche Analyse vor-
genommen. Nichtsdestoweniger kann der lange intime Verkehr,
während dessen es mir gelang, das Vertrauen des Patienten völlig
zu erwerben, und dieser Gelegenheit hatte, sich über alles mir
gegenüber rückhaltlos auszusprechen, wohl als Surrogat einer rich-
tigen Analyse gelten. — In konstitutioneller Hinsicht wäre zu be-
merken, daß die Mutter des Patienten an einer schweren Herz-
neurose litt, eine Schwester leidet an einer Psychose, ein verstorbe-
ner Bruder soll gleichfalls hochgradig nervös gewesen sein.
Fall i i. Kaufmann aus der Provinz, in kleinlichen Verhaltnis-
sen aufgewachsen, entstammt einer neuropathischen Familie, deren
meiste Mitglieder, sowie der Patient selbst, stark kurzsichtig sind.
In der Kindheit mannigfache Verführungsszenen passiv und aktiv.
Die letzteren beziehen sich vorwiegend auf die jüngere Schwester
die angeblich gleichfalls „nervös« geworden ist, geheiratet hat und
in der Ehe anästhetisch sein soll. Aus einer Reihe von schonen
Träumen des Patienten ergibt sich die Mutter als ^^
Objekt der Libido. Die Schwester bedeutet bereits «»« V ~
bung. Bei der Loslösung von der Schwester ««^tt^S
an eme Cousine, die schließlich durch eine Fremde ersem w
die aber in nahen Beziehungen zur ^^^^
weise«, obgleich keine Verwandte den J^^ unter _
führt. Bei dieser werden auch die ersten
nommen, die aber mißlingen. D«^» g -— J ^
nach Überwindung der ersten ▼WW^ h . zur Schwänge-
führt zu einem nur zu vollständigen Erfo lg ^
rung des Mädchens. Dieser ~»^J££ eInes Koitus mit
weiliges Aufgeben des <£*££* JÄcUießt sich, das
anderen Mädchen, der aber mißlingt. 1 atient
Mädchen, bei dem er reüssiert hatte, zu heiraten.
141
Fall 12. Junger Fabrikant, der seit der Pubertät anstandslos
koitiert hat, erweist sich von dem Augenblick, da er sich zur Hei-
lung eines nervösen Magen-Darmleidens in ein Sanatorium begeben
hat, als völlig impotent. Als zunächstliegende Ursache ergibt sich
der Umstand, daß Patient im Sanatorium sich in eine junge Dame
verliebt hat und seitdem jedes andere Sexualobjekt ablehnt. Die
Analyse ergibt reichlich Inzestmotive auf Grund von Träumen, in
denen wiederholt von einem Rivalen die Rede ist 8 (offenbarer Hin-
weis auf den Vater), der auch aktuell ist, da außer ihm noch je-
mand um die Gunst des Mädchens warb. Es gelingt ihm, den Ri-
valen aus dem Felde zu schlagen und das Mädchen heimzuführen,
bei dem er eine befriedigende Potenz gewinnt.
Fall 13. Arzt, Mitte der Dreißigerjahre, hat noch niemals bei
einem Weibe reüssiert, stets organisch gesund gewesen, ja sogar aus-
gesprochen robust, wird aber von Phantasien beherrscht, die in
bunter Reihenfolge und mannigfaltigster Verschränkung sadistische,
masochistische, exhibitionistische, fetischistische Szenen zum Inhalt
haben. Als Fetisch dienen ihm weibliche Dessous, die bei allen von
ihm in der Phantasie durchgeführten Entkleidungsszenen eine große
Rolle spielen. Ganz besonders interessant ist in diesem Falle das
absolute Unvermögen des Patienten, sich ein weibliches Genitale
vorzustellen, um so verwunderlicher, als Patient Arzt ist und in
seiner Praxis täglich oft mehrmals Gelegenheit hat, den weiblichen
Geschlechtsteil zu sehen* Die organische Behandlung der ausgespro-
chen prostatischen Hyperästhesie hat gar keinen Erfolg. Erst nach
Durchführung der Analyse, die ein reiches Material im oben ange-
führten Sinne liefert, stellt sich der volle Erfolg ein.
3) In einem dieser Träume spricht Patient von einem Gutsn?chbarn, mit dem er um
ein Grundstück in Streit geraten sei. Rivalität sträume sind überhaupt bei Neurotikern
nicht selten und decken affektbetonte Beziehungen zum Vater, eventuell zu den
Geschwistern.
4) Diesen Zug weisen sehr viele psychisch Impotente auf; Männer, die oft in
beschränkten Verhältnissen mit Geschwistern ungefähr gleichen Alters aufgewachsen sind,
geben, wenn sie späterhin neurotisch geworden sind, oft an, keine Kenntnis vom weib-
lichen Genitale zu haben. Natürlich liegt gerade in dieser Dissimulation ein deutlicher
Hinweis auf die im Unbewußten schlummernden, die Neurose veranlassenden Motive
(inzestuöse Fixierung an Mutter oder Schwestern). Solche Patienten benehmen sidi wie der
Morder, der sein Opfer überhaupt nicht gekannt haben will.
142
Fall 14. Russischer Schriftsteller von starker Begabung, der
einen Teil seiner schwülen Erotik in sehr feinen lyrischen Dich-
tungen sublimiert hat. Während und nach der Durchführung der
lokalen Behandlung arbeitet der sehr intelligente Patient, der über
die Freud sehe Theorie hinreichend informiert ist, an einer
Selbstanalyse, die den gewünschten Erfolg herbeiführt. Interessant
ist, daß von diesem Moment an sich ein deutlicher Wechsel in der
Form der Produktion zeigt, indem er von da an ein äußerst erfolg-
reicher Dramatiker wird. Seine Arbeiten haben vollen künstleri-
schen Wert und zugleich starke theatralische Wirkung, während
die im Anfang erwähnte lyrische Periode Schöpfungen mehr
sublimer und ätherischer Art aufgewiesen hatte.
Fall 15. Privatgelehrter von abschreckender Häßlichkeit mit
merkwürdig sinnlichen Augen. Seine bis dahin ganz leidliche Po-
tenz erlischt in dem Augenblick, da er die Absicht hat, eine Kon-
ventionsehe zu schließen. Die Phantasie des Mannes, der sein
Leben anscheinend nur reinsten wissenschaftlichen Zielen geweiht
hat, ist erfüllt von wüsten Orgien, in denen sadistische Vorstellun-
gen vorherrschen, aber auch andere WM« £*** TT
treten sind. Speziell Figuren der antiken Mythologie werden n
seinen PhantasLücken verarbeitet, in denen er jede mögliche Rolle
spielt. Die Analyse deckt intensiv verdrängte Inzestwunsche auf
Nachdem er seine volle Potenz erlangt hat, heiratet er eine arme
Cousine, in die er schon lange verliebt war.
Fall 16. Junger Offizier, etwas infantil aussehend, mit tur
I seinen Beruf nid zureichender äußerer ^SZSZ
I Muskelentwicklung). Auffallend geringe »«*^Ä££
I bensjahr, dann mäßige Onanie mit ^^^J^vS'
I Seitdem « Leben SJ ahr mutuelle °— «J*» ^£
keit zur immissio penis. Erektionen auch au J J phantasien .
I sexuellen Reize, Ejakulation nur **£2+£ Infolge
Unvereinbarkeit von sexuellen und £ e ^£ ^ stark ver .
leidenschaftlicher Neigung zu einem m den
liebten Mädchen wurde , der J^^Äädchee sich als
siv und führte ihn m Behandlung, da er ^ ^
vollkommen impotent erwies E r mufit ^^ ^
aufgeben, daß nur mangelnde Liebe an aer
M3
schuld sei. Als Ursache der Impotenz zeigte sich bis in die frühe
Kindheit zurückgehende masochistische Fixierung an Dienstmädchen.
Durch die Behandlung wurde Patient befähigt, mit nicht geliebten
Personen zu verkehren, und war imstande, sich gegenüber dem
Sexualobjekt aktiv einzustellen.
Fall 17. Hoher Beamter in den Vierzigerjahren, stammt von
gutmütigem Vater und brutaler Mutter (vier Brüder). Die im
11. Lebensjahr aufgenommene Onanie bleibt durch sein ganzes Leben
als einzige Sexualbefriedigung bestehen, und zwar mit sadistisch-
heterosexuellen Phantasien verknüpft. Der kulturell und ethisch
sehr hochstehende Mann war sein ganzes Leben hindurch vom
Kampfe mit den ihm selbst unwürdig erscheinenden perversen Ge-
lüsten und den daraus resultierenden Vorwürfen gequält und ent-
schloß sich bei einer Steigerung dieser Zustände zur Behandlung.
Patient hatte nie einen Versuch zum Koitus gemacht infolge man-
gelnden Mutes gegenüber begehrenswerten Frauen und Abscheues
gegen käufliche Objekte. Als Ursache stellte sich lange dauernde
homosexuelle Einstellung auf Verwandte und Freunde heraus,
welche Beziehungen gleichfalls infolge der damit verbundenen
sadistischen Gelüste zu keinerlei Betätigung geführt hatten. Der
Sadismus des Patienten hing innig mit dem Mutterkomplex zu-
sammen. Als Resultat der Behandlung ergab sich eine Aussöhnung
des Patienten mit seinem liebelosen Leben; die sadistischen Phanta-
sien traten nur mehr in geringer Intensität und ganz selten auf.
Patient versöhnte sich mit den Resten seiner infantilen Sexual-
eindrücke, die ihre quälende Wirkung verloren. Dadurch gewann er
gesellschaftlich wie auch persönlich eine nie gekannte Lebensfreude
und Arbeitsenergie.
F a 1 1 1 8. Jurist, impotenter Angsthysteriker, mit Absenzen, Ohn-
machtsanfällen und Platzangst; Zwangslachen, Schweißausbrüche,
Zwangserröten. Erinnert nie onaniert zu haben. Vom 2. bis 6. Le-
bensjahr werden sexuelle Aggressionen gegenüber der Mutter und
Dienstmädchen erinnert, später kommen inzestuöse Betätigungen an
kleinen Geschwistern hinzu. Im 11. Lebensjahr setzte die Neurose
mit Anfällen von Kopfschmerz und Angstzuständen ein. Dann
asexuelle Zeit bis zum 14. Lebensjahr. Von da an sehr häufig
nächtliche Pollutionen bis zum 18. Lebensjahr. Die begleitenden
144
Pollutionsträume enthielten in der Kindheit erlebte Entblößungs-
szenen von Mädchen, wobei regelmäßig zu Beginn des Traumes die
Mutter anwesend war und durch „Lenkung" des Traumes entfernt
wurde. Im Tagesleben war die Sexualität, im Zusammenhang mit
der Angsthysterie, vollkommen gehemmt, wozu die masochistische
Einstellung gegenüber dem Vater und den älteren männlichen Ver-
wandten die Hauptveranlassung war. Es gelang der Analyse, die
mannigfaltigen Widerstände gegen die Sexualität aufzulösen und sie
von der Fixierung zu befreien. Aber auch jetzt war der Koitus
immer noch unmöglich, da sich eine Reihe von fetischistischen Bedin-
gungen in bezug auf Gestalt, Kleidung, Brustform, Alter, Haarfarbe
usw. herausstellten. In wie frühe Jahre die sexuellen Störungen zu-
rückgehen mußten, ergibt sich daraus, daß der Knabe im 12. Lebens-
jahr wegen eines Sphinkterkrampfes mit Sonden behandelt wurde,
ohne nachweisbare organische Veranlassung. Es gelang der kombi-
nierten psychischen und organischen Behandlung, die sehr starke
latente Potenz vollkommen herzustellen.
Fall 19. Junger Sänger, der es gegen den Willen seiner Eltern
geworden ist, die ihn für das väterliche Geschäft bestimmt hatten.
Trotz großer Fähigkeit im Beruf ausgesprochene Schüchternheit, die
sich namentlich als Lampenfieber vor öffentlichem Auftreten äußert.
Der Koitus gelingt bei Dirnen, ohne Vergnügen zu gewähren. Bei
anständigen Mädchen, auch wenn sie ihm die größten Avancen
machen, reüssiert er nur teilweise, d. h. mit ejaculatio praecox. Die
lokale Behandlung bessert diesen Befund für einige Zeit. Bei der
neuerlichen Rezidive stellt sich Patient mit der Angabe vor, daß er
an Herzklopfen, Beklemmungen und Schlaflosigkeit leide. Patient
wünscht eine Psychoanalyse durchzumachen, von der er durch Be-
kannte erfahren hat, Die Analyse ergibt eine starke Erotik in den
Vorpubertäts jähren; Patient wurde ertappt bei einem Attentats-
versuch auf ein kleines Mädchen, die er als Nachbarin häufig zu
sehen Gelegenheit hatte. Die Träume zeigen deutlich Inzestphanta-
sien mit stark betonter Eifersucht, die auf jüngere Brüder gerichtet
ist. Die organischen Beschwerden sind noch im Laufe der Behand-
lung zurückgegangen. Die Analyse selbst wurde aus äußeren
Gründen nicht zu Ende geführt.
Fall 20. Kaufmann, Mitte der Dreißigerjahre, von hervorragen-
10 Alnunach 1932 145
der Intelligenz, kräftig männliche Erscheinung, gegen die ein ängst-
liches, unsicheres Auftreten kontrastiert, welches den Patienten in
seinem Beruf und im geselligen Leben schwer störte. Namentlich
aber war er nicht imstande, geschäftliche oder menschliche Be-
ziehungen durch länger als höchstens zwei Jahre zu unterhalten,
weil das Gefühl, „gekannt zu sein", ihn hinderte, mit den Menschen
weiter zu verkehren. Er war in seinem geschäftlichen Verhalten
durch schwere Skrupel gestört, so daß er Transaktionen nur mit
größter Willensanstrengung durchführen konnte, aus Angst, dabei
Geld zu verdienen. Aber diese neurotischen Scharten kompensierte
er durch ungewöhnliche Tüchtigkeit. Im geselligen Verkehr störte
Zwangslachen, Erröten und Errötungsangst, Stammeln und Ver-
legenheit. Die Ursache lag in schweren sexuellen Schuldgefühlen,
hervorgerufen durch perverse zoerastische Beziehungen in der Kind-
heit. Die ganze Entwicklung des Patienten war durch den harten,
übermäßig moralischen Vater derart beeinflußt, daß jede normale
Sexualerregung mit Schamgefühl und Angst vor Verrat einherging,
so daß immer nur unter der stärksten Steigerung des unbefriedigten
Triebes Sexualbefriedigung bei Individuen gesucht wurde, von
denen kein Verrat zu befürchten war. So war es in der Kindheit
und Pubertätszeit bei den Tieren und später bei Individuen, die
der Patient nicht zur menschlichen Gesellschaft rechnete, also nur
bei Prostituierten niedriger Sorte, wobei er auch nie den Verkehr
mit demselben Mädchen wiederholte. Dabei führt der Patient ein
Doppelleben, indem er mit vornehmen und anständigen Frauen,
die in sein Leben eingetreten waren, ein höchst verfeinertes psychi-
sches Verhältnis unterhielt, das sich durch eingehende und fördernde
Teilnahme an ihrem Schicksal, feines Verständnis für das geistige
Leben des anderen und das Bedürfnis, sich selbst mitzuteilen, aus-
zeichnete. Bei diesen platonischen Verhältnissen hatte der Patient
nie eine sexuelle Erregung gehabt, er gehörte also auch zu den Men-
schen, bei denen Wertschätzung und Lüsternheit derselben Person
gegenüber einander ausschließen. Dieses Verhalten war bewußt be-
dingt dadurch, daß er selbst sich so niedrig einschätzte und sich
eines reinen Wesens nicht für würdig hielt; im Unbewußten lag eine
infantile Fixierung an seine Mutter zugrunde, die in den ersten
Kinderjahren durch normale Zärtlichkeit das Kind an sich gefesselt
146
hatte und später in idealer Art das Schicksal des gequälten Jungen
begleitet hat. Sie starb, als der Knabe 16 Jahre alt war, der nach
diesem Termin die Perversion aufgab und in der pathologischen
Trauer um sein tiefstes Liebesobjekt perseverierte. Der Erfolg der
psychischen Behandlung war eine vollkommene Herstellung von
seiner Arbeits- und Berufsstörung, Befreiung von den Depressionen
und Wiederherstellung der sexuellen Gefühle gegenüber geschätzten
Frauen. m
Im folgenden sollen einige Typen von Männern vorgeführt wer-
den, bei deren Potenzstörung die feminine Identifizie-
rung als Leitmotiv fungiert. Da ich mir's aus Gründen der Diskre-
tion versagen muß, detaillierte Krankengeschichten zu geben, will
ich die psychische Struktur dieser Patienten nur in groben Zügen
skizzieren. Zunächst einige schwere Fälle:
1) Junger, auffallend hübscher Mann, schwächlicher Charakter,
sehr soigniert, wird von Frauen förmlich umworben, mit denen er
aber stets nur zu mehr weniger weitgehenden Flirts kommt, da er
überhaupt keine Erektionen zustande bringt. Passiv eingestellt, wie
er ist, hat er bereits mehrere Verlobungen über sich ergehen lassen,
doch hat er es stets zuwege gebracht, sich noch im letzten Moment
vor der Eheschließung zurückzuziehen. Er hat nie im Leben
onaniert, hat in seiner kindlichen Libidoentwicklung nicht die
genitale Stufe erreicht, gehört also zu jenen Fällen, bei denen wir
eine schlechte Prognose stellen müssen. Die Analyse deckt bei ihm
eine starke feminine Identifizierung auf. Als ganz kleiner Junge be-
lauscht er die Mutter beim Ankleiden, legt, wenn er allein ist, heim-
lich Frauenkleider an, zeigt die spezielle Neigung, an getragener
weiblicher Wäsche zu riechen. Hat auch noch als großer Junge
Freude an Verkleidungsszenen; es bereitet ihm besonderes Ver-
gnügen, sich mit zwischen den Schenkeln verstecktem Penis vor dem
Spiegel zu betrachten. Starke orale und anale Phantasien. Die
Behandlung, die aus äußeren Gründen öfters unterbrochen werden
muß, bessert den Patienten insoferne, als er gelegentlich bei Frauen
reüssiert, bei denen er seine Phantasien einigermaßen realisieren
kann. Von einer richtigen Heilung kann in diesem Falle nicht ge-
sprochen werden.
10*
147
14«
f
2) Junger, sehr begabter Mann mit bewußten homosexuellen
Regungen, die nicht zu aktuellen Beziehungen führen, und mit sadi-
stischen Neigungen, die er an kleinen Mädchen befriedigt. Auch be-
steht eine Arbeitsstörung, die darin zum Ausdruck kommt, daß er
trotz beträchtlichen Ehrgeizes wenig Energie zeigt und der Kon-
kurrenz mit Männern ausweicht. Auch dieser Patient hat nicht die
genitale Stufe der Libidoentwicklung erreicht. Die Analyse zeigt eine
starke Identifizierung mit der notorisch herrschsüchtigen Mutter, die
ihn auch noch als Erwachsenen gängelt und ihn veranlaßt, eine
Stellung bei einem Verwandten im Ausland anzutreten, wodurch
die Behandlung vorzeitig beendet wird. Über das weitere Schicksal
dieses Mannes bin ich nicht informiert.
3) Junger, intelligenter Mann, Sohn eines Großkaufmanns, hat
nebst seiner Potenzstörung Angstzustände, Erythrophobie und Min-
derwertigkeitsgefühle, die er damit motiviert, daß er trotz wohl-
wollender Förderung durch seinen Vater, in dessen Betrieb er an-
gestellt ist, nur subalterne Arbeit zu leisten vermag. Die Analyse
ergibt überreiches Material an masochistischen, exhibitionistischen
und fetischistischen Phantasien. Die feminine Identifizierung ist in
diesem Falle noch durch die Tatsache überdeterminiert, daß der
Vater getaufter Jude und mit einer Christin verheiratet ist. Patient
verleugnet gewissermaßen den Vater und unterzieht sich freiwillig
der Kastration im Sinne der femininen Identifizierung, um der Ka-
stration durch den Vater (Beschneidung) zu entgehen.
Nunmehr zwei mittelschwere Fälle:
1) Zirka 30Jähriger Franzose mit Angstanfällen, der trotz
schwacher Potenz im Alter von 28 Jahren eine Liebesehe eingegan-
gen ist, in der er sich als völlig impotent erweist. Dieser Fall zeigt
folgende Struktur: Die Mutter des Patienten hatte den Vater be-
trogen und ihn um ihres Geliebten willen verlassen. Der Patient
identifiziert sich unbewußt mit seiner Mutter, mit der Tendenz,
ihre Schuld auf sich zu nehmen und vom Vater bestraft zu werden.
Dem entsprechen auch seine Phantasien und seine Symptome, in
denen er sowohl seine perverse (orale) Triebbefriedigung als auch
sein Strafbedürfnis zum Ausdruck bringt. Das Schuldgefühl bezieht
einen starken Beitrag aus einer Kindheitserinnerung (Racheakt, den
er an seinem kleinen Stiefbruder ausgeführt hat) und aus Todes-
1
;
wünschen gegen den inzwischen verstorbenen Vater, die ihrerseits
wieder der unbewußten Tendenz entspringen, die Stiefmutter (Ri-
valin) zu schädigen. Bewußt bringt er stets große Pietät gegen den
Vater wie auch gegen alle Vaterrepräsentanzen zum Ausdruck.
Günstiger Ausgang nach mehrmonatiger Behandlung.
2) Reicher Großindustrieller in der Mitte der Dreißigerjahre.
Potenzstörung mit Zwangssymptomen und Zweifeln, welch letztere,
wie wir sehen werden, ein streng umgrenztes Gebiet betreffen. Als
er in die Analyse kommt, hat er bereits fünf aufgelöste Verlobun-
gen hinter sich. So oft es zur Eheschließung kommen soll, stellen
sich bei ihm Zweifel an der Treue seiner Braut ein, die er sehr ge-
schickt rationalisiert; die Sache ist damit für ihn erledigt. Dieses
Verhalten wiederholt er typisch, so daß der sonst so begehrenswerte
Mann sich in seinem Gesellschaftskreise nahezu unmöglich macht.
Auch in diesem Falle liefert der Umstand, daß Patient Sohn eines
jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter ist, ein Motiv
(natürlich nicht das einzige) für die Flucht in die feminine Identifi-
zierung, die ihrerseits wieder eine teilweise Erklärung seines Ver-
haltens den Bräuten gegenüber gibt. Er benimmt sich wie manche
Frauen, die ihren Geschlechtsgenossinnen jede Schlechtigkeit zu-
trauen. Einige Monate nach Beendigung der Analyse hat Patient
seine sechste Braut wirklich geheiratet.
