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Full text of "Almanach der Psychoanalyse 1937"

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Akanack B 
Psyckoanalyse 




. 









1 






ALMANACH DER 
PSYCHOANALYSE 

1937 



1 Almanach 1937 



Almanach 

der 

Psychoanalyse 
1937 



Internationaler 

Psychoanalytischer Verlag 

Wien 






Alle Hechte, 
insbesondere die der Übersetzung, vorbehalten 




INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 






Printed in Austria 
Druck: A. Ketterl, Wien XVIII 



INHALTSVERZEICHNIS 



. 



Seite 
Kalendarium 7 

SIGM. FREUD 

Eine Erinnerungsslörung auf der Akropolis .... 9 

THOMAS MANN 

Freud und die Zukunft 22 

EDUARD HITSCHMANN 

Zur Entstehung des Kinderbuches von Selma Lager- 
löf „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgers- 
son mit den Wildgänsen" ->4 

EDWARD GLOVER 

„Utopien" 64 

THEODOR REIK 

Vom Wesen des jüdischen Witzes 71 

ANNA FREUD 

Die Ich-Einschränkung 82 

ANNA FREUD 

Triebangsl in der Pubertät 94 

HANNS SACHS 

Über Menschenkenntnis H5 

RICHARD STERBA 

Aus einem Handwörterbuch der Psychoanalyse ... 126 

ROBERT WÄLDER 

Die Bedeutung des Werkes Sigm. Freuds für die 

Sozial und Rechtswissenschaften 1^0 

ERNST KRIS 

Zur Psychologie älterer Biographik (dargestellt an 
der des bildenden Künstlers) lbU 

AUGUST AICIIHORN 

Die narzißtische Übertragung des „jugendlichen 
Hochstaplers" 1JÖ 



Seite 
JOHN RICKMAN 

Über Kindercrzichung 216 

PAUL FEDERN 

Ichgrenzen, Ichslärkc und Identifizierung 221 

EDWARD BIBRING 

Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 230 

HEINRICH MENG 

Die Stellung der Wissenschaft zu Freuds 80. Ge- 
burtstag 252 



BILDBEILAGEN 

S i g m. Freud. Nach einem Ölgemälde 
von Prof. Wilhelm Victor Krausz, 
Wien, 1936; mit freundlicher Ge- 
nehmigung des Künstlers Titelblatt 

Thomas Mann spricht zu Ehren Sigm. 
Freuds im Wiener Konzerthaus am 
8. Mai 1936 nach Seite 32 

Sigm. Freud. Plastik von 0. Nomon, 

Brüssel, 1936 nach Seite 144 









KALENDARIUM FÜR DAS JAHR 

1937 



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Ostersonntag 28. März 
Pfingstsonntag 16. Mai 



Brief an Romain Rolland 

Von Sigm. Freud 

Für eine Festschrift zu Romain Hollands 
70. Geburtstag bestimmt. 

Verehrter Freund! 

Dringend aufgefordert, etwas Geschriebenes zur Feier 
Ihres siebzigsten Geburtstages beizutragen, habe ich 
mich lange bemüht, etwas zu finden, was Ihrer in 
irgendeinem Sinne würdig wäre, was meiner Bewun- 
derung Ausdruck geben könnte für Ihre Wahrheitsliebe, 
Ihren Bekennermut, Ihre Menschenfreundlichkeit und 
Hilfsbereitschaft. Oder was die Dankbarkeit für den 
Dichter bezeugen würde, der mir soviel Genuß und 
Erhebung geschenkt hat. Es war vergeblich; ich bin 
um ein Jahrzehnt älter als Sie, meine Produktion ist 
versiegt. Was ich Ihnen schließlich zu bieten habe, ist 
die Gabe eines Verarmten, der „einst bessere Tage 
gesehen hat". 

Sie wissen, meine wissenschaftliche Arbeit hatte sich 
das Ziel gesetzt, ungewöhnliche, abnorme, pathologi- 
sche Erscheinungen des Seelenlebens aufzuklären, das 
heißt, sie auf die hinter ihnen wirkenden psychischen 
Kräfte zurückzuführen und die dabei tätigen Mechanis- 
men aufzuzeigen. Ich versuchte dies zunächst an der 
eigenen Person, dann auch an anderen, und endlich in 
kühnem Übergriff auch am Menschengeschlecht im 
Ganzen. Ein solches Phänomen, das ich vor einem 
Menschenalter, im Jahre 1901, an mir erlebt und nie 



verstanden hatte, tauchte in den letzten Jahren in mei- 
ner Erinnerung immer wieder auf; ich wußte zunächst 
nicht warum. Ich entschloß mich endlich, das kleine 
Erlebnis zu analysieren, und teile Ihnen hier das Er- 
gebnis dieser Studie mit. Dabei muß ich Sie natürlich 
bitten, den Angaben aus meinem persönlichen Leben 
mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als sie sonst ver- 
dienten. 

Eine Erinnerungsstörimg auf der Akropolis 

Ich pflegte damals alljährlich Ende August oder Anfang 
September mit meinem jüngeren Bruder eine Ferienreise 
anzutreten, die mehrere Wochen dauerte und uns nach 
Rom, irgendeiner Gegend des Landes Italien oder an 
eine Küste des Mittelmeeres führte. Mein Bruder ist 
zehn Jahre jünger als ich, also gleichaltrig mit Ihnen, 
— ein Zusammentreffen, das mir erst jetzt auffällt. In 
diesem Jahr erklärte mein Bruder, seine Geschäfte er- 
laubten ihm keine längere Abwesenheit, er könnte höch- 
stens eine Woche ausbleiben, wir müßten unsere Reise 
abkürzen. So beschlossen wir, über Triest nach der 
Insel Korfu zu fahren und unsere wenigen Urlaubs la<*e 
dort zu verbringen. In Triest besuchte er einen dort 
ansässigen Geschäftsfreund, ich begleitete ihn. Der 
freundliche Mann erkundigle sich auch nach unseren 
weiteren Absichten, und als er hörte, daß wir nach 
Korfu wollten, riet er uns dringend ab. „Was wollen 
Sie um diese Zeit dort machen? Es ist so heiß, daß 
Sie nichts unternehmen können. Gehen Sie doch lieber 
nach Athen. Der Lloyddampfer geht heute nachmittags 
ab, läßt Ihnen drei Tage Zeit, um die Stadt zu sehen, 

10 



und holt Sie auf seiner Rückfahrt ab. Das wird loh- 
nender und angenehmer sein." 

Als wir den Triestiner verlassen hatten, waren wir 
beide in merkwürdig übler Stimmung. Wir diskutierten 
den uns vorgeschlagenen Plan, fanden ihn durchaus 
unzweckmäßig und sahen nur Hindernisse gegen seine 
Ausführung, nahmen auch an, daß wir ohne Reisepässe 
in Griechenland nicht eingelassen würden. Die Stunden 
bis zur Eröffnung des Lloydbureaus wanderten wir 
mißvergnügt und unentschlossen in der Stadt herum. 
Aber als die Zeit gekommen war, gingen wir an den 
Schalter und lösten Schiffskarten nach Athen, wie selbst- 
verständlich, ohne uns um die vorgeblichen Schwierig- 
keiten zu kümmern, ja ohne daß wir die Gründe für 
unsere Entscheidung gegeneinander ausgesprochen hät- 
ten. Dies Benehmen war doch sehr sonderbar. Wir an- 
erkannten später, daß wir den Vorschlag, nach Athen 
anstatt nach Korfu zu gehen, sofort und bereitwilligst 
angenommen hatten. Warum hatten wir uns also die 
Zwischenzeit bis zur Öffnung der Schalter durch üble 
Laune verstört und uns nur Abhaltungen und Schwierig- 
keiten vorgespiegelt? 

Als ich dann am Nachmittag nach der Ankunft auf 
der Akropolis stand und mein Blick die Landschaft 
umfaßte, kam mir plötzlich der merkwürdige Gedanke: 
Also existiert das alles wirklich so, wie 
wir es auf der Schule gelernt haben?! Ge- 
nauer beschrieben, die Person, die eine Äußerung tat, 
sonderte sich, weit schärfer als sonst merklich, von 
einer anderen, die diese Äußerung wahrnahm, und beide 
waren verwundert, wenn auch nicht über das Gleiche. 

1 1 



Die eine benahm sich so, als müßte sie unter dem 
Eindruck einer unzweifelhaften Beobachtung an etwas 
glauben, dessen Realität ihr bis dahin unsicher er- 
schienen war. Mit einer mäßigen Übertreibung: als ob 
jemand, entlang des schottischen Loch Ness spa- 
zierend, plötzlich den an's Land gespülten Leib des 
vielberedeten Ungeheuers vor sich sähe und sich zum 
Zugeständnis gezwungen fände: Also existiert sie wirk- 
lich, die Seeschlange, an die wir nicht geglaubt haben! 
Die andere Person war aber mit Recht erstaunt, weil 
sie nicht gewußt hatte, daß die reale Existenz von 
Athen, der Akropolis und dieser Landschaft jemals ein 
Gegenstand des Zweifels gewesen war. Sie war eher 
auf eine Äußerung der Entzückung und Erhebung vor- 
bereitet. 

Es liegt nun nahe, zu sagen, der befremdliche Ge- 
danke auf der Akropolis wolle nur betonen, es sei 
doch etwas ganz anderes, wenn man etwas mit eigenen 
Augen sehe, als wenn man nur davon höre oder lese. 
Aber das bliebe eine sehr sonderbare Einkleidung eines 
uninteressanten Gemeinplatzes. Oder man könnte die 
Behauptung wagen, man habe als Gymnasiast zwar 
gemeint, man sei von der historischen Wirklichkeit 
der Stadt Athen und ihrer Geschichte überzeugt gewesen, 
aber aus jenem Einfall auf der Akropolis erfahre man 
eben, daß man damals im Unbewußten nicht daran 
geglaubt habe; erst jetzt habe man sich auch eine „ins 
Unbewußte reichende" Überzeugung erworben. Eine sol- 
che Erklärung klingt sehr tiefsinnig, aber sie ist leich- 
ter aufzustellen als zu erweisen, wird auch theoretisch 
recht angreifbar sein. Nein, ich meine, die beiden Phä- 






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nomene, die Verstimmung in Triest und der Einfall 
auf der Akropolis gehören innig zusammen. Das erstere 
davon ist leichter verständlich und mag uns zur Er- 
klärung des späteren verhelfen. 

Das Erlebnis in Triest ist, wie ich merke, auch nur 
der Ausdruck eines Unglaubens. „Wir sollen Athen 
zu sehen bekommen? Aber das geht ja nicht, es wird 
zu schwierig sein." Die begleitende Verstimmung ent- 
spricht dann dem Bedauern darüber, daß es nicht geht. 
Es wäre ja so schön gewesen! Und nun versteht man, 
woran man ist. Es ist ein Fall von „too good to be twe", 
wie er uns so geläufig ist. Ein Fall von jenem Unglau- 
ben, der sich so häufig zeigt, wenn man durch eine 
glückbringende Nachricht überrascht wird, daß man 
einen Treffer gemacht, einen Preis gewonnen hat, für 
ein Mädchen, daß der heimlich geliebte Mann bei den 
Eltern als Bewerber aufgetreten ist, u. dgl. 

Ein Phänomen konstaüeren, läßt natürlich sofort die 
Frage nach seiner Verursachung entstehen. Ein solcher 
Unglaube ist offenbar ein Versuch, ein Stück der Reali- 
tät abzulehnen, aber es ist etwas daran befremdend Wir 
würden gar nicht erstaunt sein, wenn sich ein solcher 
Versuch gegen ein Stück Realität richten sollte das 
Unlust zu bringen droht; nnser psychischer Mechanis- 
mus ist darauf sozusagen eingerichtet. Aber warum em 
derartiger Unglaube gegen etwas, was im Gegenteil hohe 
Lust verspricht? Ein wirklich paradoxes Verhalten Ich 
erinnere mich aber, daß ich bereits früher einmal den 
ähnlichen Fall jener Personen behandelt habe, die wie 
ich es ausdrückte, „am Erfolge scheitern . Sonst er- 
krankt man in der Regel an der Versagung, der Nicht 

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erfüllung eines lebenswichtigen Bedürfnisses oder Wun- 
sches; bei diesen Personen ist es aber umgekehrt, sie 
erkranken, gehen selbst daran zu Grunde, daß ihnen 
ein überwältigend starker Wunsch erfüllt worden ist. 
Die Gegensätzlichkeit der beiden Situationen ist aber 
nicht so groß, wie es anfangs scheint. Im paradoxen 
Falle ist einfach eine innere Versagung an die Stelle 
der äußeren getreten. Man gönnt sich das Glück nicht, 
die innere Versagung befiehlt, an der äußeren festzu- 
halten. Warum aber? Weil, so lautet in einer Reihe von 
Fällen die Antwort, man sich vom Schicksal etwas 
so Gutes nicht erwarten kann. Also wiederum das „too 
good to be true". die Äußerung eines Pessimismus, von 
dem viele von uns ein großes Stück in sich zu beher- 
bergen scheinen. In anderen Fällen ist es ganz so wie 
bei denen, die am Erfolg scheitern, ein Schuld- oder 
Minderwertigkeitsgefühl, das man übersetzen kann: Ich 
bin eines solchen Glückes nicht würdig, ich verdiene 
es nicht. Aber diese beiden Motivierungen sind im 
Grunde das nämliche, die eine nur eine Projektion der 
anderen. Denn, wie längst bekannt, ist das Schicksal, 
von dem man sich so schlechte Behandlung erwartet, 
eme Materialisation unseres Gewissens, des strengen 
Über-Ichs in uns, in dem sich die strafende Instanz 
unserer Kindheit niedergeschlagen hat 

Damit wäre, meine ich, nnser Benehmen in Triest 
erklärt. Wir konnten nicht glanben, daß uns die Freude 
bestimmt sein sollte, Athen zu sehen. Daß das Stück 

Realität, das wir ablehnen wniiw - i. 

_.. ,, ' . cu wollten, zunächst nur eine 

Möglichkeit war, bestimmte die Eigenlümtichkeiten un- 
serer damahgen Reaktion. Als wir dann auf der Akro- 



14 



Polis standen, war die Möglichkeit zur Wirklichkeit 
geworden, und derselbe Unglaube fand nun einen ver- 
änderten, aber weit deutlicheren Ausdruck. Dieser hätte 
ohne Entstellung lauten sollen: Ich hätte wirklich nicht 
geglaubt, daß es mir je gegönnt sein würde, Athen 
mit meinen eigenen Augen zu sehen, wie es doch jetzt 
unzweifelhaft der Fall ist! Wenn ich mich erinnere, 
welche glühende Sehnsucht, zu reisen und die Welt 
zu sehen, mich in der Gymnasialzeit und später be- 
herrscht hatte, und wie spät sie sich in Erfüllung um- 
zusetzen begann, verwundere ich mich dieser Nach- 
wirkung auf der Akropolis nicht; ich war damals 
achtundvierzig Jahre alt. Ich habe meinen jüngeren 
Bruder nicht befragt, ob er ähnliches wie ich verspürt. 
Eine gewisse Scheu lag über dem ganzen Erlebnis, sie 
hatte schon in Triest unseren Gedankenaustausch be- 
hindert. 

Wenn ich aber den Sinn meines Einfalls auf der 
Akropolis richtig erraten habe, er drücke meine freudige 
Verwunderung darüber aus, daß ich mich jetzt an die- 
sem Ort befinde, so erhebt sich die weitere Frage, war- 
um dieser Sinn im Einfall eine so entstellte und ent- 
stellende Einkleidung erfahren hat. 

Der wesentliche Inhalt des Gedankens ist auch in der 
Entstellung erhalten geblieben, es ist ein "Unglaube. 
„Nach dem Zeugnis meiner Sinne stehe ich jetzt auf 
der Akropolis, allein ich kann es nicht glauben". Die- 
ser Unglaube, dieser Zweifel an einem Stück der Reali- 
tät, wird aber in der Äußerung in zweifacher Weise 
verschoben, erstens in die Vergangenheit gerückt und 
zweitens von meiner Beziehung zur Akropolis weg 



15 



auf die Existenz der Akropolis selbst verlegt. So kommt 
etwas zustande, was der Behauptung gleichkommt, ich 
hätte früher einmal an der realen Existenz der Akro- 
polis gezweifelt, was meine Erinnerung aber als un- 
richtig, ja als unmöglich ablehnt. 

Die beiden Entstellungen bedeuten zwei von einander 
unabhängige Probleme. Man kann versuchen, tiefer in 
den Umsetzungsprozeß einzudringen. Ohne näher anzu- 
geben, wie ich dazu komme, will ich davon ausgehen, 
das Ursprüngliche müsse eine Empfindung gewesen sein, 
daß an der damaligen Situation etwas Unglaubwürdiges 
und Unwirkliches zu verspüren sei. Die Situation um- 
faßt meine Person, die Akropolis und meine Wahrneh- 
mung derselben. Ich weiß diesen Zweifel nicht unter- 
zubringen, ich kann ja meine Sinneseindrücke von der 
Akropolis nicht in Zweifel ziehen. Ich erinnere micl 
aber, daß ich in der Vergangenheit an etwas gezwei- 
felt, was mit eben dieser örtlichkeit zu tun hatte, und 
finde so die Auskunft, den Zweifel in die Vergangenheit 
zu versetzen. Aber dabei ändert der Zweifel seinen 
Inhalt. Ich erinnere mich nicht einfach daran, daß ich 
in frühen Jahren daran gezweifelt, ob ich je die Akro- 
polis selbst sehen werde, sondern ich behaupte, daß 
ich damals überhaupt nicht an die Realität der Akro- 
polis geglaubt habe. Grade aus diesem Ergebnis dei 
Entstellung ziehe ich den Schluß, daß die gegenwärtige 
Situation auf der Akropolis ein Element von Zweifel 
an der Realität enthalten hat. Es ist mir bisher gewiß 
nicht gelungen, den Hergang klarzumachen, darum will 
ich kurz abschließend sagen, die ganze anscheinend 
verworrene und schwer darstellbare psychische Situa- 






16 



tion löst sich glatt durch die Annahme, daß ich damals 
auf der Akropolis einen Moment lang das Gefühl hatte 
— oder hätte haben können: was ich da sehe, ist 
nicht wirklich. Man nennt das ein „Entfremdungs- 
gefühl". Ich machte einen Versuch, mich dessen zu er- 
wehren, und es gelang mir auf Kosten einer falschen 
Aussage über die Vergangenheit. 

Diese Entfremdungen sind sehr merkwürdige, noch 
wenig verstandene Phänomene. Man beschreibt sie als 
„Empfindungen", aber es sind offenbar komplizierle 
Vorgänge, an bestimmte Inhalte geknüpft und mit Ent- 
scheidungen über diese Inhalte verbunden. Bei gewissen 
psychischen Erkrankungen sehr häufig, sind sie doch 
auch dem normalen Menschen nicht unbekannt, etwa 
wie die gelegentlichen Halluzinationen der Gesunden. 
Aber sie sind doch gewiß Fehlleistungen, von abnormem 
Aufbau wie die Träume, die ungeachtet ihres regelmäßi- 
gen Vorkommens beim Gesunden uns als Vorbilder see- 
lischer Störung gelten. Man beobachtet sie in zweier- 
lei Formen; entweder erscheint uns ein Stück der Reali- 
tät als fremd oder ein Stück des eigenen Ichs. In letz- 
terem Fall spricht man von „Depersonalisation"; Ent- 
fremdungen und Depersonalisationen gehören innig zu- 
sammen. Es gibt andere Phänomene, in denen wir 
gleichsam die positiven Gegenstücke zu ihnen erken- 
nen mögen, die sog. „Fausse Reconnaissance" , das 
»D&jä vu", „Dö/ä raconti", Täuschungen, in denen wir 
etwas als zu unserem Ich gehörig annehmen wollen, 
wie wir bei den Entfremdungen etwas von uns auszu- 
schließen bemüht sind. Ein naiv-mystischer, unpsycho- 
logischer Erklärungsversuch will die Phänomene des 

2 Almanach 1937 



Di ja vu als Beweise für frühere Existenzen unseres 
seelischen Ichs verwerten. Von der Depersonalisation 
führt der Weg zu der höchst merkwürdigen „Double 
Conscience", die man richtiger „Persönlichkeitsspaltung' 
benennt. Das ist alles noch so dunkel, so wenig wis- 
senschaftlich bezwungen, daß ich mir verbieten muß, 
es vor Ihnen weiter zu erörtern. 

Es genügt meiner Absicht, wenn ich auf zwei allge- 
meine Charaktere der Enlfremdungsphänomene zurück- 
komme. Der erste ist, sie dienen alle der Abwehr, 
wollen etwas vom Ich fernhalten, verleugnen. Nun kom- 
men von zwei Seiten her neue Elemente an das Ich 
heran, die zur Abwehr auffordern können, aus der 
realen Außenwelt und aus der Innenwelt der im Ich 
auftauchenden Gedanken und Regungen. Vielleicht deckt 
diese Alternative die Unterscheidung zwischen den 
eigentlichen Entfremdungen und den Depersonalisatio- 
nen. Es gibt eine außerordentliche Fülle von Methoden, 
Mechanismen sagen wir, deren sich unser Ich bei der 
Erledigung seiner Abwehraufgaben bedient. In meiner 
nächsten Nähe erwächst jetzt eine Arbeit, die sich mit 
dem Studium dieser A b wehr melho den beschäftigt; 
meine Tochter, die Kinderanalytikerin, schreibt eben ein 
Buch darüber. Von der primitivsten und gründlichsten 
j dieser Methoden, von der „Verdrängung", hat unsere 

i Vertiefung in die Psychopathologie überhaupt ihren Aus- 

gang genommen. Zwischen der Verdrängung und der 
normal zu nennenden Abwehr des Peinlich-Unerträg- 
, liehen durch Anerkennung, Überlegung, Urteil und 

zweckmäßiges Handeln liegt eine große Reihe von Ver- 
hallungsweisen des Ichs von mehr oder weniger deut- 



18 



lieh pathologischem Charakter. Darf ich bei einem 
Grenzfall einer solchen Abwehr verweilen? Sie kennen 
das berühmte Klagelied der spanischen Mauren „Ay 
de mi Alhama", das erzählt, wie der König Boabdil die 
Nachricht vom Fall seiner Stadt Alhama aufnimmt. Er 
ahnt, daß dieser Verlust das Ende seiner Herrschaft 
bedeutet. Aber er will es nicht „wahr haben", er be- 
schließt, die Nachricht als „non arrive"' zu behandeln. 
Die Strophe lautet: 

Carlas le fueron venidas, 
de que Alhama era ganada. 
Las cartes echö en el fuego 
y al mensagero mataba. 

Man errät leicht, daß an diesem Benehmen des Kö- 
nigs das Bedürfnis mitbeteiligt ist, dem Gefühl seiner 
Ohnmacht zu widerstreiten. Indem er die Briefe ver- 
brennt und den Boten töten läßt, sucht er noch seine 
Machtvollkommenheit zu demonstrieren. 

Der andere allgemeine Charakter der Entfremdungen, 
ihre Abhängigkeit von der Vergangenheit, von dem Er- 
innerungsschatz des Ichs und früheren peinlichen Er- 
lebnissen, die vielleicht seither der Verdrängung anheim 
gefallen sind, wird ihnen nicht ohne Einspruch zugestan- 
den. Aber grade mein Erlebnis auf der Akropolis, das 
ja in eine Erinnerungsstörung, eine Verfälschung der 
Vergangenheit ausgeht, hilft uns dazu, diesen Einfluß 
aufzuzeigen. Es ist nicht wahr, daß ich in den Gym- 
nasial jähren je an der realen Existenz von Athen gezwei- 
felt habe. Ich habe nur daran gezweifelt, daß ich Athen 
je werde sehen können. So weit zu reisen, es „so weit 

2* 19 






zu bringen", erschien mir als außerhalb jeder Möglich- 
keit. Das hing mit der Enge und Armseligkeit unserer 
Lebensverhältnisse in meiner Jugend zusammen. Die 
Sehnsucht, zu reisen, war gewiß auch ein Ausdruck des 
Wunsches, jenem Druck zu entkommen, verwandt dem 
Drang, der so viel halbwüchsige Kinder dazu antreibt, 
vom Hause durchzugehen. Es war mir längst klar 
geworden, daß ein großes Stück der Lust am Reisen in 
der Erfüllung dieser frühen Wünsche besteht, also in 
der Unzufriedenheit mit Haus und Familie wurzelt. 
Wenn man zuerst das Meer sieht, den Ozean überquert, 
Städte und Länder als Wirklichkeiten erlebt, die so 
lange ferne, unerreichbare Wunschdinge waren, so fühlt 
man sich wie ein Held, der unwahrscheinlich große 
Taten vollbracht hat. Ich hätte damals auf der Akropolis 
meinen Bruder fragen können: Weißt Du noch, wie wir 
in unserer Jugend Tag für Tag denselben Weg gegangen 
sind, von der Straße ins Gymnasium, am Sonntag dann 
jedesmal in den Prater oder auf eine der Landpartien, 
die wir schon so gut kannten, und jetzt sind wir in 
Athen und stehen auf der Akropolis! Wir haben es 
wirklich weit gebracht! Und wenn man so Kleines mit 
Größerem vergleichen darf, hat nicht der erste Napo- 
leon während der Kaiserkrönung in Notre-Dame sieb 
zu einem seiner Brüder gewendet - es wird wohl der 
älteste, Josef, gewesen sein - und bemerkt: „Was würde 
Monsieur notre Pcre dazu sagen, wenn er jetzt dabei 
sein konnte?" 

Hier stoßen wir aber auf die Lösung des kleinen 
Problems, warum wir uns schon in Triest das Ver- 
gnügen an der Reise nach Athen verstört hatten. Es 



20 



muß so sein, daß sich an die Befriedigung, es so weit 
gebracht zu haben, ein Schuldgefühl knüpft; es ist 
etwas dabei, was unrecht, was von alters her verbo- 
ten ist. Das hat mit der kindlichen Kritik am Vater zu 
tun, mit der Geringschätzung, welche die frühkind- 
liche Oberschätzung seiner Person abgelöst hatte. Es 
sieht aus, als wäre es das Wesentliche am Erfolg, es 
weiter zu bringen als der Vater, und als wäre es 
noch immer unerlaubt, den Vater übertreffen zu wollen. 
Zu dieser allgemein giltigen Motivierung kommt noch 
für unseren Fall das besondere Moment hinzu, daß in 
dem Thema Athen und Akropolis an und für sich 
ein Hinweis auf die Überlegenheit der Söhne enthalten 
ist. Unser Vater war Kaufmann gewesen, er besaß 
kerne Gymnasialbildung, Athen konnte ihm nicht viel 
bedeuten. Was uns im Genuß der Reise nach Athen 
störte, war also eine Regung der Pietät. Und jetzt 
werden Sie sich nicht mehr verwundern, daß mich 
die Erinnerung an das Erlebnis auf der Akropolis so 
oft heimsucht, seitdem ich selbst alt, der Nachsicht be- 
dürftig geworden bin und nicht mehr reisen kann. 



Ich grüße Sie herzlich, Ihr 



Sigm. Freud. 









21 



Freud und die Zukunft 

Festvortrag im Wiener Akademischen Verein für 
medizinische Psychologie zu Sigm. Freuds 80. Geburtstag 

Von Thomas Mann 

Erschienen im Dr. Bermann-Fischer Ver- 
lag, Wien 1936; Vorabdruck mit Genehmigung 
des Verlages in „Imago, Zeitschrift für psy- 
choanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete 
und Anwendungen'', Bd. XXII, 1936. 

Meine Damen und Herren! Was legitimiert einen 
Dichter, den Festredner zu Ehren eines großen For- 
schers zu machen? Oder, wenn er die Gewissensfrage 
auf andere abwälzen darf, die glaubten, ihm diese Rolle 
übertragen zu sollen: wie rechtfertigt es sich, daß eine 
gelehrte Gesellschaft, in unserem Fall eine akademische 
Vereinigung für medizinische Psychologie, nicht einen 
ihres Zeichens, einen Mann der Wissenschaft bestellt, 
damit er den hohen Tag ihres Meisters im Worte begehe, 
sondern einen Dichter, das heißt also doch einen Men- 
schengeist, der wesentlich nicht auf Wissen, Scheidung, 
Einsicht, Erkenntnis, sondern auf Spontaneität, Syn- 
these, aufs naive Tun und Machen und Hervorbringen 
gestellt ist und so allenfalls zum Objekt förder- 
licher Erkenntnis werden kann, ohne seiner Natur und 
Bestimmung nach zu ihrem Subjekt zu taugen? 
Geschieht es vielleicht in der Erwägung, daß der Dich- 
ter als Künstler, und zwar als geistiger Künstler, zum 
Begehen geistiger Feste, zum Festefeiern überhaupt be- 
nifcncr, daß Ol' von Natur ein festlicherer Mensch sei 
als der Erkennende, der Wissenschaftler? — Ich will 



22 



dieser Meinung nicht widersprechen. Es ist wahr, der 
Dichter versteht sich auf Lebensfeste; er versteht sich 
sogar auf das Leben als Fest, - womit ein Moüv zum 
erstenmal leise und vorläufig berührt wird, dem es 
bestimmt sein mag, in der geistigen Huldigungsmusik 
dieses Abends eine thematische Rolle zu spielen. 
Aber der festliche Sinn dieser Veranstaltung liegt nach 
der Absicht ihrer Veranstalter wohl eher in der Sache 
selbst das heißt: in der solennen und neuartigen Be- 
gegnung von Objekt und Subjekt, des Gegenstandes 
der Erkenntnis mit dem Erkennenden, - einer saturna- 
lischen Umkehrung der Dinge, in welcher der Erken- 
nende und Traumdeuter zum festlichen Objekt träume- 
rischer Erkenntnis wird, - und auch gegen diesen Ge- 
danken habe ich nichts einzuwenden: schon darum 
nicht weil auch in ihm bereits ein Motiv aufklingt, 
das eine bedeutende symphonische Zukunft hat. Voller 
instrumentiert und verständlicher wird es wiederkeh- 
ren, denn ich müßte mich sehr täuschen oder gerade 
die' Vereinigung von Subjekt und Objekt, ihr Ineinander- 
fließen, ihre Identität, die Einsicht in die geheimnis- 
volle Einheit von Welt und Ich, Schicksal und Charak- 
ter, Geschehen und Machen, in das Geheimnis also der 
Wirklichkeit als eines Werkes der Seele - oder, sage 
ich, gerade dies wäre das A und O aller psychoanalyti- 
schen Initiation . . . 

Auf jeden Fall: Entschließt man sich, einen Dichter 
zum Lobredner eines genialen Forschers zu ernennen, 
so sa*t das etwas aus über den einen wie den anderen; 
es ist kennzeichnend für beide. Ein besonderes Ver- 
hältnis des zu Feiernden zur Welt der Dichtung, der 

23 



Literatur geht ebenso daraus hervor wie eine eigen- 
tümliche Beziehung des Dichters, des Schriftstellers zu 
der Erkenntnissphäre, als deren Schöpfer und Meister 
jener vor der Welt steht; und das wiederum Besondere 
und Merkwürdige bei diesem Wechselverhällnis, diesem 
Einandernahesein ist, daß es beiderseits lange Zeit unge- 
wußl, im „Unbewußten" blieb: in jenem Bereich der 
Seele also, dessen Erkundung und Erhellung, dessen 
Eroberung für die Humanität die eigentlichste Sendung 
gerade dieses erkennenden Geistes ist. Die nahen Bezie- 
hungen zwischen Literatur und Psychoanalyse sind bei- 
den Teilen seit längerem bewußt geworden. Das Fest- 
liche dieser Stunde aber liegt, wenigstens in meinen 
Augen und für mein Gefühl, in der wohl zum ersten 
Male sich ereignenden öffentlichen Begegnung der bei- 
den Sphären, in der Manifestation jenes Bewußtseins, 
dem demonstrativen Bekenntnis zu ihm. 

Ich sagte, die Zusammenhänge, die tiefreichenden 
Sympathien seien beiden Teilen lange Zeit unbekannt 
geblieben. Und wirklich weiß man ja, daß der Geist, den 
zu ehren uns angelegen ist, Sigmund Freud, der Be- 
gründer der Psychoanalyse als Therapeut ik und allge- 
meiner Forschungsmethode, den harten Weg seiner Er- 
kenntnisse ganz allein, ganz selbständig, ganz nur als 
Arzt und Naturforscher gegangen ist, ohne der Trost- 
und Stärkungsmittel kundig zu sein, die die große 
Literatur für ihn bereit gehalten hätte. Er hat Nietzsche 

nicht gekannt, bei dem man überall Frcudsche Ein- 
sichten blitzhaft vorweggenommen findet; nicht Novalis, 
dessen romantisch-biologische Träumereien und Einge- 
bungen sich analytischen Ideen oft so erstaunlich an- 



24 



nähern; nicht Kierkegaard, dessen christlicher Mut zum 
psychologisch Äußersten ihn tief und förderlich hätte 
ansprechen müssen; und gewiß auch Schopenhauer 
nicht, den schwermütigen Symphoniker einer nach Um- 
kehr und Erlösung trachtenden Triebphilosophie... Es 
mußte wohl so sein. Auf eigenste Hand, ohne die Kennt- 
nis intuitiver Vorwegnahmen mußte er wohl seine Ein- 
sichten methodisch erobern: die Stoßkraft seiner Er- 
kenntnis ist durch solche Gunstlosigkeit wahrscheinlich 
gesteigert worden, und überhaupt ist Einsamkeit von 
seinem ernsten Bilde nicht wegzudenken, — jene Ein- 
samkeit, von der Nietzsche spricht, wenn er in seinem 
hinreißenden Essay „Was bedeuten asketische Ideale?" 
Schopenhauer einen „wirklichen Philosophen" heißt, 
„einen wirklich auf sich gestellten Geist, einen Mann 
und Ritter mit erzenem Blick, der den Mut zu sich 
selber hat, der allein zu stehn weiß und nicht erst 
auf Vordermänner und höhere Winke wartet — ". Im 
Bilde dieses „Mannes und Ritters", eines Ritters zwi- 
schen Tod und Teufel, habe ich den Psychologen des 
Unbewußten zu sehen mich gewöhnt, seit seine gei- 
stige Figur in meinen Gesichtskreis rückte. 

Es geschah spät; viel später, als man bei der Ver- 
wandtschaft des dichterisch-schriftstellerischen Impul- 
ses überhaupt und meiner Natur im besonderen mit 
dieser Wissenschaft hätte erwarten sollen. Zwei Ten- 
denzen sind es vor allem, die diese Verwandtschaft 
ausmachen: Die Liebe zur Wahrheit erstens, ein 
Wahrheitssinn, eine Empfindlichkeit und Empfänglich- 
keit für die Reize und Bitterkeiten der Wahrheit, welche 
sich hauptsächlich als psychologische Reizbarkeit 

25 






I 






und Klarsieht äußert, bis zu dem Grade, daß der Begriff 
der Wahrheit fast in dem der psychologischen Wahr- 
nehmung und Erkenntnis aufgeht; und zweitens der 
Sinn für die Krankheit, eine gewisse durch Ge- 
sundheit ausgewogene Affinität zu ihr und das Erlebnis 
ihrer produktiven Bedeutung 

Was die Wahrheilsliebe betrifft, die lcidend-morali- 
stisch gestimmte Liebe zur Wahrheit als Psycho- 
logie, so stammt sie aus der hohen Schule Nietzsches, 
bei dem in der Tat das Zusammenfallen von Wahrheit 
und psychologischer Wahrheit, des Erkennenden 
mit dem Psychologen in die Augen springt: sein Wahr- 
heitsstolz, sein Begriff selbst von Ehrlichkeit und intel- 
lektueller Reinlichkeit, sein Wissensmut und seine Wis- 
sensmelancholie, sein Selbstkenncrtum, Selbsthenker tum 
— all dies ist psychologisch gemeint, hat psycho- 
logischen Charakter, und ich vergesse nie die erziehe- 
rische Bekräftigung und Vertiefung, die eigene An- 
lagen durch das Erlebnis von Nietzsches psychologischer 
Passion erfuhren. Das Wort „Erkenntnisekel" steht im 
„Tonio Kroger". Es hat gut Nietzschesches Gepräge, 
und seine Jünglingsschwer mut deutet auf das Hamlet- 
hafte in Nietzsches Natur, in der die eigene sich spie- 
gelte, - einer Natur, zum Wissen berufen, ohne eigent- 
lich dazu geboren zu sein. - Es sind jugendliche 
Schmerzen und Traurigkeiten, von denen ich da spreche, 
und die von den reifenden Jahren ins Heiterere, Ruhi- 
gere überführt worden sind. Aber die Neigung, Wahr- 
heit und Wissen psychologisch zu verstehen, sie mit 
Psychologie gleichzusetzen, psychologischen Wahrheits- 
willen als den Willen zur Wahrheit Überhaupi und 



26 



Psychologie als Wahrheit im eigentlichsten und tapfer- 
sten Sinn des Wortes zu empfinden - diese Neigung, 
die man wohl naturalistisch nennen und der Erziehung 
durch den literarischen Naturalismus zuschreiben muß, 
ist mir geblieben, und sie bildet eine Vorbedingung der 
Aufgeschlossenheit für die seelische Naturwissenschaft, 
die den Namen „Psychoanalyse" trägt. 

Die zweite, sagte ich, ist der Sinn für die Krankheit, 
genauer: für die Krankheit als Erkenntnismittel; und 
auch ihn könnte man von Nietzsche herleiten, der 
wohl wußte, was er seiner Krankheit verdankte, und 
auf jeder Seite zu lehren scheint, daß es kein tieferes 
Wissen ohne Krankheitserfahrung gibt und alle höhere 
Gesundheit durch die Krankheit hindurchgegangen sein 
muß. Auch diesen Sinn also könnte man auf das 
Erlebnis Nietzsches zurückführen, wenn er nicht mit 
dem Wesen des geistigen Menschen überhaupt und des 
dichterischen zumal, ja mit dem Wesen aller Mensch- 
heit und Menschlichkeit, von der der Dichter ja nur ein 
auf die Spitze getriebener Ausdruck ist, eng verschwi- 
stert wäre. „Lhumanite", hat Victor Hugo gesagt, 
„s'affirme par l'infirmit^ - ein Wort, das die zarte 
Verfassung aller höheren Menschlichkeit und Kultur, 
ihre Kennerschaft anf dem Gebiet der Krankheit mit 
stolzer Offenheit eingesteht. Der Mensch ist „das kranke 
Tier" genannt worden um der belastenden Spannungen 
und auszeichnenden Schwierigkeiten willen, die seine 
Stellung zwischen Natur und Geist, zwischen Tier 
und Engel ihm auferlegt. Was Wunder, daß von der 
Seite der Krankheit her der Forschung die tiefsten 
Vorstöße ins Dunkel der menschlichen Natur gelungen 

27 



sind, daß sich die Krankheit, nämlich die Neurose, 
als ein anthropologisches Erkenntnismittel ersten Ran- 
ges erwiesen hat? 

Der Dichter dürfte der letzte sein, sich darüber zu 
wundern. Es dürfte ihn eher erstaunen, daß er, bei so 
starker allgemeiner und persönlicher Disponiertheit, so 
spät der sympathischen Beziehungen seiner Existenz 
zur psychoanalytischen Forschung und dem Lebens- 
werke Freuds gewahr wurde: zu einer Zeit erst, als es 
sich bei dieser Lehre längst nicht mehr bloß um eine 
- anerkannte oder umstrittene - Heilmethode han- 
delte, als sie vielmehr dem bloß medizinischen Bezirk 
längst entwachsen und zu einer Weltbewegung gewor- 
den war, von der alle möglichen Gebiete des Geistes 
und der Wissenschaft sich ergriffen zeigten: Litera- 
tur- und Kunstforschung, Religionsgeschichte und Prä- 
historie, Mythologie, Volkskunde, Pädagogik und was 
nicht alles, - nämlich dank dem ausbauenden und 
anwendenden Eifer von Adepten, die um ihren psychia- 
trisch-medizinischen Kern diese Aura allgemeinerer Wir- 
kungen gelegt halten. Sogar wäre es zuviel gesagt, daß 
ich zur Psychoanalyse gekommen wäre: sie kam zu 
mir. Durch das freundliche Interesse, das sie durch 
einzelne ihrer Jünger und Vertreter immer wieder, 
vom „Kleinen Herrn Friedemann" bis zum „Tod in 
Venedig", zum „Zauberberg" und zum Josephsroman, 
meiner Arbeit erwies, gab sie mir zu verstehen, daß 
ich etwas mit ihr zu tun hätte, auf meine Art gewisser- 
maßen „vom Bau" sei, machte mir, wie es ihr denn 
wohl zukam, die latent vorhandenen, die „vorbewußten" 
Sympathien bewußt; und die Beschäfligung mit der 

28 



analytischen Literatur ließ mich im Denk- und Sprach- 
gewande naturwissenschaftlicher Exaktheit vieles Ur- 
vertraute aus meinem früheren geistigen Erleben wie- 
dererkennen. 

Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, in die- 
sem autobiographischen Stil ein wenig fortzufahren, und 
verargen Sie mir nicht, wenn ich, statt von Freud zu 
reden, scheinbar von mir rede! Über ihn zu sprechen, 
getraue ich mich kaum. Was sollte ich über ihn der Welt 
Neues zu sagen hoffen können? Ich spreche zu seinen 
Ehren, auch und gerade, wenn ich von mir spreche 
und Ihnen erzähle, wie tief und eigentümlich vorbe- 
reitet ich durch entscheidende Bildungseindrücke mei- 
ner Jugend auf die von Freud kommenden Erkenntnisse 
war. Mehr als einmal, in Erinnerungen und Geständ- 
nissen, habe ich von dem erschütternden, in merkwür- 
digster Mischung zugleich berauschenden und erzieh- 
lichen Erlebnis berichtet, das die Bekanntschaft mit der 
Philosophie Arthur Schopenhauers dem Jüngling be- 
deutete, der ihm in seinem Roman von den Budden- 
brooks ein Denkmal gesetzt hat. Der unerschrockene 
Wahrheitsmut, der die Sittlichkeit der analytischen Tie- 
fenpsychologie ausmacht, war mir in dem Pessimismus 
einer naturwissenschaftlich bereits stark gewappneten 
Metaphysik zuerst entgegengetreten. Diese Metaphysik 
lehrte in dunkler Revolution gegen den Glauben von 
Jahrtausenden den Primat des Triebes vor Geist und 
Vernunft, sie erkannte den Willen als Kern und 
Wesensgrund der Welt, des Menschen so gut wie aller 
übrigen Schöpfung, und den Intellekt als sekundär und 
akzidentell, als des Willens Diener und schwache 

2 9 



Leuchte. Nicht aus antihumaner Bosheit tat sie das, 
die das schlechte Motiv geistfeindlicher Lehren von 
heute ist, sondern aus der strengen Wahrheitsliebe 
eines Jahrhunderts, das den Idealismus aus Idealis- 
mus bekämpfte. Es war so wahrhaftig, dieses 19. Jahr- 
hundert, daß es durch Ibsen sogar die Lüge, die „Le- 
benslüge", als unentbehrlich anerkennen wollte, — und 
man sieht wohl: es ist ein großer Unterschied, ob man 
aus schmerzlichem Pessimismus und bitterer Ironie, 
von Geistes wegen, die Lüge bejaht oder aus Haß auf 
den Geist und die Wahrheit. Dieser Unterschied ist 
heute nicht jedermann deutlich. 

Der Psycholog des Unbewußten nun, Freud, ist ein 
echter Sohn des Jahrhunderts der Schopenhauer und 
Ibsen, aus dessen Mitte er entsprang. Wie nahe ver- 
wandt ist seine Revolution nach ihren Inhalten, aber 
auch nach ihrer moralischen Gesinnung der Schopen- 
hauerschen! Seine Entdeckung der ungeheueren Rolle, 
die das Unbewußte, das „Es" im Seelenleben des Men- 
schen spielt, besaß und besitzt für die klassische Psycho- 
logie, der Bewußtheit und Seelenleben ein und dasselbe 
ist, die gleiche Anstößigkeit, die Schopenhauers Willens- 
lehre für alle philosophische Vernunft- und Geistgläubig- 
keit besaß. Wahrhaftig, der frühe Liebhaber der „Welt 
als Wille und Vorstellung" ist bei sich zu Hause in der 
bewunderungswürdigen Abhandlung, die zu Freuds Neuen 
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse ge- 
hört und „Die Zerlegung der psychischen Persönlich- 
keit" heißt. Da ist das Seelenreich des Unbewußten, das 
„Es" mit Worten beschrieben, die ebenso gut, so vehe- 
ment und zugleich mit demselben Akzent intellektuellen 



3° 



und ärztlich kühlen Interesses Schopenhauer für sein 
finsteres Willensreich hätte gebrauchen können. Das Ge- 
biet des Es, sagt er, „ist der dunkle, unzugängliche 
Teil unserer Persönlichkeit; das wenige, was wir von 
ihm wissen, haben wir durch das Studium der Traum- 
arbeit und der neurotischen Symptombildung erfah- 
ren". Er schildert es als ein Chaos, einen Kessel bro- 
delnder Erregungen. Das „Es", meint er, sei sozusagen 
am Ende gegen das Somatische offen und nehme da die 
Triebbedürfnisse in sich auf, die in ihm ihren psychi- 
schen Ausdruck finden — unbekannt, in welchem Sub- 
strat. Von den Trieben her erfülle es sich mit Energie; 
aber es habe keine Organisation, bringe keinen Gesamt- 
willen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen 
unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu schaf- 
fen. Da gelten keine logischen Denkgesetze, vor allem 
nicht der Satz des Widerspruchs. „Gegensätzliche Re- 
gungen bestehen nebeneinander, ohne einander aufzu- 
heben oder sich von einander abzuziehen, höchstens, 
daß sie unter dem herrschenden ökonomischen Zwang 
zur Abfuhr der Energie zu Kompromißbildungen zu- 
sammentreten . . ." Sie sehen, meine Damen und Herren, 
das sind Zustände, die nach unserer zeitgeschichtlichen 
Erfahrung sehr wohl auf das Ich selbst, ein ganzes 
Massen-Ich, übergreifen können, nämlich dank einer 
moralischen Erkrankung, die durch die Anbetung des 
Unbewußten, die Verherrlichung seiner allein leben- 
fördernden „Dynamik", die systematische Verherrlichung 
des Primitiven und Irrationellen erzeugt wird. — Denn 
das Unbewußte, das Es, ist primitiv und irrational, 
es ist rein dynamisch. Wertungen kennt es nicht, kein 

3i 









Gut und Böse, keine Moral. Es kennt sogar nicht die 
Zeit, keinen zeitlichen Ablauf, keine Veränderung des 
seelischen Vorgangs durch ihn. „Wunschregungen", sagt 
Freud, „die das Es nie überschritten haben, aber auch 
Eindrücke, die durch Verdrängung ins Es versenkt 
worden sind, sind virtuell unsterblich, verhalten sich 
nach Dezennien, als ob sie neu vorgefallen wären. Als 
Vergangenheit erkannt, entwertet und ihrer Energie- 
besetzung beraubt können sie erst werden, wenn sie 
durch die analytische Arbeit bewußt geworden sind." 
Und darauf, fügt er hinzu, beruhe vornehmlich die 
Heilwirkung der analyüschcn Behandlung. - Wir ver- 
stehen danach, wie antipathisch die analytische Tiefen- 
psychologie einem Ich sein muß, das, berauscht von 
einer Religiosität des Unbewußten, selbst in den Z* 
s and unterweltlicher Dynamik geraten ist. Es ist nur 
allzu klar, daß und warum ein solches Ich von Ana- 
lyse nichts wissen will und der Name Freud vor ihm 
nicht genannt werden darf. 

Was nun das Ich selbst und überhaupt betrifft, so 
Stent es fast rührend, recht eigentlich besorgniserregend 
damit. Es ist ein kleiner, vorgeschobener, erleuchteter 
und wachsamer Teil des „Es" - ungefähr wie Europa 
eme kleine, aufgeweckte Provinz des weiten Asien ist. 
uas Ich ist „jener Teil des Es, der durch die Nähe und 

* Einfluß der Außenwelt modifiziert wurde, zu Reiz- 
aufnahme und Reizschutz eingerichtet, vergleichbar der 
Hindenschicht, mit der sich ein Klümpchen lebender 
Substanz umgibt". - Ein anschauliches biologisches 
Freud schreibt überhaupt eine höchst anschau- 
liche Prosa, er ist ein Künstler des Gedankens wie 
32 



p 




Thomas Mann 
spricht zu Ehren Sigm. Freuds im Wiener Konzerthaus 

am 8. Mai 1936 



>— 



Schopenhauer und wie er ein europäischer Schrift- 
steller. — Die Beziehung zur Außenwelt ist nach ihm 
für das Ich entscheidend geworden, es hat die Aufgabe, 
sie beim Es zu vertreten — zu dessen Heil! Denn ohne 
Rücksicht auf diese übergewaltige Außenmacht würde 
das Es in seinem blinden Streben nach Triebbefriedi- 
gung der Vernichtung nicht entgehen. Das Ich beobach- 
tet die Außenwelt, es erinnert sich, es versucht redlich, 
das objektiv Wirkliche von dem zu unterscheiden, was 
Zutat aus inneren Erregungsquellen ist. Es beherrscht 
im Auftrage des Es die Hebel der Motilität, der Aktion, 
hat aber zwischen Bedürfnis und Handlung den Auf- 
schub der Denkarbeit eingeschaltet, während dessen es 
die Erfahrung zu Rate zieht, und besitzt eine gewisse 
regulative Überlegenheit gegenüber dem im Unbewußten 
schrankenlos herrschenden Lustprinzip, das es durch 
das Realitätsprinzip korrigiert. Aber wie schwach ist es 
bei alldem! Eingeengt zwischen Unbewußtem, Außen- 
welt und dem was Freud das „Über-Ich" nennt, dem 
Gewissen, führt es ein ziemlich nervöses und geäng- 
stigtes Dasein. Mit seiner Eigen-Dynamik steht es nur 
matt. Seine Energien entlehnt es dem Es und muß im 
ganzen dessen Absichten durchführen. Es möchte sich 
wohl als den Reiter betrachten und das Unbewußte 
als das Pferd. Aber so manches Mal wird es vom 
Unbewußten geritten, und wir wollen nur lieber hinzu- 
fügen, was Freud aus rationaler Moralität hinzuzufügen 
unterläßt, daß es auf diese etwas illegitime Weise unter 
Umständen am weitesten kommt. 

Freuds Beschreibung aber des Es und Ich — ist sie 
nicht aufs Haar die Beschreibung von Schopenhauers 

3 Almanach 1937 -- 



„Wille" und „Intellekt", — eine Übersetzung seiner 
Metaphysik ins Psychologische? Und wer nun ohnedies 
schon, nachdem er von Schopenhauer die metaphysi- 
schen Weihen empfangen, bei Nietzsche die schmerz- 
lichen Reize der Psychologie gekostet hatte, wie hätten 
den nicht Gefühle der Vertrautheit und des Wieder- 
erkennens erfüllen sollen, als er sich, von Ansässigen 
ermutigt, erstmals umsah im psychoanalytischen Reich? 
Er machte auch die Erfahrung, daß die Bekanntschaft 
damit aufs stärkste und eigentümlichste zurückwirkt 
auf jene früheren Eindrücke, wenn man sie nach sol- 
cher Umschau erneuert. Wie anders, nachdem man bei 
Freud geweilt, wie anders liest man im Licht seiner 
Erkundungen eine Betrachtung wieder wie Schopen- 
hauers großen Aufsatz „Über die anscheinende Absicht- 
lichkeit im Schicksal des Einzelnen"! Und hier, meine 
Damen und Herren, bin ich im Begriff, auf den innig- 
sten und geheimsten Berührungspunkt zwischen Freuds 
naturwissenschaftlicher und Schopenhauers philosophi- 
scher Welt hinzuweisen — der genannte Essay, ein 
Wunder an Tiefsinn und Scharfsinn, bildet diesen Be- 
rührungspunkt. Der geheimnisvolle Gedanke, den Scho- 
penhauer darin entwickelte, ist, kurz gesagt, der daß 
genau wie im Traume unser eigener Wille, ohne es 
zu ahnen, als unerbittlich-objektives Schicksal auftritt, 
alles darin aus uns selber kommt und jeder der heim- 
liche Theaterdirektor seiner Träume ist, — so auch in 
der Wirklichkeit, diesem großen Traum, den ein einzi- 
ges Wesen, der Wille selbst, mit uns allen träumt, 
unsere Schicksale das Produkt unseres Innersten, unse- 
res Willens sein möchten und wir also das, was uns 

54 



zu geschehen scheint, eigentlich selbst veranstalteten. 
— Ich fasse sehr dürftig zusammen, meine Herrschaf- 
ten, in Wahrheit sind das Ausführungen von stärkster 
Suggestivkraft und mächtiger Schwingenbreite. Nicht 
nur aber, daß die Traumpsychologie, die Schopenhauer 
zu Hilfe nimmt, ausgesprochen analytischen Charak- 
ter trägt — sogar das sexuelle Argument und Para- 
digma fehlt nicht — ; so ist der ganze Gedankenkomplex 
in dem Grade eine Vordeutung auf tiefenpsychologische 
Konzeptionen, in dem Grade eine philosophische Vor- 
wegnahme davon, daß man erstaunt! Denn um zu 
wiederholen, was ich anfangs sagte: in dem Geheimnis 
der Einheit von Ich und Welt, Sein und Geschehen, 
in der Durchschauung des scheinbar Objektiven und 
Akzidentellen als Veranstaltung der Seele glaube ich den 
innersten Kern der analytischen Lehre zu erkennen. 

Es kommt mir da ein Satz in den Sinn, den ein 
kluger, aber etwas undankbarer Sprößling dieser Lehre, 
C. G. Jung, in seiner bedeutenden Einleitung zum Tibe- 
tanischen Totenbuch formuliert. „Es ist so viel unmit- 
telbarer, auffallender, eindrücklicher und darum über- 
zeugender", sagt er, „zu sehen, wie es mir zustößt, 
als zu beobachten, wie ich es mache." — Ein kecker, 
ja toller Satz, der recht deutlich zeigt, mit welcher 
Gelassenheit heute in einer bestimmten psychologischen 
Schule Dinge angeschaut werden, die noch Schopenhauer 
als ungeheuere Zumutung und „exorbitantes" Gedan- 
kenwagnis empfand. Wäre dieser Satz, der das „Zu- 
stoßen" als ein „Machen" entlarvt, ohne Freud denk- 
bar? Nie und nimmer! Er schuldet ihm alles. Bela- 
den mit Voraussetzungen, ist er nicht zu verstehen 

35 



und halte gar nicht hingesetzt werden können ohne all 
das, was die Analyse über Versprechen und Verschrei- 
ben, das ganze Gebiet der Fehlleistungen, die Flucht in 
die Krankheit, den Selbslbcslrafungstrieb, die Psycho- 
logie der Unglücksfälle, kurz über die Magie des Unbe- 
wußten ausgemacht und zutage gefördert hat. Ebenso- 
wenig aber wäre jener gedrängle Satz, einschließlich 
seiner psychologischen Voraussetzungen, möglich ge- 
worden ohne Schopenhauer und seine noch unexakte, 
aber traumkühne und wegbereilende Spekulation. — 
Vielleicht ist dies der Augenblick, meine Damen und 
Herren, festlicherweise ein wenig gegen Freud zu pole- 
misieren. Er achtet nämlich die Philosophie nicht son- 
derlich hoch. Der Exaktheitssinn des Naturwissenschaft- 
lers gestattet ihm kaum, eine Wissenschaft in ihr zu 
sehen. Er macht ihr zum Vorwurf, daß sie ein lücken- 
los zusammenhängendes Weltbild liefern zu können sich 
einrede, den Erkenntniswert logischer Operationen über- 
schätze, wohl gar an die Intuition als Wissensquelle 
glaube und geradezu amnestischen Neigungen fröne, 
indem sie an Wortzauber und an die Beeinflussung 
der Wirklichkeit durch das Denken glaube. Aber wäre 
dies wirklich eine Selbstüberschätzung der Philosophie? 
Ist je die Welt durch etwas anderes geändert worden 
als durch den Gedanken und seinen magischen Träger, 
das Wort? Ich glaube, daß tatsächlich die Philosophie 
den Naturwissenschaften vor- und übergeordnet ist und 
daß alle Methodik und Exaktheit im Dienst ihres gei- 
stesgeschichtlichen Willens steht. Zuletzt handelt es sich 
immer um das Quod erat demonstrandum. Die Voraus- 

selzungslosigkeit der Wissenschaft ist ein morali- 

36 



sches Faktum oder sollte es sein. Geistig gesehen, 
ist sie wahrscheinlich das, was Freud eine Illusion 
nennt. Die Sache auf die Spitze zu stellen, könnte man 
sagen, die Wissenschaft habe nie eine Entdeckung ge- 
macht, zu der sie nicht von der Philosophie autorisiert 
und angewiesen gewesen wäre. 

Dies nebenbei. Lassen Sie uns zweckmäßig noch einen 
Augenblick bei dem Gedanken Jungs verweilen, der 
mit Vorliebe — und so auch in jener Vorrede — ana- 
lytische Ergebnisse zur Herstellung einer Verständi- 
gungsbrücke zwischen abendländischem Denken und 
östlicher Esoterik benutzt. Niemand hat so scharf wie 
er die Schopenhauer-Freudsche Erkenntnis formuliert, 
daß „der Geber aller Gegebenheiten in uns selber 
wohnt — eine Wahrheit, die trotz aller Evidenz in den 
größten sowohl wie in den kleinsten Dingen nie ge- 
wußt wird, wo es doch nur zu oft so nötig, ja uner- 
läßlich wäre, es zu wissen". Eine große und opfer- 
reiche Umkehr, meinte er, sei wohl nötig, um zu 
sehen, wie die Welt aus dem Wesen der Seele „gegeben" 
wird; denn das animalische Wesen des Menschen 
sträube sich dagegen, sich als den Macher seiner Ge- 
gebenheiten zu empfinden. Es ist wahr, daß sich der 
Osten in der Überwindung des Animalischen von jeher 
stärker erwiesen hat als das Abendland, und wir brau- 
chen uns daher nicht zu wundern, wenn wir hören, 
daß seiner Weisheit zufolge auch die Götter zu den 
„Gegebenheiten" gehören, die der Seele entstammen und 
mit ihr eins sind — Schein und Licht der Menschen- 
seele. Dies Wissen, das man nach dem Totenbuch 
dem Verstorbenen mit auf den Weg gibt, ist für den 

37 



abendländischen Geist ein Paradoxon, das seiner Logik 
widerstreitet; denn diese unterscheidet zwischen Sub- 
jekt und Objekt und sträubt sich, dieses in jenes hin- 
einzuverlegen oder aus ihm hervorgehen zu lassen. 
Zwar kannte die europäische Mystik solche Anwand- 
lungen, und Angelus Silesius hat gesagt: 

„Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; 
Werd' ich zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben." 

Im ganzen aber wäre eine psychologische Auffassung 
Gottes, die Idee einer Gottheit, die nicht reine Gegeben- 
heit, absolute Realität, sondern mit der Seele eins und 
an sie gebunden wäre, abendländischer Religiosität un- 
erträglich, - sie würde Gott dabei einbüßen. Und doch 
heißt Religiosität gerade Gebundenheit, und in der Gene- 
sis ist von einem „Bunde" zwischen Gott und Mensch die 
Rede, dessen Psychologie ich in dem mythischen Roman 
„Joseph und seine Brüder" zu geben versucht habe. 
Ja, lassen Sie mich hier auf dieses mein eigen Werk 
zu sprechen kommen — vielleicht hat es ein Recht, ge- 
nannt zu werden in einer Stunde festlicher Begegnung 
zwischen dichtender Literatur und der psychoanalyti- 
schen Sphäre. Merkwürdig genug — und vielleicht nicht 
nur für mich — , daß darin eben jene psychologische 
Theologie herrschend ist, die der Gelehrte der östlichen 
Eingeweihtheit zuschreibt: Dieser Abram ist gewisser- 
maßen Gottes Vater. Er hat ihn erschaut und hervor- 
gedacht; die mächtigen Eigenschaften, die er ihm zu- 
schreibt, sind wohl Gottes ursprüngliches Eigentum, 
Abram ist nicht ihr Erzeuger, aber in gewissem Sinn ist 
er es dennoch, da er sie erkennt und denkend verwirk- 

38 



licht. Gottes gewaltige Eigenschaften — und damit Gott 
selbst — sind zwar etwas sachlich Gegebenes außer 
Abram, zugleich aber sind sie auch in ihm und 
von ihm; die Macht seiner eigenen Seele ist in gewissen 
Augenblicken kaum von ihnen zu unterscheiden, ver- 
schränkt sich und verschmilzt erkennend in eins mit 
ihnen, und das ist der Ursprung des Bundes, den der 
Herr dann mit Abram schließt und der nur die aus- 
drückliche Bestätigung einer inneren Tatsache ist. Er 
wird als im beiderseitigen Interesse geschlossen charak- 
terisiert, dieser Bund, zum Endzwecke beiderseitiger 
Heiligung. Menschliche und göttliche Bedürftigkeit ver- 
schränken sich derart darin, daß kaum zu sagen ist, von 
welcher Seite, der göttlichen oder der menschlichen, 
die erste Anregung zu solchem Zusammenwirken aus- 
gegangen sei. Auf jeden Fall aber spricht sich in seiner 
Errichtung aus, daß Gottes Heiligwerden und das des 
Menschen einen Doppelprozeß darstellen und auf das 
innigste aneinander „gebunden" sind. Wozu, lautet die 
Frage, wohl sonst ein Bund? 

Die Seele als Geberin des Gegebenen — ich weiß wohl, 
meine Damen und Herren, daß dieser Gedanke im 
Roman auf eine ironische Stufe getreten ist, die er 
weder als östliche Weisheit noch als analytische Ein- 
sicht kennt. Aber die unwillkürliche und erst nachträg- 
lich entdeckte Übereinstimmung hat etwas Erregendes. 
Muß ich sie Beeinflussung nennen? Sie ist eher Sym- 
pathie, — eine gewisse geistige Nähe, die der Psycho- 
analyse, wie billig, früher bewußt war, als mir, und aus 
der eben jene literarischen Aufmerksamkeiten hervor- 
gingen, die ich ihr von früh an zu danken hatte. Die 

39 



letzte davon war die Übersendung eines Sonderdrucks 
aus der Zeitschrift „Imago", die Arbeit eines Wiener 
Gelehrten aus der Schule Freuds, betitelt „Zur Psycho- 
logie älterer Biographik", — eine recht trockene Über- 
schrift, in der sich die Merkwürdigkeiten kaum ankün- 
digen, denen sie als Etikett dient. Der Verfasser zeigt 
da, wie die ältere, naive, von der Legende und vom 
Volkstümlichen her gespeiste und bestimmte Lebens- 
beschreibung, namentlich die Künstlerbiographie, fest- 
stehende, schematisch-typische Züge und Vorgänge, bio- 
graphisches Formelgut sozusagen konventioneller Art 
in die Geschichte ihres Helden aufnimmt, gleichsam 
um sie sich dadurch legitimieren, sich als echt, als rich- 
tig ausweisen zu lassen - als richtig im Sinne des „Wie 
es immer war" und „Wie es geschrieben steht". Denn 
dem Menschen ist am Wiedererkennen gelegen; er 
möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typi- 
sche im Individuellen. Darauf beruht alle Traulichkeit 
des Lebens, welches als vollkommen neu, einmalig und 
individuell sich darstellend, ohne daß es die Möglich- 
keit böte, Altvertrautes darin wiederzufinden, nur er- 
schrecken und verwirren könnte. — Die Frage jener 
Schrift geht nun aber dahin, ob sich denn die Grenze 
zwischen dem, was Formelgut legendärer Biographik, 
und dem, was Lebenseigenlum des Künstlers ist, zwi- 
schen dem Typischen und dem Individuellen also, scharf 
und unzweideutig ziehen lasse, — eine Frage, verneint 
wie gestellt. Das Leben ist tatsächlich eine Mischung 
von formelhaften und individuellen Elementen, ein Inein- 
ander, bei dem das Individuelle gleichsam nur über 
das Formelhaft-Unpersönliche hinausragt. Vieles Außer- 

40 



persönliche, viel unbewußte Identifikation, viel Kon- 
ventionell-Schematisches ist bestimmend * für das Er- 
leben — nicht nur des Künstlers, sondern des Men- 
schen überhaupt. „Viele von uns", sagt der Verfasser, 
„, leben' auch heute einen biographischen Typus, das 
Schicksal eines Standes, einer Klasse, eines Berufes... 
Die Freiheit in der Lebensgestaltung des Menschen ist 
offenbar enge mit jener Bindung zu verknüpfen, die 
wir als ,ge lebte Vita' bezeichnen." — Und pünkt- 
lich, zu meiner Freude nur, kaum auch zu meiner 
Überraschung, beginnt er, auf den Josephsroman zu 
exemplifizieren, dessen Grundmotiv geradezu diese Idee 
der „gelebten Vita" sei, das Leben als Nachfolge, als 
ein In-Spuren-Gehen, als Identifikation, wie besonders 
Josephs Lehrer Eliezer sie in humoristischer Feierlich- 
keit praktiziert: Denn durch Zeitaufhebung rücken in 
ihm sämtliche Eliezers der Vergangenheit zum gegen- 
wärtigen Ich zusammen, so daß er von Eliezer, Abra- 
hams ältestem Knecht, obgleich er realiter dieser bei 
weitem nicht ist, in der ersten Person spricht. 

Ich muß zugeben: Die Gedankenverbindung ist außer- 
ordentlich legitim. Der Aufsatz bezeichnet haargenau den 
Punkt, wo das psychologische Interesse ins mythi- 
sche Interesse übergeht. Er macht deutlich, daß das 
Typische auch schon das Mythische ist und daß man 
für „gelebte Vita" auch „gelebter Mythos" sagen kann. 
Der gelebte Mythos aber ist die epische Idee meines 
Romans, und ich sehe wohl, daß, seit ich als Erzähler 
den Schritt vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch- 
Typischen getan habe, mein heimliches Verhältnis zur 
analytischen Sphäre sozusagen in sein akutes Stadium 

41 



getreten ist. Das mythische Interesse ist der Psycho- 
analyse genau so eingeboren, wie allem Dichtertum 
das psychologische Interesse eingeboren ist. Ihr Zurück- 
dringen in die Kindheil der Einzelseele ist zugleich 
auch schon das Zurückdringen in die Kindheit des 
Menschen, ins Primitive und in die Mythik. Freud 
selbst hat bekannt, daß alle Naturwissenschaft, Medizin 
und Psychotherapie für ihn ein lebenslanger Um- und 
Rückweg gewesen sei zu der primären Leidenschaft 
seiner Jugend fürs Menschheitsgeschichtliche, für die 
Ursprünge von Religion und Sittlichkeit, - diesem 
Interesse, das auf der Höhe seines Lebens in „Totem 
und Tabu" zu einem so großartigen Ausbruch kommt. 
In der Wortverbindung „Tiefenpsychologie" hat „Tiefe" 
auch zeitlichen Sinn: Die Urgründe der Menschenseele 
sind zugleich auch Urzeit, jene Brunnentiefe der Zei- 
ten, wo der Mythos zu Hause ist und die Urnormen, 
Urformen des Lebens gründet. Denn Mythos ist Lcbens- 
grundung; er ist das zeitlose Schema, die fromme For- 
mel, m die das Leben eingeht, indem es aus dem Un- 
bewußten seine Züge reproduziert. Kein Zweifel die 
Gewinnung der mythisch-typischen Anschauungsweise 
macht Epoche im Leben des Erzählers, sie bedeutet eine 
eigentümliche Erhöhung seiner künstlerischen Stimmung, 
eine neue Heiterkeit des Erkennens und Gestaltens' 
welche späten Lebensjahren vorbehalten zu sein pflegt'; 
denn im Leben der Menschheit stellt das Mythische 
zwar eine frühe und primitive Stufe dar, im Leben des 
einzelnen aber eine späte und reife. Was damit gewon- 
nen wird, ist der Blick für die höhere Wahrheit, die sich 
im Wirklichen darstellt, das lächelnde Wissen vom 

42 



Ewigen, Immer seienden, Gültigen, vom Schema, i n dem 
und naeh dem das vermeintlich ganz Individuelle 
lebt, nicht ahnend in dem naiven Dünkel seiner Erst- 
und Einmaligkeit, wie sehr sein Leben Formel und 
Wiederholung, ein Wandeln in tief ausgetretenen Spu- 
ren ist. Der Charakter ist eine mythische Rolle, die in 
der Einfalt illusionärer Einmaligkeit und Originalität 
gespielt wird, gleichsam nach eigenster Erfindung und 
auf eigenste Hand, dabei aber mit einer Würde und 
Sicherheit, die dem gerade obenauf gekommenen und im 
Lichte agierenden Spieler nicht seine vermeintliche 
Erst- und Einmaligkeit verleiht, sondern die er im Ge- 
genteil aus dem tieferen Bewußtsein schöpft, etwas Ge- 
gründet-Rechtmäßiges wieder vorzustellen und sich, ob 
nun gut oder böse, edel oder widerwärtig, jedenfalls 
in seiner Art musterhaft zu benehmen. Tatsächlich 
wüßte er sich, wenn seine Realität im Einmalig-Gegen- 
wärtigen läge, überhaupt nicht zu benehmen, wäre 
haltlos, ratlos, verlegen und verwirrt im Verhältnis zu 
sich selbst, wüßte nicht, mit welchem Fuße antreten 
und was für ein Gesicht machen. Seine Würde und 
Spielsicherheit aber liegt unbewußt gerade darin, daß 
etwas Zeitloses mit ihm wieder am Lichte ist und 
Gegenwart wird; sie ist mythische Würde, welche auch 
dem elenden und nichtswürdigen Charakter noch zu- 
kommt, ist natürliche Würde, weil sie dem Unbewuß- 
ten entstammt. 

