Akanack B
Psyckoanalyse
.
1
ALMANACH DER
PSYCHOANALYSE
1937
1 Almanach 1937
Almanach
der
Psychoanalyse
1937
Internationaler
Psychoanalytischer Verlag
Wien
Alle Hechte,
insbesondere die der Übersetzung, vorbehalten
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Printed in Austria
Druck: A. Ketterl, Wien XVIII
INHALTSVERZEICHNIS
.
Seite
Kalendarium 7
SIGM. FREUD
Eine Erinnerungsslörung auf der Akropolis .... 9
THOMAS MANN
Freud und die Zukunft 22
EDUARD HITSCHMANN
Zur Entstehung des Kinderbuches von Selma Lager-
löf „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgers-
son mit den Wildgänsen" ->4
EDWARD GLOVER
„Utopien" 64
THEODOR REIK
Vom Wesen des jüdischen Witzes 71
ANNA FREUD
Die Ich-Einschränkung 82
ANNA FREUD
Triebangsl in der Pubertät 94
HANNS SACHS
Über Menschenkenntnis H5
RICHARD STERBA
Aus einem Handwörterbuch der Psychoanalyse ... 126
ROBERT WÄLDER
Die Bedeutung des Werkes Sigm. Freuds für die
Sozial und Rechtswissenschaften 1^0
ERNST KRIS
Zur Psychologie älterer Biographik (dargestellt an
der des bildenden Künstlers) lbU
AUGUST AICIIHORN
Die narzißtische Übertragung des „jugendlichen
Hochstaplers" 1JÖ
Seite
JOHN RICKMAN
Über Kindercrzichung 216
PAUL FEDERN
Ichgrenzen, Ichslärkc und Identifizierung 221
EDWARD BIBRING
Zur Entwicklung und Problematik der Triebtheorie 230
HEINRICH MENG
Die Stellung der Wissenschaft zu Freuds 80. Ge-
burtstag 252
BILDBEILAGEN
S i g m. Freud. Nach einem Ölgemälde
von Prof. Wilhelm Victor Krausz,
Wien, 1936; mit freundlicher Ge-
nehmigung des Künstlers Titelblatt
Thomas Mann spricht zu Ehren Sigm.
Freuds im Wiener Konzerthaus am
8. Mai 1936 nach Seite 32
Sigm. Freud. Plastik von 0. Nomon,
Brüssel, 1936 nach Seite 144
KALENDARIUM FÜR DAS JAHR
1937
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Ostersonntag 28. März
Pfingstsonntag 16. Mai
Brief an Romain Rolland
Von Sigm. Freud
Für eine Festschrift zu Romain Hollands
70. Geburtstag bestimmt.
Verehrter Freund!
Dringend aufgefordert, etwas Geschriebenes zur Feier
Ihres siebzigsten Geburtstages beizutragen, habe ich
mich lange bemüht, etwas zu finden, was Ihrer in
irgendeinem Sinne würdig wäre, was meiner Bewun-
derung Ausdruck geben könnte für Ihre Wahrheitsliebe,
Ihren Bekennermut, Ihre Menschenfreundlichkeit und
Hilfsbereitschaft. Oder was die Dankbarkeit für den
Dichter bezeugen würde, der mir soviel Genuß und
Erhebung geschenkt hat. Es war vergeblich; ich bin
um ein Jahrzehnt älter als Sie, meine Produktion ist
versiegt. Was ich Ihnen schließlich zu bieten habe, ist
die Gabe eines Verarmten, der „einst bessere Tage
gesehen hat".
Sie wissen, meine wissenschaftliche Arbeit hatte sich
das Ziel gesetzt, ungewöhnliche, abnorme, pathologi-
sche Erscheinungen des Seelenlebens aufzuklären, das
heißt, sie auf die hinter ihnen wirkenden psychischen
Kräfte zurückzuführen und die dabei tätigen Mechanis-
men aufzuzeigen. Ich versuchte dies zunächst an der
eigenen Person, dann auch an anderen, und endlich in
kühnem Übergriff auch am Menschengeschlecht im
Ganzen. Ein solches Phänomen, das ich vor einem
Menschenalter, im Jahre 1901, an mir erlebt und nie
verstanden hatte, tauchte in den letzten Jahren in mei-
ner Erinnerung immer wieder auf; ich wußte zunächst
nicht warum. Ich entschloß mich endlich, das kleine
Erlebnis zu analysieren, und teile Ihnen hier das Er-
gebnis dieser Studie mit. Dabei muß ich Sie natürlich
bitten, den Angaben aus meinem persönlichen Leben
mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als sie sonst ver-
dienten.
Eine Erinnerungsstörimg auf der Akropolis
Ich pflegte damals alljährlich Ende August oder Anfang
September mit meinem jüngeren Bruder eine Ferienreise
anzutreten, die mehrere Wochen dauerte und uns nach
Rom, irgendeiner Gegend des Landes Italien oder an
eine Küste des Mittelmeeres führte. Mein Bruder ist
zehn Jahre jünger als ich, also gleichaltrig mit Ihnen,
— ein Zusammentreffen, das mir erst jetzt auffällt. In
diesem Jahr erklärte mein Bruder, seine Geschäfte er-
laubten ihm keine längere Abwesenheit, er könnte höch-
stens eine Woche ausbleiben, wir müßten unsere Reise
abkürzen. So beschlossen wir, über Triest nach der
Insel Korfu zu fahren und unsere wenigen Urlaubs la<*e
dort zu verbringen. In Triest besuchte er einen dort
ansässigen Geschäftsfreund, ich begleitete ihn. Der
freundliche Mann erkundigle sich auch nach unseren
weiteren Absichten, und als er hörte, daß wir nach
Korfu wollten, riet er uns dringend ab. „Was wollen
Sie um diese Zeit dort machen? Es ist so heiß, daß
Sie nichts unternehmen können. Gehen Sie doch lieber
nach Athen. Der Lloyddampfer geht heute nachmittags
ab, läßt Ihnen drei Tage Zeit, um die Stadt zu sehen,
10
und holt Sie auf seiner Rückfahrt ab. Das wird loh-
nender und angenehmer sein."
Als wir den Triestiner verlassen hatten, waren wir
beide in merkwürdig übler Stimmung. Wir diskutierten
den uns vorgeschlagenen Plan, fanden ihn durchaus
unzweckmäßig und sahen nur Hindernisse gegen seine
Ausführung, nahmen auch an, daß wir ohne Reisepässe
in Griechenland nicht eingelassen würden. Die Stunden
bis zur Eröffnung des Lloydbureaus wanderten wir
mißvergnügt und unentschlossen in der Stadt herum.
Aber als die Zeit gekommen war, gingen wir an den
Schalter und lösten Schiffskarten nach Athen, wie selbst-
verständlich, ohne uns um die vorgeblichen Schwierig-
keiten zu kümmern, ja ohne daß wir die Gründe für
unsere Entscheidung gegeneinander ausgesprochen hät-
ten. Dies Benehmen war doch sehr sonderbar. Wir an-
erkannten später, daß wir den Vorschlag, nach Athen
anstatt nach Korfu zu gehen, sofort und bereitwilligst
angenommen hatten. Warum hatten wir uns also die
Zwischenzeit bis zur Öffnung der Schalter durch üble
Laune verstört und uns nur Abhaltungen und Schwierig-
keiten vorgespiegelt?
Als ich dann am Nachmittag nach der Ankunft auf
der Akropolis stand und mein Blick die Landschaft
umfaßte, kam mir plötzlich der merkwürdige Gedanke:
Also existiert das alles wirklich so, wie
wir es auf der Schule gelernt haben?! Ge-
nauer beschrieben, die Person, die eine Äußerung tat,
sonderte sich, weit schärfer als sonst merklich, von
einer anderen, die diese Äußerung wahrnahm, und beide
waren verwundert, wenn auch nicht über das Gleiche.
1 1
Die eine benahm sich so, als müßte sie unter dem
Eindruck einer unzweifelhaften Beobachtung an etwas
glauben, dessen Realität ihr bis dahin unsicher er-
schienen war. Mit einer mäßigen Übertreibung: als ob
jemand, entlang des schottischen Loch Ness spa-
zierend, plötzlich den an's Land gespülten Leib des
vielberedeten Ungeheuers vor sich sähe und sich zum
Zugeständnis gezwungen fände: Also existiert sie wirk-
lich, die Seeschlange, an die wir nicht geglaubt haben!
Die andere Person war aber mit Recht erstaunt, weil
sie nicht gewußt hatte, daß die reale Existenz von
Athen, der Akropolis und dieser Landschaft jemals ein
Gegenstand des Zweifels gewesen war. Sie war eher
auf eine Äußerung der Entzückung und Erhebung vor-
bereitet.
Es liegt nun nahe, zu sagen, der befremdliche Ge-
danke auf der Akropolis wolle nur betonen, es sei
doch etwas ganz anderes, wenn man etwas mit eigenen
Augen sehe, als wenn man nur davon höre oder lese.
Aber das bliebe eine sehr sonderbare Einkleidung eines
uninteressanten Gemeinplatzes. Oder man könnte die
Behauptung wagen, man habe als Gymnasiast zwar
gemeint, man sei von der historischen Wirklichkeit
der Stadt Athen und ihrer Geschichte überzeugt gewesen,
aber aus jenem Einfall auf der Akropolis erfahre man
eben, daß man damals im Unbewußten nicht daran
geglaubt habe; erst jetzt habe man sich auch eine „ins
Unbewußte reichende" Überzeugung erworben. Eine sol-
che Erklärung klingt sehr tiefsinnig, aber sie ist leich-
ter aufzustellen als zu erweisen, wird auch theoretisch
recht angreifbar sein. Nein, ich meine, die beiden Phä-
12
nomene, die Verstimmung in Triest und der Einfall
auf der Akropolis gehören innig zusammen. Das erstere
davon ist leichter verständlich und mag uns zur Er-
klärung des späteren verhelfen.
Das Erlebnis in Triest ist, wie ich merke, auch nur
der Ausdruck eines Unglaubens. „Wir sollen Athen
zu sehen bekommen? Aber das geht ja nicht, es wird
zu schwierig sein." Die begleitende Verstimmung ent-
spricht dann dem Bedauern darüber, daß es nicht geht.
Es wäre ja so schön gewesen! Und nun versteht man,
woran man ist. Es ist ein Fall von „too good to be twe",
wie er uns so geläufig ist. Ein Fall von jenem Unglau-
ben, der sich so häufig zeigt, wenn man durch eine
glückbringende Nachricht überrascht wird, daß man
einen Treffer gemacht, einen Preis gewonnen hat, für
ein Mädchen, daß der heimlich geliebte Mann bei den
Eltern als Bewerber aufgetreten ist, u. dgl.
Ein Phänomen konstaüeren, läßt natürlich sofort die
Frage nach seiner Verursachung entstehen. Ein solcher
Unglaube ist offenbar ein Versuch, ein Stück der Reali-
tät abzulehnen, aber es ist etwas daran befremdend Wir
würden gar nicht erstaunt sein, wenn sich ein solcher
Versuch gegen ein Stück Realität richten sollte das
Unlust zu bringen droht; nnser psychischer Mechanis-
mus ist darauf sozusagen eingerichtet. Aber warum em
derartiger Unglaube gegen etwas, was im Gegenteil hohe
Lust verspricht? Ein wirklich paradoxes Verhalten Ich
erinnere mich aber, daß ich bereits früher einmal den
ähnlichen Fall jener Personen behandelt habe, die wie
ich es ausdrückte, „am Erfolge scheitern . Sonst er-
krankt man in der Regel an der Versagung, der Nicht
'S
— *-.«—; 7 .-->£-*-;
erfüllung eines lebenswichtigen Bedürfnisses oder Wun-
sches; bei diesen Personen ist es aber umgekehrt, sie
erkranken, gehen selbst daran zu Grunde, daß ihnen
ein überwältigend starker Wunsch erfüllt worden ist.
Die Gegensätzlichkeit der beiden Situationen ist aber
nicht so groß, wie es anfangs scheint. Im paradoxen
Falle ist einfach eine innere Versagung an die Stelle
der äußeren getreten. Man gönnt sich das Glück nicht,
die innere Versagung befiehlt, an der äußeren festzu-
halten. Warum aber? Weil, so lautet in einer Reihe von
Fällen die Antwort, man sich vom Schicksal etwas
so Gutes nicht erwarten kann. Also wiederum das „too
good to be true". die Äußerung eines Pessimismus, von
dem viele von uns ein großes Stück in sich zu beher-
bergen scheinen. In anderen Fällen ist es ganz so wie
bei denen, die am Erfolg scheitern, ein Schuld- oder
Minderwertigkeitsgefühl, das man übersetzen kann: Ich
bin eines solchen Glückes nicht würdig, ich verdiene
es nicht. Aber diese beiden Motivierungen sind im
Grunde das nämliche, die eine nur eine Projektion der
anderen. Denn, wie längst bekannt, ist das Schicksal,
von dem man sich so schlechte Behandlung erwartet,
eme Materialisation unseres Gewissens, des strengen
Über-Ichs in uns, in dem sich die strafende Instanz
unserer Kindheit niedergeschlagen hat
Damit wäre, meine ich, nnser Benehmen in Triest
erklärt. Wir konnten nicht glanben, daß uns die Freude
bestimmt sein sollte, Athen zu sehen. Daß das Stück
Realität, das wir ablehnen wniiw - i.
_.. ,, ' . cu wollten, zunächst nur eine
Möglichkeit war, bestimmte die Eigenlümtichkeiten un-
serer damahgen Reaktion. Als wir dann auf der Akro-
14
Polis standen, war die Möglichkeit zur Wirklichkeit
geworden, und derselbe Unglaube fand nun einen ver-
änderten, aber weit deutlicheren Ausdruck. Dieser hätte
ohne Entstellung lauten sollen: Ich hätte wirklich nicht
geglaubt, daß es mir je gegönnt sein würde, Athen
mit meinen eigenen Augen zu sehen, wie es doch jetzt
unzweifelhaft der Fall ist! Wenn ich mich erinnere,
welche glühende Sehnsucht, zu reisen und die Welt
zu sehen, mich in der Gymnasialzeit und später be-
herrscht hatte, und wie spät sie sich in Erfüllung um-
zusetzen begann, verwundere ich mich dieser Nach-
wirkung auf der Akropolis nicht; ich war damals
achtundvierzig Jahre alt. Ich habe meinen jüngeren
Bruder nicht befragt, ob er ähnliches wie ich verspürt.
Eine gewisse Scheu lag über dem ganzen Erlebnis, sie
hatte schon in Triest unseren Gedankenaustausch be-
hindert.
Wenn ich aber den Sinn meines Einfalls auf der
Akropolis richtig erraten habe, er drücke meine freudige
Verwunderung darüber aus, daß ich mich jetzt an die-
sem Ort befinde, so erhebt sich die weitere Frage, war-
um dieser Sinn im Einfall eine so entstellte und ent-
stellende Einkleidung erfahren hat.
Der wesentliche Inhalt des Gedankens ist auch in der
Entstellung erhalten geblieben, es ist ein "Unglaube.
„Nach dem Zeugnis meiner Sinne stehe ich jetzt auf
der Akropolis, allein ich kann es nicht glauben". Die-
ser Unglaube, dieser Zweifel an einem Stück der Reali-
tät, wird aber in der Äußerung in zweifacher Weise
verschoben, erstens in die Vergangenheit gerückt und
zweitens von meiner Beziehung zur Akropolis weg
15
auf die Existenz der Akropolis selbst verlegt. So kommt
etwas zustande, was der Behauptung gleichkommt, ich
hätte früher einmal an der realen Existenz der Akro-
polis gezweifelt, was meine Erinnerung aber als un-
richtig, ja als unmöglich ablehnt.
Die beiden Entstellungen bedeuten zwei von einander
unabhängige Probleme. Man kann versuchen, tiefer in
den Umsetzungsprozeß einzudringen. Ohne näher anzu-
geben, wie ich dazu komme, will ich davon ausgehen,
das Ursprüngliche müsse eine Empfindung gewesen sein,
daß an der damaligen Situation etwas Unglaubwürdiges
und Unwirkliches zu verspüren sei. Die Situation um-
faßt meine Person, die Akropolis und meine Wahrneh-
mung derselben. Ich weiß diesen Zweifel nicht unter-
zubringen, ich kann ja meine Sinneseindrücke von der
Akropolis nicht in Zweifel ziehen. Ich erinnere micl
aber, daß ich in der Vergangenheit an etwas gezwei-
felt, was mit eben dieser örtlichkeit zu tun hatte, und
finde so die Auskunft, den Zweifel in die Vergangenheit
zu versetzen. Aber dabei ändert der Zweifel seinen
Inhalt. Ich erinnere mich nicht einfach daran, daß ich
in frühen Jahren daran gezweifelt, ob ich je die Akro-
polis selbst sehen werde, sondern ich behaupte, daß
ich damals überhaupt nicht an die Realität der Akro-
polis geglaubt habe. Grade aus diesem Ergebnis dei
Entstellung ziehe ich den Schluß, daß die gegenwärtige
Situation auf der Akropolis ein Element von Zweifel
an der Realität enthalten hat. Es ist mir bisher gewiß
nicht gelungen, den Hergang klarzumachen, darum will
ich kurz abschließend sagen, die ganze anscheinend
verworrene und schwer darstellbare psychische Situa-
16
tion löst sich glatt durch die Annahme, daß ich damals
auf der Akropolis einen Moment lang das Gefühl hatte
— oder hätte haben können: was ich da sehe, ist
nicht wirklich. Man nennt das ein „Entfremdungs-
gefühl". Ich machte einen Versuch, mich dessen zu er-
wehren, und es gelang mir auf Kosten einer falschen
Aussage über die Vergangenheit.
Diese Entfremdungen sind sehr merkwürdige, noch
wenig verstandene Phänomene. Man beschreibt sie als
„Empfindungen", aber es sind offenbar komplizierle
Vorgänge, an bestimmte Inhalte geknüpft und mit Ent-
scheidungen über diese Inhalte verbunden. Bei gewissen
psychischen Erkrankungen sehr häufig, sind sie doch
auch dem normalen Menschen nicht unbekannt, etwa
wie die gelegentlichen Halluzinationen der Gesunden.
Aber sie sind doch gewiß Fehlleistungen, von abnormem
Aufbau wie die Träume, die ungeachtet ihres regelmäßi-
gen Vorkommens beim Gesunden uns als Vorbilder see-
lischer Störung gelten. Man beobachtet sie in zweier-
lei Formen; entweder erscheint uns ein Stück der Reali-
tät als fremd oder ein Stück des eigenen Ichs. In letz-
terem Fall spricht man von „Depersonalisation"; Ent-
fremdungen und Depersonalisationen gehören innig zu-
sammen. Es gibt andere Phänomene, in denen wir
gleichsam die positiven Gegenstücke zu ihnen erken-
nen mögen, die sog. „Fausse Reconnaissance" , das
»D&jä vu", „Dö/ä raconti", Täuschungen, in denen wir
etwas als zu unserem Ich gehörig annehmen wollen,
wie wir bei den Entfremdungen etwas von uns auszu-
schließen bemüht sind. Ein naiv-mystischer, unpsycho-
logischer Erklärungsversuch will die Phänomene des
2 Almanach 1937
Di ja vu als Beweise für frühere Existenzen unseres
seelischen Ichs verwerten. Von der Depersonalisation
führt der Weg zu der höchst merkwürdigen „Double
Conscience", die man richtiger „Persönlichkeitsspaltung'
benennt. Das ist alles noch so dunkel, so wenig wis-
senschaftlich bezwungen, daß ich mir verbieten muß,
es vor Ihnen weiter zu erörtern.
Es genügt meiner Absicht, wenn ich auf zwei allge-
meine Charaktere der Enlfremdungsphänomene zurück-
komme. Der erste ist, sie dienen alle der Abwehr,
wollen etwas vom Ich fernhalten, verleugnen. Nun kom-
men von zwei Seiten her neue Elemente an das Ich
heran, die zur Abwehr auffordern können, aus der
realen Außenwelt und aus der Innenwelt der im Ich
auftauchenden Gedanken und Regungen. Vielleicht deckt
diese Alternative die Unterscheidung zwischen den
eigentlichen Entfremdungen und den Depersonalisatio-
nen. Es gibt eine außerordentliche Fülle von Methoden,
Mechanismen sagen wir, deren sich unser Ich bei der
Erledigung seiner Abwehraufgaben bedient. In meiner
nächsten Nähe erwächst jetzt eine Arbeit, die sich mit
dem Studium dieser A b wehr melho den beschäftigt;
meine Tochter, die Kinderanalytikerin, schreibt eben ein
Buch darüber. Von der primitivsten und gründlichsten
j dieser Methoden, von der „Verdrängung", hat unsere
i Vertiefung in die Psychopathologie überhaupt ihren Aus-
gang genommen. Zwischen der Verdrängung und der
normal zu nennenden Abwehr des Peinlich-Unerträg-
, liehen durch Anerkennung, Überlegung, Urteil und
zweckmäßiges Handeln liegt eine große Reihe von Ver-
hallungsweisen des Ichs von mehr oder weniger deut-
18
lieh pathologischem Charakter. Darf ich bei einem
Grenzfall einer solchen Abwehr verweilen? Sie kennen
das berühmte Klagelied der spanischen Mauren „Ay
de mi Alhama", das erzählt, wie der König Boabdil die
Nachricht vom Fall seiner Stadt Alhama aufnimmt. Er
ahnt, daß dieser Verlust das Ende seiner Herrschaft
bedeutet. Aber er will es nicht „wahr haben", er be-
schließt, die Nachricht als „non arrive"' zu behandeln.
Die Strophe lautet:
Carlas le fueron venidas,
de que Alhama era ganada.
Las cartes echö en el fuego
y al mensagero mataba.
Man errät leicht, daß an diesem Benehmen des Kö-
nigs das Bedürfnis mitbeteiligt ist, dem Gefühl seiner
Ohnmacht zu widerstreiten. Indem er die Briefe ver-
brennt und den Boten töten läßt, sucht er noch seine
Machtvollkommenheit zu demonstrieren.
Der andere allgemeine Charakter der Entfremdungen,
ihre Abhängigkeit von der Vergangenheit, von dem Er-
innerungsschatz des Ichs und früheren peinlichen Er-
lebnissen, die vielleicht seither der Verdrängung anheim
gefallen sind, wird ihnen nicht ohne Einspruch zugestan-
den. Aber grade mein Erlebnis auf der Akropolis, das
ja in eine Erinnerungsstörung, eine Verfälschung der
Vergangenheit ausgeht, hilft uns dazu, diesen Einfluß
aufzuzeigen. Es ist nicht wahr, daß ich in den Gym-
nasial jähren je an der realen Existenz von Athen gezwei-
felt habe. Ich habe nur daran gezweifelt, daß ich Athen
je werde sehen können. So weit zu reisen, es „so weit
2* 19
zu bringen", erschien mir als außerhalb jeder Möglich-
keit. Das hing mit der Enge und Armseligkeit unserer
Lebensverhältnisse in meiner Jugend zusammen. Die
Sehnsucht, zu reisen, war gewiß auch ein Ausdruck des
Wunsches, jenem Druck zu entkommen, verwandt dem
Drang, der so viel halbwüchsige Kinder dazu antreibt,
vom Hause durchzugehen. Es war mir längst klar
geworden, daß ein großes Stück der Lust am Reisen in
der Erfüllung dieser frühen Wünsche besteht, also in
der Unzufriedenheit mit Haus und Familie wurzelt.
Wenn man zuerst das Meer sieht, den Ozean überquert,
Städte und Länder als Wirklichkeiten erlebt, die so
lange ferne, unerreichbare Wunschdinge waren, so fühlt
man sich wie ein Held, der unwahrscheinlich große
Taten vollbracht hat. Ich hätte damals auf der Akropolis
meinen Bruder fragen können: Weißt Du noch, wie wir
in unserer Jugend Tag für Tag denselben Weg gegangen
sind, von der Straße ins Gymnasium, am Sonntag dann
jedesmal in den Prater oder auf eine der Landpartien,
die wir schon so gut kannten, und jetzt sind wir in
Athen und stehen auf der Akropolis! Wir haben es
wirklich weit gebracht! Und wenn man so Kleines mit
Größerem vergleichen darf, hat nicht der erste Napo-
leon während der Kaiserkrönung in Notre-Dame sieb
zu einem seiner Brüder gewendet - es wird wohl der
älteste, Josef, gewesen sein - und bemerkt: „Was würde
Monsieur notre Pcre dazu sagen, wenn er jetzt dabei
sein konnte?"
Hier stoßen wir aber auf die Lösung des kleinen
Problems, warum wir uns schon in Triest das Ver-
gnügen an der Reise nach Athen verstört hatten. Es
20
muß so sein, daß sich an die Befriedigung, es so weit
gebracht zu haben, ein Schuldgefühl knüpft; es ist
etwas dabei, was unrecht, was von alters her verbo-
ten ist. Das hat mit der kindlichen Kritik am Vater zu
tun, mit der Geringschätzung, welche die frühkind-
liche Oberschätzung seiner Person abgelöst hatte. Es
sieht aus, als wäre es das Wesentliche am Erfolg, es
weiter zu bringen als der Vater, und als wäre es
noch immer unerlaubt, den Vater übertreffen zu wollen.
Zu dieser allgemein giltigen Motivierung kommt noch
für unseren Fall das besondere Moment hinzu, daß in
dem Thema Athen und Akropolis an und für sich
ein Hinweis auf die Überlegenheit der Söhne enthalten
ist. Unser Vater war Kaufmann gewesen, er besaß
kerne Gymnasialbildung, Athen konnte ihm nicht viel
bedeuten. Was uns im Genuß der Reise nach Athen
störte, war also eine Regung der Pietät. Und jetzt
werden Sie sich nicht mehr verwundern, daß mich
die Erinnerung an das Erlebnis auf der Akropolis so
oft heimsucht, seitdem ich selbst alt, der Nachsicht be-
dürftig geworden bin und nicht mehr reisen kann.
Ich grüße Sie herzlich, Ihr
Sigm. Freud.
21
Freud und die Zukunft
Festvortrag im Wiener Akademischen Verein für
medizinische Psychologie zu Sigm. Freuds 80. Geburtstag
Von Thomas Mann
Erschienen im Dr. Bermann-Fischer Ver-
lag, Wien 1936; Vorabdruck mit Genehmigung
des Verlages in „Imago, Zeitschrift für psy-
choanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete
und Anwendungen'', Bd. XXII, 1936.
Meine Damen und Herren! Was legitimiert einen
Dichter, den Festredner zu Ehren eines großen For-
schers zu machen? Oder, wenn er die Gewissensfrage
auf andere abwälzen darf, die glaubten, ihm diese Rolle
übertragen zu sollen: wie rechtfertigt es sich, daß eine
gelehrte Gesellschaft, in unserem Fall eine akademische
Vereinigung für medizinische Psychologie, nicht einen
ihres Zeichens, einen Mann der Wissenschaft bestellt,
damit er den hohen Tag ihres Meisters im Worte begehe,
sondern einen Dichter, das heißt also doch einen Men-
schengeist, der wesentlich nicht auf Wissen, Scheidung,
Einsicht, Erkenntnis, sondern auf Spontaneität, Syn-
these, aufs naive Tun und Machen und Hervorbringen
gestellt ist und so allenfalls zum Objekt förder-
licher Erkenntnis werden kann, ohne seiner Natur und
Bestimmung nach zu ihrem Subjekt zu taugen?
Geschieht es vielleicht in der Erwägung, daß der Dich-
ter als Künstler, und zwar als geistiger Künstler, zum
Begehen geistiger Feste, zum Festefeiern überhaupt be-
nifcncr, daß Ol' von Natur ein festlicherer Mensch sei
als der Erkennende, der Wissenschaftler? — Ich will
22
dieser Meinung nicht widersprechen. Es ist wahr, der
Dichter versteht sich auf Lebensfeste; er versteht sich
sogar auf das Leben als Fest, - womit ein Moüv zum
erstenmal leise und vorläufig berührt wird, dem es
bestimmt sein mag, in der geistigen Huldigungsmusik
dieses Abends eine thematische Rolle zu spielen.
Aber der festliche Sinn dieser Veranstaltung liegt nach
der Absicht ihrer Veranstalter wohl eher in der Sache
selbst das heißt: in der solennen und neuartigen Be-
gegnung von Objekt und Subjekt, des Gegenstandes
der Erkenntnis mit dem Erkennenden, - einer saturna-
lischen Umkehrung der Dinge, in welcher der Erken-
nende und Traumdeuter zum festlichen Objekt träume-
rischer Erkenntnis wird, - und auch gegen diesen Ge-
danken habe ich nichts einzuwenden: schon darum
nicht weil auch in ihm bereits ein Motiv aufklingt,
das eine bedeutende symphonische Zukunft hat. Voller
instrumentiert und verständlicher wird es wiederkeh-
ren, denn ich müßte mich sehr täuschen oder gerade
die' Vereinigung von Subjekt und Objekt, ihr Ineinander-
fließen, ihre Identität, die Einsicht in die geheimnis-
volle Einheit von Welt und Ich, Schicksal und Charak-
ter, Geschehen und Machen, in das Geheimnis also der
Wirklichkeit als eines Werkes der Seele - oder, sage
ich, gerade dies wäre das A und O aller psychoanalyti-
schen Initiation . . .
Auf jeden Fall: Entschließt man sich, einen Dichter
zum Lobredner eines genialen Forschers zu ernennen,
so sa*t das etwas aus über den einen wie den anderen;
es ist kennzeichnend für beide. Ein besonderes Ver-
hältnis des zu Feiernden zur Welt der Dichtung, der
23
Literatur geht ebenso daraus hervor wie eine eigen-
tümliche Beziehung des Dichters, des Schriftstellers zu
der Erkenntnissphäre, als deren Schöpfer und Meister
jener vor der Welt steht; und das wiederum Besondere
und Merkwürdige bei diesem Wechselverhällnis, diesem
Einandernahesein ist, daß es beiderseits lange Zeit unge-
wußl, im „Unbewußten" blieb: in jenem Bereich der
Seele also, dessen Erkundung und Erhellung, dessen
Eroberung für die Humanität die eigentlichste Sendung
gerade dieses erkennenden Geistes ist. Die nahen Bezie-
hungen zwischen Literatur und Psychoanalyse sind bei-
den Teilen seit längerem bewußt geworden. Das Fest-
liche dieser Stunde aber liegt, wenigstens in meinen
Augen und für mein Gefühl, in der wohl zum ersten
Male sich ereignenden öffentlichen Begegnung der bei-
den Sphären, in der Manifestation jenes Bewußtseins,
dem demonstrativen Bekenntnis zu ihm.
Ich sagte, die Zusammenhänge, die tiefreichenden
Sympathien seien beiden Teilen lange Zeit unbekannt
geblieben. Und wirklich weiß man ja, daß der Geist, den
zu ehren uns angelegen ist, Sigmund Freud, der Be-
gründer der Psychoanalyse als Therapeut ik und allge-
meiner Forschungsmethode, den harten Weg seiner Er-
kenntnisse ganz allein, ganz selbständig, ganz nur als
Arzt und Naturforscher gegangen ist, ohne der Trost-
und Stärkungsmittel kundig zu sein, die die große
Literatur für ihn bereit gehalten hätte. Er hat Nietzsche
nicht gekannt, bei dem man überall Frcudsche Ein-
sichten blitzhaft vorweggenommen findet; nicht Novalis,
dessen romantisch-biologische Träumereien und Einge-
bungen sich analytischen Ideen oft so erstaunlich an-
24
nähern; nicht Kierkegaard, dessen christlicher Mut zum
psychologisch Äußersten ihn tief und förderlich hätte
ansprechen müssen; und gewiß auch Schopenhauer
nicht, den schwermütigen Symphoniker einer nach Um-
kehr und Erlösung trachtenden Triebphilosophie... Es
mußte wohl so sein. Auf eigenste Hand, ohne die Kennt-
nis intuitiver Vorwegnahmen mußte er wohl seine Ein-
sichten methodisch erobern: die Stoßkraft seiner Er-
kenntnis ist durch solche Gunstlosigkeit wahrscheinlich
gesteigert worden, und überhaupt ist Einsamkeit von
seinem ernsten Bilde nicht wegzudenken, — jene Ein-
samkeit, von der Nietzsche spricht, wenn er in seinem
hinreißenden Essay „Was bedeuten asketische Ideale?"
Schopenhauer einen „wirklichen Philosophen" heißt,
„einen wirklich auf sich gestellten Geist, einen Mann
und Ritter mit erzenem Blick, der den Mut zu sich
selber hat, der allein zu stehn weiß und nicht erst
auf Vordermänner und höhere Winke wartet — ". Im
Bilde dieses „Mannes und Ritters", eines Ritters zwi-
schen Tod und Teufel, habe ich den Psychologen des
Unbewußten zu sehen mich gewöhnt, seit seine gei-
stige Figur in meinen Gesichtskreis rückte.
Es geschah spät; viel später, als man bei der Ver-
wandtschaft des dichterisch-schriftstellerischen Impul-
ses überhaupt und meiner Natur im besonderen mit
dieser Wissenschaft hätte erwarten sollen. Zwei Ten-
denzen sind es vor allem, die diese Verwandtschaft
ausmachen: Die Liebe zur Wahrheit erstens, ein
Wahrheitssinn, eine Empfindlichkeit und Empfänglich-
keit für die Reize und Bitterkeiten der Wahrheit, welche
sich hauptsächlich als psychologische Reizbarkeit
25
I
und Klarsieht äußert, bis zu dem Grade, daß der Begriff
der Wahrheit fast in dem der psychologischen Wahr-
nehmung und Erkenntnis aufgeht; und zweitens der
Sinn für die Krankheit, eine gewisse durch Ge-
sundheit ausgewogene Affinität zu ihr und das Erlebnis
ihrer produktiven Bedeutung
Was die Wahrheilsliebe betrifft, die lcidend-morali-
stisch gestimmte Liebe zur Wahrheit als Psycho-
logie, so stammt sie aus der hohen Schule Nietzsches,
bei dem in der Tat das Zusammenfallen von Wahrheit
und psychologischer Wahrheit, des Erkennenden
mit dem Psychologen in die Augen springt: sein Wahr-
heitsstolz, sein Begriff selbst von Ehrlichkeit und intel-
lektueller Reinlichkeit, sein Wissensmut und seine Wis-
sensmelancholie, sein Selbstkenncrtum, Selbsthenker tum
— all dies ist psychologisch gemeint, hat psycho-
logischen Charakter, und ich vergesse nie die erziehe-
rische Bekräftigung und Vertiefung, die eigene An-
lagen durch das Erlebnis von Nietzsches psychologischer
Passion erfuhren. Das Wort „Erkenntnisekel" steht im
„Tonio Kroger". Es hat gut Nietzschesches Gepräge,
und seine Jünglingsschwer mut deutet auf das Hamlet-
hafte in Nietzsches Natur, in der die eigene sich spie-
gelte, - einer Natur, zum Wissen berufen, ohne eigent-
lich dazu geboren zu sein. - Es sind jugendliche
Schmerzen und Traurigkeiten, von denen ich da spreche,
und die von den reifenden Jahren ins Heiterere, Ruhi-
gere überführt worden sind. Aber die Neigung, Wahr-
heit und Wissen psychologisch zu verstehen, sie mit
Psychologie gleichzusetzen, psychologischen Wahrheits-
willen als den Willen zur Wahrheit Überhaupi und
26
Psychologie als Wahrheit im eigentlichsten und tapfer-
sten Sinn des Wortes zu empfinden - diese Neigung,
die man wohl naturalistisch nennen und der Erziehung
durch den literarischen Naturalismus zuschreiben muß,
ist mir geblieben, und sie bildet eine Vorbedingung der
Aufgeschlossenheit für die seelische Naturwissenschaft,
die den Namen „Psychoanalyse" trägt.
Die zweite, sagte ich, ist der Sinn für die Krankheit,
genauer: für die Krankheit als Erkenntnismittel; und
auch ihn könnte man von Nietzsche herleiten, der
wohl wußte, was er seiner Krankheit verdankte, und
auf jeder Seite zu lehren scheint, daß es kein tieferes
Wissen ohne Krankheitserfahrung gibt und alle höhere
Gesundheit durch die Krankheit hindurchgegangen sein
muß. Auch diesen Sinn also könnte man auf das
Erlebnis Nietzsches zurückführen, wenn er nicht mit
dem Wesen des geistigen Menschen überhaupt und des
dichterischen zumal, ja mit dem Wesen aller Mensch-
heit und Menschlichkeit, von der der Dichter ja nur ein
auf die Spitze getriebener Ausdruck ist, eng verschwi-
stert wäre. „Lhumanite", hat Victor Hugo gesagt,
„s'affirme par l'infirmit^ - ein Wort, das die zarte
Verfassung aller höheren Menschlichkeit und Kultur,
ihre Kennerschaft anf dem Gebiet der Krankheit mit
stolzer Offenheit eingesteht. Der Mensch ist „das kranke
Tier" genannt worden um der belastenden Spannungen
und auszeichnenden Schwierigkeiten willen, die seine
Stellung zwischen Natur und Geist, zwischen Tier
und Engel ihm auferlegt. Was Wunder, daß von der
Seite der Krankheit her der Forschung die tiefsten
Vorstöße ins Dunkel der menschlichen Natur gelungen
27
sind, daß sich die Krankheit, nämlich die Neurose,
als ein anthropologisches Erkenntnismittel ersten Ran-
ges erwiesen hat?
Der Dichter dürfte der letzte sein, sich darüber zu
wundern. Es dürfte ihn eher erstaunen, daß er, bei so
starker allgemeiner und persönlicher Disponiertheit, so
spät der sympathischen Beziehungen seiner Existenz
zur psychoanalytischen Forschung und dem Lebens-
werke Freuds gewahr wurde: zu einer Zeit erst, als es
sich bei dieser Lehre längst nicht mehr bloß um eine
- anerkannte oder umstrittene - Heilmethode han-
delte, als sie vielmehr dem bloß medizinischen Bezirk
längst entwachsen und zu einer Weltbewegung gewor-
den war, von der alle möglichen Gebiete des Geistes
und der Wissenschaft sich ergriffen zeigten: Litera-
tur- und Kunstforschung, Religionsgeschichte und Prä-
historie, Mythologie, Volkskunde, Pädagogik und was
nicht alles, - nämlich dank dem ausbauenden und
anwendenden Eifer von Adepten, die um ihren psychia-
trisch-medizinischen Kern diese Aura allgemeinerer Wir-
kungen gelegt halten. Sogar wäre es zuviel gesagt, daß
ich zur Psychoanalyse gekommen wäre: sie kam zu
mir. Durch das freundliche Interesse, das sie durch
einzelne ihrer Jünger und Vertreter immer wieder,
vom „Kleinen Herrn Friedemann" bis zum „Tod in
Venedig", zum „Zauberberg" und zum Josephsroman,
meiner Arbeit erwies, gab sie mir zu verstehen, daß
ich etwas mit ihr zu tun hätte, auf meine Art gewisser-
maßen „vom Bau" sei, machte mir, wie es ihr denn
wohl zukam, die latent vorhandenen, die „vorbewußten"
Sympathien bewußt; und die Beschäfligung mit der
28
analytischen Literatur ließ mich im Denk- und Sprach-
gewande naturwissenschaftlicher Exaktheit vieles Ur-
vertraute aus meinem früheren geistigen Erleben wie-
dererkennen.
Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, in die-
sem autobiographischen Stil ein wenig fortzufahren, und
verargen Sie mir nicht, wenn ich, statt von Freud zu
reden, scheinbar von mir rede! Über ihn zu sprechen,
getraue ich mich kaum. Was sollte ich über ihn der Welt
Neues zu sagen hoffen können? Ich spreche zu seinen
Ehren, auch und gerade, wenn ich von mir spreche
und Ihnen erzähle, wie tief und eigentümlich vorbe-
reitet ich durch entscheidende Bildungseindrücke mei-
ner Jugend auf die von Freud kommenden Erkenntnisse
war. Mehr als einmal, in Erinnerungen und Geständ-
nissen, habe ich von dem erschütternden, in merkwür-
digster Mischung zugleich berauschenden und erzieh-
lichen Erlebnis berichtet, das die Bekanntschaft mit der
Philosophie Arthur Schopenhauers dem Jüngling be-
deutete, der ihm in seinem Roman von den Budden-
brooks ein Denkmal gesetzt hat. Der unerschrockene
Wahrheitsmut, der die Sittlichkeit der analytischen Tie-
fenpsychologie ausmacht, war mir in dem Pessimismus
einer naturwissenschaftlich bereits stark gewappneten
Metaphysik zuerst entgegengetreten. Diese Metaphysik
lehrte in dunkler Revolution gegen den Glauben von
Jahrtausenden den Primat des Triebes vor Geist und
Vernunft, sie erkannte den Willen als Kern und
Wesensgrund der Welt, des Menschen so gut wie aller
übrigen Schöpfung, und den Intellekt als sekundär und
akzidentell, als des Willens Diener und schwache
2 9
Leuchte. Nicht aus antihumaner Bosheit tat sie das,
die das schlechte Motiv geistfeindlicher Lehren von
heute ist, sondern aus der strengen Wahrheitsliebe
eines Jahrhunderts, das den Idealismus aus Idealis-
mus bekämpfte. Es war so wahrhaftig, dieses 19. Jahr-
hundert, daß es durch Ibsen sogar die Lüge, die „Le-
benslüge", als unentbehrlich anerkennen wollte, — und
man sieht wohl: es ist ein großer Unterschied, ob man
aus schmerzlichem Pessimismus und bitterer Ironie,
von Geistes wegen, die Lüge bejaht oder aus Haß auf
den Geist und die Wahrheit. Dieser Unterschied ist
heute nicht jedermann deutlich.
Der Psycholog des Unbewußten nun, Freud, ist ein
echter Sohn des Jahrhunderts der Schopenhauer und
Ibsen, aus dessen Mitte er entsprang. Wie nahe ver-
wandt ist seine Revolution nach ihren Inhalten, aber
auch nach ihrer moralischen Gesinnung der Schopen-
hauerschen! Seine Entdeckung der ungeheueren Rolle,
die das Unbewußte, das „Es" im Seelenleben des Men-
schen spielt, besaß und besitzt für die klassische Psycho-
logie, der Bewußtheit und Seelenleben ein und dasselbe
ist, die gleiche Anstößigkeit, die Schopenhauers Willens-
lehre für alle philosophische Vernunft- und Geistgläubig-
keit besaß. Wahrhaftig, der frühe Liebhaber der „Welt
als Wille und Vorstellung" ist bei sich zu Hause in der
bewunderungswürdigen Abhandlung, die zu Freuds Neuen
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse ge-
hört und „Die Zerlegung der psychischen Persönlich-
keit" heißt. Da ist das Seelenreich des Unbewußten, das
„Es" mit Worten beschrieben, die ebenso gut, so vehe-
ment und zugleich mit demselben Akzent intellektuellen
3°
und ärztlich kühlen Interesses Schopenhauer für sein
finsteres Willensreich hätte gebrauchen können. Das Ge-
biet des Es, sagt er, „ist der dunkle, unzugängliche
Teil unserer Persönlichkeit; das wenige, was wir von
ihm wissen, haben wir durch das Studium der Traum-
arbeit und der neurotischen Symptombildung erfah-
ren". Er schildert es als ein Chaos, einen Kessel bro-
delnder Erregungen. Das „Es", meint er, sei sozusagen
am Ende gegen das Somatische offen und nehme da die
Triebbedürfnisse in sich auf, die in ihm ihren psychi-
schen Ausdruck finden — unbekannt, in welchem Sub-
strat. Von den Trieben her erfülle es sich mit Energie;
aber es habe keine Organisation, bringe keinen Gesamt-
willen auf, nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen
unter Einhaltung des Lustprinzips Befriedigung zu schaf-
fen. Da gelten keine logischen Denkgesetze, vor allem
nicht der Satz des Widerspruchs. „Gegensätzliche Re-
gungen bestehen nebeneinander, ohne einander aufzu-
heben oder sich von einander abzuziehen, höchstens,
daß sie unter dem herrschenden ökonomischen Zwang
zur Abfuhr der Energie zu Kompromißbildungen zu-
sammentreten . . ." Sie sehen, meine Damen und Herren,
das sind Zustände, die nach unserer zeitgeschichtlichen
Erfahrung sehr wohl auf das Ich selbst, ein ganzes
Massen-Ich, übergreifen können, nämlich dank einer
moralischen Erkrankung, die durch die Anbetung des
Unbewußten, die Verherrlichung seiner allein leben-
fördernden „Dynamik", die systematische Verherrlichung
des Primitiven und Irrationellen erzeugt wird. — Denn
das Unbewußte, das Es, ist primitiv und irrational,
es ist rein dynamisch. Wertungen kennt es nicht, kein
3i
Gut und Böse, keine Moral. Es kennt sogar nicht die
Zeit, keinen zeitlichen Ablauf, keine Veränderung des
seelischen Vorgangs durch ihn. „Wunschregungen", sagt
Freud, „die das Es nie überschritten haben, aber auch
Eindrücke, die durch Verdrängung ins Es versenkt
worden sind, sind virtuell unsterblich, verhalten sich
nach Dezennien, als ob sie neu vorgefallen wären. Als
Vergangenheit erkannt, entwertet und ihrer Energie-
besetzung beraubt können sie erst werden, wenn sie
durch die analytische Arbeit bewußt geworden sind."
Und darauf, fügt er hinzu, beruhe vornehmlich die
Heilwirkung der analyüschcn Behandlung. - Wir ver-
stehen danach, wie antipathisch die analytische Tiefen-
psychologie einem Ich sein muß, das, berauscht von
einer Religiosität des Unbewußten, selbst in den Z*
s and unterweltlicher Dynamik geraten ist. Es ist nur
allzu klar, daß und warum ein solches Ich von Ana-
lyse nichts wissen will und der Name Freud vor ihm
nicht genannt werden darf.
Was nun das Ich selbst und überhaupt betrifft, so
Stent es fast rührend, recht eigentlich besorgniserregend
damit. Es ist ein kleiner, vorgeschobener, erleuchteter
und wachsamer Teil des „Es" - ungefähr wie Europa
eme kleine, aufgeweckte Provinz des weiten Asien ist.
uas Ich ist „jener Teil des Es, der durch die Nähe und
* Einfluß der Außenwelt modifiziert wurde, zu Reiz-
aufnahme und Reizschutz eingerichtet, vergleichbar der
Hindenschicht, mit der sich ein Klümpchen lebender
Substanz umgibt". - Ein anschauliches biologisches
Freud schreibt überhaupt eine höchst anschau-
liche Prosa, er ist ein Künstler des Gedankens wie
32
p
Thomas Mann
spricht zu Ehren Sigm. Freuds im Wiener Konzerthaus
am 8. Mai 1936
>—
Schopenhauer und wie er ein europäischer Schrift-
steller. — Die Beziehung zur Außenwelt ist nach ihm
für das Ich entscheidend geworden, es hat die Aufgabe,
sie beim Es zu vertreten — zu dessen Heil! Denn ohne
Rücksicht auf diese übergewaltige Außenmacht würde
das Es in seinem blinden Streben nach Triebbefriedi-
gung der Vernichtung nicht entgehen. Das Ich beobach-
tet die Außenwelt, es erinnert sich, es versucht redlich,
das objektiv Wirkliche von dem zu unterscheiden, was
Zutat aus inneren Erregungsquellen ist. Es beherrscht
im Auftrage des Es die Hebel der Motilität, der Aktion,
hat aber zwischen Bedürfnis und Handlung den Auf-
schub der Denkarbeit eingeschaltet, während dessen es
die Erfahrung zu Rate zieht, und besitzt eine gewisse
regulative Überlegenheit gegenüber dem im Unbewußten
schrankenlos herrschenden Lustprinzip, das es durch
das Realitätsprinzip korrigiert. Aber wie schwach ist es
bei alldem! Eingeengt zwischen Unbewußtem, Außen-
welt und dem was Freud das „Über-Ich" nennt, dem
Gewissen, führt es ein ziemlich nervöses und geäng-
stigtes Dasein. Mit seiner Eigen-Dynamik steht es nur
matt. Seine Energien entlehnt es dem Es und muß im
ganzen dessen Absichten durchführen. Es möchte sich
wohl als den Reiter betrachten und das Unbewußte
als das Pferd. Aber so manches Mal wird es vom
Unbewußten geritten, und wir wollen nur lieber hinzu-
fügen, was Freud aus rationaler Moralität hinzuzufügen
unterläßt, daß es auf diese etwas illegitime Weise unter
Umständen am weitesten kommt.
Freuds Beschreibung aber des Es und Ich — ist sie
nicht aufs Haar die Beschreibung von Schopenhauers
3 Almanach 1937 --
„Wille" und „Intellekt", — eine Übersetzung seiner
Metaphysik ins Psychologische? Und wer nun ohnedies
schon, nachdem er von Schopenhauer die metaphysi-
schen Weihen empfangen, bei Nietzsche die schmerz-
lichen Reize der Psychologie gekostet hatte, wie hätten
den nicht Gefühle der Vertrautheit und des Wieder-
erkennens erfüllen sollen, als er sich, von Ansässigen
ermutigt, erstmals umsah im psychoanalytischen Reich?
Er machte auch die Erfahrung, daß die Bekanntschaft
damit aufs stärkste und eigentümlichste zurückwirkt
auf jene früheren Eindrücke, wenn man sie nach sol-
cher Umschau erneuert. Wie anders, nachdem man bei
Freud geweilt, wie anders liest man im Licht seiner
Erkundungen eine Betrachtung wieder wie Schopen-
hauers großen Aufsatz „Über die anscheinende Absicht-
lichkeit im Schicksal des Einzelnen"! Und hier, meine
Damen und Herren, bin ich im Begriff, auf den innig-
sten und geheimsten Berührungspunkt zwischen Freuds
naturwissenschaftlicher und Schopenhauers philosophi-
scher Welt hinzuweisen — der genannte Essay, ein
Wunder an Tiefsinn und Scharfsinn, bildet diesen Be-
rührungspunkt. Der geheimnisvolle Gedanke, den Scho-
penhauer darin entwickelte, ist, kurz gesagt, der daß
genau wie im Traume unser eigener Wille, ohne es
zu ahnen, als unerbittlich-objektives Schicksal auftritt,
alles darin aus uns selber kommt und jeder der heim-
liche Theaterdirektor seiner Träume ist, — so auch in
der Wirklichkeit, diesem großen Traum, den ein einzi-
ges Wesen, der Wille selbst, mit uns allen träumt,
unsere Schicksale das Produkt unseres Innersten, unse-
res Willens sein möchten und wir also das, was uns
54
zu geschehen scheint, eigentlich selbst veranstalteten.
— Ich fasse sehr dürftig zusammen, meine Herrschaf-
ten, in Wahrheit sind das Ausführungen von stärkster
Suggestivkraft und mächtiger Schwingenbreite. Nicht
nur aber, daß die Traumpsychologie, die Schopenhauer
zu Hilfe nimmt, ausgesprochen analytischen Charak-
ter trägt — sogar das sexuelle Argument und Para-
digma fehlt nicht — ; so ist der ganze Gedankenkomplex
in dem Grade eine Vordeutung auf tiefenpsychologische
Konzeptionen, in dem Grade eine philosophische Vor-
wegnahme davon, daß man erstaunt! Denn um zu
wiederholen, was ich anfangs sagte: in dem Geheimnis
der Einheit von Ich und Welt, Sein und Geschehen,
in der Durchschauung des scheinbar Objektiven und
Akzidentellen als Veranstaltung der Seele glaube ich den
innersten Kern der analytischen Lehre zu erkennen.
Es kommt mir da ein Satz in den Sinn, den ein
kluger, aber etwas undankbarer Sprößling dieser Lehre,
C. G. Jung, in seiner bedeutenden Einleitung zum Tibe-
tanischen Totenbuch formuliert. „Es ist so viel unmit-
telbarer, auffallender, eindrücklicher und darum über-
zeugender", sagt er, „zu sehen, wie es mir zustößt,
als zu beobachten, wie ich es mache." — Ein kecker,
ja toller Satz, der recht deutlich zeigt, mit welcher
Gelassenheit heute in einer bestimmten psychologischen
Schule Dinge angeschaut werden, die noch Schopenhauer
als ungeheuere Zumutung und „exorbitantes" Gedan-
kenwagnis empfand. Wäre dieser Satz, der das „Zu-
stoßen" als ein „Machen" entlarvt, ohne Freud denk-
bar? Nie und nimmer! Er schuldet ihm alles. Bela-
den mit Voraussetzungen, ist er nicht zu verstehen
35
und halte gar nicht hingesetzt werden können ohne all
das, was die Analyse über Versprechen und Verschrei-
ben, das ganze Gebiet der Fehlleistungen, die Flucht in
die Krankheit, den Selbslbcslrafungstrieb, die Psycho-
logie der Unglücksfälle, kurz über die Magie des Unbe-
wußten ausgemacht und zutage gefördert hat. Ebenso-
wenig aber wäre jener gedrängle Satz, einschließlich
seiner psychologischen Voraussetzungen, möglich ge-
worden ohne Schopenhauer und seine noch unexakte,
aber traumkühne und wegbereilende Spekulation. —
Vielleicht ist dies der Augenblick, meine Damen und
Herren, festlicherweise ein wenig gegen Freud zu pole-
misieren. Er achtet nämlich die Philosophie nicht son-
derlich hoch. Der Exaktheitssinn des Naturwissenschaft-
lers gestattet ihm kaum, eine Wissenschaft in ihr zu
sehen. Er macht ihr zum Vorwurf, daß sie ein lücken-
los zusammenhängendes Weltbild liefern zu können sich
einrede, den Erkenntniswert logischer Operationen über-
schätze, wohl gar an die Intuition als Wissensquelle
glaube und geradezu amnestischen Neigungen fröne,
indem sie an Wortzauber und an die Beeinflussung
der Wirklichkeit durch das Denken glaube. Aber wäre
dies wirklich eine Selbstüberschätzung der Philosophie?
Ist je die Welt durch etwas anderes geändert worden
als durch den Gedanken und seinen magischen Träger,
das Wort? Ich glaube, daß tatsächlich die Philosophie
den Naturwissenschaften vor- und übergeordnet ist und
daß alle Methodik und Exaktheit im Dienst ihres gei-
stesgeschichtlichen Willens steht. Zuletzt handelt es sich
immer um das Quod erat demonstrandum. Die Voraus-
selzungslosigkeit der Wissenschaft ist ein morali-
36
sches Faktum oder sollte es sein. Geistig gesehen,
ist sie wahrscheinlich das, was Freud eine Illusion
nennt. Die Sache auf die Spitze zu stellen, könnte man
sagen, die Wissenschaft habe nie eine Entdeckung ge-
macht, zu der sie nicht von der Philosophie autorisiert
und angewiesen gewesen wäre.
Dies nebenbei. Lassen Sie uns zweckmäßig noch einen
Augenblick bei dem Gedanken Jungs verweilen, der
mit Vorliebe — und so auch in jener Vorrede — ana-
lytische Ergebnisse zur Herstellung einer Verständi-
gungsbrücke zwischen abendländischem Denken und
östlicher Esoterik benutzt. Niemand hat so scharf wie
er die Schopenhauer-Freudsche Erkenntnis formuliert,
daß „der Geber aller Gegebenheiten in uns selber
wohnt — eine Wahrheit, die trotz aller Evidenz in den
größten sowohl wie in den kleinsten Dingen nie ge-
wußt wird, wo es doch nur zu oft so nötig, ja uner-
läßlich wäre, es zu wissen". Eine große und opfer-
reiche Umkehr, meinte er, sei wohl nötig, um zu
sehen, wie die Welt aus dem Wesen der Seele „gegeben"
wird; denn das animalische Wesen des Menschen
sträube sich dagegen, sich als den Macher seiner Ge-
gebenheiten zu empfinden. Es ist wahr, daß sich der
Osten in der Überwindung des Animalischen von jeher
stärker erwiesen hat als das Abendland, und wir brau-
chen uns daher nicht zu wundern, wenn wir hören,
daß seiner Weisheit zufolge auch die Götter zu den
„Gegebenheiten" gehören, die der Seele entstammen und
mit ihr eins sind — Schein und Licht der Menschen-
seele. Dies Wissen, das man nach dem Totenbuch
dem Verstorbenen mit auf den Weg gibt, ist für den
37
abendländischen Geist ein Paradoxon, das seiner Logik
widerstreitet; denn diese unterscheidet zwischen Sub-
jekt und Objekt und sträubt sich, dieses in jenes hin-
einzuverlegen oder aus ihm hervorgehen zu lassen.
Zwar kannte die europäische Mystik solche Anwand-
lungen, und Angelus Silesius hat gesagt:
„Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben;
Werd' ich zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben."
Im ganzen aber wäre eine psychologische Auffassung
Gottes, die Idee einer Gottheit, die nicht reine Gegeben-
heit, absolute Realität, sondern mit der Seele eins und
an sie gebunden wäre, abendländischer Religiosität un-
erträglich, - sie würde Gott dabei einbüßen. Und doch
heißt Religiosität gerade Gebundenheit, und in der Gene-
sis ist von einem „Bunde" zwischen Gott und Mensch die
Rede, dessen Psychologie ich in dem mythischen Roman
„Joseph und seine Brüder" zu geben versucht habe.
Ja, lassen Sie mich hier auf dieses mein eigen Werk
zu sprechen kommen — vielleicht hat es ein Recht, ge-
nannt zu werden in einer Stunde festlicher Begegnung
zwischen dichtender Literatur und der psychoanalyti-
schen Sphäre. Merkwürdig genug — und vielleicht nicht
nur für mich — , daß darin eben jene psychologische
Theologie herrschend ist, die der Gelehrte der östlichen
Eingeweihtheit zuschreibt: Dieser Abram ist gewisser-
maßen Gottes Vater. Er hat ihn erschaut und hervor-
gedacht; die mächtigen Eigenschaften, die er ihm zu-
schreibt, sind wohl Gottes ursprüngliches Eigentum,
Abram ist nicht ihr Erzeuger, aber in gewissem Sinn ist
er es dennoch, da er sie erkennt und denkend verwirk-
38
licht. Gottes gewaltige Eigenschaften — und damit Gott
selbst — sind zwar etwas sachlich Gegebenes außer
Abram, zugleich aber sind sie auch in ihm und
von ihm; die Macht seiner eigenen Seele ist in gewissen
Augenblicken kaum von ihnen zu unterscheiden, ver-
schränkt sich und verschmilzt erkennend in eins mit
ihnen, und das ist der Ursprung des Bundes, den der
Herr dann mit Abram schließt und der nur die aus-
drückliche Bestätigung einer inneren Tatsache ist. Er
wird als im beiderseitigen Interesse geschlossen charak-
terisiert, dieser Bund, zum Endzwecke beiderseitiger
Heiligung. Menschliche und göttliche Bedürftigkeit ver-
schränken sich derart darin, daß kaum zu sagen ist, von
welcher Seite, der göttlichen oder der menschlichen,
die erste Anregung zu solchem Zusammenwirken aus-
gegangen sei. Auf jeden Fall aber spricht sich in seiner
Errichtung aus, daß Gottes Heiligwerden und das des
Menschen einen Doppelprozeß darstellen und auf das
innigste aneinander „gebunden" sind. Wozu, lautet die
Frage, wohl sonst ein Bund?
Die Seele als Geberin des Gegebenen — ich weiß wohl,
meine Damen und Herren, daß dieser Gedanke im
Roman auf eine ironische Stufe getreten ist, die er
weder als östliche Weisheit noch als analytische Ein-
sicht kennt. Aber die unwillkürliche und erst nachträg-
lich entdeckte Übereinstimmung hat etwas Erregendes.
Muß ich sie Beeinflussung nennen? Sie ist eher Sym-
pathie, — eine gewisse geistige Nähe, die der Psycho-
analyse, wie billig, früher bewußt war, als mir, und aus
der eben jene literarischen Aufmerksamkeiten hervor-
gingen, die ich ihr von früh an zu danken hatte. Die
39
letzte davon war die Übersendung eines Sonderdrucks
aus der Zeitschrift „Imago", die Arbeit eines Wiener
Gelehrten aus der Schule Freuds, betitelt „Zur Psycho-
logie älterer Biographik", — eine recht trockene Über-
schrift, in der sich die Merkwürdigkeiten kaum ankün-
digen, denen sie als Etikett dient. Der Verfasser zeigt
da, wie die ältere, naive, von der Legende und vom
Volkstümlichen her gespeiste und bestimmte Lebens-
beschreibung, namentlich die Künstlerbiographie, fest-
stehende, schematisch-typische Züge und Vorgänge, bio-
graphisches Formelgut sozusagen konventioneller Art
in die Geschichte ihres Helden aufnimmt, gleichsam
um sie sich dadurch legitimieren, sich als echt, als rich-
tig ausweisen zu lassen - als richtig im Sinne des „Wie
es immer war" und „Wie es geschrieben steht". Denn
dem Menschen ist am Wiedererkennen gelegen; er
möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typi-
sche im Individuellen. Darauf beruht alle Traulichkeit
des Lebens, welches als vollkommen neu, einmalig und
individuell sich darstellend, ohne daß es die Möglich-
keit böte, Altvertrautes darin wiederzufinden, nur er-
schrecken und verwirren könnte. — Die Frage jener
Schrift geht nun aber dahin, ob sich denn die Grenze
zwischen dem, was Formelgut legendärer Biographik,
und dem, was Lebenseigenlum des Künstlers ist, zwi-
schen dem Typischen und dem Individuellen also, scharf
und unzweideutig ziehen lasse, — eine Frage, verneint
wie gestellt. Das Leben ist tatsächlich eine Mischung
von formelhaften und individuellen Elementen, ein Inein-
ander, bei dem das Individuelle gleichsam nur über
das Formelhaft-Unpersönliche hinausragt. Vieles Außer-
40
persönliche, viel unbewußte Identifikation, viel Kon-
ventionell-Schematisches ist bestimmend * für das Er-
leben — nicht nur des Künstlers, sondern des Men-
schen überhaupt. „Viele von uns", sagt der Verfasser,
„, leben' auch heute einen biographischen Typus, das
Schicksal eines Standes, einer Klasse, eines Berufes...
Die Freiheit in der Lebensgestaltung des Menschen ist
offenbar enge mit jener Bindung zu verknüpfen, die
wir als ,ge lebte Vita' bezeichnen." — Und pünkt-
lich, zu meiner Freude nur, kaum auch zu meiner
Überraschung, beginnt er, auf den Josephsroman zu
exemplifizieren, dessen Grundmotiv geradezu diese Idee
der „gelebten Vita" sei, das Leben als Nachfolge, als
ein In-Spuren-Gehen, als Identifikation, wie besonders
Josephs Lehrer Eliezer sie in humoristischer Feierlich-
keit praktiziert: Denn durch Zeitaufhebung rücken in
ihm sämtliche Eliezers der Vergangenheit zum gegen-
wärtigen Ich zusammen, so daß er von Eliezer, Abra-
hams ältestem Knecht, obgleich er realiter dieser bei
weitem nicht ist, in der ersten Person spricht.
Ich muß zugeben: Die Gedankenverbindung ist außer-
ordentlich legitim. Der Aufsatz bezeichnet haargenau den
Punkt, wo das psychologische Interesse ins mythi-
sche Interesse übergeht. Er macht deutlich, daß das
Typische auch schon das Mythische ist und daß man
für „gelebte Vita" auch „gelebter Mythos" sagen kann.
Der gelebte Mythos aber ist die epische Idee meines
Romans, und ich sehe wohl, daß, seit ich als Erzähler
den Schritt vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-
Typischen getan habe, mein heimliches Verhältnis zur
analytischen Sphäre sozusagen in sein akutes Stadium
41
getreten ist. Das mythische Interesse ist der Psycho-
analyse genau so eingeboren, wie allem Dichtertum
das psychologische Interesse eingeboren ist. Ihr Zurück-
dringen in die Kindheil der Einzelseele ist zugleich
auch schon das Zurückdringen in die Kindheit des
Menschen, ins Primitive und in die Mythik. Freud
selbst hat bekannt, daß alle Naturwissenschaft, Medizin
und Psychotherapie für ihn ein lebenslanger Um- und
Rückweg gewesen sei zu der primären Leidenschaft
seiner Jugend fürs Menschheitsgeschichtliche, für die
Ursprünge von Religion und Sittlichkeit, - diesem
Interesse, das auf der Höhe seines Lebens in „Totem
und Tabu" zu einem so großartigen Ausbruch kommt.
In der Wortverbindung „Tiefenpsychologie" hat „Tiefe"
auch zeitlichen Sinn: Die Urgründe der Menschenseele
sind zugleich auch Urzeit, jene Brunnentiefe der Zei-
ten, wo der Mythos zu Hause ist und die Urnormen,
Urformen des Lebens gründet. Denn Mythos ist Lcbens-
grundung; er ist das zeitlose Schema, die fromme For-
mel, m die das Leben eingeht, indem es aus dem Un-
bewußten seine Züge reproduziert. Kein Zweifel die
Gewinnung der mythisch-typischen Anschauungsweise
macht Epoche im Leben des Erzählers, sie bedeutet eine
eigentümliche Erhöhung seiner künstlerischen Stimmung,
eine neue Heiterkeit des Erkennens und Gestaltens'
welche späten Lebensjahren vorbehalten zu sein pflegt';
denn im Leben der Menschheit stellt das Mythische
zwar eine frühe und primitive Stufe dar, im Leben des
einzelnen aber eine späte und reife. Was damit gewon-
nen wird, ist der Blick für die höhere Wahrheit, die sich
im Wirklichen darstellt, das lächelnde Wissen vom
42
Ewigen, Immer seienden, Gültigen, vom Schema, i n dem
und naeh dem das vermeintlich ganz Individuelle
lebt, nicht ahnend in dem naiven Dünkel seiner Erst-
und Einmaligkeit, wie sehr sein Leben Formel und
Wiederholung, ein Wandeln in tief ausgetretenen Spu-
ren ist. Der Charakter ist eine mythische Rolle, die in
der Einfalt illusionärer Einmaligkeit und Originalität
gespielt wird, gleichsam nach eigenster Erfindung und
auf eigenste Hand, dabei aber mit einer Würde und
Sicherheit, die dem gerade obenauf gekommenen und im
Lichte agierenden Spieler nicht seine vermeintliche
Erst- und Einmaligkeit verleiht, sondern die er im Ge-
genteil aus dem tieferen Bewußtsein schöpft, etwas Ge-
gründet-Rechtmäßiges wieder vorzustellen und sich, ob
nun gut oder böse, edel oder widerwärtig, jedenfalls
in seiner Art musterhaft zu benehmen. Tatsächlich
wüßte er sich, wenn seine Realität im Einmalig-Gegen-
wärtigen läge, überhaupt nicht zu benehmen, wäre
haltlos, ratlos, verlegen und verwirrt im Verhältnis zu
sich selbst, wüßte nicht, mit welchem Fuße antreten
und was für ein Gesicht machen. Seine Würde und
Spielsicherheit aber liegt unbewußt gerade darin, daß
etwas Zeitloses mit ihm wieder am Lichte ist und
Gegenwart wird; sie ist mythische Würde, welche auch
dem elenden und nichtswürdigen Charakter noch zu-
kommt, ist natürliche Würde, weil sie dem Unbewuß-
ten entstammt.
