mana
1926
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
ALMANACH
1926
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER
VERLAG / WIEN
Almanach
für das Jahr
1926
Internationaler
Psychoanalytischer Verlag
Wien
1
Dieser erste ALMANACH des INTERNATIONALEN
PSYCHOANALYTISCHEN VERLAGES in Wien für
das Jahr 1926, herausgegeben von A. J. STORFER,
WURDE IN EINER AUFLAGE VON 9000 EXEMPLAREN GE-
DRUCKT von den Ruchdruckereien CHRISTOPH
REISSER'S SÖHNE, Wien v (Textteil S. 1-208) und
GESELLSCHAFT FÜR GRAPHISCHE INDUSTRIE,
Wien iii (Verlagsverzeichnis S.i— lxxx und Kunst-
beilagen). 180 NUMERIERTE EXEMPLARE WURDEN AUF
Dokumentenpapier in Japan art abgezogen
und in Ganzleder gebunden
Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung,
vorbehalten
Die Reproduktion des Freud -Porträts erfolgte
mit Genehmigung von Max Halberstadt, Atelier
für künstlerische photographie, hamburg
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Kalendarium 7
Sigm. Freud: Die Widerstände gegen die Psychoanalyse . 9
Sigm. Freud: „Die Ausnahmen" 21
Sigm. Freud: Die okkulte Bedeutung des Traumes ... 27
DIE PSYCHOANALYSE UND DIE DICHTER
Thomas Mann: Mein Verhältnis zur Psychoanalyse . . 52
Hermann Hesse: Künstler und Psychoanalyse .... 54
H.-R. Lenormand: Das Unbewußte im Drama . . . . 59
Frederik van Eeden über Psychoanalyse 43
Hanns Sachs: Gemeinsamer Tagtraum und Dichtung . . 44
Hanns Sachs: Carl Spitteler f 54
Alfred Polgar: Der Seelensucher 59
Georg Groddeck: Wie ich Arzt wurde und wie ich zur
Abneigung gegen das Wissen gekommen bin 63
Theodor Reik: Psychoanalytische Strafrechtstheorie . . . 73
August Stärcke: Geisteskrankheit und Gesellschaft ... 93
PSYCHOANALYSE UND ERZIEHUNG
Oskar'Pfister: Elternfehler in der Erziehung zur Sexuali-
tät und Liebe 105
Vera -Schmidt: Das psychoanalytische Kinderheim in
Moskau . 110
August Aichhorn: Die Psychoanalyse in der Fürsorge-
erziehung 113
Siegfried Bernfeld: Bürger Machiavell ist Unterrichts-
minister geworden und hält den Hofräten seines Mini-
steriums folgende Programmrede 132
Stef anZ weig: Das „Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens" 140
Aus dem „Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens" . . . 145
S.. Ferenczi: Begattung und Befruchtung 161
Ernest Jones: Kälte, Krankheit und Geburt 171
Seite
Karl Abraham: Über Charakteranalyse 177
Otto Rank: Drei Stunden einer Analyse 181
Paul Schilder: Selbstbeobachtung und Hypochondrie . . 190
August Kielholz: Zur Genese und Dynamik des Erfinder-
wahns 197
VERLAGSVERZEICHNIS I— LXXIX
KALENDARIUM FÜR DAS JAHR
1926
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Die Widerstände gegen die
Psychoanalyse
von
Sigm. Freud
Jus dem in Forbereitung befindlichen
XI. Band der „Gesammehen Schriften".
(Die Arbeit erschien zuerst französisch
in „La Revue Juive", 192J.)
Wenn sich der Säugling auf dem Arm der Pflegerin
schreiend von einem fremden Gesicht abwendet, der
Fromme den neuen Zeitabschnitt mit einem Gehet er-
öffnet, aber auch die Erstlingsfrucht des Jahres mit einem
Segensspruch begrüßt, wenn der Bauer eine Sense zu
kaufen verweigert, welche nicht die seinen Eltern ver-
traute Fabriksmarke trägt, so ist die Verschiedenheit
dieser Situationen augenfällig und der . Versuch scheint
berechtigt, jede derselben auf ein anderes Motiv zurück-
zuführen.
Doch wäre es unrecht, das ihnen Gemeinsame zu ver-
kennen. In allen Fällen handelt es sich um die nämliche
Unlust, die beim Kinde elementaren Ausdruck findet, beim
Frommen kunstvoll beschwichtigt, beim Bauern zum Motiv
einer Entscheidung gemacht wird. Die Quelle dieser Un-
lust aber ist der Anspruch, den das Neue an das Seelen-
leben stellt, der psychische Aufwand, den es fordert, die
bis zur angstvollen Erwartung gesteigerte Unsicherheit,
die es mit sich bringt. Es wäre reizvoll, die seelische
Reaktion auf das Neue an sich zum Gegenstand einer
Studie zu machen, denn unter gewissen nicht mehr pri-
mären Bedingungen wird auch das gegenteilige Verhalten
beobachtet, ein Reizhunger, der sich auf alles Neue stürzt,
und darum, weil es neu ist.
Im wissenschaftlichen Betrieb sollte für die Scheu vor
dem Neuen kein Raum sein. In ihrer ewigen Unvoll-
ständigkeit und Unzulänglichkeit ist die Wissenschaft dar-
auf angewiesen, ihr Heil von neuen Entdeckungen und
neuen Auffassungen zu erhoffen. Um nicht zu leicht ge-
täuscht zu werden, tut sie gut daran, sich mit Skepsis zu
wappnen, nichts Neues anzunehmen, das nicht eine strenge
Prüfung bestanden hat. Allein gelegentlich zeigt dieser
Skeptizismus zwei unvermutete Charaktere. Er richtet sich
scharf gegen das Neu- Ankommende, während er das bereits
Bekannte und Geglaubte respektvoll verschont, und er be-
gnügt sich damit zu verwerfen, auch ehe er untersucht
hat. Dann enthüllt er sich aber als die Fortsetzung jener
primitiven Reaktion gegen das Neue, als ein Deckmantel
für deren Erhaltung. Es ist allgemein bekannt, wie oft
es sich in der Geschichte der wissenschaftlichen Forschung
zugetragen hat, daß Neuerungen von einem intensiven und
hartnäckigen Widerstand empfangen wurden, wo dann der
weitere Verlauf zeigte, daß der Widerstand unrecht hatte
und daß die Neuheit wertvoll und bedeutsam war. In der
Regel waren es gewisse inhaltliche Momente des Neuen,
die den Widerstand provozierten, und auf der anderen
Seite mußten mehrere Momente zusammenwirken, um den
Durchbruch der primitiven Reaktion zu ermöglichen.
Einen besonders Übeln Empfang hat die Psychoana-
lyse gefunden, die der Autor vor nahezu dreißig Jahren
aus den Funden von Josef Breuer in Wien über die
Entstehung neurotischer Symptome zu entwickeln begann.
Ihr Charakter als Neuheit ist unbestreitbar, wenngleich
sie außer diesen Entdeckungen reichliches Material ver-
arbeitete, das anderswoher bekannt war, Ergebnisse der
Lehren des großen Neuropathologen Charcot und Ein-
drücke aus der Welt der hypnotischen Phänomene. Ihre
Bedeutung war ursprünglich eine rein therapeutische, sie
wollte eine neue wirksame Behandlung der neurotischen
Erkrankungen schaffen. Aber Zusammenhänge, die man
zunächst nicht ahnen konnte, ließen die Psychoanalyse
weit über ihr anfängliches Ziel hinausgreifen. Sie erhob
endlich den Anspruch, unsere Auffassung des Seelenlebens
überhaupt auf eine neue Basis gestellt zu haben, und
darum für alle Wissensgebiete wichtig zu sein, die auf
Psychologie gegründet sind. Nach einem Jahrzehnt völliger
Vernachlässigung wurde sie plötzlich Gegenstand des all-
gemeinsten Interesses und — entfesselte einen Sturm von
entrüsteter Ablehnung.
In welchen Formen der Widerstand gegen die Psycho-
analyse Ausdruck gefunden hat, sei hier, beiseite gelassen.
