^Y
■
ALMANACH DER
PSYCHOANALYSE
1935
1 Almaiuch 11133
Almanach
der
Psychoanalyse
1935
Internationaler
Psychoanalytischer Verlag
Wien
-- - <-,■. - '-..■■'
Alle Rechte,
insbesondere die der Obersetzung, vorbehalten
Printed in Austria
Druck: Alljert Ketterl, Wien XVIII
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Kalendarlum
7
SIGM. FREUD
Psycho-Analysis ^
IMRE HERMANN
Das psychoanalytisch Sinnvolle 18
RICHARD STERBA
Die psychoanalytische Therapie 24
SANDOR RADO
Das Angstproblera 48
PAUL FEDERN - - •
Zunahme der Süchtigkeit 54
OTTO FENICHEL
Zur unbewußten Verständigung 61
ALEXANDER SZALAI
Die „ansteckende" Fehlhandlung 67
ANNA FREUD
Die Erziehung des Kleinkindes vom psycho-
analytischen Standpunkt 73
HEINRICH MENG
Die richtige Behandlung scheinbar straffälliger Kmder 85
HANS ZULLIGER
Pädagogen erliegen dem Fluche der Lächerlichkeit . . 94
FRiTZ REDL . ^^^
Gedanken über die Wirkungen emer Phimoseoperation 108
HELENE DEUTSCH
Don Quijote und Donquijotismus 151
FRANZ ALEXANDER ■': " ';■ ! . j, v - ^''*'
Bemerkungen über Falstaff ...]......... 161
MARIE BONAPARTE
Das magische Denken bei Primitiven 180
HENRI CODEX
Das magische Denken im AUtagsIeben 196
Symposion über die Psychologie von Krieg und Frieden 215
BILDBEILAGEN
Vi
.'**■
Dr. Georg Groddeck f nach Seite 32
Dr. Hans Bchn-Eschenburg f nach Seite 64
Melanie Klein „ach Seite 96
Dr. Hanns Sachs nach Seite 128
Lt. Col. C. D. Daly na^h Seite 160
Dr. Edoardo Weiss nach Seite 192
*<? . .
• . I
KALENDARIUM FÜR DAS JAHR
1935
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APRIL
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So
Ostersonntag 21. April
Pfingstsonntag 9. Juni
r 1
^J .
K
Psycho - Analy sie
Von Sigm. Freud
Im Herbst i93^f erschien im Internationalen
Psychoanalijtischen Verlag, Wien, der XII. Band
der „Gesammelten Schriften" Sigmund Freuds.
Er enthält die Schriften des Verfassers seit
dem Erscheinen des XI. Bandes (Frühjahr 192S):
„Dostojewski und die Vatertötunf (enthalten
im Almanach 1930^, „Das Unbehagen in der
Kultur', „Ober libidinöse Typen'' (enthalten im
Almanach 1933), „Über die weibliche Sexuali-
tät', „Zur Gewinnung des Feuers'' (enthalten
im Almanach 1933), „Neue Folge der Vorlesun-
gen zur Einführung in die Psychoanalyse'" (aus
denen zwei Abschnitte unter dem Titel „Zum
Problem der Telepathie'^ und „Die psychischen
Instanzen" im Almanach 193^ wiederabgedruckt
wurden) und „Warwn Krieg?". Er enthält zu-
dem zwei ältere Schriften, die in den voraus-
gegangenen zwölf Bänden nicht enthalten waren:
„Der Familienroman des Neurotiker.'i" (1909)
und „Psgcho-Analysis" (1926), sowie Vorworte
zu eigenen und fremden Büchern, Gedenkartikel
und „Vermischte Schriften". Die nachfolgende
Arbeit war mit einigen Abänderungen in eng-
lischer Obersetzung unter dem Schlagwort:
„Psycho - Analy sis: Freudian school" in der
„Encyclopaedia Britannica" , XIII fh Edition,
New Vols III, London 1926 erschienen.
Da die Psychoanalyse in der elften Auflage der Ency-
clopaedia Britannica keine Erwähnung gefunden hat,
ist es unmöglich, sich hier auf die Darstellung ihrer
Fortschritte seit 1910 zu beschränken. Der wichtigere
und interessantere Abschnitt ihrer Geschichte fällt in
die Zeit vorher.
Vorgeschichte.
In den Jahren 1880 bis 1882 erfand der Wiener Arzt
Dr. Josef Breuer (1842 bis 1925) ein neues Verfahren,
um ein an schwerer Hysterie erkranktes Mädchen von
ihren mannigfaltigen Symptomen zu befreien. Er folgte
der Ahnung, daß diese Symptome mit den Eindrücken
einer aufregenden Zeit von Krankenpflege bei ihrem
Vater zusammenhängen könnten, und veranlaßte sie, im
Zustand des hypnotischen Somnambuhsmus diese Zu-
sammenhänge in ihrer Erinnerung aufzufinden und die
„palhogenen" Szenen unter ungehemmter Affektentwick-
lung nochmals durchzuleben. Wenn sie das gelan hatte,
war das Symptom dauernd geschwunden. Zu dieser Zeit
waren die Arbeiten von G h a r c o t und P. J a n e t über
die Entstehung hysterischer Symptome noch nicht vor-
gefallen. Breuer war also völlig unabhängig von diesen
Anregungen. Er verfolgte aber seine Entdeckung nicht
weiter; erst ein Jahrzehnt später nahm er sie unter der
Mitwirkung von Sigm. Freud wieder auf. Im Jahre 1895
veröffcntüchten die beiden Autoren ein Buch, „Studien
über Hysterie", das die Funde von Breuer mitteilte
und durch die Theorie der Katharsis zu erklären suchte.
Es wurde angenommen, das hyslcrischc Symi)lom ent-
stehe dadurch, daß die Energie eines sceUschen Vor-
gangs von der bewußten Verarbciliing abgehalten und
in die Körperinncrvalion gelenkt werde (Konver-
sion). Das hysterische Symptom sei also ein Ersatz
für einen unterbliebenen seelischen Akt und eine Remi-
niszenz an dessen Anlaß. Die Heilung erfolge durch die
Befreiung des irregeleiteten Affekts und die Abfuhr des-
selben auf normalem Wege (Abreagieren). Die karthar-
tische Behandlung gab vortreffliche therapeutische Re-
sultate, die aber nicht dauerhaft waren und nicht unab-
hängig von der pcrsönhchen Beziehung des Kranken
zumArzt.Freud,der diese Untersuchungen später allein
fortsetzte, veränderte deren Technik, indem er aiislall
der Hypnose die Methode der freien Assoziation an-
wendete. Er schuf den Namen Psyclioanalyse, der im
Laufe der Zeit zwei Bedeutungen gewann. Er bezeich-
net heute 1. eine besondere Belumdlimgsmethode neuro-
tischer Leiden, 2. die Wissenschaft von den unbewuß-
10
leu seelischen Vorgängen, die auch treffend „Tiefen-
psychologie*' genannt wird.
Inhalt der Psychoanalyse.
Als therapeutisches Verfahren gewinnt die Psycho-
analyse immer mehr Anhänger, weil sie mehr für die
Kranken leistet als jede andere Behandlungsmethode.
Das Gebiet ihrer Anwendung sind die leichteren Neu-
rosen, Hysterie, Phobien und Zwangszustände, ferner
Charakterverbildungen, sexuelle Hemmungen und Ab-
normitäten, wo sie erhebliche Besserungen und selbst
Heilungen erzielt. Ihr Einfluß auf Dementia praecox und
Paranoia ist zweifelhaft, unter günstigen Umständen
kann sie auch schwere Depressionen bewältigen. In
allen Fällen stellt sie große Ansprüche an den Arzt
wie an die Kranken, erfordert vom ersteren eine beson-
dere Ausbildung und lang dauernde Vertiefung in jeden
Kranken, von dem letzteren ansehnliche materielle und
psychische Opfer; sie lohnt aber meistens alle Bemü-
hungen. Eine bequeme Panacee für psychische Leiden
(cito, tuto, jucimde) ist auch die Psychoanalyse nicht;
ihre Anwendung hat im Gegenteile erst Aufklärung
über die Schwierigkeit und die Grenzen der Therapie
bei solchen Affektionen gebracht. Vorläufig gibt es nur
in Berhn und Wien private Institutionen, die psycho-
analytische Behandlung auch der arbeitenden, unbe-
mittelten Bevölkerung zugänglich machen. Der thera-
peutische Einfluß der Psychoanalyse ruht auf der Erset-
zung unbewußter seelischer Akte durch bewußte und
reicht so weit, als dieses Moment bedeutet. Diese Er-
setzung wird durch die Oberwindung innerer Wider-
stände im seelischen Leben des Kranken herbeigeführt.
Die Zukunft wird wahrscheinlich urteilen, daß die Be-
deutung der Psychoanalyse als Wissenschaft des Unbe-
wußten ihre therapeutische Bedeutung weit übertrifft.
Die Psychoanalyse als Tiefenpsychologie betrachtet
1 1
das Seelenleben von drei Gkisichlspunklcn, vom dynami-
schen, ökonomischen und lopischen. In erslerer Hin-
sicht führt sie alie psychischen Vorgänge — von der
Aufnahme äußerer Reize abgesehen — auf das Spiel
von Kräften zurück, die einander fördern oder hem-
men, sich miteinander verbinden, zu Kompromissen
zusammentreten usw. Diese Kräfte sind ursprünglich
alle von der Natur der Triebe, also organischer Her-
kunft, durch ein großartiges (somatisches) Vermögen
(Wiederholungszwang) ausgezeichnel, finden in affektiv
besetzten Vorstellungen ihre psychische Vertretung. Die
Lehre von den Trieben ist auch für die Psychoanalyse
ein dunkles Gebiet. Die Analyse der Ueobachtung fülirt
zur Aufstellung zweier Triebgruppen, der sogenannten
Ichtriebe, deren Ziel die Selbstbehauptung ist, und der
Objekttriebe, die die Beziehung zum Objekt zum Inhalt
haben. Die sozialen Triebe werden nicht als elementar
und unableitbar anerkannt. Theoretische Spekulation
läßt die Existenz von zwei Grundtrieben vermuten, die
sich hinler den manifesten Ich- und Objekttrieben
verbergen, dem Trieb zur immer weiter strebenden
Vereinigung, dem Eros, und dem zur Auflösung des Le-
benden führenden Destruktionstrieb. Die Kraftäußerung
des Eros wird in der Psychoanalyse Libido genannt.
Die ökonomische Betrachtung nimmt an, daß die
psychischen Verb-etungen der Triebe mit besümmten
Quantitäten Energie besetzt sind (Cathexis) und daß
der psychische Apparat die Tendenz hat, eine Stau-
ung dieser Energien zu verhüten und die Gesamtsumme
der Erregungen, die ihn belastet, möglichst niedrig zu
nal en Der Ablauf der seelischen Vorgänge wird auto-
matisch durch das Lust-Unlusl-Prinzip reguUert, wo-
Dei Unlust irgendwie mit einem Zuwachs, Lust mit einer
Abnahme der Erregung zusammenhängt
Das ursprunghchc Lustprinzip erfährt im Laufe der
Entwicklung eine Modifikation durch die Rücksicht auf
die Außenwelt (Realitätsprinzip), wobei der psychische
id
Apparat erlernt, Lustbefriedigungen aufzuschieben und
Unlustempfindungen für eine Weile zu ertragen.
Die topische Betrachtung faßt den seelischen Appa-
rat als ein zusammengesetztes Instrument auf und sucht
festzustellen, an welchen Stellen desselben sich die
verschiedenen seelischen Vorgänge vollziehen. Nach un-
seren heutigen Einsichten gUedert sich der seelische
Apparat in ein „E s", das der Träger der Triebregungen
ist, in ein „Ich", das den oberflächlichsten durch den
Emfluß der Außenwelt modifizierten Anteil des „Es"
darsteUt, und in ein „Ober- Ich", das, aus dem „Es"
hervorgegangen, das Ich beherrscht und die für den
Menschen charakteristischen Triebhemmungen vertritt.
Auch die Qualität des Bewußtseins hat ihre topische
Beziehung, die Vorgänge im Es sind durchwegs unbe-
wußt, das Bewußtsein ist die Funktion der äußer-
sten für die Wahrnehmung der Außenwelt bestimmten
Schichte des Ichs.
Hier ist Raum für zwei Bemerkungen. Man darf nicht
annehmen, daß diese allgemeinsten Vorstellungen die
Voraussetzungen der psychoanalytischen Arbeit sind. Es
sind vielmehr ihre spätesten Ergebnisse und der Revi-
sion unterworfen (open to reuision). Die Psychoana-
lyse ruht sicher auf der Beobachtung der Tatsachen
des Seelenlebens, ihr theoretischer Überbau ist darum
noch unvollständig und in beständiger Umwandlung
begriffen. Ferner: man soll sich nicht verwundern, daß
die Psychoanalyse, die ursprünglich nur pathologische
seelische Phänomene erklären wollte, dazukam, eine
Psychologie des normalen Seelenlebens zu entwickeln.
Die BerechÜgung dazu ergab sich, als man fand, daß
die Träume und die FehUeistungen normaler Menschen
denselben Mechanismus haben wie die neurotischen
Symptome.
Die nächste Aufgabe der Psychoanalyse war die Auf-
klärung der neurotischen Erkrankungen.
Die analyüsche Neurosenlehre ruht auf drei Pfeilern,
13
1. der Lehre von der VerdrAii^iiiig (repression), 2. von
der Hedeutung der Sexiiallriebo, 3. von der Übertragung
(Iransference).
Ad J. Es gibt im Seelenleben eine zensurierende
Macht, welche Strebungen, die ihr mißfallen, vom Be-
wiilitwerden und vom Einfluß auf das Handeln aus-
schlicßl. Solche SIrebuiigcn heißen verdrangt. Sie blei-
ben unbewußt; wenn mau sich bemüht, sie dem Pa-
tienten bewußt zu machen, ruft man einen Widerstand
(resistance) hervor. Solche verdräiigle Tricbregungen
sind aber nicht immer macIiUos geworden, in vielen
Filllen gelingt es ihnen, sich auf Umwogen Einfluß
auf das Seelenleben zu verschaffen, und die so erreich-
ten Ersatzbefriedigungen des Verdrängten bilden die
neurotischen Symptome.
Ad 2. Aus kuUurelleu Gründen werden die Sexual-
triebe am intensivsten von der Verdrängung betroffen,
gerade bei ihnen mißlingt aber die Verdrängung am ehe-
sten, so daß die neurotischen Symptome als die Ersatz-
befriedigung der verdrängten ScxuaUtät erscheinen. Es
ist nicht richtig, daß das Sexualleben dos Menschen erst
mit der Pubertät beginnt; es ist vielmehr vom Anfang
des Extrauterinlebcns an nachweisbar, erreicht einen
ersten Höhepunkt bis zum fünf Ion Jalir (Frühperiode)
und erfährt dann eine Hemmung oder Unterbrechung
(Latenzzeit), der durch die Puberiru, den zweiten Gip-
fel der Entwicklung, ein Ende gemacht wird.
Der zweizeilige Ansatz des Suxuallebens scheint für
das Genus Homo charakteristisch zu sein. Alle Erleb-
nisse dieser ersten Kindheitsperiode sind von großer
Wichtigkeit für das Individuum, im Verein mit der
crcrblci) sexuellen Konstitution stellen sie die Disposi-
tionen für die spätere Charakter- und Krankheilscnt-
wicklung her. Es ist unrichtig, die Sexualität mit der
„Genitalität" zusammenfallen zu lassen. Die Sexualtriebe
machen eine kompUziertc Entwicklung durch, an deren
Ende erst der „Primat der Genitalzoncii" steht. Unler-
14
wegs steUen sich mehrere „prägenitale" OrgamsaÜonen
her, an denen sich die Libido „fixieren" kann und zu
denen sie im FaUe späterer Verdrängung zurückkehrt
(Regression). Die infantilen Fixierungen der Libido tref-
fen die Entscheidung über die spätere Wahl der Er-
krankungsform. So erscheinen die Neurosen als Entwick-
lungshemmungen der Libido. Spezifische Ursachen der
neurotischen Erkrankung finden sich nicht, quantitative
Verhältnisse entscheiden über den Ausgang der Kon-
fükte in Gesundheit oder neurotische Funktionshem-
mung.
Die wichtigste Konfliktsituation, die das Kind zu
lösen hat, ist die der Beziehung zu den Eltern, der Ödi-
puskomplex; an seiner Bewältigung scheitern regelmäßig
die zur Neurose Bestimmten. Aus den Reaktionen gegen
die Triebansprüche des Ödipuskomplexes gehen die
wertvollsten und sozial bedeutsamsten Leistungen des
menschlichen Geistes hervor, sowohl im Leben des
Einzelnen wie wahrscheinlich auch in der Geschichte
der menschlichen Art überhaupt. Bei der Überwindung
des Ödipuskomplexes entsteht auch die das Ich beherr-
schende sittliche Instanz des Über-Ichs.
Ad 3. „Übertragung" nennt man die auffällige Eigen-
tümlichkeit der Neuroüker, Gefühlsbeziehungen zärtli-
cher wie feindseUger Natur zu ihrem Arzt zu ent-
wickehi, die nicht in der realen Situation begründet
sind, sondern aus der Elternbeziehung (Ödipuskomplex)
der Patienten stammen. Die Übertragung ist ein Beweis
dafür, daß auch der Erwachsene seine einstige kind-
liche Abhängigkeit nicht überwunden hat, sie deckt sich
mit der Macht, die man „Suggestion" genannt hat; ihre
Handhabung, die der Arzt erlernen soll, setzt ihn allein
in den Stand, den Kranken zur Überwindung seiner
inneren Widerstände und zur Aufhebung seiner Ver-
drängungen zu bewegen. Die psychoanalytische Behand-
lung wird so zu einer Nacherziehung des Erwachsenen,
einer Korrektur der Erziehung des Kindes.
15
Viele Gegenstände von aUgemeinstem Interesse kön-
nen in diesem kurzen Abriß der Psychoanalyse nicht
erwähnt werden, z. U. die Sublimierung der Triebe, die
Rolle der Symbolik, das Problem der Ambivalenz u. a.
Auch die Anwendungen der auf ärztlichem Boden ent-
standenen Psychoanalyse auf Geisteswissenschaften wie
Kultur- und Kileralurgcschichle, Religionswissenschaft
und Pädagogik, die täglich mehr an Bedeutung gewin-
nen, sind hier leider nicht zu würdigen. Es genüge die
Bemerkung, daß die Psychoanalyse — als Psychologie
der fielen, unbewußten Scelcnaklc —- das Bindeglied
zwischen der Psychiatrie und all diesen Geisteswissen-
schaften zu werden verspricht.
Äußere Schicksale der Psychoanalyse.
Die Psychoanalyse, deren Anfänge durch zwei Daten
(Breuer und Freud, Studien über flyslcric. 1895;
Freud, Traumdeutung, 1900) bezeichnet werden kön-
nen, fand zunächst kein Interesse bei Ärzten und Pubü-
kum. 1907 begann dicBcteillMun« von Schweizer Psychia-
tern unter der Führung von E. f U e u I e r und C. O. J u n g
in Zürich. 1908 fand inSakburgdie erslc Zusammenkunft
der Anhänger aus verschiedenen Ländern statt. 1909 wur-
den Freud und Jung von I. Stanley Hall nach
Amerika eingeladen, um an der Clark University, Wor-
cester, Mass., Vorlesungen über Psychoanalyse zu halten.
Das Interesse in Europa stieg nun rasch an, äußerte sicli
aber in sehr energischer, oft unwissenschaftlich gefärbter
Ablehnung. Diese FeindseUgkeit war von medizinischer
Seile motiviert durch die Betonung des psychischen Mo-
ments in der Psychoanalyse, von philosophischer durch
die fundamentale Annahme des Begriffs unlxjwußter
Seelentälifjkcit, gCWiß aiU slärkstcn aber durch die all-
gemein menschliche Abneigung, dem Moment des Se-
xuallebens jene Bedeutung zuzugestehen, die ihm die
Psychoanalyse einräumte. Trotz der allgemeinen Oppo-
i6
silion war die Bewegung zusiiuslcn der Psychoanalyse
nicht aufzuhallen. Ihre Anhänger orgauisierlen sich zu
einer Internationalen Vereinigung, die die Probe des
großen Krieges gut bestanden hat und gegenwärtig
(1925) die Ortsgruppen: Wien, BerUn, Budapest, Lon-
don, Schweiz, Holland, Moskau, Kalkutta und zwei
amerikanische umfaßt. Mehrere Zeitschriften dienen den
Absichten dieser Gesellschaften, die „Internationale Zeit-
schrift für Psychoanalyse", die „Imago" (für Anwendung
auf die Geisteswissenschaften), und das International
Journal of Psycho-Analysis. In den Jahren 1911 bis 1913
fielen die früheren Anhänger Alfred Adler (Wien) und
r G J u n ■' (Zürich) von der Bewegung ab und gründeten
eigene Richtungen, denen die allgemeine Feindseligkeit
0eaen die Psychoanalyse einen wohlwollenden Empfang
sicherte die aber wissenschaftlich steril geblieben sind.
1921 stiftete Dr. M. Kit Ingo n in BerUn die erste
öffentliche psychoanalytische Poliklinik und Lehranstalt,
der bald eine zweite in Wien folgte.
\.,-
2 Almanach 1935 I7
Das psychoanalytisch Sinnvolle
Seelische Konlinultät und DeterminiBmuH
Von Imre Hermann, Budapest
Die liriUtkiion der von Sigmund Freud her-
ausgegebenen deutschsprachigen Organe der
Internationalen Psifchoanalgtischen Vereinigung
(der „Internationalen '/.citschrift für Psi/cho-
analijse" und der „Imago, Zeitschrift fi'ir psg-
choanalij tische Psychologie, ihre Grenzgebiete
und Anwendungen") geben seit Beginn des Jah-
res 19'3^f lieihcfie heraus, in denen Monogra-
phien und FAnzetuntersuchungcn zum Abdruck
gelangen sollen. Als erstes Heilicfl ist eine Ar-
beit von Imre Hermann „Die Psychoanaigse
als Methode" erschienen, aus dessen III. Ka- \
pitel („Die Verarbeitung des gewonnenen Mate-
rials") wir den ersten Abschnitt zum Ausdruck
bringen.
Wir sahen, wie die analytische Konslellalion den
Analysanden zum Gestehen seiner (rtiheirnnissc treibt.
Ans dem Tiefsien und Lebenswichtigsten nuili er schöp-
fen, alles, was in ihm ist, muß er offenbaren. So wäre
— solUe man meinen ~ die Analyse eine Heihe er-
schütternder Beichten, endloser Geständnisse. Zum Teil
ist sie es ja auch — doch nicht im ^»anzx'n. ['.iinnal
lernt der Analysand vieles von seinem IinuTslen erst
durch die Aiudyso kcMition, sein Mitteilen l^ann höch-
stens ein Rinßeii nach Geständnissen — ein Hinj^en ge-
gen die Widerstände — sein. Dann wäre er auch j^c-
zwnngen, in den vielen Stiniden der Analyse. Monate
und Jahre hindurch, mit bewuLUer Absicht innner am
Tiefsten und Lebenswichtigsten zu rühren. Der Analy-
sand spricht viel mein* von allem, er bringt Geständnisse
ebenso wie die Einfälle des Alltags, Doch ist alles, was
er bringt, was er in der analytischen Stunde sagt und
18
empfindet, jedes Thema, das er berührt, ja alles, was
er in der Gegenwart oder auch unter dem Einfluß des
Analytikers anderswo treibt, all sein Gebärdenspiel und
seine Mienensprache, analytisches Material.
War bisher von den Einstellungen die Rede, die geeig-
net sind, das analytische Material zutage zu fördern, so
soll jetzt von den Voraussetzungen gesprochen werden,
die zum Verstehen und Verwenden dieses Materials not-
wendig sind. Daß es in jedem Falle verstanden werden
muß und kann, — ist schon eine Voraussetzung der ana-
lytischen Theorie. Sie besagt, daß jeder Einfall des Ana-
lysanden sinnvoll ist, sinnvoll in einer ganz be-
stimmten Bedeutung.
Betrachten wir ein Beispiel. Eine Patientin fängt die
analytische Stunde mit der Erzählung einer kleinen
Begebenheit an: sie habe im Autobus einen ihrer Hand-
schuhe verloren. Der erste Einfall, der sich daran
knüpft, ist: Wenn es noch mein Taschentuch gewesen
wäre! Warum gerade Taschentuch? Nun ja, das erinnere
an galante Geschichten, an die Dame und den Ritter,
an französische Hofepisoden. Die Stunde geht weiter, —
sie spricht davon, wie sie in ihrer Mädchenzeit um-
schwärmt wurde, was für ein begehrtes Mädchen sie
war. Am Ende noch eine kleine Fehlhandlung: Sie
schließt ihre Tasche auf, schaut hinein und schließt
sie wieder zu. Auf meine Frage gesteht sie, sie hätte das
Gefühl gehabt, als habe sie ihr Taschentuch soeben
hier verloren.
Was wir an dem Beispiel demonstrieren wollten,
ist die Bedeutsamkeit schon des ersten, scheinbar nichti-
gen Einfalles. Es ist kein Zufall, daß die Patientin auf
den Gedanken des Taschentuches kam, — wir sagen,
dieser Einfall war determiniert.
. Doch hier müssen wh: stehenbleiben. Das Determi-
niertsein der seeUschen Inhalte ist kein Novum, das
von der Psychoanalyse in die Seelenwissenschaft ge-
bracht wurde. Der Kampf der Deterministen und In-
^ 19
tii
dcterminislcn ist eine uralte Fehde, deren Schauplatz
zwischen Philüsoi)hic, Theoloj^it; und Psychologie wech-
selt. Hier wurde der Standpunkt der Deterministen zu-
letzt von der sogenannten Assoziationspsvchologie ver-
treten. Nach ihr wäre alles, was in der Seele auftaucht,
^n den Gesclzcn der Ideenassoziation bestimmt: dem
©esetze der (örtlichen und zeitlichen) Berührung und
dem Gesetze der Ähnlichkeit. Alles, was uns einfällt,
fallt uns ein, weil es mit dem Voran.fehcnden örtlich
oder zeillich verknüpft war, oder weil eine Ahnlichkeil
zwischen den beiden Inhalten besieht. Der seelische
Verlauf wird durch die Gesetze der licrührung und der
Ähnlichkeit delerminiert.
Freud sagt etwas anderes. Nicht äußere oder inner«
Assoziation, nicht lierührung oder Ähnlichkeit, sondern
der i,inn der Seeleninhalle wirkt dclcrminiercnd, läßt
sie miteinander verknüpfen. In unserem Beispiel hieße
I (las, daß nicht etwa das örtliche Hoisammcnscin von
j Handschuh und Taschenluch die Verknüplung herbei-
lunrle, sondern ein innerer Sinn, der sich im Laufe der
analytischen Stunde immer mehr vertiefte. Es kam noch
manches hinzu: es kam die Rede auf den Gatten, der
beim Verl.ercn des Handschubs zugegen war, auf die
, näheren Umstände des Verherens ~ sie habe Kastanien,
I die Ihr Mann ihr gekauft hat, aus der Tüte nehmen
wollen -, und daran knüi)ft sich auch der Gedanke,
daß sie die Kastanien für den Mann immer sell)er aus
» dem teuer holen muß. Der Sinn des Einfalles heißl also:
mochte doch jemand kommen, mir den Hof zu machen,
einer, der ritterlicher ist als mein Mann, einer, der
nicht selber Dienstleistungen von mir erwartet, einer,
der mich so anbetet, wie ich in meiner Mädchonzeil an-
gebelcl worden bin. Oder kürzer: man möge mich doch
lieben und bedienen, besser als mein Mann es tut. Aber
abgekurzl ist es nichl mehr <iasselbe: im Sinn des
laschentuoheiulaltes ist eben alles enthalten, das L'C-
besbcdurfnis, die dahinschwindende Jugend, die Kasta-
20
nien, der unbeholfene Gatte. Auch das Thema des
Stundenbeginns selbst ist in diesem Sinn-Knäuel enthal-
ten: Der erste Einfall konnte darum sinnvoll sein,
weil er schon aus diesem Thema-Sinn-Knäuel heraus-
geschleudert wurde. Ja, einen Schritt weitergehend,
sehen wir nicht nur das Thema, sondern auch den Kern
seines Talbestandes, das Verlieren des Handschuhs
selbst, in diesem Sinn eingebettet, was durch die Epi-
sode am Ende der Stunde - als sog. passageres Sym-
ptom (Fercnczi) - auch angedeutet wird. Der Smn
des Tatbestand-Kerns ist schon dem Sinn des neuro-
tischen Symptoms analog, dessen Auflösung den
Analytiker seinem Ziele nach beschäftigt.
Wie der Einfall einen Sinn hat, so kann auch die
ganze analytische Stunde einen Sinn haben. Wenn wir
2. B. sagen, daß sie hei einer gewissen Patientin mit
Gedanken an die Scheidung erfüllt war, so kann man
dies so kurz ausdrücken, nur weil sich zwischen dem
Analytiker und dem Analysanden schon eine gemein-
same Sprache herausgebildet hat. Tatsächlich ist in
diesen Gedanken an die Scheidung weit mehr enthalten,
eine ganze FüUe aktueller und vergangener Erlebnisse.
Wir können auch vom Sinn einer Lebensperiode spre-
chen, wie z. B. bei einer Patientin, die sich lange Zeit
hindurch mit ihrer schwerkranken Schwägerin identi-
fizierte, woraus sich viele ihrer Krankheilssymptome
erklären Ueßen, - der Schwägerin, die die Frau ihres
heißgeliebten Bruders war.
Oder wir können auch den Sinn eines bestimmten
Verhaltens angeben; als Beispiel sei ein Patient ange-
führt bei dem sich jede noch so starke Liebe bei dem
nichtigsten Zwischenfall in ein IcidenschaftUches Haß-
gefühl wandelt, das jede Spur der Liebe im Nu auszu-
löschen vermag. Der Sinn dieser eigenartigen Ambi-
valenz lie"t in seinem Verhältnis zum Vater, den er mit
acht Jahren verlor. In der frühen Kindheit hing er mit
großer Liebe an ihm; diese Liebe wurde von der Mutter
21
crschüUerL, die den schon kränkelnden Vater stets derb
anl'uhr und verächilicli machte. Der Knabe mußte in
seiner Identifizierung mit der Mutter auch ihren Hau
gegen den Vater iibernchmcu: seine Liebe für ihn inulite
oft durch plötzliche Ilalianwandlungou unterbrochen
werden. Das wirkle delerminiercnd auf das spätere Le-
ben, hier liegt der verborgene Sinn seines Verhaltens,
sein ständiges Suclien nach dem Valer und seine limp-
findhchkeil jedem Kohler gegenüber.
Was ist nun das Genieinsame dieser IJeisi>iele? Was
heißt es, den Sinn eines Einfalles, einer analytischen
Stunde, einer Lebensperiode, eines Verhaltens angeben
zu können? Ks heilM etwas ganz Bestimmtes und We-
sentliches: es heißt, den Einfall, die Gedankenreihe, die
Lebenspcriode, das Verhalten in das Seelcnkonti-
n u u m d e r Person einreihen zu können. Et-
was analytisch zu verstehen, heißt diin Platz kennen, den
dieses Etwas in dem Seelenkontiiuinm der Person ein-
nimmt. Dieser Platz ist jedoch nicht mit einem IHnikt
zwischen anstoßenden Punkten zu bezeichnen, (wie es
die Assoziatioiispsychologie eri'orilern wurde,) sondern
mit einer verzweigten, sich hin und her windenden
Kurve, mit einer viele Fäden umsi)anncnden Verdich-
tung im Sectengewebe. Der Kontinuität sind aucli die
verdrängten Seelcnteile unterworfen, da die Verdrängung
nur in gewissen Hichtmigeu den Weg der scehschcn
Abläufe abbricht.
Jetzt verstehen wir auch, warum schon der erste Ein-
fall als sinnvoll-determiniert angenommen werden
mußte: er konnnt eben auch aus dem vom Thema be-
rührleu Koulinuum der Seele, reißt alles Anhaftende
mit sich, ist mit allem Angrenzenden verwoben. Wir
Itönnten hier das liild eines aus dem Wasser gehobenen
Gegenstandes gebrauchen: Er ist durch und durch naß,
er ist mit dem Stoff, dtin er soeben verließ, vollgesogen,
iJil iinl dem schon verlassenen Element durch die ibm
anhaltende Nässe noch immer verknüpft. So voUgesogcn
22
mit allem Umgebenden, was in der Seele ist und war, ist
auch jeder EinfaU, der sich von dem Konlinuum der
Seele loslöst.*) Nur dem Strömen der freien Assoziation
entlang wird es klar, wie viele Fäden von den einzelnen
Einfallen und vom Thema her in die Seelengeschichte
des Analysanden führen. Wir stehen hier einer Erfah-
rungstatsache gegenüber. Die freie Assoziation besitzt
eine Funktion, welche als sinnentlockend zu be-
zeichnen ist.
') i:)ieser Vergleich brinßt vielleicht jene oft beobacht-
bare Tatsache dem Verständnis näher, wonach es gerade
der erste Einfall ist, der die wichtigsten Wege ms Un-
bewußte eröffnet. Oft wird sozusagen schon das ganze
heiniUche Schloß durch den ersten Einfall aufgetan, nur
daß er sich eben — oder gerade darum — dem verwer-
fenden Urteil der Kritik gegenüberfindet, die einem solchen
Gedanken-Hcrkömmhng nicht traut. - Doch darf mit Über-
treibung und Umkehrung dieser Tatsache nicht gefolgert
werden, daß die Lösung so und so lautet, weil das schon
im ersten EinfaU cntlialten war.
25
4
Die psychoanalytische Therapie
Von Richard Sterbe, Wien .
Vorgelrafjrn im Wiener Akademischen Verein
tur medizinische Psychologie am il . Mai 1931h.
Meine Damen und Herren I
Der Versuch, die analylische Tlierapie vor Ihnen dar-
zuslcllcn, erschien mir in mehr als einem Sinne Rcrecht-
lerligl. Soviel mir erinnerlich, ist eine liursorisclie Ge-
saratdarstellung der analytischen Therapie, soweit dies
ecen mi Rahmen eines Vortrags möglich ist, vor Ihnen
OiMKT niclit imternommen worden. Sie haben anderer-
seits eine Reihe von Vorträgen in den lelzten Jahren ge-
iiort, die Details der analytischen Therapie, Neuerungen
«er lechnilc, vor Ihnen aulrollten, andere, die anderen
bpezialthemen der Analyse gewidmet waren und doch
dabei Streulichter auf therapeutisches Gebiet zu werfen
nicht vermeiden konnten. So könnte mein Vortrag seine
liercchtigung als kommentarisc-hcr Naclitrag zu diesen
vortragen erweisen, gleichwie als Vorlxjreituug für künf-
lifie solche Vorträge von analytischer Seite. Ich meine
aber, daß wir diese Rück- und Vorscluui vernachlässi-
gen dürfen und im Aktuellen verweilen können, Gestchen
wir uns recht die Wirksamkeit der analytischen Thera-
ALtl"^- T """^'" ""''^" '^'n Geheimnis, zu dem Sie
der ,^„^=^'"7' "«^'^^ '•'^'^ht rinden können. Das hängt mit
der sonderlichen Abwegigkeit des „eurotischen Prozesses
zusammen, die unserem bewußten Denken so fremd ist
und mit der uns erst das Studium der Analyse vertrauter
Iphr ^ •'""''" Voraussetzungen aus der Ncuro.scn-
lehrc, die eine Darstellung der analytischen Therapie
nrdn^!ir', '^"^'^^«'■•''n eine Darlegung derselben außer-
ordentlich und man gerät allzuicicht in die Gefahr, statt
ües Eigentlichen bei den Voraussetzungen zu verweilen,
ein l^ehler den auch ich nicht werde ganz umgehen
Können. Aber wenn Sie mir die freundliche Geduld
»4
schenken, mich bis zu Ende anzuhören, dann wird viel-
leicht das eine oder das andere wichtige Stück des „Ge-
heimnisses' der analytischen Therapie für Sie doch
lüflbar werden.
' Sie wissen, eine Therapie befriedigt den wissenschaft-
lich eingestellten Arzt nicht, wenn er nicht weiß, wie
sie wirkt. Die Voraussetzung für die Möghchkeit die-
ses Wissens ist die Kenntnis des Getriebes der Organe
und ihrer Beziehungen zueinander im gesunden und im
kranken Zustand, also die Physiologie und die Patho-
logie. Dies gilt für das Soma sowohl wie für die Psyche.
In der Psychoanalyse nun existiert eine besondere
Beziehung zwischen der Kenntnis des Getriebes, also
der Psychodynamik, und den therapeutischen Bemühun-
gen an der neurotisch erkrankten Seele. Denn von An-
fang an war in der Psychoanalyse das therapeutische
Verfahren gleichzeitig auch Erkenntnisweg und Erkennt-
nismitlei für den pathologischen Zustand wie für den
normalen, der durch die Therapie erreicht wurde.
Auch diese Tatsache ist kein vollständiges Novum in
der Medizin. Ich darf Sie an die Pharmakologie und ,
Pharmakodynamik des Herzens erinnern und wie rcich-
Uch von diesen Wissenszweigen aus die Wege zur Er-
forschung der Kardiopalhologic und Kardiophysiologie
liefen. Wenn aber auch dieser Weg zur Erkenntnis nor-
maler und pathologischer Zustände und ihrer Dynamik
von der Therapie aus kein neuer war, so war doch neu
und großartig der Umfang, zu der dieser Erkenntnisweg
in der Psychoanalyse sich erweitern sollte. Denn, und
dies ist ein Grundslein der psychoanalytischen Therapie,
erkennen und heilen fallen im therapeutischen Prozeß
der Analyse zusammen, sie sind dasselbe. Und dies ver-
möge der spezifischen Struktur der neurotischen Vor-
gänge und der dynamischen Erledigung der in ihnen
wirksamen Kräfte durch den therapeutischen Prozeß
des Bewußtmachens, worüber wir eben abzuhandeln
haben.
35
n
Sie wissen, wie mit der Ziinalimo der Gcnaiiis'ici'
uer brlorschiHif! auf naliiiwissciisclKillliclioin Gohiet zu-
nächst die Vei-lüilhüssc, die zu erforsclien sind, für das
Dctrachleude Auf-c eine Kei)ie von Ivoniplikalioiien erfah-
len. Wenn Sie sicli etwa die l.elire von der Karzinose
vor Augen führen, - das Karzinom ist als selbständige,
leyressive Proliferalion von Gewebsanlei len im sonst
normal erscheinenden Gewebe für einen Vergleich mit
flem neurolischeu Symptom aus dem Gebiele der so.na-
. lischen Pathologie vielleicht am beslen herauszugreifen,
wenn Sie verfolgen, wie das Karzinom aus zuiiächsl
uiniscti-hislologischcn befunden für die wissenschaflli-
cnc JirKenntms zu einer Gesamll<ran]dieit erweitert wer-
den muBte, wenn Sie sich vor Augen halten, wie der
, unllnß der Karzinose auf den Chemisimis des Körpers,
aut die endoUrincn Steuerungen enldeckt wurde, bis die
: dPr , I°" " '^'"•'-'■w»'^ nunmehr ein eigener Zwei«
t sfe "!'^f' ''"'^';!'«'' Wissensclu.fi geworden ist, so müssen
Sie s^eh Ä nihches für die vierzig Jahre analytischer
Neurosenlehre vorstellen, die uns eine Fülle von Berei-
cherungen und Komplikalionon an unserem Iheoreli-
nnl ,' .^'•■''""t «"'^'•'i'^'" l'aben. In einer di.laidischeu
uisn, n "r^ '• ^"'^"^'^ "^^ Jiemühcn zu Itechl, die
: s'l n, f^ ''!' emfachen Vorslellungen vom ..athologi-
se m R f?'^" '" ^'«"erholen u.ul an ilin'n, gewis-
scrmaße„ historisch, die Korrekturen zu entwickehi, die
reiden'mS: ''"™" '" '-""'= '"^'- l-'-'-"«-' '^^-
vnn^'i ^™"^''^^'="ia der psychoaualylischen Vorslilhmg
von der Genese der Neurose isl Ihnen wohl bckam.l.
Jas neurotische Symptom verdankt seine Hntstelunig
uei Wiederkehr verdräugicr seelischer Heg.mgcMi. Diese
"c^uiigcn, gegründet auf organisch bedingle Triebslre-
m ugen. sind der Verdrängung vertallen, d. h. also von
ue bewulJlen Persönlichkeit bis zum Niebts-davon-Wis-
su abgewiesen worden, weil die Zieliuhalle dieser Hcgun-
gtn Ihrer grobsexuell-inzestuöseu oder grausam baüer-
26
füUlen Natur wegen sich niil den ästhetischen und ethi-
schen Normen der Persönlichkeit nicht vereinen lielien.
Zunächst freilich ist diese Verdrängung ein Werk auiie-
rcr Hinwirkung, nämlich der Erziehung, denn erst aie
erzogene Persönlichkeit verdräng! selbständig und auto-
malisch. Die Verdrängung geschieht deshalb auch in
wesentlichem Anteil in einer Zeit, in der die B Idsam-
l<eit der Seele solche Einflußnahme am ^ve'teslen zu-
läßt, in früher Kindheit. Erziehen heißt 7°^ " die ei
ersten Zeit nichts anderes, als das läündel diltu er, ern^
ander sogar vielfach widersprechender, f'f ^f ei / e^
^trebigkeften, als die uns triebpsychologisch das Uleinc
Wesen frfü^len Alters erscheinen muß vere nen au
gleichen, unterdrücken, um es mit der Umwelt und de
somleii Normen des Kreises, dem das Kind anS'^f^
>^oll, in Einklang zu bringen. Der machtigste Motor fu
dieses Werk der Verdrängung ist die A"g«'' "'f ^J
zunächst die Angst vor dem Verlust der ^[^^^^'^2
im Durchschnitte also der Mutter, «pater kommt ^c
Angst vor Straten körperlicher und =«« '^^^f^^ J, , '^ "^ ,
Das Verdrängen der Triebregungen gleicht voUi^ e me.
Flucht vor ihnen, aber einer ^;;^^:,X^:^n,
glückten Flucht. Denn die «'•g'" ff"" und die von
die in unser Körperinneres e-ngf^'t« ^'f J,' *„^ ^, ^uf
ihrer endokrinen Funktion nicht lassen, '"S " :^ ^^„
dieser Flucht mit uns: einer Flucht also, -"^ ^le ~en
Träger der Gefahr mitnimmt. Und «^'g;'^^^^^^ ^Izu ehr
muß daher, damit man sie nicht «'f • "^ ', ^„e Ab-
zu spüren bekomm., ein D-m aufgeschutte,^^^^^^^ ^^
Iwltung aufgerichtet werden, die für de ^^^^ ^^^
wahrsam des Verdrängten sorgt, ^f J"" ' „ämlich
die Verdrängung psychisch eine Kratt r ,^^ ^^^^^^^^
die der verdrängten Regung, und ^ "<=" ^Ij'^.haltung der
nämlich die Gegenkraft, die "■"' ^-^ Verdrängung
verdrängten Hegung ^'^f^^'^"''"" " ""^,"tive Anstrengung,
erfordert anfangs eine 8«-«"«*;,,^ Verdrängen, läuft
später, wenn es nur mehr gilt, nacu/."*
sie ab wie ein autoinalisclier Prozeß, ohne iaiensiveres
DaziiUm der bewußlen Persönlichkeit.
Die neurotische Erkrankung tritt nun ein, wenn das
Gleichgewicht: dynamisches Moment der verdrängten
Triebregung und Gegcnkrafl, die wir Gcgcnbeselzung
nennen wollen, sich zu Gunsten der verdrängten Hegung
verschiebt. Dann bricht nämlich die verdrängte Hegung
in die bewußte Persönlichkeil ein und diese muß sich
vermöge ihrer Schwäche gegenüber der triebhaften Re-
gung diesen Einbruch gefallen lassen. Allerdings ist bei
diesem Einbruch, wenn es sich um eine Neurose han-
delt, die bewußte Persönlichkeit der Triebregung gegen-
über noch stark gcimg, diese von der direkten Hefriedi^
gung abzuhalten; das Trieb verlangen darf sich nicht
offen zeigen, es muß eine Konnvcrändcrung vornehmen,
eine Entstellung. Die neue Form, in der es in Erschei-
nung Irilt, ist das neurotische Symptom.
Ich will versuchen, Ihnen dieses reduzierte Schema
der Symplombildung an einem licispiel zu veranschauli-
chen. Es ist nicht leicht, ein Symptom an einem Er-
wachsenen zu finden, an dem sich dieser relativ ein-
fache Aufbau zeigen läßt, denn regelmäßig sind Symp-
tome viel komplizierter gebaut, und auch in dem hier
geschilderten Fall werden wir im weiteren Verlaufe
unser emfaches Schema ein wenig erweitern müssen
Ein zweiuudzwanzigjähriger junger Mann hatte bei
emem Sexualverkehr eine Skabies akquiriert. Bei der Be-
handlung dieser Affcklion war ihm etwas Wilkinson
Salbe auf das Praepulium gelangt, halle dort eine Ex
koriation verursacht, die sich sekundär infizierte Darnn
hatte sich eine Lymphangitis angeschlossen, die ein'län
geres Krankenlager, durch mehrere Wochen, iiolwendig
UlllChla. Ala er nun wieder gesund war und den Sexual-
verkehr wieder aufnehmen wollte, zeigte es sich, daß
er dazu unfähig war, weil seine Erektion mangelhaft
war, ja schUeßlich ganz versagte. Er war also impotent
geworden. Gleichzeitig aber trat neben den Zeichen einer
38
allgemeinen Ängsllichkeil ein sehr quälendes Symptom
auf. Er bekam, wenn er in einem öffentlichen Lokale
war, das Gefühl, die Haare stellten sich ihm auf und
alle 'Leute sähen ihn deswegen an. Dieses Gefühl verur-
sachte ihm Erröten und Angst, er mußte auf die Toilette
laufen, um die Haare feucht niederzubürsten. Das hielt
einige Minuten vor, dann trat bald nach seiner Rückkehr
ins Lokal dieses unangenehme Gefühl der aufgestellten
Haare neuerdings ein, so daß er seinen Gang auf die
Toilette während eines Kaffeehausbesuches sechs bis
sieben Male wiederholen mußte. Der ganze Zustand
wurde bald so quälend, daß er es womöglich vermied,
Lokale aufzusuchen, in denen er den Hut abnehmen
mußte. SchließUch suchte er die Analyse auf.
Wir wollen unser Schema an den Fall anwenden. Sie
merken, unser Patient hat seine genitalen Regungen ver-
drängt, die Kraft, die ihm geraubt ist, ist die genitale
Funktion, was sich eben im Erektionsmangel äußert. An
der erhöhten Ängstlichkeit können Sie gewissermaßen
die Wirksamkeit der Gegenkraft erkennen, die die Ver-
drängung aufrechterhalten sollte. Aber fast gleichzeitig
erfolgt ein Durchbruch der verdrängten Regung; Sie ha-
ben es längst bemerkt, daß sich ihm die am Genitale
mangelnde Erektion an den Haaren darstellt, nicht
wirklich, sondern imaginär — es ist dies ein Zeichen des
maf^ischen Zuges, dessen kein neurotisches Symptom
entbehrt. Die verdrängte Regung ist aufdringlich ge-
worden, dabei unverständlich, eben entstellt, in unserem
Falle noch dazu protesthaft, wie ein Widerspruch ge-
gen den wirklichen Befund des Ereküonsmangcls, näm-
lich als öffentliches Schauspiel. Ich muß dazu bemer-
ken, daß dies infantile, kindUche Züge sind, die die Re-
gung im Symptom angenommen hat.
Sie sehen schon, mit unserem einfachen Schema kom-
men wir hier nicht aus, denn abgesehen von den infan-
tilen Zügen, die einer besonderen Erklärung bedürfen,
ist es ein Moment, das uns auffäUL Die \er4rangung ge-
29
schah gar nicht mit Willen des iJelreffcnden, ja sie
vollzieht sich in unserem Falle nrefren ihn. Er halle wohl
wahrend seines Krankenlagers gedacht: „Jelzt lasse ich
von der SexiiaUtät, wenn sie mir solche Scherereien
bringt", aber nachher war es ihm so wenig ernst damit,
wie unseren Puberücrendcn so häurig mit ihren Onanic-
abslinenzvorsrUzen. Hier hatte etwas Stärkeres in seiner
Persönlichkeit seine Wirkung ausgeübt und die Verdrän-
gung besorgt, ohne seinen Willen, ja gegen ihn. Dieses
Stärkere, Unbekannte hfdt Aufsicht über die Verdrän-
gung, mit Argusaugeii, von denen wie beim Argus aller-
dings manchmal ein Teil schläft, nämlich wenn wir
selbst schlafen und wenn dann in die Träume Trieb-
regungen einschlüpfen, die wir bei Tag nicht an uns
bestehen ließen.
Freud nannte dieses Andere, das über die Verdrän-
gung wacht und das Nachverdrängen besorgt, zunächst
Zensur, weil ihm zuliebe die Entstellung cinlrill
wenn die verdrängle Hegung wicderkelirl, später nannte
er es Über-Ich, weil es eine Inslitulion ist, im Ich
errichtet, dumit sie über das Ich wache, es kritisiere
und über Gut und Hose riclite, also niclifs anderes als
unser Gewissen. Merkwürdig genug und nur aus seiner
Genese vcrsländücli, daß dieses Gewissen, wie in unse-
rem Falle, weiter reicht als das Wissen und strenger ist
als dieses. Dies hängt freilich damit zusammen d-xß
bei unseren Patienten auch die Wünsche böser waren
als er es wußte.
Ich muß liier noch einiges über die Genese seines Svm-
ploms nachtraffen. Während der Krankheit halte die
Mutter ihn gepflegt und vcrbundLMi. I-s ließ sich niclit ver-
meiden, da/i sie sehi Genitale dabei sah. Das Zeigen des
Genitales aber halte in seiner Kindheit eine große Rolle
gespielt. Als Knabe war er der jüngeren Schwester ge-
-genübcr sehr stolz auf sein m;innlichos Genitale und
vcrhmgte geradezu deren liewunderuug, Das ist nichts
gerade Abnormes, wir können in Kinderstuben leicht
30
ähnliches beobachlen. Besonders aber waren au die
Mutter diese zeigelustvoUeii Regungen gericlitet, schon
als an die nächste ständig um ihn befindliche Pflege-
person die ja auch die Reinlichkeitsprozeduren an ihm
vorzunehmen hatte. Diese Zeigelust wurde ihm nun als
Kind wiederholt energisch abgestellt, und nicht nur am
Genitale was uns gleich einen weiteren Zug an semcm
Symptom erklären wird. Er hatte als Kind wunderbare
lange, blonde Haare, auf die er selu* stolz war und die
einen weiteren Gegenstand seiner Zcigelust bildeten, bis
der Vater, als der Sohn fünf Jahre alt war, ihn als zu
rrroß dafür befand und auf seinen Auftrag die Haare ge-
schnitten wurden. Er hatte damals auch die Geschichte
von Samson und Delila gehört und daß Samsons männ-
liche Kraft mit dem Fallen der Haare gebrochen war.
Zu gut und zu tief hatte er diese Symbolik als Kind
erfaßt.
Ein Übriges geschah noch während seines Kranken-
lagers. Er las der Mutter den Don Carlos vor. Die Wahl
dieses Stückes geschah nicht ohne unbewußtes Verständ-
nis für die Dichtung, die er schon gekannt hatte.*) In
diesem Drama Schillers begehrt bekanntlich der Sohn
die Mutter, in leichter Entstellung allerdings, denn Elisa-
beth von Valois ist Don Carlos' Stiefmutter, aber immer-
hin die Frau des Vaters. Wir wissen, wie Don Carlos
daran zugrundegeht. Und wenn Schiller die Offenheit
dieser Darstellung unbewußter Regungen mit einer sie-
benjährigen Hemmung seiner dramatischen Produktion
büßte — ich weiß nicht, ob Sie sich recht vorstellen,
was es für einen Dichter von der herrlichen Produktions-
kraft Schillers heißt, sieben Jahre nichts zu schreiben,
als philosophische und ästhetische Essays -, wenn
Schiller den Don Carlos mit sieben Jahren Hemmung
büßte die er erst überwand, als sein Vater gestorben
*) Hiezu siehe Hanns Sachs, Gemeinsame Tagträume.
Int. psych. Verlag. Wien 1924. S. 51 ff.
31
iiiul er sflbsl ViUcr «cwordoii war, dann i»aK ^^ "
nicht wiin<lcrn,(iMli unser Palient in der krilisclicn Situa-
tion, in <ler er sicii hufaiid, seino unhcwnlMon inzes-
tuösen Versnehnn*,'en und Wünsche mit einer Hemmung
seiner ßenüaleii l'"unklioii i)ülJte.
Aber i^vnun davon. Sie halben oluichin schon den Em-
drnek, daß ich so aiisführUch bin, weil ich vermeiden
will, Ihnen die uiialytiselie Therapie zu schildern. Sie
irren. Icli habe sie liinea schon gesehilderl. Das Hcraus-
hringen, was determinierend für das Symptom wirksam
war, heißt cheii, psyehoanalytischc Therapie treiben.
Die unbewußten Quellen der Symptome finden, mehr,
sie bewußt machen, mehr noch, sie bewidit er-
leheu lassen hoißl therapeutische Analyse ausüben;
sagte ich Ihnen doch, daß Forschen und Ueilen in der
Analyse zusanimeufallcn. Aber wie man es macht, und
warum es wirkt, bin ich Ihnen zu schildern schuldig
Ich gesiehe j^crne, daß dies der weitaus schwerere Teil
meiner AulYiabc ist.
Wir leiten die analytische Therapie damit ein, daß
wir unseren I^alionten zum Erzählen veranlassen, und
dabei zu dem, was er erzählt, manchmal eine Frage
stellen, schon seltener dazu eine Bemerkung raaclicn.
Meist hören wir ihn zunächst an. Die Situation in der
typischen Analyse ist dabei etwas ungewöhnlich, der
Palient hegt nämlich auf einem Sofa, oder wie man
moderner sagt, auf einer Couch, wir sitzen hinler ihm,
so daß wir nicht in seinem Blickfeld sind. Ein Einziges
hat er nun bei seinen Äußerungen zu beachten, nämlich,
daß er, was ihm iu den Sinn kommt, keiner Kritik
unterziehe, sondern allen ethischen, ästheüschen und
inlellekdicllen Einwänden zu Trotz äußere. Diese Vor-
schrift nennen wir die psychoanalylischc Grundregel
Die Befolgung der Grundregel zieht sich als fast einzige
Aufgabe des Patienten durch die ganze Analyse hin-
durch. Es wird also nichts als geredet in der Analyse,
möglichst viel vom Patienten, weniger vom Analytiker,
32
-I
[
F
P
Dr. Georg Groddeck t
f^
• >. . . . ...
und es erhebt sich die alte Frage, wie man durch Reden
lind werden soU. Ich meine, daß die Beantwortung
Lser Frage sich bei meinen weiteren Ausführungen
^^etrmÄlU^treits das Ergebnis Jah.langer
inltsiver Forschung, die Freud an neurot.sch Kranken
vi~men hatte Ursprünglich ging Freud namhch
vom Cptom aus und fragte direkt zum Symptom m
r Voraussetzung, der Patient müsse vieles darum
wissen, es sei ihm nur nicht gleich ^-^gangUch erst e n
Bewisses Drängen in ihn lasse vergessene Spuren der
lymp Umbildung wieder in ihm aufleben deren naher-,
zusammenhänge dann zu erraten seien^ Inzwischen h
sich wohl am meisten aus der Emsicht, daß auch der
verdr ngende Anteil in der Persönlichkeit ohne Präsenz
des Bewußtseins arbeitet, die Technik wohl oder übel
verändern, müssen.
Unsere Darstellung wird zu umständlich, wenn wir
nicht zwei neue Termini erläutern, von denen ictl
einen schon gebraucht habe. Wir nennen die Gesamtheit
der triebhaften Regungen das Es; das Es Ist also der
Ort der organisch bedingten Triebursprünge, der leiden-
schaftlichen Wünsche, auch der verpönten, und alle
psychischen Vorgänge nehmen nach unserer Vorstellung
zunächst im Es ihren Anfang, beziehen von dort aus letz-
ten Endes ihre Energie. Diese Vorgänge streben danach,
sich in triebhafte Handlungen umzusetzen. Vor dem Zu-
öans zur Motiütät aber müssen sie jene Zensur passie-
ren von der wir schon gehandelt haben. Den Zugang zur
MotlUtät und auch, wenn auch schlechter, zu den affek-
liven Äußerungen beherrscht aber das Ich. Das Ich
ist der organisierte Teil der Persönlichkeit, jener Teil,
den wir meinen, wenn wir „ich'' von uns aussagen,
relativ geordnet und der Realität zugekehrt. Das Be-
wußtseinist an das Ich geknüpft. Das Ich ist es das
sich gegen die verpönten Triebregungen wehrt und ihnen
beim Vorgange der ersten Verdrängungen seine Aufmcrl^-
3 Almanach 1935 35
samkcil entzieht. Vom Ich f*t'ht die Ge^cnbesotzung
aus, die das Vordrängte vom UewiitMwerden und Durch-
dringen zur MoliHlät ahhült. Im Ich ist, allerdings zum
großen Teil unljewußt, jene Icrilische Instanz oder Insti-
tution wirlisam, deren Funktion unser Gewissen ist und
die wir das Ober-Ich gcnaiml halien.
Wenn wir in dieser Terminologie das Symptom unse-
res Patienten beschreiben, so ist bei ihm ein Stück
seines verdrängten Es ins Ich eingebrochen, allerdings
hat diese verdrängte Triebregung selbst nach ihrem
Einbruch ins Ich der kritischen Instanz Rechnung tra-
gen müssen und die Verkleidung und Abschwächung der
Verschiebung auf die Haare sich gefallen lassen müssen.
Das Ich erkannte die Triebregung nicht mehr als das,
was sie war, zum Teil auch deshalb, weil sie von frü-
her Verdrängtem, längst Vergessenem ans erster Kind-
heit mächtigen Zuzug erhallen halte.
Sie müssen sich die Treiunuig zwischen Ich und Es
beim Normalen nicht allzu streng vorstellen. Im psy-
chischen Normalzuslande sind die abgewiesenen He-
gungen in wohlversicherter Verdrängung gehallen, der
Verkehr zwischen den Syslemcn Ich und Es ist anson-
slen ein relaliv unbehinderter, lockerer, was einen Gut-
Icil des Gelöstscins der NormalpcrsOnlichkoil ausmacht.
In neurotischen Zuständen wird der Versuch der Ab-
schlieliung der beiden Instanzen gegeneinander strenger,
das Ich wird niilitrauischer gegen das Es, das Es aller-
dings aufdringlicher und gewalttätiger gegen das Ich,
wie Sic es in unserem Fall gescheu haben.
Das Symptom aber ist nur eine exzessive Exazorbalion
einer allgemeineren Durchdringung des Ichs mit den
mangelhaft verdrängten Regungen des Es überhaupt
Und auf diese allgemeinere Durchdringung des Ichs
mit den Es-Regungen ist die Wirkung der Grund-
regel aufgebaut. Die verdrängten Regungen stehen un-
ter einer beträchllichen Expansion, sie haben ja ihre
34
dynamische TriebgewaU behalten, und wenn das Ich die
Verdrängung nur mehr mangelhaft besorgen kann, dann
dringt der Selbstverrat des Verpönten und doch Ge-
wünschten dem Menschen „aus allen Poren", wie Freud
einmal in der Psychopathologie des Alltagslebens sagt.
Es gibt noch dazu besondere psychische Bildungen, die
von den Realitätsbeziehungen des Ichs abweichen und
starke Einschläge des Es offenbaren, wenn auch hier
wieder nur in entstellter Form. Es sind dies die Phan-
tasien und Tagträume, die Fehlleistungen und die
Träume, die vom Ich um ihres verräterischen, bösen
Inhalts willen gerne beiseite geschoben und mißachtet
werden. Die Grundregel, welche also den Patienten
verpflichtet, jede Kriük den Einfällen gegenüber auszu-
schalten, bewirkt, daß den Regungen des Es im Ich ein
kleines Stückchen mehr Spielraum gewährt wird, als
sie ihn beim straffen, zielgerichteten, logisch einwand-
freien Denken und Berichten haben. Bei einer Reihe
von Patienten spürt das Ich die Wirkung der Grund-
regel sofort und reagiert auf die Erteilung derselben
mit Angst. Und Angst ist immer ein Zeichen, daß das
Ich vor heftigen Triebregungen sich fürchtet und sich
ihnen gegenüber nicht stark genug fühlt.
Wenn die Grundregel die bewußte Kritik an den Ein-
fällen zum Großteil ausschaltet, so ist damit die Gegen-
beselzung um ein Stück vermindert, dem Es also ein
Stückchen mehr Freiheit gewährt, die Einfälle und psy-
chischen Abläufe in seinem Sinne zu beeinflußen. Da-
durch wird für uns die Erkennbarkeit dessen, was in der
Tiefe vor sich geht oder vor sich gehen möchte, ver-
größert. Freud hat eine eigene Technik ausgearbeitet,
wie aus dem Material der Einfälle die Es-Regungen er-
kannt werden können. Man muß die Einfülle nämlich
deuten, das heißt man muß neben ihrem bewußten
Sinn als Abläufe im Sinne des Ichs den unbewußten
modifizierenden Einfluß erkennen, dem sie vom Es
her unterlegen sind. Wie zu jeder Technik gehört auch
3» 85
zu dieser eiiüge Begabung, damit man sie riclilig aa-
wendct.
Aber die Einfälle sind nicht das einzige, an dem wir
das unterirdisclie, wcilvcrzwei}ttc, imbewußtc Myzel er-
kennen, aus dem das Symplom wie ein Pilz hervor-
geschossen ist. Die Lockerung des Ichs durch die Grund-
regel äuWerl sich noch in einem anderen, höchst merk-
würdigen Phänomen, von dem Sie sicherlich schon viel
gehört haben, nämlich in der Übertrag u n g.
Die Regungen, die in der Kindheit verdrängt worden
waren, waren ja zum großen Teil au bestimmte Ob-
jekte gebunden gewesen. Die wichtigsten Objekte der
Kindheil, Vater und Mutter als Zenü-alpcrsönlichkeiten
des infantilen Erlebens, und die Geschwister sind im
Unbewulitcn aufs innij^ste mit den verdrängten Trieb-
regungen verknüpft. Und merkwürdig genug, mit dem
intensiveren lundringen der Es-Ucgungen iu das durch
die Grundregel gelockerte Ich kommen auch diese Ob-
jekte der Kindheit wieder ins Erloben. Dabei geschieht
diese Wiederholung jeweils so, als ob der Analytiker
das Objekt der verdrängten, infantilen Triebslrebimgen
wäre. Hier ist das Phänomen der analytischen Therapie,
bei dem ich am meisten zweifle, ob ich es Ihnen werde
deutUch faßbar machen können. Vielleicht aber darf ich
an eine häufige lieobachlung anschließen, die Sie selbst
gewiß schon gemacht haben. In ilu-en Eiebeslieziehungen
weisen viele Menschen das snud<M-l)are Verhallen auf,
daß ihre Beziehungen, wenn sie solche wiederholt er-
werben und wieder lösen, einen für die betreffende Per-
sönlichkeit typischen Verlauf nehmen; oft ist dieses
Schematische, Klischeehafte im Ablauf nur bei genauerer
Zusieht zu erkennen, weil leichte Veränderungen es un-
deutlicher machen. Solche Menschen erleiden etwa im-
mer wieder dieselbe Enttäuschung an ihren Eiebes-
objekten, oder sie gewinnen das Objekt immer unter
denselben Bedingungen. Es liegt etwas zwaughaft Wie-
derholungsmäßiges in ihrem Verhallen. Wenn ich Ihnen
36
I
für solche Wiederholungen ein Beispiel geben soll, so
möchte ich es aus dem Gebiet der künstlerischen Pro-
duktion holen, weil die allgemeine Zugänglichkeit sol-
cher Produkte und das allgemeine Wissen davon die
Oberzeugung so sehr erleichtert Ich könnte Ihnen auch
kaum an einem kUnischen Fall eine solche Häufung
gleichmäßiger Abläufe zeigen, wie am folgenden literari-
schen Beispiel.
In den Musikdramen Richard Wagners fmden Sie ein
Leitmotiv, nicht ein musikalisches meine ich, sondern
eines der Handlungen, die die Dichtungen zum Gegen-
stand haben, ein Leitmoüv, das wir deshalb als ein
solches wiederholungsbedingles Lebensmotiv Richard
Wagners ansprechen dürfen, weil es auch in seinen rea-
len Liebesbeziehungen eine wesentliche Rolle gespielt hat.
Es ist dies das Motiv der Br a u t ab na h m e, wie wir
es nennen. In allen seinen Werken, vom ersten bis zum
letzten, raubt einer, meist ein Tenor, einem anderen,
meist einem Baß oder Bariton, die Braut, Geliebte oder
Gattin. So der Holländer dem Jäger Erik, Manfred dem
Nurredin, Tannhäuser dem Wolfram, Lohengrin dem
Telramund, Tristan dem Marke, Stolzing dem Hans Sachs,
Sigmund dem Hunding, Siegfried dem Wotan, Parzil'al in
let'zter, sublimster Form befreit Kundry von Klingsors
bösem' Einfluß. Wagner selbst realisierte seine Liebes-
phantasie, die also an die Bedingung eines geschädigten
Dritten geknüpft war, zweimal deutlich in seinem I^ben.
Es erfaßte ihn die tiefste Liebe zur Gattin seines Freun-
des Wesendonck und er heiratete schließlich die Gattin
seines Freundes Bülow. Deutlicher hätte ich Ihnen
kaum an einem anderen Menschen in Phantasie und
Realität das zwangsmäßige Festhalten an bestimmten
Bedingungen im Liebeslebcn zeigen können. Man hat bei
solchen Menschen mit ausgeprägtem Wicderholungs-
zwang im Liebesleben den Eindruck, daß die Liebe nicht
am Objekt haftet, sondern an den Bedingungen, unter
denen das Objekt steht. Diese Menschen tragen inuer-
8^
lieh die Objtiklbezichunjf mit sich herum und bringen
sie zum bewußten Erleben, wenn sie auf ein ruißeres
Objekt stoßen, dessen KonstellaLion sich mit diesen
ihren inneren Liebesbedingungen deckt. Das äußere Ob-
jekt spielt dabei nur die Uollc des Tragers der inner-
lich praformiertcn Einstellung und ist daher so leicht
auswechselbar, wenn sich die Bedingungen verändern,
und die präformierlc Einslcliung kann deshalb so leicht
auf ein neues, äußeres Objekt verschoben werden. Ana-
lysiert man diese Beihcnbildungen in der Vcrhallcns-
weise, so stößt man auf ein Verhalten oder eineWunscn-
cinslcUung in früher Ivindlieit, die das Urbild für alle
folgenden Wiederholungen abgibt. Und nur durch die
Aufdeckung dieses ersten Verhallens gelingt es, einen
solchen Zauber des zwangsinäßigeu Wicderholens zu
lösen, wenn er für die Persönlichkeit als bös und stö-
rend sich erweist.
