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Almanacn der
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1933
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DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
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ALMANACH DER
PSYCHOANALYSE
1933
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Internationaler
Psydtoanalytisdier Verlag
Wien
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INHALTSVERZEICHNIS
Seile
Kalendarium 7
Sijjmund Freud: Über libidinöse Typen 9
Albrecht Schaeffer: Der Mensch und das Feuer ... 14
E. H. Erlenmeyer: Bemerkungen zur „Gewinnung des
Feuers" 25
Sigmund Freud: Zur Gewinnung des Feuers 28
Lou Andreas-Salom^: Der Kranke hat immer redit 36
Arnold Zweig: Odysseus Freud 45
M. D. Eder: Der Mythos vom Fortsdiritt 48
Ludwig Jckels: Das Sdiuldgefühl . 70
Hermann Nunberg: Magie und AUinadit . 88
Paul Federn: Das Idigefühl im Traume 9ö
Fritz Wi 1 1 e I s : Das übericfa io der Gcschlechtsent-
scheidung 131
Melanie Klein: Die Sexualbctätigung des Kindes .... 138
Robert Wälder: Die psydioanalytische Tlieorie des
Spiels 152
Dorolhy Burliagham: Ein Kind beim Spiel 172
Anna Freud: Psydioanalyse des Kindes 177
Marie Bonaparte: Der Tod Edgar Poes 198
Stefan Zweig: Das ehelidie Mißgesdiick Marie Anloinettcs 225
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. ' *■ ■
Sfile
Eduard Ilitschmann: Werfel als Erzieher der Väter . 243
Emest Jones: Die Wortwurzd MK 249
Oskar Pfister: Psychuanalysc unter den Navuhü-liicüa-
"^^^ ■ ■ ..■;.. 264
Theodor Reik: Der öclbstverraf des Mörders 275
Alfred Frh. v. Berger: üie Dichter hat sie für siA . . . 285
R- Baisse tte: Der Sohn Alexanders des Ueidu-n ... 290
Verlagsanzeigeu * 298
• - -Bildbeilagen
Sigmund Freud, IIolzsk,d,.(nr von O. Nenion (Brüssel) Titelbild'
Freud's Geburtshaus in FreiburK (C. S. R.) . , „aj» Seite 32
Sandor Kado . . j c ■. .-.a
,, . „ nfldi Seite \2S
Mane Bo„apartc „„^,, ^,,^. ^,^
baadbUd der NavaKo-Indianer „,,,, Se..e 272
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KALENDARIUM für das JAHR
1955
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Ostersonntüg 16. April
Pfingsiaonntag 4. Juni
) •
ÜBER LIBIDINÖSE TYPEN
Von
Sigm. Freud
Aus dem XVII. Band (1931) der ..Internatiomilen Z*'it-
schrift für Psychoanalyao". (Jährlich vier Hefte im üe-
saralumfang von etwa 6(X) Seiten. M. 28.—,)
Unsere Beobachtung zeigt uns, dali die einzelnen
menschlichen Personen das allgemeine Bild des Men-
schen in einer kaum übersehbaren Mannigfalli^^keit ver-
wirklicbea. Wenn man dem berechtigten Bedürfnis nach-
gibt, in dieser Menge einzelne Typen zu milersrheiden,
so wird man von vorneherein die Wahl haben, nach
welchen Merkmalen und von welchen Gesichlspunklcn
man diese Sonderung vornehmen soll. Körperliche Kigon-
schaften werden für diesen Zweck gewiß nicht weniger
brauchbar sein als psychische; am wertvollsten werden
solche Unterscheidungen sein, die ein regelmäßiges Bei-
sammensein von körperlichen und seclischeu Merkmalen
versprechen.
Es ist fraglich, ob es uns bereits jetzt möglich ist,
Typen von solcher Leistung herauszu finden, wie es
später einmal auf einer noch unbekarmlfn Basis gewiß
gelingen wird. Beschrankt man sich auf die Bemühung,
bloß psychologische Typen aufzustellen, so haben die
Verhältnisse der Libido den ersten Ans[)ruch. der Ein-
teilung als Grundlage zu dienen. Man darf fordern, dali
diese Einteilung nicht bloß aus unserem Wissen oder
unseren Annahmen über die Libido abgeleitet sei, sondern
daß sie sich auch in der Erfahrung leicht wiederfinden
lasse und daß sie ihr Teil dazu beitrage, die Masse
unserer Beobachtungen für unsere Auffassung zu klären.
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß diese libidinösen
9
Typen auch auf psychischem Gehiet iiiclil fhc einzig
möglichen zu sein hrauchen. wiu] daß man, von antlcron
Ei^j^cnschaften ausgehend, vielleicht eine gnu/r lieihö
anderer psychologischer Typen aufstellen kaini. Kür alle
solche Typen muß gelten, daß sie nicht mit kiankhi-its-
Bildern zusammenfallen dürffsn. Sie sollen im (icgeiiteil
alle die Variationen umfassen, die nach unserer pr.ik-
tisch gerichteten Schätzung in die Breite des Normalen
fallen. Wohl aber können sie sich in iluen extremen
Ausbildungen den Krankheitsbildern annrdiern und sol-
cherart die vermeintliche Kluft zwischen dem Normalen
und dem Pathologischen ausfüllen helfen.
Nun lassen sich je nach der vorwiegenden Unterbrin-
gung der Libido in den Provinzen des seelischen Appiirata
drei libidinöse Ilauptlypen unterscheiden. Deren Namen-
gebung ist nicht ganz leicht; in Anlelnmng an unsere
Tiefenpsychologie möchte ich sie als den erotischen,
den narzißtischen und den Zwangslypus be-
zeichnen.
Der erotische Typus ist leicht zu charaklerisicron.
Die Eroliker sind Personen, deren Hauptinteresse — der
relativ größte Botrag ihrer Libido — dem Liebesleben
zugewendet ist. Lieben, besonders aber Geliebtwerden, ist
ihnen das Wichtigste. Sie werden von der \rigst vor
dem Liebesverlust belierrscht und sind danuu Ix^sondcrs
abhängig von den anderen, die ihnen die Liebe versagen
können. Dieser Typus ist aucli in seiner reinen Form
recht häufig. Variationen desselben ergeben sich je nach
der Vermengung mit einem andern Typus und dem
gleichzeitigen Ausmaß von Aggression. Sozial wie kul-
turell vertritt dieser Typus die elementaren Triebaa-
sprüche des Es, dem die andern psychischen Instanzen
gefügig geworden sind.
10
Der zweite Typus, dem ich den zunächst befremd-
lichen Namen Zwangs typus gegeben habe, zeichnet {
sich durch die Vorherrschaft des Über-lchs aus. das
sich unter hoher Spannung vom Ich absondert. Er wird ;
von der Gewissensangst beherrscht an Stelle der Angst
vor dem Liebesverlust, zeigt eine sozusagen innere Ab-
hängigkeit anstatt der äußeren, entfallet ein hohes Maß
von Selbständigkeit und wird sozial zum eigentlichen,
vorwiegend konservativen Träger der Kultur.
Der dritte, mit gutem Recht narzißtisch geheißene
Typus ist wesentlich negativ charakterisiert. Keine Span-
nung zwischen Ich und Über-Ich, — man würde von
diesem Typus her kaum zur Aufstellung, eines Ober- '
Ichs gekommen sein, — keine Übermacht der erotischen
Bedürfnisse, das Hauptinteresse auf die Selbsterhaltung
gerichtet, unabhängig und wenig eingeschüchtert. Dem ]
Ich ist ein großes Maß von Aggression verfügbar, das
sich auch in Bereitschaft zur Aktivität kundgibt; im
Liebesleben wird das Lieben vor dem Geliebtwerden be-
vorzugt. Menschen dieses Typus imponieren den anderen
ab ,, Persönlichkeiten", sind besonders geeignet, anderen
als Anhalt zu dienen, die Rolle von Führern zu über-
nehmen, der Kulturentwicklung neue Anregungen zu ge-
ben oder das Bestehende zu schädigen.
Diese reinen Typen werden dem Verdacht der Ablei-
tung aus der Theorie der Libido kaum entgehen. Man fühlt
sich aber auf dem sicheren Boden der Erfahrung, wenn
man sich nun den gemi.schten Typen zuwendet, die um
80 viel häufiger zur Beobachtung kommen als die reinen.
Diese neuen Typen, der erotisch-zwanghafte,
der erotisch-narzißtische und der narziß-
tische Zwangstypus, scheinen in der Tat eine gute
Unterbringung der individuellen psychischen Strukturen.
11
wie wir sie durch die Analyse kennen gelernt liahen. xu
gestatten. Es sind längst vertraut« ClianiklerMlih'r, auf
die man bei der Verfolgiirig dieser Mischlv(K'n f:erät, ^
Beim erotischen Zwangslyi)us scheint die (ber- ■
macht des Trieblebens durch den Ivinfhili des Ober-Ichs
eingeschränkt; die Abhängigkeit gleicbzcilig von rezenten
menschlichen Objekten und von dei» Ih-üklt-n der Kllern,
Erzieher und Vorbild^'r erreicht bei diesem Typus <ica
höcbstcn Grad. Der eroii so b-n a rz i liti sehe ist vieU ]
leicht jener, dem man die grölMe lliuifigkeil ztjsprechon
muß. Er vereinigt Gegensätze, die sich in ihm gegenseitig
ermäßigen können; man k:inn an ibm im Vt-rglricb mil
den beiden anderen erotisclien Typen lernen, dali Aggrea- '
sion und Aktivität mil der Vorlierrschafl des \;u/ilin)ua
zusammengehen. Der narzißtische Z w a n g s l y p n a
endlich ergibt die kulturell wertvollste Variation, indem
er zur äußeren IJnabhäii^^Igkeit und UiMililung der Ge-
Wissensforderung die Fähigkeit zur krai'lvollfn Heläli-
gung hinzufügt und das Ich gegen das Über-Ich ver-
stärkt.
Man könnte meinen, einen Scherz zu inarbcn, wena
man die Frage aul'wiri't, warum ein andiicr ibcon-li^ch
möglicher Mischlypus hier keine lüwäbnung findet, iiäm-
höh der o r o t i s c h -z w a n g h a f t - n a r z i ß t i s c h e.
Aber die Antwort auf diesen Scherz ist ernsthaft: weil ■
ein solcher Typus kein Typus mehr wäre, sondern die '
absolute Norm, die ideale Ihuinonie. bedeuten würde.
Man wird dabei innc, daß das IMiänonien des Tvpus
eben dadurch entsteht, daß von den drei llauptvn \Nrn-
dungen der Libido im seelischen Haushalt eine oder zwei
auf Kosten der anderen begünstigt worden sind.
Man kann sich auch die Frage vorlegen, welcb«» da»
Verhältnis dieser hbidinösen Typen zur Pathologie ist.
12
ob einige von ihnen zum Übergang in die Neurose beson-
ders disponiert sind, und dann, welche Typen zu wel-
chen Formen führen. Die Antwort wird lauten, daß die
A.ufstellung dieser libidinösen Typen kein neues Licht |
aut die Genese der Neurosen wirft. Nach dem Zeugnis
der Erfahrung sind alle diese Typen ohne Neurose
lebensfähig, üie reinen Typen mit dem unbestrittenen
Übergewicht einer einzelnen seelischen Instanz scheinen
die größere Aussicht zu haben, als reine Charakterbilcler
aufzutreten, während man von den gemischten Typen
erwarten könnte, daß sie für die Bedingungen der Neu-
rose einen günstigeren Boden bieten. Doch meine ich,
man sollte über diese Verhältnisse nicht ohne besonders
gerichtete, sorgfältige Nachprüfung entscheiden.
Daß die erotischen Typen im Falle der Erkrankung i
Hysterie ergeben, wie die Zwangstypen Zwangsneurose, i
scheint ja leicht zu erraten, ist aber auch an der zuletzt i
betonten Unsicherheit beteihgt. Die narzißtischen Typen,
die bei ihrer sonstigen Unabhängigkeit der Versaguiig ^
von seilen der Außenwelt ausgesetzt sind, enthalten eine
besondere Disposition zur Psychose, wie sie auch wesent- '
liehe Bedingungen des Verbrechertums beisteilen. i
Die ätiologischen Bedingungen der Neurose sind be-
kanntlich noch nicht sicher erkannt. Die Veranlassungen
der Neurose sind Versagungen und innere Konflikte, J
Konflikte zwischen den drei großen psychischen Instan-
2en, Konflikte innerhalb des Libidohaushalts infolge der
bisexuellen Anlage, zwischen den erotischen und aggres-
siven Triebkomponenten. Was diese dem normalen psy- :
chischen AJjlauf zugehörigen Vorgänge pathogen macht, ]
bemuht sich die Neurosenpsychologie zu ergründen.
13
DER MLNSCH UND DAS FEltR
Von
AI brecht Schaeffer
Anschließend an eine nnmerkuua Freud« In nm\»r
Schrift „Das Unbohagon in dor Kultur" loitct dur Dichlor
Albrecht Schaeffer hier eine AuHeinandenwlrung oln. auf
die sich der folaende ßeitraa Erleamoyera und di» an-
ßchlieOende Arbeit SiKmund Freuds bezkshon.
Wenn etwas Neues zum Licht will ~ Tat, Work oder
Gedanke, so bedarf es, außer des cigenrn Werdc-'Jrichs,
eines Widerslands außerhall) seiner selbst; es l>edarf eines
Feindes, um so, an ihm seinen Willen zum Lihcn kräf-
tigend, sich emporzukämpfen, die letzte trenncnüi- Decke
zu durchstoßen - oder aus Unklarheil und Guslalllosig-
keit die lebendige und geprägte Form zu gewinnen Die
großen Männer unserer Geschichte zeigen uns, wie sie
wurden; sie verdanken ihre beste Kraft ihren Feinden
So waren es - in erheblich bescheideneren Grenzen -
hypothetische Sätze über die „Z ä h m u n g d c s F e u c r s"
in dem neuen Buche Sigmund Freuds über Das
Unbehagen in der Kultur", die in mir einer seil
langem gehegten Mutmaßung über die Erfindung des
Feucranzündens nun zu einer Festigung verhaUen, sutlalj
sie sich aussprechen läßt. Wenn es daher nötig \s{ a. i.
ich mich zunächst gegen die Hypothese Freuds wendf
geschehe es nicht ohne die Erklfirung, daß es da«! ."
zclne Wort ist, aber nicht der Mann, das ich zu bestreil
versuche, da ich für die seltene Persönlichkeit des Viel
wissenden und durch bedeutsame Entdeckungen d .
Menschheit wichtigen Gelehrten nur die größle Vcrehrun
empfinde. Wobei ich noch davon absehe, daß seine Hvih)-
these für ihn, abseits von seinem eigeniUchen Weg liegend
von Ihm nur gestreift wurde und, jedenfalls innerhalb
der Grenzen jener Schrift, für ihn nicht von erheblicher
Bedeutung war. r
14
Die „ersten kulturellen Talen", so sagt er, „waren der
Gebrauch von Werkzeugen, die Zähmung des Feuers, der
Bau von Wohnstälten". Und er fügt zu {ler im nächsten
Satz wiederholten Wendung ,,die Zähmung dt*s Feuers"
die folgende Anmerkung:
„Psychoanalytisches Material, unvollständig, nicht sicher
deutbar, läßt doch wenigstens eine — phantastisch klin-
gende — Vermutung über den Ursprung dieser mensch-
Uchen Großtat zu. Als wäre der Urmensch gewohnt ge-
wesen, wenn er dem Feuer begegnete, eine infantile Lust
an ihm zu befriedigen, indem er es durch seinen Harn-
strahl auslöschte. An der ursprünglich phalliscbon Auf-
fassung der züngelnden, sich in die Höhe reckenden
Flamme kajin nach vorhandenen Sagen kein Zweifel sein.
Das Feuerlöschen durch Urinieren — auf das noch die
späten Riesenkinder Gulliver in Liliput und Rabelais* Gar-
gantua zurückgreifen — war also wie ein sexueller Akt
mit einem Mann, ein Genuß der männlichen Potenz im
homosexuellen Wettkampf. Wer zuerst auf diese Lust ver-
zichtete, das Feuer verschonte, konnte es mit sich fort-
tragen und in seinen Dienst zwingen. Dadurch, daß er
das Feuer seiner eigenen sexuellen Erregung dämpfte,
hatte er die Naturkraft des Feuers gezähmt Diese große
_ kulturelle Eroberung wäre also der Lohn für einen Trieb-
verzicht. Und weiter, als hätte man das Weib zur Hüterin
des auf dem häuslichen Herd gefangen gehaltenen Feuers
bestellt, weil ihr anatomischer Bau es ihr verbietet, einer
solchen Lustversuchung nachzugeben. Es ist auch be-
merkenswert, wie regelmäßig die analytischen Erfahrungen
den Zusammenhang von Ehrgeiz, Feuer und Ilarnerotik
bezeugen."
„Phantastisch klingend", so nennt er eingangs entschul-
digend seine Hypothese, und schon diesem Wort muß ich
widersprechen — und darf es wohl grade deshalb, weil
es ein Wort meines Lebens-Gebietes ist, das der Mann
der Wissenschaft wählte. Ich kann nämlich diese Mut-
maßung von den Anlässen zur Feuer-Zähmung unmöglich
-. I
15
:
phantastisch finden, sondern vielmehr nur phantasielos:
ja, so ohne Phantasie, d. h. ohne Vorstellungskraft irgend
realer Zustände oder Vorgänge, so theoretisicrt, wie man
es von einem Mann der Wissenschaft allerdings fordern
möchte. Denn an menschliche Zustände welcher Art isl
hier zu denken, welche Art Urzeit hier vorzustellen, welch
ein Mensch und welch ein Feuer, dem sich „begegnen'*,
das sich auslöschen ließ? — Ehe ich aber auf diesem Wege
fortfahre, ist es nötig, die vou Freud nuiliuablich ge-
äußerte Vorstellungsketle gewissermaßen ins Heale /.u här-
ten, damit wir ihr eigentliches Ergebnis erfahren. Ciosagl
wird:
1) Ein Mensch begegnet einem Feuer.
2) Dies darf er nicht in Besitz nehmen und zu nutzen
versuchen.
3) Sondern er muß den Trieb empfinden, es mit seinem
Harn auszulöschen.
4) Diesen Trieb muß er unterdrücken, um sich
5) durch solchen Verzicht die Erlaubnis zum Besitz des
Feuers zu verdienen.
6) Nun darf er es wegtragen.
Wie schon gesagt, meine Vorstellungskraft scheitert liier
bei jedem Versuch zuzufassen. Allein es erheben sich noch
andre, mir scheint, wesentlichere Fragen, nämlich: L'iß»
knabenhafter Mutwille, läßt solch ein Wunsch zu ein '
Trieb-Befriedigung sich vorstellen, m früher Zeit, einem
Wesen wie dem Feuer gegenüber, das jedenfalls eine Kost-
barkeit war, gleichviel, ob eine geheiligte oder nur nütz-
liche. Denn dies immerhin wissen wir, weil es noch heut©
so ist. Wir können Vieles in so ferner Vergangenheit zwar
nur vermuten; das aber scheint sicher, daß in je früheren
Zeiten das Feuer um so größere Ehrlufchi ^t'uoü, als cia
ursprünglich vom Himmel gespendetes, furclileinflößcndes
und selber göttUches Wesen, wofür wir das Zeugnis der
Mythen, das bekannteste in der von Prometheus haben.
Etwas von dieser Ehrfurcht wird, denke ich, auch Pro-
fessor Freud mir zugeben, aus demselben Grunde näm-
16
lieh, aus dem er die religiösen Bedürfnisse der Mensch-
heit aus ihrer Angst und {liiriusigkeit herleitet.
Unter dem Vielen, was wir nicht wissen, ist auch das:
ob der Mensch als erstes ein vorhandenes, von einem
Blitzstrahl entzündetes Feuer in Besitz nahm und aus
ihm andre erweckte, oder ob er das Feuer nur kennen
lernte aus dem Anblick, der ihm den Wunsch danach
und ihn zu der Erfindung des Keuerschlagens erregte.
Man mag geneigt sein, das Erste für richtig zu hallen;
wenn ich dagegen für das Zweite bin, so ist das freilich
nur meine subjektive Empfindung, die ich mit Gründen
kaum zu stützen weiß, aber die mich glauben läßt, daß
den Menschen immer eine Scheu gehindert habe, die vom
Himmel gefallene Flamme zu berühren. Oder sie mag
ihm auch wie ein Untier erschienen sein, das er nur von
fern zu erlegen gewohnt war, aber nur als Verendetes
anzutaslcu. Einer Mylhc vom fi-ucrsiundendcn Blitz er-
innere ich mich nicht; dagegen gibt es zu denken, daß in
der Sage Prometheus keineswegs die offene F'lamme, son-
dern nur einen einzigen Funken in der HöliUing eines
Rohrs zu den Menschen brachte. War das Ei eher da
oder die Henne? Der Funken scheint dagewesen zu sein
vor der Flamme, l'nd als seinen Ursprung nennt uns
dieselbe Prometheus-Mythe die große Gebürerin selbst,
die Sonne, worauf an späterer Stelle zu kommen sein wird.
Gleichviel aber, wie wir die Gewinnung des ersten
Feuers uns vorslellen mögen: sobald es da war, mußte
es geheiligt sein. Kostbar war es auf jeden Fall. Denn
wenn sein Bestand gebunden war an seine flul oder an
die MögUchkeit, von der entfernten Mutter-Flamme ein
neues zu holen, so war vor Allem diese seihst, war aber
auch jede andre ein Heiligtum, dessen Vertilgung dem
Tilger gewiß eine ähnliche Strafe eintrug wie das Aus-
löschen eines Menschenlebens. Sehr wahr beginnt deshalb
Johannes V. Jensen seine Sage vom Menschen der Eis-
zeit im „Gletscher" mit der Verbannung dessen vom
Stamm, der die Hut des heiligen Feuers versäumte. War
t AlmuiBch 199S
17
den Menschen aber die Kunst des Feuerzüiidcns mit dem
Quirl bekannt, so darf für gewiß gelten, daß dies zauber-
hal'tc Instrument nicht m Jedermanns iiand war; daß es
geheimer und mächtiger Besitz von Einzelnen - wahr-
scheinlich Prieslern ~ war, — mit der gleiche» Iü>lge für
Verehrung und Behütung der lebendigen Flamme. Ganz
abgesehen von solchen grundbedeutenden HeiMgungcn —
kostbar mußte das Feuer sein als Lebeus-Wecker »nid
Lebens-Erhalter, mit seiner Wärme, seinem Litlil, seiner
Kraft, Nahrung zu bereiten, Ton zu härten, Metall zu
erweichen.
„Wenn er dem Feuer begegnete", sagte l-'n-ud. Aber
wer war es denn, und wie begegnete man einem Fcutir?
Herdfeuer — gab es ein andres? Oder wäre ein im Walde
vom Blitzstrahl enlziuideles vorbestellt? Nach Allem, was
ich gehört oder selber gesehen habe, ist es das seUensle
Vorkommen, daß ein Baum vom Blitz in Brand gesetzt
wird. Und nun sollte Jemand solchem Feuer begegnen
und Nichts wissen, als sich in solcher Weise dazu zu ver-
halten? Nicht als ob ich solches Verhallc^n an sich in
Abrede stellen wollte; ehi derartiges Antworten auf die
Gebärde der Flamme, ein Verlangen, derartig leibhaft mit
ihr in Verbindung zu kommen, liegt nicht außerhalb des
Verstellbaren. Denn es hat Empfindungen, Bräuche so i
Heiligungen gegeben, die nicht unsere waren, und w
der Harn und seine Entleerung ins Feuer uns unanstän^
dig erscheint, so braucht das beim frühen Menschen des-
halb durchaus nicht so gewesen zu sein. Wiederum aber
ist es die Absicht des Auslöschens, die mir unverständ-
lich bleibt, während eine Teilnahme am Lebendigen mir
eher verstellbar wäx-e, die es höher aufprasseln läßt, uui
durch gesteigertes Tanzen und Lodern wieder die Le]>cns-
lust des Entfachenden zu steigern. Alkl'm ganz hyi^o-
thetisch gesagt, denn die Basis, das Feuer selber und" ilie
Begegnung mit ihm, bleibt u]il)etretl)ar. Unbelrelbar lelzl-
hm - weshalb? Weil es Zufall wäre, was wir beträten.
Aber die Zähmung des Feuers kann mit Zufälligkeit so
18
wenig zu lun gehabt haben wie die Entdcckunß Aiiurikas
oder der elektrischen oder der Dampfkraft oder irgend
einer der grolien Erfindungen und Euldeckungen, die alle-
samt aus dem Geist entsprangen, aber tiichl aus der
Rcalilüt.
Allein die gedachte Begegnung des Menschen mit einem
Feuer war nur Anlati und Anfang. Worin bcsland seine
Zähmung? — Nein, sagt Professor Freud, diese ist ja hc-
rcils erfolgt; weil der Mensch sich sellier t>ezfihmtc, be-
zähmte er das Feuer. Und wenn mit diesem inneren Vor-
gang auch realiter Nichts geschehen ist, so halten wir
doch hier eine glaubhafte Wahrheit: daß nämlich nur
der Mensch zu einem Bund mit dem Feuer gelang<'n
konnte, der erfuhr und wußte, daß Feuer ein nicht nur
in der Natur außerhalb seiner selbst Vorhandenes, daß
Feuer auch in ihm selber war. Und liicran werden wir
uns sputer erinnern.
Ich gehe nun ohne weiteres daran, diejenigen Momente -
auszubreiten, die sich in meinem Denken zu verschiedener
Zeit einstellten und zusammenfügten; eine Frage zuerst.
Die Frage war: wie lernte der Mensch das Feuer-
machen? NVic, meine ich, kam er zu der Frrhidimg des
Feuer-Quirls, jenes Instrumentes, das bei stehen geblie-
benen Völkern noch heute, soviel ich weiß, im Gebrauch
ist, und das aus einem Stabe von Hartholz besteht, der
zugespitzt in die vertiefte Stelle eines weichen Holzes
gesetzt und nun mit den Händen oder auch vermittels
einer Bogensehne gequirlt, durch seine Umdrehung in
dem Weirhholz Hitze, Glut, Feuer erzeugt, einen Funken,
der in trocknem Laub oder Zunder aufgefangen der Keim
der lodernden Flamme ist. — Ja, wie verfiel der Mensch
darauf es so zu machen? Wer hat ihm gewiesen, daß ge-
riebene Hölzer sich bis zum Brennen erhitzen? Wo in
seiner Welt gab es einen Anlaß, derlei etwa zu versuchen?
— Wenn ich antworte, ich sehe keinen, so kann ich gleich
2*
19
hinzufügtn: ich wünsche auch keinen zu sehen. Denn icJi
bin sicher, damil die gleiche Grundlage zu betreten, deren
Gültif^kcit ich bereits weiter oben l)i'stritlcn hal)er die des
Zufalls. Die Erlindung, vor der wir noch heute bewun-
dernd slchn, kann wie all ihre spateren Scliweslern nicht
erzeugt sein durch Anlaß irgend einer lUalitäl; sondern
ihrer aller Erzeuger war eine vorj^efalite Idee. Die ßrolien
technischen Entdeckungen wurden in der Theorie ge-
macht; oftmals erst sehr spät, oft aus einem ganz andern
Hirn, folgte die Praxis.
Ideen, wie wir sie kennen, halte der Frühnunsch wohl
keine. Was er halte, war sein ganzes, ihm vermutlich un-
teilbar schchiendes Wesen, in dem er zwar nicht, wie wir
Heutigen, Geist, Seele, Herz, Gedanke, Trieb, Willen. Ver-
stand, Sexus, Bewußtsein und UnbewiiLUscin uinl was
immer unterschied; das aber — um so besser, um so
sicherer vielleicht -— so beschaffen war, daß es ilun dar-
reichen konnte, daß es aus sich entspringen ließ, was es
eben bedurfte; daß es Erfahrinigen .sammelte, nicht in
Menschenaltern, .sondern in Völkerzeiten und Jahrtausen-
den, die sich in der unterirdischen Nacht zu Krislall
preßten, bis sie blitzten ; daß solches Wissen sich ilun
dann darreichen konnte nach oben hin, in seine Tat-
kraft hinauf, wo es nun Helle wurde, nun erst eine Kr
fahrung, eine Schau, eine Einsicht, eine Rrauchbarl -it
ein Wissen, das sich dann aus ihm löste und r.,^t. u'
empfing von seiner Hand, als eine Art Etwas
^•^ machen
oder eine neue Erfindung.
Wiederum aber, wenn sein Wesen so war, so kann
darum für ihn kein Inneres, in ihm Beschlossenes ge-
wesen sein, in das er hätte hineinschn oder him-in-
horchen können, ujn Etwas darin zu erialnen oder zu
erkennen; so wie wir heute meinen^ M^^n y,, ^cmu.,, auf:
die S jmme des Herzens, die Mahnung des Gewissens,
eme Ahnung, eine ßotschafl des (;nterl)ewußt.scins; wie
Lr/r"r '''"' ^^'^^''^ Gespräche führer. lioO mit
inrei :5eelc, Gespräche ihres verzagten mit ihrem tapferen
20
Ich, wo sie sich dann fragen: „Aber was redet denn mein
Heber Geist mit mir Scjichesr* Somit'rn anzunehmen ist
im Gegenteil, daß er innen aus sich Nichts erfuhr; daß
er wie kein Späterer mehr in den äuÜerrn Dingen Iclito
und ihrer Lebendigkeit inne war, insofern er nur von
ihncu Alles erfuhr, was in ihm vorging, in ihrem Bilde
sein eigenes Wesen sah und erkannte, so daß l)eis|)icls-
weise alles Feurige in der Welt für ihn etwas Kinigcs
war, die Glut der Sonne auf seiner Haut, die Sonnen-
scheibe, der Blitz, das Feuer im brennenden Scheit und
Feuer in seinem Innern. Feuer der Freude und Brand
eines Schmerzes, Flammen-Qual eines Gifts oder einer
Wunde und Fiammcn-Lust in seinem Gesrhiecht und die
Flamme der Entehrung auf seiner Wange. All dies war
Feuer eines einzigen gemeinsamen Ursprunges, und nur
weil die Sonne brannte, konnte er eine Wallung in seinem
Innern spüren als Brennen und ihrer gesondert inne
werden und mit einem Namen bewußt. Wir sagen noch
heute nicht umsonst, daß uns das Her/ brennt oder das
Antlitz vor Scham. Scham und Beue und Verzweiflung
waren einmal wie die Lüste wirkliche Brände, dem Feuer
der Sonne verwandt.
Daher, wenn eine Erfindung wie des Feucrmachens
möglich wurde, so lag ihr Zcugungs-Orl im Innern des
Menschen, die Zeugung jedoch geschah von außen; es
war ein Funke der Außenwelt, der in das Innere fiel und
den Gedanken erweckte.
Denn nicht den Blitz fing Promelheus mit einem Scheit,
— und wie wäre das doch leicht gewesen für den Titan?
Sondern er mußte die Glut aus der Sonne selber schöp-
fen — weshalb?
Die Art und W^eise, wie er es tat, gab mir die erste
Andeutung, eine Vorantworl auf meine oben gestellte
Frage. Er schwang sich nicht, wie gemeinhin vorgestellt
wird, mit einem Kienspan zur Sonne empor, um ihn
dort zu entzünden und mit lodernder Fackel herabzu-
stürzen; eine Badicrung von Klinger gibt solch ein Bild.
21
Sondern die Sage gibt elwn die Vorstellung, daß er in
den Raum eindrang, in dem der Sonnenwagen bei Nacht
verwahrt wurde, und daß er nielit nielir als einen Funken
nahm, den er im holden Stengel des Akanllios oder der
Narthex-Staude, mit einem Markplropfen verschlossen, da-
vontrug.
Einmal erhob sich mir denn hier die Frage: Warum
dieser Unisland? Warum statt der offenen l-lamme aus
dem offenen Quell der zarte geheime Funke im liolden
Kohr? In der Mythe ist Nichts ohne Sinn, Alles vielmehr
mit tiefem Grund; und welches war nun der Grund fiir
diese geheime und mittelbare Art, das Offene aus dem
Offenen zu holen? Die Lösung, die ich aus mir selhrr
kaum gefunden hätte, zeigten mir die Sehlußverse des
fünften Gesanges der Odyssee.
Nachdem erzählt wurde, wie Odysseus nackend an
das Ufer der Phaiaken trieb, dann im Wald sieh e"
Lager unter dichtem Gestrüpp machte und sich zur Kr
wärmmig mit Laub überschüttete, heißt es dort:
Wie wenn Einer oinen Biiind mit dunkler Ascho verhüllte
Am äußersten Rand des Ackers, wo keine Nachbarn dabei alnl
Den Samen des Feuers wahrend, damit er ihn niclit von anl
So verhüllte aich OdyaseuB mit Blättorn. anatrswo
Iholen müßt«,
Samen des Feuers, heißt es, spcrma pyros
Der Mensch aber, der sich Glut unter der Ascho al
Samen vorsleUte, für den mußte auch der promellieiscJie
Funke im hohlen Stengel Same sein - oder auch I-unke
der Lust im männlichen Glied. Und nun, nachdem mir
die Verbindung im ScXliS gOgehen war, imn lag der Schluß
mit der Lösung meiner Frage nach dem Feueniuirl nahe
genug. Feuer war Feuer; das Feuer der sexuellen I-:rre-
gung im Gliede, im ganzen ergriffenen Leib war wirk-
liches brennendes Feuer, dem Feuer der Sonne enlstamml.
Es wurde aber erzeugt durch die Heibung des Harten im
Weichen, und so gibt uns der Stab von Uurtliolz beim
Feuerquirl, der in die Vertiefung im Weichholz gesetzt
wird, das genaue Bild des sexuellen Aktes, nur dafi die
«*
22
praklisch nichl ausführbare BewoHun« dt-s Auf uiui Nu-ilcr
In die des HtTumwirbelns verandt-rt wurde: das war ilas,
was die Praxis zur ScIiöpftinK der Krfiridiinus Tal heilraucn
konnte; die Theorie war vorKefalil iit der iniu-nn Welt,
im leiblichen Keucr, in der ausbrechenden Maiunic der
Lust, die auch die Seele verzehrte. Zum Kriinni^ »l'^'f
konnte dieses nur werden dunh jenes lüniKkeils-HewuLil-
sein des Mannes mit seiner Welt l):is I'eucr in seinem
Leib konnte ihn zu keiner Denkverl»indunR mit der lüil-
stebunji von I-Vucr in Holz brinKon, wenn er das innere
nicht wie ein äuüeres Feuer verstand; dies wie jei»cs
hatte ihm Einen Ursprung — die Sonne. Nicht im lUit*
konnte er sein, denn der war selten, riüehti«, ein- oder
meiirmalig zuckend; grade der BUlz komile ihn Nichts
lehren, weil er offen springend die offene Klumine schlug,
die kein Gutes war, keine Wohltal. sondern nnlK-zälnnliar.
gierig, mörderisch, nichl zeugend oder nährend, sondern
nur grausam und tödlich. Die Sonne jedoch war innner,
war auch im Winter, war Jahrtausende her die unwandel-
bar gleiche, war der Urquell des Lichts und der Waime,
Ursprung aller Güte im Sommer, Ursprung allen Jubels
im Frühjahr. Es war Sonne, die im Leibe des Mannes
aufbrach durch die Umarmung des Weibes; es war auch
Sonne, die im Ilerdfeuer brannte. Wir hätten keine Pro-
metheus-Sage und keine Feuer des Jul und der Sonnen-
wende, wäre nicht da wie dort, im Ilerdfeuer und im
eigenen Schoß für den Mensclicn Sonne gewesen.
Somit, scheint mir, bin ich mit meiner Hypothese —
andres als das kaim es nicht sein, obwohl meine Aus-
führungen positiven Charakter notwendig annehmen muß-
,ten, weil keine andre Darstellungs-Art möglich ist, —
bin auch ich zu der gleichen Stelle gelangt wie Freud,
zum sexuellen Ereignis als dem Ursprung zur
Zähmung des Feuers, wenn ich ihn auch nicht so
losgelöst aus der übrigen Welt, nicht so allein triebge-
bunden sehe, sondern vielmehr nur als den irdischen
Gegenpol eines im Kosmos ruhenden Pols. Auch scheint
23
mir nicht unwichtig, daß ich den Urspnmf^ der Tal nicht
in einem abseitigen, wie der Psychoanalytiker sagt, infan-
tilen Trieb, sondern in dem zentralen Ereignis selber
fand, das nicht Lust allein bedeutet, sondern vor allem ^
auch Zeugung. Wenn ich aber auch die Prägung „Zäh-
mung des Feuers" brauchic, so wäre <liese Zähmung noch
zu erläutern als eine, die sich zur Flamme in keiner
Weise feindlich, nicht Gewalt übend, nicht cinsciiränkend
oder unterdrückend verhält. Denn woran der Mensch sich
wagte, und was er in Dienst gewann, das war ja nicht
die offene rebellische Flamme, nicht ücwall, nicht einmal
Kraft; es war kein Löwe, sondern es war wie das Saal-
korn im Acker; es war der schwaclie, kraft- und hilf-
lose Funke, den ein Fingerdruck löschen konnte- der
gefahrlose, den es nicht zu bändigen galt, sondern viel-
mehr erst zu beleben, anzufachen, zu nähren, zu schützen
und pflegen. Es war ein Kind. Väterlich betätigte sich
der Mensch an der kindlichen Flamme und mütlfrlich
zumeist tut er es noch heute. Kindlichkeit sjjiclt in den
tanzenden Flammen; wer jemals einen Abend laii<' vor
dem Kaminfeuer saß, hat das Kindbche des leiditm
Flammen-Getümmels gewiß empfunden mit dem gU-ichen
Mannes- und Vaterbehagen, mit der es in seiner liöhlo
der Mensch der Frühe empfand. Kann auch aus den
Spielen des goldenen Kindes sich unverseliens ein unge-
bärdiger und wahllos zupackender Jünglinf? recken- der
väterliche Hüter des Feuers kennt sein Maß, das er selbst
ihm gegeben hat, daß er schadlos und gebündigt bleiben
muß, denn er selbst hat ihn gezeugt und erzogen; er ist
stärker als Jener, den er in seiner zartesten, todnahen
Hilflosigkeit kannte, und den er lie);f, )t'(.il er il,n gütig,
weise, im räüKlm und schönsten Sinn väterlich behan-
delte, wie CS kaum jemals ein Vater sein kann gegen einen
leiblichen Sohn.
Aber die sind auch unzähmbarer als die Flamme.
24
NOTIZ ZUR FRLUDSCHEN HVPOIHESE
ÜBER DIE
ZÄHMUNG DES FEUERS
Von
£ Erlenmeyer
Ana »Jmago. ZeiUchrift für Anwendans der Pgycho-
•Bftlyse Uli die Natur* and (^einLoBwiMaenBC halten",
Bd. XVIII (19321. — Jährlich vier Uelto im Ueaamt.
umfang von etwa G*»*) Seiten. M. 22.—. Siehe auch diu
B{>nierkun£ za dem Toran^eheaden Aalaata von Albrecht
Scbaeffer.
In seinem Buciie „Das Unbehagon in der Natur" bringt
Sigmund Freud eine Hypothese über die kullurelle
Bedeutung der i'euerbezähmung.*)
Diese Vorstellungen sind nun nicht ohne WidersprucJi
geblieben. Am stärksten wendet sich Albret-hl Scbaef-
fer in einem Aufsatz „Der Mensch und das Feuer'*
gegen diese Ausführungen:
„, Phantastisch klingend*, so nennt Freud eingangs ent-
schuldigend seine Hypothese, und schon diesem "Worte
muß ich widersprechen — und darf es wohl gerade" des-
halb, weil es ein Wort meines Lebensgebietes ist, das
der Mann der Wissenschaft wählte. Ich kann nämlich
diese Mutmaßung von den Anlässen zur Feuerzähmung
unmöglich phantastisch finden, sondern vielmehr nur
phantasielos: ja so ohne Phantasie, d. h. ohne Vorstel-
Imigskraft irgend realer Zustände oder Vorgänge, so Iheo-
rctisicrl, wie man es von einem Manu der Wisseuschafl
allerdings fordern möchte."
Diese Äußerungen Schaeffers wenden sich wohl nicht
nur gegen diese spezielle Hypothese, als auch gegen die
Methode, die in der Aufstellung der Hypothese zur An-
*) Siebe die Zitioninx aus Freoda „Unbeh&geD in der Kultur" im vor-
hergeheodeo Auisatie Albrecht SchaoJElort, S. 1&.
25
Wendung k^m. Die Konslriiklioii oder Fiktion eines Ur-
menschen scheint ihm gewagt. Er schreibt: Jimn an
menschliche Zustände welcher Art ist hier zu denken,
welche Art Urzeit hier vorzustellen, welch ein Mensch
und welch ein Keuer, dem sich begegnen, das sieh aus-
löschen ließe?"
Diese Fiktion eines Urmenschen, einer Urhorde besitzt
jedoch ein ganz anderes Maß von Kealit;it, als es etwa
die „Urpflanze", die Goethe sich ersonnen halle, be-
sitzt. Gewiß wird es nicht immer sieh ergeben, daß Ver-
mutungen über Vorgänge in jenen Urzeiten sich mit
historischen Beispielen belegen lassen.
Jedoch gerade über das Verhalten früher Menschen ge-
genüber dem Feuer lassen sich eigenartige, historische
Belege beibringen, die, wie mir scheint, den Auslührun-
gen Freuds direkt als Illustration dienen können
onW "l^T ^f^*^*^^"*^*: das D s c h i n g i s - K h a n den Mon-
tZr^ ^"l "f ^^ '.t^det man bei der Aufzahlung der
Vergehen: daß derjenige mit dem Tode bestraft werden
soll, der ms Wasser oder auf Asrh*. t^wu t i ti i
„Geschichte der Goldenen UoJ'^lS^.'Z hTS
;^.grwiYer^;ei:hVn""' ''-' ^^-- -" '- -- -e
„Die Todesstrafe ist über vierzehn Verbrechen ver-
hangt, über Ehebruch, Sodomie, Diebstahl, Totsrhl-iu-
weiters über Lüge, Zauberey, über den, der entlaufene
Sklaven semem Herrn nicht zurückstellt; der eine im
Gefecht oder im Streifzug dem Vormann entfallene Waffe
oder Beute nicht aufhebt und zurückstellt; der zum
dritten Male ihm anvertrautes Kapital durchgebracht-
über den, der im Zweykampf einem der beyden Kämp^
fenden geholfen; über den Feldflüchtigen und den Em-
pörer; über den, der ins Wasser und auf Asche
pißt, der die Tiere nach der Weise der Moslimen und
nicht nach der der Mongolen schlachtet."^)
*) Hammer-Purgßtall. S. 50.
m
Uammer-Purgslall verweist an einer anderen Stelle des
Buches auf die Verwandtschaft dieser Gesetzgebung mit
den Verholen der Pythagoräer.») ,,Wie den Pythagoräcrn
nicht erlaubt war, gegen die Sonne zu harnen,« so den
Mongolen, und zwar unter Todesstrafe, nicht ins Wasser
und nicht in die Asche.**
Die r-:igenarl dieser Bestimmungen spiegelt sich dann
auch in ihren Sitten und Gebräuchen. .,lhre Iteinigung
geschah durch das Feuer und nicht durch das Wasser,
denn sie wuschen sich nie und glaubten sogar, daß ein
Bad im Flusse den Weltcrslrahl vom Himmel rufe." Von
dem Blitz heißt es dann weiter: „diesen fürchteten alle
Mongolen über die Maßen: nur die vom Stamme der
Uriangkut beschworen denselben. Im fürchterlichsten Ge-
witter schmähten sie den Blitz und den Donner mit
lautem Geheul."
Diese Zitate bedeuten doch wohl, daß wirklich die
Beziehungen der frühen Menschen zum Feuer, zur glut-
bergenden Asche, zur Sonne, jenen Spannungen unter-
worfen waren, die Freud in semer Hypothese postuliert,
paß Dschingis-Khan, als er eme kleine Horde von No-
maden zur Eroberung und Begründung des größten Rei-
ches der Weltgeschichte führte, zu den gefährlichen Trie-
ben, die mit Todesstrafe bedroht werden mußten, jene
Begierde zum Feuerlöschen zählte, welche Be-
deutung er diesem Triebverzicht für die geschichtliche
Entwicklung beimaß.
Die Ausführungen Freuds über die kulturelle Bedeu-
tung dieses Triebverzichts werden jedenfalls durch diese
historischen Tatsachen in eigenartiger Weise bestätigt.
»)S. 191-
") „CoDvsrBo aa solom vultu ma. mingeodum" Dioiteues baertlua,
Pjthagoraa XVU.
27
ZUR GEWINNVNG DES FEUERS
Von
Sigm. Freud
- dem A„f,at. von Albreoht^S^to^Cs.ll) """""'"'
In einer Anmerkung meiner Schrift u i , ,
in der Kultur" (S. 47) habe ich ehli Ji'i;; f"'"
erwähnt, welche Vermutung über dm r . ""*? '"'
Feuers durch den Urmenschen man sich auTr ""^ f
psychonalytischen Materials bilden könnt! n
Spruch von Albrecht Schaeffer f ^\^^''' Wider-
sche Bewegung, Jahrgang II. 1930 s'oVj'!''"'"""'^^'
überraschende Hinweis in vorstehender" M .. •, "'"^ '^'"
Erlenmeyer über das mongolische Verbot 7. T
ZU pissen/) veranlassen mich ^«c tu * Asche
.nn5.m«n /^ ' '' ^'"'™« wi«der auf-
zunehmen.2)
Ich meine nämlich, daß meine A.nnal
dingung der Bemächtigung des Feuer« ^' • ^^ ^"*"^®'
^^__^i der Ver-
1) Wohl auf heiße Asclie, aus der man nochp '
Dicht auf erloschene. • ^^^^ SewiQmjn ^^j^
2) Der Widerspruch von Lorenz in „Chaos und R>
1931, S. 433 ff.) geht von der VorauseetzunK aus, dal]/' ^^"^'^^^ ^^'^*
Feuers überhaupt erst mit der Entdeckuug begonnen h i ^*''"""« «^oB
Stande, es durch irgendeine Manipulation willkürlich u "^" ^'*' '"**
Dageßt-n verweipt mich Dr. J. Hdrnik auf e" "'^'^•f"'- —
Dr. Richard Lasch (in Georg ßuschans Sam T ^"'^*""IJ"H von
Völkerkunde", Stuttgart 1922, Bd. I, S 24) • ^ ^"'^'''''f ..tliußtriorte
der Feuererhaltuüg der Feuere rzeujuag 1«' '^^^'""^'*«'» 'st die Kunst
entsprechenden Beweis hiefür liefert die T i* ^"'■auBgoKanceii: oinon
pygmaenarUßen Urbewohner der Andami ^^^^•'ö' dali die houtiffon
und bewahren, eine autochthone MethodTT tT'"' '^^^ *'*'"«'" '»'«'^''*"
kennen." "vietnode der Feuerortouiiua« aber nicht
28
^»cht auf die homosexueU-betonte Lust gewesen, es durch
aen Harnslrahl zu löschen, lasse sich durch die Deultiiig
er griechischen Promelheussage bestätigen, wenn man
Oie zu erwartenden Entstellungen von der TaLsache bis (
zum Inhalt des Mythus in Betracht zieht. Dioso Knt-
slellungcn sind von derselben Art und niciit ärger als '
jene, die wir alltäglich anerkennen, wenn wir aus den
Träumen von Patienten ihre verdrängten, doch so über-
aus bedeutsamen Kindheitserlebnissc rekonstruieren Die
dabei verwendeten Mechanismen sind die Darstellung
durch Symbole und die Verwandlung ins (iegenteil. Ich
kann es nicht wagen, alle Züge des Mythus in solcher
Art zu erklären; aulier dem ursprünglichen Sachver-
halt mögen andere und spätere Vorgänge 2u seinem
Inhalt beigetragen haben. Ai)er die Klemeiite, die rino
analytische Deutung zulassen, sind doch die auifällig-
sten und wichtigsten, uänüich die Art, wio Proinotheus
das Feuer transportiert, der Charakter der Tat (Frevel,
Diebstahl, Betrug au den Göttern) und der Sinn seiner
Bestrafung. *
Der Titane Prometheus, ein noch göttlicher Kultur-
heros,') vielleicht selbst ursprünglich ein Dcmiurg und
Menschenschöpfer, bringt also den Menschen das Feuer,
das er den Göttern entwendet hat, versteckt es in einem
hohlen Stock, Fenciielroiir. Einen solchen Gegenstand
würden wir in einer Traumdeutung gern als Penis-
symbol verstehen wollen, wenngleich die nicht gewöhn-
liche Betonung der H(ihlung uns dabei stört. Aber wie
bringen wir dieses Penisrohr mit der Aufbewahrung des
Feuers zusammen? Das scheint aussichtslos, bis wir uns
*) Herakles ist dann halbgöttlich, Theseas ganz menschlich.
Iil
an den im Trau.n so häufigen Vorgang der Verkeh-
rung, Verwandlung ins Gogenleil, Uinkchrung der Be-
gehungen erinnern, der uns so oft <leu Sinn des Trau-
mes verbirgt. Nicht das Feuer beh.Ml.e.gt der Mensch
in s™ Pe„i,rohr, sondern in, (iegenteil das Mittel,
sl^hl A T '" •'''='•'="' 'J»^ Wasser seh.es Ilarn-
^Ms An diese Begehung .wischen Feuer und Wasser
Sl an. '""''''' ^"•^^•'«kannles analytisches Mate-
Zweitens, der Erwerb des Feuer, i«f ■ r i -<■
wird durch Raub oder Dieb , ah "" '
konstanter Zug aller ^Ttr:^r:"- ^'" "' T
Feuers, er findet sich \J A (^ewinnung des
legcnsten Völkern ntht ^«f »"«^ensten und ont-
vl Feuorhringe^'p" L:!'",!?" '''f''''- '"'"
sentliche Inhalt der cntll ». "'"'^ «*'''' ^'"- ^«■
halten sein. Abei C;!: 't^;'t''"'^''-"----'-
trennbar mit der Vorstellun,^ . ' " ^"'"'«''''"'"^'^E ""-
Wer ist dabei der Ge eh«5^ f T" ^"'"^"'^ vorknüpft?
Hesiod gibt eit 1^!!^^^^'' "'^ '^'^ "^
anderen Erzählung, die nicht TreL mf ", "" '" """^
sammenhängt, Prometheus bei der Eii 1 ""'
Zeus zugunsten der Menschen übervört ',""*^ '^" ^P^"'
die Götter sind die Betrogenen 1 De p '" '"'^'- '^'^"
Mythus bekanntlich die Befriedigunr n '^'""" '"''^ '^'"'
auf die das Menschenkind verzichten muij ^*'"'*': ''"'
vom Inzest her kennen. Wir würden in a l' ^'° ^" **
druaksweise sagen, das TricIllollOn das Ps""/"'?",'^"?
die Feuerlöschentsagung betrogene cl "'" '''"''''
Gelüste ist in der Sage in oT -m ' ''" '"«"«'^"'^^''"«
gewandelt. Aber die Sth'it T t' '^ '"""'" """
^oiuiut hat in der Sage niclils vom
30 • .
\
S'
I
Charakter eines Ober-Ichs, sie ist noch Repräsentant de.s
übermächtigen Trieblebens.
Die Umwandlung ins Gegenteil ist am gründlichsten
in einem dritten Zug der Sage, i„ der üestrafm.K d«
l'euerbnngers. Prometheus wird an einen Felsen ge-
schmiedet, ein Geier frißt täglich an seiner Leber. Auch
m den Feuersagen anderer Volker spielt ein Vo^el c^no
Rolle er muß etwas mit der Sache zu tun haben, ich
enthalte mich zunächst der Deutung. Dagegen fühlen
wxr uns auf sicherem Boden, wenn Is sich un. die I^
klarung handelt, warun. die Leber zum Ort der Bestra-
fung gewählt ist Die Leber galt den .Vllcn als der Sit.
aller Leidenschaften und Begierden; eine Strafe wie die
des Prometheus war also das IMchüge für einen triob-
halten Verbrecher, der gefrevelt hatte unter dem Antrieb
böser Gelüste. Das genaue Gegenteil trifft aber für den
Feuerbringer zu; er hatte Triebverzicht geübt und ge-
zeigt, wie wohltätig, aber auch wie unerläßlich ein sol-
cher Tnobverzicht in kultureller Absicht ist. Und warum
mußte eine solche kulturelle Wohltat überhaupt von der
Sage als strafwürdiges Verbrechen behandelt werden?
Nun, wenn sie durch alle KntsteUungen durchschimmern
. läßt, daß die Gewinnung des Feuers einen Tnobverzicht
zur Voraussetzung hatte, so drückt sie doch unverhohlen
den Groll aus. den die triebhafte Menschheit gegen den
Kulturheros verspüren mußte. Und das stimmt zu un-
seren Einsichten und Erwartungen. Wir wissen, daß die
Aufforderung zum Triebverzicht und die Durchsetzung
desselben Feindseligkeit und Aggressionslust hervorruft,
«>e sich erst in einer späteren Phase der psychischen
Entwicklung in Schuldgefüiil umsetzt.
31
Die Undurchsichtigkeil der Promelheus-Sagc wie ande-
rer Feuermylhcn wird durcli den üiiist«nd gesteigert,
daß das Feuor dem Primitiven als etwiis der verliebten
Leidenschaft Analoges — wir würden sagen: als Symbol
der Libido - erscheinen mußte. Die Wärme, die das
Feuer ausstrahlt, ruft dieselbe Empfindung hervor, die
den Zustand sexueller Erregtheit Inigleitel. un<l die
Flamme mahnt in Form und Bewegungen an den täligen
Phallus. Daß die Flamme dem mythisciien Sinn als
Phallus erschien, kann nicht zweifelhaft sein, noch die
Ahkunftsage des römischen Königs Servius Tullius leugt
dafür. Wenn wir selbst von dem zehrenden Feuer der
Leidenschaft und von den züngchiden Flammen reden
also die Flamme einer Zunge vergleichen, haben wir
uns vom Denken unserer i)rimilivcn Ahnen nicht so sehr
weit entfernt. In unserer Ilerleilung der Feucrgewin-
nung war ja auch die Voraussetzung entlialten, daß doni
Urmenschen der Versuch, das Feuer durch sein eigenes
Wasser zu löschen, ein lustvolles Ringen mit einem an-
deren Phallus bedeutete.
Auf dem Wege dieser symbolischen AusgieichnuK
mögen also auch andere, rein phantastische Elemente
in den Mythus eingedrungen und in ihm mit den histo-
rischen verwebt worden sein. Man kann sich ja kann
der Idee erwehren, daß, wenn die Leber der Sita der
Leidenschaft ist, sie symbolisch (lassdhc bedeutet wie
das Feuer selbst, und daß dann ihre tägliche Aufzehrung
und Erneuerung eine zutreffende Schilderung von dem
Verhallen der Liebesgelüste ist, die, täglich befriedigt»
sich täglich wieder herstellen. Dem Vogel, der sich an
der Leber sättigt, fiele dabei die Bedeutung des Penis
32
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2ü,^ die ihm auch sonst niciil fremd ist, wie Sagen,
träume. Sprachgebrauch und plastische Darstclhingen
aus dem Altertum erkennen lassen. Kin kleiner Schritt
Weiter führt zum Vogel Phönix, der aus jedem seiner
Feuertode neu verjüngt hervorgeht, und der wuhrschein-
lioh eher und früher den nach seiner Erschlaffung neu
belebten Phallus gemeint hat als die im Abendrot unter-
gehende und dann wieder aufgehende Sonne.
Man darf die Frage auf werfen, ob man es dermythcn-
bildenden Tätigkeit zumuten darf, sich ~ gleichsam
spielerisch — in der verkleideten Darstellung allgemein
bekannter, wenn auch höchst interessanter seelischer Vor-
gänge mit körperlicher Äußerung zu versuchen ohne
anderes Motiv als blolie üarstellungslust. Darauf kann
man gewiß keine sichere Antwort geben, ohne das Wesen
des Mythus versUnden zu haben, aber für unsere beiden
Fälle ist es leicht, den nämlichen Inhalt und damit eine
bestimmte Tendenz zu erkennen. Sie beschreiben die
Wiederherstellung der libidinösen Gelüste nach ihrem
Erlöschen durch eine Sättigung, also ihre ünzerstörbar-
keit, und diese Hervorhebung ist als Trost durchaus an
ihrem Platz, wenn der historische Kern des Mythus eine
Niederlage des Trieblebens, einen notwendig gewordenen
Triebverzicht behandelt. Es ist wie das zweite Stück der
begreifhchen Reaktion des in seinem Triebleben gekränk-
ten Urmenschen; nach der Bestrafung des Frevlers die
Versicherung, daß er im Grunde doch nichts ausge-
richtet hat.
An unerwarteter Stelle begegnen wir der Verkehrung
ins Gegenteil in einem anderen Mytlius, der anscheinend
sehr wenig mit dem Feuerraythus zu tun hat. Die 1er-
8 Aimanach 193S 33
\
naischo Hydra mit ihren zahllosen züngelnden Schlangen-
köpfen — unter ihnen ein unsterblicher — ist nach dorn
Zeugnis ihres Namens ein Wasserdrache. Der Kullur-
heros Ih^rakles bekämpl't sie, indem er ihre Köpfe ab-
haut, aber die wachsen inmier nach, und er wird des
Untiers erst Herr, nachdem er den unslerbliclien Kopf
mit Feuer ausgebrannt hat. Ein Wasserdrache, der durch
das Feuer gebändigt wird — das ergibt doch keinen
Sinn. Wohl aber, wie in so vielen Träumen, die Um-
kehrung des manifesten Inhalts. Dann ist die Hydra
ein Brand, die züngelnden Schlangenköpfo sind die
Flammen des Brandes, und als Beweis ihrer libidinösen
Natur zeigen sie, wie die Leber des Prometheus wieder
das Phänomen des Nachwachsens, der Krneuerunff nach
der versuchten Zerstörung. Herakles löscht nun diesen
Brand durch — Wasser. (Der unslerbliche Kopf ist
wohl der Phallus selbst, seine Vernichtung die Kastra-
tion.) Herakles ist aber auch der Befreier des Prome-
theus, der den an der Leber fressenden Vogel tötet
Sollte man nicht einen tieferen Zusamuionhang zwische "
beiden Mythen erraten? Es ist ja so, als ob die Tat d»
einen Heros durch den anderen gutgemacht würde Pro
metheus iiatte die Löschung des Feuers verboten vu'
das Gesetz der Mongolen ~, Herakles sie für den Fall
des Unheil drohenden Brandes freigegeben. Der zweito
Mythus scheint der Reaktion einer späteren Kullur/.eit
auf den AlllalJ der 1* euergewiunung zu entsprechen.
Man gewinnt den Eindruck, daß man von hier aus ein
ganzes Stück weit in die Geheimnisse des Mylhus ein-
dringen könnte, aber freilich wird man nur für eine
kurze Strecke vom Gefühl der Sicherheit begleitet.
34
I
Für den Gegensatz von T^uor und Wasser, der das
ganze Gebiet dieser Mytiion helierrscht, ist außer dem
historischen und dem syniboHsch-phaiit;»sliscln'n nocli ein
drittes Moment aufzeigbar, eine physiologisclie Tatsache,
die der Dichter in den Zeilen besclireibt:
„Was dem Menschen dient zum Seichen,
Damit schafft er Seinesgleichen.'* (Hein e.)
Das Glied des Mannes hat zwei Funktionen, deren
Beisammensein manchem ein Ärgernis ist. Ks besorgt
die Entleerung des Harnes, und es führt den Liehesakt
aus, der das Sehnen der genitalen Libido stillt. I )as
Kind glaubt noch, die beiden Funktionen vereinen zu
können; nach seiner Theorie kommen die Kinder da-
'durch zustande, daß der Mann in den Leib des Weibes
uriniert. Aber der Erwachsene weiß, daß die beiden
Akte in Wirklichkeit unverträglich miteinander sind —
so unverträglich wie Feuer und Wasser. Wenn das
Glied in jenen Zustand von Erregung gerät, der ihm
die Gleichstellung mit dem Vogel eingetragen hat, und
während jene Empfindungen verspürt werden, die an
die Wärme des Feuers mahnen, ist das Urinieren un-
möglich; und umgekehrt, wenn das Glied der Entleerung
des Körperwassers dient, scheinen alle seine Beziehungen
zur Genitalfunklion erloschen. Der Gegensatz der beiden
Funktionen könnte uns veranlassen, zu sagen, daß der
Mensch sein eigenes Feuer durch sein eigenes Wasser
löscht. Und der Urmensch, der darauf angewiesen war,
die Außenwelt mit Hilfe seiner eigenen Körperempfin-
dungen und körperverhältnissc zu begreifen, dürfte die
Analogien, die ihm das Verhalten des Feuers zeigte,
nicht Ulibemerkt und ungenützt gelassen haben.
35
4
t
ER KRANKE
in AT IMMER RECHT
Von
Loif Andreas^Sdlomo
Aus dem Buche „Mein Dank an Freud. Offener Brief
an Professor Sigmund Freud zu seinom 7Ö. Güburtstaß'*.
Das 109 Seiten Htarko Werk oröchion 11)31 iin InUTnaL»-
nalen PsychoaimlytiHchen VorUß und kostet ia Leinen se-
bunden Mark 5. — , geheftet Mark 3.20.
Ober dem schöusLen Beruf sieht Ihr Arztworl:
„Der Kranke hat immer Rechtl — Die Kranklieit selb.st
darf ihm nichts Verächtliches sein, vielmehr ein wünüjier
Gegner werden, ein Slück .seines Wesens, das sidi juif gule
Motive stützt, aus dem es Wertvolles für sein spälercs
Leben zu holen gilt."
Dies Wort nimmt vom Kranken die Isolierung, worin er
wie inmitten einer Leere dasteht, es nimmt das Mißver-
ständnis einer Schande von ihm und öffnet den Kontakt
von Mensch zu Mensch. Es begründet den Konliikl auf der
Gleichheit menschlicher Bescliaffeiiheit und verneint ihn
deshalb gleichzeitig in jedem Sinn individueller liimiuni»
Vom Analysanden her erscheint diese allerdinas in-
dividuell begründet; ruht doch die ganze Analyse auf
der „Übertragung". Um deren Sondercharakler sicher-
zustellen, haben Sie, von Beginn an beinahe, darauf auf-
merksam gemacht, daß der Analysand seine Affeklc, sowohl
die pro wie die kontra dcil AlialytlW, auf ihn nur „über-
trägt" aus der eigenen äUcslen At'feklverganfleiiheil, ilin
mit diesen Stücken nur behängt wie einen ihm bercilwiliig
hingehallcnen Kleiderständer, und dati er dies Verfahren
bis zuletzt auf zweierlei Weise übe: teils an der liand
seiner, analytisch aus Verdrängungen heran fgehobenen
Erinnerungen, teils, wo diese stocken, ia uuwissent-
36
liehen und unwillkürlichen Aktionen pm und kontra — so-
mit indirekt, in agierendem Verhallen — das linterdrückle
zur Kenntnis des Andern bringe. Aber auch darauf halxin
Sic ja hingewiesen, wie etwas von diesem l'rNprunf; unsem
Affekten und Bimlungeu überhaupt eigne, wie ihr Wurzel-
grund am Frühesten und Ältesten unserer üiiwirüeke hafte
und aus dieser Vergangenheit auch die GeRenwart norh
aufbaue — wie demzufolge das letztlich l'nlerscheidetide
der Übertragung während der Analyse erst gegeben sei
durch das Reagieren des Analytikers darauf: indem er sie
nicht zu erwidern, sondern zu verwenden hat, auszubeuten
hat als Heilmittel, gleichviel ob sie sich störend dagegen
einstellt: sei es durch ein Schönfärben des Erinnerungs-
materials im Werben um Zuneigung, sei es iin gegnerisch
gesinnten „Widerstand". Erst mit zunehmender Einsiclit
des Analysanden in diesen inneren TatlKistaiid beginnt die
volle Gemeinsamkeit der Arbeit, die Erforschung von Zu-
sammenhängen im Unbewußten, also dessen, was Beiden
sich erst daran erschließt.
Dies Moment ist es ja, was die Tiefenforschung so voll-
gültig von den PraktiJcen der Beichte einerseits, der
Hypnose (von der sie ursprünglich ausging) andererseits
ti*ennt — von dem, was auf bewußte Motive des Handelns
fahndet, um sie erziehlich zu beeinflussen, sowie von dem,
was seelische Autonomie herzustellen strebt, bis die Sugge-
sübilitäl gegenüber dem Hypnotiseur das Bewußtsein über-
rumpelt hat. Von beiden, Hynose wie Beichte, kann fälsch-
lich was in die Tiefenforschung liineingeraten, sobald ihre
Methodik nicht streng genug befolgt wird, sobald der
Wunsch, suggestiv zu wirken, die imiern Bewegungen,
die im Analysanden vor sich gehen, verwischt — undeut-
lich macht, was daran selhsttätig oder eingeflüstert sei.
Solche Oberaktivität geschieht leicht ohne jode Absicht
dazu, je nachdem, ob im Analytiker allzuviel „Fülirer-
tum" vorherrschen möchte, oder auch allzuviel drängende
Teilnahme; denn die ..mit dem goldenen Herzen" ver-
wechseln nicht minder irrtümlich Psychoanalyse mit Sa-
37
maritertiiim. Aber auf der aiukix^ii Seile müssen wir uns
auch sa^cu, daß der Bogini der Noiilralitiil uml Objoklivilät
ebeulalls übersiiarinl werden kauu luid es nicht scltea
auch wh'd: in einer ganz vorwiegend inlellekluellen Kin-
slcilung, <Ue auf Schoii'un^g der Nerven vor dem Aufrei-
benden des Berufes al)zieU utwl darülwr zu vergt^sscn ge-
neigt isl, bis zu welchem Grade bereils das ilineinhorchen
und Sich-liinfülilen in die fremden Socleuäulierungen ein
volles Hinhalten des ei^«enen UnbewnlMrn voraussetzen,
und daß „aktiv" und „passiv", beides, sit-h dafür zusam-
menlun müssen, was nicht gelingt, wo wir mit uns ., sparen".
Nicht weniger als unserer ganzen /.usammonfassung zu
solchem Dienst bedarf es, damit Helfer und Hilfsbedürf-
tiger sich lief genug treffen in ihrem beidersi'itigcn Müllen,
nämlich dort, wo wir uns ja bloß darum treffen und
helfen können, weil wir gleichen Mensohcnlums sind.
Demi das wollen wir uns doch klar macl)cn, wir alle
Arbeitenden an diesem Reruf, an dieser Berufung: unsere
Überlegenheil besteht von Kall zu Fall doch nur in einem
Doppelten: einmal in dem uns durch die Kreudsche Mellio-
dik erarbeiteten Wissen und sodann in der simplen Tat-
sache, daß wir der Zweite siiwl, der dem Münchhausen
beisteht, sich am cigmeil Schopf aus dem Wasser zu
ziehn, und dessen, gegebenen I'^alles, auch der gewii'^ieste
Analytiker nicht entraten könnte. Dies gewinnt noch an
größter Wichtigkeit dadurch, daß der Erkrankte seine
Krankheit ja gleichsam selber wie einen Zweiten in sich
trägt, als eine Abspaltung von seiner Persönlichkeit, die
ihm in seinem Geiiesungswillen dreinsprichl, seiine bewuß-
testen Bemühungen, ihm unbewußt, wie ein listiger Be-
trüger, ausnützt und hintertreibt. Im Kampf dieses Zweier-
lei in ihm kommt es erst allmählich wenigstens bis zu der
Einsicht: mit dem Leiden nicht identisch, sondern damit
nur behaftet, ablösbar verknüpft zu sein; aber noch mitten
in letzter Ablösung bleibt jede krankhafte Ho^uktion von
der gleichen feindseligen Tücke — ein Patient besclirieb
es lebhaft: wie in eimem in limidert SpUttcrchen zer-
38
schmetterlen Spiegel erkennl man nocli im U-Izlen Splitter
das ßanze Aullitz des Feimles voUslämUg. Bis *lcr Haß
Nvider diesen Hindrin^ling sich ehonralls so kondensiert
hat, am Glück der Genesung? zu ebenso un^^etcilliin Zorn
wird, als einst passives Gcwälirenlasseii .slallluitle. IK-nn
mit den lösenden Erinncrun^n steigt auch die an die
Urängste auf, an deren Uiienlrinnbarkeil die Neurose sich
ansetzte, und läßt sie t}e*?*^"über dor nun fni^'ltvlen
Realität in ihrer grausigen Gesi>enstiigkeil erscheinen. Auch
dies äußerte ein Patient wie eine neue, ihn stark ergrei-
fende Erwägung: zu denken, daß derj^leichen hinter dem
Menschen liegt — hinler jedem Menschen, in der Hilf-
losigkeit erster Erlebnisse, und vor der Entscheidung,
ob sie sich gesund bewältigen lassen würden, — das
ergäbe ein Grundwissen Menschlichem gegenülxn*, das jwlen
Einzelnen, möge er uns später als noch so trivial \x)r-
kommen, der bloßen Banalität enthöl>e.
In der Tat scheint es mir von Analyse ebenso unabtrenn-
bar, daß sie den Einzelnen zerpflückt und zerfasert, wie
auch daß sie ilun eine Grundbedeutung, jenseits von
Scham wie von Stolz, zur Fühlbarkeit brimgt, die auch
durch Krankheil nicht zweifelhaft, sondern von ilir nur
bestätigt wird. Ein Zufall wars ja nicht, daß es der
Arzt gewesen, der ziir Tiefeaforschung den Wog fand. Vor
Ihnen nahmen Psychologen zum Ausgangspunkt fast nur
den sogenannten gesunden Menschen, oder das Patholo-
gische wurde dem Mystischen an^näherl. Es war meisten-
teils etwa so, als ob. am Rande eines Gewässers, über die
darin unsichtbar schwinmienden Fische Meinungtm ge-
lauscht würden, entweder philosophisch über sie fabelnd
oder aber was davon herausangelnd, um es toter Beutö
zuzuwerfen, die schon bereitlag zur exakt vor sich gehen-
den Zerlegung. Erst jetzt wird tler wunde Fisch vom
Angelhaken genommen, um so — unlersuchbar an seiner
Verwundung wie ein Totes — dennoch vom Fisch-Wesen zu
künden, ehe er wieder untergeschlüpft ist in sein Element.
Das ist, wie mir vorkommen will, bedeutungsvoll geworden
39
ur unsere Ar , üburhaupi die b<«rirfc von Gesolzmäßißkeit
und KausalUat prakUsch a.uuwcndeM. Daß mit der »der-
rhrekl,^7'. " '^''y<"°--'"^"y.so siehe oder falle, i^t
«Tlhln 1 P«ter„,inie.x;„ i„ einem Dop.x-Isi.ui: zu-
' lü zels ü.-k ''h ^"^ """ ^«'■»'"""««««'nälJen Diagnose am
■ Wesens ^'f; '^'^'■•^'^hlosseu aiis Gcsa.n.e lebendigen
1™ d^r T "■" f'^'- ^'" f'-^'Pl«"t«^>0'. luuie es sich Ihnen
u Schich?"'""? «"f<»'-än«en müs^n, wie, von Schicht
uLen dir' p" n" ■^'''""« ''''' «■'«'«'ndet Lageverhält-
immer S ;^;, ">^'=™ '.'<^^"-kende.s n„d Bewirkles sich
D""ua«sarbe.r^ '"" ""^"^h"""''^" -selbst für dU>
nahS st d. "^ fn™" Menschenlebens. Wa« aber
elnrach\o;.w4 E ^a 'r ,;"'-'^-«-.-'-""«s"l.<.griff
schartlirhf^n ptfn . V *^'"' '^^^ seillier im wissen-
^n^'SZ^lZ^^^:;^:^ :;- ..Kansa..ais.ih^'
fassung Raum aab ,l„n ^'"^'" ''«'' Auf-
kommen sei. Denn unse«; IoIh , ß<^'"«'"'g<^" auszu-
erfahrun«en, sich wS jhn, , \ '" ''*'^ä"'««»<l'^^n AuBen-
barer von Tag zu TaT m^^ u'"*"™"^' ""<! '""*""'^-
ins noch Un^rtindiiche, ^f ^s^t f"'""^" ^^^"-■''"'
und üefer gehen. ^"^"^ Iwienerfahrungen tief
Für uns Psychoanalytiker folot dar-,,,« „k ^
genau dieselbe Notwendigkeit nur m„ ' ^"^ "■■""" ^"'=''
strengerer Handhabimg unserer T«,. ^ «^etermmations-
wie für die Naturwilnscha" d^"' "h^ "fj'y^]""''''
jeweilig erschlossenen Stück schüt^nT", ^^'^""' /"
Unzulässigen und Unzuverlässigen subiel V" „^^'°
opn dip QiVh in H,o w •"""b^n s>ubjekliver Mu maßun-
gen, de sich in die Wissenschaft nisten wollen mid wieder-
um s i e hemmend hineinmischen in die v^L
losigkeit fi.i nutender ErlebniseiLrüc^^ ^ unset^^G^:
n^r - oder uns bloß „Wohlwollende" _ so gern mU ihi^r
40
Synlhetik anrücken, womit sie die Psychoanalyse ergSnzt
Wissen mochten, begehen sie damit nur derartiftt! Ver-
unreinijiungen — indem sie sich als Hat^elM-r pädagogi-
scher, moralischer, religiöser oder sonst welclier Sorte.
mnzUigeseUen. Anstatt des ülxirliebliclien Vertrauens, das
sie damit sich selber zollen, sollten sie lieber dem iinbo-
wußten Besserwissen eines wahrhaft (iesundclen ver-
trauen, der, wie der seinem Element zurCickj?egebene Fisch
keinen Wegweiser im Wasser braucht, und den man damit
nur auf fremdem Boden aufhält. Noch ganz abgesehen
davon, wie sehr damit wieder angeknüpft würde an die
Ursachen seiner Erkrankung: an die eben erst abgetragene
Hörigkeit seiner Infantilität.
Mit Recht haben Sie darauf hingewiesen, wie normal es
sei, wenn der Analysand seines Analytikers nicht mehr
viel gedenke, so wie der Gesunde seiner Medizinllasrhe
nicht weiter anhänge. Hingegen kann ich es mir nur
schwer vorstellen, daß dies sich umkelire: schwerlich ver-
gäße der Analytiker seines gewesenen AnalysajultMi, i*be-n
wegen des unwiederholbaren Schauspiels, das er ihm bot.
Denn worin besteht, genauer betrachtet, das jedesmal
Einzige der seelischen Situation? Darin, daß nur innerhalb
ihrer dem Forscher in uns sich ein Material bietet, wie es,
so intim und lebensnahe, seU)st dem nächslstehenden
Freunde noch entginge, und daß dennoch gerade seiner
rein forscherischen Zuwendung dazu sich die Tiefe unseres
Allmenschentums auf tut, als ob sie sich seiner eigenen
Selbsterkenntnis erschlösse. So handelt es sich um ein
Doppelcrgcbnis von Geben und Nehmen, indem das For-
schungsziel nur erreichbar wird auf Grund eines i-: r-
lebens von Mensch zu Mensch, und dies Erleben seiner-
seits doch nur als der Erfolg forscherischcr Objektivität.
Sieht der Analytiker dann, am Ende seiner Arbeit, wenn
sie wahrhaft erfolgreich war, den Davonschreitenden vor
dem eröffneten Tor, das ins Leben de^ Tages zurück-
führt, dann stellt er sich wohl einmal die stille Frage:
.»würdest auch du das haben überwinden und leisten
41
kon-iien? um so nw-hr, als il„„ aulKW.cn inußlc, wie oft
em Sturz ms Ncurolischc .sein« VorausscIzunÄMi in IViusten
see^ isr u-a Ehr«ei/.cn uml OlK.-anslix-nHun«n. hui. im loUlen
G uB bcL der IVeunun« lic^l de.sl.alh .„.«Icidi etwas vom
en^tcsteuHespekl, den der Mensch ,len. Meuschrn schuldet.
i„J,-iTr "^ "^'"' "^"""^ '"''-h *»•'«« auf d;.s stärkste er-
q 2 n *"",'""'^'^ ^"" ""'«■' aus .len, Winler.-^cn.ester
ein n.r,""; '"'*' ■^'*''' ""'^''d'^'" Si« UMS einen Neuroscfall
hattef, "" '■"?''^^^'''»' Sdüchl un, .Schiil.l, klnr«elcgt
einen K, 7.'" ""'"''"• ""' '«''=""^^'- •'^'"<i. fasl ^vie maa
'n unver^r"; "7. *'""'' '^'«'^"r""" ^^^U'^, "Hl einen. Griff
WasTt "" ^'^'"'f ™'" ""'' ^"'- Sichtharkeit hoben.
Was m je,.em AnK..„l,ii,.,i mich - uns - ersrlu.llerle,
war die unausweichliche vo„ ii, eisrluilicnc,
sichtißle K,n„(:, 1 ''^ "'"^ "'"«" absolut nicht beab'
si.K. nicht un:!TKl::^' '^^^'^""-^'y- "-'0; wir
Aber mir wurde daran voUeiuls kl'ir „ ■ , ■,
schon Ott aufgedrängt halte: w tn b ' ,1 " . ?
Gegenübertragung des Analytikers auf üJ^'a *^r'""","'"
in der Art seines Interesses für ihn etwl -^"'"^■^"""^";
Analoges sich findet vom Verhältnis 1. n , ,"^'="-'"'--l»=n<l
Gestaltungen. Es ist jener Grad von Obtl,, "^ , *"■' ^" ^*='"*'°
bei ..^slloser Drangabe, die, nnterirdth" ''"'""'"'''="'
ganz und gar auf letzter menschUcher ru.i "J"*,"**'"!"!'.
Deshalb uiibcrührl bleibt vom Umstand , . *^'' iM^ruht.
gestaltet, was, l^ei individueller Wahlfraae ",1,!'^'', *^" ''"'''''
ob nicht geradezu absloßeiide Züfie cifriar V ''''""''
ebigezeichnet, sich daran ku«llun' "^ •»"fS<Hleckt und
ganz rücksichtslos iu bezug darauf ' hl^iJ"" ""' *""""'
Verbundenheit, die z, B, macht daß 1 ^'"" """"'"'"
dem au die Gurgel springen tlu, der vo?'"' '"""""
ij r o "»wi^iiic, ucr von emer so ge>-
■'-•*■
Schaffellen, beschaffenen Gestalt an^jcwidert. äußern wollte,
sie sei ihm lediglich verächtlich. Man künnle die xwci
Arten der Bezogenheil zum Objekt — In-i AiialylikiT und
Dichter — als unvergleichbar anziehen, trotz diesem gleichen
Absehen vom „bitte recht freundlicli" des I'hotographen,
trotz diesem zuversichtlichen Sichhinein versetzen in die
innere Lage eines Menschen, gleichviel wie sie sei,
als läge sie in jedem Fall richtig zu einem selber; man
könnte an der Gegensätzlichkeit der beiden Methoden An-
stoß nehmen, als einer mögUchst analytisch und einer
möglichst synthetisch gerichteten. Und dennoch besagt
deren Gegensätzlichkeit im wesentlichen nur, daß das eine
Mal ein Gewebe nach seiner Linksseite belrachlet wird,
auf den Verlauf der einzelnen I-äden, deren Verschlini^un-
gen und Knotenpunkte — und das andere Mal auf das
Totalmuster der Rechtsseite und dessen übcrsichtliehen
Eindruck.
Nicht nur im Erkraiikungsfall ist es, daß das „Muster
rechts", der Gesamteindruck, nicht voll sichtbar wird,
es gibt auch eine Art des GesuiwJseins, die davon abhält,
indem jemand mit einem zu W'cni^n seiner Wesensjnög-
lichkeilen vorücb nahm. Nicht ganz selten, z. B. bei „Lehr-
analysen", im Suchen nach dem i)ersünlichslcn Punkt,
woran die „Lehre" praktisch aufj»chen kann, kommt
einem die Frage: „bliebst du nicht zu gesund?" anslult
der gewohnteren; „woran erkranktest du?" Und da kunn
man an Stelle der zwei übUchen „Widerstände" in der
Analyse — dem Festhalten am Verdränj^erischen und dem
Festhalten an. der Symptomatik des Verdrängten — einen
dritten Widerstand erfahren, der zunächst sehr l>erechtigt
erscheint, so sehr, wie die wohlbewahrte Gesundheit des
Betreffenden selber; gilt sie doch der Unlust, Einbrüche
in sein wohlgezimmerles untadeliges Häuschen und seine
Siebensachen Ümi glll2llll(.Mlk>Il - ßewis.ser maßen die
Einheitlichkeit seiner Person antasten zu lassen, tis Uaa-
delt sich dabei um die uneingestandene Furcht, die allzu
früh und fest um uns gebauten vorsichtigen Gewöhnungen
. . 43
«I
^ci:;!!:;:;::;:;;'^^;;^-" ;--•'--' we,.i.„ u„,e. der
bei u,..sorm ,u 7,1Tp, ^"T""" "^""""••i^«=. als wir
köiwtcn in ein SLw ''^'•''^'!-^"^''"ß'<="- " J'"- ^'«
riskierl hallen G, .,m,^ T"^'' verbittern, als wir jemals
unlersche In w .^ "' • '**'"""'" ■^' •^*''^"'"" ^'"" '"
leisten die ,' n ^'" ""^'" ''<='• Miü'Ici'U.ng Vorschub
Gesu i^,n .hon T«:;^'""^' ^"'■""•"' -- übersdiä.zt.n das
die fr„cliba^V,.,!M -,""■'"= «^''"''bartigkeit erschlösse
den als das In s„h , ,^'"" "^^ '»■'^'^h dcfinierl wcr-
vor individuell Von-^^^'e^^b T "*="'"" ""'^«' ""^
Begriff nichl ,.usan.„Tt a' l', d '^?' ''"' """ '""^'"
durch Umstände Behinderte k"„ h *"'*^ Kntwicklung
seinem Urgrund haben als t,, d " ''°""° ^"«''"8 ^"
lebensschöpferisch in ih,„ "' '^''"' ^'O'» Unbewußten
der Entwickelteste diesln T'""''^''"'"'' '»"'lerorseits kann
unvorteilhaft für das "^"«'"'8 mißachtet haben, als
seinem Schicksal m.'ni. ^^''■^"''nd und Praktik aus
nulEung und bewuße K ".'""■ '°^'="*^ »^'"'^ ^us-
Samen, anstatt derskhnb T '"'"'''"■''*^" ^«^ All^emein-
ibn als um vieW Ä Ten ^ f^-^'^"™ 'nefe- stell.
der Oberfläche. -""^K-n dar, trotz aller Erfolge auf
eißene.1 GestallungsmögUchkeit nl R .'^'''"" ""«^ «*^'°^''
zieht sicli ihm als zu etwas was J^?^ ^"^ ^" ^^^'^ voll-
mehr ist als er; das erhebt sich n ^'' '^^' "^*^»' ""^
Verg^ssenstem, Urverlraiilestem in i? ^'^^'"^^^1- »'ni aus
zu werden zu persöulicheru Fi«ln,L "" i*"" ^^^^ Auftrieb
bloßer Vorsatz fühlbar Jn-^T T^ ^'^'''"' ^"^^^^^^ ^'^
Einsicht ins Krankmachende nd Eulschluß, bloße
lung - nein, befreiter Trieban.hn. i ""^ "^^'^^ Verurtei-
deln zu erneuter Uebes^^^kS JVZ'f ''-^^'^ "'''"'
dies starke Wort: Gen^suZ f • ^^^cht wähle ich
kehr in sich wird or^\ w • . , ^^"^ Liebesaklion. Ein-
^ ""''' Heimkehr im Gefühl eine. Emp-
44
fangciiwerdens, Besdienktwerdcns im Insgesamlen; wird
erst daran eigener Impuls zur B<itäLiginig, an Stelle des
alten In-sich-Stecken-Bleibciis imd lus-Leere-Ciehens. Durch
Psychoanalyse wurde ja nichts — wie ein aus der Kurt
gegriffenes Äusgedachtes — gescliaffen, es wurde nur
etwas auf gegraben, ent-deckt, aufgedeckt, bis — wie
unterirdisches Gewässer, das man wieder raunen hört, wie
aufgehaltenes Blut, das man wieder pulsen spürl —
Zusammenhang sich uns lebendig bezeugen kann
Psychoanalyse ist nichts als das E n t b 1 ö li u n g s m a n ö-
ver, das, vom noch Kranken als Entlarvmig gemieden,
vom Gesunden als Befreiung erlebt wird, deshalb sogar
daim noch, wenn die inzwischen unverändert gebliebene
Außenrealität ihn mit Schwierigkeiten noch so umdrängt:
denn zum ersten Male gelangen Wirklichkeil und Wii-k-
hchkeit damit zueinander, anstatt Gespenst zu (iespcnst.
ODYSSEVS F R E V D
Von
Arnold Zweig
AuB der „Weltbiihne" vom 19. Januar 1932, mit Ge-
nehmigung des VerfasBers und des Verlags abgedruckt
im IV. Jahrgang der „PsychoanalytiBchea Bewegung".
Die Mythologie der Griechen hat, wie uns alle Pauker
belehrten, allgemein-menschliche Gültigkeit — wie sehr,
wie tief und wie durchbohrend freilich, weiß man erst
seit den wissenschaftlichen Expeditionen in den Hades, die
der einsame Sigmund Freud angestellt hat. Nur um auf
seine mächtige Gestalt wieder einmal hinzuweisen, wende
ich mich für einen Augenblick von meiner Arbeit weg.
Im Psychoanalytischen Verlag ist eben ein Band „Theo-
retischer Schriften" erschienen, die Gedankenarbeit jener
45
J »
fünfzehn Jahre zusammenfassend, die zwisclicn den Ar-
beilen der Mannesjahre und den herrUchen letzten des
greisen Meisters stehen. Dies »ind, in zwanzif^ JaJircn
nehme man mich heim Wort, Naturheschreilmngen der
Mcnschenseele, jener wilden, erhabenen und grausigen
Unterwelt, die wir alle in uns tragen. Ununtcrbroclien
gehen von ihr die Taten der Menschen aus, von ihr nicht
allein bestimmt, aber immer mitbestimmt und über-
wiegend von ihr bestimmt bei Primitiven, Kindern und
Neurotikern ... Ks ist unmöghch, auch nur aufzuzählen,
was die zukünftige Psychologie — für uns die gegen-
wärtige — diesem Band von 400 Seilen entnehmen wird.