Dies ist der Blick, den der mythisch orientierte Er- 
zähler auf die Erscheinungen richtet, und Sie sehen 
wohl: es ist ein ironisch überlegener Blick; denn die 
mythische Erkenntnis hat hier ihren Ort nur im An- 

43 












I 






schauenden, „ichl auch im Angeschauten. Wie aber 
nun, wenn der mythische Aspekt sich subjektivierte, 
ms agierende Ich selber einginge und darin wach wäre, 
so daß es mit freudigem oder düsterem Stolze sich sei- 
ner „Wiederkehr", seiner Typik bewußt wäre, seine 
tolle auf Erden zelebrierte und seine Würde aus- 
schließlich in dem Wissen fände, das Gegründete im 
Meisefc wieder vorzustellen, es wieder zu verkörpern? 

rst das, kann man sagen, wäre „gclebler Mythos"; 

man glaube nicht, daß es etwas Neues und Uner- 

P'oblcs , st: das Leben im Mythos, das Leben als weihe- 

o.ie Wiederholung ist ei„ e historische Lebensform, 

e Anbke hat so gelebt. Ein Beispiel ist die Gestalt der 

S,!r : , Kleopatra ' dic ^ ""<* ** °™ ischtar - 

As arte-Gestalt, Aphrodite i„ Person is[ , _ wie denn 
ac, oJ - cn seiner Charaklerisl . k des bacch . schen Kul . 

ndete m tr HySiSCh , en KUl ' Ur h der Königin das voll- 
ste Bud einer d.onysischen Stimula sieht, die, nach 
lutareh weit mehr noch durch erotische Geisteskul- 
tur als durch körperliche Reize das zu Aphrodites 
.rdischer Verkörperung entwickelte Weib repräsentiert 
habe. Dteses ihr Aphroditentum, ihre Rolle als Hathor- 
Is.s 1St aber nicht nur etwas Kritisch-Objektives, das 
erst von I lutarch und Bachofen über sie ausgesprochen 
worden wäre, sondern es war der Inhalt ihrer subjek- 
tiv«! Ex.sienz, sie lebte in dieser Rolle. Ihre Todesart 

T 1« , T SiC SO " SiCh J a * etö ^ haben, indem 

sie sich eine Giftnatter an a~ r» 
, , mnaitei an den Busen legte. Die Schlange 

aber war das Tipr Am. z~.i* . 

ner der Ischtar, der ägyptischen Isis, 

Ott auch wohl in einem schuppigen Schlangenkleid 
dargestellt wird, und man kennt eine Statuette der 

44 



Ischtar, wie sie eine Schlange am Busen hält. War 
also Kleopatras Todesarl diejenige der Legende, so 
wäre sie eine Demonstration ihres mythischen Ichge- 
iuhls gewesen. Trug sie nicht auch den Kopfputz der 
Isis, die Geierhaube, und schmückte sie sich nicht mit 
den Insignien der Hathor, den Kuhhörnern mit der 
Sonnenscheine dazwischen? Es war eine bedeutende 
Anspielung, daß sie ihre Antonius-Kinder Helios und 
Selene nannte. Kein Zweifel, sie war eine bedeutende 
Frau - im antiken Sinn „bedeutend" - die wußte, wer 
sie war und in welchen Fußstapfen sie ging! 

Das antike Ich und sein Bewußtsein von sich war 
ein anderes als das unsere, weniger ausschließlich, 
weniger scharf umgrenzt. Es stand gleichsam nach 
hinten offen und nahm vom Gewesenen vieles mit 
auf, was es gegenwärtig wiederholte, und was mit 
ihm „wieder da" war. Der spanische Kulturphilosoph 
Ortega y Gasset drückt das so aus, daß der antike 
Mensch, ehe er etwas tue, einen Schritt zurücktrete, 
aleich dem Torero, der zum Todesstoß aushole. Er 
suche in der Vergangenheit ein Vorbild, in das er wie 
in eine Taucherglocke schlüpfe, um sich so, zugleich 
geschützt und entstellt, in das gegenwärtige Problem 
hineinzustürzen. Darum sei sein Leben in gewisser 
Weise ein Beleben, ein archaisierendes Verhalten. - 
Aber eben dies Leben als Beleben, Wiederbeleben ist 
das Leben im Mythos. Alexander ging in den Spuren 
des Miltiades, und von Caesar waren seine antiken 
Biographen mit Recht oder Unrecht überzeugt, er wolle 
den Alexander nachahmen. Dies „Nachahmen" aber ist 
weit mehr, als heut in dem Worte liegt; es ist die 

45 












mythische Identifikation, die der Antike besonders ver- 
traut war, aber weil in die neue Zeil hineinspielt un 
seelisch jederzeit möglich bleibt. Das antike Gepräge 
der Gestalt Napoleons ist oft betont worden. Er bedau- 
erte, daß die moderne Bewußtseinslage ihm nicht ge- 
statte, sich für den Sohn Jupiter-Amons auszugeben, 
wie Alexander. Aber daß er sich, zur Zeit seines orien- 
talischen Unternehmens, wenigstens mit Alexander my- 
thisch verwechselt hat, braucht man nicht zu bezwei- 
feln, und später, als er sich fürs Abendland entschie- 
den hatte, erklärte er: „Ich bin Karl der Große." Wohl 
gemerkt - nicht etwa: „Ich erinnere an ihn"; nicht: 
„Meine Stellung ist der seinen ähnlich". Auch nicht: 
„Ich bin wie er"; sondern einfach: „Ich bin's". D* s 
ist die Formel des Mythos. 

Das Leben, jedenfalls das bedeutende Leben, war 
also in antiken Zeiten die Wiederherstellung des My- 
thos in Fleisch und Blut; es bezog und berief sich 
auf ihn; durch ihn erst, durch die Bezugnahme aufs 
Vergangene wies es sich als echtes und bedeutendes 
Leben aus. Der Mythos ist die Legitimation des Lebens; 
erst durch ihn und in ihm findet es sein Selbstbewußt- 
sein, seine Rechtfertigung und Weihe. Bis in den Tod 
führte Kleopatra ihre aphroditische Charakterrolle 
weihevoll durch, - un d kann man bedeutender, kann 
man würdiger leben und sterben, als indem man den 
Mythos zelebriert? Denken Sie doch auch an Jesus und 
an sein Leben, das ein Leben war, „damit erfüllet 
werde, was geschrieben steht". Es ist nicht leicht, bei 
dem Erfüllungscharakter von Jesu Leben zwischen den 
Stilisierungen der Evangelisten und seinem Eigenbe- 

46 



-Ä 



wußtsein zu unterscheiden; aber sein Kreuzeswort um 
die neunte Stunde, dies „Eli, EH, lama asabthani. 
war ja, gegen den Anschein, durchaus kein Ausbruch 
der Verzweiflung und Enttäuschung, sondern im Ge- 
genteil ein solcher höchsten messianischen Selbstge- 
fühls. Denn dieses Wort ist nicht „originell", kein 
spontaner Schrei. Es bildet den Anfang des 22. Psalms, 
der vom Anfang bis zum Ende Verkündigung des Mes- 
sias ist. Jesus zitierte, und das Zitat bedeutete: „Ja, ich 
bin's!" So zitierte auch Kleopatra, wenn sie, um zu 
sterben, die Schlange an ihren Busen nahm, und wie- 
der bedeutete das Zitat: „Ich bin's!" 

Sehen Sie mir, meine Damen und Herren, das Wort 
„zelebrieren" nach, das ich in diesem Zusammenhang 
branchte. Es ist entschuldbar und selbst geboten. Das 
zitathafte Leben, das Leben im Mythos, ist eine Art 
von Zelebration; insofern es Vergegenwärtigung ist wird 
es zur feierlichen Handlung, zum Vollzuge eines Vorge- 
schriebenen durch einen Zelebranten, zum Begängnis, 
zum Feste. Ist nicht der Sinn des Festes Wiederkehr 
als Vergegenwärtigung? Jede Weihnacht wieder wird 
das wellerrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das 
bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und aufzufahren: Das 
Fest ist die Aufhebung der Zeit, ein Vorgang, eine 
feierliche Handlung, die sich abspielt nach geprägtem 
Urbild; was darin geschieht, geschieht nicht zum ersten 
Male, sondern zeremoniellerweise und nach dem Muster; 
es gewinnt Gegenwart und kehrt wieder, wie eben Feste 
wiederkehren in der Zeit nnd wie ihre Phasen und 
Stunden einander folgen in der Zeit nach dem Urge- 
schehen. Im Altertum war jedes Fest wesentlich eine 

47 



theatralische Angelegenheit, ein Maskenspiel, die von 
Priestern vollzogene szenische Darstellung von Götter- 
geschichten, zum Beispiel der Lebens- und Leidensge- 
schichte des Osiris. Das christliche Mittelalter hatte da- 
für das Mysterienspiel mit Himmel, Erde und greu- 
lichem Höllenrachen, wie es noch in Goethes „Faust" 
wiederkehrt; es hatte die Fastnachtfarce, den populären 
Mimus. Es gibt eine mythische Kunstoptik auf das Le- 
ben, unter der dieses als farcenhaftes Spiel, als theatra- 
lischer Vollzug von etwas festlich Vorgeschriebenem, 
als Kasperliade erscheint, worin mythische Charakter- 
marionetten eine oft dagewesene, feststehende und spaß- 
haft wieder Gegenwart werdende „Handlung" abhaspeln 
und vollziehen. Und es fehlt nur, daß diese Optik in 
die Subjektivität der handelnden Personagen selbst ein- 
geht, in ihnen selbst als Spielbewußtsein, festlich-my- 
thisches Bewußtsein vorgestellt wird, damit eine Epik 
gezeitigt werde, wie sie sich in den „Geschichten Jaa- 
kobs" wunderlich genug ergibt, besonders in dem Ka- 
pitel „Der große Jokus«, worin zwischen Personen, 
die alle wohl wissen, was sie sind und in welchen 
Spuren sie gehen, zwischen Isaak, Esau und Jaakob, 
die bitter-komische Geschichte, wie Esau, der Rote' 
der genasführte Teufel, geprellt wird um seines Vaters 
Segen zum Gaudium des Hofvolks als mythische Fest- 
farce jokos und tragisch sich abspielt. — Und ist nicht 
vor allem der Held dieses Romans ein solcher Zelebrant 
des Lebens: Joseph selbst, der mit einer anmutigen Art 
von religiöser Hochstapelei den Tammuz-Osiris-Mythos 
in seiner Person vergegenwärtigt, sich das Leben des 
Zerrissenen, Begrabenen und Auferstehenden gesche- 

4 8 



hen läßt" und sein festliches Spiel treibt mit dem, was 
gemeinhin nur aus der Tiefe heimlich das Leben be- 
stimmt und formt: dem Unbewußten? Das Geheimnis 
des Metaphysikers und des Psychologen, daß die Geberin 
alles Gegebenen die Seele ist, — dies Geheimnis wird 
leicht, spiel haft, künstlerisch, heiter, ja spiegelfechterisch 
und eulenspiegelhaft in Joseph; es offenbart in ihm 
seine infantile Natur . . . Und dieses Wort läßt uns 
zu unserer Beruhigung gewahr werden, wie wenig wir 
uns bei scheinbar so großen Ausbeugungen von unserem 
Gegenstände, dem Gegenstände unserer festlichen Huldi- 
gung entfernt — wie wenig wir aufgehört haben, zu 
seinen Ehren zu reden. 

Infanlilismus, auf deutsch: rückständige Kinderei — 
welch eine Rolle spielt dies echt psychoanalytische 
Element im Leben von uns allen, einen wie starken 
Anteil hat es an der Lebensgestaltung der Menschen, 
und zwar gerade und vornehmlich in der Form der 
mythischen Identifikation, des Nachlebens, des In-Spu- 
ren-Gehens! Die Vaterbindung, Vaternachahmung, das 
Vaterspiel und seine Übertragungen auf Vaterersatzbil- 
der höherer und geistiger Art — wie bestimmend, wie 
prägend und bildend wirken diese Infantilismen auf 
das individuelle Leben ein! Ich sage: „bildend"; denn 
die lustigste, freudigste Bestimmung dessen, was man 
Bildung nennt, ist mir allen Ernstes diese Formung 
und Prägung durch das Bewunderte und Geliebte, durch 
die kindliche Identifikation mit einem aus innerster 
Sympathie gewählten Vaterbilde. Der Künstler zumal, 
dieser eigentlich verspielte und leidenschaftlich kindi- 
sche Mensch, weiß ein Lied zu singen von den geheimen 

4 Almanach 1937 

49 



und doch auch offenen Einflüssen solcher infantilen 
Nachahmung auf seine Biographie, seine produktive 
Lebensführung, welche oft nichts anderes ist als die 
Neubelebung der Heroenvita unter sehr anderen zeit- 
lichen und persönlichen Bedingungen und mit sehr 
anderen, sagen wir: kindlichen Mitteln. So kann die imi- 
tatio Goethes mit ihren Erinnerungen an die Werther-, 
die Meister-Stufe und an die Altersphase von Faust und 
Diwan noch heule aus dem Unbewußten ein Schrift- 
stellerleben führen und mythisch bestimmen, — ich 
sage: aus dem Unbewußten, obgleich im Künstler das 
Unbewußte jeden Augenblick ins lächelnd Bewußte und 
kindlich-tief Aufmerksame hinüberspielt. 

Der Joseph des Romans ist ein Künstler insofern 
er spielt, nämlich mit seiner imitatio Gottes auf dem 
Unbewußten spielt, - und ich weiß nicht, welches 
Gefühl von Zukunflsahnung, Zukunflsfreude mich er- 
greift, wenn ich dieser Erheiterung des Unbewußten 
zum Spiel, dieser seiner Fruchtbarmachung für eine 
feierliche Lebensproduklion, dieser erzählerischen Be- 
gegnung von Psychologie und Mythos nachhänge, die 
zugleich eine festliche Begegnung von Dichtung und 
Psychoanalyse ist. „Zukunft" - ich habe das Wort in 
den Titel meines Vortrages aufgenommen, einfach, weil 
der Begriff der Zukunft derjenige ist, den ich am lieb- 
sten und unwillkürlichsten mit dem Namen Freuds 
verbinde. Aber während ich zu Ihnen sprach, mußte 
ich mich fragen, ob ich mich nicht mit meiner Ankün- 
digung einer Irreführung schuldig gemacht: „Freud und 

der Mythus", das wäre nach dem, was ich bis jetzt 

zum Schluß gesagt, etwa der richtige Titel gewesen. — 



5° 



Und dennoch hängt mein Gefühl an der Verbindung von 
Name und Wort und möchte einen Zusammenhang die- 
ser Formel wahrhaben mit dem, was ich sagte. Ja, so 
wahr ich mich zu glauben erkühne, daß in dem Spiel 
der Psychologie auf dem Mythos, worin jener der 
Freudschen Welt befreundete Roman sich übt, Keime 
und Elemente eines neuen Menschheitsgefühls, einer 
kommenden Humanität beschlossen liegen, so vollkom- 
men bin ich überzeugt, daß man in Freuds Lebens- 
werk einmal einen der wichtigsten Bausteine erken- 
nen wird, die beigetragen worden sind zu einer heute 
auf vielfache Weise sich bildenden neuen Anthropo- 
logie und damit zum Fundament der Zukunft, dem 
Hause einer klügeren und freieren Menschheit. Dieser 
ärztliche Psycholog wird geehrt werden, so glaube ich, 
als Wegbereiter eines künftigen Humanismus, den wir 
ahnen, und der durch vieles hindurchgegangen sein 
wird, von dem frühere Humanismen nichts wußten, — 
eines Humanismus, der zu den Mächten der Unterwelt, 
des Unbewußten, des „Es" in einem keckeren, freieren 
und heitereren, einem kunstreiferen Verhältnis stehen 
wird, als es einem in neurotischer Angst und zugehöri- 
gem Haß sich mühenden Menschentum von heute ver- 
gönnt ist. Freud hat zwar gemeint, die Zukunft werde 
wahrscheinlich urteilen, daß die Bedeutung der Psycho- 
analyse als Wissenschaft des Unbewußten ihren Wert als 
Heilmethode weit übertreffe. Aber auch als Wissenschaft 
des Unbewußten ist sie Heilmethode, überindividuelle 
Heilmethode, Heilmethode großen Stils. Nehmen Sie es als 
Dichterutopie, — aber alles in allem ist der Gedanke 
nicht unsinnig, daß die Auflösung der großen Angst und 

5i 



des großen Hasses, ihre Überwindung durch Herstel- 
lung eines ironisch-künstlerischen und dabei nicht not- 
wendigerweise unfrommen Verhältnisses zum Unbewuß- 
ten einst als der menschheitliche Heileffekt dieser Wis- 
senschaft angesprochen werden könnte. 

Die analytische Einsicht ist weltverändernd; ein hei- 
terer Argwohn ist mit ihr in die Welt gesetzt, ein ent- 
larvender Verdacht die Verstecktheiten und Machen- 
schaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt, 
nie wieder daraus verschwinden kann. Er infiltriert 
das Leben, untergräbt seine rohe Naivität, nimmt ihm 
das Pathos der Unwissenheit, betreibt seine Entpatheti- 
sierung, indem er zum Geschmack am „Understatement 1 ' 
erzieht, wie die Engländer sagen, zum lieber untertrei- 
benden als übertreibenden Ausdruck, zur Kultur des 
mittleren, unaufgcblasenen Wortes, das seine Kraft im 
Mäßigen sucht . . . Bescheidenheit — vergessen wir nicht 
daß sie von Bescheidwissen kommt, daß ur- 
sprünglich das Wort diesen Sinn führte und erst über 
ihn den zweiten von modestia, moderatio angenommen 
hat. Bescheidenheit aus Bescheid wissen — nehmen wir 
an, daß das die Grundstimmung der heiter ernüchter- 
ten Friedenswelt sein wird, die mit herbeizuführen die 
Wissenschaft vom Unbewußten berufen sein mag. 

Die Mischung, die in ihr das Pionierhafte mit dem 
Ärztlichen eingeht, rechtfertigt solche Hoffnungen. Freud 
hat seine Traumlehre einmal „ein Stück wissenschaft- 
lichen Neulandes" genannt, „dem Volksglauben und der 
Mystik abgewonnen". In diesem „abgewonnen" liegt der 
kolonisatorische Geist und Sinn seines Forscherlums. 
„Wo E s war, soll Ich werden", sagt er epigrammatisch. 



12 



und selber nennt er die psychoanalytische Arbeit ein 
Kulturwerk, vergleichbar der Trockenlegung der Zuider- 
see. So fließen uns zum Schluß die Züge des ehrwürdi- 
gen Mannes, den wir feiern, hinüber in die des greisen 
Faust, den es drängt, „das herrische Meer vom Ufer 
auszuschließen, der feuchten Breite Grenze zu verengen". 

„Eröffn' ich Räume vielen Millionen, 

Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. 

Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn, 

Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn." 

Es ist das Volk einer angst- und haßbefreiten, zum 
Frieden gereiften Zukunft. 









53 



Zur Entstehung des Kinderbuches 

von Selma Lagerlöf „Wunderbare Reise 

des kleinen Nils Holgersson mit den 

Wildgänsen" 

Von Eduard Hitschmann, Wien 

Mit achtundvierzig Jahren erhielt die Dichterin den 
Auftrag, ein patriotisches Kinderbuch über Schweden 
zu schreiben, das die Heimatkunde fördern, lehrreich 
sein und als Lesebuch dienen sollte. Als gewesene Leh- 
rerin erschien sie, nunmehr sechzehn Jahre lang Schrift- 
stellerin, besonders geeignet. Neues leicht zu erfinden, 
war nicht so ganz ihre Sache, ihr Arbeiten war oft nur 
ein Bearbeiten, besonders auch von mündlich über- 
lieferten, volkstümlichen Erzählungen. Diesmal zögerte 
unsere Dichterin von Weihnachten bis zum Herbst — 
es sind gerade neun Monate -, ohne einen rechten 
Einfall zu gebären, und war der Aufgabe fast über- 
drüssig geworden. 

Es war naheliegend, ein bewußtes Zurücktasten in die 
eigene Jugendzeit anläßlich dieses literarischen Auf- 
trages vorzunehmen und dazu dem alten, längst in 
andere Hände übergegangenen Heimathof einen Besuch 
abzustatten, um das Leben und die Tätigkeiten dort bes- 
ser erinnern zu können. 

Was ist dann die Grundidee dieses so überaus 
weitverbreiteten und beliebten Kinderbuches geworden? 

Ein schlimmer, fauler und boshafter Knabe, der auch 
Tiere zu quälen pflegt, soll eines Sonntags, von den 
Eltern daheim gelassen, im Gebetbuch lesen, schläft 
aber dabei ein. Erwacht, beobachtet er ein Wichtel- 
männchen im Zimmer, fängt es ein; aber dieses macht 
sich frei, verzaubert ihn in einen zwerghaft kleinen 



54 



Knaben, einen Däumling, verleiht ihm allerdings gleich- 
zeitig die Fähigkeit, die Sprache der Tiere zu verstehen. 
Die Tiere, die er früher gequält hat, spotten nun seiner, 
die Sperlinge, die Hühner, die Gänse, die Katze und die 
Kühe des Hauses. 

Da kommen Wildgänse geflogen und ein zahmer Gän- 
serich macht Miene, ihnen zu folgen; Nils will ihn 
zurückhalten, umschlingt ihn mit den Armen, wird aber 
in die Höhe mitgeführt. Der Däumling macht so eine 
lange Reise mit den Wildgänsen mit, übersteht zahllose 
Abenteuer, überfliegt ganz Schweden und wird reich- 
lich belehrt. 

Das Buch ist ganz eigentlich ein Tierbuch, nament- 
lich ist außer dem Treiben der Wildgänse, die sich dem 
Kleinen als Freunde erweisen, die Vogelwelt leibhaftig 
geschildert; Hühner, Kraniche, Krähen, Schwäne, Eulen, 
ein Storch, ein Rabe und ein Adler treten auf. Unter 
den Wildgänsen fällt besonders ins Auge die mütter- 
liche Führerin, eine herbe kluge überlegene Alte. Der 
Knabe hat manche Gelegenheit, die Freundschaft der 
Wildgänse durch Heldenmut zu bedanken, wird erzogen 
und geläutert und endlich wieder entzaubert. Der typi- 
schen Ausdrucksform der ethischen Tendenz der Dich- 
terin in Schuld, Sühne, Erlösung begegnen wir also 
auch hier. 

Das Motiv der Vermenschlichung, der Menschen- 
freundlichkeit dieser eigentlich wilden Tiere, der Wild- 
gänse, muß dem Kenner des Werkes der Lagerlöf 
umsomehr auffallen, als Dichtung und Kindheitserinne- 
rungen immer wieder von Angst vor bösen und 
grausamen Vögeln zu berichten wissen. Im Bo- 
denraum über dem Kinderzimmer haust eine lärmende 
Eule, die schreckliche Angst erzeugt, in der Phantasie 
der Kleinen zu einem großen Ungeheuer auswächst; 
es ist gar nicht auszudenken, wenn das unheimliche 
Wesen mit seinen gewaltigen Klauen und dem Haken- 



55 



Schnabel herabkäme 1 ). Vor allem ist es die Angst, 
Eulen, Sperber oder Krähen könnten einem die Augen 
aushacken, die oft als Motiv wiederkehrt. In „Gösta 
Berling" sind es Elstern, welche - von einer verflu- 
chenden Hexe geschickt - mit Schnabel und Krallen 
nach dem Gesicht der Gräfin Merta zielen. Ähnliches 
droht einer schuldbewußten Frau in der Erzählung 
„Ein gefallener König". Vom gleichen Thema ist auch 
in der Erzählung „Die Vogelfreien" Erwähnung getan. 
Im Kapitel „Herrestad" der Kindheitserinnerungen „Aus 
meinen Kinderlagen" wird von einer alten Frau be- 
richtet, die niemals auszugehen wagte, weil sie Angst 
hatte, die Dohlen würden sie auffressen. 

Die Dichterin selbst legt es uns nahe, hinter diesen 
gefürchteten Vögeln, die zu blenden, zu verletzen, auf- 
zufressen drohen, symbolisch verhüllte weibliche We- 
sen zu vermuten, aller psychoanalytischen Erfahrung 
nach die strafende böse Mutter. 

So heißt es in der 8. Saga des „Gösta Berling": „Die 
Eule hackt einem die Augen aus, denn sie ist kein 
wirklicher Vogel, sondern ein verhexter Geist". Ferner 
lesen wir in diesem Erstlingswerk: „Die Natur ist böse 
und grausam, hinterlistig wie eine schlafende Schlange"- 
selbst der Bach, der Kuckuck, das Moos erscheinen der 
Dichterin als tückische Feinde. Er heißt dort weiter- 
„Das Grauen ist eine Hexe. Sitzt sie noch in der Finster- 
nis der Wälder? Lähmt sie noch die Freude am Leben? 
Ihre Macht ist groß gewesen, das weiß ich, in deren 
Wiege Stahl und in deren Badewasser glühende Koh- 
len gelegen haben; ich weiß es, die ich ihre eiserne 
Hand um mein Herz gefühlt habe." 

Hier ist die Kinderangst, als die ursprüngliche, recht 
eigentlich verraten; Angst, Unheimliches und Mystisches 

*) Für eine so frühzeitige Kleinkind-Angst setzen eng- 
lische Autoren Schuldgefühle wegen aggressiver Phan- 
tasien voraus. 



56 



kehren in all den Sagen wieder, welche die Dichterin 
zur Bearbeitung drängten. „Angst" heißt auch ein Kapi- 
tel in „Aus meinen Kindertagen". 

Daß hinter der Angst vor den die Augen bedrohen- 
den Raubvögeln und vor den Hexen die Angst vor der 
gefürchteten strafdrohenden (kastrierenden) Mutter 
steckt, ist psychoanalytisches Wissensgut. Es ist der mit 
Libido legierte Haß, der aus dem Ödipuskomplex resul- 
tiert, der Schuldgefühl und damit Angst mit sich bringt. 
Die Verwandlung der Aggression in Angst und die Ver- 
schiebung vom gleichgeschlechtlichen Elternteil auf das 
Tier ist von Freud schon vor vielen Jahren in der 
„Analyse eines fünfjährigen Knaben" dargestellt worden. 

Selma Lagerlöf erlitt mit dreieinhalb Jahren eine Läh- 
mung an einem Bein (Kinderlähmung), war dadurch 
lange Jahre an freier Beweglichkeit und am Spiel mit 
ihren vier Geschwistern behindert 2 ) ; solche Kinder, 
immer wieder ermahnt und gewarnt und eingeschränkt, 
neigen sehr zu Neid, gesteigerter Aggression und Gefüh- 
len der Zurücksetzung. Die Kastration, könnte man 
sagen, war durch die Lähmung förmlich materialisiert. 

Die Persönlichkeit der strengen, gewissenhaften Mut- 
ter, von der angegeben ist, daß sie die ältere schönere 
Tochter bevorzugte, war nicht geeignet, all dies zu 
mildern. 

Die Brücke von dieser einer Phobie nahekommenden 
Angst vor Vögeln, wie sie Selma Lagerlöf als Kind er- 
lebt hat und wie sie das Phantasieleben der Dichterin 
dauernd erfüllt, — zu dem liebevollen Zusammenleben 
zwischen dem Däumling und den wilden Gänsen in der 
Kindergeschichte von Nils Holgersson bietet uns der 
Inhalt des VI. Kapitels in dem Buche von Anna 
Freud „Das Ich und die Abwehrmechanismen". 



2 ) Das Fliegen mußte einem gelähmten Kinde beson- 
ders verlockend erscheinen. Die vierzehnjährige Selma 
behandelt denn auch in ihrem Tagebuch das Problem 
des menschlichen Fliegens. 

57 



Es wird dort über normale Kinder berichtet, denen 
es gelungen ist, das sie beunruhigende Angsttier durch 
Verleugnung in der Phantasie — zum Freund 
umzudenken. Dieser Mechanismus muß auch bei der 
Entstehung der „Wunderbaren Reise . . ." angenommen 
werden: die Dichterin kehrt mit dem Auftrag, eine 
Kindergeschichte zu schreiben, unbewußt in die Erin- 
nerungen an die infantile Vogelangst zurück, ihre Phan- 
tasie verleugnet das zur Darstellung in einer Kinder- 
geschichte Ungeeignete und schließt mit den Vögeln 
Frieden. Die Stoffwahl aber hält an den wilden, nun- 
mehr freundlichen Vögeln fest. Paradox wird man fin- 
den, daß dies in der 48 jährigen Dichterin vorgegangen 
sein soll; wir wären lieber Zeugen eines Berichtes über 
eine solche Kinderphantasie der Lagerlöf. Dafür werden 
wir aber reichlich entschädigt durch die Schilde- 
rung des Momentes der Inspiration der 
Dichterin zu dieser Kindergeschichte, in ihr selbst im 
Kapitel „Ein kleiner Herrenhof" enthalten. 

Selma Lagerlöf tritt hier persönlich auf und rettet 
Nils vor einer bösen Eule, die ihm eben die Augen 
aushacken will und schon die Krallen in seine Schul- 
tern geschlagen hat. „Nils hielt die eine Hand zum 
Schutz vor die Augen, während er sich mit der andern 
zu befreien suchte... Er fühlte, daß er in wirklicher 
Lebensgefahr schwebte." Der gerettete Däumling erzählt 
nun seine Reisegeschich le und die Dichterin beschließt, 
— vergnügt, aus der Verlegenheit mit der Stoffwahl 
zur Kindergeschichte zu sein, — alles, was er erzählt 
hat, in ihr Buch zu schreiben. Sie hat nun keine Sor- 
gen mehr darum; die Reise in das Heim der Kindheit 
hat ihr die Hilfe gebracht, denn dort spielt diese Szene. 
Sehen wir aber in der Eule eine unbewußte Erinne- 
rung an die einst gefürchtete Mutter, so ergänzt die 
Dichterin sofort auch den geliebten Vater. Ein Schwann 
Tauben kommt dahergeflogen und läßt sich nieder; die 
Haustauben hatten seinerzeit zu den Tieren gehört, die 

5« 



der gute Vater unter seinen Schutz genommen hatte. 
„Wenn nur jemand davon sprach, daß eine Taube ge- 
schlachtet werden sollte, so hatte ihm das die gute 
Laune verdorben." 

Die Begrüßung durch den Taubenschwarm erscheint 
der Dichterin als ein Gruß des toten Vaters, und es ist 
ihr eine genehme Vermutung, daß er auch am Werk 
gewesen, ihr die Lösung der Aufgabe zu verschaffen, 
über die sie schon so lange vergebens gegrübelt hatte. 

Mutter und Vater, durch Vogelgestalten repräsentiert, 
erscheinen also alsbald bei dem Besuch der Tochter im 
Heimathaus! Die Inspiration ergibt eine versöhnliche 
Vogelgeschichte, in der der wilde Vogel zum Freund 
wird, und eine mütterliche Vogelgestalt gerecht und 
geduldig zur Anführerin gemacht ist. Die Dichterin ist 
unbewußt zurückversetzt in das Phantasiespiel der eige- 
nen Kindheit, das sie milde korrigiert. Der wilde Vogel 
ist gezähmt, dient dem Däumling und hilft gütig durch 
die Welt; der Däumling ist der einzige Mensch, der so 
vom Schicksal ausgezeichnet ist, mit den Wildgänsen 
durch die Welt zu fliegen. „Das Angsttier", heißt es 
bei Anna Freud, „wird zum Freund ernannt; seine 
Stärke dient jetzt . . . , statt zu erschrecken." 

In Nils wird aber auch ein Held, ein mutiger Vogel- 
besieger dargestellt. Er wird in der Erzählung einmal 
von bösen Krähen geraubt und wiederholt an den 
Augen bedroht; eine besonders böse Krähe stürzt sich 
blind vor Wut auf ihn, aber direkt in sein gezücktes 
Messer hinein, das ihr durch ein Auge ins Gehirn dringt, 
worauf sie tot zu Boden sinkt. Nils hat also — wenn 
auch unwillkürlich — der Krähe ein Auge ausgestochen. 
Man kann darin ein Beispiel für eine „Identifizierung mit 
dem Angreifer" sehen, einen Ich-Mechanismus, durch 
den aus dem Bedrohten ein Bedroher geworden ist, 
wodurch die Angst überwunden ist. (Vgl. bei Anna 
Freud.) 

59 



Ehe wir das Thema der symbolischen Vögel ver- 
lassen, sei noch auf das „Motiv der hilfreichen Tiere" 
im Mythos hingewiesen und erwähnt, daß auch im 
Werk der Selma Lagerlöf freundlich helfende Vögel vor- 
kommen, so vor allem der weiße Gänserich aus dem 
Vaterhaus, der den Däumling trägt, und der Paradies- 
vogel, dem — obwohl er nur ein ausgestopfter ist — 
laut Kindheitserinnerung („Märbakka") die Heilung oder 
doch wesentliche Besserung der Beinlähmung zugeschrie- 
ben wird. 

In Weiterverfolgung des Themas von der Entstehung 
der „Wunderbaren Reise des kleinen Nils Holgersson 
mit den Wildgänsen" haben wir nun die Gestalt 
des Däumlings, des zwerghaften Helden selbst ins 
Auge zu fassen. Die Kindergeschichte hätte ja auch 
ein Mädchen als Heldin aufweisen können; warum 
ist es ein Knabe? Und was bedeutet diese Zwerggestalt? 
Zweifellos ist es der einstige Wunsch der ehrgeizigen 
kleinen Selma, ein Knabe wie die beiden älteren Brüder 
zu sein, der hier zum Ausdruck kommt. Dem Penis- 
neid des kleinen gelähmten Mädchens mag manches 
in seiner seelischen Entwicklung zuzuschreiben sein, 
was nur eine Gesamtanalyse beweisen kann. Eines kön- 
nen wir wohl hier vermuten: daß sie den Neid in sein 
fruchtbares Gegenteil verwandelt hat, indem sie zu 
einer Überbelonung ihrer magischen Fähigkeiten Anlaß 
nahm und so zur Fähigkeit Zuflucht nahm, wenigstens 
in der Phantasie zu zaubern, d. h. Dichtungen zu erfin- 
den. Schon als kleines, durch die Lähmung gekränktes 
Mädchen schickt sich Selma an, Dichterin zu werden. 
Auch über diesen Ich-Mechanismus, den Neid in sein 
Gegenteil zu verwandeln, indem das Kind seine magi- 
schen Fähigkeiten auszubilden sucht, finden wir Bei- 
spiele in „Das Ich und die Abwehrmechanismen". 

Die Märchenfigur des Däumlings und mancher Zwerge 
ist bereits analytisch behandelt worden, und es besteht 
kein Zweifel, daß sie mit dem Kastrationsthema im 



60 



engen Zusammenhang steht. Die phänische Deutung der 
Zwerge, die Auffassung, sie seien Gestalten, aus einer 
Überkompensierung der Kastrationsangst entstanden 
(Ferenczi), in denen der Phallus gleichsam als selb- 
ständiges Wesen weiterlebt — ist uns vertraut. In der 
griechischen Sage findet sich sogar einmal als ein 
Hauptzug ein Kampf von Pygmäen mit — Kranichen. 

Wir gehen sicherlich den richtigen Weg, wenn wir 
annehmen, der Däumling habe symbolisch auch phal- 
lische Bedeutung; dafür spricht überdies das — durch 
Zauber — plötzlich Kleinwerden und am Ende der Ver- 
zauberung plötzlich Großwerden. Aber auch bei Mädchen 
ist die unbewußte Identifizierung mit einem Penis keine 
Seltenheit. In einer gehaltreichen Arbeit erbrachte Fe- 
nichel zahlreiche Beispiele dafür. Die Vaterleibsphan- 
tasie, mit der diese Identifizierung cinhergeht, ergibt 
Details, welche sehr an das Verhältnis des kleinen Nils 
zu dem gütigen Gänserich erinnern, der ihn von Hause 
mit in die Höhe nimmt und unter dessen Federkleid er 
geschützt zu hegen kommt. Fenichel berichtet über 
eine neurotische Patientin mit der Phantasie, sie schütze 
als kleine Begleiterin den Vater so, daß er ohne diesen 
Schutz ohnmächtig wäre. Auch unser Däumling wird 
wiederholt zum Retter seines Gänserichs, „den er so lieb 
hatte, wie sich selbst", der also den Vater repräsentiert, 
wie die Anführerin der Gänse die Mutter. Wir verstehen 
am besten die Erfindung des allein vom Schicksal 
auserlesenen, allen anderen Kindern so überlegen wer- 
denden, weilgereisten, welterfahrenen Däumlingwesens, 
wenn wir diese Gestalt, aus Regression auf eine zahl- 
reiche schwere Kränkungen enthaltende Kindheit ent- 
springend, als eine Phantasiegestalt auffassen, 
welche alle diese Kränkungen überkom- 
pensiert und in sich männlichen und weiblichen 
Narzißmus verdichtet. 

Die Erörterung der Entstehung der „Wunderbaren 
Reise . . ." zeigt breite offene Bruchflächen, die eine aus- 

61 



führ liehe Analyse von Persönlich keil und Werk Selma 
Lagerlöfs schließen soll. 

Hier sei noch einmal zusammengefaßt, wie eigenartig 
die Szene der Inspiration, die von der Dichterin in 
den Lauf der Begebenheiten ihrer originellen Kinder- 
geschichte cingeflochten ist, die unbewußte Kon- 
zeption der Hauptzüge des Ruches beleuchtet. 

Selma Lagerlöf fuhr talsächlich im Bedürfnis nach 
Anregung damals nach dem Heimathof in Värmland. 
Ihre Darstellung bringt den Däumling von der Eule be- 
droht, den sie rettet. Gleichzeitig erscheint der Tauben- 
schwarm, wie als Gruß vom Vater. Der Däumling 
erzählt seine Flug-Abenteuer mit den freundlichen Wild- 
gänsen und die Dichterin beschließt beglückt, diese seine 
Abenteuer zum Inhalt des Kinderbuches zu machen. Die 
psychoanalytische Deutung ergibt die Erkenntnis, daß 
die alte Kinderangst vor den die Augen bedrohenden 
bösen Vögeln hier eingetauscht ist gegen das gute Ver- 
hältnis eines Däumlings zu freundschaftlichen wilden 
Vögeln und daß in symbolischer Verhüllung hier die 
Personen der Eltern und die Komplexe der eigenen 
Kindheit der Dichterin aufscheinen, also eine unbe- 
wußte Regression ihr zur Eingebung verholfen hat. 

Es konnten Mechanismen des Ichs aufgezeigt werden, 
welche der Entwicklung der Dichterin Richtung gaben, 
ihr die frühe Angst zu verleugnen gestatteten, dem krüp- 
pelhaften Kinde ermöglichten, im magischen Phanta- 
sieren des Dichtens seine Minderwertigkeitsgefühle und 
seinen Neid zu überwinden. 

Ein großes Talent und ein starkes Ich überwanden 
die Schwierigkeiten der Kindheit, trösteten über Ehe- 
und Kinderlosigkeit; so ist der kleine Nils, außer der 
Dichterin selbst als Kind, auch — ein phantasierter 
Sohn. Im dunklen Bewußtsein ihrer frühen inneren 

Kämpfe sagt Selma Lagerlöf bedeutungsvoll von sich, 
62 



sie werde immer tief gerührt, wenn sie „von solchen 
hört, die es schwer gehabt haben, denen es aber später 
gut gegangen ist". 

Literatur: 

O. Fenichel: Die symbolische Gleichung: Mäd- 
chen - Phallus. Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XXII, 1936. - 
S. Ferenczi: Gulliver-Phantasien. Int. Ztschr. f. Psa., 
Bd. XIII, 1927. — Anna Freud: Das Ich und die Ab- 
wehrmechanismen. Int. Psa. Verl., Wien 1936. — Sigm. 
Freud: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben. 
Ges. Sehr., VII. Bd. — Sigm. Freud: Märcnenstoffe in 
Träumen. Ges. Sehr., III. Bd. — Selma Lagerlöf: 
Gesammelle Werke. Albert Langen, München. — G. R 6- 
heim: Zur Deutung der Zwergsagen. Int. Ztschr. f. Psa., 
Bd. XVI, 1930. 



63 



„Utopien" 

Von Edward Glover, London 

Mit Genehmigung des Verlages George 
Allen & U n w i n Lfd., London, bringen 
wir hier einen fragmentarischen Abschnitt aus 
dem Buche von Dr. Edward Glover: „The 
dangers o f b ei ng hu ma n" (London 
1936) zum Abdruck. Das Buch ist aus Radio- 
vorträgen vervorgegangen, die Dr. Glover im 
Jahre 1935 am Londoner Sender hielt, und 
stellt psychoanalytische Erwägungen zum Ge- 
meinschaftsleben der Menschen im großen Zu- 
sammenhang dar. Der vorliegende Abschnitt 
ist dem VII. Kapitel des Buches entnommen, 
dem eine Einleitung eines Würdenträgers der 
englischen Hochkirche, des Reverend Doktor 
W. R. Inge, vorangeschickt ist. Deutsche 
Übertragung von Walter Eck. 

Im Laufe unserer Überlegungen mußte ich Ihre Nach- 
sicht auf eine starke Probe stellen. Ich bin mir wohl 
bewußt, daß die Anschauungen, die ich Ihnen vorlegte, 
vielen von Ihnen weit hergeholt scheinen mußten. Ich 
habe behauptet, daß der Mensch als Individuum ein 
zum großen Teil „irrationales" Geschöpf ist, dessen Den- 
ken von Mechanismen gelenkt wird, die weitgehend dem 
Schutz vor eingebildeter Angst dienen; weiters habe ich 
die Meinung vertreten, daß Gruppen von Kulturmen- 
schen sich von Gruppen Primitiver nicht weitgehend 
unterscheiden und daß die Reaktionen, die innerhalb 
solcher Gruppen ausgelöst werden, im wesentlichen als 
Antwort auf unbewußte Angst zu verstehen sind. Dar- 
nach wären Verbrechen und Krieg durch unbewußte 
Angst ausgelöst. Ich weiß sehr wohl, daß von allen 
Überlegungen, die ich mir erlaubte Ihnen vorzutragen, 
gerade die, die sich auf unbewußte Befürchtungen, auf 
AllgSt Ulld Schuld bezichen, Ihrem besonderen Skepti- 
zismus begegnen mußten. 

64 



Sie sind bereit, zuzugeben, daß Sie manchmal bewußt 
ängstlich sind. Aber daß es Befürchtungen in Ihrem 
Seelenleben geben könne, von denen Sie nichts wissen, 
muß Ihnen völlig unwahrscheinlich vorkommen. Ein- 
zelne unglückliche Menschen, die unter sogenannter 
„Angstbereitschaft" leiden und die beim geringsten An- 
laß in panische Angst geraten, mögen vielleicht bereit 
sein, an die Existenz unbewußter Angst zu glauben. Aber 
den meisten kann das als Beweis nicht genügen. In 
der Tat ist es so, daß, wenn unbewußte Angstvorstellun- 
gen im Bewußtsein auftreten, sie nicht notwendig in 
der direkten Form von Angst erlebt werden müssen. So 
ist etwa das sogenannte gierige Kind nicht wirklich 
gierig; es hat unbewußt Angst. Der minderwertige 
Mensch ist nicht wirklich minderwertig; er leidet an 
unbewußtem Schuldgefühl. Der psychisch Kranke leidet, 
obwohl er auch für sein bewußtes Erleben krank genug 
ist, im Durchschnitt in hohem Maß an unbewußter Angst 
und Schuldgefühl. Aber ich kann nicht hoffen, diesen 
Sachverhalt im Laufe meiner Darlegungen für Sie über- 
zeugender zu machen; ich kann Sie nur daran mahnen, 
daß Unsichtbarkeit kein Beweis für Nichtvorhandensein 
ist. Die Existenz von Kräften, die wir nicht wahrneh- 
men können, wie die der Elektrizität, kann nur durch 
die Wirkung, die sie hervorrufen, augenscheinlich ge- 
macht werden. 

Aber obgleich ich die Meinung vertrat, daß die meisten 
unserer irrationalen Ängste und Verhaltensweisen der 
Arbeitsweise unbewußter, primitiver Mechanismen ent- 
stammen, habe ich Wert darauf gelegt, hinzuzufügen, 
daß wir ihrer doch nicht entraten könnten. Denn die 
meisten unserer kulturellen Leistungen hängen von eben 
diesen Mechanismen ab. 

Das alles sei, so können Sie nun sagen, ganz recht, 
vielleicht sogar wahr, aber wenn es auch wahr ist, was 
sollen wir damit anfangen? Sie erinnern sich gewiß, daß 
ich selbst darauf hingewiesen habe, daß wir tatsächlich 

5 Almanach 1937 n 

65 



nur sehr wenig für den erwachsenen Menschen leisten 
können, außer etwa, daß man ihm seine Lage nach 
Möglichkeil erleichtere. Aber ich habe auch gesagt, daß 
wir, wenn wir unsere Kinder menschlicher behan- 
delten, mit der Zeit eine Generation heranbilden wür- 
den, die imstande wäre, verhältnismäßig leicht die Pro- 
bleme zu lösen, die vorläufig der Erfindungsgabe der 
Menschen zu spotten scheinen. Ich glaube keinen Augen- 
blick, daß diese weitmaschigen Allgemeinheiten Sie be- 
friedigen werden, Sie werden mich ohne Zweifel ver- 
dächtigen, ich wollte Sie mit frommen Hoffnungen ab- 
speisen. Ja, Sie mögen mich sogar beschuldigen, daß ich 
das lästigste aller Lebewesen sei, ein Utopien-Krämer, der 
für den Mangel praktischer Ideen dadurch zu entschul- 
digen suche, daß er windige Spekulationen über die 
Zukunft anstelle. 

Utopien über kommende Geschlechter 

Nach herkömmlicher Definition ist eine Utopie eine 
eingebildete Welt, die sich in jeder organisatorischen 
Hinsicht der Vollkommenheit erfreut. Man darf noch 
hinzufügen, daß jede Generation ihre eigentümliche Uto- 
pie hervorbringt. Es ist klar, daß unsere Maßstäbe von 
Zeit zu Zeit wechseln. Einige von Ihnen mögen sich 
noch an Utopien aus dem victorianischen Zeitalter 
erinnern, in denen die Wasser der Themse wohlriechend 
und klar waren, oder in denen sonderbar milde Sterb- 
liche, in auffallende, hygienischen Forderungen entspre- 
chende Gewänder gehüllt, in würdevollem Tone freund- 
liche Gespräche führten; oder aber sie tanzten in sach- 
kundigster Vollendung Negertänze. Gewiß, die Utopien 
unseres Jahrhunderts sind aus ernsterem Stoff. Wissen- 
schaftliche Phantasien wurden aufgezäumt, um eine 
mehr und mehr komplizierte materielle Welt zu be- 
schreiben. 

Aber wie immer diese Organisationsstufe erreicht wer- 
den soll, — ob durch die Mühe heroischer Flieger oder 

66 



dadurch, daß die einfachen Sterblichen ein Fegefeuer 
von Katastrophen durchwandern, — wir stoßen am Ende 
auf denselben Gedanken: die Menschheil soll einen 
Zustand relativer — wenn schon nicht absoluter — 
Glückseligkeit erreichen. 

Ich nieine, es ist gut, sich mit den Ansprüchen be- 
kanntzumachen, die dieses Interesse am goldenen Zeit- 
alter auslösen. Das geschieht am besten, wenn wir einige 
Utopien beschreiben, die von ihren Verfassern noch 
nicht zur Drucklegung vorgelegt wurden. Diejenigen 
unter ihnen, die die Gelegenheit haben, ein neugeborenes 
Kind im Schlaf zu beobachten, können manchmal be- 
merken, daß, wenn es durch einen Lichtstrahl gestört 
wird, sein Gesicht sich in Runzeln legt, daß aber nach 
wenigen Sekunden der Mund wohlige Saugbewegungen 
zu machen beginnt, und daß dann das Baby mit 
einem Seufzer in tiefen Schlaf zurücksinkt. Das ist die 
erste ungeschriebene Utopie des Menschen. Die Psycho- 
analytiker glauben, daß das Kind nicht nur einen 
schmerzlichen Reiz durch die Wiederholung lustvoller 
Bewegungen verarbeitet, sondern daß es in seinem ein- 
fachen seelischen Apparat die lustvolle Erinnerung an 
den Saugakt wiederfindet. Der Beobachter weiß natür- 
lich, daß ein wirklicher Saugakt in diesem Augenblick 
nicht stattfindet. Der ganze Vorgang ist eine Halluzi- 
nation — aber solange das Kind nicht zu hungrig ist, 
genügt das. Mit anderen Worten: die Utopie des Säug- 
lings ist eine Welt aus Milch und Pfefferminzwasser, in 
der Qualen von Hunger und von Koliken, kaum gefühlt, 
schon gestillt sind. 

Ich muß Sie nicht daran erinnern, daß eine analoge 
Traumaktivität in veränderter Form in den Märchen be- 
obachtet werden kann, wie sie die Kinder aller Jahr- 
hunderte erzählen, in denen der Held ewig glücklich 
weiterlebt, oder in den Tausenden von Mythen, mit 
denen Menschen aller Zeitalter versucht haben, die Bit- 
ternisse des Lebens zu mildern. Interessanter noch als 

5 * r 

6 7 



diese wohlbekannten Erzeugnisse der menschlichen Er- 
findungsgabe sind uns die Weltsysteme und Lebens- 
philosophien, die manche Geisteskranke entwickelt ha- 
ben. Unglückliche Sterbliche, die offenkundig jede Be- 
ziehung zu wirklichen Vorgängen verloren haben, sind 
fähig, bemerkenswerte, obgleich häufig groteske Pläne 
einer Weltorganisation zu entwerfen, die etwa durch auf 
den Deckel eines Marmelade lopfes geritzte Diagramme 
illustriert sein mögen. Der wesentliche Unterschied zwi- 
schen diesen Entwürfen und den Schriften eines H. G. 
W e 1 1 s ist einfach der, daß Wells weiß, daß seine Ideen 
Phantasiegebilde sind, während der Geisteskranke die 
seinen für ausführbar hält. Wir fügen hinzu: Der ge- 
sunde Utopist will die Welt umgestalten für andere 
und für sich selbst, — die neue Welt des geisteskran- 
ken Utopisten gibt es nur für ihn allein. 

Unser steinzeitliches Denken 

Während die Utopien der Geisteskranken so gut wie 
ausschließlich das enthalten, was nach dem Wunsche 
ihres Schöpfers entstehen soll, paßt der gesunde Uto- 
pist die Wünsche an das an, was seiner Meinung nach 
möglicherweise geschehen kann. Aber der dritte Schritt 
wird beim Aufbau der Utopie zur Notwendigkeit: man 
muß feststellen, was unvermeidlich geschehen wird. Es 
mag Ihnen schon aufgefallen sein, daß, während die 
Welt, die in einer modernen Utopie geschildert wird, 
voll ist von seltsamen Bauwerken, wunderbaren Erfin- 
dungen und jeder denkbaren Art geheimer Strahlen, 
doch die Menschen, die in dieser Welt leben, nicht 
sehr verschieden von uns selbst sind. Man teilt ihnen 
eine stattliche Zahl eindrucksvoller Eigenschaften zu, 
aber ihre Gespräche sind nicht sonderlich ausgezeichnet, 
und ihr Gefühlsleben ist beinahe langweilig. Mit anderen 
Worten, der Autor kann sich Verbesserungen der phy- 
sischen Fähigkeiten des Menschen ausdenken, aber er 
ist unfähig, sich irgendwelche Verbesserungen seiner 

68 






geistigen Fähigkeiten vorzustellen. Letztlich sind auch 
die höchst künstlichen Arten utopischer Fortbewegung 
bloß Vergrößerungen der Bewegungen, die wir mit un- 
seren Beinen ausführen. Wenn wir uns alle leisten 
können, mit einer Geschwindigkeit von vierhundert Mei- 
len in der Stunde in der Stratosphäre zu reisen, wür- 
den wir sicherüch das Kindermärchen von den Sieben- 
meilensliefeln verwirklichen, aber, an unserem Bestim- 
mungsort mit so bemerkenswerter Schnelligkeit ange- 
kommen, sind wir doch wieder auf unsere eigenen 
psychischen Hilfsquellen angewiesen und die unterschei- 
den sich wenig von denen, die der Mensch der Stein- 
zeit besaß. Wir können uns neue Augen erfinden, aber 
wenn unsere Fähigkeit zum Fernsehen das Universum 
umfaßt, bleibt unser Blick doch zuletzt auf dem Ant- 
litz unseres Nachbarn haften, ein wenig erheiternder 
Anblick, gegen den sich unsere Großväter verteidigten, 
indem sie Hecken um ihre Häuser pflanzten. Statt daß 
uns Ohren wachsen, so groß wie dem Elephanten, 
haben wir Radioempfänger erfunden, aber die Töne, die 
wir hören werden, wie Sie ohne Zweifel einsehen, von 
gewöhnlichen Sterblichen in schwerer Arbeit hervorge- 
bracht. Wie immer wir die künstlichen Instrumente 
des Menschen entwickeln mögen, der Geist des Men- 
schen bleibt immer derselbe. Wenn der Geist irrational 
ist wird er auch die neuen Instrumente in irratio- 
nalem Sinn anwenden. Wenn der moderne Mensch 
Krieg führt, rächt er sich zwar, indem er all die erhöh- 
ten Machtmittel benützt, die die Wissenschaft für ihn 
erfunden hat. Aber das Wesentliche ist: er zieht doch 

weiter in den Krieg. 

Der erste Schluß, den der Psychoanalytiker über das 
Leben in einem Jahrtausend zu ziehen geneigt ist, be- 
sagt, daß es in den meisten wesentlichen Fragen genau 
so sein wird, wie das Leben, das wir jetzt führen. Wenn 
wir nichts tun können, um einen circulus vitiosus 
irrationaler Befürchtungen zu durchbrechen, haben wir 

69 



keinerlei Anlaß, anzunehmen, daß wir uns sehr ver- 
ändern werden. Kein Zweifel, in äußeren Dingen wird 
das Leben von dem unseren verschieden erscheinen 
ebenso wie unser Leben verschieden zu sein scheint 
von dem unserer Vorzeil. Wir mögen imstande sein, 
besser für die Lebensbedürfnisse der Menschen zu sor- 
gen, aber an der Beziehung von Mensch zu Mensch ge- 
messen - und das isl letztlich doch ein grundlegender 
Maßslab — wird es keinen Unterschied geben. Es hat 
durchaus den Anschein, daß der erste spontane Ent- 
wicklungsschub der menschlichen Kultur schon abge- 
laufen ist. Wir fahren fori, Veränderungen hervorzu- 
bringen, aber wir sind an dem Punkte angelangt, an dem 
ein Ding, je mehr es sich verändert, desto unveränder- 
ter bleibt, und unsere Kultur wird fortfahren, sich 
im Kreise zu bewegen, bis sich ein neuer Anstoß aus- 
bildet. 



7° 



Vom Wesen des jüdischen Witzes 

Von Theodor Reik, Haag 

Aus einer in Vorbereitung befindlichen 
Sammlung „Der ferne Klang' 1 . 

Dr. M. Eitingon zugeeignet 

Es sind mehr als fünfzehn Jahre her, daß ich in Ber- 
lin bei Reinhardt ein Schauspiel „Die Juden" von 
einem mir unbekannten russischen Autor Eugen T s c h i- 
rikow sah. Es schildert das Leben der Bevölkerung 
des jüdischen Ansiedlungsrayons in Nordrußland um 
die Wende dieses Jahrhunderts. Der Handlungsumriß 
steht nur mehr undeutlich vor mir. Die Personen haben 
in der Erinnerung wenig Persönliches. Die drei Akte 
spielen in der Wohnung des Uhrmachers Leiser Frän- 
kel. Der Alte wird bald allein stehen: sein Sohn hat 
sich den revolutionären Sozialisten angeschlossen, die 
Tochter hat sich einem christlichen Studenten gegeben. 
Der Kampf zwischen den Generationen wird hier umso 
erbitteter geführt, als der Familiensinn dieser Men- 
schen tiefer, inniger, zäher ist als sonstwo. 

Von der Erinnerung wird der Augenblick festgehalten, 
da die Nachricht kommt, im Nachbarstädtchen seien 
Judenpogrome ausgebrochen. Verschwommene Ein- 
drücke: wie der Lärm stärker wird, das Geschrei einer 
fanatisierten und verhetzten Menge zum Brüllen an- 
schwillt, wie sich die Angst der verzweifelnden Men- 
schen im Uhrmacherladen steigert, bis der Pöbel wie 
eine Sturmflut einbricht, alles zerstörend und mordend, 
die sterbende Tochter vergewaltigt, die Männer nieder- 
schlägt, und wie zuletzt, da alles vernichtet ist, die 
Kosaken anreiten und den Mob zerstreuen. 

Der Eindruck dieser dramatischen Szenen war stark. 
Er war nicht im gleichen Maße nachhaltig. Der Erin- 
nerung erscheinen auch die Gestalten nur mehr als 

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dramatis personae, kaum als lebendige Menschen. Es 
sind Typen: die sanfte, doeh willensstarke Tochter, 
die den Vater liebt und sich doch von ihm lösen muß,' 
der Sohn, der wegen seiner revolutionären Gesinnung 
von der Universität relegiert wurde, ein religiös ge- 
bundener Arzt von liberaler Einstellung, ein schmäch- 
tiger und kranker Lehrer, der den Zionismus so exal- 
tiert verficht wie der Sohn und sein Freund das sozi- 
alistische Programm. Ebenso schattenhaft wie die Per- 
sonen erscheinen die Argumente und Debatten, mit 
denen sie die drei Akte füllen. Das könnte nicht sein, 
wenn das Drama mehr und anderes wäre als ein hand- 
festes, auf grobe Effekte berechnetes Theaterstück. Es 
ist mit seiner faustdick aufgetragenen Tendenz und sei- 
nen den Ereignissen des Tages entsprechenden starken 
Wirkungen ein spoltschlechles Werk, das nicht unge- 
schickte dramatische Steigerungen zeigt. 

Warum bringt die Erinnerung jetzt, da ich über ein 
bestimmtes Thema schreiben will, die Vorstellung die- 
ses Tendenz- und Milieukitsches wieder herauf? Was 
bleibt außer dem HandJungsumriß von diesem grob- 
schlächtigen Theaterstück, das die Daseinsprobleme des 
östlichen Judentums zwar nicht gestaltet, doch disku- 
tiert? Was taucht aus dem Dunkel auf, welche Worte 
klingen nach, wenn man sich jetzt, fünfzehn Jahre 
später, an die Aufführung erinnert ? Es sind zwei Szenen. 
Nein, es sind einige Sätze in diesen Szenen, ein paar 
Worte und die Pausen im Gespräch — nicht mehr. 
Die aber sind nicht wie das übrige von einem Routinier 
gemacht, die sind erlebt. 

In der einen Szene unterhält sich der Bruder jenes 
Uhrmachers, Aaron Fränkel, der aus dem Nachbarslädt- 
chen zu Besuch gekommen ist, mit seiner Nichte. Das 
Mädchen erzählt ihm, daß sie und ihr Bruder wegen der 
Unruhen von der Universität relegiert wurden. „Eijeijei", 
ruft Aaron bedauernd, „du warst doch so ein stilles 
Mädelchc." Und als die schöne Nichte versichert, daß 



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sie auch jetzt noch still sei, setzt er hinzu: „Du solltest 
lieber heiraten. Dann wirst du Kinder haben und deine 
eigenen Rebellen." Im weiteren Gespräch klagt dieser 
liebe Onkel, der so lebenserfahren und anmutig scher- 
zen kann, über die zunehmende Schwäche in Rücken 
und Beinen; er werde bald sterben. Das Leben ist 
schlimm, das Sterben jetzt noch schlimmer. Zur Illu- 
stration erzählt er, was sich in seinem Ansiedlungs- 
rayon ereignet hat. Jede Stadt und jedes Städtchen 
dieses Ansiedlungsrayons hat wieder extra einen An- 
siedlungsrayon, wo allein die Juden leben dürfen. Zu- 
sammengepfercht vegetieren sie in diesem engen, zwei- 
fach eingezäunten Bezirk. Sie sind zwar sehr arm, 
„aber Gott sei Dank, sie haben sehr viel Kinder". Ihr 
Viertel wurde so zu eng und ihr Friedhof ist in die Stadt 
hineingewachsen. Sie beabsichtigen, einen Platz dafür 
außerhalb der Stadt zu kaufen, aber die Behörden ha- 
ben ihre Genehmigung dazu nicht erteilt, weil dieser 
Platz über den Ansiedlungsrayon hinausging. Die Obrig- 
keit hat das Gesetz so ausgelegt, daß ein toter Jude 
auch zur Bevölkerung gerechnet wird. Nach vielen Be- 
mühungen der Juden hat sich endlich das Ministerium 
dazu herbeigelassen, ihnen die Genehmigung zu ertei- 
len, den Platz zu kaufen und dort ihre Toten zu begra- 
ben. Da ergab sich aber ein neues Hindernis: beim 
Friedhof mußte ein Wächter sein. Der Wächter ist aber 
ein Jude und darf als solcher außerhalb des Ansiedlungs- 
rayons nicht leben. Ein Zuhörer des Berichtes wirft 
dazwischen: „Es bleibt Ihnen nur ein Ausweg: neh- 
men Sie sich einen Toten zum Wächter." Die Situation 
hat aber noch andere Schwierigkeiten: während der 
Isprawnik nicht erlaubt, auf dem neuen Friedhof einen 
Wächter anzustellen, gestattetes die Sanitätsbehörde nicht 
mehr, die Toten auf dem alten zu begraben. (In einer 
Fußnote bezeugt der Autor, daß es sich um eine wahre 
Begebenheit handelt.) Noch glaube ich, den Jargon- 
tonfall des nächsten Satzes zu hören: „Die Juden ha- 

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ben aber nicht warten können und aner von ihnen war 
so frei und is> gestorben." Und da ein paar Augenblicke 
Schweigen im Zimmer ist, fragt der alte Aaron Fränkel 
im selben, nüchternen Tonfall die Nichte: „Hast du nix 
Lust, dem Onkel Tee und was zum Essen zu geben?" 

Die andere Szene steht am Schluß des ersten Aktes 
der wie die übrigen im Uhrmacherladen spielt, einem 
niedrigen Zimmer im Kellergeschoß. Die Wände sind 
mit großen und kleinen Uhren dicht behängt. Ununter- 
brochen schlagen die Perpendikel tick-tack. In diesem 
großen Raum wird heftig debattiert: der Sohn des Hau- 
ses und sein christlicher Freund vertreten ebenso hitzi« 
die Lehre von Marx, von der sie auch die LösunS 
der Judenfrage erwarten, wie der kleine nervenkranke 
Lehrer das zionistische Programm. Alle verfügbaren 
Argumente, kluge und törichte, werden ins Feld geführt 
und der Streit wird immer leidenschaftlicher. Er führt 
von Anspielungen und Angriffen, von feiner Ironie zu 
grober Aggression, vom Lachen bis zum nervösen 
Schluchzen des fanatischen Lehrers. Da beginnen plötz- 
lich die vielen Uhren im Laden, eine nach der andern 
zwölf zu schlagen. In das Schweigen, das folgt, klingt 
die ruhige Stimme des alten Uhrmachers, Reb Leiser 
der mit dem langen weißen Bart und den buschigen 
Brauen wie ein Patriarch aussieht: „Zehn Jahr möcht' 
ich schon, daß alle Uhren bei mir auf einmal schlagen 
Und es war doch nie möglich. Sie sein' wie die Men- 
schen. Sie können nie einig werden." 



Die menschliche und künstlerische Bedeutungslos! a« 
keit des Tendenzdramas „Die Juden" verhinderte es 
daß ein nachhaltiger Eindruck zustandekam. Was hier 
gezeigt wurde, hatte man in Wort und Bild oft gesehen. 
Was hier gesagt wurde, hatte man schon oft sagen 
hören. Dennoch: wie ist es zu erklären, daß die Dar- 

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Stellung vom Untergang der Menschen, die mir durch 
Blut und Schicksal verbunden sind, nicht tiefer ge- 
wirkt hat? Wo ist die über den Augenblick hinausgrei- 
fendc seelische Reaktion dieser Szenenfolge, das, was 
die Erregung der Aufführung überdauert? Ich glaube, 
es sagen zu können: im Festhalten dieser wenigen 
Sätze, in der Erinnerung an diese Scherzworte. Der 
Affekt wurde unbewußt auf sie verschoben. Was an 
Empörung und Trauer, an Angst und Mitleiden wäh- 
rend der Vorführung dieser Szenen aus dem Leben der 
Beleidigten und Erniedrigten wachgeworden war, hatte 
sich in der Erinnerung nicht mit der Handlung des 
Dramas verknüpft. Es hatte sich von ihr losgelöst, als 
wäre nicht sie das Wesentliche, und hatte sich an 
diese drei Sätze gehängt, wie wenn sie alle seelische 
Bedeutung des Dargestellten in sich beherbergten. Das 
Tua res agitur" war hier nicht mit dem tragischen 
Erleben verbunden worden, sondern mit dessen Reflex 
in einem Spaß. Im Lächeln über diesen Scherz schwingt 
alles Miterleben und steckt alle Trauer. Die Erinnerimg 
hat diese vorübergleitenden Worte, festgehalten statt der 
großen tragischen Ereignisse. In diesen Nebensächlich- 
keiten ist aber verborgen, was an Menschlichem in 
dem Schauspiel von Tschirikow enthalten ist. Die 
im Unbewußten spielende Verschiebung des Affektes 
ist nicht willkürlich und nicht zufällig. Sie bedeutet eine 
Veränderung seines Platzes, keine Verminderung seiner 
Intensität. Unmittelbarer als in ihren Klagen und An- 
klagen sprechen diese Gestalten in ihren Scherzen zu 
mir. Sie erscheinen sonst wie Puppen, die von einer 
übermächtigen Hand hin- und hergestoßen und nieder- 
geschlagen werden. Wenn sie aber scherzen, verwandeln 
sich die Figurinen in Menschen. Jahweh hat es dem 
Juden unserer Zeit verwehrt, sich in Klagen auszu- 
sprechen, die ihm die Umwelt gewinnen könnten. Indem 
er ihn aber witzig sein ließ, gab ihm sein Gott, zu sagen, 
was er leide. 

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Die unbewußte Affektverschiebung in mir folgt einer 
alten Spur: dem Psychologen zeigt der jüdische Witz 
in seiner Entstehungsgeschichte denselben Vorgang der 
Affektverschiebung. Sie liefert die Erklärung einer Eigen- 
tümlichkeit dieses Witzes, die meist unbemerkt bleibt, 
aber umso bemerkenswerter ist. Man lacht wohl 
über ihn, doch er ist zumeist nicht heiter. 
In seinen besten Repräsentanten dämmert hinter der 
komischen Fassade nicht etwa wie bei anderen Witzen 
nur das Ernsthafte, sondern das Erschütternde. 

Es ist kein Zufall, daß mir jetzt, da ich viele Ein- 
drücke über das Wesen des jüdischen Witzes in einer 
Darstellung zusammenfassen will, keine der zahllosen 
Anekdoten („Zwei Juden begegnen einander...") einfällt, 
daß Bilder schrecklicher Pogromszenen aus einem ver- 
schollenen Schauspiel vorüberhuschen und einige Sätze 
daraus wieder zu klingen beginnen. Sie geben weniger 
eine Vorstellung vom Wesen des jüdischen Witzes als 
von seiner Urspnmgssituation, von den Besonderheiten 
seiner seelischen Entstehung. Diese witzigen Sätze, die 
sich von dem dunklen Hintergrunde eines Schicksals, 
das seinesgleichen nicht unter den Völkern hat, abheben,' 
verhelfen zu mancher anderen psychologischen Ein- 
sicht. Sie lassen erkennen, daß sich die unbewußte 
Affektverschiebung, die im Schöpfer des jüdischen Wit- 
zes stattfand, in seinem Hörer wiederholt und die 
seelische Wirkung mitbestimmt. 

Vielleicht geben diese Beispiele darüber hinaus einen 
ersten Eindruck vom Charakter dieses Witzes, wenn man 
sie nicht nach ihrem ästhetischen Wert, sondern nach 
ihrem Typenwert beurteilt. Sie können, obwohl es Bei- 
spiele sind, die sich beiläufig dargeboten haben, wichtige 
Gattungen des jüdischen Witzes vertreten. In dem Rat 
des alten Onkels, die schöne Studentin solle, statt sich 
an den Universitätsunruhen zu beteiligen, heiraten 
(„dann wirst du Kinder haben und deine eigenen Rebel- 
len"), erkennt man einen Repräsentanten der anmuti- 

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gen, dem Idyllischen zugeneigten Witze dieses Volkes. 
Es gibt — namentlich im Osten, wo die Juden eine 
kulturell und sozial ziemlich einheitliche Masse bilden, 
— eine überraschende Fülle solcher Scherze und Witze, 
die der Tag immer wieder aufs neue gebärt und die mit 
dem Tage verschwinden. Diese Art harmlos und freund- 
lich neckender Sätze gedeiht am besten in der Sphäre 
der Familie und diese Sphäre ist bei den Juden leicht 
zu erweitern. Anspielung, Scherz und Witz gehen hier, 
oft ununterscheidbar, ineinander über. Die Vertraulich- 
keit, die in ihnen herrscht, bezeugt das Vertrauen, das 
man zueinander hat. Diese Art des jüdischen Witzes 
ist oft erfüllt von praktischer Lebensweisheit imd Men- 
schenkenntnis, die sich erst enthüllen, lange nachdem 
man über den Scherz gelächelt hat. Ein witziges Sprich- 
wort wie das ostjüdische: „Wenn der Vater dem Sohn 
gibt, lachen beide; wenn der Sohn dem Vater gibt, 
weinen beide", zeigt hinter seiner Fassade eine auch 
in der Spruchweisheit der Völker nicht gewöhnliche 
Einsicht in seelische Tiefenregionen. 

Die Erzählung des Kaufmannes Aaron Fränkel von 
den Friedhofsschwierigkeiten im Ansiedlungsrayon und 
der Auffassung der Behörden, denen zufolge sich auch 
ein toter Jude nicht außerhalb des Ansiedlungsraoyns 
aufhalten dürfe, mit der Schlußpointe, daß ein armer 
Jude das Ende des Prozesses und die Entscheidung 
habe nicht abwarten können und gestorben sei, die- 
ser ganze Bericht liefert ein gutes Beispiel einer anderen 
Art des jüdischen Witzes. Jener Art, die an der Grenze 
zwischen Heiterem und Ätzend-Satirischem steht, in der 
sich das Pathos — im Sinne des griechischen Wortes 
für Leiden — überschlägt und im Lachen Ausdruck 
sucht in einer Grimasse von Hohn und Auflehnung. 
Hier spricht und verstummt Ahasver, der gejagte und 
ewige Jude, den die Not nicht nur beten, sondern 
auch Witze machen gelehrt hat. Hier macht einer 
im Konversationston einen Scherz oder eine ironische 

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Gesle, statt vor Wut und Verzweiflung aufzuschreien 
und zuzuschlagen. Aber auch diese Art des Witzes 
schlägt mit der Schärfe des Schwertes, von der Bibel 
angefangen bis zu den jüdischen Schriftstellern unserer 
Tage, eines Schwertes, das von des Hasses Kraft ge- 
führt wird. 