In der Erweiterung des Es-Bereichcs, den die Auf-
lockerung durch die Grundregel und ihre Befolgung
bedeutet, kommen nun Wiederholungen alter \Uc^^'
abläute an Objekten auf, die ansonsten solche GewaH
über das Ich nicht gehabt hätten, daß sie es zu so
zwanghafter Wiederholung veranlaßt hätten. Aus tieferer
Verdrängung stammend, haftet diesen Objektbeziehung^^u
mehr Irrealität an als den oberflächlichen; die Ver-
schiebung, Verkleinerung der Realitätswerle ist bei ihnen
intensiver und es geschieht das Sonderbare, daß der
Analytiker als jener schon, der bei der Behebung der
Verdrängung die Hilfe leistet, das Objekt dieser Stre-
]L , ^ngen wird, daß sie an ihm wiederholt werden. Wii*
geraten hier in eine phantastische Welt hinein, von
der wir bei genauerer Kenntnis derselben begreiff»i
daß das Ich, das die VcrbiiKJuii^ mit der AußenwcU
aufroclilerliaKen imiß, sie nicht brauchen kann und sie
abweist, und daß es schwere Stnrungen gibt, ^cn^^
diese magische, irreale, heftig Icideiisrhafiliohc, '''^^^^
genheitsgeschwängerle TnebwcU im neurotischen Syu
^8
lom ins Ich einbricht. - Der AnalyUker wird also das
Objekt der Strebungen, die er sich bemüht, aus dem Es
ins Ich zu heben, oder besser, er wird als Wiederho-
lung der ursprünglichen Objekte dieser Strebungen er-
lebt. Für diese Möglichkeit sorgt die analytische Situa-
tion. Dadurch, daß der Analysierte den Analytiker nicht
sieht, und dadurch, daß er wenig oder am besten
nichts von ihm weiß, fallen die Projektionen der aus der
Tiefe des Unbewußten auftauchenden Objekterlebmsse
wie auf eine zeichnungs- und reUeflose Schirmflache
auf ihn auf. Die Bedingungen, unter denen ansonsten
Wiederholungen erfolgen, werden, wenn die Analyse m
diesen Ueferen Schichten sich bewegt, auf ein Minimum,
auf eine Andeutung reduziert, oder aber hinzuphanta-
siert, wenn man nur den Prozeß des Auftauchens nicht
stört. Dazu gehört eben die relative Reinheit der Pro-
jektionsfläche, erreicht durch die zurückhaltende Hal-
lung des Analytikers, die auch deshalb eine Notwendig-
keit ist, weil der Analytiker ja die Bilder, die auf
ihn fallen, von sich wieder ablösen und dem Ana-
lysanden zurückgeben muß; er soll möglichst wenig
dahei von seiner PersönUchkeit mit abgeben, er ist
ja um einen chemischen Vergleich mit Ferenczi zu ge-
brauchen, nur ein Katalysator, ein Ferment im analyti-
schen Prozeß, das in der Formel letzten Endes mcht
aufzuscheinen hat.
Die Übertragung früherer Objektbeziehungen auf den
Analytiker kommt auch dadurch zustande, daß den trieb-
haften Regungen ein intensives Bestreben nach Wieder-
holung anhaftet, besonders dann, wenn sie durch die
Verdrängung von der Entwicklung, die die übrige Per-
sönUchkeit mitgemacht hat, abgesperrt waren^ Dieser
Dran« nach Wiederholung wird durch die Verdrängung
an der realen Ausübung im allgemeinen gehmdert; über
die gelegentlichen Durchbrüche im Liebesleben habe ch
schon gesprochen, m der Analyse kann das Ich Wiederho-
lungen von Es-Regungen und alten Objektbeziehungen
59
auch deshalb zunehmend mehr Raum geben, weil das
Ich im Triüning des analytischen Verfahrens stückweise
lernt, Es-Regunjjen zn bewältigen und weil es die Sicher-
heit psychisclier Hilfe hat, die ihm der Analytiker ge-
währt. — Es kommt also ia der Analyse zur Wieder-
holung infantiler Erlelmissc und Einstellungen am Ana-
lytiker, jenes Phänomen eben, das wir als Übertragung
bezeichnen.
In diesen Wiederholimgen am Analytiker ist eine der
wichtigsten Handhaben gegeben, zu erkennen, was ein-
mal in früher Kindheit au Objekten abgelaufen ist und
wie es sich abgespielt hat. Während die Einfälle unter
der Grundregel eine Erweilennig der bewuIHcn, in-
tellektuellen Verarbeitung über bisher imzugäng-
liche Gebiete bedeuten, bcdculet die Übertragung eine
Erweiterung des affektiven Erleljens über bisher
unzugängliches Triebgeschehen. Die Übertragung, das
heißt also die Wiederholung von erlebten, aber auch
phantasierten Erlebnisinhalten am Analytiker aus frü-
hester Kindheit ist eben durch ihren Wiederholungs-
charakler ein kardinales Mittel zur Erkennmig der ver-
gessenen Vergangenheit und ihrer Triebgrundlagen.
Aber die Obertragimg hat auch ihre ernsten Schatten-
seiten. Denn unsere Iherapeu tische Aufgabe ist es letz-
ten Endes nicht, infantile Erlebnisse zur Wiederho-
lung zu bringen, sondern sie in ihrer Wirksamkeil er-
löschen zu lassen, der Triebwclt das Infantile zu neh-
men, das ihr anhaftet und durch das sie vom Einbau
in die bewußte Persönlichkeit, in das Ich, abgehalten
wird. Es bleibt uns also übrig, das in der Übertragung
sich wiederholende Triebstreben seines Wiederhol ungs-
Charakters zu entkleiden, aus seinen infantilen Fixierun-
gen zu lösen und die darin gegebenen dynamischen
Quantitäten der bewußten Persönlichkeit für ihre viel-
fältigen Zwecke zur Verfügung zu stellen. Aber über die
Bewältigung dieser Aufgabe will ich später abhandeln.
40
Die andere Schattenseite der Übertragung kann ich
Ihnen nicht klarmachen, bevor wir nicht auf ein dyna-
misches Moment eingegangen sind, das in der analy-
tischen Therapie notwendig die größte Rolle spielen
muß, nämlich auf den W id c r s ta nd. Am Widersland,
den er beim Versuch der Behebung verdrängten Mate-
rials zu spüren bekam, hat ja Freud die ganze Dyna-
mik der Neurose, ja die Trieb- und Verdrängungsdynamik
der Persönlichkeit überhaupt zu erkennen begonnen.
Die Wirksamkeit des Widerstandes möchte ich Ihnen
an einem Vergleich klarmachen, den Freud in einer
der Vorlesungen bringt, die er 1907 auf die Aufforderung
des Präsidenten Dr. Stanley Hall an der Clark Universily
in Worcester, Mass. gehalten hat. Dieser Vergleich ist
deshalb für unsere Darstellung geeignet, weil er gleich-
falls der Situation Vortragender-Zuhörer entnommen ist
und also hierher übertragen werden kann. Freud sagt
dort: , TT j -
Vielleicht darf ich Ihnen den Vorgang der Verdrän-
gung und deren notwendige Beziehung zum Widerstand
durch ein grobes Gleichnis veranschaulichen, das ich ge-
rade aus unserer gegenwärtigen Situation herausgreifen
will. Nehmen Sie an, hier in diesem Saale und in diesem
Auditorium, dessen musterhafte Ruhe und Aufmerksam-
keit ich nicht genug zu preisen weiß, befände sich doch
ein Individuum, welches sich störend benimmt und
durch sein ungezogenes Lachen, Schwätzen, Scharren
mit den Füßen meine Aufmerksamkeit von meiner Auf-
gabe abzieht. Ich erkläre, daß ich so nicht weiter vor-
tragen kann, und daraufhin erheben sich einige kräftige
Männer unter Ihnen und setzen den Störenfried nach
kurzem Kampfe vor die Türe. Er ist also jetzt „ver-
drängt" und ich kann meinen Vortrag fortsetzen. Da-
mit aber die Störung sich nicht wiederhole, wenn der
Herausgeworfene versucht, wieder in den Saal einzu-
dringen, rücken die Herren, welche meinen Willen zur
Ausführung gebracht haben, ihre Stühle an die Türe
und elablicreu sich so als „Widersland" nach vollzogener
Vcnlräiij^uiig. Wenn Sie nun noch die beiden Lokalitäten
hier als das „Hi'wiiiilc" und das „Unbewußte'* aufs
Psychisclu; übertragen, so haben Sie eine ziemlich gute
Nachbildung des Vorganges der Verdrängung vor sich."
Und kurz darauf hcilit es weiter:
„Denken Sic daran, mit der Entfernung des störenden
Gesellen und der Niederlassung der Wächter vor der
Türe braucht die Angelegenheil nicht beendigt zu sein.
Es kann sehr wohl geschehen, daß der Herausgeworfene,
der jetzt erbittert und ganz rücksichtslos geworden ist,
uns weiter zu schaffen macht. Er ist zwar nicht mehr
unter uns, wir sind seine Gegenwart, sein höhnisches
Lachen, seine halblauten Bemerkungen los geworden,
aber in gewisser Hinsicht ist die Verdrängung doch er-
folglos gewesen, denn er führt nun draußen einen uner-
iräglichcn Spektakel auf und sein Schreien und mit den
l'ülJcn an die Türe Pochen hemmt meinen Vortrag mehr
als früher sein unartiges Henehmen. Unter diesen Ver-
häliuisscii würden wir es mit Freuden begrüßen müssen,
wenn etwa unser verehrter Präsident, Dr. Stanley Hall,
die Holle des Vermittlers und Friedensstifters überneh-
men wollte. Er würde mit dem ungebärdigen Gesellen
draußen sprechen und dann sich an uns mit der Auf-
forderung wenden, ihn doch wieder einzulassen. Er
übernehme die Garantie, daß jener sich jetzt besser be-
tragen werde. Auf Dr. Halls Autorität hin entschließen
wir uns dazu, die Verdrängung wieder aufzuheben und
nun tritt wieder Ruhe und Frieden ein."
Am ersten Teil des Bildes, da also nach vollendeter
Verdrängung der ungebärdige Störenfried draußen ist
und die Herreu an der Tür sitzen, um ihm den Wieder-
eintritt zu verwehren, ist Hmen die Gegen besct-
zung als eine dynamische Resistenz gegen die Rück-
kehr des Verdrängten klargeworden. Aber neben dieser
mlrap.sychischen l-unklion der Gegenbesetzung oder des
Widerstandes als lO-aftaufwand zur Aufrechlcrhallung
4»
i
der Verdrängung müssen wir noch die Beziehung der
Gegeubcselzung zum Verdrängung behebenden Analytik
ker also ihre Funktion in der analytischen Therapie
Idarmachen and zu diesem Zwecke Freuds Gleichnis
vom Vortragssaal ein wenig erweitern. Freud sagt:
„Aufs Dr. Halls Autorität hin entschließen wir uns,
die Verdrängung wieder aufzuheben und nun tritt wie-
der Ruhe und Friedea ein." Aber mit dem Entschluß
hat es in Wirklichkeit seine Schwierigkeit, denn erstens
ist zunächst die Autorität des Analytikers keine so über-
wältigende, daß sein bloßer Vermittlungsversuch genügt,
um Ruhe und Frieden wieder herzustellen. Auch muß
dieser Vermittlungsversuch an zwei Stellen einsetzen,
erstens am Vortragenden und Auditorium, als der Ein-
heit der bewußten Persönlichkeit, die aber an das
nunmehr gute Benehmen des Störenfrieds nicht so-
gleich glauben will, und zweitens an jene Herren
bei der Tür, die vom Zentrum des Bewußtseins
entfernt, nicht wissen, was inzwischen hier vorgegan-
gen ist, die Autorität des Präsidenten nicht anerkennen,
sich an ihre Funktion der Verhinderung des Wieder-
eintritts halten, und nun gegen den Präsidenten Wider-
sland leisten, wenn er den Eintritt des Störenfrieds
erzwingen will. Und noch ein Übriges ist zu tun; auch
der Störenfried muß sich ändern, muß sein kindisches
Betragen ablegen und auf das Niveau des Auditoriums
gehoben werden, damit er sich ihm einfügen könne. Das
wichtigste Stück daran aber ist das Verhandeln mit
den Herren bei der Tür, also, um den Vorgang in die
analytische Terminologie zu übersetzen, die Bewältigung
der unbewußten Anteile des Verdrängungswiderstandes.
Denn diese Herren an der Tür sind verbissene reaktio-
näre Leute, die jeden, der mit dem Verdrängten in Ver-
bindung treten wiU, als ihren argen Femd betrachten.
Vergessen Sie nicM, daß das Gros der Verdrängung in
früher Kindheit vor sich gegangen ist, daß antiquierte,
für den Erwachsenen längst unhaltbare Verbote, Be-
43
fürchlimgen, Ängste, phanlaslische Vorstclkmgen des
Kindes, Ireilich hnufij^ auch böso Fehler der Erziehung
in diesen Vcrdränjfungswächtern wirksam sind. Wir ha-
ben früher davon gesprochen, daü die Erziehung die
ersten Verdrängungen setzen muß. Bei den Versuchen
zur teilweisen Rückgängigmachung der Verdrängung in
der Analyse geschieht nun das Merkwürdige, daß auch
die licziehung ztnn verdrängenden Erzieher am Analyli-
ker wiederholt wird und in der Übertragung aufschdnl.
Übertragung und Widersland fallen dann zusammen,
wenn die Oberiragung von der ehemals triebverdrängen-
den Persönlichkeit her vorgenommen wird. Da Erzieher-
person und Liebesohjekt der Kindheit regelmäßig zusam-
menfallen, geschieht es häufig, daß einander widerspre-
chende Wiederholungen infantiler Gefühlseinstellungen
am Analytiker ablaufen. Triebwunsch und ängstliche Ab-
wehr, zärtüchc licziehung und Enttäuschungshaß und
ähnliche gegensätzliche Gefühlseinslellungen kennzeich-
nen regehnäßig gewis.se Phasen der Übertragung in der
Analyse.
Sie scheu, was für komplizierte Mechanismen in der
Übertragung zusammentreffen. Aber daß diesem, oft ja
nur andcLilungsweise aufscheinenden Erlebnis am Ana-
lytilvcr Wiederholungscharakter anhaftet, daß es eben
eine Übertragung von früher isl, macht es für
unsere ticfenforschcndcn Bcmüluingen so unendlich
wertvoll. I^cnn die Genese beider gegensätzlicher Ein-
stellungen, des Triebes und seiner Abwehr, können wir
an Hand der Erlebnisse am Analytiker in der Über-
tragung erforschen; eine Wiederholung der Kindheits-
geschichte läuft in der Übertragung ab, allerdings häu-
fig in umgekehrter Reihenfolge, oder in durchkreuzten
Schichten, doch für den Erfahrenen wohl erkennbar.
Auch den Obcrtragungsphänomencn sieben wir als
Analytiker ruhig betrachtend und vor allem deutend
gegenüber. Hier, bei der Obcrlragimg, meint aber „deu-
ten" etwas anderes als bei der Deutung von Einfällen
44
oder Träumen, wo das Deutea ein »'=^^^«"^'^^^^1
lektuelles Erkennen und Erläulern, Schlus^ ziehen
durch oberflächUches hi^d-'-'^l^^f^^'^/^^^^, Je ^
Übertragung steht das Ich --'<^'J%,^^f,Z\Zr
wiederholungssüchtigen Regungen der T. ehe o^^r m
antiquierten Ab^vehr. Die Übertrag^. «^^ ^LS
Erleben am Analytiker Erkenntnis g ^ .
heißt gegenüber dem Trieb- oder Abwehrverlangen e.ne,
Standpunkt ruhiger Betrachtung -f^-^h ^ hciß^' ^_
Primat des Intellekts und der Beherrschung g^g^n J^^
denschaflen ins Treffen führen. Sie /«-^^en ^ers'ehen
daß dies eine mühevolle, zeitraubende Arbeit ist, unü
daß st hemgeren trieb- oder angstbedingten Regungen
gegenüber mft viel Geduld und in haufger, o t nner
müdlicher Wiederholung vorgenommen werden muß^
In der Deutung der Übertragung '^''^^'^^J'IZjJzi
der anzuwendende Vergleich zwischen Einst und Jetzt,
zwischen IrreaUtät der infantilen Strebungen und Wirk-
Uchkeit zwischen Kind und Erwachsensein, die größte
^^ ^r r ^:::äegS ^ -^^- -->"•
Z irtfangerr dlrc^h die ^^^^^^^
Lt bedingt -l^-"' -^^Ve^rvergangenheit in sein
Uehkeit der Einb-Jung ^ -/-| ^^^^^^^^^^ ,er
Bereich, was sich als Autiauciiei dynamischen
zugehörigen Erinnerungen '"f f '^!; .^'^„.^gen gehen
Momente der bisher ^^''^';;f'^J^'trl^ne mUg-
dabei ins Ich ^"f ."""^ J^^-^^","!;" wird dadurch
fachen Zwecke d'f ^t"'^'-;. °^ ^^Zm Schwinden ge-
seiner EnergiequeUen '^"l^l^f'^^,' Verarbeitung lernt
bracht. An der Übertragung "f >? ^^J''^,, durch Ver-
das ich, Triebverzichte, <!•« f ^J f ^^eise zu bewälti-
drängung möglich waren, auf andere ^^^^^^^^^^ ^^^
gen, durch Subhmierung, das heißt ^"^^ ^^^.^^ ^^^^^^^
Befriedigungsverlangens an e» .^^^^,,bungen
riiT^t^^^SucSrr vereinbar sind. Einem
45
TciUlei- bisher ja unler iiifanlileii Bedinf-unKen von den
Ziclhandlnngen ahRehnllenen Triebslrebungen kann das
erwachsene Ich des Normalen angslfreie licfriedigin,«
gewahren, wo.,, wohl i„ erster Linie die genitalen
Regungen zu rechnen sind.
Gerade die merkw,n-digo Talsache, dali Triebobjekt
und Verdrängung vera,üassende Pei-sönlichkcil der Kind-
heit m der Oberlragnng an ein „nd derselben Person
wiodererlebl werden, ist für die Möglichkeit ei.ier kau-
salen Therapie der Neui-osen durch die A,ialyse von
kardinaler Ik^deulung. Denn über den Analytiker als
Millclsperson kau,i dadurch die Versöh,.«„g zwischen
bewußter Persönlichkeit und Triebgewallcn also zwi-
schen Ich und Es, c-folgen. Hurch die Oberlragung
früherer Objeklbeziehungeu auf ilni erhält der Analvti-
ker d,e zerrissenen I-'äden der Vcrgnugciheit in die Ilaud
und seine Aufgal)e ist es, sie zur Einheit der Persönlich
keil wieder zu knüpfe,,, die Konilikte, aus deren Span-
nung „n PaUenlen das neu,-olische Symptom sehie näh-
rende Kraft bezogen hat, zu lösen, oder wenigstens so
we,t zu ,nildern, daß sie ih,-c i.athogene Wirkung ver-
lieren. Es wird sich Ihrem Verständnis nicht entziehen
daß d,esc Aufgabe hohe Anspi-flche an die Erfahrung'
an das psychologische Einfühlu,igsve,-mögen und an das
cth,sche Niveau dos Therapeuten sieht.
Lassen Sie mich nur noch bei einem Punkt verwpi
len, dem ich geneigt bin, in der analytischen TheraniP
eine wesenüiche Bedeutung beizumessen. Den mnn„i„
fachen Affckti-egungen, denen der Analytiker LI^Z!^'
des Patienten in der Übertragung ausgesetzt ist, hat der
Ana ytiker ruing betrachtend gegenüberzustehen stän-
dig bemüht, Ihren Wiederhol uugseharaktcr zu ernennen
und dem Patienten zu zeigen, bis dieser die n~Z
in Ich aufgenommen und bewußt verarbeitet ha Vie
AnaTvtn ?'• ^'ü' °'^"'""ß ""'l d'« Afloklfroiheit d
A^ialy kers allein aber haben diesen gewünschten Effekt
im Patienten nicht. Wie in der frühen Trieberziehung
46
1
des Kindes, kann auch in dieser '^^^'^^g^f^^;^^^^, ^^^^■
erziehung der Analyse die Aufgabe von Seiten des Pa-
Lnten nur dann glücklich gelöst werden, wenn der
Patient allen seinen HalJ- und Liebesregungen zu Irotz
und über alle seine Versuche hinweg, die Wiederholung
histvoller und enttäusehender, kränkender Erlebnisse
zu erzwin-en, dem Analytiker gegenüber dauernd das
Gefühl erSält, daß er sich einer einfühlenden, Anled
nehmenden Persönlichkeit in die Hand gegeben habe.
Durch die Fülle der Affekterlebnisse hindurch muß der
Patient sich immer wieder bewußt werden können
daß der Arzt bei aller notwendigen Zurückhaltung doch
nur das Interesse des Patienten mitfühlend im Auge hat,
wenn er ihm auch Enttäuschungen auf dem Wege zur
Wirküchkelt nicht ersparen kann.
Wenn wir unter dem Aspekt der neuen Triebemteilung
Freuds die Liebes- und Destruktionstriebe unterscheidet,
als letzte Frage aafwerfen, welche Triebkräfte vom
Arzt aus in der analytischen Therapie wirksam sind,
so werden wir antworten müssen: es bedarf gewiß zur
Niederringung der Widerstände, für die Gegenüberstel-
lungen im therapeutischen Prozeß, für die Trennungen
im Ich im Laufe des Verfahrens destruktiver Energien
von Seiten des Arztes; aber vereinheitUchen, ausglei-
chen, versöhnen zwischen den neurotischen disparaten
Anteilen der Persönlichkeit, Angst verlernen lassen, letz-
ten Endes also heilen, können wir nur vermittels
des Eros.
47
Das Aag8t|»rol>leiii
Von Sandor Rudo, New York
Im Frühjahr 193^ erschien im Internatio-
nalen Psychoanairjlischen Verlag, Wien, das
Buch von Sandor Rado, Direktor des New
York Psi/choanalfftic Institut: „Die Kaslra-
lionsangst des \Veil)es''. Wir bringen im Fol-
genden einen Al?schnitt zum Wiederabdruck,
der die Grundlugen der Angstlheorie behan-
delt.
Das eigenÜichc Problem der Phobien erhebt sich für
uns an einer anderen Stelle. Wir haben von Freud ge-
lernt, daß die An<fst ein Gefalirsignal ist; die sogenannte
Realangsl kündigt eine äußere (reale) Gefahr an, die
neurotische Angst eine (unbekannte) Triebgefahr.i) Wir
haben auf dieser Grundlage weitergebaiit und feslgcstellt,
daß die Kaslralionsangst dos Weibes das Signal der gcni-
ial-masochislischen Triebgefahr ist; mit diesem Punkte
sieht und fällt unsere ganze Untersuchung. Nun führen
uns die IMiobicn — und die anderen Arten von Angst-
hysierie, die keinen phobischen Mechanismus entwickeln
— die slürmischeslen Angslerscheinungon vor- ilire
Höchslleislung ist der große hysterische Angstanfall, der
die Kranken für Stunden und Tage niederwirft und sich
so oft gegen alle Vorkehrungen der Phobie als resistent
erweist. Diese Tatsachen lassen sich mit der Interpre-
tation der Angst als Gefahrsignal nicht vereinen. Sollte
unsere Theorie an der Stelle versagen, an der die Angst
das Krankheitsbild beherrscht? Das können wir nicht
glauben, dazu ist sie viel zu tief in den Tatsachen ver-
ankert. Dann muß in unserer Kenutnis des Angst-
phänomcus eine Lücke sein. Der große Forlschritl den
Freuds neue Angstlheorie brachte, war die Einhczie-
hung der Ge fahrsituation in das Problem. Die fruchtbare
*) Freud: „Hemmung, Symptom und Äugst." Gesam-
mcUc Schriften, Bd. XI.
neue Betrachtungsweise drängle allerdings zur Annahme,
daß das Ich selbst der Urheber seiner Angst sei. Das ist
eine schwierige theoretische Position, da ihr die Intro-
spektion widerspricht. Auch die Sprache weist der Angst
die aktive, dem Ich die passive Rohe zu. Wir beschreiben
das Angsterlebnis in Ausdrücken, welche die ursprüng-
liche Ichfremdheit der Angst betonen: wir werden von
Angst befaUcn, iiberrascht, heimgesucht, gequält, es
schüttelt uns vor Angst usw. Es wollte sich auch nicht
ergeben, auf welche Weise das Ich die Angst produ-
zieren sollte; ob durch „Vergärung der Libido" oder wie
sensit Hier ist die Lücke. Es ist unvermeidlich, in die
Diskussion des Angstproblems einzutreten.
Bewahren wir unsere klinische Einstellung imd fragen:
Wodurch wirkt die Signalangsl? Kein Zweifel, durch eine
flüchtige Beklemmung der Atmung, also durch eine
minimale passagfere Lähmung, der sich sofort eine re-
parierende Herzbeschleunigung anschließt. Die akzessori-
schen Inhalte des Affeklbildes können wir ruhig lieiseite
lassen; der Kern des Augslerlebnisses ist die Lähmung
und diese kann nur das Werk des Masochismus sein.
Das narzißtische Ich, das sonst nichts vom Masochismus
wissen will, gibt hier seiüem Erzfeind für einen Auflen-
blick freie Hand, um ihn als Instrument seiner Selbst-
bewahrung zu benützen. Der Masochismus fugt dem
eigenen Leib den winzigen Schaden (die flüchtige Lah-
mung) zu, der dem Ich das Herannahen von Gefahr an-
zeigt! Freud äußerte die geniale Vermutung, daß die
Angst eine drohende Schädigung en miniature vor-
wegnimmt ; aber dieser Mechanismus ließ sich durch das
Zurückgreifen auf die Geburtsangst nicht erweisen; die
Einsichtnahme in die masochistische Natur der Angst
legt ihn klar zu Tage. Das Ich befolgt die Warnung,
die ihm der Masocliismus erteilt. Es spannt - wie es
Freud beschrieben hat — seine Auf merksamkeit an und
erwartet in voller Aktions-(Abwehr-)Bereitschaft die Ge-
fahr. Im Falle der neurotischen, der Kastrationsangst, ist
4 Almanach 1935 ^g
I
I
(las SiRiialisiormiftswcrk noch viel einfacher. Hier ^^^ ^
GefahreiKiuollc, aus der allein eine Schädigung droht, der
Masochisnuis seihst und das Aiij^slsi^nal eine gonume
K<)sli)robe aus dem, was dem Ich hevorslchl. Die Un-
wissenheit des Ichs iu bezug auf diese innere Gefahren-
quelle verschuldet die Unzulänj^lichkeit seiner nun fol-
genden liaUnng: Es benininit sich in seinem Sinne Uon-
se(iucnl, es richtet auch hier seine durch das Angslsigi^^
aurj^eslortc Aufmerksamkeit auf <lie Außenwelt. Sowei
ist das Angsli>hrm()mcn nichts anderes als ein wunde
barer bioloffischer Si^naldiensl. An den kleineren Angs -
anfallen sieht man <Iann, wie diese Zweckleislung^j_
versagen beginnt, und an der großen Angstatlacke, da
sie ganz zusammenbricht. Das Ich verliert hier die t^
wall über den Masochismus, den es für seine ZwecK^
nülzcn woUle; der Masochisnius dringt lief in die vita
molorische Sphäre des Ichs ein und entfallet dort sein
lähmenden Wirkungen, die so intensiv sind und so au
gedehnt, dali sie das Ich ~ zum Scliaden seiner Sclbsl-
bewahrung — für eine Weile aklions(abwehr)u n f ä b^»
muchün, Der Angslanfall ist eine explosive Knlladi"^"
des Masochismus im psychosomatischen Fnuklionsut-"
reich <les Ichs; seine Angst ist kein zweck bezogenes
Signal mehr, sondern ein schweres Leidcnssymptt^'^"
Das Ich kann es hier nicht mein* verhindern, <laß tl^^
leidhislbegierige Selbslschädigungslcndcnz des Masoclns-
mus Leid anrichle; aber sein Widersireben vercüeli
die Leidlusl. liricht der Masochismus in das Ich ein, -^
einerlei ol) als Angslanfall oder in einer anderen Fo^iij
— so bekommt das Ich zunächst innner nur bit)ßes h^'^y
ohne Lust zu spüren. Krsl wenn sich das Ich mit ^^'^'
nen Angslanfällen ~ oder sonstigen masochisli^cliei
Zwangserlcbnisscn — abfindet, kann es aus dem nias«-
chislischen Erlebnis Leidlusl — hier „Angsthisl" "'
schöpfen. , g
Der hysterische Angslaniall beruht auf einer he
sitzenden Störung der Sexualfunklion, die dem Mac" "
50
bercich des Iclis entzogen ist. Wie sieht es aber mit den
Angsterschcinungeii der „Aktualneurose n", deren
Studium Freud seinerzeit auf den einzigartig frucht-
baren Gedanken gebracht hatte, daß die Angst aus der
gestauten Genilalerregung hervorgeht? Hier ist die Geni-
talorganisaüon des Individuums an sich funktionstüchtig,
sie wird nur vom Icli mißbräuchhch gehandhabt. Ich
meine, wir haben in die klassische Beschreibung Freuds
nur das Zwischenglied „Masochismus" einzuschalten, um
den Sachverhalt aufzuklären. Der Sexualmißbrauch des
Ichs ist der, daß es das Zustandekommen einer Genital-
erregung zwar zuläßt, dann aber diese Erregung unter-
drückt, beziehungsweise ihre volle Entfaltung und Ab-
fur verhindert. Die Hemmung einer lustbringenden Ak-
tivität entfesselt immer reaktiv den Masochismus; je
größer die Spannung, die eine verkümmerte Lustaklion
unerledigt zurücklaßt, umso eiliger und umso unaufhalt-
samer muß sich das vereitelte Luststreben auf die Aus-
beutung der Leidenslust stürzen. Dem inmitten einer
Gcnitalaktion bremsenden (oder vom Gegenspieler im
Stich gelassenen) Ich fällt der Masochismus sofort in den
Rücken. In der Aktualneurose setzt sich also die unter-
drückte Genitalerregung nicht direkt in Angst, sondern
in Masochismus um; als Angst wird dann die nicht mehr
aufzuhallende Erregung des Masochismus abgeführt. Es
ist unbestreitbar, daß diese Angst lediglich durch den
aktuellen Sexualmißbrauch und nicht durch eine bereits
in der Kindheit erlittene Schädigung der Genitalfunktion
bedingt ist; die Aktualneurose führt ihren Namen mit
gutem Recht. So lösen sich einige Rätsel der Angst, die
uns seit langem bedrücken, in befriedigender Weise auf.
Und der Angstanfall, der unsere Theorie zu stiu-zen
drohte, wird jetzt zu ihrem stärksten Tragpfeiler.
Hier darf man eine bioanalytische Spekulation — im
Sinne Ferenczis — wagen, die uns über die Phylo-
genese der Signaleinrichtung „Angst" Auskunft geben soll.
Gehen wir von dem primitiven Lebewesen aus, das noch
4*
51
kein solches Gefahrsignal entwickelt hat und daher häu-
fig äußeren S<'hä(iigun<*en aus|^esetzt ist. Die Verwun-
dung schninkt jedesniaL die lJewefj;ungsfreiheit des Tieres
ein, verringert oder vereitelt seine luslhringendcn Aktio-
nen und nötigt so die Lustfunktion, sich auf die Leidens-
hist umzuslellen. Anders gesagt; die Verwundung wird
vom Ich masoehislisch verarheilct. Das ist ein Sachver-
halt, den wir heim kleinen Mädchen — in ihren Reak-
tionen auf das anatomisciac Krtchnis — eben eingehend
sludiert hahen. Gcwill heim Tier handelt es sich um eine
leibliche, beim Mädchen \nn eine psychische Verletzung.
Aber beiden ist gemeinsam, dalJ sie die Selbstliebe krän-
ken, beide sind iiarzilMischo Verlelzungcn. Wer weiß,
ol) nicht auch bei der körperlichen Verletzung des Tieres
erst die Mitverletziuig des Narzilimus die masochistischc
Reaktion einleitet? Dann wäre der Abstand zwischen den
beiden Fällen noch geringer. Im Rahmen einer bioana-
lylischen Spekulation reicht das für einen Analogieschluß
aus. Wir haben gesehen, daß beim Mädchen jede Wieder-
erweckung jenes verlclzcndcn Eindrucks eine unbändige
masocliis tische Erregung auslöst. Der phobische Angst-
anfall, in dem nach unserer Einsicht diese Reaktion
fortlebt, bezeugt uns ihre Gewalt und Beharrlichkeit
Soll man nicht auch für das masochistisch sensibili-
sierte Tier annehmen dürfen, daß es auf das Heran-
nahen einer neuen Verletzung mit einem inasochisti-
schen Lähmungsanfall ~ also einer Art hypnotischer
Faszination — reagiert? 2) Das Ich bekämpft diese An-
filUe von masochistischer Lähmung, lernt — im Laufe
ungezählter Generationen — ihre Intensilät und Dauer
so weitgehend zu mäßigen, bis sie schließlich nur noch
2) Vgl. dazu das „Sich-tol-slellcn" der Tiere bei Ge-
fahr. Nach unserer Vermutung stellt sich das Tier
nicht tot, sondern erleidet einen Anfall von masocTii-
stischcr Gelfduutheit Der fragwfirdlge Vorteil, der sich
aus dem scheinbaren Tolsein für die Selbstverteidigung
ergibt, ist ein „sckiuulärer Krankheitsgewiun".
5ß
in Andeutung auftreten. Damit ist die allmähliche Um-
bildung des schädlichen Lähmungsvorgangs in eine nütz-
hche Einrichtung zur Signalisierung der Gefahr voll-
zogen. Wie dies Gefahrsignal zunächst beschaffen war,
welche Wandlungen es durchlief, ehe es die Gestalt un-
seres Angstaffekls annahm, das sind Fragen, für deren
Behandlung der Biologe zuständig ist. Unsere analyti-
sche Forschung hefert ihm die Erwartung, daß das Ge-
fahrsignal von seinen Anfängen an ein passagerer Läh-
mungsvorgang sein dürfte, der an einer vitalen
Körperfunktion angreift und von der masochisti-
schen Triebkraft im Organismus herrührt. Es könnte
sein, daß die vom Masochismus angegriffene Funktion
allemal die Almung ist. Mit solchen Vermutungen muß
man allerdings sehr vorsichtig sein; wir wissen ja nicht
einmal genau, wie sich z. B. bei der Anguia pectoris
die organische Störung der Herzfunktion zum maso-
chistischen Angstausbruch verhält. Fürs nächste liefert
uns die „Bioaiialyse" die Auffassung, daß die Angst nicht
das Produkt, nur das Zähmungsprodukt des Ichs
ist. Es drängt sich der Vergleich mit dem weisen Bauern
auf, dem es geglückt ist, seinen quälenden Rheumatismus
bis auf eine winzige Spur zu bezwingen; dies Spürchen
des Übels behält er sich bei, um rechtzeitig vor schlech-
tem Welter gewarnt zu werden.
53
Zunahme der Süchtigkeit
Von Paul Federn, Wien
Aus einem im Wintersemesler i933/M in^_
Akademischen Verein für medtzimscJic J*J
chologie in Wien gehulienen Vortrag.
Allen psycholhcrapcutischen Praklikern fälU auf, a^
in den Iclzlcu Jahren weniger ausgesprochene N''"^*^^^^
als Charakicrslörungen, Depressionen und Süchte z
licobachlung kamen. Oflizielle Slcllcn crkhlrcn abe,
dai5 infolge der Not und dank den neuen Gesetzen üi
Verordnungen die schweren Suchlformen, Al^ohoUsni^^
und Morphinismus, sehr abgenommen haben, der Ko^
inismus last ganz geschwunden ist. Die allen 1^*^^^^^^^'
sten sind geblieben, aber es kommen kaum neue hm ^^
Trotzdem ist mein Kindruck von der Zunahme
Süchligkcit richtig. Doch müssen wir das Wort au
richtig versieben. Es bezeichnet einen Rcaktionsham >
auf ein aullebendcs iiedürfnis nach sofortiger ™<^^^
terung von quälenden Scelenzuständcn sich *1^^^*^ T*
leichlcrung durch Einverleibung bestimmler McdiK
menle oder durch Hingabe an bestimmte F"""l^\'"')fj
sofort zu verschaffen. Süchligkcit bezeichnet aucb ^
Struktur, vermöge welcher das Individuum f^'^ "^
dürfnisspannung, die es verspürt, nicht anders als duic
Erleichterung Herr werden kann, daß es also nici
anders imstande ist, den peinlichen Zustand zu ut^e
winden, ihn zu ertragen und das auflauchcnde Oe s
zu beherrschen. Außer den genannten Meddunncnte
sind es insbesondere die SchlafmiUel und auch, wen ^
gleich weniger, die schmerzstillenden welche J>
artig genonunen werden. In ^-em I-ale werden
SchlafmiUel nicht eunnal vorzugsweise ^^ ^^ ^^ges,
nomn,en, somlern in Intervallen wahre dJJ^^.
um beslimmlc seelische Peinzustando zu ubei
54
oft treten auch körperliche Sensationen, Schmerzen,
Schwäche und Symptome aller Art dazu, welche dann
als rationalisierender Anlaß zur Entschuldigung in den
Vordergrund gestellt werden. Analog werden normale
Funktionen und Betätigungen zu Süchten, zum Beispiel
zur Eßliisl, Schlaflust, Kauf- und Herumlauf-, auch Un-
lerhaltungssucht. Als Zwang bezeichnen wir nur, was
zeremoniell und ichfrerad auftritt. Seltener und spezifi-
ziert sind die triebhaften Süchte, wie Kleptomanie,
Pyromanie und andere. Daß auch manches Raucher-
tum als gewöhnlichste, für normal geltende Sucht an-
zusehen ist, sei nur erwähnt. EigentUch wäre das regel-
mäßige Nehmen von Schlafmitteln zum Zweck des Schla-
fens, das Nehmen von Alkohol oder einer Droge vor
einer schwierigen Inanspruchnahme, die meistens ein
besonderes Auftreten verlangt, auch als zu bestimmten
Gelegenheiten auftretende Süchtigkeit zu bezeichnen.
Auch hier fehlt nicht das Moment der Abstinenzer-
scheinungen, welche zur echten Süchtigkeit gehören.
Sie sind entweder nur das gesteigerte Gefühl des quä-
lenden seelischen Zuslandes, oder — wie namentlich
bei den schweren Rauschgiften — es kommen noch be-
sondere Kollaps- und Erregungssymptome hinzu.
Die Zunahme der Medikamentensucht hat große prak-
tische Bedeutung. Hätte die Mehrzahl unserer Patienten
eine normale Fähigkeit erworben und bewahrt. Pein-
liches zu ertragen, so würden die medizinischen Fabri-
ken nicht die interne Medizin erobert haben; viele Vor-
würfe gegen die „bloß symptomtölende" Medizin wären
ihr erspart. Hilfe kann nur bringen, wenn jeder Arzt
es weiß, daß er den Kranken dann erst als krank „ge-.
wesen"'aus seiner Obhut zu entlassen hat, wenn der-
selbe ohne Medikamente auskommt. Wir ha-
ben auch keine richtige Kenntnis von emem chroni-
schen Falle, wenn wir ihn nicht in einer medikamen-
lenfreien Zeit beobachtet haben; noch mehr gilt das
von einem angebUch Gesunden, der sein Medikament
55
„nur" nimmt, um besser zu schlafen oder zu arbeitea
Solche Menschen sind - wenigstens psychisch — nie
gesund. Denn umgekehrt, wie die Weichheit gegen di
eigene Person die Gewöhnung an Medikamente herbei-
führt, so macht diese ihrerseits wieder den Mensche^
weniger fähig, unangenehme oder quälende psychisc
Zusländc zu ertragen, das heißt, sich selbst zu ertr -
gen. Meistens iälll es weder Arzt noch Patienten ci^,
daß solches Mcdizinieren der psychischen Hygiene z
widerläuft. Damit soll weder gegen eine kausale met i-
kamenlösc Therapie noch gegen eine symptomatisc
bei schmerzhaften und gar unheilbaren l-Vülen ctw
gesagt sein. Für letztere allerdings ist das ^^^'*^
völiiger Euphorie nur mit raschem Niedergang der
solche Lebenslage besonders wichtigen Kraft der t'G '
sönlichkeit zu erzielen.
Die gleiclie Erscheinung „Sucht" bezieht sich ^"'
disparate Ziele wie Medikament, Spielen, ^^^f" J* j^.
Schlafen. Die Medikamentensucht ist künstlich, ^'^ **"
tionssucht von selbst entstanden. Alle Art Süchte decK
andere triebhafte Verlangen, die unbewußt mit
Sucht zusammenhängen. Es kann ein Medikament suc ^
artig verlangt werden, eben um nicht schlafen, ^^^/
stehlen oder davonlaiilen zu müssen, so daß eine Me -
kanientensucht au Stelle cüier Funktionssucht getr -
tcn ist. ,.
Wir haben also in jedem Falle die bewußten und ai^
unbewußten Motivierungen vom Ziel der Sucht zu u"
terschcideu; sie sind nicht leicht festzustellen, deiifl
auch bewußt erlebte Verursachungen werden oft ver-
ieugnet, so daß erst der Arzt sie in ihrer Bedeutung
dem Kranken klarmachen muß. Die Süchte nivelliere*^
die Krankheilsbihler. Das Einnehmen des Medikamen
hebt den quälenden Ariektzustand oder die ^1,"'*^^" j,,
Sensation auf, die beim Neurotikcr durch die ^"^^^^f .,
lung eines neurotischen Symptoms ersetzt wird,
sächlich entstehen viele Süclitigkeiten, wenn eine
56
\
rose rezidiviert und, statt zur kausalen psychischen Be-
handlung zu kommen, nur symptomatisch mit Medika-
menten kuriert wird. Schlaflosigkeit gibt entweder direkt
oder durch die darauffolgende Erschöpfung den Anlaß
für den Gebrauch von allen möglichen Mitteln, Oder
es gibt eine rheumatische oder sonstige schmerzhafte
Affektion, deren Schmerz neurotisch gesteigert ist, even-
tuell ein rein neurotischer Schmerz den Anlaß zum
chronischen Gebrauch von Gegenmitteln.
Um der Gewöhnung und noch mehr der jeder Süchtig-
keit drohenden Steigerung vorzubeugen, muß man von
Beginn an in Intervallen von einigen Tagen den Ge-
brauch der Mittel aussetzen. Der Patient muß wissen,
daß es ein verderbüches und ärztlich unerwünschtes
Ziel ist, mit Medikamenten ohne Unterbrechung
Schmerzlosigkeit oder Schlaf vermögen zu bekommen.
Dieser Standpunkt muß Gemeingut der
Ärzte sein. Der Anlaß ist nicht immer eine Neurose,
oft sind es direkt der psychische Konflikt oder ein
hereingebrochenes Leid, die Steigerung lang bestehender
Konflikte, das Bedauern eines fehlerhaften Entschlus-
ses, Schuldgefühl oder quälender Zweifel, die, durch
Körpersymptome rationalisiert, zur Angewöhnung füh-
ren. Der Kranke pflegt entweder diese oder kurz das
Wort „Nervosität" als Begründung zu wählen.
Der peinUche SpannungszusLand verschiedener Art ent-
spricht einem toxischen Vorgang. Daß aber ein Indivi-
duum diesem gegenüber ebenso wehrlos ist wie den
psychischen Konfükts- und Spannungszuslündcn, die
ihm vorangegangen sind, hängt mit der seelischen Ent-
wicklung seit der Kindheit zusammen. Unbewußte Kom-
plexe einerseits, fixierte infantile Stadien des Ichs an-
dererseits erklären die Stärke des Begehrens und die
Schwäche des Gegenwillens. Wenn unser Krankenmate-
rial weniger Neurosen und mehr Süchtige aufweist, es
sind dieselben Menschen, die heute in anderen Formen
ihr mangelhaftes seehsches Gleichgewicht äußern. Gier-
67
hafte Wünsche, fcuidscügc Tendenzen, unerfüllte Ver-
langen aller Art kommen in der Analyse zutage. Sie alle
wirken unhcwußt mit bei der Enttäuschungsspannung,
die den Süchtigen immer wieder zur Suchtstillung
treibt. Solange daher die psychische Grundlage nicht
behoben ist, ist eine psychische IJehandlung nötig. lü
leichleren Fällen genügt die suggestiv-führende und ge-
leitende des Vertrauensarztes. In schweren Filllen muß
die Entwöhnung in einem besonders tauglichen Milieu,
meistens in der Anstalt, durchgeführt werden, in man-
chen Fällen mehr wegen der Willensschwäche des Pa-
tienten, in anderen mehr wegen der Unveranlworllich-
keit, mit der die nächste Umgebung und auch vöUig
Fremde dem Aufgeben der Süchligkeit entgegenarbeiten.
Die lange dauenulc lieluuidlung muß, um endgültig gnl^
Resultate zu geben, auch die latent gewesene oder
manifeste Neurose und Charakteranomalie heilen. DiG
Ausdehnung der Psychoanalyse auf dieses Gebiet ist
noch nicht genügend lange geübt, um über die End-
resultate bei schweren Fällen ein Urteil zu haben. Als
Nebenergebuis der aus anderen Gründen gcüblcn I sy-
choanalyse sind Icicliterc und ganz schwere Süchte oft
geheilt worden. Das Dauerresultat und der Grad der
Umwandlung der Persönlichkeit wird über den Wert
<k'r Methoden entscheiden. Zu erwarten ist, dali eine
auf den neuen Erkenntnissen aufgebaute Erziehung und
ärzlliehc Seelsorge das Entstehen der Süchtigkeit oJt
hinlanhalten können wird.
Aus dem Milgeleilten geht besonders hervor, daß
auch für die psychische Beurteilung und Behandlung
eines Neurolikers überhaupt, eines Süchtigen besonders,
die Einschränkung des Mittels durch den Willen des
Kranken, den der Arzt stärkt und aufreciilerhält, nötig
ist. Das Medikament verdeckt die Erscheinungen —
wovon allerdings direkte Rauschzustände eine Ausnahme
machen; diese verraten viel Verdrängtes und lassen c
auch für einige Zeit abreagieren. Doch hat das kerne
andauernde Heilwirkung auf den Normalzustand des
Ichs. Manche dieser Medikamente \virl;en direkt als
Angstgille, das heißt sie beseitigen die Angst die sonst
als Anfall, als Phobie oder als frei flottierende und Er
wartungsangst auftreten würde. In anderen FäUen er
fahrt man von schweren Eutfremdungszuständen oder
von Zwangsvorgängen erst, wenn man die Kranken
vermocht hat, das Mittel auszusetzen oder die Einnahme
zu verschieben. In anderen Fällen sind es Depressionen
mi tiefer und weiter Begründung, die das Medikament
zudeckt; oder sexuelle Tendenzen, insbesondere auch
schuldvoller oder perverser Art; auch Falle mit kanni-
baüscheu Phantasien wurden mitgeteilt. Wir begreifen
daß in solchen Fällen die einfachen Formen rascher
Psychotherapie nur selten dauernden Erfolg haben kön-
nen, und daß die volle Umerziehung nötig ist, obgleich
sie lange dauert. Immer werden refraktäre Fälle übrin
bleiben. Aber heute bleiben noch mehr Fälle ungeheilt
als dem Wissen um ihre Verursachung entspricht. Wir
kennen dank der psychoanalytischen Erforschung die
verdrängten Triebe und ihre Repräsentanten, wir kennen
die KonfUkte, die zu den Krankheiten führen, und auch
das Ich, seine Schichten, Besetzungen und Grenzen
Jedes Suchtverlangen ist charakterisiert durch das inso-
fern abnorme Verhalten, daß das ganze Ich von der
Suchtbegierde erfaßt wird und nicht, wie beim nicht-
süchtigen Menschen, em Teil desselben frei und wehr-
haft gegen den begehrenden Teil des Ichs bleibt. Die
unbeherrschte Reaktion mit dem ganzen Ich ist das in-
fantile Verhalten, bei dem viele Süchtige verblieben sind,
während andere zu ihm regredieren. An dem Infantiüs-
mus der Süchtigen liegt es auch, daß gerade bei seiner
Heilung die Hilfe einer Pflege- oder Gelcilperson nötig
ist. Die Übertragung auf den Arzt bedeutet auch eine
Stützung des Ichs, sowie das Kind sein Ich durch das
ElnschUeßen der elterlichen Person in die eigenen Ich-
grenzen erweitert und stärker fühlt. Diese Stärkung des
59
^J
Ichs isL aber eine erborgle und soll durch die EigenlcrafL
des Gesuudf^ewordcnen erselzl werden; in vielen Fällen
muli mau sich aber mi\ dem praklisehen Erfolge der
liill'e durch die Überlragung begnügen.
,' .1 ■• -ttitM -.'
.'J
r.ii,
z ,1
60
Zur unbewußten Verständigung
Von Otto Fenichel, Oslo
Aus „Internationale Zeitschrift für Psycho-
analyse', Bd. XII, 1926.
Es ist von Freud schon vor langer Zeit - zum ersten-
niale in der „Traumdeutung" - beschrieben worden, daß
ein Mensch nicht nur auf eine Fehlhandhmg oder
einen anderen Seibstverrat einer zweiten Person so
reagiert als ob er sie verstanden hätte, sondern auch
auf weniger deutliche Anzeichen hin die unbewußten
Absichten einer zweiten Person beantwortet, ohne es
selbst zu wissen; gelegentlich kommt es geradezu dazu,
daß das Unbewußte einer Person sich mit dem emer an-
deren unterhält, ohne daß die Beteiligten etwas davon
merken. Solche Vorgänge sind auf zwei verschiedene
Weisen denkbar. Entweder es werden dabei kleinste An-
zeichen wahrgenommen und vom gleichgerichteten eige-
nen Unbewußten intuitiv verstanden oder es handelt sich
um eine unmittelbare Verständigung, um etwas Ähnliches
wie das was Löwen stein als „Affektinduktion" be-
zeiclmet hat^, nur daß hier nicht nur Affekte, sondern
auch Vorstellungen übermittelt werden. Um eine solche
Induktion" bei der nur der induzierte Inhalt der emp-
fangenden Person bewußt wird, (ohne daß sie seme
Herkunft kennte,) handelt es sich bei den von Freud
unlängst als telepathisch beschriebenen Fällen 2), bei der
eine Person die unbewußten Wünsche einer anderen an-
wesenden Person wahrnimmt. Freud hat dort hinzuge-
fügt, daß offenbar solche Vorstellungen zu telepathischer
Übertragung besonders geeignet sind, die eben aus dem
Unbewußten aufzutauchen im Begriffe stehen. Das ist
1) Löwensleln: Über Äffeklinduktion, Vortrag in
der Rerüner psychoanalytischen Vereimgmig 1924.
2) Freud: „Traum und Telepathie. Ges. Schriften,
Bd. HL
St
^r-
1 1
[■ n
offtMibar auch die Ursache tlaffir, <hiß wir in der Analyse
gcle^cnllicli plötzlicli utxd spontan erraten können, wel-
che unbcwußlen Gedanken in unseren Palienlen gerade
wirksam sind. Ich habe solch piölzliches Wissen um
ciiKMi nnbewiißlen V<)rstenun<,'siiihaU eines Patienten
noch rech! seilen klar und deutlich erlebt; es stimmte
aber dann jedesmal und kouule vom Palicnteii verifi-
ziert werden. Das kommt offenbai* bei Hyslericn häufi-
ger vor als bei ZwaiiL^snenrosen, weil dank <Icm hysleri-
sehen Vcrdrängun^'styiJtis da häufiger auch inhalllich
Ranz unliewußl gewesene Gedanken in den Zustand des
Bewußtseins übertreten. Ein kleines ßeispicl, um z"
zeigen, was ich meine: Hei der Analyse der infantilen
SexualforscbnuK' einer Hysterie erschienen der Patientin
ein Ei und ein Wasser^^las. Mir kam plötzlich der Ein-
fall; Das sind die Hecpiisilcn eines Zauberkünstlers ge-
wesen, ohne <Iaß ich mich erinnerte, selbst je einen
ZauberkünsIIer mit dergleichen hantieren gesehen zu
haben. Und es stimmte.
Davon wohl zu unterscheiden ist die psychologisch
weit durchsiehtigere unbewußte Wahrnehmung eines
fremden Unbcwußlen durch Anzeichen. Dafür, also
sozusagen für einen nnl)e\vußlen Disput, kann ich heute
ein seltenes Hcispicl niilteilen. Die „Anzeichen", um die
es sich dabei handelte, waren gar nicht so „klein", und
merkwürdiger, als daß sie wahrgenommen wurden, ist
eigentlich, daß sie beiden Partnern unbewußt bleiben
konnten. Ein auf den ersten lUick okkultes Geschehen
zeigte sich dabei als durchaus rational verständlich.
Ein Patient mit Charaklerschwicrigkciten hat ein
Freundschaftsverhältnis mit einer bedeutend älteren
Witwe; er bulle mit ihr IJekannlschaft gemacht, indem
er sie aus finanziellen Schwicrigkcilcn „rettete". Er ver-
achtet sie bewußt, kann sich aber von ihr nicht lösen;
er war u. a. mit dem Wunsch in die Analyse gekommen,
von dieser Bindung befreit zu werden. Daß diese Witwe
die Mutter vertritt, war in der Analyse noch nicht zur
63
Sprache gekommen. — Die Frau selbst, im Klimaklcrium
stehend und offenbar wohl wissend, daß sie, verlöre sie
ihren Geliebten, wohl ihr Leben lang werde verzichten
müssen, klammert sich mit all ihrer Kraft an ihn, macht
ihm gelegentlich Eifersuchlsszenen, ist aber ängstlich
bemüht, so weit es geht, alle Anzeichen zu übersehen,
die er ihr dafür gibt, daß er sich von ihr trennen will.
Sie ist dabei eine einfältige Frau, der keinerlei Raffine-
ment, auch keine Lüge zuzutrauen ist. Sie wohnt in
einem Vorort, kommt nur selten in die Stadt, mein Pa-
tient pflegt sie in ihrer Wohnung zu besuchen.
Der Patient hatte nun eines Vormittags, und zwar
erst nach längeren inneren Kämpfen, ein Mädchen auf
der Straße angesprochen, war dann mit ihr spazieren
gegangen, hatte sich in eine kleine Gartenanlage gesetzt,
von deren Existenz er vorher gar nichts gewußt hatte,
hatte dort im Gespräch mit ihr einige Zigaretten geraucht
und war dann mit ihr in ein Restaurant gegangen.
Dann hatte er mit ihr ein nächstes Rendezvous verab-
redet und war seiner Beschäftigung nachgegangen. -~
Als er sich abends auszog, merkte er, daß er einen Man-
schettenknopf verloren habe. Er erinnerte sich, wäh-
rend des Spazierganges mit dem Mädchen bemerkt zu
haben, daß ein Knopf aufgegangen war, und ärgerte sich,
daß er es unterlassen hatte, das gleich an Ort und
Stelle zu richten. — Nächsten Tages besuchte er seine
alte Freundin. In ihrem Speisezimmer steht eine Visiten-
kartenschalc auf dem Tisch. Beim Eintreten in dieses
Zimmer sah er auf der Schale offen einen Manschetten-
knopf liegen, so als ob er eigens hingelegt wäre, damit
er ihn bestimmt bemerken solle. Er nahm ihn in die
Hand und merkte, daß es ein Knopf der gleichen Art
war wie sein eigener, der absolut zu dem einzelnen
paßte, den er noch trug. Er erschrak sehr; es kam ihm
sofort der Einfall, er werde damit nun seines gestrigen
Abenteuers überführt werden. Er schlug sich diesen
Gedanken sofort wieder aus dem Kopf, weil er wußte,
^
daß sich seine Freundin nicht verslelleii knnii und ihm
längst eine Szene gemacht hätte, wenn sie etwas wüßte.
Er fragte sie: „Was ist das für ein Knoi)f?" „Den habe ich
gestern gefunden." „Wieso liegt er da?" „Mir ist einge-
fallen, mau könnte doch vielleicht einmal einen solchen
Knopf brauchen, so habe ich ihn mitgenommen und
vorläufig hierher gelegt." „Wo hast du ihn gefunden?"
„In der und der Parkanlage." „Wieso warst du da?" „Ich
hatte gestern ausnahmsweise dort in der Nähe eine Be-
sorgung und ruhte mich in der Anlage, von deren Exi-
stenz ich vorher gar nichts gewußt hatte, aus, da lag
der Knopf unter der Hank." „Um wieviel Uhr?" „Um
1 Uhr mittags." Das war die Zeit, zu der er selbst auf
der Bank gesessen hatte. Es war also sicher, daß die
Frau sich unmittelbar nach dem Fortgehen des Mannes
auf die Bank gesetzt, den von ihm verlorenen Knopf
unter der Bank gefunden und mitgenommen hatte.
Zwei Umstände mußten nun nachdenklich stimmen,
einer auf Seiten des Patienten, einer auf Seiten der Frau.'
Der Mann halte nämlich während der ganzen Zeit, die
er in der Anlage verbrachte, Gewissensbisse wegen' sei-
ner Untreue verspürt und hatte daran gedacht, was
seine Freundin wohl sagen wurde, wenn sie ihn so sähe ;
seine ganze psychische Situation war so, daß ihm ein
unbewußter Selbstverrat sehr wohl zuzutrauen war.
Außerdem war er, knapp bevor er sich auf die Bank nie-
derließ, auf den offenen Knopf aufmerksam geworden,
hatte damit sozusagen seinem Unbewußten noch einmal
eme bequeme Gelegenheit für einen Selbstverrat vor
Augen geführt. — Von Seilen der Frau mußte auffallen,
daß sie erstens den Knopf aufgehoben und mitgenom-
men, daß sie zweitens ihn dann an die ungewöhnliche
Stelle niedergelegt hat, so daß er dem eintretenden
Freund sofort in die Augen fallen und ihm sein Ver-
gehen zu Gemüte führen mußte. Hätte sie ihn gesehen
gehabt und ihm ein Corpus delicti entgegenhalten
wollen, sie hätte nicht anders handeln können.
64
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Dr. Hans Behn-Eschenburg f
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Diese Umstände ließen nur die eine Auffassung zu;
Werk des Zufalls war nur, daß beide Personen zu glei-
cher Zeit in die ihnen unbekannte Anlage kamen 3). Alles
andere war bUtzschnelle, planmäßige unbewußte Aktion.
Der auf der Bank sitzende Mann sah die Frau heran-
kommen, geriet — alles ohne etwas davon zu merken —
in einen Affektsturm im Zweifel, ob er sich verraten
solle oder nicht, entschloß sich zu letzterem, verließ mit
seiner Begleiterin schnell die Bank, nicht ohne seiner
Sclbstverratungstendenz durch ein Schütteln des Armes
Genüge zu tun, das den losen Knopf zu Boden fallen
l^ieß. — Die Frau muß den Mann ebenfalls gesehen und
erkannt haben. Sie wollte aber nichts gesehen haben,
ging ihm nicht nach, sondern ließ sich auf die gleiche
Bank nieder, auf der er knapp vorher gesessen hatte.
Sie fand den Knopf, nahm ihn mit und legte ihn auf die
Schale. Vielleicht hatte sie den Mann doch nicht sicher
erkannt und stellte ihn nun durch den Knopf auf die
Probe. — Es sei noch einmal betont, daß die Frau be-
stimmt nicht gelogen hat, und auch nachdem ihr mein
Patient die Geschichte wahrheitsgemäß erzählt hatte,
dabei bheb, daß sie ihn nicKt gesehen, den Knopf nicht
erkannt, ihn ohne Absicht mitgenommen und hingelegt
halte, ja daß ihr nie der Einfall gekommen wäre, er
könnte in jenem Stadtteil gewesen sein.
Nachdem der Patient über diese Deutung erst sehr
erstaunt gewesen war, fiel im eine Einzelheit ein, die
ihre Richtigkeit über jeden Zweifel hinaus sicherstellte:
Er und das Mädchen hatten schon fünf Minuten früher
aufbrechen wollen, hatten dann aber beschlossen, noch
zu bleiben, um noch eine Zigarette zu rauchen. Nun er-
s) Die Versuchung ist groß, auch diese Merkwürdigkeit
dem „Zufall" zu entreißen und als psychisch determi-
niert, etwa als echt telepathisch aufzufassen. Die Ana-
lyse bot dafür keinen Anhaltspunkt. Für beide Partner
war der dem Gegenspieler unbekannte Aufenthalt in der
Nähe der Anlage durchaus rational begründet.
5 Atmanach 1935
es
innerte er sich, daß er dann ßaiiz plötzlich — mitten
während des Rauchens, das er noch halle beenden wol-
len, — aufsprang und ungeduldig seiner Bcgleilerin
zurief: „Also, jelzt gehen wir aher endlich cinmall"
und so schnell wie möglich mit ihr verschwand. Das
muß der Moment gewesen sein, iu dem er die Frau un-
bewußt erblickt hatte. ;: :- ' ; •■ <
Es war also nicht nur bei beiden Partnern das gegen-
seitige Erblicken, das für beide unangenehm gewesen
wäre, wie nach einer getroffenen Verabredung sofort
verdrängt worden, sondern die Frau verstand auch so-
fort den Sinn des Verlustes des Knopfes und reagierte
in zweckentsprechender Weise; ja sie tat geradezu das,
wozu das Uenehmcn des Mannes sie insgeheim aufge-
fordert hatte. Als er aufsprang und weglief, dabei aber
den Knopf verlor, sagte er ihr damit: Bemcriic nicht,
daß ich hier mit einem Mädchen gesessen habe, nimm
es aber doch zur Kenntnis! Und sie tat so.
"> : 1 '
'I
ÖÖ
Die „ansteckende" Fehlhandlung
Von Alexander Szalai, Züridb
Aas „Internationale Zeitschrift für Psycho-
analyse-, Bd. XIX, 1933.
^- . :. l
Freud hat mehrfach auf die bekannte Tatsache auf-
merksam gemacht, daß Fehlhandlungen in hohem Maße
„ansteckend" sindi)- Ich glaube, durch die Mitteilung
und Erklärung von zwei Fällen solcher Art ein wenig
zur Diskussion über diese „Ansteckung" 2) beitragen zu
könnea.
I.
Ich bin eines Abends bei Herrn B. eingeladen, der ein
eitler und kleinlicher Mensch ist und — obwohl er ziem-
Uch unwissend ist — großen Wert darauf legt, daß man
ihn für sehr gebildet halte. Als ich bei B. ankam, waren
schon viele Gäste anwesend, aber es wurden noch mehr
erwartet. Während der Unterhaltung fällt mir plötzlich
ein, daß ich meine Brieftasche im Oberrock vergessen
habe. Ich stehe unauffällig auf, gehe in das Vorzimmer
— dort ist es aber finster und ich finde den Schalter
nicht. Ich bin sehr erstaunt darüber, daß man das Licht
hier schon ausgelöscht hat, da ja noch Gäste kommen
sollen. Ich denke: Diese Art von Sparsamkeit ist wb-k-
lich kleinlich. (Die oft verspottete Kleinlichkeit von B.
hat auch im Vergessen der Brieftasche eine Rolle ge-
spielt — auf die Analyse dieser Fehlhandlung gehe ich
aber hier nicht ein.) Ich gehe in das Zimmer zurück;
der Hausherr, der inzwischen meine Abwesenheit be-
merkt hat, kommt mir entgegen und fragt, ob ich etwas
1) Z. B. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse. Ges. Schriften, Bd. VII, S. 63.
2) Vgl. B eik: Über kollektives Vergessen. Int. Ztschr f.
Psa., VI, 1920.
67
suche. Ich antwortete: ,,Ich habe etwas im Vorzimmer
vergessen. liilte, zeigen Sie mir doch, wo sich der Schal-
ter befindet, es ist nämlich draußen kleinlich...
ach, ich wollte sagen, kein Licht." Ich erschrecke
über dieses Versprechen; die Miene von H. beruhigt
mich aber, er hat nichts gemerkt, nnd scli)st wenn er
etwas gemerkt hätte, könnte er das Versprechen wohl
nicht verstehen — er hat keine Ahnung von Psycho-
analyse und würde das Ganze dem Zufall zuschreiben.
Zu meinem größten Erstaunen begeht aber H. während
des Abends mehrere Fehlhandlungen, die als Antwort
auf mein Versprechen aufgefaßt werden müssen. Er
will mir Feuer zum Anbrennen meiner Zigarette reichen
mid zündet dabei „zuffdlig" zwei Streichhölzer auf ein-
mal an und verbrennt mir so die Hand. Diese Fehlhand-
Unig darf nicht einfach als Racheakt interpretiert wer-
den, obwohl das Motiv der Rache wahrscheinlich mit-
spielte; der unbewußte Gedanke, der dahinter steckt,
lautete offenbar: „Ich spare nicht mit Feuer (Licht), ich
verschwende es viehnehr so, daß Sie sich dabei verbren-
nen können." Die Konversation dreht sich später um
das Thema ItaUcn. B. sagt: „Im letzten Sommer habe
ich in ItaUen drei Strom hüte gekauft." (Er meinte
natürlich „Strohhüte".) Das volle Verständnis dieses
Versprechens ist ohne Analyse kaum möglich, aber je-
denfalls steckt eine Prahlerei mit dem Stromverbrauch
dahinter.
Daß all diese Fehlhandlungen mir galten, wurde nach-
her durch folgende sehr interessante Tatsache noch be-
sonders bewiesen. B. spricht über italienische Kunst, von
der er nicht viel mehr als einige Namen kennt, und be-
hauptet unter andcrm: „Den Andrea Salaino habe ich
nicht gerne, der hat so einen gemeinen Stil." Wie sich
herausstellte, konnte er sich aber auf kein Bild dieses
Malers besinnen, wahrscheinlich hat er auch nie eines
gesehen. Die Beschimpfung galt mir, und zwar auf
Grund der Klangähnlichkeit unserer Namen: Salaino —
68
Szalai. li. mag den Namen dieses nicht besonders be-
rühmten Malers irgendwo gehört haben und wollte ihn
in seine ,,kunslkritischen'* Äußerungen einflechten, wo-
bei sich die Aggression gegen mich im Inhalt des Urteils
durchsetzte.
Es scheint so, als ob dem Unbewußten von B. die
Deutung meines Versprechens unmittelbar klar geworden
wäre und es nun selbst dai-auf in Form von Fehlhand-
lungen reagierte.
Mein Freund D., der bei meinem Versprechen und bei
den Fchlhandlungen von B. anwesend war, verspricht
sich auch einmal dem Hausherrn gegenüber, indem er
anstatt „Heizgas" zweimal unbemerkt Gei2ha(l)s sagt.
IL
Der andere Fall ist etwas anderer Art; Ich schreibe
meinem Freund G. in etwas gereiztem Ton einen Brief.
