Skip to main content

Full text of "Almanach der Psychoanalyse I 1926"

See other formats


mana 





1926 




INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 



DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 



ALMANACH 
1926 

INTERNATIONALER 

PSYCHOANALYTISCHER 

VERLAG / WIEN 











Almanach 

für das Jahr 
1926 

Internationaler 
Psychoanalytischer Verlag 

Wien 


1 









Dieser erste ALMANACH des INTERNATIONALEN 
PSYCHOANALYTISCHEN VERLAGES in Wien für 
das Jahr 1926, herausgegeben von A. J. STORFER, 

WURDE IN EINER AUFLAGE VON 9000 EXEMPLAREN GE- 
DRUCKT von den Ruchdruckereien CHRISTOPH 
REISSER'S SÖHNE, Wien v (Textteil S. 1-208) und 
GESELLSCHAFT FÜR GRAPHISCHE INDUSTRIE, 
Wien iii (Verlagsverzeichnis S.i— lxxx und Kunst- 
beilagen). 180 NUMERIERTE EXEMPLARE WURDEN AUF 

Dokumentenpapier in Japan art abgezogen 
und in Ganzleder gebunden 



Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung, 
vorbehalten 



Die Reproduktion des Freud -Porträts erfolgte 

mit Genehmigung von Max Halberstadt, Atelier 

für künstlerische photographie, hamburg 



INHALTSVERZEICHNIS 

Seite 
Kalendarium 7 

Sigm. Freud: Die Widerstände gegen die Psychoanalyse . 9 

Sigm. Freud: „Die Ausnahmen" 21 

Sigm. Freud: Die okkulte Bedeutung des Traumes ... 27 

DIE PSYCHOANALYSE UND DIE DICHTER 

Thomas Mann: Mein Verhältnis zur Psychoanalyse . . 52 

Hermann Hesse: Künstler und Psychoanalyse .... 54 

H.-R. Lenormand: Das Unbewußte im Drama . . . . 59 

Frederik van Eeden über Psychoanalyse 43 

Hanns Sachs: Gemeinsamer Tagtraum und Dichtung . . 44 
Hanns Sachs: Carl Spitteler f 54 

Alfred Polgar: Der Seelensucher 59 

Georg Groddeck: Wie ich Arzt wurde und wie ich zur 

Abneigung gegen das Wissen gekommen bin 63 

Theodor Reik: Psychoanalytische Strafrechtstheorie . . . 73 
August Stärcke: Geisteskrankheit und Gesellschaft ... 93 

PSYCHOANALYSE UND ERZIEHUNG 

Oskar'Pfister: Elternfehler in der Erziehung zur Sexuali- 
tät und Liebe 105 

Vera -Schmidt: Das psychoanalytische Kinderheim in 

Moskau . 110 

August Aichhorn: Die Psychoanalyse in der Fürsorge- 
erziehung 113 

Siegfried Bernfeld: Bürger Machiavell ist Unterrichts- 
minister geworden und hält den Hofräten seines Mini- 
steriums folgende Programmrede 132 

Stef anZ weig: Das „Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens" 140 
Aus dem „Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens" . . . 145 

S.. Ferenczi: Begattung und Befruchtung 161 

Ernest Jones: Kälte, Krankheit und Geburt 171 



Seite 

Karl Abraham: Über Charakteranalyse 177 

Otto Rank: Drei Stunden einer Analyse 181 

Paul Schilder: Selbstbeobachtung und Hypochondrie . . 190 
August Kielholz: Zur Genese und Dynamik des Erfinder- 
wahns 197 

VERLAGSVERZEICHNIS I— LXXIX 



KALENDARIUM FÜR DAS JAHR 



1926 



Mo 


JANUAR 


FEBRUAR 


MÄRZ 


APRIL 


Mo 




4 


11 


18 


25 


1 


8 


15 


22 




1 


8 


15 


22 


29 




5 


12 


19 


26 


Di 




5 


12 


19 


26 


2 


9 


16 


23 




2 


9 


16 


23 


30 




6 


13 


20 


27 


Di 


Mi 




6 


13 


20 


27 


3 


10 


17 


24 




3 


10 


17 


24 


31 




7 


14 


21 


28 


Mi 


Do 




7 


14 


21 


28 


4 


11 


18 


25 




4 


11 


18 


25 




1 


8 


15 


22 


29 


Do 


Fr 


1 


8 


15 


22 


29 


5 


12 


19 


26 




5 


12 


19 


26 




2 


9 


16 


23 


30 


Fr 


Sa 


2 


9 


16 


23 


30 


6 


13 


20 


27 




6 


13 


20 


27 




3 


10 


17 


24 




Sa 


So 


3 


10 


17 


24 


31 


7 


14 


21 


28 




7 


14 


21 


28 




4 


11 


18 


25 




So 


Mo 


MAI 


JUNI 


JULI 


AUGUST 


Mo 


3 


10 


17 


24 


31 




7 


14 


21 


28 




5 


12 


19 


26 


2 


9 


16 


23 


30 


Di 


4 


111 


18 


25 




1 


8 


15 


22 


29 




6 


13 


20 


27 


:- 


10 


17 


24 


31 


Di 


Mi 


c 


12 


19 


26 




2 


9 


16 


23 


30 




7 


14 


21 


28 


4 


11 


18 


25 




Mi 


Do 


t 


13 


20 


27 




3 


10 


17 


24 




1 


8 


15 


22 


29 


5 


12 


19 


26 




Do 


Fr 


■ 


14 


21 


28 




4 


11 


18 


25 




2 


9 


16 


23 


30 


t 


13 


20 


27 




Fr 


Sa 


1 l 


! 15 


22 


29 




5 


12 


19 


26 




3 


10 


17 


24 


31 


" 


14 


21 


28 




Sa 


So 


2< 


116 


23 


3C 




6 


13 


20 


27 




4 


11 


18 


25 




i i 


i 15 


22 


25 




So 


Mo 


SEPTEMBER 


OKTOBER 


NOVEMBER 


DEZEMBER 


Mo 




6 


13 


20 


27 




4 


11 


18 


25 


1 


8 


15 


22 


29 




6 


13 


20 


27 


Di 




7 


14 


21 


28 




5 


12 


19 


26 


2 


9 


16 


23 


30 




7 


14 


21 


28 


Di 


Mi 


1 


8 


15 


22 


29 




6 


13 


20 


27 


3 


10 


17 


24 




1 


8 


15 


22 


29 


Mi 


Do 


2 


9 


16 


23 


30 




7 


14 


21 


28 


4 


11 


18 


25 




2 


9 


16 


23 


30 


Do 


Fr 


3 


10 


17 


24 




1 


8 


15 


22 


29 


5 


12 


19 


26 




3 


10 


17 


24 


31 


Fr 


Sa 


4 


11 


18 


25 




2 


9 


16 


23 


30 


6 


13 


20 


27 




4 


11 


18 


25 




Sa 


So 


5 


12 


19 


26 




3 


10 


17 


24 


31 


7 


14 


21 


28 




5 


12 


19 


26 




So 


Ostersonnt 


ig 4- April 
















Pf 


n S 


<tso 


nnl 


"g 


2? 


. A 


Tai 

















Die Widerstände gegen die 
Psychoanalyse 

von 

Sigm. Freud 

Jus dem in Forbereitung befindlichen 
XI. Band der „Gesammehen Schriften". 
(Die Arbeit erschien zuerst französisch 
in „La Revue Juive", 192J.) 

Wenn sich der Säugling auf dem Arm der Pflegerin 
schreiend von einem fremden Gesicht abwendet, der 
Fromme den neuen Zeitabschnitt mit einem Gehet er- 
öffnet, aber auch die Erstlingsfrucht des Jahres mit einem 
Segensspruch begrüßt, wenn der Bauer eine Sense zu 
kaufen verweigert, welche nicht die seinen Eltern ver- 
traute Fabriksmarke trägt, so ist die Verschiedenheit 
dieser Situationen augenfällig und der . Versuch scheint 
berechtigt, jede derselben auf ein anderes Motiv zurück- 
zuführen. 

Doch wäre es unrecht, das ihnen Gemeinsame zu ver- 
kennen. In allen Fällen handelt es sich um die nämliche 
Unlust, die beim Kinde elementaren Ausdruck findet, beim 
Frommen kunstvoll beschwichtigt, beim Bauern zum Motiv 
einer Entscheidung gemacht wird. Die Quelle dieser Un- 
lust aber ist der Anspruch, den das Neue an das Seelen- 
leben stellt, der psychische Aufwand, den es fordert, die 
bis zur angstvollen Erwartung gesteigerte Unsicherheit, 
die es mit sich bringt. Es wäre reizvoll, die seelische 
Reaktion auf das Neue an sich zum Gegenstand einer 
Studie zu machen, denn unter gewissen nicht mehr pri- 
mären Bedingungen wird auch das gegenteilige Verhalten 
beobachtet, ein Reizhunger, der sich auf alles Neue stürzt, 
und darum, weil es neu ist. 



Im wissenschaftlichen Betrieb sollte für die Scheu vor 
dem Neuen kein Raum sein. In ihrer ewigen Unvoll- 
ständigkeit und Unzulänglichkeit ist die Wissenschaft dar- 
auf angewiesen, ihr Heil von neuen Entdeckungen und 
neuen Auffassungen zu erhoffen. Um nicht zu leicht ge- 
täuscht zu werden, tut sie gut daran, sich mit Skepsis zu 
wappnen, nichts Neues anzunehmen, das nicht eine strenge 
Prüfung bestanden hat. Allein gelegentlich zeigt dieser 
Skeptizismus zwei unvermutete Charaktere. Er richtet sich 
scharf gegen das Neu- Ankommende, während er das bereits 
Bekannte und Geglaubte respektvoll verschont, und er be- 
gnügt sich damit zu verwerfen, auch ehe er untersucht 
hat. Dann enthüllt er sich aber als die Fortsetzung jener 
primitiven Reaktion gegen das Neue, als ein Deckmantel 
für deren Erhaltung. Es ist allgemein bekannt, wie oft 
es sich in der Geschichte der wissenschaftlichen Forschung 
zugetragen hat, daß Neuerungen von einem intensiven und 
hartnäckigen Widerstand empfangen wurden, wo dann der 
weitere Verlauf zeigte, daß der Widerstand unrecht hatte 
und daß die Neuheit wertvoll und bedeutsam war. In der 
Regel waren es gewisse inhaltliche Momente des Neuen, 
die den Widerstand provozierten, und auf der anderen 
Seite mußten mehrere Momente zusammenwirken, um den 
Durchbruch der primitiven Reaktion zu ermöglichen. 

Einen besonders Übeln Empfang hat die Psychoana- 
lyse gefunden, die der Autor vor nahezu dreißig Jahren 
aus den Funden von Josef Breuer in Wien über die 
Entstehung neurotischer Symptome zu entwickeln begann. 
Ihr Charakter als Neuheit ist unbestreitbar, wenngleich 
sie außer diesen Entdeckungen reichliches Material ver- 
arbeitete, das anderswoher bekannt war, Ergebnisse der 
Lehren des großen Neuropathologen Charcot und Ein- 
drücke aus der Welt der hypnotischen Phänomene. Ihre 
Bedeutung war ursprünglich eine rein therapeutische, sie 



wollte eine neue wirksame Behandlung der neurotischen 
Erkrankungen schaffen. Aber Zusammenhänge, die man 
zunächst nicht ahnen konnte, ließen die Psychoanalyse 
weit über ihr anfängliches Ziel hinausgreifen. Sie erhob 
endlich den Anspruch, unsere Auffassung des Seelenlebens 
überhaupt auf eine neue Basis gestellt zu haben, und 
darum für alle Wissensgebiete wichtig zu sein, die auf 
Psychologie gegründet sind. Nach einem Jahrzehnt völliger 
Vernachlässigung wurde sie plötzlich Gegenstand des all- 
gemeinsten Interesses und — entfesselte einen Sturm von 
entrüsteter Ablehnung. 

In welchen Formen der Widerstand gegen die Psycho- 
analyse Ausdruck gefunden hat, sei hier, beiseite gelassen. 
Es genüge die Bemerkung, daß der Kampf um diese Neue- 
rung noch keineswegs zu Ende gekommen ist. Doch ist 
bereits zu erkennen, welche Richtung er nehmen wird. 
Es ist der Gegnerschaft nicht gelungen, die Bewegung zu 
unterdrücken. Die Psychoanalyse, deren einziger Vertreter 
ich vor zwanzig Jahren war, hat seither zahlreiche be- 
deutende und eifrig arbeitende Anhänger gefunden, Ärzte 
und Nichtärzte, die sie als Verfahren der Behandlung von 
nervös Kranken ausüben, als Methode der psychologischen 
Forschung pflegen und als Hilfsmittel der wissenschaft- 
lichen Arbeit auf den mannigfaltigsten Gebieten des 
geistigen Lebens anwenden. Unser Interesse soll sich hier 
nur auf die Motivierung des Widerstandes gegen die 
Psychoanalyse richten, die Zusammengesetztheit desselben 
und die verschiedene Wertigkeit seiner Komponenten be- 
sonders beachten. 

Die klinische Betrachtung muß die Neurosen in die 
Nähe der Intoxikationen oder solcher Leiden wie die 
Basedowsche Krankheit rücken. Das sind Zustände, die 
durch den Überschuß oder relativen Mangel an bestimmten 
sehr wirksamen Stoffen entstehen, ob sie nun im Körper 



11 



selbst gebildet oder von außen eingeführt werden, also 
eigentlich Störungen des Chemismus, Toxikosen. Gelänge 
es jemandem, den oder die hypothetischen Stoffe, die für 
die Neurosen in Betracht kommen, zu isolieren und auf- 
zuzeigen, so hätte sein Fund keinen Einspruch von Seite 
der Ärzte zu besorgen. Allein dazu führt vorläufig noch 
kein Weg. Wir können zunächst nur vom Symptombild 
der Neurose ausgehen, das z. B. im Falle der Hysterie 
aus körperlichen und seelischen Störungen zusammen- 
gesetzt ist. Nun lehrten die Experimente von Charcot 
sowie die Krankenbeobachtungen von Breuer, daß auch die 
körperlichen Symptome der Hysterie psychogen, d. h. 
Niederschläge abgelaufener seelischer Prozesse sind. Durch 
das Mittel der Versetzung in den hypnotischen Zustand 
war man imstande, die somatischen Symptome der Hysterie 
nach Willkür künstlich zu erzeugen. 

Diese neue Erkenntnis griff die Psychoanalyse auf und 
begann damit, sich die Frage vorzulegen, welches die 
Natur jener psychischen Prozesse sei, die so ungewöhn- 
liche Folgen hinterlassen. Aber diese Forschungsrichtung 
war nicht nach dem Sinn der lebenden Ärztegeneration. 
Die Mediziner waren in der alleinigen Hochschätzung 
anatomischer, physikalischer und chemischer Momente er- 
zogen worden . Für die Würdigung des Psychischen waren 
sie nicht vorbereitet, also brachten sie diesem Gleich- 
gültigkeit und Abneigung entgegen. Offenbar bezweifelten 
sie, daß psychische Dinge überhaupt eine exakte wissen- 
schaftliche Behandlung zulassen. In übermäßiger Beaktion 
auf eine überwundene Phase, in der die Medizin von den 
Anschauungen der sogenannten Naturphilosophie beherrscht 
wurde, erschienen ihnen Abstraktionen, wie die, mit denen 
die Psychologie arbeiten muß, als nebelhaft, phantastisch, 
mystisch ; merkwürdigen Phänomenen aber, an welche die 
Forschung hätte anknüpfen können, versagten sie einfach 



den Glauben. Die Symptome der hysterischen Neurose 
galten als Erfolg der Simulation, die Erscheinungen des 
Hypnotismus als Schwindel. Seihst die Psychiater, zu deren 
Beobachtung sich doch die ungewöhnlichsten und ver- 
wunderlichsten seelischen Phänomene drängten, zeigten 
keine Neigung, deren Details zu beachten und ihren Zu- 
sammenhängen nachzuspüren. Sie begnügten sich damit, 
die Buntheit der Krankheitserscheinungen zu klassifizieren 
und sie, wo immer es nur anging, auf somatische, ana- 
tomische oder chemische Störungsursachen zurückzuführen. 
In dieser materialistischen oder besser : mechanistischen 
Periode hat die Medizin großartige Fortschritte gemacht, 
aber auch das vornehmste und schwierigste unter den 
Problemen des Lebens in kurzsichtiger Weise verkannt. 
Es ist begreiflich, daß die Mediziner bei solcher Ein- 
stellung zum Psychischen keinen Gefallen an der Psycho- 
analyse fanden und ihre Aufforderung, in vielen Stücken 
umzulernen und manche Dinge anders zu sehen, nicht 
erfüllen wollten. Aber dafür, sollte man meinen, hätte die 
neue Lehre um so leichter den Beifall der Philosophen 
finden müssen. Die waren ja gewohnt, abstrakte Begriffe 
— böse Zungen sagten allerdings : unbestimmbare Worte — 
zu oberst in ihre Welterklärungen einzusetzen und konnten 
an der Ausdehnung des Bereichs der Psychologie, welche 
die Psychoanalyse anbahnte, unmöglich Anstoß nehmen. 
Aber da traf sich ein anderes Hindernis. Das Psychische 
der Philosophen war nicht das der Psychoanalyse. Die 
Philosophen heißen in .ihrer überwiegenden Mehrzahl 
psychisch nur das, was ein Bewußtseinsphänomen ist. Die 
Welt des Bewußten deckt sich ihnen mit dem Umfang 
des Psychischen. Was sonst noch in der schwer zu er- 
fassenden „Seele vorgehen mag, das schlagen sie zu den 
organischen Vorbedingungen oder Parallelvorgängen des 
Psychischen. Oder strenger ausgedrückt, die Seele hat 

*3 



keinen anderen Inhalt als die Bewußtseinsphänomene, die 
Wissenschaft von der Seele, die Psychologie, also auch kein 
anderes Objekt. Auch der Laie denkt nicht anders. 

Was kann der Philosoph also zu einer Lehre sagen, die 
wie die Psychoanalyse behauptet, das Seelische sei viel- 
mehr an sich unbewußt, die Bewußtheit nur eine Quali- 
tät, die zum einzelnen seelischen Akt hinzutreten kann 
oder auch nicht und die eventuell an diesem nichts anderes 
ändert, wenn sie ausbleibt? Er -sagt natürlich, ein unbe- 
wußtes Seelisches ist ein Unding, eine contradictio in ad- 
jecto, und will nicht bemerken, daß er mit diesem Urteil 
nur seine eigene — vielleicht zu enge — • Definition des 
Seelischen wiederholt. Dem Philosophen wird diese Sicher- 
heit leicht gemacht, denn er kennt das Material nicht, 
dessen Studium den Analytiker genötigt hat, an unbewußte 
Seelenakte zu glauben. Er hat die Hypnose nicht beachtet, 
sich nicht um die Deutung von Träumen bemüht, — 
Träume hält er vielmehr ebenso wie der Arzt für sinn- 
lose Produkte der während des Schlafes herabgesetzten 
Geistestätigkeit — er ahnt kaum, daß es solche Dinge 
gibt wie Zwangsvorstellungen und Wahnideen, und wäre 
in arger Verlegenheit, wenn man ihm zumutete, sie aus 
seinen psychologischen Voraussetzungen zu erklären. Auch 
der Analytiker lehnt es ab zu sagen, was das Unbewußte 
ist, aber er kann auf das Erscheinungsgebiet hinweisen, 
dessen Beobachtung ihm die Annahme des Unbewußten 
aufgedrängt hat. Der Philosoph, der keine andere Art der 
Beobachtung kennt als die Selbstbeobachtung, vermag ihm 
dahin nicht zu folgen. So erwachsen der Psychoanalyse 
aus ihrer Mittelstellung zwischen Medizin und Philosophie 
nur Nachteile. Der Mediziner hält sie für ein spekulatives 
System und will nicht glauben, daß sie wie jede andere 
Naturwissenschaft auf geduldiger und mühevoller Bear^ 
beitung von Tatsachen der Wahrnehmungswelt beruht ; 

14 



der Philosoph, der sie an dem Maßstab seiner eigenen 
kunstvoll aufgebauten Systembildungen mißt, findet, daß 
sie von unmöglichen Voraussetzungen ausgeht und wirft 
ihr vor, daß ihre — erst in Entwicklung befindlichen — 
obersten Begriffe der Klarheit und Präzision entbehren. 

Die erörterten "Verhältnisse reichen hin, um einen un- 
willigen und zögernden Empfang der Analyse in wissen- 
schaftlichen Kreisen zu erklären. Sie lassen aber nicht ver- 
stehen, wie es zu jenen Ausbrüchen von Entrüstung, von 
Spott und Hohn,, zur Hinwegsetzung über alle Vorschriften 
der Logik und des guten Geschmacks in der Polemik 
kommen konnte. Eine solche Reaktion läßt erraten, daß 
andere als bloß intellektuelle Widerstände rege geworden 
sind, daß starke affektive Mächte wachgerufen wurden, und 
wirklich ist im Inhalt der psychoanalytischen Lehre genug 
zu finden, dem man eine solche Wirkung auf die Leiden- 
schaften der Menschen, nicht der Wissenschaftler allein, 
zuschreiben darf. 

Da ist vor allem die große Bedeutung, welche die 
Psychoanalyseden sogenannten Sexualtrieben im mensch- 
lichen Seelenleben einräumt. Nach der psychoanalytischen 
Theorie sind die Symptome der Neurosen entstellte Ersatz- 
befriedigungen von sexuellen Triebkräften, denen eine 
direkte Befriedigung durch innere Widerstände versagt 
worden ist. Später, als die Analyse über ihr ursprüng- 
liches Arbeitsgebiet hinausgriff und sich auf das normale 
Seelenleben anwenden ließ, versuchte sie zu zeigen, daß 
dieselben Sexualkomponenten, die sich von ihren nächsten 
Zielen ablenken und auf anderes hinleiten lassen, die 
wichtigsten Beiträge zu den kulturellen Leistungen des 
Einzelnen und der Gemeinschaft stellen. Diese Behaup- 
tungen waren nicht völlig neu. Der Philosoph Schopen- 
hauer hatte die unvergleichliche Bedeutung des Sexual- 
lebens in Worten von unvergeßlichem Nachdruck betont, 

15 



auch deckte sich, was die Psychoanalyse Sexualität nannte, 
keineswegs mit dem Drang nach Vereinigung der geschie- 
denen Geschlechter oder nach Erzeugung von Lustempfin- 
dung an den Genitalien, sondern weit eher mit dem all- 
umfassenden und alles erhaltenden Eros des Symposions 
Piatos. 

Allein die Gegner vergaßen an diese erlauchten Vor- 
gänger; sie fielen über die Psychoanalyse her, als hätte 
sie ein Attentat auf die Würde des Menschengeschlechtes 
verübt. Sie warfen ihr „Pansexualismus" vor, obwohl die 
psychoanalytische Trieblehre immer streng dualistisch ge- 
wesen war und zu keiner Zeit versäumt hatte, neben den 
Sexualtrieben andere anzuerkennen, denen sie ja die Kraft 
zur Unterdrückung der Sexualtriebe zuschrieb. Der Gegen- 
satz hatte zuerst geheißen: Sexual- und Ich-Triebe, in 
späterer Wendung der Theorie lautet er: Eros und Todes- 
oder Destruktionstrieb. Die partielle Ableitung der Kunst, 
Religion, sozialer Ordnung von der Mitwirkung sexueller 
Triebkräfte wurde als eine Erniedrigung der höchsten 
Kulturgüter hingestellt und mit Emphase verkündet, daß 
der Mensch noch andere Interessen habe als immer nur 
sexuelle. Wobei man im Eifer übersah, daß auch das Tier 
andere Interessen hat, — es ist ja der Sexualität nur an- 
fallsweise zu gewissen Zeiten und nicht wie der Mensch 
permanent unterworfen, — daß diese anderen Interessen 
beim Menschen niemals bestritten wurden, und daß der 
Nachweis der Herkunft aus elementaren animalischen 
Triebquellen an dem Wert einer kulturellen Errungen- 
schaft nichts zu ändern vermag. 

Soviel Unlogik und Ungerechtigkeit ruft nach einer 
Erklärung. Ihr Ansatz ist nicht schwer zu finden. Die 
menschliche Kultur ruht auf zwei Stützen, die eine ist 
die Beherrschung der Naturkräfte, die andere die Beschrän- 
kung unserer Triebe. Gefesselte Sklaven tragen den Thron 

16 



der Herrscherin. Unter den so dienstbar gemachten Trieb- 
komponenten ragen die der Sexualtriebe — im engeren 
Sinne — durch Stärke und Wildheit hervor. Wehe, wenn 
sie befreit würden; der Thron würde umgeworfen, die 
Herrin mit Füßen getreten werden. Die Gesellschaft weiß 
dies und — will nicht, daß davon gesprochen wird. 

Aber warum nicht ? Was könnte die Erörterung scha- 
den? Die Psychoanalyse hat ja niemals der Entfesselung 
unserer gemeinschädlichen Triebe das Wort geredet; im 
Gegenteil gewarnt und zur Besserung geraten. Aber die 
Gesellschaft will von einer Aufdeckung dieser Verhältnisse 
nichts hören, weil sie nach mehr als einer Richtung ein 
schlechtes Gewissen hat. Sie hat erstens ein hohes Ideal 
von Sittlichkeit aufgestellt, !■ — ■ Sittlichkeit ist Triebein- 
schränkung, — dessen Erfüllung sie von allen ihren Mit- 
gliedern fordert, und kümmert sich nicht darum, wie 
schwer dem Einzelnen dieser Gehorsam fallen mag. Sie 
ist aber auch nicht so reich oder so gut organisiert, daß 
sie den Einzelnen für sein Ausmaß an Triebverzicht ent- 
sprechend entschädigen kann. Es bleibt also dem Indi- 
viduum überlassen, auf welchem Wege es sich genügende 
Kompensation für das ihm auferlegte Opfer verschaffen 
kann, um sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Im 
ganzen ist er aber genötigt, psychologisch über seinen 
Stand zu leben, während ihn seine unbefriedigten Trieb- 
ansprüche die Kulturanforderungen als ständigen Druck 
empfinden lassen. Somit unterhält die Gesellschaft einen 
Zustand von Kulturheuchelei, dem ein Gefühl von 
Unsicherheit und ein Bedürfnis zur Seite gehen muß, die 
unleugbare Labilität durch das Verbot der Kritik und 
Diskussion zu schützen. Diese Betrachtung gilt für alle 
Triebregungen, also auch für die egoistischen; inwiefern 
sie auf alle möglichen Kulturen Anwendung findet, nicht 
nur auf die bis jetzt entwickelten, soll hier nicht Unter- 
st 1 7 



sucht werden. Und nun kommt noch für die im engeren 
Sinne sexuellen Triebe hinzu, daß sie bei den meisten 
Menschen in unzureichender und psychologisch inkorrekter 
Weise gebändigt sind, so daß sie am ehesten bereit sind 
loszubrechen. 

Die Psychoanalyse deckt die Schwächen dieses Systems 
auf und rät zur Änderung desselben. Sie schlägt vor, mit 
der Strenge der Triebverdrängung nachzulassen und dafür 
der Wahrhaftigkeit mehr Raum zu geben. Gewisse Trieb- 
regungen, in deren Unterdrückung die Gesellschaft zu 
weit gegangen ist, sollen zu einem größeren Maß von 
Befriedigung zugelassen werden, bei anderen soll die un- 
zweckmäßige Methode der Unterdrückung auf dem Wege 
der Verdrängung durch ein besseres und gesicherteres Ver- 
fahren ersetzt werden. Infolge dieser Kritik ist die Psycho- 
analyse als „kulturfeindlich" empfunden und als „soziale 
Gefahr" in den Bann getan worden. Diesem Wider- 
stand kann keine ewige Dauer beschieden sein; auf die 
Länge kann sich keine menschliche Institution der Ein- 
wirkung gerechtfertigter kritischer Einsicht entziehen, aber 
bis jetzt wird die Einstellung der Menschen zur Psycho- 
analyse noch immer durch diese Angst beherrscht, welche 
die Leidenschaften entfesselt und die Ansprüche an die 
logische Argumentation herabsetzt. 

Durch ihre Trieblehre hatte die Psychoanalyse das 
Individuum beleidigt, insofern es sich als Mitglied der 
sozialen Gemeinschaft fühlte; ein anderes Stück ihrer 
Theorie konnte jeden Einzelnen an der empfindlichsten 
Stelle seiner eigenen psychischen Entwicklung verletzen. 
Die Psychoanalyse machte dem Märchen von der asexu- 
ellen Kindheit ein Ende, wies nach, daß sexuelle Inter- 
essen und Betätigungen bei den kleinen Kindern vom 
Anfang des Lebens an bestehen, zeigte, welche Umwand- 
lungen sie erfahren, wie sie etwa mit dem fünften Jahr 

!8 



einer Hemmung unterliegen und dann von der Pubertät 
an in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion treten. Sie 
erkannte, daß das frühinfantile Sexualleben im sogenannten 
Ödipus-Komplex gipfelt, in der Gefühlsbindung an den 
gegengeschlechtlichen Elternteil mit Rivalitätseinstellung 
zum gleichgeschlechtlichen, eine Strebung, die sich in 
dieser Lebenszeit noch ungehemmt in direkt sexuelles Be- 
gehren fortsetzt. Das ist so leicht zu bestätigen, daß es 
wirklich nur einer großen Kraftanspannung gelingen 
konnte, es zu übersehen. In der Tat hatte jeder Einzelne 
diese Phase durchgemacht, ihren Inhalt aber dann in 
energischer Anstrengung verdrängt und zum Vergessen ge- 
bracht. Der Abscheu vor dem Inzest und ein mächtiges 
Schuldbewußtsein waren aus dieser individuellen Vorzeit 
erübrigt worden. Vielleicht war es in der generellen Vor- 
zeit der Menschenart ganz ähnlich zugegangen und die 
Anfänge der Sittlichkeit, der Religion und der sozialen 
Ordnung waren mit der Überwindung dieser Urzeit auf 
das innigste verknüpft. An diese Vorgeschichte, die ihm 
später so unrühmlich erschien, durfte der Erwachsene 
dann nicht gemahnt werden; er begann zu toben, wenn 
die Psychoanalyse den Schleier der Amnesie von seinen 
Kinderjahren lüften wollte. So blieb nur ein Ausweg: was 
die Psychoanalyse behauptete, mußte falsch sein und diese 
angebliche neue Wissenschaft ein Gewebe von Phan- 
tasterei und Entstellungen. 

Die starken Widerstände gegen die Psychoanalyse waren 
also nicht intellektueller Natur, sondern stammten aus 
affektiven Quellen. Daraus erklärten sich ihre Leiden- 
schaftlichkeit wie ihre logische Genügsamkeit. Die Situ- 
ation folgte einer einfachen Formel: die Menschen be- 
nahmen sich gegen die Psychoanalyse als Masse genau 
wie der einzelne Neurotiker, den man wegen seiner Be- 
schwerden in Behandlung genommen hatte, dem man aber 

2 * 19 



in geduldiger Arbeit nachweisen konnte, daß alles so vor- 
gefallen war, wie man es behauptete. Man hatte es ja 
auch nicht selbst erfunden, sondern aus dem Studium 
anderer Neurotiker durch die Bemühung von mehreren 
Dezennien erfahren. 

Diese Situation hatte gleichzeitig etwas Schreckhaftes 
und etwas Tröstliches; das erstere, weil es keine Kleinig- 
keit war, das ganze Menschengeschlecht zum Patienten zu 
haben, das andere, weil schließlich sich alles so abspielte, 
wie es nach den Voraussetzungen der Psychoanalyse ge- 
schehen mußte. 

Überschaut man nochmals die beschriebenen Wider- 
stände gegen die Psychoanalyse, so muß man sagen, nur 
ihr kleinerer Anteil ist von der Art, wie er sich gegen 
die meisten wissenschaftlichen Neuerungen von einigem 
Belang zu erheben pflegt. Der größere Anteil rührt davon 
her, daß durch den Inhalt der Lehre starke Gefühle der 
Menschheit verletzt worden sind. Dasselbe erfuhr ja auch 
die Darwinsche Deszendenztheorie, welche die vom Hoch- 
mut geschaffene Scheidewand zwischen Mensch und Tier 
niederriß. Ich habe auf diese Analogie in einem früheren 
kurzen Aufsatz („Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse", 
Imago 1917) hingewiesen. Ich betonte dort, daß die psycho- 
analytische Auffassung vom Verhältnis des bewußten Ichs 
zum übermächtigen Unbewußten eine schwere Kränkung 
der menschlichen Eigenliebe bedeute, die ich die psycho- 
logische nannte und an die biologische Kränkung 
durch die Deszendenzlehre und die frühere kosmologische 
durch die Entdeckung des Kopernikus anreihte. 

Auch rein äußerliche Schwierigkeiten haben dazu bei- 
getragen, den Widerstand gegen die Psychoanalyse zu ver- 
stärken. Es ist nicht leicht, ein selbständiges Urteil in 
Sachen der Analyse zu gewinnen, wenn man sie nicht 
an sich selbst erfahren oder an einem anderen ausgeübt 



hat. Letzteres kann man nicht, ohne eine bestimmte, recht 
heikle Technik erlernt zu haben, und bis vor kurzem gab 
es keine bequem zugängliche Gelegenheit, die Psychoana- 
lyse und ihre Technik zu erlernen. Das hat sich jetzt 
durch die Gründung der Berliner Psychoanalytischen Poli- 
klinik und Lehranstalt (1920) zum Besseren gewendet. Bald 
nachher (1925) ist in Wien ein ganz ähnliches Institut 
ins Leben gerufen worden. 

Endlich darf der Autor in aller Zurückhaltung die 
Frage aufwerfen, ob nicht seine eigene Persönlichkeit als 
Jude, der sein Judentum nie verbergen wollte, an der 
Antipathie der Umwelt gegen die Psychoanalyse Anteil 
gehabt hat. Ein Argument dieser Art ist nur selten 
laut geäußert worden; wir sind leider so argwöhnisch 
geworden, daß wir nicht umhin können zu vermuten, der 
Umstand sei nicht ganz ohne Wirkung geblieben. Es ist 
vielleicht auch kein bloßer Zufall, daß der erste Vertreter 
der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu be- 
kennen, brauchte es ein ziemliches Maß von Bereitwillig- 
keit, das Schicksal der Vereinsamung in der Opposition 
auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden ver- 
trauter ist als einem anderen. 



»Die Ausnahmen« 

von 

Sigm. Freud 

Jus „Einige Charaktertypen aus der psycho- 
analytischen Arbeit" (Ges. Schriften, Bd. X). 

Die psychoanalytische Arbeit sieht sich immer wieder 
vor die Aufgabe gestellt, den Kranken zum Verzicht auf 
einen naheliegenden und unmittelbaren Lustgewinn zu 



bewegen. Er soll nicht auf Lust überhaupt verzichten; 
das kann man vielleicht keinem Menschen zumuten, und 
selbst die Religion muß ihre Forderung, irdische Lust 
fahren zu lassen, mit dem Versprechen begründen, dafür 
ein ungleich höheres Maß von wertvollerer Lust in einem 
Jenseits zu gewähren. Nein, der Kranke soll bloß auf 
solche Befriedigungen verzichten, denen eine Schädigung 
unfehlbar nachfolgt, er soll bloß zeitweilig entbehren, 
nur den unmittelbaren Lustgewinn gegen einen besser 
gesicherten, wenn auch aufgeschobenen, eintauschen lernen. 
Oder mit anderen Worten, er soll unter der ärztlichen 
Leitung jenen Fortschritt vom Lustprinzip zum 
Realitätsprinzip machen, durch welchen sich der reife 
Mann vom Kinde scheidet. Bei diesem Erziehungswerk 
spielt die bessere Einsicht des Arztes kaum eine ent- 
scheidende Rolle; er weiß ja in der Regel dem Kranken 
nichts anderes zu sagen, als was diesem sein eigener Ver- 
stand sagen kann. Aber es ist nicht dasselbe, etwas bei sich 
zu wissen und dasselbe von anderer Seite zu hören; der 
Arzt übernimmt die Rolle dieses wirksamen anderen; er 
bedient sich des Einflusses, den ein Mensch auf den anderen 
ausübt. Oder: erinnern wir uns daran, daß es in der 
Psychoanalyse üblich ist, das Ursprüngliche und Wurzel- 
hafte an Stelle des Abgeleiteten und Gemilderten einzu- 
setzen, und sagen wir, der Arzt bedient sich bei seinem 
Erziehungswerk irgendeiner Komponente der Liebe. Er 
wiederholt bei solcher Nacherziehung wahrscheinlich nur 
den Vorgang, der überhaupt die erste Erziehung ermög- 
licht hat. Neben der Lebensnot ist die Liebe die große 
Erzieherin, und der unfertige Mensch wird durch die 
Liebe der ihm Nächsten dazu bewogen, auf die Gebote 
der Not zu achten und sich die Strafen für deren Über- 
tretung zu ersparen. 

Fordert man so von den Kranken einen vorläufigen 
Verzicht auf irgendeine Lustbefriedigung, ein Opfer, eine 
Bereitwilligkeit, zeitweilig für ein besseres Ende Leiden 
auf sich zu nehmen, oder auch nur den Entschluß, sich 



einer für alle geltenden Notwendigkeit zu unterwerfen, 
so stößt man auf einzelne Personen, die sich mit einer 
besonderen Motivierung gegen solche Zumutung sträuben. 
Sie sagen, sie haben genug gelitten und entbehrt, sie haben 
Anspruch darauf, von weiteren Anforderungen verschont 
zu werden, sie unterwerfen sich keiner unliebsamen Not- 
wendigkeit mehr, denn sie seien Ausnahmen und ge- 
denken es auch zu bleiben. Bei einem Kranken solcher 
Art war dieser Anspruch zu der Überzeugung gesteigert, 
daß eine besondere Vorsehung über ihn wache, die ihn 
vor derartigen schmerzlichen Opfern bewahren werde. 
Gegen innere Sicherheiten, die sich mit solcher Stärke 
äußern, richten die Argumente des Arztes nichts aus, aber 
auch sein Einfluß versagt zunächst, und er wird darauf 
hingewiesen, den Quellen nachzuspüren, aus welchen das 
schädliche Vorurteil gespeist wird. 

Nun ist es wohl unzweifelhaft, daß ein jeder sich für 
eine „Ausnahme ausgeben und Vorrechte vor den anderen 
beanspruchen möchte. Aber gerade darum bedarf es einer 
besonderen und nicht überall vorfindlichen Begründung, 
wenn er sich wirklich als Ausnahme verkündet und be- 
nimmt. Es mag mehr als nur eine solche Begründung 
geben ; in den von mir untersuchten Fällen gelang es, 
eine gemeinsame Eigentümlichkeit der Kranken in deren 
früheren Lebensschicksalen nachzuweisen: Ihre Neu- 
rose knüpfte an ein Erlebnis oder an ein Leiden an, das 
sie in den ersten Kinderzeiten betroffen hatte, an dem sie 
sich unschuldig wußten, und das sie als eine ungerechte 
Benachteiligung ihrer Person bewerten konnten. Die Vor- 
rechte, die sie aus diesem Unrecht ableiteten, und die 
Unbotmäßigkeit, die sich daraus ergab, hatten nicht wenig 
dazu beigetragen, um die Konflikte, die später zum Aus- 
bruch der Neurose führten, zu verschärfen. Bei einer dieser 
Patientinnen wurde die besprochene Einstellung zum Leben 
vollzogen, als sie erfuhr, daß ein schmerzhaftes organi- 
sches Leiden, welches sie an der Erreichung ihrer Lebens- 
ziele gehindert hatte, kongenitalen Ursprungs war. Solange 



sie dieses Leiden für eine zufällige spätere Erwerbung 
hielt, ertrug sie es geduldig; von ihrer Aufklärung an, es 
sei ein Stück mitgebrachter Erbschaft, wurde sie rebellisch. 
Der junge Mann, der sich von einer besonderen Vorsehung 
bewacht glaubte, war als Säugling das Opfer einer zu- 
fälligen Infektion durch seine Amme geworden und hatte 
sein ganzes späteres Leben von seinen Entschädigungs- 
ansprüchen wie von einer Unfallsrente gezehrt, ohne zu 
ahnen, worauf er seine Ansprüche gründete. In seinem 
Falle wurde die Analyse, welche dieses Ergebnis aus dunklen 
Erinnerungsresten und Symptomdeutungen konstruierte, 
durch Mitteilungen der Familie objektiv bestätigt. 

Aus leicht verständlichen Gründen kann ich von diesen 
und anderen Krankengeschichten ein mehreres nicht mit- 
teilen. Ich will auch auf die naheliegende Analogie mit 
der Charakterverbildung nach langer Kränklichkeit der 
Kinderjahre und im Benehmen ganzer Völker mit leiden- 
schwerer Vergangenheit nicht eingehen. Dagegen werde 
ich es mir nicht versagen, auf jene von dem größten 
Dichter geschaffene Gestalt hinzuweisen, in deren Charakter 
der Ausnahmsanspruch mit dem Momente der kongenitalen 
Benachteiligung so innig verknüpft und durch dieses moti- 
viert ist. 

Im einleitenden Monolog zu Shakespeares „Richard III." 
sagt Gloster, der spätere König: 

Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht, 

Noch um zu buhlen mit verliebten Spiegeln; 

Ich, roh geprägt, entblößt von Liebes-Majestät 

Vor leicht sich dreh'nden Nymphen sich zu brüsten; 

Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt, 

Von der Natur um Bildung falsch betrogen, 

Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt . 

In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig 

Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend, 

Daß Hunde bellen, hink' ich wo vorbei; 

Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter 
24 



Kann kürzen diese fein beredten Tage, 
Bin ich gewillt ein Bösewicht zu werden 
Und Feind den eitlen Freuden dieser Tage. 

Unser erster Eindruck von dieser Programmrede wird 
vielleicht die Beziehung zu unserem Thema vermissen. 
Richard scheint nichts anderes zu sagen als: Ich langweile 
mich in dieser müßigen Zeit und ich will mich amüsieren. 
Weil ich aber wegen meiner Mißgestalt mich nicht als 
Liebender unterhalten kann, werde ich den Bösewicht 
spielen, intrigieren, morden, und was mir sonst gefällt. 
Eine so frivole Motivierung müßte jede Spur von Anteil- 
nahme beim Zuschauer ersticken, wenn sich nichts Ernsteres 
hinter ihr verbärge. Dann wäre aber auch das Stück psycho- 
logisch unmöglich, denn der Dichter muß bei uns einen 
geheimen Hintergrund von Sympathie für seinen Helden 
zu schaffen verstehen, wenn wir die Bewunderung für 
seine Kühnheit und Geschicklichkeit ohne inneren Ein- 
spruch verspüren sollen, und solche Sympathie kann nur 
im Verständnis, im Gefühle einer möglichen inneren 
Gemeinschaft mit ihm begründet sein. 

Ich meine darum, der Monolog Richards sagt nicht 
alles; er deutet bloß an und überläßt es uns, das An- 
gedeutete auszuführen. Wenn wir aber diese Vervoll- 
ständigung vornehmen, dann schwindet der Anschein von 
Frivolität, dann kommt die Bitterkeit und Ausführlichkeit, 
mit der Richard seine Mißgestalt geschildert hat, zu ihrem 
Rechte, und uns wird die Gemeinsamkeit klar gemacht, 
die unsere Sympathie auch für den Bösewicht erzwingt. 
Es heißt dann: Die Natur hat ein schweres Unrecht an 
mir begangen, indem sie mir die Wohlgestalt versagt hat, 
welche die Liebe der Menschen gewinnt. Das Leben ist 
mir eine Entschädigung dafür schuldig, die ich mir holen 
werde. Ich habe den Anspruch darauf, eine Ausnahme zu 
sein, mich über die Bedenken hinwegzusetzen, durch die 
sich andere hindern lassen. Ich darf selbst Unrecht tun, 
denn an mir ist Unrecht geschehen, — und nun fühlen wir, 
daß wir selbst so werden könnten wie Richard, ja daß wir es 



25 



im kleinen Maßstabe bereits sind. Richard ist eine gigantische 
Vergrößerung dieser einen Seite, die wir auch in uns finden. 
Wir glauben alle Grund zu haben, daß wir mit Natur und 
Schicksal wegen kongenitaler und infantiler Benachteiligung 
grollen; wir fordern alle Entschädigung für frühzeitige 
Kränkungen unseres Narzißmus, unserer Eigenliebe. Warum 
hat uns die Natur nicht die goldenen Locken Balders ge- 
schenkt oder die Stärke Siegfrieds oder die hohe Stirne des 
Genies, den edlen Gesichtsschnitt des Aristokraten ? Warum 
sind wir in der Bürgerstube geboren anstatt im Königs- 
schloß? Wir würden es ebenso gut treffen, schön und 
vornehm zu sein wie alle, die wir jetzt darum beneiden 
müssen. 

Es ist aber eine feine ökonomische Kunst des Dichters, 
daß er seinen Helden nicht alle Geheimnisse seiner Moti- 
vierung laut und restlos aussprechen läßt. Dadurch nötigt 
er uns, sie zu ergänzen, beschäftigt unsere geistige Tätig- 
keit, lenkt sie vom kritischen Denken ab und hält uns 
in der Identifizierung mit dem Helden fest. Ein Stümper 
an seiner Stelle würde alles, was er uns mitteilen will, 
in bewußten Ausdruck fassen und fände sich dann unserer 
kühlen, frei beweglichen Intelligenz gegenüber, die eine 
Vertiefung der Illusion unmöglich macht. 

Wir wollen aber die „Ausnahmen" nicht verlassen, ohne 
zu bedenken, daß der Anspruch der Frauen auf Vorrechte 
und Befreiung von soviel Nötigungen des Lebens auf dem- 
selben Grunde ruht. Wie wir aus der psychoanalytischen 
Arbeit erfahren, betrachten sich die Frauen als infantil 
geschädigt, ohne ihre Schuld um ein Stück verkürzt und 
zurückgesetzt, und die Erbitterung so mancher Tochter 
gegen ihre Mutter hat zur letzten Wurzel den Vorwurf, 
daß sie sie als Weib anstatt als Mann zur Welt gebracht hat. 



26 



Die okkulte Bedeutung 
des Traumes 

von 

Sigm. Freud 

Jus dem im Herbst 192/ erscheinenden 
Band III der Gesammelten Schriften, der — 
zum Teil noch unveröffentlichte ■ — »Er- 
gänzungen und Zusatzkapitel" zur „Traum- 
deutung 1 ' enthält. 

Wenn der Probleme des Traumlebens kein Ende ab- 
zusehen ist, so kann sich nur der darüber verwundern, 
der eben vergißt, daß alle Probleme des Seelenlebens auch 
am Traume wiederkehren, vermehrt um einige neue, die 
die besondere Natur der Träume betreffen. Viele der Dinge, 
die wir am Traume studieren, weil sie sich uns dort zeigen, 
haben aber mit dieser psychischen Besonderheit des Traumes 
nichts oder wenig zu tun. So ist z. B. die Symbolik kein 
Traumproblem, sondern ein Thema unseres archaischen 
Denkens, unserer „Grundsprache" nach des Paranoikers 
Schreber trefflichem Ausdruck, sie beherrscht den Mythus 
und das religiöse Bitual nicht minder als den Traum ; kaum 
daß der Traumsymbolik die Eigenheit verbleibt, vorwiegend 
sexuell Bedeutsames zu verhüllen! Auch der Angsttraum 
braucht seine Aufklärung nicht von der Traumlehre zu 
erwarten, die Angst ist vielmehr ein Neurosenproblem, es 
bleibt nur zu erörtern, wie Angst unter den Bedingungen 
des Träumens entstehen kann. 

Ich meine, es -ist mit dem Verhältnis des Traumes zu 
den angeblichen Tatsachen der okkulten Welt auch nicht 
anders. Aber da der Traum selbst immer etwas Geheimnis- 
volles war, hat man ihn mit jenen anderen unerkannten 
Geheimnissen in intime Beziehung gesetzt. Er hatte wohl 

27 



auch ein historisches Anrecht darauf, denn in den Ur- 
zeiten, als unsere Mythologie sich bildete, mögen die Traum- 
bilder an der Entstehung der Seelenvorstellungen beteiligt 
gewesen sein. 

Es soll zwei Kategorien von Träumen geben, die den 
okkulten Phänomenen zuzurechnen sind, die prophetischen 
und die telepathischen. Für beide spricht eine unüber- 
sehbare Masse von Zeugnissen; gegen beide die hart- 
näckige Abneigung, wenn man will, das Vorurteil der 
Wissenschaft. 

Daß es prophetische Träume in dem Sinne gibt, daß 
ihr Inhalt irgendeine Gestaltung der Zukunft darstellt, 
leidet allerdings keinen Zweifel, fraglich bleibt nur, ob 
diese Vorhersagen in irgend bemerkenswerter Weise mit 
dem übereinstimmen, was später wirklich geschieht. Ich 
gestehe, daß mich für diesen Fall der Vorsatz der Un- 
parteilichkeit im Stiche läßt. Daß es irgendeiner psychi- 
schen Leistung außer einer scharfsinnigen Berechnung 
möglich sein sollte, das zukünftige Geschehen im einzelnen 
vorauszusehen, widerspricht einerseits zu sehr allen Er- 
wartungen und Einstellungen der Wissenschaft und ent- 
spricht anderseits allzu getreu uralten, wohlbekannten 
Menschheitswünschen, welche die Kritik als unberechtigte 
Anmaßung verwerfen muß. Ich meine also, wenn man 
die Unzuverlässigkeit, Leichtgläubigkeit und Unglaubwür- 
digkeit der meisten Berichte zusammenhält mit der Mög- 
lichkeit affektiv erleichterter Erinnerungstäuschungen und 
der Notwendigkeit einzelner Zufallstreffer, darf man er- 
warten, daß sich der Spuk der prophetischen Wahrträume 
in ein Nichts auflösen wird. Persönlich habe ich nie etwas 
erlebt oder erfahren, was ein günstigeres Vorurteil erwecken 
könnte. 

Anders steht es mit den telepathischen Träumen. Hier 
sei aber vor allem bemerkt, daß noch niemand behauptet 

28 



hat, das telepathische Phänomen — die Aufnahme eines 
seelischen Vorganges in einer Person durch eine andere 
auf anderem Wege als dem der Sinneswahrnehmung — 
sei ausschließlich an den Traum gebunden. Die Tele- 
pathie ist also wiederum kein Traumproblem, man braucht 
sein Urteil über ihre Existenz nicht aus dem Studium 
der telepathischen Träume zu schöpfen. 

Unterwirft man die Berichte über telepathische Vorkomm- 
nisse (ungenau: Gedankenübertragung) derselben Kritik, mit 
der man andere okkulte Behauptungen abgewehrt hat, so 
behält man doch ein ansehnliches Material übrig, das man 
nicht so leicht vernachlässigen kann. Auch gelingt es auf 
diesem Gebiete weit eher, eigene Beobachtungen und Er- 
fahrungen zu sammeln, die eine freundliche Einstellung 
zum Problem der Telepathie berechtigen, wenngleich sie 
für die Herstellung einer gesicherten Überzeugung noch 
nicht ausreichen mögen. Man bildet sich vorläufig die 
Meinung, es könne wohl sein, daß die Telepathie wirklich 
existiert und daß sie den Wahrheitskern von vielen anderen, 
sonst unglaublichen Aufstellungen bildet. 

Man tut gewiß Becht daran, wenn man auch in Sachen 
der Telepathie jede Position der Skepsis hartnäckig ver- 
teidigt und nur ungern vor der Macht der Beweise zurück- 
weicht. Ich glaube ein Material gefunden zu haben, welches 
den meisten sonst zulässigen Bedenken entzogen ist : nicht 
erfüllte Prophezeiungen berufsmäßiger Wahrsager. Leider 
stehen mir nur wenige solcher Beobachtungen zu Gebote, 
aber zwei unter diesen haben mir einen starken Eindruck 
hinterlassen. Es ist mir versagt, diese so ausführlich mit- 
zuteilen, daß sie auch auf andere wirken könnten. Ich 
muß mich auf die Hervorhebung einiger wesentlicher 
Punkte beschränken. 

Den betreffenden Personen war also — an fremdem 
Ort und von seiten eines fremden Wahrsagers, der dabei 



irgendeine, wahrscheinlich gleichgültige, Praktik betrieb — 
etwas für eine bestimmte Zeit vorhergesagt worden, was 
nicht eingetroffen war. Die Verfallszeit der Prophezeiung 
war längst vorüber. Es war auffällig, daß die Gewährs- 
personen anstatt mit Spott und Enttäuschung mit offen- 
barem Wohlgefallen von ihrem Erlebnis erzählten. Im 
Inhalte der ihnen gewordenen Verkündigung fanden sich 
ganz bestimmte Einzelheiten, die willkürlich und un- 
verständlich schienen, die eben nur durch ihr Eintreffen 
gerechtfertigt worden wären. So sagte z. B. der Chiro- 
mant der Siebenundzwanzigjährigen, aber viel jünger aus- 
sehenden Frau, die den Ehering abgezogen hatte, sie werde 
noch heiraten und mit zweiunddreißig Jahren zwei Kinder 
haben. Die Frau war dreiundvierzig Jahre alt, als sie, 
schwer krank geworden, mir diese Begebenheit in ihrer 
Analyse erzählte, sie war kinderlos geblieben. Wenn man 
ihre Geheimgeschichte kannte, die dem „Professeur" in 
der Halle des Pariser Hotels sicherlich unbekannt geblieben 
war, konnte man die beiden Zahlen der Prophezeiung ver- 
stehen. Das Mädchen hatte nach einer ungewöhnlich inten- 
siven Vaterbindung geheiratet und sich dann sehnlichst 
Kinder gewünscht, um ihren Mann an die Stelle des Vaters 
rücken zu können. Nach jahrelanger Enttäuschung, an der 
Schwelle einer Neurose, holte sie sich die Prophezeiung, 
die — ihr das Schicksal ihrer Mutter versprach. Auf diese 
traf es zu, daß sie mit zweiunddreißig Jahren zwei Kinder 
gehabt hatte. So war es also nur mit Hilfe der Psycho- 
analyse möglich, die Eigentümlichkeiten der angeblich von 
außen her erfolgenden Botschaft sinnvoll zu deuten. Dann 
aber konnte man den ganzen, so eindeutig bestimmten 
Sachverhalt nicht besser aufklären als durch die Annahme, 
ein starker Wunsch der Befragenden — in Wirklichkeit 
der stärkste unbewußte Wunsch ihres Affektlebens und 
der Motor ihrer keimenden Neurose — habe sich durch 



3° 



unmittelbare Übertragung dem mit einer ablenkenden Han- 
tierung beschäftigten Wahrsager kundgegeben. 

Ich habe auch bei Versuchen im intimen Kreise wieder- 
holt den Eindruck gewonnen, daß die Übertragung von 
stark affektiv betonten Erinnerungen unschwer gelingt. 
Getraut man sich, die Einfälle der Person, auf welche 
übertragen werden soll, einer analytischen Bearbeitung zu 
unterziehen, so kommen oft Übereinstimmungen zum Vor- 
schein, die sonst unkenntlich geblieben wären. Aus manchen 
Erfahrungen bin ich geneigt, den Schluß zu ziehen, daß 
solche Übertragungen besonders gut in dem Momente zu- 
stande kommen, da eine Vorstellung aus dem unbewußten 
auftaucht, theoretisch ausgedrückt, sobald sie aus dem „Pri- 
märvorgang" in den „Sekundärvorgang" übergeht. 

Bei aller durch die Tragweite, Neuheit und Dunkelheit 
des Gegenstandes gebotenen Vorsicht hielt ich es doch 
nicht mehr für berechtigt, mit diesen Äußerungen zum 
Problem der Telepathie zurückzuhalten. Mit dem Traum 
hat dies alles nur so viel zu tun: Wenn es telepathische 
Botschaften gibt, so ist nicht abzuweisen, daß sie auch 
den Schlafenden erreichen und von ihm im Traume erfaßt 
werden können. Ja, nach der Analogie mit anderem Wahr- 
nehmungs- und Gedankenmaterial darf man es auch nicht 
abweisen, daß telepathische Botschaften, die während des 
Tages aufgenommen wurden, erst im Traume der nächsten 
Nacht zur Verarbeitung kommen. Es wäre dann nicht 
einmal ein Einwand, wenn das telepathisch vermittelte 
Material im Traume wie ein anderes verändert und um- 
gestaltet würde. Man möchte gerne mit Hilfe der Psycho- 
analyse mehr und besser Gesichertes über die Telepathie 
erfahren. 



3 1 



DIE PSYCHOANALYSE 

UND DIE DICHTER 

iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiii 

Mein Verhältnis zur Psychoanalyse 

von 

Thomas Mann 

Mein Verhältnis zur Psychoanalyse ist so uneinfach wie 
sie es verdient. Man kann in der Psychoanalyse, diesem merk- 
würdigen Gewächs wissenschaftlich-zivilisatorischen Geistes, 
mit allem Recht etwas Großes und Bewunderungswürdiges 
erblicken, eine kühne Entdeckung, einen tiefen Vorstoß der 
Erkenntnis, eine überraschende, ja sensationelle Erweiterung 
des Wissens vom Menschen. Und man kann auf der anderen 
Seite finden, daß sie, mißbräuchlich ins Volk gebracht, zu 
einem Instrument boshafter Aufklärung, einer kulturwidrigen 
Manie der Enthüllung und Diskreditierung werden kann, 
gegen die Bedenken zu haben, nicht bloße Sentimentalität 
zu bedeuten braucht. Ihr Wesen ist Erkenntnis, melan- 
cholische Erkenntnis, insonderheit was Kunst und Künstler- 
tum betrifft, auf die sie es offenbar besonders abgesehen hat. 
Nun, das war mir nichts Neues, als es mir zum erstenmal 
entgegentrat. Bei Nietzsche, namentlich in seiner Wagner- 
Kritik, hatte ich es im wesentlichen erlebt, und es war, als 
Ironie, zu einem Element meiner geistigen Verfassung und 
meiner Produktion geworden, — ein Umstand, dem ich es 
zweifellos zu danken habe, daß meinen Schriften von jeher 
eine gewisse charakteristische Aufmerksamkeit und kritische 
Vorliebe von Seiten der analytischen Gelehrtenschule zuteil 
wurde. Auch der „Tod in Venedig" erfuhr aus guten Grün- 
den diese Teilnahme, obgleich doch der hochfahrende Satz 
darin steht: „Aber es scheint, daß gegen nichts ein edler 

3 2 



und tüchtiger Geist sich rascher, sich gründlicher abstumpft 
als gegen den scharfen und bitteren Reiz der Erkenntnis; 
und gewiß ist, daß die schwermütig gewissenhafteste Gründ- 
lichkeit des Jünglings Seichtheit bedeutet im Vergleich mit 
dem tiefen Entschlüsse des Meister gewordenen Mannes, das 
Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenen Hauptes dar- 
über hinweg zu gehen, sofern es den Willen, die Tat, das 
Gefühl, und selbst die Leidenschaft im geringsten zu lähmen, 
zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist." — Das ist 
stark anti-analytisch gesagt, aber es ist wohl als charakte- 
ristisches Beispiel der „Verdrängung" verstanden worden, 
während in der Tat das, was dem Künstler-Neurotiker die 
Unverfrorenheit verleihen mag, trotz aller analytischer Auf- 
deckung das Seine zu tun, nicht sowohl als Verdrängung 
wie — zutreffender, wenn auch unwissenschaftlicher — als 
ein Aufsichberuhenlassen zu kennzeichnen sein wird. Ein- 
fache Feindseligkeit bedeutet das keineswegs, denn Erkenntnis, 
als Prinzip nicht produktiv, kann, wie das Phänomen Nietzsche 
zeigt, doch auch wieder mit Kunst sehr viel zu tun haben,' 
und der Künstler kann mit ihr auf vortrefflichem Fuße 
stehen. Es bedeutet auch nichts weniger, als den Wahn, die 
Welt könne vermittelst Augenverschließens je wieder um die 
Forschungsergebnisse Freuds und der Seinen — populär ge- 
sagt — „herumkommen". Sie kommt durchaus nicht darum 
herum, und auch die Kunst wird das nicht tun. Längst spielt 
die Psychoanalyse in die Dichtung unseres ganzen Kultur- 
kreises hinein, hat auf sie abgefärbt und wird sie möglicher- 
weise in steigendem Grade beeinflussen. Auch in meinem 
eben herausgegebenen Zeitroman „Der Zauberberg spielt 
sie ihre Rolle. Dr. Krokowski, wie ihr Agent hier heißt, 
ist zwar ein bißchen komisch. Aber seine Komik ist vielleicht 
nur eine Schadloshaltung für tiefere Zugeständnisse, die der 
Autor im Inneren seiner Werke der Psychoanalyse macht. 



33 



Künstler und Psychoanalyse 

Von 

Hermann Hesse 

Es war zu erwarten, daß besonders die Künstler sich rasch 
mit der Psychoanalyse, dieser neuen, so vielfach fruchtbaren 
Betrachtungsweise befreunden würden. Sehr viele mochten 
schon als Neurotiker sich für die Psychoanalyse interessieren. 
Aber darüber hinaus war beim Künstler mehr Neigung und 
Bereitschaft vorhanden, sich auf eine völlig neu fundamentierte 
Psychologie einzulassen als bei der offiziellen Wissenschaft. 
Für das genial Radikale ist der Künstler stets leichter zu 
gewinnen als der Professor. 

Für den einzelnen Künstler nun, soweit er nicht damit 
zufrieden war, die Sache als ein neues Diskussionsthema im 
Kaffeehaus hinzunehmen, entstand rasch die Bemühung, aus 
der neuen Psychologie auch als Künstler zu lernen, — viel- 
mehr es entstand die Frage, ob und wieweit die neuen 
psychologischen Einsichten dem Schaffen selbst zugute kommen 
möchten. 

In der Anwendung auf Dichterwerke sowohl wie für die 
Beobachtung des täglichen Lebens ergab sich die Fruchtbarkeit 
der neuen Lehre ohne weiteres. Man hatte einen Schlüssel 
mehr — keinen absoluten Zauberschlüssel, aber doch eine wert- 
volle neue Einstellung, ein neues vortreffliches Werkzeug, dessen 
Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit sich rasch bewährten. Ich 
denke dabei nicht an die literarhistorischen Einzelbemühungen, 
die aus dem Dichterleben eine möglichst detaillierte Kranken- 
geschichte machen. Allein schon die Bestätigungen und 
Korrekturen, welche Nietzsches psychologische Erkenntnisse 
und feinnervigen Ahnungen erfuhren, waren uns überaus 
wertvoll. Die beginnende Kenntnis und Beobachtung des 
Unbewußten, die psychischen Mechanismen als Verdrängung, 
Sublimierung, Regression usw. gedeutet, ergaben eine Klar- 
heit des Schemas, die ohne weiteres einleuchtete. 

34 



Wenn es nun aber gewissermaßen jedem naheliegt und 
leicht gemacht wurde, Psychologie zu treiben, so blieb die 
Verwendbarkeit dieser Psychologie für den Künstler doch 
recht zweifelhaft. So wenig historisches Wissen zu Geschichts 
dichtungen, Botanik oder Geologie zur Landschaftsschilderung 
fähig machten, so wenig konnte die beste wissenschaftliche 
Psychologie der Menschendarstellung helfen. Man sah ja, wie 
die Psychoanalytiker selbst überall die Dichtung der früheren, 
voranalytischen Zeit als Belege, als Quellen und Bestätigungen 
benützten. Es war also das, was die Analyse erkannt und 
wissenschaftlich formuliert hatte, von den Dichtern stets 
gewußt worden. Ja, der Dichter erwies sich als Vertreter 
einer besonderen Art des Denkens, die eigentlich der analytisch- 
psychologischen durchaus zuwiderlief. Er war der Träumer, 
der Analytiker war der Deuter seiner Träume. Konnte also 
dem Dichter, bei aller Teilnahme an der neuen Seelenkunde, 
etwas anderes übrig bleiben als weiter zu träumen und den 
Rufen seines Unbewußten zu folgen? 

Nein, es blieb ihm nichts anderes. Wer vorher kein 
Dichter war, wer vorher nicht den inneren Bau und Herz- 
schlag des seelischen Lebens erfühlt hatte, den machte alle 
Analyse nicht zum Seelendeuter. Er konnte nur ein neues 
Schema anwenden, konnte damit vielleicht für den Augen- 
blick verblüffen, seine Kräfte aber nicht wesentlich steigern. 
Das dichterische Erfassen seelischer Vorgänge blieb nach 
wie vor eine Sache des intuitiven, nicht des analytischen 
Talents. 

Indessen ist die Frage damit nicht erledigt. Tatsächlich 
vermag der Weg der Psychoanalyse auch den Künstler be- 
deutend zu fördern. So falsch er daran tut, die Technik der 
Analyse in die künstlerische hinüber zu nehmen, so recht 
tut er doch daran, die Psychoanalyse ernst zu nehmen und 
zu verfolgen. Ich sehe drei Bestätigungen und Bestärkungen, 
die dem Künstler aus der Analyse erwachsen. 

Zuerst die tiefe Bestätigung vom Wert der Phantasie, 
der Fiktion. Betrachtet der Künstler sich selbst analytisch, 
so bleibt ihm nicht verborgen, daß zu den Schwächen, an 



35 



denen er leidet, ein Mißtrauen gegen seinen Beruf gehört, 
ein Zweifel an der Phantasie, eine fremde Stimme in sich, 
die der bürgerlichen Auffassung und Erziehung Recht geben 
und sein ganzes Tun „nur als hübsche Fiktion gelten lassen 
will. Gerade die Analyse aber lehrt jeden Künstler eindringlich, 
wie das, was er zu Zeiten „nur" als Fiktion zu schätzen 
vermochte, gerade ein höchster Wert ist, und erinnert ihn 
laut an das Dasein seelischer Grundforderungen sowohl wie 
an die Relativität aller autoritären Maßstäbe und Bewertungen. 
Die Analyse bestätigt den Künstler vor sich selbst. Zugleich 
gibt sie ihm ein Gebiet der rein intellektuellen Betätigung 
in der analytischen Psychologie frei. 

Diesen Nutzen der Methode mag wohl auch schon der 
erfahren, der sie nur von außen her kennen lernt. Die beiden 
anderen Werte aber ergeben sich nur dem, der die Seelen- 
analyse gründlich und ernsthaft an der eigenen Haut erprobt, 
dem die Analyse nicht eine intellektuelle Angelegenheit, sondern 
ein Erlebnis wird. Wer sich damit begnügt, über seinen 
„Komplex einige Aufklärungen zu erhalten und nun über 
sein Innenleben einige formulierbare Auskünfte zu haben, 
dem entgehen die wichtigsten Werte. 

Wer den Weg der Analyse, das Suchen seelischer Urgründe 
aus Erinnerungen, Träumen und Assoziationen, ernsthaft eine 
Strecke weit gegangen ist, dem bleibt als bleibender Gewinn 
das, was man etwa das „innigere Verhältnis zum eigenen 
Unbewußten" nennen kann. Er erlebt ein wärmeres, frucht- 
bareres, leidenschaftlicheres Hin und Her zwischen Bewußtem 
und Unbewußtem; er nimmt von dem, was sonst „unter- 
schwellig" bleibt und sich nur in unbeachteten Träumen 
abspielt, vieles mit ins Licht herüber. 

Und das wieder hängt innig zusammen mit den Ergeb- 
nissen der Psychoanalyse für das Ethische, für das persön- 
liche Gewissen. Die Analyse stellt, vor allem andern, eine 
große Grundforderung, deren Umgehung und Vernachlässi- 
gung sich alsbald rächt, deren Stachel sehr tief geht und 
dauernde Spuren lassen muß. Sie fordert eine Wahrhaftig- 
keit gegen sich selbst, an die wir nicht gewohnt sind. Sie 

36 



lehrt uns, das zu sehen, das anzuerkennen, das zu untersuchen, 
und ernst zu nehmen, was wir gerade am erfolgreichsten 
in uns verdrängt hatten. Das ist schon bei den ersten Schritten, 
die man in der Analyse tut, ein mächtiges, ja ungeheures 
Erlebnis, eine Erschütterung an den Wurzeln. Wer stand- 
hält und weitergeht, der sieht sich nun von Schritt zu Schritt 
mehr vereinsamt, mehr von Konvention und hergebrachter 
Anschauung abgeschnitten, er sieht sich zu Fragen und Zweifeln 
genötigt, die vor nichts Halt machen. Dafür aber sieht oder 
ahnt er mehr und mehr hinter den zusammenfallenden Ku- 
lissen des Herkommens das unerbittliche Bild der Wahrheit 
aufsteigen, der Natur. Denn nur in der intensiven Selbst- 
prüfung der Analyse wird ein Stück Entwicklungsgeschichte 
wirklich erlebt und mit dem blutenden Gefühl durchdrungen. 
Über Vater und Mutter, über Bauer und Nomade, über 
Affe und Fisch zurück wird Herkunft, Gebundenheit und 
Hoffnung des Menschen nirgends so ernst, so erschütternd 
erlebt wie in einer ernsthaften Psychoanalyse. Gelerntes wird 
zu Sichtbarkeit, Gewußtes zu Herzschlag, und wie die Ängste, 
Verlegenheiten und Verdrängungen sich lichten, so steigt 
die Bedeutung des Lebens und der Persönlichkeit reiner 
und fordernder empor. 

Diese erziehende, fordernde, spornende Kraft der Analyse 
nun mag niemand fördernder empfinden als der Künstler. 
Denn ihm ist es ja nicht um die möglichst bequeme Anpas- 
sung an die Welt und ihre Sitten zu tun, sondern um das 
Einmalige, was er selbst bedeutet. 

Unter den Dichtern der Vergangenheit standen einige 
dem Wissen um die wesentlichen Sätze der analytischen 
Seelenkunde sehr nahe, am nächsten Dostojewski, welcher 
nicht nur intuitiv diese Wege lang vor Freud und seinen 
Schülern ging, sondern der auch eine gewisse Praxis und 
Technik dieser Art von Psychologie schon besaß. Unter den 
großen deutschen Dichtern ist es Jean Paul, dessen Auffas- 
sung von seelischen Vorgängen am nächsten bei dieser heu- 
tigen steht. Daneben ist Jean Paul das glänzendste Beispiel 
des Künstlers, dem aus tiefer, lebendiger Ahnung der ständige 



37 



vertrauliche Kontakt mit dem eigenen Unbewußten zur ewig 
ergiebigen Quelle wird. 

Zum Schlüsse zitiere ich einen Dichter, den wir zwar zu 
den reinen Idealisten, nicht aber zu den Träumern und in 
sich selbst versponnen Naturen, sondern im ganzen mehr zu 
den stark intellektuellen Künstlern zu rechnen gewohnt sind. 
Otto Rank hat zuerst die folgende Briefstelle als eine der 
erstaunlichsten vormodernen Bestätigungen für die Psycho- 
■ logie des Unbewußten entdeckt. Schiller schreibt an Körner, 
I der sich über Störungen in seiner Produktivität beklagt: „Der 
Grund deiner Klagen liegt, wie mir scheint, in dem Zwange, 
den dein Verstand deiner Imagination auferlegt. Es scheint 
nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachteilig 
zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleich- 
sam an den Toren schon, zu scharf mustert. Eine Idee kann, 
isoliert betrachtet, sehr unbeträchtlich und sehr abenteuerlich 
sein, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt, 
wichtig, vielleicht kann sie in einer gewissen Verbindung 
mit anderen, die vielleicht ebenso abgeschmackt scheinen, ein 
sehr zweckmäßiges Glied abgeben: alles das kann der Ver- 
stand nicht beurteilen, wenn er sie nicht so lange festhält, 
bis er sie in Verbindung mit diesen anderen angeschaut hat. 
Bei einem schöpferischen Kopf hingegen, däucht mir, hat 
der Verstand seine Wache von den Toren zurückgezogen, 
die Ideen stürzen pele-mele herein, und alsdann erst über- 
sieht und mustert er den großen Haufen." 

Hier ist das ideale Verhältnis der intellektuellen Kritik 
zum Unbewußten klassisch ausgedrückt. Weder Verdrängung 
des aus dem Unbewußten, aus dem unkontrollierten Einfall, 
dem Traum, der spielenden Phantasie zuströmenden Gutes, 
noch dauernde Hingabe an die ungestaltete Unendlichkeit 
des Unbewußten, sondern liebevolles Lauschen auf die ver- 
borgenen Quellen, und dann erst Kritik und Auswahl aus dem 
Chaos — so haben alle großen Künstler gearbeitet. Wenn 
irgend eine Technik diese Forderung erfüllen helfen kann, 



so ist es die psychoanalytische. 



(Geschrieben Ipi8). 



58 



Das Unbewußte im Drama 



H.-R. Lenormand 

Aus einer Ansprache im „Club du Fau- 
bourg" inParis. (Autorisierte Übersetzung.) 

Ist die Kenntnis des Unbewußten wünschenswert für den 
Schöpfer menschlicher Typen? Wenn diese Kenntnis möglich 
ist, wird sie den Dramatiker bereichern oder ihn hemmen? Ist 
der wissende Künstler noch ein Künstler? Man muß 
zugeben, daß der Mensch seit ungefähr zwanzig Jahren sich 
selbst gegenüber eine ganz neue Stellung einnimmt. Seine 
Neugierde, früher den Geheimnissen des Kosmos und denen 
der physiologischen Erscheinungs-welt zugewendet, ist nun 
heftig gereizt durch die Entdeckung unbekannter Gebiete 
seiner Seele. Er hat sich jetzt dahin aufgemacht, so wie er 
zu den Polen gewandert war, oder wie er sich in die höheren 
Schichten der Atmosphäre geschwungen hatte. Er hat eine 
Expedition dahin unternommen, eine Forschungsreise — und 
er ist mit einer erstaunlichen Menge von Beobachtungen zurück- 
gekehrt, mit neuen Systemen, Methoden, mit einer neuen thera- 
peutischen Möglichkeit. Und aus all diesem Material erhob sich 
eine neue Wissenschaft, die man die Wissenschaft des Unbe- 
wußten nennen könnte und die den Namen Psychoanalyse 
trägt. # 

Freud, der nicht mehr beansprucht, als ein Verfahren 
zur Heilung von Neurosen geschaffen zu haben, hat, ohne 
es angestrebt zu haben, den Weg zum Verständnis aller un- 
bewußten Phänorilene beim Normalen wie beim Kranken 
erschlossen. Er reicht uns den Schlüssel zu den geheimen 
Pforten der Seele. Er offenbart uns die verborgenen Wünsche, 
die sich hinter unseren scheinbar unschuldigsten Träumen 
verstecken, — Wünsche, die selbst im Schlaf durch den geheim- 
nisvollen Wächter, den er Zensur nennt, verdrängt sind, — 
Wünsche, die sich nur in Symbolen auszudrücken wagen, 
Wünsche, hinter denen sich fast immer vergessene Impulse 



39 



unserer frühesten Kindheit verbergen, primitive Sexual- 
regungen, erotische Gefühle, die sich gegen die Person der 
Eltern richten. 

Er erklärt uns die Bedeutung der unveränderlichen Sym- 
bole, mit Hilfe derer das Bewußtsein der Menschen aller 
Zeiten und aller Länder das ausgedrückt hat, was es nicht 
unmittelbar darzustellen wagte. Er lehrt uns die Hieroglyphen 
des Schlafes entziffern. Und wenn wir diese Entdeckungen 
auf die Legenden, auf die Religionen, auf die Märchen an- 
wenden, werden wir gewahr, daß die primitiven Menschen 
spontan die Bildersprache erfunden haben, derer wir uns 
noch heute in unseren Träumen bedienen. Daraus erkennen 
wir dann, daß wir durch Jahrtausende der Entwicklung den 
Zusammenhang mit unseren Urahnen bewahrt haben. In den 
Äußerungen unseres klaren Bewußtseins, unseres Intellekts, 
haben wir uns weit von ihnen entfernt, aber unser Unbe- 
wußtes ist dasselbe geblieben. In dem Zustand der Entspan- 
nung, in den der Schlaf uns versetzt, fließen uns Formen 
und Gestalten zu, deren sich schon die älteste Menschheit 
bedient hat. 

* 

Ich kann nur andeuten, was für ein wunderbares Instrument 
zur Selbsteinsicht die Psychoanalyse ist. Diese unbekannten 
Gebiete der Seele, in die Diderot, Rousseau, Stendhal, 
Baudelaire von Zeit zu Zeit eindrangen, — ich nenne sie 
nebeneinander, weil ihre prophetischen Vorausahnungen sich 
Freuds Ergebnissen anschmiegen, — diese unterirdischen Ge- 
wölbe des Bewußtseins sind jetzt nahezu erhellt. Es führen 
Wege in sie; man geht dort in einem zwar noch trüben 
Licht, das aber von Jahr zu Jahr heller c wird. 

Daraus ergibt sich, daß unsere Vorstellung vom Menschen 
eine gewaltige Änderung erfahren hat und daß die Literatur, 
die diese Vorstellung widerspiegelt, von dieser Änderung be- 
einflußt zu werden beginnt. Diese Rückwirkung einer neuen 
Erkenntnis auf die Kunst des Epikers und des Dramatikers 
erscheint mir unvermeidlich. Die Schriftsteller haben seit 
jeher ihre Vorstellung vom Weltall zu erweitern versucht, 

40 



indem sie bei der "Wissenschaft Anregung ihrer Einbil- 
dungskraft und ihrer Empfindungsweise suchten. Bei der 
Lektüre des Naturforschers Geoffroy Saint-Hilaire fand Balzac 
jene Form des modernen Bomans, die er auf die Beobach- 
tung der sozialen Erscheinungstypen in Analogie mit der der 
Naturphänomene gründete. Es waren die Entdeckungen von 
Charcot und Pierre Janet, die Francois de Curel zu seiner 
„Nouvelle Idole" inspiriert haben, so wie die Theorien der 
Entwicklungslehre ihm später die Idee zu „L'Ame en folie" 
gaben. Es ist sicher, daß die Erkenntnis der Menschen, die uns 
Freud bringt, die Künstler in den Bereich ihres Einflusses 
ziehen wird. Die Durchsichtung unserer psychologischen Er- 
kenntnisse, die er uns nahelegt, ist so gründlich, seine Vor- 
stellungen von der Seele so grundverschieden von der der 
zeitgenössischen Psychologen, daß man sogar eine wirkliche 
literarische Bevolution erwarten darf. An dem Tag, an 
dem die Freudschen Ideen die Oberhand erlangt 
haben werden, wird uns all das, was wir täglich im 
Roman oder im Theater über uns ergehen lassen, 
oberflächlich oder falsch erscheinen. 

Die Frage, die ich von Ihnen gerne diskutiert hätte, ist 
folgende: sollen wir dem Strom widerstehen, der uns in die 
Gewölbe des Unbewußten treiben will? Oder sollen wir ihm 
vielmehr nachgeben und das dichterische Werk mit uns in 
jene Höhlen treiben lassen, die es dann gewiß völlig umgestaltet 
verlassen wird? Ist es vorzuziehen, daß die Dramatiker in 
die verschüttete Welt, die jeder in sich trägt, nur intuitiven 
Einblick nehmen? Sollen sie sich mit blitzartigen Erhel- 
lungen ihres Instinkts zufrieden geben? Oder soll man 
wünschen, daß sie die menschlichen Geheimnisse methodisch 
ausgraben ? 

Soll man auf dem Wege der traditionellen Psychologie 
verbleiben? Einzelheiten schildern, die menschlichen Leiden- 
schaften in ihren unmittelbaren Reaktionen beschreiben? Man 
kann es. Die heutige Menschheit, zutiefst durch die sozialen 
Krisen zerwühlt, bietet ja noch reiches Beobachtungsmaterial 
genug. Aber glauben Sie nicht, daß die Empfindungen von 



Ermüdung und Ekel, die uns fast bei jedem zur Veröffent- 
lichung oder Vorführung gelangenden Werk überkommen, nicht 
von der Überfülle dieser Werke herrühren, sondern vielmehr 
von ihrer Gleichheit? Gedicht, Tragödie, Roman, jedes 
literarische Erzeugnis zeigt den Menschen nur in den Aus- 
wirkungen seiner bewußten Persönlichkeit und mir scheint, 
daß unsere Zeit nach anderen Dingen schreit. Es lebt in 
uns, wenigstens bei einigen, der heimliche uneingestandene 
Wunsch, nach einer Änderung des Gesichtspunktes, nach 
einem Wechsel der Grundlagen. Wir stehen vor einer Ab- 
reise und träumen voll Neugier, mit ein wenig Angst, von 
der Reise ins Unbewußte. 

Glauben Sie ja nicht, daß diese Reise gefahrlos ist. Wir 
können dabei mehr als Illusionen verlieren. Wir können 
unsere Fähigkeit zur Produktion einbüßen. Die Alten sagten, 
wer Gott geschaut hat, muß sterben. Der Künstler, der die 
letzte Wahrheit seiner Seele geschaut hat, muß vielleicht 
schweigen. 

Sie kennen alle den Ödipus und wissen, wie ihn die 
Psychoanalyse auslegt. Für Freud ist Ödipus, der, ohne es zu 
wissen, seine Mutter gefreit und seinen Vater erschlagen 
hat, die Symbolisierung der Tendenzen der Kindheit, die 
von unbewußten Impulsen zu Vatermord und Blutschande 
überflutet war. Nehmen Sie an, daß Sophokles, statt diese 
Dinge nur genial und oberflächlich erfaßt zu haben, in der 
Traumanalyse eine Bestätigung gefunden hätte, nehmen Sie 
an, daß er alle Mittel zur Kontrolle gehabt hätte, die ein 
moderner Psychiater hat, daß er Kenntnis gehabt hätte vom 
Unbewußten, — der „Ödipus", den er dann geschrieben 
hätte, wäre weit entfernt gewesen von dem, der uns er- 
halten ist. Vielleicht aber hätte er den Ödipus über- 
haupt nicht geschrieben. 

Ich will Ihre Diskussion nicht beeinflussen, ich will Ihnen, 
abschließend, nur mein Empfinden mitteilen. Ich glaube, 
wenn wir auch die Gefahren sehen, die uns bedrohen, — 
wir sollen ihnen die Stirne bieten. Ich glaube, wir müssen 
den Weg betreten der sich uns geöffnet hat, — es heißt 



42 



das Abenteuer wagen. Ich glaube, es werden nicht die 
großen Künstler unter uns sein, die sich durch das Wissen 
um das Unbewußte lähmen lassen werden. Ich glaube, es 
gibt keine letzte Wahrheit, der nichts mehr folgen würde. 
Ich glaube, daß die Seele immer wieder unter wechselnden 
Verkleidungen vor jenem flieht, der sie durchschauen will. 
Wie weit wir auch gehen mögen, ich glaube, wir werden 
uns immer einem „Geheimnisvollen" gegenüber finden, das 
an Ungewißheit und Rätseln reich genug ist, um die Möglich- 
keit zum Träumen zu lassen, zum Zweifeln, zum Suchen, 
zum Lieben, zum Fürchten, — also zum Schaffen. 



Frederik van Eeden über Psychoanalyse 

„Es kommt mir in der Tat so vor, als ob die Arbeit von Freud 
in allgemein kultureller Hinsicht wichtiger ist als die der meisten 
berühmten Gelehrten unserer Zeit, und daß nur die physikalisch- 
mathematischen Forschungen der Einstein-Lorentzschen Schule 
damit zu vergleichen sind." 

„. . . Man kann sich denken, wie liebenswürdig eine Therapie, 
die Triebverdrängung als Grund aller Neurosen annimmt, und 
zum Zwecke der Psychoanalyse das Sexualleben in absolut rück- 
sichtsloser Weise durchsucht und durchstöbert — von Moralisten 
und Seelenhirten aufgenommen worden ist." 

„. . . Von größter Wichtigkeit ist wohl Freuds Behauptung, 
daß die Sexualität schon im zartesten Kindesalter ihren 
Anfang nimmt und daß fast alle sexuellen Störungen zurückzu- 
führen sind auf Eindrücke, Erregungen, physische Verletzungen 
in der Kindeszeit. Jeder Nervenarzt wird das Hervortreten dieser 
Tatsachen würdigen müssen, als von eminenter Bedeutung für 
Hygiene und Therapie. Schon allein dadurch verdient Freud die 
Dankbarkeit der Menschheit." 

„. .. Wer dichterisch, — d. h. tief und ganz menschlich die 
Freudschen Entdeckungen empfindet, wird von einem Schauder 
ergriffen." 



43 



Gemeinsamer Tagtraum und Dichtung 

von 

Hanns Sachs 

Als die Psychoanalyse auf die entscheidende Bedeutung 
der Tagträume für den Lebensweg und die Liebeswahl des 
Einzelnen hinwies, traf sie wenigstens an dieser einen Stelle 
mit einer längst gangbaren Überzeugung zusammen, daß 
nämlich die Tagträume die allgemein menschliche Vorstufe 
seien, von der aus sich im begnadeten Sonderfalle der Auf- 
stieg zum Kunstwerk, zur Dichtung vollziehe. Sachs weist 
in seinen „Gemeinsamen Tagträumen" (Imago-Bücher Nr. V, 
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien) die unbe- 
wußten Quellen der Tagträume nach, und untersucht ein- 
gehend die Frage, wie sich der Tagtraum zum Kunstwerk 
verwandelt, wobei er besonders den Fall ins Auge faßt, 
wenn zwei irgendwie Gleichgerichtete sich zusammentun, 
um gemeinsam einen Tagtraum auszuführen, der dann eine 
Zeitlang beiden den eigenen, allein geführten Tagtraum 
völlig ersetzt. Die Analyse der „gemeinsamen Tagträume' 1 
führt Sachs zu einer differentiellen Psychologie des dichte- 
rischen Schaffens. (Im besonderen Teil des Buches analysiert 
er in zwei breit angelegten Studien zwei Kunstwerke, die beide 
Anzeichen einer Produktionshemmung im Leben ihrer Schöpfer 
darstellen: Schillers „Geisterseher" und Shakespeares „Sturm". 
Die Psychoanalyse entwickelt sich „nach dem Gesetz, nach 
dem sie angetreten" ; aus der Erforschung seelischer Störungen 
erwachsen, vermag sie sich den Problemen der künstlerischen 
Schöpfung auch am besten von der Seite der Hemmungen her 
zu nähern.) Dem einleitenden Essay sind die folgenden Aus- 
führungen entnommen. 

Mit der intensiven Verdichtung sowie mit der ausgiebigen 
Verwendung der Symbolik geht der gemeinsame Tagtraum 
über die Grenzen des gewöhnlichen Tagtraumes hinaus und 
nähert sich dem Traum. Die Wunscherfüllung der bewußten 
Persönlichkeit, die im Tagtraum sonst die erste Rolle spielt, 
ist infolge eines erfolgreichen Durchbruches des Unbewußten 
zurückgetreten. Dies kann nur beim gemeinsamen Tagtraum 
in typischer Weise zustande kommen: Er beruht ja nicht 



44 



darauf, daß zwei Menschen erkennen, sie hätten dieselben 
bewußtseinsfähigen Ziele, Pläne oder Absichten, sondern 
darauf, daß sie die Gleichheit ihrer unbewußten Wünsche 
erkennen und sich nun einen Teil dessen, was sonst von 
der Verdrängung dem Bewußtsein ferngehalten wird, gönnen 
können. 

Was für die gemeinsamen Tagträume richtig ist, gilt eben- 
so, doch in sehr erweitertem Maße, für die Dichtung. Der 
Dichter ersinnt und vollendet sie zwar allein und in Abge- 
schlossenheit von der Menge ; das war aber wohl kaum vom 
Anfang an so, denn die älteste Dichtung war gewiß Im- 
provisation. Auch jetzt noch dürfen dem Dichter wenigstens 
in der Vorstellung die andern nicht fehlen, auf die er wirken, 
die er unter den Bann seines Werkes bringen kann. Diese 
anderen, die Zuhörer, Leser, Zuschauer, werden gezwungen, 
der Illusion zu unterliegen, d. h. eine Zeitlang auf das, was 
sie doch als erdichtet und erfunden kennen, mit ihrem Affekte 
so zu reagieren, als wäre es wahr und wirklich, ja weit 
mehr als irgendein beliebiges Stück Wirklichkeit, als wäre 
es ihr eigenstes Erleben, das durch Zaubermacht vor sie hin- 
gestellt würde. Die illusionäre Kraft, die von der Dichtung 
ausgeht, beruht nicht etwa auf Nachahmung der Realität, 
— die Dichtung geht vielmehr den umgekehrten Weg; sie 
erregt die Affekte und deren als Wirklichkeit, als unmittel- 
bare seelische Gewißheit empfundene Gegenwart läßt das 
Vorgetragene als Miterlebtes erscheinen. 

Der Dichter kann die Affekte, deren Hilfe er in Anspruch 
nimmt, durch sein Werk nicht erst in die Brust der Hörer 
einpflanzen, er kann nur schon vorhandene erregen und in 
Schwingung bringen. 

Wir wissen zur Genüge, daß das Kunstwerk wesentlich 
im Unbewußten wurzelt, die verhüllte Durchsetzung ver- 
drängter Wünsche bedeutet, die in letzter Linie stets vom 
Odipus-Komplex abstammen. Durch ihre künstlerische Dar- 
stellung befreit sich der Dichter, — aber wie kommt es, 
daß er in der Form des Kunstwerkes Dinge lautwerden 
lassen kann, die sonst ihm wie den anderen Menschen ver- 



45 



" 



sagt und verboten sind? Die Antwort lautet: Durch die 
Resonanz, die sein Werk in der Brust der Hörer findet, 
durch die Illusion, in die es sie zu versetzen vermag, durch 
die Affekte, die es hei ihnen auslöst, zwingt er sie zu dem 
Eingeständnis: „Ja, deine verdrängten Wünsche, deine ver- 
botenen Triebe sind auch die unsrigen, auch wir sind alle 
mit deiner Schuld beladen." Dieses unwillkürlich und un- 
bewußt gegebene Eingeständnis der Mitschuld wirkt 
befreiend und entlastend, es gestattet die Herabsetzung der 
Verdrängungsschranken und eine größere Annäherung an 
das Unbewußte, das haben wir bei den gemeinsamen Tag- 
träumen sehen können. Lag in dem durch seine Mitarbeit 
bezeugten Eingeständnis eines Einzelnen schon so viel Er- 
leichterung, um wieviel mehr muß es bedeuten, wenn eine 
unübersehbare Menge von Aufnehmenden durch das bereit- 
willige Mitgehen ihrer Affekte und die Mitarbeit ihrer Phan- 
tasie dasselbe Zeugnis ablegen muß. Deshalb kann das Kunst- 
werk ein so freies Spiel der schöpferischen Kräfte zeigen 
und aus einer so tiefen, unerwarteten, dem Dichter selbst 
überraschenden Inspiration stammen, deshalb einem von der 
Enge des Ichs unbeschwerten Traum so ähnlich sein, weil 
es zwar dem Unbewußten eines Einzelnen, aber doch auch 
zugleich dem vieler, ja aller entstammt. 

^ Das wird noch viel deutlicher und überzeugender, wenn 
wir es statt mit dem individuellen psychologischen Forschungs- 
resultate der Psychoanalyse mit ihrer entwicklungsgeschicht- 
lichen Theorie in Zusammenhang bringen, die in Freuds 
„Totem und Tabu" niedergelegt ist. Dieser zufolge ist das, 
was der Einzelne als Ödipus-Komplex erlebt und als Kern 
seines Unbewußten durchs Leben trägt, die ontogenetische 
Wiederholung der menschlichen Urgeschichte. Am Eingang 
der Kultur steht der Vatermord, deshalb ist das Schuld- 
bewußtsein ihr unzertrennlicher Begleiter. 

. . . Die Ermordung des Vaters, wenn sie in der Gemein- 
schaft sämtlicher Brüder geschieht, ist eine von Schuld- 
gefühlen verfolgte, schwere und unheimliche Tat, aber auch 
eine heilige Kot, die jeder Kulturtat zugrunde liegt und sich 

46 



in jedem Kulturfortschritt wiederholt. Die Begehung der Tat 
durch einen Einzelnen, der sein Strehen nach dem Allein- 
besitz der Mutter verrät, ist das schwerste aller Verbrechen, 
die eigentliche soziale Untat, die Lossagung von dem Bande, 
das alle bindet und verbindet. 

Sowie der Tagträumer seiner Phantasie die Zügel lockert, 
führt sie ihn unweigerlich dem Unbewußten, als dem eigent- 
lichen Gebieter alles Wünschens und Phantasierens zu. Das 
heißt, die Tagträume haben stets die Tendenz, zu Darstellungen 
der im Ödipus-Komplex enthaltenen Wünsche zu werden, 
und so steht der Tagträumer stets in Gefahr, das UrVer- 
brechen in seiner Phantasie zu wiederholen — als Einzelner 
und Vereinzelter zu wiederholen. Von dieser Gefahr befreit 
er sich, ohne auf die Phantasiebefriedigung zu verzichten, 
wenn er sich vom Tagträumer zum Dichter verwandelt, denn 
dann hat der Vereinzelte den Weg zu den andern, zur Ge- 
meinschaft der Brüder zurückgefunden, er darf sich wieder 
als Glied der Gesamtheit, als ihresgleichen empfinden, wenn 
ihr von ihm erweckter Gefühlssturm, ihr Beifall ihm zuruft, 
daß er nicht bloß seine, sondern ihre Wünsche gestaltet habe. 
Die ältesten Dichtwerke, die religiösen Mythen, halfen so 
die ersten sozialen Bande um eine Gemeinschaft fester zu 
knüpfen und ihre Schöpfer, die Dichter, Seher, Besessenen 
galten mit Recht als heilig und unheimlich zugleich. Der 
Tagtraum hat bekanntlich stets die eigene Person des Träumers 
zum Helden, wie verhält sich da der von zweien gemein- 
schaftlich verfaßte Tagtraum? Er hat, so wie zwei Verfasser, 
auch zwei gleichberechtigte Helden oder Heldinnen. Wir 
wissen aber bereits, daß der gemeinsame Tagtraum die Keim- 
zelle zur Dichtung in sich trägt, die an die Stelle einer be- 
sonders aufeinander abgestimmten Zweiheit, zu deren Zu- 
sammenfinden ein günstiger Zufall notwendig ist, eine un- 
begrenzte Anzahl setzt, da sie aus dem Drang entspringt, 
möglichst viele, wenn auch nur als Aufnehmende und passive 
Teilnehmer ins Spiel zu ziehen. Auch diese sollen mitphan- 
tasieren, d. h. Helden des Tagtraumes werden können, und 
das ist unmöglich, sobald der Dichter in eigener Person als 



47 



Held des Tagtraumes auftritt. Um dieses Hindernis zu be- 
seitigen, muß der Dichter einen unpersönlichen, oder besser 
gesagt, einen überpersönlichen Helden erschaffen, mit dem 
er sowohl wie alle Hörer sich identifizieren können, weil er 
gleichzeitig jeder ist und keiner. 