Es genüge die Bemerkung, daß der Kampf um diese Neue-
rung noch keineswegs zu Ende gekommen ist. Doch ist
bereits zu erkennen, welche Richtung er nehmen wird.
Es ist der Gegnerschaft nicht gelungen, die Bewegung zu
unterdrücken. Die Psychoanalyse, deren einziger Vertreter
ich vor zwanzig Jahren war, hat seither zahlreiche be-
deutende und eifrig arbeitende Anhänger gefunden, Ärzte
und Nichtärzte, die sie als Verfahren der Behandlung von
nervös Kranken ausüben, als Methode der psychologischen
Forschung pflegen und als Hilfsmittel der wissenschaft-
lichen Arbeit auf den mannigfaltigsten Gebieten des
geistigen Lebens anwenden. Unser Interesse soll sich hier
nur auf die Motivierung des Widerstandes gegen die
Psychoanalyse richten, die Zusammengesetztheit desselben
und die verschiedene Wertigkeit seiner Komponenten be-
sonders beachten.
Die klinische Betrachtung muß die Neurosen in die
Nähe der Intoxikationen oder solcher Leiden wie die
Basedowsche Krankheit rücken. Das sind Zustände, die
durch den Überschuß oder relativen Mangel an bestimmten
sehr wirksamen Stoffen entstehen, ob sie nun im Körper
11
selbst gebildet oder von außen eingeführt werden, also
eigentlich Störungen des Chemismus, Toxikosen. Gelänge
es jemandem, den oder die hypothetischen Stoffe, die für
die Neurosen in Betracht kommen, zu isolieren und auf-
zuzeigen, so hätte sein Fund keinen Einspruch von Seite
der Ärzte zu besorgen. Allein dazu führt vorläufig noch
kein Weg. Wir können zunächst nur vom Symptombild
der Neurose ausgehen, das z. B. im Falle der Hysterie
aus körperlichen und seelischen Störungen zusammen-
gesetzt ist. Nun lehrten die Experimente von Charcot
sowie die Krankenbeobachtungen von Breuer, daß auch die
körperlichen Symptome der Hysterie psychogen, d. h.
Niederschläge abgelaufener seelischer Prozesse sind. Durch
das Mittel der Versetzung in den hypnotischen Zustand
war man imstande, die somatischen Symptome der Hysterie
nach Willkür künstlich zu erzeugen.
Diese neue Erkenntnis griff die Psychoanalyse auf und
begann damit, sich die Frage vorzulegen, welches die
Natur jener psychischen Prozesse sei, die so ungewöhn-
liche Folgen hinterlassen. Aber diese Forschungsrichtung
war nicht nach dem Sinn der lebenden Ärztegeneration.
Die Mediziner waren in der alleinigen Hochschätzung
anatomischer, physikalischer und chemischer Momente er-
zogen worden . Für die Würdigung des Psychischen waren
sie nicht vorbereitet, also brachten sie diesem Gleich-
gültigkeit und Abneigung entgegen. Offenbar bezweifelten
sie, daß psychische Dinge überhaupt eine exakte wissen-
schaftliche Behandlung zulassen. In übermäßiger Beaktion
auf eine überwundene Phase, in der die Medizin von den
Anschauungen der sogenannten Naturphilosophie beherrscht
wurde, erschienen ihnen Abstraktionen, wie die, mit denen
die Psychologie arbeiten muß, als nebelhaft, phantastisch,
mystisch ; merkwürdigen Phänomenen aber, an welche die
Forschung hätte anknüpfen können, versagten sie einfach
den Glauben. Die Symptome der hysterischen Neurose
galten als Erfolg der Simulation, die Erscheinungen des
Hypnotismus als Schwindel. Seihst die Psychiater, zu deren
Beobachtung sich doch die ungewöhnlichsten und ver-
wunderlichsten seelischen Phänomene drängten, zeigten
keine Neigung, deren Details zu beachten und ihren Zu-
sammenhängen nachzuspüren. Sie begnügten sich damit,
die Buntheit der Krankheitserscheinungen zu klassifizieren
und sie, wo immer es nur anging, auf somatische, ana-
tomische oder chemische Störungsursachen zurückzuführen.
In dieser materialistischen oder besser : mechanistischen
Periode hat die Medizin großartige Fortschritte gemacht,
aber auch das vornehmste und schwierigste unter den
Problemen des Lebens in kurzsichtiger Weise verkannt.
Es ist begreiflich, daß die Mediziner bei solcher Ein-
stellung zum Psychischen keinen Gefallen an der Psycho-
analyse fanden und ihre Aufforderung, in vielen Stücken
umzulernen und manche Dinge anders zu sehen, nicht
erfüllen wollten. Aber dafür, sollte man meinen, hätte die
neue Lehre um so leichter den Beifall der Philosophen
finden müssen. Die waren ja gewohnt, abstrakte Begriffe
— böse Zungen sagten allerdings : unbestimmbare Worte —
zu oberst in ihre Welterklärungen einzusetzen und konnten
an der Ausdehnung des Bereichs der Psychologie, welche
die Psychoanalyse anbahnte, unmöglich Anstoß nehmen.
Aber da traf sich ein anderes Hindernis. Das Psychische
der Philosophen war nicht das der Psychoanalyse. Die
Philosophen heißen in .ihrer überwiegenden Mehrzahl
psychisch nur das, was ein Bewußtseinsphänomen ist. Die
Welt des Bewußten deckt sich ihnen mit dem Umfang
des Psychischen. Was sonst noch in der schwer zu er-
fassenden „Seele vorgehen mag, das schlagen sie zu den
organischen Vorbedingungen oder Parallelvorgängen des
Psychischen. Oder strenger ausgedrückt, die Seele hat
*3
keinen anderen Inhalt als die Bewußtseinsphänomene, die
Wissenschaft von der Seele, die Psychologie, also auch kein
anderes Objekt. Auch der Laie denkt nicht anders.
Was kann der Philosoph also zu einer Lehre sagen, die
wie die Psychoanalyse behauptet, das Seelische sei viel-
mehr an sich unbewußt, die Bewußtheit nur eine Quali-
tät, die zum einzelnen seelischen Akt hinzutreten kann
oder auch nicht und die eventuell an diesem nichts anderes
ändert, wenn sie ausbleibt? Er -sagt natürlich, ein unbe-
wußtes Seelisches ist ein Unding, eine contradictio in ad-
jecto, und will nicht bemerken, daß er mit diesem Urteil
nur seine eigene — vielleicht zu enge — • Definition des
Seelischen wiederholt. Dem Philosophen wird diese Sicher-
heit leicht gemacht, denn er kennt das Material nicht,
dessen Studium den Analytiker genötigt hat, an unbewußte
Seelenakte zu glauben. Er hat die Hypnose nicht beachtet,
sich nicht um die Deutung von Träumen bemüht, —
Träume hält er vielmehr ebenso wie der Arzt für sinn-
lose Produkte der während des Schlafes herabgesetzten
Geistestätigkeit — er ahnt kaum, daß es solche Dinge
gibt wie Zwangsvorstellungen und Wahnideen, und wäre
in arger Verlegenheit, wenn man ihm zumutete, sie aus
seinen psychologischen Voraussetzungen zu erklären. Auch
der Analytiker lehnt es ab zu sagen, was das Unbewußte
ist, aber er kann auf das Erscheinungsgebiet hinweisen,
dessen Beobachtung ihm die Annahme des Unbewußten
aufgedrängt hat. Der Philosoph, der keine andere Art der
Beobachtung kennt als die Selbstbeobachtung, vermag ihm
dahin nicht zu folgen. So erwachsen der Psychoanalyse
aus ihrer Mittelstellung zwischen Medizin und Philosophie
nur Nachteile. Der Mediziner hält sie für ein spekulatives
System und will nicht glauben, daß sie wie jede andere
Naturwissenschaft auf geduldiger und mühevoller Bear^
beitung von Tatsachen der Wahrnehmungswelt beruht ;
14
der Philosoph, der sie an dem Maßstab seiner eigenen
kunstvoll aufgebauten Systembildungen mißt, findet, daß
sie von unmöglichen Voraussetzungen ausgeht und wirft
ihr vor, daß ihre — erst in Entwicklung befindlichen —
obersten Begriffe der Klarheit und Präzision entbehren.