Er antwortet mir und bemerkt am Ende seines Brie-
fes: „Übrigens begingen Sie bei Ihrem letzten Brief die
kleine Fehlhandlung, die Namensunlcrschrift zu verges-
sen. Habe sehr gelacht." Mein Freund, der über psycho-
analytische Kenntnisse verfügt, hat die Fehlhandlung
sofort im richtigen Sinne als eine Aggression, etwa dem
Nicht-Grüßen auf der Straße entsprechend, gedeutet.
(Dieses Vergessen hatte allerdings noch einen Sinn, der
sich aus der speziellen Situation ergibt: „Mit dem Inhalt
dieses Briefes identifiziere ich mich nicht vollkommen.")
Das Merkwürdige an dem Fall ist folgendes: Mein
Freund, der nicht nur meine Fehlhandlung bemerkte,
sondern sie auch deutete, beging in seiner Antwort sel-
ber mehrere Fehlhandlungen; er entstellt am Briefum-
schlag meinen Namen auf eine komische Weise, wünscht
mir „alles gutte" usw., also lauter Verschreiben, die
(als Reaktion auf meine Fehlhandlung) Aggression und
Spott ausdrücken.
69
Es ist also auschoiiiend vollkoiniueii j^ldchgüllis, ob
jemand den Sinn einer ihm ^e^cnülxir begunj^eneu Fehl-
handlunf* b e vv n 15 1 erUcnnl oder nicht. Die UealiÜon
des Uubewubleu bleibt die gleiche.
III.
Diese Fälle, die ich aus vielen ähnlichen als die cha-
rakteristischesten auswäliile, hesläligen, dalä das Unbe-
wußte eines Menschen die Aulierungen eines fremden
Unbewußten unmittelbar verstehen kann. Ks ist damit
nicht gemeint, daß das Unbewußte den ganzen Sinn, die
ganze Determinierung einer Iremden Fehlhaiullung er-
fassen könnte — wie etwa der Psychoanalytiker nach
gelungener Analyse — , das isl unmöglich; das unbe-
wußte Verständnis einer fremden hehlhandlung erstreckt
sich bloß auf den allgemeinen Cliarakter der Fehlhand-
lung und auf ihren am nächsten liegenden Sinn, wie
etwa beim Psychoanalytiker die Einsicht iu eine Fehl-
handlung, deren Assozialionszusamnienhänge er nicht
kennt.s)
Wichtig scheint die Beobachtung zu sein, daß das Un-
bewußte eine fremde Fehlhandtung auch niißversichen
kann, da es ja die Ücleren Zusammenhänge beim ande-
ren nicht kennt. Es stehen mir einige Fälle zur Verfü-
gung, in denen die Reaktion des fremden Unbewußten
auf eine genau analysierte Fehlhandlung falsch war und
aul einem olieiisichtlichen Mißvcrsläudnis beruhte.
Wenn wir das unbewußte Verständnis des Ausdrucks
emes fremden unbewußten Systems einmal als 'I'atsache
hinnehmen, so fällt die Erklärung des „ansteckenden'*
Charakters der Fehlhandlungen nicht schwer. Die „An-
steckung" ist entweder der Ausdruck der Reaktion
des Unbewußten auf die Äußerung des fremden Unbc
3) Vgl. Fe nie bei: Zur unbijwußten Verständigung.
Dieser Ahnauach S. 61.
70
wußten, oder der Ausdruck der unbewußten Identifi-
zierung mit der Äußerung des fremden Unbewußten,
richtiger mit dem hinter der Äußerung hegenden Ge-
danken.
Die Hypothese, daß die Fehlhandlung einer Person
das Unbewußte einer anderen Person auf diese Aus-
drucksmöghchkeit im gewissen Sinne „aufmerksam"
macht und die „Ansteckung" so entstünde, scheint mir
keine allgemeine Gültigkeit zu besitzen. Sie würde zum
Beispiel sehr schwer die Tatsache erklären können, daß
man durch ein Versprechen so angesteckt wird, daß man
ein Vergreifen begeht, wie B. es mit den Streichhölzern
tat. Es mag Fälle geben, die durch diese Auffassung
hinreichend erklärt werden können, es gibt aber sicher
— und wohl häufiger ~ Fälle, die mit dieser Analyse
nicht voll erfaßt sind.
Die hier entwickelte Theorie ist übrigens auch auf
den „ansteckenden" Charakter des Gähnens anwendbar.
Das Gähnen hat mit den Fehlhandlungen gemein, daß
es eine ungewollte und — in vielen Fällen — uner-
wünschte Äußerung ist. Da gibt es zwei Situationen, die
genau den zwei Arten der „Ansteckung" entsprechen.
Zwei Menschen plaudern miteinander, da gähnt plötzlich
der eine, was manchmal der Situation gemäß besagt:
„Du bist mir langweilig!" Bald darauf wird der andere
auch gähnen, was dann sicher sagen will: „Du mir
auch!" Hier ist die Ansteckung durch Reaktion ent-
standen. In einem anderen Falle, wenn z. B. während
eines langweihgen Vortrages einer gähnt und das Gähnen
sich im Publikum verbreitet, beruht die Ansteckung auf
der Identifizierung mit der ersten Äußerung der
Langeweile, welche Äußerung dann natürlich wiederum
eine Aggression dem Redner gegenüber ist. Da das Gäh-
nen nicht in allen Füllen als eine Fehlhandlung zu be-
werten ist, mag die physiologische Theorie oft allein als
Erklärung für das Gähnen dienen, allerdings nie für die
Ansteckung.
71
Uic physiologische ErkISrung des Gähnens kann uns
vielleicht auch behilflich sein bei der I-cstslclhmg der
Ursache dafür, daß gerade dieses merkwürdige Aus-
arucksmiKel, das öffnen des Mundes und das liefe Ein-
aimen für die Darstellung der Langeweile und der
^cmatrigkeit gewählt wird. Die ciugehendc Analyse des
^annens ist Aufgabe einer besonderen Unlersiichung,
Hier sei nur noch auf die merkwürdige Talsache hin-
gewiesen daß das Motiv der Langeweile im Traum
keine Rolle spielt, meines Wissens hat sich noch nie-
mand im 1 räum gelangwcilt - was wohl dem Umstand
entspricht, daß der Schlaf die Aufhebung der Langeweile
72
Die Erziehung des Kleinkindes vom
psychoanalytischen Standpunkt
Von Anna Freud, Wien
Der folgende Aufsatz stellt die Niederschrift
eines Ertrages dar, ^der am ^ongrf ^a^^^
Kleinkindererziehung im ^""J^'^J^^lSere am
wurde. Dieser Vortrag sowie zwei (^JJ^ere am
aleichen Kongreß vorgetragene Arbeiten (Sieg-
f.ilJ n Prn feld- Die psifchoanaly tische
^PycholVe^dVsK^^^^^^
Behn-Eschenburg: „Die Erziehung des
im erschienen. Die ^P'-^'j^'^"*^^^, Y'X^'^C^
ist an einigen Stellen, in denen auf den hier
nicM abgedruckten Vortrag von S. Bernfeld
Bezug genommen wurde, gekürzt.
Wir kennen alle die schwere Lage des Erziehers^ Mau
hört und liest zwar immer wieder, daß den Erziehern
eine der wlchügslen Arbeiten im G^^^^"^^^»;"^
Menschen übertragen ist, daß sie das y^^^voUste Mate-
rial, über das die Gesellschaft verfugt, in die Hände
bekommen, daß sie über das ScMcksal der kommenden
Generation entscheiden usw. In der Wirkhchkeit ist al)ei
von einer solch hohen Einschätzung der erzieherischen
Arbeit imd der Erzicherpersonen selbst sehr wenig zu
bemerken. Weder sind die Erzieher finanziell ebensogut
gestellt wie etwa die Personen, die über die Ausgrabung
von Kohlen aus Bergwerken oder über die Verwaltung
von «roßen Geldmitteln zu entscheiden haben. Sozial
müssen sie ständig um die Achtung der Mitmenschen,
um die Anerkennung von Seiten der Behörden und der
Eltern kämpfen. Und obwohl heute viele Menschen dar-
an glauben, daß die Erziehung umso wichtiger ist, je
jünger das Kind ist, so ist es in der WirkUchkeit doch
so daß der Erzieher umso höher eingeschätzt wird, je
älter sein Zögling ist. Vergleichen wir etwa die Achtung,
73
die man einem Miltelschullchrcr eatgegcubriiigt, mit der
Einschätzung, die eine KindorgarUiorin genießt Etwas
an dieser Rechnung slimml also nich! vollkoininrn. Was
wir in der Realität linden, Iiat aber gewöhnlich seine
Rerechtigung. Die geringe Einschätzung des Erzieliers
kommt wohl daher, dali er wirkhch gar kein selbstän-
diger Unternehmer ist, sondern ein iteanltragter, ein
Handlanger, ein Puffer, der zwischen die erwacliscnc
Generation und die nächste Generation, die Kinder, ge-
steht wird. Man liefert ihm das Rolimaterial und man
erwartet von ihm ganz bestimmte Erzeugnisse. Das
einzige, was ihm freigestellt wird, ist der Weg, den er
einschlagen will, das lieitit die Mittel, die pädagogischen
Methoden. Und gerade weil der Erzieher sonst wenig
Freiheit hat, stürzt er sich auf dieses Stückchen Sclbst-
herrhchkeit und macht aus der Wahl, die ihm über-
lassen wird, ob er etwa strenge oder milde Erziehungs-
mittel verwenden will, welche neuen Künste er erfindet
um die Kinder gefügig zu machen, die Fiklion seiner
großen Macht.
Redenken wir noch einen anderen Umstand. Ich
glaube, wir haben alles Recht anzunehmen, daß das Roh-
material, das der Erzieher in die Hand bekommt, in
großen Zügen immer wieder dasselbe ist. Das End-
produkt aber, das von ihm verlangt wird, ist je nach
den Zeiten, je nach den Formen der Gesellschaft, für
die er arbeitet, außerordentlich verschieden. Wir brau-
chen nur einen Abriß aus der Geschichte der Pädagogik
durchsehen, um zu erfahren, was die Erziehung in den
verschiedeneu Zeitabschnillen hervorz.uhringen hatte. Un-
ter den Produklen, die die Erzieher zu liefern hatten,
finden wir etwa: kriegerische junge Spartaner oder
den schönen Künsten hingegebene Athener oder demü-
tige Asketen, wie die Kirche des Mittelalters sie brauchte,
heroische Junker oder Ritter, ergebene Untertanen,
brave, auf den Erwerb eingerichtete Rürgcr, vor nichts
zurückschreckende KevoluUonäre oder friedliche Arbeiter.
74
Es ist nicht merkwürdig, daß diese Korderiingen ge-
stellt werden. Sie entsprechen jedesmal vollkommen den
Bedürfnissen der erwachsenen Gesellschaft. Merkwürdig
ist nur dali die Erzieher sich zu jeder Zeit mit der glei-
chen Begeisterung auf ihre Aufgabe gestürzt haben. Neh-
men wir an, man würde Beamten und Arbeitern emer
Fabrik in ähnlicher Weise zumuten, aus den gleichen
Rohsloffen etwa in kriegerischen Zeiten Kanonenkugeln,
in friedlichen Zeilen Wollwesten und Federbetten zu er-
zeugen. Ich glaube nicht, dali die Zuversicht, mit der
die An^eslellten an die Arbeit gehen würden, dort so
groß wäre, wie die der Erzieher unter den gleichen
Verhältnissen. Diese Vorgänge haben noch einen gro-
ßen Nachteil. Zu allen Zeiten hat man das Mißhngen
des Erziehungsunternehmens als Fehler der Erzieher
angesehen. Immer schien es möglich, das Ziel zu errei-
chen Immer schien es, daß nur der einzeUie Erzieher
an seiner Aufgabe irgendwie gescheitert war, nie die
Pädagogik als Ganzes. Und ich meine, gerade um diese
Schande des Versagens von sich abzuwälzen, haben die
Erzieher aller Zeiten eine gewisse Hinneigung zur Wis-
senschaft der Psychologie gezeigt. Die Psychologie wäre
in diesem Falle die Lelire vom Wesen des Rohstoffs.
Erst wenn es der Psychologie gelungen ist, über das
Rohmalcriul der Erziehung, über die Kinder, wirklich
etwas auszusagen, dann werden die Pädagogen ein Mittel
in der Hand haben, um ihren Auftraggebern, der Ge-
sellschaft, in einer neuen Weise gegenüberzutreten. Sie
werden imstande sein, eine Unstimmigkeit zwischen dem
von der Gesellschaft bestimmten Ziel und dem in ihre
Hand gegebenen Kinde aufzuzeigen. Sie werden der sozi-
alen Gegebenheit des Zieles die psychologische Gegeben-
heit im einzelnen Kind als gleichberechtigten Faktor an
die Seite stellen. Daß auf diese Weise auch das Kind auf
seme Rechnung kommen wird, daß es sich erweisen
wird, welche Erziehungsziele sich noch mit den Bedin-
gungen der psychischen Gesundheit vertragen, welche
75
Ziele nur auf Kosten dieser Gcsundlit-il zu erreichen
sind, das kann uns allen nur ein höclist willkommener
Nebcngewiini sein.
Die Erziehung hal offenbar zwei große Aufgaben, Die
eine fassen wir unter dem Namen „Gewähren und Ver-
sagen" zusammen; das heißt die Aktivität des Krziehers
den spontanen Äußerungen des Kindes gegenüber. Die
andere Aufgabe betrifft den Aufbau und Ausbau der
kindhchen PersönUchkeit. Die Psychologie hätte erl'ülll,
was die Pädagogen von ihr erwarten dürfen, wenn sie
einerseits die primitive Wesensart des Kindes beschreibt,
anderseits Ausblicke auf die Möglichkeiten und Mecha-
nismen des weiteren Ausbaues eröffnet.
Mit der ersten Aufgabe beschäftigt sich ausführlich
Dr. Bernfeld. Er schildert als Inhalt des kindlichen
Seelenlebens die Triebe und beschreibt sie als Abkömm-
linge des sexuellen Triebwunsches. Diese Triebwünsche
durchlaufen Phasen, gehen aus einer Form in die andere
über — wir wissen nicht mit wieviel Hetciligung der
Erziehung. Es blieb dabei offen, wie der Erzieher sich
zu diesen Triebwünsehen im einzelnen verhalten soll,
es wurde nur im allgemeinen angedeutet, der Erzieher
möge Respekt vor diesen Trieben haben. Dieser Respekt
ist aber nichts Neues. Seit langem finden wir bei den
Pädagogen zwei Einstellungen zum kindlichen Seelen-
leben. Die Vertreter der einen Einstellung sagen: Was
immer das Kind mitbringt, ist gut. Wir müssen es achten,
dürfen es nicht stören — eine Haltung, die Rousseau
für uns verkörpert, die in der neuen Pädagogik vor
allem von Frau Dr. Montessori vertreten wird.
Diese Einstellung heißt eigentlich: das Kind hal immer
recht mit dem, was es will, die Erwachsenen sliftcn nur
Schaden, wenn sie etwas daran ändern wollen.
Die andere Einstellung ist weit verbreiteter. Sie sagt,
das Kind hat immer Unrecht. Ihren Höhepunkt erreicht
sie in einer bekannten scherzhaften Geschichte. Eine
Mutter sagt zum Kinderfräulein: Gehen Sie hinein,
76
schauen Sic, was die Kinder machen, und verbieten
Sie es ihnen. Eigentlich lassen sich beide Einstellungen
den oben geschilderton Tricbregungen des Kindes gegen-
über vertreten. Wir sollen die Triebregungen ja als Na-
turgewalten ansehen, das Kind hat das Recht, solche
Regungen zu äuliern, es hat ja keine Wahl, es kann gar
nicht anders. Heißt das, wir sollen diesen Regungen im-
mer Recht, immer Raum geben? In der Arbeit Dr. Rern-
fclds findet man die vorsichtige Äußerung, daß wir
bei der psychoanalytischen Behandlung des Erwach-
senen diesen Triebregungen innerhalb des Behandlungs-
verfahrens für eine Weile Raum geben. Man könnte die
Tatsachen auch anders auffassen: weil es Triebregun-
gen sind, keine harmlosen Gewohnheiten oder Unarten,
über die der Erzieher sich mit gutem Willen hinweg-
setzen kann, müssen wir vielleicht unsere Kräfte ganz
aufbieten, um über diese Gewalten die Herrschaft zu
bekommen.
Wir sehen, wenn wir die Kenntnis der Inhalte ohne
besondere Gebrauchsanweisung in die Pädagogik einfüh-
ren, sind wir in der praktischen Erziehung hinterher
nicht sehr viel weiter als vorher. Statt diese Frage
einfach dem Gefühl nach zu entscheiden, machen wir
noch einmal eine weitere Anleihe bei der psychoana-
lytischen Arbeit selbst. In der psychoanalytischen Be-
handlung des Erwachsenen lernen wir verschiedene
Krankheilsformen kennen. Aus jeder dieser Rrankheils-
formen können wir Schlüsse auf bestimmte Einstellun-
gen zwischen Kind und Erzieher ziehen. Wir lernen
etwa die neurotischen Hemmungszustände kennen, die
dadurch entstanden sind, daß eine der geschilderten
Triebregungen sehr früh und energisch unterdrückt und
dadurch von der Befriedigung völlig abgehalten worden
ist. Die Zähigkeit, die Gewalt der Regung, bringt es zu-
stande, daß mit der Vergewaltigung des Triebvorganges
der Prozeß nicht abgeschlossen ist. Es entsteht ein in-
nerer Konflikt und im Laufe der Zeit setzt sich das
11
Unlerdrücklc in irgendeiner Form, gewöhnlich in einer
sonderbar verzerrten, slörendcn l*'orni, doch durch. Der
Weg zur direkten, ursprünglichen IJefriedij^un^^ des Trie-
bes bleibt aber gesperrt, öffnet sich auch nicht wieder,
wenn das Kind groß geworden ist, wenn die Bedingungen
sich geändert haben, wenn das ursprungHchc äußere
Verbot längst in äußere, von der Gesellschaft erteilte
Erlaubnis umgewandelt worden ist. Anderseils lernen
wir Krankheitszustände kennen, wie etwa die Perver-
sionen oder bestimmte Formen der DissoziMlilät, die
dadurch gekennzeichnet sind, daß das Kind au einer
infantilen Form von Triebbefriedigung ausschließlich
festhält oder zu ihr zurückkehrt In der Geschichte eines
auf solche Weise Ericrankten finden wir gewöhnlich ein
bestimmtes Ereignis, eine Verführung, einen Schock, ein
plötzliches Erlebnis, das dieser speziellen Triebregung
den Durchbruch zur vollen Befriedigung gestattet hat!
Das Kind bleibt gebunden und macht die Weiterent-
wicklung zur erwünschten Erwachsenheil <Ies Trieble-
bens nicht mit. Aber diese beiden so ganz verschiedenen
Krankheilsformen haben doch etwas gemeinsam. Hei
beiden hat eine Stufe der kindUchen Entwicklung, die
Durchgangsstation bleiben sollte, Gewalt bekommen Be-
deutung über die spätere Stufe hinaus, ist statt Durch-
gangsstation Fixierungsstelle geworden. Eine solche Fi-
xierung mit nachfolgender Erkrankung ist also möglich,
wenn wir dem Trieb sein volles Recht geben, ist ander-
seits möglich, wenn wir dem Trieb sein Hecht voll
versagen. Das zur Gesundheit Verhelfende liegt hier in
der Mille. Es handelt sich offenbar darum, den Trieb
weder in die Verdrängung zu treiben, von der SubUmie-
rung, das heißt von der Ablenkung zu anders gearteter
Verwendung auszuschließen, noch ihn zur vollen Befrie-
digung durchzulassen, sondern einen Mittelweg zu fin-
den. Wie macht man das aber? Das sieht ja so aus, als
müßten wir zum Beispiel das Kind lehren, es dürfe
nicht ins Feuer greifen, weil das Feuer brennt, dürfen
78
das dem Kind aber nicht sagen, sonst würde es Angst
vor dem Feuer bekommen und im späteren Leben nie
mehr imstande sein, ein Streichholz anzuzünden, um
eine Zigarette zu rauchen, oder ein Mittagessen zu ko-
chen. Wir müssen also das Kind lehren, das Feuer nicht
anzugreifen, dürfen es anderseits aber nicht vor dem
Feuer schrecken.
Wir erkennen etwas aus diesem einfachen Vergleich.
Wenn der Durchbruch zur vollen Triebbefriedigung für
das Kind gefährüch ist, so ist es sicher für den Erzieher
seit jeher das Leichteste gewesen, das Kind vollkom-
men abzuschrecken. Denn die Erzieher haben die Gefah-
ren der Triebbefriedigungen gekannt, ehe sie offiziell
etwas von den kindUchen Trieben gewußt haben. Sie
haben es sich durch diese volle Versagung leicht ge-
macht, haben Verbote gesetzt, die die Kinder nicht mehr
zu übertreten gewagt haben, und haben alles ausgenützt,
was ihnen bei der Erteilung dieser Verbote zu Hilfe kom-
men konnte: Die Schwäche des Kindes dem Erwachse-
nen gegenüber, seine Hilflosigkeit, seine Unfähigkeit,
sich ohne Erwachsenen in der Außenwelt zu halten,
seine Abhängigkeit, kurz gesagt, seine Angst Um mit
dem Kinde nicht einen ständigen Kleinkrieg führen zu
müssen, um nicht jedesmal, wenn ein Kind sich dem
Feuer der Triebbefriedigung nähert, schreien zu müssen:
„Diesmal nicht", haben die Erzieher gesagt: „Ein für
allemal nicht, das brennt!" Das war offenbar die ein-
fachste Lösung.
Wie soll der einsichtige Erzieher unserer Tage die
richtige Lösung finden? Muß er statt der einmaligen
Verbote, vielleicht einen Kleinkampf einführen, muß er
jedesmal helfend dabei sein, wenn das Kind in die
Nähe einer solchen Triebgefahr gerät? Welche Mittel
muß er heranziehen, um das Kind zwar nicht dauernd
abzuschrecken, aber doch in jedem Einzelfall zu behü-
ten? Wie kann er unter diesen Umständen die milde
und freie Erziehung, wie man sie doch in der modernen
79
Pädagogik wünsohl, durchsetzen, wie kann er sie auch
nur beginnen? Die Erziehung des Kleinkindes scheint
ja auf die Versagung eingeslelU. Dann wäre es kein so
großer Untcrscnied, wie streng der einzelne Erzieher
sich benimmt, das Kind müßte die Triebversagung an
sich schon als Strenge empfinden.
Man könnte hier wieder zwei Auffassungen verlretcn,
man könnte sagen; Da es doch nichts nutzt, da das Kind
ja doch nur fühlt, daß man verbietet, daß man es von
Befriedigung ausschließt und abhält, warum bemühen
wir uns dann noch, die Strenge zu vcrmei<len? Man
könnte anderscils sagen: Wenn wir das Kind auch
noch so schonen, tun wir ihm schon ungi'heucr viel an,
schränken wir unsern Eingriff wenigstens auf ein Min-
destmaß ein. Aber im Grunde kommt es ja doch dar-
auf an, daß wir mit dem Kind um Triel)l)efriedigungen
kämpfen, daß wir es vor der Gefahr behüten wollen,
ständige Triebdurchbrüche zu haben und so auf dem
Weg der Entwicklung immer wieder aufgehalten zu wer-
den, stehen zu bleiben, sich zu befriedigen statt zu subli-
mieren, zu onanieren statt zu lernen, seinen Wissens-
drang rein im Sexuellen zu hallen, statt ihn auf die
ganze Welt zu erweitern.
So trostlos würde es in der Pädagogik und in unserer
Beziehung zum Kleinkind aussehen, wenn das Kind
nichts weiter kennen würde, als die Suche nach Lust
nach Triebbefriedigung am eigenen Körper. Dieser in-
neren, im Kinde arbeitenden Gewalt könnte nur eine
äußere Gewalt wirksam entgegentreten. Aber die Ent-
wicklung des Kindes kommt ihr zu Hilfe. Das Kind
bleibt nur kurze Zeit dabei, Lust ausschließlich am
eigenen Körper zu suchen, seine Triebregungen — ob
es die oralen, die analen, die sadistischen sind — an sei-
ner eigenen Person zu befricdigeu. Nacli kurzer Zelt
wenden sich diese Triebregungen nach außen. Es sucht
sich die Personen seiner allernächsten Umgebung, die
ihm wichtigsten aus und verlangt von ihnen energisch
80
die Befriedigung seiner Wünsche. Das ist die Situation,
die man als die Ödipus-Situation des Kleinkindes cha-
rakterisiert. Wir sagen, das Kind hat jetzt ein Liebes-
objekt. Der Höhepunkt der frühkind liehen Entwicklung
ist erreicht, wenn ein großer Teil der Lustsuche nicht
mehr auf die eigene Person gerichtet ist, sondern sich
auf die Objekte in der Außenwelt und vor allem auf
ein einziges Objekt ~ Mutter oder Vater — konzentriert.
Wenn man aber meint, die Situation des Kindes
wäre dadurch erleichtert, so ist das ein großer Irrtum.
Die Situation des Kindes hat sich mit dieser Wendung
der Triebe von der eigenen Person zum Objekt außer-
ordentlich erschwert. In der allerersten Zeit, der auto-
erotischen Periode, wie wir sie nennen, ist das Kind ja
als Triebwesen unabhängig. Nur die Störungen von
außen werden als unangenehme Eingriffe empfunden.
Das Kind ist unabhängig, in sich geschlossen, verlangt
von sich, was es sich auch wieder selbst erlauben kann.
In dieses Verhältnis wird jetzt ein äußeres Objekt ein-
geführt, und nun ist das Kind auf den guten Willen
des Liebesobjektes angewiesen. Das Kind ist bei der Be-
friedigung jedes einzelnen Wunsches von der Zustim-
mung der geliebten Person abhängig. Das Kind, das sich
in der Körperpflege an gewisse Befriedigungen von Sei-
ten der Mutter gewöhnt hat, muß plötzlich erfahren,
daß die Mutter diese Handlungen einstellt, sie jemand
anderem überläßt, der dem Kind nicht in der gleichen
Weise als Liebesobjekt gilt, für das Kind also diese
Möglichkeit der Befriedigung ausschließt. Das heißt, das
Kind ist jeden AugenbUck in Gefahr, Versagungen von
Seiten des Liebesobjektes, nicht nur Störungen von
außen zu erfahren.
Dagegen hat sich die Situation der Erziehung außer-
ordentlich verbessert. Nehmen wir an, Erzieher und
Liebesobjekt ist in einer Person vereinigt. Dann ist die
Gefahr des Triebdurchbruches gering. Der Erzieher
braucht die Mittäterschaft nur abzulehnen und die Ver-
6 Almanach 1935 g^
sa^uiig ist cingctrclcn. Im StacQum der ObjektUebc ist
also die Erziehung des Kindes unvergleichlich leichter
als im Stadium des Autocrotismus.
Wir haben die Angst des Kindes als Hilfsmittel der
Erziehung angeführt. Die Ängste, den Gefahren der
Außenwelt hilflos preisgegeben zu werden, machen das
Kind zu allererst gefügig; mit der Bindung an das Lie-
besobjekt kommt die neue Angst dazu, von dieser Per-
son, wenn man ihr nicht gehorsam ist, nicht mehr ge-
liebt zu werden. Wir sehen, die Machtmittel des Erzie-
hers wachsen mit der Zeit an Zahl: der Erzieher kann
das Kind körperlich bedrohen, er kann es verlassen,
er kann drohen, es nicht mehr zu lieben, und das alles
als Strafe, wenn es nicht folgsam ist und auf seine
Triebbefriedigungen nicht verzichten will.
Die Lage des Erziehers vereinfacht sich immer weit-
gehender. Versuchen wir uns vorzustellen, wie schwer
es im Erwachsenenleben ist, ein Liebesobjekt aufzuge-
ben, wenn man seine Leidenschaft auf eine bestimmte
Person gerichtet hat, die Wünsche einzeln an ihr befrie-
digen möchte, sie aber auch im ganzen womöglich kon-
kurrenzlos besitzen will, und dieser Mensch sich einem
entzieht, dann geht das nicht ohne großen Schock für
den Verlassenen vorüber. Wir finden, daß wir dieses
ungetreue Liebesobjekt gar nicht wirklich loswerden
können. Und wenn es uns doch äußerlich verläßt,
finden wir in unserem Innern alle mögUchen Erinne-
rungsspuren, ja, mehr als das, Angleichungen an das Ob-
jekt, so als würden wir sagen: Wenn du mich schon in
der Außenwelt verlassen hast, so habe ich doch in mir
ein Abbild von dir behalten.
Wenn das dem Erwachsenen, also einem in seiner
Persönlichkeit fertigen, mehr oder weniger selbständigen
Menschen geschehen kann, dann läßt sich denken, was
dem kleinen Rinde unter den gleichen Umständen zu-
stößt. Das Kind ist jetzt in dem Stadium, wo es alle
seine körperlichen Wünsche, alles das, was wir sexuell
82
1
1
'1
nennen, all seine Aggressionen, aber auch all seine
Liebe, alles, was es an Zfirllichkeit erlernt hat, auf eine
Person konzentriert, auf das Liebesobjekt aus der ödi-
pus-Situation. Und nun erlebt jedes Kind immer das
gleiche: Dieses Liebesobjckl will nicht oder kann ihm
nicht gehören. Es bietet ihm gelegentliche Befriedigung
hier und dort, Zärtlichkeit und Fürsorge, aber von
einem ausschließlichen Besitz ist keine Rede. Das Kind
muß in die Teilung willigen, muß anerkemien, daß die
Muller vor allem dem Vater gehört, zum Teil den Ge-
schwistern, es muß auf den Alleinbesitz und alles, was
ihm das bedeutet, verzichten lernen. Das Kind macht
jetzt in größtem Ausmaß einen solchen Umwandlungs-
prozeß durch, wie wir ihn beim Erwachsenen angedeu-
tet haben. Das heißt, das Kind kann sich nur um einen
großen Preis von seinem erwachsenen Liebesobjekt in-
nerUch wieder trennen, es muß das Liebesobjekt wenig-
stens teilweise in sich aufnehmen, es muß sich selber
so umwandeln, daß es dieser Mutter oder diesem Vater
ähnlich wird. Und merkwürdigerweise nimmt das Kind
von dem Objekt das auf, was ihm am Objekt am un-
angenehmsten, am störendsten war, es nimmt die Ver-
bote und Gebote auf. Es entsteht der Zustand, daß wir
gegen Ende der Ödipus-Situation ein Kind vor uns ha-
ben, das wohl in einem Teil so geblieben ist, wie es frü-
her war, das aber zum anderen Teil das Objekt, den
Erzieher selbst, In sich trägt. Der Erzieher im Kind,
also dieses einverleibte Stück — wir sagen, das Stück,
mit dem das Kind sich identifiziert hat — spielt jetzt
dem übrigen Kind gegenüber innerlich dieselbe Rolle,
wie sie das Elternobjekt in der Außenwelt dem ganzen
Kind gegenüber gespielt hat. Es bekommt eine so über-
ragende, überwältigende Stellung im Kind eingeräumt,
daß wir ihm auch in der Psychoanalyse einen eigenen
Namen gegeben haben. Wir nennen es das „Ober-Ich".
Es beherrscht das Ich des Kindes so, wie der Erzieher
früher das Kind selbst beherrscht hat
83
Mit dieser Phase wird das Leben der Erzieher leich-
ler. Wenn sie bisher einen Kampf mit einem Wesen
gefülirt haben, das ihnen i^anz gegensätzlich gegenübcr-
geslandcn hat, das immer alles das nicht wollte, was
sie wollten, so haben sie jetzt im Lager des Feindes —
sagen wir es ruhig — einen Verbündeten. Der Erzieher
des größeren Kindes kann sich vertrauensvoll immer
üiidiescs Über-Ich wenden und sagen: Wir beide halten
zusammen gegen das Kind. Und das Kind sieht sich
miii zwei Mächten gegenüber, dem umgewandelten Teil
seiner eigenen Person und dem immer noch vorhande-
nen Liebesobjekt in der Außenwelt. Es wird auf eine
bis dahin ungeahnte Art gefügig. Die Gefügigkeit, die wir
auf diese Art erzeugen und die der Erzieher zu seiner
eigenen Erleichterung sehr oft im Obermaß zu erzeugen
bestrebt ist, ist es gerade, die das Kind in die übermä-
ßige Trieb Verdrängung, in die Neurose treiben wird.
Der hier geschilderte Mechanismus ist vor allen an-
deren für die Veränderung und den Ausbau der kindli-
chen Persönlichkeit entscheidend. Der Weg geht von
^er Liebe zum Objekt zur Identifizierung mit dem Ob-
jekt. Die Verhältnisse, die sich dabei ergeben, die wei-
tere Erziehungsarbeit unter Mithilfe des neu entstande-
'iGn Über-Ichs sind auISerordentlich interessant, gehen
^er über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Das Kind
^it dem begonnenen oder in einem gewissen Maße aus-
gebildeten Ober-Ich ist kein Kleinkind mehr, es ist die
Zweite Kindheitsperiode eingetreten und aus den Hän-
Y^n des Kleinkindererziehers in die anderer Erzieher
^^^ergegangen. Diese anderen Erzieher haben — das ist
^^ keine Frage — die leichtere Arbeit. Der Erzieher
^^ Kleinkindes hat die konfliktreichste, die schwierig-
oif ■^i'beit, aber, — und jetzt komme ich mit dem glei-
itn^^ Trost, den man den Kleinkind-Erziehern gegenüber
j^er ausgesprochen hat, — er hat auch die für die
"^^Uift entscheidende Arbeit zu leisten.
%
*
Die richtige Behandlung scheinbar
straffälliger Kinder. — Autorität und
Verantwortung.
Von Heinrich Meng, Basel
In der Reihe „Bücher des Werdenden" her-
ausgegeben von Paul Federn (Wien) und
Heinrich Meng (Basel), ist im Jahre 193^
' ein Buch von Heinrich Meng .,Strafen und
Erziehen'' erschienen, dessen VIII. Kapitel mit
Zustimmung des Verlages Hans Haber in
Bern im Folgenden zum Abdruck gelangt.
Die Sofort- und Spätwirkung der Körperstrafe hängt von
der Vorgeschichte des Kindes ah. — Zwei i3eispiele aus
der Wiener Erziehungsberatung Aichhorns. — Gesunde
Wchrhaftigkeit gegen die Strafe — Verletzung des Scham-
gefühls. — Kindhche Bereitschaft zur Unterwerfung. —
Determinismus und Gewissen. — Sensible l^hasen, — Seihst-
raordneigung in der KindhelL
Immer wieder lauchL in der Schule und im Eltern-
haus die Frage auf, ob Körperstrafen zur „Zucht'' und
Disziplin gehören. Die Individuen reagieren aber ganz
verschieden auf jede Strafe, vor allem aber auch auf
die Körperstrafe. Zur Beurteilung läßt sich leicht man-
ches Für und Wider bringen, wenn mau lediglich die
augenbiickUche sichtbare und dem Bewußtsein auffäl-
lige Wirkung auf das Kind und die seelisclie Entlastung
des Erziehers nach dem Vollzug ins Auge faßt. Ihre
unbewußte Wirkung zu erkeimen, verlangt aber die
Hilfe der liefcnpsychologischen Kon-
trolle. Sonst muß man sich ganz auf Mitteilungen
verlassen über die Spät- und Fernwirkungen von Er-
ziehungsprozessen in der Kindheit bis zum Ervvachsen-
sein. Die schon früher mitgeteilten Aussagen von kor-
perhch Bestraften zeigten, daß auch die sofortige Wir-
85
kung der Körperstrafe abhängig ist von der Vorge-
schichte des Kindes. Ihre Wirkung kann so anonym
und paradox sein, daß nur genaue Kenntnis der Vor-
geschichte die Angaben klar und wertvoll macht.
Oft sind die sofortigen Wirkungen so stark und auf-
fallend, daß sie allein schon die Körperstrafe ver-
bieten, wenn man nicht um jeden Preis, auch um den
der Zerrüttung einer Kinderscele, Recht behalten und
die Autorität wahren will.
Man spricht beim Erwachsenen, der im Gefängnis aus
seelischen Gründen in schwere Erregung und Angst
verfällt, von einer seelisch bedingten Gefängnispsychose
oder dem „Haflknall". Eine ähnliche psychologische
Reaktion — nennen wir sie „E r z i e h u n g s k n a 1 1"
— weisen bestimmte Jugendliche auf, die durch Tem-
perament und Neurose in der Entwicklung gehemmt
sind und durch Strafen in „sinnlose" Reaktionen hin-
eingetrieben werden. Meist geht an solchen Erziehungs-
versuchen jenes Stück Einsicht im Kinde verloren, das
als Verlangen zum Gesunden und zum Gutsein noch
in allen seelisch gestörten Persönlichkeiten arbeitet. Da-
mit fällt das Fundament zusammen, auf dem Strafe er-
zieherisch wirksam sein kann. Eltern und Erzieher
werden unter solchen Verhältnissen eine psychologi-
sche Untersuchung und Behandlung durchführen lassen,
vor allem aber die Körperstrafe meiden. Um zu zeigen,
wie falsch es wäre, einen seelisch Gestörten und
durch Mi\ieueinflüsse Verwahrlosten
durch Strafe zu erziehen, statt ihm ursächlich zu helfen,
seien aus der Wiener Erziehungsberatung
Aichhorns zwei Beispiele wiedergegeben. Sie geben
Aufschluß über typische Funde und Problemstellungen
der psychoanalytischen Erziehungsberatung und Päd-
agogik als Hilfsmittel einer tiefenpsychologisch fundier-
ten Heilpädagogik.
„Von der Schule wird ein Zwölfjähriger in die Er-
ziehungsheralung geschickt, weil er seit seinem achten
86
Lebensjahr immer, wenn der PrftllUng kommt, davoa-
läuft und oft erst nach Tagen von der Gendarmerie
aufgegriffen und zurückgebracht wird. Da wir vorerst
wissen wollen, ob in dieser Verwahrlosung auch orga-
nisch begründete Ursachen mitbeteiligt sind, veranlas-
sen wir eine psychiatrische Untersuchung des Kindes,
Wir erbalten einen Befund, der Wandertrieb oder epi-
leptischen Dämmerzustand offen läßt. Dieser Befund
veranlaßt uns, nun der Angelegenheit auf unsere Art
nachzugehen. Wir erfahren von der Mutter, daß der
Junge ein außereheliches Kind sei, bis zu seinem sech-
sten Lebensjahr bei der mütterlichen Großmutter auf
dem Lande untergebracht war und daß er wegen des
Schulbeginnes zu der in der Zwischenzeit verheirateten
Mutter zurückkam. Die wirtschaftüchen Verhältnisse der
Mutter waren schlecht. Der Junge traf eine vierköpfige
Familie mit zwei Bettgehern in Zimmer und Küche
wohnend an. Ober das Verhalten des Kindes befragt,
cibt die Mutter an, daß er ungemein verschlossen sei,
keine Freunde habe und oft stundenlang stumpf in einem
Winkel sitze. Von der Schule hören wir, daß er ein
schlechter Schüler sei, zwei Schulklassen habe wieder-
holen müssen und daß er unaufmerksam vor sich hin-
starre. Die Intelligenzprüfung, die wir auch veranlassen,
ergab normale Intelligenz.
Was alles aufgedeckt werden mußte, bis der Junge
geheilt war, kann dein Ungeschulten nicht deutlich
gemacht werden. Seither aber findet die Tatsache all-
gemeines Verständnis, daß die Versetzung des Fünf-
jährigen aus einer ihm restlos zusagenden Umgebung,
von der ungemein geliebten Großmutter weg in ein
enges, dumpfes, überfülltes, liebloses ProletariermiUeu,
in dem sich niemand um ihn kümmerte, schockartig
gewirkt hatte. Das Kind setzte das sehr lustbetonte
Erleben im Hause der Großmutter in der Phantasie
fort und verspann sich umsomehr in seine Welt, je
unlustvoller die Gegenwart für ihn wurde. Die Tages-
87
anforderungeu zwangen ihn, diese Well aus dem Be-
wußtsein wegzuschieben, doch behiell sie auch dann
noch die Macht, ihn für die reale Well mir min-
dertaugUch zu machen. Wenn der Sonnenschein im
Frühjahr wirksam wurde und eine Welle seiner Phati-
tasien in das Vorbcwulite durclischlug, /Avang es ihn
weg und er mußlc fort, die versunkene schöne Kindheit
zu suchen. In der Behandlung sagte er eines Tages :
,Nuu weiß ich, warum ich immer davongelaufen bin.
Es gibt einen Sonnenunlergang und das Läuten von
Kirchenglocken, das war immer so schön und das
wollte ich wieder haben.' "
Die zweite Beobachtung A 1 c h h o r n s gibt dem Leser
noch einmal zu bedenken, weshalb Behandlung — statt
Strafe — nicht selten zu fordern sein wird und wie
unbewußtes Schuldgefühl und Slrafbe-
dürfnis sich auswirken können.
„Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das in der Schule
leicht lernt, aber faul, unaufmerksam und unordentlich
ist, soll in die Anstalt gebracht werden, weil die Eltern
eine Polizeianzeige der Hausgehilfin befürchten. Der An-
laß war folgender: Das Kind sollte seine Schulsachen
in Ordnung bringen. Es verteilte Bücher, Hefte und die
übrigen Schulmaterialien auf den Boden und über das
Bett, um zu sortieren und zu ordnen. Wie es aber auch
sonst Arbeiten groß angelegt anfing und damit nicht
fertig wurde, ging sie auch diesmal weg und ließ alles
liegen. Die Hausgehilfin räumte die Sachen weg und
legte sie in geordneten Stößen auf den Tisch. Als das
Kind nach Hause kam, beschwerte es sich, daß die
Hausgehilfin ,alles wieder in Unordnung gebracht
hätte'. Diese versuchte, ohne alle Unfreundlichkeit, das
Kind zu beruhigen, doch gelang das nicht, das Kind ge-
riet vielmehr in eine derartige Wut, daß es der Haus-
gehilfin ein Trinkglas an den Kopf warf, wodurch
diese eine heftig blutende Wunde an der Nase, die
ärztlich behandelt werden mußte, davontrug. Nach den
§8
%
Angaben der Mutler verUert das Kind in seinen Wut-
ausbrüchen jede Besinnung, tobt, schreit, schlagt um
sich, zerreißt Kleider und Hefte der Geschwister, wft
Gegenstände nach den im Zimmer befmdhchen Per-
sonen, gießt Tinte aus, zerbricht Gläser "»jd ^e^f /f^
und ist dabei von unglaublicher Bosheit und Brutalität,
Es hat auch schon einigemale die Anwesenden mit dem
Messer bedroht, das ihm jedoch gleich entrissen wurde
so daß nicht festzustellen ist, ob das Mädchen wirklich
zugestoßen hätte.
Nehmen wir an, es wäre zu einer Polizeianzeige ge-
kommen, so hätte das Jugendgericht wegen leichter
Körperverletzung der Hausgehilfin dazu Stellung neh-
men müssen. Die Erhebungen hätten ergeben - wie
von uns feslgestellt wurde -, daß die Familienverhält-
nisse vollständig geordnet sind, die in derselben Um-
gebung aufwachsenden Geschwister sich vollständig nor-
mal benehmen und daß das Mädchen bereits mit nega-
tivem Befunde psychiatrisch untersucht worden war.
Die Verhöre des Kindes hätten den Eindruck, daß es
sich um ein verschlossenes, bösartiges, außerordenlUch
asgressives Kind handelt, verstärken müssen, weil es
sich auch vor uns - bei den ersten Ausfragen - so be-
nahm. Die Abgabe in eine Erziehungsanstalt wäre die
unausbleibliche Folge gewesen.
Das Kind wird statt dessen einer Verwahrlosten-
analysc zugeführt. Dabei stellt sich heraus, daß es in
einer, ihm nicht bewußten, konstanten Angstsituation
lebt Alle die Ursachen, die diese Situation bedmgen,
anzugeben, würde hier zu weit führen. Zu verstehen ist
aber, daß dieses Kind sich vorübergehend angstfrei
fühlt, wenn es bei einem Zusammenstoß mit Erwach-
senen scheinbar die Oberhand behält. Die heftigen Ag^
gressionen bedeuten zuerst nichts anderes als den
Wunsch, den Erwachsenen zu überrumpeln. Weniger
entstellt' ist der unbewußte Wunsch, von den Erwach-
senen doch überwältigt und damit wieder in die alte
89
Angstsituation zurückversetzt zu werden. In der Ana-
lyse wurde das Kind nach Äufdecliung der Zusammen-
hange, aus denen sein unbewulites Schuldgefühl und
Strafljedürfnis entstanden sind, geheilt. Es konnte auch
walirend der Behandlung in der Familie verbleiben."
_ Aus allen Berichten dieser Art, in der nicht das
äußerliche Geschehen, sondern das innere Erleben des
Kindes in seiner Umgebung uns plastisch vorgeluhrt
wird, bekommt man den Eindruck, daß das schlimme
Kind im schweren Kampf lebt und verzweifelt den dis-
sozialen Weg trotz bessern Wollens einschlägt. Es ist
der Selbsterhaltungstrieb gegenüber den Le-
bensschwierigkeiteu gleichsam irregegangen. Meistens er-
scheint er gesteigert, bevor er in Krankheit oder unlenk-
barem Verhalten zusammenbricht. Nun überlege man
wie sehr die Körpersirafe, aber auch in geringerem'
Maße Freiheitsstrafen oder strafweise verhängte unleid-
Uehe Verbote und Gebote den Selbsterlialtungsli'ieb auf-
peitschen und verletzen. Jedes Lebewesen muß instink-
tiv jeden Angrifi" zurückweisen, solange der Selbst-
erhaltungstrieb noch ungebrochen ist. Nun geschieht
die Strafe, die doch ein Angriff ist, von der Seite
eines Stärkeren, dessen Autoritätsperson durch heilige
Gebote unverletzlich wurde. Es ist Frevel, Widerstand
zu üben, ja nur daran zu denken. Die gesunde
Wehrhaftigkeit eifert, solange sie noch besteht, \
zum ^A^iderstand an. So muß Feigheit oder Gleichgültig-
keit entstehen, damit die Strafe ertragen werde. Wer
die Phantasien nach erlittener Strafe erzählen gehört
hat, wird wieder und immer wieder danach trachten,
nicht zu strafen.
Vor allem aber werden durch beschämende und krän-
kende Strafen der Selbsterhaltungstrieb und die mit
ihm zusammenhängende Selbstsichcrhcit verletzt, oft
steigert sich dadurch der Antrieb zur Selbstver-
nichtung. Kränkung und K r a n !< h e i t sind
nicht nur sprachlich, sondern auch innerlich verwandt
90
Bei seeUscher Labilität verschärft sich s6 die Gefahr
des Selbstmordes und die Bereitschaft zur Angst. Die
Fähigkeit, sich der Führung Erwachsener anzuver-
trauen schwindet in dem Maße, in dem sich der Heran-
wachsende als Sünder und Verbrecher aas verlorener
Ehre erlebt
Wir stoßen hier auf das Problem der Autorität und
der Führung in der Erziehung. Werden sie zerstört,
so fehlt die Grundlage für das Richten und Strafen,
nämlich die Achtung vor der Strafe. Das Strafen darf
daher nur auf Grund des autoritären Eindrucks der er-
ziehenden Persönüchkeit geschehen, aber nie als Mittel
dienen, die Autorität herzusteUen. Auch gelingt dies
immer nur zum Schein. Jedes Kind hat von Natur
das Bedürfnis nach einer autoritativen
Führung, will aber auch selbst Tyrannei ausüben.
Schon im ersten Lebensjahre läßt sich nachweisen, daß
das Kind sich instinktiv dem Erzieher zuwendet, es
wartet auf seine Anregung und auf seine Hülfe. Der
Instinkt zur Unterordnung und zur Folgsamkeit scheint
in Zusammenhang zu stehen mit der Gesellschaftsbil-
düng. Auch zum Prozeß der Idenüfizierung, der für die
bewußte und unbewußte Erziehung in Gang kommen
muß, gehört eme Bereitschaft zur Unterwerfung.
Bei nicht wenigen Kindern wird die geschlechtliche
Reizbarkeit durch Körperstrafen gesteigert und damit
auch die masochislische und die sadistische Bindung an
den Erzieher. Dieses ist eine bequeme, aber uner-
wünschte Erleichterung für den Erzieher.
Das Selbstgefühl baut sich nicht nur aus Eigenliebe,
sondern auch aus der Liebe zum Anderen auf. Auf
diese Weise kommt es wie beim Gehorchen auch zur
Angleichung des eigenen Verhaltens an das des über-
legenen Anderen. Man kann sagen, Unterordnungstrieb
und Drang zum Aufbau von Selbstgefühl sind Geschwi-
ster, die aus einem Stamm kommen. Aus dem Unterord-
^1
nungstrieb wächst von selbst der Gehorsam, wenn seine
Wurzeln nicht verletzt wurden. Diese reichen weit zu-
rücl;; noch aus der magischen inid dämonischen Well
der Urmenschheit slehl die Verehrung bereit, die der
Schwfichere für den Stärkeren in sich trägt Beide, Füh-
rer und Geführter, hängen voneinander ab und schaffen
einander zur gegenseitigen Bindung. Vor allem war das
Kind von jeher gefühlsmäßig an die Ernährer beiden
Geschlechts gebunden und ist bereit, diese Bindung auf
den Erzieher zu übertragen, wenn er es durch Liebe,
Leistung und Charaliterbewährung nur halbwegs fördert!
Ziel der Entwicklung wird sein, die Autorität des Er-
wachsenen so einzusetzen, daß der Gehorsam immer
mehr als ein freier WiUensantrieb empfunden wird.
Strafe ist die Folge davon, daß jeder in einer Umwelt
von Menschen lebt, die erziehen und gleichzeitig er-
zogen werden müssen.
Gerecht sein kann nur der, der über den Parteien
steht. Die Strafe wird dann beim Zögling umbildend
wirken, wenn er Einsicht hat und aus ihr lernen kann.
Eine andere als die umbildend wirkende, eine nur als
Schmerz wirkende Strafe lehnen wir ab.
Wir müssen den Determinismus ancrkcimcn
also die Anschauung, daß jede Handlung und jedes
seelische Geschehen in gesetzmäßigem Zusammenhang
slehl mit bcsümmlen Voraussetzungen und Gescheh-
nissen, so daß Zufall und Willkür im Seelenleben ausge-
schlossen sind. Auch der sich frei fühlende Mensch
ist den seelischen Geselzniäßigkeiten seiner Individuali-
töt unterworfen. Das Ich und der Charakter eines Men-
schen sind delerminiert. ihr Kern ist angeboren und da-
her abhängig von bcsümmlen Voraussetzungen der El-
tern und Ahnen. Dieser Kern empfängt durch die Er-
ziehung, die soziale Lage und andere Umwelteinflüsse
dauernde Eindrücke, es gestalten sich allmählich jene
typischen Reaküonslormen, die über Tun und Lassen
92
entscheiden. So werden allmählich die Triebe beherrsch-
bar das Gewissen entwickelt sich, und nun wird erst
durch individuell erworbene, allerdings im Erbwege vor-
gebildete Hemmungen die gesamte kulturelle Erzieh-
barkeit ermöglicht.
.\:
n
Pädagogen erHegen dem Fluche der
Lächerlichkeit
Von Hans ZuUiger, Ktigcn (Bern)
Die nachfolgende Arbeit ist die Nieder-
schrift eines Vortrags im Schweizerischen
fiundfunk; sie ist in der „Zeitschrift für psij-
choanali/ti seile Pädagogik", Hd. VIII, i9Ü,
erschienen.
Es gibt in der Wilz-I^roduktion aller Völker bestimmte
Figuren, die immer wiederkehren. Sie dienen den Humo-
risten stest von neuem als dankbare Objekte, denen man-
nigfache Eigenschaften und Lebensäußerungen angedich-
tet werden, die zum Lachen reizen.
Solche internationale Wilz-Gestalten sind unter ande-
ren der gehaßte Staatsmann, der Jude, die Schwieger-
mutter und — der Erzieher, ob es sich um den „zerstreu-
ten Professor", die „Gouvernante" oder ums „arme
Dorfschulmeislerlein" handelt, wie es in einem bekann-
ten Spottliedchen gezeichnet ist.
Geht man den Gründen nach, warum sich der Volks-
witz aller Länder gegen die oben aufgezähllen Personen
richtet, so findet man, daß er der Abwehr dient. Lächer-
lichkeit tötet, sagt das Sprichwort. Und Lächcrlichma-
chen entwertet.
Die Entwertungstendenz ist mehr als eine spieleri-
sche und zufällige Laune der seehschen Tätigkeit. Sie
ist seelisches Bedürfnis Personen gegenüber, die irgend-
wie überwertig, gefährlich, unheimlich oder doch unbe-
quem sind und deren man sich aus verschiedenartigen
Gründen nicht anders erwehren kann. Witz und Lacher-
lichmachung sind imstande, verhaltener Animosität einen
Abfluß zu schaffen, aufgestauten Groll zu entladen,
heimUchen Haß zu entspannen und verborgener oder
offener Ablehnung einen anscheinend harmlosen, von
94
Gesellschaft, Brauch und Sille erlauhteii Ausdruck zu
geben.
Es gibt im Leben der Völker Situationen, wo der Haß
gegen gewisse Witzfiguren handgreiflichere Formen an-
nimmt. Gegen das gehaßte Staatsoberhaupt bricht die
Revohition aus und gegen den Juden richtet sich der
Pogrom. Man sagt dann: „Aus dem Witz ist blutiger
Ernst geworden!" und in solchen Zeiten hört das Witze-
reißen auf, weil es nicht mehr nötig ist, da sich der Haß
anders und mächtiger äußern kann.
„Hinter einem jeden Witze steckt Ernst!" wird etwa
gesagt. Der Ernst, der hinter den Witzen steckt, ist sehr
häufig der Haß. In Revolutions- und Pogromzeiten
bricht er in seiner ursprüngUchen und rohen Form
gegen bestimmte Witzfiguren durch und überbordet die
Dämme, die ihm von der Kultur und Zivilisation ordent-
licherweise gesetzt sind.
Der Haß gegen die Schwiegermutter und die Erzieher
nimmt in der Regel keine solch brutale Form an. Man
liest alle zehn Jahre einmal in der Zeitung, daß ein Päd-
agoge von einem seiner Zöglinge getötet worden ist Das
sind Ausnahmefälle, die von der Allgemeinheit verurteilt
werden und keinerlei generelle Bedeutung haben. Für
die breiten Massen der Bürger sind die Ablehnungsge-
fühle ihren Lehrern gegenüber nur gerade so stark, daß
das Lächerlichmachen genügt, um die Haßregungen zu
besänftigen.
Ihnen entgehen selbst die größten unter den Päd-
agogen nicht. Denken wir einmal an Pestalozzi,
den wir als den Schöpfer der modernen Erziehung fei-
ern, und dessen Wertschätzung heute so groß geworden
ist, daß wir sein Bildnis — bezeichnenderweise — auf
Banknoten abdrucken — — nicht auf die Hunderter
allerdings, immerhin aber auf die Zwanziger. Seine Zeilge-
nossen, so lesen wir aus Berichten, betrachteten ihn
nicht nur als Helden und Idealisten, der alles für die
95
I I
Durchführung seiner Gedanken opferte. Sie hielten ihn
m mancherlei IJcziehunj,'en für lüctxcrlich, bezeichneten
Ihn offenthch und schwarz auf weiß als „Narren", frag-
ten sich, ob sie es bei ihm nicht doch nur mit einem
„silthch Verkommenen" zu tun hätten und warfen ihm
alles vor, was unsere Generation ihren Erziehern vor-
wirft. Es wurde über seine Armut und äußere Verwahr-
losung gespottet; man fand, daß er sich durch seine
Besonderheiten und aus schlechtem Willen vom übrigen
Volk absondere; man vcMächliglo ihn des Egoismus
und MaleriaUsmus; an seiner Bildung wurde gezweifelt;
über seme Bclehrungsmanic und Infantilität lächelte
man; es wurde höhnisch festgestellt, daß er keine 'Ar-
beit vollende, und daß sein Leben nur eine Reihe von
Anlaufen und kläglich gcscheilerlen Neubeginnen be-
deute. Am schmerzlichsten für Pestalozzi war die Er-
fahrung, daß sich selbst seine einst geliebtesten Schüler
und Mitarbeiter grollend von ihm abwandlen, an ihm
zweifelten und ihn mit bitteren Worten und Pamphleten
ablehnten. Es ist ihm wirklich nichts erspart geblieben.
was em Padagogenschicksal ausmacht, und was einen
jeden von der Gilde mein- oder minder trifft. Jerc-
mias Gotlhelf hat es in seinen „Leiden und Freu-
den eines Schulmeisters" dargestellt
Dieses Schicksal wollen wir hier nicht beklagen, son-
dern uns seiner Problematik zuwenden, sie kurz disku-
tieren, auf ihre Stichhaltigkeit prüfen und vom Gesichts-
punkte der Seelenkundc aus erörtern.
Dio einstige Armut der „Schulmeister" brachte ihnen
vielerlei Spott ein. Sie ist historisch Ijcdingt. Der Beruf
wurde, wie die Geschichte lehrt, zuerst von heimge-
kehrten Kriegsleulen und Handwerkern versehen. In der
Schulstube stand die Werkbank. Während die Schüler
ihre Schreibarbeiten verrichlelen, hobelte der Meisler
an seinen Laden herum, er klopfte das Leder 'usW.
Die Löhnung, die ihm eine Dorfschafl ausrichten konnte,
war so gering, daß der Mann davon nicht zu existieren
96
Melanie Klein
\m
I
J
vermochle. Er war genötigt, sich nach anderem Em-
kommen umzusehen. Das Spottliedchcn hat einen Volks-
schullehrer zum Vorwurf, der noch viel schlimmer dran
ist weil ihm kein währschaftes Handwerk als Neben-
beruf eignet und er allerlei Arbeiten verrichten muß,
die sich ihm gerade bieten:
„Am Sonntag ist er OrgeUst,
Am Montag führt er Ghüdermist (Müll),
Am Dienstag hütet er die Schwein',
Das arme Dorf schulmeisterlein!"
So wird über alle Wochentage berichtet, und eigent-
lich hat der arme Teufel gar nie Zeit Schule zu halten.
Daneben wirft ihm das Liedlein den Hunger vor:
„Und wenn im Dorf ein Hochzeit ist.
Da sieht man, wie der Kerle frißt,
Was er nicht frißt, das sackt er ein,
Das arme Dorf schulmeisterlein!"
Der Schulmeisterhunger am fremden Tisch war in
vergangenen Zeiten auf dem Lande sprichwörtüch. Man
machte sich darüber ebenso lustig, wie über seine vielen
Nebenämter, obschon man ihm diese meist aufzwang.
Denn er wai- der einzige Mann im Dorfe, der die Orgel
spielen, Briefe verfassen, das Amt eines Gemeinde-
schreibers versehen und den Gesangverein leiten konnte.
Und häufig erkundigten sich bei ausgeschriebenen Lehr-
stellen die Wahlbehörden ebensosehr über die Fähig-
keiten eines Kandidaten, Nebenbeschäftigungen zu ver-
sehen, als über seine pädagogische Eignung.
Merkwürdigerweise reizten die Vielbegabtheit und die
außerordentliche Arbeitskraft weniger zum Staunen, als
zum Spott. Das mag mit dfcr allgemeinen Geringschät-
zung geistiger Arbeit zusammenhängen. Jemand, der nur
imstande ist, körperliche Arbeit zu leisten und dabei
7 Almanach 1935 g^
müde zu werden, weiß gar iiichl, daß ficistißcs Schaffen
auch ermüden kann. Er hat es nie erfahren, und deshalb
fehlen ihm die Grundlagen des Verständnisses. Er urteil l
unter dem Gesichtswinkel seiner eigenen geistigen Tätig-
keit, die ihn nie wie die körperliche müde imachte, und
darum schätzt er Geistesarbeit als Faulenzerei ein.
Der vielsciügen Arbeitskraft werden gerne egoisti-
sehe und maleriaUstischc Motive untergeschoben, oft
völlig zu Unrecht, etwa so, wenn Pestalozzi vorgewor-
fen wird, er habe „um des lieben Geldes willen seine
Primarbettelschule in eine Schule für die wohlhabende
Klasse umgewandelt". Die Feststellung von Egoismus
und Materialismus am Pädagogen, der von seinen Zög^
hngen Idealismus und Altniismus fordert und so das
genaue Gegenteil von dem lebt, was er als hehres Ziel
hinstellt, erscheint komisch und fordert den Spott her-
aus.
Pestalozzis Erfahrungen an der Hintersässenschule zu
Rurgdorf zeigen, daß auch an seiner „Bildung" gezwei^
feit wurde. Man entsetzte sich darüber, daß er die
Orthographie nicht beherrschte. Seine Neuerungen, wir
würden heute sagen seine „Schulreform", taxierte man
als unnötige Spielereien. Sie war selbst seinen Kollegen
unheimlich und erschien gefährlich, weil Pestalozzi den
Heidelberger Katechismus auf die Seite schob.
Um die genügende Bildung der Pädagogen zu garan-
tieren, gründete man später l,ehrerbildungs-Anstalten.
Aber selbst der akademisch graduierte Erzieher entgeht
dem Witz und der Lächerlichmachung nicht, wie die
tägliche Erfahrung lehrt. Offenbar ist der Vorwurf der
„Halbgebildetheit", der als Motiv für die Lächerlich-
machung der Volkserzieher geltend gemacht wird, nur vor-
geschoben. Widerstand und Ablehnung gelten nicht dem
„Halbwissen", sondern dem Berufe überhaupt und -sei-
nen Trägern, an denen man Wesenszüge sucht, an denen
sich die Kritiklust rational isieren kann.
98
Solche Eigenschaften am Pädagogen sind seine Be-
lehrungssucht und eine Art infanüien, vereinfachten
Denkens. Im Verkehr mit den Schülern gewöhnt er
sich, alle Gelegenheiten zur Belehrung auszunutzen und
komplizierte Gedankengänge so darzustellen, daß sie
leicht verständUch werden. Je besser ihm das gelingt,
desto sicherer ist er, nicht nur „über die Köpfe weg"
zu dozieren. Gewiß: die Bereitschaft, überall zu beleh-
ren und dazu vereinfachende Gedankengänge zu benut-
zen, wird zu einer Art Berufskrankheit der Pädagogen.
Andere Berufsleute besitzen auch solche — man denke
beispielsweise an die Pfarrer -, aber niemand empfin-
det sie so unangenehm, daß sie Ablehnungsgefühle her-
ausfordern. Es hat seinen guten Grund, weshalb dies bei
den Erziehern der Fall ist. Niemand erinnert sich gern
einer Zeit, da man als dumm und schwach galt und
dauernder Belehrung bedurfte — der Schulzeit. Was
bleibt schon davon im Gedächtnis haften? In der Haupt-
sache angenehme Bilder, Situationen, in denen man
einst glänzte und - gelungene Schelmenstreiche. Die
Berufskrankheit der Erzieher aber weckt zu gern unan-
genehmere Erinnerungen an die Schülerzeit auf, darum
wirkt sie unleidlich.
Es kommt das Mißverhältnis der geleisteten Arbeit
zum Erfolg hinzu. Es verhält sich so, als ob der Päd-
agoge einen Riesenkran in Bewegung setze, um ein
Häuflein Sandkörner zu heben. Seine Arbeit ist nie fer-
liff und der auch belächelten Hausfrauenarbeit ähnlich.
Neun und mehr Jahre lang gibt sich die Erziehung alle
erdenkliche Mühe, um die Zöglinge wissenschaftlich und
morahsch zu bilden. Nachher erweist sich der größte
Teil des übermittelten Wissens als unnütz. Es schadet
nichts, wenn es bald vergessen wird. Aber auch für die
moralische Brauchbarkeit der Schulentlassenen kann der
Erzieher nicht garantieren. Er weiß nicht, ob die ehe-
malige Schülerschar gegen die Fährnisse des Lebens
gewappnet sei, ob sie nicht trotz aller aufgewendeten
'^ 99
Sorgfalt scheuere. Von keinem einzigen seiner Pflege^
befohlenen kann er mit Sicherlieit aussagen, ob er nicht
doch zum Hochstapler und Verbrecher werde.
Vieles, was in Schulen f,^elehrt wird, diente nur zur
Übung und Ausbildung denkerischer Fähigkeiten. Der
austretende Schüler ist enttäuscht, daß er das Gelernte
nicht in bare Münze umprägen kann. Schulwissen sei
unpraktisch, fürs Leben unbrauchbar, klagt er an. Und
er ist seinen Erziehern darum gram, denn er wurde sich
der formalen intellcklncllen Förderung nicht bewußt
Dieser Gewinn läßt sich nicht mit Scheffeln messen,
mit Gewichten abwägen und in Zahlen fassen, er ist
abstrakt. Und ebenso schwer feststellbar ist die mora-
Hsche Wirkung und Dauerbeeinflussung des Pädagogen
auf seinen Pflegling.
Das Volk jedoch denkt konkret und will greifbare
Arbeilsresuitate sehen: der Bauer die volle Scheune,
der Schneider das Kleid, der Sekretär das ProlokoU*
der Architekt das erstellte Haus und der Chirurg die ge-
lungene Operation. Die Arbeit des Pädagogen verspricht
nur etwas, von dem niemand weiß, ob es sich einst auch
erfülle, So nimmt er unter seinen Mitbürgern beim Ar-
beitsprozeß eine merkwürdige Sonderstellung ein. Sein
Schicksal gleicht dem des Sisyphos, der einen Stein
den Berg hinaufwälzen mußte, der immer wieder her-
unterrollte.
Solche Arbeit ist tragisch, man könnte einen darum
bedauern; es stellt sich die Frage, warum man im Falle
de? Pädagogen darüber lacht Wir müssen die Sonder-
stellung des Erziehers umfassender betrachten. Man
hielt sie auch Pestalozzi vor. Er selber litt schwer dar-
unter. Aus seiner Vereinsamung verfaßte er auf dem
Neuhof sein erstes dichterisches Werk, die „Abend-
stunde eines Einsiedlers".
Die Pädagogen wehren sich gegen die Absonderung
und geben sich jegliche Mühe, den Kontakt mit dem
Volksganzen nicht zu verlieren. Darum ihr eifriges Mit-
100 *V
^
^
■^
machen in Vereinen, das Sich-aufbürden-lassen von aller-
lei Ämtern, die Beteiligung bei politischen Parteien, die
Hausbesuche, Elternabende, die Teilnahme an Festen
als Redner oder passive Besucher usw.
Die Sonderstellung besteht trotzdem. Sie resulüert
aus einer besümmten Verhaltungsweise der Mitbürger,
und sie kommt beispielsweise sehr deutlich dann zum
Vorschein, wenn eine Schar Soldaten bei Bauersleuten
oder sonstwo einquartiert ist. Man sitzt zusammen bei
Tische, die Unterhaltung fließt fröhlich und aufgeräumt
dahin. Plötzlich wird verraten, daß einer der Soldaten
ein Lehrer sei. Augenbücklich verändert sich die Stim-
mung der Gastgeber. Etwas wie Erschrecken huscht
über die Mienen. Es ist so, als ob die Anwesenheit eines
Pädagogen peinüch empfunden würde. Für einen Mo^
ment stockt schockartig die FröhUchkeit und kann erst
nach und nach wieder in Gang gebracht werden. Oft
wird sie nicht mehr so naiv, intensiv und ausgelas-
sen wie vorher: man legt sich Mäßigung und Schran-
ken auf.