Die Beschreibung des Narzißmus, der Verdrängung, die
große Darlegung des Unbewußten — dies nur als Bei-
spiele; die 70 Seiten „Jenseils des Lustprinzips*', die
110 Seiten „Massenpsychologie und Ich-Analyse", und jene
Schrift „Das Ich und das Es", ohne die man nicht weiß,
wer man ist. Längst ward ja klar, wer heule als mißverf-
slandenster Denker der Well gelten darf, wer in dieser
Beziehung, und nicht nur in dieser, den Friedrich
Nietzsche unsrer Jugendjahre abgelöst hat. Ja, Sigmund
Freud, hier spricht er als der Denker; aus dem nalur-
forschcnden Arzte hat er sich zwanghafl, unlustig, fast
mit Widerwillen dazu entwickeil. Daher er als Schrifl-
. ■ steiler des Denkens die Schmucklosigkeit selbst ist — und
ein Meisler. Denn die Wortkargheit, die ihn ül>erall dazu
treibt, Satz für Salz mit Bedeutung vollzupresscn, einen
auf den anderen zu mauern, die herrliche DiciUe und
* • Folgerichtigkeit seiner Theorie aus ihnen erstehen zu
lassen wie einen Quaderbau aus gewichtigen Steinen; das
. hat heule nicht seinesgleichen. Die Wahrheit ist das
Kennzeichen ihrer selbst und des Falschen, prägt Spinoza
seinen Grundbeitrag zum Problem der Evidenz. Noch nie,
so lange die Menschheit über sich nachdenkt, hat eine
* wissenschaftliche Lehre das Innere des Menschen so in
sich zusammenhängend ausgedeutet wie die Freudsche,
V im Menschen gleichsam einen organisierten Raum auf-
4»
» ^
■\
.'•
hellend. Tief ins Irrationale hinein macht sie die Ge-
setze von Ursache und Folße gellend, hcnennt eine 1*-
grenzle Anzahl von Prinzipien, eines aus dem anderen
durch Beobachtung entwickelt, und dies nicht etwa in
kontemplativer Schau, sondern am lebendigen ühjekt fest-
gestellt, am realen Menschen, der durch diese Erkennt-
nisse verändert ward, erleichtert, geheilt. Der Leser dieser
Studien, Bemerkungen und Aufsätze muß den Eindruck
haben, daß diese Naturerforschung der menschlichen Seele,
diese dynamische Kraft, mit der Schicht für Schicht
ihres Aufbaues abgelastet wird, nicht einen erdachten
Menschen betrifft, sondern den wirklichen, den von heule
und immer. Und wenn gar dieser Denker den Widersland
der Welt gegen seine Lehre als zum System dieser Trie!>e
gehörig aufdeckt, gilt der Satz des Spinoza wiederum, nur
einmal umgekehrt: das Falsche besläügt die Wahrheit und
seine eigene Irrigkeit. So mögen sich also die Geistes-
wissenschaftler von 1932 angegrault von diesen apollini-
schen Berichten über die Urgründe des Dionysischen ab-
wenden; es ist zu lange her, daß sie die Gründe ihrer
Meinungen erlebten. Dieser Band „Theoretische Schriften'*
aber heißt nur darum nicht „Philosophische", weil der
Mann dieses Wort nichl liebt, der heute vor drei Kon-
tinenten die Herme des europäischen Denkens darstellt.
Mit 75 Jahren noch herrlich umkämpft, darf er die Ge-
wißheit hegen, daß die Leistung seines Lebens die Grund-
lagen unsrer Welt mit emer gesünderen Kanalisation ver-
sehen wird, einer adäquateren Erkenntnis der Menschen-
natur, dank jener Reinigung der Leidenschaften, die das
befreiende Wort der Analyse neben das gestaltende der
Diclitung reiht.
47
-v
. 1
( I
DER MYTHOS VOM FORTSCimiTT
Von
M a Eder
Ansprache des Verfassers an die Medical Section der
m1 British Psychological Society, anläOlich seiner Wahl zum
ij(' VoiKitaenden dieser GeBelJBchaft. Abgedruckt aus dem
British Journal of Medical Psychology, oL XII, Tart I,
1932. Übersetzt von Walter Eck.
Als Toren geboren,*) erwerben wir später SilUiehkeit
und werden endlieb dumm und unglüeklich. Dann sterben
wir. Dieser Ablauf - die Gesehichle des Menschen in
. der Zivilisation - isl unserer Eigenliebe so wenifi an-
] \ , genehm, ist, bei allem Wechsel in den Grundlatren der
Kullur, bei aller Vicllalt ihrer Formen, in seiner offen-
kundigen Sfrengc für unsere Eigenliebe so quälend daß
die Menschheit immer wieder im Mythos Zuflucht in
ihrer Unsicherheil und Trost in ihrem Leid gefunden hat.
i ii Die Geschichte der Kultur ist zu einem grofien Teil
Bericht über diese Mythen, über die der Vergauflcnheit
und über die unserer Tage. Unter Mythos ist hier eine
Konstruktion gemeint, die von den Anhängern einer croßen
sozialen Bewegung - oder wenigstens einer Bcwcßunc
die sie für groß halten — angenommen wird Diese Bc
weguiig darf man sich als einen großen Kampf zwischen
den Anhängern des Mythos und ihren Oegenspiclorn vor-
stellen, als einen Kampf, in <lcm jene ihr.s endlichen
Sieges gewiß smd. Ein Mylhos muß nicht falsch und
niuB durchaus nichi ohn. Wert für die Menschheit sein.
„Kehgion , sagt Renan, „ist notwendiger Betrug Auch die
pUnnpste Art, Sand in die Augen zu streuen, darf nicht
verachtet werden, wenn man es mil so törichten Lebe-
wesen wie den Menschen zu tun hat, mit Lebewesen, die
für den Irrtum geboren sind imd die, wenn sie die Wahr-
1 ■' )
t ■ 1
II
i
'
♦) Im Englischen : we are born mad.
48
heit einsehen, sie doch nicht aus den rechten Gründen
einsehen; man muß ihnen auch da noch falsche geben/'^)
Doch CS kommt die Zeil, da der Betrug erkannt ward
und dann wird der Gedanke an diesen groUen Kampf und
an den Sieg derer, die ihn kämpften, aufgegeben oder er
geht verloren — ein Mythos verschwindet und ein anderer
tritt an seine Stelle. Solange der Glaube aber lebendig
und wirksam ist, so lange treibt auch die schwerste
Niederlage seine Anhänger nicht zur Verzweiflung oder
auch nur zur Mutlosigkeit. Georges Sorel, von dem ich
diese Auffassung vom Mythos übernehme,^) exemplifiziert
sie an den Ideen des Urchristentums, an denen, die die
französische Revolution zum Sieg geführt und die Mazzini
und die Seinen angefeuert haben; man könnte noch auf
die verweisen, die Marx im 19. und die Lenin im
20. Jahrhundert vertraten. Aber nicht von diesen Ideen will
ieh heule sprechen, sondern von jenen, die die Kultur
unserer Tage beherrschen, von der Idee des Fortschritts.
„Wir halten", sagt Bury, ,, ständigen Fortschritt für so
gesichert, sind uns der ständigen Fortschritte in Wissen-
schaft, Kunst, Organisationswesen und in nützlichen Fin-
richtungen aller Art so stolz bewußt, daß wir versucht
sind, den Forlschritl als ein Ziel anzusehen, das wir.
wie etwa die Freiheit oder einen Weltbund, erreichen
können, wenn wir nur recht wollen. Aber obwohl aller
Zuwachs an Macht und Wissen von Menschenkraft ab-
hängt, ist der Fortschrittsglaube, dem all diese einzelnen
Errungenschaften erst ihre Bewertung verdanken, mit
einer Tat Sachen frage verknüpft, die die Wünsche des
Menschen und seine Bemühungen ebenso wenig beein-
flussen können, als sie etwa imstande sind, das mensch-
liche Leben über das Grab hinaus zu verlängern." 3) Es
handelt sich hier um den Glaubenssatz, daß die mensch-
h Histoire da peuple d'Israel V. Idö l
*) Introduction ä I'^coQomie moderne.
*) The Idea of Progresa p. lt.
L
4 Atmanach 1958
49
I
I •
liehe Kultur sich stets in einer erwünschten Richtung
entwickelt hat, sich in dii^scr Richtung weiter entwickelt
und weiter entwickeln wird.
Es ist wichtig, einzusehen, daß dieser Glaube oder dieser
Mythos, wie icli Hin nennen will, ein ganz „moderner"
ist. Bury, der die Gesciiichle des Forlschrittsßedankens
behandelt, hat gezeigt, wie er mit der Entwicklung mo-
derner Wissenschaft und dem allmählichen Verlust des
Glaubens an Himmel und Hölle des Christentums ziisam- ^H '
menhiingt. Die griechischen l'liilosoplien sind üIkt den ^^, 4
Fortschrittsglauben nicht gestolpert; sie hal)en sich das
AU in zyklischer Bewegung gedacht, alles Seiende nur als
Wiederholung von allem Gewesenen und als das Vorbild
alles Künifti^en. Wenn es also den Anschein hat, daß ich fli
Ihnen in meinen AuslTthrongen nichts sage, was sie nicht
schon bei zahllosen Gelegenheiten gehört haben, will ich
mich bei der Annahme zu beruhigen versuchen, daß Sie
Phythagoraer seien, die diesen Vortrag in einem der
früheren Zyklen schon vernommen haben mid daß sich
seine Grundlagen aucli heule nur in getreuer Wiederkelir
des oft ahgclaul'ciujn Zykhis haben zusammenfinden
können.
Als Jcsaias die Völker ihre Schwerler in Pflugschaaro
umschmietlen hieß und ihre Speere in Sensen, als er ver-
kündete, daß Volk nicht mehr das Schwert erheben sollte
gegen Volk, daß man das Kriegshandwerk nicht mehr
lehren sollte, war das eine Vorausisage von dem was
kommen wurde, wenn die Völker dem Willen Gollea
gehorchlen. Für die jüdische Kosmogonie hat die Knt-
artung der Welt begonnen, als Adam als vollkommenes
Wesen geschaffen war. Wie Jesaias hat auch das Mittel-
alter den Gedanken der Entartung dieser Welt mit dem
Mythos von einer anderen Welt verbunden, die ileneu
offen steht, die von Gottes Gnade erfüllt sind. Dante
drückt den Glauben aus, der den Geist der Menschen
beherrschte: Dank der göttlichen Gnade und auf Grun<l
im Leben erworbener Verdienste gibt es die Hoffnung
50
k
auf ein Jenseits, gibt es die sichere Erwartung der Selig-
keil.
„Die mittelalterliche Lehre", sagt Bury, „versteht die
Geschichte nicht als einen natürlichen Entwirklungs- ,
ablauf, sondern als eine Reihe von Geschehnissen, die
durch göttliche Eingriffe und göttliche Olfenbarung ge-
ordnet werden. Hätte man die Menschen ihren eigenen
Weg gehen lassen, so würde er sie zu einem liöchst un-
erfreulichen Ziel hingeführt haben; alle Mcnsclicn hätten
das Schicksal ewig dauernden Elends ertragen müssen,
von dem übernatürliche Einwirkung eine Minderzahl be-
freit hat."*)
Dies wäre der Platz, den allmählichen Nie<lcrgang dieses
Glaubens in der westlichen Welt zu schildern. Obgleich
es keine ausdrückliche Veränderung der theologischen
Definition von Himmel und Hölle gab, hat sich doch offen-
bar der geistige Gehalt dieser Vorstellungen in der Auf-
fassung der Laien entscheidend verändert. Diese Darstel-
lung aber würde mich, obgleich sie an mein Thema eng
anschließt, doch von meinem nächsten Ziel zu weit weg-
führen.
Der Glaube an den Fortschritt als an etwas Unverlier-
bares und ständig Wachsendes war namentlich unter Philo-
sophen, Gelehrten und Politikern bis zum heutigen Tag
verbreitet; er wird von der großen Mehrzahl aller anderen
Menschen geteilt, auch wenn sie — als Anhänger einer her-
kömmlichen Religion — zugleich an entgegengesetzte Vor-
steiluagea glauben.
Der Fortschrittsglaube begann im Kreise der französi-
schen Enzyklopädisten klare Gestalt anzunehmen, und
obgleich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
unter dem Eindruck der Enttäuschung der Revolution
eine Reaktion gegen die rosige Ansicht der eben abgelau-
fenen Zeit um sich griff, ist bald darauf der Glaube zu
neuem Leben erwacht, daß der Fortschritt völlig gewiß
*) L c. p. 21.
5!
f-f
f ''
sei, und man versuchte, die Gcselze des Fortschrittes, die
Gesetze der Kultur zu entdecken.
Die Entdeckungen der Physik uiui die von diesen abge-
leiteten Naturgesetze legten den Gedanken nahe, ähnliche
grundlegen<Ie Prinzipien im Aiilbau der Gesellschaft nach-
zuweisen. August Comtes zahlreiclie, in dem „Ixjhrgang
einer positiven Philosophie" gipfelnde Werke mög<'n heute
wenig gelesen sein und waren vermutlicJi nie wirklicJi ver-
breitet; den Gedanken aber, daß es in der GescJiichte der
MenscJiheit Gesetze zu entdecken gibt, hal>en sie in weite
Kreise i»ptraorf»n
Kreise getragen.
Marx hat seine materialistische Auffassi^ng auf diese
Idee aafgebaut. „Die aus der kapitalistischea Produktions-
weise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher
das kapitaUstische Pr.vateigenthum, ist die erste Negation
des mdivdnellen auf eigene Arbeit gegründeten Privat-
eigentums. Aber die kapitalistische Produklionsweise er-
zeugt n„t der No^endi«keit eines N.U^r^^ZT i"re
eigene Negation. Es ist die Negation der N<M?ation " ')
Vor wenigen Tagen habe ich gelesen, daß der Kommu-
nismus in der Kulturentwicklung nicht zu vmnei^tn sei
„Er muß die Welt endlich ertussen, nich. T a^bS
von politischen oder anderen Bestrebungen, die von einer
Gruppe von Leuten ausgehen, sondern weil n.n, ,
Gesetz der Entwicklung die alte OiMnunTder n u"
weichen hat." =) Den Kommuni.*n aber ist es ofenbar
mcht gegärmt, sich dieses Arguments uneingeschränkt zu
freuen denn auch die kon^rvativc Weltanschauung rech-
net nicht weniger mit der Siclierhcit des ForlschriUos als
die sozialistische. „Der Konservatismus", sa«t Lord liufih
Cecil, „tiat den Fortschritt sitmvotl, wirksam und den
allgememen Bedingungen angepaßt zu gcslallen. Fort-
schritte in der Wissenschaft, in der Staatskunst oder im
sozialen Leben setzen ein e ge^visse Bereitschaft voraus,
6) Kapital, 4. Aufl. 1890, I, 728.
«) Etbel Mannin. Wliat I believo. The New Loader, vom 1&. I. 1932.
52
Bi.
über die Erfahrung hinauszugehen und es mit Neuerungen
zu versuchen." Aber auch dieser Autor zweifelt nicht an
der Naturnotwendigkeit des Fortschritts.')
Wie schon gesagt, ist der Fortschritts^^aake um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts den Philosophen, Sozio-
logen und Dichtern vertraut geworden, aber erst sedt
Darwins „Abstammung der Arten" ist er allgemein, ge-
läufig und populär, und obgleich die „Gesetze" des Fort-
schritts immer noch unentdeckl bleiben, sind doch die
modernen Vorstellungen von Kultur überhaupt beinahe
bis in die jüngste Zeit darauj gegründet, daJi diese Ge-
setze nicht zu umgehen seien.
Ferriere gelangt 1915 zum Schluß, daß Fortschritt not-
wendig und orgaiüsch sei. „Der Mangel an Einsicht, der
Egoismus, die intellektuelle Kurzsichtigkeit des Menschen
mögen ihn verzögern; sie werden ihn nicht aufhallen."«)
Mit schönem OpÜmismus stellt Ferriere diese Worte an
das Ende eines vor dem Krieg be@oniienen, aber erst 1915
beendeten Buches. Er beschließt es mit dem Aufruf aa
die Jugend, die Fehler der alten Generation zu verbessern,
ohne daran zu zweifehi, daß es zu dieser Verbesserung
kommen werde.
In einem so großen und bedeutenden Werk wie dem
— 660 Seiten starken — von Ferri^j^e findet man kau^
bessere Argumente für die Notwendigkeit des Forlschritts
als in unseren alltäglichen Maximen und Aussprüchen.
Eine Annahme ist es, wie die, auf die die Finanzminister
ihre Budgets aufbauen; es müsse im nächsten Jahr besser
werden, da doch die gegenwärtige Lage so unangenehm
sei. Einst haben die Nationalökonomen — oder doch einige
von ihnen — schlechte Zeiten mit den schwarzen Flecken
in der Sonne in Zusammenhang gebracht, heutzutage
scheinen sie wirtschaftliche Katastrophen mit den schwar-
zen Flecken im Herzen der Menschen in Zusamraenhaing
') Lord Hugh Cecil, Conservatißm, p. 13 f.
^) La loi da progrös. Paria 1915, p. 661 f.
53
'] >
briageti zu wollen, womil sie vielleicht der Wahrheit
etwas näher kommen ilikI sich etwas weiter von dem
Glauben an die ünverlierbarkeil des Forlschritts als an
ein Naturgesetz entfernen.
Natürlich muß die Medizin den philosophisclien Tagcs-
anschauun^cn Rechnung tra,gen, muß versichern, daß auch
Sic eine fortschreitende Wissenschaft sei und daß unver-
meidlichermaßen „unser alter konstituUonellcr brilischer
Husten, unser Halsweh und unsere geschwollenen Wan-
gen" eines Tages verschwinden werden. Auch für den
Psychoanalytiker hüll es schwer, eine Zukunft ohne Fort-
schritt auszumalen. So glaubt auch Freud, daß „die Stimme
der Vernunft zwar leise" ist, „aber sie ruht' nicht, ehe
sie sich Gehör geschafft hat. Am Fnde, nach unzählig oft
wiederholten Abweisungen, findet sie es doch Dieser ist
einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft
der Menschen optimistisch sein darf, aber es bedeutet
an sich nicht wenig. An ihn kann man noch andere Hoff-
nungen anknüpfen. Der Primat des Intellekts liegt gewiß
in weiter, aber doch nicht in unendlicher Ferne." »)
In einem späteren Werk aber enlschlügt sich Freud
aller Voraussagen: „Tch habe mich l)emüht, das enthusia-
stische Vorurteil von mir abzuhaUeai, unsere Kullur sei
das Kostbarste, was wir besitzen oder erwerben können
und ihr Weg müsse notwendigerweise zu Höhen nnöe-
ahnter VoUkommenbeit führen ... ich bem-e m"ch X
dem Vorwurf, daß ich ihnen (meinen Mitmenschen) keinen
Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde
alle, die wildesten Revolutionäre mchi wenLger leiden-
schaftlich als die bravsten Frommgläubigen" »o) Ja das
ist es, was man vertagt. Der Fortschritlsgcdankc' die
Suche nach Kulturgesotzen, die Gründe, die Comic in
zwanzig Bänden, Herbert Spencer in seinen monumentalen
Werken, und die eine gjga nü&chc, soziologische Literatur
^) Die Zukunft einer Illusion, S. 87.
1") Das Unbehagen in der Kultur, S. 135 und f.
54
in diesem unserem Jahrhundert vorbringt, sind im letzten
Verstände doch nur Versuche — oft bemerkenswert
mutige Versuche — Beweise für eine Illusion zu finden;
für die Illusion von der Vollkommenheit; Vollkommen-
heit, wenn nicht für diese, so doch für die nächste oder
für die beste der kommenden Generationen.
Auf älteren Kulturslufen hat der Mythos einer über-
ragenden Gottheit gegolten, die für Gerechtigkeit und
dafür sorgen sollte, daß die, denen ia dieser Welt Glück
versajgt blieb, gewiß sein durften, es in einer anderen zu
finden. Als sich aber diese Hoffnung als trügerisch er-
wies, das tausendjährige Reich vergeblich auf sich warten
ließ, fanden die Menschen in den materiellen Vorteilen,
die ihnen die Wissenschaft vennillelt hat, Tros-t, und
begamien ihre Zuversicht und ihr Glück auf den ge-
sicherten Fortschritt der Wissenschaft zu gründen. Glück
für sich selbst haben sie freilich dabei in der Well von
heute nicht erlangen können, aber sie konnten den Boden
vorbereiten für das Wohl von Kind und Enkel.
Die Herkunft dieses Mythos ist schon oben angedeutet
worden: Wir werden als Toren geboren, geboren, wie
Ferenczi das vor vielen Jahren gesagt hat,ii) in der glück-
lichen Täuschung, allmächtig zu sein, und suchen immer
von neuem die Bedingungen wieder herzustellen, auf die
dieser Größenwahn gegründet war. Eingeengt durch die
äußere Welt, in der wir aufwachsen, unfähig, etwas von
dem Glück zu verwirkUchen, das wir in der Kindheit
halluzinierten, haben wir uns im ganzen Lauf der Ge-
schichte, soweit wir ihn kennen, durch mancherlei Hoff-
nungen zu entschädigen gesucht. Zum Teil waren sie
anspruchsvoll, zum Teil sinnvoller, — dann, wenn versucht
wurde, die Illusionen der Vernunft, den Bedingungen der
Außenwelt anzupassen. Wir können uns einbilden, daß eines
Tages all dies Glück unser seüi, daß die Wissenschaft
uns eines Tages alle ihre G eheimnisse preisgeben wird,
") EDtwicklungsBtufea des WirklichkeitsBinnes. Bausteine zur Psycho-
analyae. Int pa. Verlag. 1927, I.
55
■anMwvi
1 daß Lamm und Wolf eines Tages friedlich Ijoisammen
' liegen werden vnid die Menschlieit aufwachen wird, be-
freit von ihren aggressiven Instinkten. Es gibt ja Ethno-
logen und Historiker geniij^, die uns versichern, daß der
Mensch einst im Paradies geweilt hat, daß die Sjige von
einem friedlichen vor-kainischcn Menschen ein hislo-
ff rischcs Faktum sei und nicht ein Mythos pritniliver
' Völker, die eine Erklärung für ihre Welt suchen. Daß
diese Forscher organisierten Krieg, ein Produkt der KuUur,
i '"it dem ursprünglichen Aggressionslrieb zu verwechseln
I I scJieincn, muß wohl nur beimurig angedeutet werden. Wie
dem auch sei, die meisten von uns glauben, daß — wenn
es schon keine gute alte Zeit in der Vergangenheil gibt —
die Menschheit dafür sorgen wird, daß es eine gute, neue
in der Zukunft gebe.
Tel I doubt not thrö Ihc agea on» increasinff purpoae run.i
And the thoughis of men are miäen'd mith (he process vf ff,e $unB.
Obgleich die opamisUschc Auffujisun^g seiner Jugend
Tennyson in seinen späteren Jahren nicht erhalten bUeb,
ist er doch dem Mythos seiner Zeit treu geblieben.
Eine echte Kritik des Myllios vom Forlschritle sollte
die Bediiiigungen aufdecken, die diese Form von Illusion
ermöglicht und jene alleren religiösen Formen verdr-ingt
haben, die die Menschlieit seit den er&ten Anfinecji 'der
Kultur beherrscht zu haben scheinen. Die späteren Reli-
gionen haben Männern und Frauen nicht nielir Glück
gebracht als die älteren, an deren Stelle sie traten ' Die
ersten Ansätze der Naturwissenschaft im 17 jni rh H t
schienen der Menschheit eine neue Zuversicht zu brhiücn-
die Geschichten und Träume der Magier scliicnen erfüllt
und neue Welten waren zu erobern. Schnell sind die Er-
runigenschaften der Wissenschaft in das tägliclie leben
eingKxirungen und das halle zur unausweichlichen Fol^,
daß sich die Menschheit bald an die Wissenschaft und an
wissenschaftliche Berater wandte, um von ihnen zu dem
Glück zurückgeführt zu werden, um das die Kultur säe
56
liü
^
betrogen und das zu vermitteln sich die Reliigiou als un-
fähig erwiesen hatte.
Ich will auch die Annehmlichkellen durchaus nicht
herabsetzen, die uns die Wissenschaft gebracht hat, die
materiellen Errun^nschaften, die uns — weniigstens poten-
tiell — vom halben Hungertod retten und einen großen
Zuwachs an Bequemlichkeit, auch für die Zukunft, in
Aussicht stellen. Ich ziehe das elektrische Licht der arm-
setigen Kerze vor, die mir in rauchiger Hülte geleuchtet
hat; ich freue mich an der drahtlosen Telegraphie; Fliö-
gen ist angenehmer als weite Strecken zu fahren. Die
Geschichte der wissenschaftlichen Entdeckungen muß die
Phantasie, auch der Trockensten unter uns anregen, aber
aus den unleugbaren Vorteilen, die die Erfindungen und
der wissenschaftliche Spürsinn uns gewährt haben, dar-
auf zu schließen, das Zeitalter der Wissenschaft habe
uns auch mehr Glück gewährt und werde uns künftig
noch mehr gewähren — weil es uns mehr Komj'ort ge-
geben hat — das hieße einem neuen Mythos auf die
Beine helfen: denn von den Mythen scheint zu gelten, was
vom Fortschritt nicht gilt: daß sie unvermeidüch sind.
Unsere Phantasie kann es nicht zugeben, daß nicht alle
unsere Wünsche erfüllt werden sollen, ganz ebenso, wie
es zum Beispiel keine Ungerechtigkeit in der Welt geben
darf; Ich bin allen anderen Kindern gleichhercchtigt, es
ist nur die harte Mutter, der harte Vater — Gott — der
mich hindert, alles, was ich will, zu erlangen. Marx und,
Engels haben die Gewißheit, daß die alte bürgerliche Ge-
sellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen durch
eine Vereinigung ersetzt werden muß, in der die freie Ent-
wicklung des Einzelnen zu emer freien Entwicklung aller
führen wird. Das narzißtische Ich — das Ich mit seiner
unvollkommenen Wahrnehmung der Umwelt — ist über-
zeugt, was es wünscht, erlangen zu können, oder es muß
ein böswilüges Wesen geben, das die Erfüllung seiner
Wünsche vereitelt.
57
■ >
Im Epilo« VOM nurys liuch hciß[ es; „In der Revolu-
tion der JahrlmiKlcrie wird ein Tag koinnuMi, da eine neue
Idee als LeilHedanke der Me.ischlieit die Stelle des Forl-
schritts usurpieren wird. Kleinere, heule unbemerkte
oder unsicIUbare SIer.ie werden a,n Firmament der Vcr-
nuntt aufsleif.en; die Menschen werden ihre C.efühle dem
tinllub dieser Gedanken unterwerfen lUKl ihre Pläne diesem
neuen Führer anvertrauen. Diese Ideen werden den Maß-
stab abgeben, mit dem dünn der Forlschritt und alle
anderen Ideen werden beurteilt werden Mit anderen
Worten: Ugt nicht der Fortseliritl selbst den Gedanken
nahe, daß der Wert der Fortschrittsideologic nur ein
relauver ist und nur einer bestimmten, nicht sehr ent-
wickelten Stufe der KulUn- entspreche; ganz ebenso, wie
die VorsehunR ui ihren Tagen ein Gedanke von relaüvem
e^Sra^M-;' """ '''''''' """'^'' '"'"=» '^^''"^^^"'^
Burys Buch ist 1920 erschienen. Seilher können wir
meiner Meinung nach vielleicht schon in schwachen Um-
rissen die neue Idee erkennen, die am Firmament des
Verstanries aulzusteigen im Bogriffe Lst, um den Platz des
Fortschntlsigedankens einzunehmen.
A-fZ,"^- '^^h'"' '"""'"' ™" <!*" Gelebrlen selbst,
de seit eimgen Jahren and besonders seit dem Krieg ihre
S H '"'' t" Ergebnissen eines Jahrhu^dorls^ssen-
schafthcher Arbeit offen zugegeben haben. Die Wissen-
schaft, die der Menschheit eine neue Kultur gebracht liattc,
schien sich anzuschicken, sich selbst und die Kultur die
sie erzeugt hat, zu zerstören. Man hat eingesehen, ' daß
Wissenschaft an und für sich die Menschen noch nicht
irgend gluckhcher machen kann, als die abgedroschene
VorsteUung von der gütigen Vorseh„,ng. Damit eine wissen-
schafthch begründete Kultur befriedige.id sei, muß nach
Berlrand Russeis Forderureg der Zuwachs an Wissen von
einem Zuwachs an W eisheit begleitet sein. „Ich meine
") loo. 352.
58 • ,
I "
-■f ■ '■•
unter diesem Zuwachs an Weisheit eine richtiße Vor-
stellung vom Ende des l-ebens. Das ist etwas, was Wissen-
schaft selbst nicht vermitteln kann. Zuwachs an Wissen an
sich bietet daher noch keine Gewähr für eigentlichen Fort-
schritt, obgleicii er eines der Elemente siclierL, die zu
allem Fortschritt erforderlich sind." i^) Es wiixl nicht
klar, was die Weisheit ist, die Rüssel als Konirolle der
Wissenschaft herbeiwünscht und wie sie von ihr abgeleitet
werden soll. Wie sollen wir eine richtige Vorstellung
vom Ende des Lebens erlangen? Ich fürchte, daß die, die
Rüssel richtig scheint, dem Papst, dem Präsidenten Hoo-
ver oder Stalin höchst verkehrt vorkommen mag.
Wie so viele andere, ist Aldous Muxley mit unserer
Kultur unzufrieden, und wie Rüssel sieht auch er es als
ein Übel an, daß die wissenschaftlichen Grundsätze im
Leben nicht durch die richtigen Leute vertreten werden.
Auch er fordert, daß Weisheit die Anwendung wissen-
schaftlicher Errungenschaften im Leben leite. Weisheit
aber besitzt der ,. Humanist", den er folgendermaßen be-
schreibt: „Man hat viele Definitionen einer idealen mensch-
lichen Gesellschaft vorgeschlagen. Die, die meiner Meinung
nach die Mehrzahl moderner Männer und Frauen am
ehesten anzunehmen geneigt wären, möchte ich — in Er-
manglung einer besseren Bezeichnung — humanistisch
nennen. Der Humanist glaubt, daJi unsere menschliche
Natur als Ganzes harmonäsch entwickelt werden kann
und soll — daß die Opfer, welche die Menschen immer
bringen müssen, in ihrem eigenem höchsten Interesse ge-
bracht werden sollen, und nicht einer außerhalb des
Menschen gelegenen Macht zuliebe — nicht im Namen
einer anderen Sache als der menschlichen selbst. Für
den Humanisten ist daher die ideale Gesellschaft eine,
in der alle Glieder physisch, intellektuell und moralisch
auf höchster -Stufe stehen, in der kein Individuum unge-
recht behandelt oder genötigt wird, seine Talente zu ver-
") The ScieQtific Outlook.
t
59
L_
graben oder zn zerspliltern, eine Gesellschaft, die ihren
(.hcdern das größte mÖKUche Ausmaß iiuiividuelier Fi^i-
hejl aiwl zugleich die horliste Vriimie für allriiistische
Bemühungen gc-währt; nicht eine statische Cesolischaft,
sondern eine, die bewuIMcnnaßcn nach vorwärts schrei-
tet und danach strebt, die höchsten menschlichen Ziele
zu erreichen. Die Wisscnscliaft l<:nm dem Aufbau einer
solchen tiemeinsehait ein llillsmittrl bedeuten, aber bloß
unter beslinunten Bedingungen, wenn nämlich die Macht,
die das Wissen verleiht, von zutiefst humanistisch ge-
smnten I-ührern ausgeübt wird."")
Ohne Jiuxleys Lehre vorn IIiuiLimsmus kritisieren zu
wollen, Itann ich mir nicht vorstellen, daß nicht alle
unsere religiösen und poUlischen Führer b<.>reit wären,
seine Gesichtspunkte anzunctnnen uml zu nnk-rschreiboo.
Alle würden sie behaupten, selbst Humainsten zu sein
In der Tat ist es das Priiiizip der britischen liegieruuÄ,
daß die KabineUsmitgliwler Humanisten sind, die die
Arbeit der wissenschaftlich geschulten Fachleute über-
wachen.
Wir müssen daran feslhallen, daß Hmcley, unbefrie<ligt
von den Ergebnissen eines Jahrhunderts wissenschaftJiclier
Entwicklung, sich hoffnungsfremii« — hoffnungsfreudiger
als Hassel — auf den Humamisjnuti slüUt. Er ist divon
überzeugt, daß die menschUcIie Natur als Ganzes har-
monisch entwickelt werden kann. Es scheint fast als
sollle der Fortschritt auf Grund wissenschaftlicher ' Ein
sieht durch einen Forlschritt uuif Grund Immanislischer
Emsicht ersetzt werden. Ein wenig schwierig ist es wie
schon gesagt, festzustellen, wer diese Humanisten seien
die nua die Rechtgläubigen und die Gelehrten ablösen
sollen, die seit ein paar tausend Jahren den Weg zum
richtigen Leben suchen.
Da die Religion ihre Trostesbotschafl nicht erfüllt hat,
ist der Glaube an den Fortschritt zuin Mythos geworden,
") Science the double edgod tool. The Listener. Jan. 20th 1932.
■
60
L
zu dem die Menschheit aafbUcken kann; im 19. Jahr-
hundert gestützt auf die Wissenschaft; da die Wissen- j
Schaft versagt, soll, wie wir hören, jetzt der Humanismus
— die Weisheit — als Leitstern der Erkenntnis uns dem
Glück, das uns bisher versagt blieb, zuführen. !
Die Menschheit kann ihre Illusioiien nicht aufKci>cn: 1
Im Augenblick, da die eine zusammeabricht, tritt eiuie
andere an ihre Stelle.
Wir verschließen uns der Einsicht, daß dieser Mythos
nur die Rückkehr zu kindlichen Phantasien bedeutiet, die
nun in unserem Ueberich thronen. Einst war es eine lutro-
jizierte Autorität — jetzt tritt es uns als etwas Uoabhäa-
giges entgegen — als Gott, als Fortschritt, als unser
höheres Ich. So zieht sich durch den ganiZen Kreislauf
der Verwandlungen, die den Moden der Zeit entsprechen,
nur immer dieselbe blinde Verleugnung der Wurzel, aus
der unsere Enttäuschung stammt. Solange unsere aggres-
siven Tendenzen nur niedergehalten, aber nicht aufge-
geben oder umgewandelt werden, müssen wir einsciien.
daß aller Wechsel in der Benennung der überwachenden
Mächte den Kern des Problems in keiner Weise berührt.
Denn die A^ression muß eine dauernde Bedrohung für
die Kultur bleiben, da niemand dem Menschen Glück ge-
geben hat oder auch geben kann. Es ist beinahe eine intel-
lektuelle Unredlichkeil, zu behaupten, daß sich die Men-
schen nach Glück sehnen. Was sie suchen, ist Macht,
Reichtum, Herrschaft, Brocken von Wahrheit; einige
suchen nach ästhetischer Befriedigung und Schönheit.
Wenn wir aber nach dem Betragen der Menschen urleilen,
so müssen wir einsehen lernen, daß sie alles andere
suchen, nur nicht Glück.
Mehr als eimnal hat man im Laufe der Geschichte ver-
sucht, die soziale Organisation der Menschen auf Liebe
zu gründen, und ich kann den Verdacht nicht unlor-
drücken, daß man auch hinler Russeis Weislicit und
Huxleys Humanismus Liebe finden wird. Das Chrislen-
tum hat sich auf die Liebe als auf einen Grundpfeiler
61
gestützt. Paulus tat den berühmten Ausspruch: „Wenn
ich die Spruciicii der McnscJien ixKlele, und hätte der
Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eino klin-
gende Schelle." Aber im selben Brief, eiiii-HO Seiten weiter,
fällt Paulus harte Urteile über die, die er miübilli^^t.
Keine Religion war imstande, in der Praxis und ge-
wöhnlich auch in der Tlieorie auf Feindschaft und Haß
zu verzichten.
Aggression und Liebe sind primäre Impulse; es hat
i)isher keine Kultur und keine Ileligion gcjfdxin, in der
der Liebe nicht ein Gegengewicht von Hau entsprach, ob-
gleich man oft annimmt, dali der Hali fehle. „Ist es Dumm-
heit oder moralische Feigheit" — schrieb Herbert Spencer
vor beinahe 60 Jahren - „die die Menschen dazu bringen,
immer wieder einen Glauben zu prt^igen, der die Sotbst-
aufopferung zur höchsten Forderung erhebt, während sie
zugleich darauf drängen, daU die, die sich gegen uns ver-
gehen, hingeopfert werden.'^G) Die Psychologie antwortet
daß es weder Dummheit ist, noch moralische Feigheit]
sondern lediglich der unbefriedigende Versuch der Men-
schen, ihre Aggressivität durch die Aufrichtung einer
äu/icren Autorität - in psychoanalytischer 'ienninologie
durch die Aufrichtung eines Ueberich — zu beherrschen
weil ihr Ich zu schwach ist, um ihre Triebe zu lenke»
oder, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe weil sie,
unfähig, sich neuen Situationen schnell genug anzupassen
im Ueberich einen festen Halt gegen ihre Triebe gef^den
haben.
Es ist den Menschen offenbar beinahe unmöglich
sich von ihren primäi-en a^ressiven Tendenzen zu be-
freien. Wir beginnen erst einzusehen, welcher bedeutende
Anteil diesen Tendenzen bei der Bildung des Ich zukommt
Kants Gedanke, daß die Welt besser wäre, wenn der
Mensch als soziales Wesen nicht im Kriege wäre mit dem
Menschen als natürlichem Wesen, enthält eine wichtige
^*) The Study of Sociobgy. ig**» edition. p. 201,
62
Einsicht. Wenn sie angenommen würde, würde es den
Wert aller Mythologie über das menschliche Leben auf-
wiegen. , ,
Der Aufbau der Kultur liegt weitgehend in der Hand
des Menschen als eines socialen Wesens. Der verstorbene
Hobhouse behauptete, „daß es keine andere Ursache des
Fortschritts gebe als den menschliclven Geist tmd den
menschlichen 'VMllen'*.»^) Er hat Burys Gedanken, dali
der Fortschritt von den Wünschen und Bemühun^n der
Menschen unabhängig sei, abgelehnt, doch hat er ein-
bekannt, daß er fest daran glaube, daß in der Ethik das
Gute und in der Wissenschaft das Wahre die Oberhand
behalten werden. Seine intellektuelle Hechtschaff enheit
zwang ihn zuzugeben, daß das Gute wiederholt mißachtet
worden sei, aber das Vorhandensein jener imbewußten
aggressiven Tendenzen, die allen sozialen Ideen, denen
er anhing, widersprechen, hat er nicht anerkannt l^nd
nicht berücksichtigt. Eine Kultur, die danach strebt, eine
echte Kultur zu sein, wird sich auf die wissenschaftliche
Kenntnis des Menschen selbst ebenso zu stützen haben,
wie auf die Kenntnis der Umwelt und auf jene Entdeckun-
gen, denen wir so viel Annehmlichkeiten verdanken. Die
Versuche, die man bisher mit der Bildung des menschh
liehen Charakters gemacht hat, erinnern an die Erfahrun-
gen Thomas Day's. Der Verfasser von „Sandford and
Merton*' adoptierte eine junge Waise in der Hoffnung, sie
zu seinem Ideal von Weiblichkeit heranzubilden. Er mußte
erfahren, daß es unmöglich war, sie einem drohenden
Schmerze oder einer drohenden Gefahr gegenüber stand-
hafter zu machen. Er ließ schmelzendes Siegclwachs auf
ihre Arme tropfen, aber sie konnte es nicht ertragen, ohne
mit der Wimper zu zucken. Er feuerte blind geladene
Pistolen auf sie ab, sie schrak zusammen und schrie auf,
und Day war einsichtig genug, den Plan, Sabinas Charak-
ter zu ändern und sie zu heiraten, aufzugeben. Viele Er-
16) Social Devekipment, 1924. p. 338.
63
I
I
zieher haben noch nicht die gleiche Einsichl erworl)en und
alle unsere sozialen fiinrichtungon scheinen auf dem
gleichen Gedanken zu beruhen, wie Thomas Day's Ver-
such.
Es wäre niüliig, wollte ich behaupten, daß die Kenntnis
der Beweggründe des mcnschliciieu Handelns, die wir
der beharrlichen Erforschung des Unbewußten während
der letzten 40 Jahixj danken, von den Himuuiisleu oder
Gelehrten schon angenommen ist oder an^nomnion werden
könnte. Kants oben angeführter Satz könnte nur wahr
werden, wenn wir bereit wären, uns diese Einsicht zu
«Igen zu machen und einzusehen, daß der Mensch als
speaes naturalis von starken aßgnessiven Tendenzen be-
herrscht wird, die meiner - wie ich «laube, nicht von
ajit;n menien psychoanalytischen Kollegen geteilten —
Meinunf? nach ursprüngliche sind und aus der Verbindung
mit hbidmösen Tendenzen heraustreten können
Von der Biologie her gesehen, entspricht der Trieb dem
i^rmzip der Selbst erhaltimg und in Verbindung mit anderen
Aeiiirieben drückt er sich in der Herrschaft der Menschen
Über die Natur aus, in jenen Tendenzen, die ihn zur Her-
^!.hr '^.?" ^^*'^^" """* ^""'^ Anfertigung von Werkzeugen
Rt^urdcm haben, vom primitiven Flechtwork zuan Luflsclüff
fcJU himmlischer Beobachter könnte glauben, daß der
menschliche Aggressionstrieb sich in diesen gewaltigen
Wandlungen habe hinreichend ausleben können, auch i
wenn man annimmt, daß ZAVanzit;- oder gar sechxiglausend
anre uöUg waren, um sie xu vollenden. Jeder von ums
onute aber mit eincan Minimum an historischer Kennt- H
Oiesen himmlischen Beobachter eines besseren be- V
^ F^\ ^^^ einzelnen Beispielen könnten wir hinzufügen,
Wir die Eroberung der Lull durch den größlcn Aus-
f^n und die unilassendste Vernichtung vom Menschen-
lebcn gefeiert haben, von der die Geschichte zu berichten
T^\" Und vielleicht schicken wir uns eben an, unsere
letzte wuiKiepijm^ Eroberung, die Möglichkeit Bild und
on zu überti-agen und die Luft selbst zur lirleichterung
64
der Lebensmiltelproduktion heranzuziehen, durch Unter-
ernährung und Entbehrungen für viele Millionen von
Menschen, also durch eine noch furchtbarere und gründ-
üchere Vernichtung menschlichen Ixibens im nächsten
Jahrzehnt zu feiern. Derselbe Gott, den im letzten Krieg
die Alliierten — und ohne Erfolg die Deutschen und
ihre Verbündelen — angerufen haben, wird jetzt von
Christen und Juden hier und anderwärts angerufen, daß
er die anderen Völker entwaffne. Aber es könnte Ix'inaho
scheinen, als stehe Gott nicht nur auf der Seite der stär-
keren Truppen, sondern als erzeuge er seihst ihre Waffen.
Man könnte glauben, daü es nicht sehr schwer sei fest-
zustellen, wer Waffen erzeuge und wie man sie mache.
Aber es ist weit leichter, Gott zu bitten, daß er uaser©
Herzen bessere, als sich selbst an dLe Arbeit zu machen
und sie selbst zu ändern oder dem Psychoanalytiker Ge-
hör zu schenken, der geistUchen oder weltlichen Bitt-
stellern versichert, daß sie selbst die Urheber des Krieges
seien und nicht der Gott, den sie anrufen.
Ich weiß nicht, ob das tiefe Venständnis der mensch-
lichen Seele, die Einsicht, daß Haß uns zur Vernichtung
des eigenen Lebeas und Li)el>e zur Erhöhung unseres
Glücks führen können, je imstande sein wird, Früchte zu
trafen, den Menschen zu einem sozialen Wesen zu machen,
ihn zum Verzicht auf alle selbsterfundenen Tabus und
Verdrängungen und zum Aufbau einer ausschließlich auf
Liebe gegründeten Kultur zu veranlassen, die von allen
anderen verschieden wäre, auch von denen, die die Auto-
ren von Utopien bisher haben ausdenken können. Ich
weiß es nicht.
Doch ehe ich schließe, möchte ich zu dem neuen Stern
zurückkehren, der den Fortschrittsgedanken von seinem
Platz zu verdränget! scheint. Der Standpunkt der Natur-
wissenschaft ist offenbar im Begriff, sich entscheidend zu
verändern. Statt an Naturgesetze und die Lehre vom Fort-
schritt — die Grundgesetze, in denen ich aufgewach-seoi
bin — suchen uns die Physiker von heute an ein Univer-
6 Almaaueh 1933 6fi
r/
sum zu gewöhnen, in dem dor Zufall herrscht. Das Prinzip
vom Iiidonlermiiiisimis scheint im Bcjiriffc zu sein, den
Mylhos vom Forlschrill zu ersetzen; vielleicht ist es
noch Zeit, auch dieses Prhizip als Mylhos zu erkennea.
Man sagt uns, daß das ganze Universum unwiderruflich
und sicher seinem Untergang enl^iegumgeht. Zum Abschliiß
seiner Rode über die Aus<iehiiung des Universums suchte
Eddington das Dal um des kosmisrlien Kalenders fest-
zustellen, an dem es Sternen, IManctcji und Atomen be-
stimmt ist, unterzugehen. „Wir wandern auf der Huhne
des Lebens als Schauspieler eiiues Dramas, das zur Er-
iiauung des kosmischen Zuschauers Iragicrt wird. Wäh-
rend des Fortschritts der Handlung bemerkte er, daß die
Schauspieler kleiner werden und der Ablauf der Handlung
schneller vor sicli gehl. Wenn am Ueginn des letzten
Aktes der Vorhang aufgehl, sieht man zwerghafte Scliau-
Spieler in frenetischer Hast ihre Hollen durchjagen,
klenier und kleiner, schneller und schneller. liin letzter
"likroskopischer Nebelfleck in ungeheuerster Erregung
aaim nichts mehr." it)
Eine Lehre wie diese ist ein überraschender Rückschlag
gegen die Idee des Forlschrills, gegen die Idee der Ent-
wickluug^ die im letzten Teil des abgelaufenen Jahrliun^
ae^-ts maßgebend war. Nehmen wir an, daß Kd.linglons
Auiassung zu Recht besteht, daß die malhcmatischen
laisachen gut gesichert, die Schlußfolgerungen zwingend
sind, so wissen wir, daß in einer beslimnUen Zeilperiode
nicht nur dieses, sondern jedes Universum, jede Welt-
ordnung aufhören wird zu bestehen- das All, das sicht-
are wie das unsichtbare, wird in das Nichts zuruck-
*;**) aus dem es dem Anschein nach slauunt. Diese
icht hat man einen pessimistischen Glauben genannt,
em pessimistischer Glaube müßte jene berühren,
^ Ihn annehmen. Soweit ich urteilen kann, sind
Weder die Vertreter dieser neuen wissenschaftlichen
The expanding universe, Presidontial addresB to the Physical Society.
66
1
' Lehre, noch die Tausende von Lesern, die Sir James
Jeans oder Sir Arthur Eddinglons Schriften gele.ven habün,
durch diese neue Auffassung des Weltalls erschüttert
worden. Das zeigt, wie unsere unbewußten Impulse und
unsere bewußten Oberlegungen voneinander getrennt sind.
Kein Mensch vermag die Idee des eigenen Todes oder
die, daß seine Welt zum Untergang besUmnU sei, in
seinem Unbewußten anzunehmen. Unsere eigenen unlie-
wußlen Phantasien werden durch diese kosmischen Tra-
gödien nicht berührt; wir sind besorgt über die Lia-
kommensteuer, über den Fall oder das Steigen des eng-
lischen Pfunds, über Eingriffe in die Erziehung, die wir
unseren Kindern zu geben wünschen; unser Unbewußtes
gestattet es uns, ohne Rücksicht auf die Lehren der
Physiker, der Missionäre und Weltverbesserer uns unserer
eigenen Unsterblichkeit gewiß zu fühlen. Die Vernunft
sagt nein, aber die Phantasie sagt ja — wir sind all-
mächtig, wir können die Welt nach unserem Herzens-
wunsche umgeslallen.
v' Wie die messianische Hoffnuag auf ein irdisches Him-
melreich, die die Enzyklopädisten, die Hmnanislcn des
18. Jahrhunderts, vertraten, in den optimistischen Zielen
• des wissenschaftlichen Denkens im 19. Jahrhundert fort-
leuchlen, so spiegelt sich der Zusammenbruch dieser
Hoffnungen im 20. Jahrhundert mit seinem gesteigcrteai
Völkerhaß und Klassenkampf, die im Weltkrieg und seinen
Ausstrahlungen gipfeln, in dem wissenschaftlichen Den-
ken von heute; wie vor einem Jahrhundert Canuing die
neue Welt aufrief, um das Gleichgewicht der alten wieder
herzustellen, so ruft jetzt eine einsichtsvolle Minorität
nach dem neuen Humanismus, um ein Gegengewicht gegen
die Mißstände des alten zu gewinnen. Die neue Welt —
Canning meinte die südamerikanischen Republiken — hat
zum Ausgleich dieser Schwierigkeiten nichts beigetragen
und ich teile nicht die Hoffnung derer, die nach einem
Helfer suchen, der das Übel beseitigen könnte, das uns
eine wissenschaftliche Epoche gebracht hat.
6«
67
.*^.-
Mau muß sich völlig khir ninrhcn, daß der Weg des
Mcnsrlicn zur Krpilieil sohwi^ri« und mühsam ist. Heroi-
sche Oiszipliii isl uölig, uin (Ücs.mi Wo« zu finden und ilin
zu Kcheu. Diese licroisrhi- Disziplin erfordcrl zunächst die
hinsieht — ich witnlorholc es, die wUslümlige und voU,-
konunene Kinsicht - in unsere unlunvuliten destruktiven
'lendenzen. Hat man sicli zu dieser Einsiclit entschlossen,
so niuli man sirli weiter klar mnchcn, dnli Freiheit nicht
durch VcrdränKiinRcii und nicht duirh die Oherwachung
mlolge des (ichorsams ^^t^oniil.er einer traditionellen Moral
erreiclit werden kann. i)i(> lierkönuuliche Norm, ilir Deka-
jog, ihr Gehet um iM-rellun« von der eif^enen Unwissen-
heit und TräRJu'il muli verscliwinden. durch die Ver-
breitung der Hildung. durch iiinverstandnis, nicht durch
neue (lewalllaten. Ich hahe meine Auslüln-ungen mit der
liehauptung hesonncn, dali wir als Toren geboren, später
Siltlidikeit crwerl)cn und dann cinrällig werden. Als Toren
«Lhorcn - das soll andeuten, dali wir bei der Geburt nur
nnt der I-äliigkeit zu selir unvollständiger Wahrnehmung
der Außenwelt ausgeslattet sind. Statt dem Kinde zu er-
Icioliiorn, seine ersten hnpulse der wach.senden Walir-
nehmung der Umweh anziijjassen und es dabei zu unter-
stül/.tn, statt zu geslallcn, dali diese Hegungen durch den
Kontakt mit der Welt umgoslaltet werden, so dali eine
starke und feste Persönlichkeit heranwachse, stellen wir
die Tncbregungen der sich bildenden Persönlichkeit unter
die Norm der Religion, unter ethische Normen, die aus der
Frühgeschichte des Menschen stammen, unter Vorschriften
^ic vermutlich auch der clemenlaren Organisation de^
Primitiven kaum angepafit waren; Vorschriften über Ethik
"nd Theorien über das Weltgeschehen, die nicht nur von
der kuUivierten Menschheit geglaubt werden, sondern auch
in einem Widerspruch stehen zu Tun und Gehaben dieser
Gesellschaft selbst und der Individuen, die sie bilden.
Ich weiß nicht, ob die Menscliheit imstande ist, die
heroische Hinsicht aufzul)Hngen, die nötig zu sein scheint;
öianchmal könnte man glauben, daß sich eben ein
68
schmaler Zugang öffnet und daß aus Angst vor einem
völUgen Zusammenbruch, der die westliche Well bedroht,
die Erkenntnisse der psychoanalyüschcn Schule — so
abstoßend sie auch jener kompaJcten Majorität erscheinen
mögen, die nach Ibsens Ausspruch immer im Unrecht
ist — da und dort geprüft und als Leitschnur des Han-
delns angenommen werden könnten.
Sollte ich auf dieser unzureichenden Grundlage einen
anderen Mythos aufbauen — einen psychologischen My-
thos — würde auch er vermutlich nur Ausdruck der-
selben esQstentiell bedingten Eiiistellung sein, die das Ge-
wissen in die Welt setzte und all unser Weh!
• ■ I ^
69
DAS SCUVIIDGEFCHL
Von
Ludwig Jckels
«
Vortra«, Rolialten am 14. Januar 1932 im Akademischen
Vorein für mediziiÜBche Paychologio in Wien als Kinleltung
zum Zyklus übor rlsH Schuldproblem. Krschionen in der
ZoiLscIirift „rBychuanalytiBcho UoweKunn" VI. Jahrg. 1932.
Jährlich Bochs Helle im Gcaamtumfango von etwa
560 Seiten. M. la— .
Wie sohr der am lu-uli^i-n Tage beginnende Vorlrags-
zykliis über das Sc]Hikii)rol)l(>in gerade hier, im Akade-
miselien Verein ITir inedi/.iiiisilie Psychologie, am Platze
jst, dies mögen Sic aus der nachstehenden, sonst wenig
beachteten Anmerkung Nietzsches in der „Genealogie
der Moral" ersehen: „Anderseits ist es freilich ebenso
^•^''g, die Teilnalune der Mediziner für diese Probleme
(vom Werte der bisherigen Wertschälzungen) zu ge-
winnen" und weiter: „Alle Üülertafeln . . . warten auf eine
Kritik der medizinischen Wissenseliafl."
Nun ist der providcntielle Mann aus der Heihe der
^l'zte, den Nietzsche rief, tatsächlich erschienen; er
J* -- ganz von ihm unbeeinflußt — das Schuldgefühl-
Protjlem, das seit Nietzsches Zeiten in einen Durnröscheu-
c 1 af veriiel, zu neuem Leben geweckt und damit in das
TI orem^^ ""'j^'^f ' ""'' —I philosophischen
"*-oreme eme gewaltige Lichtung geschlagen
Fordo^ Schlick m semen „Fragen der Ethik" die
von d ^ erhebt, daß nur eine empirische Wissenschaft
sei e- ^*^^^^^*^" ^^s Seelenlebens Ixirufen und im Staude
der 2*"^ ^^aiisalcrklärung des ethischen Verhaltens - als
Wenn ^^■^^^^^**^'^ Frage der Ethik - zu liefern. So auch,
erschi ^"^ ^»'zt, Dr. Kant (Tübingen), in seiner soeben
Zentr ^^^^^^" „Biologie der Ethik" das Schuldgefühl zum
rum der Problematik macht.
70
I>
•r
Und so scheint mir denn, daü trotz aller Abweichungen
und Abwegigkeilon der Autoren dennoch durch die gene-
tische und strukturelle Autheilung des Schuldgefühls durch
Freud für die sogenannte empirische oder natürliche
Ethik ein kaum mehr verrückbarer Ausgangspunkt ge-
wonnen wurde.
Die Psychoanalyse hat ja schon zur Zeit, als sie sich
bloß auf Libidoforschung eingeschränkt hat, das Problem
des Schuldgefühls niemals aus den Augen gelassen. Mit
ihrem Fortschritt aber, mit der AufroUung der Ichpsycho-
logie, ist diese Frage derart in den Vordergrund gerückt,
daß von der psychoanalytischen Auffassung der Neurose
füglich dasselbe gilt, was Ibsen von der Dramaschr)i>-
fung meint: sie sei nichts als Gerichtstag über sich halten.
Seelische Phänomene und Sachverhalte lassen sich nicht
- leicht in die Form einer Definition pressen; es pflegt
stets ein Rest zu verbleiben, der irgendwie nicht aufgeht.
Ich halte es daher für ungleich opportuner, anstatt die
Bestimmung des Begriffes Schuldgefühl nach Arl einer
These vorauszuschicken, die man dann zu beweisen sucht,
Ihnen das Phänomen an zwei klinischen Fällen
zu demonstrieren, um dann seme Wesenheit daraus ab-
zuleiten. ' . . ,
Ein schwer erkrankter Kollege übergibt mir eine etwa
39 jährige Frau zur Weiterbehandlung, da er durch seinen
Gesundheitszustand verhindert ist, die bereits einige Mo-
nate währende Kur fortzusetzen. Nach der ersten Unter-
redung mit mir erklärt sich die Patientin damit voll
einverstanden. In der Behandlung bei mir benimmt sie
' sich in einer Weise, die mir alsbald sehr auffällt. Sie tut
nämUch so, als ob ein Arztwechsel gar nicht stattgefunden
hätte; weiht mich kaum in ihre äußeren Lebensumstände
ein; wohl aber erzählt sie lauter Träume, überquillt
förmlich von freien Einfällen und Assoziationen, über-
bietet sich selbst in Smnfindungcn und anscheinend sinn-
gemäßen Deutungen.
71
sZm "'""■'•""'■^' Vo'-lall V.,„ ,lor für .li. PationU-n bcL
Miinmlen Slu„,l.. waren orsl ,.|\v« 40 Mi„„|,-n verflossen-
da s„r,MKl ,|,e Kranke „l„„li,h auf ..„.1 will sich vo„'
mir verahscl,,..,!..,,. 1.1, zieh,, die Vhv und verweise darauf
p"ii.'Min si"' ;";'" ';"«'■ "''"' ^" '^"^^- "«■•''"f ij«
,.h V ". """■" ''"'■'' «•■^"«'' i'^"l i"' es genug"
l<_h frage, ob sie denn sicher s.i, sieh nicht gelauscht zu
nauen und sie schlielit eine d.'rartige Möglichkeit aus
MC erlag also einer lialh.zinalorischen Täuschung, - die
■■•1. "uch bewogen rfthlle mit ihren, sonstigen Benehmen
m Z«san.menhang zu bringen. Von Anfang an zweifelte
ch nan.hch ,neht daran, daß ,iic Pa,i..„,i„ deshalb so
■c.gcb.g n,.t I,-a,„„e„ nnd dcTcn Deutungen war, weil sie
so lange a s moglieh der lirzählun« irgendwelcher Pem!
hehke. en ,hrer Lebe„sgesel,iehte ausweichen wollte. Wie
Sie bald hören werden, fand ieh di.se u.eine Vermutung
nach einigen Wochen beslä.ig,. Inzwisehen vermoehtf
IC aber feiere hn,blieke zu gewhn.en in das bunt durch-
wirkte Seelenleben dieser iVau. l-:i„e Südläiulerin, deren
Markes, an Triebbariigkcil gi-enzendes Temperament bis
in die spate Jugend hin von den, lron,men, in den Ketten
starrer Konvention .lalünlel.en.lcn .Milien eingeengt wurde
Ken. Wunde,- nun, ,la,i, als das alternde M'd.-beu raJ
tele, sie m der lihe frigid war. IFnd sie l,lieb es an' ll
als ihr der völlig liaKlose, stark perverse Gatte zu einer
neihe von bacchantischen Erlebnissen geradezu verhalf
In diese nach erotischer Sensation gierende Lebens
Periode fiel nun folgendes lireigiiis: Sie ist eines Morgens
wahrend der zweitägigen Abwesenheit ilires Mannes im
Parlerrezimmer ihrer Wohnung, i„ dem sie schlief, von
emem bmbrccher überrascht worden. Sie hewog zwar
den ubngens gar nicht aggressiv auftretenden Man,, zur
Ruckgabe des gestohlenen Gutes, schlug aber weder L.irm,
noch hieß SIC ihn, sich zu entfe,-„en, vielmehr h,cl sie ihn
in das Woh„z,mmer, ließ ihn dort Platz nehmen neben ^
sich und hunUiglc ihm sogar euien Geldbetrag ein. Und^
■ #
72
all dies angeblich aus der Absicht heraus, ihn zu bessern.
Wenige Minuten, nachdem er sie dann zur Tür ver-
lassen, kehrte er zum Fenster zurück und stürzte sich
auf die auf dem Bett Sitzende. Sic gab sich ihm zweimal
hin, ohne Spur irgendwelcher Abwehr, anscheinend und
angeblich aus Angst, von ihm erwürgt zu werden, und
wiewohl sie reichlich und wiederholt die Möglichkeit
hatte, Alarm zu schlagen. Nachdem sich der Bursche ent-
fernt halte, zog sie sich sehr rasch an, eilte zu ihrer
Schwägerin, erzahlte daselbst den Vorfall in höchster lir-
regung und brach in einen lang anhallenden Schrei-
krampf aus. Auch dem rückgekehrlen (ialten — der die
Sache ruhig und liebevoll aufnahm — erzählte sie die
Begebenheit, ohne ihm auch nur das Geringste zu ver-
heimlichen. Auf seinen und der Angehörigen Rat wurde
die Anzeige an die Behörde und der Bursche stellig ge-
macht. Zweimal mußte sie als Zeugin aussagen; vorerst
vor dem Staatsanwalt. Schon der Argwohn und die Frage-
stellung des gewiegten Menschenkenners rültcilcn mäch-
tig an den Verschanzungen, hinter denen sich ihre wirk-
liche Einsicht verbarg, daü sie nämlich das Abenteuer
gewollt, ja gesucht habe. Und so schloß sie dann die
Schilderung, die sie mir von dem zweiten Verhör, vor
dem Untersuchungsrichter, gab, mit den Worten: „Ich
kann Ihnen gar nicht schildern, welch vernichten-
den Blick er mir zugeworfen hat, als er das Verhör mit
den Worten abbrach: „Jetzt ist es genuR." Und noch
bevor ich den kleinen Vorfall in der Analyse, der Wochen
vorher stattfand, hervorheben konnte, verwies die Pa-
tientin auf ihn und daß sie mir die Worte des Richters
in den Mund gelegt, mich an die Stelle des Richters
gesetzt habe.
Noch einige ergänzende Mitteilungen zu diesem Fall. Fast
bis zum Ende des dritten Dezenniums ihres Lebens be-
stand ihre ganze Welt aus ihren Eltern und der unver-
ehelichten Schwester der Mutter; in diesem, für sie äußerst
einprägsamen, puritanischen Milieu war sie als einziges
73
Kind der Mittelpunkt und erfreute sich großer Liebe
und Fürsorglichkeit aller. Zur genannten Zeit starben kurz
nacheinander die beiden Frauen. Wenige Monate später
soll eine Wandlung in der Lebensführung des Witwers
eingetreten sein. Bis dahin ganz Familienmensch, soll er
dann viel um Frauengunst geworben und sie auch ge-
nossen haben — so daß besorgte Freundinnen sogar zur
Inlernierung des alternden Mannes rieten.
Nun aber erinnern Sie sich, bitte, daran, wie die Pa-
tientin nach dem Erlebnis mit dem Einbrecher gar kein
Bedenken trug, nicht den geringsten Anstoß daran nahm,
es all den näheren und ferneren Angehörigen mitzuteilen,
und erinnern Sie sich auch daran, daß die einzige affek-
tive Reaktion, in der sie sich darnach verausgabte, bloß
in einem Schreikrampf bestand — gleichsam einem Nach-
holen dessen, was sie während des Oberfalles eben unter-
ließ. Kein Zweifel nun, daß sie eifrigst bemüht war, das
Ereignis als ein rein äußerliches über sie hereingebro-
chenes Ungemach zu empfinden — zu dem man nichts
beigetragen und für das man demzufolge nichts vermag.
Die recht naive und ganz unpsychologische Ansicht ihrer
Angehörigen, die in derselben Richtung lief, bestärkte sie
natürlich in dieser Haltung, die also letzten Endes darauf
hinauslief, sich zur Wahrheit nicht zu bekennen und
ihre innere Stimme, die Stimme ihres Gewissens ja nicht
laut werden zu lassen. Sie erstarb förmlich in Angst
vor diesem moralischen Anteil ihrer Persönlichkeit und
dessen Verdammungsurteil. Und dies ist es, was uns
ihr Benehmen in der analytischen Situation weitgehend
verständlich macht. Denn sie projizierte ja gleich anfangs
nicht bloß etwa den wirklichen, sondern mit diesem
oder richtiger in diesem, ihren inneren Richter auf mich.
Damit zugleich aber auch die große Angst, die sie vor
ihrem Gewissen hatte.
Und diese Angst war es, die sie förmUch dazu zwang,
sich in Träumen und deren Deutungen zu ergehen, um
imjirassen Gegensatz zu ihrer großen Mitteilsamkeit bald
74
-\
nach dem Vorfall mir diesen eminent konfUktuösen Vor-
fall zu verheimlichen.
;; Nun aber zum zweiten Fall, den ich für ungleich illu-
strativer halte.
Da erscheint in meiner Sprechstunde ein etwa 45 jähri-
ger Mann in hoher amtlicher Stellung in einem der Nach-
folgestaaten. Etwas über mittelgroß, breitschultrig; in dem
übrigens gar nicht markant geprägten Gesicht fällt mir
der unsichere, unstete, flackernde Blick auf; die Stimme,
mit der er spricht, gedämpft. Alles zusammen der Ein-
druck nicht nur eines gedrückten, vielmehr eines stark
verängstigten und mit seiner Angst mühsam ringenden
Menschen. Stockend erzählt er, was ihn zu mir gcfülirt.
Er lebe seit Wochen in furchtbarer Angst. Seit vielen
Monaten unterhalle er eine intime Liaison mit der Frau
eines seiner Freunde; alles spreche dafür, daß dieser um
das Verhältnis gewußt und es ohneweilers toleriert habe.
Vor ein paar Wochen sei der verhältnismäßig noch junge
und rüstige Mann eines Morgens leblos in seinem I3ette
auf'^efunden worden. Die Todesursache sei bis heute un-
geklärt; man wisse nicht, sei es Selbstmord oder natür-
üche Todesursache gewesen. Seit dieser Zeit sei der
Patient einfach von Sinnen vor Angst, m die Sache ver-
wickelt und für schuldig an dem Tode des Mannes, zu-
mindest aber für mitschuldig befunden zu werden. Denn
es sei ihm sogar der abstruse und jeglichen Anhalts ent-
behrende Gedanke gekommen, die Gattin habe den Freund
umgebracht, wo sie doch ohnehin ihm, dem Patienten,
mit Erschießen gedroht habe, falls er sie einmal ver assen
sollte. Nun habe er sich durch den tragischen Voifall
erst recht von der Frau seelisch sehr entfernt und mochte
von ihr loskommen; aber außer der ersten Angst hmdcre
ihn auch die Furcht, von ihr meuchlings gelötet zu wer-
den, daran — so daß jetzt sein ganzes Dasein von diesen
Ängsten erfüllt sei.
Diese seine Gemütsverfassung verlieh aber auch der
analytischen Situation und seiner Beziehung zum Arzt
75
ein plastisches Gepräge. Vorerst in seiner äußeren Hal-
tung. Er lag da zusammengekrümmt, sich förmlich klein
machend; die Beine verkrampft, die Hände bezeichnender
Weise stets auf dem Rücken und dessen Verlängerung,
all dies, wie wenn er sich vor Schlägen schützen wollte,'
worauf nicht etwa ich den Patienten, vielmehr dieser
mich aufmerksam machte. Dabei war er kaum im Stande,
irgend etwas ohne Störung des Zusammenhangs zu er-
zählen, stammelte häufig, — offenbar in heilloser Angst,
daß ja nichts Verräterisches das Gehege seiner Zähne
verlasse.
Ich würde mich kaum verwundern, bei der Schilderung
dieses Falles Ihrem Einwand zu begegnen, der Zusam-
menhang mit dem Schuldgefühl sei hier weder gegeben
noch ersichtlich, denn der Patient sei nicht etwa wie die
vorhin geschilderte Patienün in einem wirklichen Kon-
flikt mit seinem Gewissen, er fühle sich sogar innerlich
völlig frei von jedem Verschulden an dem Tode seines
Freundes, und sohin gehöre der Patient in die Reihe der
Angstkranken. Nun aber bin ich in der Lage, diesen Ein-
wand wirksam zu entkräften, und zwar durch die Mit-
teUung, daß es im Leben unseres Patienten laisächlich
eme Situation gab, die mit der den Ausbruch der Neurose
veranlassenden eine weitgehende Ähnlichkeit, wo nicht
Analogie aufwies. Damals, in seiner späteren Kindheit,
gab es gleichfalls die Frau eines anderen Mannes, nämlich
die Mutter, in die der Patient mit der Glut seines uM^
gestumen Temperaments verliebt war; es gab aber auch
den Gatten dieser Frau, an dessen Tode sich Patient
schuldig fühlte. Denn als 14 jähriger Junge war er Zeuge,
wie der dem Trünke ergebene lund dabei die Familie^
besonders aber den Patienten, aufs Brutalste behandelnde
Vater, der sozial und wirtschaftlich immer deroulierler
wurde, Vorbereitungen zum Selbstmord traf, dem er
auch am nächsten Morgen erlag. Der Junge merkte es,
wie der Vater nächtlicher Weile an die im ersten Stocke
im Bette liegende Mutter einen Brief schrieb, las sogar
76
dessen Aufschrift: „Liebe Riecke"; er nahm die Mahnun-
gen des Vaters entgegen, daß er alles dazu tue, um Mutter
und Schwestern eine Stütze sein äu können; merkte es
schließlich, daß der Vater irgend iein Getränk braue, das
er dann zu sich nahm, •— und all dies mit „scheinbarer"
Verständnislosigkeit. Erst viele Monate nach Beginn der
Behandlung, unter deren Einfluß eine sehr beachtens-
werte Entfaltung des Ichs stattgefunden hat, wobei der
Analytiker von der Stufe eines, man könnte fast sagen,
materiell erlebten Vaters, ähnlich wie im ersten Falle
zur Repräsentation des Gewissens erhoben wurde, — trat
die Verwandlung der primitiv-infantilen Züchligungsangst
in echtes Schuldgefühl ein, — "das bis dahin sorgsam vom
Bewußtsein ferngehalten wurde, und dessen Platz bis
dahin eben jene Angst eingenommen hat.
Und so ist denn dieser Fall, wie ich es bereits
eingangs angedeutet habe, besonders Illustrativ für die
Genese und den Werdegang eines Anteils der mensch-
lichen Persönlichkeit, den man füglich als den Brenn-
punkt derselben bezeichnen kann. Er ist der Psycho-
analyse zufolge nicht allein völlig autonom, sondern dem
übrigen Ich weitaus übergeordnet, weshalb sie ihm die
Bezeichnung des Über-lchs verliehen hat. Sein Werdegang,
in flüchtiger Eile rekapituliert, besteht darin, daß dieser
„innere" Mensch in uns, um 'mit den Worten des Apostels
Paulus an die Römer zu sprechen, seine Genese und Ent-
faltung einem Verinnerlichungsvorgang ver-
dankt. Diesen, von Freud später ganz selbständig er-
schlossen, hat schon Nietzsche genial vorausgeahnt.
Er erblickt m ihm die Folge der Zusammenfassung der
Individuen in einen Gemeinschaftsverband, sohin die un-
trennbare Begleiterscheinung der kulturellen EntwicJilung.
Mit dieser Verinnerlichung verknüpfte er sogar fast den
Beginn der Seelenbildung, die er als Folge der durch
die Gemeinschaft behinderten freien Abfuhr der Triebe
auffaßte.
Diesem Verinnerlichungsprozeß ist der Mensch tzunächst
77
als Kind unterworfen; stellt er doch für dieses den ein-
zigen Ausweg dar aus der Ödipussituation, jener seelischen
Belastung mit den widerspruchsvollsten Triebtendenzen,
die letztlich untragbar wird. Und was da mithin verinner-
licht wird, nämlich die Eltern, die Beschützer, aber zu-
gleich auch die ersten Vertreter der Gesellschaft mit
ihrem „Du sollst" und „Du darfst nicht", — dies stellt
gleichsam den Keim des Ober-Ichs dar.
Indem nun von hier aus die Spurweite der Verinner-
lichung immer größer wird und diese immer weitere
Kreise einbezieht, führt sie zur allmählichen Entfaltung
der Persönlichkeit, zugleich aber zu deren unlöslicher
Milieu- und Umwelt-Gebundenheit. Es wird »uns daher
kaum verwundern, daß uns dieses Ober-Ich sowohl den
Niederschlag als auch den Widerhall all derjenigen Nor-
men bedeutet, welche die Beziehungen der Individuen
zur Gemeinschaft regeln, und daß wir seine Funktion
darin erblicken, daß es Sachwaller all der Schöpfungen
ist, die den Bestand der Gemeinschaft sichern und vei-^
bürgen sollen.
Und da drängt sich mir der Gedanke auf, daß es
namenllich für die R e li gio n s p sy c ho 1 o gie eine be-
sonders lockende Aufgabe sein müßte zu untersuchen,
ob sich denn nicht auch in der Menschheitsgeschichte
eine ähnUche Zuordnung der Form der Schuldhaftigkeit
zum jeweiligen Entwicklungssladium der Gottheitsvorstel-
lung aufzeigen ließe, wie wir sie in Betreff der Beziehung
zum Ober-Ich aufzufinden vermochten. Ich stelle mir das
so vor, daß das der Gotlheitsvorstellung anhaftende Aus-
niaß von Anthropormorphie, über das gemildert Mate-
rielle bis zu ihrer völligen Loslösung vom Stofflichen
und Abstraktion zur Idee, irgendwie bestimmend sein
dürfte für die drei Ausdrucksformen, in denen wü* dem
religiösen Erlebnis begegnen, nämlich als Angst, Sünd-
haftigkeit und Schuldgefühl. Man braucht hier
bloß an die rein auf Furcht basierte Beziehung der Antike
zu ihren ganz vermenschlichten Gottheiten !zu denken,
78
■weiters an die innigste Beziehung, in die bereits die Un-
tersuchungen Kierkegaards die Sündhaftigkeit zur
Angst gebracht haben, ferner daran, daß die Sünden
ursprünglich Verletzungen der materiell gedachten Tabu-
verbote, demnach Entsühnungen, Reinigungen
waren, derart, daß die Konzeption der Gedanken-
sünde imd ihrer Tilgung durch Gebet bereits emen
normalen Fortschritt bedeutet — und schließlich an die
rein abstrakte Auffassung der Gottheit durch manche
Philosophen; denkt man an all dies, so dürfte man die
Möglichkeit einer derartigen Korrelation kaum als un-
sinnig von der Hand weisen. Zu ihrem stringenten oder
auch nur näheren Nachweis fehlt es mir indes nicht
allein an Zeil; ungleich mehr noch an Kompetenz.
Bloß das eine sei mir noch gestattet besonder^ her-
vorzuheben, daß doch den Angaben der Religionspsycho-
logen zufolge die Götter ursprünglich Dämonen waren,
die den Menschen Angst und Entsetzen emflößten, — wie*
dies z. B. Volz für Jahve überzeugend erörtert. („Das
Dämonische im Jahve.") Aber auch umgekehrt soll, man
kann es wohl sagen, jede Angst ü-gend einem Dämon
zugeordnet worden sein. Welche Erwägung uns mitten
hineinführt in die Betrachtung der Beziehung des Ichs
zu seinem Ober-Ich, — wie sie uns in den beiden oben-
erörterten kimischen Füllen deutlich entgegentritt. Bei
beiden kaum zu verkennen: die Angst.
Und dies ist wohl kaum verwunderlich: denn genau so
Wie in der Kindheit der Menschheit die der Gottheit zu-
geschriebene Aggression es war, die sie zum Dämon
stempelte, ebenso erlebt auch das kindliche Ich sein
keimhaftes Ober-Ich, die mtrojizierten Eltern in aggressi-
ver und schreckeinflößender Gestaltung. Wozu mir nicht
schlecht der Umstand zu passen scheint, daß die Däjno-
nen als die wiederkehrenden Seelen der ab-
geschiedenen Vorfahren aufgefaßt wurden.
Nun behauptet ja die Analyse, daß es die eigene, als
Reaktion auf den erzieherisch erzwungenen Triebverzicht
79
sich einstellende Aggression des Kindes sei, die, an der
Abfuhr verhindert, dem Ober-Ich zuströmt und dieses
dann dem Ich so bedrohlich erscheinen läßt. Und der
ganz analoge Vorgang, daß die eigene Feindseligkeit gegen-
über den Abgeschiedenen in diese hineinverlegt und sie
dadurch eben zu Dämonen gestempelt wurden, ist gewiß
geeignet, den von der Psychoanalyse beim Über-Ich be*-
haupteten Hergang kräftig zu stützen.
Was befürchtet aber das Ich von selten des Übcr-lchs?
Was ist denn der Inhalt seiner Angst? Erfahrungsgemäß
wechseln die Angstmhalte je nach dem Stadium der Ich-
Entwicklung. Aber all diesen spezialisierten Inhalten der
Angst ist ein übergeordneter Sinn gemeinsam, nämlich
die drohende Gefahr des Liebesverlustes. Ist
doch die Keimanlage des Über-Ichs in der Beziehung
des Kindes zu seinen leibhaften Eltern gegeben; die Verl
sagung von Liebe wäre hier Vernichtung. Und dieses
imperative Verlangen nach Liebe erhält sich als Grund-
zug der Beziehung des Ichs zum Übcr-Ich bis zu dessen
höchstentwickelten und ganz vergeistigten Geslallungen.
Daß auf diesen Höhen sich das Liebesverlangcn kaum in
seinem ursprünglichen, vielmehr in einem korrelaten Aus-
druck äußern wird, ist wohl ■selbstverständlich.
Sicher indessen ist, daß eine der sehr häufigen Formen
unter denen wir letztlich diese Angst vor Liebesverlust
zu suchen haben, wohl die Angst vor dem Allcin-
bleiben, vor der Vereinsamung ist. Besonders
Ott bei kleineren Kindern, wird -sie auch bei größeren
nicht selten angetroffen und auch bei erwachsenen Neu-
rotikern nicht vermißt; auch die Agoraphobie, die
Angst vor Plätzen mit ihrer die Empfindung der Einsam-
keit weckenden Weite wollen wir hierherrechnen. Man
kann das Wesen dieser Angst (auch so bestimmen, es
sei die Angst des Ichs, äie Verbundenheit mit seinem
Beschützer, dem Über-Ich, zu verlieren, Von diesem ver-
lassen zu werden.
80
Hören Sic, bitte, was mir jene Patientin in der ihrer
Beichte nachrolgenden Sitzung unter strömenden Tränen
berichtete: „Ich habe gestern abend das Gefühl ßehabl,
daß Sie micli verlassen haben*'; wenige Minuten später:
„Ich halte gestern abend das Gefühl: ich habe Sie gar
nicht mehr, ich weiß nicht, vco Sie sind, ich bin zu
schlecht für Sie."
Womöglich noch plastischer drückt sich dieser Sach-
verhalt in einer den früher besprochenen männlichen Pa-
tienten betreffenden Episode aus. Nach mehrtägiger Unter-
brechung crschemt er bei mir an einem Montag zur ge-
wohnten Stunde, ohne mich jedoch, wie verabredet, ver-
ständigt zu haben; wird daher von mir nicht empfangen.
In der nächsten Behandlungsstunde sagt 'der — übrigens
verheiratete — Patient, Vater einer heranwachsenden
Tochter: „Ich habe mich am Montag einsam gefühlt wie
ein Waisenknabe."
Dieses Gefühl, von seinem Cber-Ich verlassen, eigent-
lich verstoßen zu sein, ist es auch, das die schwere Vei>
stüi'theit ja den oft desolaten Gemütszusland erklärt, in
den die Patienten über alle rationellen Motive hinweg
geraten, wenn der Analytiker irgendwie gezwungen ist,
die Behandlung selbst für kürzere Zeit zu unterbrechen.
Daß in einem solchen Falle bei psychopalhisch ohnehin
Verstimmten oder gar Depressiven eine ganz besondere
Vorsicht geboten ist, — dessen sollte der Analytiker stets
eingedenk sein.
Der Ausweg, den die Neuroliker aus der hier darge-
legten Situation finden, dürfte uns m. A. nach im psycho-
logischen Verständnis näherbringen. luitsinncn wir uns,
daß der Phobiker, um seine Gehhemmung zu überwinden,
sich an eine Begleitperson klammert. Der oben erwähnte
Patient aber, der mit seiner Gattin seit vielen Jahren
weder in zärtlichen noch in sexuellen Beziehungen stand,
sie vollkommen ablehnte, zögerte nicht, sich zu ihr ins
Bett zu legen, wiewohl er sie an diesem Tage noch frem-
6 Aliniinach 1938
81
der empfand als sonst. Denn er mußte sich einem Men-
schen nahefühlen, wer imraex- es auch sei. Von mir ab-
gewiesen, sohin von seinem Über-Ich ■verstoßen, sucht
er, der Unreife seiner Persönlichkeit fcntspirechcndt, Er-
satz in einer Liebe, wie er ihrer eben habhaft werden
kann.
Beide, sowohl der Agoraphobiker wie auch mein Pa-
tient versuchen also, wie wir sehen, aus ihrer Seeionnot
sich zu retten, indem sie sich an ein Du. wenden;, eine
wenn auch noch so flüchtige, lose und dürftige Gcmein-
" Schaft herstellen. Halten wir uns 'indessen vor Augen, daß
die Situation der Analyse, die ^Beziehung zum Arzt nichts
absolut Andersartiges und vom sonstigen ^Verhalten der
Menschen zueinander nichts völlig Verschiedenes bein-
Iialtet; nur, daß die gewollte Entpersönlichung des Ana-
lytikers die wahre Natur der Beziehungen der Patienten
zu den Menschen reiner, plastischer »und greller auf
diesem Auffangsschirm in Erscheinung treten läßt. Dar-
nach ist sicher die Ansicht vertretbar, der ich bereits öfler
Ausdruck gegeben habe, un s e r V e r h ä 1 In is zum Du
sei in hohem Maße der Beziehung des Ichs zum
Über-Ich nach modelliert.
Für eine der wichtigsten sozialen Relationen, das M i t-
leid, vermochte ich in einer eigenen Studie an der Hand
klinischer Analysen den, wie ich glaube,, slringenten Er-
weis zu erbringen, habe auch dort hervorgehoben, daß
dieser mein empirischer Weg mich zum identischen Er-
gebnis mit den spekulativen Befunden von Nietzsche
und Eduard von H a r t m a n n geführt hat. Die Ver-
öffentlichung weiterer einschlägiger Beobachtungen sieht
bevor.
F
Nach all dem Vorhergesagten hätten wir also zahllose
Ichs, die nicht aus freiem Liebesverlangen sondern aus
ihrer ängstUchen Spannung heraus bald den ungezählten
Du's — als dem Über-Ich, wie man es haben möchte —
liebeheischend nachjagen, bald sich ihnen — als das der-
82
>.
»1.
artig phantasierte Über-Ich anbieten; das ist re vera und
zum wesentlichen Teile der libidinöse Aspekt der Ge-
meinschafl, der Anteil der Libido an der Gemeinschafts-
bildung, liier ist auch die Triebfeder und zugleich die
Erklärung des selbst von Freud als rätselhaft befun-
denen Vorgangs zu suchen, daß Eros so unablässig be-
muht ist, die Menschheit zu Verbänden zusammenzu-
fassen. Wie Recht hatte doch der große Metaphysiker
Schopenhauier mit seinean principium individiiationis,
wenn er meint, wir sähen die Welt durch den S^^hleier
der Maja; aber die individuatio, die Vielheit, sei bloß
scheinbar, nur eine Täuschmig; das Ding an sich aber
nur Eines und identisches WVsen.
Und wenn Sie mir noch gestatten, die eben entworfene
Skizze in einen weiteren Rahmen zu spannen, so ergibt
sich uns das Bild, wie die Kollektivität als Ersatz für den
vermißten Einklang mit dem Über-Ich eintreten kann.
Der Versuch, eine verlorene Bindung durch eine andene
zu ersetzen. Ein gewiß folgerichtiger Vorgang, das ver-
loren geglaubte, kollektive Prinzip der Individualseele, das
Über-Ich, durch die reale Kollektivität zu ersetzen.
■ Diese kleine Untersuchung hat, wie Sie sehen, zu einem
recht überraschenden Ergebnis geführt, das m. A. nach
keineswegs unterschätzt werden sollte. Denn auf einmal
finden wir in dem Schuldgefühl, das wir bis jetzt bloß als
Quelle der Pein, höchstens noch als masochistische Be-
friedigungsart kannten, den Träger einer und noch dazu
sehr hohen sozialen Funktion. Sie besteht darin,
• :'die Herstellung der menschlichen Verbundenheit aufs
Intensivste zu betreiben, die bestehende zu festigen, deren
. Institutionen zu sichern und zu schirmen.
Wäre es nicht so tragisch, so müßte er wahrlich als
beschämend empfunden werden, der Schlcppschritt des
erkennenden Geistes, dem es verwehrt ist zu schauen,
was die W^ahrsager der Menschheit, die großen Dichter,
bereits vor Jahrtausenden wußten. Hat doch das Er-
ß» 83
gebnis dieser meiner Kleinarbeit Äescliylos bereits
in seinen „Eumeniden" klar zum Ausdruck gebracht.
Der MuUermörder Orestes wird von den Dämonen,
Erinnyen wütend verfolgt: Pallas Athene entreißt ihn den
Rächerinnen; um die darob Verzweifelnden zu beschwich-
tigen erhebt sie sie zu:
„Erinnyen nicht mehr, heilige Eumeniden", und so
wird dies „Moiras Nachtgeschlccht" zu . ■. ■■
■ *
„Ordnenden Göttinnen des Rechts, Genossen
Jedwedem Haus, machtvoll zu jeder Zeit,
Gerechten Bundes Heiligtum bewahrend,
Der Götter tief vcrehrtesle Gewalt". .'
Aber auch das schwere Opfer, das der Einzelne der
Gemeinschaft bringen muß, nämlich die Mehrung seines
Schuldgefühls, die Freud aufzeigt, sind ihm nicht minder
gut bekannt.
Denn die Erinnyen werden heilig und zu Eumeniden
bloß für die Gemeinschaft; bloß für sie „lacht aus der
Unterweltnacht — Sonnenschein." Dem Einzelnen aber
bleibt „Moiras Nachtgeschlecht" — schwer zu rührende
Dämonen, das durch die eigene gedrosselte Aggression
tyrannische grausame Über-Ich, des' Amt ist
„Aller Schuld der Menschen nachzuspüren." -
* ■
Nach alledem wäre das Ergebnis dieser Untersuchung,
daß das Schuldgefühl nicht allein Folge, sondern zugleich
wieder ein Antrieb für neuerhche Erosbestrebungen in
seinem Kampf mit dem Todestrieb ist, daß er es zustande
bringt, nicht allein die Aggression zu bändigen, sondern
sich sogar ihrer daim als Vorspanns für seine Zwecke
zu bedienen. Dadurch scheint ja der Sieg des Eros und
damit der Fortbestand der Menschenart gesichert, allere
dings, wie bereits hervorgehoben, um den sehr hohen
Preis der stetigen Abnahme individueller Glücksmöglich-
keit. (Wobei das Seelische genau den Spuren biologischer
84
1
Gesetzmäßigkeit folgt, -wonach das Individuum für die
Art bedenkenlos geopfert wird.)