Dies ist der Blick, den der mythisch orientierte Er-
zähler auf die Erscheinungen richtet, und Sie sehen
wohl: es ist ein ironisch überlegener Blick; denn die
mythische Erkenntnis hat hier ihren Ort nur im An-
43
I
schauenden, „ichl auch im Angeschauten. Wie aber
nun, wenn der mythische Aspekt sich subjektivierte,
ms agierende Ich selber einginge und darin wach wäre,
so daß es mit freudigem oder düsterem Stolze sich sei-
ner „Wiederkehr", seiner Typik bewußt wäre, seine
tolle auf Erden zelebrierte und seine Würde aus-
schließlich in dem Wissen fände, das Gegründete im
Meisefc wieder vorzustellen, es wieder zu verkörpern?
rst das, kann man sagen, wäre „gclebler Mythos";
man glaube nicht, daß es etwas Neues und Uner-
P'oblcs , st: das Leben im Mythos, das Leben als weihe-
o.ie Wiederholung ist ei„ e historische Lebensform,
e Anbke hat so gelebt. Ein Beispiel ist die Gestalt der
S,!r : , Kleopatra ' dic ^ ""<* ** °™ ischtar -
As arte-Gestalt, Aphrodite i„ Person is[ , _ wie denn
ac, oJ - cn seiner Charaklerisl . k des bacch . schen Kul .
ndete m tr HySiSCh , en KUl ' Ur h der Königin das voll-
ste Bud einer d.onysischen Stimula sieht, die, nach
lutareh weit mehr noch durch erotische Geisteskul-
tur als durch körperliche Reize das zu Aphrodites
.rdischer Verkörperung entwickelte Weib repräsentiert
habe. Dteses ihr Aphroditentum, ihre Rolle als Hathor-
Is.s 1St aber nicht nur etwas Kritisch-Objektives, das
erst von I lutarch und Bachofen über sie ausgesprochen
worden wäre, sondern es war der Inhalt ihrer subjek-
tiv«! Ex.sienz, sie lebte in dieser Rolle. Ihre Todesart
T 1« , T SiC SO " SiCh J a * etö ^ haben, indem
sie sich eine Giftnatter an a~ r»
, , mnaitei an den Busen legte. Die Schlange
aber war das Tipr Am. z~.i* .
ner der Ischtar, der ägyptischen Isis,
Ott auch wohl in einem schuppigen Schlangenkleid
dargestellt wird, und man kennt eine Statuette der
44
Ischtar, wie sie eine Schlange am Busen hält. War
also Kleopatras Todesarl diejenige der Legende, so
wäre sie eine Demonstration ihres mythischen Ichge-
iuhls gewesen. Trug sie nicht auch den Kopfputz der
Isis, die Geierhaube, und schmückte sie sich nicht mit
den Insignien der Hathor, den Kuhhörnern mit der
Sonnenscheine dazwischen? Es war eine bedeutende
Anspielung, daß sie ihre Antonius-Kinder Helios und
Selene nannte. Kein Zweifel, sie war eine bedeutende
Frau - im antiken Sinn „bedeutend" - die wußte, wer
sie war und in welchen Fußstapfen sie ging!
Das antike Ich und sein Bewußtsein von sich war
ein anderes als das unsere, weniger ausschließlich,
weniger scharf umgrenzt. Es stand gleichsam nach
hinten offen und nahm vom Gewesenen vieles mit
auf, was es gegenwärtig wiederholte, und was mit
ihm „wieder da" war. Der spanische Kulturphilosoph
Ortega y Gasset drückt das so aus, daß der antike
Mensch, ehe er etwas tue, einen Schritt zurücktrete,
aleich dem Torero, der zum Todesstoß aushole. Er
suche in der Vergangenheit ein Vorbild, in das er wie
in eine Taucherglocke schlüpfe, um sich so, zugleich
geschützt und entstellt, in das gegenwärtige Problem
hineinzustürzen. Darum sei sein Leben in gewisser
Weise ein Beleben, ein archaisierendes Verhalten. -
Aber eben dies Leben als Beleben, Wiederbeleben ist
das Leben im Mythos. Alexander ging in den Spuren
des Miltiades, und von Caesar waren seine antiken
Biographen mit Recht oder Unrecht überzeugt, er wolle
den Alexander nachahmen. Dies „Nachahmen" aber ist
weit mehr, als heut in dem Worte liegt; es ist die
45
mythische Identifikation, die der Antike besonders ver-
traut war, aber weil in die neue Zeil hineinspielt un
seelisch jederzeit möglich bleibt. Das antike Gepräge
der Gestalt Napoleons ist oft betont worden. Er bedau-
erte, daß die moderne Bewußtseinslage ihm nicht ge-
statte, sich für den Sohn Jupiter-Amons auszugeben,
wie Alexander. Aber daß er sich, zur Zeit seines orien-
talischen Unternehmens, wenigstens mit Alexander my-
thisch verwechselt hat, braucht man nicht zu bezwei-
feln, und später, als er sich fürs Abendland entschie-
den hatte, erklärte er: „Ich bin Karl der Große." Wohl
gemerkt - nicht etwa: „Ich erinnere an ihn"; nicht:
„Meine Stellung ist der seinen ähnlich". Auch nicht:
„Ich bin wie er"; sondern einfach: „Ich bin's". D* s
ist die Formel des Mythos.
Das Leben, jedenfalls das bedeutende Leben, war
also in antiken Zeiten die Wiederherstellung des My-
thos in Fleisch und Blut; es bezog und berief sich
auf ihn; durch ihn erst, durch die Bezugnahme aufs
Vergangene wies es sich als echtes und bedeutendes
Leben aus. Der Mythos ist die Legitimation des Lebens;
erst durch ihn und in ihm findet es sein Selbstbewußt-
sein, seine Rechtfertigung und Weihe. Bis in den Tod
führte Kleopatra ihre aphroditische Charakterrolle
weihevoll durch, - un d kann man bedeutender, kann
man würdiger leben und sterben, als indem man den
Mythos zelebriert? Denken Sie doch auch an Jesus und
an sein Leben, das ein Leben war, „damit erfüllet
werde, was geschrieben steht". Es ist nicht leicht, bei
dem Erfüllungscharakter von Jesu Leben zwischen den
Stilisierungen der Evangelisten und seinem Eigenbe-
46
-Ä
wußtsein zu unterscheiden; aber sein Kreuzeswort um
die neunte Stunde, dies „Eli, EH, lama asabthani.
war ja, gegen den Anschein, durchaus kein Ausbruch
der Verzweiflung und Enttäuschung, sondern im Ge-
genteil ein solcher höchsten messianischen Selbstge-
fühls. Denn dieses Wort ist nicht „originell", kein
spontaner Schrei. Es bildet den Anfang des 22. Psalms,
der vom Anfang bis zum Ende Verkündigung des Mes-
sias ist. Jesus zitierte, und das Zitat bedeutete: „Ja, ich
bin's!" So zitierte auch Kleopatra, wenn sie, um zu
sterben, die Schlange an ihren Busen nahm, und wie-
der bedeutete das Zitat: „Ich bin's!"
Sehen Sie mir, meine Damen und Herren, das Wort
„zelebrieren" nach, das ich in diesem Zusammenhang
branchte. Es ist entschuldbar und selbst geboten. Das
zitathafte Leben, das Leben im Mythos, ist eine Art
von Zelebration; insofern es Vergegenwärtigung ist wird
es zur feierlichen Handlung, zum Vollzuge eines Vorge-
schriebenen durch einen Zelebranten, zum Begängnis,
zum Feste. Ist nicht der Sinn des Festes Wiederkehr
als Vergegenwärtigung? Jede Weihnacht wieder wird
das wellerrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das
bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und aufzufahren: Das
Fest ist die Aufhebung der Zeit, ein Vorgang, eine
feierliche Handlung, die sich abspielt nach geprägtem
Urbild; was darin geschieht, geschieht nicht zum ersten
Male, sondern zeremoniellerweise und nach dem Muster;
es gewinnt Gegenwart und kehrt wieder, wie eben Feste
wiederkehren in der Zeit nnd wie ihre Phasen und
Stunden einander folgen in der Zeit nach dem Urge-
schehen. Im Altertum war jedes Fest wesentlich eine
47
theatralische Angelegenheit, ein Maskenspiel, die von
Priestern vollzogene szenische Darstellung von Götter-
geschichten, zum Beispiel der Lebens- und Leidensge-
schichte des Osiris. Das christliche Mittelalter hatte da-
für das Mysterienspiel mit Himmel, Erde und greu-
lichem Höllenrachen, wie es noch in Goethes „Faust"
wiederkehrt; es hatte die Fastnachtfarce, den populären
Mimus. Es gibt eine mythische Kunstoptik auf das Le-
ben, unter der dieses als farcenhaftes Spiel, als theatra-
lischer Vollzug von etwas festlich Vorgeschriebenem,
als Kasperliade erscheint, worin mythische Charakter-
marionetten eine oft dagewesene, feststehende und spaß-
haft wieder Gegenwart werdende „Handlung" abhaspeln
und vollziehen. Und es fehlt nur, daß diese Optik in
die Subjektivität der handelnden Personagen selbst ein-
geht, in ihnen selbst als Spielbewußtsein, festlich-my-
thisches Bewußtsein vorgestellt wird, damit eine Epik
gezeitigt werde, wie sie sich in den „Geschichten Jaa-
kobs" wunderlich genug ergibt, besonders in dem Ka-
pitel „Der große Jokus«, worin zwischen Personen,
die alle wohl wissen, was sie sind und in welchen
Spuren sie gehen, zwischen Isaak, Esau und Jaakob,
die bitter-komische Geschichte, wie Esau, der Rote'
der genasführte Teufel, geprellt wird um seines Vaters
Segen zum Gaudium des Hofvolks als mythische Fest-
farce jokos und tragisch sich abspielt. — Und ist nicht
vor allem der Held dieses Romans ein solcher Zelebrant
des Lebens: Joseph selbst, der mit einer anmutigen Art
von religiöser Hochstapelei den Tammuz-Osiris-Mythos
in seiner Person vergegenwärtigt, sich das Leben des
Zerrissenen, Begrabenen und Auferstehenden gesche-
4 8
hen läßt" und sein festliches Spiel treibt mit dem, was
gemeinhin nur aus der Tiefe heimlich das Leben be-
stimmt und formt: dem Unbewußten? Das Geheimnis
des Metaphysikers und des Psychologen, daß die Geberin
alles Gegebenen die Seele ist, — dies Geheimnis wird
leicht, spiel haft, künstlerisch, heiter, ja spiegelfechterisch
und eulenspiegelhaft in Joseph; es offenbart in ihm
seine infantile Natur . . . Und dieses Wort läßt uns
zu unserer Beruhigung gewahr werden, wie wenig wir
uns bei scheinbar so großen Ausbeugungen von unserem
Gegenstände, dem Gegenstände unserer festlichen Huldi-
gung entfernt — wie wenig wir aufgehört haben, zu
seinen Ehren zu reden.
Infanlilismus, auf deutsch: rückständige Kinderei —
welch eine Rolle spielt dies echt psychoanalytische
Element im Leben von uns allen, einen wie starken
Anteil hat es an der Lebensgestaltung der Menschen,
und zwar gerade und vornehmlich in der Form der
mythischen Identifikation, des Nachlebens, des In-Spu-
ren-Gehens! Die Vaterbindung, Vaternachahmung, das
Vaterspiel und seine Übertragungen auf Vaterersatzbil-
der höherer und geistiger Art — wie bestimmend, wie
prägend und bildend wirken diese Infantilismen auf
das individuelle Leben ein! Ich sage: „bildend"; denn
die lustigste, freudigste Bestimmung dessen, was man
Bildung nennt, ist mir allen Ernstes diese Formung
und Prägung durch das Bewunderte und Geliebte, durch
die kindliche Identifikation mit einem aus innerster
Sympathie gewählten Vaterbilde. Der Künstler zumal,
dieser eigentlich verspielte und leidenschaftlich kindi-
sche Mensch, weiß ein Lied zu singen von den geheimen
4 Almanach 1937
49
und doch auch offenen Einflüssen solcher infantilen
Nachahmung auf seine Biographie, seine produktive
Lebensführung, welche oft nichts anderes ist als die
Neubelebung der Heroenvita unter sehr anderen zeit-
lichen und persönlichen Bedingungen und mit sehr
anderen, sagen wir: kindlichen Mitteln. So kann die imi-
tatio Goethes mit ihren Erinnerungen an die Werther-,
die Meister-Stufe und an die Altersphase von Faust und
Diwan noch heule aus dem Unbewußten ein Schrift-
stellerleben führen und mythisch bestimmen, — ich
sage: aus dem Unbewußten, obgleich im Künstler das
Unbewußte jeden Augenblick ins lächelnd Bewußte und
kindlich-tief Aufmerksame hinüberspielt.
Der Joseph des Romans ist ein Künstler insofern
er spielt, nämlich mit seiner imitatio Gottes auf dem
Unbewußten spielt, - und ich weiß nicht, welches
Gefühl von Zukunflsahnung, Zukunflsfreude mich er-
greift, wenn ich dieser Erheiterung des Unbewußten
zum Spiel, dieser seiner Fruchtbarmachung für eine
feierliche Lebensproduklion, dieser erzählerischen Be-
gegnung von Psychologie und Mythos nachhänge, die
zugleich eine festliche Begegnung von Dichtung und
Psychoanalyse ist. „Zukunft" - ich habe das Wort in
den Titel meines Vortrages aufgenommen, einfach, weil
der Begriff der Zukunft derjenige ist, den ich am lieb-
sten und unwillkürlichsten mit dem Namen Freuds
verbinde. Aber während ich zu Ihnen sprach, mußte
ich mich fragen, ob ich mich nicht mit meiner Ankün-
digung einer Irreführung schuldig gemacht: „Freud und
der Mythus", das wäre nach dem, was ich bis jetzt
zum Schluß gesagt, etwa der richtige Titel gewesen. —
5°
Und dennoch hängt mein Gefühl an der Verbindung von
Name und Wort und möchte einen Zusammenhang die-
ser Formel wahrhaben mit dem, was ich sagte. Ja, so
wahr ich mich zu glauben erkühne, daß in dem Spiel
der Psychologie auf dem Mythos, worin jener der
Freudschen Welt befreundete Roman sich übt, Keime
und Elemente eines neuen Menschheitsgefühls, einer
kommenden Humanität beschlossen liegen, so vollkom-
men bin ich überzeugt, daß man in Freuds Lebens-
werk einmal einen der wichtigsten Bausteine erken-
nen wird, die beigetragen worden sind zu einer heute
auf vielfache Weise sich bildenden neuen Anthropo-
logie und damit zum Fundament der Zukunft, dem
Hause einer klügeren und freieren Menschheit. Dieser
ärztliche Psycholog wird geehrt werden, so glaube ich,
als Wegbereiter eines künftigen Humanismus, den wir
ahnen, und der durch vieles hindurchgegangen sein
wird, von dem frühere Humanismen nichts wußten, —
eines Humanismus, der zu den Mächten der Unterwelt,
des Unbewußten, des „Es" in einem keckeren, freieren
und heitereren, einem kunstreiferen Verhältnis stehen
wird, als es einem in neurotischer Angst und zugehöri-
gem Haß sich mühenden Menschentum von heute ver-
gönnt ist. Freud hat zwar gemeint, die Zukunft werde
wahrscheinlich urteilen, daß die Bedeutung der Psycho-
analyse als Wissenschaft des Unbewußten ihren Wert als
Heilmethode weit übertreffe. Aber auch als Wissenschaft
des Unbewußten ist sie Heilmethode, überindividuelle
Heilmethode, Heilmethode großen Stils. Nehmen Sie es als
Dichterutopie, — aber alles in allem ist der Gedanke
nicht unsinnig, daß die Auflösung der großen Angst und
5i
des großen Hasses, ihre Überwindung durch Herstel-
lung eines ironisch-künstlerischen und dabei nicht not-
wendigerweise unfrommen Verhältnisses zum Unbewuß-
ten einst als der menschheitliche Heileffekt dieser Wis-
senschaft angesprochen werden könnte.
Die analytische Einsicht ist weltverändernd; ein hei-
terer Argwohn ist mit ihr in die Welt gesetzt, ein ent-
larvender Verdacht die Verstecktheiten und Machen-
schaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt,
nie wieder daraus verschwinden kann. Er infiltriert
das Leben, untergräbt seine rohe Naivität, nimmt ihm
das Pathos der Unwissenheit, betreibt seine Entpatheti-
sierung, indem er zum Geschmack am „Understatement 1 '
erzieht, wie die Engländer sagen, zum lieber untertrei-
benden als übertreibenden Ausdruck, zur Kultur des
mittleren, unaufgcblasenen Wortes, das seine Kraft im
Mäßigen sucht . . . Bescheidenheit — vergessen wir nicht
daß sie von Bescheidwissen kommt, daß ur-
sprünglich das Wort diesen Sinn führte und erst über
ihn den zweiten von modestia, moderatio angenommen
hat. Bescheidenheit aus Bescheid wissen — nehmen wir
an, daß das die Grundstimmung der heiter ernüchter-
ten Friedenswelt sein wird, die mit herbeizuführen die
Wissenschaft vom Unbewußten berufen sein mag.
Die Mischung, die in ihr das Pionierhafte mit dem
Ärztlichen eingeht, rechtfertigt solche Hoffnungen. Freud
hat seine Traumlehre einmal „ein Stück wissenschaft-
lichen Neulandes" genannt, „dem Volksglauben und der
Mystik abgewonnen". In diesem „abgewonnen" liegt der
kolonisatorische Geist und Sinn seines Forscherlums.
„Wo E s war, soll Ich werden", sagt er epigrammatisch.
12
und selber nennt er die psychoanalytische Arbeit ein
Kulturwerk, vergleichbar der Trockenlegung der Zuider-
see. So fließen uns zum Schluß die Züge des ehrwürdi-
gen Mannes, den wir feiern, hinüber in die des greisen
Faust, den es drängt, „das herrische Meer vom Ufer
auszuschließen, der feuchten Breite Grenze zu verengen".
„Eröffn' ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn."
Es ist das Volk einer angst- und haßbefreiten, zum
Frieden gereiften Zukunft.
53
Zur Entstehung des Kinderbuches
von Selma Lagerlöf „Wunderbare Reise
des kleinen Nils Holgersson mit den
Wildgänsen"
Von Eduard Hitschmann, Wien
Mit achtundvierzig Jahren erhielt die Dichterin den
Auftrag, ein patriotisches Kinderbuch über Schweden
zu schreiben, das die Heimatkunde fördern, lehrreich
sein und als Lesebuch dienen sollte. Als gewesene Leh-
rerin erschien sie, nunmehr sechzehn Jahre lang Schrift-
stellerin, besonders geeignet. Neues leicht zu erfinden,
war nicht so ganz ihre Sache, ihr Arbeiten war oft nur
ein Bearbeiten, besonders auch von mündlich über-
lieferten, volkstümlichen Erzählungen. Diesmal zögerte
unsere Dichterin von Weihnachten bis zum Herbst —
es sind gerade neun Monate -, ohne einen rechten
Einfall zu gebären, und war der Aufgabe fast über-
drüssig geworden.
Es war naheliegend, ein bewußtes Zurücktasten in die
eigene Jugendzeit anläßlich dieses literarischen Auf-
trages vorzunehmen und dazu dem alten, längst in
andere Hände übergegangenen Heimathof einen Besuch
abzustatten, um das Leben und die Tätigkeiten dort bes-
ser erinnern zu können.
Was ist dann die Grundidee dieses so überaus
weitverbreiteten und beliebten Kinderbuches geworden?
Ein schlimmer, fauler und boshafter Knabe, der auch
Tiere zu quälen pflegt, soll eines Sonntags, von den
Eltern daheim gelassen, im Gebetbuch lesen, schläft
aber dabei ein. Erwacht, beobachtet er ein Wichtel-
männchen im Zimmer, fängt es ein; aber dieses macht
sich frei, verzaubert ihn in einen zwerghaft kleinen
54
Knaben, einen Däumling, verleiht ihm allerdings gleich-
zeitig die Fähigkeit, die Sprache der Tiere zu verstehen.
Die Tiere, die er früher gequält hat, spotten nun seiner,
die Sperlinge, die Hühner, die Gänse, die Katze und die
Kühe des Hauses.
Da kommen Wildgänse geflogen und ein zahmer Gän-
serich macht Miene, ihnen zu folgen; Nils will ihn
zurückhalten, umschlingt ihn mit den Armen, wird aber
in die Höhe mitgeführt. Der Däumling macht so eine
lange Reise mit den Wildgänsen mit, übersteht zahllose
Abenteuer, überfliegt ganz Schweden und wird reich-
lich belehrt.
Das Buch ist ganz eigentlich ein Tierbuch, nament-
lich ist außer dem Treiben der Wildgänse, die sich dem
Kleinen als Freunde erweisen, die Vogelwelt leibhaftig
geschildert; Hühner, Kraniche, Krähen, Schwäne, Eulen,
ein Storch, ein Rabe und ein Adler treten auf. Unter
den Wildgänsen fällt besonders ins Auge die mütter-
liche Führerin, eine herbe kluge überlegene Alte. Der
Knabe hat manche Gelegenheit, die Freundschaft der
Wildgänse durch Heldenmut zu bedanken, wird erzogen
und geläutert und endlich wieder entzaubert. Der typi-
schen Ausdrucksform der ethischen Tendenz der Dich-
terin in Schuld, Sühne, Erlösung begegnen wir also
auch hier.
Das Motiv der Vermenschlichung, der Menschen-
freundlichkeit dieser eigentlich wilden Tiere, der Wild-
gänse, muß dem Kenner des Werkes der Lagerlöf
umsomehr auffallen, als Dichtung und Kindheitserinne-
rungen immer wieder von Angst vor bösen und
grausamen Vögeln zu berichten wissen. Im Bo-
denraum über dem Kinderzimmer haust eine lärmende
Eule, die schreckliche Angst erzeugt, in der Phantasie
der Kleinen zu einem großen Ungeheuer auswächst;
es ist gar nicht auszudenken, wenn das unheimliche
Wesen mit seinen gewaltigen Klauen und dem Haken-
55
Schnabel herabkäme 1 ). Vor allem ist es die Angst,
Eulen, Sperber oder Krähen könnten einem die Augen
aushacken, die oft als Motiv wiederkehrt. In „Gösta
Berling" sind es Elstern, welche - von einer verflu-
chenden Hexe geschickt - mit Schnabel und Krallen
nach dem Gesicht der Gräfin Merta zielen. Ähnliches
droht einer schuldbewußten Frau in der Erzählung
„Ein gefallener König". Vom gleichen Thema ist auch
in der Erzählung „Die Vogelfreien" Erwähnung getan.
Im Kapitel „Herrestad" der Kindheitserinnerungen „Aus
meinen Kinderlagen" wird von einer alten Frau be-
richtet, die niemals auszugehen wagte, weil sie Angst
hatte, die Dohlen würden sie auffressen.
Die Dichterin selbst legt es uns nahe, hinter diesen
gefürchteten Vögeln, die zu blenden, zu verletzen, auf-
zufressen drohen, symbolisch verhüllte weibliche We-
sen zu vermuten, aller psychoanalytischen Erfahrung
nach die strafende böse Mutter.
So heißt es in der 8. Saga des „Gösta Berling": „Die
Eule hackt einem die Augen aus, denn sie ist kein
wirklicher Vogel, sondern ein verhexter Geist". Ferner
lesen wir in diesem Erstlingswerk: „Die Natur ist böse
und grausam, hinterlistig wie eine schlafende Schlange"-
selbst der Bach, der Kuckuck, das Moos erscheinen der
Dichterin als tückische Feinde. Er heißt dort weiter-
„Das Grauen ist eine Hexe. Sitzt sie noch in der Finster-
nis der Wälder? Lähmt sie noch die Freude am Leben?
Ihre Macht ist groß gewesen, das weiß ich, in deren
Wiege Stahl und in deren Badewasser glühende Koh-
len gelegen haben; ich weiß es, die ich ihre eiserne
Hand um mein Herz gefühlt habe."
Hier ist die Kinderangst, als die ursprüngliche, recht
eigentlich verraten; Angst, Unheimliches und Mystisches
*) Für eine so frühzeitige Kleinkind-Angst setzen eng-
lische Autoren Schuldgefühle wegen aggressiver Phan-
tasien voraus.
56
kehren in all den Sagen wieder, welche die Dichterin
zur Bearbeitung drängten. „Angst" heißt auch ein Kapi-
tel in „Aus meinen Kindertagen".
Daß hinter der Angst vor den die Augen bedrohen-
den Raubvögeln und vor den Hexen die Angst vor der
gefürchteten strafdrohenden (kastrierenden) Mutter
steckt, ist psychoanalytisches Wissensgut. Es ist der mit
Libido legierte Haß, der aus dem Ödipuskomplex resul-
tiert, der Schuldgefühl und damit Angst mit sich bringt.
Die Verwandlung der Aggression in Angst und die Ver-
schiebung vom gleichgeschlechtlichen Elternteil auf das
Tier ist von Freud schon vor vielen Jahren in der
„Analyse eines fünfjährigen Knaben" dargestellt worden.
Selma Lagerlöf erlitt mit dreieinhalb Jahren eine Läh-
mung an einem Bein (Kinderlähmung), war dadurch
lange Jahre an freier Beweglichkeit und am Spiel mit
ihren vier Geschwistern behindert 2 ) ; solche Kinder,
immer wieder ermahnt und gewarnt und eingeschränkt,
neigen sehr zu Neid, gesteigerter Aggression und Gefüh-
len der Zurücksetzung. Die Kastration, könnte man
sagen, war durch die Lähmung förmlich materialisiert.
Die Persönlichkeit der strengen, gewissenhaften Mut-
ter, von der angegeben ist, daß sie die ältere schönere
Tochter bevorzugte, war nicht geeignet, all dies zu
mildern.
Die Brücke von dieser einer Phobie nahekommenden
Angst vor Vögeln, wie sie Selma Lagerlöf als Kind er-
lebt hat und wie sie das Phantasieleben der Dichterin
dauernd erfüllt, — zu dem liebevollen Zusammenleben
zwischen dem Däumling und den wilden Gänsen in der
Kindergeschichte von Nils Holgersson bietet uns der
Inhalt des VI. Kapitels in dem Buche von Anna
Freud „Das Ich und die Abwehrmechanismen".
2 ) Das Fliegen mußte einem gelähmten Kinde beson-
ders verlockend erscheinen. Die vierzehnjährige Selma
behandelt denn auch in ihrem Tagebuch das Problem
des menschlichen Fliegens.
57
Es wird dort über normale Kinder berichtet, denen
es gelungen ist, das sie beunruhigende Angsttier durch
Verleugnung in der Phantasie — zum Freund
umzudenken. Dieser Mechanismus muß auch bei der
Entstehung der „Wunderbaren Reise . . ." angenommen
werden: die Dichterin kehrt mit dem Auftrag, eine
Kindergeschichte zu schreiben, unbewußt in die Erin-
nerungen an die infantile Vogelangst zurück, ihre Phan-
tasie verleugnet das zur Darstellung in einer Kinder-
geschichte Ungeeignete und schließt mit den Vögeln
Frieden. Die Stoffwahl aber hält an den wilden, nun-
mehr freundlichen Vögeln fest. Paradox wird man fin-
den, daß dies in der 48 jährigen Dichterin vorgegangen
sein soll; wir wären lieber Zeugen eines Berichtes über
eine solche Kinderphantasie der Lagerlöf. Dafür werden
wir aber reichlich entschädigt durch die Schilde-
rung des Momentes der Inspiration der
Dichterin zu dieser Kindergeschichte, in ihr selbst im
Kapitel „Ein kleiner Herrenhof" enthalten.
Selma Lagerlöf tritt hier persönlich auf und rettet
Nils vor einer bösen Eule, die ihm eben die Augen
aushacken will und schon die Krallen in seine Schul-
tern geschlagen hat. „Nils hielt die eine Hand zum
Schutz vor die Augen, während er sich mit der andern
zu befreien suchte... Er fühlte, daß er in wirklicher
Lebensgefahr schwebte." Der gerettete Däumling erzählt
nun seine Reisegeschich le und die Dichterin beschließt,
— vergnügt, aus der Verlegenheit mit der Stoffwahl
zur Kindergeschichte zu sein, — alles, was er erzählt
hat, in ihr Buch zu schreiben. Sie hat nun keine Sor-
gen mehr darum; die Reise in das Heim der Kindheit
hat ihr die Hilfe gebracht, denn dort spielt diese Szene.
Sehen wir aber in der Eule eine unbewußte Erinne-
rung an die einst gefürchtete Mutter, so ergänzt die
Dichterin sofort auch den geliebten Vater. Ein Schwann
Tauben kommt dahergeflogen und läßt sich nieder; die
Haustauben hatten seinerzeit zu den Tieren gehört, die
5«
der gute Vater unter seinen Schutz genommen hatte.
„Wenn nur jemand davon sprach, daß eine Taube ge-
schlachtet werden sollte, so hatte ihm das die gute
Laune verdorben."
Die Begrüßung durch den Taubenschwarm erscheint
der Dichterin als ein Gruß des toten Vaters, und es ist
ihr eine genehme Vermutung, daß er auch am Werk
gewesen, ihr die Lösung der Aufgabe zu verschaffen,
über die sie schon so lange vergebens gegrübelt hatte.
Mutter und Vater, durch Vogelgestalten repräsentiert,
erscheinen also alsbald bei dem Besuch der Tochter im
Heimathaus! Die Inspiration ergibt eine versöhnliche
Vogelgeschichte, in der der wilde Vogel zum Freund
wird, und eine mütterliche Vogelgestalt gerecht und
geduldig zur Anführerin gemacht ist. Die Dichterin ist
unbewußt zurückversetzt in das Phantasiespiel der eige-
nen Kindheit, das sie milde korrigiert. Der wilde Vogel
ist gezähmt, dient dem Däumling und hilft gütig durch
die Welt; der Däumling ist der einzige Mensch, der so
vom Schicksal ausgezeichnet ist, mit den Wildgänsen
durch die Welt zu fliegen. „Das Angsttier", heißt es
bei Anna Freud, „wird zum Freund ernannt; seine
Stärke dient jetzt . . . , statt zu erschrecken."
In Nils wird aber auch ein Held, ein mutiger Vogel-
besieger dargestellt. Er wird in der Erzählung einmal
von bösen Krähen geraubt und wiederholt an den
Augen bedroht; eine besonders böse Krähe stürzt sich
blind vor Wut auf ihn, aber direkt in sein gezücktes
Messer hinein, das ihr durch ein Auge ins Gehirn dringt,
worauf sie tot zu Boden sinkt. Nils hat also — wenn
auch unwillkürlich — der Krähe ein Auge ausgestochen.
Man kann darin ein Beispiel für eine „Identifizierung mit
dem Angreifer" sehen, einen Ich-Mechanismus, durch
den aus dem Bedrohten ein Bedroher geworden ist,
wodurch die Angst überwunden ist. (Vgl. bei Anna
Freud.)
59
Ehe wir das Thema der symbolischen Vögel ver-
lassen, sei noch auf das „Motiv der hilfreichen Tiere"
im Mythos hingewiesen und erwähnt, daß auch im
Werk der Selma Lagerlöf freundlich helfende Vögel vor-
kommen, so vor allem der weiße Gänserich aus dem
Vaterhaus, der den Däumling trägt, und der Paradies-
vogel, dem — obwohl er nur ein ausgestopfter ist —
laut Kindheitserinnerung („Märbakka") die Heilung oder
doch wesentliche Besserung der Beinlähmung zugeschrie-
ben wird.
In Weiterverfolgung des Themas von der Entstehung
der „Wunderbaren Reise des kleinen Nils Holgersson
mit den Wildgänsen" haben wir nun die Gestalt
des Däumlings, des zwerghaften Helden selbst ins
Auge zu fassen. Die Kindergeschichte hätte ja auch
ein Mädchen als Heldin aufweisen können; warum
ist es ein Knabe? Und was bedeutet diese Zwerggestalt?
Zweifellos ist es der einstige Wunsch der ehrgeizigen
kleinen Selma, ein Knabe wie die beiden älteren Brüder
zu sein, der hier zum Ausdruck kommt. Dem Penis-
neid des kleinen gelähmten Mädchens mag manches
in seiner seelischen Entwicklung zuzuschreiben sein,
was nur eine Gesamtanalyse beweisen kann. Eines kön-
nen wir wohl hier vermuten: daß sie den Neid in sein
fruchtbares Gegenteil verwandelt hat, indem sie zu
einer Überbelonung ihrer magischen Fähigkeiten Anlaß
nahm und so zur Fähigkeit Zuflucht nahm, wenigstens
in der Phantasie zu zaubern, d. h. Dichtungen zu erfin-
den. Schon als kleines, durch die Lähmung gekränktes
Mädchen schickt sich Selma an, Dichterin zu werden.
Auch über diesen Ich-Mechanismus, den Neid in sein
Gegenteil zu verwandeln, indem das Kind seine magi-
schen Fähigkeiten auszubilden sucht, finden wir Bei-
spiele in „Das Ich und die Abwehrmechanismen".
Die Märchenfigur des Däumlings und mancher Zwerge
ist bereits analytisch behandelt worden, und es besteht
kein Zweifel, daß sie mit dem Kastrationsthema im
60
engen Zusammenhang steht. Die phänische Deutung der
Zwerge, die Auffassung, sie seien Gestalten, aus einer
Überkompensierung der Kastrationsangst entstanden
(Ferenczi), in denen der Phallus gleichsam als selb-
ständiges Wesen weiterlebt — ist uns vertraut. In der
griechischen Sage findet sich sogar einmal als ein
Hauptzug ein Kampf von Pygmäen mit — Kranichen.
Wir gehen sicherlich den richtigen Weg, wenn wir
annehmen, der Däumling habe symbolisch auch phal-
lische Bedeutung; dafür spricht überdies das — durch
Zauber — plötzlich Kleinwerden und am Ende der Ver-
zauberung plötzlich Großwerden. Aber auch bei Mädchen
ist die unbewußte Identifizierung mit einem Penis keine
Seltenheit. In einer gehaltreichen Arbeit erbrachte Fe-
nichel zahlreiche Beispiele dafür. Die Vaterleibsphan-
tasie, mit der diese Identifizierung cinhergeht, ergibt
Details, welche sehr an das Verhältnis des kleinen Nils
zu dem gütigen Gänserich erinnern, der ihn von Hause
mit in die Höhe nimmt und unter dessen Federkleid er
geschützt zu hegen kommt. Fenichel berichtet über
eine neurotische Patientin mit der Phantasie, sie schütze
als kleine Begleiterin den Vater so, daß er ohne diesen
Schutz ohnmächtig wäre. Auch unser Däumling wird
wiederholt zum Retter seines Gänserichs, „den er so lieb
hatte, wie sich selbst", der also den Vater repräsentiert,
wie die Anführerin der Gänse die Mutter. Wir verstehen
am besten die Erfindung des allein vom Schicksal
auserlesenen, allen anderen Kindern so überlegen wer-
denden, weilgereisten, welterfahrenen Däumlingwesens,
wenn wir diese Gestalt, aus Regression auf eine zahl-
reiche schwere Kränkungen enthaltende Kindheit ent-
springend, als eine Phantasiegestalt auffassen,
welche alle diese Kränkungen überkom-
pensiert und in sich männlichen und weiblichen
Narzißmus verdichtet.
Die Erörterung der Entstehung der „Wunderbaren
Reise . . ." zeigt breite offene Bruchflächen, die eine aus-
61
führ liehe Analyse von Persönlich keil und Werk Selma
Lagerlöfs schließen soll.
Hier sei noch einmal zusammengefaßt, wie eigenartig
die Szene der Inspiration, die von der Dichterin in
den Lauf der Begebenheiten ihrer originellen Kinder-
geschichte cingeflochten ist, die unbewußte Kon-
zeption der Hauptzüge des Ruches beleuchtet.
Selma Lagerlöf fuhr talsächlich im Bedürfnis nach
Anregung damals nach dem Heimathof in Värmland.
Ihre Darstellung bringt den Däumling von der Eule be-
droht, den sie rettet. Gleichzeitig erscheint der Tauben-
schwarm, wie als Gruß vom Vater. Der Däumling
erzählt seine Flug-Abenteuer mit den freundlichen Wild-
gänsen und die Dichterin beschließt beglückt, diese seine
Abenteuer zum Inhalt des Kinderbuches zu machen. Die
psychoanalytische Deutung ergibt die Erkenntnis, daß
die alte Kinderangst vor den die Augen bedrohenden
bösen Vögeln hier eingetauscht ist gegen das gute Ver-
hältnis eines Däumlings zu freundschaftlichen wilden
Vögeln und daß in symbolischer Verhüllung hier die
Personen der Eltern und die Komplexe der eigenen
Kindheit der Dichterin aufscheinen, also eine unbe-
wußte Regression ihr zur Eingebung verholfen hat.
Es konnten Mechanismen des Ichs aufgezeigt werden,
welche der Entwicklung der Dichterin Richtung gaben,
ihr die frühe Angst zu verleugnen gestatteten, dem krüp-
pelhaften Kinde ermöglichten, im magischen Phanta-
sieren des Dichtens seine Minderwertigkeitsgefühle und
seinen Neid zu überwinden.
Ein großes Talent und ein starkes Ich überwanden
die Schwierigkeiten der Kindheit, trösteten über Ehe-
und Kinderlosigkeit; so ist der kleine Nils, außer der
Dichterin selbst als Kind, auch — ein phantasierter
Sohn. Im dunklen Bewußtsein ihrer frühen inneren
Kämpfe sagt Selma Lagerlöf bedeutungsvoll von sich,
62
sie werde immer tief gerührt, wenn sie „von solchen
hört, die es schwer gehabt haben, denen es aber später
gut gegangen ist".
Literatur:
O. Fenichel: Die symbolische Gleichung: Mäd-
chen - Phallus. Int. Ztschr. f. Psa., Bd. XXII, 1936. -
S. Ferenczi: Gulliver-Phantasien. Int. Ztschr. f. Psa.,
Bd. XIII, 1927. — Anna Freud: Das Ich und die Ab-
wehrmechanismen. Int. Psa. Verl., Wien 1936. — Sigm.
Freud: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben.
Ges. Sehr., VII. Bd. — Sigm. Freud: Märcnenstoffe in
Träumen. Ges. Sehr., III. Bd. — Selma Lagerlöf:
Gesammelle Werke. Albert Langen, München. — G. R 6-
heim: Zur Deutung der Zwergsagen. Int. Ztschr. f. Psa.,
Bd. XVI, 1930.
63
„Utopien"
Von Edward Glover, London
Mit Genehmigung des Verlages George
Allen & U n w i n Lfd., London, bringen
wir hier einen fragmentarischen Abschnitt aus
dem Buche von Dr. Edward Glover: „The
dangers o f b ei ng hu ma n" (London
1936) zum Abdruck. Das Buch ist aus Radio-
vorträgen vervorgegangen, die Dr. Glover im
Jahre 1935 am Londoner Sender hielt, und
stellt psychoanalytische Erwägungen zum Ge-
meinschaftsleben der Menschen im großen Zu-
sammenhang dar. Der vorliegende Abschnitt
ist dem VII. Kapitel des Buches entnommen,
dem eine Einleitung eines Würdenträgers der
englischen Hochkirche, des Reverend Doktor
W. R. Inge, vorangeschickt ist. Deutsche
Übertragung von Walter Eck.
Im Laufe unserer Überlegungen mußte ich Ihre Nach-
sicht auf eine starke Probe stellen. Ich bin mir wohl
bewußt, daß die Anschauungen, die ich Ihnen vorlegte,
vielen von Ihnen weit hergeholt scheinen mußten. Ich
habe behauptet, daß der Mensch als Individuum ein
zum großen Teil „irrationales" Geschöpf ist, dessen Den-
ken von Mechanismen gelenkt wird, die weitgehend dem
Schutz vor eingebildeter Angst dienen; weiters habe ich
die Meinung vertreten, daß Gruppen von Kulturmen-
schen sich von Gruppen Primitiver nicht weitgehend
unterscheiden und daß die Reaktionen, die innerhalb
solcher Gruppen ausgelöst werden, im wesentlichen als
Antwort auf unbewußte Angst zu verstehen sind. Dar-
nach wären Verbrechen und Krieg durch unbewußte
Angst ausgelöst. Ich weiß sehr wohl, daß von allen
Überlegungen, die ich mir erlaubte Ihnen vorzutragen,
gerade die, die sich auf unbewußte Befürchtungen, auf
AllgSt Ulld Schuld bezichen, Ihrem besonderen Skepti-
zismus begegnen mußten.
64
Sie sind bereit, zuzugeben, daß Sie manchmal bewußt
ängstlich sind. Aber daß es Befürchtungen in Ihrem
Seelenleben geben könne, von denen Sie nichts wissen,
muß Ihnen völlig unwahrscheinlich vorkommen. Ein-
zelne unglückliche Menschen, die unter sogenannter
„Angstbereitschaft" leiden und die beim geringsten An-
laß in panische Angst geraten, mögen vielleicht bereit
sein, an die Existenz unbewußter Angst zu glauben. Aber
den meisten kann das als Beweis nicht genügen. In
der Tat ist es so, daß, wenn unbewußte Angstvorstellun-
gen im Bewußtsein auftreten, sie nicht notwendig in
der direkten Form von Angst erlebt werden müssen. So
ist etwa das sogenannte gierige Kind nicht wirklich
gierig; es hat unbewußt Angst. Der minderwertige
Mensch ist nicht wirklich minderwertig; er leidet an
unbewußtem Schuldgefühl. Der psychisch Kranke leidet,
obwohl er auch für sein bewußtes Erleben krank genug
ist, im Durchschnitt in hohem Maß an unbewußter Angst
und Schuldgefühl. Aber ich kann nicht hoffen, diesen
Sachverhalt im Laufe meiner Darlegungen für Sie über-
zeugender zu machen; ich kann Sie nur daran mahnen,
daß Unsichtbarkeit kein Beweis für Nichtvorhandensein
ist. Die Existenz von Kräften, die wir nicht wahrneh-
men können, wie die der Elektrizität, kann nur durch
die Wirkung, die sie hervorrufen, augenscheinlich ge-
macht werden.
Aber obgleich ich die Meinung vertrat, daß die meisten
unserer irrationalen Ängste und Verhaltensweisen der
Arbeitsweise unbewußter, primitiver Mechanismen ent-
stammen, habe ich Wert darauf gelegt, hinzuzufügen,
daß wir ihrer doch nicht entraten könnten. Denn die
meisten unserer kulturellen Leistungen hängen von eben
diesen Mechanismen ab.
Das alles sei, so können Sie nun sagen, ganz recht,
vielleicht sogar wahr, aber wenn es auch wahr ist, was
sollen wir damit anfangen? Sie erinnern sich gewiß, daß
ich selbst darauf hingewiesen habe, daß wir tatsächlich
5 Almanach 1937 n
65
nur sehr wenig für den erwachsenen Menschen leisten
können, außer etwa, daß man ihm seine Lage nach
Möglichkeil erleichtere. Aber ich habe auch gesagt, daß
wir, wenn wir unsere Kinder menschlicher behan-
delten, mit der Zeit eine Generation heranbilden wür-
den, die imstande wäre, verhältnismäßig leicht die Pro-
bleme zu lösen, die vorläufig der Erfindungsgabe der
Menschen zu spotten scheinen. Ich glaube keinen Augen-
blick, daß diese weitmaschigen Allgemeinheiten Sie be-
friedigen werden, Sie werden mich ohne Zweifel ver-
dächtigen, ich wollte Sie mit frommen Hoffnungen ab-
speisen. Ja, Sie mögen mich sogar beschuldigen, daß ich
das lästigste aller Lebewesen sei, ein Utopien-Krämer, der
für den Mangel praktischer Ideen dadurch zu entschul-
digen suche, daß er windige Spekulationen über die
Zukunft anstelle.
Utopien über kommende Geschlechter
Nach herkömmlicher Definition ist eine Utopie eine
eingebildete Welt, die sich in jeder organisatorischen
Hinsicht der Vollkommenheit erfreut. Man darf noch
hinzufügen, daß jede Generation ihre eigentümliche Uto-
pie hervorbringt. Es ist klar, daß unsere Maßstäbe von
Zeit zu Zeit wechseln. Einige von Ihnen mögen sich
noch an Utopien aus dem victorianischen Zeitalter
erinnern, in denen die Wasser der Themse wohlriechend
und klar waren, oder in denen sonderbar milde Sterb-
liche, in auffallende, hygienischen Forderungen entspre-
chende Gewänder gehüllt, in würdevollem Tone freund-
liche Gespräche führten; oder aber sie tanzten in sach-
kundigster Vollendung Negertänze. Gewiß, die Utopien
unseres Jahrhunderts sind aus ernsterem Stoff. Wissen-
schaftliche Phantasien wurden aufgezäumt, um eine
mehr und mehr komplizierte materielle Welt zu be-
schreiben.
Aber wie immer diese Organisationsstufe erreicht wer-
den soll, — ob durch die Mühe heroischer Flieger oder
66
dadurch, daß die einfachen Sterblichen ein Fegefeuer
von Katastrophen durchwandern, — wir stoßen am Ende
auf denselben Gedanken: die Menschheil soll einen
Zustand relativer — wenn schon nicht absoluter —
Glückseligkeit erreichen.
Ich nieine, es ist gut, sich mit den Ansprüchen be-
kanntzumachen, die dieses Interesse am goldenen Zeit-
alter auslösen. Das geschieht am besten, wenn wir einige
Utopien beschreiben, die von ihren Verfassern noch
nicht zur Drucklegung vorgelegt wurden. Diejenigen
unter ihnen, die die Gelegenheit haben, ein neugeborenes
Kind im Schlaf zu beobachten, können manchmal be-
merken, daß, wenn es durch einen Lichtstrahl gestört
wird, sein Gesicht sich in Runzeln legt, daß aber nach
wenigen Sekunden der Mund wohlige Saugbewegungen
zu machen beginnt, und daß dann das Baby mit
einem Seufzer in tiefen Schlaf zurücksinkt. Das ist die
erste ungeschriebene Utopie des Menschen. Die Psycho-
analytiker glauben, daß das Kind nicht nur einen
schmerzlichen Reiz durch die Wiederholung lustvoller
Bewegungen verarbeitet, sondern daß es in seinem ein-
fachen seelischen Apparat die lustvolle Erinnerung an
den Saugakt wiederfindet. Der Beobachter weiß natür-
lich, daß ein wirklicher Saugakt in diesem Augenblick
nicht stattfindet. Der ganze Vorgang ist eine Halluzi-
nation — aber solange das Kind nicht zu hungrig ist,
genügt das. Mit anderen Worten: die Utopie des Säug-
lings ist eine Welt aus Milch und Pfefferminzwasser, in
der Qualen von Hunger und von Koliken, kaum gefühlt,
schon gestillt sind.
Ich muß Sie nicht daran erinnern, daß eine analoge
Traumaktivität in veränderter Form in den Märchen be-
obachtet werden kann, wie sie die Kinder aller Jahr-
hunderte erzählen, in denen der Held ewig glücklich
weiterlebt, oder in den Tausenden von Mythen, mit
denen Menschen aller Zeitalter versucht haben, die Bit-
ternisse des Lebens zu mildern. Interessanter noch als
5 * r
6 7
diese wohlbekannten Erzeugnisse der menschlichen Er-
findungsgabe sind uns die Weltsysteme und Lebens-
philosophien, die manche Geisteskranke entwickelt ha-
ben. Unglückliche Sterbliche, die offenkundig jede Be-
ziehung zu wirklichen Vorgängen verloren haben, sind
fähig, bemerkenswerte, obgleich häufig groteske Pläne
einer Weltorganisation zu entwerfen, die etwa durch auf
den Deckel eines Marmelade lopfes geritzte Diagramme
illustriert sein mögen. Der wesentliche Unterschied zwi-
schen diesen Entwürfen und den Schriften eines H. G.
W e 1 1 s ist einfach der, daß Wells weiß, daß seine Ideen
Phantasiegebilde sind, während der Geisteskranke die
seinen für ausführbar hält. Wir fügen hinzu: Der ge-
sunde Utopist will die Welt umgestalten für andere
und für sich selbst, — die neue Welt des geisteskran-
ken Utopisten gibt es nur für ihn allein.
Unser steinzeitliches Denken
Während die Utopien der Geisteskranken so gut wie
ausschließlich das enthalten, was nach dem Wunsche
ihres Schöpfers entstehen soll, paßt der gesunde Uto-
pist die Wünsche an das an, was seiner Meinung nach
möglicherweise geschehen kann. Aber der dritte Schritt
wird beim Aufbau der Utopie zur Notwendigkeit: man
muß feststellen, was unvermeidlich geschehen wird. Es
mag Ihnen schon aufgefallen sein, daß, während die
Welt, die in einer modernen Utopie geschildert wird,
voll ist von seltsamen Bauwerken, wunderbaren Erfin-
dungen und jeder denkbaren Art geheimer Strahlen,
doch die Menschen, die in dieser Welt leben, nicht
sehr verschieden von uns selbst sind. Man teilt ihnen
eine stattliche Zahl eindrucksvoller Eigenschaften zu,
aber ihre Gespräche sind nicht sonderlich ausgezeichnet,
und ihr Gefühlsleben ist beinahe langweilig. Mit anderen
Worten, der Autor kann sich Verbesserungen der phy-
sischen Fähigkeiten des Menschen ausdenken, aber er
ist unfähig, sich irgendwelche Verbesserungen seiner
68
geistigen Fähigkeiten vorzustellen. Letztlich sind auch
die höchst künstlichen Arten utopischer Fortbewegung
bloß Vergrößerungen der Bewegungen, die wir mit un-
seren Beinen ausführen. Wenn wir uns alle leisten
können, mit einer Geschwindigkeit von vierhundert Mei-
len in der Stunde in der Stratosphäre zu reisen, wür-
den wir sicherüch das Kindermärchen von den Sieben-
meilensliefeln verwirklichen, aber, an unserem Bestim-
mungsort mit so bemerkenswerter Schnelligkeit ange-
kommen, sind wir doch wieder auf unsere eigenen
psychischen Hilfsquellen angewiesen und die unterschei-
den sich wenig von denen, die der Mensch der Stein-
zeit besaß. Wir können uns neue Augen erfinden, aber
wenn unsere Fähigkeit zum Fernsehen das Universum
umfaßt, bleibt unser Blick doch zuletzt auf dem Ant-
litz unseres Nachbarn haften, ein wenig erheiternder
Anblick, gegen den sich unsere Großväter verteidigten,
indem sie Hecken um ihre Häuser pflanzten. Statt daß
uns Ohren wachsen, so groß wie dem Elephanten,
haben wir Radioempfänger erfunden, aber die Töne, die
wir hören werden, wie Sie ohne Zweifel einsehen, von
gewöhnlichen Sterblichen in schwerer Arbeit hervorge-
bracht. Wie immer wir die künstlichen Instrumente
des Menschen entwickeln mögen, der Geist des Men-
schen bleibt immer derselbe. Wenn der Geist irrational
ist wird er auch die neuen Instrumente in irratio-
nalem Sinn anwenden. Wenn der moderne Mensch
Krieg führt, rächt er sich zwar, indem er all die erhöh-
ten Machtmittel benützt, die die Wissenschaft für ihn
erfunden hat. Aber das Wesentliche ist: er zieht doch
weiter in den Krieg.
Der erste Schluß, den der Psychoanalytiker über das
Leben in einem Jahrtausend zu ziehen geneigt ist, be-
sagt, daß es in den meisten wesentlichen Fragen genau
so sein wird, wie das Leben, das wir jetzt führen. Wenn
wir nichts tun können, um einen circulus vitiosus
irrationaler Befürchtungen zu durchbrechen, haben wir
69
keinerlei Anlaß, anzunehmen, daß wir uns sehr ver-
ändern werden. Kein Zweifel, in äußeren Dingen wird
das Leben von dem unseren verschieden erscheinen
ebenso wie unser Leben verschieden zu sein scheint
von dem unserer Vorzeil. Wir mögen imstande sein,
besser für die Lebensbedürfnisse der Menschen zu sor-
gen, aber an der Beziehung von Mensch zu Mensch ge-
messen - und das isl letztlich doch ein grundlegender
Maßslab — wird es keinen Unterschied geben. Es hat
durchaus den Anschein, daß der erste spontane Ent-
wicklungsschub der menschlichen Kultur schon abge-
laufen ist. Wir fahren fori, Veränderungen hervorzu-
bringen, aber wir sind an dem Punkte angelangt, an dem
ein Ding, je mehr es sich verändert, desto unveränder-
ter bleibt, und unsere Kultur wird fortfahren, sich
im Kreise zu bewegen, bis sich ein neuer Anstoß aus-
bildet.
7°
Vom Wesen des jüdischen Witzes
Von Theodor Reik, Haag
Aus einer in Vorbereitung befindlichen
Sammlung „Der ferne Klang' 1 .
Dr. M. Eitingon zugeeignet
Es sind mehr als fünfzehn Jahre her, daß ich in Ber-
lin bei Reinhardt ein Schauspiel „Die Juden" von
einem mir unbekannten russischen Autor Eugen T s c h i-
rikow sah. Es schildert das Leben der Bevölkerung
des jüdischen Ansiedlungsrayons in Nordrußland um
die Wende dieses Jahrhunderts. Der Handlungsumriß
steht nur mehr undeutlich vor mir. Die Personen haben
in der Erinnerung wenig Persönliches. Die drei Akte
spielen in der Wohnung des Uhrmachers Leiser Frän-
kel. Der Alte wird bald allein stehen: sein Sohn hat
sich den revolutionären Sozialisten angeschlossen, die
Tochter hat sich einem christlichen Studenten gegeben.
Der Kampf zwischen den Generationen wird hier umso
erbitteter geführt, als der Familiensinn dieser Men-
schen tiefer, inniger, zäher ist als sonstwo.
Von der Erinnerung wird der Augenblick festgehalten,
da die Nachricht kommt, im Nachbarstädtchen seien
Judenpogrome ausgebrochen. Verschwommene Ein-
drücke: wie der Lärm stärker wird, das Geschrei einer
fanatisierten und verhetzten Menge zum Brüllen an-
schwillt, wie sich die Angst der verzweifelnden Men-
schen im Uhrmacherladen steigert, bis der Pöbel wie
eine Sturmflut einbricht, alles zerstörend und mordend,
die sterbende Tochter vergewaltigt, die Männer nieder-
schlägt, und wie zuletzt, da alles vernichtet ist, die
Kosaken anreiten und den Mob zerstreuen.
Der Eindruck dieser dramatischen Szenen war stark.
Er war nicht im gleichen Maße nachhaltig. Der Erin-
nerung erscheinen auch die Gestalten nur mehr als
71
dramatis personae, kaum als lebendige Menschen. Es
sind Typen: die sanfte, doeh willensstarke Tochter,
die den Vater liebt und sich doch von ihm lösen muß,'
der Sohn, der wegen seiner revolutionären Gesinnung
von der Universität relegiert wurde, ein religiös ge-
bundener Arzt von liberaler Einstellung, ein schmäch-
tiger und kranker Lehrer, der den Zionismus so exal-
tiert verficht wie der Sohn und sein Freund das sozi-
alistische Programm. Ebenso schattenhaft wie die Per-
sonen erscheinen die Argumente und Debatten, mit
denen sie die drei Akte füllen. Das könnte nicht sein,
wenn das Drama mehr und anderes wäre als ein hand-
festes, auf grobe Effekte berechnetes Theaterstück. Es
ist mit seiner faustdick aufgetragenen Tendenz und sei-
nen den Ereignissen des Tages entsprechenden starken
Wirkungen ein spoltschlechles Werk, das nicht unge-
schickte dramatische Steigerungen zeigt.
Warum bringt die Erinnerung jetzt, da ich über ein
bestimmtes Thema schreiben will, die Vorstellung die-
ses Tendenz- und Milieukitsches wieder herauf? Was
bleibt außer dem HandJungsumriß von diesem grob-
schlächtigen Theaterstück, das die Daseinsprobleme des
östlichen Judentums zwar nicht gestaltet, doch disku-
tiert? Was taucht aus dem Dunkel auf, welche Worte
klingen nach, wenn man sich jetzt, fünfzehn Jahre
später, an die Aufführung erinnert ? Es sind zwei Szenen.
Nein, es sind einige Sätze in diesen Szenen, ein paar
Worte und die Pausen im Gespräch — nicht mehr.
Die aber sind nicht wie das übrige von einem Routinier
gemacht, die sind erlebt.
In der einen Szene unterhält sich der Bruder jenes
Uhrmachers, Aaron Fränkel, der aus dem Nachbarslädt-
chen zu Besuch gekommen ist, mit seiner Nichte. Das
Mädchen erzählt ihm, daß sie und ihr Bruder wegen der
Unruhen von der Universität relegiert wurden. „Eijeijei",
ruft Aaron bedauernd, „du warst doch so ein stilles
Mädelchc." Und als die schöne Nichte versichert, daß
72
sie auch jetzt noch still sei, setzt er hinzu: „Du solltest
lieber heiraten. Dann wirst du Kinder haben und deine
eigenen Rebellen." Im weiteren Gespräch klagt dieser
liebe Onkel, der so lebenserfahren und anmutig scher-
zen kann, über die zunehmende Schwäche in Rücken
und Beinen; er werde bald sterben. Das Leben ist
schlimm, das Sterben jetzt noch schlimmer. Zur Illu-
stration erzählt er, was sich in seinem Ansiedlungs-
rayon ereignet hat. Jede Stadt und jedes Städtchen
dieses Ansiedlungsrayons hat wieder extra einen An-
siedlungsrayon, wo allein die Juden leben dürfen. Zu-
sammengepfercht vegetieren sie in diesem engen, zwei-
fach eingezäunten Bezirk. Sie sind zwar sehr arm,
„aber Gott sei Dank, sie haben sehr viel Kinder". Ihr
Viertel wurde so zu eng und ihr Friedhof ist in die Stadt
hineingewachsen. Sie beabsichtigen, einen Platz dafür
außerhalb der Stadt zu kaufen, aber die Behörden ha-
ben ihre Genehmigung dazu nicht erteilt, weil dieser
Platz über den Ansiedlungsrayon hinausging. Die Obrig-
keit hat das Gesetz so ausgelegt, daß ein toter Jude
auch zur Bevölkerung gerechnet wird. Nach vielen Be-
mühungen der Juden hat sich endlich das Ministerium
dazu herbeigelassen, ihnen die Genehmigung zu ertei-
len, den Platz zu kaufen und dort ihre Toten zu begra-
ben. Da ergab sich aber ein neues Hindernis: beim
Friedhof mußte ein Wächter sein. Der Wächter ist aber
ein Jude und darf als solcher außerhalb des Ansiedlungs-
rayons nicht leben. Ein Zuhörer des Berichtes wirft
dazwischen: „Es bleibt Ihnen nur ein Ausweg: neh-
men Sie sich einen Toten zum Wächter." Die Situation
hat aber noch andere Schwierigkeiten: während der
Isprawnik nicht erlaubt, auf dem neuen Friedhof einen
Wächter anzustellen, gestattetes die Sanitätsbehörde nicht
mehr, die Toten auf dem alten zu begraben. (In einer
Fußnote bezeugt der Autor, daß es sich um eine wahre
Begebenheit handelt.) Noch glaube ich, den Jargon-
tonfall des nächsten Satzes zu hören: „Die Juden ha-
73
ben aber nicht warten können und aner von ihnen war
so frei und is> gestorben." Und da ein paar Augenblicke
Schweigen im Zimmer ist, fragt der alte Aaron Fränkel
im selben, nüchternen Tonfall die Nichte: „Hast du nix
Lust, dem Onkel Tee und was zum Essen zu geben?"
Die andere Szene steht am Schluß des ersten Aktes
der wie die übrigen im Uhrmacherladen spielt, einem
niedrigen Zimmer im Kellergeschoß. Die Wände sind
mit großen und kleinen Uhren dicht behängt. Ununter-
brochen schlagen die Perpendikel tick-tack. In diesem
großen Raum wird heftig debattiert: der Sohn des Hau-
ses und sein christlicher Freund vertreten ebenso hitzi«
die Lehre von Marx, von der sie auch die LösunS
der Judenfrage erwarten, wie der kleine nervenkranke
Lehrer das zionistische Programm. Alle verfügbaren
Argumente, kluge und törichte, werden ins Feld geführt
und der Streit wird immer leidenschaftlicher. Er führt
von Anspielungen und Angriffen, von feiner Ironie zu
grober Aggression, vom Lachen bis zum nervösen
Schluchzen des fanatischen Lehrers. Da beginnen plötz-
lich die vielen Uhren im Laden, eine nach der andern
zwölf zu schlagen. In das Schweigen, das folgt, klingt
die ruhige Stimme des alten Uhrmachers, Reb Leiser
der mit dem langen weißen Bart und den buschigen
Brauen wie ein Patriarch aussieht: „Zehn Jahr möcht'
ich schon, daß alle Uhren bei mir auf einmal schlagen
Und es war doch nie möglich. Sie sein' wie die Men-
schen. Sie können nie einig werden."
Die menschliche und künstlerische Bedeutungslos! a«
keit des Tendenzdramas „Die Juden" verhinderte es
daß ein nachhaltiger Eindruck zustandekam. Was hier
gezeigt wurde, hatte man in Wort und Bild oft gesehen.
Was hier gesagt wurde, hatte man schon oft sagen
hören. Dennoch: wie ist es zu erklären, daß die Dar-
74
Stellung vom Untergang der Menschen, die mir durch
Blut und Schicksal verbunden sind, nicht tiefer ge-
wirkt hat? Wo ist die über den Augenblick hinausgrei-
fendc seelische Reaktion dieser Szenenfolge, das, was
die Erregung der Aufführung überdauert? Ich glaube,
es sagen zu können: im Festhalten dieser wenigen
Sätze, in der Erinnerung an diese Scherzworte. Der
Affekt wurde unbewußt auf sie verschoben. Was an
Empörung und Trauer, an Angst und Mitleiden wäh-
rend der Vorführung dieser Szenen aus dem Leben der
Beleidigten und Erniedrigten wachgeworden war, hatte
sich in der Erinnerung nicht mit der Handlung des
Dramas verknüpft. Es hatte sich von ihr losgelöst, als
wäre nicht sie das Wesentliche, und hatte sich an
diese drei Sätze gehängt, wie wenn sie alle seelische
Bedeutung des Dargestellten in sich beherbergten. Das
Tua res agitur" war hier nicht mit dem tragischen
Erleben verbunden worden, sondern mit dessen Reflex
in einem Spaß. Im Lächeln über diesen Scherz schwingt
alles Miterleben und steckt alle Trauer. Die Erinnerimg
hat diese vorübergleitenden Worte, festgehalten statt der
großen tragischen Ereignisse. In diesen Nebensächlich-
keiten ist aber verborgen, was an Menschlichem in
dem Schauspiel von Tschirikow enthalten ist. Die
im Unbewußten spielende Verschiebung des Affektes
ist nicht willkürlich und nicht zufällig. Sie bedeutet eine
Veränderung seines Platzes, keine Verminderung seiner
Intensität. Unmittelbarer als in ihren Klagen und An-
klagen sprechen diese Gestalten in ihren Scherzen zu
mir. Sie erscheinen sonst wie Puppen, die von einer
übermächtigen Hand hin- und hergestoßen und nieder-
geschlagen werden. Wenn sie aber scherzen, verwandeln
sich die Figurinen in Menschen. Jahweh hat es dem
Juden unserer Zeit verwehrt, sich in Klagen auszu-
sprechen, die ihm die Umwelt gewinnen könnten. Indem
er ihn aber witzig sein ließ, gab ihm sein Gott, zu sagen,
was er leide.
75
Die unbewußte Affektverschiebung in mir folgt einer
alten Spur: dem Psychologen zeigt der jüdische Witz
in seiner Entstehungsgeschichte denselben Vorgang der
Affektverschiebung. Sie liefert die Erklärung einer Eigen-
tümlichkeit dieses Witzes, die meist unbemerkt bleibt,
aber umso bemerkenswerter ist. Man lacht wohl
über ihn, doch er ist zumeist nicht heiter.
In seinen besten Repräsentanten dämmert hinter der
komischen Fassade nicht etwa wie bei anderen Witzen
nur das Ernsthafte, sondern das Erschütternde.
Es ist kein Zufall, daß mir jetzt, da ich viele Ein-
drücke über das Wesen des jüdischen Witzes in einer
Darstellung zusammenfassen will, keine der zahllosen
Anekdoten („Zwei Juden begegnen einander...") einfällt,
daß Bilder schrecklicher Pogromszenen aus einem ver-
schollenen Schauspiel vorüberhuschen und einige Sätze
daraus wieder zu klingen beginnen. Sie geben weniger
eine Vorstellung vom Wesen des jüdischen Witzes als
von seiner Urspnmgssituation, von den Besonderheiten
seiner seelischen Entstehung. Diese witzigen Sätze, die
sich von dem dunklen Hintergrunde eines Schicksals,
das seinesgleichen nicht unter den Völkern hat, abheben,'
verhelfen zu mancher anderen psychologischen Ein-
sicht. Sie lassen erkennen, daß sich die unbewußte
Affektverschiebung, die im Schöpfer des jüdischen Wit-
zes stattfand, in seinem Hörer wiederholt und die
seelische Wirkung mitbestimmt.
Vielleicht geben diese Beispiele darüber hinaus einen
ersten Eindruck vom Charakter dieses Witzes, wenn man
sie nicht nach ihrem ästhetischen Wert, sondern nach
ihrem Typenwert beurteilt. Sie können, obwohl es Bei-
spiele sind, die sich beiläufig dargeboten haben, wichtige
Gattungen des jüdischen Witzes vertreten. In dem Rat
des alten Onkels, die schöne Studentin solle, statt sich
an den Universitätsunruhen zu beteiligen, heiraten
(„dann wirst du Kinder haben und deine eigenen Rebel-
len"), erkennt man einen Repräsentanten der anmuti-
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gen, dem Idyllischen zugeneigten Witze dieses Volkes.
Es gibt — namentlich im Osten, wo die Juden eine
kulturell und sozial ziemlich einheitliche Masse bilden,
— eine überraschende Fülle solcher Scherze und Witze,
die der Tag immer wieder aufs neue gebärt und die mit
dem Tage verschwinden. Diese Art harmlos und freund-
lich neckender Sätze gedeiht am besten in der Sphäre
der Familie und diese Sphäre ist bei den Juden leicht
zu erweitern. Anspielung, Scherz und Witz gehen hier,
oft ununterscheidbar, ineinander über. Die Vertraulich-
keit, die in ihnen herrscht, bezeugt das Vertrauen, das
man zueinander hat. Diese Art des jüdischen Witzes
ist oft erfüllt von praktischer Lebensweisheit imd Men-
schenkenntnis, die sich erst enthüllen, lange nachdem
man über den Scherz gelächelt hat. Ein witziges Sprich-
wort wie das ostjüdische: „Wenn der Vater dem Sohn
gibt, lachen beide; wenn der Sohn dem Vater gibt,
weinen beide", zeigt hinter seiner Fassade eine auch
in der Spruchweisheit der Völker nicht gewöhnliche
Einsicht in seelische Tiefenregionen.
Die Erzählung des Kaufmannes Aaron Fränkel von
den Friedhofsschwierigkeiten im Ansiedlungsrayon und
der Auffassung der Behörden, denen zufolge sich auch
ein toter Jude nicht außerhalb des Ansiedlungsraoyns
aufhalten dürfe, mit der Schlußpointe, daß ein armer
Jude das Ende des Prozesses und die Entscheidung
habe nicht abwarten können und gestorben sei, die-
ser ganze Bericht liefert ein gutes Beispiel einer anderen
Art des jüdischen Witzes. Jener Art, die an der Grenze
zwischen Heiterem und Ätzend-Satirischem steht, in der
sich das Pathos — im Sinne des griechischen Wortes
für Leiden — überschlägt und im Lachen Ausdruck
sucht in einer Grimasse von Hohn und Auflehnung.