Denn für das Empfinden der meisten Leute bedeutet
der Erzieher eine Art Sittenrichter, vor dem man sich
nicht geben darf, wie man unbefangen wollte und wie
man ist. Man betrachtet ihn als Förderer tiefernster
Ideale. Man kriecht bei seiner Anwesenheit, auch wenn
man erwachsen geworden ist, in eine Art Schülereinstel-
lung hinein. Für einen jeden ist der Lehrer einmal die
Verkörperung vollkommener Tugenden gewesen: einst,
als man Kind war und auf kindüche Art logisch ab-
leitete, daß die Person, die Sittenvorschriften, Gebote
und Verbote erteilt und Zuwiderhandelnde mit Strafe
verfolgt, selber ohne Fehler und beinahe gottähnlich sei.
Die Fiktion des fehlerlosen Erziehers wurde ein Be-
standteil der Gefühlswelt Das ursprüngliche gefühls-
mäßige Bild blieb bestehen, auch als spätere kritische
Erfahrung einsehen ließ, daß der Pädagoge nicht eine
maliellose Idealgestalt bedeute. Das Zugleich- und Mit-
101
einanderbeslehen zweier gcgenlciliger Gefühlsregungen
im gleichen Menschen einem andern gegenüber bewirkt
innere Get'ühlsunsicherheil. Sie hal Mißlraucn, und das
Mißtrauen hat Vorsicht zur Folge. Vorsicht distanziert,
sondert ab. Das Gefühl: „Ich fühle mich von jemand
abgesondert!" wird empfunden als „Er sondert sich von
mir ab!" Solchen subtilen Tauschungen, Vcrwechshingeu
zwischen Innenleben und Außenwelt erliegt man im täg-
lichen Leben häufig.
Man könnte fragen, warum denn der Mensch trotz
besserer Einsicht das fiktive Bild, die selbstgeschaffene
„Imago'* des Erziehers nicht korrigiert. Der Mensch hat
den Glauben an Vorbilder nölig, wenn er an seiner
UnvoUkommenhcil nicht verzweifeln soll. Das Göttliche
ist zu weltfern, es muß seine sichtbaren Mittler haben.
Das Vorbildliche, das ein Mitmensch erreicht hat be-
deutet eine MögUchkeit, die jedem Menschen offen steht
Das bedeutet einen Trost im Kampfe des Guten gc^en
das Uösc, der in jedem tobt. Darum erfüllt der Glaube
an Helden und Vorbilder für die seelische Gesundheit
der Menschen eine wichtige Funktion — eine Mission.
Die Idealisierung des Pädagogen einerseits, anderer-
seits die Einsicht in seine menschliche Unvollkommen-
hcit lassen das Gefühl der Enttäuschung entstehen. Der
Mensch ist seinem Pädagogen gegenüber darum gram,
weil seine Wirklichkeit nicht mit dem Idealbild überein-
stimmt, — weil der Pädagoge, so wie er in der Wirk-
lichkeit besteht, das imaginäre Bild, den fiktiven Be-
griff des Pädagogen entwerlet. Gegenüber dem Ideal-
bilde ist die Wirklichkeit „lächerlich".
Die allerersten Erzieher des Kindes waren die Eltern,
insbesondere der Vater. Er war die erste maßgebliche
Autorität. Erziehung heißt Domestizierung der kindlichen
Kräfte, das Erzwingen ihrer Verfeinerung und ihrer An-
und Einpassung in den Organismus des gesellschaftlichen
Zusammenlebens.
102
l<
jL
4
•^
Das Kind isl mit seiner Erziehung nur teilweise ein-
verslandeu, insofern, als es sich die Erwachsenen zu
erslrebenswcrlen Vorbildern macht. Ändernteils setzt es
der Erziehung und den Erziehern mannigfachen Wider-
stand entgegen. Es reagiert mit deutUchen Haßäußerun-
gen. Bevor diese eine gefährUche Form ^^f ^jn^ ^^^J^'
nen, werden sie von den Vätern unterdruckt. Im Volk «
mund nennt man das: „den WiUen des ^mdes brech n .
Die Haßregungen sind dann mcht etwa ^"^/«^^^^"f-
Uchen Seele verschwunden. Sie sind nur unbewuß ge-
worden, und es ist ihnen unmöglich, sich am ehemaligen
und ursprünglichen Objekt, am Vater auszuwirken^
Im Lehrer sieht das Kind einen Vaterersatz, der weder
von einem reUgiösen Ehrfurchtsgebot geschützt wird^
noch ein so übermächtiges Aussehen hat, ^le es im
Verhältnis zwischen dem leiblichen Vater und dem
Kleinkinde einst aufgefaßt wurde. Die einst unterdrück-
len Haßregungen haben am Lehrer ein neues, ungefähr,
lirhes Objekt gefunden und erwachen zu neuer Tatig.
-eit Es zeigen sich hier die Vorläufer des Generationen-
konfliktes der sich nicht allein gegen die persönlichen
Erzeuger 'sondern gegen alle autoritären Personen rich-
let die auf ein Kind einwirkten. Wir wissen heute, daß
die Abwicklung dieses Konfliktes für die Jugend notwen-
diö ist wenn sie sich von alten Bindungen lösen soll.
um das Neue zu schaffen. Die Sachlage ist tragisch: um
selber Autoritäten zu werden, müssen die alten Autori-
täten überwunden seüi. Die Oberwindung geschieht am
leichtesten durch Entwertung, und das Lächerlichma-
chen steht im Dienste der Entwertungstendenz.
Pestalozzi hat die Anfeindungen seiner einstigen Vor-
zugsschüler und Mitarbeiter nicht als Äußerungen des
Generationenkonfliktes verstehen können. „0, ich leide
unaussprechhch", klagte er, „Sterben ist nichts, aber ge-
lebt zu haben und nichts erreicht zu haben, und alles
zertrümmert zu sehen und so mit seinem Werk ins
Grab zu sinken — oh, das ist schreckUchl"
103
«r
Wenn man wcilj, daß Abldmuii^ und Kächcrliclima-
chen eines Slandes und seiner Jünger mit dem Gene-
ralioncnkonflikl zusammenhängen, dann versteht man
auch, daß sie unabwendbares Sciiiclisal bodeulcn. Das
schon zitierte Licdlein verfolgt das arme Dorfschul,
meisterleni bis ans Grab und darüber hinaus:
„Und wenn es mal Rcslorbeu ist,
Wirft man die Leiche auf den Mist.
Kein Hund seicht (pißt) an den Lcichenstcm
Dem armen DorfschuhTicislerleinl"
singt es. Der Hohn übertreibt. In Wirldichkeit geht das
Begräbnis mit allem äußerlichen Gepränj^e vonstatlen
Die Grabredner werden versichern, man stelle an der ' t
Bahre eines mit vielerlei Gaben und seltenen Tugenden " '
ausgestatteten Mensclien und eines hochsttiualifizierlen
und unersetzlichen Pädagogen. Niemand wird daran den^
ken, ihn länger witzig als einen „Ferientechniker" zu
beschimpfen, das Lob wird in Superlativen tönen, wie
es der Abgeschiedene während seiner Lebzeiten nie
vernehmen durfte.
Aber der Hohn des Gassenhauers ist Hohn und
kommt nicht von ungefähr. Er ist Standcsschicksal und
nuiß von einem jeden Vertreter ruhig und ohne Bitter-
nis mitgetragen werden. Je besser er die Molivierung
durchschaut, desto leichter wird ihm die Bürde.
Wir haben, als wir vomGcncralionenkonfUkt sprachen
nicht genauer untersucht, warum zu seiner Erledigung'
gerade das Lächerlichmachen als Mittel dient.
Eine überwundene Autorität wirkt wie ein Irrtum
und erscheint lächerlich. Das Lachen kaiin den Ausdruck
der überslandenen Gefahr, der Befreiung bedeuten. Es
kann, wenn man Gefühle in Worte umsetzt, ungefähr
heißen: „Ich habe mich vor etwas Nichlexistentem,
vor einem Schatten gefürchtet."
104
I
. f
In vielen FäUen isl - beispielsweise - ein schlimmer
ScWüer aus Angst vor seinem Lehrer schUmm. M>t ^i-
„er Schlnnmheit Pro-i-t-d.n Lehrer zu J«eaUUo_
r"'h:'LrsrLrsietrt nicht sehr gefährlich sind,
SSel't dl Lehrer gar nicht Angst zu hohen
^Si^ tissii^^ st.c=
Zt Kind ä^ nächsten angeht) Macht über Tod und
'" ^nJ ataviSen Reminiszenzen ist die Figur des
rd^resstsenSanden. .ie sie in Bern einen Brun-
%afSnd im Schulalter steht einesteils noch im Ge-
rnhl der lebensgetährlichen Obermacht der Autorität,
fühl der leoenbf, .^^^ ^^^ ^^^j^j,
des momema ^^ ^^^ Aggression: es
:;:•? ^ei^^^^^^^^^^ herausfordern und sich darüber
in wie ohnmächtig er ist. Ohnmächtig he.ßt ohne
Macht; ohne Macht, zu töten. Die Freude läßt sxch etwa
Z die Worte fassen: „Er donnert nur, aber der Bhtz
schlägt nicht ein!" - und schon erscheint der Donnerer
lächerlich.
Die lächerüche Machtlosigkeit des Pädagogen und die
Bedeutung der Begriffe „Macht" und „Wissen" lassen
sich aus der Entwicklungsgeschichte der Volker ab-
leiten. , _. .
Der Geschichtsschreiber H. G. W e 1 1 s, der Tiefenpsy-
chologe Sigmund Freud und der Naturforscher Char-
les Darwin versichern uns, daß die ursprüngüche Ge-
sellschaft aus der Familie entstanden sei. Aus der patriar-
chalen Famüie ergab sich nachher die von einem Häupt-
105
aerncn Monarchien eiitwickcU<Mi
hemcTerir""'''''" '-'^*^l'schaf(, wie sie teilweise noch
sich a„f f ^"^'7;^'«^''-" "'»» Auslraliern besieht, vereinigt
nd Würd '" ?7^' "^'^ SlammesfuhrcM-s aiie Macht
otar r rr' ' f'^'"''^' ^'-'-'"'"-'n, Hohepriester.
SrlL r'' .^'r*'''' ""^^ '-'^^''- seines Volkes
Worauf 'un^ «»'•'^^^^^^ ^'-^^»^l ""^
Der I H r^'^'^ '•' verschiedenen Trägern.
über tL tf r, '' ^'^ R^finadißungsrecht, er kann
uoer lod und Leben entschcid<'n
de?"od^?'rh^'! ^'^ ''^^^'^'' ^'"'•^^ ^<^^"<^ Kenntnisse
ioae leind sind, stall ihn herbeizurufen.
Der Hohepriester, <l^v Priester überhaupt, ist der ao
weihte Mittler zwischen Gott und dem g^wöhÄ
Menschen Durch seine Gebete kann er (im^Ti^S
Glaubigen) Gott veranlassen, sowohl den Lebendige als
aucli den Verstorbenen beizuslehen, er kann un? ^'
stindheit beten und dem Tod weliren. ^'
Der General hat die Macht iii)er seine Soldaten- er
kann sie in den Tod schicken, oder dem Leben erhalten
Aber wenn er sie in den Tod schickt, so müssen sie
geliorchen.
Der Richter entscheidet über Leben und Tod der Ver-
brecher. Diese sind Leute wie wir, nur waren sie un-
glücklicher als ihre Mitmenschen, denen es gelungen ist
ihre wilden und schlechlen Impulse zu bündigen.
Kurz und gut: alle diese Leute haben eine starke Be-
ziehung zum Tode und zum Leben, sie haben die
„Macht" über ihre Volksgenossen, und „Macht" heißt,
über ihr Leben verfügen zu können. Sic alle umgibt die
mystische Aura des Tabu, die in Form von Ehrfurcht,
Ehre oder als Furcht auch vom westeuropäischen
Ku.Uurvwcnsc\ieii ganz deulllch oder immerhin spuren-
106
J
+j
weise bei den Verü^teru aus d- «f ^ £ J^e
und Staatsmänner, Mediziner, Pfarrer teldmar
und Richter empfunden --^-^^fX^c^i Beziehung
Aber auch d- Wissen .st urs^^-rungjc^^^^^ ^^^ ^^^
„nt dem Tode. AUes echte ™ § ^^^ N,,,,
Menschen von den Tueken san " ^^-^ Le.
.u schützen, Ihn vor dem Tode ^^^^_„ ^^^^ Sp,,,,
^"-r- wrseiie ßa™ondere Bedeutung: eines ist
erhalt jetzt seine gani «vnonvme. Im animi-
das andere, es handelt sich um ^^^^y^ „„^
slischen Denken gewisser Volker bemi ^^^ ^^_
bei Geisterbeschwörungen eignet dem w ^ ,.
danken, dem Wissen noch ^«"f ^"IXp^H^g des Ur-
Und nun -"-Xr^ehet i^^en Ihm ist%on der
TlTn^^T^T^^^<^-- seine Mitbeteiligten der
Macht ^''''''\'^'fj der Jurist, der Pfarrer und der
Staatsmann der Arzt ^^^^ ^^^^ ^^^ S^j,„,.
General ««^^^^^.f ,'^ J°, xlissen, es ist nur „Halb-
Führer des Volkes, sein ^^ ^^^ ^.^,
Monarchen ..uck. Er -d^ noch Macht eignete. Weil
dern so zu tun, als o jedermann mit der
sie ihm jedoch mcht eignet und a 1 ^„^
zeit -f *'; -^:rtoieher ^ läche*^ Aber man
leeren P°P''"4jJ'Vß '=^^,'^ einmal so kleinmütig war,
und darum nimmt man ihn gern wie einen
s:srir-;zStard^L^tnr
äß und seine Abkömmünge binden Kräfte, die für et-
was besseres wohl gebraucht werden können, sobald
sie durch Erkenntnis frei werden.
107
Gedanken über die Wirkung einer
Phimoseoperation
Von Frilz Redl, Wien
m dem Falle, an dessen Scliilderimg ich meine Be-
Irachlungen anknüpfen will, ImndGlt es sich nicht um
eme Kinderanalyse. Ja, auch der Ausdruck „Erziehungs-
behandlmig wäre kaum angebracht Es isl vielmehr
einer jener zahh-eichen Fälle, die in der Beratung auf-
tauchen, emen kurzen Einblick in die Grundlinien der
Genese dlrer Störung gewähren und wieder verschwin-
den ohne daß sich für ernstere analytische Arbeit ein
Z^u^^'u uT^^ ^^'^^^'" ^^^- °'^*^ »nomadisieren-
mal die Grundhmen der vorliegenden Fehlentwicklung
mit besonderer Deutlichkeit und eignen sich daher gut
zur Demonstration. Darum wird dieser Fall hier er-
zamt. Aus diesem Grunde weicht übrigens auch die Dar-
MeUungsart, die hier angewendet wird, weit ab von der
Öle sich für Fälle von Kinderanalysen als gebräuchlich
und zweckmäßig eingebürgert hat. Ich gebe den Fall in
ürei Schichten wieder, die natürlich nicht tiefenpsycho
logisch gemeint sind, sondern der zeitlichen Aufein-
anderfolge unserer Einsichten entsprechen sollen
Der zwölfjährige Max - der Name und leider auch
manches Detail ist natürUch geändert - besucht die
zweite Klasse eines Realgymnasiums. Er wird zur Be-
^-atungsstelle gebracht, nachdem er sich in der Schule
so gut wie unmögUch gemacht hat. Die Mutter klagt be-
sonders über die furchtbare „Schlimmheit" des Buben
^er in fast allen Gegenständen versagt, obwohl er zu
Wause eigentUch lernt. Aber seine Unaufmerksamkeit
"1 der Schule und sein störendes Verhalten in den Stun-
*ien smd für diese unerträglich.
io8
Dabei hat man ihn schon aus ähnUchen Gründen
einen Schulwechsel mitmachen lassen, man erwartete
auf den Rat eines Lehrers und eines Psychotogen hw
ll d eser „Milieuänderung" volle Besserung. Max aber
verstand es in seiner neuen Umgebung bald wieder die-
lelb Silua ion zu schaffen, in der er sich m der fru^
heren Schule befunden hatte. Alle versuchten Mittel^ .hn
zu beeinflussen, schlugen fehl. Dabei is er zu Hause
alz Te " Die Mutter des Jungen ist eine Iduge, viel-
fe^ht etwas herbe Frau. Sie gehört zu jenen zähen
Senschen die gelernt haben, auch Eifersucht und Kran-
K der Eitelkeit zu ertragen, wenn sie sich davon
Slg erhoffen. Man konnte gut mit ihr zusammen-
De Vater überläßt die Erziehung des Jungen ganz
der Mutter erscheint weder in der Beratung noch m de
schule uni sieht auch vom Jungen nicht sehr v.el, da
ihn sein Dienst sehr in Anspruch nimmt.
I. Schicht
Schon das erste Gespräch mit Max über seine Käme-
raden zeigt seine unersättUche Gier, auf sie Eindruck
zu machen, ihnen aufzufallen, zu zeigen was er sich
alles traut". Seine Schlimmheit erweist sich ganz deut^
S als von dieser Seite her gespeist. Sie ist sichtlich
^icht so sehr gegen seine Lehrer gerichtet, als vielmehr
an seine Kameraden. Daher ändert auch das strenge
oder nette Verhalten dieser Lehrer nichts am Verhal-
ten des Jungen. Mit ängstlichen Ohren bewacht er alles,
was sich in seiner Umgebung abspielt. Wenn bestimmte
Kameraden flüstern, läßt es ihm keine Ruhe mehr. Man-
che haben Geheimnisse vor ihm, was ihn maßlos ärgert.
Er tut alles, um ihnen dahinterzukommen. Sie sollen
ihn ernst nehmen, einbeziehen in ihre Tuscheleien -
aber er hat keinen Erfolg damit. Auch sein schhmm-
stes Verhalten, das ihn weiß Gott teuer genug zu stehen
109
kommt erregt zwar ihre Hcwunderimg ein wenig, aber
die reicht nie soweit, daß sie Hin zum Vortrauten des-
sen, was sie tun und reden, machen.
Mit diesem Bilde stimmt die erste Frage völlig über-
em, die Max stellt, als ich ihn aufmuntere, mir doch
zu sagen, was ihn am meisten interessiere und ob e$
nicht vielleicht irgend etwas gäbe, das er gerne wissen
mochte und bisher nicht recht habe erfahren können
br sagt unter den Zeichen größter Verlegenheit, die zu
dem Inhalt seiner Frage nicht zu passen scheint; Ja
wo kommen denn die Sterne eigentlich her?" Für einen
ZwoUjährigen ist das eine recht infantile Art, seine
Neugierde nach der Fortpflanzungsfragc zu kaschieren.
Ich verspreche ihm nähere Auskunft für die nächste
Sitzung, in der es auch ein Leichtes wird, ihn zur ge-
naueren FormuUerung des eigentlich Gefragten zu be-
wegen, um das ihm zu tun ist. Die nächsten Bespi^-
chungen ergeben die Durcharbeitung des von ihm Ge-
lun^l^"" ''^^^ Maßgabe seiner Berichte und Fragestel-
Soweit ist der Fall eigentlich sehr einfach. Max ist
eines jener Tausende von Kindern, von denen die zwei-
ten und dritten Klassen der Mittelschulen voll sind und
deren Verhallen viel zu wenig verstanden wird. Es sind
jene Kinder, die schwer darunter leiden, daß ihnen auch
das normalste Mindestmaß an sexueller Aufklärung ver-
sagt wird, das auch prüde Eltern ihren Kindern im
allgemeinen zugänglich machen. Die Folge ist eine skla-
vische Abhängigkeit von allen denen, die offenbar mehr
wissen, eine Sucht, diesen Kindern um jeden Preis zu
imponieren, eine qualvolle Angst, in der eigenen Un-
wissenheit von ihnen ertappt zu werden. Die Reaktion
auf diesen Zustand bewegt sich im allgemeinen in
zweifacher Richtung: solche Kinder werden entweder
angstlich und schüchtern, li-auen sich auch in den Unter-
richtsstunden kaum mehr zu sagen, was sie wissen, da
sie immer fürchten, es könnte zu jenem rätselhaften
110
Grinsen bei den Kameraden kommen, vor dem sie so
cröße Angst haben. Oder aber sie tun nun alles um den
S telSen Eindruck besonderer Aufgeklärtheit oder _
Sbti^it zu machen und sich ^o^^^^^^^^Z
Sun :rK"onilk"date "bereit sind, auch nach den
geopier^ - hunderte von Kindern faUen nur deshalb
ür eiiiub Wissen was eS* braucht und mit
Sr;e S; mdurch' st^en Kameraden der wichtig
ReclU veridi s Nimbus" genommen, es wird sich
''" ^runln nich mehr in solche Unkosten stürzen,
1 ihre Autae ksamkeit auf jeden Fall zu erregen. Der
Tra er gebärdet sich nicht zu sehr als Erwachsener
, frmöalicht dem Kinde dadurch weitgehende An-
u„d ermogliclit .^^ ^.^ Kameraden zum
T^^rSibeTlsrei: ,ber doch der Erwachsene - so fallen
luch die Schuldgefühle weg, die dem eigenen Forschen
y, nnerlaubter Sexualaufklärung bisher anhafteten.
?vf befreiend! Mit dem Wegfall der Schuldgefühle fällt
.V, die Notwendigkeit zu gelegentUchen Selbstbestra-
füngen durch Schulmißerfolg weg, ja, die Lehrer selbst
Sfen näher, da sie nicht mehr bloß die auf k arung-
verbietende Instanz vertreten, sondern auf dem Umweg
über die Beziehung zum Berater in ein anderes Lieht
gerückt sind. Von den Kameraden und von den Lehrern
Fst ein Slück in der Person des Beraters vereinigt -
was dort schwerer Widerspruch war, ist hier zur Lm-
heit verschmolzen. In der Person des Beraters treffen
111
sich aber auch die Fäden, die von den EUernl>eziehun.
gen her laufen. Mit einem Wort - durch die Vereinigung
der verschiedensten Beziehungen auf seine Person er-
reicht der Berater jene Entspannung in der realen Um-
weltbeziehung des Kindes, die er braucht, wenn er diese
Beziehungen umbauen soll.
Tatsachlich blieb auch die Wirkung meiner Arbeit
mit dem Jungen nicht ganz aus. Die Fälle, in denen sich
Max nur deshalb schlimm gebärdele, um auf die andc
ren Buben Eindruck zu machen, wurden etwas seltener
Freilich blieb an „Schlimmheil" noch genug bestehen I
Immerhin wurde vorübergehend sogar die Beziehung zu
den Lehrern etwas besser, Max war doch nicht mehr
gar so „arg".
Aber etwas blieb und etwas anderes trat hervor, was
nur allzudeutlich zeigte, daß wir weit davon entfernt
waren, dem eigentlichen Übel auf der Spur zu sein. Die
Lehrer klagten zwar nicht mehr so sehr darüber, daß
Max frech sei, aber sie jammerten mehr denn je über
seine Unaufmerksamkeit, seinen Mangel an Konzentra-
tionsfähigkeit in der Stunde. Und dabei trat ein anderer
Zug immer deutUchcr in den Vordergrund, der zuerst
nicht sehr scharf wahrnehmbar war: Max verhielt sich
falsch und unkollegial gegen seine Kameraden. Auch in
seinen Erzählungen zeigte er deutliche Wut gegen sie
tiefen Haß, der jetzt immer schärfer hervortrat, da
seine Werbung um ihre Gunst nachgelassen hatte. Das
ging soweit, daß sogar die Lehrer sich deshalb über
ihn ärgerten. Er war nun auch noch „scheinheilig"
und „falsch", er hatte sich den letzten Rest von Wohl-
wollen verscherzt, den ein offener Lausbub immerlün
gelegentlich noch genießt.
IL Schicht
Am meisten vermißte ich die Wirkung meiner Maß-
nahmen in seinen Stunden bei mir. Die normale Re-
112
aktion eines Jungen auf eine richtige Aufklärung ist
eine deulUche Entspannung vom Drucke der Sexual-
neugier, wenigstens auf einige Zeit. Nichts von dem war
innerhalb der Stunden zu merken. Immer waren es
wieder die sexuellen Fragen, die unermüdlich auftauch-
ten. Sein gedrücktes und schiefes Wesen hatte sich
nicht geändert. Vor aUem war eines gleichgeblieben,
was mir zu denken geben mußte: die Rolle, die die Ka-
meraden innerlich für ihn spielten, hatte sich nicht ge-
ändert, wenn er auch an der RoUe, die er für sie spielte,
emige Modifikationen vorgenommen hatte. Immer noch
war es ihm von zentraler Bedeutung, was sie tuschelten
und sagen mochten, em spöttisches Wort gegen ihn
brachte ihn in Raserei und löste Rachephantasien aus.
Seine Aggression gegen sie schien dabei in ihrem realen
Verhalten keineswegs genügend begründet. Er, der sel-
ber mit Schimpfworten nicht sparsam war, war seiner-
seits gegen die harmlosesten Äußerungen von einer la-
cherUchen EmpfindUchkeit. Dabei verdichtete sich seine
Kritik gegen die Kameraden von den Vorwürfen, daß
sie so unanständige Ausdrücke gebrauchten (scheißen,
Arsch) immer eindeuüger zu dem Vorwurf, daß sie
Schweine" seien. „Was die treiben, das können Sie sich
gar nicht vorstellen, sowas kann man gar nicht sagen!"
Er sagte es aber dann doch einmal. Er beschuldigte sie,
daß sie auf dem Klosett miteinander onanierten, er be-
" htiste sie unzweideutig des homosexuellen Verkehrs.
' sonders zwei beschäftigten seine Phantasien. Sie mach-
, auch sehr raffiniert. Sie verabredeten vor der
Unterrichtsstunde einen Zeitpunkt, wann sie nachein-
ander hinausverlangen würden. Und dann steht der
eine auf und geht hinaus und nach einiger Zeit folgt
ihm der andere, und dann „tun sie's wieder". Um die
Aufmerksamkeit Maxens ist es da natürUch geschehen.
Er wartet gespannt, bis der erste sich meldet, und von
da an ist der Inhalt seines Phantasierens eindeutig be-
stimmt bis zum Läuten. „Einmal hab ich sie aber erwischt!
8 Almanacn 1935
115
Die haben gcschaul! Da bin ich ihnen nach, wissen
Sie, und da hab ich mich angeschlichen und hab die
Tür ganz rasch aufgerissen, und da hab ich sie gesehen.
wie sie's grad gemacht haben. Jetzt iial>cn die Angst, daß
ich sie anzeigen werde I" Nun, er zeigt sie nicht an.
Nicht deshalb wenigstens, das traut er sich nicht
Aber er zeigt sie ratenweise an, mit verscliobcnem Vor-
wurf. Er haßt sie. Seine Wut auf sie ist maßlos. Die
Form, in der sich diese Wut seinem Bewußtsein dar-
bietet, ist die der Entrüstung. Er kann sich gar nicht
genug tun an Schoclcicrthcit über die Schlechten. So
was! Ihm würde so was nie einfallen I (Unlängst hat
er allerdings verlangt, sie sollen ihn mitgehen lassen,
aber sie haben es abgelehnt, die Schufte I) Seine Ent-
rüstung über sie ist nicht kleiner als sein Wunsch,
dabei zu sein . . .
Uns wird durch diese Erzählungen manches klar.
Wieweit sie übrigens wahr sind, ist nebensächlich. Wenn
Max alles das nur phantasiert — dann ein umso deut-
licheres Zeichen dafür, wie es in seinem Inneren aus-
sieht! Im großen ganzen aber habe ich den Eindruck,
daß seine Erzählungen realen Hinlergrund haben, wenn
auch die Entlarvungsszene phantasiert sein dürfte. Je-
denfalls verstehen wir seine „Konzentrationsunfähig-
keit" jetzt besser. Wir verstehen auch, warum meine
Aufklärung den gewünschten Erfolg nicht haben konnte.
War es doch gar nicht sie, die er suchte, sondern das
Geständnis seiner Phantasien, an dem ihm lagl Darum
vermutlich auch die geständnisartige Form, in der er
schon seine erste, harmlose Frage stellte nach der
Herkunft der Sterne I Nein, da konnte Aufklärung nichts
lösen — das saß tiefer 1
Seine Scelenlage war auch ganz besonders kompli-
ziert. Es gibt Kinder, die von sexuellen Sünden, die sie
beobachtet oder von denen sie gehört haben, mit schwe-
rer Entrüstung erzählen. Solche Kinder aber gelien
solchen Beobachtungen und Gesprächen aus dem Wege.
114
I
1
Sie haben alles verdrängt, was an eigenem Triebwunsch
in diese Richtung weisen könnte. Sie können sich mit
ruhigem Bewußtsein entrüsten. Es gibt auch Kinder,
die gierig fahnden nach jeder Gelegenheit, bei der sie
Sexuelles beobachten oder davon reden hören könn-
ten. Die sind wiederum nicht entrüstet. Sie kämpfen
zwar auch an gegen diese als schuldhaft empfundenen
Regungen, aber sie kennen sie zu gut, um entrüstet sein
zu können, wenn sie sie bei anderen wahrnehmen. In
unserem Max war beides zugleich: die Gier nach dem
sexuellen Abenteuer und die Entrüstung über die Men-
schen, die sich so was leisten. Wie schwer mußte seine
Lage sein! Was er in sich selbst verdrängen wollte, dar-
nach verlangte es ihn gierig — kein Wunder, daß er
mit Wut auf diejenigen reagierte, die ihm ständig vor
Augen führten, daß seine Triebunterdrückung so leicht
zu durchbrechen, daß sie vielleicht ganz unnütz sei!
Seine Wut ist der Neid dessen, der bei anderen sieht,
was er sich selbst nicht gönnt, zugleich die Angst vor
dem Fallen der eigenen Gewissensschranken. Sie ist die
vorweggenommene Wut über den eigenen Fall, die er
bewältigt, indem er sie nach außen projiziert.
Jetzt verstehen wir auch vieles, was uns in Schicht I
nicht oder nur halb erklärlich war: die übertriebene
Verranntheit, mit der er sich schadete, um nur ja
um jeden Preis jenen Kameraden zu imponieren, die
aus den Aufklärungsängsten allein kaum in diesem
Ausmaß verständUch geworden wäre. Wir verstehen
auch die unnatürlich gesteigerte Aggression gegen die
Lehrer besser, die aus seinem gesteigerten Schuldge-
fühl stammt, wir verstehen die ambivalente Einstellung
zu den Kameraden, um deren Anerkennung er buhlt und
die er zugleich strafend verfolgt. Wir verstehen aber
vor allem, warum es in der Schule nicht besser gehen
kann, und nicht besser gehen wird, solange . . .
Die nächsten Maßnahmen, die ich zu treffen habe,
liegen klar auf der Hand. Es wird Zeit brauchen, bis
8*
115
die tieferen Gründe seines Verhaltens greifbar werden.
Während dieser Zeit muß zunächst einmal der Anlaß
von außen fort, der seine Phantasie ständig in dieser
einen Richtung in Bewegung setzt. Er muß aus der Um-
gebung, die — oline ihre unmittelbare Schuld — so ver-
hängnisvoll für ihn ist, die er so sehr zu seinem Ver-
hängnis benutzt. Da droht aber eine große Gefahr —
ein Schulwechsel ist nicht möglich ohne Verlust des
Jahres, das übrigens ohnedies kaum mehr zu retten
sein wird. Wie aber wird die Muller darauf reagieren,
die ihn doch wohl wegen der Schule in Heratung
gebracht hat?
Inzwischen aber haben sich die nächsten Stunden
aus äußeren Gründen verschoben, ich habe ihn län-
gere Zeit nicht gesehen. Ich erhalte eine Verständigung
von der Mutter, daß sie in der Schule war, das Unrett-
bare seiner Situation eingesehen und ihn in die llaupt-
schulc versetzt habe. Sie beruft sich auf einen seiner-
zeit von mir vorsichtig angedeuteten Rat ähnlicher Art
den ich nie sehr laut zu äußern wagte, da ich ihre'
Eitelkeit dadurch allzuschwer zu treffen fürchtete.
Was konnte ich mir besseres wünschen? Nun hatte
sie ihn selbst in die Hauptschule gegeben, ersparte mir
dadurch die Rolle des Enttäuschenden. Und Max war
in anderer Umgebung, in ganz neuer, es würde inter-
essant sein zu sehen, was für eine Situation er sich dort
zurechlzimmern würde! Auf alle Fälle war Zeit gewon-
nen — wer wüßte nicht, was das bedeutet in solchen
Fällen I Ich war der Mutter ehrlich dankbar für ihr
kluges Handeln. Die arme sollte aber nicht viel Freude
haben davon, denn jetzt begann erst die schwere Zeit
für sie.
in. Schicht
In der neuen Schule ließ sich Max zunächst recht gut
an. Der Lehrer war zufrieden mit ihm, Max benahm
sich wie ein normaler Schüler, arbeitete mit, fiel nicht
116 ^
störend auf und gab keinen besonderen Anlaß zu Kla-
gen. Vor den neuen Kameraden hatte er zunächst
ein wenig Angst, aber auch als er sich mit ihnen an-
freundete, änderte das an seinem Schulverhalten nichts.
Soweit schien er sich also gebessert zu haben.
Dagegen mußte ich bald merken, daß von einer tief-
gehenden Besserung keine Rede sein konnte. Max hatte
die Plattform verlegt, auf der er „arbeitete". Darum war
die Schule scheinbar problemfrei geworden, was ja an
sich nicht zu verachten ist. Dagegen begann sich nun
außerhalb der Schule allerhand abzuspielen, das mir
mit aller wünschenswerten Deutlichkeit vor Augen
führte, wie viel es da noch gab, das ich noch nicht
verstand. Es waren vor allem drei Dinge, die immer
deutlicher hervortraten:
1. Max verlegte den Kontakt mit seinen neuen Kame-
raden in Gebiete außerhalb der Schule. Dort hatte sich
auch die Form ein wenig geändert. Er wollte eine Füh-
rerrolle haben, eine „Platten" i) bilden, was ihm schein-
bar immer nur vorübergehend gelang. Auch der Sinn
dieser Brüdergemeinde, die er sich da schuf, war bald
deutlich. Er schmiedete hundert verschiedene Pläne,
wie er Wachleuten einen Streich spielen könne. Bald
kam es auch zu kleineren Versuchen. So strich er tage-
lang um eine Zille auf dem Donaukanal, in der stillen
Hoffnung, sie einmal losmachen und fortschwimmen
lassen zu können, w^urdc aber angeblich immer im
letzten Moment vom Wachmann vertrieben, der ,,e'me
fürchterliche Wut hatte". Oder man warf Steine in
offene Fensler im ersten Stock, wurde dabei „beinahe
aufgeschrieben", nur äffte man den Wachmann und
rannte ihm davon, so daß er einen nicht erwischen
konnte und wieder vor Ärger beinahe zerplatzte. Man
fuhr auch solange auf Paternosteraufzügen auf und
ab, bis der Portier einen erwischte, die Adressen ab-
verlangte und die — falschen — Namen und Adressen
') Bande, Clique.
117
der Wache zu übergeben drohlo. Wi« deutlich es sich
da um Tro(zhandUingcn gejreu den Vater handell, kann
ich leider aus verschiedenen Gründen nicht so einleuch-
tend zeigen, wie ich möchte.
2. Noch nierliwürdiger war das wachsende Mißver-
hältnis Maxens zu seiner Mutler. Es begann zunächst
mit Klagen, daß sie falsch sei, dalJ sie der Nachbarin
alles erzähle. Er behauplclo, Hettnässer zu sein und
von der Mutter seinem Freunde gegenüber und vor
dessen Mutler, eben der Nachbarin, schonungslos bloß-
gestellt zu werden. Merkwürdig, daß die Mutter hoch
und teuer schwor, von einem Bettnässen ihres Einzi-
gen nie etwas bemerkt zu haben! Er legte der Mutter
jede auch vernünftige und deutlich begründete „Er-
mahnung" als „Gemeinheit" aus, „da sieht ma wieder,
wie sie is!" Ich konnte von der recht vernünftigen
Mutler wirklich erreichen, daß sie sich jetzt besonders
zusammennahm, alte Anlässe ihrerseits, Max zu ärgern
vermied, besonders gehäufte Ermahnungen oder Nörge-
leien unterließ. Sie traf das so gut, daß Max zugeben
mußte, daß sie jetzt viel netter sei — an seinem Ver-
halten änderte sich aber nichts. Er war seinerseits
wirklich gemein und gehässig gegen sie. Die Mutter
sagte, daß sein Verhallen immer schon aufgefallen sei:
„Schon als kleines Kind war er so komisch. Bald war
er zärtlich, daß es schon nicht mehr schön war, er
war direkt sinnüch (I), dann war er gleich darauf wild
und direkt gehässig." Diese Ambivalenz trat nun nach
ihrer negativen Seite hin immer stärker hervor, ob-
wohl gerade durch den guten Schulforlgang die äußeren
Anlässe dazu sicherlich vermindert waren.
3. Außer in seinem Verhalten zur Mutter und zur Va-
terimago zeigte sich auch sonst bei Max immer stär-
ker ein sadistischer Zug. Daß er fortwährend mit einer
großen Schleuder herumrannte und in seiner Phantasie
allen Leuten die Augen ausschoß, mag für einen Zwölf-
jährigen nicht einmal so auffällig sein. Im Schrcber-
118
I
garten muß er seine Jaj?d nach Katzen und Vögeln
so wild betrieben haben, daß sie ihm der Vater verbot,
der bestimmt nicht zu den Sentimentalen gehörte! Noch
auffälliger war aber, was er in meinen Stunden trieb.
Er halte Plastilin auf meinem Schreibtisch gefunden.
Daraus formte er ununterbrochen Männchen, die er
mit einem Papiermesser in Säbelform köpfte. Dabei
verlcrampft sich sein Gesicht gierig, er nimmt diese
Strafaktionen mit solcher Intensität vor, daß er das
Gespräch oft minutenlang unterbricht, um dann über-
rascht aufzuschauen und sich sichtlich zu wundern,
wo er sich eigentlich befindet. Auch Geschichten, die
ich ihn erzählen lasse, haben alle denselben Inhalt: das
Erschießen und Erdolchen steht so sehr im Zentrum
der Erzählung, daß alle anderen Vorgänge nur sehr
plump und widerspruchsvoll zwischen diese Szenen em-
geschoben sind. .,,.,-
Hinter all diesen Dingen, die ganz allmählich immer
stärker hervortreten, hat aber auch die Erinnerung
an die besümmten Kameraden aus der früheren Schule
ihre Macht nicht verloren. Die Phantasie des Türauf-
aufreißens und sie dabei Ertappens kehrt wieder. Ich
vermule daß die Beschämungslust, die in seiner Schil-
derung 'sehr deutlich Ist, die Abwehr eines eigenen Er-
lebnisses ähnlicher Art bedeutet. Tatsächlich erinnert
• h die Mutter, daß er mit etwa acht Jahren einmal
weinend aus der Schule gekommen ist und geklagt
hat die Buben hätten solche Schweinereien gemacht
auf' dem Klosett und ihn angeschaut und fürchterlich
ausgelacht. Bald nachher berichtet auch Max auf meine
Frage, ob es denn nicht vor der Mittelschule Erleb-
nisse ähnlicher Art gegeben hätte, wie das, was seine
Kameraden treiben, zunächst zögernd, dann aber aus-
führlicher von jenem Vorfall.
Max erzählt zunächst das Unwichtigere. Es war in
der dritten Klasse Volksschule. Da waren ein paar
größere Buben, die „waren so schweinisch". Einmal
119
^
war er auch auf dem Kloselt — sie haben sich iramep
gegenseitig „ilirs" gezeigt. Da haben sie ihn gezwungen,
„das seine" herzuzeigen. Und dann liabcn sie ihn so
furchtbar ausgelacht. Warum eigentlich ausgelacht? Dar-
auf schweigt Max heiroffcn, er ärgert sich sichthch,
daß er mir zuviel gesagt hat. Ich schimpfe auf die dum-
men Buben, als ob es da was auszulachen gäbet Was
soll denn da zu lachen sein, höchstens waren sie etwas
größer als er, aber das ist doch kein Grund, um einen
auszulachen! Ich freue mich im Stillen, daß ich endlich
bei einer der Wurzeln von Maxens Prahlsucht in sexu-
ellen Dingen und seiner iieschämungsangsl angelangt
bin. Es handelt sich sichtlich, so würde man es popu-
lär formulieren, um ein „Minderwcrtigkcilsfjcfühl", das
eben durch jene Verspotlinig entstanden ist. Es kann
nicht schwer sein, damit fertig zu werden. Dann haben
wir auch das Letzte weggebracht, was ihn zu seinen
Schlimmheitcn treibt.
Max aber belehrt mich eines bes.seren. Er macht mir
eine Mitteilung, die alles Bisherige in ganz neuem Licht
erscheinen läßt und dem ganzen Fall damit ein anderes
Gepräge gibt. Mein Hohn über die Grundlosigkeit näm-
lich, mit der seine Kameraden ihn verspotteten, ärgert
ihn ganz offenkundig, was ganz gegen meine Erwartung
ist. Ja, er wird immer unruhiger und nimmt schließ-
lich — ihre Partei. Das ist nicht wahr, sie sind nicht
dumm, sie haben allen Grund gehabt, ihn auszulachen.
Und nun gesteht mir Max unter Tränen, wie es eigent-
lich mit ihm beschaffen ist. „Ich bin nämlich gar nicht
so, wie die anderen" ruft er aus, „ich bin operiert wor-
den, mir haben sie ein Stück weggeschnitten !'* Dann
weint er still vor sich hin, und dann ruft er wutver-
zerrt „ich bin wie ein Judt"
Ich habe mich über den deutlich affektiven Anti-
semitismus Maxens schon wiederholt gewundert, denn
weder die Eltern noch die Kameraden, auf die es ankam,
gaben ihm dafür besondere Grundlagen.
120
Die Mutter bestätigte mir später, daß Max mit etwa
drei Jahren einer Phiraoseoperation unterzogen wor-
den war. „Der Arzt hat gesagt, es ist besser, wenn man
das gleich macht, er hat auch immer so viel damit
gespielt." Später hat dann noch jene Szene mit acht Jah-
ren verstärkend ge\virkt. Sie haben ihn so ausgelacht!
Und sie haben geschrieen: ,,Der is ja ein Jud." Seit-
dem war ihm das ärgste, er könne in den Verdacht kom-
men, Jude zu sein. Max war auch hinsichtUch des wirk-
Uchen Sinnes seiner Operation völlig unbelehrbar. Es
stellte sich heraus, daß er einen großen Teil meiner
Aufklärung gar nicht akzeptiert hatte. Als ich versuchte,
ihm die Operation in ihrer wirklichen Bedeutung zu er-
klären, hörte er gar nicht zu und behauptete nur im-
mer wieder hartnäckig: „Ich werd' nie so sein wie die
andern. Ich wer' nie das können, was die andern kön-
nen. Ich wer' auch nie Kinder kriegen können. Ich bin
verschandelt für immer!"
Der Ausdruck „verschandelt" gab mir zu denken. Es
ist doch auffällig, daß er die Klage über seine vermeint-
liche Impotenz in Ausdrücke ästhetischer Kritik klei-
det. Die Szene auf dem Klosett allein kann dazu doch
nicht genügt haben! Tatsächlich erfahre ich auch bald
zweierlei, was ein grelles Licht auf den wirklichen
Sachverhalt wirft:
1. Als meine Beruhigungsversuche über die Bedeu-
tung der Operation langsam zu wirken begannen, er-
zählte mir Max spontan: „Sie haben mich einmal gefragt,
ob ich vor dem Einschlafen spiele. Ich habe damals
gesagt, daß ich das nie mache. Das ist aber nicht wahr,
Damais habe ich's immer gemacht, vorher nämlich.
Der Vater hat immer gesagt, er wird mir's abschneiden."
Wir brauchen uns auch nicht wundern, daß er sich's
„nachher*' nicht mehr recht getraut hat. „Ich hab immer
solche Angst, wenn ich hingreif , vorn kann ich's über-
haupt nicht angreifen."
2. Ich wundere mich ein wenig, daß zu Hause gar
121
nie über seine Opcralion gesprochen worden sein sollle.
Ich frage ihn: „Hai man Dir denn nicht erklärt, daß
die Operation weiter gar nichts zu bedeuten hat?" Dar-
auf er: „Wer soll mir das erklärt haben?" Ich: „Viel-
leicht der Vater?" Er: „Da haben Sie eine Ahnung! Der
Vater, das ist der Richtige! Der lacht mich selber aus,
sooft er kann! Er sagt immer: ,Du mit deiner zerbro-'
ebenen Flaschen!'" Ich glaube, wir wissen genug, um
uns vieles erklären zu können, was wir an unserem
Max bisher nicht recht verstehen konnten. Im Zusam-
menhang gesehen, läßt sich alles das ja recht einfach
formulieren:
Besonders gehäufte Kasirationsdrohungen, da wegen
der Phimose vermuUich auch besonders auffälliges Rei-
ben an den Genitalen. Die Oiwrafion wird natürlich
als Ausführung der angedrohten IJestrafung aufgefaßt '
Folgen:
1. Schwere Wut gegen <icn Vater, gesteigert noch durch
dessen Spott, eine Wut, die sich aber nie direkt wird
äußern können, da gleichzeitig natürlich auch die Angst
vor ihm gesteigert ist.
2. Schwere Enttäuschung über die Mutter, weil sie
ihn vor dem Ärgsten trotz ihrer Liebesbetcuerungen
nicht geschützt, sondern mit dem Vater gemeinsame '
Sache gemacht hat. Unterstreichung der Ambivalenz
in seiner Haltung gegen sie.
3. Ständige Angst vor beschämender Entdeckung seines
Mangels, die zu den zwanghaften Schutzmaßnahmen
gegen diese Entdeckung führt.
4. Faszinierende Wirkung der Beobachtung der Sexu-
alität anderer, die seinen Triebwunsch bindet, gleich-
zeitig aber die Angst vor dem Fallen der eigenen Ge-
wissensschranken auslöst.
5. Rache und Haß gegen die Eltern wird auf andere i
verschoben, daher „nettes" Verhalten zu Hause, dage- ^
122
gen Mißerfolg in der Mittelschule, der Selbstbestrafung
und Rache in einem ist.
'Für Max war es wieder bezeichnend, daß seine Mit-
teilung von der Phiinoseoperation nicht weniger deut-
lich den Charakter eines Geständnisses trug, als seiner-
zeit die erste Frage nach der Herkunft der „Sterne".
Dieser Geständnischarakter seiner Mitteilungen läßt klar
genug den Hintergrund ahnen, auf dem sich die drasti-
sche Wirkung der Phimoseoperation aufbaut. Nach die-
sem „Geständnis" steigerte sich Maxens deutlicher Sa-
dismus und ganz besonders seine ungerechten Vorwürfe
und Gehässigkeiten gegen die Mutter immer mehr.
Die Rachephantasien gegen den Vater treten symbolisch
kaschiert auf, die Verdächügungen gegen die Mutter, daß
sie „gemein" gegen ihn sei, liegen offen zutage.
Für mich bedeutete Maxens Geständnis die Erkennt-
nis, daß ich ihm nicht werde helfen können. Immer
schon konnte ich leicht vermuten, daß ein schlecht
verarbeiteter Kastrationskomplex zum Vorschein kom-
men müsse. Da sich dieser nun aber durch das Opera-
tionserlebnis so schwer fixiert erwies, konnte keine Hoff-
nung bestehen, ohne psychoanalytische Behandlung der
Schwierigkeiten Maxens Herr zu werden. Immerhin be-
mühte ich mich, da eine Analyse aus verschiedenen
Gründen nicht in Frage kam, einstweilen, soweit Ein-
fluß zu gewinnen, als psychologisch mögUch sein konnte.
Was ich noch versuchen konnte, war klar: ich mußte
trachten, das Operationserlebnis soweit zu verarbeiten,
als irgend möglich war und vor allem die neurotische
Bedingtheit seiner Mutterbeziehung soweit herauszuar-
beiten, daß Max wenigstens das Gefühl dafür bekäme,
daß sein Verhalten zur Mutter real unbegründet sei.
Wie aber sollte mir gerade das gelingen, wenn eben
eine Analyse, die die wirklichen Zusammenhänge in sein
Bewußtsein hätte heben können, nicht in Frage kam?
Ich hatte aber einen guten Bundesgenossen in der
Mutter selbst. Diese war ohne viele Erklärungen leicht
125
dazu zu bringen, ihr Verhallen gegen Max so einzurich-
ten, daß ihm auch nicht der geringste Vorwand blei-
ben konnte, daß etwa sie den Anlaß zu ungebührlichem
Verhalten seinerseits gegeben habe. Was die Mutter
da an Zurückhaltung und Verleugnung ihrer eigentUchen
Erziehungsansichteu zuwege brachte, war erstaunlich.
Die Fälle, in denen Max zugeben mußte, „eigentlich**
nicht viel Anlaß zu seinem gehässigen Verhalten zu
haben, häuften sich. Aber da zeigte sich eine andere
Schwierigkeit als unüberwindlich: Max erklärte prompt,
er habe zwar im gegenwärtigen Verhallen seiner Mutter
kernen Anlaß für seine Aggressionen, aber er entwertete
dieses Verhallen nun einfach und l>chauptete: „Das
ist ja alles Heuchelei, sie hat mich ja gar nicht gern,
sie tut nur so, sie ist in Wirklichkeit doch falsch." Wie
sollte ich gegen Vorurteile als Argumente ankämpfen?
Beteuerungen des Gegenteils nützen da natürlich nichts.
Da kam mir ein merkwürdiges Symptom zu Hilfe
das ebenso unvermittelt in unseren Stunden auFtauchte*
wie es unverstanden wieder verschwand. Ich hatte Max
beim Kommen die Hand gegeben und mußle, ohne es
selber zu merken, meinen Blick ungewöhnlich lange
und nachdenklich auf seine ganz zerfressenen Nägel
gerichtet haben. Plötzlich nämlich wurde Max feuerrot
riß seine Hand aufgeregt aus der meinen und schrie!
„Nicht, lassen Sie, nicht I" Gleich darauf war Max nicht
weniger erstaunt als ich selber über sein merkwürdiges
Verhalten. Ich versuchte ihn zu näheren Erklärungen
zu veranlassen. „Ich weiß nicht, was es ist. Al)er es
ist mir entsetzlich, wenn Sie meine Hand halten und
daraufschauen, das halle ich einfach nicht aus." Ich
beruhigte ihn wegen seiner zerkauten Nägel, die ich
doch schon längst bemerkt habe, wir hatten auch schon
früher davon gesprochen. Ich sagte ihm, er solle pro-
bieren, seine Angst zu überwinden und gewann ihn da-
für, dasselbe noch mehrmals versuchen zu dürfen. Jedes-
mal dieselbe Reaktion. Dabei fiel mir auf, daß Max
124
sonst wenn er mir gegenübersaß, seine Hände keines-
wegs' verbarg, sondern sie ruhig so hielt, daß ich sie
deutlich sehen konnte. Als ich ihn darauf aufmerksam
machte, sagle er: „Das macht nichts, sehen können Sie
sie ja, aber wenn Sie so eigens draufschauen, dann ist's
gräßlich. Da läuft's mir kalt über den Rücken, ich ge-
niere mich dann wahnsinnig, genau so, wie wenn ich
mich nackt ausziehen müßte!' Daß Max vor jeder Ent-
kleidung, vor jeder Mögüchkeit, daß sein operiertes
Ghed gesehen würde, große Angst hat und selbst beim
Baden zu Hause die Schwimmhose anzieht, braucht
kaum extra erwähnt zu werden.
Dieses Symptom besteht nun durch drei Stunden mit
gleicher Stärke. Obwohl Max selbst den Zusammenhang
mit seiner genitalen Beschämungsangst erfaßt hat, läßt
es nicht nach. An Erinnerungen bringt er nur folgendes:
„Wie ich klein war, hat man immer meine Füiger zu
sehen verlangt und geschaut, ob ich gekaut habe. Dann
habe ich's draufgelo-iegl." Dagegen weiß weder die Mut-
ter von diesem Symptom, noch glaubt er selbst, es
früher je gehabt zu haben. Nach der dritten Stunde ist
CS plötzlich ebenso verschwunden, wie es gekommen
war. Ich darf Maxens Hand ruhig nehmen und be-
trachten, so genau ich will, er lächelt und sagt, es
mache ihm nichts mehr.
Nun war Maxens Beziehung zu mir analytisch na-
türlich nicht tief genug, um das Auftauchen und Ver-
schwinden eines solchen Symptoms wirklich verstehen
zu lassen. Mir aber kam es in anderer Hinsicht sehr
zustalten. Max hatte mir nämlich selbst ein Beispiel
dafür geliefert, was es heißt, „grundlos" etwas tun zu
müssen, was man doch selber als „dumm" erkennt.
An keinem anderen Beispiel hätte ich ihm so leicht zei-
gen können, was neurotisches Verhalten von real be-
gründetem unterscheidet — selbstverständlich, ohne den
Ausdruck je zu gebrauchen. Es wurde mir nicht schwer,
ihm nun zu zeigen, daß sein Verhalten zur Mutter nicht
ia5
anders einzuschätzen sei, als sein Verhallen mit der
Hand. Er selbst gäbe ja auch dort, wie hier, die reale
Unbegründetheit seines Verhaltens eigentlich zu. Dort
wie hier versuche er ebenfalls zunäclist „Scheingründe"
zur Erklärung heranzuziehen, die sich bei ruhigem Zu-
sehen leicht als falsch erwiesen hatten. — Max hatte
nämlich auch sein Symptom gleich „erklären" wollen,
indem er behauptete, er geniere sich eben einfach wegen
des „Nägelkauens". Ich hatte ihm aber leicht zu zeigen
vermocht, daß dies der wirkUche Grund nicht sein
könne, da er mir von seinem Nägelbeißen früher schon
erzählt habe, da er mir überhaupt leicht viele Dinge
sage, für die er sich zunächst „eigentlich" geniere und
da die große Affektraenge, das Zwanghaftc, das sich
jeder vernünftigen Erwägung entzieht, so nicht erklärt
werden könne.
Max schien sehr nachdenklich zu werden. Er beob-
achtete selbst sein Verhalten zu Hause und erzählte mit
aller wünschenswerten Einsicht, wie nett die Mutter
sei, wie und wann aber wieder seine „Wut" aufgetaucht
sei. Die Mutler selbst berichtete bald von einer gewal-
tigen Besserung, sie konnte sich vor Freude über den
„Erfolg" gar nicht fassen ~ und dann blieben beide
aus. Ich habe sie seither nicht mehr gesehen, weder
die Mutler, noch den Hüben, obwohl ich dieser mit
allem Nachdruck erklärt hatte, daß von einem „Erfolg"
noch lange keine Rede sein könne, daß dies alles vor-
übergehen und eine schwere Reaktion in entgegenge-
setzter Richtung bald folgen würde.
Tatsächlich kann von einem „Erfolg" auch nicht ge-
sprochen werden. Die wirklichen Ursachen für Maxens
Schwierigkeilen sind ja noch lange nicht greifbar ge-
worden. In ein bis zwei Jahren, wenn Max in die Puber-
tät kommt, werden all seine Schwierigkeiten verstärkt
wiederauftreten. Höchstens wird er von nun an die
Schule nicht mehr als Plattform seiner Schlimmhcit
126
wählen, dann steht aber zu befürchten, daß er es außer-
halb der Schule umso ärger treibt.
Ich halte es auch nicht für unwahrscheinlich, daß
Max durch seine Sucht, seine Vateraggressionen in Hand-
lungen gegen die Behörden umzusetzen, in direkten Kon-
flikt mit dem Gesetz kommen wird. Dann wird die Mut-
ter wieder kommen mit dem Buben — und ich werde
ihm trotzdem nicht helfen können.
Betrachtungen
Ich habe schon eingangs darauf hingewiesen, daß ich
Maxens Geschichte nicht um ihrer selbst willen er-
zähle, sondern um einige Betrachtungen anzustellen,
die sich an Hand dieses Falles, wie mir scheinen will,
besonders deutlich demonstrieren lassen. Auch diese
Betrachtungen sind, wie die Schilderung des Falles
selbst, nicht eigentlich für den Analytiker bestimmt,
sondern für alle, die ständig oder gelegentlich als „Er-
ziehungsberaler" fungieren, also eigentlich überhaupt
für alte Lehrer, mögen sie nun der Analyse nahestehen
oder nicht. FreiUch ergibt sich dadurch die Schwierig-
keit, daß dieser ganze Aufsatz dem Leser je nach seiner
analytischen Schulung einmal zu analytisch erscheinen
mag, dann wieder als zu „naiv". Diese Schwierigkeit
aber kann ich nicht vermeiden.
1.
Erfolg, Mißerfolg und der S&tz vom pathogenen Gewicht
Wenn ich mir vorstelle, daß mir der Fall Max zu
einer Zeit in die Hände gefallen wäre, da ich den For-
schungsergebnissen der Analyse noch fremd gegenüber-
stand, so muß ich annehmen, daß mir damals alles das
greifbar geworden wäre, was ich hier unter „Schicht I"
12
T
zusammengefaßt habe. Der „Fall" halle sich dann auch
besonders hübsch darstellen lassen, er wäre zur Veröf-
fentlichung in jeder pädagogischen Zeilschrift geeignet
gewesen. Man halle aus ihm lernen können, wie wichtig
es ist, Kinder rechtzeitig aufzuklären. Seht nur den Max
an, wie es dem ergangen ist! Sein durch vorenthaltene
Aufklärung gesteigertes Interesse für Sexualwissen, die
Angst vor beschämender Entdeckung seiner Unwissen-
heit durch die spoltlustigcn Kameraden lassen ihn eine
höchst bedenkliche Holle spielen, vor ihnen und vor den
Lehrern — eine Rolle, die ihn notwendig in der Schule
zum Scheitern bringen muß. Der Fall Max wäre damals
für mich bestimmt „ein volter Erfolg" geworden. Die
richtige Aufklärung hätte Maxens Interesse von den gar-
stigen Dingen und den schlimmen Kameraden ab-, den
Schulgegenständen und braven Freunden zugewendet.
Ich wäre damals auch nicht in die Lage gekommen,
die Buchung dieses „Erfolges" zu bereuen, denn ich
hätte bestimmt rechtzeitig abgebrochen. Man muß recht-
zeitig abbrechen können, wenn man solche Erfolge
buchen will! Auch hätte ich von den späteren Schwie-
rigkeiten kaum Kenntnis erhmgl, denn die Mutter wäre
nicht mehr zu mir gekommen. Ich hätte sie ja mit der
Überzeugung des Erfolges entlassen. Man kann Ellern
nur so lange halten, als es einem gelingt, ihnen zu be-
weisen, daß der scheinbare Erfolg noch lange ];ein
wirklicher ist. Darum blieb mir ja auch Maxens Mutter
aus, als sie mir dies nicht mehr glaubte.
Lassen wir Max nun aber etwas später zu mir kom-
men, zu einer Zeit, da icli mir elwas gründlichere
psychologische Schulung und lü'fahrung zusprechen
darf, dann hätte ich bald Gelegenheit gehabt, ein freu-
diges „Aha!" auszurufen 1 Wie klar sind doch die
Gründe, warum in diesem Falle die richtige Aufklä-
rung allein nicht helfen koimte! Als ob Maxens Unauf-
merksamkeit nur aus dem Aulklärungsinteresse gespeist
worden wäre! Die Kenntnis von den sexuellen Prak-
128
Dr. Hanns Sachs
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liken ist viel zu kompaktes Material, als daß es durch
hloEte „Aufklärung" hätte verschwinden können! Alles,
was wir in Schicht II dargestellt haben, hätte ich nun
sicherlich sorgsam durchgearbeitet. Ich hätte Max vor
allem in eine andere Umgebung versetzt und wäre für
meine Umsicht vom schönsten Erfolge belohnt worden.
Nehmen wir nun noch an, ich hätte das Glück gehabt,
bis zur Klosettverspottungsszene aus Schicht III vor-
zudringen, dann hätte ich einen überzeugenden Aufsatz
schreiben können, aus dem deutüch zu ersehen gewesen
wäre, wie so ein „Minderwertigkeitskomplex" zustande-
kommt, als dessen Auswirkung wir ja Maxens Über-
kompensierungen verstehen müssen.
Ich muß gestehen, daß ich mich eines schändlichen
Neidgefühles wegen dieser meiner fingierten Erfolge in
meiner Vergangenheit nicht erwehren kann. Warum
hätten meine damaligen Fehler zu „Erfolgen" geführt,
während mir meine jetzigen nur Mißerfolg eintragen?
Worin liegt überhaupt mein Hauptfehler im Falle
Max? Darin offenbar, daß ich solange als für den Erzie-
hungsberater greifbar hielt, was sich später als höchstens
analytisch faßbar herausstellte. Ich hätte den Fall Max
gar nicht anfangen dürfen. Die eigentlichste Wurzel
all seiner Schwierigkeiten, das Operationstrauma, liegt
in einer Schicht seiner Entwicklung, von der ich wissen
mußte, daß sie ohne Analyse nicht greifbar gemacht
werden kann. Allerdings — wie hätte ich das von An-
fang an wissen sollen? Oder aber — und wir erschrek-
ken vor dieser Konsequenz — sind etwa alle Erzie-
hungsberatungsfälle von dieser Art? Ist es denn nicht
immer ein Erlebnisgrundstock aus frühinfantiler Zeit,
der den „eigentUchen" Grund für die späteren Erzie-
huiigsschwierigkeiten üefert? Hat dann Erziehungsbera-
tung überhaupt einen Sinn?
Ich gestehe, daß ich das Gewicht dieser Frage nicht
ganz hinwegzudiskutieren vermag. Ich glaube aber, so-
lange wir keine Mögüchkeiten sehen, alle lerngestörten
9 Almanach 1935
129
Kinder in Analyse zu bringen, dürfen wir uns durch
folgende Beobachtungen Iröslen lassen:
Talsächlich sind nämlich nicht alle Fälle so, wie der
Fall Max. In hundert anderen Ivillen haben wir vollen
Erfolg, wenn wir bis Schicht I oder II vorgedrungen
sind. Es gibt wirklich Kinder, die an der Aufklärungs-
frage in Schwierigkeiten geraten. Viele 2. und 3. Mittel-
schnlUlassen sind voll von diesen Kindern. Ihnen ist
durch die Maßnahmen zu helfen, die wir im Fall Max
allerdings als unzureichend erkannt haben. Auch die
Klosettszenc des Achtjährigen stellt ein häufiges Erleb-
nis dar, das an manchen Kindern spurlos vorübergeht,
aus dem andere aber beträchtliche Schwierigkeiten be^
ziehen. Und vielen solchen Kindern ist zu helfen, wenn
man sich in dem Sinne um sie bemüht, der den Inhalt
unserer Darstellung von Schicht II und III gebildet
hat. Wie unterscheiden wir aber nun jene Fälle, denen
geholfen werden kann, von denen, die um die Analyse
nicht herumkommen können?
Mit einem Wort, — wir landen bei der so wichtigen
Frage, — wie ermessen wir die Erfolgsaussichl, auf die
wir bei Inangriffnahme eines Erziehungsberatungsfalles
hoffen dürfen? Eine Hcihc von licdingungen, die für die
Erlangung von Erfolg von liedeulung sind, haben wir
ja längst abschätzen und in unsere Rechnung einbezie-
hen gelernt. Ich meine alle jene l'aktorcn, die von
„außen" unsere Arbeit stören oder zu fordern geeignet
sind, zu denen als wichtigstes das Verständnis zu rech-
nen ist, das wir bei den Eltern der Kinder voraussetzen
dürfen, und vieles andere mehr. Worauf es hier aber
offenbar ankommt, ist etwas anderes: Wir müßten auch
die „inneren" Voraussetzungen für die IJehandlungs-
möglichkeit eines Falles berechnen können, wenn wir
nicht unendlich viel Mühe und Zeit für von vornherein
aussichtslose lieslrebungcn opfern wollen.
Um in diesem Sinne die „Erfolgsaussichl" eines Fal-
les abschätzen zu können, käme es offenbar darauf an,
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1
von den verursachenden Momenten gleich zu Beginn
etwas mehr zu wissen. Da scheinen sich aber ganz
besondere Schwierigkeiten aufzutürmen. Wie groß ist
doch die Menge dessen, was wir in jedem Fall unter die
„verursachenden Momente" aufnehmen müssen! Da ist
immer irgendein auslösendes Erlebnis, da sind frühere
Erlebnisse, die den Boden sichtlich vorbereiten halfen,
da ist ein bestimmtes Ausmaß ererbter Triebkonstitu-
tion — wie sollen wir uns da zurechtfinden? Ordnen
wir unsere verursachenden Momente nach dem Schema,
das Freud in seinen Vorlesungen für die Anordnung
der Entstehungsbedingungen bei Neurosen vorschlügt,
dann finden wir, daß in jedem Fall ererbte Konstitution
-(- infantiles Erleben die „Disposition" ausmachen, zu
der hinzutretend das spätere, „traumatische Erlebnis"
die pathogene Veränderung auslöst. In Wirklichkeit ha-
ben wir damit eine Reihe, die sich perspektivisch ver-
schiebt, je nach dem Zeitpunkt, in dem wir einen Fall
betrachten.
Tatsächüch nun scheint mir die Einführung der ;^eit
in unsere Rechnung die Formel für unsere Zwecke
besonders brauchbar zu machen.
Wir verbinden sie noch mit der Berücksichtigung der
quantitativen Verhältnisse, dann gelangen wir zu folgen-
den Feststellungen:
Das Ausmaß, in dem zu irgendeinem beliebig gewähl-
ten Zeitpunkt in der Entwicklung des Kindes das jewei-
lige „traumatische Erlebnis" oder die durch Konstitu-
tion und infantiles Erleben vorbereitete „Disposition"
am Entstehen der pathogenen Veränderung beteiligt ist.
ist offenbar nicht immer gleich. Das Verhältnis der
beiden laßt sich aber ungefähr angeben: je stärker in
einem Enlwicklungspunkt die traumatische „Disposition"
ist, umso geringfügigere „Erlebnisse" genügen, um trau-
matische — oder sagen wir allgemeiner — pathogene
Wirkung auszulösen. Je schwächer aber die Disposition,
umso stärkeren Erlebnisdruckes bedarf es, um zur Aus-
9*
151
lösung von „Störungen" zu führen. Nennen wir, der
leichteren Bezeichnung halber, das Ausmaß, in dem
Disposition oder Erlebnis jeweils dazu neigen, pathogene
Veränderungen zu begünstigen, ihr „pathogenes Ge-
wiclit", so kommen wir zu folgender Formulierung:
1. Die Summe des palhogenen Gewichtes, das Dispo-
sition und Erlebnis mitbringen müssen, um pathologi-
sclie Veränderungen auszulösen, ist konstant. Nur wenn
sie erreicht wird, kommt es überhaupt zu solchen Ver-
änderungen. Wird sie nicht erreicht, so addiert sich ein-
fach das pathogene Gewicht des Erlebens zur bisherigen
Disposition und schafft für später eine stärkere dis-
positionelle Belastung.