Die erörterten "Verhältnisse reichen hin, um einen un-
willigen und zögernden Empfang der Analyse in wissen-
schaftlichen Kreisen zu erklären. Sie lassen aber nicht ver-
stehen, wie es zu jenen Ausbrüchen von Entrüstung, von
Spott und Hohn,, zur Hinwegsetzung über alle Vorschriften
der Logik und des guten Geschmacks in der Polemik
kommen konnte. Eine solche Reaktion läßt erraten, daß
andere als bloß intellektuelle Widerstände rege geworden
sind, daß starke affektive Mächte wachgerufen wurden, und
wirklich ist im Inhalt der psychoanalytischen Lehre genug
zu finden, dem man eine solche Wirkung auf die Leiden-
schaften der Menschen, nicht der Wissenschaftler allein,
zuschreiben darf.
Da ist vor allem die große Bedeutung, welche die
Psychoanalyseden sogenannten Sexualtrieben im mensch-
lichen Seelenleben einräumt. Nach der psychoanalytischen
Theorie sind die Symptome der Neurosen entstellte Ersatz-
befriedigungen von sexuellen Triebkräften, denen eine
direkte Befriedigung durch innere Widerstände versagt
worden ist. Später, als die Analyse über ihr ursprüng-
liches Arbeitsgebiet hinausgriff und sich auf das normale
Seelenleben anwenden ließ, versuchte sie zu zeigen, daß
dieselben Sexualkomponenten, die sich von ihren nächsten
Zielen ablenken und auf anderes hinleiten lassen, die
wichtigsten Beiträge zu den kulturellen Leistungen des
Einzelnen und der Gemeinschaft stellen. Diese Behaup-
tungen waren nicht völlig neu. Der Philosoph Schopen-
hauer hatte die unvergleichliche Bedeutung des Sexual-
lebens in Worten von unvergeßlichem Nachdruck betont,
15
auch deckte sich, was die Psychoanalyse Sexualität nannte,
keineswegs mit dem Drang nach Vereinigung der geschie-
denen Geschlechter oder nach Erzeugung von Lustempfin-
dung an den Genitalien, sondern weit eher mit dem all-
umfassenden und alles erhaltenden Eros des Symposions
Piatos.
Allein die Gegner vergaßen an diese erlauchten Vor-
gänger; sie fielen über die Psychoanalyse her, als hätte
sie ein Attentat auf die Würde des Menschengeschlechtes
verübt. Sie warfen ihr „Pansexualismus" vor, obwohl die
psychoanalytische Trieblehre immer streng dualistisch ge-
wesen war und zu keiner Zeit versäumt hatte, neben den
Sexualtrieben andere anzuerkennen, denen sie ja die Kraft
zur Unterdrückung der Sexualtriebe zuschrieb. Der Gegen-
satz hatte zuerst geheißen: Sexual- und Ich-Triebe, in
späterer Wendung der Theorie lautet er: Eros und Todes-
oder Destruktionstrieb. Die partielle Ableitung der Kunst,
Religion, sozialer Ordnung von der Mitwirkung sexueller
Triebkräfte wurde als eine Erniedrigung der höchsten
Kulturgüter hingestellt und mit Emphase verkündet, daß
der Mensch noch andere Interessen habe als immer nur
sexuelle. Wobei man im Eifer übersah, daß auch das Tier
andere Interessen hat, — es ist ja der Sexualität nur an-
fallsweise zu gewissen Zeiten und nicht wie der Mensch
permanent unterworfen, — daß diese anderen Interessen
beim Menschen niemals bestritten wurden, und daß der
Nachweis der Herkunft aus elementaren animalischen
Triebquellen an dem Wert einer kulturellen Errungen-
schaft nichts zu ändern vermag.
Soviel Unlogik und Ungerechtigkeit ruft nach einer
Erklärung. Ihr Ansatz ist nicht schwer zu finden. Die
menschliche Kultur ruht auf zwei Stützen, die eine ist
die Beherrschung der Naturkräfte, die andere die Beschrän-
kung unserer Triebe. Gefesselte Sklaven tragen den Thron
16
der Herrscherin. Unter den so dienstbar gemachten Trieb-
komponenten ragen die der Sexualtriebe — im engeren
Sinne — durch Stärke und Wildheit hervor. Wehe, wenn
sie befreit würden; der Thron würde umgeworfen, die
Herrin mit Füßen getreten werden. Die Gesellschaft weiß
dies und — will nicht, daß davon gesprochen wird.
Aber warum nicht ? Was könnte die Erörterung scha-
den? Die Psychoanalyse hat ja niemals der Entfesselung
unserer gemeinschädlichen Triebe das Wort geredet; im
Gegenteil gewarnt und zur Besserung geraten. Aber die
Gesellschaft will von einer Aufdeckung dieser Verhältnisse
nichts hören, weil sie nach mehr als einer Richtung ein
schlechtes Gewissen hat. Sie hat erstens ein hohes Ideal
von Sittlichkeit aufgestellt, !■ — ■ Sittlichkeit ist Triebein-
schränkung, — dessen Erfüllung sie von allen ihren Mit-
gliedern fordert, und kümmert sich nicht darum, wie
schwer dem Einzelnen dieser Gehorsam fallen mag. Sie
ist aber auch nicht so reich oder so gut organisiert, daß
sie den Einzelnen für sein Ausmaß an Triebverzicht ent-
sprechend entschädigen kann. Es bleibt also dem Indi-
viduum überlassen, auf welchem Wege es sich genügende
Kompensation für das ihm auferlegte Opfer verschaffen
kann, um sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Im
ganzen ist er aber genötigt, psychologisch über seinen
Stand zu leben, während ihn seine unbefriedigten Trieb-
ansprüche die Kulturanforderungen als ständigen Druck
empfinden lassen. Somit unterhält die Gesellschaft einen
Zustand von Kulturheuchelei, dem ein Gefühl von
Unsicherheit und ein Bedürfnis zur Seite gehen muß, die
unleugbare Labilität durch das Verbot der Kritik und
Diskussion zu schützen. Diese Betrachtung gilt für alle
Triebregungen, also auch für die egoistischen; inwiefern
sie auf alle möglichen Kulturen Anwendung findet, nicht
nur auf die bis jetzt entwickelten, soll hier nicht Unter-
st 1 7
sucht werden. Und nun kommt noch für die im engeren
Sinne sexuellen Triebe hinzu, daß sie bei den meisten
Menschen in unzureichender und psychologisch inkorrekter
Weise gebändigt sind, so daß sie am ehesten bereit sind
loszubrechen.
Die Psychoanalyse deckt die Schwächen dieses Systems
auf und rät zur Änderung desselben. Sie schlägt vor, mit
der Strenge der Triebverdrängung nachzulassen und dafür
der Wahrhaftigkeit mehr Raum zu geben. Gewisse Trieb-
regungen, in deren Unterdrückung die Gesellschaft zu
weit gegangen ist, sollen zu einem größeren Maß von
Befriedigung zugelassen werden, bei anderen soll die un-
zweckmäßige Methode der Unterdrückung auf dem Wege
der Verdrängung durch ein besseres und gesicherteres Ver-
fahren ersetzt werden. Infolge dieser Kritik ist die Psycho-
analyse als „kulturfeindlich" empfunden und als „soziale
Gefahr" in den Bann getan worden. Diesem Wider-
stand kann keine ewige Dauer beschieden sein; auf die
Länge kann sich keine menschliche Institution der Ein-
wirkung gerechtfertigter kritischer Einsicht entziehen, aber
bis jetzt wird die Einstellung der Menschen zur Psycho-
analyse noch immer durch diese Angst beherrscht, welche
die Leidenschaften entfesselt und die Ansprüche an die
logische Argumentation herabsetzt.
Durch ihre Trieblehre hatte die Psychoanalyse das
Individuum beleidigt, insofern es sich als Mitglied der
sozialen Gemeinschaft fühlte; ein anderes Stück ihrer
Theorie konnte jeden Einzelnen an der empfindlichsten
Stelle seiner eigenen psychischen Entwicklung verletzen.