Hier spricht und verstummt Ahasver, der gejagte und
ewige Jude, den die Not nicht nur beten, sondern
auch Witze machen gelehrt hat. Hier macht einer
im Konversationston einen Scherz oder eine ironische
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Gesle, statt vor Wut und Verzweiflung aufzuschreien
und zuzuschlagen. Aber auch diese Art des Witzes
schlägt mit der Schärfe des Schwertes, von der Bibel
angefangen bis zu den jüdischen Schriftstellern unserer
Tage, eines Schwertes, das von des Hasses Kraft ge-
führt wird.
Wenn dann, nach der leidenschaftlich-wilden Debatte
der greise Reb Leiser aufsteht, auf die Uhren zeigt und
jene zwei merkwürdigen Sätze sagt, da ist es nicht mehr
des Hasses Kraft, die spricht. Es ist die Macht der Liebe.
Wenn der alte Uhrmacher, da die Streitenden einige
Augenblicke schweigen, erzählt, er habe sich zehn Jahre
lang vergeblich bemüht, seine Uhren auf einmal schla-
gen zu lassen, sie seien wie die Menschen und könn-
ten nie einig werden, - da spricht aus ihm nicht nur die
Weisheit des eigenen langen Lebens, sondern auch die
ungezählter Ahnen. Hinter dieser Gestalt im Kaftan
tauchen Priester und Propheten auf, eine lange Reihe
von Mannern die dem Gesetz, welches menschliche
Schicksale bestimmt, aufmerksam gelauscht haben. Die
. zwei einfachen Sätze, dieser Vergleich, an dem uns nur
L^1*S aiimutet ' sie schlagen die Brücken
STdTw« ahrlaUSeU T de zu den Brüchen der Väter
^Lt T Tf JeSaias - Während dei * M "»d noch
lächelt, spurt man die Erschütterung, die heraufkommt
Von einem Scherz gelangt man hier unmittelbar in das
Gebiet des Feierlichen, von einer banalen Taktfolge des
Alltags in den Bereich einer ewigen Melodie. In einer
leicht hingeworfenen Bemerkung, die wie ein Scherz
klingt, vielleicht auch als Scherz gemeint ist, taucht
letzte Menschensehnsucht und -Schwermut auf. Es ist
in dieser Art von Judenwilz etwas, wovor man den
Kopf senkt.
Es ist derselbe Witz in der Weisheit, dieselbe Weis-
heit im Witz, die Generation nach Generation den Nöten
des eigenen und fremden Lebens abgerungen hat und
die im Talmud, in den Aussprüchen seiner Kommen-
78
latoren, in den Legenden und Parabeln der Chassidim
und in den Reden mancher Rabbis aufleuchtet. Eigent-
lich ist es oft nur die Form, der geistreiche Vergleich,
der solche Sentenzen zum Witz macht. Es besteht kein
prinzipieller Unterschied zwischen witzigen Bemerkun-
gen solcher Art, die aus dem tiefen Brunnen alter Er-
fahrungen kommen, und den tiefen Gedanken der Wei-
sen dieses Volkes. Wenn Rabbi Mendel Kozker, als
Knabe gefragt: „Wo wohnt Gott?" antwortet: „Wo man
ihn hineinläßt", so ist in einem solchen Epigramm
derselbe Geist lebendig, der aus der Bemerkung des
Uhrmachers Reb Leiser spricht.
Erst jetzt, in der Rückschau auf diese einzelnen Bei-
spiele, welche die anmutige, die bitter-ironische und die
weltweise Gattung des jüdischen Witzes repräsentieren,
wird mir klar, wieso es zu jener unbewußten Affekt-
verschiebung kommen konnte. In diesen Witzen wird
ja dasselbe, und dasselbe besser, dem feineren Ohre ver-
nehmbarer, gesagt, was die dramatischen Vorgänge auf
der Bühne mit ihren brutalen Effekten vergebens sagen
wollen. Wenn dort Plünderung, Vergewaltigung und Ver-
nichtung hereinbrechen, ein Sturmwind kommt und
diesen armen Menschen alles nimmt, so ist die Tragik
gewiß lärmender. Eindringlicher ist sie in den Ober-
tönen welche diese Witze begleiten. Die Nachricht, daß
so und soviele Menschen einem Pogrom zum Opfer
befallen sind, empört uns, kann uns am Fortschritt
der Kultur und der Menschheit zweifeln und verzwei-
feln machen. Was aber in diesen Witzen gesagt wird,
und mehr noch, was in diesen Witzen nicht gesagt,
doch ausgedrückt wird, erschüttert uns. Wenn der Kauf-
mann Aaron Leiser von den Schwierigkeiten toter Ju-
den, einen Begräbnisplatz zu finden, erzählt, wird das
Grotesk-Tragische der Verfolgung einer kleinen Men-
schengruppe, der man kein Stückchen ErÜG lYffiV Leben
und keines zum Totsein gönnt, deutÜcher als in der
Darstellung von Pogromszenen voll Mord und Raub.
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Wenn er seiner Nichte rät, Kinder zu bekommen und so
Rebellen im eigenen Hause zu haben, um es sich zu er-
sparen, Rebellion gegen den Staat zu machen, so wird
in so scherzhafter Rede nicht nur die Vergänglichkeit
und Belanglosigkeit politischer Bewegungen klarer als
beim Zuhören der erregten Debatten des Stückes. Es
dringt auch eine Ahnung von dem durch, worauf es
im Leben des Einzelnen wirklich ankommt, es wird
die Triebmelodie hörbar, die das Schicksal der auf-
einanderfolgenden Geschlechter beherrscht. Ist es wirk-
lich so wichtig, die Regierungsform zu wechseln, Revo-
lution gegen dieses oder jenes Regime zu machen,
wenn wir alle denselben kleinen Lebenskreis in Leid
und Freud in derselben unabänderlichen Art beschreiben
müssen ?
Es ist dieselbe Melodie — doch ins Feierliche gewen-
det, über das vergnügliche und vergängliche Treiben
hinweg — die im Vergleich mit den Uhren anklingt.
Der Hinweis auf die Kürze der Zeit, die uns hier ver-
gönnt ist, und auf die Lächerlichkeit des Streitens
über die kleinen Differenzen, die uns angeblich ent-
scheidend voneinander trennen, ist hier nur noch
schmerzhaft eindringlicher und plastischer gestaltet Jene
Uhren, die man vergebens dazu bringen will, zu glei-
cher Zeit zu schlagen, sind vielleicht, jede einzelne,
von der Richtigkeit ihrer Zeitangabe überzeugt und auf
ihre Eigenart stolz. Bald aber ist das Räderwerk einer
jeden von ihnen abgelaufen. Bald kommt die große
Stille.
Der Affekt, der beim Anblick jener wüsten Szenen
der Verfolgung einer Minderheit, ihres Leidens und
ihres Unterganges aufgeweckt wurde, durfte sich mit
Recht auf die wenigen Witze verschieben, denn sie
sagen, was der Autor zu sagen hat, eindrucksvoller
als die Bühnen Vorgänge.
Auch in diesen Beispielen wird das Wesen des jüdi-
schen Witzes erkennbar, jene unlösbare Verbindung
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von Gedanklichem und Gemütvollem, die ihm so oft
eigen ist. Auch hier fällt der schwere Schatten in den
Wortglanz, dringt die Trauer in den Spaß. Auch hier
spiegelt sich neben dem lustigen das tragische Antlitz
der Welt. Für den jüdischen Witz gilt, was ein geist-
reicher Schriftsteller von dem genialen Komiker P a 1-
l e n b e r g sagte : daß oft das eine Antlitz in das andere
hineinversteckt sei wie ein Vexierbild. Daß noch in den
Leidenschaften, die der Judenwitz verbirgt und verrät,
das verborgene Leiden mitklingt, gibt ihm seine beson-
dere Resonanz. Seine Komik wird durch die stumme
Miterregung jener anderen Kraft verstärkt: der tragi-
schen.
6 Almanach 1937
8i
Die Ich-Einschränkung
Von Anna Freud, Wien
Aus dem Buche „Das Ich und die Abwehr-
mechanismen", das im Mai 1936 im Inter-
nationalen Psychoanalytischen Verlag in Wien
erschienen ist. Das Buch enthält die folgenden
Abschnitte: A. Theorie der Abwehrmechanis-
men; B. Beispiele für die Vermeidung von
Realunlust und Realgefahr (Vorstufen der Ab-
wehr); C. Zwei Beispiele für Abwehrtypen;
D. Abwehr aus Angst vor der Triebstärke
(dargestellt am Beispiel der Pubertät). Das im
folgenden abgedruckte Kapitel ist dem Ab-
schnitt B entnommen.
Die Parallele zwischen den Methoden der Unlust-
vermeidung nach außen und innen, die mit der Gegen-
überstellung von Verleugnung und Verdrängung, Phan-
tasiebildung und Reaktionsbildung begonnen hat, läßt
sich an einem anderen, simpleren Abwehrmechanismus
noch weiter fortsetzen. Die Methode der Leugnung mit
darangesetzter Phantasie vom Gegenteil wird in Situ-
ationen verwendet, in denen der peinliche Außen wells-
eindruck unentrinnbar ist. Eine so komplizierte psy-
chische Leistung ist gar nicht notwendig, wo das Ich
des etwas älteren Kindes durch seine größere körper-
liche Bewegungsfreiheit und seine größeren psychischen
Aktionsmöglichkeiten dem Reiz entrinnen kann. Statt
den peinlichen Eindruck wahrzunehmen und nachträg-
lich durch Besetzungsentzug zu entwerten, steht es
dem Ich ja frei, es gar nicht auf das Zusammentref-
fen mit der gefährlichen äußeren Situation ankommen
zu lassen. Das Ich kann also flüchten und „vermeidet"
dadurch die Entstehung von Unlust im wahrsten Sinne
des Wortes. Dieser Mechanismus der Vermeidung i s t
ein so primitiver und selbstverständlicher, ist auch so
untrennbar mit der normalen Ich-Bildung verknüpft,
82
daß es nicht leicht ist, ihn für die Zwecke der theoreti-
schen Diskussion aus seinen gewöhnlichen Zusammen-
hängen zu lösen und gesondert zu betrachten.
Derselbe Knabe, den ich im vorigen Kapitel als
Mützenträger eingeführt habe, gibt mir während seiner
Analyse auch Gelegenheit, solche Entwicklungen seiner
Unlustvermeidung zu beobachten. Er findet eines Tages
bei mir einen kleinen Block mit magischen Blättern,
die er sehr schätzt und liebt. Er macht sich eifrig
daran, die einzelnen Blätter mit einem bunten Bleistift
anzustreichen, und ist zufrieden, daß ich das gleiche tue.
Plötzlich wirft er aber einen Blick auf meine Arbeit
hinüber, stockt und wird verstört. Im nächsten Augen-
blick legt er seinen Buntstift beiseite, schiebt mir den
ganzen Vorrat zu, den er bis dahin eifersüchtig ge-
hütet hat, steht auf und sagt: „Mach du sie nur, ich
schau viel lieber zu." Es ist deutlich, daß ihm beim
Herüberschauen mein Zeichenblatt schöner, fertiger oder
vollkommener erschienen ist als seines. Der Vergleich
wirkt offenbar auf ihn als Schock. Aber er beendet,
schnell gefaßt, die Konkurrenz mit ihren peinlichen
Folgen durch den Verzicht auf die eben noch lustbe-
tonte Tätigkeit. Er begibt sich in die Rolle des Zu-
schauers, dessen nicht vorhandene Leistung mit keiner
fremden mehr verglichen werden kann, und verhütet
durch diese Einschränkung die Wiederholung des un-
lustvollen Eindrucks.
Dieser Vorfall bleibt auch kein vereinzelter. Ein Spiel
mit mir, in dem er nicht gewinnt, ein Abziehbild, das
mehr Defekte zeigt als meines, irgendeine Einzelhand-
lung, die er mir nicht gleich nachmachen kann, ge-
nügen, um den gleichen Stimmungsumschwung bei ihm
hervorzurufen. Er wird unlustig, inaktiv und zieht wie
automatisch sein Interesse von der jeweiligen Beschäf-
tigung zurück. Dafür verweilt er zwanghaft und end-
los bei andern, bei denen er sich überlegen fühlt. Es
ist nur selbstverständlich, daß er sich in seiner ersten
8,
Schulklasse auch nicht anders benehmen kann als im
Zusammensein mit mir. Er verweigert konsequent je-
des Mittun bei Spiel und Arbeit der andern, bei dem er
sich nicht völlig sicher weiß. Er geht zwischen den
Kindern herum und „schaut zu". Seine Methode zur
Bewältigung von Unlust durch Umkehrung ins lust-
volle Gegenteil hat sich verwandelt. Er schränkt seine
Ich-Funktionen ein, zieht sich, sehr zum Schaden seiner
Entwicklung, von allen äußeren Situationen zurück, die
ihm die am meisten gefurchte le Unlust präsentieren
könnten. Nur im Verkehr mit sehr viel jüngeren Kin-
dern kann er sich auch weiterhin uneingeschränkt und
interessiert benehmen.
In modern geführten Kindergärten und in Schul-
anstalten, in denen der Gesamtunterricht zugunsten des
frei gewählten individuellen Lernens in den Hintergrund
tritt, ist der Typus meines Mützenträgers gar nichts
Seltenes. Die dort arbeitenden Erzieher berichten, daß
zwischen den gewohnten Gruppen der Aufgeweckten,
Interessierten und Fleißigen einerseits und den intellek-
tuell Stumpferen, Uninteressierten und Faulen anderseits
eine neue Zwischenschicht von Kindern entstanden ist,
deren Zustand sich auf den ersten Blick in keine der
bekannten Kategorien von Lernslörung einreihen läßt.
Diese Kinder sind trotz ausgesprochener Intelligenz und
guter Entwicklung, trotzdem sie von den Mitschülern
als gute Kameraden geachtet werden, nicht in den
regelrechten Spiel- oder Arbeitsbelrieb einzuordnen.
Sie benehmen sich, als wären sie eingeschüchtert, ob-
wohl die Schulmethoden Kritik und Tadel streng ver-
meiden. Aber schon der bloße Vergleich ihrer Leistun-
gen mit denen der andern genügt, um ihnen ihre Arbeit
zu entwerten. Aus dem Mißlingen einer Aufgabe oder
eines Materialspiels beziehen sie eine dauernde Abnei-
gung gegen die Wiederholung des Versuchs. Sie blei-
ben darum untätig, wollen sich an keinen Platz und
keine Beschäftigung binden und begnügen sich damit,
84
den andern bei der Arbeit zuzuschauen. Sie wirken
sekundär durch ihr Herumlungern auch dissozial, denn
sie geraten in ihrer Langeweile in Konflikte mit den-
jenigen, die in Arbeit oder Spiel vertieft sind.
Es liegt nahe, diese Kinder wegen des Kontrastes
zwischen ihrer guten Begabung und ihren schlechten
Leistungen als neurotisch gehemmte zu betrachten und
hinter ihrer Störung dieselben Vorgänge und Inhalte zu
vermuten, die uns aus der Analyse echter Hemmungen
bekannt sind. Beide Zustandsbilder zeigen jedenfalls die
gleiche Beziehung zur Vergangenheit. Bei beiden spielt
das Symptom sich nicht am Eigentlichen ab, sondern
nur an einem aktuellen Ersatz für ein zentrales Element
der Vergangenheit. Bei der Rechen- oder Denkhemmung
der Schüler, der Sprechhemmung der Erwachsenen, der
Spielhemmung des Musikers zum Beispiel ist nicht das
gedankliche Hantieren mit Vorstellungen oder Zahlen,
das Aussprechen der Worte, das Führen des Geigenbo-
gens oder das Berühren der Klaviertasten die eigentlich
vermiedene Tätigkeit. Diese an sich harmlosen Ich-Lei-
stungen sind nur in Beziehung zu alten abgewehrten
Sexual handlungen geraten, haben deren Vertretung auf
sich genommen und ziehen als „sexualisierte" Tätig-
keiten jetzt die Abwehr auf sich. Ebenso hat die aus
den Vergleichen bezogene Unlust, gegen die die geschil-
derten Kinder sich wehren, nur Ersatzcharakter. Die
bessere Leistung, die die Außenwelt ihnen entgegenhält,
bedeutet, wenigstens bei meinem Patienten, den Anblick
des größeren Genitales, das ihn neidisch macht, der
Wettstreit, in den sie sich einlassen sollen, die aus-
sichtslose Konkurrenz mit dem Rivalen der ödipus-
phase oder die unlustvolle Demonstration des Ge-
schlechtsunlerschiedes.
Dafür unterscheiden sich die beiden Störungen in
einem andern Punkte. Die Arbeitsfähigkeit der beschrie-
benen Zuschauer läßt sich durch einen Wechsel in den
Arbeitsbedingungen wieder herstellen. Die echten Hern-
85
mutigen sind konsequent und bleiben von Veränderungen
in der Umwelt eher unbeeinflußt. Ein kleines Mädchen
einer solchen Kindergruppe zum Beispiel ist durch
äußere Umstände genötigt, der ersten Schul klasse, in
der sie „zuschaut", für eine Weile fernzubleiben. Sie
wird allein unterrichtet und bewältigt plötzlich spie-
lend den Lehrstoff, zu dem sie im Beisein der andern
Kinder keinen Zugang finden konnte. Derselbe Um-
schwung zeigt sich auch bei einer andern Siebenjähri-
gen. Sie erhält Nachhilfeunterricht, um den schlechten
Schulfortgang auszugleichen. Sie benimmt sich in die-
sen Einzelstunden normal und ungehemmt, ohne daß
diese gute Leistung aber in den parallel danebenlau-
fenden Schulunterricht zu übertragen wäre. Die beiden
Schulmädchcn können also lernen, wenn ihre Leistungen
nur nicht den Vergleich mit denen der Kolleginnen
aushallen müssen; mein kleiner Patient kann sich be-
schäftigen, wenn kleinere und nicht größere Kinder
seine Spielgefährten sind. Für den äußeren Anschein
benehmen diese Kinder sich, als wäre die Handlung
selbst von innen und außen durch Verbote unterbun-
den. In Wirklichkeil verbietet sie sich von selbst,
wenn sie zu einem unlustvollen Eindruck führt. Die
Lage dieser Kinder ist also dieselbe wie die uns aus
dem Studium der Weiblichkeit >) bekannte innere Situ-
ation des kleinen Mädchens an einem entscheidenden
Eni wicklungspunkt. Abgesehen von Strafe und Gewis-
sensangst verzichtet das Mädchen zu einer bestimmten
Zeit auf seine Klilorismasturbation und schränkt damit
die männlichen Bestrebungen ein. Sic fühlt sich durch
den Vergleich mit dem zur Marslurbalion besser aus-
gestatteten Knaben in ihrer Selbstliebe gekränkt und
will nicht durch die Wiederholung der masturbatori-
schen Handlungen ständig an diese Zurücksetzung er-
innert werden.
*) Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfüh-
rung in der Psychoanalyse. Ges. Sehr., XII. Bd., S. 283.
86
Es wäre aber falsch, zu glauben, daß nur die Unlust
des Unterliegens im Vergleich, also Enttäuschung und
Entmutigung mit Hilfe solcher Einschränkungen ver-
mieden werden. In der Behandlung eines zehnjährigen
Patienten habe ich Gelegenheit, denselben Vorgang zur
Vermeidung direkter Realangst aus umgekehrtem Anlaß
als passageres Symptom in Tätigkeit treten zu sehen.
Der Knabe entwickelt sich in einer bestimmten Phase
seiner Analyse zum glänzenden Fußballspieler. Die gro-
ßen Jungen der Schule schätzen seine Leistung und
lassen den viel Jüngeren zu seiner Freude als Gleich-
berechtigten zu ihren Spielen zu. Nach kurzer Zeit be-
richtet er mir einen Traum: Er spielt Ball. Ein großer
Junge schießt so stark, daß er nur gerade noch über den
Fußball wegspringen kann, um nicht getroffen zu werden.
Er erwacht danach mit Angst. — Die Deutung zeigt, daß
sein Stolz über den Verkehr mit Großen sich schnell
in Angst verwandelt hat. Er fürchtet die Aggression
der älteren Jungen, die ihn um sein Spiel beneiden
könnten. Die anfangs lustvolle Situation, die er durch
seine Leistung schafft, hat sich damit in eine ängst-
liche verwandelt. Das gleiche Thema wiederholt sich
kurz darauf in einer Einschlafphantasie. Er sieht die
Buben, die ihm mit dem Ball die Füße abschießen
wollen. Der große Fußball fliegt auf ihn zu, er zuckt
im Bett mit seinen Füßen in die Höhe, um sie noch zu
retten. Die Füße spielen bei ihm, wie seine Analyse
schon ergeben hat, auf dem Umweg über Geruchsemp-
findungen, Steifheit, Lahmheit usw. eine besondere Rolle
als Vertreter seines Genitales. - Mit Traum und Phan-
tasie ist die Entwicklung seiner neuen Leidenschaft
gestört. Seine Leistungen gehen zurück, das Ansehen,
das er in der Schule dafür genossen hat, verschwin-
det schnell wieder. Er sagt mit diesem Rückzug: „Ihr
braucht mir nicht die Füße abzuschießen, ich bin
ja ohnehin kein guter Spieler mehr."
Mit dieser Einschränkung seines Ichs nach einer Seite
87
ist der Prozeß bei ihm aber noch nicht zu Ende. Er
verstärkt plötzlich beim Rückzug vom Sport eine ganz
andere Seite seiner Leistungen, nämlich seine seit jeher
vorhandene Neigung zur Dichtkunst und zur Schrift-
stellerei. Er liest mir Gedichte vor, verfertigt eigene,
bringt mir Novellen mit, die er schon als Siebenjäh-
riger geschrieben hat, und macht weitgehende Zukunfts-
pläne für seine Dichterkarriere. Der Fußballspieler hat
sich damit in einen Literaten verwandelt. In einer
Stunde dieser Art gibt er mir eine graphische Dar-
stellung seiner Einstellung zu den verschiedenen männ-
lichen Berufen und Betätigungen. Die Literatur bekommt
dabei einen großen dicken Punkt in der Mitte seiner
Zeichnung zugewiesen, Wissenschaften aller Art werden
im Kreis darum angeordnet, die praktischen Berufe fol-
gen in entfernteren Punkten. In einer obersten Ecke
des Blattes, ganz am Rand gelegen, erhält schließlich
der vor kurzem noch so wichtige Sport ein winziges
Pünktchen, das seine höchste Geringschätzung für sol-
che Vergnügungen ausdrücken soll. Es ist lehrreich,
zu sehen, wie schon nach wenigen Tagen seine be-
wußte Wertschätzung nach Art einer Rationalisierung
seiner Angst gefolgt ist. Auf dem Gebiet der Dichtkunst
bringt er allerdings in diesen Tagen wirklich Erstaun-
liches zusammen. Die leere Stelle, die durch Ausfall
der Sportleistung in seiner Ich-Funktion entstanden ist,
wird durch tatsächliche Überproduktion nach einer an-
dern Richtung in gewissem Sinne wieder wettgemacht.
Die Analyse macht natürlich klar, daß die Angst vor
der Rache der großen Buben ihre Stärke aus der Wie-
derholung seiner Vaterkonkurrenz bezieht.
Ein zehnjähriges Mädchen geht mit großen Erwar-
tungen in ihre erste Tanzgesellschaft. Sie gefällt sich
in ihren neuen Kleidern und Schuhen, auf die sie sehr
viel Nachdenken verwendet hat, und verliebt sich augen-
blicklich in den hübschesten und vornehmsten der an-
wesenden Buben. Der Zufall, daß er als gänzlich Un-
88
bekannter den gleichen Familiennamen trägt wie sie,
gibt ihr Anlaß zu einer Phantasie geheimer Zugehörig-
keit. Sie benimmt sich entgegenkommend gegen ihn,
findet aber keine Anerkennung. Er macht sogar nach
einem Tanz eine spöttische Bemerkung über ihre Un-
geschicklichkeit. Die Enttäuschung wirkt auf sie wie
eine schockartige Beschämung. Sie vermeidet von da
an solche Gesellschaften, verliert das Interesse an Klei-
dern und gibt sich keine Mühe mehr, das Tanzen zu
erlernen. Eine Weile behält sie noch ein gewisses Ver-
gnügen daran, andern Kindern unbeteiligt und ernsthaft
beim Tanzen zuzuschauen und eventuelle Aufforderun-
gen abzuweisen. Allmählich belegt sie diese ganze Seite
ihres Lebens mit hochmütiger Verachtung. Aber gleich-
zeitig macht sie, ebenso wie der Fußballspieler, diese
Ich-Einschränkung wieder wett. Sie steigert beim Rück-
zug von den weiblichen Interessen ihre Denk- und
Lernleistungen und erwirbt sich schließlich auf einem
längeren Umweg doch noch die Anerkennung vieler
Buben ihres Alters. Die spätere Analyse zeigt, daß die
Zurückweisung durch den gleichnamigen Jungen von
ihr als Wiederholung eines traumatischen Ereignisses
der allerersten Kinderjahre verstanden worden ist. Das
Element in der Situation, vor der ihr Ich flüchtet, ist
hier wieder nicht Angst oder Schuldgefühl, sondern
intensivste Unlust über eine erfolglose Werbung.
Kehren wir von hier aus noch einmal zum Unter-
schied zwischen Hemmung und Ich-Einschränkung zu-
rück. Der neurotisch Gehemmte wehrt sich gegen die
Durchsetzung einer verpönten Triebhandlung, also ge-
gen Unlustentbindung durch innere Gefahr. Auch wo
seine Angst und Abwehr sich wie in der Pobie schein-
bar gegen die Außenwelt richten, fürchtet er in ihr
sein Inneres. Er vermeidet die Straße, um seinen eigenen
alten Versuchungen dort nicht zu begegnen. Er weicht
seinem Angsttier aus, nicht um sich gegen das Tier
selbst, sondern gegen seine eigenen, durch eine Begeg-
89
nung geweckten aggressiven Regungen und ihre Folgen
zu schützen. Die Methode der Ich-Einschränkung an-
derseits wehrt aktuelle unlustvolle Außenweltseindrücke
ab, die das Wiederaufleben vergangener unlustvoller
Außenweltseindrücke zur Folge hätten. Der Unterschied
zwischen Hemmung und Ich-Einschränkung liegt also
wieder wie beim Vergleich zwischen Verdrängung und
Verleugnung darin, daß der Abwehrvorgang das eine
Mal gegen das eigene Innere, das andere Mal gegen die
Reize der Außenwelt gerichtet wird.
Weitere Differenzen zwischen diesen beiden Zustands-
bildern sind dann noch Folgen dieses einen prinzipiel-
len Unterschieds. Hinter der neurotisch gehemmten
Handlung steht ein Triebwunsch. Die Hartnäckigkeit, mit
der jede einzelne Es-Regung sich um Erreichung ihres
Befriedigungsziels bemüht, verwandelt den einfachen
Hemmungsvorgang in ein fixiertes neurotisches Sym-
ptom, in dem Es-Wunsch und Abwehr ständig mitein-
ander ringen. Das Individuum verausgabt seine Ener-
gie in diesem Kampf und bleibt an den Wunsch, zu
rechnen, vorzutragen, Violine zu spielen usw. mit gerin-
gen Abwandlungen vom Es aus gebunden, wobei gleich-
zeitig die Verhinderung oder wenigstens die Verschlech-
terung seiner Ausführung vom Ich her mit derselben
Standhaftigkeit erzwungen wird.
Bei der Ich-Einschränkung aus Realangst oder -unlust
liegt eine solche Bindung an die gestörte Tätigkeit nicht
vor. Hier steht nicht die Handlung selbst, sondern die
durch sie erzeugte Unlust oder Lust im Vordergrund.
Bei seiner Suche nach Lust und seiner Unlustvermei-
dung wirtschaftet das Ich frei mit allen Leistungen, die
zur Verfügung stehen. Es läßt die Handlungen fallen,
die zu Unlust- oder Angstentbindung führen, hält auch
den Wunsch nach ihrer Ausführung nicht fest. Es
zieht sein Interesse von ganzen Gebieten zurück und
wirft die Aktivität nach schlechten Erfahrungen in
möglichst entgegengesetzte Richtungen. So wird aus dem
90
Fußballspieler ein Dichter, aus der enttäuschten Tän-
zerin die Vorzugsschülerin. Natürlich schafft das Ich
dabei nicht neue Fähigkeiten, es kann sich nur vor-
handener bedienen.
Die Ich-Einschränkung als Methode der Unlustvermei-
dung gehört ebenso wie die verschiedenen Formen der
Leugnung nicht der Neurosenpsychologie, sondern dem
normalen Prozeß der Ich-Entwicklung an. Beim jungen
und plastischen Ich belohnt sich der Rückzug von der
einen Seite gelegentlich durch konzentrierte Höchst-
leistungen auf anderem Gebiet. Wo das Ich starr ist
oder wo es sich bereits eine Intoleranz für Unlust er-
worben hat und sich zwanghaft an die Fluchtmethode
bindet, dort bestraft sich diese durch schlechte Folgen
für die Ich-Ausbildung. Das Ich wird durch den Rück-
zug aus zu vielen Positionen einseitig, verliert zu viele
Interessen und verarmt an Leistungen.
Die theoretische Unterschätzung der Einstellung des
kindlichen Ichs auf Unlustvermeidung ist mitverant-
wortlich für das Mißlingen mancher pädagogischer Ex-
perimente der letzten Jahre. Die moderne Pädagogik
will dem wachsenden Ich des Kindes größere Hand-
lungsfreiheit, vor allem freie Wahl der Tätigkeit und
Interessen sichern. Absicht ist die bessere Entwicklung
des Ichs und die Unterbringung aller Sublimicrungen.
Aber das Kind der Latenzperiode kann die Aufgabe der
Angst- und Unlustvermeidung noch höher stellen als
direkte oder indirekte Triebbefriedigung. Es wählt in
vielen Fällen, wo es nicht von äußeren Forderungen
gelenkt wird, seine Beschäftigungen nicht nach Begabung
und Sublimierungsmöglichkeit, sondern nur nach schnel-
ler Sicherung vor Angst und Unlust. Zur Überraschung
der Erzieher ist dann der Erfolg solcher Wahlfreiheit
nicht Persönlichkeitsentfaltung, sondern Ich-Verarmung.
*
Mit Hilfe solcher Abwehrmittel gegen reale Unlust und
Realgefahr, von denen ich drei hier beispielsweise ange-
9i
führt habe, betreibt das kindliche Ich Neurosenprophy-
laxe auf seine eigene Gefahr. Es hält Angstentwicklung
auf und deformiert sich selbst zum Zweck der Leidens-
verhülung. Aber die Schutzmaßnahmen, die es aufbaut
wie etwa die Flucht vor körperlicher Leistung auf gei-
stiges Gebiet, wie die Bindung der Frau an Gleichstel-
lung mit Männern, wie die Einschränkung des Funk-
tionierens auf den Verkehr mit Schwächeren, sind im
späteren Leben allen Angriffen von außen ausgesetzt.
Änderungen der Lebensform, die durch Katastrophen,
wie Objektverlust, Krankheit, Not und Krieg erzwun-
gen werden, konfrontieren das Ich von neuem mit der
ursprünglichen Angstsituaüon. Ein solcher Entzug des
Angstschutzes kann dann, nicht anders als die Ver-
sagung gewohnter Triebbefriedigung, zum aktuellen An-
laß für Neurosenbildung werden.
In der Unselbständigkeit des kindlichen Lebens läßt
sich ein solcher Anlaß zur Neuro scnbildung gelegentlich
je nach dem Willen des Erwachsenen erzeugen oder aus
dem Wege räumen. Das Kind, das in der freien Schule
nicht lernt, sondern zuschaut oder zeichnet, wird unter
den Bedingungen des strengeren Schulbetriebs „ge-
hemmt". Die Unerbittlichkeit, mit der die Außenwelt' an
einer Forderung festhält, ergibt die Bindung an die
Tätigkeit, die Unlust bringt; die Unenlrinnbarkeit der
Unlust aber verlangt nach neuen Mitteln der Bewälti-
gung. Anderseits kann auch die fertige Hemmung oder
ein Symptom noch von dem Außenschutz beeinflußt
werden. Die Mutler, die sich durch den Anblick des
gestörten Kindes geängstigt und in ihrem Stolz gekränkt
fühlt, verschafft ihm Sicherung und verhütet das Zu-
sammentreffen mit Unluslsituationen in der Außenwelt.
Das heißt aber, sie benimmt sich dem Symptom des
Kindes gegenüber nicht anders als der Phobiker zu
seinem Angstfall, sie ermöglicht Flucht und Leidens-
verhütung durch künstliche Einschränkung der kind-
lichen Handlungsfreiheit. Diese gemeinsame Arbeit an
92
der Sicherung gegen Angst und Unlust bei Mutter und
Kind trägt wahrscheinlich die Verantwortung für die
so häufige Symptomlosigkeit der kindlichen Neurosen.
Man muß ein solches Kind erst seinem Schutz entzie-
hen, ehe der Umfang seiner Symptome sich objektiv
beurteilen läßt.
93
Triebangst in der Pubertät
Von Anna Freud, Wien
Aus dem Abschnitt ü des Buches „Das Ich
und die Abwehrmechanismen 1 ' , dem auch der
Beitrag S. 82 entnommen wurde.
Wir schätzen die Phasen von Libido Steigerung im
menschlisch en Leben für die analytische Erforschung
des Es seit jeher sehr hoch ein. Wünsche, Phantasien
und Trieb Vorgänge, die zu anderen Zeiten unbemerkt
oder unbewußt vor sich gehen, steigen durch die er-
höhte Besetzung zum Bewußtsein auf, überwinden, wo
es nötig ist, die Hindernisse, die die Verdrängung ihnen
entgegenstellt, und werden im Durchbruch der Beobach-
tung zugänglich.
Aber auch die analytische Erforschung des Ichs hat
allen Grund, diesen Perioden von Libidosteigerung ihr
Interesse zuzuwenden. Durch die Intensivierung der Trieb-
ansprüche werden, wie wir gesehen haben, indirekt auch
die Anstrengungen des Individuums, den Trieb zu be-
wältigen, in die Höhe getrieben. Allgemeine Tendenzen
des Ichs, die in Zeiten ruhigen Trieblebens wenig auf-
fällig sind, bekommen dadurch neue Deutlichkeit und die
ausgeprägten Ich-Mechanismen der Latenz oder Erwach-
senheit können sich bis zur krankhaften Charakterver-
zerrung übersteigern. In der Pubertät sind es unter an-
deren besonders zwei Einstellungen des Ichs dem Trieb-
leben gegenüber, die in ihrer Steigerung für den Beob-
achter neue Lebendigkeit bekommen und uns den Zu-
gang zum Verständnis einiger typischer Eigenheiten der
Pubertät verschaffen: nämlich der Askese des Jugend-
lichen und seiner Intellektualität.
Die Pubertätsaskese
Die Triebfeindlichkeit des Jugendlichen, wo immer
wir sie mitteu zwischen seinen Triebexzessen, Trieb-
durchbrüchen und anderen ihr widersprechenden Ein-
94
Stellungen beobachten können, geht weit über das hin-
aus, was wir unter den Bedingungen des normalen
Lebens, der leichteren oder schwereren neurotischen
Erkrankung an Triebverdrängung zu sehen gewöhnt
sind. Sie ähnelt in ihrem Auftreten und ihrer Ausbrei-
tung weniger den Erscheinungen bei ausgesprochener
neurotischer Erkrankung als der Einstellung zum Trieb,
die bei den Asketen aus religiösem Fanatismus zu finden
ist. Bei der Neurose finden wir, daß die Triebabweisung
durch Verdrängung immer an die Art, die Qualität des
Triebes geknüpft ist. Das heißt etwa: der Hysteriker ver-
drängt die genitalen Regungen, die mit den Objekt-
wünschen des Ödipuskomplexes zusammenhängen, be-
nimmt sich aber anderen Triebwünschen gegenüber, wie
zum Beispiel den analen oder aggressiven Regungen,
eher gleichgültig oder tolerant. Die Verdrängung des
Zwangsneurotikers richtet sich gegen die anal-sadisti-
schen Wünsche, die durch die stattgefundene Regression
zum Träger seiner Sexualität geworden sind; aber er
toleriert zum Beispiel orale Befriedigungen und hat
kein besonderes Mißtrauen gegen etwa vorhandene ex-
hibitionistische Gelüste, die nicht direkt mit dem Zen-
trum seiner Neurose zusammenhängen. Bei der Melan-
cholie wieder sind es besonders die oralen Tendenzen,
die der Abweisung verfallen, beim Phobiker die mit dem
Kastrationskomplex zusammenhängenden Regungen, die
die Verdrängung herausfordern. In allen diesen Fällen
aber ist die Triebabweisung keine unterschiedslose, es
läßt sich immer in der Analyse eine bestimmte Bezie-
hung zwischen der Qualität des verdrängten Triebes und
der individuellen Begründung seiner Ausstoßung aus
dem Bewußtsein aufdecken.
Die Triebabweisung, die wir in der Analyse von Ju-
gendlichen verfolgen können, gibt ein anderes Bild. Sie
nimmt zwar auch ihren Ausgangspunkt von besonders
verpönten Zentren des Trieblebens, etwa von den Inzest-
phantasien der Vorpubertät oder der Steigerung der kör-
95
perlichen Onaniehandlungen, die der Abfuhr solcher
Wünsche dienen. Aber sie verbreitet sich von da aus
mehr oder weniger unterschiedslos über das ganze Le-
ben. Wie schon weiter oben hervorgehoben, handelt es
sich dem Jugendlichen nicht um die Befriedigung oder
Versagung spezieller Triebwünsche, sondern um Trieb-
genuß oder Triebverzicht an und für sich. Jugendliche,
die eine solche asketische Phase durchmachen, schei-
nen die Quantität des Triebes zu fürchten, nicht seine
Qualität. Ihr Mißtrauen gegen den Genuß ist ein allge-
meines, so scheint es am sichersten, dem gesteigerten
Verlangen einfach ein gesteigertes Verbot entgegenzuset-
zen. Jedem „Ich will" des Triebes wird ein „Du darfst
nicht" des Ichs entgegengestellt, nicht viel anders, wie
strenge Eltern es in der ersten Erziehung des Kleinkin-
des zu halten pflegen. Dieses Triebmißtrauen des Ju-
gendlichen hat einen gefährlich fortschreitenden Cha-
rakter; es kann sich von den wirklichen Trieb wünschen
angefangen bis auf die alltäglichsten körperlichen Be-
dürfnisse erstrecken. Wir kennen aus der gewöhnlichen
Beobachtung die Jugendlichen, die sich alle ans Ge-
schlechtliche streifenden Bedürfnisse streng versagen,
die die Gesellschaft Gleichaltriger meiden, jeder Unter-
hallung ausweichen, nach puritanischem Vorbild von
Theater, Musik und Tanz nichts wissen wollen. Der
Verzicht auf Schönheit und Gefälligkeit der Kleidung
paßt noch gut in diesen Zusammenhang des sexuellen
Verbotes. Aber wir fangen an besorgt zu werden, wenn
die Verweigerung sich auf harmlose und notwendige
Dinge erstreckt, wenn der betreffende Jugendliche sich
den gewöhnlichsten Kälteschutz versagt, sich in jeder
Beziehung kasteit, sich unnötigen gesundheitlichen Schä-
digungen aussetzt; wenn er nicht nur besondere orale
Genüsse vermeidet, sondern auch die tägliche Nahrung
„aus Prinzip" auf ein bescheidenes Mindestmaß ein-
schränkt; wenn er aus einem Langschläfer zu einem
erzwungenen Frühaufsteher wird; wenn er sich das
96
Lachen und Lächeln mißgönnt, ja im extremen Fall
Defäkation und Harnentleerung bis zum äußersten ver-
hält, mit der Begründung, daß man nicht jedem Bedürf-
nis gleich nachgeben müsse.
Eine Triebabweisung dieser Art unterscheidet sich
auch noch in einem andern Punkt von der gewöhnlichen
Verdrängung. Unter den Bedingungen der Neurose sind
wir gewöhnt zu sehen, daß überall dort, wo eine Trieb-
befriedigung durch Verdrängung gestört wird, eine Er-
satzbefriedigung an ihre Stelle rückt. Die Hysterie be-
dient sich zu diesem Zweck der Konversion, d. h. der
Abfuhr der sexuellen Erregung in andere, sexualisierte
Körperteile oder Körpervorgänge. Die Zwangsneurose
verschafft sich regressive Ersatzlust, die Phobie zumin-
dest einen sekundären Krankheitsgewinn. Außerdem er-
scheinen an Stelle der verbotenen Befriedigungen ver-
schobene Genüsse, reaktive Bildungen; von den wirkli-
chen neurotischen Symptomen, den Anfällen, Tics,
Zwangshandlungen, Grübeleien usw. wissen wir, daß sie
Kompromißbildungen sind, in denen das Gebot von Ich
und Ober-Ich sich nicht energischer durchsetzt als
das Triebverlangen des Es. Die Triebabweisung des
Jugendlichen anderseits läßt für solche Ersatzbefriedi-
gung keinen Baum, sie scheint einem andern Mecha-
nismus zu folgen. Statt Kompromißbildungen, die den
neurotischen Symptomen entsprechen, und an Stelle
von den gewöhnlichen Verschiebungen, Regressionen,
Rückwendungen gegen die eigene Person findet sich
fast regelmäßig ein Umschlag der Askese in den Trieb-
exzeß, in dem ohne alle Rücksicht auf Einschränkun-
gen von außen her plötzlich alles erlaubt wird, was vor-
her verboten war. So unwillkommen diese Triebexzesse
der Umgebung des Jugendlichen an und für sich ihres
dissozialen Charakters wegen sein müssen, so entspre-
chen sie, analytisch gesehen, doch momentanen Spon-
tanheilungen des asketischen Zustands. Wo solche Selbst-
heilungen nicht vorfallen, wo das Ich auf irgendeine
7 Almanach 1937
unerklärte Weise die Krafl hat, die Triebabweisung
konsequent zu Ende zu führen, dort kommt es zur
Lahmlegung der Lebenstätigkeiten, also zu einer Art
kalatonen Zustands, den wir nicht mehr dem gewöhn-
lichen Pubertätsablauf, sondern schon einer Art psy-
chotischer Veränderung zuweisen müssen.
Es entsteht die Frage, ob man wirklich berechtigt ist,
diese Triebabweisung im Pubertätsschub von der ge-
wöhnlichen Triebabweisung durch Verdrängung abzu-
trennen. Die Grundlagen für eine solche begriffliche
Sonderung wären nur im Anfang des Prozesses das
Überwiegen der Angst vor der Triebquantität über die
Angst vor der Qualität des Triebanspruchs und an sei-
nem Ausgang das Zurücktreten von Ersatzbeiriedigungen
und Kompromißbildungen zugunsten eines schroffen Ne-
beneinander oder Nacheinander, besser gesagt, eines
Wechsels von Triebverzicht und Triebexzeß. Wir wissen
anderseits, daß auch bei der gewöhnlichsten neuroti-
schen Verdrängung die quantitative Besetzung des abzu-
weisenden Triebes eine große Rolle spielt und daß auch
unter den Bedingungen der Zwangsneurose ein Nach-
einander von Verbot und Erlaubnis nur das Gewöhn-
liche ist. Trotzdem bleibt der Eindruck, daß es sich bei
der Askese des Jugendlichen um einen primitiveren,
weniger zusammengesetzten Prozeß handelt als bei der
eigentlichen Verdrängung, daß wir es hier vielleicht
mit einem Sonderfall oder eher einer Vorstufe von Ver-
drängungsaklionen zu tun haben.
Das analytische Studium der Neurosen hat nun schon
seit langem zu der Vermutung geführt, daß im Menschen
eine Neigung zur Abweisung bestimmter Triebe, beson-
ders der Sexualtriebe, ohne alle Erfahrung und ohne
spezielle Auswahl als phylogenetische Erbschaft schon
von vornherein vorhanden ist, d. h. als Niederschlag der
Triebverdrängungen, die viele Generationen bereits ge-
übt haben und die im individuellen Leben nur fort-
gesetzt, nicht neu eingeführt werden. Bleuler hat
9 8
für diese doppelte Einstellung des Menschen zum Ge-
schlechtsleben — konstitutionelle Abneigung bei gleich-
zeitiger Begierde — seinen Begriff der Ambivalenz ge-
prägt.
Diese primäre Triebfeindlichkeit des Ichs, seine Angst
vor der Triebslärke, wie wir sie nennen, ist aber in
ruhigen Lebensperioden nicht viel mehr als ein theo-
retischer Begriff. Wir vermuten, daß sie überall dort
als Grundlage zu finden ist, wo das Individuum über-
haupt Triebängste entwickelt. Für die Beobachtung aber
wird sie von den viel deutlicheren und lauteren Er-
scheinungen überdeckt, die der Realangst und Gewis-
sensangst entspringen und sich auf schockartig wir-
kende Vorfälle des individuellen Lebens zurückführen
lassen.
Es könnte sein, daß es die quantitative Triebsteige-
rung des Pubertätsschubes wie auch anderer Trieb-
schübe im Laufe des individuellen Lebens ist, die diese
primäre Triebfeindlichkeit des Ichs zu einem eigenen
lebendigen Abwehrmechanismus steigert. Was wir in der
Pubertälsaskese zu sehen bekommen, wären dann nicht
eigentlich qualitativ bedingte Verdrängungsaktionen, son-
dern eben die unterschiedslose, primäre und primitive
angeborene Feindschaft zwischen Ich und Trieb.
Die Intellektualisierung in der Pubertät
Wenn die Auffassung zu Recht besteht, daß unter
den Bedingungen eines Libidovorstoßes allgemeine Ein-
stellungen des Ichs sich zur Bedeutung wirklicher Ab-
wehrmethoden erheben können, dann läßt sich dieser
Gesichtspunkt vielleicht auch auf andere Ich- Verände-
rungen ausdehnen, die in der Pubertät zustande kom-
men.
Wir wissen, daß das Hauptgebiet für Verwandlungen
in der Pubertät das Trieb- und Gefühlsleben ist, ferner,
7*
99
daß das Ich sich sekundär überall dort verändert, wo
es direkt mit der Bewältigung des Trieb- und Gefühls-
lebens zu tun hat. Aber der Bereich der Pubertätsver-
änderungen ist damit natürlich noch lange nicht er-
schöpft. Der Jugendliche wird unter den Bedingungen
des Pubertätsschubes triebhafter; das ist verständlich
und bedarf keiner weiteren Erklärung. Er wird morali-
scher und asketischer; die Erklärung dafür ergibt sich
aus dem Kampf zwischen Ich und Es, der sich in ihm
abspielt. Aber er wird auch gescheiter, steigert alle seine
intelluktuellen Bedürf nisse ; es ist auf den ersten Blick
nicht einzusehen, was dieser Fortschritt in der intellek-
tuellen Entwicklung mit dem Fortschritt in der Trieb-
entwicklung und der Steigerung der Ich-Entwicklung
durch erhöhte Abwehrbedürfnisse zu tun haben soll.
Wir sind im allgemeinen eher darauf vorbereitet zu
finden, daß Trieb- oder Gefühlsstürme und Intellektuali-
tät in einem umgekehrten Verhältnis zueinander stehen.
Schon im Zustand der normalen Verliebtheit verringert
sich die intellektuelle Leistungsfähigkeit eines Menschen;
sein Verstand funktioniert weniger verläßlich. Je mehr
ihm an der Durchsetzung seiner triebhaften Wünsche
liegt, desto weniger Neigung hat er gewöhnlich, sie ver-
standesgemäß zu betrachten und auf ihre vernünftige
Begründung zu prüfen.
Beim Jugendlichen scheint das für die erste Beobach-
tung ganz anders. Es gibt einen Typus von Halb-
wüchsigen, bei denen der Sprung nach vorwärts in
der intellektuellen Entwicklung nicht weniger auffällig
und überraschend ist als der Entwicklungsvorstoß auf
den anderen Gebieten. Wir wissen, wie häufig bei Kna-
ben in der Latenzperiode das Interesse sich einseitig
ganz auf reale und sachliche Dinge richtet. Entdeckun-
gen und Abenteuer, Zahlen und Größenverhältnisse,
Schilderungen fremder Tiere und Gegenstände dirigie-
ren die Leselust der einen; andere beschränken sich auf
100
Motoren von der einfachsten bis zur kompliziertesten
Form. Das Gemeinsame bei beiden Typen ist gewöhn-
lich die Bedingung, daß der Gegenstand, mit dem man
sich beschäftigt, konkret sein muß, also kein Produkt
der Phantasie, wie die Märchen und Fabeln der ersten
Kindheitsperiode, sondern in der Wirklichkeit real und
körperlich vorhanden. Diese konkreten Interessen der
Latenzperiode können sich nun von der Vorpubertät
angefangen immer auffälliger ins Abstrakte verwandeln.
Besonders die Jugendlichen, die Bernfeld in seinem
Typus der „verlängerten Pubertät" geschildert hat, haben
ein unstillbares Verlangen, über abstrakte Themen zu
denken, zu grübeln und zu reden. Sehr viele Jugend-
freundschaflen werden auf der Basis dieses Bedürfnis-
ses nach gemeinsamem Grübeln und gemeinsamer Dis-
kussion begründet und unterhalten. Die Themen, die
diese Jugendlichen beschäftigen, und die Probleme, die
sie zu lösen versuchen, sind sehr weitreichende. Es
handelt sich ihnen gewöhnlich um die Formen der
freien Liebe oder um Ehe und Familiengründung, um
Freiheit oder Beruf, Wanderschaft oder Niederlassung,
um wellanschauliche Fragen, wie Religion oder Frei-
denkertuni, um die verschiedenen Formen der Politik,
um Revolution oder Unterwerfung, um die Freundschaft
selbst in allen ihren Formen. Wenn wir in der Analyse
Gelegenheit haben, die Gespräche der Jugendlichen
wahrheitsgetreu berichtet zu bekommen oder — wie
viele Pubertätsforscher getan haben — die Tagebücher
und Aufzeichnungen Jugendlicher zu verfolgen, so sind
wir nicht nur überrascht von der Weite und Uneinge-
schränklheit des jugendlichen Denkens, sondern auch
voll Respekt für das Maß an Einfühlung und Verständ-
nis, die scheinbare Überlegenheit und gelegentlich fast
die Weisheit in der Behandlung schwierigster Probleme.
Unsere Einstellung ändert sich dann, wenn wir unsere
Beobachtung von der Verfolgung der intellektuellen Vor-
gänge selbst auf ihre Einreihung in das Leben des Ju-
101
gendlichen richten. Wir finden dann mit Erstaunen, daß
alle diese hohe Verstandesleistung mit dem Verhalten
des Jugendlichen selbst wenig oder gar nichts zu tun
hat. Seine Einfühlung in fremdes Seelenleben hält ihn
von den gröbsten Rücksichtslosigkeiten gegen seine näch-
sten Objekte nicht ab. Seine hohe Auffassung der Liebe
und der Verpflichtungen des Liebenden hat keinen Ein-
fluß auf die ständigen Treulosigkeiten und Gefühlsrohei-
len, die er sich bei seinen wechselnden Verliebtheiten
zu Schulden kommen läßt. Die Einreihung in das soziale
Leben wird auch nicht im mindesten dadurch erleich-
tert, daß das Verständnis und Interesse für den Auf-
bau der Gesellschaft das der späteren Jahre oft weit
überschreitet. Die Vielseitigkeit seiner Interessen hält den
Jugendlichen nicht davon ab, sein Leben eigentlich
auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren: auf die Be-
schäftigung mit seiner eigenen Persönlichkeit.
Wir erkennen, besonders in der Zerlegung dieser in-
tellektuellen Interessen unter den Bedingungen der ana-
lytischen Behandlung, daß es sich hier gar nicht um
Intellektualität im gewöhnlichen Sinne handelt. Es ist
nicht so, daß der Jugendliche sich etwa die verschiede-
nen Situationen der Liebe oder der Berufswahl über-
denkt, um an seinen Überlegungen eine Richtschnur für
sein Handeln zu finden, wie der Erwachsene es täte,
oder wie der Knabe in der Latenzzeit einen Motor stu-
dieren würde, um ihn dann zerlegen und wieder zusam-
mensetzen zu können. Die Intellektualität des Jugend-
lichen scheint keinem andern Zweck zu dienen als
seine Tagträumerei. Auch die Ehrgeizphantasien der
Vorpubertät sind ja nicht dazu bestimmt, in die Wirk-
lichkeit umgesetzt zu werden. Der Jugendliche, der sich
selber als Eroberer phantasiert, fühlt auch deshalb
noch nicht die Verpflichtung, sich im wirklichen Leben
mutig oder standhaft zu beweisen. Ebenso fühlt der
Jugendliche offenbar schon Befriedigung, wenn er über-
haupt denkt, grübelt oder diskutiert. Sein Handeln geht
102
unter andern Bedingungen vor sich und braucht von den
Ergebnissen des Denkens, Grübelns oder der Diskus-
sionen nicht beeinflußt zu werden.
Die analytische Verfolgung der intellektuellen Vor-
gänge im Jugendlichen macht uns aber auch noch auf
etwas anderes aufmerksam. Die Themen, die im Vorder-
grund seines Interesses stehen, sind beim näheren Zu-
sehen dieselben, um die die Konflikte zwischen seinen
inneren Instanzen entbrannt sind. Auch hier handelt es
sich wieder um die Unterbringung des Triebhaften in
den Zusammenhang des menschlichen Lebens, um sexu-
elles Ausleben oder Verzicht, Freiheit oder Freiheitsbe-
schränkung, Auflehnung gegen die Autorität oder Unter-
ordnung Das glatte Triebverbot, die Askese, leistet, wie
wir aesehen haben, dem Jugendlichen im allgemeinen
nicht was er von ihr erwartet. Da die Gefahr erst ein-
mal allgegenwärtig bleibt, muß er sich nach vielen Mit-
teln umsehen, um sie zu bewältigen. Das Durchden-
ken des Trieb konflikts, seine Intellektualisierung,
scheint ein solches Mittel zu sein. Hier wird die Flucht
vor dem Trieb, die wir bei der Askese finden, durch
Zuwendung zu ihm ersetzt. Aber die Zuwendung bleibt
eine gedankliche, intellektuelle. Was der Jugendliche in
seinen abstrakten intellektuellen Gesprächen und Lei-
stungen zustande bringt, sind keine Lösungsversuche
von Aufgaben, die die Realität ihm stellt. Seine Gedan-
kenarbeit entspricht eher einer gespannten Wachsam-
keit für die Triebvorgänge in seinem Innern und einem
Umsetzen dessen, was er spürt, in abstrakte Gedanken.
Die Weltanschauung, die er in Gedanken aufbaut, etwa
die Forderung nach Umsturz in der Außenwelt ent-
spricht also der Wahrnehmung des Neuen und sein
ganzes Leben Umstürzenden im Triebverlangen des eige-
nen Es. Die Idealbilder von Freundschaft und ewiger
Treue müssen nichts anderes sein als eine Spiegelung
der Besorgnisse seines eigenen Ichs, das spürt, wie
wenig haltbar alle seine neuen und stürmischen Ob-
103
jektbeziehungen geworden sind 1 ). Die Sehnsucht nach.
Führung und Unterstützung in dem oft aussichtslosen
Kampf gegen die Triebstärke kann sich in scharfsinnige
Beweise für die Unselbständigkeit des Menschen in poli-
tischen Entscheidungen umsetzen. Was sich im Intellek-
tuellen äußert, wäre also eine Schilderung der Triebvor-
gänge. Das Motiv dieser gesteigerten Zuwendung von
Aufmerksamkeit für den Trieb wäre aber der Versuch,
ihn auf einem andern Niveau zu fassen und zu bewäl-
tigen.
Wir erinnern uns daran, daß in der psychoanalyti-
schen Metapsychologie die Verbindung von Affekten und
Trieb Vorgängen mit Wortvorstellungen als der erste und
wichtigste Schritt zur Triebbeherrschung geschildert
wird, den das Individuum in seiner Entwicklung durch-
zumachen hat. Das Denken wird dort überhaupt als
„ein Probehandeln unter Verwendung kleinster Trieb-
quantitäten" bezeichnet. Diese Intellektualisierung des
Trieblebens, der Versuch, der Triebvorgänge dadurch
habhaft zu werden, daß man sie mit Vorstellungen
verknüpft, mit denen sich im Bewußtsein hantieren
läßt, gehört zu den allgemeinsten, frühesten und not-
wendigsten Erwerbungen des menschlichen Ichs. Wir
empfinden sie als unentbehrlichen Bestandteil des Ichs,
nicht als eine Tätigkeit, die es ausübt.
Man bekommt wieder den Eindruck, daß die Erschei-
nungen, die im vorstehenden als „Intellektualisierung
in der Pubertät" zusammengefaßt sind, nichts anderes
sind als die Übersteigerung dieser allgemeinen Ich-Ein-
stellung unter den besonderen Bedingungen eines Libido-
schubes. Was das Ich zu anderen Zeiten selbstverständ-
lich, stumm und nebenher leistet, rückt durch bloße
quantitative Steigerung in den Vordergrund der Aufmerk-
x ) Ich verdanke Margit D u b o v i t z, Budapest, den
Hinweis darauf, daß das Nachgrübeln des Jugendlichen
über den Sinn des Lebens und Sterbens eine Spiegelung
der Arbeit der Destruktion im eigenen Innern bedeutet.
104
sainkeit. Die erhöhte Intelieklualität des Jugendlichen
— vielleicht auch das so hoch gesteigerte intellektuelle
Verständnis für innere Vorgänge zu Beginn jedes psy-
chotischen Schubes — wäre nach dieser Auffassung
nichts anderes als die auch sonst vorhandene Bemü-
hung des Ichs um die Triebbewältigung mit Hilfe von
Gedankenarbeit.
Vielleicht erlaubt uns die Verfolgung dieses Gedan-
kenganges an dieser Stelle noch einen kleinen Neben-
gewinn. Wenn Erhöhung der Triebbesetzung jedesmal
automatisch auch das Bemühen steigert, die Triebvor-
gänge intellektuell zu verarbeiten, dann verstehen wir,
daß Triebgefahr den Menschen gescheit macht; in trieb-
ruhigen, also ungefährlichen Perioden kann das Indi-
viduum es sich eher erlauben, dumm zu sein. Die Trieb-
angst wirkt hier nicht anders, als wir es von der Real-
angst her kennen. Reale Gefahr und reale Entbehrung
spornen den Menschen zu intellektuellen Leistungen
und Lösungsversuchen an, während reale Sicherheit
und Überfluß eher dumm und bequem machen. Die Zu-
wendung der intellektuellen Aufmerksamkeit auf die
Triebvorgänge entspricht eben der Wachsamkeit, die
das Ich des Menschen der gefährlichen Realität gegen-
über als notwendig kennengelernt hat.
Wir haben bisher immer einen andern Erklärungs-
versuch für das Abnehmen der Gescheitheit des Klein-
kindes bei Eintritt in die Latenzperiode verwendet. Die
glänzenden intellektuellen Leistungen des Kleinkindes
sind eng verbunden mit seiner Sexualforschung. Mit dem
Verbot des Sexuellen in der frühen Kindheit dehnt sich
auch das Denkverbot und die Denkhemmung auf andere
Gebiete des Lebens aus. Man war nicht überrascht, mit
dem Wiederaufflammen des Sexuellen in der Vorpuber-
tät, also mit dem Durchbruch durch die Sexualver-
drängung der ersten Kindheit auch die intellektuellen
Fähigkeiten in alter Kraft wiederkehren zu sehen.
105
Diesem uns gewohnten Erklärungsversuch läßt sich
jetzt noch ein zweiter an die Seite stellen. Es ist viel-
leicht nicht nur so, daß das Kind in der Latenzperiode
nicht abstrakt denken darf, es hat es vielleicht nicht
nötig, abstrakt zu denken. Erste Kindheit und Puber-
tät sind Zeiten voll Triebgefahren, die „Gescheitheit"
dieser Perioden dient wenigstens zum Teil ihrer Be-
wältigung. Latenz und Erwachsenheit dagegen sind Zei-
ten verhältnismäßiger Ich-Stärke. Das Bemühen des Ichs
zu intellektualisieren darf auf ein geringeres Maß herab-
sinken, ohne dem Individuum Schaden zu bringen. Da-
bei darf man nicht vergessen, daß diese Verstandes-
leistungen, besonders die der Pubertät, zwar blendend
und auffällig, aber weitgehend unfruchtbar sind. So-
gar die von uns so bewunderten und geschätzten intel-
lektuellen Leistungen der ersten Kindheit haben in
einer Richtung Anteil an diesem Charakter. Wir brau-
chen nur daran zu denken, daß auch die infantile Sexu-
alforschung, in der wir in der Psychoanalyse den schärf-
sten Ausdruck der kindlichen Verstandestätigkeit sehen,
fast nie die wirklichen Tatsachen des erwachsenen
Sexuallebens zu Tage fördert. Das Ergebnis der kind-
lichen Sexualforschung sind in der Regel die infantilen
Sexualtheorien, also nicht ein Erfassen der Wirklichkeit,
sondern eine Widerspiegelung der Triebvorgänge im
eigenen Innern des beobachtenden Kindes.
Die Verstandesarbeit, die das Ich in der Latenzzeit
imd in der Erwachsenheit zustande bringt, ist weitaus
solider, verläßlicher und vor allem viel enger mit sei-
nem Handeln verbunden.
Objektliebe und Identifizierung in der Pubertät
Wenn wir Askese und Intellektualisierung in der Pu-
bertät in das Schema einreihen wollen, das ich weiter
oben als Orientierung der Abwehrvorgänge nach Angst
und Gefahr bezeichnet habe, so ist es deutlich, daß
106
beide der dort geschilderten dritten Art angehören.
Die Gefahr, die dem Ich droht, ist die der Überschwem-
mung durch den Trieb ; die Angst, von der es beherrscht
wird, ist Angst vor der Triebquantität. In der individu-
ellen Entwicklung müssen wir die Entstehung dieser
Angst in sehr frühe Zeiten zurückversetzen. Sie gehört
zeitlich zu der Periode der allmählichen Ablösung eines
Ichs vom undifferenzierten Es. Die Abwehrhaltungen,
die sich unter dem Druck der Angst vor der Trieb-
stärke ausbilden, sind dazu bestimmt, diese Scheidung
zwischen Ich und Es aufrechtzuerhalten und den Be-
stand der neu aufgerichteten Ich-Organisation zu
sichern. Die Askese hat also die Aufgabe, das Es durch
simples Verbot in Schranken zu halten, die Intellek-
tualisierung den Zweck, Triebvorgänge durch enge Ver-
bindung mit Vorstellungsinhalten zugänglich und be-
herrschbar zu machen.
Aber ein Zurückfallen des Individuums im Libido-
schub auf diese primitive Stufe der Angst vor der Trieb-
stärke kann auch sonst nicht ohne Folgen für die üb-
rigen Trieb- und Ich-Vorgänge bleiben. Ich greife im
folgenden aus den vielen Sonderbarkeiten, die die Puber-
tätsphänomene bieten, zwei der wichtigsten heraus und
verfolge ihren Zusammenhang mit dieser Ich-Regression.
Die auffälligsten Erscheinungen im Leben des Jugend-
lichen gehen im Grunde auf dem Gebiete seiner Ob-
jektbeziehungen vor sich. Hier wird der Kampf zwischen
zwei entgegengesetzten Tendenzen am allersichtbarsten.
Die aus der allgemeinen Triebabneigung stammende Ver-
drängung nimmt, wie wir gehört haben, gewöhnlich die
Inzestphantasien der Vorpubertät zu ihrem ersten An-
griffspunkt. Das Mißtrauen des Ichs und seine asketi-
sche Haltung richten sich vor allem gegen die Liebes-
bindung an alle Objekte der Kindheit. Dadurch verein-
samt der Jugendliche einerseits; er bringt es zustande,
von da an unter seiner Familie zu leben, als wären es
Fremde. Anderseits greift die Triebabneigung von der
107
Objektbeziehung selbst auch auf die Beziehung zur Über-
Ich-Instanz über. Soweit das Über-Ich zu dieser Zeit
noch mit Libido besetzt ist, die aus der Elternbezie-
hung stammt, wird es selber behandelt wie ein verdäch-
tiges inzestuöses Objekt und verfällt auch selbst den
Folgen der Askese. Das Ich entfremdet sich auch von
ihm. Das jugendliche Individuum empfindet diese par-
tielle Verdrängung des Über-Ichs, die teilweise Ent-
fremdung von seinen Inhalten als eine seiner schwersten
Störungen. Die Erschütterung der Beziehung zwischen
Ich und Über-Ich wirkt vor allem wieder steigernd
auf die Triebgefahr. Das Individuum wird dissozialer.
Vor dieser Störung sind die Gewissensängste und Schuld-
gefühle, die aus der Beziehung des Ichs zum Über-Ich
stammen, ja die wirksamsten Hilfen des Ichs im Kampf
gegen den Trieb. Man kann in den Anfangsstadien der
Pubertät auch einen deutlichen Versuch zur vorüber-
gehenden Überbesetzung aller Über-Ich-Inhalle beobach-
ten. Der sogenannte „Idealismus" des Jugendlichen er-
klärt sich wahrscheinlich aus diesem Vorgang. ' Jetzt
entsteht also die Situation, daß die Askese, die selbst
schon eine Folge der erhöhten Triebgefahr ist, selber
wieder durch Erschütterung der Beziehung zum Über-
Ich die Abwehrmaßnahmen außer Kraft setzt, die der
Über-Ich-Angst angehören, und dadurch das Ich noch
energischer auf die Stufe der reinen Triebangst und der
primitiven ihr zugehörigen Schutzmaßnahmen zurück-
wirft.
Die Vereinsamung und Abwendung ist aber nur eine
der Tendenzen, die sich in der Objeklbeziehung des
Jugendlichen durchsetzen. An Stelle der verdrängten
Bindungen an die Kindheitsobjektc entstehen zahlrei-
che neue Bindungen, zum Teil an Gleichaltrige, wo sie
die Form leidenschaftlicher Freundschaft oder voller
Verliebtheit annehmen, zum Teil an ältere Führergestal-
ten, die deutlich den Ersatz für die verlassenen Eltern-
objekte bedeuten. Diese Liebesbeziehungen sind wäh-
108
rend ihrer Dauer stürmisch und ausschließlich, aber
ihre Dauer ist kurz. Die einmal gewählten Objekte wer-
den ohne Rücksicht auf die Gefühle des Partners wieder
verlassen und gegen andere eingetauscht. Die verlassenen
Objekte werden schnell und völlig vergessen; nur die
Form der Beziehung zu ihnen erhält sich bis ins kleinste
und stellt sich am neuen Objekt gewöhnlich in getreue-
ster Wiederholung wie zwanghaft wieder her.
Diese Objektbeziehungen der Pubertät haben neben
der auffallenden Treulosigkeit gegen das Liebesobjekt
noch einen zweiten besonderen Charakter. Ihr Ziel ist
nicht eigentlich die Besitzergreifung des Objekts im
gewöhnlichen körperlichen Sinne des Wortes. Das Ziel
scheint vielmehr die möglichst volle Angleichung an die
geliebte Person des Augenblicks.