Wenn dann, nach der leidenschaftlich-wilden Debatte 
der greise Reb Leiser aufsteht, auf die Uhren zeigt und 
jene zwei merkwürdigen Sätze sagt, da ist es nicht mehr 
des Hasses Kraft, die spricht. Es ist die Macht der Liebe. 
Wenn der alte Uhrmacher, da die Streitenden einige 
Augenblicke schweigen, erzählt, er habe sich zehn Jahre 
lang vergeblich bemüht, seine Uhren auf einmal schla- 
gen zu lassen, sie seien wie die Menschen und könn- 
ten nie einig werden, - da spricht aus ihm nicht nur die 
Weisheit des eigenen langen Lebens, sondern auch die 
ungezählter Ahnen. Hinter dieser Gestalt im Kaftan 
tauchen Priester und Propheten auf, eine lange Reihe 
von Mannern die dem Gesetz, welches menschliche 
Schicksale bestimmt, aufmerksam gelauscht haben. Die 
. zwei einfachen Sätze, dieser Vergleich, an dem uns nur 
L^1*S aiimutet ' sie schlagen die Brücken 
STdTw« ahrlaUSeU T de zu den Brüchen der Väter 

^Lt T Tf JeSaias - Während dei * M "»d noch 
lächelt, spurt man die Erschütterung, die heraufkommt 

Von einem Scherz gelangt man hier unmittelbar in das 
Gebiet des Feierlichen, von einer banalen Taktfolge des 
Alltags in den Bereich einer ewigen Melodie. In einer 
leicht hingeworfenen Bemerkung, die wie ein Scherz 
klingt, vielleicht auch als Scherz gemeint ist, taucht 
letzte Menschensehnsucht und -Schwermut auf. Es ist 
in dieser Art von Judenwilz etwas, wovor man den 
Kopf senkt. 

Es ist derselbe Witz in der Weisheit, dieselbe Weis- 
heit im Witz, die Generation nach Generation den Nöten 
des eigenen und fremden Lebens abgerungen hat und 
die im Talmud, in den Aussprüchen seiner Kommen- 

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latoren, in den Legenden und Parabeln der Chassidim 
und in den Reden mancher Rabbis aufleuchtet. Eigent- 
lich ist es oft nur die Form, der geistreiche Vergleich, 
der solche Sentenzen zum Witz macht. Es besteht kein 
prinzipieller Unterschied zwischen witzigen Bemerkun- 
gen solcher Art, die aus dem tiefen Brunnen alter Er- 
fahrungen kommen, und den tiefen Gedanken der Wei- 
sen dieses Volkes. Wenn Rabbi Mendel Kozker, als 
Knabe gefragt: „Wo wohnt Gott?" antwortet: „Wo man 
ihn hineinläßt", so ist in einem solchen Epigramm 
derselbe Geist lebendig, der aus der Bemerkung des 
Uhrmachers Reb Leiser spricht. 

Erst jetzt, in der Rückschau auf diese einzelnen Bei- 
spiele, welche die anmutige, die bitter-ironische und die 
weltweise Gattung des jüdischen Witzes repräsentieren, 
wird mir klar, wieso es zu jener unbewußten Affekt- 
verschiebung kommen konnte. In diesen Witzen wird 
ja dasselbe, und dasselbe besser, dem feineren Ohre ver- 
nehmbarer, gesagt, was die dramatischen Vorgänge auf 
der Bühne mit ihren brutalen Effekten vergebens sagen 
wollen. Wenn dort Plünderung, Vergewaltigung und Ver- 
nichtung hereinbrechen, ein Sturmwind kommt und 
diesen armen Menschen alles nimmt, so ist die Tragik 
gewiß lärmender. Eindringlicher ist sie in den Ober- 
tönen welche diese Witze begleiten. Die Nachricht, daß 
so und soviele Menschen einem Pogrom zum Opfer 
befallen sind, empört uns, kann uns am Fortschritt 
der Kultur und der Menschheit zweifeln und verzwei- 
feln machen. Was aber in diesen Witzen gesagt wird, 
und mehr noch, was in diesen Witzen nicht gesagt, 
doch ausgedrückt wird, erschüttert uns. Wenn der Kauf- 
mann Aaron Leiser von den Schwierigkeiten toter Ju- 
den, einen Begräbnisplatz zu finden, erzählt, wird das 
Grotesk-Tragische der Verfolgung einer kleinen Men- 
schengruppe, der man kein Stückchen ErÜG lYffiV Leben 
und keines zum Totsein gönnt, deutÜcher als in der 
Darstellung von Pogromszenen voll Mord und Raub. 



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Wenn er seiner Nichte rät, Kinder zu bekommen und so 
Rebellen im eigenen Hause zu haben, um es sich zu er- 
sparen, Rebellion gegen den Staat zu machen, so wird 
in so scherzhafter Rede nicht nur die Vergänglichkeit 
und Belanglosigkeit politischer Bewegungen klarer als 
beim Zuhören der erregten Debatten des Stückes. Es 
dringt auch eine Ahnung von dem durch, worauf es 
im Leben des Einzelnen wirklich ankommt, es wird 
die Triebmelodie hörbar, die das Schicksal der auf- 
einanderfolgenden Geschlechter beherrscht. Ist es wirk- 
lich so wichtig, die Regierungsform zu wechseln, Revo- 
lution gegen dieses oder jenes Regime zu machen, 
wenn wir alle denselben kleinen Lebenskreis in Leid 
und Freud in derselben unabänderlichen Art beschreiben 
müssen ? 

Es ist dieselbe Melodie — doch ins Feierliche gewen- 
det, über das vergnügliche und vergängliche Treiben 
hinweg — die im Vergleich mit den Uhren anklingt. 
Der Hinweis auf die Kürze der Zeit, die uns hier ver- 
gönnt ist, und auf die Lächerlichkeit des Streitens 
über die kleinen Differenzen, die uns angeblich ent- 
scheidend voneinander trennen, ist hier nur noch 
schmerzhaft eindringlicher und plastischer gestaltet Jene 
Uhren, die man vergebens dazu bringen will, zu glei- 
cher Zeit zu schlagen, sind vielleicht, jede einzelne, 
von der Richtigkeit ihrer Zeitangabe überzeugt und auf 
ihre Eigenart stolz. Bald aber ist das Räderwerk einer 
jeden von ihnen abgelaufen. Bald kommt die große 
Stille. 

Der Affekt, der beim Anblick jener wüsten Szenen 
der Verfolgung einer Minderheit, ihres Leidens und 
ihres Unterganges aufgeweckt wurde, durfte sich mit 
Recht auf die wenigen Witze verschieben, denn sie 
sagen, was der Autor zu sagen hat, eindrucksvoller 
als die Bühnen Vorgänge. 

Auch in diesen Beispielen wird das Wesen des jüdi- 
schen Witzes erkennbar, jene unlösbare Verbindung 

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von Gedanklichem und Gemütvollem, die ihm so oft 
eigen ist. Auch hier fällt der schwere Schatten in den 
Wortglanz, dringt die Trauer in den Spaß. Auch hier 
spiegelt sich neben dem lustigen das tragische Antlitz 
der Welt. Für den jüdischen Witz gilt, was ein geist- 
reicher Schriftsteller von dem genialen Komiker P a 1- 
l e n b e r g sagte : daß oft das eine Antlitz in das andere 
hineinversteckt sei wie ein Vexierbild. Daß noch in den 
Leidenschaften, die der Judenwitz verbirgt und verrät, 
das verborgene Leiden mitklingt, gibt ihm seine beson- 
dere Resonanz. Seine Komik wird durch die stumme 
Miterregung jener anderen Kraft verstärkt: der tragi- 
schen. 



6 Almanach 1937 



8i 



Die Ich-Einschränkung 

Von Anna Freud, Wien 






Aus dem Buche „Das Ich und die Abwehr- 
mechanismen", das im Mai 1936 im Inter- 
nationalen Psychoanalytischen Verlag in Wien 
erschienen ist. Das Buch enthält die folgenden 
Abschnitte: A. Theorie der Abwehrmechanis- 
men; B. Beispiele für die Vermeidung von 
Realunlust und Realgefahr (Vorstufen der Ab- 
wehr); C. Zwei Beispiele für Abwehrtypen; 
D. Abwehr aus Angst vor der Triebstärke 
(dargestellt am Beispiel der Pubertät). Das im 
folgenden abgedruckte Kapitel ist dem Ab- 
schnitt B entnommen. 

Die Parallele zwischen den Methoden der Unlust- 
vermeidung nach außen und innen, die mit der Gegen- 
überstellung von Verleugnung und Verdrängung, Phan- 
tasiebildung und Reaktionsbildung begonnen hat, läßt 
sich an einem anderen, simpleren Abwehrmechanismus 
noch weiter fortsetzen. Die Methode der Leugnung mit 
darangesetzter Phantasie vom Gegenteil wird in Situ- 
ationen verwendet, in denen der peinliche Außen wells- 
eindruck unentrinnbar ist. Eine so komplizierte psy- 
chische Leistung ist gar nicht notwendig, wo das Ich 
des etwas älteren Kindes durch seine größere körper- 
liche Bewegungsfreiheit und seine größeren psychischen 
Aktionsmöglichkeiten dem Reiz entrinnen kann. Statt 
den peinlichen Eindruck wahrzunehmen und nachträg- 
lich durch Besetzungsentzug zu entwerten, steht es 
dem Ich ja frei, es gar nicht auf das Zusammentref- 
fen mit der gefährlichen äußeren Situation ankommen 
zu lassen. Das Ich kann also flüchten und „vermeidet" 
dadurch die Entstehung von Unlust im wahrsten Sinne 
des Wortes. Dieser Mechanismus der Vermeidung i s t 
ein so primitiver und selbstverständlicher, ist auch so 
untrennbar mit der normalen Ich-Bildung verknüpft, 

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daß es nicht leicht ist, ihn für die Zwecke der theoreti- 
schen Diskussion aus seinen gewöhnlichen Zusammen- 
hängen zu lösen und gesondert zu betrachten. 

Derselbe Knabe, den ich im vorigen Kapitel als 
Mützenträger eingeführt habe, gibt mir während seiner 
Analyse auch Gelegenheit, solche Entwicklungen seiner 
Unlustvermeidung zu beobachten. Er findet eines Tages 
bei mir einen kleinen Block mit magischen Blättern, 
die er sehr schätzt und liebt. Er macht sich eifrig 
daran, die einzelnen Blätter mit einem bunten Bleistift 
anzustreichen, und ist zufrieden, daß ich das gleiche tue. 
Plötzlich wirft er aber einen Blick auf meine Arbeit 
hinüber, stockt und wird verstört. Im nächsten Augen- 
blick legt er seinen Buntstift beiseite, schiebt mir den 
ganzen Vorrat zu, den er bis dahin eifersüchtig ge- 
hütet hat, steht auf und sagt: „Mach du sie nur, ich 
schau viel lieber zu." Es ist deutlich, daß ihm beim 
Herüberschauen mein Zeichenblatt schöner, fertiger oder 
vollkommener erschienen ist als seines. Der Vergleich 
wirkt offenbar auf ihn als Schock. Aber er beendet, 
schnell gefaßt, die Konkurrenz mit ihren peinlichen 
Folgen durch den Verzicht auf die eben noch lustbe- 
tonte Tätigkeit. Er begibt sich in die Rolle des Zu- 
schauers, dessen nicht vorhandene Leistung mit keiner 
fremden mehr verglichen werden kann, und verhütet 
durch diese Einschränkung die Wiederholung des un- 
lustvollen Eindrucks. 

Dieser Vorfall bleibt auch kein vereinzelter. Ein Spiel 
mit mir, in dem er nicht gewinnt, ein Abziehbild, das 
mehr Defekte zeigt als meines, irgendeine Einzelhand- 
lung, die er mir nicht gleich nachmachen kann, ge- 
nügen, um den gleichen Stimmungsumschwung bei ihm 
hervorzurufen. Er wird unlustig, inaktiv und zieht wie 
automatisch sein Interesse von der jeweiligen Beschäf- 
tigung zurück. Dafür verweilt er zwanghaft und end- 
los bei andern, bei denen er sich überlegen fühlt. Es 
ist nur selbstverständlich, daß er sich in seiner ersten 

8, 



Schulklasse auch nicht anders benehmen kann als im 
Zusammensein mit mir. Er verweigert konsequent je- 
des Mittun bei Spiel und Arbeit der andern, bei dem er 
sich nicht völlig sicher weiß. Er geht zwischen den 
Kindern herum und „schaut zu". Seine Methode zur 
Bewältigung von Unlust durch Umkehrung ins lust- 
volle Gegenteil hat sich verwandelt. Er schränkt seine 
Ich-Funktionen ein, zieht sich, sehr zum Schaden seiner 
Entwicklung, von allen äußeren Situationen zurück, die 
ihm die am meisten gefurchte le Unlust präsentieren 
könnten. Nur im Verkehr mit sehr viel jüngeren Kin- 
dern kann er sich auch weiterhin uneingeschränkt und 
interessiert benehmen. 

In modern geführten Kindergärten und in Schul- 
anstalten, in denen der Gesamtunterricht zugunsten des 
frei gewählten individuellen Lernens in den Hintergrund 
tritt, ist der Typus meines Mützenträgers gar nichts 
Seltenes. Die dort arbeitenden Erzieher berichten, daß 
zwischen den gewohnten Gruppen der Aufgeweckten, 
Interessierten und Fleißigen einerseits und den intellek- 
tuell Stumpferen, Uninteressierten und Faulen anderseits 
eine neue Zwischenschicht von Kindern entstanden ist, 
deren Zustand sich auf den ersten Blick in keine der 
bekannten Kategorien von Lernslörung einreihen läßt. 
Diese Kinder sind trotz ausgesprochener Intelligenz und 
guter Entwicklung, trotzdem sie von den Mitschülern 
als gute Kameraden geachtet werden, nicht in den 
regelrechten Spiel- oder Arbeitsbelrieb einzuordnen. 
Sie benehmen sich, als wären sie eingeschüchtert, ob- 
wohl die Schulmethoden Kritik und Tadel streng ver- 
meiden. Aber schon der bloße Vergleich ihrer Leistun- 
gen mit denen der andern genügt, um ihnen ihre Arbeit 
zu entwerten. Aus dem Mißlingen einer Aufgabe oder 
eines Materialspiels beziehen sie eine dauernde Abnei- 
gung gegen die Wiederholung des Versuchs. Sie blei- 
ben darum untätig, wollen sich an keinen Platz und 
keine Beschäftigung binden und begnügen sich damit, 

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den andern bei der Arbeit zuzuschauen. Sie wirken 
sekundär durch ihr Herumlungern auch dissozial, denn 
sie geraten in ihrer Langeweile in Konflikte mit den- 
jenigen, die in Arbeit oder Spiel vertieft sind. 

Es liegt nahe, diese Kinder wegen des Kontrastes 
zwischen ihrer guten Begabung und ihren schlechten 
Leistungen als neurotisch gehemmte zu betrachten und 
hinter ihrer Störung dieselben Vorgänge und Inhalte zu 
vermuten, die uns aus der Analyse echter Hemmungen 
bekannt sind. Beide Zustandsbilder zeigen jedenfalls die 
gleiche Beziehung zur Vergangenheit. Bei beiden spielt 
das Symptom sich nicht am Eigentlichen ab, sondern 
nur an einem aktuellen Ersatz für ein zentrales Element 
der Vergangenheit. Bei der Rechen- oder Denkhemmung 
der Schüler, der Sprechhemmung der Erwachsenen, der 
Spielhemmung des Musikers zum Beispiel ist nicht das 
gedankliche Hantieren mit Vorstellungen oder Zahlen, 
das Aussprechen der Worte, das Führen des Geigenbo- 
gens oder das Berühren der Klaviertasten die eigentlich 
vermiedene Tätigkeit. Diese an sich harmlosen Ich-Lei- 
stungen sind nur in Beziehung zu alten abgewehrten 
Sexual handlungen geraten, haben deren Vertretung auf 
sich genommen und ziehen als „sexualisierte" Tätig- 
keiten jetzt die Abwehr auf sich. Ebenso hat die aus 
den Vergleichen bezogene Unlust, gegen die die geschil- 
derten Kinder sich wehren, nur Ersatzcharakter. Die 
bessere Leistung, die die Außenwelt ihnen entgegenhält, 
bedeutet, wenigstens bei meinem Patienten, den Anblick 
des größeren Genitales, das ihn neidisch macht, der 
Wettstreit, in den sie sich einlassen sollen, die aus- 
sichtslose Konkurrenz mit dem Rivalen der ödipus- 
phase oder die unlustvolle Demonstration des Ge- 
schlechtsunlerschiedes. 

Dafür unterscheiden sich die beiden Störungen in 
einem andern Punkte. Die Arbeitsfähigkeit der beschrie- 
benen Zuschauer läßt sich durch einen Wechsel in den 
Arbeitsbedingungen wieder herstellen. Die echten Hern- 

85 



mutigen sind konsequent und bleiben von Veränderungen 
in der Umwelt eher unbeeinflußt. Ein kleines Mädchen 
einer solchen Kindergruppe zum Beispiel ist durch 
äußere Umstände genötigt, der ersten Schul klasse, in 
der sie „zuschaut", für eine Weile fernzubleiben. Sie 
wird allein unterrichtet und bewältigt plötzlich spie- 
lend den Lehrstoff, zu dem sie im Beisein der andern 
Kinder keinen Zugang finden konnte. Derselbe Um- 
schwung zeigt sich auch bei einer andern Siebenjähri- 
gen. Sie erhält Nachhilfeunterricht, um den schlechten 
Schulfortgang auszugleichen. Sie benimmt sich in die- 
sen Einzelstunden normal und ungehemmt, ohne daß 
diese gute Leistung aber in den parallel danebenlau- 
fenden Schulunterricht zu übertragen wäre. Die beiden 
Schulmädchcn können also lernen, wenn ihre Leistungen 
nur nicht den Vergleich mit denen der Kolleginnen 
aushallen müssen; mein kleiner Patient kann sich be- 
schäftigen, wenn kleinere und nicht größere Kinder 
seine Spielgefährten sind. Für den äußeren Anschein 
benehmen diese Kinder sich, als wäre die Handlung 
selbst von innen und außen durch Verbote unterbun- 
den. In Wirklichkeil verbietet sie sich von selbst, 
wenn sie zu einem unlustvollen Eindruck führt. Die 
Lage dieser Kinder ist also dieselbe wie die uns aus 
dem Studium der Weiblichkeit >) bekannte innere Situ- 
ation des kleinen Mädchens an einem entscheidenden 
Eni wicklungspunkt. Abgesehen von Strafe und Gewis- 
sensangst verzichtet das Mädchen zu einer bestimmten 
Zeit auf seine Klilorismasturbation und schränkt damit 
die männlichen Bestrebungen ein. Sic fühlt sich durch 
den Vergleich mit dem zur Marslurbalion besser aus- 
gestatteten Knaben in ihrer Selbstliebe gekränkt und 
will nicht durch die Wiederholung der masturbatori- 
schen Handlungen ständig an diese Zurücksetzung er- 
innert werden. 

*) Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfüh- 
rung in der Psychoanalyse. Ges. Sehr., XII. Bd., S. 283. 

86 



Es wäre aber falsch, zu glauben, daß nur die Unlust 
des Unterliegens im Vergleich, also Enttäuschung und 
Entmutigung mit Hilfe solcher Einschränkungen ver- 
mieden werden. In der Behandlung eines zehnjährigen 
Patienten habe ich Gelegenheit, denselben Vorgang zur 
Vermeidung direkter Realangst aus umgekehrtem Anlaß 
als passageres Symptom in Tätigkeit treten zu sehen. 
Der Knabe entwickelt sich in einer bestimmten Phase 
seiner Analyse zum glänzenden Fußballspieler. Die gro- 
ßen Jungen der Schule schätzen seine Leistung und 
lassen den viel Jüngeren zu seiner Freude als Gleich- 
berechtigten zu ihren Spielen zu. Nach kurzer Zeit be- 
richtet er mir einen Traum: Er spielt Ball. Ein großer 
Junge schießt so stark, daß er nur gerade noch über den 
Fußball wegspringen kann, um nicht getroffen zu werden. 
Er erwacht danach mit Angst. — Die Deutung zeigt, daß 
sein Stolz über den Verkehr mit Großen sich schnell 
in Angst verwandelt hat. Er fürchtet die Aggression 
der älteren Jungen, die ihn um sein Spiel beneiden 
könnten. Die anfangs lustvolle Situation, die er durch 
seine Leistung schafft, hat sich damit in eine ängst- 
liche verwandelt. Das gleiche Thema wiederholt sich 
kurz darauf in einer Einschlafphantasie. Er sieht die 
Buben, die ihm mit dem Ball die Füße abschießen 
wollen. Der große Fußball fliegt auf ihn zu, er zuckt 
im Bett mit seinen Füßen in die Höhe, um sie noch zu 
retten. Die Füße spielen bei ihm, wie seine Analyse 
schon ergeben hat, auf dem Umweg über Geruchsemp- 
findungen, Steifheit, Lahmheit usw. eine besondere Rolle 
als Vertreter seines Genitales. - Mit Traum und Phan- 
tasie ist die Entwicklung seiner neuen Leidenschaft 
gestört. Seine Leistungen gehen zurück, das Ansehen, 
das er in der Schule dafür genossen hat, verschwin- 
det schnell wieder. Er sagt mit diesem Rückzug: „Ihr 
braucht mir nicht die Füße abzuschießen, ich bin 
ja ohnehin kein guter Spieler mehr." 

Mit dieser Einschränkung seines Ichs nach einer Seite 

87 



ist der Prozeß bei ihm aber noch nicht zu Ende. Er 
verstärkt plötzlich beim Rückzug vom Sport eine ganz 
andere Seite seiner Leistungen, nämlich seine seit jeher 
vorhandene Neigung zur Dichtkunst und zur Schrift- 
stellerei. Er liest mir Gedichte vor, verfertigt eigene, 
bringt mir Novellen mit, die er schon als Siebenjäh- 
riger geschrieben hat, und macht weitgehende Zukunfts- 
pläne für seine Dichterkarriere. Der Fußballspieler hat 
sich damit in einen Literaten verwandelt. In einer 
Stunde dieser Art gibt er mir eine graphische Dar- 
stellung seiner Einstellung zu den verschiedenen männ- 
lichen Berufen und Betätigungen. Die Literatur bekommt 
dabei einen großen dicken Punkt in der Mitte seiner 
Zeichnung zugewiesen, Wissenschaften aller Art werden 
im Kreis darum angeordnet, die praktischen Berufe fol- 
gen in entfernteren Punkten. In einer obersten Ecke 
des Blattes, ganz am Rand gelegen, erhält schließlich 
der vor kurzem noch so wichtige Sport ein winziges 
Pünktchen, das seine höchste Geringschätzung für sol- 
che Vergnügungen ausdrücken soll. Es ist lehrreich, 
zu sehen, wie schon nach wenigen Tagen seine be- 
wußte Wertschätzung nach Art einer Rationalisierung 
seiner Angst gefolgt ist. Auf dem Gebiet der Dichtkunst 
bringt er allerdings in diesen Tagen wirklich Erstaun- 
liches zusammen. Die leere Stelle, die durch Ausfall 
der Sportleistung in seiner Ich-Funktion entstanden ist, 
wird durch tatsächliche Überproduktion nach einer an- 
dern Richtung in gewissem Sinne wieder wettgemacht. 
Die Analyse macht natürlich klar, daß die Angst vor 
der Rache der großen Buben ihre Stärke aus der Wie- 
derholung seiner Vaterkonkurrenz bezieht. 

Ein zehnjähriges Mädchen geht mit großen Erwar- 
tungen in ihre erste Tanzgesellschaft. Sie gefällt sich 
in ihren neuen Kleidern und Schuhen, auf die sie sehr 
viel Nachdenken verwendet hat, und verliebt sich augen- 
blicklich in den hübschesten und vornehmsten der an- 
wesenden Buben. Der Zufall, daß er als gänzlich Un- 

88 



bekannter den gleichen Familiennamen trägt wie sie, 
gibt ihr Anlaß zu einer Phantasie geheimer Zugehörig- 
keit. Sie benimmt sich entgegenkommend gegen ihn, 
findet aber keine Anerkennung. Er macht sogar nach 
einem Tanz eine spöttische Bemerkung über ihre Un- 
geschicklichkeit. Die Enttäuschung wirkt auf sie wie 
eine schockartige Beschämung. Sie vermeidet von da 
an solche Gesellschaften, verliert das Interesse an Klei- 
dern und gibt sich keine Mühe mehr, das Tanzen zu 
erlernen. Eine Weile behält sie noch ein gewisses Ver- 
gnügen daran, andern Kindern unbeteiligt und ernsthaft 
beim Tanzen zuzuschauen und eventuelle Aufforderun- 
gen abzuweisen. Allmählich belegt sie diese ganze Seite 
ihres Lebens mit hochmütiger Verachtung. Aber gleich- 
zeitig macht sie, ebenso wie der Fußballspieler, diese 
Ich-Einschränkung wieder wett. Sie steigert beim Rück- 
zug von den weiblichen Interessen ihre Denk- und 
Lernleistungen und erwirbt sich schließlich auf einem 
längeren Umweg doch noch die Anerkennung vieler 
Buben ihres Alters. Die spätere Analyse zeigt, daß die 
Zurückweisung durch den gleichnamigen Jungen von 
ihr als Wiederholung eines traumatischen Ereignisses 
der allerersten Kinderjahre verstanden worden ist. Das 
Element in der Situation, vor der ihr Ich flüchtet, ist 
hier wieder nicht Angst oder Schuldgefühl, sondern 
intensivste Unlust über eine erfolglose Werbung. 

Kehren wir von hier aus noch einmal zum Unter- 
schied zwischen Hemmung und Ich-Einschränkung zu- 
rück. Der neurotisch Gehemmte wehrt sich gegen die 
Durchsetzung einer verpönten Triebhandlung, also ge- 
gen Unlustentbindung durch innere Gefahr. Auch wo 
seine Angst und Abwehr sich wie in der Pobie schein- 
bar gegen die Außenwelt richten, fürchtet er in ihr 
sein Inneres. Er vermeidet die Straße, um seinen eigenen 
alten Versuchungen dort nicht zu begegnen. Er weicht 
seinem Angsttier aus, nicht um sich gegen das Tier 
selbst, sondern gegen seine eigenen, durch eine Begeg- 

89 



nung geweckten aggressiven Regungen und ihre Folgen 
zu schützen. Die Methode der Ich-Einschränkung an- 
derseits wehrt aktuelle unlustvolle Außenweltseindrücke 
ab, die das Wiederaufleben vergangener unlustvoller 
Außenweltseindrücke zur Folge hätten. Der Unterschied 
zwischen Hemmung und Ich-Einschränkung liegt also 
wieder wie beim Vergleich zwischen Verdrängung und 
Verleugnung darin, daß der Abwehrvorgang das eine 
Mal gegen das eigene Innere, das andere Mal gegen die 
Reize der Außenwelt gerichtet wird. 

Weitere Differenzen zwischen diesen beiden Zustands- 
bildern sind dann noch Folgen dieses einen prinzipiel- 
len Unterschieds. Hinter der neurotisch gehemmten 
Handlung steht ein Triebwunsch. Die Hartnäckigkeit, mit 
der jede einzelne Es-Regung sich um Erreichung ihres 
Befriedigungsziels bemüht, verwandelt den einfachen 
Hemmungsvorgang in ein fixiertes neurotisches Sym- 
ptom, in dem Es-Wunsch und Abwehr ständig mitein- 
ander ringen. Das Individuum verausgabt seine Ener- 
gie in diesem Kampf und bleibt an den Wunsch, zu 
rechnen, vorzutragen, Violine zu spielen usw. mit gerin- 
gen Abwandlungen vom Es aus gebunden, wobei gleich- 
zeitig die Verhinderung oder wenigstens die Verschlech- 
terung seiner Ausführung vom Ich her mit derselben 
Standhaftigkeit erzwungen wird. 

Bei der Ich-Einschränkung aus Realangst oder -unlust 
liegt eine solche Bindung an die gestörte Tätigkeit nicht 
vor. Hier steht nicht die Handlung selbst, sondern die 
durch sie erzeugte Unlust oder Lust im Vordergrund. 
Bei seiner Suche nach Lust und seiner Unlustvermei- 
dung wirtschaftet das Ich frei mit allen Leistungen, die 
zur Verfügung stehen. Es läßt die Handlungen fallen, 
die zu Unlust- oder Angstentbindung führen, hält auch 
den Wunsch nach ihrer Ausführung nicht fest. Es 
zieht sein Interesse von ganzen Gebieten zurück und 
wirft die Aktivität nach schlechten Erfahrungen in 
möglichst entgegengesetzte Richtungen. So wird aus dem 

90 




Fußballspieler ein Dichter, aus der enttäuschten Tän- 
zerin die Vorzugsschülerin. Natürlich schafft das Ich 
dabei nicht neue Fähigkeiten, es kann sich nur vor- 
handener bedienen. 

Die Ich-Einschränkung als Methode der Unlustvermei- 
dung gehört ebenso wie die verschiedenen Formen der 
Leugnung nicht der Neurosenpsychologie, sondern dem 
normalen Prozeß der Ich-Entwicklung an. Beim jungen 
und plastischen Ich belohnt sich der Rückzug von der 
einen Seite gelegentlich durch konzentrierte Höchst- 
leistungen auf anderem Gebiet. Wo das Ich starr ist 
oder wo es sich bereits eine Intoleranz für Unlust er- 
worben hat und sich zwanghaft an die Fluchtmethode 
bindet, dort bestraft sich diese durch schlechte Folgen 
für die Ich-Ausbildung. Das Ich wird durch den Rück- 
zug aus zu vielen Positionen einseitig, verliert zu viele 
Interessen und verarmt an Leistungen. 

Die theoretische Unterschätzung der Einstellung des 
kindlichen Ichs auf Unlustvermeidung ist mitverant- 
wortlich für das Mißlingen mancher pädagogischer Ex- 
perimente der letzten Jahre. Die moderne Pädagogik 
will dem wachsenden Ich des Kindes größere Hand- 
lungsfreiheit, vor allem freie Wahl der Tätigkeit und 
Interessen sichern. Absicht ist die bessere Entwicklung 
des Ichs und die Unterbringung aller Sublimicrungen. 
Aber das Kind der Latenzperiode kann die Aufgabe der 
Angst- und Unlustvermeidung noch höher stellen als 
direkte oder indirekte Triebbefriedigung. Es wählt in 
vielen Fällen, wo es nicht von äußeren Forderungen 
gelenkt wird, seine Beschäftigungen nicht nach Begabung 
und Sublimierungsmöglichkeit, sondern nur nach schnel- 
ler Sicherung vor Angst und Unlust. Zur Überraschung 
der Erzieher ist dann der Erfolg solcher Wahlfreiheit 
nicht Persönlichkeitsentfaltung, sondern Ich-Verarmung. 

* 
Mit Hilfe solcher Abwehrmittel gegen reale Unlust und 
Realgefahr, von denen ich drei hier beispielsweise ange- 

9i 



führt habe, betreibt das kindliche Ich Neurosenprophy- 
laxe auf seine eigene Gefahr. Es hält Angstentwicklung 
auf und deformiert sich selbst zum Zweck der Leidens- 
verhülung. Aber die Schutzmaßnahmen, die es aufbaut 
wie etwa die Flucht vor körperlicher Leistung auf gei- 
stiges Gebiet, wie die Bindung der Frau an Gleichstel- 
lung mit Männern, wie die Einschränkung des Funk- 
tionierens auf den Verkehr mit Schwächeren, sind im 
späteren Leben allen Angriffen von außen ausgesetzt. 
Änderungen der Lebensform, die durch Katastrophen, 
wie Objektverlust, Krankheit, Not und Krieg erzwun- 
gen werden, konfrontieren das Ich von neuem mit der 
ursprünglichen Angstsituaüon. Ein solcher Entzug des 
Angstschutzes kann dann, nicht anders als die Ver- 
sagung gewohnter Triebbefriedigung, zum aktuellen An- 
laß für Neurosenbildung werden. 

In der Unselbständigkeit des kindlichen Lebens läßt 
sich ein solcher Anlaß zur Neuro scnbildung gelegentlich 
je nach dem Willen des Erwachsenen erzeugen oder aus 
dem Wege räumen. Das Kind, das in der freien Schule 
nicht lernt, sondern zuschaut oder zeichnet, wird unter 
den Bedingungen des strengeren Schulbetriebs „ge- 
hemmt". Die Unerbittlichkeit, mit der die Außenwelt' an 
einer Forderung festhält, ergibt die Bindung an die 
Tätigkeit, die Unlust bringt; die Unenlrinnbarkeit der 
Unlust aber verlangt nach neuen Mitteln der Bewälti- 
gung. Anderseits kann auch die fertige Hemmung oder 
ein Symptom noch von dem Außenschutz beeinflußt 
werden. Die Mutler, die sich durch den Anblick des 
gestörten Kindes geängstigt und in ihrem Stolz gekränkt 
fühlt, verschafft ihm Sicherung und verhütet das Zu- 
sammentreffen mit Unluslsituationen in der Außenwelt. 
Das heißt aber, sie benimmt sich dem Symptom des 
Kindes gegenüber nicht anders als der Phobiker zu 
seinem Angstfall, sie ermöglicht Flucht und Leidens- 
verhütung durch künstliche Einschränkung der kind- 
lichen Handlungsfreiheit. Diese gemeinsame Arbeit an 

92 



der Sicherung gegen Angst und Unlust bei Mutter und 
Kind trägt wahrscheinlich die Verantwortung für die 
so häufige Symptomlosigkeit der kindlichen Neurosen. 
Man muß ein solches Kind erst seinem Schutz entzie- 
hen, ehe der Umfang seiner Symptome sich objektiv 
beurteilen läßt. 



93 



Triebangst in der Pubertät 

Von Anna Freud, Wien 

Aus dem Abschnitt ü des Buches „Das Ich 
und die Abwehrmechanismen 1 ' , dem auch der 
Beitrag S. 82 entnommen wurde. 

Wir schätzen die Phasen von Libido Steigerung im 
menschlisch en Leben für die analytische Erforschung 
des Es seit jeher sehr hoch ein. Wünsche, Phantasien 
und Trieb Vorgänge, die zu anderen Zeiten unbemerkt 
oder unbewußt vor sich gehen, steigen durch die er- 
höhte Besetzung zum Bewußtsein auf, überwinden, wo 
es nötig ist, die Hindernisse, die die Verdrängung ihnen 
entgegenstellt, und werden im Durchbruch der Beobach- 
tung zugänglich. 

Aber auch die analytische Erforschung des Ichs hat 
allen Grund, diesen Perioden von Libidosteigerung ihr 
Interesse zuzuwenden. Durch die Intensivierung der Trieb- 
ansprüche werden, wie wir gesehen haben, indirekt auch 
die Anstrengungen des Individuums, den Trieb zu be- 
wältigen, in die Höhe getrieben. Allgemeine Tendenzen 
des Ichs, die in Zeiten ruhigen Trieblebens wenig auf- 
fällig sind, bekommen dadurch neue Deutlichkeit und die 
ausgeprägten Ich-Mechanismen der Latenz oder Erwach- 
senheit können sich bis zur krankhaften Charakterver- 
zerrung übersteigern. In der Pubertät sind es unter an- 
deren besonders zwei Einstellungen des Ichs dem Trieb- 
leben gegenüber, die in ihrer Steigerung für den Beob- 
achter neue Lebendigkeit bekommen und uns den Zu- 
gang zum Verständnis einiger typischer Eigenheiten der 
Pubertät verschaffen: nämlich der Askese des Jugend- 
lichen und seiner Intellektualität. 

Die Pubertätsaskese 

Die Triebfeindlichkeit des Jugendlichen, wo immer 
wir sie mitteu zwischen seinen Triebexzessen, Trieb- 
durchbrüchen und anderen ihr widersprechenden Ein- 

94 



Stellungen beobachten können, geht weit über das hin- 
aus, was wir unter den Bedingungen des normalen 
Lebens, der leichteren oder schwereren neurotischen 
Erkrankung an Triebverdrängung zu sehen gewöhnt 
sind. Sie ähnelt in ihrem Auftreten und ihrer Ausbrei- 
tung weniger den Erscheinungen bei ausgesprochener 
neurotischer Erkrankung als der Einstellung zum Trieb, 
die bei den Asketen aus religiösem Fanatismus zu finden 
ist. Bei der Neurose finden wir, daß die Triebabweisung 
durch Verdrängung immer an die Art, die Qualität des 
Triebes geknüpft ist. Das heißt etwa: der Hysteriker ver- 
drängt die genitalen Regungen, die mit den Objekt- 
wünschen des Ödipuskomplexes zusammenhängen, be- 
nimmt sich aber anderen Triebwünschen gegenüber, wie 
zum Beispiel den analen oder aggressiven Regungen, 
eher gleichgültig oder tolerant. Die Verdrängung des 
Zwangsneurotikers richtet sich gegen die anal-sadisti- 
schen Wünsche, die durch die stattgefundene Regression 
zum Träger seiner Sexualität geworden sind; aber er 
toleriert zum Beispiel orale Befriedigungen und hat 
kein besonderes Mißtrauen gegen etwa vorhandene ex- 
hibitionistische Gelüste, die nicht direkt mit dem Zen- 
trum seiner Neurose zusammenhängen. Bei der Melan- 
cholie wieder sind es besonders die oralen Tendenzen, 
die der Abweisung verfallen, beim Phobiker die mit dem 
Kastrationskomplex zusammenhängenden Regungen, die 
die Verdrängung herausfordern. In allen diesen Fällen 
aber ist die Triebabweisung keine unterschiedslose, es 
läßt sich immer in der Analyse eine bestimmte Bezie- 
hung zwischen der Qualität des verdrängten Triebes und 
der individuellen Begründung seiner Ausstoßung aus 
dem Bewußtsein aufdecken. 

Die Triebabweisung, die wir in der Analyse von Ju- 
gendlichen verfolgen können, gibt ein anderes Bild. Sie 
nimmt zwar auch ihren Ausgangspunkt von besonders 
verpönten Zentren des Trieblebens, etwa von den Inzest- 
phantasien der Vorpubertät oder der Steigerung der kör- 

95 



perlichen Onaniehandlungen, die der Abfuhr solcher 
Wünsche dienen. Aber sie verbreitet sich von da aus 
mehr oder weniger unterschiedslos über das ganze Le- 
ben. Wie schon weiter oben hervorgehoben, handelt es 
sich dem Jugendlichen nicht um die Befriedigung oder 
Versagung spezieller Triebwünsche, sondern um Trieb- 
genuß oder Triebverzicht an und für sich. Jugendliche, 
die eine solche asketische Phase durchmachen, schei- 
nen die Quantität des Triebes zu fürchten, nicht seine 
Qualität. Ihr Mißtrauen gegen den Genuß ist ein allge- 
meines, so scheint es am sichersten, dem gesteigerten 
Verlangen einfach ein gesteigertes Verbot entgegenzuset- 
zen. Jedem „Ich will" des Triebes wird ein „Du darfst 
nicht" des Ichs entgegengestellt, nicht viel anders, wie 
strenge Eltern es in der ersten Erziehung des Kleinkin- 
des zu halten pflegen. Dieses Triebmißtrauen des Ju- 
gendlichen hat einen gefährlich fortschreitenden Cha- 
rakter; es kann sich von den wirklichen Trieb wünschen 
angefangen bis auf die alltäglichsten körperlichen Be- 
dürfnisse erstrecken. Wir kennen aus der gewöhnlichen 
Beobachtung die Jugendlichen, die sich alle ans Ge- 
schlechtliche streifenden Bedürfnisse streng versagen, 
die die Gesellschaft Gleichaltriger meiden, jeder Unter- 
hallung ausweichen, nach puritanischem Vorbild von 
Theater, Musik und Tanz nichts wissen wollen. Der 
Verzicht auf Schönheit und Gefälligkeit der Kleidung 
paßt noch gut in diesen Zusammenhang des sexuellen 
Verbotes. Aber wir fangen an besorgt zu werden, wenn 
die Verweigerung sich auf harmlose und notwendige 
Dinge erstreckt, wenn der betreffende Jugendliche sich 
den gewöhnlichsten Kälteschutz versagt, sich in jeder 
Beziehung kasteit, sich unnötigen gesundheitlichen Schä- 
digungen aussetzt; wenn er nicht nur besondere orale 
Genüsse vermeidet, sondern auch die tägliche Nahrung 
„aus Prinzip" auf ein bescheidenes Mindestmaß ein- 
schränkt; wenn er aus einem Langschläfer zu einem 
erzwungenen Frühaufsteher wird; wenn er sich das 

96 



Lachen und Lächeln mißgönnt, ja im extremen Fall 
Defäkation und Harnentleerung bis zum äußersten ver- 
hält, mit der Begründung, daß man nicht jedem Bedürf- 
nis gleich nachgeben müsse. 

Eine Triebabweisung dieser Art unterscheidet sich 
auch noch in einem andern Punkt von der gewöhnlichen 
Verdrängung. Unter den Bedingungen der Neurose sind 
wir gewöhnt zu sehen, daß überall dort, wo eine Trieb- 
befriedigung durch Verdrängung gestört wird, eine Er- 
satzbefriedigung an ihre Stelle rückt. Die Hysterie be- 
dient sich zu diesem Zweck der Konversion, d. h. der 
Abfuhr der sexuellen Erregung in andere, sexualisierte 
Körperteile oder Körpervorgänge. Die Zwangsneurose 
verschafft sich regressive Ersatzlust, die Phobie zumin- 
dest einen sekundären Krankheitsgewinn. Außerdem er- 
scheinen an Stelle der verbotenen Befriedigungen ver- 
schobene Genüsse, reaktive Bildungen; von den wirkli- 
chen neurotischen Symptomen, den Anfällen, Tics, 
Zwangshandlungen, Grübeleien usw. wissen wir, daß sie 
Kompromißbildungen sind, in denen das Gebot von Ich 
und Ober-Ich sich nicht energischer durchsetzt als 
das Triebverlangen des Es. Die Triebabweisung des 
Jugendlichen anderseits läßt für solche Ersatzbefriedi- 
gung keinen Baum, sie scheint einem andern Mecha- 
nismus zu folgen. Statt Kompromißbildungen, die den 
neurotischen Symptomen entsprechen, und an Stelle 
von den gewöhnlichen Verschiebungen, Regressionen, 
Rückwendungen gegen die eigene Person findet sich 
fast regelmäßig ein Umschlag der Askese in den Trieb- 
exzeß, in dem ohne alle Rücksicht auf Einschränkun- 
gen von außen her plötzlich alles erlaubt wird, was vor- 
her verboten war. So unwillkommen diese Triebexzesse 
der Umgebung des Jugendlichen an und für sich ihres 
dissozialen Charakters wegen sein müssen, so entspre- 
chen sie, analytisch gesehen, doch momentanen Spon- 
tanheilungen des asketischen Zustands. Wo solche Selbst- 
heilungen nicht vorfallen, wo das Ich auf irgendeine 

7 Almanach 1937 



unerklärte Weise die Krafl hat, die Triebabweisung 
konsequent zu Ende zu führen, dort kommt es zur 
Lahmlegung der Lebenstätigkeiten, also zu einer Art 
kalatonen Zustands, den wir nicht mehr dem gewöhn- 
lichen Pubertätsablauf, sondern schon einer Art psy- 
chotischer Veränderung zuweisen müssen. 

Es entsteht die Frage, ob man wirklich berechtigt ist, 
diese Triebabweisung im Pubertätsschub von der ge- 
wöhnlichen Triebabweisung durch Verdrängung abzu- 
trennen. Die Grundlagen für eine solche begriffliche 
Sonderung wären nur im Anfang des Prozesses das 
Überwiegen der Angst vor der Triebquantität über die 
Angst vor der Qualität des Triebanspruchs und an sei- 
nem Ausgang das Zurücktreten von Ersatzbeiriedigungen 
und Kompromißbildungen zugunsten eines schroffen Ne- 
beneinander oder Nacheinander, besser gesagt, eines 
Wechsels von Triebverzicht und Triebexzeß. Wir wissen 
anderseits, daß auch bei der gewöhnlichsten neuroti- 
schen Verdrängung die quantitative Besetzung des abzu- 
weisenden Triebes eine große Rolle spielt und daß auch 
unter den Bedingungen der Zwangsneurose ein Nach- 
einander von Verbot und Erlaubnis nur das Gewöhn- 
liche ist. Trotzdem bleibt der Eindruck, daß es sich bei 
der Askese des Jugendlichen um einen primitiveren, 
weniger zusammengesetzten Prozeß handelt als bei der 
eigentlichen Verdrängung, daß wir es hier vielleicht 
mit einem Sonderfall oder eher einer Vorstufe von Ver- 
drängungsaklionen zu tun haben. 

Das analytische Studium der Neurosen hat nun schon 
seit langem zu der Vermutung geführt, daß im Menschen 
eine Neigung zur Abweisung bestimmter Triebe, beson- 
ders der Sexualtriebe, ohne alle Erfahrung und ohne 
spezielle Auswahl als phylogenetische Erbschaft schon 
von vornherein vorhanden ist, d. h. als Niederschlag der 
Triebverdrängungen, die viele Generationen bereits ge- 
übt haben und die im individuellen Leben nur fort- 
gesetzt, nicht neu eingeführt werden. Bleuler hat 

9 8 



für diese doppelte Einstellung des Menschen zum Ge- 
schlechtsleben — konstitutionelle Abneigung bei gleich- 
zeitiger Begierde — seinen Begriff der Ambivalenz ge- 
prägt. 

Diese primäre Triebfeindlichkeit des Ichs, seine Angst 
vor der Triebslärke, wie wir sie nennen, ist aber in 
ruhigen Lebensperioden nicht viel mehr als ein theo- 
retischer Begriff. Wir vermuten, daß sie überall dort 
als Grundlage zu finden ist, wo das Individuum über- 
haupt Triebängste entwickelt. Für die Beobachtung aber 
wird sie von den viel deutlicheren und lauteren Er- 
scheinungen überdeckt, die der Realangst und Gewis- 
sensangst entspringen und sich auf schockartig wir- 
kende Vorfälle des individuellen Lebens zurückführen 
lassen. 

Es könnte sein, daß es die quantitative Triebsteige- 
rung des Pubertätsschubes wie auch anderer Trieb- 
schübe im Laufe des individuellen Lebens ist, die diese 
primäre Triebfeindlichkeit des Ichs zu einem eigenen 
lebendigen Abwehrmechanismus steigert. Was wir in der 
Pubertälsaskese zu sehen bekommen, wären dann nicht 
eigentlich qualitativ bedingte Verdrängungsaktionen, son- 
dern eben die unterschiedslose, primäre und primitive 
angeborene Feindschaft zwischen Ich und Trieb. 

Die Intellektualisierung in der Pubertät 

Wenn die Auffassung zu Recht besteht, daß unter 
den Bedingungen eines Libidovorstoßes allgemeine Ein- 
stellungen des Ichs sich zur Bedeutung wirklicher Ab- 
wehrmethoden erheben können, dann läßt sich dieser 
Gesichtspunkt vielleicht auch auf andere Ich- Verände- 
rungen ausdehnen, die in der Pubertät zustande kom- 
men. 

Wir wissen, daß das Hauptgebiet für Verwandlungen 
in der Pubertät das Trieb- und Gefühlsleben ist, ferner, 

7* 

99 



daß das Ich sich sekundär überall dort verändert, wo 
es direkt mit der Bewältigung des Trieb- und Gefühls- 
lebens zu tun hat. Aber der Bereich der Pubertätsver- 
änderungen ist damit natürlich noch lange nicht er- 
schöpft. Der Jugendliche wird unter den Bedingungen 
des Pubertätsschubes triebhafter; das ist verständlich 
und bedarf keiner weiteren Erklärung. Er wird morali- 
scher und asketischer; die Erklärung dafür ergibt sich 
aus dem Kampf zwischen Ich und Es, der sich in ihm 
abspielt. Aber er wird auch gescheiter, steigert alle seine 
intelluktuellen Bedürf nisse ; es ist auf den ersten Blick 
nicht einzusehen, was dieser Fortschritt in der intellek- 
tuellen Entwicklung mit dem Fortschritt in der Trieb- 
entwicklung und der Steigerung der Ich-Entwicklung 
durch erhöhte Abwehrbedürfnisse zu tun haben soll. 

Wir sind im allgemeinen eher darauf vorbereitet zu 
finden, daß Trieb- oder Gefühlsstürme und Intellektuali- 
tät in einem umgekehrten Verhältnis zueinander stehen. 
Schon im Zustand der normalen Verliebtheit verringert 
sich die intellektuelle Leistungsfähigkeit eines Menschen; 
sein Verstand funktioniert weniger verläßlich. Je mehr 
ihm an der Durchsetzung seiner triebhaften Wünsche 
liegt, desto weniger Neigung hat er gewöhnlich, sie ver- 
standesgemäß zu betrachten und auf ihre vernünftige 
Begründung zu prüfen. 

Beim Jugendlichen scheint das für die erste Beobach- 
tung ganz anders. Es gibt einen Typus von Halb- 
wüchsigen, bei denen der Sprung nach vorwärts in 
der intellektuellen Entwicklung nicht weniger auffällig 
und überraschend ist als der Entwicklungsvorstoß auf 
den anderen Gebieten. Wir wissen, wie häufig bei Kna- 
ben in der Latenzperiode das Interesse sich einseitig 
ganz auf reale und sachliche Dinge richtet. Entdeckun- 
gen und Abenteuer, Zahlen und Größenverhältnisse, 
Schilderungen fremder Tiere und Gegenstände dirigie- 
ren die Leselust der einen; andere beschränken sich auf 



100 



Motoren von der einfachsten bis zur kompliziertesten 
Form. Das Gemeinsame bei beiden Typen ist gewöhn- 
lich die Bedingung, daß der Gegenstand, mit dem man 
sich beschäftigt, konkret sein muß, also kein Produkt 
der Phantasie, wie die Märchen und Fabeln der ersten 
Kindheitsperiode, sondern in der Wirklichkeit real und 
körperlich vorhanden. Diese konkreten Interessen der 
Latenzperiode können sich nun von der Vorpubertät 
angefangen immer auffälliger ins Abstrakte verwandeln. 
Besonders die Jugendlichen, die Bernfeld in seinem 
Typus der „verlängerten Pubertät" geschildert hat, haben 
ein unstillbares Verlangen, über abstrakte Themen zu 
denken, zu grübeln und zu reden. Sehr viele Jugend- 
freundschaflen werden auf der Basis dieses Bedürfnis- 
ses nach gemeinsamem Grübeln und gemeinsamer Dis- 
kussion begründet und unterhalten. Die Themen, die 
diese Jugendlichen beschäftigen, und die Probleme, die 
sie zu lösen versuchen, sind sehr weitreichende. Es 
handelt sich ihnen gewöhnlich um die Formen der 
freien Liebe oder um Ehe und Familiengründung, um 
Freiheit oder Beruf, Wanderschaft oder Niederlassung, 
um wellanschauliche Fragen, wie Religion oder Frei- 
denkertuni, um die verschiedenen Formen der Politik, 
um Revolution oder Unterwerfung, um die Freundschaft 
selbst in allen ihren Formen. Wenn wir in der Analyse 
Gelegenheit haben, die Gespräche der Jugendlichen 
wahrheitsgetreu berichtet zu bekommen oder — wie 
viele Pubertätsforscher getan haben — die Tagebücher 
und Aufzeichnungen Jugendlicher zu verfolgen, so sind 
wir nicht nur überrascht von der Weite und Uneinge- 
schränklheit des jugendlichen Denkens, sondern auch 
voll Respekt für das Maß an Einfühlung und Verständ- 
nis, die scheinbare Überlegenheit und gelegentlich fast 
die Weisheit in der Behandlung schwierigster Probleme. 
Unsere Einstellung ändert sich dann, wenn wir unsere 
Beobachtung von der Verfolgung der intellektuellen Vor- 
gänge selbst auf ihre Einreihung in das Leben des Ju- 



101 



gendlichen richten. Wir finden dann mit Erstaunen, daß 
alle diese hohe Verstandesleistung mit dem Verhalten 
des Jugendlichen selbst wenig oder gar nichts zu tun 
hat. Seine Einfühlung in fremdes Seelenleben hält ihn 
von den gröbsten Rücksichtslosigkeiten gegen seine näch- 
sten Objekte nicht ab. Seine hohe Auffassung der Liebe 
und der Verpflichtungen des Liebenden hat keinen Ein- 
fluß auf die ständigen Treulosigkeiten und Gefühlsrohei- 
len, die er sich bei seinen wechselnden Verliebtheiten 
zu Schulden kommen läßt. Die Einreihung in das soziale 
Leben wird auch nicht im mindesten dadurch erleich- 
tert, daß das Verständnis und Interesse für den Auf- 
bau der Gesellschaft das der späteren Jahre oft weit 
überschreitet. Die Vielseitigkeit seiner Interessen hält den 
Jugendlichen nicht davon ab, sein Leben eigentlich 
auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren: auf die Be- 
schäftigung mit seiner eigenen Persönlichkeit. 

Wir erkennen, besonders in der Zerlegung dieser in- 
tellektuellen Interessen unter den Bedingungen der ana- 
lytischen Behandlung, daß es sich hier gar nicht um 
Intellektualität im gewöhnlichen Sinne handelt. Es ist 
nicht so, daß der Jugendliche sich etwa die verschiede- 
nen Situationen der Liebe oder der Berufswahl über- 
denkt, um an seinen Überlegungen eine Richtschnur für 
sein Handeln zu finden, wie der Erwachsene es täte, 
oder wie der Knabe in der Latenzzeit einen Motor stu- 
dieren würde, um ihn dann zerlegen und wieder zusam- 
mensetzen zu können. Die Intellektualität des Jugend- 
lichen scheint keinem andern Zweck zu dienen als 
seine Tagträumerei. Auch die Ehrgeizphantasien der 
Vorpubertät sind ja nicht dazu bestimmt, in die Wirk- 
lichkeit umgesetzt zu werden. Der Jugendliche, der sich 
selber als Eroberer phantasiert, fühlt auch deshalb 
noch nicht die Verpflichtung, sich im wirklichen Leben 
mutig oder standhaft zu beweisen. Ebenso fühlt der 
Jugendliche offenbar schon Befriedigung, wenn er über- 
haupt denkt, grübelt oder diskutiert. Sein Handeln geht 



102 



unter andern Bedingungen vor sich und braucht von den 
Ergebnissen des Denkens, Grübelns oder der Diskus- 
sionen nicht beeinflußt zu werden. 

Die analytische Verfolgung der intellektuellen Vor- 
gänge im Jugendlichen macht uns aber auch noch auf 
etwas anderes aufmerksam. Die Themen, die im Vorder- 
grund seines Interesses stehen, sind beim näheren Zu- 
sehen dieselben, um die die Konflikte zwischen seinen 
inneren Instanzen entbrannt sind. Auch hier handelt es 
sich wieder um die Unterbringung des Triebhaften in 
den Zusammenhang des menschlichen Lebens, um sexu- 
elles Ausleben oder Verzicht, Freiheit oder Freiheitsbe- 
schränkung, Auflehnung gegen die Autorität oder Unter- 
ordnung Das glatte Triebverbot, die Askese, leistet, wie 
wir aesehen haben, dem Jugendlichen im allgemeinen 
nicht was er von ihr erwartet. Da die Gefahr erst ein- 
mal allgegenwärtig bleibt, muß er sich nach vielen Mit- 
teln umsehen, um sie zu bewältigen. Das Durchden- 
ken des Trieb konflikts, seine Intellektualisierung, 
scheint ein solches Mittel zu sein. Hier wird die Flucht 
vor dem Trieb, die wir bei der Askese finden, durch 
Zuwendung zu ihm ersetzt. Aber die Zuwendung bleibt 
eine gedankliche, intellektuelle. Was der Jugendliche in 
seinen abstrakten intellektuellen Gesprächen und Lei- 
stungen zustande bringt, sind keine Lösungsversuche 
von Aufgaben, die die Realität ihm stellt. Seine Gedan- 
kenarbeit entspricht eher einer gespannten Wachsam- 
keit für die Triebvorgänge in seinem Innern und einem 
Umsetzen dessen, was er spürt, in abstrakte Gedanken. 
Die Weltanschauung, die er in Gedanken aufbaut, etwa 
die Forderung nach Umsturz in der Außenwelt ent- 
spricht also der Wahrnehmung des Neuen und sein 
ganzes Leben Umstürzenden im Triebverlangen des eige- 
nen Es. Die Idealbilder von Freundschaft und ewiger 
Treue müssen nichts anderes sein als eine Spiegelung 
der Besorgnisse seines eigenen Ichs, das spürt, wie 
wenig haltbar alle seine neuen und stürmischen Ob- 

103 



jektbeziehungen geworden sind 1 ). Die Sehnsucht nach. 
Führung und Unterstützung in dem oft aussichtslosen 
Kampf gegen die Triebstärke kann sich in scharfsinnige 
Beweise für die Unselbständigkeit des Menschen in poli- 
tischen Entscheidungen umsetzen. Was sich im Intellek- 
tuellen äußert, wäre also eine Schilderung der Triebvor- 
gänge. Das Motiv dieser gesteigerten Zuwendung von 
Aufmerksamkeit für den Trieb wäre aber der Versuch, 
ihn auf einem andern Niveau zu fassen und zu bewäl- 
tigen. 

Wir erinnern uns daran, daß in der psychoanalyti- 
schen Metapsychologie die Verbindung von Affekten und 
Trieb Vorgängen mit Wortvorstellungen als der erste und 
wichtigste Schritt zur Triebbeherrschung geschildert 
wird, den das Individuum in seiner Entwicklung durch- 
zumachen hat. Das Denken wird dort überhaupt als 
„ein Probehandeln unter Verwendung kleinster Trieb- 
quantitäten" bezeichnet. Diese Intellektualisierung des 
Trieblebens, der Versuch, der Triebvorgänge dadurch 
habhaft zu werden, daß man sie mit Vorstellungen 
verknüpft, mit denen sich im Bewußtsein hantieren 
läßt, gehört zu den allgemeinsten, frühesten und not- 
wendigsten Erwerbungen des menschlichen Ichs. Wir 
empfinden sie als unentbehrlichen Bestandteil des Ichs, 
nicht als eine Tätigkeit, die es ausübt. 

Man bekommt wieder den Eindruck, daß die Erschei- 
nungen, die im vorstehenden als „Intellektualisierung 
in der Pubertät" zusammengefaßt sind, nichts anderes 
sind als die Übersteigerung dieser allgemeinen Ich-Ein- 
stellung unter den besonderen Bedingungen eines Libido- 
schubes. Was das Ich zu anderen Zeiten selbstverständ- 
lich, stumm und nebenher leistet, rückt durch bloße 
quantitative Steigerung in den Vordergrund der Aufmerk- 



x ) Ich verdanke Margit D u b o v i t z, Budapest, den 
Hinweis darauf, daß das Nachgrübeln des Jugendlichen 
über den Sinn des Lebens und Sterbens eine Spiegelung 
der Arbeit der Destruktion im eigenen Innern bedeutet. 

104 



sainkeit. Die erhöhte Intelieklualität des Jugendlichen 
— vielleicht auch das so hoch gesteigerte intellektuelle 
Verständnis für innere Vorgänge zu Beginn jedes psy- 
chotischen Schubes — wäre nach dieser Auffassung 
nichts anderes als die auch sonst vorhandene Bemü- 
hung des Ichs um die Triebbewältigung mit Hilfe von 
Gedankenarbeit. 

Vielleicht erlaubt uns die Verfolgung dieses Gedan- 
kenganges an dieser Stelle noch einen kleinen Neben- 
gewinn. Wenn Erhöhung der Triebbesetzung jedesmal 
automatisch auch das Bemühen steigert, die Triebvor- 
gänge intellektuell zu verarbeiten, dann verstehen wir, 
daß Triebgefahr den Menschen gescheit macht; in trieb- 
ruhigen, also ungefährlichen Perioden kann das Indi- 
viduum es sich eher erlauben, dumm zu sein. Die Trieb- 
angst wirkt hier nicht anders, als wir es von der Real- 
angst her kennen. Reale Gefahr und reale Entbehrung 
spornen den Menschen zu intellektuellen Leistungen 
und Lösungsversuchen an, während reale Sicherheit 
und Überfluß eher dumm und bequem machen. Die Zu- 
wendung der intellektuellen Aufmerksamkeit auf die 
Triebvorgänge entspricht eben der Wachsamkeit, die 
das Ich des Menschen der gefährlichen Realität gegen- 
über als notwendig kennengelernt hat. 

Wir haben bisher immer einen andern Erklärungs- 
versuch für das Abnehmen der Gescheitheit des Klein- 
kindes bei Eintritt in die Latenzperiode verwendet. Die 
glänzenden intellektuellen Leistungen des Kleinkindes 
sind eng verbunden mit seiner Sexualforschung. Mit dem 
Verbot des Sexuellen in der frühen Kindheit dehnt sich 
auch das Denkverbot und die Denkhemmung auf andere 
Gebiete des Lebens aus. Man war nicht überrascht, mit 
dem Wiederaufflammen des Sexuellen in der Vorpuber- 
tät, also mit dem Durchbruch durch die Sexualver- 
drängung der ersten Kindheit auch die intellektuellen 
Fähigkeiten in alter Kraft wiederkehren zu sehen. 

105 



Diesem uns gewohnten Erklärungsversuch läßt sich 
jetzt noch ein zweiter an die Seite stellen. Es ist viel- 
leicht nicht nur so, daß das Kind in der Latenzperiode 
nicht abstrakt denken darf, es hat es vielleicht nicht 
nötig, abstrakt zu denken. Erste Kindheit und Puber- 
tät sind Zeiten voll Triebgefahren, die „Gescheitheit" 
dieser Perioden dient wenigstens zum Teil ihrer Be- 
wältigung. Latenz und Erwachsenheit dagegen sind Zei- 
ten verhältnismäßiger Ich-Stärke. Das Bemühen des Ichs 
zu intellektualisieren darf auf ein geringeres Maß herab- 
sinken, ohne dem Individuum Schaden zu bringen. Da- 
bei darf man nicht vergessen, daß diese Verstandes- 
leistungen, besonders die der Pubertät, zwar blendend 
und auffällig, aber weitgehend unfruchtbar sind. So- 
gar die von uns so bewunderten und geschätzten intel- 
lektuellen Leistungen der ersten Kindheit haben in 
einer Richtung Anteil an diesem Charakter. Wir brau- 
chen nur daran zu denken, daß auch die infantile Sexu- 
alforschung, in der wir in der Psychoanalyse den schärf- 
sten Ausdruck der kindlichen Verstandestätigkeit sehen, 
fast nie die wirklichen Tatsachen des erwachsenen 
Sexuallebens zu Tage fördert. Das Ergebnis der kind- 
lichen Sexualforschung sind in der Regel die infantilen 
Sexualtheorien, also nicht ein Erfassen der Wirklichkeit, 
sondern eine Widerspiegelung der Triebvorgänge im 
eigenen Innern des beobachtenden Kindes. 

Die Verstandesarbeit, die das Ich in der Latenzzeit 
imd in der Erwachsenheit zustande bringt, ist weitaus 
solider, verläßlicher und vor allem viel enger mit sei- 
nem Handeln verbunden. 

Objektliebe und Identifizierung in der Pubertät 

Wenn wir Askese und Intellektualisierung in der Pu- 
bertät in das Schema einreihen wollen, das ich weiter 
oben als Orientierung der Abwehrvorgänge nach Angst 
und Gefahr bezeichnet habe, so ist es deutlich, daß 

106 



beide der dort geschilderten dritten Art angehören. 
Die Gefahr, die dem Ich droht, ist die der Überschwem- 
mung durch den Trieb ; die Angst, von der es beherrscht 
wird, ist Angst vor der Triebquantität. In der individu- 
ellen Entwicklung müssen wir die Entstehung dieser 
Angst in sehr frühe Zeiten zurückversetzen. Sie gehört 
zeitlich zu der Periode der allmählichen Ablösung eines 
Ichs vom undifferenzierten Es. Die Abwehrhaltungen, 
die sich unter dem Druck der Angst vor der Trieb- 
stärke ausbilden, sind dazu bestimmt, diese Scheidung 
zwischen Ich und Es aufrechtzuerhalten und den Be- 
stand der neu aufgerichteten Ich-Organisation zu 
sichern. Die Askese hat also die Aufgabe, das Es durch 
simples Verbot in Schranken zu halten, die Intellek- 
tualisierung den Zweck, Triebvorgänge durch enge Ver- 
bindung mit Vorstellungsinhalten zugänglich und be- 
herrschbar zu machen. 

Aber ein Zurückfallen des Individuums im Libido- 
schub auf diese primitive Stufe der Angst vor der Trieb- 
stärke kann auch sonst nicht ohne Folgen für die üb- 
rigen Trieb- und Ich-Vorgänge bleiben. Ich greife im 
folgenden aus den vielen Sonderbarkeiten, die die Puber- 
tätsphänomene bieten, zwei der wichtigsten heraus und 
verfolge ihren Zusammenhang mit dieser Ich-Regression. 

Die auffälligsten Erscheinungen im Leben des Jugend- 
lichen gehen im Grunde auf dem Gebiete seiner Ob- 
jektbeziehungen vor sich. Hier wird der Kampf zwischen 
zwei entgegengesetzten Tendenzen am allersichtbarsten. 
Die aus der allgemeinen Triebabneigung stammende Ver- 
drängung nimmt, wie wir gehört haben, gewöhnlich die 
Inzestphantasien der Vorpubertät zu ihrem ersten An- 
griffspunkt. Das Mißtrauen des Ichs und seine asketi- 
sche Haltung richten sich vor allem gegen die Liebes- 
bindung an alle Objekte der Kindheit. Dadurch verein- 
samt der Jugendliche einerseits; er bringt es zustande, 
von da an unter seiner Familie zu leben, als wären es 
Fremde. Anderseits greift die Triebabneigung von der 

107 



Objektbeziehung selbst auch auf die Beziehung zur Über- 
Ich-Instanz über. Soweit das Über-Ich zu dieser Zeit 
noch mit Libido besetzt ist, die aus der Elternbezie- 
hung stammt, wird es selber behandelt wie ein verdäch- 
tiges inzestuöses Objekt und verfällt auch selbst den 
Folgen der Askese. Das Ich entfremdet sich auch von 
ihm. Das jugendliche Individuum empfindet diese par- 
tielle Verdrängung des Über-Ichs, die teilweise Ent- 
fremdung von seinen Inhalten als eine seiner schwersten 
Störungen. Die Erschütterung der Beziehung zwischen 
Ich und Über-Ich wirkt vor allem wieder steigernd 
auf die Triebgefahr. Das Individuum wird dissozialer. 
Vor dieser Störung sind die Gewissensängste und Schuld- 
gefühle, die aus der Beziehung des Ichs zum Über-Ich 
stammen, ja die wirksamsten Hilfen des Ichs im Kampf 
gegen den Trieb. Man kann in den Anfangsstadien der 
Pubertät auch einen deutlichen Versuch zur vorüber- 
gehenden Überbesetzung aller Über-Ich-Inhalle beobach- 
ten. Der sogenannte „Idealismus" des Jugendlichen er- 
klärt sich wahrscheinlich aus diesem Vorgang. ' Jetzt 
entsteht also die Situation, daß die Askese, die selbst 
schon eine Folge der erhöhten Triebgefahr ist, selber 
wieder durch Erschütterung der Beziehung zum Über- 
Ich die Abwehrmaßnahmen außer Kraft setzt, die der 
Über-Ich-Angst angehören, und dadurch das Ich noch 
energischer auf die Stufe der reinen Triebangst und der 
primitiven ihr zugehörigen Schutzmaßnahmen zurück- 
wirft. 

Die Vereinsamung und Abwendung ist aber nur eine 
der Tendenzen, die sich in der Objeklbeziehung des 
Jugendlichen durchsetzen. An Stelle der verdrängten 
Bindungen an die Kindheitsobjektc entstehen zahlrei- 
che neue Bindungen, zum Teil an Gleichaltrige, wo sie 
die Form leidenschaftlicher Freundschaft oder voller 
Verliebtheit annehmen, zum Teil an ältere Führergestal- 
ten, die deutlich den Ersatz für die verlassenen Eltern- 
objekte bedeuten. Diese Liebesbeziehungen sind wäh- 

108 



rend ihrer Dauer stürmisch und ausschließlich, aber 
ihre Dauer ist kurz. Die einmal gewählten Objekte wer- 
den ohne Rücksicht auf die Gefühle des Partners wieder 
verlassen und gegen andere eingetauscht. Die verlassenen 
Objekte werden schnell und völlig vergessen; nur die 
Form der Beziehung zu ihnen erhält sich bis ins kleinste 
und stellt sich am neuen Objekt gewöhnlich in getreue- 
ster Wiederholung wie zwanghaft wieder her. 

Diese Objektbeziehungen der Pubertät haben neben 
der auffallenden Treulosigkeit gegen das Liebesobjekt 
noch einen zweiten besonderen Charakter. Ihr Ziel ist 
nicht eigentlich die Besitzergreifung des Objekts im 
gewöhnlichen körperlichen Sinne des Wortes. Das Ziel 
scheint vielmehr die möglichst volle Angleichung an die 
geliebte Person des Augenblicks. 

Wir wissen alle aus der alltäglichen Beobachtung, wie 
verwandlungsfähig der Jugendliche ist. Schrift, Ausspra- 
che, Haartracht, Kleidung und Lebensgewohnheiten aller 
Art sind weit anpassungsfähiger als zu irgendeiner an- 
dern Lebenszeit. Oft zeigt ein erster Blick auf einen 
Halbwüchsigen, wer sein älterer und bewunderter 
Freund ist. Aber die Verwandlungsfähigkeit geht auch 
noch weiter. Weltanschauung, Religion und Politik las- 
sen sich nach dem Vorbild des andern ändern; die Über- 
zeugung von der Richtigkeit des willig Übernommenen 
verliert auch bei häufigem Wechsel nicht an Stärke und 
Leidenschaft. Der Jugendliche gleicht in dieser Bezie- 
hung dem „Als ob"-Typus, den Helene Deutsch als 
Zwischenstufe zwischen neurotischer und psychotischer 
Erkrankung in einer klinischen Arbeit zur Psychologie 
des Erwachsenen beschrieben hat 2 ). Er lebt in jeder 
neuen Beziehung zu einem Objekt, „als ob" er wirk- 
lich sein eigenes Leben leben, seine eigenen Gefühle, 
Meinungen und Ansichten zum Ausdruck bringen würde. 



2 ) Helene Deutsch, Über einen Typus der Pseudo- 
affektivität („Als ob"). Int. Ztschr. f. Psychoanalyse, 
XX, 1934, S. 323 ff. 