Zum Schlüsse einige leichtere Fälle:
i) 2 5 jähriger Mann aus strenggläubiger jüdischer Familie, der
gegen den Willen seiner Eltern seine christliche Freundin heiraten
will. Solange er bloß mit ihr das von den Eltern tolerierte Verhält-
nis hatte, war er völlig potent. Die Impotenz, die erst in dem Mo-
ment auftritt, da er sich ernstlich mit Heiratsabsichten trägt, bringt
ihn in meine Behandlung, die nicht nur zur Wiederherstellung seiner
Potenz, sondern auch zur völligen Aussöhnung mit dem ursprünglich
gehaßten Vater führt. Es bestand starke Identifizierung mit der
Mutter, die, so wie er selbst, vom Vater als nicht ganz vollwertig
anerkannt wurde. Diese Analyse wirft auch ein grelles Licht auf
den Kontrast, der bei solchen Patienten zwischen ihren bewußten
und ihren unbewußten Tendenzen besteht. Denn bewußt hatte er
seinem Vater getrotzt, während er sich mittels seines Symptoms un-
bewußt dem Verbot seines Vaters gefügt hat.
H9
2)Junger, charmanter Mann aus hochkultivierter Familie, mit
masochistischen, passiv feminin-homosexuellen Phantasien, in denen
er als Weib von einem andern Weib vergewaltigt wird. Seine Ein-
stellung führt ihn, da er ein sehr gefälliges Äußeres hat, in eine
Menge von Beziehungen, in denen er stets der Partnerin hörig wird
und aus denen er regelmäßig von dritten Personen „befreit" werden
muß. Als er in die Behandlung eintritt, ist er wieder einmal ret-
tungslos in so ein Problem verstrickt. Die Analyse gibt ihm nicht
nur die wünschenswerte Aktivität im Geschlechtsleben, sondern auch
in seinem Berufe, wo er sich von da an wesentlich besser bewährt
und auch Gelegenheit findet, seine feminine Identifizierung höheren
Zwecken dienstbar zu machen.
3) Eleganter 2 5 jähriger stark narzißtischer Mann, bei dem eine
Verschränkung von Mutterfixierung und Mutteridentifizierung vor-
liegt. Alle Frauen, die ihm etwas bedeuten, sind mütterlich, meist
älter als er. Unter dem Druck seiner Identifizierungstendenzen ist
er bisher nur zu Surrogatbefriedigungen gekommen. Diejenige, bei
der er noch während der relativ kurzen Analyse zum vollsten Ge-
nuß gelangt, ist wohl ein junges Mädchen, aber als Kindergärtnerin,
die ihrem Beruf leidenschaftlich ergeben ist, ebenfalls stark mü'ttef
lieh eingestellt.
4) njähriger, sehr sympathischer Student von mädchenhaftem
Aussehen, dessen Störung dadurch determiniert ist, daß er sich mit
der in seiner frühesten Jugend verstorbenen Mutter identifizier •
Der Vater hat wieder geheiratet und ihm eine Stiefmutter gegeben,
die er stets als Rivalin betrachtet. Seine Potenz- und Arbeitsstörung
gibt ihm die Möglichkeit, die Stiefmutter, aber namentlich den
Vater zu bestrafen, indem er ihn auf diese Weise zwingt, ihm stets
liebevolle Aufmerksamkeit und reichliche finanzielle Unterstützung
zuzuwenden. Er gewinnt Genuß- und Arbeitsfähigkeit in solchen
Maße, daß er den Entschluß, im fernen Ausland eine Existenz z u
suchen, faßt und durchführt.
5) 30jähriger, äußerst phantasiebegabter verheirateter Kunst •
Bei ihm ergibt die Analyse eine in frühester Kindheit zustan
gekommene Angleichung an eine ältere Schwester, die von
herrschsüchtigen Mutter stets vorgezogen und ihm als Muster v
gehalten wurde. Das Weib mit dem Penis spielt eine große Ro
150
in seinen Träumen und bewußten masochistischen Phantasien, welch
letztere für ihn so quälend werden, daß er fast mehr die Befreiung
von diesen ihn sehr beschämenden Phantasien als die Besserung
seiner aktuellen Sexualstörung von der Analyse erhofft. Denn er ist
einsichtsvoll genug, um zu verstehen, daß es hauptsächlich seine
schwülen Phantasien sind, die eine Scheidewand zwischen ihm und
seiner hübschen, aber etwas nüchternen Gattin herstellen, ihn da-
gegen zeitweise an Frauen fesseln, die er für seine Zwecke miß-
brauchen" kann. Die Analyse führt nach einigen kleinen Ruckfallen
zur endgültigen Entwertung der perversen Regungen und Phantasien.
Er gelangt auch bei seiner Frau, zunächst mit Umkehrung der
Position, später auch in der normalen Stellung zu einer befriedi-
genden Potenz.
SONDERHEFTE
I der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik
'
!
„Sexuelle Aufklärung" Mdrk
„Onanie"
„Stottern"
„Nacktheit" * " '
„Aus der Kindheit eines Proletariermädehens-
„Selbstmord"
„Intellektuelle Hemmungen" . • • ■ '
Steroa: .Einführung in die psy*oanalyt,sche
Libidolehre"
//
„Menstruation"
. . • ■ "
„Strafen" •'
2-50
2-50
2'—
2"—
2*—
3-—
2*—
2-—
2--
2*—
Ifr.
IS 1
Das Menstraataooserlebnis des
Knaben
Von
Karl Landauer
Aus dem im Sommer 193 1 erschienenen Sonderheft »Menstruation* der
»Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik". Das Sonderheft enthält
u. a. Beiträge von Karen Horney („Die prämenstruellen Verstimmungen"),
Heinrich Meng (.Pubertät und Pubertätsaufklärung"), Melitta Schmide-
berg (»Psychoanalytisches zur Menstruation"), Mary Chadwick (.Men-
struationsangst"), Karl Pipal (.Wie es bei Hanti war"), E. Pfeffer (Men-
struation und Aufklärung") usw. — Preis des Sonderheftes Mark i-—.
I
Nicht nur, wenn man von der Menstruation als Naturvorgang
spricht, sondern auch wenn man das Erleben derselben meint, denkt
man zunächst wohl ausschließlich an das Subjekt Frau. Und es
sind in der Tat außerordentlich zahlreiche und wichtige Erlebnisse,
wenn das kleine Mädchen zuerst von all dem Geheimnisvollen
erfährt, das es erleben wird, weil es Weib ist, oder gar wenn es
unvorbereitet von ihm ereilt wird; wenn Klassenkameradinnen das
Unwohlsein haben, das Kind aber vergeblich auf sein Großwerden
wartet und tausend Befürchtungen wegen seiner „Minderwertigkeit"
empfindet; wenn das Mysterium des Weibseins, das ersehnte, ge-
fürchtete, es absondert von den „Kindern", namentlich von den
Buben. Und dann: wenn der Vorgang eintritt und Schmerzen bringt
und merkwürdige Verstimmungen, denen Spannung, Aufregung,
Sehnsucht, Steigerung der seelischen Produktivität vorangehen, oder
wenn es trotz seines Namens Unwohlsein kaum bemerkt verläuft.
Und später: wenn das eine Mal die Menstruation der in Geschlechts-
gemeinschaft lebenden Frau sehnsüchtig erwartet wird als Zeichen,
daß das gefürchtete Kind nicht droht, das andere Mal das schreck-
liche Ereignis der Blutung sich wiederum ereignet und die Hoffnung
auf das Kind erneut zunichte macht. Die Vierzig sind überschritten:
die Regel verliert ihre Regelmäßigkeit, bleibt lange fort. Droht das
Alter? Und schließlich ist die Zeit da: die Frau ist nicht mehr
Frau.
IJ*
Dem gegenüber scheint das, was der Knabe und Mann an
der Menstruation erleben könnte, ein Nichts zu sein. Und doch:
wir leben in einer Männergesellschaft. Die Religionsgebräuche und
ihre blassen Geschwister: die allgemeinen Sitten und Anschauungen
in ihr stammen in der Hauptsache von Männern. Das Tabu der
Unberührbarkeit der blutenden Frau geht mindestens so sehr vom
Manne wie von der Frau aus und lehrt uns, daß auch beim Manne
durch die Menstruation wichtige Affekte aufgerührt und Triebe
wachgerufen werden. Im folgenden seien aus der Analyse eines
Mannes eine Reihe von typischen Erlebnissen des Knaben, in deren
Hintergrund Menstruationen stehen, mitsamt ihren Folgen wieder-
gegeben. Alles ist stark vereinfacht, denn die Folgen sind nie aus-
schließlich durch das Menstruationserlebnis bedingt. Im Gegenteil:
die Begegnung mit der Menstruation ist stets nur ein Stück, oft
nicht das Wichtigste, aus der Kausalreihe. Aber es ist nicht aus
ihr wegzudenken.
II
Schon die Klagen, die den jungen Mann in Analyse führten, sind
bis zu einem gewissen Grade für die nun zu bringende Vorgeschichte
bezeichnend: der Frau gegenüber besteht eine geringe Aktivi-
tät. Soweit überhaupt Beziehungen zu ihr möglich sind, sind sie
fast ausschließlich geistiger Natur. Wenn auch keine absolute
Impotenz besteht, so tritt sie doch zeitweilig auf. Stets aber ist
die Befriedigung beim Geschlechtsverkehr mangelhaft, so daß man
von Frigidität sprechen kann. Aber nicht Ekel vor der Frau ist
es, der ihn behindert; die Frau wird hochgeschätzt, allerdings nur
theoretisch. Eine Inferiorität der Frau auf geistigem Gebiet wird
nicht anerkannt — nur hat der Kranke nie das Glück gehabt, einen
wirklichen geistigen Kameraden zu finden. Mochte auch eine Zeit-
lang mit der oder jener eine Gemeinschaft sich anbahnen, immer
erwies sich die Frau als launisch und — ohne daß ein eigentlicher
Grund vorlag, — hörte plötzlich die Beziehung durch das Ver-
schulden der Frau auf. War es, daß die Frau körperlich enttäuscht
war? Stellte sich immer die leidige „Sexualität" dazwischen? Auch
zu Männern waren kaum tiefe Beziehungen vorhanden. Der Kranke
war eigentlich sein Lebtag allein und litt außerordentlich stark
J 53
unter dieser Unfähigkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu
kommen.
Nicht immer war der Kranke so gewesen. Als elfjähriger Junge
noch weiß er sich in einer engen Freundschaft mit einer nur wenig
älteren Schwester sicher. Gerade um jene Zeit des zehnten und
elften Jahres erinnert er sich wöchentlicher, sehr herzlicher Zu-
sammenkünfte mit eben dieser Schwester und einem um wenige
Jahre älteren Vetter. Das Hauptinteresse bei diesen Nachmittagen
bildete die sexuelle Forschung. In der Wohnung des Vetters war
ein Konversationslexikon leicht zugänglich und da knieten die drei
nun auf ihren Stühlen, über den Tisch gebeugt, und beratschlagten
mit hochroten Köpfen, bei welchem Schlagwort man nun noch
nachsehen könne, betrachteten die Abbildungen des menschlichen
Körpers und debattierten eifrig über Details, die ihnen noch nicht
klar waren. Beobachtungen in der Umwelt, die in jener Zeit glühend
interessant und reich an Forschungswerten war, wurden aus-
getauscht. Zu Menschen bestanden die lebhaftesten affektiven Ein-
stellungen freundschaftlicher und feindlicher Art, gerade auch in
Zusammenhang mit den Forschungen, und wurden witzig be-
sprochen.
Da, eines Tages, fehlte die Schwester. Sie interessiere sich nicht
mehr, sie sei kein Kind mehr. Die Jungens sollten ihre Sachen allein
machen. In ihrem Alter habe ein Mädchen kein Interesse mehr für
solche „Schweinereien". Der Knabe war vor den Kopf geschlagen,
doch ein zweiter schwerer Schlag sollte folgen: Jetzt besann sich
auf einmal der Vetter auf den Altersvorsprung. Der Knabe war
allein. Nicht seinetwegen hatte also der Freund, für den das Kind
den Vetter gehalten, sich mit ihm getroffen, nicht einmal der gemein-
samen Forschung wegen, nicht wegen der Sache. Weil die Schwester
ihn im Stich ließ, darum verließ ihn auch der Freund. Traurig
blätterte er allein im Konversationslexikon und stieß dabei wieder
auf das Kapitel von der Menstruation, das ihn bisher eigentlich
kaum interessiert hatte. Nach den ersten Sätzen aber klappte er
angewidert das Buch zu und unterließ von nun an jede weitere
Forschung, bis ihn als zirka Neunzehnjährigen der Spott seiner
Kameraden zwang, sich mit Frauen und dem Liebesproblem zu
befassen. Denn nunmehr war er ein Einsamer.
154
l.
In dem Augenblick, in dem er jene ersten Zeilen des Abschnittes
über Menstruation, den er längst kannte, las, war ihm blitzartig
die Erleuchtung gekommen: seine Schwester hatte menstruiert. Sie
war jetzt Weib, und er war noch ein Kind. Die Reifung der Frau
zum Geschlechtstier hatte sie getrennt. Geschlechtstier — dieser
Gedanke bohrte sich in ihn ein. Die geschlechtliche Reife, die Mög-
lichkeit, nun Kinder bekommen zu können, hatten der Schwester
alles Interesse an der nur spielerischen folgenlosen Kameradschaft
genommen. In ihr war Verlangen nach all dem anderen — Wirk-
lichen. Was waren dagegen die Artikel aus dem Lexikon, die
Gemeinsamkeit des Forschens und Denkens, der Drang nach Wahr-
heit! Handgreifliches wollte sie statt dessen. Und ihn mit seinen
Gedanken hat sie wie ein Kind überlegen lächelnd abgewiesen!
Ihm aber war jene Zeit der Freundschaft, die ihm in seinem
Leben das bisher größte Glück gebracht hatte, nach wie vor das
Glück, das Erstrebenswerte. Das, was er bis zu seiner Behandlung
immer wieder suchte, war der Kamerad-Schwester, mit dem zusam-
men man forschte und suchte, in lustvoller Abgeschlossenheit von
der Welt, die die Gemeinschaft nicht wollte, und der man durch
die Gemeinschaft trotzte. Diese gesuchte Schwester umfaßte für
seine Wünsche völlig den Vetter mit, da das Zusammensein mit
ihr das Zusammensein mit ihm, ihr Verlust den seinen bedeutet
hatte. Hartnäckig hielt sich in seinem Unbewußten der Glaube,
daß jene Zeit der Kindheit mit ihrer Aggressionslosigkeit doch einst
wieder erstehen würde. Die Menstruation, das Erwachen des Weibes,
wurde ihm zu dem Scheußlichen, was Mann und Frau trennt, weil
die Frau damit gierig wird und entmenscht. Sie wurde zum Träger
des zu scheuenden Teiles im Menschen, im Gegensatz zum Männ-
lichen, Kameradschaftlichen, Geistigen.
m
Diese Einstellung zur Menstruation war in dem Knaben nicht
unwidersprochen: etwas in ihm drängte auch zum Erwachen des
Körpers, zum Mannwerden, zum Lieben. Auch Neid war in ihm
gegen die Schwester um der Reife willen, die in der Menstruation
sich offenbarte. Besonders brannten in ihm die Bemerkungen der
M5
Schwester, daß sie kein Kind mehr sei. Dabei war sie doch nur
wenig älter. Dank der gemeinschaftlichen Erziehung, die sie bisher
stets genossen hatten, waren sie als Gleichaltrige aufgewachsen. Die
Tatsache, daß sie Weib war, hatte ihr plötzlich einen Riesenvor-
sprung gegeben; denn aus seiner Lektüre wußte er, daß Mädchen
„viel früher reif" werden als Knaben. Und plötzlich wurde es ihm
auch klar: seine Mutter war ja auch um etwa zehn Jahre jünger als
der Vater. Sie hatte als noch nicht ganz Achtzehnjährige geheiratet.
Da ist der Mann ja noch nichts. Aber nicht nur kürzer warten muß
die Frau auf das „Wunderbare". Sie ist auch schöner: sie hat eine
glattere Haut, sie hat runde Arme und Brüste, weil sie ein Weib
ist. Er hat noch keinen Bart und keinen Stimmbruch 1 . Sie trägt die
Kinder. Der Mann hat nur einen Augenblick etwas vom Kinder-
kriegen. Die Frau hat diesen Augenblick auch. Aber ihr ganzes
Leben bereitet sie sich darauf vor. Neun Monate lang ist sie in
Hoffnung. Nur die Frau kann Kinder gebären. Kein Mann kann
körperlich neues Leben schaffen.
Aus diesem Neid des Knaben auf die Frau wegen ihres Äußeren,
ihrer Frühreife und vor allem ihrer Gebärfähigkeit, die durch die
Menstruation dokumentiert wird, entstehen immer sehr wesentliche
psychische Einstellungen des Mannes zur Frau. Sie werden häufig
noch durch das Verhalten der Umwelt, namentlich der Mutter zur
menstruierenden Schwester unterstrichen. „Alle Augenblicke" wird
sie geschont. Natürlich, Mädchen muß man verzärteln. Einen
Knaben fragt niemand, ob er müde ist. „Was Extras zu essen
bekommt sie — wegen des Teints." Um seine Pickel kümmert sich
niemand. Ist ja auch nur ein Bub; da kommt es ja nicht darauf an,
ob er gefällt. Jede Laune geht ihr durch. Wenn sie patzig ist, ist
sie „nervös". Bei ihm gilt schon der zehnte Teil als ungezogen.
Sehen wir von den krankhaften Verwandlungen von Männern
in Frauen ab, die doch immer zum Leide verurteilt sind, weil sie
unvollständig bleiben müssen dank der biologisch fundierten Tat-
sache, daß der Mann eben als Mann im Register des Standesamtes
figuriert und an ihn männliche und nicht weibliche soziale Forde-
x) Wie der Vetter. (Idi beRnüge mich hier, wie oft bei der Wiedergabe de» Brudmücki
einer Analyse, mit kurzen Andeutungen wichtigster Erlcbnisketten.)
.
rungen gestellt werden. Auch sind diese Erscheinungen trotz ihrer
relativen Häufigkeit absolut genommen nicht von jener gesellschaft-
lichen Bedeutung, zu der sie die Propaganda der gesellschaftlich
Verfemten machen möchte, sondern nur ärztlich wichtig. Wesent-
licher ist eine — man kann wohl sagen — allgemein gültige psychi-
sche Reaktion auf den „Gebärneid" des Mannes, wie wir das sehr
kompliziert gebaute Phänomen in Anschluß an Groddeck
nennen, der meines Wissens zuerst darauf aufmerksam machte.
Dies ist das Erlebnis des Mannes: er ist außerstande, aus seinem
Körper neue Menschen zu produzieren. Nur die Frau produziert
körperlich Menschen. Der Mann ist auf gedankliche Produktion
angewiesen. Gegen das Eingeständnis seiner Unterlegenheit, nur
geistig, aber nicht körperlich produzieren zu können, setzt er sich
— Angriff scheint die beste Verteidigung — durch die Behauptung
zur Wehr: Die Frau könne nicht geistig produzieren, weil sie kör-
perlich produziere. Allerdings setzt sich die Bewunderung für ihre
Leistung neben der Verspottung ihrer geistigen Inferiorität doch
durch: die Frau sei naturnäher, gefühlstiefer, ursprünglicher als
der Mann, der durch seine geistige Tätigkeit inbezug auf das
Leben, namentlich das Gefühlsleben, abgestumpft sei.
Bei unserem Patienten trat dieses psychische Gebilde bewußter-
maßen in den Hintergrund. Für ihn bestand die Gefahr des Ge-
schlechtstieres Weib, zu dem die kindhafte (gleichzeitig knaben-
und mädchenhafte) Freundin immer wieder wird und die den Mann
zu verführen droht. Der Verführte aber war der Vetter gewesen,
den er mit dem Geschlechtstier Schwester verlor.
IV
Gar zu gern wäre er selbst der Verführte gewesen. Denn auch
in ihm hatte sich das Geschlechtstier geregt. Aber es war durch
frühere Erlebnisse niedergehalten worden, die von der Geschlechts-
lust, namentlich der Lust aus dem Genitale, abschreckten, und unter
denen wieder ein Menstruationserlebnis eine große Rolle spielte:
Als der Knabe neuneinhalb Jahre alt gewesen war, kamen die
Kinder eines Morgens in die Küche und schnappten dabei etwas
von dem Gespräche der Dienstmädchen auf. (Da um jene Zeit
157
kurz hintereinander Kindermädchen und Köchin wechselten, war
die Zeit der Erinnerung genau zu datieren.) Irgend etwas von
Bluten und von Watte war die Rede. Neugierig fragte der Knabe:
Das Zimmermädchen habe eine Wunde am Bein. Kichern der
Köchin. Interessiert wollte er sehen. Verlegene Abwehr, rasch
wurden die Kinder aus der Küche abgeschoben. Die begannen aber
bereits auf dem Gang die Köpfe zusammen zu stecken und zu
tuscheln: Da war irgend etwas Unheimliches dahinter. Wie sie
gelacht hatten! Warum sie sich genierten? Damals begannen die
Forschungen, von denen anfangs berichtet wurde. Denn daß die
geheimnisvolle Wunde und das Bluten irgend etwas mit Geschlecht-
lichem zu tun hatte, das stand für den Knaben fest. Aber noch
etwas war ihm Gewißheit: Irgendwie mußte das Bluten und die
Wunde mit den Geschlechtsteilen und vor allem mit der Ge-
schlechtsbetätigung zu tun haben. Irgend etwas unbestimmbar
Gefährliches hing mit den Geschlechtsteilen und ihrem Berühren
zusammen. Immer wieder, wenn er in der Analyse auf diese Dinge
zu sprechen kam, drängte sich ein anderes früheres Bild dazwischen:
Er mag damals vier bis fünf Jahre alt gewesen sein. Er steht im
Badezimmer vor der Badewanne, in der die Schwester steht. Sie
will ihm lachend einen Purzelbaum vormachen. Er sieht ihr rundes
Gesäß. Das erscheint ihm in der Erinnerung übergroß. Er hat den
Eindruck, als ob es beim Hinsehen immer größer werde, um alles
andere zu verdrängen.
Aus dem Zusammenhang, aus dem die Erinnerung sich ihm
immer wieder aufdrängt, wird klar, was dieses Gesäß verdrängen
soll: es zieht den Blick auf sich, weg von jener anderen Stelle, wo
nichts ist, wo der Penis fehlt, weg auch von dem eigenen Genitale,
das sich geregt haben mag, dessen Erregung aber nicht bewußt
werden darf, weil anderes in ihm lauter spricht. Dieses Bluten —
so sagt es in ihm — steht damit in einem Zusammenhang: der
Penis fehlt der Frau. Er wird ihr immer, wenn er nachwachsen
will, abgeschnitten. Das ist die geheimnisvolle Wunde. Und man
darf nicht davon sprechen, denn das Genitale wird abgeschnitten,
wenn man an ihm gespielt hat. Alte Verbote wachen auf. Bisher
hat er sie nie für ernst genommen. Er hat es nicht glauben wollen,
daß man ihm das Spielorgan wegnehmen könne, wie die Kinder-
158
frau* gedroht hatte. Er wird „das" also nie mehr tun. Und damit
er nie mehr in Versuchung geraten kann, verleugnet er von da ab
jegliche Lust vom Genitale. Es ist und bleibt gefühllos. Um der
Kastration in körperlichem Sinne zu entgehen, kastriert er
sich seelisch.