So stünden wir denn vor einem circulus viliosus in
voller Rat- und Ausweglosigkeit?
So gewagt es auch scheinen mag, meine ich, das nicht.
Denn gerade die gegenwärtige Kullurschwingung, die wir
— die einen ängsllich erschauernd, die anderen fasziniert
mitmachen, scheint mir zumindest die Möglichkeit eines
Ausweges zu eröffnen. Das, worauf ich hier verweisen
will, ist gewiß keine Offenbarung, vielmehr ein von der
Menschheit seit unvordenklichen Zeiten begangener Weg,
auf den übrigens von psychoanalytischer Seite m der
letzten Zeit wiederholt verwiesen wurde. Bloß, daß ich ein
Avenn auch nur spärliches Streiflicht auf ihn werfen will.
Ich meine das Problem der A r b e i l, das vielleicht
■wie kaum früher zum Brenni)unkt der gegenwärtigen
Kulturperiode wurde. Sowohl durch die Betonung des
Anspruches auf Arbeit als auch der kategorisch auf-
erlegten, bis zum Zwang gesteigerten Verpflichtung
zur Arbeit für jeden Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft,
^ wobei ich gar nicht übersehe, daß das Bewegende hiehei
der impcralivste aller Triebe, der Nahi*ungslrieb ist. Da
ich aber meine, daß die Arbeit auch für die hier auf-
gerollte Frage von hervorragender Bedeutung ist, möchte
ich diesem Problem die letzten Minuten meines Vortrages
widmen, ohne den Anspruch zu erheben, es mehr als
oberflächlich gestreift zu haben, zumal es nicht nur
triebpsychologisch außerordentlich komplex ist, sondern
auch eine enorme Mannigfaltigkeit der Erscheüiuugsformen
aufzeigt.
Wir müssen vor allem von dem Begriff Arbeit den der
Beschäftigung abtrennen. Denn es gibt sehr viele
Beschäftigungen, die kaum noch etwas von Arbeit an
sich haben; es knüpft sich an diesen Begriff der Be-
schäftigung die Vorstellung von etwas Episodischem, situ-
ativ Bedingtem, kaum die Persönlichkeit in vollem Aus-
85
maße und intensiv in Anspruch Nolimendem. Triehniaßig
ist es nun, der Psychoanalyse zufolge, vor allem der Be- | .
wältigungs- oder Aggressionstrieb, der bei der Arbeit — ' "
gewiß bei manueller, aber ebenso, bloß aufs Geistige
verschoben, auch bei intellektueller, zum Teile auch künst-
lerischer — in Anspruch genommen wird. Den gewiß
wichtigen, wenn auch sehr variablen Beitrag der Libido
wollen wir für unser Teilproblem vernachlässigeu. Soliiu
ist die Arbeit nicht nur die wichtigste sondern überhaupt
die einzige sozial zulässige Abfuhrmöglich- ">
keit für die Aggression; sie schützt den Nächsten
vor ihr, macht die Verdrängung überflüssig und l)eugt
derart der Verstärkung des Schuldgefühls vor. Ein kleiner
Beleg aus meiner Praxis: Ein junger Bildhauer befindet
sich im Zustande besonders gesteigerter Angst vor der
phantasierten Gefahr, von mir entmannt zu werden. Groß
ist darob seine Wut, der aber die Angst den Ausweg ver^
sperrt. Da bringt er emen Traum: er schneidet Einstein
das Haar. ,,Ein Stein", so hart wie dieser, bin ich. Am
nämlichen Tage begann aber der junge Künstler, der bis
dahin nur in Ton gearbeitet, eine Mannesfigur in S,tein
zu hauen. Recht bezeichnend, wie ich meine. Zum Über-
fluß erzählt er am nächsten Tage wieder einen mit dem
ersten gleichsmnigen Traum, daß er an der Figur eine
Kante abhaut; d. h. mich en remnche entmannt.
Den Zusammenhang zwischen Arbeit und Aggressioa
konnte man schon in einer Episode des kürzlich so
sensationell aufgenommenen russischen Films „Der Weg
ins Leben" beobachten, — dessen Wirkung übrigens über
alle ästhetischen Motivationen hinweg hauptsächlich aus
der narzißtischen Befriedigung der Zuschauer ob der Be-
friedigung eines bestimmten Kullurideals zu erklären ist.
Ich meine die Episode, wo es den in der Kolonie eifrig
arbeitenden Jungen plötzlich an zu verarbeitendem Ma-
terial fehlt, weil solches nicht nachgesandt wurde. Da
beginnen die Jungen bedenkenlos die Maschinen und
die Einrichtungen des Hauses zu demolieren.
•>
V
überdies aber: die Arbeil kann dem Arbeitenden auch
narzißtische Befriedigung verschaffen, sei es durch
die soziale Notwendigkeil des Produktes, sei es durch
Würdigung der Leistung; dieser Fall ist besonders dori
gegeben, wo es irgendwie um Gestaltung geht, wobei der
Arbeitende gleichsam in seiner Allmacht bestätigt wird.
Außerdem scheint mir die Arbeit auch die Bedeutung
einer Strafe, einer Enlsühnung zu besitzen. So könnte man
es vielleicht erklären, warum, wie Freud klagt, sich
die Menschen zu ihr gar nicht drängen, es sei denn not-
gedrungen. Dies ist der Eindruck, den ich von einem
allerdings noch lange nicht weit genug analysierten Falle
davongetragen habe, \s'eshalb ich ihm keine volle Be-
weiskraft beimesse. Immerhin aber weisen das „im
Schweiße deines Angesichtes sollst du arbeiten", sowie
die Zusammenstellung von Arbeit mit Gebet in dem „ora
ei labora" entschieden nach der Bichtung der Entsühnung.
Und noch ein kleines, wenn auch gewiß nicht entschei-
dendes Detail für die seelisch entlastende Bedeutung der
Arbeit: Daß sie nämlich so oft von Gesang l)egleitct
wird. Es isl ^ben das Ich, das sich nicht mehr ducken
muß, <las laut werden darf und das Lied seiner Be-
freiung singt.
Es gibt einen Spruch, ich weiß wirklich nicht von
wem, der lautet: „Wen die Götter lieben, dem machen
sie die Arbeit zum Vergnügen.**
Er hat ja auch so seinen guten Sinn. Aber wenn wir
ihn, wie wir es oft bei der Deutung von selbst sehr
logisch aussehenden Träumen machen, umkehren, wird
uns sein tieferer Sinn kund. Und dieser lautet:
Wer arbeitet, den lieben die Götter, liebt sein Cber-Ich^
— der hat eben kein Schuldgefühl.
87
^ tt
r
MAGIE V M D ALLMACHT
Von
Hermcsmin Nu nberg
Aus dem im Verlage Hana Huber in Bern erschienenen
Werke „Allgemeine Neuroseiilelire auf psychoanalytischer
Grundlage", das Sigmund Freud in seiner Vorrede zu dieaem
Buche „die volletändigate und gewisaenhafteste Daratollung
einer psychoanalytischen Theorie der neurotischen Vor-
gänge, die wir dorzait besitzen'* nennt. Daa 340 Seiten
starke IJuch, 1932 erachienen, koatet in Leinen gebunden
Mark 12.50.
Magie wird nicht nur von Geisteskranken ausgeübt.
Im Grunde genommen treiben wir alle nocli Magie. Der
Übergang von einer magischen zu einer reaUtätsanger>aIMeu
Handlung ist ja ein fließender. Die Sprache zum Beispiel
enthält noch viel von maigischen Elemenlen. Wie oft
kommt es vor, daß wir den Worten eines guten J{c<hierS'
nicht widerstehen können, obwohl sich unsere ganze I.ogiik
gegen seine Ausführungen siräubtl Wir sind einfach durch
seine Worte „bezaubert". Jedes andüchtij^e Gehet, jeder
gute Volksredner üben „magische" Wirkungen. „Die Welt
ist durchs Wort, den Logos erschaffen." In Träumen,
bei Kindern, auch bei Wilden ist das Wort etwas Mate-
rielles, das wie ein Ding behandelt wird, und besitzt
magische Eigenschaften. Der Schizopliretie [velbl mit i\cr
Sprache im posiüven und hn negaUven Sinne Magie. Sein
Schweigen hat oft zu bedeuten, daß er die Well mit .seinen
Worten nicht zugrunde richten will Mit dem lieden will er
ihr einmal schaden, ein andermal wieder zur Erlösung ver-
helfen. Ich erinnere an den Fluch und den Sc^en des
Normalen. Bei Geisteskranken und bei Kindern spielt die
„Zaubermacht" des Wortes eine wichtigere Rollo als beim
erwachsenen Normalen.
Die Sprache ist Ausdrucksmitteh ihr Zweck ist Ver-
ständigung, ihr Ziel der andere Mensch. Si<e ist eine Funk-
88
T
^
tioii des Ich im Dienste des Es und ilire Aufgabe ist, auf
die Objekte einzuwirken. Ein Scliizophrener behauptete,
daß er nur dann mit mir sprechen könne, wenn er mich
liebe; wenn er nicht spreche, bedeute es, daß er mich nicht
liebe, ich möge ihn deshalb in Ruhe lassen. Ein anderes-
mal meinte er, daß er mit seinem Reden die Welt be-
fruchte. Es scheint, daß die der Libido des Ich entstam-
mende Energie auch zur Spraclibildung verwendet wird.
Sperber nimmt auch an, daß die Sprache sexuellen
Trieben ihren Ursprung verdankt. Ist dies wh-klich der
Fall, so können wir jetzt besser verstehen, warum manche
Menschen ohne Rücksicht auf den Inhalt ihrer Rede jede
sich bietende Gelegenlieit zum Sprechen ausnützen. Sie
scheinen sich an den andern mit den Worten zu klammern,
als ob sie ihn damit festhalten w^oUten. Das sind gewölm-
lich Menschen mit schwach entwickelter Objektlibido,
<lie mit dem „Zauber der Worte" den andern zu blenden
und an sich zu fesseln trachten. Dieser Erscheinung be-
gegnet man nicht selten bei Schizoplirenen zu Beginn der
Erkrankung. Das Reden ersetzt ihnen häufig die Liebe.
Andere Menschen hinwiederum sprechen sehr vorsichtig,
in laiiigen Pausen, wie abgehackt, lassen viele Bindeglieder
aus, zerreißen den Zusammenhang der Worte im Satzbau
und bilden Neologismen. Sie scheinen durch Umstellen
und Präparieren der Worte ihre geheimen Regungen ver-
bergen zu wollen, l.'nter dem Einflüsse der Libido wird
also mit der Sprache unbewußt ebensowohl positive, wie
negative Magie Ixitricben.
Die Sprache ist ein Ersatz für Handlungen. Zum Spre-
chen sind im allgemeinen die gleichen Vollzuigsorgano
notwendig wie für jede andere Tätigkeit. Das Wort ent-
steht zwar zentral in der Großhn-m'inde, sein Werkzeug ist
jedoch die periphere Muskulatur, nämlich die des Kehl-
kopfes und des Mundapparates. In der Regel wird die
Sprache wie jede andere Organfunklion durch zielge-
hemmte Sexualstrebungen, desexuaüsierte Libido, in Gang
89
gesetzt. Sie ist also Ausdruck sehr frühzeitig einsetzender
Sublimierungen. Wird aher das sprachbildende Ich mit
Libido überschwemmt, mit andenen Worten, wird die
Großhirnrinde oder der Sprechapparat (Kelilkopf und
Mund) oder aber beides gleichzeitig erotisiert, so ei'fol^
eme Störung der Sprachfunktion. Diese Störung äutiert sich
dann dariTi, daß das Ich in Bezug auf die Spraciie eine
Regression mitmacht, nämlich zur magischen Stufe
seiner Arbeitsweise, was am dcutlichslen bei Schizo-
phrenen und Zwangsneurotikern zu beobachten ist, bei
denen die Sprache sexualisiert wird. ;
Jedoch nicht allein die Sprache, sondern auch das Vor- ' *
stellen (z. B. Zauberwirkung des Kinos), Denken, Handeln. m
kurz jede psychische Leistung kann magisch gefärbt sein'. ■ f
Gorki schildert in seiner Autobiographie, wie er einem
Bauern Unterricht im Lesen erteilte. Als der Bauer diese
Kunst erlernt hatte und das Gelesene zu verstehen anfing!,
■wunderte er sich, wie das möglich wäre, daß etwas, was
nicht vorhanden sei, dennoch vorhanden ist, denn man
sehe und höre nichts beim Lesen und doch sehe man die
Menschen, Wiesen und Wälder, höre reden und die Vögel
singen, als ob das alles Wirklichkeit wäre. Zuletzt rief
er begeistert aus, daß dies doch nur Zauber sei, In ähn-
licher Weise phantasiert der Hyslerikei- etwas und glaubt
es wirklich zu erleben; der Zwang.^neuroliker meint, mit
semem Zeremoniell irgendeinem Unglück vorzubeugen, der
Paranoiker durch irgendwelche komplizierte Handlungen
die Welt in positivem oder negativem Sinne zu beeüi-
flussen usw.
Die Magie ist in der Regel mit A 1 1 m a cht sge f ü h-
len verbunden. Abgesehen vom Aberglauben des Gesun-
den, tritt der Glaube an die eigene Allmacht und die Magie
deutlich in der Zwangsneurose auf, noch ausigedchnter
und intensiver jedoch in der Schizophrenie.
Als Beispiel möchte ich eine Kranke erwähnen, die sich fortwährend
die Haut an der Brust rieb und die abgeschabte Epidermis, die wiie
Schmutz aussieht, zu kleinen Klümpchen knetete. Auf meine Frage, was
• . . . .■
90 . .*
-. ^
\\
\
'
dies zu bedeuten habe, antwortete sie. sie mache Menschen aus Erdft
wie der liebe Herrgott, sie Bei selbst der liebe Gott. Die Patientin hatte
ihre Stellang in der Welt verschoben, die Realitätsprüfun« eingebüüt. Sie
identifizierte «ich mit der Erde und n*t Gott, die Grenze zwischen ihreni
Ich und der Außenwelt war verschwommen, sie fühlte sich allmächtig
und glaubte imstande zu sein, die Welt am eigenen Körper autoplastiach
und magisch zu erschaffen. Diese Patientin litt an Größenwahn, ihr
Alhnacbtsgefühl nahm die Gestalt des Größenwahnes an.
Wie wir in einem anderen Zusammenhang hörten, ent-
spricht der Größenwahn einer Selbslüberschälzung. Die
eigene Person wird so überschätzt, wie dies nur einem
geliebten Objekte gegenüber zu geschehen pflegt. Der
Größenwahn wird dadurch erklärt, daü die Libido von
den Objekten abgezogen und zum Ich geschlagen wird. Das
Allmachtsgeiuhl ist also eigentlich Vorläufer des Größen-
wahnes. Das Allmachlsgclühl steigert das Selbstbewußtsein
wie eine große, leiden schalt Li che Liebe, die den Menschen
in den Glauben versetzt, daß er imstande sei, die ganze
Welt zu bezwingen. Der Unterschied zur Verliebtheit be-
steht darin, daß das Allmachlsigefühl (und der Größen-
wahn) auch dann auftritt, wenn reale Objekte fehlen und
das Ich zum Objekte der Libido wird. Eine Bedingung für
das Auftreten des AUmachtsigefühles ist also die EroLisie-
rung des Ich.
Während sichdasAlImachtsgefühl auf das
gesamte Ich erstreckt, bezieht sich die
Magie bloß auf gewisse Funktionen und
Organe. So wird das Genitale geradezu als magisches
Instrument empfunden (Phalluskult: Amulette, Zauber-
stab usw.). Auch jede andere erogenc Zone kann magische
Wirkungen entfalten. Die Magie der Exkremente spielt
beispielswei.se noch heute nicht nur in den Riten der
Wilden und in der Volksmedizin eine große Rolle, sondern
aucli in Träumen und Phantasien Erwachsener und iu
Kinderspielen.
„Der Zauber des Hauches" spielte in der Symptomatokigie eines memer
Patienten die Hauptrolle. Er glaubte, aus dem Munde einen schlechten
Gerach zu verbreiten und die ganze Luft zu verpesten. Die Analyse
91
/"
führte zu einem infantilon Spiele, bei dem er und eine Schwester ein-
ander unter der Bettdecke anhauchten. Er hatte damals gemeint, au£
diese Weise ein Kind erzeugen zu können.
Es scheint, daß die narzißtische Libido
dem Ich das Allmac iilsgefü hl, denerogenen
Zonen die Magie verleiht.
Faßt man jedoch ins Auge, daß es aucli eine Magie gibt,
durch die Unheil angesiiftet werden kann, wie mit dem
Fluche und dem „bösen Blick", dali lenier manche Zwangs-
neurotiker oder Schizoiilu-ene glauben und zugleich boiurch-
len, mit dem bei der Onanie verspritzten Samen, mit deau
Hauche, beim Kotabsetzen usw. böse Geister zu erschaffen,
ja mit einem bloßen Gedanken der Welt zu schaden, daß
also die Magie nicht nur im Dienste positiver und produkti-
ver, sondern auch im Dienste negativer und destruktiver
Triebkräfte stehen kann, so möchte man zweifeln, ob All-
macht und Magie überhauj)t von der Libido abhängen. Wir
wollen uns aber daran erinnern, daß dort, wo die negative,
also verneinende und destrulerende Magie stärker hervortritt, -■
wie in der Zwangsneurose, eine Libidorcgression mit Trieb- %
entmischnuig stattgefunden hat. Wenn sich also dem De-
struktionslriebe in irgendeiner, uns noch niclit näher be-
kannten Weise Libido hinzugeseUt, so entfaltet dieser Trieb
ebenfalls magische Wirkungen, jedoch nicht im positiven,
sondern im negativen Siime. Die posiUve Magie steht somit
im Dienste der Sexualtriebe, des Eros, die negative im
Dienste der sexualisierten Deslruklions- oder Todeslricbe,
also im Dienste des Sadismus, beide aber im Dienste
des Es.
Die beiden Formen der Magie, sowie die AUmachls-
gefühle und -gedanken treten in der Geschichte der
Menschheit als Niederschlag der animistisclien Weltauf-
fassung bei primitiven Völkern auf. Auch bei Kindern und
bei einer Reihe psychisch Erkrankter sind sie zu finden.
Auf der animistischen Entwicklungsstufe der Einstellung
zur Außenwelt wh-d das „innen" noch mit dem „außen"
verwechselt (die Außenwelt ist ein SplegelbUd der Inncn-
92
weit), die „Ichgrciize" ist gewissermaßen, verwischt. Das
Ich unterscheidet noch nicht scharf zwischen inneren
Vorgängen und \^rgängen, die sich in der Außenwelt ab-
spielen, und ist nicht imstande, dem Anstürme des Es ge-
nügend Widerstände entgegenzusetzen, oder dessen Slre-
bun^n zu moditizieren, da seine Loslösoing vom Es noch
nicht ganz vollzogen ist und es immer noch einen wenig
organisierten imd differenzierten Teil des Es bildet. Die
AUmach't und Magie sind also an jene Entwicklungsstufe
der Gesamtpersonlichkeit gebunden, wo das Ich wm Es noch
wenig differenziert, wo das Es sozusagen noch ..ichnahe"
ist, und sind ein Grund mehr dafür, daß es oft kaum
möglich ist, eine Strebung des Es von einer Ichstrebung
zu unterscheiden.
Der Antrieb zur Magie stammt zwar vom Es, sie kommt
aber am Ich znm Vorschein. Jeder NeuroUker greift zu
einer ihrer beiden Formen zurück, sie ist in jeder Neurose
vertreten. Die Magie scheint auch die Frage nach dem
Wozu" des uobewiißteii Sinnes des neurotischen Symp-
toms mitziibeantworten, das — wie wir wissen — durch
die Auffindunig des kausalen Zusammenhanges allein
noch nicht vollständig erklärt ist.
Ferenczi unterscheidet vier Stufen der Allmacht und
Magie. _ .
Die erste ist nach ihm die Phase der bedingungs-
losen Allmacht, die beim Fötus im Mutterleibe vor-
handen sein soll. Diese Pliase ist rein hypothetisch, und
da wir keine Mittel besitzen, ihre Existenz zu überprüfen,
haben wir keine Veranlassung, auf sie näher einzugehen.
Die Amiahme T a u s k s, daß der Schizopiirene im kata-
tonen Stupor in den Mutttsrleib zuxückkehrt, könnte aller-
dings zur Stütze dieser Hyiwthese herangezogen werden.
Die zweite Phase, die der magischen Halluzina-
tionen, ist eher Iieweisbar, sie wird auch von Freud
angenommen. In ihr soll jede Regung, jeder Wunsch in
Vorstellungen gleichsam magisch verwirklicht werden. Hat
93
etwa der Säugling Huiiger, so verschafft er sich durch die
Vorstellung des Saugens allein Befriedigung, wenn er nicht
real befriedigt wird. Wir köiiimen zwar nicht mit Be-
stimmtheit sagen, ob sich das beim Säugliinig tatsächlich
genau so abspielt, wir finden aber beim Erwachsenen
Analogien dazu; wir müssen nur an den Traum denkeai,
wo der Wunsch sich auch gleiciisam magisch in der Vor-
stellung erfüllt. Das Phantasiei-en, die Tagträuine sind
ebenfalls herbeigezauberte Wuaischerl'üllungen, die eine
Korrektur der Wirklichkeit darstellen. Durch den gleichen
„Zauber" wird das Gewünschte in den Halluzinationen
mancher Hysteriker und Schizophrenen durch Erregung
der Sehsphäre psychisch realisiert.
Die dritte Phase ist nach Ferenczi die Allmacht
mit Hilfe magischer Gebärden. Die Reaktion des
Kindes auf ein körperliches Bedürfnis- ist Zappeln und
Schreien, also Muskelbewegung. Auf eine solche Unhzst-
äußerung hin erscheint die Pflegcj^rson, die dem Bedürf-
nisse abhilft. Auf Grund dieser Erfahrung entwickelt das
Kind die Magie der Gesten und Gebärden. Auch das hyste-
rische Symptom, in dem ja die nicht erfüIUen Bedürfnisse
ebenfalls vermittels magischer Gebärden erfüllt werden
kann man als unbewußten Zauber a/uffassen.
In einer höheren, der vierten Stufe, tritt die A 1 t-
macht der Gedanken auf. Ihre Anfänge gehen auf
die Entstehung der Sprache zurück. Diese bestand zuerst
aus unartikulierten Lauten, denen magische Bedoulung
beigelegt wurde, wovon noch heute bei Kiiulcrn und
Schizophrenen Reste zu fhiden sind. Die Laute waren
zunächst an Vorstellungen geheftet, die ebenfalls magi-
sehe Bedeutung hatten. An diese Trieblaute und -Vor-
stellungen as.sozierten sich im Laufe der Entwicklimg
Worte, die durch diese Verbindung gleiclifalls magischen
Charakter bekamen. Die Worte verschmolzen zunächst,
wie es scheint, mit den optischen und aku.stischen Vor-
stellungen, trennten sich später in einem komplizierteu
94
L
Prozesse wieder von ihnen und traten mm in selbständige
Beziehung zueinander. Die gesetzmäßige Korrelation der
verselbständigten Wort- und anderer Vorstellungen nennen
wir Denken. Die Magic und Allmacht des Vorstellens und
der Laute werden nun aus der vorhergehenden Phase in |
die nächste übernommen und auf das Denken übertragen.
Auf diese Entwicklungsstufe des Ich greift unter den
Neurosen am meisten die Zwangsneurose zurück, in der
die Allmacht der Gedanken eine große Holle spielt.
Bei psychischen Krankheilen kann die Entwickluügs-
hemmung des Ich auf jeder Stufe vorfallen; diese drückt
dann jeweils der Art der Einstellung zur Realität ihren
Stempel auf. So kann das Ich auch auf die Stufe der
Magie und Allmacht zuriickfaUen. — In manchen Krank-
heitsbildern der Schizophrene (wie im katatonen Stupor)
scheint z. B, die bedingungslose Allmacht vorzuherrschen,
in der Paranoia die magische Überschätzung des Ge-
samtich und der „dämonischen" Außenwelt, in der Hysterie
die Allmacht des Vorstollens und der Gebärden und in
der Zwangsneurose die der Gedanken.
95
r"~"-- ■^r
rrx
DAS SCHGEFÜHL IM TRAUME
Von
Pami} federn
Aus dem XVIII. Band (1932) der „Internationalen Zeit-
schrift für Psychoanalyse".
I) Dus Idigefühl
Zur Einleitung will ich die wichtigsten Er^ehnisse
meiner bisherigen Untersuchungen dos Ichgefühls und die
aus ihnen sich ergebende Auffassung des Ichs hier wieder-
holen, weil ich nicht annehmen darf, daß jeder Leser,
der sich für eme Untersuchung des Traunijihänomens
interessiert, auch bereit ist, meine Arbeiten in frühei-ien
Jahrgängen aufzuschlagen und neuerdings vorzunehmen.
Das Ichgefühl ist die Sensation, die man jedürzeit von
seiner eigenen Person hat, das Eigengefühl des Ichs von
sich selbst. Ich begründe damit neuerdings die Auffas-
sung, welche am stärksten Österreicher vertritt, dali
das Ich keine bloße Abstraktion sei, um die Ichbezogen-
heit der Akte und Erlclmisse mit einem Worte mitzu-
teilen; das Ich ist auch nicht die Summe dieser Ich-
bezogenheiten allein, es ist auch nicht l)IoJJ die Summe
der Ichfunktionen (Nunberg), auch nicht bloß die
„psychische Repräsentanz" dessen, was sich auf die eigene
Person bezieht (Sterba). Das alles gehört zum Ich, es
sind Leistungen, die im Ich oder vom Ich aus geschehen.
Zum Ich gehört aber viel melm, nämlich auch das sub-
jektive seeUsche Selbsterlebnis dieser Funktionen; diijs^s
Selbsterlebnis ist eine bleibende, wenn auch nie gleich-
bleibende Einheit, die nicht abstrakt, sondern wirklich
ist. Diese Einheit bezieht sich auf die Kontiuuilät der
Person in zeillicher, räumUchur und kausaler Hinsicht,
diese Einheit ist objektiv erkejinbar und wird stets sub-
jektiv wahrgenommen und gefühlt. Das heißt, wir lühlen
96
I
I
und wissen ständig, daß die Kontinuität unseres Ichs auch
über eine Unterbrechung durch Schlaf oder Bewußt-
losigkeit hinweg fortdauert, daß die Vorgänge in uns,
auch wenn sie durch Vergessen und Unbewußtheit unter-
brochen werden, eine dauernde Ursache in uns haben,
daß unser Körper und unsere Psyche dauernd zum Ich
gehören. All dies haben viele Autoren als „Ich bewußt-
sein" bezeichnet. Wenn ich das auch schon vorher ge-
legentlich von Psychologen und auch von Freud ge-
brauchte, von Laien als selbstverständlich angewendete
Wort „I c h g e f ü h 1" als integrierenden Teil des Ichs
hervorhebe und mich nicht mit dem Worte Ich b e w u ß t
sein oder Ich b e w u ß t hei t begnüge, so ist das nicht
eine willkürliche Bevorzugung dieser Bezeichnung, sondern
die Rücksicht auf folgende Beobachtung: Das Selbster-
lebnis des Ichs erschöpft sich nicht im Wissen und in
der Bewußtheit von den oben angeführten Einheitsquali-
tätcn des Ichs, sondern enthält auch ein sinnliches Erleben,
welchem das Wort „Gefühl" oder Sensation gerecht wird,
während die Bezeichnung Ichbewußtheit das Gefühls-
mäßige begrifflich nicht enthält. Die Pathologie, sowohl
die ärztliche als die Alltagspathologie des Schlafens, der
Ermüdung, der Zerstreutheit und Träumerei lassen uns
das Bestehen eines „Ichgefühls" vom „Ichbewußt-
sein" sehr gut, oft ganz exakt unterscheiden. Erst wenn
das „I c h g e f ü h I" mangelt, bleibt das bloße, leere Ich-
bewußtsein allein bestehen; dieses bloße, leere Wissen,
daß man ein Ich hat, oder daß man ein „Ich" ist, ist
aber ein pathologischer Zustand, in dem wir schon die
Entfremdung und Depersonalisation erkennen. Die Be-
zeichnung „Ichbewußtsein" würde daher nur dann dem
Erlebnis des Ichs gerecht werden, wenn diese Art „Ent-
fremdung" der normale Zustand aller Menschen wäre.
Es ist auch unrichtig zu meinen, daß Bewußtsein und
Ichgefühl dasselbe seien, weil von vielen Autoren, zuerst
glaube ich von Jan et, das Bewußtwerden als das „Dem
Ich-Zugehörig-Werden" beschrieben und definiert wurde.
7 Älmanach ISaS 07
Wir wissen heute, daß die Ichzugehörigkeit bewußt oder
unbewußt werden, sein und bleiben kann; und auch vom
Ichgefühl lehrt uns die Pathologie, daß es tür vorher
bewußte Ichgebiete schwinden und wieder hergestellt wer-
den kann. Für jeden solchen Vorgang kaini diese Be-
wußtheit von eüiem „Ich g e f ü h l" begleitet seni oder
nicht. In letzterem Falle weiß man nur, daß das Er-
lebnis — eine somatische oder äußere Wirklichkeit, eine
Erinnermig, eine Reaktion auf Wirkliches oder Erinnerung,
eine bloße Affekterregung — in einem vorgeht oder vor-
gegangen Ist; aber für dieses Wissen besteht ein Fremd-
heitsgefühl oder, besser gesagt, es entsteht dafür ein
Entfremdungsgefühl. Daß das Wesentliche am „Ich e r-
lebnisse" eine Sensation imd nicht ein Denken oder
Wissen ist, wurde zuerst bei den pathologischen Störun-
gen des „Ichgefühls" bemerkt, und seitdem das Symptom
der Entfremdung bekannt wurde, heißt es immer Ent-
fremdungsgefühl, nie Enlfremdungs wissen oder Ent-
fremdungsbewußtheit
Das „I c h g e f ü h 1" ist also das Gesamlgefühl der
eigenen lebendigen Person ; es bleibt übrig, wenn alle
gedanklichen Inhalte fehlen, ein Zustand, der praktisch
nur für kürzeste Zeitspannen eintritt. Dieses Gesamlge-
fühl des „Ichs" vereinigt stets teils wechselnde, teils
gleichbleibende Bewußtseinsinhalte; dadurch bedingt das
jeweüige „Ichgefühl" auch das subjektive volle Erlebnis
der Ich-Bezogenheit auf den Akt. Ich halte es für richtiger,
von der „Ich-Bezogenheit auf einen Akt", als von der
„Ich-Bezogenheit eines Aktes" zu sprechen, wenigstens so-
weit es die Untersuchung des „Ichgefühls" betrifft. (Darin
hegt aber keine Polemik gegen Schilder, der andere
Ziele bei seiner Darstellung der „Ich-Bezogenheit" des
Aktes verfolgte.) Wenn wir die stets wechselnde Er-
streckung des „Ichgefühls" auf verschiedene Inhalte und
seine trotzdem stets bestehende Verneinung aller Ich-Be-
zogenheiten und Ich-Anteile zu einem Ganzen uns über-
legen, so kommen wir zu dem Schlüsse, daß das „Ich*'
I •
stets Ganzheits- und Teil-Erlebnis enthält und daß es stets
analytisch und synthetisch untersucht werden muß. Die
Existenz des „Ichgefühls" läßt die so verführerische Schei-
dung in Ganzheits- und Teilbetrachtung als irreführend
ablehnen. Auch die Psychoanalyse war stets sowohl Teil-
erfassung als auch Ganzerfassung. Meme Untersuchungen
über das „Ichgefühl" heben diese doppelte Richtung der
Psychoanalyse neuerdings hervor.
Der Theoretiker könnte nochmals die Frage einwenden,
oh nicht das hier als „Ichgefühl" Bezeichnete doch bloß
ein intellektuelles Erleben dessen sei, was gleichbleibt,
während stets wechselnde Erlebnisse, Bezogenheiten und
Reaktionen das Bewußtsein passieren: also doch nur ein
Wissen vom Ich, dessen Inhalt der Beachtung entgeht,
weil es eben das unverändert Gleiche ist. Diese Frage
wird ausschließlich durch die Beobachtung erledigt, daß
auch das reinste Wissen von dem eigenen „Ich" als etwas
Mangelhaftes, Peinliches, Unerfülltes und UnerfüUendes,
ja der Angst Nahes erlebt wird, daß also auch für das
reinste „Ich-Erlebnis" zur Herstellung der Normalität et-
was Gefühlsartiges hiuzugehört. Dieses Problem wird da-
von nicht tangiert, daß man etwa die Gefühle selbst als
Wahrnehmung von vegetativen Vorgängen bezeichnet und
solche Wahrnehmungen denen mit intellektuellem Inhalte
gleichsetzt (Behaviourismus). Denn wir gehen bei unserer
Untersuchung von der empirischen Tatsache aus, daß
zwischen intellektuellen und Gefühl scrlebnlssen ein Unter-
schied besteht.
So ist das „Ichgefühl" der einfachste und doch um-
fassendste Zustand, der vom eigenen Sein in der seienden
Person ausgelöst wird, auch wenn kein äußerer oder
innerer Reiz es trifft. FrciUch würde, wie gesagt, ein
dauernder Zustand von reinem „Ichgefühl" als Bewußt-
seinsinhalt nur ganz kurz bestehen können, denn der
Reize sind zu viele stets bereit, in das Bewußtsein zu
treten. So wollen wir wiederholend formuUeren; Mit dem
7* 99
Vam^i
Eigenbewußtsein ist auch ein Eigengefühl des „Ichs" ver-
bunden, welches wir kurz als „Ichgefühl" bezeichnen.
In meinen früheren Aufsätzen i) habe ich das „Ich-
gefühl" näher untersucht und für pathologische und nor-
male Fälle gezeigt, daß das somatische und das seelische
„Ichgefühl" sich sondern können, daß wir einen Kern
des „Ichgefühls", der dauernd bleibt, innerhalb der wech-
selnden Ausdehnung des Ichgefühls zu unterscheiden
haben, und insbesondere, daß wir genau empfinden, ob,
wie stark und wie weit die geistigen Vorgänge und unser
Körper von „Ichgefühl" besetzt sind; wir fühlen bei ihrem
Wechsel die „Grenzen" unseres Ichs. Wann immer ein
Eindruck uns trifft, sei er somalisch oder psychisch, so
trifft er in der Norm eine mit Ichgefühl besetzte Grenze
unseres „Ichs". Wird unser Ichgefühl an dieser
Grenze nicht hergestellt, so fühlen wir den
betreffenden Eindruck entfremdet. Wo aber
die Ichgefühlsgrenze nicht durch einen Eindruck in An- ||
Spruch genommen wird, ignorieren wir den Umfang des
Ichs. Wir können am „Ichgefühl", und zwar sowohl beim -
seelischen als auch beim körperlichen, seine Aktivität
oder seine Passivität angeben. Die Qualität des „Ich-
gefühls*' ist bei den verschiedenen Menschen auch davon ^
abhängig, welche speziellen Triebe ihre Person dauernd J
beherrschen oder jederzeit bereit sind, sich geltend zu i
machen. Wir haben ferner die Entdeckung NunbergsiB
bestätigt, daß alle Neurosen und Psychosen mit einem^
kürzer oder länger dauernden Zustand von Entfremdung
beginnen. Wir fanden auch, daß die Zurückziehung des
Ichgefühls von einer „Ichgrenze" als Abwehr seitens des *
Ichs auftreten kann; dieser Abwehrmechanismus kann
bestehen bleiben oder er kann den Verdrängungsvorgang
einleiten. Die Entwicklung des „Ichgefühls" — qualitativ
und quantitativ — begleitet die Entwicklung des Indi-
1) Variationen des „Ichgefühls". Int. Ztachr. f. PbA. XII, 1926. —
Narzii3raus im Ichgefüge. Ebd. XIII, 1927. — Das Ich als Subjekt und
Objekt im Narzißmus. Ebd. XV, 1929.
100
viduums, wobei sich die Stadien der Libidoentwicklung
auch in der Art des Ichgefiihls zeigen; es kann daher das
Ichgefühl in Qualität und Ausdehnung an frühere Stadien
fixiert bleiben oder auf frühere Stadien regredieren.
Die Hypothese nun, welche sich aus alldem für die
psychoanalytische Auflassung des ,,Ichgerühls" ergibt, ist
die, daß das „Ichgeführ^ die ursprüngliche narzißtische
Besetzung des „Ichs'' ist; sie ist als solche anfangs ob-
jektlos und wurde von mir als medialer Narziß-
mus bezeichnet. Erst viel später, nachdem objektlibidi-
nöse Besetzungen die Ichgrenze trafen, beziehungsweise
von ihr erfaßt und wieder verlassen wurden, entsteht der
reflexive Narzißmus. - -^
Diese Hypothese wird durch viele klinische Beobach- _
tungen gestützt. Ist sie richtig, so hat uns die Unter- 4
suchung des „Ichgefühls" eine Arbeitsmethode gegeben,
um Näheres über die Besetzungen mit narzißtischer Libido
und mittelbar auch über das Verhalten der Objeklbe-
setzungen zu ermitteln.
Der Traum nun ist ein Untersuchungsmaterial, das }
wohl bei gesunden Menschen so regelmäßig auftritt, daß j
man schwer entscheiden kann, ob man es der normalen 1
Psychologie oder der Psychopathologie zurechnen soll. .;
In bezug auf das „Ich" im Traume handelt es sich aber j
jedenfalls um einen gestörten Zustand. Daher reiht sich -
die vorliegende Untersuchung des „Ichgefühls" im Traume .;
folgerichtig an die klinische Untersuchung der Entfrem-
dung an. Ich werde daher zuerst die Beziehungen von ■
Entfremdung, Traum und Schlaf, hauptsächlich nach den ?
Angaben von entfremdeten Personen, besprechen und da-
ran anschließend erst unser eigentliches Thema, die Qua- •,
lität und Quantität des „Ichgefühls" während der Träume, ,^
darstellen.
n) Entfremdung und Traumzustand
Sehr viele Entfremdete sagen, daß sie die Wirklichkeit
wie im Traume sehen, oder gar, daß sie sich selbst wie
101
äe>
im Traume vorkommen. Diese Mitteilung ist überraschend
und verlangt eine besondere Erklürmig; sie wäre zu er^
warten gewesen, wenn wir träumend unserem Traume
gegenüber ein ähnliches Gefühl hätten, wie der Ent-
fremdete der Wirklichkeit gegenüber. Dem ist aber nicht
so. Der Träumer erlebt seinen Traum als Wirklichkeit;
das Überraschende, Abstruse, ja Unmögliche manches
Geträumten hindert nicht, daß in Widerspruch mit aller
im Traume erhalten gebliebenen Erfahrung, an den Traum
geglaubt wird, solange er abläuft. Der Entfremdete hin-
gegen muß sich zur Annahme der Wirkhchkcit seiner
Eindrücke geradezu zwingen. Verstand und Vernunft, Er-
innerung und das Schließen aus den Erinnerungen zwin-
gen ihn zur gedankenhaften Annahme dessen, wofür keine
Evidenz vorhanden ist. Im Traume hingegen mag die
verstandesmäßige Erfahrung allem widersprechen, trotx-
dem ist die Wirklichkeit des Geträumten (von bekannten
Ausnahmen abgesehen) immer evident.
Wir verstehen aber die Angabe des Entfremdeten, die
Welt sei „traumhaft", sobald wir beachten, daß sie nur
retrospektiv gemacht wird, soweit es sich nicht um schwer
Depersonalisiertc Iiandelt. Denn in der Erinnerung nach
dem Erwachen hat auch der Traum für jeden etwas Fremd-
artiges; dies bezieht sich auf seine Inkohärenz und
Fluchhgkeit, auf das Unlogische des Inhalts und auch
auf die Art, wie der Traum vorüberläuft; in der Erinne-
rung smd auch die Traumgeslallen meist schaltenhaft
gewichtslos, unwirklich. Die sekundäre Bearbeitung verl
bessert nicht nur die innere Logik des Traumes, sie ver-
ändert ihn meistens auch zu einem Vorgang, der eüier
wachen Erlebnisreihe eher gleicht. Träume ohne sekun-
dare Bearbeitung sind in der Erinnerung mehr fremd-
artig. Es kann wohl sein, daß gerade diese Fremdartig-
keit die sekundäre Bearbeitung herbeiführt. So kommen
wir 2U dem merkwürdigen Ergebnis, daß während des
Vor-sich-Gehens Traum und Entfremdung grundverschie-
den verlaufen und erst im zurückbleibenden Eindruck
102
Miri*B^krtdlBli6M
einander ähnlich werden. Die Träume waren, wenn wir
von ihrer Bedeutung als Weg zum Unbewußten und als
Forschungsgcgcnsland absehen und besondere persönlich
bedeutsame Träume ausnehmen, — ein Nichts, eine Serie
unwirklicher Bilder, die nun ganz vergangen ist, und von
der auch die Erinnerung von selber leer wird und ver-
blaßt. Auch für den Entfremdeten ist aber infolge seiner
Störung alles, was er entfremdet erlebt hat, gleichgültig;
es ist eine Vergangenheit, die nicht vergegenwärtigt wer-
den kann; vergegenwärtigt bleibt niu- die Erinnerungj
daß er seinen krankhaften Zustand gehabt hat. Schwer
Entfremdete sagen sogar, daß ihre Wirklichkeit weniger
lebendig sei als ihr Traum. Und das ist richtig, denn die
Entfremdeten träumen nicht anders als normale Menschen.
Eine weitere Analogie des Traumes mit der Entfrem-
dung besteht darin, daß der Träumer passiv vom Traume
sozusagen überfallen wird, und daß der Traum sodann
an dem passiven Träumer oder mit ihm abrollt. Der
Träumer fühlt sich auch insofern dem Traume gegenüber
passiv, als er — in der Regel — keines der Traumelemente
festhalten kann, um sie überlegend zu beurteilen, er kann
selten auf sie reagieren oder auf etwas zurückkommen;
denn der Traum bricht in fertigen Gebilden in das Be-
wußtsein, welches er jeweilig, und zwar nur in sehr ein-
geengtem Ausmaß, erweckt, um es sofort wieder ein-
schlafen zu lassen. Im Traume fehlt vor allem der Wille.
Scherner hat diesen Mangel der Zentralität des „Ichs"
und die Schwäche des Wülens in besondes plastischen
Worten in seinem Buche au vielen Stellen geschildert.
Auch der Entfremdete fühlt sich passiver gegenüber
dem Erlebten als der Gesunde. Er tut es aber aus ganz
anderen Gründen als der Träumer. Er wird nämlich
immer wieder auf das Beachten seines Zustandes abge-
lenkt, wird unaufmerksam und im Interesse gestört; er ist
also infolge seines Leidens aller Wirklichkeit gegenüber
apathisch und passiv.
103
■
Bis jetzt haben wir von bekannten Eigenheiten der
zum Vergleiche stehenden Zustände gesprochen. Wenn wir
nun unser Augenmerk auf das „Ichgefühl" richten, von
dem freilich die befragten Personen nicht von selber
sprechen, dann erfahren wir sofort etwas für Ijeidc Zu-
stände Gemeinsames: in beiden ist das „Ichgeffllil" man-
gelhaft. Das gilt besonders von dem schwer Depersonali-
sierfen, dessen „Ich" weder an seinen Grenzen noch
auch in seinem Kerne mit vollem „Ichgcfühl" besetzt ist.
Der Mensch fühlt dieses „Ich" nur partiell und mit ver-
ringerter Intensität und hat daher subjektiv an Gewicht,
an Wohlgefühl, an Geschlossenheit der Persönlichkeit ein-
gebüßt. Die Ich-Störungen sind im Traume und in der
Entfremdung, wie wir sehen werden, prinzipiell nicht die
gleichen. Wir haben ja schon darauf aufmerksam gemacht,
daß der Traum als wirklich erlebt wird und das Ent-
fremdete als unwirklich: im Traume ist daher die Ich-
grenze für das Geträumte mit Ichgefühl besetzt, in dem
Entfremdungssymptom die für das Erlebte nicht Gemein-
sam ist aber beiden, daß weder der wache Verstand den
Entfremdeten die UnwirkUchkeit des Erlebten, noch der,
allerdings partiell wache, Verstand den Träumer die Wirk-
lichkeit des Geträumten als Täuschung erkennen lassen
kann. Keiner von beiden kommt gegen die abnorme
Schwäche, resp. gegen die abnorme Stärke der „Ich-
grenze", das heißt ihrer Besetzung, auf. Auch die Ohn-
macht infolge des Defektes der Ichbesetzungen ist für beide
Zustände charakteristisch.
So haben wir Gründe gefunden, weshalb Entfremdete
ihre Zustände als „wie im Traume" bezeichnen. Der
wichtigste ist der letztbesprochene, die Erinnerung daran,
daß das Ichgefühl mangelhaft war. Diese Ichstörung ist
keine Bewußtseinsstörung, kein Schwindelgefühl, keine Un-
klarheit, Verdunklung oder Verschwommenheit, sondern
eme Unvollständigkeil des „Ichgefühls". Bevor wir ihre
Bedeutung suchen, wollen wir emige Beziehungen zwischen
Entfremdung und Schlaf besprechen.
104
1
IT
ni) Entfremdung — Einschlafen und Erwadien
Die klinische Beobachliing lehrt, daß die Entfremdungen
in ihrer Intensität und Ausdehnung bei den gleichen
Kranken zu verschiedenen Zeiten wechseln. Es gibt selten
Kranke, welche konstant über Entfremdung in gleichem
Ausmaße klagen. Meistens bringt auch bereits die Tat-
sache, daß sie mit dem Arzt sprechen, eine Verbesserung
ihres Zustandes mit sich; ihr Interesse, ihre Befriedigung
daran, den Arzt zu interessieren und sein Interesse zu
fühlen, bringen eine Steigerung der Besetzung der Ich-
grenzen mit sich, welche bei leichteren Fällen die Ent-
fremdung anscheinend aufhebt. Meistens berichten solche
Kranke, wenn sie bereits ihr Entfremdungsgefühl als
Symptom würdigen gelernt haben, wie seit der letzten
Untersuchung die Kurve der EntFremdungsgefühle resp.
der Ichfülle verlaufen sei. Patienten, die zum erstenmal
kommen — nämlich solche leichteren Grades — , spüren
in der Aufregung des ersten Besuches überhaupt keine
Entfremdung, erwähnen eine solche gar nicht spontan,
sondern müssen erst durch eine direkte Frage darauf auf-
merksam gemacht werden, daß auch diese Zustände den
Arzt etwas angehen. Immer wieder bestätigt sich die Er-
fahrung, daß solche Kranke gerade dadurch, daß der Arzt
auch von diesen subtilen Zuständen ihres ständigen Be-
findens etwas wissen will, daß er solche Entfremdungs-
zustände bei ihnen spontan vermutet, sofort volles Ver-
trauen zu ihm gewinnen. Die Kenntnis dieser Zustände
ist schon deswegen von praktischer Bedeutung für jeden
Arzt, nicht nur für den Psychoanalytiker.
Obgleich aber solche leichtere Fälle über ihre Ent-
fremdungszustände nur im Imperfektum oder Perfektum
berichten, besteht trotzdem eine Entfremdung auch wäh-
rend der günstigen Bedingungen der Unterredung mit dem
Arzte; der Patient hat nur bereits vergessen, daß er in
lang vergangenen gesunden Zeiten einen weit stärkeren
Kontakt mit der Welt und mit sich selbst gehabt hat,
einen Kontakt, der mit vollem Wohlgefühl verbunden war,
105
t..
<a—iMMi^»^^MM— BJpfciM I if ii|M , i
welches ihm heute nicht eüimal mehr zum Vergleiche
einfällt.
Die Stärke der Entfremdung hangt von vielen Bedin-
gungen ab, welche nicht bei allen Graden und Stadien
der Krankheitsfälle in derselben Richtung wirken. Es
gibt Fälle, die entfremdet werden, sol^ald sie allein ge-
lassen werden, oder wenn sie sich verlassen fühlen,
während die Gegenwart einer mit Libido besetzten Person
die Störung des lohgefühls aufhebt oder wenigstens so
vermindert, daß der Patient sich praktisch nicht entfremdet
fühlt. Diese Bedingung war es, welche so lange glauben
ließ, daß die Entfremdung in einer Zurückziehung der
Objektlibido bestehe. In anderen Fällen tritt Entfremdung
gerade dann ein, wenn der Kranke unter Menschen kommt
denen er Objektlibido zuwendet, in anderen Fällen gerade
dann, wenn er niemanden hat, für den er sich in der Ge-
sellschaft aktuell interessieren kann. Oft genügt anfangs
die Zuwendung von Objektlibido auf eine audere Person
um ihn vor Entfremdung zu schützen, bald aber erschöpft
sich die Fähigkeit, seine Ichgrenze mit Ichgefühl zu be-
setzen, und mit einem Schlage überfällt ihn das Gefühl
der Fremdheit und Unwirklichkeit der äußeren resp. der
inneren Wahrnehmung. Der Grad der Entfremdung häußt
in den meisten Füllen auch wesentlich von somatischen
Zuständen ab; insbesondere sind es Müdigkeit, Erschöj>.
fung, aber auch Anstrengung und Anspannung, welche
langsam oder schnell, allmählich oder plötzlich, dauernd
oder wechselnd, ansteigend oder abnehmend zur Ent-
fremdung führen oder beitragen. Daß plötzliche affektiv
betonte Erlebnisse, in welchen aus nur zum Teil bewußten
hauptsächlich aber unbewußten Gründen eine schwe^.^
Enttäuschung an einem Objekte und dadurch ein soge-
nannter Objektverlust erfolgte, traumatisch die Entfrem^
düng einsetzen lassen, hat zuerst Nunberg nachge^
wiesen. Theoretisch läßt sich die "Wirkung aller dieser
Bedingungen dadurch erklären, daß wir in ökonomische^.
Hinsicht zwei Umstände bei der libidinöscn Besetzung ^i
106
unterscheiden haben, nämlich erstens, ob das Ichgefühl
für die in Anspruch genommene Ichgrenze überhaupt ge-
nügend hergestellt werden kann, und zweitens, ob die
Reserve an Libido für die Aufrechterhaltung der Be-
setzung der Ichgrenze genügend groß ist. Die Schwere
der Entfremdung hängt daher nicht nur von der jeweilig
dynamisch wirkenden Hemmung der Besetzung ab, son-
dern auch von der ökonomisch wirkenden Größe des
Libidovorrats. Wir können diese für die Pathologie über-
haupt wichtige Unterscheidung so formulieren, daß wir
von einem Versiegen der Libido, im Gegensatz zum Zu-
rückziehen infolge von äußerer oder innerer Versagung,
sprechen.
Die Beobachtung lehrt weiter, daß bei chronisch Ent-
fremdeten die Besserung ihres Zustandes darin besteht,
daß sich ihr Ichgefühl — ceteris paribus — wieder ein-
stellt, daß aber die jedesmalige Herstellung einer ge-
nügenden Besetzung der Ichgrenze nur zögernd und lang-
sam erfolgen kann. Das ist der Grund, weshalb oft ganz
subtile Unterschiede der Ichstörung berichtet werden, je
nachdem, ob die jeweilige Umgebung solche Kranke be-
obachtet oder sie unbeobachtet läßt, ob sie ihnen mehr
oder weniger freimdlich gesinnt ist. Gerade von Kranken,
welche besser werden, werden solche Unterscheidungen
berichtet.
Analog lehrt uns die klinische Beobachtung, daß Ent-
fremdele, deren Zustand sich bereits gebessert hat, regel-
mäßig des Morgens nach dem Erwachen nicht so wie
der normale Mensch rasch ihr volles Ichgefühl wieder-
gewinnen und damit ihre normale Stellung zur Innen-
und Außenwelt, sojidern sich gerade nach dem Schlafe
noch entfremdet fühlen. Auch nicht Rekonvaleszenle zeigen
oft ihr Symptom des Morgens stärker als später am Tage,
soweit nicht die obenerwähnten Ursachen, z. B. Ermüdung
und Inanspruchnahme, eine Verschlechterung während
des Tages bedingen. In ihrer Tageskurve und ebenso in
der Reaklionskurve auf Ermüdung und Inanspruchnahme
107
verhalten sich also die Entfremdelen gleich wie die Me-
lancholiker. Diese morgendliche Verschlechterung hängt
nun mit dem Verhalten des Ichgefühls im Schlafe direkt
zusammen. Die morgendliche Exazerbation war nicht vor-
auszusehen. Nach unserer Erfahrung beim Gesunden war
zu erwarten, daß das Ichgefühl des Morgens, nachdem im
Schlafe die Libidoreserven wieder in Fülle erneuert wur-
den, wenigstens für einige Zeit Ichkern und Ichgrenzen
voll besetzen werde; je nach der Schwere des Falles und
der Inanspruchnahme würde dann im Laufe des Tages
die Ichstörung wieder auftreten. Die Erkrankung in der
Ökonomik der Libido sollte unserem Erwarten nach des
Morgens nach dem Schlafe nur fakultativ bestehen und
erst durch die Inanspruchnahme im Laufe des Tages
früher oder später in Aktualität treten. Diese zu erwar-
tende Kurve ist auch tatsächlich bei allen Entfremdeten,
deren Störung überhaupt Schwankungen zuläßt, vorhan-
den. Sie tritt nur des Morgens nicht sogleich in Gel-
tung, weil der Übergang aus dem Schlafzustand in den
wachen die einfache Abhängigkeit von der Größe der
Libidoreserven kompliziert. Beim Entfremdeten ist, wie
Wh- oben gesagt haben, die Verschieblichkeit oder, besser
gesagt, die Verschiebung der Libido, insofern sie die
Ichgrenzen zu besetzen hat, gestört. Die Besetzungen der
Objektivvorstellungen mit Objektlibido können dabei fast
störungslos vor sich gehen. Man ersieht das daraus, daß
trotz der Entfremdung die Patienten mit Interesse und
Genauigkeit arbeiten können, daß sie die Auswahl in
ihren Objektbeziehungen nicht aufgeben, allerdings nur
in gewissen Grenzen, soweit eben nicht auch eine Schwie-
rigkeit besteht, die Objektbesetzungen aufrechtzuerhalten.
Diese letztere Schwierigkeit kann sowohl sekundär aut-
treten als auch, wie Nunberg gefunden hat, den An-
stoß zum Auftreten der Entfremdung gegeben haben. Auch
m diesem Falle kann aber die Objeklbesetzung fortbe-
stehen; ja eben, weil sie fortdauert, während die dazu^
gehörige Ichgrenze, das ist die vom Objekte angeregte, be~
108
sondere narzißtische Besetzung des sich dem Objekte zu-
wendenden Teiles des Ichs, fehlt, erweckt eben dieses
Objekt ein besonderes Entfremdungsgefühl dem Ich ge-
genüber. Was man „Objektverlust" nannte, besteht eben in
dem Verlust der Fähigkeit, ein vorhandenes Objekt, ge-
nauer die nicht aufgegebene Objektbesetzung, mit vollem
Ichgefühl, und in diesem Falle die narzißtische Freude, wie
zuvor zu empfinden. Daß es sich so verhält, davon habe ich
die volle Überzeugung an einem Falle von pathologi-
scher Trauer gewonnen: Nach dem Tode der Mutter
waren alle Beziehungen, Gegenstände, Erinnerungen, die
irgendwie mit der Mutter zusammenhingen, besonders
stark mit Objektlibido besetzt. Immer neue, oft kleinste
Vorkommnisse aus der Vergangenheit fielen der Patientin
ein, alles zur Mutter Gehörige hatte höchste Bedeutung
gewonnen. Die Patientin war bei Tag und Nacht schlaflos
geworden infolge der einströmenden, zum Mutterkomplex
gehörigen Gedankengänge und Einfälle. Alle diese Objekt-
vorstellungen waren dem Inhalte nach lebhaft und dem
Affekte nach tief traurig. Gleichzeitig aber bestand für
dieses intensive Wiederholen aller vergangenen Objektr
beziehungen zur Mutter eine völlige Entfremdung, die
sich sowohl auf die gedanklichen Inhalte als auch auf den
Affekt der Trauer selbst erstreckt. „Ich habe die Trauer
und fühle sie nicht." Die Trauer zeigte sich im Gesichts-
ausdruck und ihren somatischen Folgen, die Patientin
aber klagte immer wieder darüber, daß sie doch ihre
Trauer nicht „wirklich" fühle, eine Behauptung, die für
den unkundigen Beobachter, der ich damals war, ihrem
ganzen Sein und . Erscheinen ständig widersprach. Erst
Jahre später ließ mich ein ähnlicher Fall den Sach-
verhalt verstehen, der darin besteht, daß von den Objekt-
besetzungen das Leid des Verlustes erweckt wurde, die
dazugehörige Ichgrenze 2) aber gefühllos, gleichsam abge-
2) über das Versiegen der Libido bei Melancholie siehe Federn:
Die Wirklichkeit des Todestriebs. Almanach der Psychoanalyse 1931.
109
stürben war. Wir müssen deshalb die „pathologi-
sche Trauer" und ebenso die Melancholie nicht nur
ihrer Genese nach, nicht nur ihrem Wesen als unbewußter
Identifizierung nach, sondern auch nach ihrem libidi-
nösen Mechanismus als narzißtische Psychose
bezeichnen. Wenn ich alle Fälle von pathologischer Trauer
und Melancholie aus der analytischen Erfahrung mir
zurückrufe, hat bei keinem die paradoxe Klage gefehlt,
daß der Kranke nur Leid und auch das nicht wirklich
empfinde.
Ich habe dieses abseits liegende Gebiet hier genauer
behandelt, weil es für die Überzeugung des Lesers wichtig
ist, den Gegensatz zwischen den Objektbesetzungen und
der narzißtischen Besetzung der dazugehörigen Ichgrenzen
als einen tatsächlichen zu erkennen. Zwischen dem ge^
Sunden und dem erkrankten Mechanismus der narzißr-
tischen Besetzmig der Ichgrenzen zeigt sich der Untere ^_
schied besonders des Morgens in der Wiederherstellung »
des Ichs nach dem Schlafe. An diesem Mechanismus liegt
es, daß der Entfremdete und der Melancholische sich
jeden Morgen neuerdings mehr gestört, mehr krank fühlt.
Die Erschwerung des Mechanismus der Besetzung der
Ichgrenze ist sicher ein Grund, weshalb die Erholung
durch den Schlaf nicht sofort eine Besserung des Ich-
gefühls eintreten läßt. Beim Melancholiker müssen noch
andere Momente schädigend hinzutreten, denn bei ihm
tritt erst am Abend die relative Erleichterung ein. Die
Untersuchung dieser Momente bei der Melancholie gehört
nicht hierher. Für die Entfremdung scheint mir vor-
läufig das physiologische Geschehen im Schlafe als Er-
klärimg der Morgenexazerbation zu genügen. AUerdhigs
habe ich noch nicht ein spezielles Interesse der Frage zu-
gewendet, ob nicht der Schlafvorgang selber bei den
narzißtischen Psychosen emer besonderen Störung unter-
liegt-
Eines ist fraglos richtig: Im vollen Schlafe erlischt das
Ichgefühl; darüber habe ich in meiner ersten Arbeit ge-
110
>t
I*
nauer berichtet. Zuerst habe ich die Existenz des Ich-
gefühls beini Einschlafen erkajuit, also nicht in statu
nascendi, sondern in statu exeundi Beim raschen Ein-
schlafen erlischt es plötzlich; auch die Narkolepsie geht
mit solchem plötzlichen Erlöschen des Ichgefühls einher;
beim gestörten Einschlafen erlöscht es nur zum Teile
und allmählich. Ja, es erleichtert sogar das Einschlafen,
wenn man lernt, das Ichgefühl möglichst vom Körper ab-
zuziehen und es bei der Atmung allein zu belassen; den
Jogas ist ein solches absichtliches Abziehen des Ich-
gefühls wohlbekannt. Es soll aber nur im Einklang mit
der autonomen Periodizität von Schlaf und Wachen,
welche an sich schon das Versiegen der Ichbesetzung vor-
bereitet, angewendet werden. Erzwingt man das Einschla-
fen entgegen der Periodizität, so wird der Schlaf selbst
ZU einer Anstrengung und man wacht eher ermüdet und
nicht neu gestärkt auf.
Solange ein Schläfer nicht träumt, fühlt er nicht sein
Ich. Ob ein unbewußtes Ich fortbesteht, ob die „Tiefen-
person" einem solchen oder dem „Es" entspricht, sind
derzeit noch müßige Fragen. Daß im Unbewußten auch
während des traumlosen Schlafes viele seelische, ja geistige,
vernünftige und verständige Ordnung und Gestaltung ge-
schieht, ist anzunehmen. Freud hat das Unbewußte mit
den Heinzelmännchen verglichen, und diese schaffen, wenn
der Mensch schläft. So viel wir aber wissen, sind all
diese unbewußten Leistungen des Schlafes zwar biolo-
gisch durch die Körpereinheit zentriert, aber nicht psy-
chologisch durch die Einheit des Ichs. Der Satz Freuds,
daß der Schlaf ein narzißtischer Zustand ist, zielt daher
auf unbewußte Besetzungen narzißtischer Art, welche,
wenn überhaupt einer Einheit, gewiß nicht dem im Wa-
chen bestehenden Ich angehören. Aber vielleicht wollte
Freud nur in extremer Art ausdrücken, daß die Objekl-
besetzungen mit dem Verschluß der Sinnespforten un-
verhältnismäßig mehr als je im Wachen zurückgezogen
■ werden. Die Zurückziehung der Objektbesetzungen ermög-
in
wmt u ^i
licht es, daß narzißtische Besetzungen zu Objektbesetzunr
gen werden, wenn im Traume die eigene Person völlig
in andere Traurapersonen projiziert wird. Hier, wo wir
im Ichgefühl die manifeste Äußerung des Narzißmus be-
sprechen, müssen wir vom traumlosen Schlaf feststellen,
daß diese narzißtische Besetzung des Ichs fehlt.
Mit dem Verlust des Bewußtseins heim Einschlafen
hören also die Ichlibido im Ich und alles Ichgefühl auf;
es ist kaum mehr als Geschmackssache, ob man sagt, die
Ichlibido versiege, schlafe, sei in das „Es" zurückgezogen
oder sei auf die Einzelfunklionen verteilt. Aber diese
narzißtische Besetzung ist stets bereit, wiederzukehren.
Das zeigt sich darin, daß, von ganz pathologischen Zu-
ständen abgesehen, jeder Weckreiz das Ichgefühl sofort
wieder herstellt. Man begreift dies besser, wenn man sich
erinnert, daß im Ichgefühl die ursprünglichste Sensation
der lebenden Substanz phylogenetisch und ontogenetiscb
fortdauert 3) und sein Aufhören wohl als unmittelbarer
Ausdruck des Zellschlafes aufzufassen ist. Soweit spricht
die Naturwissenschaft. Die Mystik hingegen läßt im Schlafe
die Seele den Körper verlassen und beim Erwachen in
ihn zurückkehren; dabei nimmt die Seele alle ihre Er-
fahrungen mit sich und soll im Traume nicht im Körper
weilen, sondern dort, wohin der Traum sie bringt; diese
Theorie ist der Ausdruck dafür, daß das Ichgefühl -^
Traume zumeist ein rein geistiges Ichgefühl ist. fbi
Beim Erwachen aus dem Sclilafe tritt sofort das l^\
gefühl auf, beim Erwachen aus einem Traume nur g^^s-
nahmsweise in Zusammenhang mit dem Ichgefühl im be-
treffenden Traume. Beim Gesunden ist das neucrwaehte
Ichgefühl lebhaft und vollständig und erfüllt Körper xxM
Geist mit Behagen und Frische. Sofort ist auch die scum
Ich gehörige Sicherheit des zeillichen Zusammenhangs
mit Vergangenheit und Zukunft des Ichs wiedergegeben
3) Federn: Das Ich als Subjekt und Objekt im Naraißmua. i^^
Ztschr. f. PbA. ZV, 1929. ^
U2
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~^
Anders bei vielen Neurolikern. Gerade sie fühlen sich
morgens unzulänglich; das gilt von den meisten Phobi-
kern, von den Prämelaiicho tischen (so nenne ich die jahre-
lang der Melancholie vorausgehenden täglichen Verstim-
mungen) und, wie oben gesagt, von den Entfremdeten,
Würde man bei allen jenen, die über den schlechten Be-
ginn ihres Tages klagen, nach Entfremduugssymptomeu
fragen, so würde man sie vielleicht sogar regelmäßig
fmden. Freilich gibt sie der Kranke nicht von selber an
weil Bett und Schlafzimmer ihm seine Festung sind, von
der die Anfordermigen des Tages und der Objektbezie-
hungen ferne bleiben. Die Entfremdung wird ja erst bei
der Zuwendung zum Objekte voll bemerkbar. Aber all-
mählich stellt sich das gestörte Ichgefühl voll her; es wäre
interessant zu untersuchen, wie viele Störungen bei den
tagtäglichen Gewohnheiten des Anziehens mit solchen
Ichslörungen zusammenhängen.
Wie sehr ein schwerer Fall von Entfremdung des Mor-
gens gestört sein kann, dafür will ich als Beispiel ednen
Fall anführen, der durch jahrelange Analyse wesentlich
' gebessert wurde. Seine Schwester ist zur schweren Ka-
tatonie vorgeschritten. Auch er hatte Symptome, die über
die Entfremdung hinausgingen, und alle halben Jahrei
kamen vorübergehende Verschlechlerungen vor, die nur
wcnige Tage dauerten, mit Unsicherheit der Orientie-
. rung, mit hypochondrischen Körpersensationen und schwe-
rer Angst, die einer akuten, wenn auch leichten kala-
tonen Störung entsprechen. Dieser sehr intelligente Pa-
tient versteht die Nuancen der Ichbesetzung und das
Problem der Entfremdung aus eigenen Erfahrungen so
-* gut, daß er die präzisesten Auskünfte über sein Befinden
geben kann. Er unterscheidet genau die Entfremdung für
Sinneswahrnehmung, für Affekt und Denken, imd gibt
an, daß er heute diese seine ihm und mir wohlbekannten
Störungen nicht mehr hat, daß aber seme gesamte Ich-
intensität noch immer herabgesetzt sei, und zwar beson-
ders nach dem Erwachen. Lange dauere es, bis sich das
8 Almanach 1988 113
volle Ichgefühl herstelle - er fühle, daß das mit seiner
sexuellen Potenz zusammenhänge — manches Mal sei
es besser, dann habe er wie in gesunden Jahren die mor-
gendliche sexuelle Erregung und die gesamte Frische.
Gewöhnlich aber sei dieses normale libidinöse Gefühl er-
setzt durch eine Mischung von leichter Angst und lüster-
nem Schauder, das er im ganzen Körper spüre, mid das
kein normales Körper-Ichgciühl aufkommen lasse. Es ist
eine Regression des Ichgefülüs auf eine frühere maso-
chistische Stufe; erst allmählich beruhigt sich dieses son-
derbare Gefühl und macht dem für ihn normalen Zustand
emes mäßig herabgesetzten Ichgefühls Platz. Alle schwer
Entfremdeten geben sonderbare Schilderungen, wie sie
des Morgens zu ihrem Ich kommen; sie sind und fühlen
sich seltsam, bis sie soweit sie selber werden, als es
ihnen eben die Störung der Ökonomie und Verschieblich-
keit ihrer Ichlibido gestattet. Wir wollen hier noch er-
wähnen, daß meistens eine solche morgendliche Störung
des Ichgefühls auch die Wiederherstellung der WUlens-
funktion des Morgens langsamer erfolgen läßt.
So haben wir bis jetzt zum Teil besprochen, zum Teil
nur angedeutet, welche Beziehungen zwischen Entfrem-
dung, Traum und Schlaf in subjektiver und objektiver
Hinsicht bestehen. Ich selbst habe mich aber aus einem
anderen Grunde diesem Probleme zugewandt und mehr
aus didaktischen Gründen die Besprechung dieser Be-
ziehungen vorausgesandt; sie sollten mir die Gelegenheit
geben, den Leser für den Unterschied von narzißtischer
und Objektbesetzung, für das Phänomen des Ichgefühls,
für die Wandelbarkeit der Ichgrenze neuerdings zu inter-
essieren, damit er dem eigentUchen Thema „Das Ichgefühl
im Traume" freundlicheres Interesse zuwende. Mir wurde
dieses Thema wichtig, weil es die Unterscheidung des
seelischen und des körperlichen Ichgefühls auf einem an-
deren Wege der Selbstbeobachtung nachweisen läßt.
114
IV) Das Idigefühl im Traume
Wenn man Träume erzählen hört, sie liesl oder seine
eigenen sich zurückruft, so unterliegen sie der sekundären.
Bearbeitung nicht nur ihrem Inhalte nach, sondern auch
in Bezug auf die Art des Traumgeschehens. Es ist fast
unmöglichj sich ihrer ganz exakt zu erinnern. Unwill-
kürlich neigt man dazu, dem Geschehen im Traume als
eine wache, geeinte, volle Person gefolgt und es mit
ganzem Sein erlebt zu haben. Wir glauben das um so
mehr, je mehr wir im Traume selbst etwas getan oder
gesehen haben.
Haben wir angefangen, dem Ichgefühl Beachtung zu
schenken und fragen wir uns selbst oder einen Träumer
nach dem Erwachen, wie das Ichgefühl im Traume war,
so erfahren wir zunächst, daß immer ein Ichbewußtsein
da war, und zwar das richtige Ichbewußtsein. Stets ist
der Träumer mit der wachen Person identisch und hat
auch das sichere Wissen davon. Das ermöglicht ja auch
dem Traume, Teile des Ichs in andere Personen proji-
ziert zur Darstellung zu bringen. Das Traum-Ich selbst
bleibt stets das eigene Ich, auch mit dem Bewußtsein der
Kontinuität, resp. der wiederherstellbaren Kontinuität der
eigenen Seeleuvorgänge.
Dieses Traum-Ich unterscheidet sich aber in der Mehr-
zahl der Träume und in dem größeren Traumleil aller
Träume von dem wachen Ich dadurch, daß nur von den
geistigen Vorgängen ein Eigengefühl besteht, während der
Körper im Traum-Ich gleichsam ignoriert wird. Im Wa-
chen sind das geistige Ichgefühl und das körperliche Ich-
gefühl nicht leicht zu trennen, weil beide so selbstver-
ständlich dauernd dem Ich zu eigen sind. Für den Traum
zeigt sich aber der rückblickenden Erinnerung ganz deut-
lich, daß diese beiden Ichgefühle völlig unterscheidbar
sind.
Wemigleich alles Gelräumte als völlig wirklich erlebt
wird, so fühlen wir ims trotzdem dabei — wie gesagt, in
«• ■ • 115
1.
der großen Mehrzahl aller Träume — nicht auch kör-
perhch, wir fühlen nicht unseren Körper mit seinem Ge-
wicht und seiner Gestaltetheit, wir hahen nicht das Kör-
pergefülü mit seinen Ichgrenzen, wie in der Norm des
Wachseins. Es besieht aber auch kein Gefühl für den
Mangel des Körper-Ichs, das im Wachen bei so minimaler
Ichbesetzung eüitreten würde. Das Körper-Ichgefühl wird
; nicht entbehrt. Der Grund dafür ist, daß nur das Auf-
hören einer Besetzung der Ichgrenze, obgleich sie ge-
braucht wurde, — so beim geistigen Ichgefühl — oder
wo sie ständig besteht, — so beim körperlichen Ichge-
fühl — als befremdend empfunden wird. Ich erwähnte ja
oben, daß selbst der an Entfremdung Kranke schon im
Schutz seines Bettes von seiner Entfremdung nichts zu
wissen braucht. Das Träumen aber ist nur ein sehr par-
tielles Erwachen aus dem Zustand der Ichlosigkeit. Die un-
bewußten mid vorbewußten seelischen Vorgänge, welche
zum manifesten Trauniinhalle werden, wecken das Ich
dort, wo sie seine Ichgrenzen treffen: so kommt es immer,
zu einer Neubesetzung mit Ichgefühl und es gibt keine
:- verlassene Ichgrenze, solange ein Traumbild sie braucht.
Daß der Traum vorübereilt und nicht zurückgeholt und
nicht überdacht werden kann, kommt davon, daß die
narzißtische Besetzung der geistigen Ichgrenzen jeweilig
wieder aufhört, sobald ein Bild der Traumszene ablief
und ein neues erscheint.
Davon gibt es Ausnahmen. Es kann eine Szene auch
längere Dauer bekommen; der Träumer kaini sich auf
eine frühere Szene sogar besinnen. Es ist ein besonderes"
Problem, waim diese beiden Ausnahmen eintreten. Wenn
der ganze Traum in gleichsam erstarrten Bildern und sein:
langsam abläuft, so ist das ein pathologischer Schlaf-
zustand schwerer Übermüdung, analog wie einer er-
•" müdeten Retina die Aufnahmsfähigkeit für ein neues Bild
langsamer sich hersteUt und das frühere Bild länger be-
' stehen bleibt. Beim normalen Träumer hat das Traum-
bewußtsein eine ebenso schnelle Wiederherstellmigskraft
116
zur Aufnahme eines neuen Bildes, wie sie die gesunde
Retina hat.
Mit diesem wechselnd begrenzten geistigen Ich begnügt
sich gewöhnlich der Traumzusland. Nur ausnahmsweise in
bestimmten Fällen existiert auch ein Körper-Ichgefühl.
Auf die geistige Ichgrenze trifft das Traumgebilde das
Bewußtsein weckend. Weil es als Objektbeselzung von
außen die geistige Ichgrenze trifft, wird es als wirklich
gefühlt, trotz eventuell widersprechender Realitätsprüfung.
Wir wissen im Traum die Wirklichkeit des Geschehens,
wir empfinden sie geistig, wir sehen sie ausnahmsweise
sogar lebhaft und selbst überlebhaft, wir sehen sie als
wirkUch, es muß daher auch die visuelle Ichgrenze mehr
oder weniger geweckt sein, — aber wir fühlen uns selbst
dabei nicht körperlich unter Körpern. Die Körperlosigkeit
des Träumers ist das, worauf ich in diesem Aufsätze das
spezielle Augenmerk lenken will.
Nach dem Erwachen aus solch einem körperlosen Träu-
men kann die Erinnerung nicht angeben, wo und wie man
in einer Traumszene sich körperlich gefühlt hat, ob man
gesessen oder gestanden hat, wohin der Blick gewendet
war, oder gar welche Haltung man eingenommen hat.
Dabei kann die Traumszene so gut geordnet sein, daß
man sie aufzeichnen kann. Andere Träume freilich lassen
auch die Personen und Bilder der Traumszene nur teil-
weise erinnern. Und wenn in einem Traume das Ge-
schehen, z. B. das Aufsuchen eines Gegen.standes in einem
Geschäftsladen, das Begegnen mit mehreren Personen, die
Jagd nach einem Menschen direkt erfordert, daß der
Träumer selbst jeweilig an einer bestimmten Stelle sehi
mußte, ist er trotzdem nur als schauende« geistiges Ich^j
auch als bewegtes schauendes geistiges Ich da, — ohne
körperliches Ichgefühl und ohne Körperbewußtheit. Dieses
war nicht aus dem Schlafzustand der Uubesetztheit auf-
gewacht. Der Traum hat sich für den Körper des Träu-
menden nicht interessiert, der Traum weckt also nicht
mehr als nötig, und hierin zeigt sich eine Präzision viel-
117
leicht der Traumfunktion, vielleicht der Traumarbeit.
Jedenfalls muß eine Disgregation der Ichfunktionen im
Schlaf eingetreten sein, die solches partielle Erwachen
des Ichs gestattet. Daß die Traumarbeit auswählend und
verdichtend mit dem Traunimalerial arbeitet, wird also
ergänzt dadurch, daß sie auch selektiv und konzentrierend
auf die Ichgrenzen wirkt. Wir ruhen im Schlafe nicht nur
von den Tagesreizen und von den Ichreaktionen aus, wir
lassen auch das Ich selbst ausruhen. Und wenn unerledigte
Reaktionen, Wünsche, Reize den Schlaf stören, so schützt
ihn der Traum auch dadurch, daß er nur ein partielies
Erwachen der Bewußtseinsfunktionen und der Ichbe-
setzungen gestattet.
Der Kern des Ichgefühls, der sich an die Labyrinth-
funktionen und an die Orientiertheit des Ichs im Räume
knüpft, muß nur so weit geweckt sein, daß die Traum-
szenen im Räume richtig (nach der Schwerkraft, d. h.
nach oben und unten) orientiert erscheinen. Wahrschein-
lich gibt es überhaupt kein geistiges Ichgefühl ohne diesen
Kern; denn nie fühlt sich das gesunde Ich im Räume un-
orientiert. Um aber möglichst wenig vom Ichgofühl des
Ichkernes zu brauchen, erwacht das Körper-Ichgcfühl so
wenig und selten als möglich. Auch für den Ichkern gibt
es merkwürdige Ausnahmen im Traumerleben, z. B. eine
plötzhche Umkehrung der gesamten Traumumwelt, Aus-
nahmen, die, wie wir wissen, als Darstellungsmittel für
besondere typische Erlebnisse verwendet werden.
Diese Sparsamkeit der Ichbesetzung im Traume ist so
sehr geregelt, daß es sogar Bewegungsträume gibt^ in
denen das Körper-Ichgcfühl fehlt. Wir alle würden anneh-
men, daß ein so stark körperliches Traumerlebnis wie
das Fliegen und Schweben mit einem starken, vollen
Körper-Ichgefühl einhergehen muß. Aber auch dies stimmt
nicht. Ich will an diesem so gut bekannten und wohlver-
standenen typischen Traume die Unterschiede in der Be-
setzung mit Ichgefühl deutlich zeigen.
118
Daß der Träumer im Fliegen sich selbst als ganzen
Körper iühlt, kommt oft vor, besonders wenn ein Exhibi-
lionswunsch, ein Sich-Zeigen-WoUen damit verbunden ist.
Aber selbst bei exhibitionistischen Fliegeträumen, wie
auch bei anderen Exhibitionsträumen ist das Körper-Ich
nur selten ein vollständiges. Das Ichgefühl kann nur für
den Oberleib oder für die Arme oder für die untere Kör-
perhäifte deutlich sein, der Rest des Körpers ist ganz
ohne Besetzung oder nur vage im Bewußtsein und im
Gefühl. Gerade bei diesen Träumen ist aber mitunter das
Ichgefühl sogar peinlich als mangelhaft bewußt. So bei
den Schwebeträumen auf Stiegen, welchen das Gefühl
für Brust und Arme geradezu unangenehm fehlen kann.
Wenn aber, wie so oft, das Fliegen so geträumt wird,
daß man sich in einer Flugmaschlne befindet, so fehlt in
der Regel jedes Körper-Ichgefühl. Der Träumer erinnert
sich an die Flugrichtung und an die Flugstrecke, auch an
den Apparat; aber von diesem Apparat hat er während
des Fliegens keinen genauen Eindruck bekommen; seiner
Situation und seines Körpers in dem Apparate war er
sich nicht bewußt. Noch mehr überrascht, daß nicht nur
bei dieser so stark verschobenen, symbolisierten Dar-
stellung des sexuellen Vorganges, sondern sogar bei direk-
ten sexuellen Träumen das Körpergefühl ganz mangel-
haft sein kann; oft ist es nur auf die Geschlechtsorgane
beschränkt, oft ist nur die spezifische Lustempfindung ohne
jedes Körper-Icbgefühl vorhanden.
Das geistige Ichgefühl, welches also die im Traume
regelmäßig vorhandene Ichbesetzung ist, hat unverhält-
nismäßig häufiger einen passiven Charakter als einen
aktiven. Bei aktivem geistigen Ichgefühl ist meist auch
ein körperliches Ichgefühl vorhanden. Eine besondere
Art von Träumen sind solche mit dem aktiven geistigen
Ichgefühl des Schauens, welches ein körperliches Ich-
gefühl für die Augen einschließt, während vom übrigen
Körper kein Gefühl vorhanden ist.
In einer Minderzahl von Träumen ist aber auch ein
119
körperliches Ichgefühl vorhanden, sei es während des
ganzen Traumes, sei es nur in einzelnen Teilen des Trau-
mes. Der Unterschied zwischen den Teilen, in welchen
das Körper-Ichgefühl auftritt, und denen, in welchen es
fehlt, ist ein ganz scharfer. Wer einmal darauf aufmerk-
• sam gemacht wurde, kann meist bestimmt angehen, bei
welchen Traumszenen er ein Körper-Ichgcl'ühl gehabt hat.
— - Das Körper-Ichgefühl kann sehr lebhaft und betont sein
oder nur etwas Selbstverständliches oder aber es wind
ausdrückUch als vage und undeutlich angegeben. Den ex-
tremsten Fall eines besonders lebhaften Körper-Ichge-
fühls eigenartiger Qualität berichtete mir ein Patient,
der seit seiner Kindheit typische Träume mit Nacht-
wandeln hat.
Er erzählt, daß er sich mühsam aus dem Schlafe er-
hebt, um jemanden oder etwas zu retten. Er muß der
Gefahr zuvoricommen. Sie besteht immer darin, daß
etwas herunterfallen und die gefährdete Person oder
den gefährdeten Gegenstand treffen wird. Der Schläfer
steht uniter der seelischen Verpfliiclilung auf, helfend
der Gefahr vorbeugen zu »allen. Es ist also edixe
vom Über-Ich befohlene Traumhandlung. Das Auf-
stehen geschieht schwer, der Träumer hat ein Gefühl
wie Angst oder Bedrückung darüber, dali er aufstehen
muß; er fühlt diese Bedrücktheit wie bei einem Alptraum.
Während aber im Alptraum das Schwergefühl aus der
Brust auf den Alp, der auf der Brust lastet, projizieirt
wird, bleibt es bei unserem Somnambulen im Köi-per
fühlbar als Schwierigkeit, ihn zu heben, als Gefühl des
Gewichtes des Körpers, der erhoben werden soll. Also
■ als Last und Erschwernis des Aufstehens und dc(S sich
anschließenden Gehens; es bleibt dem Ich des Träumers
- zugehörig. Während des ganzen Gehens ist das körper-
liche Ich-gefühl ungewöhnlich stark.
Dieser Art von Schlafwandelträumen — ich weiß nicht,
wie weit sie typisch sind — sind die Hcmmungsträumo
in einer bestimmten Beziehung entgegengesetzt. Beim Hem-
120
mungstraum wird eine Bewegung intendiert, aber im
letzten Moment aufgehalten. In diesem letzten Momente
vor dem Erwachen tritt ein starkes körperliches Ich-
gefühl in dem gehemmten Gliede bezw. in den ge-
hemmten Gliedern ein. Aber dieses Körper-Ichgefühl im
gehemmten Gliede unterscheidet sich von dem normalen
Körper-Ichgefühl nicht nur durch seine Intensität, sondern
auch dadurch) daß das so mit Ichgefühl besetzte Organ
außerhalb des Ichs gefühlt wird. So wie im Wachen — _
beim Normalen, nicht beim Hypochonder — ein starker
körperlicher Schmerz als von außen das Ich treffend
gefühlt wird, obgleich man weiß, daß das schmer-
zende Organ zum Körper gehört, so wird auch im
Hemmungslraum die peinliche Unbewegbarkeit und Starre
des gehemmten Gliedes als von außen das Ich treffend
gefühlt. Erst nach dem Erwachen kehrt das Gefühl der
Herrschaft über das Organ und das Gefühl seines Be-
sitzes dem Ich zurück.
Im Nachtwandeltraume hingegen gehört das Gefühl der
Körperschwere dem Ich an. Beiden typischen Träumen
gemeinsam ist, daß ein Gegensatz zwischen Über-Ich mid
Ich in ihnen zum Ausdruck kommt. Beim Hemmungstraum
will das Ich etwas tun, der vom Es ausgehende Wunsch
wird vom Willen des Ichs ausgeführt und die körper-
liche Bewegung würde beginnen, wenn nicht auf Geheiß
des erwachenden Ober-Ichs das Ich die Ausführung des
Wunsches und des eigenen Wollens hemmen müßte. Zu-
letzt hemmt der Gegenwille den vorausgegangenen Wil-
lensakl. Beim somnambulen Traum hingegen wird vom
Über-Ich aus der Wille des Ichs zu einer positiven Hand-
lung angeregt, die dem Ich schwer fällt. Der Hemmungs-
traum drückt also aus: „Ich darf nicht", der som-
nambule Traum drückt aus: „Ich soll" etwas tun.
Bei meinem somnambulen Patienten war noch eine
andere merkwürdige Doppelrichtung im Ich während des
ganzen Vorganges des Nachtwandeins dem Träumer deul-
121
lieh bemerkbar und erinnerlich. Während der ganzen
Handlung bestand ein Gegenwille, der dem Ausstehen
widerstrebt mid die Bewegung verlangsamt und erschwert.
Dieser Gcgenwille entstammt aber nicht wie beim Hem-
mungstraum dem Über-Ich, sondern einem Teile des
Ichs. Die schon erwähnte Bedrücktheit durch die Auf-
gabe wurde während des Träumens auch dauernd ratio-
nalisiert durch den „vernünftigen" Gedanken: „Du schläfst
und träumst, warte bis morgen früh, ob nicht die Gefahr
morgen beseitigt werden kann oder am Ende gar nicht
besteht." Es ist wie eine Teilung des Ichs. Ein Teil des
Ichs ist dem wachen Denken ganz nahe, während der an-
dere Teil so tief schläft, daß es Bewegungen vornimmt,
ohne zu erwachen. Daß dieser Schlaf sehr tief sein muß,
damit eine solche Teilung entstehen könne, ergibt sich
aus dem Gefühl beim Aufwachen, wenn dieses durch
äußeren Anruf, mitunter auch infolge eigenen Entschlus-
ses, das Nachtwandeln unterbricht; es erfolgt immer wie
ein Emporreißen aus tiel'sler Schlaftiefe. Es ist eine un-
zureichende Erklärung, daß eine solche besondere Schlaf-
tiefe, also das „Ein-Guler-Schläfer-Sein", die Möglichkeit
solcher komplizierter Muskeltätigkeit im Schlafe an und
für sich schon begründet. Wir wissen auch, daß die Tiefe
des Schlafes hergeslelll werden kann, um eben die gegen-
sätzlichen Wünsche und Willensrichtungen ausdrücken zu
können. Jedes Schlafwandeln ist ein Gehen vom Bette und
eine Rückkehr zum Bette. Der Kompromißcharakter dieses
Traumes zeigt sich sogar in der Kurve des Gehens. Ich
•werde aber über den somnambulen Traum an anderer
Stelle berichten, hierher gehört er nur insoferne, als ich
bisher in ihm den Traum mit stärkstem Körper-Ichgefühl,
und zwar mit dem eines lastenden Körper-Ichs, eines
Widerstandes, der vom Körper-Ich ausgeht, gefunden
habe. Er zeigt uns auch eine Ausnahme von der Regel,
daß bei aktivem geistigen ichgefühl auch das Körper-Ich-
gefühl aktiv ist, denn hier war das geistige Ichgefühl
aktiv, das Körper-Ichgefühl als Last passiv, während des
122
Wandeins wurde es allerdings allmählich oder plötzlich
aktiv.