Eine der ältesten Menschennachbildungen ist die sogenannte 
„Venus von Willendorf", eine kleine Statuette aus der älteren 
Steinzeit. Sie stellt eine Frau mit starken Brüsten und Gesäß 
vor, deren Gesichtszüge durch ein Geflecht vollständig ver- 
hüllt sind So hatte wohl auch die Heldengestalt der ältesten 
Dichtung ein verschleiertes Antlitz, das jeder für sein eigenes 
halten durfte. 

Mit dieser Verwischung der eigenen Persönlich- 
keit, die er der Gewinnung des Interesses seiner Hörer 
opfern mußte, hat der Dichter auf einen erheblichen, ja 
vielleicht sogar den wichtigsten Teil der Lust verzichtet, die 
ihm der Tagtraum geboten hätte, nämlich auf die Lust, seine 
eigene Person im Spiegel des Tagtraumes groß und ruhm- 
reich, schön, mächtig und geliebt zu sehen. Die Selbstver- 
liebtheit, die dabei ihre Befriedigung suchte, nennen wir in 
der Analyse Narzißmus; wir wissen, daß sie in der Ent- 
wicklungsgeschichte der Persönlichkeit die größte und früheste 
Rolle spielt, ehe noch irgendeine andere Person als Gegen- 
stand der Liebe in Betracht kommen kann, und daß sie ihre 
älteren Rechte der Objektliebe gegenüber immer wieder zur 
Geltung zu bringen sucht. Auf die narzißtische Befriedigung 
scheint der Dichter zu verzichten, um sich durch seine 
Preisgabe die Möglichkeit zum volleren Ausleben des Odipus- 
Komplexes zu schaffen, der die erste und entscheidende Form 
der Objektliebe darstellt. Eine Aufopferung des Narzißmus 
zugunsten der Objektliebe, so scheint es also: aber ist es 
wirklich eine Aufopferung? 

Damit allein, daß die Figur des Helden aufhört, den Namen 
und die Züge ihres Schöpfers zu tragen, ist noch nicht alles 
geschehen. Es braucht noch mehr, um den Tagtraum zur 
Dichtung umzuwandeln. Die Hörer müssen veranlaßt werden, 
sich in die Phantasie einzufühlen, sie mitzuerleben, obgleich 

48 



r 



dasjenige, worauf ihr Miterleben eigentlich beruht — die 
unbewußten Wünsche — nicht unverhüllt ausgesprochen und 
geschildert werden darf; handelt es sich doch um Verdrängtes, 
dem Bewußtsein des Dichters und seiner Hörer gleichmäßig 
Entfremdetes, dessen Wiederkehr nicht mehr möglich ist und, 
wenn sie doch gewaltsam erzwungen würde, Abscheu statt 
Lust erregen müßte. Gerade das Wesentliche darf nur in- 
direkt und andeutungsweise zugegen sein; es bleibt freilich 
auch im Hintergrunde wirksam, der Vordergrund muß aber 
durch andere Gestalten und Farben belebt werden. 

. . . Unter dem Begriff der künstlerischen Form im 
weitesten Sinne fassen wir den Aufbau und die Symmetrie, 
die Steigerung oder beabsichtigte Wiederholung, die Moti- 
vierung und Charakteristik, Wohllaut und Klarheit, Reim 
und Rhythmus zusammen. Gemeinsam ist diesen Form- 
elementen, wenn sie auch aus den verschiedensten seelischen 
Schichten stammen mögen, das eine, daß sie die Fähigkeit 
besitzen, beim Hörer Wohlgefallen zu erregen und seine Auf- 
merksamkeit anzuziehen. Sie gewähren eine Lustprämie, die 
an und für sich zwar recht klein sein mag, die aber doch 
genügt, um die bewußte Aufmerksamkeit zu bestechen, sie 
auf die Spannung oder die Schönheit, durch die das Vor- 
getragene sich auszeichnet, hinzulenken; so bilden sie eine 
Fassade, die zwar selbst eine vorläufige Lustprämie, wir 
nennen sie „Vorlust" bietet, deren eigentlicher Zweck aber 
darin besteht, daß unter ihrem Schutze die aus dem Un- 
bewußten stammende Lust, die Endlust, unbemerkt und 
straflos genossen werden kann. Deshalb beeinträchtigt es den 
ästhetischen Genuß nicht im mindesten, wenn der Schönheit 
des Kunstwerkes, d, h. also seiner Vorlust, die Affekte 
der Trauer, des Mitleides und anderer, die wir sonst als 
unangenehm kennen, in reichlichem Maße beigemischt sind. 
Im Gegenteil, gerade die tragischen Affekte können, weil sie 
unser Schuldbewußtsein decken und ihm zugleich ein Sühn- 
opfer in Aussicht stellen, am schnellsten und unmittelbarsten 
von der „Fassade" zur Endlust hinführen, und das ist die 
einzige Bedingung, an die der ästhetische Genuß geknüpft 



49 



ist. Deshalb ist diese im höchsten Maße davon abhängte, 
dau die „Fassade nicht willkürlich zusammengesetzt oder 
nur durch äußerliche Motive, wie Nachahmung, Mode oder 
Tradition zustande gekommen ist, denn je inniger und wesens- 
hafter die Beziehung zwischen der Vorlust-Fassade und dem 
unbewußtem Inhalt ist, je mehr sie sich das Unbewußte, wie 
die Raupe ihre Chrysalis, selbst gebaut hat, desto stärker ist 
die künstlerische Wirkung der Dichtung, denn um so viel un- 
mittelbarer, müheloser und tiefer vermag der Hörer aus dem 
unbewußten Inhalt zu schöpfen. 

Will also der Tagträumer sich Mitträumer gewinnen und 
seinen Phantasieknäuel nach Form und Regel abwickeln, so 
genügt dazu die angeborene Begabung, d. h. die feinere 
Empfindlichkeit für Schönheit und Wohlklang, obgleich sie 
natürlich mit zu den Voraussetzungen gehört, allein noch 
nicht. Handelt es sich doch um etwas, was nicht von außen 
angeflogen sein darf, sondern sich aus der tiefsten Beziehung 
des Dichters zu seinem Werke entwickeln muß. Während 
seiner Schöpferarbeit muß er von einem übermächtigen Trieb 
gedrängt werden, diesem Werke Schönheit zu verleihen, über 
dem er alle vergangenen und zukünftigen Werke, ja sich 
selbst vergißt. 

Woher stammt dieser Trieb? Wir sind ihm bereits be- 
gegnet, denn es kann kein anderer sein, als der scheinbar 
aufgeopferte Narzißmus. Einen wirklichen und end- 
gültigen Triebverzicht kann es im Seelenleben ebensowenig 
geben, wie im Weltall einen wirklichen Kraftverlust; der 
Narzißmus, der für die eigene Person unverwendbar geworden 
war, ist von ihr aus auf das Werk verschoben worden, das 
ja nur ein Stück dieses Ich ist. Der Wunsch, schön und 
mächtig zu sein, wurde umgewandelt in den Wunsch, dem 
Werke Schönheit und Macht über die Gemüter der Menschen 
zu verleihen. Durch diese Verschiebung vom Ich aufs Werk 
hat der Dichter neuerlich eine Rückkehr zur Realität ge- 
funden, denn während der Traum des Tagträumers dazu 
verurteilt ist, ewig Traum zu bleiben, erreicht der Dichter, 
wenn er einer ist, sein Ziel wirklich und es gelingt seinem 



Werke früher oder später, die Menschenseelen zu bezwingen 
und zur Bewunderung hinzureißen. 

Die erste Voraussetzung der Umwandlung des Tagträumers 
ist also, daß sein Tagtraum stärker der Anziehungskraft des 
Unbewußten — wesentlich des Ödipus-Komplexes — unter- 
liegt, daß aber auch sein Schuldbewußtsein empfindlicher 
darauf reagiert. Wenn er dann, um die Entlastung dieses 
Schuldbewußtseins in der Wirkung auf Andere, h. h. in der 
unbewußten Anerkennung ihrer Mitschuld zu finden, den 
Narzißmus von seiner Person auf das Werk zu verschieben 
imstande ist, — dann ist er zum Dichter geworden. 

Es läßt sich vermuten, daß zwischen den beiden Faktoren, 
dem nach Entlastung lechzenden Schuldbewußtsein 
und dem zur Aufgabe des Ichs und zur Verschiebung 
auf das Werk bereiten Narzißmus ein innerer, vielleicht 
wechselseitiger Zusammenhang bestehe. Das vom Gewissen 
schonungslos kritisierte und verurteilte Ich sucht für seine 
Selbstliebe ein Asyl zu finden, wo ihm der Verfolger nichts 
anhaben kann. Das ist ihm vortrefflich gelungen, wenn es 
seine Phantasien, also einen Teil des Ich und sogar den- 
jenigen, der dem Verdrängten und Verpönten am nächsten 
steht, soweit veredelt, daß dieser Teil dem Ich-Ideal, also 
dem Richter, in dessen Diensten der Büttel „Gewissen" steht, 
annehmbar und sogar wohlgefällig wird. Dieser Ausweg hat 
seinen Platz neben den sonstigen Kompromissen zwischen 
Verdrängung und Verdrängtem, Ich-Ideal und Triebleben, 
die wir auf anderen Gebieten kennen, z. B. dem Traum, 
der Neurose und der Perversion. Ihnen allen ist das Be- 
streben gemeinsam, der ökonomischen Verteilung der gegen- 
einander wirkenden Kräfte Rechnung zu tragen. Allerdings 
muß beim Traum das geschädigte Streben nach Einziehung 
der Objektbesetzungen auf das Ich, bei der Neurose das ge- 
hemmte Ich, bei der Perversion die vom Genitalprimat ab- 
gehaltene Sexualität die Kosten des Kompromisses tragen, 
während in unserem Falle das Ich zwar seines Narzißmus 
beraubt wird, aber dafür eine neue soziale Leistungsfähigkeit 
erwirbt. 



51 



. . . Die Verschiedenheit aller literarischen Schulen und 
Stile läßt sich in letzter Linie auf das Vorwiegen des einen 
oder des anderen der beiden das dichterische Schaffen regie- 
renden seelischen Mechanismen — Schuldbewußtsein und 
Narzißmus — zurückführen. Sturm und Drang, Romantik, 
Naturalismus zeugen vor allem von dem Wunsch, sich durch 
Mitteilung, ja durch lautes Hinausschreien dessen, was das 
Herz des Dichters bedrückt und erregt, zu befreien. Nicht 
die Form ist das Wesentliche, sondern die Leidenschaft, und 
die Stoffwahl sucht nicht das Schöne und Ruhige, sondern 
das Häßliche und Quälende, Aufregende und Spannende. Oft 
gerät sie dabei in unmittelbare Nähe des Ödipus-Komplexes. 
Nicht nur in ihrem Stil und ihrer Stoffwahl, auch als lite- 
rarische Bewegung haben diese Schulen den Charakter des 
Aggressiven und Revolutionären. Unter ihrer Fahne sammeln 
sich die „Jungen", die Umstürzler, die Söhne, die das Joch 
der Tradition der Väter abwerfen wollen. Die andere Rich- 
tung, die nach Vorüberbrausen der ersten, „wenn sich der 
Most noch so absurd gebärdet", immer wieder zu Ehren 
kommt, ist die klassizistische, die ebenso typisch den Alters- 
jahren, der „zweiten Periode" angehört, wie die erste der 
Jugend. Bei ihr sind die scharfen Konflikte und das dazu- 
gehörige Schuldgefühl bis auf einen leisen Nachklang ver- 
hallt. Nicht der Stoff ist wichtig, sondern die Form, das 
Werk entsteht nicht in leidenschaftlichem Überschäumen, 
sondern wird in langsamer, geduldiger Arbeit von allen 
Schlacken befreit, bis es makellos vor seinem Schöpfer steht. 
Statt des „Was" ist das „Wie" die Hauptfrage geworden, 
der Impuls, das Herz bloßzulegen, die stürmische Inspiration 
treten zurück; „Dunkelarbeit, bei Licht zurechtgerückt" 
nennt Fontane das dichterische Schaffen, aber der Ton fällt 
bald auf die erste, bald auf die zweite Hälfte des Satzes. 

. . . Der Künstler kann niemals dazu ausersehen sein, 
Massenführer im Sinne von Freuds Massenpsychologie zu 
sein, also die anderen nicht nur zu einer Handlung, etwa 
einer politischen Tat zu begeistern, sondern sie auch bei der 
Ausführung zu leiten. Zum Führer ist nur der ausersehen, 



5 2 



der, vom Schuldgefühl ungebeugt, seinen Narzißmus unein- 
geschränkt beim eigenen Ich zu erhalten vermag, der sich 
von der Masse bewundern und lieben läßt, ohne sich selbst 
an sie hinzugeben. Der Dichter aber leidet nicht weniger, 
sondern mehr als die übrigen unter dem Schuldgefühl, er 
muß unter seinem Druck den Narzißmus von der eigenen 
Person ablösen und auf das Werk verschieben; er muß den 
Rückweg von der Vereinzelung zur Brüdergemeinschaft mit 
diesem Opfer zu erkaufen bereit sein. Das bedeutet, daß er 
sich zum Führer nicht eignet, — wie dies auch die Erfah- 
rung jederzeit gezeigt hat, — sondern ein Massen-Individuum 
ist, allerdings ein besonders differenziertes. 

Wenn dem Dichter nach Beifall und Zustimmung ver- 
wandter Seelen verlangt, so geschieht es, wie wir gesehen 
haben, nicht aus gemeiner Eitelkeit, sondern weil ihn die 
eigentliche Triebfeder seines Schaffens, das Schuldgefühl, dazu 
treibt. Er will die Anerkennung auch gar nicht für sich, 
sondern nur für sein Werk. Er zieht es gewöhnlich vor, 
unbeachtet beiseite zu stehen, statt vom Jubel der Menge 
gefeiert zu werden, und wenn sein Narzißmus schließlich 
doch auf dem Umweg über das Werk und den Künstler- 
ruhm direkte Befriedigung erhält und annimmt, so bleibt 
für ihn das Werk doch immer der eigentliche Selbstzweck. 
Sein Streben ist der Gegensatz zu dem Herostratischen: „Be- 
rühmt werden, gleichviel wodurch!", für ihn gibt es nur 
einen einzigen Weg zum Ruhm. Er stellt alles, was seiner 
Alltagspersönlichkeit angehört, zurück, um sein Unbewußtes 
aus dem Munde seines Ideal-Ich sprechen lassen zu dürfen: 

„Ich dachte, mich triffts, ob ich leide, 
Den Andern, dacht' ich, schuld' ich heitre Ohrenweide. 
,Begriffen' sagte Moira, ,Größe stimmt dich schön.' 
,Die Glocke' rief sie, .sollt ihr auf dem Turm erhöhn!'" 

(Spitteler, Olympischer Frühling II/I.) 

Die Glocke, die zu Beginn der „hohen Zeit" durch Moira 
erwählt wird, den Weltenfrühling einzuläuten, ist — der 
Dichter. 



53 



Carl Spitteler t 

von 
Hanns Sachs 

Aus „Imago, Zeitschrift für Anwen- 
dung der Psychoanalyse auf die Geistes- 
wissenschaften", Bd. X (1924). 

Künstler stehen jenseits der Nekrologe; ihr Sterben und 
Auferstehen ist nicht an die Auflösung ihres Körpers gebunden, 
sondern an den Rhythmus der Jahrhunderte, der sie auf- 
und niederschaukelt, bis sie endgültig untersinken oder bei 
den Unsterblichen landen. Darum ist es wohl nicht angebracht, 
das Urteil über die Größe Spittelers und die Prophezeiung 
seiner Unsterblichkeit, die bei seinen Lebzeiten in diesen, 
nach einem seiner Meisterwerke benannten Blättern öfters 
ausgesprochen wurden, 1 noch einmal zu wiederholen und 
zu begründen. Auf den Glanz seiner schöpferischen Kraft 
ist jetzt durch seinen Tod ebensowenig ein Schatten gefallen, 
wie während des Schaffens durch die Bedrängnis innerer 
und äußerer Nöte, unter denen er entstand. 

Statt über den der Macht des Todes nicht unterworfenen 
Künstler möchte ich ein paar Worte über den Eindruck 
sagen, den ich von der menschlichen Persönlichkeit des Ab- 
geschiedenen empfangen habe — Eindrücke, die selbst bei 
strengster und kritischester Wertung durchaus danach angetan 
sind, die Umrisse der Dichtergestalt hervorzuheben, nicht, 
sie zu verzerren. 

Der Greis mit den leuchtenden, tiefblauen Augen, dem 
ich vor etwa fünfzehn Jahren zum erstenmal gegenüberstand, 
sah dem Zeus ähnlicher als dem Apoll, den Spitteler sich 
zum idealen Abbild gewählt hatte. Freilich, der ruhige Glanz, 
der über seiner ganzen Existenz lag und bis auf Arbeitszimmer 
und Garten ausstrahlte, die echte und fein abgestufte, nie 
ins Biedermännische abbiegende Liebenswürdigkeit des Emp- 
fanges, der in einem klippenreichen Gespräch stets sicher 

1) Hanns Sachs: Carl Spitteler. Imago II (1913), S. 73 ff. - Hanns Sachs 
Homers jüngster Enkel. Imago III (1914), S. 80 ff. 

54 



und unbefangen führende Takt — dies alles war und blieb 
echt apollinisch. 

Da er wußte, daß ich gekommen sei, um von ihm zu 
hören, sprach er damals und auch später ziemlich ausschließ- 
lich über sich selbst. Ich glaube nicht, daß ihm das sehr 
schwer gefallen ist; so offen sein Blick, so weit sein Welt- 
bild war, das eigentlich Interessante, Wissens- und Beachtens- 
werte blieb ihm offensichtlich stets die eigene Persönlichkeit. 
Daß diese Anbetung seiner „Seele" stets den nur unter 
schwersten Mühen erkämpften Werten und der teuer er- 
kauften Wahrheit galt, sich nie ins Enge, Kleinliche, Ego- 
istische verlor oder zur leeren Phrase verflüchtigte, darin 
lag der Wesenskern seine Größe. So ist auch in allen seinen 
bedeutenderen Werken die Welt um das Ich des Dichters 
herumgestellt, der unter verschiedenen Namen, aber in stets 
leicht kenntlicher Verkleidung, als Prometheus, Victor, Konrad, 
Gerold, Apoll den eigentlichen Inhalt darstellt. Das Bewunde- 
rungswürdige ist, daß diese Selbstverliebtheit stets bereit blieb, 
jede, auch die empfindlichste Rücksicht auf sich selbst der 
künstlerischen Wirkung aufzuopfern. So idealisiert viele dieser 
Gestalten sind, eine gelegentlich bis zur vollsten Schonungs- 
losigkeit gesteigerte psychologische Wahrheit sorgt dafür, daß 
sie niemals leblos und gipsern wirken. 

Klar und bestimmt, fern von jeder Bescheidenheitspose, 
■wie in seinen Werken und Gesprächen, handelte er auch in 
seinen Briefen über sich selbst. Als Musterbeispiel gebe ich 
ein Bruchstück aus dem weitaus interessantesten Briefe, den 
ich von ihm erhalten habe, hier wieder: 

„Dank. Das ist ein feiner und wahrer Aufsatz, für mich sogar 
aufschlußreich. Überhaupt habe ich in meinem Leben öfters 
das Gefühl gehabt, ich möchte, ein wissenschaftlich gebildeter 
Psycholog und Arzt würde mich mir erklären. 

Ich sehe mich selber folgendermaßen: 

Ich war und bin zeitlebens klar, auch in der größten Leiden- 
schaft geht mir nie das nüchterne Urteil verloren; keine Spur 
einer Gefahr, daß ich jemals mein Phantasieleben mit dem 
Wirklichkeitsleben verwechsle. Dagegen gewinnt für mein 
Gemütsleben die Innenwelt eine unendlich überragende Be- 
deutung gegenüber der Außenwelt. Jähe, wahnsinnige, unwider- 

55 



stehliche Gefühlsstürme, deren körperliche oder nervöse Grund- 
lage mir ein Rätsel sind (aber sie kommen selten). Und ein 
Geblendetwerden von leuchtenden Phantasiegestalten, deren 
Leuchtkraft mein Herz versengt (nicht mein Urteil). Ich kann 
deshalb wahnsinnig handeln, ohne wahnsinnig zu denken; weil 
meine Handlungen vom Gefühl ertrotzt werden. Siehe Victor: 
ein klarer Kopf und gebärdet sich wie ein Wahnsinniger. Er 
ist irgendwo krank. 

Die Kunst nun ist mir eine dritte Welt neben der Innen- 
und Außenwelt, ein willkommenes Mittel, das, was mir herzlich 
wahr und wichtig ist, wahrer und wichtiger als die Wirklich- 
keitswahrheit, nun wirklich wahr werden zu lassen, hinzustellen. 

Das kann ich ja alles nicht mit Worten sagen, aber als 
Beobachtungsobjekt für einen sehr, sehr gescheiten Psycho- 
oder Patho- oder Neurologen könnte ich schon dienen. 

Meine Werke aber mögen dem Psychologen interessant 
sein deshalb, weil ich immer auf Schritt und Tritt wahr bleibe, 
alles den inneren Erlebnissen ablausche, nichts verschweige, 
nichts umgehe, nichts vertusche." 

Unsere Gespräche drehten sich natürlich meistens um die 
Psychoanalyse, der er, wie ziemlich allen Dingen, als Künstler 
gegenüberstand. Als ich ihm zeigte, daß die Fehlhandlung 
Victors (gleich zu Anfang der „Imago"), der an der richtigen 
Hausnummer „in Gedanken" vorübergeht, dann nach langem 
Zögern das aus dem Hause hervorschallende Rindergeschrei 
zur Kenntnis nimmt, darauf sofort wieder mit Zweifel reagiert 
und sich zur Anerkennung erst entschließt, nachdem ihm der 
Gedanke: „Nun, es können mehrere Familien in einem Hause 
wohnen" zu Hilfe gekommen ist — daß diese Fehlhandlung 
in jeder Einzelheit der von Freud in der „Psychopathologie 
des Alltags" entwickelten Theorie entspreche, da war er von 
dieser Übereinstimmung durchaus nicht tiefer berührt. Die un- 
bewußte Motivierung der Fehlhandlung, gegen die sich die Fach- 
psychologen („die schlechtesten aller Psychologen") erbittert 
wehrten, war dem Dichter selbstverständlich, das wissenschaft- 
liche Breittreten und die dabei verwendeten Fachausdrücke und 
Wendungen schienen ihm überflüssig und häßlich. — An einer 
anderen Stelle desselben Briefes macht er diesem Grolle Luft: 

„Schade, daß Sie bei Ihnen in Ihrer Gemeinde so ein 
fürchterlich wissenschaftliches Esperanto sprechen, daß man 

56 



mir's immer erst ins Deutsche übersetzen mußte, damit ichs 
verstehe. Ich muß stets an Heilsarmeedeutsch denken, wenn 
ich Schriften der Freud-Schule lese; es ist etwas fanatisch 
Ketzerisches dabei, dieses sich Verbohren auf stereotype 
Formeln. „Komplex" usw. 

A propos „Komplex": den Ödipus-Komplex halte ich für 
eine wesenlose Gehirnmarotte. Ich lebe nun schon siebenund- 
sechzig Jahre auf dieser Erde, habe verschiedene Völker ge- 
sehen und unzählige Menschen beobachtet und noch nicht ein 
einzigesmal ein Beispiel dieser ebenso ungeheuerlichen wie 
ekelhaften Regung gesehen. 

Aber daß die Erotik im Kindesalter zu spielen beginnt, 
erachte ich als einen wichtigen Fund. Und daß mein Kadetten- 
general dahinein gehört, ist ja gar keine Frage. Natürlich hat 
das aber keine perverse Grundlage; ich bin so wenig pervers, 
daß ich einen psychischen Ekel empfinde, wenn ein Mann 
auf der Szene auftritt usw. usw. — Verzeihung für das viele, 
heftige dumme Geschwätz." 

Nicht der Sache selbst, dem „Tatbestand" gilt die Anteil- 
nahme des Dichters, sondern ihrer künstlerischen Gestaltung. 
Daß das Gefühl, das den kleinen Gerold bei seinen Tag- 
träumen von dem schönen, besiegten Kadettengeneral leitet, 
regelrechte Verliebtheit sei, dafür besteht bei Spitteler nicht 
der leiseste Zweifel. Aber daß man die Verliebtheit eines 
Knaben in einen Knaben „pervers" nennen könnte, da- 
gegen lehnt er sich auf. Er hat ja auch insoferne recht, 
als dieses „pervers" nicht einen Gegensatz zur Normalität, 
sondern ein wesentliches Stück der normalen Entwicklung 
bezeichnen soll. 

Den „Ödipus-Komplex", den Spitteler nie gesehen haben 
will, hat er, wenigstens nach der Seite des Vaterhasses und 
der Todeswünsche hin, auf das nachdrücklichste in „Konrad 
der Leutnant" geschildert. Wie tief und richtig muß der 
Dichter diesen „Komplex" mitempfunden haben, wenn er 
im „Olympischen Frühling" Hera, die Muttermörderin, von 
der Furcht vor dem Tode gepeinigt, gehetzt und von Haus 
und Bett und Thron vertrieben, schildert. Wo wurde je eine 
Neurose exakter wiedergegeben und tiefer in ihren Ur- und 
Hintergründen erfaßt, als in diesen volltönend einherrollenden 
Versen, deren Poesie einen allerschärfsten — freilich der 



57 



psychologischen und inneren Wahrheit geweihten — Realis- 
mus mit einschließt. 

Auch die andere Seite, die Fixierung des Sohnes an die 
Mutter, fehlt nicht. Ihr ist am stärksten, freilich auch am 
tiefsten verhüllt, „Imago" gewidmet, dieses Meisterwerk des 
psychologischen Romans, das uns so vielerlei gelehrt und 
gewiesen, unsere Wissenschaft durch ein unentbehrlich ge- 
wordenes Kunstwort bereichert hat. Diesem einen Wort hat 
der Dichter soviel Sinn und Hintergrund gegeben, daß es 
kaum möglich gewesen wäre, ein anderes zu wählen, als 
wir daran gingen, dieser Zeitschrift ihren Namen zu geben. 
Wer „Imago" in Wahrheit ist, dafür läßt sich allerdings 
ein wissenschaftlicher Nachweis nicht führen. Aber wer einmal 
ins Reich des Unbewußten hinabgestiegen ist und sein Auge 
an die Farbe und Form der dort hausenden Schattengestalten 
gewöhnt hat, der zweifelt nicht daran, daß eine so über- 
mächtige „Imago" sich nur da formen und die stärkste und 
freieste Seele überwältigen kann, wo die Zaubermacht des 
Unbewußten der Phantasie gebietet. Daß Victor den Gatten 
seiner Theuda scherzhaft seinen Statthalter nennt, während 
Spittelers Vater in dessen Knabenjahren diesen Titel wirklich 
führte (ebenso wie der Vater des „Narrenstudenten" in den 
„Mädchenfeinden"), daß die Frau, der die in „Imago" ver- 
klärte Liebe des Dichters galt, in Wirklichkeit seine nahe 
Verwandte war, — das sind nur kleine Nebenumstände, die 
dasselbe aussagen, was das ganze Werk uns verkündet. Ein 
Scheinbild, das stärker und lebendiger ist, als das Leben, 
dem es entnommen zu sein scheint, kann nur aus den Ein- 
drücken der frühesten Kindheit, von der ersten und stärksten 
Liebe herstammen. 

Je größer, tiefer und wahrer das Werk eines Dichters 
ist, desto mehr schenkt er nicht bloß unmittelbar der Mensch- 
heit, sondern auch in Einzelerkenntnissen unserer Wissen- 
schaft. Darum läßt sich die Größe Spittelers auch aus dem, 
was ihm die Psychoanalyse dankt, ermessen. 



58 



Der Seelensucher 



Alfred Polgar 

Ich möchte einem Buch Leser gewinnen, das kaum seines- 
gleichen hat unter deutschen Büchern, einem nicht literari- 
schen Buch, aber von eigentümlichster spiritueller Schärfe, 
die ihre Zeichen ins Hirn des Lesers ätzt. Was sonst als 
deutsche Prosa Humor übt, scheint Wasser neben dieser 
Quintessenz. 

Das Buch heißt: „Der Seelensucher", ein psychoanalyti- 
scher Boman von Georg Groddeck. 

So was Freches, Ungeniertes, raffiniert Gescheit- Verrücktes 
ist von Erzählern unserer Sprache noch nicht gewagt worden. 
Man muß zu den Großen satyrischer Dichtung, will man 
die Patrone dieser Schrift nennen. Von Jonathan Swifts un- 
sterblicher Galle kreist ein Tropfen in des Seelensuchers 
Bitterkeit; an Cervantes erinnert der Bitus, nach dem hier 
einer zugleich den Priester und das Lamm seiner Narrheit 
abgibt, erinnert die Durchsetzung dieser Narrheit mit Idee 
und Idealität; in der Babies ihrer Witzigkeit aber gespenstert 
das Überdimensionierte der Gargantua-Komik. 

Die Gestalterkraft der Meister fehlt dem Georg Groddeck. 
Er schreibt wie ein gebildeter Dilettant, sein Buch ist kunst- 
los ungebaut. Es stehen nur Wände für ein Flechtwerk von 
Gedanke und Beflexion. (Immerhin schlägt manchmal auch 
ein gemütliches Fabuliertalent deutschblaue Augen auf.) Die 
Figuren haben beiläufige Kontur. Auch der Held, Thomas, 
der als Don Quixote Sigmund Freudscher Weltanschauung 
seiner fürsorglichen Schwester Agathe durchbrennt, streitbar 
durch die deutschen Lande zieht, in die wunderlichsten 
Händel und skurrilsten Abenteuer gerät, als Bitter seiner 
Dulcinea Psychoanalyse die erbittertsten Bede- und andere 

59 



Schlachten schlägt, aller Orten — wie der de la Mancha 
Burgen, Ritter, Burgfräuleins — aller Orten Symbole, ins- 
besondere erotische Symbole sieht, erfüllt von der heil'gen 
Gewißheit, daß die Menschen ihre Psyche zwischen den 
Beinen tragen und ihre Genitalien an jeder Stelle Körpers 
und Geistes. 

Ich kann hier von der Art, in der der fahrende psycho- 
analytische Bitter alle Erscheinungen in sein gefügiges System 
hinüberlistet, von der besonderen Eloquenz dieses weisen 
Toren leider nur die wenigst saftigen Proben geben. Aber 
auch aus den folgenden zwei schwachen Beispielen ist der 
eigenartige Ton herauszuhören, mit dem des Thomas Mühle 
mahlt. Über die Weiber äußert er gelegentlich: 

„Aber so sind die Weiber. Sie bilden sich immer ein, das 
Denken sei wie Strümpfe stricken, das man beliebig unter- 
brechen und wieder aufnehmen kann, und bei dem es auf ein 
paar fallengelassene Maschen nicht ankommt. Übrigens ist es 
ein Irrtum zu sagen: Ich stricke einen Strumpf, zum mindesten 
ist es ungenau, man kann ebensogut sagen, der Strumpf strickt 
mich, ja erst mit dieser Wendung zeigt man, daß man eine 
Ahnung vom Verlauf der Weltgeschichte hat. Der Mensch 
macht nicht, sondern er wird gemacht. Wenn Agathe mir einen 
Strumpf strickt, so weiß ich, daß ich demnächst eine neue 
Fußbekleidung haben werde, und kann mich darüber freuen. 
Sage ich aber, der Strumpf strickt Agathen, so sehe ich auf 
einmal die Geschichte des weiblichen Geschlechts vor mir, 
wie es sich jahrtausendelang in der Beschäftigung mit dem 
Kleinen verderben ließ und verdarb. Sieh dir einmal meine 
Schwester an. Du denkst, sie ist dieselbe Agathe, wie vor 
zwanzig Jahren, ein wenig älter geworden, aber im Grunde 
dieselbe. Weit gefehlt. Weißt du, was sie ist? Agathe ist eine 
Hutschleife . . . ja, sicher. Als sie damals ihren seligen Willen 
geheiratet hatte und sehr bald dahinter kam, welche Dumm- 
heit sie begangen hatte, wollte sie vernünftig werden. Und 
um sich dazu zu zwingen, schaffte sie sich den würdigen 
Kopfputz der Mütter, den Capothut mit langen Bändern an 
und knüpfte jeden Tag gewissenhaft eine regelrechte Schleife. 
Das ging so eine Zeitlang. Jetzt aber ist sie schon seit Jahren 

60 



anders. Agathe wird von der Schleife geknüpft. Die Bänder 
zerren sie durchs Leben, wie das Seil des Metzgers ein Kalb." 

Zur Erscheinung des Beamten hat er dieses anzumerken: 

„Der Beamte betrachtet das Publikum als Wickelkind, muß 
es so betrachten, er hält sich für verpflichtet, dieses hilflose 
Wesen, das nur saugen und heulen kann, zu leiten, hat aber 
neben und durch dieses Verantwortlichkeitsgefühl auch die 
Größenidee, das Säuglingspublikum zu strafen. Dabei ist er 
sich jedoch seiner Unvollkommenheit bewußt, da ihm das 
wichtigste zur Amme, die Milch, fehlt, was sich in den beiden 
weggelassenen Buchstaben m und e ausspricht. Und gerade 
aus dem Mangel der Milch, aus diesen fehlenden zwei Buch- 
staben, erklärt sich auch die Abneigung des Publikums. Es 
befindet sich dem Beamten gegenüber im Zustand der Ent- 
wöhnung, die Brüste schmecken bitter, weil sie mit Chinin 
bestrichen sind, und es sucht sich durch versteckte Auflehnung 
dafür zu rächen, daß diese verstümmelte Amme Gehorsam 
verlangt, ohne dafür süße Milch zu geben. Dieser Ammen- 
charakter hat sich in der Gewohnheit der unteren Beamten 
erhalten, der Mutter der Kompagnie beispielsweise, ein Notiz- 
buch vorn zwischen die Brustknöpfe zu stecken. Sie betonen 
so die Milchwirtschaft und reizen damit das Säuglingspublikum 
noch mehr, das solches Betonen eines Mangels ja als Hohn 
auffassen muß. Bei der Polizei ist die Sache noch schlimmer. 
Da liegt in der ersten Silbe das Wort Popo drin, mit den 
fatalen Erinnerungen an die Haue, die man bekommen hat. 
Die zweite Silbe li ist abgekürzt aus Liebe und weckt den 
Gedanken an die geradezu ungeheuerliche Anmaßung der Er- 
zieher, daß man sie auch noch dafür lieben soll, wenn sie 
einem die Hosen stramm gezogen haben. Und das zei ist nun 
gar die Tatsache, daß man nachher in die Ecke gestellt wurde, 
bis man um Verzeihung gebeten hatte." 

Eine Figur, wie dieser Thomas, so voll der kostbarsten Narr- 
heit — die nicht Narrheit, sondern Ernst- Clownerie — ist noch 
durch keinen deutschen Roman gewandelt. Hier lehrt einer, zum 
Gaudium des Lesers, die Welt über den psychoanalytischen Stock 
springen. Alles muß drüber, Mensch und Tier, Politik, Kunst, 
Wissenschaft; und, mit etlicher Gewalt und Schlauheit, glückt 

61 



es bei allen. Eine drolligste demonstratio ad rem et hominem 
von der Unfreiheit der Erscheinungen. Wie sich hier Sinn 
zu Hanswurstiaden übersteigert, Geist in närrische Aktion 
umsetzt, Dogma possenreißerisch sich behauptet, Erkenntnis, 
ihrer Unverletzbarkeit hochmütig gewiß, ins dichteste Ge- 
lächter stürzt — solche lustige Abenteuerfahrt des Gedankens 
hat noch kein deutscher Mann gewagt. 

Es ist eine tolle Persiflage der Psychoanalyse und, in den 
Hohn hineinverschlungen, die bedingungsloseste Huldigung 
vor der Souveränität der Lehre, gewissermaßen: „Wir dürfen 
uns sogar erlauben, lächerlich zu sein." Aus der unbedingten 
Anwendung der Methode erfließt die Komik, die Methode 
selbst erleidet keinen Schaden. 

Es stellt sich das Buch dar als eine Reihe von merkwürdigen 
Erlebnissen der hohen Theorie in Bezirken der niederen Praxis. 
Ungemein ergötzlich ist die dialektische Fechtkunst dieser 
Theorie, der Schwung, mit dem sie anrennt gegen Menschen 
und Dinge, die joviale Roheit ihrer Kampfführung, die treuen 
Hundeaugen, die sie macht, wenn Unheil und Verwirrung 
durch sie angestiftet worden sind. Ein Feuerwerk von Funken 
gibt es, wo und wie immer der Querkopf des Thomas mit 
dem Leben zusammenstößt. Wenn ihn schließlich der Eisen- 
bahnzug zerquetscht, bedauern wir sehr, von diesem pracht- 
vollen Narren, von diesem gescheitesten dummen August, 
endgültig Abschied nehmen zu müssen. Im Gedächtnis bleibt, 
wie er von der Wanze in seinem Bett innerlich gewandelt 
wird, bleiben die grotesken Gesichte, die er hat, das Un- 
gemach, das er, den schwerfälligen Leib opferfroh ausliefernd 
an ein lebhaftestes geistiges Tempo, erleidet, der trockene 
Glanz seiner Beredsamkeit, das beglückte Märtyrerlächeln, 
mit dem er Schlag' und Stöße des Geschicks hinnimmt, die 
halsbrecherische Sicherheit, mit der er auf dem geduldigen 
Klepper seiner Logik phantastische Schule reitet. Die Konse- 
quenz aber, mit der er im Gewebe der Erscheinungen seinen 



62 



roten psychoanalytischen Faden verfolgt, hat mehr als Komik, 
hat fast Größe. 

„Der Seelensucher" ist das zweite Buch deutscher Sprache, 
das den Namen humoristischer Roman verdient (das erste 
heißt: „Auch einer"). Seine besondere Schmackhaftigkeit ver- 
dankt es einer Bindung, die der literarischen Küche selten 
gelingt: Phlegma und Spiritus. 



Warum ich Arzt wurde 

und wie ich zur Abneigung gegen das 

Wissen gekommen bin 

von 
Georg Groddeck 

Aus dem „Buch vom Es. Psycho- 
analytische Briefe an eine Freundin". 

Liebe Freundin, Sie wünschen, daß ich Ihnen schreibe, 
nichts Persönliches, keinen Klatsch, keine Redensarten, sondern 
ernst, belehrend, womöglich wissenschaftlich. Das ist schlimm. 

Was habe ich Armer mit Wissenschaft zu tun? Das Biß- 
chen, was man als praktischer Arzt nötig hat, kann ich 
Ihnen doch nicht vorführen, sonst sehen Sie, wie löchrig 
das Hemd ist, das Unsereiner unter dem Staatsgewande der 
Approbation als Arzt trägt. Aber vielleicht ist Ihnen mit der 
Erzählung gedient, warum ich Arzt wurde und wie ich zu 
der Abneigung gegen das Wissen gekommen bin. 

Ich besinne mich nicht, daß ich als Knabe besondere 
Neigung für das Arztsein gehabt hätte, vor allem weiß ich 
bestimmt, daß ich nie, auch später nicht, mit diesem Beruf 
menschenfreundliche Gefühle verbunden hätte; und wenn 
ich mich, was wohl geschehen ist, mit solchen edlen Worten 
zierte, so verzeihe mir ein mildes Gericht mein Lügen. Arzt 

60 



wurde ich, weil mein Vater es war. Er hatte all meinen 
Brüdern verboten, diese Laufbahn einzuschlagen, vermutlich 
weil er sich und andern gern einreden wollte, seine finan- 
ziellen Schwierigkeiten seien durch die schlechte Bezahlung 
des Arztes bedingt, was durchaus nicht der Fall war, da er 
bei alt und jung als ein guter Arzt gerühmt und dement- 
sprechend entlohnt wurde. Aber er liebte es, wie sein Sohn 
auch und wie wohl ein Jeder, nach außen zu blicken, wenn 
er wußte, daß in ihm selber etwas nicht stimmte. Eines 
Tages fragte er mich, — ■ warum, weiß ich nicht — ■ ob 
ich nicht Arzt werden wolle, und weil ich in dieser Frage 
eine Auszeichnung meinen Brüdern gegenüber sah, sagte ich 
ja. Damit war mein Schicksal entschieden, sowohl für meine 
Berufswahl, als auch für die Art, wie ich diesen Beruf aus- 
geübt habe. Denn von da an habe ich meinen Vater bewußt 
nachgeahmt, so stark, daß eine alte Freundin von ihm, als 
sie mich viele Jahre später kennen lernte, in die Worte 
ausbrach: „Ganz der Vater, nur keine Spur von seinem 
Genie. 

Bei jener Gelegenheit erzählte mir mein Vater etwas, 
was mich später, als die Zweifel an meinen ärztlichen Fähig- 
keiten kamen, an meiner Arbeit festhielt. Vielleicht kannte 
ich die Geschichte schon vorher, aber ich weiß, daß sie 
mir in der gehobenen Stimmung des Joseph, der besser war 
als seine Brüder, tiefen Eindruck machte. Er habe mich, 
erzählte er mir, als dreijährigen Jungen mit meiner etwas 
älteren Schwester, meiner ständigen Spielkameradin, beim 
Puppenspielen beobachtet. Lina verlangte, daß der Puppe 
noch ein Kleid angezogen werden solle, und ich gab es 
nach langem Kampfe mit den Worten zu: „Gut, aber du 
wirst sehen, sie erstickt." Daraus habe er den Schluß gezogen, 
daß ich ärztliche Begabung hätte. Und ich selber habe diesen 
so wenig begründeten Schluß auch gezogen. 

Ich erwähne dieses kleine Ereignis, weil es mir Gelegen- 
heit gibt, von einem Zug meines Wesens zu sprechen, von 
einer seltsamen Ängstlichkeit geringfügigen Dingen gegenüber, 
die mich plötzlich und scheinbar unmotiviert befällt. Angst 

64 



ist, wie Sie wissen, die Folge eines verdrängten Wunsches; 
es muß in jenem Augenblick, als ich den Gedanken äußerte, 
die Puppe werde ersticken, der Wunsch in mir lebendig 
gewesen sein, irgendein Wesen, dessen Stelle die Puppe 
vertrat, zu töten. Wer dieses Wesen war, weiß ich nicht, 
vermute nur, daß es eben diese meine Schwester war; ihrer 
Kränklichkeit halber wurde ihr von meiner Mutter manches 
zugeteilt, was ich als Jüngster 
für mich beanspruchte. Da haben 
Sie nun, was das Wesentliche 
des Arztes ist: ein Hang zur 
Grausamkeit, der gerade so weit 
verdrängt ist, daß er nützlich 
wird, und dessen Zuchtmeister 
die Angst ist, weh zu tun. Es 
lohnte sich, diesem feingefügten 
Widerspiel von Grausamkeit und 
Angst im Menschen nachzu- 
gehen, weil es gar wichtig im 
Leben ist. Aber für den Zweck 
eines Briefes genügt es wohl 
festzustellen, daß das Verhältnis 
zu meiner Schwester viel mit 
der Entwicklung und Bändigung 
meiner Lust am Wehtun zu tun 

hat. Unser Lieblingsspiel war Mutter und Kind spielen, wobei 
es darauf ankam, daß das Kind unartig war und Schläge 
bekam. Daß alles milde verlief, war durch die Kränklichkeit 
der Schwester bedingt und spiegelt sich in der Art wider, 
wie ich meinen Beruf ausgeübt habe. Neben der Scheu vor 
dem blutigen chirurgischen Handwerk habe ich die Abneigung 
gegen das Giftmischen der Apotheke und bin so zur Massage 
und zur psychischen Behandlung gekommen ; beide sind nicht 
weniger grausam, aber sie lassen sich besser der individuellen 
menschlichen Lust am Leiden anpassen. Aus den täglich wech- 
selnden Anforderungen heraus, die Linas Herzleiden an mein 
unbewußtes Taktgefühl stellten, wuchs dann die Neigung, 




„Der Seelensucher" 



65 



mich mit chronisch Kranken zu beschäftigen, während mich 
die akute Erkrankung ungeduldig machte. 

Das ist so ungefähr, was ich vorläufig über die Wahl 
meines Berufes mitteilen kann. Wenn Sie es nur ein wenig 
in Ihrem Herzen bewegen, wird Ihnen schon allerlei über 
meine Stellung zur Wissenschaft einfallen. Denn wer von 
Kindheit an auf den einzelnen Kranken eingestellt ist, wird 
schwerlich systematisch rubrizieren lernen. Aber auch da ist 
wohl das Wichtigste die Nachahmung. Mein Vater war ein 
Ketzer unter den Ärzten; war sich selbst Autorität, ging eigene 
Wege und Irrwege und von Respekt vor der Wissenschaft 
war weder in Worten noch in Taten viel bei ihm zu spüren. 
Ich besinne mich noch, wie er über die Hoffnungen spottete, 
die sich an die Entdeckung des Tuberkel- und Cholerabazillus 
knüpften, und mit welchem Hochgenuß er erzählte, daß er 
gegen alle physiologischen Lehrsätze ein Wickelkind ein Jahr 
lang nur mit Bouillon gefüttert habe. Das erste medizinische 
Buch, das er mir in die Hände gab, — ich war damals noch 
Gymnasiast, — war die Erfahrungsheillehre Rademachers, 
und da darin die Kampfstellen wider die Wissenschaft dick 
angestrichen und reichlich mit Randbemerkungen versehen 
waren, so ist es wohl kein Wunder, wenn ich schon vor 
Beginn meines Studiums geneigt war zu zweifeln. 

Diese Lust am Zweifel war noch anders bedingt. Als ich 
sechs Jahre alt war, verlor ich zeitweise die ausschließliche 
Freundschaft meiner Schwester. Sie wendete ihre Neigung 
einer Schulkameradin zu, die den Namen Alma trug, und 
was besonders schmerzlich war, sie übertrug unsre kleinen 
sadistischen Spiele auf diese neue Freundin und schloß mich 
von der Teilnahme daran aus. Es gelang mir ein einziges 
Mal, die beiden Mädchen beim Geschichtenerzählen, was sie 
besonders liebten, zu belauschen. Alma phantasierte von einer 
bösen Mutter, die ihr unartiges Kind zur Strafe in eine 
Abtrittsgrube steckte, — man muß sich dabei einen länd- 
lichen primitiven Abtritt vorstellen. Noch heutigen Tages 
geht es mir nach, daß ich diese Geschichte nicht zu Ende 
gehört habe. Die Freundschaft der beiden Mädchen ging 

66 



vorüber und meine Schwester kehrte zu mir zurück. Aber 
jene Zeit der Einsamkeit hat genügt, um mir eine tiefe 
Abneigung gegen den Namen Alma einzuflößen. 

Und nun darf ich Sie wohl daran erinnern, daß die 
Universität sich Alma Mater nennt. Das hat mich stark gegen 
die Wissenschaft eingenommen, noch mehr, weil das Wort alma 
mater auch für das Gymnasium angewendet wurde, in dem 
ich meine humanistische Bildung erhielt und in dem ich viel 
gelitten habe, von dem ich viel erzählen müßte, wenn es darauf 
ankäme, Ihnen meine menschliche Entwicklung begreiflich 
zu machen. Aber darauf kommt es ja nicht an, sondern nur 
auf die Tatsache, daß ich all den Haß und das Leid meiner 
Schulzeit auf die Wissenschaft übertrug, weil es bequemer 
ist, Trübungen der Seele aus dem äußeren Geschehen her- 
zuleiten, statt sie in den Tiefen des Unbewußten zu suchen. 
Später, erst sehr spät, ist mir klar geworden, daß das 
Wort- alma mater, „nährende Mutter", an die ersten und 
schwersten Konflikte meines Lebens erinnert. Meine Mutter 
hat nur das älteste ihrer Kinder genährt; sie bekam damals 
schwere Brustentzündungen, durch die die Milchdrüsen ver- 
ödeten. Meine Geburt muß wohl ein paar Tage früher statt- 
gefunden haben als berechnet war. Jedenfalls war die Amme, 
die für mich bestimmt war, noch nicht im Hause und ich 
bin drei Tage kümmerlich von einer Frau gestillt worden, 
die zweimal am Tage kam, um mir die Brust zu geben. Es 
hat mir nichts geschadet, sagte man mir, aber wer kann 
die Gefühle eines Säuglings beurteilen? Hungernmüssen ist 
kein freundlicher Willkommengruß für einen Neugeborenen. 
Ich habe hie und da Leute kennen gelernt, denen es ähnlich 
gegangen ist, und wenn ich auch nicht beweisen kann, daß 
sie Schaden an ihrer Seele gelitten haben, so ist es mir doch 
wahrscheinlich. Und im Vergleich zu ihnen glaube ich noch 
gut weggekommen zu sein. 

Da ist zum Beispiel eine Frau, — ich kenne sie viele, 
viele Jahre, — deren Mutter sich von dem neugeborenen Kinde 
abwandte, sie nährte es nicht, obwohl sie es bei den andern 
Kindern tat, und überließ es dem Kindermädchen und der 



6? 



Flasche. Das Kind aber hungerte lieber, als daß es am Gummi- 
pfropfen sog, es kränkelte dem Tode entgegen, bis ein Arzt 
die Mutter aus ihrer Antipathie aufrüttelte. Da wurde aus 
der fühllosen Mutter eine besorgte. Eine Amme kam ins 
Haus und die Mutter ließ keine Stunde vergehen, ohne nach 
dem kleinen Mädchen zu sehen. Das Kind gedieh nun und 
ist zu einer kräftigen Frau herangewachsen. Sie wurde der 
Verzug der Mutter, die bis zu ihrem Tode werbend hinter 
der Tochter herlief. Aber in der Tochter blieb der Haß. 
Ihr Leben ist eine stahlharte Kette der Feindschaft, deren 
einzelne Glieder von der Rache geschmiedet sind. Sie hat 
die Mutter gequält, so lange sie lebte, sie ist vom Sterbebett 
der Mutter fortgereist, sie verfolgt, ohne daß sie es weiß, 
jeden, der an die Mutter erinnert, und sie wird bis an ihr 
Lebensende den Neid behalten, den ihr der Hunger einge- 
flößt hatte. Sie ist kinderlos. Menschen, die ihre Mutter 
hassen, sind kinderlos, und das ist so wahr, daß man bei 
unfruchtbaren Ehen ohne weiteres annehmen kann, einer 
von beiden Teilen ist Feind seiner Mutter. Wer seine Mutter 
haßt, der fürchtet sich vor dem eigenen Kind; denn der 
Mensch lebt nach dem Satz: Wie du mir, so ich dir. Dabei 
wird sie verzehrt von dem Wunsche, ein Kind zu gebären. 
Ihr Gang ist der einer Schwangeren, wenn sie einen Säugling 
sieht, schwellen ihre Brüste, und wenn ihre Freundinnen 
schwanger werden, bekommt sie einen dicken Bauch. Jahre- 
lang ist sie, die vom Leben und Reichtum verwöhnte, täg- 
lich als Hilfsschwester in eine Entbindungsanstalt gegangen, 
hat die Kinder gereinigt, Windeln gewaschen und Wöchne- 
rinnen versorgt und in wahnsinniger Begierde die Neuge- 
borenen, verstohlen wie eine Verbrecherin, an ihre milchlosen 
Brüste gelegt. Aber sie hat zweimal Männer geheiratet, von 
denen sie vorher wußte, daß sie zeugungsunfähig waren. Sie 
lebt vom Haß, der Angst, dem Neid und der lüsternen Qual 
des Hungerns nach Unerreichbarem. 

Da ist eine andere, die hungerte auch in den ersten Tagen 
nach der Geburt. Sie hat sich nie entschließen können, sich den 
Haß gegen die Mutter einzugestehen, aber das Gefühl, die 

68 



früh verstorbene Mutter gemordet zu haben, quält sie un- 
ablässig, so irrsinnig dieser Gedanke ihr auch scheint. Denn 
diese Mutter starb während einer Operation, von der das 
Mädchen vorher nichts wußte. Seit vielen Jahren sitzt sie 
einsam und krank in ihrem Zimmer, nährt sich von Haß 
gegen alle Menschen, sieht niemanden, meidet und haßt. 
Was mich selbst betrifft, so ist schließlich die Amme ge- 
kommen und sie ist drei Jahre bei uns im Hause geblieben. 
Haben Sie sich schon einmal mit den Erlebnissen eines kleinen 
Kindes beschäftigt, das von der Amme genährt wird? Die 
Sache ist etwas kompliziert, wenigstens wenn das Kind von 
der Mutter geliebt wird. Da ist eine Mutter, in deren Leibe 
hat man neun Monate gesessen, sorglos, warm und in allen 
Freuden. Sollte man sie nicht lieben? Und dann ist da ein 
zweites Wesen, an dessen Brust man täglich liegt, deren 
Milch man trinkt, deren warme frische Haut man fühlt und 
deren Geruch man einatmet. Sollte man sie nicht lieben? 
Zu wem aber soll man halten? Der Säugling, der von der 
Amme gestillt wird, ist in den Zweifel hineingestellt und 
wird den Zweifel nie verlieren. Seine Glaubensfähigkeit ist 
im Fundament erschüttert und das Wählen zwischen zwei 
Möglichkeiten ist für ihn schwerer als für andere. Und was 
kann einem solchen Menschen, dessen Gefühlsleben man von 
Beginn an halbiert hat, den man um die volle Kraft der 
Leidenschaft betrügt, das Wort alma mater anders sein als 
ein Hohn und eine Lüge? Das Wissen aber wird ihm von 
vornherein unfruchtbar erscheinen. Er weiß, die eine dort, 
die dich nicht nährt, ist deine Mutter und sie beansprucht 
dich als ihr Eigentum, die andere aber nährt dich und doch bist 
du nicht ihr Kind. Man steht vor einem Problem, das sich 
durch Wissen nicht lösen läßt, vor dem man fliehen muß, 
gegen dessen aufdringliche Frage man am besten in das Reich 
der Phantasie flüchtet. Und wer in diesem Reich heimisch 
ist, erkennt irgendwann einmal, daß alle Wissenschaft nichts 
anderes ist als eine Abart der Phantasie, ein Spezialfach so- 
zusagen, mit allen Vorzügen und mit allen Gefahren der 
Spezialität ausgestattet. 



69 



Es gibt auch Menschen, die sich im Reiche der Phantasie 
nicht heimisch fühlen, und von einem solchen will ich Ihnen 
kurz berichten. Er sollte nicht geboren werden, wurde aber 
doch geboren, trotz Vater und Mutter. Da versiegte die Milch 
der Frau und eine Amme kam ins Haus. Das Söhnchen 
wuchs inmitten seiner glücklicheren Geschwister, die an der 
Mutterbrust lagen, heran, aber er blieb zwischen ihnen ein 
Fremdling, sowie er auch den Eltern fremd blieb. Und ohne 
es zu wollen oder auch nur zu wissen, hat er allmählich 
die Bande zwischen den Eltern gesprengt. Sie sind unter dem 
Druck halbbewußter Schuld, die fremden Augen aus der 
seltsamen Behandlung des Sohnes deutlich wurde, voreinander 
geflohen und wissen nichts mehr voneinander. Der Sohn 
aber wurde ein Zweifler, sein Leben wurde halb. Und weil 
er nicht wagte, phantastisch zu sein, — denn er sollte ein 
ehrbarer Mensch werden, und seine Träume waren die des 
ausgestoßenen Abenteurers, — begann er zu trinken, ein 
Schicksal, das manchem begegnet, der in den ersten Lebens- 
wochen Liebe entbehren mußte. Aber, wie alles, ist auch 
die Trunksucht bei ihm halb. Nur zeitweise, für einige 
Wochen oder Monate kommt es über ihn, daß er trinken 
muß. Und weil ich ein wenig seinen Irrgängen nachgespürt 
habe, weiß ich, daß immer diese kindische Ammensache 
auftaucht, ehe er zum Glase greift. Das gibt mir die Ge- 
wißheit, daß er genesen wird. Und nun etwas Seltsames: 
dieser Mann wählte ein Mädchen zum Weibe, das ebenso 
tief im Haß gegen die Eltern steckt wie er, das ebenso wie 
er kindernärrisch ist und doch das Kinderkriegen wie den 
Tod fürchtet. Und weil das seiner zerissenen Seele noch 
keine Sicherheit gab, ob ihm nicht doch ein Kind geboren 
werden könnte, das ihn strafte, erwarb er sich eine An- 
steckung und gab sie seinem Weibe weiter. Es steckt im 
Menschenleben viel unbekannte Tragik! 

Mein Brief ist zu Ende. Aber darf ich die Geschichte 
meiner Amme weiter erzählen? Ich besinne mich nicht mehr, 
wie sie aussah, weiß nichts mehr als ihren Namen: Berta, 
die Glänzende. Aber ich habe eine deutliche Erinnerung an 



70 



den Tag, an dem sie 'wegging. Sie schenkte mir zum Abschied 
einen kupfernen Dreier und ich weiß genau, daß ich, statt 
wie sie wollte, Zuckerzeug dafür zu kaufen, mich auf die 
steinerne Treppe der Küche setzte und das Dreierstück auf 
den Stufen rieb, damit es glänzte. Seitdem hat mich die Zahl 
drei verfolgt. Wörter wie Dreieinigkeit, Dreibund, Dreieck, 
haben etwas Anrüchiges für mich und nicht nur die Wörter, 
auch die Begriffe, die damit verbunden sind, ja ganze Ideen- 
komplexe, die ein eigensinniges Knabenhirn darum herum 
gebaut hat. So ist der heilige Geist als Dritter schon in 
früher Kindheit von mir abgelehnt worden, die Lehre von 
den Dreieckskonstruktionen ist mir in der Schule eine Plage 
gewesen und die einst vielgepriesene Dreibundspolitik wurde 
von mir von vornherein getadelt. Ja, die Drei ist eine Art 
Schicksalszahl für mich geworden. Wenn ich mein Gefühls- 
leben rückschauend betrachte, so sehe ich, daß ich, so oft 
mein Herz sprach, als Dritter in ein bestehendes Neigungs- 
verhältnis zweier Menschen eingedrungen bin, daß ich stets 
den einen, dem meine Leidenschaft galt, von dem anderen 
getrennt habe, und daß meine Neigung erkaltete, sobald mir 
das gelungen war. Ja, ich kann verfolgen, wie ich, um diese 
schwindende Neigung am Leben zu erhalten, von neuem 
einen Dritten zugezogen habe, um ihn wieder zu verdrängen. 
So sind in einer und gewiß keiner unwichtigen Richtung 
die Affekte des Doppelverhältnisses zu Mutter und Amme 
und der Kampf des Abschiedes ohne Absicht, ja ohne Wissen 
von mir wiederholt worden; eine nachdenkliche Sache, die 
zum mindestens zeigt, daß in der Seele eines dreijährigen 
Kindes seltsam verworrene und doch einheitlich gerichtete 
Dinge vor sich gehen. 

Ich habe meine Amme später — etwa mit acht Jahren — 
noch einmal für wenige Minuten wiedergesehen. Sie war 
mir fremd und ich hatte ein schweres Gefühl des Bedrückt- 
seins in ihrer Gegenwart. 

Von dem Wort Dreier muß ich noch zwei kleine Ge- 
schichten erzählen, die Bedeutung haben. Als mein älterer 
Bruder anfing Latein zu lernen, fragte ihn mein Vater beim 



7 1 



Mittagessen, was die Träne heiße. Er wußte es nicht; aus 
irgendeinem Grunde hatte ich mir das Wort lacrima vom 
Abend vorher, als Wolf seine Vokabeln laut memorierte, 
gemerkt und beantwortete nun an seiner statt die Frage. Ich 
bekam zum Lohn ein Fünfgroschenstück. Nach Tisch aber 
boten mir meine beiden Brüder an, dieses Fünfgroschenstück 
gegen einen blankgeputzten Dreier einzutauschen, was ich 
mit Freuden tat. Neben dem Wunsch, die überlegenen Knaben 
ins Unrecht zu setzen, müssen dumpfe Gefühlserinnerungen 
mitgesprochen haben. — Wenn Sie es wünschen, erzähle 
ich Ihnen später einmal, was das Wort lacrima und Träne 
für mich bedeutete. 

Das zweite Ereignis bringt mich in heitere Stimmung, 
so oft ich daran denke. Ein Menschenalter später habe ich 
für meine Kinder ein kleines Stück geschrieben, in dem eine 
vertrocknete, dürre, alte Jungfer vorkommt, ein gelehrtes 
Wesen, das griechischen Unterricht gibt und weidlich ver- 
lacht wird. Und diesem Kind meiner Phantasie, brüstelos 
und kahl wie sie war, gab ich den Namen Dreier. So hat 
die Flucht vor dem ersten unerinnerbaren Abschiedsschmerz 
aus dem leben- und liebestrotzenden Mädchen, das mich stillte 
und an dem ich hing, das Abbild dessen gemacht, was mir 
die Wissenschaft ist. 

Es ist wohl ernst genug, was ich Ihnen schrieb, ernst 
für mich. Aber ob es das ist, was Sie für unsern Briefwechsel 
wünschen, wissen die Götter. Sei dem wie ihm sei, ich bin 
wie immer Ihr ganz getreuer 

Patrik Troll. 



72 



Psychoanalytische Strafrechtstheorie 

von 

Dr. Theodor Reik 

Von den 10 Vorlesungen, die Reiks jüngstes 
Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis" 
(Internat. Psychoanalyt. Bibliothek, Bd. 18) 
umfaßt, ist hier die sechste wiedergegeben. 

Meine Damen und Herren! Wir haben bereits darauf hinge- 
wiesen, daß die analytischen Resultate uns auch vor neue Pro- 
bleme in der Strafrechtswissenschaft stellen. Es handelt sich 
nicht um ein solches Problem, aber um einen wichtigen, neuen 
Gesichtspunkt, wenn die Analyse in der Lage ist, zu beweisen, 
daß es Urteil und Strafe auch außerhalb der Gerichte gibt, 
daß es eine Bestrafung sozusagen in eigener Regie gibt. 

Die Kriminalpsychologie hat freilich registriert, daß manche 
Verbrecher sich selbst bestrafen, daß mancher Selbstmord 
zur Sühnung eines Verbrechens verübt wurde. Aber darum 
handelt es sich uns nicht; dies sind ja nur vereinzelte, äußere 
Anzeichen psychischer Vorgänge, die nicht immer so lärm- 
voll zum Ausdruck gelangen. Es müßte auch zu den Auf- 
gaben der Kriminalpsychologie gehören, die Verbindung des 
Seelenlebens des Verbrechers mit dem der nicht zu Ver- 
brechern gewordenen Menschen zu erforschen. Die Analyse 
der psychischen Vorgänge beim Neurotiker bietet dafür eine 
der lohnendsten Gelegenheiten, vielleicht die beste und jetzt 
auch die zugänglichste. 

Die Krankheit selbst dient zu einem wichtigen Teile dem 
Strafbedürfnisse und das Leiden an ihr hat auch deutlich 
Strafcharakter. Aber es sind nicht nur Krankheitssymptome, 
die auf solche psychische Selbstbestrafung hinweisen; wir 
wissen, wie häufig kleinere Handlungen wie Fehlleistungen 
des Alltagslebens, Übersehen — die Analoga zur „Fahrlässig- 
keit" der Juristen — Ausdruck der Straftendenzen darstellen. 
Auch nichtneurotische Personen strafen sich so unbewußt 
durch zeitweilige Entbehrungen oder Entzug von Vergnü- 
gungen, durch eine Beeinträchtigung der Genuß- und Leistungs- 

73 



fähigkeit. Diese Art von innerem Strafvollzug ist auch keines- 
wegs auf Erwachsene beschränkt: bereits Kinder zeigen die 
Erscheinungen von einem bestimmten Alter und einer be- 
stimmten Entwicklungsstufe an. Um nur ein Beispiel zu 
geben : eine englische Patientin berichtet aus ihrer Kinderzeit, 
daß sie, nachdem sie zuerst im Erlernen der deutschen 
Sprache ausgezeichnete Fortschritte gemacht hatte, sich von 
einer bestimmten Zeit angefangen völlig unfähig fühlte, diese 
Sprache weiter zu lernen. Es ist nun wichtig, zu erwähnen, 
daß ihr Vater ihr Lehrer im Deutschen gewesen war und 
sie mit ihm häufig zärtliche oder scherzhafte Gespräche in 
dieser Sprache, welche die Mutter nicht verstand, geführt 
hatte. Nach einem gewissen Ereignis der Kleinen war sie 
„self-conscious" geworden, d. h., sie hatte vorbewußt erkannt, 
auf welchen tieferliegenden Gefühlsregungen ihre zärtlichen 
Beziehungen zum Vater ruhten, und von da an versiegte 
ihre Fähigkeit zur deutschen Konversation. Es war in ihr 
der Gedanke aufgetaucht, die deutschen Gespräche mit dem 
Vater mit solchen in einer kindlichen Geheimsprache, in der 
häufig sexuelle Themen zwischen Kindern erörtert werden, 
zu vergleichen. Solches geheime Einverständnis mit dem Vater 
aber schien ihr gegen die Mutter, die ja nicht Deutsch 
konnte, gerichtet und deshalb verboten. Sie hatte sich mit 
Unfähigkeit, Deutsch zu lernen, bestraft, und zwar gerade, 
weil ihr die deutsche Unterhaltung mit dem Vater Vergnügen 
gemacht hatte. Es war so, wie wenn das Sprechen eine weit 
weniger harmlose gemeinsame Betätigung vertreten hätte. 

Doch wenden wir uns zu den Selbstbestrafungen neu- 
rotischer Erwachsener. Ich habe mir angewöhnt, mir in jeder 
Analyse neurotisch Erkrankter die Frage vorzulegen, wie 
und wodurch sich der Patient bestraft hat, und darf be- 
kennen, daß mir die oft erst spät erfolgende Beantwortung 
dieser Frage jedesmal ein wertvolles Stück Aufklärung und 
Einsicht in die psychische Struktur und in die unbewußten 
Begründungen der Neurose gewährt hat. Vergessen Sie nicht, 
daß die Beantwortung dieser Frage uns zugleich einen der 
wichtigsten Krankheitsgewinne erkennen läßt. 



74 



Ich will Ihnen einige herausgegriffene Beispiele solcher 
unbewußten Selbstbestrafungen, die zugleich das Leben der 
betreffenden Personen im Tiefsten bestimmten, erzählen: Ein 
Patient verbringt sein Leben in leidvoller Isolierung, die den 
Verkehr mit Menschen fast völlig unterbindet. Man möchte 
sagen, er habe sich zu Einzelhaft verurteilt. Ein anderer 
arbeitet mit höchster Intensität und Ausdauer an bestimmten 
Arbeiten, die ihm nichts bedeuten und ihm keinen Nutzen 
bringen können; sein interner Urteilsspruch war offenbar 
Zwangsarbeit. Er trug gleichsam einen geheimen Stempel: 
Travaux forces. Ein masochistischer Patient litt unter der 
zwanghaften Vorstellung, daß sich ein Heer von Lanzen gegen 
seine Augen richte. Die Analyse ergibt, daß diese Vor- 
stellung von einer Züchtigung ausging, die der Patient als 
kleiner Junge vom Vater mit einem Bergstock, auf dem sich 
eine eiserne Spitze befand, wegen seiner Widerspenstigkeit 
erhalten hatte. Das Symptom ließ im Zusammenhang mit 
später eintretenden Phantasien keinen Zweifel darüber, daß 
die gefürchtete und erwünschte Bestrafung die Blendung war, 
die sich leicht als Ersatz der Kastration erkennen ließ. Der 
Zusammenhang zwischen phantasierter Tat oder verbotenem 
Wunsche und der Bestrafung, also der „Strafgrund", wie es 
die Juristen nennen würden, ist fast immer unbewußt und 
kann in ausgeführter Analyse regelmäßig aufgedeckt werden. 
Eine Unterscheidung, die sich der analytischen Beobach- 
tung der neurotischen Selbstbestrafung aufdrängt, verdient 
gewiß hervorgehoben zu werden: ein gewisses Ausmaß eines 
unbewußten Strafvollzuges läßt sich bei allen Kranken fest- 
stellen, aber bei vielen nimmt die Angst vor der Strafe selbst 
Strafcharakter an. Die Angst hat dann nicht nur die Natur 
einer Schutzmaßregel vor der drohenden Selbstbestrafung,, 
sie übernimmt vielmehr alle Funktionen derselben, wie wir 
dies deutlich in der psychischen Dynamik der Phobien be- 
merken, welche eine so erhebliche Einschränkung des Patienten 
bedingen. Auch die ausgedehnten Zwangshandlungen, durch 
die sich der Neurotiker vor dem verbotenen Tun schützt, 
gewinnen Strafcharakter: sie zwingen ihn, Zeit und Energie 



75 



auf jene kleinen Aktionen zu verwenden und sich durch 
Einbußen an psychischer Bewegungsfähigkeit zu strafen. Wir 
werden den Anteil der Ersatzbefriedigung in den Symptomen 
sicher nicht unterschätzen, aber mit dem Stärkerwerden der 
Versuchung wächst auch die in Strafform umgesetzte Abwehr. 
Dasselbe gilt für das Zwangsdenken. 

Der Unterschied zwischen der latenten Selbstbestrafung, 
die tief in das Leben und die Schicksalsgestaltung des Ein- 
zelnen eingreift, und ihrer Variation in der Form der Angst 
ist sicher bemerkenswert, aber es ist zu betonen, daß er auf 
keine Differenz in der psychischen Intensität des Erlebens 
zurückgeht, sondern die Einwirkung bestimmter äußerer und 
innerer Determinanten widerspiegelt. Wenn ich einen Ver- 
gleich gebrauchen darf: Auch Balzac hatte wie sein großer 
Zeitgenosse Napoleon den brennenden Ehrgeiz, die Welt 
zu bezwingen und zu beherrschen, wie die Konzeption der 
„Comedie humaine" zeigt. Es war keine Differenz der Trieb- 
stärke, sondern in anderen Umständen begründet, daß er dies 
auf einem anderen Felde versuchte. Wirklich hat er einmal 
unter ein Bild Napoleons das stolze Wort geschrieben: „Ce 
qu'ü n'a pu achever par l'epee, je V accomplirai par la plume. " 

Als gutes Beispiel des Strafcharakters der Angst darf ich 
vielleicht folgendes aus der Analyse einer Zwangsneurose 
anführen : Der Patient litt an der blasphemischen Idee, daß 
er Gott eine Ohrfeige geben muß. Wenn die Idee auftauchte, 
sah er gewöhnlich das Gesicht eines alten Mannes, das er 
mit dem Gottes verglich, am Plafond und eine Hand, die 
sich diesem schlagend näherte, visionär vor sich. Viel später 
und in anderem Zusammenhange kam er wie beiläufig auf 
ein Gefühl zu sprechen, das ihn seit langer Zeit peinige, eine 
Art Zwangsbefürchtung, die sich schwer beruhigen ließ und 
oft den Charakter panischer Angst mit allen körperlichen 
Sensationen wie Herzklopfen, Zittern, Schweißausbruch an- 
nahm. Es war die Angst, der Plafond könne einstürzen und 
ihn unter sich begraben. Der Zusammenhang der Angst mit 
der Zwangsidee war unbewußt geblieben. Ein anderer Patient 
fühlte einen schweren Druck auf der Brust und beschrieb 

7 6 



diese peinliche Empfindung so, als wäre ihm ein schwerer 
Stein auf die Brust gewälzt. Die Verbindung dieser Sensation 
mit der Vorstellung vom Grabstein des Vaters war leicht 
herzustellen. Hier hat also die Strafe die Form einer körper- 
lichen Sensation angenommen wie in einem hysterischen 
Konversionssymptom. 

Eine Organempfindung als Strafausdruck läßt auch folgender 
Fall erkennen: Ein Patient hatte merkwürdige, schwer zu 
beschreibende Empfindungen am Hals und Nacken, als wenn 
ihn etwas einschnüre. Einmal kam er auf ein Schauspiel 
„The Beils" zu sprechen, dessen Aufführung mit Sir Henry- 
Irving ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen hatte. Der 
Inhalt des Stückes ist der, daß ein Wirt, der vor vielen 
Jahren einen polnischen Juden ermordet und beraubt hatte, 
sich beständig vom Läuten der Kirchenglocken, die in der 
Stunde der Tat zufällig erklungen waren, verfolgt glaubt 
und sich erhängt. Der Patient hatte ein andermal in höchst 
unbestimmter Art von den unangenehmen Gefühlen gesprochen, 
die das Hören der Töne von Kirchenglocken in ihm erweckten. 
Die unbewußte Identifizierung mit jenem Mörder in „The 
Beils war auf Grund der verdrängten Todeswünsche gegen 
den eigenen Vater klar. Der Vater des Patienten war durch 
seinen Beruf mit der Kirche verbunden und die Töne der 
Kirchenglocke waren einmal von großer Bedeutung für den 
Patienten gewesen, da sie ihn an Kirchengang und Gottesdienst 
mahnten. 

Es mag uns in Erstaunen setzen, daß die Strafe, die der 
Neurotiker unbewußt über sich verhängt, meistens keine 
einfache ist, sondern sich nach vielen Richtungen erstreckt. 
So hatte sich der Patient, von dem ich eben sprach, nicht 
nur mit einer ganzen Reihe von Symptomen bestraft, er 
litt auch sehr unter seiner, von ihm unbewußt herbeigeführten 
Lebensgestaltung, die ihn an ein fernes Land band und ihm 
nicht erlaubte, seine Meinungen und sein Wesen frei erkennen 
zu lassen. Er war so nicht nur verurteilt, seinen Lieben fern 
zu bleiben, sondern sich auch immer wieder zu verstellen; 
gegen Ende der Behandlung beschrieb er einmal sein Schicksal 



77 



spontan als „a lifelong imprisonment like ihe man iviih ihe 
iron mask" . 

Die komplizierten Strafen, die z. B. Zwangsneurotiker sich 
auferlegen, sprechen laut genug von ihrem Sühnebedürfnis ; 
sie sind den kombinierten Strafen zu vergleichen, welche 
unsere Justiz über Übeltäter verhängt. Sie unterscheiden sich 
von ihnen durch mehrere Momente: sie hängen ihrer Be- 
schaffenheit und ihren Mechanismen nach aufs innigste mit 
den verbotenen Regungen zusammen. Es wird aber — und 
dies ist das zweite Moment — dieselbe Regung mit viel- 
fachen Strafen belegt; es wäre etwa so, wie wenn ein Richter 
einen Diebstahl mit Arrest, mit Ehrverlust, Fasten an ge- 
wissen Tagen und anderen Straferschwerungen belegte. Ein 
Neurotiker wird sich etwa für denselben verpönten Wunsch 
mit Waschzwang, mit der Ausführung eines bestimmten, be- 
schwerlichen Zeremoniells, mit Isolierung usw. bestrafen. 

Sie werden nun sagen, das sei alles für das psychologische 
Verständnis der Neurose sehr interessant, aber was kann die 
Strafrechtswissenschaft daraus zur Förderung ihrer Disziplin 
schöpfen ? Ich meine, es sei Verschiedenes. Vor allem müßte 
sie die Tatsache eines solchen psychischen Gerichtshofes 
selbst, der über eigene Gesetze verfügt und Strafen besonderer 
Art verhängt, überraschen. Es ist vorauszusehen, daß dieses 
Gericht einmal in ferner Zeit dem äußeren scharfe Konkurrenz 
machen, ja es vielleicht ersetzen können wird. 

Es mag ferner überraschend sein, zu hören, daß die Analyse 
die Bestrafung in allen Fällen, die sie Gelegenheit hat zu 
untersuchen, regelmäßig auf verdrängte Wünsche aus dem 
Odipus-Komplex zurückzuführen gezwungen ist, als würde es 
nur Verbrechen, die aus dieser Quelle stammen, geben. Es 
müßte die Kriminalpsychologen reizen, nachzuforschen, wie- 
weit dieser unbewußte Zusammenhang auch beim Verbrecher 
nachzuweisen ist, ob auch hier eine unterirdische Verbindung 
zwischen den Urverbrechen der Kinderzeit und der Tat des 
erwachsenen Verbrechers besteht, welchen Einfluß die indi- 
viduelle Verarbeitung des Odipus-Komplexes auf die Ent- 
wicklung des später zum Verbrecher Gewordenen hatte. 

78 



Ich würde sogar meinen, die Rechtsgeschichte könne aus 
den Erforschungen der unbewußten Vorgänge beim Neurotiker 
manches Nützliche lernen. Denn im Seelenleben des Neurotikers 
hat sich manches Archaische erhalten, hier sind Quellen für eine 
jeder Erinnerung entzogenen Zeit, in die kein Blick des Rechts- 
historikers zu dringen vermag. Die Analyse hat in Freuds 
„Totem und Tabu" und in Storfers Untersuchung „Zur Sonder- 
stellung des Vatermordes" selbst die ersten Schritte in dieser 
Richtung getan. 

Und sollten die Beschlüsse dieses inneren Gerichtshofes 
bei Berücksichtigung aller einschneidenden Differenzen, nicht 
besser Auskunft geben über die Anschauungen der Menschen, 
welche Verbrechen und Vergehen sie strafbar finden und 
auf welches Strafausmaß sie erkennen ? Sollte man aus diesen 
Erkenntnissen nicht bestimmte Folgerungen ableiten können, 
die freilich keinen Einfluß auf das Strafrecht selbst haben 
mögen, aber für eine künftige Verhütung der Verbrechen, 
also für die Kriminalpolitik, wie es die Strafrechtswissenschaft 
nennt, wichtig werden könnten? Man wird freilich die wich- 
tigen Unterschiede zwischen Verbrecher und Neurotiker bei 
solcher Heranziehung der Neurosenpsychologie für kriminal- 
psychologische Untersuchung sorgsam beachten müssen: die 
Differenzen in den Hemmungseinrichtungen, das Überwiegen 
der sexuellen Regungen in der Neurose und der eigensüch- 
tigen und asozialen im Verbrechen und andere Momente. 
Es scheint ja, als würde die Neurose einen weitgehenden 
Schutz gegen das Verbrechen bedeuten. Die Resultate der 
analytischen Forschung nötigen jedenfalls zu einer gründlichen 
Revision der alten, ganz auf dem Boden der Bewußtseins- 
psychologie stehenden Vorstellungs- und Willenstheorie, auf 
der die heutige Strafrechtswissenschaft aufgebaut ist. Allge- 
meiner gesprochen: der wissenschaftliche Fortschritt wie 
menschliche Überlegungen fordern in gleichem Maße, daß 
Strafrechtslehrer, Berufs- und Laienrichter, Verteidiger und 
Staatsanwälte eine gründliche psychologische Vorbildung er- 
halten, die ihnen in beschämendem Maße abgeht, wie dies 
die einsichtigsten unter ihnen selbst beklagen. 



79 



Lassen Sie mich dieses Thema abbrechen und zu unseren 
strafrechtlichen Erörterungen zurückkehren. Die Strafrechts- 
geschichte belehrt Sie darüber, daß ursprünglich die Gesell- 
schaft, die Gemeinschaft der Stammesgenossen über einen 
Verbrecher zu urteilen hatte, der Einzelrichter fungiert später 
als Vertreter der Gemeinschaft. Aber es läßt sich unschwer 
ein Zustand in prähistorischer Zeit rekonstruieren, in dem 
der Hordenhäuptling über alle Macht und das Strafrecht ver- 
fügte wie später der Pater familias des römischen Rechtes 
über die Herdgenossen. Der Übergang zum Strafrecht der 
Gemeinschaft wird sich wohl in der Brüderhorde vollzogen 
haben. In manchen Neurosen erkennt man sehr deutlich, wie 
die soziale Angst das Schuldgefühl gegenüber der Gesellschaft 
oder der „public opinion" auf die Angst vor dem Vater 
zurückführt. 

Die Übertragung in der Analyse erweist sich manchmal 
als vorzügliches Mittel zum Verständnis anderer Probleme 
des Strafrechtes. Einer meiner Analysanden war ein sehr 
intelligenter Jurist, der an Zwangsneurose erkrankt war und 
den Fragen seiner Wissenschaft starkes Interesse entgegen- 
brachte. Die Analyse ging bis zu einem gewissen Zeitpunkte 
ungestört; der Widerstand setzte in einer besonderen Art 
ein: er drückte sich in der Analyse anscheinend fernliegenden 
Zwangsgrübeleien aus. Es war nun erstaunlich, wie geschickt 
der Patient unbewußt ihn beschäftigende Fragen aus dem 
Übertragungsbereich in diesem Zwangsdenken in den juristi- 
schen Jargon übersetzte. Es wurde z. B. bald klar, daß er 
die Widerstände, die eine kurze Unterbrechung der Analyse 
in ihm erregte, in der gedanklichen Bewältigung des Urlaubs- 
problems in der Angestelltenversicherung ausdrückte usw. Das 
uns hier Interessierende waren Zwangsgedanken, die sich um 
Probleme des Strafrechtes drehten: wenn er mir etwas ver- 
heimlichte, wurde die strafrechtliche Behandlung der Hehlerei 
in seinen Grübeleien zum Mittelpunkte, der Dolus eventualis 
mußte zur Darstellung der Zweifel, ob etwas bewußt oder 
unbewußt sei, dienen und die Probleme der Fahrlässigkeit 
waren unbewußt der Tummelplatz seiner Zweifel an der 

80 



psychischen Determiniertheit seiner Fehlleistungen. Das Aus- 
maß seines Strafbedürfnisses brachte er zum Ausdruck in den 
ausgedehnten, an den Paragraphen des bürgerlichen Gesetz- 
buches orientierten Zwangsgedanken, welche Strafen die be- 
treffenden Übeltäter in den phantasierten Fällen erhalten 
sollten. Selbstanklage und Selbstverteidigung erschienen wech- 
selnd in diesen zwanghaften Überlegungen. Erst als es mir 
gelang, an einigen ausgezeichneten Fällen die Verbindung 
aller, auch der geringfügigsten Einzelheiten seiner Strafgesetz- 
probleme, die er seinem gegenwärtigen Studienmaterial schein- 
bar wahllos entnahm, mit unbewußten Gefühlen und Ge- 
danken aus der Übertragungssphäre herzustellen, ging er zu 
unmittelbareren Widerstandsäußerungen über. Die strafrecht- 
liche Widerstandsform, die Art, wie die Übertragungszene 
hier zum Tribunal wurde, ermöglichte regressiv eine Art 
Darstellung der Psychogenese des Strafrechtes, wobei die 
„Masse zu zweit" die Gesellschaft ersetzen mußte. 

Es kann für die Strafrechtstheorie nicht gleichgültig sein, 
daß die unbewußten Selbstbestrafungen der Neurotiker durch- 
aus auf dem Grundsatze der Talion aufgebaut sind. Das Stück 
untergegangenen Seelenlebens, das in den psychischen Vor- 
gängen der Neurotiker den Beobachter immer wieder in 
Erstaunen setzt, wird auch im Strafbedürfnis nachweisbar. 
Wenn wir einige der unbewußten Selbstbestrafungen der 
Nervösen überblicken, gelangen wir zu befremdenden Straf- 
arten, welche die moderne Strafgesetzgebung nicht kennt: 
Kastration, Lebendigbegrabenwerden, Eingemauertwerden, 
Ersticken, Fesselung und verschiedene qualvolle Todesstrafen 
gehören hieher. Die körperlichen Sensationen dienen oft zur 
Darstellung verschiedener Torturen; ein Patient verglich seinen 
Zustand selbst mit der zur Kontinuität gewordenen Situation 
des Königsmörders Ravaillac, der von Pferden zerrissen 
wurde. Der Vater des Patienten hatte wirklich mit Pferde- 
zucht zu tun. Wir sehen also, das Unbewußte, das seine 
eigenen Gesetze hat, verfügt auch über Strafen, die aus der 
Kindheit der Menschheit stammen. Wir erinnern uns da zur 
rechten Zeit, daß die Strafe selbst keine primäre, soziale 

fi 81 



Institution ist und auf die ursprünglichere Rache zurück- 
geführt wird. Es mag hier die Bemerkung am Platze sein, 
daß auch die Rachephantasien der Neurotiker selbst deutlich 
archaischen Charakter haben, der auch in der Lockerheit der 
Objekte, gegen welche sich die Racheaktionen richten, deutlich 
wird, wie dies Rank gezeigt hat. 

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, nachzuweisen, wieviel 
noch von diesen Anschauungen im Strafgesetz unserer Zeit 
nachwirkt und wie viele Rechtsgrundsätze sich auf das Talions- 
prinzip zurückführen lassen. Es bleibt dies eine lohnende 
Aufgabe für die Juristen, die dabei am besten von der Unter- 
suchung des Grundsatzes: fiat justitia, pereat mundus aus- 
gehen könnten. 

Wir sind zu bestimmten Gesichtspunkten gelangt, die uns 
die Strafe selbst als psychologisches Problem erscheinen lassen; 
es ergibt sich von hier die Möglichkeit für die Analyse, in 
dem Streit der Strafrechtstheorien ihre Stimme abzugeben. 
Unter einer Strafrechtstheorie versteht man die Beantwortung 
der Frage nach dem Rechtsgrund und dem Zweck der Strafe. 
Wir können wieder nicht in die Diskussion aller Strafrechts- 
theorien eingehen und wollen nur betonen, daß die Strafe 
dazu da ist, wichtige Lebensinteressen der Menschen zu 
schützen und eine bestimmte seelische Wirkung auf den 
Verbrecher auszuüben. 

Daraus aber ergibt sich, daß jede Strafrechtstheorie unvoll- 
ständig und unzulänglich ist, die nicht auf psychologischer 
Grundlage ruht. Der Strafzweck ist vor allem ein psycho- 
logischer, gleichgültig, ob die Strafe auf den Verbrecher oder 
auf die Gemeinschaft wirken soll, gleichgültig, ob der Straf- 
zweck in Schutz, Abschreckung, Vergeltung oder sonstwo 
gesucht wird. Hier hat also die Psychologie mitzuentscheiden. 

Glauben Sie nicht, daß eine solche Mahnung unzeitgemäß 
ist! Soll ich Ihnen eine berühmte Strafrechtstheorie, die sich 
noch immer bei manchen Gelehrten einer gewissen Beliebt- 
heit erfreut, als abschreckendes Beispiel anführen? Nach Hegel 
ist die Strafe die dialektische Verwirklichung des Rechts- 
begriffes; das Verbrechen steht im Widerspruch mit sich selbst 

82 



und ist daher nichtig. Es ist Schein und das Wesen dieses 
Scheines ist, daß er sich selbst aufhebt. Die Strafe ist die 
Offenbarung der Nichtigkeit des Verbrechens, die Konsta- 
tierung seiner Scheinexistenz. Die Quintessenz der Heg ei- 
schen Strafrechtstheorie ist klar und anschaulich in dem 
Satze zusammengefaßt: die Strafe ist Negation der Negation 
des Rechtes, mithin Position, Wiederherstellung des Rechtes. 

Wenn wir uns nun ernster zu nehmenden Theorien zu- 
wenden, so wird die ältere, heute bereits überwundene 
Theorie der rechtlichen Vergeltung noch immer die Auf- 
merksamkeit des Psychologen auf sich ziehen. Die Vergeltung 
ist ihr zufolge das oberste Prinzip des Strafrechtes. Das Straf- 
gesetz ist nach der Ansicht von Kant, des berühmtesten 
Anwaltes der Vergeltungstheorie, ein kategorischer Imperativ 
Wer tötet, tötet sich selbst. Das Maßprinzip des Strafrechtes 
ist also die Talion. Wir wissen schon, was diese Anschauung 
psychologisch bedeutet: sie ist die in eine Straftheorie ver- 
wandelte Darstellung der tiefwurzelnden Gesetzgebung des 
Unbewußten. Hierher gehören auch alle Theorien, welche 
die Strafe auf den Rachetrieb als eine Äußerung des Selbst- 
erhaltungstriebes zurückführen. Auch die Vergütungs- und 
Ersatztheorien, welche die Ausgleichswirkung der Strafe be- 
tonen, sowie die Vertragstheorien kann man leicht als intel- 
lektualisierte oder dem Kulturfortschritt angepaßte Abkömm- 
linge der alten Vergeltungstheorie erkennen. 

Wir haben gesehen, daß diese Theorien tief im Triebhaften, 
Unbewußten der Menschen wurzeln. Wenn Strafe sein muß, 
wenn sie wirklichen Strafcharakter haben soll, so kann sie 
sich triebgemäß nur auf das Talionsprinzip stützen. Die Ver- 
geltungstheorie hat also den Vorzug der Geschlossenheit und 
der psychologischen Folgerichtigkeit, sie widerspricht aber 
allen Fortschritten der Kultur und Humanität. Die Vergel- 
tung als Strafzweck ist einfach eine Trieb darstellung als 
Theorie. 

Von diesen Theorien unterscheiden sich die Präventions- 
theorien in wesentlicher Art. Die Generalpräventionstheorien 
erklären, die Strafe strebe die Abschreckung aller durch die 

6 » 83 



Straf drohung an. Die berühmte Theorie des psychischen 
Zwanges von Feuerbach, die Jahrzehnte hindurch die 
Gesetzgebung beherrschte, gehört hierher: sie stellt die Straf- 
drohung und den Strafvollzug als den psychischen Zwang 
auf, der die Verbrecher abhalten solle. Die Spezialpräventions- 
theorien werden im wesentlichen die Abschreckung des ein- 
zelnen konkreten Verbrechens zum Ziele haben. 

Lassen Sie uns bei diesen Theorien einige Augenblicke 
verweilen. Es wird uns sofort klar, daß der Strafe hier ein 
neuer psychologischer Zweck zuerkannt wird. Auch ein 
zweites Moment fällt hier auf: die Rolle der Gesellschaft, 
der Gemeinschaft, auf welche die Strafdrohung abschreckend 
wirken soll. Wenden wir uns zuerst diesem Moment zu: 
man hat aus ihm den Einwand abgeleitet, es sei absurd, 
daß die Strafe nicht auf den Verbrecher, sondern auf einen 
Dritten oder auf die Gesellschaft wirken solle. Der Einwand 
ist natürlich berechtigt, solange man die Strafe nur als Prä- 
vention in der Richtung gegen die Gesellschaft auffaßt. Aber 
kommt hier nicht deutlich die Doppelfunktion, die man der 
Strafe zugeschrieben hat, zutage? Hier wird das Janushaupt 
der Strafe sichtbar; es ist sowohl dem Verbrecher als auch 
der Gesellschaft zugewendet. Wenn wir es gut überlegen, 
sieht es aus, als habe sich die Generalpräventionstheorie mit 
der sozialen Aufgabe, die Spezialpräventionstheorie mit der 
individuellen beschäftigt, aber erst beide zusammen bilden 
ein Ganzes. In der Vergeltungstheorie war der Strafzweck 
eindeutig; er galt dem Verbrecher allein und war eine Ver- 
geltung für eine begangene Tat, für ein Verbrechen, das der 
Vergangenheit angehörte. In den Präventionstheorien liegt 
der Zweck der Strafe in der Zukunft: er soll in der künf- 
tigen Abschreckung bestehen. Was soU es bedeuten, daß die 
Gemeinschaft hier in der Begründung des Strafzweckes er- 
scheint? Verliert damit die Strafe nicht ihren eigentlichen 
Charakter und wird zu einer Präventivmaßregel? 

Ich meine, der angeführte Strafzweck der Abschreckung 
aller vom Verbrechen weist deutlich genug in die Richtung, 
in der wir die Gründe für das Auftreten der Gesellschaft 

84 



im Strafzwecke zu suchen haben. Es kann nur so sein, daß 
die Menschen vorbewußt erkannten, daß keine tiefe Kluft 
sie vom Verbrechen trennt, daß wir latent alle Keime zum 
Verbrecher in uns tragen. Das muß das eigentlich wirksame 
Motiv für die Änderung des Strafzweckes bilden. Das heißt 
aber mit anderen Worten, daß die Gemeinschaft ihren Teil 
der Schuld am Verbrechen zu erkennen beginnt. Wenden 
wir uns nun der Wirkung auf den Verbrecher zu, die in 
den Spezialpräventionstheorien erscheint. Es ist klar, daß 
hier die angeführten Momente in gleichem Maße gelten: 
die Strafe ist aus einer Vergeltungsmaßregel eine Schutz- 
maßregel geworden. Hat sie damit nicht aufgehört, Strafe 
zu sein? Die Kriminalisten geben meistens die nur relative 
Wirksamkeit dieser Maßregel zu, ja manche Fachleute ver- 
sichern sogar, die Strafe verbessere die Verbrecher nicht und 
schrecke sie nicht ab. Man hat einen anderen gewichtigen 
Einwand gegen die Präventionstheorie formuliert: die Strafe 
kann nicht abschrecken, denn die meisten Verbrechen werden 
in der Hoffnung der Verheimlichung, also der Straflosigkeit 
begangen. Das Argument ist sicher für das bewußte Seelen- 
leben berechtigt, aber wir werden seine Schlagkraft nicht so 
hoch einschätzen, wie es gewöhnlich geschieht, weil das Unbe- 
wußte nach unseren Annahmen solche Vorsicht nicht kennt; 
die Realitätsprüfung gehört ja zu den Aufgaben des Ichs. 

Wenn Sie sich nun die Sachlage überlegen, so werden 
Sie erkennen, daß wir uns in einer merkwürdigen Situation 
befinden. Wir mußten der Vergeltuhgstheorie zugeben, daß 
sie in Übereinstimmung mit den mächtigen unbewußten Vor- 
stellungen der Menschen steht. Die Schutztheorie aber sagt 
unseren bewußten Begriffen mehr zu. Sie verwischt freilich 
den Charakter der Strafe und verwandelt sie in eine Schutz- 
maßregel der gefährdeten Gesellschaftsordnung; vielleicht be- 
zeichnet sie nur ein Übergangsstadium, das die Strafe durch 
andere, bessere Schutzmaßregeln ersetzt. Es bleibt uns nur 
übrig, eine neue Grundlage der Strafe zu suchen: ihre Vor- 
aussetzung wird sein, daß sie aus lebendiger Menschen- 
beobachtung und -kenntnis stammt und die neuen Ergebnisse 

»5 



der psychologischen Forschung benützt. Diese Theorie ist 
durch die analytischen Resultate Freuds vorbereitet. Wir 
können uns hier nur auf ihre Grundzüge beschränken. Die 
neue psychologische Fundierung des Strafzweckes wird von 
der analytischen Erforschung des präexistenten Schuldgefühles, 
die wir Freud verdanken, ausgehen. Es besteht für uns 
kein Zweifel mehr, daß bei den Verbrechern, für welche 
die Stafgesetzgebung eigentlich bestimmt ist, ein mächtiges 
unbewußtes Schuldgefühl bereits vor der Tat bestand. Dieses 
Schuldgefühl ist also nicht Folge der Tat; es ist vielmehr 
deren Motiv : seine Steigerung läßt den Menschen eigentlich 
erst zum Verbrecher werden. Das Verbrechen wird als eine 
psychische Erleichterung empfunden, weil es das unbewußte 
Schuldgefühl an etwas Reales und Aktuelles knüpfen kann. 
Die Tat dient der Unterbringung dieses übergroß gewordenen 
Schuldgefühles. Anders ausgedrückt: das Verbrechen wird 
begangen, um den verpönten Triebregungen eine Ersatz- 
befriedigung zu gewähren und das unbewußte Schuldgefühl 
zu begründen und zu entlasten. 