Durch diese Selbstverstümmelung erreicht er gleich-
zeitig, daß sein Neid auf die Schwester, von dem wir vorhin
sprachen, hinfällig wird. Er ist zwar nicht Weib, — wie es der
wirklich Kastrierte wäre, — wohl aber bleibt er so ewig der
geschlechtslose Knabe, der eins war mit dem geschlechtslosen
Mädchen. Der Horror vor der blutenden Schwester ist besonders
geeignet, dies Phänomen auszulösen, da die Scheu vor der ersten
geheimnisvollen Wunde ihm die lustvolle Gemeinschaft mit der
Schwester verschaffte. Denn im Anschluß an jenes Erlebnis in der
Küche setzten die Forschungen mit der Schwester ein.
Und diese Forschungen betasteten, wenn auch nur in Worten
und Vorstellungen, immer wieder das Genitale, das eigene und das
der Frau. Sie schafften so eine, wenn auch unzulängliche und daher
dauernd spannende Befriedigung jenes Wunsches, der ihn gepackt
hatte, als er von der Wunde des Mädchens hörte: an dem Bein,
an der Wunde herumzusuchen. Gewalttätige Antriebe klingen an.
Sie sind es besonders, die der Verpönung verfallen: er wird sich
nie an eines anderen Genitale vergreifen! Und um sich davor zu
schützen, schießt er über das Ziel hinaus, verzichtet er auf jegliche
Aktivität.
Nur unter einer Bedingung ist ihm Aktivität, wenn auch in
der eingeschränkten Form geistiger Tätigkeit, der Forschung er-
laubt: zusammen mit einem weiblichen Kameraden, der Schwester,
bezw. ihrem Ersatz, wenn also eine Penislose mit dabei ist.
Gebranntes Kind würde das Feuer scheuen. Da dies bei der
Schwester nicht der Fall zu sein scheint, sind vielleicht alle Befürch-
tungen hinfällig. Aber er vermeidet die Gewißheit: während der
ganzen Forschungsperiode, selbst damals, als sie nach dem Vorfall
in der Küche aus Anlaß der blutenden Wunde des Mädchens ein-
2) .Kinderfrau" ist die später erwähnte Amme der Schwester im Gegensatz zu den
übrigen »Kindermädchen«. — Hier geht eine wichtige Kausalkette ab: Sadismus, Identi-
fikation mit der kastrierenden Kinderfrau.
159
setzte, vermeidet er es, seiner Schwester seine Mutmaßungen und
Ängste wegen der Kastration mitzuteilen. So liest er zwar auch
den Abschnitt über Menstruation im Lexikon, aber er verarbeitet
ihn einigermaßen erst nach der Trennung von der Schwester.
So scheitern auch späterhin die Kameradschaften mit den Frauen
daran, daß er sich ihnen nicht restlos anvertraut: er will nicht
wissen, daß und wie sie „Weib" werden. Und letzten Endes lauert
in ihm auch noch die Eifersucht: der bewundernde Haß gegen den
einst geliebten Vetter, der nur der Schwester, des Weibes wegen
an der Gemeinschaft teilnahm.*
V
Gerade die zuletzt geschilderten Zusammenhänge des Erlebnisses
der Menstruation mit dem Glauben, die Frau sei ein wegen
Genitalbetätigung verstümmelter Mann und der
Mann selbst könne kastriert werden, sind typisch. Und sie haben zur
Ächtung der Frau in der Männergesellschaft viel
beigetragen.
Wir begegneten bei der Besprechung des „G e b ä r n e i d e s" der
nämlichen Behauptung in der Verkleidung, die Frau stehe der
Natur näher. Unser Kranker sprach vom Geschlechts t i e r. Die
Frau gab und gibt ihrem Antrieb nach Spielen am Genitale und
überhaupt nach genitaler Betätigung hemmungslos nach. Darum ist
sie auch kastriert — und diese Kastration wird infolge des körper-
lichen Minderwertigkeitsgefühls des Mannes aus dem Gebärneid
aufs Geistige verschoben. Der Mann aber weiß sich zu beherrschen.
Sein Wille, sein Geist sind stark. Er ist lieber Sohn; die Frau ist
schwach, ist böse. Er fühlt sich eins mit dem starken Vater, sie ist
das Kind.
Vor allem das ungezogene Kind, das vom artigen heuchlerisch
verachtet wird, das von der Gemeinschaft mit dem Vater ausge-
schlossen ist. Die jüdische Religion macht sie in der Menstruation
zur Unreinen, deren Berührung allein schon vom Tempeldienste
ausschloß, deren Begattung mit Ausrottung — Kastration auf alle
Ewigkeit — bestraft wird. Der Islam spricht ihr das ewige Leben
}) Vor allem gegen ihn richtet sich starke unbewußt« Feindschaft.
160
ab; sie ist ein Tier, nur dem Irdischen ergeben. Und auch das
christliche Mittelalter debattiert, ob sie eine Seele habe.
Andererseits weckt gerade ihre Hilflosigkeit die sehnsuchtsvolle
Liebe des kindlich gewalttätigen Mannes. Parzival, der Weib und
Kind vergessen hat, wird durch die Blutstropfen im Schnee an sie
erinnert. Jetzt ist er reif; „aus Mitleid wissend" kann er die, die
statt seiner kastriert wurden, erlösen.
VI
Unser Patient, von dem unsere Überlegungen ausgegangen waren,
hatte als Kind noch einen dritten Zusammenstoß mit
der Menstruation gehabt. Dieses Erlebnis führt uns zu
seinem Verhältnis zu seinen Eltern, speziell zur Mutter. Gerade
hier aber werden wir uns große Beschränkung bei der Wiedergabe
auferlegen müssen, wenn wir nicht uferlos aus der sehr langen
Analyse berichten wollen:
Soweit der Kranke in seine Kindheit zurückblicken kann, besteht
eigentlich keine besondere Beziehung zur Mutter. Irgend welcher
tieferen Gefühle zu ihr ist er sich nicht bewußt. Das schien daran
zu liegen, daß die Mutter wenig Zeit auf das Kind verwandte,
ihrer Geselligkeit und ihren Interessen lebte und die Kinder dem
Dienstmädchen überließ. Daß das von jeher so gewesen sein müsse,
schließt er aus der Tatsache, daß er, wie auch die wenig ältere
Schwester, Ammen hatten. Deren Amme blieb dann als Kinderfrau
im Hause und übernahm ihn bis zu seinem vierten Jahre mit in
Pflege, dann kam ein neues Kindermädchen. Es ergibt sich aus der
innigen körperlichen Beziehung, die die Kinderfrau als Amme mit
der Schwester gehabt hatte, daß der Kleine in seiner Empfindung
recht gehabt haben mag: er sei zurückgesetzt worden.
Die Mutter schwebte nur über dem Haushalt. Die Kinder sahen
sie eigentlich nur, wenn sie inspizieren kam, ob sie richtig gewaschen
seien, ob ihre Kleider in Ordnung seien, oder wenn sie vorgeführt
wurden, um einem Fremden „schönen guten Tag zu sagen", oder
zum „guten Tag" und „Adieu". Denn auf diese Respektsäußerungen
legte die Mutter großen Wert. So spielte sich denn das Leben der
Kinder fast ausschließlich in dem Kinderzimmer ab, das hinten an
einem langen Korridor, weit ab von der Welt der Erwachsenen,
ii Almanadi 1932 Iol
lag. Erst etwa mit Beginn der Schulzeit kamen sie zum Essen in
die geheiligten Räume „vor". Dort mußte Ruhe und Ordnung
herrschen, und im allgemeinen spielte sich diese Essenszeit in den
kühlen Formen der Höflichkeit ab.
Nur manchmal hing ein schweres Ungewitter über der Familie.
Die Mutter war reizbar, und wegen irgend eines minimalen An-
lasses brach plötzlich eine wüste Schimpfflut über die Kinder und
vor allem über den Mann herein, die gewöhnlich damit eingeleitet
wurde: „Du weißt doch, daß ich das nicht vertragen kann, wenn
ich mein Kopfweh habe", und sie schloß meistens damit, daß die
Mutter schimpfend das Zimmer verließ, die Tür zuwarf und sich
weinend in ihr Schlafzimmer einschloß. Resigniert blieb der Mann
zurück und suchte die verstörten Kinder zu beruhigen, wobei dann
Worte fielen wie: „Die Mutter ist heute wieder aufgeregt, weil sie
sich nicht wohl fühlt" und einmal ereignete sich die Bemerkung:
„Ihr wißt doch, das ist alle vier Wochen so."
An einem solchen Abend brauchten dann die Kinder der Mutter
nicht „Gute Nacht" zu sagen. Am anderen Morgen aber mußte
man bei der Mutter zum „Guten Morgen" antreten, und zwar war
sie dann nicht wie sonst beim Frühstückstisch. Vielmehr lag sie
im Bett, und diese Besuche im halbdunklen Schlafzimmer waren
dem Knaben höchst ekelhaft. Denn schon, wenn man die Türe
aufmachte, schlug einem dumpfe Luft entgegen. Trat man näher
ans Bett heran und streckte einem die Mutter die Hand entgegen,
so traf einen ein widerlich süßlich-fauliger Geruch.
Die Mutter schien also, trotzdem sie bei den Kindern sehr auf
Sauberkeit hielt, selbst durchaus nicht sauber zu sein. Was da nun
eigentlich roch und nach was es roch, das wußte er nicht. Aber
das Ganze hatte irgend etwas Unheimliches an sich: Diese Gewitter-
schwere über dem Hause, der sinnlose Krach, das Nicht-Aufstehen
der Mutter und ihr Gestank. Und das „alle vier Wochen einmal."
An der Frau haftet also irgend etwas, das sich jeden Monat einmal
unter Lärm und Gestank entlud. Was das war, war völlig uner-
klärlich. Es war unbeeinflußbar, mochten sowohl er wie auch der
Vater sich die größte Mühe geben, ja recht nett zu sein.
Namentlich befaßte das Kind sehr die Tatsache des Gestankes
der Mutter. Waren die Frauen unsauber? Es schien fast so, denn
162
alle Übrigen im Hause schienen das als selbstverständlich zu
nehmen. Niemand sprach davon und als er einmal zu dem Dienst-
mädchen eine derartige Andeutung wagte, bekam er eine aus-
weichende, spöttische Antwort. Erst viel später, nach dem Erlebnis
in der Küche mit dem Dienstmädchen, brachte der Knabe den
Geruch irgendwie mit jener geheimnisvollen Wunde und dem
Bluten in Zusammenhang, wobei unklar blieb, ob er in jenem
Augenblick an dem Dienstmädchen denselben Geruch wahrnahm
wie an der Mutter, oder ob ihm nur plötzlich die Erkenntnis kam,
daß das, was er bei der Mutter roch, Blut war. Nach seiner Liebes-
enttäuschung an der Schwester allerdings ist ihm ganz bewußt,
daß er eines Tages auf dem Aborte, kurz nachdem ihn die Schwester
verlassen hatte, ein Stück blutiger Watte liegen fand, das so roch
wie die Mutter.
Diese Erlebniskette führt uns in noch ältere Zeiten zurück als
das Bisherige: die genitalgeschlechtlichen Dinge sind bewußtermaßen
doppelwertig, wenn auch die tieferen Wurzeln der Zwie-
spältigkeit im Unbewußten stecken. Die eine, die Kastration s-
angst, haben wir bereits bloßgelegt. Auch die Kausalketten, die
uns jetzt zum Ödipuskomplex führen, können in dem
wenigen, was ich aus dem Material brachte, erahnt werden: Liebe
zur Mutter (Kinderfrau), Identifikation mit dem Vater (Vetter).
Aber immerhin, diese Konflikte sind noch denkbar. Absolut un-
ausdenkbar ist aber das, was hier noch im Hintergrund droht:
Die Beziehung zum Schmutz, zum eigenen Kot. Die Vorschriften
der Reinlichkeitspflege, repräsentiert durch Mutter und Kinder-
frau, hat sich der Knabe so zu eigen gemacht, daß die Schmutz-
lust des Kindes völlig verschwunden scheint. Und doch droht sie
noch in ihm; er muß die stinkende Mutter und Frau besonders
ekelvoll meiden, um seinem eigenen Schmutz zu entfliehen*.
vn
Es wäre nun ganz falsch, behaupten zu wollen, daß all die
Vorgänge, die wir bei unserem Patienten beschrieben haben, sich
4) Hier münden die Menstruationserlebnisse in zwangsneurotische Symptome ein, die
das Krankheitsbild beherrschten.
II"
163
auf bewußte klare Vorstellungen und Überlegungen hätten zurück-
führen lassen. Im Gegenteil: es waren ganz unscharfe, ganz ver-
schwommene Gefühle und Einstellungen, um die es sich da drehte,
die eben gerade wegen ihrer Unfaßbarkeit in Worte nicht durch
den Verstand begrifflich zu bewältigen waren. Man könnte meinen:
einzig weil ihm die Kenntnisse fehlten. Doch diese Erklärung ge-
nügt nicht, denn auch später, als er sich diese in gemeinsamem
Studium mit Schwester und Vetter verschafft hatte und selbst noch
als 19 jähriger, als er erneut sich orientierte, war er außerstande,
die Wirklichkeit zu ordnen und damit sich in sie einzuordnen!
Wir haben die Gründe kennen gelernt: Die Angst um die Un-
versehrtheit des Körpers beherrschte ihn und machte ihn blind.
Im Unbewußten lebte die Kastrationsdrohung der Kinderfrau. Der
Menstruationsvorgang schien zu bestätigen, daß ihre Ausführung
denkbar sei. Darum durfte er nicht denken, mußte das Wissen
die drohende Gewißheit fliehen. Die Frau aber, das Geschlechtliche
war unheimlich, geheimnisvoll, grauen- und ekelhaft, die Be-
schaffenheit der Frau, die Vorgänge um sie: das regelmäßige
Bluten, ihre unbeherrschbare Reizbarkeit, ihr Gestank.
Man mag sich fragen, ob derartige Erlebnisse unvermeid-
b a r sind, Erlebnisse, die einzelne Menschen, wie unseren Kranken
vom Glücke ausschließen und in ihrer Häufung so gewaltige Folgen
haben, daß sie die Stellung der Frau in Haus und Gesellschaft
bestimmten und bestimmen. Allerdings mit einfacher, auch recht-
zeitiger, kluger Aufklärung wird man beim männlichen Gebärneid
und der Kastrationsangst ebenso wenig erreichen wie bei ihrem
weiblichen Pendant: dem Penisneid. Denn in den Aufklärern lebt
noch meist irgendwo das Jahrtausende Alte, durch die eigene Er-
ziehung Belebte, das in den Anschauungen und Verhaltungsweisen
der Umwelt gegenständlich wird. Denn sie vor allem schafft die
Atmosphäre des Geheimnisvollen, Unerlaubten um das Ganze des
Geschlechtlichen, das selbst dann seine unheilvolle Wirkung tut,
wenn die einzelnen direkten Erzieher sich bemühen, ehrlich zu
sein. Wie überall in der Pädagogik heißt es darum erst Genera-
tionen gesunder, angstfreier Eltern und Erzieher heranbilden!
164
1
Giftmord und. Vergiftiragswaliiti
Von
Arthur Kielholz
Vortrag in der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse
am ij. September 1930. — Aus dem Jahrgang 19J1 (Band XVII)
der von Sigm. Freud herausgegebenen »Internationalen Zeitschrift
für Psychoanalyse'. (Jährlich 4 Hefte im Gesamtumfang von ca.
600 Seiten. Jahresabonnement Mark 28' — .)
Wir Anstaltsärzte sind immer wieder erstaunt darüber, wie
häufig von Angehörigen von Kranken die Frage erwogen und das
Ansinnen an uns gestellt wird, ob es nicht möglich wäre, einen
armen bemitleidenswerten Patienten mit einem „Pülverli" sanft
zu erlösen, mit anderen Worten, wie wenig verdrängt die Be-
seitigungswünsche gegenüber unbequemen Familiengliedern sind,
und wie rasch man bereit wäre, uns Ärzte zu Komplizen und
Erfüllern solcher Wünsche anzustellen. Ebensooft begegnet man
dem Bestreben, den Kranken mit unsinnigen Haufen von Süßig-
keiten und anderen Eßwaren zu beschenken, mit denen er sich
zum mindesten jedesmal den Magen verdirbt, und man geht wohl
nicht fehl, wenn man darin eine mangelhaft gelungene Kompen-
sation jener Beseitigungstendenzen mittels einer oralen Gabe
erblickt.
Wohl noch häufiger als diese Neigungen bei den Angehörigen,
können wir bei unseren Kranken die Angst beobachten, vergiftet
zu werden, sei es von ihren Leuten, sei es von Fremden, sei es
von Pflegern oder Ärzten. Entsprechende Sinnestäuschungen und
Wahnideen und damit im Zusammenhang stehende Schutz- und
Abwehrhandlungen, wie Nahrungsverweigerung, Ausspucken oder
Fortwerfen des Essens, begegnen uns täglich auf unseren Visiten.
Der Giftmörder verwirklicht das, wozu uns jene Angehörigen
gelegentlich anstiften möchten. Sehen wir zu, ob aus dem Versuch,
das Verbrechen und die wahnhafte Angst davor einander gegen-
über zu stellen, sich irgend eine Einsicht gewinnen läßt in dunkle
Gebiete des menschlichen Zusammenlebens.
Ein 27jähriger, durch Alkoholismus und Geisteskrankheit schwer
belasteter, debiler Schlosser, Walter H., suchte seinen Vater, einen
rohen Schnapstrinker, der ihn als siebenjährigen Knaben wegen
165
Bettnässens mehrmals mit einem Seil auf einer Bank festgebunden
und mit einem Lederriemen so ausgepeitscht hatte, daß er nicht
mehr sitzen und gehen konnte, mit Lötwasser, das er ihm finger-
hutvoll in die Suppe goß, zu quälen, damit er krank werde und
langsam zugrunde gehe. Seine fünf Geschwister hatten mit der
geschiedenen Mutter das Vaterhaus verlassen; er allein war, nach-
dem er auswärts als Fabriksarbeiter einige Ersparnisse gemacht
hatte, zurückgekehrt, hatte das Hauswesen übernommen und dem
Vater das Hausrecht eingeräumt, gegen das Versprechen, mitzu-
helfen in der Landwirtschaft. Als es nicht gehalten wurde und
der Vater sich das Hausrecht auch nicht abkaufen lassen wollte,
wurde er deprimiert, stand deswegen vorübergehend in ärztlicher
Behandlung, hatte Suizidgedanken, vernachlässigte die Arbeit
immer mehr und geriet in Schulden. Er hatte viel Streit mit dem
Vater. Sie taten sich zu leid, was sie nur konnten. Jeder kochte
für sich. Er klagte oft, er könne unter solchen Umständen nicht
heiraten. Eine Frau wäre zur Führung des Haushaltes sehr nötig
gewesen. Ein Verhältnis wurde auch wieder aufgelöst. Als er ein-
mal etwas mehr als nur einen Fingerhut voll Lötwasser in des
Vaters Suppe schüttete, verspürte dieser den Geschmack der kon-
zentrierten Chlorzinklösung und die Sache wurde entdeckt. Vor
dem Richter motivierte er sein Vorgehen damit, daß der Vater
ihn schlecht behandelt, beständig geplagt, verfolgt, verleumdet,
verdächtigt, geschlagen und beschimpft habe, als Hurenbub, faulen
Hund, Dieb, Verrückten, der sich hängen solle. Er gehe gern ins
Zuchthaus, nur um aus diesem Haus herauszukommen. Er bekam
unter Zubilligung mildernder Umstände 2 Jahre und 10 Monate.
Drei Fragen drängen sich auf: Warum kehrt der Mann als
einziger von seinen Geschwistern nach Hause zurück und über-
nimmt es samt dem trunksüchtigen Vater, warum greift der
Schlosser statt zu einer Waffe zum Gift, und warum verwendet
er als solches Lötwasser, das ihn verraten muß?
Er ist eben durch unsichtbare Bande an die Stätte und an den
Peiniger gefesselt, der ihn durch seine unmenschlichen Züchtigungen
für sein Bettnässen zum Masochisten machte, und muß daher
solche Peinigungen immer wieder aufsuchen. Als Masochist kann
er auch nicht zur aktiven Waffe greifen. Die Tat muß ihn ver-
166
raten, damit er mit der Strafe wiederum seine Quallust befriedigen
kann. Und schließlich liegt in der Wahl des Giftes ein blutiger
Hohn, den jeder versteht, der weiß, daß man das unmäßige
Trinken bei uns auch als „Löten" bezeichnet.
Die beiden Schwestern F., Susanne $ 5 jährig und Lisette 43 jährig,
wurden zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, weil sie ihren
ältesten . 58jährigen Bruder mit Eierkuchen, der Posphor, und mit
Tee, der Kupfervitriol enthielt, vergiftet hatten. Jener, ein händel-
süchtiger Psychopath, war einige Tage vorher aus dem Gefängnis
heimgekommen, hatte sie beschimpft und des Kindsmords be-
schuldigt — Susanne stand im Verdacht des sexuellen Umgangs
mit einem Neffen — hatte erklärt, er arbeite jetzt gar nicht mehr,
und sich geweigert, eine Stelle außer dem Hause anzunehmen.
Susanne kam nach i5Jähriger Strafhaft wegen Paranoia nach
Königsfelden, wo sie fünf Jahre später starb. Sie erklärte hier,
sie würde ihren Bruder heute noch wegputzen. Sie hätte drei
Jahre lang gegen ihn gekämpft, er sei indessen immer bösartiger
und frecher geworden, habe öfters unflätig auf die verstorbene
Mutter als Hure geschimpft, die ihm im Traum erschienen sei.
Niemand habe ihnen gegen den Narren und Tierquäler geholfen.
Er habe ihr tot besser gefallen als lebendig, und sei als Leiche
ganz verklärt gewesen. Zum Totschlagen hätten sie Schwestern
doch zu wenig Kräfte gehabt. Sie hätten nur aus Notwehr ge-
handelt. Auch hier war der Vater ein bösartiger Trinker, der im
Rausche alles zerschlug, die Schuhe auszog und Geschirr damit
zertrümmerte, und der Frau und Kinder oft mißhandelte, wie
später der Bruder. Sie verweigerte in den letzten Jahren des An-
staltsaufenthaltes zeitweise die Nahrung: Der Bundesrat habe ihr
telephoniert, sie solle das hiesige Saufressen nicht nehmen. Lisette
wurde nach 20 Jahren Zuchthaus begnadigt, führte daheim zuerst
eigenen Haushalt, kam dann ins Armenhaus und mit 78 Jahren
ebenfalls wegen Paranoia nach Königsfelden. Sie wollte nicht mit
den anderen Insassen zusammen essen und behauptete, man habe
ihr Haus und Vermögen gestohlen. Die Schwerhörige erzählte von
ihrer Untat gleichgültig und ohne Reue. Der Bruder habe einen
leeren Kopf, aber guten Appetit gehabt. Dem Vater, der an
Wassersucht litt, habe ein Arzt mit einem Messer in den Bauch
167
gestochen, so daß er in zwei Stunden gestorben sei. Nach seinem
Tod mußten sie zwei ledigen Schwestern das heimatliche Haus
allein mit ihrem Verdienst aus der Fabrik aufrecht erhalten, damit
die schwache Mutter nicht in Not und Elend auf die Straße
hinausgestoßen wurde. Sie ließen das verlotterte Heimwesen neu
aufbauen, soviel es nottat. Vom Bruder hatten sie das ganze Jahr
nichts als Schaden. Mit ihm hätte sich die ganze Gemeinde ver-
bündet, um sie umzubringen. So mußten sie zur Selbsthilfe
greifen. Den Weltkrieg bezeichnete sie als gerechten Lohn für ihre
Verfolgung.