109 



Eine Jugendliche meiner eigenen analytischen Beob- 
achtung ließ den Mechanismus, der diesen Verwand- 
lungsvorgängen zugrunde liegt, besonders deutlich er- 
kennen. Sie wechselte während eines Jahres in der oben 
beschriebenen Weise mehrmals von einer Freundschafts- 
beziehung zur anderen, von Mädchen zu Knaben, von 
Knaben zu älteren Frauen. Bei jedem solchen Wechsel 
wurde sie nicht nur gleichgültig gegen das verlassene 
Objekt, sondern verfolgte es mit einer ganz besonderen 
leidenschaftlichen, fast verächtlichen Abneigung, emp- 
fand jedes zufällige oder notwendige Zusammentreffen 
mit ihm fast als unerträglich. Wir verstanden schließlich 
nach längerer analytischer Bemühung, daß das gar nicht 
ihre eigenen Gefühle gegen die ehemaligen Freunde 
waren. So wie sie nach jedem solchen Wechsel in vielen 
inneren und äußeren Dingen Formen und Anschauungen 
des neuen Liebesobjektes zu übernehmen gezwungen 
war, so fühlte sie auch nicht mehr ihre eigenen Gefühle, 
sondern die des neugewählten Freundes. Ihre Abnei- 
gung gegen die früher geliebten Menschen war wirklich 
nicht ihre eigene. Sie war in Einfühlung in die Gefühle 
des neuen Freundes empfunden. Auf diese Weise brachte 
sie seine phantasierte Eifersucht gegen jeden früher 
von ihr Geliebten zum Ausdruck oder seine, nicht 
ihre eigene Verachtung gegen eventuelle Nebenbuhler. 

Die innere Situation in dieser und ähnlichen Puber- 
tälsphasen läßt sich in sehr einfachen Worten beschrei- 
ben: diese stürmischen und wenig haltbaren Liebesbin- 
dungen der Pubertät sind gar keine Objektbeziehungen 
im erwachsenen Sinne des Wortes. Es sind Identifizie- 
rungen der primitivsten Art, wie wir sie etwa in der 
ersten Entwicklung des Kleinkindes, vor Beginn aller 
Objektliebe kennenlernen können. Die Treulosigkeit der 
Pubertät anderseits wäre dann gar kein Liebes- oder 
Überzeugungswechsel innerhalb des Individuums, son- 
dern ein durch den Wechsel der Identifizierungen be- 
dingter Persönlichkeitsverlust. 



1 10 



Eine analytische Einsicht an einer anderen Fünfzehn- 
jährigen führt dann vielleicht noch einen Schritt weiter 
in das Verständnis für die Rolle dieser Identifizierungs- 
neigungen. Die Patientin ist ein besonders schönes und 
anmutiges Mädchen, das im gesellschaftlichen Leben sei- 
nes Kreises schon eine Rolle spielt, trotzdem aber von 
rasender Eifersucht auf eine noch kindliche Schwester 
geplagt wird. Sie stellt alle früher bei ihr vorhandenen 
Lebensinteressen in der Pubertät zurück und wird nur 
von dem einen Verlangen getrieben, sich von ihren 
jugendlichen und älteren Freunden bewundern und lie- 
ben zu lassen. Sie verliebt sich mit voller Stärke aus 
der Ferne in einen etwas älteren Knaben, mit dem sie 
auch gelegentlich in Gesellschaften und an Tanzabenden 
zusammentrifft. In dieser Zeit schreibt sie mir einen 
Brief, in dem sie ihre Liebeszweifel und Besorgnisse 
schildert. 

„Du mußt mir raten", heißt es dort, „wie ich mich 
benehmen soll, wenn ich mit ihm zusammentreffe. Soll 
ich ernst oder lustig sein? Wird er mich lieber haben, 
wenn ich mich gescheit zeige oder wenn ich mich dumm 
stelle? Ist es besser, wenn ich die ganze Zeit nur von 
ihm oder auch von mir selbst rede?..." Ich beantworte 
die Fragen in unserer nächsten Zusammenkunft münd- 
lich. Ich meine, daß es doch vielleicht nicht nötig sei, 
Pläne für ihr Benehmen schon im voraus zu machen. 
Ob sie nicht im Augenblick so sein könnte, wie sie eben 
sei und wie ihr eben zumute wäre? Sie versichert, 
nein, das ginge nicht, und begründet in langer Rede die 
Notwendigkeit, so zu sein, wie es den andern gefällt und 
sie einen haben wollen. Nur dann könne man sicher 
sein, ihre Liebe zu erwerben. Und ohne von diesem 
Knaben geliebt zu werden, könne sie überhaupt nicht 
leben. 

Sehr bald darauf schildert mir die gleiche Patientin 
eine Phantasie, die eine Art allgemeinen Weltuntergangs 
darstellt. Wie es wäre, wenn alle Menschen zugrunde 

111 



gehen müßten? Sie geht die Reihe Ihrer Freunde und 
Verwandten durch, bis sie sich schließlich in der Vor- 
stellung allein zurückgelassen auf der Erde findet Aus 
Stimme, Betonung und der Schilderung aller Details ist 
es klar, daß es sich um Wunschvorstellungen handelt. 
Sie empfindet Lust, keine Angst bei der Erzählung. 

Ich erinnere sie an dieser Stelle an ihr stürmisches 
Verlangen nach Geliebtwerden. Schon die bloße Vor- 
stellung, einem ihrer Freunde zu mißfallen und seine 
Liebe zu verlieren, konnte sie die Tage vorher in Ver- 
zweiflung versetzen. Wer aber wird sie lieben, wenn 
sie so allein auf der Welt zurückbleibt? Sie weist die 
Mahnung an die Besorgnisse des Vortages ruhig ab. 
„Dan würde ich mich selber lieben", sagt sie, als wäre 
sie endlich alle Ängste los, mit einem tiefen Seufzer der 
Erleichterung. 

Diese kleine analytische Beobachtung an einem Einzel- 
fall scheint mir einen Hinweis auf etwas für bestimmte 
Objektbeziehungen der Pubertät Charakteristisches zu 
enthalten. Durch die Erschütterung der alten Objektbe- 
ziehungen, durch die Folgen von Triebneigung und As- 
kese wird die Außenwelt des Jugendlichen entlibidini- 
siert. Er ist in Gefahr, seine Objektlibido von der Um- 
welt auf die eigene Person zurückzuziehen, entsprechend 
den Regressionen in seinem Ich auch im libidinösen 
Leben von der Objektliebe zum Narzißmus zu regredie- 
ren. Dieser Gefahr entzieht er sich durch die krampf- 
haften Bemühungen, doch wieder Anschluß an die 
Außenweltsobjekte zu finden, wenn auch erst einmal 
in Anlehnung an den Narzißmus, also durch Identifi- 
zierungen. Die stürmischen Objeklbeziehungen des Ju- 
gendlichen hätten nach dieser Auffassung — wieder 
ähnlich den Zuständen im Beginn psychotischer Schübe 
— den Charakter von Restitutionsversuchen. 

Ich habe im Verlaufe der vorangegangenen Schilde- 
rungen die charakteristischen Einzelheiten des Puber- 
tätsverlaufes so häufig mit schweren Krankheitserschei- 



112 



mingen verglichen, daß es vielleicht notwendig ist, trotz 
der Unvollständigkeit dieser Ausführungen noch ein 
Wort über Normalität oder Abnormität der Pubertäts- 
vorgänge hinzuzufügen. 

Die Basis für den Vergleich zwischen der Pubertät 
und den Anfangszuständen bei psychotischen Schüben 
ist, wie wir gesehen haben, die Auffassung von der Wir- 
kung quantitativer Besetzungsänderungen. Die erhöhte 
Libidobesetzung des Es steigert in beiden Fällen einer- 
seits die Triebgefahr, anderseits die Abwehranstrengun- 
gen aller Arten. Daß auf Grund dieser quantitativen 
Vorgänge jede Periode von Libido Steigerung im mensch- 
lichen Leben zum geeigneten Ansatzpunkt für neuroti- 
sche und psychotische Erkrankung werden kann, war 
uns in der Analyse immer gegenwärtig. 

Die besondere Ähnlichkeit zwischen dem Pubertäts- 
verlauf und psychotischen Schüben scheint nebenbei 
noch in dem Hervortreten primitiver Abwehrhaltungen 
zu liegen, die der Angst des Ichs vor der Triebstärke 
zugehören, also einer Angst, die älter ist als alle Real- 
und Gewissensangst. 

Der Eindruck des individuellen Pubertätsverlaufes, 
seine Normalität und Abnormalität wird dann wahr- 
scheinlich davon abhängen, ob der eine oder der andere 
dieser Züge oder mehrere von ihnen gleichzeitig das 
Bild beherrschen. Der asketische Jugendliche, bei dem 
aber der Intellekt frei funktioniert und zahlreiche gute 
Objektbeziehungen erhalten sind, erscheint uns nor- 
mal. Dasselbe gilt für den intelle koalisierenden Typus, 
für den idealistischen Jugendlichen, auch für den, der 
von einer schwärmerischen Freundschaft zur andern 
getrieben wird. Wo aber die Triebaskese weitgehend 
durchgesetzt ist, wo die Intellektualisierung gleichzeitig 
die andern Verstandesleistungen überwuchert und die 
Beziehungen zur Umwelt ausschließlich auf Grund von 
wechselnden Identifizierungen hergestellt werden, dort 

8 Almanach 1937 

1*5 



wird es dem beobachtenden Pädagogen oder dem Ana- 
lytiker nicht mehr leicht fallen zu entscheiden, was 
noch einem Durchgangsstadium der normalen Entwick- 
lung und was schon einem pathologischen Zustand 
angehört. 



114 



Über Menschenkenntnis 

Von Hanns Sachs, Boston 

Einleitung des Buches „Zur Menschenkennt- 
nis. Ein psychoanalytischer Wegweiser für 
den Umgang mit sich und anderen". Inter- 
nationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 
1936. Das Buch enthält folgende Kapitel: 
I. Allgemeines; II. Das Ich im vertrauten Um- 
gang; III. Die anderen — auf Distanz gesehen. 
— Im Anhang; IV. Familie — mit und ohne 
Liebe; V. Vom Glück — ohne Angabe der 
Adresse. 

Es heißt gewöhnlich, unsere Menschenkenntnis werde 
dadurch getrübt, daß wir die anderen Menschen zu sehr 
nach uns selbst beurteilen. Das mag im Grunde und 
im ganzen richtig sein, im Einzelfall ist es meistens 
falsch, und das Gegenteil läßt sich oft erweisen, näm- 
lich, daß der Irrtum daher stammt, daß man die ande- 
ren nicht genug nach sich selbst beurteilt. Freilich 
sucht man, wie das Sprichwort sagt, den Dieb hinter 
dem Strauch, hinter dem man sich selbst versteckt 
hat, aber man sucht ihn doch auch oft genug gerade 
dort nicht, weil man an den Teil des eigenen Ichs, den 
man versteckt hat, nicht gerne erinnert sein will. 

Man beurteilt andere nach sich selbst und tut es mit 
einiger Berechtigung in den Dingen des gemeinen Nut- 
zens, des direkten ökonomischen Vorteils. Der Wunsch, 
billig zu kaufen und teuer zu verkaufen, Gewinn zu 
suchen und Verlust zu meiden, ist eine allgemeine Vor- 
aussetzung, auf die sich bauen läßt. Aber ist das Streben 
nach Gewinn wirklich so ausschließlich, so allgemein 
herrschend, wie man uns erzählt? Wird der materielle, 
ökonomische Gewinn, der mittelbar zur Befriedigung 
der Bedürfnisse und Wünsche der Menschen führt, dem 
unmittelbaren Lustgewinn regelmäßig vorangestellt? Wie 
oft und wie weit handeln wir in den „praktischen" 
Dingen rein praktisch und vernunftgemäß? Wieviel Ne- 

8* 

**5 



benmotive und Seitensprünge sind dabei, nicht nur im 
ökonomischen Verhalten des einzelnen, sondern auch 
der Gesamtheit, der Staaten und Völker untereinander? 
Die Beobachtung zeigt, daß selbst auf dem eigentlich 
ökonomischen Feld, soweit es sich abgrenzen läßt, da, 
wo angeblich kalte Vorteilsberechnung und nüchterner 
Gewinnkalkul alleinherrschend sind, sich so manches 
andere einmischt, was wir „Imponderabilien" zu nennen 
gewohnt sind, weil es sich unter diesem Namen am 
leichtesten vernachlässigen und beiseiteschieben läßt. Der 
ökonomische Motor ist stark genug, um die schwer- 
sten Lasten zu schleppen, aber trotzdem tun noch ein 
paar muntere Pferde Vorspanndienst. 

Denken wir an die Leute, die als so fabelhaft „ge- 
schäftstüchtig" gelten, weil sie ihren Vorteil mit dem 
größten Scharfsinn aufzuspüren, mit der äußersten Be- 
hendigkeit einzuheimsen wissen, wenn er aus der Aus- 
beutung, der Übervorteilung, der Düpierung eines ande- 
ren zu holen ist; diese „Findigen" übersehen den kla- 
ren, einfachen Gewinn, der zu ihren Füßen läge, wenn 
der Fund den anderen nicht zum Schaden, sondern zum 
Nutzen gereichen würde. Eine Abart dieser Gattung ist 
die verruchte Rotte, der man besonders auf Reisen 
begegnet, die Leute, die alles billiger bekommen haben 
als die übrige Welt, die in jedem Hotel, in jedem Laden 
erfolgreich heruntergehandelt, die überall Prozente und 
Rabatte erreicht haben und nun niemals müde werden, 
dies der Mitwelt mit immer neuen Details der Über- 
heblichkeit zu verkünden. Wer glaubt ernstlich, daß 
solche Reisende die Genüsse gehabt haben, die sie zu 
suchen vorgeben. Sie sehen keine Madonnen und Dome, 
keine Felsen und Gletscher, denen zuliebe sie angeblich 
von weither gekommen sind, sondern Preislisten und 
Prospekte und vor allem die Daheimgebliebenen, den 
Kreis der geneigten und noch öfter ungeneigten Hörer, 

denen sie ihre Heldentaten in fernen Ländern erzählen 

werden, die sie doch ebensogut hätten zu Hause ver- 
116 



richten können. Und das „ökonomische", der bare Nut- 
zen, der dabei eigentlich das treibende Motiv sein soll? 
Ich nah' es noch nicht erlebt, daß einer dieser „Besser- 
billiger"-Leute Millionär geworden wäre, und kann den 
Verdacht nicht loswerden, daß die vielen kleinen Siege 
gelegentlich in eine große Niederlage münden, die alle 
Früchte jener reichlich aufwiegt, aber für alle, außer 
den daran Beteiligten, Geheimnis bleibt. 

Oder die gute „Hausfrau", die ihre Wohnung so 
herrlich sauber und blitzblank zu halten weiß, daß 
man „vom Fußboden essen könnte". Tut sie das zur 
Freude der Ihrigen, für den Gesundheitswert einer 
schmutzfreien, hygienischen Umgebung, für die gute 
Instandhaltung und daraus abfolgende Ersparnis? Kei- 
neswegs, das alles ist Selbstzweck, dem diese Gründe 
nur als Vorwand dienen. Familienfriede, Bequemlich- 
keit und Ruhe, selbst hygienisch wichtigere Forderungen 
der Reinlichkeit werden seiner Tyrannei ohne weiteres 
aufgeopfert. 

Geht der Erwerbssinn immer nur so weit, bis die 
Sicherheit der wesentlichen Befriedigungen gewährlei- 
stet ist, oder treibt er nicht oft weit darüber hinaus, 
bis dahin, wo der unersättliche Erwerb der Güter ihren 
Genuß verkümmern oder ganz unmöglich macht, so daß 
der zum Genuß unfähig Gewordene am Schluß keinen 
anderen Ausweg weiß, als das zu verschenken, an des- 
sen Erlangen er sein Leben gesetzt hat? 

Angeblich sind die Menschen unserer Zeit so furcht- 
bar berechnend und schätzen alle Dinge nach dem Geld- 
wert ein. Es bleibt aber noch heute wie jemals das 
beste Mittel, sich jemanden verpflichtet und zur Gegen- 
liebe geneigt zu machen, wenn man ihm gut und sorg- 
fältig, unter Beobachtung aller kleinen Eigenheiten und 
Wünsche, zu essen und zu trinken gibt. Sein Kopf mag 
nachrechnen, aber ein Bodensatz von Dankbarkeit bleibt 
— wenn auch nicht für lange — übrig, der mit dem 
Additionsresultat nichts zu tun haben will. 

H7 



Die Freude an der kleinen Ersparnis ist von dem 
ökonomischen Wert unabhängig — sie wird auch meist 
nicht in der Form geübt, die uns die Moralsprüche 
der Kindheit lehren wollten. Schwarzfahren auf der 
Tram zum Beispiel wird so das Lieblingsdelikt der ehr- 
lichen Leute und tritt an die Stelle der aufgehobenen 
Stecknadel des künftigen Millionärs. Zeit ist bekanntlich 
Geld, und so kennen wir alle wie den Groschen- so 
den Minutensparer, der als Resultat längeren Studiums 
und einiger Hast selig lächelnd eine Viertelstunde auf 
die hohe Kante legt, — von wo er sie nie herunter- 
holen wird. 

Die Lichtausknipser, die Heiz wärme Sparer, die Papier- 
aufbewahrer, wer lächelt nicht über sie und wer gehört 
nicht in irgendeinem Sinne zu ihrer großen Familie? 
Lassen sich die Sammelwütigen abgrenzen und klar in 
vernünftige und unvernünftige scheiden — diese vom 
Bindfadenrest und jene von der Frühgotik? Ihre Ob- 
jekte sind unendlich verschieden, aber nicht ihre Freu- 
den und Leiden, nicht ihr Benehmen, wenn sie ihre 
Schätze aufstapeln und ordnen, nach immer vollständi- 
gerer Vollständigkeit streben, sich durch den Besitz 
an sich ohne Frage nach Nutzen oder Schönheit be- 
glückt fühlen und trauern, weil sie sich von einem Stück 
trennen müssen. Anatole France deutet die Wahr- 
heit auf seine unnachahmliche Weise an, wenn er den 
Zündholzschachtelsammler mit dem großen Gelehrten 
auf seiner Suche nach einem Manuskript zusammen- 
treffen läßt. 

Wie ein Gegensatz dazu — aber manchmal sind es 
dieselben Menschen — erscheinen jene, denen ihr Eigen- 
tum nie gefällt, die mit jedem Einkauf unzufrieden 
sind, wenn er ins Haus kommt, und die sich immer 
ärgern, nicht das bestellt zu haben, was die Leute am 
Nebentisch essen. 

Die Liste läßt sich beliebig verlängern. Kindereien? 
Einverstanden! Aber diese Kindereien machen tausend- 

118 



fach das Glück oder Unglück sogenannter Erwachsener 
und sozusagen Normaler aus, sie beeinflussen ihre Hand- 
lungen, ihren Beruf, ihre Lebensform unvergleichlich 
mehr, als es die offizielle Auffassung zugibt, und als sie 
es selbst wissen. Die Beispiele, willkürlich herausgegrif- 
fen, wie sie sind, haben das eine Gemeinsame, daß sie 
alle auf dem ökonomischen Felde spielen, vom Besitz 
und Erwerb handeln, also von den Dingen, bei denen 
nach allgemeinem Urteil das vernünftige Ermessen, die 
verslandesmäßige Berechnung ganz allein herrschend 
sein muß und deshalb auch ist. Wo sonst ist das Ratio- 
nale im Leben zu Hause, wenn nicht im Wirtschaft- 
lichen? 

Daß auf anderen Lebensgebieten das Irrationale, die 
Imponderabilien, die Unter töne und Nebengeräusche, 
die Überraschungen und Rätselhaftigkeiten zu Hause 
sind, wird niemand leugnen. Werfen wir lieber keinen 
Seilenblick auf das Nachbarfeld, die Politik! Es bleibt 
noch sonst des holden und unholden Wahnsinns genug. 
Schweigen wir einstweilen noch von der Liebe — wir 
wissen ohnehin, wie oft sie allem Planvollen und Ich- 
gerechten und am Ende noch sich selber widerspricht; 
ohne doch an einem dieser Widersprüche zu scheitern. 
Der närrische Maskenzug bietet hinreichend Abwechs- 
lung, wenn wir nur auf einige der buntgemischten 
Gegensätze, wie Mut und Angst, Eitelkeit und Selbst- 
preisgabe, Eigensinn und Gehorsam achten wollen. Oder 
heben wir nur ein einzelnes Phänomen heraus: die 
Freundschaft zwischen Personen desselben Geschlechts, 
die Männerfreundschaft, die in so vielen ernsten Din- 
gen, wie Beruf und Politik, eine große Rolle spielt. 
Lassen wir alles Wissen und alle Mutmaßungen über 
mibe wußte Grundlagen beiseite, halten wir uns einfach 
und ehrlich an die Tatsachen unserer alltäglichen Er- 
fahrung. Das Auftauchen und das Vergehen solcher 
Freundschaft, das Werben und das Umworbenseinwol- 
len, die Eifersucht und das Schuldgefühl der Untreue, 

n 9 



das Umschlagen in Haß oder das Absinken in Gleich- 
gültigkeit, das alles trägt deutlich die Charaklerzüge 
und die Spannungsformen eines einzigen Gefühls in 
sich: der Liebe. Am deutlichsten ist dies natürlich 
bei Jugendlichen, bei denen die Affekte geradeaus und 
die Leidenschaften ungebrochen sind, aber es bleibt, 
wenn auch von dichteren Schleiern bedeckt, im Grunde 
immer dasselbe. Die Psychoanalyse hat sich das Recht 
geschaffen, nicht nur das versteckt Irrationale und Affek- 
tive in der Freundschaft, sondern all das andere, all 
die „Imponderabilien", von denen wir gesprochen haben, 
all die merkwürdigen Gestalten der Leidenschaften und 
der Phantasie, die unsichtbar oder unkenntlich bleiben, 
weil sie sich zwischen den Möbelstücken und Vorhängen 
der Alltagswelt zu verstecken wissen, sämtlich in den 
großen Triumphzug des Eros einzureihen, sie als Ab- 
wandlungen und Ausdrucksformen der Liebe — das 
Wort im weitesten und wahrsten Sinne genommen — 
anzuerkennen. 

Wir brauchen uns nicht darum zu kümmern, ob das 
Kapitel „Männerfreundschaft" mit Recht den Titel „sub- 
limierle, latente Homosexualität" führt oder nicht. Wir 
lassen die Fragestellung der Wissenschaft nach Her- 
kunft und Einordnung mit Seelenruhe beiseite. Augen- 
blicklich ist nur das eine wichtig: Können wir aus der 
Auffassung der Analyse praktischen Nutzen ziehen? Läßt 
sich daraus etwas lernen über die Art, wie sich Men- 
schen untereinander verhallen, was nicht bloß für den 
Theoretiker und den in sein Laboratorium Gebannten 
wissenswert ist? 

Ich glaube, das ist nicht unmöglich und ein Versuch 
wohl der Mühe wert — vorausgesetzt, daß die Bereit- 
schaft da ist, in einem einzigen Punkte mit einer ge- 
heiligten Tradition zu brechen und die Dinge unter 
einem anderen Gesichtswinkel zu sehen, als es bisher 
von fast allen Menschen, den Dichtern und sonstigen 
Märchenerzählern geschehen ist. 



120 



Nämüch: 

Wer das Verstandesmäßige und Vernünftige, das Lo- 
gische und Intellektuelle in der Menschennatur für das 
Eigentliche erklärt und sich damit als mit dem Richti- 
gen, Regelmäßigen und Wesentlichen befaßt, die ande- 
ren Dinge aber nur als Ausnahmen, Untertöne, Ver- 
ranntheilen, kurz als Zufälligkeiten ansieht, für die es 
nicht der Mühe wert ist, eine Regel zu verfassen oder 
ihr Gesetz zu finden, der kann freilich ein ordentliches, 
zusammenhängendes, gut und klar ausgebautes System 
errichten, das gut darstellbar ist und jedermann ein- 
leuchten muß. Besonders wenn er als Fundament für 
sein Gebäude verschiedene „Du sollst" nimmt, die in 
der Psychologie, die so lange die Tochter — und mei- 
stenteils das Stiefkind — von Theologie und Philo- 
sophie gewesen ist, immer billigst zu haben sind. Doch 
kann es einem solchen begegnen, daß er in einem Mo- 
ment der Selbstkritik findet, daß das, was er für seine 
reine Logik und Ethik hielt, Himmelstöchter sind, die 
aus recht merkwürdigen Regionen stammen. Diese Art, 
von den Menschen zu denken, ist freilich gut, solange 
man zu Hause sitzt, besonders wenn man dabei ein 
Lehrbuch der Psychologie schreibt. Wer sich ihrer be- 
dienen will, um mit den wirklichen Menschen zu leben, 
der wird nicht besser fahren als einer, der im Kaffern- 
kral mit Hilfe seiner guten Kenntnis der Trigonometrie 
sein Fortkommen zu finden hofft. 

Wir wollen uns vornehmen, den anderen, unteren 
Weg zu gehen, das, was als Hauptsache gilt, einfach 
zu ignorieren und die Allotria in den Mittelpunkt zu stel- 
len: eine Schulstunde für Papierkugelschmeißen und 
Gesichterschneiden, während die Schulbücher nur unter 
der Bank gelesen werden dürfen. 

Von einem System, von Ordnung und Zusammenhang 
kann dabei keine Rede sein — dazu reicht unsere 
Kenntnis des Überraschlichen, der geheimen Hinter- 
gründe des Menschlichen noch lange nicht aus. Ilaben 



121 



wir doch eben erst begonnen, ihre Existenz einzusehen, 
ihre Wichtigkeit anzuerkennen. 

Also bestenfalls Winke und Hinweise an Stellen, wo 
gerade ein Lichtstrahl in den Urwald eingedrungen ist, 
ein lustiges Stück Sträßlein, das irgendwo anfängt und 
ein paar Meilen vor nichts Besonderem wieder auf- 
hört, eine Schiffahrt, die dauert, solange der günstige 
Wind in die Segel bläßt, eine Weisheit, die darauf ge- 
faßt ist, sich selbst ins Gesicht zu lachen. 

Hingegen — wenn man will, als Entgelt für die ge- 
habte Mühe — läßt es sich jederzeit leicht kontrollieren, 
ob die menschlichen Dinge wirklich so sind, wie sie 
dargestellt werden, und ob es nützlich ist, sie von dieser 
Seite her kennenzulernen. Nebenbei kann möglicherweise 
auch etwas Erheiterung abfallen, denn es ist amüsant, 
Narrheilen zu sehen, — wenn die Narren auf der Bühne 
sind und wir selbst ganz gewiß sein dürfen, daß wir 
uns im Zuschauerraum befinden. 

Und nun zurück zu unserem Ausgangspunkt: Wann 
und wie irren wir, weil wir die anderen zu wenig nach 
uns selbst beurteilen? 

Schalten wir zuerst die allgemeinen Fehlerquellen aus, 
die nichts zu dieser besonderen Art des Irrtums beitra- 
gen. Wir glauben natürlich hier wie überall am liebsten 
und festesten das, was wir wünschen, denken uns also 
die anderen so, wie es zur Erreichung unserer Zwecke 
am dienlichsten ist. Den Menschen, die wir lieben, 
legen wir die edelsten Motive unter, in den Handlungen 
jener, denen wir abgeneigt sind, sehen wir den Aus- 
fluß ihrer Gemeinheit, Dummheit und Böswilligkeit, 
kurzum einen neuen Grund zum Haß — das ist nichts 
Besonderes, Ähnliches geschieht immer und überall. 

Wir haben uns geschworen, nicht nach dem Verstän- 
digen und Seinsollenden, dem logischen und idealen 
Aufputz zurückzuschielen. Aber heißt das nicht, ohne 
Kompaß auf Entdeckungsreisen gehen? Es will so schei- 
nen, denn, wenn Vernunft und Logik über Bord gewor- 



122 



fen worden sind, wo soll da irgendeine Gesetzmäßigkeit 
zustande kommen? Daher also, mein Lieber, das 
Schimpfen aufs System, die Vorliebe für „Winke" — 
weil dort, wo bloße Willkür herrscht, Unkenntnis die 
Regel sein muß? Keineswegs, denn wir geben das Ge- 
setz von Grund und Folge nicht auf, auch wenn es, 
wie die moderne Physik lehrt, vor dem Unendlich- 
Kleinen und dem Unendlich-Großen haltmacht, — denn 
der Mensch ist weder das eine noch das andere, und 
sein Fühlen ist wie sein Denken an Regeln gebunden, 
von denen er freilich wenig weiß und noch weniger 

wissen will. 

Wenn wir das Unbekannte, statt es abzuleugnen, 
ins Riesenhafte vergrößern und mit einem „alles ist 
möglich" resignieren, dann sind wir allerdings auf kür- 
zestem Wege wieder heimgelangt zu den vertrauten 
Stätten. 

Es gibt nur einen Weg, uns an den Glauben an die 
Gesetzmäßigkeit des Regelwidrigen, an den Sinn des 
Widerspruchsvollen zu gewöhnen, und das ist der Um- 
gang mit uns selbst, ein wenig Vertrautheit mit dem, 
was in uns, mit uns geschieht. Denn daß in uns selbst 
die Dinge auf irgendeine Weise zusammenhängen, daß 
wir nicht einfach durch blinden Zufall so sind, wie 
wir sind, und ebensogut ganz anders sein könnten, 
— davon sind wir doch hinreichend fest überzeugt, 
den Standpunkt werden wir uns so leicht nicht weg- 
nehmen lassen. 

Es ist also nur notwendig, daran zu denken, wie viele 
Überraschungen wir schon an uns selbst erlebt haben. 
Wir wissen, wo unsere Liebe, unser Haß gewachsen 
ist? Von woher ist uns Trauer, Enttäuschung, Entzau- 
berung ins volle Glas der Lust gefallen? Warum ließ 
uns in anderen Tagen das Schwerste ungerührt? „Eine 
solche Niedertracht ist unmöglich, Undankbarkeit in 
diesem Ausmaß kann nicht vorkommen, so weit kann 
Grausamkeit in menschlichen Grenzen nicht gehen!" 

125 



— aber laßt uns nicht an den Nächsten, sondern etwas 
näher denken, an alles, was wir getan haben und, wenn 
nicht getan, gewünscht und, wenn nicht gewünscht, 
phantasiert und, wenn nicht phantasiert, — geträumt! 
Nehmen wir uns selbst im vollen und ganzen, mit allen 
unseren Möglichkeiten, mit allein, was in uns versteckt 
ist und auftaucht und wieder verschwindet, nicht nur 
mit unseren Wünschen und Tagträumen, auch mit unse- 
rer Angst und ihren geheimen Drohungen, und wir 
werden die anderen am besten verstehen, wenn wir 
sie „nach uns" beurteilen. 

Eine gute Hilfe sind hier, wie fast stets, die Dichter. 
Denn bei den Menschen, die sie nach ihrem Bilde ge- 
schaffen haben, wird es ganz deutlich, daß sie zugleich 
nach unserem Bilde geschaffen sind. Wir verstehen 
Macbeth und Hamlet, die ganze Schar der Brüder Kara- 
masow, wir wissen, daß sie alle wahr und wirklich 
sind, — aber doch nicht etwa durch Vergleichung 
mit den Menschen, denen wir begegnet sind? Keine 
Rede davon, wir werden von ihnen ergriffen, von 
ihren Schicksalen erschüttert, von ihren Leidenschaften 
mitgerissen, weil wir in ihnen uns selbst begreifen — 
unsere geheimsten, verborgensten Möglichkeiten (die 
Psychoanalyse nennt es: unser Unbewußtes). 

Es wird also doch wohl so sein, daß die Vorausset- 
zung auch nur für die Bereitwilligkeit zum Versuch, 
andere Menschen zu verstehen, daran gebunden ist, daß 
wir sie nach uns beurteilen — aber freilich nach unse- 
rem wirklichen Ich. 

Die Warnung, andere nicht nach sich selbst zu beur- 
teilen, behält trotzdem ihren guten Sinn oder erhält 
ihn vielleicht jetzt erst: Denn „nach sich", das heißt 
im gewöhnlichen Sinne nach dem, wie wir selbst den 
anderen erscheinen wollen, oder nach dem Ich, das wir 
zu sein glauben, vielleicht auch nach einem Ich, das 
wir abgelegt haben, oder einem, dem wir nachstreben 
möchten, — es gibt viele Mittel der Selbsttäuschung 

124 



und zu jedem gehört eine eigene Art, sich über die 
anderen täuschen zu lassen. 

Und doch: Wir selbst sind der einzige Weg zur 
Menschenkenntnis, und der Weg wird nicht offen sein, 
bis wir es alle in unserem Schulbuch stehen haben: 
Homo sapiens — eine noch wenig erforschte Gattung. 



125 



Aus einem Handwörterbuch der 
Psychoanalyse 

Von Richard Sterba, Wien 

Der Internationale Psychoanalytische Ver- 
lag in Wien hat mit der Herausgabe eines 
von Dr. Richard Sterba verfaßten „Hand- 
wörterbuches der Psychoanalyse" begonnen, 
das auf etwa 15 Lieferungen berechnet ist. 
Die beiden ersten Lieferungen (Abasie — 
Buße) sind im Mai, bezw. August 1936 er- 
schienen. Die folgenden Lieferungen werden 
in Abständen von etwa 2 bis 3 Monaten er- 
scheinen, so daß das ganze Werk ungefähr 
Ende 1938 im Druck vorliegen wird. 

Abhängigkeiten des Ichs (dependence of the ego; suj£- 
tions du moi.) 

Das Ich als seelische Instanz zeigt dreierlei Abhängig- 
keiten. 1. Von der Außenwelt, entsprechend der Wahr- 
nehmung der Außenwelt als einer der Funktionen des 
Ichs; 2. vom Es, resp. von den Libidoansprüchen dessel- 
selben, bedingt durch die Tatsache, daß der Zugang zur 
Motilität, also zur Triebabfuhr, nur über das Ich mög- 
lich ist und 3. vom Über-Ich, das das Ich für seine 
Handlungen, aber auch sogar für Wünsche des Es, 
die dem Ich unbewußt bleiben, verantwortlich macht. 
Diese drei Abhängigkeiten gestalten die Lage und Auf- 
gabe des Ichs oft sehr schwierig, besonders da die An- 
forderungen, die von den „drei gestrengen Herren" 
(Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung 
m die Psychoanalyse, Ges. Sehr., Bd. XII, S. 332) an das 
Ich gestellt werden, einander oft widersprechen. Das 
Ich versucht harmonisch zwischen ihnen zu vermitteln. 
Wenn es an seinen Aufgaben versagt, kommt es zur 
Angstentwicklung; zur Realangst, wenn es der Abhängig- 
keit von der Außenwelt zu wenig Rechnung trägt, 
zur Gewissensangst, wenn es den Anspruch des Über- 

126 




Ichs nicht befriedigt, zur neurotischen Angst vor den 
allzustarken Triebansprüchen des Es (s. Ich). 

Aggressionstrieb (aggressive impulse or instinct; pulsion 
agressive ou instinct d'agression) 

Die Aggressionsneigung im Menschen, die in so zahl- 
reichen Aggressionen des Einzelnen und der Masse 
gegen die Objekte manifest wird, noch viel intensiver 
aber im Unbewußten wirkt, so daß zahlreiche Reaktions- 
bildungen des Ichs gegen sie wirksam erhalten werden 
müssen, suchte die Psychoanalyse zunächst auf die ur- 
anfängliche Ablehnung der reizzuführenden Außenwelt 
von Seiten des narzißtischen, nach Reizlosigkeit ver- 
langenden Ichs zurückzuführen. Die Intensität und Un- 
ersättlichkeit der aggressiven Strebungen war aber da- 
mit nicht geklärt. Erst die Theorie vom Todestrieb 
(s. d.) gibt genügend Erklärungsmöglichkeit für die 
Macht und Ausbreitung der aggressiven Regungen. Wenn 
die selbstzerstörende Tendenz, die als Todestrieb jedem 
Individuum innewohnt, in Aggression gegen die Ob- 
jekte umgewandelt und so vom eigenen Ich abgehalten 
wird, dann sind die Aggressionsimpulse als triebmäßi- 
ges Geschehen biologisch begründet und ihre zusam- 
menfassende Bezeichnung als Aggressions t r i e b gerecht- 
fertigt. Reiner Aggressionstrieb wird nicht beobachtet. 
Der Aggressionstrieb findet sich vielmehr regelmäßig 
in Verbindung mit libidinösen Triebkomponenten und 
wird in dieser Verbindung als Sadismus gegen Objekte, 
als Masochismus gegen das eigene Ich betätigt. Die Bei- 
mengung aggressiver Komponenten zu den libidinösen 
Äußerungen ist auf der kannibalischen (s. d.) Organi- 
sationsstufe der Libido am intensivsten; geringer, aber 
noch deutlich auf der anal-sadistischen (s. d.) Stufe; 
sie äußert sich auch noch auf der genitalen (s. d.) 
Stufe, auf der sie die Eroberung des Objektes gewähr- 
leistet. Zahlreiche Dämme müssen im Laufe der Ent- 
wicklung zum Kulturmenschen gegen den Aggressions- 

127 



Irieb aufgerichtet werden, so das soziale Empfinden, 
das Mitleid, die religiösen Institutionen. Trotzdem kommt 
es gelegentlich zu großartigen Ausbrüchen des Aggres- 
sionstriebs, besonders wenn gemeinsames Vorgehen in 
großer Masse das Schuldgefühl vermindert, wie etwa 
im Kriege. 

Zahlreiche neurotische Symptome stellen Schutzmaß- 
regeln gegen die aggressiven Regungen dar, so etwa ist 
die Eßstörung des Melancholikers ein Schutz gegen 
kannibalische Regungen, die Vermeidungen der Zwangs- 
neurotiker, die Berührungsfurcht dienen der Abwehr 
aggressiver Regungen, ja in jedem neurotischen Sym- 
ptom muß die Analyse neben den libidinösen auch die 
aggressive Komponente aufdecken. Auch in der Ver- 
wahrlosung (s. d.) spielen die aggressiven Regungen 
eine große Rolle. An der Genese des Schuldgefühls 
(s. d.) ist der Aggressionstrieb wesentlich beteiligt. Wird 
der Aggressions trieb nämlich von der Abfuhr an Ob- 
jekten der Außenwelt abgehalten, dann kann er sieh im 
Über-Ich (s. d.) sammeln, das dadurch streng und un- 
erbittlich wird und in sadistischer Weise das Ich zu 
quälen beginnt. Es nimmt dann das Schuldgefühl zu, 
wenn die Aggression nach außen gehemmt wird. Aber 
auch eine Umkehr in Masochismus (s. d.) ist möglich, 
wenn die Aggression nach außen eine Hemmung er- 
fährt. 

Die Bewältigung des Aggressionstriebes gehört zu den 
schwierigsten Aufgaben der kulturellen Menschheit und 
man muß erkennen, daß bisher diese Aufgabe vom 
Einzelnen wie von der Gesamtheit nur mangelhaft ge- 
löst wurde. 

Allmacht der Gedanken (omnipotence of thought; toilte- 
puissance de la pensee) 

ist ein Terminus für eine bestimmte Einstellung zur 
eigenen Gedankenwelt. Man findet diese Einstellung beim 
Primitiven, beim Kind, besonders im frühen Alter und 

128 



beim Neuro Li ker, insbesondere beim Zwangsneurotiker. 
Der Gedanke besitzt darin die Gültigkeit und Wertigkeit 
eines Geschehens, die Vorstellung die Gültigkeit und 
Wertigkeit einer Tatsache, der Wunsch die einer Tat. 
Die Ursache dieser Überschätzung der psychischen 
Geschehnisse gegenüber der Realität liegt in der beson- 
deren Einstellung des Kindes und des Primitiven zu 
sich selbst, welche Einstellung auch im Neurotiker 
partiell erhalten bleibt. Das Kind hält bis zu einer ge- 
wissen Phase seiner Entwicklung sich selbst für den 
Mittelpunkt allen Geschehens und wird darin bestärkt 
durch die Bereitwilligkeit der pflegenden Umgebung auf 
Äußerung eines Verlangens mit Erfüllung zu reagieren, 
wie es ja in der Brutpflege vielfach nicht vermeidbar 
ist. Das Kind lebt so in einem ausgesprochenen Grö- 
ßenwahn, der der Ausdruck seiner Selbstliebe ist. Im 
Primitiven bleibt diese Einstellung weitgehend, im Neu- 
rotiker zum Teil erhalten. Der starken libidinösen Be- 
setzung des eigenen Selbst, die Narzißmus (s. d.) ge- 
nannt wird, entstammt die hohe Wertschätzung der 
eigenen psychischen Regungen, die darum eben für 
allmächtig gehalten werden. Ausdruck dieser Allmacht 
der Gedanken ist die Technik der Magie (s. d.), die 
darin besteht, daß ein ideelles oder gedachtes Gesche- 
hen für ein tatsächlich wirksames gehalten und ver- 
sucht wird, die Außenwelt auf diesem gedachten oder 
bildhaft dargestellten Wege zu bewältigen. Folge der 
Allmacht der Gedanken ist, daß, da der böse Gedanke 
und der böse Wunsch psychisch den Wert der Tat be- 
kommen, die Strafe vom Gewissen her so verhängt wird, 
als ob das Ich die Tat real begangen hätte. 



9 Almanach 1937 

129 



Die Bedeutung des Werkes Sigm. Freuds 
für die Sozial- und Rechtswissenschaften 

Zu Sigm. Freuds 80. Geburtstag, 6. Mai 1936 
Von Robert Wälder, Wien 

Aus „Revue Internationale de la Theorie du 
Droit — Internationale Zeitschrift für Theorie 
des Rechts 1 ', offiziellem Organ des „Institut 
International de Philosophie du Droit et de 
Sociologie juridique" , herausgegeben von Louis 
Le Für, Gasion Jeze, Hans Reisen, Fr. Weijr, 
X. Jahrg., 1936. Wiederabdruck mit Genehmi- 
gung der Redaktion und des Verlages Rudolf 
M. Rohrer, Brunn. 

Sigmund Freud ist der Begründer der Psychoanalyse. 
Seine Beiträge zu diesem Wissensgebiet liegen in bisher 
zwölf Bänden Gesammelter Schriften vor 1 ). Wir wol- 
len in folgendem mit einigen Bemerkungen über das 
Wesen der Psychoanalyse beginnen, um sodann ihre 
möglichen Anwendungen in Sozialwissenschaflen und 
Rechtswissenschaften zu skizzieren. 

I. Vom Wesen der Psychoanalyse 

Die Psychoanalyse wurde ursprünglich als ein Ver- 
fahren zur Behandlung hysterisch Erkrankter entdeckt. 
Sehr bald verstand man unter dem Wort zweierlei: 
die Methode und die mit ihr gewonnenen Resultate; 
unter der Methode verstand man sowohl eine Unter- 
suchungsmethode als auch ein Heilverfahren. Es liegt 
im Wesen der Psychoanalyse, daß diese beiden Dinge, 
Untersuchungsverfahren und Heilverfahren, weitgehend 
zusammenfallen. 

Von diesem ihrem Ausgangspunkt aus, der Behand- 
lung von Hysterien, ist die Psychoanalyse zu einem 
System der normalen und pathologischen Psychologie 

i) Freud: Ges. Sehr., Bd. I bis XII, 1921 bis 1934. 
130 



überhaupt geworden. Es wäre gewiß auch denkbar, daß 
sie bei der Beschäftigung mit normal-psychologischen 
Problemen gefunden worden wäre. Es gilt hier etwas 
ähnliches wie für die Entdeckung der Elektrizität durch 
die Froschschenkelexperimente Galvanis; für die Elek- 
trizitätslehre ist es nicht wesentlich, daß sie im Verlauf 
biologischer Versuche geboren wurde. 

Die Methode. Die Psychoanalyse verfolgt in der 
Untersuchung des menschlichen Seelenlebens eine be- 
stimmte Methode. Diese Methode klingt einfach und 
beinahe selbstverständlich. Es wird mit der Versuchs- 
person, wie man in der Sprache der Experimental- 
psychologie sagen würde, oder mit dem Analysanden, 
wie man in der Psychoanalyse zu sagen pflegt, ein 
Übereinkommen geschlossen: er wird darauf verpflich- 
tet, während der Analyse, der in der Regel eine Stunde 
täglich gewidmet wird, den ganzen Inhalt seines Er- 
lebnisstromes auszusprechen, gleichsam laut zu denken. 
Er verpflichtet sich damit zur Befolgung einer Regel, 
alles, was in ihm vorgeht, Gedanken und Einfälle, Im- 
pulse und Affekte, unterschiedslos in der Form auszu- 
sprechen, wie es ihm einfällt, d. h. alle bewußten Aus- 
wahlprinzipien des Denkens (z. B. Zugehörigkeit zu 
einem bestimmten Thema, ästhetische oder ethische 
Prinzipien, Relevanzkriterien aller Art) auszuschalten. 
Dem Impuls zur Unterdrückung eines Gedankens soll 
der Analysand dementsprechend nicht nachgeben, diesen 
Impuls aber, als einen seelischen Vorgang wie jeden 
anderen, aussprechen. In der Analysestunde soll so das 
Ganze des Erlebnisstromes ausgebreitet werden und dann 
mit Hilfe des Analytikers untersucht werden. Dazu ge- 
hören selbstverständlich auch die Erzählungen über 
gegenwärtiges und vergangenes Leben. Somit unterschei- 
det sich die Psychoanalyse schon in ihrem Ansatz sehr 
wesentlich von anderen Methoden der Psychologie. Auch 
bei anderen psychologischen Methoden werden Versuchs- 
personen aufgefordert, Erlebnisse zu Protokoll zu geben, 

9* 

131 



allein es handelt sich stets um Ausschnitte aus dem Er- 
lebnis, die von der Versuchsperson selbst unter gewissen, 
ihr mitgeteilten oder von selbst wirkenden Zielvorstellun- 
gen ausgewählt werden. Der Analytiker dagegen ist be- 
strebt, die Gesamtheit der seelischen Vorgänge kennen- 
zulernen. Es ist selbstverständlich, daß er dem Benehmen 
des Analysanden, soweit er es entweder direkt beobach- 
ten kann oder aus den Mitteilungen des Analysanden er- 
fährt, die gleiche Aufmerksamkeit widmet. Dieses Ver- 
fahren scheint schon durch die wissenschaftliche Exakt- 
heit gerechtfertigt und geboten; solange man nur einen 
Ausschnitt des seelischen Lebens kennenlernt, vermag 
man nicht zu entscheiden, wieviel Relevantes dabei 
draußen bleibt. Die Grundforderung der Analyse ist da- 
her einfach ein Gebot wissenschaftlicher 
Vollständigkeit. 

Dabei erweist sich sehr bald, daß sich der Analysand 
zwar, unter Einsicht der Notwendigkeit, auf diese Re- 
gel verpflichtet hat, aber doch nur sehr angenähert 
nach ihr handelt. Das ganz bewußte Verschweigen von 
manchen Dingen kommt im Anfang der Analyse vor, 
aber auch später zeigt es sich, daß die Befolgung der 
sogenannten psychoanalytischen „Grundregel" gleichsam 
nur eine unendliche Idee ist und daß in praxi immer 
wieder Gedanken übersprungen, als unwichtig nicht aus- 
gesprochen werden, daß gewisse Dinge, die den Analy- 
sanden sehr beschäftigen, ihm gerade in der Analysen- 
stunde nicht einfallen, u. dgl. m. Es ist nun Aufgabe des 
Analytikers, gleichsam zu erraten, an welchen Stellen 
die Regel der Analyse nicht befolgt ist, um die Kräfte 
zu verstehen, die hier dem Vorsatz des Analysanden 
entgegenwirken. Durch den Versuch, jeweils diese Ge- 
genkräfte zu erfassen, sich über ihre Motive klar zu 
werden, schreitet die Analyse allmählich vorwärts und 
begegnet dabei sehr bald den Konflikten des Menschen 
und den Lösungsversuchen, die er sich in diesen Kon- 
flikten aufgebaut hat. 

132 



Das Unbewußte. Der wichtigste Grundgedanke 
der Psychoanalyse ist dabei der, daß gleichsam nur ein 
Teil der seelischen Vorgänge normalerweise ins Be- 
wußtsein ragt, daß ein großer Teil unbewußt abläuft 
und daß die bewußten Vorgänge jeweils Fragmente, 
oder richtiger gesagt, Ellipsen mit ausgefallenen 
Zwischengliedern sind. Es gilt, den vollständigen Ge- 
dankengang herzustellen, der zu einem System von Ten- 
denzen und Gegentendenzen, von innerer Rede und 
Gegenrede führt. 

Das Modell der psychischen Persönlich- 
keit. Aus außerordentlich zahlreichen Einzeluntersu- 
chungen hat sich dabei ein Modell der seelischen Vor- 
gänge ergeben, gleichsam ein Rahmen, in den dann die 
zahlreichen Einzelvorgänge eingetragen werden können. 
Die Psychoanalyse hat zu einem dreiteiligen Modell 
des menschlichen Verhaltens geführt. Wir unterscheiden 
drei Systeme oder Schichten der menschlichen Persön- 
lichkeit, die als Es, Ich und Über-Ich bezeichnet 
werden. 

Wir verstehen unter dem Es das menschliche Trieb- 
leben. Trieb wird von Freud definiert als „ein Grenz- 
begriff zwischen Seelischem und Somatischem, ...als 
ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen 
zufolge seines Zusammenhangs mit dem Körperlichen 
auferlegt ist" 2 . Mit den Trieben taucht der Mensch 
gleichsam ins Biologische ein. 

Das Ich bezeichnet die zentrale Steuerung des Orga- 
nismus. Es ist sozusagen das Zentrum der Persönlich- 
keit, das, was wir eigentlich meinen, wenn wir „ich" 
sagen. Es ist jener Teil der Persönlichkeit, der Kon- 
takt mit der Außenwelt hat und die Funktion der Reali- 
tätsprüfung entwickelt (der Prüfung, ob etwas real ist 
oder nicht). Dem Ich kommt weiters die Funktion der 



2 ) Triebe und Triebschicksale, Ges. Sehr., Bd. V, 
S. 447. 

135 



Antizipation des Zukünftigen zu: die Folgen einer jetzi- 
gen Handlungsweise in der Zukunft werden in schwä- 
cheren Dosen antizipiert und beeinflussen damit mein 
jetziges Handeln. Auf diese Weise wird das für die 
Triebe geltende Lustprinzip zum Realitätsprinzip modi- 
fiziert 3 ). Zu dieser Antizipation gehört die Angst, die 
in der Gefahr auftritt, als Vorwegnahme der zu gewär- 
tigenden Katastrophe in minimaler Dosis; hiedurch wird 
eine biologische Funktion erfüllt, da das Handeln des 
Menschen durch diese Antizipation so modifiziert wird, 
daß er das Eintreten der Katastrophe zu vermeiden 
vermag. Die Angst wirkt somit nach Art einer Imp- 
fung, in der auch eine abgeschwächte Dosis der Krank- 
heit gegen die Krankheit immunisieren soll. Durchaus 
ähnlich ist auch der Vorgang beim Denken, das von 
Freud als eine Art von Probehandeln mit mikrosko- 
pisch kleinen Dosen beschrieben wird; „ähnlich wie die 
Verschiebung kleiner Figuren auf der Landkarte, ehe 
der Feldherr seine Truppenmassen in Bewegung setzt".*) 
Außer dem Kontakt mit der Realität und der Funk- 
tion der Antizipation kommt dem Ich die Funktion der 
Verarbeitung zu, alles, was Methode ist. Wir werden 
später darauf zurückkommen. 

Die dritte Instanz ist schließlich das Über-Ich. Es 
umfaßt die inneren Normen des Menschen. Allgemein 
gesprochen, handelt es sich um eine Art Stufenbildung 
im Ich, um eine Stelle, in der der Mensch sich selbst 
zum Gegenstand nimmt: kritisch-strafend (etwa im Ge- 
wissen) oder tröstend (wie etwa beim wahrhaften Hu- 
moristen) oder emotionell-neutral (in der Selbstbeob- 
achtung, in der Ausschaltung des eigenen Standortes; 
hierher gehört, was die Philosophen transcendentales 

») Formulierungen über die zwei Prinzipien des psy- 
chischen Geschehens, Ges. Sehr. Bd. V, S. 409 ff. 

4 ) Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfüh- 
rung in die Psychoanalyse, S. 124; Ges. Sehr., Bd. VII, 



134 



cgo nennen). Somit fließt das Über-Ich zusammen mit 
dem, was die philosophische Anthropologie als Wesen 
des Menschen gegenüber dem Tierreich abgrenzt. 

Das Ich des Menschen steht nun jeweils vor einer 
Anzahl von Aufgaben. Einerseits werden ihm Aufgaben 
von den Trieben gestellt, die Befriedigung erheischen. 
Sodann trägt die Realität in jedem Augenblick Anforde- 
rungen an den Menschen heran. Ebenso meldet sich 
das Über-Ich mit seinen Anforderungen, die für das Ich 
gleichfalls den Charakter der Aufgabe haben. Schließ- 
lich, viertens, stellt das Ich sich selbst Aufgaben; es 
ist nicht bloß der Diener dieser Nicht-Ich-Instanzen 
(Es, Über-Ich, Außenwelt), sondern stellt sich selbst 
die Aufgabe, diese Welten allmählich in seine Gewalt 
zu bekommen, von sich aus zu steuern. 

Diese Aufgaben sind in sich widersprechend. Es 
scheint nun ein Gesetz zu sein, daß das menschliche 
Ich bestrebt ist, in jedem Augenblick einen Lösungs- 
versuch zu finden, der mehr oder weniger, schlecht 
oder recht, diesen vielfältigen Aufgaben gerecht wird. 
In idealer Weise ist das natürlich unmöglich; es werden 
stets in einem Akt einige Aufgaben besser gelöst sein 
als andere. Dies scheint die Grundlage für die Unrast 
des menschlichen Daseins zu sein, für ein Stück Leiden 
also, aber auch ein Motor für das ewige menschliche 

Streben. 

In dieser seiner Tätigkeit, Lösungen für die vielfäl- 
tigen und widerspruchsvollen Aufgaben zu finden, ent- 
wickelt nun das Ich eine große Zahl von Lösungsver- 
suchen oder Lösungsmethoden. Wir schließen damit 
an den zuvor fallen gelassenen Gedanken an, daß alles, 
was Verarbeitung oder Methode im Seelenleben ist, zum 
Ich gehört. 

Das Ich macht nun einen ungeheuren Entwicklungs- 
weg durch, und zwar mit jeder seiner Funktionen. Der 
Kontakt mit der Außenwelt entwickelt sich von den 
ersten Tagen immer weiter und geht durch Phasen 

135 



mythischen und magischen Denkens zu dem Maße von 
Realbeziehung, das schließlich erreicht wird. Die Anti- 
zipation des Künftigen entwickelt sich, das gereifte 
Ich. spannt immer weitere Bogen in die Zukunft hinein. 
Die Verarbeitungsmethoden schließlich machen eine Ent- 
wicklung durch von den primitiven Methoden des un- 
reifen Ichs zu den aufgabeadäquaten des gereiften Ichs. 
Zu den primitiven Lösungsmethoden des unreifen Ichs 
gehören verschiedene Verhaltungsweisen; eines der ein- 
fachsten Beispiele ist das Verhalten gegenüber der Ge- 
fahr. Es wäre ein Verfahren des zur vollen Reife ge- 
langten Ichs, die Gefahr in ihrem richtigen Ausmaß 
einzuschätzen, sie weder zu überschätzen noch zu unter- 
schätzen und die zweckmäßigen Mittel anzuwenden, um 
ihr zu begegnen. Diesen Zustand der Reifung scheinen 
nicht allzuviele Menschen zu erreichen; die Reaktion 
des primitiven Ichs, wie sie jedenfalls in der Kindheit 
vorherrschend ist, ist nicht so. Die Gefahr wird ent- 
weder grotesk überschätzt und es werden übertriebene 
Maßnahmen zu ihrer Vermeidung getroffen oder die 
Gefahr wird verleugnet oder die Mittel, die zu ihrer 
Vermeidung gewählt werden, sind inadäquat. Hierher 
gehören alle magischen Mittel, sich vor der Gefahr zu 
schützen; gehören die Einschränkungen menschlicher 
Möglichkeiten, die in der Regel der Kaufpreis sind für 
die Anpassung an die Realität, die die Erziehung dem 
Kind gegenüber vertritt. Der Reichtum dieser primitiven 
Methoden ist geradezu ungeheuer. 

Wir haben also im Ich die primitiven Verfahrens- 
weisen und Lösungsmethoden des primitiven Ichs und 
die sacha däquaten des gereiften 5 ) Ichs zu unterscheiden. 

5 ) Der Terminus „reifes Ich" enthält an und für sich 
noch keine Wertung. Er entspricht nur dem Sachver- 
halt, daß in der Entwicklung des Individuums 
das Ich in der Kindheit gewisse Stufen, z. B. der Magie, 
durchläuft und daß diese Reaktionen mit der Erreichung 
des Erwachsenenalters zum großen Teil abgebaut und 
insoweit durch andere ersetzt werden. Es steht natür- 

136 



Es gibt nun verschiedene Motivationen des mensch- 
lichen Handelns, je nachdem, welche Aufgaben von den 
Trieben, von der Außenwelt, vom Über-Ich und vom 
Ich her gestellt sind, je nach den Lösungsmethoden 
und je nachdem, wieweit diese einzelnen Aufgaben in 
jedem Akt gelöst werden, sonach je nach Inhalt und 
Struktur von Es, Ich und Über-Ich und nach dem rela- 
tiven Anteil, den diese Instanzen an dem psychischen 
Akt nehmen. 

Je nachdem, wieweit in einem Lösungs versuch in 
der vielfältigen Aufgabesituation die vierte Aufgabe, die 
das Ich sich selbst stellt, gelöst erscheint, sprechen 
wir von Stärke oder Schwäche des Ichs im seelischen 
Haushalt. 

All das ist freilich nur ein Rahmen. Hier setzt nun 
die Einzelforschung an: das Studium der Triebe, ihre 
Ziele und Objekte und ihrer Intensität bei jedem Men- 
schen, ihrer Entwicklung und Schicksale, die besondere 
Art des Über-Ichs, seine Inhalte, seine Strenge, den 
Grad seiner Festigkeit oder Abhängigkeit von Objekten 
der Außenwelt, seine Bestechlichkeit oder Unbestech- 
lichkeit, die Lösungsmethoden des Ichs, die Stärke oder 
Schwäche des Ichs gegenüber den anderen Instanzen 
usw. Alle diese Elemente weisen je nach Konstitution 
und Umwelteinflüssen eine kaum übersehbare Mannig- 
faltigkeit auf. 

Die Psychoanalyse zerfällt in zwei Hauptgebiete: in 
die Triebpsychologie, die sich mit der Natur der mensch- 
lich frei, die kindlichen Strukturen höher und die Reife 
als Verfall zu werten. Freilich steht eine solche Wer- 
tung in Widerspruch zu der Wertung „Leben soll sein", 
da, wie sich leicht zeigen läßt, eine Gesellschaft, in 
der sich alle Menschen nur auf Grund der primitiven 
Methoden des Ichs verhalten, unrettbar zugrundegehen 
müßte. Im übrigen darf man wünschen, daß eine solche 
Weltanschauung auf terminologische Tarnung verzichte 
und konsequent Erwachsensein mit negativem Wert- 
akzent versehe. 

137 



liehen Triebe und mit ihrer Entwicklung im Lauf des 
Lebens befaßt, und in die Ichpsychologie, die das Ich 
und das Über-Ich erforscht. 

Es ist dabei wesentlich, daß es die Psychoanalyse 
niemals mit dem isolierten Individuum zu tun hat. In 
der vorfreudschen Psychologie wurde im Grunde immer 
die Abstraktion des isolierten Individuums studiert; sei 
es die frei schwebende Intelligenz oder das frei schwe- 
bende Netzwerk des Geistes wie in der alten Schul- 
psychologie; seien es Affekte, die im Laboratorium 
künstlich erzeugt werden, mit geringem Bezug zu dem, 
was die Person eigentlich berührt, wie in der neueren 
Affektpsychologie; sei es das einsam meditierende Indi- 
viduum wie bei Kierkegaard. Die Psychoanalyse hat 
es hingegen stets mit dem Menschen in allen seinen 
sozialen Bezügen zu tun; es sei nur als Beispiel auf die 
Wichtigkeit der Familiensituation des Kindes für die 
Ausbildung von Verhaltungsstrukturen hingewiesen. 

Wertprobleme. Wie aus dieser Skizze zu ent- 
nehmen ist, befaßt sich die Psychoanalyse sonach nur 
mit den Tatsachen des Seelenlebens; sie nimmt, 
als solche, nicht wertend zu ihnen Stellung. Die Psycho- 
analyse ist bestrebt, dem Postulat der Ideologie- 
freiheit in ihrer Wissenschaft Genüge zu leisten. 
Ein Stück der Gegnerschaft, die sie gefunden hat, ist 
darauf zurückzuführen, daß manche psychoanalytische 
Erkenntnisse gewisse Ideologien zu bedrohen schienen; 
teils darum, weil diese Ideologien selbst eine Aussage 
über Tatsächliches enthalten, teils weil sie eine Erkennt- 
nis gewisser Tatsachen unerwünscht erscheinen las- 
sen, teils schließlich, weil man, in Mißverständnis der 
wissenschaftlichen Intentionen der Psychoanalyse, ver- 
mutete, die Psychoanalyse wolle ein Sein für ein Sollen 
setzen und ihre wissenschaftlichen Sätze würden ent- 
weder an und für sich oder unter einseitiger und aus- 
schließlicher Berufung auf hygienische Zielsetzungen als 
Weltanschauung auftreten wollen. 



138 



> 






k. 



Der Psychoanalytiker freilich, der den Kranken be- 
handelt, steht dabei unter der Norm einer Berufsethik, 
doch ist diese Norm nicht der Psychoanalyse entnom- 
men. Freilich scheint eine gewisse Weltanschauung der 
praktischen Ausübung der Psychoanalyse besonders nahe 
zu liegen : es ist die, die Freud in dem klassischen 
Satz formuliert hat: „Wo Es war, soll Ich wer- 
den" 6 ). Es ist die Zielsetzung der Stärke des Ichs 
innerhalb der psychischen Systeme, die Vorstellung, 
der Mensch solle mehr leben als gelebt werden und die 
Notwendigkeiten aus freiem Entschluß auf sich neh- 
men, d. h. das Handeln solle wesentlich vom reifen 
Ich her gesteuert sein und weniger von den Nicht-Ich- 
Instanzen oder den Schichten des primitiven Ichs?). 

II. Die Bedeutuug der Psychoanalyse für die soziologischen 

Wissenschaften 

Freud vertritt den Standpunkt, daß die Soziologie 
angewandte Psychologie sei. Er sagt darüber: „Auch 
die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der 
Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als ange- 
wandte Psychologie. Streng genommen, gibt es nur 
zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte, 

und Naturkunde" 8 ). 

Freuds sozialwissenschaftliche Schrif- 
t e n. Freud hat sich mit sozialwissenschaftlichen Fragen 

ß) Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfüh- 
rung in die Psychoanalyse, S. 111; Ges. Sehr., Bd. XII, 

S. 234. 

7 ) Die Beziehungen der Psychoanalyse zu Wellan- 
schauungsfragen sind erschöpfend erörtert bei Hart- 
mann: Psychoanalyse und Weltproblem, Imago, Bd. 
XIV, 1929, S. 421 ff.; Psychoanalyse und Weltanschau- 
ung,' Psychoanalytische Bewegung, V. Jg., 1933, S. 416 ff. 

8) Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfüh- 
rung in die Psychoanalyse, S. 250; Ges. Sehr., Bd. XII, 
S. 342. 

159 



zuerst im Jahr 1912 ausführlich auseinandergesetzt 9 ), 
und zwar mit ethnologischen und urgeschichtlichen 
Problemen. „Totem und Tabu" enthält zwei Theorien, 
eine Theorie der Tabuvorschriften — ein der Psycho- 
analyse zugängliches Material, die Zwangsneurose, weist 
gleichsam private Tabus auf — und einen Erklärungs- 
versuch des Totemismus, eine urgeschichtliche Hypo- 
these. Während des Krieges erschien ein Beitrag, der 
den Problemen des Sterbens und Tötens gewidmet 
war 10 ), mit vielen Ausblicken auf Kullurprobleme. Das 
Jahr 1921 brachte das Werk über Massenpsychologie 11 ). 
Die Kulturprobleme traten nunmehr in Freuds Schaffen 
immer wieder in den Vordergrund. Eine Schrift befaßt 
sich mit den psychologischen Grundlagen des religiösen 
Glaubens 12 ). Eine spätere Schrift erörtert das Problem 
der kulturellen Schicksale des menschlichen Aggressions- 
triebes und den wachsenden inneren Druck, der eine 
Folge der kulturellen Absperrung seiner Befriedigungs- 
möglichkeilen nach außen ist 13 ). Schließlich hat Freud 
auch zum Problem der Psychologie von Krieg und 
Frieden in einem Briefwechsel mit Albert Einstein Stel- 
lung genommen, der über Veranlassung des Institut 
International de Cooperation Intellectuelle zustandege- 
kommen ist 14 ). 



9 ) Totem und Tabu, 1. Aufl., 1912; Ges. Sehr. Bd. X, S. 3ff. 

10 ) Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Imago, Bd. V, 
1915; Ges. Sehr., Bd. X, S. 315 ff. 

n ) Massenpsychologie und Ichanalyse, 1. Aufl., 1921; 
Ges. Sehr., Bd. VI, S. 259 ff . 

12 ) Die Zukunft einer Illusion, 1. Aufl., 1927; Ges. 
Seh;-., Bd. XI, S. 411 ff. 

13 ) Das Unbehagen in der Kultur, 1. Aufl., 1930; Ges. 
Sehr., Bd. XII, S. 27 ff. 

") Einstein und Freud: Pourquoi la guerre? 
(In deutscher, französischer und englischer Sprache.) 
Publications de rinstitut International de Cooperation 
Intellectuelle, Societe des Nations, vol. 3, 1933. Der 
Brief Freuds ist auch enthalten in Ges. Sehr., Bd. XII, 
S. 347 ff. 



140 



Die Psychologie in der Soziologie. Die 
Frage des Verhältnisses von Soziologie und Psychologie 
kann im Rahmen dieser Arbeit nicht in voller Ausführ- 
lichkeit erörtert werden; wir müssen uns auf einige 
Hinweise beschränken. Die Psychoanalyse ist eine empi- 
rische Wissenschaft vom menschlichen Verhalten; die 
Soziologie hat es in ultima analysi mit diesem Verhalten 
zu tun 15 ). Das ist Grundlage für die Forderung Freuds, 
die Soziologie auf diese Psychologie zu begründen. Das 
steht in Widerspruch zu den meisten landläufigen Ab- 
grenzungen der Wissenschaftsgebiete, die der Psycho- 
logie allenfalls einen gewissen Einfluß auf die Behand- 
lung soziologischer Fragestellungen einräumen wollen, 
im übrigen aber am autonomen Charakter der soziologi- 
schen Wissenschaft gegenüber der Psychologie fest- 
halten. Man weist darauf hin, daß man es in der Sozio- 
logie durchgängig mit Gruppen und nicht mit Indivi- 
duen zu tun hat. Die scharfe Scheidung zwischen der 
Wissenschaft von der Gruppe und der Wissenschaft vom 
Individuum geht nun auf eine Zeit zurück, da sich die 
Psychologie mit dem isolierten Individuum beschäftigte. 
Von diesem Abstraktionsgebilde führt nun freilich kein 
Weg zu Gruppenphänomenen, weder durch Summation 
noch durch Integration. Im Hinblick auf diese Psycho- 
logie ihrer Zeit hat z. B. die Durckheimsche Schule alle 
Gruppenerscheinungen in den Bereich der Soziologie 
gewiesen. Die Lage der Psychoanalyse ist grundsätzlich 
verschieden: sie beschäftigt sich nicht mit der Abstrak- 
tion des isolierten Individuums, sondern mit dem kon- 
kreten Menschen in all seinen sozialen Bezügen. Der 
Unterschied zwischen Psychologie und Soziologie er- 



i6) Freilich ist nicht jedes menschliche Verhalten 
sozial relevant; doch ist das sozial relevante Verhalten 
von anderem nicht durch andere Kriterien als eben 
das der sozialen Relevanz unterscheidbar, so daß eine 
Wissenschaft, die sich nur mit dem sozial relevanten 
Verhalten beschäftigt, nicht möglich ist. 



141 



scheint im psychoanalytischen Studium des Individuums 
aufgehoben. Man könnte auch von der Soziologie des 
Individuums sprechen. Die so gewonnenen Einsichten 
über das Individuum in seinem sozialen Feld sind dann 
auch für das Verständnis von Gruppenphänomenen 
brauchbar. 

Ähnliches gilt von einer anderen Erwägung, die für 
den autonomen Charakter der Soziologie ins Treffen 
geführt wird: daß die Soziologie mit gewissen Kate- 
gorien die Psychologie transzendiere, wie z. B. der Kate- 
gorie der Institution, der Beziehung zu Wertproblemen 
u. dgl. m. Aber diese Problematik ist auch in der Psycho- 
analyse des Individuums voll gegenwärtig. Schließlich 
beschränkt sich die Psychoanalyse auch keineswegs auf 
intramentale Erscheinungen. Eine Teilung des mensch- 
lichen Verhaltens in der Weise, daß die intramentale 
Seile einer Wissenschaft und die soziale einer anderen 
zugewiesen wird, ist eine durchaus künstliche und müßte 
die Entstehung einer wirklichen Wissenschaft vom 
menschlichen Verhallen geradezu verhindern. 

Gesetze in der Soziologie. Als Beispiel für 
ein Problem, das, wie es scheint, von der Psychoanalyse 
her gefördert werden kann, sei das der Geselzesbildimg 
in der Soziologie genannt. Wenn die Psychologie im 
Sinn des früher Gesagten als Grundwissenschaft der 
Soziologie anerkannt wird, so ist das für die Gesetz- 
mäßigkeit in der Psychoanalyse Geltende auch für die 
Frage der Gesetzesbildung in der Soziologie anwendbar 
Wir wissen, daß es in der Psychologie nicht so ist 
wie in der Physik; es gibl nur selten einen Fall 
m dem wir sagen können, daß in einer bestimmten 
Situation eine und nur diese Reaktion eintreten müsse 
Zumeist muß man sich bescheiden sagen, daß in einer 
gegebenen Siluatiou eine von mehreren Möglichkeiten 
eintreten werde, die größere oder geringere Wahrschein- 
lichkeit haben. Dementsprechend sind auch im all- 
gemeinen Gesetze von der Art der physikalischen, nach 

142 



denen einem Zusland in der Zeit t ein Zustand in der 
Zeit t -f- At eindeutig zugeordnet wird, auf dem Gebiet 
menschlichen Verhallens nicht oft anzutreffen. Wir ha- 
ben in der Psychoanalyse vielmehr gewisse Regelmäßig- 
keiten, ferner Zuordnungen mehrerer Lösungsversuche 
zu einem bestimmten Zustand aufstellen können. 