Wir wissen alle aus der alltäglichen Beobachtung, wie
verwandlungsfähig der Jugendliche ist. Schrift, Ausspra-
che, Haartracht, Kleidung und Lebensgewohnheiten aller
Art sind weit anpassungsfähiger als zu irgendeiner an-
dern Lebenszeit. Oft zeigt ein erster Blick auf einen
Halbwüchsigen, wer sein älterer und bewunderter
Freund ist. Aber die Verwandlungsfähigkeit geht auch
noch weiter. Weltanschauung, Religion und Politik las-
sen sich nach dem Vorbild des andern ändern; die Über-
zeugung von der Richtigkeit des willig Übernommenen
verliert auch bei häufigem Wechsel nicht an Stärke und
Leidenschaft. Der Jugendliche gleicht in dieser Bezie-
hung dem „Als ob"-Typus, den Helene Deutsch als
Zwischenstufe zwischen neurotischer und psychotischer
Erkrankung in einer klinischen Arbeit zur Psychologie
des Erwachsenen beschrieben hat 2 ). Er lebt in jeder
neuen Beziehung zu einem Objekt, „als ob" er wirk-
lich sein eigenes Leben leben, seine eigenen Gefühle,
Meinungen und Ansichten zum Ausdruck bringen würde.
2 ) Helene Deutsch, Über einen Typus der Pseudo-
affektivität („Als ob"). Int. Ztschr. f. Psychoanalyse,
XX, 1934, S. 323 ff.
109
Eine Jugendliche meiner eigenen analytischen Beob-
achtung ließ den Mechanismus, der diesen Verwand-
lungsvorgängen zugrunde liegt, besonders deutlich er-
kennen. Sie wechselte während eines Jahres in der oben
beschriebenen Weise mehrmals von einer Freundschafts-
beziehung zur anderen, von Mädchen zu Knaben, von
Knaben zu älteren Frauen. Bei jedem solchen Wechsel
wurde sie nicht nur gleichgültig gegen das verlassene
Objekt, sondern verfolgte es mit einer ganz besonderen
leidenschaftlichen, fast verächtlichen Abneigung, emp-
fand jedes zufällige oder notwendige Zusammentreffen
mit ihm fast als unerträglich. Wir verstanden schließlich
nach längerer analytischer Bemühung, daß das gar nicht
ihre eigenen Gefühle gegen die ehemaligen Freunde
waren. So wie sie nach jedem solchen Wechsel in vielen
inneren und äußeren Dingen Formen und Anschauungen
des neuen Liebesobjektes zu übernehmen gezwungen
war, so fühlte sie auch nicht mehr ihre eigenen Gefühle,
sondern die des neugewählten Freundes. Ihre Abnei-
gung gegen die früher geliebten Menschen war wirklich
nicht ihre eigene. Sie war in Einfühlung in die Gefühle
des neuen Freundes empfunden. Auf diese Weise brachte
sie seine phantasierte Eifersucht gegen jeden früher
von ihr Geliebten zum Ausdruck oder seine, nicht
ihre eigene Verachtung gegen eventuelle Nebenbuhler.
Die innere Situation in dieser und ähnlichen Puber-
tälsphasen läßt sich in sehr einfachen Worten beschrei-
ben: diese stürmischen und wenig haltbaren Liebesbin-
dungen der Pubertät sind gar keine Objektbeziehungen
im erwachsenen Sinne des Wortes. Es sind Identifizie-
rungen der primitivsten Art, wie wir sie etwa in der
ersten Entwicklung des Kleinkindes, vor Beginn aller
Objektliebe kennenlernen können. Die Treulosigkeit der
Pubertät anderseits wäre dann gar kein Liebes- oder
Überzeugungswechsel innerhalb des Individuums, son-
dern ein durch den Wechsel der Identifizierungen be-
dingter Persönlichkeitsverlust.
1 10
Eine analytische Einsicht an einer anderen Fünfzehn-
jährigen führt dann vielleicht noch einen Schritt weiter
in das Verständnis für die Rolle dieser Identifizierungs-
neigungen. Die Patientin ist ein besonders schönes und
anmutiges Mädchen, das im gesellschaftlichen Leben sei-
nes Kreises schon eine Rolle spielt, trotzdem aber von
rasender Eifersucht auf eine noch kindliche Schwester
geplagt wird. Sie stellt alle früher bei ihr vorhandenen
Lebensinteressen in der Pubertät zurück und wird nur
von dem einen Verlangen getrieben, sich von ihren
jugendlichen und älteren Freunden bewundern und lie-
ben zu lassen. Sie verliebt sich mit voller Stärke aus
der Ferne in einen etwas älteren Knaben, mit dem sie
auch gelegentlich in Gesellschaften und an Tanzabenden
zusammentrifft. In dieser Zeit schreibt sie mir einen
Brief, in dem sie ihre Liebeszweifel und Besorgnisse
schildert.
„Du mußt mir raten", heißt es dort, „wie ich mich
benehmen soll, wenn ich mit ihm zusammentreffe. Soll
ich ernst oder lustig sein? Wird er mich lieber haben,
wenn ich mich gescheit zeige oder wenn ich mich dumm
stelle? Ist es besser, wenn ich die ganze Zeit nur von
ihm oder auch von mir selbst rede?..." Ich beantworte
die Fragen in unserer nächsten Zusammenkunft münd-
lich. Ich meine, daß es doch vielleicht nicht nötig sei,
Pläne für ihr Benehmen schon im voraus zu machen.
Ob sie nicht im Augenblick so sein könnte, wie sie eben
sei und wie ihr eben zumute wäre? Sie versichert,
nein, das ginge nicht, und begründet in langer Rede die
Notwendigkeit, so zu sein, wie es den andern gefällt und
sie einen haben wollen. Nur dann könne man sicher
sein, ihre Liebe zu erwerben. Und ohne von diesem
Knaben geliebt zu werden, könne sie überhaupt nicht
leben.
Sehr bald darauf schildert mir die gleiche Patientin
eine Phantasie, die eine Art allgemeinen Weltuntergangs
darstellt. Wie es wäre, wenn alle Menschen zugrunde
111
gehen müßten? Sie geht die Reihe Ihrer Freunde und
Verwandten durch, bis sie sich schließlich in der Vor-
stellung allein zurückgelassen auf der Erde findet Aus
Stimme, Betonung und der Schilderung aller Details ist
es klar, daß es sich um Wunschvorstellungen handelt.
Sie empfindet Lust, keine Angst bei der Erzählung.
Ich erinnere sie an dieser Stelle an ihr stürmisches
Verlangen nach Geliebtwerden. Schon die bloße Vor-
stellung, einem ihrer Freunde zu mißfallen und seine
Liebe zu verlieren, konnte sie die Tage vorher in Ver-
zweiflung versetzen. Wer aber wird sie lieben, wenn
sie so allein auf der Welt zurückbleibt? Sie weist die
Mahnung an die Besorgnisse des Vortages ruhig ab.
„Dan würde ich mich selber lieben", sagt sie, als wäre
sie endlich alle Ängste los, mit einem tiefen Seufzer der
Erleichterung.
Diese kleine analytische Beobachtung an einem Einzel-
fall scheint mir einen Hinweis auf etwas für bestimmte
Objektbeziehungen der Pubertät Charakteristisches zu
enthalten. Durch die Erschütterung der alten Objektbe-
ziehungen, durch die Folgen von Triebneigung und As-
kese wird die Außenwelt des Jugendlichen entlibidini-
siert. Er ist in Gefahr, seine Objektlibido von der Um-
welt auf die eigene Person zurückzuziehen, entsprechend
den Regressionen in seinem Ich auch im libidinösen
Leben von der Objektliebe zum Narzißmus zu regredie-
ren. Dieser Gefahr entzieht er sich durch die krampf-
haften Bemühungen, doch wieder Anschluß an die
Außenweltsobjekte zu finden, wenn auch erst einmal
in Anlehnung an den Narzißmus, also durch Identifi-
zierungen. Die stürmischen Objeklbeziehungen des Ju-
gendlichen hätten nach dieser Auffassung — wieder
ähnlich den Zuständen im Beginn psychotischer Schübe
— den Charakter von Restitutionsversuchen.
Ich habe im Verlaufe der vorangegangenen Schilde-
rungen die charakteristischen Einzelheiten des Puber-
tätsverlaufes so häufig mit schweren Krankheitserschei-
112
mingen verglichen, daß es vielleicht notwendig ist, trotz
der Unvollständigkeit dieser Ausführungen noch ein
Wort über Normalität oder Abnormität der Pubertäts-
vorgänge hinzuzufügen.
Die Basis für den Vergleich zwischen der Pubertät
und den Anfangszuständen bei psychotischen Schüben
ist, wie wir gesehen haben, die Auffassung von der Wir-
kung quantitativer Besetzungsänderungen. Die erhöhte
Libidobesetzung des Es steigert in beiden Fällen einer-
seits die Triebgefahr, anderseits die Abwehranstrengun-
gen aller Arten. Daß auf Grund dieser quantitativen
Vorgänge jede Periode von Libido Steigerung im mensch-
lichen Leben zum geeigneten Ansatzpunkt für neuroti-
sche und psychotische Erkrankung werden kann, war
uns in der Analyse immer gegenwärtig.
Die besondere Ähnlichkeit zwischen dem Pubertäts-
verlauf und psychotischen Schüben scheint nebenbei
noch in dem Hervortreten primitiver Abwehrhaltungen
zu liegen, die der Angst des Ichs vor der Triebstärke
zugehören, also einer Angst, die älter ist als alle Real-
und Gewissensangst.
Der Eindruck des individuellen Pubertätsverlaufes,
seine Normalität und Abnormalität wird dann wahr-
scheinlich davon abhängen, ob der eine oder der andere
dieser Züge oder mehrere von ihnen gleichzeitig das
Bild beherrschen. Der asketische Jugendliche, bei dem
aber der Intellekt frei funktioniert und zahlreiche gute
Objektbeziehungen erhalten sind, erscheint uns nor-
mal. Dasselbe gilt für den intelle koalisierenden Typus,
für den idealistischen Jugendlichen, auch für den, der
von einer schwärmerischen Freundschaft zur andern
getrieben wird. Wo aber die Triebaskese weitgehend
durchgesetzt ist, wo die Intellektualisierung gleichzeitig
die andern Verstandesleistungen überwuchert und die
Beziehungen zur Umwelt ausschließlich auf Grund von
wechselnden Identifizierungen hergestellt werden, dort
8 Almanach 1937
1*5
wird es dem beobachtenden Pädagogen oder dem Ana-
lytiker nicht mehr leicht fallen zu entscheiden, was
noch einem Durchgangsstadium der normalen Entwick-
lung und was schon einem pathologischen Zustand
angehört.
114
Über Menschenkenntnis
Von Hanns Sachs, Boston
Einleitung des Buches „Zur Menschenkennt-
nis. Ein psychoanalytischer Wegweiser für
den Umgang mit sich und anderen". Inter-
nationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien
1936. Das Buch enthält folgende Kapitel:
I. Allgemeines; II. Das Ich im vertrauten Um-
gang; III. Die anderen — auf Distanz gesehen.
— Im Anhang; IV. Familie — mit und ohne
Liebe; V. Vom Glück — ohne Angabe der
Adresse.
Es heißt gewöhnlich, unsere Menschenkenntnis werde
dadurch getrübt, daß wir die anderen Menschen zu sehr
nach uns selbst beurteilen. Das mag im Grunde und
im ganzen richtig sein, im Einzelfall ist es meistens
falsch, und das Gegenteil läßt sich oft erweisen, näm-
lich, daß der Irrtum daher stammt, daß man die ande-
ren nicht genug nach sich selbst beurteilt. Freilich
sucht man, wie das Sprichwort sagt, den Dieb hinter
dem Strauch, hinter dem man sich selbst versteckt
hat, aber man sucht ihn doch auch oft genug gerade
dort nicht, weil man an den Teil des eigenen Ichs, den
man versteckt hat, nicht gerne erinnert sein will.
Man beurteilt andere nach sich selbst und tut es mit
einiger Berechtigung in den Dingen des gemeinen Nut-
zens, des direkten ökonomischen Vorteils. Der Wunsch,
billig zu kaufen und teuer zu verkaufen, Gewinn zu
suchen und Verlust zu meiden, ist eine allgemeine Vor-
aussetzung, auf die sich bauen läßt. Aber ist das Streben
nach Gewinn wirklich so ausschließlich, so allgemein
herrschend, wie man uns erzählt? Wird der materielle,
ökonomische Gewinn, der mittelbar zur Befriedigung
der Bedürfnisse und Wünsche der Menschen führt, dem
unmittelbaren Lustgewinn regelmäßig vorangestellt? Wie
oft und wie weit handeln wir in den „praktischen"
Dingen rein praktisch und vernunftgemäß? Wieviel Ne-
8*
**5
benmotive und Seitensprünge sind dabei, nicht nur im
ökonomischen Verhalten des einzelnen, sondern auch
der Gesamtheit, der Staaten und Völker untereinander?
Die Beobachtung zeigt, daß selbst auf dem eigentlich
ökonomischen Feld, soweit es sich abgrenzen läßt, da,
wo angeblich kalte Vorteilsberechnung und nüchterner
Gewinnkalkul alleinherrschend sind, sich so manches
andere einmischt, was wir „Imponderabilien" zu nennen
gewohnt sind, weil es sich unter diesem Namen am
leichtesten vernachlässigen und beiseiteschieben läßt. Der
ökonomische Motor ist stark genug, um die schwer-
sten Lasten zu schleppen, aber trotzdem tun noch ein
paar muntere Pferde Vorspanndienst.
Denken wir an die Leute, die als so fabelhaft „ge-
schäftstüchtig" gelten, weil sie ihren Vorteil mit dem
größten Scharfsinn aufzuspüren, mit der äußersten Be-
hendigkeit einzuheimsen wissen, wenn er aus der Aus-
beutung, der Übervorteilung, der Düpierung eines ande-
ren zu holen ist; diese „Findigen" übersehen den kla-
ren, einfachen Gewinn, der zu ihren Füßen läge, wenn
der Fund den anderen nicht zum Schaden, sondern zum
Nutzen gereichen würde. Eine Abart dieser Gattung ist
die verruchte Rotte, der man besonders auf Reisen
begegnet, die Leute, die alles billiger bekommen haben
als die übrige Welt, die in jedem Hotel, in jedem Laden
erfolgreich heruntergehandelt, die überall Prozente und
Rabatte erreicht haben und nun niemals müde werden,
dies der Mitwelt mit immer neuen Details der Über-
heblichkeit zu verkünden. Wer glaubt ernstlich, daß
solche Reisende die Genüsse gehabt haben, die sie zu
suchen vorgeben. Sie sehen keine Madonnen und Dome,
keine Felsen und Gletscher, denen zuliebe sie angeblich
von weither gekommen sind, sondern Preislisten und
Prospekte und vor allem die Daheimgebliebenen, den
Kreis der geneigten und noch öfter ungeneigten Hörer,
denen sie ihre Heldentaten in fernen Ländern erzählen
werden, die sie doch ebensogut hätten zu Hause ver-
116
richten können. Und das „ökonomische", der bare Nut-
zen, der dabei eigentlich das treibende Motiv sein soll?
Ich nah' es noch nicht erlebt, daß einer dieser „Besser-
billiger"-Leute Millionär geworden wäre, und kann den
Verdacht nicht loswerden, daß die vielen kleinen Siege
gelegentlich in eine große Niederlage münden, die alle
Früchte jener reichlich aufwiegt, aber für alle, außer
den daran Beteiligten, Geheimnis bleibt.
Oder die gute „Hausfrau", die ihre Wohnung so
herrlich sauber und blitzblank zu halten weiß, daß
man „vom Fußboden essen könnte". Tut sie das zur
Freude der Ihrigen, für den Gesundheitswert einer
schmutzfreien, hygienischen Umgebung, für die gute
Instandhaltung und daraus abfolgende Ersparnis? Kei-
neswegs, das alles ist Selbstzweck, dem diese Gründe
nur als Vorwand dienen. Familienfriede, Bequemlich-
keit und Ruhe, selbst hygienisch wichtigere Forderungen
der Reinlichkeit werden seiner Tyrannei ohne weiteres
aufgeopfert.
Geht der Erwerbssinn immer nur so weit, bis die
Sicherheit der wesentlichen Befriedigungen gewährlei-
stet ist, oder treibt er nicht oft weit darüber hinaus,
bis dahin, wo der unersättliche Erwerb der Güter ihren
Genuß verkümmern oder ganz unmöglich macht, so daß
der zum Genuß unfähig Gewordene am Schluß keinen
anderen Ausweg weiß, als das zu verschenken, an des-
sen Erlangen er sein Leben gesetzt hat?
Angeblich sind die Menschen unserer Zeit so furcht-
bar berechnend und schätzen alle Dinge nach dem Geld-
wert ein. Es bleibt aber noch heute wie jemals das
beste Mittel, sich jemanden verpflichtet und zur Gegen-
liebe geneigt zu machen, wenn man ihm gut und sorg-
fältig, unter Beobachtung aller kleinen Eigenheiten und
Wünsche, zu essen und zu trinken gibt. Sein Kopf mag
nachrechnen, aber ein Bodensatz von Dankbarkeit bleibt
— wenn auch nicht für lange — übrig, der mit dem
Additionsresultat nichts zu tun haben will.
H7
Die Freude an der kleinen Ersparnis ist von dem
ökonomischen Wert unabhängig — sie wird auch meist
nicht in der Form geübt, die uns die Moralsprüche
der Kindheit lehren wollten. Schwarzfahren auf der
Tram zum Beispiel wird so das Lieblingsdelikt der ehr-
lichen Leute und tritt an die Stelle der aufgehobenen
Stecknadel des künftigen Millionärs. Zeit ist bekanntlich
Geld, und so kennen wir alle wie den Groschen- so
den Minutensparer, der als Resultat längeren Studiums
und einiger Hast selig lächelnd eine Viertelstunde auf
die hohe Kante legt, — von wo er sie nie herunter-
holen wird.
Die Lichtausknipser, die Heiz wärme Sparer, die Papier-
aufbewahrer, wer lächelt nicht über sie und wer gehört
nicht in irgendeinem Sinne zu ihrer großen Familie?
Lassen sich die Sammelwütigen abgrenzen und klar in
vernünftige und unvernünftige scheiden — diese vom
Bindfadenrest und jene von der Frühgotik? Ihre Ob-
jekte sind unendlich verschieden, aber nicht ihre Freu-
den und Leiden, nicht ihr Benehmen, wenn sie ihre
Schätze aufstapeln und ordnen, nach immer vollständi-
gerer Vollständigkeit streben, sich durch den Besitz
an sich ohne Frage nach Nutzen oder Schönheit be-
glückt fühlen und trauern, weil sie sich von einem Stück
trennen müssen. Anatole France deutet die Wahr-
heit auf seine unnachahmliche Weise an, wenn er den
Zündholzschachtelsammler mit dem großen Gelehrten
auf seiner Suche nach einem Manuskript zusammen-
treffen läßt.
Wie ein Gegensatz dazu — aber manchmal sind es
dieselben Menschen — erscheinen jene, denen ihr Eigen-
tum nie gefällt, die mit jedem Einkauf unzufrieden
sind, wenn er ins Haus kommt, und die sich immer
ärgern, nicht das bestellt zu haben, was die Leute am
Nebentisch essen.
Die Liste läßt sich beliebig verlängern. Kindereien?
Einverstanden! Aber diese Kindereien machen tausend-
118
fach das Glück oder Unglück sogenannter Erwachsener
und sozusagen Normaler aus, sie beeinflussen ihre Hand-
lungen, ihren Beruf, ihre Lebensform unvergleichlich
mehr, als es die offizielle Auffassung zugibt, und als sie
es selbst wissen. Die Beispiele, willkürlich herausgegrif-
fen, wie sie sind, haben das eine Gemeinsame, daß sie
alle auf dem ökonomischen Felde spielen, vom Besitz
und Erwerb handeln, also von den Dingen, bei denen
nach allgemeinem Urteil das vernünftige Ermessen, die
verslandesmäßige Berechnung ganz allein herrschend
sein muß und deshalb auch ist. Wo sonst ist das Ratio-
nale im Leben zu Hause, wenn nicht im Wirtschaft-
lichen?
Daß auf anderen Lebensgebieten das Irrationale, die
Imponderabilien, die Unter töne und Nebengeräusche,
die Überraschungen und Rätselhaftigkeiten zu Hause
sind, wird niemand leugnen. Werfen wir lieber keinen
Seilenblick auf das Nachbarfeld, die Politik! Es bleibt
noch sonst des holden und unholden Wahnsinns genug.
Schweigen wir einstweilen noch von der Liebe — wir
wissen ohnehin, wie oft sie allem Planvollen und Ich-
gerechten und am Ende noch sich selber widerspricht;
ohne doch an einem dieser Widersprüche zu scheitern.
Der närrische Maskenzug bietet hinreichend Abwechs-
lung, wenn wir nur auf einige der buntgemischten
Gegensätze, wie Mut und Angst, Eitelkeit und Selbst-
preisgabe, Eigensinn und Gehorsam achten wollen. Oder
heben wir nur ein einzelnes Phänomen heraus: die
Freundschaft zwischen Personen desselben Geschlechts,
die Männerfreundschaft, die in so vielen ernsten Din-
gen, wie Beruf und Politik, eine große Rolle spielt.
Lassen wir alles Wissen und alle Mutmaßungen über
mibe wußte Grundlagen beiseite, halten wir uns einfach
und ehrlich an die Tatsachen unserer alltäglichen Er-
fahrung. Das Auftauchen und das Vergehen solcher
Freundschaft, das Werben und das Umworbenseinwol-
len, die Eifersucht und das Schuldgefühl der Untreue,
n 9
das Umschlagen in Haß oder das Absinken in Gleich-
gültigkeit, das alles trägt deutlich die Charaklerzüge
und die Spannungsformen eines einzigen Gefühls in
sich: der Liebe. Am deutlichsten ist dies natürlich
bei Jugendlichen, bei denen die Affekte geradeaus und
die Leidenschaften ungebrochen sind, aber es bleibt,
wenn auch von dichteren Schleiern bedeckt, im Grunde
immer dasselbe. Die Psychoanalyse hat sich das Recht
geschaffen, nicht nur das versteckt Irrationale und Affek-
tive in der Freundschaft, sondern all das andere, all
die „Imponderabilien", von denen wir gesprochen haben,
all die merkwürdigen Gestalten der Leidenschaften und
der Phantasie, die unsichtbar oder unkenntlich bleiben,
weil sie sich zwischen den Möbelstücken und Vorhängen
der Alltagswelt zu verstecken wissen, sämtlich in den
großen Triumphzug des Eros einzureihen, sie als Ab-
wandlungen und Ausdrucksformen der Liebe — das
Wort im weitesten und wahrsten Sinne genommen —
anzuerkennen.
Wir brauchen uns nicht darum zu kümmern, ob das
Kapitel „Männerfreundschaft" mit Recht den Titel „sub-
limierle, latente Homosexualität" führt oder nicht. Wir
lassen die Fragestellung der Wissenschaft nach Her-
kunft und Einordnung mit Seelenruhe beiseite. Augen-
blicklich ist nur das eine wichtig: Können wir aus der
Auffassung der Analyse praktischen Nutzen ziehen? Läßt
sich daraus etwas lernen über die Art, wie sich Men-
schen untereinander verhallen, was nicht bloß für den
Theoretiker und den in sein Laboratorium Gebannten
wissenswert ist?
Ich glaube, das ist nicht unmöglich und ein Versuch
wohl der Mühe wert — vorausgesetzt, daß die Bereit-
schaft da ist, in einem einzigen Punkte mit einer ge-
heiligten Tradition zu brechen und die Dinge unter
einem anderen Gesichtswinkel zu sehen, als es bisher
von fast allen Menschen, den Dichtern und sonstigen
Märchenerzählern geschehen ist.
120
Nämüch:
Wer das Verstandesmäßige und Vernünftige, das Lo-
gische und Intellektuelle in der Menschennatur für das
Eigentliche erklärt und sich damit als mit dem Richti-
gen, Regelmäßigen und Wesentlichen befaßt, die ande-
ren Dinge aber nur als Ausnahmen, Untertöne, Ver-
ranntheilen, kurz als Zufälligkeiten ansieht, für die es
nicht der Mühe wert ist, eine Regel zu verfassen oder
ihr Gesetz zu finden, der kann freilich ein ordentliches,
zusammenhängendes, gut und klar ausgebautes System
errichten, das gut darstellbar ist und jedermann ein-
leuchten muß. Besonders wenn er als Fundament für
sein Gebäude verschiedene „Du sollst" nimmt, die in
der Psychologie, die so lange die Tochter — und mei-
stenteils das Stiefkind — von Theologie und Philo-
sophie gewesen ist, immer billigst zu haben sind. Doch
kann es einem solchen begegnen, daß er in einem Mo-
ment der Selbstkritik findet, daß das, was er für seine
reine Logik und Ethik hielt, Himmelstöchter sind, die
aus recht merkwürdigen Regionen stammen. Diese Art,
von den Menschen zu denken, ist freilich gut, solange
man zu Hause sitzt, besonders wenn man dabei ein
Lehrbuch der Psychologie schreibt. Wer sich ihrer be-
dienen will, um mit den wirklichen Menschen zu leben,
der wird nicht besser fahren als einer, der im Kaffern-
kral mit Hilfe seiner guten Kenntnis der Trigonometrie
sein Fortkommen zu finden hofft.
Wir wollen uns vornehmen, den anderen, unteren
Weg zu gehen, das, was als Hauptsache gilt, einfach
zu ignorieren und die Allotria in den Mittelpunkt zu stel-
len: eine Schulstunde für Papierkugelschmeißen und
Gesichterschneiden, während die Schulbücher nur unter
der Bank gelesen werden dürfen.
Von einem System, von Ordnung und Zusammenhang
kann dabei keine Rede sein — dazu reicht unsere
Kenntnis des Überraschlichen, der geheimen Hinter-
gründe des Menschlichen noch lange nicht aus. Ilaben
121
wir doch eben erst begonnen, ihre Existenz einzusehen,
ihre Wichtigkeit anzuerkennen.
Also bestenfalls Winke und Hinweise an Stellen, wo
gerade ein Lichtstrahl in den Urwald eingedrungen ist,
ein lustiges Stück Sträßlein, das irgendwo anfängt und
ein paar Meilen vor nichts Besonderem wieder auf-
hört, eine Schiffahrt, die dauert, solange der günstige
Wind in die Segel bläßt, eine Weisheit, die darauf ge-
faßt ist, sich selbst ins Gesicht zu lachen.
Hingegen — wenn man will, als Entgelt für die ge-
habte Mühe — läßt es sich jederzeit leicht kontrollieren,
ob die menschlichen Dinge wirklich so sind, wie sie
dargestellt werden, und ob es nützlich ist, sie von dieser
Seite her kennenzulernen. Nebenbei kann möglicherweise
auch etwas Erheiterung abfallen, denn es ist amüsant,
Narrheilen zu sehen, — wenn die Narren auf der Bühne
sind und wir selbst ganz gewiß sein dürfen, daß wir
uns im Zuschauerraum befinden.
Und nun zurück zu unserem Ausgangspunkt: Wann
und wie irren wir, weil wir die anderen zu wenig nach
uns selbst beurteilen?
Schalten wir zuerst die allgemeinen Fehlerquellen aus,
die nichts zu dieser besonderen Art des Irrtums beitra-
gen. Wir glauben natürlich hier wie überall am liebsten
und festesten das, was wir wünschen, denken uns also
die anderen so, wie es zur Erreichung unserer Zwecke
am dienlichsten ist. Den Menschen, die wir lieben,
legen wir die edelsten Motive unter, in den Handlungen
jener, denen wir abgeneigt sind, sehen wir den Aus-
fluß ihrer Gemeinheit, Dummheit und Böswilligkeit,
kurzum einen neuen Grund zum Haß — das ist nichts
Besonderes, Ähnliches geschieht immer und überall.
Wir haben uns geschworen, nicht nach dem Verstän-
digen und Seinsollenden, dem logischen und idealen
Aufputz zurückzuschielen. Aber heißt das nicht, ohne
Kompaß auf Entdeckungsreisen gehen? Es will so schei-
nen, denn, wenn Vernunft und Logik über Bord gewor-
122
fen worden sind, wo soll da irgendeine Gesetzmäßigkeit
zustande kommen? Daher also, mein Lieber, das
Schimpfen aufs System, die Vorliebe für „Winke" —
weil dort, wo bloße Willkür herrscht, Unkenntnis die
Regel sein muß? Keineswegs, denn wir geben das Ge-
setz von Grund und Folge nicht auf, auch wenn es,
wie die moderne Physik lehrt, vor dem Unendlich-
Kleinen und dem Unendlich-Großen haltmacht, — denn
der Mensch ist weder das eine noch das andere, und
sein Fühlen ist wie sein Denken an Regeln gebunden,
von denen er freilich wenig weiß und noch weniger
wissen will.
Wenn wir das Unbekannte, statt es abzuleugnen,
ins Riesenhafte vergrößern und mit einem „alles ist
möglich" resignieren, dann sind wir allerdings auf kür-
zestem Wege wieder heimgelangt zu den vertrauten
Stätten.
Es gibt nur einen Weg, uns an den Glauben an die
Gesetzmäßigkeit des Regelwidrigen, an den Sinn des
Widerspruchsvollen zu gewöhnen, und das ist der Um-
gang mit uns selbst, ein wenig Vertrautheit mit dem,
was in uns, mit uns geschieht. Denn daß in uns selbst
die Dinge auf irgendeine Weise zusammenhängen, daß
wir nicht einfach durch blinden Zufall so sind, wie
wir sind, und ebensogut ganz anders sein könnten,
— davon sind wir doch hinreichend fest überzeugt,
den Standpunkt werden wir uns so leicht nicht weg-
nehmen lassen.
Es ist also nur notwendig, daran zu denken, wie viele
Überraschungen wir schon an uns selbst erlebt haben.
Wir wissen, wo unsere Liebe, unser Haß gewachsen
ist? Von woher ist uns Trauer, Enttäuschung, Entzau-
berung ins volle Glas der Lust gefallen? Warum ließ
uns in anderen Tagen das Schwerste ungerührt? „Eine
solche Niedertracht ist unmöglich, Undankbarkeit in
diesem Ausmaß kann nicht vorkommen, so weit kann
Grausamkeit in menschlichen Grenzen nicht gehen!"
125
— aber laßt uns nicht an den Nächsten, sondern etwas
näher denken, an alles, was wir getan haben und, wenn
nicht getan, gewünscht und, wenn nicht gewünscht,
phantasiert und, wenn nicht phantasiert, — geträumt!
Nehmen wir uns selbst im vollen und ganzen, mit allen
unseren Möglichkeiten, mit allein, was in uns versteckt
ist und auftaucht und wieder verschwindet, nicht nur
mit unseren Wünschen und Tagträumen, auch mit unse-
rer Angst und ihren geheimen Drohungen, und wir
werden die anderen am besten verstehen, wenn wir
sie „nach uns" beurteilen.
Eine gute Hilfe sind hier, wie fast stets, die Dichter.
Denn bei den Menschen, die sie nach ihrem Bilde ge-
schaffen haben, wird es ganz deutlich, daß sie zugleich
nach unserem Bilde geschaffen sind. Wir verstehen
Macbeth und Hamlet, die ganze Schar der Brüder Kara-
masow, wir wissen, daß sie alle wahr und wirklich
sind, — aber doch nicht etwa durch Vergleichung
mit den Menschen, denen wir begegnet sind? Keine
Rede davon, wir werden von ihnen ergriffen, von
ihren Schicksalen erschüttert, von ihren Leidenschaften
mitgerissen, weil wir in ihnen uns selbst begreifen —
unsere geheimsten, verborgensten Möglichkeiten (die
Psychoanalyse nennt es: unser Unbewußtes).
Es wird also doch wohl so sein, daß die Vorausset-
zung auch nur für die Bereitwilligkeit zum Versuch,
andere Menschen zu verstehen, daran gebunden ist, daß
wir sie nach uns beurteilen — aber freilich nach unse-
rem wirklichen Ich.
Die Warnung, andere nicht nach sich selbst zu beur-
teilen, behält trotzdem ihren guten Sinn oder erhält
ihn vielleicht jetzt erst: Denn „nach sich", das heißt
im gewöhnlichen Sinne nach dem, wie wir selbst den
anderen erscheinen wollen, oder nach dem Ich, das wir
zu sein glauben, vielleicht auch nach einem Ich, das
wir abgelegt haben, oder einem, dem wir nachstreben
möchten, — es gibt viele Mittel der Selbsttäuschung
124
und zu jedem gehört eine eigene Art, sich über die
anderen täuschen zu lassen.
Und doch: Wir selbst sind der einzige Weg zur
Menschenkenntnis, und der Weg wird nicht offen sein,
bis wir es alle in unserem Schulbuch stehen haben:
Homo sapiens — eine noch wenig erforschte Gattung.
125
Aus einem Handwörterbuch der
Psychoanalyse
Von Richard Sterba, Wien
Der Internationale Psychoanalytische Ver-
lag in Wien hat mit der Herausgabe eines
von Dr. Richard Sterba verfaßten „Hand-
wörterbuches der Psychoanalyse" begonnen,
das auf etwa 15 Lieferungen berechnet ist.
Die beiden ersten Lieferungen (Abasie —
Buße) sind im Mai, bezw. August 1936 er-
schienen. Die folgenden Lieferungen werden
in Abständen von etwa 2 bis 3 Monaten er-
scheinen, so daß das ganze Werk ungefähr
Ende 1938 im Druck vorliegen wird.
Abhängigkeiten des Ichs (dependence of the ego; suj£-
tions du moi.)
Das Ich als seelische Instanz zeigt dreierlei Abhängig-
keiten. 1. Von der Außenwelt, entsprechend der Wahr-
nehmung der Außenwelt als einer der Funktionen des
Ichs; 2. vom Es, resp. von den Libidoansprüchen dessel-
selben, bedingt durch die Tatsache, daß der Zugang zur
Motilität, also zur Triebabfuhr, nur über das Ich mög-
lich ist und 3. vom Über-Ich, das das Ich für seine
Handlungen, aber auch sogar für Wünsche des Es,
die dem Ich unbewußt bleiben, verantwortlich macht.
Diese drei Abhängigkeiten gestalten die Lage und Auf-
gabe des Ichs oft sehr schwierig, besonders da die An-
forderungen, die von den „drei gestrengen Herren"
(Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung
m die Psychoanalyse, Ges. Sehr., Bd. XII, S. 332) an das
Ich gestellt werden, einander oft widersprechen. Das
Ich versucht harmonisch zwischen ihnen zu vermitteln.
Wenn es an seinen Aufgaben versagt, kommt es zur
Angstentwicklung; zur Realangst, wenn es der Abhängig-
keit von der Außenwelt zu wenig Rechnung trägt,
zur Gewissensangst, wenn es den Anspruch des Über-
126
Ichs nicht befriedigt, zur neurotischen Angst vor den
allzustarken Triebansprüchen des Es (s. Ich).
Aggressionstrieb (aggressive impulse or instinct; pulsion
agressive ou instinct d'agression)
Die Aggressionsneigung im Menschen, die in so zahl-
reichen Aggressionen des Einzelnen und der Masse
gegen die Objekte manifest wird, noch viel intensiver
aber im Unbewußten wirkt, so daß zahlreiche Reaktions-
bildungen des Ichs gegen sie wirksam erhalten werden
müssen, suchte die Psychoanalyse zunächst auf die ur-
anfängliche Ablehnung der reizzuführenden Außenwelt
von Seiten des narzißtischen, nach Reizlosigkeit ver-
langenden Ichs zurückzuführen. Die Intensität und Un-
ersättlichkeit der aggressiven Strebungen war aber da-
mit nicht geklärt. Erst die Theorie vom Todestrieb
(s. d.) gibt genügend Erklärungsmöglichkeit für die
Macht und Ausbreitung der aggressiven Regungen. Wenn
die selbstzerstörende Tendenz, die als Todestrieb jedem
Individuum innewohnt, in Aggression gegen die Ob-
jekte umgewandelt und so vom eigenen Ich abgehalten
wird, dann sind die Aggressionsimpulse als triebmäßi-
ges Geschehen biologisch begründet und ihre zusam-
menfassende Bezeichnung als Aggressions t r i e b gerecht-
fertigt. Reiner Aggressionstrieb wird nicht beobachtet.
Der Aggressionstrieb findet sich vielmehr regelmäßig
in Verbindung mit libidinösen Triebkomponenten und
wird in dieser Verbindung als Sadismus gegen Objekte,
als Masochismus gegen das eigene Ich betätigt. Die Bei-
mengung aggressiver Komponenten zu den libidinösen
Äußerungen ist auf der kannibalischen (s. d.) Organi-
sationsstufe der Libido am intensivsten; geringer, aber
noch deutlich auf der anal-sadistischen (s. d.) Stufe;
sie äußert sich auch noch auf der genitalen (s. d.)
Stufe, auf der sie die Eroberung des Objektes gewähr-
leistet. Zahlreiche Dämme müssen im Laufe der Ent-
wicklung zum Kulturmenschen gegen den Aggressions-
127
Irieb aufgerichtet werden, so das soziale Empfinden,
das Mitleid, die religiösen Institutionen. Trotzdem kommt
es gelegentlich zu großartigen Ausbrüchen des Aggres-
sionstriebs, besonders wenn gemeinsames Vorgehen in
großer Masse das Schuldgefühl vermindert, wie etwa
im Kriege.
Zahlreiche neurotische Symptome stellen Schutzmaß-
regeln gegen die aggressiven Regungen dar, so etwa ist
die Eßstörung des Melancholikers ein Schutz gegen
kannibalische Regungen, die Vermeidungen der Zwangs-
neurotiker, die Berührungsfurcht dienen der Abwehr
aggressiver Regungen, ja in jedem neurotischen Sym-
ptom muß die Analyse neben den libidinösen auch die
aggressive Komponente aufdecken. Auch in der Ver-
wahrlosung (s. d.) spielen die aggressiven Regungen
eine große Rolle. An der Genese des Schuldgefühls
(s. d.) ist der Aggressionstrieb wesentlich beteiligt. Wird
der Aggressions trieb nämlich von der Abfuhr an Ob-
jekten der Außenwelt abgehalten, dann kann er sieh im
Über-Ich (s. d.) sammeln, das dadurch streng und un-
erbittlich wird und in sadistischer Weise das Ich zu
quälen beginnt. Es nimmt dann das Schuldgefühl zu,
wenn die Aggression nach außen gehemmt wird. Aber
auch eine Umkehr in Masochismus (s. d.) ist möglich,
wenn die Aggression nach außen eine Hemmung er-
fährt.
Die Bewältigung des Aggressionstriebes gehört zu den
schwierigsten Aufgaben der kulturellen Menschheit und
man muß erkennen, daß bisher diese Aufgabe vom
Einzelnen wie von der Gesamtheit nur mangelhaft ge-
löst wurde.
Allmacht der Gedanken (omnipotence of thought; toilte-
puissance de la pensee)
ist ein Terminus für eine bestimmte Einstellung zur
eigenen Gedankenwelt. Man findet diese Einstellung beim
Primitiven, beim Kind, besonders im frühen Alter und
128
beim Neuro Li ker, insbesondere beim Zwangsneurotiker.
Der Gedanke besitzt darin die Gültigkeit und Wertigkeit
eines Geschehens, die Vorstellung die Gültigkeit und
Wertigkeit einer Tatsache, der Wunsch die einer Tat.
Die Ursache dieser Überschätzung der psychischen
Geschehnisse gegenüber der Realität liegt in der beson-
deren Einstellung des Kindes und des Primitiven zu
sich selbst, welche Einstellung auch im Neurotiker
partiell erhalten bleibt. Das Kind hält bis zu einer ge-
wissen Phase seiner Entwicklung sich selbst für den
Mittelpunkt allen Geschehens und wird darin bestärkt
durch die Bereitwilligkeit der pflegenden Umgebung auf
Äußerung eines Verlangens mit Erfüllung zu reagieren,
wie es ja in der Brutpflege vielfach nicht vermeidbar
ist. Das Kind lebt so in einem ausgesprochenen Grö-
ßenwahn, der der Ausdruck seiner Selbstliebe ist. Im
Primitiven bleibt diese Einstellung weitgehend, im Neu-
rotiker zum Teil erhalten. Der starken libidinösen Be-
setzung des eigenen Selbst, die Narzißmus (s. d.) ge-
nannt wird, entstammt die hohe Wertschätzung der
eigenen psychischen Regungen, die darum eben für
allmächtig gehalten werden. Ausdruck dieser Allmacht
der Gedanken ist die Technik der Magie (s. d.), die
darin besteht, daß ein ideelles oder gedachtes Gesche-
hen für ein tatsächlich wirksames gehalten und ver-
sucht wird, die Außenwelt auf diesem gedachten oder
bildhaft dargestellten Wege zu bewältigen. Folge der
Allmacht der Gedanken ist, daß, da der böse Gedanke
und der böse Wunsch psychisch den Wert der Tat be-
kommen, die Strafe vom Gewissen her so verhängt wird,
als ob das Ich die Tat real begangen hätte.
9 Almanach 1937
129
Die Bedeutung des Werkes Sigm. Freuds
für die Sozial- und Rechtswissenschaften
Zu Sigm. Freuds 80. Geburtstag, 6. Mai 1936
Von Robert Wälder, Wien
Aus „Revue Internationale de la Theorie du
Droit — Internationale Zeitschrift für Theorie
des Rechts 1 ', offiziellem Organ des „Institut
International de Philosophie du Droit et de
Sociologie juridique" , herausgegeben von Louis
Le Für, Gasion Jeze, Hans Reisen, Fr. Weijr,
X. Jahrg., 1936. Wiederabdruck mit Genehmi-
gung der Redaktion und des Verlages Rudolf
M. Rohrer, Brunn.
Sigmund Freud ist der Begründer der Psychoanalyse.
Seine Beiträge zu diesem Wissensgebiet liegen in bisher
zwölf Bänden Gesammelter Schriften vor 1 ). Wir wol-
len in folgendem mit einigen Bemerkungen über das
Wesen der Psychoanalyse beginnen, um sodann ihre
möglichen Anwendungen in Sozialwissenschaflen und
Rechtswissenschaften zu skizzieren.
I. Vom Wesen der Psychoanalyse
Die Psychoanalyse wurde ursprünglich als ein Ver-
fahren zur Behandlung hysterisch Erkrankter entdeckt.
Sehr bald verstand man unter dem Wort zweierlei:
die Methode und die mit ihr gewonnenen Resultate;
unter der Methode verstand man sowohl eine Unter-
suchungsmethode als auch ein Heilverfahren. Es liegt
im Wesen der Psychoanalyse, daß diese beiden Dinge,
Untersuchungsverfahren und Heilverfahren, weitgehend
zusammenfallen.
Von diesem ihrem Ausgangspunkt aus, der Behand-
lung von Hysterien, ist die Psychoanalyse zu einem
System der normalen und pathologischen Psychologie
i) Freud: Ges. Sehr., Bd. I bis XII, 1921 bis 1934.
130
überhaupt geworden. Es wäre gewiß auch denkbar, daß
sie bei der Beschäftigung mit normal-psychologischen
Problemen gefunden worden wäre. Es gilt hier etwas
ähnliches wie für die Entdeckung der Elektrizität durch
die Froschschenkelexperimente Galvanis; für die Elek-
trizitätslehre ist es nicht wesentlich, daß sie im Verlauf
biologischer Versuche geboren wurde.
Die Methode. Die Psychoanalyse verfolgt in der
Untersuchung des menschlichen Seelenlebens eine be-
stimmte Methode. Diese Methode klingt einfach und
beinahe selbstverständlich. Es wird mit der Versuchs-
person, wie man in der Sprache der Experimental-
psychologie sagen würde, oder mit dem Analysanden,
wie man in der Psychoanalyse zu sagen pflegt, ein
Übereinkommen geschlossen: er wird darauf verpflich-
tet, während der Analyse, der in der Regel eine Stunde
täglich gewidmet wird, den ganzen Inhalt seines Er-
lebnisstromes auszusprechen, gleichsam laut zu denken.
Er verpflichtet sich damit zur Befolgung einer Regel,
alles, was in ihm vorgeht, Gedanken und Einfälle, Im-
pulse und Affekte, unterschiedslos in der Form auszu-
sprechen, wie es ihm einfällt, d. h. alle bewußten Aus-
wahlprinzipien des Denkens (z. B. Zugehörigkeit zu
einem bestimmten Thema, ästhetische oder ethische
Prinzipien, Relevanzkriterien aller Art) auszuschalten.
Dem Impuls zur Unterdrückung eines Gedankens soll
der Analysand dementsprechend nicht nachgeben, diesen
Impuls aber, als einen seelischen Vorgang wie jeden
anderen, aussprechen. In der Analysestunde soll so das
Ganze des Erlebnisstromes ausgebreitet werden und dann
mit Hilfe des Analytikers untersucht werden. Dazu ge-
hören selbstverständlich auch die Erzählungen über
gegenwärtiges und vergangenes Leben. Somit unterschei-
det sich die Psychoanalyse schon in ihrem Ansatz sehr
wesentlich von anderen Methoden der Psychologie. Auch
bei anderen psychologischen Methoden werden Versuchs-
personen aufgefordert, Erlebnisse zu Protokoll zu geben,
9*
131
allein es handelt sich stets um Ausschnitte aus dem Er-
lebnis, die von der Versuchsperson selbst unter gewissen,
ihr mitgeteilten oder von selbst wirkenden Zielvorstellun-
gen ausgewählt werden. Der Analytiker dagegen ist be-
strebt, die Gesamtheit der seelischen Vorgänge kennen-
zulernen. Es ist selbstverständlich, daß er dem Benehmen
des Analysanden, soweit er es entweder direkt beobach-
ten kann oder aus den Mitteilungen des Analysanden er-
fährt, die gleiche Aufmerksamkeit widmet. Dieses Ver-
fahren scheint schon durch die wissenschaftliche Exakt-
heit gerechtfertigt und geboten; solange man nur einen
Ausschnitt des seelischen Lebens kennenlernt, vermag
man nicht zu entscheiden, wieviel Relevantes dabei
draußen bleibt. Die Grundforderung der Analyse ist da-
her einfach ein Gebot wissenschaftlicher
Vollständigkeit.
Dabei erweist sich sehr bald, daß sich der Analysand
zwar, unter Einsicht der Notwendigkeit, auf diese Re-
gel verpflichtet hat, aber doch nur sehr angenähert
nach ihr handelt. Das ganz bewußte Verschweigen von
manchen Dingen kommt im Anfang der Analyse vor,
aber auch später zeigt es sich, daß die Befolgung der
sogenannten psychoanalytischen „Grundregel" gleichsam
nur eine unendliche Idee ist und daß in praxi immer
wieder Gedanken übersprungen, als unwichtig nicht aus-
gesprochen werden, daß gewisse Dinge, die den Analy-
sanden sehr beschäftigen, ihm gerade in der Analysen-
stunde nicht einfallen, u. dgl. m. Es ist nun Aufgabe des
Analytikers, gleichsam zu erraten, an welchen Stellen
die Regel der Analyse nicht befolgt ist, um die Kräfte
zu verstehen, die hier dem Vorsatz des Analysanden
entgegenwirken. Durch den Versuch, jeweils diese Ge-
genkräfte zu erfassen, sich über ihre Motive klar zu
werden, schreitet die Analyse allmählich vorwärts und
begegnet dabei sehr bald den Konflikten des Menschen
und den Lösungsversuchen, die er sich in diesen Kon-
flikten aufgebaut hat.
132
Das Unbewußte. Der wichtigste Grundgedanke
der Psychoanalyse ist dabei der, daß gleichsam nur ein
Teil der seelischen Vorgänge normalerweise ins Be-
wußtsein ragt, daß ein großer Teil unbewußt abläuft
und daß die bewußten Vorgänge jeweils Fragmente,
oder richtiger gesagt, Ellipsen mit ausgefallenen
Zwischengliedern sind. Es gilt, den vollständigen Ge-
dankengang herzustellen, der zu einem System von Ten-
denzen und Gegentendenzen, von innerer Rede und
Gegenrede führt.
Das Modell der psychischen Persönlich-
keit. Aus außerordentlich zahlreichen Einzeluntersu-
chungen hat sich dabei ein Modell der seelischen Vor-
gänge ergeben, gleichsam ein Rahmen, in den dann die
zahlreichen Einzelvorgänge eingetragen werden können.
Die Psychoanalyse hat zu einem dreiteiligen Modell
des menschlichen Verhaltens geführt. Wir unterscheiden
drei Systeme oder Schichten der menschlichen Persön-
lichkeit, die als Es, Ich und Über-Ich bezeichnet
werden.
Wir verstehen unter dem Es das menschliche Trieb-
leben. Trieb wird von Freud definiert als „ein Grenz-
begriff zwischen Seelischem und Somatischem, ...als
ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen
zufolge seines Zusammenhangs mit dem Körperlichen
auferlegt ist" 2 . Mit den Trieben taucht der Mensch
gleichsam ins Biologische ein.
Das Ich bezeichnet die zentrale Steuerung des Orga-
nismus. Es ist sozusagen das Zentrum der Persönlich-
keit, das, was wir eigentlich meinen, wenn wir „ich"
sagen. Es ist jener Teil der Persönlichkeit, der Kon-
takt mit der Außenwelt hat und die Funktion der Reali-
tätsprüfung entwickelt (der Prüfung, ob etwas real ist
oder nicht). Dem Ich kommt weiters die Funktion der
2 ) Triebe und Triebschicksale, Ges. Sehr., Bd. V,
S. 447.
135
Antizipation des Zukünftigen zu: die Folgen einer jetzi-
gen Handlungsweise in der Zukunft werden in schwä-
cheren Dosen antizipiert und beeinflussen damit mein
jetziges Handeln. Auf diese Weise wird das für die
Triebe geltende Lustprinzip zum Realitätsprinzip modi-
fiziert 3 ). Zu dieser Antizipation gehört die Angst, die
in der Gefahr auftritt, als Vorwegnahme der zu gewär-
tigenden Katastrophe in minimaler Dosis; hiedurch wird
eine biologische Funktion erfüllt, da das Handeln des
Menschen durch diese Antizipation so modifiziert wird,
daß er das Eintreten der Katastrophe zu vermeiden
vermag. Die Angst wirkt somit nach Art einer Imp-
fung, in der auch eine abgeschwächte Dosis der Krank-
heit gegen die Krankheit immunisieren soll. Durchaus
ähnlich ist auch der Vorgang beim Denken, das von
Freud als eine Art von Probehandeln mit mikrosko-
pisch kleinen Dosen beschrieben wird; „ähnlich wie die
Verschiebung kleiner Figuren auf der Landkarte, ehe
der Feldherr seine Truppenmassen in Bewegung setzt".*)
Außer dem Kontakt mit der Realität und der Funk-
tion der Antizipation kommt dem Ich die Funktion der
Verarbeitung zu, alles, was Methode ist. Wir werden
später darauf zurückkommen.
Die dritte Instanz ist schließlich das Über-Ich. Es
umfaßt die inneren Normen des Menschen. Allgemein
gesprochen, handelt es sich um eine Art Stufenbildung
im Ich, um eine Stelle, in der der Mensch sich selbst
zum Gegenstand nimmt: kritisch-strafend (etwa im Ge-
wissen) oder tröstend (wie etwa beim wahrhaften Hu-
moristen) oder emotionell-neutral (in der Selbstbeob-
achtung, in der Ausschaltung des eigenen Standortes;
hierher gehört, was die Philosophen transcendentales
») Formulierungen über die zwei Prinzipien des psy-
chischen Geschehens, Ges. Sehr. Bd. V, S. 409 ff.
4 ) Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfüh-
rung in die Psychoanalyse, S. 124; Ges. Sehr., Bd. VII,
134
cgo nennen). Somit fließt das Über-Ich zusammen mit
dem, was die philosophische Anthropologie als Wesen
des Menschen gegenüber dem Tierreich abgrenzt.
Das Ich des Menschen steht nun jeweils vor einer
Anzahl von Aufgaben. Einerseits werden ihm Aufgaben
von den Trieben gestellt, die Befriedigung erheischen.
Sodann trägt die Realität in jedem Augenblick Anforde-
rungen an den Menschen heran. Ebenso meldet sich
das Über-Ich mit seinen Anforderungen, die für das Ich
gleichfalls den Charakter der Aufgabe haben. Schließ-
lich, viertens, stellt das Ich sich selbst Aufgaben; es
ist nicht bloß der Diener dieser Nicht-Ich-Instanzen
(Es, Über-Ich, Außenwelt), sondern stellt sich selbst
die Aufgabe, diese Welten allmählich in seine Gewalt
zu bekommen, von sich aus zu steuern.
Diese Aufgaben sind in sich widersprechend. Es
scheint nun ein Gesetz zu sein, daß das menschliche
Ich bestrebt ist, in jedem Augenblick einen Lösungs-
versuch zu finden, der mehr oder weniger, schlecht
oder recht, diesen vielfältigen Aufgaben gerecht wird.
In idealer Weise ist das natürlich unmöglich; es werden
stets in einem Akt einige Aufgaben besser gelöst sein
als andere. Dies scheint die Grundlage für die Unrast
des menschlichen Daseins zu sein, für ein Stück Leiden
also, aber auch ein Motor für das ewige menschliche
Streben.
In dieser seiner Tätigkeit, Lösungen für die vielfäl-
tigen und widerspruchsvollen Aufgaben zu finden, ent-
wickelt nun das Ich eine große Zahl von Lösungsver-
suchen oder Lösungsmethoden. Wir schließen damit
an den zuvor fallen gelassenen Gedanken an, daß alles,
was Verarbeitung oder Methode im Seelenleben ist, zum
Ich gehört.
Das Ich macht nun einen ungeheuren Entwicklungs-
weg durch, und zwar mit jeder seiner Funktionen. Der
Kontakt mit der Außenwelt entwickelt sich von den
ersten Tagen immer weiter und geht durch Phasen
135
mythischen und magischen Denkens zu dem Maße von
Realbeziehung, das schließlich erreicht wird. Die Anti-
zipation des Künftigen entwickelt sich, das gereifte
Ich. spannt immer weitere Bogen in die Zukunft hinein.
Die Verarbeitungsmethoden schließlich machen eine Ent-
wicklung durch von den primitiven Methoden des un-
reifen Ichs zu den aufgabeadäquaten des gereiften Ichs.
Zu den primitiven Lösungsmethoden des unreifen Ichs
gehören verschiedene Verhaltungsweisen; eines der ein-
fachsten Beispiele ist das Verhalten gegenüber der Ge-
fahr. Es wäre ein Verfahren des zur vollen Reife ge-
langten Ichs, die Gefahr in ihrem richtigen Ausmaß
einzuschätzen, sie weder zu überschätzen noch zu unter-
schätzen und die zweckmäßigen Mittel anzuwenden, um
ihr zu begegnen. Diesen Zustand der Reifung scheinen
nicht allzuviele Menschen zu erreichen; die Reaktion
des primitiven Ichs, wie sie jedenfalls in der Kindheit
vorherrschend ist, ist nicht so. Die Gefahr wird ent-
weder grotesk überschätzt und es werden übertriebene
Maßnahmen zu ihrer Vermeidung getroffen oder die
Gefahr wird verleugnet oder die Mittel, die zu ihrer
Vermeidung gewählt werden, sind inadäquat. Hierher
gehören alle magischen Mittel, sich vor der Gefahr zu
schützen; gehören die Einschränkungen menschlicher
Möglichkeiten, die in der Regel der Kaufpreis sind für
die Anpassung an die Realität, die die Erziehung dem
Kind gegenüber vertritt. Der Reichtum dieser primitiven
Methoden ist geradezu ungeheuer.
Wir haben also im Ich die primitiven Verfahrens-
weisen und Lösungsmethoden des primitiven Ichs und
die sacha däquaten des gereiften 5 ) Ichs zu unterscheiden.
5 ) Der Terminus „reifes Ich" enthält an und für sich
noch keine Wertung. Er entspricht nur dem Sachver-
halt, daß in der Entwicklung des Individuums
das Ich in der Kindheit gewisse Stufen, z. B. der Magie,
durchläuft und daß diese Reaktionen mit der Erreichung
des Erwachsenenalters zum großen Teil abgebaut und
insoweit durch andere ersetzt werden. Es steht natür-
136
Es gibt nun verschiedene Motivationen des mensch-
lichen Handelns, je nachdem, welche Aufgaben von den
Trieben, von der Außenwelt, vom Über-Ich und vom
Ich her gestellt sind, je nach den Lösungsmethoden
und je nachdem, wieweit diese einzelnen Aufgaben in
jedem Akt gelöst werden, sonach je nach Inhalt und
Struktur von Es, Ich und Über-Ich und nach dem rela-
tiven Anteil, den diese Instanzen an dem psychischen
Akt nehmen.
Je nachdem, wieweit in einem Lösungs versuch in
der vielfältigen Aufgabesituation die vierte Aufgabe, die
das Ich sich selbst stellt, gelöst erscheint, sprechen
wir von Stärke oder Schwäche des Ichs im seelischen
Haushalt.
All das ist freilich nur ein Rahmen. Hier setzt nun
die Einzelforschung an: das Studium der Triebe, ihre
Ziele und Objekte und ihrer Intensität bei jedem Men-
schen, ihrer Entwicklung und Schicksale, die besondere
Art des Über-Ichs, seine Inhalte, seine Strenge, den
Grad seiner Festigkeit oder Abhängigkeit von Objekten
der Außenwelt, seine Bestechlichkeit oder Unbestech-
lichkeit, die Lösungsmethoden des Ichs, die Stärke oder
Schwäche des Ichs gegenüber den anderen Instanzen
usw. Alle diese Elemente weisen je nach Konstitution
und Umwelteinflüssen eine kaum übersehbare Mannig-
faltigkeit auf.
Die Psychoanalyse zerfällt in zwei Hauptgebiete: in
die Triebpsychologie, die sich mit der Natur der mensch-
lich frei, die kindlichen Strukturen höher und die Reife
als Verfall zu werten. Freilich steht eine solche Wer-
tung in Widerspruch zu der Wertung „Leben soll sein",
da, wie sich leicht zeigen läßt, eine Gesellschaft, in
der sich alle Menschen nur auf Grund der primitiven
Methoden des Ichs verhalten, unrettbar zugrundegehen
müßte. Im übrigen darf man wünschen, daß eine solche
Weltanschauung auf terminologische Tarnung verzichte
und konsequent Erwachsensein mit negativem Wert-
akzent versehe.
137
liehen Triebe und mit ihrer Entwicklung im Lauf des
Lebens befaßt, und in die Ichpsychologie, die das Ich
und das Über-Ich erforscht.
Es ist dabei wesentlich, daß es die Psychoanalyse
niemals mit dem isolierten Individuum zu tun hat. In
der vorfreudschen Psychologie wurde im Grunde immer
die Abstraktion des isolierten Individuums studiert; sei
es die frei schwebende Intelligenz oder das frei schwe-
bende Netzwerk des Geistes wie in der alten Schul-
psychologie; seien es Affekte, die im Laboratorium
künstlich erzeugt werden, mit geringem Bezug zu dem,
was die Person eigentlich berührt, wie in der neueren
Affektpsychologie; sei es das einsam meditierende Indi-
viduum wie bei Kierkegaard. Die Psychoanalyse hat
es hingegen stets mit dem Menschen in allen seinen
sozialen Bezügen zu tun; es sei nur als Beispiel auf die
Wichtigkeit der Familiensituation des Kindes für die
Ausbildung von Verhaltungsstrukturen hingewiesen.
Wertprobleme. Wie aus dieser Skizze zu ent-
nehmen ist, befaßt sich die Psychoanalyse sonach nur
mit den Tatsachen des Seelenlebens; sie nimmt,
als solche, nicht wertend zu ihnen Stellung. Die Psycho-
analyse ist bestrebt, dem Postulat der Ideologie-
freiheit in ihrer Wissenschaft Genüge zu leisten.
Ein Stück der Gegnerschaft, die sie gefunden hat, ist
darauf zurückzuführen, daß manche psychoanalytische
Erkenntnisse gewisse Ideologien zu bedrohen schienen;
teils darum, weil diese Ideologien selbst eine Aussage
über Tatsächliches enthalten, teils weil sie eine Erkennt-
nis gewisser Tatsachen unerwünscht erscheinen las-
sen, teils schließlich, weil man, in Mißverständnis der
wissenschaftlichen Intentionen der Psychoanalyse, ver-
mutete, die Psychoanalyse wolle ein Sein für ein Sollen
setzen und ihre wissenschaftlichen Sätze würden ent-
weder an und für sich oder unter einseitiger und aus-
schließlicher Berufung auf hygienische Zielsetzungen als
Weltanschauung auftreten wollen.
138
>
k.
Der Psychoanalytiker freilich, der den Kranken be-
handelt, steht dabei unter der Norm einer Berufsethik,
doch ist diese Norm nicht der Psychoanalyse entnom-
men. Freilich scheint eine gewisse Weltanschauung der
praktischen Ausübung der Psychoanalyse besonders nahe
zu liegen : es ist die, die Freud in dem klassischen
Satz formuliert hat: „Wo Es war, soll Ich wer-
den" 6 ). Es ist die Zielsetzung der Stärke des Ichs
innerhalb der psychischen Systeme, die Vorstellung,
der Mensch solle mehr leben als gelebt werden und die
Notwendigkeiten aus freiem Entschluß auf sich neh-
men, d. h. das Handeln solle wesentlich vom reifen
Ich her gesteuert sein und weniger von den Nicht-Ich-
Instanzen oder den Schichten des primitiven Ichs?).
II. Die Bedeutuug der Psychoanalyse für die soziologischen
Wissenschaften
Freud vertritt den Standpunkt, daß die Soziologie
angewandte Psychologie sei. Er sagt darüber: „Auch
die Soziologie, die vom Verhalten der Menschen in der
Gesellschaft handelt, kann nichts anderes sein als ange-
wandte Psychologie. Streng genommen, gibt es nur
zwei Wissenschaften, Psychologie, reine und angewandte,
und Naturkunde" 8 ).
Freuds sozialwissenschaftliche Schrif-
t e n. Freud hat sich mit sozialwissenschaftlichen Fragen
ß) Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfüh-
rung in die Psychoanalyse, S. 111; Ges. Sehr., Bd. XII,
S. 234.
7 ) Die Beziehungen der Psychoanalyse zu Wellan-
schauungsfragen sind erschöpfend erörtert bei Hart-
mann: Psychoanalyse und Weltproblem, Imago, Bd.
XIV, 1929, S. 421 ff.; Psychoanalyse und Weltanschau-
ung,' Psychoanalytische Bewegung, V. Jg., 1933, S. 416 ff.
8) Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfüh-
rung in die Psychoanalyse, S. 250; Ges. Sehr., Bd. XII,
S. 342.
159
zuerst im Jahr 1912 ausführlich auseinandergesetzt 9 ),
und zwar mit ethnologischen und urgeschichtlichen
Problemen. „Totem und Tabu" enthält zwei Theorien,
eine Theorie der Tabuvorschriften — ein der Psycho-
analyse zugängliches Material, die Zwangsneurose, weist
gleichsam private Tabus auf — und einen Erklärungs-
versuch des Totemismus, eine urgeschichtliche Hypo-
these. Während des Krieges erschien ein Beitrag, der
den Problemen des Sterbens und Tötens gewidmet
war 10 ), mit vielen Ausblicken auf Kullurprobleme. Das
Jahr 1921 brachte das Werk über Massenpsychologie 11 ).
Die Kulturprobleme traten nunmehr in Freuds Schaffen
immer wieder in den Vordergrund. Eine Schrift befaßt
sich mit den psychologischen Grundlagen des religiösen
Glaubens 12 ). Eine spätere Schrift erörtert das Problem
der kulturellen Schicksale des menschlichen Aggressions-
triebes und den wachsenden inneren Druck, der eine
Folge der kulturellen Absperrung seiner Befriedigungs-
möglichkeilen nach außen ist 13 ). Schließlich hat Freud
auch zum Problem der Psychologie von Krieg und
Frieden in einem Briefwechsel mit Albert Einstein Stel-
lung genommen, der über Veranlassung des Institut
International de Cooperation Intellectuelle zustandege-
kommen ist 14 ).
9 ) Totem und Tabu, 1. Aufl., 1912; Ges. Sehr. Bd. X, S. 3ff.
10 ) Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Imago, Bd. V,
1915; Ges. Sehr., Bd. X, S. 315 ff.
n ) Massenpsychologie und Ichanalyse, 1. Aufl., 1921;
Ges. Sehr., Bd. VI, S. 259 ff .
12 ) Die Zukunft einer Illusion, 1. Aufl., 1927; Ges.
Seh;-., Bd. XI, S. 411 ff.
13 ) Das Unbehagen in der Kultur, 1. Aufl., 1930; Ges.
Sehr., Bd. XII, S. 27 ff.
") Einstein und Freud: Pourquoi la guerre?
(In deutscher, französischer und englischer Sprache.)
Publications de rinstitut International de Cooperation
Intellectuelle, Societe des Nations, vol. 3, 1933. Der
Brief Freuds ist auch enthalten in Ges. Sehr., Bd. XII,
S. 347 ff.
140
Die Psychologie in der Soziologie. Die
Frage des Verhältnisses von Soziologie und Psychologie
kann im Rahmen dieser Arbeit nicht in voller Ausführ-
lichkeit erörtert werden; wir müssen uns auf einige
Hinweise beschränken. Die Psychoanalyse ist eine empi-
rische Wissenschaft vom menschlichen Verhalten; die
Soziologie hat es in ultima analysi mit diesem Verhalten
zu tun 15 ). Das ist Grundlage für die Forderung Freuds,
die Soziologie auf diese Psychologie zu begründen. Das
steht in Widerspruch zu den meisten landläufigen Ab-
grenzungen der Wissenschaftsgebiete, die der Psycho-
logie allenfalls einen gewissen Einfluß auf die Behand-
lung soziologischer Fragestellungen einräumen wollen,
im übrigen aber am autonomen Charakter der soziologi-
schen Wissenschaft gegenüber der Psychologie fest-
halten. Man weist darauf hin, daß man es in der Sozio-
logie durchgängig mit Gruppen und nicht mit Indivi-
duen zu tun hat. Die scharfe Scheidung zwischen der
Wissenschaft von der Gruppe und der Wissenschaft vom
Individuum geht nun auf eine Zeit zurück, da sich die
Psychologie mit dem isolierten Individuum beschäftigte.
Von diesem Abstraktionsgebilde führt nun freilich kein
Weg zu Gruppenphänomenen, weder durch Summation
noch durch Integration. Im Hinblick auf diese Psycho-
logie ihrer Zeit hat z. B. die Durckheimsche Schule alle
Gruppenerscheinungen in den Bereich der Soziologie
gewiesen. Die Lage der Psychoanalyse ist grundsätzlich
verschieden: sie beschäftigt sich nicht mit der Abstrak-
tion des isolierten Individuums, sondern mit dem kon-
kreten Menschen in all seinen sozialen Bezügen. Der
Unterschied zwischen Psychologie und Soziologie er-
i6) Freilich ist nicht jedes menschliche Verhalten
sozial relevant; doch ist das sozial relevante Verhalten
von anderem nicht durch andere Kriterien als eben
das der sozialen Relevanz unterscheidbar, so daß eine
Wissenschaft, die sich nur mit dem sozial relevanten
Verhalten beschäftigt, nicht möglich ist.
141
scheint im psychoanalytischen Studium des Individuums
aufgehoben. Man könnte auch von der Soziologie des
Individuums sprechen. Die so gewonnenen Einsichten
über das Individuum in seinem sozialen Feld sind dann
auch für das Verständnis von Gruppenphänomenen
brauchbar.