Die beiden Täterinnen identifizierten sich somit ganz mit der
schwachen, mißhandelten Mutter und beseitigten den ältesten
Bruder so prompt, wie der Arzt das nach ihrer Auffassung mit
dem verhaßten Vater getan hatte, wie lästiges und schädliches
Ungeziefer oder Meltau, mit Rattengift und Vitriol, indem sie
seine Gefräßigkeit mit Omelette und süßem Tee köderten. So
wurde das mühsam erworbene und aufrecht erhaltene Elternhaus
von einem unerwünschten Parasiten befreit, damit Susanne un-
gestört ihrem inzestuösen Umgang weiter darin frönen könne. Sie
wurde auch von Lisette als Anstifterin zur Tat bezeichnet. Lisette
behauptete auch, die Heimatsgemeinde habe sie mit einem ver-
witweten Schwager verkuppeln wollen.
Die 37jährige Hausfrau Hedwig H., Mutter von zwei kleinen
Kindern, mit einem ungeliebten, 20 Jahre älteren Witwer ver-
heiratet, streute ihrer schwangeren Mieterin wiederholt Arsenik in
Milch und Mehl, angeblich um ihr nur ein wenig Bauchgrimmen zu
verursachen, doch genügend, daß die Vergiftete zwei Monate später
an perniziöser Anämie starb. Sie hatte vorher dem Mieter Geld
offeriert, wenn er seine schwangere Frau kaput mache, behauptete,
diese sei eine Hure, habe ihr eigenes Kind erwürgen wollen und
ihrem, der Mörderin, Mann nachgestellt. Die Mieterin hatte diesem
erzählt, daß seine Frau ihm Löcher in den Vcloschlauch gestochen.
Der Zorn über diese Schwatzereien veranlaßte die Vergiftung.
Frau Hedwig gab an, sie selber habe ein stecknadelkopfgroßes Stück
Gift vorher versucht, ohne Beschwerden davon zu bekommen. Sie
wisse, daß man solches regelmäßig nehme, um hübsch zu bleiben.
Das habe sie in der Fabrik gehört, wo sie schon als Schulkind
168
arbeiten mußte und jeweilen in einer Kiste versteckt wurde, wenn
der Inspektor kam. Als Konfirmandin fiel sie nachts auf eine
Lampe, mit der sie unters Bett zu leuchten pflegte. Sie sei an der
Verletzung fast verblutet. Bei ihren beiden Geburten brauchte sie
jeweils ärztliche Hilfe und fiel durch ihr ungebärdiges seltsames
Wesen auf; sie äußerte dabei Verfolgungsideen. Sie hatte dreimal
versucht, sich im nahen See zu ertränken. In der Ehe kam es zu
Uneinigkeiten, da der Mann nach ihrer Meinung die Kinder zu
wenig strafte und die verhaßten Mieter nicht aus dem Hause
entfernte. Er durfte nie in den Keller und auf den Estrich und
mußte die Schuhe ausziehen, wenn er in die Stube wollte, um
nichts zu beschmutzen. In der Untersuchungshaft verweigerte sie
vier Tage lang die Nahrung und befürchtete, die jungen Mitge-
fangenen nebenan könnten sie verführen, wenn die Türe nicht
gut verschlossen wäre. In Königsfelden träumte ihr einmal, sie
habe sich selbst mit einem großen Messer zerschnitten. Sie bestellte
einen Koffer, um damit zur Patin nach Amerika zu reisen, wo ein
Bruder ihres Vaters, ein Brandstifter, verschollen war. Unser
Gutachten lautete auf Schwachsinn und Unzurechnungsfähigkeit.
Auch in diesem Falle ist die Tendenz, das Haus, das sie in
übertriebener Weise reinzuhalten versucht, von unerwünschten
und verhaßten Mitbewohnern zu befreien, augenscheinlich. Die
Schwangerschaft der Mieterin erinnert sie an die eigenen beschwer-
lichen Graviditäten, wo sie einmal dem eigenen Leben durch
Ertränken ein Ende machen wollte, und vielleicht auch an die
Schwangerschaften der Mutter — sie hat zwei jüngere Brüder — ,
die sie wohl mit eifersüchtigen Regungen beobachtet haben mochte.
Wulffen hat in einer 1917 erschienenen prägnanten Mono-
graphie über die Psychologie des Giftmordes 1 den wichtigen
Zusammenhang von kriminellen und sexuellen Strebungen an den
kurzen Biographien der berüchtigtsten Vergifter und vor allem
Vergifterinnen nachgewiesen, der auch in unserer bescheidenen
Kasuistik deutlich hervortritt.
Walter H. versucht seinen Vater zu beseitigen, nachdem er
seine Heiratspläne durch dessen skandalöses Verhalten vereitelt
i) Urania-Bücherei, 6. Band Verlag des Volksbildungshauses Wiener Urania, Wien 1917.
169
~7
sieht. Susanne F. verleitet ihre Schwester zur Vergiftung des
Bruders, der ihr inzestuöses Verhältnis zum Neffen durchschaut
hat und ihr vorhält. Frau Hedwig H. will mit Gift die schwangere
Mieterin aus dem Hause schaffen, weil diese angeblich ihrem
Manne nachgestellt hat.
Bei Walter H. ging dem Delikt eine Depression mit Suizid-
gedanken voraus, die beiden Schwestern F. wurden in der Straf-
haft paranoid. Hedwig H. versuchte sich dreimal zu ertränken,
verweigerte zeitweise die Nahrung und äußerte Verfolgungsideen.
Es hegt somit nahe, bei Paranoiden mit ausgesprochenem Ver-
giftungswahn nach weiteren und vielleicht deutlicher durchschau-
baren Zusammenhängen zu fahnden.
Die jetzt 44jährige Luise K. hat mit $ Jahren ihre beiden Eltern
verloren an Lungentuberkulose und ist mit 8 Jahren von einem
16jährigen Pflegebruder mehrmals auf dem Abort sexuell miß-
braucht, dann als Hotelsekretärin vom Manne einer Freundin und
von einem Hotelangestelltcn überrumpelt worden. Mit 38 Jahren
versuchte sie sich in einem öffentlichen Abort mit Vreonaltabletten
zu vergiften. In ein Sanatorium verbracht, äußerte sie Vergiftungs-
wahn und mußte wegen Nahrungsverweigerung mit der Sonde
ernährt werden. Die Stimme Gottes verbot ihr zu essen. Nachdem
sie sich einmal zum Milchtrinken hatte bestimmen lassen, spürte
sie furchtbare Leibschmerzen und hatte das Gefühl, der Magen
v/erde auseinandergesprengt. Dann bekam sie Riesenhunger, sie
wurde dick und fett und erklärte nun erregt, sie sei Mutter und
habe ein Kind; die Stimmen sagen ihr, sie werde ein totes Kind
gebären, Zwillinge bekommen. Sie sei guter Hoffnung von zwei
Pfarrherren, denen sie die früheren sexuellen Erlebnisse gebeichtet
habe. Sie verfertigte sich ein Kinderbettchen und pflegte darin
ein fingiertes Kind. Dann verweigerte sie wieder das Essen, sie
wolle sterben, damit sie keinem andern mehr im Wege stehe. Man
wolle ihr mit der Milch das Kind im Leibe vergiften. Die Speisen
haben den Geruch von Muttermilch. Es habe auch schon geheißen,
die Frucht sei durch das Essen in ihren Leib gekommen. Häufig
roch sie auch Menstrualblut im Essen. Sie schimpfte dann wieder
über sexuelle Nachstellungen durch die Anstaltsärzte, die sie nachts
bestialisch mißbrauchten.
170
An den Vergiftungswahn schließt sich hier deutlich die
Schwangerschaftsphantasie an. Der Fall bestätigt die Auffassung
von Freud, 2 was den Paraphreniker zur Klage oder zum Ver-
dacht, daß er vergiftet werde, veranlasse, sei der ins Ubw ver-
drängte Wunsch nach Schwängerung, resp. die Abwehr der er-
krankten Person gegen denselben. Bemerkenswert ist auch, daß
die Kranke die giftigen Eigenschaften in erster Linie menschlichen
und speziell weiblichen Se- und Exkretcn zuschreibt: der Mutter-
milch und dem Menstrualblut, und daß ihr Wahn offenbar auf
jene bekannte infantile Theorie von der Zeugung durch das Essen
zurückgeht.
Auch bei dem jetzt 44jährigen Paranoiden Moritz S. begann
der Wahn sich darin zu äußern, daß er überall verdorbene Milch
witterte. Die Vergiftungsversuche seien dadurch veranlaßt worden,
daß ihn sein Vorgesetzter zwingen wollte, dessen schwangere
Mätresse zu heiraten. Vom Bett eines Mitpatienten aus ergossen
sich häufig ganze Gasgarben über seine Bettmitte, wodurch er
betäubt wurde und dann sexuelle Gasträume bekam. Er suchte
sich dadurch davor zu schützen, daß er die Bettücher über den
Kopf zog, und lag dann beim Erwachen jeweils steif wie ein
Leichnam oder zusammengezogen wie ein Embryo im Mutter-
leib — das sind seine eigenen Worte — in seinem Bette. Einmal
sah er in einer nächtlichen Vision eine Schlange, die sich ihm in
einem Oval auf den Unterleib legte, dann wieder einen Frauen-
kopf, der ihm einen Giftkuß auf die Lippen drückte; einmal eine
Frau, die ihm den Rücken zukehrte, neidisch ihr Gesäß schüttelte,
worauf er mit dem Kopf auf ihren Schoß fiel. Einmal sieht er
im Gifttraum auf der Laube des Vaterhauses seine einzige Schwester
nackt, nur mit einem Kinderschlüttli bekleidet, vor sich liegen und
will sich bücken, um ihre Geschlechtsöffnung zu küssen. In einem
Brief, in dem er eine Assistenzärztin um ihre Hand zur Befreiung
aus ganz unwürdiger Umklammerung bittet, bezeichnet er sich als
verkrachten Heiratskandidaten, der unfähig sei zur Ehe.
Hier sehen wir den Giftwahn mit inzestuösen Regungen gegen
die einzige Schwester und mit der unverkennbaren Tendenz ver-
2) S. Freud. Das Interesse an der PsA-, Ges. Schriften, Bd. IV.
171
knüpft, in die vor allen feindlichen Angriffen schützende Position
des Embryos zurückzukehren.
Der jetzt 38 jährige Schlosser Karl R. erkrankte vor 12 Jahren
im Anschluß an eine unglückliche Liebschaft. Er glaubte
sich von einer Bekannten der Geliebten, die von seinen Anträgen
nichts wissen wollte, mit Opium im Kaffee vergiftet. Die Pulver
des Arztes, die er für seine Aufregung erhielt, beschädigten ihm
angeblich die Augen. Er behauptete, seine Angehörigen vergönn-
ten ihm das Essen, glaubte auch in der Anstalt vergiftet zu
werden. Die letzte Aufnahme in Königsfelden erfolgte, weil er
auf einer Bank 10.000 Fr. erheben wollte und dafür zwei Schlösser
verpfändete, und weil er Heiratsinscrate als Fabrikbesitzer erließ.
Diesmal verweigerte er die Nahrung, bis Sondenfütterung erfolgte.
Anläßlich einer Entweichung erklärte er, die Signalemente uri-
nierten ihm in die Suppe. Es seien das kleine Tiere, die an seiner
Lunge und an seinem Herzen fressen, ihm Hirn und Magen
koitieren. Ein kleiner, stecknadelkopfgroßer Abkömmling eines
Wärters steckt in ihm, schneidet ihm mit ganz kleinem Rasier-
messer Herz und Lungen ab und beschädigt auch seine Hoden.
Man hat ihm Mäusekot in seinen Körper hineingetan, es sei
davon hinten heraus abgegangen, aber hinten und vorn wieder
in seinen Körper hineingekommen. Alle Wärter der Anstalt
koitieren in seiner Brust. Käfer haben ihm das ganze Herz zer-
fressen.
Auch bei diesem Kranken sind die Giftstoffe menschliche und
tierische Exkrete, die ihm mit der Nahrung oder per anum bei-
gebracht werden und durch welche in ihm, wie in einer Schwan-
geren, lebende Wesen entstehen, die zudem das zerstörende Werk
seiner Verfolger, die ihn damit vergiftet und geschwängert
haben, an seinen Eingeweiden fortsetzen. Das erinnert uns daran,
daß Kinder, welche die Urszcne belauschen, darin vorwiegend
einen sadistischen Akt des Vaters gegen die Mutter erblicken.
Während Moritz S. seine inzestuösen Giftträumc ins Vaterhaus
zurückverlegt, wird Karl R. in seinen Größenphantasien Schloß-
herr und Fabriksbesitzer und sucht dazu eine passende Frau. Da
ihm das mißlingt, wandelt er sich selbst in einen Hermaphroditen,
in dessen Innern sich sadistische Liebesszenen abspielen.
172
Zusammenfassend möchte ich vorläufig als Ergebnis meiner
Kasuistik die Sätze aufstellen:
Die Psychologie des Giftmordes und die des Vergiftungswahnes
stehen in engem Zusammenhang und ergänzen sich gegenseitig.
Inzest und Schwängerung spielen darin eine wichtige Rolle. Letzten
Endes ist es der Mutterleib, um dessen alleinigen Besitz gekämpft
wird, und dessen Se- und Exkrete sind die magischen Stoffe, von
welchen die Gaben und Gifte zur Beseitigung unerwünschter
Nebenbuhler abgeleitet werden. Im Giftwahn wird dieser Kampf
in die eigene Person introjiziert. Der Giftmörder projiziert ihn
auf das, was wir als symbolische Darstellung des Mutterleibes
auffassen, d. h. das elterliche Haus und Besitztum. 8
Daß uns unsere Erfahrungen und Einsichten bei Süchtigen,
speziell bei Alkoholikern, recht nahe zu dem heute behan-
delten Thema heranführen, ist nicht verwunderlich und zeigt sich
ja schon bei den kurz referierten Fällen. Der Vater von Walter H.
wie derjenige der Schwestern Susanne und Lisette F. waren bru-
tale, rohe Trinker, die den Nachkommen ihren durch das
Rauschgift enthemmten Sado-Masochismus einimpften. Moritz S.
und Karl R. haben selber zeitweise dem Alkohol gefrönt. Wenn
die beiden Schwestern F. zusammen beschließen, den lästigen
Bruder durch ein süßes und vergiftetes Getränk zu beseitigen, so
erinnert uns das daran, wie die meisten Süchtigen das ausge-
sprochene Bestreben zeigen, Proselyten für ihr Rauschgift zu
werben, in Gesellschaft Freude haben, Neulinge sinnlos betrunken
zu machen und sich an der Bewußtlosigkeit der wie Leichen Da-
liegenden zu weiden. Die Tiefenpsychologie erweist als häufiges
Motiv der Trunksucht die Sehnsucht nach einem Nirvana, nach
jenem Zustand des Embryos im Mutterleib, wie ihn Moritz S.
als Folge der Giftwirkung expressis verbis geschildert hat. Wenn
der chronische Alkoholismus zur ausgesprochenen Psychose führt,
treten analoge Wahnbildungen auf, wie bei unsern Giftwahn-
sinnigen.
Die 37 jährige Frau Marie S. hatte vor ihrer dritten Inter-
3) Vergl. auch E. Weiß: Der Vergiftungswahn im Lichte der Introjektions- und
Projektionsvorgänge. Int. Z. f. PsA., Bd. XU, 1926, wo sich auch weitere psa. Literatur
verzeichnet findet.
173
nicrung in Königsfeldcn wegen drohenden Del. trem., wobei sie
mit Suizid und Tötung ihrer Kinder gedroht hatte, vermutet,
die Leute hätten ihr heimlich etwas eingegeben, um sie zu
Schlechtigkeiten zu verführen. Das sei schon in der Pension im
Welschland geschehen. Da habe man es absichtlich so eingerichtet,
daß nachts Buben und Mädchen zusammenkommen sollten. Es
gebe geheime Gesellschaften, wo Männer miteinander geschlecht-
lich verkehren, und gleiche, wo Frauen das tun. Man habe ihr
etwas ins Trinken getan, um sie an einen solchen Ort hinzu-
führen in eine solche Weibergcsellschaft. Sie denke bei den
Mäusen, Hühnern und Katzen (die sie im Delirium halluzinierte),
da sei etwas gegangen mit ihr. Letzte Woche habe sie in einer
Nacht das Gefühl gehabt, wie wenn ein Hahn mit seinen Federn
oder eine Katze an ihren Geschlechtsteilen wären und sie ge-
schlechtlich brauchen wollten. Sie glaube, eine Kratzwunde an
ihrem Arm käme von einem solchen Tier her. Sie dürfe vor
Scham niemanden mehr anschauen.
Der Zusammenhang von Vergiftungswahn und sodomistischer
Schwängerungsphantasie ist hier unverkennbar.
Der 68 jährige, ledige Johann A., der infolge langjähriger
Trunksucht an Korsakow leidet, behauptet, er habe in einem Ge-
hörgang ein Engelein und ein Teufelchen, die sich begatten und
Kinderchen gezeugt haben, deren Stimmen er beständig hört. Er
sah sie als Fäden hineinkommen.
Bei diesem Kranken sind die Szenen, die Karl R. in Brust und
Abdomen lokalisiert, nach oben verschoben.
Friedrich R., 57 Jahre alt, beschuldigte infolge alkoholischer
Eifersucht seine beiden erwachsenen Söhne des Umgangs mit ihrer
Mutter. Seine Internierung in Königsfelden wurde veranlaßt, weil
er durch Zeichnungen öffentliches Ärgernis erregte, die er an der
Hausmauer gegen die Straße befestigte, um aller Welt seinen ver-
meintlichen Eheskandal zu verkünden. Auf einem dieser Bilder
hatte er seine Frau nackt in der Stellung einer Danae gezeichnet,
bereit, die beiden in priapischer Gestalt herbeieilenden Söhne zu
empfangen. Unter ihr in einem Sarg aber liegt er selber als Ster-
bender und in seinen Mund fließt als tödliches Gift das Scheiden-
sekret der brünstigen Frau.
174
Die grausige Phantasie des eifersüchtigen Potators entspricht
somit völlig dem Ergebnis unserer Untersuchung.
Auch die Psychologie des Selbstmords liefert uns vielfach
Parallelen und Beiträge. Wir wissen aus der PsA. der Depres-
sionen, daß diese und die durch sie bedingten Antriebe zum
Suizid nichts anderes darstellen, als eine Nachinnenwendung des
Aggressions- und Destruktionstriebes, eine Selbstbestrafung für
Beseitigungs- und Vernichtungswünsche gegen andere Personen,
meist nächste Angehörige.
In meinem Vortrag über den Urheber der mentalen Hygiene,
Chfford Wittigham Beers*, versuchte ich dessen depressive Psy-
chose mit ernsthaften Selbstmordversuchen zu deuten als Re-
aktion auf den Tod eines älteren Bruders, den er unbewußt her-
beigewünscht hatte. Hinter seinem Vergiftungswahn waren kanni-
balistische Phantasien verborgen, er weigerte sich, seine Mutter
zu küssen, und den Sprung aus dem Fenster, der ihn zum Tode
fuhren sollte, hatte er in dem Momente unternommen, als sie im
Begriffe stand, ihm Süßigkeiten zu holen.
Wie die Wahl des Giftes durch charakteristische Momente
konstelliert wird, zeigt folgende Beobachtung: Der 24 jährige
Sohn eines Trinkers, ein haltloser Psychopath mit Neigung zu
Alkoholexzessen, wurde deswegen interniert, weil er sich mit
Strychnin zu vergiften versucht hatte. Er gab als Motiv dieser
Tat an, er habe geglaubt, seine Braut sei schwanger, und sich
dann daran erinnert, daß eine schwangere Haushälterin in dem
Dorfe, wo er früher lebte, mit Strychnin vergiftet worden sei.
Von einem bernischen Schwurgericht wurden vor vier Jahren
ein Arzt und dessen Geliebte wegen Abtreibung und Giftmords,
begangen an der Frau des Arztes, zu je zwanzig Jahren Zuchthaus
verurteilt. Nun ist durch den Anwalt der Verurteilten ein Re-
visionsbegehren 6 gestellt worden, das sich hauptsächlich an Hand
der Tagebücher der Verstorbenen auf den Standpunkt stellt, es
habe sich um den Selbstmord einer chronischen Arsenikesserin
gehandelt, die in der Depression, welche zur kritischen Zeit ein-
4) A. K i e 1 h o 1 z : Geistige Gesundheitspflege. Von ihrem Begründer und ihrer Ge-
schichte. Kranken- und Irrenpflege, 9. J., 1930, S. iox.
5) Fritz Roth, Der Giftmordprozeß Riedel-Guala. Verl. Orell Füßli, Zürich 1929.
*75
setzte, in der Aufregung zuviel von ihrem gewohnten Arsen er-
wischte. Das psychologische Gutachten eines Psychiaters soll nun
abklären, wie weit dieser Standpunkt begründet erscheint.
Das reich dokumentierte und kurzweilige Werk L c w i n s über
die Rolle der Gifte in der Weltgeschichte 6 enthält interessantes
Material zur Bestätigung unserer Auffassungen.
Wir hören da beispielsweise, daß sich König Ladislaus von
Neapel und Ungarn nach den Chronisten im Jahre 14 14 den Tod
durch Gift geholt habe, das in die Geschlechtsteile seiner zugleich
mit ihm gestorbenen Geliebten, einer Arzttochter, getan worden
war. Nach einer anderen Version habe ihm diese auf Wunsch
ihres von den Florentinern bestochenen Vaters eine mit Akonit
bereitete Salbe gleichsam als Liebeszauber in seine Geschlechts-
teile eingerieben. Der gleiche König soll als jung schon einmal
vergiftet und damals durch die Kunst der Ärzte, die ihn öfters
in das Innere eines frisch getöteten Maulesels einlegen ließen, ge-
rettet worden sein. Die nämliche Methode der Entgiftung, das
Einwickeln in eine blutwarme Tierhaut, wurde auch bei Caesar
Borgia angewendet. Wir dürfen sie wohl als symbolischen Ver-
such, die Situation eines Embryos und damit einer Neugeburt zu
scharfen, auffassen. Den gleichen Sinn hat unzweifelhaft auch
eine im Mittelalter vielfach geübte Behandlung von Vergifteten,
die ebenfalls die Situation des Menschen beim Austritt aus dem
Mutterleib nachzubilden sucht, nämlich die, den Vergifteten ver-
kehrt aufzuhängen, um das Gift durch Mund, Nase, ja sogar aus
den Augen auslaufen zu lassen. So verwendete man diese Me-
thode bei Albrecht I., dem Sohn Rudolfs, der später in
Königsfelden erschlagen und begraben wurde. Er hatte 1292 Adolf
von Nassau als Kaiser anerkannt und ihm die Reichskleinodien
ausgeliefert. Zu dieser Resignation veranlaßte ihn vielleicht ein«
schwere Krankheit, die in alten Chroniken als Folge einer Ver-
giftung geschildert wird und als deren Urheber man den Erz-
bischof von Salzburg bezeichnete. Mit diesem hatte der Kaiser
Streit des Salzwerkcs halben, so sein Gemahl, die Kaiserin Elisa-
beth, aufgebaut hatte bei Gmünd. Und da der Bischof dem
6) L. Lew in, Die Gifte in der Weltgcsdiidue. Verl. Springer, Berlin 1920.