Aber damit hat es nicht sein Bewenden. Man hat 
in der Psychoanalyse die Erfahrung gemacht, daß zwar 
im allgemeinen eindeutige Zuordnungen des folgenden 
Zustandes zu dem gegenwärtigen nicht möglich sind, 
daß es aber bestimmte Fälle gibt, in denen man dennoch 
bündige Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens auf- 
stellen kann; dann ist das Verhalten auch prognostizier- 
bar. An Hand des vorher skizzierten Modells der psy- 
chischen Persönlichkeit sind diese Fälle genau angebbar. 

Einmal handelt es sich um jene Fälle, in denen das 
Verhallen nur vom reifen Ich her gesteuert ist. Dann 
handelt der Mensch entsprechend den Notwendigkeiten 
der Sache und die Gesetze der Sache gelten für sein 
Handeln. Wenn dann diese Gesetze der Sache — die 
Notwendigkeiten der Sachstruktur — bündig sind, ist 
sein Verhalten auch voraussagbar. Hierher gehört etwa 
das wirtschaftliche Handeln, mit dem es die National- 
ökonomie zu tun hat; ferner das Verhalten eines Men- 
schen, der eine mathematische Aufgabe zu lösen hat und 
mit den dazu einzuschlagenden Wegen vertraut ist, 
oder das eines Ingenieurs vor einer technischen Auf- 
gabe, deren Lösung ihm bekannt ist. Des weiteren ge- 
hört hierher, was durch die Sitte geregelt ist; so kann 
man etwa voraussagen, daß ein normaler Mensch in 
unseren Regionen beim Betreten der Kirche den Hut 
abnehmen wird. 

Andererseits gibt es Gesetzmäßigkeiten im mensch- 
lichen Verhallen unter extrem entgegengesetzten Be- 
dingungen. Wir meinen jene Fälle, in denen die Steue- 
rung vom reifen Ich her praktisch vollständig aus- 
geschaltet ist und das Handeln daher ausschließ- 

H5 



lieh von biologischen Krallen (Trieben) und den pri- 
mitiven Lösungsmethoden des unreifen Ichs gesteuert 
ist. Das ist die Grundlage für die Tatsache, daß man eine 
Prognose bei Geisteskrankheiten stellen kann. Aber diese 
Ausschaltung der Steuerungstendenzen des reifen Ichs 
tritt nicht nur im Pathologischen auf; in der Normal- 
psychologie gehört hierher etwa das Verhalten der 
Menschen in der Massensituation, die auch einer tempo- 
rären Stillegung der Ich-Steuerung gleichkommt. Eine 
Voraussage des Verhaltens ist dann in jenen Fällen mög- 
lich, in denen die S teuer ungstendenzen durch die pri- 
mitiven Kräfte im Menschen, d. h. durch das Es und die 
Lösungsmethoden des primitiven Ichs, bündig sind und 
ein eindeutiges Verhalten erheischen. 

Menschliches Verhalten ist sonach Gesetzen unter- 
worfen und voraussagbar, wenn der Reichtum 
der Determinanten des menschlichen Verhaltens 
verringert ist, entweder auf nichts als Vernunft 
oder auf nichts als Allzumenschliches; erst im Wechsel- 
spiel beider verliert sich die Gesetzmäßigkeit. Die zweite 
Bedingung der Gesetzmäßigkeit ist dann die, daß jene 
Determinanten, auf die menschliches Verhalten redu- 
ziert ist, eindeutige Lösungen erheischen, d. h. bei der 
Reduktion auf Sachstruktur, daß eben diese Sachstruk- 
luren bündig sind und nur eine Lösung zulassen, und 
bei der Reduktion auf biologische Kräfte, daß diese ein 
bestimm les Verhalten erfordern. 

Daß dies tatsächlich alle Fälle umfaßt, in denen eine 
Voraussage künftigen Verhaltens möglich ist, scheint 
aus einer einfachen Besinnung ersichtlich. Man kann 
zeigen, daß in all jenen Fällen, in denen wir versuchen, 
das Verhallen eines handelnden Menschen vorauszu- 
sagen, wir entweder von der einen oder von der ande- 
ren Voraussetzung ausgehen. Wir nehmen entweder an, 
daß der Mensch tun wird, was in seiner Situation not- 
wendig ist, und suchen aus diesen Notwendigkeilen 
seine künftigen Entscheidungen vorauszusagen; oder wir 

144 







Sigm. Freud 
Plastik von O. Nemon, Brüssel 



nehmen an, daß er von Trieben und H-JW^ff 
geleilet ist, die sich über alle Grenzen hinwegsetze^ 
und versuchen, von hier aus zu einer Voraussage 

kommen 16 ). ,. „ K]fln1 p 

Wendet man nun diese Einsicht auf die ™»B™ 
der Soziologie an, so glaubt man zu verstehen «arum 
sich gerade an den beiden extremen Enden der SozuU 
Wissenschaften ihre einzigen Ges * l *f* „ , fl k0 _ 
schatten entwickelt haben: die Nat.onaloko 
nomie und die Massenpsychologie. 

Der extreme Fall der Reduktion der Bf^^d, 
stücke menschlichen Verhaltens kommt ^™™ u . 
nur selten vor. Doch gibt es eine große Zam 
ationen, die diesen Grenzfällen ^hekommen und 
muß darum nicht allzu pessimistisch von der Entw 
hing soziologischer Gesetze denke n ■ dle 

D i e M a s s e n p s y c h o 1 o g i e^ ^analytischer 
meisten Probleme der Soziologie auf *>**£?» har . 
Grundlage noch ihrer »J^Jg eine 
ren, liegt in der Massenpsycholog e rreua 

Reihe lurchgearbeiteter ***^%^$ für die 

Psychologie scheint von großer \v cn y 

Soziologie. Man muß dabei nicht nur JJ^J^iW 

logie des Mobs und der sonstigen '^ Uor^he 

senbildungen denken; bis zu einem gewissen Gr 

man es bei allen Gruppenbildungen auc J- * zu 

auch den hochgewerteten m.t Mas«nsnu 

tun. Darin hegt die Bedeutung .**£*■§/«, die 
für Fragen der Gemetnschaftsb.ldung, K »■ 
Staatswissenschaften. Mlsse npsychologie 

Der Grundgedanke der F^ȣ*^ Chr- 
ist der folgende: Der Mensch in der Masse m 
Ich zum größeren oder geringeren Teil S 

~VBTe Mdnangsverschie^t *^j£*%$ 

Ä sth oÄauT »Sfi* beld6n V ~ 
Setzungen für gegeben gehalten wird. 

10 Almanach 1937 




m 






und an seine Stelle den ™*^J?££ll* 
(Dieser Führer mag nun eine Gestalt aus ^ ^ r 

Blut sein, eine mythische Gestalt, ein Gott, o< i^ ^ 
sublimsten Ausformung, eine Idee.) Die No pr0- 

delns kommt nun vom Führer. Auf Gruna ^^ 

zesses der Projektion des Über-Ichs aut ein ^ 

der Außenwelt, der allen Mitgliedern der Mass« «^ 
sam ist, findet eine Identifizierung unter aen .^ 
mitgliedern und ein Stück Liebesbindung zwiscn 

statt. ü-v,rpr erklär 1 ? 

Die Abtretung des Über-Ichs an den Fuhrer ^ 

warum das Wort des Führers an die btel se in 

der beim Menschen außerhalb der Massensituau ^ 

Über-Ich steht; man glaubt zu verstehen, J* r " elne n 

sen oft um so vieles grausamer sind als ^ ie m s ie 

Menschen, die zu ihnen gehören, aber auch, ^n 
zu Opfern und Leistungen fähig sind, die die ^ 

nicht erbringen. «•*-«. konu» 1 » 

Da die Norm des Handelns vom Fuhrer ^ 

wirkt er zugleich als Angstschutz in der <^* n _ für 
Einzelne außerhalb der Masse trifft Vorkehrungen 
seine Sicherheit, je nach seinem Mnt oder seiner A ^ 
lichkeit; die Zustimmung seines über - r ^ Z " An g S t. 
Handeln trägt bei zur Beschwichtigung allfalhgei n e 
Eine Masse hingegen geht, solange Vertrauen zum 
rer besteht, angstfrei in die Gefahrsituation. Wen ^ 
der Führer wegfällt, ohne daß sofort ein neuer *ui 
an seine Stelle tritt, so löst sich die Masse in ein 
Haufen von Individuen auf; wenn das in einer ^ 
Situation geschieht, so bricht die Angst als Panik a • 
Wenn der Führer die Geführten nicht zu schützen 
mag, sonach als Angstschutz versagt, so ist seine 

rerrolle verspielt und das Massengebilde löst sich au 

ii 

") Ein Umsturz des politischen Systems ^V? die 
dem Krieg nur in jenen Staaten erfolgt, in a e * «^n 
alten Herrschenden eine Niederlage durch den a ^ 
Feind erlitten haben. Die Niederlage der i<unruu 5 



146 



Auch die Störung der R ea 1 i t I tj I P r» fu ■«* 
der Masse wird erklärbar. Einesteils findet in der 
«nsituation eine Spaltung der beiden Grundtriebe d 
menschlichen Es, Liebe und Haß, statt der 5^V aft 
Positiven Regungen den Mitgliedern ^«~S 
«nd alle negativen den Außenstehenden zugewend t wer 

den, während der Einzelne «gg^RÄ 
Neigungen und Abneigungen diffus ^ unter Re 

verteilt, so daß nahezu ^mann Objekt ( 

gungen wird. Auf dem Boden *^ und der 
der Liebe für die Mitglieder der ^^tehenden 
Ausschließlichkeit der Abneigung f ur die a t 

Wächst die Trübung der Realitä sprufung^ H erz ^ 

ein zweites: Das Ober-Ich erfMtt .^£™ „j^ 
Realitätsprüfung, denn es yoHzient d was 

beobachtung die ständige Scheidung ^"f^ gehört, 
*u m* gehört, und dem J ™- e temporäre Aus- 
zwischen Phantasie und Keaw»»- v auch die 

Schaltung der Über-Ich-Funktion mußji f ^^ 

Realitätsprüfung beeintrachügen toische De nken 

daß in der Masse das »agis^e^ ^^j^» 
ansteigt, das durch de anw e Umstände) die 

überwunden wurde 18 )- Beine „„„ipiW Man 

j „ 7»rfall der Masse eingeleitet. Man 

in diesen Fällen den ZerBW as versuchte Analogie- 
versteht, warum gewisse d a F£ entaUt ät unrichüg ge- 
schlüsse auf Staaten mit Sa»»™ . lang „„. 

wesen sind, und darf vermuten MO ■» ^^ .„. 
richtig bleiben werden als ^cht aucn { ^ Mas _ 

dem aus irgendwelchen wunueu 

sengebildes eintritt. •„^„„ucvolles Beispiel für die- 
>») Man findet ein , el ?^ u 1 f ff s d ° e f|<Typlischen Mythos, 

gXW^frfStoSWtaES* der symbo- 
beschnelen von C.si rer , hische De nken, 1925, 
hschen Formen, 2. leu, l><* i «jr» Vorstellung ist, 

S. 205 f. Die ursprungliche W thisc * e h d e m Tode der 
daß „alles Weiter eben der Seele nach ae 
Fortdauer des materiellen Substrat es Den Linie 

um die Seele des Toten muß sich daner ^ entwicke it 
der Erhaltung der Mumie g*»4«j ÄTe hängt von 
sich eine andere Idee: Das ^cmcKScii 

H7 



10» 






ausschließliche Zuwendung der erotischen Regungen zu 
einer Gruppe von Objekten und der aggressiven Regun- 
gen zu den übrigen Objekten, sowie die partielle Über- 
tragung der Über-Ich-Funklion auf eine Gestalt der 
Außenwelt wirken so zusammen, um die Störung der 
Realitätsprüfung entstehen zu lassen 19 ). 

Probleme der Gemein schaftsbildung. 
Dies sind nur einige fragmentarische Andeutungen über 
die psychoanalytische Massenpsychologie und ihre Wich- 
tigkeit für die Erforschung sozialer Phänomene. In en- 
gem Zusammenhang damit sei auch eine andere Frage 
gestreift. Es scheint ein ewiges Problem der Mensch- 
heit zu sein, wie die Menschen zum Gemeinschafts- 
leben zu bringen sind. Es gibt zwar in der mensch- 
lichen Natur Tendenzen, die sie immer zur Gemeinschaft 
hinführen, aber viele Regungen des menschlichen We- 
sens widerstreben dem Gemeinschaftsleben, durch das 
den Trieben des Individuums ständig Verzichte aufer- 
legt werden. Der reife Mensch ist gewiß bereit, aus der 



ihrem sittlichen Tun ab. „Die Gunst des Osiris, des 
Totengottes, die in den früheren ägyptischen Texten 
durch zauberische Gebräuche erzwungen wird, erscheint 
später durch das Gericht des Osiris über Gute und Böse 
ersetzt". Wir sehen hier ein Stück Überwindung des 
Mythos durch Ethos; das Schuldgefühl ist gestiegen 
und mit dem wachsenden Ichbewußtsein auch eine 
adäquatere Erfassung der Realität erreicht. 

19 ) Die Störung der Realitätsprüfung tritt in extremer 
Form in den sogenannten Massenpsychosen auf, in ge- 
ringerem Maß ist sie aber jeder Massensituation notwen- 
dig eigentümlich. Hier sind z. B. die paranoiden Ideen- 
bildungen zu nennen, die bei den verschiedenen politi- 
schen Parteien auftauchen, wie die Vorstellung von der 
geheimnisvollen Macht, z. B. der Jesuiten oder der 
Freimaurer. Ideen dieser Art würden bei Individuen 
außerhalb der Massensituation als Wahnideen bezeich- 
net werden; die Massensituation schafft jedoch durch 
die oben erwähnten Umstände Bedingungen, die solche 
Ideen entstehen lassen, obwohl die Mitglieder der Masse 
psychisch gesund sind. 

148 



Einsicht in ihre Notwendigkeit Einschränkungen durch 
das Gemeinschaftsleben aus freiem Entschluß auf sich 
zu nehmen. Wäre bei allen Menschen innerhalb der 
psychischen Instanzen das reife Ich hinlänglich stark 
und führend gegenüber den anderen Instanzen, so wäre 
die Sicherung eines befriedigenden Gemeinschaftslebens 
kaum ein Problem. Die ganze Schwere des Problems 
scheint aber nun darin zu bestehen, daß die Kraft 
dieses reifen Ichs bei der weitaus überwiegenden Zahl 
der Menschen viel zu gering ist und daß es daher ande- 
rer Mittel bedarf, um sie sozial zu machen. Es muß 
daher ein Appell an andere Schichten versucht werden: 
an das Triebleben, indem ihnen triebhafte Befriedigung 
geboten wird (z. B. durch Zulassung der Aggression 
gegen Unterworfene) ; an die Angst; an das Über-Ich, 
indem man versucht, die Gebote der Gemeinschaft zu 
einem zwanghaft wirkenden, der Beeinflussung durch 
das Ich entzogenen Regulativ zu machen; und schließ- 
lich an die primitiven Arbeitsweisen des Ichs (durch 
magische und mythische Gehalte). Es scheint, als ließen 
sich die großen Probleme der Gemeinschaftsbildung aus 
der Unfruchtbarkeit jener Bemühungen verste- 
hen, die Gemeinschaft bei einer hinlänglich großen 
Zahl von Menschen durch den Entschluß eines reifen 
Ichs zu sichern 20 ). Eine verhältnismäßig lange Wirk- 
samkeit scheinen jene gesellschaftlichen Systeme zu ha- 
ben, bei denen mehrere oder alle „nicht-ich haften" 
Appelle zur Anwendung gelangen. 



20 ) Hierher gehören z. B. die Probleme, die durch die 
Erweiterung der Demokratie zur Massendemokratie ent- 
standen sind. Auch die ältesten und entwickeltsten 
Demokratien unserer Tage können, wenn sie die Ent- 
scheidung der Wählermassen aufrufen, massenpsycho- 
logischer Mittel nicht entraten; d. h. aber, daß auch sie 
nicht die Existenz und Arbeit der Gesellschaft allein 
durch die Entscheidung des reifen Ichs ihrer Bürger 
sichern können, sondern jene anderen Mittel zur An- 
wendung bringen müssen. 



*49 



III. Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Rechtswissen- 
schaften 

Aus dem Umstand, daß die Psychoanalyse eine Tat- 
sachenwissenschaft ist, ergibt sich, daß sie auf dem Ge- 
biet der Rechtswissenschaften nur zu einem Teil der 
Problematik beitragen kann. Die Ergebnisse der Psycho- 
analyse haben offenbar keine Anwendung für die Frage 
der Geltung oder Wünschbarkeit einer Norm oder für 
die Zuordnung eines Einzelfalles zu dem Geltungsbereich 
einer Norm. Die Psychoanalyse kann zu allen Tat- 
sachen problemen der Rechtswissenschaften Aussagen 
machen, ihre Beiträge sind daher solche zur Rechts- 
soziologie. So mag sie etwa zur Beurteilung der 
Frage herangezogen werden, welches die Psychologie 
der Normsetzung ist, oder welche Maßnahmen praktisch 
geeignet erscheinen, der Realisierung einer Norm för- 
derlich zu sein, welches die Wirkungen getroffener Maß- 
nahmen sind, u. dgl. m. Im folgenden sei versucht, 
das mögliche Anwendungsgebiet der Psychoanalyse am 
Beispiel der Strafrechts Wissenschaft zu demonstrie- 
ren. Die Psychoanalyse wird hier über die Psychologie 
aller Figuren des strafrechtlichen Vorgangs Aussagen 
machen können, über die Psychologie des Gesetzgebers, 
über die des Verbrechers oder seines Opfers, über die 
des Richters, des Anwalts oder des Publikums. Sie wird 
ferner für die Frage heranzuziehen sein, weiche Mittel 
geeignet erscheinen, um ein bestimmtes Ziel der Straf- 
gesetzgebung zu erreichen; und sie wird schließlich nicht 
außer acht bleiben dürfen, wenn es gilt zu untersuchen, 
welche Wirkungen die getroffenen Maßnahmen neben 
den angestrebten haben. 

Es sei hier das Beispiel der Generalprä- 
vention herausgegriffen. Ist die Strafe geeignet, die 
Wahrscheinlichkeit von Verbrechen zu vermindern? Wer 
das ohne weiteres bejaht, macht sich ein bestimmtes 
Bild über die psychologische Entstehung der krimi- 
nellen Handlung, dessen Richtigkeit erst zu prüfen ist. 

150 



Wäre der rechtsbrecherische Akt ausschließlich vom 
Ich her gesteuert, so würde die Drohung der Strafe 
ein wichtiges Gegenmotiv der verbrecherischen Tat bil- 
den, vorausgesetzt, daß der Täter mit seiner Entdeckung 
rechnet und Grund hat, an die Anwendung des Geset- 
zes zu glauben, vorausgesetzt also, daß die Strafdrohung 
im potentiellen Täter die Furcht vor Strafe erregt. Je 
schwerer die Strafe wäre, desto geeigneter müßte sie 
dann für die Abschreckung von Verbrechen sein. Aber 
es gibt Fälle, in denen die Strafdrohung keinen Ein- 
fluß auf das Entstehen der verbrecherischen Tat aus- 
übt: wenn der Täter nicht an die Anwendung der 
Strafe glaubt oder hofft, verborgen zu bleiben; ferner 
in allen jenen Fällen, in denen die Tat nicht unter 
Steuerung vom Ich her entspringt, sondern unter einer 
anderen Gewichtsverteilung zwischen den psychischen 
Instanzen entsteht. Dies wäre etwa der Fall bei jenen 
verbrecherischen Handlungen, die unter der Übermacht 
des Triebes entstehen; diese Übermacht ist relativ gegen- 
über dem Ich zu verstehen und kann sowohl durch 
eine besondere Stärke oder Steigerung des Triebes als 
auch durch eine Schwäche des Ichs hergestellt wer- 
den. Ferner ist solcher Taten zu gedenken, die unter 
dem wesentlichen Einfluß einer Über-Ich-Forderung ge- 
schehen, wie z. B. der Vollzug der Blutrache in Ländern, 
in denen dies als unabdingbares Gebot der Ehre gilt. 
Viele revolutionäre Handlungen gehören hierher, aber 
auch solche, die unter dem Einfluß einer Kastenmoral 
der Verbrecherschicht entstehen, u. dgl. m. Ferner sind 
jene Taten zu erwähnen, für welche primitive Ich- 
Mechanismen maßgebend sind, z. B. Verbrechen infolge 
von Aberglauben. Und schließlich gibt es verbrecherische 
Taten, die aus Angst zustande kommen. In allen die- 
sen Fällen wird die Gefahr der Strafe eine umso gerin- 
gere präventive Wirkung ausüben, je geringer die Rolle 
des reifen Ichs beim Zustandekommen der Tat gewe- 
sen ist. 

151 



Wenn dies sonach Beispiele dafür sind, daß die Strafe 
als Generalprävention versagt, so gibt es schließlich 
auch Falle in denen, so seltsam das dem populärpsycho- 
logischen Denken erscheinen mag, die Strafdrohung ge- 
eigne ist, die Wahrscheinlichkeit einer verbrecherischen 
Handlung zu erhöhen. Unter den Kriminellen scheint 
es Psychopathen zu geben, auf die die Strafe selbst 
eine geheimnisvolle Anziehung ausübt; es sind dies Men- 
schen, die die Gefängnismauern wie ein Refugium su- 
chen ferner Masochisten, die die Strafe lockt, oder 
Menschen, die durch ein Schuldgefühl, dessen Quelle 
ihnen unbewußt ist, dazu geleitet werden, sich durch 
die Tat den Anspruch auf die ersehnte Strafe zu er- 
werben 21 ). 

Man kann also sagen, daß die Strafe präventiv wirkt 
lur die vom Ich her gesteuerten kriminellen Handlun- 
gen, einen geringen oder gar keinen Einfluß ausübt auf 
das unter Ausschaltung des Ichs zustandekommende 
Verbrechen und anlockend wirkt auf die Taten jener 
Psychopathen, die bewußt oder unbewußt die Strafe 
suchen Inwieweit sonach die Strafe im ganzen präven- 
tiv wirkt, hangt von der relativen Häufigkeit dieser 
Motivationen ab; dies ist eine rein empirische Fra*e 
Man hat wahrscheinlich Recht, zu vermuten, daß die 
Zahl der ich-gesteuerten kriminellen Handlungen «rö 
ßer ist als die Zahl der psychopathischen Verbrechen 
mit denen der Täter seiner Bestrafung zustrebt Aber 
die genaue Erforschung all dieser Motivationen für die 
einzelnen Delikte ist Aufgabe künftiger psychologischer 
Untersuchung. Man ist darauf vorbereitet, daß das Er 
gebnis bei verschiedenen Verbrechen ein verschiedenes 
sein wird und dementsprechend die Strafe bei gewissen 
Verbrechen in ganz anderem Maße präventiv wirken 

21 ) Eine künstlerische Gestaltung dieses Motivs lie«t 
in Dostojewskis Raskolnikoff vor. ö 

152 



wird als bei anderen, z. B. eine größere präventive 
Wirkung beim Verbrechen der betrügerischen Krida 
als bei Sexualverbrechen ausüben wird. Damit ist frei- 
lich nur eine Aufgabe skizziert und noch keine Lösung 
gegeben, aber es scheint uns, daß es eine wichtige Lei- 
stung der Psychoanalyse ist, daß sich diese exakten 
Fragestellungen aus ihr ableiten lassen. 

Als weiteres Beispiel für die Rolle, die die 
Psychoanalyse in der Strafrechtswissenschaft spielen 
kann, sei das positivistische Strafrechts- 
programm erwähnt, wie es etwa im Ferrischen Straf- 
rechtsentwurf in Italien vorgelegen ist. Den Vertretern 
der positivistischen Doktrin scheint es wünschenswert, 
daß die Strafe überhaupt fallen gelassen werden solle 
und durch Sicherheitsmaßnahmen zur Selbstverteidigung 
der Gesellschaft gegen den Rechtsbruch zu ersetzen 
wäre. Kriterium für die strafrechtlichen Bestimmungen 
wäre dementsprechend ihre Zweckmäßigkeit für den 
Schutz der Gesellschaft. Über die Wünschbarkeit dieser 
utilitaristischen Zielsetzung an und für sich kann die 
Psychoanalyse natürlich keine Aussagen machen; sie 
bleibt wie bei allen Weltanschauungsfragen darauf be- 
schränkt, die Psychologie dieser Weltanschauung zu 
untersuchen. Daß sie für die Frage der Zweckmäßigkeit 
der zum Schutz der Gesellschaft anzuwendenden Mittel 
— wenn das Ziel einmal feststeht — wichtige Aus- 
künfte beitragen kann, muß nach dem Vorgesagten 
nicht weiter begründet werden. Die mögliche Leistung 
der Psychoanalyse ist aber nicht auf diesen Beitrag 
beschränkt. Der Psychoanalytiker wird auf die Unvoll- 
ständigkeit hinweisen, die solange in der Behandlung 
des Gegenstands vorliegt, als man sich nur mit dem 
aktuellen oder potentiellen Rechtsbrecher befaßt. Eine 
vollständige Lösung der Frage eines zweckmäßigen 
Schutzes der Gesellschaft wird nicht umhin können, 
alle Figuren des strafrechtlichen Vorgangs zu berück- 
sichtigen; zu diesen gehören aber nicht nur der 



153 



Verbrecher und die Vertreter der sich ihm gegenüber 
zur Wehr setzenden Gesellschaft, sondern auch das 
Publikum. Was mit dem Rechtsbrecher geschieht, ist 
nicht nur ein Verfahren, das sich an diesem Individuum 
abspielt, sondern auch ein Verfahren, das seine Rück- 
wirkung auf die große Masse der Nicht-Kriminellen 
hat. Die Strafe des Rechtsbrechers erleichtert es dem 
„anständigen" Menschen, seine asozialen Impulse zu 
beherrschen; denn wenn auch nur im Rechtsbrecher 
die asozialen Impulse bis zur Tat reifen, so sind doch 
solche Impulse an und für sich auch in anderen Men- 
schen vorhanden. Das Über-Ich des anständigen Men- 
schen fordert die Bestrafung des Verbrechers; es scheint, 
daß jedes Verbrechen auf die Menschen wie eine Art 
von Verführung wirkt, wie ein Anreiz für die eigenen 
gleichgerichteten Impulse, und daß erst die Bestrafung 
des Verbrechers das damit gestörte seelische Gleich- 
gewicht des ehrenhaften Menschen wieder herstellt. Hie- 
zu kommt aber ein zweites: die Bestrafung des Ver- 
brechers ist gleichzeitig eine erlaubte Befriedigung ag- 
gressiver Regungen der Menschen, und man kann nicht 
ohne weiteres voraussagen, welche Wirkungen es hätte, 
wenn diese Befriedigung fortfiele. Sonach ist die Strafe 
ein Bestandteil der seelischen Hygiene für alle, die 
nicht Verbrecher sind, erleichtert ihnen die Beherr- 
schung ihrer asozialen Triebe 22 ) und die Überwindung 
der verführenden Wirkung der verbrecherischen Hand- 
lung und ermöglicht ihnen ein Stück erlaubter aggres- 
siver Triebbefriedigung. Diese Tatsache müßte von einer 
vollständigen Untersuchung des positivistischen Pro- 
gramms berücksichtigt werden. Das ist nun nichts prin- 
zipiell Neues; in den Erörterungen über die positivisti- 
schen Prinzipien wurde immer wieder darauf hinge- 



22 ) „Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, wel- 
cher straft — das ist die letzte Zuflucht für die Vertei- 
diger der Strafe" (Nietzsche). 

154 



wiesen, daß die Strafe überhaupt oder eine bestimmte 
Strafe vom „Rechtsbewußtsein des Volkes" gefordert 
werde, daß die Volksstimmung der Abschaffung der 
Strafe nicht günstig sei u. dgl. m. In allen diesen Argu- 
menten verbirgt sich, was wir als die Rolle der Strafe 
für die psychische Hygiene des Nicht-Verbrechers be- 
zeichnen möchten. Wenn also eine vorwissenschaftliche 
oder populär-psychologische Einsicht in diese Fragen 
besieht, so darf doch von der psychoanalytischen Unter- 
suchung der Probleme an Hand empirischer Forschung 
eine Förderung erwartet werden. 

Schließlich seien noch als letztes Beispiel für 
mögliche Anwendungen der Psychoanalyse in der 
Rechtswissenschaft die Begriffe der Unzurech- 
nungsfähigkeit, beziehungsweise der verminderten 
Zurechnungsfähigkeit genannt. Die nicht-psychiatrische 
Öffentlichkeit ist geneigt zu glauben, daß es sich dabei 
um feststehende und psychiatrisch klar definierte Be- 
griffe, gleichsam um Entitäten handle, und richtet ihre 
Kritik daher nicht selten gegen die schwankenden Gut- 
achten der Gerichtspsychiater. In Wahrheit steht es sehr 
wenig fest, nach welchen konkreten wissenschaftlichen 
Tatsachen gefragt ist, wenn man den Psychiater um 
sein Gutachten ersucht. Es handelt sich bei den land- 
läufigen Begriffen der Unzurechnungsfähigkeit als Straf- 
ausschließungsgrund oder der verminderten Zurech- 
nungsfähigkeit als Strafmilderungsgrund um den Nie- 
derschlag populärpsychologischer Vorstellungen und 
einer populären Anthropologie von der schrankenlosen 
Freiheit des gesunden Menschen und der Gebundenheit 
des Kranken. Die Wissenschaft vom menschlichen Han- 
deln vermag diese Vorstellungen nicht zu den ihrigen 
zu machen. Hier hegt auch der Grund für die Schwie- 
rigkeit, der der Psychiater jeweils bei seinem Gut- 
achten gegenübersteht und für die Unbestimmtheit vie- 
ler solcher Gutachten. Juristen scheinen den Begriff 
der Unzurechnungsfähigkeit für einen psychiatrischen 

*55 



Begriff zu halten; die Psychiater hingegen zweifeln 
nicht daran, daß er eine juristische Kategorie sei 23 ). 
An und für sich ist es natürlich denkbar, vom Stand- 
punkt irgendeiner straf rech tüchen Zielsetzung aus kri- 
minelle Taten verschieden zu werten und verschiedene 
Methoden des Verhaltens der Gesellschaft ihnen gegen- 
über zu empfehlen, je nachdem, an welcher Stelle 
der psychischen Persönlichkeit sie entsprungen sind, 
welche Anteile die psychischen Instanzen an ihrem 
Zustandekommen haben, wie das Ich dieses Menschen 
beschaffen ist u. dgl. m. Eine solche Differenzierung 
in der moralischen Wertung und in der Technik des 
Umgangs mit dem Rechtsbrecher erscheint gerechtfer- 
tigt und erforderlich, sowohl für eine moralische als 
auch für eine utilitaristische Norm. Für die sittliche 
Wertung mag es relevant sein, ob die Tat durch 
den freien Entschluß eines Ichs zustande gekommen 
ist, dem die Einsicht in ihre sittliche Verwerflichkeit 
zugemutet werden kann, oder ob sie etwa einem Affekt- 
sturm ihre Entstehung verdankt, oder ob sie von einem 
Menschen vollbracht wurde, dessen Ich an sich im Ge- 
füge der seelischen Instanzen eine sehr unvollständige 
Reifung erlangt hat; die Forderung nach Sühne, Strafe 
oder Buße mag dann je nach den Umständen abge- 
stuft sein und gegebenenfalls auch völlig verschwinden. 
Nicht minder gerechtfertigt ist im Prinzip diese Diffe- 
renzierung für ein positivistisches Strafrecht. Die Ge- 
fähr lichkcit des Täters ist je nach der Struktur seiner 
Tat verschieden zu beurteilen, ebenso die verführende 
Wirkung auf andere; andere Methoden des sozialen 
Schutzes mögen bei anderen Taten zweckmäßig erschei- 



23 ) Rezeichnend dafür ist, daß ein sehr berühmter 
Psychiater in seiner Vorlesung seinen Hörern zu sagen 
pflegte, es gebe nur eine brauchbare Definition des Be- 
griffs der Unzurechnungsfähigkeit: unzurechnungsfähig 
sei, wer von einem ordentlichen Gericht dafür erklärt 
wurde. 

156 



nen. Die Grundlagen für eine solche Wertung oder 
Entscheidung sind aber jedenfalls in einer wissen- 
schaftlichen Einsicht in die Psychologie der Tat 
zu suchen. 

Es scheint angemessen, nach der Psychologie der 
Menschen zu fragen, die an den populären Begriffen von 
Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit fest- 
halten. Ein Stück Selbstprüfung wird uns darüber be- 
lehren, daß wir zögern, den sogenannten Unzurech- 
nungsfähigen zu verurteilen, da wir verspüren, daß 
„wir" unter den gleichen Bedingungen nicht anders 
gehandelt hätten; wir würden ein Urteil über uns 
selbst aussprechen, wenn wir ihn bestraften. So for- 
dern wir den Freispruch des geisteskranken Täters, 
denn Geisteskrankheit kann auch uns widerfahren und 
dann wären wir gegen Bestrafung nicht gefeit. Wir 
neigen zur geringeren Bestrafung eines Menschen mit 
einem starken Triebimpuls, denn wir fühlen, wären 
wir diesem Impuls ausgesetzt, wären auch wir viel- 
leicht zum Verbrecher geworden. Oder wir fordern 
Strafausschluß oder Strafmilderung für Täter, deren 
Intelligenz eine so geringe ist, daß sie die Folgen ihrer 
Handlung nicht übersehen konnten; wäre unsere Intelli- 
genz so mangelhaft, so möchten auch wir zum Ver- 
brecher werden und würden so uns selbst mit verur- 
teilen, wenn wir das Verdikt über den schwachsinnigen 
Täter aussprächen. Es handelt sich also offenbar um 
eine partielle Identifizierung des Richters 24 ) 
mit dem Verbrecher. Man identifiziert sich mit dem Ver- 
brecher soweit, daß man gleichsam eine hypothetische 
Person konstruiert, welche das Es des Täters enthält, 
ferner Teile seines Ichs (seine primitiven Ich-Mechanis- 
men, wie z. B. seinen Aberglauben, ferner seine Intelli- 

24 ) Unter „Richter" meinen wir hier natürlich nicht 
nur den beamteten Funktionär der Rechtsprechung, son- 
dern das ganze Publikum, das mit seinem „Rechtsbe- 
wußtsein ' an der Judikatur teilhat. 



157 



genz und Bildung), und dann hiezu das übrige Ich des 
Richters setzt. Wir fragen uns dann, ob diese hypo- 
thetische Person die Tat begangen hätte oder nicht; 
wird diese Frage bejaht, so war der Täter unzurech- 
nungsfähig oder doch vermindert zurechnungsfähig; ha- 
ben wir aber das Gefühl, „wir" hätten die Tat auch 
dann nicht begangen, so mag man den Täter getrost 
als zurechnungsfähig betrachten. 

Man sieht, daß der landläufige und im Rechtsbewußt- 
sein des Volkes tief verwurzelte Begriff der Zurech- 
nungsfähigkeit wenig zu tun hat mit der wirklichen 
Untersuchung der psychologischen Natur der Tat und 
daß die populärpsychologischen Vorstellungen, auf die 
er begründet ist, einer Vorsichtsmaßregel entspringen, 
kein Verdikt über uns selbst auszusprechen. Welches 
freilich die Gründe sind, daß wir gerade diese partielle 
Identifizierung vornehmen, d. h. warum wir gerade einen 
Kern der Person behalten und gewisse Schichten von 
der Persönlichkeit des Verbrechers uns im Gedanken- 
experiment aneignen, ist ein psychologisches Problem 
für sich, dessen Erörterung an dieser Stelle zu weit 
führen würde. 

Nach dem Gesagten erscheint es begreiflich, daß wir 
der psychoanalytischen Erforschung der Tatstruktur die 
Aufgabe zuweisen, für jede Art strafrechtlicher Ziel- 
setzung, moralischer oder utilitaristischer, die Grund- 
lagen für einen wissenschaftlichen Begriff der „Zu- 
rechnungsfähigkeit" zu schaffen. Es ist aber eine Frage 
für sich, die damit noch nicht im geringsten berührt 
ist, ob es möglich oder angezeigt erscheint, das geltende 
System durch ein solches neues, wissenschaftüch fun- 
diertes, zu ersetzen; denn das geltende System ist in den 
psychologischen Bedürfnissen der Menschen verwurzelt 
und wir haben in dem früheren Beispiel darauf hinge- 
wiesen, daß und warum jede strafrechtliche Reform 
nicht umhin kann, alle Konsequenzen auf die Nicht- 
Täter in Berücksichtigung zu ziehen. 

158 



Diese drei Beispiele waren willkürlich herausgegrif- 
fen, um die Natur der möglichen Anwendungen psycho- 
analytischer Forschung auf Rechtsprobleme anzudeu- 
ten. Wenn wir an Stelle der definitorischen die exem- 
plarische Kennzeichnung des psychoanalytischen An- 
wendungsgebiets gewählt haben, so mag für diesen Man- 
gel als Entschuldigung geltend gemacht werden, daß 
sich die psychoanalytische Problematik in voller Ent- 
wicklung befindet und daß eine exakte Abgrenzung ihres 
möglichen Anwendungsbereichs auf andere Wissenschaf- 
ten vielleicht verführt ist. Doch möchte auch die Be- 
schreibung durch Beispiele einen Eindruck von der Na- 
tur der auftretenden Probleme und Lösungsmöglich- 
keiten vermitteln. 



*59 






Zur Psychologie älterer Biographik 

(dargestellt an der des bildenden Künstlers) 1 
Von Ernst Kris, Wien 

Aus „Imago, Zeitschrift für psychoanalyti- 
sche Psychologie, ihre Grenzgebiete und An- 
wendungen", Bd. XXI, 1935. 



Meine Damen und Herren! 

Ich muß mir heute Ihre besondere Nachsicht erbitten. 
Denn es handelt sich um ein Thema, dem alle Bedenken, 
die wir Vorträgen aus dem Anwendungsgebiet der Psy- 
choanalyse entgegenbringen, in besonderem Maße gelten. 
Lassen sich in solchen Vorträgen ermüdende Umwege, 
die zu den psychologischen Fragestellungen führen' 
sonst nur schwer vermeiden, so sehe ich mich heute 
gezwungen, Sie zu einem besonders langen Umweg ein- 
zuladen, und kann Ihnen die Ergebnisse nicht als in 
irgendeinem Sinn unerwartet ankündigen. 

Das wichtigste Moüv, meine Bedenken zu unterdrük- 
ken, war, daß ich mich vor Ihnen auf einige seiner 
Ergebnisse berufen habe, als ich vor zwei Jahren die 
Ehre hatte, über einige Werke des geisteskranken Bild- 
hauers Franz Xaver Messerschmidt zu berichten 2 ). 
Was ich heute zu sagen vorhabe, ist als Fortsetzung 

!) Vorgetragen in der Wiener psychoanalytischen Ver- 
einigung am 31. Oktober 1934. - Bei der Niederschrift 
wurden Diskussionsbemerkungen von Anna Freud und 
Heinz Hartmann verwertet. 

2 ) Vgl. dazu Imago XIX (1933), S. 384 ff.: „Ein geistes- 
kranker Bildhauer. Die Charakterköpfe des Franz Xaver 
Messerschmidt." 

160 



einiger Problemstellungen gedacht, die damals ange- 
kündigt wurden, als Fortsetzung in sachlicher Hin- 
sicht, aber auch hinsichtlich einer methodischen Frage. 

Ich kann es nicht vermeiden, diese Frage nochmals 
kursorisch zu entwickeln. Sie betrifft Grundsätzliches 
zur Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes- 
wissenschaften. 

Schon als Einleitung zu jenem älteren Vortrag ver- 
suchte ich, darauf hinzuweisen, daß die Anwendungen 
der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften in ein 
neues Stadium zu treten scheinen und sich mehrere 
Aufgaben solcher Arbeiten unterscheiden lassen, Auf- 
gaben, die, obgleich sie auch heute noch nebeneinander 
bestehen, sich doch nacheinander ergeben haben; der 
Wichtigkeit nach sind sie heute nicht mehr gleichwertig. 
Denn die erste dieser Aufgaben, die Befunde der Psycho- 
analyse an dem großen Material zu sichern, das die 
Geschichte der Menschheit bietet, kann uns nicht mehr 
so lockend sein, seit wir dieses Mittels nicht mehr be- 
dürfen, um Zweifler von der Richtigkeit unserer An- 
schauungen zu überzeugen. Der zweiten Aufgabe — 
die Ergebnisse der Psychoanalyse da einzusetzen, wo 
andere Forschungszweige keinen Zugang haben, gleich- 
sam in die Bresche zu treten, wo andere versagt haben, 
— stehen gewichtige Hindernisse im Wege, denn die 
Auswahl des Materials, das uns geboten wird, ermög- 
licht es in vielen Fällen nicht, unseren Ansatz zu finden. 
Zum besseren Verständnis dieses Sachverhaltes darf 
ich mich auf ein schon verwendetes Beispiel berufen: 
Hätten Sie eine Krankengeschichte psychoanalytisch zu 
interpretieren, die ein gewissenhafter Psychiater vor 
einem halben Menschenalter verfaßt hat, so würden 
Sie gewiß der Schwierigkeit eingedenk sein, die darin 
liegt, daß er als unwichtig unterdrückt haben mag, was 
Ihnen als wichtig, als ausschlaggebend erscheint. Die 
nächstliegende Nutzanwendung besagt, daß auch bei 
Arbeiten aus dem Anwendungsgebiet fertige Ergebnisse 

11 Almanach 1937 

l6l 



der Forschung in der Regel nicht verwertet werden 
können, sondern die Forschungsarbeit mindestens zum 
größten Teil neu zu verrichten ist. So führt denn unsere 
zweite Aufgabe selbst schon zur dritten hinüber, der es 
zufällt, auf neue Problemstellungen inner- 
halb der Geisteswissenschaften hinzu- 
weisen. Denn die Kolonisten, die nach einem Worte 
Freuds die Pioniere ablösen, bringen als Saatgut 
die neue Lehre mit, eine wissenschaftliche Psycho- 
logie, die an Stelle jener populärwissenschaftlichen An- 
sichten zu treten vermag, die die Geisteswissenschaften 
bisher durchziehen. 

Das Thema dieses Abends nun möchte als Beispiel 
einer solchen Kolonistenarbeit gelten; mindestens in 
einem Sinn. Die Arbeit der Kolonisten ist von der der 
Pioniere deutlich unterschieden. Diesen bleibt das Ver- 
dienst erster Besitznahme; auf ihrem Zuge mögen sie 
ihre Fahne bald da, bald dort aufpflanzen; sie leben 
von den ersten, leichter zugänglichen Früchten des 
Bodens; für die Vorbereitung künftiger Ernte zu sorgen, 
fällt ihnen nicht zu. Das wird erst die Aufgabe der 
Siedler, deren Schaffen auf dauernden Besitz und Ertrag 
gerichtet ist. Sie dürfen des Mutes entbehren, der ihre 
glücklichen Vorgänger auszeichnete, aber sie bedürfen 
der Ausdauer. Mit diesem Bilde soll gesagt sein, daß 
ich heute nicht großen, methodisch weit ausgreifenden 
Gedanken nachzugehen plane, sondern versuchen 
möchte, ein Stück Kasuistik aus dem Anwendungs- 
gebiet vorzubringen; Kasuistik mit allen Nachteilen, 
die ihr anhaften, aber vielleicht auch mit einigen Vor- 
teilen, die nur sie eröffnet. Sie zwingt uns, auf Einzel- 
heiten einzugehen, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu wid- 
men als der Zusammenhang zu fordern scheint — aber 
sie lehrt uns angesichts des lebendigen Zusammenhan- 
ges, in den sie uns führt, wie begrenzt unser Wissen, 
wie hypothetisch unser Erkenntnisbesitz ist, und nicht 
zuletzt darin liegt ihr propädeutischer Wert. 

102 



IL 

Ehe ich auf die Fragestellung eingehen kann, die im 
Mittelpunkt dieses Vortrages stehen soll, sei die Rich- 
tung, in die unsere Überlegungen führen, durch einen 
Gedanken Freuds angedeutet 3 ). Er schildert die Be- 
ziehung der Biographen zu ihrem Helden, „an den sie 
in eigentümlicher Weise fixiert seien", und kennzeichnet 
die Idealisierungsarbeit der Biographen durch den Hin- 
weis, daß sie ihnen dazu verhelfe, „den großen Mann 
in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen". 
Damit sind wir auf eine Aufgabe hingewiesen, die man 
als „Psychologie der Biographik" begreifen 

mag. 

Man darf zunächst auf die Schwierigkeiten des The- 
mas hinweisen, darauf, daß die Frage so umfassend 
sei daß man kaum angeben könne, von welcher Rich- 
tung aus man sich ihr nähern solle; ob man etwa an 
möglichst zahlreichen Fällen die psychische Einstellung 
der Biographen zu ihren Helden prüfen oder besser 
diese Aufgabe an einigen paradigmatischen Fällen zu 
lösen versuchen solle. Aber sowohl gegen den Versuch 
einer statistischen als gegen den einer selektiven, aber 
eindringlicheren Erforschung läßt sich einwenden, daß 
uns letztlich doch nur die Auskunft zu befriedigen ver- 
möchte, die wir unter besonderen psychologischen Ver- 
suchsbedingungen — von der heuristischen Seite her 
ist auch die psychoanalytische Behandlung eine Ver- 
suchsbedingung — erhalten; dabei aber ist man wieder 
zu sehr von Bedingungen des Zufalls abhängig, als daß 
sich eine solche Untersuchung planmäßig anstellen ließe. 

Indessen bietet sich uns ein anderer Weg, um uns der 
Fragestellung, die wir im Auge haben, zu nähern, nicht 
der Psychologie der einzelnen Biographen freilich, son- 
dern der der Biographik als eines — zunächst 
anonymen — psychischen Geschehens. Dabei kann es 



3 ) Ges. Sehr., Bd. IX, S. 448. 

11* 



163 




















sich nur um einige grobe und schematische Ems 
handeln. Als Ausgangspunkt dient uns der Befund 
Wissenschaft, die zu den am besten begründeten >.„ 
hört, deren methodisches Fundament seit Jahrhun 
gesichert und deren Schlußverfahren dem der Fsy 
analyse in merkwürdiger, aber gewiß nicht zu - 

Weise verschwägert ist 4 ): die philologische^ 
historische Kritik geschichtlicher « 
len. Sie belehrt uns darüber, daß in der älteren 
graphik zuweilen bestimmte typische Wendungen, - 
hende Formeln, mit besonderer Häufigkeit begegne a = 

Aus diesem Sachverhalt ließe sich zweierlei ablei . che 
Man dürfte hoffen, da der gleiche Vorfall, der g e _^ 
Charaklerzug in den Lebensbeschreibungen gewisser ^ 
render Persönlichkeiten öfters begegne, etwas von 1 
gemeinsamen Eigenschaften zu erfahren, und könn e 
dann die Aufgabe stellen, so auf statistischer Grün üMFf 
einen Beitrag zur Charakterologie des Genies zu 8 
nen. Aber diese Forschungsrichtung setzt die 
läßlichkeit der typischen Berichte voraus se 
voraus, daß sie in jedem Falle zutreffen. Eben dar 
zweifelt eine zweite, skeptischere Fragestellung, 
meint, aus der Gleichartigkeit der Berichte vor ai 
auf die gleiche Einstellung der Biographik und i 
Publikums schließen zu dürfen. . e 

Lassen Sie mich diesen zweiten Standpunkt und s 
Berechtigung in gröbstem Schema an einem Beisp "j 
illustrieren. Sie kennen alle den Bericht über das 
halten des Archimedes bei der Erstürmung von Syra ' 
daß er den in seine Arbeitsstätte dringenden Solda 

*) Die Art dieser Verwandtschaft, auf die sc o 
Freud durch den Vergleich der Arbeitsweise a er hin ci 
choanalyse mit der der klassischen Archäologie ni» d . 
wiesen hatte, haben Heinz Hart mann (Die w j 
lagen der Psychoanalyse, Leipzig 1927) una »■ cn0 - 
feld (Über den Begriff der Deutung r in l der J r^y 
analyse, Ztschr. f. angew. Psychol. XLI1, Hf*a; a 
lieh dargestellt. 



164 






• 

sein „Noli tarbare circalos meos" entgegen]** Begeg- 
nen wir nun dem gleichen Berichte Otter in der j* 
graphik älterer oder neuerer Zeit, so wird uns der w 
danke an eine so auffällige Wiederholung des gleichen 
Vorfalles und des gleichen Verhaltens *0*£"*"£ 
men und wir werden der Auffassung ^TaJ£ 
Biographik verwende den aus dem Leben des Arcjn 
medes bekannten Vorfall, um die Versenkung de s ge isti 
Tätigen in seine Welt zu kennzeichnen In der Tat hat 
denn auch die Quellenkritik längst nachge^s^ ad* 
solehe typische Berichte -ich nenne^ «fc*F ^ 
mein der Biographik- in W" 
eingesetzt werden, wo ^m B'ogrf ^b*r ° ^ 
lauf des Helden nichts bekannt war, nicn 

sein konnte. ; h die Leitsätze 

Aus diesen Erwägungen ^^» vorsch i ag e, 

der Untersuchungsmethode de » der Deutung 

mühelos ableiten. Sie f^^'J^g ilu-es Wahr- 
biographischer Formeln ohne Anse ^ ^ por 

heitsgehaltes, obgleich » ucn nach große r Lebens- 

meln lehrreich ,«* £» bwürdig .. : man kann von 
nähe und »J^"*^ Als Ausgangsbefund aber 

• h f re f r - " PlaUS '^n erhebhcb, daß es sich um eine ste- 
igt für uns allein erne , band le. Ist dieser 
hende Wendung der BiogP ^^ 

Umstand gesichert, so erne bestimmte 

a Vi! %*- — "riCSTÄSS 

vor, bei der z u na c hsimc au in Rede 

Helden, sondern die Tendenz der Bio P 
steht. Diese Frage mußte ms Uteuose iu • 
man den Versuch wagen, sie ohne eine Begren ung zu 
prüfen. Die Struktur der älteren B.ograpluk selbst biete 
uns einen Ansatz zur Einschränkung des Themas. Denn 
die ältere Biographik ist zünftisch gegliedert; die Grup- 

165 



pen einzelner Biographien sind nach der soziologischen 
Stellung der Helden streng getrennt. Fassen wir nun 
für die Zwecke unserer Untersuchung einen bestimm- 
ten Berufsstand ins Auge, so wird in unserer Einsicht 
in den typischen Formelbestand auch enthalten sein, 
wie Männer dieser oder jener Gruppe der Umwelt er- 
scheinen, was ihre Stellung im besonderen aus- 
zeichnet, was für ihr Publikum ihre besondere 
Eigenart ausmacht. Damit ist zugleich die Brücke ge- 
geben, die von der Psychologie der Biographik zu der 
ihrer Helden führt. Denn man darf vermuten, daß der 
biographischen Formel auch im Wesen des Helden et- 
was entgegenkomme, daß sie ein Stück seiner Eigenart 
—in einer bestimmten Einstellung freilich — zu erfas- 
sen suche. 

Die biographischen Berichte nun, der Formelbestand, 
von dem ich ausgehe, beziehen sich auf bildende 
Künstler, ein Material, an dem mir auch vor 
mehr als einem Jahrzehnt die Problematik, die ich 
eben zu kennzeichnen versuchte, aufgefallen war. Die 
Sammlung des Materials — eine sinnvolle Aufgabe erst 
seit wir durch psychologische Befunde und Anschau- 
ungen auch den Zugang zu seiner Auswertung zu be- 
sitzen meinen, und eben dadurch ein Beleg für die vor- 
her entwickelte Anschauung, nach der der auf Grund 
psychoanalytischer Einsicht gewonnene neue Ge- 
sichtspunkt innerhalb der Geisteswissenschaften 
auf neue Forschungsaufgaben hinführe -~ 
liegt unter dem Titel „Die Legende vom Künstler, 
ein geschichtlicher Versuch" als kleines Buch vor 5)' 
das ich gemeinsam mit Otto Kurz verfaßt habe. Die 
Bedingungen gemeinsamer Arbeit verboten es, den Mit- 
verfasser, mehr als unvermeidlich, mit dem Gewicht 

5 ) Wien, Krystallverlag 1934. Die im folgenden mitge- 
teilten Fakten sind dieser Arbeit entnommen, in der 
alle näheren Angaben über das herangezogene Material 
leicht aufzufinden sind. 

166 



der psychoanalytischen Anschauungen zu belasten, die 
mir die Themenstellung nahegelegt hatten; ich durfte 
mir schon bei der Abfassung dieser Schrift vorbehalten, 
einiges aus ihrem Inhalt unter Betonung der psychologi- 
schen Fragen nochmals zu behandeln. Lassen Sie mich 
hinzufügen, daß neben manchen Gründen, die gegen eine 
solche Teilung und Wiederholung der Arbeit sprechen, 
auch einer sie empfiehlt: Diese Teilung der Arbeit 
scheint eine erträgliche und doch nicht gewissenlose 
Verbindung der Sammlung des Materiales und seiner 
psychoanalytischen Deutung zu ermöglichen. 

An dem Material, dessen Eigenart so gekennzeichnet 
sei, möchte ich an zwei Beispielen zwei gesonderte 
Probleme zu behandeln versuchen, eines, das die Grund- 
lagen der Biographik im allgemeinen em 
Stück weit beleuchten mag, und ein anderes, das im be- 
sonderen die Stellung des bildenden Kunst- 
lers betrifft 6 ). S'il^L 

Und nun — Sie sehen, wie undankbar solche Themen 
sind - muß ich Sie, statt Sie in medias res zu führen, 
mit einer weiteren Einleitung befassen, die einiges All- 
gemeine über die Biographik vom bildenden Künstler 
mitteilen soll. 

III. 

Die Entstehung einer Künsllerbiographik setzt eine 
besondere Wertschätzung des Künstlers durch seine 
Umwelt voraus, als deren erstes Anzeichen es gelten 
muß, daß sein Name genannt wird. Ich darf daran er- 
innern, daß das nicht zu allen Zeiten geschah, daß wir 
Kunstwerke von höchstem Wert bei Völkern und aus 



6 ) Dieser Teil ist als Vorarbeit zu einer „Psychologie 
des bildenden Künstlers" gedacht, einem Thema, das 
im folgenden nur so weit berührt werden soll, als sich 
dies aus der hier eingehaltenen Untersuchungsbedingung 
zu ergeben scheint. 



167 



Zeiten kennen, deren Geschichte uns vertraut ist, ohne 
daß uns Künstlernamen überliefert wären. Suchen wir 
sehr schematisch zusammenzufassen, unter welchen Be- 
dingungen der bildende Künstler ins Licht der Ge- 
schichte tritt, so darf vielleicht die Formulierung ge- 
wählt werden, es geschähe, wenn künstlerisches Schaf- 
fen sich aus weiterem Verbände löse, einen Eigenwert 
empfange, etwa nicht mehr allein in kultlicher Abhän- 
gigkeit wirke und zu einem autonomen Gebiet mensch- 
licher Tätigkeit und menschlicher Wertung werde. Der 
Prozeß dieser Ablösung vollzieht sich schrittweise. Nur 
m zwei Kulturkreisen hat er zur Ausbildung einer eige- 
nen Künstlerbiographik geführt: im fernen Osten und 
im Mittelmeerbecken. Zwischen beiden bestehen hin- 
sichtlich des biographischen Formelbestandes auffällige 
Übereinstimmungen. Die europäische Tradition, die hier 
allein berücksichtigt werden kann, bietet eine Eigenart 
auf die ich vorbereiten muß. Sie zeigt einen zwei- 
zeitigen Ansatz". Der eine liegt im Griechentum und 
laßt sich in die Zeit um 300 v.Chr. zurückverfolgen, 
der andere in der Renaissance, in Italien,- zwischen bei- 
den klafft die anonyme Kunst des Mittelalters. Auch 
die größten Meisterwerke dieser Zeit künden nicht den 
Ruhm ihres Schöpfers. 

So grob dieser Abriß ist, so ist er doch für diesen 
Zweck ausreichend. Ich habe noch hinzuzufügen, daß 
alle durch die Literatur der Griechen und Römer be- 
kannten Formeln der Künstlerbiographik in der Renais- 
sance neu belebt werden, und daß einige neue hinzu- 
treten. Denn die Stellung des Künstlers ist in der Neu- 
zeit eine andere als im Altertum. Der bildende Künst- 
ler bei den Griechen und Römern ist geringen Standes, 
ist „Banausos", und jene großartige Wertschätzung, die 
andere schöpferische Gestalten — die Dichter, die Sän- 
ger, die Dramatiker oder Philosophen — auszeichnet, 
bleibt ihm versagt; ihn begnadet die Gottheit nicht, 
ihm fehlt jener „Enthusiasmus", jene Inspiration, die 

168 



das Schaffen der anderen ermöglicht. Die Renaissance 
erhöht seine Stellung sehr wesentlich; er steht unter 
ihren geistigen Führern sogar an bevorzugter Stelle. 
Die Summe von Tatsachen, die kurz angeführt wurde, 
ist einer weiteren, auch einer psychologischen Aufklä- 
rung zugänglich; wenn ich sie hier ohne weiteren 
Interpretationsversuch und in äußerster Verkürzung vor- 
bringe, geschieht es, um mich nun endgültig dem Thema 
zuzuwenden. 



IV. 

Das allgemeine Problem der Biographik, das ich an 
Hand des Materials aus den Lebensbeschreibungen der 
bildenden Künstler prüfen möchte, bezieht sich auf die 
Stellung, die der Jugend des Helden in der Biographik 
zukommt. Es empfiehlt sich zunächst, grundsätzlich 
zwei Standpunkte zu unterscheiden: Der eine erblickt 
in der Jugend des Helden die Vorgeschichte sei- 
nes Lebens. Diese Auffassung, die wir als die unsere 
ansehen dürfen, hat sich allmählich entwickelt, begegnet 
etwa seit dem 18. Jahrhundert in breiterer Schicht und 
hat neues und entscheidendes Gewicht erhalten, seit 
durch die Psychoanalyse die Psychologie selbst histo- 
rische Orientierung erhielt. 

Die andere Anschauung sieht in Erlebnissen und 
Leistungen des jungen Helden — des Kindes überhaupt 
— nicht dessen Vorgeschichte, sondern Vorzeichen 
seiner künftigen Artung. Es ist die umfassendere, die 
ältere Anschauung; sie wurzelt im mythischen Denken 
der Menschheit und ragt fast ungebrochen in unsere 
Zeit. Ihr Platz ist hier nicht das wissenschaftliche Den- 
ken. Aber in unserem vor- oder außerwissenschafllichen 
Verhalten ist sie lebendig ?). 

2 #^ ls - 1 Jß itimer Niederschlag innerhalb der Wissen- 
scnatt sind manche Ergebnisse und Zielsetzungen der 
nrn- und Konstitutionsforschung anzusehen. 

169 



Diese Unterscheidung ist noch durch eine Angabe zu 
ergänzen: Nachrichten über die Jugend des Helden sind 
in der Biographik älterer Zeit selten; sie bezeichnen 
stets den besonderen Rang der Persönlichkeit. So kann 
die neue Bedeutung, die die Renaissance ihren Künst- 
lern zuerkennt, am besten durch die Feststellung ge- 
kennzeichnet werden, daß sie in biographischer Dar- 
stellung ihrer Jugend Aufmerksamkeit widmet. Diese 
Aufmerksamkeit hat in einer außerordentlich verbreite- 
ten biographischen Formel einen Niederschlag gefun- 
den. 

Sie wird zuerst von Giotto, dem bedeutendsten 
italienischen Maler des 14. Jahrhunderts, berichtet und 
gewinnt weite Verbreitung, als die italienische Künst- 
lerbiographik der Renaissance ihn beinahe an die Spitze 
der großen nationalen Erneuerung der Kunst rückt. 
Beinahe an die Spitze, denn einer älteren Generation 
noch gehört ein anderer an, G i m a b u e, ein Maler, aus 
dessen Leben uns so gut wie nichts bekannt ist. Die 
Namen beider erscheinen nicht etwa erst in der Künst- 
lerbiographik des 15. und 16. Jahrhunderts nebenein- 
ander, vielmehr reicht die Verbindung noch in die 
Lebenszeit des Giotto zurück. Beide Namen begegnen, 
in Dantes „Göttlicher Komödie"; dort wird berich- 
tet, daß der einst strahlende Ruhm des älteren, des 
Cimabue, von dem Giottos verdunkelt wurde. Der Zu- 
sammenhang, in dem die Stelle steht, sichert ihren 
Sinn: Dante gibt uns ein Beispiel für die Vergänglich- 
keit irdischen Ruhms, ein „exemplum morale". Die 
Stelle in der Divina Commedia, ein Datum aus dem 
Leben des Cimabue, einige Daten aus dem des Giotto 
dessen große künstlerische Leistungen uns vor Augen 
stehen, während der Stil des Cimabue im Dunkel zu 
zerfließen scheint, ist alles, was an gesicherter Grund- 
lage einer Biographik auf uns gekommen ist. 

Die knappe Stelle bei Dante aber haben die Kommen- 
tatoren des Dante — die Auslegung der Divina Comme- 

170 



dia war in Florenz Lehr gegenständ und ein Boccac- 
cio zu Zeiten „Ordinarius" des Fachs — bald anders 
interpretiert; sie haben den Versen eine historische 
Aussage entnommen und lassen Giotto zum Schüler des 
Cimabue werden — wofür weder ein dokumentarischer 
Grund vorhanden war noch auch in dem Stil beider 
Künstler Gründe zu finden sind — wir kennen nur 
Gegengründe — und bald bildet sich, offenbar geformt 
von der mündlichen Oberlieferung, eine Fabel aus, die 
zuerst von der Dante-Kommentatur überliefert, endlich 
folgende Gestalt gewinnt: 

Giotto, ein Bauernbub, hütet die Herde seines Vaters 
und zeichnet die Tiere der Herde in den Sand; da 
kommt zufällig Cimabue des Weges, erkennt die wun- 
derbare Begabung des Knaben und nimmt den Bauern- 
buben zu sich, der unter seiner Leitung zu dem großen 
Ingenium der neuen italienischen Kunst heranwächst. 

Die Fabel wird schnell Gemeingut der Biographen, 
wird auf alle möglichen Künstler übertragen, auch auf 
solche deren uns wohlbekannte Herkunft den berich- 
teten Vorfall ausschloß; sie wird mit Vorliebe da ver- 
wendet, wo dem Biographen keine Nachrichten vor- 
lagen, wo er gleichsam ein Stück Biographik zu fingie- 
ren hatte. Wie trefflich das Formelmotiv den Anfor- 
derungen der Biographik entsprach, mag man aber 
daraus ersehen, daß die Fabel noch in der Künstler- 
biographik des 20. Jahrhunderts begegnet. Angehörige 
Segantinis mußten sich dagegen verwahren, daß in 
einer bekannten Biographie die Fabel in seine Jugend- 
geschichte verwoben wurde, und auch in der Lebens- 
beschreibung eines noch lebenden Künstlers, des süd- 
slawischen Bildhauers Mestrovic, findet man sie 
wieder. Hier freilich soll der Künstler sie von sich 
selbst erzählt haben. Sie ist so typisch für die Jugend- 
geschichte des Künstlers geworden, daß auch die Dich- 
ter sich ihrer bedienen : Andersen hat sie in einem 
seiner Märchen verwendet, und Octave Feuillet hat 

171 



sie auf die Jugend eines musikalischen Genies übertra- 
gen, dem er eines seiner Theaterslücke widmet. 

So kurz die berichtete Fabel auch ist, so setzt sie sich 
doch aus mehreren Motiven zusammen, deren einige 
aus dem klassischen Altertum stammen. Das allgemeine 
Streben etwa, berühmte Männer miteinander nachträg- 
lich in Berührung zu bringen, ist uns als Ferment der 
griechisch-römischen Geschichtsschreibung ebenso be- 
kannt wie der Versuch, auf diese Weise verschiedene 
Generationen zu verbinden und so der „Genealogisie- 
rung" zu dienen; eine selbständige Wurzel - in peri- 
pathetischer Anschauungsweise - hat dabei das Element 
des Zufalls und das des sozialen Aufstiegs, der in unse- 
rem Fall aus dem Bauernsohn Giotto den gefeierten 
Kunsller macht. Auch in den sehr zahlreichen Varianten 
die die Fabel von der Entdeckung des Talents erfährt' 
- eine von ihnen schmückt bald auch den Lebenslauf 
des Cimabue aus, - bleiben als Kernmotiv gerade 
der soziale Aufstieg und die wunderbare Fähigkeit des 
Künsllerkindes gewahrt. 

Fragen wir nun nach den Eigenschaften, die der Fabel 
ihre Beliebtheit und Verbreitung sichern. Ich glaube 
daß ich mich hier kurz fassen und zunächst sagen 
darf, daß die Fabel von der Entdeckung des 
Talentes in auffälliger Weise an das Gebiet der 
Sage und des Mythos erinnere. Dann aber erhebt sich 
die speziellere Frage, wie diese Verknüpfung beschaffen 
sei. Es ist leicht zu bemerken, daß die Fabel von der 
Entdeckung des Talentes mehrere Übereinstimmungen 
mit jenem Kreis von Sagen zeigt, die wir als Mythen 
von der Geburt des Helden durch Rank ken- 
nengelernt haben. Sie wissen auch, wo in unserem 
Denken, wo in der Funktionsweise unseres ontogene- 
tischen Modells - denn ein ontogenetische & s Mo- 
dell ist es, das wir als Psychoanalytiker den Geistes- 
wissenschaften bieten - die Bereitschaft zu dieser My- 
thenbildung aufgezeigt werden kann: in den Konflikten 



172 



der Familiensiluation, aus denen der Familienroman 
entspringt. Aber es empfiehlt sich, beide Fabeln einan- 
der gegenüberzustellen, ihre gegenseitige Beziehung ge- 
nauer zu prüfen. Die Übereinstimmung erstreckt sich 
vornehmlich auf gewisse Gemeinsamkeiten von Umwelt 
und Situation, etwa den Hirtenstand des Helden und 
die Veränderung seines Milieus. Mit einigen Sagen von 
Helden, die nur zum Teil in jene von Rank besproche- 
nen Gruppen fallen, ist eine noch engere Beziehung fest- 
zustellen, mit Berichten, in denen der Held an seiner 
Leistung erkannt wird; solche wunderbare Leistun- 
gen begegnen im Mythos nicht selten — ich nenne nur 
eine, die berühmteste, erinnere Sie an den jungen 
Herakles, der die Schlangen erwürgt, und möchte Sie 
nicht weiter mit dem Hinweis auf Parallelen aus dem 
Gebiet der Mythenforschung, einem weiten Bereich der 
Wissenschaft, in dem ich mich nur als Gast fühlen darf, 
befassen, sondern nur einen dieser Berichte kurz er- 
wähnen Er bezieht sich auf die Kindheit Jesu, findet 
sich in einem der apokryphen Evangelien, in denen die 
Heilstfeschichte des Neuen Testamentes synkretistisch 
erweitert und entstellt wurde, und ist durch die schöne, 
aber nicht getreue Wiedergabe in Selma Lagerlöfs 
Christuslegenden" allgemein bekannt geworden. Der 
Bericht erzählt, wie Christus als Kind Vögel aus Ton 
geformt hat und diese Vögel durch Anhauchen zu be- 
leben wußte; es steht diese Eigenschaft, die den Knaben 
als Weltschöpfer und Künstler kennzeichnet, im groß- 
artigen Verbände jener Gedanken, die als Künstlerschaft 
Gottes den alttestamentarischen Genesisbericht einlei- 
ten; im apokryphen Evangelium freilich ist diese Tätig- 
keit nicht nur als göttliche Freiheit, sondern auch als 
böser Zauber geschildert; in die Charakteristik des Got- 
teskindes sind Züge gemischt, die der heidnischen Vor- 
stellung von Willkür und Allmacht der Gottheit entstam- 
men. Der Bericht vom Christusknaben als Tierbildhauer 
war zweifellos jenen Florentinern geläufig, aus deren 

173 



Mitte die Fabel von der Entdeckung des Talentes 
stammt. Wir stoßen damit gleichsam auf eine zweite 
Wurzel ihrer Entstehung und dürfen nun fragen, wo 
dieser besondere Zug der Fabel im Seelenleben der Men- 
schen eine Entsprechung findet : die besondere Vor- 
stellung von der wunderbaren Begabung 
der Kindheit. Zunächst möchte ich ein Beispiel 
einschalten, das nicht den ganzen Umfang der Frage 
deckt, sich ihr aber nähert und eine Brücke zwischen 
der Vorstellung vom Wunderkind und dem Familien- 
roman darstellt: Ein 25jähriger junger Mann berichtet 
in der Analyse, daß er, im fünften oder sechsten Lebens- 
jahr, die Phantasie entwickelt habe, er sei der Sohn des 
Kronprinzen Rudolf von Österreich. Neben der typi- 
schen und schrittweisen Ablösung der Phantasie aus 
dem Machtbereich des Ödipuskomplexes — dem Schritt 
also vom unehelichen zum ehelichen, den wirklichen 
Eltern nur unterschobenen Sohn des Prinzen — rückt 
ein anderer Zug mehr und mehr in den Vordergrund, 
der, auf wunderbare Weise entdeckt zu 
werden, um, wozu er allein befähigt sei, sein Land 
vor drohenden Thronstreitigkeiten zu bewahren. Dieser 
Teil der Phantasie ist dann von schicksalhafter Bedeu- 
tung geworden; erst die Analyse konnte die Rolle, die 
die Erwartung künftiger Entdeckung im Phantasieleben 
und endlich auch in der Lebensgestaltung spielte, auf- 
weisen. 

Ich kann mich dem Eindruck dieses Beispiels schwer 
entziehen und möchte vermuten, daß ähnliche Phanta- 
sien den typischen Familienroman öfter begleiten. Es 
wäre dann die Phantasie von der Entdeckung des Hel- 
den die Lötstelle. Aber da es sich hier nur um eine Ver- 
mutung handelt, sei der Faden nicht weiter verfolgt«). 