Ähnliches gilt von einer anderen Erwägung, die für
den autonomen Charakter der Soziologie ins Treffen
geführt wird: daß die Soziologie mit gewissen Kate-
gorien die Psychologie transzendiere, wie z. B. der Kate-
gorie der Institution, der Beziehung zu Wertproblemen
u. dgl. m. Aber diese Problematik ist auch in der Psycho-
analyse des Individuums voll gegenwärtig. Schließlich
beschränkt sich die Psychoanalyse auch keineswegs auf
intramentale Erscheinungen. Eine Teilung des mensch-
lichen Verhaltens in der Weise, daß die intramentale
Seile einer Wissenschaft und die soziale einer anderen
zugewiesen wird, ist eine durchaus künstliche und müßte
die Entstehung einer wirklichen Wissenschaft vom
menschlichen Verhallen geradezu verhindern.
Gesetze in der Soziologie. Als Beispiel für
ein Problem, das, wie es scheint, von der Psychoanalyse
her gefördert werden kann, sei das der Geselzesbildimg
in der Soziologie genannt. Wenn die Psychologie im
Sinn des früher Gesagten als Grundwissenschaft der
Soziologie anerkannt wird, so ist das für die Gesetz-
mäßigkeit in der Psychoanalyse Geltende auch für die
Frage der Gesetzesbildung in der Soziologie anwendbar
Wir wissen, daß es in der Psychologie nicht so ist
wie in der Physik; es gibl nur selten einen Fall
m dem wir sagen können, daß in einer bestimmten
Situation eine und nur diese Reaktion eintreten müsse
Zumeist muß man sich bescheiden sagen, daß in einer
gegebenen Siluatiou eine von mehreren Möglichkeiten
eintreten werde, die größere oder geringere Wahrschein-
lichkeit haben. Dementsprechend sind auch im all-
gemeinen Gesetze von der Art der physikalischen, nach
142
denen einem Zusland in der Zeit t ein Zustand in der
Zeit t -f- At eindeutig zugeordnet wird, auf dem Gebiet
menschlichen Verhallens nicht oft anzutreffen. Wir ha-
ben in der Psychoanalyse vielmehr gewisse Regelmäßig-
keiten, ferner Zuordnungen mehrerer Lösungsversuche
zu einem bestimmten Zustand aufstellen können.
Aber damit hat es nicht sein Bewenden. Man hat
in der Psychoanalyse die Erfahrung gemacht, daß zwar
im allgemeinen eindeutige Zuordnungen des folgenden
Zustandes zu dem gegenwärtigen nicht möglich sind,
daß es aber bestimmte Fälle gibt, in denen man dennoch
bündige Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens auf-
stellen kann; dann ist das Verhalten auch prognostizier-
bar. An Hand des vorher skizzierten Modells der psy-
chischen Persönlichkeit sind diese Fälle genau angebbar.
Einmal handelt es sich um jene Fälle, in denen das
Verhallen nur vom reifen Ich her gesteuert ist. Dann
handelt der Mensch entsprechend den Notwendigkeiten
der Sache und die Gesetze der Sache gelten für sein
Handeln. Wenn dann diese Gesetze der Sache — die
Notwendigkeiten der Sachstruktur — bündig sind, ist
sein Verhalten auch voraussagbar. Hierher gehört etwa
das wirtschaftliche Handeln, mit dem es die National-
ökonomie zu tun hat; ferner das Verhalten eines Men-
schen, der eine mathematische Aufgabe zu lösen hat und
mit den dazu einzuschlagenden Wegen vertraut ist,
oder das eines Ingenieurs vor einer technischen Auf-
gabe, deren Lösung ihm bekannt ist. Des weiteren ge-
hört hierher, was durch die Sitte geregelt ist; so kann
man etwa voraussagen, daß ein normaler Mensch in
unseren Regionen beim Betreten der Kirche den Hut
abnehmen wird.
Andererseits gibt es Gesetzmäßigkeiten im mensch-
lichen Verhallen unter extrem entgegengesetzten Be-
dingungen. Wir meinen jene Fälle, in denen die Steue-
rung vom reifen Ich her praktisch vollständig aus-
geschaltet ist und das Handeln daher ausschließ-
H5
lieh von biologischen Krallen (Trieben) und den pri-
mitiven Lösungsmethoden des unreifen Ichs gesteuert
ist. Das ist die Grundlage für die Tatsache, daß man eine
Prognose bei Geisteskrankheiten stellen kann. Aber diese
Ausschaltung der Steuerungstendenzen des reifen Ichs
tritt nicht nur im Pathologischen auf; in der Normal-
psychologie gehört hierher etwa das Verhalten der
Menschen in der Massensituation, die auch einer tempo-
rären Stillegung der Ich-Steuerung gleichkommt. Eine
Voraussage des Verhaltens ist dann in jenen Fällen mög-
lich, in denen die S teuer ungstendenzen durch die pri-
mitiven Kräfte im Menschen, d. h. durch das Es und die
Lösungsmethoden des primitiven Ichs, bündig sind und
ein eindeutiges Verhalten erheischen.
Menschliches Verhalten ist sonach Gesetzen unter-
worfen und voraussagbar, wenn der Reichtum
der Determinanten des menschlichen Verhaltens
verringert ist, entweder auf nichts als Vernunft
oder auf nichts als Allzumenschliches; erst im Wechsel-
spiel beider verliert sich die Gesetzmäßigkeit. Die zweite
Bedingung der Gesetzmäßigkeit ist dann die, daß jene
Determinanten, auf die menschliches Verhalten redu-
ziert ist, eindeutige Lösungen erheischen, d. h. bei der
Reduktion auf Sachstruktur, daß eben diese Sachstruk-
luren bündig sind und nur eine Lösung zulassen, und
bei der Reduktion auf biologische Kräfte, daß diese ein
bestimm les Verhalten erfordern.
Daß dies tatsächlich alle Fälle umfaßt, in denen eine
Voraussage künftigen Verhaltens möglich ist, scheint
aus einer einfachen Besinnung ersichtlich. Man kann
zeigen, daß in all jenen Fällen, in denen wir versuchen,
das Verhallen eines handelnden Menschen vorauszu-
sagen, wir entweder von der einen oder von der ande-
ren Voraussetzung ausgehen. Wir nehmen entweder an,
daß der Mensch tun wird, was in seiner Situation not-
wendig ist, und suchen aus diesen Notwendigkeilen
seine künftigen Entscheidungen vorauszusagen; oder wir
144
Sigm. Freud
Plastik von O. Nemon, Brüssel
nehmen an, daß er von Trieben und H-JW^ff
geleilet ist, die sich über alle Grenzen hinwegsetze^
und versuchen, von hier aus zu einer Voraussage
kommen 16 ). ,. „ K]fln1 p
Wendet man nun diese Einsicht auf die ™»B™
der Soziologie an, so glaubt man zu verstehen «arum
sich gerade an den beiden extremen Enden der SozuU
Wissenschaften ihre einzigen Ges * l *f* „ , fl k0 _
schatten entwickelt haben: die Nat.onaloko
nomie und die Massenpsychologie.
Der extreme Fall der Reduktion der Bf^^d,
stücke menschlichen Verhaltens kommt ^™™ u .
nur selten vor. Doch gibt es eine große Zam
ationen, die diesen Grenzfällen ^hekommen und
muß darum nicht allzu pessimistisch von der Entw
hing soziologischer Gesetze denke n ■ dle
D i e M a s s e n p s y c h o 1 o g i e^ ^analytischer
meisten Probleme der Soziologie auf *>**£?» har .
Grundlage noch ihrer »J^Jg eine
ren, liegt in der Massenpsycholog e rreua
Reihe lurchgearbeiteter ***^%^$ für die
Psychologie scheint von großer \v cn y
Soziologie. Man muß dabei nicht nur JJ^J^iW
logie des Mobs und der sonstigen '^ Uor^he
senbildungen denken; bis zu einem gewissen Gr
man es bei allen Gruppenbildungen auc J- * zu
auch den hochgewerteten m.t Mas«nsnu
tun. Darin hegt die Bedeutung .**£*■§/«, die
für Fragen der Gemetnschaftsb.ldung, K »■
Staatswissenschaften. Mlsse npsychologie
Der Grundgedanke der F^ȣ*^ Chr-
ist der folgende: Der Mensch in der Masse m
Ich zum größeren oder geringeren Teil S
~VBTe Mdnangsverschie^t *^j£*%$
Ä sth oÄauT »Sfi* beld6n V ~
Setzungen für gegeben gehalten wird.
10 Almanach 1937
m
und an seine Stelle den ™*^J?££ll*
(Dieser Führer mag nun eine Gestalt aus ^ ^ r
Blut sein, eine mythische Gestalt, ein Gott, o< i^ ^
sublimsten Ausformung, eine Idee.) Die No pr0-
delns kommt nun vom Führer. Auf Gruna ^^
zesses der Projektion des Über-Ichs aut ein ^
der Außenwelt, der allen Mitgliedern der Mass« «^
sam ist, findet eine Identifizierung unter aen .^
mitgliedern und ein Stück Liebesbindung zwiscn
statt. ü-v,rpr erklär 1 ?
Die Abtretung des Über-Ichs an den Fuhrer ^
warum das Wort des Führers an die btel se in
der beim Menschen außerhalb der Massensituau ^
Über-Ich steht; man glaubt zu verstehen, J* r " elne n
sen oft um so vieles grausamer sind als ^ ie m s ie
Menschen, die zu ihnen gehören, aber auch, ^n
zu Opfern und Leistungen fähig sind, die die ^
nicht erbringen. «•*-«. konu» 1 »
Da die Norm des Handelns vom Fuhrer ^
wirkt er zugleich als Angstschutz in der <^* n _ für
Einzelne außerhalb der Masse trifft Vorkehrungen
seine Sicherheit, je nach seinem Mnt oder seiner A ^
lichkeit; die Zustimmung seines über - r ^ Z " An g S t.
Handeln trägt bei zur Beschwichtigung allfalhgei n e
Eine Masse hingegen geht, solange Vertrauen zum
rer besteht, angstfrei in die Gefahrsituation. Wen ^
der Führer wegfällt, ohne daß sofort ein neuer *ui
an seine Stelle tritt, so löst sich die Masse in ein
Haufen von Individuen auf; wenn das in einer ^
Situation geschieht, so bricht die Angst als Panik a •
Wenn der Führer die Geführten nicht zu schützen
mag, sonach als Angstschutz versagt, so ist seine
rerrolle verspielt und das Massengebilde löst sich au
ii
") Ein Umsturz des politischen Systems ^V? die
dem Krieg nur in jenen Staaten erfolgt, in a e * «^n
alten Herrschenden eine Niederlage durch den a ^
Feind erlitten haben. Die Niederlage der i<unruu 5
146
Auch die Störung der R ea 1 i t I tj I P r» fu ■«*
der Masse wird erklärbar. Einesteils findet in der
«nsituation eine Spaltung der beiden Grundtriebe d
menschlichen Es, Liebe und Haß, statt der 5^V aft
Positiven Regungen den Mitgliedern ^«~S
«nd alle negativen den Außenstehenden zugewend t wer
den, während der Einzelne «gg^RÄ
Neigungen und Abneigungen diffus ^ unter Re
verteilt, so daß nahezu ^mann Objekt (
gungen wird. Auf dem Boden *^ und der
der Liebe für die Mitglieder der ^^tehenden
Ausschließlichkeit der Abneigung f ur die a t
Wächst die Trübung der Realitä sprufung^ H erz ^
ein zweites: Das Ober-Ich erfMtt .^£™ „j^
Realitätsprüfung, denn es yoHzient d was
beobachtung die ständige Scheidung ^"f^ gehört,
*u m* gehört, und dem J ™- e temporäre Aus-
zwischen Phantasie und Keaw»»- v auch die
Schaltung der Über-Ich-Funktion mußji f ^^
Realitätsprüfung beeintrachügen toische De nken
daß in der Masse das »agis^e^ ^^j^»
ansteigt, das durch de anw e Umstände) die
überwunden wurde 18 )- Beine „„„ipiW Man
j „ 7»rfall der Masse eingeleitet. Man
in diesen Fällen den ZerBW as versuchte Analogie-
versteht, warum gewisse d a F£ entaUt ät unrichüg ge-
schlüsse auf Staaten mit Sa»»™ . lang „„.
wesen sind, und darf vermuten MO ■» ^^ .„.
richtig bleiben werden als ^cht aucn { ^ Mas _
dem aus irgendwelchen wunueu
sengebildes eintritt. •„^„„ucvolles Beispiel für die-
>») Man findet ein , el ?^ u 1 f ff s d ° e f|<Typlischen Mythos,
gXW^frfStoSWtaES* der symbo-
beschnelen von C.si rer , hische De nken, 1925,
hschen Formen, 2. leu, l><* i «jr» Vorstellung ist,
S. 205 f. Die ursprungliche W thisc * e h d e m Tode der
daß „alles Weiter eben der Seele nach ae
Fortdauer des materiellen Substrat es Den Linie
um die Seele des Toten muß sich daner ^ entwicke it
der Erhaltung der Mumie g*»4«j ÄTe hängt von
sich eine andere Idee: Das ^cmcKScii
H7
10»
ausschließliche Zuwendung der erotischen Regungen zu
einer Gruppe von Objekten und der aggressiven Regun-
gen zu den übrigen Objekten, sowie die partielle Über-
tragung der Über-Ich-Funklion auf eine Gestalt der
Außenwelt wirken so zusammen, um die Störung der
Realitätsprüfung entstehen zu lassen 19 ).
Probleme der Gemein schaftsbildung.
Dies sind nur einige fragmentarische Andeutungen über
die psychoanalytische Massenpsychologie und ihre Wich-
tigkeit für die Erforschung sozialer Phänomene. In en-
gem Zusammenhang damit sei auch eine andere Frage
gestreift. Es scheint ein ewiges Problem der Mensch-
heit zu sein, wie die Menschen zum Gemeinschafts-
leben zu bringen sind. Es gibt zwar in der mensch-
lichen Natur Tendenzen, die sie immer zur Gemeinschaft
hinführen, aber viele Regungen des menschlichen We-
sens widerstreben dem Gemeinschaftsleben, durch das
den Trieben des Individuums ständig Verzichte aufer-
legt werden. Der reife Mensch ist gewiß bereit, aus der
ihrem sittlichen Tun ab. „Die Gunst des Osiris, des
Totengottes, die in den früheren ägyptischen Texten
durch zauberische Gebräuche erzwungen wird, erscheint
später durch das Gericht des Osiris über Gute und Böse
ersetzt". Wir sehen hier ein Stück Überwindung des
Mythos durch Ethos; das Schuldgefühl ist gestiegen
und mit dem wachsenden Ichbewußtsein auch eine
adäquatere Erfassung der Realität erreicht.
19 ) Die Störung der Realitätsprüfung tritt in extremer
Form in den sogenannten Massenpsychosen auf, in ge-
ringerem Maß ist sie aber jeder Massensituation notwen-
dig eigentümlich. Hier sind z. B. die paranoiden Ideen-
bildungen zu nennen, die bei den verschiedenen politi-
schen Parteien auftauchen, wie die Vorstellung von der
geheimnisvollen Macht, z. B. der Jesuiten oder der
Freimaurer. Ideen dieser Art würden bei Individuen
außerhalb der Massensituation als Wahnideen bezeich-
net werden; die Massensituation schafft jedoch durch
die oben erwähnten Umstände Bedingungen, die solche
Ideen entstehen lassen, obwohl die Mitglieder der Masse
psychisch gesund sind.
148
Einsicht in ihre Notwendigkeit Einschränkungen durch
das Gemeinschaftsleben aus freiem Entschluß auf sich
zu nehmen. Wäre bei allen Menschen innerhalb der
psychischen Instanzen das reife Ich hinlänglich stark
und führend gegenüber den anderen Instanzen, so wäre
die Sicherung eines befriedigenden Gemeinschaftslebens
kaum ein Problem. Die ganze Schwere des Problems
scheint aber nun darin zu bestehen, daß die Kraft
dieses reifen Ichs bei der weitaus überwiegenden Zahl
der Menschen viel zu gering ist und daß es daher ande-
rer Mittel bedarf, um sie sozial zu machen. Es muß
daher ein Appell an andere Schichten versucht werden:
an das Triebleben, indem ihnen triebhafte Befriedigung
geboten wird (z. B. durch Zulassung der Aggression
gegen Unterworfene) ; an die Angst; an das Über-Ich,
indem man versucht, die Gebote der Gemeinschaft zu
einem zwanghaft wirkenden, der Beeinflussung durch
das Ich entzogenen Regulativ zu machen; und schließ-
lich an die primitiven Arbeitsweisen des Ichs (durch
magische und mythische Gehalte). Es scheint, als ließen
sich die großen Probleme der Gemeinschaftsbildung aus
der Unfruchtbarkeit jener Bemühungen verste-
hen, die Gemeinschaft bei einer hinlänglich großen
Zahl von Menschen durch den Entschluß eines reifen
Ichs zu sichern 20 ). Eine verhältnismäßig lange Wirk-
samkeit scheinen jene gesellschaftlichen Systeme zu ha-
ben, bei denen mehrere oder alle „nicht-ich haften"
Appelle zur Anwendung gelangen.
20 ) Hierher gehören z. B. die Probleme, die durch die
Erweiterung der Demokratie zur Massendemokratie ent-
standen sind. Auch die ältesten und entwickeltsten
Demokratien unserer Tage können, wenn sie die Ent-
scheidung der Wählermassen aufrufen, massenpsycho-
logischer Mittel nicht entraten; d. h. aber, daß auch sie
nicht die Existenz und Arbeit der Gesellschaft allein
durch die Entscheidung des reifen Ichs ihrer Bürger
sichern können, sondern jene anderen Mittel zur An-
wendung bringen müssen.
*49
III. Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Rechtswissen-
schaften
Aus dem Umstand, daß die Psychoanalyse eine Tat-
sachenwissenschaft ist, ergibt sich, daß sie auf dem Ge-
biet der Rechtswissenschaften nur zu einem Teil der
Problematik beitragen kann. Die Ergebnisse der Psycho-
analyse haben offenbar keine Anwendung für die Frage
der Geltung oder Wünschbarkeit einer Norm oder für
die Zuordnung eines Einzelfalles zu dem Geltungsbereich
einer Norm. Die Psychoanalyse kann zu allen Tat-
sachen problemen der Rechtswissenschaften Aussagen
machen, ihre Beiträge sind daher solche zur Rechts-
soziologie. So mag sie etwa zur Beurteilung der
Frage herangezogen werden, welches die Psychologie
der Normsetzung ist, oder welche Maßnahmen praktisch
geeignet erscheinen, der Realisierung einer Norm för-
derlich zu sein, welches die Wirkungen getroffener Maß-
nahmen sind, u. dgl. m. Im folgenden sei versucht,
das mögliche Anwendungsgebiet der Psychoanalyse am
Beispiel der Strafrechts Wissenschaft zu demonstrie-
ren. Die Psychoanalyse wird hier über die Psychologie
aller Figuren des strafrechtlichen Vorgangs Aussagen
machen können, über die Psychologie des Gesetzgebers,
über die des Verbrechers oder seines Opfers, über die
des Richters, des Anwalts oder des Publikums. Sie wird
ferner für die Frage heranzuziehen sein, weiche Mittel
geeignet erscheinen, um ein bestimmtes Ziel der Straf-
gesetzgebung zu erreichen; und sie wird schließlich nicht
außer acht bleiben dürfen, wenn es gilt zu untersuchen,
welche Wirkungen die getroffenen Maßnahmen neben
den angestrebten haben.
Es sei hier das Beispiel der Generalprä-
vention herausgegriffen. Ist die Strafe geeignet, die
Wahrscheinlichkeit von Verbrechen zu vermindern? Wer
das ohne weiteres bejaht, macht sich ein bestimmtes
Bild über die psychologische Entstehung der krimi-
nellen Handlung, dessen Richtigkeit erst zu prüfen ist.
150
Wäre der rechtsbrecherische Akt ausschließlich vom
Ich her gesteuert, so würde die Drohung der Strafe
ein wichtiges Gegenmotiv der verbrecherischen Tat bil-
den, vorausgesetzt, daß der Täter mit seiner Entdeckung
rechnet und Grund hat, an die Anwendung des Geset-
zes zu glauben, vorausgesetzt also, daß die Strafdrohung
im potentiellen Täter die Furcht vor Strafe erregt. Je
schwerer die Strafe wäre, desto geeigneter müßte sie
dann für die Abschreckung von Verbrechen sein. Aber
es gibt Fälle, in denen die Strafdrohung keinen Ein-
fluß auf das Entstehen der verbrecherischen Tat aus-
übt: wenn der Täter nicht an die Anwendung der
Strafe glaubt oder hofft, verborgen zu bleiben; ferner
in allen jenen Fällen, in denen die Tat nicht unter
Steuerung vom Ich her entspringt, sondern unter einer
anderen Gewichtsverteilung zwischen den psychischen
Instanzen entsteht. Dies wäre etwa der Fall bei jenen
verbrecherischen Handlungen, die unter der Übermacht
des Triebes entstehen; diese Übermacht ist relativ gegen-
über dem Ich zu verstehen und kann sowohl durch
eine besondere Stärke oder Steigerung des Triebes als
auch durch eine Schwäche des Ichs hergestellt wer-
den. Ferner ist solcher Taten zu gedenken, die unter
dem wesentlichen Einfluß einer Über-Ich-Forderung ge-
schehen, wie z. B. der Vollzug der Blutrache in Ländern,
in denen dies als unabdingbares Gebot der Ehre gilt.
Viele revolutionäre Handlungen gehören hierher, aber
auch solche, die unter dem Einfluß einer Kastenmoral
der Verbrecherschicht entstehen, u. dgl. m. Ferner sind
jene Taten zu erwähnen, für welche primitive Ich-
Mechanismen maßgebend sind, z. B. Verbrechen infolge
von Aberglauben. Und schließlich gibt es verbrecherische
Taten, die aus Angst zustande kommen. In allen die-
sen Fällen wird die Gefahr der Strafe eine umso gerin-
gere präventive Wirkung ausüben, je geringer die Rolle
des reifen Ichs beim Zustandekommen der Tat gewe-
sen ist.
151
Wenn dies sonach Beispiele dafür sind, daß die Strafe
als Generalprävention versagt, so gibt es schließlich
auch Falle in denen, so seltsam das dem populärpsycho-
logischen Denken erscheinen mag, die Strafdrohung ge-
eigne ist, die Wahrscheinlichkeit einer verbrecherischen
Handlung zu erhöhen. Unter den Kriminellen scheint
es Psychopathen zu geben, auf die die Strafe selbst
eine geheimnisvolle Anziehung ausübt; es sind dies Men-
schen, die die Gefängnismauern wie ein Refugium su-
chen ferner Masochisten, die die Strafe lockt, oder
Menschen, die durch ein Schuldgefühl, dessen Quelle
ihnen unbewußt ist, dazu geleitet werden, sich durch
die Tat den Anspruch auf die ersehnte Strafe zu er-
werben 21 ).
Man kann also sagen, daß die Strafe präventiv wirkt
lur die vom Ich her gesteuerten kriminellen Handlun-
gen, einen geringen oder gar keinen Einfluß ausübt auf
das unter Ausschaltung des Ichs zustandekommende
Verbrechen und anlockend wirkt auf die Taten jener
Psychopathen, die bewußt oder unbewußt die Strafe
suchen Inwieweit sonach die Strafe im ganzen präven-
tiv wirkt, hangt von der relativen Häufigkeit dieser
Motivationen ab; dies ist eine rein empirische Fra*e
Man hat wahrscheinlich Recht, zu vermuten, daß die
Zahl der ich-gesteuerten kriminellen Handlungen «rö
ßer ist als die Zahl der psychopathischen Verbrechen
mit denen der Täter seiner Bestrafung zustrebt Aber
die genaue Erforschung all dieser Motivationen für die
einzelnen Delikte ist Aufgabe künftiger psychologischer
Untersuchung. Man ist darauf vorbereitet, daß das Er
gebnis bei verschiedenen Verbrechen ein verschiedenes
sein wird und dementsprechend die Strafe bei gewissen
Verbrechen in ganz anderem Maße präventiv wirken
21 ) Eine künstlerische Gestaltung dieses Motivs lie«t
in Dostojewskis Raskolnikoff vor. ö
152
wird als bei anderen, z. B. eine größere präventive
Wirkung beim Verbrechen der betrügerischen Krida
als bei Sexualverbrechen ausüben wird. Damit ist frei-
lich nur eine Aufgabe skizziert und noch keine Lösung
gegeben, aber es scheint uns, daß es eine wichtige Lei-
stung der Psychoanalyse ist, daß sich diese exakten
Fragestellungen aus ihr ableiten lassen.
Als weiteres Beispiel für die Rolle, die die
Psychoanalyse in der Strafrechtswissenschaft spielen
kann, sei das positivistische Strafrechts-
programm erwähnt, wie es etwa im Ferrischen Straf-
rechtsentwurf in Italien vorgelegen ist. Den Vertretern
der positivistischen Doktrin scheint es wünschenswert,
daß die Strafe überhaupt fallen gelassen werden solle
und durch Sicherheitsmaßnahmen zur Selbstverteidigung
der Gesellschaft gegen den Rechtsbruch zu ersetzen
wäre. Kriterium für die strafrechtlichen Bestimmungen
wäre dementsprechend ihre Zweckmäßigkeit für den
Schutz der Gesellschaft. Über die Wünschbarkeit dieser
utilitaristischen Zielsetzung an und für sich kann die
Psychoanalyse natürlich keine Aussagen machen; sie
bleibt wie bei allen Weltanschauungsfragen darauf be-
schränkt, die Psychologie dieser Weltanschauung zu
untersuchen. Daß sie für die Frage der Zweckmäßigkeit
der zum Schutz der Gesellschaft anzuwendenden Mittel
— wenn das Ziel einmal feststeht — wichtige Aus-
künfte beitragen kann, muß nach dem Vorgesagten
nicht weiter begründet werden. Die mögliche Leistung
der Psychoanalyse ist aber nicht auf diesen Beitrag
beschränkt. Der Psychoanalytiker wird auf die Unvoll-
ständigkeit hinweisen, die solange in der Behandlung
des Gegenstands vorliegt, als man sich nur mit dem
aktuellen oder potentiellen Rechtsbrecher befaßt. Eine
vollständige Lösung der Frage eines zweckmäßigen
Schutzes der Gesellschaft wird nicht umhin können,
alle Figuren des strafrechtlichen Vorgangs zu berück-
sichtigen; zu diesen gehören aber nicht nur der
153
Verbrecher und die Vertreter der sich ihm gegenüber
zur Wehr setzenden Gesellschaft, sondern auch das
Publikum. Was mit dem Rechtsbrecher geschieht, ist
nicht nur ein Verfahren, das sich an diesem Individuum
abspielt, sondern auch ein Verfahren, das seine Rück-
wirkung auf die große Masse der Nicht-Kriminellen
hat. Die Strafe des Rechtsbrechers erleichtert es dem
„anständigen" Menschen, seine asozialen Impulse zu
beherrschen; denn wenn auch nur im Rechtsbrecher
die asozialen Impulse bis zur Tat reifen, so sind doch
solche Impulse an und für sich auch in anderen Men-
schen vorhanden. Das Über-Ich des anständigen Men-
schen fordert die Bestrafung des Verbrechers; es scheint,
daß jedes Verbrechen auf die Menschen wie eine Art
von Verführung wirkt, wie ein Anreiz für die eigenen
gleichgerichteten Impulse, und daß erst die Bestrafung
des Verbrechers das damit gestörte seelische Gleich-
gewicht des ehrenhaften Menschen wieder herstellt. Hie-
zu kommt aber ein zweites: die Bestrafung des Ver-
brechers ist gleichzeitig eine erlaubte Befriedigung ag-
gressiver Regungen der Menschen, und man kann nicht
ohne weiteres voraussagen, welche Wirkungen es hätte,
wenn diese Befriedigung fortfiele. Sonach ist die Strafe
ein Bestandteil der seelischen Hygiene für alle, die
nicht Verbrecher sind, erleichtert ihnen die Beherr-
schung ihrer asozialen Triebe 22 ) und die Überwindung
der verführenden Wirkung der verbrecherischen Hand-
lung und ermöglicht ihnen ein Stück erlaubter aggres-
siver Triebbefriedigung. Diese Tatsache müßte von einer
vollständigen Untersuchung des positivistischen Pro-
gramms berücksichtigt werden. Das ist nun nichts prin-
zipiell Neues; in den Erörterungen über die positivisti-
schen Prinzipien wurde immer wieder darauf hinge-
22 ) „Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, wel-
cher straft — das ist die letzte Zuflucht für die Vertei-
diger der Strafe" (Nietzsche).
154
wiesen, daß die Strafe überhaupt oder eine bestimmte
Strafe vom „Rechtsbewußtsein des Volkes" gefordert
werde, daß die Volksstimmung der Abschaffung der
Strafe nicht günstig sei u. dgl. m. In allen diesen Argu-
menten verbirgt sich, was wir als die Rolle der Strafe
für die psychische Hygiene des Nicht-Verbrechers be-
zeichnen möchten. Wenn also eine vorwissenschaftliche
oder populär-psychologische Einsicht in diese Fragen
besieht, so darf doch von der psychoanalytischen Unter-
suchung der Probleme an Hand empirischer Forschung
eine Förderung erwartet werden.
Schließlich seien noch als letztes Beispiel für
mögliche Anwendungen der Psychoanalyse in der
Rechtswissenschaft die Begriffe der Unzurech-
nungsfähigkeit, beziehungsweise der verminderten
Zurechnungsfähigkeit genannt. Die nicht-psychiatrische
Öffentlichkeit ist geneigt zu glauben, daß es sich dabei
um feststehende und psychiatrisch klar definierte Be-
griffe, gleichsam um Entitäten handle, und richtet ihre
Kritik daher nicht selten gegen die schwankenden Gut-
achten der Gerichtspsychiater. In Wahrheit steht es sehr
wenig fest, nach welchen konkreten wissenschaftlichen
Tatsachen gefragt ist, wenn man den Psychiater um
sein Gutachten ersucht. Es handelt sich bei den land-
läufigen Begriffen der Unzurechnungsfähigkeit als Straf-
ausschließungsgrund oder der verminderten Zurech-
nungsfähigkeit als Strafmilderungsgrund um den Nie-
derschlag populärpsychologischer Vorstellungen und
einer populären Anthropologie von der schrankenlosen
Freiheit des gesunden Menschen und der Gebundenheit
des Kranken. Die Wissenschaft vom menschlichen Han-
deln vermag diese Vorstellungen nicht zu den ihrigen
zu machen. Hier hegt auch der Grund für die Schwie-
rigkeit, der der Psychiater jeweils bei seinem Gut-
achten gegenübersteht und für die Unbestimmtheit vie-
ler solcher Gutachten. Juristen scheinen den Begriff
der Unzurechnungsfähigkeit für einen psychiatrischen
*55
Begriff zu halten; die Psychiater hingegen zweifeln
nicht daran, daß er eine juristische Kategorie sei 23 ).
An und für sich ist es natürlich denkbar, vom Stand-
punkt irgendeiner straf rech tüchen Zielsetzung aus kri-
minelle Taten verschieden zu werten und verschiedene
Methoden des Verhaltens der Gesellschaft ihnen gegen-
über zu empfehlen, je nachdem, an welcher Stelle
der psychischen Persönlichkeit sie entsprungen sind,
welche Anteile die psychischen Instanzen an ihrem
Zustandekommen haben, wie das Ich dieses Menschen
beschaffen ist u. dgl. m. Eine solche Differenzierung
in der moralischen Wertung und in der Technik des
Umgangs mit dem Rechtsbrecher erscheint gerechtfer-
tigt und erforderlich, sowohl für eine moralische als
auch für eine utilitaristische Norm. Für die sittliche
Wertung mag es relevant sein, ob die Tat durch
den freien Entschluß eines Ichs zustande gekommen
ist, dem die Einsicht in ihre sittliche Verwerflichkeit
zugemutet werden kann, oder ob sie etwa einem Affekt-
sturm ihre Entstehung verdankt, oder ob sie von einem
Menschen vollbracht wurde, dessen Ich an sich im Ge-
füge der seelischen Instanzen eine sehr unvollständige
Reifung erlangt hat; die Forderung nach Sühne, Strafe
oder Buße mag dann je nach den Umständen abge-
stuft sein und gegebenenfalls auch völlig verschwinden.
Nicht minder gerechtfertigt ist im Prinzip diese Diffe-
renzierung für ein positivistisches Strafrecht. Die Ge-
fähr lichkcit des Täters ist je nach der Struktur seiner
Tat verschieden zu beurteilen, ebenso die verführende
Wirkung auf andere; andere Methoden des sozialen
Schutzes mögen bei anderen Taten zweckmäßig erschei-
23 ) Rezeichnend dafür ist, daß ein sehr berühmter
Psychiater in seiner Vorlesung seinen Hörern zu sagen
pflegte, es gebe nur eine brauchbare Definition des Be-
griffs der Unzurechnungsfähigkeit: unzurechnungsfähig
sei, wer von einem ordentlichen Gericht dafür erklärt
wurde.
156
nen. Die Grundlagen für eine solche Wertung oder
Entscheidung sind aber jedenfalls in einer wissen-
schaftlichen Einsicht in die Psychologie der Tat
zu suchen.
Es scheint angemessen, nach der Psychologie der
Menschen zu fragen, die an den populären Begriffen von
Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit fest-
halten. Ein Stück Selbstprüfung wird uns darüber be-
lehren, daß wir zögern, den sogenannten Unzurech-
nungsfähigen zu verurteilen, da wir verspüren, daß
„wir" unter den gleichen Bedingungen nicht anders
gehandelt hätten; wir würden ein Urteil über uns
selbst aussprechen, wenn wir ihn bestraften. So for-
dern wir den Freispruch des geisteskranken Täters,
denn Geisteskrankheit kann auch uns widerfahren und
dann wären wir gegen Bestrafung nicht gefeit. Wir
neigen zur geringeren Bestrafung eines Menschen mit
einem starken Triebimpuls, denn wir fühlen, wären
wir diesem Impuls ausgesetzt, wären auch wir viel-
leicht zum Verbrecher geworden. Oder wir fordern
Strafausschluß oder Strafmilderung für Täter, deren
Intelligenz eine so geringe ist, daß sie die Folgen ihrer
Handlung nicht übersehen konnten; wäre unsere Intelli-
genz so mangelhaft, so möchten auch wir zum Ver-
brecher werden und würden so uns selbst mit verur-
teilen, wenn wir das Verdikt über den schwachsinnigen
Täter aussprächen. Es handelt sich also offenbar um
eine partielle Identifizierung des Richters 24 )
mit dem Verbrecher. Man identifiziert sich mit dem Ver-
brecher soweit, daß man gleichsam eine hypothetische
Person konstruiert, welche das Es des Täters enthält,
ferner Teile seines Ichs (seine primitiven Ich-Mechanis-
men, wie z. B. seinen Aberglauben, ferner seine Intelli-
24 ) Unter „Richter" meinen wir hier natürlich nicht
nur den beamteten Funktionär der Rechtsprechung, son-
dern das ganze Publikum, das mit seinem „Rechtsbe-
wußtsein ' an der Judikatur teilhat.
157
genz und Bildung), und dann hiezu das übrige Ich des
Richters setzt. Wir fragen uns dann, ob diese hypo-
thetische Person die Tat begangen hätte oder nicht;
wird diese Frage bejaht, so war der Täter unzurech-
nungsfähig oder doch vermindert zurechnungsfähig; ha-
ben wir aber das Gefühl, „wir" hätten die Tat auch
dann nicht begangen, so mag man den Täter getrost
als zurechnungsfähig betrachten.
Man sieht, daß der landläufige und im Rechtsbewußt-
sein des Volkes tief verwurzelte Begriff der Zurech-
nungsfähigkeit wenig zu tun hat mit der wirklichen
Untersuchung der psychologischen Natur der Tat und
daß die populärpsychologischen Vorstellungen, auf die
er begründet ist, einer Vorsichtsmaßregel entspringen,
kein Verdikt über uns selbst auszusprechen. Welches
freilich die Gründe sind, daß wir gerade diese partielle
Identifizierung vornehmen, d. h. warum wir gerade einen
Kern der Person behalten und gewisse Schichten von
der Persönlichkeit des Verbrechers uns im Gedanken-
experiment aneignen, ist ein psychologisches Problem
für sich, dessen Erörterung an dieser Stelle zu weit
führen würde.
Nach dem Gesagten erscheint es begreiflich, daß wir
der psychoanalytischen Erforschung der Tatstruktur die
Aufgabe zuweisen, für jede Art strafrechtlicher Ziel-
setzung, moralischer oder utilitaristischer, die Grund-
lagen für einen wissenschaftlichen Begriff der „Zu-
rechnungsfähigkeit" zu schaffen. Es ist aber eine Frage
für sich, die damit noch nicht im geringsten berührt
ist, ob es möglich oder angezeigt erscheint, das geltende
System durch ein solches neues, wissenschaftüch fun-
diertes, zu ersetzen; denn das geltende System ist in den
psychologischen Bedürfnissen der Menschen verwurzelt
und wir haben in dem früheren Beispiel darauf hinge-
wiesen, daß und warum jede strafrechtliche Reform
nicht umhin kann, alle Konsequenzen auf die Nicht-
Täter in Berücksichtigung zu ziehen.
158
Diese drei Beispiele waren willkürlich herausgegrif-
fen, um die Natur der möglichen Anwendungen psycho-
analytischer Forschung auf Rechtsprobleme anzudeu-
ten. Wenn wir an Stelle der definitorischen die exem-
plarische Kennzeichnung des psychoanalytischen An-
wendungsgebiets gewählt haben, so mag für diesen Man-
gel als Entschuldigung geltend gemacht werden, daß
sich die psychoanalytische Problematik in voller Ent-
wicklung befindet und daß eine exakte Abgrenzung ihres
möglichen Anwendungsbereichs auf andere Wissenschaf-
ten vielleicht verführt ist. Doch möchte auch die Be-
schreibung durch Beispiele einen Eindruck von der Na-
tur der auftretenden Probleme und Lösungsmöglich-
keiten vermitteln.
*59
Zur Psychologie älterer Biographik
(dargestellt an der des bildenden Künstlers) 1
Von Ernst Kris, Wien
Aus „Imago, Zeitschrift für psychoanalyti-
sche Psychologie, ihre Grenzgebiete und An-
wendungen", Bd. XXI, 1935.
Meine Damen und Herren!
Ich muß mir heute Ihre besondere Nachsicht erbitten.
Denn es handelt sich um ein Thema, dem alle Bedenken,
die wir Vorträgen aus dem Anwendungsgebiet der Psy-
choanalyse entgegenbringen, in besonderem Maße gelten.
Lassen sich in solchen Vorträgen ermüdende Umwege,
die zu den psychologischen Fragestellungen führen'
sonst nur schwer vermeiden, so sehe ich mich heute
gezwungen, Sie zu einem besonders langen Umweg ein-
zuladen, und kann Ihnen die Ergebnisse nicht als in
irgendeinem Sinn unerwartet ankündigen.
Das wichtigste Moüv, meine Bedenken zu unterdrük-
ken, war, daß ich mich vor Ihnen auf einige seiner
Ergebnisse berufen habe, als ich vor zwei Jahren die
Ehre hatte, über einige Werke des geisteskranken Bild-
hauers Franz Xaver Messerschmidt zu berichten 2 ).
Was ich heute zu sagen vorhabe, ist als Fortsetzung
!) Vorgetragen in der Wiener psychoanalytischen Ver-
einigung am 31. Oktober 1934. - Bei der Niederschrift
wurden Diskussionsbemerkungen von Anna Freud und
Heinz Hartmann verwertet.
2 ) Vgl. dazu Imago XIX (1933), S. 384 ff.: „Ein geistes-
kranker Bildhauer. Die Charakterköpfe des Franz Xaver
Messerschmidt."
160
einiger Problemstellungen gedacht, die damals ange-
kündigt wurden, als Fortsetzung in sachlicher Hin-
sicht, aber auch hinsichtlich einer methodischen Frage.
Ich kann es nicht vermeiden, diese Frage nochmals
kursorisch zu entwickeln. Sie betrifft Grundsätzliches
zur Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes-
wissenschaften.
Schon als Einleitung zu jenem älteren Vortrag ver-
suchte ich, darauf hinzuweisen, daß die Anwendungen
der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften in ein
neues Stadium zu treten scheinen und sich mehrere
Aufgaben solcher Arbeiten unterscheiden lassen, Auf-
gaben, die, obgleich sie auch heute noch nebeneinander
bestehen, sich doch nacheinander ergeben haben; der
Wichtigkeit nach sind sie heute nicht mehr gleichwertig.
Denn die erste dieser Aufgaben, die Befunde der Psycho-
analyse an dem großen Material zu sichern, das die
Geschichte der Menschheit bietet, kann uns nicht mehr
so lockend sein, seit wir dieses Mittels nicht mehr be-
dürfen, um Zweifler von der Richtigkeit unserer An-
schauungen zu überzeugen. Der zweiten Aufgabe —
die Ergebnisse der Psychoanalyse da einzusetzen, wo
andere Forschungszweige keinen Zugang haben, gleich-
sam in die Bresche zu treten, wo andere versagt haben,
— stehen gewichtige Hindernisse im Wege, denn die
Auswahl des Materials, das uns geboten wird, ermög-
licht es in vielen Fällen nicht, unseren Ansatz zu finden.
Zum besseren Verständnis dieses Sachverhaltes darf
ich mich auf ein schon verwendetes Beispiel berufen:
Hätten Sie eine Krankengeschichte psychoanalytisch zu
interpretieren, die ein gewissenhafter Psychiater vor
einem halben Menschenalter verfaßt hat, so würden
Sie gewiß der Schwierigkeit eingedenk sein, die darin
liegt, daß er als unwichtig unterdrückt haben mag, was
Ihnen als wichtig, als ausschlaggebend erscheint. Die
nächstliegende Nutzanwendung besagt, daß auch bei
Arbeiten aus dem Anwendungsgebiet fertige Ergebnisse
11 Almanach 1937
l6l
der Forschung in der Regel nicht verwertet werden
können, sondern die Forschungsarbeit mindestens zum
größten Teil neu zu verrichten ist. So führt denn unsere
zweite Aufgabe selbst schon zur dritten hinüber, der es
zufällt, auf neue Problemstellungen inner-
halb der Geisteswissenschaften hinzu-
weisen. Denn die Kolonisten, die nach einem Worte
Freuds die Pioniere ablösen, bringen als Saatgut
die neue Lehre mit, eine wissenschaftliche Psycho-
logie, die an Stelle jener populärwissenschaftlichen An-
sichten zu treten vermag, die die Geisteswissenschaften
bisher durchziehen.
Das Thema dieses Abends nun möchte als Beispiel
einer solchen Kolonistenarbeit gelten; mindestens in
einem Sinn. Die Arbeit der Kolonisten ist von der der
Pioniere deutlich unterschieden. Diesen bleibt das Ver-
dienst erster Besitznahme; auf ihrem Zuge mögen sie
ihre Fahne bald da, bald dort aufpflanzen; sie leben
von den ersten, leichter zugänglichen Früchten des
Bodens; für die Vorbereitung künftiger Ernte zu sorgen,
fällt ihnen nicht zu. Das wird erst die Aufgabe der
Siedler, deren Schaffen auf dauernden Besitz und Ertrag
gerichtet ist. Sie dürfen des Mutes entbehren, der ihre
glücklichen Vorgänger auszeichnete, aber sie bedürfen
der Ausdauer. Mit diesem Bilde soll gesagt sein, daß
ich heute nicht großen, methodisch weit ausgreifenden
Gedanken nachzugehen plane, sondern versuchen
möchte, ein Stück Kasuistik aus dem Anwendungs-
gebiet vorzubringen; Kasuistik mit allen Nachteilen,
die ihr anhaften, aber vielleicht auch mit einigen Vor-
teilen, die nur sie eröffnet. Sie zwingt uns, auf Einzel-
heiten einzugehen, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu wid-
men als der Zusammenhang zu fordern scheint — aber
sie lehrt uns angesichts des lebendigen Zusammenhan-
ges, in den sie uns führt, wie begrenzt unser Wissen,
wie hypothetisch unser Erkenntnisbesitz ist, und nicht
zuletzt darin liegt ihr propädeutischer Wert.
102
IL
Ehe ich auf die Fragestellung eingehen kann, die im
Mittelpunkt dieses Vortrages stehen soll, sei die Rich-
tung, in die unsere Überlegungen führen, durch einen
Gedanken Freuds angedeutet 3 ). Er schildert die Be-
ziehung der Biographen zu ihrem Helden, „an den sie
in eigentümlicher Weise fixiert seien", und kennzeichnet
die Idealisierungsarbeit der Biographen durch den Hin-
weis, daß sie ihnen dazu verhelfe, „den großen Mann
in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen".
Damit sind wir auf eine Aufgabe hingewiesen, die man
als „Psychologie der Biographik" begreifen
mag.
Man darf zunächst auf die Schwierigkeiten des The-
mas hinweisen, darauf, daß die Frage so umfassend
sei daß man kaum angeben könne, von welcher Rich-
tung aus man sich ihr nähern solle; ob man etwa an
möglichst zahlreichen Fällen die psychische Einstellung
der Biographen zu ihren Helden prüfen oder besser
diese Aufgabe an einigen paradigmatischen Fällen zu
lösen versuchen solle. Aber sowohl gegen den Versuch
einer statistischen als gegen den einer selektiven, aber
eindringlicheren Erforschung läßt sich einwenden, daß
uns letztlich doch nur die Auskunft zu befriedigen ver-
möchte, die wir unter besonderen psychologischen Ver-
suchsbedingungen — von der heuristischen Seite her
ist auch die psychoanalytische Behandlung eine Ver-
suchsbedingung — erhalten; dabei aber ist man wieder
zu sehr von Bedingungen des Zufalls abhängig, als daß
sich eine solche Untersuchung planmäßig anstellen ließe.
Indessen bietet sich uns ein anderer Weg, um uns der
Fragestellung, die wir im Auge haben, zu nähern, nicht
der Psychologie der einzelnen Biographen freilich, son-
dern der der Biographik als eines — zunächst
anonymen — psychischen Geschehens. Dabei kann es
3 ) Ges. Sehr., Bd. IX, S. 448.
11*
163
sich nur um einige grobe und schematische Ems
handeln. Als Ausgangspunkt dient uns der Befund
Wissenschaft, die zu den am besten begründeten >.„
hört, deren methodisches Fundament seit Jahrhun
gesichert und deren Schlußverfahren dem der Fsy
analyse in merkwürdiger, aber gewiß nicht zu -
Weise verschwägert ist 4 ): die philologische^
historische Kritik geschichtlicher «
len. Sie belehrt uns darüber, daß in der älteren
graphik zuweilen bestimmte typische Wendungen, -
hende Formeln, mit besonderer Häufigkeit begegne a =
Aus diesem Sachverhalt ließe sich zweierlei ablei . che
Man dürfte hoffen, da der gleiche Vorfall, der g e _^
Charaklerzug in den Lebensbeschreibungen gewisser ^
render Persönlichkeiten öfters begegne, etwas von 1
gemeinsamen Eigenschaften zu erfahren, und könn e
dann die Aufgabe stellen, so auf statistischer Grün üMFf
einen Beitrag zur Charakterologie des Genies zu 8
nen. Aber diese Forschungsrichtung setzt die
läßlichkeit der typischen Berichte voraus se
voraus, daß sie in jedem Falle zutreffen. Eben dar
zweifelt eine zweite, skeptischere Fragestellung,
meint, aus der Gleichartigkeit der Berichte vor ai
auf die gleiche Einstellung der Biographik und i
Publikums schließen zu dürfen. . e
Lassen Sie mich diesen zweiten Standpunkt und s
Berechtigung in gröbstem Schema an einem Beisp "j
illustrieren. Sie kennen alle den Bericht über das
halten des Archimedes bei der Erstürmung von Syra '
daß er den in seine Arbeitsstätte dringenden Solda
*) Die Art dieser Verwandtschaft, auf die sc o
Freud durch den Vergleich der Arbeitsweise a er hin ci
choanalyse mit der der klassischen Archäologie ni» d .
wiesen hatte, haben Heinz Hart mann (Die w j
lagen der Psychoanalyse, Leipzig 1927) una »■ cn0 -
feld (Über den Begriff der Deutung r in l der J r^y
analyse, Ztschr. f. angew. Psychol. XLI1, Hf*a; a
lieh dargestellt.
164
•
sein „Noli tarbare circalos meos" entgegen]** Begeg-
nen wir nun dem gleichen Berichte Otter in der j*
graphik älterer oder neuerer Zeit, so wird uns der w
danke an eine so auffällige Wiederholung des gleichen
Vorfalles und des gleichen Verhaltens *0*£"*"£
men und wir werden der Auffassung ^TaJ£
Biographik verwende den aus dem Leben des Arcjn
medes bekannten Vorfall, um die Versenkung de s ge isti
Tätigen in seine Welt zu kennzeichnen In der Tat hat
denn auch die Quellenkritik längst nachge^s^ ad*
solehe typische Berichte -ich nenne^ «fc*F ^
mein der Biographik- in W"
eingesetzt werden, wo ^m B'ogrf ^b*r ° ^
lauf des Helden nichts bekannt war, nicn
sein konnte. ; h die Leitsätze
Aus diesen Erwägungen ^^» vorsch i ag e,
der Untersuchungsmethode de » der Deutung
mühelos ableiten. Sie f^^'J^g ilu-es Wahr-
biographischer Formeln ohne Anse ^ ^ por
heitsgehaltes, obgleich » ucn nach große r Lebens-
meln lehrreich ,«* £» bwürdig .. : man kann von
nähe und »J^"*^ Als Ausgangsbefund aber
• h f re f r - " PlaUS '^n erhebhcb, daß es sich um eine ste-
igt für uns allein erne , band le. Ist dieser
hende Wendung der BiogP ^^
Umstand gesichert, so erne bestimmte
a Vi! %*- — "riCSTÄSS
vor, bei der z u na c hsimc au in Rede
Helden, sondern die Tendenz der Bio P
steht. Diese Frage mußte ms Uteuose iu •
man den Versuch wagen, sie ohne eine Begren ung zu
prüfen. Die Struktur der älteren B.ograpluk selbst biete
uns einen Ansatz zur Einschränkung des Themas. Denn
die ältere Biographik ist zünftisch gegliedert; die Grup-
165
pen einzelner Biographien sind nach der soziologischen
Stellung der Helden streng getrennt. Fassen wir nun
für die Zwecke unserer Untersuchung einen bestimm-
ten Berufsstand ins Auge, so wird in unserer Einsicht
in den typischen Formelbestand auch enthalten sein,
wie Männer dieser oder jener Gruppe der Umwelt er-
scheinen, was ihre Stellung im besonderen aus-
zeichnet, was für ihr Publikum ihre besondere
Eigenart ausmacht. Damit ist zugleich die Brücke ge-
geben, die von der Psychologie der Biographik zu der
ihrer Helden führt. Denn man darf vermuten, daß der
biographischen Formel auch im Wesen des Helden et-
was entgegenkomme, daß sie ein Stück seiner Eigenart
—in einer bestimmten Einstellung freilich — zu erfas-
sen suche.
Die biographischen Berichte nun, der Formelbestand,
von dem ich ausgehe, beziehen sich auf bildende
Künstler, ein Material, an dem mir auch vor
mehr als einem Jahrzehnt die Problematik, die ich
eben zu kennzeichnen versuchte, aufgefallen war. Die
Sammlung des Materials — eine sinnvolle Aufgabe erst
seit wir durch psychologische Befunde und Anschau-
ungen auch den Zugang zu seiner Auswertung zu be-
sitzen meinen, und eben dadurch ein Beleg für die vor-
her entwickelte Anschauung, nach der der auf Grund
psychoanalytischer Einsicht gewonnene neue Ge-
sichtspunkt innerhalb der Geisteswissenschaften
auf neue Forschungsaufgaben hinführe -~
liegt unter dem Titel „Die Legende vom Künstler,
ein geschichtlicher Versuch" als kleines Buch vor 5)'
das ich gemeinsam mit Otto Kurz verfaßt habe. Die
Bedingungen gemeinsamer Arbeit verboten es, den Mit-
verfasser, mehr als unvermeidlich, mit dem Gewicht
5 ) Wien, Krystallverlag 1934. Die im folgenden mitge-
teilten Fakten sind dieser Arbeit entnommen, in der
alle näheren Angaben über das herangezogene Material
leicht aufzufinden sind.
166
der psychoanalytischen Anschauungen zu belasten, die
mir die Themenstellung nahegelegt hatten; ich durfte
mir schon bei der Abfassung dieser Schrift vorbehalten,
einiges aus ihrem Inhalt unter Betonung der psychologi-
schen Fragen nochmals zu behandeln. Lassen Sie mich
hinzufügen, daß neben manchen Gründen, die gegen eine
solche Teilung und Wiederholung der Arbeit sprechen,
auch einer sie empfiehlt: Diese Teilung der Arbeit
scheint eine erträgliche und doch nicht gewissenlose
Verbindung der Sammlung des Materiales und seiner
psychoanalytischen Deutung zu ermöglichen.
An dem Material, dessen Eigenart so gekennzeichnet
sei, möchte ich an zwei Beispielen zwei gesonderte
Probleme zu behandeln versuchen, eines, das die Grund-
lagen der Biographik im allgemeinen em
Stück weit beleuchten mag, und ein anderes, das im be-
sonderen die Stellung des bildenden Kunst-
lers betrifft 6 ). S'il^L
Und nun — Sie sehen, wie undankbar solche Themen
sind - muß ich Sie, statt Sie in medias res zu führen,
mit einer weiteren Einleitung befassen, die einiges All-
gemeine über die Biographik vom bildenden Künstler
mitteilen soll.
III.
Die Entstehung einer Künsllerbiographik setzt eine
besondere Wertschätzung des Künstlers durch seine
Umwelt voraus, als deren erstes Anzeichen es gelten
muß, daß sein Name genannt wird. Ich darf daran er-
innern, daß das nicht zu allen Zeiten geschah, daß wir
Kunstwerke von höchstem Wert bei Völkern und aus
6 ) Dieser Teil ist als Vorarbeit zu einer „Psychologie
des bildenden Künstlers" gedacht, einem Thema, das
im folgenden nur so weit berührt werden soll, als sich
dies aus der hier eingehaltenen Untersuchungsbedingung
zu ergeben scheint.
167
Zeiten kennen, deren Geschichte uns vertraut ist, ohne
daß uns Künstlernamen überliefert wären. Suchen wir
sehr schematisch zusammenzufassen, unter welchen Be-
dingungen der bildende Künstler ins Licht der Ge-
schichte tritt, so darf vielleicht die Formulierung ge-
wählt werden, es geschähe, wenn künstlerisches Schaf-
fen sich aus weiterem Verbände löse, einen Eigenwert
empfange, etwa nicht mehr allein in kultlicher Abhän-
gigkeit wirke und zu einem autonomen Gebiet mensch-
licher Tätigkeit und menschlicher Wertung werde. Der
Prozeß dieser Ablösung vollzieht sich schrittweise. Nur
m zwei Kulturkreisen hat er zur Ausbildung einer eige-
nen Künstlerbiographik geführt: im fernen Osten und
im Mittelmeerbecken. Zwischen beiden bestehen hin-
sichtlich des biographischen Formelbestandes auffällige
Übereinstimmungen. Die europäische Tradition, die hier
allein berücksichtigt werden kann, bietet eine Eigenart
auf die ich vorbereiten muß. Sie zeigt einen zwei-
zeitigen Ansatz". Der eine liegt im Griechentum und
laßt sich in die Zeit um 300 v.Chr. zurückverfolgen,
der andere in der Renaissance, in Italien,- zwischen bei-
den klafft die anonyme Kunst des Mittelalters. Auch
die größten Meisterwerke dieser Zeit künden nicht den
Ruhm ihres Schöpfers.
So grob dieser Abriß ist, so ist er doch für diesen
Zweck ausreichend. Ich habe noch hinzuzufügen, daß
alle durch die Literatur der Griechen und Römer be-
kannten Formeln der Künstlerbiographik in der Renais-
sance neu belebt werden, und daß einige neue hinzu-
treten. Denn die Stellung des Künstlers ist in der Neu-
zeit eine andere als im Altertum. Der bildende Künst-
ler bei den Griechen und Römern ist geringen Standes,
ist „Banausos", und jene großartige Wertschätzung, die
andere schöpferische Gestalten — die Dichter, die Sän-
ger, die Dramatiker oder Philosophen — auszeichnet,
bleibt ihm versagt; ihn begnadet die Gottheit nicht,
ihm fehlt jener „Enthusiasmus", jene Inspiration, die
168
das Schaffen der anderen ermöglicht. Die Renaissance
erhöht seine Stellung sehr wesentlich; er steht unter
ihren geistigen Führern sogar an bevorzugter Stelle.
Die Summe von Tatsachen, die kurz angeführt wurde,
ist einer weiteren, auch einer psychologischen Aufklä-
rung zugänglich; wenn ich sie hier ohne weiteren
Interpretationsversuch und in äußerster Verkürzung vor-
bringe, geschieht es, um mich nun endgültig dem Thema
zuzuwenden.
IV.
Das allgemeine Problem der Biographik, das ich an
Hand des Materials aus den Lebensbeschreibungen der
bildenden Künstler prüfen möchte, bezieht sich auf die
Stellung, die der Jugend des Helden in der Biographik
zukommt. Es empfiehlt sich zunächst, grundsätzlich
zwei Standpunkte zu unterscheiden: Der eine erblickt
in der Jugend des Helden die Vorgeschichte sei-
nes Lebens. Diese Auffassung, die wir als die unsere
ansehen dürfen, hat sich allmählich entwickelt, begegnet
etwa seit dem 18. Jahrhundert in breiterer Schicht und
hat neues und entscheidendes Gewicht erhalten, seit
durch die Psychoanalyse die Psychologie selbst histo-
rische Orientierung erhielt.
Die andere Anschauung sieht in Erlebnissen und
Leistungen des jungen Helden — des Kindes überhaupt
— nicht dessen Vorgeschichte, sondern Vorzeichen
seiner künftigen Artung. Es ist die umfassendere, die
ältere Anschauung; sie wurzelt im mythischen Denken
der Menschheit und ragt fast ungebrochen in unsere
Zeit. Ihr Platz ist hier nicht das wissenschaftliche Den-
ken. Aber in unserem vor- oder außerwissenschafllichen
Verhalten ist sie lebendig ?).
2 #^ ls - 1 Jß itimer Niederschlag innerhalb der Wissen-
scnatt sind manche Ergebnisse und Zielsetzungen der
nrn- und Konstitutionsforschung anzusehen.
169
Diese Unterscheidung ist noch durch eine Angabe zu
ergänzen: Nachrichten über die Jugend des Helden sind
in der Biographik älterer Zeit selten; sie bezeichnen
stets den besonderen Rang der Persönlichkeit. So kann
die neue Bedeutung, die die Renaissance ihren Künst-
lern zuerkennt, am besten durch die Feststellung ge-
kennzeichnet werden, daß sie in biographischer Dar-
stellung ihrer Jugend Aufmerksamkeit widmet. Diese
Aufmerksamkeit hat in einer außerordentlich verbreite-
ten biographischen Formel einen Niederschlag gefun-
den.
Sie wird zuerst von Giotto, dem bedeutendsten
italienischen Maler des 14. Jahrhunderts, berichtet und
gewinnt weite Verbreitung, als die italienische Künst-
lerbiographik der Renaissance ihn beinahe an die Spitze
der großen nationalen Erneuerung der Kunst rückt.
Beinahe an die Spitze, denn einer älteren Generation
noch gehört ein anderer an, G i m a b u e, ein Maler, aus
dessen Leben uns so gut wie nichts bekannt ist. Die
Namen beider erscheinen nicht etwa erst in der Künst-
lerbiographik des 15. und 16. Jahrhunderts nebenein-
ander, vielmehr reicht die Verbindung noch in die
Lebenszeit des Giotto zurück. Beide Namen begegnen,
in Dantes „Göttlicher Komödie"; dort wird berich-
tet, daß der einst strahlende Ruhm des älteren, des
Cimabue, von dem Giottos verdunkelt wurde. Der Zu-
sammenhang, in dem die Stelle steht, sichert ihren
Sinn: Dante gibt uns ein Beispiel für die Vergänglich-
keit irdischen Ruhms, ein „exemplum morale". Die
Stelle in der Divina Commedia, ein Datum aus dem
Leben des Cimabue, einige Daten aus dem des Giotto
dessen große künstlerische Leistungen uns vor Augen
stehen, während der Stil des Cimabue im Dunkel zu
zerfließen scheint, ist alles, was an gesicherter Grund-
lage einer Biographik auf uns gekommen ist.
Die knappe Stelle bei Dante aber haben die Kommen-
tatoren des Dante — die Auslegung der Divina Comme-
170
dia war in Florenz Lehr gegenständ und ein Boccac-
cio zu Zeiten „Ordinarius" des Fachs — bald anders
interpretiert; sie haben den Versen eine historische
Aussage entnommen und lassen Giotto zum Schüler des
Cimabue werden — wofür weder ein dokumentarischer
Grund vorhanden war noch auch in dem Stil beider
Künstler Gründe zu finden sind — wir kennen nur
Gegengründe — und bald bildet sich, offenbar geformt
von der mündlichen Oberlieferung, eine Fabel aus, die
zuerst von der Dante-Kommentatur überliefert, endlich
folgende Gestalt gewinnt:
Giotto, ein Bauernbub, hütet die Herde seines Vaters
und zeichnet die Tiere der Herde in den Sand; da
kommt zufällig Cimabue des Weges, erkennt die wun-
derbare Begabung des Knaben und nimmt den Bauern-
buben zu sich, der unter seiner Leitung zu dem großen
Ingenium der neuen italienischen Kunst heranwächst.
Die Fabel wird schnell Gemeingut der Biographen,
wird auf alle möglichen Künstler übertragen, auch auf
solche deren uns wohlbekannte Herkunft den berich-
teten Vorfall ausschloß; sie wird mit Vorliebe da ver-
wendet, wo dem Biographen keine Nachrichten vor-
lagen, wo er gleichsam ein Stück Biographik zu fingie-
ren hatte. Wie trefflich das Formelmotiv den Anfor-
derungen der Biographik entsprach, mag man aber
daraus ersehen, daß die Fabel noch in der Künstler-
biographik des 20. Jahrhunderts begegnet. Angehörige
Segantinis mußten sich dagegen verwahren, daß in
einer bekannten Biographie die Fabel in seine Jugend-
geschichte verwoben wurde, und auch in der Lebens-
beschreibung eines noch lebenden Künstlers, des süd-
slawischen Bildhauers Mestrovic, findet man sie
wieder. Hier freilich soll der Künstler sie von sich
selbst erzählt haben. Sie ist so typisch für die Jugend-
geschichte des Künstlers geworden, daß auch die Dich-
ter sich ihrer bedienen : Andersen hat sie in einem
seiner Märchen verwendet, und Octave Feuillet hat
171
sie auf die Jugend eines musikalischen Genies übertra-
gen, dem er eines seiner Theaterslücke widmet.
So kurz die berichtete Fabel auch ist, so setzt sie sich
doch aus mehreren Motiven zusammen, deren einige
aus dem klassischen Altertum stammen. Das allgemeine
Streben etwa, berühmte Männer miteinander nachträg-
lich in Berührung zu bringen, ist uns als Ferment der
griechisch-römischen Geschichtsschreibung ebenso be-
kannt wie der Versuch, auf diese Weise verschiedene
Generationen zu verbinden und so der „Genealogisie-
rung" zu dienen; eine selbständige Wurzel - in peri-
pathetischer Anschauungsweise - hat dabei das Element
des Zufalls und das des sozialen Aufstiegs, der in unse-
rem Fall aus dem Bauernsohn Giotto den gefeierten
Kunsller macht. Auch in den sehr zahlreichen Varianten
die die Fabel von der Entdeckung des Talents erfährt'
- eine von ihnen schmückt bald auch den Lebenslauf
des Cimabue aus, - bleiben als Kernmotiv gerade
der soziale Aufstieg und die wunderbare Fähigkeit des
Künsllerkindes gewahrt.
Fragen wir nun nach den Eigenschaften, die der Fabel
ihre Beliebtheit und Verbreitung sichern. Ich glaube
daß ich mich hier kurz fassen und zunächst sagen
darf, daß die Fabel von der Entdeckung des
Talentes in auffälliger Weise an das Gebiet der
Sage und des Mythos erinnere. Dann aber erhebt sich
die speziellere Frage, wie diese Verknüpfung beschaffen
sei. Es ist leicht zu bemerken, daß die Fabel von der
Entdeckung des Talentes mehrere Übereinstimmungen
mit jenem Kreis von Sagen zeigt, die wir als Mythen
von der Geburt des Helden durch Rank ken-
nengelernt haben. Sie wissen auch, wo in unserem
Denken, wo in der Funktionsweise unseres ontogene-
tischen Modells - denn ein ontogenetische & s Mo-
dell ist es, das wir als Psychoanalytiker den Geistes-
wissenschaften bieten - die Bereitschaft zu dieser My-
thenbildung aufgezeigt werden kann: in den Konflikten
172
der Familiensiluation, aus denen der Familienroman
entspringt. Aber es empfiehlt sich, beide Fabeln einan-
der gegenüberzustellen, ihre gegenseitige Beziehung ge-
nauer zu prüfen. Die Übereinstimmung erstreckt sich
vornehmlich auf gewisse Gemeinsamkeiten von Umwelt
und Situation, etwa den Hirtenstand des Helden und
die Veränderung seines Milieus. Mit einigen Sagen von
Helden, die nur zum Teil in jene von Rank besproche-
nen Gruppen fallen, ist eine noch engere Beziehung fest-
zustellen, mit Berichten, in denen der Held an seiner
Leistung erkannt wird; solche wunderbare Leistun-
gen begegnen im Mythos nicht selten — ich nenne nur
eine, die berühmteste, erinnere Sie an den jungen
Herakles, der die Schlangen erwürgt, und möchte Sie
nicht weiter mit dem Hinweis auf Parallelen aus dem
Gebiet der Mythenforschung, einem weiten Bereich der
Wissenschaft, in dem ich mich nur als Gast fühlen darf,
befassen, sondern nur einen dieser Berichte kurz er-
wähnen Er bezieht sich auf die Kindheit Jesu, findet
sich in einem der apokryphen Evangelien, in denen die
Heilstfeschichte des Neuen Testamentes synkretistisch
erweitert und entstellt wurde, und ist durch die schöne,
aber nicht getreue Wiedergabe in Selma Lagerlöfs
Christuslegenden" allgemein bekannt geworden. Der
Bericht erzählt, wie Christus als Kind Vögel aus Ton
geformt hat und diese Vögel durch Anhauchen zu be-
leben wußte; es steht diese Eigenschaft, die den Knaben
als Weltschöpfer und Künstler kennzeichnet, im groß-
artigen Verbände jener Gedanken, die als Künstlerschaft
Gottes den alttestamentarischen Genesisbericht einlei-
ten; im apokryphen Evangelium freilich ist diese Tätig-
keit nicht nur als göttliche Freiheit, sondern auch als
böser Zauber geschildert; in die Charakteristik des Got-
teskindes sind Züge gemischt, die der heidnischen Vor-
stellung von Willkür und Allmacht der Gottheit entstam-
men. Der Bericht vom Christusknaben als Tierbildhauer
war zweifellos jenen Florentinern geläufig, aus deren
173
Mitte die Fabel von der Entdeckung des Talentes
stammt. Wir stoßen damit gleichsam auf eine zweite
Wurzel ihrer Entstehung und dürfen nun fragen, wo
dieser besondere Zug der Fabel im Seelenleben der Men-
schen eine Entsprechung findet : die besondere Vor-
stellung von der wunderbaren Begabung
der Kindheit. Zunächst möchte ich ein Beispiel
einschalten, das nicht den ganzen Umfang der Frage
deckt, sich ihr aber nähert und eine Brücke zwischen
der Vorstellung vom Wunderkind und dem Familien-
roman darstellt: Ein 25jähriger junger Mann berichtet
in der Analyse, daß er, im fünften oder sechsten Lebens-
jahr, die Phantasie entwickelt habe, er sei der Sohn des
Kronprinzen Rudolf von Österreich. Neben der typi-
schen und schrittweisen Ablösung der Phantasie aus
dem Machtbereich des Ödipuskomplexes — dem Schritt
also vom unehelichen zum ehelichen, den wirklichen
Eltern nur unterschobenen Sohn des Prinzen — rückt
ein anderer Zug mehr und mehr in den Vordergrund,
der, auf wunderbare Weise entdeckt zu
werden, um, wozu er allein befähigt sei, sein Land
vor drohenden Thronstreitigkeiten zu bewahren. Dieser
Teil der Phantasie ist dann von schicksalhafter Bedeu-
tung geworden; erst die Analyse konnte die Rolle, die
die Erwartung künftiger Entdeckung im Phantasieleben
und endlich auch in der Lebensgestaltung spielte, auf-
weisen.