Die Psychoanalyse machte dem Märchen von der asexu-
ellen Kindheit ein Ende, wies nach, daß sexuelle Inter-
essen und Betätigungen bei den kleinen Kindern vom
Anfang des Lebens an bestehen, zeigte, welche Umwand-
lungen sie erfahren, wie sie etwa mit dem fünften Jahr
!8
einer Hemmung unterliegen und dann von der Pubertät
an in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion treten. Sie
erkannte, daß das frühinfantile Sexualleben im sogenannten
Ödipus-Komplex gipfelt, in der Gefühlsbindung an den
gegengeschlechtlichen Elternteil mit Rivalitätseinstellung
zum gleichgeschlechtlichen, eine Strebung, die sich in
dieser Lebenszeit noch ungehemmt in direkt sexuelles Be-
gehren fortsetzt. Das ist so leicht zu bestätigen, daß es
wirklich nur einer großen Kraftanspannung gelingen
konnte, es zu übersehen. In der Tat hatte jeder Einzelne
diese Phase durchgemacht, ihren Inhalt aber dann in
energischer Anstrengung verdrängt und zum Vergessen ge-
bracht. Der Abscheu vor dem Inzest und ein mächtiges
Schuldbewußtsein waren aus dieser individuellen Vorzeit
erübrigt worden. Vielleicht war es in der generellen Vor-
zeit der Menschenart ganz ähnlich zugegangen und die
Anfänge der Sittlichkeit, der Religion und der sozialen
Ordnung waren mit der Überwindung dieser Urzeit auf
das innigste verknüpft. An diese Vorgeschichte, die ihm
später so unrühmlich erschien, durfte der Erwachsene
dann nicht gemahnt werden; er begann zu toben, wenn
die Psychoanalyse den Schleier der Amnesie von seinen
Kinderjahren lüften wollte. So blieb nur ein Ausweg: was
die Psychoanalyse behauptete, mußte falsch sein und diese
angebliche neue Wissenschaft ein Gewebe von Phan-
tasterei und Entstellungen.
Die starken Widerstände gegen die Psychoanalyse waren
also nicht intellektueller Natur, sondern stammten aus
affektiven Quellen. Daraus erklärten sich ihre Leiden-
schaftlichkeit wie ihre logische Genügsamkeit. Die Situ-
ation folgte einer einfachen Formel: die Menschen be-
nahmen sich gegen die Psychoanalyse als Masse genau
wie der einzelne Neurotiker, den man wegen seiner Be-
schwerden in Behandlung genommen hatte, dem man aber
2 * 19
in geduldiger Arbeit nachweisen konnte, daß alles so vor-
gefallen war, wie man es behauptete. Man hatte es ja
auch nicht selbst erfunden, sondern aus dem Studium
anderer Neurotiker durch die Bemühung von mehreren
Dezennien erfahren.
Diese Situation hatte gleichzeitig etwas Schreckhaftes
und etwas Tröstliches; das erstere, weil es keine Kleinig-
keit war, das ganze Menschengeschlecht zum Patienten zu
haben, das andere, weil schließlich sich alles so abspielte,
wie es nach den Voraussetzungen der Psychoanalyse ge-
schehen mußte.
Überschaut man nochmals die beschriebenen Wider-
stände gegen die Psychoanalyse, so muß man sagen, nur
ihr kleinerer Anteil ist von der Art, wie er sich gegen
die meisten wissenschaftlichen Neuerungen von einigem
Belang zu erheben pflegt. Der größere Anteil rührt davon
her, daß durch den Inhalt der Lehre starke Gefühle der
Menschheit verletzt worden sind. Dasselbe erfuhr ja auch
die Darwinsche Deszendenztheorie, welche die vom Hoch-
mut geschaffene Scheidewand zwischen Mensch und Tier
niederriß. Ich habe auf diese Analogie in einem früheren
kurzen Aufsatz („Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse",
Imago 1917) hingewiesen. Ich betonte dort, daß die psycho-
analytische Auffassung vom Verhältnis des bewußten Ichs
zum übermächtigen Unbewußten eine schwere Kränkung
der menschlichen Eigenliebe bedeute, die ich die psycho-
logische nannte und an die biologische Kränkung
durch die Deszendenzlehre und die frühere kosmologische
durch die Entdeckung des Kopernikus anreihte.
Auch rein äußerliche Schwierigkeiten haben dazu bei-
getragen, den Widerstand gegen die Psychoanalyse zu ver-
stärken. Es ist nicht leicht, ein selbständiges Urteil in
Sachen der Analyse zu gewinnen, wenn man sie nicht
an sich selbst erfahren oder an einem anderen ausgeübt
hat. Letzteres kann man nicht, ohne eine bestimmte, recht
heikle Technik erlernt zu haben, und bis vor kurzem gab
es keine bequem zugängliche Gelegenheit, die Psychoana-
lyse und ihre Technik zu erlernen. Das hat sich jetzt
durch die Gründung der Berliner Psychoanalytischen Poli-
klinik und Lehranstalt (1920) zum Besseren gewendet. Bald
nachher (1925) ist in Wien ein ganz ähnliches Institut
ins Leben gerufen worden.
Endlich darf der Autor in aller Zurückhaltung die
Frage aufwerfen, ob nicht seine eigene Persönlichkeit als
Jude, der sein Judentum nie verbergen wollte, an der
Antipathie der Umwelt gegen die Psychoanalyse Anteil
gehabt hat. Ein Argument dieser Art ist nur selten
laut geäußert worden; wir sind leider so argwöhnisch
geworden, daß wir nicht umhin können zu vermuten, der
Umstand sei nicht ganz ohne Wirkung geblieben. Es ist
vielleicht auch kein bloßer Zufall, daß der erste Vertreter
der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr zu be-
kennen, brauchte es ein ziemliches Maß von Bereitwillig-
keit, das Schicksal der Vereinsamung in der Opposition
auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem Juden ver-
trauter ist als einem anderen.
»Die Ausnahmen«
von
Sigm. Freud
Jus „Einige Charaktertypen aus der psycho-
analytischen Arbeit" (Ges. Schriften, Bd. X).
Die psychoanalytische Arbeit sieht sich immer wieder
vor die Aufgabe gestellt, den Kranken zum Verzicht auf
einen naheliegenden und unmittelbaren Lustgewinn zu
bewegen. Er soll nicht auf Lust überhaupt verzichten;
das kann man vielleicht keinem Menschen zumuten, und
selbst die Religion muß ihre Forderung, irdische Lust
fahren zu lassen, mit dem Versprechen begründen, dafür
ein ungleich höheres Maß von wertvollerer Lust in einem
Jenseits zu gewähren. Nein, der Kranke soll bloß auf
solche Befriedigungen verzichten, denen eine Schädigung
unfehlbar nachfolgt, er soll bloß zeitweilig entbehren,
nur den unmittelbaren Lustgewinn gegen einen besser
gesicherten, wenn auch aufgeschobenen, eintauschen lernen.
Oder mit anderen Worten, er soll unter der ärztlichen
Leitung jenen Fortschritt vom Lustprinzip zum
Realitätsprinzip machen, durch welchen sich der reife
Mann vom Kinde scheidet. Bei diesem Erziehungswerk
spielt die bessere Einsicht des Arztes kaum eine ent-
scheidende Rolle; er weiß ja in der Regel dem Kranken
nichts anderes zu sagen, als was diesem sein eigener Ver-
stand sagen kann. Aber es ist nicht dasselbe, etwas bei sich
zu wissen und dasselbe von anderer Seite zu hören; der
Arzt übernimmt die Rolle dieses wirksamen anderen; er
bedient sich des Einflusses, den ein Mensch auf den anderen
ausübt. Oder: erinnern wir uns daran, daß es in der
Psychoanalyse üblich ist, das Ursprüngliche und Wurzel-
hafte an Stelle des Abgeleiteten und Gemilderten einzu-
setzen, und sagen wir, der Arzt bedient sich bei seinem
Erziehungswerk irgendeiner Komponente der Liebe. Er
wiederholt bei solcher Nacherziehung wahrscheinlich nur
den Vorgang, der überhaupt die erste Erziehung ermög-
licht hat. Neben der Lebensnot ist die Liebe die große
Erzieherin, und der unfertige Mensch wird durch die
Liebe der ihm Nächsten dazu bewogen, auf die Gebote
der Not zu achten und sich die Strafen für deren Über-
tretung zu ersparen.