176
7-
/
Kaiser nichts mit Waffen und Volk anhaben konnte, versuchte
er sein Heil mit Gift oder Vergebung, dingte durch große Gaben
einen unter des Kaisers Dienern, der ihm in Speis und Trank
soviel starkes Gift brachte, daß er todkrank ward. Aber die
Ärzte erhielten ihn. Sie banden seine Beine oben an, daß sein
Haupt unten auf der Erde stand, und taten ihm ein künstlich
bereitetes Instrument in den Mund und Hals, daß er sich immer-
dar erbrechen und das Gift ausspeien mußte, und von dem In-
strument Odem in sich zog, daß er nicht erstickte. Also ist ihm
in dieser künstlichen Erbrechung das Gift zum Munde, Nase und
Augen aus dem Leibe gekommen, daß er wieder gesund geworden,
aber doch . ein Auge darüber verloren hat. Das hatte er dem
geistlichen Vater zu danken, der hatte es vom Papst gelernt,
Gift für Arzenei, Tod für Leben zu geben; das zu Rom gar eine
gemeine Kunst ist. Nach einer anderen Darstellung wurden ihm
bei Tische in Wien am n. November 1295 vergiftete Birnen
von einem seiner Sekretäre, der von den Gegnern mit 300 Mark
bestochen war, beigebracht. Das Gift wurde jedoch durch die
Ärzte aus einem Auge herausgebracht. In einer Chronik aus dem
Ende des 14. Jahrhunderts wird sogar berichtet, daß ihm die
Ärzte ein Auge ausgestochen hätten, um dem Gift so einen Aus-
gang zu verschaffen. Das erinnert uns an die Behauptung des
paranoiden Karl R., daß ihm die Pulver des Arztes, die er für
seine durch die Vergiftung verursachte Aufregung erhielt, die
Augen beschädigt hätten. Auch von Kaiser Heinrich VII. ist
überliefert, daß man ihn habe aufhängen wollen, um das Gift
durch seine Augen herauszubringen, ebenso von einem Bischof
Johann.
Der Glaube, daß Menstrualblut giftig sei, den unsere paranoide
Luise K. äußert, war nach Lewin weit verbreitet. Solches wurde
sogar in Geschosse eingeführt, wie auch das Sekret von giftigen
Kröten oder öl, in dem man Spinnen ertränkt hatte. Zum Schluß
dieses historischen Exkurses sei noch auf die sog. Giftjungfrauen
Kaiser Friedrichs IL hingewiesen. Dieser berühmte Staufe habe
nach den Chroniken schöne Mädchen täglich und dauernd Gift
nehmen lassen. Ärzte hatte er zur Überwachung derselben ange-
stellt, um, falls sich einmal eine vergiftet hätte, sie zu behandeln.
12 Almanach 1932 IJJ
Die Überlebenden hätten sich schließlich an die Gifte so gewöhnt,
als gehörten sie zu ihrer Nahrung. Falls nun irgend ein Fürst
oder ein vornehmer Mann, der dem Kaiser zu nahe getreten war,
und den er aus bestimmten Gründen nicht hatte töten mögen,
sich wieder mit ihm versöhnte, so gab er ihm eine der gift-
gewöhnten Jungfrauen als Gattin. Alsbald nach deren Umarmung
wurde der Betreffende unheilbar vergiftet und starb. So rächte
sich der Kaiser an seinen Feinden.
Welcher Psychoanalytiker denkt bei dieser Erzählung nicht an
Freuds Ausführungen über das Tabu der Virginität 7 , wo u. a.
Anzengrubers Komödie: Das Jungferngift und der Ausspruch von
Hebbels Judith zitiert wird: „Meine Schönheit ist die einer Toll-
kirsche, ihr Genuß bringt Wahnsinn und Tod."
Damit wären wir im Gebiet der schönen Literatur angelangt,
und Sie müssen mir gestatten, noch kurz auf einige mehr oder
weniger bekannte Dichtungen einzugehen, die zu unserm Thema
einen Beitrag liefern können.
In Shakespeares Dramen spielen die Gifte eine große Rolle. Die
Königin im Cymbelin ist eine geradezu vollendete Schilderung
des Typus der privilegierten Giftmischerin." Nach dem Bericht
des Arztes Cornelius stirbt sie im Wahnsinn und bekennt ster-
bend, daß sie ihren Gatten nie geliebt, nur aus Machtgier geehe-
licht, ihn verabscheut, ihre Stieftochter, die sie scheinbar in
falscher Zärtlichkeit auf den Händen trug, vergiften wollte,
ebenso den König, den sie als Sterbenden pflegen und veranlassen
wollte, ihren Sohn zum Erben der Krone zu machen. Sie ver-
zweifelte, daß sie das alles nicht ausführen konnte, und wurde
deswegen wahnsinnig. Hier soll also im Dreieckverhältnis Vater-
Mutter-Sohn der erste zugunsten des letzteren aufgeopfert wer-
den.
Rene* Laforguc 9 hat uns kürzlich sehr einleuchtend gezeigt,
wie sich bei Rousseau wie ein Leitmotiv dies Dreieckverhältnis
durch das Leben des Dichters windet als Abfolge des Konfliktes
der Kindheit, wie deswegen Madame de Warens zur Mama wurde,
7) Ges. Schriften, Bd. V, S. 228.
8) Wulffen a. a. O. S. }J .
9) Imago, XVI, 1930, S. 245.
178
ß>
und deren Kammerdiener und Geliebter Claude Anet für ihn
eine Vaterrolle übernehmen mußte. In Ergänzung der Ausführun-
gen dieses Autors sei darauf hingewiesen, daß uns die Bekennt-
nisse des Philosophen auch von einem Vergiftungsversuch Claude
Anets mit Opium berichten nach einer Streitigkeit mit Frau de
Warens. Das Verhalten der Mama bei diesem Auftritt will
Rousseau erst die Augen geöffnet haben über die enge Ver-
bindung, die zwischen den beiden bestand. Wir dürfen vermuten,
daß es die Eifersucht gegenüber dem jungen Rivalen war, die den
Kammerdiener zum Selbstmord trieb. 10 Ebenfalls ein Dreieck-
verhältnis, wenn auch anderer Konstellation, liegt der Tragödie
zugrunde, die Alfred Döblin an Hand der Akten klar und
objektiv unter dem Titel: „Die beiden Freundinnen und ihr Gift-
mord" 11 dargestellt hat. Die an ihren Vater fixierte, infantile
und frigide Tischlersfrau Elli Link vergiftet ihren Mann, der in
Reaktion auf ihre Frigidität zum brutalen Trinker geworden ist,
nachdem sie sich vor seiner Roheit in ein homosexuelles Ver-
hältnis zu Margarete Bende geflüchtet hat. Von dieser läßt sie
sich zum Verbrechen auf stiften. Lassen Sie mich aus dem Drama
nur ein charakteristisches Detail hervorheben: Es war kein bloßes
Wort, wenn Link seiner Frau in der wilden Verschlingung sagte,
er müsse ihren Kot haben, er müsse ihn essen, verschlucken. Das
kam in der Trunkenheit vor, aber auch ohne Alkohol. An Stelle
der analen Gabe, nach der die Perversion des Trinkers verlangte,
reicht ihm die Frau später „Gift für zweibeinige Ratten". Mit
dichterischem Scharfsinn hat John Knittel in seinem Roman
„Therese Etienne" 12 einen Giftmord als Auswirkung der ödi-
pus-Situation geschildert. Trotzdem der Sohn dabei nur Mitwisser
der Tat ist, welche die von ihm geliebte Stiefmutter an ihrem
Gatten begeht, ist sein Schuldgefühl so groß, daß er sich als Täter
dem Gerichte stellt.
Von der Rebellion des unbotmäßigen Sohnes gegen den Vater
io) J. J. Rousseaus Bekenntnisse, Herausgegeben von O. Fisdier, München. Verl.
M. Mörike, 1912. S. 158.
11) Verlag Die Schmiede, Berlin 1924.
12) Orell Füßli, Verlag, Zürich.
12"
*79
leitet Jakob Böhme sogar die Entstehung des Giftes überhaupt
ab. Er schreibt in der Aurora: 1,1
„Wie nun der Naturgeist so königlich gebildet war, daß sein
Geist in seiner Form und Bildung in ihm aufstieg und von Gott
gar schön und lieblich empfangen ward, da sollte er nun augen-
blicklich seinen Gehorsam und Lauf anfangen und sollte in Gott
wallen als ein lieber Sohn in des Vaters Hause, und das tat er
nicht.
Sondern als sein Licht in ihm geboren war in seinem Herzen,
da erhob er sich in seinem Leibe wider das Naturrecht und fing
gleich eine höhere, prächtigere Qualifizierung an als Gott selber.
Davon ist das erste Gift entstanden, worin wir
arme Menschen nun in dieser Welt zu kauen haben, und wo-
durch der bittere, giftige Tod ins Fleisch gekommen ist."
Wir könnten somit nunmehr unsere frühere Zusammenfassung
dahin modifizieren oder ergänzen:
Die Se- und Exkrete des Mutterleibes sind deshalb so gefährlich
und giftig, weil ihre Erwerbung und ihr Besitz einem Inzest
gleichkommt, der mit Kastration und Tod geahndet wird.
Der Zürcher Strafrechtslehrcr Prof. H a f t e r hat sich kürzlich
in einer Kritik der psychoanalytischen Bemühungen um die
Kriminalistik recht mißbilligend über die wilden Phantasien de*
Psychoanalyse ausgesprochen. 14 Wir zweifeln keinen Augenblick
daran, daß er auch unsere Schlußsätze zu diesen wilden Phan-
tasien rechnen würde. Das darf uns aber nicht hindern, auch
weiterhin mit solchen Hypothesen und Konstruktionen zu ope-
rieren, ohne die nun einmal bei aller Anerkennung ihrer Vor-
läufigkeit und Fragwürdigkeit ein Fortschreiten der Erkenntnis
kaum denkbar ist.
13) Herausgegeben u. eingel. von Jos. Grabisdi. Verlag R. Piper & Co., München
191a. S. 55.
14) E. H a f t e r : PsA. und Strafrcdit. Schweiz. Zeitsdir. für Strafrecht, 44. J.
1930, S. I.
180
Vom. Junggesellen, deni
anbekaiieteii Neurotiker''
Von
Eduard Hitschmaom
Nach einem Vortrag in der „Wiener Psycho-
analytischen Vereinigung" im Februar 1931
Bekanntlich haben nach dem Weltkrieg die Siegervölker dem
„unbekannten Soldaten" Denkmäler errichtet, pietätvolle Schau-
zeichen zur Erinnerung an jeden namenlos in der Masse unter-
gegangenen Helden.
In gewisser Analogie dazu gebrauche ich den Namen „unbe-
kannter Neurotiker" im Gegensatz zum sattsam bekannten und
beschriebenen Neurotiker. Der wirklich erkannte Neurotiker gilt
als Kranker, wird geschont oder behandelt, er kann keinen
Schaden anrichten, gilt nicht als Vorbild usw. Wird er mit Erfolg
behandelt, so erfreut er sich dauernder Gesundheit, ist arbeits-,
liebes- und genußfähig geworden. Dankt er dies der Psycho-
analyse, so hat diese in ihm einen dankbaren und aufrichtigen
Vorkämpfer gefunden.
Das Schicksal der unerkannten oder unbekannten Neurotiker ist
ein anderes: sie bleiben, was sie sind, gelten als normale Abarten
des homo sapiens, werden zum Vorbild genommen, niemand hilft
ihnen.
Es gibt ja mehr unbekannte Neurotiker, als nur den — Hage-
stolz. Man denke, wie sehr eine überängstliche Mutter leidet, und
wieviel Unheil sie in der Erziehung anrichtet, wie sie Genera-
tionen zum gleichen Ängstlichsein anregen kann.
Wenn Freud schon vor vielen Jahren hervorgehoben hat, daß
„wir uns der Einsicht nicht verschließen können, daß das Liebes-
verhalten des Mannes in unserer heutigen Kulturwelt überhaupt
den Typus der psychischen Impotenz an sich trägt", so gehört auch
dieser unbekannte Neurotiker hieher.
Und wenn Wilhelm Reich nach Befragung zahlreicher jugend-
181
licher Arbeiter in Sexualberatungsstellen zur Erfahrung kommt,
daß auch unter diesen eine große Anzahl neurotisch sind, ohne es
recht zu wissen, so sehen wir den Umfang unseres Begriffes an-
schwellen.
Beschränke ich mich in meiner Untersuchung auf den Jung-
gesellen, so ist mein Gegenstand wohl von keiner wesentlichen
sozialen Bedeutung; lasse ich doch überdies den weiblichen Jung-
gesellen, die „alte Jungfer", besser das ledigbleibende Mädchen
außer spezieller Betrachtung, so sehr sich natürlich Parallelen er-
geben müssen.
Die Definition des Junggesellen mag schwierig erscheinen, da er
nicht selten endlich doch — eine Nichte oder seine Haushälterin
ehelicht; oder ein dauerndes Verhältnis hat, dem gerade nur die
Behörde den Namen Ehe verweigert. Gibt es vielleicht Kriterien,
den Junggesellen schon in jüngeren Jahren als solchen zu ent-
larven!?
Er selbst erklärt sich ja als freiwillig im ledigen Stand ver-
harrend, er wolle ein für allemal nicht heiraten, oder er gerade
finde keine geeignete Frau. Andere geben Zwangsgründe an, von
denen uns aber die wirklich objektiven, Krüppeltum, Krankheit
des Körpers oder des Geistes, Homosexualität usw., hier nicht
interessieren.
Wir werden sehen, daß von den Junggesellen eine Menge von
Gründen vorgeschützt werden, die keine zwingenden, ja oft nur
Scheingründe darstellen. Sie hätten nicht Geld genug zum Beispiel,
als ob nicht andere um des Eheglückes und Kinder halber Ent-
behrungen auf sich nähmen; als ob es nicht auch reichere Bräute
gäbe; als ob nicht die Ehe mit einer tüchtigen Frau arbeitsfähiger
machen könnte, und endlich, als ob nicht deren tätige Mithilfe mög-
lich wäre! Andere behaupten, nicht zu heiraten, weil sie eine Mutter
oder Schwestern daheim hätten, die ihrer bedürften. Oder, sie
hätten keine Zeit, Mangel an Bekanntschaften, einen zu ver-
feinerten Geschmack. Sie seien nicht zur Treue geschaffen, poly-
gamisch. Ein ganz grobschlächtiger, einsilbiger Hagestolz berief
sich darauf, er habe einmal eine Dame geliebt, aber sie sei ge-
storben. Andere berufen sich auf eine unlösbare, uneheliche Ver-
bindung mit einer Verheirateten oder Unwürdigen.
182
.
Auch wird der Wert der Ehe herabgesetzt, sie bringe nur Sorgen
und Krankheiten, Ehebruch und unerträgliches Kindergeschrei:
„Kinder gehörten in eine Telephonzelle!"
Wenn man aber diese Angaben eines Junggesellen über sein
Nicht- Wollen aus bestimmtem Grunde durch seine Psychoanalyse
näher betrachtet, stellt sich jedesmal heraus, daß seine Gründe nur
sekundäre sind, welche er selbst unbewußt erfunden hat, um eine
Hemmung, ein Nichtkönnen zu übertäuben. Alle Versuche, die die
Junggesellen machen, zu ehelichen, sich zu verloben, — enden mit
einem Mißerfolg. Wie ein Zwang geht es von ihrem Unbewußten
aus: es wird ihnen zum Schicksal! Ihre Gründe sind nur soge-
nannte Rationalisierungen, auflösbar durch Psychoanalyse, zurück-
zuführen auf ihre unentrinnbaren Hemmungen. Sie können nicht
heiraten und glauben, es nicht zu wollen: dies scheint mir die
Definition der Junggesellen zu sein.
Und nun will ich mein Urteil mildern, als ob sie alle aus-
gewachsene Neurotiker seien. Bedenken wir doch, wieviele höchst
bedeutende schaffende Persönlichkeiten unter ihnen zu finden sind.
Begnügen wir uns, sie als „neurotisch Eingestellte" zu bezeichnen,
als durch unbewußte Motive Gehemmte.
Erklären wir aber nicht damit zugleich die Ehe als die normale
Lösung des Lebens!?
Nicht nur die Statistik gibt uns hierin recht; die Ehe scheint das
selbstverständliche Ziel des in der Einehe aufgewachsenen Kindes
zu sein, wohl auch als Folge der Ödipus-Einstellung (Leo Kaplan).
Wir kennen die Entwicklungsstadien von der promiskuen Sexualität
über die Gruppenehe zur Paarungsehe und verkennen nicht die
sexual-ökonomische Tendenz in dieser Entwicklung, die Ersparung
vor allem des Energie verbrauchenden neu Eroberns. Für die Ent-
stehung dauernden Liebens, wie es der Ehe zugrunde liegt, hat Freud
folgenden Weg gezeigt: „Die Sicherheit, mit der man auf das
Wiedererwachen des eben erloschenen Bedürfnisses rechnen konnte,
muß wohl das nächste Motiv gewesen sein, dem Sexualobjekt eine
dauernde Besetzung zuzuwenden, es auch in den begierdefreien
Zwischenräumen zu .lieben'."
Mag die Ehe reformbedürftig erscheinen, schon durch die zu-
183
nehmende Berufstätigkeit der Frau eine innere Änderung erfahren
haben: sie ist die höchste Form der geschlechtlichen Beziehungen.
Freilich auch ist der Entschluß zur Ehe eine gewichtige Ent-
scheidung im Leben: „das Schicksal einer zweiten Person auf sich
zu nehmen und unerschütterlich zu tragen, wie das eigene" (Rosa
Mayi eder).
Der Junggeselle ist also ein Mann, der von den Vorteilen der
Ehe, in sozialer, kultureller und hygienischer Hinsicht, und für die
Aufzucht von Kindern, keinen Gebrauch macht. In dieser Hinsicht
ist er ein Fahnenflüchtiger der menschlichen Gesellschaft, entzieht
sich der Vaterschaft und der Erziehertätigkeit. Eine Lüge geht
durch sein oft sozial schädigendes Liebesleben, er wird zuweilen
zum habituellen Störer der Ehen anderer und zum ungesunden
Vorbild.
Da die Ehe ein selbstverständliches Ziel des Lebens darstellt,
müssen unter den Hagestolzen Enttäuschte, Verbitterte, Enterbte
des Glückes in großer Anzahl zu finden sein. Viel Groll einsamer
Stunden erscheint unter Sarkasmus schlecht verhüllt. Hinter Eigen-
brötelei und Verschrobenheit verbirgt sich heimliches Leiden. Welt-
schmerz und Pessimismus ist manchesmal ihr Teil. In Gesell-
schaft aufgeräumt, manchmal auch zynisch, — erscheinen sie,
heimlich beobachtet, oft bitter ernst, wenn sie allein gelassen
sind.
Der Dichter Gustav Frenssen schreibt einmal: „Selbst eine Ehe,
die nicht glücklich ist, ist besser als keine! Was ist ein Leben ohne
Verantwortung um Seelen, ohne tiefe Liebe, Mühe und Nöte um
andere . . . schal, dürr, dürftig, ohne ein volles Mcnschenschicksal,
und oft, ja meistens, irgend einer Wunderlichkeit, wenn nicht
Schlimmerem hingegeben!? Ja, ich sage: ein Mann, der über die
Jahre hinaus ledig ist, ist mir mehr oder weniger bedenklich, um
nicht zu sagen, zuwider. Ich denke immer: wer weiß, was er treibt!"
Auch der Instinkt des Volkes empfindet ähnlich dieser ehrlichen,
bürgerlichen Auffassung. Die Volksdichtung mißbilligt die Existenz
des Junggesellen und läßt ihn im Jenseits erniedrigende Arbeit ver-
richten. Auch die Gesetzgebung früherer Zeiten sah ihn manchen-
orts als nicht voll erbfähig an, und man besteuert ihn als Luxus-
individuum nicht selten auch heute. Freilich finden wir unter den
184
alten Junggesellen auch genug Figuren „guter Onkel" und wahr-
hafter Helfer für andere.
Daß wir unter den Ledigbleibenden auch ganz hervorragende
Philosophen, Künstler und Produktive anderer Art finden, ist nur
scheinbar ein Einwand gegen unsere Ausführungen; die Zusammen-
hänge zwischen Ehescheu und Introversion des Produktiven würden
uns, hier erörtert, zu weit von unserem Wege abführen. Auch Ge-
lehrte taugen übrigens nicht immer zur Ehe: „Als die Frau eines
berühmten Forschers nach seinem Tode eine Audienz beim König
von Schweden hatte, antwortete sie auf dessen teilnehmende Frage
nach dem Verstorbenen: „Majestät, er war unausstehlich!"
(Kretschmer).
Ist es nicht tragisch zu sehen, welch schiefe Vision ein so großer
Geist wie Schopenhauer über das Wesen der Frau und das Liebes-
leben der Menschen gehabt hat! In meiner Psychoanalyse dieses
Philosophen 1 habe ich darauf hingewiesen, daß die Enttäuschung
an der Mutter diese falsche Einstellung und gewiß auch die Ehe-
scheu dieses genialen Mannes verschuldet hat.
Das Ende manches hartgesottenen Hagestolzes bringt noch spät
eine Zwangsehe mit seiner Haushälterin oder Köchin; Alkohol und
Tabak, der allabendliche Stammtisch werden zu Surrogaten. Welche
Tragik ergibt sich aus dem Beispiel Johannes Brahms, des edlen
Komponisten sehnsüchtiger Liebe! Er gestand, „daß ihm mit Frau
und Kind eigentlich das Beste fehle" und seufzte: „Ist es denn ein
Leben so allein? Die einzige richtige Unsterblichkeit ist in den
Kindern!" Und es waren nur Dirnen, die er sein Leben lang um-
armt hat. Kein Wunder, daß Brahms auch einmal geäußert hat:
„Wie ich die Leute hasse, die mich ums Heiraten gebracht haben!"
Als ob es nicht auch hier in der Hauptsache unbewußte Hem-
mungen gewesen wären, die Schuld trugen!
Bevor wit uns der wissenschaftlichen Beobachtung und Er-
klärung zuwenden, sei noch einer Zeitungsnotiz Raum gegeben, —
von heute, da ich dies niederschreibe — : „Selbstmord wegen Ehe-
losigkeit. 2 Aus Prag wird gemeldet: Der 53jährige Junggeselle
Humpala schnitt sich gestern ... mit einem Küchenmesser die
1) Imago II (1913).
2) „Neue Freie Presse", i. August 1931.