In der Regel ist das Körper-Ichgefühl im Traume,
wenn es auftritt, viel geringer als in den abnormen
Träumen, von denen ich jetzt gesprochen habe. Wenn
das Körper-Ichgefühl nicht den ganzen Körper, sondern
nur Teile desselben erfaßt, so sind es meistens jene
Teile, die mit der geträumten Außenwelt bewegend oder
erleidend zu tun haben, wie ich es früher für den
Schwebetraum angemerkt habe. Man meine aber nicht,
daß bei allen gelräumten Bewegungen die bewegten Glieder
mit Körper-Ichgefühl besetzt sind. Was ich oben über
den Mangel des Körper-Ichgefühls bei dem geträumten
Fliegen mittels Flugapparats ausgeführt habe, gilt ebenso
von vielen anderen Bewegungsträumen, denen jedes, auch
ein partielles Körper-Ichgefühl abgeht. Wir werden bei
der nun folgenden Untersuchung, welcher Deutungswert
den verschiedenen Arten von Besetzung mit Körper-Ich-
gefühl zukommt, erfahren, daß dieser anscheinend so
unbedeutende und nie beachtete Unterschied, ob der
Träumer bei einer Bewegung das bewegte Glied fühle
oder nicht, bei der Deutung des Traumes von entschei-
dendem Gewicht ist, allerdings nicht für die Aufdeckung
der latenten Traumgedanken, sondern dafür, welche Stel-
lung das Ich zu den latenten Traumgedanken einnimmt.
V) Bedeutung der Differenzen des Idigefühls im Traume
Wenn es mir gelungen ist. den Leser von der Weite
der Variation und von der Exaktheit der Angaben in be-
treff des Auftretens emes Körper-Ichgefühls im Traume
zu überzeugen, so hoffe ich, daß er mit mir die Er-
wartung teilt, daß ein so präzises Symptom nicht be-
deutungslos sein kann. Seine Bedeutung konnte nur auf
psychoanalytischem Wege gefunden werden. Die Psycho-
analyse wird sich auch in der Praxis auf diese Bedeu-
tung stützen können. Schließlich führt aber unsere neue
Erkenntnis zu einem allgemeinen Problem der Psycho-
123
logie, das so schwierig ist, daß jeder neue Zugang er-
wüiisciit sein muß, — nämlich zum Problem des Willens.
Als ich rein beobachtend erkannte, welche große Diffe-
renzen das Ichgefühl im Traume zeigt, versuchte ich ver-
schiedene Erklärungen, die mir als möglich einfielen, da-
durch zu prüfen, daß ich sie zunächst bei eigenen Träu-
men, für die ich das Auftreten des Körper-Ichgefuhls
mit Sicherheit angeben konnte, anwendete. Ich glaubte
zuerst zu finden, daß ein reziprokes Verhältnis zwischen
der Stärke der Ichbetonung und der Intensität der Traum-
bilder bestände, weil sich mir ein solches in einzelnen
Träumen gezeigt hatte. Diese Annahme erwies sich aber
als falsch, ebenso wie eine andere, daß das Körper-Ich-
gefühl dann aufträte, wenn der Traum sich mit Ge-
samtproblemen der eigenen Person, des eigenen Schick-
sals beschäftigte. Diese beiden irreführenden Beziehungen
waren durch die Besonderheil einzelner Träume vorge-
täuscht worden.
Ich kam dann darauf, daß in vielen Träumen ein par-
tielles Ichgefühl eine einfache, theoretisch zunächst nicht
interessierende Erklärung dadurch fand, daß sehr häufig
ein besonders starker Affekt im Traume mit stärkerem
Körper-Ichgefühl einhergeht. Das gilt besonders von Angst-
träumen, aber auch von Träumen, in denen der Träumer
Mitleid oder Stolz empfindet.
Analog tritt ein stärkeres Tchgefühl dann auf, wenn
eine Triebregung im Traume bewußt wird, so bei masochi-
stischen oder exhibitionistischen Träumen. Die genaue
Untersuchung solcher durch den Affekt oder den Trieb
bedingter Körper-Ichfiefühle im Traume wird sich gleich-
falls lohnen. Meine sichere, auf anderen Gebieten gewon-
nene Erfahrung, daß wir ein aktives und ein passives Ich-
gefühl zu unterscheiden haben, wird hier von Nutzen
sein. Wir haben nämlich ein Ichgefühl für die aktiven
und ein anderes für die passiven Funktionen des Körpers.
Bei den Träumen mit stärkerem Scham- oder Angstaffekt,
bei masochislischen und exhibitionistischen Träumen ist
124
nun das Körper-Ichgefühl ein passives. Ich vermute, daß
l bestimmten Affekten die Besetzung bestimmter Körper-
. teile mit passivem Ichgefühl entspricht. Wenn sich eine
solche Relation gesetzmäßig nachweisen läßt, dann dürfen
wü* vermuten, daß auch bei Träumen ohne Affekt die
Besetzung eines Körperteiles mit besonderem passivem
Körper-Ichgefühl auf einen zum Traume gehörigen, aber
nicht „erweckten" Affekt schließen lassen dürfte. Denn
Träume smd affektarm, das Schlafen verlangt ja, daß der
Affekt nicht zustande komme.
In bezug auf das aktive Körper-Ichgefühl er-
gab die Beobachtung eigener und fremder Träume, daß
■ es dann auftritt, wenn der Träumer nicht nur wünscht,
was der Traum bedeutet, sondern dem Traumwunsche
oder einem Teile desselben mit seinem Willen bei-
tritt. Deshalb sind so seilen Träume von aktivem Körper-
Ichgefühl begleitet; denn es handelt sich ja meistens um
verbotene Wünsche, die, den Schlaf störend, durch den
Traum erfüllt werden. Selten nur wagt es das Ich^ das
Verbotene zu wollen. Aber zum Teile kajin das geschehen,
und einzelne Teile der Traumhandluug können dem Willen
des Träumers entsprechen, obgleich sie im Wachen von
den übi-igen Teilen des Ichs oft widersprochen sein
mögen. Denn nur in juristischen Werken lese ich von der
„emheitlichen Gesinnung' \ die sogar die Frage nach der
Schuld erledigen soll. Wir Psychoanalytiker, und heute
können wir wohl schon sagen: wir Psychologen wissen,
wie wenig einheitlich Gesinnung und Wollen der Men-
schen zu sein pflegt, und wie oft im Laufe des Tages der
-wache Mensch etwas will und es nicht tut. Was er wollte,
war auch sein Wunsch gewesen. Aber das Ich gehorchte
trotz Wünschen und Wollen dem Über-Ich und unter-
ließ nicht nur die Handlung, sondern verdrängle auch
den Wimsch und das Wollen. Im Traume erweckt nun
der Wunsch das geistige Ich durch die manifesten Traum-
bilder, und nun kaim im Traume das ganze Ich dem
Wunsche beitreten, weil das Ich im Wachen den Wunsch
125
auch wollte; dann erhält nicht nur die entsprechende
geistige Ichgrenze ihre Besetzung, es erwacht auch das
ganze Körper-Ich. Solch ein Erwachen laßt aber das
Schlafen überhaupt nicht lange aufrechterhalten. Und des-
halb ist es möglich, bei dem Erwachen aus einem solchen
Traume mit ungewöluiUch starkem und vollstäiidigcra
aktivem Körper-lchgefühl dieses an sich selber wahrzu-
nehmen und die volle Überzeugung davon zu gewinnen,
daß man im Erwachen ein starkes Erlebnis des Wollcns
hatte, welches sich aus dem abgelaufenen Traume fort-
setzte. Ich konnte auf diese Art, ebenso wie vor Jahren
die Bedeutung des Hemmungstraumes, in den letzten
Jahren die Bedeutung des Traumes mit vollem Körper-
Ichgefühl als typisch durch Selbstbeobachtung feststellen.
Die Prüfung an den analysierten Träumen hat meine Deu-
tung bestätigt. Solch ein Beitreten des Willens zum Traum-
wunsch ist eine erhöhte Erfüllung des Lustprinzips, und
tatsächlich sind diese inlensiven Willensträunie besonders
angenehm. Wir wissen aber, daß der Gegenwille des
Über-Ichs sie leicht in Hemniungsträume umwandelt.
Eigentlich war die Erklärung der Träume mil Körper-
Ichgefühl als Willensträume schon in der Erklärung der
Hemmungsträume mit enthalten, aber nichl erkannt. Die
Erklärung, daß gegen Ende des Schlafes eben das Körper-
Ich schon erwache, erledigl sich durch die Beobachtung,
daß es häufig keineswegs vor dem Aufwachen erwacht.
Sehr gut paßt zu unserer Erklärung, daß das aktive
Körper-Ichgefühl das Wollen des Träumers verrät, die
Beobachtung, daß ein partielles Körper-Ichgefühl so häufig
die geträumlen Bewegungen begleitet. Denn diese ent-
sprechen ja einem zur Handlung gcsteigerlcn Willcns-
impuls. Merkwürdiger ist, daß ül)erhaupt solche Bewe-
gungen auch ohne Körper-Ichgefühl geschehen. Die Traum-
analyse zeigt, daß solcher Mangel des Kör|)er-Ichgefühls
wohl determiniert ist. Wenn eine Bewegung ausgeführt
wird, ohne daß das Körper-Ichgefühl das Wollen des
Patienten verrät, so soll eben diese Bewegung oder liaud-
126
lung nicht sein Wollen, sondern nur sein Können her-
vorheben. Der Traumwunsch bezieht sich dann auf das
Können; deshalb ist bei dem Impotenten das Fliegen im
Apparate die typische Abart des Fliegetraumes. Wir er-
innern uns, daß bei dieser Art zu fliegen das Körper-Ich-
gefühl meist fehlt. Tatsächlich haben viele Impotente nicht
den sexuellen Wunsch nach dem Sexualakt oder nach
Erektion, sondern ihr Wunsch geht nach dem Können,
nach der Potenz. Das gilt besonders für solche Neurotiker,
deren Impotenz einen unbewußten Wunsch, welcher der
männlichen Sexualität zuwiderläuft, erfüllt, oder für solche
Impotente, welche mit bestimmten Sexualobjekten nicht
sexuell verkehren wollen. Andrerseits verstehen wir
ebenso, daß andere Fliegeträume mit vollem Korper-Ich-
gefühl einhergehen.
So haben wir durch die Beobachtung des Körper-Ich-
gefühls die Darstellung des W o 1 1 e n s und des Könnens
im Traume feststellen können. Nachdem uns das gelungen
ist, sehen wir, daß dieser Weg der Darstellung ganz dem
Sinne des Wollens und des Könnens als M o d i s im
Sinne der Grammatik entspricht. Denn die Modalität drückt
aus, wie sich das Ich des Menschen zu der im Verbum
mitgeteilten Handlung oder Erledigung einstellt. Beim
Wollen tritt das Ich dem Geschehen der Handlung
bejahend und herbeiführend bei. Beim Können wird
ausgesagt, daß, soweit das Ich in Frage kommt, die
Möglichkeit der Handlung besteht. Deshalb ist es sinn-
voll und folgerichtig, daß im Traume das Wollen durch
das Hinzutreten eines aktiven Ichgefühls dargestellt wird,
das Können durch die Handlung ohne Hinzutreten eines
Ichgcfühls. Nach diesen Ergebnissen wollen wir uns weiter
nach der Darstellung der ModaUtät im Traume umsehen.
Bei unserem Traumwandler fanden wir eine besondere
Steigerung des Körper-Ichgefühls, das er aber nicht aktiv,
sondern zuerst als Last empfindet, und doch will er
gleichzeitig das tun, was ihm so schwer fällt. Er hat
demnach — soweit ich den Eindruck aus seinen Schil-
■''
127
derungen gewonnen habe — ein körperliches passives Ich-
gefühl und ein geistiges aktives Ichgefühl. Sein Ober-Ich
hat ihm die Handlung befohlen. Diese merkwürdige Koin-
bmalion stellt in charakteristischer Art das Sollen dar.
Es ist ein Wollen im Dienste der Über-Xchs und ein Nicht-
wollen des Ichs. Ich füge hinzu, daß im Verlaufe des
Nachtwandeins die Last des Körpers aufhörle und das
Körper-Ichgefühl aktiv wurde. Das bedeutet, dali nach
der Überwindung der Widerstände und auch unter dem
Gefühl, es sei nur ein Traum, ein aktives Wollen die
Traumhandlung begleitet. Talsachlich ist auch beim wachen
„Sollen" gleichzeitig eine Aktivität des wollenden Ichs
und ein Widerstand seitens eines Teiles des Ichs vor-
handen. Beides wird im Traume durch die Anteile des
Ichgefühls dargesteUt. Wenden wir uns nun dem schon
in der „Traumdeutung" von Freud erklärten Hemmungs-
traume zu, so weili ich aus meinen eigenen Unlersuchun-
gen,4) daß er ein Wollen und Nichtdürfen darstellt.
Dabei ist die Einwirkung des Ober-Ichs unbewußt, be-
wußt ist nur, daß ein mit starkem Körper-lcligefühl be-
setzter Körper oder Körperleile nicht bewegt werden kön-
nen. Ein mit Körper-Ichgeiuhl besetzter Muskelapparal
ist dem geistigen Ich entzogen.
Die Berücksichtigung des Ichgefühls im Traume ver-
langt eine neuerliche genaue Untersuchung dieser typi-
schen Traumformen. Meine heulige Mitteilung ist daher
nur eine vorläufige. Sie sagt aber mit Bestimmtheit aus,
daß durch die verschiedene Art von Besetzung mit Ich-
gefühl, ob nur geistig oder auch körperlich, ob aktiv oder
passiv, ob total oder partiell, die verschiedene Modali-
tät des Geschehens im Traume dargestellt wird.
Umgekehrt werden wir auch dort, wo die Psychoanalyse
des Traumes es noch nicht ergibt, aus dem Verhältnis
des Ichgefühls auf die Modalität des Traumgeschehens
*) Federn: Über zwei typische Traumseneationen. Jahrbuch der
Psychoanalyse, Bd. VI.
A
t
128 ' -
m
phot. Max HalbeiNiadf, Hamburg
Dr. Si'iiidor Ratio
ft,
i <
schließen können und dadurch die psychoanalytische
Deutung fördern. Wir können sagen, die Beobachtung
des Ichgefühls im Traume eröffnet uns einen neuen Weg,
um bei der Traumdeutung die Hilfszeitworte für die
Traumhandlung richtig zu verwenden, denn diese drücken,
wie schon oben gezeigt, die Relation des Ichs und des
Über-Ichs zum Geschehen aus. für welche das Zeitwort
des Geschehens am Objekte durch ein Organ (Instrument)
mitteilt. Daß die Ichbesetzung im Traume den Vorgang des
Wollens, Könnens, Seitens, Nichldürfens usw. (die desMüs-
sens undDürfens stehen noch aus) anzeigt, entspricht völlig
den Vorgängen im Wachen. Während aber im Wachen ent-
sprechend diesen Hilfszeitwörtern das ganze Ich und Über-
leb in bestimmte Relation zur Handlung treten, z. B. beim
Wollen das aktive geistige und körperliche Ichgefühl, Den-
ken, Impuls und Motorik, fehlt im Traume infolge des Ent-
zuges der Besetzung sowohl die Motorik als auch die Denk-
lätigkeit. Deshalb stehen dem Traume nur die Unterschiede
im Ichgefühl als Ausdrucksmittel für die darzustellende
Modalität zur Verfügung. Die im Wachen so mächtigen Un-
terschiede zwischen Wollen, Sollen, Müssen, Dürfen und
Können werden im Traume nur durch die subtilen und
lange übersehenen Unterschiede im Ichgefühl ausgedrückt,
also beinahe nur angcdeulcl. Die Geringfügigkeit dieser
Darstellungsmiltel nimmt uns aber nicht wunder, denn
wir haben schon lange von Freud gelernt, daß auch
machtvollste Tricbwünscbe im Traume oft nur durch eine
entfernte, an sich unkenntliche und lange übersehene
Symbolik repräsentiert werden.
Im Wachen ist alle Macht dem Ich zurückgegeben, vor
allem der Wille ! Der Wille ist die Zuwendung
der gesamten aktiven Ichbesetzung zu be-
stimmten Handlungen, seien diese ein blo-
ßes Denken oder ein Tun. Zu glauben, daß der
Wille bloß das Vorauswissen eines in jedem Falle ein-
tretenden Geschehens sei, ist eine intelleklualistische Auf-
fassung, die völlig falsch ist. K 1 a g e s hat das schon
9 Alraanach 1938 ' 12Q
lange nachgewiesen. Dem Ich als Ganzem sieht
eine bestimmte aktive Libidobesetxun^ zur Vedügung,
die das Ich zuwenden mid abziclien kann, und dieses ist
der Wille. Das aktive normale Ichgefühl ist die wesent-
lich kleinere dauernde Besetzung des Ichs. Im Traume
repräsentiert sie den Willen.
Im Traumbuche Freuds konnnl der Wille nicht vor.
Es lag dies daran, daß der Wille dem Bewußtsein und
dem Ich zugehören; mein Beitrag soll die Traumlehre vor
allem dahin ergänzen, daß auch das Wollen im Traume
erkannt werden kann. W^nni gewollte Hand hingen im
manifesten Traume vorkommen, so stannneii sie ebenso
wie Denkaktionen aus dem Traumnialeriale. Ii'h selze
aber die Traumdeutung folgerichtig auch dahin I'ort,
daß auch kleine Unterschiede in der Besetzung mit Ich-
gelühl im Traume nichts GleichgüUiges und Zufälliges
sind, sondern daß auch sie dclorminicrt sind, determiniert
wie die Modalität oder die latenten Affekte, die sie an-
deuten. Die Traumdeutung wird auch diese Delerminie-
rungen mit der Zeit und auf Grund weiterer I'Oirschung
benutzen lernen.
M'-^
' ' 1..* "uN
13Ö
>u
n
i
t.
; , DAS ÜBERICH IN DER
GESCHLECHTSENTSCHEIDUNG
Von
Fritz Witteis
In mehreren, nahezu unwillig anmutenden Bemerkungen
hat der Schöpfer und unerschrockenste Denker derPsycho-
■" analysc festgestellt, daß die Begriffe männlich und weib-
• ]ich für die Psychologie nur dürftigen Inhalt haben. Sie
sind kein Problem für den Anatomen, den Biologen und
den Gesetzgeber. Ebensowenig für den gewöhnlichen
Sprachgebrauch und für das praktische Leben. Die Psycho-
analyse aber sieht sich derzeit gezwungen, dafür in grober
Annäherung die Vorstellungen von plus und minus oder
' von aktiv und passiv einzusetzen. Alles Stoßende, Vordrin-
gende sei mäimlich, alles Aufnehmende, Duldende sei
weiblich. Da das Benehmen wirklich lebender Männer
■ und Frauen dieser asketischen Definition nicht entspricht,
berufen wir uns in der Psychoanalyse auf das alles
Lebendige durchdringende Gesetz der Bisexuahtät imd
verweisen so unsere eigene Definition aus dem Reiche der
Wirklichkeit in das der Abstraktionen. Wir nehmen männ-
liche und weibliche Tendenzen an, die nur in verschie-
denen Graden der Vermischung vorkommen, wie die Radi-
kale der organischen Chemie. Die Entmischung und ge-
sonderte Betrachtung einer männlichen als aktiven und
einer weiblichen als passiven Tendenz leistet uns gute
analytische Dienste. Wir laufen aber doch Gefahr, gerade
dort zu verarmen, wo die Psychoanalyse immer ihr
Höchstes geleistet hat, nämlich dort, wo wir der er-
lebenden Erfassung des psychischen Lebens genugtun
Wollen.
Schon der „gesunde Menschenverstand" sträubt sich
gegen eine mathematische Definition von männlich und
9* '■' • ' . 131
weiblich iii der Psychologie. Zwar mit der Aulorilät des
„gesunden Menschenverslandes" wollten wir bald fertig
werden. Die Psychoanalyse hat ihm oft nachgewiesen, daß
er weder gesund noch vcrsländij^ war, sondern nur auf
Unwissenheit und übcrkoinmeurm Irrtum beruhte. Aber
wir haben gelernt, zu unterscheiden zwischen dem nur
sogenannten gesunden Mensclienversland, der ein trieb-
hafter Widerstand gej^en tien Verstand ist, und jenem
untrüglichen Gefühl, das die Wege weist zu tieferer Er-
kenntnis. Unser (Icfülil, daiJ die mathematische Defini-
tion der Gcschlechtlichkeit zu arm ist, köniile möglicher-
*weise zu Lösungen führen, die sich mit den Fortschritten
der Philosophie im Ich-Problem vergleichen lassen. Die
naturalistischen Philosophen (Mach, Nietzsche u. a.)
hatten das Icli als pliilosophischen Begriff aus der Welt
geschafft. Es sei nicht zu retten, lehrte Mach, es sei eine
„Verführung von der Grammatik" her, sagte Nietzsche.
Ich selbst konnte mich lange Zeit mit der Ich-Psychologie
nicht befreunden, weil ich von Mach her kam. Ähnlich
auch wurde von anderen (Wundt, Haeckel) um die näm-
liche Zeit die Seele als dynamisches Prinzip beseitigt. Die
zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hat da „ganze Arbeit"
geleistet. Nichts wollte sie übrig lassen von der Romantik
früherer Zeit, weder die Fcstungsmauern der Städte noch
die Seele oder das Ich. Damals sträubte sich wohl eben-
falls das lebendige Gefühl gegen diese radikale Beseitigung.
Während man aber die schönen Staditore und Veduten
der Altstädte nicht mehr wiedcrautbaucn kann, haben wir
die Wiederaufrichtung des Ichs in der Philosophie sowohl
als in der P.sychologie mitei'lebl. Der mathematischen Ge-
schlechtsdefinition wird es vielleicht :ibnlic*h ergehen und
unser Unbehagen über sie wird uns möglicherweise zu
einer exislenziellcn Auffassung führen, die ein Männlich-
keits- und ein Wcnblichkeils-Erlcbnis anerkennt. Nehmen wir
zunächst aji (posifo sed noii concfs.w), dali di<^se beiden
Erlebnisse zum biologischen Prinzipci der Hisexualitäl im
gleichen Verhältnisse stehen wie das Ich-l-lilebnis zum
132
n
I
principium indioiduationis. Allein, was ist ein Männlich-
keits-, was ist ein Weiblichkeits-Erlebnis?
Man sagt wohl gerne, Asien sei weiblich, verglichen
mit Europa. Die Nacht sei weiblich und der Tag sei
männlich. Der Traum männlich im Vergleiche mit dem
Rausche, den man weiblich nennt. In diesen drei Bei-
spielen ist es allemal das formende Prinzip, das Deter-
minierte, das zum Männlichkeitserlebnis wird. Das Unge-
formte, Endlose, Dunkle wird als weiblich empfunden.
Aktivität und Passivität sind wohl auch darin. Europa und
sein wildgewordenes Kind, Amerika, sind ungeheuer aktiv
und fortschrittlich, verglichen mit dem Weltteil, auf dessen
Flüssen heute noch Vehikel fahren, wie sie schon der
Erzvater Abraham benutzt hat, als er den Euphrat hinab-
fuhr. Aber Aktivität und Passivität sind nicht die Achse
des Erlebnisses. Wir würden ja gerne sagen, daß Mülter-
Uchkcit das Wesentliche aller Weiblichkeit und deshalb
im Weiblichkeits-Erlebnis hauptsächlich enthalten sei,
ebenso wie Zeugung männlich ist. Es macht sich gut,
von Mutter Asien zu sprechen, von dem sanften weib-
Uchen Mond mit dem männlichen Traum, der sich der
allgemeinen Ruhe widersetzt; dem gransamen Beleuchter
Helios, dem sich die formlose Trunkenheit widersetzt.
Alles das sagt sich leicht, es fließt in der Tat wie öl aus
der Feder. Leider stehen die Befunde der Biologie ebenso
wie die der Psychoanalyse zu solchen Darstellungen, die
sich einschmeichehi, in Widerspruch. Es gibt nichts, was
zeitUch strenger determiniert und unerbittlicher wäre als
Schwangerschaft und Geburt. Es gibt auch nichts Aktiveres
als den Uterus, der auf das Zwanzigfache seines Volu-
mens anwächst und dann mit unvergleichlicher Muskel-
kraft die Frucht ausstößt. Das höhere Muttertier und
auch das menschliche Weib werden während der Schwan-
gerschaft dunkler pigmentiert, ihr Haarwuchs wird vor-
übergehend männlicher. Die feigsten und scheuesten Tiere
werden mutig und greifen an, wenn sie Brut zu beschützen
haben. Diese biologischen und tierpsychologischen Tat-
133
Sachen decken sicli mit I^ermulon der Psychoanalyse, auf
die ich in einer spätorcii Arbeil mit klinischem Malcriale
zurückzukommen gedenke, von denen ich aber hier nur
die wohlbekannte Gleichung: Kind = Penis anführen
möchte. Den Übergang von der Biologie zur Psychologie
» mag man in der aktiv nährenden Mamma sehen, die dem
Kinde in einem Hohlraum eingeführt wird. Jones hat
diesen Vorgang in seinem geistreichen Vortrag am
12. Psychoanalytischen Kongreß den Maniniilingns genannt.
Das Kind erlebt, wie die Psychoanalyse mit Sicherheit
nachgewiesen hat, seine Mutter als männlich und wir
werden dieses Miuinlichkeils-Erlebnis unserer l'rühesten
Jahre niemals los. Die Mutter, das weiß die Psycho-
analyse ebenfalls, bewertet die Gebm-t ihres Kindes als
Männlichkeits-Erlebnis. Sie überwindet auf Grundlage die-
ses Erlebnisses ihren Penisneid. Die Mutter ist also —
warum solllcn wir uns nicht getrauen das auszusprechen?
— biologisch und in einer verdeckten psychischen Schicht
nicht weiblich, sondern männlich.
Wir fühlen, daß wir hier bei einem fast unertnlglichen
Paradoxon angelangt sind. Ich habe einmal mit diesem
Gedanken in New York einen weiblichen Reporter in die
Flucht geschlagen, der von mir etwas Neues über die
Frau hören wollte. Ich sagte ihr, daß Gebären als männ-
liche Leistung des Weibes zu gelten habe, worauf die
Dame erschreckt das Weite suchte. Ist man aber einmal
so weit, die männliche Komponente in dieser scheinbar
exquisit weiblichen Funktion zu erkennen, besonders den
männhchen Erlcbniswert, der darin steckt, dann wird
man sich nicht wundern, die männliche Komponente in
der weiblichen Schönheit zu entdecken, ob man diese
nun sex appeal oder anders nennt. Nach der allgemeinen
Meinung gehört auch die Schönheil zum Weibe und wirkt
beim Manne leicht effeminicrl. im l^iglischen sagt man
von eüieni Mann-e niicht gerne, er seii schini (aiimclive),
^' sondern nur, er sehe gut aus. Schönheit zieht an, sie
zwingt, und muß schon aus diesem Grunde für aktiv
<_•
I
'•'
134 ,' • /
erklärt werden. Allerdings ist sie ihrem reinen Wesen
nach nur unwillkürlich aktiv. In der Wirklichkeit kommen
aber die bewußte, sich selbst unterstreichende Schönheit
und die sadistische Schönheit häufiger vor als das un-
bewußte Gnadenbild. In der unbewußten Aktivität, die
den Mann zur Liebe zwingt, haben wir ein Seitenslück
zur Aktivität des Gebarens, das ja dem bewußten Willen
gleichfalls entzogen ist: passive Aktivität in beiden Fällen.
Aber selbst wenn man nicht geneigt ist, eine passive
Aktivität als Erlebnis anzuerkennen, muß man die Unter-
streichung der weiblichen Anziehungskraft durch künst-
lichen Schmuck, die Exhibition, für männlich, für ur-
sprünglich männlich erklären, wenn man doch sieht, daß
beim höheren Tier durchwegs das Männchen die Mälme,
die Farben, den Hahnenkamm, die Schwanzfedern, allen
Schmuck trägt und noch beim primitiven Menschen der
Krieger sich schmückt und bemalt. Schön sein und Sich-
schön-machen wurde erst in fortgeschrittenen Zeiten auch
dem Weibe gestaltet und ihm schließlich soweit abge-
treten, daß ein Mann, der sich mit Schmuck behängt, als
weibisch empfunden wird. Etwas Ähnliches gilt von Tracht
und Mode. Im Morgenlandc tragen die Frauen Hosen und
die Männer lange Röcke. In China trugen die Männer bis
vor kurzem Zöpfe. Wir leben in einer Zeit, in der, wie es
scheint, das Rauchen immer mehr zu den Frauen über-
geht, und ich wollte, wir lebten schon in der Zeit, in der
die Männer das Rauchen ebenso aufgegeben haben wer-
den wie Ohrringe, Armbänder und Spitzenjabots. .leden-
falls habe ich eine Zeit erlebt, in der eine Mutter in
Tränen ausbrach, weil sie ihre Tochter beim Rauchen er-
tappte. Sie fürchtete, ein Mannweib herangezogen zu haben.
Die Verwirrung, In die wir mit unseren Begriffen
eines Männlichkeits- und eines Weiblichkeits-Erlebnisses
geraten, scheint mir vom biologischen wie vom psycho-
analytischen Gesichtspunkte aus so vollkommen, daß Ich
es gern durch ein Aktivitäts- und Passivitäts-Erlebnis
ersetzen wollte. Aber wir geraten ja mit diesen Begriffen
135
I ■
in Widersprüche, die ganx ebenso schwer zu vereinen sind.
Ich meine, wir fahren besser mit dem BegrilTc eines
V o 1 1 k o m m e n h e i l s - !•: r I e b n i s s e s, das sieh bei
Männern und bei Frauen gleiclimäliifi einstellt, wenn sie
glauben, daß sie in ihrer Art eine für ihre Zeit und für
ihren Ort ausreichende VoUkonimenlieil erreicht haben.
Es gibt biologische Vollkoniincnhciten, z. B. Kinderbokoin-
men, Gesundsein und sich so fülden, i.iel)en und Sterben.
Es gibt logische, ästlietischc, moralische Vollkommen-
heilen, zu welch letzleren auch Schadenfreude, Ver-
brechen als Negalivum gehören. Das Erleben aller dieser
Vollkommenheiten als männlich oder wcil)lich, hängt
weniger vom biologischen Unterbau als vom sozialen Über-
bau ab, nämlich von dem, was gerade für männlich
und weiblich gilt. Biologisch ist jeder von uns mäinilich
und weiblich zugleich wie alles Lol)endige. Triebhaft
sind wir ebenfalls bisexuell. Aber die Entwicklung der
Kultur fordert mit fortschreitendor Schärfe und gewisser-
maßen wider die Natur, daß wir uns für das eine oder
das andere Geschlecht entscheiden. Wir erfüllen diese
Forderung, indem wir nach einer langen Beifezeit, die
von der Psychoanalyse aufgedeclit und ausfü lirlich be-
schrieben wurde, schlielMich einem Erlebnis zustreben,
das Ich folgendermaßen definieren möchte: Als männ-
lich oder weiblich wird erlebt, was in einer
bestimmten Zeit und an einem bestimmten
Ort für männlich oder weiblich gilt. Diese
Entscheidung des Erlebnisses liegt demnach beim Über-
ich. Sie ist sozial. Hinter dem Männlichkeitserlebnis so-
wohl als hinler dem der Weiblichkeit steckt die Bisexuali-
tät, der wir nicht entrinnen können. Das Über-Ich igno-
riert das. Ebenso wie es sich in die Bcalitätsprüfung ein-
mischt, so entscheidet es auch über männlich und weib-
lich. Wenn es der Meiiumg ist, daß die Frau zum Herde
gehört, dann ist die beste Köchin das vollkommenste
Weib und fühlt sich als solches. Schönheit gilt dann für
schamlos und unweibiich. Es gibt andere Zeilen, in denen
136
«f
I
das Gebären vieler Kinder, Kochen und Stricken keines-
wegs das Gefühl vollendeter Weibüchkcit erzeugen. Der
soziale Kodex wechseil in sehr weiten Grenzen. Wenn er
sich zu weit von den biologischen Leitlinien entfernt, dann
gibt es hie und da eine Revolution. Das Über-Ich hängt,
wie Freud uns lehrt, auch mit den tiefsten Schichten des
Es zusammen, woher es kommen mag, daß endoklrin oder
sonst organisch pathologische Männer und Frauen zu
einem ungestörten VoUkommcnheitsgefühl in ihrem Ge-
schlechte nicht gelangen können. Das Ober-Ich wird ja
seinerseits von biologischen (konstitutionellen) Faktoren
gesteuert, die sich in Form von Erlebnissen psychisch
repräsentieren.
Der Versuch des Über-Ichs, die Bisexualität zu über-
winden, führt letzten Endes über die Stufe des Männ-
licbkeits- und Weiblichkeitserlebnisses hinaus ins Asexuelle.
Eros, Logos, Thanatos haben kein Geschlecht und weh-
ren es ab. Deshalb singen Goethes „vollendetere Engel*':
, Uns ist ein Erdenrest
Zu tragen peinlich.
LTnd war' er von Asbest, '
Er ist nicht reinlich.
Wenn starke Geisteskraft
Die Elemente
An sich herangeraffl,
Kein Engel trennte
Geeinte Zwienatur
Der innigen beiden.
Die ewige Liebe nur
Vermag's zu scheiden.
137
DIE SEXHALBETÄTIGIUNG
DES KINDES
Von
lani
ein
Der folgendo Aufsatz ist (inm Kndo 1032 im Inter-
nationalen PsychoanalytiBchun Vorlag erschionenen Werke
„Die Psychoanalyse dos Kindos" entnommen. Preis in
Leinen Mark 12.—, aeheftet Mark 10.—,
Eine der großen Leislungen der Psythoanalysc war die
Entdeckung, dalJ das Kind eine Sexualität besitzt, die so-
wohl in direkter Sexualbelätigniig wie auch in sexuellen
Phantasien zum Ausdruck komml.
Wir wissen, dafi die Säuglingsmasturbation eine allge-
meine Erscheinung ist, daß aber auch die Masturbation
bis zur Latenzzeit, wenn auch in verschiedenem Ausmaß,
überaus häufig auftritt. Allerdings erwarten wir, ihr auch
schon heim kleinen Kinde nicht offenkundig zu begegnen.
In der Vorpubertüt, insbesondere in der Pubertät, ist die
Masturbation wieder eine sehr häufige ICrscheinuug. Die
Entwicklungsperiode, in der die Sexualbctäligung des
Kindes am stärksten nachläßt, ist das Lalenzalter.
Die Erklärung hielür sehen wir darin, daß mit dem
Abklingen des Ödipuskomplexes die Triebansprüche ge-
ringer werden. Dagegen ist noch ungeklärt, weshalb wir
die Latenzzeit vorwiegend unter dem Drucke des Abge-
wohnungskampfes gegen die Masturbation linden. Freud
schreibt: „Während der Latenzzeit scheinl die Abwehr
der Onanieversuchung als Hauptaufgabe behandelt zu
werden." Dies spricht dafür, daß das Drängen des Es
im Latenzalter doeh nicht in dem Maße na<hgelassen hat,
als angenommen wird, oder <laß der Druck des S(;huld-
gefühls gegen die Tordcrungen des Es sich verstärkt hat.
138
Meiner Auffassung nach gelten die schweren Schuld-
gefühle, die mit der Masturbation einhergehen,
den destruktiven, sich in den Masturbationsphan-
lasien äußernden Trieb reg u n ge n. Diese Schuldgefühle
sind es, die zur vollständigen Einstellung der Maslur-
balion drängen und — wenn diese Forderung sich voll
durchsetzt — häufig zu Berührungsangst führen. Daß diese
ein ebenso bedeutsames Zeichen gestörter Entwicklung
darstellt wie die Zwangsonanie, geht deulUch aus Analy-
sen Erwachsener hervor, in denen wir erfahren, daß die
übermäßige Angst vor der Masturbation in der Kindheil
zu schweren Störungen der Sexualität geführt hat. Diese
Störungen sind freilich beim Kinde nicht zu ül)erprüfen.
Sie werden erst beim Erwachsenen als Frigidität oder
Impotenz deutlich. Doch auch beim Kinde sind sie an
Schwierigkeiten erkennbar, die immer mit der Fehlent-
wicklung der SexuaUtät einhergehen.
Analysen von Berührungsangst ergeben, daß der
allzu erfolgreiche Abwehrkampf gegen die Onanie sich
nicht nur in Symptomen verschiedener Art (insbesondere
Tic) äußert, sondern auch die kulturell so wichtige Auf-
gabe des Latenzalters, die Entwicklung der Subli-
mierungen, im höchsten Maße beeinträchtigt,
indem er zur übermäßigen Verdrängung der M a s t u r-
bations Phantasien führt. In meiner Arbeit i Zur
Genese des Tic (Int. Ztsclir. f. PsA., Bd. XI, 1923) wies
ich an Hand eines Falles von Tic nach, daß dieser zu-
gleich mit der Berührungsangst sich in dem Maße auf-
lösen ließ, als die so lange verpönte Masturbation wieder
einsetzte, zugleich damit auch eine Reihe von Sublimie-
rungen sich entwickelte. Die Masturbationsphantasicn sind
nach meinen Erfahrungen eine Grundlage der Spiellälig-
. keit und ein Element aller weiteren Sublimierungen. Beim
kleinen Kinde sehen wir, wie in der Analyse, wenn die
verdrängten Masturbationsphantasien frei werden, die Spiel-
tätigkeit — beim größeren Kinde Lerntätigkeit, Sublimie-
rungen und Interessen verschiedenster Art einsetzen.
139
Zugleich wird aber auch in den Fnilcn, in denen Be-
rührungsangst vorgelegen hutle, die Masturhidion wieder
aufgenommen. Eine weilgehend vcrslärkte Subli-
mierungsfähigkeil crgihl sich - neben anderen
Veränderungen ~ auch in Fällen von Zwangsonauie
in dem Maße, als der Zwang zur Masturbation aufge-
löst wird. In diesen Ffdlen blieb aber die Masturbation
in geringerem Ausmaße und ohne Zwanghafligkeit beste-
hen. Analysen von Ueriilirungsangsl führen auch fast regel-
mäßig XU eüiem vorübergehenden Stadium von Zwangs-
onanie, Analysen von Zwangsonanie olt xu vorühergehcn-
<ier ßerührungsangst. Bei der Zwangsonanie erweist sich
auch die Tendenz, die Masturbation der Umgebung vor-
zuführen, mitbestimmend; sie geht vom Srhuldgetühl aus
nieselhen Faktoren sind auch beim VL-rliallcn kleiner oder
größerer Kinder mit wirksam, die offenkundig — an-
scheinend „ungehemmr' - onanieren. Die Analysen von
Zwangsonanie und Berülnningsajigsl führen demnach in
Hinsicht auf Sublimieruiigslähigkeil und masturl)atorische
Betätigung zu deji gleichen Eudresultateu.
Es scheijit also, daß das AbkUngeri <U'.s Ödipus-
konfliktes normalerweise zwar eine Periode geringereiT,
aber keineswegs völliger sexueller Bedürlnislosigkeil ein-
leitet, und eine mäßige — nicht zwanghafle und Be-
friedigung bietende — MaslurbaUon m allen kind fli
liehen Altersstufen eine normale Erscheinmig ist. T|
Die Momente, die für die Zwangsonanie heslimmend
sind, machen sich auch in einer anderen Form der kind
hchen Scxualbeläligung geltend. Ich habe wiederholt her-
vorgehoben, daß nach meinen lüialirungen in der ersten
Kindheit sexuelle Beziehungen von Kindern
untereinander die Begel smd. Ich stellte aber auch in
einer Reihe von Fällen des Latenz- und Puhertätsalters
fest, daß diese Beziehungen beim Einsetzen des Latenz-
alters nicht zum Stillstand ge-kommen waren oder in
anderen Fällen von Zeit zu Zeit plötzlich wieder auf-
n
140
genommen wurden, und daß in all diesen Fällen im
wesentlichen die gleichen Faktoren wirksam waren. Ich
will dies an zwei Beispielen illustrieren, und zwar an der
Beziehung zweier Brüder im Alter von sechs und fünf
Jahren und zweier Geschwister im Alter von vierzehn
und zwölf Jahren. Da ich in beiden Fällen beide Partner
in Analyse hatte, war mir ein voller Einbliok in das In-
einanderwirkcn aller Faktoren möglich.
Günther und Franz waren in ärmlichen, aber nicht
ungünstigen Familienverhältnissen aufgewachsen. Die Eltern
lebten in gutem Einvernehmen miteinander. Obgleich die
Mutter die Hausarbeit allein besorgte, befaßte sie sich
viel und in verständnisvoller Weise mit den Kindern.
Günther wurde wegen seines ungewöhnlirJi gehemmten
und ängstlichen Wesens und seiner deutlichen Absperrung
von der Realität in Analyse gegeben. Er war ein verschlos-
senes, überaus mißtrauisches Kind, aufrichtiger und wirk-
licher Liebe anscheinend nicht fähig. Franz war überleb-
haft, aggressiv und schwer erziehbar. Die Kinder vertrugen
sich sehr schlecht miteinander, wobei aber Günther der
Nachgiebigere zu sein schien.
Der Beginn der von den Kindern mutuell vorgenom-
menen sexuellen Akte ließ sich in den Analysen bis auf
das Alter von etwa dreieinhalb beziehungsweise zweiein-
halb Jahren zurückführen; ich halte es aber für wahr-
scheinlich, daß sie schon vorher eingesetzt hatten. In der
« Analyse ergab sich, daß beide Kinder bewußt gar kein
Schuldgefühl wegen dieser Akte empfanden (die sie aber
dabei sorgfältig verheimlichten), während das unbewußte
Schuldgefühl überaus schwer war. — Für den älteren
Knaben, der den jüngeren verführt und zeitweise genötigt
hatte, waren die von ihm vorgenommeneu Akte (gegen-
seitige Fellatio, Masturbation und Berührung des Anus mit
den Fingern) gleichbedeutend mit Kastration (die Fellatio
vertrat das Abbeißen des Penis) und mit Zerstörung des
ganzen Leibes des Bruders (durch Zerschneiden, Zer-
141
reißen, Vergiften, Verbrennen usw.). Die Analyse der mit
diesen Akten verbundenen l*iianlasien ergab, daß sie nicht
nur der Üborwälligung und /erslörung des liruders gaben,
sondern daß dieser ihm dabei auch die beiden miteinander
im Koitus vereinigten rollern bedeutete. — Die Akte waren
also in gewissem Sinne eine Realisierung der sadi-
stischen, gegen die Eltern gerichlelen Masturba-
tion s p h a n t a s i e n in gemilderter Form. Indem
Günther, und zwar zeitweise in gewaltsamer Weise, diese
Akte am Bruder vornahm, suchte er sich unter anderem
den Beweis zu erbringen, daß er auch im gcifährlichen
K a m p if c mit den E 1 1 e r n der Stärkere sein würde.
Aus der übcrmrUJigen Angst vor den I*21tern entsprang ein
verstärkter Antrieb, sie zu beseitigen, wobei die in der
Phantasie verübten Angrillc auf die lottern diese wiederum
um so furchterregender machten. Die Angst, der Bru-
der könne ihn verraten, steigerte wieder den Haß
gegen diesen und bildete einen verstärkten Antrieb, ihn
durch diese Akte zu beseitigen. Bei (iünlher, bei dem
ein ganz abnormer Sadismus vorlag, eulluelt die Sexuali-
tät fast keinerlei positive Elemente. In seiner Phantasie
bedeuteten die verschiedenen sexuellen Akte eine in raffi-
nierter Weise vorgenommene Folterung, die zum Tod
des Objektes führen sollte. Diese Phantasien ent.spraehen
in vielen Einzcllieitcn und auch durch den völligen Man-
gel an Reaktionshildungen gegen diese Antriebe (als Reak-
tion trat nur Vcrgeltungsangst, nicht aber Bedauern oder
Schuldgefühl auf) — den Handlungen sadistischer Ver-
brecher. Die Vergeltungsangst wirkte sieh aber als immer
wieder erneuter Antrieb zur Wiederholung dt\r sexuellen
Betätigung aus. In diesem ganz abnormen Falle, in dem
zufolge der weitgehenden Vorherrschaft der destruktiven
über die Ubidinosen Triebregungen die Scxualbetätigung
dem Verbrechen gleichgesetzt wurde und es vertrat (beim
erwachsenen Verbrecher geht bekanntlich häufig die per-
verse Scxualbetätigung mit dem Verbrechen einher), wirkte
sich die Vergeltungsangst als Antrieb zur Beseitigung des
142 -
Objektes aus. Indem Günther den Bruder überwältigte,
erbrachte er sich immer wieder den Beweis, daß er nicht
überwältigt würde.
Günthers Beziehung zu seinem Bruder aktivierte aber
auf diese Weise immer wieder Angst und verstärkte so noch
seine Schwierigkeiten, die zu einer völUg abnormen
psycho-sexueUen Entwicklung geführt hatten.
Der jüngere Knabe, Franz, hatte die unbewußte Bedeu-
tung der vom Bruder vorgenommenen Akte voll erfaßt,
und deshalb war seine Angst, von ihm kastriert und ver-
nichtet zu werden, übermäßig gesteigert worden. Trotzdem
hatte Franz sich weder beklagt noch auch die Entdeckung
dieses Verhältnisses ermöglicht. Von den Gründen, die
bei dem jüngeren Knaben eine überaus starke masochisti-
sche Fixierung an diese für ihn so beängstigenden Akte
' und (trotzdem er der Verführte war) ein schweres Schuld-
gefühl erzeugt hatten, greife ich hier einige heraus:
Franz identifizierte sich in seinen sadistischen
Phantasien mit dem ihn vergewaltigenden Bruder,
schöpfte also aus dieser Situation die Befriedigung für
seinen Sadismus, die wir als ehie der Wurzeln des Maso-
chismus kennen. Die Identifizierung mit dem
Angst Objekt sollte aber auch der Angstbewälti-
gung dienen. In seiner Phantasie wurde Franz auf diese
Weise selbst zum Oberwältiger: Der Feind, gegen den sich
seine Angriffe richteten, war sein Es, sowie der verinner-
lichte Penis des Bruders, der den Penis des Vaters — das
gefährliche Ober-Ich — vertrat und den er als Verfolger
empfand. Dieser sollte durch die auf seinen Körper erfol-
genden Angriffe in seinem Leibesinnern zerstört werden.
[MeUtla Schmideberg weist darauf liin, daß hei den
Primitiven durch die gewaltsamen exorzistischen Maß-
nahmen, die der Medizinmann vornimmt, die Angst vor
dem im Kranken befindlichen Dämon (den in ihm voraus-
gesetzten väterlichen Penis) bewältigt werden soll. (Psycho-
143
tic Mechanism in Cultural Dcvelopineul. lut. Journ. of
Psycho-Analysis Vol. X, 1930).]
Da aber dieses Bündnis inil einem grausamen äußeren
Über-Ich gegen die verinnerlichten Objekte und das Ks
nicht aufrcchtorhallen werden konnte, weil es das Ich
zu sehr bedrohte, wurde der Ilnli immer wie(ter auf die
01)jekte abgedrängt, die aueh für das eigene gehabte
schwache Ich standen, so zum Beispiel auf jüngere, schwä-
chere Kinder, gegen die Franz nülunler brulal war. Der
Haß, den Kranz zeilweise gegen mich hi der Analysen-
stunde bekundete, die Wut, mit der er mich mit einem
Holzlöffel bedrohte, den er mir in den Mund stoßen
wollte — wobei er mich als klein, dumm, schwach be-
schimpJte — , erwiesen sich durcli diese Verscliiebung
determiniert. Der Holzlöffel stellte symliolisrh den Penis
des Bruders dar, der ihm gewaltsam in den Mund ge-
stoßen worden war. Den Haß gegen den Bruder hatte er
in Idenlilizierung mit <liesem gegen sich selbst gewendet.
Er wütete gegen sieh wegen seiner Schwäche und Klein-
heit und drängte dann diesen Haß auf andere, schwächere
Kinder — in der Oberlragungssiluation auf nnch — ab.
Abwechselnd mit diesem Mechanismus kehrte hranz in
der Phantasie die Situation um und empfand die vom
Bruder ausgeübten Akte gleichzeitig als von ihm selbst
gegen Günther verübte Angriffe. Da aber für h'ranz in
diesen sadistischen l^hanlasien —analog wie beidünthcr —
der Bruder zugleich ein Substitut für die Kitern dar-
stellte, wurde er selbst in den Phaniasieangriffen auf die
Eltern der Spießgeselle des Bruders. Deshalb teilte er auch
das Schuldgefühl und die Angst des anderen v(»r der Ent-
deckung durch die Kitern, woraus sich ebenfalls ein
starkes Motiv zur Geheimhaltung der Beziehung ergab.
Ich kam auf Grund einer Ueihe von analogen Erfah-
rungen zur Auffassung, daß es der über m ä ß i g e
Druck des Über -Ichs ist, der (ebenso wie l'ür die
vollkommene Unterdrückung) für den zwanghaften
Antrieb zur Sex u a I b c t ä t ig u n g bestimmend ist, daß
144
also Schuldgefühl und Angst die libidinösen Fixierungen
verstärken und die libidinösen Triebansprüche erhöhen.
Übermäßiges Schuldgefühl und das Übermaß der Angst
scheinen mir beim Einsetzen des Latenzaiters die Ver-
minderung der Triebansprüche zu verhindern. Hiezu
kommt, daß im Latenzalter selbst eine verminderte Scxual-
betätigung eine übermäßige Schuldreaktion hervorruft.
Struktur und Ausmaß der Neurose bestimmen das Resultat
dieses Kampfes im Latenzalter. ßerührungsangst und
Zwangsonanie stellen die Endpunkte einer Ergänzungs-
reihe dar, in der wir die verschiedensten Abschattungen
vertreten sehen.
Der zwanghafte Antrieb zum Sexualverkehr erwies sich
mir in diesem Falle und in anderen Fällen durch einen
Faktor bestimmt, dem auch allgemeine Bedeutung für den
Wiederholungszwang zuzukommen scheint. Die phanta-
stische Angst vor einer irrealen, das L e i b e s i n-
nere betreffenden Gefahr treibt dazu, diese Gefahr in
eine reale und äußere zu verwandeln. (Im vorlie-
genden Fall drängte die Angst vor dem verinnerlichten
Penis des Bruders als Verfolger und den bösen verinner-
lichten Ellern zur Vergewaltigung durch den Bruder.)
Diese äußere Gefahrsituation wird dann zwangsweise her-
beigeführt, da die Angst, die sich aus realen Gefahr-
situalionen ergibt, immer noch geringer ist als die
dem Leibesinnern geltende und auch besser er-
ledigt werden kann.
Mit äußeren Mittein den Fortbestand dieser sexuellen
Beziehung zu verhindern, wäre unter den gegebenen Ver-
hältnissen unmöglich gewesen, da wegen der engen Woh-
nungsvorhältnisse eine Trennung der Schlafgelegenheiten
sich nicht hätte durchführen lassen. Eine solche Maßregel
wäre aber auch nach meinen sonstigen Erfahrungen in
einem Falle wie diesem, da der Zwang auf beiden Seiten
ein so starker war, wirkungslos geblieben. Es zeigte sich,
daß die Kinder, wenn sie auch nur einige Minuten tags-
über allein blieben, diesen Zeitraum zur Ausführung
10 Almanach 1983 145
1!
I
irgend einer sexuellen Berührini|4 benul/leii, die für das
Unbewußte die gleiche Bedeutung halle wie die Ausführung
der verschiedenen als sadisliseh phantasierten Akte. Erst uii
Verlauf der lange dauermlen liehandlung, in der ich nie-
mals die Kinder dahin zu beeinflussen suehle, daß sie dies©
Sexualbeläligung einstellen sollen, sondern rein analy- .|
tisch die d e l e r ni i n i c r e n d c n Ursachen die- j
ser Beziehung auf beiden Seilen aufdeckte,
kam es langsam und schrittweise zuerst zu einer VerSnde-
rung der Akte und einer Verringerung ihrer Zwanghaftig-
keit und schließlich in deren völliger K i n s t e 1 1 u n g.
Hiehei zeigte sich, daß nun nicht etwa eine (lleichgüUig-
keit gegen die mutuellen sexuellen Akte einges<^t/t halt(\
sondern daß das Schuld^^efiihl, als es weniger vehement
wurde, zur Einstellung der Beziehung drängle. Während
also vorher die übermäßige Angst und das einer frühen
Entwicklungsstufe entstammende Schuldgefühl t\i^\\ Zwang .
hervorgerufen, also die Fixierung verstärkt halten, so war \
die sexuelle Beziehung beiderseits aufgegeben worden,
als das Schuldgefühl verringert war und sich auf ver-
änderte Art geltend machte. Zugleich mit der Veränderung
und schließlieh völligen Einstellung der sexuellen Bezie-
hung hatte die vorher feindselige und gehässige lünstel-
lung der Kinder zueinander einer normalen und herz-
lichen Beziehung Phitz gemacht. Diese von mir in allen
Fällen geübte Enthaltung fiel mir in diesem Falle, da die
Schädigung so deutlich war, oft recht schwer. Andrerseits
hat mir gerade dieser lall wieder die Aussichtslosigkeit
einer pädagogischen Beeinflussung seitens des Analytikers
erwiesen. Wäre die Verhhiderung dieser Akte wirklich
möglich gewesen — was sie aber in diesem Falle nicht
war — , so wäre damit deinioch nicht die notwendig! Ue-
hebung der pathologischen Ursachen erfolgt. Auch in
anderen Fällen, in denen Beziehungen dieser Art ülwr den
Beginn des Eatenzallers hinaus fortgesetzt wurden, sielltc
ich fest, daß nur ein Teil der in der Frühzeil ausgeführten
Akte beibehalten wurde (insbesondere wurden lellalio
146
«
' I
und Cimnilingus aufgegeben) und die Akte auch seltener
— in den meisten Fällen nur periodisch — vorgenommen
wurden, daß sie jedoch für das Unbewußte die ganze ur-
sprüngliche Beziehung mit allen seinerzeit vorgenommenen
Handlungen wiederholten. Bei Ilse zum Beispiel trat nach
einem Koitusversuch mit dem Bruder ein Ausschlag um
den Mund herum auf, der der Ausdruck des S<:huid-
gefühls und der Angst wegen der in früher Kindheit mit
diesem Akt zugleich vorgenommenen Fellatio war, die sie
aber, wie gesagt, seit früher Kindheit nicht mehr aus-
geübt hatte.
Ich kann mich nun i)ei der Besprechung des zweiten
Falles mit der Anführung der Tatsachen und dem Hin-
weise begnügen, daß hier — wenn auch in den Einzel-
heiten verschieden — die gleichen Faktoren bestimmend
waren wie in dem zuvor besprochenen Falle.
Zwischen der zwölfjährigen Ilse und ihrem um zwei
Jahre älteren Bruder Gert kam es von Zeit zu Zeit zu
koitusähnlichen Akten, die — oft nach langen Pausen —
ganz plötzlich vorgenommen wurden. Hier lag auf seilen
des Mädchens gar kein bewußtes Schuldgefühl vor, wäh-
rend der sehr viel normalere Bruder auch bewußt starke
Schuldgefühle halte. Die Analyse der beiden Kinder ergab,
daß eine in der ersten Kindheitsperiode entstandene se-
xuelle Beziehung zu Beginn des Latenzalters nur zeitweise
abgebrochen worden war, weil ein aus dem übermäßigen
• Schuldgefühl herrührender zwanghafter Antrieb auf bei-
den Seiten von Zeit zu Zeit die Wiederholung herbei-
führte. Die in der frühen Kindheit ausgeführten Akte
hatten sich im Latenzalter nicht nur der Häufigkeit nach
verringert, sondern auch dem Charakter nach einge-
schränkt. Fellatio und Cunnilingus waren aufgegeben wor-
den und einige Zeit hindurch kam es nur zu gegenseitigem
Betasten und Beschauen. In der Vorpuberlät setzten aber
wieder koitusähnliche Berührungen ein. Diese Akte gingen
vom Bruder aus und trugen einen zwanghaften Charakter.
Er folgte dabei einem plötzlichen Impuls; weder vorher
10. .. , 147
noch nachher beschältigle er sich mit ihnen in Gedanken.
Er „vergaß" das Geschehnis aiicli fast völlig von einem
Mal zum anderen. Diese partielle Amnesie lag ebenfalls
für eine Reihe anderer mit dem Sexualverkehr assoziativ
verbundener Dinge vor und bestand in ungewöhnlichem
Maße für die frühe Kindheil. Die Schwester war in frühe-
rer Kindheit häufig der aktive Teil gewesen, spielte al)er
später nur mehr eine passive Uolie. In dem Maße, in dem
die Analyse bei beiden Kindern die lieferen Ursachen
des vorliegenden Zwanges aufklärte, loste sich dieser auf
beiden Seiten auf, und es kam auch zur völligen Ein-
stellung der sexuellen Beziehung zwischen
ihnen. Auch in diesem Falle verbesserte sich das
ursprüngUch sehr schlechte Verhältnis zwischen
den Geschwistern in auffallender Weise.
In diesen und auch in anderen Fällen erfolgte die Auf-
lösung des Zwanges zugleich mit einer Jleihc von ein-
schneidenden, ineinandergreifenden Veränderungen. Die in
der Analyse schrittweise sich vollziehende Milderung des
Schuldgefühls ging mit der Herabsetzung des Sadismus
und einem stärkeren Hervortreten der genitalen Stufe
einher. Dies drückte sich in entsprechenden Änderungen
der Masturbationsphanlasien — beim kleineren Kinde auch
der Spielphantasien — aus.
In Analysen des Pubertätsallers läßt sich dann
auch noch eine Veränderung der Masturbations-
phanlasien feststellen. S<i halle Gert zum Heispiel
keine bewußten Masturbationspliantasien; im Verlaufe der
Analyse setzten Masturbationsphanlasien ein, die ein Mäd-
chen zum Gegenstand halten, von dem er nur den nackten
Körper und nicht den Kopf sah. Auf eiiu'r weiteren Stufe
trat der Kopf immer deutlicher hervor und erwies sich
als der seiner Schwester. Zu dieser Zeit war al)er der
Zwang schon aufgelöst, und die sexuelle Beziehung zwi-
schen den Geschwistern war ganz cingestelll worden.
Hieraus gehl der Zusammenhang iiervor, der zwischen
der übermäßigen Verdi'ängung der auf die Schwester ge-
148
richteten Wünsche und Phantasien und dem zwanghaften
Antrieb zum Sexualverkehr mit ihr bestand.
Noch später veränderten sich die Phantasien dahin-
gehend, daß er nur andere, fremde Mädchen sah, schließ-
lich war es ein bestimmtes Mädchen — eine Freundin der
Schwester — , von der er phantasierte. In diesen stufen-
weisen Veränderungen do-kumenlierte sich die Ablö-
sung von der Schwester; sie konnte erst ein-
setzen, nachdem die aus übermäßigem Schuld-
gefühl resultierende zwang hafte Fixierung an
sie analytisch behoben worden war.
Ich komme, was die sexuellen Beziehungen von Kin-
dern — insbesondere von Geschwistern — untereinander
betrifft, auf Grund meiner bisherigen Erfahrungen zum
Ergebnis, daß solche Beziehungen in der frühen Kindheit
allgemein sind, dagegen im Latenzalter und in der ersten
Pubertät nur beibehalten werden, wenn das Schuldgefühl
übermäßig und seine Verarbeitung nicht geglückt ist.
Allerdings bin ich nach meinen Beobachtungen über-
zeugt, daß diese Beziehungen auch in diesen Lebens-
perioden sehr viel häufiger sind, als im allgemeinen an-
genommen wird.
Allem Anschein nach wirkt sich das Schuldgefühl im
Latenzalter dahin aus, daß, während die Masturbation in
geringerem Ausmaße bestehen bleibt, sexuelle Betätigun-
gen von Kindern untereinander — sei es mit Geschwistern
oder anderen Kindern — als eine zu starke Realisierung
der inzestuös-sadistischen Wünsche verworfen werden.
Auch noch im Pubertätsalter wirkt die Zielsetzimg dieser
Entwicklungsperiode, die die Ablösung von den inzestuö-
sen Objekten beinhaltet, solchen Beziehungen entgegen.
Die Aufnahme von sexuellen Beziehungen zu neuen Objek-
ten aber erfolgt normalerweise in einem späteren Ab-
schnitt des Pubertätsallers. Sie basiert auf der sich voll-
ziehenden Ablösung von den alten Objekten und beruht
dann auf anderen, dem Inzest entgegenwirkenden Stre-
bungen.
149
Nun erhebt sich die Krage, inwieweit es mögUch wäre,
von vornherein das Z u s l a n d e k o ni m c u solcher
B e z i e h u n f? e n zu verhindern? Es scheint mir
sehr zweiieihatt, ol) dies möglicli wäre, ohne anderen
schweren Schaden anzurichten (zum i^eispiel dadurch, daß
die Kinder einer zu weit gehenden Beaufsichtigung und
Freiheitsl)eraubung unterworfen würden)» ja, ob selbst
bei schärferer Beaufsichtigung solclic Beziehungen über-
haupt verhindert werden können. Hiezu kommt, daß diese
frühen Krlelmisse, die so überaus scluidigcnd wirken
können, in anderen Fällen die Kntwicklung gün-
stig beeinflussen. Die sexuellen Beziehungen von
kleinen Kindern untcrciniuuier dienen allem Anschein nach
— neben der libidinösen Befriedigung und der Befriedi-
gung des sexuellen WilMriel)es — der Funktion, das über-
mäßige Schuldgefülil abzuschwächen. Da der Phantasie-
gehalt dieser Beziehungen auf den sadistischen Mastur-
balionsphantasien beruht, diese al)er die Quelle schwerster
Schuldgefühle sind, führt die Tatsache, daß an diesen
verpönten, gegen die Fitcrn gerichteten Phantasien ein
Partner teilnimmt, ein Ciefühl der Bundesgenossen-
schafl herbei, das die Angst vermindert. Hingegen er-
geben sich aus der Beziehung selbst wieder Angst- und
Schuldgefühle. Welche Momente überwiegen und
ob diese Beziehung sich als Hückhalt gegen die Angst
auswirkt oder diese noch verstärkt, dafür scheint dasJ
Ausmaß des eigenen Sadismus und insbesondere die Ein-j
Stellung des Partners entscheidend. Wo der positive, libi-J
diuöse Faktor überwiegt, kann sie — wie ich in einerj
Reihe von Fällen feslstcille — die Liebesfähigkeit undj
Objektbeziehung in grnndlegejider Weise günstig beein-
flussen. In Fällen, in denen die destruktiven Trieh-j
regungen (ja sogar Zwang seitens des einen Partners)
diese Beziehung beherrschen, kann sie die ganz«
Entwicklung auf das schwerste schädigen.
Auch in der Frage der Sexuiilbetäliguiig des Kindes
— wie in einigen anderen — führen uns die psychoanaly-
150 •
tischen Ergebnisse zur Erkenntnis der vollen Tragweile
gewisser Enlwicklungsmomente, ohne uns aber zugleich
die Möglichkeit zu bieten, zuverlässige Regeln für die
Prophylaxe aufzustellen.
Freud schreibt in den „Vorlesungen": „Diese Ver-
hällnisse haben ein gewisses Interesse für die Pädagogik.
die sich eine Verhütung der Neurosen durch frühzeitiges
Eingreifen in die Sexualentwicklung des Kindes zum Vor-
satz nimmt. Solange man seine Aufmerksamkeit vorwie-
gend auf die infantilen Sexualcrlebnisse gericlitel hält,
muß man meinen, man habe alles für die Prophylaxe
nervöser Erkrankungen getan, wenn man dafür sorgt,
daß diese Entwicklung verzögert \vird und daß dem
Kinde derartige Erlebnisse erspart bleiben. AUein wir
wissen schon, daß die Bedingungen der Verursachung für
die Neurosen komplizierter sind und durch die Berück-
sichtigung eines einzigen Faktors nicht allgemein beein-
flußt werden können. Die strenge Behütung der Kind-
heit vcrUert an Wert, weil sie gegen den konslilulionellen
Faktor ohnmächtig ist; sie ist überdies schwerer durch-
zuführen als die Erzieher sich vorstellen, und sie bringt
zwei neue Gefahren mit sich, die nicht gering zu schätzen
suid, daß sie zu viel erreicht, nämlich ein für die Folge
schädliches Übermaß von Sexualverdrängung begünstigt,
und daß sie das Kind widerstandslos gegen den in der
Pubertät zu erwartenden Ansturm der Sexualfordcrun-
gcn ins Leben schickt. So bleibt es durchaus zweifelhaft,
wie weit die Kindheitsprophylaxe mit Vorteil gehen kann
und ob nicht eine veriinderle Einstellung zur Aktualität
einen besseren Angriffspunkt zur Verhütung der Neu-
rosen verspricht."
151
k.
DIE PSYCHOANALYTISCHE
THEORIE DES SPIELES
Von
Robert Wälder
Der Aufsatz erachien ziieret in dem Sonderheft „Spielen
und Spiele" der „ZeitachrÜt für psychoanalytische Päd-
' agogik", VI. Jahrgang 1932, und wurde für den Almanach
vom Autor neu bearbeitet. Das Sonderheft enthält u. a.
Beitrüge von Ernst Schiiüider (Kinderreigen),
N. S e a r ! (Spiel, Realität und Adgrossion ). Hans
Zu] Hg er (Zur Psychülogie des KinderapielsJ, Wilh.
Hoff er (Das Archaische im Spiel). Preis des Heftes
M. 2.—.
Das Kinderspiel hat bei vielen Psychologen verschie-
dener Richtungen seine wissenschaftliche Behandlung ge-
funden. Die Kinderpsycliülogie, die an unseren Universi-
täten gelehrt wird, hat sich mit dem merkwürdigen
Phänomen beschärtigt, daß ein betriichllicher Teil des
Tages des heranwachsenden Kindes mit Spiel ausgefüllt
ist, und es wurden verschiedene Ansätze zu seiner Er-
klärung imlernommen. Wir wollen nun sehen, was die
Psychoanalyse zur Frage des Kinderspieles auszusagen
hat.
Wer die Literatur der Schulpsychologie zum Spiel-
problem mit den — mehr gelegentlichen — Publikationen
der Psychoanalyse über diese 1-rage vergleicht, dem wird
vor allem auffallen, daß es jedesmal eine andere üruppe
von Spielen ist, die das Hauptaugenmerk auf sich lenkt.
In der Scbulpsychologie werden vornehmlich die sozu-
sagen offiziellen Spiele des Kindes betrachtet, Spiele, die
typisch sind und von allen Kindern geübt werden. In der
psychoanalytischen Literatur dagegen erregen andere Spiele
das erhöhte Interesse, die mehr individuellen, an denen
das Kind vielfach nur eine gewisse Zeit lang festhält. Es
soll natürlich nicht gesagt sein, daß sich die Schul-
psychologie nicht mit den individuellen oder die Psycho-
r.T
152
analysc nicht mit den traditionellen typischen Spielen der
Kinder befassen würde; aber es ist doch kaum verkenn-
bar, daß der Hauptakzent einmal hier und einmal dort
gelegen ist.
Die psychoanalytische Spieltheorie ist nun nicht so
beschaffen, daß sie eine einzige Erklärung für das Phäiio«-
men „Spiel" zur Hand hätte, aus dem alle Spiele und
alle dabei auftretenden Erscheinungen zu erklären wären.
Es ist vielmehr hier so wie auch sonst in der Psychoana-
lyse, daß dasselbe Phänomen verschiedene Bedeutung
haben kann, verschiedene Funktion erfüllen kann, im
allgemeinen gar nicht aus einer einzigen erklärbar ist :
mit einem Worte, wie man in der Psychoanalyse zu sagen
pflegt, daß das Phänomen verschiedene Determinanten hat.
Im folgenden soll auf die in der psychoanalytischen
Spieltheorie wichtigsten eingegangen werden, welche vor
allem auch die für die Psychoanalyse charakteristischen
sind.
Zunächst kann über die Kinderspiele ausgesagt werden,
daß sie ein vom Kind erlebtes Material verarbeiten. Dieses
Material mag dann im Spiel vom Kind verschieden ge-
formt werden, dem Vorgang der erlebten Wirklichkeit
mag im Spiele eine andere Lösung gegeben werden^ das
Material ist doch jedenfalls aus dem Erleben geschöpft.
So sehen wir das Kind z. B. als Mutter mit der Puppe
spielen oder mit einem anderen Kind Vater und Mutter
spielerisch darstellen, oder Lehrer und Schüler oder
Räuber und Gendarm und dgl. mehr. Das zur Verarbei-
tung gelangte Material ist jeweils ein erlebtes Material,
also etwa die erlebte Situation zwischen Mutter und
Kind, zwischen Vater und Mutter, zwischen Lehrer und
Schüler usw. Nun ist unser erster Führer in der Betrach-
tung psychischer Phänomene das Lustprinzip. Wir halten
eine Erschemung für versländlich, wenn wir sehen, daß
durch sie eine Befriedigung des Luststrebens hergestellt
wird. Das ist nun zweifellos im Kinderspiel häufig der
Fall. Im Spiel mit der Puppe etwa wird die Befriedigung
. 153
\
nicht verkannt werden dürfen, die in dt-r Situation ge-
legen ist, selbst Mutler /u sein, wie iU)erliau|)t in vielen
anderen Spielen die Befriedigunf^ des Groß- und Erwach-
sen-sein-wollens. Und wciui das Kind einmal durch das
Erlebnis die beglückende Situation eines Auloausfluges
kennengelernt hat, oder wenn seine Phantasie durch Er-
zählungen davon angeregt wurde, und es sich jetzt einen
solchen Auloausriug wünscht und in einem Spiele reali-
siert, so werden wir das ohne weiteres verstaiullirh linden.
Gewiß ist auch damit noeh nicht erklärt, warum diese
Wünsche gerade eine spielerische Verwirkhchung finden,
aber die Erscheinung wird damit jedenfalls in das uns
ja auch sonst bekannte Gebiet der Piiantasiebefriedigungen
eingereiht und wenigstens das Inhalllirhe an dem Phäno-
men wird versländlich. Mit diesen wenigen Hinweisen
sollte gesagt wei'den, daß auch im Kinderspiel eine
Fülle von Befriedigungen des Lustsire hens
nachweisbar isl, dali es sich sehr oft und vielleicht sogar
immer in irgend einer Schiebt oder Determinante um die
Verwirklichung einer luslvollcn Situation handelt, daß also
sicherlich manches oder vieles im Kinderspiel unter das
Luslprinzip rällt.
Nun aber lieginnt hier eine Schwierigkeil. Denn so
sicher es wohl einerseits isl, daß das Lustprinzip viele
Situationen des kindlichen Spieles umfaßt, so wenig kann
man sich der Erfahrung entziehen, daß das Kind außer-
ordentlich häufig im Spiel Silualionen herstellt oder doeh
von Situationen ausgehl, die im wirklichen Erleben un-
lustvoll gewesen sind. Hierfür ein einfaches Beispiel: Das.
Kind ist etwa zum Zahnarzt gebraeht worden, es hat die
Behandlung mit großer Angsl erwartet und durch sie
peinliche Schmerzen erfahren. Nach dem Luslprinzip
müßten wir am ehesten erwarten, daß die iiöehst unan-
genehme Situation, nachdem sie nun endlich zum Glück
vorüber isl, beiseite gelegt wird, und daß sich das Kind
nicht gerne mit ihr beschäftigt. Nach dem Luslprinzip sind
wir also kaum darauf gefaßt^ das Wiederkelireu dieser
154
• t
Situation im Spiel zu erw'arten. Tatsäctilich geschielit
das jedoch sehr häufig- Es mag also nun sein, daß das
Kind am darauffolgenden Tage zu Hause Zahnarzt spielt
und sich dazu vielleicht einer Puppe oder eines etwa vor-
handenen jüngeren Geschwisterchens bedient. So wird
häufig gerade eine sehr unlustvolle Situation zu einem <
Material oder doch zum Anknüpfungspunkt eines darauf-
folgenden Spieles, das dann in der Regel eine gewisse
Weile andauert, um allmählich abzuklingen. Wenn wir
uns also vom Lustprinzip führen ließen, zu dem wir aus
vielen anderen Erscheinungen als dem im Seelenleben
geltenden Prinzip Vertrauen haben, so sind wir nunmehr
an einen Punkt gekommen, an dem dieses Prinzip zu ver-
sagen scheint, und wir haben uns zu frageni, wie! dieses
Resultat zu verstehen ist.
Nicht ganz an dieser, aber an einer ähnlichen Stelle
setzt eine Theorie von K. Bühler ein. Nach Bühler
ist das Kinderspiel nicht aus einer Lustbefriedigung zu
erklären. Es ist aber dennoch lustvoll und daher im
Sinne dieser Bühlerschen Theorie mit einer anderen Art
von Lust verbunden als der Befriedigungslust. Bühler
spricht von der Funktionslust, d. h. von der Lust, die in
der reinen Aktion ohne jede Rücksicht auf den Erfolg •
dieser Tätigkeit erlebt wird. Die Befriedigungslust stelle
eine Lust am Erfolge einer Tätigkeit dar, die Funktions-
lust eine Freude an der Tätigkeit selbst. Das lebendigste
Beispiel einer Funktionslust sei das Spiel des Kmdes.
Freude an all den Tätigkeiten und Funktionen, in deren
Entwicklung das Kind begriffen ist, trete in ihm auf. Die
spielerischen Tätigkeiten hätten durchgängig den teleolo-
gischen Sinn einer Vorübung künftiger Funktionen, wie
das etwa auch schon früher von Philosophen, z. B. von
Groos behauptet wurde i); die Funktionslust ste lle aber
1) Ohne die teleologische Funktion der meisten Spiele als Vorübimg in
Abrede zu stellen, ist doch darauf hinzuweisen, daß es Spiele gibt, in
denen keineswegs eine Vorübung erblickt werden kann, ja sogar solche,
die deutlich nach rückwärts gewendet sind. Hieher gehorb z. B. <iaB
155
1
die erlebnismälMge Erklärung? dafür dar, daß eine solche
Vorübung tatsächlich stattlindeL
Auf diese Theorie kann in dem Rahmen dieser Arbeit
nicht erschöpfend eingegangen werden und es seien nur
einige Hinweise gestattet. Die Tatsache einer vom Erfolg
unabhängigen Freude am Tun von irgend etwas besteht
ohne Zweifel. Bei solch einer Lust sind aber nocJi zwei
Komponenten zu unterscheiden. Eine Komponente, die
wieder als Befricdigungslust anzusprechen ist, wenn in
der Tätigkeit selbst eine bestimmte Befriedigung i*) gelegen
ist (z. B. in der Tätigkeit des Eltcrnspieles die Befriedigung,
selbst groß und erwachsen und Vater oder Mutter zu
sein) und eine zweite davon unabhängige Lustkomponente,
die wohl erst die Funklionslust im eigentlichen Sinne
darstellen würde. Die Existenz einer solchen Ennklionslust
mag durchaus eingeräumt werden, es besteht kein Grund,
an ihr zu zweifeln, und sie mag insbesondere in den
Perioden des Wachstums des Organismus, also m der
Kindheit, eine Holle spielen. Nichtsdestoweniger, obwohl
Babyspiel. Es kommt manchmal vor, daü das Kind — etwa im drittea
L«benBJahr — spielt, wieder oin kloinea Baby 211 eoin. spielerisch Hilf-
losigkeit und Sprachunfühiskeit und dal agiert. Dieses Spiel ist gewiß
nicht regelmäßig, aber doch auch wieder nicht ganz so sotten, daß man
darüber hinweggehen konnte. Ks tritt z. B. gelegüntüch nach der Geburt
emes jüngeren GeBchwisterchens auf. In diesem Falle ist der Sinn dos
Spieles deutlich eine Wunscherfüllung. Das Kind will der Vorteile wieder
teUhaftig werden, die wirklich oder aeineB Erachtena nach das Neu-
geborene genießt. Das Spiel ist manchmal mit dorn Auftreten von
Enuresis verknüpft. Ohne auf das DeUil einer solchen Erscheinung ein-
»ugehen. ist es für uns nur ein Beispiel dafür, daß nicht jedes Spiel
notwendig eine Vorübung bedeuten muß.
_*) Die fatale Aequivokation des Wortes „BefriiidlKung" wirkt hier
störend. Es bedeutet einerseits „Zum- Krieden- Kommen", „Zur -Ruhe -
Kommen , andererseits in weiterem Sinne jede lustvoll« Erfüllung iz, B. in
der Redewendung: Befriedigung in der Arbeit). Die Psychoanalyse gebraucht
das Wort durchwegs in weitem Sinne. Das hat jedoch mit der metapey-
chologischen Frage nichts zu tun. ob der Bofriedigung letzten Endes ein
Spannungsausgleich im psychischen System entsprwht - wie früher
manchmal angenommen wurde - oder eüi komplSzlerter «eitlicher Ver-
lauf von Erregungen, ivie seit Freuds „Ökonomischem Prinzip des
Masochismus" vermutet wird.
156
die Existenz einer solchen Lustart einzuräumen ist, seheint
uns die Funktionslust nicht ausreichend, um die oben
besprochenen Spiele zu erklären, deren Material unlusl-
volle Erlebnisse sind. Und zwar aus folgenden Gründen:
Die Funklionslust ist eine rein formale Lust und ex
definitione unabhängig vom Inhalt des Geschehens, an
dem sie erlebt wird. Nun ist aber der Inhalt des Spieles
doch offenbar nicht gleichgültig. Man sieht immer wieder,
daß gerade gewisse Spiele plötzlich beim Kind auftreten
und nach einer gewissen Zeit wieder verlassen werden.
Es besteht kein Recht zu der Annahme, daß es gleich-
gültig und keiner weiteren Erklärung bedürftig sei, warum
das lünd gerade jetzt gerade dieses Spiel spielt, warum
also etwa, um auf unser Beispiel zurückzukommen, am
Tage nach dem Erlebnis vom Zahnarzt, welches das Kind
aus dem Gleichgewicht gebracht hat, nunmehr Zahnarzt
gespielt wird und dieses Spiel z. B. vierzehn Tage lang
festgehalten wird, um dann vielleicht nur noch sporadisch
aufzutauchen und ganz zu verschwinden. Wenn dieses
Spiel nur durch eine Formallust vollkommen erklärt wäre,
so daß hier nichts mehr zu erklären übrig bliebe, so
müßte auch ein Stoff durch den anderen, ein Spielinhalt
durch den anderen vertauschbar sein. Es müßte also das
Kind unseres Beispiels ebenso bereit sein, an Stelle des
Zahnarztspiels irgend ein beliebiges anderes, dem Funk-
tionsgehalt nach ähnliches zu spielen. Eine solche Ver-
tauschbarkeit des Inhaltes liegt aber nicht vor, sondern
es wird zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes
Spiel vorgezogen. Der Inhalt ist nicht gleichgültig und er
ist nicht vertauschbar. Darum genügt uns eine Formallust
nicht, um die Erscheinungen eines offenbar auch inhaltlich
bestimmten Phänomens restlos zu verstehen.
Die Spiele von dem erwähnten Typus haben zudem
eine charakteristische Ablaufkurve, welche durch die An-
nahme der Funktionslust ebenfalls nicht erklärt wird. Das
Kind spielt also etwa — um wieder beim Beispiel zu
bleiben — einige Tage sehr viel und sehr gerne das Zahn-
157
tik_
arztspiel, dann komml das Moliv immer seltener, immer
affektärmcr und versehwiiulel schließlich, komml viel-
leicht gclcRenllich wieder, aber auch dann im allgemeinen
dureh beslinimlc Anlässe provoziert. Es macht also der
Verlauf der Intensität und des AlfeklKehalles des Spieles
den liindnick, als ob hier ein gewisser AtTekt ablaufen
würde oder hesser, als oh ein Al'fektrcsiduuin, das vom
lirlehnis seihst zurückgeblieben ist, langsam assimiUert
würde.
Das führt uns mm zur Freud seilen Lehre vom Kinder-
spiel und dessen bauplsfuhlichster l'unktion im I.ehen
des Kindes hinüber, t^hc wir diese darstellen können, muß
uns ein kleiner Exkurs in ein Kapitel der psychoanalyti-
ichen Tlieorie gestattet • werden, die hier herangezogen
wird. Es ist die Lehre vom Wiederholungszwang. Nach
dieser theoretischen Abschweifung werden wir zum ei"ent-
licheii Thema der psychoanalytischen Lehre vom Kinder-
spiel zurückkehren. •
I Es gibt im Menschenleben Wicdcrhohmgcn ganz ver-
schiedener Art. Es koninil sehr hautig vor, dali ein Mensch
dasselbe wiederlu>ll tut, dali er dieselbe Situation immer
wieder erlebt, und dergleichen mehr. Nicht alle Wieder-
holungen, die es im Menschenleben gibt, fallen unter den
psychoanalytischen Begriff des Wiederholungszwanges,
sondern nur eine ganz bestimmte (Irupije unter ihnen.
Wenn etwa jemand diesellie Siliialion Inuner wieder Y^er-
stellt, weil er eine Befriedigung sucht, die er niemals
findet (Don-.Iuan-Typus), so liegen Wiederholungen vor,
aber sie sind an und für sich nicht durch den Wieder-
holungszwang zu erklaren, sondern durch das konstante
Streben nach einem bestimmten Ziel und durch die Ent-
täuschung hei jedem einzelnen Versuch. Eine andere Art
von Wiederholungen liegt etwa in dem ständig erneuten
Ansetzen einer Tätigkeit bei einem schwer Gehemmteji
vor. Auch hier entsteht der Eindruck der Wiederholung,
doch ist das Phänomen elienfalls aus seiiu'r psychi.schcn
Konstellation erklärbar und der Wiedcrliolungszwang ist
158
hier nicht heranzuziehen. Wieder ein anderes Beispiel
wären die Wiederholungen, die durch Erstarrung und
Verarmung des sceUschen Organismus entstehen und die
z. B. bei der senilen Demenz auftreten. So könnte man
wahrscheinlich noch eine ganze Anzahl von Typen von
Wiederholungen im Psychischen unterscheiden, von denen
jeder seine Erklärung hat und die doch alle noch nichts
mit einem ganz bestimmten Wiederholungsvorgang zu tun
haben, den die Psychoanalyse als durch „Wiederholungs-
zwang" zu staudegekommen beschreibt.
"Unter diesem eigentlichen Wiederholungszwang ver-
stehen wir den nachfolgend beschriebeneu Vorgang: Der
Mensch hat ein bestimmtes Erlebnis gehabt, das schwie-
riger und größer gewesen ist, als daß er es sofort assimi-
lieren könnte. Dieses unassimilierte oder nicht vollständig
assimilierte Erlebnis lastet nun gleich einem Druck auf
seiner seelischen Organisation und drängt dahin, neuer-
lich vorgenommen, neuerlich im Erlebnis reproduziert zu
werden. Dieses Erlebnis hat zwei Seiten. Vom Es her
gesehen, d. h. insoferne betrachtet, als der Mensch passiv
ist und von Kräften in ihm gelebt wird, ist es ein Zwang,
der auf ihn einwirkt und zur Reproduktion drängt. Zu-
gleich hat dieser Vorgang aber auch eine aktive Seite;
vom Ich her gesehen ist es zugleich ein Versuch des Ichs,
durch die Erneuerung das Erlebnis nunmehr zu assimi-
lieren und in seine Gewalt zu bekommen. Insoferne hat
der Wiederholungszwang ein Janusgesicht. Einerseits ein
Schicksal, dem wir unterworfen sind, und anderenteils ein
aktiver Versuch, das Schicksal zu meistern. Der ganze
Vorgang ist am ehesten — ■ wenn so ein Gleichnis ge-
stattet ist — mit dem W^iederkäuen mancher Tiere zu
vergleichen. Der Bissen ist zu groß, um auf einmal ver-
daut zu werden, und die unverdaute Mahhieit lastet jetzt
im Magen. Sie muß wiedergekäut werden, um nunmehr
verdaut werden zu können. Auch dieser Vorgang hat ja,
wenn man es wagen wollte, den Vergleich so weit für Irag-
fähig zu halten, zwei Seiten: Der Druck der unverdauten
159
Mahlzeit ist gleichsam die Es-Koinponente, die Komponente!
der Passivität, und das Verdauen durch den Akt des
Wiederkauens die Ich-Komponente bei dem ganzen Vor-
gang. Der Punkt, an dorn uns unser Vergleich endgültig"'
verläßt, ist nur der, daß ein Wiederkäuen ein oder We-
nige Male hier im Organischen ausreichend ist, während
es im Wiederholungszwange ein sehr oft wiederholtes
Wiederkäuen gibt, einmal mehr und einmal weniger oft,
und in manchen Fällen, wie wir sehen werden, kommt es
trotz ständigen Wiederkauens eigentlich niemals zur vollen .
Assimilation,
Die zwei Seiten des Wiederholungszwanges, sein Janus-
gesicht, lassen sich auch so ausdrücken, daß das; Lebe-
wesen in der Wiederholung von der Passiviläl zur Akti-
vität übergeht und auf diesem Wege die zunächst nur
passiv empfangenen Kebenseindrücke psychisch bewältigt.
In diesem Sinne hat Freud die Krscheinung des Wieder-
holungszwanges zu wicderholfen Malen besehrieben. Sq
heißt es z. B.: „Das Ich, welches das Trauma passiv
erlebt hat, wiederholt nun aktiv eine abgeschwächte tVe-
produklion desselben, in der lloniumg, deren Ablauf
selbsttätig leiten zu können. Wir wissen, das Kind be-,
nimmt sich ebenso gegen alle ihm peinlichen l^indrucke'
indem es sie im Spiel reproduziert; durch diese Art, Von
der Passivität zur Aktivität überzugehen, sucht es seüig
Lebenseindrücke psychisch zu bewältigen." ») Ganz identisch
heißt es schon früher mit noch speziellerer Beziehung ^uf
das Kinderspiel, auf die wir in unseren Ausführungen erst
zurückkommen werden i „Man sieht, daß die Rmdcr alles
im Spiel wiederholen, was ihnen im Lehen großen Ein.
druck gemacht hat, daß sie dabei die Stärke des Ein-
druckes abreagieren und sich sozusagen zu Herren ^j^j
Situation machen".*) ,.Uoim Kinderspiel glauben wir es zu
begreifen, daß das Kind auch das unluslvoUe Brlebj^is
darum wiederholt, weil es sich durch seine Aktivität eine
8) „Hemmung. Symptom und AnKst". fins. Sehr. Bd. XI. S. hq,
*) „Jenaeitö doe LuBtprinaipB". Göö. Scbr. Bd. VI, S. 202 f.