Fordert man so von den Kranken einen vorläufigen
Verzicht auf irgendeine Lustbefriedigung, ein Opfer, eine
Bereitwilligkeit, zeitweilig für ein besseres Ende Leiden
auf sich zu nehmen, oder auch nur den Entschluß, sich
einer für alle geltenden Notwendigkeit zu unterwerfen,
so stößt man auf einzelne Personen, die sich mit einer
besonderen Motivierung gegen solche Zumutung sträuben.
Sie sagen, sie haben genug gelitten und entbehrt, sie haben
Anspruch darauf, von weiteren Anforderungen verschont
zu werden, sie unterwerfen sich keiner unliebsamen Not-
wendigkeit mehr, denn sie seien Ausnahmen und ge-
denken es auch zu bleiben. Bei einem Kranken solcher
Art war dieser Anspruch zu der Überzeugung gesteigert,
daß eine besondere Vorsehung über ihn wache, die ihn
vor derartigen schmerzlichen Opfern bewahren werde.
Gegen innere Sicherheiten, die sich mit solcher Stärke
äußern, richten die Argumente des Arztes nichts aus, aber
auch sein Einfluß versagt zunächst, und er wird darauf
hingewiesen, den Quellen nachzuspüren, aus welchen das
schädliche Vorurteil gespeist wird.
Nun ist es wohl unzweifelhaft, daß ein jeder sich für
eine „Ausnahme ausgeben und Vorrechte vor den anderen
beanspruchen möchte. Aber gerade darum bedarf es einer
besonderen und nicht überall vorfindlichen Begründung,
wenn er sich wirklich als Ausnahme verkündet und be-
nimmt. Es mag mehr als nur eine solche Begründung
geben ; in den von mir untersuchten Fällen gelang es,
eine gemeinsame Eigentümlichkeit der Kranken in deren
früheren Lebensschicksalen nachzuweisen: Ihre Neu-
rose knüpfte an ein Erlebnis oder an ein Leiden an, das
sie in den ersten Kinderzeiten betroffen hatte, an dem sie
sich unschuldig wußten, und das sie als eine ungerechte
Benachteiligung ihrer Person bewerten konnten. Die Vor-
rechte, die sie aus diesem Unrecht ableiteten, und die
Unbotmäßigkeit, die sich daraus ergab, hatten nicht wenig
dazu beigetragen, um die Konflikte, die später zum Aus-
bruch der Neurose führten, zu verschärfen. Bei einer dieser
Patientinnen wurde die besprochene Einstellung zum Leben
vollzogen, als sie erfuhr, daß ein schmerzhaftes organi-
sches Leiden, welches sie an der Erreichung ihrer Lebens-
ziele gehindert hatte, kongenitalen Ursprungs war. Solange
sie dieses Leiden für eine zufällige spätere Erwerbung
hielt, ertrug sie es geduldig; von ihrer Aufklärung an, es
sei ein Stück mitgebrachter Erbschaft, wurde sie rebellisch.
Der junge Mann, der sich von einer besonderen Vorsehung
bewacht glaubte, war als Säugling das Opfer einer zu-
fälligen Infektion durch seine Amme geworden und hatte
sein ganzes späteres Leben von seinen Entschädigungs-
ansprüchen wie von einer Unfallsrente gezehrt, ohne zu
ahnen, worauf er seine Ansprüche gründete. In seinem
Falle wurde die Analyse, welche dieses Ergebnis aus dunklen
Erinnerungsresten und Symptomdeutungen konstruierte,
durch Mitteilungen der Familie objektiv bestätigt.
Aus leicht verständlichen Gründen kann ich von diesen
und anderen Krankengeschichten ein mehreres nicht mit-
teilen. Ich will auch auf die naheliegende Analogie mit
der Charakterverbildung nach langer Kränklichkeit der
Kinderjahre und im Benehmen ganzer Völker mit leiden-
schwerer Vergangenheit nicht eingehen. Dagegen werde
ich es mir nicht versagen, auf jene von dem größten
Dichter geschaffene Gestalt hinzuweisen, in deren Charakter
der Ausnahmsanspruch mit dem Momente der kongenitalen
Benachteiligung so innig verknüpft und durch dieses moti-
viert ist.
Im einleitenden Monolog zu Shakespeares „Richard III."
sagt Gloster, der spätere König:
Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht,
Noch um zu buhlen mit verliebten Spiegeln;
Ich, roh geprägt, entblößt von Liebes-Majestät
Vor leicht sich dreh'nden Nymphen sich zu brüsten;
Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt,
Von der Natur um Bildung falsch betrogen,
Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt .
In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
Daß Hunde bellen, hink' ich wo vorbei;
Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
24
Kann kürzen diese fein beredten Tage,
Bin ich gewillt ein Bösewicht zu werden
Und Feind den eitlen Freuden dieser Tage.
Unser erster Eindruck von dieser Programmrede wird
vielleicht die Beziehung zu unserem Thema vermissen.
Richard scheint nichts anderes zu sagen als: Ich langweile
mich in dieser müßigen Zeit und ich will mich amüsieren.
Weil ich aber wegen meiner Mißgestalt mich nicht als
Liebender unterhalten kann, werde ich den Bösewicht
spielen, intrigieren, morden, und was mir sonst gefällt.
Eine so frivole Motivierung müßte jede Spur von Anteil-
nahme beim Zuschauer ersticken, wenn sich nichts Ernsteres
hinter ihr verbärge. Dann wäre aber auch das Stück psycho-
logisch unmöglich, denn der Dichter muß bei uns einen
geheimen Hintergrund von Sympathie für seinen Helden
zu schaffen verstehen, wenn wir die Bewunderung für
seine Kühnheit und Geschicklichkeit ohne inneren Ein-
spruch verspüren sollen, und solche Sympathie kann nur
im Verständnis, im Gefühle einer möglichen inneren
Gemeinschaft mit ihm begründet sein.
Ich meine darum, der Monolog Richards sagt nicht
alles; er deutet bloß an und überläßt es uns, das An-
gedeutete auszuführen. Wenn wir aber diese Vervoll-
ständigung vornehmen, dann schwindet der Anschein von
Frivolität, dann kommt die Bitterkeit und Ausführlichkeit,
mit der Richard seine Mißgestalt geschildert hat, zu ihrem
Rechte, und uns wird die Gemeinsamkeit klar gemacht,
die unsere Sympathie auch für den Bösewicht erzwingt.
Es heißt dann: Die Natur hat ein schweres Unrecht an
mir begangen, indem sie mir die Wohlgestalt versagt hat,
welche die Liebe der Menschen gewinnt. Das Leben ist
mir eine Entschädigung dafür schuldig, die ich mir holen
werde. Ich habe den Anspruch darauf, eine Ausnahme zu
sein, mich über die Bedenken hinwegzusetzen, durch die
sich andere hindern lassen. Ich darf selbst Unrecht tun,
denn an mir ist Unrecht geschehen, — und nun fühlen wir,
daß wir selbst so werden könnten wie Richard, ja daß wir es
25
im kleinen Maßstabe bereits sind. Richard ist eine gigantische
Vergrößerung dieser einen Seite, die wir auch in uns finden.
Wir glauben alle Grund zu haben, daß wir mit Natur und
Schicksal wegen kongenitaler und infantiler Benachteiligung
grollen; wir fordern alle Entschädigung für frühzeitige
Kränkungen unseres Narzißmus, unserer Eigenliebe. Warum
hat uns die Natur nicht die goldenen Locken Balders ge-
schenkt oder die Stärke Siegfrieds oder die hohe Stirne des
Genies, den edlen Gesichtsschnitt des Aristokraten ? Warum
sind wir in der Bürgerstube geboren anstatt im Königs-
schloß? Wir würden es ebenso gut treffen, schön und
vornehm zu sein wie alle, die wir jetzt darum beneiden
müssen.