185
Gurgel durch und wurde in hoffnungslosem Zustande ins Spital
überführt. Aus seinen Äußerungen kurz vor seinem Selbstmord geht
hervor, daß er den Selbstmord aus Verzweiflung über sein einsames
Leben und auch deswegen verübt hat, weil er nicht beizeiten ge-
heiratet hat. Er erklärte des öfteren, ein Mann solle beizeiten
heiraten, sonst sei sein Leben verpfuscht." Gewiß lesen wir öfter
Notizen über unglückliche Ehen, aber verheiratete Menschen sind
auch viel zahlreicher als alte Junggesellen.
Wer die Junggesellen auch nur im gesellschaftlichen oder ge-
schäftlichen Zusammentreffen betrachtet, findet unter ihnen oft
gewisse Charaktere: so den schüchternen, ängstlichen, timiden Mann,
den Hypochonder und Pedanten, den Sammler. Aber auch sehr
eitel-narzißtische von viel äußerer Kultur. Erotiker polygamischer
Natur, ehrgeizige Streber; aber auch jene Verträumten, die meist mit
ihren Phantasien beschäftigt sind.
Für die tiefere Erkenntnis des Wesens des Hagestolzes haben wir
zwei Wege:
i) Die Analyse jener ruhmvollen Junggesellen, deren detail-
lierte Biographie, Werke, Briefe, Entwürfe und Phantasien über-
liefert sind; zum Beispiel Leonardo da Vinci, Gottfried Keller,
Schopenhauer, Lassalle, Kleist u. a. Von den Genannten liegen
übrigens Psychoanalysen schon vor;
oder 2) Krankenanalysen an älteren fertigen Hagestolzen oder
gewissen Neurotikern mit typisch wiederkehrenden Verlobungs-
lösungen, Zurückspringen vor der endgültigen Bindung zur Ehe.
Auch in Lehranalysen können prädestinierte Junggesellen sich
einstellen.
Da Liebeshemmungen eine so große Rolle bei der Neurosen-
bildung überhaupt spielen, findet der Aufmerksame in jeder
Krankenanalyse Hinweise auf unser Thema. Ja, unter den ver-
heirateten Patienten mit Eheschwierigkeiten erkennen wir gele-
gentlich die zur Ehe (als Nichtanalysicrtc) Unfähigen, sozusagen
irrtümlich verheiratete Junggesellen.
Das wissenschaftliche Erfahrungsmaterial, das vorliegt, ist ein
überwältigendes, aber der Ort, wo ausführliche Analysen vor-
zulegen sind, ein anderer als dieser Almanach. Hier seien nur die
wichtigsten Resultate dieser Beobachtungen zusammengefaßt.
186
Es sind zunächst auch alle jene Momente zu berücksichtigen,
welche ganz allgemein die auf das weibliche Geschlechtsobjekt zu
richtende Libido verringern. Die Anlage aller Menschen ist eine
bisexuelle; der dem gleichen Geschlecht zugewendete Teil der
Libido wird normalerweise leicht zur Freundschaft und zu sozialen
Beziehungen sublimiert. Wo der homosexuelle Anteil ein größerer
ist, aber nicht so groß, daß er effektiv zur Homosexualität treibt,
kann er - ohne bewußt zu werden - die Beziehung zum anderen
Geschlecht so hemmen, daß auf eine Ehe verzichtet wird.
Für diesen Typus mag uns als interessantes Beispiel Leonardo da
Vinci gelten, so hervorragend er auch sonst über allem Durch-
schnitt erhaben dasteht. Die Bedeutung frühkindlicher Eindrucke
und des nie vergessenen geliebten Bildes der Mutter hat Freud in
seiner Studie dargelegt. 1 Die Zufälligkeit seiner illegitimen Geburt
und die Überzärtlichkeit seiner Mutter haben den entscheidendsten
Einfluß auf seine Charakterbildung und sein späteres Schicksal
ausgeübt, indem die nach dieser Kindheitsphase eintretende Sexual-
verdrängung ihn zur Sublimierung der Libido in Wissensdrang ver-
anlaßte und seine sexuelle Inaktivität fürs ganze spätere Leben
Ein hartnäckiger Hagestolz war auch Gottfried Keller* der, an
eine Mutter und Schwester zärtlich fixiert, keinen rechten Ehemut
fand Kellers liebste Gestalten, sagt Storm von ihm, lassen, wenn
die späte Stunde des Glücks endlich da ist, die Arme hängen und
stehen sich in schmerzlicher Resignation gegenüber, statt in reso-
luter Umarmung Vergangenheit und Gegenwart ans Herz zu
schließen. Von Keller stammt das resignierte Epos des Junggesellen:
„Der Landvogt von Greifensee". ^
Es ist vielleicht gut, die ruhmvollen Junggesellen nicht zu aus-
führlich zu behandeln. Man könnte bedenkenlos geneigt sein, den
Wert des Von-der-Ehe-unbeschwert-Seins für die Produktiven als
günstige Lebensbedingung aufzustellen.
Unsere Untersuchung gilt vielmehr den ruhmlosen Typen, die nur
Nachteile ihres Ledigseins aufweisen.
i) Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Ges. Sehr. Bd. Dt
2) Hitschraann, Gottfried Keller. Wien 1919-
187
Ich muß mir versagen, hier ausführliche Krankengeschichten zu
veröffentlichen, die in seltenen Fällen Psychoanalysen an Männern
entsprechen, die nur wegen ihrer alten Ehehemmung in Behandlung
gekommen sind; viel häufiger behandeln wir noch unfertige Hage-
stolzkandidaten, bei denen diese Hemmung mit anderen Symptomen
gepaart ist und befreien sie für die Ehe; vereinzelt auch irrtümlich
verheiratete Junggesellen, die dann ihr ganzes Leben zu kämpfen
haben, ehe sie analysiert sind. Charakteristisch sind die Fälle, wo
der Mann Angst erleidet und seine Liebesgefühle jedesmal einbüßt,
wenn die Geliebte nun ihrerseits sich zur Vereinigung bereit erklärt.
Zwangsmäßig wird die Flucht vor der Ehe immer wieder ange-
treten.
Es seien nun die Resultate der Psychoanalyse, insofern sie Unbe-
wußtes bloßlegen, in ihren Hauptpunkten angeführt, wenn sie auch
beim ersten Kennenlernen Widerstand erregen werden:
i) Den kindlichen Gefühlen sind in gewissen früheren Jahren
sexuelle Elemente gegenüber dem andersgeschlcchtlichen Elternteil
beigemengt, welche, namentlich wo sie durch Überzärtlichkeit ge-
steigert sind, die normale Übertragung der Liebesgefühle auf andere
hemmen. Die Bindung an die Mutter bleibt bei solchen Söhnen über
die Pubertät hinaus aufrecht, hindert die Ablösung von der
Autorität der Mutter und die Verdrängung der Inzestphantasien.
Die Libido bleibt — ein Infantilismus — an der Mutter haften-
diese Söhne sind häusliche Muttersöhnc von rührender kindlicher
Zärtlichkeit, bleiben auch äußerlich gern bei Muttern und unver-
ehelicht. Freilich fühlen sie später die Bindung und sind imstande,
die Mutter zu quälen und das Zusammenleben peinlich zu gestalten.
Die rechtzeitige Ablösung wurde hier unterlassen, ein Fehler der
Erziehung. Es sind oft prätentiöse und unbefriedigte Mütter, häufig
Witwen, welche ihre Ansprüche auf den Sohn nicht aufgeben. Sie
erinnern an jene Bäuerin, von der Montaigne erzählt, sie habe ein
Kälbchen so geliebt, daß sie es immer auf dem Arm getragen habe;
und so habe sie es auch noch auf dem Arm getragen, — als es
schon zu einem großen Ochsen geworden war. Es ist vielmehr das
Schicksal der rechten Mütter, daß sie dem Werdenden alle Türen
öffnen müssen und nichts mehr für sich begehren dürfen!
Diese an die Mutter fixierten Söhne zeigen meist verminderte
188
sexuelle Aktivität, Neigung zur nervösen Impotenz und die Angst
vor der Ehebindung, als wäre sie eine Bigamie. In abgeschwächter
Form führt diese Hemmung zur Verbindung mit einer bejahrten
Frau oder einer Blutsverwandten, etwa einer Nichte. Die Flucht
vor der früh erkannten Fixierung an die Mutter kann auch gewisse
Formen gleichgeschlechtlicher Entwicklung zeitigen. Freud hat zwei
Typen der Objektwahl beschrieben, die aus der Mutterbindung ent-
springen. Der eine Typus zeigt als Liebesbedingung den „geschädig-
ten Dritten", das heißt der Betreffende verliebt sich nur in solche
weibliche Wesen, welche er einem anderen wegnehmen muß. Dieser
Typus ist der Eindringling in die Ehen anderer. Der zweite Typus
leidet darunter, daß die höhere Zärtlichkeit nicht mit der groben
Sexualität am selben Objekt vereinigt werden kann. Sexus und
Eros, profane und heilige Liebe bleiben getrennt: wo sie liehen,
können sie nicht begehren, und wo sie sinnlich begehren, können sie
nicht zärtlich lieben. Der Liebesakt wird im Grunde doch als etwas
Tierisches, Erniedrigendes beurteilt, das einer Dame nicht zugemutet
werden darf. Im Bewußtsein finden wir Angst vor Verlust der
Freiheit, als Folge innerer Wahrnehmung alter Gebundenheit.
2 ) Ein zweites Moment, das die Ehehemmungen unbewußt be-
dingt, ist ein mangelndes Selbstzutrauen, hinter welchem regelmäßig
ein Minderwertigkeitsgefühl in bezug auf die sexuelle Fähigkeit
teckt. Auf dem geschlechtlichen Kraftgefühl, auf dem Bewußtsein
der Männlichkeit liegt ein Schatten, von frühem Alter her. Als
Ursachen finden wir eingebildetes, aber nie eingestandenes Krüppel-
tum in sexueller Beziehung, auch einmal überschätzte körperliche
Unterentwicklung. Ungenügende oder fehlerhafte Aufklärung, Ein-
schüchterung bei der sexuellen Erziehung, Schuldgefühle und hypo-
chondrische Bedenken über Selbstbefriedigung und dergleichen
machten den Anfang. Übertriebene Verschwiegenheit, Scham und
Angst vor der Befragung eines Arztes, der oft alle Bedenken zer-
streuen könnte, wirken weiter mit. - Die „Angst vor der Frau"
ist die Angst vor weiterer Diminutio.
3) Eine ganze Reihe gewisser Charaktere endlich erweisen sich
zum Entschluß zur Ehe unfähig. Vor allem sind es stark narzißti-
sche Männer, die zur tieferen Verliebung unfähig sind und die
Opfer der Ehe nicht auf sich nehmen wollen. In egozentrischer
189
Selbstschonung und Sclbstpflege verharrend, fürchten sie sich, durch
die Ehe nur beeinträchtigt zu werden. Sic sind es, die nur zu leicht
ein Mißverhältnis zwischen ihren großen persönlichen Bedürf-
nissen und den Eheanforderungen konstruieren. Auch die Zwangs-
charaktere, ambivalent und entschlußunfähig, pedantisch in ihren
Lebensgewohnheiten und geizig, verharren eigensinnig in Ehe-
losigkeit.
Es ist aber unmöglich, hier vollzählig zu sein im Aufzählen der
Voraussetzungen; in der Praxis finden wir natürlich diese und
noch weitere Hemmungen auch in Kombinationen.
Die Psychoanalyse, der wir diese Erkenntnisse verdanken, ist als
Behandlungsmethode wohl imstande, — wenn rechtzeitig heran-
gezogen, — die unbewußten Hemmungen bewußt zu machen, die
irrtümlichen Rationalisierungen (Ausreden) zu entlarven und die
Geeigneten auch einer glücklichen Ehe zuzuführen. Jene Ehe-
krüppel, die hätten ledig bleiben sollen, die sozusagen irrtümlich
gehe.ratet haben, können durch Psychoanalyse ehefähig gemacht
werden. Unüberwindliche Hemmungen, übergroße Quantitäten
mögen auch vereinzelt dem Erfolg der Kur im Wege stehen. End-
lich könnte man sich einen neuen Typus eines immunisierten Jung-
gesellen konstruieren: durch Analyse wissend gemacht, weise über-
legen — und doch durch äußere Gründe gezwungen, auf die Ehe
bedauernd zu verzichten.
Unser Ziel muß aber vor allem die Verhütung des Junggesellen-
tums sein. Volle sexuelle Aufklärung zur richtigen Zeit, die Los-
lösung von der Mutter, der Familienbindung ist dazu unumgäng-
lich. Erziehung auf Grund von psychoanalytischem Wissen ist eine
dringende Forderung, doppelt dringend, weil wir wissen, wie früh
die hemmenden Einflüsse beim Kinde geltend werden: daß also
zuerst eine Generation von Eltern und Erziehern mit dem richtigen
Verständnis da sein muß, um in der nächsten Generation Krank-
heiten, der Asozialität, Verschrobenheit und Isolierung, wie heim-
lichem Unglück vorzubeugen.
190
Baudelaire, der Verfluchte
Von
Hanns Sachs
„Das Böse ist nur ein Auswuchs, der vertilgt oder —
noch besser — verleugnet werden muß" — gegen diese
Philisterweisheit, die weiche Polsterung des Thronsessels,
auf den sich die Bourgeoisie eben niedergelassen hatte,
wandten sich alle feinen und starken Geister des 19. Jahr-
hunderts. Die mutigen unter ihnen begnügten sich nicht
damit, sich von der Gegenwart abzukehren und zu fliehen,
wie es die Romantik tat. Sie kämpften gegen den Geist ihres
Zeitalters und blieben doch seine Kinder, dort erst recht,
wo sie seine Ideale in das Gegenteil verkehrten. Ihr Persön-
lichkeitskult, als Herausforderung gemeint, war im Grunde
ur die Konsequenz des wirtschaftlichen Individualismus.
Sie bekannten Gott, indem sie ihn lästerten, und den Kapi-
talismus im Streben d'epater le bourgeois.
Der Bannerträger dieser Gruppe ist unzweifelhaft Baude-
laire; zwar kaum ihre bedeutendste Gestalt, aber ihre glän-
zendste. Nicht deshalb, weil er Erbe einer aristokratischen
Kultur war, für die Gut und Böse nur ästhetische Nuancen
bedeutet hatten, auch nicht bloß deshalb, weil er Schöpfer-
kraft, Klangfülle, Formvollendung besaß, sondern weil er mit
einer aus der Tiefe hervorstoßenden Leidenschaft sich und seine
Welt proklamierte, ohne Ballast von Logik und Argumenten.
Für die „Blumen des Bösen" war keine Erläuterung notwen-
dig und keine Rechtfertigung erforderlich, dieses Werk war
aus dem Urgestein menschlichen Trieblebens gehauen und trug
vom Tage der Erschaffung an die uralten Rätselzüge.
191
Ein Analytiker 1 hat es unternommen, dieses seltsame
Phänomen zu untersuchen und aufzuklären: Ein Mensch, der
unter einem Fluche lebt und lebenslang leidet, der aber aus
dem nie erlöschenden Schmerz des Fluchbeladenen eine neue
Lust zieht, eine Lust der Niederlage, der Selbstbestrafung,
des Masochismus — eine Lust, die sein Stolz von sich weisen
würde, wenn sie ihm nicht das eine Geschenk brächte, das
seine Lebensniederlage in einen Sieg verwandelt — seine
Kunst. Laforgue hat diese verwickelten Beziehungen von-
einander gelöst und ihre Schichtung erforscht; so ist es ihm
gelungen, ein psychisches Diagramm herzustellen, an dem
ersichtlich wird, wie die Kindhcitsgesohichte des Dichters
und die Formung seines Unbewußten den Zusammenhang
zwischen dem verpfuschten Leben Baudelaires und dem
Triumph seines Werkes, das noch in unsere Tage herüber-
wirkt, wiederherzustellen vermag.
Als Baudelaire sieben Jahre alt war, starb sein Vater als
Siebzigjähriger und ließ eine fünfunddreißig Jahre alte Witwe
zurück. Die junge Frau vermählte sich kaum ein Jahr später
mit dem ausgezeichneten Offizier Aupick, einem höchst ehren-
werten und würdigen Mann, der in größter Korrektheit —
jeweils den gerade damals häufig wechselnden Herren Frank-
reichs die Treue schwor und es infolgedessen zum General
und Gesandten brachte.
Auf diesem Grundcrlebnis ist die ganze spätere Entwick-
lung des Dichters aufgebaut. Zunächst in der einfachen Form
des Hasses gegen den Mann, an den er die Mutter verlor,
die er in früher Jugend nur mit dem gütigen Greis, der sein
Vater war, geteilt und nach dessen Tod allein besessen hatte.
i) Dr. Rene Laforgue, L'£chcc de Baudelaire, Etüde Paychanalytiquc, Edition»
Denoel et Stcele, Par» 19 jr.
192
Rene Laforgue
Eduard Hitschmann
„Tu etais uniquement ä moi. Tu etais d la fois mon idole et
un camarade" schreibt er ihr viele Jahre später. Die Tat-
sachen sprechen deutlich genug: er wird „schlimm" und auf-
sässig gegen Autorität und bürgerliche Ordnung, so daß er
erst von der Schule verwiesen, später ins Ausland — auf die
Insel Mauritius — geschickt wird. Unverändert heimgekehrt,
droht er bei einer großen Gesellschaft, seinen Stiefvater, der
ihn zur Ordnung verweist, zu erwürgen, wird von ihm ge-
ohrfeigt und bekommt einen hysterischen Anfall. In der
Politik, für die der einseitig auf sein ästhetisch-religiöses
Empörer-Ideal eingestellte Dichter keinerlei Sublimierung auf-
brachte, kommt dieser Haß am primitivsten zum Ausdruck:
Als die Februar-Revolution ausbricht, wird Baudelaire wie
von einem Rausch erfaßt. Ein Freund trifft ihn, wie er mit
einem nagelneuen Gewehr bewaffnet durch die Straßen läuft
und „wie einen Refrain" vor sich hinschreit: „Der General
Aupick muß totgeschossen werden."
Laforgue zeigt, wie auf dieser einfachen Grundlage eine
höchst komplizierte seelische Konstruktion entsteht. Neben
und unter dem Haß weist er die homosexuelle Fixierung
nach, die Wandlung der Mutter zur Dirne, die Identifizie-
rungen, die Wendung der gehemmten Aggression gegen das
eigene Ich, das Hineinspielen der Kastrationsangst und der
prägenitalen Komponenten, durch die das seltsame Gemisch
von höchster Persönlichkeits-Entfaltung und tiefster Selbst-
erniedrigung, von leidenschaftlichster Erotik und Impotenz,
von Verschwendung und Bettelei zustandekommt. Die Fixie-
rung an die Mulattin, die Süchtigkeit, die Erwerbung der
Syphilis, an der Baudelaire schließlich zu Grunde ging,
werden als Folgen der Konstellation des Unbewußten erfaßt
und gedeutet — vor allem aber: „die Schranke" — , die
13 Almanadi 1931 I9A
Schranke, die den Dichter an der Erreichung des Sexualziels
hinderte und ihn lebenslänglich in seiner Phantasiewelt fest-
hielt.
Besonders anschaulich zeigt Laforgue, auf welchem Wege
Baudelaire der Dichter der „D&adence" wurde, der Trouba-
dour, der als erster die Gewalt und den Reiz des Bösen
und Schädlichen besang und dadurch seinen Versen eine
Faszination verlieh, die keiner seiner Nachfahren erreichte.
Die kundige Anwendung der analytischen Deutungstechnik
ergibt, daß er in seinem Werke das verherrlichte, was ihm
im Leben als Mittel zur Selbstbestrafung diente: Ausschwei-
fung und Fäulnis, Krankheit und Verwesung. Analytische
Denkweise macht es klar, daß diese Dinge seine stärksten
Befriedigungen bedeuten, das Fortleben seiner infantilen
Sehnsuchtstriebe — verdeckt und verzerrt in der Wirklich-
keit, geklärt und veredelt in seiner Kunst.
Nach dem Bibelwort werden Gefäße geschaffen zur Ver-
herrlichung und Gefäße zur Erniedrigung. Die Analyse
Baudelaires bezeugt, d;.ß es noch eine dritte Möglichkeit gibt
für den Sonderfall des Künstlers, der ein Gefäß sein kann,
geschaffen zur Erniedrigung und zur Verherrlichung zugleich.
Olli
194
L
Häusel und Gretel
Von
Emil Lorenz
Aus dem Jahrgang 1931 (Band XVII) der von
Sigm. Freud heraus gegebenen „Imago, Zeitschrift
für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur-
und Geisteswissenschaften'. (Jährlich 4 Hefte im
Gesamtumfang von ca. j6o Seiten ; Jahresabonne-
ment Mark 22' — .)
Es war auch in alten Zeiten keine Alltäglichkeit, daß Kinder
von ihren Eltern in den Wald geführt und dort dem Hungertode
überantwortet wurden. In dem Märchen von Hansel und Gretel
ist zwar in Rücksicht auf seinen guten Ausgang der Wunsch-
erfüllungscharakter offenkundig, aber man muß doch fragen, wo-
her der sonderbare und unheimliche Inhalt des Märchens stammt,
der Weg, auf dem es zu der endlichen Wunscherfüllung gelangt.
Der Psychoanalytiker kann nicht annehmen, daß es lediglich die
Absonderlichkeit eines Schicksales und das mit ihm konfrontierte
Gefühl der Geborgenheit in einer normalen, von elterlicher Güte
behüteten Kindheit ist, die die Wirkung dieses Märchens ausmacht.
Bei der weiten Verbreitung des Märchens, von dem Hansel und
Gretel in der Grimmschen Fassung ja nur ein einzelnes, freilich
überaus einprägsames Beispiel darstellt, muß man vielmehr annehmen,
daß es tiefere Motive sind, durch die diese Wirkung erzielt wird,
Motive, die hinter der manifesten naiven Ausdrucksweise verbor-
gen sind und ihre Kraft aus unbewußten Quellen schöpfen.
Es sei gestattet, die in dem Märchen enthaltenen Motive im
Anschluß an die vergleichende Studie in den „Anmerkungen zu
den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm" 1 im Nach-
stehenden auseinanderzulegen.
A) Die Kinder werden von den Eltern im Walde verlassen.
Grund: Hungersnot.
*) Neu bearbeitet von Johannes Bolte und Georg Polivka. Leipzig 19 13» Diete-
rich, 1. Bd., S. 11$ ff.
'3* 195
B) Sie finden aber zweimal durch Ausstreuen von Kieselsteinen
zurück.
C) Nach dem Ausstreuen von Brotkrumen finden sie nicht mehr
zurück.
D) Sie gelangen zum Kuchenhaus.
E) Von der Hexe eingesperrt und gemästet, streckt der Knabe
ein Knöchlcin oder Hölzlein statt des Fingers heraus.
F) Sie schieben die Hexe in den Ofen.
G) Auf der Flucht tragen Enten die Kinder übers Wasser.
H) Mit Schätzen kehren sie ins Elternhaus zurück. Die Stief-
mutter ist inzwischen gestorben.