100
weit gründlichere Bewältigung des starken EindrucJts er-
wirbt, als es beim bloüen passiven Erleben möglich war.
Jede neuerliche Wiederholung scheint diese angestrebte
Beherrschung zu verbessern ..."') Und schließlich noch ein
Zitat: „Das Verhältnis der Aktivität zur Passivität verdient
hier unser besonderes Interesse. Es ist leicht zu
beobachten, daß auf jedem Gebiet des seelischen Erlebens,
nicht nur auf dem der Sexualität, ein passiv empfangener
Eindruck beim Kind die Tendenz zu einer aktiven Reaktion
hervorruft. Es versucht das selbst zu machen, was vorhm
an oder mit ihm gemacht worden ist. Es ist das ein Stück
der Bewältigungsarbeit an der Außenwelt, die ihm aufer-
legt ist, und kann selbst dazu führen, daß es sich um die
.Wiederholung solcher Eindrücke bemüht, die es wegen
ihres pemlichen Inhalts zu vermeiden Anlaß hätte. Auch
das Kinderspiel wird in den Dienst dieser Absicht gestellt,
ein passives Erlebnis durch eine aktive Handlung zu er-
gänzen und es gleichsam auf diese Art aufzuheben. Wenn
der Doktor dem sich sträubenden Kind den Mund geöffnet
hat, um ihm in den Hais zu schauen, so wird nach seinem
Fortgehen das Kind den Doktor spielen und die gewalt-
tätige Prozedur an einem kleinen Geschwisterchen wieder-
holen, das ebenso hilflos gegen es ist, wie es selbst gegen
den Doktor war. Eine Auflehnung gegen die Passivität und
eine Bevorzugung der aktiven Rolle ist dabei unverkenn--
bar. Nicht bei allen Kindern wird diese Schwenkung von
der Passivität zur Aktivität gleich regelmäßig und energisch
ausfallen, bei manchen mag sie ausbleiben." ß)
Die zitierten Stellen nehmen, wie erwähnt, schon aus-
drückhch Bezug auf die Theorie des Kinderspieles, auf
die wir erst eingehen werden. Hier handelte es sich bisher
um die Klarstellung des psychologischen Vorganges bei
jeneji Erscheinungen, die die Psychoanalyse unter dem
Begriff des Wiederholungszwanges beschreibt, und um
*) L. c. S. 224. . '■■■.. -
^) „tJber die weibliche Sesualdtät". Internat. Zschr. f. PsA, XVII,
1931, S. 326.
11 Almanach 19S8 '161
_ !. .'_"ll" T '
die merkwünliye Doppelstellung des WicderhoIun|;jsz\vanges
zwischen einem Druck u tergo und einem Assimilalions-
versuch des Ichs.
Alldem liegt eine Annahnu- über das Verliällnis des
seelischen Organismus zur AuI3cn\velt zugrunde. Die Psy-
choanalyse nimmt an, daß der seelische Organismus uur
imstande ist, die Heize der Aul^enwelt in gewissen geringen
Dosen aufzunehmen und zu assimilieren, wenn eine solche
quantitative Ausdrucksweise zum Vergleich gestattet ist
Treffen die Reize der Außenwelt in zu großen Portionen
in der Zeiteinheit auf das Lebewesen ein, so versagt diesaj
Fähigkeit und der Mechanismus des Wiederholungszwaiigesj
tritt in seine Rechte. Das Unerledigte übt einen Druck aus?
und muß wiederholt vorgenommen, gleichsam nachlräo-
lich in kleine Portionen zerlegt werden.
Der Wiederhoiungszwaiig ist also rein empirisch gefaßt
gar kein blinder Urtrieb, der da heischt: Wiederhole Dicht
Er ist der Druck, den das Unerledigte ausübt und da«:
ständige Bestreben des Ichs zur Assimilation. Die TatJ
Sache seiner empirischen Plxistenz kann kaum bestritten
werden, denn im Erleben des Alltag findet man stüntiiji
Zeugnis für ihn.
Nach diesem Exkurs über die Theorie des Wieder-
holungszwanges sind wir auch vorbereitet, die psychoaua^
lytischc Lösung des früher besprochenen Problems beim
Kinderspiel zu erörtern. In all den Fällen, in denen da»
Kinderspiel von Erlebnissen ausgeht, die nicht lustvoli
gewesen sind, das Lustprinzip uns also nicht begreit'er!
läßt, warum das Kind diese peinlichen Dinge nicht lieaei
läßt, sondern weiter mit ihnen beschäftigt ist, waren
diese Erlebnisse, die es Im Spiel verarbeitet, jedt'uIaW^i
relativ zur augenblirklichen Traglähigkcit des Kindes z\
schwer. Das Erlebnis beim Zahnarzt in unserem Bcispiej^
war eben ein Ansturm von mehr I'lrlebnissen in verhältnis-
mäßig kurzer Zeit, als der kleine, noch nicht abgchärteie
und außerordentlich pUistisclie und reagible seelische
Organismus des Kindes vertragen konnte. Die Assiniila»
162
\
V\
üonsfähigkeit ist natürlich sehr vom Alter ablimißig. Mit
der Erstarkung des Ichs im Laufe des Lebens wächst die
Fähigkeit, auch Schweres zu ertragen; schon statlge-
fundene schwere Erlebnisse wirken zugleich als Vorbe-
reitung zum Erdulden künftiger (eine Art von Abhärtung).
Mit zunehmender Erstarrung der Person wü-d die Schutz-
krusle gegen äußere Reize dichter und undurchlässiger
(das letztere wird Insbesondere im hohen Alter sehr
deutlich, ist aber auch im Leben des Erwachsenen schon
angedeutet) und mit der abnehmenden Plastizität sinkt die
Empfänglichkeit und Reaktionsbereilschaft. Alle diese Um-
stände bewirken zusammen mit noch manchen anderen
daß das Kind ungleich häufiger als der Erwachsene vor
Erlebnisse gestellt ist, die es nicht sofort assimilieren
kann. Kur den ins Leben erst hinemwachsenden seelischen
Organismus, für den alles noch neu ist und manches zwar
freudvoll anziehend, vieles aber schmerzvoll und bedroh-
lich, ist der übermäßige Reiz — das Trauma, wie man
in gewissem Sinne sagen könnte — geradezu ein Normal-
erlebnis, während es im Leben des Erwachsenen doch
den Ausnahmsfall bildet. Das ist wohl einer der Gründe,
weshalb das sjiielerische Abreagieren des traumatischen
Erlebens gerade in der Kindheit eine so große Rolle spielt
Daß das Kind das Trauma nicht nur viel häufiger erlebt
als der Erwachsene, sondern — eben weU es im Wachs-
tum all seiner Kräfte begriffen ist - auch ungleich leichter
in der Lage ist, es zu überwinden, ist freilich zum Glück
auch wahr, gehört aber auf ein anderes Blatt. Es ändert
nichts an der Tatsache, daß der traumatische Reiz in der
Kindheit zur Regel gehört.
Das Spiel bann nun nach den Ergebnissen, zu denen die
Psychoanalyse gekommen ist, ein solcher Vorgang im Sinne
des Wiederholungszwanges sein, in dem das übermäßige
Erlebnis in kleine Portionen zerlegt, wieder vorgenommen
und spielerisch assimiliert wird. Wenn wir auf die Frage
zurückgreifen, die der Ausgang dieser Überlegungen ge-
wesen ist, warum unlustvolle Erlebnisse so oft das Ma-
il*
163
i
1
Icrial von Spielen bilden, die nunmehr auftauchen, so
können wir sagen, diese Erlebnisse seien zwar unluslvoll,
aber gleichzeilig auch zu schwer gewesen. Das Spiel aber
mag man nunmehr als eine Methode bezeichnen, ein
Erlebnis, das zu groß war, um sofort mit einem Schlage
assimiliert zu werden, immer wieder vorzunehmen und
gleichsam brockenweise zu assimilieren.
Buhler kennt die Wiederholung des Unlustvolleu im
Spiel sehr wohl, meint aber, daß sie erst dann stattfinde-,
wemi das Leid volle schon überwunden ist. Er sagt da-
rüber. „Auf Freud machte die Talsache, daß auch un- 1
luslvolle Ereignisse des Lebens ein Echo im Spiel des'
Kindes finden, großen Kindruck. Der Tatbestand als \
solcher liegt voütconimen klar erkennbar vor uns. Schon
Groos hat ihn gesehen imd treffend beschrieben : Man
muß das Leidvolle überwunden haben, um sich an seiner
gespiellen Wioderhohnig erfreuen zu können. Es ist so
beim Erwachsenen und nicht anders beim Kinde. Nehmen
wir an, es sei eiiunal schmerzhaft von einem Hund ge-
bissen worden oder habe sich an einer Kerze die Finger
verbrannt. Nichts in der Welt wird es zu einer ertisten
oder spielenden Wiederholung bringen, bevor die Ange-
legenheit innerlich erledigt ist und das Kind sich bei
einer neuen Gelegenheit gesichert und ül)erlegen fühlt!'* t\
liier ist nun der eigentliche Unterschied im Tatsäch-
lichen gegeben. Die Gegenthese der Psychoanalyse lautet
exakt: Das Leidvolle wird im Spiel wiederholt, nicht nach-
dem es überwunden und erledigt ist, sondern bevor es
erledigt ist, weil es unerledigt ist und konmit eben durch'
die spielerischen Wiedcrholiiiifjeii zur Überwindung.
Damit rückt das Spiel ein in die Heihe der As.simila_
tionsverfahren durch Wiederholung, deren es im Seelen-
leben noch andere gibt. Es hat damit auch nach der
psychoanalytischen Lehre eine teleologische Funktion. Das
ist al)er nicht mehr so sehr die Funktion der Vorübung
OK. Bühl er. ».Die Krise der Psychologie'*, l. Aufl.. Um 1927.
S. 189 f.
164
^
^
künftiger Tätigkeilen im erwachsenen Leben, sondern die
Funktion der Assimilatioa der von der Auüenwelt herun-
stürmenden Erregungsraengcn, die zu stark oder zu rasch
auf den Organismus einwirken, als daß dieser sofort mit
ihnen fertig werden könnte.
Der Assimilationsprozeß im Spiel kann verschieden vor
sich gehen und es lassen sich wahrscheinlich verschiedene
Typen unterscheiden. Zunächst bedeutet schon die bloße
Tatsache, daß das Kind eine passiv erlebte Situation im
Spiel herstellt, einen Übergang von der Passivität zur
Aktivität. In einer Gruppe von Spielen kommt noch dazu
daß das Kind die Rolle, die es in der Wirklichkeit gehabt
hat, im Spiel vertauscht; war es m der Wirklichkeit der
leidende Teil oder ein angstvoller Zuschauer, wird es
oft im Spiel zum aktiven Teil, zum Helfer oder zum deus
ex madüna. In dieser Gruppe ist also die Wendung von
der Passivität zur Aktivität noch durch die Rollenwahl
betont; das Beispiel vom Zahnarzt gehört hieher. in einer
ftftdcren Gruppe wieder verändert das Kind im Spiel den
Ausgang der erlebten Situation und gibt ihr eine andere
Lösung. Es lassen sich vermutlich noch andere solche
Typen des Assimilationsprozesses unterscheiden.
Es gibt, wie früher angedeutet, noch andere Assimila-
üonsprozesse oder Assimilationsversuche nach dem Me-
chanismus des Wiederholungszwanges, die im Leben desi
Erwachsenen eine bedeutende Rolle spielen. Das einfachste
Beispiel mag sein, wenn ein Erwachsener, der etwas zu
Schweres erlebt hat, durch einige Zeit hindurch — manch-
mal auch dauernd — sich immer wieder im Gedanken
mit dem Erlebnis beschäftigen oder immer wieder davon
sprechen muß. Auch dieser Vorgang steht unter der Herr-
schaft des Wiederholungszwanges., so wie wir ihn be-
schrieben haben. Der nicht assimilierte Einbruch der
Realität in den seelischen Organismus wirkt störend wie
ein Fremdkörper, das Unerledigte drängt und drückt,
wieder vorgenommen zu werden, und das Ich versucht
zugleich durch erneutes Vornehmen das Erlebnis zu assi-
165
milieren. Also auch hier wiederum das Janusgesicht des
Wiederholungszwanges zwischen Ks und Ich.
Auch die Trauer gehört zu den Assiniilationsprozessen
unler der Herrschaft des Wiederholungszwanges. Der Ver-
lust eines geliebten Wesens ist ein sohn\erzvolles Er-
lebnis. Im Momente des Verlustes gibt es nur Schmerz,^
noch nicht Trauer. Wir wissen von Freud, dali sich
nunmehr ein allniäliliclicr Lösungsprozeß von dem ge-
liebten und verlorenen Objekt unserer Sehnsucht voll-
ziehl, der offenbar unter der ICinwirlunig der Realiläts-
Prüfung zustande kommt, die uns immer wieder belehrt
daß das geliebte Objekt uns nicht mehr zur Verfüguu/
steht. Trauer ist das Leid dieser Ablösungsarbeit. Diesa'
vollzieht sich aber unter der Herrschaft des Wieder^!
hotungszwanges, das verlorene Objekt kehrt im (KHlankeu-
immer wieder, erneute Anfälle unbefriedigicr Sc-hnsucht
sind immer erneut schmerzvoll. Und in dieser sich ständig
wiederholenden Wiederkehr des schmcrzUchen Erlebens
spielt sich zugleich beim Ablauf der normalen Trauer
eine allmähliche Assimilation ab. Der Affekt klingt all,
mählich ab.
Ein anderes Beispiel für solche Prozesse bieten die
Träume der Kriegs- und Unfallsneurolikcr. Das furchu
bare Erlebnis der Granatverschütlung oder des sonsd
erlebten Traumas, auf das die traumatische Neurose folgte]
kehrt zu wiederholten Malen im Tra\nnc wieder. Aucbl
das wäre vom Standpmikt des Lusiprinzips aus nicht
versUmdUdi und kann aus der WunscherraUunj^slbcori,
des Traumes nicht erklärt werden. Der Vorgang ist ebei
derselbe, wie hi den fruJieren Beispielen, ©r unterliegt dei,
Wiederholungszwang, das Trauma drängt, weil es nicht
assimiliert wurde, zur Wiederkehr und das Ich versuch!
zugleich, sich des Erlebens zu bemächtigen.
Die Nachbarschaft des Kinderspieles zur traumatischen^
Neurose ist einem Kritiker suspekt erschienen. Die Deu«
tung eines schwer pathologischen Phänomens, wie dei
Träume der Kriegsiieurotikcr, und einer so erfreulich«
166
und lebenserfülUen Erscheinung wie des Kinderspieles aus
einem und demselben Prinzip schien dieses Prinzip ad
absurdum zu führen. Wir meinen, dali dieser Einwand ni<hl
zu Recht besteht; gemeinsam ist beiden Fällen, daß es
sich um Assimilationsversuche eines übermäßijjcn Ge-
schehens bandelt. Freilich unterscheiden sich beide Fälle
andererseits außerordentlich, was den Erfolg des Prozes-
ses anlangt, da in einem Falle die Assimilation mißlingt
und trotz aller Wiederholungen nicht zustande kommt,
•während im anderen Falle eine verhältnismäßig befrie-
digende Assimilation des Geschehens erreicht wird.
Mit der Erkeimlnis, daß das Spiel zu den unter dem
Druck des Wiederholungszwanges stufenweise vor sich
gehenden Assimilationen gehört, ist das Spiel wohl —
zum wenigsten was diese eine, unseres Erachtens ent-
scheidende Determinante betrifft — eingeordnet, aber es
sind noch nicht alle Probleme gelöst. Denn es gibt ja noch
andere solche Prozesse, wie wir an einigen Beispielen ge-
sehen haben, und man darf fragen, was das Spiel unter
ihnen auszeichnet. Auf den ersten Bück möchte man sagen,
daß das Spiel etwas Glückhaftes und Irreales an sich hat,
was es von den anderen unterscheidet. Und vielleicht ist
von hier aus auch die differentia specifica des Spieles in
dieser ganzen Gruppe zu bestimmen. Das Spiel tritt we-
sentlich und mit Erfolg nur beim Kind auf, also in einer
Periode des Wachstums, in der die Traumen des Lebens
auf den steigenden Ast der Vitalitälskurve treffen. Das ist
auch die Zeit einer außerordentlichen Plastizität des
somatischen und psychischen Materials. Es ist gewiß noch
nicht möglich, diesen Zusammenhang mit wünschenswerter
Klarstellung zu sehen, aber es scheint doch wohl kein
Zufall zu sein, daß das spielerische Abreagieren in der
Kindheit an die hohe Plastizität des Seelischen gebunden
ist und anscheinend eine noch nicht durchstrukturierte
seelische Substanz voraussetzt. Wenn diese Plastizität ab-
genommen hat, und wenn die Möglichkeiten eingeengt
sind und einer reicher durchgebildeten Wirklichkeit Platz
167
I
gemacht haben, wenn der weitgehend formlose seelische
Organismus Struktur geworden ist, dann treten, so scheint
es, andere weniger Erfolg verheißende Verfaliren an die
Stelle des Spieles. Ein anderes Spccificum des Spieles,
das sich schon heute präziser fassen läßt, knüpft an den
Charakter des Irrealen an. Im Kinde sind die Grenzen
zwischen Realität und Phantasie noch unscharf, die beiden
Welten greifen gelegentlich ineinander über. Dieses ent-
scheidende Merkmal der Welt des Kindes ist ja bekanntlich
auch nicht analytischen psychologischen Beobachtern von
jeher aufgefallen und in der Psychologie zum Gegenstand
eingehenden Studiums gemacht worden. Dieses Ver-
schwimmen von KeaUtät und Phantasie ist aber offenbar
auch eine Voraussetzung dafür, daß ein spielerisches Ab-
reagieren der Erlebnisse zustande kommen kann.
Es erübrigt sich für uns, darauf hinzuweisen, wie aus
der erzielten Einsicht praktische Anwendungen in der
Pädagogik gewonnen werden können. Wenn es wahr ist,
daß durch das Spiel ein Abreagieren traumatischer Er-
lebnisse zustandekommt, dann ist der Erzieher auch in
der Lage, dem Kinde zu dieser Art von Abreagieren zu
verhelfen. Wenn das Kind etwas sehr Unangenehmes,
Erschütterndes oder Angsterregendes erlebt hat, so ist
es dem Erzieher möglich, das Erlebnis mit dem Kind
sofort zum Spiel zu machen, dabei etwa gelegentlich das
Spiel mit anderem Ausgang oder mit anderer Rolle des
Kindes ablaufen zu lassen und so dem Kind zur veru
hällnismäßig raschen Assimilation zu verhelfen.
Die vorstehenden Erörterungen haben sich nicht die
Aufgabe gestellt, das Phänomen des Kinderspieles über-
haupt erschöpfend zu behandeln, auch nicht die Aufgabe,
erschöpfend alles das darzustellen, was die Psychoanalyse
zum Verständnis des Spieles beitragen kann. Wir haben
nur die eine Seite besprochen, welche der Psychoanalyse
als die für die Bedeutung des Spieles im kindlichen Leben
wichtigste erscheint. Das enthält nun keineswegs die Be-
hauptung, daß jedes Spiel ausnahmslos ein solcher Assi-
168 "^ •.' •
1
V
milationsprozeß sein müßte, oder daß diese Determinante für
dasVerständnis jedeseinzelnenSpieles die entscheidendewäre.
Ein einfaches Beispiel für ein Spiel, das nicht unter
diese Erklärung fällt, ist etwa das spielerische Greifen
nach allen Gegenständen, das in den letzten Monaten des
ersten Lebensjahres auftritt. Dieses Benehmen könnte
vielleicht am ehesten als Äußerung des Bemächtigungs-
triebes verstanden werden. Das Kind befindet sich gerade
jetzt in einem Alter, wo es langsam zur Welt erwacht und
die Objekte der Außenwelt ihren gefahrdrohenden
Charakter, den sie zu Anfang hatten und von dem die
ursprünglich überwiegend negativen Reaktionen des Säug-
lings Zeugnis ablegten, verlieren, und das Kind sich daran
erfreut, sich ihrer mehr und mehr zu bemächtigen. Die
Lust, die es dabei spürt, ist vielleicht der mit dem Ter-
minus der „Funklionslust" gemeinten außerordentlich ähn-
lich, doch sollte man auch hier an der inhaltlichen Bestimmt-
heit nicht vorübergehen, die im Charakter der Bemäch-
tigung gelegen ist. 8)
Eine weitere Funktion des Spieles wird uns deutlich,
wenn wir erwägen, daß das Kind im Spiele erlaubter
Weise manches agieren darf, was ihm in der Wirklich-
keit von der Erziehung versagt wird mid später, wenn
das Überich einmal gebildet ist, auch von seinem eigenem
Gewissen verboten wird. Das Spiel ist damit auch Urlaub
von der Realität und Urlaub vom Überich»);
eben damit aber hilft es auch auf eme andere Weise als die
oben besprochene zur Assimilation der Emgriffe der Er-
ziehung.
Die auffäUigste Parallele zum Spiel des Kindes schemt
uns, wi e emgangs bereits erwähnt, die Phantasie und der
8) Im empirischen Sinn kann getrost von einem BemächtigungBtrieb
Besprochen werden, doch ist damit nichts Letztes im Reiche der Trieba
gemeuit Vom Standpunkt der Trieblehre erscheint der Bemächtigungs-
trieb — wie auch alles andere — als mne MUchung von Uei)e und
Destruktion, als Destruktionstrieb, der durch den Bros nach außen ge-
wendet und harmlos gemacht wird.
9) Ich danke Herrn E. Kris diese, wie mir scheint, glückliche tormei.
169
b^
Tagiraum zu sein. Die beiden kardinalen Bedeutungen, die
wir glaubten im Spiel finden zu können, treffen wir auch
wieder bei der Phanlasie: Triebbefriedigung und Assimila-
lation unlustvoller Erlebnisse. Der eine Groliteil der Pliaa-
tasien sind gewiß deutlich Wunschbefriedigungen; mag
es nun glückliche Liebe oder Reichtum, befriedigter Ehr-
geiz oder Macht, oder was immer sein, das uns ein
Tagtraum als erfüllt vorgaukelt. Für manche Phantasien
gilt aber auch die andere Rolle; in ihnen kehren schmerz-
liche unlustvolle Erlebnisse immer erneut wieder, Nicht-
assimilierles drängt zur erneuten Vornahme und kann
erst so langsam und in kleinen Dosen assimiliert werden.
Freilich ist bei der Phantasie die erste Bedeutung, die
der Wunschbefriedigung, unsäglich viel häufiger und man
wird nur selten Beispiele für die zweite Funktion der
Phantasie zeigen können, während beim Spiel die Bedeu-
tung einer spielerischen Abreaktion gewiß ebenso wichtig
und häufig ist wie die der realisierten Wunsclibefriedigung,
Es scheint in dem Umstand begründet zu sein, den wir
schon diskutiert haben: der Ubiquität des traumatischen
Erlebens im Kindesalter und relativen Seltenheit im Leben
des abgehärteten, durch mancherlei Panzer geschützten
Erwachsenen.
Von hier aus mag dann die Frage nach dem psycho-
logischen Unterschied von Spiel mid Phantasie aufge-
worfen werden. Einige Bemerkungen von Freud geben
wie uns scheint, eine Antwort auf diese Frage: „Jedes
spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es
sich eine eigene Welt schafft oder richtiger gesagt, die
Dinge seiner Welt in eine neue ihm gefällige Ordnung
versetzt. Es wäre danji unrecht zu meineu, es nähme
diese Welt nicht ernst; im Gegenteil, es nimmt sein Spiel
sehr ernst, es verwendet große Affektbeträge darauf. Der
Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit
Das Kind unterscheidet seine Spielwelt sehr wohl, trotz
aller Affektbesetzung, von der Wirklichkeit und lehnt
seine imaginierten Objekte und Verhältnisse gerne an
170 * . '
greifbare und sichtbare Dinge der wirklichen Welt an.
Nichts anderes als diese Anlehnung unterscheidet das
»Spielen« des Kindes noch vom »Phantasieren«"'*). Die
Antwort Freuds geht also dahin, daß sich die Phan-
tasie des Kindes eben noch am realen Objekt betätigt,
während beim Erwachsenen die Realität von der Welt
der Phantasie geschieden ist. Das gehört wohl zu jener
Vermischung von Wirklichkeit und Phantasiewelt, die als
eine Eigentümlichkeit des kindlichen Weltbildes bekannt
Ist. Phantasie am realen Objekt ist aber
nichts anderes als: Spielen.
Zusammenfassend scheinen uns nun die psychoanaly-
tischen Beiträge zum Problem des Spieles durch folgende
Schlagworte zu kennzeichnen: Bemächtigungslrieb ~
Wunschbefriedigung — Assimilation übermächtiger Er-
lebnisse nach dem Prozeß des Wiederholungszwanges —
Wandlung von der Passivität zur Aktivität -— Urlaub von
der Realität und Urlaub vom t)berich — Phantasien am
realen Objekt.
Wenn wir dies mit Beiträgen vergleichen, die man der
Schulpsychologie zu verdanken hat und die man etwa in
die Schlagworte fassen könnte: Phylogenetisches Nach-
klingen von Ernsthandlungen — Atavismen — Nachah-
mung — Kraftüberschuß — Vorübung künftiger Funk-
tionen — Funklionslust, so wird man sich, ohne den
Wert dieser Gesichtspunkte für eine umfassende
Theorie des Spieles im geringsten in Frage zu stellen,
dem Eindruck kaum entziehen können, daß die psycho-
analytischen Beiträge für das Verständnis des individu-
ellen Kindes, seiner individuellen Entwicklung mit seinen
Schwierigkeilen und Lösungsversuchen mehr leisten, daß
sie uns lehren, das Spiel als Zeichen für die aktuelle
Situation des Kindes zu benutzen, und daß sie geeignet
sind, den Weg zu einem zweckmäßigen Eingreifen in
eine kindliche Konfliktsituation zu weisen.
10) „Der Dichter und das Phantasieren", Gea. Sehr., Bd. X., S. 23(K
171
kdc^
„Nimm du die Schwarzen." In Gertis Sprache, die ich
bei anderen Gelegenheiten verstehen gelernt habe, be-
deutet schwarz das Totsein. Sie wünscht mir also, daß
ich oder meine Steine totgemacht werden sollen, erschrickt
■ aber sofort über diesen Gedanken, nimmt ihn zurück und
versucht, ihn dadurch gutzumachen, daß sie selbst die
schwarzen Steine nimmt und sich so für ihre bösen
Wünsche bestraft.
Warum muß sie meinen Steinen so vorsichtig aus-
weichen und kann sie erst nach meiner harmlos ge-
äußerten Bemerkung treffen? Das ist nicht schwer zu
verstehen. Ihr Wunsch, zu gewinnen und meine Steine zu
beseitigen, ist so groß, daß sie Angst vor ihm bekommt
Sie ruft schnell ihre gute Erziehung zu Hilfe und ist auf
diese Art imstande, das Gegenteil von dem zu tun was sie
tun wollte: sie reitet meine Steine. Wie ich aber sa^e
daß andere Kinder gerne gewinnen, und das gar nicht
so arg zu fmden scheine, lohnt es ihr plötzlich nicht
mehr, sich so mit der Überwindung ihrer Wünsche zu
plagen, die guten Lehren ihrer Erziehung verlieren die
Macht über sie und sie kann das tun, was sie wirklich
tun will: sie kann mich besiegen -- und es fehlt ihr
durchaus nicht an Geschicklichkeit.
Am nächsten Tag scheint sie den Konflikten des Vor-
tages ausweichen zu wollen und wähU die gelben und
grünen Steine. Sie ist lange nicht mehr so wohlerzogen
und versucht ihre Gefühle nicht mehr so sorgfäUig zu
verbergen. Sie fängt sogar an zu lutschen. Sie lulseht
immer, wenn sie in eme Stimmung ängstlicher Erwartung
geiat und sich vor einer Enttäuschung fürchtet. Sie hat
die gewohnlichen Enttäuschungen der Kindheit hinler sich
und hat unter ihnen die Enttäuschungen und Versagun-
tZ.r ^''f ^'''' Säuglingszeit, den Entzug der Multer-
Drust und der ausschließlichen Fürsorge der Mutter be-
sonders schwer genommen. Ihre Wünsche und Gedanken
kehren immer wieder in den verschiedensten Verkleidun-
174
gen in diese glückliche Vorzeit zurück. Sie spielt zuzeiten
in der Analyse stundenlang, daß sie ein Wickelkind ist,
das noch nicht gehen und sprechen kann, zu einer ande-
ren Zeit bringt sie mir eine Photographie, auf der sie als
lockenköpfiges Baby zu sehen ist, schildert mir, was für
ein reizendes Kind sie war, ehe ihre Mutter ihr die Haare
geschnitten hat, und sagt, wie gerne sie wieder so aus-
sehen würde. Wenn jetzt im Spiel die Versagung wirk-
lich eintritt, wenn sie verliert und der Gegner gewinnt,
dann fängt sie an, sich zu beißen. Sie wollte wahrschein-
lich als kleines Kind in ihrer Enttäuschung die Multer-
brust beißen, die sich ihr versagt hat; in der Gegenwart
wendet sich ihre Beißaggression aber gegen die eigene
Person, nicht gegen den Gegner.
Trotzdem kann sie sich noch immer nicht über das
Gewinnen freuen. Sie ist zu sehr gewöhnt, daß man in
der Weltj in der sie lebt, für die Erfüllung seiner Wünsche
bestraft wird. Sie braucht Bestätigung von außen her,
ehe sie sich zu dem nächsten Schritt entschließen kann.
Aber es genügt ein Mindestmaß an Aufforderung von
meiner Seite, um einen Sturm von Angriffs- und Ge-
winnlust in ihr zu entfesseln. Jetzt läßt sie auch das
unfairste Mittel nicht mehr unversucht, um ihren Zweck
zu erreichen. Ihre Wohlerzogenheit schmilzt vor der In-
tensität des Wunsches, den Gegner zu besiegen; sie läßt
sich selbst nichts mehr geschehen und verteidigt ihre
Steine mit derselben Zähigkeit, mit der sie meine ver-
nichtet. Wir fragen uns, warum sie nicht mehr lutscht.
Das Spiel bietet ihren Triebwünschen viel direktere und
bessere AusdrucksmögUchkeiten als das Lutschen und
macht es überflüssig. Das heißt: Sie lutscht, wenn sie
enttäuscht ist, beißt, wenn sie Rache nehmen möchte,
und sie hört auf zu lutschen, wenn es ihr gelingt, ihren
Zorn in anderer Weise zu äußern.
Die Beobachtung Gertis beim Spiel hat es uns ermög-
licht, einen Blick hinter den noch sehr schwachen Cber-
175
bau ihrer kindlichen Persönlichkeit zu werfen. Wir be-
kommen einen Eindruck von ihrem stürmischen Wesen,
ihren Leidenschaften und Konflikten und den Mechanis-
men, mit denen sie sie zu bewältigen versucht. Diese
kleine Untersuchung ist nur ein Beispiel dafür, wieviel
sich für das Verständnis von Kindern im allgemeinen aus
ihrer Beobachtung beim Spiel gewinnen läßt. Uns allen
sind typische Reaktionen von Kindern beim Spielen be-
kannt, deren Ursachen sich leicht erraten lassen. Wir
kennen die Kinder, die das Verlieren nicht ertragen kön-
nen, sehr schnell deprimiert werden, alle Anstrengung zu
gewinnen aufgeben oder überhaupt gekränkt zu spielen
aufhören. Bei Mädchen bedeutet diese Enttäuscliungs-
reaktion häufig die Erinnerung an eine andere Ver-
sagungssituation, die nicht mehr gutzumachen ist: Die
Versagung des Männlichkeitswunsches. Andere Kinder
prahlen, wie gut sie spielen können und wie schnell sie
den Gegner besiegen werden, versagen aber völlig, wenn
man sie auf die Probe stellt. Die Prahlerei dient hier nur
dazu, um die Oberzeugung von der eigenen Unfähigkeit
krampfhaft zu verdecken.
Für den Erwachsenen bedeutet das Spiel nur einen |
Zeitvertreib, für das Kind viel mehr. Im Verhalten des |
Kindes im Spiel spiegelt sich sein Verhällnis zur Realität, "
es zeigt seine Leidenschaften, seine Befriedigung, seine
Enttäuschungsreaktionen und alle seine Konflikte im Spiel ;
nicht anders als in seinen ernsthaften Betätigungen. Ge- |
winn und Verlust im Spiel bedeuten ihm ebensoviel wie '
Sieg und Niederlage in der Realität. Daß es auf das Spiel I
ebenso reagiert wie auf wirkliche Erlebnisse, macht aus
der Beobachtung seines Verhaltens beim Spiel einen nicht
zu unterschätzenden Zugang zum Verständnis des kind-
lichen Wesens.
i
176
PSYCHOANALYSE DES KINDES
Von
Anna Freud
Dieser Aufsatz wurde auf Aufforderung von Prof. Carl
Murchison für das von ihm herausgegebene „Handbook of
Child Psychobgy" (Worcester, Mass., Clark University
Press, 1931) geschrieben. Auf dieses Handbuch beziehen
sich auch die Bemerkungen Seite 187 f. der Arbeit- Er-
schienen im Jahrgang VI (1932) der „Zeitschrift für psycho-
analytische Pädagogik".
Die Psychoanalyse hat ihre Laufbahn nicht als Kinder-
psychologic begonnen. Sie verdankt ihre Beziehung zum
Verständnis der Kindheit einer Eigentümlichkeit der Neu-
rosen, auf deren Erforschung ihre Methode im Anfang
ausschließlich gerichtet war. Jede Hysterie oder Zwangs-
neurose reicht mit ihrem Ursprung bis in die frühesten
Kinderzeilen zurück. Das Ziel der Psychoanalyse war nur,
die Geschichte der einzelnen neurotischen Erkrankung
möglichst vollständig zusammenzustellen. Aber während
sie diesen Ursprung in immer tiefere Schichten verfolgte,
mußte sie sich immer intensiver mit den ersten Erleb-
nissen des Patienten beschäftigen. So kam sie, ohne daß
es ihre ursprüngliche Absicht gewesen wäre, zu einer »
fast lückenlosen Rekonstruktion der Kindheit der von der
Neurose befallenen Menschen. '^
Die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Ar-
beit machte es möglich, auf dem Umweg über die Deu-
tung der Träume und Fehlleistungen von Gesunden die
Ergebnisse, die an den neurotisch Erkrankten gewonnen
worden waren, auch auf das Seelenleben der gesunden
Menschen auszudehnen. In derselben Weise verwandelten
sich die ersten Aufstellungen und Vermutungen über die
infantile Neurose und die merkwürdigen Vorgänge in der
Kindheit der Neuroliker in eine für normale und ab-
13 Almanach 193S 177
V.
normale Entwicklungen in gleicher Weise gültige psycho-
analytische Theorie der ersten Lebensjahre des Menschen.
Es ist bekannt, daß die neue psychoanalytische Psycho-
logie im Anfang überall mehr Widerspruch als Interesse
erweckte. Sie beleidigte jeden, der sich ihr nähern wollte,
vor allem durch zwei Feststellungen. Sie behauptete die
Existenz eines unbewußten Seelenlebens. Damit
zerstörte sie die Vorstellung, daß der Mensch wenigstens
ein kleines Stück Welt, sein eigenes Ich, absolut zu be-
herrschen imstande ist, und entwarf ein wenig schmei-
chelhaftes Bild von Ihm, als einem Spiclball zwischen
den Mächten der Außenwelt und seinen eigenen im Un-
bewußten verborgenen Trieben. Und sie zog die Sexual-
triebe aus der Dunkelheit hervor, in der die Menschen
sie, wenigstens soweit es die Theorie anging, bisher
verborgen gehalten hatten, rückte sie gerade in den
Mittelpunkt der Forschung und scheute sich nicht, so
wie die Ergebnisse dieser Forschung es mit sich brachten,
ihnen eine zentrale Rolle als Krankheitserreger und Le-
bensbestimmer zuzuschreiben.
Wenn aber die Schulpsychologie auf diese Art zwei
gute Gründe hatte, sich gegen den Einzug der neuen
psychoanalytischen Erkenntnisse zu wehren, so halte die
hergebrachte Kinder psychologie noch um zwei Wider-
stände mehr zu überwinden. Schließlich war die Rolle
der Sexualität im erwachsenen Leben von der Psychoana-
lyse nur neu betont und in ein grelleres Licht gerückt
worden, der ganze Begriff der erwachsenen Sexualität
hatte eine weitere Ausdehnung erfahren; aber es handelte
sich dabei mehr um den Verstoß gegen ehi bisher von
allen gehaltenes stilles Übereinkommen, etwas totzu-
schweigen, als um eine wirklich neue Entdeckung. Die
Tatsachen, welche für die neue Auffassung des Sexual-
lebens sprachen, waren eigentlich niemandem völlig un-
bekannt, waren nur vernachlässigt worden. Anders war
es bei der Auffassung der Kmdheit. Nicht nur die Küider-
178
mm
Psychologie und die Pädagogik, sondern auch die ganze
übrige gebildete und ungebildete Welt war bis zur Zeit
der Psychoanalyse fest überzeugt gewesen» daß Kindheit
und Sexualität miteinander unverträgliche Begriffe wären.
Tatsachen, die dagegen sprachen, waren nicht allgemein
bekannt, waren jedenfalls weder in den wissenschaft-
Uchen Lehrbüchern, noch in den populären unter den
Eltern und Erziehern verbreiteten Meinungen zu finden.
Wo man an einem einzelnen Kind eine besonders krasse,
unverkennbar sexuelle Regung doch feststellen mußte,
wurde sie als Seltenheit, als Anzeichen besorgniserregender
Frühreife und schwerer Abnormität gewertet. Diese Ab-
wesenheit aller geschlechtlichen Regungen war direkt das
Wahi'zeichen und eine der am höchsten geschätzten Eigen-
heiten dieser Lebenszeit. Unter ,. Sorglosigkeit" der Kinder-
zeit verstand man vor allem die Freiheit von allen
drückenden Fragen und KonfUkten des Geschlechtslebens,
die das erwachsene Leben beschweren; die ersten ge-
schlechtlichen Regungen des jungen Menschen, die von
der Umgebung als solche anerkannt wurden, die Zeit
der Geschlechtsreife, beendete ja auch das Stadium der
Kindheit.
Für diese „harmlose" Auffassung der Kindheitsperiode
bedeutete die neue psychoanalytische Theorie eine schwere
Erschütterung. Die Psychoanalyse schrieb dem Kind ein
Sexualleben zu. Aber sie ging noch weiter. Sie behauptete,
daß es sich bei diesem Sexualleben des Kindes nicht um
vereinzelte, mehr oder weniger zufällige Regungen handelte,
sondern um eine Organisation, eine Triebentwicklung von
hervorragender Bedeutung für das übrige Leben des Kin-
des. Die Normalität des ganzen späteren Geschlechtslebens,
die Liebes -und Zeugungsfähigkeit sollten mit dem Schick-
sal dieser kindlichen Sexualität untrennbar verknüpft sein.
Die Psychoanalyse förderte reichliches Material zutage,
genügend bisher übersehene Tatsachen, um die Richtig-
keit ihrer Behauptungen mit einem Schlag zu beweisen.
Aber dieses Material selbst verhinderte nur die Anerken-
12* 179
_
nung der infantilen Sexualität in der außeranalytischen
Welt, anstatt sie zu beschleunigen. Die Erfahrungen aus
den Psychoanalysen an Erwachsenen und etwas später die
direkte Beobachtung am Kinde ergaben, daß das Kind
zwar auch sexuelle Erregungen und Neigungen nach Art
des Erwachsenen zeigt, daß seine Sexualität aber vor
allem einen Charakter trägt, den die öffentliche Meinung,
wo immer er beim Erwachsenen zutage tritt, als ver-
werfhchc Abnormität einschätzt und mit dem Namen
„Per Version" belegt.
Die Ursache dieser Ähnlichkeit zwischen dem kleinen
Kind und dem erwachsenen Perversen war nicht schwer
zu finden. Als pervers bezeichnet man im erwachsenen
Sexualleben jede Handlung, die nicht am Genitale selbst,
sondern an irgendeinem anderen Körperteil geschlecht-
Uche Lust gewinnt und diese Lust m den Mittelpunkt
seines Scxualstrebens, also an die Stelle des normalen
genitalen Geschlechtsakts setzt. Das Kind ist aber einer
erwachsenen genitalen Geschlechtlichkeit noch gar nicht
fähig, seine Geschlechtsorgane stehen noch nicht im Zen-
trum der Lustgewinnung. Die Psychoanalyse konnte nach-
weisen, daß es verschiedene Stufen der Sexualentwicklung
zu durchlaufen hat, ehe die endgiltige erwachsene Ge-
staltung erreicht wird. Auf der ersten dieser Organisa-
tionsstufen ist der Muud der Körperteil, an dem die meiste
Lust gewonnen wird, auf der nächsten Stufe übernimmt
der Anus die Rolle des Lustspenders. Erst auf der dritten
Stufe beginnt der Geschlechtsteil selbst die Stellung ein-
zunehmen, die für die Vorherrschaft der Genilalzone im
erwachsenen Geschlechtsleben entscheidend wird. Dj^
ersten lustspendenden — wie die Psychoanalyse sie nennt:
die erogenen — Zonen der Kindheit behalten auch beini
erwachsenen Geschlechtsakt noch eine allerdings untet^
geordnete Bedeutung. Der Erwachsene, der sich aus-
schließlich an die kindliche Art der Lustgewinnung klain-
mert, ist ein Kranker, ein Perverser; das Kind hat nach
der Auffassung der Psychoanalyse normalerweise ein Recht
. 180
auf die seiner Entwicklung angemessene „perverse" Form
der Geschlechllichkcit.
Die außeranalytische Welt aber lehnte es ab. sich in das
Material zu vertiefen, das die psychoanalytischen Veröf-
fentlichungen ihr zur Unterstützung und Erklärung dieser
Aufstellungen darboten. Für sie blieb der Sachverhalt ein
zweifach unliebsamer nicht nur daß man dem Kind zu-
mutete, eine Geschlechtlichkeit zu besitzen, diese Ge-
schlechtlichkeit wurde auch noch dazu als pervers ge-
schildert. Mit dieser Festlegung in ihrer Theorie hatte die
Psychoanalyse die eine schwer übersteigliche Mauer zwi-
schen sich und den schon bestehenden psychologischen
Auffassungen der Kindheit aufgerichtet.
Zu dieser einen anstößigen Behauptung kam dann noch
eine zweite, nicht weniger befremdende. Man war bisher
sowohl in der populären wie in der wissenschaftlichen
Meinung gewöhnt gewesen, die ersten vier oder fünf Le-
bensjahre des Kindes in ihrer Bedeutung für die Entr
Wicklung seiner Persönlichkeit germgzuschätzen. Der Wis-
senschaft war dieser Zeitraum vor allem für die körper-
liche Entwicklung bedeutsam, in ihn fallen wichtige psy-
chologische Vorgänge, eine ständige VervoUkommjiung im
Gebrauch der Sinnesorgane und die Erwerbung der grund-
legendsten Fähigkeiten wie z. B. der Sprache. Diese Er-
lebnisse des Wachsens und Erlernens schienen die erste
Lebenszeit vollständig auszufüllen, eine Pflege, die für
beide Vorgänge die besten Bedingungen schuf, schien
allen Ansprüchen, die gestellt werden konnten, völlig zu
genügen. Für eine Frage nach den eigentlichen seelischen
Inhalten dieser Zeit bUeb daneben kein Raum. Daß diese
Auffassung nicht auf die Kinderpsychologie selbst be-
schränkt blieb, zeigt sich schon daraus, daß die Selbst-
biographien, die Lebensbeschreibungen und die Entwick-
lungsromane dieser Zeit vor der Psychoanalyse die erste
Kindheit fast ganz vernachlässigten. Sie glaubten, allen
Forderungen der Persönlichkeitsforschung dm-chaus zu
181
genügen, wenn sie die Geschichte ihres Helden mit dem
Schulalter oder mit den JüngUngsjahren beginnen ließen.
Diese objektive Schilderung der ersten fünf Kinderjahre,
wie die Wissenschaft sie lieferte, stimmte außerdem mit
dem subjektiven Gefühl jedes einzelnen Laien vollkommen
überein. Man glaubte umso bereitwilliger an das Fehlen
ernsthafter seehscher Inhalte dieser Zeit, als fast niemand,
seine eigene Kindheit in der Rückerinncrung wirklicli
durchdringen konnte. Die Kindheitscriebnissc, die der Er-
wachscne bereitwillig anderen erzählt oder sich selber
zum Vergleich mit seinem erwachsenen Leben gelegentlich
vor Augen hält, reichen im Zusammenhang selten weiter
zurück als bis in das vierte oder fünfte Lebensjahr. Was
dahinter noch zum Vorschein kommt, sind einzelne zu-
sammenhanglose Brocken, die aus einem verschwommenen
Dunkel auftauchen. Sie scheinen nicht besonders wichtirr
zeigen keine rechte Beziehung zu den äußeren Lebeu^I
Schicksalen dieser Zeit, und man kann ihnen nicht an-
sehen, welchem Umstand gerade sie die Erhaltung und
Aufbewahrung im Gedächtnis verdanken. Man glaubte
alles Recht zu haben, wenn man diese Einzelheiten vernach-
lässigle oder bestenfalls gelegentlich in halb scherzhafter
Weise als Km-iositäten anderen zum Besten gab.
Die Psychoanalyse war die erste, die sich bei ihrer
Arbeit an der Neurosenforschung in dieses unbekannte
Gebiet vorwagte. Es war ihr auffällig, daß der neuroti-
sche Konflikt, so kompliziert seine Endgeslaltung auch
aussah, keine rechte Vorgeschichte in der Erinnerung des
Patienten hatte. An irgendeiner Stelle am Ausgang der
Kindheit kam er fertig gestaltet an die Oberfläche. Den-
selben Eindruck bekam die psychoanalytische Beobach-
tung aber auch von dem Charakter und der Persönlichkeit
des einzelnen gesunden Menschen. Zuerst kam offenbar
die frühe Kindheit ohne erkennbare Vorgänge. An ihrem
Ausgang aber fand sich eine vollentwickelte Miniaturper-
sönlichkeit mit ausgeprägten Neigungen und individuellen
Reaktionen, einer fertigen Eigenart also, an der durch
182
die erziehliche Beeinflussung nur schwer mehr etwas ab-
zuändern war. Der Schluß lag nahe, daß diese ersten
Kinderjahre irgendetwas Bedeutsames enthielten, daß sich
dort Vorgänge abspielten, von denen die später auftre-
tende Neurose oder der plötzlich zutage tretende Cha-
rakter nur der Endausgang waren. Man hatte sich offenbar
zu Unrecht verleiten lassen, aus dem Fehlen der bewußten
Erinnerung an diese Periode auf ihren Mangel an Bedeu-
tung zu schließen. Auch die direkte Beobachtung des
Kindes sprach durchaus für eine Abänderung der her-
gebrachten Meinung. Es erschien kaum mehr glaublich,
daß mau den Widerspruch zwischen der leidenschaftlichen
Anteilnahme des Kindes an allen Vorgängen seines Lebens
und dem vollständigem Vergessen dieser selben Vorgänge
nie schärfer ins Auge gefaßt halte.
Durch diese Unstimmigkeiten aufmerksam gemacht, ta-
stete sich die psychoanalytische Methode immer weiter
in die Kindheit der von ihr studierten Menschen zurück.
Sie bediente sich zur Aufdeckung des bisher Verborgenen
aller ihrer Hilfsmittel; des freien Einfalls, der Deutung
der Träume, der Fehl- und Symptomhandlungen und der
X)eutuiig der von ihr so genannten „Übertragung", d. h.
(jes Verhältnisses des Analysierten zum Analytiker, das
sich während einer analytischen Behandlung herstellt und
die ältesten Kindheitsbeziehungen in dieser neu-en Em-
kleidung zum Vorschein bringt. Das Ergebnis war die
Ausfüllung der großen, allen Menschen gemeinsamen Er-
innerungslücke und damit die Gewinnung überraschender
Tatsachen für eine neue Kindheitsgeschichte des Menschen.
Das Bild, das die Psychoanalyse auf Grund dieser Be-
mühungen in den Rahmen der Erinnerungslücke einfügen
konnte, stimmt aUerdings nicht zu den Vorstellungen von
einer zärtlichen, harmlosen und konfliktfreien Anhänglich-
keit des kleinen Kmdes an seine Blutsverwandten, an die
man sich bisher geklammert hatte, gleichgültig ob der
äußere Anschein im einzelnen Fall dafür oder dagegen
sprach. Die Auffassungen der Psychoanalyse verstießen
183
Schritt für Schritt gegen die bisherige Kenntnis. Hatte man
bisher nur gesehen, wie der Wunsch nach der Erfüllung
seiner großen Lebensbedürfnisse das kleine Kind an die
Mutter bindet und aus seiner Dankbarkeit für ihre Pflege
und Ernährung neben der körperlichen auch eine rein
seelische, zärtliche Beziehung zu ihr entsteht, so konnte
man jetzt, nachdem das Vergessen der Kindheitsperiode
rückgängig gemacht worden war, erst die Natur dieser
psychischen Beziehung untersuchen. Man fand sie — wo
es sich um Knaben handelte — der erwachsenen Liebes-
beziehung eines Mannes zu der von ihm gewählten Frau
erstaunlich ähnlich. Sie enthält — - wie man fand — alle
Elemente, die aus der erwachsenen Beziehung bekannt
sind: die hohe Einschätzung der geliebten Person, man
könnte sagen ihre Überschätzung; der Wunsch nach ihrem
Alleinbesitz; nach irgendeiner Art der körperlichen Be-
friedigung durch sie; und leidenschaftliche Gefühle von
Haß und Rivalität für alle jene, die ihm sein Eigentums-
recht auf sie streitig machen wollen. Dabei handelt es
sich auch nicht einmal um eine Miniaturliebe, wie der
Erwachsene sich gerne glauben machen möchte. Die Lei-
denschaft des Kindes ist ihrem Charakter und ihrer
Intensität nach durchaus nicht verschieden von dem
entsprechenden erwachsenen Gefühl, seine Enttäuschung
und Verzweiflung, wenn es seine Absicht nicht durch-
setzen kann, gleicht vollständig der erwachsenen Liebes-
enltäuschung, die Konflikte, die aus seiner Liebe ent-
stehen, spielen in seinem kindlichen Leben die den er-
wachsenen Liebeskonflikten entsprechende Rolle. Der ein-
zige Unterschied besteht darin, daß die körperliche Be-
friedigung, die er an seinem Liebesobjekt genießen möchte,
der erwachsenen genitalen Sexualbefriedigung noch un-
ähnlich ist. Je nachdem, wie weil das Kind eben schon auf
dem Entwicklungsweg der infantilen Sexualität gekommen
ist, drehen sich seine Wünsche um eine Reizung der
erogenen Zonen, des Mundes, des Anus, des Genitales
oder um die in diesen Entwicklungsweg eingefügte Be-
^
184
friedigung seiner Schau- und Zeigelust, seines Sadismus
oder Masochismus, seiner sexuellen Wißbegierde. Auch
in dem Verhältnis zu seinen Rivalen benimmt das Kind
sich nur wenig anders als ein Erwachsener. Wo es sich
um ihm gleichgestellte oder jüngere Personen handelt,
um die Geschwister also, verleiht es seinen unfreund-
lichen Gefühlen mehr oder weniger freien Ausdruck in
feindseligen Handlungen. Hier ist der Ausgangspunkt für
den in jeder Kinderstube endlosen Geschwisterstreit, die
Realität hinter der Geschwisterliebe, wie die Religion oder
die Ethik sie postulieren. Wo aber der Rivale ein über-
mächtiger ist, der Vater, also der eigentliche und in der
Wirklichkeit unangreifbare Besitzer der Mutter, da er-
schöpft sich seine Feindseligkeit in ohnmächtigen Todes-
wünschen und Vernichtungsphantasien. Die Psychoanalyse
konnte eigentlich, mit Ausnahme des geänderten Sexual-
ziels, nur einen einzigen wirklichen Unterschied zwischen
dieser ersten Liebe des Knaben und seinen späteren Be-
ziehungen zu Frauen entdecken: ihre größere relative Be-
deutung. Der Knabe erwirbt sich an diesem ersten Liebes-
erlebnis ein Voi'bild, an das er im späteren Leben ge-
bunden bleibt. Sein erwachsenes Liebesleben verhält sich
zum infantilen gewöhnhch nicht anders als Kopien zu
ihrem Original.
Die Psychoanalyse schildert das Geschwister Ver-
hältnis des Kindes in dieser prähistorischen Zeit als ein
ursprünglich eindeutiges, feindseliges. Das Kind hätte, wenn
es nur auf seine eigene Person ankäme, keinen zwingenden
Grund zu einer Umwandlung dieser Gefühle. Nur die
Rücksicht auf die Mutter, die auch diese andern Kinder
liebt und der Gehorsam gegen ihre Wünsche — der
Druck der Erziehung also — überdeckt die Feindseligkeit
allmählich mit einem Anschein ihres Gegenteils. Dieses
Verhältnis zum Konkurrenten — der durch den Zwang der
Umwelt zur Duldung ermäßigte Haß — wiederholt sich
später unzählige Male im erwachsenen Leben.
Das Verhältnis zum Vater, wie die Psychoanalyse
185
es für diese Präliislorie aufgedeckt hat, ist komplizierter
gebaut als die Geschwisterbeziehung. Es enthält mehr als
nur die eine feindliche Strömung, die der Eifersucht ent-
springt. Der Vater ist für den kleinen Knaben zu allererst
eine Idealgeslalt, die er ebenso wie die Mutter liebt und
überschätzt. Er bewundert seine Macht und Größe, die er
für uneingeschränkt hält. Hat seine Liebe zur Mutter in
ihm den Haß gegen den Vater geweckt, den Wunsch, ihn
zu verdrängen und selber seine Rolle zu spielen, so gibt
die bewundernde Liebe zum Vater diesem Wunsch, selbst
Vater zu sein, erst ihren eigentlichen Hintergrund. Man
könnte sagen, die Identifizierung mit dem Vater, die der
Knabe anstrebt und die die mächtigste Triebkraft für
seine männliche Entwicklung beistellt, stützt sich auf zwei
gleichzeitige, aber einander widersprechende, ambivalente^
Einstellungen des kleinen Kindes zum Vater: eine feind-
sehge und eine zärtliche.
Die Psychoanalyse hat für diesen Zusammenhang der
Gefühlserlcbuisse des Kleinkmdes, die Liebe zur Mutter
mit dem sich daraus ergebenden Ha& gegen den doch
bewunderten und gefürchleten Vater, in Anlehnung an die
griechische Sage den Namen Ödipuskomplex ge-
funden. Aber es wäre unrecht zu glauben, daß dieses
Schlagwort den ganzen seelischen Inhalt dieser Zeil mit
allen in ihr gegebenen Konfliktmöglichkeiten bereits er-
schöpft. Das Studium des Ödipuskomplexes in seiner hier
geschilderten einfachsten Form bildet nur den Eingang,
die erste Station auf dem Weg zu einem tieferen Ver-
ständnis dieser Kindheitsperiode.
Es war offenbar das Schicksal der Psychoanalyse, daß
jede ihrer großen Entdeckungen an einer Idealvorstellung
rütteln mußte, welche die Menschen bisher besonders
hochgehalten hatten. Ebenso wie das Ideal der unge-
schlechtlichen Kindheit durch die Funde der Psycho-
analyse ins Wanken geraten war, bedrohten die Ergebnisse
ihrer Untersuchungen über die vergessene Kindheitsperiode
ein zweites Ideal, das zum alten, nicht nur zum wissen-
186
schaftlichen, sondern direkt zum religiösen Besitz der
Menschheit gehörte: die Reinheit der Beziehungen des
Kindes zu seiner Familie, also die Eltern- und Geschwister-
liebe i). Die Aufstellung des Ödipuskomplexes wurde zur
zAveilen Scheidewand zwischen der Psychoanalyse und
der außeranalytischen wissenschaftlichen und unwissen-
schaftlichen Außenwelt. Es ist unter diesen Verhältnissen
sicher nicht verwunderlich, daß es eine Reihe von Jahren
gedauert hat, ehe die offizielle Kinderpsychologie mit
der Psychoanalyse in Beziehung treten wollte. Vielleicht
muß man die Aufnahme eines Artikels über „Die Psycho-
analyse des Kindes" in ein Handbuch über Kinder-
psychologie als Anzeichen dafür nehmen, daß die Tren-
nungsniauern zwischen der Psychoanalyse und der übrigen
Wissenschaft jetzt anfangen, ihre Widerstandsbedeutung
zu verlieren.
Anderseits könnte dieser Versuch aber auch ergeben,
daß die Handbücher für Kinder psychologie sehr recht
daran getan haben, sich bisher gegen psychoanalytische
Artikel zu verwahren. Die Psychoanalyse läßt sich gar
nicht in den Zusammenhang der anderen Auffassungen
einreihen, sie widerstrebt der Gleichstellung mit ihnen.
Es widerspricht der Ällgemeingültigkeit, die sie für ihre
Theorien postuliert, sich auf irgend ein Spezialgebiet,
etwa die Auffassung des neurotischen Kindes oder sogar
die Sexualentwicklung des Kindes zu beschränken. Sie
greift über diese Gebiete hinaus, für die man ihr vielleicht
gerne das Recht der Beurteilung zug estehen würde, und
1) Lange vor der Psychoanalyse machte Diderot in seinem be-
rühmten Dialog „Le neveu de Rameau" die folgende erstaunliche Äußerung:
Si le petit sauoage itait abandonnä ä lui-meme, quV conserua (oute son imb^cdUti
"ei qu'il räunil au peu de raison de Venfant au berceau la oiolence des passions de
l'komme de trente ans, il iordrait le cou ä son pere et coudterait auec ta mere."
(In Goethes Übersetzung: „Wäre der kleine Wilde sich selbst über-
lassen und bewahrte seine ganze Schwäche, vereinigte mit der germgen
Vernunft des Eindes in der Wüege die Gewalt der Leidenschaften des
Mannes von dreißig Jahren, so brach' er seinem Vater den Hals und
entehrte seine Mutter.")
187
bricht in Reiche ein, die — wie das Inhaltsverzeichnis
dieses Buches zeigt — andere Spezialisten sich vorbe-
halten haben. Sie hat, wie oben erwähnt, ihre eigene
Auffassung über die Entwicklungsphasen des kindlichen
Trieb- und Gefühlslebens. Sie beurteilt auf Grund ihrer
Funde den Einfluß der verschiedensten Umweltsformen
auf die Gestaltung der kindlichen Persönlichkeit. Sie hat
eine Trieblehre ausgebildet. Sie macht tastende Versuche,
auf Grund dieser Trieblehre zum Verständnis der speziellen
Begabungen zu gelangen und die intellektuellen Hemmun-
gen, wie auch den Untergang von Begabungen im Zusam-
menhang mit den Triebschicksalen zu erklären. Die Moral
des Kindes ergibt sich ihr aus der Geschichte seiner
sozialen Anpassung im Kampf gegen die andrängenden,
von der Umwelt des Kindes verpönten Triebregungen. Sie
besitzt Ansätze zu einer Typenlehre, die zum Teil auf der
Neurosenforschung basiert ist, zum andern Teil auf der
Lehre von den Entwicklungsphasen des Sexualtriebes mit
den Möglichkeilen, die sie zum Steckenbleiben, zur Fi-
xierung bieten, wie auch zur späteren Rückkehr zu ihnen,
zur Regression. Sic beschreibt das kriminelle und das
triebhafte Kind im Vergleich zum neurotischen als das
extrem andere Ergebnis derselben Kindheitserlebnisse. Die
Deutung der Kinderzeichnungen, der Kinderspiele und
Kinderträume sind ihr uuenlbehrUches Hilfsmittel bei der
psychoanalytischen Arbeit am Kinde. Rückwirkend gewinnt
sie aus dieser Arbeit dann wieder brauchbares Material
für die Rolle und Bedeutung dieser Äußerungen für das
Leben des Kindes. Die Psychoanalyse ist offenbar in der
Kinderpsychologie ein unbequemer Gast, der die Gebote
der Bescheidenheit verletzt. Anstatt sich dem Vorhandenen
anzureihen, maßt sie sich an, das ganze Lehrbuch über
Kinderpsychologie auf Grund ihrer eigenen Funde selber
schreiben zu können.
^ Diese neue psychoanalytische Kinderpsychologie läßt
sich aber im Rahmen eines kurzen Aufsatzes nicht dar-
stellen. Es ist hier nicht einmal möglich, die Ergebnisse
188
■[
I
I
der psychoanalytischen Forschung aufzuzählen, die den
psychoanalytischen Kinderpsychologen zu seiner Unbe-
scheidenheit berechtigen. Der Kinderpsychologe, der sich
mit den psychoanalytischen Talsachen auseinandersetzen
will, muß sich ihre Kenntnis aus irgendeiner der aus-
führlichen Darstellungen der Psychoanalyse holen. An
dieser Stelle kann es höchstens gelingen, das Bild der
Kindheit, wie die Psychoanalyse es sieht, welter zusam-
menzustellen und dabei aus der Reihe der Grundbegriffe der
Psychoanalyse diejenigen herauszugreifen, deren Anwen-
dung auf das Tatsachenmaterial der Kinderpsychologie
die entscheidendsten Umwälzungen der Auffassung her-
beiführen mußten.
Die beiden großen Entdeckungen über die Kindheit, die
Anerkennung der infantilen Sexualität und des Ödipus-
komplexes, eignen sich hier noch einmal zum ersten Aus-
gangspunkt. Der Auffassung der Psychoanalyse nach er-
füllen diese beiden Abläufe die ersten fünf oder sechs
Lebensjahre des Menschen. Am Ende dieser frühesten
Kindheitsperiode ist, wie oben geschildert, das Gefühls-
und Geschlechtsleben des Kindes dem eines Erwachsenen
gar nicht sehr unähnlich. Das Kind ist fähig geworden,
seine Liebe auf eine ganz bestimmte Person zu konzen-
trieren, zum Unterschied von seinem ersten Lebensjahr,
in dem es, narzißtisch, sich selbst liebt, und andere
Menschen nur so weit für sein Gefühl existieren, als sie
für seine Selbsterhaltung nötig sind. Das erste aus der
Außenwelt genommene Liebesobjekt ist, durch den Ödipus-
komplex bedingt, für den Knaben die Mutter und für das
Mädchen — nach einem längeren, sehr interessanten Ab-
lüsungsprozeß von der Mutter — der Vater. An diesem
Liebesobjekt will das Kind die Wünsche befriedigen, die
sich aus den verschiedenen Anteilen seiner infantilen Se-
xualorganisation ergeben. Auch bei seinem Bemühen, die
Befriedigung dieser Partialtriebe durchzusetzen, benimmt
das Kind sich ganz wie ein Erwachsener, der unter der
Herrschaft drängender geschlechtlicher Begierden steht.
189
Es empfindet seine Triebbedürfnisse als außerordentlich
heftig und dringend, jeder Aufschub in der Befriedigung ,
erscheint ihm als unerträglich. Die unvermeidlichen stän- /
digen Versagungen rufen schwere Enttäuschungsreaktionen 1
bei ihm hervor und haben die nachhaltigsten Folgen für
seine Charakter- und Neurosenbildung. Bei diesem An- (
schein von Erwachsenheil scheint ihm in dieser frühen ■
Zeit zur Vollendung der Sexualentwicklung nur mehr ein
einziger Schritt zu fehlen: die Erreichung der körper- |
liehen Geschlechtsreife.
An diesem Punkt wird aber ein Hindernis in die Ent-
wicklung eingeschoben, dessen Aufdeckung auch erst der
Psychoanalyse zugehört. Anstatt mit der "Weiterentwicklung
des Kindes Schritt zu halten, verlieren die sexuellen Re-
gungen allmählich ihre Energie, die Libido, wie sie die
Psychoanalyse nennt. Das Streben nach Lustgewinn tritt
immer mehr in den Hintergrund; die stürmische Liebe zu
den Elternobjekten ermäßigt sich, um schließlich einer
bloßen Anhänglichkeit oder Zärtlichkeit Platz zu machen.
Der Anschein von Erwachsenheit, den das Kind auf dem
ersten Höhepunkt seines Geschlechtslebens erreicht hatte,
geht vollständig wieder verloren.
Zur selben Zeit, in der das Triebleben des Kindes auf
diese Weise zu einem Stillstand kommt, geht in der Ent-
wicklung seiner Persönlichkeit etwas wie ein Bruch vor
sich. Die Eigenschaften, die sein Benehmen in der ersten
Kindheit am entscheidendsten charakterisiert haben, ver-
schwinden oder verkehren sich ins Gegenteil 2). Seine
Begehrlichkeit verringert sich mit dem Nachlassen der
Triebwünsche. Seine Zerstörungslust, seine Grausamkeit,
seine Schamlosigkeit und Neugier, die als Ausflüsse der
infantilen Sexualrcgungen das Bild beherrscht und zu
ständigen Zusammenstößen mit der erwachsenen Umge-
bung geführt hatten, verschwinden allmählich. An ihrer
2) Es gibt auch Kinder, die diesen Bruch in der Entwicklung nicht
miimadien. Gerade diese Personen charakterisiert man, wenn sie erwachsen
werden als infantil.
190
stelle tauchen Eigenschaften auf, die der Umgebung des
Kindes weitaus erwünschter erscheinen: das Kind erlernt
die Schonung der leblosen Dinge und das Mitleid mit den
verschiedenen Lebewesen; es zügelt seine Neugierde oder
wendet sie doch wenigstens vom sexuellen Gebiet auf
intellektuelle Dinge; und es empfindet Scham oder Ekel
bei allen jenen Gelegenheiten, bei denen den Erwachsenen
eine solche Reaktion als notwendig und selbstverständlich
erscheint. Wenn das Kind auf der Höhe der ersten Kind-
heitsperiode in seinem Sexualleben dem Erwachsenen
ähnlich gewesen war und sich nur in seinen Eigenschaften
und Wertungen außerordentlich von ihm unterschieden
hatte, so liegen die Verhältnisse jetzt umgekehrt. In dieser
zweiten Periode unterscheidet die Armut an Trieben und
die untergeordnete Rolle des Sexuallebens das Kind vom
Erwachsenen: in seinem Benehmen und seinen Wertungen
aber ist es dem Erwachsenen weitgehend angeglichen.
Der Bruch zwischen der ersten und zweiten Kindheits-
heitsperiode ist in der Regel ein sehr vollständiger. Das
Küid entwickelt sich nicht nur über die Ziele, Vorlieben
und Betätigimgen seiner ersten Sexualperiode hinaus, es
entwickelt sich direkt im Gegensatz zu ihr. Nicht
nur, daß es die Reste jener alten Regungen, wo immer
sie noch auftauchen, als unerträgliche Störungen emp-
findet und zu unterdrücken bestrebt ist, es verstößt sogar
die Erinnerung an die Wünsche und an die Befriedigungen,
die sie ihm gebracht haben, aus seinem Gedächtnis. Zu
der normalen Entwicklung des Kindes in diesen Jahren
gehört das Vergessen der ersten Kindheit, also die Er-
werbung gerade jener Erinnerungslücke, die seit jeher
das größte Hindernis für das Studium der Vorzeit des
Menschen gewesen ist.
An der Grenze zwischen diesen beiden Perioden bedient
sich das Kind zum erstenmal der Mechanismen, die für
sein ganzes späteres Leben bedeutsam bleiben werden.
Um unerträglich gewordene Regungen zu beseitigen, ver-
weigert es ihnen den Zugang zu seiner bewußten Per-
191
sönlichkeit, drängt sie irgendwohin ins Dunkle und ver-
gißt sie. Die Wirkung dieses Verhaltens entspricht aller-
dings nicht ganz den Erwartungen. Die verstoßenen Re-
gungen oder Gefühle erscheinen zwar nicht mehr auf der
Oberfläche, existieren aber in der Verborgenheit unver-
ändert weiter und behalten ihre Stärke. Sie sind aus etwas
Bewußtem zu etwas Unbewußtem, aus manifesten
Äußerungen zu latenten Kräften geworden. Die Psychoana-
lyse hat diesen Mechanismus durch den Namen Ver-
drängung gekennzeichnet. Das Kind empfindet offen-
bar schon zu dieser Zeit eine der Gefahren, die eine
solche Lage mit sich bringt. Um zu verhüten, daß die
infantilen Triebregungen wieder hervorbrechen, wenn aus
irgendeinem Grund die Stärke der Verdrängung nachlassen
sollte, richtet es überall, wo es eüae solche alte Regung
beseitigt hat, eine Sicherheitsvorkehrung auf. In seinem
Bewußtsein entsteht an dieser Stelle das Gegenbeil der be^-
seitigten Neigung oder Eigenschaft, die eine Rückkehr
des Verdrängten endgillig unmöglich machen soll. Es ist
nicht schwer zu erkennen, daß z. B. die Scham als Si-
cherung gegen die alle Zeigelust, der Ekel als Sicherung
gegen eine untergegangene Vorliebe für Schmutziges die
Rolle solcher Gegensatz- oder Reaktionsbildungen
spielen. Aber die Umwandlung der primitiven Strebungen
ist auch auf einem anderen Wege mit einem geringeren
Kräfteaufwand möglich, als Verdrängung und Reaktions-
bildung für sich beanspruchen. Die primitive Triebregung
kann abgelenkt werden, ihr ursprüngliches sexuelles Ziel
wird gegen ein harmloseres, sozial höher geschätztes
, nicht sexuelles eingetauscht. Diesen Vorgang, den die
Psychoanalyse Sublimierung nennt, hat für die Aus-
gestaltung der kindlichen Persönlichkeit, für die Aus-
bddung seiner Begabungen und Interessen die allergrößte
Bedeutung. Die Ablenkung der sexuellen Neugierde des
Kleinkindes auf das geistige Gebiet^ die Verwendung dieser
Kräfte für das Lernen, das Erwerben von intellektuellen
Kenntnissen in der zweiten Kindheitsperiode ist das deut-
192
»-
lichste Beispiel eines solchen Sublimierungsvorganges. Das
Kind bewältigt üa diesen Jahren seine ursprünglichen-
Triebregungen mit Hilfe der beschriebenen Mechanismen,
der Verdrängung, der Reaktionsbildung und Sublimierung
so weit, daß nur ein ganz geringer Anteil von ihnen noch
in der unveränderten Gestalt bestehen bleibt und sich dann
seine Befriedigung in Form einer im Vergleich zur ersten
Periode sehr ermäßigten Masturbation erzwingt. Die Psy-
choanalyse hat dieser Ruheperiode des Kuides, die vor
allem von der Entwicklung semes Intellekts und seines
Ichs ausgefüllt wird, den Namen Latenzperiode bei-
gelegt.
Der nächste Abschnitt im Leben des Kindes, das Ein-
setzen der Pubertät, nimmt dann die mfantile Sexual-
entwicklung gerade an dem Punkt wieder auf, an dem sie
bei Eintritt der Latenzperiode zum Stillstand gekommen
war. Die ersten Äußerungen der Pubertät bringen die Be-
weise, daß es den Verdrängungsanstrengungen des Kindes
wirklich nur gelungen ist, die infantile Sexuahtät und den
mit ihr verbundenen seelischen Inhalt, den Ödipuskom-
plex, stillzulegen, daß aber nichts davon vernichtet oder
zugrunde gegangen ist. Der Ansturm von Libido, der den
Heranwachsenden zur Zeit der Geschlechtsreife überflutet,
belebt noch einmal die unverändert erhaltenen infantilen
Sexualregungen und drängt zu perversen Befriedigungs-
handlungen oder Abfuhr in gehäufter genitaler Mastur-
bation. Ebenso flammt der Ödipuskomplex in der vollen
Stärke und Leidenschaftlichkeit seiner Konflikte noch
einmal auf, allerdings dieses Mai nur in stürmischen
Phantasien, nicht mehr in der realen Beziehimg zu den
wirklichen Elternpersonen. Soll der Ausgang der Pubertät
die normale erwachsene Sexualität sein, so muß es dem
Jugendhchen gelingen, seine perversen Partial-
triebe unter der Vorherrschaft der geni-
talen Strebungen zusammenzufassen. Gleich-
zeitig muß das Phanlasieobjekt des Ödipuskomplexes durch
ein fremdes nicht mehr der Famiüe angehöriges reales
■i
3
13 Almanach 1933
193
Liebesobjekt abgelöst werden. Die zärtlichen Re-
gungen der Latenzperiode sollen gleichzeitig mit den
sinnlichen Regungen der frühen Kindheit und der Puber-
tät an diesem neuen Objekt ihre Befriedigung finden.
Zu diesen beiden schwierigen Aufgaben, die die Puber-
tät dem Jugendlichen zu lösen gibt, tritt dann noch eine
weitere nicht weniger bedeutsame. Die Normalität der
Entwicklung verlangt nicht nur, daß der Heranwachsende
sich am Ausgang der Kindheit in seinem Liebesleben von
den Eltern frei macht und fremden Menschen zuwendet,
sie fordert auch, daß er sich zur gleichen Zeit zumindest
innerlich der Führerschaft und Vormund-
schaft von Vater und Mutter entzieht. Dabei
handelt es sich hier nicht nur wie im Falle der Unter-
bringung der Liebesregungen um einen Objektwechsel.
Der Jugendliche sucht zwar auch unter seinen I-.ehrern
und unter den Idealgeslalten, die Literatur und Geschiebte
ihm bieten, nach Vorbildern, deren Wertungen er über^
nehmen und deren Eigenschaften er nacheifern kann.
Aber diese Vorbilder übernehmen doch nur zu einem sehr
geringen Teil die leitende Stellung der Eltern. Die VolU
endung der Kindheit ist vor allem dadurch gekennzeich-
net, daß die Rolle des Mentors aus einer äußeren zu
einer inneren Angelegenheit des Individuums geworden ist.
Die Ablösung von den Eltern im Sinne einer wach-
senden Unabhängigkeit von ihnen, soweit es die eigenen
Urteile und Handlungen betrifft, gehört nicht einer ein-
zelnen Periode an. Sie erstreckt sich über die ganze
Kindheit vom Anfang der Latenzzeit bis zur vollendeten
Erwachsenheit. In der ersten Kindheitsperiode steht das
Kind unter der Herrschaft von zwei Mächten, einer
inneren, die durch das Drängen seiner eigenen Triebe, und
einer äußeren, die durch die Gebote und Verbote der
Eltern gegeben ist. Die Absicht des inneren Drängens ist
auf die Befriedigung der Triebe, die Absicht der äußeren
Elternmacht auf Triebein^chränkung gerichtet. Die Kennt-
nis der Lage des Kindes, wie die psychoanalytische Be-
194
A .
I
leuchtung sie zeigt, erklärt, warum das Kind bereit ist,
sich der Elternmacht zu beugen. Es befindet sich in einer
doppelten Abhängigkeit von den Eltern, einer körperlichen '
Abhängigkeit, die durch seine lange Unselbständigkeit,
seine Unfähigkeit, sich selbst am Leben zu erhalten
gegeben ist; und gleichzeitig in der seelischen Abhängig-^
keit,'-die durch die Gefühlskonstellation des Ödipuskom-
plexes erklärt ist. Die Liebesbedürftigkeit des Kindes
macht es von seinen Liebesobjekten ebenso abhängig, wie
das Bedürfnis nach Nahrung und Pflege es seinen Pflege-
personen ausliefert. Die Macht der Eltern löst daher im
Kind zwei ganz bestimmte Ängste aus, die es den An-
forderungen der Erziehung gefügig machen: die Angst
einerseits vor der Schädigung durch die Eltern, wenn es
sich ihren Wünschen widersetzt. Im Falle der verbotenen
Luslgewinnung am Genitale oder einem anderen dazu ge-
eigneten Körperteil wird daraus die Angst vor dem Ver-
lust dieses Körperteils, die Kastrationsangst. An-
dererseits die Angst vor dem Verlust ihrer Liebe. Die
psychoanalytische Pädagogik erkennt in diesen beiden
Drohungen, deren sich die Eltern mehr oder weniger
ausgesprochen bedienen, der Drohung mit Kastration oder
mit Licbesverlust, die beiden Hauptfaktoren für die Er-
ziehbarkeit des Kindes. v*'-v-
Diese äußere Macht der Erziehung wird dann im Laufe
der Latenzperiode immer mehr von innerlichen Kräften
übernommen. Das Kind richtet allmähUch eine Instanz
in sich auf, die fähig ist, nach rationellen, nach ästheti-
schen, nach moralischeii Gesichtspunkten zu urteilen und
zu werten. Es schafft auf diese Weise den Triebmächten
in seinem eigenen Innern einen fast gleichstarken Gegner,
der im Laufe der Pubertät imstande werden soll, mit
immer weniger Unterstützung von außen her den Trieben
die Waage zu halten. Alle Kämpfe, die sich in der ersten
Kindheitsperiode in der Außenwelt zwischen dem Klein-
kind und seinen Erziehern abgespielt haben, werden auf
diese Art schon von der Latenzperiode an in immer
la* . -k 195
größerem Maße zu inneren Konflikten. Diese Instanz
im Innern des Kindes war vor der Psychoanalyse nach
einer ihrer wichtigsten Funldionen als das Gewissen be-
kannt. Die Psychoanalyse hat für sie den Namen Über-
ich gewählt, um ihre herrschende Stellung dem Ich des
Individuums gegenüber zu kennzeichnen 3).
Wenn aber das fertig ausgebildete Über-Ich dem Ju-
gendlichen in der Pubertät die volle innere Unabhängig-
keit von den Eltern und die selbständige Lösung seiner
Triebkonflikte ermöglichen soll, so bleibt es doch glcicb-
zeitig ein dauerndes Zeichen seiner Abhängigkeit von ihnea.
Das Über-Ich ist talsächlich seiner Herkunft nach ein
Abkömmling der Elterngebote, es ist das Resultat der
alten Bemühungen des Kindes, sich den Eltern anzu-
gleichen, es ihnen gleichzutun, sich mit ihnen zu identi-
fizieren. Wann immer das Kind im Laufe seiner Ent-
wicklung Liebesregungen von den Eltern ablöst und auf
andere Weise verwendet, richtet es das Stück Vater oder
Mutter, dem es sich in der Außenwelt entzogen hat, in
seinem Innern als einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit
von neuem auf. Wenn die Liebesablösung von den Eltern
in der Pubertät vollendet ist, dann ist auch die Identi-
fizierung mit ihnen schon vollzogen. Die äußere Freiheit,
die der Jugendliche am Ausgang der Kindheit erreicht,
ist bei näherem Hinsehen nichts anderes als die voll-
endete innere Gebundenheit.
Das hier gezeichnete Bild der drei großen Kindheits-
perioden zeigt die Anwendung der Psychoanalyse auf
die Auffassung der Kindheit nur in ihren gröbsten Um-
rissen. Neben einer Erwähnung einiger wichtiger Grund-
prinzipien der psychoanalytischen Theorie, der Aufzäh-
lung einiger charakteristischer Mechanismen, wie der Ver-
drängung, einer Andeutung der Ti-ieblehre und der Libido-
^) Jede Abweichung im Aufbau des Über-IchB wird zum Ausgangspunkt
TOQ Störungeu der Charakterbildung und Gesundheit des Individuums.
196
^f^wmm
theorie, findet in ihm kaum die Schilderung zweier In-
halte, des Ödipuskomplexes und des Kastrationskomplexes
Platz. Die Eigenart einer wirklich psychoanalytisch-psy-
chologischen Denkweise hesteht aber nicht nur in der Ein-
führung dieser Begriffe in die hergebrachte psychologische
Anschauung. Die psychoanalytische Psychologie, die auf
den Ergebnissen der analytischen Forschung aufgebaut
ist, hat ihre eigene Betrachtungsweise, die sie von jeder
andern bisherigen psychologischen Auffassung unterschei-
det. Sie bemüht sich, jeden einzelnen seelischen Vorgang,
den sie beobachtet, von drei Gesichtspunkten aus zu be-
schreiben. Sie faßt die seelischen Tatsachen nicht als Zu-
stände auf, sondern als das Ergebnis von Konflikten, von
seelischen Kräften, die miteinander im Kampfe liegen.
Diesen Gesichtspunkt nennt sie den dynamischen.
Sie bemüht sich, den seelischen Ort festzustellen, an wel-
chem jeder einzelne Vorgang vor sich geht und unter-
scheidet dabei drei Systeme: das Bewußte, das Vorbe-
wußte und das Unbewußte. Diesen Gesichtspunkt nennt
sie den topischen. Und sie hält es für möglich, die
relative Energie, die jeder einzelnen Seelenregung zur
Verfügung steht, abzuschätzen und sich aus diesen Größen-
verhällnisscn den Ausgang der einzelnen seelischen Kon-
flikte zu erklären. Diesen Gesichtspunkt bezeichnet sie
als ökonomischen. Aber es ist leicht einzusehen, daß
nur eine eingehende Beschäftigung mit den Grundlagen
der psychoanalytischen Theorie es möglich machen würde,
diese Betrachtungsweise in alle Einzelheiten zu verfolgen,
sie auf die oben gegebene Schilderung der Kindheits-
perioden anzuwenden und auf diese Weise daraus die
legitime psychoanalytische Psychologie der Kindheit auf-
zubauen.
197
DER TOD EDGAR POES
Von
Mdrie ßonaparfe
.".''. Im folgenden geben wir das Schlußkapitel des ersten
Teils aus dem im International-en Paychoanalytischen Verlag
erscheinenden Werk von Marie Bonaparte über „Edgar
Allan Poe" wieder. Dieser erste Teil der großangelegten
, .psychoanalytischen Studie" über den amerikanischen
Dichter behandelt das Leben Poes, während der zweite
-und dritte vom Standpunkt der Psychoanalyse aus die
Werke und der vierte das Wesen der literarischen Schöp-
fung und die soziale Bedeutung dieser Leistung („Poea
Botschaft an die Menschen") untersucht. Übersetzung
aus dem Französischen: Dr. Fritz Lehner (Wien).
Gegen Ende Juni wurde das Landhaus in Fordham zuge-
sperrt. Edgar Poe, der wieder von. dunklen Vorahnungen
verfolgt und die Beule eiJier neuerliclien Depression war,
begab sich mit Muddy^) nach New-York, wo diese von
der guten „Stella", der Frau Lewis, aufgenommen wuixle.
Und die dunklen Vorahnungen waren auch der Grund,
warum er vor seinem Hinscheiden an Griswold schrieb
und den Reverend bat, seine vollständigen Werke lierausc
zugebcn, wenn er, Edgar Poe, slerben sollte; Willis» war
beauftragt, den biographischen Teil zu schreiben.
Poe nahm von seinen Freunden in New-York Abschied.
Er kam bei Frau Oakes Smith in dem Augenblick an, in
dem sie in den Wagen stieg, um zur Bahn zu fahren. Sie
war entsetzt über „sein sichmerzvoUes Aussehen, über
seine Augen, die nicht melir von dieser Welt waren, über
den seltsamen Blick voll Verzweiflung'*. Poe stand ganz
enttäuscht in der Sonne und murmelte: „Ich hätte . . .
Ihnen so viel zu saigen." Der Frau Lewis, die er auf-
suchte, um ebenso wie Muddy bei ihr die Nacht zu ver-
bringen, sagte er ein Lebewohl auf der Schwelle der Tür;
^) Seine Tante und Schwiegermutter.
198
und er erklärte, während' Frau Smith sich würdig ver-
hieltj Muddy aber weinte: „Teure Stella, teure Freundia,
Sie verstehen mich und schätzen mich wirklich — ich
fühle, daß ich Sie nie mehr wiedersehen werde . . . Wenn
ich nicht mehr zurückkomme, schreiben Sie die Geschichte
meines Lebens. Sie werden mir Gerechtigkeit zuteil wer-
den lassen.*'
Von Muddy begleitet giujg er zur Bahn. Dort gab er ihr
einen letzten Kuß und sagte: „Gott segne Sie, meine teure
Mutter. Haben Sie keine Angst um Ihren Eddy und denken
Sie immer daran, daß ich anstäiidiig sein werde, wenn ich
von Iluiien weg bin und daß ich zurückkomme, um Sie zu
lieben und zu trösten." 2)
Poe fuhr nun über Philadelphia nach Richniond. Dort
stieg er, vennutlich gegen Ende des Nachmittags am 1. Juli
1849 aus dem Zug von PerÜi Amboy aus.
In seiner geblümlen Reisetasche hatte er zwei Vorträge
mit, deren einer sicher eine Rede über das Poelische
Prinzip war, sein Lieblingsthema in dieser Letzten Zeit.
Seine Börse enthielt ungefähr vierziig Dollars. Infolge des
letzten kahfornischen Goldrausches gab es nun viele Wirts-
häuser in Philadelphia; auf das Freigebigste bot sich
daher Poe nach seiner langen und heißen Reise die Ge-
legenheit zum Trinkea an. Vor allem aber drängte ihn
die tiefe Depression, in der er siich damals befand und die
so leicht bei ihm den Alkohol zu Hilfe rief, dazu, der Ver-
suchung zu erliegen.
Man weiß nicht genau, was nun vorgefallen ist. An Ta.t-
sachen erfährt man, daß John Sartain, der Zeichner und
alte Freund Poes, mit dem er manchen Absinth getrunken
hatte, an einem heißen Julitag in den Büros von SartairVs
Magazine, das jetzt ilim gehörte, einen zitternden, schrei-
enden Mann mit zerzausten Haaren eintreten sah, der
ihn um Schutz gegen eingebildete Verfolger anflehte, die
diesem UnglückUchen angeblich auf den Fersen waren.
, 2) Hervey Allen, Israfel, S. 814.
199
Der Verfolg ungswahia, zu dem die mit dem Aller wach-
sende Tendenz schon immer in Poe steckte, war aiis-
gebrochen, Sarlain, sein alter Freund, nahm ihn dann
zu sich in die Wohnung. Dort verlangte Poe ein Rasier-
messer, um sich den Sclmurrbart abnehmen zu können
und dadm'ch für die Verfolger unkenntlich zu werden.
Natürlich gab man es ihm nicht. Mit Mühe brachte Sar-
lain den Rasenden zu Bett, dann bewachte er ilm die
ganze Nacht und wagte es nicht, ihn allein zu lassen;
Poe selber flehte ihn nm Schutz an.