Ich kann mich dem Eindruck dieses Beispiels schwer
entziehen und möchte vermuten, daß ähnliche Phanta-
sien den typischen Familienroman öfter begleiten. Es
wäre dann die Phantasie von der Entdeckung des Hel-
den die Lötstelle. Aber da es sich hier nur um eine Ver-
mutung handelt, sei der Faden nicht weiter verfolgt«).
8 ) In einer anderen Analyse konnte ich eine ähnliche
Phantasie — freilich in glücklicher Rationalisierung —
kennenlernen. Ein darstellender Künstler — in dessen
Leben das „Entdecktwerden" füglich eine erhebliche
174
Einer anderen und näherliegenden Erklärung ist nun
zu gedenken. Man mag der hier vorgebrachten Vermu-
tung zustimmen, den einen Teil der Hypothese für
gerechtfertigt halten und annehmen, in der Fabel von
der Entdeckung des Talentes sei etwas enthalten, was
sich mit dem Familienroman verbinden lasse; aber
das gelte, so könnte man sagen, nur für die Einkleidung
der Fabel. Es liege ihr ein empirischer Befund zu-
grunde, die frühe Begabung des künftigen Künstler-
kindes — und dieser empirische Befund erst gebe den
Anlaß zu der Ausschmückung des Berichtes. Diesen Er-
wägungen zu widersprechen bietet sich kein Anlaß. Wir
hatten schon einleitend darauf hingewiesen, daß die
biographische Formel den Charakter des Helden zu
erfassen strebe, seiner Eigenart angepaßt sei. Das Fak-
tum der Frühreife sei ein solcher Befund. Indessen der
letzte Teil des Schlusses ist nicht zu begründen; weder
scheint die Neigung zum bildenden Künstler zu jenen
zu gehören, die sich regelmäßig sehr frühzeitig ausbil-
den 9 ), noch wissen wir, ob sich eine solche Frage aus
Rolle spielen durfte — verband mit der Phantasie plötz-
licher Entfaltungsmöglichkeit für seih Talent die in
Träumen verratene Vorstellung, von der Vater-Imago
des Entdeckers ein „richtiges", d. h. ein erwachsenes
Glied geschenkt zu erhalten. Den Hintergrund dieser
Phantasie bildete der alte Wettstreit mit dem in dem-
selben Kunstzweig wie der Patient als Liebhaber erfolg-
reich tätigen Vater.
9) Damit soll keineswegs behauptet werden, daß die
Anschauung, schon in frühen Lebensäußerungen verrate
sich die entscheidende „Anlage", irrig sei — im Gegenteil,
je mehr wir Einbück in die Wirkungsweise der Er-
lebnisse, der historischen Schicksale der Persönlichkeit
gewinnen, desto eindrucksvoller wird uns die Bedeu-
tung der vorgegebenen biologischen Faktoren. Ihre Eigen-
art — gerade aus der Verhaltungsweise des Kleinkindes
— zu bestimmen, scheint eine wichtige Aufgabe der
Forschung zu sein; sie wird zu manchem, was die
Triebstärke und bestimmte Reaktionsweisen des Indi-
viduums auf äußere Reize betrifft, vielleicht schon Ul
175
der Verknüpfung mit geschichtlicher Bedingtheit ablösen
läßt 10 ). Wohl aber werden wir durch diese Erwägungen
auf einen anderen Gedanken hingelenkt, auf die Über-
legung, wie gerne wir bereit sind, die Leistungen der
Kinder zu überschätzen, in ihnen das Außerordentliche
zu suchen, und wie erstaunt wir immer wieder sind, wenn
die weitere Entwicklung des Kindes unsere Erwartun-
gen nicht rechtfertigt. Mit dieser Einstellung hängt denn
auch offenbar ein Verhalten zusammen, dessen wir
schon einleitend gedachten: das Suchen nach Vorzei-
chen, mit dem wir schon frühe kindliche Lebensäuße-
rungen begleiten. Man darf behaupten — ohne damit
das Ganze dieses Verhaltens erfassen zu wollen — , daß
wir dabei nach dem Wunderkind Ausschau
halten. Einige Determinanten dieses Verhaltens las-
sen sich leicht erschließen: Dem eigenen Kind gegenüber
mag man sich bewußt werden, bestimmte Fälligkeiten
und Eigenschaften, die einem versagt waren, oder auch
gerade solche, auf die man besonders stolz ist, im
Kinde entdecken zu wollen; wir stehen im Banne des
Narzißmus. Auch mag man sich des ewigen Wunsches
nach eigener Kindheit besinnen, der Wert und Leistung
absehbarer Zeit beitragen können. Aber diese Seite unse
res (wissenschaftlichen) Interesses an frühen Leistungen
des Kindes bedeutet nur ein zusätzliches Moüv eine
Rationalisierung für unser Streben, im Verhalten de*
Kindes nach Vorzeichen zu suchen. — Es ist nicht ™
bezweifeln, daß auch „die Ausschau nach dem Wun
derkind nicht das Ganze unseres Verhaltens deckt
Em weiteres Moüv sei noch angegeben: Das Interesse
für Artung und Eigenschaften gerade des Kleinkindet
ist — wie sich aus unmitelbarer Beobachtung analvti
scher Erfahrung und vor allem aus geschichtlichem und
lolklonstischcm Material zu ergeben scheint — oft ge-
steuert von der Tatsache: paler incertus.
10 ) Eben jene Fabeln, deren Urbild wir hier prüfen
werden öfters als Belege für die frühe künstlerische
Begabung angeführt, so daß die Gefahr einer petitio
prineipii gegeben ist.
176
der Kindheil zu überschätzen verlockt — als sagten
wir uns, wie reich und glücklich die eigene Entwicklung
war, ehe die und die Schicksale und Erfahrungen sie
in andere Bahnen drängten. Tiefer noch führt eine an-
dere Überlegung: Die Fähigkeit und die Leistung, die
unsere Bewunderung dem Kinde zuschreibt — damit soll
nicht geleugnet werden, daß das Kind auch Fähigkeiten
besitzt, die dem Erwachsenen verlorengehen — , mögen
eine Überlegenheit vertreten, die wir, selbst Kinder, her-
beigesehnt haben, um die Befriedigung von Triebansprü-
chen zu finden oder auch um Triebkonflikten zu ent-
gehen. So verketten sich hier „Vergangenes, Gegenwärti-
ges und Zukünftiges an der Schnur des Wunsches"
(Freud).
Für die Bedeutung der eigenen Kindheit in unserer
Stellung zum Kinde, zum Wunderkinde, spricht es, daß
von dieser Erwägung her eine Einzelheit des Berichtes,
von dem wir ausgegangen sind, besser verständlich zu
werden scheint. Die Fabel von der „Entdeckung des
Talentes" erhält ihren vollen Sinn, wenn wir uns ver-
gegenwärtigen, daß ein Kind bei einer „kindlichen
Betätigung" überrascht wird und statt der Strafe,
die ihr droht, die Förderung des Vaters erfährt 11 );
man mag hierin eine der entscheidenden Voraussetzun-
gen sehen, an die unser Unbewußtes künftige Größe
des Kindes zu knüpfen geneigt ist, eine der Bedingungen
sehen, unter denen wir selbst, nach unserer Meinung
den Weg zu Glück und Größe frei gefunden hätten.
Haben wir so versucht, einige der Motive zu verste-
hen, deren Zusammenwirken unsere Bereitschaft, nach
Wunderkindern Ausschau zu halten, im Ansatz verständ-
lich erscheinen läßt, so lassen Sie mich jetzt die Worte
anführen, mit denen ein Denker, in dem wir einen der
") D e . r synkretistische Bericht von der Kindheit Jesu
SSÜi ™ e Auffassun g ; denn es sind Vögel, die der
kleine Thaumaturg formt.
12 Almanach 1937
177
ö*
tiefsten Psychologen unserer Tage ehren, unsere Stellung
zum Wunder kinde beschrieben hat:
„ . . . da sitzt man nun als ergrauter Kerl und läßt sich
von diesem Dreikäsehoch Wunderdinge vormachen. Aber
man muß bedenken, daß es von oben kommt. Gott ver-
teilt seine Gaben, da ist nichts zu tun, und es ist keine
Schande, ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Es ist etwa
wie mit dem Jesu-Kind. Man darf sich vor einem Kinde
beugen, ohne sich schämen zu müssen. Wie seltsam
wohltuend das ist."
Diese Worte Thomas Manns vermöchten zu man-
nigfachen Überlegungen anzuregen, und mancherlei ließe
sich aus verschiedenartigen Wissensgebieten, aus Ethno-
logie, Folklore und Religionswissenschaft zu der Frage
anführen, auf die sie hinweisen. Uns aber leiten sie zu
unserem Ausgangspunkt zurück: Ein entscheidender
Bruch geht durch unsere Überlegung, die sich auf den
Vergleich der Fabel von der Entdeckung des Talentes
mit den von der Geburt des Helden handelnden Mythen
bezieht. In diesen ist das ausgesetzte Heldenkind von
hoher Abkunft und wird gleichsam wieder entdeckt.
In unserer Fabel aber ist die Abkunft eine niedere und
der Entdecker zugleich der neue, der erhöhte Vater.
Wir können auf diese Unstimmigkeit erst jetzt hin-
weisen; erst jetzt meinen wir imstande zu sein, zu
Ihrer Aufklärung beizutragen.
Die frühe und nach Ausdruck drängende Begabung
des Künstlerkindes ist ein Novum der Künstlerbio^
graphik; erst die Renaissance führt dieses Motiv ein.
Frühere Zeiten hatten dieses auszeichnende Element
anderen Arten von Helden vorbehalten, das Altertum
im wesentlichen seinen Heroen, das Mittelalter der Le-
gende der Heiligen. Aus dieser Quelle dringt das Motiv
in die Künstlerbiographik ein. Wie die Begnadung der
Heroen und Helden wird auch die des Künstlers mit
der Gottheit verknüpft. Das geschieht nicht ausdrücklich,
178
denn eine neue Mythologie vom Künstler kann sich
im scharfen Licht abendländischer Kulturentwicklung
der Neuzeit nicht ausbilden; aber ein wichtiges Element
neuzeitlicher Ideologie, die nicht allein, aber auch
vom bildenden Künstler gilt und in der Kunsttheorie
einen reichen Niederschlag gefunden hat, die Lehre
vom Genie tritt stellvertretend ein, eine Lehre, die
ihr geistvoller Geschichtsschreiber, Edgar Z i 1 s e 1, mit
gutem Grund die Geniereligion nennen durfte. Die Got-
teskindschaft des Ingeniums gehört zum festen Inven-
tar dieser Lehre. Sie hat in der Künstlerbiographik
selbst deutlichen Niederschlag gefunden. Das Hauptwerk
der Kunstgeschichtsschreibung der Renaissance, das 1550
in erster Auflage erschienene Vitenwerk des Giorgio
Vasari ist als Pyramide entworfen, deren Spitze die
alles überragende Erscheinung Michelangelo Buo-
narottis bilden sollte. Die Lebensbeschreibung die-
ses Größten der italienischen Künstler beginnt durchaus
im Tone des Mythos:
„Da Gott nun sah, daß gerade in Toscana Bildhauer,
Maler und Baumeister sich der edlen Kunst mit größter
Hingabe gewidmet hatten, wollte er, daß dieser von ihm
gesandte Geist Florenz als seine Heimat haben sollte...
Dieser Sohn, von dem ich rede, wurde am 6. März,
einem Sonntag, gegen 8 Uhr abends geboren. Man gab
ihm den Namen Michelangelo ohne langes Nachsinnen,
wie unter einer höheren Macht wollte man dadurch
andeuten, daß er über jedes menschliche Maß hinaus-
rage, himmlisch und göttergleich veranlagt sei."
Durchaus in den Rahmen des Mythos und in den
Ablauf seiner Motive fügt es sich, wenn im Anschluß
an diese Stelle berichtet wird, daß man den Knaben
nach Settignano brachte, wo die Frau eines Steinmetzen
ihn nährte, so daß er „bei der Amme schon mit der
Milch den Willen zu Hammer und Meißel einsog. 1 '
Fassen wir die Anschauung über den Künstler, die
sich in der Renaissance seit dem 14. Jahrhundert aus-
12*
179
bildet, als eine einheitliche auf, die sich schrittweise
entfaltet — und alle Gründe sprechen für diese Auf-
fassung — , so dürfen wir jetzt den Unterschied zwi-
schen der Fabel von der Entdeckung des Talentes
und dem Mythos von der Geburt des Helden ein Stück
weit verkleinert sehen. Wir dürfen die Gottes kind-
schaft des Ingeniums an Stelle der äußeren
hohen Abkunft des verstoßenen Königssohnes ein-
setzen. Der Entdecker, dessen Urbild wir in Cimabue
kennenlernten, der zufällig seines Weges daherkommt,
entdeckt ein Kind, das Gott zum Ingenium erwählt hat!
Das ist der Einzelfall, an dem ich die These verdeut-
lichen wollte, daß die Biographik dem Mythos
entstammt und sich seinem Reich in alter Zeit
nicht ganz hat entziehen können. Wie die mündliche
Florentiner Tradition auf den Mythos zurückgreift, so
dürfen wir uns auch das Schaffen der einzelnen Bio-
graphen oft von ähnlichen Tendenzen beherrscht den-
ken. Denn die Genies, denen wir Biographien gewidmet
wissen wollen, sind die unter uns, die als Helden impo-
nieren, die Erben der Halbgötter und der Götter des
Mythos.
V.
Haben wir bisher versucht, ein allgemeines Pro-
blem der Biographik, die Heroisierung des Helden, an
Hand einer bestimmten Fassung seiner Jugendge-
schichte zu beleuchten und aus dem Fortleben mythi-
scher Elemente zu verstehen, so soll im folgenden
die besondere Kennzeichnung des bildenden Künstlers
an Hand einiger biographischer Formeln im Abriß
erörtert werden.
Zwei dieser Formeln nehmen eine Sonderstellung ein;
sie sind die kennzeichnendsten und verbreite tsten. Die
180
eine berichtet, daß der griechische Maler Zeuxis, als
er das Gemälde seiner Helena für die Stadt Kroton
schuf, von fünf schönen Modellen die jeweils schön-
sten Teile in sein Werk übernommen habe. Die Wur-
zeln dieser Fabel liegen in der platonischen Kunstlehre;
dem Künstler fällt die Aufgabe zu, die Wirklichkeit zu
übertreffen. Was ihm die Natur ah verschiedenen Men-
schen an Schönheit bietet, soll er zu einem Ganzen, zu
einem Ideal der Schönheit vereinigen.
Die zweite Fabel beleuchtet die Leistung des Künst-
lers von einer anderen, entgegengesetzten Seite her. Sie
berichtet — in ihrer ältesten Fassung — vom Wettstreit
zweier griechischer Maler, des Zeuxis und des P ar-
rha sios. Der eine, Zeuxis, malt Trauben; Sperlinge
fliegen herbei und picken auf die Beeren los. Aber Par-
rhasios ist der überlegene. Denn Zeuxis fordert ihn beim
Besuch seines Ateliers auf, den Vorhang beiseite zu
schieben, der sein, des Parrhasios, Werk verdecke. Der
Vorhang aber ist das Gemälde: Zeuxis hat die Vögel,
Parrhasios die Menschen getäuscht.
Beide Fabeln leben seit dem Griechentum fort — man
darf sagen, bis in unsere Tage; die zweite ist die ver-
breitetem, volkstümlichere. Sie begegnet in hunderten
Abwandlungen; es ist die berühmteste, die typische
Künstlerfabel schlechthin, nach deren Bedeutung wir
nun fragen. Vorwegzunehmen ist, daß, was die Fabel
berichtet, sinnlose Übertreibung ist, wenn wir es wört-
lich nehmen. Weder ein Kunstwerk der Griechen noch
auch eines der vielen späteren Kunstwerke, an die die
Fabel geknüpft wird, vermag die Natur so zu „erfassen",
wie die Fabel es zu berichten scheint. Ihr Kern ist
denn auch zunächst nicht bloß eine bestimmte Höhe
künstlerischer Leistung in der Wiedergabe der Natur,
sondern vielmehr die Aussage, daß das Kunstwerk eine
täuschende Wirkung ausübe. Den Sinn die-
ser Aussage lernen wir verstehen, wenn wir zwei Grup-
181
pen von Varianten heranziehen. Die eine Gruppe solcher
Varianten schreibt ähnliche Leistungen wie die, die die
Fabel von Zeuxis und Parrhasios berichtet, Künstlern
der griechischen Vorzeit, des griechischen Mythos zu
— etwa dem großen Ahnherrn griechischer Kunst, dem
Daidalos. Wir haben allen Anlaß zu meinen, der
Bericht von der täuschenden Kraft der Werke des
Daidalos stelle eine Abschwächung älterer Überliefe-
rung dar, die etwa berichtet, es habe Daidalos beweg-
liche Frauengestalten geschaffen. Ähnliches
wird von manchen anderen mythischen Künstlern be-
richtet, vom finnischen Götterschmied 111 marinen
oder etwa vom Hephaistos der Hias**), der der
Thetis begegnet:
Schwer auf die Mägde gelehnt, die schleifenden
Laufes ihn schleppten,
Goldene, leb enden gleich, in der Anmut rei-
zender Jugend,
In sich haben sie auch Verstand und redende
Stimme . . .
(Mas XVIII, Wff.)
Fügen wir hinzu, daß auf den Wanderungen der
Fabel vom Wettstreit der Künstler um die größere
Täuschungskraft ihrer Werke eine Variante entstanden
ist, die einen Teil des unserer Vermutung nach unter-
drückten ursprünglicheren Inhalts wieder in unentstell-
terer Form aufweist: In einer zentralasiatischen Fas-
sung der Fabel sind ein Maler und ein Automa-
tenmacher miteinander in Wettbewerb getreten-
auch hier ist das Werk des Automateilkünstlers eine
weibliche Gestalt.
12 ) Es scheint zum Wesen dieser Berichte zu gehören,
daß das Bildwerk eine Frau sei ; hier liegt ihre Paral-
lele zum Genesis-Bericht.
182
Die Fabel von der täuschenden Kraft des Kunst-
werkes gehört der ältesten Schicht biographischer
Nachrichten über bildende Künstler an; sie stammt
aus einer dem Duris von Samos zugeschriebenen
Sammlung von nur in Fragmenten und in spateren
Exzerpten erhaltenen Biographien; wenn wir sie recht
verstehen, weist sie uns darauf hin, daß der bildende
Künstler, der eben erst auf der Bühne geschichtlicher
Überlieferung erscheint, das Erbe der großen Kunstler
des Mythos angetreten habe. -
Um diese zunächst recht unbefriedigende Einsicht
zu ergänzen, ziehen wir eine zweite Gruppe von
Varianten der Fabel heran. Sie be^^to
sehende Kraft des Kunstwerkes von anderer Seite auch
L lassen sich durch den Lauf der abendländischen
SJS hindurch verfolgen. Ich meine Berichte, die
besagen, ein Kunstwerk, das Abbild eines Menschen,
sei so vollendet, daß es dem oder jenem als lebend
als Liebesobjekt galt. So etwa soll ein Eros, soll eine
Venus des Praxiteles Beschauer zur Liebe verleitet
haben Amberühmtesten ist- wohl durch die Verschran-
kun* mehrerer hier nicht zu deutender Motive - jene
Lesende vom Bildhauerkönig Pygmalion geworden,
dessen Liebe dem Frauenbilde galt, das er selbst ge-
schaffen hatte.
Wir wissen: Solche Verwechslung geschieht nicht nur
im Zeichen des Eros — sie mag auch unter der
Herrschaft des Th anatos geschehen. Nicht nur die
Liebeshandlung wird am Bild vollzogen, auch Strafe
und Vernichtung kann das Bild treffen. Liebende, die
das Bild der treulosen Geliebten vernichten, Revo-
lutionäre, die das Standbild des entthronten Fürsten
stürzen, handeln im Kern nicht anders als die „Statuen-
liebhaber" unter den Griechen: Auch ihnen verfließt
die Grenze zwischen Bild und Wirklich-
keit, zwischen Bild und Abgebildetem. Das Verschwim-
men dieser Grenze, die Identität von Bild und Abbild,
183
gehört einem weiten und großartigen Bereich an, dem
des Bildzaubers. Es ist an dieser Stelle nötig ein-
zuschalten, daß dieser Glaube an die Identität von Bild
und Abgebildetem kaum je rein begegnet"). Er ist dem
„Primitiven" leichler zugänglich als dem Kulturmen-
schen^), dem Kinde leichter als dem Erwachsenen,
stellt sich unter der Herrschaft von Affekten (vornehm-
lich im Zeichen des Angstaffektes) leichter her als ohne
diese Bedingung — kurz, wir dürfen zusammenfassend
sagen, er stelle sich leichter her, wenn das Ich — das
Ich einer bestimmten Entwicklungsstufe im ontogene-
tischen und phylogenetischen Sinn - noch nicht seine
volle Herrschaft angetreten oder die Zügel seiner Herr-
schaft gelockert habe. In all diesen Fällen ist die Be-
schaffenheit des Bildes - jeweils in verschiedener Hin-
sicht — von geringerer Bedeutung.
Die Bedingungen dieses Verhaltens lassen sich an
unserem „ontogenetischen Modell" ein Stück weit kenn-
zeichnen. In einer Phase kindlichen Spieles - die man
als „Rollen- oder Illusionsspiel" bezeichnet hat — ist die
Beschaffenheit des Spieldinges wenig belangreich Der
Besen wird zum Pferd, die Spule zum Geschütz. Es ist
Z w M-Tf .T 11 diC übe ™«««ng des Kindes von
der „Wirklichkeil" dieser Spielsituation reicht O) aber
es scheint sich die Auffassung zu bewähren als ent-
spreche die „Intensität" der Illusion der der Phantasie
tätigkeit, der der narzißtischen Besetzung.
»J Das geschieht soweit wir wissen, nur unter der
Bedingung geistiger Erkrankung. Vgl. dazu das (fingiertet
S S 37111 gU6 ' lnt ZtSChF - f - Psa ' -W XIV
") Wie umstritten die Frage nach der Einstellung der
Naturvölker zum Abbdd der menschlichen Gestalt ist
ersieht man aus der - übrigens offenkundig einseitigen
— Darstellung bei Olivier Leroy, La raison primitive
Paris 1927 : p. 224 ff.
lö ) Vgl. dazu etwa Karl Bühl er, Die geistige Ent-
wicklung des Kindes, 6. Aufl., 1930, S. 329 ff.
184
Es wäre verlockend, die wechselnden Schicksale des
Spieldinges im Leben des Kindes weiter zu verfolgen,
aber obgleich zu diesem Thema von allen Seiten her
Anregungen geboten werden, scheinen doch noch Unter-
lagen zu fehlen. Der Zustand des kindlichen Rollen-
spieles, dessen inhaltliches Erbe im späteren Leben
die Tagträume antreten, hat in ökonomischer Hinsicht
eine Parallele in jenen oben angeführten Fällen im
Verhalten Erwachsener, in denen das Ich seine steu-
ernde Funktion einbüßt; wenn dem Erwachsenen die
Grenze von Bild und Abbild verschwimmt, „regrediert"
er auf ein Verhalten, das wir „magisch" nennen; sein
Handeln steht im Zeichen der Allmacht der Gedanken,
einer übermächtigen narzißtischen Besetzung.
Wir dürfen nun den Anschluß an unseren Gegenstand
suchen, wenn wir eine kurze Überlegung einschalten:
Je sicherer dem Bild „magische Identität" zugeschrieben
wird, desto weniger muß auf seine äußere Beschaffen-
heit Wert gelegt werden. Anders formuliert, wobei ein
Gedanke, den vor einem Menschenalter Heinrich Gom-
perz entwickelt hat, uns leitet: Die Ähnlichkeit ist
jenes Band, das Bild und Abgebildetes verbindet, wenn
der Glaube an ihre Identität geschwunden ist. Auch in
einer Vorzeit griechischer Kunst war die „Ähnlichkeit"
des Bildes mit dem Abgebildeten wenig belangreich.
Sie wird — als Ergebnis einer Entwicklung, die zwei
Jahrhunderte durchlaufen hat — in einem neuen Sinne
in jener Zeit bedeutsam, da auch der Künstler der
Griechen in die Biographik einzieht; die erste Formel,
die diese Biographik uns kennen lehrt, gewinnt nach
dieser Auffassung den Sinn, daß der Künstler durch die
Vollendung seiner Leistung die Brücke zwischen Bild
und Abgebildetem wiederherstellt, die auf einer älteren
Stufe im Zeichen einer magischen Auffassung des Bil-
des bestanden hatte 16 ).
16 ) Die hier angedeutete Hypothese — wenig auf-
schlußreich und nur als „Rahmentheorie" brauchbar
185
Die mögliche Brauchbarkeit der Hypothese scheint
sich zu bestätigen, wenn wir dem geschichtlichen Tat-
bestand eine Gegenprobe ablesen: Jene Werke der klas-
sischen Antike, die den sichtbarsten Höhepunkt ihrer
neuen, der Natur zugewandten Gesinnung vertreten,
ihre Rundplastiken, erscheinen dem Mittelalter, einer
Zeit erneuerter antinaturalistischer Gesinnung, als angst-
und schreckenerregend 17 ); es ist eine Zeit, in der
auch der bildende Künstler wieder von der Bühne
der Geschichte abgetreten ist. Die aus literarischer
Überlieferung bekannten Namen der Künstler des grie-
chischen Altertums werden nun zu Namen gefährlicher
Zauberer. Diese Auffassung, die schon dem antiken
Bild vom Künstler bestimmte Züge geliehen hat, hat sich
als Unterströmung lange über das Mittelalter hinaus er-
halten und findet in einer Anzahl von Fabeln einen
Niederschlag, als deren bekannteste — nicht auf den
bildenden Künstler beschränkte — der Bund mit
dem Teufel angeführt sei; sie lebt immer noch
fort und bestimmt auch heute noch die Stellung des
Künstlers in der Gemeinschaft.
— kann nichts dazu beitragen, das Problem des Stil-
wandels zu beleuchten. Sie ist als Brücke gedacht um
das biographische Bild vom Künstler verstehen zu leh-
ren. Die Zuordnung von narzißtischer Besetzung und
antinaturalistischer Kunst ist in der Kunstwissenschaft
mit anderen Worten seit einem Menschenalter immer
wieder vorgeschlagen worden (von Verworn, Wor-
rmger, Kuhn, Meng hin und anderen); die Auf-
gabe einer Psychologie der bildenden Kunst hätte da zu
beginnen, wo diese Formel versagt, bei der Erkläruno
der wechselnden konkreten Realisierungen der Stif
Phänomene, die sich in dem Ablauf der Wellenbeweffuna
naturnaher und naturferner Stile, die nach dieser An
schauung die abendländische Kunstgeschichte durch-
ziehen, im künstlerischen Schaffen durchsetzen.
17 ) Auch hier vermöchte eine psychoanalytische Er-
klärung ein Stück weiter vorzudringen: Wir stehen an
der Grenze des Unheimlichen.
186
Der Glaube an die Zauberkraft des Künstlers 18 ),
aber zugleich auch der an das Verbotene seines Tuns
wurzelt tief im Denken der Menschheit. Denn eben
jene Künstler des Mythos, deren Erbe die Biographik
die bildenden Künstler antreten läßt, waren Empörer
und Bestrafte, der gefangene Daidalos, der gelähmte
W i e 1 a n d, der krumm geworfene Hephaistos und
ihrer aller großer Ahnherr Prometheus.
Man darf die Frage aufwerfen, was das Verbotene
ihres Tuns sei: Sie bilden Menschen, wie die Gottheit
selbst. Menschengestalt zu bilden, aber sei verboten, denn
an dem Bilde könnte Zauber geübt 19 ) und — wenn es
an einem Götterbild geschähe — die Herrschaft der
Gottheit dadurch gefährdet werden. Diese Erklärung
aber muß unbefriedigend bleiben. Denn das Verbot, das
die Tätigkeit des Künstlers begleitet, bleibt nicht auf
die Fälle beschränkt, in denen er Abbilder der Wirk-
lichkeit schaft: Auch das Bauwerk gilt als Frevel gegen
die Gottheit, und jene Gesinnung, die aus der Sage
vom babylonischen Turm spricht, hat in der Weltweite
eines Brauches einen Niederschlag gefunden, nach dem
die Vollendung von Bauwerken durch Opfer, Menschen-
opfer, gesühnt wird.
i8) Vgl. dazu Freud, Ges. Sehr., Bd. X, S. 111: „Mit
Recht spricht man vom Zauber der Kunst und ver-
gleicht den Künstler mit einem Zauberer. Aber dieser
Vergleich ist vielleicht bedeutsamer, als er zu sein be-
ansprucht." Im gleichen Sinne auch Rein ach: „L'art
et la magie", Cultes, Mythes et Religions, I, 125 ff.
i9) Zum festen Bestand der Künstlerbiographik ge-
hört seit dem klassischen Altertum die Nachricht, daß
das Kunstwerk — meist eine Studie über den Ausdruck
des menschlichen Antlitzes — entstanden sei vor einem
vom Künstler ermordeten Modell. Sie reicht, wie mir
Kurt Rathe freundlich nachweist, bis in die Kurz-
geschichten-Literatur unserer Tage. Auch die Entstehung
dieser Formel ist einer weiteren Rückführung, die hier
unterbleiben soll, zugänglich.
* 187
Aber Bilden und Bauen ist nicht die einzige Tat,
die der Mythos dem Künstler zuschreibt. Das Künstler-
tum steht im weiten Verband der Demiurgie, „ge-
hört einer Zeit an, in der magische Übung auch die
Kunst mit umfaßt, der Zeit eines alten sakralen Urge-
werbes, das in ungeschiedener Einheit Mantik, Magie
und die Einzelhandwerke einbegreift" (R. Eißler).
So wird denn dem Daidalos und seinem nordischen
Bruder Wieland die Erfüllung eines alten Mensch-
heilstraumes zugeschrieben. Der Mythos, der sich an
ihre Namen knüpft, hat in „sekundärer Bearbeitung"
die Beherrschung der Luft und die künstlerische Tätig-
keit pragmatisch verknüpft, ebenso wie an der Gestalt
des Feuergottes Prometheus — dessen Nachfahre
der Feuerdämon Hephaistos ist - der Raub des
Feuers erst in späterer Verschmelzung widersprechender
Züge mit der Schöpfung des Bildwerkes „Mensch" ver-
knüpft wird. Wir finden hier Anschluß an schon von
der Psychoanalyse geschaffene Auffassungen, an eine
ältere von A b r a h a m 20) unc j e ine jüngere, nach ande-
rer Richtung ausgreifende von Freud 21 ). Verbinden
wir diese Anschauungen mit unserem Thema, so wird
uns die Vermutung nahegelegt, daß Bilden und Bauen
in jedem Sinn als Vorrecht der Gottheit gelte
und daß dieser Glaube den Erdball umspanne, weil
die Schöpfung der Welt und des Menschen die sicht-
baren Zeichen der göttlichen Allmacht seien 22 ). Ich
20) Vgl. Abraham, Traum und Mythos, Schriften z.
angew. Seelenkunde, 4. Heft, 1909, C. G. J u n g in Jahr-
buch für psychoanalytische und psychopathologische
Forschungen IV (1912), S. 190 ff., und C. Baucio in,
Psychoanalyse de 1'art, Paris, 1928, p. 31 ff.
21 ) Zur Gewinnung des Feuers. Ges. Sehr. XII, 141.
22 ) Eine Untersuchung dieses Problems an Hand der
Quellen, die über Bild- und Bauverbote berichten, bereite
ich gemeinsam mit Otto Kurz vor. Es ist mir ein auf-
richtiges Bedürfnis, Herrn Edward W. Warburg-
New York auch an dieser Stelle für die verständnis-
188
muß nicht erst ausführen, an welcher Stelle diese Ver-
mutung sich in unsere Grundanschauung fügt, wie sich
so eine neue Brücke vom Erlebnis des einzelnen zur
Struktur des Glaubens zu eröffnen scheint, aber darf
noch einen Punkt unterstreichen: Das Vorrecht der
Gottheit auf ihren Schöpferberuf bestimmt die Form
der Heroisierung des Künstlers. Die Künstler der
Renaissance betonen ihre Souveränität, indem sie sich
selbst als Gott und Schöpfer {dio e creatore) des
Kunstwerkes darstellen (Leonardo), wie denn auch
ihre Umwelt ihnen unbedenklich das Attribut gött-
lich, divino, zuspricht, das bald zur Formel verblaßt
- es lebt heute noch im Epitheton der Sängerin, der
Diva fort -, doch ursprünglich einen volleren Klang
hatte. Innere Berechtigung wird dieser Erhöhung des
Künstlers zu göttlichem Range durch die Kunsttheorie
verliehen, die, im Anschluß an die Anekdote über
Zeuxis und die Mädchen von Kroton 23 ), dem Künst-
ler die Aufgabe stellt, nicht die Gebilde der Wirklichkeit
nachzuahmen, sondern einer in der Natur nicht ver-
körperten Idee der Schönheit zu dienen.
Diesem Bilde des göttlichen Künstlers, des „divino ar-
tista", entspricht ein Gegenbild: Denn auch die Schöpfer-
tätigkeit der Gottheit kann zuweilen in Künstlergestalt
dargestellt werden. Der „deus artifex" der biblischen
Überlieferung hat der Heroisierung des bildenden Künst-
lers in der Biographik des Abendlandes den Weg ge-
wiesen.
VI.
Seit dem 16. Jahrhundert tritt in die Biographik des
bildenden Künstlers neues Formelmaterial ein; es ist
von anderer Art als jenes, das wir bisher als Aus-
volle Förderung dieses Arbeitsplanes, der mit Unter-
stützung des Warburg Institute in London durchgeführt
werden soll, herzlichen Dank zu sagen.
2 3) Siehe oben S. 181.
iSq
gangspunkt gewählt hatten. Der Künstler gehört nun
dem großen Verbände der schöpferischen Persönlich-
keiten an, der Genies, und alles Lockende und Gefähr-
liche, das sie auszeichnet, eignet auch ihm. Die Genies
aber können die göttliche Begnadung, die ursprünglich
als belebender Hauch der Gottheit verstandene Inspi-
ration, entbehren, die ihnen nach alter Meinung ihre
Macht verliehen hat. Die „Inspiration" wird zur inneren
Stimme 24. Wie die Gottheit des Mythos, deren Herr-
schaft sie entrückt sind und deren Erbe sie antreten
stehen auch die großen schöpferischen Persönlichkeiten
außerhalb der Gesellschaft, außerhalb der Normen, die
das soziale Leben sonst regeln und binden. Sie genießen
besondere Vorrechte 25) _ das Vorrecht großer Sexual-
freiheit etwa — , aber ihre Lebensgestaltung bleibt aus-
gespannt zwischen Parnaß und Boheme, ihre Erschei-
nung Gegenstand unserer Verehrung und Zielscheibe
unserer Ambivalenz.
Das ist der Hintergrund, vor dem die jüngeren For-
meln der Biographik" stehen: Sie sind für einzelne Be-
ruf sgattungen weniger spezifisch, sind allgemeiner und
lebensnäher; oft hat es den Anschein, als ließen sich
die Anfänge dieser oder jener Verhaltensweise des Künst-
lers, die bald zur Formel erstarrt überliefert wird, noch
auf das Leben und die individuelle Eigenart des einen
oder anderen viel bewunderten Mannes zurückführen
In allen Fällen aber ist es das Ziel dieser neueren For-
24 ) Vgl. dazu die schönen Formulierungen von E. Jo-
nes, Das Problem des Hamlet und der Ödipuskomplex
Schriften z. angew. Seelenkunde, 10. Heft, 1911, S. ,21
25 ) Auch ihrem Werk gelten diese Vorrechte. Die „Li-
zenz" des Dichters ist die Freiheit, die der „ästhetische
Wert" seiner Leistung leiht. Unter der Bedingung, daß
es Kunst sei, ist gestattet, was sonst verwehrt ist. (Auf
diesen Zusammenhang hat im Rahmen der Psychoana-
lyse zuerst Hanns Sachs hingewiesen. Vgl. Gemeinsame
Tagträume, Imago-Bücherei, Bd. V, Wien, Int. Psycho-
analytischer Verlag, 1924.)
190
mein, in die Persönlichkeit des Künstlers einzudringen,
das Rätsel seines Lebens und Schaffens zu vermensch-
lichen. Ich muß es mir versagen, dieses weite Gebiet
zu betreten. Nur ein Beispiel sei gewählt, um den Tat-
bestand zu kennzeichnen. Im Mittelpunkt des Geheim-
nisses, das den Künstler in den Augen seiner Umwelt
umgibt, steht die Sonderstellung, die seinem Werk in
seinem Leben zufällt. Ein alter Vergleich sieht im
Kunstwerk das Kind des Künstlers, hat den Zusammen-
hang künstlerischer und sexueller Betätigung im Scherze
erfaßt — in einem Scherze, in dem doch schon etwas
von unserem Begriff der Sublimierung enthalten ist;
die neue Einstellung sucht das Thema in ständiger Ab-
wandlung zu erweitern. Im Konflikt mit dem Bestel-
ler etwa weigert sich der Meister, die Vaterschaft preis-
zugeben, mißgönnt diesem den künftigen Besitz des
Kunstwerkes oder entwickelt, um sich diesen Allein-
besitz zu sichern, die Vorstellung, es dürfe das Werk
ihn nicht überleben. Aber auch der gegenteilige Gedanke
begegnet: Das Leben des Künstlers bleibt an sein Werk
geknüpft, der eigene Tod begleitet die Vernichtung des
Werkes. Am deutlichsten und auch in statistischem
Sinne am häufigsten sind Berichte, die etwa besagen,
daß der Künstler sich selbst den Tod gibt, da man an
dem schon vollendeten Werke einen Fehler — häufig:
am Pferde eines Reiterstandbildes das Fehlen eines
Hufeisens — entdeckt. Wir verstehen, daß hier die
besondere Form des künstlerischen Narzißmus formel-
bildend gewirkt hat.
Wir dürfen es vermeiden, die so gekennzeichneten
Nachrichten ausführlich vorzutragen. Denn unserer Ver-
abredung gemäß sollte die Psychologie der Biographik
— nicht die des Künstlers — im Vordergrund stehen,
und jene Gruppe von Formeln, von denen zuletzt die
Rede war, gehört schon durchaus diesem großartigen
und dunklen Gebiete an. Aber wir werden daran ge-
malmt, daß wir einleitend die Vermutung vorgebracht
191
hatten, daß auch aus dem älteren legendenhafteren
Formelbestand eine Brücke zur Psychologie des Künst-
lers führen, daß etwas in seinem Wesen der Deutung,
die die Umwelt in alter Zeit seiner Gestalt gibt, entgegen-
kommen, sie mit hervorrufen und rechtfertigen müsse.
Wir stehen vor der Frage, wie jener mythologische
Zusammenhang, in den die Legenden zurückzureichen
scheinen, die den Künstler als Zauberer und Empörer
kennzeichnen und die ihn von alters her begleiten,
in seinem Leben selbst repräsentiert ist.
Ich möchte versuchen, diese Frage an einem Bei-
spiel zu beleuchten, und kehre damit zu der eingangs
gegebenen Zusage zurück, daß dieser Vortrag einen
älteren, den über den Bildhauer Franz Xaver Messer-
schmidt (1736 bis 1784) ergänze. Ich mußte vor
zwei Jahren, als ich versuchte, Urnen Wahn und Werk
dieses Künstlers vorzustellen, vorausschicken, daß ich
Ihnen aus seinem Leben so gut wie nichts ' berichten
wurde. Mehrere Rechtfertigungsgründe ließen sich an-
führen :
Einmal, daß seine Biographen im 19. Jahrhundert
seinen Lebenslauf unter einer bestimmten Einstellung
gesehen, ihn als verkanntes Genie geschildert und damit
jene Version übernommen hatten, die er selbst in sei-
nem Verfolgungswahn allen, mit denen er in Berührung
gekommen war, übermittelt hatte, wie denn auch die
Tatsache seiner geistigen Erkrankung bis in unsere Ta<*e
immer wieder geleugnet oder verkannt wurde. Dann
aber bildet die Grundlage aller oder doch der meisten
biographischen Angaben über den Künstler eine volks-
tümliche Schrift, in die das ganze Repertorium der bio-
graphischen Formeln vom Künstler Aufnahme gefunden
hat: Die Geschichte vom Hirtenknaben, der die Tiere
seiner Herde schnitzt, eine andere, gleichfalls typische,
die erzählt, wie er als Knabe über dem Anatomiebuch
an Speise und Trank vergißt, oder eine, die in den Kreis
von Berichten gehört, nach denen der Künstler sein
192
_
Modell lötet, um die Gesichtszüge des Sterbenden nach-
zubilden 26 ).
Die Liste, in der auch der Bund mit dem Teufel nicht
fehlt, ließe sich erheblich vermehren. Die angeführten
Beispiele aber genügen, um die These zu sichern, daß
die Volksmeinung bereitwillig den Bestand an festen
Formeln aufbietet, um die Gestalt der Künstler zu
kennzeichnen. Doch diese Formulierung führt an der
ernsteren Frage vorbei, ob sich denn die Grenze zwi-
schen Formelgut der Biographik und gelebter Eigenart
des Künstlers scharf ziehen lasse. Verläßliche Gewährs-
männer, die Messerschmidt begegnet sind, wissen zu
berichten, daß er immer wieder versichert habe, er
werde seine Werke vor seinem Tode vernichten; auch
daß er unsinnige Preise für seine Arbeiten gefordert
habe, ist nach der Lage unserer Quellen wahrschein-
lich. Der Umfang und die Tiefe des Problems aber
werden erst faßbar, wenn wir daran erinnern, daß nicht
nur der äußere Aspekt von Messerschmidls Biographie
im Zeichen jener Motive steht, auf die uns die Legen-
den vom Künstler hinführen. Auch der Aufbau seines
Wahns wird ein Stück weit als typischer Künstler-
wahn verständlich. Denn im Zentrum des Wahns steht
der Gedanke, daß ihn die Gottheit um seiner Meister-
schaft in seiner Kunst, vor allem um seiner Kennt-
nisse der „göttlichen" Proportion willen verfolge, ein
Gedanke, der sich leicht als Projektion jenes anderen
erkennen läßt, nach dem der Künstler mit der
Gottheit ringt.
Das Motiv des Mythos, das prometheische
Schicksal steht mit einem Male lebendig vor unse-
ren Augen; was der blasse Widerschein literarischer
Formeln, wie der vom „divino artista" und vom „deus
artifex" ahnen ließ, gewinnt im Wahn des psychoti-
schen Künstlers volles Gewicht: Wir sind zur Meinung
26 ) Vgl. oben S. 187, Anm. 19.
13 Almanach 1937
*93
gedrängt, daß im Unbewußten des Künstlers jene Grund-
anschauung über Werl und Gefahr künstlerischen Schaf-
fens fortlebe, die den mythischen Hintergrund seiner
Biographik bildet. Diese Vermutung führt uns auf
Fragen, zu deren Lösung wir noch nicht gerüstet sind.
Nur eine Hypothese ist noch vorzubringen:
Unter den typischen Schicksalen des Künstlers, von
denen die Biographien zu berichten wissen, findet sich
der Selbstmord des Baumeisters nach der Vollendung
des Werkes 27). Sucht man die berichteten Fälle zu
überprüfen, so gliedern sie sich in zwei — hier einander
schematisch gegenübergestellte Gruppen: Es gibt Bei-
spiele dafür, daß sich solche Selbstmorde ereignet ha-
ben, und Beispiele dafür, daß vom Selbstmord des
Baumeisters in einer Formel berichtet wird. Verstehen
wir recht, so ist das kein Widerspruch. Demi jene
Eigenart ihres Helden, die nach der eingangs aufge-
stellten These in der Formel der Biographik ihren Nie-
derschlag fände, würde beide Fälle umgreifen: Was die
Biographik als typisches Schicksal schildert, was dem
Unbewußten des Publikums entstammt, für das der
Künstler schafft, ist auch bestimmend für das Erleben
des Künstlers selbst 28 ).
27 ) Diese Berichte begegnen in mehrfacher Abwand-
lung. Aber der Zusammenhang, in den sie jeweils <*e-
füst sind — etwa der Wettstreit mit dem überlegenen
Lehrling, ein spät entdeckter Konstruktionsfehler das
Bündnis mit dem Teufel — , bilden, wie es scheint nur
eine Einkleidung. '
28 ) Das „Kollektive Unbewußte", auf das wir
hier stoßen, ist offenbar der Auffassung C. G. Jungs
in nichts verpflichtet. Es handelt sich um Inhalte des
Unbewußten, die den Menschen aus gleichen individu-
ellen Quellen her gemeinsam sind. Die hier vorgetragene
Vermutung über den Freitod des Baumeisters nach
Vollendung des Werkes geht von der Anschauung aus,
daß für ein aus tiefen Schichten des Seelischen stam-
mendes Schuldgefühl jeweils verschiedene Rationalisie-
rungen — die Einkleidungen dieser Berichte (vgl. oben
S. 187 f.) — gesucht werden.
194
In dem besonderen Falle, von dem hier die Rede ist,
scheint sich die Hypothese zu rechtfertigen, als gäbe
es eine geheime und tiefe Verknüpfung zwischen dem
alten Brauch, nach Vollendung des Baues ein Men-
schenleben als Bauopfer darzubringen, und dem Selbst-
mord noch eines Baumeister Solneß.
Die Beziehung der Biographik zum Leben des Helden
ist nicht mit dem Hinweis auf die Gemeinsamkeit un-
bewußter Einstellungen erschöpft, die die Biographik
erkeimt, und die der Held erlebt, sondern begegnet
auch in banalerer, pragmatischer Form: Die Biographik
liefert Vorbilder. Lassen Sie mich eines einfachen, heute
schon erwähnten Falles gedenken: jenes Künstlers, der
seinem ersten Biographen als seine Jugendge schichte die
„Fabel von der Entdeckung des Talentes" erzählt 29 ).
Wie immer man über diesen Vorfall urteile, wir erken-
nen noch in solcher Entstellung einen Vorgang, der, weit
verbreitet, im Menschenleben vielfach bestimmend ist
und den ich unter dem Schlagwort „g e 1 e b t e V i t a"
begreifen möchte 30 ). Den äußersten Fall, als dessen
karikierte Abwandlung das Verhalten unseres Bildhau-
ers angesehen zu werden verdient, hat uns eine Dichtung
kürzlich anschaulich vor Augen geführt. Ich meine
Thomas Manns „Joseph und seine Brüder", ein Buch,
in dem der Gedanke immer wieder anklingt, daß die
Folge der Geschlechter verschwimme, Nähe und Ferne
der Zeit durch das Mittel der Identifizierung zusammen-
29) Vgl. oben S. 171.
30 ) Wieweit im Einzelfall die Wirkung dieser „Vor-
bilder" reicht, ist schwer zu entscheiden. Wir wissen
nicht, — um nochmals am Leben des Messerschmidt
zu exemplifizieren, — wieweit er in den „typischen"
Aussprüchen und Handlungen, die von ihm berichtet
werden „Vorbildern" folgte, oder wieweit es sich um
die Neuentstehung" analoger Einstellungen handelte:
beides mag der Fall sein. Denn die Wahl der Identifi-
zierungen folgt in diesem Falle offenbar dem durch
Anlage und Schicksal gewiesenen Weg.
13*
*95
rücke, wie vor allem in der Gestalt jenes Eliezer,
eines Freigelassenen des Jaakob, „nicht zu verwechseln
(wie es Joseph zuweilen geschah und wie es auch der
Alte selbst sich wohl gerne einmal geschehen ließ) mit
Eliezer", Abrahams ältestem Knecht.
In einer Welt, deren Halbdunkel immer wieder in den
Mythos taucht, verschwimmt nach der Schilderung
Manns die Grenze der Person in der Tradition, ent-
scheidet die Identifizierung mit den Vätern immer wie-
der über Art und Bestimmung eigenen Daseins. Im
Normalfall des menschlichen Schicksals, in unserem
Lebensraum kommt dieser Verknüpfung nur eine unter-
geordnete, aber eine doch schwer überblickbare Rolle
zu. Viele von uns „leben" auch heute einen biographi-
schen Typus, das Schicksal eines Standes, einer Klasse,
eines Berufes.
Diese Schicksale lassen sich immer wieder auf typi-
sche Vorbilder zurückführen, die ihrerseits wieder von
der Biographik geprägt wurden. Im Normalfall finden
diese Identifizierungen im Über-Ich einen Niederschlag;
die Schicksale dieser Identifizierungen sind bestimmend
für die Schicksale des menschlichen Lebenslaufes, des-
sen psychoanalytische Erforschung eine zentrale Auf-
gabe der Ich-Psychologie zu werden verspricht. Am
durchsichtigsten sind offenbar jene Fälle, in dem diese
Identifizierungen für die Bildung der bewußten Anteile
des Über-Ichs bedeutsam sind; oft sind sie in der Be-
rufsethik repräsentiert ; die außerordentlichen Lei-
stungen, die sie vorschreiben und auslösen kann, läßt
uns von ihrer Macht hoch denken.
Es wäre eine lockende Aufgabe, hier weiter auszu-
holen, Möglichkeiten und Arten dieser Identifizierungen,
von denen einige — namentlich unter den mißglückten
— der psychoanalytischen Klinik gut bekannt sind,
weiter zu verfolgen, aber es scheint besser, den Zu-
gang zu diesen Fragen von anderer Seite her zu suchen.
Nur noch eine Erwägung sei abschließend vorgebracht:
196
Die Freiheit in der Lebensgestaltung des Menschen
ist offenbar enge mit jener Bindung zu verknüpfen, die
wir als „gelebte Vita" bezeichnen. Eine Reihenbildung
ließe sich ausdenken, die von den lächerlichen Gestal-
ten jener — nicht eben seltenen Menschen — , die für
Tagebuch oder Nachruf leben, dafür leben, „biographi-
sche Vorbilder" in irgend einem Sinne zu sein oder
zu werden, zu jenen führen, die, ohne diese Beziehung
zu Erbe und Tradition bewußt zu betonen, durch die
Tat, die sie setzen — oft, indem sie Traditionen über-
winden — , die alten Ideale der Biographik in neuer
Gestalt realisieren.
Denn diese Freiheit ist es, die wir dem Helden zu-
schreiben; wir sehen ein: Wenn wir vom Verhältnis
der Biographik zu ihrem Helden sprechen, verrät
sich im metaphorischen Ausdruck schon der entschei-
dende Sinngehalt. Alle Biographik sucht eine neue
Gestalt „in die Reihe der infantilen Vorbilder einzutra-
gen" (Freud), sucht und schafft den Heros,
den jungen Helden, den neuen Vater.
197
Die narzißtische Übertragung des
„jugendlichen Hochstaplers"
Von August Aichhorn, Wien
Ein Kapitel aus der Abhandlung „Zur
Technik der Erziehungsberatung. Die Über-
tragung'', Zeitschrift für psychoanalytische
Pädagogik, X. Jahrg., 1936, Heft 1. Der erste
Teil der Arbeit beschreibt die Beziehung der
Erziehungsberater zu den Eltern: die theo-
retischen Grundlagen dieser Beziehung, die
planmäßige Beeinflussung verschiedener El-
terntypen und gelegentliche analytische Hilfe-
leistung für die Eltern während der Behand-
lung ihrer Kinder; der zweite Teil ist den
Fragen der Beziehung der Erziehungsberater
zu den Jugendlichen gewidmet: der Herstel-
lung der Übertragung im allgemeinen und
den Methoden bei bestimmten Formen ju-
gendlicher Verwahrlosung. Die Arbeit ist
Sigmund Freud zu seinem 80. Geburtstag
gewidmet.
Unter den jugendlichen Verwahrlosten fiel uns ein
Typus durch eine besonders gesteigerte Übertragung
auf. Seine Beziehungen zu uns bleiben regelmäßig durch
lange Zeit so intensiv und eindeutig positiv, daß wir als
Erzieher erfreut, mit großer Zuversicht unsere Arbeit
in der Erwartimg fortsetzen, daß nun sehr bald aus
der Objektbeziehung eine Identifizierung mit uns er-
wachsen müsse, womit dann ein wichtiger Teil unserer
Erziehungsarbeit praktisch abgeschlossen gewesen wäre.
Jedesmal erlebten wir die unangenehme Überraschung,
daß der Jugendliche gerade in dieser Zeit anfing, sich
anders zu benehmen, als er nach unserer Überzeugung
sich hätte benehmen müssen. Er wurde zwar nicht
rückfällig, aber alle seine Äußerungen ließen zu unserem
Erstaunen erkennen, daß er erst jetzt begann, uns als
198
eigene Persönlichkeil, als anderes übjekl wahrzuneh-
men, daß er daher noch weit davon entfernt war, sich
mit uns identifizieren zu können; denn während der
ganzen Zeit unserer ' bisherigen Arbeit hatte er über-
haupt noch gar keine objektlibidinöse Beziehung zu
uns gehabt.
In reinster Form ist dieser Typus jugendlicher Ver-
wahrloster durch den „Hochstapler" vertreten. Bei ihm
erkannten wir auch zuerst, daß er infolge seiner psy-
chischen Struktur kaum eine objektlibidinöse Bezie-
hung herzustellen vermag. Die Abhängigkeit, in die wir
ihn intuitiv gebracht hatten, mußte also ganz anderer Art
gewesen sein. Mit fortschreitender psychoanalytischer
Einsicht vermochten wir unser gefühlsmäßig richtiges
Verhalten, die Beziehung des Jugendlichen zu uns, und
sein dadurch bedingtes Benehmen zu erklären, bis wir
schüeßlich die zur Behebung des Erziehungsnotstandes-
erforderlichen Reaktionen ganz bewußt hervorrufen
konnten.
Wie wir dabei vorgehen, wird der im folgenden mit-
geteilte Fall zeigen: Eine Mutter aus gut bürgerlichem
Milieu bringt ihren achtzehnjährigen Sohn in die Er-
ziehungsberatung, weil er in ihre Schmuckkassette ein-
gebrochen, Schmuckstücke entwendet und diese versetzt
hat. Da der Junge sich bis zu diesem Zeitpunkt nichts
zu Schulden hat kommen lassen, er nicht „schlecht
erzogen sein kann", für die Eltern daher nur eine Gei-
steskrankheit in Frage kommt, wird der Arzt zu Rate
gezogen. Dieser fragt den Jugendlichen eingehend aus,
und erfährt von ihm auch, daß dieser sehr viel Geld
für seine Abenteuer mit Mädchen braucht und es sich
nicht anders beschaffen konnte. Der Arzt schickt die
Mutter in die Erziehungsberatung. Die Einzelheiten über
die Familienkonstellation, die Kindheit und Erziehung
des Sohnes erfahren wir von der Mutter. Nach dem
Gespräch mit dieser, auf das wir hier nicht näher ein-
gehen wollen, nehmen wir den Jugendlichen vor.
*99
Der erste Eindruck, den wir von ihm gewinnen:
jugendlicher Hochstapler, der aus seiner psychischen
Struktur die dem Arzte gestandenen Abenteuer mit
Mädchen gar nicht gehabt haben konnte. Unser Verhal-
ten ihm gegenüber wird durch diesen Eindruck sofort
eindeutig bestimmt: wir begrüßen ihn mit einem Hände-
druck, ernst, aber nicht unfreundlich, wortlos, und
fordern ihn nur mit einer Handbewegung zum Sitzen
auf.
„Warum haben Sie den Arzt so zum Besten gehalten?"
damit beginnt unser Gespräch.
„Weil er danach gefragt hat", entgegnet er mit einem
Achselzucken.
„Wieviel Geld ist Ihnen noch geblieben?"
„Hundertfünfzig Schillinge."
„Wo haben Sie das Geld?"
„Hier, in meiner Tasche."
„Legen Sie das Geld auf den Tisch!" Er kommt dieser
Aufforderung, ohne zu zögern, nach.
„Würden Sie das Geld der Mutter zurückgeben?"
Nein!"
Würden Sie das Geld mir geben?"
„Ja.
Ich nehme ein Kuvert, lege das Geld hinein, sperre
es ein, schreibe eine Bestätigung über empfangene hun-
dertfünfzig Schillinge und überreiche sie ihm. Als er
sie nimmt, fragte ich:
„Woran denken Sie jetzt?"
„Daß ich dumm war, Ihnen das Geld zu geben."
„Warum haben Sie es mir denn gegeben?"
„Das weiß ich nicht."
„Denken Sie darüber nach."
„ ich weiß es wirklich nicht."
Wir sprechen nun ohne Übergang über die Schule, er
erzählt auch einiges von zu Hause und ich höre zu.
Nach einigen Minuten unterbreche ich ihn mit der Frage :
„Woran denken Sie jetzt?"
200
„Ich komme davon nicht los, wirklich dumm gewesen
zu sein. Ich hätte Ihnen das Geld doch nicht geben
sollen."
„Warum haben Sie es mir gegeben; vor zehn Minuten
kannten Sie mich noch nicht. Mir geben Sie es, der
Mutter nicht. Warum?"
„Das weiß ich nicht."
„Denken Sie doch darüber nach."
„ . . . ich habe das Gefühl, Sie hätten es mir aus der
Tasche gezogen. Nun bin ich in größter Verlegenheit.
Ich habe zwei Freunden versprochen, sie abends ins
Kino zu führen und habe kein Geld." j
„Sie können doch die Mutter darum bitten."
Das ist ausgeschlossen. Jetzt, da sie so böse auf mich
ist" kann ich nicht Geld für Kinokarten verlangen."
„Gibt es keine andere Möglichkeit, sich Geld zu ver-
schaffen?"
»Nein." . {{
„Doch, Sie können ja wieder stehlen.
''Meinen Sie das ernstlich?"
„Gewiß." ;,!,„
„Das ist doch nicht möglich ■
Warum nicht. Gibt es noch etwas, was Sie stehlen
könnten?"
,Ja. Ein Armband der Schwester.
,Wo ist dieses Armband?"
,In der Lade des Nachttisches."
Und nun besprechen wir diesen Diebstahl mit allen
Einzelheiten durch, wobei ich ihn an manchen Stellen
sogar noch aufmerksam mache, wie er es geschickter
anstellen könnte. Darüber ist er zunächst sehr erstaunt,
kommt aber allmählich aus seiner schlechten Stimmung
heraus, da er eine neue Möglichkeit sieht, sich wieder
Geld zu verschaffen.
Damit ist aber unser Gespräch nicht zu Ende. Es kann
doch nicht die Aufgabe eines Erziehungsberaters sein,
5?*
201
einen jugendlichen Verwahrlosten wirklich zu einem
Diebstahl zu verleiten. Daher setze ich fort:
„So, das werden wir aber nicht machen. Das Arm-
band heben wir uns auf, bis wir einmal mehr Geld
brauchen. Was kosten denn die Kinokarten?"
Er nennt mir einen Betrag, den ich meiner Geldbörse
entnehme und ihm gebe. Dadurch wird er völlig fas-
sungslos, da er jetzt überhaupt nicht mehr weiß, woran
BeX a n l8t Zu h ers \ neW ich «im den Rest seiner
Beule ab, dann gehe ich mit ihm - in der Phantasie -
stehlen und zum Schluß gebe ich ihm vom JLä
Gelde den notwendigen Betrag. s^«"
Ich will ihn eine Zeitlang in diesem Spannungszustand
belassen, schicke ihn daher gleich weg und bestelle ihn
für den nächsten Tag.
Am nächsten Tage kommt er mit folgender Bemer-
kung bei der Türe herein:
„Ich muß Ihnen etwas sagen, aber nein, - ich sa**
es Ihnen doch nicht." ag€
Ich reagiere darauf nicht, sondern fordere ihn nur
auf, sich zu setzen. Er setzt sich und beginnt:
„Wie gefällt Ihnen der Thomas Mann?"
„Was haben Sie von Thomas Mann gelesen?" Er
zahlt einige Werke auf und setzt fort:
„Wir lesen in der Schule jetzt Minna von Barnhelm
(er besucht die achte Klasse der Mittelschule) und da
kenne ich mich nicht aus." Er nennt die Stelle und will
nun von mir einen Kommentar dazu.
„Wer hat Minna von Barnhelm geschrieben?"
„Lessing. Warum schauen Sie von mir weg auf Ihro
Bücher?" 8 inre
Nun sehe ich den Zeitpunkt gekommen, aktiv ein
zugreifen, und frage: ' cin *
„Warum wollen Sie sich unbedingt den Beweis mei
ner Dummheit verschaffen?" Er erschrickt:
„In Ihrer Gegenwart darf man sich ja nicht einmal
etwas denken."
202
„Als Sie bei der Türe hereingekommen sind, wollten
Sie mir etwas sagen. Dann haben Sie darauf vergessen.
„Richtig. Unsere Köchin hat gesagt, du, sei vorsichtig,
das ist ein ganz ,Geriebener'."
„Eine gescheite Person?"
„Nein! Sie ist dumm."
„Wie fällt ihr ein, so etwas zu behaupten?
„Sie war schon vor meiner Geburt im Hause hat mich
sehr lieb und hat, als meine Mutter jetzt auf den Dieb-
stahl draufkam, sehr für mich Partei ergriffen.
„Hat die Köchin recht?"
"Dann Erzähle mir eine von deinen Gaunereien,
von denen noch niemand etwas weiß." Der Jugendliche
erzählt nun von Diebstählen, die bis auf zehn Jahre
zurückgehen. Zuerst kleinere Familiendiebstähle, dann
Entwendungen von Schmuckgegenständen und Geld auf
Reisen mit der Mutter, aus benachbarten Hotelzimmern;
in den Ferien im Schwimmbad aus fremden Kabinen;
eine ununterbrochene Folge von immer größer werden-
den Diebstählen, die unentdeckt geblieben sind, da nie-
mand den „wohlerzogenen Knaben aus gutem Hause"
verdächtigt hatte.
Nun bedarf es aber einer psychoanalytischen Betrach-
tung dieser hier geschilderten zwei Begegnungen.
Erinnern wir uns zunächst, was wir von Freud über
die Bedingungen und Folgen beim Überfließen narziß-
tischer Libido wissen 1 ).
Die Beziehungen zum anderen sind nicht immer ob-
jektlibidinöser Natur. Unter bestimmten Voraussetzun-
gen — einigermaßen wirksamer Verdrängung, Zurück-
setzung der sinnlichen Regungen — kommt es auch
zum Überfließen narzißtischer Libido. Obwohl in die-
sem Falle das Verhältnis zum Objekt ein anderes ist,
wird dieses Anderssein der Beziehungen nicht erkannt,
J ) Freud, Ges. Sehr., Bd. VI, S. 311 ff.
203
sondern das Objekt so empfunden, als hätte eine objekt-
libidinöse Besetzung stattgefunden, ebenso unerkannt
bleibt, daß das Objekt nun dazu dient, ein eigenes,
nicht erreichtes Ich-Ideal zu erreichen. „Man liebt es
wegen der Vollkommenheilen, die man fürs eigene Ich
angestrebt hat und die man sich nun auf diesem Um-
weg zur Befriedigung seines Narzißmus verschaffen
mochte." - Werden die auf direkte Sexualbefriedigung
drangenden Strebungen ganz zurückgedrängt, so wird
das Objekt immer großartiger, wertvoller; es gelangt
schließlich in den Besitz der gesamten Selbstliebe des
Ichs. — Gleichzeitig versagen die dem Ich-Ideal zuge-
teilten Funktionen gänzlich. Es schweigt die Kritik, die
von dieser Instanz ausgeübt wird; alles, was das Objekt
tut und fordert, ist recht und untadelhaft. Das Gewissen
findet keine Anwendung auf alles, was zugunsten des
Objektes geschieht. - Die ganze Situation läßt sich rest-
los in eine Formel zusammenfassen: das Objekt hat
sich an die Stelle des Ich-Ideals gesetzt.
Wir haben zuerst einen Erziehungsnotstand kennen-
gelernt und den Erziehungsberater in seiner prakti-
schen Arbeit beobachten können, dann die theoretischen,
von der Psychoanalyse kommenden Grundlagen für die-
ses Verhalten mitgeteilt und wollen nun versuchen zu
zeigen, wie aus der theoretischen Einsicht — unter den
besonderen Bedingungen der Erziehungsberatung — die
praktische Arbeit geworden ist.
Begegnen wir diesem Typus verwahrloster Jugend-
licher, dann versuchen wir gar nicht eine objektlibidi-
nöse Beziehung herzustellen; wir benehmen uns von
allein Anfange an so, daß er den Anreiz bekommt, nar-
zißtische Libido auf uns überfließen zu lassen, um damit
schließlich jene Abhängigkeit seiner Gesamtpersönlich-
keit von uns zu schaffen, in der das Ich zu seinem
Ich-Ideal steht.
Wir entschließen uns zu diesem Vorgehen, weil uns
die Praxis der Erziehungsberalung gelehrt hat, daß für
204
diesen Typus keine andere Möglichkeit, in ein gesteiger-
tes Abhängigkeitsverhältnis zu kommen, besteht, umso-
mehr, da wir gerade dieses ganz besonders für ihn zur
Erziehungsarbeit brauchen. Wir müssen berücksichtigen,
daß der Jugendliche in der Regel nicht in der psychi-
schen Situation zu uns kommt, in der wir ihn haben
müssen: er ist negativ, oft sogar feindselig eingestellt;
unsicher, irritiert; hochmütig, überlegen tuend; manch-
mal ganz uninteressiert, aber nur sehr selten erwar-
tungsvoll.
Es wäre nur dann wichtig zu wissen, welche dieser
psychischen Situaüonen im gegebenen Fall vorliegt,
wenn wir nicht die Möglichkeit hätten, den erforder-
nden labilen Spannungszustand durch unser Verhalten
immer hervorrufen zu können.
Seine Unsicherheit muß schon im ersten Augenbhck
der Betonung, durch die Art seines Empfanges em-
"t ist°nicht immer gleich ^^Jjjj
durch den Eindruck, den wir von dem Jugendücnen
bekommen, bedingt. Ein Beispiel dafür ist die vollkom-
men wortlose Begrüßung im vorliegenden Fall.
Vom Beginn an stellten wir uns in den Mittelpunkt,
reaten sein Interesse für uns an und bereiteten in ihm
den Wunsch vor, sich mit uns zu „messen^
Nun erfolgt die erste Frage: „Warum haben Sie den
Arzt so zum Besten gehalten?"
Die Frage wurde gestellt, um die labile Situation zu
unseren Gunsten zu entscheiden.