Es ist aber eine feine ökonomische Kunst des Dichters,
daß er seinen Helden nicht alle Geheimnisse seiner Moti-
vierung laut und restlos aussprechen läßt. Dadurch nötigt
er uns, sie zu ergänzen, beschäftigt unsere geistige Tätig-
keit, lenkt sie vom kritischen Denken ab und hält uns
in der Identifizierung mit dem Helden fest. Ein Stümper
an seiner Stelle würde alles, was er uns mitteilen will,
in bewußten Ausdruck fassen und fände sich dann unserer
kühlen, frei beweglichen Intelligenz gegenüber, die eine
Vertiefung der Illusion unmöglich macht.
Wir wollen aber die „Ausnahmen" nicht verlassen, ohne
zu bedenken, daß der Anspruch der Frauen auf Vorrechte
und Befreiung von soviel Nötigungen des Lebens auf dem-
selben Grunde ruht. Wie wir aus der psychoanalytischen
Arbeit erfahren, betrachten sich die Frauen als infantil
geschädigt, ohne ihre Schuld um ein Stück verkürzt und
zurückgesetzt, und die Erbitterung so mancher Tochter
gegen ihre Mutter hat zur letzten Wurzel den Vorwurf,
daß sie sie als Weib anstatt als Mann zur Welt gebracht hat.
26
Die okkulte Bedeutung
des Traumes
von
Sigm. Freud
Jus dem im Herbst 192/ erscheinenden
Band III der Gesammelten Schriften, der —
zum Teil noch unveröffentlichte ■ — »Er-
gänzungen und Zusatzkapitel" zur „Traum-
deutung 1 ' enthält.
Wenn der Probleme des Traumlebens kein Ende ab-
zusehen ist, so kann sich nur der darüber verwundern,
der eben vergißt, daß alle Probleme des Seelenlebens auch
am Traume wiederkehren, vermehrt um einige neue, die
die besondere Natur der Träume betreffen. Viele der Dinge,
die wir am Traume studieren, weil sie sich uns dort zeigen,
haben aber mit dieser psychischen Besonderheit des Traumes
nichts oder wenig zu tun. So ist z. B. die Symbolik kein
Traumproblem, sondern ein Thema unseres archaischen
Denkens, unserer „Grundsprache" nach des Paranoikers
Schreber trefflichem Ausdruck, sie beherrscht den Mythus
und das religiöse Bitual nicht minder als den Traum ; kaum
daß der Traumsymbolik die Eigenheit verbleibt, vorwiegend
sexuell Bedeutsames zu verhüllen! Auch der Angsttraum
braucht seine Aufklärung nicht von der Traumlehre zu
erwarten, die Angst ist vielmehr ein Neurosenproblem, es
bleibt nur zu erörtern, wie Angst unter den Bedingungen
des Träumens entstehen kann.
Ich meine, es -ist mit dem Verhältnis des Traumes zu
den angeblichen Tatsachen der okkulten Welt auch nicht
anders. Aber da der Traum selbst immer etwas Geheimnis-
volles war, hat man ihn mit jenen anderen unerkannten
Geheimnissen in intime Beziehung gesetzt. Er hatte wohl
27
auch ein historisches Anrecht darauf, denn in den Ur-
zeiten, als unsere Mythologie sich bildete, mögen die Traum-
bilder an der Entstehung der Seelenvorstellungen beteiligt
gewesen sein.
Es soll zwei Kategorien von Träumen geben, die den
okkulten Phänomenen zuzurechnen sind, die prophetischen
und die telepathischen. Für beide spricht eine unüber-
sehbare Masse von Zeugnissen; gegen beide die hart-
näckige Abneigung, wenn man will, das Vorurteil der
Wissenschaft.
Daß es prophetische Träume in dem Sinne gibt, daß
ihr Inhalt irgendeine Gestaltung der Zukunft darstellt,
leidet allerdings keinen Zweifel, fraglich bleibt nur, ob
diese Vorhersagen in irgend bemerkenswerter Weise mit
dem übereinstimmen, was später wirklich geschieht. Ich
gestehe, daß mich für diesen Fall der Vorsatz der Un-
parteilichkeit im Stiche läßt. Daß es irgendeiner psychi-
schen Leistung außer einer scharfsinnigen Berechnung
möglich sein sollte, das zukünftige Geschehen im einzelnen
vorauszusehen, widerspricht einerseits zu sehr allen Er-
wartungen und Einstellungen der Wissenschaft und ent-
spricht anderseits allzu getreu uralten, wohlbekannten
Menschheitswünschen, welche die Kritik als unberechtigte
Anmaßung verwerfen muß. Ich meine also, wenn man
die Unzuverlässigkeit, Leichtgläubigkeit und Unglaubwür-
digkeit der meisten Berichte zusammenhält mit der Mög-
lichkeit affektiv erleichterter Erinnerungstäuschungen und
der Notwendigkeit einzelner Zufallstreffer, darf man er-
warten, daß sich der Spuk der prophetischen Wahrträume
in ein Nichts auflösen wird. Persönlich habe ich nie etwas
erlebt oder erfahren, was ein günstigeres Vorurteil erwecken
könnte.
Anders steht es mit den telepathischen Träumen. Hier
sei aber vor allem bemerkt, daß noch niemand behauptet
28
hat, das telepathische Phänomen — die Aufnahme eines
seelischen Vorganges in einer Person durch eine andere
auf anderem Wege als dem der Sinneswahrnehmung —
sei ausschließlich an den Traum gebunden. Die Tele-
pathie ist also wiederum kein Traumproblem, man braucht
sein Urteil über ihre Existenz nicht aus dem Studium
der telepathischen Träume zu schöpfen.
Unterwirft man die Berichte über telepathische Vorkomm-
nisse (ungenau: Gedankenübertragung) derselben Kritik, mit
der man andere okkulte Behauptungen abgewehrt hat, so
behält man doch ein ansehnliches Material übrig, das man
nicht so leicht vernachlässigen kann. Auch gelingt es auf
diesem Gebiete weit eher, eigene Beobachtungen und Er-
fahrungen zu sammeln, die eine freundliche Einstellung
zum Problem der Telepathie berechtigen, wenngleich sie
für die Herstellung einer gesicherten Überzeugung noch
nicht ausreichen mögen. Man bildet sich vorläufig die
Meinung, es könne wohl sein, daß die Telepathie wirklich
existiert und daß sie den Wahrheitskern von vielen anderen,
sonst unglaublichen Aufstellungen bildet.
Man tut gewiß Becht daran, wenn man auch in Sachen
der Telepathie jede Position der Skepsis hartnäckig ver-
teidigt und nur ungern vor der Macht der Beweise zurück-
weicht. Ich glaube ein Material gefunden zu haben, welches
den meisten sonst zulässigen Bedenken entzogen ist : nicht
erfüllte Prophezeiungen berufsmäßiger Wahrsager. Leider
stehen mir nur wenige solcher Beobachtungen zu Gebote,
aber zwei unter diesen haben mir einen starken Eindruck
hinterlassen. Es ist mir versagt, diese so ausführlich mit-
zuteilen, daß sie auch auf andere wirken könnten. Ich
muß mich auf die Hervorhebung einiger wesentlicher
Punkte beschränken.