Auch am nächsten Tag wurde die freundliche Ergeben-
heit Sartains auf eine harte Probe gestellt. Als Poe asn
Abend Uiubedingt ausgehen wollte, folgte der l^reund ihm
auf dem Fuße. Edgar irrte, ohne stehen zu bleiben,, durch
die Straßen, sprach vor sich hin, geslikulierle und zitierte
mit voller und tönender Stimme die Fiebervisionen, die
in seiner leuchtenden und überreizten Phantasie an ihm
vorüberzogen. Das Thema dieser Visionen, das ihn ganz
in Bann hielt, von dem sein Geist vollständig besessen
wai', bestand aus einer schrecklichen Verschwörung, die
ihn bedroh>e. Vergeblich versuchte sein Freund, ihn zu
beruhigen. Unennüdiiich rannte Poe durch die Sti'aßen
und Sartain bemühte sich ohne Erfolg, ihn nadi Hause
zu bringen.3)
Während dieses wahnwitzigen Wettlaufes schleppte Poe
den Freund bis zum Fairwount Reservoir, wo sie gegen
Mitternacht ankamen. Dort ließ er ihn die stelle Treppe
hinaufklettern, die bis zum obersten Rand des Reservoirs
führte. Aber auch hier hörte Poe nicht zu phantasieren
auf, er schrie, er werde sich umbringen, die Gefahr siehe
unmittelbar bevor und flehte auf die rühi-endste Weise
um Schutz. Schließlich ließ er sich nach Hause bringen.
Aber noch hatte Sartain nicht alle Prüfungen überstanden.
Poe täuschte seine Aufsicht und entwischte von neuem,
3) Nach WilKam F. Gill. The life of Edgar Allan Poe, New YorK,.
Philadelphia, Boston, 1877, S. 233—237. auf den sich Hervey Allen
S. 816 bezieht.
200
i
legte sich auf freiiem Felde nieder und schlief ein. Da
erschien ihm einie in Weiß gekleidete Vision und behütete
ihn vor dem Selbstmord ...
Bald danach wurde er betrunken aufgegriffen und in
das Gefängnis von Moyamensing gebraK^ht.
Hier soll ihm nun auf den Wällen ein neues, in Weiß
gekleidetes Weib-Phantom erschieiijen sein und einige Worte
zugeflüstert haben; „Hätte ich nicht gehört, was sie ge-
sagt", erklärte er später, „das wäre mein Ende gewesen".
So war in diesen tristen Tagen die tote Frau, welche
die Seele Poes bewohnte, wieder aus dem lebenden Grab
hervorgekommen und, durch die heftige Krise eines
Alkoholwahns begünstigt, zweimal nach außen „proji-
ziert'" worden; sie zeigte sich den BÜGken des Menschen,
der sie in sich trug . . . Die drohende, und zu gleicheir
Zeit ihn beschützende Gestalt war eine Verdichtung der
fernen und nahen Vergangenheit, sie war EÜzabeth Ar-
nold, seine Mutter, und Virginia, seine Frau, die aber als
Lebende auch nur eine Verkörperung der toten Elizabeth
gewesen. Das Leichentuch der einen war nun in der
weißen Figur auch das Leiclientuch der andern; und die
Gestalt kam wie aus dem Jenseits herbei, um den zu
fordern, der schon zu lange auf Erden weilte . . .
Am nächsten Morgen, beim Appell der Gefangenen vor
dem Major Gilpin, soll Poe erkannt worden sein. Jemand
soll gesagt haben: „Das ist ja Poe, der Dichter!" und
man hat ihn freigelassen, ohne von ihm die Geldstrafe zu
verlangen. Als Sartain Poe fragte, warum er denn ein-
gesperrt worden sei, soll dieser geantwortet haben, ei-
habe einen falschen Scheck unterschrieben. Poe wurde
eben zweifellos in seinem Anfall von Verfolgungswahn
von den alten Beschuldigungen des English gequält. Und
um sein Elend noch zu verscliärfen, bekam er eine heftige
Diarrhöe, die er für Cholera hielt.
Die „tote Mutter" hörte natürlich nicht auf, im Zen-
trum seines Wahns zu herrschen. Erst wurde er nun von
den Gedanken heimgesucht, Muddy (seine Schwieger-
201
mutter) sei tot: er hatte Halluzinationen, in denen er sie
tot vor sich liegen sah und er flehte Sartain an — ver-
mutlich, um seine einzige und doch in vielen Formen
auftauchende Mutter schneller im Jenseits zu eri-eichen — ,
ihm Laudanum zu verschaffen, jene Droge, die sclion ein-
mal beinahe ihre Mission erfüllt hätte. Sartaiin verweigerte
sie ihm, nun brannte Poe von neuem durch, um durch
die Straßen zu irren. Hier trafen ihn zwei alte Freunde,
ehester Chauncey Burr und Georgie Lippard, der über-
spaninte Romanschriftsteller aus der Monks Hall.*) Sie
brachten ihn zu sich nach Hause, pflegten iliii und nach-
dem der Anfall von Alkoholwahn ein wenig abgeflau>t
war, konnte Poe am 7. Juli an Muddy einen Brief schrei-
ben. Der Inhalt dieses Briefes verrät uns noch seinen.
Zustand:
„Meine teure, teure Mutter — ich bin so krank ge-
wesen — ich habe Cholera oder ähnliche üble Krämpfe
gehabt, ich kann kaum die Feder halten.
Sie müssen sich im Augenblick, in dem Sie diesen
Brief bekommen, zu mir auf den Weg machen. Die Freude,
Sie zu sehen, wird meine Schmerzen lindern. Wir können t
nur gemeinsam sterben. Es wäre vergebliche Mühe, mit
mir jetzt zu raisonnieren; ich muß sterben. Ich will nicht
mehr leben, seit ich Heureka geschrieben habe. Ich
könnte nichts anderes mehr fertigmachen. Für Sie weiter- ^
zuleben, wäre vielleicht süß, aber wir müssen geraein-
sam sterben. Sie sind für mich, teure und immer ge-
liebte Mutter, alles, — alles gewesen, die teuerste und 1
verläßlichste Freundin. f
Ich war nie wirklich wahnsinnig, bloß bei den Ge-
legenheiten, bei denen mein Herz getroffen worden.
Man hat mich, seit ich hier bin, einmal wegen Trunken-.
heit ins Gefängnis gesteckt; aber damals war ich nicht
betrunken. Das war wegen Virginia." ö) (Sicher eine An-
spielung auf die weiße Ersc heinung.)
*) Von ihm ist bereits in einem früheren Teil der Biographie die RetJe,
*) Poe an Frau Clemm. (H. Allen, S. 8170
" 202
So träumte Poe von neuem die Liebesphantasie einer
Vereinigung mit seiner geliebten Mutter im Tode, jene
Phantasie, die ihn außer zu andern Erzählungen und Ge-
dichten zu der Ballade Annabel Lee und zu den Versen
Für Annie inspiriert hatte; aber diesmal galt seine Sehn-
sucht nicht der Anmut der sterbenden Virginia, noch
dem ruhigen Reiz Annies, sondern den weißen Haaren
und dem Witwenhäubchen der alten „Muddy'M Das war
eine Belohnung für die arme, alte Frau, welche verärgert
über die Ratschläge einer reichen Freundin, die ihr zu-
gemutet hatte, den „Sohn" zu verlassen, nach Fordham
zurückgekehrt war und dort voller Angst aui Nachrichten
von ihrem Edgar wartete ...
Wir können uns Poe leicht vorstellen, wie er in dem
larmoyanlen, rührseligen Zustand des Alkoholikers die
heftigsten Schreie nach dem Tod und nach der Mutter zu
Papier brachte; er schrieb diese Zeilen mit jener furcht-
baren Schrift, die er stets während seiner Wahnzustände
hatte und die später ausdrücklich als die Schrift jener
Tage erwähnt wird. Und wahrscheinlich datierte er diesen
Brief irrtümlich aus New-York, weil er in seiner Phan-
tasie glaubte, er sei schon im Tode mit seiner mütter-
lichen Muddy vereint; er hatte sie ja in New -York zurück-
gelassen.
Indessen ließ ihm Graham in Pliila-delphia, der von dem
Zustand, in dem sich sein ehemaliger Redakteur befand!,
durch Lippard erfahren hatte, fünf Dollars zukommen.
Charles Peterson, der ehemalige Hilfsredakteur Poes bei
Graham, tat das gleiche. Binr kaufte für Poe eine Fahr-
karte für den Steamer bis Baltimore. Der geblümte Reisen
sack, den man seit zehn Tagen suchte, wurde wieder-
gefunden, aber die Vorträge waren gestohlen worden.
Mit der ausgeplünderten Tasche und den zehn Dollars
Grahams und Petersons schiffte sich Poe, der von Barr
bis zur Landungsstelle begleitet wurde, Freitag, den 13. Juli,
nach Baltimore ein.
203
In. Baltimore nahm er einen anderen Steamer nach
Richmond. Und knapp bevor er hier ankam, schrieb er
der Muddy die folgenden Zeilen, aus den&n von neuem
pathetisch die Sehnsucht nadi der Mutter in ihr hervor-
bricht:
„Bei Richmond,
Es ist fürchterlich heiß und außerdem habe icli ein
derartiges Heimweh nach unserem Home, daß ich nicht
mehr weiß, was ich machen soll. Ich habe noch niemals
solche Lust empfunden, irgend einen Menschen zu sehen,
wie diesmal, wo ich Sie, meine geliebte Mutter, wieder-
sehen soll. Ich könnte jedes Opfer dafür bringen, nur
noch ein einziges Mal die Hand zu halten, und zu er-
reichen, daß sie midi trös'tet: so furchtbar deprimiert
bin ich. Ich glaube, kein Anlaß kann bedeutend genug
sein, um mich von neuem von Ilinen zu reißen. Wenn ich
bei Ihnen bin, kann ich alles ertragen, aber wenni ich
von Ihnen fern bin, dann bin ich zu unglücklich, um
weiterleben zu können." ß)
Poe kam in Richmond am Abend des 14. Juli 1849 an
und ging dir-ekt nach Duncan Lodge. Die Mackenzies, die
gastfreundlich wie immer waren, nahmen ihn bei sich
.auf; er befand sich iu einem fürchlerlichen Zustand,
seine Kleider waren zerrissen. Noch am Abend seiner
Ankunft schrieb er an Muddy: „. . . ich bin hier mit
zwei Dollars angekommen. Ich schicke Ihnen einen davon.
Oh Golt, Mutler, werden wir mis nie mehi- wiedersehen?
Wenn es Ihnen irgendwie möglich ist, ach, kommen Sie.
Meine Kleider sind in einem furchtbaren Zustand und ich
bin so krank. Könnten Sie doch zu mir kommen, Mutter.
Schreiben Sie mir sofort — aber bestimmt! Gott segne Sie
immer.
Eddy." ? )
6) Poe an Fraa Clemm, 14. Juli 1849. (Erster Brief dieses Datums.
H. Allen, S. 818.)
7} Poe an Frau Cleram, 14. Juli 1849. (Zweiter Brief dieses Datums.
Hervey Allen, Israfel, S. 819, wo irrtümlicherweise September für
Juli steht.)
204
1
Der Dollar blieb die einzige Geldsend mig, die Poe
während seines ganzen Aufenthaltes in Richraond der
Frau Clemm zukommen lassen konnte.
Trotz der guten Behandlung durch die Mackenzies und
seine Schwester Rosalie behai-rte also die Sehnsucht
nach seiner „Mutter-Muddy" in dem Herzen des kleinen
Kindes, das Poe unter dem Zwang seines Wahns und
seiner Krainkheil wieder geworden war.
Wir finden ihn nach wenigen Tagen in der Old Swan
Tavern wieder, einer bescheidenen Pension, in der er ein
ZimTner gemietet hatte. Dort suchte ihn Rawlings auf,
jener Arzt, von dem wir erfahren, Poe habe wieder ein-
mal einen Anfall von Gewalttätigkeit erlitten und ihn sogar
einmal mit einer Pistole bcdi-oht. Die Krise flaute aber
schnell ab und bald antwortete Edgar auf den Brief, den
er von Frau Clemm erhalten hatte:
„Richmond, Donnerstag den 19. Juli.
Meine teure und geliebte Mutter!
Sie weiMlen schon durch die Handschrift dieses Briefes
erkennen, daß es mir besser geht — viel besser, was
meine Gesundheit und mein psychisches Befinden angeht.
Ach, könnten Sic nur wissen, wie sehr mich Hir lieber
Brief gestärkt hat! Das war Magie, könnte man sagen.
Der größte Teil meiner Leiden, kam von der schrecklichen
Idee, die ich nicht los werden konnte: von der Idee, daß
Sie tot seien. Während mehr als zehn Tagen war ich ganz
verstört, obwohl ich nicht einen einzigen Tropfen ge-
trunken hatte; und während dieser ganzen Zeit war ich
in meiner Einbildung von den grauenhaftesten Unglücks-
fällen heimgesucht.
Das alles waren Halluzinationen, die von einem Anfall
kamen, wie ich noch nie einen gehabt hatte — einem An-
fall von Mania-ä-potu. Gebe der Himmel, daß dies nur
eine Warnung für den Rest meines Lebens bleibe . . .
Noch ist nicht alles verloren und die düsterste Stunde
kommt knapp vor dem Anbruch des Tages! Verlieren Sie
205
Ihren Mut nicht, teure und geliebt© Mutter — alles kann
noch gut werden. Ich will meine ganze Kraft entfalten . . ." ^)
So gesteht sich Poe selbst diesen seinen heftigsten An-
fall von Alkoholwahn ein. Die Krisle, die mit ihrem Auf
und Nieder ungefähr zwei Wochen gedauert hatte, war
vorbei und der Dichter konnte, zum letzlenmal in seinem
Leben, noch einmal auf einen Aufstieg hoffexL.
- •
*
Elmira, die Witwe des Herrn Shelton, eines reichen
Kaufmanjn-s, der seiner Frau den ganzen Besitz als Lebeais-
rente tiinter lassen, näherte sich den Vierzigern. Sie war
eine sehr imponierende Erscheinmig, Herrin ihrer selbst
und sehr fromm.
Kurze Zeit nach seinter Ankunft in Richmond begah
Poe sich zu ihr. Ein Diener ging hinauf^ tun die Herrin
des Hauses davon zu benachrichtigeiU^ daß ein Herr nach
ihr frage; sie kam in den Salon herab. Es waT Sonntag^
und die fromme Dame wollte gerade zur Kirche gehenj.
Wie sie eintrat, erhob sich Edgar und rief mit einer
Stimme, die von der En*eguing zitterte: „Ach, Elmira, sind
SJe's?" Frau Shelton erkannte ihn sofort, begrüßte ihn
überaus freundlich, ging aber trotzdem sofort im die Kirche.
Sie forderte Poe auf, wiederzukommen.
Er kam wieder. Man sprach von den vergangenen Zeiten
und Edgar erinnerte Elran-a an das Versprechen, das sie
ihm vor vier und zwanzig Jahren gegeben halte. Sic glaubte
zuerst, daß er auf eine romantische Weise scherze, mußte
sich aber bald davon überzeugen, daß er die Sache ernst
nahm. Ende Juli waren sie nun, sagt man, zu einem „Eia-
vernehmen^' gekommen.
Poe war zu Elmira zurückgekehrt, weil er sie früher
einmal geliebt und weil die Poesie dieser Jugendhebe in
einem Herzen wie dem seinen nie mehr ganz verklingen
hatte könmen. Aber noch ein anderer Grund trieb ihn zu
ihr: die Elmira seiner Jugend war jetzt zu eituer der
8) H. Allen. S. 820.
206 •
il
II
1
mütterlichen Gestalien geworden^ die wie die geträumten
Mütter der Kindheit von ihrem Überfluß herschenken
konnten. Dieses Mütterliche zog Poe an, aber nicht die
Sorge um das Geld, wie man ihm vorgeworfen hat: das
Vermögen der Elmira war ebenso wie das der Helen
Wliitman für ihn nichts anderes als emes der Attribu'te
der Allmacht imd AUfruchtharkeit einer Mutter. Nach
dem gleichen Schema herrschte auch die reiche Fraiicea
Allan über ihn, als sie das Waisenkind adoptiert und mit
vollen Händen ihre Wohltaten über ihn ausgeschüttet
halte- Der Wiederholungszwang, der unser Leben lenkt,
drängle eben selbst den vierzigjährigen Edgar Poe., dieses
ewig verlassene Kind dazu, sich wieder einmal adoptieren
zu lassen, diesmal durch dieselbe Elmira, die ihn in
seiner Jugend zuerst entzückt, dann aber in Verzweiflung
gebracht hatte.
Frau Shelton war natürlich von der neuerlichen Wer-
bung eines ehemaligen Bewunderers entzückt. Man hatte
damals die Briefe ihres jungen Geliebten unterschlagen,,
um sie in die Arme des wenig poetischen Herrn Sheifcon
zu stoßen. Das konjnte sie ihren Eltern nie verzeihen.
Nun mußte sie erfahi*en. daß noch vierundzwanzig Jahre
später Edgar an sie dachte! Und trotz ihrer Frömmigkeit
war Elmira Frau. Ja die Frömmigkeit konnte sogar im
Dienste ihrer Eitelkeit und ihres Herzeais Vernunftgründe
finden: es sei vielleicht ihre Aufgabe, diese „verirrte
Seele" zu retten. Poe, der außer mit Marie-Louise Shew
niemals in die Kirche gegangen war, wurde dort bald aim
Sonntag neben Frau Shelton gesehen ...
Mit der Zeit hatten die Leute von Richmond Edgar Poe
auch sein Benehmen gegen den Vormund vei'ziehen. Der
Ruhm machte ihn zu einem Objekt der Neugierde; und
Kinder aus jener Zeit erinnerten sich später, ihn auf der
Straße vorübergehen gesehen zu haben: „Ein Dichter,
nach der Mode in Schwarz gekleidet^ schlank, aufrecht,
das subtile Antlitz blickte nachdenklich drein . . . Ein
207
auffallend schöner Mensch, nur der Mund störte." s) Die
Salons öffneten sich wieder vor ihm. Seihst Julia Mayo
Cabell, eine Verwandte der zweiten Frau Allan, lud ihn
ein. Und zu der sozialen Anerkennung kam noch das
Gerücht dazu, Edgar Poe hahe sich mit Ehnira Shelton
versöhnt.
Poe verhrachte seine Zeit damals hauptsächlich bei den
Mackenzies und Rosalie in Duncan Lodge, bei den Talleys
in Talavera und, am entgegengesetzten Ende der SLaidt im
Haus der Frau Shelton in Church Hill. Er ging zu Fuß
von einer Wohnung zur andern und kehrüe am Weo-
häufig in der Broad Street bei einem jungen Doktor John
Carter, seinem neuen Freund, ein.
Das späte Verlöbnis Edgars mit seiner Ehnira soUbe
jedoch nicht ohne Trübung bleiben. Elmira wußte nicht
nur,, wie berühmt Poe war, sie kannte auch seinen
schlechten Ruf und fand keinen besondei-en Geschmack
an der Idee, Patterson über Bord zu werfen und selbst
das Gründuu^skapital für den Stijlus herzugeben. Das
wollte aber Poe: in seinen Briefen an Palterson berief
er sich jetzt mit SelbstgefäUi^keit auf die „Cholera'*,
das „Calorael", die „Gehirnschwäche", um sein Zögern zxx
entschuldigen. Das Erscheinen des Stijlus wurde daher auf
später verschoben.io) . ., .
Inzwischen aber traf Elmira Verfügungen, um ihretj
Besitz noch vor der Heirat in Sicherheit zu bringen. Ein
solches Vorgehen, die Tatsache, daß Elmira selbst an Uie
Sicherstellung dachte, war für Poe noch viel verletzen^^j.
als das Verhalten der Helen Whitman, bei der die Mutter
das Geld ihres Kindes hatte schützen wollen. Er war ubey
den Mangel an Vertrauen sehr böse. Anfangs August war^n
die Beziehungen zwischen den beiden Liebenden wieder
^) H. Allen, S. 822 (nach Basil C. GiWersleeve in Harrison. Biography
10) Poe an Patterson, 19. Juli und 7. August 1849. (Virginia Edition
der Werke Poes. XVII. Band, S. 363.)
208
gelockert, Elmira verlangte von Edgar ihre Briefe zurück;
und Edgar mied Elmira.
Am 7. August hielt Poe einen mit großem Beifall auf-
genommenen Vortrag über das Poetische Prinzip vor einem
ausgewählten Publikum. Frau Shelton war ajiwesend der
Vortragende verließ aber den Saal mit den Talleys.
Das Reinerträgnis dieses Vortrages und einige Ein-
nahmen durch Beiträge für den Southern Literary Mes-
senger ermöglichten es Poe, sich recht imd schlecht durch-
zuschlagen. Aber er besaß noch immer nicht so viel, um
sich einen Anzug kaufen zu können oder der armen Muddy,
die in Fordham in größtem Elend auf ihn wartete, etwas
Geld zu schicken ... - ! .
Elmira war jedoch keineswegs im Unrecht, wenn sie
an Eddy zweifelte! Zweimal war er neuerdings von seinen
Anfällen heimgesucht worden — ganz wie in Philadelphia.
Der Wein in diesen südlichen Gegenden war zweifellos
gar zu verführerisch! Das erstemal hatten ihn die Macken-
zies in der Old Swan Tavern verpflegt; es gelang ilum,
seinen üblen Zustand schnell zu überwinden. Aber das
zweitemal,, im August, war der Anfall derart stark, daß
Poe nach Diincan Lodge transporü-ert und sein junger
Freund, der Dr. Carter, geholt werden miißle.
Als Poe zu sich kam, hielt Carter ihm eine heftige
Strafpredigt: der Dichter könne keinen Anfall mehr er-
tragen,, — wenn er leben wolle, dann müsse er von nun an
jeden Alkohol meiden. Poe war von Gewissensbissen ge-
peinigt, er schluchzte heftig, jammerte und sagte, daß er
vergeblich versuche, sich von seinem „Laster" zu be-
freien. Und er wolle sich in Zukunft beherrschen,, den
Versuchen Widerstand leisten, ein Versprechen, das er
feierlich beschwor! Und um sich selbst seinen Entschluß
zu erleichtern, schrieb er sich kurze Zeit nachher in der
Division von Shockoe Hill der Sons of Temperance ein
und leistete vor dem Präsidenten W. J. Glemni den Eid,
gänzlich abstinent zu bleiben. Die Zeitungen berichteten
darüber.
14 Almanach 1933 tv\r,
209
i,
A
Von dieser Zeit au enthielt sich Poe in Richmond tat-
sächlich jedes alkoholischen Getränks. Man sah ihn in
den Büros des Richmond Examiner, bei Daniel, bei dem
gleichen Daniel, mit dem er sich im vergangenen Jahr im
Duell schlagen hatte wollen und der jetzt mit ihm be-
freundet war. Er sah hier von neuem seine Gedichte,
den Raben oder Traumland durch, ließ sie setzen, korri-
gierte die Fahnen und blieb so bis an sein Lebensende
der Dichtkunst treu.
Anfangs September hatte sich Edgar auch mit Elmira
wieder versöhnt. Sie verlobten sich. Und am 5. Septetn-
ber^i) schrieb Poe an Frau GIcinm:
„ . . . Und dann, meine liebe und teure Muddy, in dem
Augenblick, in dem ich eine endgültige Antwort auf alle
diese Fragen haben werde, schreibe ich Ihnen wieder und
teile Ihnen mit, was Sie machen sollen. Elmira möchte
gerne Fordham besuchen, aber ich glaube nicht, daß das
gut ist. Ich halte es für das beste,, Sie erledigen dort
alles und kommen mit dem Steamer hierher. Schreiben
Sie sofort und teilen Sie mir mit, was Sie von diesem
Vorschlag halten, denn Sie wissen am besten, was Sie
tun sollen." Dann fügte er ohne Übergang hinzu: „Sollten
wir jedoch in Richmond oder in Lowell glücklicher sein?
denn ich vermute, daß wir in Fordham niemals glücklich
sein werden und, Muddy, ich muß dort siein, wo ich
Annie sehen kann . . .*' Und einige Zeilen später: „Schließ-
lich glaube ich, teure Muddy, das besite wäre, Sie sagen,
ich sei krank oder so etwas Ähnliches und verabschieden
sich in Fordham, um hieher zu kommen. Teilen Sie mir
sofort mit^ was Sie für das Richtige halten. Sie wissen,
daß wir leicht bezahlen können, was wir in Fordham
schulden und Fordham ist ein schöner Ort ~ aber ich
will in der Nähe Annies leben." Und er schließt: „Schrei-
ben Sie mir nichts über Annie — ich kann es in diesem
11) H. Allen. S. 832. Der Brief (Virginia Edition. Bd. XVII, S. 368/69)
ist mit September 1849, Mittwoch abends, datiert. Dieser Mittwoch
kann aber nach allem nur der 5. September gewesen sein.
2i0
Augenblick nicht ertragen,, von ihr sprechen zu hören,
so lange Sie mir nicht mitteilen können, Herr R. sei tot
Ich hahe schon den Ehering gekauft und es wird mir
hoffentlich nicht schwer fallen, niir einen dunklen Anzug
zu verschaffen/' '2)
Aus diesem Brief erfahren wir sehr interessante Dinge:
erstens, daß die Heirat zwisclien Poe und Frau Sheltoa
beschlossen war; zweitens, daß Eddy sicli noch nicht
entschlossen hatte, die Muddy selbst aus Fordham ab-
zuholen; drittens, daß das hauptsächliche Ergebnis der
Verlobung mit Elmira die Erweckung der Sehnsucht nach
Annie war.
In dem Augenblick, in dem Poe sein Leben an das einer
andern Frau binden sollte, brach also das Bedauern aus
ihm hervor, daß diese Frau nicht Annie sei. Wohl war
Elmira früher einmal die Flamme des jungen Edgar ge-
wesen; aber in der ernsten und frommen vierzigjährigen
Dame blieb von dem zierhchen und leichtfüßigien Mäd-
chen von fünfzehn Jahren zu wenig mehr übrig, als daß
die Phantasie des Dichters sich an der Berührung mit
ihr neu hätte entzünden können. Es isst daher kein Zu-
fall, daß die Zeilen, welche vom Tode des Herrn Rich-
mond sprechen, und jene andern, in denen vom Ankauf
des Eheringes die Rede ist, gleich nebeneinander stehen.
Diese Nebeneinanderstellung hat im Unbewußten den Wert
eines gedachten Bandes; sie sagt gleichsam: „Warum ist
Annie nicht Witwe und frei? Ich würde dann diesen Ehe-
ring an ihren Finger stecken."
Poe verehrte Annie aber hauptsächlich deshalb, weil
sie nicht Witwe und frei war. Bei Elmira kam nämüch
zu den andern Fehlern, die sie in den Augen Edgars
hatte, hinzu, daß sie erreichbar bUeb; Annie hingegen er-
füllte weiter eine der Liebesbedingungen, die Edgar schon
mit zwanzig Jahren besungen hatte:
^2) Poe an Frau Clernm. (Virginia Edition, Bd. XVIII, S. 368 ff . Nach'
Griswold.)
2n
..;j^.
„Ich habe nur dort lieben können, wo der Tod
Seinen Atem mit dem der Schönheit vermengte,
Oder dort, wo Hymen, die Zeit und das Schicksal
Zwischen ihr und mir einhergingen."
Jetzt war dieselbe Elmira, die zum Teil wenigstenÄ
Edgar damals zu jenen Zeilen inspiriert hatte, nicht mehr
durch das Schicksal oder Hymen von ihm getrennt! Daher
sagte Edgar von ihr in seinem näclislen Brief an Muddy:
„Elmira ist soeben vom Land zurückgekommen. Ich habe
den geslr^en Abend mit ihr verbracht. Ich glaube, säe
liebt mich mit mehr Ergebenheit als irgendeine der Frauen,
die ich bisher gekannt habe, und ich kann nicht umhin, sie
dafür auch zu lieben." ^^) Die wahre Leidenschaft spricht
anders. Wir haben gesehen, wie er in einem andern Brief
an die gleiche Frau Clemm von Annie sprach . . .
Elmira und Annie waren für ihn zwei Pole gewoi-deu,
zwei mit tiefer unbewußter Bedeutung besetzte Symbole,
zwischen denen in diesen letzten Monaten^ seines Lebens
das Schicksal Edgar Poes hin und her pendeln sollte.
Auf der einen Seite stand eine Witwe von fast vierzig
Jahren, seine Gattin von morgen, mit der ein Versuch
unternommen werden mußte, den zu unternehmen Poe
zweifellos noch nie gewa^gl hatte. Elmira repräsentiert©
daher trotz ihres prosaischen Benehmens und ilirer Fröm-
migkeit die Gefahr, die von den Sinnen ausgeht.
Auf der anderen Seite stand die noch nicht dreißig-
jährige, verheiratete ferne Geliebte, die ihn nie in solche
„Gefahr" brachte, um die er tausend Träume s])innen
konnte, — besonders den .schönsten Traum, in ihi'en
Armen zu sterben.
Die eine war die Frau,, mit der er in Prosa sozusagen
und „gefährdet" kämpfen und leben mußte. Mit der andern
hingegen lebte er im Traum und in der Poesie; bei ihr
13) Poe an Frau Clemm. Riehmond, Dienstag, 18. September 49. (Vir-
ginia Edition. Bd. XVIII, S. 366.)
212
'/'.
konnte er davon träumen, an der Brust der Mutter zu
liegen, und in den Schlaf gewiegt zu werden.
Und die Priorität im Schicksal Poes hatte unzweifelhaft
jene Frau, die nacli dem Tode der Virginia auf Anjiie
„übertragen" worden war. Frau Shelbon repräsentierte
durch ihren beschützenden Reichtum eher die Mutter
welche das verlassene Kind adoptiert hatte, sie war also
eine verspätete Franoes Allan. Annie aber repräsentierte
im Unbewußten Poes die erste Liebe seiner Kindheit;
durch das Sternenleuchten ihrer Augen, die bis in das
Herz des Geliebten hineiufuukelten, durch geheimnisvolle
Zusammenklänge, die uns heute entgehen und an denm
jene Augen zweifellos gro&en Anteil hatten. Hier fand er
die wahre Mutter Elizabeth wieder, der er mit seinem
ganzen kleinen verliebten Kinderherzen hatte folgen wollen,
als grausame Männer ihn von ihr trennten und ihn daran
hinderten, noch einmal an ihrer kalt gewordenen Brust
einzuschlummern. Das Heimweh nach solchem verlorenen
Glück sollte er ja sein ganzes Leben hindurch nicht über-
winden.
Ein Herr St. Leon Loud suchte Poe beim Eo^aminer auf
und bot iliim hundert Dollar an, wenn er die Veröl" fenthchung
der Gedichte seiner Frau, einer Dichterin aus Philadelphia"^
übernehmen wolUe. Der arme Teufel Poe nahm natürlich
an; in dem schon zitierten Brief vom 5. September erzählte
er seiner Muddy von diesem Geschäft und meinte, die
Sache weixle ihn nur drei Tage lang aufhalten. In dem
gleichen Brief schlug Poe der Frau Clemm vor, sie möge
nach Richmond kommen, um ihn dort zu treffen. In
dem Brief vom 18. September teilte Poe jedoch mit, er
werde selbst kommen, um Muddy abzuholen, allerdings
nicht nach Fordbam, „es ist besser, nicht waiir, daß ich
dort nicht hinkomme", sondern nach New-York. Er werde
in einer Woche abreisen und sich auf dem Wege in
Philadelphia aufhallen, um dort die Veröffentlichung der
Gedichte der Frau Loud, die ihm hundert Dollar einbrin-
213
^r fl''^---: r~' -^ - : *i '^ 'i . ■- . „iXt irtJzi k^
gen sollte, zu überwachen. Bis dahin allerdings könne er
auch nicht einen einzigen Dollar schicken.
So änderte Poe in dreizehn Tagen seinen ursprüng-
lichen Plan, er beschloß knapp vor der Heirat, zu Muddy
zu reisen und in den Norden, wo fem der Stern Annies
leuchtete. Schon einmal hatte er in die gleiche Richtung
einen „Fluchtversuch" unternommen, damals, als er in
Providence beinahe mit einer andern Frau verheiratet
worden war; auch damals stieg er in den Zug nach Boston,
nach dem Norden, wo bereits Annie herrschte, und in
der Tasche hatte er zwei Unzen Laudanum. Diesmal trug
er kein Laudanum mit sich, wohl aber in einem zu allem
Unheil bereiten Körper eine psychische Erkrankung, die
sicher ebenso wirksam war wie jenes Gift.
Die Melancholie Poes oder vielmehr diese plötzlichen
Verdüsterungen seiner Laune fielen in jenen letzten
Wochen, die er in Richraond verbrachte, jedem auf, der
ihn sah. Er hatte große literarische und gesellschafthche
Erfolge, seine Vorträge über das Poetische Prinzip, sein
Lieblingsthema, die er in Richmond und Norfolk hielt,
fanden viel Beifall. Er war mit einer in der Stadt ange-
sehenen Frau verlobt, er wm^de nun von allen seinen ehe-
maligen Freunden in Gnaden wieder aufgenommen. Aber
sogar inmitten der fröhlichsten Gesellschaften, inmitten
der Veranstaltungen, bei denen er am lautesten gefeiert
wurde, verdüsterte sich plötzUch, und oft gerade in dem
Augenblick, in dem man meinte, er sei von der allge-
meinen Heiterkeit angesteckt, sein Gesicht; eine Melan-
cholie bemächtigte sich seiner, er setzte sieh irgendwo hin,
abseits von den andern nieder, oder irrte durch einen
nahegelegenen Garten und sprach mit irgendeinem Freund
von der Vergangenheit. Die Vergangenheit scheint Poe in
dieser Periode seines Lebens mehr als je beschäftigt zu
haben. Fräulem ToUey (später Frau Weiß) erzählt uns
von einer Spazierfahrt, die er mit ihr in die Eremitage, in
das frühere Haus der Mayo, in dem Poe als Kind spielte.
214
gemacht hatte; in unsagbarer Melancholie irrte der Dichter
durch die verlassenen Gärten und das leere Haus. Frau
Ingram berichtet, er sei mit ihr in Norfolk spazieren
gegangen, habe das Irisparfum, mit dem ihr Kleid be-
sprengt war, bemerkt und gemeint, das sei auch das Par-
füm des Wäschekastens der Frau Allan gewesen es
führe ihn in die Zeit zurück, in der er ein kleiner Jung©
war*' und erinnere ihn an seine Adoptivmulter . . M)
Samstag, den 22. März, verbrachte Poe den Abend mit
Elmira. Die Hochzeit wurde für den 17. Oktober angesetzt.
Poe schenkte seiner Braut eine große als Brosche mon-
tierte Kamee; er schien an diesem Abend glücklich zu
sein. Elmira versprach ilim, der Muddy zu schreiben, ein
Versprechen, das sie auch hielt, als er fortgegangen war.
Sie kenne die Muddy zwar noch nicht, schreibt sie,
wolle sie aber gerne lieb haben. Sie lobte Eddy, der nun
nüchtern, mäßig, moralisch und sehr lieb sei. Dann fügt
die fromme Dame hinzu: „Ich hoffe, die Vorsehung wird
ihn schützen und auf den Pfad der Wahrheit leiten, damit
sein Fuß nicht ausgleite." Und sie schließt: „Eben bat es
Mitternacht geschlagen, Sabbath ist da und ich will daher
schließen. Gute Nacht, teure Freundin, der Himmel segne
und beschütze sie und mögen die Tage, die Sie noch auf .
dieser Erde verbringen werden, friedliche und glückliche
sein. ^ ■■,■■*..
.-•■'- Elmira." 15)
Achl die glücklichen Tage, welche Maria Clemm er-
leben durfte, waren vorbei. Aber ebenso vergebUch war
das Gebet Eimiras, Edgars Fuß möge nicht mehr strau-
cheln. ,
. Am 24. September hielt Poe seinen letzten Vortrag in
Richmond, immer über das Poetische Prinzip. Alle Freunde
1*) Hervey Allen. S- 831, 835.
1^) Elmira an Frau Clemm. Richmond, 22. September 1849. (Virginia
Edition, Bd, XVII, S. 396/7.)
215
waren anwesend, damit die Einnahmen es ihm möglich
machten, die Reise nach dem Norden zu unternehmen.
Am nächsten Tag verbrachte Poe den Nachmittag in
Talavera bei den Talleys. Er schien gut gelaunt zu sein.
Nie hatte man ihn so heiter und hoffnungsvoll gesehenj
wie an diesem Abend. Er erklärte, sein letzter Aufenthall
in Richniond gehöre zu den glücklichsten Zeiten seines
Lebens und blieb bis lange in die Nacht hinein auf,
um mit seinen Freunden zu plaudern. Er bedauerte, wie
er sagte, die Reise nach New-York unternelimen zu müssen.
Während er bei der Haustür von den Freunden Abschied
nahm, lief gerade über seinem Kopf ein Meteor über den
Himmel; dieses Ereignis machte einen tiefen Eindruck auf
sie . . .
Poe kehrte dann nach Duncan Lodge zurück, wo er
die Nacht verbrachte; er war aber jetzt wiedei* deprimiert
und von dunklen Ahnungen befallen. Er blieb lange Zeit
beim Fenster stehen und rauchte. Am nächsten Morgen
packte er den Koffer, denselben Koffer, den ilim Herr
Allan 1829 in Baltimore geschickt hatte, nachdem Poe aus
dem Elternhaus geflohen war.
Mittwoch, den 26. September, den Tag vor seiner Ab-
reise, widmete Poe den verschiedenen Freunden in Rich-
mond. Er besuchte unter anderem Thompson im Messenger j
der ihm fünf Dollars lieh. Beim Fortgehen sagte Poe:
„Ja, richtig, Sie sind immer freundlich zu mir gewesen —
da ist eine Kleinigkeit, die für Sie einigen Wert haben
kann." Und er überreichte iJim ein Manuskript der Annabel
Lee. Nachmittags kam Rosalie zu Susanne Talley und
übergab ihr im Auftrage des Bruders ein Manuskript von
Für Annie. So sahen die Legate aus, die Poe zu vergeben
hatte. Nachmittags begab er sich noch einmal nach Church
Hill, um sich von Frau Sheltoin zu verabschieden. Er war
sehr traurig, sagte sie, und beklagte sich darüber, kraimk
zu sein. Sie befühlte seinen Puls, fand, daß er Fieber
habe und meinte, er könne am nächsten Tag in diesem
Zustand nicht abreisen.
216
-^- -^ <■ -j.-
„Beim Fortgehen", erfahxea wir von Frau Shelton,i6)
„erklärte er, er müsse sich noch nach New-York begeben,
um einige wichtige Angelegenheiten zu erledigen; er werde
sofort nach ihrer Erlediguiig wieder nach Richmond zu-
rückkommen, gestand aber zu gleicher Zeit seine Ahnung
ein, daß er mich nie mehr wiedersehen werde".
Nach diesem Besuch bei Elmü-a hielt sich Poe bei
seinem Freuind, dem Dr. John Carter, auf. Er las dort
die Zeitung, und nahm beim Weggehen den Stock des
Doktors mit statt des eigenen. Dann ging er in das Hau«
gegenüber, in. das Restaurant Sadler, essen, traf dort
Freunde und blieb mit ihnen bis spät in die Nacht hinein
auf. Blakey und Sadler, die damals iu seiner Gesellschaft
waren, sagen, der „Son of Temperajice" habe an diesem
Abend nicht getrunken. Dann begab sich Poe, von einigen
Gästen begleitet, zur Landungssbelle. Der Steamer. lichtete
um vier Uhr morgens den Anker, um nach Baltimore zu
fahren . . .
Warum hat Poe diese Reise nach dem Norden unternom-
men? Um das Landhaus in Fordliam zuzusperren, um die
Muddy abzuholen, um mit Griswold über die Herausgjibe
seiner gesammelten Werke zu sprechen? Oder gar, um auf
der Durchreise in Pliiladelphia die Veröffentlichung der Ge-
dichte der Frau Loud, welche ihm hundert Dollars ein-
brachten, vorzubereiten?
In Wahrheit war diese Reise keineswegs unbedingt nötig.
Und alle die genannten Motive waren für Poe nur Ratio-
nalisierungen einer viel tiefer im Unbewußten vei*ankei'ten
Motivierung. Das Landhaus hätte von Muddy allein zuge-
si)errt werden können; er schlug ihr noch am 5. September
vor, allein mit dem Steamer aus Fordham zu komraeiiL
Hat sie ihn mit ihi^em Antworlbrief gerufen? Ich glaube
eher, er allein hat sich zu dieser Reise entschlossen;
von diesen beiden Menschen war weniger die Muddy alsi
er gewohnt, um Hilfe zu rufen, und als sie Ende August
^ß) Appleton's Journal. XTX. S. 421 (nach Lauvrifere. Edgar Poe. S. 292).
217
Hunger litt, da wandte sie sich nicht an Eddy, sondern an
Griswold und Frau Lewis, um sich ein Stück Brot kaufen
zu können. ^
Auch die gesammelten Werke konnten noch warten
und die Gedichte der Frau Loud sollten nach den eigenen
Worten Poes erst gegen Weihnachten veröffentlicht wer-
den.i') Der Reinertrag aus der letzten Vorlesung, mit dem
die Kosten der Reise nach dem Norden bestritten wur-
den, hätte also ganz gut dazu dienen können, Edgar bis
zur Hochzeit am 17. Oktober, bei der er reich werden
sollte, über Wasser zu halten.
„V^enn es möglich ist', schrieb Edgar am 18. Sep-
tember an Muddy, „werde ich vor der Abreise heiraten,
aber man weiß es noch nicht genau".i«) Die tieferen
Determinismen seiner Natur zwangen nun Poe zu seinem
Unheil dazu, vor der Heirat nach dem Norden zu reisen.
Der negative psychische „Tropismus", durch den er jede
Frau in dem Augenblick verlor, in dem er sie besitzen
konnte, mußte sich bei dem vierzigjährigen Poe in seinem
Verhalten gegen die Frau Shelton ebenso auswirken wie
bei dem Dreiundzwanzigjährigen, der einer Mary Devereaux
gegenüberstand. Wir erinnern uns noch daran, daß er sich
seiner Freundin Mary nach vielen Monaten der Werbung
emes Abends derart betrunken genähert hatte, daß sie ihn
hinausjagen mußte. Eine solche Verlegenheit sollte Elmira
erspart bleiben, dafür benahm sich Poe umso radikaler,
um sie zu verUeren. Man darf aber auch nicht den posiü-
ven psychischen Tropismus vergessen, der Edgar zu Annie,
oder vielmehr zu dem Wesen, dessen letzte Verkörperung
sie war, trieb . . .
Man weiß mcht, wann Edgar Poe, der „Son of Tem-
perance", seinen Schwin*, nüchtern zu bleiben, gebrochen
hat. Trank er schon bei Sadler, was allerdings Sadler
und Blakey ableugnen? Oder auf dem Steamer, auf dem
17) Poe an Frau Clemm, 5. September. Mittwoch abends.
18} Virginia Edition, Bd. XVII, S. 367.
218
sicher eine Bar war, währenid der achtundvierzig Stun-
den, die er auf ihm verbrachte, oder in dean Hotel in
Baltimore? Tatsache ist, er erlag hier oder dort dem
plötzlichen „kategorischen Imperativ" des Dipsomanen,
der alle Schwüre brechen hilft und dazu überaus ver-
nünftige Gründe zur Verfügung stellt. Und wenn auch
Untergang und Tod am Ende stehen, was liegt darauf Für
Edigar Poe war der im Glas verborgene Tod nur eine un-
bewußte Lockung mehr.
Samstag, den 29. September, an dem Tag, an dem Poe
in Baltimore aufgekommen war, kam er betrunken zu
seinem Freund, dem Dr. Nathan C. Brooks. Dann ver-
lieren wir ihn für fünf Tage aus dem Äuge.
Es gibt verschiedene Meinungen darüber, wo sich Poe
in dieser Zeit herumgetrieben und was er in diesen fünf
Tagen gemacht hat. Die größte Wahrscheinlichkeit hat
folgende Darstellung für sich:i9) Es war gerade Wahlzeit,
und die politischen Sitten in Amerika waren überaus kor-
rumpiert. Es gab keine Wahlkartenj die Wähler erschie-
nen vor der Kommission, schwuren — und gaben ihre
Stimme ab. Nun wurden von den Parteien Banden organi-
siert, die einige Tage vor der Wahl Razzien abhielten^
die Unglücklichen, welche ihnen in die Hände fielen,
einsperrten, betrunken machten und so zu den Urnen
schleppten. Man nannte die Orte, an denen man die Gefan-
genen bewachte, „coops** — „Hühnerkäifige". Nun fand
am 3. Oktober in Baltimore die Wahl der Mitgli-eder des
Kongresses und der staatlichen (Gesetzgebung statt. Fünf
Tage vorher hatte die Jagd nach dem Wäliler begonnen.
Poe fiel vermutlich in die Hände einer der Banden, wurde
in einem der „Hühnerkäfige" gefangengehalten, wobei der
Alkohol in Strömen floß.
In einem solchen „Gefangenenlager" der Tory-Partei,
es hieß Ryan's Fourth Ward Polls (Ryans vierter Wähler-
^^) Nach Hervey Allen, Israfel, S. 842 ff., der Woodberry und Harrison
folgt.
219
i J ir.^ r : \r .-^ -^ — I -
saal) wurden 1849 hundertdreißig bis hundertvierzig Wähler
hineinigepfercht. Neben diesem Lager befand sich ein Wirts-
haus, Cooth <Sc Sergeant's Taverne das über eine bedeutejide
Kundschaft aus den „coops" verfügte. In der nächsten
Nähe wohnte auch der Dr. Snodgrass. Dieser Doktoii,
ein alter Freund Poes, bekam Mittwoch, den 3. Oktober,
folgende mit Bleistift geschriebenen Zeilen:
■ „Baltimore, am 2. 1849.
Sehr geehrter Herr! In Byan's ^ th ward polls ist, ein
Herr in einem fürchterlichen Zustand; er heißt Edgar
Poe, scheint sich in großer Not zu befinden und behauptet,
er kenne Sie; ich betone, er braucht Ihre unverzÜÄli<ihe
Hilfe.
In höchster Eibö
-L Jos. W. Walker."
Dr. Snodgrass erkannte die Schrift. Der Brief kam
von einem Druckereiarbeiler des Baltimore Sun, den er
flüchlig kannte. Er begab sich nun bei dem kalten Oktober-
regen, der an diesem Tage fiel, sofort an den bezeiclmetm
Ort und fand Poe in Coofh dt Sergmnrs Tavern.
^ Dort saß der größte Dichter Amerikas, von Leuten
niedrigsten Standes umgeben, zusammengebrochen auf
einem Stiihl, „mit verstörtem, aufgK^dunsenem und unget-
waschenem Gesicht; die Haare waren nicht gekämmt
und sein ganzes Aussehen abstoßend. Die große Stirn...
und die weiten, sanften und soelenvoUen Augein, diq für
ihn so charakteristisch waren, wenn er er selbst war —
sahen ohne Glanz darein, wie ich bald bemerken konnte
— und versteckten sich unter einem ganz zerrissenen
Palmenhut, der beinahe keine Krempe mehr hatte, zer-
fetzt und ohne Band war. Sein Anzug bestand aus einem
Paletot von dünnem, glänzendem Alpaca, war an mehreren
Stellen an den Nähten aufgerissen, verschossen und be-
schmutzt, und aus einer Hose aus Gassinetle, die ganz ab-
gewetzt und schön hergerichtet war, wenn man so etwas
überhaupt sagen kann. Er hatte weder eine Wesle noch
220
•aL.
ein Halstuch, und die Brust seines Hemdes war zer-
knittert und beschmutzt. . ."20)
Während Dr. Snodgrass sofort im Wirtshaus selbst ein
Zimmer herrichten ließ, kam 'Herr Herring, der Cousin
Poes. Wir wissen nicht, wer ihn benachrichtigt hatte.
Die beiden beschlossen, Edgar Poe in das Washington
Hospital transportieren zu lassen. Es wurde ein Wagen
herbeigeholt, man hob den Unglücklichen, der das Be-
wußtsein noch nicht wiedergewonnen hatte und trotz-
dem den Stock des Dr. Carter krampfhaft festhielt, in den
Wagen und brachte ihn um fünf Uhr nachmittags ins
Washington Hospital zum Dr. J. J. Moran, dem dienst-
habenden Arzt.
Wk zitieren nun den Bericht des Dr. Moran nach dem
Brief, den er bald nachher an Frau Clemm schrieb:
„Als er ins Spital gebracht wurde, war er bewußtlos';
er wußte weder, wer ihn dorthin gebracht hatte, noch
mit wem er vorher beisammen gewesen. Er blieb in
diesem Zustand von fünf Uhr nachmittag, der Stunde
seiner Aufnahme, an, bis drei Uhr morgens. Das war am
3. Oktober.
Auf diesen Zustand folgte ein Zittern in den GUedem
und ein unaufhörhches Delirieren ohne jede Gewalttätig-
keit oder Heftigkeit, ein unaufhörliches Reden, bei dem
er sich an phantastische und eingebildete Wesen wandte,
die er an den Wänden sah. Das Gesicht war bleich und
der ganze Körper mit Schweiß bedeckt. Wir wanen außer-
stande, ihn vor dem zweiten Tag seiner Aufnahme zu be-
ruhigen.
Da ich den Krankenwärtern dazu den Auftrag gegeben
hatte, wurde ich sofort zu ihm geholt, als das Bewußt-
sein wiederkam; ich fragte ihn nach seiner Familie, nach
seiner Wohnung, nach seinen Eltern etc. ... Er gab nur
zusammenhanglose, ungenügende Antworten. Er sagte je-
doch, er habe eine Frau in Ric hmond (was nicht wahr
20) Hervey Allen, S. 844, der „The Facts of Poe's Death and Burial
by J. E. Snodgrass in Beadle's Montlily, S. 288/89, 1857" zitiert.
221
ist, wie ich seither erfahren liabe), daß er nicht wisse,,
wann er jene Stadt verlassen, nocli was aus seinem Koffer
geworden sei. Ich versiidile, die schnell wieder schwindende
Hoffnung zu beleben und zu erhalten, daher sagte ich ihm,
ich hoffe, er werde in wenigen Tagen wieder in der Ga-
seilschaft seiner Freunde sein können und ich wäre sehr
glückhch darüber, wenn ich in irgend einer Weise zu
seinem Wohlbefinden und zu seiner Bequemliclikeit bei-
tragen könnte. Bei diesen Worten schrie er lau't auf, das;
Beste, was sein bester Freund für ihn tun köniws, sei, ihm
eine Kugel durch den Kopf zu jagen, am hebsten möchte
er unter der Erde verschwinden, damit er seiiie eigene
Erniedrigung nicht mehr sehe. Bald nach diesen Worten
schien Poe einzuschlafen und ich verließ ihn für einige
Augenblicke. Aber wie ich zurückkam, befand er sich
wieder mitten in einem heftigen Ausbruch und ledstete
den beiden Wärtern, die ihn im Bett zurückhalten wollten,
stärksten Widerstand. Dieser Zustand dauerte bis Sams-
tag abend au (er wurde Mittwoch aufgenommen), er begann
nun die ganze Nacht hindurch bis Sonntag morgen uim
drei Uhr nach einem gewissen Reynolds zu rufen. Nach
drei Uhr ging eine offensichtliche Veränderung in ihm
vor sich. Er war durch seine Anstrengungen geschwächt,
beruhigte sich, seinen einige Zeit hindurcli zu schlummern,
dann wandte er sanft den Kopf zur Seite, sagle: ,Der
Herr helfe meiner armen Seele' und verschied." 2>)
2^) Dr. Moran an Frau Clemm. Der Brief ist vom 15. November 1849
datiert, aus dem Baltimore City Marine Hospital (VirKi,'iiia Edition Bd. I.
Biographie, S. 335). Man kann in der letzton Zoilö dieses Briefes daa
Embryo der Legende entdecken, die sich später so herrlich entwickeJm
sollte. Dr. Moran verschönerte nämlich im Verlauf der Vorlesungen, die
er während seines langen Lebens über den Tod des Dichters gehalten
hatte, dieses Ende immer mehr auf Kosten seiner medizinischen Kennt-
nisse. Zuletzt gar schilderte er das Sterben Edgar Poes in den banalsten,
aber erbaulichsten Farben und behauptete, der Dichter sei während der
sechzehn Stunden, die er im Spital verbracht hatte, ganze fiinrzehn
Stunden bei vollem Bewußtsein und bei Vernunft gewesen, er war auch
nicht betrunken, als man ihn auEgrlEf, roch nicht im geringsten nach
Alkohol und beim Sterben habe er nur an Gfott und an das Heil seiner
222 '
Dies war die Krise des Säuferwahns, die da>s Leben
^ des vierzigjährigen Edgar Poe beendigte.
> Nachdem einige der bedeutendsten Persönlichkeiten der
Stadt gekommen waren, um den Leichnam zu sehen,
beerdigte man ihn Montag, den 8. Oktober, auf I^osten
, ■ , seiner Vetlern auf dem Friedhof der presbyterianischen
j^ Kirche, obwohl er zum episkopalen Ritus gehörte. Der
Reverend W. T. D. Clemm, ein metlaodistischer Pfarrer,
las die Messe. Anwesend waren Neilson Poe, Herr Herring'
der Dr. Snodgrass, ein gewisser Edmund Smith und
J. Collins Lee, ein Schulkollege Poes.
Die Muddy, mit der er hatte sterben wollen, und Annie,
die ihm halte versprechen müssen, wo immer er auch sein
möge, an sein Totenlager zu kommen, waren nicht da.
Sie erfuhren die tragische Nachricht vermutlich durch
die Zeitungen. Muddy schrieb hierauf voll Verzweiflung
an Annie: „Annie, mein Eddy ist tot! Er ist gestern in
Baltimore gestorben. Annie! beten Sie für mich, für IJire
verzweifelte Freundin. Mein Verstand verläßt mich. Ich
werde Ihnen schreiben, sobald ich Einzelheiten erfahren
habe. Ich habe nach Baltimore geschrieben. Schreiben Sie
mir, und raten Sie mir, was ich machen soll.
Ihre Freundin, die den Verstand verliert,
M. C." 22)
Annie antwortete: „Ach, meine Mutter, meine teure,
teure Mutter, was soll ich Ihnen sagen? Wie kann ich
Sie trösten — ach! Mutter, das ist mehr, als ich ertragen
kann — und wenn ich an Sie, seine Mutter, denke, die
alles, was sie besaß, verloren hat, dann fühle ich, daß das
nicht sein soll, nein, daß es nicht sein kann. — ach,
Seele gedacht. So sehr kann sich durch dea Dcpck, den die sozial©
Zensur auf einen unbedeutenden Geist, wie den Dr. Moran, ausübt, dia
Wahrheit verändern. (Zu diesem Thema: Hervey Alien. S. 895—896. wo
auch ein Brief des Dr. Moran an Edward Abbott vom 27. Februar 188?
zitiert wird.)
22) Clemm an Annie. 8. Oktober 1849. (Virginia Edition, Bd. I. S. 338.)
* 223
könnte ich Sie nur sehen, bitte, kommen Sie so schnell
als möglich zu Ihrer Annie ~- — kommen Sie, teure
Mutter, ich werde Ihrijen wirklich eine Tochter sein —
wenn ich nur mein Leben hätte hingeben können für das
seine, damit er Ihnen erhalten geblieben wäre . . .'' 23)
I
Aber Annie hatte nicht einmal das Versprechen halten
können, den „einzuschläfern", für den sie ein ganzes Jahr ;
hindurch so ideal die Rolle der wirklichen, immer wieder
von neuem beweinten Mutter spielen durfte. Der mit
seinen Gespenstern auf vertrautem Fuß lebende Poe mußte
sich auch mit seinen Phantomen begnügen, als er in seiner
Agonie einschlief. Die Gestalten an den Wänden, mit denen &
er gesprochen hatte, waren Ligeias, Vh-ginias, das heißt, ^
sie waren hinter allen Verwandlungen immer wieder nur
die eine, einzige Mutter. Und der Ruf nach Reynolds in
der Nacht des Todes, der den Anwesenden so unerklärlich
war, ersetzte auf seine Art den Ruf nach der MuHor so
vieler Sterbender. War nicht Reynolds der Mann, dea- wie
Goixlon Pym den Pol hatte erobern wollen, das weiße
Symbol des Eismeeres? Poe glaubte nmi, sicli in den Er-
oberer des Eismeeres verwandelt zu haben, er identi-
fizierte sich mit ihm in dem Augenblick, in dem er selbst
in den Abgrund stürzte und von neuem in Ihr versank,
aus der er hervorgegangen war.
Er kam treu wieder zu ihr zurück, er hatte alte Ver-
suchungen überwunden und niemals — dessen kann man
fast sicher sein — vor Fleischeslust in den Armen einer
andern Frau gebebt. Und die „Gefahr", die „Krise" waren
diesmal endgültig vorbei und mit ihnen das „Fieber, ge-
nannt Leben".
Die Mutter hatte den Sohn wieder zu sich genommen.
2 ) Annie an Frau Clemm, Oktober 1849, Mittwoch morgens. (Vir-
ginia Edition. Bd. XVII, S. 398.) Frau Clemm wurde übrigens erst von
Annie, dann von Stella (Frau Lewis) in ihrem Haua aufgenommen. Sie
Btarb am 16. Februar 187], mehr als 80 Jahre alt, im Altereversorgungs-
heim (Chnrch Home and Infirmary) von Baltimore.
224
t.- >■
I
Aufnahme; Boissonnas &. TaponnitT, Paris
I
Marie Bonaparte
Prinzessin Georji' von Giieclienland
■"■■:/■'
DAS EHELICHE MISSGESCHICK
MARIE ANTOINETTES
Von
Sfefan Ztoeig
Ans einem demnächst erscheinenden größeren Werk
über Marie Antoinette. Der Artikel erschien als Vor-
abdruck in dem IV. Jahrgang (1932) der „Psychoanaly-
tischen Bewegung".
Am 16. Mai 1770 führt Ludwig, Dauphin von Frankreich,
die Erzherzogin Marie Antoinette als Gattin heim, und
feierlich geleitet sein Großvater Ludwig XV. die beiden in
das ehehclie Schlafgeraach. Eigenhändig überreicht er ihm
das Nachthemd und die ranghöchste Dame der jungen
Gattin das ihre, würdig tritt der Erzbischof von Reims in
das SchlaJgemach, besprengt es mit Weihwasser und segnet
das Bett. Dann bleiben die beiden, Marie Antoinette und
Ludwig, allein und der Baldachin des Himmelbetts rauscht
brokaten nieder, Vorhang einer beginnenden Tragödie.
Denn in diesem Bette geschieht nun zunächst ~ nichts.
Und es gibt einen fatalen Doppelsinn, wenn der junge
Ehemann am nächsten Tage in sein Tagebuch einschreibt:
„Rien'\ Weder die höfischen Zeremonien, noch die erz-
bischöfliche Segnung des bräutüchen Bettes haben Ge-
walt gehabt über eine peinliche Hemmung der männlichen
— oder vielmehr; unmännlichen ~ Natur des Dauphin,
\m.atrimomum non consumptum est, die Hochzeit ist Im
fleischlichen Sinne nicht vollzogen, nicht heute, nicht
morgen und nicht im nächsten Jahre. Marie Antoinette hat
einen „nonchalant mari" gefunden, wie man ärgerlieh am
Wiener Hofe vermerkt, und zunächst meint man, es sei
nur Schüchternheit, Unerfahrenheit oder eine „nature tar-
dive" (wir würden heute sagen, eine infantile Zurückge-
bUebenheit), die den Sechzehnj ährigen bei diesem be-
zaubernden jungen Mädchen hemme. Kommt Zeit, kommt
lÖ Almanach 1983 225
Rat, denkt die erfahrenje Mutter, nur nicht drängen und
den seelisch Gehemmten irritieron 1 So mahnt sie ihre
Antoinette, die eheliclie Enttäuschung nicht sdiwer zu
nehmen ~ „point d'Iiumeur lä-dessus" schreibt sie am
8. Mai 1771 ihrer Tochter und empfiehlt ihr „caresses,
cajolis", ZärtUchkeiten, Liebkosungen, aber anderseits wie-
der nicht zuviel davon, „mais trop d*emprcssement gäte-
roit le foat". Wie aber dieser fatale Zustand schon ein
Jahr, zwei Jahre andauert, beginint die K^aiserin über diese
„conduite si 6trange" des jungen Gatten unruhig au werden.
An seinem guten Willen ist nicht zu zweifeln, denn von
Monat zu Monat zeigt sich der Dauphin seiner jungen
Gattin immer zärtlicher zugetan, er erneuert unablässig
seine nächtlichen Besuche, seine unlauigUchen Versuche,
aber an der letzten entscheide ndeai Zärtlichkeit hemmt ihn
irgend ein „maudit charme", eine geheimnisvolle fatale
Störunig. Marie Antoineite, selbst unerfahren, meint, es
sei nur „maladresse et jeunesse", nur Ungeschicklichkeit
und Jugend, die Arme demcnliert sogar selbst die „üblen
Gerüchte, die hier zu Lande über seine Unfähigkeit um-
gehen" (18. XII. 1771). Aber die Mutier begimat schließlich
doch besorgt zu werden. Sie läßt ihren Hofarzt van
Swieten kommen und berät sich mit ihm über die „froi-
deur extraordiiiaire du Dauphin' ; der zuckt die Achseln
und meint, wenn es einem junigen Mädchen von solchem
Liebreiz nicht geUnge, den Dauphin zu „^chauffer", sei
jedes medizinische Heilmittel ohne Wirkung. Wieder
schreibt Maria Theresia Brief auf Brief nach Paris;
schließlich nimmt Ludwig XV., wolilerfahren und allzu-
geübt auf diesem Gebiete, seinen Enkel ins Gebet, der
französische Hofarzt Lasonne wird eingeweiht, der traurige
Liebesheld untersucht, uaid mun sitelll sich heraus, daß
diese Impotenz des Dauphins keine psychische sei, son-
dern auf einem unbedeutsamen organischen Defekt be-
ruht (einer Phimosis, welche die vollkommene Erektion
verhindert). „Les uns disent que le frein comprime tel-
lement le pripuce qu'il ne se reläche pas au moment de
226
l Introduktion et lui cause unc douleur vive, qul oblige
S. M. ä modirer Vimpulsion n€cessaire pour Vaccomplis-
sement de Vacte. D'autres supposcnt que ledit prepuce
est st adhirent qu'il ne peat se relächer assez pour per-
mettre la sortie de Vextr6mit6 p6nienne ce qui empiche
Virection compldfe de se produire" (Geheimbericht des
spanischen Gesandten). Jetzt fol^t Consmum auf Consiüum
ob der Chirurg mit dem Operationsmesser eingreifen
solle, — „paar lai rendre la voix" wie man in den Vor-
zimmern zynisch flüstert — und Marie Antoinette, von
ihren erfahrenen Freundinnen inzwischen aufgeklärt, tut
das Möglichste, ihn dazu zu veranlassen, (Je tramille
■ ä le determiner ä la petita Operation, dont on a d6jd parli
et que je crois necessaire'% 1775 an ihre Mutt^.) Aber
Ludwig XVI. — aus dem Dauphin ist zwar inzwischen
schon ein König geworden, doch nach fünf Jahren nocli
immer kein Ehemann — kann sich, seinem schwankenden
Charakter gemäß, zu keinem energischen Akt entschlie-
ßen. Er zaudert und zögert, versucht und versucht, und
diese gräßliche, widerUche, lächerliche Situation des ewigen
Versuchens und ewigen Versagens zieht sich zur Schmach
Marie Antoinettes, zum Hohne des ganzen Hofs, zur Wut
Maria Theresias, zur Erniedrigung Ludwig XVL, ganze
sieben Jahre hin, bis schließlich Kaiser Josef eigens
nach Paris reist, um seinen nicht sehr rautigen Schwager
an seine Pflicht zu mahnen. Dann erst gelingt es diesem
traurigen Cäsar der Liebe, den Rubikon glücklich zu
überschreiten. Aber das seelische Reich, das er endlich
erobert, ist schon verwüstet durch diese sieben Jahre
lächerlichen Kampfes, durch diese zweitausend Nächte
in denen Marie Antoinette die äußerste Emiedrigiuig er-
litten, die eine Frau erleiden kann.
Wäre es nicht zu vermeiden gewesen (fragt vielleicht
manches empfindliche Gemüt), dieses heikle und heiligste
Geheimnis des Alkovens zu lüften? Hätte es nicht genügt,
16* • . ■•
227
das wirkliche Faktum des königUchca Versageas bis zur
UnkennlUchkeit zu verschatten, wie es doch alle anstän-
digen Biographen taten, indem sie zaighaft um die Trai-
godie des Ehebetts herumschlichen und bestenfalls blüme-
rant vom „fehlenden Glück der Mütterlichkeit" sprachen?
Ist wirklich dieses Hervorziehen intimer Details unentbehr-
lich für eine charakterologische Darstellung? Jawohl, es
ist unenliiehrUch und jedes Verschweigen Entstellung,
denn alle die Spannungen, Abhängigkeiten, Hörigkeiten und
Feindseligkeiten, die sich allmählich zwischen dem König
und der Königin, den Prälendenten und dem Hof heraus-
bildeten und weit ins Weltgeschichtliche liinüberreichlen,
bleiben historisch-psyclio logisch in ihrem letzten Ablauf
unverständlich, wenn man nicht klar bis an den untersten,
ihren psychologischen Ursprung herangeht. Mehr welt-
geschichtliche Folgeerscheinungen als man gemeinhin zu-
zugeben gewillt ist, haben von je im Alkoven und hinter
den Baldachinen der Königshetten ihren Anfang genom-
men; selten aber liegt das Folgespiel zwischen winziger
Ursache und polilischer Weitwirkung so klarläufig und
eindeutig wie in diesem exemplarischen Fall. Die ganze
Entwicklung der Revolutionstragödie des französischen
Königturas ist im letzten Grunde durch keinen Faktor so
sehr als durch diese private Schwäche Ludwig XVI.
determiniert, das Versagen Ludwig XVI. als König nur
durch das langjährige des Mannes und seiner Männlich-
keit verständlich, und jede charakterologische Darstellung
darum unehrlich und unzugänglich, die ein Geschehnis
als nebensächlich in den Schatten drückt, das Marie An-
toinette seihst den „article essenliel", den Hauptpunkt
ihrer Sorgen und Erwartungen genainil hat.
Und dann: deckt man wirklich ein Gelieimnis auf, wena
man frei und ehrlich von der langen ehelichen Unfähigkeit
Ludwig XVI. spricht? Durchaus nicht. Nur das neunzehnte
Jahrhundert mit seiner krankhaften moralischen Sexuat-
prüdcrie hat verschwiegen, was im achtzehnten Jahrhun-
dert noch öffentliches Tagesgespräch war. Ehefähigkeit oder
228
Eheunfähigkeit eines Königs, Fruchtbarkeit oder Unfrucht-
barkeit einer Königin galt damals nicht als private, son^
dern als politische und Staatsangelegenheit, weil sie die
„Erbfolge" und damit das Schicksal des ganzen Landes
entschied. Noch war jene Scheu von dem Physiologiscli-
Nalürlichen nicht so unnatürlich übertrieben, das Bett
gehörte so offenkundig mit zum menschlichen Leben wie
das Taufbecken oder der Sarg. In dem Briefwechsel Maria
Theresias und Marie Antoinetles, der immerhin durch die
Hand des Staatsarchivars und des Kopisten ging, spra-
chen eine Kaiserin von Österreich und eine Königin von
Frankreich in vorbildlicher seelischer Freiheit als Mutter
und Tochter über alle Einzelheiten und Intimitäten dieses
sonderbaren Ehestands. Beredt schildert Maria Theresia
der Tochter die Vorteile des gemeinsamen Bettes und gibt
ihr kleine weibliche Winke, den nachlässigen Gemahl
zärtlich an sich zu fesseln; die Tochter berichtet wieder;
das Eintreffen und Nichteintreffen des monatlichen Uu-
wohlseins, ihre Sorgen und Hoffnungen, den endlichen
Ehevollzug mit allerhand merkwürdigen Details und
schließlich triumphierend die Schwangerschaft. Einmal —
man sieht daraus die vorbildliche Unbefangenheit jener
Epoche in menschhchen Dingen — wird sogar der Kom-
ponist der Iphigenic, wird sogar Gluck, weil er dem Kurier
vorausläuft, mit der Übermittlung solcher intimer Nach-
richten betraut. Mutter und Tochter haben voreinander
keine Scheu, und ebenso spricht sich der König zu seinen
Verwandten über die Fortschritte seiner Ehelichkeit un-
gezwungen aus.
Aber wäre es nur die Mutter allein, die um das Geheim-
nis dieses Versagers weiß! In Wirklichkeit wissen imd
reden alle Kammerfrauen davon, alle Hofdamen, Kavaliere
und Offiziere; in den Salons und Hinterstuben wird dar-
über gelacht, die Diener wissen es und die Wäscherinnen
am Hofe von Versailles, sogar an seinem eigenen Tisch
muß der König raanchein derben Scherz erdulden. Außer-
. dein befassen sich, da die Zeugungsfähigkeit eines Königs
229
in Anbetracht der Erbfolge eiaie hochpolitische Ange-
legenheit ist, alle auswärtigen Höfe auf das eindringlichste
mit dieser Frage. In den offizieilem Berichten der preußi-
schen, der sächsischen, der sardinischen Botschafter fin-
den sich ausführUche Erörterungen der heiklen Angele-
genheit; der eifrigste unter ihnen, Graf Äranda, der spani-
sche Botschafter, läßt so-gar die Laken des königlichen
Bettes durch bestochene Dienstleute uintersuchen, um dem
physiolO'gischen Verhalten nur mögUchst genau auf die
Spur zu kommen. Überall in ganz Europa lachen und
spotten die Fürsiten rnid Könige über ihren ungeschickten
Slandes-genossen, die Impotenz des Königs ist nicht nur
in Versailles, sondern in ganz Paris uind Frankreich das
Geheimnis Polichinells. Sie wird in allen Straßen bespro-
chen, sie flattert als Libell von Hand zu Hand und bei der
Ernennung des Ministers Maurepas zirkuliert zur allgemei-
nen Erheiterung das muntere Couplet:
„Maurepas etait iwpuissant
Le Roi Va rendu plus puissant
Le Ministre reconnaissant
DU: Pour vous, Sire,
Ce que je d^sire,
D'en faire aatant".
Aber was spaßhaft klingt, hait in Wahrheit schioksaLs-
hafte und gefährliche Bedeutung. Diese sieben Jahre des
Versagens bestimmen seelisch den Charakter des Königs
und der Kö'nigin und führen organisch zu politischen uoid
charakterologischen Folgerungen, die ohne Kenntnis dieses
intim wirkenden Details sinnlos und unverständlich sind:
Weltgeschichte entwickelt sich wie die Lawine aus dem
Sandkorn, hier aus dem allerintimsten und diskretesten
Detail eines Ehestandes.
*
Unverständlich bUebe vor allem das Verhalten Lud-
wigs XVI. ohne Kenntnis dieser Episode. Mit geradezu klini-
230
J6
scher Deutlichkeit zeigt sein menschlicher Habitus alle
typischen Symptome eitles aus männlicher Schwäche stam-
menden Minderwertigkeitsgefühls. Wie im privaten fehlt
diesem Gehemmtea auch im öffentlichen Leben jede Stoß-
kraft zu schöpferischer Tat. Unsicher, unentschlossen,
feige, entschlußunfähig, einsiedlerisch, fürchtet er, der
gebieten sollte, jeden Entschluß, jedes VerantwortUch-
sein. Er versteht nicht aufzutreten, er weiß keinen Willen
zu zeigen und noch weniger ihn durchzusetzen; linkisch
und scheu flüchtet er vor jeder höfischen Geselligkeit
und besonders vor dem Umgang mit Frauen, denn er
weiß, dieser im Grunde biedere, rechtschaffene Mann, daß
sein Mißgeschick jedem am Hofe bekannt ist, und das
ironische Lächeln der Eingeweihten quält und bedrückt
ihn; darum zieht er sich am liebsten in seine Gemächer
zurück. Am wohlsten fühlt er sich in einem ganz fremden
unteren Milieu, in Gesellschaft der Sclilossergeliilfen oder
Maurermeister, die ihn gutmütig, ohne Spott, ja sogar mii
ehrlichem Respekt als einen Kameraden aufnehmen; vor
allen Menschen des Hofes aber und seiner eiigenen Familie
bleibt er gehemmt, unsicher und verlegen. Manchmal ver-
sucht er sich gewaltsam eine gewisse Autorität zu geben,
den Schein einer Kraft. Aber dann greift er immer eine
Skala zu hoch, wird grob, brüsk und brutal, typische
Flucht in eine Geste der Kraftmeierei, die ihm niemand
glaubt. Nie aller gelingt ihm ein freies, natürliches, selbst-
bewußtes männliches Auftreten und am wenigsten das
majestätische. Weil er nicht ganz Mann ist, kann er auch
nicht ganz Kön^ sein.
Daß dabei seine privaten Vergnügungen die allermänn-
lichsten sind, die Jagd und körperliche Schwerarbeit, wie
Schlossern und Handwerken, — er hat sich eine eigene
Schmiedewerkstätte eingerichtet und die Drehbank ist noch
heute zu sehen — widerspricht keineswegs dem klinischen
Bild, sondern bestätigt es niir. Denn gerade, wer nicht
Mann ist, liebt unbewußt den MännÜchen zu spielen.
Wenn er auf dampfenden Pferd stundenlang dem Eber
• r-
231
nachjagt und durch die Wälder reitet, wenn er am Amboß
seine Muskeln bis zur Müdig'keit erschöpft, so kompen-
siert da ein Kraftbewußtsein der rein physisclien Muskel-
kraft wohltuend die heimliche Schwäche der genitalen:
als Hephaistos fühlt sich wohl, wer den Dienst der Venus
schlecht versieht. Aber kaum er die Galauniform anzieht
und unter die Höflinge tritt, spürt er, daß diese Kraft nur
eine der Muskeln ist und nicht eine der Seele, und sofort
wird er verlegen, mürrisch, mißmutig und scheu, trotz
seiner angeborenen Gutmütigkeit und naiven Jovialität.
Selten sieht man ihn lachen, selten wirklich glücklich und
vergnügt.
Am gefährlichsten aber wirkt sich dieses geheime
Schwächegefühl charakterologisch im seelischen Verhältnis
zu seiner Frau aus. Vieles an ihrem Verhalten widerstrebt
seinem persönlichen Geschmack. Er mag ihre Gesellschaft
nicht, ihn ärgert der ständige laute Vergnüglingstrubel, in
dem sie ihre Unbefriedigtheit betäubt; er ärgert sich im
geheimen, er, der sparsame und bedach tilge Mann, über
ihre Verschwendung und ihre frivolen Spiele. Ein wirk-
licher Mann müßte einer solchen Frau, deren leichter und
fahriger Charakter so sehr der Zügel bedurfte, ein König
dieser würde vergessenen Königin kräftig die Meinung
sagen. Aber wie kann ein Mann von einer Frau, die im
Dunkel seine geheimen nächtUchen Niederlagen kennt
die ihn allnächtlich beschämt, hilflos und als lächerlichen
Versager erlebt, bei Tage den Herren spielen? Nie kann er
ihr aufrecht, herrisch und gebietend entgegönü-eten, und
unwillkürlich gerät, je länger sein blamabler Zustand
dauert, Ludwig XVI. gegenüber Marie Antoinette in völlige
Abhängigkeit, ja sogar in Hörigkeit. Sie kann von ihm ver-
langen, was sie will, immer wieder kauft er mit völlig
schrankenloser Nachgiebigkeit sich von seinem geheimen
Schuldgefühl los. Obwohl er nicht tanzt, begleitet er sie
auf Bälle, und wenn er zu müde wird, läßt er sie nächte-
lang allein. Er zahlt ihre Schulden, er duldet ihre Extra-
vaganzen und Galanterien, ohne ein einzigesmal energisch
232
dfeinzufahren und Einspruch zu versuchen. Manchmal,
wenn sie gar zu tolle Frisuren sich auf den Kopf türmt
oder nächtelang wegbleibt, wagt er schüchtern einen
kleinen vorsicliligen Scherz: aber dann lacht sie mit und
tut weiter was sie will Wirklich in ihr Leben einzugreifen,
ihre offensichtlichen Torheiten und unnützen Kompromit-
lierungen zu behindern, dajzu fehlt ihm die Willenskraft,
die im letzten ja nichts anderes ist als der psychische
Ausdruck der körperlichen Potenz; und die gutmütige
Respektlosigkeit, das kameradschaftliche Von-oben-herab,
mit dem Marie Antoiuette den „pauvre homme" behandelt,
wirkt sich gefährlich beispielgebend auf ihre ganze Um-
gebung aus. Niemand respektiert den König, niemand be-
müht sich ernstlich um ihn. Wer etwas will und ansticht,
wendet sich am besten an seine Frau, denn jeder weiß,
ihr Wille biegt seine Willenlosigkeit. Verzweifelt sehen die
Minister, sieht die Kaiiserinmutler Maria Thei-esia, siebt
der ganze Hof diese zunehmende Ohnmacht des Königs,
und wie alle Macht in die Hände seiner Frau gerät, diei
sie leichtfertig verzettelt. Aber ein Kräftediagramm, in
einer Ehe einmal bestimmt, bleibt erfahrungsgemäß als
seelische Konstellation unabänderlich. Auch wie er schließ-
lich ihr Gatte und Vater ihrer Kinder wird, bleibt er, der
Herr Frankreichs sein sollte, der willenlose Knecht seiner
Frau, einzig weil er nicht rechtzeitijg ihr Mann gewesen ist.
Nicht minder verhängnisvoll bestimmt das sexuelle Ver-
sagen Ludwig XVI. die seelische Entwicklung Marie An-
toinettes. Gemäß der Gegensätzlichkeit der Geschlechter
produziert ein und dieselbe Störung im männUchen und
weiblichen Charakter genau gegensätzliche Erscheinungen.
Wo bei einem Mann die sexuelle Aktivität Störungen
unterliegt, entsteht Gehemmtheit und Unsicherheit, wo
der Frau die passive Hingabebereitschaft nichts hilft,
muß zwanghaft Überreiztheit und Hemmungslosigkeit, eine
flackrige Über lebe ndigkeit zu Tage treten. Von Natur aus
233
ist Marie Äntoinette ei^ntlich vollkommen normal geraten,
eine wirkliche, eine weibliche, eine zärtliche Frau, zu
vielfacher Mutterschaft bestimmt. Aber das Verhängnis wUl,
daß gerade sie, die Empfindungsfähige und Empfindungs-
wilhge, in eine abnorme Ehe, daß sie an einen Nicht-Mann
gerät. Allerdings, sie ist erst fünfzehnjährig zur Zeit der
Eheschließung, an und für sich schiene also die Verzöge-
rung noch nicht seelisch belastend und verstörend; denn
man darf es doch keineswegs schon physiologisch un-
natürlich nennen, wenn ein junges Madchen bis zum
zweiundzwanzigsten Jahre jungfräulich bleibt. Was aber
hier die Erschütterung und gefährliche Aufpulverung ihres
Nervenzuslandes verursacht, ist, daß ein von Staats wegen
ihr zubeorderter Gatte sie diese sieben pseudoehelichen
Jahre nicht im Zustande unbefangener und unberührter
Keuschheit verbringen läßt, sondern daß in zweitausend
Nächten sich an ihrem jungen Körper, an ihren Sexual-
organen ein tölpischer und gehemmter Mann unablässig
herummüht, ihre Nerven nutzlos irritiert und daß über-
dies der ganze Hof, die ganze Welt voll bösartiger imd
hämischer Neugierde sich ständig mit diesem Unglück be-
schäftigen. Ununterbrochen wird ihre Sexualität fruchtlos
in dieser unbefreienden, beschämenden und erniedrigenden
Weise ohne eine einzige Erfüllung gereizt und gereizt; eine
von Natur zarte und sogar zärtlich geartete Frau müßte
geradezu abnormal stumpf sein, wenn ihre seelische Ver-
fassung auf diese gräßliche Quälerei nicht schließlich tera-
peramenthaft reagierte. So bedarf es keines Nervenarztes,
um festzustellen, daß die extreme Vivazität, diese Über-
lebendigkeit, dieses ewige Hin und Her und nie Zufrie-
densein, dieses fahrige Jagen von Vergnügung zu Ver-
gnügung, die krankhafte Steigerung der Spietlust, die be-
rüchtigte Unfähigkeit Marie Antoinettes, sich jemals sach-
lich auf einen Gegenstand zu konzentrieren, daß alle diese
historisch verhängnisvoll gewordenen Eigenschaften, ob-
wohl schon charaktermäßig prädisponiert, in ihrer Über-
treibung geradezu klüiische Folgen jener ständigen sexuel-
234
^^Bm
len Aufreizung und sexuellen Unbefriedigung durch ihren
Gatten sind. Unbewußt sucht dieses junge Geschöpf außer-
halb der physiologischen Sphäre Kompensationen, kleine
äußerliche Temperamentbefriedigungen, ErfüUungs-Surro-
gate der Entspannung, des Sich-Abmüdens. Sie tanzt ganze
Nächte durch, sie reitet, flirtet, sie spielt und überspielt
mit diesen unablässigen nervösen Beschäftigungen eine
innere Leere, ihre uneingestandene Enttäuschung. Weil
nicht im tiefsten bewegt und beruhigt, muß sie immer Be-
wegiuig und Unruhe um sich haben, und allmählich wird
die ursprüngUche Verspieltheit zu einer krampfigen und
vom ganzen Hof als skandalös empfundenen Vergnügungs-
wut, gegen die vergebens Maria Theresia und alle Freunde
anzukämpfen suchen, aber die einzig ihr Mann oder ein
wirklicher Mann abstellen könnte. Wie beim König die
unerlöste Männlichkeit in grobe Schlosserarbeit und Jagd-
leidenschaft, in dumpfe und ermüdende Muskelarbeit und
Muskelspannung, so flüchtet bei ihr die falsch eingesetzte
und unverwertete Gefühlskraft in zärtliche Freundschaft
zu Frauen, in fortwährende Übersteigerungen der Amüse-
ments. Nacht für Nacht läßt sie das eheliche Bett, den
traurigen Ort ihrer weiblichen Erniedrigung und treibt
sich, während ihr Gatte und Nicht-Gatte seine Jagdmüdig-
keit breit ausschläft, bis vier Uhr, fünf Uhr morgens auf
Opernredouten, in Spielsälen, bei Soupers und in zweifel-
hafter Gesellschaft herum, mit jungen Leuten fUrtend,
sich wärmend an fremden Feuern, unwürdige Königin,
weil an einen unwerten Gatten geraten. Daß aber diese
Frivolität eigentlich freudlos ist, ein bloßes Obertanzen
und Überamusieren einer inneren Unruhe, das verrät
mancher Augenblick zorniger Melancholie und am stärk-
sten einmal ihr Schrei, als ihre Schwägerin zuerst ein
totes Kind zur Welt bringt. Da schreibt sie an ihre
Mutter: „So furchbar das auch sein muß, ich wollte, ich
hielte schon dort." Lieber ein totes Kind, aber nur ein
Kind und endUch aus diesem zerstörenden, unwürdigen
Zustand heraus, nur endlich Frau sein und nicht hundert-
235
mal mißbraucht und beschmutzt und von allen andern
verhöhnt und verspottet, immer und immer noch Jung-
frau nach siebenjähriger Ehe. Wer nicht die weibhche
Verzweiflung hinter der Vergnügungswut dieser Frau ver-
steht, kann die merkwürdige Wandlung weder erklären
noch verstehen, die dann einsetzt, sobald Marie Anloinette
endlich Frau und Mutter wird. Mit einmal werden die
Nerven ruhiger, eine andere, zweite Marie Antoinette
entsteht in ihr, jene beherrschte und willenskräftige,
kühne, die sie im zweiten Teil ihres Lebens wird. Aber
diese Wandlung kommt schon zu spät, um die innere
Zerstörung und die äußeren Folgen dieser sieben Mär-
tyrerjahre wettzumachen. Wie in jeder Kindheit, süad
auch in jeder Ehe die ersten Erlebnisse die entscheidend-
sten, und Jahrzehnte können nicht wettmachen, wenn im
feinsten und unzerstörbaren Stoff der Seele solche Stö-
rungen einmal eingerissen sind. Gerade diese innersten,
die unsichtbaren Verwundungen des Gefühls kennen kein
volles Gesunden.
AU dies wäre aber nur private Tragödie, ein Familien-
mißgeschick, wie es hinter tausend Wänden und Alkoven-
vorhängen tagtäglich verborgen sich abspielt. In diesem
einem Fall aber reichen die verhängnisvollen Folgen einer
ehelichen Impotenz weit über das private Leben hinaus.
Denn Mann und Frau sind hier König und Königin. Und
zur intimen Tragödie, die hier eine der Diplomatie auf-
geopferte Frau erlebt, — man hatte rechtzeitig in Wien
vor diesem ungeeigneten Gatten gewarnt, — fügt sich
das grausame Satyrspiel, daß man die Königin, gerade
weil sie unfreiwillig unschuldig bleibt, öffentlich zur
Schuldigen macht. Ein so zynisch-neugieriger, mokanter,
durchaus erotomanischer Hof wie der französische, be-
gnügt sich nicht mit dem hämischen ironischen Schwatz
über den ungeschickten Gatten, sondern schnuppert unab-
lässig um die Frage herum, in welcher Weise sich Marie
236
Antoinette für das Versagen erotisch schadlos halte. Sie
sehen eine reizende junge Frau, selbstbewußt und kokett,
bei Gott keine kühle Blonde, sondern ein temperament-
volles Geschöpf, in dem das junge Blut munter moussiert,
und sind informiert, an welche jämmerliche Schlafhaube
diese süperbe Liebhaberin geraten ist: nun beschäftigt sie
nur eine Frage, mit wem sie den impotenten Gatten be-
trügt (denn Tugend oder auch nur geschlechtliche Zurück-
haltung wird an diesem Hofe keiner Frau geglaubt). Nun
beginnt ein frivoles Rätselraten, wen sie sich zum Ersatz
gewählt, Der Herzog von Artois, der jüngste Bruder des
Königs, ein munterer Windhund und galanter Schwach-
kopf, begleitet sie, weil der Ehemann zu faul und zu
wenig tänzerisch ist, auf die Bälle. Sofort gilt er als ihr
Liebhaber. Die Herzogin von Lamballe, die Gräfin von
Polignac werden von der Königin, die sich nicht zu ver-
stellen weiß, durch besondere Freundschaft ausgezeichnet:
sofort gilt diese Neigung als sapphische Beziehung und
man singt öffentlich den Chanson:
„Poar avoir-postäritS
II faut a cet amour botU
Grandir la porte de Cythtre.