Aus diesen Forschungsergebnissen Freuds ergibt sich eine 
neue psychologische Fundierung der Strafe, eine psycho- 
analytische Strafrechtstheorie: die Strafe dient der Be- 
friedigung des unbewußten Strafbedürfnisses, das 
zu einer verbotenen Tat trieb. Wir wissen, daß die 
Wurzeln dieses präexistenten Schuldgefühles im Odipus- 
Komplex zu suchen sind. Wir tragen dann der Doppelfunktion 
der Strafe Rechnung, wenn wir hinzufügen, die Strafe 
befriedige auch das Strafbedürfnis der Gesellschaft 
durch deren unbewußte Identifizierung mit dem 
Verbrecher. Diese kathartische Wirkung der Strafe sowie 
der Identifizierungsprozeß lassen so wirklich die seelischen 
Vorgänge im Strafprozeß in die Nähe der antiken Tragödie 
rücken: die tragische Schuld des Helden und sein Untergang 
lösen dieselben Gefühle aus. Es sei übrigens angemerkt, daß 
die psychologische Theorie von Kohl er, die sich auf die 
läuternde Macht des Schmerzes beruft, der hier vertretenen 
Ansicht am nächsten steht, sich von ihr aber noch immer 



86 



sehr wesentlich unterscheidet. Wie immer die analytische 
Theorie von der Strafrechtswissenschaft aufgenommen werden 
wird, die bisher unbeachtete, von Freud entdeckte Tatsache, 
daß das präexistente Schuldgefühl zur verbotenen Tat drängt, 
wird in der künftigen Diskussion des Strafzweckes die zen- 
trale Stellung einnehmen müssen. Wenn irgendwo, so ist hier 
der Ort, vom Rechte, das mit uns geboren, zu reden. 

Wir wollen es nicht verabsäumen, der analytischen Theorie 
der Strafe einige Bemerkungen hinzuzufügen: vor allem 
wollen wir betonen, daß mit ihr nichts über die dauernde 
oder auch nur zeitweilige Notwendigkeit der Strafe, nichts 
zu ihrer Rechtfertigung als Institution gesagt werden soll. 
Die Existenz des Strafbedürfnisses ist unzweifelhaft, aber es 
kann nicht bewiesen werden, daß die gerichtliche Strafe 
das einzige oder auch nur das adäquate Mittel zu seiner Befrie- 
digung darstellt. Es ließen sich prophylaktische Maßnahmen 
denken, die das Überstarkwerden des Strafbedürfnisses hintan- 
halten könnten, und es wären therapeutische Mittel möglich, 
welche den Abbau dieses Bedürfnisses auf andere Art herbei- 
führen. So gibt die analytische Strafrechtstheorie nur eine 
psychologische Erklärung der Strafe, keine Norm. Sie ist 
eigentlich in der Entwicklung des Strafrechtes selbst vor- 
bereitet: dieses hat sich immer mehr und mehr von der 
Beurteilung der Tat zur Beurteilung ihrer Motive gewendet. 
Der Übergang zur Bestrafung der Motive macht aber eine 
Veränderung in den Motiven der Bestrafung zur Notwendig- 
keit. 

Es ist sofort ersichtlich, welche psychologische Verbin- 
dungen unsere dargestellte Anschauung mit der alten Ver- 
geltungstheorie hat, indem sie nicht nur die bewußten Ten- 
denzen als bestimmend für den Strafzweck anerkennt, son- 
dern auch die unbewußten Vorgänge berücksichtigt. Sie 
unterscheidet sich von ihr, die nichts als eine wissenschaft- 
lich formulierte Darstellung der Tendenzen des Unbewußten 
war, dadurch, daß sie nicht die Talion selbst, sondern das 
ihr zugrunde liegende Straf bedürfnis in ihren Mittelpunkt 
stellt. Sie gründet sich nicht wie die Vergeltungstheorie auf 

8 7 



ein moralisches oder rechtliches Prinzip, nicht auf eine ethische 
Norm, sondern auf die psychischen Tatsachen, aus denen 
sich diese ableiten. So berücksichtigt sie zwar die unbewußten 
Vorgänge, aber zu psychologischen Zwecken, und gibt sich 
ihnen nicht gefangen, wird nicht ihr gefügiger Ausdruck. 

Wir erkennen in der alten Vergeltungstheorie in moderner 
Einkleidung die alte Tabugesetzgebung der Wilden wieder, 
die automatisch nach dem Talionsprinzip wirkt. Aber das 
Tabugesetz ist selbst ein unbewußtes Geständnis der Gemein- 
schaft. Sie zeigt darin, daß sie dieselben Regungen wie der 
Verbrecher verspüre und sich deshalb von ihm befreie; sie 
gibt, wie Freud in „Totem und Tabu" bemerkt, durch die 
Strafe den Vollstreckern nicht selten Gelegenheit, unter der 
Rechtfertigung der Sühne dieselbe frevle Tat nun ihrerseits 
zu begehen. Dasselbe gilt von den Präventionstheorien: in 
ihnen erscheint die Infektionsfähigkeit der Tabuübertretung 
noch klarer und unzweideutiger, da sie der Abschreckung 
dienen. In ihnen liegt das stärkste Bekenntnis dessen, daß die 
Lust, das Tabuverbot, jetzt die Satzungen des bürgerlichen 
Gesetzbuches, zu übertreten, in unserem Unbewußten fortlebt 
und die Menschen, die dem Tabu oder dem Gesetz folgen, 
eine ambivalente Einstellung gegen die vom Tabu Betroffenen, 
wir würden sagen, zum Verbrechen haben. Die Strafrechts- 
theorie greift so in der Abschreckungshypothese der Strafe 
auf die uralte Annahme der Zauberkraft, die dem Tabu zu- 
geschrieben wird, zurück. Sie gibt darin zu, daß das Ver- 
brechen, der Ersatz für die Tabuübertretung, als Beispiel 
ansteckend sei und sucht sich durch Drohungen dagegen zu 
schützen. Sie sehen, der Unterschied zwischen Vergeltungs- 
und Schutztheorie ist doch nicht so groß, als wir anfänglich 
annahmen. Unsere analytische Strafrechtstheorie geht auf die 
unbewußten Motive der Tabugesetzgebung selbst zurück. 

Wir können auch leicht einsehen, wo die Schwächen der 
Abschreckungstheorie Hegen. Sie können kaum durch den 
Hinweis auf das bewußte Streben nach Straflosigkeit, das 
beim Verbrechen hervortritt, aufgedeckt werden. Denn wenn 
unsere Theorie richtig ist, wirkt diesem Streben das unbe- 

88 



wußte Strafbedürfnis energisch entgegen. Aber eine andere 
Überlegung zeigt gerade bei Berücksichtigung der analyti- 
schen Gesichtspunkte den tieferliegenden Fehler der Prä- 
ventionstheorie: die Strafe, die nach der geltenden An- 
schauung als wirksamstes Abschreckungsmittel des Verbrechens 
angesehen wird, wird unter bestimmten Bedingungen, die 
in unserer Kultur außerordentlich häufig sind, zum unbe- 
wußten und gefährlichsten Beiz dazu. Die verbotene Tat 
entlastet ja ein überstarkes Schuldgefühl. Wir sehen so, daß 
die Abschreckungstheorie im Kern unaufrichtig ist: die Aus- 
sicht auf Strafe schreckt den Verbrecher nicht ab, sondern 
treibt ihn unbewußt gerade zur verbotenen Tat. Die ana- 
lytische Theorie mag die Strafe noch immer nicht recht- 
fertigen, aber sie gibt sich aufrichtig, wenn sie erklärt, der 
Strafzweck sei die Befriedigung des Strafbedürfnisses des 
Täters: ihm geschehe, was er unbewußt begehrt. Sie wird 
freilich für Verbrecher, die keine moralischen Hemmungen 
entwickelt haben, nicht in Betracht kommen, aber für diese 
ist die Strafe überhaupt keine geeignete Maßregel, am wenig- 
sten eine der Abschreckung. 

Wir haben früher bemerkt, daß die Abschreckungs- sowie 
die ihr verwandten Theorien den Strafcharakter in der Strafe 
vermissen lassen. Sie streben alle, ohne es zu wissen, in die 
Richtung einer Entwicklung, die zur Abschaffung der Strafe 
überhaupt führt und an ihrer Stelle vorbeugende oder pro- 
phylaktische Maßregeln setzen will. Wir haben schon betont, 
daß die Bedeutung, welche die neueren Theorien der Gesell- 
schaft im Strafzweck einräumen, eine Art Schuldbekenntnis, 
ein unbewußtes Geständnis der Gemeinschaft darstellt. Die 
Abschreckungshypothese hat ja deutlich die Gleichartigkeit 
der verbotenen Impulse beim Verbrecher wie bei der stra- 
fenden Gesellschaft zur Voraussetzung. Eine solche Erkenntnis 
zeigt aber die Bichtung, in der sich das Strafrecht entwickeln 
muß, nämlich die auf endliche Aufhebung der Strafe über- 
haupt. 

Wir konnten die Entwicklung der Strafgesetze studieren: 
sie sind ursprünglich Tabuverbote, deren Übertretung sich 

8 9 



automatisch — meistens durch den Tod des Schuldigen — ■ 
bestraft. Nur wo diese automatische Strafe nicht eintritt, voll- 
zieht der Stamm kollektiv die Bestrafung. Der Staat, der 
später an die Stelle der Stammesgemeinschaft getreten ist, 
bestraft den Verbrecher ursprünglich nach dem geheiligten 
Prinzip der Talion. Die Abmilderung der Strafe im Straf- 
gesetz sowie die Erweiterung der Grenzen des Zulässigen 
legen ebenso deutlich wie die neuen Strafrechtstheorien für 
eine stärker werdende Tendenz zur Abschaffung der Strafe 
Zeugnis ab. Das will freilich nur bedeuten, der äußeren, 
durch das Gesetz vorgeschriebenen Strafe; es liegt in dieser 
Tendenz, die Hemmungen des Individuums zu verstärken 
und ihn dem eigenen Gewissen zu überlassen. Dieses Ziel 
wäre eine Rückkehr zur ursprünglichen Tabugesetzgebung, 
freilich auf einer höheren Stufe: die äußeren Verbote der 
Tabugesetzgebung, die sich gegen starke Impulse richteten, 
sollen innerer Erwerb werden, der zur Verwerfung dieser 
Regungen führt. Die Entwicklung verfolgt auch hier die 
Richtung von außen nach innen. 

Auch unsere analytische Strafrechtstheorie steht im Dienste 
dieser psychischen Entwicklung. Sie verlegt ja das Schwer- 
gewicht auf die unbewußten Triebkräfte, die den Verbrecher 
zur Tat drängten. Damit wird der provisorische Charakter 
unserer Theorie evident; sie kann nur solange gelten, als 
das überstarke präexistente Strafbedürfnis gerade nur zur 
verbotenen Tat führen muß. Die Menschheit wird nun 
dieses Schuldgefühl lange noch nicht verlieren, aber es wäre 
möglich, daß es andere Abfuhrmöglichkeiten erhält. Damit 
wäre eine der stärksten Triebkräfte des Verbrechens zwar 
noch immer nicht beseitigt, aber einer anderen Verwendung 
zugeführt. 

Es gibt einige Forscher, die schon jetzt behaupten, daß 
mit dem strengen Determinismus der neuen Naturwissenschaft 
auch die Grundlage des Strafrechtes zusammengebrochen sei. 
Sie erklären, die Basis des ganzen Strafrechtssystems, die 
Lehre von der Willensfreiheit, sei erschüttert und prophe- 
zeien, daß die Begriffe von Schuld und Unschuld vom An- 



90 



gesicht der Erde verschwinden werden und die irdische 
Strafe ihnen folgen müsse. Mutige und aufrichtige Gelehrte 
wie Dimitrij Drill üben radikale Kritik an der sozialen 
Institution der Strafe selbst und vergleichen den Staat, der 
das heutige Strafsystem handhabt, mit einem Menschen, der 
Beschädigungen an einer Maschine durch neue Beschädigun- 
gen gutmachen will. In der Strafrechtswissenschaft ist eine 
wachsende Tendenz bemerkbar, das Verbrechen nicht nur 
nach seiner Bedeutung als mit Straffolge ausgestattete Tat- 
sache, sondern auch als wichtige Erscheinung des sozialen 
Lebens zu betrachten und zu studieren. Der Fortschritt der 
Kriminalpolitik, die sich mit der Erforschung der individuellen 
wie kollektiven Faktoren des Verbrechens beschäftigt, sowie die 
von den Kriminalisten verlangte Verschiebung der Grenzen zwi- 
schen Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik sind Zeichen 
jener Entwicklungsrichtung. 

Es werden gewiß außerordentlich einschneidende, soziale 
Änderungen eintreten müssen, ehe eine solche Ersetzung der 
Strafe durch eine andere Maßregel eintritt. Innerhalb dieser 
Veränderungen wird der Geständniszwang der Gesellschaft 
gewiß seine bedeutsame Bolle spielen; der wachsende Mut 
zur Aufrichtigkeit über die eigenen psychischen Vorgänge, 
zum Abwerfen der konventionellen Masken, die Bewußtseins- 
erweiterung der Gemeinschaft kann nicht ohne Einfluß auf 
die Beurteilung des Verbrechers und die Einschätzung der 
Strafe bleiben. 

Aber auch in dem Übergangsprozeß von der Strafe zu 
einer anderen sozialen Institution wird das Geständnis eine 
wichtige Funktion zu erfüllen haben. Das erkennen wir, 
wenn wir seine steigende Bedeutung innerhalb der Straf- 
prozeßordnung verfolgen. Die Ersetzung des Alten durch das 
Neue geht meistens so vor sich, daß sich das Neue zuerst 
an ein Stück Hergebrachtes anlehnt, mit ihm verlötet er- 
scheint, um sich dann von ihm abzulösen, seine Existenz 
selbständig weiter zu führen und schließlich das Alte zu er- 
setzen. Wir können eine primitive Bechtsordnung rekon- 
struieren, in der das Geständnis überhaupt keinen Platz hatte : 



9i 



die Strafe traf den Übeltäter, ehe er Gelegenheit zum Ge- 
ständnis hatte, mit der Schärfe des Schwertes. Als das Ge- 
ständnis Berücksichtigung fand, war es noch immer aufs 
innigste mit der Strafe verbunden, wie wir das im äußeren 
Geständniszwang, der Folter des Mittelalters, sehen. Die 
Milderung des Urteils durch das Geständnis sowie dessen 
besondere Stellung im Strafprozeß leiten zu einer Entwick- 
lungsperiode über, in der sich das Geständnis vielleicht isoliert 
erhält und schließlich selbst an die Stelle der Strafe treten 
kann. Natürlich würde das Geständnis insbesondere als die 
wirksamste Prophylaxe des Verbrechens Bedeutung gewinnen, 
da es die mildeste Art der Befriedigung des Straf bedürfnisses 
darstellt, die zugleich den unterdrückten Triebregungen eine 
Ausdrucksmöglichkeit gewährt. Wir bemerken hier, daß der 
unbewußte Geständniszwang auch auf kriminalistischem Gebiete 
noch bedeutsame psychologische Verwertungen finden kann. 

Alles das ist freilich Zukunftsmusik. Es ist lediglich eine 
Frage des Optimismus oder Pessimismus, ob Sie sich dem 
Glauben hingeben können, daß eine sehr ferne Zeit, die 
milde auf dies Heute blicken wird, die Strafe abschaffen wird. 
Vielleicht wird wirklich eine solche Zeit kommen, deren 
Strafbedürfnis geringer ist als das unserer Gegenwart, und 
die Mittel, die sie zur Verhütung des Verbrechens findet, 
werden sich zur Strafe verhalten wie der Regenbogen zu 
dem vorangehenden, verheerenden Gewitter. Aber vielleicht 
gehört dies in das Reich der Utopie. Ich könnte Ihnen auch 
nicht ernsthaft widersprechen, wenn Sie meinen, eine solche 
Aussicht auf eine fernliegende Zukunft sei wenig geeignet, 
die Menschen über die Unzulänglichkeit der gegenwärtigen 
sozialen Einrichtungen zu trösten. Der berühmte englische 
Naturforscher Thomas Henry Huxley schrieb einmal den 
recht vernünftigen Satz: „Welche Kompensation für seine 
Leiden hat das Eohippus (das Urpferd) in der Tatsache, daß 
Millionen Jahre nach ihm einer seiner Nachkommen das 
Derby gewinnen könnte?" 



92 



Geisteskrankheit und Gesellschaft 



Dr. August Stärcke 

In der Broschüre „Psychoanalyse und Psychiatrie" sind 
zwei Arbeiten des holländischen Psychiaters vereinigt worden 
Die erste („Der Forscher und sein Gerät") unterzieht die 
Persönlichkeit des Psychiaters, beziehungsweise des Psycho- 
analytikers selbst einer psychologischen Betrachtung und 
gelangt zu praktisch wichtigen Konsequenzen: im Gegen- 
satz zum Psychiater alten Stils, der ein Diener der 
Zensur, ein Instrument der Gesellschaft gegen die Aus- 
geschlossenen ist, wird der Psychoanalytiker nicht nur das 
Individuum lehren, seine libidinösen Äußerungen auf das 
sozial Erlaubte zu beschränken, sondern auch die Gesell- 
schaft mit der Libido, mit dem Tode, kurz mit dem Un- 
bewußten versöhnen. — Die zweite Studie ist den Bezie- 
hungen zwischen Neurosen und Psychosen gewidmet und 
ist nach des Verfassers Vortrag auf dem Internationalen 
Psychoanalytischen Kongreß im Haag niedergeschrieben 
worden. Dieser Studie — der übrigens der erste Preis für 
ärztliche Psychoanalyse durch Prof. Freud zugesprochen 
wurde — ist das hier folgende Bruchstück entnommen. 

Im Grimmschen Märchen von der weißen Schlange kostet der 
Diener ein Stückchen aus der geheimen Schüssel des Königs 
welche eine weiße Schlange enthält, und kann dann plötzlich die' 
Sprache der Vögel verstehen. 

Mit diesem Gleichnis ist die Umwälzung zu charakterisieren, 
die Freuds Lehre in das Leben des Psychiaters brachte, der 
sich erkühnte, von dieser verbotenen Schüssel zu kosten. Die 
Gebärdensprache der Kranken, ihre phantastischen Wahnideen 
und ihr verwirrter Unsinn bekamen einen Sinn, und damit ward 
der lebendige Kranke wieder Mensch unter Menschen, und nicht 
mehr, wie zuvor, und wie jetzt noch bei einer Anzahl von wissen- 
schaftlichen Anstaltsärzten, ein ziemlich wertloser Anhang zu 
seinem Gehirn, dessen Verscheiden mit kaum verdrängter Unge- 
duld abgewartet wurde, und der erst nachher, im Laboratorium lege 
artis zerstückelt, zum Objekt eines ästhetischen Totenkultes ward. 

Das heißt: es ward durch Freud eine brauchbare Gegen- 
übertragung ermöglicht, deren Ermanglung oder Verdrängung 
die verspätete Entwicklung der Psychiatrie verschuldet hat. 



93 



. . . Der Begriff der Psychose ist nur in einer Gesellschaft 
denkbar; ein einzelnes Individuum, sagen wir Robinson Crusoe, 
könnte wohl eine Neurose, niemals aber eine Psychose bekommen, 
weil die Psychose nur im Verhältnis zu einer als normal 
zu erkennenden Gesellschaft bestehen kann. 

Ihre Kriterien sind viererlei: 

1) Soziale Lästigkeit, Schädlichkeit, oder mangelnde Mit- 
arbeit, insoweit ihre Motive der Gesellschaft nicht verständlich 
sind. Sind sie ihr verständlich, dann gilt das abweichende Indi- 
viduum als Missetäter, wenn es die Niederlage erleidet. Weiß es sich 
durchzusetzen, dann gilt es als Held oder großer Mann (Freud). 

2) Uneinfühlbarkeit. Die Relativität auch dieses Kriteriums 
ist einleuchtend. Daher auch die immer sich wiederholenden 
Streitigkeiten, ob dieses oder jenes Symptom einen zum Geistes- 
kranken stempelt. 

3) Mangelndes Verhältnis zur Realität. Ich brauche 
nur auf die Verfolgungen hinzuweisen, welche die Wissenschaft 
von Seiten der Religionen erlitten hat, um den subjektiven Cha- 
rakter auch dieses Kriteriums darzulegen. Wer sich dadurch noch 
nicht überzeugt fühlt, der möge erwägen, daß gerade den Psycho- 
analytikern von gegnerischer Seite mangelndes Verhältnis zur 
Realität vorgeworfen wird, und daß es schließlich nur von der 
numerischen Überlegenheit der einen oder der anderen Partei 
abhängt, ob von der Gesellschaft die Gegner als leider Zurück- 
gebliebene, oder die Schüler Freuds als paranoische Sekte be- 
trachtet werden. 

4) Die Krankheitseinsicht fehlt, oder der Kranke erwehrt 
sich ihrer mittels Projektion. Der Geisteskranke ist für logische 
Entgegnung unzugänglich. Wir führen diese Eigenschaft auf den 
verstärkten Narzißmus zurück. Die Zahl der „Normalen", denen 
ebenfalls jede Einsicht in die krankhafte Natur ihrer Eigentüm- 
lichkeiten fehlt — z. B. Alkoholiker — ist aber sehr groß; sie 
werden darum noch nicht für geisteskrank gehalten. Ganz zu 
schweigen von den religiösen und philosophischen Überzeugungen, 
deren Anhänger sich gegenseitig denselben Vorwurf machen. 

Da mangelnde Mitarbeit auch bei Neurotikern und vielen 
normalen Parasitennaturen gefunden wird, ist das sub 1 genannte 
Kriterium unvollständig. Offenbar kann ein gewisses Maß von 
Fähigkeit zur positiven Übertragung und zu intellektuellen Lei- 
stungen verursachen, daß die Gesellschaft sich über sonst genügend 
erachteten Mangel 'hinwegsetzt. Das Beispiel des intelligenten 



94 



Paranoikers einerseits, des faulenzenden, abergläubischen, unehr- 
lichen Kriegsgegners anderseits zeigen, wie wenig das Kriterium 
das logische Gefühl befriedigt. 

Wir dürfen wohl erwarten, daß neben den bewußten noch 
ein oder mehrere unbewußte Kriterien vorhanden, und daß 
diese entscheidend sein werden. Hinter den vorgeschobenen Ge- 
fahren, welche der Gesellschaft vom Geisteskranken drohen sollen 
liegt eine andere, ungenannte. Anzeigen dafür finden wir in der 
Gefühlsemstellung, welche das Publikum den Irren entgegenbringt 
und welche unter anderem ein gewisses Grauen und ein ebenso 
schlecht begründetes Mitleid enthält. Der Geisteskranke gibt 
dem Normalen das Gefühl des Unheimlichen. Seine Unzuläng- 
lichkeit für den normalen Wortverkehr stört den Glauben an die 
Macht des gesprochenen Wortes, die scheinbare Unbeeinflußbarkeit 
und Unheilbarkeit des Irren stören den Glauben an die eigene 
Allmacht. Beide _ der Glaube an die magische Kraft des ge- 
sprochenen Wortes und der Glaube an die Macht über andere 
Menschen und über die Natur im allgemeinen - beruhen auf 
Narzißmus. Der Normale beschützt seinen Narzißmus, und wahr- 
scheinlich m gewiss er Hinsicht mitRecht, da die körperliche Gesund- 
heit zum Teil davon abhängt. Durch den Umgang mit Geisteskranken 
wird dieser unbewußte Narzißmus des Normalen erschüttert. 

Noch auf andere Weise kommen die Verdrängungen des Nor- 
malen in Gefahr. In einer unruhigen Irrenabteilung ist man buch- 
stäblich bei dem Unbewußten auf Besuch. Man kann die unheim- 
lichen Kräfte der Tiefe dort nicht mehr verleugnen, sie zeigen 
sich offen, wie die Feuerglut eines Vulkans, und damit erwecken 
sie auch m dem Besucher ihr entferntes tiefes Getöse. 

Als geisteskrank gilt der Gesellschaft, wer den 
Menschen ihr Unbewußtes zu entschleiern droht, ohne 
daß sie sich auf andere Weise, als durch Sequestrierung, dagegen 
verteidigen können. s 

Dieses fünfte Kriterium ist das wichtigste, ihm gegenüber 
erscheinen die übrigen als Vorwände. 

... Da also zwischen den Geisteskranken und der Gesellschaft 
ein Konfliktzustand herrscht, erhebt sich für die Wissenschaft die 
Forderung, das unparteiische Studium dadurch zu erleichtern, daß 
auch diese letztere der Untersuchung unterworfen wird. 

Was ist nun diese Gesellschaft, die wir als Koordinationsachse 
vorhanden finden, wenn wir dem Begriffe der „Geisteskrankheit« 
uns zu nähern versuchen? Es steht hier offenbar anders als bei 



95 



den Neurosen. Dort fanden wir das Bild des ideell-normalen 
Menschen, aus den idealen Teilbildern der Wirklichkeit zusammen- 
gesetzt, als Vergleichsobjekt vor. Eine ideale Gesellschaft ist aber 
noch nicht geschaffen, vielmehr sind alle darüber einig, daß vieles 
an ihr nicht taugt. Es haben sogar manche Denker — ich brauche 
nur die Namen Carpenter und Ruskin zu nennen — sich, 
nicht gescheut, die heutige Kultur geradezu mit einer Krankheit 
zu vergleichen. Gerade heute fällt es leicht, sich dieser Meinung 
anzuschließen. Die Kultur der weißen Rasse ist eine krankhafte. 
Die von der Kultur errungenen Gewinne sind zwar recht 
wichtig: eine verbesserte Verteidigung gegen die Feinde aus 
anderen Naturreichen, eine intensivere Ausnützung der natürlichen 
Lebenstniellen, zusammen zu einer beträchtlichen Verlängerung 
der Lebensdauer führend. Den wichtigsten Gewinn werden aber 
gewiß viele nicht in den materiellen Vorteilen erblicken, sondern 
in dem Gefühle von Sicherheit und Überlegenheit, das dem 
Kulturmenschen erlaubt, sich der Natur gegenüber so stolz und 
unabhängig zu fühlen, wie es bei den primitiven Völkern nur die 
Könige und die Zauberer sich gestatten können. Andere werden 
im Gegenteil die Aufopferung des Individuellen für die Gesamt- 
heit, das Gefühl der Bruderschaft, die Selbstbeherrschung, welche 
die Kultur fordert, als das wertvollste empfinden, oder die er- 
habene Überlegenheit der Kulturreligionen hervorheben. 

Ich erkenne alle diese Gewinne an, möchte aber einige Schatten- 
seiten doch hervorholen. 

Gegenüber den materiellen Vorteilen der Kultur möchte ich 
auf die ungleichmäßige Verteilung derselben hinweisen. Nicht 
daß ein Individuum so und soviel hat, macht es glücklicher, son- 
dern daß es wenig Wünsche hat, die nicht einmal befriedigt 
werden können. Der moderne Verkehr schafft aber dadurch, daß 
er den Armen alle Reichtümer vor Augen hält, noch mehr Be- 
dürfnisse, als er befriedigen kann, und der Handelsmann macht es 
sich sogar zur Pflicht, „Bedürfnisse zu schaffen". Das heißt, daß 
er einen Beruf daraus macht, die Menschen unzufrieden zu machen. 
Gegenüber der modernen Lebenssicherheit hebe ich die Kriege 
und den Klassenstreit hervor, welche nicht etwa inzidentell, son- 
dern mit derselben Regelmäßigkeit wiederkehren wie die mani- 
schen Phasen einer periodischen Psychose oder die Zufälle eines 
Epileptikers. Jene gehören zur Kultur wie diese zur Krankheit. 
Bei den ethischen Vorteilen der Kulturgesellschaft wird zu 
wenig berücksichtigt, daß keineswegs nur die „sublimiert" eroti- 



96 



sehen Triebe das Gesellschaftliehe zusammensetzen. Vielmehr 
besteht die Kulturgemeinschaft aus einem für die Gesamtheit 
arbeitenden Kern, welchen tatsächlich die Liebe zusammenhält, 
daneben aber aus einer großen Zahl von Individuen, deren Interesse 
für die Gesellschaft das Interesse des Raubtieres für seine Beute 
ist. Die letztere Gruppe hängt von der Kulturgemeinschaft ab 
und richtet sie zu ihren Zwecken ; ihre kulturelle Zunahme macht 
die ethischen Kulturvorteile illusorisch. Und endlich glaube ich, 
daß die Verluste, auch an Kulturgütern, welche diese 
heutige Kultur mit sich bringt, nicht ihrem Werte nach geschätzt 
werden. Es scheint nämlich, daß die Logik nicht neben, son- 
dern nur auf Kosten von Ethik und Ästhetik emporwachsen kann. 
Während bei primitiveren Völkern jede Frau ein zierliches Orna- 
ment oder ein Gefäß selbst verfertigen kann, ist in Kulturländern 
der Künstler nur mehr ein Naturmonument. In den Ländern, wo 
die industrielle Kultur am weitesten vorgeschritten ist, fehlen die 
Künstler überhaupt, und wenn ich das so platt und matt hier 
niederschreibe, konstatiere ich einen so ungeheuren Verlust, daß 
dieser allein genügte, um über die angeblichen Fortschritte durch 
die Kultur nicht schwärmerisch gestimmt zu sein. 

Es scheint mir, daß eine Verlängerung der Lebensdauer 
wenig Wert hat, wenn man zugleich den Inhalt des Lebens 
verkleinert. 

Die ungleichmäßige Entwicklung der Geschlechter zwingt das 
Weib, mehr zu sublimieren, als es im Durchschnitt aushalten 
kann, weil der Mann, durch Habsucht verführt, seine Libido im 
gesellschaftlichen Leben so sehr spaltet und zersplittert, oder sie 
durch die Sorge um das tägliche Brot so infantil zu halten 
gezwungen wird, daß er nicht mehr genügend liebesfähig ist. — 
Die kulturelle Erziehung zwingt die beiden Geschlechter soviel 
Libido in Phantasie und Gedankenleben abzuleiten, daß die 
Fähigkeit zur reellen Befriedigimg zum guten Teile verloren geht, 
und sie straft zu gleicher Zeit ihre allzu gehorsamen Opfer durch 
erhöhte Neigung zu Psychoneurosen. 

Während die geringere Befriedigung durch den Mann das 
Weib zwingt, einen größeren Teil der Libido dem jungen Kinde 
zuzuwenden, übernimmt anderseits die Gesellschaft die Erziehung 
viel früher von den Eltern, und beraubt die Mutter dadurch ihres 
Liebesobjektes, das sie gerade mehr bedürfte. Durch den stark 
entwickelten Verkehr bleiben am Ende der Erziehung die Kinder 
selten in der Nähe der Eltern. Sie werden durch ihre niedrigere 



97 



Zahl mehr verwöhnt, haben größeres Zärtlichkeitsbedürfhis und 
werden dann von der Gesellschaft den Eltern in einem Alter 
entrissen, wo sie das größere Bedürfnis nur hoch domestiziert 
äußern dürfen. Die krankhafte Natur dieser Kultur geht auch 
daraus hervor, daß ein Volk, oder ein Teil eines Volkes, das ihr 
verfallen ist, regelmäßig numerisch zurückgeht. 

Zwar ist der Begriff der „Krankheit" nur in Verbindung mit 
dem Begriffe der „Gesundheit" denkbar; somit ergäbe sich daraus 
für mich die Pflicht, anzudeuten, wie eine „gesunde" Kultur aus- 
sehen solle. Ich halte es für zulässig, im Rahmen dieser Arbeit 
mich vorläufig mit der These zu begnügen, daß sie so sein sollte, 
daß das Glück der Individuen durch die Sorge um die Existenz 
der Art nicht unter ein gewisses Minimum herabgedrückt werde. 
Damit lasse ich die Möglichkeit offen, daß eine ideell „gesunde" 
Kultur vielleicht durch die Existenz gewisser Triebe bei der 
weißen Rasse überhaupt ausgeschlossen sei. Die Lösung des 
Problems muß der Ökonomie überlassen werden, wobei aber die 
Psychoanalyse ihr die Anweisung zu geben hat, daß in ihren 
bisherigen Lösungen ein krankhafter Weg verfolgt wurde, der in 
einer Psychoneurose der Individuen besser in seiner Fatalität zu 
überblicken ist. Die bisherigen Lösungen sind durch Unter- 
schätzung der Ansprüche des Unbewußten, der Libido, 
mißlungen. Bei der gegenwärtigen „weißen" Kultur wird zwischen 
den beiden Kulturforderungen ein Kompromiß getroffen. Das 
individuelle Glück wird, wie oben gesagt, durch die Kulturgebote 
erheblich eingeschränkt. 

Die Existenz der Art wird nur dadurch gesichert, daß die 
Kultur nicht für die ganze Gesellschaft gleichmäßig, sondern nur 
in gewissen Gebieten und gesellschaftlichen Klassen, inselförmig, 
hochgehalten wird, während der Bevölkerungszuwachs aus den 
nicht oder weniger kultivierten Gebieten stammt (Dulosis). 

Sobald ein Volk trachtet, sich in seiner Gesamtheit zu 
einer gewissen Kulturstufe zu erheben, geht es numerisch zurück. 

Die Kultur erscheint so als eine Krankheit, die 
einem gewissen Teile der Gesellschaft auferlegt wird, 
mit Rücksicht auf einen gewissen Nebengewinn, wovon 
alle profitieren. 

Ökonomisch fällt dieses Daseinsmotiv fort, sobald der Neben- 
gewinn zu gering wird, wie es jetzt in vieler Augen der Fall wird. 

Psychologisch interessiert uns das nicht, nur fällt uns die 
Übereinstimmung mit den Psychoneurosen auf, deren Existenz 



98 



ebenfalls oft auf einem gewissen „sekundären Krankheitsgewinn" 
fußt, weil eine Tendenz (oder mehrere, egoistische wie libidinöse, 
Tendenzen) aus den vielen Augenblickspsychismen verschiedener 
Stufen solche aussiebt, die diesen Gewinn aufliefern und ihnen 
eine längere Dauer — als „Neurosen" usw. — verleiht, wenn 
noch die Bedingung der Disposition erfüllt ist. Psychologisch 
interessiert uns weiter die Detailuntersuchung der Kulturerschei- 
nungen, welche zuläßt, sie in unserem jetzigen Vergleich der 
„neurotischen" Erscheinungen einzuschalten. Wir halten den 
Unterschied im Auge, nämlich den sozialen sekundären Krank- 
heitsgewinn bei der Kultur, im Gegensatz zu dem individuellen 
sekundären Krankheitsgewinn bei der Neurose, und betonen, daß 
dies der einzige Unterschied ist, so daß die Kultur vollends in 
Krankheit übergeht, sobald der Gewinn zu individuell wird. 
Individuell betrachtet, gehört die Kultur zu den neurotischen 
Erscheinungen. 

Ich meine, man kann weitergehen, und mittels der auf psycho- 
analytischem Wege gewonnenen Einsicht die nähere Diagnose 
dieser Kulturkrankheit versuchen. Es soll aber knappste Passung 
geboten bleiben. 

Ich schließe mich dabei Freuds Auffassung aus dem Jahre 
1908 an. 1 Wie Freud ausführt, sind es außer der Lebensnot die 
aus der Erotik abgeleiteten Familiengefühle, welche das Individuum 
zur Triebsunterdrückung zugunsten der Gesellschaft bewogen haben. 
Man kann wahrscheinlich hinzufügen, daß die vom Vater aus- 
gehenden Verbote daran Anteil haben, und daß es' diesen Ver- 
boten leichter gelang, die Liebe zur Mutter von dieser abzulenken, 
weil die primitive Arbeit, über welche man als Ersatzbetätigung 
der Libido verfügen konnte, zur Aufnahme großer Libido cmanti- 
täten fällig war. Es ist vielleicht in diesem Rahmen überflüssig, 
darauf hinzuweisen, daß die jetzige industrielle Arbeit diese Eigen- 
schaft nicht mehr hat. Aus der Arbeit sind die höheren Organi- 
sationen der Libido größtenteils fortgenommen, und der Religion 
und der Neurose zur Verfügung gestellt. Aus diesem Umstände 
muß eine Libidostauung erfolgen, da die Libido, wie Freud 
deutlich gemacht hat, aus dem kulturellen Liebesleben auch stets 
mehr verscheucht wird und ihr somit nur die Phantasie und die 
Vergnügung übrig bleiben. 



1) Siehe Freud: Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität. 
[Ges. Schriften Bd. V.] 



99 



Bei dieser sich entwickelnden Insuffizienz der Arbeit mußte 
das väterliche Verbot (und Gebot) immer mehr für den sozialen 
Zweck in Anspruch genommen werden, und die Gesellschaft wird 
je länger je mehr nur durch Verbote instand gehalten. 

Die damit korrelate übermäßige Furcht vor dem Tode (aus 
der von Fr eud gemalten Situation beim Tode des Vaters stammend) 
gibt das Motiv ab für die ebenso mäßige Entwicklung der Hygiene, 
welche den Kulturmenschen wie ein unsichtbarer Glaskäfig ein- 
gesperrt hält, und der Reinlichkeit, welche die Dimensionen 
einer Phobie annimmt. 

In der Gesellschaft wird eine weitgehende Hemmung der den 
Familienmitgliedern feindlich zugewandten objekterotischen 
Faktoren nötig, welche in Friedenszeiten schließlich in Arbeit und 
Vergnügung abgeführt werden. Dadurch bekommen sowohl Arbeit 
wie Vergnügen den Charakter aggressiver Aktivität. (Dieser 
Charakter gehört sowohl der primitiven wie der Kulturgesell- 
schaft an.) Die durch Hygiene und Reinlichkeit aus Liebe und 
Arbeit zurückgedrängten analerotischen Quantitäten suchen 
sich einen Ersatz im Streben nach Gewinnung von Produkten, 
schließlich von Zeit und Geld, jenen beiden Fäkalsymbolen. 
(Dieser Charakter ist für die Kulturgesellschaft eigentümlich.) Aus 
diesem zwangsmäßigen Streben zusammen mit den aggressiven 
Tendenzen ergibt sich der zwangsneurotische Charakter der Kultur. 

Ich erspare ihnen die weiteren Analogien, welche auch bei 
oberflächlicher Betrachtung zwischen der Kultur und einer Zwangs- 
neurose bestehen, um nur noch zu erwähnen, daß auch die Rück- 
kehr des Verdrängten nicht fehlt. 

Für denjenigen, der diese Entwicklung ganz mitmachen konnte, 
scheint das Ergebnis relativ befriedigende Synthesen zu liefern. 
Dabei braucht die Vergnügung aber immer mehr Zeit, da die 
aus der Arbeit verbannte Libido in die Liebe der Hygiene wegen 
nicht zugelassen' wird und in der Erholungszeit ihre Befriedigung 
finden muß. Außerdem wird die Lösung dadurch unbefriedigend, 
daß sie nur für eine Minderzahl erreichbar ist, und auch für 
diese sich nicht als eine stabile Basis herausstellt. 

Das Zeit- und Geldstreben der dadurch befriedigten Klasse 
entwertet die Arbeit für die übrigen, während die veränderten 
gesellschaftlichen Verhältnisse einer Entwicklung des Familien- 
lebens, welche dieses instandsetzen sollten, die aus der Arbeit 
zurückfließenden Libidoquanten aufzufangen, feindlich im Wege 
stehen. Daher Arbeitsverkürzung, Arbeitsmüdigkeit usw., welche 



auf die Dauer das Leben ebenso gefährden wie die ursprüngliche 
Situation von Lust, Ruhe und Lebensgefahr. 

Freud hat uns davor gewarnt, das Leben der primitiven 
Völker für uneingeschränkt und nur lusterfüllt zu halten, er hat 
uns gezeigt, wie es vielmehr durch Tabuverbote in allen wich- 
tigen Hinsichten beschränkt ist und fast bei jedem Schritte die 
Überschreitung irgendeines Verbotes droht. Auch wissen wir, daß 
die Wilden, wenn sie auch die offene, bewußte Todesgefahr weniger 
scheuen als wir, doch meist keinen stabilen Mut besitzen, daß sie 
leicht von Panik ergriffen werden, und daß die Angst vor dem 
geheimnisvollen, von Geistern bewirkten Tode sie beherrscht. Die 
Tabuinstitution ist nicht imstande, all diese Angst zu kompensieren, 
es bleibt eine Menge als solche zurück. 

Beim Zivilisierten, dessen Religion so viel komplizierter ist, 
wird jedoch ein Teil der Furcht vor dem Tode wie bei dem 
Wilden verarbeitet. Dieser Teil gilt dem irdischen Tode als solchen. 
Ihm werden zur Kompensierung die hygienischen und Reinlich- 
keitstabus errichtet und logisch begründet. Die Furcht vor dem 
Tode wird durch die Sorge um das Beachten dieser Tabuvor- 
schriften ersetzt. 

Für einen anderen Teil wird der Todesfurcht damit abgeholfen, 
daß der Tod zum unendlichen und eigentlichen Leben erhoben 
wird. 1 Die Religionen, die das zustande brachten, entgehen aber 
den hieraus zu ziehenden praktischen Konsequenzen dadurch, daß 
sie eine Reihe von Vorschriften geben, von deren Befolgen das 
ewige Heil abhängig gemacht wird. Die Todesfurcht, soweit sie 
im religiösen Sinne umgestimmt ist, wird durch Furcht vor der 
ewigen Strafe ersetzt und diese wieder durch die Sorge um das 
Befolgen der Moralgebote. Auch diese Verarbeitung endet also 
schließlich in einem, dem neurotischen Zwange ähnlichen Tabu. 
Wenn man auch zugeben muß, daß der Wilde nicht so frei ist 
wie er aussieht, so gilt dasselbe auch für den Kulturmenschen, 
und zwar in noch höherem Grade. 

Es ist üblich, auf die Fähigkeit des Normalen zur Unter- 
drückung seines Narzißmus hinzuweisen. Der nomale Mensch soll 
imstande sein, sein Ich für die Gesamtheit aufzuopfern. Ich möchte 
die allgemeine Gültigkeit dieses Satzes, der für Ausnahmen oder 
gar für eine größere Minderzahl zutreffen mag, bezweifeln. Viel- 
mehr sehen wir den normalen Menschen nur dann sein Leben 

1) Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. [Ges. Schriften, Bd. X.] 



101 



für die Gesamtheit geben, wenn damit das Freiwerden niedrig 
organisierter aggressiver Tendenzen und sonstiger Partial triebe 
verbunden ist. Es ist bekannt, daß eine Armee nur dann in guter 
Disziplin erhalten werden kann, wenn wirklich gestritten wird, 
und daß der Soldat in der Schlacht dazu neigt, Schüsse abzugeben, 
auch wenn sie nicht treffen können, bloß um sich zu erleichtern. 
Ich sehe in der Eigenschaft des Normalen, die Kriegsdisziplin zu 
ertragen, bloß eine leichtere Abbaufähigkeit seiner auf Friedens- 
tätigkeit eingestellten höheren psychischen Organisationen, ein sich 
leichter wieder in die Situation des automatisch gehorsamen Kindes 
zurechtfinden. Die sublimiert allo-erotischen Kräfte, welche zur 
Disziplin befähigen, sind also von oben und nicht von unten — 
aus dem Narzißmus — herkömmlich. Daß der Narzißmus im 
Heere nicht wirklich aufgegeben, sondern bloß infantiler geworden 
ist, zeigen auch die immer notwendig gewesenen infantilen Be- 
lohnungen der Uniform, Orden usw. 

Im Augenblicke des Gefechtes selbst ist, wie aus den Unter- 
suchungen Wolozkois hervorgeht, eine bewußte Aufopferung 
des Lebens für die Gesamtheit selten, die Mehrzahl ist der ein- 
fachsten psychischen Leistungen nicht fähig, nur zu automatischen 
Wiederholungen und ebensolchen Flucht-, Abwehr-, Angriff- und 
prokursiven Versuchen. 

Die Sublimierungen und Reaktionsbildungen des sozialen Men- 
schen folgen den Mechanismen der Zwangsneurose. (Überein- 
stimmung des sittlichen, logischen, ästhetischen Zwanges mit dem 
der Neurose.) Auch sie neigen zur Rückkehr des Verdrängten. 
Und im zyklischen Verlaufe sehen wir die Kultur eines Volkes 
oder einer Rasse sich emportürmen, sich bis zur Unerträglichkeit 
nach den zwangsneurotischen Mechanismen weiter entwickeln, 
dann die Einschränkung des nützlichen Effektes durch die Rück- 
kehr des Verdrängten in unverhüllter Form, dann den Durch- 
bruch des Verbotenen in Krieg und Revolution, nach den Prin- 
zipien der manischen Psychose. Auch die mit den paranoiden 
Gebilden analogen „ismen" fehlen nicht. 

Mit diesen Überlegungen ist unsere Koordinationsachse besser — 
nach dem Relativitätsprinzip — orientiert. Der Kulturmensch leidet 
an einer speziellen Form der Zwangsneurose. Die Kultur der 
industriellen Produktionsperiode entspricht einer Regression auf 
die zweite prägenitale Libidoorganisation. 



102 




Aus einem im Internationalen Psych oanalytisdien Verlag als Privatdruck erschienenen Karikaturen- 

album: l) Dr. S. Ferenczi, Budapest, 2) Dr. E-rnest Jones, London, 3) Dr. Karl Abraham, Berlin, 

4) Dr. Max Eitingon, Berlin, 5) Dr. Siegfried Bcrnfcld, Wien, ö) Prof. Dr. Paul Schilder, Wien. 

(3 und 5 gez. von Olga Szekely-Kov£cs, die vier anderen von Robert Bereny); 



io 3 



P SYC H O AN ALYS E UND 
ERZ I E H U N G 

iNiNiiniiJiiiiiiiiiniiiniiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiniiiininiiiininiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiHniiHiHiiiiiiiiiniiiiiiiHniiiiiiiiiiHiniiiiiiininii 

Elternfehler in der Erziehung der 
Sexualität und Liebe 

von 

Dr. Oskar Pfister 

Pfarrer in Zürich 

Bruchstück aus einer Arbeit über 
„Elternf etiler" , die in einem voraussicht- 
lich Frühjahr 1926 erscheinenden Sammel- 
werk „Die Psychoanalyse in der Erzie- 
hung' 1 enthalten sein wird. (Das von 
Dr. Wilhelm Hqffer herausgegebene Werk 
enthält Beiträge von Aichhorn, Bernfeld, 
Chadwick, Anna Freud, Friedjung, Hug- 
Hellmuth, Klein, Pfister, Beata Rank, 
Sachs, Schneider, Vera Schmidt, Hedwig 
Schaxel und Zulliger.) 

Eine richtige Sexualentwicklung ist nur innerhalb einer 
gediegenen Gesamterziehung möglich. Wer da glaubt, mit 
ein bißchen Aufklärung und viel gouvernantenhaften War- 
nungen auszukommen, begeht einen schweren Irrtum. Ernste 
Schädigungen des Sexuallebens pflegen das ganze übrige 
Leben aufs stärkste zu beeinflussen, und eine gesunde ethische 
Allgemeinerziehung kommt meistens der Entwicklung der 
Geschlechtlichkeit und Liebe in hohem Maße zugute. Allein 
wenn arge Verstöße auf letzterem Gebiete eingetreten sind, 
vermag die tüchtigste Erziehung aller übrigen Lebenstendenzen 
den Schaden oft nicht gutzumachen. An der einen Klippe 
zerschellt das ganze Lebensschiff. 

Was für ein Unglück sexuelle Fehlentwicklung bedeuten 
kann, machen sich viele Eltern nicht klar. Wenn sie aber 
wüßten, wie schwer viele Homosexuelle, Sadisten, Masochisten, 



105 



Fetischisten und andere Perverse leiden, und wenn sie ahnten, 
wie eng verkehrte Liebeswahl und Unfähigkeit zur Gatten-, 
Menschen- und Gottesliebe, schwere Gemütskrankheiten und 
sogenannte Nervenleiden mit der sexuellen Erziehung zu- 
sammenhängen, sie würden erschrecken über die Gleich- 
gültigkeit, mit der so oft das enorm wichtige Gebiet behan- 
delt wird. 

Ziel der richtigen Sexualerziehung ist diejenige Entwick- 
lung der Geschlechtlichkeit, welche einerseits der höchst- 
möglichen sittlichen Geistesausbildung, anderseits ihrer bio- 
logischen Bestimmung entspricht. Zu diesem Zweck darf die 
Sinnlichkeit sich nicht allzusehr in den Vordergrund drängen 
und zu viele psychische Kräfte absorbieren. Sie darf aber 
auch nicht zur Verkrüpplung gebracht werden, indem durch 
Sexualverdrängungen schwere Triebhemmungen erfolgen. 
Denn dabei droht nicht nur die Gefahr einer Abdrängung 
in Krankheit (Hysterie, Angstneurose, Zwangsneurose, Intro- 
versionsneurose), sondern auch Mißbildung des Denkens, 
Fühlens und Wollens im weitesten Umfang. Insbesondere 
ist zu betonen, daß die Sublimierungsfähigkeit durch die 
ausgedehnteste und intensivste Sexualverdrängung mitnichten 
gesteigert wird, sondern im Gegenteil von einem gewissen 
Grade an und bei gewissen Kompensationschwierigkeiten die 
betrübendste Verminderung erfährt. Daher hauptsächlich 
mißraten so oft die Kinder vortrefflicher Eltern; die im 
Bereiche der kindlichen Erotik begangenen Fehler rächen 
sich mit grimmer Schadenfreude. Nur eine unter vielen 
Tücken erblicken wir in der Tatsache, daß gerade bei der 
heftigsten Unterdrückung der Sexualität des Zöglings die 
wildesten sinnlichen Leidenschaften in ihm auflodern können. 

Als Elternfehler stellen wir vor allem fest unvorsichtige 
Reizungen der Sinnlichkeit. Allzuweit getriebenes Streicheln, 
Tätscheln des Gesäßes, Reiben der Genitalien bei der kör- 
perlichen Reinigung ist weit gefährlicher, als manche Mütter 
meinen. Auch übermäßiges Küssen ist nicht vom Guten. 
Ganz verwerflich ist das Kitzeln, das man so oft bei spie- 
lenden Pflegerinnen beobachtet, z. B. das Pressen des Ge- 

106 



sichtes in die Bauchhöhle des Kindes. 1 Unvollständige Bekleidung 
der Mutter, z. B. hei der Toilette, kann Schaden stiften. 

Dringend zu warnen ist vor zu langem Aufenthalt der 
Kinder im Schlafzimmer der Eltern. Unglaublich oft findet 
man die erste und schlimmste Ursache von neurotischen 
Störungen in der Beobachtung intimer Vorgänge durch das 
Kind, und fast regelmäßig erklären die Eltern es für un- 
möglich, daß ihr Kind dergleichen gesehen habe, es habe 
doch immer fest geschlafen usw. Ich halte es für angezeigt, 
das Kind schon vor Ablauf des ersten Lebensjahres aus dem 
elterlichen Schlafzimmer zu entfernen. Auch das Nebenzimmer 
ist unter Umständen ein sehr gefährlicher Aufenthaltsort. Die 
sogenannte Nebenzimmererotik erweist sich bei Schlaflosen 
und Angstneurotikern nicht selten als wichtigste Krankheits- 
ursache. 

Ein gesundes Schamgefühl kann nur da zustande kommen, 
wo die Sexualerziehung sich von Drohungen, furchterregenden 
Anspielungen, die Gefahr der Verdrängung heraufbeschwö- 
renden Erschütterungen frei hält. Eine auf Angst vor un- 
heimlichen dunkeln Mächten aufgebaute Schamhaftigkeit ist 
eine schlimme Mitgift fürs Leben. Sie treibt oft in Angst, 
Zwangsneurose, Introversionen, in Liebesunfähigkeit, Lebens- 
überdruß usw. Oft zeigen sich die schrecklichen Folgen 
schon in der Kleinkinderzeit, oft in der Pubertätsentwicklung, 
oft sogar erst in der Ehe (Impotenz, Frigidität usw.). Ehr- 
furcht, nicht Furcht vor den sexuellen Ordnungen haben die 
Eltern einzupflanzen. Sie müssen jeden Schein vermeiden, 
als sei die natürliche Triebhaftigkeit insgesamt und unter 
allen Umständen etwas Häßliches; sie sollen im Gegenteil 
darauf hinwirken, daß eine würdige sittliche Einschätzung dieses 

l) Auch manchen Ärzten ist größere Vorsicht zu empfehlen. Für gewisse 
Kinder, natürlich längst nicht für alle, bedeutet die Temperaturmessung durch 
den After eine schädliche Reizung, die eine Überbetonung der Darmendigung 
und Verlangen nach ihrer fortgesetzten Erregung zur Folge hat. Aufgefallen 
ist mir, wie oft man bei Neurotikern auf den schädigenden Einfluß von 
Phimosenoperationen stößt; dabei darf man nicht übersehen, daß auch die 
Verengerung der Vorhaut Reizungen hervorbringt, die der Sexualentwicklung 
nachteilig sind. Jedenfalls aber sollte die Operation früh und mit möglichster 
Vermeidung von Schmerzen und Aufsehen vollzogen werden. 



Gebietes allmählich, je nach der fortschreitenden Fassungskraft 
des Kindes angebahnt werde. 

Dies ist nur möglich im Zusammenhang mit einer ge- 
diegenen sexuellen Aufklärung. Daß diese zu den wich- 
tigsten Elternpflichten gehört, wird heute nur noch selten 
bestritten. Man ist durch Schaden klug geworden und glaubt 
nicht mehr, daß die Gasse und der Zufall die beste Auf- 
klärungsarbeit leisten. Vorenthaltung der Aufklärung ist 
künstliche Verdunklung der Kindesseele. In der Nacht 
strauchelt und fällt man leichter als in der Tageshelle. Für 
die Darbietung der Aufklärung gelten folgende Grundsätze: 
Sie soll nicht auf einen Schlag, sondern allmählich, je nach 
dem Interesse und der Fassungskraft des Kindes vor sich 
gehen (Freud). Die Lüge vom Storch ist eine gefährliche, das 
Zutrauen zu den Eltern untergrabende, die Geschlechtlich- 
keit diskreditierende und darum die Liebesentwicklung des 
Kindes bedrohende Fälschung. Nicht die Schule, sondern das 
Elternhaus soll aufklären. 1 Zur Aufklärung gehört nicht nur 
die physiologische Belehrung über Geburt und Zeugung, 
sondern auch und vor allem die sittliche Unterweisung, 
ohne welche die naturwissenschaftlichen Kenntnisse leicht 
einen unrichtigen Eindruck hervorrufen, unerwünschte Ver- 
drängungen oder Erregungen provozieren und so ihr Ziel 
verfehlen. Die Schönheit, sittliche Größe und der Segen 
eines ethisch normierten Gebrauches der Sexualordnung sind 
darzutun, jedoch frei von allen Übertreibungen. Es darf nicht der 
Gedanke geweckt werden, daß ohne Eheschließung das Leben 
in jedem Fall der höchsten Würde und des edelsten Reich- 
tums verlustig ginge. Dagegen schließt eine harmonische Persön- 
lichkeitsentwicklung die ethische Liebesfähigkeit in sich. 

Da nur in der Atmosphäre der Freiheit die Liebe im 
höchsten Sinne aufsprießen kann, muß der finstere Ton als 
Elternfehler gebrandmarkt werden. Alles, was über die Strafe 
im allgemeinen gesagt wurde, muß in der Sexualpädagogik 

1) Wo eine Klasse durch gewisse Vorkommnisse bedroht oder gar ver- 
seucht ist, kann eine beruhigende, die sittliche Erhabenheit der Fortpflanzungs- 
ordnungen betonende Aufklärung zur Pflicht des Lehrers werden. 

108 



besonders sorgfältig berücksichtigt -werden. Dringend zu warnen 
ist vor strenger Bestrafung irgendwelcher Sexualdelikte, wie 
Onanie, unerlaubte Besichtigungen, Betätigungen der Zeige- 
lust, der Freude am Kot oder Urin, hetero- oder homo- 
sexuelle Akte, Sadismus oder Masochismus usw. Wir hörten 
bereits, wie nahe die Gefahr liegt, daß die Strafe den Fehl- 
tritt erst recht mit seelischen Energien belaste und mit 
Zwangscharakter ausstatte. Onanie hart zu bestrafen, sei es 
auch nur mit der Androhung gesundheitlicher Gefährdung, 
ist besonders da recht verhängnisvoll, wo bereits ein un- 
überwindlicher Zwang vorliegt. Weg alle Drohung! Liebe- 
volles Abraten, Darbietung von wertvollen Kompensationen, 
gütige Beruhigung und Belehrung bieten weit mehr Aussicht 
auf Erfolg dar und vermeiden die Gefahr, die bei harten 
Maßregeln so leicht eintritt, daß die Selbstachtung zu- 
sammenbricht, Verzweiflung den Unglücklichen vollends 
entkräftet, Flucht in die Neurose zerstörend wirkt. In 
schweren Fällen kann auch elterliche Güte nicht erlösen; 
einzig psychoanalytische Behandlung führt, wo starke Trieb- 
verklemmungen, besonders Zwangsvorstellungen vorliegen, 
den gewünschten Erfolg herbei. Sie auch kann einzig und 
allein denjenigen die Genesung und innere Freiheit ver- 
schaffen, die auch durch Elternstrenge gegenüber ihren Sexual- 
delikten in einen Abgrund gestoßen wurden. Und solcher 
sind viele! — Zu warnen ist auch vor schroffer Bekämpfung 
kindlicher Liebesverhältnisse. Erreichen die Eltern, daß ihr 
Kind aus Furcht vor der Strafe seine Liebe preisgibt, so 
ist doch sehr oft der Erziehungs erfolg nur ein scheinbarer. 
Wie bei allen anderen Erziehungsmaßregeln läßt sich leicht 
feststellen, ob dem Elternwunsch äußerlich willfahrt wurde ; 
was für Haßregungen jedoch auftauchten, wie viel Liebes- 
verdrängungen stattfanden, das kann wegen der Verdrängung 
nicht einmal das Kind angeben. Manchmal weist es sich 
erst nach vielen Jahren, welche schwere Schädigung mit dem 
jähen Verbot der Liebe und seiner harten Durchführung 
angerichtet wurde. 



109 



Das psychoanalytische Kinderheim 
in Moskau 



Vera Schmidt 

(Moskau) 

In der Broschüre „Psychoanalytische 
Erziehung in Sowjetrußland" (Internatio- 
naler Psychoanalytischer Verlag, 1924) 
berichtet Vera Schmidt über das Moskauer 
Kinderheim-Laboratorium „Internationale 
Solidarität", über die psychoanalytischen 
Li it sätze für die Arbeit in dieser Anstalt, 
über die pädagogischen Maßnahmen, ins- 
besondere auch über die Arbeit des Er- 
ziehers an sich selbst und über die dort 
gemachten Beobachtungen. Die einleitenden 
Ausführungen, in denen über die äußeren 
Schicksale des Kinderheims berichtet wird, 
werden hier wiedergegeben. 

Das Interesse für Erziehungsfragen, insbesondere für die Gemein- 
schaftserziehung im Khidesalter, hat sich in Rußland wahrend der 
Ereignisse der letzten Jahre bedeutend gesteigert. So kam es, daß 
in unserem kleinen, für die Psychoanalyse interessierten Kreise der 
Gedanke auftauchte, ein Kinderheim zu gründen, das neben einer 
Gelegenheit für wissenschaftliche Beobachtung die Möglichkeit 
bieten sollte, auf Grund psychoanalytischer Erkenntnisse neue Wege 
der Erziehung zu suchen. Zu diesem Zwecke wurde eine Villa zur 
Verfügung gestellt, das Volkskommissariat für Aufklärung gab die 
Geldmittel und wir konnten am ig. August 1921 das Kinderheim- 
Laboratorium eröffnen, das sich offiziell dem Moskauer Psycho- 
neurologischen Institut anschloß. An der Spitze des Heimes stand 
Professor Ermakow, der Leiter der psychoanalytischen Bewegung 
in Rußland. Es war damals in Moskau fast unmöglich, geschulte Mit- 
arbeiter zu finden, die eine wenn auch nur theoretische Kenntnis 
der Psychoanalyse besaßen. So mußten wir uns damit begnügen, 
Pädagogen heranzuziehen, die sich für die spezielle Aufgabe des 
Heimes interessierten und ihre weitere Ausbildung erst im Laufe 
ihrer Mitarbeit erhalten sollten. 



Wir nahmen dreißig Kinder auf, die wir in folgender Weise 
auf drei Gruppen verteilten: 

I.Gruppe. . . 6 Kinder im Alter von l—i'/a Jahren 

^ " « M V ^ ^ „ 

3 ] 5 ., i. ■„ „ 4—5 

Ihre Eltern gehörten den verschiedensten sozialen Schichten, dem 
Arbeiter- und Bauernstand, wie auch intellektuellen Kreisen an. 

Obwohl die wissenschaftliche Arbeit des Heimes in aller Stille 
vor sich ging, verbreiteten sich schon nach drei Monaten allerlei 
auf sie bezügliche Gerüchte in der Stadt. Es hieß, daß in unserer 
Anstalt die schrecklichsten Dinge geschehen, daß wir die Kinder 
zum Zwecke der Beobachtung vorzeitig sexuell erregten und ähn- 
liches mehr. Die Behörde leitete daraufhin eine Untersuchung ein. 
Die Untersuchungskommission, die aus einem Kinderarzt, einem 
Pädagogen, einem Psychologen und einem Vertreter des Kom- 
missariats für Aufklärung bestand, arbeitete mit Sitzungen, Be- 
ratungen und dergleichen mehrere Monate. Schließlich teilten sich 
ihre Stimmen. Der Arzt und der Pädagoge sprachen sich zugunsten 
des Kinderheims aus und bezeichneten die von uns geleistete Arbeit 
als nützlich und wertvoll. Der Psychologe dagegen kritisierte die 
Tätigkeit des Heimes vom pädagogischen wie vom wissenschaft- 
lichen Standpunkt aus aufs schärfste. Daraufhin erklärte das Volks- 
kommissariat für Aufklärung durch seinen Vertreter, das Kinder- 
heim nicht länger erhalten zu wollen, motivierte aber seinen Ent- 
schluß nur mit den übergroßen Erhaltungskosten der Anstalt. 

Bald darauf ordnete das Psychoneurologische Institut, an dessen 
Spitze inzwischen bei einem Direktionswechsel ein überzeugter 
Gegner der Psychoanalyse, Professor N., getreten war, seinerseits 
eine Revision unserer Anstalt an. Das Urteil dieser Untersuchungs- 
kommission war höchst affektiv gefärbt und geradezu vernichtend. 
In einer öffentlichen Sitzung besehimpfte Professor N. den Direktor, 
die Mitarbeiterund sogar die Kinder des Kinderheim-Laboratoriums. 
Daraufhin stellte das Psychoneurologische Institut nicht nur jede 
weitere Unterstützung des Kinderheim-Laboratoriums ein, sondern 
beeilte sich auch, sich ideologisch von ihm loszusagen. 

Angesichts dieser hoffnungslosen Lage standen wir vor der 
Nötigung, das Kinderheim-Laboratorium aufzulösen. An dem Tage 
aber, an dem dieser Entschluß veröffentlicht werden sollte, erschien 
bei uns ein Vertreter der deutschen Bergarbeitervereinigung „Union", 
der sich gerade zum Besuch eines Kongresses in Moskau aufhielt. 
Er stellte uns im Namen des deutschen und russischen Bergarbeiter- 



bundes das Anerbieten, unsere neue wissenschaftliche Organisation 
materiell zu ermöglichen und ideologisch zu stützen. Tatsächlich 
wird das Heim seit damals (April 1922) von der deutschen Ver- 
einigung „Union" mit Lebensmitteln, von den russischen Berg- 
arbeitern mit allem Heizmaterial versorgt. Das Kinderheim änderte 
nun seinen Namen in Kinderheim-Laboratorium „Internationale 
Solidarität". Die Mitarbeiter, die ihren Gehalt vom Akademischen 
Zentrum des Volkskommissariates für Aufklärung erhalten, dem 
alle wissenschaftlichen Institutionen der Republik unterstehen, 
wurden unter den neuen Verhältnissen auf die Hälfte der Anzahl 
vermindert. Die Zahl der Kinder ging auf zwölf zurück. 

Im Herbst 1922 wurde das staatliche Institut für Psychoanalyse 
gegründet, dem sich das Kinderheim-Laboratorium als eine Hilfs- 
organisation anschloß. Das Heim wurde im Herbst und Winter 1922 
zweimal revidiert. Beide Male war das Urteil über seine päd- 
agogische und wissenschaftliche Tätigkeit ein äußerst günstiges. 

Das hinderte nicht, daß im Frühjahr 1923, als es an Geld- 
mitteln zur Erhaltung der notwendigsten Organisationen fehlte, von 
Seiten der höheren Staatsorgane der Bestand des Kinderheim- 
Laboratoriums neuerdings in Frage gestellt wurde. Gleichzeitig 
erhob sich auch wieder eine Diskussion darüber, inwiefern die 
Existenz einer solchen Anstalt, die ihr Erziehungssystem auf 
psychoanalytische Erkenntnisse aufbaut, überhaupt wünschenswert 
sei. Ein Teil der Pädagogen und Psychologen sprach sich dafür, 
ein anderer dagegen aus. Es wurde wieder eine aus fünf Mit- 
gliedern bestehende Kommission eingesetzt, welche die Tätigkeit 
des Heimes während des laufenden Herbstes zu überwachen hat. 
So ist also der Fortbestand der Anstalt auch heute noch unge- 
sichert. Uns aber ist das lebendige Interesse, das die Pädagogen 
und Psychologen für die Anwendung der Psychoanalyse auf Er- 
ziehungsfragen äußern, die beste Gewähr dafür, daß es dem 
Kinderheim-Laboratorium als einer der notwendigsten Organi- 
sationen für die gegenwärtige Pädagogik auch weiterhin gelingen 
wird, seine Existenz zu behaupten. 



Die Psychoanalyse in der Fürsorge- 
erziehung 

von 
August Aichhorn 

Bruchstück aus „Verwahrloste Jugend. Die 
Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung." Zehn Vor- 
träge zur ersten Einführung von August Aichhorn. 
Mit einem Geleitwort von Prof. Freud (Internatio- 
nale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XIX; er- 
scheint im Herbst 1925). 

. . . Sehen wir, wie der Fürsorgeerzieher in der Praxis versucht, 
die psychische Situation des Kindes oder Jugendlichen zu erfassen, 
um dann die Übertragung herzustellen, beziehungsweise wie sie 
sich schon von selbst während des Lüftens der Maske einstellt. 
Ich bin zwar nicht in der Lage, Ihnen angeben zu können, wie 
andere versuchen, die Übertragung herzustellen; das weiß ich nicht. 
Ich werde versuchen, Ihnen zu zeigen, wie ich mich gewöhnlich 
und nicht ganz erfolglos verhalte. 

Versetzen Sie .sieh in die Erziehungsberatung, und nun tritt 
ein Verwahrloster herein, dem auf dem ersten Blick der brutale 
Gewaltmensch anzusehen ist. Wenn Sie dem mit der ihm bisher 
gewohnten Strenge entgegentreten, so lehnt er sich sofort auf und 
die Übertragung stellt sich nicht her. Sind Sie entgegenkommend, 
freundlich, liebenswürdig, so wird er durch Ihr ihm ungewohntes 
Benehmen mißtrauisch und lehnt Sie aus diesem Grunde ab, oder 
er nimmt Sie für den Schwächeren und reagiert mit erhöhter 
Brutalität. 

Fassen Sie den intellektuell Hochwertigeren strenge an, so fühlt 
er sich sofort als Herr der Situation, er steht auf ihm bekannten 
Boden, so kommen ihm so und so viele draußen im Leben ent- 
gegen. Bei wohlwollendem Entgegenkommen hält er Sie für den 
besonders Schlauen und ist noch weit mehr auf der Hut als sonst. 

Die Angstlichen, Verschüchterten sind bei schärferem Anpacken 
leicht geneigt zu weinen oder in die Verfassung zu kommen, die 
mit Trotz zu verwechseln ist. 

Wie sollen wir uns nun benehmen, wenn das eine und das 
andere nicht geeignet ist, den Verwahrlosten in die erforderlichen 
Gefühlsbeziehungen zu bringen? Wenn der Verwahrloste gebracht 
wird, erfolgt meinerseits ein erster Moment freundlicher Beachtung : 



113 



das eine Mal nur ein Blick, ein andermal ein Begrüßungswort 
oder ein stummer Händedruck, dann wieder eine Bemerkung, daß 
von mir nichts zu fürchten sei, daß er in mir weder einen Polizei - 
agenten noch einen Untersuchungsrichter vor sich habe. Mitunter 
leitet auch ein Scherzwort unser Bekanntwerden ein. Zuweilen 
erfolgt auch ein prüfendes Messen. Immer aber lasse ich den 
Dissozialen zu mir setzen und den Jugendlichen spreche ich mit 
„Sie" an, bis sich die Übertragung hergestellt hat, um dann mit 
„Du" fortzufahren. Was von dem Gesagten im konkreten Falle 
zu machen ist, oder wie sonst noch dieses erste Umfassen und 
Erfassen der Persönlichkeit zur Einleitung der Übertragung erfolgt, 
überlasse ich dem Augenblicke, das muß ich fühlen, wenn der 
Verwahrloste bei der Türe hereintritt. 

Ich halte diesen ersten Augenblick der Begegnung für außer- 
ordentlich wichtig, es ist mehr als ein orientierendes Abtasten und 
muß mit einer gewissen Sicherheit erfolgen, auch raschestens 
beendet sein, weil es in den meisten Fällen den Ausschlag für die 
erste Gestaltung unserer Beziehimgen gibt. Sie dürfen nicht über- 
sehen, daß der Verwahrloste bei seinem Hereintreten mit mir 
dasselbe macht, wie ich mit ihm. Auch er versucht, sich möglichst 
bald klar zu werden, wen er vor sich hat. Kinder sind in dem 
Bemühen, sich rasch zu orientieren, zumeist recht ungeschickt. 
Der Jugendliche entwickelt zuweilen ein unglaubliches Raffinement. 
Man merkt oft ein Aufblitzen im Auge, das sofort wieder einem 
gleichmäßigen Ausdruck Platz macht, ein kaum erkennbares Ver- 
ziehen des Mundes, eine unwillkürliche Geste, dann zuwartende 
Haltung, aber zweifellos in Kampfstellung, je älter er ist, desto 
schwieriger zu erkennen, wenn er sich nicht sofort in die Situation 
des Trotzes oder der offenen Auflehung begibt. Besondere Schwierig- 
keiten sind gegeben, wenn einer mit der Maske liebenswürdiger 
Aufrichtigkeit oder gleißender Unterwürfigkeit kommt. Auf diese 
gehe ich sofort ein und nehme sie für wahr, wodurch sich der 
Verwahrloste sofort über mir fühlt, trotzdem er aus der Art meines 
Anfassens ein Stück Aktivität spürt. 

Nach dem in Bruchteilen von Sekunden erledigten Sichgegen- 
seitig-Erkennenwollen beginnt ein Kampf um die Vorherrschaft, 
der oft nur kurz währt, manchmal aber sehr zähe fortgesetzt wird 
und aus dem ich, wie ich Ihnen ganz offen eingestehe, nicht immer 
als Sieger hervorgehe. Sie dürfen sich mein und des Verwahrlosten 
Bemühen aber nicht als ein Aufeinanderprallen nur bewußter 
Kraftäußerungen vorstellen; es sind viele unbewußte Anteile daran 



114 



beteiligt, man fühlt mehr was vorgeht, als man unter intellektuelle 
Kontrolle stellt. 

Mein Benehmen läßt dem Verwahrlosten im ersten Augenblick 
unseres Zusammenseins in mir eine ihm überlegene Kraft fühlen. 
Dadurch wird seine Erwartung, einer Gefahr entgegen zu gehen, 
bestätigt. Er befindet sich nicht in einer ihm neuen Situation, er 
hat diese so und so oft erlebt. Ich bin auch nicht anders als die 
anderen: Vater, Mutter, Lehrherr, Lehrer. Ist er der neurotische 
Grenzfall mit Verwahrlosungserscheinungen oder steht bei Misch- 
formen diese Seite im Vordergrund, so bleibe ich in der elter- 
lichen Situation, nur verhalte ich mich, wie ich Ihnen schon 
gesagt habe,, im weiteren Verlaufe etwas anders als diese. Ist er 
der Verwahrloste im offenen Konflikt und erwartet nun den Angriff, 
so erfolgt dieser nicht. Ich frage ihn nicht, was er angestellt hat, 
dringe nicht in ihn, mir zu sagen, warum das oder jenes vor- 
gekommen sei, will von ihm nicht, so wie bei der Polizei oder 
beim Jugendgericht, Dinge wissen, die preiszugeben er absolut nicht 
geneigt ist. Ja, ich sage in Fällen, wo gerade diese Fragen von 
ihm gewünscht werden, um in die richtige Oppositionsstellung 
kommen zu können, daß er alles verschweigen dürfe, was er nicht 
sagen wolle; daß ich seine Vorsicht einem Menschen gegenüber, 
den er zum erstenmal sieht, begreife. Wenn ich dann noch hinzu- 
füge, ich würde es auch nicht anders machen als er, geht er mir 
gewöhnlich willig auf ein Gesprächsthema ein, das weitab von 
seiner dissozialen Handlung liegt, aber aus seinem Interessenkreise 
sich ergibt. Wenn ich Ihnen mein Verhalten nach dem Moment, 
in dem der Junge ein Stück Aktivität in mir gespürt hat, mit 
einem Worte erklären könnte, so würde ich sagen, ich werde 
passiv und um so passiver, je mehr der Verwahrloste den Angriff von 
mir erwartet. Dessen Ausbleiben läßt ihn erstaunen, dann unsicher 
werden, er weiß sich auf einmal nicht mehr zurechtzufinden und 
fühlt mehr als er erkennt, ich bin nicht der Erwachsene, nicht 
die zu bekämpfende Autorität, sondern der verständnisvolle Ver- 
bündete. Ich vermeide absichtlich das Wort Freund; denn diesen 
hat er nicht, er geht mit dem anderen nur zusammen, wenn es 
die Erreichung eines bestimmten Zweckes gilt. 

Wenn ich mit Wiener verwahrlosten Jugendlichen zu tun habe, 
dann fange ich natürlich auch von Dingen zu sprechen an, die 
ihrem Interessenkreise angehören, aber weitab von ihren dissozialen 
Handlungen liegen. Unter zehn solcher sind mindestens acht, bei 
denen ein Zugang über das Fußballspiel zu finden ist. Man muß 

8» 115 



nur über die einzelnen Fußballvereine, deren erste Spieler, die 
letzten Matches, den letzten Stand in den Meisterschaftsspielen usw. 
gut orientiert sein. Über die Lektüre kommt man ihnen seltener 
näher, im Mittelpunkte des Interesses stehen Percy Stuart, der kühne 
Abenteurer, und Stuart Webbs, der Meisterdetektiv. Weit eher 
gelingt es, über das Kino, und da vorwiegend über das Detektiv- 
drama, die Vorsicht in der Rede zum Verschwinden zu bringen. 
Bei kleinen Mädchen sind Märchen, die sie kennen und das 
kindliche Spiel Anknüpfungsmöglichkeiten. Man braucht aber nicht 
immer sehr weit auszuholen, vielfach leitet schon eine Bemerkung, 
die ich über die bunte Kopfmasche, das Jäckchen, die Ohrringe 
mache, das Gespräch ein, das dann fließend weitergeht. 

Wenn ich mir von halbwüchsigen Mädchen die neueste Schuh- 
form und die Preise von Toiletteartikeln angeben lasse, Interesse 
für die gegenwärtig in Mode stehende Strumpffarbe und in neuester 
Zeit auch für den „Bubikopf" zeige, geht es auch da weiter. 

Komme ich bei den Kleinsten, die gar nicht reden wollen, 
darauf zu fragen, was sie am liebsten essen, und von der Mehl- 
speise, die sie besonders vorziehen, auf die Schokolade zu sprechen, 
so entwickelt sich auch mit ihnen in der kürzesten Zeit eine 
Unterhaltung, deren Kosten das Kind trägt, wie in den anderen 
Fällen der oder die Jugendliche. Es findet sich dann einmal leichter, 
ein andermal schwieriger, aber regelmäßig die Möglichkeit, ganz 
unmerklich auf das zu kommen, was ich eigentlich wissen will. 
Zumeist stellt sich schon beim ersten Zusammensein die Über- 
tragung so weit her, daß ich Aufklärung erhalte und Einfluß ge- 
winne. 

Wir müssen uns in der Erziehungsberatung auch möglichst 
rasch über die Stellung des Verwahrlosten zu den Personen seiner 
nächsten Umgebung orientieren, müssen wissen, welche Beziehungen 
er zu Vater, Mutter, den Geschwistern und sonst noch in Frage 
kommenden Personen hat. Jugendliche geben uns auf direktes 
Fragen in den meisten Fällen die richtige Antwort, nicht so Kinder, 
um so weniger, je jünger sie sind. Sie beantworten solche Fragen 
überhaupt nicht oder in einer für uns vollständig wertlosen Art. 
Wir müssen es daher auf einem Umwege erfahren; die Lektüre 
und das kindliche Spiel ermöglichen uns solchen. 

Ein zehnjähriges Mädchen fragte ich, ob es gerne lese? Nach 
Bejahung dieser Frage wollte ich wissen, wofür es besonders Vor- 
liebe habe. 

„Für Märchen." 



116 



„Sage mir nun rasch., ohne nachzudenken, ein Märchen, das 
dir einfällt, ganz gleichgültig welches !" 

„Schneewittchen." 

„Welche Stelle von Schneewittchen?" 

„Wie die alte Hexe dem Schneewittchen den vergifteten Apfel 
verkauft." 

„Waren in deinem Märchenbuche Bilder?" 

„Ja." 

„War auch ein Bild von der Hexe ?" 

„Ja." 

„Beschreibe mir nun einmal die Hexe, aber nicht so wie sie 
auf dem Bilde war, sondern so, wie du sie dir vorstellst!" 

Die Hexe wurde nun in allen ihren Einzelheiten besprochen, 
Körpergröße, Haarfarbe, Aussehen des Gesichtes, Mund, Zähne, 
Kleidung usw. Aus der Beschreibung und dem Abfragen, woher 
sie die einzelnen Details der Hexe genommen habe, ergab sich, 
daß diese eine Mischfigur von Personen war, die das Kind ablehnte. 
Ich muß Sie aber aufmerksam machen, daß wir damit nicht eine 
allgemein gültige Regel gefunden haben. Nicht immer stimmt eine aus 
ähnlichen Märchen oder Geschichtensituationen gewonnene Misch- 
figur mit der tatsächlichen Stellung des Kindes zu den Personen 
seiner Umgebung überein. In einer großen Anzahl von Fällen habe 
ich durch die Nachprüfung dasselbe Ergebnis wie in dem be- 
sprochenen Falle gefunden, in anderen Fällen deckte sich die 
Mischfigur nicht mit den abgelehnten Personen der Umgebung. 
Wann die Übereinstimmung zu konstatieren ist und wann nicht 
bedürfte einer besonderen Auseinandersetzung. 

Ein anderes, etwas jüngeres Mädchen fragte ich, womit es sehr 
gerne spiele, und erhielt zur Anwort, mit Puppen. Ich ließ mir 
nun von ihm eine Puppe beschreiben, die ihm sehr gut gefallen 
würde. Die Beschreibung mußte aber bis in die kleinsten Einzel- 
heiten gehen. Das Abfragen dieser, der Vergleich mit Personen 
aus der Umgebung ergab wieder eine Mischfigur, diesmal aber 
nicht von solchen, die abgelehnt, sondern solchen, die geliebt wurden. 

Ein zwölfjähriges Schulmädchen sitzt vor mir. Weder der 
Gesichtsausdruck noch eine Bewegung oder ein Wort lassen die 
Stimmung, überhaupt die Gefühlskonstellation, in der es sich 
augenblicklich befindet, erkennen. 

Ich frage das Kind, welche Farbe ihm sehr gut gefällt, und 
erhalte zur Antwort: „Rot." Ich fahre fort: „Wenn ich mir eine 
Farbe vorstelle, so sehe ich sie immer an einem Gegenstande, 



117 



an welchem siehst du die rote Farhe?" „An dem vordersten 
Wagen der Grottenbahn im Prater", ist die Entgegnung-, 

„Nun gut, aber sage mir jetzt, welche Farbe du gar nicht 
magst!" 

„Schwarz." 

„Woran siehst du die schwarze Farbe?" 

„An Ihren Schuhen und Ihrer Krawatte." 

„Die schwarze Farbe kommt aber sicher auch noch anders 
wo vor, wo denn?" 

„Das Loch, in das die Grottenbahn im Prater hineinfährt, ist 
auch so schwarz." 

Was das alles bedeuten könnte, kommt in diesem Augenblick 
nicht in Frage, sondern nur das eine, daß eine Verschiebimg der 
ängstlichen Erwartung vor dem Antritte der Fahrt auf der Grotten- 
bahn im Prater auf meine Person stattgefunden hat. Die Kleine 
sitzt in derselben ängstlichen Spannung, wie damals im Wagen 
der Grottenbahn vor mir. Sie mag sich die Frage vorlegen: 
„Was wird jetzt kommen?" Woraus ist das zu erkennen? Meine 
Krawatte, die in Wirklichkeit dunkelgrau war, und meine Schuhe 
haben für das Kind die Farbe, die sie nicht mag, die auch das 
Loch zeigt, in das die Grottenbahn fährt! Sie sehen, wie rasch 
man hier auf einige Fragen Antworten erhielt, die mit absoluter 
Sicherheit einen Schluß auf die vorhandene psychische Situation 
des Kindes zuließen. Auf eine direkte Frage hätte ich sicherlich 
eine unbefriedigende Antwort erhalten; denn es ist anzunehmen, 
daß das Kind, selbst wenn es die Wahrheit zu sagen bereit 
gewesen wäre, nichts über seine Gefühlssituation zu sagen ge- 
wußt hätte. 

Solange nun diese ängstliche Stimmung anhält, ist erzieherisch 
nichts zu machen. Ich weiß nun nicht, wie sie damals verlief, 
lasse mir daher die Fahrt auf der Grottenbahn erzählen. Es 
waren im geheimnisvollen Dunkel grell beleuchtete Bilder auf- 
getaucht, Teufel, die im höllischen Feuer die armen Seelen 
brieten, Zwerge, die tief im Innern der Erde nach Schätzen 
gruben und noch manch andere Dinge. Etwas Unheimliches hat 
während der ganzen Fahrt angehalten und zu richtiger Lustigkeit 
war es nicht gekommen. Wir wanderten daher in der Erinnerung 
in den Wurstelprater, von einer Schaubude zur andern, fuhren 
auf verschiedenen Ringelspielen und unter Lachen erzählte sie 
vom komischen Bauchredner, der auch die Zukunft vorhersagen 
kann. Als ich dann noch fragte, welches lustigste Erlebnis sie 



erinnere, erzählte sie nochmals begeistert von einer Praterfahrt 
anläßlich ihrer Firmung. Damit war ein vollständiger Stimmungs- 
umschwung ins Positive erreicht, ah er auch schon das Stück 
Übertragung da, das für eine erste Unterredung notwendig ist. 
Jetzt war sie auch für Fragen zugänglich, die das betrafen, worauf 
es eigentlich ankam. Ich brauche wohl nicht besonders aufmerk- 
sam zu machen, daß das Kind selbst keine Ahnung von meiner 
Absicht hatte. 

Manchmal aber blitzt auch tiefes Mißtrauen auf. Vielleicht 
habe ich da etwas nicht richtig gemacht, oder es ist wieder eine 
besondere Art von Menschen. Da muß ich es dann wieder anders 
machen. Ich teile Ihnen gleich einen solchen Fall mit, und wie 
es mir gelang, nicht nur das Mißtrauen zum Schwinden zu 
bringen, sondern in der kürzesten Zeit mitten in das hineinzu- 
kommen, worauf es ankam. 

Ein sechzehnjähriges Mädchen, das früher nach seinem Be- 
nehmen, der Kleidung, Haartracht, den Eindruck erweckt hatte, 
der geheimen Prostitution ergeben zu sein, zeigte sich plötzlich 
vollständig verändert. Der freche Gesichtsausdruck war ver- 
schwunden, Kleidung und Benehmen waren das eines gesitteten, 
anständigen Mädchens geworden. Die Fürsorgerin wollte von mir 
wissen, was da vorgegangen war. Das konnte ich natürlich nicht 
ohneweiters wissen, sondern verlangte die Jugendliche zu sehen. 
Wir setzten uns nach der Ihnen nun schon bekannten Einleitung, 
die ganz deutlich zu erkennendes Mißtrauen ausgelöst hatte, 
zusammen. Ich fragte sie, wie es ihr zu Hause gehe, und erhielt 
keine Antwort. Ob sie gerne lese? Keine Antwort. Woran sie 
jetzt denke? Keine Antwort. Ob sie mir nicht einen Traum er- 
zählen wolle? Wieder Stillschweigen. Daraufhin lachte ich und 
sagte: „Nicht wahr, es erscheint Ihnen gefährlich, nur irgend 
etwas zu sagen, das begreife ich. Aber nicht wahr, es ist doch 
gewiß ganz ungefährlich, wenn Sie mir ein Kinostück erzählen." 
Sie ging mit Lachen auf den Scherz ein und begann ein Stück 
von einem Kinodrama zu erzählen: Ein Zirkusakrobat, der auf 
hochschwebendem Reck durch eine brennende Kugel fliegen muß, 
wird von zwei Mädchen geliebt, von denen das eine aus Eifer- 
sucht die Seile durchschneidet und so verursacht, daß der Mann, 
statt durch die brennende Kugel zu fliegen, in diese hineinfällt. 
Das zweite Mädchen rettet ihn vor dem Verbrennungstode, geht 
aber dabei selbst zugrunde. Dies der kurze Inhalt ihrer Erzählung, 
von der ich Ihnen nebenbei verrate, daß sie mit dem wirklichen 



119 



Inhalte des Kinodramas gar nicht übereinstimmte, sondern in 
wesentlichen Einzelheiten eine höchst persönliche Verarbeitung 
von Gesehenem darstellte. Ich fragte sie, was ihr in diesem Kino- 
stück am besten gefallen habe, und erhielt die vermutete Antwort, 
daß sich das Mädchen für den Geliebten opferte. Ich wollte nun 
wissen, ob sie sich noch erinnere, wie der Akrobat auf dem Kinofilm 
ausgesehen habe. Auf das Ja forderte ich sie auf, ihn mir so zu 
beschreiben, wie er aussehen müsse, damit er ihr sehr gut gefalle. 
Sie beschrieb ihn als einen jungen, schlanken, kräftigen, brünetten, 
bartlosen Mann mit hellen Augen. Und nun forderte ich sie auf: 
„Sage mir, wie sieht der Franzi aus!" Sie verstand mich sofort, 
daß ich damit ihren Geliebten meine, wurde einen Augenblick 
verlegen und beschrieb ihn dann so, wie eben den Helden im 
Kino. Sie erzählte sofort, ohne weitere Aufforderung, daß er 
Student der Chemie sei, die Mutter ihr aber den Verkehr mit 
ihm verbiete. Es war ganz deutlich zu erkennen, daß die wesent- 
liche Änderung des jungen Mädchens in der Richtung zum 
Besseren, der Konzentrierung ihrer Zuneigung auf einen Mann 
zugeschrieben werden muß. Es gelang hier, durch das Eingehen 
auf das Mißtrauen verhältnismäßig rasch über den Widerstand 
hinwegzukommen. 

Daß mir die Übertragung auch dazu verhelfen kann, auf 
tieferliegende Ursachen dissozialer Äußerungen aufmerksam zu 
werden, möchte ich Ihnen an einem besonderen Falle zeigen. 

Eine Bürgerschule zeigte an, daß einer ihrer dreizehnjährigen 
Schüler seit einigen Monaten regelmäßig an Dienstagen und 
Freitagen dem Schulunterrichte fernbleibt. Die Erhebungen er- 
gaben, daß er, statt in die Schule zu gehen, den Pferdemarkt 
besucht, dort aber kein materielles Interesse befriedigt, etwa 
durch kleine Hilfeleistungen zu sogenannten Trinkgeldern kommt, 
sondern sich nur unter den Pferdeverkäufern herumtreibt. Nach 
der Schulanzeige lag also ein Schulschwänzen an bestimmten 
Tagen vor. Ich sehe nun, wie ich Ihnen schon einmal angedeutet 
habe, nicht jede der aus der Norm herausfallenden Äußerungen 
als eine wer weiß wie tief begründete Sache an, sondern versuche 
zuerst immer mit den einfachsten Hilfsmitteln auszukommen. Da 
ich bei Schulschwänzern wiederholt recht gute Erfahrungen 
machte, wenn ich nach hergestellter Übertragung ihnen zeigte, 
daß mir ihr regelmäßiger Schulbesuch Freude macht, so ver- 
suchte ich das auch bei diesem Jungen. Sie müssen wissen, daß 
sich bei einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Kindern zu 



Hause niemand um den Schulbesuch kümmert, daher sehr oft. 
keine Motive vorliegen, Unlustsituationen der Schule zu ertragen 
Weiß so ein Junge, daß er mir Freude macht, wenn er nicht 
mehr die Schule meidet, kommt er die erste Zeit wöchentlich 
einmal, dann nur jede zweite Woche und später in immer 
größeren Zeitabständen; findet er bei mir ein williges Ohr für 
die schönen und unangenehmen Erlebnisse der abgelaufenen 
Schulwoche, so lebt er sich nach und nach wieder in der Schule 
ein und die Schwänzerei ist erledigt. Auch bei unserem Pferde- 
marktjungen war die Übertragung bereits beim ersten Zusammen- 
sein hergestellt. Er kam die nächste Woche darauf und auch die 
übernächste mit den Mitteilungen, wie sie mir von andern be- 
kannt waren. Am Dienstag der dritten Woche erschien gleich 
nach seinem Weggehen die Mutter und berichtete, daß er jetzt 
zwar regelmäßig die Schule besuche, aber zweimal in der Woche 
mittags gar nicht nach Hause komme, sondern erst abends. An 
dem seinen Kleidern entströmenden Gerüche nehme sie wahr, 
daß er sich in einem Pferdestalle herumgetrieben habe. 

Wir sehen hier, daß die Übertragung einem Symptom den 
Weg zur Äußerung versperrt hat, die es bedingende Kraft aber 
fortwirkt und ein neues zustande bringt. Unser Junge kann infolge 
der Gefühlsbeziehungen zu mir von der Schule nicht mehr weg- 
bleiben. Und nun zeigt es sich ganz deutlich, daß nicht ein Schul- 
schwänzen im gewöhnlichen Sinne des Wortes vorliegt. Irgend 
etwas zieht ihn zu Pferden, Schulzeit und Pferdemarkt fallen nur 
zufällig zusammen. Die Übertragung ist hier zum Hilfsmittel 
geworden, um zu erkennen, daß doch eine tiefer liegende Ursache 
vorhanden sein müsse. Diese wird auf psychoanalytischem Wege 
zu beheben sein. 

Ich kann Ihnen nicht mehr als diese kurzen Andeutungen 
machen, weil ich die uns noch zur Verfügung stehende Zeit ver- 
wenden möchte, Urnen doch auch einiges von der Herstellung 
der Übertragung in der Fürsorgeerziehungsanstalt mitzuteilen. 
Aus dem Ihnen bisher Gesagten dürfen Sie aber nicht den Schluß 
ziehen, daß ich schon zu feststehenden Regeln gekommen sei, 
deren Anwendung Ihnen in allen Fällen die Erschließung der 
psychischen Situation und die Herstellung der Übertragung er- 
möglicht. Ich will Sie mit meinen Andeutungen in Ihrer Praxis 
nur von den allergrößten Fehlern bewahren. 

Stehen wir dem Fürsorgeerziehungszögling in der Anstalt 
gegenüber, so sind wir nicht gezwungen, uns auf eine rascheste 



121 



Herstellung der Übertragung einzustellen. Wir können zuwarten, 
kümmern uns daher, wenn es sich, nicht um den neurotischen 
Grenzfall mit Verwahrlosungserscheinungen handelt, bei seinem 
Eintritte nicht sehr viel um ihn, sind zwar freundlich, zeigen 
aber kein besonderes Interesse für ihn und sein Schicksal und 
drängen uns ihm schon gar nicht auf. Es berührt uns weder sein 
Mißtrauen, seine offene oder stille Opposition, seine vornehme 
Überlegenheit noch die stille Verachtung, die er uns entgegen 
bringt. Die Vorbereitungen zur Einleitung der Übertragung über- 
nehmen die Zöglinge der Ein- und Auslaufgruppe. Mit den 
Altersgenossen kommt er in der Regel sehr rasch in Kontakt. 
Nicht, daß er sich diesen so gäbe, wie er wirklich ist, oder deren 
Freundschaft suchte, Freunde braucht er nicht, wie wir schon 
wissen. Auch diesen eröffnet er sein wahres Wesen nicht, spricht 
von sich nicht, oder erzählt von den Vergehungen und Ver- 
brechen mit viel Übertreibungen, erfindet gelegentlich ganz be- 
sondere Sachen, wenn ihm nicht genug imponierende tatsächliche 
zur Verfügung stehen. Aber erfahrungsgemäß erkundigt er sich 
sofort näher um die Einzelheiten des Betriebes und um die Personen, 
mit denen er in Berührung kommt. So ist beispielsweise die erste 
Frage, ob der Erzieher ein „fescher Kerl" sei und ob und wie dieser 
sich „pflanzen" läßt. Ich kann Ihnen diese Ausdrücke nicht ins Hoch- 
deutsche übersetzen, sie verlieren dabei zu viel an Inhalt. Von den 
zur Entlassung bereits reifen Zöglingen erfährt er nun vieles. Diesen 
sind auch die Eigenheiten der Erzieher nicht fremd geblieben. Was 
er zu hören bekommt, ist wirkliches Leben, geschildert so, wie es 
die einzelnen sehen. Er erhält dadiirch nicht erste Eindrücke, die 
ihn durch spätere Erfahrungen enttäuschen, lernt nicht eine Autorität 
kennen, über die er sich, innerlich lachend, hinwegsetzt, oder die 
er mit Zähneknirschen erträgt, weil er keine Wahl hat, um sich 
dann später in der Freiheit wieder zu rächen. 