2. Das „pathogene Gewicht", das man einem Erlebnis
zuschreiben darf, ist aber offenI)ar nicht in alten Ent-
wicklungsphasen dasselbe 1 So wird etwa, derb gespro-
chen, einer sexuellen Verführungsszene durchaus nicht
das gleiche pathogene Gewicht zugesprochen werden
können, je nachdem, ob sie sich nach der Pubertät oder
in der Latenzzeit abgespielt hat. Wir mülilen aus der
Erfahrung an gestörten Kindern und aus dem Vergleich
dieser Erfahrungen mit den Verhältnissen bei den trotz
desselben Erlebnisses „gesund" gebliebenen das unge-
fähre pathogene Gewicht der bedeutendsten typischen
Erlebnisse für die verschiedenen Entwicklungsphasen
bestimmen können.
3. Addieren wir pathogenes Gewicht der „Disposition'*
und des „Erlebnisses", so erhalten wir im Falle der
eben eintretenden pathologischen Veränderung die oben
eT>Nä\vuVc „¥>.oi\sVanVc". Nehmen vjvv nun aber an, daß
die Summe von Gd (pathogenes Gewicht der Disposition)
und Ge (pathogenes Gewicht des „traumatischen Erleb-
nisses") größer ausfalle, als zur pathologischen Verän-
derung gerade notwendig war, dann wird der Gewichts-
überschuß offenbar in der Widerspenstigkeit des resul-
tierenden pathologischen Zuslandes auftauchen, wir
könnten ihn etwa mit Symptomstärke bezeichnen oder
133
nennen ihn am besten die „Intensität" des Symptoms,
beziehungsweise der jeweiligen Störung. Wir erhalten
also die Formel:
Gd + Ge = k + i
Auch wer nicht viel für mathematische Formeln übrig
hat, — und wir wollen ja versprechen, nicht einen
Augenblick zu vergessen, daß wir das Mathematische
nur vergleichsweise zur darstellerischen Abkürzung des
Gedankenganges einführen, in keiner Weise von einer
sehr weittragenden Analogie reden wollen, — der wird
zugeben müssen, daß wir diese Formel ganz nach Be-
lieben verwenden können, je nachdem, was uns gegeben
und was uns unbekannt ist. So verwendet sie ohne die
quantitativen Elemente Freud in seinen Vorlesungen,
um die Beziehung zwischen Disposition und Erlebnis
überhaupt anzudeuten. Warum aber sollten wir sie nicht
heuristisch verwerten, um aus den bekannten Gegeben-
heilen die unbekannten wenigstens andeutungsweise zu
erschließen? Nennen wir diese Formel den Satz vom
pathogenen Gewicht, so behauptete ich nichts Gerin-
geres, als daß dieser Satz geeignet sei, über die „Er-
folgsaussicht" eines Falles allerhand wertvolle Auskunft
zu ermöglichen.
Denn — was müssen wir wissen, um die Aussicht
eines Falles zu ermessen, sich in außeranalylischer Ar-
beit greifbar machen zu lassen? Offenbar nichts ande-
res, als das Ausmaß, in dem an seiner Entstehung Dis-
position oder akzidentelles Erleben beteiligt sind, ferner
noch den Zeitpunkt, für den diese Berechnung angestellt
jA'ird.
In diesem Sinne berechne ich
a) die Aussicht auf Erfolg, wenn ich die offenbar be-
kannte Intensität der Gestörtheit des betreffenden Kindes
und das erfahrungsgemäß eingeschätzte pathogene Ge-
wicht desjenigen Erlebnisses heranziehe, bis zu dem
ich im ersten Anhieb meiner Arbeit mit dem Kind
133
leicht hahc vordringen können. Je größer die dabei her-
auskommende Gcwichlssumme ist, umso größer sind
meine Aussichlcn, den Fall crzichungsberalerisch be-
willigen zu können. Je geringer sie ist, desto eher muß
ich fürchten, mit so hohen Dispositionsbeiragen zu tun
zu haben, daß ich sie nicht bewältigen kann. Freilich
ich erhalle dabei immer nur ein für den betreffenden
Zeitpunkt gültiges Ergebnis, doch läßt dieses einen un-
gefähren Schluß auf meine Arbeilsaussicht deshalb zu,
wi'il ich ja weiß, daß sie umsomehr .schwindet, je
Weiler ich in frühinfantile Zeiten zurückliommc. Dieselbe
Formel gestattet mir aber auch die Abschätzung
b) der Sicherheit, beziehungsweise Dauerhafligkeil
des jeweils erreichten Erfolges, litcibt nämlich nach Ver-
arbeitung des pathogenen Erlebnisses nur ein kleiner
Restbesland an dispositionellem pathogenen Gewicht zu-
rück, und gelingt es mir außerdem die Erlcbnisbedin*
gungen für die Zukunft des Kindes relativ günstig zu ge-
stalten, dann werde ich dieser Zukunft ziemlich ruhig
entgegensehen können. RIeibt dagegen der pathogcne
Gewichtsbetrag der „Disposition" beim Entlassen des
Falles trotz Beseitigung der aktuellen Schwierigkeiten
noch beträchtlich, dann werde ich mit Recht fürchten
daß ein neu hinzutretendes Erlebnis der gleichen Rich-
tung das nur labile Gleichgewicht wiederum stören
wird. In solchen Fällen müßte ich dann trotz des „Er-
folges" im akluellen Sinne auf analytische Behandlung
indizieren!
Wenden wir unsere Ausfülivim{3;cn nun aul den Fall
Max an, dann haben wir gleich Gelegenheit, ihre Brauch-
barkeit oder Unbrauchbarkeit zu erweisen. Die ersten
Bemühungen um den Fall ergeben Einblick in alles das,
was ich als „Schicht I" geschildert habe. Die Intensiläl
der „Geslörtheit" darf ziemlich hoch angesetzt werden,
sie steht jedenfalls zum „pathogenen Gewicht" des trau-
matischen Erlebnisicomplexes in keinem Verhältnis. Min-
dcrwertigkcilsgefühle und Beschämungssitualioncn we-
134
^
gen mangelhafter Aufgcklärlheit führen bei vielen Kin-
dern zu Schwierigkcilen, selten aber zu Schwierigkeiten
von solcher Zähigkeit. Auch was Max in dieser Rich-
tung erlebt, ist nichts so Besonderes. Es kommt nie zu
einer wirklich sehr beschämenden Szene oder Verspot-
tung, die wir als schwerer ansetzen dürften. Der Zustand
im Alter elf — in das wir den Ausbruch der typischen
Schwierigkeit, an der Max leidet, verlegen dürfen — ist
also verdächtig genug: relativ hohe Störungsintensität,
relativ geringes palhogenes Gewicht der „Krlebnisse"
— daraus allein schon dürfen wir auf geringe Hallbar-
keit des erreichten Erfolges schließen! Wir dürfen Max
nicht entlassen, müssen versuchen, tiefer zu gehen. Ganz
aussichtslos ist der Fall für die Erziehungsberatung
noch nicht, denn es kann sich ja ergeben, daß hinter
der Schicht I ein traumatisches Erlebnis von großer
Schwere auftaucht. Gelingt es uns, dieses zu verarbeiten,
dann bleibt nur mehr ein geringer Dispositionsrest und
wir hätten „Erfolg" gehabt. Es wird also offenbar alles
auf das pathogenc Gewicht und den Zeitpunkt des
nächsten „traumatischen Erlebnisses" ankommen, das
wir finden werden.
In Schicht II stoße ich nun auf die Sexualbeobach-
tungeu Maxens an seinen Kameraden. Ein „Erlebnis",
beziehungsweise Erlebniskreis, der an sich ja gewich-
tiger aussieht als der frühere. Dagegen stecke ich immer
noch im selben Zeitpunkt, für den Elfjährigen ist die
pathogene Gefahr seines Wissens um die SexuaUtät sei-
ner Kameraden zwar nicht zu unterschätzen, doch weiß
ich aus den Erzählungen so vieler „gesunder" Kinder,
daß sie ähnliches Wissen ohne schwere Störung mit
sich herumtragen. Jedenfalls aber ist die Intensität, mit
der Max an diesem Erlebniskreis hängt, aus dem patho-
genen Gewicht dieses Erlebniskreises selbst in keiner
Weise verständlich. Es muß entweder ein sehr hohes
Ausmaß an Dispositionen in dieser Richtung vorliegen,
oder ich muß sehr bald auf ein schwereres trauma-
135
H
lisches Erlebnis stoßen. Meine Hoffnungen sollten je-
denfalls statt größer geringer werden!
Tatsächlich stoße ich nun in Schicht III zunächst auf
die Reminiszenz der Klosettszcnc des Achtjährigen. Auch
hier finde ich wieder dasselbe Verhältnis. — Ein Er-
lebnis, dessen Bedeulung nicht überschätzt werden darf,
da es in dieser milden Form, die es zunächst zu haben
scheint, vielen Kindern der Großstadtschulen nicht er-
spart bleibt. Ja, wenn Max sich in mehr eingelassen
hätte oder wenn er von Erwachsenen „ertappt" und
„beschämt" worden wäre — wenn es deshalb zu Konflik-
ten mit den Eltern gekommen wäre! Aber alles das trat
ja nicht ein. Im Gegenteil, Max erzählt das Erlebnis
sogar seiner Mutter, die ihn tröstet und sich tadellos
benimmt. Wenn ein Erlebnis mit so geringem patho-
genen Gewicht so schwere Fixierung zurückläßt, dann
muß der Faktor D (Disposition) ganz bedenklich hoch
eingeschätzt werden. Da ich aber schon beim achten
Lebensjahr angelangt bin, habe ich nicht mehr viel
Spielraum, denn meine außeranalytische Wirksamkeil
wird bald ein Ende finden. Vielleicht hätte ich auch da
noch Glück haben können. Vielleicht hätte sich hinter
der Klosettszene ein anderes, schwereres Erlebnis ähn-
licher Art, aber nur kurze Zeit vorher, verstecken kön-
nen. Dann hätte es mir noch gelingen können, es zu
verarbeiten und ein geringes Gd, also viel Aussicht auf
Haltbarkeit des Erfolges zurückzulassen.
Dagegen stoße ich gleich nachher auf den Erlebnis-
komplex „Phimoseoperation", der aber deutlich ins dritte,
dessen Grundlage bis ins zweite Lebensjahr zurück-
verlegt werden muß. Ich kann also ruhig abbrechen —
hier Erfolg zu haben, habe ich keine Aussicht mehr.
Wenn ich mich noch mit dem Jungen beschäftige, so
mag es mir gelingen, das eine oder andere Nebensyra-
ptom etwas abzuschwächen. Bedenke ich aber die un-
geheure Labilität, in der ich Max zurücklasse, so werde
ich mich durch den äußeren Eindruck eines solchen
136
Scheinerfolges nicht blenden lassen. Ich tue gut, ihn
bald zu entlassen, da der Scheinerfolg nur dazu bei-
trägt, die Mutter von der Einsicht in die Notwendigkeil
der Analyse ganz abzusperren.
Nun, ich gebe zu, im Falle Max schien es wirklich
lange Strecken nicht ganz aussichtslos. Trotzdem müßte
gehäufte Erfahrung den Berater befähigen, das geringe
Gewicht der Erlebnisse der oberen Schichten so stark
in Rechnung zu ziehen, daß er von der Aussichtslosig-
keit des FaUes rechtzeitig überzeugt wird.
Der Wert der von uns angestellten Betrachtungen
über den „Satz vom pathogenen Gewicht" unterliegt nun
offenbar einer zweifachen Einschränkung:
1. Die angestellte „Berechnung" hat nur in dem Aus-
maße Sinn, als es mir gelingt, das pathogene Gewicht
des jeweiligen traumatischen Erlebnisses richtig abzu-
schätzen. Diese Abschätzung wird umso zutreffender
ausfallen, je mehr Erfahrungen pathologischer Art und
je mehr Vergleichsmöglichkeiten dieser am Pathologi-
schen gewonnenen Erfahrungen mit dem an „gesund"
gebliebenen Kindern des gleichen Erlebnistypus Beob-
achteten vorliegen. Die Forderung der planmäßigen Be-
schäftigung mit der Entwicklung auch des störungs-
freien, „gesunden" Kindes ist eine der Konsequenzen,
die aus diesen Betrachtungen resultieren. Der Erzie-
hungsberater wird ohne diese Erfahrungen auf die
Dauer nicht auskommen. Was er vorfinden kann und
wie es wirken kann, das wird er immer vom Analytiker
zu lernen haben. Wie pathogen er die Bedeutung des Ge-
fundenen im Einzelfalle aber einzuschätzen hat, darüber
wird er sich schneller und sicherer ein Urteil bilden
können, wenn er auch die Fälle kennt, an denen die
gleiche Erscheinung spurlos vorübergegangen ist. Es er-
öffnet sich hier ein neues Arbeitsgebiet, das der psycho-
logischen Forschung durch Schaffung geeigneter Arbeits-
möglichkeiten erschlossen werden müßte.
137
2. Unser „Satz" vom palhojteiicn Gewicht" darf um
himmclswilleu nicht mit der IJehan])tung verwechselt
werden, es handle sich wirklich um niatliematisch Greif-
bares, um meßbare quantitative Groiien. Die ganze „For-
mel" ist natürlich nur vergleichsweise gebraucht. Man
braucht sie nur etwas näher zu betrachten, um sofort
zu entdeclien, daß das „Quantitative" in ihr nicht wirk-
Uch Quantitatives ist, sondern eiHenllich Qualitatives, das
nur zur Denkabkürzung hier in scheinquantitativem Ge-
wände auftaucht. Der Vergleich mit den Quantenver-
hältnissen hei „Gewichf'-Malien macht uns Erwägungen
leicht faßbar und rasch umliehrbar, deren Darstellung
sonst allzu kompliziert und verschraubt ausfallen müßte.
In Wirklichkeit kommen wir über die Tatsache, dieses
„pathogene Gewicht" doch wieder nur aus der Einsicht
in die quaUtativcn Verhrdtnisse der Entwicklung bestim-
men zu können, natürlich nicht hinweg. Wir meinen
den „Satz" also nur metliodisch, als abgekürzte Rede-
wendung sozusagen, lehnen es strikte ab, ihm darüber
hinaus Bedeutung zu geben. Er ist nichts als eine sprach-
liche Form, in der komplizierte Gedankengänge zur Er-
mittlung der Erfolgsaussichten zweckmäßigen Ausdruck
finden können.
II.
Der bÖBC Kustratiouskoniplex
Ich habe den „Fall Max" öfters erzählt, ich habe ihn
sogar in Vorträgen als licispicl verwendet. Ich muß
gestehen — ich habe noch nie einen Fall gelesen oder
gefunden, der sicli mit ähnlicher Durchschlagskraft auch
beim analysctremdeslen — analysoAciudUchslcu Publi-
kum sofortiges Verständnis und absolnlc Anerkennung
erzwungen hätte. Worauf beruht diese Wirkung, worin
liegt eigentlich die Verwertbarkeit von Maxens Ge-
schichte zu Dcmonslrationszwecken?
138 ■
»
'.}'
Darüber nachzudenken mag nicht müßig erscheinen.
Über Max selbst werden wir dabei freilich nichts Neues
erfahren. Aber zur Psychologie des Widerstandes gegen
die Psychoanalyse mögen solche Betrachtungen einiges
beitragen.
Freilich — ich muß zugeben, daß ich den Fall Max,
sooft ich ihn jemandem vorlegte, immer unter völliger
Ausschaltung der analytischen Terminologie berichtet
habe, in der Art etwa, wie Lou Andreas Salome ana-
lytische Einsichten dem allgemeinen Verständnis nahe-
zubringen pflegt. In der Art meine ich, nicht mit dem
Geschick und der Gewandtheit der Dichterin. Ich will
eine solche Schilderung des Falles Max hierher setzen.
Sie ist selbst am besten geeignet dazu, verständlich zu
machen, warum sich der FaU Max so erfolgreich ver-
wenden läßt
Wamm Max so schlimm wurde . . .
Da ist einmal so ein kleiner Junge — wie viele andere
auch. Und so wie diese spielt auch er gelegentlich mit
seinem Glied — was soll so ein kleiner Junge schon
in diesem Alter tun? Und seine Eltern reagieren dar-
auf nicht anders, als andere Eltern es tun: sie ver-
bieten ihm es. Wenn das Verbot nicht viel nützt, so
unterstreichen sie es ein wenig durch ein Drohung —
was sollen sie schon anderes tun? Aber da zeigt sich
etwas Unangenehmes: auch die Drohungen nützen
nichts. Um zu derberen Strafen zu greifen, sind diese
Eltern zu nett, zu beherrscht, zu vernünftig. Sie wissen
zwar natürlich nicht, was da los ist — aber sie wissen,
was man tut, wenn man mit Kindern ratlos ist. Man
sucht jemanden auf, von dem man meint, daß er mehr
Erfahrung hat, als man selber. Sie sind ja ernste Eltern
und meinen es ihrem Sprößling gut.
Und sie gehen zum Arzt. Und auch der Arzt ist ver-
nünftig. Er ist selber ein ruhiger Mensch, der nicht in
Entrüstung verfällt oder in Entsetzen und der elterlichen
139
Phantasie nun etwa den Galgen weissagt, wenn sie nicht
„energische Maßnahmen" treffen gogcn die beginnenden
„Kindersünden" ihres Dreijährigen. Er nimmt die Dinge,
wie sie sind. Wie er sie selbst schon hundertemale ge-
nommen hat. „Sie brauchen nicht in Sorge zu sein", so
sagt er freundlich zu den Eltern. „Daß ihr Bub so viel
spielt, ist nicht abnormal. In seinem Fall nämlich nicht.
Das hat ganz bestimmte Gründe. Es ist da etwas nicht
ganz in Ordnung. Die Vorhaut ist etwas zu eng ausge-
fallen, eine Phimose nennt man das. Das haben aber
viele Kinder, da ist gar nichts dabei. Und das Übrige
können sie sich jetzt sicher selbst erklären. Die Ver-
engung führt zu gesteigerten Juckreizen, darum hat der
Kleine auch öfter das nedürfnis sich zu kratzen als
andere Kinder. Da braucht man gar nichts zu tun als
das zu operieren, dann ist alles wieder in Ordnung.
Am besten ist, man mach! sowas gleich, solange er noch
klein ist Da ists viel leichler und tut auch nicht so weh.
Kommen Sic nächste Woche..."
Und dann kommen sie eben. Der Kleine kommt mit,
wie er vermutlich schon öficr zum Arzt gegangen ist.
Er ist kein verzärteltes Kind. An Mut fehlt's ihm nicht.
Dann aber geschieht etwas Furchll>ares ~ das hätte
er nie und nimmer erwartet! Der Vater — es ist wahr,
er hat ihm's schon oft angedroht 1 Aber wer wird die
Verwirklichung solcher Drohungen für möglich halten?
Es ist wohl auch arg, er hat's immer wieder getan,
obwohls der Vater verboten hatte. Aber es hat doch
auch so gejuckt ~ kratzt man sich denn nicht auch
sonst, wcnns einen wo juckt? Und dann war der Vater
doch so gut, sonst. Er hat schon so viel Ärgeres ange-
stellt und immer hat's Verzeihung gegeben, kaum jemals
wirkliche Schläge! Und jetzt, jetzt hat man ihm's weg-
geschnitten! Ein- für allemal — und dabei hat er's ohne-
hin gerade in der letzten Zeit nicht mehr so oft getan!
Ganz ohne was zu sagen ~ wie hinterUstig! — schleppen
sie ihn mit einem Male zum Doktor! Daß der Vater so
140
grausam sein konnte! Und — da kommt erst das Ärgste!
Die Mutter, was hat die dabei getan? Hat nicht gerade
sie ihn immer in Schutz genommen, wenn Vater einmal
strenger zu werden drohte? War sie nicht immer heb
und zärtlich mit ihm, war sie nicht die Zuflucht, bei
der man Schutz finden konnte, was immer sich nur er-
eignet haben mochte? Und jetzt? Jetzt stand sie dabei,
sie tat nichts dagegen — sie half dem fremden Manne
noch, indem sie ihn hielt! Sie, die ihn mehr hebte als
alles andere — die er mehr liebte als alles andere auf
seiner kleinen Welt! Sie hatte ihn verraten, schmählich
im Stiche gelassen! So waren sie. Im Geheimen hielten
sie's wohl immer miteinander, Vater und Mutter I Er
hat's wohl auch schon gemerkt. Unlängst erst, als sie
zu tuschehi begannen vor ihm, als sie ihn forthaben
wollten, nachdem Vater nach längerer Dienstzeit nach
Hause kam und er sich doch schon so gefreut hatte auf
ihn! Hatten sie da nicht soviel mitsammen zu reden in
ihrer merkwürdigen Sprache, von der man nur eines
versteht — daß man überflüssig ist, daß man stört, daß
man fort sein sollte, wenigstens auf einige Zeit? Immer
hatte er gememt, so seien die Eltern nur hie und da, nur
manchmal, so wie ja auch er nicht immer so war, wie er
sein sollte, sein möchte, zu ihnen. Jetzt aber sieht er's:
sie sind so! Beide! Auch die Mutter meint es gar nicht
ernst, wenn sie so heb tut mit ihm. Sie ist genau so
grausam wie der Vater, sie ist noch ärger, denn sie
verbirgt ihren Verrat lünter gesteigerten Liebesbeteue-
rungen. Sie war doch immer für's Verzeihen! Sie hat
doch schon oft ihr Wort eingelegt beim Vater. Warum
nicht auch diesmal? Warum mußte es zum Ärgsten
kommen, warum gab man ihm nicht wenigstens ein-
mal noch die Möglichkeit, es wieder gut zu machen, sich
zu bessern? Warum suchte man nicht irgendeine andere,
doch etwas mildere Strafe aus für ihn? Die anderen Kin-
der — taten die es nicht auch oft? Hatte er nicht un-
längst erst gesehen — und denen geschah nichts? Doch
141
— und da taucht eine noch furchtbarere Angst auf in
dem kleineu Kerl - es gab docli Kinder, denen es genau
so gegangen sein mußte wie ihm! sogar noch ärger I Die
Mädchen! Ein halbes Mädchen halle mau also gemacht
aus ihm. Nie wird er so sein, wie die anderen, nie wird
er können, was die anderen Buben können, nie melir
ganz ~ er ist „verschandelt" auf immer. Hat nicht
sogar der Vater unlängst gespottet, als er ihn nackt
sah beim Baden?
Mit Maxens harmloser HerzUchkeit gegen die Eltern
ist es aus. Wohl bricht seine Liebe zur Muller oft genug
in stürmischen Zärllichkeitsanfällcu hervor, gleich nach-
her aber taucht jener Untertou von Groll und Haß auf,
der ihn roh und herzlos sein läßt gegen die so Geliebte]
der ihn seine ZärUichkcit zu ihr gar nicht genießen läßt!
Ja, auf sich selbst ist er böse, wenn er wieder einmal
so heb war zu ihr, als ob er nicht eigentlich wüßte,
wie sie wirküch ist, was sie ihm angetan hati Auch um
die Position zum Vater hat Max viel zu ringen, Bewun-
derung und Liebe verlangen ihr Recht. Wo Trotz und
Auflehnungsbedürfnis in der jungen Seele sich erheben,
können sie in Zukunft niemals offen auftreten. Denn
wer könnte wagen, sich aufzulehnen gegen jemanden
der schon so kleinen Fehl so plötzlich und warnungslos
bestraft hat wie er? Solchen Menschen gegenüber tut
man gut, brav zu erscheinen. In WirkUchkcit weiß man,
wie man dran ist! (,,
So wird Max ein „nettes" Kind, das nur böse Trotz-
anfällc hat gegen die Mutter und nicht immer ganz auf-
richtig ist in seinem Verhallen. Vom Vater allerdings
trennt ihn irgend etwas, das sich nur fühlen läßt.
Dann aber kommt die Schule und da wird eine an-
dere Frage aktuell, an die er gar nicht gedacht hat. Die
anderen Kinder — wie wird er vor denen bestellen?
Wenn sie wüßten I Und sie werden's erfahren, irgend-
einmal, in einer Szene schrecklicher Beschämung 1 Und
die Mutter — wird dic's nicht ausplaudern, der Nach-
142
barin erzählen, so daß es sein Spielgefährte zu Ohren
bekommt und es sich herumzischeU im ganzen Haus?
Hat sie's nicht unlängst auch der Nachbarin erzählt,
als er sich einnäßte, und hat sein Freund nicht höh-
nisch gegrinst, obwohl er nicht zugeben wollte, daß er's
erfahren habe? Da gilt es zuvorzukommen, den Sicheren
zu spielen.
Und dann ereilt den Achtjährigen doch jene Szene
in der Schule. Auf dem Klosett haben sie's entdeckt,
jene ekelhaften großen Buben, die so anmaßend sind
und so brutal gegen alle anderen I Sie habens entdeckt
— und dann ist wirklich alles so gekommen, wie er's
gefürchtet hatte. Er hat's ja gewußt! Wie sollte es auch
anders sein, da doch sogar der Vater gelegentUch
lachte und spottete? Der Vater übrigens — der doch
selber alles verursacht hatte! Er war also wirklich ver-
schandelt auf immer. Ehrlos, unmöglich wie die, gegen
die sich ihr Spott am schärfsten richtete — wie die
Juden. Und dabei hatten die's noch besser! Die waren
alle so, die hielten wenigstens zusammen. Er aber war
allein, als Verschandelter unter lauter Normalen, als
Operierter unter lauter Gesunden.
Was redeten sie übrigens da immer hinter seinem
Rücken? Was war das eigentlich für ein Geheimnis,
über das sie so viel tuschelten? Gut, er war operiert.
Aber was hatte denn das eigentlich zu bedeuten, daß
sie's gar so komisch fanden, gar so arg einschätzten?
Gab es doch andere Kinder, die viel ärger verunstaltet
waren, freilich anderswo 1 Was war da eigenlUch da-
hinter? Das mußte er herausfinden, um jeden Preis!
Freilich — wie viel leichter hatten's auch darin die
anderen! Die fragten sich eben einfach gegenseitig in
so einem Fall. Konnte er das, ohne zu riskieren, daß er
wieder den ganzen Spott auf sich lenken würde, wie
damals? Davon hatte er wahrlich genug! So war er an-
gewiesen darauf, aus Vermutungen und halbem Hin-
hören allmählich herauszubekommen, was er wissen
H3
wollle. Wie schwer das war, wie man da auf der Hui
sein mußte, daß sie nicht merkten, wie dumm man warl
Und wie gut hatten's die anderen überhaupt! Die
fürchteten scheinbar nicht, was er als so furchtbar er-
kannt hatte. Offen und ungeniert spielten sie manchmal.
Sie redeten noch davon, daü sie*s taten, es war also
nur ihm so Hartes widerfahren! Wenigstens von allen
Buhen nur ihm! Die anderen trafen sich auf dem Klo-
sett und machten schweinische Sachen — Sachen, die
er nie tun würde, niel — und er traute sich kaum zu
kratzen, wenn's ihn juckle. Sic können's auch riskieren,
daü der andere einen sieht, während er jeder MögÜch-
keit ängstlich aus dem Wege gehen muß, die ihn bloß-
zustellen droht! Wie sie ihn darum allein schon aus-
lachten! Er haßt sie. Sie tun ungeniert, was er sich
kaum zu denken wagt, laufen dabei ungestraft umher
und sind noch spöttisch gegen ihn! Wie es da wohl tut,
wenn man sich manchmal rächen kann und sie der
gerechten Strafe zuführt, wenigstens wenn sie sich in der
Schule irgendetwas haben zuschulden kommen lassen I Ü
Freilich — dabei verscherzt er sich wieder, was er auf
der einen Seile mühsam vorhereitet hatte — den Kon-
takt mit diesen anderen Buben, den er sehnUchst her-
beiwünscht und fürchtet zugleich — .
Genug. Wir brauchen nicht mehr zu hören von Max
um ihn ganz zu verstehen. Üer Junge sollte in der
Schule weiterkommen? Sollte noch „stolz" sein, wenn
er einmal „den Lehrern gefallen" hatte? Sollte sich be-
mühen, „den Eltern Freude zu machen", den Eltern,
die er so sehr hebte und die ihn so grausam bestraft,
so schandlich verraten hatten um einer Kleinigkeit wil-
len? Die ihn dann noch selbst verspotteten in seiner
Schande? Da sollte er der Mutter noch glauben, wenn
sie lieb war und nett zu ihm, während er doch genau
wußte, daß sie ihn im bestimmten Augenblick verraten
würde, wie sie ihn damals verraten hatte? Da sollte er
dem Rat des Vaters folgen, der „nur sein Bestes" wollte
144
und ihn doch so grausam verslüinmcln ließ, obwohl
es doch sicher auch anders gegangen wäre, ohne das
Äußerste, Ärgste? Sollte vor „Lehrern" Respekt haben,
die doch bestimmt noch ärger waren als der Vater, denn
dieser hebte ihn doch auch irgendwie —
Kurzum — hinter allen Schwierigkeiten, die sich im
Leben dieses Jungen ergeben, steckt als letzter Hebel
das Trauma der Phimoseoperation. Nicht, daß wir es
als „Ursache" bezeichnen wollten — , aber es ist der be-
wegende Punkt in der ganzen Reihe von verursachenden
Momenten, es ist der Grund dafür, daß spätere Erleb-
nisse, die an anderen spurlos vorübergehen, so wirken
mußten bei diesem Kind.
Keiner meiner Zuhörer hat mir je die etwas freie Kon-
struktion, zu der ich die Daten der Wirkhchkeit hier
verarbeitet habe, übelgenommen, wenn ich diese Daten
nachher ehrUch und säuberlich herausschälte aus der
Schilderung. Nur ein Mittel hatte ich immer in der Hand,
um die ganze Wirkung der so überzeugungsvoU aufge-
bauten Geschichte zu zerstören, mit einem einzigen
Schlag. Ich brauchte nur den analytischen Terminus
zu nennen, mit dem wir den zugrundeliegenden Sachver-
halt der Einfachheit halber zu bezeichnen pflegen. Das
Wort „Kastrationskomplex" entfesselte regelmäßig all
den Widerstand, der sich nur irgend gegen analytische
Einsichten mobilmachen läßt.
Und trotzdem hatte ich's in diesem Fall leicht. Denn
■die Kastration blieb hier Tatsache — auch wenn man
den 'j^ugrundeUegenden „Komplex" nicht wahrhaben
mochte. Man mochte sich gegen diese Tatsache sträu-
ben, soviel man wollte, den „Komplex" kann man glau-
ben oder nicht. Eine weggeschnittene Vorhaut aber ist
ein Beweismittel, dem man sich nicht entziehen kann.
Darin liegt der Wert dieses Falles als Beispiel. Jeder
Berater weiß ein Lied davon zu singen, wie wichtig es
m der Behandlung von Kindern oft ist, wieviel davon
abhängt, ob es gelingt, den Eltern begreiflich zu machen,
10 Almanach 1935
145
was ein „K astral Jons komplex" ist, ihnen glaubliaft zu
machen, daß es so etwas giljt und wie es sich auswirkt.
Wir haben selten Aussicht auf Erfolg hei diesen Bemü-
hungen. Darum habe ich diesen Kall hier so ausführlich
berichtet.
Doch — es sei mir noch ein Nachwort zu diesem Ka-
pitel gestattet. Wir tun gut, den Erzichungsberater daran
zu eriimern, daß Maxens Fall nicht die gewöhnliche
Form darstellt, in der sich Kastraltonskomplcxc auszu-
wirken pflegen. Der Unterschied dieses Falles von den
meisten übrigen ist leicht anzugeben: Er liegt nicht in
dem Umstand, daß der allgemeine Kaslrationskomplex
des Kindes durch das Oi)cralionslrauma fixiert wurde.
Solche traumatische Fixierungen hat der Kastrations-
komplex auch in den anderen Fällen erfaliren, in denen
er sich später so störend auswirkt. Nur sind es meist
psychische Traumen, die nicht weniger slark zu wir-
ken vermögen. Nicht die Schwere des Falles, sondern
seine Eigenart ist aus der liesondcrhcit der Operation
zu verstehen. i
Während die anderen Kinder das gefürchlelc Ereignis
vor sich haben, hat Max es hinler sich. Darum wählen
sie auch meist Schüchternheit und Angst als Symptome.
Max dagegen verstärkt seine sadistischen Triebtiompo-
nenten, sein Trotz gegen die Eltern liegt nicht in Auf-
lehnung, sondern in der Racheposition des Enttäuschten,
liesonders typisch ist sein Verhalten zur Mutter — Ma-
atens Situation ist nämlich weitgehend die, mit der
alle Mädchen zu ringen haben. Ich würde mich auch
nicht wundern, wenn er homosexuell werden sollte.
III.
Operieren — eine Angelegenheit der Psychologie?
Noch eine Frage drängt sich gebieterisch auf, wenn
man den Fall Max nun einmal erzählt hat. Was folgt
aus ihm für die Vornahme von Fhimoscoperalioncn
146
m
überhaupt? Was kann der Erzichimgsberater daraus
entnehmen — oder besser: was soll er auf Grund die-
ses Falles dem Arzt verständlich zu machen versuchen?
Auf den ersten Blick scheinen die Konsequenzen sehr
weit zu führen. Gerade der Laie neigt dazu, sie sofort
zu überschätzen, nachdem er sie zunächst überhaupt
nicht gesehen hat. Ist nicht die böse Operation schuld
an allem? Wäre nicht Maxens Entwicklung ganz anders
verlaufen ohne sie? Hätte sich nicht vor allen, wenn
wir schon einmal annehmen, daß ihm Beschämungs-
szenen usw. nicht erspart geblieben wären, die Schwie-
rigkeiten, die daraus vermutlich entstanden wären, leicht
in der Beratung beheben lassen, umsomehr, als doch
mit den Eltern so gut zu reden war? Sollen wir also
dem Arzt den Vorwurf machen, der die Operation vor-
nahm, statt sie zu verschieben, auf später?
Doch ergeben sich da viele Gegeneinwände. Läßt sich
eine solche Operation immer verschieben? Spricht nicht
oft vieles dafür, daß sie gleich vorgenommen werde?
Und wenn schon, verschieben — auf wann? Welcher
andere Zeitpunkt ist um soviel geeigneter? Wir vermei-
den das eine physisch bedingte Trauma, wenn wir zu-
warten, das ist richtig. Schaffen wir nicht aber die
Basis zu ebensovielen anderen, psychischen Traumen
dadurch? Max hätte — unoperiert, das Reiben an den
Genitalien nicht aufgeben können. Die Besorgnis der
Eltern hätte sich gesteigert. Sie hätten vermutlich doch
die Geduld verloren — Max wäre in einen heftigen
OnaniekonfUkt gejagt worden. Hätte die später vorge-
nommene Operation da nicht einen umso besser vor-
bereiteten Boden für ihre traumatische Wirkung vorge-
funden? Nehmen wir an, sie wären später noch dazu
zu einem anderen Arzt gekommen — beim größeren
Kind neigt der Arzt dazu, auch die phimosebeförderle
Onanie nicht mehr so leicht einzuschätzen, wie beim
Kleineren! In welche Besorgtheit wären die Eltern da
nicht erst gejagt worden — ! Hätten wir aber noch länger
10»
147
mit <Ier Operalion zn<,'e\var(cl, solüiij^f, I)is Max fjroß ge-
nug wärt', lim eine FixieniiiH seines Kaslralioiiskom-
plcxes durch die Opcriiliou nicht befürchten zu müs-
sen — hätte sich da nicht nhcn aus seiner Phimose
wieder eine Reihe von anderen Störungen un<l Scliwie-
ri ff keilen für Ihn ergeben?
Wäre Max nicht wcibcrschcu geworden, scxualschcu
übcrhauiit, da ihm so leicht Anlaß von schmerzhaften
Empfindiingeu wird, was für andere nur eine Quelle
der Triebbefriedigung ist?
Doch — genug mit den „Wenn" — wir können sie
gar nicht alle überblicken und wir wollen auch nicht,
das hieße den RahuuMi dieser Betrachtungen sprengen,
liier sei nur das Wichtigste festgehalten, das für den
Krziehungsbcrater und für den Arzt auf alle Fälle
gesagt werden kann zum Kapitel ,,Phimoseoperalion":
1. Jode Operation birgt bestimmte Gefahren für die
psychische Wcilerentwicklung des Kindes in sich. Es
bedarf sorgsamsler Erwägung aller Umstände, beson-
ders der Wesenheit der Eltern, des Lebensraumes, in
dem das Kind sich voraussichthch bewegen wird, usw.
um die Linie des kleinsten Risikos wählen zu können,
soferne nicht überhaupt physische Gründe eine Ope-
ralion in manchen Fällen unvermeidbar machen.
■ 2. Auch für diesen Fall aber und für den Fall, daß
der Arzt ansonst aus irgendeinem Grunde für die Ope-
ration entscheidet, läßt sich allerhand tun, um schä-
digende Wirkungen fernzuhaUcn oder zu vermindern.
So hätte zum Beispiel im Falle Max eine geschickte
Vorbereitung des Kindes auf die Operation, eine nach-
herige Verarbeitung seines Schrecks im psychologisch
richtigen Sinn, manches geändert. Vor allem darf man
solche Kinder nie dem Risiko der Reschämungssituallon
durch die Kameraden aussetzen, sondern muß sie, da sie
den Situationen kaum entgehen werden, entsprechend
vorbereitet in die Gefahr entlassen. Hätte Maxens Vater,
statt selbst im — gutgemeinten — Scherze über seine
148
„Verschaadeluug'^ zu spoüen, dem Jungen die Nalür-
Uclikeit, Bedeutungslosigkeit und rein physische Not-
wendigkeit der seinerzeitigen Operation nicht nur er-
klärt, sondern sich auch selber dieser Erklärung gemäß
verhalten, so wären spätere Beschämungserlebnisse we-
nigstens rasch greifbar und in ihrer Wirkung aul ein
Minimum reduzierbar geworden. Man hätte seine Lage
auf jene Schädigung reduzieren können, die etwa das
sonst durch ein Gebrechen dem Spott durch andere
Kinder ausgesetzte Kind in Kauf nehmen muß. Mit
einem Wort: Die Operation selbst ist natürlich keine An-
gelegenheit der Psychologie, die Frage ihrer Ansetzung
kann es werden. Auf alle Fälle aber gehört neben den
Arzt der Psychologie» vorher und nachher. Soviel mülite
der Arzt davon wissen, daß er mit seinem Schnitt
Probleme nicht gelöst hat, ohne neue, noch viel schwie-
rigere zu stellen, deren er nicht mehr Herr werden
kann. Vielleicht gilt das übrigens für viele andere Ope-
rationen auch.
Der Erziehungsberater wird bei der Feststellung ,,phi-
moseoperierl" ohne weitere Untersuchung folgendes als
in allen Fällen gesichert annehmen dürfen:
1. Bedenkliche Stärke des Faktors „Gd" (pathogenes
Gewicht der „Disposition" zu Störungen in der Rich-
tung des Kastraüonskomplexes). Der Faktor wächst, je
mehr die Operation in die Nähe der frühinfantilen
Zeit gerückt ist.
2. Alle „Erlebnisse" in der Linie des Kastrations-
komplexes sind mit einem viel stärkeren „pathogenen
Gewicht'* anzusetzen, als bei allen anderen Kindern.
Denn die Operation hat das pathogene Gewicht der
Disposition hinaufgeschraubt, die der Operation vorher-
gegangene Zeit der gesteigerten Onaniekonflikte hat
außerdem den Erlebnisboden entsprechend vorbereitet.
3. Die Frage nicht nur der Sexualeinschätzung, son-
dern auch des Verhaltens der Eltern in den Fragen
der Aufklärung sind mit viel mehr Sorgfalt zu unter-
149
suchen und hoher zu bewerten als bei anderen Kin-
dern. Wo sonst ruhig zugcwarlel werden könnte, tut
hier rechtzeitiges Zugreifen not, die Heranziehung der
Eltern zur Milcrziehung ist hier wichtiger als sonst.
4. In den Krziehungsmalinahnien ist allen Lehrern
und Erzieherpersonen von der Verwendinig „scharfer"
Methoden abzuraten, der Fehler zu grolier Laxheit kann
bei diesen ivindcrn eher riskiert werden, als das umge-
kelirle Extrem.
5. In der IJcratung selbst kann der Berater auf das
sexuelle Thema direkt zusteuern, mehr als sonst üblich
ist, die Besprechung der Operation selbst bietet —
als harmloses „körperliches" Datum — die geeignetste
Handhabe zur Aufrolhnig des Onanicproblems, das sonst
bei diesen Kindern schwer und s])ät greifbar wird.
Max gab unumwunden seine frühinfantile Onanie Preis
und gestand seine genitale Berührungsangst, sobald die
Oi)eralion zur Sprache kam, während er voz*her dem
Onanictliema, so deulUch es auch in den IJerichten
aus den Schulphanlasien anklang, mit großem Mißtrauen
ausgewichen war.
Was die Operation an Erschwerungen bietet, das
macht sie teilweise in der Behandlung wieder gut, indem
sie als „physische Talsache'* so manches Bedenken
erspart, das sich sonst als „Widerstand" fühlbar ge-
macht hätte. Was für die Wirkung der Erzählung von
Maxens Fall auf den Zuhörer gilt, das gilt scheinbar
ein wenig auch für die Behandlung selbst. Zum Schlüsse
sei nur noch einmal unterstrichen: was hier an Punkten
zusammengestellt ist, ist für den analytisch nicht ge-
schulten Erzichungsberaler gedacht. Für den Analytiker
hätte es dazu nur eines Punktes bedurft. Alles übrige
folgert sich daraus für ihn von selbst.
150
Don Quijote und Donquijotismus
Von Helene Deutech, Wien
Vorgetragen am XUl. Internationalen Psy-
choanaly tischen Kongreß in Luzern (26. bis
31. August 193^0 und erschienen in Jmago,
Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie,
ihre Grenzgebiete und Anwendungen", Band
XX, 1924..
Meine Damen und Herren!
Wenn ich das Epos über Don Quijote als
Krankengeschichte eines Geisteskranken
behandeln sollte, würde ich ihr folgende Ana-
mnese vorausschicken. Älonso Quijano, ein kleiner Edel-
mann in der spanischen Provinz La Mancha, verliebte
sich als überreifer Mann in Adonza Lorenzo, die Bauern-
magd aus Toboso. In dieser Liebesbeziehung war unser
braver Mann kein großer Held. Im Laufe von zwölf
Jahren, in denen sein ganzes Herz von Liebessehn-
sucht erfüllt war, wagte Alonso kaum viermal, in das
Antlitz der Ersehnten zu schauen, und schien jedesmal
von einer solchen Schüchternheit und Angst befallen
gewesen zu sein, daß es zu einer männüchen Werbung
kaum kommen konnte. Umsomehr entflammte sich seine
Phantasie und spiegelte ihm als Ersatz für die sichtlich
stark gestörte Potenz die kühnsten und aktivsten Be-
weise seiner MännÜchkeit vor.
Die spärUche Lebensgeschichte Alonsos zeigt uns, daß
schon die Wahl seines Liebesobjektes manches von sei-
nen Schwierigkeiten erklären dürfte. Die brave Magd
von Toboso war ihres Zeichens eine Landbrünhilde,
von der die Chronik erzählt, daß sie „eine Stimme
halte für drei und Eisenstangen warf, wie der stärkste
Bursch im ganzen Orte". . .
151
Dagegen erschien unser Ilcld nicht als Siegfried.
Welch Libido-KinU er war, sagt uns sclion diese kurze
Vorgeschichte seines Wahdsinns: ein passiv-femininer,
wahrscheinlich zcillcbeiis Itnpolenler, liei dem der vor-
idimaklerischc Schub') sichllich den sexuellen Wunsch
steigerte, aber gloichzeilig eine neue Welle passiver und
femininer Slrebungcn mit sich brachte. Alonso zeigt in
seiner l.icbesperiodc das typische Verhalten eines Kna-
ben in der FriihpubcrliU. Im späteren Wahn ist so vieles
direkt der Pubertät entnommen, der liefe Ernst seiner
Handlungen ist so häufig eine Kopie der Kuabcnspiele,
daß trotz der gewalligen Stürme der Regressionen, die
sein Seelenleben bedrängten, die nie überwundene, auf-
rcchterhallene Pubertät immer noch das Leitmotiv ab-
gibt.
Enttäuscht, beschämt, erniedrigt, in einer Orgie von
Minderwertigkeitsgeiühlen, zieht sich Alonso vom Le-
ben zurück, und in wahrscheinlich aagslvollcn und de-
pressiven Tagen und Nächten verliert sich allmählich
seine reale Persönlichkeit. In der Phantasietätigkeit, die
die Realität verschwinden läßt, wird an Stelle des
sterblichen Alonso der unsterbliche Don
Q u i j o t e geboren.
Alle Fäden, die einst Alonso mit dem Außenleben
verbunden hatten, sind durchschnitten. Adonza wird
verlassen, aljcr in Anlehnung an ihr reales Rild entsteht
die herrliche Prinzessin Dulcinea von Toboso, das voU-
kommensle Wesen der Welt. Es ist anzunehmen, daß
sich schon in den vergangenen zwölf Jahren der un-
glücklichen Liebcsgcschichle die überschätzende Verklä-
rung der Geliebten auf Kosten des eigenen Ichs unseres
Helden langsam entwickelt halte. Dulcinea wird dann
zu einem Teil des großen narzililischcn Keslitutions-
gebäudes, in das Don Quijotcs Unsterblichkeit einzog.
1) Don Quijole ist zu dieser Zeit 50 Jahre alt.
152
^ Mit dem Aufgeben des realen Objektes kommt es
zu einer Verdrängung sämtlicher Triebtendenzen. „Hast
du je irrende Ritter essen gesehen?" lautet jene Frage,
deren Vernehiung den ganzen asketischen Habitus Don
Quijoles veranschaulicht. Nichts, was triebhaft-mensch-
lich ist, darf ihm nahestehen. Die Liebe und Treue zu
Dulcinea hält Wache vor der Sexualität und ermöglicht
ihre so vollkommene Verdrängung. Sogar die primitiv-
sten analen Bedürfnisse unterliegen der Askese, wofür
sich in mehreren tragikomischen Situationen ein deut-
licher Beweis findet.
Alle seelischen Besetzungen, angefangen von primitiv-
sten Triebtendenzen bis zu jenen Energien, die das Ich
mit der Reaütät in Verbindung bringen, ziehen sich zu-
rück und stauen sich im Ich zu einer einzigen narziß-
tischen Macht. Es scheint, daß der Auftakt dazu eine
Über kompensierung auf die schwere Enttäuschung sei-
nes Liebeslebens war und daß die Phase der schweren
Introversion dazu diente, durch Phantasietätiglteit alle
jene Entbehrungen zu entwerten, die ihm die Außenwelt
einerseits, seine gehemmte MännUchkeit andererseit auf-
erlegt hatte. Seinen narzißtischen Bedürfnissen konnte
sichtlich eine einfach polternde Aktivität und seine ganz
bedeutende Intelügenz nicht genügen. Denn allmähUch
verläßt seine Phantasie die aktuelle Objektwelt und die
schwere narzißtische Stauung wirft ihn zurück in eine
liefinfantile Vergangenheit. Das schwer beleidigte und
entwertete Ich gibt sich selbst zugunsten eines nun
entstehenden Ich-Ideals auf, so ganz, daß jene Spannung,
die notwendig ist, um die Kritik an sich selbst auf-
rechtzuerhalten, verschwindet. Jetzt kann sich Don Qui-
jote restlos im Besitze aller jener Mächte und Eigen-
schaften fühlen, die sein Ich-Ideal von ihm verlangt
Es unterliegt keinem Zweifel, daß in diesem Pro-
zeß der Verarmung des Ichs zugunsten
des Ich-Ideals auch die Realitätsprüfung
153
eine Einbuße crfährl. nenn sichllidi hat jene
kritische Instanz, die aus der Spannung
zwischen Ich und Icli -Ideal entsteht, einen
besonders wichtigen Anteil an jenem Vorgang, den wir
Realitätsprüiung nennen. Nur das soziali-
sierte Ich -Ideal, dasjenif,^c, das in der realen
Außenwelt nach kleulilizieruiif^sniögliciikeilen sucht und
sich selbst an den Worten der Außenwelt mißt, wird
auch seinen Beitrag zur Realitätsprüfung lie-
fern können. Ein Ich- Ideal, das seine Existenz
dem Rückzug der obj(!ktlibidinüsen Kräf-
te so weitgehend verdankt, wie es bei Don Quijote
der Fall ist, steht schon außerhalb jeder Reali-
tätsanpassung.
Kaum eine andere Dichtung der Weltgeschichte hatte
den tragischen Vorgang des narzißtisch l^odingten „Welt-
unterganges" mit einer so gewaltigen Intuition Ixigriflen
und beschrieben wie Cervantes in seinem Don Quijote.^)
Mit dem Verlust der Objektwelt zieht sich Don Quijole
durch Identifizierung in die sonst überwundene, in .sei-
ner lügenhaften Verklärung bereits entwertete Ritlerzeit
zurück. Wir verstehen, daß hinter der historischen Ver-
gaugcnheil eine individuelle verborgen ist.
Als Don Quijole von seiner hmgjähngcn Reise in das
Reich der Phantasie in die Realität zurückkehrt, unter-
*) Vgl. Freud: Psychoanalytische Bemerkungen über
einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia
(Dementia paranoides), Ges. Schriften, Bd. Vlll. Was
hier die dichlerisclio Intuition geschalten, hatte dort
die geniale wissensclial'tliche Beobachtung entdeckt. Der
Wahn des Paraaoikers Schreber und die unsterbUchen
dichterisch erfaßten Phantasien Don Quijotcs kommen
aus denselben Quellen des verdrängten Seelenlebens: das
Epos und das Wahngcbilde bauen auf den Trümmern
der aufj^egebenen Realwelt eine mehr befriedigende
plianlastisch-wahuhafte auf.
154
liegt dieselbe bereits einem Wiederaufbau vorgange. Sie
ist ja jetzt idenüsch mit jener Welt, die Don Quijote
aus den Bücliern kennengelernt hat. In seiner neuen
Knabenzeit vertiefte sich der Fünfzigjährige so sehr in
die Ereignisse der Ritterzeit, daß sie ihm zu einer gegen-
wärtigen Welt wurde. Die mutigen Helden jener Zeit
machte er sich zum vorbildlichen Ideal, durch das er
sein früheres Ich ersetzt.
Infolge des Unterganges der Realwelt findet Don Qui-
jote keinen Rückweg mehr aus den phantasiereichen
Ritterspielen und aus der ganzen imaginären Zauber-
welt, die sonst der Knabe zugusten der ReaUtät aufgibt.
Statt dessen begibt sich unser Held in seinem Wahne
in noch weiter verschollene Tiefen, in das Erlebnis
der Magie, durch die das kleine Kind — wie der Primi-
tive — selbst die Dinge der Welt verzaubert und an diese
Verzauberung glaubt. Erinnert Don Quijotes Verrückt-
heit nicht an das spielende Kleinkind, dem das aus Pa-
pier selbstgeschaffene Pferdchen vielleicht wirklicher
erscheint als das reale? Ist etwa Don Quijotes Glaube an
sein Ich-Ideal nicht gleichzusetzen der größenwahnsinni-
gen Selbstherrlichkeit des Kindes?
Mit welcher genialen Intuition der Schöpfer Don Qui-
jotes die Genese des Wahngebildes erkannt hat, ergibt
sich aus folgenden Situationen:
Zweimal im Laufe seiner Verrücktheit gibt Don Qui-
jote sein Wahngebilde auf. Einmal, als ihm Sancho
Pansa — in bewußtem Lügengeflunker — verspricht,
die Dulcinea in realer Weise vorzuführen. Da erwachen
in der Erwartung der phantasierten Gehebten auf alten
Erinnerungsspuren wieder lebendige Gefühle für jene,
die früher Adonza war. Was die narzißtische Magie ver-
mochte, wird durch die Macht der Objektüebe entzau-
bert. Die Sehnsucht nach dem realen Objekt durch-
bricht den Wahn und mit seinen wahnbefreiten Augen
bUckt Don Quijote an jene Stelle im Walde, wo er den
155
Zaubei- dcv Dulcinca erleben sollte und die Gestalt
der realen Adonza erwüiisclite. Was er aber zu sehen
bekam, war nur eine häBlicIic, fremde Magd, die ihm
Sancho l'ansa vorgcscholien hatte.
Ein zweilesinal ist es das reale Kriebnis der Todes-
nähe, die den Wahn von der narzißtischen Unsterblich-
keit zerbricht.
Don Quijole dünkte sich in seinem narzißtischen
Obermut unsterblich und halte in diesem Wahn den
Mut des Idcincn Kindes, das den Gefahren trotzt, weil
es ihre Bedeutung nicht kennt. Die empfundene Reali-
tät des nahenden Todes, die Aussöhnung mit dem Un-
abwendbaren, bewirkt die l^ückiiohr Don Quijotes zur
Wirklichkeit und läßt so seinen Tod zu einem erschüt-
ternden Erlebnis der Dichtkunst werden.
Ein besclieidener Raum bleibt mir für das Schatten-
gebiJdc Don Quijotes, Sanclio Pansa, übrig.
Die Tragik Don Quijotes wird erst voll verständlich
an der Komik Sancho Pansas. Lebt Don Quijote im
purifizierlen Ich-Idealisnuis seines Wahnes, so bildet
Sancho Pansa eine Rrückc zur HcaUtät, als ein abge-
spaltener Teil Don Quijotes, ein Stück der Triebbejahung
und Realilälsanpassung. Die dürre Askese Don Quijotes
hätte ihn längst in den Tod getrieben, wenn die dicke,
mütterliche Triebbejahung Sancho Pansas nicht seine
Wege begleitet hätte. In klinischer Terminologie ist
Sancho Pansa ein von Don Quijotes Wahn „Induzierter".
Die Rolle Sancho Pansas als Verkörperung von Don
Quijotes Trieb- und Ucalitätsbejalumg besteht eben dar-
in, sich mit dem Wahn Don Quijotes zu identifizieren
und diesem Wahne ein Stück Healilälswerl zu verlei-
hen. Er ist es wohl, der um die leiblichen Genüsse Don
Quijotes sorgt. Durch seine eigene Gefräßigkeit drängt
er Don Quijote zu realen oralen Refriedigungen und
durch eigenes ergötzliches Interesse an analen Vorgän-
156
gen zeigt er sich auch um die exkrelorischen Vorgänge
seines Herrn besorgt. Vor allem aber und in erster
Linie schafft er die Verbindung zur Realität dadurch,
daß er an Don Quijotes Wahnidee glaubt, weun sich
auch dieser Glaube — zur weiteren Betonung der inten-
siven Realitätsanpassung Sancho Pansas — nur auf jene
Teile des Wahnes bezieht, die ihm, Sancho Pansa, reale
Vorteile zu bringen versprechen. Von allen Doppelfigu-
ren, die die WeltUteratur und die bildende Kunst zur Dar-
stellung von Gegensätzlichkeiten im Menschen, die sich
zu einer Einheit ergänzen, benützt hat, ist die des asketi-
schen Don Quijole und des primitiv-triebhaften Sancho
Pansa vielleicht die am meisten plastische.
Wäre übrigens Don Quijote imstande gewesen, sein
Ich-Ideal einer genügend großen Zahl von Sancho Pan-
sas zu induzieren, so würde er aus einem Narren zu
einem Helden und Führer geworden sein.
Dazu wäre es allerdings notwendig gewesen, daß er
neben seinem hochgeschraubten asketischen Ideal auch
der Triebbefriedigung, insbesondere der Aggressionen,
einen Platz eingeräumt hätte. Daß er dazu nicht fähig
war, unterscheidet den Don Quijote des Epos von denen
der politischen Geschichte aller Zeitepochen.
Sehr charakteristisch ist der ästhetisch-affektive Ein-
druck, mit dem die Umwelt auf das unsterbliche Epos
Cervantes' reagiert. Die „Donquijotesken" — um ein Wort
Unamunos zu gebrauchen — sehen in Don Quijote
das wunderbare Vorbild eines nach der Erfüllung sei-
nes Ideals strebenden Helden. Sie sprechen ihm jene
Größe und Wahrheit zu, deren die grob-reale Umwelt
entbehrt. Diese ReaUtät, unter der sie selbst leiden, er-
scheint ihnen schattenhaft, grau, verglichen mit dem
Ich-Ideal, das sie in sich tragen. Für sie liegt das Lächer-
Uche und Karikaturale an Don Quijote nicht an ihm,
sondern an der grobsinnigen Realwelt, die nicht im-
stande ist, das Höhere und Ideale anders denn als
157
Windmühlen, Illusionen, Phanlasmeu zu empfinden''). Die
Forderung dieser Idealisten an die Realität, sich ihrem
narzißtischen Ich-Ideal anzupassen, stall umgclichrt je-
nes den Forderungen der Reahvcll unterzuordnen, ist
der ewige Donquijolismus der menschhchen Seele. Bei
Dichtei'n, Künstlern, I-^niatikorn ist er besonders aus-
geprägt.
In ganz anderem dagegen liegt der Gewinn des ästhe-
tischen Genusses dieses Epos bei den ReaUlätsangepaß-
ten. Ihre Reaktion ist gleichsinnig mit der Meinung
jener Literaturhistoriker, die in Don Quijote die Erledi-
gung einer entwerteten Vergangenheit durch humor-
volle Versi)ottung zu sehen vermeinen. Geschichtlich
betrachtet, ist hier wohl die durch Karikatur entweihte
historische Vergangenheit gemeint, analytisch gesehen,
handelt es sich aber um eine Vergangenheit der individu-
ellen psychischen Entwicklung. Sind ja die idealen For-
derungen, die das Ich an sich stellt, im ewigen Kon-
flikte mit triebbejahenden Tendenzen und mit der Not-
wendigkeit zur Realitätsanpassung. Ihnen, den Healitäts-
angepaßlcn und Triebbcjahondea, wird es zum genuß-
reichen Tnunii)h, das asketische Ich-Ideal durch seine
Karikatur entwertet zu sehen. Diese Entwertung gilt
aber eben glcicherniaüen jener infantilen Vergangenheit.
3) Vgl. Freud: Der Wilz und seine Beziehung zum
Unbewußten. „Don Quijole ist ursprünglich eine rein
komische Figur, ein großes Kind, drin die Phantasien
senier Ritterbücher zu Kopfe gestiegen sind. Es ist be-
kannt, daß der Dichter anfangs nichts anderes mit ihm
wollte, und daß das Geschöpf allmählich weit über die
ersten Absichlen des Schönlcrs hinauswuchs. Nachdem
aber der Dichter diese lächerliche Person mit der tief-
sten Weisheit und den edelsten Absichten ausgestattet
und sie zum symbolischen Vertreter eines Idealismus
gemacht hat, der an die Verwirklichung seiner Ziele
glaubt, Pflichten ernst und Versprechen wortlich nimmt,
hört diese Person auf, komisch zu wirken." (Ges. Sehr.
Bd. IX, S. 261.)
158
t
I«
i
in der das Kind sich im Besitze aller Vollkommen-
heilen dünkte, wie auch jener Vergangenheit, in der das
spätere Ich-Ideal an dem vollkommensten aller Wesen
— dem Vater — gebildet wurde. Entpuppt sich ja diese
Welt des Kindes, in der es an den gottähnlichen Vater
glaubt, als trügerisch, sobald das Kind im Kampfe
mit den eigenen Sexualstrebungen die Sexualität des
Vaters entdeckt und damit dessen Idealisierung aufgibt.
In dieser Deutung ist der Don Quijote eine anachronisti-j
sehe Karikatur des Vaters aus der unsexuellen Vorzeit
des Kindes, in der er, für sich triehbejahend, dem Kinde
die Askese aufzwingt.
Jede Entwertung des Vaters fließt bekannterweise
in den großen Strom der Kastrationswünsche, die ge-
gen jenen gerichtet sind. Und so ist es nicht verwunder-
lich, daß schon die äußere Gestalt Don Quijotes einem
Traumsymbol gleicht, in dem die hager-langgezogene
Figur den kastrierten Phallus darstellt. i«««^»««*«»**''
Doch auch in Don Quijotes Antithese Sancho Pansa
sehe ich die spöttisch-kastrierte Vaterfigur, und zwar
aus jener späteren Zeit, in der die väterlichen Forderun-
gen an den Sohn nicht mehr idealer Natur sind, aber
von ihm die nutzbringende Realitätsanpassung verlan-
gen. In der nach Idealen suchenden Knabenzeit pflegt
doch der Vater das Gepräge des satten, dicken, unge-
fährlichen, impotenten Philisters zu tragen.
Sicht diesem Vater aber nicht jene Mutter zur Seite,
der stets nur die Ideale zugänglich sind, in denen sie,
mit ihm sich unkritisch identifizierend, den treuen Glau-
ben an seine Herrlichkeit hat, die aber doch immer —
aus dem mütterlichen Instinkt — die grobe, nutzbrin-
gende Realität scharf im Auge behält? Der oral stark
betonte Sancho Pansa, das dicke, fressende und näh-
rende Prinzip des Epos, der anhängliche Geselle, der in
rührend-niüUerlicher Weise um die exkretorischen Vor-
gänge Don Quijotes bemüht ist, seheint mir auch eine
zärtlich-humorvolle Verspottung der Mutter zu sein.
159
Jedem das Seine: dem Donqnijotcsken Don Quijotes
idealer Kampf ge^en die aus Windtmlhlcn bestehende
Uiinvoll, dem Realisten der cnlwerleiulc Triumph des
Kariliaturalcu und allen zusammen ein Stück genuß-
reicher Erlediguuf^ infantiler Verganfrenheilenl Das ist
die Unslerblichkeil Don Quijotes.
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Lt. Col. C. D. Daly
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Bemerkungen über Falstaff
Von Franz Alexander, Chigago
Nach einem am 8. April 1933 im Institut
für Psychoanalyse in Chicago gehaltenen
Vortrag, der zuerst in „The Psychoanalyiic
Quarterly'\ Vol. //, i9SS, p. 592 ff. zum Ab-
druck gelangt ist. Übertragen von Walter Eck.
Eine Methode, die Eigenart der Menschennatur zu er-
forschen, kann nicht zu verläßUchen Ergebnissen füh-
ren: es ist die, Menschen über ihre eigene Persönlich-
keit zu befragen. Und dennoch setzen viele ernsthafte
Psychologen und Soziologen noch immer in diese Me-
thode Vertrauen und wenden sie an, indem sie Frage-
bogen an Tausende von einzelnen Menschen versenden.
Der Soziologe, der diese Methode anwendet, um das Vor-
handensein bestimmter psychologischer Züge in Grup-
pen von Menschen nachzuweisen, kennt den elemen-
tarsten Charakterzug der menschlichen Natur nicht:
er besteht darin, daß die Menschen sich selbst nicht
kennen. Wir dürfen hoffen, daß die Handlungen der
Menschen charakteristischer für sie sind als ihre Mei-
nungen über sich. Handlungen sind in der Tat verläß-
Ucher als Worte, und Fragebogen, die sich auf das Ver-
halten beziehen, würden — wenn es eine Gewähr für
die Richtigkeit der Antworten gäbe — interessantere
Ergebnisse Uefern. Andererseits aber enthüllt die Be-
obachtung des manifesten Verhaltens selbst nicht die
wirkliche Vorliebe des Menschen; denn zu einem gro-
ßen Teil verhalten sich Menschen nicht, wie sie sich
eigentlich verhalten möchten, sondern so, wie man es
von ihnen erwartet. Der einzige Weg, um über die Na-
tur des Menschen etwas zu erfahren, mag theoretisch
der sein, Leute — sagen wir für die Zeit eines Jahres
— auf den Analysier-Diwan zu legen, um in der ana-
lytischen Situation verläßliche Auskünfte zu sammeln;
11 Almanach 1935 jgl
aber unglücklicherweise kann man nicht die ganze
Menschheit auf den Analysier-Diwan verpflanzen und
die Grenzen, die der Anwcndnn-* dieser Methode gesetzt
sind, sind wohlbekannt. Es ^il)[ jt-docfi imnicrhin eine Si-
tuation, in der Menschen ihr innerstes Kühlen deutlicher
als durch Worte oder Handlungen kundgeben; dann,
wenn sie einer Thcateraufführunjf beiwohnen oder ein
Buch lesen. Wenn wir verzeichnen würden, was Men-
schen während einer Theatcraullührung oder während
der Lektüre eines IJuches empfinden, würden wir vieles
über ihre intimsten Eigenschaften erfahren. Der Leser
eines Huchcs und der Zuschauer eines Schauspiels kann
für das, was er fühlt, nicht verantwortlich gemacht
werden. Wenn er Sympathie fühlt für den ungetreuen
Ehemann, der ertappt wird, ist nicht er es, der seiner
Frau untreu ist. Wenn er sich darüber freut, daß Char-
lie Chaplin eine wohlbeleibte Dame mit einer Nadel
sticht, ist nicht er der böse Junge; und wenn er sich
mit dem Helden identisch fühlt, der in eine gefährliche
Lage geraten ist, ist nicht er feige. Er ist nicht verant-
wortlicli für das, was auf der liühne vorgeht, l^ann sich
ohne Schaden freuen und den verschiedenen Neigun-
gen seiner Persönlichlicit nachgcl>en, ohne sich einer
Kritik auszusetzen. Nicht einmal sein eigenes Ich kann
ihn kritisieren, da er das Schauspiel ja nicht verfaßt
hat und — was noch bedeutsamer ist — niemand ist
imstande, sich selbst darüber genau Rechenschaft ab-
zulegen, was er als Zuschauer eines Schauspiels genießt:
warum er im Theater lacht oder weint. Die dem Ver-
halten zugrundeliegenden psychischen Vorgänge sind zu
einem guten Teil unbewußt.
So scheint es, daß wir, könnten wir die Reaktion der
Menschen auf verschiedene Werke der Kunst und Lite-
ratur eindeutig feststellen, eine Methode besäßen, Mas-
senexperimente auszuführen, die uns Angaben von all-
gemeiner Redeulung über die menschüche Natur zu
liefern vermöchten. Es ließen sich etwa folgende Pro-
162
blemc formulieren: Warum liebt man es, Charlie Chaplin
zu sehen? Was erklärt die große Wirkung von Shake-
speares Hamlet? Warum liebt man es, von den Lügen
des Barons MOnchhausen zu lesen? Was ist so faszinie-
rend an der tragikomischen Geschichte des geisteskran-
ken Don Quijote? Leider Ließe sich nun die Liste der
populären liierarischen Charakterbilder, die auf die Men-
schen allgemein von Wirkung sind, da sie ihren ver-
schiedenen seelischen Bedürfnissen entgegenkommen,
beinahe ins Unendliche fortsetzen und angesichts dieses
langen Verzeichnisses schwindet unsere Hoffnung da-
hin, jemals auf Grund dieser Methode ein vollständiges
Bild der allgemeinen Züge der menschlichen Natur
gewinnen zu können.