Antoinette qui sait cela ■ ••'
Fatigue plus d'une ouuriere".
Ein Ausritt mit irgend einem Kavalier, einem Lauzun
oder Coigny, und schon haben ihn die müßigen Schwätzer
zu ihrem Beischläfer ernannt; eine morgendliche Prome-
nade im Park mit den Hofdamen und Kavalieren, und
sofort erzählt man von den unglaublichsten Orgien. Ganz
natürlich führt die fortwährende Beschäftigung mit dem
Problem, wie sich die Königin schadlos halte, zu einer
gefährlichen Legende von geheimen und gefährlichen
Abenteuern; aus dem Geschwätz werden Chansons und
Libelle und Pamphlete und pornographische Gedichte.
Erst stecken sie sich, hinter dem Fächer verborgen, die
237
Hofdamen zu, dann wandern sie aus dem Haus, werden
gedruckt und geraten unter das Volk; und so entsteht all-
mählich, aus dieser einen offenkundigen Ursache der
jahrelangen Impotenz des Königs, der Mythos einer neuen
Messalina, einer neuen Fredegonde. Wie dann die revolu-
tionäre Propaganda beginnt, brauchen die jakobinischen
Journalisten nicht lange nach Argumenten zu suchen, um |
Marie Antoinette als den Ausbund aller Ausschweifung, ^
als schamlose Verbrecherin hinzustellen, und Fouquier
TinviUe muß nicht viel nach Beweisen kramen, um das
schmale Haupt unter die Guillotine zu drücken. Der |
Schwatz und die Bosheit von Versailles' Höflingen hat ihm 1
ein ganzes Arsenal ihrer Laster und Ausschweifungen ,
längst gedruckt und versifiziert zur Verfügung gestellt.
Dem rein physiologischen Verlust ihrer besten Jugend-
jahre durch die Impotenz ihres Gatten dankt Marie Antoi-
nette noch den Verlust ihrer Ehre, und während und
weil sie unfreiwillig sieben Jahre Jungfrau bleibt, hat sie
zum Spott noch den Schaden und gilt ihrem ganzen Zeit-
alter als die Unersättlichste aller Unersättlichen,
Über eigenes Geschick, Ungeschick, Mißgeschick reichen
also die Folgen jener ehelichen Störung bis in das Welt-
geschichtliche hinein: die Zerstörung der königlichen Auto- ^
rität hat in Wahrheit nicht in den Clubs, sondern im
königlichen Bett begonnen. Denn daß diese Nachricht von ;
der Impotenz des Königs und die boshaften Legenden von
der sexuellen Unersättlichkeit und Pervertiertheit der
Königin so rasch und so weit aus dem Schlosse von Ver-
sailles zur Kenntnis der ganzen Nation kamen, hat gleich-
falls weitmaschig anschließende Verknüpfung an dieses
Mißgeschick. Es leben in diesem Palast vier oder fünf Per-
sonen, und zwar die nächsten Verwandten, die an dem
ehelichen Versagen des Königs leidenschaftliche Freude
haben und nur ein einziges Interesse, seine Unfähigkeit
mögUchst laut und geräuschvoll in der Welt bekamit zu
238
machen, vor allem die beiden Brüder des Königs, denen
es außerordentlich zu paß kommt, daß durch diesen win-
zigen physiologischen Defekt und die Furcht Ludwig XVI.
vor dem Chirurgen nicht nur das normale Eheleben, son-
dern auch die normale Erbfolge zerstört wird. Für beide
scheint das anfängliche Versagen des Königs Garantie der
Kinderlosigkeit und damit das sichere Anrecht, selbst auf
den Thron zu gelangen. Der nächstälteste Bruder Lud-
wigs XVL, der Herzog von Provence und spätere Lud-
wig XVIII. — er hat sein Ziel erreicht und Gott allein
weiß auf welchen krummen Wegen — ist bloß um ein
Jahr junger, aber weltklüger, politischer, raffinierter als
sein gutmütiger Bruder, und eben weil er sich in seiner
praktischeren und diplomatischeren Kunst so sehr über-
legen weiß, hat er es nie überwinden können, als Zweiter
• neben dem Thron zu stehen, statt selber das Szepter zu
halten. Mit einer shakespearischen Richard III.-Tücke hat
dieser dunkle Maulwurf duckmäuserisch und intrigant
durch zwei Jahrzehnte seine Gänge gewühlt, um ''die
Machtstellung seines Bruders zu untergraben; da er aber
gleichfalls kein Bettheld und kinderlos ist, hat auch der
Herzog von Artois brennendes Interesse an der Zeugungs-
unfähigkeit seiner älteren Brüder, weil sie seine Söhne
zu legitimen Thronerben macht. So genießen sie beide
als Glücksfall, was das Unglück Marie Antoinettes ist, und
je länger der grauenhafte Zustand dauert, umso sicherer
fühlen sie sich. Immer selbstverständlicher werden ihre
Hoffnungen, immer anmaßender ihr Auftreten; schon 1774,
knapp nach der Thronbesteigung, erscheint zur maßlosen
Erbitterung Maria Theresias ein aus jenen Kreisen inspi-
riertes Libell, in dem nicht nur die Impotenz des Königs
Ludwig XVL als eine unheilbare und dauernde ausposaunt
wird, sondern auch die Königin gewarnt, nicht etwa durch
emen Betrug plötzlich Thronerben zur Stelle zu bringen.
Von vornherein werden also schon alle möglichen Kinder
Marie Antoinettes als Bastarde gebrandmarkt und das
Thronrecht den beiden jüngeren Brüdern bereitgestellt.
^'
239
Darum dieser maßlose, dieser hemmungslose Haß und
Wut, wie im siebenten Jahre Marie Antoinette das Wunder
endlich zustande bringt, und die eheliche Beziehung zwi-
schen König und Königin wieder normal wird. Diesen
furchtbaren Hieb, der alle seine Erwartungen umsäbelt,
hat der Herzog von Provence niemals Marie Antoinette
verziehen, und was nicht auf geradem Wege ihm zufallen
will, hat er versucht auf krummen zu erreichen. Mu
macchiavellislischer Tücke arbeilend, hat der Herzog nicht
früher gerastet, als bis er Ludwig XVIH. wurde; und
daß zu diesem Ziele Ludwig XVI. und Marie Äntomette
ausgerottet werden mußten und Ludwig XVII. m em
dunkles, noch heute nicht erhelltes Schicksal getrieben,
war ihm kein zu hoher Preis. Die Revolution hat gute
Helfer bei Hof gehabt, prinzliche und fürstliche Hände
haben ihr die Tür aufgetan und die Waffen in die Hand
gegeben. Nichts so sehr als die männliche Schwäche des
Königs hat seine geheimsten Feinde so stark und so kühn
gemacht. Fast immer ist ein geheimes Schicksal, das das
äußere sichtbare und öffentliche heranzieht, fast jedes
Weltgeschehnis Spiegelung inneren persönlichen Konflikts.
Ständig gehört es zu den großen Kunstgeheimmssen der
Geschichte, aus mikrobischem Anlaß unabsehbare Folge-
rungen zu entwickeln und nicht zum letzten Mal die
Impotenz (Alexander von Serbiens und seiue erotische
Hörigkeit zur Befreierin Draga Maschin) gerät in der vor-
übergehenden sexuellen Störung eines einzelnen Mannes
der ganze Kosmos in Unruhe.
*
Sieben Jahre, acht Jahre hat diese eheliche Unfähigkeit
Ludwig XVL gedauert. Endlich erhalten nach den Politi-
kern die Ärzte das Wort. Maria Theresia, die das ganz«
Unheil, das aus der Verlängerung dieses Zustandes ent-
stehen könnte, mit klaren Blicken voraussieht, verliert
endlich die Geduld, sie beschließt, energisch einzugreifen
und schickt ihren Sohn, den Kaiser Josef nach Paris, er
240
.L
solle seinem Schwager die Leviten lesen. Die beiden
Männer sprechen sich freundschaftlich aus, Ludwig XVL
entschließt sich zur Operation, und nach irgend einer dunk-
len Legende soll Josef IL selbst bei der chirurgischen Ange-
legenheit anwesend gewesen sein. Jedenfalls meldet sich
bald der Erfolg. Denn während am 19. August 1777 Marie
Antoinette ihren ehelichen Zustand noch als unverändert
meldet und nur „un petit mleux" in der königlichen
Leistung andeutet, kann sie am 30. August strahlend mit-
teilen, sie sei im Zustand „vollkommen entscheidenden"
Glücks. „Jetzt ist es schon acht Tage her, daß meine Ehe
vollkommen vollzogen ist, der Versuch ist wiederholt
worden und gestern noch vollständiger als das erstemal.
Ich wollte zuerst sofort den Kurier an meine teure
Mutter schicken, aber ich fürchtete nur, daß es Aufsehen
imd Geschwätz verursachte." Gleichzeitig schickt auch der
spanische Botschafter Nachricht nach Madrid, daß der
j,itat matrimonial" endlich erreicht sei, und fügt bei, da
ein solches Ereignis wichtig und öffentlich sei, hätte er
die Gelegenheit wahrgenommen, sich noch einmal bei den
Ministern Maurepas und Vergennes zu erkundigen. Beide
bestätigen ihm den Vollzug der großen Aktion, außerdem
plaudert der König darüber stolz mit seiner Tante, wobei
er „mit viel Offenheit" bemerkt, daß ihm dieses Ver-
gnügen sehr gefalle und er bedauere, es solange nicht
gekannt zu haben. „Seme Majestät ist jetzt viel heiterer
als vordem und die Königin hat jetzt die Äugen mehr um-
rändert, als je vorher bemerkt worden war." Bald wird
am Hofe feierlich die Schwangerschaft angekündigt, ein
Tedeum in Notre Dame gelesen, und Marie Antoinette
bringt im achten Jahre ihrer Ehe endlich eine Tochter
zur Welt. '
Von nun ab ist das eheüche Leben Ludwig XVI. und
Marie Antoinettes vollkommen geregelt. PfUchtbewußL und
bürgerlich-mäßig erfüllt von nun ab der brave, endlich
Mann gewordene König seine Gattenpfücht, ohne ein ein-
zigesmai seiner Frau untreu zu werden. Sechsmal wird
16 Almanach 1983 241
Marie Antoinelte schwanger, vier Kinder zeugt der endlich
erlöste Mann. Die grauenhaft lächerliche Tragikomödie
ist zu Ende, und wie physiologisch, so übt auch seelisch
diese Veränderung auf die Königin den besten Einfluß; sie
verbringt nicht mehr so häufig ihre Nächte auf Bällen,
beschränkt die Geselligkeit auf einen engen Kreis und
widmet sich mit wirklicher Sorgfalt und Güte der Erzie-
hung ihrer Kinder. Der König wiederum verliert sicht-
bar seine Menschenscheu, seine Mürrischkeit, wird jovialer,
zugänglicher, alles scheint m bester Ordnung. Aber in
"Wahrheit ist es schon zu spät. Bereits sind die Mikroben
der Verleumdung ins Blut des Volkes übergegangen und
haben rettungslos die öffentliche Meinung vergiftet. Weil
man zu lange seiner Unfähigkeit gespottet, nimmt man
nun seine Zeugefähigkeit nicht mehr ernst, öffentlich
verhöhnt man Ludwig XVI. als Gehörnten und seine
Kinder als Bastarde:
„Belle Antoinelte
Qu'importe d'öu vienf cet enfant?
C'esl Sans doule quelque plontte
Qui nous a fait ce doux präsent,
Belle Antoinelte''.
Die Broschüren und Libelle werden nicht still und
aus Wispern und Schwätzern wächst allmählich der große
Sturm, der den königlichen Thron in Frankreich uin-
schleudertj und aus der Tragödie des Bettes wird die der
Geschichte. ^
Lf ,"
242
FRANZ WERFEL ALS ERZIEHER
— DER VÄFER
Von
Eduard Hitsch mann
Aus dem IV. Jahrgang der Zeitschrift „Psychoana-
lytische Bewegung".
In dem zunehmenden Unbehagen in einer gefahrum-
drohten Kultur ist die Bekanntschaft mit einem neuen
und vollendeten Werk der Kunst Genuß und Trost und
Hoffnung zugleich.
Die Befriedigung ist umso größer, wenn — wie mit
seinem letzten Roman „Die Geschwister von Neapel" —
der Dichter mit seinem Werk über sich selbst hinaus
wächst.
"• Werfe! hat selbst erzählt, daß das Werden dieses
puches ein anderes war, als er es bisher in sich beobach-
tet hat. „Während ich bei anderen meiner Werke oft
verstandesmäßig vorausgesehen habe, wohin sich der Keim,
der im Geiste zu knospen begann, entwickeln kann, so
war es für mich überraschend, daß diese Entwicklung
bei den ,Geschwistern von Neapel' anderen Gesetzen zu
unterliegen schien, als sonst. Ich müßte fast sagei», alle
Worte, wie etwa Intuition, wären nicht richtig, weil all
das Geschehen in diesem Roman mit einem Schlag außer-
halb meiner Person real dastand, so voll eigenen Lebens,
daß ich gar keine andere Pflicht hatte, denn als teil-
nehmender Mensch diesem Geschehen aufzeichnend zu
folgen . . . Von einem gewissen Äugenblick an gewannen
die Figuren ein diktatorisches Eigenleben und wählten
ihren Weg, so daß ich in die glückliche Lage kam, sie
gleichsam nur beobachten zu müssen . . . Ganz anders
stand es bei meinem Roman ,Barbara', wo ich sozusagen
erinnertes Leben unbeweglich vor mir hatte, während ich
16* • 243
bei den ,Geschwistern von Neapel* fast das okkulte Ge-
fühl hatte, ein Leben, das irgendeinmal irgendwo in der
Welt bestand, durch eine merkwürdige Übertragung inner-
lich eingeflüstert zu erhalten, ohne im geringsten eigener
Erlebnisse damit zu verflechten."
Eindringlicher kann ein Dichter das Empfangen aus
seinem Unbewußten gar nicht schildern; daneben inter-
essiert die Befriedigung, mit der sein Narzißmus fest-
stellt, daß er nicht etwa eigene äußere Erlebnisse abge-
malt habe.
Es sei aber gleich an dieser Stelle konstatiert, daß der
Inhalt des Romanes das von Werfel oft behandelte Thema
vom harten überstrengen Vater in neuer Variation ab-
handelt, also auch ohne Annahme okkulter Kräfte ein
Auslangen gefunden werden kann.
Wenn aber ein Dichlerwerk so ganz vom Unbewußten
eingegeben, wie automatisch niedergeschrieben wird, so
kann man mehr als sonst darauf gefaßt sein, daß die ge-<
schilderten Personen eine innere Maschinerie aufweisen
werden, die den echten menschlichen Triebkräften ent-
spricht. Die seelische Dynamik muß auch der entsprechen,
die wir Psychoanalytiker in unserem geduldigen Brüten
über dem seelischen Triebwerk unserer gesunden oder
kranken Analysanden durchschauen gelernt haben.
Eine solche typische Figur ist nun der Vater Domenico
Pascarella, die Hauptperson des Romanes; ein Meister-
werk feinster psychologischer Charakterisierung. Der pol-
ternde Vater ist eine häufige Figur in Drama und Roman;
aber mit welcher Lebendigkeit und Wahrheit bis ins
letzte Detail tritt uns dieser grausam strenge Vater hier
vor Augen neben seinen sechs erwachsenen Kindern!
Der Inhalt des Buches ist „die Tragik, die in der Furcht
und Liebe hegt, die diese sieben Menschen aneinander-
bindet". Dieser Vater ist ein eitler, selbstsicherer Auto-
krat in seinem Hause, dem die Mutter längst weggestorben
ist. Unzärtlich, hart, jähzornig und geizig, ist der meist
244
düster-schweigsame Mann geradezu ein Gefängniswärter
über seine Kinder, denn seine Pedanterie und Sittenstrenge
verbieten fast jeden Ausgang, seine leicht paranoische
Einstellung gegen die Umwelt isoliert die ganze Familie.^)
Alle Initiative des Lebens ist ihm vorbehalten, alles Mo-
derne, alles Künstlerische oder Denkerische ist den Kin-
dern versagt, alle persönlichen Triebe wurden frühzeitig
beschnitten. Denn die Zeit ist voll sündhafter Gefahren,
die den Eigentümer der Kinder beängstigen. Kein Wunder,
daß die Kinder, in deren individueller Schilderung der
Dichter die Folgen der Einschüchterung des gebrochenen
Willens neben der leidensfreudigen Liebesgefesseltheit an
den Vater variiert, unserer Teihiahme, unserer Rührung
und Liebe teilhaftig werden.
Das Schicksal, das diese Familie im Verlauf des Ro^
manes durchmacht, ist nur die Folge des Wirkens dieses^
teuflischen Ungetüms von einem Vater, der dem Leben
scheu und naiv gegenübersteht und ohne Menschenkennt-
nis dann ein Op'fer von Menschen wird, denen er nie
Jnteresse entgegenbringen konnte, so egozentrisch, so
blind lebte er dahin. Erst allmählich läßt der Dichter
versöhnlich durchscheinen, daß hinter der rauhen Außen-
seite dieses Nur-Vaters ein nur seinen Kindern lebender
und — da er sie verlieren soll — nach ihnen brüllender,
einsamer Mann lebt, der dann durch das Schicksal grau-
sam zerbrochen und geläutert, seine Schuld einsieht und
— wenigstens heimlich — weich wird, seit fünfzig Jahren
zum erstenmal wieder weint!
Wer das Werk Franz Werfeis kennt, weiß, daß es vom
KonfUkt zwischen Vater und Sohn nicht loskommt.^)
Man findet darüber Ausführliches in der Arbeit von
K. T. W a i s „Das Vater-Sohn-Motiv" und in der auf-
klärenden Besprechung dieser Arbeit durch Storfer
in der „Psychoanalytischen Bewegung" (1931, Heft 5),
^) Jeder Zoll ein anal sadistischer Charakter.
^) Wer fei schreibt sozusagen immer wieder „Märchen vom Stiefvater",
245
PS
unter dem Titel „Der Ödipuskomplex bei Werfel imd bei
Wassermann".
Aber nicht diese ewige Wiederkehr eines Komplexes
bei einem Dichter oder dessen persönlicher Ursprung soll
uns hier beschäftigen, sondern ich will darauf hinweisen,
daß Werfeis Werk eine Tendenz aufzeigt, die man geradezu
als — Erziehung der Väter bezeichnen könnte. Allerdings
merkt man den Werken Werfeis und auch diesem neue^
sten keine tendenziöse Absicht an, was wieder ihren
hohen künstlerischen Wert bedeutet. Denn was Goethe .
einst zu Eckermann gesagt hat, ist immer wahr: „Liegt fll
^m Gegenstande eine sittliche Wirkung, so wird sie auch ^i
hervorgehen, und hätte der Dichter weiter nichts im
Auge als seines Gegenstandes wirksame und kimstgemäße
Behandlung."
Diese Tendenz, unbewußte Tendenz, der Werke unseres
Dichters sehen wir in der Aufdeckung der Schädlichkeit
solcher harter, liebloser, geiziger und pedantischer Er^
zieher. Werfel zeigt nicht, wie man erziehen soll, son-
dern wie man nicht erziehen soll. Man erinnert sich, der
übertriebenen und viel gröberen Schilderung eines sol-
chen Vaters in „Nicht der Mörder, der Ermordete ist
schuldig", eines entsetzlichen Unmenschen.
Ist das Gesamtbild hier in „Die Geschwister von
Neapel" auch ein gemildertes, der Ausgang versöhnlich,,
so ist doch der Nachweis der unheilvollen Wirkung dieser
Art Väter an den Kindern tragisch genug. Alle sind von
vornherein eingeschüchtert; selbst daran wird erinnert^
daß in der Kindheit darauf gesehen wurde, daß die
Kinder nur mit den Händen auf der Decke schliefen.
Sie zittern vor dem Vater, ihr Wille ist zerbrochen,
Ewel von ihnen sind bereit, ihr Leben im Kloster zu bet-
schließen. Annunziata, die Älteste, ist zur frömmlerischen
Masochislin abgelötet, die schöne Grazia ist nur dadurch
gerettet, daß sie einen Mann lieben lernt; natürlich ist ^
es ein väterlicher mit grauen Haaren. Sie ist die einzige,
die wenigstens eine Zeitlang den Vater zu hassen wagt;
246
um dann umsomehr in Schuldgefühle zu verfallen. Allen
hat der Alte die Ausbildimg ihrer reichen Talente unter-
bunden.
Erschütternd ist, wie der Alteste, der Tiefste, der am
wenigsten verstanden wurde, doch am Vater leidet, sich
fügt und zum Schluß bescheiden als Beamter unter-
Tiriecht. Der schöne Lauro, auf den Tiere immer faszinie-
rend gewirkt haben, der sie auch in Ton zu bilden ver-
stünde, — er geht an einem Schlangenbiß in Brasilien
zugrunde; eine tiefere Symbolik vielleicht, nur dem Psy-
- choanalyliker verständlich. Nur die beiden Jüngsten, von
denen der Sohn die Eitelkeit, die Tochter den Trotz
geerbt haben, scheinen halbwegs heil aus der Abhängig-
keit von diesem Vater loszukommen.
Nicht kalte Strenge und eingebildetes Besserwissen,
nicht Geiz und Pedanterie und Ablehnung alles Neuen,
nicht Abschließen und Unterdrücken, nicht Gegentrotz
und Prügel sind die rechten Erziehungsmittel, nicht humor-
lose Düsterkeit; sondern Liebe, Aussprache und Ver-
stehenwollen, Güte und Verzeihen. Der Erzieher muß
einer Art von Demut fähig sein, der Duldung von viel-
leicht ihm selbst Fremdem. In jedem Kinde kann auch
etwas Anonymes auftauchen. Talente müssen gepflegt,
nicht unterdrückt werden. Liebe und Güte sind, wie
feuchte Wärme, das Prinzip des Lebens, nicht in Kälte
und Trockenheit gedeiht ein Lebendiges.
■ Wir freuen uns, hier feststellen zu können, daß die
Tendenz von Werf eis Werk mit den Erziehungsgrund-
sätzen der Psychoanalyse ganz übereinstimmt, wie sie vor
allem aus dem hervorragenden Buch von Aichhorn
„Verwahrloste Jugend" sich ergeben, und wie sie von
der „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik" pro-
pagiert werden, in deren Sammekiummer „Strafen" ich
gegen die übermäßige Härte, den Geiz, die Pedanterie,
Gewalt und Düsterkeit in der Erziehung aufgetreten bin
(1931, Heft 8/9). So heißt es auch in dem grundlegenden
Büchlein von Anna Freud „Einführung in die Psycho-
247
\
analyse für Pädagogen" an einer Stelle: „Der Analyti-
ker . . . nimmt sich vor, zumindest für seine Person nicht
mitzutun, seine Kinder lieber frei, als so erzogen auf--
wachsen zu lassen und lieber etwas Ungezügeltheit im End-
ergebnis zu riskieren, statt ihnen von vornherein eine
solche Verkrüppelung der Persönlichkeit aufzuzwingen."
Freilich ist das Ziel der Ärzte imd Pädagogen ein an-
deres, als das eines Dichters; wir wollen nivellieren, um
keine Neurotiker, keine Gehemmten und keine Unglück-
lichen heranzubilden. Am Ende verhindern wir durch
unser Nivellieren die Entstehung von hervorragenden Pro-
duzierenden? Sind wir auch über das Wesen der Be-
gabung im Unklaren, so sagt uns doch ein Ahnen, daß
intensive Eindrücke der Jugendzeit, und auch unglück-
liche, verinnerlichen können, jenem Träumen Kräfte zu-
führen mögen, das dann zur Produktion drängt. Hier ist
Vielleicht ein Widerspruch zwischen der Gesundheit und
dem Glück einer möglichst großen Anzahl, — und dem
Werden eines Starken oder Großen!?
Ich glaube aber, wir können uns darauf verlassen, daß
so große „Radioaktivitäten" wie die des Domenico Pasca-
rella nicht aussterben werden, sei es unter den lebenden
Vätern, sei es unter den dargestellten Gestalten echter
Dichter. i
Große Begabungen werden sich immer durchsetzen,
auf schwächere verzichten wir gerne.
Ceterum censeo: Väter, seid nicht wie Werf eis Väter I
248
DIE SPRACHW V RZEL MR
Von
Ernst Jones
Das folgende Kapitel haben E. nnd J. Homburger JEür den
Almanach aus dem Werke „On the Night mare" (Verlag
der Hogarth Press, London, 1932) übersetzt. „Das Buch
zeigt gewissermaßen an einem Muaterfall, wie die unbe-
wußten Seelenvorgänge, auf die die Menschen mit Angst,
respektive mit dem Angsttraum reagieren, sich in Massen-
Phantasien und sozialen Institutionen teils Durchsetzung,
teils Abwehr erzwangen haben". (Hanns Sachs.)
Was an mythologischem Material in den bisherigen
Kapiteln vorgebracht wurde, hat die Parallelität der An-
schauungen über das Pferd und den Nachtteufel gezeigt;
dank der Psychoanalyse sind wir zu dem gemeinsamen
Ursprung beider in der kindlichen Sexualität vorgedrungen,
welche die früheste Quelle der Alp träum er lebnisse ist. In
diesem Kapitel nun will ich einen Auszug aus dem um-
fangreichen etymologischen Material zu den beiden Wörtern
„mare"^) und „mara" bringen, deren psychologischer Zu-
sammenhang schon als erstaunlich eng dargetan wurde,
und will ferner zu zeigen versuchen, daß die Psycho-
analyse den Etymologen gerade zur Lösung ihrer eigensten
Probleme wertvolle Beiträge liefern kann.
Um diesen Satz zu illustrieren, wähle ich folgendes
Problem. Das englische Wort mare (Stute) ist sicherlich
das angelsächsische mere, die weibliche Form von mearh
(Pferd). Im Althochdeutschen waren die entsprechenden
Wörter meriha oder merha, ferner marahj marh odeir
marcha. Die ältesten sicheren Quellen dieses Wortes sind
das germanische marhja (weibUche Form von marha)
und das keltische marka. Das Wort war also mar mit
einem aspirierten oder gutturalen Gaumenlaut als Endung,
1) Vergl. „Night mare'. D. Übers.
249
der übrigens in einem entsprechenden modernen Wort
nur noch im Tal der oberen Etsch erhalten ist. Die Ety-
mologen müssen nun, nach den bekannten Gesetzen, einen
Ursprung in einem altgermanischen und allgemein euro-
päischen mark-os annehmen.^) Aber aufgezeigt worden ist
diese Wurzel weder in den angegebenen Sprachen noch
im Indogermanischen, sodaß ihre ferneren Zusammenhänge
nur eine Sache der Vermutung sind. Wir haben schon
früher zwei oder drei Annahmen darüber von Jahns er-
wähnt, obwohl die Etymologen sie scheinbar nicht sehr
ernst genommen haben. Ich denke nun und hoffe zu be-
weisen, daß seine Annahmen — mit einigen Einschrän-
kungen — einen gewissen wahren Hintergrund habeu,
wobei ich eben zu zeigen beabsichtige, daß die Psycho-
analyse derlei Probleme lösen helfen kann.
Ich muß mir jedoch für diesen Versuch eine Basis auf
einem anscheinend ganz anderen Gelände schaffen und
schlage dazu vor, unsere Aufmerksamkeit der Entstehung
des anderen Wortes zuzuwenden, das uns hier interessiert:
mara, Nachtteufel, das den zweiten Teil des „Alptraumes"
vertritt. Dieses Wort kann bis zu einer außerordentlich
frühen altgermanischen Quelle verfolgt werden und hat
sich zweifellos aus einer noch früheren entwickelt. Die von
den Philologen unter dem Namen Indogermanisch (besser
wohl Indoeuropäisch) rekonstruierte Ursprache enthält
eine große Anzahl verwandter Wörter, deren letzte Quelle
eine Urwurzel MR ist. Das Studium der ihr entwachsenden
Stammbäume ist außerordentlich fesselnd; ich kann jedoch
nur einen Ausschnitt geben, der unserem Thema ent-
spricht.
Der Konsonant M war mannigfaltig mit fünf anderen,
lauter Zungengaumenlauten, kombiniert, D, R, L, K, G,
wodurch neun verschiedene Wurzeln geschaffen wurden.
Daraus entst and dann eine große Anzahl einzelner Wörter;
2) VergL etwa W. W. Skeat, Etymologica! Dictionary of the Englieh
Laßguage, 1910.
250
S
wir werden uns jedoch nur mit den Wurzeln befassen.
Das nebenstehende Diagramm wird uns dabei das Ver-
ständnis der verschiedenen Kombinationen erleichtern.
R
Die ursprünglichste Kombination war aller Wahrschein-
lichkeit nach MR, gebräuchhch als MAR, gelegentlich
MER. Sie hatte drei Hauptgruppen von Bedeutungen, die
ich hier in der Reihenfolge ihres Alters anführe: dabei
smd die beiden ersten auf das Indo -Europäische, die dritte
ausschließlich auf die europäische Abspaltung zurück-
zuführen.
1. A. aufreiben, kleinreiben, wundreiben, mahlen, zer-/
quetschen, verletzen; B. abnutzen, aussaugen, aufzehren;
C. schwächen, weichmachen, aufweichen (z. B. Brot in
eine Flüssigkeit tauchen).
Von A kommen folgende Wörter. Das mare des
en,glischeai Wortes Night mare, Alptraum. Es heiüt wört-
lich „das Quetschende" und ist verwandt mit dem angel-
sächsischen Verb merran (althochdeutsch marrjan), ver-
• sperren, hindern, ärgern und weiter die Kraft zersplit-
tern, erschöpfen, verwüsten; auch das englische to mar
(verderben) kommt daher. Sein mittel-hoUändisches Ge-
genstück marren bedeutet gleichzeitig liindern, beein-
trächtigen und binden, festmachen (daher die eng-
lischen Wörter to moor, vermooren, vor Anker legen
und marline, MarUeine), wobei die letztere Bedeutung
auch die der indogermanischen Wurzel Mu ist. Wer nur
immer Fälle von Alptraum oder — was fast dasselbe
ist — von nächtlicher Gespensterfurcht behandelt hat,
wird zugestehen, daß die erwähnten Bedeutungen ganz
besonders passend sind. Im Altgermanischen wurden
sowohl der männliche wie der weibliche Nachtteufel
mit dem Wort maran bezeichnet. Ferner: das englische
251
mortar (welches mahlen bedeutet oder den Gegenstand,
in dem gemahlen wird), das griechische /ta^va/*«^
kämpfen (wörtlich „sich reiben an"), und das lateinische
martulus (germanisch marta, Hammer), woher der Bei^
name Karl Martel kommt — alle diese Wörter stammen
von unserer MAR 1. A.-Wurzel ab. = -
Von B kommen, auf dem Weg über das Griechische
das englische amourofic, blind (von marva, weich), und
moron, schwachsinnig {maraj dumm).
Von C kommen fA.a^aiv<o^ schwächen, aufbrauchen;
das angelsächsische meara, zart, biegsam (auch von
marva, weich) ; das lateinische mereoy ich verdiene (wört-
lich: bekomme einen Teil), woher merenda und das
deutsche Dialektwort Mährte (althochdeutsch meriod)
stammen, die beide Nachmittagsmahl bedeuten, und das
englische merit, Verdienst; meritorioasy verdienstlich;
und meretricioüs, feil, dirnenhaft, usw.
2. Sterben, ruiniert werden. Hier bekommt die englische
Sprache auf dem Weg über das Deutsche das Wort
murder, Mörder; durch das Lateinische morial, sterb-
lich; mortify, abtöten, usw.; durch das Griechische
ambrosia (= unsterbüch); und das wallisische maru, tot.
Eine interessante Sprachgruppe wurzelt hier: haupt-
sächUch Menschen, welche die Gezeiten nicht erleben,
nennen alles nichtfließende Wasser „tot". Daher das
gothische marei, Meer oder See (im Deutschen braucht
man heute noch ein Wort für beide, eben See), in
Sanscrit mlra, Ozean, altgermanisch mari, Meer, latei-
nisch mare, walüsisch mör, und die modernen eng-
lischen Wörter mere, Teich; marsh (= mere-ish),
„Marsch"; moor, Moor; marine und maritime, zur See
gehörig, usw.
3. Strahlen, mara, rein; lateinisch merus, Mar, daher das
englische merely, bloß, nur. Die Bedeutung scheint sich
geteilt zu haben einmal über das baltisch-slavische
mara, in der Bedeutung von „Neuigkeiten" (daher das
deutsche „Märchen") und in anderer Richtung zu Vor-
252
Stellungen wie „berühmt", daher Waldemar, die Stadt
Weimar usw. Vielleicht ist der Unterschied nur der von
„bekannt" und „sehr bekannt". Das deutsche mär, lieb
teuer (ähnlich wie Mär-chen, vom mittelhochdeutschen
maere), kommt dann wohl von der Ideen Verbindung von
„vertraulichem Kennen" und „Liebenswürdigkeit",
M R wurde gern durch M L ersetzt, oft als MEL, seltener
MAL. Die Auswechselbarkeit von R und L ist den Philo-
logen sehr vertraut; Beispiele in unserem Zusammenhang
sind: marua, rnalva, weich; mard-, mald-, weich werden;
marg, malg, streiche(l)a. Ein amüsantes Beispiel für den
umgekehrten Prozeß stellt das Wort „Marmelade" dar;
sein erster Teil kommt von mar auf dem Weg über med
und das lateinische mel; während aber das Wort selber
schon Honigapfel oder Quitte bedeutet, veränderten die
Portugiesen, die zuerst Quittenmus herstellten, mal wieder
in m.ar. Man nimmt an, daß der Wechsel zu L eine ge-
wisse Abschwächung der abgewandelten Bedeutungen be-
zeichnet, so wie ein Wandel von „mahlen" zu „stoßen" usw.,
aber wenn dieser Schluß auch im Allgemeinen stimmen
mag, gibt es doch gewisse Ausnahmen. Die Wörter aus
dieser Wurzel kann man nach ihren hauptsächlichen Be-
deutungen roh gruppieren.
1. Stoßen: engl, mallet, Schlägt; (Pall) Mall, der Kolben
beim sogenannten Mailspiel (lateini'sch malleus).
2. Mahlen : altirisch moUm, ich mahle. Die englischen
Wörter mould, Gartenerde (nicht das Verb to mould);
mole, Mal, Mole, dann Maulwurf; meal, Mahl; millet,
Hirse; maller, Mahlstein (zum Mahlen von Puder); mill,
Mühle; molar, Mahlzahn, aus dem Lateinischen.
3. Auflösen: engl, m^alt, Malz; melt, schmelzen; mill, Milz;
altnordisch melta, verdauen.
4. Weichmachen: engl, mild, mild; mauve, malvenfarben;
mallow, Malve ; mal^chite, Malachit ; mulch, feuchtes
Stroh. Litaiuisch melas, lieb, teuer. Russisch millüi, lieb.
Englisch mildew, Mehltau; melliflaous, honigsüß; mo-
lasses, Zuckerdicksaft, vom lateinischen m.el, Honig —
253
vgl. das germanische melithn. und das alt-irische mil,
Honig.
5. {PiXsmal:) beschmieren, schwarzmachen: meZano//c (auch
der christliche Name Melanie) vom Griechischen. Das
engüsche malice, Bosheit; malign, schädlich usw. vom
lateinischen malus, scMecht. In Gornwall malan, der
Teufel.
Die Zusammensetzung mit D scheint ebenfalls einen ge-
wissen mildernden Einfluß auszuüben. MAD (in Sanscrit
madlin) bedeutete süß oder üeblich, und davon kommt
dann (auf dem Weg über medha, Honig) der engUsch«
Honigtrank „mead" (das deutsche „Met"). MELD bedeutet
ganz ähnlich „weichmachen", „auflösen". Das engUsche
mild aus der Wurzel mel wird wohl davon beein0ußt sein
und es ergeben sich ferner die -englischein Wörter molliftjf
besänftigen; moUnsc, Weichtier und to moil, sich abmühen
aus dem lateinischen mollis, weich. MARD anderseits, das
wohl auch weichmachen bedeutete, hatte auch die härteren
Bedeutungen von mahlen, stoßen, beißen, abnützen. Vgl.
die englischen Wörter mordant^ beißend; mordacity, Bissig-
keit; und morset j Bissen, vom lateinischea mordere, beißen.
Diese Wurzel war auch verstärkt durch ein Anlaut-s,
welches aber das Lateinische verlor. Übrigens war die
Wurzel mar ähnlich verstärkt; es gab z. B. in Sajiscrili
smr, erinnern, sich sehnen; das Änlaut-s ist verloren in
den eiuglischen Wörtern mourn, betrauern, und martyr^
Märtyrer, die dorther stammen, ist aber erhalten in smart,
lebhaft, schmerzhaft, im deutschen „Schmerz" und im
kaschuibischen Zmora = mam, Nachthexe. Mard iist fast
sicher eine ursprüngUchere Wurzel als Meld-y das wahr-
scheinlich durch Veränderung aus ihm entstanden ist.
Die Grundwurzel war auch durch einen späteren Zungen-
Gaumenlaut K oder G erweitert. MARK bedeutete stoßen
und über das Lateinische kam das EngUsche zu lo macerate,
einweichen. MARK bewies ein besonders fruchtbares Wachs-
tum. Es hat drei ziemlich gut bestimmbai'e Gruppen von
Bedeutungen.
254
1. Verletz«-!!. Er^gl. Marescent vom lateinischen marcere,
"Welk machen.
2. Greifen : dann aber auch streichen, schlagen, strafen.
Davon kommen verschiedene englische Wörter wie
wuictf strafen (vgl. das lateinische mulcere, streichen;
mulcare, durch Prügel strafen); morphia. Morphin;
morphology, Morphologie; merchant, Kaujfmann; market,
Markt; mercenaryy käuflich; und das französische merci,
engl, mercy.
3. Streichen, weichmachen, aufweichen. Verwandt mit dem
gothischen marka, Grenze, sind die englischen Wörter
margin, Rand; mark, Marke; das wallisische Marches
(vgl. das deutsche „die Marken") und der „Merse" genannte
Teil von Berwickshire. Die „weichere" Bedeutung ver-
wandelte die Wurzelform in malg, das wir noch be-
trachten werden. Die Wurzel MARG, oder merg, ist nah
verwandt mit dieser Gruppe und bedeutet reiben oder
streichen; ohne Zweifel beeinflußte sie die Form einiger
ihrer Abkömmlinge, z. B. margin.
In Einklang mit meiner erwähnten Vermutung finden
wir also, daß die Wurzel MELG, streiche(l)n, sanftere
Bedeutungen hat als die von MARK oder MARG. Auf
ganz verschiedenen Wegen entstehen so die englischen
Wörter milk, Milch (vgl. melken) und emulsion, ursprüngl.
Mandelmilch.
Dieser gedrängte Auszug zeigt wohl genügend, wie
außerordentlich fruchtbar sich die M R-Wurzel erwiesen hat,
eine Eigenheit, die nach Sperbers Ausführungen in hohem
Grad charakteristisch für Wurzeln mit ursprünglich sexueller
Bedeutung ist. In unserem Falle wird es wohl kein zu
großes Wagnis sein, diesen Sinn zu erraten. Wenn man
die verschiedenen Gruppen von Bedeutungen, die ich
erwähnt habe, an sich vorbeiziehen läßt, wird es ziem-
lich klar, daß die ursprünglichsten sich auf zwei Vor-
stellungen bezogen haben, nämlich auf die einer bestimm-
ten Handlung und auf die ihrer Folgen. 1. Der Vorgang
255
selbst war zunächst reiben an, auf oder gegen etwas, und
das verbreiterte sich dann zu einer mehr oder weniger
sadistischen Gruppe. Die erste sei umschrieben durch die
Wörter stoßen, mahlen, quetschen, beißen, schlagen, wund-
reiben, bedrücken; die zweite durch die Wörter zusam-
menbinden, greifen, streichen. 2. Die Folgen der Handlung
•sfiid durch Wörter bezeichnet wie (einmal aktiv, einmal
passiv) sterben, zerstören, erschöpfen, schwächen, zart
oder biegsam machen, weichmachen, beschmieren, (sich)
auflösen, vergeuden, verbrauchen. Es ist also wohl be-
rechtigt, als Vertreter dieser beiden Vorstellungen die
Wörter „fest reiben*' und „weich gemacht werden" auf-
zustellen, was Ficks Annahme über die Bedeutung der
ganzen Wurzel nahekommt, nämlich reiben an, erschöp-
fen, ermüden. Wir haben hier eine unmißverständliche
Anspielung auf den Masturbationsakl, dessen psycholo-
gische Bedeutsamkeit durch und durch Identisch mit der
des Alptraumerlebnisses ist: Schuldgefühl aus Inzestphan-
tasien, Nächtlichkeit des Erlebnisses, Sadismus, Kastra-
tions- oder Todesangst usw.
Dieser Schluß scheint so unumstößlich, daß es einen
reizen könnte, weiter forschend bis in die wirklichen
Elemente der in Frage stehenden Wurzeln vorzudringen.
Ober die psychologische Bedeutung einzelner Laute ist:
noch wenig gearbeitet worden. Den am besten bekannten
Anhaltspunkt bieten die lutschenden und auf die Mutter
bezüglichen Assoziationen des Konsonanten M. Dieser ist(
die noch am wenigsten schwankende Grundlage, auf die]
wir uns bei der M R-Wurzel stützen können, weil der]
einzige Fall, wo er durch einen Lippenlaut ersetzt wirci^j
durch B, mit einer Auswechslung des Vocals und des
einhergeht, was den Philologen so viel Schwierigkeited
macht. Ich kann in diesem Zusammenhang zwei Beispiele]
erwähnen, einmal die Verwandlung des indogermanische]
mar, sterben, in das grieclüsche ß^orög, ein SterblicheBl
(wobei das frühere ju^o^zög noch in Dialektform vorhan-
den ist) und dann die des indogermanischen marda, weich,
256
1
in das griechische ß^aöög, langsam, lateinisch bardus,
dumm.
In der Reihe von Wurzeln, die wir betrachtet haben,
verbindet sich M dann mit dem einen oder anderen
Zungengaumenlaut R, L, D, K, G. Von diesen ist wohl
R der Wichtigste, weil es von seiner An- oder Abwesen-
heit abzuhängen scheint, ob die entstehende Bedeutung zu
der mehr oder der weniger sadistischen Gruppe gehört,
von der oben die Rede war. Daß hier ein psychologisches
Problem vorliegt, ist von einem neueren Philologen be-
merkt worden: „Was zunächst den Anlaut betrifft, so
wäre es interessant und wie es scheint, auch bedeutungsn
voll, das Verhalten der Sprachen in Bezug auf den
Liquida-Anlaut zu untersuchen. Eine große Anzahl von
Sprachen können nämlich entweder kein r oder kein 1,
oder keines von beiden im Anlaut halten . . . Jedoch
scheint es fast sicher zu sein, daß derlei Beschränkungen
des Anlautes nicht primärer, sondern secundärer Natur
sind, daß die Sprachen der älteren Kulturkreise sowohl
r als 1 im Anlaut anstandslos gebrauchen."
Eine der vedischen Strophen, dazu bestimmt, durch
Vorsagen den Fluß der Sprache beweglicher zu machen,
hat die ausstoßenden und befruchtenden Kräfte von In-
di-as Zwillingshengsten zum Thema. Der Buchslabe r
kommt in jedem Wort der Strophe vor, die zum großen
Teil aus einem Wortspiel von varsh und vrish besteht;
beide bedeuten ausstoßen und belruchten. In Piemont
besieht oder bestand bis jüngst ein Gesellschaftsspiel bei
Hochzeiten, bei dem jeder Gast die Gabe zu beschreiben
hatte, die er der Braut darzubieten beabsichtigle, nur
mußte er dabei alle Wörter vermeiden, die ein r ent-
hielten, sonst hatte er eine Buße zu zahlen. Mit anderen
Worten, der r-Laut bezeichnete etwas, was der Gast der
Braut nicht geben oder antun durfte.
Diese beiden Beispiele sind geradezu ein Wink mit
dem Zaunpfahl, wie der Volksgeist den r-Laut unbewußt
in einem sexuellen Sinn auffaßt, was durch die außer-
17 Almanach 19S3 257
\
europäische Bedeutung der Wurzel ar nur bestätigt werden
könnte: ar = Feuer und Ra = Gott. Ich möchte aber
zu überlegen geben, daß die obigen Betrachtungen eine
spezifischere Urbedeutung des r-Lautes sichtbar machen,
nämlich eine sadistische und insbesondere eine oral-sa-
distische. Diesem Vorschlag kann Jespersons Beobachtung
eine Stütze leihen, daß der Laut mit der gröberen Seite
der Männlichkeit zu tun hat und daß er weicher wird,
wenn er dem verfeinernden Einfluß der Weiblichkeit
ausgesetzt wird. Er schreibt: „Es gibt in vielen Sprachen
eine charakteristische Wandlung, bei der allem Anschein
nach die Frauen eine bedeutende Rolle gespielt haben,
wenn sie auch nicht allein dafür verantwortlich sind: ich
meine die Äbschwächung des alten, völlig gerollten
Zungenspitzen-r's. Ich habe an anderer Stelle (Fonetik,
p. 417 ff.) zu zeigen versucht, daß diese Äbschwächung,
aus der sowohl verschiedene andere Laute als auch
manchmal der völlige Wegfall des Lautes selbst in be-
stimmten Kombinationen resultiert, im Allgemeinen die
Folge einer Wandlung im sozialen Leben ist oder wenig-
stens von ihr begünstigt wird: der alte, stark gerollte
Spilzenlaut ist natürlich und erlaubt, wenn das Leben
sich hauptsächlich im Freien abspielt, während das Leben
im Haus im Ganzen weniger lärmende Sprachgewohn-
heiten zuläßt, und je mehr dieses häusliche Leben sich
verfeinert, um so mehr werden alle Arten von Geräuschen
und von Sprechlauten gedämpft werden. Eine der Folgen
davon ist dann, daß der ursprüngliche r-Laut, Trommel-
wirbel im Orchester der Sprache, nicht länger in die
Ohren dröhnen darf, sondern auf verschiedenerlei Wegen
abgemildert wird, wie es hauptsächlich in den großen
Städten und in den gebildeten Schichten zu bemerken
ist, während die Landbevölkerung mancher Striche mit
Beharrlichkeit an dem alten Laut festhält. Nun finden wir
nicht selten die Frauen mit dieser Schwächung des ger
rollten r in Zusammenhang gebracht; so bestand im
Frankreich des sechzehnten Jahrhunderts eine Neigung,
258
das Rollen wegzulassen und sogar noch das modern-eng-
lische imgeroUte Spitzen-r zu übertreffen, mdem man
statt dessen ein z aussprach; einige ältere Grammatiker
aber erwähnen diese Aussprache als Charakteristikum
der Frauen und weniger Männer, die ihnen nacheifern
(Erasmiis, ,mulierculae Parisiiiae'; Sylvius, ,mulierculae . . .
Parrhisinae, et earum modo qiiidam parum viri'; Pillot,
yParisinae mulierculae . . . adeo delicatulae sunt, ut pro
pere dicant pese'. In dea* Umgangssprache gibt ©s einige
Überbleibsel dieser Tendenz; so, wenn wir jetzt neben
dem ursprünglichen chaire auch die Form chaise haben,
und es ist bemerkenswert, daß die letzte Form der all-
täglichen und deshalb der Frauensprache gemäßeren Be-
deutung vorbehalten ist (Stuhl, Sessel, engl, c/jö/rj; während
chaise die speziellere Bedeutung von jKanzel, Lehrstuhl'
hat. Nun wurde dasselbe Bedürfnis, für r z oder — nach
einem stimmlosen Laut — s einzusetzen, in unseren
Tagen bei den Frauen von Christiania vorgefunden, die
gzaeliff für gruelig und fsygtelig für frggtelig sagen (Brek-
ke. Bitrag til dansknorskens Igdloere, 1881, p. 17; ich
habe selbst den Laut öfters gehört). Und sogar im fernen
Sibirien finden wir, daß die Tschutschkcnfrauen nidzak
oder nizak für das männhche nirak, zwei, sagen, auch
zerka für rerka, Walroß usw."
Es gibt m der englischen Geschichte fast unserer eigenen
Tage eine Reihe von Beobachtungen, die Jespersons
Meinung über den Einfluß der Frauen auf den r-Laut
bekräftigen. Wie kürzUch von Wingfield-Stratford gut dar-
gelegt worden ist, war die auffallendste kulturelle Tat-
sache der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der ver-
feinernde Einfluß, den die Frauen, darunter in nicht
unbeträchtUcher Weise die junge Königin, auf den Eng-
länder ausübten, dessen Grobheit und Brutalität gerade
unter den vorhergehenden Generationen West-Europas
sprichwörtlich geworden war. Dieser Einfluß nahm oft
Formen an, die uns grotesk anmuten müssen, und eine
davon berührt unser Thema. Mancher von uns ist alt
17* * • .. • : 259
genug, sich an Spuren einer sterbenden Sprachmode zu
erinnern, die auf der Bühne in „The Barretts of Wim-
pole Street" bewunderungswürdig dargestellt wurde. Ich
meine das Tabu, mit dem überfeinerte Leute den r-Laut
belegten, der durch w ersetzt werden mußte.3) Wer Zu-
schauer bei jenem Stücke war, wird die ultra-feminine
und tatsächlich effiminierte Natur dieses Tabus nicht be-
zweifeln; wer aber nicht so glücklich war, sei durch
folgende Stelle aus der Vorrede zu J. M. Barries Dear
Brutus überzeugt. „Es bleibt nun noch Lady CarohneLaney
von der hochmütigen Gestalt übrig, erst kurz zurück aus
der ungeheuer exklusiven Schule, wo gelehrt wird, r wie
w auszusprechen; sonst wird scheinbar nichts gelehrt,
aber für eine gute Heirat ist auch nichts anderes nötig.
Jede Frau, die r wie w ausspricht, wird einen Gatten
finden; es appelliert an alles, was ritterlich am ManuQ
ist."
Wenn wir weiter nach den physiologischen Beziehungen
unseres Lautes fragen, so ist nicht sichwcr zu sehen, daß
sie die für Zorn und Furcht charakteristischen sind. Das
Rollen stammt wahrscheinlich zunächst von Brummen
und Knurren; man spürt instinktiv die lautmalerische
Ähnlichkeit des germanischen tnarren, knurren wie ein
Hund, und des deutschen „murren". Jcsperson bemerkt
über die Gaumenlaute, „es ist merkwürdig, daß man
unter den Säuglingslauten oft solche entdecken kann ~
z. B. k, g, h und r — die das Kind später nur mit
Schwierigkeit wird aussprechen können, wenn sie in einem
richtigen Wort vorkommen, oder welche in der Sprache,
die es eines Tages sprechen soll, unbekannt sind", ein
Phänomen, das man sehr gut dem Einfluß früher Ver-
drängung zuschreiben kann. Andererseils entstammen die
schnarchenden und würgenden Laute, die für den tiefen,
durch Angstträume gestörten Schlaf und besonders für
^) w ist natürlich der leichteste Ersatz für r und wird z. B. von
Kindern und von solchen Erwachsenen — meist Frauen — gebraucht,
die den härteren Laut nie bemeistera lernten.
260
Alptraumerlebnisse bei Jung und Alt charakteristisch sind,
gleicherweise dem Zorn (verdrängtem Sadismus) und der
Furcht.
*
Nach diesem Exkurs bis in die letzte Wurzel sprachr
liehen Ausdrucks für das Alptraumerlebnis können wir
nun zu der Frage zurückkehren, die wir zu Beginn auf-
geworfen haben, nämlich nach der Etymologie jenes ande-
ren Wortes „mare'\ Seine männliche Form im alten Ger-
manisch war marha, im keltischen marka, im Alt-Hoch-
deutschen marh, marclm. Die weibliche war marhja im
AU-Germanischen, im Alt-Hochdeutschen marhä, wobei der
dann eintretende Vokalwechsel zum deutschen „Mähre"
und zum englischen mare wohl als Bezeichnung des weib-
hchen Geschlechts zu verstehen ist. Ein Synonym der oben
besprochenen mar- Wurzel war im Alt-Germanischen marja,
und es fragt sich, ob das Wort mare letzten Endes zu der
Affli'-Gruppe gehört oder zu einer davon unabhängigen und
ganz unbekannten Wurzel.
Das Wort kann tatsächlich nicht über das hinaus zu-
rückgeführt werden, was ich eben festgestellt habe. Es gibt
aber verschiedene Wege, auf denen die Philologen in derlei
Schwierigkeiten Hilfe finden. Ihre Kenntnis der Laut-
wechselgeselze ~ wie z. B. der Grimmschen Gesetze über
die Verschicbungen zwischen dem Englischen und Deut-
schen — erlaubt ihnen Vermutungen darüber, welche
Form ein bestimmtes Wort in einer anderen Sprache an-
genommen haben muß, auch wenn es dafür keinen doku-
mentarischen Beweis gibt. Oft wird auch wiederum ein
Vergleich mit verwandten oder eingeschobenen Sprachen
wertvolle Anhaltspunkte liefern. Ein Beispiel dafür mag
aus unserem Zusammenhang angeführt werden: die Tat-
sache, daß das litauische melza sowohl streichen wie
melken bedeutet, zeigt den Zusammenhang des alt-ger-
manischen malg, melken, mit dem indogermanischen murg,
streichen. Nun spricht sicher alle Wahrscheinlichkeit für
die Auffassung, daß das mare-Wort auf irgend einem Weg
261
TT"
verwandt mit der Mar-Gruppe ist, d. h. daß das altgerma-
nische marhja und nmria iiiclit ganz ohne Zusaimmenhang
sein können; die Hinzufügmig eines Gaumen- oder Kehl-
Hauchiautes zum mar-Staimm ist so häufig fuind verbreitet,
daß man selir geneigt ist, das marcha (männi. Pferd) als
ein Beispiel mehr anzusehen.
Können psychoanalytische Betrachtungen weiteres Licht
auf dieses dunkle Prohlem werfen: indem sie etwa auf
den unhekannten Punkt hinweisen, an dem sich das
Pferdewort von der Hauptgruppe abgespalten haben
könnte? Jahns bezieht sich auf keltische und wallachische
Analogien, wenn er betont, daß die Vorstellung von Be-
wegung zum ursprünglichen Sinn des Wortes gehört habe
und stützt sich ferner auf Max Müllers Studien über den
gleichen Ideenkreis, wenn er meint, daß die Vorstellung
des Strahlenden (Sonne = Kopf, Strahlen = Mähne des
Pferdes) genau so unerläßlich war, wobei der letztere
Zusammenhang direkt auf mar Nr. 3 = strahlen zurück-
geht. Gegen den ersteren Schluß könnte die Tatsache an-
geführt werden, daß man von der riesigen Anzahl von
Wörtern, die von der niar-Gruppe kommen, schwerlich
wird sagen können, daß sie viel mit Bewegung im gewöhn-
lichen Smn zu tun haben — mit wenigen, unbedeutenden
Ausnahmen (z. B. das griechische pi4yog, auf Wanderung,
und f^aQhvg, ein Wanderer). Zwar läßt wohl „mahlen"
und „zerquetschen" an heftige Tätigkeit denken, vne\ es
das Trampeln der Pferde tut — aber doch nicht in dem
Sinn, der im Allgemeinen in der Pferdemythologie gemeint
ist, nämhch das schnelle Durchmessen des Raumes. Und
was den zweiten Zusammenhang betrifft, so stellt er
uns vor die noch gar nicht erwähnte Schwierigkeit zu
verstehen, wHe das mar Nr. 3 („strahlen'*, „scheinen.")
mit den anderen Bedeutungen der Wurzel zusammenhängt.
Meint man, es sei. das gleiche Wort wie di^e anderen mare,
so ist das noch nicht ganz sicher; „strahlen" und „reiben"
oder „mahlen" scheinen sehr auseinanderliegende Vor-
stellungen zu sein.
262
Hier nun möchte ich an die eingehenden Betrachtungen
des III. Kapitels erinnern, die den sehr bestimmten Schluß
nahegelegt haben, die Vorstellung, in der die beiden auf-
fallendsten Attribute des Pferdes in seiner Mythologie,
nämlich Bewegen und Strahlen, zusammentreffen, sei das
primitive Interesse an den Urinierleistungen des Pferdes
ge^vesen, als an den Anzeichen bewundernswerter Potenz.
Wenn dieser Schluß einen Wert für das etymologische
Problem des /nare-Wortes hat, so der, daß die AbspalLoiigsh
stelle des Wortes von der mar-Gruippe mehr unter den
Abkömmlingen gesucht werden muß, die, wie wir es oben
(s. S. 256) nannten, die Folgen der Handlung meinten, als
unter denen, die sich auf die Handlung selbst beziehen.
Denn das Urinieren könnte nur die Folge eines vorher-
gehenden Aktes bedeuten, und zwar das Ergebnis der in-
fantilen Masturbation, die hmter dem Alptraumerle]>nis
steht; man muß nur die Vorstellungen des „Weichmachens".
„AiLflösens" vergleichen. Und es würde folgen, daß mar
Nr. 3 selbst nur einen speziellen Fall dieser zweiten „Kon-
sequenzen"-Gruppe der ganzen Urvorstellung bedeutet, wie
mar Nr. 2 (sterben) es offensichtlich tat.
Wenn die zukünftige psychologische Forschung die hier
ausgeführte, notwendig versuchsweise Hypothese bestätigt,
könnte man einen psychologischen Vorschlag zu den gan-
zen wichtigen Beziehungen zwischen Pferdemythologie und
Alptraumvorstellungeu erwägen. Und zwar, daß sie letzten
Endes eine riesige Kompensation für die Furcht vor dem
„Weichwerden" und die Vcrlustangst bei den Alptraum-
Pollutionen darstellen. Denn die Zuordnung außerordent-
Ucher Potenz ist in der Pferdemythologie nicht zu über-
sehen. Und daß Vorstellungen von Ruhm, Lob und Be-
wunderung unter den hauptsächlichen Abkömmlingen von
mar Nr. 3 sind, ein Zug, den Jahns bei den Pferdevor-
stellungen sowohl Europas wie Indiens erläutert, würde
gut zu dieser allgemeinen Tendenz passen.
263
INSTINKTIVE PSVCHOANALYSIE
UNTER DEN NAVAHO^INDIANERN
Von
Osk^r Pfisier
■j-
Ausschnitt aus einem größeren Aufsätze, der im
XVIII. Band der „Imago. Zeitschrift für Anwendung der
Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften"
erschien. (Jährlich vier Hefte im Gesamtumfange von ^
etwa 560 Seiten, M. 22.-—.) ^
Im Sommer 1930 halte ich die Freude, Mrs. Laura Adams
Armer in Berkeley bei San Franzisko näher kennen- j
zulernen. Begeisterung für die Kunst der Indianer hatte
sie bewogen, in den Jahren 1923—1930 im ganzen 16 Mo-
nate unter den Navahos zuzubringen. Ilir gütiges Wesen,
ihr feines Verständnis für die wertvollen Züge der neuen
Umgebung, ihre Bereitwilligkeit, alle Entbehrungen des
Lebens in der Wüste zu tragen, um in die Eigenart der
Indianer einzudringen, erwarben ihr denn auch das volle
Vertrauen des sie beherbergenden Volkes. Es wurde ihr
daher gestaltet, nicht nur die Zauberrilen der Navahos
mitanzusehen und kinemalographisch festzuhalten, sondern
auch die mit ihnen verbundenen großartigen Bildnereien
zu kopieren. So gelangte sie in den Besitz von mehr sdä
hundert hochinteressanten farbigen Zeichnungen, die sie
dem Museum von Santa Fee zuwies. Von einem zuver-
lässigen Dolmetscher begleitet, konnte sie auch über die
Ansichten des beobachteten Volkes, unter dem sie ihr
Haus gebaut halte, zuverlässiges Quellenmaterial gewinnen.
Was im folgenden zur Darstellung gelangt, beruht Punkt
für Punkt auf Augenschein der Frau Armer.
Die Navahos sind der größte und höchstentwickelte
lebende Indianerstamm. Ihre Kopfzahl wird auf über
30.000 geschätzt. Die von ihnen bewohnte, in Arizona und
Neu-Mexiko gelegene Reservation ist die größte, die in
264
.-:>
'^
s
den Vereinigten Staaten einem roten Volke eingeräumt
worden ist.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen treten wir auf
den psychoanalytisch zu beleuchtenden Fall einer Zauber-
heilung von Angst ein. Bekanntlich spielt die Angst unter
allen Primitiven eine ungeheure Rolle. Wir haben es im
folgenden mit einem speziell bedingten Fall von Angst-
depression zu tun, der in der Nähe von Ganado in Arizona
zum Gegenstand einer magischen Behandlung gemacht
wurde.
a) Die Zeremonie
Eines Tages während Frau Ä r m e r s Anwesenheit im
Jahre 1928 träumte ein ungefähr fünfzig Jahre alter Navaho
von seinen toLen Kindern. Leider läßt sich, wie unsere
Gewährsperson angibt, nicht ausmachen, ob nur die wirk-
lich verstorbenen oder auch die lebenden Kinder gemeint
sind; die Auslegung ist möglich, daß alle tot gesehen
wurden. Über den Traum geriet der bisher gesunde Mann
in derartige Beunruhigung und Angst, daß er wochenlang
fast keine Speisen mehr zu sich nehmen wollte, sich von
der Arbeit zurückzog und mit trübsinnigem Grübeln seine
Zeit verbrachte. Seine etwa fünfundfünzigjährige Frau
vermochte ihn so wenig aufzurichten, wie die Kinder.
Der Traum wiederholte sich oft. Endlich begab sich der
Leidende zu emem ihm befreundeten Medizinmann, einem
Sterndeuter (Star-Gazer), vertraute ihm seiu Leöd an imd
bat ihn um Hilfe.
Der Sterndeuter stieg auf einen Berggipfel und geriet
während seines Betens in Trance. In diesem Zustand sah
er einen Bären am Himmel und vernahm die Weisung:
„Su.clie den Medizinmann (Clianter), der den Mouniain
Clmnt (Bergsang) ausfühi'tl" ■..:.■
Dem Kranken gab er den Bericht: „Du wirst sicher
sterben, wenn du nicht den Mann findest, der die richtige
Zeremonie ausführen kann."
' Ein solcher vielwissender Medizinmaim wurde wirklich
265
vom Kranken und Frau Armer, die mit ihm reiste, in
fünfzig Meilen Entfernung gefunden. Es war ein Krüppel,
dem die Füße fehlten, und der durch seine Tätigkeit als
berühmter Medizinmann seinem elenden Dasein einen er-
heblichen Inhalt zu verleihen wußte.
Dieser „crawler'' (Krijecher), wie er genannt wurden
teilte dem gemütsleidenden Indianer mit: „Als kleiner
Knabe hast du einen kranken oder toten Bären gesehen^
oder deine Mutter sah ihn vor deiner Geburt. Der Bär
war heilig und muß versöhnt werden. Dazu ist die Zere-
monie nötig." Darauf schlug der Medizinmann die männ-
lich >e Form des Mountain Chanf vor.
Die Vorbereitungen nahmen längere Zeit in Anspruch.
Zwei Hütten wurden gebaut: Eine große („hoase of song"
oder „medicine lodge") für den Kranken und einen Teil
der mit ihm vorzunehmenden Riten, und eine kleinere für
seine Frau und seine Kinder. Alle Glanbrüder kamen, um
hiebet zu helfen. Sie sammelten Holz und farbigen Sand.
Durch Schwitzbäder itn house of song reinigten sie sich»
zuletzt und am ausgiebigsten der verkrüppelte Medizin-
mann.
Neun Tage weilten die Freunde mit dem Melancholiker
zusammen und wurden mit Speise reichlich bewirtet, indes
die weiblichen Verwandten und Freunde in der andern
Hütte seiner Frau zudienten.
Am sechsten Tage begannen alle Männer nach den
Weisungen des Medizinmannes im großen „house of sang**
die etwa fünfzehn Fuß breite erste magische Zeichnung
zu vollziehen, indem sie farbigen Sand auf den geebneten
Boden schütteten. Nach den kinematographischen Auf-
nahmen bekundeten sie dabei eine großartige Geschick-
lichkeit. Die Art und Weise, wie etwa ein Dutzend Männer
in strenger Symmetrie die grotesken Formen der kompli-
zierten Zeichnung zustande brachten, von einem Krüppel
geleitet, verdient höchste Bewunderung.
Das im Laufe eines Tages geschaffene Bild hat folgenden
Inhalt:
266
In der Mitte befindet sich ein gezähntes Kreuz, das die
Wolken der vier Himmelsrichtungen angibt. Als verlän-
gerte Diagonalen treffen wir die vier wichtigsten Kultur-
pflanzen: Korn, Bohne, Squash (eine Art Kürbis) und
Tabak. Auf farbigen Linien, die den Regenbogen andeuten,,
stehen in jeder Richtung vier Gottheiten, zwei männliche
und zwei weibliche. Die Götterpaare tragen keine den
Navahos bekannte Namen, im Gegensatz zu den Göttern,
die in Washington Matthews' Buch über den Mountain
Chant angegeben sind. Es handelt sich sicher um Natur-
gottheiten, vielleicht um Himmclsgötter. Die männlichen
Numina tragen eine Klapper, als Lärminslrument gedacht,
die weiblichen einen Korb, der durch ein Hakenkreuz
angedeutet ist.
Das Ganze ist von der Gottheit des Regenbogens um-
geben. Aber während sonst alle anderen Medizinmänner
sie weiblich malen, gibt ihr unser Medizinmann mäaii-
liches Geschlecht.
Nachdem das Kunstwerk geschaffen war, wurde der
Kranke in seinen Mittelpunkt gesetzt. Der Medizinmann
vollzog geheimnisvolle symbolische Bewegungen. Der
Kranke mußte auf alle Riten und gesungenen Hymnen
scharf aufpassen. ■ ' ' ' - ■
Zuletzt schüttete der verki-üppelte Zauberer allen für
die magische Darstellung verwendeten Sand über den
Kranken. Der Zauber verlöre seine Kraft, wenn die un-
tergehende Sonne das Bild erblickte.
Von den am siebenten und achten Tag gefertigten Sand-
bildern soll später die Rede sein.
In der neunten Nacht versammelten sich über zwei-
tausend Navahos, Männer, Frauen und Kinder, um den
Abschluß des Mountain Chanis zu sehen. Ein froher reli-
giöser Tanz, bei dem die trotz des Schneefalls nur mit
einem Schurz bekleideten Männer sich in raschen, kleinen
Schritten dem in der Milte befindlichen Feuer näherten
und sich wieder von ihm zurückzogen, bildete das Ende
des Rituals. Die Schwermut des Kranken war gewichen.
267
b) Das psydioanaly tische Vorgehen .;
a) Die Deutung.
Den Ausgangspunkt der Krankheit bildet im vorliegen-
Falle ein Traum. Ein Indianer fällt in Depression, weil
er seine geliebten Kinder in einer offenbar peinlichen
Schlafphantasie tot sah. Wir wundern uns nicht darüber,
daß er dem Traum eine tiefe Bedeutung beilegte und ihn
als geheimnisvolle Kundgebung einer rätselhaften, macht-
vollen geistigen Wirklichkeit ansah. Allen Primitiven ist
dieser Glauben eigen, und wir wissen, daß ihm weit mehr '^
Wahrheit zukommt als dem öden Rationalismus, der bis \
auf Freud die Träume als Schäume ansah.
Unser kranker Indianer fühlt genau, daß die tot ge-
sehenen Kinder eine zentrale Angelegenheit, und
zwar eine unheildrohende Wirklichkeit andeu-
ten, kann sich jedoch über ihr Wesen, ihren wahren Sinn
keine klare Anschauung bilden. Er verläßt sich auf den
Gefühlston, von dem sein Traum begleitet ist. Dieses
Stückchen instinktiver Traumauslegung, das zur Traum-
funktion selbst gehört, ist ein allgemeines Phänomen, das
nichts Auffallendes enthält. Es entspringt der ins Wach-
bewußtsein fortgesetzten Wirksamkeit des unterschwelli-
gen Konfhktes.
Unsere Aufmerksamkeit wird erregt durch die den
Unkundigen befremdende Auslegung, die der Sternseher
dem Traum von den toten Kindern angedeihen läßt, „D u
hast als Kind einen heiligen toten Bären
gesehen." Unsere Analysen haben uns belehrt, daß der
Bar sehr oft den Vater vertritt. Ein Beispiel dafür gab ich
in memem Buche „Der psychologische und biologische
Untergrund des Expressionismus*'.i) Es handelt sich dort
um emen Ang sttraum, der angeblich im ersten oder
xr !^ ^^l psychologische und biologische Untergrund des Expressionismua. i-
Verlag h. Bireher. Bern und Leipzig. 1920, 15 f. Englieche AusgaJje: '
Expressionism in Art. Itß Psychological and Biological Basis. Kegan Paul.
London (Dutten, N. Y, p. 13 ff.).
268
zweiten Lebensjahr auftrat und von einem Bären handelte.
Das Tier trug Kinn und Bart des Vaters. Es erinnerte an
den Bronzebären, den der Vater auf den Tisch stellte,
wenn er seinen Nachmittagsschlaf halten wollte. Der
Träumer fürchtete das Tier; sein Leben war hauptsäch-
lich vom Haß auf den Vater geleitet. Sollte der Medizin-
mann unbewußt gleichfalls die typische Auslegung meinen?
Nahm er, ohne es klar zu erkennen, an, daß sein Patient
den Vater tot träumte, d. h. tot wünschte? Daß der bloße
Anblick eines Bären an sich solche Träume und nach-
folgende Schwermut hervorbringe, kann er unmöglich
annehmen; ereignet sich doch der Anblick des erlegten
Pelzträgers im Indianerleben recht häufig. Sowohl der
für heilig erklärte Bär als auch sein Anblick muß einen
besonderen, bedeutenden Sinn haben. Das Rätsel löst sich
mit einem Schlage, wenn wir die Rede des Medizinmannes
als Symbolsprache fassen, wie sie uns aus Träumen und
Mythen wohlbekannt ist, und somit den Bären als Ver-
tretung des Vaters auffassen. Der Zauberer wollte dem-
gemäß sagen: „Du hast deinen Vater in deiner Phantasie
tot gewünscht, und darum kamen der Traum von den
toten Kindern und dein Gemütsleiden über dich!"
■ Den Navahos sind Inzeshnylhen, in denen der Vater in
Tiergeslalt auftritt, sehr wichtig. Frau Armer erfuhr,
daß nach indianischem Glauben eine Cojote mit seiner
Tochter sexuelle Beziehungen pflegte und seine Gestalt
so veränderte, daß sie in ihm den Vater nicht erkannte.
Prof. Alfred K r o e b e r in Berkeley benachrichtigt mich,
daß manche Indianer diesen Mythus besitzen. Weibliche
Personen, welche Inzest mit dem Vater treiben, heißen
Hexen. Einzelheiten konnte Frau Armer nicht er-
fahren. Besondere Zeremonien wollen die Praxis der Hexen
unschädlich machen. Es wäre interessant, sie kennen-
zulernen.
Daß das aus einem Todeswunsch gegen Verwandte sich
ergebende Schuldgefühl zur Melancholie führen kann, ist
uns durch Freuds Forschungen wohlbekannt. Wir hätten
269
• ■■
270
(
nur die Zwischenglieder zwischen dem Traum unseres
Kranken und der Deutung des Medizinmannes einzusetzen.
Der letzlere würde demnach, ohne es klar zu erfassen,
sagen: „Du wünschtest insgeheim deinen Vater tot. Diesen
Wunsch projiziertest du in deine Kinder, mit denen du
dich identifiziertest. Du sagtest dir, daß sie dich tot
wünschen, wie du es mit deinem Vater tatest. Du wünsch-
test sie tot, weil sie dich tot wünschten. Deine doppelte
Schuld besteht im Todeswunsch gegen den Vater und,
auf dem Wege der Introjektiou, auch gegen die Kinder.
Deine Schuld geht bis in deine frühe Kindheit zurück."
Daß eine derartige Ätiologie möglich ist, leugnet kein
Erfahrener. Es müssen nur noch rezente Anlässe, über die
wir in unserem Falle nicht unterrichtet sind, hinzugetreten
sein, um die Regression ins Infantile zu bewirken, be-
ziehungsweise um die alte Ödipusschuld überstark zu be-
tonen. Daß die Haßeinstellung angeboren ist und zum
Stammesgut der Menschen gehört, ist auch Freuds
Ansicht. -■'-.?'
Man hat sich, wie mir scheint, viel zu einseilig mit dem
Haß des Sohnes auf den Vater befaßt, den Haß des Vaters
auf den Sohn jedoch außer acht gelassen. Man vergesse
doch nicht, daß dem Vatermord des Ödipus die VersLoßung
des Sohnes durch den Vater vorausging! Des Vaters Haß .
und des Kindes Haß sind innerlich verknüpft, darum auch
der Haß auf den Vater und auf die Kinder.
Aber haben wir den Magier nicht zu hoch enigeschätzt,
wenn wir ihm latente Einsicht in den verdrängten Vater-
haß seines melanchoUschen Klienten zutrauten? Ist es ^
nicht überhaupt unmöglich, daß Primitive das Unbe-
wußte so geschickt in ihrem Unbewußten belauschen? Der
Fortgang der Episode gibt die Antwort.
ß) Die Behandlung.
Die Zeremonie des Mountain Chant wird dadurch ein- ■$
geleitet, daß der Kranke die intensivste Teilnahme und
Unterstützung seiner Clanbrüder erfährt. Ein symbol-
f
L
BF
geschmückter greiser „Läufer" ladet sie dazu ein. Die
Männer bauen zwei Häuser und bereiten farbigen Sand zu,
die Frauen und Mädchen backen. Damit helfen sie ge-
schickt, Übertragung herzustellen. Ihre Teilnahme besagt
ihm: „Du bist in der Sozietät freundlich aufgehoben."
Aber sie erwarten auch, daß der Kranke sich beteilige.
Bleibt die Zeremonie für ihn erfolglos, so ist er als un-
heilbar preisgegeben und der Isolierung verfallen. Die
Entscheidung muß gerade jetzt getroffen werden.
Die Trennung des Kranken von Weib und Kind stellt
jene Karenz her, die Freud für die Durchführung der
psychoanalytischen Kur empfiehlt.
Schwitzbäder zu Heilzwecken sind üblich auch in Me-
lanesien, Guinea, Polynesien.^) Indem die Freunde und
der Zauberer sich dem Bad in einer Erdhöhle unter-
ziehen, fördern sie die Übertragungstendenz im Schwer-
mütigen. Sie drücken aus: „Wir sind Sünder wie Du und
bedürfen derselben Reinigung."
Die nicht unbeträchtlichen Kosten der Bewirtung s)
bilden zwar kein eigentliches Opfer, verstärken jedoch die
Tendenz der Ablösung von der Krankheit und dem sie
hervorbringenden magischen Zwang.
Unser Interesse konzentriert sich jedoch auf die Zauber-
zeremonie selbst. Ohne Zweifel liegt ihre Absicht darin,
daß der Kranke Beruhigung über die üblen Wirkungen
seines Todeswunsches gegen den Vater erlangen soll. Nach
dem Glauben an die Allmacht der Gedanken meint der
Schwermütige vielleicht, des Vaters Tod bewirkt zu haben.
Jedenfalls befürchtet er die Rache des Toten.
Diese Vorstellungen werden rückgängig gemacht durch
die religiöse Handlung. Schon der Sterndeuter und der
verkrüppelte Chanter, alle beide ältere Leute von hohem
Ansehen und Vertreter jenes höheren, jenseitigen Reiches,
^) W. H. Rivers, Medicine, Magic and Religion. London 1924, 102.
*) Vergl. Washington Matthews, The Night Chant, a Navaho
Ceremony, (May) 1902, p. 4—5 ..-..-. „, .
271
dem auch der Vater angehört, erlangen einigermaßen die
Bedeutung eines Vaterersatzes und bilden die Brücke aus
dem Zustand der Schuld in denjenigen der Vergebung
und Freiheit. Beide Schamanen treten in die Vaterrolle ein.
Noch wichtiger sind die sechzehn Gottheiten, die das
Elternpaar achtfach vertreten. Sie setzen sich mit dem
kranken Sohn, der in ihrer Mitte weilt, in magische Ver-
bindung. Aber sie tun ihm, der sich völlig in ihre Gewalt
begab, nichts zuleide. Im Gegenteil verheißen sie ihm die
wichtigsten Nährpflanzen und Tabak. — Die weiblichen
Gottheilen vertreten die Mutter. Ihre Verehrung drückt
aus, daß keinerlei Ödipusbegehren auf sie gerichtet ist,
somit auch der Vater keinen Grund zum Groll auf den
Sohn besitzt.
Der Regenbogen symbolisiert das Band der Gemein-
schaft, das den sündigen Sohn und seine versöhnten
Eltern umschlingt, höchst anschaulich.
Daß der bunte Sand auf den Kranken geworfen wird,
hat den Sinn eines Berührungszaubers. Die in den dar-
gestellten Gottheiten und Gaben enthaltenen Kräfte sollen
auf den Mann, der den Mountain Chant ausführen läßt,
übergehen. Dann sollen die höheren Geister, die durch
des Medizinmanns Zauberwalten herbeigerufen wurden,
wieder in die gewöhnliche Verborgenheit zurücktreten.
Sie haben ja kundgetan, daß sie versöhnt sind, nachdem
andrerseits der Sohn durch den magischen Ritus aus-
drückte, daß er seinen Todeswunsch reumütig zurück-
nahm und sein möglichstes tat, ihr Wohlwollen wieder^
Zugewinnen.
Aber auch die Magier und die .sechzehn Gottheiten
genügen noch nicht völlig, um die gewonnene Einheit
darzustellen. Ein Feuertanz schildert pantomimisch die
Reinigung. Alles Unreine, das im Kranken gesteckt hattö^
soll gleichsam verbrannt werden. Dabei deuten die
Scharen der Tänzer an, daß auch sie vom selben Frevel
besudelt waren und der Reinigung bedürfen. Wieder wird
dem Kranken in ungemein wirksamer Weise vorgehallcn,
272
■3
.-3
MM
■3
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5
f
daß er in die Sozietät gehört und sich nicht abzusondern,
in die Schwermut zu verkriechen braucht, denn alle zu-
sammen sind in dieselbe Ödipusschuld verstrickt, alle zu-
sammen aber treten auch in den Zustand der Sünden-
reinigung.
Selbst damit sind die psychotherapeutischen Maßregeln
des Mountain Chant nicht erschöpft. Hinzu kommt die
fromme Rücksicht auf die Sonne. Während des Ritus muß
der Kranke in die Richtung des Sonnenunterganges blicken,
und die Sandbilder müssen zerstört werden, bevor die
Sonne untergeht. Auch die Sonne ist Vaterersatz, und zwar
Symbol des idealisierten Vaters, wie es in so
vielen Religionen, sogar in der christlichen, der Fall ist.
Dem idealisierten Vater gebührt die höchste Ver-
ehrung, und vor ihm muß die Valer-Imago, die nur dem
tatsächlichen Valerbild entspricht und es ins Trans-
zendente, ins Geisterhafte fortsetzt, verschwinden. Daß
der Regenbogen unter den vielen Matthews und Mrs.
Armer bekannten Darstellungen als einzige Ausnahme
in unserem Rüde mit männlichen Merkmalen abgebildet
wird, paßt vorzüglich zum Krankheitsfall, der das Re-
dürfnis nach Vater liebe in den Vordergrund stellt.
Das zweite Sandbild unterscheidet sich so wenig vom
ersten, daß wir es übergehen können.
Dagegen weist das dritte erhebliche Unterschiede
auf: Die Götter und Göttinnen, die aus mir unbekannten
Gründen die in den Händen getragenen symbolischen Ge-
genstände vertauschten, lassen eine lange Haarsträline her-
unterhängen. Nach dem großen Mythus, der dem Moun-
tain Chant zagrunde liegt, besuchte Dsilyi' Neyäni vier
Götter, die denselben Namen wie er selbst trugen
(W. Matthews, Mountain Chant, p. 409, § 55) und
ebenso aussahen wie er, dem das göttliche Schmelterlings-
wcib eine Haarlocke heruntergelassen hatte, bevor sie
ihm wundervolle Gestalt verlieh (406). Seine Regleiter
sagen ihm jetzt: „Dies sind die guten Götter, deren schöne
18 Almanach 1983 273
Gestalt die Schm et t erlin gsgöttin Dir verlieh." Die Haar-
tracht auf dem Sandbild erinnert somit den Kranken an
Güte und Schönheit, die der Held des Epos von den seinen
Namen tragenden Elterngottheilen empfing, Auch dies
drückt geschickt die liehevolle Beziehung zu ihnen aus.
Der andere große Unterschied^ zwischen dem dritten
und dem ersten Sandbild besteht darin, daß statt des Re-
genbogens die Fußstapfen eines fünfzehigen Tieres das Bild
einrahmen. Nach Erklärung des Medizinmannes stammen
sie von dem Stachelschwein, das vor einem weißen Kreise
steht. Das Stachelschwein wird von den Navahos „der
kleine Bruder des Bären" genannt. Der weiße Kreis be-
deutet das Gebirge des Nordens. Die Navahos lehren, das
Stachelschwein komme nur im Norden vor. Bezeichnet
der Bär den Vater unseres Patienten, so stellt dieser
seihst das Stachelschwein, den kleinen Bruder des Bären
dar. Der Sohn ist also bei seiner Heimat angelangt. Der
Bogen besagt:
„Du und Deine göttlichen Ahnen sind von einer himm-
lischen Macht umgeben. Du bist in die Gemeinschaft auf-
genommen, der Vater zürnt Dir nicht mehr." Die Fuß-
stapfen, die übrigens der kranke Navaho nach Bericht
der Frau Armer abschreiten mußte, zeigen die symbo-
lische Antwort des Sohnes: „Ich will mit meiner Liebe
Euch umfassen!" Damit ist die Versöhnung eine voll-
kommene.
Nachdem die Clangenossen weggezogen waren, ver-
richteten der Medizinmann und sein Patient in tiefem
Ernst ihr Schlußgebet.
Über die Wirkung der Zeremonie weiß Frau Armer ^
nur zu berichten, daß der Schwermütige vollkommen ge-
heilt schien.
" ■". '
274
DER SELBSTVERKAT DES MÖRDERS
Von
Theodor Reik
Das nachfolgende Kapitel ist dem Buche „Der un-
bekannte Mörder. Von der Tat zum Täter" entnommen,
das im Internationalen Psychoanalytischen Verlag Ende
1932 erschien. Rein stolflich schon bietet dieses Werk
eine in kürzeste Form gepreßte Sammlung schwieriger
Kriminalfälle, darüber hinaus aber gewährt es tiefste Ein-
blicke in das Wesen der Kriminalität überhaupt, Einblicke,
die auch für die Psychoanalyse neu sind und dem Leser
- .- alle Reize einer Bolchen Entdeckungsfahrt vermitteln. Der
Preis des Buches beträgt M. 7.— für das in Leinen
gebundene, M. 5.50 für das steif broschierte Exemplar.
Innerhalb der Indizien gibt es eine Gruppe, die auf den
Beobachter emen bestimmten Eindruck macht: es schei-
nen Unbedachtheiten oder Unvorsichtigkeiten zu sein,
die den Verbrecher verraten, während er seine Aufmerk-
samkeit darauf gerichtet hat, all seine Spuren zu ver-
■wischen. Solche Indizien, deren Existenz man mit der
Annahme von „Dummheit" des Verbrechers zu ver-
knüpfen versucht, Uefern ihn häufig der Strafe aus. Diese
selbstverratenden Indizien können in der Art des Ver-
brechens, in den Werkzeugen, in Zeit und Ort der Tat,
in allen Begleitumständen entdeckt werden. Am 4. De-
zember 1924 meldeten die Zeitungen, daß eine Räuber-
bande die Villa des Direktors einer Kalksteingrube bei
Stegen, Angerstein, überfallen habe. Sämtliche Anwesen-
den, acht Personen, wurden getötet, mit Ausnahme Anger-
stcins selbst, der schwer verletzt wurde. Man vermutete,
daß das Ziel des Überfalls ein Lohngeldraub war; die
Villa selbst war von der Bande in Brand gesteckt worden.
Dieser Bericht konnte sich vornehmlich auf die Aus-
sagen des schwerverletzten Angerstein, der im Kranken-
haus einvernommen wurde, stützen. Man konstatierte in-
dessen, daß die Tat wesentlich früher begangen sein
18*
275
mußte, als Angerstein angab; an der Leichenstarre der
acht Opfer konnte man die Todesstunde ungefähr fest- '
stellen. Diese Möglichkeit hatte Angerstein in seinem
schreckUchen Mordplane nicht berücksichtigt. Ein anderes
Beispiel: Dr. Erdöly, der Gatte der schönen Budapester
Schauspielerin Anna Forgäcs, reiste kurz nach der Hoch-
zeit mit seiner jungen Frau nach Millstatt in Kärnten.
Bald darauf erfuhr man, daß Frau Erd^ly in eine 17 Meter
tiefe Schlucht in der Nähe des Kurortes abgestürzt sei.
Ins Hotel gebracht, starb sie. Der Arzt konstatierte Herz^
lähmung und gab die Leiche zur Bestattung frei. Der
Gatte schien völlig zusammengebrochen zu sein. Immerhin
telegraphierte er an die Versicherungsgesellschaft, sie möge
ihm sofort die 20.000 Dollar, mit denen das Leben der
Frau Erdely versichert war, überweisen. Die Gesellschaft
war indessen mißtrauisch geworden und drang auf Ob-
duktion der Leiche. Dr. Erd61y hatte nicht bedacht, daß
Würgespuren bei durch Absturz Verunglückten nicht vor-
zukommen pflegen. Wenn der Verbrecher sehr vorsichtig
sem will, alle Möglichkeiten genau voraussehen und be- ^j
rücksichtigen will, so kommt es oft vor, daß er zu „vor- ^P
sichtig" wird, sich gerade durch seine Umständlichkeit
selbst verrät. Manche Kriminalisten behaupten, eine sichere
Art, ein Verbrechen zu begehen, sei die, es unter der
Herrschaft des Impulses zu tun. Wenn der Verbrecher
dann durch glückliche Umstände begünstigt wird, wird
er vielleicht niemals entdeckt. Die sorgfältig geplanten und
bis ins Detail voraus berechneten schweren Verbrechen ,. ,
werden häufig durch einen „dummen" Zufall verraten. y
Der Verbrecher sorgt z. B. für ein lückenloses Alibi, aber A
es ist zu sorgsam vorbereitet und gerade dadurch läßt 9
sich eine verborgen gehaltene Lücke erkennen. Der Artist ^
Urban, der den Direktor des Mercedes-Palastes m Neu-
kölln tötete, gab an, daß er um die Zeit der Tat ein
Telephongespräch mit seiner Braut in Leipzig geführt
hatte. Die Angabe war nahezu richtig, aber die genaue
Zeit des Gespräches konnte durch die Buchung des Fern-
276
sprechamles kontrolliert werden: Die Korrektheit und
Präzision des amilichen Apparates wurde Urban zum Ver-
hängnis. Ein drittes Beispiel: Der Tankwärter Hoba in
Wannsee bei Berlin wurde in einer Septembernacht be-
sinnungslos in seiner Tankstelle aufgefunden. Der Mann
röchelte schwer; die Schubladen waren durchwühlt das
Geld geraubt worden; alles deutete auf einen Überfall
hin. Der Verletzte konnte am nächsten Tag schildern, wie
zwei Männer auf einem Motorrad vorgefahren wären', die
ihn niederschlugen und die Kasse raubten. Hoba hatte
einen Umstand nicht genügend berücksichügt : im Tank
fehlten 165 Liter Benzin und 165 Liter Benzin konnten
die Verbrecher nicht auf ihrem Motorrad mitgenommen
haben. Hoba hatte der Zapfstelle Benzin entnommen und
die Kassengelder unterschlagen. Der Überfall war fm-
giert worden.