Die Übertragung auf den Erzieher ergibt sich dann, wenn das 
Milieu seine Schuldigkeit getan hat, im Zusammenleben mit 
diesem, auf die eine oder andere Art, indem der Erzieher sich 
nach und nach aus seiner Passivität herauslocken läßt, bei gleich- 
mäßig freundlichem Ton den „Neuen" einmal mehr, ein andermal 
etwas weniger beachtet. Dieser Wechsel zwischen deutlichem 
Sehen und weniger deutlichem Erkennen läßt den Zögling nicht 
gleichgültig. Wird er mißtrauisch, weil ihn der Erzieher heute 
mehr beachtet hat, als seiner Meinung nach am Platze war, so 
schwindet diese Auffassung, wenn er morgen nicht aus der Masse 



herausgehoben wird, der Erzieher, ohne von ihm besonders Notiz 
zu nehmen, vorübergeht. Er gerät aber in unschwer zu erkennen- 
den Erregungszustand, wenn er am übernächsten Tag einen Blick 
des Erziehers auffängt, aus dem er spürt, daß dieser seine un- 
geputzten Stiefel wenig freudig bemerkt hat und doch darüber 
nicht spricht. Sie glänzen dann mehr oder werden noch schmieri- 
ger, je nach der Art der sich regenden Übertragung, oder bleiben 
unverändert, wenn diese noch nicht unterwegs ist. Dann heißt 
es eben zuwarten. Was ich von den Schuhen gesagt habe, läßt 
sich an einer Menge anderer Kleinigkeiten des Alltags auch be- 
merken. Der Erzieher muß nur scharf hinsehen. Er bedarf dann 
allerdings eines feinen Gefühles, um die Ambivalenz, den Wechsel 
zwischen Zuneigung und Ablehnung, in den Beziehungen des 
Zöglings zu ihm zu erkennen. Es läßt sich dafür wieder keine 
allgemein gültige Unterweisung geben, Man muß es miterleben, 
wie der tüchtige Erzieher diese Wellenbewegung dirigiert, das 
Wellental immer mehr zum verflachen bringt und zielbewußt 
einem Wellenberge, einem Höhepunkt, zustrebt. Dessen Erreichung 
ist dann so auffällig, daß er auch dem ungeschulten Auge nicht 
entgehen kann. Die Gefühle der Zuneigung brechen mit einer 
Vehemenz durch und haben für den Zögling derart zwingende 
Kraft, daß er, ganz gleich, ob Kind oder Jugendlicher, den Er- 
zieher hochgespannt erwartet, sich so benimmt, daß er diesem 
auffällig werden muß, ihm ununterbrochen über den Weg läuft, 
immer etwas zu tun hat, um in seiner Nähe zu bleiben. Der 
ungeschickte Erzieher wird die Bedeutung dieses Momentes nun 
nicht erkennen, den auf einmal so aufdringlich Gewordenen ab- 
wehren und nicht bemerken, daß er durch sein Verhalten die 
Zuneigung des Zöglings zu sich in Haß gegen sich verwandelt. 
Im Gegenteil, wenn die Haßreaktionen eintreten, wird er hoch- 
erfreut darauf hinweisen, daß er den Heuchler, der erst jetzt sein 
wahres Gesicht zeigt, immer durchschaut hat. Wenn wir ihm 
dann sein ungeschicktes Verhalten begreiflich machen wollen, 
predigen wir tauben Ohren; denn es ist ihm nicht begreiflich zu 
machen, daß das Wirkung ist, was er für die Ursache hält. 

Wie schwierig manchmal die Übertragung bei stark narziß- 
tischen, das heißt in sich selbst sehr verliebten Zöglingen her- 
zustellen ist, möchte ich Ihnen an einem Zögling des Erziehungs- 
heimes in Oberhollabrunn zeigen. 

Es handelte sich um einen siebzehnjährigen Lebemann und 
Spieler, der sich zuerst als Börsenspekulant und dann als Schleich- 



123 



händler sehr hohe Beträge verdiente. Seine Laufbahn begann er 
als Kontorist, kam als Fünfzehnjähriger zu einem Winkelbankier, 
der den intelligenten, sehr verwendbaren Jungen mit Börsen- 
aufträgen betraute und ihm ermöglichte, Geschäfte auch auf 
eigene Bechnung zu machen. So brachte er 55.000 Kronen zu- 
sammen, mit denen er sich selbständig machte. Für das Jahr 1917 
war das ein bedeutendes Betriebskapital. Er fuhr nach Galizien 
und brachte von dort Lebensmittel mit, die er im Schleichhandel 
weitergab. Das Geschäft warf reichen Gewinn ab. In Wien führte 
er ein lockeres Leben, trieb sich in Nachtlokalen herum, hielt 
zweifelhafte Damen aus und verbrachte viel Zeit mit Kartenspiel, 
das er leidenschaftlich betrieb. Gewinn und Betriebskapital ver- 
schwanden. Um sich dieses wieder zu verschaffen, räumte er 
seiner Mutter den Wäschekasten aus. Diese, nach äußerst trauriger 
Ehe verwitwet, hatte wiederholt versucht, den mittlerweile siebzehn 
Jahre alt Gewordenen zu einem ordentlichen Lebenswandel zu 
bringen. Da es ihr nicht gelang, nahm sie die Hilfe einer Jugend- 
fürsorgeorganisation in Anspruch, die den Jungen zu uns brachte. 

Er war einer von denen, die keine besonderen Schwierigkeiten 
machen, solange man sich mit guter Aufführung in der Anstalt 
begnügt. Solche Zöglinge sind höflich und zuvorkommend, recht 
anstellig und zu leichteren Kanzleiarbeiten gut zu gebrauchen. 
Bei ihren Mitzöglingen wissen sie sich ohne Beibungen einzuleben 
und erlangen doch bald eine gewisse Führerrolle. Wenn man sich 
aber näher mit ihnen beschäftigt, wird man die Schwierigkeiten 
gewahr. Innerlich verkommen, äußerlich aalglatt, geben sie keine 
Angriffsfläche zu erzieherischen Einwirkungen. Ihr Gehaben ist 
Maske, zwar eine sehr gute, aber doch nur Maske. Dem Erzieher 
schließen sie sich nicht an und verhindern auch jedenAnnäherungs- 
versuch desselben. Die Übertragung, die gerade bei ihnen sehr 
stark sein muß, ehe auch nur daran gedacht werden kann, er- 
zieherisch auf sie einzuwirken, ist fast nicht herzustellen. Sie 
gehören eben zu denen, die sich in der Anstalt nichts zuschulden 
kommen lassen und sehr bald den Eindruck machen, geheilt zu 
sein. Sobald sie aber wieder ins freie Leben zurückkommen, sind 
sie die alten. Bei ihnen ist daher äußerste Vorsicht geboten. 

Auch unser Lebemann wußte sich jeder Einflußnahme zu ent- 
ziehen. Er war schon einige Monate bei uns, ohne daß sich eine 
Übertragung im Sinne der Psychoanalyse hergestellt hatte. Man 
konnte aber doch bemerken, daß das Oberhollabrunner Milieu 
nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben war. Ich wollte ihn auf 



124 



ganz kurze Zeit von uns weghaben, damit ihn die negative Lust- 
betonung eines anderen Milieus das wohltuende Milieu von Ober- 
hollabrunn recht deutlich empfinden lasse und er vielleicht da- 
durch behandlungsreif würde. Dazu durfte er aber nicht zwangs- 
weise fortgebracht werden, sondern mußte selbsthandelnd bleiben. 
Natürlich war zu vermeiden, daß er diese Absicht auch nur ahnte. 
Als geeignetes Mittel, diese Voraussetzung zu erfüllen, war die 
Stimmungsbeeinflussung sehr naheliegend. Das eigenmächtige Ver- 
lassen der Anstalt, das „Durchgehen", erfolgt in vereinzelten Fällen 
infolge eines plötzlichen Affektes oder eines Traumes und ist dann 
gewöhnlich schwer zu verhindern. In den weitaus meisten Fällen 
bereitet es sich tagelang vor und darf dem geschulten Auge des auf- 
merksamen Erziehers nicht entgehen. Wir halten es — abgesehen von 
unserer ablehnenden Stellungnahme gegen die Strafe in Besserungs- 
anstalten überhaupt — für eine vollständige Verkennung der Zu- 
sammenhänge, wenn in den Satzungen von Besserungsanstalten 
Rutenstreiche für rückeingelieferte Durchgänger vorgesehen sind. 
Das Durchgehen erfolgt, wenn das „Draußen" stärker lustbetont ist 
als das „Drinnen". Gelingt es in dieser Konfliktstimmung, den 
Zögling zu einer Aussprache zu bringen, so wird es unschwer 
möglich sein, ohne seine Durchgehabsicht auch nur zu berühren, 
ihm das „Drinnen" stärker lustbetont zu machen. Er bleibt dann. 
Den anderen, der dableiben will, zieht es hinaus, wenn ihm das 
„Draußen" von uns stärker lustbetont in Erinnerung gerufen wird. 
Es genügte auch tatsächlich eine halbstündige Aussprache mit 
entsprechender Stimmungsbeeinflussung und nach einer weiteren 
halben Stunde kam vom Erzieher seiner Gruppe die Nachricht, 
daß er durchgegangen sei. Der erste Teil der „Erziehungs- 
handlung" war geglückt, den Zögling hatte es unwiderstehlich 
hinausgezogen. Der Erzieher wußte nicht, daß das Durchgehen 
von mir provoziert worden war. (Ich mache während eines Ver- 
suches dem Erzieher nur dann davon Mitteilung, wenn ich seiner 
Mithilfe bedarf, da es im ständigen Zusammenleben mit den 
Zöglingen sehr schwierig ist, unbefangen zu bleiben. Ist der Ver- 
such gelungen oder auch ergebnislos verlaufen, so gibt er Anlaß 
zu lebhaftem Meinungsaustausch.) Bei unserem siebzehnjährigen 
Lebemann und Spieler war das geglückte Provozieren zum Durch- 
gehen der Auftakt zur Herstellung der Übertragung. Ich vermutete 
seine Rückkehr schon am zweiten Tage. Als der achte Tag vorüber 
war und er noch immer nicht erschien, fürchtete ich, mit meinem 
Eingreifen einen Fehlgriff getan zu haben. 



125 



Am zehnten Tage um halb zehn Uhr abends klopfte es an 
meiner Wohnungstüre. Franz (nennen wir ihn so) war da. Er 
war körperlich ermattet und seelisch derart in Spannung, daß ich 
vermutete, nun erzieherisch viel mehr leisten zu können, als ich 
bei der Provokation seines Durchgehens beabsichtigt hatte. Ich 
machte ihm keinerlei Vorwürfe wegen seines Durchgehens, die 
er allem Anscheine nach erwartet hatte, sah ihn einen Augenblick 
ernst an und fragte ihn dann sofort: „Wann hast du zum letztenmal 
gegessen?" — „Gestern abends." Ich nahm ihn in meine Wohnung, 
setzte ihn an meinen Tisch, wo die Familie gerade beim Abendessen 
war und ließ auch ihm anrichten. Franz, der auf alles andere eher 
gefaßt war, kam dadurch so aus dem Gleichgewicht, daß er nicht 
essen konnte. Trotzdem ich das sah, fragte ich: „Warum ißt du 
nicht?" — „Ich kann nicht, darf ich draußen essen?" — „Ja, geh' in 
die Küche." Er bekam seinen Teller so lange nachgefüllt, bis er satt 
war. Es war mittlerweile zehn Uhr geworden. Ich ging zu ihm in 
die Küche und wandte mich an ihn mit den Worten: „Es ist schon 
zu spät, du kannst heute nicht mehr in deine Gruppe gehen, du 
wirst bei mir schlafen." Ich bereitete ihm im Vorzimmer ein Lager, 
Franz legte sich schlafen, ich strich ihm über den Kopf und wünschte 
ihm eine gute Nacht. Am nächsten Morgen war die Übertragung 
da, so daß es erzieherisch recht gut mit ihm vorwärts ging. Wie 
stark sie war, erkannte ich aus einem Fehler, den ich viel später 
in St. Andrä machte. Ich gab ihm, ohne es zu wissen, Anlaß zu 
begründeter Eifersucht dadurch, daß ich ihm einen seiner Mit- 
zöglinge in gewissen Kanzleiarbeiten, tabellarische, rechnungs- 
mäßige Zusammenstellungen, die er nicht fehlerlos erledigte, als 
nachprüfendes Rechnungsorgan beiordnete. Aus einem Racheakte 
mir gegenüber wurde mir die Unvorsichtigkeit klar. Es gelang 
unserem Verwalter, dem er zugeteilt war, durch richtiges Ein- 
gehen auf diese ganz besonders schwierige Individualität, die 
Scharte auszuwetzen. Bald darauf wurde er betraut, Lebensmittel 
und andere Waren, Millionenwerte, von Wien mit dem Lasten- 
auto zu bringen. Er ließ sich nichts mehr zuschulden kommen, 
wurde als Kaufmann freigesprochen und ist seit Jahren als Kommis 
in einem großen Betriebe zur vollsten Zufriedenheit tätig. 

Zur Herstellung der Übertragung bedarf es natürlich nur selten 
so besonderer Kunstgriffe. In der Regel genügt der Ihnen an- 
gegebene Vorgang. Ich habe Ihnen den vorliegenden Fall nur 
deswegen mitgeteilt, weil Sie auch hier wieder erkennen sollen, 
daß es ganz unmöglich ist, feststehende Regeln zu geben. 



126 



Sie hörten bereits, daß die Art und Stärke der libidinösen 
Bindungen des Kindes an die Objekte seiner ersten Umgebung 
richtunggebend für das ganze spätere Leben bleibt. Damit scheint 
nun auch zu stimmen, daß wir unsere nicht unbeträchtlichen 
Erfolge in der Behebung der Verwahrlosung einer Einflußnahme 
auf das spätere Schicksal der Libido im Sinne der Sublimierung 
und Kompensierung verdanken. Wie wir das auffassen, möchte 
ich Ihnen an zwei Beispielen aus dem Jugendheime in St. Andrä 
zeigen: an einem Sechzehnjährigen, der vom psychiatrischen Kon- 
sulenten als leichte Form der Schizophrenie bezeichnet wurde, 
und an einem siebzehnjährigen Homosexuellen. 

Der Sechzehnjährige, ein Junge aus sehr gutem bürgerlichen 
Milieu, wurde der Fürsorgeerziehung wegen fortgesetzter häus- 
licher Diebstähle übergeben. Er kam zu uns, nachdem seine Unter- 
bringung in mehreren anderen Anstalten erfolglos geblieben war. 
Wie arg er es trieb, ist daraus zu ersehen, daß sein Vater, als er 
ihn brachte, zu mir sagte: „Der Junge hätte uns ruiniert, wäre 
er noch länger zu Hause geblieben." Er war sehr schwierig zu 
führen, äußerst reizbar, bildete sich zeitweilig ein, daß die anderen 
ihn ablehnen, ja, ihn körperlich bedrohen, und leistete sich dann 
arge Aggressionen gegen seine Mitzöglinge, Erzieher und andere 
Personen seiner Umgebung. So rächte er sich auch einmal an 
dem Anstaltsverwalter, von dem er sich beleidigt glaubte, dadurch, 
daß er in einer Nacht vor dessen Wohnungstür defäzierte. Sein 
Größenwahn lebte sich in der Idee aus, Einbrecherkönig zu werden. 
Er hatte sich in Wien eine „Platte" gebildet gehabt, die er zu 
beherrschen wähnte, von der sein Vater aber gerade das Gegen- 
teil berichtete. Sein Verhalten bei uns und die wiederholten Aus- 
sprachen mit ihm bestätigten die oben erwähnte Diagnose. 

Dem körperlich kräftigen, intellektuell unternormalen Jungen 
war unter Ausnützung der so deutlich aggressiven und analen 
Komponente eine Beschäftigung zuzuweisen, bei der er körper- 
lich etwas leisten konnte, ohne dabei infolge der mangelnden 
Intelligenz beschämenden Vergleichen ausgesetzt zu sein. Bei uns 
war da nur die Gemüsegärtnerei mit ihrem Wühlen in Dung und 
Erde in Frage gekommen. Die Zuweisung in die Gärtnerei erwies 
sich auch tatsächlich als die beste Berufswahl. 

Der Siebzehnjährige wurde in die Schneiderwerkstätte gegeben, 
weil anzunehmen war, daß die Anfertigung von Männerkleidern 
eine Sublimierung seiner homosexuellen Strebungen ermöglichen 
werde. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß wir der 



127 



Meinung seien, jeder homosexuelle Dissoziale müsse, um sozial 
zu werden, das Schneidergewerbe erlernen. Nur die besondere 
Art im Wesen dieses Jungen veranlaßte mich, den Versuch zu 
wagen. Er erlernte in fünf Monaten, was normalerweise erst in 
drei Jahren erlernt wird. Der Werkmeister bezeichnete ihn als 
Schneidergenie; in der ganzen Zeit kam nur ein Rückfall vor, 
der Versuch, einen Mitzögling zu homosexuellen Handlungen zu 
verleiten. Durch die Auflösung unserer Anstalt mußten wir ihn 
früher als beabsichtigt entlassen. Er kam in ein größeres Schneider- 
atelier, lernte dort aus und wurde bis jetzt nicht rückfällig. 

Wir sind nun der Meinung, daß die Berufsberatung für diese 
beiden Jungen aus unserer psychoanalytischen Einstellung heraus 
richtig erfolgt war. Dem ökonomischen Gesichtspunkte der Psycho- 
analyse war entsprochen worden, sie fanden in ihrer täglich acht- 
stündigen gewerblichen Arbeit die besten Vorbedingungen für den 
„automatisch" durch das Lustprinzip regulierten Ablauf ihrer seeli- 
schen Vorgänge. Wie das zu verstehen ist, kann ich Ihnen heute 
nicht näher ausführen, ich verweise Sie auf den neunten Vortrag, 
in dem ich mehr über das Lustprinzip sagen werde. Wenn Sie 
aber überlegen, daß wir erzieherisch nicht in der Lage sind, die 
Kraftquellen, aus denen der Homosexuelle die Energien für sein 
psychisches Leben bezieht, zu ändern, so werden Sie verstehen, 
daß wir bemüht waren, die Kraftäußerung ins Soziale zu richten. 
Wir rechneten damit, daß gerade durch die Arbeit in der Schneider- 
werkstätte seine perverse Libido in nützlicher Verwendung ab- 
reagiert werde, statt ihn mit der Polizei in Konflikt zu bringen. 
Erwähnen möchte ich noch, daß der Junge gegen seinen Willen 
und energischen Protest der Schneiderei zugewiesen worden war, 
und daß er sich dort monatelang sehr unbehaglich fühlte. Als 
unsere Anstalt aufgelöst wurde und er uns verließ, kam ich mit 
ihm auf seine Leistungen in der Schneiderei zu sprechen. Er 
war zu der Zeit schon mit großer Begeisterung Schneiderlehrling 
und entgegnete mir: „Es ist doch gut, wenn einem nicht immer 
sein Wille gelassen wird." 

In beiden Fällen war die psychoanalytische Beurteilung der 
dissozial verwendeten Libidokomponente und der normalen Libido- 
verwertung bei den Handwerken in der Berufswahl zur Behebung 
der Verwahrlosung benützt worden. 

Eine eingehende Psychoanalyse hätte wahrscheinlich ein sicheres 
Ergebnis gebracht. Das war damals nicht möglich und auch in 
Zukunft wird in den Besserungsanstalten aus praktischen und 



128 



theoretischen Gründen nicht jeder Zögling einer Analyse zuge- 
führt werden können. Sie muß grundsätzlich aber für alle 
jene neurotisch Verwahrlosten verlangt werden, die 
solche Führungsschwierigkeiten bieten, daß sie jede 
Zöglingsgruppe ablehnt. 

Wenn für den Jugendlichen auch die Berufsausbildung, die 
täglich achtstündige Arbeit innerhalb der Anstalt von allergrößter 
Bedeutung ist und eine psychoanalytisch orientierte Fürsorge- 
erziehung der Berufswahl besondere Aufmerksamkeit zuwenden 
wird, so macht sie doch zur Behebung der Verwahrlosung nicht 
alles aus. Sie ist wieder nur ein Teil von Maßnahmen, von denen 
wir einige schon besprochen haben, über die wir heute aber noch 
mehr hören werden, und die erst in ihrer Gesamtheit die richtig 
organisierte Fürsorgeerziehungsanstalt bilden. So wie in den beiden 
angeführten Fällen die richtige Arbeitszuteilung für die Ausheilung 
ausschlaggebend wurde, ist es uns manchmal gelungen, durch herz- 
haftes Zugreifen bei akutem Konflikt oder durch Herbeiführung 
eines solchen die Behebung der Dissozialität anzubahnen. Was 
damit gemeint ist, wie sich solche Gelegenheiten herstellen lassen, 
habe ich Ihnen an dem siebzehnjährigen Lebemann gezeigt, bei 
dem es mir um die Herstellung der Übertragung zu tun war. Sie 
haben dabei auch gesehen, wie mir der Zufall der Art seiner Rück- 
kehr zu Hilfe kam, der mir weit mehr zu leisten ermöglichte, als 
ich ursprünglich beabsichtigt hatte. 

In einem Diebstahlsfall innerhalb der Anstalt verwertete ich 
die gegebenen Umstände nicht gefühlsmäßig, sondern schuf mit 
Überlegung die erforderliche Situation. Wie das zuging, werde 
ich Ihnen, da es mir recht instruktiv erscheint, mitteilen. Sie 
können daraus auch wieder ersehen, daß sich der Fürsorgeerzieher 
von jeder Schablone freimachen muß. 

Während einer Fahrt von Oberhollabrunn nach Wien las ich 
Dr. Ranks Buch: „Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage." An einer 
Stelle führt er die Aristotelische Lehre von der Katharsis an. Dabei 
kam mir die Überlegung, ob nicht Konfliktssituationen, in denen sich 
Fürsorgeerziehungszöglinge so oft befinden, zur Einleitung der Ka- 
tharsis ausgenützt werden könnten, d. h. ob es in solchen Fällen 
möglich wäre, den Zögling selbst zum Helden eines „Dramas" zu 
machen. Als zum ersten Versuch geeignet erschienen mir Diebstahls- 
konflikte. Die Gelegenheit dazu ergab sich sehr bald. 

Wir hatten einen achtzehnjährigen Zögling, der wegen Kamerad- 
schaftsdiebstählen aus der Kadettenschule ausgeschlossen worden 



129 



war und der sich auch Haus- sowie Fremddiebstähle hatte zu- 
schulden kommen lassen. Ich übertrug ihm nach einigen Monaten 
Aufenthaltes bei uns absichtlich die Verwaltung der Tabakkasse. 
(In diese bezahlten die Angestellten die Beträge zur gemeinsamen 
Behebung ihrer Tabakfassungen.) Der Gesamtbetrag, der allwöchent- 
lich einlief, betrug 700 bis 800 Kronen, für die damalige Zeit ver- 
hältnismäßig viel Geld. Den Kassier hatte ich ersucht, den Jungen 
so zu beobachten, daß dieser davon nichts merke, und mir Mit- 
teilung zu machen, wenn ein Abgang vorkommen sollte. Nach 
ungefähr vier Wochen wurde mir das Fehlen von 450 Kronen 
gemeldet. Mir schien nun die Gelegenheit gekommen, den Zög- 
ling der Erschütterung und Rührung ausztisetzen, um so die 
Katharsis zu versuchen, obwohl ich noch keine Ahnung hatte, wie 
das anzufangen wäre. Ich wollte vorerst Zeit gewinnen, ersuchte 
den Kassier, mir den Zögling erst nachmittags in die Kanzlei 
zu schicken und ihm nicht zu sagen, daß der Abgang bemerkt 
worden sei. 

Der Junge kam, ich war mir noch immer nicht klar, was ich 
tun sollte. Ich wollte ihn vorläufig eine Zeitlang um mich haben 
und machte ihm den Vorschlag, mir beim Abstauben und Ordnen 
meiner Bücher zu helfen. Was war zu tun? 

Es mußte versucht werden, eine Handlung zu gestalten, in 
deren Mittelpunkt er selbst steht und die sich so zu entwickeln 
hat, daß sein ausgelöster Angstaffekt bis zur Unerträglichkeit 
gesteigert wird; im Augenblick der unvermeidlich scheinenden 
Katastrophe dieser eine so entgegengesetzte Wendung zu geben, 
daß die Angst plötzlich in Bührung umschlagen muß. Die durch 
diesen Affektkontrast hervorgerufene Erregung hat die Ausheilung 
zu bringen oder einzuleiten. 

Im vorliegenden Falle spielte sich das „Drama" folgender- 
maßen ab: Wir beginnen zu arbeiten. Ich frage ihn um sein 
Ergehen, um dies und jenes und komme nach und nach auch 
auf die Tabakkasse zu sprechen. „Wieviel Geld nimmst du 
wöchentlich ein?" — „700 bis 800 Kronen." Wir räumen weiter 
Bücher ein. Nach einiger Zeit: „Stimmt dir deine Kasse auch 
immer?" Ein zögerndes „Ja", von dem ich aber weiter nicht 
Notiz nehme. Wieder nach einiger Zeit: „Wann hast du den 
größten Parteienverkehr?" — „Vormittags." — Und etwas später: 
„Ich muß mir doch einmal deine Kasse ansehen." Der Junge 
wird merklich unruhiger, ich sehe es nicht, sondern arbeite mit 
ihm weiter, lasse aber nicht locker, sondern komme immer wieder 



130 



auf die Tabakkasse zu sprechen. Als sich sein Unbehagen derart 
gesteigert hat, daß ich den Zeitpunkt für gekommen erachte, stelle 
ich ihn plötzlich vor die Entscheidung: „Du, wenn wir hier fertig 
sind, werde ich mir deine Kasse ansehen." (Seit unserem Zu- 
sammensein sind ungefähr fünf Viertelstunden vergangen.) Er steht 
mit dem Rücken zu mir vor dem Bücherkasten, nimmt ein Buch 
heraus, um es abzustauben und — läßt es fallen. Jetzt sehe ich 

seine Erregung. „Was ist dir? — „Nichts!" — „ Was fehlt 

dir in deiner Kasse?" — — — Ein angstverzerrtes Gesicht, 
zögerndes Stammeln: „450 Kronen." Ohne ein Wort zu sprechen, 
gebe ich ihm diesen Betrag. Er sieht mich mit einem unbeschreib- 
lichen Blick an und will sprechen. Ich lasse ihn nicht reden, aus 
dem Gefühl heraus, daß mein Tun auf ihn noch wirken müsse, 
und schicke ihn mit einem freundlichen Kopfnicken und einer 
entsprechenden Handbewegung weg. Nach ungefähr zehn Minuten 
kommt er zurück, legt mir die 450 Kronen auf den Schreibtisch 
mit den Worten: „Lassen Sie mich einsperren, ich verdiene nicht, 
daß Sie mir helfen, ich werde ja doch wieder stehlen!" Diese in 
höchster Erregung hervorgestoßenen Worte werden von heftigem 
Schluchzen abgelöst. Ich lasse ihn niedersetzen und spreche mich 
mit ihm aus, halte ihm keine Moralpredigt, sondern höre teil- 
nahmsvoll an, was aus ihm herausquillt; seine Diebereien, seine 
Stellung zur Familie, zum Leben überhaupt und vieles, das ihn 
beschwert. Der anfänglich überaus starke Affekt wird unter Er- 
zählen und Weinen allmählich schwächer. Schließlich gebe ich 
ihm das Geld neuerdings, indem ich ihm sage, ich glaube nicht, 
daß er nochmals stehlen werde, er sei mir die 450 Kronen wert. 
Und im übrigen schenke ich sie ihm nicht, er möge weniger 
rauchen und mir nach und nach den Betrag zurückzahlen. Damit 
niemand etwas merke, solle er den Betrag in die Kasse zurück- 
legen. Den Kassier mache ich aufmerksam, daß der Schaden 
gutgemacht sei und daß er sich von der Sache nichts wissen 
machen möge. Nach ungefähr zwei Monaten hatte ich tatsächlich 
mein Geld zurückbekommen. 

. . . Praktisch war der Erziehungsfall erledigt, da sich der 
Junge die kurze Zeit, die er noch bei uns verblieb, sehr gut 
aufführte. Er ist seit zweieinhalb Jahren als Zeichner in einer 
großen Möbelfabrik angestellt und hält sich sehr brav. 



Bürger Machiavell ist Unterrichtsminister 

geworden und hält den Hofräten seines 

Ministeriums folgende Programmrede: 

(Aus „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung" von Dr. Siegfried Bernfeld) 

„. . . Dieses, unser Ziel, zu erreichen, schlage ich Ihnen fol- 
gende organisatorische Maßnahmen vor. Sie müssen nämlich 
verstehen, daß die Organisation des Erziehungswesens das 
entscheidende Problem ist, das wir konsequent und uner- 
bittlich unserem Einfluß restlos vorbehalten müssen, während 
wir die Lehrplan- und Unterrichts-, selbst Erziehungsfragen 
beruhigt den Pädagogen, Ideologen, ja selbst den Sozialdemo- 
kraten überlassen können. Doch werde ich auch in dieser 
Zulassung taktisch vorgehen. Sie wird gefordert werden, wir 
lassen lange um sie kämpfen, und gewähren sie in Form 
von Konzessionen immer dann, wenn wir eine Ablenkung 
der Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit für nötig halten. 
Also die erste organisatorische Forderung ist: Trennung der 
bürgerlichen Jugend von der proletarischen. Ich hoffe, Sie 
vergessen keinen Augenblick, daß wir uns in geheimer Amts- 
sitzung befinden, und werden sich hüten, der Presse diese 
Formulierung mitzuteilen. Es ist dies auch nicht nötig, denn 
die bürgerliche Jugend sind die Kinder jener Familien, die 
vor jeder Proletarisierung in dieser Generation völlig gesichert 
sind. Es sind nicht sehr viele. Aber es sind die, auf die es 
ankommt. Wir haben sie keineswegs in getrennten Schulen 
zu erziehen. Dies würde unnötiges Aufsehen erregen. Und 
das Vermögen und soziale Ansehen ihrer Väter sichert ihnen 
ohnedies eine ungestörte Schullaufbahn. Sie sind die erblichen 
Herrscher unserer Gesellschaft und Wirtschaft, bestimmt, ihre 
Macht ungekrönt und unbekannt sogar auszuüben. Es wird 
ihnen nützlich sein, den Zauber solcher Inkognitoexistenz und 
die Befähigung hiezu an Schule und Universität frühzeitig zu 
erfahren und zu üben, scheinbar völlig gleich allen anderen, 
in Wahrheit die Herrscher schon mit der Schiefertafel — 



132 



(die wir übrigens abschaffen sollten, da wir nicht genug Revo- 
lutiönchen machen können, und Sie sollen sehen, wie unser 
Staat ein Jahrzehnt lang von der wichtigen Frage, Schiefer 
oder Papier für Schulanfänger widerhallt!) — Wenn ich sage, 
wir wollen die bürgerliche Jugend von der übrigen trennen, 
so meine ich die Kinder jener Familien, deren künftige 
Klassenzugehörigkeit unsicher ist, die wir mit den Thron- 
folgern zusammen erziehen, aufwachsen lassen wollen. Sie 
werden sich, infolge der libidinösen Identifikation, wie Bern- 
feld sagt, für ihr Leben unseren Kapitalfürsten anschließen 
und ihnen treue Lehensritter sein. Natürlich bloß mit der 
Treue, die Lehensrittern seit alters her spezifisch war. Die 
provisorische Treue. Sie werden sich redlich bemühen, an 
die Stelle des Fürsten zu gelangen, sein Land — ich meine 
das bildlich, wie Sie wohl verstehen — zu erobern, den 
Fürsten zu töten. Aber, und wenn ihr Gehalt kaum zum 
Leben hinreichen sollte, sie werden zwar die persönlichen 
Feinde aller Besitzer, aber nimmermehr des Besitztums sein, 
mit dem sie identifiziert sind. Eine tüchtige Identifikation 
zeugt Hoffnungen, denen lebenslängliche Enttäuschungen nichts 
anhaben. Ich empfehle also einen Intellektuellenstand zu 
schaffen, indem Sie die quasi bürgerliche Jugend durch eine 
Bildungskluft von der proletarischen trennen, und sie durch 
Identifikation für ewig im Wünschen und Denken mit der 
besitzenden Klasse verknüpfen. Diese psychologische Basis erst 
wird sie gegen die Einsicht ihrer ökonomischen Situation 
sichern und ihre individuellen Chancen für den ökonomischen 
Aufstieg, die, wenn auch klein, im Prinzip vorhanden sind, 
im Sinne ihres Ideals erkämpfen lassen. Nur so erreichen wir 
die paradoxen Existenzen, die ohne Besitz für ihn kämpfen, 
denn der integre Bestand unserer Klassenherrschaft gibt ihnen 
die Chance, ihr Ideal zu erreichen, ja es ist mit ihr eigent- 
lich schon erfüllt. Unter zwanzig Jahren werden wir keinen 
dieser Jünglinge, womöglich keinen unter fünfundzwanzig 
Jahren, in die wirtschaftliche Realität eintreten lassen. Jeder 
soll ad libitum die Glücksmöglichkeiten des Besitzes kosten, 
sie sollen sich ihm mit der Lust der jungen Erotik, mit Freiheit 



l 53 



und Trubel unlöslich verknüpfen, er soll in diesen gefähr- 
lichen Jahren, wo Querköpfe, und in der Pubertät wird 
man sehr leicht querköpfig, bereit sind, die Gesellschaft auf 
Gerechtigkeit und Recht zu prüfen, sie nicht kennen lernen in 
ihrem wirklichen Bestand. Und wenn er sie mal kennen lernt, 
soll er sie und ihre Vorteile, für sich und den Besitzenden 
überhaupt, nicht mehr entbehren können; Sie sollen sehen, 
wie er sie gründlich auf Grund seiner erlernten Philosophie 
bejahen wird. Ich werde verbieten, daß man Studenten auf 
den Universitäten duldet, deren Väter sich nicht zu einem 
largen Taschengeld entschließen wollen und können. Solche 
Kerle sind in höchstem Maße staatsgefährlich . . . Diese Jugend 
bleibt also bis in die Zwanzigerjahre in der Schule. Das 
heißt, meine Herren, ich warne Sie aufs Ernsteste, sich hier 
in die pädagogischen Fragen einzumengen. Hierin haben Sie 
keinerlei Meinung und Überzeugung zu haben. Vergessen 
Sie nicht, Sie sind Beamte eines Unterrichtsministeriums. Als 
solche haben Sie in Unterrichtsfragen strengste Neutralität 
zu wahren; es kann allerdings opportum sein, gelegentlich 
einen anderen Anschein zu erwecken. Was in diesen bür- 
gerlichen Schulen mit der Jugend geschieht, ist völlig gleich- 
gültig. Denken Sie diesen Gedanken durch! Wichtig ist bloß, 
wer in sie aufgenommen wird, und ob die Anstalten der 
quasi bürgerlichen Jugend die Möglichkeit geben, die An- 
nehmlichkeiten eines kultivierten Lebens schätzen zu lernen, 
verbunden mit der Erkenntnis, daß diese nur durch den 
Bestand unserer vortrefflichen Ordnung gesichert, für sie 
s'elbst, gesichert sind. Wir müssen durchaus das Vorbild der 
englischen Colleges erreichen. Doch empfehle ich Ihnen den 
Namen Landeserziehungheim, oder zur Verwirrung der revo^ 
lutionären Jugend den der Schulgemeinde. Schütteln Sie nicht 
die Köpfe! Wir dürfen nicht kleinlich sein. Ich werde ver- 
suchen, jeden Unterricht in diesen Schulen abzuschaffen, 
doch sehe ich, daß wir eine Übergangszeit nötig haben. Für 
sie gilt: Unter Berücksichtigung des Prinzips der Jugend- 
gemäßheit aller Erziehung ist die Pubertät, die idealistische 
Lebenszeit hat exochen, mit großen Worten zu füllen. Als 



134 



solche werde ich vorschreiben: Vaterland — Kultur — 
Nation — Kultur — Wissenschaft — Kunst — Kultur — 
Volk — Rasse — Kultur. Die Lehrer werden beauftragt 
sein zu glauben, daß dies die Maßstäbe und Merkmale des 
Fortschritts sind, und werden zu zeigen haben, daß die 
letzten Jahrhunderte eine Kette von glücklichen Entwicklun- 
gen sind, unterbrochen von kulturfeindlichen Revolutionen, die 
ja Kulturwerte zerstört haben, während die Volksrestaurationen 
sie vermehrt haben. Da doch unsere Klasse die kultiviertere, 
wohlhabendere und glücklichere ist, repräsentiert sie das 
Volk, und dieses soll allgemach zu ihr erhoben werden. Bis 
dahin wird statt „unsere Klasse" natürlich Volk gesagt. Ich 
wette, keiner der Lehrer wird hier eine Schwierigkeit finden. 
Sie werden bei den klassischen Autoren und bei den Dichtern 
des vorigen Jahrhunderts sehr brauchbaren diesbezüglichen 
Lesestoff finden. Aber nur keine Pedanterie; glauben Sie ja 
nicht, daß wir irgendein Interesse daran haben, daß diese 
Jugend etwas lerne. Sie dürfen nicht altmodisch sein; es ist 
hingegen sehr nützlich, wenn es die sozialistischen Parteien 
sind. Wir haben die Aufgabe, unserer Jugend eine feste 
Ideologie zu geben. Die lernt man nicht. Sie bildet sich von 
selbst an den Annehmlichkeiten eines parasitären Lebens. Wir 
brauchen nur ein paar Stichworte zu geben, um den von 
selbst keimenden Gedanken die Autorität eines Kulturgutes 
zu verleihen. Im übrigen muß die Jugend zu Selbstbewußt- 
sein erzogen werden. Sie muß von ihrem Adel, ihrer Schön- 
heit, ihrer Kulturmission überzeugt sein. Scheuen Sie sich 
nicht, hier Wyneken zu verwenden. Es ist ganz ungefährlich. 
Denn alle Gefahrenkeime heben Sie auf, wenn Sie dieses 
Selbstbewußtsein der Jugend auf ihre Klasse übergehen lassen. 
Wir sagen natürlich Volk, Deutschtum und nicht Bürgertum. 
Gewiß, das deutsche Volk neigt sehr dazu, diesen Begriff Volk 
nicht zu akzeptieren. Es ist dies eine ungeheuer gefährliche 
Tatsache. Sie kann aber paralysiert werden durch eine ver- 
hältnismäßig leichte Reform. Sie verlangt nur den Mut zu 
einer völligen Dummheit. Man müßte die unbewußte Angst 
des Deutschen, die einem tiefen Minderwertigkeitsgefühl ent- 



135 



springt, in Aggression wenden. Man müßte die Deutschen 
glauben machen, sie hätten einen ungeheuer mächtigen, ge- 
meinsamen Feind, der unsere, ich meine des Volkes, heiligsten 
Kulturgüter gefährdet, den man durch gemeinsame, ungeheure 
Tat zu vernichten hätte. Nur freilich darf das kein wirklich 
gefährlicher Feind sein, etwa Franzosen, sonst entsteht ja 
Realangst und wenn wir ihn etwa besiegen, so stehen wir, 
wo wir vorher standen. Es müßte eine Fliege, ein Nichts 
sein. Das hätte auch den Vorteil, daß wir romantische Ele- 
mente, die dem Deutschen und seiner Jugend liegen, mit 
verwenden könnten. Was meinen Sie zu einem Geheimbund 
von Fremdländischen, der die Deutschheit verfolgt? Man kann 
große Menschenmengen zu untereinander tiefen Indentifika- 
tionen und mit irgendeinem Menschen bringen, wenn sie 
vor einer gemeinsamen unheimlichen Gefahr stehen und 
irgendeiner springt vor und rettet sie. Verstehen Sie allmäh- 
lich, was ich vorhabe? Wir versetzen die Jugend — und 
mit ihr die Gesamtheit — und zwar vorerst die quasi bür- 
gerliche Jugend in panischen Schrecken vor einer unheim- 
lichen Macht, die sie bedroht, und dann springen Wir als ihre 
Retter vor und Führer. Lesen Sie von Professor Freud : Massen- 
psychologie, — ein sehr brauchbarer Autor, sage ich Ihnen, 
wenn das nur die Sozialisten nicht auch merken, aber zum 

Glück scheinen sie ihn für einen Bourgeois zu halten, 

also bei Freud holen Sie sich die Überzeugung, daß mein 
Vorschlag gelingen muß. Der bürgerliche Typus, die bürger- 
lichsten Individuen würden zu den Idealen der Jugend wer- 
den, und sie würde in diesem Ideal sich zu einer selbstbe- 
wußten, stolzen, exklusiven Gemeinschaft bilden, die zugleich 
restlos führbar wäre. Wenn wir nur den Feind hätten. Es 
ist schwer, ihn zu finden, denn er darf nicht da sein, und 
muß doch glaubhaft sein. Ich empfehle, die Juden zu diesem 
Feinde zu ernennen. Sie sind wirklich ungefährlich. In 
Deutschland stehen ihrer 600.000 (mit Weib, Rind, Tuber- 
kulose und Krebs) gegen 60,000.000. Das ist ein gutes 
Verhältnis. Und sie sind wirklich ein in jeder Hinsicht 
brauchbares Volk; sie werden uns selbst helfen, in dieser 

156 



oder in jener Weise. Sollten sie aber ja einmal geprügelt 
oder totgeschlagen werden, so sind deren in anderen Städten 
und Ländern genug übrig, um den Schrecken vor ihnen 
permanent zu erhalten. Mit Hilfe des sorgfältig gepflegten 
und angewandten Antisemitismus erhalten wir jene stolze und 
selbstbewußte, nämlich von sich, ihrer Wertigkeit, ihrem 
Volks- und Rassenadel durchdrungene bürgerliche Jugend, 
die identifikatorische Bestrebungen bis in weite Schichten 
des Proletariats erwecken wird. Und auf diese Haltung und 
Einstellung des Proletariats kommt es uns an. Damit kommen 
wir an jene Organisationen der Erziehung, die sich an die 
proletarische Kindheit und Jugend wenden. Wir sind in 
völliger Übereinstimmung mit den Interessen der Industrie, 
wenn wir den Grundsatz strenge durchführen werden: die 
proletarische Jugend gehört in die reale Wirtschaft, in die 
Fabrik. Es dient auch dem wohlverstandenen Interesse des 
Kapitals, wenn auch nicht immer dem Wunsche jedes ein- 
zelnen Unternehmers, die Kinder bis zu einem gewissen 
Grad der Arbeit zu entziehen und sie in den Schulen zu 
sammeln. Als den für unsere Zwecke günstigsten Termin für 
den Schulbeginn habe ich das sechste Lebensjahr erkannt. 
Das Kind hat eben eine überaus wichtige Katastrophe, psycho- 
logisch, ja psychoanalytisch gesehen, hinter sich, oder be- 
findet sich in ihr. Es hat vor der väterlichen Besitzmacht, 
unter starker Angstentwicklung kapituliert und auf den Be- 
sitz der geliebten Mutter verzichtet. Es sucht nun für seine 
ungebundene Liebe neue Objekte. Sie sollen ihm in Gestalt 
seiner Lehrer, noch besser wären prinzipiell unverheiratete 
Lehrerinnen, unserer Agenten, entgegentreten. Es hat sich 
aber zugleich eine sehr tiefe Einsicht in seine eigene Unzu- 
länglichkeit geholt, damit die Bereitschaft, sich Autoritäten 
zu unterwerfen, die noch unterstützt wird durch die in 
diesen frühkindlichen Kämpfen und Ablösungen entstandenen 
Instanz im eigenen Ich, das Schuldgefühl, die Strafbereit- 
schaft. Erwacht nun irgendeine Regung der Auflehnung, so 
wird sie sich in der Autorität der Schule die empfindlichste 
Niederlage holen. Dabei sorgen wir dafür, daß die Schule 



1 57 



eine Staats- und Volkseinrichtung -wird, und erreichen so, 
daß das Kind den Staat und das Volk als eine erweiterte 
Familie auffassen lernt; -was zwar grundsätzlich falsch ist 
und selbst für unseren Staat nur sehr teilweise gilt, aber 
die günstigste psychologische Atmosphäre für seinen Bestand, 
das sicherste Schutzmittel — soweit eben psychische Ange- 
legenheiten hier mitwirken — gegen jede entschiedene Ge- 
sellschaftsrevolution ist. Wie die Familie, sage ich: da ist 
der Vater, der befiehlt und straft, der aber auch freundlich 
ist, "wenn eins sehr brav war, aber auf alle Fälle fern und 
übermächtig. Er trägt den schönen Titel: Direktor. Da ist 
die Mutter: die Lehrerin, die freundlich, nah, liebevoll, aber 
launisch ist, die man gleichfalls, aber deutlicher noch durch 
Bravheit gewinnt; die ihrerseits vor dem Direktor zu zittern 
hat. Da sind schließlich die Geschwister Schulkameraden, 
nach Sitte und Recht alle einander völlig gleichgestellt, aber 
freie Bahn ist dem Tüchtigen offen; der volle Betrieb der 
freien Konkurrenz ist durchgeführt; man kann nach oben 
gelangen auf den ersten Platz in der Klasse und in der 
Liebe der Lehrerin, wenn man tüchtig ist, tüchtig im Wissen 
oder im Schwindeln, im Schmeicheln, oder in der Energie. Die 
inhaltliche Erfüllung dieses Betriebes geht dahin: Schul- und 
Bücherwissen über alles hoch und jenseits jedes Zweifels zu 
stellen. Und in diesem Rahmen werden die Geschichten, die 
die Lehrer den Kindern von der bürgerlichen Gesellschaft 
erzählen, ihren Zweck nicht verfehlen . . . Die Krönung 
dieses Schulwesens ist aber in der Organisation der Puber- 
tätserziehung gegeben, die ich besonders sorgfältig durchdacht 
habe. In dieser Zeit entsteht eine neue Welle von Autoritäts- 
ablehnung und die Neigung, das eigene Leben und das der 
Gesamtheit einer Art sittlicher Revision zu unterziehen. Wir 
müssen bemüht sein, die Früchte der Kindererziehung diesen 
Gefahren zu entziehen. Daher werden die jungen Proletarier 
ihrer ökonomischen Situation völlig überlassen. Ihre Eltern 
werden sie zu wirtschaftlicher Selbständigkeit treiben, und 
sie werden in Fabrik und Lehre, wenn wir nicht eingreifen, 
ein ihren erwachsenen Klassengenossen völlig gleichartiges 

138 



Leben führen, ja da zu erwarten ist, daß ihre Gewerkschaften 
schwächer sein und die Organisationen der Erwachsenen für 
sie weniger stark eintreten werden, müssen sie unter einem 
härteren Druck der Ausbeutung stehen. Sie werden, da ja 
die Schule sie dahin vorbereitet hat, auch die Fabrik und 
das ganze Wirtschaftsleben unter der affektiven Einstellung 
der Familie — unbewußt, versteht sich — auffassen. Das 
heißt, sie werden ihre Aggressionen und Liebeswerbungen 
auf den persönlichen Vorgesetzten oder den Einzelunter- 
nehmer richten. Die sozialistischen Parteien werden es sehr 
schwer haben, ihnen dahinter die bürgerliche Klasse zu er- 
weisen. Wenigstens wird die Aufklärung nicht in tiefere 
seelische Schichten dringen. Die Pubertät, eine Zeit inten- 
siver sexueller Anwandlungen, wird zu Sexualisierungen ihrer 
wirtschaftlichen Tätigkeit drängen, da in dieser Fabriks- und 
Familienenge zu höheren Sublimierungen kein Platz ist. Der 
wirtschaftliche Bezirk wird sich ihrem unbewußten Denken 
mit dem sexuellen vermengen, der ausschließend Besitzende, 
der Unternehmer, oder auch sein Direktor oder Werkführer, 
wird ihnen Vater sein. Und hiemit wird die überwiegende 
Menge in ihrer Aggression und' Auflehnung, so lärmend sie auf- 
treten mag, innerlichst gebrochen sein, denn sie ist paralysiert 
durch die Erinnerung an die infantile Katastrophe, die derselben 
Situation entsprang, und wird gebunden sein durch die ebenso 
unbewußte Liebe zum und Identifikationstendenz mit dem Vater- 
Unternehmer. Die wirtschaftliche Selbstständigkeit der Jugend- 
lichen wird diese Identifikation stärken. Und sollten etwelche 
trotzdem einen Ausweg aus ihrer Situation suchen, sollten sie 
erkennen, was sie in ökonomischer Sklaverei hält, so werden 
sie wahrscheinlich, durch die Schule und durch die öffentliche 
Meinung, durch die klug vorbereitete Verwirrung der Begriffe 
Kultur und Bildung, die auch die Arbeiterparteien nur schwer 
durchschauen werden, das Leben der von ihnen getrennten 
bürgerlichen Jugend anstreben, und Bildung suchen, und zwar 
natürlich jene, die, wie sie meinen, den Wert und die Macht 
der bürgerlichen Jugend und Gesellschaft ausmachen. Sie werden 
sie nicht finden . . . 



L 59 



Das Tagebuch eines halbwüchsigen 

Mädchens 

von 

Stefan Zweig 

Als erste einer Reihe von „Quellenschriften zur seelischen 
Entwicklung" veröffentlicht der Internationale Psychoanalyti- 
sche Verlag — offenbar eine Gruppe von Schülern, die sich 
dem umfassenden Gedankenkreise Professor Freuds verbunden 
haben — ein ganz merkwürdiges Dokument: das unverstellte 
Originaltagebuch eines halbwüchsigen Mädchens von seinem 
elften bis zum vierzehnten Jahre. Das Seltsame in diesem 
Buche, das Bedeutsame im psychologischen und pädagogischen 
Sinne ist nun, daß dieses Tagebuch keineswegs das eines 
Wunderkindes ist, einer zukünftigen Maria Bashkirtseff, sondern 
im Gegenteil das eines ganz normalen, gar nicht sonderlich 
begabten, gar nicht sonderlich sensitiven und gar nicht son- 
derlich erlebnisreichen Kindes aus der sogenannten guten 
Wiener Gesellschaft. Nur eben eines jener unzähligen, oft 
belächelten und verspotteten Tagebücher, wie sie fast jedes 
Mädchen unfehlbar irgendeinmal in den Schuljahren beginnt. 
Aber schon die Regelmäßigkeit dieser Erscheinung mag Er- 
kenntnis sein für die Bedeutsamkeit dieses Augenblicks, für 
das fast Gesetzmäßige, daß Kinder und besonders Mädchen 
gerade in jenen Entwicklungsjahren aus einem zwingenden 
Gefühl beginnen, sich täglich schriftliche Rechenschaft von 
sich abzulegen, um dann mit siebzehn oder achtzehn Jahren 
dieses tägliche Einschreiben schon wieder als kindliche Spie- 
lerei zu verachten und überlegen lächelnd zu verwerfen. In 
jenen Jahren, wo der wirklich persönliche Mensch dem spiel- 
haften Kindeswesen entwächst, wird ihm unbewußt das Leben 
als Ganzes und insbesondere sein eigenes Leben irgendwie plötz- 
lich wichtig und geheimnisvoll: unbelehrt fühlt das Kind in 
seinem Wachstum, was dann erst später wieder der Psycho- 
log weiß und was Freud als erster so meisterhaft klargelegt 
hat, daß in jenen Jahren des gespannten Empfindens bei 

140 



dem Kinde jede Richtung zur Entscheidung, jeder Zufall zur 
Bestimmung wird. Im Augenblicke, wo der Mensch — und 
die meisten Erwachsenen gestehen damit die Armut ihres 
Innenlebens ahnungslos ein — dann wieder das Leben als 
etwas Automatisches, als etwas Funktionelles empfindet, läßt 
die Intensität ihres eigenen Empfindens nach: nur erlesene 
Menschen behalten jene wunderbar gesteigerte Fähigkeit über 
die Kindheit hinaus für immer fort, das Leben unausgesetzt 
als mystische Macht zu empfinden, ewig rätselhaft, ewig 
unentwirrbar, voll von Überraschungen und Erkenntnissen, 
und sich selbst als eine Beute unablässiger Abenteuer. Des- 
halb führen die Erwachsenen nur ausnahmsweise mehr ein 
Tagebuch, fast immer nur dann, wenn sie irgendwie in das 
äußerlich Bewegte der Welt historisch eingemengt sind, wie 
jetzt die Diplomaten und Heerführer; das Kind in den Pu- 
bertätsjahren aber empfindet nicht seine Existenz innerhalb 
besonderer Geschehnisse als wichtig, sondern die Tatsache 
des Lebens überhaupt, und diese zwingende Betonung jeder 
kleinen Zufälligkeit, ungeachtet, ob sie andere als banal emp- 
finden mögen, erhöht zauberhaft ihre innere Spannung. In 
den halbwüchsigen Menschen ist darum eine tiefere — und 
wieviel richtigere! — Wertung jeder neuen Stunde bereit; 
das Unscheinbarste belebt sich durch Gefühl, jede Begegnung 
durch Erwartung. Nur im Kinde, in dieser Spanne von Jahren 
zwischen der Unbewußtheit und dem schon allzu Bewußten 
wirkt sich jene Intensität aus, die dann in den Dichtern 
die Kindheits jähre überwächst und ihnen das Gefühl der 
Welt als eines unberechenbaren Mysteriums rein und leiden- 
schaftlich bewahrt. 

Unbedeutsam im gewöhnlichen Sinne mag darum auch 
dieses Tagebuch dem Unbedeutenden gelten, denn es ist 
weder stilistisch schön geschrieben, noch geistig sonderlich 
hochwertig, eben nur ein Dutzendtagebuch irgendeines Halb- 
kindes. Aber eben das typische Kleinmädchengeschwätz darin, 
die ahnungslose Aufrichtigkeit (die dem Dichter ja fehlt), 
daß jemals ein fremder Blick in diese Blätter eindringe, ge- 
schweige denn, daß sie jemals in Buchform vervielfältigt 



141 



■werden könnten, macht seine Lektüre so anregend für alle 
jene, denen das bloße Verstehen von seelischen Dingen selbst 
schon eine Art geistiger Lust geworden ist. Es ist voll von 
zufälligem Geschwätz über Konditoreien, Ausflüge, Kamera- 
dinnen, Eifersüchteleien, Schuldummheiten, Familienepisoden, 
aber eben dadurch ist auch den wesentlichen Dingen der 
richtige Rang im Seelenleben ausgewertet. Denn der Dichter, 
die sonst einzige Quelle, der eine Kindheit schildert, die 
eigene oder eine fremde, in Selbstbiographie oder im Roman, 
verstellt aus dem innersten Gesetz der Kunst bewußt-unbe- 
wußt das Gleichgewicht. Er gibt bloß Abbreviaturen, Ver- 
kürzungen des kindlichen Seelenlebens, weil er nur das auf- 
zeichnet, was die Erinnerung nach Jahren noch als wesent- 
lich bewahrt hat, nicht aber das Gleichzeitig-Banale, dem 
das Besondere entwächst. Er zeigt nur die Meilensteine, statt 
des ganzen Weges, er schafft Auslese, betont nur das Wis- 
sende im Kind, die frühe Weisheit, während hier im Tage- 
buch noch die ganze breite Folie der Torheit und ahnungs- 
losen Dummheit sich in den Aufzeichnungen naturhaft aufstuft. 
Das Erlebnis dieser Jahre, das Wesentliche dieses Buches 
ist selbstverständlich das Nicht-mehr-Kind-sein-Woüen. Der 
Wille, als voll gewertet zu werden, um alle Geheimnisse zu 
wissen, die alle Erwachsenen so krampfhaft vor ihm verbergen. 
Mit Zorn und Erbitterung notiert die Elfjährige immer, wenn 
Vater, Mutter oder Schwester sie eine „Kleine" oder „Kind' 
nennen. Mit Ungeduld will sie schon hinauf in die andere Welt, 
will sie die verschlossenen Türen zerbrechen, hinter denen 
sie manchmal unverständliche Worte hört und hinter denen 
für ihr Empfinden das „eigentliche", das wirkliche Leben liegt. 
Jedes dieser aufgelauschten Worte hinter den verschlossenen 
Türen des großen Geheimnisses wird zum Ereignis, zum 
Geschehnis, denn ahnend spürt das noch ahnungslose Kind, 
daß diese abgelösten Worte gleichsam Chiffren sind, mit 
denen man, wenn einmal die Buchstaben ihres Sinnes aus- 
einandergenommen sind, das ganze Zauberbuch im Fluge 
durchlesen könne. Wie auf der Wiese hinter Schmetterlingen 
ist darum dies gespannte Kindwesen mit seinen Freundinnen 



142 



hinter jedem solchen aufgeflatterten Wort her. Irgend jemand 
hat „Verhältnis" gesagt und gelächelt dabei — was bedeutet 
das? Von der Kusine erzählen sie, daß sie „bleichsüchtig" 
sei, von einem Onkel, er sei „nicht normal". Mit der Spür- 
kraft aufgereizten Empfindens wittert sie einen besonderen 
Sinn hinter dem Gewöhnlichen. Und alle die unendlich 
typischen Schleichwege des Rindes auf dieser Jagd tun sich 
auf in diesem Tagebuch: Das Tuscheln mit den Freundinnen, 
das Geschwätz mit den Dienstboten, der heimliche Blick 
in das Konversationslexikon, bis sich allmählich nach vielen 
vergeblichen Irrungen — die im einzelnen dem Erwachsenen 
und besonders dem, der seine eigene Jugend vergessen hat, 
ein mitleidiges Lächeln entlocken mögen — die richtige 
Spur findet. Hier, wie vielleicht in jedem aufrichtigen Tage- 
buche eines Halbwüchsigen ist natürlich der Brennpunkt des 
Interesses die Sexualität. 

Die Sexualität, nicht die Erotik. Denn hier kommt die 
Neugier noch aus dem Intellektuellen, aus dem wachen Gehirn 
eines noch unentwickelten Körpers, und die Unruhe quillt 
aus dem Verstand, nicht aus den noch dumpfen Zonen körper- 
lichen Gefühls. Nirgends reagiert hier wirkliche Befriedigung 
auf Erkenntnis, im Gegenteil: der erste zufällige Einblick 
wird für das scheue Kind zum seelischen Chok. Mit Ekel, 
mit Abscheu, Furcht und Angst antwortet ihr noch unreifes 
Gefühl auf alle Ahnungen des Körperlichen. Statt sie an das 
feurige Geheimnis näher hinzudrängen, schreckt sie die 
Mechanik des Liebesaktes vorläufig zurück. Nirgends ist in 
diesem nervösen Kinde trotz aller geistigen Unruhe, trotz aller 
funkelnden Neugierde ein Atem von Verderbtheit. Man spürt, 
diese Unruhe ist (wie wahrscheinlich bei den meisten Kindern, 
was aber Lehrer und Erzieher selten ahnen), absolut prä- 
erotisch, sie ist nur Unruhe nach dem Leben, nach dem Zu- 
sammenhange, das allzu erklärliche Gefühl nach Ebenmäßig- 
keit des Wissens, das keine Lücken und leere Stellen dulden 
will, dasselbe Gefühl, das die junge Menschheit als Gesamt- 
heit von ihrem Anfang getrieben hat, ihre eigene Erde zu 
durchforschen, unbekannte Kontinente sich bekannt zu machen, 



145 



alle Ströme, Berge, Seen und Wälder in eine Karte einzu- 
zeichnen und über diese Erde hinaus noch mit Teleskopen 
und Berechnungen nach den anderen Welten ins Unendliche 
zu spähen. Gerade dies Nachbarliche der unbändigen Neugier 
mit dem anderen Geschwätz von neuen Kleidern, verpatzten 
Schulausflügen, Gouvernantenqual, hellt zauberisch das Wunder 
des Welterwachens auf, das mit der Jugend jedes Menschen 
wie der Menschheit mystisch verknüpft ist, und das ver- 
hängnisvollerweise so früh in dem normalen Menschen wieder 
erlischt. Vielleicht auch schon in dieser Frau erloschen wäre, 
die heute vielleicht zweiundzwanzig Jahre zählte, wenn sie 
der Tod nicht hinweggenommen hätte und deren Namen 
die Herausgeber sorgfältig verschweigen (die auch in dem 
Buche durchwegs Namenverstellungen vorgenommen haben, 
um auch die Spur zu verwischen). Eben deshalb aber, 
weil es so typisch ist, sollten kluge Eltern und kluge Er- 
zieher dieses Buch zur Hand nehmen, freilich nicht, um 
danach zu erziehen und vielleicht 'mit der jetzt so be- 
liebten Aufklärung einzusetzen und zu versuchen, den ihnen 
anvertrauten Kindern etwas von der Unruhe und der Qual 
ihres Suchens wegzunehmen, die hier so erschütternd im 
Bilde des namenlosen Kindes wirkt. Denn wer vermag zu 
sagen, ob diese Unruhe, diese brennende Neugier nicht etwas 
unendliches Kostbares und Schöpferisches in jedem Kinde 
ist, ob nicht bei einzelnen gerade aus ihr die Möglichkeit 
entwächst, sich das Mystische des Lebensgefühles über die 
Kindheit hinaus zu bewahren. Ob vielleicht nicht Menschen, 
die in ihrer Kindheit die ganze Not dieser Unsicherheit, die 
Spannung des Geschlechtes so stark empfunden haben, sich 
auch dann später im Erotischen reiner den heiligen Schauer 
des kosmischen Gefühls und anderseits die starke Beizsamkeit 
leidenschaftlicher bewahren. Es ist vielleicht nicht gut, zu 
verbessern, wo man nicht weiß, was im einzelnen ungestaltete 
Möglichkeit zum Guten oder zum Bösen ist, und das Schicksal, 
das wunderbar eigenwillige, das mit Kindern wie mit Menschen 
nach seinem Sinn spielt, bevormunden zu wollen. Aher es 
ist immer gut, Menschliches zu verstehen, und zu diesem 



144 



Verständnis der Kinderseele scheint mir dieses Buch eines 
der kostbarsten, das je die Wissenschaft Hand in Hand mit 
dem Zufall dargeboten, und das nicht durch Kunst, sondern 
einzig dank jener mystischen Schöpfungskraft der Jugend, 
die immer dichterischer wirkt als die besten Nachdichtungen 
von Kindheit. 



Aus dem »Tagebuch eines halbwüchsigen 
Mädchens« 

Das „Tagebuch eines halbwüchsi- 
gen Mädchens", herausgegeben und 
eingeleitet von Dr. Hermine Hug- 
Hellmuth (f) erschien als I. Band 
der „Quellenschriften zur seelischen 
Entwicklung" im Internationalen 
Psychoanalytischen Verlag, 

Aus dem zwölften Lebensjahr 

12. August: . . . Gestern haben wir uns gekugelt vor Lachen, was er 
(Robert) uns erzählt hat, wie sich die Buben über ihre Professoren 
lustig machen. Das mit den Zigarettenstumpferln war zum Totlachen. 
Und sie haben einen Verein, der heißt T. Au. M., d. h. nämlich auf 
Lateinisch Schweig oder stirb, in den Anfangsbuchstaben. Keiner 
darf etwas verraten und wenn einer neu aufgenommen wird, muß 
er sich ganz ausziehen und er muß sich so hinlegen und jeder 
spuckt ihm auf die Brust und verreibt es und sagt: So sei der 
Unsere, aber alles auf Lateinisch. Und dann muß er zum Ältesten 
und Größten gehen und bekommt von ihm mit einer Rute ein 
paar auf den P . . . und muß schwören, daß er nie einen verrät. 
Und dann raucht jeder eine Zigarre an und tupft ihn mit dem 
brennenden Ende auf den Arm oder sonst wohin und sagt: Jeder 
Verrat soll dich so brennen. Und dann ritzt ihm der Älteste, der 
eine besonderen Namen hat, den ich mir aber nicht gemerkt habe, 
das Wort Taum, d. h. eben Schweig oder stirb, ein und ein Herz 
mit dem Namen von einem Mädchen. Der Robert sagt, wenn er 
mich früher kennen gelernt hätte, so hätte er Gretchen gewählt. 



L 45 



Ich fragte ihn, was für einen Namen er eingeritzt habe, da sagte 
er, das dürfe er nicht verraten. Aber ich werde dem Oswald sagen, 
er soll im Bade schauen und es mir dann sagen. In diesem Verein 
schimpfen sie furchtbar über die Professoren und wer die besten 
Streiche ausdenkt, wird in die Rohon gewählt; ein Rohon sein ist eine 
Auszeichnung und die anderen müssen ihm unbedingt folgen. Und 
manches kann er mir nicht einmal erzählen, sagte er, weil es zu 
arg ist. Und dann mußte ich ihm schwören, daß ich das alles 
vom Verein niemandem sage und er wollte, ich soll mich zum 
Schwören niederknien, aber das habe ich nicht tun wollen und 
da hat er mich beinahe umgeworfen. Und schließlich mußte ich 
ihm die Hand drauf geben und ein Bussel. Das habe ich ihm 
schon eher gegeben, denn an einem Bussel ist nichts dabei, aber 
niederknien, nein das tue ich absolut nicht. Aber ich habe mich 
schrecklich gefürchtet, weil wir ganz allein im Garten waren und 
weil er mich so beim Hals packte und niederdrückte. Das vom 
Verein hat er mir nämlich ganz allein erzählt, weil er sagte: 
Deinen Namen darf ich nicht mehr einritzen, denn zwei Namen 
geht gegen unsere Gesetze, aber dafür sollst du gegen deinen 
Schwur wissen, was ich im geheimen bin und denke. 

Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, weil mir immer 
von dem Verein träumte. Ob es im Lyzeum auch solche Vereine 
gibt und ob die Dora auch bei einem ist und einen Namen ein- 
geritzt hat. Aber ganz ausziehen ist doch gräßlich, noch dazu vor 
seinen Mitschülerinnen. Vielleicht ist das bei den Vereinen der 
Lyzealschülerinnen weggelassen. Aber ich würde auch nicht sagen, 
daß ich mir den Namen Robert einritzen will. 

15. August: Gestern erzählte mir der Robert, daß es auch 
Vereine von Buben gibt, wo sehr unanständige Sachen geschehen, 
aber bei ihnen darf das nicht sein. Aber er sagte nicht was. Ich 
sagte, ich finde das Ganzausziehen schrecklich; aber er sagte, das 
ist gar nichts, das muß sein, wenn einer dem anderen vertrauen 
soll, wenn nur nichts Unanständiges geschieht. Ich möchte sehr 
gerne wissen, was. Ob der Oswald es weiß, und ob er bei einem 
solchen Vereine oder einem anständigen ist und ob der Papa dabei 
war. Wenn ich nur draufkommen könnte. Aber fragen darf ich 
nicht, weil ich sonst den Robert verrate. Wenn er mich sieht, preßt 
er mir immer so das linke Handgelenk, ohne daß es wer sieht. 
Er sagt, das ist die Mahnung, daß ich schweigen muß. Aber es 
wäre wirklich nicht notwendig, denn ich verrate ihn auf keinen 
Fall. Er sagte: Der Schmerz soll dich an mich binden. Wenn 



146 



er das sagt, so werden seine Augen ganz dunkel, förmlich schwarz, 
obwohl er eigentlich graue Augen hat und riesig groß. Besonders 
am Abend, wenn wir auseinander gehen, schaut das gräßlich aus. 
Mir träumt immer von ihm. 

18. August: Gestern abends war ein herrliches Kaiserfest mit 
Illumination. . . . Dann kam der R. zu mir und erzählte mir riesig 
viel. Er will unbedingt Offizier werden. Aber da braucht er eigent- 
lich gar nicht so viel lernen, da lernt er alles jetzt umsonst. Er 
sagt, das macht nichts, das gibt ein riesiges Übergewicht. Ich finde 
nicht, daß er etwas blöd ausschaut, das sagt der Oswald nur, damit 
ich mich recht ärgere. Auf einmal waren wir von den anderen 
ganz getrennt und da setzten wir uns auf eine Bank und warteten 
auf sie. Derweil fragte ich den R. nochmals wegen der anderen 
Vereine, bei denen so unanständige Sachen eingeführt sind. Aber 
er sagte es nicht, er sagte, er wolle mir nicht meine Unschuld 
rauben. Das finde ich sehr blöd; vielleicht weiß er es selber nicht 
und tut nur so. Nur das sagte er, daß jeder beim Eintritt in den 
Verein solang gekitzelt wird, bis er es nicht mehr aushalten kann 
Und einmal hat einer Veitstanz bekommen, das sind schreckliche 
Krämpfe und da wäre bald alles aufgekommen. Und seither dürften 
sie in ihrem Verein nicht mehr kitzeln. Soll ich dich auch ein 
bissei kitzeln? Untersteh dich nicht, sag ich, und überhaupt du 
traust dich auch gar nicht. 

Er lacht riesig und auf einmal packt er mich am Arm und 
kitzelt mich unter der Achsel. Ich habe schrecklich lachen müssen, 
aber ich habe es verbissen, weil doch manchmal Leute vorbei- 
gegangen sind. Drum ließ er mich auch aus und kitzelte mich 
in der Hand. Das war zuerst ganz angenehm, aber später ärgerte 
ich mich schon und riß ihm die Hand weg. Da kam gerade die 
Inspee mit zwei anderen Mädchen und wie sie vorbei waren, 
gingen wir schnell hinter ihnen, als ob wir immer so gegangen 
wären. Dadurch habe ich mir einen Putzer von der Mama erspart, 
die immer will, daß alle beisammen sind. Beim Weggehen sagt 
der R. : Paß auf Gretel, einmal kitzel ich dich so, daß du schreist. — 
Lächerlich, das lasse ich mir nicht gefallen, da gehören doch zwei 
dazu. 

Aus dem dreizehnten Lebensjahr 

29. März: Heute ist der Doraund mir etwas Gräßliches passiert. 
Ich kann es gar nicht niederschreiben. Sie war sehr nett und sagte : 
Vor zwei Jahren ist ihr in der Stadtbahn dasselbe passiert, wie 



147 



sie mit der Mama einmal, es war am 15. Februar, das merkt sie 
sich ewig-, zur Frau v. Martini nach Hietzing gefahren ist. Außer 
ihr und der Mama war nur noch ein Herr im Waggon, die Mama 
fährt nämlich immer II. Kl. Sie sitzen nebeneinander und der 
Herr steht im zweiten Teil, so daß. Mama nicht hinsehen konnte. 

Und wie die Dora hinschaut, macht er den Mantel auf und ! 

also dasselbe wie heute der Herr unter dem Haustor. Und wie sie 
aussteigen, bleibt die Boa der Dora in der Tür stecken und sie 
dreht sich noch einmal um, obwohl sie garnicht wollte, und da 

sieht sie wieder ! Sie hat damals den ganzen Monat nicht 

schlafen können. An das kann ich mich sehr gut erinnern, aber 
nur wußte ich nicht warum. Sie hat es auch nie jemanden gesagt, 
außer der Erika und der war das auch schon passiert. Die Dora 
sagt, das passiert beinahe jedem Mädchen wenigstens einmal; und 
solche Männer sind „nicht normal". Ich weiß nicht recht, was 
das heißt, aber fragen wollt ich doch lieber nicht. Vielleicht weiß 
es die Hella. Ich habe natürlich nicht genau hingeschaut, aber 
die Dora hat sich geschüttelt und hat gesagt: Und das muß man 
ertragen. Und dann sagte sie zu mir im Gespräch, daß die Mama 
davon krank ist und weil sie fünf Kinder gehabt hat. Da war 
ich sehr dumm und fragte: „Ja, wieso davon?" Davon kriegt 
man doch nicht die Kinder? „Natürlich," sagte sie, „ich habe 
geglaubt, du weißt das schon. Damals wie der Skandal mit der 
Mali war wegen des Gürtels, meinte ich, . da hättet Ihr, du und 
die Hella alles erfahren." Und jetzt war ich wieder sehr dumm 
d. h. schon blöd; statt zu sagen, was ich wirklich weiß, sagte ich: 
„Jawohl, ich weiß alles, nur das nicht." Da lachte sie sehr und 
sagte: „Na, da ist es mit Euren Kenntnissen nicht weit her." Und 
sie machte endlich ein paar Andeutungen. Wenn das wirk- 
lich so ist, dann hat die Dora recht, wenn sie sagt, es ist besser, 
man heiratet nicht. Verlieben kann und muß man sich, aber man 
löst die Verlobung einfach wieder auf. Ja, das ist ein Ausweg, da 
kann niemand sagen, die hat keinen Mann bekommen. Wir sind so 
oft vor dem Lyzeum auf- und abgegangen, daß wir beinahe zu 
spät kamen, gerade erst beim Läuten. Beim Nachhaus egehen er- 
zählte ich der Hella die Gemeinheit von diesem Manne. Sie weiß 
auch nicht, was das in dieser Hinsicht eigentlich bedeutet: 
„Nicht normal." Wir nehmen es aber jetzt als Zeichen für etwas 
Greuliches. Da versteht uns niemand. Und dann erzählte mir die 
Hella von einem Betrunkenen, der in Nagy K . . . . so durch die 
Straßen des Ortes ging und vom Gendarmen eingeführt wurde. 

148 



Sie sagt auch einen solchen Anblick vergißt man nie, nie mehr. 
Vielleicht war der heute früh auch betrunken, aber eigentlich sah 
er nicht so aus. Und wenn er das nicht getan hätte, hätte man 
ihn überhaupt für einen feinen Herren gehalten. Die Hella weiß 
das auch, daß man davon die Kinder bekommt. Sie hat mir alles 
erklärt, und jetzt kann ich wohl begreifen, daß man davon krank 
werden muß. Gestern war es schon nach 11 Uhr abends und so 
schreibe ich das alles erst heute zu Ende. Die Hella sagt: Das 
ist die Erbsünde und das haben auch Adam und Eva begangen, 
diese Sünde. Ich habe bisher immer geglaubt, die Erbsünde ist 
etwas ganz anderes. Aber das — das. Ich bin seit gestern furcht- 
bar aufgeregt, ich sehe das immer vor mir; eigentlich hab ich 
gar nicht hingeschaut, aber ich muß es doch gesehen haben. 

Aus dem vierzehnten Lebensjahr 

6. September: Etwas furchtbar Interessantes: Gestern war ein 
Herr v. Kraics da aus Radufalva, der hat das Gut Radufalva von 
seinem besten Freund geerbt zum Dank, weil er vor 8 Jahren auf 
seine Braut verzichtete, die den Freund liebte. Der Oberst Brückner 
sagt zwar, der K . . . ist ein widerwärtiger Waschlappen, aber ich 
finde das durchaus nicht; er sieht so feurig aus, ein echter, edler 
Ungar. Die Hella sagt, er hat früher wahnsinnig viel Schulden 
gemacht, weil er jedes halbes Jahr ein anderes Verhältnis mit 
einer Dame hatte; und die vielen Geschenke haben ihn fast 
an den Bettelstab gebracht. Also, wir können das nicht 
recht glauben, denn wenn eine Dame noch so für Blumen und 
Bonbons schwärmt, so kann man dadurch doch nicht an den 
Bettelstab kommen. Und gestern erzählte mir die Hella vor dem 
Einschlafen, daß der Lajos schon etwas „angesteckt" ist; es 
gibt keinen Offizier, der nicht geschlechtskrank ist und das macht 
sie eben so furchtbar interessant. Da erzählte ich ihr dann das, 
was mir die Ada vom Schauspieler in St. P. erzählt hat. Aber die 
Hella sagte: Es fragt sich, ob alles wahr ist; bei einem Schau- 
spieler kann es ja allerdings eher wahr sein, besonders da er 
früher beim Militär war, aber im allgemeinen sind die Zivilisten 
furchtbar solid!!! Und das wäre ihr an ihrem Mann gräßlich. 
Jeder Offizier hat wahnsinnig gelebt; so sagt man nämlich in 
der Umschreibung für geschlechtskrank, und sie würde nie einen 
Mann heiraten, der nicht vorher gelebt hätte. Die meisten 
Mädchen, besonders wenn sie schon älter sind, verlangen gerade 



149 



das Gegenteil! und da fiel mir plötzlich ein, daß das wahrschein- 
lich der wahre Grund ist, warum die Dora dem Herrn Ohltnt. 
R... abgeschrieben hat, und nicht die Freundschaft mit 
der Mama; das ist ja auch wirklich lächerlich und niemand 
wird ihr das glauben. Der Papa der Hella findet mich reizend; 
er ist übrigens auch großartig nett. Der Onkel von der Hella 
redet fast gar nichts und man versteht ihn beinahe nicht; der 
Papa der Hella sagt immer, seine Schwägerin hat die Hosen an. 
Das möchte ich nie haben; der Herr im Haus muß unbedingt 
der Mann sein. „Aber nicht zu viel", sagt die Hella. Sie ärgert 
sich übrigens immer so, wenn ihr Papa das sagt, von den Hosen 
anhaben. Gestern bin ich schrecklich erschrocken, wie wir auf 
die Veranda gehen wollen, weil wir die Burschen reden hörten, 
steht ein Rollstuhl da und drauf liegt der Großonkel der Hella, 
von dem sie mir einmal erzählte, daß er ganz verrückt ist; er 
ist nicht wirklich gelähmt, sondern er tut nur so. Die Hella 
fürchtet sich vor ihm entsetzlich, weil er sie einmal, wie sie 
9 oder 10 Jahre alt war, durchhauen wollte. Aber ihr Onkel kam 
dazu und da hat er sie gleich losgelassen. Sie sagt zwar immer: 
Er soll sich nur unterstehen, aber sie hat doch gräßliche Angst. 
Er ist immer in seinem Zimmer und hat einen Pfleger, weil keine 
Pflegerin es aushalten kann hei ihm. Er sollte eigentlich in einer 
Irrenanstalt sein, aber in Ungarn gibt es keine feineren. 

9. September: Heute vormittag war ein furchtbarer Skandal; 
der Großonkel, die Leute nennen ihn Kutya mog oder wie das 
geschrieben wird und das heißt verrückter Hund, also der 
Großonkel stellt uns nach. Er kann nämlich mit dem Stock 
gehen, wenn er will und da stellte er sich vor unser Parterre- 
fenster und schaute zu, wie die Hella sich wusch und ich gerade 
aufstand. Da kam der Papa der Hella dazu und machte einen 
wahnsinnigen Skandal und der Onkel schimpfte auch furchtbar 
auf Ungarisch. Und vor dem Essen hörten wir gerade noch, wie 
der Papa zur Tante Olga sagte : „Das wären gerade schöne Bissen 
für diesen alten Schweinigl, solche unschuldige Kinder, die kämen 
schön zum Handkuß!" Da mußten wir so furchtbar lachen, wir 
und unschuldige Kinder!!! was die Papas eigentlich glauben 
von uns; wir und unschuldig!!! Beim Essen durften wir einander 
gar nicht anschauen, sonst wären wir direkt herausgeplatzt vor 
Lachen. Und nachmittag sagte die Hella: „Du, weißt du, daß wir 
am selben Tag Namenstag haben?" Und wie ich sage: „Wieso 
denn, mir scheint, du bist von heute vormittag übergeschnappt", 



150 



da lacht sie furchtbar und sagt: „Ja natürlich, am 27. Dez., am 
Tag der Unschuldigen Kinder!" Das ist zu köstlich. Sie weiß das 
nämlich, obwohl sie protestantisch ist, weil die Marina, die falsche 
Person, am 27. Dez. Geburtstag hat, und wir sie deshalb in dem 
Brief damals „Unschuldiges Kind" anredeten und dabei hatte ich 
unabsichtlich ein so schlechtes K gemacht, daß es wie ein R aus- 
sah und also „Unschuldiges Rind" hieß, weswegen dann die Tante 
Alma den Riesenkrach machte. 

* 

16. Februar: Wir haben eine neue Schülerin bekommen. Alle 
Mädchen und Lehrkräfte sind entzückt von ihr. Sie ist so 
klein wie zehn Jahre, aber reizend schön. Braune Locken (die 
Hella sagt Fuchsrot, aber das ist nicht wahr) bis zu den Schultern, 
große braune Augen und einen süßen Mund und einen Teint wie 
Milch und Blut. Sie ist die Tochter eines Bankdirektors in Ham- 
burg; er hat sich erschossen, warum, das wissen wir nicht. Sie 
ist natürlich in Trauer und das steht ihr großartig. Sie spricht 
ganz Norddeutsch. Die Frau Dr. Fuchs ist ganz vernarrt in sie 
und die Frau Direktorin ist auch riesig lieb zu ihr. 

19. Februar: Heute sind wir mit der Anneliese nach Hause ge- 
gangen, die Hella und ich. Sie heißt Anneliese von Zerkwitz. 
Ihre Mama kränkt sich so über den Tod ihres Papas, daß sie 
wahrscheinlich in ein Sanatorium kommen muß; deshalb sind sie 
nach Wien zu ihrem Onkel gekommen. Der ist ein Professor 
und sie wohnen auf der Wiedner Hauptstraße. Die Dora findet 
sie auch reizend, die ganze Schule ist verlieht in sie. Sie wird 
auch mit uns in die Turnschule gehen; ich freue mich riesig. 
Sie wird zwar nicht neben mir und der Hella stehen, weil sie so 
klein ist; aber wir können sie doch immer anschauen, ihr alles 
zeigen und ihr bei den Geräten helfen. Die Hella ist ein bißchen 
eifersüchtig und sagte : „Die Anneliese hat mich, wie mir scheint, 
ganz ausgestochen bei dir." Ich sagte ihr, das sei bestimmt nicht 
wahr, aber ob die Anneliese nicht zum Verlieben sei? „Ja," sagte 
die Hella, „aber seine alten Freunde darf man deswegen nicht 
vernachläßigen." „Das tue ich auch gar nicht; aber die Anneliese 
braucht doch jemanden, der ihr alles sagt und zeigt." Und die 
Frau Direktorin und die Frau Dr. M. haben sie gerade vor mich 
gesetzt und zu uns gesagt: „Nehmt Euch ihrer ein wenig an." 

25. Februar: Bei Brückner war es himmlisch! Die Anneliese 
kam erst um vier Uhr, weil sie erst um drei Uhr mittagessen. Sie 
hatte ein weißes gesticktes Kleidchen mit schwarzen Seidenmaschen 

. 151 



an 



Die Mama der Hella küßte sie auf die Wangen und hatte 
Tränen in den Augen. Ihre Mama ist nämlich tatsächlich im 
Sanatorium, weil sie nervenkrank ist. Jetzt ist die Anneliese bei 
ihrem Onkel und ihrer Tante. Aber sie weint oft um ihren Papa 
und um ihre Mama. Bei den Gesellschaftsspielen war sie aber 
ganz lustig, sie gewann gerade die schönsten Sachen, eine Taschen- 
toilette, eine gefüllte Bonboniere, einen Jux-Elephanten, einen 
Neger mit einer Vase und noch anderes. Ich gewann einen Steh- 
tintenwischer, eine Doppelvase, einen Goldkrayon, sehr viele 
Bonbons und ein Notizbuch. Die Hella gewann auch eine Menge 
und ihre zwei Cousinen und die Jenny ebenfalls. Dann wurde 
musiziert und die Anneliese sang die Wacht am Rhein und viele 
Volkslieder; sie hat eine so süße Stimme, wie sie selber ist. Sie 
wurde schon um sieben Uhr abgeholt, ich ging um acht Uhr fort. 

* 
i6. Mai: Am 24. April, gerade am Sonntag nach Ostern ist die 
Mama gestorben. Es ist schrecklich traurig bei uns. Bei Tisch 
redet fast keines ein Wort, nur der Papa redet so lieb zu uns. 
Die Tante Dora bleibt vielleicht für immer bei uns. Es ist nicht 
einmal noch drei Wochen, seit die Mama begraben wurde, aber 
uns ist es, als ob sie schon drei Jahre tot wäre, einerseits; und 
andererseits will man immer schnell in ihr Zimmer gehen, um 
sie um etwas zu fragen oder ihr etwas zu erzählen. Und abends, 
wenn wir uns niederlegen, da reden wir immer so lang von ihr 
und dann träume ich die ganze Nacht von ihr. Wozu die Menschen 
sterben müssen? Oder wenigstens nur die ganz alten Leute, die 
schon gar niemanden mehr haben. Aber eine Mama und ein Papa 
sollte nie sterben. In der Nacht, nachdem die Mama gestorben 
war, wollte die Hella, daß ich zu ihnen käme, aber ich blieb 
doch lieber zu Hause; aber spät am Abend traute ich mich nicht 
ins Vorzimmer, da ging die Dora mit mir. Der Papa hat die 
Tür vom Salon, wo die Mama aufgebahrt war, abgesperrt, aber 
trotzdem war es so unheimlich. Sie haben mich am 24. erst auf- 
geweckt, als die Mama schon tot war; ich hätte sie so gern noch 
vorher gesehen. O Gott, daß man sterben muß! Wenn ich nur 
wenigstens nach ihr Berta hieße; aber das wollte sie nicht, daß 
eine von uns nach ihr heiße und der Papa wollte es auch nicht 
beim Oswald. 

19. Mai: Etwas hat mich beim Begräbnis der Mama furchtbar 
geärgert von der Dora, eigentlich nicht geärgert, sondern ge- 
kränkt, nämlich daß sie mit dem Papa in und aus der Kirche 

15 2 



gegangen ist. Sonst gehe doch immer ich mit dem Papa und die 
Dora ist immer mit der Mama gegangen. Und wie die arme 
Mama im Sanatorium war, ist die Dora mit der Tante gegangen. 
Aber beim Begräbnis ist der Papa mit ihr gegangen und ich mußte 
mit der Tante Dora gehen. Nach ein paar Tagen habe ich es ihr 
gesagt und da sagte sie, das sei ganz natürlich, weil sie die ältere 
ist. Der Oswald hätte sollen mit mir gehen, das hätte sich gehört. 
Aber der ging allein. Und das ärgert mich auch; wie die Tante 
Dora im Herbst zu uns gekommen ist, haben wir, ich und die 
Dora, uns beim Essen und beim Nachtmahl an eine Seite zu- 
sammengesetzt und die Tante saß, vis-ä-vis der Mama und wenn 
die Mama liegen mußte, blieb ihre Seite für die Teller frei. 
Nach ihrem Tod saß der Oswald an der vierten Seite und jetzt 
seit vielleicht 8 Tagen hat sich die Dora an den Platz der Mama 
gesetzt. Ich begreife nicht, daß der Papa das erlaubt! 

19. Mai: Heute zu Mittag hat niemand etwas gegessen. Wir 
hatten nämlich Kalbsbrust und die haben wir auch am Begräbnis- 
tage der armen Mama gehabt und wie der Braten auf den Tisch 
kommt, schaue ich zufällig die Dora an und sehe, wie sie ganz 
rot ist und furchtbar schluckt. Da konnte ich mich nicht mehr 
zurückhalten und sagte: „Ich kann keine Kalbsbrust essen, denn 

am Begräbnistag ", da konnte ich gar nicht weiterreden 

und der Papa stand gleich auf und kam zu mir und die Dora 
und die Tante Dora weinten auch furchtbar. Und nach dem Essen 
versprach uns die Tante, daß wir nie wieder im Leben Kalbsbrust 
haben werden. Die Tante hat dann zur Jause einen Ulmerkuchen 
holen lassen, weil wir zu Mittag fast nichts gegessen hatten. 

* 

12. Juni: Gott, das ist gräßlich; jetzt wollte ich nie mehr an 
solche Dinge denken und jetzt kommt eine solche Affäre! jetzt 
sitz ich unschuldig drin in der Patsche. Heute gleich nach 9 
kommt eine aus der II. in di£ Mathematikstunde und sagt: „Die 
Frau Direktorin läßt bitten, die Lainer, die Brückner und die 
Pranke sollen sofort in die Kanzlei kommen." Alle Mädchen 
schauen uns an, aber wir wissen nicht, warum. Wie wir in die 
Kanzlei kommen, ist die Tür von der Frau Dir. zu und das 
Fräulein N. sagt, wir sollen warten. Dann kommt die Frau Dir. 
hinaus und ruft mich hinein. Drin sitzt eine Dame, die schaut 
mich mit dem Lorgnon an. „Gehst du öfters mit der Zerkwitz?" 
fragt die Frau Direktorin. Ja, sag ich, und es ahnt mir gleich 
nichts Gutes. „Diese Dame ist die Mama der Zerkwitz, sie be- 



153 



schwert sich darüber, daß du mit ihrer Tochter sehr unpassende 
Sachen redest; ist dies so?" „Wir, die Hella und ich, haben ihr 
nie etwas sagen wollen; aber sie hat uns sehr gebeten und dann 
glaubten wir auch, sie wisse es ohnehin schon und stellt sich nur 
so." „Was soll sie wissen und was habt ihr gesprochen?" fährt 
die Mama von der Anneliese los. „Bitte", sagt die Direktorin, 
„ich werde die Mädchen verhören; also die Brückner war auch 
dabei?" „Nur ganz selten", sage ich. „Ja, die Hauptschuldige 
ist die Lainer, deren Mama erst vor kurzem gestorben 
ist." Da habe ich die Tränen verbissen und gesagt: „Wenn die 
Anneliese nicht immer wieder angefangen hätte, hätten wir kein 
Wort von diesen Sachen geredet." Und dann habe ich überhaupt 
keine Antwort mehr gegeben. Jetzt mußte die Hella hereinkommen. 
Sie hat mir dann gesagt, wie sie mich angeschaut hat, hat sie 
gleich gewußt, wieviel es geschlagen hat. „Was habt ihr mit der 
Zerkwitz geredet?" Zuerst wollte die Hella nichts sagen, aber 
dann sagte sie ganz kurz: „Vom Kinderkriegen und von dem Ver- 
heiratetsein!" „Gott im Himmel, solche Küken und sprechen von 
solchen Dingen", sagte die Mama von der Anneliese. „Solche 
verdorbene Geschöpfe." „Wir haben nicht geglaubt, daß die Anne- 
liese wirklich nichts weiß, sonst hätten wir nichts mit ihr ge- 
redet", sagte auch Hella; sie war großartig. „Was den Alfred 
betrifft, so sind wir ganz unbeteiligt und wir haben ihr oft ab- 
geraten, sich von der Schule abholen zu lassen; aber sie hörte 
nicht auf unsern guten Rat." „Ich spreche jetzt von euren Ge- 
sprächen, durch die ihr das arme unschuldige Kind verdorben 
habt", sagte die Frau v. Zerkwitz. „Sie muß unbedingt schon 
etwas gewußt haben, sonst wäre sie nicht mit dem Alfred ge- 
gangen und auch nicht mit uns", sagte die Hella. „Ach, du himm- 
lischer Vater, das ist ja die weit Ärgere; eine solche Verdorben- 
heit!" Dann mußten wir hinausgehen. Draußen hat die Hella furcht- 
bar geweint und ich auch, weil wij» uns fürchten wegen zuhause. 
Wir konnten gar nicht in die Mathematikstunde gehen, weil wir 
ganz verweint waren. In der Pause ging die Hella an der Anne- 
liese vorbei und sagte ganz laut: „Verräterin" und spuckte vor 
ihr aus. Deswegen mußte sie aus der Reihe treten. Ich trat auch 
aus der Reihe und wie die Prau Professor Kreindl sagte: „Du 
Lainer nicht, gehe nur weiter", sagte ich: „Bitte, ich habe auch aus- 
gespuckt" und stellte mich neben die Hella. Alle Mädchen schauten 
uns an. Die Prau Prof. Kreindl weiß offenbar schon alles, denn 
sie sagte nichts weiter. In der Deutschstunde von 11 — 12 sagte 



154 



die Frau Dr. M.: „Kinder, könnt ihr denn keinen Frieden halten? 
Diese ewigen Anstände sind entsetzlich und dabei kommt nichts 
heraus als Aufregungen für euch und eure Eltern und uns." 
Knapp vor 12 Uhr wurde ich nochmals mit der Hella zur Frau 
Direktorin gerufen. „Mädchen", sagte sie, „was habt ihr für ab- 
scheuliche Sachen? Was müßt ihr denn das, was eure Phantasie 
vorzeitig vergiftet, andern auch noch sagen? Und du Lainer, 
schämst du dich nicht, vor wenigen Wochen wurde deine Mama 
begraben, und jetzt hört man solche Dinge von dir?" „Bitte", 
sagt die Hella; „dies war alles schon im Frühling und noch im 
Winter; denn da sind wir noch aufs Eis gegangen. Da war die 
Mama der Rita noch ziemlich gesund. Und die Zerkwitz hat uns 
schrecklich sekkiert, ihr alles zu sagen. Ich habe die Rita oft ge- 
warnt und gesagt: ,Trau ihr nicht', aber sie war ganz vernarrt 
in die Zerkwitz. Bitte Frau Direktorin, sagen Sie nichts davon 
dem Papa der Rita; denn er würde sich sehr kränken." 

Die Hella war einfach großartig, ich werde ihr das nie ver- 
gessen. Sie will mich das nicht schreiben lassen; wir schreiben 
nämlich zusammen. Die Hella meint, wir müssen alles wörtlich 
niederschreiben, man kann nie wissen, wozu man es braucht. Die 
Hella ist eine Freundin, wie es keine zweite gibt, und dabei so 
mutig und gescheit. „Du bist geradeso gescheit", sagt sie zu mir, 
„aber nur bist du gleich so eingeschüchtert und dann bist noch 
von deiner Mama Ihrem Tod sehr nervös. Wenn nur dein Papa 
nichts erfährt." Die dumme Gans hat auch die alte Sauce von 
den zwei Studenten am Eis aufgewärmt, die längst vorüber ist. 
„Nur niemanden sich anvertrauen", sagt die Hella und da hat sie 
wirklich recht. Ich hätte das der Anneliese niemals zugetraut. 
Was mit der Franke war, wissen wir noch nicht. Wie sie herauf- 
kam, legte sie Finger an die Lippen, daß sollte natürlich heißen: 
„Nichts verraten!" 