8 ) In einer anderen Analyse konnte ich eine ähnliche 
Phantasie — freilich in glücklicher Rationalisierung — 
kennenlernen. Ein darstellender Künstler — in dessen 
Leben das „Entdecktwerden" füglich eine erhebliche 

174 






Einer anderen und näherliegenden Erklärung ist nun 
zu gedenken. Man mag der hier vorgebrachten Vermu- 
tung zustimmen, den einen Teil der Hypothese für 
gerechtfertigt halten und annehmen, in der Fabel von 
der Entdeckung des Talentes sei etwas enthalten, was 
sich mit dem Familienroman verbinden lasse; aber 
das gelte, so könnte man sagen, nur für die Einkleidung 
der Fabel. Es liege ihr ein empirischer Befund zu- 
grunde, die frühe Begabung des künftigen Künstler- 
kindes — und dieser empirische Befund erst gebe den 
Anlaß zu der Ausschmückung des Berichtes. Diesen Er- 
wägungen zu widersprechen bietet sich kein Anlaß. Wir 
hatten schon einleitend darauf hingewiesen, daß die 
biographische Formel den Charakter des Helden zu 
erfassen strebe, seiner Eigenart angepaßt sei. Das Fak- 
tum der Frühreife sei ein solcher Befund. Indessen der 
letzte Teil des Schlusses ist nicht zu begründen; weder 
scheint die Neigung zum bildenden Künstler zu jenen 
zu gehören, die sich regelmäßig sehr frühzeitig ausbil- 
den 9 ), noch wissen wir, ob sich eine solche Frage aus 

Rolle spielen durfte — verband mit der Phantasie plötz- 
licher Entfaltungsmöglichkeit für seih Talent die in 
Träumen verratene Vorstellung, von der Vater-Imago 
des Entdeckers ein „richtiges", d. h. ein erwachsenes 
Glied geschenkt zu erhalten. Den Hintergrund dieser 
Phantasie bildete der alte Wettstreit mit dem in dem- 
selben Kunstzweig wie der Patient als Liebhaber erfolg- 
reich tätigen Vater. 

9) Damit soll keineswegs behauptet werden, daß die 
Anschauung, schon in frühen Lebensäußerungen verrate 
sich die entscheidende „Anlage", irrig sei — im Gegenteil, 
je mehr wir Einbück in die Wirkungsweise der Er- 
lebnisse, der historischen Schicksale der Persönlichkeit 
gewinnen, desto eindrucksvoller wird uns die Bedeu- 
tung der vorgegebenen biologischen Faktoren. Ihre Eigen- 
art — gerade aus der Verhaltungsweise des Kleinkindes 
— zu bestimmen, scheint eine wichtige Aufgabe der 
Forschung zu sein; sie wird zu manchem, was die 
Triebstärke und bestimmte Reaktionsweisen des Indi- 
viduums auf äußere Reize betrifft, vielleicht schon Ul 

175 



der Verknüpfung mit geschichtlicher Bedingtheit ablösen 
läßt 10 ). Wohl aber werden wir durch diese Erwägungen 
auf einen anderen Gedanken hingelenkt, auf die Über- 
legung, wie gerne wir bereit sind, die Leistungen der 
Kinder zu überschätzen, in ihnen das Außerordentliche 
zu suchen, und wie erstaunt wir immer wieder sind, wenn 
die weitere Entwicklung des Kindes unsere Erwartun- 
gen nicht rechtfertigt. Mit dieser Einstellung hängt denn 
auch offenbar ein Verhalten zusammen, dessen wir 
schon einleitend gedachten: das Suchen nach Vorzei- 
chen, mit dem wir schon frühe kindliche Lebensäuße- 
rungen begleiten. Man darf behaupten — ohne damit 
das Ganze dieses Verhaltens erfassen zu wollen — , daß 
wir dabei nach dem Wunderkind Ausschau 
halten. Einige Determinanten dieses Verhaltens las- 
sen sich leicht erschließen: Dem eigenen Kind gegenüber 
mag man sich bewußt werden, bestimmte Fälligkeiten 
und Eigenschaften, die einem versagt waren, oder auch 
gerade solche, auf die man besonders stolz ist, im 
Kinde entdecken zu wollen; wir stehen im Banne des 
Narzißmus. Auch mag man sich des ewigen Wunsches 
nach eigener Kindheit besinnen, der Wert und Leistung 

absehbarer Zeit beitragen können. Aber diese Seite unse 
res (wissenschaftlichen) Interesses an frühen Leistungen 
des Kindes bedeutet nur ein zusätzliches Moüv eine 
Rationalisierung für unser Streben, im Verhalten de* 
Kindes nach Vorzeichen zu suchen. — Es ist nicht ™ 
bezweifeln, daß auch „die Ausschau nach dem Wun 
derkind nicht das Ganze unseres Verhaltens deckt 
Em weiteres Moüv sei noch angegeben: Das Interesse 
für Artung und Eigenschaften gerade des Kleinkindet 
ist — wie sich aus unmitelbarer Beobachtung analvti 
scher Erfahrung und vor allem aus geschichtlichem und 
lolklonstischcm Material zu ergeben scheint — oft ge- 
steuert von der Tatsache: paler incertus. 

10 ) Eben jene Fabeln, deren Urbild wir hier prüfen 
werden öfters als Belege für die frühe künstlerische 
Begabung angeführt, so daß die Gefahr einer petitio 
prineipii gegeben ist. 

176 



der Kindheil zu überschätzen verlockt — als sagten 
wir uns, wie reich und glücklich die eigene Entwicklung 
war, ehe die und die Schicksale und Erfahrungen sie 
in andere Bahnen drängten. Tiefer noch führt eine an- 
dere Überlegung: Die Fähigkeit und die Leistung, die 
unsere Bewunderung dem Kinde zuschreibt — damit soll 
nicht geleugnet werden, daß das Kind auch Fähigkeiten 
besitzt, die dem Erwachsenen verlorengehen — , mögen 
eine Überlegenheit vertreten, die wir, selbst Kinder, her- 
beigesehnt haben, um die Befriedigung von Triebansprü- 
chen zu finden oder auch um Triebkonflikten zu ent- 
gehen. So verketten sich hier „Vergangenes, Gegenwärti- 
ges und Zukünftiges an der Schnur des Wunsches" 
(Freud). 

Für die Bedeutung der eigenen Kindheit in unserer 
Stellung zum Kinde, zum Wunderkinde, spricht es, daß 
von dieser Erwägung her eine Einzelheit des Berichtes, 
von dem wir ausgegangen sind, besser verständlich zu 
werden scheint. Die Fabel von der „Entdeckung des 
Talentes" erhält ihren vollen Sinn, wenn wir uns ver- 
gegenwärtigen, daß ein Kind bei einer „kindlichen 
Betätigung" überrascht wird und statt der Strafe, 
die ihr droht, die Förderung des Vaters erfährt 11 ); 
man mag hierin eine der entscheidenden Voraussetzun- 
gen sehen, an die unser Unbewußtes künftige Größe 
des Kindes zu knüpfen geneigt ist, eine der Bedingungen 
sehen, unter denen wir selbst, nach unserer Meinung 
den Weg zu Glück und Größe frei gefunden hätten. 

Haben wir so versucht, einige der Motive zu verste- 
hen, deren Zusammenwirken unsere Bereitschaft, nach 
Wunderkindern Ausschau zu halten, im Ansatz verständ- 
lich erscheinen läßt, so lassen Sie mich jetzt die Worte 
anführen, mit denen ein Denker, in dem wir einen der 

") D e . r synkretistische Bericht von der Kindheit Jesu 

SSÜi ™ e Auffassun g ; denn es sind Vögel, die der 
kleine Thaumaturg formt. 

12 Almanach 1937 

177 



ö* 



tiefsten Psychologen unserer Tage ehren, unsere Stellung 
zum Wunder kinde beschrieben hat: 

„ . . . da sitzt man nun als ergrauter Kerl und läßt sich 
von diesem Dreikäsehoch Wunderdinge vormachen. Aber 
man muß bedenken, daß es von oben kommt. Gott ver- 
teilt seine Gaben, da ist nichts zu tun, und es ist keine 
Schande, ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Es ist etwa 
wie mit dem Jesu-Kind. Man darf sich vor einem Kinde 
beugen, ohne sich schämen zu müssen. Wie seltsam 
wohltuend das ist." 

Diese Worte Thomas Manns vermöchten zu man- 
nigfachen Überlegungen anzuregen, und mancherlei ließe 
sich aus verschiedenartigen Wissensgebieten, aus Ethno- 
logie, Folklore und Religionswissenschaft zu der Frage 
anführen, auf die sie hinweisen. Uns aber leiten sie zu 
unserem Ausgangspunkt zurück: Ein entscheidender 
Bruch geht durch unsere Überlegung, die sich auf den 
Vergleich der Fabel von der Entdeckung des Talentes 
mit den von der Geburt des Helden handelnden Mythen 
bezieht. In diesen ist das ausgesetzte Heldenkind von 
hoher Abkunft und wird gleichsam wieder entdeckt. 
In unserer Fabel aber ist die Abkunft eine niedere und 
der Entdecker zugleich der neue, der erhöhte Vater. 

Wir können auf diese Unstimmigkeit erst jetzt hin- 
weisen; erst jetzt meinen wir imstande zu sein, zu 
Ihrer Aufklärung beizutragen. 

Die frühe und nach Ausdruck drängende Begabung 
des Künstlerkindes ist ein Novum der Künstlerbio^ 
graphik; erst die Renaissance führt dieses Motiv ein. 
Frühere Zeiten hatten dieses auszeichnende Element 
anderen Arten von Helden vorbehalten, das Altertum 
im wesentlichen seinen Heroen, das Mittelalter der Le- 
gende der Heiligen. Aus dieser Quelle dringt das Motiv 
in die Künstlerbiographik ein. Wie die Begnadung der 
Heroen und Helden wird auch die des Künstlers mit 
der Gottheit verknüpft. Das geschieht nicht ausdrücklich, 

178 



denn eine neue Mythologie vom Künstler kann sich 
im scharfen Licht abendländischer Kulturentwicklung 
der Neuzeit nicht ausbilden; aber ein wichtiges Element 
neuzeitlicher Ideologie, die nicht allein, aber auch 
vom bildenden Künstler gilt und in der Kunsttheorie 
einen reichen Niederschlag gefunden hat, die Lehre 
vom Genie tritt stellvertretend ein, eine Lehre, die 
ihr geistvoller Geschichtsschreiber, Edgar Z i 1 s e 1, mit 
gutem Grund die Geniereligion nennen durfte. Die Got- 
teskindschaft des Ingeniums gehört zum festen Inven- 
tar dieser Lehre. Sie hat in der Künstlerbiographik 
selbst deutlichen Niederschlag gefunden. Das Hauptwerk 
der Kunstgeschichtsschreibung der Renaissance, das 1550 
in erster Auflage erschienene Vitenwerk des Giorgio 
Vasari ist als Pyramide entworfen, deren Spitze die 
alles überragende Erscheinung Michelangelo Buo- 
narottis bilden sollte. Die Lebensbeschreibung die- 
ses Größten der italienischen Künstler beginnt durchaus 
im Tone des Mythos: 

„Da Gott nun sah, daß gerade in Toscana Bildhauer, 
Maler und Baumeister sich der edlen Kunst mit größter 
Hingabe gewidmet hatten, wollte er, daß dieser von ihm 
gesandte Geist Florenz als seine Heimat haben sollte... 
Dieser Sohn, von dem ich rede, wurde am 6. März, 
einem Sonntag, gegen 8 Uhr abends geboren. Man gab 
ihm den Namen Michelangelo ohne langes Nachsinnen, 
wie unter einer höheren Macht wollte man dadurch 
andeuten, daß er über jedes menschliche Maß hinaus- 
rage, himmlisch und göttergleich veranlagt sei." 

Durchaus in den Rahmen des Mythos und in den 
Ablauf seiner Motive fügt es sich, wenn im Anschluß 
an diese Stelle berichtet wird, daß man den Knaben 
nach Settignano brachte, wo die Frau eines Steinmetzen 
ihn nährte, so daß er „bei der Amme schon mit der 
Milch den Willen zu Hammer und Meißel einsog. 1 ' 

Fassen wir die Anschauung über den Künstler, die 
sich in der Renaissance seit dem 14. Jahrhundert aus- 

12* 

179 



bildet, als eine einheitliche auf, die sich schrittweise 
entfaltet — und alle Gründe sprechen für diese Auf- 
fassung — , so dürfen wir jetzt den Unterschied zwi- 
schen der Fabel von der Entdeckung des Talentes 
und dem Mythos von der Geburt des Helden ein Stück 
weit verkleinert sehen. Wir dürfen die Gottes kind- 
schaft des Ingeniums an Stelle der äußeren 
hohen Abkunft des verstoßenen Königssohnes ein- 
setzen. Der Entdecker, dessen Urbild wir in Cimabue 
kennenlernten, der zufällig seines Weges daherkommt, 
entdeckt ein Kind, das Gott zum Ingenium erwählt hat! 

Das ist der Einzelfall, an dem ich die These verdeut- 
lichen wollte, daß die Biographik dem Mythos 
entstammt und sich seinem Reich in alter Zeit 
nicht ganz hat entziehen können. Wie die mündliche 
Florentiner Tradition auf den Mythos zurückgreift, so 
dürfen wir uns auch das Schaffen der einzelnen Bio- 
graphen oft von ähnlichen Tendenzen beherrscht den- 
ken. Denn die Genies, denen wir Biographien gewidmet 
wissen wollen, sind die unter uns, die als Helden impo- 
nieren, die Erben der Halbgötter und der Götter des 
Mythos. 



V. 

Haben wir bisher versucht, ein allgemeines Pro- 
blem der Biographik, die Heroisierung des Helden, an 
Hand einer bestimmten Fassung seiner Jugendge- 
schichte zu beleuchten und aus dem Fortleben mythi- 
scher Elemente zu verstehen, so soll im folgenden 
die besondere Kennzeichnung des bildenden Künstlers 
an Hand einiger biographischer Formeln im Abriß 
erörtert werden. 

Zwei dieser Formeln nehmen eine Sonderstellung ein; 
sie sind die kennzeichnendsten und verbreite tsten. Die 

180 



eine berichtet, daß der griechische Maler Zeuxis, als 
er das Gemälde seiner Helena für die Stadt Kroton 
schuf, von fünf schönen Modellen die jeweils schön- 
sten Teile in sein Werk übernommen habe. Die Wur- 
zeln dieser Fabel liegen in der platonischen Kunstlehre; 
dem Künstler fällt die Aufgabe zu, die Wirklichkeit zu 
übertreffen. Was ihm die Natur ah verschiedenen Men- 
schen an Schönheit bietet, soll er zu einem Ganzen, zu 
einem Ideal der Schönheit vereinigen. 

Die zweite Fabel beleuchtet die Leistung des Künst- 
lers von einer anderen, entgegengesetzten Seite her. Sie 
berichtet — in ihrer ältesten Fassung — vom Wettstreit 
zweier griechischer Maler, des Zeuxis und des P ar- 
rha sios. Der eine, Zeuxis, malt Trauben; Sperlinge 
fliegen herbei und picken auf die Beeren los. Aber Par- 
rhasios ist der überlegene. Denn Zeuxis fordert ihn beim 
Besuch seines Ateliers auf, den Vorhang beiseite zu 
schieben, der sein, des Parrhasios, Werk verdecke. Der 
Vorhang aber ist das Gemälde: Zeuxis hat die Vögel, 
Parrhasios die Menschen getäuscht. 

Beide Fabeln leben seit dem Griechentum fort — man 
darf sagen, bis in unsere Tage; die zweite ist die ver- 
breitetem, volkstümlichere. Sie begegnet in hunderten 
Abwandlungen; es ist die berühmteste, die typische 
Künstlerfabel schlechthin, nach deren Bedeutung wir 
nun fragen. Vorwegzunehmen ist, daß, was die Fabel 
berichtet, sinnlose Übertreibung ist, wenn wir es wört- 
lich nehmen. Weder ein Kunstwerk der Griechen noch 
auch eines der vielen späteren Kunstwerke, an die die 
Fabel geknüpft wird, vermag die Natur so zu „erfassen", 
wie die Fabel es zu berichten scheint. Ihr Kern ist 
denn auch zunächst nicht bloß eine bestimmte Höhe 
künstlerischer Leistung in der Wiedergabe der Natur, 
sondern vielmehr die Aussage, daß das Kunstwerk eine 
täuschende Wirkung ausübe. Den Sinn die- 
ser Aussage lernen wir verstehen, wenn wir zwei Grup- 

181 



pen von Varianten heranziehen. Die eine Gruppe solcher 
Varianten schreibt ähnliche Leistungen wie die, die die 
Fabel von Zeuxis und Parrhasios berichtet, Künstlern 
der griechischen Vorzeit, des griechischen Mythos zu 
— etwa dem großen Ahnherrn griechischer Kunst, dem 
Daidalos. Wir haben allen Anlaß zu meinen, der 
Bericht von der täuschenden Kraft der Werke des 
Daidalos stelle eine Abschwächung älterer Überliefe- 
rung dar, die etwa berichtet, es habe Daidalos beweg- 
liche Frauengestalten geschaffen. Ähnliches 
wird von manchen anderen mythischen Künstlern be- 
richtet, vom finnischen Götterschmied 111 marinen 
oder etwa vom Hephaistos der Hias**), der der 
Thetis begegnet: 

Schwer auf die Mägde gelehnt, die schleifenden 
Laufes ihn schleppten, 

Goldene, leb enden gleich, in der Anmut rei- 
zender Jugend, 

In sich haben sie auch Verstand und redende 
Stimme . . . 

(Mas XVIII, Wff.) 

Fügen wir hinzu, daß auf den Wanderungen der 
Fabel vom Wettstreit der Künstler um die größere 
Täuschungskraft ihrer Werke eine Variante entstanden 
ist, die einen Teil des unserer Vermutung nach unter- 
drückten ursprünglicheren Inhalts wieder in unentstell- 
terer Form aufweist: In einer zentralasiatischen Fas- 
sung der Fabel sind ein Maler und ein Automa- 
tenmacher miteinander in Wettbewerb getreten- 
auch hier ist das Werk des Automateilkünstlers eine 
weibliche Gestalt. 



12 ) Es scheint zum Wesen dieser Berichte zu gehören, 
daß das Bildwerk eine Frau sei ; hier liegt ihre Paral- 
lele zum Genesis-Bericht. 

182 



Die Fabel von der täuschenden Kraft des Kunst- 
werkes gehört der ältesten Schicht biographischer 
Nachrichten über bildende Künstler an; sie stammt 
aus einer dem Duris von Samos zugeschriebenen 
Sammlung von nur in Fragmenten und in spateren 
Exzerpten erhaltenen Biographien; wenn wir sie recht 
verstehen, weist sie uns darauf hin, daß der bildende 
Künstler, der eben erst auf der Bühne geschichtlicher 
Überlieferung erscheint, das Erbe der großen Kunstler 
des Mythos angetreten habe. - 

Um diese zunächst recht unbefriedigende Einsicht 
zu ergänzen, ziehen wir eine zweite Gruppe von 
Varianten der Fabel heran. Sie be^^to 
sehende Kraft des Kunstwerkes von anderer Seite auch 
L lassen sich durch den Lauf der abendländischen 
SJS hindurch verfolgen. Ich meine Berichte, die 
besagen, ein Kunstwerk, das Abbild eines Menschen, 
sei so vollendet, daß es dem oder jenem als lebend 
als Liebesobjekt galt. So etwa soll ein Eros, soll eine 
Venus des Praxiteles Beschauer zur Liebe verleitet 
haben Amberühmtesten ist- wohl durch die Verschran- 
kun* mehrerer hier nicht zu deutender Motive - jene 
Lesende vom Bildhauerkönig Pygmalion geworden, 
dessen Liebe dem Frauenbilde galt, das er selbst ge- 
schaffen hatte. 

Wir wissen: Solche Verwechslung geschieht nicht nur 
im Zeichen des Eros — sie mag auch unter der 
Herrschaft des Th anatos geschehen. Nicht nur die 
Liebeshandlung wird am Bild vollzogen, auch Strafe 
und Vernichtung kann das Bild treffen. Liebende, die 
das Bild der treulosen Geliebten vernichten, Revo- 
lutionäre, die das Standbild des entthronten Fürsten 
stürzen, handeln im Kern nicht anders als die „Statuen- 
liebhaber" unter den Griechen: Auch ihnen verfließt 
die Grenze zwischen Bild und Wirklich- 
keit, zwischen Bild und Abgebildetem. Das Verschwim- 
men dieser Grenze, die Identität von Bild und Abbild, 



183 



gehört einem weiten und großartigen Bereich an, dem 
des Bildzaubers. Es ist an dieser Stelle nötig ein- 
zuschalten, daß dieser Glaube an die Identität von Bild 
und Abgebildetem kaum je rein begegnet"). Er ist dem 
„Primitiven" leichler zugänglich als dem Kulturmen- 
schen^), dem Kinde leichter als dem Erwachsenen, 
stellt sich unter der Herrschaft von Affekten (vornehm- 
lich im Zeichen des Angstaffektes) leichter her als ohne 
diese Bedingung — kurz, wir dürfen zusammenfassend 
sagen, er stelle sich leichter her, wenn das Ich — das 
Ich einer bestimmten Entwicklungsstufe im ontogene- 
tischen und phylogenetischen Sinn - noch nicht seine 
volle Herrschaft angetreten oder die Zügel seiner Herr- 
schaft gelockert habe. In all diesen Fällen ist die Be- 
schaffenheit des Bildes - jeweils in verschiedener Hin- 
sicht — von geringerer Bedeutung. 

Die Bedingungen dieses Verhaltens lassen sich an 
unserem „ontogenetischen Modell" ein Stück weit kenn- 
zeichnen. In einer Phase kindlichen Spieles - die man 
als „Rollen- oder Illusionsspiel" bezeichnet hat — ist die 
Beschaffenheit des Spieldinges wenig belangreich Der 
Besen wird zum Pferd, die Spule zum Geschütz. Es ist 

Z w M-Tf .T 11 diC übe ™«««ng des Kindes von 
der „Wirklichkeil" dieser Spielsituation reicht O) aber 
es scheint sich die Auffassung zu bewähren als ent- 
spreche die „Intensität" der Illusion der der Phantasie 
tätigkeit, der der narzißtischen Besetzung. 

»J Das geschieht soweit wir wissen, nur unter der 
Bedingung geistiger Erkrankung. Vgl. dazu das (fingiertet 

S S 37111 gU6 ' lnt ZtSChF - f - Psa ' -W XIV 
") Wie umstritten die Frage nach der Einstellung der 
Naturvölker zum Abbdd der menschlichen Gestalt ist 
ersieht man aus der - übrigens offenkundig einseitigen 
— Darstellung bei Olivier Leroy, La raison primitive 
Paris 1927 : p. 224 ff. 

lö ) Vgl. dazu etwa Karl Bühl er, Die geistige Ent- 
wicklung des Kindes, 6. Aufl., 1930, S. 329 ff. 

184 



Es wäre verlockend, die wechselnden Schicksale des 
Spieldinges im Leben des Kindes weiter zu verfolgen, 
aber obgleich zu diesem Thema von allen Seiten her 
Anregungen geboten werden, scheinen doch noch Unter- 
lagen zu fehlen. Der Zustand des kindlichen Rollen- 
spieles, dessen inhaltliches Erbe im späteren Leben 
die Tagträume antreten, hat in ökonomischer Hinsicht 
eine Parallele in jenen oben angeführten Fällen im 
Verhalten Erwachsener, in denen das Ich seine steu- 
ernde Funktion einbüßt; wenn dem Erwachsenen die 
Grenze von Bild und Abbild verschwimmt, „regrediert" 
er auf ein Verhalten, das wir „magisch" nennen; sein 
Handeln steht im Zeichen der Allmacht der Gedanken, 
einer übermächtigen narzißtischen Besetzung. 

Wir dürfen nun den Anschluß an unseren Gegenstand 
suchen, wenn wir eine kurze Überlegung einschalten: 
Je sicherer dem Bild „magische Identität" zugeschrieben 
wird, desto weniger muß auf seine äußere Beschaffen- 
heit Wert gelegt werden. Anders formuliert, wobei ein 
Gedanke, den vor einem Menschenalter Heinrich Gom- 
perz entwickelt hat, uns leitet: Die Ähnlichkeit ist 
jenes Band, das Bild und Abgebildetes verbindet, wenn 
der Glaube an ihre Identität geschwunden ist. Auch in 
einer Vorzeit griechischer Kunst war die „Ähnlichkeit" 
des Bildes mit dem Abgebildeten wenig belangreich. 
Sie wird — als Ergebnis einer Entwicklung, die zwei 
Jahrhunderte durchlaufen hat — in einem neuen Sinne 
in jener Zeit bedeutsam, da auch der Künstler der 
Griechen in die Biographik einzieht; die erste Formel, 
die diese Biographik uns kennen lehrt, gewinnt nach 
dieser Auffassung den Sinn, daß der Künstler durch die 
Vollendung seiner Leistung die Brücke zwischen Bild 
und Abgebildetem wiederherstellt, die auf einer älteren 
Stufe im Zeichen einer magischen Auffassung des Bil- 
des bestanden hatte 16 ). 

16 ) Die hier angedeutete Hypothese — wenig auf- 
schlußreich und nur als „Rahmentheorie" brauchbar 

185 



Die mögliche Brauchbarkeit der Hypothese scheint 
sich zu bestätigen, wenn wir dem geschichtlichen Tat- 
bestand eine Gegenprobe ablesen: Jene Werke der klas- 
sischen Antike, die den sichtbarsten Höhepunkt ihrer 
neuen, der Natur zugewandten Gesinnung vertreten, 
ihre Rundplastiken, erscheinen dem Mittelalter, einer 
Zeit erneuerter antinaturalistischer Gesinnung, als angst- 
und schreckenerregend 17 ); es ist eine Zeit, in der 
auch der bildende Künstler wieder von der Bühne 
der Geschichte abgetreten ist. Die aus literarischer 
Überlieferung bekannten Namen der Künstler des grie- 
chischen Altertums werden nun zu Namen gefährlicher 
Zauberer. Diese Auffassung, die schon dem antiken 
Bild vom Künstler bestimmte Züge geliehen hat, hat sich 
als Unterströmung lange über das Mittelalter hinaus er- 
halten und findet in einer Anzahl von Fabeln einen 
Niederschlag, als deren bekannteste — nicht auf den 
bildenden Künstler beschränkte — der Bund mit 
dem Teufel angeführt sei; sie lebt immer noch 
fort und bestimmt auch heute noch die Stellung des 
Künstlers in der Gemeinschaft. 



— kann nichts dazu beitragen, das Problem des Stil- 
wandels zu beleuchten. Sie ist als Brücke gedacht um 
das biographische Bild vom Künstler verstehen zu leh- 
ren. Die Zuordnung von narzißtischer Besetzung und 
antinaturalistischer Kunst ist in der Kunstwissenschaft 
mit anderen Worten seit einem Menschenalter immer 
wieder vorgeschlagen worden (von Verworn, Wor- 
rmger, Kuhn, Meng hin und anderen); die Auf- 
gabe einer Psychologie der bildenden Kunst hätte da zu 
beginnen, wo diese Formel versagt, bei der Erkläruno 
der wechselnden konkreten Realisierungen der Stif 
Phänomene, die sich in dem Ablauf der Wellenbeweffuna 
naturnaher und naturferner Stile, die nach dieser An 
schauung die abendländische Kunstgeschichte durch- 
ziehen, im künstlerischen Schaffen durchsetzen. 

17 ) Auch hier vermöchte eine psychoanalytische Er- 
klärung ein Stück weiter vorzudringen: Wir stehen an 
der Grenze des Unheimlichen. 



186 






Der Glaube an die Zauberkraft des Künstlers 18 ), 
aber zugleich auch der an das Verbotene seines Tuns 
wurzelt tief im Denken der Menschheit. Denn eben 
jene Künstler des Mythos, deren Erbe die Biographik 
die bildenden Künstler antreten läßt, waren Empörer 
und Bestrafte, der gefangene Daidalos, der gelähmte 
W i e 1 a n d, der krumm geworfene Hephaistos und 
ihrer aller großer Ahnherr Prometheus. 

Man darf die Frage aufwerfen, was das Verbotene 
ihres Tuns sei: Sie bilden Menschen, wie die Gottheit 
selbst. Menschengestalt zu bilden, aber sei verboten, denn 
an dem Bilde könnte Zauber geübt 19 ) und — wenn es 
an einem Götterbild geschähe — die Herrschaft der 
Gottheit dadurch gefährdet werden. Diese Erklärung 
aber muß unbefriedigend bleiben. Denn das Verbot, das 
die Tätigkeit des Künstlers begleitet, bleibt nicht auf 
die Fälle beschränkt, in denen er Abbilder der Wirk- 
lichkeit schaft: Auch das Bauwerk gilt als Frevel gegen 
die Gottheit, und jene Gesinnung, die aus der Sage 
vom babylonischen Turm spricht, hat in der Weltweite 
eines Brauches einen Niederschlag gefunden, nach dem 
die Vollendung von Bauwerken durch Opfer, Menschen- 
opfer, gesühnt wird. 



i8) Vgl. dazu Freud, Ges. Sehr., Bd. X, S. 111: „Mit 
Recht spricht man vom Zauber der Kunst und ver- 
gleicht den Künstler mit einem Zauberer. Aber dieser 
Vergleich ist vielleicht bedeutsamer, als er zu sein be- 
ansprucht." Im gleichen Sinne auch Rein ach: „L'art 
et la magie", Cultes, Mythes et Religions, I, 125 ff. 

i9) Zum festen Bestand der Künstlerbiographik ge- 
hört seit dem klassischen Altertum die Nachricht, daß 
das Kunstwerk — meist eine Studie über den Ausdruck 
des menschlichen Antlitzes — entstanden sei vor einem 
vom Künstler ermordeten Modell. Sie reicht, wie mir 
Kurt Rathe freundlich nachweist, bis in die Kurz- 
geschichten-Literatur unserer Tage. Auch die Entstehung 
dieser Formel ist einer weiteren Rückführung, die hier 
unterbleiben soll, zugänglich. 

* 187 



Aber Bilden und Bauen ist nicht die einzige Tat, 
die der Mythos dem Künstler zuschreibt. Das Künstler- 
tum steht im weiten Verband der Demiurgie, „ge- 
hört einer Zeit an, in der magische Übung auch die 
Kunst mit umfaßt, der Zeit eines alten sakralen Urge- 
werbes, das in ungeschiedener Einheit Mantik, Magie 
und die Einzelhandwerke einbegreift" (R. Eißler). 
So wird denn dem Daidalos und seinem nordischen 
Bruder Wieland die Erfüllung eines alten Mensch- 
heilstraumes zugeschrieben. Der Mythos, der sich an 
ihre Namen knüpft, hat in „sekundärer Bearbeitung" 
die Beherrschung der Luft und die künstlerische Tätig- 
keit pragmatisch verknüpft, ebenso wie an der Gestalt 
des Feuergottes Prometheus — dessen Nachfahre 
der Feuerdämon Hephaistos ist - der Raub des 
Feuers erst in späterer Verschmelzung widersprechender 
Züge mit der Schöpfung des Bildwerkes „Mensch" ver- 
knüpft wird. Wir finden hier Anschluß an schon von 
der Psychoanalyse geschaffene Auffassungen, an eine 
ältere von A b r a h a m 20) unc j e ine jüngere, nach ande- 
rer Richtung ausgreifende von Freud 21 ). Verbinden 
wir diese Anschauungen mit unserem Thema, so wird 
uns die Vermutung nahegelegt, daß Bilden und Bauen 
in jedem Sinn als Vorrecht der Gottheit gelte 
und daß dieser Glaube den Erdball umspanne, weil 
die Schöpfung der Welt und des Menschen die sicht- 
baren Zeichen der göttlichen Allmacht seien 22 ). Ich 



20) Vgl. Abraham, Traum und Mythos, Schriften z. 
angew. Seelenkunde, 4. Heft, 1909, C. G. J u n g in Jahr- 
buch für psychoanalytische und psychopathologische 
Forschungen IV (1912), S. 190 ff., und C. Baucio in, 
Psychoanalyse de 1'art, Paris, 1928, p. 31 ff. 

21 ) Zur Gewinnung des Feuers. Ges. Sehr. XII, 141. 

22 ) Eine Untersuchung dieses Problems an Hand der 
Quellen, die über Bild- und Bauverbote berichten, bereite 
ich gemeinsam mit Otto Kurz vor. Es ist mir ein auf- 
richtiges Bedürfnis, Herrn Edward W. Warburg- 
New York auch an dieser Stelle für die verständnis- 

188 



muß nicht erst ausführen, an welcher Stelle diese Ver- 
mutung sich in unsere Grundanschauung fügt, wie sich 
so eine neue Brücke vom Erlebnis des einzelnen zur 
Struktur des Glaubens zu eröffnen scheint, aber darf 
noch einen Punkt unterstreichen: Das Vorrecht der 
Gottheit auf ihren Schöpferberuf bestimmt die Form 
der Heroisierung des Künstlers. Die Künstler der 
Renaissance betonen ihre Souveränität, indem sie sich 
selbst als Gott und Schöpfer {dio e creatore) des 
Kunstwerkes darstellen (Leonardo), wie denn auch 
ihre Umwelt ihnen unbedenklich das Attribut gött- 
lich, divino, zuspricht, das bald zur Formel verblaßt 
- es lebt heute noch im Epitheton der Sängerin, der 
Diva fort -, doch ursprünglich einen volleren Klang 
hatte. Innere Berechtigung wird dieser Erhöhung des 
Künstlers zu göttlichem Range durch die Kunsttheorie 
verliehen, die, im Anschluß an die Anekdote über 
Zeuxis und die Mädchen von Kroton 23 ), dem Künst- 
ler die Aufgabe stellt, nicht die Gebilde der Wirklichkeit 
nachzuahmen, sondern einer in der Natur nicht ver- 
körperten Idee der Schönheit zu dienen. 

Diesem Bilde des göttlichen Künstlers, des „divino ar- 
tista", entspricht ein Gegenbild: Denn auch die Schöpfer- 
tätigkeit der Gottheit kann zuweilen in Künstlergestalt 
dargestellt werden. Der „deus artifex" der biblischen 
Überlieferung hat der Heroisierung des bildenden Künst- 
lers in der Biographik des Abendlandes den Weg ge- 
wiesen. 

VI. 

Seit dem 16. Jahrhundert tritt in die Biographik des 
bildenden Künstlers neues Formelmaterial ein; es ist 
von anderer Art als jenes, das wir bisher als Aus- 
volle Förderung dieses Arbeitsplanes, der mit Unter- 
stützung des Warburg Institute in London durchgeführt 
werden soll, herzlichen Dank zu sagen. 

2 3) Siehe oben S. 181. 

iSq 



gangspunkt gewählt hatten. Der Künstler gehört nun 
dem großen Verbände der schöpferischen Persönlich- 
keiten an, der Genies, und alles Lockende und Gefähr- 
liche, das sie auszeichnet, eignet auch ihm. Die Genies 
aber können die göttliche Begnadung, die ursprünglich 
als belebender Hauch der Gottheit verstandene Inspi- 
ration, entbehren, die ihnen nach alter Meinung ihre 
Macht verliehen hat. Die „Inspiration" wird zur inneren 
Stimme 24. Wie die Gottheit des Mythos, deren Herr- 
schaft sie entrückt sind und deren Erbe sie antreten 
stehen auch die großen schöpferischen Persönlichkeiten 
außerhalb der Gesellschaft, außerhalb der Normen, die 
das soziale Leben sonst regeln und binden. Sie genießen 
besondere Vorrechte 25) _ das Vorrecht großer Sexual- 
freiheit etwa — , aber ihre Lebensgestaltung bleibt aus- 
gespannt zwischen Parnaß und Boheme, ihre Erschei- 
nung Gegenstand unserer Verehrung und Zielscheibe 
unserer Ambivalenz. 

Das ist der Hintergrund, vor dem die jüngeren For- 
meln der Biographik" stehen: Sie sind für einzelne Be- 
ruf sgattungen weniger spezifisch, sind allgemeiner und 
lebensnäher; oft hat es den Anschein, als ließen sich 
die Anfänge dieser oder jener Verhaltensweise des Künst- 
lers, die bald zur Formel erstarrt überliefert wird, noch 
auf das Leben und die individuelle Eigenart des einen 
oder anderen viel bewunderten Mannes zurückführen 
In allen Fällen aber ist es das Ziel dieser neueren For- 



24 ) Vgl. dazu die schönen Formulierungen von E. Jo- 
nes, Das Problem des Hamlet und der Ödipuskomplex 
Schriften z. angew. Seelenkunde, 10. Heft, 1911, S. ,21 

25 ) Auch ihrem Werk gelten diese Vorrechte. Die „Li- 
zenz" des Dichters ist die Freiheit, die der „ästhetische 
Wert" seiner Leistung leiht. Unter der Bedingung, daß 
es Kunst sei, ist gestattet, was sonst verwehrt ist. (Auf 
diesen Zusammenhang hat im Rahmen der Psychoana- 
lyse zuerst Hanns Sachs hingewiesen. Vgl. Gemeinsame 
Tagträume, Imago-Bücherei, Bd. V, Wien, Int. Psycho- 
analytischer Verlag, 1924.) 

190 



mein, in die Persönlichkeit des Künstlers einzudringen, 
das Rätsel seines Lebens und Schaffens zu vermensch- 
lichen. Ich muß es mir versagen, dieses weite Gebiet 
zu betreten. Nur ein Beispiel sei gewählt, um den Tat- 
bestand zu kennzeichnen. Im Mittelpunkt des Geheim- 
nisses, das den Künstler in den Augen seiner Umwelt 
umgibt, steht die Sonderstellung, die seinem Werk in 
seinem Leben zufällt. Ein alter Vergleich sieht im 
Kunstwerk das Kind des Künstlers, hat den Zusammen- 
hang künstlerischer und sexueller Betätigung im Scherze 
erfaßt — in einem Scherze, in dem doch schon etwas 
von unserem Begriff der Sublimierung enthalten ist; 
die neue Einstellung sucht das Thema in ständiger Ab- 
wandlung zu erweitern. Im Konflikt mit dem Bestel- 
ler etwa weigert sich der Meister, die Vaterschaft preis- 
zugeben, mißgönnt diesem den künftigen Besitz des 
Kunstwerkes oder entwickelt, um sich diesen Allein- 
besitz zu sichern, die Vorstellung, es dürfe das Werk 
ihn nicht überleben. Aber auch der gegenteilige Gedanke 
begegnet: Das Leben des Künstlers bleibt an sein Werk 
geknüpft, der eigene Tod begleitet die Vernichtung des 
Werkes. Am deutlichsten und auch in statistischem 
Sinne am häufigsten sind Berichte, die etwa besagen, 
daß der Künstler sich selbst den Tod gibt, da man an 
dem schon vollendeten Werke einen Fehler — häufig: 
am Pferde eines Reiterstandbildes das Fehlen eines 
Hufeisens — entdeckt. Wir verstehen, daß hier die 
besondere Form des künstlerischen Narzißmus formel- 
bildend gewirkt hat. 

Wir dürfen es vermeiden, die so gekennzeichneten 
Nachrichten ausführlich vorzutragen. Denn unserer Ver- 
abredung gemäß sollte die Psychologie der Biographik 
— nicht die des Künstlers — im Vordergrund stehen, 
und jene Gruppe von Formeln, von denen zuletzt die 
Rede war, gehört schon durchaus diesem großartigen 
und dunklen Gebiete an. Aber wir werden daran ge- 
malmt, daß wir einleitend die Vermutung vorgebracht 

191 



hatten, daß auch aus dem älteren legendenhafteren 
Formelbestand eine Brücke zur Psychologie des Künst- 
lers führen, daß etwas in seinem Wesen der Deutung, 
die die Umwelt in alter Zeit seiner Gestalt gibt, entgegen- 
kommen, sie mit hervorrufen und rechtfertigen müsse. 

Wir stehen vor der Frage, wie jener mythologische 
Zusammenhang, in den die Legenden zurückzureichen 
scheinen, die den Künstler als Zauberer und Empörer 
kennzeichnen und die ihn von alters her begleiten, 
in seinem Leben selbst repräsentiert ist. 

Ich möchte versuchen, diese Frage an einem Bei- 
spiel zu beleuchten, und kehre damit zu der eingangs 
gegebenen Zusage zurück, daß dieser Vortrag einen 
älteren, den über den Bildhauer Franz Xaver Messer- 
schmidt (1736 bis 1784) ergänze. Ich mußte vor 
zwei Jahren, als ich versuchte, Urnen Wahn und Werk 
dieses Künstlers vorzustellen, vorausschicken, daß ich 
Ihnen aus seinem Leben so gut wie nichts ' berichten 
wurde. Mehrere Rechtfertigungsgründe ließen sich an- 
führen : 

Einmal, daß seine Biographen im 19. Jahrhundert 
seinen Lebenslauf unter einer bestimmten Einstellung 
gesehen, ihn als verkanntes Genie geschildert und damit 
jene Version übernommen hatten, die er selbst in sei- 
nem Verfolgungswahn allen, mit denen er in Berührung 
gekommen war, übermittelt hatte, wie denn auch die 
Tatsache seiner geistigen Erkrankung bis in unsere Ta<*e 
immer wieder geleugnet oder verkannt wurde. Dann 
aber bildet die Grundlage aller oder doch der meisten 
biographischen Angaben über den Künstler eine volks- 
tümliche Schrift, in die das ganze Repertorium der bio- 
graphischen Formeln vom Künstler Aufnahme gefunden 
hat: Die Geschichte vom Hirtenknaben, der die Tiere 
seiner Herde schnitzt, eine andere, gleichfalls typische, 
die erzählt, wie er als Knabe über dem Anatomiebuch 
an Speise und Trank vergißt, oder eine, die in den Kreis 
von Berichten gehört, nach denen der Künstler sein 

192 



_ 



Modell lötet, um die Gesichtszüge des Sterbenden nach- 
zubilden 26 ). 

Die Liste, in der auch der Bund mit dem Teufel nicht 
fehlt, ließe sich erheblich vermehren. Die angeführten 
Beispiele aber genügen, um die These zu sichern, daß 
die Volksmeinung bereitwillig den Bestand an festen 
Formeln aufbietet, um die Gestalt der Künstler zu 
kennzeichnen. Doch diese Formulierung führt an der 
ernsteren Frage vorbei, ob sich denn die Grenze zwi- 
schen Formelgut der Biographik und gelebter Eigenart 
des Künstlers scharf ziehen lasse. Verläßliche Gewährs- 
männer, die Messerschmidt begegnet sind, wissen zu 
berichten, daß er immer wieder versichert habe, er 
werde seine Werke vor seinem Tode vernichten; auch 
daß er unsinnige Preise für seine Arbeiten gefordert 
habe, ist nach der Lage unserer Quellen wahrschein- 
lich. Der Umfang und die Tiefe des Problems aber 
werden erst faßbar, wenn wir daran erinnern, daß nicht 
nur der äußere Aspekt von Messerschmidls Biographie 
im Zeichen jener Motive steht, auf die uns die Legen- 
den vom Künstler hinführen. Auch der Aufbau seines 
Wahns wird ein Stück weit als typischer Künstler- 
wahn verständlich. Denn im Zentrum des Wahns steht 
der Gedanke, daß ihn die Gottheit um seiner Meister- 
schaft in seiner Kunst, vor allem um seiner Kennt- 
nisse der „göttlichen" Proportion willen verfolge, ein 
Gedanke, der sich leicht als Projektion jenes anderen 
erkennen läßt, nach dem der Künstler mit der 
Gottheit ringt. 

Das Motiv des Mythos, das prometheische 
Schicksal steht mit einem Male lebendig vor unse- 
ren Augen; was der blasse Widerschein literarischer 
Formeln, wie der vom „divino artista" und vom „deus 
artifex" ahnen ließ, gewinnt im Wahn des psychoti- 
schen Künstlers volles Gewicht: Wir sind zur Meinung 

26 ) Vgl. oben S. 187, Anm. 19. 

13 Almanach 1937 

*93 



gedrängt, daß im Unbewußten des Künstlers jene Grund- 
anschauung über Werl und Gefahr künstlerischen Schaf- 
fens fortlebe, die den mythischen Hintergrund seiner 
Biographik bildet. Diese Vermutung führt uns auf 
Fragen, zu deren Lösung wir noch nicht gerüstet sind. 
Nur eine Hypothese ist noch vorzubringen: 

Unter den typischen Schicksalen des Künstlers, von 
denen die Biographien zu berichten wissen, findet sich 
der Selbstmord des Baumeisters nach der Vollendung 
des Werkes 27). Sucht man die berichteten Fälle zu 
überprüfen, so gliedern sie sich in zwei — hier einander 
schematisch gegenübergestellte Gruppen: Es gibt Bei- 
spiele dafür, daß sich solche Selbstmorde ereignet ha- 
ben, und Beispiele dafür, daß vom Selbstmord des 
Baumeisters in einer Formel berichtet wird. Verstehen 
wir recht, so ist das kein Widerspruch. Demi jene 
Eigenart ihres Helden, die nach der eingangs aufge- 
stellten These in der Formel der Biographik ihren Nie- 
derschlag fände, würde beide Fälle umgreifen: Was die 
Biographik als typisches Schicksal schildert, was dem 
Unbewußten des Publikums entstammt, für das der 
Künstler schafft, ist auch bestimmend für das Erleben 
des Künstlers selbst 28 ). 

27 ) Diese Berichte begegnen in mehrfacher Abwand- 
lung. Aber der Zusammenhang, in den sie jeweils <*e- 
füst sind — etwa der Wettstreit mit dem überlegenen 
Lehrling, ein spät entdeckter Konstruktionsfehler das 
Bündnis mit dem Teufel — , bilden, wie es scheint nur 
eine Einkleidung. ' 

28 ) Das „Kollektive Unbewußte", auf das wir 

hier stoßen, ist offenbar der Auffassung C. G. Jungs 

in nichts verpflichtet. Es handelt sich um Inhalte des 
Unbewußten, die den Menschen aus gleichen individu- 
ellen Quellen her gemeinsam sind. Die hier vorgetragene 
Vermutung über den Freitod des Baumeisters nach 
Vollendung des Werkes geht von der Anschauung aus, 
daß für ein aus tiefen Schichten des Seelischen stam- 
mendes Schuldgefühl jeweils verschiedene Rationalisie- 
rungen — die Einkleidungen dieser Berichte (vgl. oben 
S. 187 f.) — gesucht werden. 

194 



In dem besonderen Falle, von dem hier die Rede ist, 
scheint sich die Hypothese zu rechtfertigen, als gäbe 
es eine geheime und tiefe Verknüpfung zwischen dem 
alten Brauch, nach Vollendung des Baues ein Men- 
schenleben als Bauopfer darzubringen, und dem Selbst- 
mord noch eines Baumeister Solneß. 

Die Beziehung der Biographik zum Leben des Helden 
ist nicht mit dem Hinweis auf die Gemeinsamkeit un- 
bewußter Einstellungen erschöpft, die die Biographik 
erkeimt, und die der Held erlebt, sondern begegnet 
auch in banalerer, pragmatischer Form: Die Biographik 
liefert Vorbilder. Lassen Sie mich eines einfachen, heute 
schon erwähnten Falles gedenken: jenes Künstlers, der 
seinem ersten Biographen als seine Jugendge schichte die 
„Fabel von der Entdeckung des Talentes" erzählt 29 ). 
Wie immer man über diesen Vorfall urteile, wir erken- 
nen noch in solcher Entstellung einen Vorgang, der, weit 
verbreitet, im Menschenleben vielfach bestimmend ist 
und den ich unter dem Schlagwort „g e 1 e b t e V i t a" 
begreifen möchte 30 ). Den äußersten Fall, als dessen 
karikierte Abwandlung das Verhalten unseres Bildhau- 
ers angesehen zu werden verdient, hat uns eine Dichtung 
kürzlich anschaulich vor Augen geführt. Ich meine 
Thomas Manns „Joseph und seine Brüder", ein Buch, 
in dem der Gedanke immer wieder anklingt, daß die 
Folge der Geschlechter verschwimme, Nähe und Ferne 
der Zeit durch das Mittel der Identifizierung zusammen- 



29) Vgl. oben S. 171. 

30 ) Wieweit im Einzelfall die Wirkung dieser „Vor- 
bilder" reicht, ist schwer zu entscheiden. Wir wissen 
nicht, — um nochmals am Leben des Messerschmidt 
zu exemplifizieren, — wieweit er in den „typischen" 
Aussprüchen und Handlungen, die von ihm berichtet 
werden „Vorbildern" folgte, oder wieweit es sich um 
die Neuentstehung" analoger Einstellungen handelte: 
beides mag der Fall sein. Denn die Wahl der Identifi- 
zierungen folgt in diesem Falle offenbar dem durch 
Anlage und Schicksal gewiesenen Weg. 

13* 

*95 



rücke, wie vor allem in der Gestalt jenes Eliezer, 
eines Freigelassenen des Jaakob, „nicht zu verwechseln 
(wie es Joseph zuweilen geschah und wie es auch der 
Alte selbst sich wohl gerne einmal geschehen ließ) mit 
Eliezer", Abrahams ältestem Knecht. 

In einer Welt, deren Halbdunkel immer wieder in den 
Mythos taucht, verschwimmt nach der Schilderung 
Manns die Grenze der Person in der Tradition, ent- 
scheidet die Identifizierung mit den Vätern immer wie- 
der über Art und Bestimmung eigenen Daseins. Im 
Normalfall des menschlichen Schicksals, in unserem 
Lebensraum kommt dieser Verknüpfung nur eine unter- 
geordnete, aber eine doch schwer überblickbare Rolle 
zu. Viele von uns „leben" auch heute einen biographi- 
schen Typus, das Schicksal eines Standes, einer Klasse, 
eines Berufes. 

Diese Schicksale lassen sich immer wieder auf typi- 
sche Vorbilder zurückführen, die ihrerseits wieder von 
der Biographik geprägt wurden. Im Normalfall finden 
diese Identifizierungen im Über-Ich einen Niederschlag; 
die Schicksale dieser Identifizierungen sind bestimmend 
für die Schicksale des menschlichen Lebenslaufes, des- 
sen psychoanalytische Erforschung eine zentrale Auf- 
gabe der Ich-Psychologie zu werden verspricht. Am 
durchsichtigsten sind offenbar jene Fälle, in dem diese 
Identifizierungen für die Bildung der bewußten Anteile 
des Über-Ichs bedeutsam sind; oft sind sie in der Be- 
rufsethik repräsentiert ; die außerordentlichen Lei- 
stungen, die sie vorschreiben und auslösen kann, läßt 
uns von ihrer Macht hoch denken. 

Es wäre eine lockende Aufgabe, hier weiter auszu- 
holen, Möglichkeiten und Arten dieser Identifizierungen, 
von denen einige — namentlich unter den mißglückten 
— der psychoanalytischen Klinik gut bekannt sind, 
weiter zu verfolgen, aber es scheint besser, den Zu- 
gang zu diesen Fragen von anderer Seite her zu suchen. 
Nur noch eine Erwägung sei abschließend vorgebracht: 

196 






Die Freiheit in der Lebensgestaltung des Menschen 
ist offenbar enge mit jener Bindung zu verknüpfen, die 
wir als „gelebte Vita" bezeichnen. Eine Reihenbildung 
ließe sich ausdenken, die von den lächerlichen Gestal- 
ten jener — nicht eben seltenen Menschen — , die für 
Tagebuch oder Nachruf leben, dafür leben, „biographi- 
sche Vorbilder" in irgend einem Sinne zu sein oder 
zu werden, zu jenen führen, die, ohne diese Beziehung 
zu Erbe und Tradition bewußt zu betonen, durch die 
Tat, die sie setzen — oft, indem sie Traditionen über- 
winden — , die alten Ideale der Biographik in neuer 

Gestalt realisieren. 

Denn diese Freiheit ist es, die wir dem Helden zu- 
schreiben; wir sehen ein: Wenn wir vom Verhältnis 
der Biographik zu ihrem Helden sprechen, verrät 
sich im metaphorischen Ausdruck schon der entschei- 
dende Sinngehalt. Alle Biographik sucht eine neue 
Gestalt „in die Reihe der infantilen Vorbilder einzutra- 
gen" (Freud), sucht und schafft den Heros, 
den jungen Helden, den neuen Vater. 



197 



Die narzißtische Übertragung des 
„jugendlichen Hochstaplers" 

Von August Aichhorn, Wien 

Ein Kapitel aus der Abhandlung „Zur 
Technik der Erziehungsberatung. Die Über- 
tragung'', Zeitschrift für psychoanalytische 
Pädagogik, X. Jahrg., 1936, Heft 1. Der erste 
Teil der Arbeit beschreibt die Beziehung der 
Erziehungsberater zu den Eltern: die theo- 
retischen Grundlagen dieser Beziehung, die 
planmäßige Beeinflussung verschiedener El- 
terntypen und gelegentliche analytische Hilfe- 
leistung für die Eltern während der Behand- 
lung ihrer Kinder; der zweite Teil ist den 
Fragen der Beziehung der Erziehungsberater 
zu den Jugendlichen gewidmet: der Herstel- 
lung der Übertragung im allgemeinen und 
den Methoden bei bestimmten Formen ju- 
gendlicher Verwahrlosung. Die Arbeit ist 
Sigmund Freud zu seinem 80. Geburtstag 
gewidmet. 

Unter den jugendlichen Verwahrlosten fiel uns ein 
Typus durch eine besonders gesteigerte Übertragung 
auf. Seine Beziehungen zu uns bleiben regelmäßig durch 
lange Zeit so intensiv und eindeutig positiv, daß wir als 
Erzieher erfreut, mit großer Zuversicht unsere Arbeit 
in der Erwartimg fortsetzen, daß nun sehr bald aus 
der Objektbeziehung eine Identifizierung mit uns er- 
wachsen müsse, womit dann ein wichtiger Teil unserer 
Erziehungsarbeit praktisch abgeschlossen gewesen wäre. 
Jedesmal erlebten wir die unangenehme Überraschung, 
daß der Jugendliche gerade in dieser Zeit anfing, sich 
anders zu benehmen, als er nach unserer Überzeugung 
sich hätte benehmen müssen. Er wurde zwar nicht 
rückfällig, aber alle seine Äußerungen ließen zu unserem 
Erstaunen erkennen, daß er erst jetzt begann, uns als 

198 



eigene Persönlichkeil, als anderes übjekl wahrzuneh- 
men, daß er daher noch weit davon entfernt war, sich 
mit uns identifizieren zu können; denn während der 
ganzen Zeit unserer ' bisherigen Arbeit hatte er über- 
haupt noch gar keine objektlibidinöse Beziehung zu 

uns gehabt. 

In reinster Form ist dieser Typus jugendlicher Ver- 
wahrloster durch den „Hochstapler" vertreten. Bei ihm 
erkannten wir auch zuerst, daß er infolge seiner psy- 
chischen Struktur kaum eine objektlibidinöse Bezie- 
hung herzustellen vermag. Die Abhängigkeit, in die wir 
ihn intuitiv gebracht hatten, mußte also ganz anderer Art 
gewesen sein. Mit fortschreitender psychoanalytischer 
Einsicht vermochten wir unser gefühlsmäßig richtiges 
Verhalten, die Beziehung des Jugendlichen zu uns, und 
sein dadurch bedingtes Benehmen zu erklären, bis wir 
schüeßlich die zur Behebung des Erziehungsnotstandes- 
erforderlichen Reaktionen ganz bewußt hervorrufen 

konnten. 

Wie wir dabei vorgehen, wird der im folgenden mit- 
geteilte Fall zeigen: Eine Mutter aus gut bürgerlichem 
Milieu bringt ihren achtzehnjährigen Sohn in die Er- 
ziehungsberatung, weil er in ihre Schmuckkassette ein- 
gebrochen, Schmuckstücke entwendet und diese versetzt 
hat. Da der Junge sich bis zu diesem Zeitpunkt nichts 
zu Schulden hat kommen lassen, er nicht „schlecht 
erzogen sein kann", für die Eltern daher nur eine Gei- 
steskrankheit in Frage kommt, wird der Arzt zu Rate 
gezogen. Dieser fragt den Jugendlichen eingehend aus, 
und erfährt von ihm auch, daß dieser sehr viel Geld 
für seine Abenteuer mit Mädchen braucht und es sich 
nicht anders beschaffen konnte. Der Arzt schickt die 
Mutter in die Erziehungsberatung. Die Einzelheiten über 
die Familienkonstellation, die Kindheit und Erziehung 
des Sohnes erfahren wir von der Mutter. Nach dem 
Gespräch mit dieser, auf das wir hier nicht näher ein- 
gehen wollen, nehmen wir den Jugendlichen vor. 

*99 



Der erste Eindruck, den wir von ihm gewinnen: 
jugendlicher Hochstapler, der aus seiner psychischen 
Struktur die dem Arzte gestandenen Abenteuer mit 
Mädchen gar nicht gehabt haben konnte. Unser Verhal- 
ten ihm gegenüber wird durch diesen Eindruck sofort 
eindeutig bestimmt: wir begrüßen ihn mit einem Hände- 
druck, ernst, aber nicht unfreundlich, wortlos, und 
fordern ihn nur mit einer Handbewegung zum Sitzen 
auf. 

„Warum haben Sie den Arzt so zum Besten gehalten?" 
damit beginnt unser Gespräch. 

„Weil er danach gefragt hat", entgegnet er mit einem 
Achselzucken. 

„Wieviel Geld ist Ihnen noch geblieben?" 

„Hundertfünfzig Schillinge." 

„Wo haben Sie das Geld?" 

„Hier, in meiner Tasche." 

„Legen Sie das Geld auf den Tisch!" Er kommt dieser 
Aufforderung, ohne zu zögern, nach. 

„Würden Sie das Geld der Mutter zurückgeben?" 



Nein!" 

Würden Sie das Geld mir geben?" 



„Ja. 



Ich nehme ein Kuvert, lege das Geld hinein, sperre 
es ein, schreibe eine Bestätigung über empfangene hun- 
dertfünfzig Schillinge und überreiche sie ihm. Als er 
sie nimmt, fragte ich: 

„Woran denken Sie jetzt?" 

„Daß ich dumm war, Ihnen das Geld zu geben." 

„Warum haben Sie es mir denn gegeben?" 

„Das weiß ich nicht." 

„Denken Sie darüber nach." 

„ ich weiß es wirklich nicht." 

Wir sprechen nun ohne Übergang über die Schule, er 
erzählt auch einiges von zu Hause und ich höre zu. 

Nach einigen Minuten unterbreche ich ihn mit der Frage : 
„Woran denken Sie jetzt?" 



200 



„Ich komme davon nicht los, wirklich dumm gewesen 
zu sein. Ich hätte Ihnen das Geld doch nicht geben 
sollen." 

„Warum haben Sie es mir gegeben; vor zehn Minuten 
kannten Sie mich noch nicht. Mir geben Sie es, der 
Mutter nicht. Warum?" 

„Das weiß ich nicht." 

„Denken Sie doch darüber nach." 

„ . . . ich habe das Gefühl, Sie hätten es mir aus der 
Tasche gezogen. Nun bin ich in größter Verlegenheit. 
Ich habe zwei Freunden versprochen, sie abends ins 
Kino zu führen und habe kein Geld." j 

„Sie können doch die Mutter darum bitten." 
Das ist ausgeschlossen. Jetzt, da sie so böse auf mich 
ist" kann ich nicht Geld für Kinokarten verlangen." 

„Gibt es keine andere Möglichkeit, sich Geld zu ver- 
schaffen?" 

»Nein." . {{ 

„Doch, Sie können ja wieder stehlen. 

''Meinen Sie das ernstlich?" 

„Gewiß." ;,!,„ 

„Das ist doch nicht möglich ■ 

Warum nicht. Gibt es noch etwas, was Sie stehlen 

könnten?" 

,Ja. Ein Armband der Schwester. 

,Wo ist dieses Armband?" 

,In der Lade des Nachttisches." 

Und nun besprechen wir diesen Diebstahl mit allen 
Einzelheiten durch, wobei ich ihn an manchen Stellen 
sogar noch aufmerksam mache, wie er es geschickter 
anstellen könnte. Darüber ist er zunächst sehr erstaunt, 
kommt aber allmählich aus seiner schlechten Stimmung 
heraus, da er eine neue Möglichkeit sieht, sich wieder 
Geld zu verschaffen. 

Damit ist aber unser Gespräch nicht zu Ende. Es kann 
doch nicht die Aufgabe eines Erziehungsberaters sein, 



5?* 



201 



einen jugendlichen Verwahrlosten wirklich zu einem 
Diebstahl zu verleiten. Daher setze ich fort: 

„So, das werden wir aber nicht machen. Das Arm- 
band heben wir uns auf, bis wir einmal mehr Geld 
brauchen. Was kosten denn die Kinokarten?" 

Er nennt mir einen Betrag, den ich meiner Geldbörse 
entnehme und ihm gebe. Dadurch wird er völlig fas- 
sungslos, da er jetzt überhaupt nicht mehr weiß, woran 

BeX a n l8t Zu h ers \ neW ich «im den Rest seiner 
Beule ab, dann gehe ich mit ihm - in der Phantasie - 
stehlen und zum Schluß gebe ich ihm vom JLä 
Gelde den notwendigen Betrag. s^«" 

Ich will ihn eine Zeitlang in diesem Spannungszustand 
belassen, schicke ihn daher gleich weg und bestelle ihn 
für den nächsten Tag. 

Am nächsten Tage kommt er mit folgender Bemer- 
kung bei der Türe herein: 

„Ich muß Ihnen etwas sagen, aber nein, - ich sa** 
es Ihnen doch nicht." ag€ 

Ich reagiere darauf nicht, sondern fordere ihn nur 
auf, sich zu setzen. Er setzt sich und beginnt: 

„Wie gefällt Ihnen der Thomas Mann?" 

„Was haben Sie von Thomas Mann gelesen?" Er 
zahlt einige Werke auf und setzt fort: 

„Wir lesen in der Schule jetzt Minna von Barnhelm 
(er besucht die achte Klasse der Mittelschule) und da 
kenne ich mich nicht aus." Er nennt die Stelle und will 
nun von mir einen Kommentar dazu. 

„Wer hat Minna von Barnhelm geschrieben?" 

„Lessing. Warum schauen Sie von mir weg auf Ihro 
Bücher?" 8 inre 

Nun sehe ich den Zeitpunkt gekommen, aktiv ein 
zugreifen, und frage: ' cin * 

„Warum wollen Sie sich unbedingt den Beweis mei 
ner Dummheit verschaffen?" Er erschrickt: 

„In Ihrer Gegenwart darf man sich ja nicht einmal 
etwas denken." 



202 






„Als Sie bei der Türe hereingekommen sind, wollten 
Sie mir etwas sagen. Dann haben Sie darauf vergessen. 

„Richtig. Unsere Köchin hat gesagt, du, sei vorsichtig, 
das ist ein ganz ,Geriebener'." 

„Eine gescheite Person?" 

„Nein! Sie ist dumm." 

„Wie fällt ihr ein, so etwas zu behaupten? 

„Sie war schon vor meiner Geburt im Hause hat mich 
sehr lieb und hat, als meine Mutter jetzt auf den Dieb- 
stahl draufkam, sehr für mich Partei ergriffen. 

„Hat die Köchin recht?" 

"Dann Erzähle mir eine von deinen Gaunereien, 
von denen noch niemand etwas weiß." Der Jugendliche 
erzählt nun von Diebstählen, die bis auf zehn Jahre 
zurückgehen. Zuerst kleinere Familiendiebstähle, dann 
Entwendungen von Schmuckgegenständen und Geld auf 
Reisen mit der Mutter, aus benachbarten Hotelzimmern; 
in den Ferien im Schwimmbad aus fremden Kabinen; 
eine ununterbrochene Folge von immer größer werden- 
den Diebstählen, die unentdeckt geblieben sind, da nie- 
mand den „wohlerzogenen Knaben aus gutem Hause" 
verdächtigt hatte. 

Nun bedarf es aber einer psychoanalytischen Betrach- 
tung dieser hier geschilderten zwei Begegnungen. 

Erinnern wir uns zunächst, was wir von Freud über 
die Bedingungen und Folgen beim Überfließen narziß- 
tischer Libido wissen 1 ). 

Die Beziehungen zum anderen sind nicht immer ob- 
jektlibidinöser Natur. Unter bestimmten Voraussetzun- 
gen — einigermaßen wirksamer Verdrängung, Zurück- 
setzung der sinnlichen Regungen — kommt es auch 
zum Überfließen narzißtischer Libido. Obwohl in die- 
sem Falle das Verhältnis zum Objekt ein anderes ist, 
wird dieses Anderssein der Beziehungen nicht erkannt, 



J ) Freud, Ges. Sehr., Bd. VI, S. 311 ff. 

203 



sondern das Objekt so empfunden, als hätte eine objekt- 
libidinöse Besetzung stattgefunden, ebenso unerkannt 
bleibt, daß das Objekt nun dazu dient, ein eigenes, 
nicht erreichtes Ich-Ideal zu erreichen. „Man liebt es 
wegen der Vollkommenheilen, die man fürs eigene Ich 
angestrebt hat und die man sich nun auf diesem Um- 
weg zur Befriedigung seines Narzißmus verschaffen 
mochte." - Werden die auf direkte Sexualbefriedigung 
drangenden Strebungen ganz zurückgedrängt, so wird 
das Objekt immer großartiger, wertvoller; es gelangt 
schließlich in den Besitz der gesamten Selbstliebe des 
Ichs. — Gleichzeitig versagen die dem Ich-Ideal zuge- 
teilten Funktionen gänzlich. Es schweigt die Kritik, die 
von dieser Instanz ausgeübt wird; alles, was das Objekt 
tut und fordert, ist recht und untadelhaft. Das Gewissen 
findet keine Anwendung auf alles, was zugunsten des 
Objektes geschieht. - Die ganze Situation läßt sich rest- 
los in eine Formel zusammenfassen: das Objekt hat 
sich an die Stelle des Ich-Ideals gesetzt. 

Wir haben zuerst einen Erziehungsnotstand kennen- 
gelernt und den Erziehungsberater in seiner prakti- 
schen Arbeit beobachten können, dann die theoretischen, 
von der Psychoanalyse kommenden Grundlagen für die- 
ses Verhalten mitgeteilt und wollen nun versuchen zu 
zeigen, wie aus der theoretischen Einsicht — unter den 
besonderen Bedingungen der Erziehungsberatung — die 
praktische Arbeit geworden ist. 

Begegnen wir diesem Typus verwahrloster Jugend- 
licher, dann versuchen wir gar nicht eine objektlibidi- 
nöse Beziehung herzustellen; wir benehmen uns von 
allein Anfange an so, daß er den Anreiz bekommt, nar- 
zißtische Libido auf uns überfließen zu lassen, um damit 
schließlich jene Abhängigkeit seiner Gesamtpersönlich- 
keit von uns zu schaffen, in der das Ich zu seinem 
Ich-Ideal steht. 

Wir entschließen uns zu diesem Vorgehen, weil uns 
die Praxis der Erziehungsberalung gelehrt hat, daß für 



204 



diesen Typus keine andere Möglichkeit, in ein gesteiger- 
tes Abhängigkeitsverhältnis zu kommen, besteht, umso- 
mehr, da wir gerade dieses ganz besonders für ihn zur 
Erziehungsarbeit brauchen. Wir müssen berücksichtigen, 
daß der Jugendliche in der Regel nicht in der psychi- 
schen Situation zu uns kommt, in der wir ihn haben 
müssen: er ist negativ, oft sogar feindselig eingestellt; 
unsicher, irritiert; hochmütig, überlegen tuend; manch- 
mal ganz uninteressiert, aber nur sehr selten erwar- 
tungsvoll. 

Es wäre nur dann wichtig zu wissen, welche dieser 
psychischen Situaüonen im gegebenen Fall vorliegt, 
wenn wir nicht die Möglichkeit hätten, den erforder- 
nden labilen Spannungszustand durch unser Verhalten 
immer hervorrufen zu können. 

Seine Unsicherheit muß schon im ersten Augenbhck 
der Betonung, durch die Art seines Empfanges em- 
"t ist°nicht immer gleich ^^Jjjj 
durch den Eindruck, den wir von dem Jugendücnen 
bekommen, bedingt. Ein Beispiel dafür ist die vollkom- 
men wortlose Begrüßung im vorliegenden Fall. 

Vom Beginn an stellten wir uns in den Mittelpunkt, 
reaten sein Interesse für uns an und bereiteten in ihm 
den Wunsch vor, sich mit uns zu „messen^ 

Nun erfolgt die erste Frage: „Warum haben Sie den 
Arzt so zum Besten gehalten?" 

Die Frage wurde gestellt, um die labile Situation zu 
unseren Gunsten zu entscheiden. 

Durch deren Inhalt weiß er nun, daß wir ihn durch- 
schauen. 

Durch die Art und den Tonfall der Fragestellung 
zwingen wir ihn, in dem von uns gewollten Sinne zu 
reagieren. 

Beides, Inhalt und Form, noch zusammen mit dem 
Zeitpunkt, in dem die Frage gestellt wurde, brachten 
die Entscheidung. 



205 



Wir nennen diesen Teil unserer Arbeit das Setzen 
des „Überraschungsmomentes". Unvorbereitet, mit ganz 
anderen Erwarlungsvorstellungen erfüllt, in unsicherer 
Gefuhlssituation, erfolgt die Entlarvung, ohne die für 
ihn einzig denkbare Folge: die Bestrafung. 

Er merkt, daß wir nicht der ihn zur Verantwor- 
tung ziehende Erwachsene sind, aber auch nicht der 
Kamerad, der ihn wegen seines Mutes oder seiner Ge- 
schicklichkeit bewundert, sondern ein undefinierbares 
bisher nicht gekanntes Wesen, das ihn versteht, vielleicht 
sogar mit dem leisen Unterton der Zustimmung, und das 
ihm irgendwie, zwar unbegreiflich, aber nicht unange- 
nehm empfunden, überlegen sein muß. Dies alles spielt 
sich m seinem affektiven und nicht intellektuellen Ich 
aD, da wir uns nicht in Worten in seiner Richtung 
bewegen, sondern nur unser Verhalten ihm diese Deu- 
tung ermöglicht, die aber auch falsch sein könnte 

eLnZJt **t" "* ^ Selbst noch mit uns ^ 
e nandersetzen, aber es bleibt ihm die Möglichkeit, nun 

zu uns wegen unserer „Überlegenheit", die er für das 

25? Jh T tF€bt ' Bezi€h ^ en ™ bekommen. Der 
nicht sehr aufmerksame Beobachter muß den Eindruck 

SS CS ^ Cin€ »»^^ Besetzmig 2% 

Wir nützen die Situation sofort aus, akzeptieren di> 
uns eingeräumte bevorzugte Stellung und festigen • 
noch, indem wir ihn zwar interessiert, aber in ruhiger 
sachlicher Art, die jeden Widerspruch ausschließt, über 
das vom Diebstahl noch gebliebene Geld befragen.' 

Die Frage: „Würden Sie das Geld mir geben", erfolgt 
um zu erfahren, ob die Abhängigkeit für einen aktiven 
Eingriff schon tragfähig ist. 

Die Empfangsbestätigung erhält er als Beleg, daß das 
Geld sein Eigentum bleibt und er als vollwertig genom- 
men wird, und daß wir nicht etwa die Absicht haben 

es ohne sein Wissen der Multer zurückzugeben. 
206 



W 






Mit der Obergabe der Empfangsbestätigung ist eine 
Phase abgeschlossen, und wir müssen zur Weiterarbeit 
seine psychische Situation in diesem Augenblick ken- 
nen. Die Antwort auf die Frage: „Woran denken Sie- 
jetzt?" zeigt, wie notwendig sie war. 