Die KriminaUslen beweisen uns, daß solche Indizien,
die sie als „Sicherung des Beweises durch den Rechts-
brecher selbst" bezeichnen, gerade bei den schwersten
Verbrechen nicht selten vorkommen. Man denke nur an
die Aufzeichnungen der Massenmörder Haarmann und
Denke. Der Leichtsinn, dem solche verräterische Indizien
zuzuschreiben sind, kontrastiert seltsam mit der großen
Vorsicht bei Ausführung der Tat. In einem von Wulff en
berichteten Falle i) benutzte ein Lackierer, der einen
Knaben ermordet hatte, eine Scherbe des Emailkruges,
den das Kmd vor der Tat in der Hand getragen hatte, als
Farbentopf in der Werkstatt. Er hatte diese Scherbe so
achtlos auf dem Fensterbrette stehen, daß sie von einem
vorübergehenden Polizeibeamten dort gesehen wurde. Nie-
mand findet etwas Sonderbares darin, daß Verbrecher
nicht ihre Visitenkarte am Tatorte zurücklassen. Es ist
viel sonderbarer, daß sie es manchmal doch tun. Das
„Berliner Tageblatt" berichtet z. B. unter der Überschrift
„Das durfte nicht kommen" (30. Juli 1931), daß der
^} Kriminalpsychologie, S. 228.
277
Schneider Paul Kneisel der Kriminalpolizei nicht viel
Probleme stellte. Dieser Mann hatte mit zwei Freunden
in der Nacht zum 7. Juli 1931 einen Einbruch in ein
Herrenkonfektionsgeschäft in der Berliner Krummen Straße
verübt. Die drei Freunde hatten den Wunsch, sich neu zu
bekleiden. Beim Weggehen hatten sie weitere drei neue
Anzüge mitgenommen, die sie dann verkauften. Kneisel
allein hatte, als er seine alte Jacke am Tatort zurück-
ließ, vergessen, seinen polizeilichen Anmeldeschein her-
auszunehmen. . i.f j-
Das Material ist hier so überreich, daß man nicht die
kriminahslische Literatur bemühen muß. Was der Tag
uns zuträgt, genügt für unsere Zwecke. Besonders auf-
fällig und aufschlußreich sind Fälle, in denen sich die
Züge, die man gemeinhin als Nachlässigkeit, Unachtsam-
keit, Verbrecherdummheit bezeichnet, häufen und dies
gerade bei Verbrechen, vor deren Ausführung jede Ein-
zelheit sorgsam bedacht und geprüft wurde. Nehmen wir
den Fall des Generalkonsuls von Barckhausen, dessen
rätselhaiter Tod (Juli 1931) viel erörtert wurde. Dr. Barck-
hausen, der eine glänzende Laufbahn rasch durchmessen
hatte, führte ein glückliches Familienleben und war in
weiten Kreisen besonders beliebt und geachtet. Niemand
ahnte, daß der lebenslustige Mama, der jugoslawischer
Generalkonsul in Berlin war, mit schweren materiellen
Sorgen zu kämpfen hatte und sein zur Schau getragener
Reichtum seinen Ruin auf die Dauer nicht verdecken
konnte. Barckhausen beschloß in seiner verzweifelten Lage,
wenigstens die Zukunft seiner Familie sicherzustellen,
' Der Vertrag seiner Lebensversicherung lautete ^ auf
200.000 Mark, welche seinen Angehörigen bei seinem Tode
(außer im Falle des Selbstmordes) ausbezahlt werden
sollten. Barckhausen arbeitete nun sehr sorglaltig einen
. Plan aus, der die Untersuchungskommission zu der An-
nahme führen mußte, daß der Konsul von Einbrechern
in seiner Villa überfallen und ermordet woi-den war. Als
man Barckhausen in seinem Arbeitszimmer erschossen
278
auffand, sprachen alle Zeichen für emen solchen Überfall.
Es war alles so inszeniert, daß man eine Ermordung durch
unbekannte Täter, die durch das Fenster eingedrungen
waren, glauben mußte. Erst spät entdeckte die krimina-
listische Untersuchung einige Einzelheiten, welche diesen
Tatbestand ausschlössen und endlich nur jenen anderen,
den verschleierten Selbstmord, zuließen. Es waren ein
paar Kleinigkeiten, winzige Fehler in dem Meisterwerk
an Berechnung und Überlegung, das der Plan des Ver-
sicherungsbetruges darstellte. Gerade an diesen kleinen
Fehlern aber scheiterte der Plan. Es sollte der Eindruck
erweckt werden, daß Barckhausen Sonntag nachts während
des Schreibens ein Geräusch von Einbrechern vernommen
habe, ihnen entgegengeeilt und von ihnen im Kampfe er-
schossen worden sei. Das war gut berechnet und alle
Einzelheiten im Zimmer deuteten darauf hin, aber der
Füllfederhalter, mit dem jener so jäh unterbrochene Brief
geschrieben war, war geschlossen. Als man die Leiche
Barckhausens fand, hielt der Tote in der rechten Hand
krampfhaft einen Totschläger und eine zerrissene Krawatte.
Der zu rekonstruierende Tatbestand mußte sich dem kri-
minalistischen Beobachter aufdrängen: Barckhausen war
offenbar mit den Eindringlingen in ein Handgemenge ge-
raten und hatte einem im Kampf den Schlips herunter-
gerissen. Allein auch in dieser Rechnung gab es einen
kleinen, unauffälUgen Fehler: der Tote hielt die Krawatte
so, daß ihr Inneres nach außen lag. Hätte er seinen Mörder
an der Krawatte gepackt, und sie zerrissen, so hätte er
mit dem Handteller unter die Krawatte greifen müssen und
der Totschläger wäre ihm entglitten. Wiesen schon diese
zwei Züge daraufhin, daß ein Überfall der angenommenem
Art höchst unwahrscheinlich war, so brachte das Ver-
schwinden und das Auffinden der Brieftasche des Toten
Klarheit über den Tatbestand. Als die Leiche Barck-
hausens entdeckt wurde, suchte man vergebens nach
seinem Portefeuille. Am nächsten Tag meldete sich ein
Briefträger, der beim Leeren des Briefkastens am Nach-
279
... ■-T.^fT?..^^.^^:
barhause die Tasche gefunden und auf seinem Postamte
abgegeben hatte. Zur Zeit aber, als der Briefträger Sonn-
tag nachts den Briefkasten leerte, lebte Barckhausen noch.
Zu eben dieser Zeit hatte er sich zum letztenmal mit
seiner Hausangestellten unterhallen. Das Fehlen der Brief-
tasche sollte auf den Einbrecher hinweisen; der Fund
am nächsten Tag sollte die Annahme des Einbruches noch
bestätigen; Der Verbrecher hatte anscheinend das ge-
leerte Portefeuille in den nächsten Briefkasten geworfen,
um sich seiner zu entledigen. Barckhausen hatte aber
vergessen, sich zu vergewissern, wann der Briefkasten zum
letztenmal entleert werden würde. Er nahm wohl an, daß
am Sonntag keine Leerung mehr erfolgen würde. Die Zeit
des Einwurfes erbrachte den Beweis, daß Barckhausen
selbst die angeblich geraubte Tasche in den Postkasten r-
geworfen hatte. Hier sowie in einer großen Anzahl von ^
Fällen, welche die Kriminalgescliichte berichtet, findet ^J
sich eine Reihe verräterischer kleiner Fehlgriffe gerade
in einer Aktion, die bis ins kleinste vorausgedacht undi
berechnet wurde. Oft ist es nur ein wmziger Lapsus, der
einen ausgezeichneten Plan, ein mit vollendeter Logik
aufgebautes, verbrecherisches Schema zum Scheitern
bringt. Es ist immerhin auffällig, daß sich solche kleme
selbstverräterische Züge, insbesondere bei schweren Ver^
brechen einstellen; wir werden uns zu fragen haben, oh
dafür besondere Gründe erkennbar sind.
Der Verbrecher scheint den Neid der Götter zu fürchten
wie die Werkmeister des Tempels von Nihko. Das Tor
dieses nordjapanischen Heiligtums war von so vollen^
deter Schönheit, seine überreichen, erhabenen Schnitze»-
reien so vollkommen gearbeitet, daß die Baumeister nach
seiner Fertigstellung annahmen, es habe den Neid der
höheren Mächte erweckt. Die Folgen eines solchen Ge-
fühles wären schreckliche gewesen, wenn die Werkmeister
nicht absichtlich an einer der Säulen emen ungeschickten
Fehler angebracht hätten, um die erzürnten Gölter zu
versöhnen.
280
.1
tem
Oft begnügt sich ein Verbrecher damit, einen Teil der
zu erwartenden Spuren künsthch zu erzeugen, aber er
unterläßt es, sie weiterzuführen. In einer von einem Teich
umschlossenen Villa war ein Diebstahl verübt worden.
An der Parkmauer fanden sich Spuren davon, daß man
dort überklettert war; ebenso waren auf dem sandbe-
streuten Wege bis zur Villa Fußspuren zu sehen. Eine
genauere Besichtigung ergab, daß an der Parkmauer
zwar Spuren vom Herunterrutschen einer Person zu sehen
waren, daß aber an ihrer Außenseite Spuren vom Ober^
klettern fehlten. Der Dieb war sonach unter den Insassen
des Grundstücks zu suchen 2). Verstand und scharfe
Überlegung bieten keinen Schutz gegen diese „avenging
diance", die der krimmaüslischen Untersuchung manchmal
zu Hilfe kam: Ein mit allem Raffüiement gefälschtes
Testament datierte vom Jahre 1868. Allein das Wasser-
zeichen des Papiers, auf dem es fixiert war, wies das
Wappen des Deutschen Reiches auf; ein großer Aufwand
von Scharfsinn war vertan. Auch nachträgliche Versuche
der Spurenverwischung sind oft solchen Tücken des Ob-
jekts, die vom Subjekt nicht unabhängig sind, ausgesetzt.
Die Maieria peccans revoltiert hier gegen den Menschenv
Ein Mann saß wegen Meineides in Untersuchungshaft.
Er wurde auch einer Reihe von Diebstählen, die weit
zurücklagen, verdächtigt. Es drohte seine Überführung,
da man an den Tatorten Fingerabdrücke gefunden und
festgehalten hatte. Der Verbrecher wollte nun die Be-
weiskraft der Fingerabdrücke radikal widerlegen. Er pro-
duzierte im Gefängnis seine Fingerabdrücke auf Glas-
scheiben; eben zur Entlassung kommende Sträflmge nah-
men diese Glasscheiben mit Bei einem neuen Einbruch
deponierten die hilfreichen Kameraden diese Fingerab-
drücke unauffällig, mdem sie die betreffende Glasscheibe
unter die zerbrochenen Scheiben eines von ihnen einge-
schlagenen Fensters mischten. Der Verbrecher, dessen
Fmgerabdrücke hier erschienen, konn te unmögüch an der
*) Weingart, Kriminalistik, Leipzig 1904, S. 123.
281
Tat beteiligt gewesen sein, da er zur selben Zeit im Ge-
fängnis saß. Mit der gelungenen List wäre auch das ganze
System der Daktyloskopie, eines der wichtigsten Hilfs-
mittel der kriminalistischen Untersuchung, in seiner Un-
zuverlässigkeil und Unzulänglichkeit erwiesen worden.
Allein die List des Gefangenen mißlang; die Götter wollten
sein Verderben. Das Glas mit den Fingerabdrücken war
unglückseligerweise dünner als die Scheibe, die bei den
Einbruch eingeschlagen worden war. Es gibt Beispiele
genug, die zeigen, daß derselbe Mensch, der mit dem
eindringlichsten Scharfsinn und dem größten Raffinement
aUe Künste und Arrangements gewiegter Verbrecher durch-
kreuzte, selbst zum Verbrecher geworden, demselben
dunklen Verhängnis unterliegt, dieselben Fehler und
„Dummheiten" begeht, die er bei anderen erkannt hatte.
Der Generalstabsoberst Redl, der die österreichische Kund-
schafterstelle leitete, hatte viele Spione mit besonderem
kriminalistischem Geschick entlarvt 3). Viele Jahre war
die Aufdeckung der gegen Österreich arbeitenden Spionage
sein Fachgebiet gewesen. In seinem Bureau gab es prä- .|H|
parierte Zigarettenschachleln und Bonbonnieren, die dem
Besucher gereicht wurden, um so auf unverdächtige Art
Fingerspuren zu erhalten; Besucher wurden ohne ihr
Wissen p holographiert, ihre Worte insgeheim festgehalten.
Vielen Spionen wurde auf die raffinierteste Art eine Falle
gelegt. So wurde der Major Ritter von Wienckovsky in
Stanislau von Redl der Spionage überluhrt. Eine Offiziers-
kommission nahm in der Wohnung des Verdächtigten
eine Hausdurchsuchung vor. Im Kinderzimmer spielte
das sechsjährige Töchterchen des Majors mit der deut-
schen Gouvernannte. Das hübsche Kind, das anfangs sehr
befangen war, starrte die fremden Offiziere an. Redl wußte
die Kleine zutraulich zu machen, nahm ihr Händchen
und plauderte polnisch mit ihr. Er fragte sie, wieviel
zweimal vier sind, stellte sich überrascht über ihre rich-
3) Der folgende Bericht nach Egon Erwin Kißch, Der Fall des
General Stabschefs KedL Berlin 1924.
282
tige Antwort und lobte sie sehr. „Bist du auch so ge^
scheit, daß du weißt, wo Papa seine Briefe versteckt?" —
„NatürUch", antwortete die Kleine rasch, läuft in das
Arbeitszimmer des Vaters, kriecht unter den Schreib-
tisch und deutet unter dessen linke Ecke. Das schwere
Möbelstück wird umgelegt; ein verborgener Knopf wird
gefunden und ein Fach mit belastenden Dokumenten
geöffnet. Derselbe Mann, der so das Vertrauen eines
Kindes zu erwerben und zu mißbrauchen gewußt hatte,
benahm sich, als sein Geheimnis in Frage kam, kindisch
genug. Niemand ahnte, daß der Leiter des Kundschafts-
bureaus selbst in den Diensten der russischen Spionage
stand. Angesichts der Kriegsgefahr wurde damals die
Privatpost überwacht. Im März 1913 kamen zwei Briefe
mit der Chiffre „Opernball B" aus Eydtkuhnen beim
Hauptpostamt Wien an. Die Briefadresse war mit Schreib-
maschine geschrieben, der Inhalt hohe Geldbeträge. Redl
behob den Brief erst am 24. Mai 1913 und entwischte den
im Poslamte wachenden Detektiven in einem Auto, das
er vor dem Amte angekurbelt warten ließ. Der Wagen
wurde später festgestellt, der Weg, den er genommen hatte,
konstatiert. Er führte zum Hotel Klomser. Im Fond des
Taxis fanden die zwei Detektivs das Futteral eines Ta-
schenmessers, eine Hülle aus hellgrauem Tuch. Ver-
mutlich hatte der Unbekannte, der die Briefe behoben
halte, das Taschenmesser zum Aufschneiden benützt. Das
Futteral wurde dem Portier des Hotels übergeben; er
sollte die Gäste befragen, wem es gehöre. Eben kommt
Oberst Redl die Treppe herab, legt den Schlüssel seines
Zimmers auf den Tisch. Der Portier fragt: „Haben Herr
Oberst das Futteral Ihres Taschenmessers verloren?" —
Ja" antwortet der Oberst und steckt das ihm ge-
reichte hellgraue Tuchsäckchen gedankenlos ein, „wo
habe ich es denn...?" Er bricht den Satz ab, da er sich
erinnert; sein Blick fällt auf einen fremden Herrn, der
am selben Tisch mteressiert Briefe durchsieht. Der Oberst
ahnt, daß er verloren ist. . .-,
283
Wir haben nun genug Beispiele angeführt. Was sind
das nur für dunkle Kräfte, welche die Absichten so vieler
Verbrecher durchkreuzen? Es muß doch eine psycholo-
gische Erklärung für das Zustandekommen solcher typi-
scher Übersehen und Unvollkomraenheiten, die zu wich-
tigsten Indizien werden, geben. Die Kriminalpsychologie
hat dieses Moment als die Lehre „von der einen Dumm-
heit" zusammengefaßt, die fast bei jedem sehr schweren
Verbrechen gemacht zu werden pflegt*). Trotz dem Über-
einstimmen zahlreicher Kriminalisten wollen wir es nicht
glauben, daß diese typische Dummheit bei fast allen
großen Verbrechen vorkommt. Die Kriminalgeschichte lie-
fert uns eine Unzahl schwerer Verbrechen, die ladellos
ausgeführt wurden und deren Täter die irdische Gerech-
tigkeit schweren Herzens der himmUschcn überließ.
•)J-.
*) Hans Gross, Handbuch für Untersuchung egefangene, I. Teil, S. 21.
284
DIE DICHTER HAT SIE FÜR SICH
Von
Alfred Freih. o. Berg er
Als Beitrag zur Geschichte der psychoanalytischen Be-
wegung reproduzieren wir hier eine frühe Stimme zur
Freudschen Lehre, sicher die früheste ihrer Art und
iedenfalls die erste ausführliche Stellungnahme zu
Freuds Entdeckungen. Bezeichnenderweise ist es nicht die
Stimme eines Gelehrten, sondern die eines Dichters.
Der (1912 als Burgtheaterdirektor verstorbene) fein-
sinnige Wiener Dichter und Kritiker Freiherr von Berg er
veröffentlichte am 2. Februar 1896 in der Wiener „Morgen-
presse" ein Feuilleton „Chirurgie der Seele", das
^'- <^iö Besprechung der Breuer-Freudschen „Studien über
Hysterie" darstellt. Wir lassen hier den Mittelteil des
Feuilletons aus. das den Inhalt des Buches referiert, und
gehen die Einleitung und die abschHeßenden Ausführungen
wieder.
Wenn ich mir eine rechte Freude vergönnen will, so
lese ich Bücher, die mich eigentlich gar nichts angehen,
deren Gegenstand und Inhalt weit abliegt von meinem'
eigenen geistigen Arbeitsfeld. Merkwürdigerweise erntet
man aus solchen Büchern oft die besten und frucht-
barsten Anregungen gerade für das eigene Fach. So hat
mir ein freundlicher Zufall vergangenen Sommer ein neu
erschienenes nervenpathologisches Buch in die Hände
gespielt, und seither ist selten ein Tag vergangen, an
welchem ich nicht einen Abschnitt oder wenigstens einige
Seiten desselben gelesen und wiedergelesen hätte. „Studien
über Hysterie" ist der Titel des Buches; zwei bekannte,
allverehrte Wiener Ärzte, Josef Breuer und Sigmund Freud,
haben es geschrieben. Die Anziehungskraft, die es an-
dauernd auf mich ausübt, entspringt nicht dem krank-
haften Anteil, welchen Laien häufig medizinischen Studien
entgegenbringen, noch einem besonderen Interesse für
den Gegenstand, sondern meiner künstlerischen Empfäng-
285
r i
»»
lichkeit, welche sich durch Inhalt und Form dieses
Buches in mannigfaltiger Weise angeregt und befriedigt
fühlt. Die gelehrten, streng wissenschaftlich gesinnten
Verfasser mögen diese Weise, sich ihr Werk anzueignen,
einen wunderlichen Mißbrauch desselben schelten. Ihnen
war es augenscheinlich nur darum zu tun, einen ver-
wickelten, dem kranken Nervenleben angehörigen Sach-
verhalt und ursächlichen Zusammenhang auf das gründ-
lichste zu ermitteln und den ärtzlichen Fachgenossen mög-
lichst deutlich und vollständig mitzuteilen, um diesen ein
Heilverfahren an die Hand zu geben, durch welches
gewisse hysterische Krankheitserscheinungen zum Ver-
schwinden gezwungen werden können. Ein Stück Wahr-
heit wollten sie geben und Nutzen schaffen, nicht ein
schönes Buch schreiben. Wenn trotzdem in ihr Buch viel
unbewußte und ungewollte Schönheit hineingeriet, so ist
diese gewissermaßen nur ein zufälliges Nebenprodukt,
dessen rühmende Betonung sie vielleicht mehr verlegen
macht als erfreut. Sagt doch gelegentlich der eine der
beiden Forscher : „Es berührt mich selbst nach eigen-
tümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe,
wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des
ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich
muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die
Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu
machen ist, als meine Vorliebe."
Seltsames Zeichen der Zeit! Während unsere Poesie
sich geflissentlich mit dem Anschein der wissenschaft-
lichen Strenge umgibt und sich mit Jodoform parfümiert,
errötet die Wissenschaft, wenn sie sich darüber ertappt,
daß sie unwillkürlich der Poesie nahegekommen ist. In
der Sache trifft jene Entschuldigung das Richtige. Daß
sich die Krankengeschichten beinahe wie Novellen lesen,
bewirkt der Gegenstand. Wer Seelisches erforschen und
beschreiben will, kann den dichterischen Methoden der
Auffassung und Darstellung auch bei strengstem Willen
zu kühler, nüchterner Sachlichkeit nicht ganz ausweichen.
286
Doch ist es nicht der Gegenstand allein; noch etwas an-
deres spielt mit. Viel Weisheit, viel Güte und Gemütstiefe
ist in dem Buche, viel psychologischer Scharfsinn, der in
der Feinfühligkeit eines allwissenden Herzens wurzelt. Die
beiden Forscher haben nur den Gegenstand, den sie er-
gründen wollen, im Sinne, sie denken nicht daran, wie
es selbst der „objektivste" Dichter tut, auch ihre eigene
menschliche Persönlichkeit mit hineinzumischen. Doch
seelische Vorgänge, in welchen der innerste Nerv einer
fremden Persönlichkeit bloß liegt, locken aus jedem, der
sich mit ihnen einläßt, er mag es wissen und wollen
oder nicht, die eigene Persönlichkeit hervor. Sie verrät
sich darin, wie er jene bemerkt, mitempfindet, versteht
und auslegt. Darin liegt vielleicht der feinste Reiz des
Buches. Man kann sich schwer von ihm trennen, so traurig
und häßlich die Gegenstände bisweilen sind, von denen
es handelt, weil man beim Lesen immer das Gefühl hat,
in allerbester Gesellschaft zu sein, und das Wohlsein atmet,
das ein ganz edler und gebildeter Menschengeist um sich
her verbreitet. Eine seltene Freude in unseren Tagen, im
Leben und in der Literatur ...
* - ... Es grenzt ans Wunderbare, den beiden Ärzten zuzu-
, sehen, wie sie . . . eine fremde Seele durchsuchen, um
endlich in ihr die bedeutsamen Affektanlässe zu entdecken,
deren diese Seele sich selbst aus eigener Kraft nicht zu
entsinnen vermag. Treffend vergleichen sie Ihr Verfah-
ren, wie sie eine Erinuerungsgeschichte nach der andern
bloßlegen, dem systematischen Ausgraben einer verschüt-
teten Stadt. „Der Mensch ist dem Menschen eine Fin-
sternis", hat Turgenjew gesagt. Diese Finsternis wird in
unserem Buch einigermaßen erhellt und durchsichtig ge-
macht. In den Krankengeschichten sehen wir, wie die
Lebenseindrücke und Erinnerungen in der Seele eines
Menschen individuell gelagert sind, und die Ahnung er-
faßt uns, daß es eines Tages denkbar werden könnte^
287
den Finger in das innerste Geheimnis der individuellen
Persönlichkeit zu legen. Das Leben eines Menschen drückt
sich in seiner Seele ab und gibt dieser jenen Inhalt^ den
wir ihren Charakter nennen. Von dieser Biographie, von
welcher derjenige, der sie durchlebt hat, so wenig weiß,
obwohl er sie im Haupte mit sich trägt, und an ihren,
Nachwirkungen leidet, wickeln die beiden Ärzte wenigstens
ein Stückchen heraus, wie ein Band, um den Inhalt des-
selben in umgekehrter Ordnung, als in welcher er er-
lebt und gebucht wurde, zu entziffern.
Die ganze Theorie ist eigentlich ein Stück uralter
Dichterpsychologie. Bei jeder ersten Entdeckung, welche
die Wissenschaft auf dem Gebiet der Seele macht, wird
sich zeigen, daß die großen Dichter die Wikinger sind,
die lange vor Kolumbus in Amerika waren. Don Grund-
gedanken unseres Buches hat Shakespeare nicht nur in
mannigfaltigen Wendungen ausgesprochen, er hat sogar
die seelische Entwicklung und Katastrophe seiner Lady
Macbeth auf eine ähnliche Auffassung gegründet. Sie
leidet an einer regelrechten Abwehrneurose, dadurch ent-
standen, daß sie die Affekte des Grauens und der Angst
bei Dunans Ermordung und Ranquos Erscheinung ge-
waltsam aus ihrem wachen Bewußtsein verdrängt hat.
Darum brechen sie in der anomalen Form des SchlaP-
wandelns aus. Jedenfalls würde ein moderner Arzt die
hohnvolle Frage Macbeths, ob er die heftigen Phanta-
sien, die seiner Frau die Ruhe rauben, nicht forttreiben
könne, anders beantworten, als der Arzt, den Shakespeare
die Lady beobachten läßt. Die Heilung des Orestes, wie
Goethe sie darstellt, ist ein Fall einer gelungenen „Kathar-'
siskur", und Ferdmand Kümberger hat eine Novelle: „Die
Last des Schweigens", geschrieben, in welcher ein Mord
dadurch entdeckt wird, daß der Täter, ohne Reue zu
fühlen, dem inneren Zwange erliegt, sagen zu müssen,
was er getan hat.
Das urwüchsigste und schönste Beispiel, wie sehr Volk
und volkstümhche Poesie zu allen Zeiten das Ausweinen
288
als eine natürliche Notdurft verstanden, deren die schmerz-
erschütterte Seele bedarf, um gesund zu bleiben, enthält
vielleicht die Edda im ersten Gudrunenlied. Tränenlos
saß Gudrun bei der verhüllten Leiche des ermordeten
Sigurd, „schier zersprimgen war' sie vor Schmerz". Ver-
gebens bemühten sich die Frauen des Hofes, ihre Tränen
zu entbinden durch Erzählimg der schmerzlichen Schick-
sale, die sie selbst schon erduldet hatten. Endlich kam
auch ihre Schwester. „Wenig wißt ihr, ob weise sonst,
das Herz einer jungen Frau zu erheitern", sagte sie zu
den Frauen, hob den Schleier von dem Toten und legte
sein blutiges Haupt in Gudruns Schoß mit der Auf-
forderung, ihn zu küssen, wie einst den Lebenden. „Da
sank aufs Kissen zurück die Königin, ihr Stirnband riß,
rot war die Wange, ein Regenschauer rann in den
Schoß . . . und hell aufschrien im Hof die Gänse.*' Wir
wissen nicht, wie die Wissenschaft die Theorien Breuers
und Freuds beurteilt. Die Dichter hat sie für sich, und
das will nicht wenig sagen. Denn bis jetzt waren Dichter
diejenigen, die von den Geheimnissen der Menschenseele
das Meiste und Beste gewußt imd ausgesagt haben.
iji' ■--' -' »; ' .
rit;^
J- .' ■;^:■•■:■.o:l .■
19 Almanach 1933 ' ' ' " 289
DER SOHN ALEXANDERS DES
REICHEN
Von - V
Dr. G. Baissette
Aus dem im Hippokrates- Verlag in Stuttgart 1932 er-
schienenen Buche „Leben und Lehre des Hippükratee .
einer in Sprache und sachlicher Darstellung gleich aus-
gezeichneten Biographie des großen Hippokrates. in welchem
die wichtigsten Lehren der hippok ratischen Schule, teils
•wörtlich wiedergegeben, teils geistig verarbeitet, einge-
flochtea sind. Preis für das Exemplar in Leinen Mark 5.25,
für das steif kartonierte Exemplar Mark 4,25.
•>j> i 1 /- -. . ■
Dana kam der Tod des Anaxagoras. Mit ihm halte sich
zum erstenmal der Menschengeist über die Naturphilo-
sophie erhoben. Er hatte als erster das Prinzip einer
ordnenden Gewalt verkündet, deren Einfluß auch die
geringste Erscheinung sowohl in der Physik wie in der
Physiologie und in der Astronomie untersteht. Dank ihm
hatte die Welt aufgehört, ein bloßer Ablauf zu sein., und
hatte eine Intelligenz erworben. Und ihn hatte man, trotz
Perikles' Einspruch, wegen Ungehorsams gegen die Gölter
gefangen gesetzt. Im Jahre 428 starb er in Lampsakus im
Exil. Hippokrates, der gerade die jonischen Inseln be-
suchte, begab sich dorthin. Er begegnete all den Schülern
des verschiedenen Meisters, einigen Schriftstellern und
Philosophen, unter anderem dem Euripides, der nach
Mazedonien reiste, und dem alten Hermoünes, dem klaso-
menischen Gefährten des Anaxagoras. Diese Trauerfeier
in der Einfachheit des Exils nahm eine symboüsche Grol5e
an; all die jonischen, abderitischen, sizilischen und elea-
Üschen Richtungen verbanden sich in der Verehrung dieses
Geistes, der der Welt eine Intelligenz gegeben hatte. Hier
erfuhr vielleicht durch die Vermittlung des Eunpidea,
Hippokrates zuerst die Neuigkeit, daß der Mazedomer-
290
könig Perdikkas 11. an einer quälenden Krankheit litt und
ihn in Kos und in Athen hatte suchen lassen. Hippo-
krates brannte darauf, Mazedonien kennen zu lernen. „Uns
verbindet", sagte er, „mit den heraklidischen Königen
dieses Landes von den Ahnen her eine alte Freundschaft".
Er zweifelte nicht daran, daß dies unwirtliche Land einer
überraschenden Zukunft entgegensah. Und in der Tat
führte sein König eine kühne Politik, hatte die unzugäng-
lichen Täler des Berglandes in seiner Hand vereinigt, hatte
der fruchtbaren Ebene einen Weg zum Meer gebahnt und
schickte sich an, die Wissenschaft und die Künste zu
schirmen, zur gleichen Zeit, da das ruhmreiche und ge-
bildete Athen die Philosophen verfolgte und seine Genies
entmutig^te. '
Hippokrates überschritt also den Hellespont und kam
längs den thrakischen Küsten nach Mazedonien. 40 Sta-
dien vor Ägä erwartete ihn eine Hoplitentruppe, deren
Offiziere ihn an den Hof des Königs geleiteten. Er erfuhr,
daß soeben ein großer Arzt angekommen sei, der ihm um
wenige Stunden zuvorgekommen war: es war Euriphon
von Knidos. Der König Perdikkas empfing Hippokrates
mit aufrichtiger Freude und ließ ihn prächtig unter-
bringen. Er hatte das Recht, nach Belieben im Palast um-
herzuschweifen, und ein jeder mußte ihm die größte Ehr-
erbietung zollen. Seit der ersten Begegnung sah er seinen
Vetter Euriphon um sich, der ihn sehr höflich anging, und
ein wenig scherzhaft über die jungen Leute sprach, die
danach trachteten, die alte ehrwürdige Medizin auf Grund
vorgeblicher Neuentdeckungen umzustürzen. Hippokrates
■' verneigte sich mit der achtungsvollen Elirerbietung, die
seinem geringeren Alter zukam, und entgegnete, daß er
nichts entdeckt habe, vielmehr bemüht sei, sich auf
sichere Merkmale zu stützen, um den Ablauf der Krank-
heiten kennen zu lernen. Er stellte eine baldige Veröffent-
lichung seiner koischen Vorlesungen und semer Kritik
der knidischen Schule in Aussicht und sagte, daß er sich
einer wohlbegründeten Widerlegung von Seiten Euriphons
19* ' * ' . 291
versähe. Dann trank man rosigen Wein aus Bechern, saing
einen Päan und opferte den Göttern.
Übrigens war inzwischen eine gänzlich umgestaltete
Neuauflage der „Knidischen Sentenzen" erschienen, denen
Hippokrales einen etwas höhei'en medizinischen Wert zu-
gestand. *)
Euriphon sollte zuerst die Behandlung des Königs über-
nehmen. Nach ihm sollte, wenn dies noch vorteilhaft er-
schien, Hippokrates seine Kunst versuchen. So hatte Hippo-
krates Muße genug, das Wesen des Kranken zu beobachten
und darüber nachzudenken.
Gewiß ein sonderbares Leiden. Perdikkas irrte unstet in
seinem Palaste umher; alle Energie war aus diesem Wil-
lensstärken Mann gewichen. Ein schleichendes Fieber hatte
ihn befallen, dessen Ursache völlig unklar war. Er vergaß
die Entscheidungen, die er eine Stunde zuvor getroffen
hatte, und hielt oft unvermittelt in seinem Gang inne.
Zuletzt wurde er sehr schwach und lächelte viel, obwohl
er traurig war. Was ihn besonders beunruhigte, war der
Verlust allen Interesses an der äußeren Politik seines Lan-
des, die er so lebhaft geführt hatte. Er flehte seine Freunde
und alle die Gelehrten, die er hatte kommen lassen, um
Rettung an. In der Nacht erwachte er plötzlich mit lauten
Schreien, und fand nicht anders Ruhe als dui'ch einsames
Umherwandern. Er versicherte, daß sein Wille zu allen
diesen Anzeichen nichts beitrage. Er verlor an Kräften,
und die natürlichen Funktionen schienen ihn zu verlassen,
ohne daß er die geringsten Schmerzen spürte. Euriphon
befragte, befühlte, untersuchte ihn und fand nicht die ge-
ringste organische Veränderung. Er rief sich alle Krank-
heiten vor Äugen, von denen der menschliche Körper
heimgesucht werden kann. Alle Harnleiden, Bräunen, Lun-
genentzündungen, Ruhrerkrankungen und Fieber wurden
zum Vergleich herangezogen. Jeder neuen Hypothese folgten
neue Medikamente: Zuckerstoffe, Sauerhonig, Milch und
n
^) Hipp., Die Diät bei akuten Krankheiten.
292
Buttermilch folgten in täglichem Wechsel, und in diesem
Meer von Heilflüssigkeiten drehte sich Euriphon wie eine
Triere, die ihre Ruder verloren hat und den Wogen preis-
gegeben ist.
Er selbst verlor seine Zuversicht und seine vornehme
Haltung; Perdikkas hingegen verlor an Gewicht, während
sich sein Körper mit den Spuren der knidischen Wirk-
samkeit bedeckte. Hippokrates' Anteilnahme wuchs, und er
ließ spöttischerweise an der Tafel ein Exemplar Piatos des
Komikers herumreichen, in dem die Rede von einem Kran-
ken war, dessen Körper Euriphon im Laufe einer Behand-
lung mit Brandwunden übersät hatte. Indessen waren diese
Stellen nicht ehrenrührig gemeint, und Euriphon war mit
einer solchen kleinen Bosheit nicht anders geschehen als
Euripides oder Hippokrates, die beide der spitzen Feder
des Arislophanes nicht entgingen.
Nach zweimonatlichen vergeblichen Anstrengungen gab
Euriphon die Partie auf und murmelte in seinen Bart, daß
es nicht sein Fehler wäre, wenn die für die Griechen heil-
samen Mittel einem barbarischen Volke nicht bekämen,
heiße es doch im atlienischen Sprichwort, daß die Maze-
donier nicht einmal gute Sklaven abgäben. Dies entsprach
ganz und gar nicht der Meinung des Hippokrates, der in
den Anlagen, die von Raum und Zeit bedingt sind, ein
allgemeines Prinzip suchte.
Hippokrates bat nun den Perdikkas, seine Behandlung
anzimehmen und ihm in allem zu vertrauen. Wie bei jeder
verborgenen Erscheinung müsse man den natürlichen An-
zeichen nachgehen, wenn man sie aufdecken wolle. Deshalb
wäre es jetzt angebracht, Salben und Drogen einmal bei-
seite zu lassen. Hippokrates verweilte laage bei seinem
Patienten, plauderte mit ihm in zutraulichem Tone, unter-
nahm mit ihm morgendliclie Spaziergänge und strebte auf
einen Gemütszustand hin, der es ihm möglich machte,
seine geheimsten Gedanken ohne Argwohn auszusprechen.
Im Einklang mit seiner allgemeinen Methode befragte er
ihn aufs genaueste über die leisesten Anwandlungen, die
293
\
der König verspürte; er verzeichnete die Fehlleistungen des
Gedächtnisses, die Veränderungen des Willens und der
Sinnesrealctionen seit dem Beginn der Krankheit. Er be-
fragte ihn auch über seine Träume. Schweifende Gestirne
herrschten darin vor. Sie strichen von Osten nach Westen
über das Firmament und verschwanden mit großer Flam-
mengarbc am Horizont. Sie erschienen ihm finster, von
dichter Masse, deren Schwere gleichsam empfunden wurde;
in ihrem blendenden Scheine hoben sie sich als unheil-
verkündende Spuren von den anderen Gestirnen ab. Hip-
pokrates ordnete diese Erscheinungen seiner Traumsym-
bolik ein und ersah, daß Perdikkas von einem Üefen
Seelenschmerz befallen war, den er so beschrieb:
„Ist das himmlische Firmament finster, und nicht klar
und durchscheinend, so deutet das auf eine Krankheit, die
weder vom Überschuß noch vom Verfall rührt, sondern
durch etwas von außen Hereinbrechendes verursacht wird.
Den Sternen ist der äußere Kreislauf zuzuschreiben, dem
Monde der der hohlen Teile, während die Sonne in Zu-
sammenhang mit den mittleren Teilen steht. Wenn die
Sterne ziellos und ohne sichtbaren Antrieb umherschwir-
ren, so bedeutet dies eine Verwirrung der Seele durch
Sorgen."
Von Sorgen wußte Perdikkas nichts. Dennoch trug er
einen innerlichen Kummer mit sich herum, dessen tiefere
Veranlassung es aufzudecken galt. In diese Scelengründe
folgte Hippokrates einem Führer, der Erregung. Mit allen
Mitteln suchte er sie hervorzurufen. Er veranlaßte den
Leidenden, seine Kindheit oder seine früheren Traum-
gescMchten zu überdenken und drang mehr und mehr m
die Tiefenbezirke seines insünküven Lebens. Was konnte
eine so tief verborgene Störung verursacht haben? Er
suchte unter den Menschen seiner Umgebung. Welcher
Art waren die Gefühle des Königs gegenüber seinem Vater
Alexander gewesen? Er hatte für ihn immer eine sehr
große Zuneigung gehegt und konnte sich diese Traume
nicht erklären, in denen er ihn zuweilen sah, umgeben von
294
märchenhaftem Gepräge; Tausend Sklaven verneigten sich
auf den Wink Alexanders des Philhellenen. Und wenn sein
Sohn ihm nahte, hub eine in der Erde steckende Lanze
an zu schwingen und trennte ihn so von seinem Vater.
Es war unmöglich, diese Lanze herauszureißen, und ver-
gebens streckte sein Vater die Arme aus. Zuweilen war
dieser allein, zuweilen war seine Konkubine Phila bei ihm.
Und Phila? Perdikkas brachte ihr die Empfindungen ent-
gegen, die der Umgang eingibt. Sie war im Palast zur
Welt gekommen als Tochter einer Mazedonierin aus den
Bergen und eines Freigelassenen asiatischer Abstammung,
war in der Umgebung des Königs herangewachsen, frei
und gerne gesehen von allen wegen ihrer Sijttsamkeit,
ihrer Zurückhaltung, ihrer großen Anmut und Schönheit.
Von ihrem vierzehnten Jahre ab war sie Alexanders
Favoritin geworden. Sie war neunzehn Jahre, als er starb.
Ein wenig älter als Perdikkas, war sie die Gespielin seiner
Kindheit gewesen. Jetzt nahm sie eine besondere Stellung
im Hofstaat ein und leitete mit geschickter Hand die
Palastangelegenheilen. Seit einigen Jahren war ihr präch-
tiger Körper gereift und umgab Phila mit einem Strahlenr
kränz von Sinneslust und heißer Schwermut. Perdikkas
sprach davon mit ernster Bewegung. Seit wann hatte er
diese Veränderungen bemerkt? Deutlich seit etwa drei
Jahren. Drei Jahre 1 Zu gleicher Zeit war sein unerklär-
Uches Fieber aufgetreten. Hippokrates fragte Perdikkas
noch, ob er dem geschlechtUchen Verlangen häufig nach-
gehe. Nein, er lebte enthaltsam und verschmähte Sklavin-
nen und Hoffrauen.
Für Hippokrates, der die Geschlechts fragen mit größter
Natürlichkeit betrachtete und sie in Diät und Therapie
hereinzog, mußte diese Zurückhaltung schon als patho-
logisch erscheinen. Er konzentrierte seine Nachforschungen
auf diesen Punkt. Mehrere Tage überwachte er das Ganze.
Endlich erklärte er, das Leiden aufgedeckt zu haben: Per-
dikkas war krank vor Liebe zu Phila, der Konkubine seines
Vaters. Perdikkas Zorn bei diesen Worten nahm ihm jeden
•295
Zweifel an der Wahrheit. Der König zerschmetterte die
Lanze, die er in der Rechten lüelt, am Felsen, schwor mit
der Linken, nie solche Empfindung-en verspürt zu haben
und eilte davon, um sich in seinen Gemächern zu verschlie-
ßen, wo ihm bis zum Morgen niemand nahen durfte. Hip-
pokrates ließ sich zur Stunde des gewohnten Spazier-
ganges bei ihm melden. Er zeigte sich durchaus gnädig.
In der Nacht war er in sich gegangen und hatte erkannt,
daß Hippokrates Meinung nicht unmöglich sei. Phila spielte
mit ihm, als er ein Knabe war. Sobald sie vierzehn ge-
worden war, hatte sie sich unvermittelt von ihm getrennt
und sprach seitdem kaum mit ihm. Wenn er sich Phüas
Schönheit vor Augen rief, erinnerte er sich der quälenden
Ängste, die er auszustehen hatte. Er berichtete dem Hip-
pokrates nun den Traum, der ihm diese Nacht gekommen
war. Die Sterne glänzten darin hell. Sirius und einige
andere Gestirne traten aus dem Hundsstern deutlich her-
vor. Sie bewegten sich über den Himmel, aber in ent-
gegengesetztem Sinne als in den früheren Träumen. Sie
waren strahlend und durchscheinend wie Kristall. Hip-
pokrates bemerkte bei diesen Worten, daß er darin die
Zeichen naher Gesundung erblickte: „Wenn einer der
Sterne die vor gezeichnete Bahn zu verlassen scheint, wenn
er zudem hell und glänzend ist und sein Weg nach Osten
strebt, so verkündet er Gesundheit, denn das Reine im
Körper entrinnt seiner geschlossenen Bahn in einer natür-
lichen Bewegung, die von Westen nach Oslen gerichtet
ist, das, sage ich, ist die Regel."
In der Tat schien Perdikkas von diesem Augenblick
an befreit von seinen inneren Konflikten. Er folgte Hippo-
krates, der ihm aufgab, im Interesse seiner Gesundung
den Regungen des Instinkts nachzugeben uind nicht die
Natiu* zu bekämpfen, wie er immer vorschrieb, wenn die
Umstände es irgend erlaubten. Perdikkas eilte zu Phila
und begriff bei ihrem Anblick, daß er in heftiger Liebe
zu ihr erglühte. Er gestand es ihr, Phila vergoß Tränen.
Und sie ließ ihn nicht lange bitten, da sie gewalir wurdet
296
daß Perdikkas' Leben davon abzuhängen drohte; so gaib
sie zu, daß auch sie ihn hebe. Sie fühlte ihre Jugend zur
Neige gehen. Bald würde ihre ZärtUchkeit vergebens sein.
Das stimmte sie schweigsam und traurig. Aber noch
blühten ihr einige glückliche Jahre. Das Fieber, das Per-
dikkas zermürbte, wich. Er überhäufte Hippokrates mit
Ehren und lud ihn ein, an seinem Hofe zu leben, solange
er daran Gefallen fand. Hippokrates indessen ging nach
vollendeter Heilung im Herbst 427 wieder nach Athen, wo
er sich lange aufhalten sollte.
« - *•
>
S/GM. FREUD
GESAMMEILTE SCHKIETEN
11 Bände in Lexikonformat
ÜDler Mitwirkung des Verfassers, berausgegeben
von Anna Freud und A. ]. S t o r f e r
In Ganzleinen M220,—, Halbleder M 280.—
Hermann Hesse in der „Neuen Rundsdiau":
Eine groBe, sAöne Gesamtausgabe, ein würdiges und verdienstvolles Werk wird
da unter Dadi gebradit. Es sei diese Ausgabe des Gesamtwerkes herzlidi begrüßt.
i.
Prof. Raymund Sdimidt in den „Annalen der Philosophie":
DruA und Ausstattung sind geradezu aufregend sAÖn.
Dr. Max Marcuse in der „Zeitschrift für Sexualwissensdiaft" :
V Nur mit tiefer Bewegung wird man sidi klar, dafl es hier galt das Lebenswerk,
Freucia, das fortan nidit nur der Gesdiidite der Medizin, sondern sdiledithin der
Wissenscbaftsgesdiidite angebört. abzusdiüeßen und in der endgülügen Fassung
der Nadiwelt zu vermacben. ^ _ ^^^
Prof. Isserlin im „Zentralblatt für die gesamte Neurologie und
Psydiiatrie** :
■ Es ist ein ungewöbulidier und auBerordentUdier Eindruck, den man erhält . . .
Die Aus!>tattung der Bände ist vorzügUch. ^
Verlangen Sie ausführliche Prospekte von:
/nfernaiiona/er PsychoanalytischeT Verlag
Wien, L, Börsegasse 11
SIGM. FKEUD
EUE FOLGE DER
V O R IL IE S ü hl G IE hl
zm EiNFümvNG m die
PS YC H OANAILYS E
In Leinen gebunden ca. M 7. —
erschein/ Ende Nooember t932
Ein neues Werk Sigm. Freuds, das
seine grundlegende Arbeit, die in
den Jahren 1916 und 1917 zuerst
ersdiieneneu „ Vorlesungen" fort-
setzt und ausbaut. '^ *■'■'-
INHALT
Vorwort.
XXIX. Revision der Traamlehro.
XXX. Traam and OkkuUismas.
XXXI. Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit.
XXXII. Angst und Triehleben.
XXXIII. Die Weiblichkeit.
XXXIV. Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen.
XXXV. Über eine Weltanschauung.
\
"Tl
SIGM. FREVD
VOKLESÜMGEN
EMFÜHRUNG BN DHE PSYCHOANALYSE
Ausgabe in Klein-Oktav
In Ganzleinen M 9. —
Diese 28 Vorlesungen, die Freud an der Universität
Wien vor einer aus Ärzten und Laien und aus bei-
den Gesdileditern gemisditen Zuhörerschaft gehalten
hatte, sind die klassische Gesamtdarstellung der
psydioanalytischen Theorie imd Praxis.
Der I. Teil behandelt die Fehlleistungen,
der n. den Traum, der 111. die Allgemeine
Neurosenlehre.
Auf der Dresdner Papier-Ausstellung veranstaltete
die Sächsische Landesbibliothek unter dem Titel
„Berühmte Bücher" eine Sonderschau der in den letz-
ten 5 Jahren am meisten verlangten 19 Bücher. An
2. Stelle werden Freuds „Vorlesungen" genannt.
*
Freud hat in diesem BuA eine Lehre, eine klassische Formulierung gegeben, die
zudem aUe. auA später ersi stärker herirorgetrelenen Gedankengänge enthalt ■ • • ^^
den Anfänger völlig unenlbehrlidi. ist es audi für den Fortgesdirirtenen immer noA
der systeraalisdie Grundriß, aus dem heraus die zahllosen Einzelarbeiten zu verstehen
gj^j « (Lit Jakresberidä des Dürerbundes)
Ein klassisdies Werk moderner deutscher Prosa, eine kÖstlidie Frudit der
MpUtersdiaft Er läßt kein Register seiner Darstcllungsgabe unbenutzt, er geudet mit
toem Glanz.* . . . Sein Vortrag ist gesättigt und dod. voll Ämnut. ernst und doA froh.
SSerladeD mit Stoff und d.-nnodi fedcrleictt. Er ist ganz und gar sadliA gebunden
und zugleidi überwältigend persönüch. er kommt mit dem Daumen m der Westen-
tasche daher und ist ganz Autorität. : - . . , -^ ,.
Es cibt da Parüen. wo dieser Stil, ohne seine sparsame SchliAtheit zu yerheren.
leise Von seinem Melos tranken weiterfliefit. wie aus Glück darüber, daß er das ^ J^^rs ^
in vollendeter Klarheit zu sagen weiß. ... Ein großer Diditer konn.e dies ge^dineben
haben. Aber es stammt von einem Verfechter der reinen Vernunft, dem im Adel dieser
Sprache, im Kontur dieser rein gestalteten Materie der endgültige Ausdruck semer Ver-
bundenheit mit der Mitwelt zugefallen ist." (Walter Musdig)
*-■-
S // G ML F RE V D
SCPffilFTEN ZUR
NEÜROSENLEHRE
UND ZUR PSYCHOANA-
LYTISCHEN TECHNIK
Ausgabe in Kiein-Oktav
In Ganzleinen Mark 9.~-
INHALT:
Die Disposition zur Zwangsnenrose
Zwei Kinderlügea
Eine Beziehime zwischen einem Symbol
and einem Symptom
Mitteilung eines der psydioanaly tischen
Theorie widersprechenden Falles von
Paranoia
Aus der Gesdiichle einer infaQtilen Neurose
Gedankenassoziation eines vjerjähriffen
Kindes
Über einige neurotische Methanismen bei
tifersudif, Paranoia und Homosexualität
Neurose und Psychose
Der Untergang des Ödipuskomplexes
Der Realitäfsverlusl bei Neurose und
rsydiose
Hemmung, Sympton und Angsi
Der Familienroman des Neurotikera
Kurze Mitteilungen - Zur Selbstmorddis-
kussion - Einleitungen und Geleitworte
Die Handhabung der Traumdeutung in
der Psychoanalyse
Zur Dynamik der Übertragung
Ratschläge für den Arzt bei der psy<io-
analytischen Behandlung >"J"^"
tlber fausse recoonaissance („d^ja raconl6"l
wahrend der paychoanalytiscfaen Arbeit
Zur Einleitung der Behandlang
Erinnern, Wiederholen und Durdiarbeiten
Bemerkungen über die Übertragungsliebe
Wege der psychoanalytischen Therapie
Zur Vorgesdiichte der analytischen Technik
KLEINE SCHRIFTEN ZUR
SEXUALTHEORIE
UND ZUR
TRAUMLEHkE
In Ganzleinen Mark 9. —
INHALT:
Zur sexuellen Aufklärung der Kinder
Die „kulturelle" Scxualmoral und die
moderne Nervosität
Über infantile Sexualtheorien
Charakter und Analerotik
ßeiträee zur Psychologie des Liebesleben» :
1) über einen besondfren Typus der
Objektwahi beim Manne - II) über die
allgemeiusie hrnicürigunp des Liebes-
lebens ~ 111) Das Tabu der Virf;initat
tlberTriebumseizungen, insbesondere der
Analerotik
„Ein Kind wird geschlagen"
über die Psydiogenese eines Falles von
weiblicher Homosexualität -^^
Die infantile Genila lorganisation
Das ökonomische Problem des Mitsodiismus
Einige psychi^the Folgen des anatomischen
Gesell lethtsunterschiedes
Fetisdiismus
Zur Onanie-Diskussion
Geleitworte zu Bllchem von M. Steiner,
F. S. Krauss und J. G. ßourke
über den Traum
Märthenstoffe in Träumen
Ein Traum als Beweismittel
Traum und Telepathie
Bemerkungen zur Theorie und Praxis der
Traumdeutung
Die silrliche Verantwortung für den Inhalt
der Träume
Die Grenzen der Deutbarkeit
■ t
. •-
SIGMUND FREUD
VIER
PSYCHOANALYTISCHE
KRAMKENGESCHICHTEN
Mit der Abbildung der Freud-Büsie
Don O. Nemon auf dem Sdiuizumsdüag
In Ganzleinen Mark 9.—
Inhalt: Bnidisfüdt einer Hysierie- Analyse
(„Dora") — Analyse der Phobie fines fünf-
jährigen Knaben („Der kleine Hans") — Be-
merkungen Über einen Fall von Zwangsneurose
( Rattenmann-) - Psych oaoalylisdie Bemer-
kungen über einen autobiographisch be-
sdiriebentn Fall von Paranoia („Schreber")
* Es berührt midi selbst eigentümlidi, daß die Kranken-
lesdiiditen, die idi sdireibe. wie Novellen ^u lesen sind
und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissen-
sdiaftUMeH entbehren. Idi muß aber midi damit trösten,
daß ßr dies Ergebnis die Natur des Gegenstandes offen-
bar eher verantmortlidi zu madien ist als meine Vor-
liebe . . . Eine eingehende Darstdlung der seehsdien
Vorgänge, wie man sie vom Didiier zu erhalten gewohnt
ist, gestattet mir, dodi eine Art von Einsidit in den
Hergang des Leidens zu gewinnen. Soldie Kranken-
gesdiiditen haben vor psydiiatnsdien eines voraus, näm-
lidi die innige Beziehung zwisdien Leidensgesdiidite und
Krankheifssymptom ..."
1
S // G M. FREU D
ÜR PSYCHO^
PATHOLOGIE
DES ALLTAGS^
LEBENS
Ausgabe in Klein-Oktav
In Ganzleinen M 9. —
Sie ist diejenige Arbeit Freuds, die am
besten in die Grundprinzipien der Psydio-
aoalyse einfülirt, und die einzige, die von
jedem der ein wenig auf das VertiaKen
seiner Mitmenschen und sein eigenes aiif-
merJcsam ist. ohne weiteres nadiKeprUfl
werden Itann.
(Prof. Bleuler In der
nodtenschrifi"}
,Münc/mer Med.
V '■ 'i , "i^isdiliche Seele war srfion vor
Jahrhunderlen, da sie von den Psycholoeen
und den Ärzten verstoßen war. auf eine
groKe Wandersdiafl gegangen. Sie war zu
den Didiieru geüohen und audi zu den
narrern. Die waren retht lieblidi mit ihr
rnnsegangon. D«r Pfarrer hal sie an das
Oebi'tbudi gefuhrt. Der Diditcr reidile ihr
den Arm und ging mit ihr im Grünen
spazieren. Freud ließ sie in sein Snreti-
zimmer eintreten, madife die Tür hinter
Ihr zu und sagte: Legen Sie ab, gnädigste
iTau; ja, bitte: ziehen die sidi aus.
(Alfred Dublin)
In anmutender Sprache erfährt der Leser
weldi w.nderUAe Idecnverbindungeu und
&Men r^° im Denken und Vorstellen
des Mensdien wirksam sind.
(„Frankfurier Zeitung")
Wahre Blitze in der Erhellung der Keheim-
msvollen Motive, die im Dunkel Sr^s
Seelenlebens so überaus wirksam sind.
(„Tägliche Rundschau")
Alle unsere Ansdiauungen werden durdi
die Eutdedcung der Psydioanalyse von
Grund aus geändert.
(B. G. iVelh) ,
JHEOIRETIISCHE
SCH R S FT E M
Ausgabe in Klein-Okiao ♦(
In Ganzleinen M 9,— !
IN HA LT:
Formulierungen über die zwei Prinzipieo
des paydiisrfien Gesdiehens
Einige Bemerkungen über den Begriff des
Unbewuflten in der Psydioanalyse
Zur Einfühnmg des NarziUmus
Triebe und Triebsdiidtsale
Die Verdrängung
Das UnbewuÜte
Mefapsydiologisdie Ergänzung zur Traum-
Ichre
Trauer und Metandiolte
Jenseits des Lustprinzips
Massenpsydiologie und Idi- Analyse
Le Bons Sdiilderung der Massenaeele —
Andere Würdigungen des kollektiven
Seelenlebens — Suggestion und Libido
— Zwei künstlidie Massen: Kirdie und
Heer — Weitere Aufgaben und Arbeits-
ridilungen — Die Identifizierung —
Verliebtheit und Hypnose — Der Her^
deotrieb — Die Masse und die Urhorde
~ Eine Stufe im Idi
Das Idi und das Es
Notiz über den „ Wundeiblodt"
Die Verneinung
■ ^
S // G M. F K E V B
DIE ZUKUNFT DAS UNBEHAGEN
EINER KLUSHON
In Ganzleinen M 3.60
. Bpaonend und zu tiefer Selbstbesin-
nung anregend.
{Naiionalzeitung Basel)
Es wird nidit leidit sein, audi nidit für
den religiösen Menschen, an diesem letzten
Willen eines groBen Mannes aditungslos
vorüberzugehen.
(Der Tag, Wien]
. interessant gleidierweise für Gegner
und Zustimmende.
(Münchner Medizimsdie Wodiensdtriß)
. . . hat, wie fast alles, was Freud sdiricfa,
eine lebhafte, gewiß nidit unergiebige
DiskusBiou gezeitigt.
(Berliner Tageblatt}
Es wäre allzu bequem und verhängnis-
voll, wenn die christliche Apologetik
glaubte, solche scharis ionigen Darlegungen
als .Teufelswerk' abtun zu können xind
zu dürfen,
(aLUeraT, Jahresber. d. Dürerbundes")
20 Almanach 1933
IN DER KULTUR
In Ganzleinen M 5. —
Stefan Zweig
im Berliner Tageblatt:
„. . . überreich an Anregimgen, gedrängt
voll mit Deukstoff, merkwürdig in vielen
Einzelheiten, erweist abermals dieses
Werk, einen wie ernsten und weiträumi-
gen Denker wir gleichzeitig mit dem
genialen Forscher in Sigmund Freud zu
bewundern haben, und wie sehr diejeni-
gen ihrer selber spotten, die seine Leistung
als Psychologe noch immer auf das eiu-
spm-ige Sexualgeleise abschieben wollen,
indes seine Wirkung ständig ihre Grenzen
erweitert und auf allen Gebieten geistiger
Produktivität schöpferisch anregend zutage
tritt"
„Ein begnadeter Schriftsteller, mit allen
Gaben sprachlidier Meisterschaft und einer
übet zeugenden Logik. Immer folgt man
seinen Gedankengiäiigen mit größter An-
spannung und ist bis zur letzten Seite ge-
padct von der Souveränität dieses Denkens
dieser Persönlidikeit."
{Rudolf Kayser in der Neuen Rundschau)
„Sigmund Freud, der zu Österreichs Ruhm
im Ausland mehr beigetragen hat, als alle
unsere Schlachten und Heldentaten, hat uns
im achten Jahrzehnt seines Leben sein Buch
der Altersweislieif gcsdienkt, dns keiner,
der seiner ganz inne wird, ohne Sciiwermut
und Dankbarkeit lesen wird."
(Max Ermers im Wiener Tag)
DIE ZEIITSCHRIIFTEN
^jiiimuiimuiiimiimiiiiiiiiimimiiiminiimiiiiiiimiiiuiiiuiiiiiiiiiiimiiimiiiiiiiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiMim
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FÜR PSYCHOANALYSE ' |
Offizielles Organ der ■ g
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung |
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Sigm. Freud j
Redigiert von Paul Federn und Heinz Hartmaun =
Jährlich 4 Hefte Lexikonoklav im Gesamtumfang | )
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I Im Januar 19:^3 beginnt der XIX. Jahrgang |
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I August Aidihorn, Paul Federn, |
I Anna Freud, Heinrich Meng, EinstSdineider, |
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DER PSVCHOANAILYSE
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I Zeitsdirift für psychoanalytisdie Psydiologie, ihre |
I Grenzgebiete und Anwendungen |
S Herausgegeben von S
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Redigiert von Robert Wälder und Ernst Kris i
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§ etwa 560 Seiten. Abonnement jährlidi M 22.— j
j Im Januar 1933 beginnt der XIX. Jahrgang |
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Im Januar 1933 beginnt der V. Jahrgang |
wiiiMiiiiiiiiiimiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiuiHuiiiiiMiiMtimiiiiiiiiimiiiiiimiiiiinimiiniimim^
20*
NeuersdieinuDg
THEODOR REIK
DER — '
ÜMBEKANNTIE MÖRDER
. VON DER TAT ZVM TÄTER
Geheftet M 5.50
In Leinen M 7. —
Lifolge seiner Problemstellung, seiner
„spannend" zu nennenden Darstellung
und, nidit zuletzt, infolge der sdiwer-
wiegenden Ergehnisse, zu denen die
Untersudmnggelang-t, darf dieses psyc^o-
analytisdie Werk eines der interessan-
testen Büdier genannt werden, die je
über Dinge der Kriminalität gesdirieben
wurden. Rein stofflidi sdioii bietet es
eme in kürzeste Form gepreßte Samm-
linig sdiwieriger Kriminalfälle, darüber
hinaus aber gewäkrt es tiefste Einblidte
iji das Wesen der Kriminalität über-
haupt. Es zeigt die Ps-ydioanalyse im
Vordringen auf unentdedites Neuland
und birgt alle Reize einer soldien Ent-
dedcungsfahrt in sidi.
i<
Neuers ch einung
MELANIE KLEIN
DIE PSVCHOANALVSE
DES KINDES
Geheftet M 10.
In Leinen M 12.
An einer Fülle eindringlidier Beispiele
legt Frau Klein hier die von ihr aus-
gearbeitete Technik der Kinderanalyse
dar und füg;t daran in einem zweiten
Teil die neuen Einblicke, die sie in
die Psydiologie der frühen Kindheit
gewonnen hat.
INHALT
I. Teil. Die Technik der Kinderanalyse:
Die psychologischen Grundlagen der Kinderaua-
lyse. — Die Technik der Frühanalyse. — Die
Zwangsneurose eines sechsjährigen Mädchens.
— Die Technik der Analyse im Latenzalter. —
Die Technik der Analyse im Pubertätsaltor. —
Die Neurose des Kindes. — Die Sexualbetätignng
des Kindes.
n. Teil. Frühe Angstsituationen und
ihre Auswirkung auf die_ Gesamtent-
wicklunif: Frühstadien des Ödipuskonfliktes
und der Uber-Ich-Bildnng. — Die Beziehung
zwischen der Zwangsneurose und den Frühstadien
der Über-Ich-Bildung. — Die Bedeutung früher
Angst« ituationen für die Ichentwicklung. — Die
Auswirkungen früher Angstsitnationen auf die
weibliche Sexualentwicklung. — Die Auswirkungen
früher Angstsituationen auf die männliche Sexual-
entwicklung.
Anhang: Grenzen und Möglichkeiten der Kinder-
analyse. — Literaturverzeichnis. — Autoren-
register. — Sachregister.
VERHANGMIIS ÜBER
BAUDELAIRE
In Leinen etwa M 6. —
. „Ein Budi, das bisherige Meinungen von
Grund aus umstößt und sich Zug um Zug
an die erste Stelle vorarbeitet. Idi kami
die Lektüre den Verehrern Baudelaires,
die nachgerade unzälilbar geworden gind,
nicht warm genug empfehlen." (Leon
Daudet im „Caudide",)
Erscheint Ende November 1932
LIBIDO,
ANGST UND ZIVILISATION
GeheftetM L80
Dasselbe Gesetz beherrscht das Ich und
die Zivilisation, das ist der Leitgedanke
dieser Broschüre, die sidi um den Nach-
weis bemüht, dai3 innere Gesetze, die aus
mehr oder minder unbewußten Trieben
der Angst, der Libido, abzuleiten sind,
den einzelnen wie die soziale Organisation
aufbauen und zerstören.
IE D G AR P O IE
Eme psydio<aniaByfisdie Studie
von
MARIE BON APARTE
4 Teile in drei Bänden ca. M 25.—
Der erste Band, der die Biographie des Diditers enthält und vollständig in sich abge-
sdilossen ist, wird audi gesondert für ca. M 8.~, in Leinen gebunden, abgegeben.
Der zweite und der dritte Teil behaadela vom Standpankt der Analyse aus die
Werke, der vierte uutorsucht das Wesen der literarischen Schöpfung und die soziale
Bedeutung dieser Leistung (Poes Botschaft an die Menschen).
INHALTSVERZEICHNIS
I. TEIL: Leben und Dichtung
Edgars Eltern / Dar Tod der Mutter / Die Adoptiveltern / Die erste
„Erziehung" Edgars / Edgar in Großbritannien / Die erste Helen /
Der Besuch Lafayettes und die Erbschaft William Galta / Elmira /
Auf der Universität von Virginicn / Brach mit John Allan / Bei der
Armee / Nach dam Tode der Frances Allan / In West Point. Die
Morgenröte der großen Dichtungen / In Baltimore bei Frau Clomm.
Die ersten Erzählungen / In Richmond. Der Kritiker des ^Southern
Literary Messenger". Die Heirat mit Virginia / In New York und
Philadelphia. Der Redakteur von Burton's Gentleman'a Magazine.
Grotesken und Arabesken / In Philadelphia. Der Redakteur von
Graham's Magazine. Virginiens geängstigter Gatte / In New York.
„Der Rabe" und der Ruhm / In Fordham vor dem Tod der Virginia.
„Annahel Lee". In Fordham nach dem Tode der Virginia. „Ulalume"
und „Heureka** / Providence und Lowell. Helen und Annie / Phila-
delphia. Richmond und Baltimore. Die letzten Fluchtversuche.
II. TEIL: Die Gesdiiditen Illustration seines Lebens. Der
Zyklus Mutter
1. Der Zyklus der tot-lebenden Mutter
3. Der Zyklus der Mutter-Landschaft
3. Eine Impotenzgeschichte: Der verlorene Atem
4. Der Zyklus der ermordeten Mutter
III. TEIL: Die Gesdiiditen Illustration seines Lebens. Der
Zyklus Vater . -
1. Auflehnung gegen den Vater
2. Eine Geschichte vom Gewissen: William Wilson
3. Der Zyklus der Passivität gegenüber dem Vater
,IV. TEIL: Poe und die mensdilidie Seele
Über die Arbeit am literarischen Kunstwerk und; über die Funktioa
der Dichtung / Foea Botschaft an die Menschea
SONDERHEFTE DER ZEITSCHRIFT
Onanie (II. Jg., Heft 2—3) M 2.50
Aus dem Inhalt: Meng; Das Problem dsr Onanie von Kant
bis Freud — Chadwick: Die allgemeine Verschwörung: zur
Verleugnung — Landauer: Die Formen der Selbstbefriedigung
— Zulliger; Schule und Onanie — Sc h n e id er: Die Ab-
wehr der Selbslbefriedigung.
Strafen (V. Jg.. Heft 8—9) M 2.—
Aus dem Inhalt: Aichhorn: Lohn oder Strafe als Erziehungs-
mittel — Bernfeld: Über die allgemeinHte Wirkung der
Strafe — Böhm: Strafeais Triebbefriediguiig — Yat es: Lehrer,
Schaldisziplin, Strafen, usw.
Stottern (ü., Jg., Heft 11—12) M 2.—
Aus dem Inhalt: Schneider: Über den Sinn des Stottern —
Grab er: Redehemniung und Analerotik — Goriat: Die Ver-
hütung des Stütterns — usw.
Nadctheit (IJL, Jg., Heft 2— 3) M 2.—
Aas dem Inhalt: Reich: Wohin führt dio Nackterziehung? —
Sie r ba: Nacktheit und Scliam — Pi p al: Schaulust —
Zulliger: „Nackte" Tatsächlichkeiten — usw.
Selbstmord (III. Jg., Heft 11—13) M 3.-
Adb dem Inhalt: Meng: Gespräch mit einer Mutter— Kali-
scher: Seibstmoid eines Zwangsdiebes — Federn: Selbst-
mordpropiiylaxe in der Analyse — Lorand: Der Selbstmord
der Miß X — Leuthold; Eine Schülerin denkt an Selbst-
mord — usw.
Menstruation (V. Jg., Heft 5—6) M 2.—
Aus dem Inhalt: Horney: Die prämenstruellen Verstimmun-
gen — Meng: Paberlät und Puhertätsaufkiärung — Landauer:
Menstruationscrlebnis der Knaben — Schmideberg: Psycho-
analvtisches zur Menstruation — Chadwick: Menstruations-
angst — usw.
Sexuelle Aufklärung (I. Jg., Heft 7—9) ; M 2.50
Aus dem Inhalt: Bernfeld: Über sexuelle Aufklärung —
Schneider: Sexualforschung des Kindes — M eng: Sexuelles
Wissen und sexuelle Aufklärung — Wolffheim; Vom Gesetz
der Generationen — usw.
FÜR PSYCHOANALYTISCHE PÄDAGOGIK
Aas dem Inhalt: Wälder: Die psychoanalytische Theorie des
Spielos — S e a r 1 : Spiel. Realität und Aggression — B n r 1 1 n g-
h am; Ein Kind beim Spiel — Roubiczek; Die wichtigsten
Theorien des Spieles.
EinführunK in die psvchoanalytisdieLibidolehre. Von R.Sterba
(V. Jg.. Heft 2-3) M 2.-
Inhalt: I. Triebiehre — H. Sexnaltheorie, A) Entwicklungs-
geschichte der kindlichen Sexualität, B) Der Narzißmus —
Ili. Triebschicksale — IV. Wiederholungszwang und Todestneb.
Die Sexualität des Kindes. Von Marie Bonaparte
(V. Jg., Heft 10) M 1.—
Inhalt: Die Verbreitung der Neurosen — Die infantile Sexualität
und ihre Verdrängung ~ Die Sexualität der Erwachsenen und
ihre Schädigungen — Einijje Vorschläge zu einer Reform der
Erziehung.
nie Psvchoanalyse des Kinderzimmers. Von Alice Balint
(IV. Jg.. Heft 2-5) M 2.—
Inhalt: Das Kinderzimmer und die Erwachsenen — Die Erziehung
der Triebe — Der Ödipuskomplex — Der Kastrationskomplex —
Die Identifizierung -— Die Eroberung der Außenwelt — Das
Kind und seine Erzieher — Die Befreiung des Kindes.
Aus der Kindheit eines Proletarieniiäddiens
(TU. Jg., Heft 5—6) M 2.—
Aufzeichnungen einer neunzehnjährigen Selbstmörderin über ihre
ersten zehn Lebensjahre.
li Intel lektuelle Hemmungen (IV Jg., Heft 11—12) M 2.—
Aus dem Inhalt: Federn: Psychoanalytische Auffassung der
intellektuell cn Hemmung — Hermann: Begabtheit und Un-
begabtheit— Zulliger: Versager in der Schule — Bornstein:
Sexual- uid IntcUekthemmung — Schmideberg: Hemmung *
und Aggression — Stern: Episodische Dnmmheiten einer
Sechzehnjährigen usw.
Psydioanalytisdie Heüpädagogik im Kindergarten. Von Herta
Fuchs (VI. Jg., Heft 9) ^ ^-^
Inhalt: Organisation der Sondergruppe - Kiudertypen -Schlimm-
heit und ihre Deutung - Tnebemehung - ^^J'^'i^t^^^^t'^^^'d
garten - Drei neurotische Kleinkinder - Angst, Wut und
Schlimmheit.
ANMA FREUD
EIINFÜHRVNG
IM DIE TECHMIK DER
KINDERANALVSE
2. vermehrte Auflage. Geh. M 2.70, in Leinen M 4.—
Aufsdilußreidi, besonders audi durch die ungesdimmkte
Darstellung der ungelösten Sdiwierigkeiten . . . Undogmaüsdie
Haltung. .. _ (Die Neue Erziehung)
Der besondere Wert der Überlegungen Anna Freuds dürfte
audi darin gesehen werden, daß Bresdie geschlagen ist in die
Starrheit des Systems aus Gründen, die. riditig gewürdigt, von
Analytikern wie von Niditanalytikern nidit melir übergangen
werden können. (Zmtralblait f. d. gas. Neur. u. Psychiatrie)
Das kleine Budi stützt sidi auf zehn offenbar redit sorgsam
durdigearbeitete Fälle und illustriert die Hauptf^e danken durdi
zahlreidie Beispiele. ^ (Zeitsdirift für Kinderforsdiung)
Nidit nur in jener vorsiditigen, der Wirklichkeit Rechnung
tragenden Formulierung verrät uns Anna Freud, wes Geistes
Kind sie ist. ^yVeue Freie Presse)
•f
Die Ausführungen sind sehr klar und instruktiv; sie erinnern
in ihrer Art an die Schriften Sigmund Freuds, des Vaters der
Verfasserin. (Frankfurter Zeitung)
LOÜ ANDREAS SAlOAM/£
f MEIN DANK AN IFREVD
Offener Brief an Prof. Sigmund Freud
Kartoniert M 5.20 in Ganzleinen M 5.-
Große Worte, romantisdie Gefühle sind nie
Sadie der Psychoanalyse gewesen — gilt
dodi Freuds Werk der rationalen Meiste-
rung des Irrationalsten, der menschlichen
Triebwelt. Hier aber — in (diesem Be-
kenntnis einer auserwählten Frau zu
i,dem sdiönsten der menschlichen Beruie"
— sinkt die Schranke zwisdien Erkennt-
nis und Erlebnis. Und es ersteht, aus ver-
trauten Zwiespradien, aus innerstem Ver-
stehen, aus reichster Erfahrung, in der
Spiegelung einer leidenschaftlichen Seele,
was Freuds Persönlichkeit und Lehre dem
Menschen zu geben vermag.
Man hat der Analyse nachgesagt, daß sie
zerstöre. Werte zersetze — in diesem
Buche wird man erschüttert gewahr, daß
sie ein großes Herz ganz zu entflammen
und zu erfüllen wußte.
HANNS SACHS
BUBI CA IL I C, V IL A
Mit Bildbeilagen und einem nierfurbigen Sdiuiz-
umsdUag oon K K. Maenner
PRESSESTIMMEN:
„Glänzend «riterbauicr AuIriU eines wirren und
verwirrenden Lebens" /»-.., „ wk-i
f„ Denhaw Republik")
„Seine Darstellung ist von einer iieißeji und
doch sdion belierrsdUen Uniniticlbaikeit."
(„Luxemburger Zeitung*')
„Idi wiif?fe nicht, was ich an dergleichen Schriften
jemals mit gröfierer Freude un<l stiitidig be-
reiter, ja ständig wadiscnder Spannung gelesen
hätte als dieses Budi . . . liier lirfit der schöne
Ausnuhmefall vor, wo sich das unaiifdringlidx
vorgebradite psydiologisdie Wissen mit einer
griindlidien Kenntnis des Gegenstandes auf
meisterliche Art verbindet, die keinen Wunsch
mehr offenläßi. Die römische Kaiser/eit mit
jener Geistcsiialtnng des llerrsdiers, die man
gemeinhin als „Cäsarenwahn" bezeichnet, wird
hödist lebendig verdeutlicht . . . Der Beridit
besitzt audi dort, wo er hödist Unanjicnehmcs
vorzubringen liat, einen liebenswürdigen und
trotzdem keineswegs leidil fort igen Humor."
(„ Mannheimer Tügblatt")
„Die geniale Theorie meistert das Caligula-
Problem vollkommen." / t j t- «i
In Ganzleinen
Mark 2.85
:
Wenn ich jeweilcn gefragt werde, wie man sidi über das weite
Gebiet der Psychoanalyse informieren könne, so pflege idi den
Alninnadl zu enipfelden, B. C. in den Basler Nachrichten
A IL M A N A C H D IE R
PSVC IHI OANAILVSE
IQ32
Mit 4 Porträtbeilage 11 — In Ganzleinen RM 4. —
Thomas Mann .
Theodore Dreiser
j^urt Tucholsky .
Paul Federn . .
F. Sdiottlaender
Hanns Sachs - .
Fritz Witteis . .
Ludwig Jekels .
Julius Epstein .
Franz Alexander
Maxim Steiner .
Karl Landauer .
Arthur KieUiolz
Otto Fenidiel . .
E. Hitsdimann .
S. Ferenczi . . .
Emil Lorenz . .
Aus dem Inhalt:
. Ritter zwisciien Tod xmd Teufel
, Zum 6. Mai 1931
. Elf Bände, die die Welt ersdiütterten
. Der neurotische Stil
. Zerstört die Psychoanalyse die Naivität?
. Baudelaire, der Verfluchte
, EdelnarzUimus
. Zur Psydiologie des Mitleids
. August Aichhorn
. Ein besessener Autofahrer
. Kasuistik der männlichen Impotenz
. Das Menstruationserlebnis des Knaben
. Giftmord und Vergiftungswahn
. Über Exhibitionismus
Hysterisdie Identifizierung
Zwangsneurotische „Isolierung"
. Vom Junggesellen, dem unbekannten
Neurotiker
. Kinderanalysen mit Erwadisenen
. Hansel und Gretel
A IL M A M A C IHI D IE R
1931
Stefan Zweig
Bildnis Sigmund Freuds
Fritz Witteis
Der Antiphilosoph Freud
Heinrich Meng _ , . . * •
Goeihe und Freud
Theodor Reik ' '
Zu Freuds KulturbelrachfuDg
Paul Federn
Die Wirklichkeit des Todesiriebs
Vom NatioQfllgefüli!
C. Müller-Braunsdiweig
Psychoanalyse und WeKaosdiauiing
Leo Sdiestow
Aleiandep und Diogenes
Erich Fromm
, Der Staai als Erzieher
\ Ernst Simmei
\ Zur Gesdiichte des Berliner Psydio-
jL^analyiischen Instiluts
mlene Deutsch
tin Fall von Kafzenphobie
Der feminine Masothismus und seine
Beziehung zur Frigidität
Karl Landauer
Eine «Dirne"
K. Schjelderup
Traume und Halluzinationen der
Asketen
Oskar Pfister
Donjuanismus und Dirnentum
Felix Boehm
Der Wciblidikeitskomplei des Mannes
F. Alexander
Zur Genese des Kastrationskomplcxes
Ren^ Laforgne
über die Erotisierung der Angst
Siegfried Bernfeld
Ein OHÜglüdctes Tagebudi -
Hans Kalischer
Die Entwicklung eines Vagabunden
In Leinen M4.—
Sigmimd Freud
Dostojewski und die Vatertötung
Theodor Reik
Freuds Studie über Dostojewski
Friedrich Eckstein
Das UnlerbrwuOle, die Vererbung und
das Gedathmis im Lichte der matfae-
matischen Wisseu>>ihaft
Hanns Sachs
Kunst und Persönlidikeit
Albredit SdiacfTer
Geschidile eines Traumes
Ediths Stcrba
Der .Sdiülersclbfi+mord iu AndrÄ Gides
Koman „Der Falsdimüuzer"
Andre Gide
Der Selbstmord des Knaben Boris
* *
«Kinder können fiirdilbar schweigen. . "
Aus drr Kindheit eines Frolctarier-
mädchens
Heinrich Meng
Sexualpädagogik und Psychoanalyse
Fritz Wiltels
Kindweib die große Mode
Karl Landauer
Zur psychosexui'llen Genese der
Dunniineil
Ernest Jtincs
Die englische »Sdiictlifhkeit"
Jonn Riviere ,
Weiblichkeit als Mauke
Theodor Reik " " ' "
Ober den zynisdien Witz
Franz Alexander und Hugo Staub
Ein Fall von Klt'ptumanie auä Schuld-
gt'fühl
Wilhelm Reidi
Die Dialektik im Seelischen
In Leinen M 4. —
I
PSYCHOANALYSE
Sigmund Freud
Ein religiöses Erlebnis
Tlieodor Rcik
Bemerkungen zu Freuds „Zukunft
einer Illusion"
Siegfried Bemfeld
Ist Psydioaualyse eine Weltanschauung?
Oskar Pfister
Psychoanalyse und Melhaphysik
Der Sdirei nach lieben uud oie Psydio-
analyse
R. Wälder
Die Psydioanalyse im Lebensgefühl
S. Rad6
Die Natiirforsdmng im Lidite der
Psychoanalyse
Ludwig Hopf
Kxakte Naturwissensdiaft und Psydio-
analyse
W. Eliasberg
über sozialen Zwang und abhängige
Arbeit
M. Wulff ^ , ^ n ,
Psythiatrisdi-neurologische Unter-
BudiuDg von Chauffeuren
S. Ferenczi ,
Gulliverphaniasien
Anatole Trance als Analytiker
Eduard Hitsdimann
Zur Psythoiiimlyse der Misanthropen
von Moli?;re
Helene Deutsdi
fiin Fiaueiisdüdcsal — George Sand
Codet und Laforgue
Der Salavin des Georges Duhamel
Die Psychoanalyse in der französisdien
Literatiu:
ZuDi dichterisdien Ausdruck des
Maturgefüld
Fritz Witteis
Radie und Riditer
H. Piutü , ,
Identifizierune eines zehnjährigen
Knaben mit der schwangeren Mutter
O. Feniciiel
Beispiele zur Traumdeutung
Heiuricii Meng
Das Problem der Onanie von Kant
bis Freud
In Leinen M 4, —
Sigmund Freud
Der Humor
Fetischismus
Lou Andreas-Salome
Was daraus folgt.
daß es nicht die
Frau gewesen ist, die den Vater tot-
geschlagen hat.
Fritz Witteis
Das Sakrament der Ehe
Karen Homey
Die monogame Forderung
W. Reich
Die Spaltung der Geschlechtlic4)keit und
ihre Folgen für Ehe und Gesellschaft
Theodor Reik
Das Sdiweieeu
Zweifel und Lohn in derDogmenbüdung
B. Alexander
Spinoza uud die Psychoanalyse
E. V. Sydow
Primitive Kunst und Sexualität
Yrjö Kulovesi
Der Raumfaktor in der Traumdeutung
Ernest Jones
Der Manlel als Symbol
S. Ferenczi
Über obszöne Worte
Simiilagsnenrosen
Analyse von Gleidinissen
F. Boehrn
Bemerkungen zu Balzacs Liebesleben
Franz Alexander
Ein Fall von masocfaistisdiem Trans-
vestitisuma
Siegfried Bernfeld
Der Irrtum des Pestalozzi
Oskar Pfister
Der Schülerberater
Anna Freud
Die Einleitung der Kinderanalyse
Karl Landauer
Das ShrafvoUzugsgesetz
,"-.
In Leinen M4.-
ALMANACH DER PSYCHOANALYSE
Loa Andrcas-Salomc
Zinn 70. (Jcburlstag Sigmuad Freuds
Prof. E. Bleuler
Zum 70. Geburtstag Sigmuad Freuds
Stefan Zweig
Zum 70, Geburtstag Sigmund Freuds
Alfred Döblin
Zum 70. tJeburtsiag Sigmund Freuds
Sigmund Freud
Vergauglittkeit
Zur l*sytiinli)gie des Gymnasiasten
Psydioanalyse und Kurpfusdierei
Oskar Pfistcr
Die menst'htüJien Einipimgsbesfrebun-
gen im Lidite der Fsyiiiüaiialysc
M. D. Kder
Kann das Unbewußte erzogen werden ?
Tbeodor Reik
Gedenkrede auf Karl Abrabain
Karl Abraham
Die Gesiiiidite eiues Hodistaplers
Über Coues Heilfürmel
I. Levine
Psydioanalyse und Moral
G. Wyneken
Sisyphos öden Die Grenzen der
Erziehung
L. Binswanger
Erf-dircn, Verstehen, Denken in der
Psydjiianitlyse
Erwin Kobn
Das Liebesscbidcsal Lassallcs
H* Gomperz
äokraies und die Handwerksnieisler
O.Rank
Don Juan und Leporello
E. V. Sydow
Die WiedererwedtuDg der primitiven
Kunst
Ludwig Jekels
Zur Psydiologie der Komödie
Theodur Reik
Zur Tedinik des Witzes
Franz Alexander
Zn Fereiiczis Genitaltheurie
Karen Horney
Fludit aus der Weiblidikeit
Ernst Simmel
Doktorspiel, Kranksein und Arzlberuf
Geoi^ Groddeck
Nidit wahr, zwei Damen . . . ?
In Leinen M 4.—
Sigmund Freud
Die Widerstände gegen die Psydio-
analyse
Di(! „Aiisuflhnicn"
Die okkulte Bedeutung des Traumes
Thomas Mann
Mein ViThiiltnis zur Psydioanalyse
Hermann Hesse
Künstler uud Psydioanalyse
I^norniand
Das Unlicwullle im Drama
F. van Eeden
rilier PsycJinnnalyse
Hanns Sudis
Gemeiiisniner Tagtrauin und DidiiuQg
Carl .'5|)itlelt'r f
Alfred Polgar ;
Der 5fel('nsu(her
Georg (irddileik
wir idi Arzt wurde und wie idi zur
Abneii^ung gegen das Wisscu gekom-
men bin
Theodor Heik
l'sy<boaiialytisdie Slrafrecbtstheorie ,
A. Sfiirtke
Geisteskrankheit und GcscUsdiaft
Oskar Pflster
Elternfebler in der Erziehung zur Se-
xualität
Vera Sdimidt
Obs psydioanalytisdie Kinderlieim in
Moskau
August Aidihorn
Die PsydioHualyse in der Fürsorge-
erzieliiing
Siegfried llernfekl
liiirgcr Maediiavell ist Unierriditsmi-
nislcr geworden
Stefan Zweig
Das 'laj^cbudi ejnea halbwUdisigen
Mäddiens
* » *
Aus dem .Ta^ebud» eines halbwüdi-
sigen Mäddiens'
S. Fen'nezi
liegattuiig und IJefnidilung
Ernest Jones
Kalte, Krankheit und Geburt
Karl Abraham
l';!>er C'liaraktcranalysc
Olto Kank
Drei Siiniden einer Analyse
P. SdiiUler , .
Sclbsibi-herrsdiung und Hypodiondne
A. Kielhol/.
Über trfmdciwahn
In Leinen M 4. —
IWiiF'-'
1
"
•
ALMA
KACH
Almanacn der
Psycnoanaly^se
193J
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1933
r= -
I P^A-V
1