15. Juni: . . . Herausgekommen ist es ja nur, weil die Mama der 
Hella zu ihrer verheirateten Nichte, zu der Emmy fuhr, die ihr 
erstes Kind bekam. Und da sagten wir eben dem „reinen 
Kind" (so nennen wir jetzt die Falsche) alles. Die Hella ist noch 
immer der Meinung, daß sich das „reine Kind" verstellt hat. Das 
ist schon möglich, denn schließlich ist sie auch schon bald vier- 
zehn Jahre; und mit 14 weiß man bestimmt schon sehr vieles; 
das gibt es nicht, daß man da noch an den Storch glaubt, wie 
die Anneliese es angeblich!!! getan hat. Die Hella meint, ich 
werde jetzt auch bald „entwickelt" sein, weil ich immer so blaue 



155 



Ringe unter den Augen habe. Daß die Frau v. Zerkwitz gesagt 
hat, „solche Fratzen", habe ich ganz überhört; aber die Hella 
sagt, die Frau Direktorin habe es durch ein Räuspern zurück- 
gewiesen. Über den Ausdruck „solche Küken" hat sich die Hella 
gewunden vor Lachen, weil ihre Mama bei solchen Sachen 
auch immer sagt: „Ihr Küken, das geht euch noch nichts an", 
Gott, wann soll man denn alles erfahren, als wenn man bald 14 
ist! Wir beide, die Hella und ich, haben eigentlich diese Sachen 
sehr früh erfahren und geschadet hat es uns gar nicht. Die 
Mama der Hella sagt immer, wenn man solche Sachen schon zu 
früh weiß, bekommt man ein altes Gesicht; aber das ist natürlich 
nicht wahr. Aber warum die Mütter nicht wollen, daß wir es 
wissen? Sie müssen sich rein genieren. 

Aus dem fünfzehnten Lebensjahr 

4. November: Heute haben wir, nämlich etliche in der Klasse, 
uns wütend geärgert in der Deutschstunde. Weil ein paar Mädchen 
nicht wissen, wo ein Beistrich gesetzt wird und wo nicht, hat 
der Professor nicht direkt, aber indirekt gesagt, wir haben in den 
verflossenen Jahren nichts gelernt. Wir haben sehr gut verstanden, 
daß das auf die Frau Dr. M. gegangen ist, bei der die Deutsch- 
stunden 10, nein loomal schöner waren als beim Professor F. Und 
gerade auf die Interpunktion hat die Frau Dr. M. riesig gehalten 
und uns viele Beispiele gesagt. Aber ob man einen Beistrich setzt 
oder nicht, davon hängt doch nicht der gute Stil ab! Und die 
zwei Ehrenfeld, die zuletzt auch sehr für die Frau Dr. M. 
schwärmten, sagten, wir, die Lieblinge der Frau Dr. M., sollten 
einmal bei einem bestimmten Aufsatz nicht einen einzigen Bei- 
strich machen, ihm zum Justament. Das ist eine ausgezeichnete 
Idee, und wir, ich und die Hella, sind gleich dabei, wenn man 
sich nur auf die andern verlassen kann. 

3. Dezember: Gott, fast einen Monat habe ich nichts ge- 
schrieben, aber dafür heute! Der Skandal in der Deutschstunde!! 
Wir haben nämlich die Aufsätze zurückbekommen, in denen die 
Hella und ich, die 2 Ehrenfeld, die Brauner, die Bergler Edith, 
und die Kühnelt absolut keinen Beistrich gemacht haben. Und es 
wäre auch nichts herausgekommen, wenn nicht die dumme Person 
die Brauner, nachträglich alle Beistriche, die sie schon gemacht 
hatte, wegradiert hätte. Wir hatten verabredet, falls der Prof. 
etwas merkt, zu sagen, wir wollten vor dem Unterricht gemein- 

156 



sam besprechen, wo Beistriche zu setzen seien, und es sei aber 
zu spät gewesen. Jetzt hat diese alberne Person alles verpatzt. Er 
wird den Fall vor die Konferenz bringen! Aber schließlich können 
nicht 6 Schülerinnen von 25 eine mindere Sittennote bekommen; 
das darf überhaupt nicht einmal sein. 

4. Dezember: Heute war die Frau Direktorin in der Deutsch- 
stunde inspizieren. Nachher sagte sie, sie erwarte, daß wir die 
schönen Kenntnisse, die uns die Frau Dr. M. drei Jahre lang ver- 
mittelte, zum festen Unterbau unserer weiteren Ausbildung im 
Oberlyzeum machen. Und in der Englischstunde sprach sie über 
den beschränkteren Gebrauch der Satzzeichen im Englischen; und 
schließlich wurden wir 6 Sünderinnen in die Kanzlei ge- 
rufen. Die ganze Schule weiß schon davon und bewundert 
unseren Mut, besonders die Unterklassen; die V. und VI. ärgern 
sich, daß wir aus der IV. uns das trauten. Die Frau Direktorin 
schimpfte uns fürchterlich zusammen, sie sagte, das ist eine un- 
erhörte Frechheit und zugleich machen wir damit der Frau 
Dr. M. eine schöne Schande. Da meldet sich die Hella und sagt 
ganz bescheiden: „Ich bitte, Frau Direktorin, darf ich ein Wort 
zu unserer Verteidigung sagen?" Und dann sagte sie, daß der Herr 
Prof. Fritsch bei jeder Gelegenheit über die Frau Dr. M. eine 
Bemerkung macht, natürlich nur indirekt, aber so, daß wir es 
doch verstehen, und daß wir deshalb das getan haben. Da ant- 
wortete die Frau Direktorin, das ist wohl nicht richtig, niemals 
werde eine Lehrkraft gegen eine andere sprechen, da hätten wir 
den Herrn Prof. einfach mißverstanden! Na also, das kennt man 
schon; auch das Nüßchen hat wie oft in der Mathematik gesagt: 
„Das wißt Ihr nicht! Das müßt Ihr doch gelernt haben." Aber 
die Betonung ! ! ! ! ! Morgen ist Konferenz und wir sollen trachten, 
noch vor der Konferenz alles gutzumachen. Die 2 Ehrenfeld 
wollten, daß wir die Arbeiten nochmals schreiben, mit den Bei- 
strichen natürlich, und morgen in der Deutschstunde auf den Tisch 
legen, aber alle anderen stimmten dagegen; denn wir sahen sehr 
gut, daß die Frau Direktorin ganz rot wurde, als die Hella das 
alles sagte. Die Korrekturen werden wir machen, aber wir fangen 
alle ein neues Heft an. 

2. Jänner: Also der Mistbauer hat nicht gelogen. Heute schon 
haben wir das Glück erlebt! In der großen Pause entsteht auf 
einmal im Vorraum ein ganzer Knäuel von Mädchen und plötz- 
lich glaube ich, mir zerspringt das Herz. Die Frau Dr. M. d. h. 
die Frau Professor Theyer steht mitten unter den Mädchen und 



*57 



sieht uns gleich und gibt uns beiden die Hand, die wir sofort 
küssen. Sie ist zum Besuch ihrer Eltern da mit ihrem Mann, 
dem Herrn Professor; da sie nicht bestimmt wußte, ob sie dazu 
komme, in die Schule zu kommen, so schrieb sie weder mir noch 
der Hella etwas davon. Gott, sie ist so schön und so entzückend 
lieb. Wie schon die Pause abgeläutet ist und die Frau Dr. Dunker 
hereinkommt, sehe ich sie noch draußen stehen. Da halte ich mir 
schnell mein Taschentuch vor, als ob ich Nasenbluten hätte, und 
stürze hinaus zu ihr. Und weil ich ausrutschte und beinahe hin- 
fiel, hielt sie mich mit beiden Armen auf. Kaum bin ich bei ihr, 
kommt die Hella und sagt: „Ah, ich habe doch sofort verstanden; 
ich habe gesagt, dir ist furchtbar schlecht, ich muß nach dir 
sehen." Da lachte die Frau Professor sehr und sagte: „Ihr seid 
ja ganz infame Komödiantinnen; ich werde Euch gleich hinein- 
jagen." Aber natürlich tat sie es nicht, sondern war furchtbar 
reizend und endlich sagte sie: Wir müssen jetzt in die Klasse 
gehen. Da baten wir sie riesig, sie solle uns heraußen lassen bei 
ihr, aber sie sagt: „Nein, dabei kann ich als Eure einstige Lehr- 
kraft Euch nicht unterstützen. Aber ich sag Euch etwas besseres. 
Besucht mich morgen auf ein Stündchen, wollt Ihr?" „Natürlich", 
riefen wir beide. Und sie sagte, sie wohne eigentlich im Hotel, 
aber damit wir nicht allein ins Hotel kommen müßten, so wird 
sie bei ihren Eltern in der Schwindgasse sein und dorthin sollen 
wir bis um vier oder halb fünf Uhr kommen. Da küßten wir ihr 
beide Hände und waren so glücklich! Also morgen um vier Uhr! 
Gott, noch eine ganze Nacht und fast einen ganzen Tag müssen 
wir warten. „Wenn Eure Eltern es erlauben", sagte sie; mein 
Gott, wenn der Papa oder sogar die Großmama der Hella das 
nicht erlauben wollten! Der Papa sagte nur: „Ich bitt' dich, Gretel, 
verlier nur nicht noch vorher deinen Verstand, sonst findest du 
nicht einmal in die Schwindgasse. Ist die Hella auch so verrückt?" 
Natürlich, wie kann man da anders sein 

3. Jänner: Noch zwei Stunden, es ist gräßlich, um halb vier 
Uhr holt mich die Hella ab. In der Schule schauten wir uns heute 
fortwährend an und die anderen Mädchen glaubten, es sei etwas 
mit einem Herrn. Gott, wo denken wir jetzt an einen Herrn! 
Wir hatten eine wunderbare Idee, wir machen Ihr noch schnell 
ein Andenken, da sie erst am fünften am Abend wegfährt. Ich 
habe mir auf maisgelber Seide ein Buchzeichen Vordrucken lassen, 
Edelweiß und ihr Monogramm E. T. natürlich, das neue. Und die 
Hella malt in Intarsienimitation ein Papiermesser. Mir wäre so 

15 8 



etwas auch lieber gewesen, aber ich habe keine Geduld dabei 
und da verpatze ich es sehr oft zum Schluß. Bei einer Stickerei 
kann man nichts verpatzen. Aber leider bekomme ich es vom 
Vordrucken erst um halb vier Uhr; also muß ich die ganze Nacht 
und morgen den ganzen Tag arbeiten. 

Abends : Gott sei Dank und leider Gott, wie mans nimmt, hat 
die dumme Person von Vordruckerin vergessen auf das Lesezeichen 
und ich bekomme es erst morgen in der Frühe. Also kann ich 
jetzt schreiben: Es war himmlisch! Wir mußten mindestens eine 
halbe Stunde spazieren gehen vor Ihrem Haus, bis es endlich fünf 
Minuten nach vier war. Gott, Sie war süß! Sie wollte uns Sie 
sagen, aber das duldeten wir absolut nicht, und so sagte sie 
wieder Du. Ich weiß gar nicht, was wir alles geredet haben, nur 
daß ich plötzlich schrecklich weinte; und da zog sie mich an ihre 

B , nein, so etwas schreibe ich nicht von ihr; sie zog mich 

an sich und da spürte ich Ihr Herz schlagen! und wurde fast 
verrückt. Die Hella behauptet, ich habe sie mit beiden Armen 
um den Hals genommen, aber das ist eine Einbildung von der 
Hella, das hätte ich mich nie getraut. Sie hat so entzückende 
Hände und der Ehering glänzte so an ihrem göttlichen Ring- 
finger. Wir redeten natürlich von der Schule und da fragte sie 
plötzlich: Was war denn das eigentlich mit diesen Aufsätzen, in 
denen die halbe Klasse absichtlich keine Satzzeichen setzte? „Gott," 
sagen wir beide, „das ist eine gemeine Lüge, die halbe Klasse 
hat das nicht getan, sondern bloß 6, die Sie, Frau Doktor, 
immer besonders verehrten." Und dann erzählten wir ihr, wie alles 
war. Da lachte sie ein kleines Bißchen und sagte: „Na, Kinder, 
einen besonderen Liebesdienst habt Ihr mir damit nicht er- 
wiesen. Das ganze war wirklich eine große Frechheit." Und da 
sag ich: „Und die Bemerkungen des Herrn Prof. Fritsch sind noch 
zehnmal frecher gewesen, denn sie bezogen sich auf eine Lehr- 
kraft und noch dazu auf Sie." Da sagte sie: „Liebe Kinder, das 
ist schon einmal so im Leben, daß den Abwesenden immer eine 
üble Nachrede gehalten wird, berechtigt und unberechtigt; das 
ist leider in jedem Beruf so." Und die Hella sagte dann noch, 
daß die Frau Direktorin nicht so ist, denn sonst wäre ein Riesen- 
skandal entstanden, da die Affäre in sämtlichen Lyzeen Wiens be- 
kannt ist. Da sagte die Frau Dr. M. : „Ja, die Frau Direktorin ist 
ein wirklich vornehmer Charakter." Also jetzt kommt noch etwas 
Großartiges, eigentlich zwei großartige Dinge: erstens wartete 
sie uns mit herrlichen Bonbons auf, wie ich sie noch nie gegessen 



!59 



habe. Das bestätigte auch die Hella und wir beide kennen uns 
in Zuckerln wirklich gut aus. Und das zweite, noch herrlichere, 
war folgendes: Nachdem wir schon einige Zeit dort waren, klopft 
es und herein kommt Ihr Mann, der Herr Prof., und sagt: „Grüß 
Gott, mein Schatz" und zu uns „Guten Tag, meine jungen Dame n." 
Und dann stellt sie uns vor und sagt: „Zwei meiner liebsten 
Schülerinnen und meine treuesten Anhängerinnen." Da lacht der 
Herr Prof. sehr und sagt: „Das kann man nicht von allen Schülern 
behaupten." Da sag ich schnell: „Oh bei der Frau Dr. schon, für 
die ginge die ganze Klasse heute noch durchs Feuer." Dann ging 
er wieder hinaus und sie sagte: Pardon, einen Augenblick und 
man hörte deutlich, daß er sie im Nebenzimmer küßte, denn 
sie sagte noch im Hereinkommen: „Aber geh, leb wohl, Karl." 
Leider heißt er nur Karl, das ist ein so prosaischer Name und 
er nennt sie Lise und wenn sie allein sind, wahrscheinlich Lies- 
chen, da er ein Norddeutscher ist. Ich muß ins Bett gehen, es 
ist gleich halb zwölf. Morgen Fortsetzung. Schlafe wohl, mein 
süßer herrlicher wonniger goldener einziger Schatz! Gott, ich 
bin so glücklich! 



**' 







«**"£■ _ N- 



„Seele, wohin?" 
Skizze eines jungen Analysanden; aus Pf ist er, Zum Kampf um die Psycho- 
analyse (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. 8). 



160 



Begattung und Befruchtung 

von 

Dr. S. Ferenczi 

Daß Freud, Erfahrungen psychischer Natur verwertend, ein 
ganzes Stück Biologie, die Lehre von der Sexualentwicklung 
zu rekonstruieren imstande war, gab Ferenczi den Anstoß, die 
Freudschen Erklärungen über die Begattungsfunktion fortzu- 
spinnen. Er gelangt dabei auch auf eigentliches Gebiet der Bio- 
logie und zu faszinierenden Hypothesen. Die Ergebnisse der 
Ferenczischen Bioanalyse sind in seinem „Versuch einer Genital- 
theorie" niedergelegt. Dem abschließenden Teil ist das Folgende 
entnommen. 

Wenn nach unserer Hypothese der Begattungsakt nichts anderes 
ist als Befreiung des Individuums von lästiger Spannung unter 
gleichzeitiger Befriedigung des Triebes nach Regression in den 
Mutterleib und in das Meer, das Vorbild aller Mütterlichkeit, so 
ist zunächst nicht einzusehen, warum und auf welche Art diese 
Befriedigungstendenz, die anscheinend von der Tendenz zur Art- 
erhaltung und Befruchtung ganz unabhängig ist, mit letzteren zu 
einer Einheit verschmilzt und in der Genitalität der höheren Tiere 
gleichzeitig zur Äußerung gelangt. Das Einzige, was wir bisher 
als Erklärung dieses Tatbestandes anführen konnten, war die Identi- 
fizierung des ganzen Individuums mit dem Genitalsekret. Demnach 
wäre der sorgfältige Schutz, den die Individuen ihrem Genital- 
sekret angedeihen lassen, nicht merkwürdiger als ähnliche Schutz- 
maßnahmen, die so viele Tiere auch auf ihre sonstigen Exkrete 
verwenden. Diese Exkrete bilden nach der Empfindung der Indi- 
viduen Bestandteile ihres eigenen Selbst und ihre Ausstoßung geht 
mit einem Gefühle des Verlustes einher, wobei das Bedauern über 
den Verlust fester Stoffe (Kot) stärker zu sein scheint, als das nach 
der Ausscheidung von Exkreten dünnerer Konsistenz. 

Diese Erklärung erscheint einem aber von vornherein recht 
ärmlich und unbefriedigend, besonders wenn man bedenkt, daß 
mit dem Genitalakte nicht nur die Unterbringung der Genital- 
sekrete an einem gesicherten Ort, sondern auch der Befruchtungs- 
prozeß, die Vereinigung der geschlechtsdifferenten Keimzellen zu 
einer Einheit und der Beginn der Embryonalentwicklung zeitlich 
und räumlich vereinigt ist. Wir müssen zugeben, daß uns der 
Befruchtungsakt Rätsel ganz anderer Art aufgibt, als die, um deren 
Lösung wir uns beim Begattungsakte bemühten. Ist doch die Be- 



161 



fruchtung ein viel archaischerer Vorgang als die temporäre Ver- 
einigung des Männchens und Weibchens im Geschlechtsakt. Wir 
sahen ja, daß die Entwicklung der Genitalität und ihrer Exekutiv- 
organe erst bei den Amphibien beginnt, die Fortpflanzung durch 
Befruchtung aber schon bei den niedersten einzelligen Wesen, bei den 
Amöben. Dies mahnt uns daran, den bisher verfolgten Gedanken ein- 
mal umzukehren und zu untersuchen, ob nicht doch die Zoologen 
im Rechte sind, die behaupten, daß der ganze Begattungsakt ein 
gleichsam nur von den Geschlechtszellen induzierter Zwang ist, 
der die Individuen dazu drängt, die Keimzellen in möglichst ge- 
sicherter Lage aneinander zu bringen. Die vielfachen Vorsichts- 
maßregeln, die im Tierreiche auch vor der Entwicklung der Be- 
gattungsfunktion zu diesem Zwecke getroffen werden, sprechen 
entschieden für diese Annahme und es fragt sich, ob diese nicht 
danach angetan ist, unsere ganze Hypothese von der Mutterleibs- 
und Meeresregression über den Haufen zu werfen. 

Die einzige Rettung aus dieser Schwierigkeit zeigt uns die 
konsequente Portführung des Gedankens vom coenogenetischen 
Parallelismus. Wenn die Lebensumstände der Lebewesen im Laufe 
der Ontogenese wirklich die Reproduktion uralter Existenzformen 
sind, wie wir dies für die Existenz des Embryos im Fruchtwasser 
der Mutter annahmen, so muß auch dem Befruchtungs- 
vorgang, ja auch der Keimzellenentwicklung (der Sper- 
mato- und Oogenese) etwas in der Phylogenese ent- 
sprechen. Dieses Etwas könnte nichts anderes sein, als die ein- 
zellige Existenz in der Urzeit und ihre Störung durch eine urzeit- 
liche Katastrophe, die diese einzelligen Wesen zur Verschmelzung 
zu einer Einheit zwang. Dies ist auch die Hypothese, die uns 
Freud in seiner Arbeit „Jenseits des Lustprinzips" in Anlehnung 
an die poetische Phantasie in Piatos Symposion gegeben hat. 
Eine große Katastrophe, heißt es bei ihm, zerriß die Materie in 
zwei Hälften und hinterließ in ihr die Bestrebung nach Wieder- 
vereinigung, womit erst das organische Leben begonnen hätte. 
Es wäre nur eine nicht sehr wesentliche Modifikation, wenn wir 
auch an die Möglichkeit dächten, . daß auch in der Zeitfolge der 
Keimzellenentwicklung und der Befruchtung ein urgeschichtliches 
Nacheinander sich wiederholt, daß also die Lebewesen sich zu- 
nächst isoliert aus der unorganischen Materie entwickelt hätten 
und erst durch eine neue Katastrophe zur Vereinigung gezwungen 
worden seien. Es gibt auch unter den Einzelligen Übergangs- 
wesen, die, wie die Amphibien zwischen den Wasser- und Land- 



162 



bewohnern, eine Stelle zwischen den konjugierenden und nicht- 
konjugierenden Lebewesen einnehmen. So lesen wir in der Natur- 
geschichte, daß bei gewissen dieser primitiven Wesen unter un- 
günstigen Lebensbedingungen, z.B. bei Eintrocknungsgefahr, 
eine Konjugationsepidemie auftritt und die Tierchen anfangen, 
sich geschlechtlich zu vereinigen. Nun sagt uns aber schon der 
phantasievolle Bölsche, daß eine solche Vereinigung eigentlich 
nichts anderes ist, als eine verfeinerte Form des gegenseitigen 
Auffressens. Am Ende kam also die erste Zellenkonjugation ganz 
ähnlich zustande, wie wir uns die erste Begattung vorstellten. Bei 
den ersten Begattungsversuchen der Fische nach der Eintrocknung 
handelte es sich um einen Versuch, die verlorene feuchte Nahrungs- 
stätte des Meeres in einem tierischen Leibe wiederzufinden. Eine 
ähnliche, aber noch archaischere Katastrophe mochte aber auch 
die einzelligen Lebewesen gezwungen haben, sich gegenseitig auf- 
zufressen, wobei es keinem der Kämpfenden gelang, den Gegner zu 
vernichten. So mag dann eine kompromissuelle Vereinigung, 
eine Art Symbiose zustandegekommen sein, die nach einer 
gewissen Dauer des Zusammenlebens immer wieder zur Urform 
regredierte, indem aus der befruchteten Zelle wieder „Urzellen" 
(die ersten Keimzellen) ausgeschieden wurden. Damit wäre das ewige 
Wechselspiel der Keimzellenvereinigung (Befruchtung) und Keim- 
zellenausscheidung (Spermato- und Oogenese) in Gang gesetzt. — 
Der einzige Unterschied zwischen dieser und der von Freud bevor- 
zugten Möglichkeit ist der, daß unsere die Entstehung des Lebens 
aus dem Unorganischen und die Entstehung des Befruchtungs- 
prozesses zeitlich auseinander hält, während sie nach Freud gleich- 
zeitig infolge derselben Urkatastrophe entstanden sein konnten. 

Ist aber so auch der Befruchtungsprozeß nichts anderes, als 
die Wiederholung einer ähnlichen Urkatastrophe, wie jene, die 
wir für die Entstehung der Begattungsfunktion im Tierreiche ver- 
antwortlich machten, so brauchen wir vielleicht unsere Genital- 
theorie doch nicht aufzugeben und können es versuchen, sie mit 
den unleugbaren Tatsachen der „prägenitalen" Biologie in Ein- 
klang zu bringen. Es genügt dazu, anzunehmen, daß im Begattungs- 
akte und im gleichzeitigen Befruchtungsakte nicht nur die indi- 
viduelle (Geburts-), und die letzte Artkatastrophe (Ein- 
trocknung), sondern auch alle früheren Katastrophen seit 
Entstehung des Lebens zu einer Einheit verschmolzen sind, 
so daß im Gefühl des Orgasmus nicht nur die Ruhe im Mutter- 
leibe, die ruhige Existenz in einem freundlicheren Milieu, 

11* 163 









sondern auch die Ruhe vor der Entstehung des Lehens, 
d. h. auch die Todesruhe der anorganischen Existenz 
dargestellt ist. Die Erledigungsart der früheren Katastrophe, die 
Befruchtung, kann ja als Vorbild gedient und dazu beigetragen haben, 
daß sich die zunächst unabhängigen Triebe der Befruchtung und 
der Begattung in Eins verschmolzen haben. Dieses vorbildliche 
Einwirken der Befruchtung auf die Reaktionsweise des 
Individuums auf aktuelle Störungen schließt aber die Annahme 
nicht aus, daß vom Standpunkte des Individuums die Spannungsreste 
sowohl der aktuellen, als auch der ontogenen und der phylogenen 
Katastrophen nur lästige Unlustprodukte sind, und als solche nach 
den Gesetzen der Autotomie zur Ausscheidung gelangen. 1 

Das Mystische an dem Zusammentreffen der Begattungs- und 
Zeugungsfunktion in einem Akte schwindet also, wenn wir das Ent- 
stehen der Begattungsfunktion bei den Amphibien als Regression 
auf dieselbe Erledigungsart (Vereinigung mit einem 
anderen Lebewesen) auffassen, die sich bei einer früheren 
Katastrophe als nützlich erwiesen hatte. Bei der überall 
im Psychischen, aber offenbar auch im Organischen herrschenden 
Unifizierungstendenz, der Vereinigung gleichsinniger Prozesse 
zu einem Akt, ist es aber auch nicht zu verwundern, daß es (nach 
einigen ungeschickten Versuchen bei den niederen Wirbeltieren) 
endlich zur Vereinigung der Ausscheidung der aktuellen Störungs- 
stoffe (Urin, Kot), der am Genitale angesammelten erotischen 
Spannung, und auch des säkularen Unlustmaterials kommt, 
das wir uns im Keimplasma aufgespeichert denken. 

Allerdings wird dieser letztere Stoff viel sorgfältiger behandelt 
als irgendein anderes Ausscheidungsprodukt. Es ist aber auch 
möglich, daß ein großer Teil der Brutschutzeinrichtungen nicht 
einfach Vorsorgen seitens des mütterlichen Organismus sind, sondern, 
wenigstens zum Teile, vielleicht Produkte der eigenen Vitalität der 
Keimzellen selbst, gleichwie gewisse in den Tierkörper gelangende 
Parasiten die zunächst gewiß nur abwehrenden Reaktionen im 
Körper des Wirtes (entzündliche Demarkation mit Flüssigkeits- 
ausscheidung) dazu benützen können, sich eine geschützte Wohn- 
stätte, gewöhnlich eine mit Flüssigkeit gefüllte Blase, zu bauen. — 

l) Ohne auf die hier versuchte genetische Verknüpfung näher einzugehen, 
gibt Freud in seiner letzten Arbeit: „Das Ich und das Es" (1923) demselben 
Gedanken folgende Fassung: „Die Abstoßung der Sexualstoffe im Sexualakt 
entspricht gewissermaßen der Trennung von Soma und Keimplasma, daher die 
Ähnlichkeit des Zustandes nach der vollen Sexualbefriedigung mit dem Sterben, 
bei niederen Tieren das Zusammenfallen des Todes mit dem Zeugungsakt." 

164 



Anderseits brauchen wir auch die andere Möglichkeit nicht zu 
leugnen, die nämlich, daß das Individuum diese Stoffe wirklich 
mit mehr Sorgfalt als andere behandelt, nur muß diese Sorgfalt 
nicht unbedingt ausschließlich eine Sorgfalt aus Liebe sein. Wenn 
unsere Vermutungen richtig sind, so sind im Keimplasma die 
gefährlichsten Triebenergien in höchster Konzentration enthalten, 
die, solange sie im Organismus selbst enthalten sind, gewiß mit 
Hilfe eigener Einrichtungen vom übrigen Organismus, vom Soma 
getrennt, gleichsam abgekapselt sind, damit sich ihre gefährlichen 
Kräfte nicht gegen den eigenen Körper wenden können. Die 
Sorgfalt also, mit der sie geschützt sind, ist vielmehr eine Sorg- 
falt aus Angst. Und gleichwie es nicht verwunderlich ist, wenn 
jemand einen gefährlichen Explosivstoff, den er vorsichtig in der 
Tasche getragen hat, auch dann noch vorsichtig behandelt, wenn 
er ihn irgend anderswo weglegt, ebenso könnte die Angst vor den 
Störungen des Keimplasmas dazu beitragen, die Keimstoffe auch 
nach ihrer Entfernung aus dem Körper sorgfältig zu schützen. 
Natürlich braucht darum die bisher einzig berücksichtigte Er- 
klärung des Brutschutzes mit der Liebe, d. h. mit der Identi- 
fizierung, nicht fallen gelassen werden und wir haben sie auch 
bereits entsprechend gewürdigt. Jede Trennung, welchen Stoffes 
immer, vom Körperganzen, ist immer auch ein Schmerz und wie 
wir das an dem Ejakulationsakte exemplifizierten, muß die Unlust- 
spannung hohe Grade erreichen, bis der Organismus sich dazu 
entschließt, sich eines Stoffes zu begeben. 

Stellt man sich einmal die Art vor, wie sich Männchen und 
Weibchen begatten und wie gleichzeitig (oder nach geringem 
Zeitintervall, worauf es nicht ankommt) der Spermafaden das Ei 
befruchtet, so bekommt man in der Tat den Eindruck, als ahmten 
die Somata der Gatten die Tätigkeit der Keimzellen bis 
auf kleine Einzelheiten nach. Das Spermatozoon dringt in 
die Mikropyle des Eichens ein, wie der Penis in die Vagina; 
man wäre versucht (wenigstens im Momente der Begattung) den 
Körper des Männchens einfach ein Megasperma, den des Weib- 
chens ein Megaloon zu nennen. 1 Anderseits lernt man auch die 
doch so abfällig beurteilte Auffassung der „Animalculisten" ver- 
stehen, die Sperma und Ovulum als eigene Lebewesen, kleine Tierchen 

_ l) Das Platzen des Graafschen Follikels wäre dem Geburtsakte zu ver- 
gleichen, sozusagen das keimplasmatische Vorbild des Geborenwerdens. Es ist 
übrigens bekannt, daß zwischen Corpus luteum und Gebärmutter zeitlebens 
innige (hormonale?) Beziehungen nachweisbar sind. 



165 



betrachteten. Auch wir glauben, daß sie es in einem gewissen Sinne 
sind: sie sind Revenants der ersten Urzellen, die sich begatteten. 

Es hat also den Anschein, daß das Soma, das zunächst nur die 
Aufgabe hatte, das Keimplasma zu schützen, nachdem es diese erste 
Aufgabe gelöst hat und damit den Forderungen des Realitäts- 
prinzips entsprach,' es sich schließlich nicht nehmen ließ, die Ver- 
einigung der Keimzellen mitzugenießen und Begattungsorgane ent- 
wickelte. Wir werden ja im biologischen Appendix zu dieser Arbeit 
darauf hinweisen müssen, daß auch sonst jede Entwicklung 
diesen Weg geht: zunächst Anpassung an eine aktuelle 
Aufgabe, später möglichste Wiederherstellung der not- 
gedrungen verlassenen Ausgangssituation. 

Man muß sich also vielleicht mit der Idee befreunden, daß 
gleichwie die unerledigten Störungsmomente des individuellen 
Lebens im Genitale gesammelt und dort abgeführt werden, sich 
die mnemischen Spuren aller phylogenen Entwicklungskatastrophen 
im Keimplasma ansammeln. Von dort aus wirken sie in demselben 
Sinne wie nach Freud die unerledigten Störungsreize der traumati- 
schen Neurosen: sie zwingen zur fortwährenden Wiederholung der 
peinlichen Situation, allerdings vorsichtigerweise in qualitativ wie 
quantitativ außerordentlich gemilderter Form und erreichen bei 
jeder einzelnen Wiederholung die Lösung eines kleinen Teilchens 
der großen Unlustspannung. Was wir Vererbung nennen, ist also 
vielleicht nur das Hinausschieben des größten Teiles der 
traumatischen Unlusterledigungen auf die Nach- 
kommenschaft, das Keimplasma aber, als Erbmasse, ist die 
Summe der von den Ahnen überlieferten und von den Individuen 
weitergeschobenen traumatischen Eindrücke; das wäre also die 
Bedeutung der von den Biologen angenommenen „Engramme". 
Halten wir uns an die von Freud präzisierte Ansicht von der 
Tendenz zur Reizlosigkeit und schließlich zur anorganischen Ruhe, 
die alle Lebewesen beherrscht (Todestrieb), so können wir hinzu- 
fügen, daß im Laufe der unausgesetzten Abgabe der traumatischen 
Störungsreizstoffe von einer Generation an die andere der Störungs- 
reiz selbst in jedem Individualleben, eben durch das Erleben selbst, 
abreagiert wird, um, wenn keine neuen Störungen oder gar Kata- 
strophen hinzukommen, allmählich ganz abgebaut zu werden, was mit 
dem Aussterben der betreffenden Gattung gleichbedeutend wäre. 1 

l) Diesen Gedankengang erzählte ich einmal (191g) dem ob seiner geschlechts- 
umstimmenden Tierexperimente bekannten Prof. Steinach in "Wien und über- 
gab ihm ein kurzes Memorandum, in dem ich die Gründe anführte, die die 



166 



Die Unlustnatur der bei der Befruchtung- sich entladenden 
Spannung wäre, wie gesagt, die letzte Ursache der Vereinigung 
des Genitales mit den Ausscheidungsorganen; wir wiesen auch 
bereits darauf hin, daß die so allgemein verbreitete Tendenz zur 
Kastration, wie sie sich bei Psychosen mit großer Vehemenz 
äußert, in letzter Linie durch die Unerträglichkeit dieser Unlust 
verursacht ist. Als phylogenetischer Beitrag zu dieser Auffassung 
könnte uns vielleicht das Auftreten des Descensus testiculorum 
und des Descensus ovarii bei den höheren Säugetieren dienen. 
Die Keimdrüsen befinden sich bei niederen Tieren zeitlebens, bei 
höheren bis zum Ende der Fötalzeit tief im retroperitonalen 
Gewebe versteckt und senken sich, bei letzteren erst später, das 
Bauchfell vor sich herstülpend, in die Beckenhöhle, die Hoden 
sogar unter die Haut des Hodensackes nach außen. Es gibt Tier- 
arten (die Talpiden), bei denen dieser Abstieg nur zur Brunstzeit 
erfolgt und dann rückgängig gemacht wird; es soll auch Tiere 
geben, deren Keimdrüsen nur beim Begattungsakte selbst deszen- 
dieren. Nebst der Tendenz zur räumlichen Annäherung an die 
Ausscheidungsorgane, könnte sich im Deszensus auch die Neigung 
ausdrücken, sich der Keimdrüsen en Moc zu entledigen, um sich 
schließlich mit der Ausscheidung der Drüsensekrete zu begnügen, 
gleichwie wir bei der Analyse des Koitusaktes die Erektion als An- 
deutung einer Tendenz zum totalen Abstoßen des Genitales deuteten, 
die sich am Ende auf die Ausstoßung des Ejakulates beschränkt. 

Da wir die die Befruchtungsvorgänge anregenden Motive 
nur nach Analogie der entsprechenden Motive der Begattung 
erraten wollten, die für uns auch psychologisch zugänglich sind, 
können wir kaum etwas darüber aussagen, ob auch hier nebst 
den Unlustmomenten, die zur Befruchtung drängen, auch „lust- 
volle" Wiederholungstendenzen solcher Natur mitwirken, wie wir 
sie als erotische Triebe, als Triebe, die Spannung anhäufen, um 
ihre Lösung zu genießen, von den übrigen Trieben gesondert 
haben. Wir haben aber gar keinen Grund, diese Möglichkeit 
außer acht zu lassen. Haben wir uns einmal getraut, anzunehmen, 

Experimentatoren berechtigen würde, Verjüngungsversuche anzustellen. Ich 
führte darin aus, daß wenn, wie ich meine, die Verödung des Keimplasmas 
das Sterben des Soma beschleunigt, die Einpflanzung frischen Gonadenmaterials 
die Lebensgeister des Soma zu neuer Arbeit anfachen, d. h. das Leben verlängern 
müßte. Prof. Steinach teilte mir dann mit, daß er die Idee der Verjüngung 
mittels Hoden- und Eierstockgewebes bereits realisierte und zeigte mir auch die 
Photographien verjüngter Ratten. Aus den bald darauf erschienenen Veröffent- 
lichungen Steinachs wurde aber klar, daß er nicht die Keimzellen selbst, 
sondern das interzelluläre Gewebe als die zum Leben reizende Substanz ansieht. 



167 



daß im physiologischen Prozesse der Begattung rein traumatischer 
Zwang und erotischer Drang sich kompromissuellen Ausdruck 
verschaffen, und scheuten wir uns nicht, dem Keimplasma und 
deren zelligen Elementen die Tendenz zur Verschmelzung (aus 
Unlustmotiven) zuzuschreiben, so dürfen wir uns getrost vorstellen, 
daß bei dieser Vereinigung in ähnlicher Weise auch Lusterwerbs- 
motive mitwirken können, wie beim Prozesse der Begattung, die 
nach der hier dargelegten Anschauung nicht nur unerledigte 
traumatische Erschütterungen auszugleichen hilft, sondern auch 
Feste der Errettung aus großer Not feiert. 

Wir sprachen von einer gegenseitigen Beeinflussung zwischen 
Soma und Keimplasma, sprachen aber noch nichts davon, wie wir 
uns etwa die Beeinflussung des Keimplasmas durch das 
Soma denken. Niemand wird wohl von uns erwarten, die viel- 
umstrittenen Fragen der Vererbung erworbener Eigenschaften 
hier aufzurollen. Was die Psychoanalyse darüber sagen kann, hat 
Freud in seiner biologischen Synthese bereits mitgeteilt. Zu den 
Argumenten, die er gegen die Weis mann sehe Behauptung von 
der Unbeeinflußbarkeit der Nachkommen durch die Erlebnisse 
der Vorfahren anführt, könnten wir höchstens noch die gerade 
in Freuds Sexualtheorie hervorgehobene psychoanalytische Er- 
fahrung anführen, wonach nichts im Organismus vorgeht, was nicht 
auch die Sexualität in Miterregung brächte. Wenn nun diese sexuelle 
Erregung immer auch auf das Keimplasma einwirkte und wenn wir 
dieses Keimplasma für geeignet hielten, solche Spuren zu registrieren, 
so könnten wir uns ein Bild davon formen, wie etwa solche Beein- 
flussung entstehen kann und konnte. Zum Unterschied von der „p an- 
genetischen" Entstehung der Keimsubstanz, die uns Darwin 
lehrte, meinen wir allerdings, daß die Keimzellen nicht einfach als 
die Abbilder des Somas aus dessen Abspaltungen sich zusammen- 
setzen, sondern ihren Stammbaum auf viel ältere Zeiten zurück- 
führen, als das Soma selbst. Allerdings werden sie aber dann, und 
zwar wirklich pangenetisch, oder um das neugeprägte Wort anzu- 
wenden: amphimiktisch, auch von den späteren Schicksalen des 
Somas entscheidend beeinflußt, wie denn umgekehrt auch das Soma 
nicht nur von den Reizen der Außenwelt und den eigenen Antrieben, 
sondern auch von den Tendenzen des Keimplasmas Triebreize zu 
bekommen scheint. Erinnern wir uns, daß wir uns all diese ver- 
schlungenen Vorstellungen über das Verhältnis von Soma und Keim- 
plasma nur darum bilden mußten, um die Analogie (und Homologie) 
zwischen den Befruchtungs- und den Begattungsorganen und -vor- 

168 



gangen verständlicher zu machen. Vielleicht ist es uns bis zu einem 
gewissen Grade auch gelungen. 

Zur Erleichterung der Übersicht über das Gesagte möchten 
wir zum Schluß die von uns befürwortete „coenogenetische 
Parallele" in einer synoptischen Tabelle zusammenfassen: 





Phylogenese 


Ontogenese 


I, Katastrophe 


Entstehung organischen 
Lebens 


Reifung der Geschlechts- 
zellen 


II. Katastrophe 


Entstehung individueller 
einzelliger Wesen 


„Geburt" der reifen Keim- 
zellen aus der Keimdrüse 


III. Katastrophe 


Beginn der geschlecht- 
lichen Fortpflanzung 


Befruchtung 


Artentwicklung im Meere 


Embryonalentwicklung 
im Mutterleibe 


IV. Katastrophe 


See-Eintrocknung, 
Anpassung ans Landleben 


Geburt 


Entwicklung von Tierarten 
mit Begattungsorganen 


Entwicklung des Primats 
der Genitalzone 


V. Katastrophe 


Eiszeiten, 
Menschwerdung 


Latenzzeit 



Zwei Rubriken dieses Schemas bedürfen einer Erläuterung. 
Indem wir die Entstehung organischen Lebens von dem indi- 
vidueller einzelliger Wesen auseinander halten, postulieren wir 
eigentlich eine Verdopplung der von Freud bei der Belebung 
der Materie vorausgesetzten kosmischen Katastrophe. Die erste 
hätte nur die Entstehung organischer, d. h. nach einem gewissen 
Organisationsplane konstruierter Materie, die zweite die Los- 
lösung isolierter, mit Autonomie und Autarkie begabter Indi- 
viduen aus dieser Materie zur Folge gehabt. Wie schon der 
Doppelsinn des Wortes „Materie" besagt, die ja wörtlich Mutter- 
substanz heißt, möchten wir den zweiten Prozeß als die aller- 
erste Geburt, das Vorbild aller späteren Geburten ansehen. In 
diesem Sinne müßten wir also doch zur Annahme Freuds zurück- 
kehren, wonach das Entstehen des Lebens (zumindest des Indi- 
viduellen) in einer Zerreißung des Stoffes bestand. Am Ende war 
dies ein erstes Beispiel für die Autotomie: äußere Veränderungen 
mögen den Stoffelementen das Zusammengesetztsein zu einem 
großen Komplex unerträglich gemacht und die Umgruppierung 
zu kleineren Einheiten veranlaßt haben. Analoge Kräfte können 
ja auch beim Entstehen des ersten Kristallindividuums aus einem 



169 



kristallinischen Stoffe, beziehungsweise aus der „Mutterlauge" 
und zwar wieder durch „Eintrocknung" am Werke gewesen sein. 

Die andere Rubrik, die einer Erläuterung bedarf, ist die Ein- 
stellung der Eiszeiten als letzte Katastrophe, die die menschlichen 
Vorfahren getroffen hat. In der Studie über „Die Entwicklungs- 
stufen des Wirklichkeitssinnes" (1910) versuchte ich die Kultur- 
entwicklung als Reaktion auf diese Katastrophe hinzustellen. Nun 
müssen wir dem hinzufügen, daß durch die Eiszeiten auch die 
bereits erreichte genitale Entwicklungsstufe des erotischen 
Wirklichkeitssinnes eine nachträgliche Einschränkung erfuhr und die 
als solche unverwendeten Genitaltriebe zur Verstärkung „höherer" 
intellektueller, moralischer Leistungen verwendet wurden. 

Wir hatten schon einigemale Gelegenheit, die Genitalbildung 
selbst, wie auch die durch sie ermöglichte Entlastung des übrigen 
Organismus von Sexualtrieben als einen wesentlichen Fortschritt 
in der Arbeitsteilung und als Faktor bei der Entwicklung des 
Realitätssinnes hinzustellen. Nachzutragen wäre, daß hiefür auch 
phylogenetische Parallelen vorhanden sind. Bei den amnioten 
Wirbeltieren, die, wie wir hörten, zum erstenmale Begattungs- 
organe entwickeln, beginnt auch die Krümmung des bis dahin 
geradgestreckten Gehirns; es steht auch geschrieben, daß bei den 
plazentalen Tieren zum ersten Male das corpus callosum, und damit 
die assoziative Verknüpfung beider Hirnhälften, wohl ein bedeutender 
Fortschritt in der intellektuellen Leistungsfähigkeit, zur Entwick- 
lung gelangt. Die menschliche Kulturentwicklung in der Latenz- 
zeit wäre also nur eine allerdings wesentlich modifizierte Äußerung 
der uralten, innigen Verknüpfung zwischen Genitaltrieb und 
Intellektualität. 

Ist aber einmal von Hirnentwicklung die Rede, so wollen wir 
einen anderen Gedanken mitteilen, der auf die Beziehung zwischen 
Genitalität und Intellektualität einiges Licht wirft, zugleich aber 
auch auf ein organisches Vorbild der Funktionsart des 
Denkorgans hinweist. Wir sprachen davon, welch eine bedeut- 
same Rolle der Geruchssinn in der Sexualität spielt. Wir wissen 
anderseits, daß in der Entwicklung des Gehirns die Bedeutsam- 
keit des Riechhirns (und damit auch die Rolle des Geruchs bei 
der Sexualität) immer mehr zurück — und die anatomische und 
funktionelle Erstarkung der Großhirnhemisphären in den Vorder- 
grund tritt. Für ein Wesen mit aufrechtem Gange wird schließlich 
statt der Nase das Auge zur Leitzone, auch im erotischen Sinne; 
Menschenaffe und Mensch sind eben „Augentiere" im Sinne des 



170 



Tierbeobachters Th. Zell. Wir meinen nun, daß zwischen der 
Tätigkeit des Geruchsorgans und dem Denken eine so weit- 
gehende Analogie besteht, daß das Riechen förmlich als bio- 
logisches Vorbild des Denkens betrachtet werden kann. 
Beim Riechen „kostet", „schmeckt" das Tier minimale Spuren 
des Nahrungsstoffes, indem es an dessen gasförmigen Emanationen 
schnüffelt, bevor es sich entschließt, ihn als Speise zu verzehren; 
ebenso schnüffelt der Hund am Genitale des Weibchens, bevor 
er ihm seinen Penis anvertraut. Was aber ist, nach Freud, die 
Funktion des Denkorgans? Eine Probehandlung mit kleinsten 
Energiequantitäten. Und die Aufmerksamkeit? Ein intentionelles 
periodisches Absuchen der Umwelt mit Hilfe der Sinnesorgane, 
wobei nur kleine Kostproben der Reize zur Wahrnehmung zu- 
gelassen werden. — Denkorgan und Geruchssinn: beide stehen 
im Dienste der Realitätsfunktion, und zwar sowohl der egoisti- 
schen wie auch der erotischen. 



Kälte, Krankheit und. Geburt 

von 

Ernest Jones 

(Aus der „Festschrift zum 50. Geburtstag von Dr. S. FerenczV.) 

Es ist nur am Platze, daß ein Artikel, der als Beitrag zu der 
Festschrift zu Ehren Dr. Ferenczis geschrieben ist, an eine oder 
die andere seiner charakteristischen Ansichten anknüpft; der vor- 
liegende Artikel tut dies in mehr als einer Hinsicht. Wir danken 
Ferenczi, mehr als irgend einem anderen, unsere dämmernde Er- 
kenntnis, wie subtil die Zusammenhänge zwischen den psychischen 
und physischen Störungen sind, ein wichtiges Gebiet, das wir 
erst zu betreten beginnen. Er hat gezeigt, daß sowohl geistige 
als auch körperliche Krankheit manchmal ihre Ursache in den 
gleichen Faktoren haben können, nämlich in unbefriedigten Ge- 
lüsten, ein Mechanismus, der von der bekannten hysterischen 
Konversion ganz verschieden ist. Ich möchte nun auf eine noch 
indirektere Art hinweisen, in welcher gewisse geistige Tendenzen 
zu ernster körperlicher Krankheit fuhren können, durch falsche 
Assoziationen von symbolischer Art, die sich auf die Vorstellung 
von Krankheit beziehen, Assoziationen, die zu einem Benehmen 
führen, welches die betreffende Person, unwissentlich, der Gefahr 
aussetzt, sich diese Krankheit durch Ansteckung zuzuziehen. 



171 



Die hier besprochene Art von ansteckender Krankheit wird 
durch die Respirationsorgane erworben; über ihren Umfang soll 
später gesprochen werden. Diese Art Krankheit bekommt man 
durch das einfache Einatmen infizierter Luft und die Gefahr der 
Ansteckung wird ins Ungeheure vermehrt durch unzureichende 
Ventilation, wo Infektion vorhanden ist. Nichts könnte daher die 
Gefahr der Ansteckung mehr begünstigen als der vorherrschende 
Glaube, respektive Aberglaube, daß diese Krankheiten eine Ätio- 
logie haben, die der unseren direkt entgegengesetzt ist, das heißt, 
daß sie dem bösen Einfluß kalter Luft zuzuschreiben sind oder 
dem, was volkstümlich als „Zug" bezeichnet wird. Da dieser 
Glaube auch in ärztlichen Kreisen noch fortlebt, mag etwas da- 
rüber von einem rein pathologischen Gesichtspunkt aus gesagt 
werden. Ohne die extreme Ansicht zu vertreten, daß der volks- 
tümliche Glaube absolut abergläubisch und unrichtig ist (obzwar 
ich persönlich dieser Meinung bin), will ich hier nur behaupten, 
daß die pathologische Tragweite des Faktors kalter Luft un- 
geheuerlich übertrieben ist. 

Drei Gruppen von Erwägungen, so scheint mir, machen diese 
Schlußfolgerung unvermeidlich: i. Experimentelle Forschungen an 
Menschen und anderen Tieren, 2. ein skeptisches Nachdenken 
über die Natur der Krankheit und 5. das Zurückrufen der Ge- 
schichte des in Frage stehenden Glaubens. Ich will mit der letzten 
dieser drei Gruppen beginnen. Wenn ein volkstümlicher Glaube 
an einen gegebenen Gegenstand in direkter Proportion mit dem 
Zunehmen der exakten wissenschaftlichen Daten verblaßt, kann 
man den Verdacht nicht unterdrücken, daß der Zweck dieses 
Glaubens einfach war, eine Lücke auszufüllen, wo bestimmte 
Kenntnis noch nicht besteht; dies gilt besonders, wenn der Gegen- 
stand von großer psychologischer Bedeutung für die Menschheit 
ist. Man braucht nur als Beispiel die ungemein große Beschrän- 
kung in der Anwendbarkeit religiöser Erklärungen natürlicher 
Phänomene anzuführen, sobald diese Phänomene durch andere 
Mittel erforscht werden. Die riesige Menge von Folklore auf 
dem Gebiet der Gesundheit zeigt, wie wichtig dieser Gegenstand 
immer für den Menschen war und auch wie unmöglich es ihm 
erschien, auf diesem Gebiete jemals Unwissenheit zu ertragen. 
Diesen Hiatus mußte er immer ausfüllen. Da er so gut wie nichts 
über den Grund und die Behandlung von Krankheit wußte, er- 
fand er mehr oder weniger phantastische Erklärungen, um seiner 
Unwissenheit abzuhelfen. Die Art, in welcher diese falschen Er- 



172 



klärungen determiniert sind, soll später erläutert werden. Unter 
diesen Erklärungen war eines der ätiologischen Momente, an das 
man am festesten glaubte und das für eine lange Reihe von 
Krankheiten verantwortlich gemacht wurde, kalte Luft. Es ist 
erstaunlich, in der medizinischen Literatur des vorigen Jahr- 
hunderts zu finden, was für eine außerordentlich große Zahl von 
Krankheiten angeblich auf diese Art erworben wurden. Sogar in 
den medizinischen Lehrbüchern der vorigen Generation findet 
man diese Ätiologie für eine Reihe von bakteriologischen Zu- 
ständen, wie Peritonitis, Tuberkulose, Leberabszeß, Herzbeutel- 
entzündung, Pleuritis, Gastritis und einer Menge anderer, ange- 
geben. Viele offensichtlich irrationelle Elemente in diesem Glauben 
weisen auf ihre abergläubische Natur hin. So glaubte man, daß 

Nachtluft besonders tödlich sei; Malaria, z. B. war die Folge 

so dachte man — des Einatmens dieser schädlichen Substanz, bis 
die Unmöglichkeit, diese Krankheit bei Abwesenheit der nötigen 
Art von Moskitos zu erwerben, aufgezeigt wurde. Es ist inter- 
essant zu bemerken, daß kalte Luft, die einen aus einer lokali- 
sierten Richtung, gleich einem Feinde, trifft (d. h. „Zug") be- 
sonders gefährlich ist, besonders wenn sie von rückwärts kommt. 
Dasselbe gilt auch für kalte Luft, die bestimmte Körperteile er- 
reicht, wie die Füße und den Nacken. Luft, die durch eine Öffnung 
eindringt, besonders durch ein Schlüsselloch, ist gefährlicher als 
andere Abarten. Wenn wir nun ein Beispiel der vor fünfzig Jahren 
beschriebenen Ätiologie betrachten, sehen wir, in was für einem 
Mißverhältnis dies mit unserer jetzigen Kenntnis der Pathologie 
steht; ich wähle die Lehre, daß Eierstockentzündung die Folge 
von unzureichender Unterkleidung während der Menstruation sein 
soll. Wenn diese Unterkleider offen, anstatt geschlossen sind, so 
kann die gefährliche Luft in die Vagina eindringen, den offenen 
zervikalen Kanal emporsteigen, in der Gebärmutter zirkulieren 
und ihren Weg zu den gewundenen Fallopi-Tuben finden, bis sie 
die empfindlichen Eierstöcke selbst erreicht. 

Die Bakteriologie mußte natürlich einen mächtigen Umschwung 
in diesen Ansichten ausüben, aber sie waren im menschlichen 
Geist so tief eingewurzelt, daß man zu einiger Rationalisierung 
Zuflucht nehmen mußte. Also wurde behauptet, daß kalte Luft, 
obzwar sie nicht die spezifische Ursache dieser Krankheiten war, 
die Wirkung hatte, die Widerstandskraft des Organismus gegen 
die überall vorhandenen Infektionen zu verringern und somit 
bestimmte, ob eine Person an dieser Krankheit leiden sollte oder 



'73 



nicht. In praxi änderte also die neue Erkenntnis nur wenig; und 
noch heute hütet man sich gegen diese angebliche Krankheits- 
cpielle beinahe so sorgfältig wie in den Tagen vor Pasteur und 
Koch. Experimentelle Forschung an Menschen und Tieren zeigt 
jedoch, daß ein außerordentlicher Kältegrad vorhanden sein muß, 
— ein Grad, der unter gewöhnlichen Bedingungen niemals er- 
reicht wird, — um die Körpertemperatur herabzusetzen und daß 
nichts weniger als dies die Widerstandskraft gegen pathogene 
Infektion in beachtenswertem Maße beeinflußt. 

Die Folgewirkungen falscher Glauben sind gewöhnlich sehr 
verschiedenartig. Die Menschheit hat oftmals schwer unter ihnen 
gelitten, aber auch oft kompensatorische Vorteile in der Form 
von Trost und Glücksgefühl aus ihnen gezogen. In dem vor- 
liegenden Beispiel hat sich die Wage entschieden in der erst- 
erwähnten Richtung geneigt, denn dieser Glaube hatte unver- 
gleichlich größeres Leiden im Gefolge als irgendein anderer, 
möge er wahr oder falsch sein. Man hat ausgerechnet, daß, wenn 
man alle unmittelbaren und ferneliegenden Komplikationen und 
Nachwirkungen in Betracht zieht, drei Viertel aller körperlichen 
Krankheiten und Todesfälle ihren Ursprung in Respirations- 
infektionen nehmen — eine "der gigantischesten Tatsachen in der 
Geschichte menschlichen Leidens. 

Kann die Psychologie ein Licht auf den Ursprung und die 
Bedeutung dieses schicksalsschweren Irrtums werfen? Die erste 
mögliche Erklärung, die einem einfällt, mag zunächst erwähnt 
werden, obgleich sie offenbar oberflächlich ist. Es handelt sich 
hier um einen rein logischen Irrtum. Ein hervorstechendes Sym- 
ptom der akuten Phase bei den meisten dieser Infektionen ist 
Kälteschauer und Empfindlichkeit gegen Kälte (das wohlbekannte 
Stadium des Schüttelfrostes). Diese Anfangsphase der Krankheit 
wird irrtümlich gewöhnlich für die pathogene Erkältung gehalten, 
die angeblich die Ursache der Krankheit ist. Weiterhin kann es 
kein Zufall sein, daß der Glaube an die Gefahr kalter Luft sich 
am längsten in bezug auf Krankheiten der Atmungsorgane er- 
halten hat und am schärfsten in Beziehung mit der milden In- 
fektion verfochten wird, die tatsächlich den Namen „Erkältung" 
führt. Hier ist ein weiterer Grund zur Verwechslung ätiologischer 
Momente. Kalte Luft (ebenso wie helles Sonnenlicht) können die 
Atmungsschleimhäute und die Bindehaut in einem solchen Grade 
erregen, daß sie viele der weniger wichtigen, obzwar auffallenden 
Wirkungen dieses wohlbekannten Zustandes hervorrufen können; 



174 



so z. B. das Tränen der Augen, das Laufen der Nase, Kitzel in 
der Nase, Niesen und sogar Husten. Obgleich es ziemlich leicht 
ist, diesen kurzlebigen Zustand von dem echten toxischen, Er- 
kältung genannt, zu unterscheiden, ist es doch wahrscheinlich, 
daß die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen den beiden, die be- 
sprochene ätiologische Verwechslung fördert und es leichter 
macht, die zweite auch den physikalischen Momenten zuzu- 
schreiben, die offensichtlich die erstere hervorrufen. 

Kein moderner Psychologe wird jedoch auch nur einen 
Augenblick mit dieser rein intellektualistischen Erklärung zufrieden 
sein, ganz abgesehen von der Tatsache, daß sie nur auf eine 
gewisse Klasse von Krankheiten anwendbar ist. Wir wissen heute, 
daß formal logische Irrtümer nicht ihre Ursache in intellektuellem 
Ungenügen haben, sondern in der Wirkung emotioneller Paktoren. 
Wie Ferenczi richtig bemerkt: „Man war früher geneigt zu 
glauben, daß man Dinge verwechselt, weil sie ähnlich sind; heute 
wissen wir, daß man ein Ding mit einem anderen nur verwechselt, 
weil gewisse Motive dazu vorhanden sind; die Ähnlichkeit schafft 
nur die Gelegenheit zur Betätigung jener Motive." 

Wir müssen daher weitere Erklärungen zu erforschen suchen, für 
ein so starkes und tiefes menschliches Charakteristikum wie dieses, 
das wir hier betrachten. Der einzige Autor, der meines Wissens das 
Problem von der psychologischen Seite angegangen hat, ist Trotter. 
Er schlägt als Erklärung vor, daß das Gefühl von Unbehagen und 
Furcht, das kalte Luft im Menschen hervorruft, in Zusammenhang 
stehen mag mit der Gefahr, von der warmen Herde getrennt zu 
werden, so daß der hier besprochene Glaube eine direkte Kund- 
gebung dessen sein würde, was er den Herdeninstinkt nennt. Wenn 
wir Trotters „Herde" psychoanalytisch in termini der Familie, 
letzten Endes der Mutter, übertragen, dann mag sein Vorschlag 
mit dem hier auszuführenden in Zusammenhang stehen. 

Die Hilfe, die wir von der Psychoanalyse erwarten, werden 
wir natürlich darin suchen, indem wir bestimmen, was für Beiträge 
von dem Unbewußten zu dem besprochenen Glauben geliefert 
wurden. Wir haben daher zu betrachten, welche Vorstellungen im 
Unbewußten den Elementen der Formel: „Kalte Luft ist der Grund 
für Krankheit", entsprechen. Die unbewußten Äquivalente der 
letzterwähnten Vorstellung sind uns von zahlreichen Psycho- 
analysen bekannt. Obzwar der Wunscherfüllungsmechanismus des 
Unbewußten gelegentlich gewisse Formen von Krankheiten mit 
angenehmen Vorstellungen verbinden mag, — wie in der wohl- 



175 



bekannten Assoziation zwischen den Vorstellungen von Krebs und 
Gravidität, — so bestellt kaum ein Zweifel, daß die häufigste und 
grundlegendste unbewußte Konzeption von Krankheit, die einer 
verkrüppelnden Verletzung ist. Diese Kränkung, so nimmt man 
instinktiv an, ist einem von der Außenwelt zugefügt worden mit 
einer sadistischen oder feindseligen Absicht. Die Überlieferungen 
von primitivem Folklore und Aberglauben lehren uns, wie konstant 
die Person, die uns diese Verletzung (Krankheit und auch Tod) 
zufügt, figürlich personifiziert wird. Die Verletzung, wie jede 
Verletzung, stellt letzten Endes die Kastration dar (Rank). 

Aus den letzten Forschungen haben wir gelernt, daß die Vor- 
stellung der Kastration im Unbewußten viel weitere Zusammen- 
hänge umfaßt, als man früher dachte, besonders in genetischer 
Beziehung. Außer den Vorstellungen, die sich direkt mit dem 
Verlust des Penis befassen (Drohungen, Furcht vor wieder- 
vergeltender Strafe), sind es drei andere wichtige Quellen, von 
denen dieser Komplex gespeist wird. Sie sind: Das Wegnehmen 
der mit dem Penis identifizierten Fäzes (Jones), das Entwöhnen 
von der Brust (Staercke) und der Verlust des Körpers der 
Mutter bei der Geburt (Alexander). Ferenczis Vorstellungs- 
kraft („Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes", Internat. 
Zeitschr. f. PsA, 1915) verdanken wir unsere erste richtige Ein- 
schätzung der psychischen Bedeutung, die der Geburtsvorgang 
für das Kind haben muß und er hat deren Konsequenzen in der 
späteren Entwicklung des Individuums verfolgt. Aus seinen 
Arbeiten, und natürlich aus denen Freuds, haben wir gelernt zu 
verstehen, wie groß das Leid und der Groll sein müssen, die das 
Kind empfindet, wenn es aus dem Paradies vertrieben wird, und 
wie groß der ewige Wunsch, dorthin zurückzukehren, sein muß. 
Nachdem der schmerzliche Akt der Geburt vorüber ist, ist sicher- 
lich für das Kind das deutlichste Zeichen seiner eben erlittenen 
„Kastration" — das Ausstoßen aus dem Nest, das früher sein 
war wie ein Teil seiner selbst — die Empfindung von kalter 
Luft. Der unbehagliche Reizzustand, den dieser Temperatur- 
wechsel hervorbringt, bezeichnet die Revolution in seiner Existenz 
und von seiner (widerwilligen) Reaktion darauf hängt sein ganzes 
Leben ab. Kein Wunder, daß der herrschende Eindruck, den man 
so an der Schwelle des Lebens empfängt, für immer mit den 
Vorstellungen von Unbehagen, Unsicherheit, Gefahr oder selbst 
körperlicher Verstümmelung verknüpft bleibt! 



176 



Über Charakteranalyse 

von 
Dr. Karl Abraham 

Bruchstück aus der letzten der drei Ab- 
handlungen des Verfassers, die unter dem 
Titel „Psychoanalytische Studien zur Cha- 
rakterbildung" als Band XVI der „Inter- 
nationalen Psychoanalytischen Bibliothek" er- 
schienen sind, und den Analcharakter, die 
Beiträge der Oralerotik zur Charakterbildung 
und die Prozesse der Charakterbildung auf 
der „genitalen" Entwicklungsstufe behandeln. 

Die geeignetsten Studienobjekte bilden in der psychoana- 
lytischen Praxis diejenigen Patienten, welche zu gewissen 
Zeiten unter den Augen des behandelnden Arztes bestimmte 
Charakterzüge gegen andere vertauschen. Ich kann z. B. von 
einem jüngeren Manne berichten, dessen anfängliches soziales 
Verhalten sich unter der Wirkung der Behandlung allmählich 
so weit änderte, daß bestimmte, ausgeprägt unsoziale Cha- 
rakterzüge verschwanden. Vorher unfreundlich, mißgünstig, 
überheblich, habgierig, kurzum mit einer ganzen Anzahl oraler 
und analer Charakterzüge ausgestattet, wechselte er sein so- 
ziales Verhalten im Laufe der Zeit mehr und mehr. In unregel- 
mäßigen Abständen aber traten heftige Widerstände hervor, 
welche jeweils einen Bückschlag zu der bereits teilweise auf- 
gegebenen archaischen Bildungsstufe seines Charakters mit sich 
brachten. Sein Verhalten wurde dann jedesmal gehässig, feind- 
selig, seine Bedeweise überheblich und höhnisch; an Stelle 
eines liebenswürdigen und höflichen Benehmens trat Miß- 
trauen und Gereiztheit. Er gab alle freundlichen Gefühls- 
beziehungen zu Menschen, den Arzt inbegriffen, für die Dauer 
dieses Widerstandes auf und stellte eine völlig entgegengesetzte 
Art von Beziehungen zwischen sich und der Außenwelt her. 
Während er auf Personen in ablehnender und gehässiger 
Form reagierte, wandte sich sein Begehren in schrankenloser 
Weise den leblosen Objekten zu. Sein ganzes Interesse galt 



177 



dem Kaufen von Gegenständen. Er stellte somit zwischen 
sich und der Objektw elt in möglichst vielen Einzelfällen ein 
Verhältnis des Besitzes her. Zu gleicher Zeit war er von 
einer Angst erfüllt, ihm könne irgendein Besitz verloren 
gehen oder geraubt werden. Sein gesamtes Verhältnis zur 
Objektwelt war also beherrscht von der Frage des Besitzes, 
des Erwerbes und des möglichen Verlustes. Sobald der Wider- 
stand des Patienten im Rückgang war, trat jeweils der orale 
Zug der Habgier und der anale Zug des Festhaltens am Besitz 
mehr und mehr zurück, und es stellten sich zunehmend 
persönliche, mit normalen Gefühlen verknüpfte Beziehungen 
zu anderen Personen her. 

Beobachtungen dieser Art sind besonders instruktiv, weil 
sie nicht nur den Zusammenhang bestimmter Charakterzüge 
mit der einen oder anderen Organisationsstufe der Libido 
zeigen, sondern auch die Wandelbarkeit des Charakters, d. h. 
sein gelegentliches Aufsteigen zu einer höheren und sein Ab- 
steigen zu einer niederen Entwicklungsstufe uns greifbar vor 
Augen führen. 

Die endgültige Stufe der Charakterbildung läßt überall 
Beziehungen zu den voraufgegangenen Phasen erkennen. Sie 
entnimmt 'aus ihnen dasjenige, was für eine günstige Ein- 
stellung zu den Objekten notwendig ist. Von der frühen 
oralen Stufe entlehnt sie die vorwärtsstrebende Energie, aus 
der analen Quelle Ausdauer, Beharrlichkeit und andere Züge, 
aus der Quelle des Sadismus die zum Lebenskampf nötigen 
Energien. Im Falle einer günstigen Entwicklung gelingt es 
dann dem Individuum, krankhafte Übertreibungen sowohl nach 
der positiven als nach der negativen Seite zu vermeiden. 
Es gelingt ihm, seine Impulse zu beherrschen, ohne in die 
angstvolle Triebverneinung des Zwangsneurotikers zu ver- 
fallen. Als Beispiel diene das Gerechtigkeitsgefühl, das bei 
günstiger Charakterentwicklung nicht in Überkorrektheit aus- 
artet und sich daher nicht in Demonstrationen bei unbe- 
deutenden Anlässen zu äußern braucht. Man denke etwa an 
die vielfachen Handlungen der Zwangsneurotiker im Sinne 
des „gerechten Ausgleichs". Hat die rechte Hand eine Be- 

178 



wegung gemacht oder einen Gegenstand berührt, so muß 
das gleiche mit der linken geschehen. Erwähnt wurde bereits, 
daß menschenfreundliche Regungen sich von den Übertrei- 
bungen der neurotischen Übergüte fernhalten. Ebenso wird 
es gelingen, zwischen krankhaftem Zögern und Übereilung, 
zwischen pathologischem Eigensinn und übergroßer Nach- 
giebigkeit die Mitte zu halten. Das Verhältnis zum Besitz 
regelt sich in dem Sinne, daß die Interessen anderer inner- 
halb gewisser Grenzen Berücksichtigung erfahren, die Existenz 
des Individuums selbst aber gewahrt bleibt. Die zur Erhaltung 
des Lebens notwendigen aggressiven Antriebe werden in ge- 
wissem Umfang konserviert. Ein erheblicher Teil der sadisti- 
schen Triebenergien findet eine nicht mehr destruktive, sondern 
aufbauende Verwendung. 

In der gesamten Veränderung des Charakterbildes, wie sie 
hier in einigen Andeutungen geschildert wurde, kommt die 
fortschreitende Überwindung des Narzißmus zum Ausdruck. 
Die früheren Stufen der Charakterbildung standen noch 
großenteils unter der Herrschaft narzißtischer Antriebe. In 
seiner definitiven Ausbildung trägt der menschliche Charakter 
freilich auch noch derartige Bestandteile in sich. Die Er- 
fahrung lehrt uns ja, daß keine Phase der Entwicklung auf 
organischem Gebiet absolut überwunden wird oder spurlos 
verschwindet. Im Gegenteil trägt jedes neue Produkt der 
Entwicklung Zeichen an sich, welche seinen Vorstufen ent- 
stammen. Wenn aber die primitiven Erscheinungen der Selbst- 
Hebe auch zu einem Teil erhalten bleiben, so dürfen wir 
doch von der definitiven Bildungsstufe des Charakters sagen, 
sie sei relativ unnarzißtisch. 

Von größter Bedeutung ist sodann die — wiederum nur 
relative — Überwindung der Ambivalenz in der Charakter- 
bildung. Es wurde bereits an verschiedenen Beispielen ge- 
zeigt, in welchem Sinne der Charakter sich nach Erreichung 
seiner endgültigen Entwicklungsstufe von den beiderseitigen 
Extremen fernhält. Hier sei noch darauf verwiesen, daß der 
Fortbestand eines starken Ambivalenzkonfliktes im Charakter 
sowohl für das Individuum selbst als auch für seine Um- 



»79 



gebung die fortdauernde Gefahr eines Umschlages von einem 
Extrem zum anderen in sich birgt. 

Eine relativ vollkommene Entwicklung des Charakters bis 
zu der von uns angenommenen höchsten Entwicklungsstufe 
hat demnach zur Voraussetzung einen genügenden Grad 
freundlich-zärtlicher Gefühlsregungen. Sie geht einher mit 
relativer Überwindung des Narzißmus und der Ambivalenz. 

Wir hatten gesehen, daß die herkömmliche Betrachtungs- 
weise der Charakterbildung keinen genügenden Einblick in 
die Quellen des gesamten Entwicklungsvorganges gibt. Zum 
Unterschied von diesen Auffassungen erweist die Psycho- 
analyse auf Grund empirischer Forschung die engen Bezie- 
hungen der Charakterbildung zur psychosexuellen Entwick- 
lung des Kindes, insbesondere zu den Organisationsstufen der 
Libido und zur Entwicklung der libidinösen Objektbezie- 
hungen. Überdies läßt die Psychoanalyse uns erkennen, daß 
auch nach Ablauf der Kindheit sich Bildungs- und Rück- 
bildungsvorgänge am menschlichen Charakter abspielen. 

Die Betrachtung des Charakters in ständiger und engster 
Verbindung mit allen übrigen Erscheinungen der Psycho- 
sexualität sowie die Tatsache der Wandelbarkeit des Cha- 
rakters auch jenseits des kindlichen Alters bilden die Grund- 
lage, von der aus eine Regulierung abnormer Cha- 
rakterbildungen auf psychoanalytischem Wege möglich 
wird. Die Praxis stellt uns keineswegs bloß vor die Auf- 
gabe, neurotische Krankheitserscheinungen im engeren Sinne 
zu behandeln. Oft genug haben wir neben diesen oder sogar 
in erster Linie krankhafte Spielarten der Charakterbildung 
zu behandeln. Die bisherigen Erfahrungen auf diesem Gebiete 
dürfen wir dahin zusammenfassen, daß die „Charakterana- 
lyse" zu den schwierigsten Leistungen gehört, die vom Psycho- 
analytiker gefordert werden, sicher aber auch in einem Teil 
der Fälle zu den dankbarsten. Ein allgemeines Urteil über 
die therapeutischen Wirkungen der Charakteranalyse steht 
uns gegenwärtig noch nicht zu und mag daher späteren 
Untersuchungen vorbehalten bleiben. 



180 



Drei Stunden einer Analyse 



Dr. Otto Rank 

Das neueste Buch von Rank („Eine Neurosenanalyse in Träumen", 
Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, herausgegeben von Prof. 
Dr. Sigm. Freud, Nr. III), dem das unten folgende Fragment ent- 
nommen ist, stellt die ausführlichste psychoanalytische Kranken- 
geschichte dar, die jemals veröffentlicht worden ist. Die Patientin — 
ein junges Mädchen — suchte die Analyse wegen einer Arbeits- 
hemmung auf, die im Anschluß an ein unglücklich ausgegangenes 
Liebesverhältnis und zur Zeit der Verheiratung ihrer jüngeren 
Schwester aufgetreten war, und ihr Berufs- wie Liebesleben schwer 
beeinträchtigte. Die Analyse, die in sechs Monaten beendet wurde, 
ergab als Grundlage des unlösbaren aktuellen Konfliktes eine voll 
ausgebildete Neurose, und zwar vom Zwangstypus. Das üppige 
Traumleben der Patientin gestattete, den Fortgang ihrer Analyse 
und die Lösung ihrer Neurose an ihren fast täglichen Träumen 
schrittweise zu verfolgen. Auf diese Weise ist ein überaus instruktives 
Material zusammengebracht worden, das nicht nur gestattet, die 
Aufeinanderfolge der analytischen Situationen sowohl nach ihrer 
unbewußten Bedeutung wie nach der bewußten Seite hin in den 
Traumbildern und den dazugehörigen Assoziationen und Deutungen 
gleichwie in einem Tafelwerk ad oculos zu demonstrieren, sondern 
gleichzeitig auch die Krankheits- und Heilungsgeschichte eines Falles 
von Zwangsneurose im Sinne der Psychoanalyse vorzuführen. Man 
kann diesen geradezu protokollartigen Bericht über den Verlauf der 
Analyse schlechthin als Darstellung der Entwicklung eines Men- 
schen unter Berücksichtigung des unbewußten Seelenanteiles lesen 
und verstehen. Von prinzipieller Wichtigheit in dieser Neurosen- 
analyse ist auch die Bedeutung unbewußter Leitmotive für das 
Schicksal der Menschen, für ihre Leistungs- und Liebesfähigkeit. 

§8. Stunde: 
Kindheitserinnerungen an die Gehurt der Schwester 
Unter dem Druck der aktuellen Libidoversagung (in der ana- 
lytischen Übertragung) fluten die Erinnerungen der Patientin in 
die gleichen infantilen Versagungssituationen zurück, an denen 
sich ihre Neurose genährt hatte, und bringen gleichzeitig die 
infantile Angst herauf. Sie erinnert eine bestimmte Zeit ihrer 
frühesten Kindheit (etwa drei Jahre), wo sie mit der Mutter 
allein war, ohne Vater, nur die Großmutter war mit. Ein Kinder- 
bettchen mit einer davor sitzenden Ziege, die zur Mutter ge- 



181 



hörte. — Das soll die nährende Muttermilch symbolisieren, im 
Gegensatz zum „untreuen" Vater, der immer abwesend war. 
Schon vor Geburt der Patientin selbst hätten sie einen großen 
Hund gehabt, der sie dann bewacht habe und neben dem Wagerl 
herging. Schon damals habe die Mutter immer geweint. Ob es 
sich nur um ein Zurückphantasieren des „untreuen" Vaters bis 
in die Zeit vor der eigenen Geburt handelt oder um eine echte 
Erinnerung, jedenfalls ist die Tendenz des Erinnerns unverkenn- 
bar und führt in eine Phase der Identifizierung mit der Mutter 
zurück, wo Patientin sich genau so wie die Mutter vom 
Vater verlassen fühlte. 

Dann folgen — in der nächsten Stunde — ganz spontan und 
unverstanden bildhaft auftauchende Erinnerungen an die Geburt 
der Schwester, welche in das zweite Lebensjahr der Patien- 
tin fällt (ii/a Jahre). Auf diese Geburt reagierte Patientin, wie 
nicht anders zu erwarten, mit Eifersucht und Beseitigungswünschen 
(Patientin sieht die Schwester vor sich in den Windeln und mur- 
melt mechanisch: Das kleine Wurm soll man vernichten). » Dann 
beginnt sie- sich mit der (schwangeren) Mutter zu indentifizieren, 
weil der Vater in der Zeit mit der Mutter zärtlich war wie sonst 
nie. Aus der Enttäuschung am Vater folgt nun Wut gegen ihn, 
Eifersucht auf die (bevorzugte) Mutter und Neid gegen das 
Schwesterchen. Die Geburt des Schwesterchens bedingt also nicht 
gleich die Abwendung vom Vater; zuerst wird der Versuch ge- 
macht, es durch Identifizierung mit der Mutter als eigenes Kind 
(vom Vater) zu akzeptieren. Erst das Mißlingen dieses Kompro- 
misses führt zur schroffen Abwendung vom Vater, die das Motiv 
zur Mutterrückkehr in der Identifizierung mit ihm und damit zu 
ihrer Neurose legt. Das dürfte etwa im vierten Lebensjahre der 
Patientin gewesen sein, die in diesem Alter aus dem Geburtshaus 
übersiedelte. 2 

Von da an war ihr der Vater unsympathisch geworden und 
daher hält sie ihn in ihrer Erinnerung im alten Hause fest, ehe 
sie übersiedelten und wo auch anfangs die Schwester noch nicht 
da war. Eine visionäre Erinnerung zeigt ihr — beim Holen des 

1) Dazu Erinnerung aus Ihrem zweiten Lebensjahr, wo sie in den Hühner- 
stall ging, um Eier zu holen und dann in der Küche eines fallen ließ. Das 
muß unmittelbar nach der Geburt der Schwester gewesen sein. 

2) Zuerst irrt sie sich und behauptet: Wir sind gleich nach der Geburt der 
Schwester aus dem Geburtshaus weggegangen. Das beweist den grollen Ein- 
druck dieser Geburt (Vertreibung aus dem ersten Haus: der Mutter). 

182 



Eies — den Vater in Hemdärmeln unter einem blühenden Apfelbaum 
mit einem Fabriksmädchen stehen. Vielleicht war es die, von der 
sie später hörte, die Mutter verdächtige sie eines Verhältnisses 
mit dem Vater. „Aber nein", wendet Patientin selbst ein, „sie 
hat mich ja zu den Hühnern begleitet. Sie hatte einen Arm halb 
abgeschnitten, den ihr die Maschine weggenommen hatte." Diese 
tendenziöse ErinnerungsFälschung — Vater steht mit ihr — ver- 
knüpft die weibliche Einstellung zum. Vater mit der Akzeptierung 
der Kastration (Armabschneiden) und stellt zugleich die Strafe 
für den Ödipus-Wunsch (Ehestörung) dar. Bis heute kann Patientin 
alle Arten von Maschinen nicht ausstehen, von denen sie doch 
so oft träumt (Lokomotive, Zahnradbahn, Flugzeug), 1 weil sie mit 
dem Beruf des Vaters verknüpft sind, dem dieser allerdings, ihrer 
Meinung nach, viel zu viel Interesse (Libido) widmete. 

Der Familienroman 
Dieser Konflikt fand eine schließliche Lösung in ihrem späteren 
Phantasie-Ideal des „Amerikanismus", — wie sie es selbst nannte, — 
in dem auch ihr Familienroman gipfelte. Sie beginnt darin 
in Amerika als Abwaschmädel (siehe das Fabriksmädel des Vaters), 
arbeitet sich allein empor, bringt es weit, um dann groß und reich 
nach Hause zu kommen. In dieser späteren Form des Familien- 
romans ist mehr die Identifizierung mit dem erfolgreichen Vater, also 
die männliche Komponente betont, während sie auf näheres Be- 
fragen angibt, die Phantasie habe eigentlich ursprünglich so ge- 
lautet, daß sie als Kellnerin in einem kleinen schmutzigen Zimmer 
anfange und dann komme ein reicher Amerikaner („der schon 
reich ist, es nicht erst zu werden braucht" — wie der Vater, 
also ein Vaterideal), der sie hinaufführe. — Wir haben es hier 
mit einem scheinbar umgekehrten Familienroman eines Mädchens 
aus wohlhabendem Hause zu tun, der aber in seiner neurotischen 
Hypertrophie nur zeigt, welch geringe Bolle der soziale und welch 
große der libidinöse Faktor im Familienroman spielt, dessen Wurzeln 
in eine infantile Periode zurückreichen, wo es gar nicht anders 
sein kann. Vom Familienroman her erhält auch ihre stark betonte 
Vaterrettungsphantasie eine neue Bedeutung. Sie will ihn für sich 
retten — nicht nur von der Mutter, sondern auch von seinem Beruf 
weg, an den er gefesselt ist, in die alten, einfachen, aber libidi- 

l) Einige von diesen technischen Dingen sind für sie wegen ihrer Be- 
ziehungen zu Zahlen und Nummern (Zählzwang) später bedeutsam geworden 
(Tramway, Telephon etc.). 

183 



nösen Verhältnisse, bevor der übertriebene „amerikanische" Zug 
in sein Leben und also (durch Identifizierung:) auch in ihres ge- 
treten war. 

6l. Stunde: 

Die „Kastration" als Hindernis der Rückkehr zur Mutter 

Erst jetzt bringt Patientin wieder einen Traum, von dem sie 
„nicht mehr viel weiß". 

Traum: „Es war in einem großen Saal (Konzertsaal) und ich 
„ging mit einem Herrn. Da kam uns ein anderer Herr entgegen, 
„begrüßte mich sehr vertraulich (hat mir die Hand unten, wie 
„verstohlen, gedrückt) und fragte mich, wie ich denn herkomme. 

„Dann ging ich in den Saal (zurück), rufe aber, daß es 
„alle hören können: Wir waren jetzt in der Vorlesung, wo wir 
„Physik und Chemie, nein Chirurgie zusammen gehört haben. 
„Ich habe mich aber gleich geschämt und gedacht, das ist doch 
„ein Unsinn, Physik und Chirurgie gehören doch gar nicht zusammen. 
„Soviel weiß ich vom Traum. Aber es gehört auf beiden Seiten 
„noch viel dazu, das ist nur die Mitte. 

„Eigentlich war es so : i Es war wie ein Konzerthaus hier (in 
„Wien), zwei verschiedene Säle und in beiden zugleichKonzert. 
„Dazwischen war ein langer Gang, in dem wir uns in der 
„Pause getroffen haben. Rechts war der kleinere, aber prächtigere 
„Saal (hell erleuchtet), aus dem wir kamen und in den wir zurück- 
»g m g en - Gerufen habe ich, bevor wir wieder hineingingen. Aus 
„dem anderen kam Herr B., den ich kaum kenne, mit dem ich 
„nie etwas zu tun hatte. Der Gang war aber so Wirtshaus artig; 
„es war Bier auf dem Boden (Steinfliesen; und am Ende führten 
„Stufen (später: vier) zum Klosett hinauf. Der Gang mit den Stufen 
„sieht jetzt wie ein (Kino-) Bild aus, in dem als Plakat links oben 
„(über der Stiege) ,Chirurgie' und rechts unten ,Physik' stand. Es 
„war wie eine Verlobungskarte, aber das ist's ja nicht, vielleicht 
„Visitenkarte." 

Assoziationen: Unmittelbar nach der Traumschilderung sagt Pa- 
tientin, der Traum sei ihr am Morgen eingefallen, u. zw. als sie 
in der Zeitung etwas gelesen habe, was sie an Juden erinnerte; 
es war ein jüdisch klingender Name, den auch ein bekannter 
Mediziner hatte. Dann seien ihr andere jüdische Kollegen dieses 
Mediziners eingefallen, die vor ein paar Tagen durchgereist waren, 
dann „Chirurgie" und dann der Traum. 



l) Diese genaue Schilderung ist im Sinne einer „Assoziation" aufzufassen. 
184 



In der gestrigen Stunde waren Rassen- und soziale Gegen- 
sätze zur Sprache gekommen. Ich bin der Rassenfremde, der 
Jude; wir passen so wenig zusammen wie Physik und Chirurgie 
(auf der Verlobungskarte: der eine links oben, der andere rechts 
unten). Zu Physik fällt ihr ein: Maschinen — Technik — Vater; 
sie repräsentiert also das männliche und (rassen-)verwandte Ele- 
ment. Die Chirurgie, bei der sie sofort an ihre Nasenoperation 
gedacht hat, entspricht der Kastration, repräsentiert also das weib- 
liche und (rassen-)fremde (jüdische) Element (Medizin). Der Mann, 
in dessen Begleitung sie sich als Weib geniert, bin ich (Über- 
tragung). Dann sagt sie sich aber sofort: Unsinn, ich kann ja 
doch nicht wirklich weiblich sein (in der Analyse), er kann mich 
ja doch nicht heiraten, er ist Jude, kastriert (wie ich selbst). 
Dann nehme ich also die Weiblichkeit nicht an. 

Deutung: Der Traum beschäftigt sich oberflächlich wieder mit 
dem Kastrationskomplex, was auch in der formalen Schilderung 
(es fehlt noch viel auf beiden Seiten, das ist nur die Mitte) so- 
wie in der Beschreibung zum Ausdruck kommt, wo sie sagt, es 
sei „in der Mitte ein feuchter Gang". Es handelt sich aber letzten 
Endes um den Versuch, von der Mutterbindung zur Übertragung 
auf den Mann zu gelangen und die Widerstände dagegen. 

Dies zeigt die folgende Assoziationsgruppe: 

1. Zu Bier fällt ihr ein: Kutscher, Pissoir. Es gingen Herren 
über die Stufen, die mit ihrer Toilette noch nicht ganz fertig 
waren oder es nachlässig gemacht hatten. (In einem früheren 
Traum hatte sie dasselbe direkt vom Vater geträumt, was auf 
wirkliche Kindheitseindrücke des in dieser Beziehung sorglosen 
Vaters zurückging.) Diese exhibitionistischen Erinnerungen zeigen 
den Weg der Übertragung an. Die Traumsituation: zu beiden 
Seiten Zimmer und in der Mitte ein länglicher Gang, hat mütter- 
liche Symbolbedeutung (auch die Brüste), die jetzt analytisch auf 
den Vater (Mann) übertragen wird. 

2. Herr B., der gar keinen Einfluß auf sie hatte und mit dem 
sie die Übertragung zu verleugnen sucht („mit dem ich nie zu 
tun hatte"). 

5. Assoziiert die Schwester des Herrn B., die sie zwar auch 
nur flüchtig gekannt hatte, die aber im Hause ihrer besten und 
einzigen Freundin wohnte, die einen großen (suggestiven) 
Einfluß auf Patientin hatte; sie möchte sagen, wie ein Mann. 
Die hatte der Patientin sozialistische Ideen suggeriert (siehe 
ihren Familienroman), aber als es ihr möglich wurde, selbst in 



185 



vornehmen Kreisen verkehrt. Diese Freundin hatte ihr auch Ab- 
stinenz aufgetragen, wogegen sie im Traum zu protestieren sucht 
(Biertrinken, Urinieren wie ein Mann). 

Dieser Herr B. und die Freundin repräsentieren typische Li- 
bidowiderstände in Form von Ablehnung der Übertragung und 
Vorwürfen, daß der Analytiker Grundsätze predige, an die er 
sich selbst nicht halte (Libidoversagung). 

Lange Zeit ihrer Entwicklungsjahre habe sie urinieren wollen 
wie ein Mann, Später sehen wollen, wie ein Mann uriniert und 
in dieser unbewußten Identifizierung Lust empfunden. Als ich 
ihr den Identifizierungsmechanismus in ihrem Wunsch nach dem 
(Besitz des) Penis zeige, bekommt sie plötzlichen Harndrang. Ich 
erkläre ihr diese Flucht der unbewußten Phantasie ins Organische 
(Penis), worauf sie gesteht, daß sie tagsüber tausende Penes ge- 
sehen habe, abgeschnitten; eigentlich aber nicht abgeschnitten, 
sondern einen Mann, dessen Kopf und Füße abgeschnitten seien, 
so daß nur das Mittelstück da ist (siehe ihre Bemerkung über 
den Traum). „Auch muß ich jetzt wieder Ihre Bücher zählen, 
bis drei (links eins, rechts eins und in der Mitte!), das ist un- 
angenehm." Ich sage: „Das wird schon vergehen!" — Sie: „Ja, 
aber jetzt vergeht immer nur das Unangenehme, z. B. daß 
ich jetzt auch Medizin studieren will! (Identifizierung mit dem 
jüdischen Mediziner.) Ach, ich wollte natürlich sagen, das An- 
genehme!" Dieses Versprechen gibt, wie das bei der Traum- 
erzählung (Chemie statt Chirurgie) ihrem durch die Analyse ent- 
fachten Konflikt Ausdruck, der sich analytisch durch Aufgeben 
der Vateridentifizierung (Peniswunsch) und Akzeptierung der 
Mutteridentifizierung (Kastration) lösen soll. 

Zur Deutung des Versprechens mit dem Medizinstudium fällt 
ihr ein, daß kürzlich einer dieser Mediziner sie gefragt hatte, ob 
sie auch studiere. Sie antwortete: „Später; vielleicht bis die Ana- 
lyse fertig ist." Da erwiderte er: „Es schien mir, daß Sie 
mehr ans Heiraten denken." — Diesen Gedanken stellt der 
Traum eigentlich dar, mit der (analytischen) Begründung: Wenn 
ich (männliche) Libido bekomme (Übertragung), akzeptiere ich 
die feminine Rolle; da dies aber nicht der Fall ist, protestiere 
ich dagegen. Hier zeigt sich wieder klar, daß der „männliche 
Protest" eigentlich die Fiktion ist, als die Adler den Libido wünsch 
hinstellen wollte, gegen den protestiert wird. Der Traum beschäf- 
tigt sich in seiner oberflächlichen Schichte mit dem männlichen 
Protest: Physik und Chirurgie, die so wenig zusammenpassen wie 



186 



Mann und Weib, Christ und Jude etc. — Aber das eine Ver- 
sprechen, das an Stelle von Chirurgie, die „Chemie" setzt, nimmt 
dem ganzen Traum den Protestcharakter und dementiert dessen 
ganzen Sinn, indem darin der Wunsch durchbricht, die beiden 
mögen so gut zusammenpassen wie Physik und Chemie, die na- 
türlich vor allem die „Analyse" repräsentiert (Übertragung). 
Der Traum balanciert so, mit der den Zwangsneurosen besonders 
eigentümlichen Ambivalenz, auf .der Alternative: Übertragung 
oder Widerstand, Akzeptierung oder Protest, weibliche oder männ- 
liche Rolle: je nachdem ob Libidogewährung oder Libidover- 
sagung. Aufgabe der Analyse ist es nun, die Wiederholung dieser 
infantilen Reaktion zu provozieren, bewußt zu machen und ihre 
Akzeptierung trotz Libidoversagung zu erreichen. 

Im Traum geht Patientin in den Saal zurück, aus dem sie 
gekommen war, und zwar nach dem Vorbild der Männer, 
die am Ende des Ganges mit offenen Hosen ins Klosett hinein- 
gehen. In dieser tiefsten Schichte des Traumes weist die Chirurgie 
auf die Geburt und die Tendenz zur Rückgängigmachung hin. 

Ohne daß der Patientin diese letzte Bedeutung des Traumes klar 
gemacht worden wäre, bringt sie im nächsten Traum eine eindeutige 
Mutterleibsregression, die auch deutlich verrät, daß sie vor 
der Libido-Übertragung auf den Mann, die analytisch fortschreitet, 
zurückflüchtet. 

64. Stunde: 

Analytische und Mutterleibssituation 
Traum: „Die Mutter hat mir gesagt, wir machen einen Aus- 
„flug ins X-tal. Ich sagte, da war ich doch schon zweimal 
„(ich war aber nur einmal dort) und habe mich sehr geärgert 
„darüber. Da hat mir die Mutter vorgeschlagen, ins Y-tal zu 
„fahren; es war aber nur wie zur Probe, sie wollte mir zeigen, 
„wie der Ausflug ausfallen wird. 

„Wir sind also hingekommen und dort war ein Fluß mit 
„nur wenig Wasser, so daß man die Fußspuren am Grunde 
„sehen konnte. Wir sind da alle hinaufgewatet (die Schwester, 
„der Schwager, die Mutter — der Vater nicht!), ich bin aber nicht 
„weiter gekommen. Die anderen sind hinaufgegangen (dort war 
„kein Wasser mehr) und von oben konnte man das Y-tal sehen." 
Assoziationen: Im X-Tal war sie einmal heimlich mit Paul ge- 
wesen und hatte es später der Mutter gestanden (eigentlich um 
ihr ihre Schuld daran vorzuwerfen). Die Mutter hatte aber ver- 
sucht, es gut aufzunehmen. — „Ausflug" erinnert sie an den letzten 

187 



Sonntag zu Hause vor ihrer Abreise nach Wien. Damals sagte sie 
den Eltern, daß sie in die Analyse gehe, hätte es ihnen nicht 
gesagt, wegen des Geldes, wollte sogar (der Mutter) Vorwürfe 
machen, hatte aher dann gedacht, sie müßte ja eigentlich den 
Eltern dankbar sein, daß sie ihr das Geld gaben. 

Deutung: Hier wird zum erstenmal die Analyse (der Analytiker) 
mit der Mutter eindeutig parallelisiert, allerdings in Widerstands- 
form (Vorwürfe), aber mit der positiven Unterströmung, dem 
Analytiker das (neue) Leben so verdanken zu wollen wie der 
Mutter. Im tiefsten Sinne haben wir einen Mutterleibstraum 
vor uns („Wo man schon einmal war" — Freud). Die Vorwürfe 
gegen die Mutter haben neben der Ödipusbedeutung für die Pa- 
tientin hier den besonderen Sinn, daß die Mutter sie hat als 
Mädchen zur Welt kommen lassen, nicht als Knabe; das soll 
durch die Wiedergeburt gut gemacht werden, wird es aber schon 
durch die (nur als Mann mögliche) Rückkehr zur Mutter. Schließ- 
lich scheint aber Patientin doch bereit, ihre weibliche Rolle zu 
akzeptieren (muß ja schließlich für das Leben dankbar sein), und 
zwar jetzt in der Analyse zum zweitenmal (daher die Verän- 
derung der obigen Mutterleibsformel), genau so wie seinerzeit 
von der Mutter das erstemal: d. h. so unabänderlich! Es taucht 
hier hinter dem verdrängten Ödipus- respektive Männlichkeits- 
komplex im Portschritt der Analyse die starke Bindung an die 
Mutter auf, noch verborgen hinter dem Schuldbewußtsein 
gegen sie, das den Kernpunkt ihrer Neurose bildet und dem wir 
analytisch unser Hauptaugenmerk zuwenden müssen. — Nicht 
mehr der Vater ist Schuld, sondern die Mutter — allerdings noch 
in dem neurotischen Sinne, daß sie sie als Mädchen zur Welt 
gebracht hat; die eigentliche „Schuld" der Mutter, daß sie 
Patientin überhaupt geboren, dann entwöhnt und dann dem Vater 
entzogen hat, ist noch nicht akzeptiert. Im Wiedergeburts- 
wunsch aber kreuzt sich die neurotische Männlichkeitstendenz 
(wieder in die Mutter eindringen) mit der analytischen Weiblich- 
keitstendenz (ein Weib werden). 