Den betreffenden Personen war also — an fremdem
Ort und von seiten eines fremden Wahrsagers, der dabei
irgendeine, wahrscheinlich gleichgültige, Praktik betrieb —
etwas für eine bestimmte Zeit vorhergesagt worden, was
nicht eingetroffen war. Die Verfallszeit der Prophezeiung
war längst vorüber. Es war auffällig, daß die Gewährs-
personen anstatt mit Spott und Enttäuschung mit offen-
barem Wohlgefallen von ihrem Erlebnis erzählten. Im
Inhalte der ihnen gewordenen Verkündigung fanden sich
ganz bestimmte Einzelheiten, die willkürlich und un-
verständlich schienen, die eben nur durch ihr Eintreffen
gerechtfertigt worden wären. So sagte z. B. der Chiro-
mant der Siebenundzwanzigjährigen, aber viel jünger aus-
sehenden Frau, die den Ehering abgezogen hatte, sie werde
noch heiraten und mit zweiunddreißig Jahren zwei Kinder
haben. Die Frau war dreiundvierzig Jahre alt, als sie,
schwer krank geworden, mir diese Begebenheit in ihrer
Analyse erzählte, sie war kinderlos geblieben. Wenn man
ihre Geheimgeschichte kannte, die dem „Professeur" in
der Halle des Pariser Hotels sicherlich unbekannt geblieben
war, konnte man die beiden Zahlen der Prophezeiung ver-
stehen. Das Mädchen hatte nach einer ungewöhnlich inten-
siven Vaterbindung geheiratet und sich dann sehnlichst
Kinder gewünscht, um ihren Mann an die Stelle des Vaters
rücken zu können. Nach jahrelanger Enttäuschung, an der
Schwelle einer Neurose, holte sie sich die Prophezeiung,
die — ihr das Schicksal ihrer Mutter versprach. Auf diese
traf es zu, daß sie mit zweiunddreißig Jahren zwei Kinder
gehabt hatte. So war es also nur mit Hilfe der Psycho-
analyse möglich, die Eigentümlichkeiten der angeblich von
außen her erfolgenden Botschaft sinnvoll zu deuten. Dann
aber konnte man den ganzen, so eindeutig bestimmten
Sachverhalt nicht besser aufklären als durch die Annahme,
ein starker Wunsch der Befragenden — in Wirklichkeit
der stärkste unbewußte Wunsch ihres Affektlebens und
der Motor ihrer keimenden Neurose — habe sich durch
3°
unmittelbare Übertragung dem mit einer ablenkenden Han-
tierung beschäftigten Wahrsager kundgegeben.
Ich habe auch bei Versuchen im intimen Kreise wieder-
holt den Eindruck gewonnen, daß die Übertragung von
stark affektiv betonten Erinnerungen unschwer gelingt.
Getraut man sich, die Einfälle der Person, auf welche
übertragen werden soll, einer analytischen Bearbeitung zu
unterziehen, so kommen oft Übereinstimmungen zum Vor-
schein, die sonst unkenntlich geblieben wären. Aus manchen
Erfahrungen bin ich geneigt, den Schluß zu ziehen, daß
solche Übertragungen besonders gut in dem Momente zu-
stande kommen, da eine Vorstellung aus dem unbewußten
auftaucht, theoretisch ausgedrückt, sobald sie aus dem „Pri-
märvorgang" in den „Sekundärvorgang" übergeht.
Bei aller durch die Tragweite, Neuheit und Dunkelheit
des Gegenstandes gebotenen Vorsicht hielt ich es doch
nicht mehr für berechtigt, mit diesen Äußerungen zum
Problem der Telepathie zurückzuhalten. Mit dem Traum
hat dies alles nur so viel zu tun: Wenn es telepathische
Botschaften gibt, so ist nicht abzuweisen, daß sie auch
den Schlafenden erreichen und von ihm im Traume erfaßt
werden können. Ja, nach der Analogie mit anderem Wahr-
nehmungs- und Gedankenmaterial darf man es auch nicht
abweisen, daß telepathische Botschaften, die während des
Tages aufgenommen wurden, erst im Traume der nächsten
Nacht zur Verarbeitung kommen. Es wäre dann nicht
einmal ein Einwand, wenn das telepathisch vermittelte
Material im Traume wie ein anderes verändert und um-
gestaltet würde. Man möchte gerne mit Hilfe der Psycho-
analyse mehr und besser Gesichertes über die Telepathie
erfahren.
3 1
DIE PSYCHOANALYSE
UND DIE DICHTER
iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiiiiii
Mein Verhältnis zur Psychoanalyse
von
Thomas Mann
Mein Verhältnis zur Psychoanalyse ist so uneinfach wie
sie es verdient. Man kann in der Psychoanalyse, diesem merk-
würdigen Gewächs wissenschaftlich-zivilisatorischen Geistes,
mit allem Recht etwas Großes und Bewunderungswürdiges
erblicken, eine kühne Entdeckung, einen tiefen Vorstoß der
Erkenntnis, eine überraschende, ja sensationelle Erweiterung
des Wissens vom Menschen. Und man kann auf der anderen
Seite finden, daß sie, mißbräuchlich ins Volk gebracht, zu
einem Instrument boshafter Aufklärung, einer kulturwidrigen
Manie der Enthüllung und Diskreditierung werden kann,
gegen die Bedenken zu haben, nicht bloße Sentimentalität
zu bedeuten braucht. Ihr Wesen ist Erkenntnis, melan-
cholische Erkenntnis, insonderheit was Kunst und Künstler-
tum betrifft, auf die sie es offenbar besonders abgesehen hat.
Nun, das war mir nichts Neues, als es mir zum erstenmal
entgegentrat. Bei Nietzsche, namentlich in seiner Wagner-
Kritik, hatte ich es im wesentlichen erlebt, und es war, als
Ironie, zu einem Element meiner geistigen Verfassung und
meiner Produktion geworden, — ein Umstand, dem ich es
zweifellos zu danken habe, daß meinen Schriften von jeher
eine gewisse charakteristische Aufmerksamkeit und kritische
Vorliebe von Seiten der analytischen Gelehrtenschule zuteil
wurde. Auch der „Tod in Venedig" erfuhr aus guten Grün-
den diese Teilnahme, obgleich doch der hochfahrende Satz
darin steht: „Aber es scheint, daß gegen nichts ein edler
3 2
und tüchtiger Geist sich rascher, sich gründlicher abstumpft
als gegen den scharfen und bitteren Reiz der Erkenntnis;
und gewiß ist, daß die schwermütig gewissenhafteste Gründ-
lichkeit des Jünglings Seichtheit bedeutet im Vergleich mit
dem tiefen Entschlüsse des Meister gewordenen Mannes, das
Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenen Hauptes dar-
über hinweg zu gehen, sofern es den Willen, die Tat, das
Gefühl, und selbst die Leidenschaft im geringsten zu lähmen,
zu entmutigen, zu entwürdigen geeignet ist." — Das ist
stark anti-analytisch gesagt, aber es ist wohl als charakte-
ristisches Beispiel der „Verdrängung" verstanden worden,
während in der Tat das, was dem Künstler-Neurotiker die
Unverfrorenheit verleihen mag, trotz aller analytischer Auf-
deckung das Seine zu tun, nicht sowohl als Verdrängung
wie — zutreffender, wenn auch unwissenschaftlicher — als
ein Aufsichberuhenlassen zu kennzeichnen sein wird. Ein-
fache Feindseligkeit bedeutet das keineswegs, denn Erkenntnis,
als Prinzip nicht produktiv, kann, wie das Phänomen Nietzsche
zeigt, doch auch wieder mit Kunst sehr viel zu tun haben,'
und der Künstler kann mit ihr auf vortrefflichem Fuße
stehen. Es bedeutet auch nichts weniger, als den Wahn, die
Welt könne vermittelst Augenverschließens je wieder um die
Forschungsergebnisse Freuds und der Seinen — populär ge-
sagt — „herumkommen". Sie kommt durchaus nicht darum
herum, und auch die Kunst wird das nicht tun. Längst spielt
die Psychoanalyse in die Dichtung unseres ganzen Kultur-
kreises hinein, hat auf sie abgefärbt und wird sie möglicher-
weise in steigendem Grade beeinflussen. Auch in meinem
eben herausgegebenen Zeitroman „Der Zauberberg spielt
sie ihre Rolle. Dr. Krokowski, wie ihr Agent hier heißt,
ist zwar ein bißchen komisch. Aber seine Komik ist vielleicht
nur eine Schadloshaltung für tiefere Zugeständnisse, die der
Autor im Inneren seiner Werke der Psychoanalyse macht.
33
Künstler und Psychoanalyse
Von
Hermann Hesse
Es war zu erwarten, daß besonders die Künstler sich rasch
mit der Psychoanalyse, dieser neuen, so vielfach fruchtbaren
Betrachtungsweise befreunden würden. Sehr viele mochten
schon als Neurotiker sich für die Psychoanalyse interessieren.