Einer der populärsten Charaktere der Weltliteratur
ist Sir John Falstaff, der feige, fette und prahlerische
Trunkenbold, eine der Hauptfiguren in Shakespeares
Heinrich IV. Falstaffs Popularität in der Zeit der
Königin Elisabeth ist dadurch gesichert, daß Heinrich
IV. CS vor der Folio-Ausgabe auf fünf Auflagen brachte
und CS darf angemerkt werden, daß, während im ersten
Teil des Schauspiels die Falstaff-Szenen und die Szenen
am Königshof etwa gleichmäßig verteilt sind, in dem
vermutlich ein Jahr später verfaßten zweiten Teil die
Falstaff-Szenen zahlreicher sind und gegenüber denen
am Königshof bei weitem überwiegen. Fallstaff war
ein so anziehender Charakter, daß Königin Elisabeth
Shakespeare den Auftrag gab, ihm ein anderes Stück
zu widmen; und auf diesen Auftrag der Königin hin
schrieb Shakespeare „Die Lustigen Weiber von
W i n d s o r". VermulUch würden alle Literaturhistori-
ker Bernhard Alexanders Meinung teilen, der in
einer seiner Studien über Shakespeare darauf hinweist,
daß der Falstaff aus den „Lustigen Weibern" dem Ori-
ginal des Falstaff in Heinrich IV. nur von ungefähr
ähnelt. Wir dürfen daher für unsere Zwecke den Fal-
staff der „Lustigen Weiber*' außer acht lassen und uns
u*
165
ausschließlich mit dem IJekU'ii des ersten und zweiten
Teils von Heinrich IV. befassen.
Was ist der besondere Heiz dieser Masse von Fett,
dieses feigen, prahlerischen und f^eschwälzigcn Ritters,
dieses Trunkenbolds und Leckcrmituls, der nicht ein-
mal besonders witzig ist. Heinrich IV. hat nicht einen,
sondern zwei Helden. Den Eindruck, den Falstaff
macht, kann man nur aus seiner Verbindunft mit seinem
Kumpan, dem Prinzen, verstehen. Prinz Heinz zieht mit
Falstaffs berüchtigter Bande umher, deren wichtigste
Beschäftigung im Leben Trinken und Abenteuer sind.
Sie sind nicht richtige Uandilen, — dazu sind sie zu feig,
— aber gelegentlich, wenn sie Geld zum Trinken brau-
chen, ist es nicht unter ihrer Würde, Kaufloutc auf der
Straße zu überfallen. In einer der Falstaff-Szencn betei-
hgt sich Prinz Heinz sell)er an einem Oberfall. So
beginnt er seine Laufbahn unter ungünstigen Auspizien.
Er ist ein chronischer Tunichtgut zu einer Zeit, da Eng-
land einen starken Thronerben braucht. Die Feudal-
herren stehen in offener Rebellion gegen Konig Hein-
rich, der mit ihrer Hilfe den Thron usurpiert hatte und
sie beschuldigen ihn nun, daß or seine Versprechen ge-
brochen und seine Macht mißbraucht habe. Die ge-
schichtliche Rcrufung des Prinzen Heinrich war es,
die Rcmühungen seines Vaters fortzusetzen, deren Ziel
es war, die Macht der feudalen Herren herabzusetzen
und England unter einem starken Monarchen zu einigen.
Am Ende löst der Prinz auch seine geschichtliche Auf-
gabe. Unter Heinrich V. ist die partikularistische feu-
dale Struktur Englands in die einer zentralislischen
Monarchie umgewandelt worden und Englands inter-
nationale Rcdeutung beginnt in seiner Regierungszeit.
In der Schlacht von Azincourt eroberte Heinrich V.
Frankreich und wurde einer der mächtigsten Könige
von England.
Shakespeare benutzt diesen Abschnitt englischer Ge-
schichte für ein wohlbekanntes dramatisches Motiv. Der
164
böse Junge, der zuerst sorgfällLg alle Hoffnungen, die
man in seine Zukunft gesetzt hatte, zerstört hat, zeigt
sich am Ende von seiner guten Seite. Die Volkstümlich-
keit dieses Motivs ist leicht zu verstehen. Jeder hat
Augenblicke erlebt, in denen er, im Kampf darum, sich
seinen Idealen anzunähern, den feierlichen Entschluß
gefaßt hat, ein neues Leben zu beginnen, und diese
Hoffnung wird nie ganz aufgegeben und wird sicherlich
neu belebt, wenn dem Helden auf der Bühne das ge-
lingt, woran wir gescheitert sind. Prinz Heinrich ver-
mag es zweifellos, die ungünstigen Erwartungen zu
widerlegen, die seine Person betreffen. In einem dra-
matischen Zweikampf tötet er den berühmten Heinrich
Percy, genannt Heißsporn, ein Ideal männlicher Tu-
genden, den edlen und heldenhaften Führer der ver-
schworenen Lords, der ihm stets als ein Beispiel von
Tüchtigkeit gegenübergestellt worden war. Heißsporn
war der entschiedenste unter des Königs Feinden, un-
beugsam entschlossen, die angebliche Mißhandlung sei-
nes besten Freundes Mortimer zu rächen. Prinz Hein-
rich hat am Ende des Stückes das unzweifelhafte Ver-
dienst, den Thron seines Vaters gerettet zu haben.
An der gleichen Schlacht nimmt — freilich unfrei-
willig — auch Falstaff teil. In jenem Augenblick, da
Heinrich mit Heißsporn kämpft, trifft Falstaff auf dem
Schlachtfeld auf einen anderen berühmten Krieger, auf
Archibald Earl of Douglas, aber der feige Trunkenbold
stürzt sofort zu Boden und rettet sich, indem er sich
tot stellt. Wir können ihm sogar den kindischen Schwin-
del verzeihen, daß er sich den Leichnam des Heißsporn
auf die Schultern lädt und später behauptet, daß er es
war, der ihn besiegte. Doch ehe er wagt, den Leichnam
zu berühren, durchbohrt er ihn unter Flüchen. Die sym*
bolische Tiefe dieser Episode löst eine tiefe dramati-
sche Wirkung aus. Das von Falstaff vertretene Prinzip
ist mit dem durch Heißsporn verkörperten unvereinbar.
Der kindliche, verantwortungslose „Heroismus" Falstaffs
165
hat keinen größeren Feind als den aufopfernden männ-
lichen Heroismus Heißsporns, der sein schönes junges
Weih verläßt, um für seine Ideale und die l^lire seines
Freundes zu kämpfen.
Wie ist es aher zu erklären, daß unsei-e Sympathie
auch da noch an Falstaff haftet? Im Zentrum des gan-
zen Dramas steht die Verwandhm<f des Prinzen Hein-
rich aus einem hoffnungslosen Tunichtgut in einen
Helden, aber Shakespeare läßt uns immer wieder ein-
sehen, daß dieser Wechsel vom verantwortungslosen
und harmlosen Lebensgenuß zu Verantwortung und
Pflicht kein eindeutiger Gewinn ist. Seine Beschreibung
der Intriguen am Hof, der Parteiungen der Peers, der
Methoden, nach denen die Staatsangelegenheiten erledigt
werden, rückt den Hof in kein sehr günstiges Licht
Man mag mit Recht erwägen, oh nicht Falstaffs Aben-
teuer und Trinkgelage relativ harmlos sind, vcrghchen
mit der hohen Politik seines Landes. Was ist der Stra-
ßenraub der Pandc Falstaffs verglichen mit dem zyni-
schen Verrat eines John Lancastcr, des Königs zweitem
Sohn, der allen Rebellen volle Amnestie vers|)richl für
den Fall, daß sie ihre Armee heimsenden. Im Vertrauen
auf des Königs Versprechen entlassen sie in der Tat
ihre Truppen und werden von Lancastcr gefangengenom-
men und hingerichtet.
Kaum einen „IJabitt" wird es unter den Zuschauern
geben, der nicht an dieser Stelle an dem Wert der Re-
spcktabihtät zu zweifeln beginnen wird. Warum sollte
man die HöfUnge besser beurteilen als diesen naiven
und infantilen fetten Gesellen, als Sir John. Sicherlich
— sie glauben an ihren Kodex der Ethik und sind davon
überzeugt, daß sie höhei'en Zwecken dienen, wenn sie
andere umbringen, aber es fällt schwer, ihixj dünnen
Rationahsierungen zu achten. Falstaff dagegen hat kei-
nen Respekt vor der Staatskunst und dem Kodex der
Fthik der Lords; dafür zeugt seine verachtende Remer-
kung über die Ehre.
166
„...Kann Ehre ein Bein ansetzen? Nein. Oder einen
Arm? Nein. Oder den Schmerz einer Wunde stillen?
Nein. Ehre versieht sich also nicht auf die Chirurgie?
Nein. Was ist Ehre? Ein Wort. Was steckt in dem Wort
Ehre, was ist diese Ehre? Luft. Eine feine Rechnung.
Wer hat sie? Er, der Mittwoch starb. Fühlt er sie? Nein.
Hört er sie? Nein. Ist sie also nicht fühlbar? Für die
Toten nicht. Aber lebt sie nicht etwa mit den Lebenden?
Nein. Warum nicht? Die Verleumdung gibt es nicht
zu. Ich mag sie also nicht. Ehre ist nichts als ein ge-
maller Schild beim Leichenzug : und so endigt mein
Katechismus".
Die doppelte Struktur des Dramas zwingt uns unaus-
gesetzt zwei verschiedene Aspekte des Lebens abwech-
selnd ins Auge zu fassen, die in dauerndem Gegensatz
zu einander stehen. Unser soziales Recht bewundert den
Heroismus Heißsporns und identifiziert sich mit den
patriotischen Ucstrebungen des Königs, aber im näch-
sten Augenblick ist ein anderer Teil unserer Persönlich-
keit nur zu bereit, Falstaffs Lebensphilosophie anzu-
nehmen. Prinz Heinz steht mitten zwischen diesen bei-
den Lebensphilosophien. Sein soziales Selbst gewinnt
immer mehr die Oberhand, aber sogar noch am Ende
des Dramas, nachdem er auf dem Schlachtfeld be-
wiesen hat, daß er die Krone zu seiner und Englands
Ehre tragen werde, drückt er seinen Konflikt aus — und
zwar deulhcher als je zuvor.
König Heinrich, im Todeskampf liegend, die Krone
neben sich auf einem Polster, schläft ein, als Prinz
Heinrich eintritt (Heinrich IV., 2. Teil, 4. Aufzug, 4.
Szene). Der Prinz setzt die Krone auf und ruft aus:
1.
.Weswegen liegt die Krön' auf seinem Kissen,
Die ein so unruhvoller Bettgenoss?
glänzende Zerrültung, goldne Sorge,
Die weit des Schlummers Pforten offen hält
In mancher wachen Xachl! — nun damit schlafen I
Doch so gesund nicht, noch so Ueblich tief
Als der, des Stirn mit grobem Tuch umwunden, '
Die iifichl'ge Zeit verschnarcht."
16'^
Als der ICönifj erwacht und erfährt, daß sein Nach-
folger die Krone weggenommen hat, beschuldigt er
den Sohn, nach Macht zu gelüsten und kaum mehr sei-
nen Tod erwarten zu können; der Prinz aber erklärt:
„Zu Euch hier kommend, denkend, Ihr seid tot,
Und tot bemah', zu denken, daß Ilir's wart,
Sprach ich zur Krön' als hätte sie Gefühl
Und schalt sie so: Die Sorge, so dir anhängt,
Hat meines Vaters Körper aufgezehrt.
Drum bist du, bestes Gold, von Gold das schlech-
teste."
Wir dürfen in der Tat annehmen, daß der Prinz die
Wahrheit spricht. Wir salicn die andere Seite seines
Wesens in seinem ruhelosen Lebensgenuß an Falstaffs
Seile. Seine Veränderung war vornchmUch seinem Pflicht-
gefühl zuzuschreiben und er kann kaum anders, als sei-
nen Hang und seine Stellung als unerwünschte Last an-
sehen. Er ist unter dem Druck seines sozialen Selbst ein
Held geworden und wird ein großer König werden, aber
seine tiefsten Begierden sind durch diesen Wandel
nicht gestillt. Der Monolog mit der Krone in der Hand
zeigt das mit großer Deutlichkeit. Falstaff ist der Ver-
treter der asozialen Antriebe seines Wesens. Es scheint,
daß der Prinz sich auch nach seinem Wandel nicht
ganz vertraut. Er ist unsicher, ob er imstande sein
wird, Versuchungen zu widerstehen und den Zustand
aufrechtzuerhalten, den er mit solcher Mühe erreicht
hat. Warum würde er sonst Falstaff und seine Bande
unter Todesandrohung zehn Meilen weit von seiner
Person verbannen? Daß Falstaff zehn Meilen von des
Königs Person fort verbannt wird, um die Versuchung
zu vermeiden, ist nichts anderes als eine dramatische
Darstellung, dessen, was wir in der Psychoanalyse Ver-
drängung heißen.
Falstaffs Wirkung auf das Publikum wird jetzt ver-
168
stündlich. Er stellt die tiefen infantilen Schichten der
Persönlichkeit dar, den einfachen unschuldigen Wunsch,
zu leben und sich des Lehens zu freuen. Er findet kei-
nen Geschmack an abstrakten Werten, wie Ehre und
Pflicht, er hat keinen Ehrgeiz. Der Mensch ist nur teil-
weise sozial. Ein Teil seiner Persönlichkeit bleibt In-
dividualistisch und erträgt die Einschränkungen des sozi-
alen Lehens nur schwer und gerade diese Einschrän-
kungen mobilisieren, besonders wemi sie so einschnei-
dend sind, daß man sie nicht ertragen kann, alle de-
struktiven Triebe der menschlichen Seele, etwa Unzu-
friedenheit, üble Gesinnung und eine negative Einstel-
lung zur Umgebung. Das ist die Erklärung des Volks-
glaubens, daß Menschen, die gerne gut essen und gut
trinken, — das heißt Menschen, die das Tier in sich mit
Rücksicht behandeln. — freundüch und wenig boshaft
sind. Das Gegenteil gilt von jenen asketischen, sich selbst
einschränkenden Charakteren, die man häufig unter poli-
tischen Fanatikern und den Vertretern sozialer Doktrinen
findet, denen sie ihr Leben opfern. Wie Robespierre,
der fanalische Schulmeister, können sie unter der Maske
des Kampfes für humanitäre Ideale Rache nehmen
für alle Einscliränkungen, die sie sich selbst auferlegt
haben, indem sie ihre Widersacher in Massen vernichten.
Es ist selten schwer, unter der dünnen Oberfläche ihrer
Rationalisierungen ihre wirklichen Motive zu erkennen;
Haß und Rache. Heißsporn gehört ohne Zweifel zur
Kategorie dieser fanatischen Hasser. Der König bietet
ihm volle lierücksichligung aller seiner Beschwerden an,
aber was er sucht, ist Kampf. Die Bedingungen, die er
dem König anbietet, sind unannehmbar und sogar seine
Freunde heißen ihn „trunken von Leidenschaft". Er
kann die Schlacht kaum erwarten:
, . . . könnt ich die Stunden kürzen
Bis Kampf und Streich und Weh das Feld uns
würzen."
169
Heißsporn ist der Exponent der Dcstniklion, einer De-
struktion aber, die nicht aussclilicßlich eigennützigen
Interessen dient, sondern aiicli kollektiven, das heißt
Interessen einer Kaste. Falstaff dagegen ist die Personi-
fikaüon des ausschhrßlich egozentrisch gerichteten Lust-
prinzips. Obgleich er das Gegenbild der Destruktion das
Prinzip der Libido, vertritt, so handelt es sich dabei um
die primitivste Äußerung der Libido, um die ursprüng-
liche, auf das eigene Ich gerichtete nai'zißtischc Libido
des Kindes. ' > • .
Prinz Heinrich muß in seinem Prozeß des Reifens
beide Prinzipien überwinden. Als er Heißsporn auf dem
Schlachtfeld besiegt, überwindet er symbolisch seine
eigenen destruktiven Tendenzen. Denn indem er Heiß-
sporn tötet, den Erzfeind seines Vaters, überwindet er
die eigene gegen den Vater gerichtete Aggression Aber
er muß auch den Falstalf in sich überwinden, um ein
volhg ausgeglichener Erwachsener zu werden. In der
Geschichte von Prinz Heinzens Charaklerveränderung
beschreibt Shakespeare <lramalisch den charakteristi-
schen Entwicklungsablauf beim Manne. Zwei verschie-
dene affektive Probleme muß jeder im Lauf dieser Ent-
Wicklung bewältigen; Das erste hctriHt die Fixierung
an frühe prägcnitale Formen des Triel)lebens, die sich
in oraler Au fnahmeberei tschaft und narzißtischer Selbst-
verherrlichung äußert. Der alte Knabe Sir John Falstaff
ist eine meisterhafte Dramatisierung einer solchen frü-
Iien affektiven Hallung. Die zweite Schwicriglicit die
überwunden werden muß, bciriflt Haß und Neid die
dem Vater gelten. Heißsporn, der Hcbell, der dem König
nach dem Lehen strebt, ist die Personifikation dieser
vatermörderischen Tendenzen. Im Schauspiel finden
diese inneren Prozesse einen veräußerUchten drama-
Uschcii Ausdruck. Nachdem Prinz Heinrich diese bei-
den mneren - im Drama äußeren - Feinde überwun-
den hat, wird er ein idealer König.
Beruhard Alexander gelaugl in <'inom Essay, in dem
170
er versuchl, Shakespeares Entwicklung auf Grund sei-
ner Theaterslücke und der wenigen historischen Fak-
ten, die den Dichter l)ctreffen, zu rekonstruieren, zu dem
Schlüsse, daß Prinz Heinrich die eine unter allen Hel-
dengestalten des Dichters ist, durch die Shakespeare
am unmiltelharstcn seiner eigenen Persönlichkeit Aus-
druck zu leihen suchte. Aber er sieht in Falstaff den
anderen Pol der Persönlichkeit Shakespeares.
Nahe dem Hölupunkt seiner Produktivität schrieb
er"„Heinrich den Vierten" und „Wie es Euch gefällt".
Seine Heiterkeit begann damals in Ernst umzuschlagen,
als ob er einer clücklichen Periode seines Lebens
einen Abschiedscruß bieten wollte. Ich habe Heinrich
IV. zu wiederholten Malen gelesen und aulgeführt ge-
sehen und habe oft versucht, zu entdecken, was an Prinz
Heinz so bezaubernd sei, warum er uns so nahe steht,
warum wir ihn so gut verstehen, ihn so sehr heben. Ich
kann mich von dem Gedanken nicht befreien, daß
Shakespeare viel von sich selbst in diese Gestalt einge-
fügt hat, vermutlich unbewußtermaßen, da er in das In-
kognito Vertrauen hatte, das die Erscheinung eines
Königs zu verbergen schien. So oft ich Prinz Hemz sah,
sagte ich mir. das ist Shakespeare selbst — mehr als
eine andere seiner Gestallen. Ich denke dabei natürlich
nicht an seine Lebcnsgeschichle, sondern an die ent-
scheidenden Züge seines Charakters. Heinrich ist eine
überlegene Persönlichkeit; er wagt es, sich dem Leben
hinzugehen, sich Icichlen Helusligungen, ja auch schlech-
ter Gesellschaft zuzuwenden, denn er ist sicher, stets
zurückzufinden. Niemand kennt ihn wirklich, am aller-
wenigsten sein Vater. Aber wir kennen ihn und wir
vertrauen ihm. Warum schfimt er sich nicht, mit einem
Falstaff umherzuziehen? Man soll nicht verächtlich von
Falstaff sprechen. Auf seine Art ist auch er eine über-
legene Persönlichkeit, nicht etwa bloß der alte ,miles
gloriosus" (von diesem ist nur ein Teilchen in ihm),
sondern eine viel universellere Gestalt, die Personifizie-
rung der selbstvergessenen Freude am Leben, an Unter-
haltung un<l loser Stimmung, der andere Pol der Men-
schennatur, der einzige witzige Held uneingeschränkter
Orgien. Der Prinz versteht Falstaff besser als irgend
jemand sonst, weil etwas Faistaffisches in ihm ist. Aber
die falslaffischen Elemente bilden in der Persönlichkeil
des Prinzen nur eine Episode, die er zu überwinden
171
hat: sie gehörl zum Schatze dieser PersönüchkeU der
nichls Menschliches fremd sein sollte." ')
„Am Anfang von Heinrich dem Künflen erfahren wir
von l^alstaffs Tod. Mit einem nachdenklichen Lächeln
gedenken wir seiner. Mit der Trockenlegunö von Sumpf,
land schwindet viel Romantik dahin und das ist das
iichicksal dieser Art von Romantik. Faislaffs Ilinnor ist
episodisch, nicht von dauernder Art; der Frohsinn einer
iNaclit, ein helles Aullachen, nach dem unsere Seele
wie unser Anlhlz traurig sind. Der König ist tot Lang
lebe der konig. Wilstaff ist tot und die Ilerrschaft del
Verstandes hat seine Stelle angenommen... Al)er es wäre
nicht ganz korrekt, zu behaupten, daß es in Shake-
speare einen Falslaff und einen Prinzen gäbe, denn in
Ihm ist das falstaffische Element mehr ein Erlebnis
als ein konstitutiver Teil der PersönUchkeit " 2)
P„f i^^Zn^'^xxT "^P^'J ^l»weilen mit Neid und Sehnsucht
auf talstall? Wer hat nichts von Falstaff in sich selbst?
Wer wurde nicht von Zeit zu Zeit wünschen, wie er zu
leben, sich selbst zu sonnen, sich gehen zu lassen, sei-
en eigenen ul>erschüssigen Energien die Zügel schie-
ßen zu lassen, die Ketten der Welt abzuwerfen" den Be-
ruf Sorgen und Lebensarbeit zu vergessen. Wir wachen
Iruh genug auf und sehen ein, daß das so schwieric
auszufuhren ist und da kommt uns t'alslaff zu Hilfe
üs gibt keinen besseren Mentor zu diesem Zwecke." 3)
Heim Versuch, Shakespeares Pcrsonhchkeit zu rekon-
struieren, schi-eibt Bernhard Alexander:
„Sicherlich vermochle er es, sich sehr zu unterhalten
Die Angaben der „Mcrmaid Tavern'' sind verläßlich
Das war das Gasthaus der Literaten, das Heim der Auto
ren und Schauspieler; dort feierten sie ihre Trink.
Orgien. Es ist ebenso unmögUch, Falstaff zu erfinden
wie im auf Grund reiner Reol)uchtung von außen zu
schal en. Falstalt lebte in Sliakespeare wie ShSeare
in Falslaff lebt. Obgleich Falstaif eine unabhänS
sonhchkeit wurde, ist er doch die Projektion von dem
was als schnell vorübergehender Ausbruch aufgehäufter
Spannungen in Shakespeare lebte.
FrlkUiTÄ. Vagall*"''' Shakespeare, Budapest,
') L. c. S. 161. ■ , ■■'■ "'
») L. c. S. 197.
172
Vielleicht war Shakespeare dem Prinzen Heinz noch
ähnlicher. Eine j^rolio Knahcnhafligkeit war in ihm, aber
auch hoher lirnst."*)
Es ist interessanl,daßderI.iteraturforscher vor Freud
geneigt war, die falslaffischen Elemente eher als Aus-
brüche zeitweiliger Spannungen anzusehen, als als dau-
ernde und integrierende Teile der Persönlichkeil. Nach
unserer Analyse sind wir geneigt, zu sagen, daß Shake-
speare im Prinzen Heinrich wenn nicht den Ausdruck
seines wirklichen Selbst, so doch den höchst ideali-
sierten Ausdruck seiner eigenen Persönlichkeit, mit ande-
ren Worten den erfolgreichsten Versuch einer Lösung
seiner inneren Probleme geboten hat. Sein Vaterkomples
fand in Hamlet eine neurotische Lösung. Hamlet kann
sich nicht entschließen, den Geliebten seiner Mutter zu
löten — aus unhewiißlcm Haß gegen den Vater.
In der Kronen-Szene in Heinrich IV. ist die Selbst-
krönung des Prinzen nicht mehr eine einfache Odipus-
tat, sondern ein echtes Opfer.
Das Erl)cn der vfiterlichen Machtstellung bedeutet
nicht die Befriedigung eines Wunsches — eher eine
Pflicht, die der Prinz tatsächlich ehrlich erfüllen will,
die ihm aber keine Begeisterung einflößt. Es liegt Auf-
richtigkeit darin, daß er die Krone „Das Übergold"
nennt
Aber Heinrich IV. ist nicht nur eine dramatische
Lösung von Shakespeares Odipus-Problem; daneben ist
es vielleicht noch mehr ein Versuch, sein Falstaff-Pro-
blem zu lösen. Das aber scheint schwieriger zu sein.
Der König verbannt Falstaff. aber Shakespeare ver-
sj^richl im Epilog des Dramas den Führern die Wieder-
auferstohinig dieser Seite seines Selbst, auf die er offen-
bar nicht so leicht verzichten kann.
„Noch ein Wort mögt ihr mir gestatten. Wenn ihr
nicht allzusehr von fettem Fleisch übersättigt seid, so
denkt unser er^el)ener Verfasser, die Geschichte fort-
*) L. c. S. 409.
173
deft^höiZ' k'J '"" ^'' ■^''}}'' *^^^'''"' "'^d euch mit
aer schonen Kallianna von Kraiikroich zu (.'rmM/en-
zeTVel l^''-'f^ wei(i Falslatr sich zu TodcÄu:
Nach der Tradition war es die Königin, die Shake-
speare den Auftrag gab, ein neues Stück mil Falstaff
als Hauptfigur zu schreiben. Aber es schcinl, daß Shake-
speare bereit war, auch ohne Ans(oß von außen, Falslaff
wieder zu beleben. Es scheint schwieriger zu sein auf
die Falslaffsche Seile der nuMiscIiIidien Natur zu' ver-
zichten, als auf alles andere. Ist es überhaupt mu"]ich?
Sie stellt die tiefste Seite der menschlichen Natur dar
das Prinzip des Eros in seiner ursprüngUchslen Form'
als Narzißmus. '
Der unzerstörbare Narzißmus Falslaffs, der durch
nichts erschüllerl zu werden vermag, ist der stärkste
Faktor in seiner Wirkimg auf uns. Diese Selbstzufrieden-
heit ist nicht störend und herausfordernd, da keine
Sophisterei in ihr ist, und wir fühlen, daß Falstaff nicht
ernsthaft an alle seine angeblichen Verdienste glaubt
Er ist kindisch und offenherzig; es gibt keine psycho-
logische Situation, gleichviel wie degradierend sie für
Falstaff sein mag, aus der er sich nicht losmachen
kann, aus der er nicht mil unerscbüttiTler Selbstein-
schälzung hervorgeht. Nach dem Straßenraub verkleiden
sich der Prinz und MilgUeder von Falslaffs Bande und
greifen Falstaff und den Rest der liande an und nehmen
ihnen ihr Geld ab. Falstaff läßt das Geld im Stich und
lauft um sein Leben. Aber als der Prinz ih.i wc«en sei-
nes feigen Verhaltens und seiner angeblichen Helden-
taten aufzieht, hat Falstafr eine Antworl zur Hand:
„Beim Himmel, ich kannte Euch so gut wie der der
kam\f'"i;,'^' .*^^^l- '^'^l ^^■^''? -'^'-/-eino Freunde:
Kam es mir zu, den Ilirouerben umzubringen? Sollte
ich nuch gegen den echten Prinzen aunehnen?"
Diese primitive Art zu lügen und dieser unI>cdcnkUche
Gebrauch jeder Methode, die geeignet ist, den Schein
174
zu wahren, diese MenlalitAt eines drei oder vier Jahre
alten Kindes im Körper des feiten allen Mannes, dieses
ungeslorte Vertrauen in die eigene Vollkommenheit hat
etwas außerordentlich Erfrischendes an sich. Natürlich
weiß Falstaff gleichzeitig, daß sein angeblicher Mut,
seine Tugenden und seine Vollkommenheit phantasiert
sind, aber seine Stärke ist gerade darin gelegen, daß die
Phantasie die Stelle der Wirklichkeit einnehmen kann.
Die Wirkung Charlie Chaplins ist in dieser Hinsicht
der des Falstaff sehr ähnlich. Ein günstiges Geschick
hilft Charlie Chaplin über alle Art äußerer Hinder-
nisse hinweg. Das Kind in uns klatscht ihm Beifall,
das Kind, das nur einen Grundsatz kennt: zu leben,
und das äußere Hindernisse anzuerkennen nicht ge-
neigt ist. Da das Kind aber faktisch außerstande ist,
irgendwelche äußere Einflüsse zu überwinden, nimmt es
seine Zuflucht zu phantastischer, größenwahnsinniger
Selbsttäuschung. Die Verbindung dieser kindlichen Hal-
tung mit der stillen Einsicht in ihren phantastischen
Charakter bildet das Geheimnis des nie fehlenden
Reizes dieser l'iguren. Der naive Narzißmus des Kindes
an einem Erwachsenen wirkt unleidlich. Aber wenn sich
mit der kecken Selbstgefälligkeit Einsicht verbindet und
die Hingabe an das kindliche Verhallen den Charakter
des Spiels annimmt, ist unsere Verzeihung sofort ge-
sichert und unser Vergnügen ist frei von jeder Ein-
mischung der höheren kritischen Schichten unseres Ichs.
Dieses höhere Verständnis und diese verzeihende Hal-
lung sich selbst gegenüber ist — wie Freud gezeigt hat
— grundlegend für jenes Phänomen, welches wir „Hu-
mor" nennen. Aber Falstaffs Selbslzufriedenheit ist ein
Stück offener und infantiler als die höhere selbstver-
sprechendc Haltung im eigentlichen Humor. Sie ist roher
als was wir gemeinhin Humor nennen und wir nehmen
keinen Anstoß an ihr nur wegen des Gegensatzes zwi-
schen der Hallung Falslaffs, dem destruktiven Herois-
mus des Prinzen und Heucheleien des Hofs. Wenn Fal-
175
staff die nauptfij^iir tios Dramas wäre, könnten wir
uns an dieser dramalischon Art von Humor nicht so
ungestört erfreuen und in den „I^ustigen Weihern von
Windsor", wo Falstaff die führende Gestall ist, ist sehie
Wirkung in der Tat weniger künstlerisch.
Der narzißtische Kern der menschlichen PersönUch-
keit, den Falslaff uns darstellt, macht es verständlich,
daß Shakespeare den Fulslaff dreimal wieder auferste-
hen heß: Falstaff, der auf dem Hoden des Schlachtfel-
des liegt, steht wohlbehalten auf, als sein Freund ver-
schwindet, Falstaff wird am Ende des Dramas verbannt,
aber Shakespeare belebt ihn in dem Epilog von neuem;
er wird nochmals in Heinrich V. erwähnt, uud obgleich
er in diesem Stück endgültig stirbt, ist doch nicht alles
zu Ende. In den „Lustigen Weibern" ist er ueu aufer-
standen.
Es gibt ein Experiment der Natur, nach welchem bio-
logisch getrennte Individuen imstande zu sein scheinen,
auf ihre Individualität in einer einzigartigen Weise zu
verzichten. Das ist der mysteriöse Staat der Termiten.
Diese kleinen, weichen, ameisenartigen Lebewesen le-
ben in einem Nest aus solider Substanz, die nur Dyna-
mit zerstören kann. Sie besitzen eine vollkommene sozi-
ale Organisation. Außer der Königin gibt es drei anato-
misch differenzierte Typen von Termiten: die arbeiten-
den, die kämpfenden und die sexuell tätigen. Die Arbei-
ter und Soldaten haben keinerlei Sexualleben. Das Da-
sein dieser Lebewesen verläuft mit mathematischer Prä-
zision.
Wenn es ihren Feinden, den Ameisen, gelingt, in ein
Nest einzubrechen, erscheinen die Soldaten an der Ein-
bruchstelle und nehmen den Kampf auf. Der I.cib der
Soldaten besteht hauptsächlich aus schrecklichen Kie-
fern, die sich aulomalisch öffnen und schließen. Andere
Soldaten haben Drüsen, die sie wie Maschinengewehre
verwenden; sie spritzen eine Flüssigkeit aus, die die
Feinde vernichtet. Während des Kampfes bauen die
176
Arbeiter im Rücken ihrer eigenen Soldaten eine neue
Mauer auf. So sind die Krieger zum Tode verurleill.
Ihre Aufgabe ist es, zu kämpfen und die Feinde zurück-
zuhalten, bis die Arbeiter Zeit hatten, die neue Befesti-
gung zu schaffen.
Die Mitglieder dieses Staates sind voneinander durch-
aus — auch biologisch — abhängig. Die Soldaten etwa
müssen durch die Körperausscheidungen der Arbeiter
ernährt werden; sie können sich nicht selbst ,, erhal-
ten". Man kann die Termiten kaum für unabhängige
Individuen halten; sie stellen eine Obergansform zwi-
schen Zellen und individuellen biologischen Einhei-
ten dar.
Einmal im Jahr, im Frühling, schwärmen die sexuell
Tätigen aus dem Nest aus. Nachdem sie das Nest zum
Hochzeitsflug verlassen haben, haben sie nur mehr
wenige Stunden zu leben; sie fallen zur Erde und ster-
ben. Man nimmt an, daß die Befruchtung stattfindet,
wenn zufällig zwei schwärmende Gruppen, die zu ver-
schiedenen Nestern gehören, einander im Flug treffen.
Zur Zeit des Hochzeitsfluges kann man im Nest große
Erregung beobachten. Alle Krieger und Arbeiter nehmen
an einem rhythmischen Tanz teil, einer Art von Hin-
und Herbewegung. Das stellt den Rest des Sexual-
lebens der asexuellen Typen dar.
Der Hochzeitsflug und dieser zeremonielle Tanz dür-
fen daher als ein gemeinsamer SexualgenuB der ganzen
Gruppe angeschen werden, die eigentliche Sexualität
aber ist das Vorrecht einer relativ bescheidenen Kaste.
Hier haben wir das Beispiel einer vollkommenen
sozialen Organisation, bei der die Individuen kein Privat-
leben haben und alle ihre Funktionen und Energien dem
Staate dienen. Hier ist eine Gemeinschaft, in der der
Staat nicht dem Wohlergehen der Individuen gilt, aber
die Individuen für den Staat leben, der eine höhere
biologische Einheit zu bilden scheint, vergleichbar dem
menschlichen Körper, in welchem die einzelnen Zellen
12 Almanacb 1935
177
kein EiRciilebeii Iial)en, sondorn voiicinuuder abhängen
und für das Wohl des ganzen Körpers arbeiten.
Ist das die Zukunft der Mcnsc^Iieiiarl, die anscheinend
in sleifjendem Maße meehanisierler sozialer Organisation
zutreibt? Der Staat der Tcnniton orsclicint uns als
grauenliafter Alpdruck. Von diesem Alpdruck befreit
uns Falstaff, die Apolheosc des sclbstgenügsamcn, sorg-
losen Individuums. Solange wir ihm zujubeln und ihn
wieder und immer wieder zu sehen verlangen und von
unseren Dichtern erwarten, daß sie ihn immer neu
schaffen, in tausend verschiedenen Arten, sind wir vor
dem Schicksal der Tennilen geschützt. Unser Rcifall
zeigt, daß jener Teil unserer Persönlichkeit, der für die
Souveränität des Individuums eintritt, noch stärker ist
als unser Drang zum Kollektiv. Er ist schwer, anzu-
geben, ob die dynamische Struktur der menschlichen
PersönUchkcit im Hegriffe ist, sich in der Uichtung auf
einen stärker kollektiven Typus Mensch hin zu ver-
ändern, aber wir dürfen uns mit der Einsicht trösten,
daß, wenn die kollektiven Kräfle die Oberhand in uns
gewinnen sollten, wir den Verlust der Souveränität des
Individuums nicht beklagen werden, da wir aufgehört
haben werden, zu verstehen, was sie bedeutet.
Ich hatte einmaldie Gelegenheit, Freud um seine Mei-
nung über die möglichen kollektiven Kräfte der mensch-
Uchen NaUir zu befragen. Ich erwähnlc das Heispiel
des Termilenstaates. Ich kann seine Antwort nicht wört-
lich anführen, aber ihr Inhalt war etwa der folgende:
Die Termiten gehören wohl zu den schwächsten bio-
logischen Lebewesen. Sogar die Ameisen, die einen har-
ten, gepanzerten Leib haben, können diese weichen
und hilflosen Geschöpfe zerstören. Die äußere Gefahr
ist die Kraft, die die Lebewesen zwingt, kollektive
Organisalionsformen anzunehmen; gegonseiligc Hilfe und
Arbeitsleilung beiähigcn sie, die Gefahr zu überwinden.
Warum sohle der Mensch, der sich für die Krone
der Schöpfung hält, der unter den Lebewesen keinen
178
ä
ernsthaften Feind hat, — außer seinen Mitmenschen, ~~
sich einem ähnlichen Verzicht auf seine Individualität
unterwerfen? Der Mensch l)esteht aus Zellen, die auf
ihre individuelle Unabhängigkeit zu Gunsten des Ganzen
schon ganz verzichtet haben. Diese neue, höhere Einheit,
der zusammengesetzte menschliche Zellenstaat, scheint
ein so erfolgreiches Experiment der Natur zu sein,
daß Hoffnung besteht, daß es imstande sein wird, min-
destens bis zu einem gewissen Grad die Unabhängigkeit
des Menschen zu verbürgen und ihm zu erlauben, dem
Schicksal der Termiten zu entgehen.
12*
179
Das magische Denken bei den Primitiven
Von Marie Bonaparte, Paris
i
Anfang t9M bat die „Reime fran^aisc de
Psi/chanalfise" ein Heft dem Gegenstande
„La pcns('e magi<fiie" gewidmet ; es enthält
u. a. Arliciten von hfarie Jionaparte,
H. Laforgue, G. Lenba, U. Codet Wir
bringen im Nachfolgenden Auszüge aus den
Arbeiten von M. Bonapartc („La pensäe ma-
giqiie rhcz le primifif') und H. Codet („La
pensöe magirpie dans Ja vie qnotidienne") in
deutscher Übersetzung von Georg Hoppe.
Nur mit einer gewissen Sehen eröffne ich unsere heu-
lige Vortragsreihe über die Magic. Wir behandeln damit
eines der ausgedehn losten Gcl)ictc, die es gibt; die Magie
ist nichts weniger als eine der ersten Weltanschauungen,
die sich die Menschen geschaffen haben.
Vorerst mochte ich Ihnen einige konkrete Beispiele
von Magie geben, die ich dem berühmten Werke Kra-
zers „The golden Üough'* entnehme.
„Die gebräuchlichste Anwenthmg des Gedankens der
Induktion durch Ähnliches findel sich /weilellos in
den allenthalben und zu allen Zeiten gemachleti Ver-
suchen, einen Feind dadurch zu verletzen oder zu ver-
nichten, daß man sein Hild verletzt oder vernichtet. Man
tut dies in der Oberzeugung, daß das dem Hilde zuge-
fügte T>eid über die Person selbst dieses I^eid bringt und
daß die Vernichtung des einen dan Tod des andern her-
beiführe. Einige, aus einer großen Anzahl ausgewählte
Heispiele werden vielleicht zeigen, wie weit dieser Hrauch
auf der ganzen Welt verbreitet ist und mit welch merk-
würdiger Heharrlichkeit er sicli durch die Zeitalter fort-
setzt. Vor Jahrtausenden war er den Zaubeix^rn Alt-
Indiens, Babylons und Ägyptens ebenso bekannt, wie de-
nen der klassischen Zeit Griechenlands und Roms und
auch heute noch greifen bösartige australische und
afrikanische Wilde und .sogar schottische Zauberer dar-
auf zurück. Die Indianer Nordamerikas glauben, maii
brauche nur die Umrisse einer Person in Sand, Asche
oder Ton zu zeichnen, oder sonst einen, den Leib des
180
1
Feindes darstellenden Gegenstand anzufertigen und das
Bild dann mit einen spitzen Stock zu schlagen oder es
auf eine beliebig andere Weise zu verletzen, um der dar-
geslellleii Person dieselbe Verletzung zuzufügen. Wenn
zum Beispiel ein Übjetwaj'-Indianer einem anderen an
den Leib will, verfertigt er eine Holzstatuette, die sei-
nem Feinde gleicht, durchbohrt dann die Brust oder
den Kopf des Bildes und glaubt, damit seinen Gegner
an dem entsprechenden Körperteil zu verletzen; wenn
er aber den Tod seines Feindes wünscht, verbrennt
oder vorgräbt er dessen Bildnis, wobei er gewisse magi-
sche Worte ausstöläL Die Indianer Perus modelherten
das Bildnis eines gefürchtelen oder verachteten Wesens
in einem Gemenge von Fett und Mehl und verbrannten
dieses Bildnis dann auf dem Wege, den der Feind gehen
mußte; man nannte das: „seine Seele verbrennen". Ein
malayischer Zauber ähnlicher Art ist der folgende: Man
nimmt abgeschnittene Fingernägel, ausgegangene Wim-
pern und Kopfhaare des zum Opfer Erkorenen, ebenso
Speichel und anderes, womit die einzelnen Körperteile
dargestellt werden sollen; all dies wird dann mit Wachs,
das nur aus einem vom Schwärm verlassenen Bienen-
stock stammen darf, vermengt und daraus ein Bild ge-
formt. Diese Figur läßt man dann langsam über einer
Lampe rot anlaufen, wiederholt dies während sieben
aufeinanderfolgenden Nächten und spricht dazu folgen-
des: „Es ist mcht Wachs, was hier kocht. Dies ist die
Leber, dies ist das Herz, dies ist die Milz dieses oder
jenes Menschen, die ich brate." Beim siebenten Male
wenn das Bildnis verbrannt ist, ist das Opfer tot."
Um dieser Magie den richtigen Namen zu geben,
müßte man sie aggressive Magie nennen, weil
sie die bei allen Lebewesen so mächtigen aggressiven
Triebe befriedigt.
Eine andere Art Magie entspricht der Abwehr gegen
eben diese Aggression: die Abwehrmagie.
So ist zum Beispiel für den Primitiven die Krankheit
kein Naturgeschehen, sondern die Folge von Verwün-
schungen seitens der Feinde oder der bösen Geister. Ein
Beispiel dieser Abwehrmagie mag die Behandlung der
Gelbsucht nach den Vorschriften der Heilmagie ergeben.
„Die alten Hindus vollführten zur Heilung der Gelb-
sucht eine komplizierte, auf homöopathischer Magie be-
i8i
ruhende Zercnioiüe. Ihre Ilauptabsichl war, die gelbe
Farbe auf von Nalur aus gelbe Wesen oder Dinge wie
elwa die Sonne zu übertragen und dt'ni Kranken die
gesunde rote Farbe zu geben, iudem man ibn mil
einer kral'Lvüllen I>ebens<iuelle, z. li. einem rolen Stier,
in Verbindung brachte, /u diesem Zwecke sprach ein
Priester die lolgcnde Formel: „Dein krankes Herz und
deine Gelbsucht werden die Sonne suclicn gehen. Wir
hüllen dich in die Farbe des rolen Stiers; wir hüllen
dich in rote Farbe, damit dir ein langes Leben be-
schieden sei. Dein Leib möge frisch und gesimd und
Ii*ei von allem Gelben sein! Wir hüllen dich in alle Ivi'aft
der ixiten Kühe, deren GoUheil Rohiui ist. Wir laden
deine Gelbsucht auf die Papageien, die Drosseln und
auch noch auf die gelbe liacnslelze." Während der Prie-
ster diese Worte sprach, lieli er den Kranken in kleinen
Zügen einen Trank schlürfen, in welchen Ilaare eines
roten Sliers gemengt waren. Dan Arzneitrank selbst er-
hielt der Priester aus dem Wasser, das er über das
Küclvgrat des Tieres goß. Ec setzte den Kranken auf die
Haut eines rolen Stiers, von der ihm ein Teil umgebun-
den wurde. Um schlieliUch die Karminfarbe noch mehr
zu beleben und die gelbe radikal zu entfernen, bestrich
der Heilkundige den Krauken vom Koj)f bis zu den
Füßen mit einem aus Safran bereiteten gelben Saft.
Diese Handlung vollzog sich auf einem Hell, an dessen
Fuße drei gelbe Vögel, nämlich ein Pajjagei, eine Drossel
und eine liachslelze mil einem gelben Faden gebunden
waren; der l*riester l)esprengte dann den Kraidcen mit
Wasser und reinigte ihn so von dem geli)en Saft, der
ihn bedeckte und natürlich auch von seiner (ielbsucht,
die somit auf die gelben Vögel übertragen wurde. Zur
letzten Aufhellung seiner Gesichtsfarbe nahm der Magier
schlicßbch einige Haare eines rolen Stiers, wickelte sie
in kleine Goldslreifen und klebte sie auf die Haut des
Gclbsüchligon. Die allen Griechen glaubten, dal.^ ein
Gclbsüchliger geheilt werde, wenn er eine Meerschnepfe
und diese ihn wieder anblicke. „Nach Nalur und An-
lage", sagt Plularcli, „zieht und saugt das Tier die
Krankheit, die durch den iilick lüiuuisströml, an sich."
Diese Eigenschaft der Meerschnepfen war den Vogel-
fängern so bekannt, daß sie einen solchen Vogel, wenn
sie ihn zum Verkauf brachten, sorgfältig bedeckten, da-
mit ihn nicht ein Gelbsüchliger ansehe und so seine
Heilung umsonst erhalle. Ks war weniger das kastanien-
braune Gefieder der Meerschnepfe, das unfehlbar den
182
Keim der Gelbsucht auszog, sondern ihr großes gold-
farbenes Auge. Auch Plinius erwähnt einen solchen
Vogel, vielleicht denselben, den die Griechen mit einem
Wort, das Gelbsucht l>cdeutet, benannt hatten, weil sein
Anbhck allein die Gelbsucht austrieb und diese sich auf
den Vogel übertrug, der dann daran starb. Der lateini-
sche Scliriilsleller spricht auch von einem Stein, dem
man die flacht zuschrieb, die Gelbsucht zu heilen,
nachdem seine l'^arbe an die eines Gelbsüchtigen erin-
nerte.
Die homöopathische Magie besitzt unter anderen den
großen Vorteil, daß sie die Übertragung der Behandlung
auf die Person des Heilenden gestattet. Der Patient
kann dann frei von aller Plage seinen Arzt betrachten,
der sich vor ihm in Schmerzen windet. Die Bauern der
Perche sind z. li. der Ansicht, daß wiederholtes Erbre-
chen darauf zurückzuführen sei, daß der Magen, wie sie
sich ausdrücken, „sich losmacht und umfällt". Man ruft
daher den Arzt, damit er das Organ wieder aufstellt
und befestigt. Der Mann der Wissenschaft läßt sich die
Symptome des Übels beschreiben, verfällt hierauf selbst
in fürchterliche Krämpfe, um seinen eigenen Magen los-
zumachen. Sobald ihm dies gelungen ist, gibt er sich
einer zweiten Serie von Krämpfen und Grimassen hin.
Und der Kranke einpfiiutel gleichzeitig eine entspre-
chende Itlrleichlerung. Kosten: 5 Francs.
Neben der aggressiven mid der Abwehrmagie existiert
nocli die \oi\ P r a z e r so benannte magische Be-
herrschung der Atmosphäre.
Bei den primitiven Gesellschaften der trockenen Ge-
biete Zenlralafrikas und Zentralaustraliens erlangte der
„Begenmacher *, der Mann also, der die Macht in sich
trügt, die Wolken herbeizurulen und den befruchtenden
Bcgen auf die verdorrte Erde herabfallen zu lassen,
beträchtiiches Ansehen, das ihm nach und nach die
Stellung eines iläuptUngs einbrachte.
Hin sehr gut informierter Autor berichtet über die
Beziehungen zwischen den Funktionen des Häuptlings
und denen des Regenmachers folgendes aus Südafrika:
„In früheren Zeilen war der Häuptling der große Regen-
macher des Stammes. Die Häuptlinge gestatteten meist
183
niemandem, ihnen Konkurrenz zu macheu, weil sie fürch-
ten mußlen, dali allzuschünc lirl'olüe eines Hejicnmachers
ihre Stellung ffet';ihr<lclcn. Kiu aimercr (iruua für diese
lixkhisivitäl ist der, daß der Hc^eiiniachcr sicliere Aus-
sicht halte, reich zu werden, sobald er sich einen gro-
ßen Kul verschallte, und es laj» selbstverständlich nicht
in der Absicht eines Häuptlings, einen seiner Unter-
tanen allzureich werden zu lassen. Der Kcgenmacher
genießt eine außerordentliche Autorität über das Volk
und CS erschien deshalb hOcIist wichtig, die Ausübung
dieses Herules dem Königtum vorzubehailen. Die Tradi-
tion versieht unter dem Huhm der alten Häuptlinge
und Helden grundsätzlich immer die Macht, regnen
zu lassen und wahrscheinlich haben wir hier auch den
Ursprung aUer Souveränität zu suchen. Der Mann, der
Hegen macht, muß notwendig König werden. Ebenso
erklärte Schaka (der bcrülinih' /ulufiu'st) oft, daß er der
einzige Wahrsager des Landes sei, weil sein Leben in
Gefahr gewesen wäre, wenn er Hivalen geduldet hätte.
Die vorangegangenen Zeugnisse maclien es sehr wahr-
schehilieh, daß in Afrika im Laufe der Entwicklung das
Amt des Königs von dem des öffenlüchen Zauberers,
und vor allem dem des Hegenmacliers abgelöst wor-
den ist. Die gesteigerte Furcht vor dem Zauberer und
der Reichtum, den ihm seine I-aufbahn häulig einbringt,
haben ihm in gleicher Weise zu diesem Autslieg verhol-
fen. Da die Wuiiderkräftc sonst nur den Königen zuge-
schrieben werden, stimmt dies, um nicht mehr zu sa-
gen, zu unserer Hypothese, daß die Zauberer sich aus
niedriger Herkunft zu ihrem gegenwärtigen Kang em-
porgearbeitet haben.
Wenn der lieruf des Magiers und vor allem des Regen-
machers demienigeu, der seine Kunst erfolgreich ausübt,
auch große Vorteile bietet, so sind ihm anderseits auch
viele Fallen geslellt, in die der ungeschickte oder vom
Unglück verfolgte Künstler geraten kann. Die Stellung
des öffentliclien Zauberers ist in Wahrheit eine der un-
sichersten: nachdem die Leute fest tiaian glauben, daß es
in seiner Macht steht, den Regen lallen, die Sonne
scheinen und die Ernte emporschießen zu lassen, füh-
rcn sie natürlicherweise auch Trockenheit und Hun-
gersnot auf seine schuldhafte Nachlässigkeit oder auf
seinen Widerstand zurück und strafen ihn dafür. In
Afrika wird daher ein HüuplUng, dem es nicht gelingt,
Regen herbeizuführen, zur Verl)anuuiig oder zum Tode
verurleill.
184
Sehen wir uun zu, wie der Magier den Regen herbei-
zaubert:
„Unler alleu Aufgaben, die der Zauberer zum Wohle
des Slammes auf sich nimmt, ist eine der wichtigsten
die, den Zustand der Atmosphäre zu regehi und vor
allem Regen im gewünschten Ausmaß sicherzustellen.
Das Wasser ist die erste und wichtigste Lebensbedin-
gung und in den meisten Gegenden kann man es sich
nur durch die Hilfe der Wassergeister verschaffen. Ohne
Regen verwelkt die Vegetation, Mensch und Tiere sie-
chen dahin und sterben. Der Regenmacher ist daher in
primitiven Gemeinschaften eine Person von allergrößter
Wichtigkeit. Häufig bildet sich eine besondere Klasse
von Zauberern, die lediglich die Versorgung mit dem
himmlischeu Wasser zu veranlassen haben. Die Metho-
den, auf welchen diese öffentlichen Funktionäre sich
ihrer Aufgabe zu entledigen suchen, basieren gewöhnlich,
aber nicht ohne ^Vbänderungen, auf dem Prinzip der
homöopathischen Magie. Wenn sie Regen machen wol-
len, ahmen sie ihn durch Wasser aussprengen oder durch
Woikenbilder nach; wenn sie das Aufhören des Regens
und den Kinfall der Trockenheit beabsichtigen, vermei-
den sie das Wasser und nehmen ihre Zuflucht zu
Wärme und Feuer, um die überreiche Feuchtigkeit aus-
zutrocknen. Solche Maßnahmen bleiben nicht, wie der
gebildete Leser vielleicht glauben könnte, auf jene bren-
nend heißen Gegenden beschränkt, in denen die Wilden,
wie im Innern AustraUens und in gewissen Teilen Süd-
und üstafrikas. nackt wie die Wüi-mer herumlaufen
und wo die unerbitthche Sonne aus einem wolkenlosen
Himmel oft Monate lang ihre Strahlen in die durstige,
klaffende Erde sengL Diese Bräuche sind oder waren
auch bei äußerlich zivilisierten Völkern Europas und
unter einem viel milderen Himmel üblich. Dies wollen
wir nun an Heispielen, die wir sowohl der öffentlichen
wie der privaten Magie entlehnen, aufzeigen.
Wenn in einem russischen Dorfe in der Nähe von
Dorpal Regen gewünscht wird, begaben sich drei Män-
ner in einen belügen Wald und klettern dort auf Tan-
nen. Der eine beginnt nun mit einem Hammer auf einen
Kessel oder ein kleines Faß zu schlagen; der Lärm
soll den Donner nachahmen. Der zweite läßt Funken
aus zwei Feuersleinen springen, die er zu diesem
Zwecke reibt; der dritte, der auch der Regenmacher ge-
nannt wird, hält ein Bündel von Zweigen, das er in ein
185
Gefali mit Wasser taucht und inil dem er die Umtro-
gend besprengt. Im Dorfc l>losIia gehen Frauen und
Jungfrauen, um den Regen Iierabzuzwingen, iiaehls voll-
ständig enlideidet bis an die (Jrenze des Mcckens und
besprengen den iJoden. Ui liabualicra, der llaupünsel
Neuguineas, bringt ein Zauberer den Hegen, indem er
den Zweig eines bestimmton liaumes ins Wasser taucht
und diu dann auf die Krde ablroplua laßt. IJer Uegen-
machcr von Neu-Iiritainiien nimmt die Ülätler einer
gellecklen Schlingiirianze, wickelt sie in ein IJananen-
blatt, taucht das liimdel ins Wasser und grabt es dann
em; liierauf imitiert er mit den Lippen das Geräusch
emes fallenden Ucgens... Wenn man bei den Omaluis
m Nordamerika das Getreide trocken werden sieht
füllen die Mitglieder der heiligen liüirelgesellschaft einen
grolicn Schlauch mit Wasser, um den sie einen vier-
maligen Tanz vollrühren. Einer von ihnen nimmt einen
Schluck aus diesem Gefäß und spi-itzt dann, was er ge-
ti-miken, in der Art eines Springbrunnens 'wieder aus
um damit einen Niederschlag oder einen kleinen leinen
Hegen zu imilieren. llieraul entleert er iii^n liehälter
dessen Wasser die Erde tränkt; die Tänzer werfen sieh'
lucrauf auf allen Vieren zu Hoden, um das Wasser aui-
zusciiluri'en, wodurch sich ihr Gesicht mit Schlamm
bedeckt; sie enden, indem sie das Wasser in Damijffonn
ausstoßen und zerstreuen. Damit ist das Getreide ce-
rettetl" ^
So wurde und so wird noch hei vielen wilden Släm-
men die magische Hcherrschung der Alniosphärc und
des Wassers geübt, dessen Hedeutung für das Lebcu des
Menschen so groß ist. Von der Hehcrrschnng der Sonne
findeji wir ein Echo in dem Mythos von Josua.
Zu jener Arl Magie, die man ökonomische Magic nen-
nen konnle, zählen in gleicher Weise die Hilcn der
Jagd und des Eischl'angs, die der Vermehrung des Wil-
des und dem Glück der Jäger dienen sollen, die Iiiti-
schiuina-Zeremonicn Zentralauslraliens und jene, die
Frazer den „magischen Einfluß der Geschlechter auf
die Vegetation" genannt hat.
Fiiie Sille, die unter primitiven Slämmcn und viel-
fach auch unter der büuerhchen Hevölkenmg Europas
sehr verbreitet ist, verlangt, daß sich die Hcbauer als
186
lieispicl für die Natur auf dem besäten Bodea dem
sexuellen Akt hingeben:
„Die ripilcn Millclamcrikas enlhiclten sich vier Tage,
bevor sie den Samen der Erde anvertrauten, jedes Ver-
kehrs mit ihren Frauen, damit sie sich in der Nacht
vor der Saat umso vüUsländigor ihrer Leidenschaft
hingebcMi könnten; man sagt sogar, daß einzelne Per-
sonen bestimmt wurden, die den sexuellen Akt in dem
Augenbhcke aus/.utühren hatten, in dem man dem Hoden
die ersten Körner übergab. Die Priester befahlen den
Mannern als religiöse Pflicht, sich zu dieser Zeit mit
ihren Krauen zu vereinen ; wer es nicht tat, durfte
aucli nicht säen. Die einzig mögüchc Erklärung dieser
Sitte scheint die folgende zu sein: die Indianer verwech-
selten den Vorgang, durch welchen menschliche Wesen
erzeugt werden, nnl jenem, durch welchen die Pflanzen
dieselLe 1-unktion vollbringen und glaubten, dali, wenn
sie sich an das eine hielten, dem andern gedient sei.
In gewissen Gegenden Javas begeben sich der Bauer
und seine Erau zur Zeit der Beisblüte nachts auf ihr
Eeld und vereinigen sich dort, um die Ernte hervor-
sprießen zu lassen. Aul Eeti, Sarmala und einigen
andern Inselgruppen zwischen der Westseite Neuguineas
und Nordaustralieus betrachtet die heidnische Bevöl-
kerung die Sonne als das männUche Prinzip, welches
die Erde als das weibliche Prinzip belruchlet. Sie wird
„Ilcrr Sonne' genannt und iu Eorm einer Lampe dar-
gestellt, die aus Kokusnußsehalen verfertigt wird und
die man allenthalben in den Hütten wie an dem heiligen
Eeigenbaum hängen sehen kann. Unter diesem Baum
belindel sich eine große Steinplatte als Altar. Auf die-
sen Opiersleiii legte man und legt auf gewissen Inseln
noch heute die Köpfe getöteter Feinde. Jedes Jahr steigt
Herr Sonne zu Beginn der Uegenzeit an dem heiligen
Eeigenbaum herab, um die Erde zu befruchten. Um
sein Herabsteigen zu erleichtern, hält man eine Leiter
mit sieben Sprossen zu seiner Vorfügung. Man stellt sie
unter den Ikium und schmückt sie mit Schnitzfiguren
von Vögeln, deren schriller Gesang im Orient den Auf-
gang der Sonne anzeigt. Bei dieser Gelegenheit opfert
man reichhch Schweine und Hunde; Männer und Frauen
geben sich in gleicher Weise den Saturualien hin. Und
inmitten von Ges:mg und Tanz stellt man durch die
reale Vereinigung der Geschlechter unter dem Baum die
mystische Vereinigung der Sonne mit der Erde dar.
Der Zweck des Festes ist, wie man uns sagt, der, dem
187
Großvater Sonne, Rc-'cn, Naluunü und Getränk in Hülle
und l^üiie, ebenso Hiiidvicti, ünider und Reichtümer
abzunötigen. Man bittet ihn, jeder Ziege zwei oder drei
Ziclvlein zu gewähren, die Menschen sich vermeln*en zu
lassen, die loten Schweine durch lebende zu ersetzen
die leeren Keiskörbe zu füllen usw. Um ihn zur Er-
füllung ihrer Bitten zu verplUchten, bieten sie ihm
Schwcmeneisch, Hcis und IJrannlwein an und laden ihn
zum Essen und zum Trinken ein. Auf den iiarar-lnsolu
hißt man bei diesem Feste eine besoiidcre l^ahne, als Sym-
bol derSchöplerkraft der Sonne; sie ist aus weißer IJaum-
woUe, ungefähr drei Melcr lang und stellt einen Maim
in entsprechender Stellung dar. Es wäre ungerecht
solche Orgien einfach als Ausbruch entfesselter Leiden-
schaft zu behandeln; es ist ganz sicher, daß man sie
mit vollem Wissen und in aller Feierlichkeit veranstaltet
^yell man sie zur Fruchtbarkeit der Erde und zum
Glücke des Menschen für unerläßlich hält."
Eine letzte Art von Magie bezieht sich auf die Liebe.
Frazer, der übrigens der Psychoanalyse wenig Sym-
pathie entgegenbringt, bewahrt in seinem schönen IJuche
der sexuellen Frage gegenüber eine gewisse Zurückhal-
tung; das hat indessen nichts mit der Tatsache zu tun,
daß das Hedürfnis, sich das geücbte Wesen geneigt zu
machen, bei den Wilden ebenso vorliandcn ist wie bei
den Kulturmenschen.
Meine gute alte korsische Amme erzählte mir, in
ilirer Heimat — und wolil auch anderswo — wisse
man sich die ewige Liebe eines Mannes dadurch zu
sichern, daß man ihm MenstruaÜonsblut in das Getränk
mischt.
Auch die Magie des „Schnürens" ist bei wilden Völ-
kern und vielfach auch bei Hauern bekannt: sie be-
steht häufig darin, daß eine Frau, die einem Manne we-
gen einer Heirat böse ist, in der ilochzeitsnacht ein
Messer in seine Türe stößt und damit seine Mannes-
kraft bricht
* * *
Man kann also vier Arten von Magic je nach den Zie-
len, auf die sie gerichtet sind, unterscheiden: 1. die ag-
i88
gressivo Mapie (Vcrwünschunß und alle gegen einen
Feind gerichteten Bräuche'^: 2. die Abwehrmagie, die
sich gegen die aggressive Magie selbst wendet; 3. die
ökonomische Magic, welche dem Menschen seinen Be-
darf verschaffen soll CBemeislerung des Wetters, Fisch-
fang- und Jagdriten) : und 4. die Liebesmagie.
Wir wollen nun Frazers Theorie zur Erldärung der
Magic nfthor betrachten. Von ihm geht auch die große
Teilung in der Magic, die er allgemein sympathische
(auf das Gesetz der Sympathie gegründete) Magie nennt,
in zwei große Klassen zurück: die homöopathische und
die ansteckende Magic.
Die homöopathische Magie umfaßt zum Beispiel die
Verwünschung, die Hcilmagie, wie etwa die zur Behand-
lung der Gelbsucht, die Regenmagie, den Einfluß der
Geschlechter auf die Vegetation.
Die Ansteckungsmagie umfaßt alle Arten von Bräu-
chen, die auf folgenden Gedanken basieren: Zwei Ge-
genstände, die miteinander in Berührung gewesen sind,
behalten, auch bei späterer Trennung, eine geheimnis-
volle Verbindung bei. so daß also dem einen nicht
etwas geschehen kann, was nicht gleichzeitig auch den
andern trifft; demnach führen die zum Ausfall der Nä-
gel, der Haare, zum Erstarren des Blutes angewende-
ten Verwünschungsbräuche den Tod dessen herbei, von
dem sie ausgehen.
Nach Boschreibung der verschiedenen Arten der Ma-
gie will Frazer indessen auch ihr Wesen darstellen.
Nach seiner Auffassung läßt sich die Magie einteilen
in eine theoretische, die man etwa als Wissenschaft bs-
trachten könnte und eine praktische, die eine Kunst ist.
Die praktische Magie umfaßt die positive Magie oder
Zauberkunst und die negative, welcher alle Tabus zu-
zuzählen sind.
Vom theoretischen Gesichtspunkt aus bedeutet nun
die Magie für Frazer den Ausdruck des primitiven
189
Denkens, die erste Erklärunff, die sich die Menschen
von den Naliircrschoimmi^cn Reselwn haben.
Man kann einer solchen Auffussinis nur schwer zu-
sümmcn. Die Magic ist keine Wissenschaft; sie stellt
wohl einen Versuch dar, die Tatsachen einer Gesetz-
lichkeit zu unterwerfen, die jedoch nicht real gegeben
ist, da die physische Rcalilfd dieser Gesetzlichkeit durch
die psychische ersetzt wird. In der magischen Weltan-
schauung nimmt der Mensch wirklich die Gesetze sei-
nes Denlicns für die Gesetze der Natur.
Ich will hier weder eine historische Darstellung ge-
ben, noch will ich andere Theorien über die Magie zur
Diskussion heranziehen, sondern möchte mich lediglich
auf die psychoanalytische Theorie der Magic nach
Freud beschränken.
Freud hat seine Studien auf dem Gebiete begonnen,
in welchem die Magie ihren Ursprung hat, der Welt
der Magie, den Völkerschaften, die sich noch im ani-
mistischcn Stadium l)efindcn und die noch ganz von der
Magie beherrscht sind.
Der Animismus ist für den Primitiven eine Welt-
anschauung im vollen Sinne des Wortes. In ihr gibt es
keine unbeseelten Gcgenslände. Die ganze Well ist be-
seelt, von lebendigen Mächten geheimnisvoll bewohnt.
Allen Dingen wohnen Gewalten inne, die der Feindselig-
keit wie des Wohlwollens in gleicher Weise fähig sind.
Die Projektion seiner seihst nud der Kräfte, die er in
sich fühlt, bringen den Primitiven offenbar zu dieser
Auffassung der Welt.
Eine solche Relrachfimgswcise widerspricht der An-
sicht Frazers. daß die Magie der erste „wissenschaft-
liche" Versuch des Menschen sei. Nach dem, was uns
Freud beobachten lehrte, hat der Mensch angefangen,
die Rcfricdigung seiner Triebe zu suchen, noch bevor
er sich auf spekulatives Dcnlicn einließ. Die Magic ist
190
FTT
keine spekulalive Wissenschaf I. sondern eine zweck-
gerichtele Trchnik. ein Mittel zur Beherrschung der
Kräfte des Weltalls, der Menschen und der „Geister".
Man muß indessen die Zaubermagie als eine besondere
Art absondern, wobei diese Bezeichnung einer Unter-
abtcilunj{ jener Magie vorbehalten bleibt, welche die
„Geister" zu beherrschen sucht und man könnte mit
Ret nach die Maj^ie als Strategie des A n i m i s-
m u s oder nach dem Ausdruck von Hubert und
M a u s s die Technik des Animismus nennen.
Der englische Ethnologe Marrett unterscheidet zwei
Stadien des Animismus: das Stadium des eigentlichen
Animismus und das pnlanimislische oder animatistische
Stadium, in welchem der Mensch allen Gegenständen
seiner Umgebung eine ihnen innewohnende Kraft zu-
schreibt, die Welt aber noch nicht von eigentlichen
„Geistern" bewohnt sein läßt
Dieser Gedankengang scheint, wenn er auch nur eine
Hypothese darstellt, zur Erklärung der Tatsache not-
wendig, daß CS ülicrhaupt zu einer menschlichen Magie
kam. Es gibt übrigens kein Volk, bei dem sich der
Animatismus ohne irgendwelche animistische Züge fände.