Durch deren Inhalt weiß er nun, daß wir ihn durch-
schauen.
Durch die Art und den Tonfall der Fragestellung
zwingen wir ihn, in dem von uns gewollten Sinne zu
reagieren.
Beides, Inhalt und Form, noch zusammen mit dem
Zeitpunkt, in dem die Frage gestellt wurde, brachten
die Entscheidung.
205
Wir nennen diesen Teil unserer Arbeit das Setzen
des „Überraschungsmomentes". Unvorbereitet, mit ganz
anderen Erwarlungsvorstellungen erfüllt, in unsicherer
Gefuhlssituation, erfolgt die Entlarvung, ohne die für
ihn einzig denkbare Folge: die Bestrafung.
Er merkt, daß wir nicht der ihn zur Verantwor-
tung ziehende Erwachsene sind, aber auch nicht der
Kamerad, der ihn wegen seines Mutes oder seiner Ge-
schicklichkeit bewundert, sondern ein undefinierbares
bisher nicht gekanntes Wesen, das ihn versteht, vielleicht
sogar mit dem leisen Unterton der Zustimmung, und das
ihm irgendwie, zwar unbegreiflich, aber nicht unange-
nehm empfunden, überlegen sein muß. Dies alles spielt
sich m seinem affektiven und nicht intellektuellen Ich
aD, da wir uns nicht in Worten in seiner Richtung
bewegen, sondern nur unser Verhalten ihm diese Deu-
tung ermöglicht, die aber auch falsch sein könnte
eLnZJt **t" "* ^ Selbst noch mit uns ^
e nandersetzen, aber es bleibt ihm die Möglichkeit, nun
zu uns wegen unserer „Überlegenheit", die er für das
25? Jh T tF€bt ' Bezi€h ^ en ™ bekommen. Der
nicht sehr aufmerksame Beobachter muß den Eindruck
SS CS ^ Cin€ »»^^ Besetzmig 2%
Wir nützen die Situation sofort aus, akzeptieren di>
uns eingeräumte bevorzugte Stellung und festigen •
noch, indem wir ihn zwar interessiert, aber in ruhiger
sachlicher Art, die jeden Widerspruch ausschließt, über
das vom Diebstahl noch gebliebene Geld befragen.'
Die Frage: „Würden Sie das Geld mir geben", erfolgt
um zu erfahren, ob die Abhängigkeit für einen aktiven
Eingriff schon tragfähig ist.
Die Empfangsbestätigung erhält er als Beleg, daß das
Geld sein Eigentum bleibt und er als vollwertig genom-
men wird, und daß wir nicht etwa die Absicht haben
es ohne sein Wissen der Multer zurückzugeben.
206
W
Mit der Obergabe der Empfangsbestätigung ist eine
Phase abgeschlossen, und wir müssen zur Weiterarbeit
seine psychische Situation in diesem Augenblick ken-
nen. Die Antwort auf die Frage: „Woran denken Sie-
jetzt?" zeigt, wie notwendig sie war.
Das nun folgende Gespräch wird nur geführt, um zu
beobachten, ob er noch weiter unruhig bleibt oder sich
mit der Tatsache, kein Geld mehr zu haben, abgefunden
hat. Es wird so bald nur deswegen abgebrochen und
dieselbe Frage wiederholt, weil er ziemlich uninteres-
siert erzählt und aus seinem Verhalten zu vermuten
ist, daß er noch immer an das mir übergebene Geld
denkt.
„ . . . Ich habe das Gefühl, Sie hätten es mir aus der
Tasche gezogen", zeigt wohl überzeugend genug, daß
seine Beziehungen zu uns wesentlich stärker geworden
sind und dementsprechend auch die Abhängigkeit sich
verhältnismäßig gesteigert hat.
Wir erfahren nun sofort, daß er in Verlegenheit ist,
weil er kein Geld für die Kinokarten hat und nicht
weiß, wie er es sich verschaffen könnte. Wir zeigen ihm
absichtlich die Mutter, weil wir voraussetzen dürfen,
daß er sich nicht an sie wenden kann. Damit ist ihm
seine ganze Hilflosigkeit vor Augen geführt und wir
erscheinen ihm als Retter, wenn wir selbst die not-
wendige Hilfe bringen.
Obwohl seine Beziehungen zu uns schon ein erheb-
liches Ausmaß erreicht haben, geben wir uns damit
noch nicht zufrieden. Wir wollen immer mehr in den
Besitz seiner narzißtischen Libido kommen, an die Stelle
seines Ich-Ideals treten und ihn selbst dadurch völlig
kritiklos machen; ein Abhängigkeitsverhältnis schaffen,
das nahezu an Hörigkeit grenzt.
Hiezu eine Bemerkung an den Erziehungsberater. Die-
ses Maximum an Beziehung ist bei diesem Typus Ver-
wahrloster für die erste Zeit der Arbeit, solange wir nur
als Erzieher auftreten, notwendig, aber nur dann zu er-
207
reichen, wenn er in uns einen großartigen Vertreter sei-
ner eigenen Welt erblickt. Er kann den Weg, den wir
ihm vorschreiben, nicht gehen, wenn wir bloß mit
unserem eigenen sozialen Über-Ich seinen Diebstahl ver-
stehen, wohlwollend beurteilen, sein Handeln tolerieren,
wohl aber, wenn wir „absolut mitspielen", seine eige-
nen Wertungen akzeptieren und ihm zeigen, daß wir
ein, in seiner eigenen Welt tatsächlich lebendes, erstre-
benswertes Ideal sind, d. h. noch besser stehlen können
als er.
Es muß uns klar sein, daß wir uns damit in eine
äußerst gefährliche Situation begeben, und wir wagen
sie nur, weil wir genau wissen, daß wir aus seinen
Beziehungen zu uns einen tatsächlichen Diebstahl ver-
hindern können.
Das Geld bekommt er von uns, um die reale Notwen-
digkeit eines Diebstahls auszuschalten. Außerdem errei-
chen wir dadurch in ihm einen solchen Aufruhr von
Gefühlen, daß er sich überhaupt nicht mehr zurecht-
findet. Bedenken wir: die rasch wechselnden Affekte
die unser Verhalten in ihm auslöst. Wir lassen ihn bei
uns nicht mehr zur Klarheit kommen, sondern schicken
ihn ohne Rücksicht, ob die „Stunde" zu Ende ist oder
nicht, weg, bestellen ihn aber wieder.
Betrachten wir nun die zweite Begegnung. Die Be-
merkung, die er beim Eintreten macht, zeigt deutlich ein
Mißtrauen. Es muß sich daher von gestern auf heute
etwas ereignet haben, das wir noch nicht wissen. Wir
bleiben deshalb vorsichtig, drängen ihn nicht, das Ver-
schwiegene zu sagen, um nicht seinen Widerstand anzu-
regen, sondern fordern ihn nur auf, sich niederzusetzen.
Nun fragt er! Er kehrt die Situation von gestern
um, gestern waren wir die Fragenden, heute sollen wir
ihm Rede stehen. Wir gehen nicht darauf ein, sondern
antworten mit einer Gegenfrage. Schon mit der dritten
Frage kommt er von der Literatur auf die momentan
gegebene Situation. Er hat gemerkt, daß wir ihm nicht
208
folgen, hat aber seine Tendenz noch nicht aufgegeben.
Unsere Frage: „Warum wollen Sie sich unbedingt den
Beweis meiner Dummheit verschaffen?" erfolgt aus dem
Ergebnis einer parallel während seiner Fragen ange-
stellten Schlußfolgerung. Wir wissen, daß dieser Typus
jugendlicher Verwahrloster Wert darauf legt, seine In-
telligenz jedem gegenüber und bei allen möglichen Ge-
legenheiten zu zeigen. Er bildet sich viel darauf ein, mit
gescheiten Menschen zu verkehren.
Sein Verhalten und seine Fragen lassen vermuten,
daß er aus dem gestrigen Abhängigkeitsverhältnis her-
auskommen will. Dies versucht er, indem er uns auf
ein Gebiet, — die Literatur — lockt, auf dem wir seiner
Meinung nach versagen müssen. Wären wir ihm auf
seine Fragen eingegangen, so hätten wir nutzlos Zeit
vergeudet und ihm vielleicht sogar die Möglichkeit ge-
geben, sein Ziel zu erreichen. Durch unsere Gegen-
fragen fühlt er jedoch, daß wir wieder wie gestern
der Überlegene sind. Der Beweis, daß er wieder in die-
selbe Abhängigkeit gerät, ist unbestreitbar seine Re-
aktion auf unsere Frage. Er erschrickt und sagt: „In
Ihrer Gegenwart darf man sich ja nicht einmal etwas
denken."
Ist er wirklich in einem Abhängigkeitsverhältnis, dann
muß auch sein beim Kommen vorhanden gewesenes
Mißtrauen geschwunden sein. Wir wollen unbedingt
sicher gehen und nicht durch eine Unvorsichtigkeit die
Situation gefährden. Deswegen fragen wir ihn: „Als
Sie bei der Tür hereingekommen sind, wollten Sie
mir etwas sagen, dann haben Sie darauf vergessen."
Um nicht sein Mißtrauen neuerlich erstehen zu lassen,
legen wir den Ton auf das Wort „vergessen".
Der Kampf, den wir gegen die Köchin führen müssen,
ist nicht schwierig zu gewinnen. Sie ist ja eine „dumme
Person". Das müssen wir ihm, dem „Intellektuellen"
durch unsere Fragestellung nur in Erinnerung rufen.
14 Almanach 1937
209
Daß sie uns auch die Möglichkeit geben wird, schon
bei der zweiten Begegnung die bewußt gebliebenen Dieb-
stähle fast restlos eingestanden zu bekommen, wußten
wir natürlich im voraus nicht, ebensowenig, daß wir
bei dieser Gelegenheit mit dem zum erstenmal gebrauch-
ten „Du" die Beziehungen zu uns auf längere Zeit hin-
aus im hohen Ausmaße gesteigert, festlegen können.
Wir nützen nur wieder einmal eine gegebene Situation
für unsere Zwecke aus.
Das Schaffen des Überraschungsmomentes ist keine
leichte Aufgabe. Man kann sich darauf nicht vorbereiten;
es ergibt sich aus der augenblicklichen Konstellation;
verlangt absolute Beherrschung der jeweils gegebenen
Situation. Durch richtige Abschätzung von Wirkungen, ehe
sie noch provoziert sind, rasches Kombinieren und so-
fortiges Entschließen ist die Vorbedingung zur Gestal-
tung des dramatischen Ablaufes, der dann als Über-
raschungsmoment wirkt, gegeben.
Ein Jugendlicher, der wegen Diebstahls bedingt verur-
teilt worden war, steht seit längerer Zeit unter Erzie-
hungsaufsicht. Die ihn überwachende Fürsorgerin bringt
ihn in die Erziehungsberatung, weil sie seit kurzem
manifest homosexuelle Beziehungen ihres Schützlings
vermutet.
Die ältere, erfahrene Fürsorgerin benimmt sich ihm
gegenüber der Situation entsprechend. Er ist der Er-
wachsene, den sie durch das ihr selbst eigene vor-
nehme Wesen zu beeinflußen sucht, weil sie in ihm.
Züge bemerkt, die auf ein solches Verhalten sehr posi-
tiv anklingen.
Aus den Mitteilungen der Fürsorgerin über sein jetzi-
ges Verhalten geht hervor, daß sie sich auch um seine
Geldausgaben kümmert, daß er sein Taschengeld von
ihr bekommt, sie wöchentlich nach seinen, durch sie
angeregten Aufzeichnungen, mit ihm abrechnet. Sie ist
besonders darüber erfreut, daß der Jugendliche auch
unnütze Ausgaben aufschreibt und ihr so eingesteht.
21 O
Seine Begrüßung weicht auch von der sonst üblichen
Art ab: die Fürsorgerin stellt uns einander vor, wie es
sonst in der Gesellschaft üblich ist. Er fühlt sich absolut
nicht als der Verwahrloste, der zu mir gebracht wird,
hält sich für den Überlegenen, den die Fürsorgerin
aufgefordert hat, mich aufzusuchen, weil ich mich für
ihn interessiere. Er weiß nicht, daß er unter einem Vor-
wand gebracht wurde.
Gleich nach unserer Begrüßung empfiehlt sich die
Fürsorgerin, um uns allein zu lassen. Unmittelbar vor
dem Weggehen nimmt sie ihn aber noch zur Seite. Ich
verstehe nicht, was beide miteinander sprechen, sehe
aber, daß er Geld bekommt und dabei seinen Mund
spöttisch verzieht, um sofort wieder ein freundliches,
nichtssagendes Gesicht zu zeigen. Die Fürsorgerin kann
diesen Zwischenfall nicht bemerken, da sie mit ihrer
Geldbörse beschäftigt ist.
Alleingelassen, frage ich ihn sofort, was besprochen
worden ist, aber so, daß er merkt, ich habe sein Lächeln
gesehen. Er entgegnet, die Fürsorgerin habe ihn gefragt,
ob er Geld für die Straßenbahn brauche, und habe es
ihm gegeben. Er setzt fort: die Fürsorgerin habe am
Tage vorher mit ihm abgerechnet und daher gewußt,
daß er ohne Geld sei. Ich gehe auf diese Bemerkung
nicht ein, sondern fordere ihn auf, mir seine Geldbörse
zu geben, dies aber in einer, keinen Widerspruch zulas-
senden Art. Er ist ungemein überrascht, zieht aber doch
die Börse und gibt sie mir, wenn auch zögernd, und
wird sehr verlegen. Ich finde in ihr ungefähr zwan-
zig Schillinge in Papier und Silber und einen Zettel, auf
dem zwei Männernamen mit Adressen sowie zwei Be-
gegnungen vorgemerkt sind. Ich sage ihm ohne weitere
Überlegung seine manifest-homosexuellen Beziehungen,
für die er sich auch noch bezahlen lasse, auf den Kopf
zu. Er ist derart überrascht, daß er gar nicht versucht,
zu leugnen, sondern sie sofort zugibt. Im weiteren Ver-
14*
21 1
lauf des Gespräches faßt er sich wieder und nun wer-
den seine Darstellungen sehr verlogen.
Wie sehr dieser Jugendliche sich auf die „Behand-
lung" der Menschen versteht, erhellt aus der Bemer-
kung auf die Frage, warum er die Fürsorgerin so belo-
gen habe: wenn ich mit ihr verrechne und zeige, daß
ich kein Geld habe, hält sie mich für anständig, macht
gute Berichte über mich und ich kann machen, was
ich will.
Ein Zweiundzwanzig jähriger ist wegen wiederholter
Betrügereien und Diebstähle aus der Familie entfernt
und bei Verwandten im Auslande untergebracht worden.
Die Eltern bekommen Nachricht, daß er sich neuer-
lich Schwindeleien habe zu Schulden kommen lassen,
und suchen in ihrer Ratlosigkeit die Erziehungsbera-
tung auf.
Der Erziehungsberater, der, ohne den jungen Mann
gesehen zu haben, nichts veranlassen kann, teilt dies
den Eitern mit, worauf sie die Heimkehr ihres Sohnes
veranlassen. In der Zwischenzeit erscheint ein Freund
der Familie in der Erziehungsberatimg und ersucht im
Auftrag der Ellern um Verhaltungsmaßregeln bei der
Ankunft des Sohnes. Aus den gegenseitigen Beziehun-
gen der Familienmitglieder untereinander erscheint es
dem Erziehungsberater wichtig, den jungen Menschen
zu sehen, noch ehe eine Begegnung mit den Eltern
stattgefunden hat. Er schlägt daher vor, daß nicht die
Eltern zur Bahn gehen mögen, sondern der Freund
der Familie, und daß dieser Franz — so heißt der junge
Mann — sofort nach seiner Ankunft zu mir bringe. Dies
geschieht auch. Franz bleibt im Warteraum, der Freund
kommt in das Beratungszimmer mit den Worten: „Sie
können sich nicht vorstellen, wie Franz sich benimmt.
Er ist von unbeschreiblichem Hochmut und von einer
eisigen Kälte, die kaum zu ertragen ist. Er hat von der
Bahn bis hieher nicht ein Wort gesprochen."
Ö 1 2
Ich lasse Franz absichtlich eine Stunde allein im
Warteraum. In dieser Zeit erzählt mir sein Begleiter
noch eine Reihe von Einzelheiten über den Jungen und
seine Eltern. Meine Überlegungen sind folgende: ist
dieses auffällige Verhalten beim Jugendlichen nur
„Maske", dann kann er das Alleinsein, in fremder Um-
gebung, in Erwartung dessen, was nun kommen wird,
nicht aushalten und wird zugänglich; ist sein Hoch-
mut echt, dann kommt es infolge der so langen Ver-
nachlässigung, die er als Beleidigung empfinden muß,
zu einem Affektausbruch. Andere Möglichkeiten, neu-
gierig an der Tür zu horchen, um zu hören, was gespro-
chen wird, oder hochmütig, interesselos zu bleiben,
waren nach dem, was ich bereits von ihm wußte, aus-
zuschließen.
Nach Ablauf der „Stunde Wartezeit" mache ich die
Tür zum Warteraum auf, um Franz vorzunehmen. Zu-
sammengekauert, ein Häufchen Elend, sitzt er aufge-
löst da. * 4 "i..
Ich nehme ihn bei der Hand, spreche ihn sofort mit
Du an führe ihn in das Beratungszimmer und sage:
Weine dich einmal ordentlich aus." Franz bricht in
einen Strom von Tränen aus und später, noch schluch-
zend beginnt er zu erzählen: von sich, von den Eltern,
die ihn nie verstanden haben, von zu Hause überhaupt,
von der Schule und seiner freudlosen Kindheit. Schon
bei der ersten Besprechung rollt sich ein trauriges
Kinderschicksal auf.
Die Übertragung ist sofort da und hält für die ganze
Dauer seiner Behandlung an.
Ein Gutsverwalter aus dem Auslande bringt seinen
Sohn, der schon in der Familie als Hochstapler gewer-
tet wird, in die Sprechstunde; Vater und Sohn kommen
gemeinsam, treten gleichzeitig ein und ich habe, wegen
des besonderen Verhaltens des jungen Mannes, keine
Möglichkeit, mich noch vorher mit dem Vater allein
zu besprechen. Die Miene des ungefähr Fünfundzwan-
213
zigjährigcn zeigt die ganze Geringschätzung der gege-
benen Situation; sein Blick ist prüfend überlegen, seine
Gedanken etwa: Welchen Zweck hat die ganze Ge-
schichte?
Der Vater erzählt die Verfehlungen seines Sohnes
mit vielen Einzelheiten. Das Verhalten des Sohnes zeigt
wachsende Langeweile; die Mitteilungen des Vaters be-
rühren ihn so wenig, als beträfen sie einen Fremden;
er hat sicherlich nur den einen Wunsch, unsere ihn
anödende Unterredung möge recht bald beendet sein.
Ich sage daher, als der Vater geschlossen hat, zuerst
scheinbar die Anwesenheit des Sohnes vollständig igno-
rierend, folgendes: „Hochstapler behandle ich nicht; es
wäre schade um meine Zeit und um Ihr Geld; ich finde
eine Behandlung auch zwecklos; stellt Ihr Sohn nichts
mehr an, dann ist ohnehin alles in Ordnung; wird er
rückfällig, dann wird er eingesperrt und Sie sind ihn
los." Nun wende ich mich zum Sohne und fahre fort:
„Oder Sie erschießen sich, wenn Sie nicht zu feige
sind, und dann ist die Angelegenheit auch erledigt."
Bei den letzten Worten dieser mit Absicht ruhig, affekt-
los, betont sachlich gesprochenen Sätze stehe ich auf
um zu zeigen, daß die Unterredung beendet ist.
Dem Vater ist die Bestürzung unschwer anzumerken.
Aus der Miene seines Sohnes ist zu erkennen, daß die
beabsichtigte Irritierung gelungen ist. Bei der Ausgangs-
türe reiche ich dem jungen Mann die Hand mit den
Worten: „Behandlung können Sie bei mir nicht finden
aber wenn Sie noch einmal mit mir sprechen wollen'
so erwarte ich Sie morgen." Ich gebe ihm auch die
Zeit an.
Nach ganz kurzer Zeit kommt der Vater allein zurück
und macht mir heftige Vorwürfe über mein ihm unver-
ständliches Benehmen. Er hatte die in meinem Ver-
halten gelegene Absicht nicht gemerkt und ich erkläre
ihm die Notwendigkeit meiner Handlungsweise aus dem
Benehmen seines Sohnes. Ich fordere ihn noch auf, sei-
214
nen Sohn in dem Entschlüsse, zu mir zu kommen oder
nicht, ja nicht zu beeinflussen. Der Vater geht sehr
erleichtert weg.
Am nächsten Tage zur festgesetzten Stunde kommt
der junge Mann tatsächlich nun in ganz anderer Ver-
fassung, viel gelöster, gefügiger, voller Erwartung — die
Übertragung hat eingesetzt.
215
Über Kindererziehung
Von John Rickman, London
Im Verlage Iiegan Paul, Trench, Trubner
<x Co., Ltd., London, ist im Jahre 1936 ein
von John Iiickman herausgegebener Sam-
melband unter dem Titel „On the Bringing
iip of Children" erschienen. Der Band ent-
halt wertvolle Beiträge von Ella Freeman
Sharpe („Planning for Stability"), Melanie
Klein („Weaning"), Merell P. Middle-
more („The Uses of Sensualitif), Nina
öearl („Questions and Answers") und Susan
Isaacs („Habit' und „The Nurseru as
a Community"). Der im folgenden mit Geneh-
mig £?? , T es Vcrla 0^ wiedergegebene, von
"Wälder übersetzte Abschnitt ist der von
John Rickman verfaßten Einleitung ent-
nommen. v
Der Fortschritt der Wissenschaft und der Zivilisation
wird nicht selten dadurch aufgehalten, daß der Appa-
rat der wissenschaftlichen Forschung nicht plastisch
genug oder in anderer Weise ungeeignet ist, neuentste-
hende Probleme zu behandeln. Wissenschaftliche Theo-
rien mögen dabei billigerweise zum „Apparat der For-
schung" gerechnet werden, denn es ist ihr charakteri-
stisches Merkmal, daß sie von den Umständen, für die
sie entworfen wurden, losgelöst und in andern Fällen
von gleichem inneren Bezug verwendet werden können-
so geschieht es, daß der Fortschritt in einem Zweier'
der Wissenschaft einen anderen bereichern oder selbst
revolutionieren mag. Freud hatte seine Studien an
erwachsenen Neuro likern begonnen; im Zuge seiner
Untersuchungen schuf er ein neues Instrument der
Forschung. Wie immer in solchen Fällen hat sich
dann das Feld der Untersuchung rasch sehr erweitert
und der Aspekt von Problemen, die mit dem ursprüng-
lichen Gegenstand scheinbar in keinem Zusammenhang
216
stehen, wurde radikal verändert. Das geschah auch in
der Kinderpsychologie.
Früher war die Beobachtung auf die bewußten Schich-
ten des Seelenlebens beschränkt und unbewußte Pro-
zesse waren nicht erkennbar; zumeist wurde sogar ihr
Dasein bestritten. Wir haben erst vor kurzem begonnen,
die Arbeitsweise der wichtigsten Komponenten des See-
lenlebens und der Persönlichkeit des Kindes zu ver-
stehen.
Die Entdeckungen der Psychoanalyse haben sich na-
türlich nicht an die Stelle jener gediegenen Arbeit und
klaren Beobachtung gesetzt, die auch bisher schon in
Fragen der Erziehung und des Wohles des Kindes
geleistet wurde, doch geben sie ihrer Anwendung grö-
I5ere Bestimmtheit und Präzision. Sie haben gezeigt, daß
die Entwicklung der kindlichen Seele ein viel kompli-
zierterer Prozeß ist, als man früher annahm, und daß
diese Entwicklung schwer beeinträchtigt werden kann,
wenn eine Erziehungsmethode angewendet wird, die
diese Verwicklungen unterschätzt.
Es ist kein Grund, vor dieser Komplikation zu er-
schrecken, wenn man sie nur versteht; in der Tat haben
die Menschen im long run mehr Schaden von vor-
eiligen Simplifizierungen erfahren als von der Verwir-
rung durch verwickelte Sachverhalte; denn die Simpli-
fizierung verführt dazu, zu glauben, daß man das Pro-
blem gemeistert habe, während man in Wahrheit nur,
ohne wirkliche Erkenntnis, bei einem Schlagwort oder
einer Formel Zuflucht gefunden hat.
Man könnte tragische Beispiele von Eltern geben,
die in Erziehungsproblemen Rat bei jenen gesucht ha-
ben, die eine unvollkommene Vorstellung von der fei-
neren Problematik des Gegenstandes haben, mit dem
sie sich vermeintlich beschäftigen. Manchmal ist der
Berater so voll Begeisterung über die bloße Tatsache
einer neuen Entdeckung, daß er die vielleicht noch not-
wendigere Vorsicht beiseite läßt, sich ernsthaft in die
217
fraglichen Forschungen zu vertiefen; er sieht vielleicht
einen Ausschnitt des neuen Werkes sehr lebhaft und
findet Befriedigung (und Anhänger), wenn er die neue
Doktrin preist und lehrt; er gibt sich aber keine Rechen-
schaft darüber, daß er ohne Erfassung des ganzen Pro-
blems die schwere Gefahr läuft, die in ihn Vertrauenden
irrezuleiten. Die Psychoanalyse hat viel unter einem
begeisterten Gefolge gelitten, das ihrer Arbeit doch nicht
enge genug folgt, und es ist nicht unangemessen, zu
verlangen, es solle, wer den Anspruch erhebt, die Ana-
lyse anzuwenden, auch wissen, wovon er spricht. Es
ist weder möglich noch wünschenswert, daß Menschen,
die in praktischer Tätigkeit stehen, jeder fehlerhaften
Darstellung von Tatsachen oder jeder Entstellung einer
wertvollen wissenschaftlichen Theorie mit einem De-
menti oder mit einer Aufklärung nachgehen. Die Wissen-
schaft kann leider mißbräuchliche Anwendungen ihrer
Entdeckungen, oder Verzerrungen ihrer Theorien nicht
verhindern, aber die Ausbreitung des Wissens sollte
schließlich den Schaden verringern, der durch verirrte
Enthusiasten angerichtet wird.
Eine der Schlußfolgerungen jener Kreise, die nicht
erfaßt haben, was in der „neuen Psychologie" wirklich
enthalten ist, geht dahin, daß ein pädagogisch richtig
behandeltes Kind keine nervösen Schwierigkeiten haben
würde, und daß das Auftreten psychischer Störungen
ein Beweis dafür sei, daß die Eitern immer das Un-
richtige tun. Das ist nicht nur falsch, es hat auch das
Erziehen für gewissenhafte Eltern sehr viel schwieri-
ger gemacht.
Alle Schuld für die neurotische Erkrankung der Kin-
der den Eltern zuzuschreiben, ist nicht nur den Eltern
gegenüber nicht fair, sondern auch ein übler Dienst
für die Kinder, denn es führt dazu, die Wichtigkeit der
seelischen Vorgänge im Innern des Kindes zu verdun-
kclll lind das Killd als ein Stück inaktiven plastischen
Materials zu betrachten. Es gibt inhärente Schwierig-
218
keilen der psychischen Anpassung, die Störungen ver-
ursachen können, wenn das Keim auch noch so gün-
stig ist; dazu gehört das kindliche Schuldgefühl, und
wenn wir das nicht wissen, können wir dem Kinde
nicht zu einer Milderung des Schuldgefühls verhelfen.
Wenn ferner die Eltern immer annehmen, daß etwas,
was sie getan haben, das Kind nervös gemacht habe,
so neigen sie dazu, in irgendeiner ihrer jüngsten und
spezifischen Handlungen die Ursache zu suchen, wer-
den selbst nervös und fürchten sich davor, überhaupt
irgendeinen elterlichen Einfluß auf die Erziehung ihrer
Kinder auszuüben.
Der wirklich wichtige Faktor in der Erziehung ist
die allgemeine Haltung der Eltern und die Art,
in der die Details des alltäglichen Lebens
behandelt werden. Krisen und Entscheidungen, die in
den Beratungen der Eiternabende und in den zwang-
losen Diskussionen so viel Zeit in Anspruch nehmen,
sind von viel geringerer Bedeutung. So mag z. B. die Ent-
scheidung, keine Körperstrafen anzuwenden, an und für
sich unserer Bewunderung wert sein, wenn sie aber
nicht vom Verständnis für die Haltung des Kindes
gegenüber seinen eigenen Vergehen unterstützt ist, wird
die gute Absicht, die die Entschließung hervorbrachte,
kaum Nutzen stiften; denn bei aller Vermeidung der
Körperstrafe mögen die Eltern die schädigenden Folgen
übersehen, die von einer moralisierenden Haltung aus-
gehen, und das Kind wird mit einem übertriebenen Ge-
fühl von Schuld und Verantwortlichkeit heranwachsen.
Manches, was den Eltern trivial erscheint, mag für das
Kind von großer Wichtigkeit sein. Die Phantasie des
Kindes beschäftigt sich oft viel mit den kleinen Frei-
heiten und Einschränkungen, obwohl sie dem Erwach-
senen, der die kindlichen Phantasien nicht versteht,
geringfügig erscheinen. Anderseits sollte man Dinge, die
den Ellern wichtig scheinen, wie z. B. saubere Hände
und gute Manieren bei Tische, dem Kinde lieber in all-
219
mählicher Entwicklung wichtig werden lassen, statt sie
ihm mit einem Schlage als Pflicht aufzuerlegen. Es ist
ebenso unvernünftig, von den Kindern Gleichförmigkeit
und Kontinuität des sozialen Wachstums zu erwarten
als etwa zu erwarten, daß ihre Körpergröße jedes Jahr
um die gleiche Anzahl von Zoll zunehme. Gutes Be-
tragen wird nicht immer rasch erworben und es ist
nicht immer wohlfundiert, wenn es zu schnell ange-
nommen wurde. Die Fähigkeit, guten Kontakt mit an-
dern Menschen zu gewinnen und eine ungestörte Be-
ziehung ihnen festzuhalten, ist wichtiger als die Fähig-
keit, ihr Betragen nachzuahmen: In keinem Falle ist
dieser gute Kontakt aber von größerer Wichtigkeit als
in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern; er
ermöglicht dem Kind, eine starke und doch plastische
Persönlichkeit aufzubauen, die unabhängig ist und auf
eigenen Füßen stehen kann, aber für die ältere Gene-
ration die Neigung bewahrt, die das Willkommen tiefer
und wärmer machen wird, mit dem es einst eine noch
jüngere erwarten wird.
220
Ichgrenzen, Ichstärke und Identifizierung
Von Paul Federn, Wien
Aus der Arbeil „Zur Unterscheidung des
gesunden und kranken Narzißmus", Imago,
Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie,
ihre Grenzgebiete und Anwendungen, Band
XXII, 1936.
Daß ein Individuum übermäßig narzißtisch mit seinen
Erlebnissen mitagiert, kann eine Art Ichschwäche ver-
raten, eigentlich in paradoxer Weise einen Mangel an
normalen narzißtischen Gegenbesetzungen. Häufig ist es
ferner die Fortsetzung des allgemeinen Verhaltens der
Eltern gegenüber dem Kleinkind, das man nicht sich
naiv entwickeln und seine Entwicklung naiv erleben
ließ Man könnte sagen, daß ein Kind von guten Eltern
sein müsse, um das Verhalten guter Eltern unbeschä-
digt zu vertragen. Nicht nur im Über-Ich, auch im Ich
setzt sich das Verhalten der Umgebung nun als Selbst-
beachtung fort. Ich erwähnte diesen bekannten und
nicht einer psychoanalytischen Einsicht vorbehaltenen
Zusammenhang nur, um daran anknüpfend darauf auf-
merksam zu machen, daß wir den eine Zeitlang so häufig
verwendeten Ausdruck „Ichschwäche" auch in bezug
auf das Verhalten der Ichgrenzen, soweit dasselbe für
das Individuum typisch ist, verwenden und dabei die
Art der Ichschwäche näher beschreiben können. Ob
man das dargestellte Übermaß an narzißtischer Reaktion
als Ichschwäche bezeichnen kann, lasse ich dahingestellt;
es kann eine ständige Bereitschaft und eine übermäßige
Wichtigkeit des Ichs bedeuten, die nicht gerade reaktiv
gegen die eigenen Schwächen nach dem typischen Ad-
ler sehen Mechanismus entstanden zu sein braucht.
Auch eine größere Affektivität, welche sich in starken
Affektreaktionen kundgibt, wird nicht von jedermanns
Standpunkt aus als Ichschwäche beurteilt- werden. Nicht
221
jeder teilt den Standpunkt Nietzsches, der jenes
Gewissen als robusL bezeichnet, welches nur schwer
reagiert, so geistreich und weildeutend auch dieses
Paradoxon war. Wir können aber für die Ichgrenzen
deren Labilität und Stabilität feststellen und sprechen
dort von Ichschwäche, wo die erste über die andere
allzu sehr überwiegt. Man kann anderseits eine ab-
norme Ichstarrheit oder Ichschwere in der übergroßen
Stabilität erkennen. Die ideale Ichform wird die sein,
in welcher die Ichgrenzen rasch und leicht wechseln
können, aber jederzeit stabil bleiben, wenn ein Stand-
punkt festgehalten oder verleidigt zu werden hat. Ob-
gleich diese Unterschiede von den Charakterologen wie-
derholt beschrieben wurden, bespreche ich sie liier,
weil man zu ihrem Verständnis den Ichgrenzen und
der narzißtischen Gegenbeselzung Beachtung zuwen-
den muß.
Wir finden also in verschiedenen Zeiten und Bereit-
schaf tszu ständen bei demselben Individuum und dauernd
bei verschiedenen Individuen eine andere Resistenz ge-
genüber inneren und äußeren Einflüssen auf das Ich
Von den inneren Einflüssen haben wir in anderem Zu-
sammenhang, wenn auch nicht erschöpfend gespro-
chen; die äußeren gehen meistens von fremden Indi-
viduen oder von fremden Ideen aus, was im Prinzip
dasselbe ist, wie wir aus Freuds Massenpsychologie
gelernt haben. Es gibt Menschen, die ihre Ichgrenzen
jederzeit auf jeden neuen Eindruck hin erweitern, also
bereit sind, stets neue und andere Objekte ins Ich
aufzunehmen, d. h. mit Ichgefühl, mit narzißtischer
Libido zu besetzen und so stets neue Identifizierungen
einzugehen. Solcher ungehemmten Erweiterung der Ich-
grenze entspricht nicht immer deren ebenso schnelle
und hemmungslose Zurückziehung. Individuen mit fester
solider Ichgrenze können solche mit weicher, leicht
bewegter Ichgrenze überhaupt nicht begreifen. Daß es
Berufe vom Henker abwärts und von ihm aufwärts
222
bis zu Timur und seinesgleichen gibt, zeigt die Mög-
lichkeit absoluter Resistenz der Ichgrenze. Die Zustim-
mung des Über-Ichs, also die moralische Frage, die
uns hier nicht beschäftigt, wird durch die Teilung der
Verantwortlichkeiten in der Gesellschaftsordnung ermög-
licht. Im Gegensatz hiezu kann der mimosenhaft Mit-
leidige überhaupt nie sein Ich für sich bewahren. Ein
sehr geschätzter Arzt und Analytiker hat solche Leute
„Identifizierungsakrobaten" genannt. Die Resistenz der
Ich-Grenzen, die Härte des Ichs, sind Vorbedingung so-
wohl der Grausamkeit wie der Gerechtigkeit, der Un-
entwegtheit und des objektiven Verständnisses. Die wi-
derstandsunfähige Ichgrenze ist hingegen die Bedingung
des Mitleids, der Massen- und Menschheitsgefühle, der
Einfühlung und der Versöhnlichkeit. Bis zu einer ge-
meinsamen Identifizierung erweiterte Ichgrenzen können,
unbeschadet der gleichzeitigen Fortdauer der individu-
ellen Ichgrenze, eine sehr starke narzißtische Besetzung
erhalten — z. B. im Nationalismus, in religiösen oder
politischen Verbänden, in militärischen Einheilen — und
dann durch ihre Resistenz den Individuen einen starken
und ihnen sehr erwünschten Halt geben. Weit kompli-
zierter wird daher diese charakterologische Einteilung
dadurch, daß bei demselben Individuum bestimmte Ich-
grenzen sehr, andere wenig resistent sind. Personen
mit sehr resistenten Ichgrenzen gegen religiöse Einflüsse
können sonst jedem stärkeren Einfluß nachgeben. Es
handelt sich hier darum, daß gegenüber verschiedenen
Objektgruppen oder Identifizierungsmöglichkeiten, und
dabei auch gegenüber bewußten und unbewußten, die
mitwirksam sind, die narzißtischen Gegenbesetzungen
verschieden stark sind und mit den verschiedenen Ich-
gebieten auch nicht in gleicher Art verbunden sind.
Es scheint selbstverständlich, daß das Ich, dieses
mächtige und immer bereite Besetzungszentrum, bio-
logisch eine besondere Aufgabe haben muß, die es auch
ausschließt, daß das Ich nur das künstlich psvcho-
223
logisch isolierte Gemeinsame der Funktionen von Kör-
per und Seele sei. Das Ich hat die biologische Funktion,
die Interessen des I^ebewesens, dem es vorsteht, d. h.
Verteidigung, Angriff, Nahrung, Hausung usw. bis zu
den Sexual-, Liebes- und höchstens individuellen Kul-
turbedürfnissen zu vertreten, naturgemäß und unbedingt
zu vertreten, in der kulturellen Gesellschaft allerdings
gebändigt vom Über-Ich und gerichtet von allen in das
Ich aufgenommenen Tendenzen. Aus biologischen Grün-
den gehören Nestbau und Brutpflege beim Tiere, die
daraus entstandene Familienbindung beim Menschen mit
zu den Interessen des Individuums und daher auch
deren Wahrnehmung mit zu den gefühlsmäßig akzep-
tierten Ichfunktionen. Wenn die oben genannte bio-
logische Funktion des Ichs zweifellos den Egoismus als
notwendige und berechtigte Grundlage alles individuel-
len Seins erkennen läßt, so entspricht das dem tat-
sächlich zu Sehenden und überhebt uns der Heuchelei,
den Egoismus zu verleugnen und ihn doch ständig be-
tätigen zu müssen. Diese Formel beseitigt aber auch
die Unvereinbarkeit von Egoismus und Altruismus und
läßt die oft zur Grübelei ausartenden Erörterungen, daß
aller Altruismus dennoch eine Art Egoismus sei erledi-
gen. Für den Narzißmus, den Freud als den libidi-
nösen Parallelvorgang zum Egoismus bezeichnet hat
wird dadurch gleichfalls seine biologische Funktion deut-
lich erkennbar. Das Ich hat schwere Aufgaben zu erfül-
len; dadurch daß die Ichfunktionen mit Libido besetzt
sind, erhält es bei allen seinen Funktionen narzißtische
Lustprämien. Beim Tier, bei einfachen menschlichen
Verhältnissen, reicht die Kraft und Fähigkeit des Indi-
viduums eben aus, um sich selbst biologisch durchzu-
setzen; dementsprechend hat das Ich nur die egoisti-
schen biologischen Funktionen im engen Sinn mit Libido
besetzt. Es erscheint auch für viele Menschen im Kul-
tur- und Gescllsc haftsieben eine genügend große und
schwere Aufgabe, dies zu erfüllen. Die Härte, mit der
224
^
sie ihre Ichgrenzen sich nicht erweitern lassen, ist
daher für sie ganz selbstverständlich und ein normaler
Akt des Selbstschutzes. Mit der Erweiterung der Lei-
stungsmöglichkeit durch die kulturelle Entwicklung in
allen Richtungen, die hier keiner Nennung bedürfen,
hat auch das Individuum in Gemeinsamkeit mit ande-
ren und als Teilfunk tionär der Gemeinschaftsleistungen
Fähigkeiten erworben, die weit über die des Einzelnen
hinausgehen; dementsprechend konnten die Ichgrenzen
sich erweitern und Funktionen, die das enge Eigeninter-
esse weit überschreiten, gleichfalls ihre narzißtische Be-
setzung erhalten und mit der narzißtischen Lustprämie
erfüllt werden. Harmonisch erscheint daher das Indi-
viduum, bei dem Interessen, Fähigkeiten und narziß-
tische Besetzung im gleichen Rahmen und Ausmaß
bestehen. So wird die Lehre vom Narzißmus und ihre
Anwendung für das Verständnis des Ichs, wenn auch
nicht zu einem neuen Ausgangspunkt, so doch zu einer
neuen Fundierung der sozialen Einordnung und Einord-
nungsfähigkeit. Für unser Thema erkennen wir, daß
die Labilität der Ichgrenzen, wenn sie nicht mit be-
sonderen Leistungen und Fähigkeiten des Individuums
verbunden ist, Konflikte und Unzulänglichkeit mit sich
bringen muß und so ebenso zu neurotischen Erkrankun-
gen führt, wie sie anderseits als Folge neurotischer
Konflikte und als Kompensation für objektlibidinöse
Versagungen entsteht. Doch ist die Labilität der Ich-
grenzen gewiß auch zum Teil konstitutionell vorbe-
reitet; wir finden sie regelmäßig bei besonders infan-
tilen und besonders auch bei bisexuellen Individuen.
Der vom Infantilismus und von der Bisexualität kausal
und zweifellos auch konstitutionell bedingte Masochis-
muß läßt die narzißtische Besetzung der Ichgrenzen
mehr passiv und leichter zerstörbar, beweglicher wer-
den. Die bisexuelle Anlage läßt schneller Identifizierun-
gen mit gleichgeschlechtlichen Individuen entstehen,
auch weil sie die heterosexuellen objektlibidinösen Be-
15 Almaiiach 1937
225
Ziehungen slört. Auch beim Weibe stört die verstärkte
männliche Anlage die normale sexuelle Verwendung
der weiblichen Passivität und disponiert so zur maso-
chistischen Einstellung des Ichs und damit zur Labili-
tät der Ichgrenzen.
Wie wir oben ausführten, ist die Bereitschaft zur
Identifizierung eine Folge der Kulturentwicklung. Es ist
keine Frage, daß die Kultur gegenüber den schweren
Lebensnöten — Kälte, Hunger, Feinden, die mit Tod,
Kastration und Sklaverei drohen, — einen relativ gro-
ßen Schutz bietet. Dadurch hat sie erlaubt und es er-
reicht, daß die Resistenz der Ichgrenzen gemildert wurde.
Anderseits hat aber die weiter fortschreitende Kultur
es erst erlaubt und auch bewirkt, daß die wohlbe-
kannte phylogenetisch lange Zeitperioden hindurch be-
standene, zum Gruppen-Ich erweiterte Ichgrenze sich
auf das Einzel-Ich einschränken konnte. Dieses Gruppen-
Ich bedeutete aber keine Weichheit der Ichgrenze, son-
dern einen ständig verbleibenden, sehr resistenten grö-
ßeren Umfang des Ichs, der das einheitliche seelische
Ichgefuhl, wahrscheinlich auch das körperliche Ich-
gefühl begrenzte. Wir können daher sagen, daß die Kul-
tur zuerst die Resistenz der Ichgrenze im Gruppen-Ich
später die Resistenz der Ichgrenzc im Einzel-Ich hat
entstehen lassen und dann einzelnen, zum Teil weichen
gütigen, allmenschlichen, zum Teil nur schwachen Indi-
viduen die besondere Erweiterung des Ichs und eine
besondere Labilität der Ichgrenzen gestattet hat; ander-
seits sehen wir immer wieder Regressionen zu den im-
mer besonders resistent sich zeigenden Ichgrenzen eines
allerdings erweiterten Gruppen-Ichs.
Von der Labilität der Ichgrenzen ist prinzipiell eine
andere Art von Ichschwäche zu unterscheiden, auf die
wir gleichfalls durch die Auffassung, die hier vertreten
wird, — Ichgefühl, Ichgrenzen, narzißtische Gegenbe-
setzung — , besonders aufmerksam wurden. Es handelt
sich um einen Vorgang, von dem auch die Stabilität
226
oder Labilität der IchhalLung abhängt. Wir können
es in der Regel als den normalen Vorgang bezeichnen,
daß das Gesamt-Ich im seelischen Gleichgewicht bleibt,
d. h. seine narzißtischen Besetzungen nicht verliert,
obgleich eine besondere Leistung, etwa eine starke affek-
tive Inanspruchnahme, erfolgt. Es ist hingegen patho-
logisch, wenn fast das gesamte Ichgefühl, zuviel nar-
zißtische Besetzung, gleichsam an diesen Grenzen kon-
zentriert ist und das ganze Ich der betreffenden Inan-
spruchnahme widerspruchslos hingegeben ist. Selbstver-
ständlich gilt das nicht für ungewöhnlich schwere Er-
eignisse. Aber auch bei solchen besteht ein Unterschied,
ob das Ich nur mit ergriffen ist, oder ob es sozusagen in
seiner strukturierenden, das Ich gefühlsmäßig erhalten-
den Besetzung leidet. Wir können für Affekte gleicher
Art, je nachdem ob sie das Gesamt-Ich überwältigt ha-
ben, oder ob dessen Stabilität intakt geblieben ist, im
Sprachgebrauch je zwei Bezeichnungen finden. Angst
und Furcht sind z. B. nicht, wie Freud, ohne übrigens
darauf zurückzukommen, einmal meinte, dadurch unter-
schieden, daß die Furcht ein Objekt habe, die Angst
ein objektloser Seelenzustand sei. Der wichtigste Unter-
schied liegt darin, daß die Angst das Gesamt-Ich ergreift,
die Furcht nur einen Teil des Ichs an der dem gefürch-
teten Objekt zugewendeten Ichgrenze. Nur an der Ich-
grenze, welche die Gefahr bedroht, besieht beim Fürch-
tenden die Gefahrsempfindimg. Das Erfaßtwerden des
Gesamt-Ichs von dem Gefühl der Gefahr oder, wie ich
schon ausführte, von dem halluzinierten Schrecken läßt
die Richtung des Objekts, von dem sie droht, nicht
mehr beachten. Auch kann ein Furchtgefühl intensiv
sein, ohne Angst zu werden, und ein Angstgefühl geringe
Intensität haben; doch ist es Angst, weil eben das
ganze Ich vom schwachen Gefahrgefühl erfaßt wurde.
Diesem Unterschied ist eine andere Unterscheidung von
Furcht und Angst beigeordnet. Wenn man beide Gefühle
vergleicht, so enthalten sie beide die Vorstellung des
15*
227
Schreckens; auch Adler beschrieb die Angst als hal-
luzinierte Gefahr. Die Angst ist aber das Gefühl eines
durch die Vorstellung des Schreckens gehemmten
F 1 i e h e n s, die Furcht das Gefühl eines durch die
Vorstellung des Schreckens gehemmten Sich w eh-
rens. Der Angstvolle empfindet, „spürt" daher stets
die Gefahrdrohung im Rücken, der Fürchtende hat die
Gefahrdrohung vor seinen Augen, tatsächlich oder gei-
stig. Es kann daher Angst zur Furcht oder auch Furcht
zur Angst hinzutreten oder eine in die andere sich
wandeln.
Den gleichen Gegensatz zwischen Erfaßtheit des gan-
zen Ichs und nur eines Teiles des Ichs drücken ferner
die Wortpaare „Wut und Zorn", „Pein und Schmerz",
„Leid und Unglück", „Stimmung und Laune", vielleicht
auch „Sühne und Buße", „Rache und Vergeltung", „Ver-
liebtheit und Liebe" aus. Der Unterschied, ob das Ich ganz
oder nur an einer Ichgrenze beteiligt ist, entscheidet,
ob etwas dem Ich nur widerfährt oder ob etwas das Ich
überwältigt. Im ersten Falle kann das Ich die auferlegte
Affekterregung in sich mit Hilfe der anderen Ich-
grenzen erledigen, im andern Fall muß erst die Über-
wältigung wieder ablaufen. Auch die Identifizierungen
zeigen den gleichen Unterschied, sie können mit dem
ganzen Ich oder nur mit einem Teil erfolgen. Wahr-
scheinlich ist der Masochismus bei beiden Arten von
Identifizierungen ein anderer. Nur die Identifizierung
des ganzen Ichs verdient den Namen Introjektion des
Objekts, der von Ferenczi herrührt; diese Art von
Identifizierung geht auf unbewußte orale oder intesti-
nale Einverleibung zurück oder auf unbewußte Rück-
kehr in den Mutterleib ; es sind tief und weit zurückgrei-
fende Icherweiterungen. Die meistens später eintretenden
Icherweilerungen durch Identifizierung beruhen unmit-
telbar auf der Ausdehnung der Ichgrenzen, der seeli-
schen und der körperlichen, so daß sie nun die andere
Person in sich einschließen. Das geschieht wohl auch
228
bei jeder Objektbeziehung, bei jedem Objektinteresse,
aber hier immer nur vorübergehend an der jeweilig vor-
handenen Ichgrenze. Bei der Identifizierung dauert die
Ausweitung der Ichgrenze an und erfolgt an immer
mehr und mehr Ichgrenzen. Es ist dies ein langsamer
Prozeß allmählicher Vereinigung, die immer wieder,
aber im einzelnen stets nur partiell, verläuft. In der
kindlichen Entwicklung und im Unbewußten verbleibend,
wiederholt sich bei diesen Identifizierungsvorgängen die
seelische Zugehörigkeit zu den geliebten Personen, wel-
che immer eine Ausdehnung des Ichgefühls, d. h. der
narzißtischen Besetzung des Ichs, auf sie bedeutet; es
wiederholt sich auch die Ausdehnung des körperlichen
Ichgefühls des Kindes, das sich an die schützende Person
anschmiegt oder von ihr gehalten und getragen wurde.
Das Einswerden durch Festhalten und Umarmen ge-
schieht mit starker libidinöser Besetzung, die genitale,
sinnliche und Zärtlichkeits triebe, taktile und muskuläre
Libido (z. B. vom Anklammerungstrieb nach II e r-
mann) und andere Komponenten enthält. Jedenfalls
fühlt sich das Kleinkind durch die Einschließung seiner
Person in das Ich der geliebten Person, mit der es sich
dadurch eins fühlt, mit ihr identifiziert, nicht nur angst-
los und geschützt, sondern auch körperlich größer und
von dem Gefühl der Schwäche seines Ichs befreit. Und
doch sind solche Identifizierungen bereits zweckbedingt
und partiell, nicht wie die ersten, die mit dem ganzen
Ich erfolgen. Hingegen liegt wahrscheinlich jeder tota-
len Identifizierung die phylogenetisch fixierte Einheit
des Individuums mit Allem, also die primär-narzißtische
Besetzungseinheit zugrunde, die, wie wir früher schon
ausführ len, bei der Erweiterung der Ichgrenzen zum
Gruppen-Ich erneuert werden kann.
229
Zur Entwicklung und Problematik
der Triebtheorie
Von Edward Bibring, Wien
Gekürzte Wiedergabe des IV. Abschnittes
der Arbeit „Zur Entwicklung und Problematik
der Triebtheorie", Imago, Zeitschrift für
psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzge-
biete und Anwendungen, Bd. XXII, 1936.
Das Problem des Aggressionstriebes
Die Notwendigkeit, in einem vierten Schritt die Trieb-
theorie neu zu gestalten, ergab sich teils aus dem Stu-
dium der im weitesten Sinne sado-masochistischen Er-
scheinungen, sowie aus einer adäquateren Auffassung
des Aufbaues des seelischen Apparates, die sich aus der
Zuwendung zur Erforschung nicht allein wie bisher der
verdrängten, sondern auch der verdrängenden Kräfte des
Ichs ergab.
Ich verlasse im folgenden die rein historische Darstel-
lung, die sich auf die Reihenfolge der Freud sehen
Publikationen zu stützen hätte, und stelle diesen vier-
ten Schritt, der meiner Meinung nach in zwei Teile zu
trennen ist, mein* nach systematischen Gesichtspunk-
ten dar.
Die Notwendigkeit, ein unbewußtes Schuldgefühl an-
zunehmen, führte zu einer neuen Konzeption über den
Aufbau der Person, zur Gegenüberstellung des Es und
des aus ihm hervorgegangenen organisierten Anteils
des Ichs. Das Es umfaßt die psychische Vitalschicht
in der die Triebe ihren Ursprungsort haben und die
in freier Verbindung mit dem Ich steht, ferner den
verdrängten Anteil derselben, der durch Gegenbesetzun-
gen in der freien Kommunikation mit dem Ich behindert
ist, und schließlich den unbewußten Anteil des Ichs,
das Über-Ich.
230
Der vierte Schritt in der Entwicklung der Triebtheorie
besteht darin, daß die Aggression aus den Ichtrieben
herausgenommen, das heißt nicht mehr als Partial-
trieb oder als Charakter derselben aufgefaßt, sondern
als selbständige Triebgruppe mit eigenen Zielen in die
psychische Vitalschicht verlegt wird. Die neue Trieb-
theorie lautet demnach, daß in der Vitalschicht zwei
Gruppen von Trieben vorhanden sind, die libidinösen
und die aggressiven, bezw. destruktiven. Beide drängen
selbständig zur Befriedigimg und gelangen teils im freien
Kampf um diese, teils unter dem Einfluß des unter
dem Druck der Außenwelt und des Über-Ichs stehenden
Ichs zu den verschiedensten Beziehungen (Verknüpfun-
gen oder Gegensätzen) zu einander. Sie können zu den
in die Richtung auf die Selbsterhaltung wirkenden Ten-
denzen des Systems, die im Ich repräsentiert sind (Ich-
triebe), leicht in Gegensatz geraten. Den in der Vital-
schicht wirkenden Sexual- und Aggressionstrieben als
den objektgerichteten Trieben stehen die im Ich wir-
kenden Ichtriebe gegenüber.
Hier ergeben sich drei Fragen: 1. Aus welchen Grün-
den war dieser vierte Schritt notwendig? 2. Was leistet
diese neue Triebtheorie, die, im genetischen Sinne dua-
lislisch, dennoch drei Triebgruppen von einander unter-
scheidet? 3. Haben das Kriterium der Einteilung und der
Begriff des Triebes eine Veränderung erfahren?
Da eine Reihe von bei Besprechung des dritten Schrit-
tes angeführten Argumenten es notwendig gemacht hatte,
die Aggressionstendenzen aus den Sexualtrieben her-
auszunehmen und sie den Ichtrieben zuzuschreiben,
reduziert sich das Problem der Aufstellung eines selb-
ständigen Aggressionstriebes auf die Frage, ob aggres-
sive Tendenzen (nichtlibiclinöser Natur) außerhalb der
Ichfunktionen eine Rolle spielen.
Es scheint kein Zweifel, daß aggressive Tendenzen an
sich außerhalb der Ich-Erhaltungsfunktionen betätigt
werden und wenig Sexuelles verraten. Außerdem wird
231
die vollständige Zuordnung der Aggressionen zu den
Ichtrieben dort problematisch, wo die Wirkung jener zu
diesen in einen Gegensatz gerät. Alle Erscheinungen des
sexuellen Sadismus können durch die Beimengung der
Ichtriebe noch erklärt werden. Viel schwieriger ist dies
aber bei den Erscheinungen des Masochismus. Die Ich-
Iriebe sind Repräsentanten jenes „Triebes, der alles
Leben am Leben festzuhalten zwingt". Daß nun der
Schmerz, der als ein Signal im Dienste dieses Lebens-
triebes gelten mußte, selbst zum Ziel eines (masochisti-
schen) Triebes werden konnte, schien den Prinzipien
des Biologischen zu widersprechen, auch wenn der
Begriff der Sexualisierung zur Erklärung geeignet schien.
Noch stärker trat das Problem bei der selbstzerstören-
den Macht der melancholischen Verstimmung hervor,
die Freud als „eine psychologisch höchst merkwür-
dige Überwindung" des lebenerhaltenden Triebes be-
zeichnet Ebenso verhält es sich mit den gegen das
eigene Ich gewendeten Tendenzen des Über-Ichs be
zichungsweise des Strafbedürfnisses, das geradezu wie
ein eigener Trieb zu wirken scheint.
Diese Erscheinungen, gegen die das Ich sich zu weh-
ren hat wie gegen die libidinösen Regungen, lassen
sich durch die Aggression der Ichtriebe nur schwer
erklären. Diese Theorie wird von Freud sichtlich
sehr bald fallen gelassen; außer in den zitierten Ab-
schnitten der Arbeit über „Triebe und Triebschicksale"
wird sie nicht erwähnt. Trotzdem bleibt das Problem
ob Aggressionserscheinungen außerhalb der Ich-Abwehr-
funktionen auftreten, in einem gewissen Sinne bestehen.
Auch die Beziehung zwischen dem Allmachtsrausch des
Ichs und der Intensität der befriedigten Aggressionstriebe
gehört hierher.
Es war nur eine konsequente Wendung, daß nach der
Gegenüberstellung des Ichs und des Es, gegen dessen
Triebe sich jenes zu wehren hatte, die aggressiven Ten-
denzen als selbständige Triebkräfte in die psychovitale
232
Schichic des seelischen Apparates verlegt wurden. Es
war, wie Freud im sechsten Kapitel des „Unbehagen
in der Kultur" meint, tatsächlich keine neuartige Ab-
änderung der "Trieblehre, sondern es handelte sich dar-
um, „eine Wendung, die längst vollzogen war, scharfer
zu fassen und in ihre Konsequenzen zu verfolgen.
Mit Hilfe der Annahme eines Aggressionstriebes las-
sen sich die hierher gehörigen Tatsachen zweifellos
leichter beschreiben. Das Ich hat gegen die Aggression
genau so zu kämpfen wie gegen die Libido, es kann
ihr stattgeben, sie sublimieren, verdrängen, durch Reak-
lionsbildungen ändern, es kann sie durch l^inose
Beimischung mildern, sich selbst als Objekt anbieten
und die Aggression auf sich lenken, z. B. etwa auf
dem Weg üb°er das Über-Ich. Allerdings ist mit der blo-
ßen Aufstellung eines selbständigen Aggressionstriebes
zunächst nicht alles erklärt. Nicht so sehr die destruk-
tiven Wirkungen nach außen waren zuletzt proble-
matisch geworden, sondern das Auftreten der gegen
das Selbst gewendeten zerstörenden Tendenzen, wie sie
sich in der Melancholie, im Slrafbedürmis, in der
Schicksalsneurose darboten. Hier trat so etwas wie ein
im eigenen Innern wirkender Trieb zur Zerstörung in
Erscheinung, der der biologischen Auffassung noch grö-
ßere theoretische Schwierigkeiten bereitete als die Tat-
sache der Schmerzlust auf dem engeren Gebiete der
Sexualtheorie. Es schien, als hätte die beginnende Er-
forschung des Ichs zur Aufdeckung eines phylogenetisch
jüngsten Triebes geführt, der mit der Kultur der Men-
schen entstanden sein mochte.
Die primäre Destruktion
Über die Tatsache des Über-Ichs und seiner unter
Umständen bis zur Vernichtung der eigenen Existenz
des Individuums führenden ßeslrafungstendenzen kann
kein Zweifel sein. Ebensowenig darüber, daß mit der
Erklärung einer Wendung der Aggression gegen die
233
eigene Person die theoretische Erfassung dieser Er-
scheinung unzulänglich bleibt. Die eigentliche Problema-
tik beginnt erst mit der Gewinnung dieser Erklärung
und laulet: Wie ist eine solche bis zur Selbstvcr-
nichlung gehende Wendung gegen die eigene Person
möglich, d. h. unler Beibehaltung der bisherigen bio-
logischen Auffassungen erklärbar? Es entspricht ganz
den methodischen Prinzipien der Analyse, hier ein Ur-
sprunglicheres anzunehmen, auf dessen Bahnen die Wen-
dung der Aggression gegen das eigene Ich erfolgen
konnte. Dieses Ursprünglichere konnte nicht anders ge-
dacht werden als eine triebhafte, irgendwie selbstzer-
slorend wirkende, in ihrer Wirkungsweise aber zu-
nächst unbekannte Tendenz.
Dieses Problem war in einer gewissen Annäherung
schon in der Sexuallheorie gegeben. Freud formuliert
es mit der Frage, ob der Sadismus oder der Masochis-
mus das Primäre, d. h. biologisch Ursprüngliche sei.
Schon damals zog Freud die analogen Probleme aus
der Entwicklung rein libidinöser Triebe heran um fest-
zustellen, daß ein dem narzißtischen Stadium analoges
im Gegensalz zu anderen Partialtrieben, wie z. B. zum
Exhibitionismus, beim Sadismus fehle oder sich nicht
formulieren lasse.
Die erwähnten klinischen Erscheinungen und die
grundsätzliche methodische Forderung nach einem ur-
sprünglichen Modell in Analogie mit den parallelen
Aufstellungen der Libidolehre mußten also zur An-
nahme einer irgendwie im eigenen Innern wirkenden
„selbstzerstörenden" Tendenz führen. Diese wäre dann,
analog dem primären Narzißmus, eine Art von primärer
Destruktion. Die objektlibidinösen Tendenzen korrespon-
dieren mit der auf die Objekte gewendeten Aggression.
Die Erscheinungen des sekundären Narzißmus entspre-
chen jen en der sekundären Destruktion 1 ).
*) Vgl. die Arbeit von E. Weiss: „Todestrieb und
Masochismus", Imago XXI, 1935, S. 393 ff.
; 54
' •
Eine solche Durchführung der Analogien wird gestutzt
durch die Feststellung, daß zwischen Aggression und
Selbstdestruktion ähnliche Schwankungen bestehen wie
zwischen narzißtischer und objektgerichteter Libidoposi-
tion. Die Aggression kann ebenso nach innen gewendet
werden, wie die Selbstdestruktion, wenn sie bedroh-
liche Grade erreicht, ihr Ventil durch eine „Wendung
nach außen" in die Aggression findet.
Hier bleibt also das Problem: Wenn sich die Annahme
eines primären Stadiums des Destruktionstriebes theo-
retisch als unabweisbar zeigt, wie ist dann eine solche
Tendenz formulierbar? Zur Beantwortung dieser Frage
entwickelt Freud alle jene Gedankengänge, die zu so
viel Mißverständnis und so viel Widerspruch führten.
Die Theorie von den Urtrieben
Die bisher entwickelte theoretische Problematik des
vierten Schrittes wird nun ergänzt, zusammengefaßt
und zu lösen versucht durch die weitere Theorie von
den Urtrieben. Als solche unterscheidet Freud
die Lebens- und die Todes triebe. Diese Theorie wird
nicht auf Grund neuen psychologischen Materials oder
überhaupt psychologischer Fragestellungen gebildet, son-
dern erfolgt im Zusammenhang mit theoretischen Pro-
blemen, die durch die bisherigen Aufstellungen gefor-
dert wurden und deren Lösung sie anstrebt. Insofern
stellt sie einen theoretischen Über-, bezw. Unterbau
dar und ist im Verhältnis zu der auf Grund klinisch-
psychologischer Tatsachen und Probleme bisher aufge-
bauten Triebtheorie eine Theorie zweiten Grades. Da
sie fast völlig auf biologischen Erwägungen ruht, ist
die Urtriebtheorie eine biologische Triebtheorie: Die
Lebens- und Todes triebe sind als solche psychologisch
nicht faßbar, sondern rein von der Hypothese gefor-
derte biologische Triebe. Aus dieser Auffassung ergibt
sich unmittelbar, daß man streng genommen die Ur-
triebtheorie nur im Zusammenhange theoretischer Erör-
235
terungen, niemals aber solcher klinisch-empirischer Na-
tur heranzuziehen hätte; zur Klärung dieser Tatbestände
reichen die Begriffe der Aggressions-, bezw. Destruk-
tionstriebe aus.
Eine solche scharfe Trennung der Begriffe ist meines
Erachtens geeignet, gewisse Irrtümer zu vermeiden und
die Klarheit der klinischen Beschreibung zu sichern.
Die Art, wie Freud die Todestrieblehre einführte,
hat einigermaßen Verwirrung gestiftet, vor allem in der
Frage der Beziehung zwischen Wiederholungszwang und
Todestrieb. Daher sei gleich hier hervorgehoben, daß
der Wiederholungszwang von Freud zur Ableitung
des Todeslriebes verwendet wird, daß aber dessen Ab-
leitung mit Hilfe des Wiederholungszwanges keine not-
wendige ist. Aus den Arbeiten Freuds lassen sich im
Grunde zwei Arten der Ableitung der Todestrieblehre
feststellen. Ich möchte sie als die s p e k ul a ti ve und
die theoretische einander gegenüberstellen. Die spe-
kulative ist in „Jenseits des Lustprinzips" gegeben und
die eigentlich durchgeführte. Die theoretische ist in
verschiedenen zerstreuten Andeutungen niedergelegt die
sich zu einem Ganzen ordnen lassen. Zunächst sei die
spekulative besprochen.
Die spekulative Begründung der Todestrieblehre
Es geht über den Rahmen dieses Aufsatzeis hinaus,
die Gründe, die zur Aufstellung des Wieder ho lun<*s-
zwanges führten, und die Problematik, die mit seiner
Aufstellung verbunden ist, näher zu erörtern. Als Resul-
tat ergab sich die Notwendigkeit, einen vom Lustprinzip
unabhängig wirkenden Regulationsmechanismus anzuneh-
men, der viel ursprünglicher, d. h. historisch früher
und elementarer schien als das Lustprinzip und schließ-
lich als ein Urprinzip, eine Ureigenschaft des Lebens
aufgefaßt wurde. Als solche ist er auch das Gharakte-
rislikum aller Triebe, also nicht etwa nur des Todes-
triebes.
256
Der Begriff des Wiederholungszwanges ist kein ein-
deutiger; er enthält mehrere Bestandteile. 1. Der Wieder-
holungszwang ist Ausdruck der „Trägheit" der leben-
digen Substanz, der „Abneigung, eine alte Position einer
neuen zuliebe zu verlassen", also einer konservativen
Tendenz, die das Gegebene immer wieder festzuhalten
trachtet. 2. Daraus ergibt sich das Festhalten von An-
passungen, von Umwegleistungen als Reaktionen auf
Störungen des bisherigen Ablaufs: „Prägsamkeit des
Lebens". Die erworbenen Anpassungen werden festge-
halten und reproduziert. Hierher gehört das biogene-
tische Grundgesetz und überhaupt der Reproduktions-
be^riff der Biologie. 3. Die konservative Natur des Le-
bens äußert sich aber nicht allein im Festhalten und
Reproduzieren der einmal gegebenen Abläufe, sondern
auch in einer rückwärts gewendeten Tendenz, die aufge-
zwungenen Anpassungen zu überwinden, gleichsam ab-
zustoßen und die ursprünglichen, d. h. historisch frü-
heren Situationen wiederherzustellen. Hier wird die
Trägheit, die konservative Natur zur aktiven „Sehnsucht
nach dem Alten", d. h. zur regressiven Tendenz. Diese
Formulierung wird für die Ableitung der Todestriebe
von Bedeutung. 4. In seiner energetischen Fassung er-
weist sich der Wiederholungszwang als ein Spezialfall
der Abfuhrtendenzen. Die durch traumatische Reize
ausgelösten großen Energiemengen werden durch Ge-
genbesetzung gebunden und dann allmählich unter Wie-
derholung der traumatischen Situation zur funktionier-
ten Entladung gebracht. Hierher gehören die Träume
der Unfallsneuroliker, das Kinderspiel, die Erscheinun-
gen der Üertragungssituation in der Analyse usw.