Der ganze Traum zeigt bereits, wie fast alle Wiedergeburtsträume 
in der Behandlung, eine analytische Deutungsschichte, die 
teilweise mit funktionaler Symbolik arbeitet (Darstellung der 
bereits analysierten Komplexe in den alten primitiven Sym- 
bolen). 1 In diesem Sinne stellt der manifeste Trauminhalt selbst 

l) Diese Deutungsschicht „anagogische" zu nennen, setzt ein "Werturteil 
voraus, das ich für unberechtigt halte. Auch die „analytische" Deutung und 

188 



ihr mühsames Vorwärtsschreiten in der Analyse und ihre Akzep- 
tierung derselben dar: aber in der aus dem „Dankbarkeitskomplex" 
folgenden Widerstandsform, daß sie die Weiblichkeit noch lieber 
von der Mutter als vom Analytiker (Mann) annimmt. Das X-tal 
(wo Patientin übrigens mit Paul heimlich war) stellt auch ihre 
eigene Weiblichkeit (Mutteridentifizierung) dar und bei der 
Deutung setzt Patientin hinzu, sie habe eigentlich im Traume 
ärgerlich gesagt: „Immer und immmer wieder in dies es Tal!" 
Daß ihr diese angebliche Traumrede erst bei meiner analytischen 
Deutung — gleichsam als Antwort darauf — einfallt, beweist den 
Widerstandscharakter und heißt übersetzt: Die Analyse hält mir 
immer und immer wieder meine (verdrängte) Weiblichkeit vor; 
das ärgert mich schon. Lieber wäre ich doch kein Mädchen ge- 
worden. Indem sie dies aber in der Form der Wiedergeburts- 
phantasie darstellt, hält sie selbst sich eigentlich ihre unabänder- 
liche Weiblichkeit vor Augen, mit der sie jetzt weiter vorwärts 
gehen muß. Das Unbewußte versucht aber zurückzuflüchten, es 
gelingt jedoch nicht mehr, da sie die Regressionstendenz bereits 
ablehnt 1 (folgt der mütterlichen Einladung nicht). Da versucht 
sie es „zur Probe" mit einem anderen Tal (dem Y-tal), welches 
sich auf Grund der Assoziationen 2 als die zweite sexuelle Be- 
deutung des weiblichen Genitales (nach der natalen) erweist. 

Hier liegt der durch die Analyse frisch entfachte infantile 
Konflikt klar zutage. Denn das zweite Tal, mit dem sie es probe- 
weise versucht, stellt die analytische Übertragung dar, die 
also hier ganz direkt als Wiederholung der mütter- 
lichen Ursituation erscheint. Nachdem die wirkliche Rück- 
kehr in den Mutterleib unmöglich ist, will sie es mit der künst- 
lichen Art der Wiedergeburt, der analytischen Genesung, versuchen. 

Bedeutung eines Traumes ist keine „höhere" im Sinne der Anagogie, da sie 
genau so wie die primitive auf libidinösen Tendenzen beruht: nur sind 
es einmal die infantilen, das anderemal die aktuellen der Übertragung 
(d. h. die wiederbelebten infantilen). 

1) Auch infolge Akzeptierung der femininen Rolle, die sie zur Mutter- 
riickkehr ungeeignet macht (zum flachen "Wasser fallen ihr Badeszenen am 
Meeresstrand mit Arthur ein, der dort auch Aufnahmen von ihr machte: 
Kastrationsscham; sexueller Narzißmus). 

2) Zum Y-tal die Einladung eines jung verheirateten Ehepaares, 
das sie durch Schwester und Schwager — auch ein junges Ehepaar, das im 
Traume vorkommt — kennen gelernt und das sie dorthin eingeladen hatte. 
Es kam aber nicht dazu; erst später war sie mit einer Freundin dort, „die 
viel kleiner war als ich". 



189 



Selbstbeobachtung und Hypochondrie 

von 

Prof. Dr. Paul Schilder 

Jus „Entwurf zu einer Psychiatrie 
auf psychoanalytischer Grundlage", er- 
schienen ip2f als Bd. XVII der „Inter- 
nationalen Psychoanalyt. Bibliothek 1 '. 

Aufsplitterungen des Ichs in seine verschiedenen Bestand- 
teile ereignen sich im Alltagsleben häufig. Fast ist es so, als 
sei das Ich in einem fortwährenden Zerfall und Wiederaufbau 
begriffen. Auch in der Selbstbeobachtung wird das Ich in 
verschiedene Teile zerfällt. Ein beobachtendes Ich steht einem 
beobachteten gegenüber. Was kann solche Haltung bedingen? 
Wenn wir von Selbstbeobachtung sprechen, kann zweierlei 
damit gemeint sein: 1. Die Beobachtung des eigenen Körpers 
und 2. die Beobachtung des eigenen Seelenlebens. Wenn wir 
von Selbstbeobachtung des Körpers sprechen, meinen wir 
damit im allgemeinen, daß wir die Empfindungen beachten, 
welche vom Körper ausgehen. Man wird jedoch ein gewisses 
inneres Widerstreben verspüren, von Selbstbeobachtung zu 
sprechen, wenn etwa die große Zehe einer mehr oder minder 
eindringlichen Inspektion unterzogen wird. Selbstbeobachtung 
heißt also: seine Empfindungen belauschen. Man sieht aber 
sofort, daß Selbstbeobachtung ein Wahrnehmungsvorgang mit 
veränderter Bichtung ist. Es ist eine gegen innen gerichtete 
Wahrnehmung. Es ist wohl keine eingehende Begründung 
notwendig, daß Selbstbeobachtung nicht der natürliche und 
zweckmäßige Vorgang ist. Vielmehr erfolgt Selbstbeobachtung 
(wir sprechen zunächst von der Selbstbeobachtung des Körpers) 
dann, wenn irgendwo am Körper eine Störung eingetreten 
ist. So zieht etwa das schmerzende Organ Selbstbeobachtung 
auf sich. Es ist auch ohne weiteres im Erleben gegeben, daß 
das so beobachtete Organ gleichsam aus dem Bereich des 
eigenen Erlebens hinaustritt in das Bereich der Wahrneh- 
mung. Der beachtete Körper wirkt gegenständlicher, und es 
ist nur eine verdeutlichende Darstellung dieses Vorganges, 

190 



wenn Menschen, die an einer schmerzhaften Erkrankung 
leiden, sehr häufig angeben, sie hätten (besonders bei dem 
Versuch einzuschlafen) das Bewußtsein, da sei ein schmerz- 
empfindender Mensch, man sei das aber nicht selber. Das 
bisher gewählte Beispiel des schmerzenden Gliedes weist aber 
auf folgende Beziehung hin. Das schmerzende Glied zieht 
libidinöse Besetzung an sich (Freud). Aber dieses narzißtisch 
besetzte Organ ist dem Individuum nicht genehm. Es setzen 
also diesem Organ gegenüber Verdrängungstendenzen ein. 
Diese Verdrängungstendenzen versuchen, das Organ aus dem 
eigenen Körper hinauszudrängen. Das hier Ermittelte gilt in 
gleicher Weise von dem hypochondrisch beachteten Organ. 
Hypochondrisch beachtet werden jene Organe, welche ein 
Übermaß libidinöser Spannung in sich enthalten (Freud). 
Diese libidinöse narzißtische Überbesetzung wird offenbar 
von einer Verdrängungstendenz beantwortet. Man würde 
demnach allgemein folgern können, daß Selbstbeobachtung 
nur jene Organe treffe, welche überbeladen sind mit nar- 
zißtischer Libido, und daß diese Organe gleichzeitig unter 
Selbstbeobachtung der Außenwelt angenähert werden. Ein 
Organ hypochondrisch beachten, heißt also, es teilweise zur 
Außenwelt machen. Der Besitzstand zwischen Subjekt und 
Objekt ist also bei hypochondrischer Selbstbeobachtung zwar 
nicht verändert, aber Teile des Subjekts sind zur Ausstoßung 
ins Objekt vorbereitet. Die Selbstbeobachtung geht hier 
offenbar vom Ideal-Ich aus, und zwar von einem Ideal-Ich 
einer hohen Entwicklungsstufe, welches derartig narzißtisches 
Gehaben einzelner Organe nicht dulden will. 

Die Selbstbeobachtung des eigenen Denkens objektiviert 
dieses gleichfalls. Obwohl der Nachweis hier schwieriger ist, 
gilt es auch vom selbstbeobachteten Gedanken, daß sich eine 
höhere Instanz eines ' unbequemen Materials durch die Ob- 
jektivierung entledigen will. So finden wir die Selbstbeob- 
achtung in bezug auf das eigene Denken bei Zwangsvor- 
gängen. Deren Zwangscharakter ist aber, wie wir sicher 
wissen, darauf zurückzuführen, daß sich das Individuum 
seiner Gedanken durch Ausstoßung entledigen will. Zweifellos 



1 9 1 



richtet sich auch dieser Ausstoßungsvorgang nur gegen solche 
Gedanken, die eine libidinöse Überbesetzung erfahren haben. 
Wir vertreten demnach allgemein den Satz, die Selbstbeob- 
achtung ginge vom Ideal-Ich aus und sei auf das engste mit 
verdrängenden Instanzen verbunden. Es taucht sofort die 
bedeutsame Frage auf, weshalb die Selbstbeobachtung der 
Schizophrenen in einzelnen Fällen eine so ungeheuer scharfe 
und präzise sei. Offenbar hängt das auf das engste damit 
zusammen, daß ja bei der Schizophrenie sehr vieles von dem, 
was sonst innen ist, nicht mehr in der gleichen Weise den 
Charakter des Innen trägt wie vorher. Das gesamte Seelen- 
leben ist objektivierter, Subjektives ist zum Objekt geworden. 
Die selbstbeobachtende Tendenz der Schizophrenie muß aber 
in einem engen Zusammenhang mit dem Wahrnehmungs- 
Ich und Ideal-Ich stehen. Es muß also in derartigen Fällen 
das Ideal-Ich, und zwar wahrscheinlich dasjenige der höheren 
Stufen, erhalten gebheben sein. Gleichzeitig haben aber eine 
Reihe von verdrängenden Instanzen tieferer Stufen offenbar 
ihre Verdrängungen aufgegeben. Damit wird primitives Ma- 
terial frei, dessen sich das erhaltene Ich zum Teil mittels 
der Selbstbeobachtung erwehrt. Wir stoßen hier zum ersten- 
mal auf den wichtigen Grundsatz, daß eine Verdrängung 
tieferer Stufe bereits aufgehoben sein kann, während eine 
solche höherer Stufe noch funktioniert. 

Wir haben uns nun zu fragen, ob es nicht Psychosen 
gebe, bei welchen die Selbstbeobachtung eine besondere Rolle 
spiele. Hier ist zunächst die Hypochondrie zu erwähnen, in 
zweiter Linie die Depersonalisation. Hypochondrie und De- 
personalisation sind klinisch auf das allerengste miteinander 
verwandt, in beiden beherrscht die Selbstbeobachtung das 
Bild. Wir wenden uns nun zunächst der Hypochondrie zu. 
Wir meinen zunächst das hypchondrische Zustandsbild und 
sind allerdings der Überzeugung, daß es Psychoseformen gibt, 
welche als Krankheit Hypochondrie aufgefaßt werden können. 
Ich habe diese Überzeugung an anderer Stelle vertreten. In 
jeder Hypochondrie ist allzu vieles an Aufmerksamkeit, an 
Libido, auf den eigenen Körper konzentriert. Die Wahr- 



192 






nehmung der Umwelt ist zwar ungestört, aber diese Umwelt 
bietet kein Interesse, weder die belebten noch die unbelebten 
Teile der Umwelt. Das hypochondrische Organ, wie das 
Freud treffend ausgeführt hat, erhält so viel Beachtung wie 
das normale Genitale. Von diesem strömen ja fortwährend 
eine Reihe von Reizen zu, welche Beachtung fordern und 
unter Umständen als lästig empfunden werden, wenn die 
Gesamttendenz der Persönlichkeit in anderer Richtung geht. 
Auch das hypochondrische Organ macht sich in ähnlich 
lästiger Weise geltend. Es tritt Beachtung fordernd auf und 
es läßt sich, wie Ferenczi betont hat und ich am eigenen 
Material bestätigen kann, ohne weiteres nachweisen, daß 
das hypochondrisch beachtete Organ nun unter Bildern be- 
schrieben wird, deren grob sexuelle Symbolbedeutung ziem- 
lich klar zutage tritt. Meist läßt sich unschwer zeigen, daß 
Spannen und Ziehen, Hartwerden und Festwerden auf das 
männliche Genitale hinweisen, das weibliche Genitale er- 
scheint viel weniger häufig in den hypochondrisch beachteten 
Organen. Es ist wohl notwendig, vom psychologischen Gesichts- 
punkt aus die hypochondrischen Bilder in zwei Typen zu 
sondern. Bei den hysterischen Hypochondrien ist die objekt- 
libidinöse Beziehung hinter der hypochondrischen Beachtung 
leicht festzustellen. Bei den echten Hypochondrien, bei den 
hypochondrischen Zustandsbildern des manisch-depressiven 
Irreseins und der Schizophrenie ist von dieser objektlibidi- 
nösen Beziehung in der Hypochondrie nichts mehr zu spüren. 
Offenbar sitzt die Störung bei der echten Hypochondrie aus- 
schließlich in der narzißtischen Libido. Die Organe sind mit 
narzißtischer Libido überladen und das Ich wehrt sich 
gegen diese narzißtischen Überladungen. Deshalb die Selbst- 
beobachtung, welche gleichzeitig das hypochondrisch be- 
achtete Organ gegen die Außenwelt zu drängt. Es ist selbst- 
verständlich, daß wir auch bezüglich der Genese hypochon- 
drischer Erkrankungen an dem allgemeinen Schema der 
Neurosen- und Psychosenlehre festhalten müssen, daß ein 
aktueller Anlaß eine Libidostauung verursacht, welche an 
einer Fixierungsstelle zum Durchbruch führt. Haben wir 

•3 193 



nun in den Einzelfällen Hin-weise darauf, wo solche Fixie- 
rungssteüen liegen? Ich möchte hier auf ein Schwesternpaar 
verweisen, über das ich an anderer Stelle ausführlicher be- 
richtet habe. Die eine der Schwestern war im Anschluß an 
eine leichte Verletzung an dem Daumen, die restlos unter 
Zurücklassung nur ganz oberflächlicher Hautnarben ausgeheilt 
war, an Hypochondrie erkrankt. Sie könne nichts mehr 
arbeiten, ihre Hände seien unbrauchbar u. dgl. m. Es 
ließ sich jedoch wahrscheinlich machen, daß der Unfall 
von der Patientin aus inneren Motiven heraus gesucht worden 
war, die Patientin schien sich gegenüber den Anforderungen 
einer bevorstehenden Ehe insuffizient zu fühlen. Die Patientin 
hatte sich, was den Gewohnheiten ihres Standes nicht ent- 
sprach, früher stets ihre Hände sehr sorgfältig manikürt 
und sie sagte auch, „die schönste Zierde einer Frau sind 
ihre Hände". Hier hatte also das aktuelle Trauma den libi- 
dinösen Konflikt ergeben, der zurückstauend Libido zu einem 
narzißtisch besetzten Organ führt. Wir sind uns natürlich 
bewußt, daß die narzißtische Überbetonung der Hand noch 
tiefere Quellen haben muß, die wir nicht aufdecken konnten. 
Aber immerhin erscheint uns der Weg durch den klinischen 
Befund klar vorgezeichnet, wir dürfen jedenfalls eine Fixierungs- 
stelle in der narzißtischen Phase annehmen, die sich in 
der besonderen Wertschätzung der Hände manifestiert. Die 
durchgebrochene Libido wird neuerdings abgelehnt. Bei 
ihrer Schwester schließen hypochondrische Beschwerden an 
eine unbefriedigende äußere Situation an, sie zentrieren sich 
um den Kopf, „ das Gehirn tropft durch den Bachen hinunter 
in den Leib, der Leib bläht sich auf". Nachfixierend wirkt 
ein Schädeltrauma, das die Patientin in ihrem fünften Lebens- 
jahre betroffen hat. 

In der Hypochondrie wird also Empfindung zur Wahr- 
nehmung gemacht. Ihre Fixierungsstelle liegt im narzißtischen 
Bereiche. Wir gehen von der allgemeinen Voraussetzung aus, 
daß jeder Trieb auch ein Objekt habe. Mit dem Ausdrucke 
der Libido bezeichnen wir die Triebkraft, welche sich nicht 
in dem Objekt, sondern vielleicht in der Art der Zuwen- 



194 



düng spiegelt. Welches ist nun die Repräsentanz des Nar- 
zißmus? Für den primären Narzißmus muß man wohl sagen, 
es sei der eigene Körper, und zwar wird man sich doch 
wohl entschließen müssen, auch für den primären Narzißmus 
anzunehmen, daß da ein Ich etwas empfinde und sich an 
diesem Empfundenen freue, wobei dieses Empfundene, da 
es ja nicht die Folie der Wahrnehmung hat, oder doch 
nicht in ausreichendem Maße, wohl nicht ohne weiteres 
mit dem gleichgesetzt werden kann, was dem Seelenleben 
des Erwachsenen als Empfindung zugehört. Diese Empfin- 
dung muß wohl etwas von den Qualitäten der Wahrnehmung 
an sich haben, denn wir müssen den Empfindungsbegriff 
nach wie vor zum Körper in die engste Beziehung setzen, 
der Begriff Körper setzt aber den Korrelatbegriff Welt vor- 
aus. Der Begriff Körper ist ohne den Begriff Welt geradezu 
sinnlos. Bezüglich des sekundären Narzißmus müssen wir 
aber sagen, daß er zum Objekt nicht nur den Körper selbst 
hat, also die Wahrnehmung des Körpers, sondern daß er 
auch Vorstellungsbilder des eigenen Körpers mit zum Gegen- 
stand hat. Ja, ganz allgemein muß man sagen: um einen 
bestimmten Körperteil libidinös besonders zu besetzen, muß 
man eine Kenntnis von diesem Körperteil haben. Wie steht 
es nun mit dieser Kenntnis vom eigenen Köper, wie erfassen 
wir, wie stellen wir den eigenen Körper vor? Die Hirn- 
pathologie gibt uns darüber Auskunft. Es zeigt sich, daß 
unter Benützung von optischen und taktilen Elementen ein 
Körperschema gebildet wird, und wir können bestimmte 
Stellen an der Grenze des Scheitel- und Hinterhaupthirns 
heranziehen, deren Läsion Störungen in der Bildung des 
Körperschemas hervorruft. (He ad, Pick, eigene Unter- 
suchungen.) Das Körperschema enthält die Einzelorgane und die 
Lage der Einzelorgane zueinander. Es kann in primitiverer 
Weise gestört werden durch Störungen im groben Material, 
es kann aber auch Störungen unterliegen, welche ungefähr 
den agnostischen und apraktischen Störungen entsprechen, 
d. h. das vorhandene Körperschema kann im Erkennen 
und Handeln nicht ohne weiteres verwertet werden. Das 

'3* 195 



Körperschema hat nicht nur zur Motilität enge Beziehungen, 
sondern vom Körperschema aus können, wahrscheinlich auf 
dem Wege über die vasovegetativen Apparate des Zwischen- 
hirns, vegetative Funktionen dirigiert werden. Das Körper- 
schema besteht offenbar aus einer Serie von zeitlich aufein- 
ander folgenden Bildern. Amputierte haben ja so gut wie 
regelmäßig im Anschluß an den Verlust der Extremität das 
Bewußtsein, sie hätten ihre Organe noch. Sie spüren diese 
und haben unter Umständen auch deren optisches Bild. Es 
zeigt sich nun, daß längere Zeit nach der Amputation 
oder nach dem Verlust einer Extremität das Phantomglied, 
etwa die Hand, nicht nur näher an den Körper rückt, sondern 
in den einzelnen Fällen auch den Charakter einer Kinder- 
hand annimmt. Offenbar ist das die Wirkung eines körper- 
schematischen Eindrucks, der aus früherer Zeit stammt. Das 
Körperschema ist also ein sehr komplex gebautes psychisches 
Gebilde, das aus mehreren historischen Schichten besteht. 
Wir können dieses Gebilde hirnanatomisch fassen. Aller- 
dings wissen wir derzeit nur etwas von der Vertretung der 
äußeren Organe im Körperschema, während sowohl unsere 
psychologische als auch hirnphysiologe Kenntnis von der 
Vertretung der inneren Organe eine gänzlich ungenügende 
ist. Hier hätten neue Untersuchungen einzusetzen. Erst vom 
Körperschema aus kann die libidinöse Besetzung der ein- 
zelnen Körperteile erfolgen. Ich habe bereits angedeutet, 
daß vom Körperschema aus Verbindungen zu den vasovegeta- 
tiven Apparaten des Zwischen- und Endhirns bestehen müssen. 
Sicherlich wird von der Vertretung der inneren Organe im 
Körperschema aus auch die Innervation der inneren Organe, 
wahrscheinlich wiederum über das Zwischenhirn, innerviert. 
Nun sind wir mit Freud der Anschauung, daß wir den 
Hypochondrischen durchaus glauben müssen, daß sie Emp- 
findungen an den Organen haben. Wir haben nicht das 
Recht, die hypochondrischen Sensationen als Einbildungen 
abzulehnen. Die Hirnphysiologie gibt uns bereits Hinweise 
darauf, wie derartige Sensationen zustande kommen. Wir 
müssen uns ja darüber klar sein, daß vom Zwischenhirn 

196 



alles Vegetative in entscheidender Weise beeinflußt wird. 
Das ganze Heer der hypochondrischen Klagen und Sen- 
sationen, welche sich ja weitgehend mit denen der Neur- 
astheniker decken, wird so verständlich. Die Abänderungen 
am Körperschema selbst, welche den Sensationen voraus- 
gehen und deren Form bedingen, erfolgen sicherlich auf 
psychischem Wege. Man kann es bei Neurasthenikern leicht 
nachweisen, daß jene Teile des Körperschemas verändert 
werden, deren Symbolbedeutung zu dem jeweiligen Konflikt 
in Beziehung steht. 



Zur Genese und Dynamik 
des Erfinderwahns 



Dr. Arthur Kielholz 

Direktor der kantonalen Irrenanstalt in Königsfelden (Aargau) 

Aus der „Internationalen 
Zeitschrift für Psychoanalyse". 

Im Mittelpunkt des paranoiden Systems des Görlitzer Schusters 
Jakob Böhme steht das centrum naturae oder Naturrad, aus 
sieben Quell- oder Saftgeistern sich zusammensetzend und im 
ganzen Kosmos sich auswirkend, eine Projektion des psychischen 
Prozesses des Autors in die Schöpfung mit unverkennbarer sexu- 
eller Symbolik. Von dreien dieser Saftgeister, Mercurius, Sal und 
Sulphur, die der Mystiker aus des Paracelsus Naturphilosophie 
übernommen, haben wir seinerzeit 1 den ersten, den Mercurius 
(gleich Quecksilber) als ein Bild der beweglichen, lebendigen 
Natur gedeutet, die durch den harten Stachel erzeugt wird, den 
zweiten, Sal, als die scharfe sexuelle Begierde und den dritten, 
Sulphur, als die Angst des Weibes vor dem Wüten und Brechen 
des Stachels. 

Bei den Erklärungen eines in Königsfelden versorgten para- 
noiden Erfinders, namens König, wurden wir neuerdings auf diese 

l) Kielholz, Jakob Böhme: Ein pathographischer Beitrag zur Psycho- 
logie der Mystik. Schriften zur angewandten Seelenkunde, XVII. H., S. 25. 



197 



Bedeutung des Quecksilbers aufmerksam. Alle seine Konstruktionen, 
die er als selbsttätige Kraftentwicklungs- und Gewichtsregulierungs- 
apparate, Perpetueno mobilletes, bezeichnete und die meist aus 
zwei gleichartigen, mit einander verkuppelten Teilen bestanden, 
zeichneten sich dadurch aus, daß die treibende Kraft durch kugel- 
förmige, paarige Gewichte geliefert wurde. Diese Gewichte ent- 
hielten Hohlräume oder standen mit solchen röhrenförmiger Art 
in Verbindung. Darin fand sich das leichtflüssige Blei oder Queck- 
silber. Die naheliegende Deutung, daß es sich dabei um eine 
symbolische Darstellung der Testes und des daraus fließenden 
Spermas, der Natur, wie er es bezeichnete, handelte, konnte 
aber bei diesem Manne nicht genügen, um die Entstehung seiner 
Maschinen völlig zu klären. Als seine erste und wichtigste Er- 
findung bezeichnete er ein Velo, das lediglich durch das Gewicht 
des Fahrers ohne Tretapparat bewegt werde. Nun hat der Kranke 
von seiner Knabenzeit her ein durch Unfall verkürztes, atrophi- 
sches Bein. Seine Verkrüpplung erweckte den Wunsch, die er- 
schwerte Lokomotion durch wunderbare Apparate zu kompen- 
sieren, sie verhinderte auch die natürliche Annäherung ans andere 
Geschlecht und verstärkte so die homosexuelle Komponente seiner 
Libido. Die Eindrücke einer Seefahrt nach Amerika, wohin er 
als junger Mensch spediert wurde und während welcher offenbar 
die erste stärkere Introversion statthatte, wahnhafte Erlebnisse in 
langedauernder Strafhaft, wo die Wärter mit einem Lichtapparat 
bei ihm Geblütsaufwallungen erzeugt haben sollten, damit ihm 
die Natur auslaufe, kamen in einzelnen Teilen seiner Erfindungen 
deutlich zum Ausdruck. Kurz, in diesen spiegelte sich seine ganze 
Lebensgeschichte. Er wollte Maschinen machen, die seine Krüppel- 
haftigkeit überwinden, in denen er sicher über Land und Wasser 
und durch die Luft fahren konnte und durch welche seine ver- 
kümmerte sexuelle Potenz vertausendfacht würde und ewig in 
Tätigkeit bliebe. Bei einem zweiten Kranken, Birkler, wurden 
wir auf eine weitere wichtige Komponente des Erfinderwahns, die 
kaum jemals gänzlich fehlt, aufmerksam, die analerotische. Der 
Mann war mit achtundvierzig Jahren wegen Diebstahls von Ge- 
rüstbrettern, von denen er einen großen Haufen in seiner Stube 
aufgespeichert hatte, um einen von ihm konstruierten Laufkran 
zu errichten, inhaftiert worden. Das gleiche Delikt führte zwölf 
Jahre später zu seiner dauernden Internierung. Er erwies sich 
mit seinem Eigensinn, seiner Sammelwut, die sich auf Abfälle 
und Gerumpel konzentrierte, und seinem Geiz, seiner pedantischen 

i 9 8 



Nörgelei und Hypochondrie als Musterbeispiel eines Analerotikers , 
der infolge starker Belastung von beiden Eltern Her und durch 
ungünstige Einflüsse während der Kindheit stark introvertiert und 
schließlich schizophren geworden war. Dem ersten Begutachter 
fielen an seinen Erfindungen vorwiegend die Züge des Schwach- 
sinns auf, die ihn an infantile Produktionen erinnerten, während 
wir heute diese Betätigungen direkt als eine Begression zu solch 
infantilen Spielereien auffassen. Alle seine Apparate, die er 
patentieren und zum Wohle der Menschheit verwirklichen wollte, 
gewinnen einen organischen Zusammenhang als Symbole und 
Projektionen seiner Analerotik. So der Laufkran, mit dem er, 
ohne sich von seinem Platze zu rühren, gefüllte Säcke voll Leder- 
abfälle mit einem Zuge entleeren wollte. Es wird unnötig sein, 
genauer auszuführen, warum er sein weiteres Interesse einem 
Briefordner mit nicht durchlochtem Papier weihte, an welchem 
Ort die Boden- und Wändeputzmaschine, welche die Größe eines 
Stuhles haben sollte und der Schuhputzapparat, der mit einem 
Hebel von der Hand bedient werden konnte, mit großer Wahrschein- 
lichkeit die Stätte ihrer Entstehung hatten. Die Beobachtung 
seiner Hausleute, daß er stets halbe Stunden lang auf dem Abort 
zubrachte, sollte auch einem Skeptiker die Augen öffnen, und 
ehenso ein Traum, an den er sich aus der Kindheit her lebhaft 
erinnerte und in dem ihm der verstorbene Vater auf dem Wege 
zum Klosett drohend entgegentrat. Und schließlich fügte sich 
seine epochemachende Erfindung, ein Jahrzehnt vor dem Welt- 
krieg entstanden, durch welche er das Vaterland vermittels 
Bomben mit einem giftigen Gas vor seinen Feinden schützen 
wollte, trefflich in die Kette seiner Produktionen. 

Eine dritte Kranke, die Modistin Luise B., eröffnete den 
Reigen ihrer Erfindungen, die sie alle auf kleine, unscheinbare 
Papierfetzchen zeichnete, ebenfalls mit Modellen, die sich auf die 
Defäkation beziehen. So betraf ihre erste Erfindung, in schlaflosen 
Nächten ersonnen, einen geruchlosen Nachtstuhl mit Klappe. Dann 
konstruierte sie eine Reformhose für unreinliche Patienten mit 
einer Klappe über den Damm. Im übrigen regredierte die Kranke, 
die sich bis zur Zeit der Klimax die Erfüllung realer erotischer 
Wünsche versagt gesehen hatte, in ihrer Psychose zu infantilen 
Phantasien und Spielereien, die zuerst in Träumen, dann in Form 
von scheinbar harmlosen Verbesserungen und Erfindungen von 
Gebrauchsgegenständen Gestalt annahmen und die zum Hauptobjekt 
in vielfachen Variationen das membrum virile hatten, das sehn- 



199 



süchtig vermißte Glied, an welches Erinnerungen aus frühester 
Jugend mit Neid und Furcht beladen anknüpften. Ausgelöst wurde 
diese Phallussymbolik durch den Tod eines geliebten älteren 
Bruders, der während ihrer Internierung als verblödeter Katatoniker 
in derselben Anstalt starb. Sie, die fromme Katholikin, verlangte 
von den Ärzten, daß dessen Leiche exhumiert und nach besonderer 
Methode konserviert werde durch Anstreichen vermittelst eines 
Malerpinsels mit einer stark ätzenden Flüssigkeit, einer Art Chlor- 
kalk, Eisenvitriol, Salzsäure, die ein Chemiker zusammensetzen 
müßte. Diesen Prozeß, den sie Karbonisation benannte, beschrieb 
sie mit eigentümlich lüsternem Lächeln. Daneben sollte auch dem 
Leichnam mit der gleichen Flüssigkeit ein Klistier appliziert 
werden, um die Verwesung von innen zu verhindern. Einmal 
zeichnete sie einen vorn zugespitzten Sporn, der in Mannesgröße, 
in der Mitte gewölbt, vorn zugespitzt, aus rötlich-rosa Zement in 
einem Bachbett angebracht werden sollte, um bei Hochwasser 
herunterkommende Baumstämme und ähnliche Gegenstände abzu- 
leiten, um eine Zerstörung des Bachbettes zu verhüten. Sie hatte 
davon geträumt, daß sie über einen solchen Sporn in gefährlicher 
unangenehm-angenehmer Weise hinuntergerutscht sei, so daß sie 
nachher zerzauste Haare hatte und sie ein Schauer überkam. Unten 
sei eine artige, einfach gekleidete Frau in einer Schürze gestanden, 
die sie mit den Worten empfing: „Wie kommen Sie da hinunter, 
das ist nicht ein praktikabler Weg.« Wir versuchten nachträglich 
von der Kranken Assoziationen zu besserer Deutung des Traumes 
zu erhalten, die eintretenden schizophrenen Sperrungen ver- 
hinderten aber jede Produktion weiteren Materials. Der im Traum 
dargestellte Vorgang dürfte wohl außer dem Inzest mit dem Vater 
eine Wiedergeburtsphantasie verhüllen, wobei die Schürzenträgerin 
als Hebamme ihre kritischen Bemerkungen macht. 

Bei einer vierten Erfinderin, Lina Maler, sind die hier nur 
vermuteten Zusammenhänge zur drastischen Wirklichkeit geworden. > 
Eine erblich belastete, in schwül-sektiererischem Milieu auf- 
gewachsene Tochter war neurotisch erkrankt, als sie sich eine 
lange dauernde Liebschaft plötzlich versagt hatte. Die Regression 
zur Inzestliebe führte sie darauf zum sexuellen Verkehr mit einem 
Bruder, dem ein Kind entsproß, und zum Bau eines religiösen 
Wahnsystems, um sich im Konflikt mit der bestehenden Moral 

i) Der Fall ist ausführlich dargestellt in der Publikation: Dr. A. Wede- 
kmd, Kasuistik der psychischen Infektionen. Journal für Psychologie und 
Neurologie, Bd. 22 und 23, 1917. 



zu rechtfertigen. Ihre Erfindung, die sie später im Modell hatte 
ausführen lassen, bestand in einem Gestell von der Form einer 
Granate, aus Bambusrohren, mit Vorhängen bekleidet und be- 
stimmt, Kinderwagen, Laufstuhl und Wiege zu ersetzen. Durch 
Schnüre, die an der Spitze der Gestelle zusammenlaufen und dort 
durch drei Ringe angezogen werden können, kann die Lagerstätte 
des Kindes, die sich sonst in der Mitte befindet, in die Höhe 
bewegt werden und dadurch wird der in der unteren Hälfte des 
Korbes befindliche, aus Netzwerk geflochtene Laufstuhl frei, an 
dessen Boden ein Gefäß zum Auffangen von Urin und Stuhl an- 
gebracht ist. Der Laufstuhl soll die Kinder vor dem Herausfallen 
schützen. Die Idee zu der Erfindung hatte sie bekommen, als sie 
zur Erholung von ihrem Nervenleiden sich bei einer verheirateten 
Schwester aufhielt und deren Kinder überwachen mußte. Die 
einzelnen Teile seien ihr jeweilen im Traume offenbart worden, 
also von Gott. 

Ihre Erfindung war nun für sie vor allem der symbolische 
Ausdruck ihres religiösen Wahnsystems und man würde sich deren 
Deutung allzu einfach und zu leicht machen, wenn man das Ganze 
lediglich als Phallus betrachten wollte. Unzweifelhaft lieferte ja 
dieser mit seinen Funktionen das Grundschema. Aber wie sie bei 
ihren Erklärungen vom männlichen Glied auf den Satan, den 
Versucher, kam, dann auf ihren Bruder Jakob, der ihr gegenüber 
den Versucher machte und damit auf ihre von den Menschen 
verabscheute und doch gottgewollte Ehe, so bedeutete ihr auch 
ihre Erfindung die Arche Noah, welche die ganze Schöpfung ent- 
hält, oben den dritten Himmel und darunter die drei Weltreiche ; 
sie bedeutet ferner die Ehe zwischen dem harten Männlichen (den 
Bambusstäben) und dem weichen Weiblichen (der Lagerstätte des 
Kindes). Die Spitze mit den drei Ringen erinnerte sie an den 
Prokuristen, der an der Spitze des Geschäftes stand, in dem sie 
früher arbeitete und der ihre Liebe zuerst hervorlockte, dann sie 
verleugnete, wie König Juda die Thamar. Und weil der Apparat 
für sie ihre Haupterlebnisse verdichtet enthielt, konzentrierte sich 
darauf so viel Affekt, daß sie glaubte, damit imstande zu sein, 
den Satan zu erlösen, so den Konflikt zwischen diesem und Gott 
aus der Welt zu schaffen und den gänzlichen Frieden zu erzeugen. 
An diesen Apparat, den die Erfinderin Kinderballon benannte, 
erinnerte mich ein scherzhaftes Geschenk, das mir von einer 
Patientin namens Bauer gemacht wurde, kurz, bevor sie unsere 
Anstalt gebessert verließ, und das sie selbst aus einer defekten 



Glühbirne angefertigt hatte. Sie wandelte dieselbe durch Strick- 
arbeit in einen Ballon um, den sie mit Wimpeln und Wappen 
schmückte und mit einem zierlichen, bebarteten Männchen be- 
mannte, das unter jedem Arm ein Geldsäcklein trug. Am Boden 
des Ballons befanden sich zudem mehrere Säcklein Sandballast. 
Über die Bedeutung ihres Ballongeschenkes berichtete sie, es sei 
das ihre Idee und Erfindung. Der Luftschiffer sollte ihren lieben 
Mann selig darstellen, wie sie ihn seit ihrem letzten Zusammen- 
leben in Erinnerung hatte mit seinen schwarzen Schnurr- und 
Bockbärtchen, Welch letzteres er ihr zu zuliebe trug, weil sie es 
an ihm so gern gesehen habe als Familienvater und wie es auch 
ihr lieber Vater selig getragen habe. Bei der Luftschifferarbeit 
habe sie einmal den Gedanken gehabt, wenn es nur in Wirklich- 
keit ihr lieber Mann selig wäre, der sie in einem richtigen 
Ballon in ein anderes Land führen würde und nicht mehr zu- 
rück zu der verhaßten Schwiegermutter in deren verhexte Hütte. 
Die beiden Geldsäcke habe sie ihm unter den Arm geschoben, 
weil sie sich sagte, daß solche Luftschiffer wohl nicht ohne Geld 
herumfliegen, damit sie, wenn sie landen, damit versehen seien. 

Sie hat also die Bedeutung ihres Geschenkes klar und hübsch 
ausgedrückt als symbolische Erfüllung des Wunsches, mit dem 
Mann der rauhen Wirklichkeit zu entfliehen und ein neues, 
schönes Leben zu beginnen. Wenn wir dabei der Bedeutung der 
Plugträume gedenken, so brauchen wir die sexuelle Symbolik 
des Spielzeuges nicht näher zu beleuchten. Die Hochzeitsreisen 
im Plugzeug sind wohl nicht ohne Grund so rasch Mode ge- 
worden ! 

Groddeck hat in seiner Abhandlung über den Symbolisierungs- 
zwang (im „Imago", Bd. VII) die Glühbirne als Phallusgleichnis 
erwähnt. Nun denkt sie sich selbst in dem aus der Glühbirne 
hergestellten Ballon aufsteigend hinein. Die beiden Geldbeutel, 
die ihr lieber Mann selig unter den Armen trägt und mit denen 
sie beide in einem fremden Lande versehen sein müßten, sind 
als symbolische Darstellung des männlichen Samens mit seinem 
zweiteiligen Behälter zu deuten. Die Erinnerung an die im Turm 
eingesperrte Danae, die vom Göttervater Zeus vermittels eines 
Goldregens ergötzt wurde, ist naheliegend, besonders wenn man 
sich vergegenwärtigt, daß das Männchen mit seinem Bärtchen 
von seiner Schöpferin ausdrücklich als Reminiszenz an ihren 
Vater bezeichnet wird. Wir haben erfahren, daß sie von ihrem 
Mann die gleiche Barttracht forderte, die jener trug, und erkennen 



203 



daraus unschwer, daß sie eine Vater-Imago geheiratet hat und daß 
bei ihr eine starke Bindung an ihren Erzeuger bestanden haben 
muß. Frau Bauer hat ferner daraufhingewiesen, daß die übrigen 
Säcke im Ballon als Sandballast aufzufassen seien. Kommt darin 
vielleicht die analerotische Komponente zum Vorschein, die ja 
auch sonst im Charakter der Hausfrau nicht fehlt? Sie wurde 
als sehr exakt geschildert und ihre Psychose wurde erstmals aus- 
gelöst durch die physische und moralische Unsauberkeit von be- 
trunkenen Schornsteinfegern, die ihre Wohnung beschmutzten. 
Während der Krankheit war sie gegen den Mann, der als Loko- 
motivführer ebenfalls ein russiges Handwerk betrieb, beständig 
sehr feindselig eingestellt, und erst unmittelbar nach seinem Tod 
hatte ihr Leiden sich zu bessern angefangen. 

Bei dem Erfinder Messer geht die Vorliebe für Maschinen 
auf die ersten Kinder jähre zurück, wo er sich damit vergnügte, 
das Räderwerk alter Schwarzwälder-Uhren auseinanderzunehmen. 
Wir wissen aus der Analyse von ähnlichen Kinderspielen, daß 
dahinter die sexuelle Neugier nach dem Bau des menschlichen 
Körpers, besonders des Mutterleibes steckt. Seine früheste Er- 
innerung ist die lustbetonte an warme Bäder, in die er von der 
Mutter gesteckt wurde, wenn er sich mit seinen Exkrementen 
beschmutzt hatte; seine erste und einzig patentierte Erfindung 
ein hydraulischer Widder, dessen Prinzip ein im Wasser schräg 
auf und ab bewegter Trichter, durch den die Flüssigkeit im 
Strahl emporsteigt. Wahrscheinlich hat ihm seine Mutter im Bad 
zum Zeitvertreib einen solchen Trichter zugesteckt. Dazu kommt 
das Spiel mit dem eigenen, Strahlen erzeugenden Genitale. Daran 
knüpfen später Projekte von gigantischen, das Meer überbrückenden 
Schiffen und Eisenbahnen. Sicher ist auch die Pilgerfahrt übers 
Meer zum heiligen Grab, die der Mann später unternommen hat, 
von diesen Reminiszenzen mit determiniert. Seine Liebschaften, 
die meist junge Mädchen betrafen, blieben auffallend platonisch. 
Eine von ihrem Manne geschiedene Geliebte mit mehreren un- 
ehelichen Knaben, bei der er den früheren Gatten durch seine 
Potenz zu überbieten versprach, und an die er das sonderbare 
Ansinnen stellte, an ihren Brüsten saugen zu dürfen, wie er das 
bei seiner Mutter getan zu haben sich mit Vergnügen erinnerte, 
ist sicher als Mutter-Imago anzusprechen. Sie sollte nach seiner 
Behauptung das einzige Weib sein, mit dem er sexuell verkehrte. 
Das Verhältnis erwies sich somit als Inzest und die eigenartige 
Todesstrafe, mit der er sich selbst bedachte und seine Umgebung 



203 



in Schrecken versetzte, indem er eine Dynamitpatrone in seinem 
Munde explodieren lassen wollte, könnte als Selbstbestrafung 
dafür, d. h. als eine nach oben verlegte Kastration erklärt werden. 
Aus dem Ödipus-Komplex läßt sich auch der von ihm begangene 
Mordversuch an einem Pabriksnachtwächter, dem er den Schlüssel 
zum Kassenschrank raubte, deuten. Während der zwölfjährigen 
Haftstrafe, die ihm dies Verbrechen eingetragen hatte, war sein 
Erfinderwahn ausgebrochen. Indem er sich durchs Zellenfenster 
in ein in der Nähe beobachtetes Bauernmädchen verliebte, fühlte 
er einen warmen Strom vom Herzen zum Kopfe fließen, eine 
himmlische Stimme sprach ihm das weichste Herz der Welt zu, 
weich wie ein Milchfluß, und er erfand darauf Apparate mit 
feuerloser Dampfheizung, mit besonderen elektrischen Strömen, 
die sowohl Licht als Wärme spendeten, bei denen durch den 
elektrischen Strom das Quecksilber in den Röhren erwärmt und 
ausgedehnt und durch den Luftstrom eines Ventilators wieder 
abgekühlt und zum Fallen gebracht, also ein Perpetuum mobile in 
Gang gesetzt wurde. Sie sehen auch hier, wie eng die Erfindungs- 
phantasie mit dem ganzen Wahnsystem im Zusammenhang steht 
und ihre Wurzel im Sexuellen hat. Eine Sonderstellung nimmt 
bei Messer die Erfindung eines kugelförmigen Einradvelos mit 
einem darin sitzenden Knaben oder Manne, der es durch seine 
Rumpfbewegungen und sein Gewicht in Bewegung setzen kann, 
insofern ein, als hier nicht das väterliche Genitale, sondern die 
Gebärmutter mit ihrem beweglichen Inhalt wohl den Ausgangs- 
punkt der Idee geliefert hat. Der Knabe, der die Herkunft seiner 
ihm zahlreich nachfolgenden Geschwister und glücklichen Kon- 
kurrenten an der beneideten mütterlichen Milchquelle sicher 
erriet, wünscht sich als Häftling an diesen Ort wunschlosen 
Glückes zurück. 

Der letzte Erfinder endlich, Moor, zeichnete ein Perpetuum 
mobile von Zylinderform, bestehend aus sechs zu zwei Paaren an- 
geordneten Walzen, die durch Stahlfedern aneinandergepreßt und 
in Rotation gesetzt werden sollten. Für große Kraft befinde sich 
zudem an der Basis eine aus zwei kugelförmigen Bomben be- 
stehende Luftpreßvorrichtung. Aus der recht konfusen Beschreibung 
ist hervorzuheben, daß der Apparat an jedem Rad, auch an jedem 
Velo angebracht werden könne, daß er in jeder Lage wirksam 
sei, daß der Mechanismus aus sogenannten kreislaufend zusammen- 
hängenden Kraftpolypen bestehe. Außer Rolle, Wellrad und 
Schraube komme bei dem System auch endloser Keil, Hebelarm 



204 



und schiefe Ebene zur Anwendung-, was man bei den bisher kon- 
struierten Maschinen unterlassen habe. Bei dem Hebelsystem sei 
der Weg der Kraftübertragung eine Schlangenlinie. Jeder Kraft- 
empfänger sei auch ein Kraftabgeber. Alle diese Linien verlaufen 
auch in entgegengesetzter Richtung, weil selbstverständlich zwei 
benachbarte, ineinander wirkende Bestandteile wie Ruder sich 
drehen. Die Grundidee, den Überwindungspunkt für den Kreis- 
lauf zu finden, liege in der von ihm gefundenen Quadratur des 
Kreises, welches Problem man bisher vergeblich zu lösen versucht 
habe usw. Er erklärte, er habe in Gedanken ein Wagenrad auf 
dem steif ausgestreckten Arm hängen gesehen und dabei die Idee 
bekommen, es müßte auf jeden Punkt des Rades ein solcher 
Hebel wie ein steifer Arm wirken, damit es dauernd in Gang 
bleibe. Es ist wohl kaum zweifelhaft, daß wir in dem steif aus- 
gestreckten Arm, dem Grundgedanken der Erfindung, eine Ver- 
legung nach oben vor uns haben. 

Dem in Exzessen aller Art, nicht zum wenigsten in Venere, 
vorzeitig gealterten und impotent gewordenen Manne sollte das 
beständig kraftabgebende, aus sechs Walzen zusammengekuppelte 
zylindrische Perpetuum mobile die geschwundene Potenz ersetzen. 
Die beiden Bomben mit komprimierter Luft an der Basis des 
Apparates erinnern uns einerseits an die kraftspendenden, kugel- 
förmigen Gewichte des Erfinders König, anderseits an die Gift- 
gasbomben Birklers. Es fehlt somit auch hier der analerotische 
Zusatz nicht. Darauf, daß das Interesse für geometrische Probleme, 
wie die Quadratur des Zirkels, aus sexuellen Quellen gespeist 
wird, ist in der psychoanalytischen Literatur schon mehrfach hin- 
gewiesen worden. 

Wenn wir die kurz skizzierten sieben Fälle unserer Erfinder 
vergleichend zusammenstellen, so nimmt der zweite, Birkler, mit 
seinem stark ausgesprochenen analerotischen Charakter, der uns 
auch die Erklärung für seine Erfindungen liefert, eine gewisse 
Sonderstellung ein. Aber auch bei anderen fehlt ein starkes Inter- 
esse für die Exkremente nicht: Luise B. beginnt den Reigen ihrer 
Verbesserungsvorschläge mit einem geruchlosen Nachtstuhl und 
einer Reformhose für unreinliche Kranke; Lina Maler erklärt 
das Gefäß zum Aufsaugen für Urin und Stuhl für eine Hauptsache 
und den wichtigsten Punkt an ihrem Kinderballon; Frau Bauer 
sondert ihre Ballastsäcke in solche mit Geld und solche mit 
Sand; Moor hat an der Basis seines Apparates Bomben mit kom- 
primierter Luft. 



205 



Nur in einem Fall, beim Einradvelo Messers, führt uns die 
Deutung auf den mütterlichen Uterus als Ausgangspunkt der Kon- 
struktion zurück. 

Sonst werden uns vorwiegend Maschinen vorgeführt, die in 
erster Linie als Darstellungen des männlichen Genitales auf- 
zufassen sind. Sind es bei König hauptsächlich die Testes, die in 
den überall vertretenen Gewichten seinen Maschinen Kraft ver- 
leihen, so haben wir es bei dem Quecksilberröhrenperpetuum 
Messers und dem aus Walzen zusammengekuppelten Zylinder 
Moors wohl ebenso sicher mit einer symbolischen Darstellung 
des membrum virile zu tun wie bei dem Sporn im Bachbett der 
Luise B., dem übermannsgroßen Kinderballon Lina Malers und 
dem Glühbirnenballon Frau Bauers. Wenn wir aus der Größe 
dieser Bildungen den Schluß ziehen, daß er der Penis des Vaters 
ist, der die Phantasie erregt und beschäftigt hat, so sind wir 
auch dazu durch die sicher nachgewiesenen inzestuösen Bindungen 
der betreffenden Kranken vollauf berechtigt. Halten wir ferner 
zusammen, daß sich Luise B. mit der Verbesserung von Aufzügen 
beschäftigt hat, daß sich im Kinderballon der Lina Maler eine 
Art Aufzug für die Kinder befindet, daß König von einem elek- 
trischen Aufzug im Hohlraum der Strafanstaltsmauer fabuliert 
und daß Frau Bauer sich selbst zu dem Männchen in dem Ballon 
aufsteigend hineinphantasiert, so erinnert dieser gemeinsame 
Mechanismus an die sogenannten Spermatozoenträume, über 
welche Silberer (Jahrb. f. psa. Forschungen, Bd. IV, S. 141) 
berichtet hat, die in Parallele zu setzen seien mit den Vor- 
stellungen primitiver Zeitalter von der Beschaffenheit des Samens, 
der aus kleinen Menschlein bestehen soll, die im erigierten Glied 
emporsteigen. Er schreibt diesen Vaterleibsphantasien als Haupt- 
bedeutung den Wunsch zu, das gegenwärtige Leben los zu sein, 
d. h. noch in jener Zeit sich zu befinden, wo das Leben in dieser 
Form noch nicht vorhanden war. 

Alle Erfindertätigkeit, auch die sogenannte normale, tendiert nun 
zur sei es auch noch so partiellen Verbesserung und Erneuerung 
der bestehenden Lebensverhältnisse. Die an unseren Wahnkranken 
festgestellten Mechanismen haben unzweifelhaft auch für die erfolg- 
reichen, nicht paranoiden Erfinder Geltung. Wir erinnern beispiels- 
weise an die Form von Zeppelins starrem und Parsevals halbstarrem 
Lenkballon. Diese glücklicheren Genossen unserer Schizophrenen 
unterscheiden sich von diesen vor allem dadurch, daß es ihnen 
gelang, ihre Ideen mit rastloser Energie zu verwirklichen. 

206 



Wie beim ausgewachsenen Fötus der Zusammenhang mit der 
Mutter nur noch durch die Nabelschnur besteht und auch dieser 
schließlich überflüssig wird, wenn die völlige Reife erreicht ist, 
so läßt sich bei diesen gelungenen Erfindungen die innige 
Verbindung mit dem übrigen Ideenkomplex ihrer Schöpfer am 
Ende nicht mehr nachweisen, während das bei den halb aus- 
gereiften Früchten unserer kranken, paranoiden Gehirne noch 
leicht möglich ist. In diesen Föten spiegelt sich oft die ganze 
Vergangenheit mit ihren Haupterlebnissen deutlich wieder. 

Es ist sicher kein Zufall, daß die zwei einzigen unserer Er- 
finder, die ihre Phantasien zu verwirklichen vermochten, Lina 
Maler und Rosa Bauer, auch den vollen Anschluß an die Realität 
des Lebens wieder gewonnen haben. In anderer Weise versuchte 
ihn Messer zu erlangen, indem er resolut alle seine Erfindungen 
als „Bruch" erklärte, d. h. zu dem reduzierte, was sie ursprünglich 
waren, zu Hirngespinsten. 

Wir dürfen daraus unseres Erachtens auch für gesunde und 
neurotische Projektenmacher einen therapeutischen Wink folgern, 
nämlich den, daß es auch für diese zwei Wege zweckmäßiger 
Erledigung gibt: den aktiven, stärkenden der Verwirklichung und 
den passiven, aber oft einzig möglichen des Verzichts. Sache des 
Psychagogen wird es sein, aus Veranlagung und Kräftezustand 
die Chancen des einen oder anderen zu ermessen. 

Sie haben gehört, daß die Mehrzahl unserer Erfinder mit dem 
Strafgesetz in Konflikt gekommen ist und kürzere oder längere 
Haftstrafen erlitten hat. Bei den einen ist während dieser der 
Erfinderwahn ausgebrochen, bei den anderen hat der Drang, die 
Erfindungen zu verwirklichen, zu betrügerischen oder diebischen 
Delikten und damit zur Inhaftierung geführt. Jene hat die Ein- 
samkeit und das Schweigegebot gezwungen, hinabzusteigen in die 
Tiefen des eigenen Ichs und da scheinbar längst begrabene 
Jugendträume zu neuem Leben zu erwecken, bei diesen haben 
sich solchen Träumen soviele Erlebnisse von frühester Kindheit 
an assimiliert und hat sich darauf soviel Affekt konzentriert, daß 
überwertige Wahngebilde entstanden, neben denen die Realität 
mit ihren Forderungen verblaßte und vernachlässigt wurde. 

Und diese Ähnlichkeit unserer Erfinder mit anderen Verächtern 
der Wirklichkeit, mit den Mystikern, führt uns wieder zum 
Ausgangspunkt unseres Themas zurück, zum centrum naturae oder 
Naturrad Jakob Böhmes, das sich in Ewigkeit dreht im be- 
ständigen Inqualieren der sieben Saftgeister und so den ganzen 



207 



Kosmos in Bewegung hält. Ist das nicht auch ein Perpetuum mobile, 
wie diejenigen unserer sieben Paranoiden auf sexueller Symbolik 
basierend? Und wenn wir einen Unterschied zwischen den beiden 
Typen statuieren wollen, so ist es der, daß der vorwiegend aktive 
Erfinder das schaffen möchte, was der mehr passive Mystiker 
nur zu schauen begehrt: Die Genitalien seiner Erzeuger in all- 
mächtiger Tätigkeit begriffen! 

Wir resümieren: 

Die Produkte der schizophrenen Erfinder erweisen sich als 
Teile ihres Wahnsystems, wie dieses auf unerledigten psycho- 
sexuellen Konflikten basierend. Sie lassen sich als Regressionen 
auf infantile Zeugungs- und Geburtstheorien analysieren, die nach 
Freud zu einer Zeit gebildet werden, wo das Kernproblem noch 
unverdrängt ist. (Über Psychoanalyse. Ges. Schriften, Bd. IV, S. 396.I 
Dementsprechend sind inzestuöse Bindungen oft ausgesprochen. 
Die Gestalt und Funktion des väterlichen Genitales sind bevor- 
zugtes Objekt. Gewisse Einzelheiten verraten verstärkte anal- 
erotische Interessen. 

Die Erfindungen stehen in symbolischer Beziehung zu affekt- 
betonten Erlebnissen aus dem ganzen Leben des Erfinders. Daher 
rührt ihre überwertige Bedeutung für diesen und der starke Drang 
zu ihrer Verwirklichung, der selbst vor kriminellen Handlungen 
nicht zurückschreckt. 



208 









1 

1 


VERZEICHNIS 






DER IM 






INTERNATIONALEN 






PSYCHOANALYTISCHEN 






VERLAG IN WIEN 






BIS HERBST 1925 ERSCHIENENEN 




1 

i. 


BUECHER UND 






ZEITSCHRIFTEN 











Hermann Hesse 
in der „Neuen Rundsdiau" über die Freud-Gesamtausgabe 

Eine große, schöne Gesamtausgate, ein würdiges und verdienst- 
volles Werk wird da unter Dach gebracht ... Es sei diese Ausgabe 
des Gesamtwerkes herzlich begrüßt. In der deutschen Wissenschaft 
der letzten Jahrzehnte finden sich sehr wenige Gestalten, die sich 
an Umfang wie an Tiefe der Wirkung mit Freud vergleichen 
könnten . . . Sein Werk überzeugt auch außerhalb der Gilde durch 
ganz hohe menschliche sowohl wie literarische Qualitäten ... Das 
Schöne und merkwürdig Reizvolle an den Schriften Freuds ist 
dies Hingezogensein eines ungewöhnlich starken Intellekts zu 
Fragen, die alle ins Überrationale führen, der immer erneute, 
geduldige, dabei kühne Versuch eines disziplinierten Geistes, mit 
dem doch stets zu groben Netz reiner Wissenschaftlichkeit das 
Leben selbst einzufangen. Der sorgfältige Forscher und klare 
Logiker Freud hat sich ein vorzügliches Instrument in seiner 
ganz intellektualistischen, aber prachtvoll scharfen, genau defi- 
nierenden, gelegentlich auch kämpf- und spottlustigen Sprache 
geschaffen. 



SIGM. FREUD 
GESAMMELTE SCHRIFTEN 



Elf Bände in Lexikonformat. Unter Mitwirkung des Verfassers 
herausgegeben von Anna Freud u. A. J. Storfer. Bis Herbst I^2J 
sind zehn Bände erschienen; Band XI in Vorbereitung. Preis des 
Gesamtwerkes geh. M. l8o.-, in engl. Ganzleinen M.220.-, in Halb- 
leder (Schweinsleder) M. 2 8 0.~, in Ganzleder (handgeb.JM. 680.- 

I. BAND 

(mit einer Kunstbeilage) 

Studien über Hysterie 

Frühe Arbeiten zur Neurosen lehre 1892-99 
(Charcot — Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemer- 
kungen über die Entstehung hysterischer Symptome durch den 
Gegenwillen — Quelques considerations pourune Ätude compara- 
tive des paralysies motrices organicmes et hystericpies — Die 
Abwehr- Neuropsychosen — Über die Berechtigung, von der 
Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als „Angst- 
neurose" abzutrennen — Obsessions et phobies — - Zur Kritik 
der Angstneurose — Weitere Bemerkungen über die Abwehr- 
Neuropsychosen — L'her6dit6 et l'Stiologie des nevroses — Zur 
Ätiologie der Hysterie — Die Sexualität in der Ätiologie der 
Neurosen — ■ Über Deckerinnerungen) 

III 



II, BAND 
(mit einer Kunstbeilage) 

Die Traumdeutung 

III, BAND 

Ergänzungen und Zusatzkapitel zur Traumdeutung 

Über den Traum 

Beiträge zur Traumlehre (Märchenstoffe in Träumen 
— Ein Traum als Beweismittel — Traum und Telepathie — 
Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung) 

IV. BAND 

Zur Psychopathologie des Alltagslebens 
Das Interesse an der Psychoanalyse 
Über Psychoanalyse (Fünf Vorlesungen an der Clark 
University in Worcester Mass.) 

Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung 



V. BAND 

Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (I. Die 

sexuellen Abirrungen — II. Die infantile Sexualität — III. Die 
Umgestaltungen der Pubertät — Zusammenfassung) 

Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosen- 
lehre (Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der 
Ätiologie der Neurosen — Zur sexuellen Aufklärung der Kinder 

— Die „kulturelle" Sexualmoral und die Nervosität — Über infan- 
tile Sexualtheorien — Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens: 
Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne. 
Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. Das Tabu 
der Virginität — Die infantile Genitalorganisation — Zwei 
Kinderlügen — Gedankenassoziation eines vierjährigen Kindes 

— Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität 

— Über den hysterischen Anfall — Charakter und Analerotik 

— Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik — 
Die Disposition zur Zwangsneurose — Mitteilung eines der 

rv 



psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Para- 
noia — Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auf- 
fassung — Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem 
Symptom — Über die Psychogenese eines Falles von weib- 
licher Homosexualität — „Ein Kind wird geschlagen" — Das 
ökonomische Problem des Masochismus — Über einige neuro- 
tische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität 
— Über neurotische Erkrankungstypen — Formulierungen über 
die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens — Neurose und 
Psychose — Der Untergang des Ödipuskomplexes) 
Metapsychologie (.Einige Bemerkungen über den Begriff 
des Unbewußten in der Psychoanalyse — Triebe u. Triebschick- 
sale — Die Verdrängung — Das Unbewußte — Metapsychologi- 
sche Ergänzung zur Traumlehre — Trauer und Melancholie) 

VI. BAND 

Zur Technik (Die Freudsche psychoanalytische Methode — 
Über Psychotherapie — Die zukünftigen Chancen der psycho- 
analytischen Therapie — Über „wilde" Psychoanalyse — Die 
Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse — Zur 
Dynamik der Übertragung — Ratschläge für den Arzt bei der 
psychoanalytischen Behandlung — Über fausse reconnaissance 
[„dejä racontÄ"] während der psychoanalyt. Arbeit — Zur Ein- 
leitung der Behandlung — Erinnern,Wiederholen u. Durcharbeiten 
— Bemerkungen über die Übertragungsliebe — Wege der psycho- 
analyt. Therapie — Zur Vorgeschichte der analytischen Technik) 

Zur Einführung des Narzißmus 

Jenseits des Lustprinzips 

Massenpsychologie und Ich-Analyse 

Das Ich und das Es 

Anhang (Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose — 
Notiz über den „Wunderblock") 

VII. BAND 

(mit zwei Kunsibeilagen) 

Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 



VIII. BAND 
Krankengeschichten (Bruchstück einer Hj sterieanalyse 

— Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben — Über einen 
Fall von Zwangsneurose — Psychoanalytische Bemerkungen 
über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia 

— Aus der Geschichte einer infantilen Neurose) 

IX. BAND 

(mit einer Kunstbeilage) 

Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten 
Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva" 
Eine Kindheätserinnerung des Leonardo da Vinci 

X. BAND 

(mit zwei Kunstbeilagen) 

Totem und Tabu 

Arbeiten zur Anwendung der Psychoanalyse 

(Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse — Zwangshand- 
lungen und Religionsübungen — Über den Gegensinn der 
Urworte — Der Dichter und das Phantasieren — Mythologische 
Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung — Das Motiv 
der Kästchenwahl — Der Moses des Michelangelo — Einige 
Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit: Die Aus- 
nahmen. Die am Erfolge scheitern. Die Verbrecher aus Schuld- 
bewußtsein — Zeitgemäßes über Krieg und Tod — Eine 
Schwierigkeit der Psychoanalyse — Eine Kindheitserinnerung 
aus „Dichtung und Wahrheit" — Das Unheimliche — Eine 
Teufelsneurose im XVII. Jahrhundert) 

Der in Forbereitung befindliche XI. BAND wird 
Nachträge, Bibliographie und Gesamtregister enthalten 



VI 



SIGM. FREUD 
EINZELAUSGABEN 



Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 

I. Teil (Fehlleistungen) geheftet M. 2.—, II. Teil (Traum) geheftet 
M. f.—, III. Teil (Allg. Neurosenlehre) geheftet M. 7.—. 
Die 3 Teile in einem Band: Große Ausgabe (mit einer Kunstbeilage 
und einem Sachregister) Ganzleinen M. 16. — , Halbleder M. iy, — / 
Taschenausgabe (auf dünnem Papier, biegsam gebunden, mit Sach- 
register) Ganzleinen M. 12. — , Ganzleder M. J/. — . 

Inhalt: Vorwort. - Erster Teil: I. Einleitung / IL-IV. Fehlleistungen. 
- Zweiter Teil (Der Traum): V. Schwierigkeiten und ersteAnnähe- 
rungen / VI. Voraussetzungen und Technik der Deutung / VII. Manifester 
Trauminhalt und latente Traumgedanken / VIII. Kinderträume / IX. Die 
Traumzensur / X. Die Symbolik im Traum / XI. Die Traumarbeit / Xu. Analysen 
von Traumbelspielen / XIII. Archaische Züge und Infantilismus des Traumes 
/ XTV. Die Wunscherfüllung / XV. Unsicherheiten und Kritiken. - Dritter 
Teil (Allgemeine Neurosenlehre): XVI. Psychoanalyse und Psychia- 
trie / XVII. Der Sinn der Symptome / XVHL Die Fixierung an das Trauma. 
Das Unbewußte / XIX. Widerstand und Verdrängung / XX. Das mensch- 
liche Sexualleben / XXI. Libidoentwicklung und Sexualorganisation / 
XXII. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie / XXIII. Die 
Wege der Symptombildung / XXIV. Die gemeine Nervosität / XXV. Die 
Angst / XXVI. Die Libidotheorie und der Narzißmus / XXVn. Die Über- 
tragung / XXVHI. Die analytische Therapie. - Register. 

Diese getreue Wiedergabe von 28 Vorlegungen, die Prof. Freud in zwei 
Semestern vor einer aus Ärzten und Laien und aus beiden Geschlechtern 
gemischten Zuhörerschaft gehalten hat, bleibt die klassische Gesamt- 
darstellung der psychoanalytischen Theorie und Praxis. 



VII 



Gepriesen, verachtet oder gehaßt, die Freudschen Grundgedanken werden 
auf lange hinaus etwas Bleiben, woran jeder geistige Mensch irgendwie 
vorüber muß. Neurosenlehre und Psychoanalyse sind integrierende 
Bestandteile des modernen Denkens geworden, welches durch 
diesen Zusatz seinen Finishing-Einschlag bekommen hat. Mag jeder seine 
Distanz bewußt wählen, wie es ihm richtig und notwendig scheint, seine 
Betrachtung aller Dinge ist irgendwie doch durchdrungen und durchtränkt 
von Freud und irgendwie geschult. Der schuf eino neue Perspektive. Neue 
geistige Reize, neue Beschäftigung. (Vossische Zeitung) 

Voici un livre qui tient plus que la promesao de son titre. L'ouvrage du 
professeur Freud est l'expose' succinct de la doctrine toute entiere plutöt 
qu'une introduction proprement dite ä la psychanalyse. II est destine" aux 
lecteurs cultive"s et re"fle"cliis, aux hommes de pensee, aux savants, aux 
artistes, aux esprits d'analyse et d'intuition. II est sature' de reflexion et 
regorge d'idäes. C'est le labeur de toute l'existence d'un homme de genie. 

(La Gazette de Lausanne) 

Livre tres interessant, merveilleux de clarte" et d'ordre, de eet ordre qui jaillit 
progressivem ent des faits, livre qui passionnera tous les curieux de l'fune 
humaine. (La Revue Francaise) 

Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über 
Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglauben und Irrtum. 

Zehnte weiter vermehrte Auflage (18. — 21. Tausend) 1924. Geheftet 
M. 10, — , Pappbd. 11, — , Halbleinen Il.fo, Ganzleinen M. i2.fo. 

Inhalt: I. Vergessen von Eigennamen. - XL Vergessen von fremdsprachigen 
Worten. — XXL Vergessen von Namen und Wortfolgen. — IV. Über Kindhelts- 
und Deckerinnerungen. - V. Das Versprechen. - VI. Verlesen und Ver- 
schreiben. — VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen. — VIII. Das 
Vergreifen. - K. Symptom- und Zufallshandlungen. - X. Irrtümer. - 
XI. Kombinierte Fehlleistungen. - XXL Determinismus. Zufalls- und Aber- 
glauben. Gesichtspunkte. 

Sie ist diejenige Arbeit Freuds, die am besten in die Grundprinzipien der 
Psychoanalyse einführt, am leichtesten verstanden wird und die einzige, 
die von jedem, der ein wenig auf das Verhalten seiner Mitmenschen und 
sein eigenes aufmerksam ist, ohne weiteres nachgeprüft werden kann. 
Auch ist kein Buch über Psychoanalyse so unterhaltend und zugleich so 
belehrend. (Prof. Bleuler in der Münchner Med. Wochenschrift) 

Zeigt uns Freud als scharfen Beobachter und tiefen Denker. Es gelingt 
ihm, auch die Widerstrebenden in seinen Bann zu ziehen und so sei dieses 
Buch allen, die gewillt sind, in neuen Geleisen des Denkens zu fahren, 
wärmstens empfohlen. (Wiener Klin. Rundschau) 



VIII 



Auch für Uneingeweihte ungemein anregend, schult das psychologische 
Denken und gibt Ausblicke auf weitere und höhere psychologische Probleme. 

(Berliner Klin. Wochenschrift) 

In anmutender Sprache, der jeder pseudowissenschaftliche Pomp fehlt, 
erfährt der Leser, welch' wunderliche Ideen Verbindungen und Kombina- 
tionen im Denken und Vorstellen des Menschen wirksam sind . . . Eine 
Fülle des Interessanten und Bekehrenden. (Frankfurter Zeitung) 

Das Werk gehört zu den kurzweiligsten, die man sich denken kann . . 
Watire Blitze in der Erhellung der geheimnisvollen Motive, die im Dunkel 
unseres Seelenlebens vorhanden und so überaus wirksam sind. 

(Tägliche Rundschau) 

Seit Erscheinen der ersten Auflage dieser ebenso kühn-genialen wie unter- 
haltenden Schrift hat sich die Lehre von der psychologischen Determiniert- 
heit kleiner, scheinbar belangloser und zufälliger Vorkommnisse in der 
gelehrten "Welt ebenso durchgesetzt wie beim Laien, und wenn Freud 
seinerzeit auf die erste Auflage seines Buches die Faustischen Zeilen 
setzte: „Nun ist die Welt von solchem Spuk so voll, daß niemand weiß, 
wie er ihn meiden soll", so kann man heute sagen, daß es die Freudsche 
Psychoanalyse selbst ist, die — zumindest durch Erkenntnis seines Wesens 
' — dieses Alltagsspukes Meister geworden ist. Die „Psychopathologie des 
Alltagslebens" ist eine fesselnde Lektüre, hinter keinem Spannungsroman 
zurückbleibend, und stellt dabei mit ihren tiefschürfenden Gedankengängen 
wohl einen leichten Zugang zur Lehre vom Unbewußten dar. 

(Neues Wiener Tagblatt) 

Veritable manuel d'auto-psyehoanalyse, ä la portee de tous. (Le Rappel) 

On y trouvera, expose"es avec cette minutie et cette inge'niosite' qui carac- 
terisent Freud, de tres nombreuses applications de la doctrine. 

(L'Independence Beige) 

Les mcSdecins trouveront des vues nouvelles, 'originales et m6me audacieuses 
exposees avec talent, et s'ils ne suivent pas toujours l'auteur dans ses 
de"ductions et ses interpre"tationB, ils peuvent 6tre assures de ne pas 
s'ennuyer. De combien de livres pourrait-on faire un tel flogt» 

(Le Bulletin medical) 

Those who wish to test Freuds theories and who have not the opportu- 
nity of investigating the psychoneuroses will find by a study of this fas- 
cinating book that an inexhaustible material is always at hand in the 
analysis of the flaws in the functioning of the normal mind. 

(Medical Record) 

Professor Freud deserves the high praise and true gratitude of genuine 
scientists. (The Hospital) 



IX 



Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. 

Geheftet M. 2.fo, Pappbd. 3. — . 

Sigm. Freud gibt einen Rückblick auf sein Lebenswerk. Die Sonne seines 
Ruhmes steht im Zenith und mit erhobenem Selbstgefühl darf er als Motto 
vor die kleine Schrift den Wappenspruch der Stadt Paris setzen : Fluctuat 
nee mergilur. Wahrlich, Freud hat sich mit seiner Lehre über Wasser 
gehalten und lange Zeit schwamm er allein auf einem Meer von Unver- 
ständnis. (Wissen und Leim, Zürich,) 

Außer den individuellen Bekenntnissen der Traumdeutung das einzige. 
was der Begründer der Psychoanalyse persönlich hat verlauten lassen und 
als Geschichte des schweren Kampfes einer extremen Forschungsrichtung 
interessant. (Deutsche Med. Woclienschrift) 

Wer die Persönlichkeit Freuds nach dem Grundsatze „Le style c'est 
l'homme" unmittelbar auf sich einwirken lassen will, greife nach dieser 
kleinen Schrift. Abgesehen vom Inhalt — wer wüßte denn besser als 
Freud selbst, was die Psychoanalyse eigentlich ist — fesselt die Abhand- 
lung durch die Form, die den Sprachmeister Freud in Pathos und 
Ironie auf der Höhe seiner Kunst zeigt. Die überlegene Polemik gegen 
Adler und Jung sollte von jedem dreimal gelesen werden. 

(Neue Freie Pi^esse) 

Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. 

Geheftet M. }.fo, Pappbd. 4.20, Halbleinen /. — . 

Freud hat es gewagt, aus der mehrjährigen Analyse eines ca. 30jährigen 
Mannes die neurotische Kindheitsgeschichte herauszuarbeiten und diese 
mit ihren Wurzeln darzustellen ... . Wir wissen, wie das Genie des Autors 
vor mehr als zwei Jahrzehnten aus viel geringerem Material scheinbar 
kühne Schlüsse zu ziehen vermochte, die sich nachher bewahrheiteten, 
und werden uns deshalb hüten, einfach über seine Ansicht hinwegzugehen. 
Es gibt wohl keine Arbeit Freuds, die so wie die vorliegende geeignet ist, 
in die weniger gewöhnlichen Gedankengänge des Autors einzuführen. 
(Prof. Bleuler in der Münchner Med. Woclienschr.) 

Ein solch tiefer und wichtiger Beitrag zur Kenntnis vom Seelenleben des 
Kindes ist in der gesamten Literatur kaum mehr zu finden. 

(folksstimme, Frankfurt,) 

Zwingender als allgemeine Erörterungen bringt uns so eine ausführliche 
Krankengeschichte dem Wesen des Freudismus näher. Diese zum Teil nach- 
trägliche Analyse einer Neurose, die beim vierjährigen Kinde als Angst- 
hysterie (Phobie vor geträumten Wölfen) begann, sich dann beim Knaben 
in krankhafte Frömmigkeit umsetzte und im jugendlichen Mannesalter 
schließlich den Charakter eines schweren Zwanges aufwies, hat auf 
ungeahnte Möglichkeiten der Psychoanalyse Licht geworfen und gehört 
daher zu den klassischen Schriften der Freudschen Psychologie und 



Sexualtheorie. Die vom ebenso kühn schürfenden wie skeptischen Verfasser 
mit sich selbst geführte Diskussion, oh die in der Analyse rekonstruierte 
Urszene (die Belauschung des eiterliehen Geschlechtsverkehres) wirklieh 
erlebt worden ist, oder ob die Phantasie des Kindes eine Anleihe bei dem 
Erinnerungsschatz der Gattung macht, wirkt als eine spirituelle Höchst- 
leistung auf steilen Graten der Erkenntnis geradezu spannend und 
atemraubend. (Nation) 

Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Geheftet M. 1.60, 

• Pappbd. 2. — . 

Inhalt: I. Die Enttäuschung des Krieges. — II. Unser Verhältnis zum Tode. 

Der Begründer der Psychoanalyse, der die Geheimnisse des Unbewußten 
ans Tageslicht förderte, besaß glücklicherweise auch die fast übermensch- 
liche Kraft, jahrzehntelang in verhöhnter Isolierung den Vorurteilen, 
Widerständen und Verfolgungen einer Welt zu trotzen, an deren „Schlaf 
er gerüttelt hat", sich nicht um Schimpf und Tadel amtlich bestellter 
Schriftgelehrten zu kümmern, die ihm vor allem die vorurteilslose Betrach- 
tung von Sexualfragen durchaus nicht verzeihen konnten. Wer so wie 
Prof. Sigm. Freud auf ein Leben und ein Lebenswerk von geradezu heroischer 
Selbständigkeit zurückblicken kann, hat begreiflicherweise auch im großen 
Kriege, als der psychischen Seuche so manche Persönlichkeit von Format 
erlag, seine überragende geistige Unabhängigkeit bewahrt. Noch in den 
ersten Kriegsmonaten schrieb er seine — heute bereits klassisch gewordene — 
Studie „Zeitgemäßes über Krieg und Tod". „Man braucht kein Mitleid- 
schwärmer zu sein, man kann die biologische und psychologische Natur- 
notwendigkeit des Leidens für die Ökonomie des Menschenlebens ein- 
sehen und darf doch den Krieg in seinen Mitteln und Zielen verurteilen 
und das Aufhören der Kriege herbeiwünschen." Was er über die schweren 
Enttäuschungen durch den Krieg ausführt, bleibt nicht an der Oberfläche 
der Probleme. Die Psychologie des Verborgenen wird herangezogen. Ins- 
besondere untersucht Freud mit den Methoden der Psychoanalyse die 
Einstellung des Primitiven als auch des Kulturmenschen zum Tode, zum 
eigenen und zu dem des Mitmenschen. Der Krieg läßt den Urmenschen 
in uns wieder zum Vorschein kommen. Allerdings hat der Kulturmensch 
mit seiner Einstellung zum Tod psychologisch wieder einmal über seine 
Verhältnisse gelebt und ein Rückschritt hat gelegentlich den Vorteil, der 
Wahrhaftigkeit mehrRechnung zu tragen, das Leben erträglicher zu machen. 
Das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die erste Pflicht der Lebenden. Die 
Illusion wird wertlos, wenn sie uns darin stört. Der alte Spruch : Si vis 
pacem, para bellum, willst du den Frieden erhalten, so rüste zum Kriege, — 
wird von Freud abgewandelt : Si vis vitam, para morten. Wenn du das 
Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein . . . Die Forderung nach 
mehr Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit allerseits, in den Beziehungen der 
Menschen zueinander und zwischen ihnen und den sie Regierenden hallt 
uns aus dieser tiefsinnigen Studie mahnend entgegen. 



XI 



Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Geheftet M, 2. — . 

Inhalt: I. Die sexuellen Abirrungen. Abweichungen In Bezug auf 
das Sexualobjekt. Die Inversion. Geschlechtsunreife und Tiere als Sexual- 
objekte. Abweichungen in Bezug auf das Sexualziel. Anatomische Über- 
schreitungen. Fixierung von vorläufigen Sexualzielen. Allgemeines über 
alle Perversionen. Der Sexualtrieb bei den Neurotikern. Partialtriebe und 
erogene Zonen. Erklärung des scheinbaren Überwiegens perverser Sexualität 
bei den Psychoneurosen. Verweis auf den Infantilismus der Sexualität. 

— II. Die infantile Sexualität. Die sexuelle Latenzperlode der Kind- 
heit und ihre Durchbrechungen. Die Äußerungen der infantilen Sexualität. 
Die masturbatorischen Sexualäußerungen. Die infantile Sexualforschung. 
Entwicklungsphasen der sexuellen Organisation. Quellen der infantilen 
Sexualität. — III. Die Umgestaltungen der Pubertät. Das Primat 
der Genitalzonen und die Vorlust. Das Problem der Sexualerregung. Die 
Libidotheorie. Differenzierung von Mann und Weib. Die Objektfindung. 

— Zusammenfassung. 

Was die „Ausdehnung" des Begriffes der Sexualität betrifft, die durch die 
Analyse von Kindern und von sogenannten Perversen notwendig wird, so 
mögen alle, die von ihrem hohem Standpunkt verächtlich auf die Psycho- 
analyse herabschauen, sich erinnern lassen, wie nahe die erweiterte 
Sexualität der Psychoanalyse mit dem Eros des göttlichen Plato zusammen- 
trifft. (Aus dem Vorwort) 

Die „Drei Abhandlungen" zeigen uns Freud, den Analytiker, zum ersten- 
mal in synthetischer Arbeit. Das unermeßlich reiche Erfahrungsmaterial, 
das sieh aus der zergliedernden Prüfung so vieler tausender Seelen ergab, 
versucht der Verfasser hier zum erstenmal derart zusammenzufassen, daß 
sieh daraus die Klärung eines großen Gebietes der Seelenlehre, der Psy- 
chologie des Sexuallebens, ergebe . . . Die Psychiatrie vor Freud war ein 
Raritätenkabinett sonderbarer und sinnloser Krankenbilder, die Wissen- 
schaft der Sexualität bestand in der deskriptiven Gruppierung abstoßen- 
der Abnormitäten. Die Psychoanalyse, stets treu dem Determinismus und 
der Entwicklungsidee, scheute vor der Aufgabe nicht zurück, auch diese 
die Logik, Ethik und Ästhetik verletzenden und darum vernachlässigten 
psychischen Inhalte zu zergliedern und verständlich zu machen. Ihre 
Selbstüberwindung wurde reichlich belohnt: in dem von den Geistes- 
kranken produzierten Unsinn erkannte sie die onto- und phylogenetischen 
Urkräfte der menschlichen Psyche, den nährenden Humus aller Kultur- 
und Sublimierungsbestrebungen, und es gelang ihr — besonders in diesen 
„Drei Abhandlungen" — nachzuweisen, daß von den sexuellen Perver- 
sionen der einzige Weg zum Verständnis des normalen Seelenlebens 
führt ...„Mein Ziel war, zu erkunden, wieviel zur Biologie des 
menschlichen Sexuallebens mit den Mitteln der psycho- 
analytischen Forschung zu erraten ist", erklärt der Verfasser im 
Vorwort zu seinen Abhandlungen. Dieser bescheiden klingende Versuch 



XII 



bedeutet, genau betrachtet, den Umsturz alles Hergebrachten; noch nie 
hat man bisher an die Möglichkeit gedacht, daß eine psychologische, und 
zwar eine „introspektive" Methode ein biologisches Problem erklären 
helfen könnte . . . Die Psychoanalyse zergliederte aber die menschliche 
Seelentätigkeit, verfolgte sie bis zu der Grenze, wo Psychisches und 
Physisches sich berühren: bis zu den Trieben, befreite so die Psychologie 
vom Anthropozentrismus und erst dann getraute sie sich den so gereinigten 
Animismus biologisch zu verwerten. Diesen Versuch zum erstenmal 
gemacht zu haben ist, die wissenschaftsgeschichtliche Tat Freuds in diesen 
Abhandlungen. (Ferenczi in der Int. Zschr. f. Psychoanalyse) 

Die „drei Abhandlungen" müssen in ihrer gedrängten, programmatischen 
Form nicht nur gelesen, sondern studiert werden ... Sie bilden den Unterbau, 
auf dem die Freudsche Lehre und ihre praktische Verwertung, die Psycho- 
analyse, ruhen. Wer die „Abhandlungen" nicht kennt, kennt Freud nicht. 
(Strohmayer in der Monatschr. f. Psychiatrie 
u. Neurologie) 

Die drei Abhandlungen enthalten die Schlüssel für die meisten Anschau- 
ungen Freuds. (Deutsche Med, Wochenschrift) 

Der Verfasser hat es nicht so leicht gemacht, wie man aus der Lektüre 

gegnerischer Schriften manchmal schließen möchte, indem „einfach alles 

sexualisiert wird", sondern er hat seine Ideen bis ins Feinste differenziert 

und entwickelt. So bilden diese „Drei Abhandlungen" nach wie vor eine 

Art Katechismus für den Psychopathologen. 

(Zentralbl. f. Psychologie) 

Aus der Fülle psychoanalytischer Schriften haben die „Drei Abhand- 
lungen" bisher die meiste Beachtung gefunden und dies mit Recht. Sie 
tragen die Züge einer „klassischen" Darstellung ihrer Richtung an sich 
und werden auch von Gegnern der Psychanalyse mit wissenschaftlichem 
Genuß und mit Hochachtung gelesen werden . . . Während man in den 
Schriften der Mediziner (gerade auch über Fragen des Geschlechtslehens) nicht 
selten lediglich eine Zusammenstellung von kasuistischem und notizen- 
haftem Material findet, das nach einem mehr oder weniger einheitlichem 
System geordnet wird, ist man bei Freud angenehm überrascht, eine zügige, 
konsequent auf erkenntnismäßige Erfassung des Gegenstandes gerichtete 
Darstellung zu finden. Was aber Freud besonders auszeichnet, ist eine für 
sexualtheoretische Schriften selten reine psychologische Einstellung, 
ein ungemein feines und sicheres Gefühl für die spezifisch seelischen 
Probleme und Fragestellungen auf dem Gebiete der Sexualität. Daß 
daneben gleichzeitig eine biologische Durchdringung der Materie erfolgt, 
ist für Freud als Arzt selbstverständlich. Darüber hinaus erfreut er aber 
noch durch saubere logische Arbeit und durch das knappe, vornehme 
sprachliche Gewand, in das er seine Ausführungen kleidet. 

(Leipziger Lehrerzeitung) 

XIII 



Es erübrigt sich fast, auf die grundsätzliche Wichtigkeit dieser Schrift 
hinzuweisen, die in gedrängter Form den Extrakt der sexualpsychologischen 
Lehre Freuds enthält und sich daher neben den „Vorlesungen zur Ein- 
führung in die Psychoanalyse" am besten zum Einblick in die Psycho- 
analyse eignet ... In der neuen Auflage wird auch zu Steinach Stellung 
genommen. (Schneider, Köln in der Monatschr. f. Kriminalpsych.) 

Ich wüßte k.ein Werk anzuführen, das in solcher Kürze so geist- und 
gedankenreich die wichtigen Sexualprobleme behandelt. Dem Leser und 
sogar dem Sachverständigen erschließen sich ganz neue Horizonte. 

(Näcke in Groß' Arch. f. Kriminalanthropologie) 

Was die Freudsche Abhandlung auszeichnet, ist, daß Verf. völlig seine 
eigenen Wege geht, eigene Anschauungen und Deduktionen uns bietet 
und damit viel des Interessanten, Beachtenswerten und dadurch außer- 
ordentlich zum Nachdenken anregt. (Reichs-Medizinal-Anzeiger) 

Wer sich mit der Freudschen Lehre bekannt machen will, muß die 
Broschüre, in der diese Lehre vielleicht am reinsten zum Vorschein 
kommt, studieren. (Schweiz. Rundschau f. Medizin) 

Einer großen Zahl unbedingter Bewunderer und Anhänger steht eine Zahl 
von eigensinnigen Gegnern gegenüber, und was das interessante und 
prognostisch Wichtige ist, aus manchem solchen Saulus ist im Luufe der 
Jahre ein Paulus geworden. Schließlich geht es ja allen führenden Geistern 
so, die stets ihrer Zeit um ein gutes Stück voraus sind, daß sie von ihren 
Zeitgenossen angefeindet und mißverstanden werden und daß erst die 
nächste Generation voll Verwunderung auf diese Mißverständnisse blickt. 
Losgeschält von allem Persönlichen überlebt das Werk und befruchtet 
die Geister und ihre Arbeit. Ein solch sicher überlebendes und überragendes 
Werk sind die „Drei Abhandlungen". (Wiener Klin. Rundschau) 

Zur Einführung des Narzißmus. Geheftet M. 1.60, 
Pappbd. 2. — . 

Sehr viel Geist, Feinheit, auch Tiefe ; überraschende Einblicke in die Trieb- 
kräfte der Wahnbildung und in manches andere. (Archiv für Frauenkunde) 

Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. Gehef- 
tet M, 2.—, Pappbd. 2.fo. 

Inhalt: I. Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne. - 
IL Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. - III. Das Tabu 
der Vlrginität. 

Es ist bisher den Dichtern überlassen worden, zu schildern, nach welchen 
„Liebesbedingungen" die Menschen ihre Objektwahl treffen, und wie 
sie die Anforderungen ihrer Phantasie mit der Wirklichkeit in Einklang 

XIV 



bringen. Die Dichter verfügen auch über manche Eigenschaften, welche 

T, f.™ ^ Ö ! Ung einer soIcheM Aufgabe befähigen, vor allem über die Fein- 

, ! „ ! L e Wahrnehmun B verborgener Seelenregungen bei anderen 

und den Mut, ihr eigenes Unbewußtes laut werden zu lassen. Aber der 

FreTe", "iTT 7 M i tteU " n P n wird «Ni die Vorrechte der „poetischen 
Freiheit herabgesetzt. Somit wird es doch unvermeidlich, daß die W i s s e n- 
schaft mit plumperen Händen und zu geringerem Lustgewinne sich mit 
denselben Materien beschäftige, an deren dichterischer Bearbeitung S 7ch 
tl^ IT7 f TaUSeDden ™ n Jahre » ^uen. In der ersten Itudie 
beschreibt Freud einen besonderen Typus der Liebesobjektwahl beim 
Manne. Er zeichnet sich durch eine Reihe merkwürdiger Liebesbedingungen 
aus: die eine ist die des „geschädigten Dritten". Der Betreffende 
wählt niemals ein Weib zum Liebesobjekt, das noch frei ist, sondern nur 
ein solches Weib, auf das ein anderer Mann als Ehegatte, Verlobter 
Freund Eigentumsrechte geltend machen kann. Die zweite Bedingung bei 
diesem Typus besagt, daß das keusche und unverdächtige Weib niemals 
den Reiz ausübt, der es zum Liebesobjekt erhebt, sondern nur das sexuell 
irgendwie anrüchige, an dessen Treue und Verläßlichkeit ein Zweifel 
gestattet ist Diese Bedingung, die man mit etwas Vergröberung die der 
2 l-? en \ 6 heißen mag ' eibt begreiflicherweise reichlich Anlaß zur 
Betätigung der Eifersucht. Als eine auffällige Abweichung vomNormalen 
erscheint auch, daß von den Liebenden dieses Typus die mit dem anrüchigen 
Charakter behafteten Frauen als höchstwertige Liebesobjekte behandelt 
werden, überraschend wirkt auch die Tendenz, die Geliebte zu .retten" 
Freud versucht die Entstehung dieser Eigenheiten der Objektwahl psycho- 
analytisch zu erklären. Die zweite Studie ist besonders auch wegen der 
allgemein kultur-philosophischen Ausblicke bemerkenswert. („So müßte 
man sich denn vielleicht mit dem Gedanken befreunden, daß eine Aus- 
gleichung der Ansprüche des Sexualtriebes mit den Anforderungen der 
Kultur überhaupt nicht möglich ist, daß Verzicht und Leiden sowie in 
weiester Ferne die Gefahr des Erlöschens des Menschengeschlechtes 
infolge seiner Kultur^ntwicklung nicht abgewendet werden können/') - 
Die dritte Studie geht von der Untersuchung der Einschätzung der weib- 
lichen Unberührtheit bei primitiven Völkern aus und bringt die 
Ergebnisse der psychologisierenden Ethnologie in Parallele mit den 
psychoanalytischen Erfahrungen über das normale und neurotische Liebes 
leben der Kulturvölker. 

In der gedankenreichen zweiten Abhandlung werden in feinsinniger 
Analyse die seelischen Determinanten für das Auseinanderfallen zärtlich- 
werthaltiger und grobsexueller Triebströmungen beim Kulturmenschen 
aufgedeckt und ihre Folgeerscheinungen beleuchtet: beim Manne Reiz- 
erhohung durch ein erniedrigtes Liebesobjekt, bei der Frau Frigidität und 
Reizwert des Verbotenen. Neben den individual-psychischen gelangen die 
sozialen und kulturellen Beziehungen dieser Sexualphänomene zu vollem 
Ausklang. (Archiv für Frauenkunde) 

XV 



Psychoanalytische Studien an Werken der Dich- 
tung und Kunst. Geheftet M. SS», Pappbd. 6.fo, Halb- 
leinen 7. — , Halbleder 9. — . 

Inhalt: DerDiditer und das Phantasieren - Das Motiv der Kästdienwahl 
- Der Moses des Michelangelo - Einige Charaktertypen aus der psycho- 
analytischen Arbeit: Die Ausnahmen. Die am Erfolge scheitern. Die 
Verbrecher aus Schuldbewußtsein - Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung 
und Wahrheit" - Das Unheimliche. 

Zur Problemstellung der Abhandlung über das Motiv der Kästchenwahl 
gaben zwei Szenen aus Shakespeare, eine heitere und tragische, den 
Anlaß: die Wahl der Freier zwischen drei Kästchen im „Kaufmann von 
Venedig", und der Beschluß, den König Lear beschließt, noch bei 
Lebzeiten sein Reich unter seine drei Töchter zu verteilende nach Maßgabe 
der Liebe, die sie für ihn äußern. Die Analyse erstreckt sich auch auf 
verwandte Motive in Mythus und Märchen (das Urteil des Paris, Aschenputtel 
und Psyche, Brüdermärchen, die drei Schicksalparzen). — In den drei 
kleinen Studien über„Charaktertypen"wird für deninder psychoanalytischen 
Behandlung so häufig wiederkehrenden Charaktertypus des „Ausnahme- 
menschen" ein literarischer Beleg in der Gestalt des Shakespeareschen 
Richard III. gefunden, jener scheinbar zynischen, im Grunde verbitterten 
Mißgestalt, „um das schöne Ebenmaß gekürzt", „roh geprägt, entblößt von 
Liebesmajestät" und sich daher berechtigt fühlend, „ein Bösewicht zu 
werden und Feind den eitlen Freuden dieser Tage". Den .Typus jener, 
„die am Erfolg scheitern", nach erreichtem Erfolge, um den sie 
unbeirrt gerungen haben, zusammenbrechen, illustriert Freud aus der 
Literatur mit der Analyse der Lady Macbeth und der Rebekka West 
aus Ibsens „Rosmersholm". Die kleine Studie über den „Verbrecher 
aus Schuldgefühl" (der „bleiche Verbrecher" war bereits Nietzsche 
bekannt) gibt Anlaß zu wichtigen psychologischen Andeutungen über die 
Quelle des menschlichen Schuldgefühles überhaupt : das Schuldbewußtsein 
ist in bestimmten Fällen früher da als das Vergehen, das Vergehen geht 
aus dem Schuldbewußtsein hervor. — Aufschlußreich für die Kinder- 
psychologie ist die Analyse der frühesten Kindheitserinnerung Goethes, 
j ene Szene aus Dichtung und Wahrheit, in der der kleine Johann Wolfgang die 
Nachbarschaft damit belustigt, daß er alles in der Wohnung und in der 
Küche ihm erreichbare Geschirr zum Fenster hinauswirft. — In der 
größeren Abhandlung über „das Unheimliche" werden besonders 
Motive aus den Schriften von E. T.A.Hof fmann und Hauff zur Analyse 
herangezogen. — Die Studie über den Moses des Michelangelo 
gehört zu den anregendsten Schriften Freuds. „Ich habe von keinem Bild- 
werk je eine stärkere Wirkung erfahren. Wie oft bin ich die steile Treppe 
vom unschönen Corso Cavour hinaufgestiegen zu dem einsamen Platz, 
auf dem die verlassene Kirche steht, habe immer versucht, dem verächtlich 
zürnenden Blick des Heros standzuhalten, und manchmal habe ich mich 

XVI 



dann behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraumes geschlichen, als 
gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist, das 
keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht vertrauen 
will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder bekommen 
hat." Freuds Deutung der viel umstrittenen Körperhaltung des Moses ist: 
Er wollte in einem Anfall von Zorn aufspringen, Rache nehmen, der 
Tafeln nicht achten, aber er hat die Versuchung überwunden, er wird 
jetzt sitzen bleiben in gebändigter Wut, in mit Verachtung gemischtem 
Schmerz. — Die an die Spitze des Bandes gestellte Studie „Der Dichter 
und das Phantasieren" bringt Grundlegendes zur Psychologie des 
dichterischen Schaffens, insbesondere zu ihrerBeziehung zu den Tagträumen. 
Ungemein reizvolle und anregende Aufsätze . . . 