Wenn wir annehmen, daß es sich bei der Frage nach der
seelischen Wirklichkeit, die diesen Motiven zugrundcliegt, um Er-
lebnisse handeln muß, die in jedem Menschen aufbewahrt sind,
wenn wir weiter bedenken, daß die Wirkung auf das Kind, die
von diesem Märchen ausgeht, eine noch unmittelbarere ist als beim
Erwachsenen, dieses Märchen also ein wirkliches Kindermärchen,
nicht herabgekommencs Sagengut darstellt, so müssen es Erlebnisse
der frühen oder sogar der frühesten Kindheit sein, die in ihm ver-
borgen sind.
Das Urbild aller Trennung ist die Geburt, das Urbild aller
Hungersnot die Entwöhnung von der Mutterbrust. Es sind
die einschneidendsten Traumen, die der Mensch mitmachen muß.
„Hansel und Grctel" durchläuft den Weg zwischen diesen beiden
Entwicklungspunkten des frühinfantilcn Seelenlebens. Das Motiv A
verlegt den Grund für die dem Empfinden des Säuglings unbegreif-
liche und unverzeihliche Entwöhnung in die äußere Realität. Es
spricht von einer „Hungersnot", was die entwöhnende Mutter
gewissermaßen entschuldigt. Andrerseits mißt es ihr aber doch
wieder eine Schuld zu, denn es hängt der Mutter den gehässigen
Charakter der „Stiefmutter" an.
Die Motive B und C behandeln den Versuch, die verlorene
Mutterbrust wiederzuerlangen. Die ausgestreuten Kieselsteine sind eine
herabsetzende Kennzeichnung der dem Kinde nach der aufgezwun-
genen Entwöhnung zunächst unannehmbaren festen Speisen. Nach
der Annahme des Brotes aber ist die Rückkehr abgeschnitten. Die
Vögel des Waldes, die das Brot im Märchen essen, stehen in Stell-
196
Vertretung der Kinder selbst. Daß es sich um eine Stellvertretung
handelt, die nicht willkürlich postuliert wird, ergibt sich aus der
Betrachtung des folgenden Motives.
Die Kinder sind, nachdem ihnen die Rückkehr abgeschnitten ist,
weiter in den Wald gegangen. Was jetzt zu erwarten steht, ist
sicherlich keine glatte Anpassung an die versagende Realität, son-
dern eher ein Kompromiß, bei dem der unbewußte und darum
v/ichtigere Teil wiederum eine neuerliche Eroberung der verlorenen
Mutterbrust darstellen wird. Das Kuchenhaus setzt dieses Motiv
ganz folgerichtig fort. Die Kinder essen davon, wie von dem Brote,
das in ihrer Stellvertretung die Vögel aufgepickt haben. Aber frei-
lich, so ein eßbares Haus gibt es in dieser Welt nicht; es muß eine
symbolische Bedeutung haben: Das Haus, von dem man ißt, ist
die Mutter, an der man trinkt; und ehe man auf diese Welt kam,
verfügte man ja tatsächlich über einen Aufenthaltsort, der keine
Nahrungssorgen aufkommen ließ. Das Motiv D ist demnach der
Ausdruck der von uns erwarteten Regression zur Stillperiode und
noch weiter zurück. Es ist die von den tiefsten Schichten der
Seele ersehnte Seligkeit des Embryonalzustandes, die hier ein
Symbol gefunden hat.
Dieses Äußerste an Realitätsflucht, das in dem Motiv des
Kuchenhauses verkörpert erscheint, ruft aber auch wieder den Pro-
test der der Wirklichkeit zugewandten Instanz unseres Seelenlebens
hervor. Das Motiv dieser Rückkehr wird darum gewissermaßen
mit dem negativen Vorzeichen versehen. Das Eingesperrtwerden
in einem Ställchen im Motiv E und die Gefahr des Aufgefressen-
werdens bringt die negative Wertung des Aufenthaltes im Uterus
und der intrauterinen Ernährung. Es ist ein Vergeltungsmotiv. Die
Hexe aber, die alles besorgt, ist die Mutter im Lichte der Flucht
vor der gefährlichen und verbotenen regressiven Sehnsucht.
Die in den Ofen geschobene Hexe setzt das Regressionsmotiv
noch weiter fort. Es ist das Äußerste an Ablehnung der Regres-
sion, was sich das Märchen hier gestattet. Der Ofen, das Symbol
des Mutterleibes, erscheint als Ort der Vernichtung, der Mutter
aber wird die einstige Bewahrung darin als Verbrechen ange-
rechnet.
Der symbolischen Bedeutung des Aufenthaltes bei der Hexe als
197
Aufenthaltes in utero und der negativen Bewertung dieses regres-
siven Motives entspricht es, daß in das Motiv der Befreiung von
der Hexe, in die anschließende Flucht, das Symbol des Wassers
hineingewoben ist, über das die Kinder durch hilfreiche Tiere, die
Enten, getragen werden. Die Flucht stellt also eine Geburt dar,
die Motive „Wasser" und „Rettung" lassen das Weiterwirken der
regressiven Phantasie in positiver Fassung und ihren Abbau er-
kennen.
Nun geht es vorwärts zur richtigen Einschätzung der einst ver-
lassenen Realität. Die Anpassung an sie muß natürlich im Sinne
der Anerkennung der Entwöhnung erfolgen. Diese Anerkennung
findet mehrfachen Ausdruck. Daß die im Ofen verbrannte Hexe
eine Doublette der Mutter ist, kommt darin zum Vorschein, daß
nach der Rückkehr der Kinder auch die Stiefmutter gestorben ist.
Wo liegt aber schließlich der Ersatz für das Verlorene? Das
Trieb- Ich läßt sich doch nicht so leicht abspeisen. Das Mär-
chen legt nun Gewicht auf die Schätze, die die Kinder aus dem
Hause der Hexe heimbringen. Dieser Fortschritt entspricht natür-
lich genau dem Gange der Libidoentwicklung. Die orale Phase
der Libidoentwicklung hat mit der Entwöhnung ihren Höhepunkt
überschritten. Was jetzt folgen muß, ist die Hinwendung zur
analen Organisationsstufe, die ja erst zur vollen Aus-
prägung gelangt, wenn einmal der Übergang von der Milch-
nahrung zur festen Nahrung vollzogen ist. Die Schätze des
Märchens, die von den Kindern dem erfreuten Vater vorgewiesen
werden, repräsentieren dieses neue anale Interesse, das für das
Verlorene Ersatz zu bieten vermag.
Indem wir auf die bisherigen Feststellungen dieser Unter-
suchung zurückblicken, wird es uns begreiflich, daß die so starke
Wirkung dieses Märchens, das ja sicher von allen Grimmschen
Märchen das häufigst erzählte ist, ihren Grund darin hat, daß
die zwei so wichtigen ersten Phasen der Libido-
entwicklung sich darin mit nahezu historischer Treue wider-
spiegeln. Die Lust an diesem Märchen ist die lustvolle Belebung
verlassener Libidopositionen, die ja niemals so völlig verlassen
sind, daß ihre Wiederherstellung nicht wenigstens vorübergehend
auf dem Wege der Phantasie erfolgen könnte.
i 9 8
'
Es sei nun einiger Nebenmotive gedacht, die in den Gang der
Erzählung verwoben sind. Zunächst sei daran erinnert, daß den
Kindern nach der Annahme des Brotes die Rückkehr ins Eltern-
haus abgeschnitten ist. Hier drängt sich als Parallele der Mythos
von Persephone auf, die im Hades verbleiben muß, weil sie
dort, wenn auch nur ein einziges Mal, Speise zu sich genommen
hat. Es entspricht dies dem weiteren Umstand, daß man zu dem
Ort, an dem man einmal etwas gegessen hat, in eine Beziehung
der „Pietät" tritt, wovon sich ja die Bräuche der Gastfreundschaft
herleiten, die Sitte, dem Fremden Speise zu reichen, z. B. Salz und
Brot, oder den Willkommentrunk, um ihn gewissermaßen seelisch
an das Haus zu binden. Umgekehrt zeigt aber wieder die Er-
scheinung des Heimwehs mit ihren seelischen und physiolo-
gischen Begleiterscheinungen, unter deren im übrigen ja recht
mannigfaltigen Symptomen die Nahrungsverweigerung besonders
hervortritt, eine oral bedingte Fixierung an die Heimat. Eine
Analyse des Heimwehs müßte ihren Ausgangspunkt vom Trauma
der Entwöhnung nehmen. Im übrigen stimmt ja zu der oralen
Fixierung des Heimwehs sein melancholischer Gesamthabitus.
Indessen ist aber Heimweh weder eine Melancholie, dazu fehlt
ihm das Symptom der Selbstvorwürfe, noch Trauer, da der an
Heimweh Leidende vielfach gar nicht weiß, woran er leidet.
Man könnte die Vermutung aussprechen, das Heimweh sei eine
narzißtische Neurose mit der Fixierungsstelle im Trauma der
Entwöhnung und zur Melancholie darum nicht gediehen weil es
der großartigen sadistischen Zuschüsse dieser Psychose entbehrt.
Das Knöchelchen, welches der im Stalle eingesperrte Knabe
statt seines Fingers herausstreckt, um die Hexe zu täuschen, steht
wohl in Beziehung zur Kastrationssymbolik. Dieses Motiv ist in
die Nähe eines andern zu stellen, das ebenfalls bereits in die
Periode einer mehr genital bestimmten infantilen Sexualforschung
hineinreicht, in die Nähe der gespielten Ungeschicklichkeit des
Mädchens der Hexe gegenüber, als diese das Ansinnen stellt,
Gretel möge in den Backofen hineinkriechen.
Es ist mit diesem Motiv offenbar darauf Bezug genommen, daß
den Kindern oft die Möglichkeit eines einstigen Aufenthaltes im
Mutterleib — eine Kenntnis hievon mag ihnen von woher immer
i 99
'
vermittelt sein - irgendwie unbegreiflich und unglaubhaft er-
scheint, eine häufige Folge frühzeitiger Aufklärung. So leicht sich
das Kind mit der Einsicht abzufinden vermag, auf irgendwelchem
Wqp aus dem Mutterleibe gekommen zu sein, so schwierig ist der
infantilen Sexualforschung das Problem, wie es in denselben hin-
cingekommen sein mag. In der gespielten Ungeschicklichkeit des
Mädchens, die ja im manifesten Zusammenhang der Erzählung
immerhin eine befriedigende Rationalisierung erfährt, indem sie
die Hexe verleiten soll, sich dem Backofen in so gefährlicher
Weise zu nähern, liegt darum das latente Motiv eines unbefriedig-
ten Wissensdranges, zugleich auch eine bei Kindern, die mehr
wissen als die Eltern meinen und wünschen, gespielte Unwissen-
heit in Hinsicht auf die Herkunft der Kinder. Es ist so, als wür-
den sie sagen: „Ich bin ja sicher auf einem ähnlichen Wege wie
die Jungen der Haustiere auf die Welt gekommen. Diese Erkennt-
nis könnt ihr mir nicht verhehlen. Wenn ihr aber glaubt, daß ich
glaube, in diesen Mutterleib auch auf irgendeine harmlose Weise
hineingekommen zu sein, etwa wie man Brot in den Ofen
schiebt, so täuscht ihr euch. Da steckt mehr dahinter, als ihr zu-
geben wollt." Das Hineinstoßen der Hexe ist wie ein Hohn auf
die unzulänglichen Antworten, die das Kind bei seinen ungedul-
digen Fragen nach seiner Herkunft von den Erwachsenen erhält
wie die boshafte Aufforderung: Probiere es doch selber, wie harm-
los die Geschichte in Wirklichkeit ist. 1
Diese kleine Untersuchung bietet uns nun noch Anlaß, über
den eigentlichen psychologischen Hergang der Entstehung solcher
Märchen überhaupt nachzudenken. Dieses Nachdenken aber ver-
mittelt uns die Einsicht, daß all diese Kindermärchen ja nicht
von Kindern erfunden sind, auch jene nicht, die nicht herabge-
kommenes Sagengut sind, sondern sich von Anbeginn von außen
an die Kinder wenden. Immer sind es Erwachsene, die, wie vor-
zugsweise eben die Eltern, angesichts ihrer eigenen Kinder eine
Wiederbelebung ihrer eigenen unbewußten infantilen Erlebnisse
') Vgl. die bei B o 1 1 e - P o I i v k a (a. a. O.) zitierte Arbeit von C o $ q u i n : Le
conte de la chaudiere bouilJante et In feinte maladretse (Revue d« traditio™ popu-
läres 25, i. 65. 126).
200
'
erfahren, eine Wiederbelebung, die natürlich durch die starke
Identifizierung mit dem Kinde ermöglicht wird, worauf das Un-
bewußte, dessen Verdrängungen hiemit gelockert werden, die
Märchenmotive als seine Abkömmlinge ins Bewußtsein entsendet.
Die Identifizierung mit dem Kinde ist begreiflicherweise bei der
Mutter am stärksten, weshalb das Märchen auch fast ausnahmslos
ein spezifisches Gebilde der weiblichen Phantasie ist. Überblickt
man von diesem Punkte aus die ganze Mannigfaltigkeit dessen,
was als „Märchen" bezeichnet wird, so drängt sich gewissermaßen
die Notwendigkeit auf, den maßlos erweiterten Umfang dieses
Begriffes einmal sinngemäß einzuschränken. Doch fällt diese Auf-
gabe außerhalb des Bereiches dieser Ausführungen. Daß die Identi-
fizierung mit dem Kinde sich auf dem Boden des elterlichen
Narzißmus erhebt und von ebendort ihre Hellsichtigkeit bezieht,
sollte keiner Hervorhebung bedürfen. Daß dieser Narzißmus
wiederum in dem originären Narzißmus des Kindes seinen
Mitspieler hat, läßt die so zahlreichen paranoischen Züge
des Märchens begreiflich erscheinen. Und wieder ergibt sich
hier eine zwingende Beziehung auf unser Märchen. Es ist
ein paranoischer, nämlich ein Projektionsmechanismus, der das
vom Entwöhnungstrauma betroffene Kind veranlaßt, sich von
der bösen Stiefmutter verfolgt zu glauben. Wir dürfen uns die
vollständige Entwicklung einer solchen Projektion in folgender
Weise denken. Am Anfang steht die Identifizierung mit der
nährenden Mutterbrust. Auf sie beziehen sich oral-sadistische
Triebregungen des saugenden Kindes. Im Gefolge der Entwöhnung
wird das Objekt dieser Triebrichtung introjiziert. Die Trieb-
richtung wendet sich jetzt gegen das introjizierte Objekt, das mit
dem ursprünglichen Subjekt identisch geworden ist, erscheint
darum von außen her als gegen das Subjekt gerichtet, das sich
damit von aggressiven Tendenzen, wie Gefressenwerden oder
Kastriertwerden, bedroht fühlt. Hiebei darf dieser Projektions-
mechanismus nicht einmal als ein reiner bezeichnet werden, weil
ja das reale Erlebnis der Entwöhnung selbst von dem Kinde als
etwas Gewalttätiges und Feindseliges aufgefaßt werden muß, das
dem Kinde von der Mutter widerfährt. Wäre das Kind (wenn
wir zur Veranschaulichung des Vorganges diese Fiktion machen
201
dürfen) schon denkfähig, so wäre es ihm leichter als einem be-
liebigen Paranoiker, seinen Verfolgungswahn zu rationalisieren.
Ein klinisches Beispiel für die in Frage stehenden Mechanismen
bietet der Beitrag, den Gustav Bychovski unter dem Titel
„Ein Fall von oralem Verfolgungswahn" veröffentlicht hat. 1
Wir finden in unserem Märchen die in das klinische Bild des
Verfolgungswahnes gehörigen Mechanismen noch in anderen Mo-
tiven wieder. Die Zweiheit der verfolgten Kinder entstammt der
Identifizierung mit der Zweiheit des Elternpaarcs. So bekommt
sogar Grctcl etwas von der dem weiblichen Geschlcchtc geltenden
Feindseligkeit ab, indem sie, wenn auch unfreiwillig, als Hilfs-
kraft der Hexe dienen muß. Der Finger, den Hansel der augen-
schwachen Hexe jeden Tag hcrausrcichcn muß, damit sie fest-
stellen könne, wie fett er schon geworden ist, steht wohl an
Stelle des Penis. In weiterem Verfolg des Motives dürfen wir wohl
die Gleichung Penis-Mamma ansetzen und in dem trockenen
Knöchelchcn oder Hölzchen, das der Knabe statt des Fingers
heraushält, das Symbol für die entzogene oder versiegte Brust
erblicken, die ja den Ausgangspunkt des ganzen seelischen Pro-
zesses bildet.
Jetzt noch ein Letztes in der Form einer Frage: Stellt nicht das
Trauma der Entwöhnung einen hinlänglich variablen Faktor dar,
um eine spezifische Disposition für die Neurosenwahl in der
Richtung der Paranoia zu begründen? Nach allem, was im Vor-
angegangenen ausgeführt wurde, scheint mir die Antwort darauf
nur bejahend ausfallen zu können.
') Internat. Zeitschrift für Psychoanalyse XV. (1939), S. 96 ff. »Man glaubt eine gigan-
tische Wiederholung der zur Zeit des Saugens erlebten Versagungen und Reaktionen vor
sich zu sehen. Das vorhandene Material zwingt uns die Annahme auf, daß diese oralen
Versagungen (vielleicht nicht nur die Entwöhnung allein) vom Patienten folgendermaßen
verarbeitet wurden : Die Brust als Liebesobjekt introjizierte er und identifizierte sich mit
ihr ; dieser Prozeß muß ihm aber nicht restlos gelungen sein, sondern er vollzog sich sozu-
sagen kontinuierlich, so daß der Patient jede neuerliche Wegnahme als Attentat auf sich selbst,
auf die inzwischen zu seinem Idi gewordene Brust, beziehungsweise Milch empfand. So
wurde die Mutter aus der Spenderin zur Berauberin, hiemit zur Feindin." (Ebendort S. 99.}
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202
SIGM. FREUD
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von Anna Freud und A. J. Storfer
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Hermann Hesse in der „Neuen Rundschau" :
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Werk wird da unter Dach gebracht. Es sei diese Ausgabe des Gesamt-
werkes herzlich begrüßt.
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Druck und Ausstattung sind geradezu aufregend schön.
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Sigm. Freud Die Widerstände gegen die Psychoanalyse
Sigm. Freud Die „Ausnahmen"
Sigm. Freud Die okkulte Bedeutung des Traumes
Thomas Mann Mein Verhältnis zur Psychoanalyse
Hermann Hesse .... Künstler und Psychoanalyse
Lenormand Das Unbewußte im Drama
F. van Eeden Über Psychoanalyse
Hanns Sachs Gemeinsamer Tagtraum und Dichtung
Hanns Sacht Carl Spittelcr |
Alfred Polgar Der Seclcnsucher
Georg Groddeck .... Wie ich Arzt wurde und wie ich zur Abneigung gegen
das Wissen gekommen bin
Theodor Keilt Psychoanalytische Strafrcditstheorie
A. Stärdte Geisteskrankheit und Gesellschaft
O. Pfister Elternfchlcr in der Erziehung zur Sexualität und Liebe
Vera Schmidt Du psychoanalytische Kinderheim in Moskau
A. Aichhorn Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung
Siegfried Bernfeld . . . Bürger Macchiavcll ist Unterrichtsministcr geworden
Stefan Zweig Das Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens
* a * Aus dem »Tagebudi eines halbwüchsigen Mädchens"
S. Ferencxi Begattung und Befruchtung
Ernest Jones Kälte, Krankheit und Geburt
K. Abraham Über Charakteranalyse
Otto Rank Drei Stunden einer Analyse
P. Schilder Selbstbeherrschung und Hypochondrie
A. Kiel hol 2 ... • . . Ober Erfinderwahn
Kunstbeilagen :
Sigmund Freud (Photographie 1911).
Karikaturen ron Ferenczi, Jones, Abraham, Eitingon, Bernfeld, Sdiildcr.
Photographie der Freud-Gesamtausgabc.
ALMANACH DER
PSYCHOANALYSE
1927
In gelbem Ganzleinen M 4~
Loh Andreas Salomt . . Zum 70. Gebunstag Sigm. Freuds
Prof. E. Bleuler ......
Stefan Zweig •
Alfred Döblin »
Sigm. Freud Vergänglichkeit
Sigm. Freud Zur Psychologie des Gymnasiasten
Sigm. Freud Psychoanalyse und Kurpfuscherei
0. P fister Die menschlichen Einigungsbestrebungen im Lichte der
Psychoanalyse
M. D. Eder Kann das Unbewußte erzogen werden ?
Tb. Reik Gedenkrede auf Karl Abraham
K. Abraham Die Geschichte eines Hochstaplers
K. Abraham Über Coufo Heilformel
i Kevine Psychoanalyse und Moral
G Wyneken Sisyphos oder : Die Grenzen der Erziehung
1. Bimwanger Erfahren, Verstehen, Deuten in der Psychoanalyse
Erwin Kohn Das Liebesschicksal Lassalles
H. Gomperz ... • • - Sokrates und die Handwerksmeister
O Rank • Don Juan und Leporello
E v. Sydow Die Wiedererweckung der primitiven Kunst
, j.jgglf Zur Psydiologie der Komödie
Tb, Reik Zur Technik des Witzes
F. Alexander Zu Ferenczis Genitaltheorie
Karen Horney Flucht aus der Weiblichkeit
£. Simmel Doktorspiel, Kranksein und Arztberuf
Georg Groddede .... Nicht wahr, zwei Damen . . . ?
Kunstbeilagen :
Sigm. Freud (Nach einer Radierung von Ferd. Schmutzer.)
Porträt von Karl Abraham t-
Karikaturen von Psychoanalytikern.
Abbildungen aus „Robitsck : Der Kotillon.«
ALMANACH DEM
PSYCHOANALYSE
1928
In grünem Ganzleinen M 4. —
Sigm. Freud Der Humor
Sitm. Freud Fetischismus
Loh Andreas Salomi . . Was daraus folgt, daß es nidit die Frau gewesen ist, die
den Vater totgeschlagen hat
Fritz Wittelt Das Sakrament der Ehe
Karen Horney Die monogame Forderung
W - Reich D »e Spaltung der Geschichtlichkeit und ihre Folgen für
Ehe und Gesellschaft
Th. Reik Das Schweigen
Th. Retk Zweifel und Hohn in der Dogmcnbildung
B. Alexander ...... Spinoza und die Psychoanalyse
E. v. Sydow Primitive Kunst und Sexualität
Yrjö Kuloveti Der Raumfaktor in der Traumdeutung
Ernett Jones Der Mantel als Symbol
S. Ferenczi Über obszöne Worte
S. Ferenczi Sonntagsneurosen
S. Ferenczi Analyse von Gleichnissen
F. Boehm Bemerkungen zu Balzacs Licbcsleben
F. Alexander Ein Fall von masochistischem Transvcstitismus als Selbst-
hcilungsversuch
S. Bernfeld Der Irrtum des Pestalozzi
Oskar Pßster Der Schülerberater
Anna Freud Die Einleitung der Kinderanalyse
Karl Landauer Das Sirafvollzugsgcsetz
Kunttbeilagen :
Porträt von Theodor Reik.
111 us trationi proben aus .Sydow : Primitive Kunst und Psychoanalyse."
Porträt von S. Ferenczi.
Porträt von Siegfried Bernfeld.