Freud verwendet die historische Formulierung des
Wiederholungszwanges, daß er das jeweils Frühere wie-
der herzustellen bestrebt ist, uin den Todestrieb abzu-
leiten. Das Früheste des organischen Lebens ist der
Augenblick seiner Entstehung aus der anorganischen
toten Substanz. Das Beharrungsgesetz der physikali-
237
sehen Natur, das nur der Veränderung widerstreb l,
wird — gleichsam — in der biologischen Welt zu einer
akliven Tendenz nach rückwärts im historischen, zur
Entspannung, zur absoluten Ruhe im energetischen
Sinne. Damit werden aber auch die Schwierigkeilen
dieser spekulativen Ableitung deutlich. Von den hypo-
thetischen Belastungen, die ihr zahlreich anhaften, kön-
nen wir ohne weiteres absehen; ebenso vom berech-
tigten Einwand der Extrapolation, den Federn und
nach ihm E. Weiss erhoben haben. Die Ableitung
hat den weiteren Nachteil, daß der Todestrieb der ur-
sprüngliche Trieb ist, die Lebenstriebe aber später im
Anschluß an Zufälle der Entwicklung entstanden sind.
Dies führt zu einer Unterordnung der Lebens- unter die
Todestriebe, etwa wenn Freud in „Jenseits des Lust-
prinzips" meint, daß die ersteren im Grunde genommen
im Dienste der letzteren wirken. Nach dieser Auffas-
sung hätten die Lebenstriebe alle Möglichkeiten von
Spannungen zu realisieren, um sie dann der entspan-
nenden Ablaufslendenz des Todestriebes zu überant-
worten. Der spekulative Ansatz Freuds isf tatsächlich
so pessimistisch: Das eigentliche Wesen des Lebens
ist der Tod.
Eine solche Unterordnung der Lebenstriebe unter die
Todestriebe scheint aber theoretisch nicht ganz Gerecht-
fertigt; zumindest ist sie im umgekehrten Sinne ebenso
möglich und berechtigt. Freud korrigiert diese Auf-
fassung in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Ein-
führung in die Psychoanalyse", indem Lebens- und To-
deslriebe als gleichzeitig und nebengeordnet wirkende
Triebe aufgefaßt werden. Das Leben ist Todes- und
Lebenstrieb zugleich.
Die theoretische Ableitung der Todestrieblehre
Der erste, pessimistisch scheinende Ansatz ist darauf
zurückzuführen, daß die Annahme von Lebenstrieben
theoretisch nicht im gleichen Maße dringlich nahegelegt
238
wurde wie jene der Todes triebe. Wenn ihre Annahme
in einem gewissen Sinne theoretisch trotzdem gefor-
dert wird, so geschieht dies weniger aus psychologisch-
theoretischen Gründen als auf Grund biologischer Er-
wägungen. Die Sexualität als Beziehung verschieden-
geschlechtlicher Keimzellen, bezw. ihrer Träger, tritt
erst im Laufe der phylogenetischen Entwicklung in
Erscheinung. Sie müßte also eine Neuerwerbung oder
— wahrscheinlicher — eine unter gewissen Bedingungen,
vielleicht im Dienste der Anpassung, notwendig gewor-
dene Modifikation eines älteren Triebes sein, der etwa
die allgemeinsten Charaktere der Sexualtriebe aufwies:
die Tendenz, Bindungen herzustellen oder, energetisch,
Spannungen zu erzeugen.
Die Konzeption der neuen Trieblehre ging aber offen-
bar vor allem von der theoretischen Notwendigkeit
aus, das Problem der primären Destruktion zu lösen.
Ich habe oben gezeigt, welche Erwägungen zu diesem
Problem führten, und kann es mir daher ersparen,
sie hier zu wiederholen. Die Frage erfährt aber noch
eine gewisse Erweiterung.
Es entspricht ganz der biologischen Orientierung der
Psychoanalyse und der bisher verfolgten biologischen
Fundierung der Trieb theo rie, für die im eigenen Innern
wirkende Destruktion ein vorgegebenes biologisches
Modell zu suchen. Das Problem ist also, das biologi-
sche Modell für eine im Psychischen wirkende primäre
Zerslörungstendenz, deren Annahme theoretisch nahe-
gelegt wurde, zu formulieren. Wie früher die Aggression
in ihren Zielen der Libido widersprach, so widerspricht
die Wendung gegen das Ich dem Prinzip des Lebens,
sich selbst zu erhalten, — wenn nicht im Leben selbst
etwas enthalten ist, das eine solche Rückwendung er-
möglicht. Die Fragen, die wir hier zu erörtern haben,
sind: 1. Wie ist die primäre Destruktion zu formulieren?
2. Wie ist das angenommene „biologische Entgegen-
kommen" aufzufassen?
239
Die Frage nach dem ursprünglichen Modell für die
(primäre und sekundäre) Selbstvernichtungstendenz muß
zur Frage nach dem Tode führen. Die Frage nach dein
Wesen des Todes und seiner Stellung innerhalb des
Lebens ist in gewissem Sinne mit jener identisch und
müßte zur Lösung des Problems beitragen können. Die
Beziehung zwischen Leben und Tod wäre sonach, wenn
es ein biologisches Modell für die Selbstzerstörung gibt,
notwendig als eine innigere zu denken, als man anzu-
nehmen geneigt ist, oder, mit anderen Worten, die Be-
ziehung zum Tode muß eine Wesenseigenschaft des
Lebens sein. Diese Fragestellung führt direkt zur Bio-
logie und reduziert sich auf die Alternative: Ist der
Tod nur die Folge einer Schädigung von außen oder
gibt es ein natürliches Ende des Lebens? In der ersten
Auffassung ist das Leben theoretisch ein ewiger Pro-
zeß, der nur durch die Zerstörung von außen her sein
Ende findet. In der zweiten ist der Tod ein notwendiger
Bestandleil des Lebens. Die verschiedene Auffassung vom
Wesen des Todes korrespondiert mit einer bestimmten
Auffassung vom Wesen des Lebens.
Es würde zu weit führen, die hierher gehörenden
biologischen Tatsachen und Überlegungen anzuführen.
Dies sei einer anderen Darstellung vorbehalten. Hier
genüge die Beschränkung auf zwei Fragen und ihre
Beantwortung. Die eine Frage ist die eben gestellte
und ihre Beantwortung lautet in der vorsichtigen For-
mulierung Freuds aus „Jenseits des Lustprinzips":
Es gibt eine Reihe von Tatsachen, die für einen natür-
lichen Tod sprechen, zumindest aber keine, die eine
solche Annahme unbedingt ausschließen.
Die zweite Frage lautet: Ist der natürliche Tod,
der ja nicht das Keimplasma, sondern nur das Soraa
erfaßt, ein phylogenetischer Erwerb (ermöglicht durch
die Entstehung des vielzelligen Organismus), der mit
dem eigentlichen Wesen des Lebens nichts gemein hat?
Es scheint, daß auch hier die Antwort möglich ist, daß
240
sich in der phylogenetischen Entwicklung nur etwas
differenziert hat, was integriert schon beim Einzeller
vorhanden ist, d. h. der natürliche Tod ist eine ursprüng-
liche „Eigenschaft" des Lebens. Angesichts der allge-
meinen Triebhaftigkeit des Lebens ist also auch das
Sterben etwas triebhaft Angestrebtes. Was bedeutet das
im dynamischen Sinne?
Für die Auffassung des Lebens als eines individuellen
Systems, das sich „kreislaufartig" um eine bestimmte
Gleichgewichtslage reguliert, ist der Tod etwas System-
fremdes, reine Zerstörung von außen. Für die „lineare"
Ablaufskonzeption des Lebens ist der Tod etwas Lebens-
wesentliches, das Ziel, auf das hin das ablaufende Le-
ben getrieben wird. Leben ist demnach Sterben, ist
ein Ablauf zum Tode, zum Potential Null. Der Freud-
schen Auffassung des Lebens entspricht meines Erach-
tens weder die eine noch die andere, sondern ein Drit-
tes: die Vereinigung beider. Das lebendige System wird
von zwei Tendenzen beherrscht, das Leben läuft zum
Potential Null, erzeugt aber gleichzeitig neue Span-
nungen. Es ist, mit einem Bilde Asters zu reden,
eine Uhr, die sich immer wieder selbst aufzieht. Beim
Individuum führt das Leben scheinbar unvermeidlich
zum Tode. Begreifen wir aber alles Leben nach Vergan-
genheit und Zukunft hin und über die individuelle Er-
scheinung hinaus als einen einheitlichen Prozeß, dann
wird die Richtigkeit dieses Bildes offenbar: Der Kampf
der Giganten erzeugt immer wieder neue Formen des
Lebens und immer wieder neues Sterben in einem
unaufhörlichen, scheinbar unendlichen Prozeß.
Die Bedeutung der Todestriebtheorie
Was leistet nun diese Konzeption zur Klärung der theo-
retischen Probleme und für die Vereinheitlichung der
verschiedenen theoretischen Ansätze? Nicht alles, aber
viel.
16 Almanach 1937
241
Das biologische Modell der primären Destruktion ist
also der Todestrieb, der als Ablaufstendenz zur abso-
luten Ruhe, zum Potential Null hin formuliert werden
kann. Primäre Destruktion, Aggression und alle Formen
ihrer Rückwendung nach innen lassen sich theoretisch
einheitlich aus dem Todestrieb begreifen, allerdings nur
mit Hilfe gewisser Konstruktionen, denen zwar manche
Schwächen anhaften mögen, die sich aber auf gewisse
Beobachtungen stützen.
Behandeln wir zuerst das Thema der Aggression. Die
Tatsache einer Wendung der Aggression gegen die eigene
Person, aber ebenso die beobachtbare neue Wendung
dieser rückgewendeten Destruktion als Aggression gegen
die Außenwelt legen es nahe, ähnliche Vorgänge und
Zusammenhänge zwischen primärer Destruktion und Ag-
gression nach außen anzunehmen, nämlich, daß die pri-
märe Destruktion unter gewissen Bedingungen sich
„nach außen kehre". Das gleiche wird durch die Fest-
stellungen der Massenpsychologie nahegebracht. Die Bin-
dung der aggressionsbereiten Einzelnen zu einer organi-
sierten Masse und die damit einhergehende Ablenkung
der Aggressionen auf ein außerhalb der Masse liegendes
Stück Außenwelt, den sogenannten „Widersacher" sei
es eine Gegenidee oder eine „Gegenmasse", gibt zusam-
men mit der erwähnten klinischen Beobachtung das
ontogenetische Modell (E. Kris) ab, auf Grund
dessen dann das phylogenetische Modell konstruiert
werden kann. Nach diesem wurde vermutlich mit der
Entstehung des vielzelligen Organismus aus dem Ein-
zeller die Selbstdestruktion der nun aneinander gebun-
denen Zellen, vielleicht mit Hilfe libidinöser Triebe
unschädlich gemacht und teilweise als Aggressionstrieb
in irgendeiner Form nach außen gewendet.
Versuchen wir jetzt eine Gesamtaufstellung der er-
reichten Triebeinteilung in Analogie mit den parallelen
Begriffsbildungen der Libido theo rie. Wir haben demnach
folgende Gegenüberstellung :
242
Lebenstriebe (Eros) Todestriebe (Ursadismus,
Urmasochismus).
Die Sexualtriebe: Die destruktiven Triebe:
Primärer Narzißmus Primäre Destruktion
Objektlibido Objektgerichtete Aggression
Sekundärer Narzißmus Rückge wendete Aggression
(sek. Destr.)
Diese konsequente Gegenüberstellung entspringt kei-
neswegs einem Bedürfnis nach systematischer Reihen-
bildung, sondern soll bei der Diskussion der Frage
nach den manifesten Erscheinungen der Todestriebe
eine Rolle spielen.
Die Bezeichnungen Lebenstriebe und Sexualtriebe so-
wie Todestriebe und Destruktionstriebe werden von
Freud synonym und ohne jede Abgrenzung verwen-
det. Eine scharfe Trennung, insbesondere der letzte-
ren, scheint tatsächlich nicht möglich; dennoch wollen
wir hier aus heuristischen Gründen eine gewisse Ab-
grenzung versuchen.
Die Lebens- und die Todestriebe sind rein biologische,
im Organischen wirksame Triebe, die sich in irgend-
einer Form auch im Psychischen widerspiegeln. Die
Sexualtriebe sind nur eine spezialisierte Form der Le-
benstriebe. Ähnliches gilt vom Begriff der destruktiven
Triebe. Beide Termini sind eigentlich nur begriffliche
Zusammenfassungen aller libidinösen Erscheinungen auf
der einen, aller destruktiven, bezw. aggressiven auf der
anderen Seite. Eine Frage nach den Manifestationen
dieser Triebe ist also durch den Hinweis auf alle zu
diesem Gebiet gehörigen direkten oder abgewandelten
Tatsachen zu beantworten. Die Erscheinungen der
Sexualtriebe sind hinlänglich bekannt; ebenso die der
„nach außen gerichteten" und rückgewendeten Aggres-
sion. Bleibt also die Frage nach der psychischen Re-
präsentation der primären Destruktion analog jener des
primären Narzißmus.
Gibt es nun seelische Tatsachen, welche als Ausdruck
dieser primären Destruküonstendenz zu werten wären?
16*
243
Der Umstand, daß diese Frage überhaupt gestellt wird,
sowie der andere, daß diese primäre Destruktionslendenz
erst theoretisch erschlossen werden mußte, ist gleich-
bedeutend mit der Annahme, daß es sich um „stille
Triebe" handeln muß. Die primäre Destruktion muß
also definiert werden; etwa als die destruktive Energie,
vermöge welcher wir auch psychisch altern und ster-
ben (vgl. E. Weiss). Der richtige Satz, man komme
ohne den Begriff der medialen Destrudo nicht aus, be-
inhaltet nur die Notwendigkeit der Annahme der Exi-
stenz einer solchen Triebkraft, definiert sie aber
nicht. Um diese Definition zu gewinnen, war der
umweg über die Biologie notwendig. Dieses Faktum
übersehen Dlskussionen ^er den Todestrieb meist
al^t^t 318 d v f initorisch ^t die primäre Destruktion
Frle o " U besUmmen - Dann bleibt aber noch die
bare AmJ l ^ nicht mittelbare, so doch miltel "
Zwei tST *** Primüren Destruktion gibt-
hlLlf^n ? nUen ZUr Bea *lwortung dieser Frage
5SS3K:ÄS daS R ^bedürfnis Ö und das Leid-
Das Ruhebedürfn s wu nioM PlaUSÜ>el ZU machen '
dun* auf snnrWn i Z * DUr als Fol g e d « r ErnlU '
7Ä n ^ * n natürlicher Abwechslung mit Pha-
TJZ SÄS ° der inmitten ^Iben ** ein gleich-
l^r Jr f GS PrimareS ****. das nun seine
de, Ä 8 r T DaS B<3dÜrfnis nach Ruhe scheint
den psychischen Apparat ebenso zu beherrschen wie
das Bedürfnis nach Lust; und gerade das vereinigte
Auftreten beider Tendenzen an den Sexualtrieben hat zur
urspruiiglichen Gleichsetzimg beider geführt. Auch das
mebnaite Bedürfnis nach Schlaf, bezw. das triebhafte
Jimschlafen, scheinen der Ausdruck dieses triebhaften
Kunestrebens zu sein.
Viel schwieriger ist die Beziehung zwischen primärer
Destruktion und dem Leidbedürfnis nachzuweisen.
244
Freud führt in diesem Zusammenhang den Begriff
des erogenen Masochismus ein, der in einem gewissen
Maße zu den normalen Erscheinungen gerechnet werden
kann und durch das Ziel der Schmerzlust, allgemeiner
durch ein Leidbedürfnis, ausgezeichnet ist. Die Annahme,
daß nicht alle primäre Destruktion nach außen ge-
wendet wird, sondern daß ein gewisser Teil im Innern
wirksam bleibt, der, libidinös gebunden oder gemildert,
als sogenannter erogencr Masochismus erst in Erschei-
nung tritt, stellt den Versuch dar, eine direkte Verbin-
dung zwischen dem angenommenen primären Destruk-
lionstricb und den Erscheinungen des Masochismus her-
zustellen. .
Fassen wir zusammen: Mit Hilfe der biologischen
Todestriebtheorie ist eine Formulierung der theoretisch
Geforderten primären Destruktion möglich geworden und
weiterhin, allerdings unter Heranziehung verschiedener
Hilfshypothesen, eine vereinheitlichte Auffassung der
destruktiven und aggressiven Erscheinungen erzielt wor-
den. Der heuristische Wert dieser Annahmen scheint mir
unverkennbar zu sein.
Damit ist aber die vereinheitlichende Funktion dieser
Theorie noch nicht erschöpft.
Die Prinzipien und die Triebe
Ich habe bei der Besprechung des Triebbegriffs der
Sexualtheorie darauf hingewiesen, daß die Triebe und
der funktionierende seelische Apparat einander gegen-
übergestellt wurden. Wurden auf der einen Seite die
Eigenschaften der Triebe studiert, so war es auf der
anderen Seile notwendig, über die Arbeitsweisen dieses
Apparates gewisse Annahmen zu machen: Er regulierte
sich nach gewissen Tendenzen oder Prinzipien. Welche
ist nun die Beziehung zwischen den Trieben und diesen
Prinzipien? Die Triebe, als aus dem Organischen auf-
steigende Energiespannungen, werden analog den Außen-
reizen als „störende" Einwirkungen auf den seelischen
245
Apparat aufgefaßt, die den seelischen Regulationen un-
terliegen. Dies ist der eigentliche Sinn der Definition
der Triebe als Arbeitsanforderungen an den seelischen
Apparat. Wie man diese störenden Reize einteilt, scheint
tatsächlich zunächst eine untergeordnete Frage im Ver-
gleich zu der Auffassung einer grundsätzlichen Arbeits-
weise des seelischen Apparates gegenüber allen von
außen oder innen kommenden Reizen.
An dieser Gesamtauffassung ist nochmals zu unter-
streichen, daß die Triebe nicht etwa das Ganze des
seelischen Geschehens lenken, sondern nur Energiequel-
len und Reizursachen sind, die die regulierenden Ten-
denzen des seelischen Apparates in Bewegung setzen.
Die Grundannahme Freuds ist, daß der Apparat
von einer Tendenz beherrscht wird, die auf völlige Ent-
spannung oder auf ein möglichst-niedrig-Halten der an-
langenden Reizgrößen gerichtet ist. Diese Tendenz wurde
anfangs gleichgesetzt mit dem Lustprinzip, da Span-
nungen Unlustgefühle hervorzurufen schienen, die Ent-
spannungen Lustgefühle. Allerdings ließen sich verschie-
dene Erscheinungen dieser Annahme nicht einordnen.
Eine Modifikation dieses Lustprinzips war das Realitäts-
prinzip, das besagte, daß die Lust nicht mehr unmittel-
bar und direkt, sondern auf realitätsangepaßten Um-
wegen und in zeitlicher Erstreckung gesucht wurde.
Es erwies sich aber aus den bekannten Gründen als
notwendig, das Lustprinzip von der Grundtendenz nach
Entspannung oder möglichst niedrigem Spannungsniveau
abzutrennen. Über diese Grundtendenz wurden verschie-
dene Auffassungen erwogen. Es schien als Konstanz-
prinzip auf die Erhaltung einer bestimmten Spannungs-
höhe abgestellt zu sein, d. h. das individuelle psychische
System regulierte sich auf eine bestimmte Gleichge-
wichtslage hin. Alles, was dieses Gleichgewicht in Ab-
weichung nach oben oder unten zu stören schien, wurde
der Regulation auf die Normalspannung hin unterwor-
fen. Es ist die Auffassung des Lebens als eines kreis-
246
laufförmigen Geschehens um eine bestimmte Gleichge-
wichtslage, die sich in der Annahme des Konstanz- oder
Stabilitätsprinzips ausdrückt. Das Lustprinzip, das das
seelische Geschehen in die Richtung auf den Endzustand
Lust determiniert, konnte dann als eine Modifikation des
Konslanzprinzips definiert werden. Alles, was sich der
konstanten Spannungsgröße oder dem Stabilitätszustand
näherte, wurde lustvoll, was sich davon entfernte, un-
lustvoll empfunden.
In dem Momente aber, als die entscheidende Auf-
fassung des Lebens geändert und dieses nicht als kreis-
laufförmiges, sondern als ablaufarliges, lineares Gesche-
hen definiert wurde, mußte auch die Grundtendenz
eine Änderung erfahren. Das Konstanzprinzip wurde
daher folgerichtig durch das Nirwanaprinzip ersetzt, das
die Tendenz auf völligen Ausgleich der Potentialdif-
ferenz, auf Ablauf bis zum Nullpotential zum Inhalt
hatte.
Somit bleiben, wenn wir vom Wiederholungszwang 2 )
absehen, die Regulationen auf absolute Entspannung,
auf Lust und auf Realitätsanpassung (Nirwana-, Lust-,
Realitätsprinzip). Das Realitätsprinzip bleibt der Auf-
fassung nach eine Modifikation des Lustprinzips. Die
Beziehung zwischen Nirwanaprinzip und Lustprinzip ist
2) Zu den Regulationen wäre noch der Wiederholungs-
zwang zu zählen. Er ist ein allgemeines Regulations-
prinzip, das zunächst Energien bindet, d. h. sie aus dem
,strömenden" in den „Ruhestand" überführt. Es scheint
kein Zweifel, daß es eine solche Regulationstendenz
gibt. Auch die Arbeitsweise des Ichs hat diese Möglich-
keit einer Bindung, eines Aufhaltens, Statischmachens
von Spannungen zur Voraussetzung. Ebenso scheint der
Wiederholungszwang die Voraussetzung aller anderen
Regulationen zu sein. Eindringende Reizgrößen müssen,
soweit sie nicht im Laufe der phylogenetischen Anpas-
sungsprozesse „Bahnungen" erfahren haben, oder wenn
sie die Kapazität dieser ßahnung überschreiten, zunächst
aufgehalten, gebunden werden, ehe die anderen Regula-
tionen einsetzen.
247
im Verhältnis zur vorhergehenden Auffassung, daß das
Lustprinzip als eine Spczialform des Konstanzprinzips
anzusehen sei, geändert. Beide entsprechen verschiede-
nen Tendenzen. Das Streben nach Lust auf der einen,
das nach Ruhe auf der anderen Seite sind die Haupt-
regulationen des seelischen Geschehens.
Es ist klar, daß eine bloße Gegenüberstellung der Regu-
lationsprinzipien des seelischen Apparates und der von
außen als Arbeitsanforderungen sich bemerkbar ma-
chenden Triebe nur eine vorläufige sein konnte. Das
heuristische Prinzip, zu verfolgen, wie weit sich die
gesamte seelische Organisation und ihre Arbeitsweisen
auf den Trieben aufbauen, mußte zur Frage führen, ob
die Triebe die Ablaufsiendenzen des seelischen Ge-
schehens beeinflussen, das ist aber die Frage nach der
Beziehung zwischen den Prinzipien und den Trieben.
Eine solche Fragestellung konnte umso leichter Zu-
standekommen, als der Triebbegriff im Laufe der Ent-
wicklung der Triebtheorie eine Veränderung erfahren
hatte. Ursprünglich galt der Trieb als eine aus organi-
schen Quellen stammende Energiespannung, die auto-
matisch auf ein immanent gegebenes Ziel gerichtet war,
das auf dem Umweg über ein Objekt erreicht wurde
und letzten Endes in einer Veränderung des Ursprungs-
organs, in einer Restitution auf seinen Zustand vor der
Erregung bestand. Dieser Auffassung entsprach die Wahl
des Begriffs der Quelle als geeignetes Kriterium für eine
Einteilung der Triebe.
Die Unmöglichkeit, solche Quellen für alle Triebe
zu finden, und die Schwierigkeit ihrer hypothetischen
Konstruktion stellten, besonders für die Ichtriebe das
Kriterium des Zieles in den Vordergrund, ohne' daß
die Grundauffassung des Triebes wesentlich abgeändert
zu werden brauchte. Das Ziel bestand äußerlich in der
Durchführung der Zielhandlung am Objekt, innerlich
in der erreichten Entspannung, z. B. bei den Aggres-
sionstrieben.
248
Der Theorie von den Urlrieben (Lebens- und Todes-
triebe) liegt aber ein wesentlich veränderter Trieb-
begriff zugrunde. Hier ist der Trieb nicht eine an das
Seelische herantretende Energiespannung, die aus einer
organischen Quelle stammt und auf die Aufhebung des
Reizzuslandes im Ursprungsorgan abzielt, sondern ein
richtunggebendes oder -nehmendes „Etwas", das die
Lebensprozesse in eine bestimmte Richtung lenkt. Der
Akzent liegt nicht mehr auf der Energielieferung, son-
dern nur auf der Funktion der Richtungsbestimmung.
Die Prinzipien sind aber auch nichts anderes als ein
den Ablauf der seelischen Prozesse in eine bestimmte
Richtung hin „determinierendes Etwas". Die Begriffe
Trieb, Prinzip, Regulation erscheinen demnach einan-
der sehr angenähert. Wie die Triebe die Abläufe der
biologischen Vorgänge regulieren, so natürlich auch die
seelischen. Die strenge Gegenüberstellung eines von Prin-
zipien regulierten seelischen Apparats und von außen
eindringender Triebe war nicht mehr haltbar, da die
Triebe als Grundprinzipien des Lebens aufgedeckt wor-
den waren. Daraus ergab sich die Möglichkeit der Zu-
ordnung der Prinzipien zu den Trieben.
Es würde zu weit führen, diese Fragen hier genauer
zu erörtern. Es ist bekannt, wie Freud eine solche
Zuordnung vornahm. „Das Nirwanaprinzip drückt die
Tendenz des Todestriebes aus, das Lustprinzip vertritt
den Anspruch der Libido, entspricht also den Lebens-
Irieben. Das dritte Prinzip, das Realitätsprinzip, eine
Modifikation des Lustprinzips, drückt den Einfluß der
Außenwelt aus." Die Verbindung der beiden Hauptprin-
zipien wird in der Weise gedacht, daß die Lebenstriebe
eine Modifikation in der Ablaufsform der Entspan-
nungsprozesse bewirken, die mit dem Auftreten von
Lust verbunden ist
Fassen wir zusammen; haben wir uns früher im
Interesse der Verständigung einer größeren Schärfe der
Begriffstrennung befleißigt, so wollen wir dies hier
»49
'
wieder einschränken und uns der tatsächlichen Struk-
tur der Begriffe wieder annähern:
Die spannungserzeugenden biologischen Lebenstriebe;
die Sexualtriebe; die auf die Erhaltung des Lebens
zielenden Ichtriebe; das Lustprinzip, — das alles ist
irgendwie miteinander verwandt.
Die auf den Spannungsausgleich hintreibenden Todes-
triebe; die Destruktionstriebe, die im Innern wirken;
die nach außen gewendete Aggression; die Tendenz zur
Ruhe, das Nirwanaprinzip; die Tendenz zum Leiden,
das alles bildet ebenfalls eine verwandte Gruppe.
Die „mystischen" Triebkräfte, die hinter dem allen
stehen, wirken jede in ihrer Richtung oder einander
entgegen oder miteinander. Dann legieren sie sich: Als
masochistische Lust am Leiden, als Sadismus, als Straf-
bedürfnis, als Selbsthaß, als aggressiver Ichtrieb usw.
Was wir Triebe nennen, wirkt richtunggebend auf
ein biologisches Geschehen, im Körperlichen wie im
Psychischen. Unter irgendwelchen Einflüssen differen-
ziert es sich, konzentriert sich zu Spannungszentren,
die sich an irgendein Organgeschehen als Quelle ge-
bunden erweisen, wendet sich nach außen auf Objekte,
strebt einem Ziele zu, das äußerlich in einer bestimm-
ten Handlung am Objekt und am eigenen Körper, inner-
lich in der Aufhebung eines Reizzustandes besteht. Un-
klar, wie es zunächst im eigenen Innern wirkt. Klarer,
wenn es sich auf Objekte wendet, an denen es die
Zielhandlung vollführt. Teils ist hiezu ein Vorgang auch
am Ursprungsorgan notwendig, teils nur am Objekt.
Bald erfolgt die Befriedigung in Form eines bestimm-
ten Ablaufes, bald diffus. Es kann aber auch in man-
nigfaltiger Form die eigene Person zum Objekt neh-
men, es kann sich in „Betriebskraft" umgestalten und
so die Energien des Ichs vermehren. Es kann einen
Reichtum an Umwegleistungen vollbringen und in sei-
ner Elastizität vielfache Veränderungen erfahren. Wir
können es nicht einheitlich ordnen, sondern bald nach
250
dem einen, bald nach dem anderen Gesichtspunkt, nach
den Zielen, nach den Objekten, nach der Quelle.
Alle diese Tatsachen, hypothetischen Meinungen, Theo-
rien lassen sich in Begriffe fassen, die nicht immer
wünschenswert klar, oft vieldeutig und verfließend sind.
Die Exaktheit definierter Begriffe wird sich im Psycho-
logischen nicht immer erreichen lassen. Es ist sehr
viel geleistet, wenn man in ein neues Gebiet vorgestoßen
ist und Begriffe gewonnen hat, die eine wechselseitige
Verständigung ermöglichen, auch wenn sie zunächst
nichts anderes sind als erste Annäherungen an einen im
ganzen noch unbekannten Tatbestand.
251
Die Stellung der Wissenschaft zu
Freuds 80. Geburtstag
Von Heinrich Meng, Basel
Nachdruck eines Aufsatzes aus der Natio-
nal-Zeitung" in Basel, Nr. 27b, vom 17. Juni
1936.
Die Anregung, zu überprüfen, wie, gemessen an den
Kundgebungen der außermedizinischen Welt, sich die
Ärzte und Fachpsychologen anläßlich des 80. Geburts-
tags Sigmund Freuds geäußert haben, läßt sich jetzt
erst verwerten; es erschienen im Laufe der letzten
Wochen immer wieder Abhandlungen, die zu dem Men-
schen Freud und seinem Werk Stellung nahmen. Im
Gegensatz zu den 300 internationalen Dichtern und
Künstlern, die in ihrer gemeinsamen Glückwunsch-
adresse dem „Initiator eines neueren und tieferen Wis-
sens vom Menschen" die Ehrfurcht aussprachen, ist
uns nichts bekannt geworden, was auf eine ähnliche,
einheitliche Aktion der internationalen Ärzte und Fach-
psychologen schließen läßt. Allerdings haben Universi-
täten und wissenschaftliche Gesellschaften, in denen
Freud Ehrenmitglied ist, dem Geburtstagskind Glück-
wunschadressen gesandt. Der Wiener Forscher ist unter
anderem Doctor honoris causa der Clark University,
Worcesler, Ehrenmitglied der „Nederlandsche Vereeni-
gung voor Psychiatrie en Neurologie", des „Vereins
für Psychiatrie und Neurologie in Wien", der „Royal
Society of Medicine" und der Schweizer Gesellschaft
für Neurologie und Psychiatrie.
Die Wiener Universität sandte ein Schreiben des De-
kans der Medizinischen Fakultät, Prof. Kerl, das die
Glückwünsche des Professorenkollegiums ausdrückte.
Überhaupt scheint in W T ien selbst die Kundgebung der
Wissenschaftler zum 6. Mai am stärksten gewesen zu
252
sein. Wagner-Jauregg, der erfolgreiche Bekämp-
fer der Paralyse und Nobelpreisträger, L. B ins wan-
ger, der schweizerische Psychiater und Philosoph, der
Neurologe Olto Marburg und Otto P ö t z 1, der Leiter
der Wiener Universitätsklinik, ein bekannter Schlaf-
forscher, haben in einer gemeinsamen Kundgebung des
„Akademischen Vereins für medizinische Psychologie"
zu Ehren Freuds gesprochen. In einem Aufsatz, den
P ö t z 1 zum 6. Mai schrieb, heißt es am Schluß: „Freud
hat einmal erklärt, die Psychoanalyse habe für den, der
sie betreibt, auch bildende Kraft, und er hat 'dies an sich
selbst an der Kultur seiner Persönlichkeit in höchstem
Maße bewiesen. Denn dieser unerschöpfliche Mensch
ist groß in jeder Situation, er ist ein Genie, aber am
größten ist er im Gespräch. Da empfängt man von ihm
einen überwältigenden Eindruck. Und ich meine, keine
bessere Schilderung des Erlebnisses geben zu können,
das man in seiner Gegenwart hat, als indem ich frei-
mütig bekenne: Ich habe jedesmal den Eindruck, so
bedeutsam hat vielleicht der alte Goethe gesprochen."
Aus Raumgründen wird über die anderen wissen-
schaftlichen Kundgebungen, die in London, Prag, an der
Sorbonne in Paris und andernorts stattfanden und aus
den Publikationen, die daran anschließend erfolgten,
nicht berichtet, sondern lediglich über die Haltung der
Schweizer Gelehrten weit. Bemerkenswert ist,
daß, soweit wir die wissenschaftliche Literatur und die
Tagespresse nachprüfen konnten, in Deutschland
der 6. Mai übergangen wurde. In den drei letzten Jahren
wurde im Dritten Reich Persönlichkeit und Lehre aufs
schärf sie bekämpft, ohne daß eine Möglichkeit wissen-
schaftlicher Diskussion gegeben war. Die Bücher selbst
stehen auf dem Index und wurden zum Teil verbrannt.
Außer der psychoanalytischen Fachorganisalion hat
die „Schweizerische Gesellschaft für Psy-
chiatrie" in ihrer Frühjahrstagung dem Wiener For-
scher eine Glückwunschadresse gesandt; Flournoy,
253
Genf, brachte sie zur Verlesung. Es heißt darin u. a.:
„Depuis dix ans vous figurez sur la liste de nos Mem-
bres d'Honneur; notre Societe a voulu temoigner ainsi
de la grandeur de votre oeuvre. Mais plusieurs entre
nous vous doiuent une dette de reconnaissance plus
personnelle, car c'est vous qui avez dicide' de Vorteil-
tation de leur carriere. D'autres, que la direction de
leurs Iravaux tient tloignes du domaine de la Psych-
analyse, reconnaissent neanmoins Vinfluence profonde
que uous exercez sur la pensie contemporaine: 1
Das „Schweizer Archiv für Neurologie
und Psychiatrie" (Orell Füßli, Zürich) widmete
Heft 2, 1936, dem Schöpfer der Psychoanalyse. Die
Herausgeber und Redakteure: R. Bing, Basel,
L. Binswanger, Kreuzungen, R. Brun, Zürich, O. Forel,
Prangins, H. W. Maier, Zürich, M. Minkowski, Zürich,
F. Naville, Geneve, H. Steck, Lausanne, M. Tramer, Solo-
thurn, 0. Veraguth, Zürich, schreiben in ihrem Glück-
wunsch u. a.: „Wir freuen uns, daß es ihm vergönnt ist,
in. voller geistiger Frische auf sein großes Lebenswerk
zurückzuschauen, und danken ihm für die Bereicherung
von unvergänglichem Werte, die wir alle durch sein
Werk empfangen haben. Diese Widmung möge ihm ein
Beweis dafür sein, daß im Kreise der Schweizer Neuro-
logen und Psychiater seine Gedanken fruchtbar fort-
wirken. Wir verbinden damit unsere herzlichsten Glück-
wünsche zu seinem 80. Geburtstag."
Aus dem Inhalt des Heftes seien drei Arbeiten her-
vorgehoben: „Freud und die Verfassung der klinischen
Psychiatrie" von Ludwig Binswanger, „Sigmund
Freuds Leistungen auf dem Gebiete der organischen
Neurologie", von R. Brun, und „Der Neurotiker im
Lichte der psychoanalytischen, neuroendokrinen und
erbpathologischen Forschungen", eine Konfrontation der
drei Richtungen, von L. S z o n d i, Budapest. Was für
viele Ärzte und Fachpsychologen nicht bekannt war,
tritt vor allem im Aufsatz von Brun hervor, nämlich
254
die Tatsache, daß Freud, bevor er sein heutiges Ar-
beitsgebiet übernahm, ein hervorragender Forscher und
Entdecker auf dem Gebiet der Anatomie, Histologie
und Biologie des Nervensystems war.
Die „Zeitschrift für Kinderpsychiatrie"
(Benno Schwabe, Basel) widmet Freud ihr Maiheft.
Der Herausgeber Tramer schreibt in seinem Glück-
wunsch u. a.: „Es soll dafür zeugen, wie wesentlich
und grundlegend auch das noch junge Sondergebiet der
Kinderpsychiatrie, dessen Gestalt sich am medizinischen
Horizont immer bestimmter abhebt, durch Ihre Schöp-
fung befruchtet und gefördert worden ist. Es soll wei-
terer bescheidener Ausdruck des tiefen Dankes sein,
den Ihnen auch die Vertreter dieser wahrhaft der
Zukunft, weil der Kindheit und Jugend dienenden medi-
zinischen Disziplinen zollen." Im Heft selbst finden
sich folgende Publikationen: Josef K. Fried jung,
Wien: „Organische Ausdrucksmiltel der Kinderneurosen",
H. Christoffel, Basel: „Psychologie des Kindes das
,Caput Nili' der menschlichen Psychologie. 1896—1936",
Dr. A. Repond, Monthey: „Freud et la Psychiatric
infantile", Heinrich Meng, Basel: „Freuds Einfluß auf
die Pädagogik und Heilpädagogik", G. Bally, Zürich:
„Ein Fall von traumatischem Mutismus".
Die „Schweizerische Medizinische Wo-
chenschrift", B. Schwabe, Basel, bringt in Heft
Nr. 19 einen Artikel „Prof. Dr. Sigmund Freud zum
80. Geburtstag" aus der Feder von Ph. S a r a s i n, Basel,
E. Blum, Bern, und H. Flournoy, Genf. Aus ihr
sei folgende charakteristische Stelle erwähnt: „Zweifel-
los hatte Freud mit seiner Traumdeutung Neuland
betreten und sah sich Erscheinungen gegenüber, die
sich den soliden Methoden des Wagens und Messens
schlechterdings widersetzen, so gut wie ein fernes Leuch-
ten auf einem Bilde von Claude Lorrain oder wie die
weltentrückten Klänge eines Quartetts von Beethoven.
Aber aus solchen Dingen höchst subjektiver Art sind
255
nun einmal die Stoffe gewoben, mit denen der Ana-
lytiker zu arbeiten hat. Sie spielen in der Genese eines
Traumes oder einer seelischen Störung eine funda-
mentale Rolle und führen schließlich zu Symptomen
grobsinnlicher Natur."
Die „Praxis, Schweizerische Rundschau
für Medizin" (Verlag Hallwag A.-G., Bern) enthält
einen Aufsatz von Christoffel zum 6. Mai, er gibt
vorwiegend kulturhistorisch Aufschluß über die Ent-
wicklung des Forschers und seiner Forschung. Er
schließt:
„Und endlich sei es der eigenen Besinnung und vor
allem der Zukunft überlassen, zu entscheiden, ob und
wie die Schweiz für die Ideen Freuds und die
Psychologie überhaupt eine Rolle gespielt hat und spie-
len wird." 0. Spieß meint: „Das entscheidende Ein-
greifen der Schweizer in der Geburtsstunde der neuen
Wissenschaft entspricht einem typischen Verhalten ihres
Volkes. Die ganz großen, epochcbildenden Ideen sind
nie von der Schweiz ausgegangen. Aber die Schweiz hat
stets, sobald ein neues Prinzip die Welt in zwei Lager
teilte, dieses Prinzip mit urwüchsiger Eigenart aufge-
griffen und als ebenbürtiger Mitstreiter zur Geltung
gebracht."
„Actio n et Pense e", Revue trimestrielle de la
Societe Internationale de Psychagogie, Genf, Heft 2,
1936, ist Freud gewidmet. Sie enthält folgende Publi-
kationen : Charles Baudouin, Genf : „Signif ication de
Freud." R. Allendy, Paris: „Pensee logique, Pensee
affective, Symbolisme", Heinrich M eng: „Sigmund Freud
(A l'occasion du 80eme anniversaire de Sigmund Freud)".
In der letztgenannten Arbeit heißt es u. a. : „Die Psycho-
analyse kann eine wirksame soziale und seelische Hy-
giene schaffen, da sie die Quellen der Kultur- und Ge-
sellschaftskrankheilen erschließt und diese Quellen be-
reits von ihrem Ursprung in der Kindheit an durch die
256
\
Erziehung zum geordneten, ihre Kraft speichernden Ab-
strömen bringt."
In der „Revue M6dicale de la Suisse Ro-
mande" publiziert Flournoy, Genf, eine Arbeit
„Freud, en l'honneur de ses 80 ans"; sie schließt:
„En adressant ses voeux ä son mattre de Vienne,
l'auleur de ces Ugnes pense que les lecteurs de la Revue
Medicale, dont la profession les met souvent aux prises
avec les vicissitudes de la maladie et les lüttes de
rhomme, se souvienneni parfois ' du beau vers de T£-
rence:
Homo sum, et humani nihil a ine alienum puto.
Dans ce cas, et quels que soient leur champ d'acti-
vite' et leurs goüts personnels, ils ne sauraient envisager
avec indifference Voeuvre de Freud."
Die Zeitschrift „Psyche", Schweiz, Monatsschrift
für Psychologie, Heilpädagogik und Graphologie (Vogt-
Schild in Solothurn), Heft 5, 1936, bringt drei Arbeiten,
die sich mit Sigmund Freud beschäftigen. Zuerst
„Dank an Freud", „Sigmund Freud 80 jährig" von Hugo
Mauer hofer und „Über die Veränderung von Gehörs-
wahrnehmungen durch den Wecktraum" von Ernst
R. B a e r 1 o c h e r.
In der Publikation von Mau er ho f er heißt es bei
der Auseinandersetzung mit Jungs Stellung zu Freud ■
„Freud treibt nicht jüdische Psychologie, d. h Psy-
chologie des Juden, sondern er treibt Psychologe des
europäischen Gegenwartsmenschen, und deshalb°ist er
für uns verbindlich. Jede andere Auffassung einer jüdi
sehen Psychologie' ist gleich krypto-antisemitisch wie
etwa jüdische Physik, jüdische Mathematik, jüdische
Chemie und vom Standpunkte der Wissenschaft aus
unhaltbar. Wir glaubten, diese kleine Ehrenrettung dem
sTMig^setV 11 WiCn ""* ^eizerischers^iU
17 Almanach 1937
257
Die Durchsicht der Fachpublikationen zeigt, daß die
fachwissenschaftliche Welt den 6. Mai 1936 dazu be-
nützt hat, diesem großen Lebenden den Dank abzustat-
ten, der sonst meist nur einem Menschen zuteil wird,
dessen fundamentale Bedeutung erst nach Jahrzehnten
seines Wirkens erkannt wird.
258
i
Zu Freuds 80. Geburtstag
erschien
SIGM. FREUD
SELBSTDARSTELLUNG
Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage mit einer
„Nachschrift 1935" und fünf bisher z.T. unveröffentlichten
Porträtbeilagen
112 Seiten / Geheftet RM 3.50 / Leinen RM 5.—
AUS DEN SCHLUSSWORTEN:
Die Geschichte der Psychoanalyse zerfällt für mich
in zwei Abschnitte . . . Im ersten stand ich allein
und hatte alle Arbeit selbst zu tun, . . . im zweiten
Abschnitt . . . haben die Beiträge meiner Schüler
und Mitarbeiter immer mehr an Bedeutung gewon-
nen, so daß ich jetzt . . . mit innerer Ruhe an das
Aufhören meiner eigenen Leistung denken kann . . .
So kann ich denn, zurückschauend auf das Stück-
werk meiner Lebensarbeit, sagen, daß ich vielerlei
Anfänge gemacht und manche Anregungen ausge-
teilt habe, woraus dann in der Zukunft etwas werden
soll. Ich kann selbst nicht wissen, ob es viel sein
wird oder wenig. Aber ich darf die Hoffnung aus-
sprechen, daß ich für einen wichtigen Fortschritt in
unserer Erkenntnis den Weg eröffnet habe.
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN
DIE WERKE SIGM. FREUDS
(LIEFERBARE AUSGABEN)
GESAMMELTE SCHRIFTEIN
(Zwölf Bände in Lexikonformat)
Geh. RM 196.—, in Leinen RM 240.—, in Halbleder RM 305.-,
in Leder RM 704.—
BAND I, 490 S.: Studien über Hysterie (Vorwort — Über den psychi-
schen Mechanismus hysterischer Phänomäne [von Breuer und Freud] —
Krankengeschichten — Zur Psychotherapie der Hysterie) / Frühe Arbeiten
enr Neurosenlehre 1892 — 99 (Charcot — ein Fall von hypnot. Heilung nebst
Bemerkungen über die Entstehung hyster. Symptome durch den Gegen-
willen — Quelques considerations pour une etude comparative des para-
lysies motrices organiques et hystenques — Die Abwehr-Neuropsychosen
— Ueber die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Sym-
ptomenkomplex als „Angstneurose" abzutrennen — Obsessions et phobies
— Zur Kritik der Angstneurose — Weitere Bemerkungen über die Abwehr-
Neuropsychosen — L'her^dite et l'ßtiologie des nevroses — Zur Aetiologie
der Hysterie — Die Sexualität in der Aetiologie der Neurosen — Ueber
Deckerinnerungen)
BAND II, 543 S.: Traumdeutung (Die wissenschaftliche Literatur der
Traumprobleme — Die Methode der Traumdeutung, die Analyse eines
Traummusters — Der Traum ist eine Wunscherfüllung — Die Traument-
stellung — Das Traummaterial und die Traumquellen — Die Traumarbeit
— Zur Psychologie der Traumvorgänge — Literaturverzeichnis)
BAND III, 360 S.: Ergänzungen und Zusatzkapitel zur Traumdeutung / Ueber
den Traum / Beiträge zur Tranmlehre (Märchenstoffe in Träumen — Ein
Traum als Beweismittel — Traum und Telepathie — Bemerkungen zur
Theorie und Praxis der Traumdeutung) / Beiträge zu den Wiener Diskus-
sionen (Onaniediskussion — Selbstmorddiskussion)
BAND IV, 481 S.: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Vergessen von
Eigennamen — von fremdsprachigen Worten — von Namen und Wort-
folgen — Ueber Kindheits- und Deckerinnerungen — Das Versprechen
— Verlesen und Verschreiben — Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen
— Das Vergreifen — Symptom- und Zufallshandlungen - Irrtümer —
Kombinierte Fehlleistungen — Determinismus. Zufalls- und Aberglauben.
Gesichtspunkte / Das Interesse an der Psychoanalyse / Ueber Psychoanalyse
/ Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung
BAND V, 556 S.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Die sexuellen
Abirrungen — Die infantile Sexualität — Die Umgestaltungen der Puber-
tät) / Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosenlehre (Meine Ansichten
über die Rolle der Sexualität in der Aetiologie der Neurosen — Zur sexu-
ellen Aufklärung der Kinder — Die „kulturelle" Sexualmoral und die Ner-
vosität — Ueber infantile Sexualtheorien — Beiträge zur Psychologie des
Liebeslebens — Die infantile Genitalorganisation — Zwei Kinderlügen —
Gedankenassoziation eines vierjährigen Kindes — Hysterische Phantasien
und ihre Beziehung zur Bisexualität — Allgemeines über den hysterischen
Anfall — Charakter und Analerotik — Ueber Triebumsetzungen, insbe-
sondere der Analerotik - Die Disposition zur Zwangsneurose -Mittel
lung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von
Paranoia - Die psychogene Sehstörung .in , Paralytisch er Auffassung
- Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem Symptom lieber
die Psychogenes! eines Falles von weiblicher ^£?%?MSndÜ^W
Kind wird ^geschlagen" - Das ökonomische Problem des Masochwmus
- Ueber einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Parano a i una
Homosexualität - Ueber neurotische Erkrankungstypen - n For _ m " 1, ^^ e
gen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens- Neurose
und Psvchose — Der Untergang des Oedipuskomplexes) / Metapsychologie
ÄflemkungSi "SPSS Begriff des Unbewußten in der Psycho-
analyse -Triebe und Triebschicksale - Die Verdrängung -Jg^J
wußte - Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre- Trauer una
Melancholie)
BAND VI, 422 S : Zur Technik (Die Freudsche psychoanalytische Me-
thode -Ueber Psychotherapie -Die zukünftigen (Wen der psycho-
analytischen Therapie - Ueber „wilde« *^«""Bg£=£ ^g ffiB
analytischen Arbeit - Zur Einleitung der Behandlung - Erinnern, Wie
derholen und Durcharbeiten - Bemerkungen Aber 4\ JT Ue^gMijJ
y. ehQ _ weee der psychoanalytischen Therapie - Zur Vorgeschichte aer
a«nlwtiQrhen Technik/ / Zur Einführung dee N.niimu, / JeneeUfl de. Lust-
analytischen iccnn^/ , c „. A nalyse (Einleitung - Le Bon's bchil-
pr.nz.ps / Massenpsycno g^ ere Wür 7 di gU ngen des kollektiven Seelen-
fSS SutSeltlon und Libido - Zwei künstliche Massen: Kirche und
SJSLlffläSrSSdU&^S Arbeitsrichtungen - Die Identifizierung
Verliebtheit und Hypnose - Der Herdentrieb - Die Masse und die
77 hnr f c Stufe im Ich) / Das ich und das Es (Bewußtsein und Un-
SÄ-ÄÄEJ -Das Ich und das Ueber-Ich -Die
he den Triebarten - Die Abhängigkeiten des Ichs) /Anhang (Der Reali-
tätsveriust bei Neurose und Psychose - Notiz über den „Wunderblock )
BAND VII, 483 S.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.
Inhalt- 1 Teil: Fehlleistungen. II. Teil: Der Traum (Schwierigkeiten und
erste Annäherungen — Voraussetzungen und Technik der Deutung —
Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken — Kinderträume —
Die Traumzenzur — Die Symbolik im Traum — Die Traumarbeit — Ana-
lysen von Traumbeispielen — Archaische Züge und Infantilismus des
Traumes — Die Wunscherfüllung — Unsicherheiten und Kritiken). III. Teil:
Allgemeine Neurosenlehre (Psychoanalyse und Psychiatrie — Der Sinn der
Symptome — Die Fixierung an das Trauma. Das Unbewußte — Wider-
stand und Verdrängung — Das menschliche Sexualleben — Libidoenlwick-
lung und Sexualorganisation — Gesichtspunkte der Entwicklung und Re-
gression. Aetiologie — Die Wege der Symptombildung — Die gemeine
Nervosität — Die Angst — Die Libidotheorie und der Narzißmus — Die
Uebertragung — Die analytische Therapie) — Register
BAND VIII, 568 S.: Krankengeschichten (Bruchstück einer Hysterieana-
lyse — Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben — Bemerkungen
über einen Fall von Zwangsneurose — Psychoanalytische Bemerkungen
über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia — Aus der
Geschichte einer infantilen Neurose)
BAND IX, 455 S.I Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten / Der
Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva" / Eine Kindheitserinnerung
des Leonardo da Vinci
Amwl&n^H? r <«£ ""* Tabu (D, A e Inz estscheu - Das Tabu und die
n?HanK?n «2 8 S*B'3FW 1 5 ~ Animismus, Magie und Allmacht der
SS" 7 D » ,r i fantlle Wiederkehr des Totemismus) / Arbeiten zur
7w«nafh d !ni y choana |y! e ,.(T atbe standsdiagnostik und Psychoanalyse
iTrw^rtP 8 S un £? I L! ,nd Rei'g'onsübungen - Ueber den Gegensinn der
p£Ä «. 2no r Dl , ch ? r , und ^ das Phantasieren - Die mythologische
rhlnwah. ^ ner P la stischen Zwangsvorstellung - Das Motiv der Käst-
chenwahl — Der Moses des Michelangelo — Einige Charaktertvnen aus
der psychoanalytischen Arbeit: Die Ausnahmen. Di! am Erfolge schekern!
T?d^ e te h Äi?l. S A'?3 b «S ußt8fti0 - Zeitgemäßes übel Krieg und
in«? Üirhu?J C SWl"^ Psychoanalyse - Eine Kindheitserinnerung
fin 17 ? Jahrhundert) ~ Unheimliche - Eine TeufelsneurosI
BA S5.i«I' 4 J 2 t S,: £ehriften ans den Jahren 1923—1926 (Die Verneinung
- Hei itniiS^Qvmntn lg ^ n A des anatomischen Geschlechtsunterschied!
Sr P^Ä& tom Si^^"-»a SeH)8tdar8teUun «" - Kurzer Abriß
SH P W nrtY Dr »Psychoanalyse" und „Libidolehre" - Die Wider-
fikS die Psychoanalyse! / Geleitworte zu Büchern anderer Autoren
/ Gedenkamkel (Ferenczi - An Romain Rolland - Putnam f - Tausk f
- A. v. Freund f - Breuer f - Abraham f) / Vermischte Schriften (Zur
Psychologie des Gymnasiasten — Vergänglichkeit — Popper-Lynkeus und
die Theorie des Traumes — To the opening of the Hebrew Universitv
- Kurze Mitteilungen) / Schriften 1926—1928 (Die Frage der Laienana-
lyse — Nachwort hiezu — Fetischismus — Der Humor — Nachtrag zur
Arbeit über den Moses des Michelangelo — Die Zukunft einer Illusion
- Ein religiöses Erlebnis)
BAND XII, 422 S.: Schriften aus den Jahren 1928—1933 (Dostojewski
und die Vatertötung - Das Unbehagen in der Kultur - Ueber libidinöse
Typen - Ueber die weibliche Sexualität - Zur Gewinnung des Feuers?
/Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Revision
der Traumlehre - Traum und Okkultismus - Die Zerlegung der Dsvrhi
sehen Persönlichkeit - Angst und Triebleben - Die Weiblichkeit -
Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen - Ueber eine Weltanschau
ung / Warum Krieg / Aeltere Schriften (Der Familienroman der Neurotiker
- Psycho-Analysis) / Geleitworte zu Büchern (Vorrede zur hebräischen
Ausgabe der „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" - Vor-
rede zur hebräischen Ausgabe von „Totem und Tabu" — Geleitwort zu
The Psychoanalytic Review", Vol. XVII, 1930 - Vorwort zu „Zehn Jahre
Ber iner Psychoanalytisches Institut" - Geleitwort zu „Elementi di Psico-
analisi von Edoardo Weiss - Geleitwort zu „Allgemeine Neurosenlehre"
V °" S e o r ^ a o n Nunb * r f T Vorwort zu „Edgar Poe, Etüde psychoanalytique"
par Marie Bonaparte) / Gedenkartikel (Ernest Jones zum 50. Geburtstag
- Sandor Ferenczi f) / Vermischte Schriften (Brief an Maxim Leroy über
einen Traum des Cartesius - Goethe-Preis 1930 - Brief an Dr. Alfons
Paquet Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus - Das Fakultätsgutachten
im Prozeß Halsmann - Brief an den Bürgermeister der Stadt Pfibor-
Freiberg - Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus)
KLEINOKTAV-AUSGABE
(Jeder Band — in gleichmäßiger Ausstattung — einzeln erhältlich)
Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 1933.
255 S. In Leinen RM 7.—
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. 1930. 500 S.
In Leinen RM 9. —
Vier psychoanalytische Krankengeschichten. 1932. 464 S. In Leinen RM 9. —
Schriften zur Neurosenlehre und zur psychoanalytischen Technik. 1931.
428 s. In Leinen RM 9. —
Kleine Schriften zur Sexualtheorie und zur Traumlehre. 1931. 381 S.
In Leinen RM 9.—
Theoretische Schriften. 1931. 406 S. In Leinen RM 9.—
Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Ueber Vergessen, Versprechen,
Vergreifen, Aberglauben und Irrtum. 1929. 313 S. In Leinen RM 9.—
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Selb«tdarsteliung. 2. durchgesehene und erweiterte Auflage. 1936. Mit
5 Bildbeilagen. 112 S. Geh. RM 3.50, in Leinen RM 5.—
Totem und Tabu. Ueber einige Uebereinstimmungen im Seelenleben
der Wilden und der Neurotiker. 5. Auflage. 1934. 194 S. In Leinen RM 5.50
Das Unbehagen in der Kultur. 2. durchgesehene Auflage. 1931. 136 S.
Geh. RM 3.40, in Leinen RM 5-
Die Zukunft einer Illusion. 2. Auflage. 1928. 91 S.
Geh. RM 2.30, in Leinen RM 3.60
Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen.
1926. 93 S. In Leinen RM 4.80
Drei Abhandlungen zur Sexualthcorie. 6. durchgesehene Auflage. 1925.
120 S. In Pappband RM 3.80
Psychoanalytische Studien an Werken der Dichtung und Kunst. 1924.
138 S. In Leinen RM 7.50
Eine Teufelsneurose im 17. Jahrhundert. 1921. 43 S. Geb. RM 1.—
Bibliophilen-Ausgabe, mit der Hand in Leder geb., RM 25.—
Zeitgemäßes über Krieg und Tod. 1924. 35 S. Geh. RM 1.—
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PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
WIEN, IX.
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die
ANNA FREUD
Das Ich
und
Abwehrmechanismen
208 Seiten / Broschiert RM 4.50 / In Leinen RM 6.—
I N HALT
A. THEORIE DER ABWEHRMECHANISMEN
I. Das Ich als Stätte der Beobachtung
II. Die Verwertung der analytischen Technik zum Stu-
dium der psychischen Instanzen
III. Die Abwehrtätigkeit des Ichs als Objekt der Analyse
IV. Die Abwehrmechanismen
V. Orientierung der Abwehrvorgänge nach Angst u. Gefahr
B. BEISPIELE FÜR DIE VERMEIDUNG VON
REALUNLUST UND REALGEFAHR
(VORSTUFEN DER ABWEHR)
VI. Die Verleugnung in der Phantasie
VII. Die Verleugnung in Wort und Handlung
VIII. Die Ich-Einschränkung
C. ZWEI BEISPIELE FÜR ABWEHRTYPEN
IX. Die Identifizierung mit dem Angreifer
X. Eine Form von Altruismus
D. ABWEHR AUS ANGST VOR DER TRIEBSTÄRKE
(DARGESTELLT AM BEISPIEL DER PUBERTÄT)
XI. Ich und Es in der Pubertät
XII. Triebangst in der Pubertät
Schlußbemerkung
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DER
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Das Handwörterbuch der Psychoanalyse ist in erster
Linie der eindeutigen Bestimmung der Begriffsinhalte
psychoanalytischer Termini gewidmet. Die Erläuterung
der einzelnen Begriffsinhalte ist aber gleichzeitig so breit
angelegt, daß der Leser in allgemein verständlicher Weise
in die psychoanalytische Materie eingeführt wird. So leistet
das Werk dem Anfänger wie dem Erfahrenen sowohl in
methodologischer wie inhaltlicher Beziehung unschätzbare
Dienste.
Professor Freud bezeichnete nach Einsicht in die vor-
gelegten Proben das Werk als „wertvolle Hilfe für den
Lernenden und schöne Leistung an sich". Er fand „die
Präzision und Korrektheit der einzelnen Angaben in der
Tat anerkennenswert". Ein Schreiben Professor Freuds
an den Autor in faksimilierter Wiedergabe leitet das
Werk ein.
Den einzelnen Schlagworten ist eine Uebersetzung ins
Englische und Französische beigefügt.
Das Werk hat einen Umfang von etwa 24 sechzehn-
seitigen Druckbogen in Lexikonformat und erscheint in
Lieferungen von je 32 Seiten in Abständen von 2 bis 3
Monaten. Ausführliche Prospekte mit Probeseite auf Wunsch
gerne kostenlos.
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
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BUCHER DES WERDENDEN
Herausgeber: Paul Federn, Wien, und Heinrich Meng, Basel
Das gemeinsame Ziel der Bücherreihe ist die Befreiung von solchen Irr-
tümern und Unwahrheiten, die mit der Kultur entstehen mußten, die
aber heute mancher Unreife und Sinnlosigkeit unserer gesellschaftlichen
Einrichtungen zugrunde liegen. Die Vorbedingung für das Überwinden
dieser Kulturschäden ist, daß das erreichte wissenschaftliche Verständnis
ihrer Grundlagen in weite Kreise gebracht wird.
Band 1 und 2 vergriffen
Band 3
FRITZ WITTELS
DIE BEFREIUNG DES KINDES
Aus dem Inhalt:
Schuld und Strafe. — Ein Stück Rousseau. Kinder-
schule und Lebensweg. Waisen und Stiefkinder. Ge-
schiedene Eltern. Die alte und die neue Schule.
Band 4
ISTVAN HOLLÖS
HINTER DER GELBEN MAUER
Aus dem Inhalt:
Gespensterspuk, Leben und Tod, Städte, Mütter, Be-
freiung der Gesunden, das Urtier in uns — unsere
Not und Notwendigkeit.
Band 5
FRITZ WITTELS
DIE WELT OHNE ZUCHTHAUS
Aus dem Inhalt:
Rache und Richter. Der Verbrecher aus Schuldgefühl.
Der politische Verbrecher. Tagträume, Blutverbrecher.
Hochstapler.
Band 6
PAUL PASCHEN
DIE BEFREIUNG DER MENSCHLICHEN
ä * i f, u STIMME
Aus dem Inhalt:
Kultur, Zivilisation und innere Sicherheit. Die Wieder-
herstellung der Sprechstimme. Das Stottern.
Band 7
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Geschick, Vorbestimmung, Charakter und Tempera-
ment. Prophezeihungen und Vorzeichen, Kosmos und
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Preis der Bände 3-7 : In Ganzleinen RM 3.85, brosch. RM 2.85
Band 8
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EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOANALYSE
2 Auflage FÜR PÄDAGOGEN
Aus dem Inhalt:
Das Vergessen von Kindheitserlebnigsen, Triebleben,
Vorpubertät u. Reifung, Psychoanalyse u. PädagOglkt
Band 9 * n Ganzleinen RM 3.70
HEINRICH MENG
STRAFEN UND ERZIEHEN
Aus dem Inhalt:
Zur Psychologie der Strafe und des Strafens. Richten,
Strafen und Erziehen als pädagogisches Problem.
Band 10 * n Ganzleinen RM 4.80
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DER SCHWIERIGE SCHÜLER
Acht Kapitel zur Theorie und Praxis der tiefenpsycho-
logischen Erziehungsberatung und Erziehungshilfe.
In Ganzleinen RM 7.80
Zu beziehen durch den
INTERNATIONALEN PSYCHOANALYTISCHEN VERLAG
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Im Winter 1936/37 erscheint als Band II der „Bücher
des Werdenden" in der 3. umgearbeiteten Auflage
DAS PSYCHOANALYTISCHE
VOLKSBUCH
4 Teile:
Seelenkunde, Seelische Hygiene, Krankheitskunde,
Kulturkuudc
Herausgeber :
Dr. Paul Federn, Wien, und Dr. Heinrich Meng, Basel
Mitarbeiter :
Vorstand August Aichhorn, Wien- Dr. Franz Alexander, Chicago;
Dozent Dr. Felix Deutsch, Boston ; Dr. Paul Federn, Wien ; Dr. Sändor
Ferenczif, Budapest; Dr. Istvän Hollös, Budapest; Dr. Ludwig Jekels,
Stockholm; Professor Ernest Jones, London; Dr. Ernst Kris, Wien;
Dr. Karl Landauer, Amsterdam ; Thomas Mann, Küsnacht-Zürich ;
Dr. Heinrich Meng, Basel; Dr. Hermann Nunberg, New York; Pfarrer
Dr. Oskar Pfister, Zürich; Dr. Hanns Sachs, Boston; Professor Dr.
Ernst Schneider, Stuttgart; Rechtsanwalt Hugo Staub, Paris.
„Das psychoanalytische Volksbuch hat seit seinem Erscheinen so viel
wertvolle Aufklärungen gegeben und neuen Anschauungen den Weg
gebahnt, daß man seine dritte Auflage mit uneingeschränkter Befriedi-
gung begrüßen kann. Möge es auch fernerhin Belehrung und Anre-
gung in weite Kreise tragen."
Aus einem Brief Sigm. Freuds an die Herausgeber
„National-Zeitung", Basel, zur 2. Auflage: „Es bietet nicht mehr und
nicht weniger als eine umfassende, bis ins kleinste Detail gemein-
verständliche Darstellung des ungeheuren, verwickelten Fragenkom-
Elexes, der sich mit dem Begriff des menschlichen Seelenlebens ver-
indet. Man muß diesem Buch tatsächlich weiteste Verbreitung wün-
schen ; ist es doch ein bedeutsamer Baustein zu künftiger seelischer
Gesundung, trotz der Blitze, die noch immer, selbst von gewichtigen
Händen gegen die Psychoanalyse geschmettert werden."
Umfang voraussichtlich 600 Seiten und 11 Tafeln
Preis etwa 14 sehw. Frs. Subskribenten erhalten eine
erhebliche Preisermäßigung bei Vorbestellung im
Internationalen Psychoanalytischen Verlag
Wien IX, Berggasse 7
ALMANACH DER
PSYCHOANALYSE
1936
Sigm. Freud
Nachschrift 1935. Nachtrag zur
Selbstdarstellung
Signi. Freud
Die Feinheit einer Fehlhandlung
Sigm. Freud
Thomas Mann zum 60. Geburtstag
Edoardo Weis»
Einführung in die Psychoanalyse
Theodor Reik
Ueber wechselseitige Erhellung
Sandor Rado
Eine ängstliche Mutter
Harold D. Lasswell
Das Prinzip des dreifachen
Appells.
Ives Hendrick
Stärke und Tragfähigkeit des Ichs
Heinz Hartmann
Psychoanalyse und Weltan-
schauung
Gregory Zilborg
Zum Selbstmordproblem
Karl Menninger
Provozierte Unfälle
Kaffacle Cnntarell»
Psychoanalytische Elemente in
der griechischen Tragödie
Richard Starb«
Ueber zwei Verse von Schiller
Karin Michaelis
Edgar Poe— im Lichte der Psycho-
analyse
Franz Alexander
Diesseits und jenseits der
Gefängnismauern
F. Lowtzky
Wiederholung bei Kierkegaard
Edmund Bergler
Das Rätsel der Bewußtheit des
Oedipuskomplexes
Heinrich Meng
Zwang und Strafe
Jenny Wälder
Aus der Analyse eines Falles von
nächtlichem Aufschrecken
Hans Zulliger
Milieuwechsel als heilerziehe-
risches Mittel
Friedrich Eckstein
Aeltere Theorien des Unbewußten
1935
Sigm. Freud
Psycho-Analysis
Imre Hermann
Das psychoanalytische Sinnvolle
Richard Sterba
Die psychoanalytische Therapie
Sandor Rado
Das Angstproblem
Paul Federn
Zunahme der Süchtigkeit
Otto Fenichel
Zur unbewußten Verständigung
Alexander Szalai
Die „ansteckende" Fehlhandlung
Anna Freud
Die Erziehung des Kleinkindes
vom psychoanalytischen Stand-
punkt
Heinrich Meng
Die richtige Behandlung schein-
bar straffälliger Kinder
Hans Zulliger
Pädagogen erliegen dem Fluche
der Lächerlichkeit
Fritz Redl
Gedanken über die Wirkungen
einer Phimoseoperation
Helene Deutsch
Don Quijote und Donquijotismus
Franz Alexander
Bemerkungen über Fallstaff
Marie Bonaparte
Das magische Denken bei den
Primitiven
Henri Codet
Das magische Denken im Alltags-
leben
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Über Hochstapler und Verwahr-
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Jenny Wälder: Analyse eines
Falles von Pavor nocturnus
Die Angst des Kindes
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Editha Sterba: Ein abnormales
Kind
Erziehungsberatung
Herta Fuchs: Psychoanalytische
Heilpädagogik im Kindergarten
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tät des Kindes
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Quellennachweis aus Büchern und Zeitschriften
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Psychanalytique)
Wien IX, Berggasse 7
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Psychoanalyse
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