Wer sich von der Fruchtbarkeit psychoanalytischer Einstellung für die 
Aufhellung von dunklen Motiven und seelischer Zusammenhängen in 
dichterischen Werken ein Bild machen will, findet hier die überraschendsten 
Aufklärungen. , . . Den Abschluß des Bandes bildet die glänzende Abhand- 
lung über das Unheimliche mit der tiefgründigen Analyse des Sand- 
mannmotivs bei E. T. A. Hoffmann. 

(Storch, Tübingen im Zentralbl. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie) 

Eine Teufel sneurose im XVII. Jahrhundert. 

Geheftet M. 1.80, Pappbd. 2.40. 

Die neurotischen Erkrankungen früherer Jahrhunderte traten in dem 
dämonologischen Gewände des Bewußtseins usw. auf. Hinter der Fassade 
kann man die gleichen Mechanismen der Neurose erkennen wie heute. 
Die Dämonen sind böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge verdrängter 
Triebregungen. Dies wird sehr reizvoll, etwas feuilletonistisch, an der 
Geschichte eines um 1Y0O verstorbenen Malers [Christoph Haitzmann] 
dargetan, dessen Teufelspakt, Befreiung durch ein Wunder der Mutter 
Gottes von Maria-Zeil (1677) und weiteres Schicksal sind in einem an dem 
Gnadenorte Maria-Zeil aufgefundenen geistlichen Berichte aus dem Jahre 
1714, der von dem Maler selber illustriert wurde, ausführlieh erzählt. 
Wie man ein religiöses Schicksal psychoanalytisch anfassen kann, ohne 
platt, trivial, unehrfürchtig zu werden: dafür ist das Schriftchen ein fein- 
sinniges Beispiel. Die Grazie der Darstellung bietet überdies einen 
literarischen Genuß. (Archiv für Frauenbünde) 

„Die dämonologische Theorie jener dunklen Zeiten hat gegen alle soma- 
tischen Auffassungen der , exakten' Wissensehaftsperiode recht behalten. 
Die Besessenheiten entsprechen unseren Neurosen, zu deren Erklärung 
wir wieder psychische Mächte heranziehen. Die Dämonen sind uns böse, 
verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, verdrängter Trieb- 
regungen. Wir lehnen bloß die Projektion in die äußere Welt ab, welche 
das Mittelalter mit diesen seelischen Wesen vornahm; wir lassen sie im 
Innenleben der Kranken, wo sie hausen, entstanden sein." 

XVII 



Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelen- 
leben der Wilden und der Neurotiker. Dritte Auflage. Geheftet 
M. J. — , Halbleinen 6. — , Halbleier <?. — . 

Inhalt: Vorwort. - I. Die Inzestscheu. - II. Das Tabu und die Ambivalenz 
der Gefühlsregungen. - III. Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken. 
- IV. Die infantile Wiederkehr des Totemismus. 

Die beiden Hauptthemata, der Totem und das Tabu, werden nicht in gleich- 
artiger Weise abgehandelt. Die Analyse des Tabu tritt als durchaus 
gesicherter, das Problem erschöpfender Lösungsversuch auf. Die Unter- 
suchung über den Totemismus bescheidet sich, zu erklären: Dies ist, was 
die psychoanalytische Betrachtung zur Klärung der Totemprobleme der- 
zeit beibringen kann. Dieser Unterschied hängt damit zusammen, daß das 
Tabu eigentlich auch in unserer Mitte fortbesteht; obwohl negativ gefaßt 
und auf andere Inhalte gerichtet, ist es seiner psychologischen Natur nach 
doch nichts anderes als der „kategorische Imperativ" Kants, der zwangs- 
artig wirken will und jede bewußte Motivierung ablehnt. Der Totemismus 
hingegen ist eine unserem heutigen Fühlen entfremdete, in Wirklichkeit 
längst aufgegebene und durch neuere Formen ersetzte religiös-soziale 
Institution, welche nur geringfügige Spuren in Religion, Sitte und 
Gebrauch des Lebens der gegenwärtigen Kulturvölker hinterlassen hat, 
und selbst bei jenen Völkern große Verwandlungen erfahren mußte, welche 
ihm heute noch anhängen. Der soziale und technische Fortschritt der 
Menschheitsgeschichte hat dem Tabu weit weniger anhaben können als 
dem Totem. In diesem Buche ist der Versuch gewagt worden, den ursprüng- 
lichen Sinn des Totemismus aus seinen infantilen Spuren zu erraten, aus 
den Andeutungen, in denen er in der Entwicklung unserer eigenen Kinder 
wieder auftaucht. Die enge Verbindung zwischen Totem und Tabu weist 
die weiteren Wege zu der hier versteckten Hypothese, und wenn diese am 
Ende recht unwahrscheinlich ausgefallen ist, so ergibt dieser Charakter 
nicht einmal einen Einwand gegen die Möglichkeit, daß sie mehr oder 
weniger nahe an die schwierig zu rekonstruierende Wirklichkeit heran- 
gerückt sein könnte. (Aus dem Vorwort) 

This wonderfully penetrating inquiry into the origins of religious and 
social restrictions. The conclusions, of course, turn the old psychology 
upside down. (The New York Times) 

Kleine Beiträge zur Traumlehre. (Erscheint im Novem- 
ber 192/J Geheftet M. 2.fo, Ganzleinen 4. — . 

Inhalt: Märohenstoffe in Träumen - Ein Traum als Beweismittel -Traum 
und Telepathie - Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung 
- Die Grenzen der Deutbarkeit - Die sittliche Verantwortlichkeit für den 
Inhalt der Träume - Die okkulte Bedeutung des Traumes. 

XVIII 



Zur Technik der Psychoanalyse und zurMeta- 
psychologie. Geheftet M. 9.—, Pappbd. 10.— , Halbleinen 10.50, 
Ganzleinen M. II. — . 

Inhalt: Zur Technik. (Die Freudsehe psychoanalytische Methode - 
Über Psychotherapie - Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen 
Therapie - Über „wilde" Psychoanalyse - Die Handhabung der Traum- 
deutung in der Psychoanalyse - Zur Dynamik der Übertragung - Ratschläge 
für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung - Über fausse 
reconnaissance [,,d£jä raconte"] während der psychoanalytischen Arbeit - 
Zur Einleitung der Behandlung - Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten 
- Bemerkungen über die Übertragungsliebe - Wege der psychoanalytischen 
Therapie - Zur Vorgeschichte der analytischen Technik) - Metapsycho- 
logie. (Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der 
Psychoanalyse - Triebe u. Triebschicksale - Die Verdrängung - Das Unbe- 
wußte - Metapsycholog. Ergänzung zur Traumlehre - Trauer u. Melancholie) 
Eine Reihe Freudscher Abhandlungen praktischer wie rein theoretischer 
Art . . . Sie wirken nach wie vor durch den unvergänglichen Reiz Freud- 
scher Darstellungsweise. (Deutsche Med. Wochenschrift) 

Jenseits des Lustprinzips. Dritte, durchgesehene Auflage 
(S- — 9- Tausend). Geheftet M.j. — , Pappbd. j.fo. 

Eine geistvolle, feinsinnige Schrift, überaus weitgreifend und die ganze 
Sexualproblematik umspannend, überraschend durch die Fülle der Gesichts- 
punkte und Ausblicke, vorsichtig abwägend in der Gedankenführung, 
fernab von starren Behauptungen . . . Das nicht zu unterschätzende Verdienst 
der Schrift, das auch dem Gegner der Psychoanalyse einleuchten muß, 
besteht vor allem darin, daß hier der großartige Versuch gemacht wird, 
von fachwissenschaftlicher (psychoanalytischer) Beobachtung des Trieb- 
lebens, insbesondere des Sexualtriebes aus und auf Grund des dabei 
gefundenen „Wiederholungszwanges" in dem „Streben nach 
Wiederherstellung eines früheren Zustandes" ein Prinzip aufzustellen, 
das jenseits des rein psychologischen Lustprinzips dem gesamten Geschehen 
in der Wirkliehkeit eine einheitliche Deutung gibt und insbesondere sogar 
den sonst unversöhnlichen Gegensatz „Leben— Tod" kühn zu überbrücken 
imstande ist. (Zeitschrift für Sexualwissenschaft) 

Die Analyse macht dasjenige bewußt, wovon der Metaphysiker Schiller 
erklärte : die Götter hatten es gnädig mit Nacht und Grauen bedeckt. 
Dadurch entgöttert die Psychoanalyse das alte System. (Der Neue Merkur) 

This represents Professor Freud's latest reflections on the most advanced 
problem of psychology . . . Much of the book is avowedly speculative, but 
it is an interesting attempt on the pari of a daring thinker to se how 
far it is possible to penetrate into such problems with the knowledge at 
our present disposal. 

XK 



Massenpsychologie und Ich-Analyse. 2. Auflage (6, — 
10. Tausend). Geheftet M. }.fo, Pappbd. 4, — . 

Inhalt: I. Einleitung. — II. Le Bon's Schilderung der Massenseele. — 
III. Andere Würdigungen des kollektiven Seelenlebens. — IV. Suggestion und 
Libido. — V. Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer. — VI. Weitere 
Aufgaben und Arbeitsrithtungen. — VII. Die Identifizierung. — VIII. Verliebt- 
heit und Hypnose. — LX. Der Herdentrieb. — X. Die Masse und die Urhorde. 
- XI. Eine Stufe im Ich. - XII. Nachträge. 

Reich an Ideen, fesselnd und anregend zugleich; hat die Massenpsychologie 
als solche durch eine vertiefte Problemstellung bereichert und auf neue 
Bahnen geführt. (Kölner Vierteljahrsschr. f. Sozialwiss.) 

Die Vorzüge Freudscher Darstellungsweise durchdringen auch dieses 
gedanklich bedeutsame Buch. (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft) 

Anregend, mehr noch des Lobes: aufregend. (Vbssische "Leitung) 

Die Bedeutung der psychoanalytischen Tiefenpsychologie, ihrer dynamischen 
und entwicklungsgeschichtlichen Prinzipien und Methoden für die Massen- 
psychologie als einen der maßgebenden Faktoren' des historischen Gesche- 
hens geht aus dem vorliegenden Werk deutlich hervor, so daß auch der 
Historiker und der Geisteswissenschaftler überhaupt viel Interessantes und 
Anregendes finden werden. (Wissen und Leben, Zürich) 

Psychologists and sociologists bave for some time wondered what light 
psycho-analysis may have to throw on tbe great importance attached to 
the coneeption of the herd or social instinets, with which the names of 
Trotter and McDougall are especially associated. This work provides a 
complete answer to tbe question. Professor Freud here subjeets the con- 
cept of a unitary social instinet to a searching analysis, and shows that 
it is capable of heing dissected into more primary elementsT-Among the 
subjeets discussed are those of Suggestion, hypnosis, group Organization 
(as exemplified hy the Church and the Army), and the State of being in 
love. It is probable that the book will rank as one of the most important 
contributions ever made to our knowledge of the relationship of the 
individual to group or social psychology, and it will serve as the starting 
point for a whole series of further researches into this important subjeet. 

Das Ich und das Es. Geheftet M. ].—, Pappbd. }.fo. 

Die vorgetragenen Anschauungen auszugsweise wiederzugeben, ist nicht 
möglich; erscheint doch Freuds Darstellung in ihrer prägnanten Kürze 
nahezu selbst wie ein Auszug, wie eine Sammlung, möchte man sagen, 
von Thesen . . . Sich mit ihnen auseinandersetzen, heißt sie vorerst 
Stück für Stück durcharbeiten. Dieser Aufgabe wird sich aber jeder — 
Gegner oder Anhänger — unterziehen müssen, da Grundprobleme nicht 
nur der Neurosenpathologie, sondern der Psychologie überhaupt auf- 

XX 



geworfen und entschieden werden, Ja eines Bereiches schon jenseits der 
Psychologie, sofern sie nur Beschreibung bleiben will, Fragen nach der 
Struktur, der Genese, dem Sinn des Bewußtseins, der Persönlichkeit, des 
Ideals. Das Interesse des Gegenstandes und der glänzende Stil machen 
das Studium des Büchleins zu einem wahren Genuß. 

(R. Allers in der Wimer Med. Wochenschrift) 

Freud geht jetzt „weise und bedächtig" und überblickt das Terrain. Ich 
könnte auch sagen: er bringt sein Korn in die Scheuer. Das heißt: Freud 
sieht zu, was bei seiner Erwerbung herausschaut. 

(Alfred Döilin in der Fbssischen Zeitung) 

Wer bisher der Entwicklung der Freudschen Lehre mit Aufmerksamkeit 
gefolgt ist, wird erkennen, daß für Freud selbst eine neue Epoche beginnt. 
Von neuem verblüfft die unerhörte Kühnheit, mit dem diese neuen Vor- 
stellungen gebildet und in Beziehung gesetzt werden. 

(Berliner Börsenzeitung) 

Die Ausführungen Freuds machen dem ewigen Vorwurfe gegen die Psycho- 
analyse ein Ende, daß sie allzu heroisch auf die Nachtseiten der mensch- 
lichen Natur eingestellt sei. Das Buch stärkt die Stellung der Freudschen 
Schule allen jenen gegenüber, die in dem ausschließlichen Betonen des 
Sexuallebens eine Einseitigkeit erblicken, (Neue Freie Presse) 

Jenseits des Lustprinzips. Massenpsychologie und 
Ich-Analyse. Das Ich und das Es. Die drei Arbeiten 
in einem Halbleinenband M. II. — , Halbleder 14. — . 

Die drei letzten Bücher Freuds — Marksteine auf einem kühnen Vormarsch 
in psychologisches Neuland — stehen in einem inneren Zusammenhang 
und es wird daher gewiß willkommen geheißen werden, daß sie hier in 
einem Bande vereint dargeboten werden. 



XXI 



Dß. KARL ABRAHAM 



Klinische Beiträge zur Psychoanalyse aus den 
Jahren I907-1920 (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, 
Bd. 10). Geheftet M. 8.—, Halbleinen 10.—. 

Aus dem Inhalt: Ober die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die 
Symptomatologie der Dementia praecox. r Die psychosexuellen Differenzen 
der Hysterie und der Dementia praecox. - Die psychologischen Beziehungen 
zwischen Sexualität und Alkoholismus. - Die Stellung der Verwandtenehe 
in der Psychologie der Neurosen. - Über hysterische Traumzustande. - 
Bemerkungen zur Psychoanalyse eines Falles von Fuß- und Korsettfetischis- 
mus. - Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung und Behandlung des 
manisch-depressiven Irreseins und verwandter Zustände. - Über die deter- 
minierende Kraft des Namens. - Über ein kompliziertes Zeremoniell 
neurotischer Frauen. - Ohrmuschel und Gehörgang als erogene Zone. - 
Zur Psychogenese der Straßenangst im Kindesalter. - Sollen wir die Patienten 
ihre Träume aufschreiben lassen? - Einige Bemerkungen über die Rolle der 
Großeltern in der Psychologie der Neurosen. - Eine Deckerinnerung, 
betreffend ein Kindheitserlebnis von scheinbar ätiologischer Bedeutung. - 
Psychische Nachwirkungen der Beobachtung des elterlichen Geschlechts- 
verkehrs bei einem neunjährigen Kinde. - Kritik zu C. G. Jung: Versudi 
einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie. - Über Einschränkungen 
und Umwandlungen der Schaulust bei den Psychoneurotikern. - Über 
neurotische Exogamie. - Über ejaculatio praecox. - Einige Belege zur 
Gefiihlseinstellung weiblicher Kinder gegenüber den Eltern. - Das Geld- 
ausgeben im Angstzustand. - Über eine besondere Form des neurotischen 
Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik. _ Bemerkungen zu 
lerenczis Mitteilungen über Sonntagsneurosen. - Zur Prognose psycho- 
analytischer Behandlung im vorgeschrittenen Lebensalter. - usw. 

Ein Werk, das dieinteressanteEntwicklung der klinischen Psych o- 
analyse gut widerspiegelt und die ansehnlichen Leistungen des um diese 
üntwioklung sehr mitverdienten Autors eindrucksvoll vorführt. Unter den 

XXII 



28 Aufsätzen befindet sich nicht einer, der nicht irgendwie belangvoll 
ist,' und die Vielfältigkeit der einzelnen Themen sowie die gedankliehe 
und formale Klarheit der Darstellung machen das Buch zu einer aus- 
gezeichneten Informations- und Anregungsquelle über die Gedankengänge 
und Möglichkeiten der Psychoanalyse. 

(Marcuse in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft) 

Jeder, der in das psychoanalytische Denken schon eingeführt ist, wird 
dieses Buch mit Dank und Vorteil zur Hand nehmen. 

(Archiv für Frauenkunde) 

Eine Art klinischer Einführung in Einzelbildern, die durch die oft 
zwingenden kasuistischen B e i t r ä g e auch dem Fernerstehen- 
den einen ausgezeichneten Einblick in die psychoanalytische Praxis ver- 
schafft, (L. R. Grote im Zentralblatt für innere Medizin) 

Reiches und vielseitiges Material. Jedem, der sich für psychoana- 
lytische Fragen interessiert, kann das Buch sehr empfohlen -werden. 

(Jahrbücher f. die gesamte Medizin) 

Eine außerordentlich sorgfältige und eindringliche Bemühung um den 
Ausbau der Freudschen Gedankengänge. Sympathisch berührt, wie er 
nachhaltig und gründlich weiterforscht, klärt und sichtet, wo ihm jener 
einen Weg gewiesen hat. Dabei hat man den Eindruck, daß hier wie selten 
aus der Fülle der Erfahrung geschöpft ist. 

(W. Mayer-Groß im Zenträlbl. f. d. ges. Neurologie 
u. Psychiatrie) 

Referent, seiner eigener ambivalenten Einstellung zur Psychoanalyse sich 
bewußt, ist genötigt, von der Gründlichkeit und Klarheit dieser hier 
gesammelten Aufsätze viel antipsychoanalytisches Vorurteil 
und Mißtrauen fallen zu lassen... Am eindrucksvollsten war 
mir die Kritik Jungs. Hier setzt sich Abraham mit den Züricher Schis- 
matikern auseinander und weist einleuchtend nach, daß die Jungsche 
Theorie der Psychoanalyse nicht durch Kritik gemäßigt, auch nicht einmal 
bloß verwässert, sondern zum Teil sogar außerwissenschaftlichen 
Tendenzen zuliebe für eine landläufige Moral schmackhaft, aber dadurch 
widerspruchsvoll und haltlos gemacht worden ist. 

(Paul Bernhardt in Medizin. -Techn. Mitteilungen) 

Die meisten der von Abraham gemachten Anregungen haben sich bewährt, 
sehr viele sind das Gemeingut aller Psychoanalytiker geworden. Manche 
dieser Arbeiten sind geradezu glänzende Leistungen, zu denen den Autor 
seine große Erfahrungen und Geistesschärfe befähigten. Es ist nicht 
möglich, sich vom Reichtum neuer Erkenntnis, die diese Aufsätze bieten, 
nach einem Referate auch nur entfernt einen Begriff zu bilden. 

(Ferenczi in der Int. Zschr. f. Psychoanalyse) 

XXIII 



Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido 
auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen. (Neue 
Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, Nr. II.) Geheftet M. 5./0, 

Pappbd. 4, — . 

Inhalt: I. Die manisch-depressiven Zustände und die prägenitalen Organi- 
sationsstufen der Libido (Melancholie und Zwangsneurose. Zwei Stufen der 
sadistisch-analen Entwicklungsphase. Objektverlust und Introjektion in der 
normalen Trauer und in abnormen psychischen Zuständen. Zwei Stufen der 
oralen Phase. Das infantile Vorbild der melancholischen Depression. Die 
Manie. Die psychoanalytische Therapie). - II. Anfänge und Entwicklung der 
Objektliebe. 

Der Autor gibt uns als Ziel seiner Abhandlung an, bestimmte, bei manisch- 
depressiven Kranken erhobene Befunde für die Sexualtheorie nutzbar zu 
machen. Wir meinen, daß sein Buch nicht nur diese Aufgäbe glänzend 
gelöst, sondern weit mehr geleistet hat als dies. Er wirft zunächst neues 
Licht auf die normalen und pathologischen Verhältnisse der psychosexuellen 
Entwicklung . . . Die von Freud begründete psychologische Erkenntnis der 
Melancholie und Manie findet hier eingehende Ergänzung . . . Jeder Satz 
der in prägnantem Stil geschriebenen Abhandlung trägt die Zeichen lang- 
jähriger und mühsamer praktischer Arbeit an sich; die eingestreuten 
Bruchstücke aus Krankengeschichten überzeugen nicht nur völlig von der 
empirisch-klinischen Natur aller Behauptungen, sondern sind in ihrer 
Kürze und Prägnanz auch Meisterstücke psychoanalytischer Darstellungs- 
kunst. (Internat. Zschr.f. Psychoanalyse) 

This monograph is a very intriguing one, and at the same time a work of 
much practical as well as of theoretical importance. 

(The Psychoanalytic Review) 

Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung. 

Geheftet M. 2.fO, Pappbd. 3.20, Halbleinen 4. — . 

Inhalt: Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter. Beiträge der Oralerotik 
zur Charakterbildung. Die Charakterbildung auf der „genitalen" Entwick- 
lungsstufe. 

Dieses kleine Meisterwerk kann sowohl dem wertvollen Inhalte als der 
klaren Darstellung nach als Vorbild für die psychoanalytische Literatur 
gelten. (Jones in The Internat. Journ. of Psycho-Analysis) 

Mit diesen Forschungen wird die Psychoanalyse zur Charakteranalyse, die 
zu den schwierigsten, vielfach aber auch dankbarsten Leistungen des 
Psychoanalytikers gehört. (Archiv für Frauenkunde) 

XXIV 



AUGUST AICHHORN 

Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorge- 
erziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung. Mit einem 
Geleitwort von Prof. Dr. Sigm. Freud (Internationale Psycho- 
analytische Bibliothek, Bd. 10). (Erscheint im Herist 192;. Geheftet 
Mi 9. — , Ganzleinen IX. — .) 

Inhalt: Einleitung. — Eine Symptomanalyse. — Ursachen der Verwahr- 
losung. — Eine Ausheilung in der Übertragung. — Von der Fürsorgeerziehungs- 
anstalt. - Die Aggressiven. -. Die Bedeutung des Idiideals für das soziale 
Handeln. - Die Bedeutung des Realitätsprinzips für das soziale Handeln. 

Aus dem Geleitwort von Prof. Freud: „Von allen Anwendungen der Psycho- 
analyse hat keine so viel Interesse gewonnen, so viel Hoffnungen erweckt 
und demzufolge so viele tüchtige Mitarbeiter herangezogen wie die auf die 
Theorie und Praxis der Kindererziehung. Dies ist leicht zu verstehen. Das 
Kind ist das hauptsächliche Objekt der psychoanalytischen Forschung 
geworden; es hat in dieser Bedeutung den Neurotiker abgelöst, an dem 
sie ihre Arbeit begann. Die Analyse hat im Kranken das wenig verändert 
fortlebende Kind aufgezeigt wie im Träumer und im Künstler, sie hat die 
Triebkräfte und Tendenzen beleuchtet, die dem kindlichen Wesen sein ihm 
eigenes Gepräge geben, und die Entwicklungswege verfolgt, die von diesem 
zur Reife des Erwachsenen führen. Kein Wunder also, wenn die Erwartung 
entstand, die psychoanalytische Bemühung um das Kind werde der erziehe- 
rischen Tätigkeit zugute kommen, die das Kind auf seinem Weg zur Reife 
leiten, fördern und gegen Irrungen sichern will. 

Mein persönlicher Anteil an dieser Anwendung der Psychoanalyse ist 
sehr geringfügig gewesen. Ich hatte mir frühzeitig das Scherzwort von 
den drei unmöglichen Berufen — als da sind: Erziehen, Kurieren, Regieren 
— zu eigen gemacht, war auch von der mittleren dieser Aufgaben hin- 
reichend in Anspruch genommen. Darum verkenne ich aber nicht den 
hohen sozialen Wert, den die Arbeit meiner pädagogischen Freunde 
beanspruchen darf. 

Das vorliegende Buch des Vorstandes A. Aichhorn beschäftigt sich mit 
einem Teilstück des großen Problems, mit der erzieherischen Beeinflussung 
der jugendliehen Verwahrlosten. Der Verfasser hatte in amtlicher Stellung 
als Leiter städtischer Fürsorgeanstalten lange Jahre gewirkt, ehe er mit 
der Psychoanalyse bekannt wurde. Sein Verhalten gegen die Pflege- 
befohlenen entsprang aus der Quelle einer warmen Anteilnahme an dem 
Schicksal dieser Unglücklichen und wurde durch eine intuitive Einfühlung 
in deren seelische Bedürfnisse richtig geleitet. Die Psychoanalyse konnte 
ihn praktisch wenig Neues lehren, aber sie brachte ihm die klare theore- 
tische Einsicht in die Berechtigung seines Handelns und setzte ihn in den 
Stand, es vor anderen zu begründen." 



xxv 



Dr. SIEGFRIED BERN FELD 

Vom Gemeinschaftsleben der Jugend. Beiträge zur 
Jugendforschung (Quellensdiriften zur seelischen Entwicklung« 

Bd. B). Geheftet M. 10. — , Halbleinen 12. — . f 

Inhalt: Die Psychoanalyse in der Jugendforschung (Bernfeld). — Ein 
Freundinnenkreis (Bernfeld). — Ein Schülerverein (Gerhard Fuchs). — 
Ein Knabenbund in einer Schulgemeinde (Wilhelm Hoffer). — „Knurrland." 
Versuch der Analyse eines Kinderspieles (Gerhard Fuchs). — Die Initia- 
tionsriten der historischen Berufsstände (Erwin Kohn). 

Die einleitende Studie über die „Psychoanalyse in der Jugendforschung" 
ist eine sachliche und gedankenreiche Einordnung der Psychoanalyse unter 
die Wissenschaften, deren Ergebnisse, soweit sie den unerwachsenen 
Mensehen betreffen, wir als Jugendkunde bezeichnen. Es ist auch für den 
der Psychoanalyse nicht nahestehenden Erzieher äußerst anregend, sich 
hier auf neuerschlossenen und weiter zu erschließenden Pfaden der Jugend- 
kunde führen zu lassen, die, hinausgehend über die gebundenen Maß- 
methoden, dem Ideal absolut getreuer und restloser Erfassung psychischer 
Phänomene zweifellos näher kommen. — Die Einzelarbeiten sind reich an 
analytischen Deutungen der jugendlichen Verkehrsformen, als sexuell 
resp. homosexuell bedingt, die z. T. auch für den Niehtanalytiker einer 
gewissen Wahrscheinlichkeit nicht entbehren. (Schweiz. Päiag. Zeitschr.) 

Den Lehrer dürften besonders die Abhandlungen interessieren, welche 
direkt Schülerorganisationen, den „Klassen-Geist", die Freundschaften und 
die geheimen Schülerorganisationen betreffen . . . Die letzte Abhandlung 
wird ganz besonders auch die Freunde der Geschichte und der Folklore 
anregen. (Berner Schulblatt) 

Vom dichterischen Schaffen der Jugend. Neue 
Beiträge zur Jugendforschung (Quellenschriften zur seelischen 
Entwicklung, Bd. ÜI). Geheftet M. 12.—, Halbleinen 14 — , 
Ganzleinen If. — . 

Inhalt: Die psychologische Literatur über das dichterische Schaffen 
der Jugendlichen. — Das Dichten eines Jugendlichen, dargestellt nach dessen 
Selbstzeugnissen. — Phantasie und Realität im Gedicht einer Siebzehn- 
jährigen. — Über Novellen jugendlicher Dichter. — Über ein Motiv zur 
Produktion einiger satirischer Gedichte. — Das Erstlingswerk nach Selbst- 
zeugnissen. — Phantasiebeispiele der Kinder und ihre Beziehung zur dich- 
terischen Produktivität (Dr. Wilhelm Ho ff er). - Ergebnis und Aufgaben. 

Die vorliegende Arbeit ist ein wertvoller Beitrag zum Problem der Psycho- 
logie der Pubertät, und zwar in erster Linie durch die Wiedergabe eines 

XXVI 



sehr interessanten Materials von Dichtungen Jugendlicher . . . Besonders 
die Ausführungen über die Beziehungen seiner Fragestellungen zu dem 
Problem des künstlerischen Schaffens überhaupt zeugen von einer unge- 
wöhnlichen Klarheit des Denkens und Sorgfalt der Vertiefung in das 
Grenzgebiet. (Zentralhl. f. d.ges. Neurologie u. Psychiatrie) 

Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. (Erscheint 
im Herbst ip2f.) Geheftet M. /.— , Ganzleinen 6.jo. 



Dr. HELENE DEUTSCH 

Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen. 

(Neue Arbeiten zur ärztlidien Psychoanalyse, Nr. V.) 

Geheftet M, J.fo, Ganzleinen f. — . 

Inhalt: I. Einleitung. - II. Infantile Sexualität des Weibes. - in. Der 
Männlichkeitskomplex des Weibes. - IV. Differenzierung von Mann und 
Weib in der Fortpflanzungsperiode. - V. Psychologie der Pubertät. Die 
erste Menstruation. Typische Menstruationsbeschwerden. Schwierigkeiten 
der Pubertät. Typische Pubertätsphantasien. Triebschicksal in der Pubertät. 
- VI. Der Deflorationsakt. - VII. Psychologie des Sexualaktes. - VIII. Frigidi- 
tät und Sterilität. - IX. Schwangerschaft und Geburtsakt. - X. Psychologie 
des Wochenbettes. - XI. Laktation. - XII. Das Klimakterium. 

Aus der Einleitung: „. . . Dieses Beobachtungsmaterial soll eine 
psychologische Orientierung und Ergänzung zu den Kenntnissen jener 
Vorgänge schaffen, die man zusammenfassend ,Sexualleben des Weibes' 
nennt . . . Was bisher zur psychologischen Erkenntnis des Weibes analytisch 
beigetragen worden ist, wird hier berücksichtigt ... Es liegt im Zweck 
dieser Arbeit, das aufzuklären, was der Bewußtseinspsychologie rätselhaft 
bleiben mußte, weil es ihrer Arbeitsmethode unzugänglich war. Aber auch 
die Tiefenpsychologie ist in der Erkenntnis der Seelenvorgänge beim 
Weibe einen Schritt gegen die beim Manne zurückgeblieben. Besonders 
sind es die generativen Vorgänge, denen — obzwar sie den Mittelpunkt im 
psychischen Leben des gesehleehtsreifen Weibes bilden — auch analytisch 
noch wenig Beachtung geschenkt worden ist. Das Kantsehe Wort: ,Die 
Frau verrät ihr Geheimnis nicht', behielt auch hier seine Gültig- 
keit. Sichtlich waren dem Manne die verborgenen Seeleninhalte des 
Mannes zugänglicher, weil wesensverwandter .. .'Alles was hieran neuen 
Einsichten über das Seelenleben des Weibes in seinen Beziehungen zur 
Fortpflanzungsfunktion gebracht wird, wurde mit Hilfe der analytischen 
Methode gewonnen. Wir beschränken uns hier auf die Mitteilung der 
Erkenntnis, die mit den normalpsychischen Relationen zu den physio- 
logischen Vorgängen des Sexuallebens im Zusammenhang stehen. Wie 

xxvn 



wir häufig in unserer Arbeitsmethode erst vom Pathologischen zum 
Verständnis des Normalen gelangten, werden wir uns dort, wo sich das 
Pathologische als Zerrbild gewisser Konstellationen im Gesunden präsentiert 
zur Vereinfachung des Verständnisses auf jenes berufen. Auch gibt es in 
den uns hier interessierenden Vorgängen psychische Begleiterscheinungen, 
die zwar nicht, normal' im Sinne des Physiologischen zubezeichnen sind, aber 
infolge ihres regelmäßigen und typischen Auftretens unter unseren Kultur- 
bedingungen bereits nicht mehr dem ,Krankhaften' zugerechnet werden 
dürfen." 



Dk. MAX EITINGON 

Bericht über die Berliner Psychoanalytische Poli- 
klinik (März 1920 bis Juni 1922), erstattet auf dem 
VII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Berlin 
am 25. Sept. 1922. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Sigm. 
Freud (Separatabdruck aus der „Internationalen Zeitschrift 
für Psychoanalyse", VIII. Bd. 1922.) Geheftet M. —.60. 

Zweiter Bericht über die Berliner Psychoanaly- 
tische Poliklinik (Juni 1922 bis März 1924), erstattet auf 
dem VIII. Internationalen Psychoanalyt. Kongreß in Salzburg 
am 23. Apr. 1924. (Separatabdruck aus der „Internation. 
Zeitschrift f. Psychoanalyse", X. Bd. 1924.) Geheftet M. —.40. 



Dh. s. ferenczi 

Hysterie und Pathoneurosen (Internationale Psydio- 
analytische Bibliothek, Bd. 2). Geheftet M. 2.—. 

Inhalt: Über Pathoneurosen. Hysterische Materialisationsphänomene. 
Erklärungsversuch einiger hysterischer Stigmata. Technische Schwierigkeiten 
einer Hysterieanaiyse. Die Psychoanalyse eines Falles von hysterischer 
Hypochondrie. Über zwei Typen der Kriegshysterie. 

Ferenczi, das Haupt der ungarischen psychoanalytischen Schule,istnichtnur 
ein ausgezeichneter Lehrer, Propagator und Therapeut, sondern ein ebenso 
origineller wie geistreicher Denker und Forscher. In dieser Sammlung 
von sechs größeren Aufsätzen finden wir unter anderem seine inhaltsreichen 
Arbeiten über Pathoneurosen und Kriegshysterie. Außerdem sind neue 

XXVHI 



Arbeiten über HyEterie veröffentlicht, welche die Aufstellungen Freuds 
ergänzen und durch kühne Konstruktionen weiter bauen. 

(Hitschmann in der Int. Zeitschr.f. Psychoanalyse) 

Populäre Vorträge über Psychoanalyse (Internationale 
Psychoanalytische Bibliothek, Bd. 13). Geheftet M. /.—, Halb- 
leinen 6.fo. 

Inhalt: Über Aktual- und Psychoneurosen Im Lichte der Freudschen 
Forschungen und über Psychoanalyse. Zur analytischen Auffassung der 
Psychoneurosen. Die Psychoanalyse der Träume. Träume der Ahnungslosen. 
Suggestion und Psychoanalyse. Die wissenschaftliche Bedeutung von Freuds 
„Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie". Die Psychoanalyse des Witzes 
und des Komischen. Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte. Psycho- 
analyse und Kriminologie. Philosophie und Psychoanalyse. Zur Psychogenese 
der Mechanik. Nachtrag zur Psychogenese der Mechanik. Symbolische Dar- 
stellung des Lust- und Realitätsprinzips im Ödipus-Mythus. Cornelia, die 
Mutter der Gracchen. Anatole France als Analytiker. Zähmung eines 
wilden Pferdes. Glaube, Unglaube und Oberzeugung. 

Klar und formvollendet, mitunter fesselnd geschrieben, sind sie eigent- 
lich die beste „Einführung in die Psychoanalyse" für den ihr ferner 
Stehenden. (Prof. Freud in der Ferenczi-Festschrift) 

Wer sich bequem orientieren will, sei auf die schönen „Populären Vor- 
träge" von F. hingewiesen. (Alfred Döblin in der Vossischen Zeitung) 

Versuch einer Genitaltheorie (Internationale Psychoanaly- 
tische Bibliothek, Bd. 15). Geheftet [M. 4.^0, Halbleinen j.;o, 
Halbleder 8. — . 

Inhalt: Die Amphimixis der Erotismen im Ejakulationsakt. Der Begattungs- 
akt als amphimiktischer Vorgang. Entwicklungsstufen des erotischen Realitäts- 
sinnes. Deutung einzelner Vorgänge beim Geschlechtsakte. Die individuelle 
Genitalfunktion. Phylogenet. Parallele. Zum „thalassalen Regressionszug". 
Begattung u. Befruchtung. Koitus u. Schlaf. Bioanalytische Konsequenzen. 

Wie immer man die Hypothesen Ferenczis betrachten mag, selbst wenn 
man sie nur als phantastische Exzentrizitäten eines einseitig eingestellten 
Psychoanalytikers würdigt, sie verdienen das Interesse des Lesers schon 
durch das Streben, die rein biologische Auffassung der Genitalität durch 
Vermischung mit psychoanalytischem Denken auszudeuten. 

(Placzek im Archiv für Frauenkunde) 

Im Mittelpunkt steht die ehemals so übel beleumundete „Mutterleibs- 
regression", heute hineingestellt in eine Menge sinnvoll erfaßter Tatsachen, 
Phantasien und Ausnahmen . . . Ferenczi verfolgt den „thalassalen 
Regressionszug" hinein in vielerlei biologische und beschreibend-zoologische 

XXLX 



Fakta, diesen neue Deutung gebend; andererseits hinein in das nur intro- 
spektiv erfaßbare psychische Gebiet. Überall ein intensives Streben nach 
Vollständigkeit und weitesten Grenzen, gepaart mit subtilster Erfassung 
von Einzelheiten. (Schultz-Hencke in der Zeitschrift f. Sexualwissenschaft) 

Dr. Ferenczis bold and adventurous mind has produced a work füll of 
ingenious Suggestion and speculation, and much of it may be of conside- 
rable heuristic value. (Prof. Tansley in The Brit. Journ. of Med. Psych.) 

A most fascinating and stimulating monograph. (Psychoandlytic Review) 

Zur Psychoanalyse von Sexualgewohnheiten (mit Bei- 
trägen zur therapeutischen Technik). (Separatabclruck aus der 
„Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse", Bd. XI, 1925.) 

Geheftet M. I.6o, Ganzleinen j. — . 

Inhalt: Urethrale Gewohnheiten. Einzelne Genitalgewohnheiten. Unbe- 
wußte Lustmordphantasien. Gewohnheit und Symptom. Metapsyohologle der 
Gewohnheiten im allgemeinen. Technische Bemerkungen. Die Entwöhnung 
von der Psychoanalyse. 

Zur Psychoanalyse der paralytischen Geistesstörung 
(von Ferenczi und Hollös), s. unter HOLLOS. 

Ferenczi-Festschrift, s. (= „Internationale Zeitschrift für 
Psychoanalyse", Bd. LX, Heft 3) unter ZEITSCHRIFTEN. 

Ferenczi, Freud, Abraham u. a., Zur Psychoanalyse 
der Kriegsneurosen, s. unter INTERNATIONALE 
PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK. 



Dr. S. FERENCZI und Dr. OTTO RANK 

Entwicklungsziele der Psychoanalyse. Zur Wechsel- 
beziehung von Theorie und Praxis. (Neue Arbeiten zur 
ärztlichen Psydioanalyse, Nr. I.) Geheftet M. 2.80, Pappbd. 3.50. 

Inhalt: Die analytische Situation. Der Libidoablauf und seine Phasen. 
Die Lösung der Libidofixierung im Erlebnismoment. Historisch-kritischer 
Rückblick. Theorie und Praxis. Ergebnisse. Ausblicke. 

Aus dem Bilde, das beide Autoren in gemeinsamer Arbeit entwarfen, wird 
sich nicht nur dem ausübenden Analytiker, sondern in hohem Maße auch 
dem wissenschaftlich und allgemein an der Psychoanalyse Interessierten 

:2 T XXX 



eine Fülle von Hinweisen ergeben . . . Die eingehende kritische Darstellung 
dessen, was unter einer Analyse verstanden wurde und wird, kann von 
großem Interesse sein. (Zeitschrift für Sexualwissenschaft) 

Der leitende Gedanke dieses stark programmatisch gehaltenen Buches 
kommt am deutlichsten in der Feststellung der Autoren zum Ausdruck, daß 
die Psychoanalyse heute in eine neue Phase, in die „Erlebnisphase", ein- 
tritt, welche die „Erkenntnisphase" der letzten Jahre, die einerseits in der 
Überwucherung des theoretischen Forschens, andererseits therapeutisch in 
der Überschätzung des während der Kur dem Patienten übermittelten 
Wissens bestand, ablöst. (Internat. Zeitschr.f. Psychoanalyse) 



Dr. FRITZ GIESE 

Privatdozent an der Technischen Hochschule Stuttgart 

Psychoanalytische Psychotechnik (Sonderabdruck aus 
„Imago", Bd. X). Geheftet M. 1.80, Pappbd. 2.}o. 

Inhalt: I. Psychoanalyse und Wirtschaftspsychologie. Erotisierte Reklame. 
— II. Psychologische Eignungsprüfling. 

Giese unternimmt als erster den Versuch, die psychoanalytische Betrachtungs- 
weise Problemen der praktischen Wirtschaftslehre angedeihen zu lassen. Eingangs 
erörtert er in methodologischer Auseinandersetzung grundsätzliche Frage- 
stellungen. Er setzt auch eine Wechselwirkung voraus: es trägt nicht nur die 
analytische Psychopathologie zum Verständnis des Wirtschaftslebens bei, es 
könnten auch die derart für das Soziologische gewonnenen Erkenntnisse auf 
medizinische oder pädagogische Fragestellungen rückwirken. In einer ausführ- 
lichen Analyse der erotisierten Reklame gibt Giese ein mit reicher 
Reklamekasuistik aus unseren Tagen belegtes Beispiel dieser neuartigen Wirt- 
schaftspsychologie. Er behandelt sowohl die heute geläufige Methode der 
Erotisierung von Reklameinhalten, die an sich unmittelbar mit Sexualität gar 
nichts zu tun haben, als auch die Störung der Sinnfälligkeit einer Reklame 
durch Erotisierung (Verschlechterung der Wirkung durch libidinöse Ablenkung). 
Die Studie über Eignungsprüfungen zeigt die Möglichkeiten der Psycho- 
analyse im Rahmen der Berufskunde. Die mitgeteilten Experimente (besonders 
Jene mit dem Spontan-Klappenapparat) erwecken besonderes Interesse. Giese 
gelangt zur Forderung einer raschen praktischen Berufsauslese, wobei die neue 
Aufgabe* entsteht, für psychoanalytische Schnelldiagnostik Verfahren 
und für deren Ergebnisse eine typisierende Symptomlehre zu entwickeln. — 
Beachtenswert sind auch die Ausführungen über analytische Durchprüfung 
Hochbegabter, wobei die Notwendigkeit angedeutet wird, eine Art von Ver- 
drängungsökonomie zu ermitteln. 

XXXI 



Dr. HEINRICH GOMPERZ 

Professor an der Universität Wien 

Psychologische Beobachtungen an griechischen 
Philosophen (Sonderabdruck aus der „Imago", Bd. X). Geheftet 
M. j.;o, Pappbd. 4. — . 

Inhalt: I. Parmenides. — II. Sokrates. 

Prof. Gomperz gehört nicht zn jenen Forsehern, die sich alle Schlüsse 
aneignen, die die Psychoanalyse ans den von ihr zuerst aufgedeckten 
Tatsachen ziehen zu dürfen glaubt, aber er erkennt Wert und Bedeutung 
dieser von Freud und seinen unmittelbaren Schülern ermittelten Tatsachen 
selbst und die Möglichkeit dessen, daß ihre Verknüpfung mit den sonst 
bekannten Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten zur Erledigung vieler offener 
Fragen führen kann. Die psychologischen Beobachtungen von Gomperz 
über die geistig-leibliche Veranlagung und Entwicklung zweier repräsen- 
tativer griechischer Philosophen tragen zweifellos nicht wenig dazu bei, 
den eigentümlichen Lehrgehalt ihres Philosophierens besser verständlich 
zu machen. In der Studie über Parmenides wird besonders die Theorie 
des parmenideischen Lehrgedichtes über die Geschleehtsbestimmung 
analysiert. Der Dichter-Philosoph selbst liebt das „weibliche Weib", 
ihm erscheinen kleine Hände und Füße, mittelgroße Gestalt, zarter Teint, 
eine helle Stimme, niedergeschlagene Augen und eine schüchterne Gemüts- 
art als Kennzeichen des „wahren", also des begehrenswerten Weibes. 
Andererseits dürfte er selbst ein „männlicher Mann" gewesen sein; die 
Schwärmerei für zarte Knabenschönheit beim Manne ist ihm fremd; weib- 
HcheEigenarten„zerrütten"die männliche Eigen art.Das weibliche Geschlecht 
hat dem Parmenides als das geistig begabtere gegolten. In seinem Gedicht 
kommen überhaupt nur weibliche Gottheiten vor. Die einzigeAusnahme 
von dieser Regel, die einzige männliche Gottheit, dessen Namen wir in seinem 
Gedichte lesen, ist: Eros. Die Welt des Parmenides erweist sich unverkennbar 
als die Verkörperung einer wohl unbewußten, allein deswegen nicht weniger 
kräftig entwickelten, ausschließlich dem anderen Geschlechte zugewandten 
Erotik. Und doch lehnt Parmenides diese von der Geschlechtsliebe be- 
herrschte Welt entschieden ab, erklärt sie für unwirklich, für eine bloße Aus- 
geburt menschlichen Wahnes. In der wahren Welt gebe es kein Werden, 
kein Entstehen und Vergehen, keine Paarung von Zweien zur Hervor- 
bringung eines Dritten ; das „Seiende" in der wahren Welt sei unentstanden 
und unvergänglich. Daß es nicht ausschließlich logische Gründe sind, die 
einen in der Vollkraft der Jahre stehenden, anscheinend von gesunder 
Erotik erfüllten Mann zwingen, das Zeugnis seiner eigenen Sinne zu 
verwerfen, ist klar. — Eine ausführliche Analyse läßt Prof. Gomperz der 
nach Jahrtausenden noch immer so fesselnden und problematischen 
Persönlichkeit des Sokrates zuteil werden. Eigentümlich war dem 
großen Philosophen zunächst eine leiblich-geistige Anlage, die ihn erstens 

:{xxxn 



von ihm selbst unbewußt Gedachte» wie Fremdes von außen vernehmen 
und zweitens seine Liebesfahigkeit noch mehr als knabenhaften Frauen 
mädchenhaften Knaben zuwenden ließ. Entscheidend für seine Entwick- 
lung war der früh erwachte Unabhängigkeits drang, der ihn in unbewußte 
psychische Konflikte mit der Verehrung für seinen Vater und dessen 
Berufsgenossen, die athenischen Handwerksmeister, brachte. Er dürfte 
seine hohen Vorbilder aus infantiler Wißbegierde mit Fragen bestürmt 
haben, deren Beantwortung sie ihm schuldig bleiben mußten, so daß sie 
ihre Autorität einbüßten. Vergeblich suchte er dann stets nach dem 
wahren „Meister". Jedem Manne, der mit einem gewissen Geltungsanspruch 
auftrat, legte er seine Fragen vor und sobald dieser sie nicht zufrieden- 
stellend beantwortete, war damit in den Augen des Sokrates der Geltungs- 
anspruch vernichtet. Auf diese Vernichtung waren dann die Fragen schon 
direkt angelegt. Besonders eingehend wird die Erotik des Sokrates 
untersucht, sein Liebesleben, Beziehung zur Gattin, zu den Dirnen und 
vor allem seine Beziehung zum Lehramte. 



Dr. GUSTAV HANS GRABER 

Die Ambivalenz des Kindes (Imago-Bücher, Nr. VI). 

Geheftet M. }.fo, Halbleinen /. — , Halbleder 7. — . 

. Inhalt: L Der Begriff der Ambivalenz. A) Bei Bleuler. B) Bei Freud. - II. Das 
Wesen der Ambivalenz des Kindes. A) Ambivalenzbildung. Hereditäres und 
Akzidentelles. Zerstörung der Einheit. Der Urhaß und die Ambivalenz jeder 
Bindungen. Bindungen ans Ich. Die Elternbindung. Der Geschlechtsunter- 
Gchled. Das Lustverbot. Verdrängung und Widerstand. Symbolisierung. 
Tierphobien. Träume. Das Über-Ich. B) Aufhebung der Ambivalenz und 
Regression. — HL Ausblick. 

Besonders fruchtbar. Bringt neues individuelles Material von Kindern 
selbst. Lesenswerter systematischer Versuch. (Zeitschr. f. Sexualwiss.) 

Wichtige Fingerzeige zur Kindererziehung. (Berner Woche) 

Jeder, der mit Kindern zu tun hat, wird diese Arbeit mit Gewinn lesen. 
(Prof. Schneider, Riga in der Schulreform) 

This work is füll of suggestive material for the psychoanalytic worker 
or for the psyehologist or psychiatrist at all up to date on the study of 
uneonscious dynamics. (Journ. of Nerv, and Ment. Disease) 

Die schwarze Spinne. Menschheitsentwicklung nach Jere- 
mias Gotthelfs gleichnamiger Novelle, dargestellt unter 
besonderer Berücksichtigung der Rolle der Frau (Sonderabdruck 
aus der „Imago"). Erscheint im Herbst 1925. 

XXXIII 



GEORG GRODDECK 

Der Seelensucher. Ein psychoanalytischer Roman. 2. Aufl. 
(2. — 5. Tausend.) Pappid. M. 10. — , Ganzleinen II. — , Halbleder 13, — . 

Inhalt: Agathe, der Herausgeber, August Müller und der Seelensudler. 

- Die Wanzen kriechen hervor. - Ein Scharlachfall. Dr. Vorbeuger. Ein 
Fluchtversuch. - August wird eingesperrt, Agathe besucht ihn. - Die Wanzen 
werden angesteckt. Augusts Berufung. — Der Vikar wird durch ein junges 
Mädchen in die Geschichte verwickelt und hat ein Stelldichein. — August Müller 
stirbt. — Thomas Weltlein begegnet dem Sein, dem Werden und dem Fittich der 
Tat. — Der Lumpenwilhelm und Agathes Uhr. — Der Weg der Schmerzen. 

- Ein Weinbergskarl und noch einer. — Der Tunnel der Erniedrigung. 
Kleider machen Leute. — Verrückt oder boshaft? — Strickt der Strumpf oder 
wird er gestrickt? - Docendo discimus. - Eine Wanze, die mit Gedanken 
und Goldwasser malt. - Wie Lachmann einen Stein rollen läßt. - Thomas 
macht am Insekt Mensch Experimente über psychisch-physische Ansteckung. 

- Vom Nutzen der Krankheit. - Wie sich Frauen und wie sich Thomas 
die Hebung der Sittlichkeit denken. — Was eine Glocke ist. Agaihe reist 
ab und Thomas spielt Eisenbahn. — Nicht wahr, zwei Damen? Und der 
Sdilag aufs Paradiesäpflein. — Von der inneren Anstedcung, dem Artikel, 
Held Onan und der Entrüstung des Lesers. - Großes und kleines Geschäft. 
Der Kegelkönig. - Das vierte Gebot. - Apfelkraut und Hosenbein. Musik 
und Liebe. — Eine Schlägerei. Was das Du eines Prinzen vermag. — Ein 
langweiliges Kapitel, das aber nicht untersdilagen werden kann, da es vom 
Waschen und dem Geheimnis der Sixtinischen Madonna handelt. — Nodi 
ein Museumsbesuch, ebenso langweilig wie der vorige. — Die Idee des 
Pferdes und der Wettkampf mit dem Löwen. — Der Narr als Held. Vom 
Sozialismus. — Wie Thomas die Welt von unten ansieht und was es mit 
Madchenfreundsdiaften auf sich hat. — Ein Verbrechen? Der Gruß des 
Kaisers und die Resultate des Studiums. — Agathe ersdieint wieder. — 
Mathematik als reine Wissenschaft. Kinderverse und das Rätsel der Brust- 
warzen. — Der rote Prinz. Willkommen und Abschied. — Tod und Begräbnis. 
Agathe beansprucht Thomas Weltleins Vermögen, Lachmann den Seelen- 
sudier und Alwine seinen Unglauben. 

Ein ungewöhnlich geistreicher Kerl, der sehr amüsant zu reden weiß. Der 
Stil erinnert etwas an die Pickwiekier, wenn auch der Inhalt durchaus 
nicht so harmlos ist. (Dr. Drill in der Frankfurter Zeitung) 

Ein tüchtiger Mann, der* Spaß machen kann und sein Publikum in 
36 Kapiteln trotz aller Wissenschaft harmlos und kurzweilig unterhält. 

(Alfred Döblin in der Neuen Rundschau) 

Es kann kein schlechtes Buch sein, dein es wie diesem gelingt, den Leser 
vom Anfang bis zum Ende zu fesseln, schwere biologische und psycho- 
logische Probleme in witziger, ja belustigender Form darzustellen, und 

XXXIV 



(las es zustande bringt, derbzynische, groteske und tieftragische Szenen, 
die in ihrer Nacktheit abstoßend wirken mußten, mit seinem guten 
Humor wie mit einem Kleide zu behängen. 

Der erziehliche Wert des Buches liegt darin, daß Groddeck, wie einst 
Swift, Rabelais und Balzac, dem pietistisch-hypokritischen Zeitgeist 
die Maske vom Gesicht reißt und die dahinter versteckte Grausamkeit und 
Lüsternheit, wenn auch mit dem Verständnis für deren Selbstverständlich- 
keit, offen zur Schau stellt. Die Symbolik, die die Psychoanalyse zaghaft 
als einen der gedankenbildenden Faktoren einstellt, ist für Weltlein tief 
im Organischen, vielleicht im Kosmischen begründet und die Sexualität 
ist das Zentrum, um das sich die ganze Symbolwelt bewegt. 

(Dr. S. Ferenczi in der Imago) 

Ein Buch, das kaum seinesgleichen hat unter deutschen Büchern, ein Buch 
von eigentümlicher spiritueller Schärfe, die ihre Zeichen ins Hirn des 
Lesers ätzt. Was sonst als erzählende deutsche Prosa Humor 
übt, scheint Wasser neben dieser Quintessenz... So was 
Freches, Ungeniertes, raffiniert Gescheit-Verrücktes ist von Erzählern 
unserer Sprache noch nicht gewagt worden. Man muß zu den Großen 
satirischer Dichtung, will man die Patrone dieser Schrift nennen. Von 
Jonathan Swifts unsterblicher Galle kreist ein Tropfen in des Seelen- 
suchers Bitterkeit; an Cervantes erinnert der Ritus, nach dem hiereiner 
zugleich den Priester und das Lamm seiner Narrheit abgibt, erinnert die 
Durchsetzung dieser Narrheit mit Idee und Idealität; in der Rabies ihrer 
Witzigkeit aber gespenstert das Überdimensionierte der Gargantua- 
Komik. 

Die Figuren haben beiläufige Kontur. Auch der Held Thomas, der als Don 
Quixote Sigmund Freudscher Weltanschauung seiner fürsorglichen 
Schwester Agathe durchbrennt, streitbar durch die deutsehen Lande zieht, 
in die wunderlichsten Händel und skurrilsten Abenteuer gerät als Ritter, 
seiner Dulcinea Psychoanalyse die erbittertsten Reden und andere Schlachten 
schlägt, aller Orten — wie der de la Mancha Burgen, Ritter, Burgfräulein 
— ajler Orten Symbole, insbesonders erotische Symbole sieht, erfüllt von 
der (heiligen Gewißheit, daß die Menschen ihre Psyche zwischen den 
Beinen tragen und ihre Genitalien an jeder Stelle Körpers und Geistes. 
Dieser Thomas ist ein urgemütliches Gespenst, daß seine Hirnschale in 
Händen hält und aus dem muntren Qualm, der ihr entsteigt, die Welt 
deutet . . . Eine Figur, so voll der kostbarsten Narrheit — die keine Narr- 
heit, sondern Ernst-Clownerie — ist noch durch keinen deutschen Roman 
gewandelt ... Sie hat ein Format und eine Funktion; der Rest ist Ulk. 
Aber Ulk von der hellsten Sorte. Hier lehrt einer, zum Gaudium des Leser, 
die Welt über den psycho analytischen Stock springen. Alles 
muß drüber, Mensch und Tier, Politik, Kunst, Wissenschaft; und, mit 
etlicher Gewalt und Schlauheit, glückt es bei allen. Eine drolligste demon- 
stratio ad rem et hominem von der Unfreiheit der Erscheinungen. Wie 
sieh hier Sinn zu Hanswurstiaden übersteigert, Geist in närrische Aktion 

XXXV 



umsetzt, Dogma possenreißerisch sich behauptet, Erkenntnis, ihrer Unver- 
letzbarkeit hochmütig gewiß, ins dichteste Gelächter stürzt — solche lustige 
Abenteuerfahrt des Gedankens hat noch kein deutscher Mann gewagt. 

(Alfred. Polgar im Berliner Tageblatt) 

Ein Schalk, der lustig, ausgelassen und frivol ist und doch zum Denken 
reizt. . . Prüde Flachköpfe, Philister, laßt die Hände davon, aber Ihr, dio 
Ihr lachen könnt, bis die Augen tränen, macht Euch in Eurer stillen 
Ecke über dieses Buch. {Wiener Freimaurer-Zeitung) 

Gespräche und Reden des Seelensuchers Thomas Weltlein, den der Verfasser 
auf die schmale Grenze zwischen dem weisen Grübler und dem Narren 
gestellt hat, um ihm recht ungestört alles zwischen Himmel und Erde 
durcheinanderquirlen lassen zu können . . . Für öffentliche Büchereien ist 
das Buch wegen seines Übermaßes an Zynismus in erotischen und reli- 
giösen Dingen unbrauchbar. (Bächerei und Bildungspflege) 

Weder die Vertiefung noch der soziale Ernst wird der Psychoanalyse hier 
entnommen, sondern der Kehricht, den sie, das seelische Innere des 
Menschen fegend, vor der Tür anhäuft. Diese unappetitliche Masse wird 
hier zum Hauptthema, als ob das Absehen darauf gerichtet wäre, die 
Psychoanalyse durch Ordinärheit zu diskreditieren, was indessen kaum 
in den Intentionen des Verfassers, selbst Psychoanalytikers, liegen kann. 
(Herbert Silberer in der Neuen Freien Presse) 

Groddeck hat der Literatur einen modernen Don Quichotte geschenkt . . . 
Wer Freude daran hat, die Dinge auch einmal durch eine andere Brille 
als seine eigene zu sehen, lese das Buch. Er wird Stunden reinster Freude 
habenl (Ostseezeitung) 

Ein witziges Buch ! Ein kluges Buch ! Eine geschickte Fopperei, nichts 
mehr! Ein köstliches Buch, ein abscheuliches Buch ! Ein fideler Roman 
ein wissenschaftliches Werk!... Das Buch ist vor allem von einer 
imponierenden Rücksichtslosigkeit. (jji e jfr aj , c \ 

Groddeck hat sich seine Aufgabe insofern erleichtert, als sein Held gleich- 
zeitig Psychopath und Psychoanalytiker ist; dadurch kann er manche 
bedeutsame Glossierung unauffällig einfügen. Groddeck nützt die Immuni- 
tät reichlich aus, um die Phantasie des kranken Zynikers sich in Zwei- 
deutigkeiten ergehen zu lassen; aber man behält den Eindruck der Echtheit. 

(Badischer Zentralanzeiger) 

Wer für Humor keinen Sinn hat, gehe dem Buch weit aus dem Wege . . • 
Groddeck probiert mit einer tollen Donquichotterie die psychoanalytische 
Methode an seinem Helden aus und mengt Witz und Unsinn, Weisheit und 
Tollheit wild durcheinander. (Jörn Oven in der Schönen Literatur) 

XXXVI 



Das Buch vom Es, Psydioanalytisdie Briefe an eine Freundin. 

Ganzleinen M. i}. — , Halbleder 17. . 

Ein Breviarium des Freudianismus für alle Wissenschaftsverächter. Der 
Briefschreiher nennt sieh Patrik Troll und macht diesem lustigen Namen 
alle Ehre, pfeift auf die Wissenschaft, schreibt amüsant, geistreich, kritik- 
los und mit der üblichen Entdeckerfreude. Es gelingt ihm mühelos, auf 
alles den reinsexuellen Reim zu finden. Dieser Patrik Troll hat für die 
Analyse ein so kurzweiliges Repetitorium geschrieben, wie es sonst 
wohl noch kein Wissenszweig hat. Die Herren Kollegen werden sich 
vielleicht darüber ärgern, die „Laien" aber werden verblüfft und bewundernd 
staunen über die fröhliche Ungeniertheit und Offenheit in der Art des 
sechzehnten Jahrhunderts. Und weil dieser derbe Stil damals doch viel- 
leicht so eine Art geistiger Exhibitionismus war, so wird der Verfasser 
sich über die Wirkung auf seine Leser königlich freuen. 

(Neue Züricher Zeitimg) 

Ein amüsanter Schriftsteller. Die Aufdröselung psychischer Karten, die 
Bloßlegung verwickelter Seelensituationen ist nicht so sein Gebiet wie das 
Erkennen des Sexuellen rechts und links im Seelenleben. Er spricht sich 
freimütig mit /der boshaften Ruhe des erfahrenen Arztes über tausend 
Alltagsdinge aus, plaudert, plaudert. Die Briefe sind an eine Freundin 
geschrieben; das Unanständige verliert im Spaßhaften, Überlegenen seinen 
Charakter. (Alfred Döblin in der rassischen Zeitung) 

Ein vollständiger Skeptiker und mildert das nur dadurch, daß er sich selber 
nicht schont. (Dr. Drill in der Frankfurter Zeitung) 

Ein sehr merkwürdiges, durch seine temperamentvolle Offenheit unge- 
wöhnlich fesselndes Buch, in dem viele zynische Ehrlichkeiten, manche 
„goldene Rücksichtslosigkeiten" stehen. Er ist klug, daß er die einzelnen 
Themen in die lockere Kapitelform der Briefe fügte. Doch wäre dem immer- 
hin heiklen Inhalt die Form des intimen Gesprächs vielleicht noch zweck- 
mäßiger angepaßt. Schwarz auf weiß pflegt man solche Gedanken einer 
Frau kaum zu geben. Ich kann mir diese höchst persönlichen, aller Prüderie, 
aber auch aller Scham entkleideten Briefe über Psychoanalyse eher als' 
sehr wahrscheinliche Gespräche zwischen Ehegatten oder Liebenden denken. 
Wie dem auch sei, dies Buch ist ein mutiges Aufklärungs- und zugleich 
ein Bekennerwerk ... Die Fähigkeit ausschweifenden Phantasierens und 
scheinbar ziellosen, im Grunde aber recht logischen Kombinierens ist das 
Merkmal dieses fesselndes Buches. (Berliner Börsenzeitung) 

Wenn du auch nur ein Zipfelchen vom Kleide der Moral zu deiner Moral 
nötig hast, wirst du das Buch mit Entrüstung verdammen; oder du wirst 
das Zipfelchen fahren lassen und mit dem Buche ins große Meer des 
amoralischen Es schwimmen. ... Du sollst das Buch lesen 1 Du wirst 
davon einen großen Lehensgewinn haben I (Schulreform, Bern; 

xxxvn 



De. IMRE HERMANN 

Psychoanalyse und Logik. Individuell-logische Unter- 
suchungen aus der psychoanalytischen Praxis. (Imago- 
Bücher Nr. VII.) Geheftet M. J.fo, Halbleinen f.—, Halbleder 7.—. 

Inhalt: Einleitung / Der Dualsdiritt / Das Manifeste in einer Kranken- 
geschichte / Dualschritte aus der Entwickhmgspsychologie; in der Biologie; 
in der schönen Literatur / Ihr Zusammenhang mit der seelischen Konstitu- 
tion und dem Erlebnis des Schriftstellers / Umkehrschritte in einer Kranken- 
geschichte / Ein Fall mit Dual- und Umkehrschritten / Der Abwendungs- 
schritt / Der Schritt des Sinkens / Skizze zu einer Denkschrittpsychologie / 
Denkschritte und Trieblehre / Die logischen Denkgesetze / Exkurs über 
Sophismen / Zusammenfassung der Theorie der Evidenz. 
Ein origineller und verdienstvoller Versuch, die Brücke von der Psycho- 
analyse zur Schulpsychologie und Philosophie zu zimmern. (Imago) 

Dr. EDUARD HITSCHMANN 

Gottfried Keller. Psychoanalyse des Dichters, seiner Gestalten 
und Motive. (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, 
Bd. VII.) Geheftet M. }.;<>. 

Inhalt: I. Einleitung. - IL Die Bedeutung der Mutter. Unbewußte Liebe. 
Die Mutter ernährt den Sohn. Das Zwiehahn-Motiv. Die Judith-Gestalt. 
Angst vor Eifersucht der Mutter. Gehemmte Liebeswahl und gehemmte 
Sexualität. — ID. Das Erbe des Vaters. Der erlebte und ersehnte Vater. — 
Das Motiv der „halben Familie". Das Heimkehr-Motiv. - IV. Zum Liebes- 
leben. Kinderliebschaften. Die Schwester Regula. Die überlegene Frau. - 
V. Der Maler Keller und das Nacktheitsmotiv. Schaulust und weiblicher 
Akt. Der Landschafter. Geträumte und verhüllte Entblößung. — VI. Künst- 
lerisches Werden. — Anhang. — Literatur. 
Sind die Künstler-Psychoanalysen besser (d. h. vorsichtiger in der Material- 
bewertung) geworden, oder haben wir im Laufe der Zeit nähere Fühlung' 
mit der Psychoanalyse gewonnen? Wohl beides . . . Das vorliegende Keller- 
Buch hat mir auch als Literarhistoriker einige Lichter aufgesteckt . . . Das 
Buch vertieft unseren Einblick in die erotischen Probleme bei dem Menschen 
wie bei dem Künstler Keller. Es erklärt die Hemmungen in seiner persön- 
lichen Liebeswahl und Sexualität und beleuchtet entsprechende Motive 
seiner Dichtung. (Prof. Harry Maync, Bern, im Literarischen Echo) 

Hitschmann hat einen großen deutschen Erzähler gewählt, um in der Dar- 
stellung seines Lebens und Schaffens, von analytischen Gesichtspunkten 
ausgehend, zu zeigen, wie tiefgehend Kindereindrücke bei Gottfried 
Keller gewirkt haben und welche hervorragende Bedeutung bestimmten 
Tendenzen und deren Hemmungen im Liebesleben für die künstlerische 
Stoffwahl und Gestaltung zukommt. (Imago) 

xxxvni 



Dr. STEFAN HOLLOS und Dr. S. FERENCZI 

Zur Psychoanalyse der paralytischen Geistesstörung. 
(Beihefte der Internation. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Nr. V.) 

Geheftet M. 2.—. 

No more fascinating nor intriguing study has been attempted than in 
this effort at obtaining a better insight into the phenomenology of the 
mental picture of general paresis. TUe bizarre disarray which descriptive 
psyehiatry bas given us ig most ingeniously rearranged and Order is seen 
in the apparent chaos of/fEät most „organio" of tbe psyckoses. 

(Journ. of Nerv, and Mental Disease) 

Dr. HERMINE HUG-HELLMUTH (f) 

Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens (von 11 bis 
141/2 Jahren). Herausgegeben von Dr. H. Hug-Hellmuth. 
(Quellenschriften zur seelischen Entwicklung, Bd. I.) Dritte 
Auflage (6. — 10. Tausend). Ausgabe auf holzh. Papier, geheftet 
M. 4. — , Pappbd. /. — , Ausgabe auf holzfreiem Papier, Ganzleinen 9. — , 
Halbleder 12. — . 

Das Tagebuch ist ein Heines Juwel. Wirklieh, ich glaube, noch niemals 
hat man in solcher Klarheit und Wahrhaftigkeit in die Seelenregungen 
hineinblicken können, welche die Entwicklung des Mädchens unserer 
Gesellschafts- und Kulturstufe in den Jahren der Vorpubertät kennzeichnen. 
Wie die Gefühle aus dem Kindisch-Egoistischen hervorwachsen, bis sie 
die soziale Reife erreichen, wie die Beziehungen zu Eltern und Geschwistern 
zuerst aussehen und dann allmählich an Ernst und Innigkeit gewinnen, 
-wie Freundschaften angesponnen und verlassen werden, die Zärtlichkeit 
nach ihren ersten Objekten tastet, und vor allem wie das Geheimnis des 
Geschlechtslebens erst verschwommen auftaucht, um dann von der kind- 
lichen Seele ganz Besitz zu nehmen, wie dieses Kind unter dem Bewußt- 
sein seines geheimen Wissens Schaden leidet und ihn allmählich über- 
windet, das ist so reizend, natürlich und so ernsthaft in diesen kunstlosen 
Aufzeichnungen zum Ausdruck gekommen, daß es Erziehern und Psycho- 
logen das höchste Interesse einflößen muß. 

(Prof. Freud, in einem Briefe an die Herausgeberin) 

Weibliche Wesen der bürgerlichen Welt werden sich beim Tagebuch Seite 
um Seite zurückversetzt fühlen in ihr Einst; männlichen Wesen wird es 
statt dessen manche Kleinigkeit mitteilen, die sie noch nicht wußten. 
Das Hauptthema des Tagebuches liegt nicht in dem, was von den Außen- 
verhältnissen ausgeht, mögen sie dem Kinde falsch oder richtig seine 
Geschlechtszukunft enthüllen oder verhüllen. Das Thema der elf bis vier- 

XXXIX 



zehn Jahre liegt in dieser Zukunft selber schon, der das weibliche Kind 
— gleichsam über sein Vermögen ahnend — als einer gleichzeitig vorwärts- 
drängenden und zurückdrängenden entgegengeht: denn die Reife des 
Weibes bezahlt sich mit einer neuen Passivhaltung, der das zunehmende 
Ichbewußtsein sich auf das lebhafteste widersetzt. 

(Lou Andreas-Salome im „Literarischen Echo"} 

Hier, wie vielleicht in jedem aufrichtigen Tagebuche einer Halbwüchsigen 
ist natürlich der Brennpunkt des Interesses die Sexualität. — Die 
Sexualität, nicht die Erotik. Denn hier kommt die Neugier noch 
aus dem Intellektuellen, aus dem wachen Gehirn eines noch unent- 
wickelten Körpers, und die Unruhe quillt aus dem Verstand, nicht aus den 
noch dumpfen Zonen körperlichen Gefühls. Nirgends reagiert hier wirk- 
liche Befriedigung auf Erkenntnis; im Gegenteil: der erste zufällige Einblick 
wird für das Kind zum seelischen Schock. Mit Ekel, mit Abscheu, mit 
Furcht und Angst antwortet ihr noch unreifes Gefühl auf alle Ahnungen 
des Körperlichen. Statt sie an das feurige Geheimnis näher hinzudrängen, 
schreckt sie die für ihr Empfinden unreine Glut zurück. Nirgends ist in 
diesem nervösen Kinde trotz aller geistigen Unruhe, trotz aller funkelnden 
Neugierde ein Atem von Verderbtheit. Man spürt, diese Unruhe ist (wie 
wahrscheinlich bei den meisten Kindern, was aber Lehrer und Erzieher 
selten ahnen) absolut präerotisch, sie ist nur Unruhe nach dem Leben, 
nach dem Zusammenhange, das allzu erklärliche Gefühl nach Ebenmäßig- 
keit des Wissens, das keine Lücken und leere Stellen will, dasselbe Gefühl, 
das die junge Menschheit als Gesamtheit von ihrem Anfang getrieben hat, 
ihre eigene Erde zu durchforschen, unbekannte Kontinente sieh bekannt 
zu machen, alle Ströme, Berge, Seen und Wälder in eine Karte einzu- 
zeichnen und über diese Erde hinaus noch mit Teleskopen und Berechnungen 
nach den anderen Welten ins Unendliche zu spähen. 

... Es ist immer gut, Menschliches zu verstehen und zu diesem Ver- 
ständnis der Kinderseele scheint mir dieses Buch eines der kostbarsten, 
das je die Wissenschaft Hand in Hand mit dem Zufall dargeboten und 
nicht durch Kunst, sondern einzig allein dank jener mystischen 
Schöpfungskraft der Jugend, dichterischer wirkt als die besten Nachdich- 
tungen von Kindheit. (Stefan Zweig in der Neuen Freien Presse) 



Denkt euch Wedekinds kleine Wendla, die an „Frühlings Er- 
wachen" so tragisch zugrunde geht, habe ihre Erlebnisse aufgezeichnet, 
denkt sie euch in Geheimratskreise und auf Wiener Boden versetzt — so 
habt ihr das „Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens" . . . 
Seitdem die Jugend „Frühlings Erwachen" liest, neigt sie dazu, sich zu 
tragischen Erlebnissen verpflichtet zu fühlen. Das Tagebuch des unbe- 
lauschten Mädels ist hingegen literarisch noch nicht angekränkelt, und so 
kommt ihr Erlebnis ungeschminkt zum Vorschein. 

(Monty Jacobs in der Vossischen Zeitung) 

XL 



Wir betrachten hier einmal wertvollerweise die seelischen Wirkungen des 
Erwachens und Erkennens geschlechtlicher Dinge und Beziehungen vom 
Gesichtskreise der Kinderseele aus. (Zeitschrift für Sexualwissenschaft) 

Durch seinen sexualpsychologischen Gehalt einzigartig wertvoll und durch 
seine Menschlichkeit erschütternd. 

(Kurt Schneider, Köln, im Zentralbl. f. d. ges. Neural, u. Psychiatrie) 

Wenn wir unserer Cousine und unserer älteren Schwester nur eimal jenes 
braune Lederbuch hätten klauen können, mit dem sie immer so geheimnis- 
voll tat. Was mochte da alles drin sein?... Es war furchtbar aufregend 
— aber das Ding war gut verschlossen und wir kamen nie heran. Nun 
kommen wir doch einmal heran. (Peter Panter in der Welibühne) 

Mehr als aus hundert Abhandlungen reifer, allzu reifer Erwachsener kann 
man aus diesen Aufzeichnungen sieh ein wirklich kongruentes Bild der 
Kinderseele entwerfen. (Königsherger Allg. Zeitung) 

Ich habe die Aufzeichnungen einer älteren Dame vorgelegt, und sie war 
bewegt von den Gefühlen und Gedanken, die aus dem Dämmer der Erinne- 
rung eigener Jugend wieder auftauchten. Darum sollte jede Mutter, jede 
Erzieherin ihren Schützling in diesem Spiegel sehen, vor allem aber wird 
dem Manne, dem die Erziehung junger Mädchen anvertraut ist, hier ein 
ganz neues Verständnis für seine Aufgaben aufgehen. 

(Prof. Eichhorn in der Konstanzer Zeitung) 

Das Aufsehen, das „A Young Girls Diary" in England verursacht, hat eine 
große Sittlichkeitskampagne zur Folge . . . Lord Alfred Douglas (derselbe, 
der in seinen jüngeren Jahren wegen seiner gerichtsnotorisch gewordenen 
Beziehungen zu Oskar Wilde viel genannt worden ist) hat öffentlich einen 
großen Eid geschworen, die Psychoanalyse in England auszurotten. Als 
erstes Objekt seiner Purifizierungswut ist das Tagebuch der kleinen GreU 
Lainer auserkoren worden. Der Londoner Zensor ist sicher der Meinung, 
es komme ausschließlich in Wien oder höchstens noch bei sonstigen Hunnen 
vor, daß z. B. das Denken und Fühlen junger Mädchen durch bevorstehende 
physiologische Erscheinungen, bzw. deren erstmaliges Auftreten lebhaft 
beschäftigt wird. In der Kontinentalrasse liegt die Schweinerei. 

(Frankfurter Zeitung) 

„The New Statesman": Gretl Lainer (the name chosen by the Psycho- 
Analytical Society) belongs to the Casanova type of autobiographer rather 
than to that of Rousseau and Marie Baskirtscheff; she is singularly little 
trouhled with her own personality. She writes from a breathless interest 
in the world around rather than from any morbid taste for introspection 
or self-explanation. (The New Statesman) 

Twenty philosophers, each peeping trough keyholes for three-score years 
and then, might have discovered more, but it is the charme of this diary 
that counts, and that could never have been compiled. (The Diäl) 

XL1 



Prof. g. jelgersma 

Unbewußtes Geistesleben. (Beihefte der Internationalen 
Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse Nr. I.) Geheftet M. — .80. 

Die Broschüre gibt in deutscher Übersetzung die Rede wieder, die G. 
Jelgersma, Professor der Psychiatrie an der Universität Leiden, damals 
Reetor Magniflcus, am 9. Februar 1914, am Jahrestag dieser nunmehr 
dreieinhalb Jahrhunderte alten Hochschule gehalten hat und in der er 
sich in der Hauptsache zur Freudsehen Traumpsychologie bekennt. 

Festschrift zum 25jährigen Amtsjubiläum von Prof G. 
Jelgersma (= Internationale Zeitschrift f. Psychoanalyse, 
X. Band, Heft 3) s. unter ZEITSCHRIFTEN. 



Dr. ERNEST JONES 

Therapie der Neurosen. (Internationale Psychoanalytische 
Bibliothek, Bd. XI.) Geheftet M. ;.—, Halbleinen 6.fo. 

Inhalt: Allgemeines über die Neurosen. Hysterie. Angsthysterie, Neur- 
asthenie. Zwangsneurosen. Hypochondrie und Fixationshysterle. Traumatische 
Neurosen, einschließlich der Kriegsneurosen. Prophylaxe der Neurosen. 
Psychische Behandlung anderer, den Neurosen nahestehender Zustände. 

Jones hat das Verdienst, seine Anschauungen hier in so konziser Weise 
zur Darstellung zu bringen, daß das vorliegende Buch vielleicht als das 
beste Kompendium der Freudschen Neurosenlehre bezeichnet werden kann; 
in diesem Sinne mochte ich es, auch als Gegner der darin verfochtenen 
Anschauungen, empfehlen. (Sing, Basel, in der Schweiz. Med, Wochenschrift) 

Baut die therapeutischen Einwirkungsmöglichlceiten vorurteilslos auf, 
wird ihnen als lebenserfahrener Arzt gerecht und gibt damit dem Arzte 
zielklare Direktiven. So ist die Behandlung der Hysterie vortrefflich 
geworden, ein Beweis auch für die vielgestaltigen Beziehungen zwischen 
Arzt und Hysteriker, die statt der Achtung Furcht, Haß oder zärtliche 
Zuneigung schaffen können. Was hier Takt und Scharfsinn des Arztes zu 
leisten hat in eigenartiger Kunstform, wird hier anschaulich geschildert, 
namentlich die Überwindung des Widerstandes gegen das Gesundwerden. 
Dem klaren Buche ist eine recht weite Verbreitung zu wünschen. 

(Placzek im Archiv für Frauenkunde) 

Diese Arbeit hat eine besondere Bedeutung, weil der Verfasser in langen 
Jahren der Praxiü eigene Erfahrungen in vielen Behandlungsmethoden 
der Neurosen erwarb und daher deren Ergebnisse zu vergleichen imstande 

XLII 



ist. Ergt als Professor der Psychiatrie an der Universität von Toronto in 
Kanada, später als Nervenarzt in London behandelte er Nervenkranke mit 
den verschiedensten psychischen Mitteln. Die Resultate seiner Erfahrung 
sind in knapper Form in dieser Arbeit zusammengetragen . . . Die ganze 
Arbeit bleibt auf dem Boden der Wirklichkeit; sie ist sachlich und klar 
geschrieben. Dadurch ist sie besonders geeignet, dem praktizierenden 
Arzt eine richtige Einsicht in die jetzt geschaffenen Möglichkeiten in der 
Behandlung von Nervenkranken zu ermöglichen. Nur zu oft meint dieser, 
die Behandlung dieser Kranken sei aussichtslos und man habe schon das 
Mögliche erreicht, wenn ein besonders lästiges Symptom zum Verschwinden 
gebracht ist. Die Arbeit Jones kann ihn eines Besseren belehren. 

(H. F. Meyer, Haarlem, in der Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse) 

Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen (von Jones u. 
a.) s. unter INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE 
BIBLIOTHEK. 

Dr. JOHANN KINKEL 

Dozent an der Universität Sofia 

Zur Frage der psychologischen Grundlagen und des 
Ursprungs der Religion. Beitrag zum System der psydio- 
aualytisdien Soziologie. (Erweiterter Sonderabdruds aus 
„Imago", VID. Bd.) Vergriffen. 

AUREL KOLNAI 

Psychoanalyse und Soziologie. Zur Psydiologie von Masse 
und Gesellsdiaft. Geheftet M. ?.— . 

Inhalt: Über die soziologischen Ergebnisse der Psychoanalyse. Psycho- 
analyse und Soziologie. Die Analyse der Massenseele. Die Anfänge der 
Kulturentwicklung. Das Individuum und die gesellschaftliche Organisation. 
- Über die soziologischen Aufgaben der Psychoanalyse. Allgemeine Be- 
merkungen. Versuch einer Psychoanalyse des Anarchokommunismus. 

Kolnai weist darauf hin, daß der Marxismus, obgleich er gewiß nicht 
als ein paranoischer Fall aufzufassen sei, dennoch Zeichen einer para- 
noischen Konstruktion trage Dein gegenüber sieht Kolnai im Bol- 
schewismus eine „regressive Erlösung von der paranoischen Starrheit". 
Kolnai ist sozialliberal und weit davon entfernt, dem Bolschewismus 
zuzuneigen. In dem Worte Erlösung liegt daher kein Werturteil, sondern 
es ist nur die psychologische Tatsache gemeint, daß sich gewisse seelische 
Stauungen, die der Marxismus bewirkte, im Bolschewismus Luft gemacht 

xl in 



haben, in denjenigen Kreisen, wo der Marxismus noch unvermindert war 
und verschiedene andere umstände die Tendenz zu dieser Entladung 
verstärkten. (Frankfurter Teilung) 

Kolnai faßt die gewaltsame Befreiung aus der Vaterautorität nicht als 
einen Fortschritt, sondern als einen Rückfall auf. Einen Rückfall in einen 
noch früheren, mehr undifferenzierten Urzustand als jene Horde, in welche 
die väterliche Führerschaft schon eine gewisse Ordnung und Gliederung, 
also einen sozialen Fortschritt gebracht hatte. Der Revolutionsvorgang 
läßt sich als eine „Regression" fassen, unter einem Begriff also, den die 
Psychoanalyse für alles individual- wie völkerpsychologische Zurücksinken 
in primitivere Formen des Deökens und Handelns vielfach bearbeitet hat. 

(Berliner Tageblatt) 
Scharfe Dialektik, höchst summarische Terminologie erzwingen ange- 
strengtestes kritisches Lesen und dauernd scharfes Denken bei der Lek- 
türe dieses Buches, das mehr für Fachleute als für Laien verfaßt, aber 
auch dem sozialistischen Arbeiter eine Quelle neuer und bedeut- 
samer Erkenntnisse ist . . . Wir empfehlen unseren denkenden Genossen 
dieses Buch zum eifrigen Studium. (Westfal. Allg. Volkszeitung) 

ISRAEL LEVINE 

Das Unbewußte. Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen 
von Anna Freud (Internationale Psychoanalytische Biblio- 
thek, Bd. 20.) Erscheint im November Ip2f. 

Inhalt: I. Das Unbewußte vor Freud. Leibniz. Schopenhauer. Hart- 
mann.' Maine de Biron. Fechner. Nietzsche. Samuel Butler. - II. Freud 
und das Unbewußte. Die Traume. Die Fehlleistungen. Der Witz. 
Die Neurosen. - III. Die Rechtfertigung des Unbewußten. Zur 
Kritik des Unbewußten. Die Mneme. Psychologie und Physiologie. Das 
Wesen des Bewußtseins. - IV. Die Theorie des Unbewußten. 
Leben und Konflikt. Das Lust- und das Realitätsprinzip. Der Reizbegriff. 
Die seelischen Kategorien. Die Polaritäten. Die Ambivalenz. Zur Definition 
der Mefapsychologie. Die Verdrängung und die Affekte. Der logische 
Gesichtspunkt. Die besonderen Eigenschaften der unbewußten Vorgänge. 
Der Verkehr der beiden Systeme. Die Natur der Triebe. r- V. Die Bede u- 
tungdesUnbewußten. Psychoanalyse und Erziehung. Die Subllmierung. 
Charakter und Unbewußtes. PsA. und Massenpsychologie. PsA. und die 
Persönlichkeit. Verdrängung und Spaltung der Persönlichkeit. Das unter- 
bewußte Ich. Jungs Auffassung der Persönlichkeit. PsA. und Ethik. PsA. 
und Hedonismus. PsA. und Verantwortlichkeit. PsA. und Willensfreiheit. 
PsA. und Ästhetik. Phantasie und Kunst. Kunst und Affektivität. Kunst und 
Verdrängung. PsA. und Philosophie. Das Problem der Bedeutung. Die 
Vernunft und das Realitätsprinzip. 

XLIV 



Dr. EMIL LORENZ 

Der politische Mythus. Beiträge zur Mythologie der Kultur. 

Geheftet M. }.—. 

Inhalt: Vorwort. - Der politische Mythus. - Algernon Charles Swin- 
burnes „Hertha". - Zur Psychologie des integralen Denkens. 

Diese Schrift aus dem Freudschen Kreise enthält drei Aufsätze, von denen 
der erste den Mythus vom Staat untersucht. Auf drei in letzter Linie 
erotischen Tendenzen beruht, wie alle menschliche Gemeinschaft, so auch 
der Staat; auf der väterlichen, der mütterlichen und der mann-männlichen. 
Daher Vaterland, Mutterland. Aus jenen Grundtendenzen erklären sich 
die großen politischen Geschehnisse: Tyrannenmord, Revolution, Freiheits- 
kampf. Der zweite Aufsatz geht an Hand von Swinburnes „Hertha" dem 
Gedanken des mütterlichen Staates tiefer auf den Grund. Den letzten 
Sehritt in dieser Richtung tut der dritte und wohl auch bedeutsamste 
Aufsatz über die Psychologie des integralen Denkens. Verfasser bildet 
hier den Begriff des „psychischen Integrals" und versteht darunter das 
seelische Ur- und Totalerlebnis noch vor der Differenzierung in Subjekt 
und Objekt .. . Mit der Heranziehung und Auswertung der Mutter-Imago 
geht Lorenz über Freud hinaus . . . Namentlich der dritte Aufsatz bleibt 
auch für den Religionsforscher von Bedeutung, da er ihm alte Stoffe und 
Fragen in neuer Beleuchtung zeigt. (Theologische Literaturzeitung) 

Vorwiegend programmatische Arbeit. Hält sich an die Traumsprache des 
Unbewußten, d. h. in der Völkerpsychologie an den Mythus und weist an 
Beispielen hauptsächlich die Beziehung von Vater- und Muttersymbolik 
zu politischen Vorgängen nach. (Berliner Tageblatt) 

In seiner edlen Wissenschaftlichkeit die Wage des Für und Wider liebe- 
voll austarierend, ein Apotheker magischer Destillate und wiederum — 
wäre das Wort nicht so zerbeult: ein Barockmensch — dosiert er seine 
Gedanken. In keiner Bibliothek eines politischen Menschen sollte das 
Buch fehlen. Der „politische Mythos" ist ein endliches Loslösen vom 
utilitaristischen Starrsinn. (Klagenfurter Zeitung) 

Diese Darlegungen verdienen nicht nur das Interesse des Forschers, sie 
sind auch ebenso beachtenswert für den Künstler wie den gebildeten 
Laien. (Trierer Zeitung) 

In der Durchleuchtung der Seele von Revolutionen spürt er mit unendlich 
scharfsinnigem und feinfühligem Geiste, geschult an den modernsten 
Methoden psychoanalytischer Forschung, den inneren Ursachen und 
Antrieben von Massenbewegungen nach und findet in den Trägern dieser 
Umstürze geheime unbewußte Motive wirksam, die er geistreich bis zu 
den Keimzellen und Urformen zurückverfolgt . . . Eine besondere Veran- 
kerung im Gegenwärtigen erfahren seine Ergebnisse durch die Gegen- 
überstellung der beiden hauptsächlichsten Bestattungsarten: Begraben 
und Verbrennen. (Freie Stimmen) 

XLV 



Dr. bronislaw malinowski 

Professor der sozialen Anthropologie an der Universität London 

Mutterrechtliche Familie und Ödipuskomplex. Eine 
psydioanalytische Studie (Sonderdruck aus „Imago", X. Band, 
1Q24). Geheftet M. 2.J0, Ganzleinen 4.—. 

Inhalt: I. Die soziologische Problemstellung in der Psychoanalyse. — II. Die 
Beschaffenheit der Familie in einer patriarchalischen und in einer mutter- 
redillichen Gesellschaft. - HI. Die erste Phase des Familiendramas : die 
glückliche Verbindung von Mutter und Kind in matrilinearen und patri- 
Iinearen Gesellschaften. — IV. Der erste Konflikt in der patriarchalischen und 
das Andauern der Harmonie in der matrilinearen Gesellschaft. — V. Die 
infantile Sexualität bei den Kindern der Wilden und der Zivilisierten. - 
VI. Vorbereitung fürs Leben und Reaktion gegen die Autorität. - VII. Die 
Sexualität im späteren Kindesalter. - VHI. Pubertät. - IX. Der Ödipus- 
komplex und der Kernkomplex der matrilinearen Familie — eine Zusammen- 
stellung. 

Die psychoanalytische Lehre — führt M. eingangs aus — ist im wesent- 
lichen eine Theorie vom Einfluß des Familienlebens auf die menschliche 
Seele. Der Kernfamilienkomplex ist das Ergebnis eines bestimmten Typus 
von sozialer Gruppierung. Es taucht das Problem auf: ändern sich nicht 
die Konflikte, die Affekte und Neigungen innerhalb der Familie mit der 
Form der Familie. Denn der Ödipuskomplex entspricht doch im wesent- 
lichen unserer indoeuropäischen Familie, die patrilinearistmit entwickelter 
patria potestas, gestützt durch das römische Recht und die christliche 
Moral und gefestigt durch den modernen europäischen Industrialismus der 
wohlhabenden Bourgeoisie. M. stellt sich nun zur Aufgabe, die Abhängig- 
keit des Kernkomplexes von der Beschaffenheit der Familie an Hand von 
unmittelbaren Beobachtungen an Wilden zu untersuchen. Er selbst hat 
jahrelang unter den Eingeborenen auf den Trobriand-Inseln 
in Nordost-Guinea gelebt und kann die Psychologie ihres mutterrecht- 
lichen Familienlebens mit den Erscheinungen der vaterrechtlichen Familie 
der modernen Zivilisation vergleichen. Seine Ausführungen stützt er mit 
reichem Beobachtungsmaterial. Die von ihm hervorgehobenen Unterschiede 
zwischen den Komplexen in der patrilinearen und in der matrilinearen 
Familie gehen darauf zurück, daß die sozialen Einrichtungen der matri- 
linearen Gesellschaft der Trobriands fast vollständig in Übereinstimmung 
mit der biologischen Entwicklung sind ; es werden nicht wie in der vater- 
rechtlichen Gesellschaft natürliche Triebe durchkreuzt und unterdrückt. 
Das Aneinanderprallen der sexuellen Interessen und die sozialen Reibungen 
zwischen Vater und Kind sind nicht möglich. Dafür entspricht aller- 
dings unserem Ödipuskomplex dort der unbewußt gewordene Wunsch, die 
Schwester zu heiraten und den Bruder der Mutter zu töten. 

XL VI 



JOLAN NEUFELD 

Dostojewski. Skizze zu seiner Psychoanalyse (Imago-Büchei 

Nr. IV). Geh, M. 3 .—, Halbleinen 4.50, Ganzleinen f.—, Halbleder 7.—. 

Wie ist es möglich, daß ein Mensch so loyal gesinnt ist und dabei an 

eaner Verschworung gegen den Zaren teilnimmt? Wie kann jemand tief 
rel, si0 s und zugleich absolut ungläubig sein? Woher kommt es, daß ein 
Mensch, oer mit j eder Nervenfaser an seiner Heimatscholle Webt, Monate, 
ja Jahre im Auslande verbringt? Dem Gelde ununterbrochen nachjagt 
um es dann wie etwas vollkommen Wertloses zum Fenster hinauszu- 
werfen? Rätsalhafte Charaktere, entgleiste Perverse sind seine Helden 
und geben uns Rätsel auf, die mit der Bewußtseinspsychologie nicht lös- 
bar sind. Der Zauberschlüssel der Psychoanalyse aber sprengt die 
Schlösser. / > , „. . .. . . 

(Aus der Einleitung) 

Der ernste, etwas analytisch orientierte Leser wird die flüssige und 
beredte Dostojewski-Skizze in einem Zuge durchlesen, und ohne Wider- 
SprUch- (Neue Zürcher Zeitung) 

Wer sich von der Behauptung beunruhigt fühlt, daß Dostojewski ein 
Chaotiker gewesen sei, der alle Sympathien auf die Verbrecher gelegt 
habe, dem sei dieses Buch empfohlen. Man kann einen Dichter, der so 
subjektiv ist, nur dann ganz verstehen, wenn man seine Psychologie 
begreift. 

Diese ruhigen Untersuchungen, die dem Dichter und Menschen rein 
analysierend nahezukommen, suchen, heben aus ihm allgemeine, typische 
Zuge heraus und lehren ihn menschlich verstehen. Dieses Verstehen aber 
birgt in sieh zugleich das Vorbeugemittel gegen die suggestive Einfluß- 
gewalt, die von den Schöpfungen des russischen Dichters ausgeht. Die 
kühle Luft zerlegende Wissenschaft nimmt den Gestalten das Bezwingende 
. . .Wir wissen um den Mechanismus dieser Welt, und sie wird uns nicht 
mehr zu willenlosen, blinden Verführten machen können. 

(Deutsche Allg. Zeitung) 
Klar gefaßt und bringt Wesentliches zum Verständnis des großen 
russischen Ringers. (Schulreform) 

Dr. N. OSSIPOW 

Tolstois Kindheitserinnerungen. Ein Beitrag zu Freuds 
Libidotheorie (Imago-Büdier Nr. II). Geheftet M. 6.-, Halb- 
leinen J.SO, Halbleder 10. — . 

Inhalt: I. Vorbemerkungen. - II. Die „Ersten Erinnerungen". - ffl. Zwei 
allererste Erinnerungen (Das Individual-Ich und die Idi-Libido). - 

XL VII 



IV Über den Narzißmus. - V. Drei weitere Erinnerungen (Ob)ektlibido). 
- VI. Der Seelenkonflikt. - VII. „Die Ameisenbrüder" (Das Supra-Ich). - 
VIII. Über die infantile Amnesie. 