Alle primitiven Völker glauben an „Geister", die ur-
sprünglich die Geister der Toten gewesen zu sein schei-
nen. Der Mensch, der die Wesen, die er liebte, hin-
schwinden sah, bewahrt ihnen ein Gedenken, das mit
Liebe und mit Haß beladen ist, je nach dem Gefühl,
das in den Tiefen seines Unbewußten fortbesteht. Die
tiefe Feindschaft, die man auch gegen ein geliebtes
Wesen hegen kann, reaktiviert sich nach seinem Hin-
scheiden, sie wird sozusagen nach außen projiziert und
bedeutet den Ursprung der Dämonen.
Hctrachfen wir nun die Methode der Magie. Ich habe
Ihnen von der Welt gesprochen, in der die Magie ent-
stand, eine Welt, die von der, in der wir leben oder
leben möchten, — denn es gibt unter uns noch genug
Oberlebendes aus der Zeit der Magie, — grundverschie-
j>;
den isl. Der Primitive muß sicli in der Well, in die er
sich versefzf findet, der Maßie ergeben, um seine Wün-
sche zu befricdifien und seine Triebe zu hcrnJ,i«en
einer Magie, die für ihn ein Mittel zur Heherrsohung
der Natur darstellt. **
Nach der treffenden HezeichnnuR Tylors besteht die
Methode der Ma«ie darin, einen Ideenznsaninienlmn^ für
emen realen Zusammenhang zu setzen; der Mensch -
das smd auch die Worte Fr« /.er s - nimmt die Gesetze
semes Denkens für <lie Gesetze der Natur
Freud schliüßl sich dieser IJetrachtunßswcisö völhV
an, Reianßt aber bei weiterem Suchen zur Frage was
der Motor des magischen Aktes sei. Naeh der dyna-
mischen Auffassung, welche der Psychoanalyse dgcn
ist, glaubt er, sie im Wunsch erbliclien zu können-
im Aggressionswunsch, im Wunsch nach Macht nach
Unterhalt, nach Bezwingung des Liehosobjekts. Im' Dien-
ste dieser seiner Wünsche glaubt der iVimitivc an die
Allmacht seiner Gedanken. Er glaubt, daß seine Worte
semc Handlungen der Natur ein Heispiel geben und daß'
was er selbst beginnt, vom Schicksal vollbracht wird. '
Freud konnte dieses große dynamische Gesetz vor
allem aus der Parallele zwischen den Primitiven und
dem Zwangsneurotiker ableiten.
Die Neurotiker sind elwas mehr als arme Kranke
es sind Menschen, die sich, durch ihr I.ciden bi> wogen'
beobachten lassen, um geheilt zu werden. An ihrer see'
hschen Struktur ließen sich auch die Gesetze des
menschlichen Geistes entziffern. Ilesonders das Denken
des Zwangsneurotikers zeigt eine crstaunhclie Ahnlich
keit mit dem archaischen Denken des Primitiven und
dessen Glauben an die Allmacht seiner Gedanken und
Wunsche. Die Zwangsneurotiker, außerordentlich ehren
hafte und gewissenhafte Leute, werden gleichwohl von
Gcw.sscnsbis.scn geplagt, geradeso als ob sie wirkliche
Morder wären. Bei ihrer Analyse entdeckt man dann
daß sie ebenso wie der Primitive ihren tiefen Wruischeni
192
^^^^■^
Dr. Edoardo Weiss
1. ,
II
wmr-
ihren unbewußten Todeswünschen, Allmacht zugeschrie-
ben haben; sie sind bei der archaischen Methode des
magischen Denkens verblieben.
Übrigens haben alle Neurotiker und nicht bloß die
Zwangsneurotiker den Hang, an die Wirksamkeit ihres
unbewußten Denkens und ihrer aggressiven Wünsche
zu glauben. Dies ist der tiefste Grund ihres Leidens,
daher auch ihre Hypermoral, mit welcher das unbe-
wußte Denken und die aggressiven Wünsche in Konfükt
geraten.
Wo liegt aber der Ursprung dieser Denkungsart? Die
psychoanalj'tische Theorie bringt insoferne Licht in
diese Frage, als sie uns das Alter zeigt, das der Magie
entspricht, das heißt also den Zeitabschnitt in der
ontogenctischen und phylogenetischen menschlichen
Entwicklung, der von der Magie beherrscht wird.
Freud hat, wie man weiß, an dem beträchtlichen kli-
nischen Material, das er analysieren konnte, beobachtet,
daß in der Anamnese seiner Patienten vorerst ein primi-
tives Stadium aufzufinden war, durch das wir alle hin*
durchgehen mußten, das autoerotische Stadium des
Säuglings. Der Säugling sucht nur seine Lust, er kennt
nichts als sich selbst und, gleichsam als Fortsetzung
seines eigenen Körpers, die Brust der Mutter oder der
Amme. Wenn das Kind später andere Wesen von sich
selber unterscheiden gelernt hat, beginnt es diese als
Objekte zu lieben und zu hassen. Freud hat es aber
für notwendig befunden, zwischen diese beiden Perio-
den, in denen die Libido vorerst ohne bestimmtes Ob-
jekt ist und sich nur den ersten äußeren Objekten, den
Elfern oder Pflegepersonen zuwendet, die Periode des
Narzißmus zu unlerscheiden, in welcher die Libido, die
sich noch nicht frei den äußeren Objekten zuwenden
Kann, m der Hauptsache auf das eigene Ich konzentriert
und sich selbst zum Liebesobjekt nimmt.
13 Almanach 1935
Reim Kinde rolgcn also drei Sladicn aufeinander: das
Stadium des Autocrotismus, in der es seine IJcfriedi^unf»
noch niclil konzenlriert und sporadisch jene Lusl sucht,
zu der sein Organismus ihm Gclc^euhcil bielct; zweitens
das Stadium des NarzUAmus, in welclicm das Kind sich
selbst Icenncn und lieben lernt, und drittens das Sladium,
in welchem es die anderen unterscheiden, sie hassen
und lieben lernt; diese Stadien können einander übri-
gens mehr oder minder überlagern.
Die Menschheil scheint elxMiso durch diese drei Sta-
dien hindurch^cffangen zu sein und die Magie scheint im
Prinzip dem Stadium dos Narzißmus zu entsprechen.
In diesem Stadium glaubt das Individuum, unbegrenzte
Macht über das Weltall zu besitzen. Wie der Säugling
die Mutter herbeieilen sieht, wenn er Durst oder wenn
er Hunger hat, oder wenn er in der Wiege um sich
schlägt, so glaubt gewissermaßen der Primitive in die-
sem Sladium, daß seine Handlungen die Natur an ihn
heranbringen werden, wie eine aufgeregte Mutter, die
ihm alles, was er wünscht, geben wird.
*
Es seien auch einige Woric über den pragmatischen
und kulturellen Wert der Magie gesagt.
Man hat die Magie allzusehr herabgesetzt. Die ersten
Elnologen, die ersten Entdecker blickten zuweilen voll
Verachtung auf die Wilden, die sich magischen Hräu-
chen hingaben. Die Missionäre hingegen sahen in die-
sen, mit den Wilden darin eher einig, das böse, jedoch
beachtenswerte Werk des Teufels.
Nun verdient die Magie, wie Frazer und Trend
gezeigt haljen, diese Verachtung nicht. Sie hat die Men-
schen vieles gelehrt: sie war die erste, die ihnen, vor
allem durch das verbietende Tabu, den Altruismus und
die Heherrschung ihrer Instinkte nahebrachte. Wenn zum
Beispiel bei gewissen Stämmen ein Krieger in den Kampf
zu ziehen hat, muß er, um seine Kräfte zu l>owahren,
194
das Tabu der Abstinenz einhalten und sicli durch
Keuschheit auf den Sieg vorbereiten. Übrigens muß
auch die Frau des Kriegers, wenn er auf der Jagd oder
im Kriege ist, ihrem Manne treu bleiben, damit ihn
das Glück nicht verläßt; der Krieger, der wirklich weiß,
daß ihn seine Frau wie Penelope erwartet, wird ruhiger
im Gemütc sein und mit mehr Mut kämpfen. So hat die
Magie die Menschen durch die Verzichte, die sie ihnen
auferlegte, die erste Beherrschung ihrer Instinkte ge-
lehrt.
Ich habe Ihnen eben von der Vermengung der drei
Stadien, die man seit den Urzeiten der Menschheit be-
obachten kann, gesprochen und wir haben gesehen,
daß auch bei den primitiven Gesellschaften alle drei
Formen von Weltanschauung nebeneinander existieren.
Malinowski, der sich mehrere Jahre auf den Tro-
briand-Inseln aufhielt, bemerkt in einem seiner Werke,
daß zum Beispiel die Magie die Kultivierung der Gärten
dort nicht überflüssig erscheinen läßt. Die Kenntnis des
Bodens, seiner Bearbeitung und des Saatgutes bestehen
neben magischen Bräuchen und Zauberformeln.
Ebenso kann sich die reUgiöse Anschauung mit ani-
misüschen Oberresten vermengt finden: der Mensch
setzt zum Beispiel den Versuch fort, auf die Götter
magisch einzuwirken, um sie sich geneigt zu machen.
Die Religionen tragen zahlreiche Spuren dieses ani-
mistischen Denkens (volkstümlicher Aberglaube, Glau-
ben an Amulette usw.)
Auch die Wissenschaft ist voll von Überbleibseln der
magischen Schicht. So ist zum Beispiel die Arzneimittel-
bereitung teilweise noch stark von Magie durchtränkt.
Reste rein magischen Glaubens finden sich auch mit-
ten unter uns noch allenthalben. Es mag hier genügen
an Cou6 und seine Beschwörungsformel zu erinnern
Das magtHche Denken im Alltagsleben
Von Henri Codct, Paris
Aus ,Jict>iif frnncoisc de Psi/clumah/xe",
Tome VII, /, VJM (Sonderheft „La pens^e
magUjuc"). Aus dem Französischen übertra-
gen von Georg Hoppe.
Das AlUagslcben eines gesunden, gut versorgten Man-
nes ist vor allem durch eine Reihe von Aulomalismcn
gesichert. Seine Handlungen uml Worte verlangen nur
in geringem Ausmaß Nachtienken, Überlegung, freien Knt-
schhiß oder gar die Intervention des klaren Hewußt-
seins.
Es wäre nun interessant zu unlersuehcn, ob sich
nicht am Ursprung dieses Wusts mechanischer Hand-
lungen und Gesten eine mit dem magischen Cilaubcn
zusammenhängende GrundauschMnung finden läßt. Auf
den ersten Blick könnte es sclieincn, daß der l>ebens-
lauf des gewöhnlielien zivilisierten Menschen durch wis-
senschafllichü Gcgel>enheilcn erlernter oder empirischer
Herkunft gcregell sei. Bei McJischen, die eine religiöse
Überzeugung vertreten, kommen noch Glaubensbestim-
mungen und siciillicli mil dem Glauben zusammen-
hängende Bräuche hinzu. Alte diese Beweggründe wer-
den von affektiven Kräften jeder Art, l)ewußten und un-
bewußten, hin und her geschoben und gezerrt. Dies ist
jedoch der Punkt, in dem wir das Eingreifen einer den
Beteiligten meist nicht zu Bewußtsein kommenden ma-
gischen Geisteshaltung beobachten können. Der magi-
sche Vorgang besteht, schematisch genommen, in einer
Ausnahme, die den natürlichen Abläufen und wissen-
schaftlichen Gesetzen kraft einer unfeblbaren, nahezu
automatischen Gewalt zwangsmäßig auferlegt wird. Die
Art dieses Prozesses, der auch den Kilus hervorbringt,
ist für uns das Wichtigste.
Man i(onnte die Grundlagen des magischen Glau-
bens in einer primitiven animislischcn Weltanschauung
196
finden und von da aus die Magie definieren als die
Strategie des Aminismus (S. Rein ach) oder als die
Technik des Animismus (Hubert und Mauss). Wir
werden später sehen, ob sich über diese Grundlage der
maj^ischen Haltung nicht noch etwas sagen läßt.
Auf jeden Fall steht die Magie im Gegensatz zur
religiösen und zur wissenschaftlichen Haltung.
Im Alltagsleben eines gesunden Kulturmenschen be-
merkt man aber häufig tiefe Spuren magischen Glau-
bens, der in dem Versuch besteht, willensmäßig eine
für gcwöhnUch unzugängliche Gewalt (Naturgewalt, über-
natürliches Wesen, eine entfernte oder gestorbene Per-
son, ein unbelebtes Objekt usw.) durch einen genau
determinierten Vorgang, einen wirklichen Ritus, der ge-
rade durch seine Form wirken soll, zu bezwingen.
Solche Anschauungen sind nicht immer leicht zu
erkennen und man könnte zuweilen an die Existenz
eines magischen Denkens glauben, wo oft nur ein wis-
scnschafthcher Irrtum vorliegt. Der Grund dafür liegt
zum Beispiel in einer falschen Schlußfolgerung wie
etwa in der klassischen Allegorie vom Hahn, der durch
sein Krähen die Sonne zum Aufgehen bestimmen will.
Er kann auch in einem aktuellen Mangel unserer Kennt-
nisse gesucht werden; so zum Beispiel im Falle der
Bäuerin, deren Milch sich im Butterfasse drehte, ohne
daß sich Butter gebildet hätte; nachdem das Butterfaß
aber nach Vorschrift aus einer Art Hexenküche ausge-
kocht und so von schädlichen Bakterien gereinigt war,
lieferte es alsbald eine ganz normale Butter.
Schließlich kann auch ein magischer Glaube für ein
Individuum ganz normal sein, wenn es solche Ansich-
ten aus dem Milieu, in dem es lebt, empfangen hat Es
ist auf eine allgemein gültige Oberzeugung eingestellt,
die ihm genau so maßgebend ist, wie für uns das Hin-
nehmen der überraschendsten wissenschaftlichen Tat-
sachen, wie der Flugtechnik, des drahtlosen Telephons
usw. In diesem Sinne kann man einen traditionellen
197
Brauch in einer gof^obcnca Kullur zwar skepUsch, je-
doch nicht ohne Achtung betrachten; ich zitiere zum
Ueispicl die Sitte gewisser Gegenden in der Hretagnc,
beim Hau einer Einfriedungsinauer oder auch des Wohn-
hauses immer einige Steine vorstellen zu lassen; dies
verfolgt eingestandenermalien den Zweck, den Teul'cl
fernzuhallen, der sich unfehlbar an den Vorsprangen
heftig verletzen würde, wenn er allzunahe um das
Haus streicht. Ebenso kann auch eine Oberzcuglhcil
von magischen Mögliehkeilen als die logische Konse-
quenz einer persönhchen Geisteshallung erscheinen, die
sich gegenwärtig bei einer gewissen Anzahl von Anhän-
gern des Okkultismus wiederfindet.
Umgekehrt treffen wir, was uns hier besonders inter-
essiert, auf ein Denken magischer Art auch bei Personen
die mitten im Leben stehen und die sieh von einer
solchen Denkweise weit euUernt glauben, ja sogar voll-
kommcne Ungläubigkeit vorläuschen. Die Tatsache ist
indessen recht häufig zu beobachten und verdient es
unter einer Reihe vcrscliiedener Gesichtspunkte bctraclv
Ict zu werden.
Wir linden vor allem, daß der Helreffendc der An-
wendung gewisser Worte, vor allem, wenn er sie nichl
versieht, eine Kraft, eine bestimmte Wirksamkeil zu-
schreibt. Die Tendenz dazu ist am deutlichsten in der
papageienhafleii Gewohnheit entwickelt, Ausdrücke zu
gel)rauchen, deren Sitm man nichl kennt. Sie ist häufig
hei eingebildeten Debilen zu finden, die sich gerne wenig
oder gar nicht erfaßter technischer oder wissensehalt-
Ucher Ausdrücke bedienen. Im lAgHchen Lehen sind
derarlige Verschrobenheiten keine Ausnaiime. Leute, die
ihnen verfallen sind, wollen offensichtlich nichl ' nur
voll llochuml ihre Hildung und ihre Überlegenlicit zei-
gen, sondern sie schreiben überdies ungeeigneten, ganz
unanf^ei)alil('n Worten eine wabrhaft ülx'rnalürlichc
Macht zu, die sich ohne weitere Begründung auf andere
auswirken muli. . .
iq8
^
Man muß dagegen feststellen, daß der menschliche
Papagei mit dem Hervorstoßen magischer Worte nicht
immer Unrecht hat. Wieviele Hörer, und nicht nur schon
oben genannte, wie Kranke, Ignoranten und Debile, sind
der Macht der Formehi zugänglich! Sie werden stän-
dig angewendet und überheben den, der sie auf sich
wirken läßt, jeder Mühe der Kriük oder der Begrün-
dung. Uire Banalität wird sehr häufig nicht zur Kennt-
nis genommen; bei genauerer Untersuchung werden
wir aber feststellen, daß nur wenige von uns ihr ganz
entgehen und „sich nicht mit Worten abspeisen las-
sen".
Der Einfluß magisch gewerteter Formehl ist umso
größer, je intensiver der affektive Zustand ist, auf den
er sich auswirkt. Das Wort, das „ausgibt", ist ganz mit
Gefühlsaklivität geladen und wirkt zum Teil durch
seinen mysteriösen technischen oder pseudowissen-
schaflhchen Wert und durch die volle Resonanz der
darauf schon eingestellten Gefühlsanlagen. Der Vorgang
ist in aUen nienschUchen Beziehungen gang und gebe,
vor allem aber in der Liebe, im Theater und in der
Politik.
Eigentlich müßten auch die Ärzte gestehen, daß sie wie
alle anderen von vorneherein für magische Vorspiege-
lungen, sofern sie sich nur in wissenschaftlichen Aus-
drücken präsentieren, empfänglich sind. Geschieht es
nicht, daß irgendein Eingriff, irgendeine Reaktion sol-
chen Vorspiegelungen ihren rasch verschwindenden Er-
folg verdankt? Allein die Tatsache, daß sie durch Zif-
fern mit zahh-eichen Dezimalen ausgedrückt werden,
während die Faktoren nur recht annähernd bekannt
sind, macht ihren Erfolg.
Der Psychoanalyse gelingt es häufig, den Glauben
an die magische Macht des Denkens, teils als Basis
eines neuroüschen Zustandes. teils zufällig als Begleit-
erschemung von Ki-ankhcitssymptomen in der Behand-
hing aufzudecken. Im letzteren Fall ist eine aus dem
199
täglichen Leben bekannte Tatsache wiederzufinden: die
Anwendung sliiler Formeln zur Bewahrung vor Unheil
oder zur Tröstung.
Das klare Denken di'ückt sich in Worten aus, und
diese bilden wieder das Grundelement des magischen
Hitus. Wenn sie nun für das schwer geprüfte Gefühl
überwiegenden Wert erlangen, wenn sie sich mit einer
gewissen Stetigkeit wiederholen und wenn ihr stillos
Vorsichlünsprechen eine Erleichterung verschafft, dann
handelt es sich schon um eine wirkliche magische
Formel. Für manche Menschen gewinnen Gebete oder
lieschwörungsformeln oft einen solchen jedes religiösen
Wertes entkleideten Aspekt. Die Vermengung zweier ver-
schiedener Klassen von Elementen macht aber im all-
gemeinen ihre Unterscheidung besonders schwierig.
Um den Hang zur Magie bei den Neurotikcrn zu stu-
dieren, hat man deshalb aligemein den von Freud ge-
brauchten Ausdruck: „Glauben an die Allmacht der
Gedanke n" angenommen.
Es sei daran erinnert, dafi dem neurotischen Kran-
ken wie dem gewöhnlichen Menschen die Oberzeugung
seiner magischen Macht fast völlig unbewußt und ledig.
lieh auf einige bestimmlc Punkte: Todeswunsch, Rachc-
verlangen, Strafbedürfnis usw. erstreckbar ist. Sie tritt
kaum auf das rationale Gebiet des bewußten Lebens
über.
Gelegentlich zeigt sich in der Umgangssprache eine
Angst vor einer raagisclien Haltung, was vielleicht be-
sonders eine Eigenheit gebildeter Menschen ist. Die Ver-
meidung präziser Ausdrücke gehört zur elementaren
Höflichkeil und die Beobachtung dieser Hegel wird
durch ein allgemeines und stillschweigendes Übereinkom-
men befohlen. In vielen Familien wird zum Heispiel
ein Arzt sehr abfällig beurteilt werden, der die Mög-
lichkeit des Hinscheidens eines Schwerkranken in all-
zu trockenen Ausdrücken kundgibt; er rnuIJ sich aus
dieser Lage ziehen, indem er von Dingen spricht, „die
SOG
sich zum Schlechten wenden könnten", von dem Fall,
„daß noch eine Verschlechterung hinzuträte". Das Sub-
stantiv „Tod" muli jedoch vermieden werden, als ob
dessen Aussprechen allein eine Katastrophe herbeifüh-
ren könnte.
Man trifft auch sonst sehr oft auf die Tendenz, an
die magische Kraft der Worte zu glauben, wie in dem
oft gehörten Ausdruck „mau darf nicht vom Unglück
reden".
Die animistische Geisteshallung verrät sich schUeßhch
in gewissen gebräuchhchen oder famiUären Redens-
arten, zum Beispiel bei einem Zusammentreffen mate-
rieller Schwierigkeiten in der Berufung auf „die Tücke
des Objekts". . ^ ^
In einer anderen Tatsachengruppe äußert sich der
magische Glaube bewußt, steht aber im Gegensatz zur
Gesamtheit der wissenschafthchen oder positiven Über-
zeugungen: beim Aberglauben. Seine Erscheinungen sind
recht schwierig zu klassifizieren, doch kann man nach
ihrem Endzweck zwei Kategorien unterscheiden.
In der einen handelt es sich um Anzeichen, um
wirkliche Manifcstaüonen einer als allgemein angenom-
menen Harmonie. Solcher Art sind z. B. Krankheitsan-
zeichen im Wachzustand oder im Traume, die Voraus-
sagungen, die Talsachen der Telepathie usw. Das hier
beobachtete Phänomen dient als Signal und spielt, außer-
halb alles Wissens, die Rolle des Vorläufers oder Ent-
hüllers.
Die andere Gruppe bildet den eigentlichen magischen
Aberglauben, da man eine Handlung für die notwendige
und hinreichende Ursache einer bestimmten Wirkung
hält. So bedeutet oder bedsutete bis vor kurzem in ver-
schiedenen Landgegenden das Singen eines Liedes bei
dem eigenen Hochzeitsmahl für die Braut die sichere
Verdammung zum Irrsinn.
Der Aberglaube kann je nach dem metaphysischen
System, von dem er ausgeht, auch in andere Kategorien
aoi
eingeteilt werden. Der Aberglaube magischer Art setzt
ein gültiges Ritual voraus, das selbst dann zu einer
ganz besliramlen Wirkung kommt, wenn Absicht oder
Wissen um diese fehlen. Oder genügt es etwa nicht,
zwei Messer, und nicht cimnal genau, über Kreuz zu
legen, um ein Unglück herbeizurufen?
Der Aberglaube mystischen Ursprungs erfordert da-
gegen eine affektive Anhänglichkeit des Abergläubi-
schen, der naiv die Gunst einer moiir oder miuder genau
gekannten übernatürlichen Macht erfleht. Als Heispiel
erwähne ich, was ein Mann tat, der sich ziemlich frei
von abergläubischen Tendenzen glaubt. Während der
Vorbereitungen zu einer unmittelbar bevorstehenden ge-
fährlichen Operation seiner Frau ließ er sich von einem
entfernt Bekannten zu einem Darlehen auf eine gewisse
Summe bewegen, von der er sehr gut wuIMe, daß er sie
niemals zurückerhallen werde. Obwohl er den lächer-
lichen Wert dieser Handlung sehr wohl erkannte, konnte
er doch dem Verlangen nach cmcr vorijeugenden Geste
nicht widerstehen.
Auch die Wissenschaft kann sogar diiti Vorwand^ zu
einem ausgesprochen unlogischen Ritual abgeben, das
höchstens symbolischen Wert hat, den Wert einer un-
bewußten und uneingeslandenen Oi)ferhandlung für die
Göttin Vernunft. Ein solches Opfer ist zum Reispiel
das des Friseurgehilfen, der weiß, daß er „antiseplisch"
vorzugehen hat, und der deshalb die Haarschneide-
maschine, die er benützt, schnell und in beträchtlicher
Entfernung üi)er einem Gasbrenner scliwenkl. Womit
der Kunde und er selbst zu l'riedengcs teilt sind.
Es ist schließlich mitunter schwierig, zwischen einer
rein abergläubischen Handlung und einem paradoxen
durch die Erfahrung jedoch kontrollierten Vorgang zu
unterscheiden. In vielen Fällen kennen wir noch nicht
alle Varianlen, die bei einer Handlung eintreten kön-
nen, so einfach sie aussehen mag. Hätte es vor den
klassischen Experimenten Raulins über die lüitwick-
20fl
II'
lung des AspergiUus nicht für reinen Aberglauben ge-
golten, wenn man behauptet hätte, daß die Aküvität
einer Pil/kultur einfach aufgehoben wird, wenn man ein
silbernes Geldstück mitten durch sie hindurch führt?
Müssen wir auch noch von den Zügen naiven Glau-
bens sprechen, der Natur vergangen gewisse tradiüonell
gebilligte und uncrklärüche Einflüsse zuschreibt, wie
der Unfähigkeit einer Köchin, während der Menstruation
eine Mayonnaise zuslandezubringen oder derEmwirkung
der Mondphase auf das Verhalten und die Konservierung
des Weins? Es wäre jedoch verfrüht, solche Emwir-
kungen, so mysteriös sie erscheinen mögen, abzuleugnen.
Man muß vielmehr auch die Möglichkeit ms Auge
fassen, daß solche Phänomene auf Katalyse, Strahlungs-
wirkung, Ionisierung oder andere noch unbekannte Phä-
nomene zurückzuführen smd. ^ t, - t, ^-
Es ßibt schließhch auch abergläubische Brauche, die
vorerst nichts mit Magie zu tun haben und spaterhm
dann doch diesen Anschem gewinnen. So hat sich zum
KpisDiel die Angst, drei Zigaretten an derselben Flamme
.luzündcn, seit dem Burenkriege eingebürgert Die eng-
r ■ hen Soldaten waren kaum daran gewöhnt, sich zu
rcl-eu und zündeten in der vordersten Linie ruhig ihre
yLarctlen an. Das erste Aufleuchten erweckte die Auf-
merksamkeit des Wachpostens der Buren, das zweite er-
nöalichle ihm das Einstellen des Gewehrs in die be-
ireffende Richtung, das dritte bot ihm dann ein be-
quemes Ziel für den Schuß.
Solche Vorgänge zufälligen empirischen Ursprungs,
die dann schließlich magisch umkleidet werden, er- 11
scheinen besonders lehrreich. Es ist sicher kein Zufall, |||
daß der Volksglaube sie mit übernatürlicher Macht
umgibt; angesichts der Allgemeinheit und Beharrlich-
keit derartiger, wenn auch oft getarnter Manifestaücnen
muß man sich fragen, auf welche primitive Triebkraft
dieser Durst nach Glauben an die Magie zurückzufüh-
ren isl. Es ist daher zweckmäßig, wenn wir nun unter-
205
suchen, wie sich ein Glaube systematisch bildet und
sich aus ihm ein Ritual ableitet.
Freud hat dem Ursprung des magischen Denkens ein
besonderes Studium gewidmet, wobei er die phylogene-
tische Entwicklung und die Manifestationen, die er in
der Psychoanalyse der Neurotiker wiederfand, einander
gegenüberslellte. Am Ausgangsi)imkt der aggressiven
Tendenzen findet er uneingcstandene, vor allem auf
den Vater gerichtete Todeswünsche. Diese, dem Gewis-
sen unannehmbaren Gefühle werden sofort ins Unbe-
wußte verdrängt, wo sie ein tiefes Schuldgefühl erzcu-
gen. Die verdrängten aggressiven Strebungen werden
dann auf die anthroiwmorph aufgefaßte Außenwelt pro-
jiziert. Die innere Gewißheit der gcfürchlcten Strafe
bringt den Primitiven dann dazu, seine feindseligen
Strebungen auf die „Seele" der Gegenstände der Nalur-
kräfte, der Toten, der Dämonen zu übertragen und sich
in den magischen Riten eine Rüstkammer zu ihrer Be-
zwingung zu errichten.
Diese geniale, auf eine Fülle von Tatsachen und Be-
obachtungen gestützte Auslegung, scheint einer sehr all-
gemeinen Entwicklung Rechnung zu tragen. Ihre An-
wendung erstreckt sich wohl besonders auf die schwarze
Magie, die infolge ihrer Verhexungen und ihrer Pakte
mit den Dämonen vor allem von sadistischen Ten-
denzen herkommt.
Man könnte sich aber fragen, ob es für eine große
Anzahl von Geisteshaltungcn des Primitiven und des
Kindes nicht eine andere Erklärung gibt Kann es ge-
nügen, nur aggressive Gefühle als ursprünglich anzu-
nehmen, die sich gegen Feinde als Ersatz der Vater-
imago richten, und die deshalb dem Bewußtsein un-
erwünscht sein müssen? Hei einem jungen, gesunden
Menschen gibt es doch wohl auch einen kaum bewuß.
ten Zustand des Wohlbefindens in der Aktivi-
tat. Diese Euphorien, die eher physiologischer, ich
möchte sagen, mehr kynästhetischer als intellektueller
204
Nalur si>,d, weisen sich im Retinden durch eme A-vl^ge
zum Spid, zu sorglosem Sich-Ausgeben.S.e Schemen s.ch
frühze lis! auf das erwachende »'=^"«^'"^""01:"
gewisses Kraft- und MaehtRefühl .u "^er ragen^ D ese
anRcnehme Illusion strebt aus sich selbst nach Bestati
gung und Ausdehnung. 2eit noch
Da eine vernunflffcmaße Kr>tik zu a
nicht existiert, könnte <üe ™.»8'-f "^J "^^/„"^n s i o n s-
sehr vereinfachte Rationahs.erung emes ^E^x^P^ ^ ^ ^ ^ ^ ^_
bedürfnisses, einer J* " """^ ,„„„6 Mensch, der
b e t ä t i g u n fi aufgefaßt -erde.>^Der^3U^nge M ^^^ ^^.^^
sich wohlbcfindet, fuhU sicn ^^^ Schöpfung,
genaue Formulierung geben - als KO fc ^^^^
Die hedonistische Tendenz drang^ Standpunkt einzu-
beherrschenden und unzugangUchen Stan p
nehmen. Schwierigkeiten, ihren Ver-
Die Realität "■''''^^"Leiden dringt sich aber ge-
zichtforderungen, 'l^^" , „ ^^^„ei der Außenwelt an-
waltsam da^^'s-;^;^;;- ^^'^^Jh^. es ist weit einfacher,
zuerkennen, ist n cm o ^g„ ^„gen-
,e.en "--^^^^^^^^^^^ und man gibt
schein, zu »^"?"^" - ,. hkeit zu, durch eine souveräne
^"^' :;^f LtrifcÄwaUen zu bannen. Dies wäre
^J:^"" ^: fS^ris.^.e Obergang vom Wunsch zum
^ TalTchlich werden die Rechenfehler der magischen
Bräuche nicht dem Prinzip selbst angelastet sondern
dem Ausführungsdetail. Der Medizinmann kann sehr
wohl eingestehen, daß er sich in seiner Technik geirrt
hat, seine eingefleischte sichere Überlegenheit läßt aber
den Gedanken an ein Versagen nicht zu. Von diesem
Gesichtspunkt aus läßt sich die Geistesverfassung der
schwarzen afrikanischen Soldaten begreifen, die in den
Krieg besondere Amulette gegen die Kanone, das Ge-
wehr und die blanke Waffe mitnahmen. Wenn sie trotz-
dem verwundet wurden, lag das nicht an einem Fehler
205
des Talismanprinzips, sondorti an dem Zauberer, der
ein „schlechtes GriRi" jtdiefcrt hatte. Solche Dinge las-
sen sich also durch ein euphorisches Gofühl, dem man
nicht entsagen will, recht gut erklären.
In einer einigermaßen analogen Auslegungsmcthode
(Projektion des persönlichen Wunsches auf die Außen-
welt, nur schwach rationalisierte Negation entgegen-
stehender Elemente) schreibt Frazer: „die Menschen
haben irrtümlich den Lauf ihrer Ideen für den Lauf
der Natur gehalten."
Man begegnet dieser Projektion von Wunschsirebungen
auf die Außenwelt, dieser Weigerung, die peinliche Wirk-
lichkeit zuzugeben, bei einer Reihe von Kulturmen-
schen. Der zweite Mechanismus zeigte sich in voller
Deutlichkeil in der Antwort eines ehemals sehr reichen
Rentiers, der unlängst im Laufe eines Gespräches über
die Schwierigkeiten der Wellkrise und bei Erwähnung
eines eventuellen Zusammenbruchs des Francs ausrieft
„Nein! Das ist unmöglich, das wäre zu entsetzlich."
Die erste Einstellung, die Übertreibung des Macht-
gefühls, ist leicht im täglichen Leben zu entdecken.
Darbietungen athletischer Akrobatik, gelungene Taschen-
spielerkunslslücke, oder allgemein, jede Virtuosität, sind
wohl gerade aus diesem Grunde eine Quelle des Ver-
gnügens. Sie befriedigen das nahezu bewußte und ge-
wollte Illusionsbedürfnis, das den Menschen von den
geltenden Naturgesetzen befreit zeigt und dem Zu-
schauer schmeichell, der nicht weit davon entfernt
ist zu glauben, er und der Ausführende seien nahezu
dasselbe. Man hört in solchen Fällen oft mit dem Aus-
druck wirklichen Vergnügens: „Wie leicht das aussieht."
Weit stärker noch überträgt sich das Bedürfnis, die
Euphorie zu bewahren, in die Träume und Spiele des
Kindes. Es erscheint nicht unbedingt notwendig, dabei
eine aggressive Tendenz obligatorisch anzunehmen. Die
weit einfachere Erldärung dürfte genügen, daß das Kind
die Realität noch nicht vom Standpunkt des Wissens
206
aus sehen will und daß sein freudiges Lebensgefühl
ihm den Sprung zum Obergang des Wunsches
in den Glauben geslatlet. Selbst wenn sich das
Realitälsprinzip bei ihm geltend macht, und ihm die
Begrenzung seines Handelns zeigt, wird sein Drang,
sich vor sich selbst zu bewahren, noch eine Rechtferti-
gung finden: „Ich kann das nicht machen, aber nur weil
ich noch zu klein dazu bin; die Großen wie mem Vater
sind allmächtig; wenn ich groß bin, werde auch ich ma-
chen was ich will." Man sieht auch oft Kinder mittels
eines durchaus magischen Rituals versuchen, diese All-
macht durch Verkleidungen, Grimassen, durch ein Ge-
lallc oder Ausdrücke aus der Sprache der Erwachsenen
zu erlangen, um ihr Machtbedürfms zu bef-di^^^^^^
Wenn das Glück durch die Bestätigung der H-rr^^^h^J
-1, J-. Ä.,fx«nwpll bewahrt werden soll, tritt, voi
"t" 1 A« ine andere Form desselben hedo-
aUem am Anfang^^^ ^^^^ ^^^^^. ^^^ Ver-
nisüschen Instinkts --- ^^^^^^^^^ ,^, der Rea-
gcssen, ^'-^^^^Leugien der e ^^^^ ^^, ^^^^^
"1^ X L^S die sich für positiv eingestellt
A „nvorem-enommcn halten, sind wirklich fähig, zum
TahrersZlizismus vorzudringen, ohne dem Zwang
r^nps ^eidenschaftUchen Negierens zu verfallen? Wie-
viele können den Zweifel ohne Angst, ohne Aberglauben,
ohne Vorurteil ertragen?
Auch anscheinend durchaus wissenschaftlich und ra-
tionalistisch eingestellte Epochen und Kulturen entge-
hen dem Verlangen, reale Schwierigkeiten durch eine
Machtillusion zu kompensieren, kaum mein: als die an-
dern. Das Fehlen einer religiösen oder magischen Über-
zeugung wird recht häufig und nahezu ganz offen durch
eine neue wirkUche Mystik ersetzt; dabei eine offensicht-
liche Religion der Irreligiosität aufdecken zu wollen,
wäre reichlich banal Es wurde weiter oben schon ange-
deutet, auf welche Weise sie magisch umkleidet werden
kann.
207
Einen ßanz hesoiulercii Fall des Glaubeiis an die All-
macht des Dcnltens bildet die Christian science. Kür
diese Doktrin (deren Erfolg bei den an^^cblich positiv
eingestellten Amerikanern sehr groß ist) existieren Übel,
Leiden und Tod nur darum, weil der Mensch an sie
glaubt. Sobald er durch den Glauben dazu gelangen
wird, nicht mehr daran zu denken und sein Geist eine
bisher ungeahnte Macht erreichen wird, dann werden
auch alle Übel, die uns bedrohen, verschwinden.
Eine solche Überzeugung ist sclbstverslAndlich nicht
wissenschaftlicher Art, trotz ihres Namens; sie ist auch
nicht religiös, nachdem sie der göttlichen Gewall luir
eine sekundäre Macht zuteilt, die sich in den irdischen
Angelegenheiten kaum auswirkt; viel eher ist sie eine
Art Magie, denn für sie ist es vor allem das mensch-
liche Denken, das cigeutlich auf Menschen und Ele-
mente wirkt. In diesem besonderen Falle zählt aber auch
die Formulierung dieses Oeukons kaum; die Macht
ist hier nicht automatisch mit dem Ritus verbunden.
Die Christian science in ihrer gegenwärtigen Form
benutzt die Ennncrung an ein lief eingeprägtes Chri-
stentum und hat, da sie nur ein Minimum an jiersön-
lichcn Opfern fordert, das Verdienst einer irrationellen
Einfachheit. Sic ist auch imstande, gleichzeitig das my-
stische IJedurfnis und den Optimismus eines jungen
glühenden Volkes zu befriedigen, dessen Stilbslvertrauen
sie auf angenehme Weise exalliert. Sie hat mehr als
jede andere Lehreden Hegriff der Allmacht des Denkens
auf unsere Zeit überliefert
Die Ausbreitung des magischen Denkens, das sich auf
solche unbewußten Trostungswunsche gründet, ist viel
leichter festzustellen als das Anwachsen jeder etwas
stärkeren affektiven Tendenz. Ganz unabsichtlich bildet
sich eine systematische Fertigkeit in der Auswahl der
beobachteten Talsachen. Nur die günstigen Vorfälle wer-
den behalten und die andern eliminiert. Aus der gro-
ßen Anzahl aufgezeichneter Situationen konstruiert sich
so8
jeder zwangsläufige Koinzidenzen und diese allein wer-
den auf die Aklivseite der Überzeugung gebucht, wie das
bei Vorahnungen und Krank ho Usanzeichen der Fall ist.
Er schafft sich eine wirkhche Aufnahmsfähig-
k e i t, wie sie bei jedem Glauben zu finden ist
Bei dieser Gelcgenheil sei an den treffenden Ausspruch
eines Studenten erinnert, der dem verfehlten Experiment
eines Chemieprofessors beiwohnte; als dieser das Ge-
sehene um jeden Preis bestätigt haben wollte, rief er
aus: „Man muß es glauben, um es zu sehen."
Besonders als Ärzle und noch mehr als Psychoana-
lytiker müssen wir vorsichtige und strenge Kritiker un-
seres Urteils sein. Wir dürften zuweilen in uns selbst
eine Art Glaul>cn an eine wahrhaft magische Rolle des
Unbewußten vorfinden, dem wir die Kraft verschiede-
ner körperlicher Realisierungen zuschreiben, ohne daß
wir den äußeren Zusammenhängen Rechnung tragen.
Wir haben uns ebenso vor der Versuchung zu hüten,
mühelose Erklärungen auf die Anwendung von Aus-
drücken zu gründen, die wir vielleicht ein für allemal
angenommen luihen und die in der Behandlung irgend-
wie die Rolle von Bannsprüchen spielen sollen.
Es bleibt nun noch zu untersuchen, warum und wo-
durch sich im Leben jedes einzelnen ein Ritual magi-
scher Art bilden und festsetzen kann. Vor allem drängt
sich dem Geiste leicht eine symbolische Analogie auf.
Man stellte fest, daß ein wichtiges Ereignis mit einem
anderen zusammenfiel, das an sich unbedeutend und
mit dem ersten in keinem rationellen Zusammenhang
stand. Von da ist es nicht mehr weit, bis man unbewußt
eine kausale Verknüpfung annimmt und der Wieder-
holung des zweiten Ereignisses die Macht zuschreibt,
das erste, uns überraschende, hervorzubringen. Dieser
Mechanismus, der für die Form des Ritus bestimmend
ist, scheint den Ursprung des individuellen Aberglau-
bens bei zahlreichen Spielern zu bilden.
U Almanach 193:> j2oQ
Für den Geist ist die Benülzung eines Rituals üIkt-
dies ein großer ökonomisclicr Vorteil. Ks ist eine all-
gemein bekannle TaLsaelie, daß wir Überlegungen und
Entsclieiduiigeii soviel wie möglich zu vermeiden su-
chen. Wenn eine Menge unserer Haltungen nicht im
Voraus geregelt, unsere Reaklioacu nicht aulomatisch
beding! wären, dann wäre prakliseh an einen geordne-
ten Ablauf des täglichen Lebens niclit zu denken. Die
banale Feslslellung, dali jede vollbrachte Handlung in
der Wiederholung Icichler wird, besieht hier zurecht.
Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Anwendung der
Formeln ebenso wertvoll für die Mnemotechnik, wie
angenehm für die Wiederherslellung eines affektiven
Zuslandes. Im Anfang hat der Ritus wirklich Daseins-
berechtigung, hat symbolischen Wert, er dient der He-
schwörung, er besorgt eine Vereinfachung; in der Folge
aber löst er sich in eine leere Formel l)ewußten Inhalts
auf und gewinnt dun Anschein eines kategorischen Imjxi-
ralivs. Er steht außer Diskussion und bedarf keiner
licgrimduiig.
Ist diese Entwicklung nicht in den Vorschriften eines
gegebenen sozialen Milieus über das, was „schicklich"
ist, wiederzufinden? Noch bis vor kurzem galt es in
vielen Familien als feslsiehend, daß man einem jungen
Mädchen nur ein Schmuckstück anbieten konnte, in
das keine Diamanten gefaßt waren, Wollte man nun den
Grimd einer solchen Einschränkung erklärt haben, lau-
tete die Antwort obligatorisch, wie sie sein mußte: „Das
tut man nicht." v
' Dieses ne<Iürfnis nach Aulomalisierung in der Form
des Rituals haben übrigens alle sozialen Organisatoren
erkannt und ausgenutzt. Ich will gerne zugeben, daß die
Form des Ritus umsomehr Ciiancen der Annahme und
der Wiederholung hat, als sie den hau|>lsäehlic]isten
symbolischen Werten für die individuellen Strebungen
jedes einzelnen entspricht. NiclUsdeslo weniger glaut)e
ich, daß man den Menschen willkürlich ciuea Rrauch
210 I .. .
aufzwiii<ien kann, dessen erstes Verdienst es ist, ein-
fach, starr und befohlen zu sein. Es scheint, daß er
in diesem Falle sekundär seinen affektiven Wert erhält
und in einem KolIektivgefQhl, an das er sich wendet,
zur WirkuH"^ kommt. Beispiele davon sind in allen
sozialen Organisationen zu finden, in erster Linie im
juridischen und im militärischen Apparat.
Alle jene, die Menschen zu lenken haben, kennen im
Durchschnitt den Vorteil, den die Ausnützung dieses Be-
dürfnisses nach einem automatisch und rituell geregel-
ten Leben bietet, zumal nach dem gewöhnlichen Ab-
lauf der Dinge die Initiative der sogenannten „Intelli-
genz" und die von ihr gewünschte freie Auswahl allent-
halben stark gefürchtet werden.
Wenn die Verwendung des Ritus und des magischen
Bedürfnisses vom sozialen Gesichtspunkt aus bequem
und für die tägliche Mühe ökonomisch ist, hat sie
außerdem noch einen wirklichen affektiven Wert. Sie
ermöglicht es oft genug, dem Gefühl der Verantwor-
tung und der Schuldhaftigkeit zu entgehen. In vielen
Fällen erscheint es wertvoll, im Voraus alle unvorher-
gesehenen Probleme gelöst zu wissen, der moralischen
VerpflichUmg sie zu lösen und der Gefahr sich zu
irren aus dem Wege zu gehen. Durch den Vorgang des
magischen Aberglaubens gibt man seinem Über-Ich die
Genugtuung, „das Notwendige' getan zu haben, sich ruhi-
gen Gemütes die Hände waschen zu können und die
Verantwortung los zu sein.
Die gefühlsmäßige Beruhigung wird erreicht, wie im-
mer das Resultat der Unternehmung ausfällt Wenn
man aus einer rein animistischen Geisteshaltung her-
aus gehandelt hat, liegt der Fehler im Falle des Ver-
sagens an der Technik und nicht am Prinzip ■ man
befindet sich ungefähr in der Lage des afrikanischen
Soldaten, dessen Talisman schlecht gewählt oder an
unrichtiger Stelle war. Wenn man von einer mehr
religiösen Einstellung ausgegangen ist, bedauert man,
daß die überualürliclic Macht trotz aller Inbrunst der
Seele sich nicht erweichen licli. Und wenn man nur aus-
schließlich wissenschaftlich vorgehen wollte, wird man
sich nichtsdestoweniger mit dem Gedanken trösten, sein
Möglichstes getan zu haben.
Im Leben der Kulturmenschen l>egcgnet man zahl-
reichen Anwendungen des Iicsli*ebcns, eine unangenehme
Verantwortung durch eine Handlung zu ersetzen, von
der man weiß, daß sie an sicli wenig wirksam ist; die
Formel und das Zeremonial genügen aber, um jede
Unruhe, wenigstens unmittelbar, zu besänftigen. Ihre
Anwendung zieht übrigens aus einem erst seit kur-
zem eingebürgerten Ausdruck Nutzen. Angesichts eines
Problems, das man nicht lösen kann, beeilt man sich,
es mit Hilfe einer magischen Geste „zur Lösung zu
bringen", das heißt ihm ein befriedigendes, wenn auch
illusorisches Ansehen der Lösung zu geben. Oder ge-
schieht etwa etwas anderes, wenn man, wie so oft, in
einer wissenschaftlichen oder einer anderen Versamm-
lung angesichts einer unüberwindlichen Schwierigkeit
„eine Kommission ernennt" und alle Welt zufrieden ist?
Das Wort „magisch" kann hingegen im gewöhnlichen
S])rachgebrauch in ofl'enbarem Widerspruch zu seinem
Sinn so gebraucht werden, daß es keinem übernatürlichen
oder animislischen Glauben entspricht, sondern eine
einfache Metapher darstellt. In gewissen Indien beur-
teilt man zum lieispicl als magisch Apparate, Vor-
gänge oder Ereignisse, die ein Wimder zu sein schei-
nen, von denen aber jedermann weiß, daß es sich um
natürliche, genial kombinierte und dargestellte Phäno-
mene handelt. Wenn man also von einer Latcrna magica
spi-icht, so läßt das Wort darum nicht auf einen Glauben
an die Magie schließen. Man könnle fast sagen, daß es
im allgemeinen magische Ideen nur dort gibt, wo dieses
Wort nicht ausgespix)ehcn wird; in der gegenwärtigen
Gesellschaft wenigstens weiß jeder, daß er besser daran
312
tut, sich nicht zu einem Glauben an die Magie zu be-
kennen. Man muß also den im Unbewußten harrenden
Glauben unter der Last der Worte, die ihn bedecken,
aufsuchen. ÄhnHch, wenn auch anders nuanciert, liegt
der Fall, wenn man von der magischen Macht einzel-
ner Menschen auf andere spricht, um ihre reale und
wahrhaft überraschende Wirkung auszudrücken. Diese
läßt sich indessen auch wissenschaftlich durch ver-
schiedene Grundbedingungen erklären. Bei der wun-
derbaren Persönlichkeit liegen wohlbekannte Faktoren
vor, wie Selbstvertrauen, leidenschaftliche Exaltation,
starre Verfolgung einer einzigen Idee, Unempfindlich-
keit gegen das Lächerliche, unermüdbarer Starrsinn,
autoritatives Auftreten, tragende Stimme usw. Von Sei-
ten der Zuhörer und Zuschauer kommen ihr Aufnahme-
tendenzen entgegen : Gemeinschaftsgefühl, der Wunsch
überzeugt zu werden, das Spüren einer starken Auto-
rität, Bedürfnis nach Leitung, der durch eine faszinie-
rende Aureole schon bestätigte Ruf usw.
In diesem Falle handelte es sich einfach um ein indi-
viduelles oder kollektives Ül>erlragungsphänomen, das
sich im genannten Punkt vollzieht. Da die handelnde
Person Saiten anschlägt, die nur zu schwingen verlang-
ten, erzielt er ein an das Wunder grenzendes Resultat
Darum handelt es sich wohl immer, wenn man die
Führer der Menge, die .Apostel, die Tribunen, die Heil-
künstler betrachtet. Das unbestrittene Prestige mancher
Ärzte erklärt auf diese Weise die wirklichen und über-
raschenden Resultate, die sie unter dem Mantel der
magischen Macht, zum Beispiel durch ihren Blick er-
reichen. Man braucht wohl nicht besonders darauf hin-
zudeuten, daß die Wirksamkeit durch mehr oder min-
der absichtliche Maßnahmen oft vermehrt wird, von
der einfachen intuitiven Verschlagenheit bis zur raffi-
niertesten Inszcnicrungskunst.
Es wäre eine interessante, wenn auch sehr delikate
Aufgabe, festzustellen, in welchem Ausmaße bei derart
313
beeinflußlcn Menschen ein manischer Glaube mitspielt.
Er dürflc in sclir verschiedenen Graden auftreten, meist
aber mit einer sckuii<];iren Ualionalisierung. Es hat tat-
sächlich den Anschein, daß man sich anfangs von rein
affektiven iml)e\vußlen Strel)ungen leiten l;i(5l: dem
masochislischen Hedürfnis beherrscht zu werden, der
aggressiven Tendenz zur Teilnahme, dem Bedürfnis nach
Spannung und Tröstung, dem Ansteigen einer mehr
o<ler minder verliebten Sympathie usw. Statt die ge-
fühlsmäßige Anziehung zuzugcl)en, werden aber viele
versuchen, sie äußerlich zu reclillerligen und sie dem
Passeparloul der unwiderstchlicIuMi Wirkung magischer
Einflüsse zuzuschreiben.
Diese Erscheinung isl weit häufiger oder weit leichler
bei den Neuroliliern zu beobachten. Wenn der Krank<;
eine eifersüclitig bewahrte Ivranklieitseinstelluiig aufge-
ben muß, zieht er es vor, die Obertragung, die il'^n hem,
auf eine unpersönliche und unwiderstehliche Macht statt
auf eine freiwillige Entsagung zurückzuführen, lün Ober-
biciljsel magischen Glaubens liefert ihm den Vorwand,
um sich in vollen Kricgsohreu zurückzuziehen. Dieser
Mechanismus dürfte sich am häufigsten l)ei der Auf-
gabe sichtbarer körperlicher Sym|)lomc der Hysteriker,
zuui Heispiel nach einer schmerzhaflen Elcklrisicrungj
al)spiclen. • ■ .-.
Zusammenfassend können wir sagen, daß dem Glauben
an niagisclie Mogliclikeilen im Alllagsleben eine sehr
bedeutende Holle zukommt. Er zeigt sich als eine (k'-
legenheil, dauernde Schwierigkcilen besser zu ertragen,
ein angenehmes Seli)slvertrauen zu bewahren, geistige
Wirkungen in automatische uiul daher ökonomische zu
verwandeln. Man begegnet ihm häufig bei Personen,
die sich für frei von jedem unwissenschafLliehen Vor-
urteil halten.
214
Symposion über die Psychologie von
Krieg und Frieden
Von Edward Glover und Morris Ginsberg, London
Am i3. Dezember 1933 fand in der Medical
Section der British Psijchological Socie%eine
Diskussion über „The Psychologg of Peace
and War- zwischen Dr. Edward Glover,
Drector of Scientific Research des Londoner
Agchoanalijtischen Instituts und Dr. Morris
Ginsberg. Professor der Soziologie an der
Unversital London, statt. In der Aussprache
ergriff auch der bekannte Psychoanalytiker
Dr. John Rick man das Wort D^e Wech-
selrede r^/ im „British Journal of Medical
Psifcholoor (yol. XIV, 193^) veröffentlicht
worden, mit dessen Zustimmung nachfolgen-
der Abdruck (in deutscher Übertragung von
Dr. Helmut Polt) erfolgt.
EDWARD GLOVER: Ich hege den besümmten Ver-
Hnrht daß das heutige Symposion über Krieg und
Frieden zu dem Zwecke veranstaltet wurde, um uns
Pinc Art Erholung von den vorangegangenen anstren-
genderen Arbeilen der medizinischen Abteilung unserer
resellschaft zu verschaffen. Wenn dem so ist, dann darf
ich wohl behaupten, daß das Komitee mit seiner höchst
lobenswerten Absicht vom Eiskasten in die Esse ge-
raten ist. Wir wurden eingeladen, eines der drmgUch-
slen und verwirrendsten Probleme zu erörtern, vor wel-
che die Individual- und Sozialpsychologie gestellt sind.
Ganz abgesehen davon, daß die Wellen des Krieges
äußerst schwerwiegende Folgen für die Menschheit ha-
ben, so führten die Fragen, die dabei auf dem Spiele
standen, in der Vergangenheit dazu, daß sich Kirchen
spalteten, politische Reformer einander an die Kehle
gerieten, und die letzte, aber keineswegs geringste Folge
war, daß bitterer Hader unter den Psychologen selbst
215
entstand. In tcrminis tcchnicis ausgedrückt, würde die
Hauptfrage etwa folgendernialicn lauten: Welche reak-
tive Bedeutung haben die Umweltfaktoren für die Ent-
stehung menschlicher Konflikte im Vergleich zu (inner-
lichen) endopsychischen Faktoren? Wenn man wie ich
an die überragende Bedeutung endopsychischer Fak-
toren für die Begründung menschlichen Verhaltens
glaubt, insbesonders jener Faktoren, die im vollen, also
im deskriptiven, topischen und dynamischen Sinne des
Wortes unbewußt sind, dann muß man annehmen, daß
der Schlüssel zu dem Rätsel „Krieg" — wenn ich einen
Ausspruch von Major Ycals Brown entlehnen darf —
„klafterlief im menschlichen Unbewußten liegt". Dieser
Glaube führt in seiner weiteren Folge unvermeidlich
zu dem Schluß, daß eine I.ösung des Kriegsproblcms
— Versuche, das Problem zu übergehen, sollten davon
scharf unterschieden wer<len — niemals erreicht wer-
den kann, bis es den Menschen gelingl, nicht mir ihre
eigenen unbewußten Triebe und Mecliaiiisincn zu ver-
stehen, sondern bei der Bewältigung <liüscr Triebe
und der Regelung dieser Mechanismen selbst Hand
anzulegen. Ich bin ferner der Ansicht, daß es eine
schwere Irreführung der besten Kräfte bedeutet, wenn
man die Präventivmaßnahmen auf ethische, rationale
oder ökonomische Gesichtspunkte konzentriert und die
unbewußten psychologischen Faktoren vollsländig ver-
nachlässigt. Jede Form von Pazifismus, die das tut,
müßte eigentlich auf ihre wirklichen Beweggründe un-
tersucht werden. Ich vermute, daß mir diose letzte
Folgerung stark angekreidet werden wird und werde
nicht versuchen, einer soltihcn Kritik Widerstand zu
leisten. Ich kann Sie nur daran erinnern, daß nach dem
Sprichwort zum Streiten zwei geboren. Auf dem Ge-
biete der klinischen Psychologie und Psychiatrie ha-
ben wir gelernt, daß zur Bildung t'ines Konflikts zwei
Reihen cntgegongest'lzler Strebungen nötig sind. Ein
neurotisches Symptom ist nicht einfach auf den Aus-
ai6
bruch primitiver Triebe zurückzuführen, sondern stellt
eine Kombination verdrängter und verdrängender Kräfte
dar. In der Schulpsychologie erfahren wir von unsern
unbewußten Kräften erst dann etwas, wenn wir die ge-
gen diese Kräfte aufgerichteten Reaktionsschranken stu-
dieren, jedenfalls also Schranken, die ins Bewußtsein
hineinragen. Es ist ein verderblicher Irrtum, anzuneh-
men, daß der Krieg lediglich ein Durchbruch des pri-
mitiven menschUchen Trieblebens, zum Beispiel ein-
fach irrsinnig gewordene Selbslerhaltung sei. Kurz, der
Krieg wird uns ein unlösbares Problem bleiben, bis wir
verstehen, was Frieden ist. Und wir scheitern bei der
Kriegsverhütung, wenn wir es versäumen, den Pazifis-
mus zu analysieren.
Sie werden dem bisher Gesagten entnommen haben,
daß die Methode, mit der ich mich diesen Dingen zu
nähern versuche, auf denen der medizinischen Psycho-
logie im allgemeinen und denen der Psychoanalyse im
besonderen beruht. Ich nehme an. daß Krieg wie Selbst-
mord oder Globus hyslericus eine Krankheit oder, bes-
ser, eine funktionale Abnormität oder, noch genauer,
eine unzureichende Form von Triebanpassung darstellt.
Wie andere Fehlanpassungen erfordert auch diese ge-
naue Unlersuchung einerseits zum Zwecke der Dia-
gnose, anderseits zum Zwecke der Heilung.
Ich möchte Sic nebenbei daran erinnern, daß bisher
noch keine psychologische Tnlersuchung des Krieges
nach sysleniatischon Gesichtspunkten versucht wurde
— eine Tatsache, die an sich schon einen recht selt-
samen Kommentar zu der so sehr gerühmten Vernünf-
ligkeit der Menschen liefert. Ich bin dabei auf den so-
fortigen Einwurf gefaßt, daß der Krieg wesentlich ein
soziales Phänomen darstellt und seine Untersuchung
daher Aufgabe der Soziologie ist; ferner daß ein Er-
klärungsversuch mit Hilfe der Psychologie des Indi-
viduums zu einem großen Teil auf Analogien aufgebaut
ist, die vicUcichl lücUt zutreffen. Die Psychoanalyse hat
E117
darauf zwei Einwämlc: erstens, <lie wissonschaflliche
Soziologie heschränkl sich mit Aiisiialunr Üirt-r anthro-
pologischen Abtcihin^eii hauplsärhlicli auf <lie ratio-
nalen Gesiehlspuiikte der Griipi)cnaklivilät und l>ctrach-
let daher das Kriet^sproblem natürlich von einem fast
ausschließlich rationalen Staiult)unkt. Diesem Versäum-
nis sucht der Psy('ll"IoHl^ tier seiue I^rfalirun^en am
Individuum gewonnen hat, abzuheilen. Der zweite Kin-
wand dürfte mehr Widers])ruch erwecken. Er Ixjzicht
sich darauf, daß es kein verh'ißliclies Wissen über
Grnppcnbeziehnnj; geben kann, che nicht die Sozio-
logie der ersten fünf Lebensjahre ersehüi)feud festge-
legt ist. Zu diesem Gebiete lial allein der Psychologe,
der Individuen studiert, Zutritt. Seine vorteilhafte Posi-
tion wir<I dadin-ch um nichts gemindert, dalJ die Psycho-
logen wegen dvr Psychologie der Kindheit einander
noch in den Haaren liegen. Im Gegenteil, diese Tat-
sache an sich beleuchtet schon die Notwendigkeit der
Forschung. Solange diese Forschungen nicht endgültig
abgeschlossen sind, werden soziologische Untorsuehun-
gen des Krieges starken Irrtümern ausgesetzt sein.
Mit Ihrer freundlichen Erlaubnis will ich nun die
Details der Untersuchung einen Augenblick zu Gunsten
einer vorläufigen Diagnose ül)erspringen. Diese Diagnose
ist an sich gewiß nicht originell: Der Krieg ist häufig
eine soziale Psychose oder ein sozialer Wahnsinn ge-
nannt worden. Die Psychoanalyse hat indessen das
Verdienst, dieses Schlagwort ernst genommen zu haben.
Sic ist dazu üliergegangen, die Lelwnsgeschiehte des
Durchschnittsindividuums darauf zu untersuohcMi, ob mid
wann es Zeichen von Psychosen zeigt. Von ihrer Er-
fahrung an Abnormitäten Erwachsener zur Untersu-
chung der Entwicklung normaler Kinder getrieben, hat
sie die völlig einfache Entdeckung gemacht, daß das
Verhallen aller Kinder bis zum Alter von ungefähr drei
Jahren dem Typus nach psyciiolisch ist, das heißt also,
daß die primitiven Triebe des Kindes, seine archaischen
218
Ängsle und seine bizarren Reaktionen auf die Reaütat
das Grund«c«cbc späteren Wahnsinns bilden. Wenn sie
mir eine l<leinc Obertreibung erlauben wollen, mochte
ich sagen, daß der Kern des menschUchen Geistes-
lebens so>vohl in individueller wie m sozialer Hins.ch
nach psychoüschen Muster geformt wurde und ge ornit
ist. Das Problem der Diagnose wird f^^urch einiger
-mit-^t;:uri.x f Hä
r;^z;;siirr^-sSe;™--- —
Angelegenheit. ^^^ ^^ ^^^^^^^^ Unlersuchungs-
Diese Spur ßnn eisentlich der Medizin angehören,
r'slf'vom" Abnormalen zum Normalen fortschreiten,
^ip Psvchologie des Abnormalen anlangt,
^^' "h> Entdeckungen der Psychoanalyse wie folgt
so s^'^"^';^,„„etaßt: Ein geistiger Zusammenbruch be-
Ifebiger AH ist die Folge des Wiederauflebens eines frü-
hen Kindheitskonfliktes mit dem primitiven unbewußten
ncstruktions- und Sexualtrieb. Im Verlauf des ursprüng-
lichen Kampfes mit dem Trieb entwiclielt und benützt
der Geist i» gleicher Weise primitive Abwehrmecha-
nismen. Krisen, die zu einer Geisteskranklieit führen,
sind, was immer ihren Ausbruch verursacht haben
mag, stets die Folge eines Versagens oder einer Hyper-
funktion dieser unbewußlen Mechanismen.
Wenn wir nun diese primitiven Mechanismen einge-
hender untersuchen, finden wir, daß es unter allen
Fi^CnllPilfn ties kindlichen Ini;enlebens in ihren Ur-
219
Sachen und Folgen keine drainalischeron «ibl als die
Abwehrmaßnahmen, die wir unler den Namen Intro-
jektion und Projektion kennen. Diese primitiven Me-
chanismen stellen zwei cnl^'t-^^en^eselzte Ntrtluxien der
Behandlung eines inneren Hoi/.es <hir, besi)nders des
Reizes durcli aggressive und deslruktivc Impidso, Durch
das inlrojeklive System wenlen im (kMstc gewisse wirk-
same Idenlifizierungen aufgerichtet, die zur I'olge IialHMi,
daß übermäßiger M:di gegen äußere OI)jckle in weilem
Ausmaße gegen das eigene Selbst gerichtet werden
kann- im projciitiven System wird ein iibermäßiger
innerer Heiz als Frem(lköri)er iH'handelt, auf äußere
Objekte übertragen und die Aggression auf diese ge-
lenkt. Diese MusterlHMspiele kindliclien Lehens zeigen
sich in Karikatur bei dn\ melancholischen und para-
noiden Psychosen der Erwachsenen. Sic enlsprcclien
auch dem inneren Aufbau <U's Selbstmörders, bezie-
hungsweise des Mörders. Ihre Wirkung ist indessen
nicht auf abnorme Krisenzustande beschränkt. Sic for-
men den Charakter, das Temperament und das Schick-
sal des DurchschnittsnuMiscluMi. Ks ist wirklich kaum
übertrieben, wenn wir sagen, daß die Kulturprozesse
der Introjcklion mehr zu verdanken haben als irgend-
einem anderen priniärou uid)ewußlcn Mechanismus.
Ich will nicht dm hoffnungslosen Versuch unter-
nehmen, in diese kurze Kinleilung alle Stadien klinischer
Forschung zusammenzudrängen, durch die wir zu einer
Schätzung der unbewußten Kräfte und Anlagen des Men-
schen gekommen sind. Ich hoffe, Sic indessen durch den
Hinweis auf die Wichligkeil drr frühen Inlrojektions-
und Projektionsmusler auf <lie folgenden Schlüsse vor-
bereitet zu haben. Wir folgern also, daß die Kriegs-
phänomene, insofern äußere Feinde vernichlend getrof-
fen werden sollen, die Wirkung von Projoktionsmccha-
nismen darstellen, lieim Pazifismus hatten die Intro-
jektionsmuster im Großen und Ganzen den Vorrang. Die
destruktiven Triebe wurden nach innen gewendet und
220
r
«ehemm,. Es ist zwar richUg, daß au h de az ^st
noch einen äulierca Kcind '"«"^''^t" iff ^efgt verschie-
is. iedoch der Kne« selbst der Aa8r.njejg„„„g „der
(leiic l-oniieii und rciclU von a« ^^ ^irt-
de,n Vorwurf bis zur -^■^ß-;!:,^;"JSnen oder, bei
schurtüchen oder P'^li"^'^^"^ einer internationalen Po-
den aklivsten, zur E''--'>""|.„^:°" Schluß, den ich an
Uzci. Wir kommen hier ^"/' j^nt habe: Bei ge-
auderer Stelle «"^'^»^^'^'^•^^.„^f St es sich, daß die
Bügend allgemeiner l^f f J'^','«,eU,ln QueUen stammen
Energien des Vazif.smus aus dense
wie jene, die den Kr.eg '^''^''^^^^^^^^ das Verhalten je-
Noch bedcutungsvoUer ist in ^^^ sogenannten
„er g«.ßen "■^''lassita.erbaren Grupp ^^^ R,,ktionen
großen Publikums, dessen Älemung ^_^j,^,^,henbar
tälueud jeder Kriegskr.se an^^"« ^^^^^^
und am Ende so .»^^ ""^„^e m»^^« '''' öffentUchen
Lethargie ist d'% '"^"'derKrieges, Die Mechanismen
Meinung die »«"P'^';'^" j'ktion haben hier ungefähr
der l.'tx^i'^'^'^«".^ ,e?ührt einem Gleichgewicht, des-
,u einem Ausgleich &f^^ durch Verdauungsbe-
sc„ Schvvankungen eb nsog ^.^ ^^^ q^^^^u,.
schwerden ^!\f.^terdTn\önnen. Die Nachteile die-
sehallner berichügt -«rd^" ^^ ^^.^^^^^^ ^.t. Erstens:
scs Gleichgewichtszustanaes ,,,irkUch dringendes
l, DurchschinUsmensia.r U^^^^^ ^^^ ^^^^^
inneres P'^^'^^'^'l^^^ des Kriegsproblems leicht
^'^ '""'"■%«» da Gleichgewicht hält der bei
übersehen; ^^"'^^/^ f,hr ausbrechenden Aufregung
unmittelbarer Knegsge ^^^^ ^en Alltags-
""•^ Tht' rmwllnSommen. daß das Kriegs-
"'".,„^1^ Grunde das Problem seines eigenen Un-
?Srtig, um ein Pazifist zu sein; der Pazifist ml
seinem dringenden Bedürfnis, zu Schlüssen und Resul-
taten zu kommen, ist zu miütant, um erfolgreich zu
221
sein, und der Militärist hat ein derart verzweifeltes
Bedürfnis nach innerpsychischem Krieden, dal5 er den
Kric«,^ nicht aufgeben kann.