Das nun folgende Gespräch wird nur geführt, um zu 
beobachten, ob er noch weiter unruhig bleibt oder sich 
mit der Tatsache, kein Geld mehr zu haben, abgefunden 
hat. Es wird so bald nur deswegen abgebrochen und 
dieselbe Frage wiederholt, weil er ziemlich uninteres- 
siert erzählt und aus seinem Verhalten zu vermuten 
ist, daß er noch immer an das mir übergebene Geld 

denkt. 

„ . . . Ich habe das Gefühl, Sie hätten es mir aus der 
Tasche gezogen", zeigt wohl überzeugend genug, daß 
seine Beziehungen zu uns wesentlich stärker geworden 
sind und dementsprechend auch die Abhängigkeit sich 
verhältnismäßig gesteigert hat. 

Wir erfahren nun sofort, daß er in Verlegenheit ist, 
weil er kein Geld für die Kinokarten hat und nicht 
weiß, wie er es sich verschaffen könnte. Wir zeigen ihm 
absichtlich die Mutter, weil wir voraussetzen dürfen, 
daß er sich nicht an sie wenden kann. Damit ist ihm 
seine ganze Hilflosigkeit vor Augen geführt und wir 
erscheinen ihm als Retter, wenn wir selbst die not- 
wendige Hilfe bringen. 

Obwohl seine Beziehungen zu uns schon ein erheb- 
liches Ausmaß erreicht haben, geben wir uns damit 
noch nicht zufrieden. Wir wollen immer mehr in den 
Besitz seiner narzißtischen Libido kommen, an die Stelle 
seines Ich-Ideals treten und ihn selbst dadurch völlig 
kritiklos machen; ein Abhängigkeitsverhältnis schaffen, 
das nahezu an Hörigkeit grenzt. 

Hiezu eine Bemerkung an den Erziehungsberater. Die- 
ses Maximum an Beziehung ist bei diesem Typus Ver- 
wahrloster für die erste Zeit der Arbeit, solange wir nur 
als Erzieher auftreten, notwendig, aber nur dann zu er- 



207 



reichen, wenn er in uns einen großartigen Vertreter sei- 
ner eigenen Welt erblickt. Er kann den Weg, den wir 
ihm vorschreiben, nicht gehen, wenn wir bloß mit 
unserem eigenen sozialen Über-Ich seinen Diebstahl ver- 
stehen, wohlwollend beurteilen, sein Handeln tolerieren, 
wohl aber, wenn wir „absolut mitspielen", seine eige- 
nen Wertungen akzeptieren und ihm zeigen, daß wir 
ein, in seiner eigenen Welt tatsächlich lebendes, erstre- 
benswertes Ideal sind, d. h. noch besser stehlen können 
als er. 

Es muß uns klar sein, daß wir uns damit in eine 
äußerst gefährliche Situation begeben, und wir wagen 
sie nur, weil wir genau wissen, daß wir aus seinen 
Beziehungen zu uns einen tatsächlichen Diebstahl ver- 
hindern können. 

Das Geld bekommt er von uns, um die reale Notwen- 
digkeit eines Diebstahls auszuschalten. Außerdem errei- 
chen wir dadurch in ihm einen solchen Aufruhr von 
Gefühlen, daß er sich überhaupt nicht mehr zurecht- 
findet. Bedenken wir: die rasch wechselnden Affekte 
die unser Verhalten in ihm auslöst. Wir lassen ihn bei 
uns nicht mehr zur Klarheit kommen, sondern schicken 
ihn ohne Rücksicht, ob die „Stunde" zu Ende ist oder 
nicht, weg, bestellen ihn aber wieder. 

Betrachten wir nun die zweite Begegnung. Die Be- 
merkung, die er beim Eintreten macht, zeigt deutlich ein 
Mißtrauen. Es muß sich daher von gestern auf heute 
etwas ereignet haben, das wir noch nicht wissen. Wir 
bleiben deshalb vorsichtig, drängen ihn nicht, das Ver- 
schwiegene zu sagen, um nicht seinen Widerstand anzu- 
regen, sondern fordern ihn nur auf, sich niederzusetzen. 

Nun fragt er! Er kehrt die Situation von gestern 
um, gestern waren wir die Fragenden, heute sollen wir 
ihm Rede stehen. Wir gehen nicht darauf ein, sondern 
antworten mit einer Gegenfrage. Schon mit der dritten 
Frage kommt er von der Literatur auf die momentan 
gegebene Situation. Er hat gemerkt, daß wir ihm nicht 

208 



folgen, hat aber seine Tendenz noch nicht aufgegeben. 
Unsere Frage: „Warum wollen Sie sich unbedingt den 
Beweis meiner Dummheit verschaffen?" erfolgt aus dem 
Ergebnis einer parallel während seiner Fragen ange- 
stellten Schlußfolgerung. Wir wissen, daß dieser Typus 
jugendlicher Verwahrloster Wert darauf legt, seine In- 
telligenz jedem gegenüber und bei allen möglichen Ge- 
legenheiten zu zeigen. Er bildet sich viel darauf ein, mit 
gescheiten Menschen zu verkehren. 

Sein Verhalten und seine Fragen lassen vermuten, 
daß er aus dem gestrigen Abhängigkeitsverhältnis her- 
auskommen will. Dies versucht er, indem er uns auf 
ein Gebiet, — die Literatur — lockt, auf dem wir seiner 
Meinung nach versagen müssen. Wären wir ihm auf 
seine Fragen eingegangen, so hätten wir nutzlos Zeit 
vergeudet und ihm vielleicht sogar die Möglichkeit ge- 
geben, sein Ziel zu erreichen. Durch unsere Gegen- 
fragen fühlt er jedoch, daß wir wieder wie gestern 
der Überlegene sind. Der Beweis, daß er wieder in die- 
selbe Abhängigkeit gerät, ist unbestreitbar seine Re- 
aktion auf unsere Frage. Er erschrickt und sagt: „In 
Ihrer Gegenwart darf man sich ja nicht einmal etwas 
denken." 

Ist er wirklich in einem Abhängigkeitsverhältnis, dann 
muß auch sein beim Kommen vorhanden gewesenes 
Mißtrauen geschwunden sein. Wir wollen unbedingt 
sicher gehen und nicht durch eine Unvorsichtigkeit die 
Situation gefährden. Deswegen fragen wir ihn: „Als 
Sie bei der Tür hereingekommen sind, wollten Sie 
mir etwas sagen, dann haben Sie darauf vergessen." 
Um nicht sein Mißtrauen neuerlich erstehen zu lassen, 
legen wir den Ton auf das Wort „vergessen". 

Der Kampf, den wir gegen die Köchin führen müssen, 
ist nicht schwierig zu gewinnen. Sie ist ja eine „dumme 
Person". Das müssen wir ihm, dem „Intellektuellen" 
durch unsere Fragestellung nur in Erinnerung rufen. 

14 Almanach 1937 

209 



Daß sie uns auch die Möglichkeit geben wird, schon 
bei der zweiten Begegnung die bewußt gebliebenen Dieb- 
stähle fast restlos eingestanden zu bekommen, wußten 
wir natürlich im voraus nicht, ebensowenig, daß wir 
bei dieser Gelegenheit mit dem zum erstenmal gebrauch- 
ten „Du" die Beziehungen zu uns auf längere Zeit hin- 
aus im hohen Ausmaße gesteigert, festlegen können. 
Wir nützen nur wieder einmal eine gegebene Situation 
für unsere Zwecke aus. 

Das Schaffen des Überraschungsmomentes ist keine 
leichte Aufgabe. Man kann sich darauf nicht vorbereiten; 
es ergibt sich aus der augenblicklichen Konstellation; 
verlangt absolute Beherrschung der jeweils gegebenen 
Situation. Durch richtige Abschätzung von Wirkungen, ehe 
sie noch provoziert sind, rasches Kombinieren und so- 
fortiges Entschließen ist die Vorbedingung zur Gestal- 
tung des dramatischen Ablaufes, der dann als Über- 
raschungsmoment wirkt, gegeben. 

Ein Jugendlicher, der wegen Diebstahls bedingt verur- 
teilt worden war, steht seit längerer Zeit unter Erzie- 
hungsaufsicht. Die ihn überwachende Fürsorgerin bringt 
ihn in die Erziehungsberatung, weil sie seit kurzem 
manifest homosexuelle Beziehungen ihres Schützlings 
vermutet. 

Die ältere, erfahrene Fürsorgerin benimmt sich ihm 
gegenüber der Situation entsprechend. Er ist der Er- 
wachsene, den sie durch das ihr selbst eigene vor- 
nehme Wesen zu beeinflußen sucht, weil sie in ihm. 
Züge bemerkt, die auf ein solches Verhalten sehr posi- 
tiv anklingen. 

Aus den Mitteilungen der Fürsorgerin über sein jetzi- 
ges Verhalten geht hervor, daß sie sich auch um seine 
Geldausgaben kümmert, daß er sein Taschengeld von 
ihr bekommt, sie wöchentlich nach seinen, durch sie 
angeregten Aufzeichnungen, mit ihm abrechnet. Sie ist 
besonders darüber erfreut, daß der Jugendliche auch 
unnütze Ausgaben aufschreibt und ihr so eingesteht. 



21 O 



Seine Begrüßung weicht auch von der sonst üblichen 
Art ab: die Fürsorgerin stellt uns einander vor, wie es 
sonst in der Gesellschaft üblich ist. Er fühlt sich absolut 
nicht als der Verwahrloste, der zu mir gebracht wird, 
hält sich für den Überlegenen, den die Fürsorgerin 
aufgefordert hat, mich aufzusuchen, weil ich mich für 
ihn interessiere. Er weiß nicht, daß er unter einem Vor- 
wand gebracht wurde. 

Gleich nach unserer Begrüßung empfiehlt sich die 
Fürsorgerin, um uns allein zu lassen. Unmittelbar vor 
dem Weggehen nimmt sie ihn aber noch zur Seite. Ich 
verstehe nicht, was beide miteinander sprechen, sehe 
aber, daß er Geld bekommt und dabei seinen Mund 
spöttisch verzieht, um sofort wieder ein freundliches, 
nichtssagendes Gesicht zu zeigen. Die Fürsorgerin kann 
diesen Zwischenfall nicht bemerken, da sie mit ihrer 
Geldbörse beschäftigt ist. 

Alleingelassen, frage ich ihn sofort, was besprochen 
worden ist, aber so, daß er merkt, ich habe sein Lächeln 
gesehen. Er entgegnet, die Fürsorgerin habe ihn gefragt, 
ob er Geld für die Straßenbahn brauche, und habe es 
ihm gegeben. Er setzt fort: die Fürsorgerin habe am 
Tage vorher mit ihm abgerechnet und daher gewußt, 
daß er ohne Geld sei. Ich gehe auf diese Bemerkung 
nicht ein, sondern fordere ihn auf, mir seine Geldbörse 
zu geben, dies aber in einer, keinen Widerspruch zulas- 
senden Art. Er ist ungemein überrascht, zieht aber doch 
die Börse und gibt sie mir, wenn auch zögernd, und 
wird sehr verlegen. Ich finde in ihr ungefähr zwan- 
zig Schillinge in Papier und Silber und einen Zettel, auf 
dem zwei Männernamen mit Adressen sowie zwei Be- 
gegnungen vorgemerkt sind. Ich sage ihm ohne weitere 
Überlegung seine manifest-homosexuellen Beziehungen, 
für die er sich auch noch bezahlen lasse, auf den Kopf 
zu. Er ist derart überrascht, daß er gar nicht versucht, 
zu leugnen, sondern sie sofort zugibt. Im weiteren Ver- 

14* 

21 1 



lauf des Gespräches faßt er sich wieder und nun wer- 
den seine Darstellungen sehr verlogen. 

Wie sehr dieser Jugendliche sich auf die „Behand- 
lung" der Menschen versteht, erhellt aus der Bemer- 
kung auf die Frage, warum er die Fürsorgerin so belo- 
gen habe: wenn ich mit ihr verrechne und zeige, daß 
ich kein Geld habe, hält sie mich für anständig, macht 
gute Berichte über mich und ich kann machen, was 
ich will. 

Ein Zweiundzwanzig jähriger ist wegen wiederholter 
Betrügereien und Diebstähle aus der Familie entfernt 
und bei Verwandten im Auslande untergebracht worden. 
Die Eltern bekommen Nachricht, daß er sich neuer- 
lich Schwindeleien habe zu Schulden kommen lassen, 
und suchen in ihrer Ratlosigkeit die Erziehungsbera- 
tung auf. 

Der Erziehungsberater, der, ohne den jungen Mann 
gesehen zu haben, nichts veranlassen kann, teilt dies 
den Eitern mit, worauf sie die Heimkehr ihres Sohnes 
veranlassen. In der Zwischenzeit erscheint ein Freund 
der Familie in der Erziehungsberatimg und ersucht im 
Auftrag der Ellern um Verhaltungsmaßregeln bei der 
Ankunft des Sohnes. Aus den gegenseitigen Beziehun- 
gen der Familienmitglieder untereinander erscheint es 
dem Erziehungsberater wichtig, den jungen Menschen 
zu sehen, noch ehe eine Begegnung mit den Eltern 
stattgefunden hat. Er schlägt daher vor, daß nicht die 
Eltern zur Bahn gehen mögen, sondern der Freund 
der Familie, und daß dieser Franz — so heißt der junge 
Mann — sofort nach seiner Ankunft zu mir bringe. Dies 
geschieht auch. Franz bleibt im Warteraum, der Freund 
kommt in das Beratungszimmer mit den Worten: „Sie 
können sich nicht vorstellen, wie Franz sich benimmt. 
Er ist von unbeschreiblichem Hochmut und von einer 
eisigen Kälte, die kaum zu ertragen ist. Er hat von der 
Bahn bis hieher nicht ein Wort gesprochen." 



Ö 1 2 



Ich lasse Franz absichtlich eine Stunde allein im 
Warteraum. In dieser Zeit erzählt mir sein Begleiter 
noch eine Reihe von Einzelheiten über den Jungen und 
seine Eltern. Meine Überlegungen sind folgende: ist 
dieses auffällige Verhalten beim Jugendlichen nur 
„Maske", dann kann er das Alleinsein, in fremder Um- 
gebung, in Erwartung dessen, was nun kommen wird, 
nicht aushalten und wird zugänglich; ist sein Hoch- 
mut echt, dann kommt es infolge der so langen Ver- 
nachlässigung, die er als Beleidigung empfinden muß, 
zu einem Affektausbruch. Andere Möglichkeiten, neu- 
gierig an der Tür zu horchen, um zu hören, was gespro- 
chen wird, oder hochmütig, interesselos zu bleiben, 
waren nach dem, was ich bereits von ihm wußte, aus- 

zuschließen. 

Nach Ablauf der „Stunde Wartezeit" mache ich die 
Tür zum Warteraum auf, um Franz vorzunehmen. Zu- 
sammengekauert, ein Häufchen Elend, sitzt er aufge- 
löst da. * 4 "i.. 

Ich nehme ihn bei der Hand, spreche ihn sofort mit 
Du an führe ihn in das Beratungszimmer und sage: 
Weine dich einmal ordentlich aus." Franz bricht in 
einen Strom von Tränen aus und später, noch schluch- 
zend beginnt er zu erzählen: von sich, von den Eltern, 
die ihn nie verstanden haben, von zu Hause überhaupt, 
von der Schule und seiner freudlosen Kindheit. Schon 
bei der ersten Besprechung rollt sich ein trauriges 
Kinderschicksal auf. 

Die Übertragung ist sofort da und hält für die ganze 
Dauer seiner Behandlung an. 

Ein Gutsverwalter aus dem Auslande bringt seinen 
Sohn, der schon in der Familie als Hochstapler gewer- 
tet wird, in die Sprechstunde; Vater und Sohn kommen 
gemeinsam, treten gleichzeitig ein und ich habe, wegen 
des besonderen Verhaltens des jungen Mannes, keine 
Möglichkeit, mich noch vorher mit dem Vater allein 
zu besprechen. Die Miene des ungefähr Fünfundzwan- 

213 



zigjährigcn zeigt die ganze Geringschätzung der gege- 
benen Situation; sein Blick ist prüfend überlegen, seine 
Gedanken etwa: Welchen Zweck hat die ganze Ge- 
schichte? 

Der Vater erzählt die Verfehlungen seines Sohnes 
mit vielen Einzelheiten. Das Verhalten des Sohnes zeigt 
wachsende Langeweile; die Mitteilungen des Vaters be- 
rühren ihn so wenig, als beträfen sie einen Fremden; 
er hat sicherlich nur den einen Wunsch, unsere ihn 
anödende Unterredung möge recht bald beendet sein. 

Ich sage daher, als der Vater geschlossen hat, zuerst 
scheinbar die Anwesenheit des Sohnes vollständig igno- 
rierend, folgendes: „Hochstapler behandle ich nicht; es 
wäre schade um meine Zeit und um Ihr Geld; ich finde 
eine Behandlung auch zwecklos; stellt Ihr Sohn nichts 
mehr an, dann ist ohnehin alles in Ordnung; wird er 
rückfällig, dann wird er eingesperrt und Sie sind ihn 
los." Nun wende ich mich zum Sohne und fahre fort: 
„Oder Sie erschießen sich, wenn Sie nicht zu feige 
sind, und dann ist die Angelegenheit auch erledigt." 
Bei den letzten Worten dieser mit Absicht ruhig, affekt- 
los, betont sachlich gesprochenen Sätze stehe ich auf 
um zu zeigen, daß die Unterredung beendet ist. 

Dem Vater ist die Bestürzung unschwer anzumerken. 
Aus der Miene seines Sohnes ist zu erkennen, daß die 
beabsichtigte Irritierung gelungen ist. Bei der Ausgangs- 
türe reiche ich dem jungen Mann die Hand mit den 
Worten: „Behandlung können Sie bei mir nicht finden 
aber wenn Sie noch einmal mit mir sprechen wollen' 
so erwarte ich Sie morgen." Ich gebe ihm auch die 
Zeit an. 

Nach ganz kurzer Zeit kommt der Vater allein zurück 
und macht mir heftige Vorwürfe über mein ihm unver- 
ständliches Benehmen. Er hatte die in meinem Ver- 
halten gelegene Absicht nicht gemerkt und ich erkläre 
ihm die Notwendigkeit meiner Handlungsweise aus dem 
Benehmen seines Sohnes. Ich fordere ihn noch auf, sei- 



214 



nen Sohn in dem Entschlüsse, zu mir zu kommen oder 
nicht, ja nicht zu beeinflussen. Der Vater geht sehr 
erleichtert weg. 

Am nächsten Tage zur festgesetzten Stunde kommt 
der junge Mann tatsächlich nun in ganz anderer Ver- 
fassung, viel gelöster, gefügiger, voller Erwartung — die 
Übertragung hat eingesetzt. 



215 



Über Kindererziehung 

Von John Rickman, London 

Im Verlage Iiegan Paul, Trench, Trubner 
<x Co., Ltd., London, ist im Jahre 1936 ein 
von John Iiickman herausgegebener Sam- 
melband unter dem Titel „On the Bringing 
iip of Children" erschienen. Der Band ent- 
halt wertvolle Beiträge von Ella Freeman 
Sharpe („Planning for Stability"), Melanie 
Klein („Weaning"), Merell P. Middle- 
more („The Uses of Sensualitif), Nina 
öearl („Questions and Answers") und Susan 
Isaacs („Habit' und „The Nurseru as 
a Community"). Der im folgenden mit Geneh- 
mig £?? , T es Vcrla 0^ wiedergegebene, von 
"Wälder übersetzte Abschnitt ist der von 
John Rickman verfaßten Einleitung ent- 
nommen. v 

Der Fortschritt der Wissenschaft und der Zivilisation 
wird nicht selten dadurch aufgehalten, daß der Appa- 
rat der wissenschaftlichen Forschung nicht plastisch 
genug oder in anderer Weise ungeeignet ist, neuentste- 
hende Probleme zu behandeln. Wissenschaftliche Theo- 
rien mögen dabei billigerweise zum „Apparat der For- 
schung" gerechnet werden, denn es ist ihr charakteri- 
stisches Merkmal, daß sie von den Umständen, für die 
sie entworfen wurden, losgelöst und in andern Fällen 
von gleichem inneren Bezug verwendet werden können- 
so geschieht es, daß der Fortschritt in einem Zweier' 
der Wissenschaft einen anderen bereichern oder selbst 
revolutionieren mag. Freud hatte seine Studien an 
erwachsenen Neuro likern begonnen; im Zuge seiner 
Untersuchungen schuf er ein neues Instrument der 
Forschung. Wie immer in solchen Fällen hat sich 
dann das Feld der Untersuchung rasch sehr erweitert 
und der Aspekt von Problemen, die mit dem ursprüng- 
lichen Gegenstand scheinbar in keinem Zusammenhang 



216 



stehen, wurde radikal verändert. Das geschah auch in 
der Kinderpsychologie. 

Früher war die Beobachtung auf die bewußten Schich- 
ten des Seelenlebens beschränkt und unbewußte Pro- 
zesse waren nicht erkennbar; zumeist wurde sogar ihr 
Dasein bestritten. Wir haben erst vor kurzem begonnen, 
die Arbeitsweise der wichtigsten Komponenten des See- 
lenlebens und der Persönlichkeit des Kindes zu ver- 
stehen. 

Die Entdeckungen der Psychoanalyse haben sich na- 
türlich nicht an die Stelle jener gediegenen Arbeit und 
klaren Beobachtung gesetzt, die auch bisher schon in 
Fragen der Erziehung und des Wohles des Kindes 
geleistet wurde, doch geben sie ihrer Anwendung grö- 
I5ere Bestimmtheit und Präzision. Sie haben gezeigt, daß 
die Entwicklung der kindlichen Seele ein viel kompli- 
zierterer Prozeß ist, als man früher annahm, und daß 
diese Entwicklung schwer beeinträchtigt werden kann, 
wenn eine Erziehungsmethode angewendet wird, die 
diese Verwicklungen unterschätzt. 

Es ist kein Grund, vor dieser Komplikation zu er- 
schrecken, wenn man sie nur versteht; in der Tat haben 
die Menschen im long run mehr Schaden von vor- 
eiligen Simplifizierungen erfahren als von der Verwir- 
rung durch verwickelte Sachverhalte; denn die Simpli- 
fizierung verführt dazu, zu glauben, daß man das Pro- 
blem gemeistert habe, während man in Wahrheit nur, 
ohne wirkliche Erkenntnis, bei einem Schlagwort oder 
einer Formel Zuflucht gefunden hat. 

Man könnte tragische Beispiele von Eltern geben, 
die in Erziehungsproblemen Rat bei jenen gesucht ha- 
ben, die eine unvollkommene Vorstellung von der fei- 
neren Problematik des Gegenstandes haben, mit dem 
sie sich vermeintlich beschäftigen. Manchmal ist der 
Berater so voll Begeisterung über die bloße Tatsache 
einer neuen Entdeckung, daß er die vielleicht noch not- 
wendigere Vorsicht beiseite läßt, sich ernsthaft in die 



217 



fraglichen Forschungen zu vertiefen; er sieht vielleicht 
einen Ausschnitt des neuen Werkes sehr lebhaft und 
findet Befriedigung (und Anhänger), wenn er die neue 
Doktrin preist und lehrt; er gibt sich aber keine Rechen- 
schaft darüber, daß er ohne Erfassung des ganzen Pro- 
blems die schwere Gefahr läuft, die in ihn Vertrauenden 
irrezuleiten. Die Psychoanalyse hat viel unter einem 
begeisterten Gefolge gelitten, das ihrer Arbeit doch nicht 
enge genug folgt, und es ist nicht unangemessen, zu 
verlangen, es solle, wer den Anspruch erhebt, die Ana- 
lyse anzuwenden, auch wissen, wovon er spricht. Es 
ist weder möglich noch wünschenswert, daß Menschen, 
die in praktischer Tätigkeit stehen, jeder fehlerhaften 
Darstellung von Tatsachen oder jeder Entstellung einer 
wertvollen wissenschaftlichen Theorie mit einem De- 
menti oder mit einer Aufklärung nachgehen. Die Wissen- 
schaft kann leider mißbräuchliche Anwendungen ihrer 
Entdeckungen, oder Verzerrungen ihrer Theorien nicht 
verhindern, aber die Ausbreitung des Wissens sollte 
schließlich den Schaden verringern, der durch verirrte 
Enthusiasten angerichtet wird. 

Eine der Schlußfolgerungen jener Kreise, die nicht 
erfaßt haben, was in der „neuen Psychologie" wirklich 
enthalten ist, geht dahin, daß ein pädagogisch richtig 
behandeltes Kind keine nervösen Schwierigkeiten haben 
würde, und daß das Auftreten psychischer Störungen 
ein Beweis dafür sei, daß die Eitern immer das Un- 
richtige tun. Das ist nicht nur falsch, es hat auch das 
Erziehen für gewissenhafte Eltern sehr viel schwieri- 
ger gemacht. 

Alle Schuld für die neurotische Erkrankung der Kin- 
der den Eltern zuzuschreiben, ist nicht nur den Eltern 
gegenüber nicht fair, sondern auch ein übler Dienst 
für die Kinder, denn es führt dazu, die Wichtigkeit der 
seelischen Vorgänge im Innern des Kindes zu verdun- 
kclll lind das Killd als ein Stück inaktiven plastischen 

Materials zu betrachten. Es gibt inhärente Schwierig- 
218 



keilen der psychischen Anpassung, die Störungen ver- 
ursachen können, wenn das Keim auch noch so gün- 
stig ist; dazu gehört das kindliche Schuldgefühl, und 
wenn wir das nicht wissen, können wir dem Kinde 
nicht zu einer Milderung des Schuldgefühls verhelfen. 
Wenn ferner die Eltern immer annehmen, daß etwas, 
was sie getan haben, das Kind nervös gemacht habe, 
so neigen sie dazu, in irgendeiner ihrer jüngsten und 
spezifischen Handlungen die Ursache zu suchen, wer- 
den selbst nervös und fürchten sich davor, überhaupt 
irgendeinen elterlichen Einfluß auf die Erziehung ihrer 
Kinder auszuüben. 

Der wirklich wichtige Faktor in der Erziehung ist 
die allgemeine Haltung der Eltern und die Art, 
in der die Details des alltäglichen Lebens 
behandelt werden. Krisen und Entscheidungen, die in 
den Beratungen der Eiternabende und in den zwang- 
losen Diskussionen so viel Zeit in Anspruch nehmen, 
sind von viel geringerer Bedeutung. So mag z. B. die Ent- 
scheidung, keine Körperstrafen anzuwenden, an und für 
sich unserer Bewunderung wert sein, wenn sie aber 
nicht vom Verständnis für die Haltung des Kindes 
gegenüber seinen eigenen Vergehen unterstützt ist, wird 
die gute Absicht, die die Entschließung hervorbrachte, 
kaum Nutzen stiften; denn bei aller Vermeidung der 
Körperstrafe mögen die Eltern die schädigenden Folgen 
übersehen, die von einer moralisierenden Haltung aus- 
gehen, und das Kind wird mit einem übertriebenen Ge- 
fühl von Schuld und Verantwortlichkeit heranwachsen. 

Manches, was den Eltern trivial erscheint, mag für das 
Kind von großer Wichtigkeit sein. Die Phantasie des 
Kindes beschäftigt sich oft viel mit den kleinen Frei- 
heiten und Einschränkungen, obwohl sie dem Erwach- 
senen, der die kindlichen Phantasien nicht versteht, 
geringfügig erscheinen. Anderseits sollte man Dinge, die 
den Ellern wichtig scheinen, wie z. B. saubere Hände 
und gute Manieren bei Tische, dem Kinde lieber in all- 



219 



mählicher Entwicklung wichtig werden lassen, statt sie 
ihm mit einem Schlage als Pflicht aufzuerlegen. Es ist 
ebenso unvernünftig, von den Kindern Gleichförmigkeit 
und Kontinuität des sozialen Wachstums zu erwarten 
als etwa zu erwarten, daß ihre Körpergröße jedes Jahr 
um die gleiche Anzahl von Zoll zunehme. Gutes Be- 
tragen wird nicht immer rasch erworben und es ist 
nicht immer wohlfundiert, wenn es zu schnell ange- 
nommen wurde. Die Fähigkeit, guten Kontakt mit an- 
dern Menschen zu gewinnen und eine ungestörte Be- 
ziehung ihnen festzuhalten, ist wichtiger als die Fähig- 
keit, ihr Betragen nachzuahmen: In keinem Falle ist 
dieser gute Kontakt aber von größerer Wichtigkeit als 
in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern; er 
ermöglicht dem Kind, eine starke und doch plastische 
Persönlichkeit aufzubauen, die unabhängig ist und auf 
eigenen Füßen stehen kann, aber für die ältere Gene- 
ration die Neigung bewahrt, die das Willkommen tiefer 
und wärmer machen wird, mit dem es einst eine noch 
jüngere erwarten wird. 



220 



Ichgrenzen, Ichstärke und Identifizierung 

Von Paul Federn, Wien 

Aus der Arbeil „Zur Unterscheidung des 
gesunden und kranken Narzißmus", Imago, 
Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, 
ihre Grenzgebiete und Anwendungen, Band 
XXII, 1936. 

Daß ein Individuum übermäßig narzißtisch mit seinen 
Erlebnissen mitagiert, kann eine Art Ichschwäche ver- 
raten, eigentlich in paradoxer Weise einen Mangel an 
normalen narzißtischen Gegenbesetzungen. Häufig ist es 
ferner die Fortsetzung des allgemeinen Verhaltens der 
Eltern gegenüber dem Kleinkind, das man nicht sich 
naiv entwickeln und seine Entwicklung naiv erleben 
ließ Man könnte sagen, daß ein Kind von guten Eltern 
sein müsse, um das Verhalten guter Eltern unbeschä- 
digt zu vertragen. Nicht nur im Über-Ich, auch im Ich 
setzt sich das Verhalten der Umgebung nun als Selbst- 
beachtung fort. Ich erwähnte diesen bekannten und 
nicht einer psychoanalytischen Einsicht vorbehaltenen 
Zusammenhang nur, um daran anknüpfend darauf auf- 
merksam zu machen, daß wir den eine Zeitlang so häufig 
verwendeten Ausdruck „Ichschwäche" auch in bezug 
auf das Verhalten der Ichgrenzen, soweit dasselbe für 
das Individuum typisch ist, verwenden und dabei die 
Art der Ichschwäche näher beschreiben können. Ob 
man das dargestellte Übermaß an narzißtischer Reaktion 
als Ichschwäche bezeichnen kann, lasse ich dahingestellt; 
es kann eine ständige Bereitschaft und eine übermäßige 
Wichtigkeit des Ichs bedeuten, die nicht gerade reaktiv 
gegen die eigenen Schwächen nach dem typischen Ad- 
ler sehen Mechanismus entstanden zu sein braucht. 
Auch eine größere Affektivität, welche sich in starken 
Affektreaktionen kundgibt, wird nicht von jedermanns 
Standpunkt aus als Ichschwäche beurteilt- werden. Nicht 



221 



jeder teilt den Standpunkt Nietzsches, der jenes 
Gewissen als robusL bezeichnet, welches nur schwer 
reagiert, so geistreich und weildeutend auch dieses 
Paradoxon war. Wir können aber für die Ichgrenzen 
deren Labilität und Stabilität feststellen und sprechen 
dort von Ichschwäche, wo die erste über die andere 
allzu sehr überwiegt. Man kann anderseits eine ab- 
norme Ichstarrheit oder Ichschwere in der übergroßen 
Stabilität erkennen. Die ideale Ichform wird die sein, 
in welcher die Ichgrenzen rasch und leicht wechseln 
können, aber jederzeit stabil bleiben, wenn ein Stand- 
punkt festgehalten oder verleidigt zu werden hat. Ob- 
gleich diese Unterschiede von den Charakterologen wie- 
derholt beschrieben wurden, bespreche ich sie liier, 
weil man zu ihrem Verständnis den Ichgrenzen und 
der narzißtischen Gegenbeselzung Beachtung zuwen- 
den muß. 

Wir finden also in verschiedenen Zeiten und Bereit- 
schaf tszu ständen bei demselben Individuum und dauernd 
bei verschiedenen Individuen eine andere Resistenz ge- 
genüber inneren und äußeren Einflüssen auf das Ich 
Von den inneren Einflüssen haben wir in anderem Zu- 
sammenhang, wenn auch nicht erschöpfend gespro- 
chen; die äußeren gehen meistens von fremden Indi- 
viduen oder von fremden Ideen aus, was im Prinzip 
dasselbe ist, wie wir aus Freuds Massenpsychologie 
gelernt haben. Es gibt Menschen, die ihre Ichgrenzen 
jederzeit auf jeden neuen Eindruck hin erweitern, also 
bereit sind, stets neue und andere Objekte ins Ich 
aufzunehmen, d. h. mit Ichgefühl, mit narzißtischer 
Libido zu besetzen und so stets neue Identifizierungen 
einzugehen. Solcher ungehemmten Erweiterung der Ich- 
grenze entspricht nicht immer deren ebenso schnelle 
und hemmungslose Zurückziehung. Individuen mit fester 
solider Ichgrenze können solche mit weicher, leicht 
bewegter Ichgrenze überhaupt nicht begreifen. Daß es 
Berufe vom Henker abwärts und von ihm aufwärts 



222 



bis zu Timur und seinesgleichen gibt, zeigt die Mög- 
lichkeit absoluter Resistenz der Ichgrenze. Die Zustim- 
mung des Über-Ichs, also die moralische Frage, die 
uns hier nicht beschäftigt, wird durch die Teilung der 
Verantwortlichkeiten in der Gesellschaftsordnung ermög- 
licht. Im Gegensatz hiezu kann der mimosenhaft Mit- 
leidige überhaupt nie sein Ich für sich bewahren. Ein 
sehr geschätzter Arzt und Analytiker hat solche Leute 
„Identifizierungsakrobaten" genannt. Die Resistenz der 
Ich-Grenzen, die Härte des Ichs, sind Vorbedingung so- 
wohl der Grausamkeit wie der Gerechtigkeit, der Un- 
entwegtheit und des objektiven Verständnisses. Die wi- 
derstandsunfähige Ichgrenze ist hingegen die Bedingung 
des Mitleids, der Massen- und Menschheitsgefühle, der 
Einfühlung und der Versöhnlichkeit. Bis zu einer ge- 
meinsamen Identifizierung erweiterte Ichgrenzen können, 
unbeschadet der gleichzeitigen Fortdauer der individu- 
ellen Ichgrenze, eine sehr starke narzißtische Besetzung 
erhalten — z. B. im Nationalismus, in religiösen oder 
politischen Verbänden, in militärischen Einheilen — und 
dann durch ihre Resistenz den Individuen einen starken 
und ihnen sehr erwünschten Halt geben. Weit kompli- 
zierter wird daher diese charakterologische Einteilung 
dadurch, daß bei demselben Individuum bestimmte Ich- 
grenzen sehr, andere wenig resistent sind. Personen 
mit sehr resistenten Ichgrenzen gegen religiöse Einflüsse 
können sonst jedem stärkeren Einfluß nachgeben. Es 
handelt sich hier darum, daß gegenüber verschiedenen 
Objektgruppen oder Identifizierungsmöglichkeiten, und 
dabei auch gegenüber bewußten und unbewußten, die 
mitwirksam sind, die narzißtischen Gegenbesetzungen 
verschieden stark sind und mit den verschiedenen Ich- 
gebieten auch nicht in gleicher Art verbunden sind. 

Es scheint selbstverständlich, daß das Ich, dieses 
mächtige und immer bereite Besetzungszentrum, bio- 
logisch eine besondere Aufgabe haben muß, die es auch 
ausschließt, daß das Ich nur das künstlich psvcho- 



223 



logisch isolierte Gemeinsame der Funktionen von Kör- 
per und Seele sei. Das Ich hat die biologische Funktion, 
die Interessen des I^ebewesens, dem es vorsteht, d. h. 
Verteidigung, Angriff, Nahrung, Hausung usw. bis zu 
den Sexual-, Liebes- und höchstens individuellen Kul- 
turbedürfnissen zu vertreten, naturgemäß und unbedingt 
zu vertreten, in der kulturellen Gesellschaft allerdings 
gebändigt vom Über-Ich und gerichtet von allen in das 
Ich aufgenommenen Tendenzen. Aus biologischen Grün- 
den gehören Nestbau und Brutpflege beim Tiere, die 
daraus entstandene Familienbindung beim Menschen mit 
zu den Interessen des Individuums und daher auch 
deren Wahrnehmung mit zu den gefühlsmäßig akzep- 
tierten Ichfunktionen. Wenn die oben genannte bio- 
logische Funktion des Ichs zweifellos den Egoismus als 
notwendige und berechtigte Grundlage alles individuel- 
len Seins erkennen läßt, so entspricht das dem tat- 
sächlich zu Sehenden und überhebt uns der Heuchelei, 
den Egoismus zu verleugnen und ihn doch ständig be- 
tätigen zu müssen. Diese Formel beseitigt aber auch 
die Unvereinbarkeit von Egoismus und Altruismus und 
läßt die oft zur Grübelei ausartenden Erörterungen, daß 
aller Altruismus dennoch eine Art Egoismus sei erledi- 
gen. Für den Narzißmus, den Freud als den libidi- 
nösen Parallelvorgang zum Egoismus bezeichnet hat 
wird dadurch gleichfalls seine biologische Funktion deut- 
lich erkennbar. Das Ich hat schwere Aufgaben zu erfül- 
len; dadurch daß die Ichfunktionen mit Libido besetzt 
sind, erhält es bei allen seinen Funktionen narzißtische 
Lustprämien. Beim Tier, bei einfachen menschlichen 
Verhältnissen, reicht die Kraft und Fähigkeit des Indi- 
viduums eben aus, um sich selbst biologisch durchzu- 
setzen; dementsprechend hat das Ich nur die egoisti- 
schen biologischen Funktionen im engen Sinn mit Libido 
besetzt. Es erscheint auch für viele Menschen im Kul- 
tur- und Gescllsc haftsieben eine genügend große und 
schwere Aufgabe, dies zu erfüllen. Die Härte, mit der 



224 



^ 



sie ihre Ichgrenzen sich nicht erweitern lassen, ist 
daher für sie ganz selbstverständlich und ein normaler 
Akt des Selbstschutzes. Mit der Erweiterung der Lei- 
stungsmöglichkeit durch die kulturelle Entwicklung in 
allen Richtungen, die hier keiner Nennung bedürfen, 
hat auch das Individuum in Gemeinsamkeit mit ande- 
ren und als Teilfunk tionär der Gemeinschaftsleistungen 
Fähigkeiten erworben, die weit über die des Einzelnen 
hinausgehen; dementsprechend konnten die Ichgrenzen 
sich erweitern und Funktionen, die das enge Eigeninter- 
esse weit überschreiten, gleichfalls ihre narzißtische Be- 
setzung erhalten und mit der narzißtischen Lustprämie 
erfüllt werden. Harmonisch erscheint daher das Indi- 
viduum, bei dem Interessen, Fähigkeiten und narziß- 
tische Besetzung im gleichen Rahmen und Ausmaß 
bestehen. So wird die Lehre vom Narzißmus und ihre 
Anwendung für das Verständnis des Ichs, wenn auch 
nicht zu einem neuen Ausgangspunkt, so doch zu einer 
neuen Fundierung der sozialen Einordnung und Einord- 
nungsfähigkeit. Für unser Thema erkennen wir, daß 
die Labilität der Ichgrenzen, wenn sie nicht mit be- 
sonderen Leistungen und Fähigkeiten des Individuums 
verbunden ist, Konflikte und Unzulänglichkeit mit sich 
bringen muß und so ebenso zu neurotischen Erkrankun- 
gen führt, wie sie anderseits als Folge neurotischer 
Konflikte und als Kompensation für objektlibidinöse 
Versagungen entsteht. Doch ist die Labilität der Ich- 
grenzen gewiß auch zum Teil konstitutionell vorbe- 
reitet; wir finden sie regelmäßig bei besonders infan- 
tilen und besonders auch bei bisexuellen Individuen. 
Der vom Infantilismus und von der Bisexualität kausal 
und zweifellos auch konstitutionell bedingte Masochis- 
muß läßt die narzißtische Besetzung der Ichgrenzen 
mehr passiv und leichter zerstörbar, beweglicher wer- 
den. Die bisexuelle Anlage läßt schneller Identifizierun- 
gen mit gleichgeschlechtlichen Individuen entstehen, 
auch weil sie die heterosexuellen objektlibidinösen Be- 

15 Almaiiach 1937 

225 



Ziehungen slört. Auch beim Weibe stört die verstärkte 
männliche Anlage die normale sexuelle Verwendung 
der weiblichen Passivität und disponiert so zur maso- 
chistischen Einstellung des Ichs und damit zur Labili- 
tät der Ichgrenzen. 

Wie wir oben ausführten, ist die Bereitschaft zur 
Identifizierung eine Folge der Kulturentwicklung. Es ist 
keine Frage, daß die Kultur gegenüber den schweren 
Lebensnöten — Kälte, Hunger, Feinden, die mit Tod, 
Kastration und Sklaverei drohen, — einen relativ gro- 
ßen Schutz bietet. Dadurch hat sie erlaubt und es er- 
reicht, daß die Resistenz der Ichgrenzen gemildert wurde. 
Anderseits hat aber die weiter fortschreitende Kultur 
es erst erlaubt und auch bewirkt, daß die wohlbe- 
kannte phylogenetisch lange Zeitperioden hindurch be- 
standene, zum Gruppen-Ich erweiterte Ichgrenze sich 
auf das Einzel-Ich einschränken konnte. Dieses Gruppen- 
Ich bedeutete aber keine Weichheit der Ichgrenze, son- 
dern einen ständig verbleibenden, sehr resistenten grö- 
ßeren Umfang des Ichs, der das einheitliche seelische 
Ichgefuhl, wahrscheinlich auch das körperliche Ich- 
gefühl begrenzte. Wir können daher sagen, daß die Kul- 
tur zuerst die Resistenz der Ichgrenze im Gruppen-Ich 
später die Resistenz der Ichgrenzc im Einzel-Ich hat 
entstehen lassen und dann einzelnen, zum Teil weichen 
gütigen, allmenschlichen, zum Teil nur schwachen Indi- 
viduen die besondere Erweiterung des Ichs und eine 
besondere Labilität der Ichgrenzen gestattet hat; ander- 
seits sehen wir immer wieder Regressionen zu den im- 
mer besonders resistent sich zeigenden Ichgrenzen eines 
allerdings erweiterten Gruppen-Ichs. 

Von der Labilität der Ichgrenzen ist prinzipiell eine 
andere Art von Ichschwäche zu unterscheiden, auf die 
wir gleichfalls durch die Auffassung, die hier vertreten 
wird, — Ichgefühl, Ichgrenzen, narzißtische Gegenbe- 
setzung — , besonders aufmerksam wurden. Es handelt 
sich um einen Vorgang, von dem auch die Stabilität 

226 



oder Labilität der IchhalLung abhängt. Wir können 
es in der Regel als den normalen Vorgang bezeichnen, 
daß das Gesamt-Ich im seelischen Gleichgewicht bleibt, 
d. h. seine narzißtischen Besetzungen nicht verliert, 
obgleich eine besondere Leistung, etwa eine starke affek- 
tive Inanspruchnahme, erfolgt. Es ist hingegen patho- 
logisch, wenn fast das gesamte Ichgefühl, zuviel nar- 
zißtische Besetzung, gleichsam an diesen Grenzen kon- 
zentriert ist und das ganze Ich der betreffenden Inan- 
spruchnahme widerspruchslos hingegeben ist. Selbstver- 
ständlich gilt das nicht für ungewöhnlich schwere Er- 
eignisse. Aber auch bei solchen besteht ein Unterschied, 
ob das Ich nur mit ergriffen ist, oder ob es sozusagen in 
seiner strukturierenden, das Ich gefühlsmäßig erhalten- 
den Besetzung leidet. Wir können für Affekte gleicher 
Art, je nachdem ob sie das Gesamt-Ich überwältigt ha- 
ben, oder ob dessen Stabilität intakt geblieben ist, im 
Sprachgebrauch je zwei Bezeichnungen finden. Angst 
und Furcht sind z. B. nicht, wie Freud, ohne übrigens 
darauf zurückzukommen, einmal meinte, dadurch unter- 
schieden, daß die Furcht ein Objekt habe, die Angst 
ein objektloser Seelenzustand sei. Der wichtigste Unter- 
schied liegt darin, daß die Angst das Gesamt-Ich ergreift, 
die Furcht nur einen Teil des Ichs an der dem gefürch- 
teten Objekt zugewendeten Ichgrenze. Nur an der Ich- 
grenze, welche die Gefahr bedroht, besieht beim Fürch- 
tenden die Gefahrsempfindimg. Das Erfaßtwerden des 
Gesamt-Ichs von dem Gefühl der Gefahr oder, wie ich 
schon ausführte, von dem halluzinierten Schrecken läßt 
die Richtung des Objekts, von dem sie droht, nicht 
mehr beachten. Auch kann ein Furchtgefühl intensiv 
sein, ohne Angst zu werden, und ein Angstgefühl geringe 
Intensität haben; doch ist es Angst, weil eben das 
ganze Ich vom schwachen Gefahrgefühl erfaßt wurde. 
Diesem Unterschied ist eine andere Unterscheidung von 
Furcht und Angst beigeordnet. Wenn man beide Gefühle 
vergleicht, so enthalten sie beide die Vorstellung des 

15* 

227 



Schreckens; auch Adler beschrieb die Angst als hal- 
luzinierte Gefahr. Die Angst ist aber das Gefühl eines 
durch die Vorstellung des Schreckens gehemmten 
F 1 i e h e n s, die Furcht das Gefühl eines durch die 
Vorstellung des Schreckens gehemmten Sich w eh- 
rens. Der Angstvolle empfindet, „spürt" daher stets 
die Gefahrdrohung im Rücken, der Fürchtende hat die 
Gefahrdrohung vor seinen Augen, tatsächlich oder gei- 
stig. Es kann daher Angst zur Furcht oder auch Furcht 
zur Angst hinzutreten oder eine in die andere sich 
wandeln. 

Den gleichen Gegensatz zwischen Erfaßtheit des gan- 
zen Ichs und nur eines Teiles des Ichs drücken ferner 
die Wortpaare „Wut und Zorn", „Pein und Schmerz", 
„Leid und Unglück", „Stimmung und Laune", vielleicht 
auch „Sühne und Buße", „Rache und Vergeltung", „Ver- 
liebtheit und Liebe" aus. Der Unterschied, ob das Ich ganz 
oder nur an einer Ichgrenze beteiligt ist, entscheidet, 
ob etwas dem Ich nur widerfährt oder ob etwas das Ich 
überwältigt. Im ersten Falle kann das Ich die auferlegte 
Affekterregung in sich mit Hilfe der anderen Ich- 
grenzen erledigen, im andern Fall muß erst die Über- 
wältigung wieder ablaufen. Auch die Identifizierungen 
zeigen den gleichen Unterschied, sie können mit dem 
ganzen Ich oder nur mit einem Teil erfolgen. Wahr- 
scheinlich ist der Masochismus bei beiden Arten von 
Identifizierungen ein anderer. Nur die Identifizierung 
des ganzen Ichs verdient den Namen Introjektion des 
Objekts, der von Ferenczi herrührt; diese Art von 
Identifizierung geht auf unbewußte orale oder intesti- 
nale Einverleibung zurück oder auf unbewußte Rück- 
kehr in den Mutterleib ; es sind tief und weit zurückgrei- 
fende Icherweiterungen. Die meistens später eintretenden 
Icherweilerungen durch Identifizierung beruhen unmit- 
telbar auf der Ausdehnung der Ichgrenzen, der seeli- 
schen und der körperlichen, so daß sie nun die andere 
Person in sich einschließen. Das geschieht wohl auch 

228 



bei jeder Objektbeziehung, bei jedem Objektinteresse, 
aber hier immer nur vorübergehend an der jeweilig vor- 
handenen Ichgrenze. Bei der Identifizierung dauert die 
Ausweitung der Ichgrenze an und erfolgt an immer 
mehr und mehr Ichgrenzen. Es ist dies ein langsamer 
Prozeß allmählicher Vereinigung, die immer wieder, 
aber im einzelnen stets nur partiell, verläuft. In der 
kindlichen Entwicklung und im Unbewußten verbleibend, 
wiederholt sich bei diesen Identifizierungsvorgängen die 
seelische Zugehörigkeit zu den geliebten Personen, wel- 
che immer eine Ausdehnung des Ichgefühls, d. h. der 
narzißtischen Besetzung des Ichs, auf sie bedeutet; es 
wiederholt sich auch die Ausdehnung des körperlichen 
Ichgefühls des Kindes, das sich an die schützende Person 
anschmiegt oder von ihr gehalten und getragen wurde. 
Das Einswerden durch Festhalten und Umarmen ge- 
schieht mit starker libidinöser Besetzung, die genitale, 
sinnliche und Zärtlichkeits triebe, taktile und muskuläre 
Libido (z. B. vom Anklammerungstrieb nach II e r- 
mann) und andere Komponenten enthält. Jedenfalls 
fühlt sich das Kleinkind durch die Einschließung seiner 
Person in das Ich der geliebten Person, mit der es sich 
dadurch eins fühlt, mit ihr identifiziert, nicht nur angst- 
los und geschützt, sondern auch körperlich größer und 
von dem Gefühl der Schwäche seines Ichs befreit. Und 
doch sind solche Identifizierungen bereits zweckbedingt 
und partiell, nicht wie die ersten, die mit dem ganzen 
Ich erfolgen. Hingegen liegt wahrscheinlich jeder tota- 
len Identifizierung die phylogenetisch fixierte Einheit 
des Individuums mit Allem, also die primär-narzißtische 
Besetzungseinheit zugrunde, die, wie wir früher schon 
ausführ len, bei der Erweiterung der Ichgrenzen zum 
Gruppen-Ich erneuert werden kann. 



229 



Zur Entwicklung und Problematik 
der Triebtheorie 

Von Edward Bibring, Wien 

Gekürzte Wiedergabe des IV. Abschnittes 
der Arbeit „Zur Entwicklung und Problematik 
der Triebtheorie", Imago, Zeitschrift für 
psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzge- 
biete und Anwendungen, Bd. XXII, 1936. 

Das Problem des Aggressionstriebes 

Die Notwendigkeit, in einem vierten Schritt die Trieb- 
theorie neu zu gestalten, ergab sich teils aus dem Stu- 
dium der im weitesten Sinne sado-masochistischen Er- 
scheinungen, sowie aus einer adäquateren Auffassung 
des Aufbaues des seelischen Apparates, die sich aus der 
Zuwendung zur Erforschung nicht allein wie bisher der 
verdrängten, sondern auch der verdrängenden Kräfte des 

Ichs ergab. 

Ich verlasse im folgenden die rein historische Darstel- 
lung, die sich auf die Reihenfolge der Freud sehen 
Publikationen zu stützen hätte, und stelle diesen vier- 
ten Schritt, der meiner Meinung nach in zwei Teile zu 
trennen ist, mein* nach systematischen Gesichtspunk- 
ten dar. 

Die Notwendigkeit, ein unbewußtes Schuldgefühl an- 
zunehmen, führte zu einer neuen Konzeption über den 
Aufbau der Person, zur Gegenüberstellung des Es und 
des aus ihm hervorgegangenen organisierten Anteils 
des Ichs. Das Es umfaßt die psychische Vitalschicht 
in der die Triebe ihren Ursprungsort haben und die 
in freier Verbindung mit dem Ich steht, ferner den 
verdrängten Anteil derselben, der durch Gegenbesetzun- 
gen in der freien Kommunikation mit dem Ich behindert 
ist, und schließlich den unbewußten Anteil des Ichs, 
das Über-Ich. 



230 



Der vierte Schritt in der Entwicklung der Triebtheorie 
besteht darin, daß die Aggression aus den Ichtrieben 
herausgenommen, das heißt nicht mehr als Partial- 
trieb oder als Charakter derselben aufgefaßt, sondern 
als selbständige Triebgruppe mit eigenen Zielen in die 
psychische Vitalschicht verlegt wird. Die neue Trieb- 
theorie lautet demnach, daß in der Vitalschicht zwei 
Gruppen von Trieben vorhanden sind, die libidinösen 
und die aggressiven, bezw. destruktiven. Beide drängen 
selbständig zur Befriedigimg und gelangen teils im freien 
Kampf um diese, teils unter dem Einfluß des unter 
dem Druck der Außenwelt und des Über-Ichs stehenden 
Ichs zu den verschiedensten Beziehungen (Verknüpfun- 
gen oder Gegensätzen) zu einander. Sie können zu den 
in die Richtung auf die Selbsterhaltung wirkenden Ten- 
denzen des Systems, die im Ich repräsentiert sind (Ich- 
triebe), leicht in Gegensatz geraten. Den in der Vital- 
schicht wirkenden Sexual- und Aggressionstrieben als 
den objektgerichteten Trieben stehen die im Ich wir- 
kenden Ichtriebe gegenüber. 

Hier ergeben sich drei Fragen: 1. Aus welchen Grün- 
den war dieser vierte Schritt notwendig? 2. Was leistet 
diese neue Triebtheorie, die, im genetischen Sinne dua- 
lislisch, dennoch drei Triebgruppen von einander unter- 
scheidet? 3. Haben das Kriterium der Einteilung und der 
Begriff des Triebes eine Veränderung erfahren? 

Da eine Reihe von bei Besprechung des dritten Schrit- 
tes angeführten Argumenten es notwendig gemacht hatte, 
die Aggressionstendenzen aus den Sexualtrieben her- 
auszunehmen und sie den Ichtrieben zuzuschreiben, 
reduziert sich das Problem der Aufstellung eines selb- 
ständigen Aggressionstriebes auf die Frage, ob aggres- 
sive Tendenzen (nichtlibiclinöser Natur) außerhalb der 
Ichfunktionen eine Rolle spielen. 

Es scheint kein Zweifel, daß aggressive Tendenzen an 
sich außerhalb der Ich-Erhaltungsfunktionen betätigt 
werden und wenig Sexuelles verraten. Außerdem wird 



231 



die vollständige Zuordnung der Aggressionen zu den 
Ichtrieben dort problematisch, wo die Wirkung jener zu 
diesen in einen Gegensatz gerät. Alle Erscheinungen des 
sexuellen Sadismus können durch die Beimengung der 
Ichtriebe noch erklärt werden. Viel schwieriger ist dies 
aber bei den Erscheinungen des Masochismus. Die Ich- 
Iriebe sind Repräsentanten jenes „Triebes, der alles 
Leben am Leben festzuhalten zwingt". Daß nun der 
Schmerz, der als ein Signal im Dienste dieses Lebens- 
triebes gelten mußte, selbst zum Ziel eines (masochisti- 
schen) Triebes werden konnte, schien den Prinzipien 
des Biologischen zu widersprechen, auch wenn der 
Begriff der Sexualisierung zur Erklärung geeignet schien. 
Noch stärker trat das Problem bei der selbstzerstören- 
den Macht der melancholischen Verstimmung hervor, 
die Freud als „eine psychologisch höchst merkwür- 
dige Überwindung" des lebenerhaltenden Triebes be- 
zeichnet Ebenso verhält es sich mit den gegen das 
eigene Ich gewendeten Tendenzen des Über-Ichs be 
zichungsweise des Strafbedürfnisses, das geradezu wie 
ein eigener Trieb zu wirken scheint. 

Diese Erscheinungen, gegen die das Ich sich zu weh- 
ren hat wie gegen die libidinösen Regungen, lassen 
sich durch die Aggression der Ichtriebe nur schwer 
erklären. Diese Theorie wird von Freud sichtlich 
sehr bald fallen gelassen; außer in den zitierten Ab- 
schnitten der Arbeit über „Triebe und Triebschicksale" 
wird sie nicht erwähnt. Trotzdem bleibt das Problem 
ob Aggressionserscheinungen außerhalb der Ich-Abwehr- 
funktionen auftreten, in einem gewissen Sinne bestehen. 
Auch die Beziehung zwischen dem Allmachtsrausch des 
Ichs und der Intensität der befriedigten Aggressionstriebe 
gehört hierher. 

Es war nur eine konsequente Wendung, daß nach der 
Gegenüberstellung des Ichs und des Es, gegen dessen 
Triebe sich jenes zu wehren hatte, die aggressiven Ten- 
denzen als selbständige Triebkräfte in die psychovitale 

232 



Schichic des seelischen Apparates verlegt wurden. Es 
war, wie Freud im sechsten Kapitel des „Unbehagen 
in der Kultur" meint, tatsächlich keine neuartige Ab- 
änderung der "Trieblehre, sondern es handelte sich dar- 
um, „eine Wendung, die längst vollzogen war, scharfer 
zu fassen und in ihre Konsequenzen zu verfolgen. 

Mit Hilfe der Annahme eines Aggressionstriebes las- 
sen sich die hierher gehörigen Tatsachen zweifellos 
leichter beschreiben. Das Ich hat gegen die Aggression 
genau so zu kämpfen wie gegen die Libido, es kann 
ihr stattgeben, sie sublimieren, verdrängen, durch Reak- 
lionsbildungen ändern, es kann sie durch l^inose 
Beimischung mildern, sich selbst als Objekt anbieten 
und die Aggression auf sich lenken, z. B. etwa auf 
dem Weg üb°er das Über-Ich. Allerdings ist mit der blo- 
ßen Aufstellung eines selbständigen Aggressionstriebes 
zunächst nicht alles erklärt. Nicht so sehr die destruk- 
tiven Wirkungen nach außen waren zuletzt proble- 
matisch geworden, sondern das Auftreten der gegen 
das Selbst gewendeten zerstörenden Tendenzen, wie sie 
sich in der Melancholie, im Slrafbedürmis, in der 
Schicksalsneurose darboten. Hier trat so etwas wie ein 
im eigenen Innern wirkender Trieb zur Zerstörung in 
Erscheinung, der der biologischen Auffassung noch grö- 
ßere theoretische Schwierigkeiten bereitete als die Tat- 
sache der Schmerzlust auf dem engeren Gebiete der 
Sexualtheorie. Es schien, als hätte die beginnende Er- 
forschung des Ichs zur Aufdeckung eines phylogenetisch 
jüngsten Triebes geführt, der mit der Kultur der Men- 
schen entstanden sein mochte. 

Die primäre Destruktion 

Über die Tatsache des Über-Ichs und seiner unter 
Umständen bis zur Vernichtung der eigenen Existenz 
des Individuums führenden ßeslrafungstendenzen kann 
kein Zweifel sein. Ebensowenig darüber, daß mit der 
Erklärung einer Wendung der Aggression gegen die 



233 



eigene Person die theoretische Erfassung dieser Er- 
scheinung unzulänglich bleibt. Die eigentliche Problema- 
tik beginnt erst mit der Gewinnung dieser Erklärung 
und laulet: Wie ist eine solche bis zur Selbstvcr- 
nichlung gehende Wendung gegen die eigene Person 
möglich, d. h. unler Beibehaltung der bisherigen bio- 
logischen Auffassungen erklärbar? Es entspricht ganz 
den methodischen Prinzipien der Analyse, hier ein Ur- 
sprunglicheres anzunehmen, auf dessen Bahnen die Wen- 
dung der Aggression gegen das eigene Ich erfolgen 
konnte. Dieses Ursprünglichere konnte nicht anders ge- 
dacht werden als eine triebhafte, irgendwie selbstzer- 
slorend wirkende, in ihrer Wirkungsweise aber zu- 
nächst unbekannte Tendenz. 

Dieses Problem war in einer gewissen Annäherung 
schon in der Sexuallheorie gegeben. Freud formuliert 
es mit der Frage, ob der Sadismus oder der Masochis- 
mus das Primäre, d. h. biologisch Ursprüngliche sei. 
Schon damals zog Freud die analogen Probleme aus 
der Entwicklung rein libidinöser Triebe heran um fest- 
zustellen, daß ein dem narzißtischen Stadium analoges 
im Gegensalz zu anderen Partialtrieben, wie z. B. zum 
Exhibitionismus, beim Sadismus fehle oder sich nicht 
formulieren lasse. 

Die erwähnten klinischen Erscheinungen und die 
grundsätzliche methodische Forderung nach einem ur- 
sprünglichen Modell in Analogie mit den parallelen 
Aufstellungen der Libidolehre mußten also zur An- 
nahme einer irgendwie im eigenen Innern wirkenden 
„selbstzerstörenden" Tendenz führen. Diese wäre dann, 
analog dem primären Narzißmus, eine Art von primärer 
Destruktion. Die objektlibidinösen Tendenzen korrespon- 
dieren mit der auf die Objekte gewendeten Aggression. 
Die Erscheinungen des sekundären Narzißmus entspre- 
chen jen en der sekundären Destruktion 1 ). 

*) Vgl. die Arbeit von E. Weiss: „Todestrieb und 
Masochismus", Imago XXI, 1935, S. 393 ff. 



; 54 



' • 






Eine solche Durchführung der Analogien wird gestutzt 
durch die Feststellung, daß zwischen Aggression und 
Selbstdestruktion ähnliche Schwankungen bestehen wie 
zwischen narzißtischer und objektgerichteter Libidoposi- 
tion. Die Aggression kann ebenso nach innen gewendet 
werden, wie die Selbstdestruktion, wenn sie bedroh- 
liche Grade erreicht, ihr Ventil durch eine „Wendung 
nach außen" in die Aggression findet. 

Hier bleibt also das Problem: Wenn sich die Annahme 
eines primären Stadiums des Destruktionstriebes theo- 
retisch als unabweisbar zeigt, wie ist dann eine solche 
Tendenz formulierbar? Zur Beantwortung dieser Frage 
entwickelt Freud alle jene Gedankengänge, die zu so 
viel Mißverständnis und so viel Widerspruch führten. 

Die Theorie von den Urtrieben 

Die bisher entwickelte theoretische Problematik des 
vierten Schrittes wird nun ergänzt, zusammengefaßt 
und zu lösen versucht durch die weitere Theorie von 
den Urtrieben. Als solche unterscheidet Freud 
die Lebens- und die Todes triebe. Diese Theorie wird 
nicht auf Grund neuen psychologischen Materials oder 
überhaupt psychologischer Fragestellungen gebildet, son- 
dern erfolgt im Zusammenhang mit theoretischen Pro- 
blemen, die durch die bisherigen Aufstellungen gefor- 
dert wurden und deren Lösung sie anstrebt. Insofern 
stellt sie einen theoretischen Über-, bezw. Unterbau 
dar und ist im Verhältnis zu der auf Grund klinisch- 
psychologischer Tatsachen und Probleme bisher aufge- 
bauten Triebtheorie eine Theorie zweiten Grades. Da 
sie fast völlig auf biologischen Erwägungen ruht, ist 
die Urtriebtheorie eine biologische Triebtheorie: Die 
Lebens- und Todes triebe sind als solche psychologisch 
nicht faßbar, sondern rein von der Hypothese gefor- 
derte biologische Triebe. Aus dieser Auffassung ergibt 
sich unmittelbar, daß man streng genommen die Ur- 
triebtheorie nur im Zusammenhange theoretischer Erör- 

235 



terungen, niemals aber solcher klinisch-empirischer Na- 
tur heranzuziehen hätte; zur Klärung dieser Tatbestände 
reichen die Begriffe der Aggressions-, bezw. Destruk- 
tionstriebe aus. 

Eine solche scharfe Trennung der Begriffe ist meines 
Erachtens geeignet, gewisse Irrtümer zu vermeiden und 
die Klarheit der klinischen Beschreibung zu sichern. 

Die Art, wie Freud die Todestrieblehre einführte, 
hat einigermaßen Verwirrung gestiftet, vor allem in der 
Frage der Beziehung zwischen Wiederholungszwang und 
Todestrieb. Daher sei gleich hier hervorgehoben, daß 
der Wiederholungszwang von Freud zur Ableitung 
des Todeslriebes verwendet wird, daß aber dessen Ab- 
leitung mit Hilfe des Wiederholungszwanges keine not- 
wendige ist. Aus den Arbeiten Freuds lassen sich im 
Grunde zwei Arten der Ableitung der Todestrieblehre 
feststellen. Ich möchte sie als die s p e k ul a ti ve und 
die theoretische einander gegenüberstellen. Die spe- 
kulative ist in „Jenseits des Lustprinzips" gegeben und 
die eigentlich durchgeführte. Die theoretische ist in 
verschiedenen zerstreuten Andeutungen niedergelegt die 
sich zu einem Ganzen ordnen lassen. Zunächst sei die 
spekulative besprochen. 

Die spekulative Begründung der Todestrieblehre 

Es geht über den Rahmen dieses Aufsatzeis hinaus, 
die Gründe, die zur Aufstellung des Wieder ho lun<*s- 
zwanges führten, und die Problematik, die mit seiner 
Aufstellung verbunden ist, näher zu erörtern. Als Resul- 
tat ergab sich die Notwendigkeit, einen vom Lustprinzip 
unabhängig wirkenden Regulationsmechanismus anzuneh- 
men, der viel ursprünglicher, d. h. historisch früher 
und elementarer schien als das Lustprinzip und schließ- 
lich als ein Urprinzip, eine Ureigenschaft des Lebens 
aufgefaßt wurde. Als solche ist er auch das Gharakte- 
rislikum aller Triebe, also nicht etwa nur des Todes- 
triebes. 

256 



Der Begriff des Wiederholungszwanges ist kein ein- 
deutiger; er enthält mehrere Bestandteile. 1. Der Wieder- 
holungszwang ist Ausdruck der „Trägheit" der leben- 
digen Substanz, der „Abneigung, eine alte Position einer 
neuen zuliebe zu verlassen", also einer konservativen 
Tendenz, die das Gegebene immer wieder festzuhalten 
trachtet. 2. Daraus ergibt sich das Festhalten von An- 
passungen, von Umwegleistungen als Reaktionen auf 
Störungen des bisherigen Ablaufs: „Prägsamkeit des 
Lebens". Die erworbenen Anpassungen werden festge- 
halten und reproduziert. Hierher gehört das biogene- 
tische Grundgesetz und überhaupt der Reproduktions- 
be^riff der Biologie. 3. Die konservative Natur des Le- 
bens äußert sich aber nicht allein im Festhalten und 
Reproduzieren der einmal gegebenen Abläufe, sondern 
auch in einer rückwärts gewendeten Tendenz, die aufge- 
zwungenen Anpassungen zu überwinden, gleichsam ab- 
zustoßen und die ursprünglichen, d. h. historisch frü- 
heren Situationen wiederherzustellen. Hier wird die 
Trägheit, die konservative Natur zur aktiven „Sehnsucht 
nach dem Alten", d. h. zur regressiven Tendenz. Diese 
Formulierung wird für die Ableitung der Todestriebe 
von Bedeutung. 4. In seiner energetischen Fassung er- 
weist sich der Wiederholungszwang als ein Spezialfall 
der Abfuhrtendenzen. Die durch traumatische Reize 
ausgelösten großen Energiemengen werden durch Ge- 
genbesetzung gebunden und dann allmählich unter Wie- 
derholung der traumatischen Situation zur funktionier- 
ten Entladung gebracht. Hierher gehören die Träume 
der Unfallsneuroliker, das Kinderspiel, die Erscheinun- 
gen der Üertragungssituation in der Analyse usw. 

Freud verwendet die historische Formulierung des 
Wiederholungszwanges, daß er das jeweils Frühere wie- 
der herzustellen bestrebt ist, uin den Todestrieb abzu- 
leiten. Das Früheste des organischen Lebens ist der 
Augenblick seiner Entstehung aus der anorganischen 
toten Substanz. Das Beharrungsgesetz der physikali- 

237 



sehen Natur, das nur der Veränderung widerstreb l, 
wird — gleichsam — in der biologischen Welt zu einer 
akliven Tendenz nach rückwärts im historischen, zur 
Entspannung, zur absoluten Ruhe im energetischen 
Sinne. Damit werden aber auch die Schwierigkeilen 
dieser spekulativen Ableitung deutlich. Von den hypo- 
thetischen Belastungen, die ihr zahlreich anhaften, kön- 
nen wir ohne weiteres absehen; ebenso vom berech- 
tigten Einwand der Extrapolation, den Federn und 
nach ihm E. Weiss erhoben haben. Die Ableitung 
hat den weiteren Nachteil, daß der Todestrieb der ur- 
sprüngliche Trieb ist, die Lebenstriebe aber später im 
Anschluß an Zufälle der Entwicklung entstanden sind. 
Dies führt zu einer Unterordnung der Lebens- unter die 
Todestriebe, etwa wenn Freud in „Jenseits des Lust- 
prinzips" meint, daß die ersteren im Grunde genommen 
im Dienste der letzteren wirken. Nach dieser Auffas- 
sung hätten die Lebenstriebe alle Möglichkeiten von 
Spannungen zu realisieren, um sie dann der entspan- 
nenden Ablaufslendenz des Todestriebes zu überant- 
worten. Der spekulative Ansatz Freuds isf tatsächlich 
so pessimistisch: Das eigentliche Wesen des Lebens 
ist der Tod. 

Eine solche Unterordnung der Lebenstriebe unter die 
Todestriebe scheint aber theoretisch nicht ganz Gerecht- 
fertigt; zumindest ist sie im umgekehrten Sinne ebenso 
möglich und berechtigt. Freud korrigiert diese Auf- 
fassung in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Ein- 
führung in die Psychoanalyse", indem Lebens- und To- 
deslriebe als gleichzeitig und nebengeordnet wirkende 
Triebe aufgefaßt werden. Das Leben ist Todes- und 
Lebenstrieb zugleich. 

Die theoretische Ableitung der Todestrieblehre 

Der erste, pessimistisch scheinende Ansatz ist darauf 
zurückzuführen, daß die Annahme von Lebenstrieben 
theoretisch nicht im gleichen Maße dringlich nahegelegt 

238 



wurde wie jene der Todes triebe. Wenn ihre Annahme 
in einem gewissen Sinne theoretisch trotzdem gefor- 
dert wird, so geschieht dies weniger aus psychologisch- 
theoretischen Gründen als auf Grund biologischer Er- 
wägungen. Die Sexualität als Beziehung verschieden- 
geschlechtlicher Keimzellen, bezw. ihrer Träger, tritt 
erst im Laufe der phylogenetischen Entwicklung in 
Erscheinung. Sie müßte also eine Neuerwerbung oder 
— wahrscheinlicher — eine unter gewissen Bedingungen, 
vielleicht im Dienste der Anpassung, notwendig gewor- 
dene Modifikation eines älteren Triebes sein, der etwa 
die allgemeinsten Charaktere der Sexualtriebe aufwies: 
die Tendenz, Bindungen herzustellen oder, energetisch, 
Spannungen zu erzeugen. 