^
ALMANACH DEM
PSYCHOANALYSE
1929
In rotem Ganzleinen M 4*—
Sigm. Freud Ein religiöses Erlebnis
Tb. Reik Bemerkungen zu Freuds „Zukunft einer Illusion"
S. Bernfeld Ist Psychoanalyse eine Weltanschauung ?
O. Pfister Psychoanalyse und Metaphysik
O. Pfister Der Sdirei nach Leben und die Psychoanalyse
R. Wälder Die Psychoanalyse im Lebensgefühl des modernen
Menschen
5. Rad6 Die Wege der Naturforsdiung im Lidite der Psycho-
analyse
Ludwig Hopf Exakte Naturwissenschaft und Psychoanalyse
IP. Eliasberg Ober sozialen Zwang und unabhängige Arbeit
M Wulff Ergebnisse bei einer psychiatrisch -neurologischen Unter-
sudiung von Chauffeuren
S. Ferenczi Gulliverphamasien
F Hitschmann Zur Psychoanalyse des Misanthropen von Moliere
H Dtutscb Ein Frauenschicksal — George Sand
S. Ferenczi Anatole Frame als Analytiker
Codet und Laforgue . . Der Salavin des Georges Duhamel
F Lehner Der Einbruch der Psychoanalyse in die französische
Literatur
R Sterba Zum dichterischen Ausdruck des modernen Naturgefiihls
F Witteis Rache und Richter
# Pilttt i , Identifizierung eines zehnjährigen Knaben mit der schwan-
geren Mutter
O. Fenichel Beispie'e zur Traumdeutung
H M eni , Das Problem der Onanie von Kant bis Freud
Kunstbeilagen :
Porträt von Oskar Pfister.
George Sand. (Nach einer Zeidinung von L. Calamatta).
14 Almanach 1932
ALMANACH DER
PSYCHOANALYSE
1930
In braunem Ganzleinen M 4- —
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. Freuds Studie über Dostojewski
Friedrich Eckstein .
. Das Unbewußte, die Vererbung und das Gedächtnis im
Lichte der mathematischen Wissenschaft
. Kunst und Persönlichkeit
Albrecht Schaeßer . .
. Geschichte eines Traumes
Edith* Sterba ....
. Der Schülcrsclbstmord in Andri Gidcs Roman „Die
Falschmünzer"
. Der Selbstmord dei Knaben Boris
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. «Kinder können furchtbar schweigen ..." (Episoden aus
der Kindheit eines Proletariermäddicns)
Heinrich Meng . . .
. Sexualpädagogik und Psychoanalyse
. Kindweib, die irruße Mona
. Zur PS Vul< »sc v Lii'llt'ii Ciriu"tf* tier l himnihrr
. Die englische »Schicklichkeit"
. Weiblichkeit als Maske
. Über den zynischen Witz
Franz Alexander und
Hugo Staub . .
i Ein Fall von Kleptomanie aus Schuldgefühl
Wilhelm Reich . . .
. Die Dialektik im Seelischen
Kumtbeilagen :
Porträt Andre Gide.
Porträt Erncst
Jones.
:
ALMANACH DEK
PSYCHOANALYSE
1931
In blauem Ganzleinen gebunden M 4-
Stefan Zweig • •
Fritz Witteis . .
Heinrid) Meng . .
Theodor Reik . .
Paul Federn . ■
Paul Federn - .
C. Müller-Braunschweig
Leo Schestow . .
Erich Fromm . .
Ernst Simmel i .
Helene Deutsch .
Helene Deutsch
Karl Landauer . .
K. Schjelderup . .
Oskar Pfister . .
Felix Boehm . .
F. Alexander . .
Rene Laforgue . .
Siegfried Bernfeld
Hans Kalischer
, Bildnis Sigmund Freuds
. Der Antiphilosoph Freud
. Goethe und Freud
. Zu Freuds Kulturbetraduung
. Die Wirklichkeit des Todestriebs
. Vom Nationalgefühl
. Psychoanalyse und Weltanschauung
. Alexander und Diogenes
. Der Staat als Erzieher
. Zur Geschichte des Berliner Psychoanalytischen Instituts
. Ein Fall von Katzenphobie
. Der feminine Masochismus und seine Beziehung zur Frigidität
. Eine „Dirne"
. Träume und Halluzinationen der Asketen
Donjuanismus und Dirnentum
. Der Weiblichkeitskomplex des Mannes
Zur Genese des Kastrationskomplexes
, Ober die Erotisierung der Angst
. Ein mißglücktes Tagebuch
. Die Entwicklung eines Vagabunden
Kunstbeilagen :
Porträt Paul Federn
Porträt Max Eitingon
Porträt Helene Deutsch
Porträt Franz Alexander
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Inhalt: Dichtung und Wahrheit - Ein alter Mann erzählt
die Geschichte seiner Liebe - Die Gründe der Trennung -
Die Verkleidung - Der Kindtaufkuchen - Chronologische
und andere Verwirrung - Die Kußangst - Sexualität und
Gewissensangst - Der junge Goethe erzählt ein Mär-
chen - Der Dichter über die „Neue Melusine" - Der
Schatten des Vaters - Der Text der Zwangsbefürchtung -
Capriccio doloroso - Freundliche Vision - „Frohe
und dankbare Gefühle nach dem Sturm" - Coda
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Zum Goethejähr 1932
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Philipp Sarasin
GOETHES
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In Ganzleinen Mark 4.-
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Inhalt: Vorbemerkung - I) Der Meisterroman -
||) Goethes Jugendgeschichte - III) Ergänzungen zur
Jugendseschichte. Knabenmärchen. Die französischen
Schauspieler. Zum frühen Tode der Geschwister
Goethes - IV) Analytische Deutung der dramatischen
Momente. Das Seiltänzermilieu. Mignon und Comelie.
Die Vateridentifizierung - V) Analytische Deutung
der lyrischen Momente - VI) Zusammenfassung
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Einführung in die
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Geh. M. 2.70, in Leinen M. 4.-
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Aufschlußreich, besonders auch durch die ungesdiminktc Dar-
stellung der ungelösten Schwierigkeiten . . . Undogmatische
Haltung. (Die Neue Erziehung)
Der besondere Wert der Überlegungen Anna Freuds dürfte
auch darin gesehen werden, daß Bresche geschlagen ist in die
Starrheit des Systems aus Gründen, die, richtig gewürdigt, von
Analytikern wie von Nichtanalytikern nicht mehr übergangen
werden können. (Zcntralbl. f. d. ges. Neur. u. Psychiatrie)
Das kleine Buch stützt sich auf zehn offenbar recht sorgsam
durchgearbeitete Fälle und illustriert die Hauptgedanken durch
zahlreiche Beispiele. (Zeitschrift für Kinderforschung)
Nicht nur in jener vorsichtigen, der Wirklidikeit Rechnung
tragenden Formulierung verrät uns Anna Freud, wes Geistes
Kind sie ist. (Neue Freie Presse)
Die Ausführungen sind sehr klar und instruktiv; sie erinnern
in ihrer Art an die Schriften Sigmund Freuds, des Vaters der
Verfasserin. (Frankfurter Zeitung)
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Psychoanalyse und
Kindergarten
Von
Nelly Wolffheim
Geheftet M. 240, in Leinen M. 4--
Da das Buch mit großer Sachkenntnis, Klugheit und auf Grund
langjähriger Kindergartenerfahrung geschrieben ist und die heikel-
sten Dinge mit dem Taktgefühl der bis ins Letzte mütterlichen Frau
behandelt, gehört es zu den besten Veröffentlichungen der Gegen-
wart auf dem Gebiete der angewandten Pädagogik. (Die Ärztin)
Der gepflegte Stil, der die Schule des Meisters Freud er-
kennen läßt, macht die Lektüre auch in ästhetischer Beziehung
genußreich. (Gesundheitspflege des Kindes)
Als besonderes Verdienst sei hervorgehoben, daß die große
Gefahr derartiger Veröffentlichungen, die Verbreitung psycho-
analytischer Halbbildung mit Geschick vermieden wird. Alles in
allem ein Stück angewandter Sexualwissenschaft von Bedeutung.
(Zeitschrift für Sexualwissenschaft)
Hier spricht ein ganzer Mensch über ein Thema, das er be-
herrscht. Es ist wirklich kaum glaublich, welche Fülle von Pro-
blemen in diesem kleinen Büchlein aufgerollt und in meist neuer,
origineller Form gelöst wird. (Die Quelle, Wien)
-,ii
Zusammenhängende systematische
Darstellungen
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Psychoanalyse der Neurosen
Geheftet Mark 7.-, in Ganz leinen Mark Q.-
Inhalt: Einleitung: Die Rolle des aktuellen Konfliktes in der Neurosen-
bildung. — Erster Ted : H y s t e r i c (Hysterische Schicksatsneuroac. Konversions.
Symptome. Nachtangst, Bettnäascn, Poten«u«rungen. Lähmung, Sprachstörungen,
Freßbst, Anfalle, Dämmerzustände. — Zweiter Teil: Phobie (Angstiustuulc.
Ein Fall von Katzenphobie. Ein Fall von H-ihnerphobie. Platzangst). — Dritter
Ted: Zwangsneuro«« (Zwangszeremoniell, Zwangshandlungen. Zwangs-
vorstellungen). — Anhang: Melancholische und depressive Zu-
■ t a n d e.
,,,
PAUL SCHILDER
Entwurf einer Psychiatric
auf psychoanalytischer Grundlage
In Ganzleinen Mark p.-
Inhalt: I) Das Ideal-Ich. — II) Die Ichtncbe. — III) Die feinere Struktur des
Ideal-Ichs und das Wahrnehmunn»-kh. — IV) Phänomenologie des Icherlcbcns. —
V) Selbstbeobachtung und Hypochondrie. — VI) Depersonalisation. — VII) Ver-
dringung und Zensur, Symbol und Sphäre, SpraJiverwirrthcit. — VIII) Narziß-
mus und Außenwelt. — IX) Identifizierung in der Schizophrenie. — X) Sympto-
matologie der Schizophrenie. — XI) Schizophrenie-Paranoia. — XU) Amentia,
Aphasie, Agnosie. — XIII) Epilepsie. — XIV) Manisch-dcprcisives Irresein. —
XV) Demenz. Progressive Paralyse. — XVI) Korsakoff. — XV11) Intoxikationen. —
XVI11) Therapie.
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Krankheiten. Organlibido. Aktualneurosen, Pathoneurosen, Organneurosen. Hem-
mungszustände. Die traumatische Neurose. — IV) Zwangsneurose. — V) Prä-
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OTTO FENICHEL
Perversionen, Psydhosen,
Ch araktcrstönuogen
Geheftet Mark 6\-, in Ganzleinen Mark 10.-
Inhalt: Vorwort. — I) Perversionen. — II) Perversionsverwandte Neurosen.
Scxualstörungen. Impulshandlungen und Süchte. — M) Die Schizophrenie. —
IV) Die manisch depressive Gruppe. — V) Charakterstörungen.
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien g
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S/CM. FREUD
Die Zukunft einer Jllusion
In Ganzleinen M. 3.Ö0
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EinigcUrtcüc
(festgehalten für die Nadiwclt)
„Süddeutsche Monatshefte" i
„Es scheint gewiß, daß ein nicht genau zu bestimmender Teil
der Menschheit nichts anderes anstrebt als Lust und darauf
beruhen die diagnostischen Erfolge dcsPanschwcinismu s."
„Freie Weift
„Freud spricht zu dem heute so überaus großen Haufen von
Neurotikcrn und Entfesselten, die von ihm wie von einem
wissenschaftlichen Tetzel einen Gcneralablaß für alle ihre audi
ihnen selbst unerträglichen Ekclhaftigkcitcn und Lastor und ein
gnädiges Admittatur für ihre libidinösen Sättigungsbedürfnisse
erwarten. Nur für diese Sorte kann er ein Abgott und der
Vertreter höchster Wissenschaftlichkeit sein. Wir hielten es für
eine Pflicht, unser Volk und unsere dcut.sdic Jugend vor dieser
Sumpfwissenschaft eindringlich zu warnen und da dies geschehen,
ist der Wiener »Gelehrte' für uns abgetan."
„Theologische Literaturzeitung" i
„Freud unter den Propheten . . . Die Plattheit ist nicht zu
übertreffen."
illllllilllllllüllllll! Illlllllllllllllllllllllllllll
S/GM. FREUD-
Das Unbehagen in der Kultur
In Ganzleinen M. 5> —
IHIII
Ein Urtcü
(festgehalten für die Nacfiwelt)
Prof. Dr. Johann Triebl
in der Wiener „Reidispost" i
Von Freuds neuester Schrift gilt das Wort: So viele Sätze,
so viele Irrtümer oder doch wenigstens Unrichtigkeiten,
Schiefheiten, unbewiesene und unbeweisbare Behauptungen,
falsche und gewaltsame Deutungen, willkürliche
Annahmen . . . Hätte man bisher noch keine klare Einsicht in
das Problematische dieser neuesten .Wissenschaft 4 gehabt, die
vorliegende jüngste Publikation Freuds müßte anch dem Blinde-
sten die Augen öffnen . . . Wozu all dieser Aufwand von Be-
redsamkeit . . . Manche Behauptungen klingen geradezu roman-
haft, muten wie tolle Phantasien eines Irrsinni-
ge n an, ja fordern zu s c h a 1 1 e n d e r H e i t e r k e i t : heraus .. .
Was gegen das Gebot der christlichen Nächstenliebe eingewendet
wird, erhebt sich nicht über das Niveau frivoler Witze.
Die Befolgung der hohen ethischen Forderungen bedeutet eine
Schädigung der Kulturabsichten. Die Krone Polens aber gebührt
dem, der aus Freuds ebenso abenteuerlichen und bi-
zarren, wie verworrenen und widerspruchs-
vollen Ausführungen über die Entstehung des Gewissens klug
zu werden vermag."
liiilllllillllllii:
n;!fiim>iti!i![ui!tin[i!ini»i!!in[iiin. , iiinnifiniiiimiiiii!!!iiii!i!iiii!innitiiiiiinitimmii!!iiiui)itiitn!iiii:iiimiiini;
SIGM. FRKUB
Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse
In Ganzleinen M. Q-
Diese 1% Vorlesungen, die Freud an der
Universität Wien vor einer aus Anten und
Laien und M beiden Geschlechtern gemisiiiten
Zuhörerschaft gehalten hatte, lind die
klassische Gesamtdarstellung der psycho-
analytischen Theorie und Praxis.
Der l Teil behandelt die F c h 1 1 1 i 1 1 u n.
gen. der II. den Traum, der III. die
Allgemeine Neurosenlehre.
Auf der Dresdener Papier-Ausstellung ver-
ansialtetc die Sachliche I ande:>bibIiothek unter
dem Tiiel .Berühmte Büdief' eine Sonder-
sdhau der in den letzten 5 Jahren am meisten
Verlan ten 19 Bücher. An 1 Stelle werden
Freuds „Vorlesungen" genannt (U. a. stehen
Gundolfs „Goethe" an 3., Emil Ludwigs
„Napoleon' 4 an 11., Nietzsches „Zaratliustra"
an i).. Spenglers „Untergang des Abend-
landes" an 16. Stelle.)
„Freud hat in diesem Buch eine Lehre, eine
klassische Formulierung gegeben, die zudem
alle, auch spater erst starker hervorgetretenen
Gedankengange enthält . . . Für den Anfan,;.r
trftlhg unentbehrlich, ist es auch für den
Fortjje^si ritrenen immer noch der systematische
Grun.ir.fi, aus dm h. raus die zahllosen
Ein/c ar.eiun zu verstehen sind." (Lit
Jthreibtncht des Dürer bundet)
.Die Sprache der Vorlesungen ist die reinste
reifste, die Freud in seinen größeren Werken
geschrieben hat. Ein Haud> von Heiterkeit,
von unbesorgter Überfülle, von impnv.sato-
risdier Leichte liegt auf diesem Buche, das
auf jeder Seite das Glück des red .erisdien
Augenblicks auszukosten scheint ... Ein
klassisches Werk moderner deutscher Prosa
eine köstliche Frucht der Meisterschaft. Er
läßt kein Register seiner Deistellungstjabc
unbenutzt, er geudet mit ihrem Glanz.
. . . Sein Vortrag ist gesättigt und doch
voll Anmut, ernst un.l d< di Iroh, überladen
mit Stoff ui d dennoch Iwierlechi. Er ist
ganz und gir sadilich i.ebuiu'cn ui d zug'eich
üb.mältijend , er-< nleh, er ki mint mit dem
Daumen in der Westentasche daher und ist
ganz Autorität
... Es gibt da Partien, wo dieser Stil, ohne
seine sparsame Schlichtheit zu verlieren, läse
von seinem Meloi trunken weiterfließt, wie
aus Glück darüber, daß er das Schwerste in
vollendeter Klarheit zu sagen weiß.
... Ein großer Diditer könnte dies ge-
schrieben haben. Aber es stammt von einem
Verfechter der reinen Vernunft, dem im
Adel dieser Sprache, im Kontur dieser rein
gefalteten Materie der eiul Ultige Ausdruck
seiner Vrrbuiulrnhf ii mit der Mitwelt zuge-
fallen ist." (Walter Matchf)
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SIGM. FREUD
Zur Psychopathologie
des Alltagslebens
In Ganzleinen Af. 9-"
Sie ist diccn ige Arbeit Freuds, dl« am
besten in die Gru d. r-niipien der Psycho-
analyse einführt, und die einzige, die von
jedem, der ein wenig auf das Verhalten seiner
Mitmensd.cn und sein eigenes aufmerksam
ist, ohne weiteres nachgeprüft werden kann.
Audi ist W« Buch über Psychoanalyse so
„erhaltend und gleich so belehrend. (Prof.
,ct>rift")
In «mutender Sprache, der jeder pseudo-
; r wunderhehe Ideenvei bangen und
Lmbinauonen in, Densen und Vo^
de. M,n,d:en wirksam lind, &***■■»
Zeitung")
Dai Werk gehört zu den kurzweiligsten,
die man sich denken kann . . . Wahre Bluze
in der Erhellung der geheimnisvollen Motiv«,
die im Dunkel unseres Seelenlebens so über-
tut wirksam sind. („Tägliche Rundschau ')
Wenn Freud seinerzeit auf die i. Auflage
semes Buches die Faustischen Zeilen setzte :
„Nun ist die Lutt von solchem Spjk so voll,
daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll",
so kann man heute sagen, daß es die Freud-
schc Psychoanalyse selbst ist, die — zumindest
durch Erkenntnis semes Wesens — dieses
AVtapsspukes Meister geworden ist. („Neues
Wiener TagbUtf)
„. . . Die menschliche Seele w.r schon vor
Jahrhunderten, da sie von den Psychologen
und den Ärzten verstoßen war, auf eine große
Wanderschaft gegangen. Sie war 7U den
Did tern geflohen und auch zu den Pfarrern.
Die waren recht lieblich mit ihr umgegangen.
Der Pfarrer hat sie an das Gebetbuch geführt.
Der Dichter reichte ihr d.n Arm und ging
mit ihr im Grünen spazieren. Freud ließ sie
in sein Sprechzimmer eintreten, machte die
Tür hinter ihr zu und sagte: Legen Sie ab,
gnädigste Frau; ia, bitte: ziehen Sie sich
aus." (Alfred Döblin)
Die kommenden hundert Jahre werden
in'der Hauptsach« das Jahrhundert der an-
gewandten Psychologie sein. Das größte Ycr-
sprechen der heutigen Wissenschaft .st die
neue Erforschung der menschlichen Motive,
der Psychoanalyse. Alle unsere Anschauungen
werden durch die Entdeckung der Psycho-
analyse von Grund aus geändert,« (H. G.
Weih)
.... Wer dichterisch, das heißt tief und
ganz menschlich die Freudschen Entdeckungen
empfindet, wird von einem Schauder ergriffen.«
(Frederik van Eeden)
—
Im Frühjahr lQ3t erschien der Sammelband
THEORETISCHE
SCHRIFTEN
Von
Sigm. Freud
In Gantleinen Mark Q.—
INHALT:
Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen
Geschehens
Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der
Psychoanalyse
Zur Einführung des Nar/.ißmus
Triebe und Tricbschicksalc
Die Verdrängung
Das Unbewußte
Metapsychologische Ergänzung zur Traumlchre
Trauer und Melancholie
Jenseits des Lustprinzips
Massenpsychologie und Ich- Analyse
I) Einleitung - II) Le Born Schilderung der Musenterle - III) Andere
Würdigungen des kollektiven Seelenleben! — IV) Suggestion und Libido —
V) Zwei künstliche Muten: Kirdie und Heer — VI) Weitere Aufgaben
and Arbeitsnchtungen — VII) Die Identiiuierung — VIII) Verliebtheit
und Hypnose — IX) Der Herdentrieb — X) Die Meise und die Urhorde
— XI) Eine Stufe im Ich — XII) Nachträge
Das Ich und das Es
Notiz über den „Wundcrblock"
Die Verneinung
Kll
1
19
Im Oktober 1Q31 erschien der Sammelband:
Schriften zur
INEUROSENLEHRE
und zur psychoanalytischen Technik
Von
Sigm. Freud
In Ganzleinen Mark Q-
INH ALT:
Die Disposition zur Zwangsneurose
Zwei Kinderlügen
Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem Symptom
Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von
Paranoia
Aus der Geschichte einer infantilen Neurose
Gedankenassoziation eines vierjährigen Kindes
Ober einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität
Neurose und Psychose
Der Untergang des Ödipuskomplexes
Der Rcalitätsverlust bei Neurose und Psychose
Hemmung, Symptom und Angst
Der Familienroman des Neurotikers
Kurze Mitteilungen — Zur Sclbstmorddiskussion — Einleitungen und Geleitworte
Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse
Zur Dynamik der Übertragung
Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung
Ober fausse reconnaissance (»dej* racome") während der psychoanalytischen Arbeit
Zur Einleitung der Behandlung
Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten
Bemerkungen über die Übcrtragungsliebe
Wege der psychoanalytischen Therapie
Zur Vorgeschichte der analytischen Technik
Im November iQßl erschien der Sammelband :
Kleine Schriften zur
SEXUALTHEORIE
und zur
TRAUMLEHRE
Von
Sigm. Freud
In Ganzleinen Mark 0.-
INHALT:
Zur sexuellen Aufklärung der Kinder
Die .kulturelle" Sexualmoral und die moderne Nervosität
Über infantile SexuaJihconen
Charakter und Analerotik
Beiträge zur Psyd ologie des LiebesUbens : I) Über einen besonderen Typus der
Ob ektwahl beim Manne — II) Über die allgemeinste Erniedrigung des
Liebeslebens — III) Das Tabu der Virginität
Über Trebjmsetzungen, insbesondere der Ana!erotik
»Ein Kind wird geschlagen"
Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität
Die infantile Genitalorganisation
Das ökonomische Problem des Masochismus
Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschiede«
Fetischismas
Zur Onanie-Diskussion
Geleitworte zu Büchern von M. Steiner, F. S. Krauss und J. G. Bourke"
Über den Traum
MarchenstofFe in Träumen
Ein Traum als Beweismittel
Traum und Te:epathie
Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung
Die sittliche Verantwortung für den Inhalt der Träume
Die Greven der Deutbarkeit
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AlmanacK der
Psyckoartalyse
1932