Noch eine Bemeriiung über die ätiologische Seite des
Problems. Bei der Erforschung der Wirkung unbewuß-
ter primitiver Mechanismen drängt sich einem stets
ihre große Stärke auf, besonders im Vergleich mit der
fast rührenden Schwäche bloßer Vernunft. Je näher
man aber diese Stärke prüft, umsomehr zeigt sich, daß
sie letzten Endes eine Quelle der Schwäche ist. Primi-
tive innere Mechanismen haben das Bestreben, als kate-
gorischer Imperativ zu wirken, darüber liinaus fordern
sie gerade die Krisen, die sie eigentlich beschwichtigen
sollten. Es scheint uns recht befriedigend, wenn ein
Kind, das zwischen einer übermächtigen Furcht vor
seiner Mutter und einem zwingenden Bedürfnis nach
ihrer Liebe hin- und hergerissen wird, diese Angst
dadurch meistert, daß es sie auf einen Hund, sagen wir
einem französischen Pudel überträgt. Vorausgesetzt, <laß
sich nicht allzuviele französische Pudel in der Nähe
befinden, wird sich hier eine Zauberleistung des Un-
bewußten zeigen. Weit weniger befriedigend ist es dann
wenn dasselbe Kind erwachsen wird und nach und
nach die Überzeugung entwickelt, daß es für den I'>ie-
den Europas vorleilhaft wäre, wenn alle Franzosen
ausgerottet würden. Wenn alle jenen primären Mecha-
nismen zur Verarbeitung der tiefsten Angst und des
tiefsten Hasses, wie sie mm einmal Erbteil des Men-
schen sind, durch eine unsichtbare Schranke der Ver-
drängung verstärkt werden, dann kann, wie man wohl
versteht, die endgültige Katastrophe in jedem Augenblick
hereinbrechen. Denn wenn wir auch Grund haben
jede Sekunde des Tages und der Nacht für unsere
Kräfte der Verdrängung dankbar zu sein, so können
wir uns doch nicht verpflichtet fühlen, wenn und so-
bald unsere BUndheit uns an den Rand des Abgrundes
führt. °
222
Man muß Schwäche und Stärke der unbewußten Me-
chanismen gut im Auge behalten, denn an der Genauig-
keit unserer Schätzung für ihre Wirkung steht und
fällt jede pazifistische IJemühung. An dieser Stelle müs-
sen wir auch den Pazifismus als eine Art Heilbehand-
lung zu betrachten beginnen. Die ärztliche Behandlung
ist zum Teil selbst von pazifistischen Idealen geleitet ;
ihr Schlagwort ist „Friede durch Leistung'*. Sie unter-
scheidet sich von vielen Arten des modernen Pazifismus
dadurch, daß sie ihre Ziele durch eine zuweilen er-
barmungslose Aggression gegen die Krankheitsursachen
erreicht.
Wenn wir der Ansicht zustimmen, daß Krieg eine
Form von sozialer Krankheit ist, die eine Behandlung
erheischt, dann müssen wir auch einen vorläufigen
Überblick über die bereits bestehenden therapeutischen
Methoden geben. Der leichteste und wie ich glaube
beste Weg, die gegenwärtigen pazifistischen Ziele zu
klassifizieren, ist der, sie nach dem Gesichtspunkt der
Triebabwehr zu ordnen und hierauf den lärennpunkl
zu beobachten, gegen den sie gerichtet sind.
So könnte man eine einfache Gruppe die „Hemmungs-
ifruiJpc" nennen, die wieder geleilt werden kann in eine
moralische Untergruppe, deren ethische Bemühungen
mit Hilfe des menschlichen Gewissens gegen den Trieb
gerichtet sind, und eine physikalische Untergruppe, die
sich gegen die menschlichen Aggressionswerkzeuge wen-
det, sie durch Abrüstung beseitigen und, beziehungs-
weise oder, ihnen mit stärkeren Waffen (internationa-
ler Polizei) entgegentreten will. Eine zweite Gruppe
wäre am besten als Gruppe, die an den auslösenden
Impulsen angreifen will, zu bezeichnen. Sie greift ge-
radewegs bei den Umweltbedingungeu an und hofft,
durch die Änderung der wirtschaftlichen, politischen
und nationalen Organisation den Ausbruch des Krieges
verhindern zu können. Dieses System auslösender Im-
pulse geht letzten Endes natürlich auf endo psychische
325
Faktoren zurück. Das wirLschaflliche Argument bleibl
unverständlich, wenn wir nicht gewisse Selbsterhaltungs-
oder Erhöhungstriebe annehmen, welche entweder aul
die Umweltbedingungen reagieren oder sie fördern. Ge-
rade die Schwierigkeiten und Ängste, mit denen die
wirtschaftlichen Probleme verbunden sind, werden nur
durch die Annahme verständlich, daß nicht im Zusam-
menhang stehende emotionale Faktoren mit ihnen ver-
knüpft wurden...
Wenn wir nun systematisch an das Problem der Be-
handlung herangehen, dann folgen wir wohl am besten
dem Beispiel der ärztlichen Psychologie bei der Be-
trachtung individueller Krankheiten. Vier Hauptpunkte
müssen bei jedem psychischen Zusammenbruch beach-
tet werden: a) die auslösende Ursache, b) die Tiefe der
Regression, c) die Natur der betreffenden primären
Impulse, d) die primitiven Abwehrmechanismen, welche
der Krankheit entweder durch ihr Versagen oder durch
ihre übermäßige Funküpn, ihre charakteristischen Züge
gaben. Sobald der Arzt die Natur dieser Impulse und
Mechanismen, vor allem besonders ihre Schwäche oder
Stärke festgestellt hat, muß er entscheiden, a) ob die
betreffenden Mechanismen verstärkt werden, b) ob
sie nachgebildet, c) ob sie in ihrer Aktivität
herabgesetzt, mögUcherweise sogar ausgeschaltet
und d) ob sie durch andere ersetzt werden
können. Vor diese Entscheidung gestellt, teilen sich die
Psychotherapeuten ganz natürlich in hemmende Thera-
peuten, Suggestivtherapeuten und Analytiker.
An Hand dieser Grundsätze sind wir zur Schlußfol-
gerung gezwungen, daß sich die bestehenden pazifisti-
schen Ideale in vieler Hinsicht als unzulänglich erwei-
sen. Sie messen entweder den auslösenden Impulsen
zuviel Bedeutung bei oder legen sich auf moralische und
physische Hemmungen allein fest, beides Verfahren,
die sich in der psychotherapeutischen Praxis als ver-
derbUch erweisen. Es hat Jahrhunderte gebraucht, bis
224
man einsehen lernte, daß man Neurosen nicht heilen
kann, inaem man den Patienten bittet, sich zusammen-
zunehmen, indem man die Diät des nervösen Magen-
kranken ändert, indem man dem Selbstmörder den
Revolver oder die Whiskyflasche wegnimmt, oder in-
dem man sie alle zusammen in Zwangsjacken steckt.
Durch eines oder alle solcher Mittel können Probleme
zwar übergangen, aber niemals gelöst werden.
Kurz der Unterschied zwischen den meisten Arten
des Pazifismus und der individuellen psychoanalytischen
Therapie besteht darin, daß sie sich, wo radikale Me-
thoden bevorzugt werden, (gleichviel, ob sie am Indi-
viduum oder an den Umwellbedingungen angreifen) aut
ledigUch bewußte Impulse, Begründungen und Reaktio-
nen konzenlrieren. Wie ich fürchte, kommt dies emer
Anklage auf unfreiwillige Quacksalberei seitens der I azi-
fisten gleich; sie besagt, daß er sich an die Heilung einer
gefährUchen Krankheit macht, in der seligen Unwissen-
heit daß seine Diagnose unzulängUch ist. Obwohl nun
der 'Analytiker die geringste Meinung von der mensch-
lichen Vernunft zu haben scheint, zeigt er doch in seinem
Wirküchen Verhalten mehr Glauben als alle anderen
^ die verhältnismäßig große Leistungsfähigkeit des be-
wußten Urteils, das nach seiner Formulierung hingegen
durch die Unkenntnis der unbewußten raenschUchen
Kräfte und Ängste, die an ihrer eigenen Vermchtuiig
und der Vernichtung anderer arbeiten, nicht getrübt
oder verwirrt werden darf. Er hat wenig Vertrauen
in den Einfluß des bloßen bewußten Urteils auf unbe-
wußte Mechanismen. Unbewußte Spannungen müssen
wenigstens durch technische Mittel hinreichend gelok-
kert werden um die unwillkürlichen Mechanismen in
die Lage zu' versetzen, mit besserer Wirksamkeit zu
operieren Der Psychoanalytiker hat die Nützhchkeit
der Beschäfügung mit auslösenden Ursachen, das heißt
also der nächsten Ursachen des Krieges me bestrit-
ten. Er muß hingegen bei der Ansicht bleiben, daß
15 Almanach 1935 225
die Umwelttheoretiker erst die Grundlagen ihres eige-
nen Geschäftes erlernen müssen. Die Menschheit muß
erst eine Mögüchkeit linden, die es verhindert, daß
Drachenzähne in den fruchtbaren lioden der ersten
Kindheitsperiode gesät werden. Wir können es vorläu-
fig höchstens lait dem Raten versuchen. Der Versuch,
schwer sadistische oder masochislische Hinflüsse aus
der Umgebung des Kindes auszuschalten, ist kaum noch
begriffen worden. Es wurden wohl einige gut gemeinte
Experimente gemacht, schwere sexuelle Versagungen in
der frühen Kindheit auszuschalten; alle systematischen
Versuche hingegen, die Angst des Menschen durch Aus-
Schaltung seiner Haßreize zu vermindern, stehen noch
ganz am Anfang. Unsere Erfaliruugen hei der Psycho-
pathologie des Individuums gestatten keinen sehr opti-
mistischen Ausbück; wir dürfen aber jedenfalls sagen,
daß dieses Experiment allen anderen gegen den ICrieg
gerichteten Erziehungspläuen vorangehen sollte.
Ich hoffe, daß l^raktiker, die mit Suggestion und Er-
Ziehung arbeiten, nicht das unrichtige Gefühl haben
werden, daß ihnen durch die analytische Betonung
dieser Ausfülu-ungen die kalte SchuUcr gezeigt werden
soll. Den Entdecker einer brauclibaren empirischen
Maßnahme zur Verhinderung der Massensuggestion er-
wartet noch immer ein Nobelpreis und ein Monument
üi jedem Lande. Unsei-e Kollegen müssen aber au die
Arbeit gehen. Es hat keinen Smn damit zurückzuhalten,
weil in der Zwischenzeit unsere Forschungsinstitute
durch die Bomben des nächsten Krieges in die Luft
gehen könnten. Em solches Argument ist aus demselben
Iiol2 wie jener allzu rechtschaffene, fast ungesunde
Optimismus, der die P^orschungeu auf diesem Gebiete
mit einem „Ach wasi" abtut, und glaubt, daß wir bereits
zureichende Mittel zur Abschaffung des Krieges be-
sitzen. Das Problem des Schwarzen Todes wurde nicht
durch die Blumensträuße des Mittelalters gelöst, ebenso-
wenig wie das Problem der Hysterie durch den Teu-
aa6 ■::;■ „■■; .,-;
felsdreck der klassischen Periode gelöst wurde. Es ver-
gingen Jahrhunderte, ehe die Ursache der Seuche in
Forschungslaboralorien isoliert werden konnte, und die
Hysterie mußte warten, bis Sigmund Freud erschien.
MORRIS GINS BERG: Meine Aufgabe in diesem Sym-
posion ist, wie ich annehme, die, etwas über die sozio-
logischen Gesichtspunkte des Kriegsproblems und be-
sonders über die RoUe der Psychologie in der sozio-
logischen Darstellung zu sagen. Soziologische Diskus-
sionen des Krieges fallen im allgemeinen in zwei Klas-
sen. Es wurden erstens mit Hilfe der vergleichenden
Methode umlassende Untersuchungen über die Rolle
angestellt, die der Krieg in der Kulturgeschichte spielt
und die allgemeinen Gesetze für eine künftige Entwick-
lung festgelegt. Zweitens existiert eine ganze Menge
weniger umfassender Arbeiten von Historikern und So-
ziologen, die einzelne Teilfragen, wie den Einfluß der
Übervölkerung, die Suche nach neuen Absatzmärkten, die
verschiedenen Formen pohtischer Einrichtungen behan-
dehi. Man kann nicht sagen, daß eine der beiden For-
schungsarten bisher zu sicheren Resultaten geführt
hätte; die Gründe für dieses Versagen können hhigegen,
sofern sie überhaupt entdeckbar sind, für die Zielgebuug
künftiger Forschungen nützüch sein.
Beispiele der ersten Art sind die Verallgememerungen
Auguste Comtes und Herbert Spencers. Gomte
behandelte den Militarismus im Zusammenhang mit dem
Dreistufengesetz. Ebenso wie die Menschheit nach seiner
Ansicht in ihrer theoretischen Entwicklmig vom theologi-
schen oder fiktiven Stadium zur metaphysischen Den-
kungsart und schließlich zum Positivismus fortgeschrit-
ten sei, so schreite sie auf praktischem Gebiet voill aggres-
siven zum defensiven Miütai'ismus und schließlich, mit
dem Wachsen des positiven Geistes, zur Aera des fried-
lichen Industrialismus weiter. Das Fortdauern der
Kriege beruht, wie er glaubt, auf der Fortdauer von Ele-
15*
227
menten der theokraüschen Kulturstul'e. Er meinte je-
doch, daß der Militarismus eudgüitig im Abflauen be-
griffen sei und folgerte sogar, daß die Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht durch das Fehlen eines Kriegs-
willens beim Einzelnen bedingt sei. Daß sich die fried-
liche Weltordnung nur langsam ausbreiten könne, liege
an der geistigen Anarchie, die wieder eine Folge der
Fortdauer theologischer und metaphysischer Erzic-
hungsidcen sei mid so das Anwachsen des wissenschait-
üchen Geistes verhindci*e. Die Industrie hingegen brau-
che Frieden und der positive Geist werde sich schließ-
lich durchsetzen. Seine Voraussagungen erwiesen sich
sehr bald als falsch und der Industrialismus brachte
neue KriegsmögLichkeiten mit sich. Die gegenseitige He-
dingtheit, die er zwischen der Entwicklung des Denkens
und den sozialen Einrichtungen herzustellen suchte,
war viel zu aUgenieia gehalten und die zugrundeliegen-
den Ursachen des Militarismus und Industrialismus
wurden von ihm keiner Analyse unterzogen, die so
weitreichende Verallgemeinerungen gerechtfertigt hätte.
Den Mittelpunkt der Soziologie Spencers bildet der
Unterschied zwischen dem militärischen Typus der so-
zialen Organisation einerseits, der auf Zwang, eiuheit-
hcher Kontrolle und hierarchischer Unterwerfung be-
ruht, und dem industriellen Typ anderseits, der durch
freiwillige gemeinsame Arbeit, wirtschaftliche Unabhän-
gigkeit und persönliche Freiheit charakterisiert ist. Ob-
wohl nach seiner Ansicht Züge der beiden Typen in
der gesamten sozialen Entwicklung nebenemander exi-
stieren, meint er, ein vergleichendes Studium rechtfer-
tige die sichere Annahme, daß im allgemeinen der indu-
strielle Typ nach und nach zur Vorherrschaft gelange;
und obwohl er ein Wiedererstarken des Militarismus und
des Sozialismus, der nach seiner Ansicht auf demselben
Prinzip zwangsmäßiger Zusammenarbeit beruht, voraus-
sagte, glaubte er doch fest an den endgültigen Triumph
von Frieden und Industrialismus.
228
Spencer veranslallet eine große Parade induktiver
und deduktiver Beweise. Ein genaueres Studium seiner
Verallgemeinerungen zeigt, daß er nach zwei Richtungen
hin voreingenommen war, durch sein Bestreben, die
ZwangsmögUchkeiten seitens der Regierung auf ein Mini-
mum zu beschränken und durch seine Ansicht, daß die
Entwicklung einen Differcnzierungs- und Integrations-
prozeß darstelle. Sein Ideal war eine Gesellschaft, in
welcher die politische Macht in weitestem Ausmaß auf
das Volk verteilt ist und in welcher die Regierungs-
funktjonen lediglich auf die Einhaltung der elementaren
Ordnung beschränkt sind. Sowohl der Militarismus als
der Kommunismus müßten notwendig zu einer über-
mäßigen Machlkonzentration auf die politische Maschi-
nerie und zu einem Eingreifen in alles und jedes der
individuellen Freiheit führen. Sein Gesetz vom Obergang
des Militarismus in den Industrialismus schien ihm eine
Zukunft zu versprechen, die mit seinem Ideal überein-
stimmte. Seine Voreingenommenheit bezüglich der Ent-
wicklung ließ ihn im Krieg ein Organisations-, Integra-
tions- und Ausbreilungsprinzip aus frühen Entwicklungs-
stadien sehen, während die späteren Stadien wachsende
Differenzierung und Spezialisierung der Funktionen ein-
schließlich der näheren Umschreibung und Beschrän-
kung der Regierungsfunktionen erforderten. Diese Vor-
eingenommenheiten machten ihn blind einerseits gegen
die Möglichkeit des sozialen Staates, persönliche Freiheit
und soziale Ordnung zu vereinen, anderseits gegen den
möglichen Zusammenschluß von Militarismus und Indu-
striaUsmns und das Emporkommen eines wirtschaft-
lichen Imperialismus.
Die Gründe für das Fehlschlagen dieser zwei Bemü-
hungen zur Verallgemeinerung sind, wie ich glaube,
sehr lehrreich. Sie illustrieren erstens die Nachteile
einer häufigen Anwendung der vergleichenden Methode
in^ der Soziologie. Die verwendeten Daten sind unzu-
reichend und willkürlich aus dem ganzen Verlauf der
229
Geschichte und Vorgeschichte des Menschen ausfrcwähll,
wobei den Ueispielen, die dem anfängliclien Vorsatz
entspreclicn, der Vorrang ffegeben wird, während die
widersprechenden ignoriert werden. Sie Rehen zweitens
zu rasch von der empirischen Verallgemein L;rung be-
obachteter Abläufe zu kausalen Gesetzen über. Das Auf-
spüren von Abläufen genügt jedoch nicht, um uns die
Richtung liünftiger Entwicklung anzugeben. Dies wird
erst dann möglich, wenn wir die tieferen Ursachen der
Abläufe entdeckt haben und deren Fortdauer unter spe-
zifischen Bedingungen voraussagen können. Bis wir so
weit sind, genauer, bis die psychologischen Kräfte ent-
rätselt sind, haben weder diejenigen, die den Krieg als
dauerndes Element der menschlichen Gesellschaft be-
trachten, noch diejenigen, die sein eventuelles Ver-
schwinden voraussagen, irgendeine Berechtigung zu ihrer
Ansicht.
Eine andere Art von Verallgemeinerungen stammt von
jenen, welche die biologische Idee der natürlichen
Zuchtwahl auf den Krieg übertragen. Ich kann mich
hier nicht in Einzelheiten einlassen und muß mich mit
der — hoffentlich nicht zu dogmalischen — Feststellung
begnügen, daß ihnen ein direktes Studium der Tatsachen
der Menschheitsgeschichte keine Berechtigung dazu gibt
Es handelt sich eher um Argumente a priori, die auf
der Annahme beruhen, daß die Faktoren, die man in
der biologischen Entwicklung wirksam glaubt, in der
gleichen Weise bei der sozialen Entwickhmg tätig sein
müssen. Niemals wurde durch eine direkte Untersu-
chung gezeigt, daß die Vernichtung oder Ausbreitung
von Gruppen, wie sie sich aus dem Krieg ergeben,
durch genetische Faktoren bestimmt sind; ohne gene-
tische Variabilität ist der Begriff der Auslese im strengen
Sinne unanwendbar. Im besonderen wurde niemals der
relative Anteil der erworbenen Technik, des Trainings
und der angeborenen Eigenschaften für den Erfolg im
■Kriege untersucht. Die angeborene Überlegenheit gewis-
230
ser Völker wird durch solchen Erfolg erhärtet und
dieser wieder durch die Oberlesenhcit erklärt. Bevor
man nicht j:(anz unbeeinflußt Einblick in die relevanten
angeborenen Rasscnunlerschiede besitzt, stellt eine sol-
che Erklärung nichts als einen Circulus dar.
Die zweite und weit größere Gruppe von Untersu-
chungen über den Krieg rührt weniger von Soziologen
als Historikern, Nationalökonomen und Statistikern her.
Die Ursachen des Krieges sind gesucht worden in einem
auf der Bevölkerung lastenden Druck, in wirtschaftlichen
Expansionswünschen der Regierungen oder, genauer ge-
sagt, in deren Bestreben, die Handelswege im Interesse
ihrer Nation abzulenken, in den Bemühungen, innere
Uneinigkeit durch Ablenkung der Aufmerksamkeit auf
äußere Feinde zu vermindern, in religiösen Unterschie-
den, in dynastischen Bestrebungen, in Ursachen, die
man oberflächlich politische Motive nennt und unter
denen psychologische Faktoren gemeint zu sein schei-
nen, die den Nalionalslolz und das nationale Prestige
berühren, und dem Wunsche der Völker, von Männern
der eigenen Nation statt von Fremden beherrscht zu
werden, in der Tatsache, daß die Beamten der auswär-
tigen Ämter und die Diplomaten vorwiegend aus Gesell-
schaftsklassen stammen, die in den Kriegstraditionen
aufgewachsen sind, vor allem in der sogenannten poli-
tischen Anarchie, womit das Fehlen oder die Schwäche
internationaler Einrichtungen oder Behörden gemeint ist,
die ein internationales Gesetz festlegen oder durchsetzen
könnten und die überhaupt die Beziehungen zwischen den
Staaten zu regeln hätten. Von verschiedenen Persön-
lichkeiten wurde der Nachdruck auf verschiedene Fak-
toren gelegt, soviel ich weiß, existiert aber keine syste-
matische Studie darüber, in welchen Beziehungen diese
Faktoren zueinander stehen oder wie sie einzeln oder
kombiniert auf die Kriegsphänomene einwirken. Dieser
bedauerliche Zustand ist teilweise gewiß auf die unge-
heure Kompliziertheit und Verwirrtheit des Tatsachen-
251
materials und auf die Schwierigkeit zurückzii führen,
eine Technik anzugegeben, mit welcher man die zahl-
reichen in Betracht kommenden variablen Größen iso^
liert darstellen könnte. Dr. Glovcr hat auf die Unter-
scheidung zwischen den sogenannten auslösenden Ur-
sachen und Bedingungen des Krieges und den in der
Tiefe wirkenden Faktoren aufmerksam gemacht. Obwohl
die Forschenden diese Unterscheidung oft genug ge-
macht haben, wurde sie doch stets durch verwaschene
Ausdrücke wie „politische" oder „wirtschaftliche Kriegs-
ursachen" zurückgedrängt, die an der Oberfläche liegen
und jedenfalls zahlreiche Elemente verbergen. Vor allem
haben aber die Untersuchungen durch den chaotischen
Zustand der Motivationspsychologie und unter dem rudi-
mentären Charakter der heutigen Sozialpsychologie zu
leiden. Jeder, der darüber schreibt, erfindet eine Psy-
chologie ad hoc. Die Liste der psychologischen Fak-
toren, auf die man sich berief, ist verwirrend. Man
sprach von einem angeblichen Instinkt der Streitsucht,
von einem Herdeninslinkt, oder noch oberflächlicher
Herdengeist genannt, einem Gefahreninstinkt, einer vage
definierten Aggressivität und einer Furcht vor Aggres-
sion. Andere haben eine eingefleischte Herrschsucht
und die daraus entstehende Rivalität zu Hilfe gerufen.
Steinmetz zählt in seiner ausführlichen Arbeit über
die Soziologie des Krieges mindestens fünfzehn erregende
Motive auf: Herrschsucht, Gierigkeit, Neid, Stolz, Eitel-
keit, Streitsucht, Machtbedürfnis, Widersetzlichkeit,
Selbstvertrauen, Grausamkeit, Mangel an Sympathie, das
Fehlen der Einbildnngsltraft, moralische Dummheit, die
Tendenz in Abstraktionen zu denken, die ein Volk dazu
bringt, sich auf eine Politik festzulegen und auf deren
Durchführung zu bestehen, oder die andere darin fort-
fahren läßt, ohne genauen Begriff, wohin diese Poli-
tik wirklich führt. J. A. Hobson hat eine genaue Ana-
lyse der Bedingungen der Leichtgläubigkeit, der Aufge-
blasenheil und der hysterischen Intoleranz gegeben, die
252
für die ICi'iegsmeiilalitäl charakteristisch sind. Wenn
auch viele dieser Werke recht interessant und wichtig
sind, fehlen ihnen doch System und Zusammenhang und
sie zeigen nur, wie wenig Unterstützung die Sozio-
logen und Historiker von den Fachpsychologen erhalten
konnten.
Dr. G 1 o V e r ist nicht ganz im Recht, wenn er sagt,
daß sich die Soziologen in der Hauptsache mit den ratio-
nalen Gesichtspunkten der Gruppenaktivität beschäftigt
haben. Seit dem Auftreten der sogenannten Inslinkt-
psychologie läuft die Tendenz geradezu umgekehrt und
Psychoanalytiker haben kein Monopol auf das Irratio-
nale. Die Schwierigkeit bestand eher darin, daß das
fundamentale Problem der Beziehung zwischen den ra-
tionalen und irrationalen Elementen der menschlichen
Natur noch nicht ins Auge gefaßt wurde und in diesem
Punkte gibt es manches Dunkle auch in den psycho-
analytischen Schriften. Die Theorien der Psychoana-
lyse haben für die Sozialpsychologie indessen eine außer-
ordentliche Wichtigkeit, weil sie auf Daten begründet
sind, die von konkreten sozialen Situationen abgeleitet
wurden und weil sie angesichts einer ständig anwach-
senden Masse von Tatsachen Erweiterungen und Modi-
fizierungen gestatten. Ihre Anwendung auf das Kriegs-
problem kann daher nur wärmstens begrüßt werden.
Im besonderen scheint es mir höchst wichtig, mit
Dr. Glover darauf zu bestehen, daß die psychischen
Kriegsbedingungen nicht einfach im Durchbruch primi-
tiver Triebe zu suchen sind, sondern eher in einer Kom-
bination verdrängter und verdrängender Kräfte. Nach
meiner Überzeugung ist diese Auffassung geeignet, ein
volles Licht auf alles zu werfen, was an Furcht, Haß
und Angst im Verborgenen dem Kriege zustrebt. Da
ich kein Psychoanalytiker bin. will ich nicht versuchen,
diese Theorien immanent zu diskutieren, sondern möchte'
vom Standpunkt der Soziologie und der allgemeinen
Psychologie einige Fragen aufwerfen.
233
Vor allem möchte ich dringend daraul" hinweisen, daß
die Psychoanalyse oder jede andere Psychologie vorerst
soziologisch werden muß, wenn sie zur soziologischen
Erklärung verwendet werden soll. Wenn wir mit der
Annahme beginnen, daß die menschliche Natur ein
System unveränderlicher und dauernder Elemcnlc ist,
deren Entwicklung von innen beslimmt wird, sind wir
doch nicht imstande, die verschiedenartigen Wege zu
erklären, auf welchen sich diese dauernden Elemente
im jeweiligen Verhalten oder im Labyrinth der sozialen
Einrichtungen, die wir in der Geschichte vorfinden, aus-
drücken. Die menschUche Natur ist historisch und so-
zial bedingt; ungeachtet einer gewissen Gleichheit der
Grundanlagen ist sie äußerst plastisch in dem Sinne, daß
die Arien ihres Ausdrucks in verschiedenen Situationen
stark variieren. Die Verschiedenheiten der Faniilienein-
richtungen sind durch die lierufung auf die identischen
und dauernden Geschlechtsinslinkte ebensowenig zu er-
klären, als die Frage des religiösen Glaubens und der
damit verbundenen Riten durch gewisse dauernde
Elemente in der FamilieasiUialion. Wenn es die Fa-
milie ist, die die Gesellschaft inaclil, — und das ist
nur unter bedeutenden Einschränkungen richtig, — dann
ist es mindestens ebenso wahr, dati die Gesellschaft es
ist, die die Familie bildet. Ist es nicht denkbar, daß die
Form der aggressiven Impulse, die sie innerhalb der
Familie annehmen, und die herangezogen wird, um die
Aggression innerhalb des größten Ganzen der Gesell-
schaft zu erklären, durch Verschiedenheiten in den
sozialen neziehungen selbst beeinflußt wird? Dürfen
wir bei verschiedenen Typen sozialer Slruklur, Erzie-
hung und Hchgion nicht verschiedene Typen der Be-
ziehungen zwischen Ellern und Kindern erwarten? Grei-
fen^ nicht z. B. militärische Traditionen oder im allge-
meinen Sitten und Gehaben verschiedener sozialer Klas-
sen tief in das Gefüge der Familie ein und damit in
den ganzen Komplex der psychologischen Beziehungen
234
zwischen ihren Mitgliedern? Ob dies zutrifft oder nicht,
kann nur durch eine umfassende vergleichende Studie
sozialer Einrichtungen entschieden werden, die von
einer, man könnte vielleicht sagen differenzierenden oder
vergleichenden Psychoanalyse begleitet wird. Von diesem
Gesichtspunkt aus können wir Dr. Glovers Behaup-
tung umkeliren und sagen, daß es keine verläßliche
Soziologie der ersten fünf Lebensjahre gibt, bevor nicht
eine verläßliche Soziologie der Gruppenbeziehungen exi-
stiert. Kurz, Soziologie ist nicht identisch mit Psycho-
logie. Der Krieg als bestehende Form menschlichen
Verhallens läßt sich durch Psychologie allein nicht
erklären. Sowohl die verdrängten wie die verdrängenden
Kräfte der menschlichen Natur müssen erst in ver-
schiedenen sozialen Zusammenhängen und in ihrer Be-
ziehung zu zahlreichen sozialen Faktoren untersucht
werden, wie etwa Änderungen im Aufbau der Klassen, in
wirtschaftlichen Unterschieden, in der Hevölkerungs-
dichte, in der politischen Gruppierung u. dgl. mehr :
und diese sind als solche nicht Sache des Psychologen
und haben möglicherweise ihre eigenen Gesetze. Abge-
sehen von solchen Untersuchungen ist es auch unmög-
lich zu sagen, warum sich die aggressiven Elemente der
menschliehen Natur bald im Krieg, bald in anderen
Formen von Gewaltlat ausdrücken und dies ist schließ-
lich eine Frage von überragender Bedeutung für die
Soziologie des Krieges.
In Verbindung mit dieser Frage steht das Problem
der relativen Rolle, den die endopsychischen Faktoren
im Vergleich zu den Umweltfaktoren bei der Formung
menschlicher Beweggründe stehen. Hier finde ich ein
Doppelgesichl in der psychoanalytischen Theorie. Ist
das Unbewußte in struktureller und dynamischer Hin-
sicht erblich determiniert? Wie viel davon ist wirklich in
der angeborenen Konstitulion gegeben? Diese Frage ist.
wie ich bemerken möchte, sehr verschieden von einer,
mit der sie häufig verwechselt wird, nämlich der Frage
255
der relativen Rolle des FamilienmiUcus der frühen Kind-
heit im Vergleich zu der späteren sozialen Umwelt; die
frühe Famihensituation gehört nämlich noch zur Um-
welt und ist selbst sozial bedingt.
Anschließend möchte ich einige Fragen bezügüch der
aggressiven Elemente in der menschlichen Natur stel-
len. Besteht in uns ein inneres primäres Bedürfnis zu
verletzen und zu zerstören, wie es ein solches nach
Liebe, nach Essen und Trinken gibl, oder ist der Zer-
Störungstrieb sekundär und hängt er von der Zuriick-
dämmung oder vielleicht Intensivierung anderer Impulse
ab? Ich finde F r e u d s Argumente zugunsten dessen, was
er die Todestriebe nennt, nicht überzeugend. Sic schei-
nen, wenn ich sie recht verstehe, auf der fraglichen
Annahme zu beruhen, daß alles Lebende letzten Endes
vom Nichllebenden herkommt. Ansonsten würde seine
Auffassung, daß der Trieb ein Bestreben des Lebenden
darstellt, ein früheres Gleichgewichlsstadium wiederher-
zustellen, im Widerspruch zur überraschenden Schluß-
folgerung stehen, daß der Tod das Ziel des Lebens ist.
Abgesehen von diesen spekulativen Argumenten schei-
nen mir die empirischen Tatsachen durchaus verein-
bar mit dem abhängigen Charakter der Aggression als
einer intensivierten Form des Strebens, sich selbst zum
Ausdruck zu bringen, die unter einer Hemmung, in der
Angst vor einer Hemmung oder vor dem Verlust der
Unabhängigkeit, unter einem verstärkten Selbstgefühl
oder bei dem Genuß eines Übcriegenheitsgcfühls ent-
steht. Das Element des Hasses in der Liebe erschien
mir immer verbunden mit der Furcht vor dem Verlust
der Unabhängigkeit und der Verletzung, wenn der Strom
der Zuneigung begrenzt oder eingeengt wird. Von die-
sem Gesichtspunkt aus können die Konfliklphänomene
schließlich auf den Grundgegensatz zwischen Selbsl-
bestärkung und Selbslhingabe zurückgeführt werden, die
in der menschUchen Natur so eng vermischt sind. Ob die
Aggression sekundär oder primär ist, jedenfalls ist sie
256
■*,
im menschlichen Leben in Menge vorhanden und es
gereicht der Psychoanalyse durchaus zum Verdienst,
daß sie sich mit ihren tieferen Wurzeln so sehr be-
schäftigt hat.
Der abhängige Charakter der Aggressivität ist, auch
wenn dies durch die erreichbaren Tatsachen noch nicht
bewiesen isl, mit dem Leben der einfachsten Gesell-
schaften durchaus vereinbar. Mehrere Anthropologen
haben vor kurzem Dinge vorgebracht, die für eine Rück-
kehr zum Mythos des goldenen Zeitalters der Unschuld
und des Friedens sprechen, daß nämlich die einfachsten
Völker, die Jäger und Früchtesammler nachgewiesener-
maßen freundlich und friedfertig sind. Ich beziehe mich
dabei auf die Schulen von Pater Schmidt in Österreich,
von Prof, Elliot Smith und Dr. Perry in England
und von B i j in Holland. Als Argument zugunsten des
Pazifismus ist dies ein zweischneidiges Schwert, denn die
Anhänger des Krieges könnten einwenden, daß diese
Völker in ihrem primitiven Zustand verblieben sind,
eben weil sie nicht kämpfen konnten oder wollten, und
daß Krieg eine Grundbedingung der Kultur sei, und dieser
Einwand wurde tatsächlich von Steinmetz gemacht
Jedenfalls rechtfertigen die Tatsachen aber bei genaue-
rer Betrachtung die Ansicht, daß der Primitive im
Grunde friedfertig sei, nicht. Die Antithese von Krieg
und Frieden ist auf die einfachen Lebensbedingungen
dieser Völkerschaften wirklich nicht anwendbar. Im
Leben der einfachsten Gesellschaften gibt es keinen
Raum für irgend etwas, das einem organisierten An-
griffskriege gleichkäme, wie wir ihn in der frühen Ge-
schichte und bei den Fortgeschritteneren der einfach-
sten Gesellschaften finden, denn Krieg erfordert Orga-
nisation, Disziplin und Unterscheidung zwischen Führer
und Geführten, was ein Volk auf der tiefsten Kultur-
stufe noch nicht kennt. Wenn sie nun auch keinen
Krieg haben, so haben sie darum noch keinen Frieden.
Wir müssen uns den Krieg nicht als eine Gattung vor-
237
stellen, deren einziger GcgeusaU Friede ist, sondern als
eine Spezies von Gewalt im Gegensatz zu sozialer Ord-
nung und Sicherheit. Eine genaue Überprüfung der Ue-
lege ergibt, daß es außerordentlich wenig Völker gibt,
unter denen Gewalt, Mord und dergleiclieu unbekannt
sind. Bei einigen Stämmen der Semang scheint dies in-
dessen zuzutreffen. Die Veddas kämpfen in jüngerer
Zeit nicht mehr, doch pflegten sie früher Übeltäter zu
töten und deren Leber zu essen (um der Rache Bestand
zu verleihen). Die Kubu kämpfen nicht, die Stämme
vermeiden einander aber und treffen sich fast nie. Die
australischen Stämme kennen keinen Krieg im Sinne
eines gemeinsamen Kampfes des ganzen Stammes, es
bestand jedoch ein weit verbreitetes System der Hache
gegen MilgUeder anderer Stämme und von Vergeltung
innerhalb des Stammes. Gemildert wird dies durch
die Einrichtung von Gottesurteilen und eines geregelten
Kampfes; diese Einrichtung wird aber zweifellos durch
die ernsthafte Möglichkeit von Fehde und Totschlag
inspiriert und erhalten. Mord und Magie und die Furcht
vor solchen Morden spielen eine bedeutende Rolle in
Australien. Kämpfe zwischen einzelnen Stämmen we-
gen Übergriffen und persönlichen Beleidigungen wer-
den berichtet von den Bewohnern der Andamanen, den
Ona, den Botokuden und den Buschmännern. Unter den
Yaghanen der Terra del Fuego gab es Fehden zwischen
Familienbanden und verabredete Rache kommt bei den
Punans und den Pygmäen von Balua vor. An solchen
Fehden müssen die Stämme nicht geschlossen teilneh-
men und der Ausdruck Krieg sollte eigentlich auf
einen solchen geraeinsamen Kampf beschränkt bleiben
Es könnte scheinen, daß Krieg in diesem Sinne mit der
Vereinigung von Stämmen und mit der wirtschafthchcn
Entwicklung wächst. Bei den einfachsten Völkern müs-
sen wir eher von Fehden sprechen und diese kommen
ohne Frage vor, wegen Entführung von lu-atien, aus
Groll über ein Vergehen oder wegen persönlicher Bclei-
238
digung. Man muß zugeben, daß diese Gesellschaften im
Vergleich mit fortgeschritteneren primitiven Völkern
friedfertig sind. Gewalt und Furcht vor Gewalt sind
jedoch vorhanden, es gibt auch Kämpfe, wenn auch
offenbar und notwendigerweise nur in geringem Ausmaß.
Diese Tatsachen sind nicht hinreichend bekannt und
wenn sie die Ansicht von einem ursprünglichen idylli-
schen Frieden auch nicht gerade stützen, so sind sie
doch mit der Meinung derer vereinbar, die eine primäre
oder unprovozierle Aggressivität nicht für ein wesent-
Uches Element der menschlichen Natur halten.
Ich hoffe, mit diesen kurzen und summarischen Be-
merkungen die Begründung für die Schlußfolgerung ge-
geben zu haben, daß Psychologie und Soziologie zu
einer fruchtbaren Erforschung der Bedingungen, die für
Krieg und Frieden entscheidend sind, Hand in Hand
gehen müssen.
/0//iV RICKMAN eröffnele die Diskussion: Das Pro-
blem wurde von zwei Seiten her betrachtet. Dr. G 1 o v e r
begründete seine Ansichten mit Beobachtungen über
die Unausgeghchenheit der Strebungen des Kindes und
seines Verhallens zu den frühesten Triebobjekten, er
zeigte uns, daß die hauptsächUchsten Charakterzüge
des Erwachsenen von der Art abhängen, in der die
Ängste der Kindheit behandelt werden; er legte den
Schwerpunkt größtenteils auf Faktoren, die vorwiegend
erbUch sind. Professor G i n s b e r g basiert seine Bemer-
kungen auf dem Gesamtverhalten, das Dr. Glover als
Endprodukt psychischer Prozesse ansieht, die unbe-
wußt und instabil sind und die betreffende Person nur
zum Teil befriedigen. Das Schwergewicht wird größlen-
teils auf den Einfluß der Umwelt im weitesten Sinne
gelegt, in welchem also Familie, Schule, kulturelle Tradi-
tion, wirischafUiche, religiöse und, wie ich glaube, auch
Ernährungsfaklorcn eiugeschlossen sind. Die beiden Vor-
239
träge geben Beispiele der Ansichten des Psychoanalyti-
kers einerseits und des Soziologen anderseits.
Die erblichen und Umwelt-Faktoren liegen in jener
Lebensperiode (sicherlich vor dem fünften Jahr) nahe
beieinander, in welchen das Kind eine kritische Instanz,
Richter oder Freund in sich selbst aufrichtet, (die von
den Analytikern Ober-Ich genannt wird,) die späterhin
eine bedeutende Rolle in seinen Gefühlsbeziehungen zur
Umwelt spielen wird; wenn in den Jahren dieses Ril-
dungsprozesses die primitiven Impulse vorwiegend de-
struktiv sind, wird dieser Mentor strenge sein, das psy-
chische Leben dieses Menschen wird unbeständig und
er selbst dem Kriege geneigt sein; wenn die primitiven
Slrebungen vorwiegend freundlich sind, dann wird auch
der Mentor freundlich sein, das Gefühlsleben dieses
Menschen wird beständig bleiben und er selbst in Frie-
den leben.
An dieser Stelle könnte man fragen, ob die Impulse
des Kindes durch Versagungen, die ihm von Eltern
oder Erziehern auferlegt werden, nicht umschlagen und
statt freundlich destruktiv werden können, oder, um
zum Hauplthema zurückzukehren, ob der Krieg nicht
verschwinden würde, wcmi man Strenge aus der frü-
hen Kindheit ausschallet. Man würde damit aber die
Tatsache übersehen, daß das Kind hauptsächlich in
einer Welt lebt, die es sich aus seinen eigenen Gefühlen
schafft und daß es Versagungen als Härte empfinden
wird, auch wenn sie in Wirklichkeit nur neutral oder
wohlwollend sind, sofern seine destruktiven Impulse
es zu dieser Zeit stark zur Handlung drängen. Es ist
deshalb recht unwahrscheinlich, daß eine willkürliclie
Veränderung in der Handhabung der frühen Kindheils-
disziplin irgendeinen Einfluß auf den Ausbruch von
Kj'iegen hat.
Ein anderer Gesichtspunkt dürfte indessen für diese
Frage von Bedeutung sein, nämlich das Spielen der un-
bewußten Aggression zwischen Eltern und Kind, die
340
I
beide an derselben Erbmasse und derselben Umwelt
teilhaben. In diesem Falle schreibt jeder Teil dem an-
deren die Schlechtigkeit zu, das Kind glaubt, es habe
strenge Eltern und die Eltern glauben, ihr Sprößling sei
ein unbändiger, unverbesserlicher Range.
Auf unseren Gegenstand angewendet können wir sagen,
daß es nicht so sehr eine Angriffsdrohung ist, die eine
Kriegspanik begünstigt, oder zu der Forderung nach ver-
mehrten Rüstungen führen wird, als die unbewußte Ag-
gression, die dem Fremden zugeschrieben wird, der des-
halb als gefährlich betrachtet wird.
Eine Vorbedingung für einen friedlichen Zustand des
Individuums ist die Fähigkeit, das Vorhandensein de-
struktiver Impulse in sich selbst und in anderen als
gegeben hinzunehmen; ein Mann, der dies ohne Erre-
gung erkennt, wird schwerlich einen Feind sehen, wo
keiner ist, noch eine Beleidigung, wo die Absicht dazu
fehlt
Die Fähigkeit, seine Neigimg auf gewöhnliche (das
heißt nicht idealisierte) Objekte zu übertragen, ist die
Basis für eine beständige friedliche Gesinnung. In Praxis
umgesetzt, gibt es hier ein Gegenbeispiel, nämUch daß
man „alle Gattungen braucht, um eine Welt zu machen",
da wir nur so in der Außenwelt ein getreues Spiegel-
bild unseres vielfältig zusammengesetzten Selbst sehen
können. Es ist recht fraglich, ob irgendein Entwurf für
einheitliche Aufrüstung oder einheitUche Abrüstung -^
sofern er diesen Faktor der individuellen oder nationa-
len Unterschiede übersieht — eine Vernunderung der auf
dem aggressiven Impuls beruhenden Spannung bringen
wird. Die vernünftige und beherzte Richtung würde da-
bm gehen, daß man Unterschiede zugibt, wenn nicht
gerade daraus die Feindseligkeit, von der wir schon
gesprochen haben, entstehen würde. Es ist Sache sehr
sorgfalüger Überlegung, ob irgendein Mensch in der
Tiefe semes Herzens die Welt frei von aUer Aggression
16 Almanacti 1935
241
oder sogar frei vom Kriege wünscht, kurz gesagt, ob
die Abschaffimg beider für den völligen inneren Frie-
den des Menschen dieser Tage wirlclich zu ersehnen ist.
Daraus entstehen kompUzierte Probleme, zum Beispiel:
Wie weit ist die Existenz einer „letzten Zuflucht" in
gegenwärtigen Situationen der Triebbefriedigung der Er-
leichterung der inneren Spannung förderüch? Und wenn
dies nicht aligemein der Fall ist, für einen wie großen
Teil der Bevölkerung gilt es, das heißt wie weit vermin-
dert die Fremdenlegion und Nordafrika als ständiges
Schlachtfeld die kriegerische Spannung in Europa? Ein
anderer Teil des Problems konnte folgendermaßen for-
muhert werden: Wie weit erfordern die ambivalenten
Gefühle eines Bürgers gegen seinen Staat die Teilung
in gehaßtes Ausland und geüebtes Vaterland, um seine
sozialen Instinkte voll zur Wirkung zu bringen? Mit
anderen Worten, wieviele würden, wenn man ihnen
sagte, daß es keinen Krieg mehr geben werde, die Fä-
higkeit der Liebe und Hingabe an ihren König und ihr
Land verUeren? So unzureichend ein solcher Patriotis-
mus sein mag, so darf man nicht vergessen, daß es viel-
fach aUes ist, dessen eine Menge Leute fähig ist, daß dies
ihren Beistand in Krisenzeiten ausmacht und für sie den
höchsten Altruismus darstellt. Man kann mit einiger
Berechtigung das Anwachsen der Streiks gerade nach
dem Weltkrieg, als die Zeiten günstig waren, mit dem
raschen Nachlassen der FeindseÜgkeiten in Verbindung
bringen und eine der Ursachen für die Verengung der
Welt sozusagen im Projeküonsmechanismus suchen.
Ich habe in diesem kurzen Vortrag bisher einen ein-
seitigen Gesichtspunkt zu diesem Gegenstand entwickelt,
indem ich annahm, daß der Krieg eine gegen Objekte
in der Außenwelt gerichtete Aktivität und Frieden nur
ein Gemütszustand sei. Das ist nicht wirklich meine An-
sicht. Wir können einen Friedenszustand von einem
Zustand, in dem es keinen Krieg gibt, durch einen Kar-
dinalfaktor unterscheiden: Frieden ist ein Zustand der
242 -^'-
Aktivität, Waffenstillstand ist nur ein Hemmungszu-
stand. Um nun nochmals auf das affeküve Leben des
Kindes zurückzukommen, so ist sein Körper der Sitz
seiner Aktivität, sein Spiel nach außen der bleiche
Schatten seines inneren Geschehens; wenn das Kind
erzürnt ist, fühlt es sich voll Sprengstoff, wenn es glück-
lich ist, voll der Milch der frommen Denkungsart;
Produktivität im späteren Leben erwächst häufig aus
dem lünderglauben, daß sein Körper gute Dinge abgibt;
Neigung zu Destruktion, Hemmung und Verdächtigung
entspringen dem Glauben, daß der Körper und sein
Inhalt schlecht und schreckenerregend seien.
Ein anderes Problem: der Mensch ist heute weniger
kriegerisch als früher. Ist er aber weniger „kriegsge-
neigt"?
Es ist möglich, daß gegenwärtig eine Änderung der
Krankheitsform vor sich geht, daß sie in einer Phase
mehr periodisch und weniger chronisch ist; die
Menschheit wendet sich mit Vergnügen dem Aus- und
Aufhau einer erstaunUch komplizierten physikalischen
Kultur zu, die ihr zur Zeit (wie einem Kinde das
Spielzeug) ein Gefühl von Macht und Freude gibt,
in der nächsten Phase findet ein Rückfluten ihres In-
teresses und eine Änderung ihres Gemütszustandes statt:
die Spielzeuge müssen alle zerstört werden; die geistige
Ruhelosigkeit, die den Menschen von den Tieren schei-
det, und die ihn über sie erhebt, äußert sich wieder und
wieder in der Unzufriedenheit; wie immer bei
der Unzufriedenheit sucht die Aggression nach Aus-
druck und läuft in offene destruktive Handlungen oder
in Depression aus; um die Depression abzuwenden, un.
ternimmt der Mensch erbarmungslose Vernichtungs-
kriege, denn die Welt, von der er sich umgeben findet,
und die er geschaffen hat, ist nicht die Welt, die er
wollte. In der Furcht schlägt er nach eingebildeten
Femden, errichtet nationale Schranken und dann Ver-
trage unslerbUcher Freundschaft mit Leuten jenseits
16*
243
der Grenzen, die er nicht kennt. — Das alles klingt sehr
neurotisch.
Die Psyciiologie des Krieges und des Friedens hildet
zwei Seiten dcsselhen Protjlems : die furchtlose Aner-
kennung der Talsache der eigenen und der fremden
Aggression und die Erkenntnis dessen, daß die Aggres-
sion henieistert werden kann. Keine geistige Aufgabe ist
schwieriger, keine erfordert aber auch mehr Huhe für
das Individuum und für die Nation als die Anerkennung
der Tatsache, daß man alle Gattungen braucht, um eine
Welt zu machen.
In Erwiderung der Diskussion sagte DR. GLOVER:
Drei Punkte aus der Diskussion scheinen mir eine erwei-
terte Ausführung zu erfordern:
a) die Beziehung zwischen psychoana-
lytischer und sozialer Psychologie. Kein
Analytiker wird einen Augenblick lang behaupten, daß
sein Forschungsgebiet ein Monopol auf das Irrationale
begründet. Der Analytiker ist im Gegenteil bereit zuzu-
geben, daß er in allen zur Sozialpsychologie gehörigen
Dingen sein Material und seine Ergebnisse den zustän-
digen wissenschaftlichen Disziplinen vorzulegen hat. Im
besonderen muß er damit rechnen, seine Daten mit ver-
schiedenen soziologischen Feststellungen zu vergleichen.
Anderseits muß man nicht annehmen, daß der Ana-
lytiker, werni er von endopsychischcn Faktoren spricht,
einfach an „konstitutionelle" und „primitive Triebe-Fak-
toren denkt. Die Ansicht, daß der „alte Adam" in uns
schuld am Kriege sei, ist, so zutreffend sie im allgemei-
nen sein mag, auf viel zu weite Sicht berechnet. Die
Sache ist die, daß dia frühesten, mächtigsten und (un-
bewußt) dauerndsten Mechanismen für die Verarbeitung
aggressiver Impulse (gleichviel, ob sie primär oder
sekundär sind) die Folge von EigentümUchkeiten in der
Funktion des primitiven seelischen Apparates sind und,
abgesehen von zeitwcUigen Reizen durch die Umwelt, mit
244
den Einflüssen der Umwelt sehr wenig zu tun haben.
So ist zum Beispiel der Mechanismus der Projektion,
bei welchem innere Ursachen eines psychischen Unbe-
hagens auf äußere Objekte projiziert (und dort gewöhn-
lich aggressiv behandelt werden), eine endopsychische
Eigentümhchkeit. Und dieser Mechanismus erklärt nicht
nur die Blindheit des Pazifisten gegenüber seinen eige-
nen aggressiven Strebungen (wie Dr. Rick man aus-
geführt hat), sondern liefert auch ein Muster für die
Reaktion des Militärs gegenüber dem Krieg. Mit anderen
Worten, die unbewußte Prädisposition zum
Kriege ist nicht einfach auf die Existenz
primitiver Impulse zurückzuführen. Sie
wird gerade durch jene Mechanismen ge-
fördert, die zur Kontrolle der primitiven
Impulse aufgerichtet waren. Diese Mechanis-
men entspringen nicht Umwelt-Einflüssen und können
daher wirkliche endopsychische Faktoren genannt wer-
den. Die genaue Einschätzung ihrer Bedeutung wird
wahrscheinlich der strittige Knochen zwischen dem So-
ziologen und dem Analytiker bleiben.
b) Ist die Aggression ein primärer Im-
puls oder eine sekundäre Reaktion? Wie
immer die abschließende Entdeckung ia dieser Sache
lauten mag, kann doch sofort gesagt werden, daß die
analytischen Ansichten über die unbewußten Faktoren,
die an dem Kriegswillen oder am Pazifismus beteiligt
sind, bezüglich ihrer Wirksamkeit nicht vom Existenz-
beweis primärer Aggressionsimpulse abhängen. Zufällig
spricht ein bedeutendes Beweismaterial zugunsten die-
ser Annahme. Die Existenz von Aggressionstrieben kann
zum Beispiel an primitiven Formen gezeigt werden,
die in keiner Beziehung zu bewußten Bedürfnissen
und Reaktionen stehen ; sie können vom Bewußtsein dau-
ernd ausgeschlossen sein; sie existieren aber m meß-
baren Quantitäten (die an Entladungsreaktionen, zum
Beispiel Krankheiten usw. geschätzt werden); sie tre-
245
ten in Verbindung mit Liebestrieben, und beide können
willkürlich und künstlich isoliert, entmischt usw. wer-
den, und verhalten sich In diesem Zustand wie einfache
Triebe bezüglich Drang, Ziel und Objekt.
Anderseits haben die Analytiker selbst auf die Tat-
Sache hingewiesen, daß destruktive Strebungen durch
Angst, im besonderen durch Angst, die als Folge einer
Versagung auftritt, entstehen. Sie fügen aber auch hin-
zu, daß, abgesehen von bewußten Reaktionen dieser Art,
Versagungen und daraus entstehende aggressive Reak-
tionen unbewußt bleiben und das tägliche Leben indirekt
beeinflußen können. Sie weisen überdies darauf hin,
daß Versagungen von Geburt an da sind und daß so-
wohl Versagungen als auch aggressive Reaktionen dau-
ernd im Unbewußten zurückgehalten werden können
und daß daher keine Rede davon sein kann, jede Ag-
gression des Erwachsenen als soforlige Reaktion auf
einen eintretenden Reiz zu behandeln. Der Vorgang in
der Verdrängung und anderer Mechanismen während
der ersten Lebensjahre führt zur Bildung eines Reser-
voirs nicht zur Entladung gekommener (primitiver, unbe-
wußter) Aggression. Seihst wenn es keinen primären
Aggressionstrieb gäbe, würde die Existenz dieses ur-
sprünglichen Reservoirs zu demselben Resultat, nämlich
zu einer ständigen unbewußten Spannung führen.
c) Die Beziehung unbewußter Mechanis-
men zu den nächsten Ursachen des Krie-
ges. Während der Diskussion wurde einiger Nachdruck
auf die Bedeutung der Suggestibilität, der Führerschaft
usw. gelegt, die dem Kriege das Feld bereiten. Dieselben
Kommentare hätten ebensogut in bczug auf Friedens-
reaktionen gemacht werden können. Es genügt viel-
leicht der Hinweis, daß die Psycliologie der Suggestion
durch analytische Beobachter bis ins Detail erforscht
wurde. Die Tatsachen sprechen in überzeugender Fülle
dafür, daß die betreffenden Einflüsse während der frü-
hen Kindheit besonders durch die verschiedenen Mecha-
246
nismen der Idenlifizierung aufgerichtet wurden. Wie
andere Produkle früher geistiger Aktivität werden diese
grundlegenden Identifizierungen später durch verfälschte
Reaktionen verdeckt. In Krisenzeiten hingegen zeigen die
frühesten Mechanismen ihr Obergewicht weit offener.
Vielleicht ist es gut, darauf hinzuweisen, daß dasselbe
auf fast alle unmittelbaren (und scheinbar rationalen)
Kriegsursachen zuzutreffen scheint. Man kann die Stärke
wirtschafthcher, politischer, nationaler oder religiöser
Kriegsgründe unmöglich verstehen, ohne die primitiven
unbewußten Reaktionen zu erforschen, die stillschwei-
gend zur Bedeutung dieser Faktoren beitragen. In die-
sem Zusammenhang wäre eine Menge darüber zu sagen,
daß einige pazifistische Schulen ihre pseudosoziologi-
schen Argumente einer strengeren Disziplin unterschie-
ben. Es wird zum Beispiel mitunter behauptet, daß Eng-
lands Politik in der mittleren Regierungszeit der Königin
Viktoria friedlich war, weil die kapitalistischen Kauf-
leute Frieden brauchten, um den Handel des Landes zu
fördern. Wenn die Richtigkeit dieser Annahme nachge-
wiesen werden könnte, dann wäre die pazifistische Pro-
paganda zugunsten einer Rückkehr zur Viktorianischen
Politik und industriellen Organisation zweifellos gerecht-
fertigt. Man könnte aber ebensogut argumentieren, daß
das Viktorianische England pazifistisch war, weil die
Diplomaten dieser Zeit in Lederstühlen saßen. Es er-
scheint zwecklos, Vergleiche dieser Art abseits von einer
genauen Einschätzung der grundlegenden psychologi-
schen Faktoren zu machen, die im Menschen seit dem
Beginn seiner Kultur wirksam sind. Die Psychologen
sind bereit, sich jeder soziologischen Disziplin zu unter-
werfen, die ihre Prinzipien nicht verletzt. In Erwiderung
dieser Haltung sollten die Soziologen versuchen, den un-
wissenschaftlichen Enthusiasmus ihrer Gefolgsleute et-
was zu dämpfen. Ob der Pazifist seinen Standpunkt
offen einnimmt oder nicht, er hat sich selbst zum
Praktiker der angewandten Soziolosie ernannt.
247
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in der Kultur. — Über libidinöse Typen. — Über die
weibliche Sexualität. — Zur Gewinnung des Feuers.
— Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse. — Warum Krieg?
Ältere Schriften (Nachträge zu Bd. I— XI
der Gesammelten Schriften):
Der Familienroman der Neurotiker. — Psychoanalysis.
Geleitworte zu Büchern; Gedenkartikel.
Vermischte Schriften:
Brief an Maxim Leroy über einen Traum des Car-
tesius. — Goethe-Preis 1930. — Das Fakultätsgutachtcn
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Analyse noch unbewanderten Leser unleugbar von außer-
ordentlichem Interesse, zum Nachdenken und zur Vertiefung
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INHALT
I. Einleitung: I. Das Bewußte und das Unbewußte; 2. Die Prinzipien
der Bearbeitung der psychoanalytischen Methodenlehre.
II. Die psychoanalytische Konstellation. Die Beschaffung des Mate-
rials: 1. Die Grundregel. ~ Die Rolle der Aufmerksamkeit; 2. Die
ruhige Selbstbeobachtung. — Das Lebendigwerden der Vergangen-
heit; 3. Die Ableitung der Affekte in Worte. — Das Geheimnis;
4. Die rezeptive Einstellung des Analytikers; 5. Die Widerstände.
— Ihr Ursprung und ihre Erscheinungsform ■ 6. Die Grundstimmung.
— Affekt- und Konfliktübertragunc; 7. Positive RatschUtge zur
Sicherung der freien Assoziation; a. Niveau und Schichtung der
Assoziationsketten.
III. Die Verarbeitung des gewonnenen Materials: I. Das psycho-
analytisch Sinnvolle. — Seelische Kontinuität und Determinismus;
2. Zur Charakteristik der spezifischen Kontinuität der seelischen
Geschehnisse; 3. Spielraum. Zufall. Kausalität; 4. Die Sinngebung
in der Praxis. Die Funktion des -Sinn-Organs"; 5. Aufbau der
wissenschaftlichen Feststellungen; 6. Leitlinien der psychoanalyti-
schen Erklärungsweisen.
IV. Die Kontrolle: 1. Zur Kontrolle der Begriffe; 2. Zur Kontrolle
der psychoanalytischen Forschungsarbelt.
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York, verfolgt in seinem Buch „Die Kastrationsangst des Weibes"
die mannigfachen Verzweigungen des Geschlechtsschicksals des
Weibes. Rado zeigt, auf welche Weise der so typische Masochismus
des Weibes entsteht und weist auf, daß die Angst vor dem eigenen
Masochismus in der weiblichen seelischen Entwicklung an derselben
Stelle steht, an der sich beim Manne die Angst um den Verlust der
Männlichkeit entfaltet. Alle Reaktionen auf den eigenen Masoctiis-
mus, die Formen der Flucht vor ihm, die Aufnahme des offenen
Kampfes und schließlich der Versuch der Wahl eines kleineren Übels
werden durch alle Erscheinungen der weiblichen Neurosen hindurch
verfolgt und so ein Bild der Vielfältigkeit aller Fehlentwicklungen,
die an einen kritischen Punkt der Entwicklung anschließen mögen,
entworfen. Schließlich wird auch eine neue Theorie der Angst über-
haupt und ihrer Quellen in der Phylogenese skizziert
Inhalt:
Einleitung
I, Der Wunschpenis
II. Die masochistische Deformation des
Genital triebs
III. Die Abwandlung der Kastrationsangst
IV. Der Gestaltungsprozeß der Neurose
1. Die Flucht
Das Angstproblem
2. Der Kampf
Der Ödipuskomplex
3. Die Wahl des kleineren Übels
V. Schlußfolgerungen
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG, WIEN I
EDMUND BERGLER
Talleyrand - Napoleon
Stendhal - Grabbe
Psychoanalytisch-biographische Essays
Geheftet RM 6.50 i„ deinen RM 8.-
Aus dem Vorwort:
phische Essays" bedarf einer Erklärung. Eine ana-
Misch-biographischc Studie hebt lediglich die für
unbe\vuDten Motive hervor und verzichtet dar-
renz^u treten^ "^^*^^^" Biographik in Konkur-
Die hier vorliegenden Studien ober Talleyrand,
Napoleon, S endhal und Grabbe sind im Anschluß
an meme klmischen Arbeiten geschrieben wor-
aen Immer wieder reizte es mich, jene Probleme,
auf die klinische Erfahrungen mich hingelenkt
natten, an historischen Gestalten aufzusuchen. So
entstanden als Ergänzung meiner Arbeiten über
die Psychologie des Zynismus die Studien über
lalleyrand und Napoleon, in Fortführung der Un-
tersuchungen über die orale Phase der Libido-
entwicklung, die über Grabbe, und als Abschluß
meiner Bemühungen um das Verständnis narziß-
tischer Phänomene - die Stendhal-Skizze. Diese
Entstehungsgeschichte bewirkt, daß die Helden
der folgenden Essays auch als klinische Typen
S V f"^ ""J ^'"^^ gewissen Einseitigkeit, der
wollen*" '''^'''' '^'' ''^"*' '^*^ "^^^*'*^" ^"
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG, WIEN 1
ALMANACH DER
PSYCHOANALYSE
1034
Sigmund Frend
Zum Problem der Telepathie
Sigmund Freud
Die psychischen Instanzen
Ernest Jone«
Have Dreams a Meaniug?
Mario Bona parte
De la mort et des fleurs
Theodor Reik
Der Tod und die Liebe
Edward Glover
Psychologisches über Krieg und
Pazifismus
Reii6 Laforgue
Masochismus und Selbstbestra-
fungstendenzen bei Charles Bau-
delaire
Walter lUuHchg
Dichtung als archaisches Erbe
Heinrich Meng
Krankheit, Schönheit und seeli-
sche Behandlung
Eduard Htlschmann
Der narzißtische Gatte
Viktor Tauik f
Zur Psychopathologie des All-
tagslebens: Ibsen, der Apotheker
Edoardo Weiss
Das Über-Ich
August Aichhom
Erziehungsberatung
1033
Siontond Freud
Libidinöse Typen
Albrecht Scfaaeffer
Der Mensch und das Feuer
E. H. Erlenmeyer
Bemerkungen zur „Gewinnung
des Feuers"
Sigmund Frend
Zur Oewinnung des Feuers
Lon Andreaa-Salom^
Der Kranke hat immer recht
Arnold Zwrig
Odysseus Freud
H. D. Eder
Der Mythos vom Fortschritt
Ludwig Jek«ls
Das Schuldgefühl
Hermann rinnberg
Magie und Allmacht
Paul Federn
Das Ich-Gefühl im Traume
Frilx Witlels
Das Über-Ich in der Geschlechts-
entscheidung
Melanie Klein
Die Sexualbetatigung des Kindes
Robert Wälder
Die psychoanalytische Theorie
des Spiels
Dorotby Burlingham
Ein Kind beim Spiel
Anna Frend
Psychoanalyse des Kindes
Marie Bonaparle
Der Tod Edgar Poes
Stelan Zweig . , ., ■
Das eheliche Mißgeschick Marie
Antoineltes
Eduard Hjtsehmann
Werfet als Erzieher
Em est Jones
Die Wortwurzel MR
Oskar Pßster , ^,
Psychoanalyse unter den Navaho-
Indianern
Tbeoder Reik
Der Selbstverrat des Mörders
Alfred Erb. t. Berger
Die Dichter hat sie für sich . . .
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ler: Eingewöhnungsschwierigkeiten im Kindergarten —
— E. Sterba: Aus der Analyse eines Zweijährigen
Die Angflt dea Kinde« (VlI. -lg-, Heft 10/12) RM 3>—
Zulliger: Der Abenteurer-Schundroman — Redl: Wir
Lehrer und die Prüfungsangst — Buxbaum: Angst-
äußerungen von Schuluiüdchen im Pubertätsaltcr —
Friedjung: Angst in der Kindheit und als Problem
des Kinderarztes — Balint: Über eine besondere Form
der infantilen Angst — Zulliger: Die Angst im Form-
deutversuch nach Dr. Rorschach — H. Sterba: Theorie
der Angst — E. Sterba: Aus der Analyse einer Hunde-
phobie.
(VII. Jg.. Heft 5/6)
RM 2.—
Heilpadago^xik
Ferenczi: Ein kleiner Hahnemaiin — Meng: Psycho-
analyse und Heilpädagogik — Zulliger: Psa. Hilte der
Erzichungsschwierigkeiten — Schmidcbcrg: Kindliche
Neurosen — E.Fuchs: Neid und Freßgier — Pen-
simus: Folgen der Entrechtung — H. Fuchs: Pro-
bleme der heilpadagogischcn Kindergartengruppen.
Ein abnorme» Kind. Von Editha Sterba
(VlI. Jg., Heit 1/2)
RM 2.—
Vorgeschichte — Die Einleitung der Behandlung —
Die Angst vor dem „spritzenden Gitter" und vor dem
„Schlüsselloch" - „Die Angst habe ich lieb" - Zu-
sammenfassung. — Plank-Spira; Herbert in der
Schule.
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