Die Konzeption der neuen Trieblehre ging aber offen- 
bar vor allem von der theoretischen Notwendigkeit 
aus, das Problem der primären Destruktion zu lösen. 
Ich habe oben gezeigt, welche Erwägungen zu diesem 
Problem führten, und kann es mir daher ersparen, 
sie hier zu wiederholen. Die Frage erfährt aber noch 
eine gewisse Erweiterung. 

Es entspricht ganz der biologischen Orientierung der 
Psychoanalyse und der bisher verfolgten biologischen 
Fundierung der Trieb theo rie, für die im eigenen Innern 
wirkende Destruktion ein vorgegebenes biologisches 
Modell zu suchen. Das Problem ist also, das biologi- 
sche Modell für eine im Psychischen wirkende primäre 
Zerslörungstendenz, deren Annahme theoretisch nahe- 
gelegt wurde, zu formulieren. Wie früher die Aggression 
in ihren Zielen der Libido widersprach, so widerspricht 
die Wendung gegen das Ich dem Prinzip des Lebens, 
sich selbst zu erhalten, — wenn nicht im Leben selbst 
etwas enthalten ist, das eine solche Rückwendung er- 
möglicht. Die Fragen, die wir hier zu erörtern haben, 
sind: 1. Wie ist die primäre Destruktion zu formulieren? 
2. Wie ist das angenommene „biologische Entgegen- 
kommen" aufzufassen? 



239 



Die Frage nach dem ursprünglichen Modell für die 
(primäre und sekundäre) Selbstvernichtungstendenz muß 
zur Frage nach dem Tode führen. Die Frage nach dein 
Wesen des Todes und seiner Stellung innerhalb des 
Lebens ist in gewissem Sinne mit jener identisch und 
müßte zur Lösung des Problems beitragen können. Die 
Beziehung zwischen Leben und Tod wäre sonach, wenn 
es ein biologisches Modell für die Selbstzerstörung gibt, 
notwendig als eine innigere zu denken, als man anzu- 
nehmen geneigt ist, oder, mit anderen Worten, die Be- 
ziehung zum Tode muß eine Wesenseigenschaft des 
Lebens sein. Diese Fragestellung führt direkt zur Bio- 
logie und reduziert sich auf die Alternative: Ist der 
Tod nur die Folge einer Schädigung von außen oder 
gibt es ein natürliches Ende des Lebens? In der ersten 
Auffassung ist das Leben theoretisch ein ewiger Pro- 
zeß, der nur durch die Zerstörung von außen her sein 
Ende findet. In der zweiten ist der Tod ein notwendiger 
Bestandleil des Lebens. Die verschiedene Auffassung vom 
Wesen des Todes korrespondiert mit einer bestimmten 
Auffassung vom Wesen des Lebens. 

Es würde zu weit führen, die hierher gehörenden 
biologischen Tatsachen und Überlegungen anzuführen. 
Dies sei einer anderen Darstellung vorbehalten. Hier 
genüge die Beschränkung auf zwei Fragen und ihre 
Beantwortung. Die eine Frage ist die eben gestellte 
und ihre Beantwortung lautet in der vorsichtigen For- 
mulierung Freuds aus „Jenseits des Lustprinzips": 
Es gibt eine Reihe von Tatsachen, die für einen natür- 
lichen Tod sprechen, zumindest aber keine, die eine 
solche Annahme unbedingt ausschließen. 

Die zweite Frage lautet: Ist der natürliche Tod, 
der ja nicht das Keimplasma, sondern nur das Soraa 
erfaßt, ein phylogenetischer Erwerb (ermöglicht durch 
die Entstehung des vielzelligen Organismus), der mit 
dem eigentlichen Wesen des Lebens nichts gemein hat? 
Es scheint, daß auch hier die Antwort möglich ist, daß 

240 



sich in der phylogenetischen Entwicklung nur etwas 
differenziert hat, was integriert schon beim Einzeller 
vorhanden ist, d. h. der natürliche Tod ist eine ursprüng- 
liche „Eigenschaft" des Lebens. Angesichts der allge- 
meinen Triebhaftigkeit des Lebens ist also auch das 
Sterben etwas triebhaft Angestrebtes. Was bedeutet das 
im dynamischen Sinne? 

Für die Auffassung des Lebens als eines individuellen 
Systems, das sich „kreislaufartig" um eine bestimmte 
Gleichgewichtslage reguliert, ist der Tod etwas System- 
fremdes, reine Zerstörung von außen. Für die „lineare" 
Ablaufskonzeption des Lebens ist der Tod etwas Lebens- 
wesentliches, das Ziel, auf das hin das ablaufende Le- 
ben getrieben wird. Leben ist demnach Sterben, ist 
ein Ablauf zum Tode, zum Potential Null. Der Freud- 
schen Auffassung des Lebens entspricht meines Erach- 
tens weder die eine noch die andere, sondern ein Drit- 
tes: die Vereinigung beider. Das lebendige System wird 
von zwei Tendenzen beherrscht, das Leben läuft zum 
Potential Null, erzeugt aber gleichzeitig neue Span- 
nungen. Es ist, mit einem Bilde Asters zu reden, 
eine Uhr, die sich immer wieder selbst aufzieht. Beim 
Individuum führt das Leben scheinbar unvermeidlich 
zum Tode. Begreifen wir aber alles Leben nach Vergan- 
genheit und Zukunft hin und über die individuelle Er- 
scheinung hinaus als einen einheitlichen Prozeß, dann 
wird die Richtigkeit dieses Bildes offenbar: Der Kampf 
der Giganten erzeugt immer wieder neue Formen des 
Lebens und immer wieder neues Sterben in einem 
unaufhörlichen, scheinbar unendlichen Prozeß. 

Die Bedeutung der Todestriebtheorie 

Was leistet nun diese Konzeption zur Klärung der theo- 
retischen Probleme und für die Vereinheitlichung der 
verschiedenen theoretischen Ansätze? Nicht alles, aber 
viel. 

16 Almanach 1937 

241 



Das biologische Modell der primären Destruktion ist 
also der Todestrieb, der als Ablaufstendenz zur abso- 
luten Ruhe, zum Potential Null hin formuliert werden 
kann. Primäre Destruktion, Aggression und alle Formen 
ihrer Rückwendung nach innen lassen sich theoretisch 
einheitlich aus dem Todestrieb begreifen, allerdings nur 
mit Hilfe gewisser Konstruktionen, denen zwar manche 
Schwächen anhaften mögen, die sich aber auf gewisse 
Beobachtungen stützen. 

Behandeln wir zuerst das Thema der Aggression. Die 
Tatsache einer Wendung der Aggression gegen die eigene 
Person, aber ebenso die beobachtbare neue Wendung 
dieser rückgewendeten Destruktion als Aggression gegen 
die Außenwelt legen es nahe, ähnliche Vorgänge und 
Zusammenhänge zwischen primärer Destruktion und Ag- 
gression nach außen anzunehmen, nämlich, daß die pri- 
märe Destruktion unter gewissen Bedingungen sich 
„nach außen kehre". Das gleiche wird durch die Fest- 
stellungen der Massenpsychologie nahegebracht. Die Bin- 
dung der aggressionsbereiten Einzelnen zu einer organi- 
sierten Masse und die damit einhergehende Ablenkung 
der Aggressionen auf ein außerhalb der Masse liegendes 
Stück Außenwelt, den sogenannten „Widersacher" sei 
es eine Gegenidee oder eine „Gegenmasse", gibt zusam- 
men mit der erwähnten klinischen Beobachtung das 
ontogenetische Modell (E. Kris) ab, auf Grund 
dessen dann das phylogenetische Modell konstruiert 
werden kann. Nach diesem wurde vermutlich mit der 
Entstehung des vielzelligen Organismus aus dem Ein- 
zeller die Selbstdestruktion der nun aneinander gebun- 
denen Zellen, vielleicht mit Hilfe libidinöser Triebe 
unschädlich gemacht und teilweise als Aggressionstrieb 
in irgendeiner Form nach außen gewendet. 

Versuchen wir jetzt eine Gesamtaufstellung der er- 
reichten Triebeinteilung in Analogie mit den parallelen 
Begriffsbildungen der Libido theo rie. Wir haben demnach 
folgende Gegenüberstellung : 

242 



Lebenstriebe (Eros) Todestriebe (Ursadismus, 

Urmasochismus). 
Die Sexualtriebe: Die destruktiven Triebe: 

Primärer Narzißmus Primäre Destruktion 

Objektlibido Objektgerichtete Aggression 

Sekundärer Narzißmus Rückge wendete Aggression 

(sek. Destr.) 

Diese konsequente Gegenüberstellung entspringt kei- 
neswegs einem Bedürfnis nach systematischer Reihen- 
bildung, sondern soll bei der Diskussion der Frage 
nach den manifesten Erscheinungen der Todestriebe 
eine Rolle spielen. 

Die Bezeichnungen Lebenstriebe und Sexualtriebe so- 
wie Todestriebe und Destruktionstriebe werden von 
Freud synonym und ohne jede Abgrenzung verwen- 
det. Eine scharfe Trennung, insbesondere der letzte- 
ren, scheint tatsächlich nicht möglich; dennoch wollen 
wir hier aus heuristischen Gründen eine gewisse Ab- 
grenzung versuchen. 

Die Lebens- und die Todestriebe sind rein biologische, 
im Organischen wirksame Triebe, die sich in irgend- 
einer Form auch im Psychischen widerspiegeln. Die 
Sexualtriebe sind nur eine spezialisierte Form der Le- 
benstriebe. Ähnliches gilt vom Begriff der destruktiven 
Triebe. Beide Termini sind eigentlich nur begriffliche 
Zusammenfassungen aller libidinösen Erscheinungen auf 
der einen, aller destruktiven, bezw. aggressiven auf der 
anderen Seite. Eine Frage nach den Manifestationen 
dieser Triebe ist also durch den Hinweis auf alle zu 
diesem Gebiet gehörigen direkten oder abgewandelten 
Tatsachen zu beantworten. Die Erscheinungen der 
Sexualtriebe sind hinlänglich bekannt; ebenso die der 
„nach außen gerichteten" und rückgewendeten Aggres- 
sion. Bleibt also die Frage nach der psychischen Re- 
präsentation der primären Destruktion analog jener des 
primären Narzißmus. 

Gibt es nun seelische Tatsachen, welche als Ausdruck 
dieser primären Destruküonstendenz zu werten wären? 
16* 

243 






Der Umstand, daß diese Frage überhaupt gestellt wird, 
sowie der andere, daß diese primäre Destruktionslendenz 
erst theoretisch erschlossen werden mußte, ist gleich- 
bedeutend mit der Annahme, daß es sich um „stille 
Triebe" handeln muß. Die primäre Destruktion muß 
also definiert werden; etwa als die destruktive Energie, 
vermöge welcher wir auch psychisch altern und ster- 
ben (vgl. E. Weiss). Der richtige Satz, man komme 
ohne den Begriff der medialen Destrudo nicht aus, be- 
inhaltet nur die Notwendigkeit der Annahme der Exi- 
stenz einer solchen Triebkraft, definiert sie aber 
nicht. Um diese Definition zu gewinnen, war der 
umweg über die Biologie notwendig. Dieses Faktum 
übersehen Dlskussionen ^er den Todestrieb meist 

al^t^t 318 d v f initorisch ^t die primäre Destruktion 
Frle o " U besUmmen - Dann bleibt aber noch die 

bare AmJ l ^ nicht mittelbare, so doch miltel " 
Zwei tST *** Primüren Destruktion gibt- 
hlLlf^n ? nUen ZUr Bea *lwortung dieser Frage 

5SS3K:ÄS daS R ^bedürfnis Ö und das Leid- 

Das Ruhebedürfn s wu nioM PlaUSÜ>el ZU machen ' 

dun* auf snnrWn i Z * DUr als Fol g e d « r ErnlU ' 

7Ä n ^ * n natürlicher Abwechslung mit Pha- 
TJZ SÄS ° der inmitten ^Iben ** ein gleich- 
l^r Jr f GS PrimareS ****. das nun seine 

de, Ä 8 r T DaS B<3dÜrfnis nach Ruhe scheint 
den psychischen Apparat ebenso zu beherrschen wie 
das Bedürfnis nach Lust; und gerade das vereinigte 
Auftreten beider Tendenzen an den Sexualtrieben hat zur 
urspruiiglichen Gleichsetzimg beider geführt. Auch das 
mebnaite Bedürfnis nach Schlaf, bezw. das triebhafte 
Jimschlafen, scheinen der Ausdruck dieses triebhaften 
Kunestrebens zu sein. 

Viel schwieriger ist die Beziehung zwischen primärer 
Destruktion und dem Leidbedürfnis nachzuweisen. 

244 



Freud führt in diesem Zusammenhang den Begriff 
des erogenen Masochismus ein, der in einem gewissen 
Maße zu den normalen Erscheinungen gerechnet werden 
kann und durch das Ziel der Schmerzlust, allgemeiner 
durch ein Leidbedürfnis, ausgezeichnet ist. Die Annahme, 
daß nicht alle primäre Destruktion nach außen ge- 
wendet wird, sondern daß ein gewisser Teil im Innern 
wirksam bleibt, der, libidinös gebunden oder gemildert, 
als sogenannter erogencr Masochismus erst in Erschei- 
nung tritt, stellt den Versuch dar, eine direkte Verbin- 
dung zwischen dem angenommenen primären Destruk- 
lionstricb und den Erscheinungen des Masochismus her- 
zustellen. . 

Fassen wir zusammen: Mit Hilfe der biologischen 
Todestriebtheorie ist eine Formulierung der theoretisch 
Geforderten primären Destruktion möglich geworden und 
weiterhin, allerdings unter Heranziehung verschiedener 
Hilfshypothesen, eine vereinheitlichte Auffassung der 
destruktiven und aggressiven Erscheinungen erzielt wor- 
den. Der heuristische Wert dieser Annahmen scheint mir 
unverkennbar zu sein. 

Damit ist aber die vereinheitlichende Funktion dieser 
Theorie noch nicht erschöpft. 

Die Prinzipien und die Triebe 

Ich habe bei der Besprechung des Triebbegriffs der 
Sexualtheorie darauf hingewiesen, daß die Triebe und 
der funktionierende seelische Apparat einander gegen- 
übergestellt wurden. Wurden auf der einen Seite die 
Eigenschaften der Triebe studiert, so war es auf der 
anderen Seile notwendig, über die Arbeitsweisen dieses 
Apparates gewisse Annahmen zu machen: Er regulierte 
sich nach gewissen Tendenzen oder Prinzipien. Welche 
ist nun die Beziehung zwischen den Trieben und diesen 
Prinzipien? Die Triebe, als aus dem Organischen auf- 
steigende Energiespannungen, werden analog den Außen- 
reizen als „störende" Einwirkungen auf den seelischen 

245 






Apparat aufgefaßt, die den seelischen Regulationen un- 
terliegen. Dies ist der eigentliche Sinn der Definition 
der Triebe als Arbeitsanforderungen an den seelischen 
Apparat. Wie man diese störenden Reize einteilt, scheint 
tatsächlich zunächst eine untergeordnete Frage im Ver- 
gleich zu der Auffassung einer grundsätzlichen Arbeits- 
weise des seelischen Apparates gegenüber allen von 
außen oder innen kommenden Reizen. 

An dieser Gesamtauffassung ist nochmals zu unter- 
streichen, daß die Triebe nicht etwa das Ganze des 
seelischen Geschehens lenken, sondern nur Energiequel- 
len und Reizursachen sind, die die regulierenden Ten- 
denzen des seelischen Apparates in Bewegung setzen. 

Die Grundannahme Freuds ist, daß der Apparat 
von einer Tendenz beherrscht wird, die auf völlige Ent- 
spannung oder auf ein möglichst-niedrig-Halten der an- 
langenden Reizgrößen gerichtet ist. Diese Tendenz wurde 
anfangs gleichgesetzt mit dem Lustprinzip, da Span- 
nungen Unlustgefühle hervorzurufen schienen, die Ent- 
spannungen Lustgefühle. Allerdings ließen sich verschie- 
dene Erscheinungen dieser Annahme nicht einordnen. 
Eine Modifikation dieses Lustprinzips war das Realitäts- 
prinzip, das besagte, daß die Lust nicht mehr unmittel- 
bar und direkt, sondern auf realitätsangepaßten Um- 
wegen und in zeitlicher Erstreckung gesucht wurde. 

Es erwies sich aber aus den bekannten Gründen als 
notwendig, das Lustprinzip von der Grundtendenz nach 
Entspannung oder möglichst niedrigem Spannungsniveau 
abzutrennen. Über diese Grundtendenz wurden verschie- 
dene Auffassungen erwogen. Es schien als Konstanz- 
prinzip auf die Erhaltung einer bestimmten Spannungs- 
höhe abgestellt zu sein, d. h. das individuelle psychische 
System regulierte sich auf eine bestimmte Gleichge- 
wichtslage hin. Alles, was dieses Gleichgewicht in Ab- 
weichung nach oben oder unten zu stören schien, wurde 
der Regulation auf die Normalspannung hin unterwor- 
fen. Es ist die Auffassung des Lebens als eines kreis- 

246 



laufförmigen Geschehens um eine bestimmte Gleichge- 
wichtslage, die sich in der Annahme des Konstanz- oder 
Stabilitätsprinzips ausdrückt. Das Lustprinzip, das das 
seelische Geschehen in die Richtung auf den Endzustand 
Lust determiniert, konnte dann als eine Modifikation des 
Konslanzprinzips definiert werden. Alles, was sich der 
konstanten Spannungsgröße oder dem Stabilitätszustand 
näherte, wurde lustvoll, was sich davon entfernte, un- 
lustvoll empfunden. 

In dem Momente aber, als die entscheidende Auf- 
fassung des Lebens geändert und dieses nicht als kreis- 
laufförmiges, sondern als ablaufarliges, lineares Gesche- 
hen definiert wurde, mußte auch die Grundtendenz 
eine Änderung erfahren. Das Konstanzprinzip wurde 
daher folgerichtig durch das Nirwanaprinzip ersetzt, das 
die Tendenz auf völligen Ausgleich der Potentialdif- 
ferenz, auf Ablauf bis zum Nullpotential zum Inhalt 
hatte. 

Somit bleiben, wenn wir vom Wiederholungszwang 2 ) 
absehen, die Regulationen auf absolute Entspannung, 
auf Lust und auf Realitätsanpassung (Nirwana-, Lust-, 
Realitätsprinzip). Das Realitätsprinzip bleibt der Auf- 
fassung nach eine Modifikation des Lustprinzips. Die 
Beziehung zwischen Nirwanaprinzip und Lustprinzip ist 



2) Zu den Regulationen wäre noch der Wiederholungs- 
zwang zu zählen. Er ist ein allgemeines Regulations- 
prinzip, das zunächst Energien bindet, d. h. sie aus dem 
,strömenden" in den „Ruhestand" überführt. Es scheint 
kein Zweifel, daß es eine solche Regulationstendenz 
gibt. Auch die Arbeitsweise des Ichs hat diese Möglich- 
keit einer Bindung, eines Aufhaltens, Statischmachens 
von Spannungen zur Voraussetzung. Ebenso scheint der 
Wiederholungszwang die Voraussetzung aller anderen 
Regulationen zu sein. Eindringende Reizgrößen müssen, 
soweit sie nicht im Laufe der phylogenetischen Anpas- 
sungsprozesse „Bahnungen" erfahren haben, oder wenn 

sie die Kapazität dieser ßahnung überschreiten, zunächst 
aufgehalten, gebunden werden, ehe die anderen Regula- 
tionen einsetzen. 



247 



im Verhältnis zur vorhergehenden Auffassung, daß das 
Lustprinzip als eine Spczialform des Konstanzprinzips 
anzusehen sei, geändert. Beide entsprechen verschiede- 
nen Tendenzen. Das Streben nach Lust auf der einen, 
das nach Ruhe auf der anderen Seite sind die Haupt- 
regulationen des seelischen Geschehens. 
Es ist klar, daß eine bloße Gegenüberstellung der Regu- 
lationsprinzipien des seelischen Apparates und der von 
außen als Arbeitsanforderungen sich bemerkbar ma- 
chenden Triebe nur eine vorläufige sein konnte. Das 
heuristische Prinzip, zu verfolgen, wie weit sich die 
gesamte seelische Organisation und ihre Arbeitsweisen 
auf den Trieben aufbauen, mußte zur Frage führen, ob 
die Triebe die Ablaufsiendenzen des seelischen Ge- 
schehens beeinflussen, das ist aber die Frage nach der 
Beziehung zwischen den Prinzipien und den Trieben. 

Eine solche Fragestellung konnte umso leichter Zu- 
standekommen, als der Triebbegriff im Laufe der Ent- 
wicklung der Triebtheorie eine Veränderung erfahren 
hatte. Ursprünglich galt der Trieb als eine aus organi- 
schen Quellen stammende Energiespannung, die auto- 
matisch auf ein immanent gegebenes Ziel gerichtet war, 
das auf dem Umweg über ein Objekt erreicht wurde 
und letzten Endes in einer Veränderung des Ursprungs- 
organs, in einer Restitution auf seinen Zustand vor der 
Erregung bestand. Dieser Auffassung entsprach die Wahl 
des Begriffs der Quelle als geeignetes Kriterium für eine 
Einteilung der Triebe. 

Die Unmöglichkeit, solche Quellen für alle Triebe 
zu finden, und die Schwierigkeit ihrer hypothetischen 
Konstruktion stellten, besonders für die Ichtriebe das 
Kriterium des Zieles in den Vordergrund, ohne' daß 
die Grundauffassung des Triebes wesentlich abgeändert 
zu werden brauchte. Das Ziel bestand äußerlich in der 
Durchführung der Zielhandlung am Objekt, innerlich 
in der erreichten Entspannung, z. B. bei den Aggres- 
sionstrieben. 

248 






Der Theorie von den Urlrieben (Lebens- und Todes- 
triebe) liegt aber ein wesentlich veränderter Trieb- 
begriff zugrunde. Hier ist der Trieb nicht eine an das 
Seelische herantretende Energiespannung, die aus einer 
organischen Quelle stammt und auf die Aufhebung des 
Reizzuslandes im Ursprungsorgan abzielt, sondern ein 
richtunggebendes oder -nehmendes „Etwas", das die 
Lebensprozesse in eine bestimmte Richtung lenkt. Der 
Akzent liegt nicht mehr auf der Energielieferung, son- 
dern nur auf der Funktion der Richtungsbestimmung. 

Die Prinzipien sind aber auch nichts anderes als ein 
den Ablauf der seelischen Prozesse in eine bestimmte 
Richtung hin „determinierendes Etwas". Die Begriffe 
Trieb, Prinzip, Regulation erscheinen demnach einan- 
der sehr angenähert. Wie die Triebe die Abläufe der 
biologischen Vorgänge regulieren, so natürlich auch die 
seelischen. Die strenge Gegenüberstellung eines von Prin- 
zipien regulierten seelischen Apparats und von außen 
eindringender Triebe war nicht mehr haltbar, da die 
Triebe als Grundprinzipien des Lebens aufgedeckt wor- 
den waren. Daraus ergab sich die Möglichkeit der Zu- 
ordnung der Prinzipien zu den Trieben. 

Es würde zu weit führen, diese Fragen hier genauer 
zu erörtern. Es ist bekannt, wie Freud eine solche 
Zuordnung vornahm. „Das Nirwanaprinzip drückt die 
Tendenz des Todestriebes aus, das Lustprinzip vertritt 
den Anspruch der Libido, entspricht also den Lebens- 
Irieben. Das dritte Prinzip, das Realitätsprinzip, eine 
Modifikation des Lustprinzips, drückt den Einfluß der 
Außenwelt aus." Die Verbindung der beiden Hauptprin- 
zipien wird in der Weise gedacht, daß die Lebenstriebe 
eine Modifikation in der Ablaufsform der Entspan- 
nungsprozesse bewirken, die mit dem Auftreten von 
Lust verbunden ist 

Fassen wir zusammen; haben wir uns früher im 
Interesse der Verständigung einer größeren Schärfe der 
Begriffstrennung befleißigt, so wollen wir dies hier 

»49 



' 



wieder einschränken und uns der tatsächlichen Struk- 
tur der Begriffe wieder annähern: 

Die spannungserzeugenden biologischen Lebenstriebe; 
die Sexualtriebe; die auf die Erhaltung des Lebens 
zielenden Ichtriebe; das Lustprinzip, — das alles ist 
irgendwie miteinander verwandt. 

Die auf den Spannungsausgleich hintreibenden Todes- 
triebe; die Destruktionstriebe, die im Innern wirken; 
die nach außen gewendete Aggression; die Tendenz zur 
Ruhe, das Nirwanaprinzip; die Tendenz zum Leiden, 
das alles bildet ebenfalls eine verwandte Gruppe. 

Die „mystischen" Triebkräfte, die hinter dem allen 
stehen, wirken jede in ihrer Richtung oder einander 
entgegen oder miteinander. Dann legieren sie sich: Als 
masochistische Lust am Leiden, als Sadismus, als Straf- 
bedürfnis, als Selbsthaß, als aggressiver Ichtrieb usw. 

Was wir Triebe nennen, wirkt richtunggebend auf 
ein biologisches Geschehen, im Körperlichen wie im 
Psychischen. Unter irgendwelchen Einflüssen differen- 
ziert es sich, konzentriert sich zu Spannungszentren, 
die sich an irgendein Organgeschehen als Quelle ge- 
bunden erweisen, wendet sich nach außen auf Objekte, 
strebt einem Ziele zu, das äußerlich in einer bestimm- 
ten Handlung am Objekt und am eigenen Körper, inner- 
lich in der Aufhebung eines Reizzustandes besteht. Un- 
klar, wie es zunächst im eigenen Innern wirkt. Klarer, 
wenn es sich auf Objekte wendet, an denen es die 
Zielhandlung vollführt. Teils ist hiezu ein Vorgang auch 
am Ursprungsorgan notwendig, teils nur am Objekt. 
Bald erfolgt die Befriedigung in Form eines bestimm- 
ten Ablaufes, bald diffus. Es kann aber auch in man- 
nigfaltiger Form die eigene Person zum Objekt neh- 
men, es kann sich in „Betriebskraft" umgestalten und 
so die Energien des Ichs vermehren. Es kann einen 
Reichtum an Umwegleistungen vollbringen und in sei- 
ner Elastizität vielfache Veränderungen erfahren. Wir 
können es nicht einheitlich ordnen, sondern bald nach 

250 



dem einen, bald nach dem anderen Gesichtspunkt, nach 
den Zielen, nach den Objekten, nach der Quelle. 

Alle diese Tatsachen, hypothetischen Meinungen, Theo- 
rien lassen sich in Begriffe fassen, die nicht immer 
wünschenswert klar, oft vieldeutig und verfließend sind. 
Die Exaktheit definierter Begriffe wird sich im Psycho- 
logischen nicht immer erreichen lassen. Es ist sehr 
viel geleistet, wenn man in ein neues Gebiet vorgestoßen 
ist und Begriffe gewonnen hat, die eine wechselseitige 
Verständigung ermöglichen, auch wenn sie zunächst 
nichts anderes sind als erste Annäherungen an einen im 
ganzen noch unbekannten Tatbestand. 



251 



Die Stellung der Wissenschaft zu 
Freuds 80. Geburtstag 

Von Heinrich Meng, Basel 

Nachdruck eines Aufsatzes aus der Natio- 
nal-Zeitung" in Basel, Nr. 27b, vom 17. Juni 
1936. 

Die Anregung, zu überprüfen, wie, gemessen an den 
Kundgebungen der außermedizinischen Welt, sich die 
Ärzte und Fachpsychologen anläßlich des 80. Geburts- 
tags Sigmund Freuds geäußert haben, läßt sich jetzt 
erst verwerten; es erschienen im Laufe der letzten 
Wochen immer wieder Abhandlungen, die zu dem Men- 
schen Freud und seinem Werk Stellung nahmen. Im 
Gegensatz zu den 300 internationalen Dichtern und 
Künstlern, die in ihrer gemeinsamen Glückwunsch- 
adresse dem „Initiator eines neueren und tieferen Wis- 
sens vom Menschen" die Ehrfurcht aussprachen, ist 
uns nichts bekannt geworden, was auf eine ähnliche, 
einheitliche Aktion der internationalen Ärzte und Fach- 
psychologen schließen läßt. Allerdings haben Universi- 
täten und wissenschaftliche Gesellschaften, in denen 
Freud Ehrenmitglied ist, dem Geburtstagskind Glück- 
wunschadressen gesandt. Der Wiener Forscher ist unter 
anderem Doctor honoris causa der Clark University, 
Worcesler, Ehrenmitglied der „Nederlandsche Vereeni- 
gung voor Psychiatrie en Neurologie", des „Vereins 
für Psychiatrie und Neurologie in Wien", der „Royal 
Society of Medicine" und der Schweizer Gesellschaft 
für Neurologie und Psychiatrie. 

Die Wiener Universität sandte ein Schreiben des De- 
kans der Medizinischen Fakultät, Prof. Kerl, das die 
Glückwünsche des Professorenkollegiums ausdrückte. 
Überhaupt scheint in W T ien selbst die Kundgebung der 
Wissenschaftler zum 6. Mai am stärksten gewesen zu 

252 



sein. Wagner-Jauregg, der erfolgreiche Bekämp- 
fer der Paralyse und Nobelpreisträger, L. B ins wan- 
ger, der schweizerische Psychiater und Philosoph, der 
Neurologe Olto Marburg und Otto P ö t z 1, der Leiter 
der Wiener Universitätsklinik, ein bekannter Schlaf- 
forscher, haben in einer gemeinsamen Kundgebung des 
„Akademischen Vereins für medizinische Psychologie" 
zu Ehren Freuds gesprochen. In einem Aufsatz, den 
P ö t z 1 zum 6. Mai schrieb, heißt es am Schluß: „Freud 
hat einmal erklärt, die Psychoanalyse habe für den, der 
sie betreibt, auch bildende Kraft, und er hat 'dies an sich 
selbst an der Kultur seiner Persönlichkeit in höchstem 
Maße bewiesen. Denn dieser unerschöpfliche Mensch 
ist groß in jeder Situation, er ist ein Genie, aber am 
größten ist er im Gespräch. Da empfängt man von ihm 
einen überwältigenden Eindruck. Und ich meine, keine 
bessere Schilderung des Erlebnisses geben zu können, 
das man in seiner Gegenwart hat, als indem ich frei- 
mütig bekenne: Ich habe jedesmal den Eindruck, so 
bedeutsam hat vielleicht der alte Goethe gesprochen." 
Aus Raumgründen wird über die anderen wissen- 
schaftlichen Kundgebungen, die in London, Prag, an der 
Sorbonne in Paris und andernorts stattfanden und aus 
den Publikationen, die daran anschließend erfolgten, 
nicht berichtet, sondern lediglich über die Haltung der 
Schweizer Gelehrten weit. Bemerkenswert ist, 
daß, soweit wir die wissenschaftliche Literatur und die 
Tagespresse nachprüfen konnten, in Deutschland 
der 6. Mai übergangen wurde. In den drei letzten Jahren 
wurde im Dritten Reich Persönlichkeit und Lehre aufs 
schärf sie bekämpft, ohne daß eine Möglichkeit wissen- 
schaftlicher Diskussion gegeben war. Die Bücher selbst 
stehen auf dem Index und wurden zum Teil verbrannt. 

Außer der psychoanalytischen Fachorganisalion hat 

die „Schweizerische Gesellschaft für Psy- 
chiatrie" in ihrer Frühjahrstagung dem Wiener For- 
scher eine Glückwunschadresse gesandt; Flournoy, 

253 



Genf, brachte sie zur Verlesung. Es heißt darin u. a.: 
„Depuis dix ans vous figurez sur la liste de nos Mem- 
bres d'Honneur; notre Societe a voulu temoigner ainsi 
de la grandeur de votre oeuvre. Mais plusieurs entre 
nous vous doiuent une dette de reconnaissance plus 
personnelle, car c'est vous qui avez dicide' de Vorteil- 
tation de leur carriere. D'autres, que la direction de 
leurs Iravaux tient tloignes du domaine de la Psych- 
analyse, reconnaissent neanmoins Vinfluence profonde 
que uous exercez sur la pensie contemporaine: 1 

Das „Schweizer Archiv für Neurologie 
und Psychiatrie" (Orell Füßli, Zürich) widmete 
Heft 2, 1936, dem Schöpfer der Psychoanalyse. Die 
Herausgeber und Redakteure: R. Bing, Basel, 
L. Binswanger, Kreuzungen, R. Brun, Zürich, O. Forel, 
Prangins, H. W. Maier, Zürich, M. Minkowski, Zürich, 
F. Naville, Geneve, H. Steck, Lausanne, M. Tramer, Solo- 
thurn, 0. Veraguth, Zürich, schreiben in ihrem Glück- 
wunsch u. a.: „Wir freuen uns, daß es ihm vergönnt ist, 
in. voller geistiger Frische auf sein großes Lebenswerk 
zurückzuschauen, und danken ihm für die Bereicherung 
von unvergänglichem Werte, die wir alle durch sein 
Werk empfangen haben. Diese Widmung möge ihm ein 
Beweis dafür sein, daß im Kreise der Schweizer Neuro- 
logen und Psychiater seine Gedanken fruchtbar fort- 
wirken. Wir verbinden damit unsere herzlichsten Glück- 
wünsche zu seinem 80. Geburtstag." 

Aus dem Inhalt des Heftes seien drei Arbeiten her- 
vorgehoben: „Freud und die Verfassung der klinischen 
Psychiatrie" von Ludwig Binswanger, „Sigmund 
Freuds Leistungen auf dem Gebiete der organischen 
Neurologie", von R. Brun, und „Der Neurotiker im 
Lichte der psychoanalytischen, neuroendokrinen und 
erbpathologischen Forschungen", eine Konfrontation der 
drei Richtungen, von L. S z o n d i, Budapest. Was für 
viele Ärzte und Fachpsychologen nicht bekannt war, 
tritt vor allem im Aufsatz von Brun hervor, nämlich 



254 



die Tatsache, daß Freud, bevor er sein heutiges Ar- 
beitsgebiet übernahm, ein hervorragender Forscher und 
Entdecker auf dem Gebiet der Anatomie, Histologie 
und Biologie des Nervensystems war. 

Die „Zeitschrift für Kinderpsychiatrie" 
(Benno Schwabe, Basel) widmet Freud ihr Maiheft. 
Der Herausgeber Tramer schreibt in seinem Glück- 
wunsch u. a.: „Es soll dafür zeugen, wie wesentlich 
und grundlegend auch das noch junge Sondergebiet der 
Kinderpsychiatrie, dessen Gestalt sich am medizinischen 
Horizont immer bestimmter abhebt, durch Ihre Schöp- 
fung befruchtet und gefördert worden ist. Es soll wei- 
terer bescheidener Ausdruck des tiefen Dankes sein, 
den Ihnen auch die Vertreter dieser wahrhaft der 
Zukunft, weil der Kindheit und Jugend dienenden medi- 
zinischen Disziplinen zollen." Im Heft selbst finden 
sich folgende Publikationen: Josef K. Fried jung, 
Wien: „Organische Ausdrucksmiltel der Kinderneurosen", 
H. Christoffel, Basel: „Psychologie des Kindes das 
,Caput Nili' der menschlichen Psychologie. 1896—1936", 
Dr. A. Repond, Monthey: „Freud et la Psychiatric 
infantile", Heinrich Meng, Basel: „Freuds Einfluß auf 
die Pädagogik und Heilpädagogik", G. Bally, Zürich: 
„Ein Fall von traumatischem Mutismus". 

Die „Schweizerische Medizinische Wo- 
chenschrift", B. Schwabe, Basel, bringt in Heft 
Nr. 19 einen Artikel „Prof. Dr. Sigmund Freud zum 
80. Geburtstag" aus der Feder von Ph. S a r a s i n, Basel, 
E. Blum, Bern, und H. Flournoy, Genf. Aus ihr 
sei folgende charakteristische Stelle erwähnt: „Zweifel- 
los hatte Freud mit seiner Traumdeutung Neuland 
betreten und sah sich Erscheinungen gegenüber, die 
sich den soliden Methoden des Wagens und Messens 
schlechterdings widersetzen, so gut wie ein fernes Leuch- 
ten auf einem Bilde von Claude Lorrain oder wie die 
weltentrückten Klänge eines Quartetts von Beethoven. 
Aber aus solchen Dingen höchst subjektiver Art sind 

255 



nun einmal die Stoffe gewoben, mit denen der Ana- 
lytiker zu arbeiten hat. Sie spielen in der Genese eines 
Traumes oder einer seelischen Störung eine funda- 
mentale Rolle und führen schließlich zu Symptomen 
grobsinnlicher Natur." 

Die „Praxis, Schweizerische Rundschau 
für Medizin" (Verlag Hallwag A.-G., Bern) enthält 
einen Aufsatz von Christoffel zum 6. Mai, er gibt 
vorwiegend kulturhistorisch Aufschluß über die Ent- 
wicklung des Forschers und seiner Forschung. Er 
schließt: 

„Und endlich sei es der eigenen Besinnung und vor 
allem der Zukunft überlassen, zu entscheiden, ob und 
wie die Schweiz für die Ideen Freuds und die 
Psychologie überhaupt eine Rolle gespielt hat und spie- 
len wird." 0. Spieß meint: „Das entscheidende Ein- 
greifen der Schweizer in der Geburtsstunde der neuen 
Wissenschaft entspricht einem typischen Verhalten ihres 
Volkes. Die ganz großen, epochcbildenden Ideen sind 
nie von der Schweiz ausgegangen. Aber die Schweiz hat 
stets, sobald ein neues Prinzip die Welt in zwei Lager 
teilte, dieses Prinzip mit urwüchsiger Eigenart aufge- 
griffen und als ebenbürtiger Mitstreiter zur Geltung 
gebracht." 

„Actio n et Pense e", Revue trimestrielle de la 
Societe Internationale de Psychagogie, Genf, Heft 2, 
1936, ist Freud gewidmet. Sie enthält folgende Publi- 
kationen : Charles Baudouin, Genf : „Signif ication de 
Freud." R. Allendy, Paris: „Pensee logique, Pensee 
affective, Symbolisme", Heinrich M eng: „Sigmund Freud 
(A l'occasion du 80eme anniversaire de Sigmund Freud)". 
In der letztgenannten Arbeit heißt es u. a. : „Die Psycho- 
analyse kann eine wirksame soziale und seelische Hy- 
giene schaffen, da sie die Quellen der Kultur- und Ge- 
sellschaftskrankheilen erschließt und diese Quellen be- 
reits von ihrem Ursprung in der Kindheit an durch die 

256 



\ 



Erziehung zum geordneten, ihre Kraft speichernden Ab- 
strömen bringt." 

In der „Revue M6dicale de la Suisse Ro- 
mande" publiziert Flournoy, Genf, eine Arbeit 
„Freud, en l'honneur de ses 80 ans"; sie schließt: 

„En adressant ses voeux ä son mattre de Vienne, 
l'auleur de ces Ugnes pense que les lecteurs de la Revue 
Medicale, dont la profession les met souvent aux prises 
avec les vicissitudes de la maladie et les lüttes de 
rhomme, se souvienneni parfois ' du beau vers de T£- 
rence: 

Homo sum, et humani nihil a ine alienum puto. 

Dans ce cas, et quels que soient leur champ d'acti- 
vite' et leurs goüts personnels, ils ne sauraient envisager 
avec indifference Voeuvre de Freud." 

Die Zeitschrift „Psyche", Schweiz, Monatsschrift 
für Psychologie, Heilpädagogik und Graphologie (Vogt- 
Schild in Solothurn), Heft 5, 1936, bringt drei Arbeiten, 
die sich mit Sigmund Freud beschäftigen. Zuerst 
„Dank an Freud", „Sigmund Freud 80 jährig" von Hugo 
Mauer hofer und „Über die Veränderung von Gehörs- 

wahrnehmungen durch den Wecktraum" von Ernst 
R. B a e r 1 o c h e r. 

In der Publikation von Mau er ho f er heißt es bei 
der Auseinandersetzung mit Jungs Stellung zu Freud ■ 
„Freud treibt nicht jüdische Psychologie, d. h Psy- 
chologie des Juden, sondern er treibt Psychologe des 
europäischen Gegenwartsmenschen, und deshalb°ist er 
für uns verbindlich. Jede andere Auffassung einer jüdi 
sehen Psychologie' ist gleich krypto-antisemitisch wie 
etwa jüdische Physik, jüdische Mathematik, jüdische 
Chemie und vom Standpunkte der Wissenschaft aus 
unhaltbar. Wir glaubten, diese kleine Ehrenrettung dem 

sTMig^setV 11 WiCn ""* ^eizerischers^iU 

17 Almanach 1937 

257 



Die Durchsicht der Fachpublikationen zeigt, daß die 
fachwissenschaftliche Welt den 6. Mai 1936 dazu be- 
nützt hat, diesem großen Lebenden den Dank abzustat- 
ten, der sonst meist nur einem Menschen zuteil wird, 
dessen fundamentale Bedeutung erst nach Jahrzehnten 
seines Wirkens erkannt wird. 



258 



i 






Zu Freuds 80. Geburtstag 

erschien 

SIGM. FREUD 

SELBSTDARSTELLUNG 

Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage mit einer 
„Nachschrift 1935" und fünf bisher z.T. unveröffentlichten 

Porträtbeilagen 

112 Seiten / Geheftet RM 3.50 / Leinen RM 5.— 

AUS DEN SCHLUSSWORTEN: 

Die Geschichte der Psychoanalyse zerfällt für mich 
in zwei Abschnitte . . . Im ersten stand ich allein 
und hatte alle Arbeit selbst zu tun, . . . im zweiten 
Abschnitt . . . haben die Beiträge meiner Schüler 
und Mitarbeiter immer mehr an Bedeutung gewon- 
nen, so daß ich jetzt . . . mit innerer Ruhe an das 
Aufhören meiner eigenen Leistung denken kann . . . 
So kann ich denn, zurückschauend auf das Stück- 
werk meiner Lebensarbeit, sagen, daß ich vielerlei 
Anfänge gemacht und manche Anregungen ausge- 
teilt habe, woraus dann in der Zukunft etwas werden 
soll. Ich kann selbst nicht wissen, ob es viel sein 
wird oder wenig. Aber ich darf die Hoffnung aus- 
sprechen, daß ich für einen wichtigen Fortschritt in 
unserer Erkenntnis den Weg eröffnet habe. 



INTERNATIONALER 
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN 



DIE WERKE SIGM. FREUDS 

(LIEFERBARE AUSGABEN) 

GESAMMELTE SCHRIFTEIN 

(Zwölf Bände in Lexikonformat) 

Geh. RM 196.—, in Leinen RM 240.—, in Halbleder RM 305.-, 

in Leder RM 704.— 



BAND I, 490 S.: Studien über Hysterie (Vorwort — Über den psychi- 
schen Mechanismus hysterischer Phänomäne [von Breuer und Freud] — 
Krankengeschichten — Zur Psychotherapie der Hysterie) / Frühe Arbeiten 
enr Neurosenlehre 1892 — 99 (Charcot — ein Fall von hypnot. Heilung nebst 
Bemerkungen über die Entstehung hyster. Symptome durch den Gegen- 
willen — Quelques considerations pour une etude comparative des para- 
lysies motrices organiques et hystenques — Die Abwehr-Neuropsychosen 

— Ueber die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Sym- 
ptomenkomplex als „Angstneurose" abzutrennen — Obsessions et phobies 

— Zur Kritik der Angstneurose — Weitere Bemerkungen über die Abwehr- 
Neuropsychosen — L'her^dite et l'ßtiologie des nevroses — Zur Aetiologie 
der Hysterie — Die Sexualität in der Aetiologie der Neurosen — Ueber 
Deckerinnerungen) 

BAND II, 543 S.: Traumdeutung (Die wissenschaftliche Literatur der 
Traumprobleme — Die Methode der Traumdeutung, die Analyse eines 
Traummusters — Der Traum ist eine Wunscherfüllung — Die Traument- 
stellung — Das Traummaterial und die Traumquellen — Die Traumarbeit 

— Zur Psychologie der Traumvorgänge — Literaturverzeichnis) 

BAND III, 360 S.: Ergänzungen und Zusatzkapitel zur Traumdeutung / Ueber 
den Traum / Beiträge zur Tranmlehre (Märchenstoffe in Träumen — Ein 

Traum als Beweismittel — Traum und Telepathie — Bemerkungen zur 
Theorie und Praxis der Traumdeutung) / Beiträge zu den Wiener Diskus- 
sionen (Onaniediskussion — Selbstmorddiskussion) 

BAND IV, 481 S.: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Vergessen von 

Eigennamen — von fremdsprachigen Worten — von Namen und Wort- 
folgen — Ueber Kindheits- und Deckerinnerungen — Das Versprechen 

— Verlesen und Verschreiben — Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen 

— Das Vergreifen — Symptom- und Zufallshandlungen - Irrtümer — 
Kombinierte Fehlleistungen — Determinismus. Zufalls- und Aberglauben. 

Gesichtspunkte / Das Interesse an der Psychoanalyse / Ueber Psychoanalyse 
/ Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung 

BAND V, 556 S.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Die sexuellen 

Abirrungen — Die infantile Sexualität — Die Umgestaltungen der Puber- 
tät) / Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre (Meine Ansichten 

über die Rolle der Sexualität in der Aetiologie der Neurosen — Zur sexu- 
ellen Aufklärung der Kinder — Die „kulturelle" Sexualmoral und die Ner- 
vosität — Ueber infantile Sexualtheorien — Beiträge zur Psychologie des 
Liebeslebens — Die infantile Genitalorganisation — Zwei Kinderlügen — 
Gedankenassoziation eines vierjährigen Kindes — Hysterische Phantasien 
und ihre Beziehung zur Bisexualität — Allgemeines über den hysterischen 
Anfall — Charakter und Analerotik — Ueber Triebumsetzungen, insbe- 



sondere der Analerotik - Die Disposition zur Zwangsneurose -Mittel 
lung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von 
Paranoia - Die psychogene Sehstörung .in , Paralytisch er Auffassung 

- Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem Symptom lieber 
die Psychogenes! eines Falles von weiblicher ^£?%?MSndÜ^W 
Kind wird ^geschlagen" - Das ökonomische Problem des Masochwmus 

- Ueber einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Parano a i una 
Homosexualität - Ueber neurotische Erkrankungstypen - n For _ m " 1, ^^ e 
gen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens- Neurose 
und Psvchose — Der Untergang des Oedipuskomplexes) / Metapsychologie 
ÄflemkungSi "SPSS Begriff des Unbewußten in der Psycho- 
analyse -Triebe und Triebschicksale - Die Verdrängung -Jg^J 
wußte - Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre- Trauer una 
Melancholie) 

BAND VI, 422 S : Zur Technik (Die Freudsche psychoanalytische Me- 
thode -Ueber Psychotherapie -Die zukünftigen (Wen der psycho- 
analytischen Therapie - Ueber „wilde« *^«""Bg£=£ ^g ffiB 

analytischen Arbeit - Zur Einleitung der Behandlung - Erinnern, Wie 
derholen und Durcharbeiten - Bemerkungen Aber 4\ JT Ue^gMijJ 
y. ehQ _ weee der psychoanalytischen Therapie - Zur Vorgeschichte aer 

a«nlwtiQrhen Technik/ / Zur Einführung dee N.niimu, / JeneeUfl de. Lust- 

analytischen iccnn^/ , c „. A nalyse (Einleitung - Le Bon's bchil- 

pr.nz.ps / Massenpsycno g^ ere Wür 7 di gU ngen des kollektiven Seelen- 

fSS SutSeltlon und Libido - Zwei künstliche Massen: Kirche und 
SJSLlffläSrSSdU&^S Arbeitsrichtungen - Die Identifizierung 
Verliebtheit und Hypnose - Der Herdentrieb - Die Masse und die 
77 hnr f c Stufe im Ich) / Das ich und das Es (Bewußtsein und Un- 

SÄ-ÄÄEJ -Das Ich und das Ueber-Ich -Die 
he den Triebarten - Die Abhängigkeiten des Ichs) /Anhang (Der Reali- 
tätsveriust bei Neurose und Psychose - Notiz über den „Wunderblock ) 



BAND VII, 483 S.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 

Inhalt- 1 Teil: Fehlleistungen. II. Teil: Der Traum (Schwierigkeiten und 
erste Annäherungen — Voraussetzungen und Technik der Deutung — 
Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken — Kinderträume — 
Die Traumzenzur — Die Symbolik im Traum — Die Traumarbeit — Ana- 
lysen von Traumbeispielen — Archaische Züge und Infantilismus des 
Traumes — Die Wunscherfüllung — Unsicherheiten und Kritiken). III. Teil: 
Allgemeine Neurosenlehre (Psychoanalyse und Psychiatrie — Der Sinn der 
Symptome — Die Fixierung an das Trauma. Das Unbewußte — Wider- 
stand und Verdrängung — Das menschliche Sexualleben — Libidoenlwick- 
lung und Sexualorganisation — Gesichtspunkte der Entwicklung und Re- 
gression. Aetiologie — Die Wege der Symptombildung — Die gemeine 
Nervosität — Die Angst — Die Libidotheorie und der Narzißmus — Die 
Uebertragung — Die analytische Therapie) — Register 



BAND VIII, 568 S.: Krankengeschichten (Bruchstück einer Hysterieana- 
lyse — Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben — Bemerkungen 
über einen Fall von Zwangsneurose — Psychoanalytische Bemerkungen 
über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia — Aus der 
Geschichte einer infantilen Neurose) 



BAND IX, 455 S.I Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten / Der 
Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva" / Eine Kindheitserinnerung 
des Leonardo da Vinci 



Amwl&n^H? r <«£ ""* Tabu (D, A e Inz estscheu - Das Tabu und die 
n?HanK?n «2 8 S*B'3FW 1 5 ~ Animismus, Magie und Allmacht der 
SS" 7 D » ,r i fantlle Wiederkehr des Totemismus) / Arbeiten zur 
7w«nafh d !ni y choana |y! e ,.(T atbe standsdiagnostik und Psychoanalyse 
iTrw^rtP 8 S un £? I L! ,nd Rei'g'onsübungen - Ueber den Gegensinn der 
p£Ä «. 2no r Dl , ch ? r , und ^ das Phantasieren - Die mythologische 
rhlnwah. ^ ner P la stischen Zwangsvorstellung - Das Motiv der Käst- 
chenwahl — Der Moses des Michelangelo — Einige Charaktertvnen aus 
der psychoanalytischen Arbeit: Die Ausnahmen. Di! am Erfolge schekern! 

T?d^ e te h Äi?l. S A'?3 b «S ußt8fti0 - Zeitgemäßes übel Krieg und 
in«? Üirhu?J C SWl"^ Psychoanalyse - Eine Kindheitserinnerung 
fin 17 ? Jahrhundert) ~ Unheimliche - Eine TeufelsneurosI 

BA S5.i«I' 4 J 2 t S,: £ehriften ans den Jahren 1923—1926 (Die Verneinung 

- Hei itniiS^Qvmntn lg ^ n A des anatomischen Geschlechtsunterschied! 
Sr P^Ä& tom Si^^"-»a SeH)8tdar8teUun «" - Kurzer Abriß 
SH P W nrtY Dr »Psychoanalyse" und „Libidolehre" - Die Wider- 

fikS die Psychoanalyse! / Geleitworte zu Büchern anderer Autoren 
/ Gedenkamkel (Ferenczi - An Romain Rolland - Putnam f - Tausk f 

- A. v. Freund f - Breuer f - Abraham f) / Vermischte Schriften (Zur 
Psychologie des Gymnasiasten — Vergänglichkeit — Popper-Lynkeus und 
die Theorie des Traumes — To the opening of the Hebrew Universitv 

- Kurze Mitteilungen) / Schriften 1926—1928 (Die Frage der Laienana- 
lyse — Nachwort hiezu — Fetischismus — Der Humor — Nachtrag zur 
Arbeit über den Moses des Michelangelo — Die Zukunft einer Illusion 

- Ein religiöses Erlebnis) 

BAND XII, 422 S.: Schriften aus den Jahren 1928—1933 (Dostojewski 

und die Vatertötung - Das Unbehagen in der Kultur - Ueber libidinöse 
Typen - Ueber die weibliche Sexualität - Zur Gewinnung des Feuers? 

/Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Revision 

der Traumlehre - Traum und Okkultismus - Die Zerlegung der Dsvrhi 
sehen Persönlichkeit - Angst und Triebleben - Die Weiblichkeit - 
Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen - Ueber eine Weltanschau 
ung / Warum Krieg / Aeltere Schriften (Der Familienroman der Neurotiker 

- Psycho-Analysis) / Geleitworte zu Büchern (Vorrede zur hebräischen 
Ausgabe der „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" - Vor- 
rede zur hebräischen Ausgabe von „Totem und Tabu" — Geleitwort zu 

The Psychoanalytic Review", Vol. XVII, 1930 - Vorwort zu „Zehn Jahre 
Ber iner Psychoanalytisches Institut" - Geleitwort zu „Elementi di Psico- 
analisi von Edoardo Weiss - Geleitwort zu „Allgemeine Neurosenlehre" 
V °" S e o r ^ a o n Nunb * r f T Vorwort zu „Edgar Poe, Etüde psychoanalytique" 
par Marie Bonaparte) / Gedenkartikel (Ernest Jones zum 50. Geburtstag 

- Sandor Ferenczi f) / Vermischte Schriften (Brief an Maxim Leroy über 
einen Traum des Cartesius - Goethe-Preis 1930 - Brief an Dr. Alfons 
Paquet Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus - Das Fakultätsgutachten 
im Prozeß Halsmann - Brief an den Bürgermeister der Stadt Pfibor- 
Freiberg - Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus) 



KLEINOKTAV-AUSGABE 
(Jeder Band — in gleichmäßiger Ausstattung — einzeln erhältlich) 

Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 1933. 
255 S. In Leinen RM 7.— 

Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 1930. 500 S. 

In Leinen RM 9. — 

Vier psychoanalytische Krankengeschichten. 1932. 464 S. In Leinen RM 9. — 

Schriften zur Neurosenlehre und zur psychoanalytischen Technik. 1931. 
428 s. In Leinen RM 9. — 

Kleine Schriften zur Sexualtheorie und zur Traumlehre. 1931. 381 S. 

In Leinen RM 9.— 
Theoretische Schriften. 1931. 406 S. In Leinen RM 9.— 

Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Ueber Vergessen, Versprechen, 
Vergreifen, Aberglauben und Irrtum. 1929. 313 S. In Leinen RM 9.— 



EINZELAUSGABEN 

Selb«tdarsteliung. 2. durchgesehene und erweiterte Auflage. 1936. Mit 
5 Bildbeilagen. 112 S. Geh. RM 3.50, in Leinen RM 5.— 

Totem und Tabu. Ueber einige Uebereinstimmungen im Seelenleben 
der Wilden und der Neurotiker. 5. Auflage. 1934. 194 S. In Leinen RM 5.50 

Das Unbehagen in der Kultur. 2. durchgesehene Auflage. 1931. 136 S. 

Geh. RM 3.40, in Leinen RM 5- 

Die Zukunft einer Illusion. 2. Auflage. 1928. 91 S. 

Geh. RM 2.30, in Leinen RM 3.60 

Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen. 
1926. 93 S. In Leinen RM 4.80 

Drei Abhandlungen zur Sexualthcorie. 6. durchgesehene Auflage. 1925. 

120 S. In Pappband RM 3.80 

Psychoanalytische Studien an Werken der Dichtung und Kunst. 1924. 
138 S. In Leinen RM 7.50 

Eine Teufelsneurose im 17. Jahrhundert. 1921. 43 S. Geb. RM 1.— 

Bibliophilen-Ausgabe, mit der Hand in Leder geb., RM 25.— 
Zeitgemäßes über Krieg und Tod. 1924. 35 S. Geh. RM 1.— 



INTERNATIONALER 
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

WIEN, IX. 
BERGGASSE 7 



die 



ANNA FREUD 

Das Ich 

und 

Abwehrmechanismen 



208 Seiten / Broschiert RM 4.50 / In Leinen RM 6.— 

I N HALT 

A. THEORIE DER ABWEHRMECHANISMEN 
I. Das Ich als Stätte der Beobachtung 

II. Die Verwertung der analytischen Technik zum Stu- 
dium der psychischen Instanzen 

III. Die Abwehrtätigkeit des Ichs als Objekt der Analyse 

IV. Die Abwehrmechanismen 

V. Orientierung der Abwehrvorgänge nach Angst u. Gefahr 

B. BEISPIELE FÜR DIE VERMEIDUNG VON 
REALUNLUST UND REALGEFAHR 
(VORSTUFEN DER ABWEHR) 

VI. Die Verleugnung in der Phantasie 
VII. Die Verleugnung in Wort und Handlung 
VIII. Die Ich-Einschränkung 

C. ZWEI BEISPIELE FÜR ABWEHRTYPEN 

IX. Die Identifizierung mit dem Angreifer 
X. Eine Form von Altruismus 

D. ABWEHR AUS ANGST VOR DER TRIEBSTÄRKE 
(DARGESTELLT AM BEISPIEL DER PUBERTÄT) 

XI. Ich und Es in der Pubertät 
XII. Triebangst in der Pubertät 

Schlußbemerkung 



INTERNATIONALER 
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 



IN LIEFERUNGEN ERSCHEINT DAS 

HANDWÖRTERBUCH 

DER 

PSYCHOANALYSE 

VON 
Dr. RICHARD STERBA, WIEN 

Gesamtumfang etwa 400 Seiten 
Preis pro Lieferung öst. S 5.50 

Das Handwörterbuch der Psychoanalyse ist in erster 
Linie der eindeutigen Bestimmung der Begriffsinhalte 
psychoanalytischer Termini gewidmet. Die Erläuterung 
der einzelnen Begriffsinhalte ist aber gleichzeitig so breit 
angelegt, daß der Leser in allgemein verständlicher Weise 
in die psychoanalytische Materie eingeführt wird. So leistet 
das Werk dem Anfänger wie dem Erfahrenen sowohl in 
methodologischer wie inhaltlicher Beziehung unschätzbare 

Dienste. 

Professor Freud bezeichnete nach Einsicht in die vor- 
gelegten Proben das Werk als „wertvolle Hilfe für den 
Lernenden und schöne Leistung an sich". Er fand „die 
Präzision und Korrektheit der einzelnen Angaben in der 
Tat anerkennenswert". Ein Schreiben Professor Freuds 
an den Autor in faksimilierter Wiedergabe leitet das 
Werk ein. 

Den einzelnen Schlagworten ist eine Uebersetzung ins 
Englische und Französische beigefügt. 

Das Werk hat einen Umfang von etwa 24 sechzehn- 
seitigen Druckbogen in Lexikonformat und erscheint in 
Lieferungen von je 32 Seiten in Abständen von 2 bis 3 
Monaten. Ausführliche Prospekte mit Probeseite auf Wunsch 
gerne kostenlos. 



INTERNATIONALER 
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 



• • 



BUCHER DES WERDENDEN 

Herausgeber: Paul Federn, Wien, und Heinrich Meng, Basel 

Das gemeinsame Ziel der Bücherreihe ist die Befreiung von solchen Irr- 
tümern und Unwahrheiten, die mit der Kultur entstehen mußten, die 
aber heute mancher Unreife und Sinnlosigkeit unserer gesellschaftlichen 
Einrichtungen zugrunde liegen. Die Vorbedingung für das Überwinden 
dieser Kulturschäden ist, daß das erreichte wissenschaftliche Verständnis 
ihrer Grundlagen in weite Kreise gebracht wird. 

Band 1 und 2 vergriffen 

Band 3 

FRITZ WITTELS 

DIE BEFREIUNG DES KINDES 

Aus dem Inhalt: 

Schuld und Strafe. — Ein Stück Rousseau. Kinder- 
schule und Lebensweg. Waisen und Stiefkinder. Ge- 
schiedene Eltern. Die alte und die neue Schule. 

Band 4 

ISTVAN HOLLÖS 

HINTER DER GELBEN MAUER 

Aus dem Inhalt: 

Gespensterspuk, Leben und Tod, Städte, Mütter, Be- 
freiung der Gesunden, das Urtier in uns — unsere 
Not und Notwendigkeit. 

Band 5 

FRITZ WITTELS 

DIE WELT OHNE ZUCHTHAUS 

Aus dem Inhalt: 

Rache und Richter. Der Verbrecher aus Schuldgefühl. 
Der politische Verbrecher. Tagträume, Blutverbrecher. 
Hochstapler. 



Band 6 

PAUL PASCHEN 

DIE BEFREIUNG DER MENSCHLICHEN 
ä * i f, u STIMME 

Aus dem Inhalt: 

Kultur, Zivilisation und innere Sicherheit. Die Wieder- 
herstellung der Sprechstimme. Das Stottern. 

Band 7 

REN£ ALLENDY 

WILLE ODER BESTIMMUNG 

Aus dem Inhalt: 

Geschick, Vorbestimmung, Charakter und Tempera- 
ment. Prophezeihungen und Vorzeichen, Kosmos und 
Mensch. 

Preis der Bände 3-7 : In Ganzleinen RM 3.85, brosch. RM 2.85 

Band 8 

ANNA FREUD 

EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOANALYSE 

2 Auflage FÜR PÄDAGOGEN 

Aus dem Inhalt: 

Das Vergessen von Kindheitserlebnigsen, Triebleben, 

Vorpubertät u. Reifung, Psychoanalyse u. PädagOglkt 

Band 9 * n Ganzleinen RM 3.70 

HEINRICH MENG 

STRAFEN UND ERZIEHEN 

Aus dem Inhalt: 

Zur Psychologie der Strafe und des Strafens. Richten, 
Strafen und Erziehen als pädagogisches Problem. 

Band 10 * n Ganzleinen RM 4.80 

HANS ZÜLLIGER 

DER SCHWIERIGE SCHÜLER 

Acht Kapitel zur Theorie und Praxis der tiefenpsycho- 
logischen Erziehungsberatung und Erziehungshilfe. 

In Ganzleinen RM 7.80 

Zu beziehen durch den 

INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VERLAG 

IN WIEN 



Im Winter 1936/37 erscheint als Band II der „Bücher 
des Werdenden" in der 3. umgearbeiteten Auflage 

DAS PSYCHOANALYTISCHE 
VOLKSBUCH 

4 Teile: 
Seelenkunde, Seelische Hygiene, Krankheitskunde, 



Kulturkuudc 






Herausgeber : 
Dr. Paul Federn, Wien, und Dr. Heinrich Meng, Basel 

Mitarbeiter : 

Vorstand August Aichhorn, Wien- Dr. Franz Alexander, Chicago; 
Dozent Dr. Felix Deutsch, Boston ; Dr. Paul Federn, Wien ; Dr. Sändor 
Ferenczif, Budapest; Dr. Istvän Hollös, Budapest; Dr. Ludwig Jekels, 
Stockholm; Professor Ernest Jones, London; Dr. Ernst Kris, Wien; 
Dr. Karl Landauer, Amsterdam ; Thomas Mann, Küsnacht-Zürich ; 
Dr. Heinrich Meng, Basel; Dr. Hermann Nunberg, New York; Pfarrer 
Dr. Oskar Pfister, Zürich; Dr. Hanns Sachs, Boston; Professor Dr. 
Ernst Schneider, Stuttgart; Rechtsanwalt Hugo Staub, Paris. 



„Das psychoanalytische Volksbuch hat seit seinem Erscheinen so viel 
wertvolle Aufklärungen gegeben und neuen Anschauungen den Weg 
gebahnt, daß man seine dritte Auflage mit uneingeschränkter Befriedi- 
gung begrüßen kann. Möge es auch fernerhin Belehrung und Anre- 
gung in weite Kreise tragen." 

Aus einem Brief Sigm. Freuds an die Herausgeber 

„National-Zeitung", Basel, zur 2. Auflage: „Es bietet nicht mehr und 
nicht weniger als eine umfassende, bis ins kleinste Detail gemein- 
verständliche Darstellung des ungeheuren, verwickelten Fragenkom- 
Elexes, der sich mit dem Begriff des menschlichen Seelenlebens ver- 
indet. Man muß diesem Buch tatsächlich weiteste Verbreitung wün- 
schen ; ist es doch ein bedeutsamer Baustein zu künftiger seelischer 
Gesundung, trotz der Blitze, die noch immer, selbst von gewichtigen 
Händen gegen die Psychoanalyse geschmettert werden." 



Umfang voraussichtlich 600 Seiten und 11 Tafeln 

Preis etwa 14 sehw. Frs. Subskribenten erhalten eine 
erhebliche Preisermäßigung bei Vorbestellung im 

Internationalen Psychoanalytischen Verlag 
Wien IX, Berggasse 7 






ALMANACH DER 
PSYCHOANALYSE 



1936 

Sigm. Freud 

Nachschrift 1935. Nachtrag zur 
Selbstdarstellung 

Signi. Freud 

Die Feinheit einer Fehlhandlung 

Sigm. Freud 

Thomas Mann zum 60. Geburtstag 

Edoardo Weis» 

Einführung in die Psychoanalyse 
Theodor Reik 

Ueber wechselseitige Erhellung 
Sandor Rado 

Eine ängstliche Mutter 

Harold D. Lasswell 

Das Prinzip des dreifachen 
Appells. 

Ives Hendrick 

Stärke und Tragfähigkeit des Ichs 

Heinz Hartmann 

Psychoanalyse und Weltan- 
schauung 

Gregory Zilborg 

Zum Selbstmordproblem 
Karl Menninger 

Provozierte Unfälle 
Kaffacle Cnntarell» 

Psychoanalytische Elemente in 
der griechischen Tragödie 
Richard Starb« 

Ueber zwei Verse von Schiller 

Karin Michaelis 

Edgar Poe— im Lichte der Psycho- 
analyse 

Franz Alexander 

Diesseits und jenseits der 
Gefängnismauern 

F. Lowtzky 

Wiederholung bei Kierkegaard 

Edmund Bergler 

Das Rätsel der Bewußtheit des 
Oedipuskomplexes 

Heinrich Meng 

Zwang und Strafe 

Jenny Wälder 

Aus der Analyse eines Falles von 
nächtlichem Aufschrecken 
Hans Zulliger 

Milieuwechsel als heilerziehe- 
risches Mittel 

Friedrich Eckstein 

Aeltere Theorien des Unbewußten 



1935 

Sigm. Freud 

Psycho-Analysis 

Imre Hermann 

Das psychoanalytische Sinnvolle 

Richard Sterba 

Die psychoanalytische Therapie 

Sandor Rado 

Das Angstproblem 
Paul Federn 

Zunahme der Süchtigkeit 

Otto Fenichel 

Zur unbewußten Verständigung 

Alexander Szalai 

Die „ansteckende" Fehlhandlung 

Anna Freud 

Die Erziehung des Kleinkindes 
vom psychoanalytischen Stand- 
punkt 

Heinrich Meng 

Die richtige Behandlung schein- 
bar straffälliger Kinder 

Hans Zulliger 

Pädagogen erliegen dem Fluche 
der Lächerlichkeit 

Fritz Redl 

Gedanken über die Wirkungen 
einer Phimoseoperation 

Helene Deutsch 

Don Quijote und Donquijotismus 

Franz Alexander 

Bemerkungen über Fallstaff 
Marie Bonaparte 

Das magische Denken bei den 
Primitiven 

Henri Codet 

Das magische Denken im Alltags- 
leben 

Edward Glover, Morris Ginsberg, 
John Rickman 

Symposion über die Psychologie 
von Krieg und Frieden 



IN LEINEN JE 4 MARK — Inhaltsverzeichnis der früheren Jahrgänge 
gerne kostenlos durch den Verlag 



DIE ZEITSCHRIFTEN 
DER PSYCHOANALYSE 






INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT 
FÜR PSYCHOANALYSE 

Offizielles Organ der 
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

Herausgegeben von 
SIGM. FREUD 

Redigiert von Edward Bibring, Heinz Hartmann u. Sandor 
Rado. Jährlich 4 Hefte Lexikonoktav im Gesamtumfang 
von etwa 600 Seiten. Abonnement jährlich RM 28.— 

Im Januar 1937 beginnt der XXIII. fahrgang 






IMAGO 

Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre 

Grenzgebiete und Anwendungen 

Herausgegeben von 

SIGM. FREUD 

Redigiert von Ernst Kris und Robert Wälder 

Jährlich 4 Hefte Großoktav im Gesamtumfang von 

etwa 520 Seiten. Abonnement jährlich RM 22.— 

Im Januar 1937 beginnt der XXIII. Jahrgang 



ZEITSCHRIFT FÜR 
PSYCHOANALYTISCHE PÄDAGOGIK 

Herausgegeben von 

August Aichhorn, Paul Federn, Anna Freud, 

Heinrich Meng, Ernst Schneider, Hans Zulliger 

Redigiert von Wilhelm Hoffer 

6 Hefte jährlich im Gesamtumfang von etwa 
450 Seiten. Abonnement jährlich RM 10.— 

Im Januar 1937 beginnt der XI. Jahrgang 



NEUE SONDERHEFTE 

DER ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYT. PÄDAGOGIK 



Editha Sterba: Schule und Erziehungebera tung 
X. Jg., Heft 3 



RM 2.— 
August Aichhorn: Zur Technik der Erziehungsberatung 



X. Jg., Heft 1 



Psychoanalyse und Pubertät 



RM 2 — 



IX. Jg., Heft 5/6 



RM 4. 



Weitere Sonderhefte: 



Über Hochstapler und Verwahr- 
loste 

Jenny Wälder: Analyse eines 
Falles von Pavor nocturnus 

Die Angst des Kindes 

Heilpädagogik 

Montessori-Pädagogik 

Editha Sterba: Ein abnormales 
Kind 

Erziehungsberatung 

Herta Fuchs: Psychoanalytische 
Heilpädagogik im Kindergarten 

Spielen und Spiele 

Alice Bälint: Die Psychoana- 
lyse des Kinderzimmers 



Marie Bonaparte: Die Sexuali- 
tät des Kindes 

Strafen 

Menstruation 

Richard Sterba: Einführung in 
die psychoanalytische Libido- 
lehre 

Intellektuelle Hemmungen 
Selbstmord 

Aus der Kindheit eines Prole- 
tariermädchens 
Nacktheit 
Stottern 
Onanie 
Sexuelle Aufklärung 



•• 



AUSKÜNFTE 

in allen Fragen der psychoanalytischen 

Weltliteratur 

Quellennachweis aus Büchern und Zeitschriften 

Literatur über bestimmte Sachgebiete 

Werke einzelner Autoren 

Inhaltsangaben 

Auszüge aus vergriffenen Abhandlungen 

besorgt in 
deutscher, englischer und französischer Sprache 
gegen mäßiges Honorar 
die 

INTERNATIONALE 
ZENTRALSTELLE FÜR PSYCHOANALYTISCHE 

BIBLIOGRAPHIE 

(International Institute for Psycho-Analy tical Biblio- 
graphy — Office International pour la Bibliographie 

Psychanalytique) 

Wien IX, Berggasse 7 



ALMA 

NACH 



AI 



manac 



u 



er 



Psychoanalyse 



imi 



1937 



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