Die Arbeit hält sich nicht streng" an die Freudsche Doktrin, sondern ver- 
sucht in der Richtung Freudscher Gedankengänge zu neuen grundsätz- 
lichen Aufstellungen zu gelangen ... Er beherrscht das Material und 
wirft stellenweise Schlaglichter von überraschender Wirkung . . . Beson- 
ders die Abschnitte über den Narzißmus und die kindliche Amnesie sind 
wertvoll und anregend. (Zentralblatt f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie) 

Auf der gigantischen Persönlichkeit des großen Russen, erschütternd entge- 
genschimmernd aus seinem künstlerischen Schaffen, fast nacktgeschürft in 
dem Autobiographischen, ruht hier zum erstenmal der geschärfte und 
geläuterte Blick psychoanalytischer Erkenntnis. Der Mensch und Künstler, 
selbst ein Zergliederer, selbst ein Träger genialischer Tiefenpsychologie, 
tritt hier in den Leuchtkegel modernster wissenschaftlicher Seeleneinsicht. 
In merkwürdiger Weise kreuzen sich dabei die Wege Tolstoischer Sexual- 
grübelei mit denen der psychoanalytischen Eroslehre. Die Studie bean- 
sprucht, sowohl von den Genießern Tolstoischer Kunst willkommen 
geheißen zu werden, als auch bei dem wissenschaftlich orientierten Leser 
ein brennendes Interesse vorzufinden. 



Dr. OSKAR PFISTER 

Pfarrer in Züridi 

Zum Kampf um die Psychoanalyse (Mit einer Kunstbei- 
lage und 15 Textabbildungen. Internationale psychoanalytische 
Bibliothek, Bd. 8). Geheftet M. i}.—, Halbleinen 1/.— . 

Inhalt: I. Die Psychoanalyse als psychologische Methode. — 1. Apolo- 
getisches. Der erfahrungswissenschaftliche Charakter der Psychoanalyse. 
Proben psychoanalytischer Arbelt. (Nachtwandeln. Unbezwingliche Abnei- 
gung gegen eine Speise. Hypnopompischer Einfall. Ein Fall von kommuni- 
zierender religiöser und irdischer Liebe usw.) Einige Ergebnisse und Aus- 
blicke. — D. Die Entstehung der künstlerischen Inspiration. — HI. Zur Psy- 
chologie des Krieges und des Friedens. Die Tiefeiunächte des Krieges. Die 
psychologischen Voraussetzungen des Völkerfriedens. — IV. Zur Psychologie 
des hysterischen Madonnenkultus. — V. Hysterie und Lebensgang bei Mar- 
gareta Ebner. — VI. Psychoanalyse und Weltanschauung. (Positivismus, 
Metaphysik, Ethik.) — VII. Gefährdete Kinder und ihre psychoanalytische 
Behandlung. — VIII. Wahnvorstellung und Schülerselbsfmord. — LX. Das 

xLvin 



Kinderspiel als Frühsymptom krankhafter Entwicklung, zugleich ein Beitrag 

zur Wissenschaftspsychologie, 
Pfisters Werk über die Psychoanalyse gehört unzweifelhaft zum Bedeutend- 
sten, was in letzter Zeit über dieses Gebiet erschienen ist. Man wird 
zugeben müssen, daß es allen denen, die mit Fragen der praktischen 
Psychologie zu tun haben, mit Problemen, die das tägliche Leben bietet, 
treffliche Hinweise und oft auch den Schlüssel zur Lösung gibt, wo die 
offizielle Psychologie versagt. (Schweizerische Pädagogische Zeitschrift) 

Konzilianter in der Form, marschiert auch er stramm an der Seite Freuds, 
handhabt sein starres Arbeitssystem mit den knarrenden Bewegungen 
einer eisernen Faust und geht auch breiter Polemik (siehe den Fall 
Häberlin) keineswegs aus dem Wege ... Im ersten Essay seines Buches 
hat Pfister die bisher mit psychoanalytischer Methode behandelten Vor- 
gänge, Gegenstände und Probleme sehr übersichtlich zusammengestellt. 

(Neue Zürcher Zeitung) 

His work is well illustrated with material Crom his own experience to lend 
weight to his merely theoretical presentation. Here is a work all analyti- 
cally interested students can read with Stimulus and profit. 

(Journal of Nerv, and Mental Disease) 

Dr. OTTO RANK 

Der Künstler und andere Beiträge zur Psychoanalyse des 
dichterischen Schaffens (Imago-Bücher I). Vierte vermehrte Auf- 
lage. Geheftet M. 7.—, Halbleinen 8.f0, Ganzleinen 9.—, Halb- 
leder ii.jo, 

Inhalt: Der Künstler. Die sexuelle Grundlage. Die künstlerische Sublimie- 
rung. - Der Sinn der Griselda-Fabel. Die Matrone von Ephesus. Das „Schau- 
spiel" In „Hamlet". Belege zur Rettungsphantasie (Rettungsphantasie und 
Familienroman, Der „Familienroman" in der Psychologie des Attentäters. 
Die „Geburtsrettungsphantasie" in Traum und Mythus). „Um Städte werben." 
Traum und Dichtung. Ein gedichteter Traum. 

Wohl eines der interessantesten Probleme, denen die Psychoanalyse sich 
zugewandt hat, ist das der Künstlerpsyehologie. Die Psychoanalytiker 
tun gut daran, eine historische oder innere Gemeinschaft mit den Sans- 
culottes des Materialismus, mit der Etikettenkleberei allzu „unbefangener" 
Psychiater abzulehnen. (Frankfurter Zeitung) 

Das Werk Ranks behandelt in komprimiertester und doeh lichtvoller Dar- 
stellung entscheidende Fragen. Der Weg zur Lösung dieser Fragen ist 
kühn — aber er ist kein Marsch auf der Straße. (Die Zeit) 

Viele sehr verdienstvolle, wenn auch harte und beinahe rücksichtslose 
Meinungen. Es gehört eine große Freiheit des Geistes und eine sehr schätz- 

IL 



bare Unbefangenheit dazu, das Sexuelle offen als den Anfang 1 und Aus- 
gangspunkt dessen zu bezeichnen, womit abgerechnet werden muß. Otto 
Rank hat den Vorwurf der zynischen Brutalität, der bei solchen Dingen 
niemandem erspart bleibt, nicht gescheut. Zu philosophischer Propädeutik 
auf Mädchen-Gymnasien ist die Schrift nicht zu verwenden . . . Übrigens 
hat Otto Rank auf dem Wege zur Seelenschau des Künstlers eine ganze 
Menge psychologischer Faktoren auf ihren sexuellen Gehalt hin geprüft 
und mit schöner Prägnanz demonstriert. (Münchner Ätlg. Zeitung) 

Auch unser Zeitalter hat seine Sophisten. Der in seiner verblüffenden 
Dialektik an Otto Weininger gemahnende Wiener Psychologe Otto Rank 
— ein Reinecke Fuchs der Philosophie an staunenden Ranken — leitet in 
der Schrift „Der Künstler" überhaupt alles menschliche Leben mit seinen 
Kulturbestrebungen, Religion, Wissenschaft, Philosophie, Poesie samt den 
anderen Künsten aus dem geschlechtlichen Urzustand und dessen allmäh- 
licher Entwicklung ab . . . Ganz in Ordnung jedoch ist es, daß Otto Rank 
die Traumzustände neben den Sexualproblemen zur Erklärung des dich- 
terischen und künstlerischen Phantasieschaffens heranzieht. 

(J. V. Widmann im Bund) 

Heute steht es wohl bei allen Psychoanalytikern fest, daß die Beschäfti- 
gung mit den Fragen der Ästhetik und Künstlerpsychologie nur ein kleiner 
Ausschnitt der Gesamtaufgabe ist; diese selbst umfaßt die ganze Entwick- 
lung des Seelischen, also die menschliche Kulturgeschichte im weitesten 
und vollständigsten Sinne . . . Die ersten Schritte in der neuen Bahn hat 
Rank mit seinem „Künstler", allen anderen weit voraus, getan. Die Wen- 
dung ins Allgemeine und Entwicklungsgeschichtliche ist nicht etwa durch 
Andeutungen vorweggenommen, sondern schon in methodischer Form 
ausgebaut. (H. Sachs im Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse) 

Höchst interessant, wie die Vertiefung der Freudschen Lehre auf Teile 
uralter religionspsychologischer Grundmauern stößt. Das Studium dieser 
geistreichen Schrift kann sehr empfohlen werden. 

(Zeitschrift für Religionspsychologie) 

Einen Teil der neuen, Urhaftes helichtenden Seelenlehre, die wagniskräftig 
über die schwanken Mauern der Träume steigt, in die fahlen Gärten kör- 
perlicher Wallungen zwischen Kindern und Eltern tritt, — einen Teil 
dieser neuen Lehre erhärtet Otto Rank . . . Das Wesen seiner Arbeit geht 
den Wissenschaftler an wie den gliedernden (und zergliederten). Dichter. 

(Alfred Kerr im Pah) 

As dimly glimpsed by Nietzsche, Hinton and other earlier thinkers, — the 
main explanation of the dynamic process by which the arts, in thewidest 
sense, have come into being, is now chiefly being explored. One thinks 
of Freud and especially of Dr. Rank, perhaps the most brilliant and clair- 
voyant of the younger investigators who still stand by the master's side, 

(Havelock Ellis in The dance of the life) 



Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung. 

(Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. 4.) 2. Aufl.» 

Geheftet M. 6.—, Halbleinen J.SO, Halbleder 10. — . 

Inhalt: Vorwort. Mythologie und Psychoanalyse. Die Symbolik. Völker- 
psychologische Parallelen zu den Infantilen Sexualtheorien. Zur Deutung 
der Sintflutsage. Männeken-Plß und Dukaten-Scheißer. Das Brüdermärchen. 
Mythus und Märchen. 

Neben und nach Freud, dessen Traumdeutung Quelle und Ausgangspunkt 
aller einschlägigen Forschungen ist, ist es besonders Rank, dessen Arbeiten 
ein neues Licht in die bis dabin dunkle Entstehungsgeschichte mytholo- 
gischer Schöpfungen brachten ... Daß Rank es verstanden hat, sein 
Thema klar, übersichtlich und fesselnd zu gestalten, ist für den Kenner 
seiner Arbeiten keine Überraschung. (Zeitschrift für Sexualwissenschaft) 

Kritische Leser werden viel Anregung und interessantes Material in diesen 
Aufsätzen finden. (Literarisches Echo) 

Die analytische Erforschung des Traumes, die sich als die wertvollste 
Quelle von Aufschlüssen über das psychische Geschehen erwies, hatte 
bald den Versuch gerechtfertigt erscheinen lassen, das in der Struktur 
und den seelischen Mechanismen ähnliehe Phänomen des Mythus analytisch 
zu untersuchen. Das Hauptverdienst auf diesem Gebiete gebührt unstreitig 
Rank . . . Die analytische Mythenforschung auf einem Höhenpunkte! 

(Th. Reik in Imago) 

Anerkennung gebührt der Gründlichkeit, mit der der Verfasser die Sagen 
und Dichtungen aller Zeiten durchforscht hat, und dem analytischen 
Scharfsinn, der ihn in den verschiedenartigsten Verkleidungen stets die 
ewigen Menschheitskonflikte erkennnen läßt. (Die Neue Generation) 

Libro ... de una presentaeiön elegante es una de las magnificas contri- 
buciones a la interpretaeiön psicoanalitica de mitos y legendas. 

(Revista di Psiquiatria, Lima,) 

Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie. Ge- 
heftet M. 4. — , Ganzleinen 5.60. 

Die Phänomene des Unheimlichen sind für die Tiefenpsychologie besonders 
aufschlußreich. Wenn Rank bei der Analyse des Doppelgängermotives, 
das phantasievolle und grüblerische Dichter wiederholt zur Darstellung 
reizte, von einem bekannten Filmdrama ausgeht, so darf das nicht 
weiter stören, hat doch die Psychoanalyse, die auf Grund ihrer Methodik 
gewohnt ist, jeweils von der aktuellen psychischen Oberfläche ausgehend, 

LI 



tieferliegendes und bedeutsames seelisches Erleben aufzudecken, am 
wenigsten Anlaß, einen zufälligen und banalen Ausgangspunkt zur Auf- 
rollung w r eiterreichender psychologischer Probleme zu scheuen. Nach der 
Analyse des „Studenten von Prag" verfolgt Rank das Doppelgängermotiv 
in der Weltliteratur und beschäftigt sich besonders mit den in Betracht 
kommenden Dichtungen von E. T. A. Hoffmann, Chamisso, An- 
dersen, Stevenson, Jean Paul, Raimund, Lenau, Heine, 
Poe, Oscar Wilde, Maupassant, Dostojewski, Dehmelu. a. 
und nimmt dabei auch auf all die Verästelungen des Motives (der ver- 
lorene Schatten, der doppelte Schatten, das lebende Spiegelbild usw.) 
Rücksicht. Ein besonders Kapitel beschäftigt sich mit der Persönlichkeit 
jener Dichter, die sich vom Doppelgängermotiv besonders angezogen 
fühlten. Die Disposition zu seelischen Störungen bedingt ein hohes Maß 
von Spaltung der Persönlichkeit, mit besonderer Betonung des Ichkom- 
plexes, dem ein abnorm starkes Interesse an der eigenen Person entspricht. 
Diese Einstellung führt in einer charakteristischen Beziehung zur Außen- 
welt, insbesondere zum Liebesobjekt, zu dem kein harmonisches Verhältnis 
gefunden wird: direkte Unfähigkeit zur Liebe oder eine — zum gleichen 
Effekt führende — übermäßig hochgespannte Liebessehnsucht kennzeichnen 
die beiden Pole dieser krassen Einstellung zum eigenen Ich. Es schwingt 
aber beim Dichter wie heim Leser auch ein überindividuelles Moment 
unbewußt mit und verleiht diesen Motiven eine geheimnisvolle seelische 
Resonanz. Diesen völkerpsychologischen Anteil aus den ethnographischen, 
folkloristischen und mythologischen Überlieferungen zeigt Rank in einem 
besonderen Kapitel auf. Zwei Bedeutungen treffen sich im Doppelgänger- 
motiv, die Todesbedeutung und die der Selbstverliebtheit. Die erotische 
Einstellung zum eigenen Ich ist z. B. bei Wildes Dorian Gray nur möglich, 
weil daneben die abwehrenden Gefühle sich an dem gehaßten und ge-. 
fürchteten Doppelgänger, an das alt und häßlich werdende Ebenbild, ent- 
laden können. Übrigens ist der primitive Seelenglaube überhaupt ursprüng- 
lich nichts anders als eine Art des Unsterblichkeitsglaubens, der die Macht 
des Todes energisch dementiert. Der primitive Narzißmus sträubt sich 
gegen die gänzliche Vernichtung ebenso wie gegen das Aufgehen in der 
, Geschlechtsliebe. So kommt es, daß der die narzißtische Selbstliebe ver- 
körpernde Doppelgänger gerade zum Rivalen in der Geschlechtsliebe werden 
muß, oder daß er, ursprünglich als Wunschabwehr des gefürchteten 
Unterganges geschaffen, im Aberglauben als Todesbote wiederkehrt. 



Die Don Juan-Gestalt. Geheftet M. 2.80, Pappbd. 3.40. 

„Der unsterblich gewordene Name des spanischen Liebeshelden entfesselt 
mit seinem zauberischen Klang unwillkürlich eine Reihe von Vorstellungen 
und Erwartungen erotischer Natur, die unlösbar mit ihm verbunden 
scheinen ... Ist man aber gerade in der Stimmung, der Mozartschen Oper 
mit einer psychoanalytischen Einstellung gegenüberzutreten, d. h. die 



LH 



bewußte Zielvorstellung des erotischen Helden teilweise auszuschalten, 
so bemerkt man unschwer und doch nicht ohne Überraschung, daß die 
Handlung eigentlich nichts weniger als einen erfolgreichen Sexual- 
abenteurer, vielmehr einen von Mißgeschick verfolgten armen Sünder dar- 
stellt, den schließlich das seinem Milieu entsprechende Los der christlichen 
Höllenstrafe erreicht . . . Wir folgen nur den vorgezeichneten Spuren von 
Tradition und Dichtung, wenn wir dieser dem menschlichen Denken offen- 
bar peinlichen Seite des ,Don Juan' unsere analytische Aufmerksamkeit 
zuwenden." 



Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die 
Psychoanalyse. (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, 

Bd. 14.) Geheftet M. 8.fo, Halbleinen 10. — , Halbleder 14. — . 

Inhalt: Analytische Situation. Infantile Angst. Sexuelle Befriedigung. 
Neurotische Reproduktion. Symbolische Anpassung. Heroische Kompensation. 
Religiöse Sublimierung. Künstlerische Idealisierung. Philosophische Spe- 
kulation. Psychoanalytische Erkenntnis. Therapeutische Wirkung. 

Aus dem Nirwana des Lebens im mütterlichen Schoß wird das Kind durch 
ein erstes gewaltsames und erschütterndes Erlebnis, durch die Geburt in 
eine Welt hinausgetrieben, die von ihm mit zunehmendem Alter immer 
größere Anpassungsleistungen fordert. Für den Neurotiker und seine 
Behandlung- hat das „Trauma" der Geburt fundamentale Bedeutung. Wir 
sehen aber seine Wiederkehr nicht nur in der neurotischen Reproduktion, 
hei tieferer Untersuchung finden wir sie auch in der Entwicklung der 
Normalen, in der Kunst, Religion, Philosophie, überall in der ganzen 
Kultur. Dies weist Rank in seinem prächtigen Buch nach . . . Das in 
jeder Hinsicht tief und reich angelegte Buch ist Freud gewidmet. Wir 
legen es mit dem Eindruck axis der Hand, daß seine Bedeutung für den 
Fortschritt der Psychologie und der Psychoanalyse im speziellen heute 
noch gar nicht abgeschätzt werden kann . . . Wir Lehrer sind in unserer 
Arbeit an das Kleine und oft Kleinliche des menschlichen Lebens gefesselt. 
Es bedeutet für uns eine Erquickung, durch Ranks Buch in ungeheuer 
große Zusammenhänge der menschlichen Natur hineinzublicken, welche 
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in einer Einheit fassen und das 
Seelische gleichsam dreidimensional erleben lassen. (Berner Schulblatt) 

Imponierend durch die Weite der Konzeption und die Geschlossenheit der 
Theorie, die keine Tatsache unberücksichtigt läßt, überrascht das Buch 
zugleich durch seine grandiose Einseitigkeit und den Sprung, den es von 
der Biologie zur Psychologie macht. Die Ausführungen Ranks bedeuten 
einen ersten Versuch, die psychoanalytische Denkweise als solche für das 
Verständnis der gesamten Menschheitsentwickluug, ja sogar Mensch- 
werdung fruchtbar zu machen. (Neue Freie Presse) 

LUI 



Man sieht eine kühn geschwungene Riesentreppe, die uns zu den Wolken 
emporzuführen verspricht, deren Fundament jedoch leider nicht auf festem 
Boden steht . . . Das Urteil über die Grundfesten der These Ranks muß 
verschoben werden, bis die Nachprüfung möglich ist . . . Die sprachliche 
Darstellung ist treffend und das riesige Gedankenmaterial mit sicherem 
Griff zusammenfassend, durch glücklich gewählte und geschickt vorge- 
brachte Formulierungen ebenso ausgezeichnet, wie durch die verblüffende 
und doch nie in leere Sophisterei ausartende Dialektik . . . Trotz der 
Einseitigkeiten und Übertreibungen bietet der Hinweis auf die bisher 
übersehene oder unterschätzte Bedeutung des Geburtserlebnisses der 
Psychoanalyse eine wertvolle Bereicherung und Ranks psychologischer 
Scharfblick mag sich auch hier wieder erprobt haben. 

(H. Sachs in der Int. Zschr. f. Psychoanalyse) 

Eine Neurosenanalyse in Träumen. (Neue Arbeiten 
zur ärztlichen Psychoanalyse, Nr. IE.) Geheftet M. 7.—, 
Pappbd. 8. — , Halbleder II. — . 

Inhalt: Die Widerstandsphasen (Kastrationswiderstand. Zählzwang. 
Phantasiebildungen. Abendmahlsymbolik. Das leidende Heldenideal. Multer- 
regression. Libidoübertragung. Das sexuelle Kunststadt:. Geldwiderstand. 
Masturbation und Männlichkeitskomplex. Schuldgefühl. Wandlung der 
Sexualsymbolik). Die Heilungsfaktoren (Ungeduld und Resignation. Identi- 
fizierung mit dem Analytiker. Akzeptierung der Schwester. Entwöhnungs- 
phase. Lösung von der Analyse. Die letzte Stunde). 

Diese „Heilungsgeschichte" einer Zwangsneurose ist wohl die detaillierteste 
Psychoanalyse, die publiziert worden ist, und als solche ein wichtiges 
Dokument. (Prof. Bleuler in der Münchner Med. Wochenschrift) 

Die expeditivere psychoanalytische Therapie, wie sie Ferenczi und Rank 
in ihrer Arbeit „Entwicklungsziele der Psychoanalyse" vertreten, wird hier 
in Bezug auf die Technik der Traumdeutung an einem in sechs Monaten 
dauernd geheilten Fall einer weiblichen Zwangsneurose exemplifiziert. 
Einen so ausgezeichneten Traumforscher und Symbolik-Kenner wie Rank 
sieht man hier in virtuoser Weise der Kranken in 150 Stunden ihre 
Träume nur hinsichtlich ihrer Symbolik und der „psychoanalytischen 
Situation" deuten. (Hitschmann in der Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse) 

Die Patientin — ein junges Mädchen — suchte die Analyse wegen einer 
Arbeitshemmung auf, die im Anschluß an ein unglücklich ausgegangenes 
Liebesverhältnis und zur Zeit der Verheiratung ihrer jüngeren Schwester 
aufgetreten war und ihr Berufsleben schwer beeinträchtigte. Die Analyse 
ergab als Grundlage des unlösbaren aktuellen Konfliktes eine voll aus- 
gebildete Neurose, u. zw. vom Zwangstypus . . . Das üppige Traumleben 
der Patientin gestattete, den Fortgang ihrer Analyse und die Lösung ihrer 

UV 



Neurose an ihren fast täglichen Träumen schrittweise zu verfolgen . . . 
Man versteht diese Geschichte am besten als Darstellung der Entwicklung 
eines Menschen unter Berücksichtigung des unbewußten Seelenanteiles. 
Von prinzipieller Bedeutung in dieser Analyse ist die Bedeutung unbe- 
wußter Leitmotive für das Schicksal des Menschen, ihre Leistungs- und 
Liebesfähigkeit, für ihre Erkrankungen und die Heilungsmöglichkeiten. 

Entwicklungsziele der Psychoanalyse (von Ferenczi 
und Rank), s. unter FERENCZI. 

Dk. WILHELM REICH 

Der triebhafte Charakter. Eine psychoanalytische 
Studie zur Pathologie des Ich (Neue Arbeiten z. ärztl. Psycho- 
analyse, Nr. IV). Geheftet M. 4. SO, Ganzleinen 6. — . 

Inhalt: Allgemeines über den neurot. u. den triebhaften Charakter. 
Ambivalenzkonflikt u. Über-Ich-Bildung beim triebgehemmten Charakter. 
Der Einfluß der PartiaKrlebe auf die Gestaltung des Über-Ich. Geschlecht- 
liche Fehiidentifizierung. Ambivalenzkonflikt und Ich-Bildung beim trieb- 
haften Charakter. Einflüsse der Erziehung. Grenzfälle. Die Isolierung des 
Über-Ich. Verdrängung des Über-Ich. Über den schizophrenen Projektions- 
vorgang und die hyster, Spaltung, Therapeutische Schwierigkeiten. 

„. . . Eine psychoanalytische Charakterlehre setzt die genaue Kenntnis 
der detailliertesten Mechanismen seelischer Entwicklung voraus, eine 
F'orderung, von deren Erfüllung wir noch weit entfernt sind. Wenn auch 
die Theorie von der Sexualentwicklung in den wesentlichsten Stücken 
festgefügt erscheint, so reicht sie dennoch zum charakterologischen 
Erfassen einer Persönlichkeit nicht aus. . . . Die Dynamik des Ich ist 
schwerer faßbar als die des Sexuellen. . . . Die Psychoanalyse hat es, 
wie Freud immer wieder betont, eifrigst vermieden, mit fertigen, kon- 
struktiven Theorien an die Persönlichkeit des Kranken heranzutreten; im 
Prinzip auf genetisches Begreifen eingestellt, sozusagen als Embryologie 
der Psyche, mußte sie den mühevolleren und längeren Weg der Detail- 
untersuchung gehen. Die ideale Voraussetzung der psychoanalytischen 
Therapie wäre aber das vollkommene genetische Erfassen des 
Charakters des Kranken. . . . Die Psychoanalyse entwickelt sich 
konstant zur Therapie des Charakters. Die Schwierigkeiten sind sehr groß, 
will man der Problematik der Charakterologie an milden Übertragungs- 
neurosen auch nur einigermaßen näher kommen. Dazu eignen sich am besten 
solche Fälle, welche grobe Defekte der Ichstruktur aufweisen. Diese unter 
einem typischen Wiederholungszwang stehenden Neurotiker, die Asozialen, 
die zeitweiseKriminellen, die systematisch ihr eigenesDasein Erschwerenden 
und Vernichtenden, die auch im Ich vollkommen infantil Gebliebenen, 
sind für das Studium der Ichidcalbildung in statu nascendi am besten 

LV 



geeignet. . . . Diese ungehemmten Triebmenschen bilden eine eigene 
Kategorie. . . . Daß sie sozusagen noch psychoanalytisches Neuland bilden, 
kann wohl nur darauf zurückzuführen sein, daß sio sich für ambulatorische 
Behandlung gewöhnlich schlecht eignen, meist keine wirksame Krankheits- 
einsicht haben und, wenn sie in den Analysen Fuß fassen, das feine Instru- 
ment der Analyse schwer gebrauchen lernen. . . . Das mir zur Verfügung 
stehende Krankenmaterial rekrutiert sich zum größten Teile aus schweren 
Charakterneurosen, die ich im Wiener Psychoanalytischen Ambu- 
latorium zur Behandlung vorsätzlich wählte. . . . Unser Versuch bewegt 
sich gleichzeitig in zwei Richtungen, die schließlich konvergieren werden: 
der speziellen Erörterung eines bisher psychoanalytisch wenig gewürdigten 
Krankheitsbildes, das wir den „triebhaften Charakter" nennen, werden 
Untersuchungen über die Charakterbildung an Hand dieses Pvlaterials 
parallel laufen. . . ." i^ m der Einleitung) 



De. THEODOR REIK 

Probleme der Religionspsychologie. I. Teil: Das Ritual. 
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Sigm. Freud (Inter- 
nationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. 5). Vergriffen. 

Der eigene und der fremde Gott. Zur Psychoanalyse 

der religiösen Entwicklung (Imago-Bücher, Nr. III). Geheftet 
M. 8.J0, Halbleinen 10. — , Ganzleinen io.fo, Halbleder 15. . 

Inhalt: Über kollektives Vergessen. / Jesus und Maria im Talmud. / Der 
heilige Epiphanius versdireibt sich. / Die wiederauferstandenen Götter. / 
Das Evangelium des Judas Ischarioih. / Die psychoanalytische Deutun» 
des Judas-Problems. / Gott und Teufel. / Die Unheimlidikeit fremder Götter 
und Kulte. / Das Unheimliche aus infantilen Komplexen. / Die Äquivalenz 
der Triebgegensatzpaare. / über die Differenzierung. 

Reik darf mit Recht als der tiefblickendste und scharfsinnigste Religions- 
psychologe unserer Zeit genannt werden. (Schulreform, BernJ 

Ein geistreiches Buch. Ein Versuch, die Erscheinungen der religiösen 
Feindseligkeit und Intoleranz zu erklären und den Ursachen der religiösen 
Verschiedenheiten nachzuforschen. Reik ist einer der hellsten Köpfe unter 
den Psychoanalytikern. (Alfred Döblin in der Vossischen Zeitung) 

Gut, wenn auch wohl zu fein durchgeführt, ist die Analyse des Fanatismus, ■ 
der auf innere Geteiltheit, eine „Äquivalenz von Triebgegensatzpaaren" 
zurückgeführt wird . . . Man wird eine Methode, die so tiefe Sachverhalte 
aufdecken kann, nicht a limine ablehnen. 

(Prof. Titius in der Theolog. Literaturzeitung) 

LV1 



Zwei Jahrtausende haben über das Judas-Problem gegrübelt und es fast 
zergrübelt . . . Nur tritt Reik psychoanalytisch an diese tiefsten Fragen 
heran ... Im Mittelpunkt steht die Deutung des Judas-Problems. Jesus 
und Judas in ihren Wurzeln verschmolzen und einwesenhaft. Man muß 
Reiks wuchtigen Vorstoß anerkennen . . . Rücksichtslos geht der Weg, 
zwar oft durch Dunkel und Schrecken und kaltes Grauen. Aber wer den 
Mut dazu hat, kann sich getrost der sachkundigen Führung Reiks anver- 
trauen. (Bremer Nachrichten) 

Manches darin wird starken Anstoß erregen und doch . . . findet man 
immer wieder etwas in ein neues Licht gerückt, und zwar so, daß es 
einleuchtet. Wieviel Bücher gibt es denn, von denen man das sagen 
kann? 'Dr. Drill in der Frankfurter Zeitung) 

Die Bedeutung des Buches liegt darin, daß es — auch dem nicht auf dem 
Boden der psychoanalytischen Theorie Stehenden — zeigt, wie die Psycho- 
analyse der Religionspsychologie und Religionsgeschichte, ja der allge- 
meinen Religionswissenschaft überhaupt, mannigfach bisher unbetretene 
Wege zu weisen imstande ist. 
(Dr. theol. et phil. F. K. Schumann in der Zeitschr. f. Sexualwissenschaft) 

Das Buch ist unmittelbar erschütternd. Es versäume niemand, dem psycho- 
logischen Zusammenhang zwischen Christus und Judas Ischarioth unter 
Reiks sachkundiger Führung nachzusinnen. Der erste Eindruck mag leicht 
ähnlich erschreckend wirken, wie die Begegnung mit dem Hüter der 
Schwelle; allein auch hier wird sich der Schreck, vom Richtigen richtig 
erlebt, als heilsam erweisen. 

(Graf Hermann Keyserling im Weg zur Vollendung) 



Geständniszwang und Strafbedürfnis. Probleme der 
Psychoanalyse und der Kriminologie (Internationale Psycho- 
analytische Bibliothek, Bd. 18). Geheftet M. 8. — , Ganzleinen 10. — . 

Inhalt: Der unbewußte Geständniszwang. Zur Wiederkehr des Ver- 
drängten. Zur Tiefendimension der Neurose. Der Geständniszwang in der 
Kriminalistik. Die psychoanalytische Strafrechtstheorie. Der Geständnis- 
zwang In Religion, Mythus, Kunst u. Sprache. Zur Entstehung des Ge- 
wissens. Zur Kinderpsychologie u. Pädagogik. Der soziale Geständniszwang. 

Bestimmte Erfahrungen der psychoanalytischen Praxis haben Reik ver- 
anlaßt, die Existenz einer besonderen psychischen Tendenz, die er als 
unbewußten Geständniszwang bezeichnet, anzunehmen. Das Symptom der 
Neurosen repräsentiert nicht nur die Kraft der verpönten Wünsche, 
sondern wesentlich auch die Macht der verbietenden (moralischen, 
ästhetischen) Instanzen. („Der Selbstverrat dringt dem Menschen aus 

LVII 



allen Poren", hat Freud gesagt.) Das unbewußte Geständnis bringt ein 
Stück psychischer Entlastung, das von der partiellen Befriedigung 
herrührt, die das Geständnis als eine Art abgeschwächte Wiederh olung 
der phantasierten Tat erscheinen läßt. Das Erfassen der unbewußt 
gewünschten Tat, sowie der Vergleich des Ichs mit dem Ichideal des 
Menschen im Geständnis hat den Effekt, daß der Einzelne, der Bekennende 
mit sich bekannt zu werden beginnt. Denn wir sind nicht nur weit böser, 
sondern auch weit besser als wir annehmen. Die Befriedigung des 
unbewußten Strafbedürfnisses gehört selbst zu den vornehmsten „Krank- 
heitsgewinnen" der Neurose: dies Leid dient nicht nur zur Befriedigung 
verdrängter Triebregungen, sondern auch zur Selbsbestrafung. An Hand 
psychoanalytischer Krankenberichte zeigt Reik eingehend den Anteil des 
Über-Ichs an der Entstehung und Entwicklung der Neurose, das Ansteigen 
der Triebintensität durch das Strafbedürfnis. 

Über den Rahmen der Neurosenpsychologie und der psychoanalytischen 
Heilkunde hinausgreifend, meint Reik in dem vom Über-Ich ausgehenden 
unbewußten Strafbedürfnisse eine der gewaltigsten, schicksalsformenden 
Machte des Menschenlebens überhaupt zu erkennen. Besonders eingehend 
wird vom Verfasser die Kriminologie berücksichtigt. Die seelischen 
Vorgänge, die zwischen der Tat und dem Geständnisse liegen und die 
der Autor „psychische Geständnisarbeit" nennt, werden durch das Vor- 
bewußtwerden der Motive und der sozialen Bedeutung des Verbrechens 
charakterisiert. Die Strafrechtstheorie Reiks geht davon aus, daß das 
Schuldgefühl gerade bei jenen Verbrechern, für welche die Strafgesetage- 
bung bestimmt ist, der Tat vorangeht. Die Strafe dient der Befriedigung 
des unbewußten Strafbedürfnisses, das zu der verbotenen Tat trieb, und 
befriedigt gleichzeitig auch das unbewußte Strafbedürfnis der Gesellschaft 
durch deren unbewußte Identifizierung mit dem Verbrecher. 
Reik zeigt des ferneren die Äußerungen des unbewußten Geständnis- 
zwanges auf den Gebieten der Religion (Beichte, Sündenbekenntnis!), des 
Mythus, der Sprache und der Kunst. Die Bedeutung dieser Tendenz für 
die Kinderpsychologie und Pädagogik demonstriert er an vielen ausführ- 
lichen Beispielen. Was er uns über die Entstehung des Gewissens, über 
frühes Schuldgefühl des Kindes, über dessen Liebesbedürftigkeit äußert, 
weist durchaus nach neuen Zielen. Das Schlußkapitel ist dem sozialen 
Geständniszwang gewidmet: Psychoanalyse ist — geistesgeschichtlich 
betrachtet — das erste bewußte Geständnis der Gesellschaft, das die 
triebhaften Grundlagen, auf denen die Gemeinschaft ruht, einer psycho- 
logischen Untersuchung unterwirft, Sie bereitet den Abbau der rohen 
Triebgewalt und des unbewußten Schuldgefühles vor. Begreiflich ist der 
Widerstand, den die Psychoanalyse izi der Welt gefunden hat, hat sie 
doch an das unbewußte Schuldgefühl (Ödipuskomplex) gerührt, das sich 
die Entlastung durch das Geständnis noch nicht erlauben will. 
In dem bedeutsamen Stück Menschh ei ts arbeit, das die Psychoanalyse 
leistet, bildet Reiks Werk einen Beitrag, dessen Tragweite heute noch 
nicht abzuschätzen ist. 

LVIII 



Dr. GEZA ROHEIM 

Spiegelzauber (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, 

Bd. 6). Geheftet M. 2.;o. 

Inhalt: I. Spiegel und Kind. - IL Der Spiegel des Sehers. - III. Spiegel 
und Herrscher. — IV. Liebeszauber, a) Hochzeitsbräuche, b) Reinkarnation, 
c) Liebesorakel, d) Aggregationsriten. — V. Spiegelschauverbote. — VI. Der 
zerbrochene Spiegel. - VII. Der verhängte Spiegel. - VIII. Der Himmels- 
körper und der Spiegel. 

Röheim hat gesammelt, was sieh an Vorstellungen über das Selbstbildnis 
im Spiegel in allerhand Zeiten und Völkern findet; er gelangt zum 
Ergebnis, daß darin diejenige Phase unserer Entwicklung Ausdruck sucht, 
die Freud als die zweite bezeichnete; worin nämlich, nach der ursprüng- 
lichen Verwechslung von uns mit der Welt, unsere Liebe sich um die 
eigene Person als um ein unterschiedenes Objekt zusammenzieht . . . Die 
positiven Spiegelriten dienen der Lust solcher Selbstbespiegelung, die 
negativen dem Verbot, sich dadurch vom Anschluß an die Gemeinsamkeit 
zu lösen, oder entsprechen dem Grauen vor der Selbsterkenntnis; — so 
entspricht das Zerbrechen des Spiegels auch dem Überwinden der Eigen- 
liebe oder aber dem eigenen Tod. Braut und Katze läßt man in den 
Spiegel sehen, um sie so ans Haus zu fesseln; aus gleichen Gründen 
verdeckt man den Spiegel vor Toten, um sie an ihr Grab zu. binden, damit 
sie nicht zurückgeistern. Der Sonne, gedacht als des verstorbenen Vaters 
am Himmel, kann nur der Empörer oder der Zauberer ins Auge blicken, 
in dem er sich ja ihres Ranges dünkt; bei Sonnenuntergang deckt man 
den Brunnen zu, damit sie sich nicht darein verfange. 

(Lou Andreas-Salome im Literarischen Echo) 

Gründlich und klar geschrieben . . . Für den Sexualforscher von beson- 
derem Interesse ist das Kapitel, das von der Bedeutung des Spiegels im 
Liebesleben der Mensehen handelt. (Zeitschrift f. Sexualwissenschaft) 

The writer's style is compelling. He arrays his facts with those rapid 
strokes which denote a mastery of the material. 

(Journ. of Nerv, and Mental Disease) 

This book is an important study of a group of folk superstitions occu- 
pying an important place in human society. It is also an exceptionally 
elear presentation of the value of the individual psychology of psycho- 
analysis as a starting point of the understanding of such a group of 
superstitious beliefs and customs . . . The book is well worth close study 
for the applying of the illuminating principlos of individualistic psychology 
to these questions of folklore and mythology . . . The detail of material 
as well as the writer's suggestive interpretations throw nuich light upon 
the psychic development. (New Medical Journal) 

LEX 



HANNS SACHS 

Gemeinsame Tagträume (Imago-Bücher, Nr. V). Geheftet 

M. 6. — , Halbleinen y.fo, Halbleder 10. — . 

Als die Psychoanalyse auf die entscheidende Bedeutung der Tagträume 
für den Lebensweg und die Liebeswahl des Einzelnen hinwies, traf sie 
mit einer längst gangbaren Überzeugung zusammen, daß nämlich die 
Tagträume die Vorstufe seien, von der aus sich in begnadetem Sonderfalle 
der Aufstieg zum Kunstwerk vollziehe. Sachs untersucht nun, wie sich der 
Tagtraum zum Kunstwerk verwandelt, wodurch sich der Dichter vom Neu- 
rotiker, vom Verbrecher, vom Führer der Masse unterscheidet. Er weist 
auf den Zusammenhang zwischen dem nach Entlastung lechzenden Schuld- 
bewußtsein und dem zur Verschiebung auf das Werk bereiten Narzißmus 
hin. Besonders analysiert er dann zwei Kunstwerke, die Anzeichen einer 
Produktionshemmung im Leben ihrer Schöpfer darstellen: Schillers 
„Geisterseher" und Shakespeares „Sturm". Die Psychoanalyse 
entwickelt sich „nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten"; aus der 
Erforschung der Störungen erwachsen, die der unvollkommenen Bewäl- 
tigung unbewußter Wünsche ihr Dasein verdanken, vermag sie sich den 
Problemen der künstlerischen Schöpfung auch am besten von der Seite 
der Hemmungen her zu nähern. 



Prof. Dr. Med. et Phil. PAUL SCHILDEPi 

Entwurf zu einer Psychiatrie auf psychoanalytischer 
Grundlage (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, 

Bd. 17). Geheftet M. 7.—, Ganzleinen 9.—. 

Inhalt: I. Das Ideal-Ich. - II. Die Ichtriebe. - ID. Die feinere Struktur 
des Ideal-Ichs und das "Wahrnehmungs-Ich. - IV. Phänomenologie des Ich- 
erlebens. - V. Die Selbstbeobaditung und die Hypochondrie. - VI. Die 
Depersonalisation. - VII. Verdrängung und Zensur, Symbol und Sphäre, 
Spradiverwlrrtheit. - Vm. Narzißmus und Außenwelt - IX. Identifizierung 
In der Schizophrenie. Die Genese der Schizophrenie. - X. Die Symptoma- 
tologie der Schizophrenie. Die Schizophrenie als Krankheit und der 
Krankheitsbegrifl in der Psychiatric. - XI. Schizophrenie - Paranoia. - 
Xu. Amenlla, Aphasie und Agnosie. - XIII. Die Epilepsie. - XIV. Manisch- 
depressives Irresein. - XV. Die Demenz. Die progressive Paralyse. - 
XVI. Korsakoff. - XVH. Intoxikationen. - XVIII. Therapie. - Literatur- 
verzeichnis. — Sachregister. 

Das vor kurzem erschienene neueste Buch des j ungen Wiener Psychiaters, der 
eich durch eine Reihe medizinischer Monographien und psychologischer Stu- 
dien einen auch außerhalb der Grenzen seines engeren Forsehungsgsgebietes 
wohlklingenden Namen gemacht hat, legt nicht nur dar, was die bisherige 

LX 



psychoanalytische Forschung auf dem Gebiete der Psychiatrie ergeben 
hat, sondern schält auch jene Probleme heraus, die noch unerledigt sind, 
setzt bei vielen von diesen die Lösungsmöglichkeit auseinander. Die sich 
knapper Fassungen bedienende bescheidene Form des Entwurfes darf 
darüber nicht hinwegtäuschen, daß hier neben zusammenfassenden Er- 
örterungen vielfach auch aufschlußreiche und ungemein fruchtbare, späteren 
Forschern viel Entscheidendes vorzeichnende Monographieskizzen vorliegen. 
Die Freudsche Lehre von den Ichtrieben und den Sexualtrieben erfährt 
ihre konsequente Anwendung auf das bisher unzugänglichste Gebiet der 
Psychopathologie. Schilders Werk bedeutet nicht nur den Beginn einer 
neuen vielverheißenden Etappe auf dem Wege der Grenzerweiterung der 
psychoanalytischen Theorie und Therapie, sondern wird aller "Voraussicht 
nach auch merklich beitragen zur weiteren „friedlichen Durchdringung" 
jener klinischen Kreise, die sich bisher der umstürzlerischen Freudschen 
Ideenflut verschließen zu können geglaubt haben. 



VERA SCHMIDT 

Psychoanalytische Erziehung in Sowjetrußland. 
Bericht über das Kinderheim-Laboratorium in Moskau. 

Geheftet M. i. — . 

Inhalt: I. Die äußeren Schicksale des Kinderhelm-Laboratoriums. — 
IL Die innere Einrichtung des Kinderheim-Laboratoriums. — III. Psycho- 
analytische Leitsätze für die Arbeit im Kinderheim-Laboratorium. — 
IV. Allgemeine pädagogische Grundsätze für die Arbeit im Kinderheim- 
Laboratorium. — V. Pädagogische Maßnahmen zur Erfüllung der vorstehenden 
Forderungen. — VI. Die Arbeit des Erziehers an sich selbst. — VII. Beobach- 
tungen aus dem Leben des Kinderheim-Laboratoriums. — Anhang (Aus 
dem Tagehuch der jüngeren Gruppe. Zur Entwicklung des Sozialgefühles. 
Zur intellektuellen Entwicklung der Kinder). 



Dr. ERNST SIMMEL 

Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen s. unter 
INTERNATIONALE PSYCHOANALYT. BIBLIOTHEK. 



Dr. ALICE SPERBER 

Über die seelischen Ursachen des Alterns, der Jugend- 
lichkeit und der Schönheit (Sonderabdrutk aus „Imago", 

Bd. XI). Erscheint im Herbst 192/. Geheftet M. 1.40, Ganzleinen 2.60. 



Dr. AUGUST STÄRCKE 

Psychoanalyse und Psychiatrie (Beihefte der Internatio- 
nalen Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. IV). Geheftet M, 2.—. 

Inhalt: Der Forscher und sein Gerat. - Die Beziehungen zwischen Neu- 
rosen und Psychosen. I. Das unbewußte Kriterium. II. Der Normale und 
der Kranke. III. Die Metaphrenle. IV; Regression. Fixierung (Disposition). 
V. Die klinischen Taisachen. VI. Zerlegung der klinischen Einheiten durch 
Freud. VII. Die Libido-Regression. VIII. Die Ich-Trieb-Regression. K. Zu- 
sammenfassung. Die Rolle der infantilen Wunscherfüllung. 

Zwei Arbeiten des holländischen Psychiaters sind hier vereinigt worden. 
Die erste unterzieht die Persönlichkeit des Psychiaters, beziehungsweise 
des Psychoanalytikers selbst einer psychologischen Betrachtung und 
gelangt zu praktisch wichtigen Konsequenzen: im Gegensatz zum 
Psychiater alten Stils, der ein Diener der Zensur, ein Instrument der 
Gesellschaft gegen die Ausgeschlossenen ist, wird der Psychoanalytiker 
nicht nur das Individuum lehren, seine libidinösen Äußerungen auf das 
sozial Erlaubte zu beschränken, sondern auch die Gesellschaft mit der 
Libido, mit dem Tode, kurz mit dem Unbewußten versöhnen. — Die 
zweite Studie ist den Beziehungen zwischen Neurosen und Psychosen 
gewidmet und ist nach des Verfassers Vortrag auf dem Internationalen 
Psychoanalytischen Kongreß in Haag niedergeschrieben worden. Sie hat 
als erste den „Preis für ärztliche Psychoanalyse" von Prof. Freud zuge- 
sprochen bekommen. 



Dr. J. VARENDONCK (f) 

Über das vorbewußte phantasierende Denken. Aus 
dem Englischen übersetzt von Anna Freud. Mit einem 
Geleitwort von Prof. Dr. Sigm. Freud (Internationale 

Psychoanalytische Bibliothek, Bd. 12.) Gelüftet M. 5.— Halb- 
leinen 6.jo, 

Inhalt: Einleitung: Die zwei Arten des Denkens. — Analytischer Teil: 
Die Entstehung der Gedankenketten. Der Inhalt der Gedankenketten. 
(Das Denken In Bildern und das Denken in Worten. Fragen und Antworten. 
Die Strömung der Erinnerungstätigkeit. Irrtümer und Absurditäten. Die 
Sprunghaftlgkeit. Die Unmöglichkeit eines Rückblickes Im vorbewußten 
Denken. Das Vergessen.) Der Abschluß der Gedankcnkctten. (Da* Er- 
wachen. Zensur und Verdrängung.) — Schlußwort Cber die Bedeutung 
der Tagträume. 

lxh 



Das Buch des Dr. Varendonck enthält eine bedeutsame Neuheit und wird 
mit Recht das Interesse aller Philosophen und Psychoanalytiker erwecken. 
Es ist dem Autor in jahrelangen Bemühungen gelungen, jener Art von 
phantasierender Denktätigkeit habhaft zu werden, welcher man sich 
während der Zustände von Zerstreutheit hingibt und in die man leicht 
vor dem Einschlafen oder bei unvollkommenem Erwachen verfällt . . . 
Er hat dabei eine Reihe von wichtigen Entdeckungen gemacht. 

(Aus dem Geleitwort von Prof. Freud) 

Die Fruchtbarkeit der Anregungen, die von den Werken Freuds für die 
Psychologie noch ständig ausgehen, zeigt die vorliegende Arbeit eines 
vlämischen Gelehrten mit besonderer Eindringlichkeit. V. hat die Muße 
eines zweijährigen Kriegsdienstes als Dolmetscher hinter der englischen 
Front dazu verwandt, das richtungslose Denken zu fassen und zu be- 
schreiben, das in der Zerstreutheit beim sogenannten Abschweifen der 
Gedanken, bei Tagträumereien, vor dem Einschlafen vor sich geht. Das 
Material ist außerordentlich wertvoll und aufschlußreich . . . 

(Zentralbl. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie) 

Eine wertvolle Bereicherung der psychoanalytischen Literatur. 

(Monatsschrift f. Kriminalpsychologie) 

Ein überaus wertvoller Beitrag zur Denkpsychologie. Für die Pädagogik 
sehr bedeutungsvoll. (Zeitschr. f. pädag. Psychologie) 

Man wirft der Psychoanalyse oft vor, sie neige mit ihren Methoden zu 
allzu einseitiger Beurteilung der Dinge (neigt hiezu nicht jede Wissen- 
schaft ein wenig?) und gehe mit ihren Schlußfolgerungen viel zu weit. 
Das Urteil darüber, ob diese und noch andere Vorwürfe berechtigt sind, 
wird man der Nachwelt überlassen müssen. So viel aber darf man heute 
schon behaupten, daß die jüngste Varendoncksche Arbeit in ihrer ernsten 
und maßvollen Art zu den Leistungen gehört, die die Eigenschaft be- 
sitzen, ihrer Sache neue Anhänger zu werben. (Frankfurter Nachrichten) 

Ohne Zweifel, eine wertvolle Arbeit! Besonders für die Erforschung der 
Phantasietätigkeit des Dichters ist hier eine bedeutsame Unterlage aus 
dem normalen Seelenleben geschaffen. (Literarisches Echo) 

Glänzend ist die Selbstbeobachtung und Selbstanalyse durchgeführt; sie 
allein schon verdient, das Buch dem psychologisch interessierten Leser 
zu empfehlen. (Der Schulwart) 

Die überaus reiche, aufs sorgfältigste überdachte und gegliederte Fülle 
des Stoffes ist durchwegs durch eine eingehende Selbstbeobachtung und 
Selbstzergliederung gewonnen. (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft.) 

Lxm 



ALFRED WINTERSTEIN 

Der Ursprung der Tragödie. Ein psychoanalytischer 
Beitrag zur Geschichte des griechischen Theaters. (Imago- 
Bücher, Nr. VDI). Geheftet M. 8.;o, Halbleinen p.fo, Ganzleinen 
io. — , Halbleder 12./0. 

Inhalt: Einleitung. - Der Karneval von Vlza und die Einweihungsriien 
der Wilden. - Dithyrambus und Totenklage. - Bodcsgesang. - Tod und 
Wiedergeburt als slttlidies Werden. 

Im ersten Kapitel wird der Versuch unternommen, einen in der Gegen- 
wart von Dawkins im Gebiete des alten Thrakiens beobachteten Karnevals- 
brauch aus einer antiken ländlichen Dionysosfeier herzuleiten, die die 
Keimzelle des attischen Dionysosdramas gebildet haben dürfte. Anderseits 
wird das moderne Maskenspiel in die weit verbreitete Gattung der Früh- 
lingsfeste des „Vegetationsdämons" eingereiht und an reichem Materiale 
deren Verwandtschaft mit den Knabenweihen der Wilden nachgewiesen. 
Die Untersuchung gelangt zu dem Ergebnisse, daß in den Vegetations- 
bräuchen und Sündenboekzeremonien die nämlichen psychischen unbe- 
wußten Mechanismen wirksam sind wie bei den Mannbarkeitszeremonien 
der Primitiven. Dann werden als wichtigste Quellen der antiken Tragödie 
der Dithyrambus und die Totenklage aufgezeigt. Eine Betrachtung des 
Dithyrambus erbringt den Wahrscheinliehkeitsbeweis für die Behaup- 
tung, daß die Tragödie in genetischem Zusammenhang mit den 
Pubertätsweihen steht; auch der Anteil des Toten- und Heroenkultes an 
der Entstehung der Tragödie wird gewürdigt und sein Niederschlag im 
ausgebildeten Drama des näheren festgestellt. Anschließend wird die 
Bedeutung des Wortes Tragödie — Bocksgesang erläutert: Es ist wahr- 
scheinlich der rituelle Gesang, den die nach ihrer Kulturfunktion be- 
nannten „Böcke" über den getöteten Gott anstimmten. Den dramatischen 
Vorgang in dieser ländlichen Frühlingsfeier, aus der die attische Tragödie 
hervorgegangen ist, müssen wir uns so ähnlich wie den thrakischen Kar- 
nevalsbrauch vorstellen. Dieser zeigt wieder Übereinstimmung mit dem 
liturgischen Drama von Tod und Wiedergeburt des Jahresdämons Dionysos. 
Auch der Einfluß des Kultes der eleusinischen Muttergöttin Demeter und 
der orphischen Lehre auf das werdende Drama wird dargetan. Die his- 
torische Entwicklung der attischen Tragödie und die Entstehung des 
mittelalterlichen Dramas aus der kirchlichen Liturgie bilden den Gegen- 
stand der späteren durch Betrachtungen über den tragischen Helden, den 
Chor, den Schauspieler und den Zuschauer ergänzten Ausführungen. An 
einem Beispiel aus einem völlig entlegenen Kulturkreise — an einem 

Tanzsehauspiel der Indianer in Guatemala in vorkolumbischer Zeit 

wird schließlich gezeigt, daß auch hier der ewige Konflikt zwischen Vater 
und Sohn das tiefste Motiv für die Schöpfung des Dramas darstellt. Im 

LXIV 



letzten Kapitel werden die Vorstellungen sittlicher Entwicklung, die 
fortan das Drama beherrschen, auf die uralte kultische Bilderreihe von 
Tod und Wiedergeburt aus dem Dionysosspiel zurückgeführt. 



HANS ZULLIGER 

Zur Psychologie der Trauer- und Best'attungs- 
gebfäuche (Sonderabdruds aus „Imago", Bd. X). Geheftet 
M. 2. — , Ganzleinen 3.J0. 

Inhalt: I. Eine Schulkameradin ist gestorben. - II. Über Spelse-verbote 
und Fastengebräuche. - in. Begräbnisgebräuche. 



LXV 



INTERNATIONALE 
PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK 

Nr.I. 

Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Mit Beiträgen 
von FREUD, FERENCZI, ABRAHAM, SIMMEL, 

JONES. Geheftet M. 2.—. 

Inhalt: I. Einleitung von Prof. Dr. Slgm. Freud. - ü. Diskussion, ge- 
halten auf dem V. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Budapest 
28. u. 29. Sept. 1018. Dr. S. Ferenczl (s. Z. Honved-Reglmentsarzt, Chef- 
arzt der Nervenabt. des Maria Valerle-Barackenspitals in Budapest): Die 
Psychoanalyse der Kriegsneurosen; Dr. Karl Abraham (s. Z. leitender 
Arzt der psychlatr. Station des XX. Armeekorps in Alienstein): Erstes 
Korreferat; Dr. Ernst Simmel (s. Z. kgl. preuß. Oberarzt u. Vorsteher 
des Festungslazarettes 19 für Kriegsneuroüker In Posen): Zweites Korreferat. 
- ffl. Vortrag von Dr. Ernest Jones (London) In der Royal Society of 
Medlcine: Die Kriegsneurosen und die Freudsche Theorie (übersetzt von 
Anna Freud). 

Sämtliche Artikel sind reiz- und belangvolle Beiträge zur Kenntnis der 
Beziehungen zwischen Kriegsneurosen und Psychoanalyse. 

(Marcuse in der Zeüschr.f. Sexualwissenschaft) 

Die Psychoanalyse erscheint in der Tat berufen, die Lücke, die in der 
kausalen Therapie der Psychoneurosen von jeher klaffte, auszufüllen, wie 
denn auch das Verschwinden der meisten neurotischen Erkrankungen 
nach Kriegsende sehr im Sinne Freuds, für das Verschwinden des allge- 
meinen Bedürfnisses, „in die Krankheit zu fliehen" spricht. 

(Grote im Zentralbl. f. innere Medizin) 

Die Publikationen zeigen die gewaltige Bedeutung der Psychoanalyse für 
die Therapie der Kriegsneurosen und verdienen zahlreiche Leser. 

(Moderne Medizin) 

LXV1 



Über die übrigen Bände der I. PsA. Bibliothek 
(II, Ferenczi, Hysterie und Pathoneurosen. - IV. Rank, 
Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforsdiung. - VI. Rohe im, 
Spiegelzauber. - VII. Hitschmann, Gottfried Keller. - 
VHI. Pfister, Zum Kampf um die Psychoanalyse. - IX. Kolnai, 
Psychoanalyse und Soziologie. - X. Abraham, Klinische 
Beiträge zur Psychoanalyse. - XI. Jones, Therapie der Neu- 
rosen. - XII. Varendonck, Über das vorbewußte phanta- 
sierende Denken. - XIII. Ferenczi, Populäre Vorträge über 
Psychoanalyse. - XIV. Rank, Das Trauma der Geburt. - 
XV. Ferenczi, Versuch einer Genitaltheorie. - XVI. Abra- 
ham, Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung. - 
XVII. Schilder, Entwurf zu einer Piydiiatrie auf psychoana- 
lytischer Grundlage. - XVIII. Reik, Geständniszwang und 
Straf bedürfnis. - XIX. Aichhorn, Verwahrloste Jugend. - 
XX. Levine, Das Unbewußte.) 

Näheres s. unter den betreffenden Autoren (alphabetisch 
geordnet). 



NEUE ARBEITEN ZUR 
ÄRZTLICHEN PSYCHOANALYSE 

Herausgegeben Ton Prof. SIGM. FREUD 

(I. Ferenczi u. Rank, Entwicklungsziele der Psychoanalyse. 
-II.Abraham, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido. 
- 111. Rank, Eine Neurosenanalyse in Träumen. - IV. Reich, 
Der triebhafte Charakter. - V. Deutsch, Psychoanalyse der 
weiblichen Sexualfunktionen.) Näheres über die einzelnen Werke 
s. unter den betreffenden Autoren (alphabetisch geordnet). 

LXVH 



BEIHEFTE DER INTERNATIONALEN 
ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYSE 

Herausgegeben von Prof. SIGM. FKEUD 

Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse 
in den Jahren I914-I919. Auf holzh. Papier, geh. M. 5?.—, auf 
holzfreiem Papier, Halbleinen 18. — , Halbleder 22. — . 

Inhalt: Normalpsychologische Grenzfragen (Dr. I. Hermann). — Das 
Unbewußte (Dr. Th. Reik). — Traumdeutung (Dr. O. Rank). — Trieblehre 
(Dr. E. HitBchmann). — Sexuelle Perverelonen (Dr. F. Boehm). — All- 
gemeine Neurosenlehre (Dr. S. Ferenczi). — Psychoanalytische Therapie 
(Dr. van Ophuijsen). — Spezielle Pathologie und Therapie der Neurosen 
und Psychosen (Dr. K. Abraham und Dr.J. Härnik). — Ethnologie und 
Völkerpsychologie (Dr. G. R 6 h e i m). - Soziologie (A. K o I n a i). - Mythologie 
und Märchenkunde (Dr. Th. Reik). — ReBgionswissenschaft (Dr. Th. Reik). 
Anhang: Mystik und Okkultismus. — Künstlerpsychologie und Ästhetik 
(Dr. H. Sachs). — Kinderpsychologie und Pädagogik (Dr. H. Hug-Hell- 
muth). — Literatur in englischer Sprache (Dr. Stanford Read). — Fran- 
zösische Literatur (A. Stärcke). — Italienische Literatur (Dr. Edoardo 
Weiss). — Russische Literatur (Dr. S. Spielrein). — Literatur in 
spanischer Sprache (Dr. K. Abraham). — Ungarische Literatur (Dr. G&a 
Szilägyi). — Bibliographischer Nachtrag. 

Näheres über die übrigen Beihefte 

(I. Jelgersma, Unbewußtes Geistesleben. - IV. Stärcke, 
Psychoanalyse und Psydiiatrie. - V. Ho II 6 s u. Ferenczi, 
Zur Psydioanalyse der paralytisdien Geistesstörung) 

«. unter den betreffenden Autoren (alphabetisch geordnet). 



IMAGO-BÜCHER 

(I. Rank, Der Künstler. - II. Ossipow, Tolstois Kindheits- 
erinnerungen. - Dl. Reik, Der eigene und der fremde Gott. 
- IV. Neufeld, Dostojewski. - V. Sachs, Gemeinsame Tag- 
träume. - VI. Grab er, Ambivalenz des Kindes. - VII. Her- 
mann, Psydioanalyse und Logik. - VIII. Winterstein, Der 
Ursprung der Tragödie.) Näheres über die einzelnen Bände s. 
unter den betreffenden Autoren (alphabetisch geordnet). 



lxvhi 



ZEITSCHRIFTEN 



Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. 
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen 
Vereinigung. Herausgegehen von Prof. Dr. Sigm. Freud. 
Unter Mitwirkung von Dr. Karl Abraham (Berlin), Dr. Girin- 
drashekhar Bosc (Kalkutta), Dr. A. A. Brill (New York), 
Dr. Jan van Emden (Hang), Dr. Paul Federn (Wien), 
Dr. Ernest Jones (London), Dr. Emil Oberholzer (Zürich) 
und Dr. M. Wulff (Moskau) redigiert von Dr. M. Eitingon 
(Berlin), Dr. S. Ferenczi (Budapest) und Dr. Sandor 
Rad 6 (Berlin). 

Ständige Rubriken: Kasuistische Beiträge. Diskussionen. Referate (Aus 
den Grenzgebieten. Psychiatrisch-neurologische Literatur. Psychoanalytische 
Literatur). Psychoanalytische Bewegung. Korrespondenzblatt der Inter- 
nationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Verlagsbericht. 

192/ erscheint Band XI (Vier Hefte Großoktav im Gesamtumfang 
über foo Seilen.) Abonnement pro 1926 [Band XII] M. 24. — . 

Bd. XI (lp2f) einhält u. a. folgende Beiträge: 

Abraham: Ein Beispiel koinzidieronder Phantasien bei Mutter und Kind 
— Alexander: Metapsychologische Darstellung des Heilungsvorganges — 
Benedek: Ein Fall von Erythrophobie — Bychowski: Psychoanalytisches 
aus der psychiatrischen Abteilung — Chadwick: Die Wurzel der Wiß- 
begierde — Deutsch Helene: Zur Psychologie des Sportes — Fenichel: 
Kastrationskomplex und Introjektion — Ferenczi: Charcot — Freud: 
Josef Breuer t — Freud: Einige psychischen Folgen des anatomischen 
Geschlechtsunterschiedes. — Jones: Theorie und Praxis in der Psychoana- 
lyse — Kempner: Zur Oralerotik — Klein: Beitrag zur Genese des Tics — 

LXIX 



r° 



Happel: Ein Fall von Päderastie — Koväcs: Ein Fall von „tic convulsiv" 
— Landauer: Äquivalente der Trauer — Nunberg: Über den Genesungs- 
wunsch — Radö: Die Herrschaft des Nirvanaprinzips — Reich: Eine 
hysterische Psychose in statu nascendi — Sachs: Metapsychologische 
Gesichtspunkte zur Wechselbeziehung zwischen Theorie und Technik in der 
PsA. — Siminel; Eine Deckerinnerung in statu nascendi. — Wanke: 
Psychoanalytische Anstaltsbehandlung. 

Die zehn vorigen Bände enthielten u. a. folgende Beitraget 

I (rgi}, 6 Hefte): Beaurain: Über das Symbol und die psychischen 
Bedingungen für seine Entstehung beim Kinde. — Deutsch: Symptom- 
handlungen auf der Bühne. — Eder: Das Stottern eine Psychoneurose. — 
Federn: Beiträge zur Analyse des Sadismus und Masochismus. — 
Ferenczi: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. — Friedjung: 
Über verschiedene Quellen kindlicher Schamhaftigkeit. — Freud: Die 
Disposition zur Zwangsneurose. — Hitschmann: Paranoia, Homosexuali- 
tät und Analerotik. — Hug-Hellmuth: Kindervergehen und Unarten. — 
Jekels: Einige Bemerkungen zur Trieblehre. — Jones: Haß und Anal- 
erotik in der Zwangsneurose. — Lauer: Das Wesen des Traumes in der 
Beurteilung der talmudischen und rabbinischen Literatur. — Marci- 
nowski: Die moralischen Wertschätzungsurteile als Hindernis in der 
psychischen Behandlung. — Putnam: Bemerkungen über einen Krank- 
heitsfall mit Griseldaphantasie. — Rank: Eine noch nicht beschriebene 
Form des Ödipustraumes. — Sachs: Ein Traum Bismarcks. — Sadger: 
Freudsche Mechanismen bei Hebbel. — Seif: Zur Psychopathologie der 
Angst. — Stegmann: Darstellung epileptischer Anfälle im Traum. — 
Tausk: Entwertung des Verdrängungsmotives durch Recompense — usw 

JI(z9i4, 6 Hefte): Bernfeld: Psychoanalyse und Psychologie. — Blüher: 
Zur Theorie der Inversion. — Eitingon: Über das Unbewußte bei Jung 
und seine Wendung ins Ethische. — Federn: Lust-Unlustprinzip und 
Realitätsprinzip. — Ferenczi: Zur Nosologie der männlichen Homo- 
sexualität. — Freud: Über fausse reconaissance während der psycho- 
analytischen Arbeit. — Häberlein: Psychoanalyse und Erziehung. — 
Hattingberg: Analerotik, Angstlust und Eigensinn. — - Hitschmann: 
Über Nerven- und Geisteskrankheiten bei katholischen Geistlichen und 
Nonnen. — Hollös: Psychoanalytische Beleuchtung eines Falles von 
Dementia praecox. — Jones: Die Stellungnahme des Psychoanalytikers 
zu den aktuellen Konflikten. — Karpinska: Über die psychologischen 
Grundlagen des Freudismus. — Pfister: Professor Dürr und seine 
Stellung zur Psychoanalyse. — Rank: Die „Geburts-Rettungsphantasie" 
in Traum und Dichtung. — Reik: Symbolisierungen des Frauenleibes. — 
Sadger: Ein Beitrag zum Verständnis des Tic. — Spielrein: Zwei 
Mensesträume. — Stärcke: Rechts und Links in der Wahnidee. — Weiß- 
feld: Über die Umwandlungen des Affektlebens — usw. 

LXX 



III (191s, 6 Hefte): Bernfeldi Zur Psychologie der Lektüre. — Blüher: 
Über die Psychopathologie des Alltagslehens. — Dukes: Ein Fall von 
Kryptomnesie. — Ferenczi: Psychogene Anomalien der Stimmlage. — 
Friedjung! Schamhaftigkeit als Maske der Homosexualität. — Frei- 
mark: Die erotische Bedeutung der spiritistischen Personifikationen. — 
Freud: Die Verdrängung. — Hitschmann: Franz Schuberts Schmerz 
und Liebe. — Hug-Hellmuth: Ein Fall von weiblichem Fuß-, richtiger 
Stiefelfetischismus. — Jekels: Eine tendenziöse Geruchshalluzination. — 
Nachmansohn: Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre 
Piatos. — Pfister: Ist die Brandstiftung ein archaischer Suhlimierungs- 
versuch? — Reik: Über Vaterschaft und Narzißmus. — Sadger: Zum 
Verständnis infantiler Angstzustände. — Tausk: Zur Psychologie des 
alkoholischen Beschäftigungsdelirs — usw. 

,, IF (1916—1918, 6 Hefte): Abraham: Das Geldausgeben im Angstzustand. 

— Ferenczi: Mischgebilde von erotischen und Charakterzügen. — Freud: 
Metapsychologische Ergänzungen zur Traumlehre. — Jones: Professor 
Janet über Psychoanalyse. — Meyer: Jungs Psychologie der unbewußten 
Prozesse. — Ophuij sen: Beiträge zum Männlichkeitskomplex der Frau. — 
Putnam: Allgemeine Gesichtspunkte zur psychoanalytischen Bewegung. 

— Reik: Zur psychoanalytischen Affektlehre. — Spielrein: Die Äuße- 
rungen des Ödipuskomplexes im Kindesalter. — Stärcke: Aus dem 
Alltagsleben. — Tausk: Zur Psychologie des Deserteurs — usw. 

y {*9 J 9> 4-Hefte): Abraham: Über eine besondere Form des neurotischen 
Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik. — Van der Chijs: 
Über Halluzinationen und Psychoanalyse. — Deutsch: Ein kasuistischer 
Beitrag zur Kenntnis des Mechanismus der Regression bei Schizophrenie. 

— Eisler: Ein Fall von krankhafter „Sehamsucht". — Ferenczi: Tech- 
nische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse. — Freud: Ein Kind wird 
geschlagen. — Hollös: Die Phasen des Selbstbewußtseinsaktes. — Jones: 
Die Theorie der Symbolik. — Pfister: Über die verschiedenartige Psycho- 
genität der Kriegsneurosen. — Raalte: Äußerungen der Sexualität bei 
Kindern. — Rad 6: Eine besondere Äußerungsform der Kastrationsangst. 

— Stärcke: Ein einfacher Lach- und Weinkrampf. — Tausk: Über die 
Entstehung des Beeinflussungsapparates in der Schizophrenie — usw. 

VI (1920, 4 Hefte): Boehm: Beiträge zur Psychologie der Homosexualität. 

— Blumenthal: Das Entwertungsprinzip in den menschlichen Liebes- 
beziehungen. — Eisler: Eine unbewußte Schwangerschaftsphantasie bei 
einem Manne. — Flournoy: Quelques rßves, au sujet de la signification 
symbolique de l'eau. — Freud: Über die Psychogenese eines Falles von 
weiblicher Homosexualität. — Friedjung: Weckträume. — Goja: Hallu- 
zinationen eines Sterbenden. — Groddeck: Wunscherfüllungen der 
irdischen und göttlichen Strafen. — Grüninger: Psychotechnik und 
Psychoanalyse. — Hermann: Intelligenz und tiefer Gedanke. — Klein: 

;LXXI 



Der Familienroman in statu naseendi. — Markuszewicz: Beitrag zum 
autischen Denken bei Kindern. — Nunberg: Über den katatonischen 
Anfall. — Ophuijsen: Die Quelle der Empfindung des Verfolgtwerdens. 

— Röheim: Die Bedeutung des Überschreitens. — Sa dg er: Prüfungsangst 
und Prüfungsträume.— Saussure: Le complexe de Jocaste. — Schnei- 
der: Zur Freuds analytischer Untersuchungsmethode des Zahloneinfalles. 

VII (1921, 4 Hefte): Abraham: Über den weiblichen Kastrationskomplex. 

— Alexander: Metapsychologische Betrachtungen. — Binswanger: 
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie.— Boehm: Homosexualität und 
Bordell.— Eisler: Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit.— Feld- 
mann: Über Erkrankungsanlässe bei Psychosen. — Ferenezi: Psycho- 
analytische Betrachtungen über den Tic. — Foerster: Ein Traum mit 
kannibalischer Tendenz. — Goja: Nacktheit und Aberglaube. — Hatting- 
berg: Übertragung und Objektliebe.— Hug-Hellmuth: Zur Technik der 
Kinderanalyse. — Jelgersma: Psychoanalytischer Beitrag zu einer 
Theorie des Gefühls. — Nunberg: Der Verlauf des Libidokonfliktes in 
einem Fall von Schizophrenie. — P fister: Plato als Vorläufer der Psycho- 
analyse. — Stärcke: Der Kastrationskomplex. — Westerman-Hol- 
stijn: Aus der Analyse eines Patienten mit Akzessoriuskrampf. 

VIII (1922, 4 Hefte) : Abraham: Über Fehlleistungen mit überkompensie- 
render Tendenz. — Alexander: Kastrationskomplex und Charakter. — 
Boehm: Zur Psychologie der Homosexualität. — F.Deutsch: Psycho 
analyse und Organkrankheiten. — H. Deutsch: Über die pathologische 
Lüge. — Ferenezi: Die Psyche ein Hemmungsorgan. — Freud: Über 
einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homo- 
sexualität. — Hermann: Randbemerkungen zum Wiederholungszwang. — 
Holl6s: Über das Zeitgefühl. — Jokl: Zur Psychogenese des Schreib- 
krampfes.— Jones: Funktionale Symbolik.— Kunkel: Eine hypnopause 
Vorstellung. — Ossipow: Psychoanalyse und Aberglaube. — Peine: Von. 
den neurotischen Wurzeln des gesteigerten Variationsbedürfnisses, ins- 
besondere der vita sexualis. — Rank: Perversion und Neurose. — Reich: 
Über Spezifität der Onanieformen. — Saussure: Ein Fall von Selbst- 
verstümmlung. — Schilder: Über eine Psychose nach Staroperation. — 
Weiß: Ein Fall von nervösem Asthma — usw. 

IX (1923,4 Hefte): Boehm: Bemerkungen über Transvestismus. — Brun: 
Selektionstheorie und Lustprinzip. — F. Deutsch: Experimentelle Studien 
zur Psychoanalyse. — Eisler: Über hysterische Erscheinungen am Uterus- 
Federn: Geschichte einer Melancholie. — Freud: Bemerkungen zur 
Theorie und Praxis der Traumdeutung. — Happel: Onanieersatzbildungen. 
— Harnik: Schicksale des Narzißmus bei Mann und Weib. — Hermann: 
Organlibido und Begabung. — Hollös: Psychoanalytische Spuren in der 
Vor-Freudschen Psychiatrie. — Jones: Kälte, Krankheit und Geburt. — 
Kielholz: Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns. — Kolnah Die 

LXXII 



geistesgeschichtliche Bedeutung der Psychoanalyse. — Radö: Eine 
Traumanalyse. — Rank: Zum Verständnis der Libidoentwicklung im 
Heilungsvorgang. — Röheim: Heiliges Geld in Melanesien. — Sachs: 
Zur Genese der Perversionen. — Schilder: Zur Lehre vom Persönlich- 
keitsbewußtsein. — Simouson: Schleichs Psychophysik und Freuds 
Metapsychologie. — Szilägyi: Der junge Spiritist — usw. 

X {1924, 4 Hefte): Bry an-Flügel: Die engl. psa. Literatur" 1920— 1923. — 
Carp: Die Rolle der prägenitalen Libidofixierung in der Perversion. — 
Deutsch: Zur Bildung des Konversionssymptoms. — Endtz: Über Träume 
von Schizophrenen. — Ferenczi: Über forcierte Phantasien. — Freud: 
Das ökonomische Problem des Masochismus. — Frink: Die amerikanische 
psa. Literatur 1920—1922. — Garley: Über den Schock des Geborenwerdens. 
— Hollös: Die Psychoneurose eines Frühgeborenen. — Van der Hoop: 
Über die Projektion und ihre Inhalte. — H. C. Jelgersma: Eine eigen- 
artige Sitte auf der Insel Marken. — ■ Landauer: „Passive" Technik. — 
L^vy: Zur Psychologie der Morphiumwirkung. — Muller: Über die zwei 
Arten des Narzißmus. — Nunberg: Über Depersonalisationszustände im 
Lichte der Libidotheorie. — Reich: Über Genitalität vom Standpunkt der 
psa. Prognose und Therapie. — Rombouts: Über Askese und Macht. — 
Saussure: Die französische psa. Literatur 1920 — 1922. — Sauvage- 
Nolting: Verfolgungswahn beim Weibe. - Storfer: Aus einem „Wörter- 
buch der Psychoanalyse". — Wälder: Mechanismen und Beeinflussungs- 
möglichkeiten der Psychosen. — Weiss: Zum psychologischen Verständnis 
des arc de cercle. — Westerman-Holstijn: Prof. G. Jelgersma und die 
Leidener psychiatrische Schule — usw. 

Preis der Bände I— XI pro Bd. in Heften M. 20. — , in Halbleinen 2).—, 
Halbleder 26. — . 

Einzelhefte (soweit vorrätig) aus den Bänden I — IV pro Heft M. j.fo, 
aus den Bänden V — VI M. /, — , aus den Bänden VII — XI M. f.fo. 

Ferenczi-Festschrift (—IX\i) geh, M. 7. — , Halbleinen 9.—, Halb- 
leder 11. — . Jelgersma-Festschrift (=X/j) M. J.SO, 



l 



:-. - 



Vom vergriffenen „Zentralblatt für Psychoanalyse" (Bd. I-1V, 
1910-1914) sind einzelne Bände, bzw. Hefte durch den „Internatio- 
nalen Psychoanalytischen Verlag" antiquarisch zu beziehen. 

Zur Komplettierung von Bänden suchen wir zu kaufen: 

vom „Zentralblatt für Psychoanalyse", Bd. I (1910/11) die Hefte 
5/6, 9 u. lO'll, - von Bd. II (1911/12) alle Hefte (außer 12), - von 
Bd. III (1912/13) Heft 12; 

von der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse", 
Bd. I (1913), die Hefte 2, 3 u. 4; 

von der „Imago", Bd. I (1912), alle Hefte - von Bd. II (1913), Heft 2 
- von Bd. VI (1920), Heft 1 



LXX1II 



Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die 
Geisteswissenschaften. Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. 
Freud. Redigiert von Dr. Otto Rank, Dr. Hanns Sachs 
und A. J. Storfer. 

Bd. I (I 9 i2, S Hefte), II (191J, 6 Hefte), III {I914, 6 Hefte), 
IV (ipif—16, 6 Hefte), V (i 9 iy—i 9 , 6 Hefte), VI {1920, 4 Hefte), 
VII (1921, 4 Hefte), VIII (1922, 4 Hefte), IX (1923, 4 Hefte), 
X {1924, 4 Hefte), XI 192s, (4 Hefte). — Abonnement pro 1926 
(Bd. XII, 4 Hefte im Gesamtumfang von etwa ;oo Seiten) M. 20. — . 

Die neue Wissenschaft der Psychoanalyse hat sich aus einer psyehopatho- 
logischen SpezialWissenschaft immer mehr in eine Wissenschaft weiter 
entwickelt, die den Anspruch macht, in die unbewußten Grundlagen des 
Geisteslebens einzudringen undso eine Propädeutik für alle Geistes- 
wissenschaften von umfassendster Bedeutung zu werden. Nunmehr 
haben diese Bestrebungen sich ein eigenes Organ geschaffen: Imago .. . 
Die bereits gemachten Resultate lassen erwarten, daß von hier aus in 
der Tat neue Einblicke in die menschliche Psyche sich erreichen lassen, 
die keine Geisteswissenschaft, am wenigsten die Theologie und die 
kirchliehe Praxis übersehen darf. {Evangelische Freiheit) 

So möchte ich denn jedem Kulturpsychologen dringend raten, die Welt 
einmal gründlich von der neuen Seite her, von der sie Freud uns zeigt, 
zu betrachten. Die beste Einführung in sein und seiner Schüler Werk 
bietet die Zeitschrift Imago. {August Hornejfer in der Tat) 

Volle Anerkennung verdient die Druekausstattung der Zeitschrift. 

(Zeitschrift für Bücherfreunde) 



Die bisher erschienenen Bände der „Imago" brachten u. a. folgende 
Beiträge aus dem Gebiete der 

Philosophie und der Psychologie: 

Alexander: Der biologische Sinn Deutch, H.: Zur Psychologie des 

psychologischer Vorgänge (Bud- Mißtrauens, 

dhas Versenkungslehre). Dukes: Psychoanalytische Ge- 

Andreas-Salome 1 : Narzißmus als Sichtspunkte in der juristischen 

Doppelrichtung. Auffassung der „Schuld". 

Berger: Zur Theorie der mensch- Eisler: Zur Analyse der Land- 
lichen Feindseligkeit. schaftsempflndung. 

Bernfeld: Bemerkungen über Fenichel: Psychoanalyse und 

„Sublimierung". Metaphysik. 

LXXIV 



Ferenczi: PhilosophieundPsycho- 
analyse. 

— Aus der „Psychologie" von Her- 
mann Lotze. 

— Zur Psychogenese der Mechanik. 
Freud: Traum und Telepathie. 

— Die okkulte Bedeutung des Trau- 
mes. 

— Die Verneinung. 

Furrer: Die Bedeutung des „B" 
im Rorschaehschen Versuch. 

Goinperz: Psychologische Beob- 
achtungen an griechischen ^Philo- 
sophen. 

Groddeck: Der Symholisierungs- 
zwang. 

Harnik: Die triebhaft-affektiven 
Momente im Zeitgefühl. 

H ermann: Wie die Evidenz wissen- 
schaftlicher Thesen entsteht. 

Hitschmann: Schopenhauer. 

— Telepathie und Psychoanalyse. 
Hug-Hellmuth:ÜberFarbenhören 

— Einige Beziehungen zwischen 
Erotik und Mathematik. 

— Vom frühen Liehen und Hassen. 
Kolnai: Über das Mystische. 

— Die geistesgeschichtliche Bedeu- 
tung der Psychoanalyse. 

— Max Schelers Kritik und Würdi- 
gung derFreudschen Libidolehre. 

Marcinowsky: Zum Kapitel 
Liebeswahl und Charakterbil- 
dung. 



Müller -Braunschweig: Zur 
Psychogenese der Moral, insbe- 
sondere des moralischen Aktes. 

— Über das Verhältnis der Psycho- 
analyse zur Philosophie. 

Pfister: Die primären Gefühle als 
Bedingungen der höchsten Gei- 
stesfunktionen. 

Putnam: Die Bedeutung philoso- 
phischer Anschauungen und Aus- 
bildung für die weitere Entwick- 
lung der psychoanalyt. Bewegung. 

Rad 6: Die Wege der Naturfor- 
schung im Lichte der Psycho- 
analyse. 

Rank: Intuitive Psychoanalyse. 

Reik: Über den zynischen Witz. 

Robitsek: Symbolisches Denken 
in der chemischen Forschung. 

Roeder: Das Ding an sich. 

Sachs: Über Naturgefühl. 

Sperber: Die seelischen Ursachen 
des Altern, der Jugendlichkeit 
und der Schönheit. 

Spielrein: Die Zeit im unter- 
schwelligen Bewußtsein. 

Weiss: Die psychologischen Er- 
gebnisse der Psychoanalyse. 

Winterstein: Zur Psychoanalyse 
des Reisens. 

— Psychoanalytische Anmerkungen 
zur Geschichte der Philosophie. 

Wulff: Die Koketterie in psycho- 
analytischer Beleuchtung. 



X 



ferner u. a. folgende Beiträge aus dem Gebiete der 

Pädagogik und Jugendpsychologie: 



Aichhorn: Über die Erziehung in 

Besserungsanstalten. 
Bernfeld: Zur Psychoanalyse der 

Jugendbewegung. 

— Über eine typische Form der 
männlichen Pubertät. 

Freud, Anna: Schlagephantasie 
und Tagtraum. 

— Ein hysterisches Symptom bei 
einem 2 '/Jährigen Kinde. 

Furrer: Tagphantasien eines sechs- 
einhalbjährigen Mädchens. 

Harnik: Anatole France über die 
Seele des Kindes. 



Hug-Hellmuth: Über erste Kind- 
heitserinnerungen. 

— Das Kind und seine Vorstellung 
vom Tode. 

— Vom frühen Lieben und Hassen. 

— Vom mittleren Kinde. 

— Kinderträume. 

J o n e s : Einige Probleme des jugend- 
lichen Alters. 

Klein: Der Familienroman in statu 
nascendi. 

— Zur Frühanalyse. 

— Die Rolle der Schule in der libi- 
dinösen Entwioklung des Kindes. 



LXXV 



P f i s t e r: Anwendungen der Psycho- 
analyse in der Pädagogik und in 
der Seelsorge. 

Pfeifer: Äußerungen infantil-ero- 



tischer Triebe im Spiel. 
Spielrein-Scheftel: Die Ent- 
stehung der kindlichen Worte 
Papa und Mama. 



ferner u. a, folgende Beiträge aus dem Gebiete der 

Völkerpsychologie, Religionswissenschaft, 
Ethnologie: 



Abraham: Der Versöhnungstag. 

Andreas-Salome': Vom frühen 
Gottesdienst. 

Arndt: Üher Tabu und Mystik. 

Bälint: Die mexikanische Kriegs- 
hieroglyphe atl-tlachinolli. 

Berny: Zur Hypothese des sexuel- 
len Ursprungs der Sprache. 

Eisler: Der Fisch als Sexual- 
symbol. 

Felszeghy: Panik u. Pankomplex. 

Giese: Sexualvorhilder bei ein- 
fachen Verrichtungen. 

Goja: Das Zersingen der Volks- 
lieder. 

Heise: Der Kuckuck und die Meise. 

Jones: Bedeutung des Salzes in 
Sitte und Brauch. 

— Über den Heiligen Geist. 

— Psychoanalyse u. Anthropologie. 

Kinkel: Zur Frage der psycholo- 
gischen Grundlagen und des Ur- 
sprungs der Religion. 

Kraus: Die Frauensprache bei pri- 
mitiven Völkern. 
Levi: Die Kastration in der Bibel. 

— Sexualsymbolik in der biblischen 
Paradiesgeschichte. 

— Istdas Kainszeichen dieBeschnei- 
dung? 

Lorenz: Der Mythus der Erde. 

— Das Titanenmotiv in der allg. 
Mythologie. 



M al i n o w s ki : Mutterrechtliche Fa- 
milie und Ödipuskomplex. 

Pfister: Entwicklung des Apostels 
Paulus. 

Protze: Der Baum als totemisti- 
sches Symbol. 

Rank, Beata: Zur Rolle der Frau 
in der Entwicklung der mensch- 
lichen Gesellschaft. 

Rank, Otto: Die Nacktheit in Sage 
und Dichtung. 

Reik: Das Kainszeichen. 

— Die Couvade und die Psychoge- 
nese der Vergeltungsfurcht. 

— Ödipus und die Sphinx. 

R 6 h e i m : Zur Psychologie der Bun- 
desriten. 

— Nach dem Tode des Urvaters. 

— Die Sedna-Sage. 
Schröder: Der sexuelle Anteil an 

der Theologie der Mormonen. 
Silberer: Über Märchensymbolik. 

— Das Zerstückelungsmotiv im My- 
thos.' 

Sperber: Über den Einfluß sexu- 
eller Momente auf Entstehung 
und Entwicklung der Sprache. 

Spiez: Die Dreizahl. Genesis der 
magischen und der transzenden- 
ten Kulte. 

Wölk: DasTri-theon der alten Inder. 

— Der Tanz des Ciwa. 

— Zur Psychologie des Rauchopfers. 



ferner u. a. folgende Beiträge aus dem Gebiete der 
Literatlirforschung, Kunstwissenschaft, Ästhetik: 

Bar das: Problematik der Musik. Freud: Eine Kindheitserinnerung 

lirill: Psychopathologie der neuen aus „Dichtung und Wahrheit". 

„. „ z ? - „ — Das Unheimliche. 

Ohijs:Infantil IS musinder Malerei. - Der Moses des Michelangelo. 



LXXVI 



Harnik: Anatole Franee über die 
Seele des Kindes. 

Hermann: Psychogenese der zeich- 
nerischen Begabung. 

— Die Regression zum zeichneri- 
schen Ausdruck bei Goethe. 

— Benvenuto Cellinis dichterische 
Periode. 

Hermann-Cziner: Die Grund- 
lagen der zeichnerischen -Bega- 
bung bei Marie Bashkirtseff. 

Hitschmann: Ein Dichter und 
sein Vater. 

— Zum Werden des Romandichters. 

— Schopenhauer. 

— Vom Tagträumen der Dichter. 
Jekels: Shakespeares Macbeth. 
Jones: Andrea del Sartos Kunst 

und der Einfluß seiner Gattin. 
Kaplan: Zur Psychologie des Tra- 
gischen. 

— Der tragische Held und der Ver- 
brecher. 

Landquist: Das künstlerische 

Symbol. 
Lorenz: Der Bergmann von Falun. 

— Ödipus auf Kolonos. 

— Das Titanenmotiv in der Mytho- 
logie. 

— Die Kindheitserinnerungen des 
Baron de la Motte-Fouque'. 

Sonderhefte der „Imago": 

Soziologisches Heft (== Villi 2) M. $,—. 
Religionspsychologisches Heft {= IXl i) M. /. — . 
Pädagogisch-jugendpsychologisches Heft (= IXl '2) M. /. — . 
Philosophisches Heft {=IXl)) M.j. — . 
Kunstpsychologisch-ästhetisches Heft (= IX/4) M. J. — . 
Ethnologisches Heft (= Xh, f) M. 10. — . 
Bildende Kunst (== X/4) M. j. — . 
Psychologisches Heft (= Xl/l, 2) M. 10. 

Von den früheren Jahrgängen der „Imago 11 sind noch komplett erhältlich 
die BdeUI, IV, VIII— XI (pro Bd. in Heften M. 18.—, Halbleinen 21.—, 
Halbleder 24. — ). — ■ Einzelhefte (soweit vorrätig) aus den Bden II — V 
M. 3.50, aus den Bden VI — VII 4.50, VIII — XI ;.—. — Abonnement pro 
1926 (XII, 4 Hefte) M. 20.— (Einzelhefte des Bdes 102; M. S.So). 



Mac Curdy: Allmacht der Gedan- 
ken und Mutterleibsphantasie in 
den Hephaistos- Mythen und 
einem Roman von Bulwer. 

Pf ist er: Entstehung der künst- 
lerischen Inspiration. 

Rank: Homer. 

— Dichterische Phantasiebildung. 

— Das „Schauspiel" in „Hamlet". 
Reik: Aus dem Leben Guy de 

Maupassants. 
Sachs: Carl Spitteler. 

— Motivgestaltung bei Schnitzler. 

— Der „Sturm". 

— Schillers Geisterseher. 

— Homers jüngster Enkel. 
Sadger: Über das Unbewußte und 

die Träume bei Hebbel. 

— Von der Pathographie zur Psy- 
chographie. 

Silberer: Der Homunkulus. 

A.Sperber: Von Dantes unbewuß- 
tem Seelenleben. 

Sterba: Zur Analyse der Gotik. 

Teller: Psychischer Konflikt und 
körperliche Leiden bei Schiller. 

— Musikgenuß und Phantasie. 
Weiss: Von Reim und Refrain. 
Westerman-Holstijn: Die psy- 

cholog. Entwicklung van Goghs. 
Winterstein: Der Sammler. 



LXXVI1 



Jahrbuch für psychoanalytische und 
psychopathologische Forschungen 

Bd. I — VI (ipo<? — I9T4) 9 mehr nicht erschienen. (Bd. I — V 

herausg. von Prof. Bleuler und Prof. Freud; Bd. FI, 

heraus geg. von Prof Freud, führt den Titel; Jahrbuch 

der Psychoanalyse.). 

Komplett geheftet M. 94. — , Ganzleinen iop* — . 

Die 6 Bände enthalten u. a» folgende Arbeiten: 

Aptekman: Experiment. Beiträge Z.Psychologie dos psycho-galvan. 

Phänomens. 
Bertschinger: Illustrierte Halluzinationen. 
Binswanger: Analyse einer hysterischen Phobie. 
Bleuler: Die Psychoanalyse Freuds. 

— Das autistische Denken. 

— Der Sexualwiderstand. 

Federn: Zwei typische Traumsensationen. 
Ferenczi: Introjektion und Übertragung. 

— Die Rolle der Homosexualität in der Pathogenese d. Paranoia. 

— Alkohol und Neurosen. 

Itten: Zur Psychologie der Dementia praecox. 
Jones: Fälle von Zwangsneurose. 

— Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr. 

Jung: Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen. 

— Wandlungen u. Symbole der Libido. 
Marcinowski: Ein schwerer Fall von Asthma. 
Maeder: Sexualität und Epilepsie. 

— Die Funktion des Traumes. 
Nelken: Phantasien eines Schizophrenen. 

Pfister: Über die Psychologie des Hasses und der Versöhnung. 

— Die psycholog. Enträtselung d. religiösen Glossolalie u. der 
automat. Kryptographie. 

Rank: Ein Traum, der sich selbst deutet. 

— Die Symbolschichtung im Wecktraum. 
Riklin: Analyse einer Zwangsneurose. 
Robitsek: Egmonts Traum. 

Sachs: Traumdeutung und Menschenkenntnis. 
Sadger: Der sado-masochistische Komplex. 

— Psychoanalyse eines Autoerotikers. 

— Haut-, Schleimhaut- u. Muskelerotik. 
Silberer: Phantasie und Mythos. 

— Symbolik des Erwachens. 

— Spermatozoenträume. 
Stärcke: Neue Traum experimente. 



Lxxvni 



Durch den „Internationalen Psychoanalytischen Verlag", 

Wien, VII., Andreasgase 3 können (außer seinen eigenen 

Verlags werken) bezogen werden: 

Abraham: Giovanni Segantini. M. 2.30. 

Bernfeld: Psychologie des Säuglings. M. 12. — , Ganzleinen 13.50. 

Diskussionen der Wiener Psychoanalytischen Vereini- 
gung: I. Über den Selbstmord, insbes. den Schülerselbstmord. 
(Beitr. von Prof. Freud, Friedjung, Sadger u. a.) M. 1.33. — 
II. Die Onanie. (Beitr. von Prof. Freud, Federn, Ferenczi, 
Hitsehmann, Rank, Sachs, Tausk u. a.) M. 4. — . 

Federn: Die vaterlose Gesellschaft. M. 0.80. 

Friedjung: Erlebte Kinderheilkunde. M. j.50. 

— Die kindliche Sexualität. M. 2.—. 
Hug-Hellmuth: Aus dem Seelenleben des Kindes. M. 3.40, 

— Neue Wege zum Verständnis der Jugend. M. 4.80, geb. y. — . 
Jones: Der Alptraum. M. 4. — . 

Kielholz: Jakob Boehme. M. 1.80. 

P fister: Die psychoanalytische Methode. M. 18.—, geb. 20.—. 
— ~ Die Liebe des Kindes u. ihre Fehlentwicklungen. M. 6. — , Halb- 
leinen 7.20. 

— Die Liebe vor der Ehe u. ihre Fehlentwicklungen. M. 6.—, Halb- 
leinen 1.20. 

Rank: Der Mythus von der Geburt des Helden. M. 2.50, Vorzugs- 
ausgabe in Halbleder 14. — . 

— Die Lohengrinsage. M. 4. — . 

Rank u. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geistes- 
wissenschaften. M. 3.60. 
Reik: Flaubert und seine Versuchung des hl. Antonius. M. 4.50. 

— Arthur Schnitzler als Psycholog. M. 4.50, Ganzleinen 6.—. 
Sachs: Elemente der Psychoanalyse. M. 1.20. 
Sadger: Nachtwandeln u. Mondsucht. Jlf. 4. — . 

— Friedrich Hebbel. M. j.— . 

— Die Lehre v. den Geschlechtsverirrungen. M. 6.60, Halbleinen 8.80. 
Schilder: Medizinische Psychologie. Geb. M. 13.20. 

Storfer: Zur Sonderstellung des Vatermordes. M. 1.40. 

— Marias jungfräuliche Mutterschaft.. M. 4. — . 
Zulliger: Unbewußtes Geistesleben. M. 1.20, geb. 2.—. 

— Psychoanalytische Erfahrungen aus der Volksschulpraxis. U. 3.20. 



LXXIX 



PH ; Tjnfnfl Vit.-- I : 1 




Psychoanalyse 




1926 


{