Aber darüber hinaus war beim Künstler mehr Neigung und
Bereitschaft vorhanden, sich auf eine völlig neu fundamentierte
Psychologie einzulassen als bei der offiziellen Wissenschaft.
Für das genial Radikale ist der Künstler stets leichter zu
gewinnen als der Professor.
Für den einzelnen Künstler nun, soweit er nicht damit
zufrieden war, die Sache als ein neues Diskussionsthema im
Kaffeehaus hinzunehmen, entstand rasch die Bemühung, aus
der neuen Psychologie auch als Künstler zu lernen, — viel-
mehr es entstand die Frage, ob und wieweit die neuen
psychologischen Einsichten dem Schaffen selbst zugute kommen
möchten.
In der Anwendung auf Dichterwerke sowohl wie für die
Beobachtung des täglichen Lebens ergab sich die Fruchtbarkeit
der neuen Lehre ohne weiteres. Man hatte einen Schlüssel
mehr — keinen absoluten Zauberschlüssel, aber doch eine wert-
volle neue Einstellung, ein neues vortreffliches Werkzeug, dessen
Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit sich rasch bewährten. Ich
denke dabei nicht an die literarhistorischen Einzelbemühungen,
die aus dem Dichterleben eine möglichst detaillierte Kranken-
geschichte machen. Allein schon die Bestätigungen und
Korrekturen, welche Nietzsches psychologische Erkenntnisse
und feinnervigen Ahnungen erfuhren, waren uns überaus
wertvoll. Die beginnende Kenntnis und Beobachtung des
Unbewußten, die psychischen Mechanismen als Verdrängung,
Sublimierung, Regression usw. gedeutet, ergaben eine Klar-
heit des Schemas, die ohne weiteres einleuchtete.
34
Wenn es nun aber gewissermaßen jedem naheliegt und
leicht gemacht wurde, Psychologie zu treiben, so blieb die
Verwendbarkeit dieser Psychologie für den Künstler doch
recht zweifelhaft. So wenig historisches Wissen zu Geschichts
dichtungen, Botanik oder Geologie zur Landschaftsschilderung
fähig machten, so wenig konnte die beste wissenschaftliche
Psychologie der Menschendarstellung helfen. Man sah ja, wie
die Psychoanalytiker selbst überall die Dichtung der früheren,
voranalytischen Zeit als Belege, als Quellen und Bestätigungen
benützten. Es war also das, was die Analyse erkannt und
wissenschaftlich formuliert hatte, von den Dichtern stets
gewußt worden. Ja, der Dichter erwies sich als Vertreter
einer besonderen Art des Denkens, die eigentlich der analytisch-
psychologischen durchaus zuwiderlief. Er war der Träumer,
der Analytiker war der Deuter seiner Träume. Konnte also
dem Dichter, bei aller Teilnahme an der neuen Seelenkunde,
etwas anderes übrig bleiben als weiter zu träumen und den
Rufen seines Unbewußten zu folgen?
Nein, es blieb ihm nichts anderes. Wer vorher kein
Dichter war, wer vorher nicht den inneren Bau und Herz-
schlag des seelischen Lebens erfühlt hatte, den machte alle
Analyse nicht zum Seelendeuter. Er konnte nur ein neues
Schema anwenden, konnte damit vielleicht für den Augen-
blick verblüffen, seine Kräfte aber nicht wesentlich steigern.
Das dichterische Erfassen seelischer Vorgänge blieb nach
wie vor eine Sache des intuitiven, nicht des analytischen
Talents.
Indessen ist die Frage damit nicht erledigt. Tatsächlich
vermag der Weg der Psychoanalyse auch den Künstler be-
deutend zu fördern. So falsch er daran tut, die Technik der
Analyse in die künstlerische hinüber zu nehmen, so recht
tut er doch daran, die Psychoanalyse ernst zu nehmen und
zu verfolgen. Ich sehe drei Bestätigungen und Bestärkungen,
die dem Künstler aus der Analyse erwachsen.
Zuerst die tiefe Bestätigung vom Wert der Phantasie,
der Fiktion. Betrachtet der Künstler sich selbst analytisch,
so bleibt ihm nicht verborgen, daß zu den Schwächen, an
35
denen er leidet, ein Mißtrauen gegen seinen Beruf gehört,
ein Zweifel an der Phantasie, eine fremde Stimme in sich,
die der bürgerlichen Auffassung und Erziehung Recht geben
und sein ganzes Tun „nur als hübsche Fiktion gelten lassen
will. Gerade die Analyse aber lehrt jeden Künstler eindringlich,
wie das, was er zu Zeiten „nur" als Fiktion zu schätzen
vermochte, gerade ein höchster Wert ist, und erinnert ihn
laut an das Dasein seelischer Grundforderungen sowohl wie
an die Relativität aller autoritären Maßstäbe und Bewertungen.
Die Analyse bestätigt den Künstler vor sich selbst. Zugleich
gibt sie ihm ein Gebiet der rein intellektuellen Betätigung
in der analytischen Psychologie frei.
Diesen Nutzen der Methode mag wohl auch schon der
erfahren, der sie nur von außen her kennen lernt. Die beiden
anderen Werte aber ergeben sich nur dem, der die Seelen-
analyse gründlich und ernsthaft an der eigenen Haut erprobt,
dem die Analyse nicht eine intellektuelle Angelegenheit, sondern
ein Erlebnis wird. Wer sich damit begnügt, über seinen
„Komplex einige Aufklärungen zu erhalten und nun über
sein Innenleben einige formulierbare Auskünfte zu haben,
dem entgehen die wichtigsten Werte.
Wer den Weg der Analyse, das Suchen seelischer Urgründe
aus Erinnerungen, Träumen und Assoziationen, ernsthaft eine
Strecke weit gegangen ist, dem bleibt als bleibender Gewinn
das, was man etwa das „innigere Verhältnis zum eigenen
Unbewußten" nennen kann. Er erlebt ein wärmeres, frucht-
bareres, leidenschaftlicheres Hin und Her zwischen Bewußtem
und Unbewußtem; er nimmt von dem, was sonst „unter-
schwellig" bleibt und sich nur in unbeachteten Träumen
abspielt, vieles mit ins Licht herüber.
Und das wieder hängt innig zusammen mit den Ergeb-
nissen der Psychoanalyse für das Ethische, für das persön-
liche Gewissen. Die Analyse stellt, vor allem andern, eine
große Grundforderung, deren Umgehung und Vernachlässi-
gung sich alsbald rächt, deren Stachel sehr tief geht und
dauernde Spuren lassen muß. Sie fordert eine Wahrhaftig-
keit gegen sich selbst, an die wir nicht gewohnt sind. Sie
36
lehrt uns, das zu sehen, das anzuerkennen, das zu untersuchen,
und ernst zu nehmen, was wir gerade am erfolgreichsten
in uns verdrängt hatten. Das ist schon bei den ersten Schritten,
die man in der Analyse tut, ein mächtiges, ja ungeheures
Erlebnis, eine Erschütterung an den Wurzeln. Wer stand-
hält und weitergeht, der sieht sich nun von Schritt zu Schritt
mehr vereinsamt, mehr von Konvention und hergebrachter
Anschauung abgeschnitten, er sieht sich zu Fragen und Zweifeln
genötigt, die vor nichts Halt machen. Dafür aber sieht oder
ahnt er mehr und mehr hinter den zusammenfallenden Ku-
lissen des Herkommens das unerbittliche Bild der Wahrheit
aufsteigen, der Natur. Denn nur in der intensiven Selbst-
prüfung der Analyse wird ein Stück Entwicklungsgeschichte
wirklich erlebt und mit dem blutenden Gefühl durchdrungen.
Über Vater und Mutter, über Bauer und Nomade, über
Affe und Fisch zurück wird Herkunft, Gebundenheit und
Hoffnung des Menschen nirgends so ernst, so erschütternd
erlebt wie in einer ernsthaften Psychoanalyse. Gelerntes wird
zu Sichtbarkeit, Gewußtes zu Herzschlag, und wie die Ängste,
Verlegenheiten und Verdrängungen sich lichten, so steigt
die Bedeutung des Lebens und der Persönlichkeit reiner
und fordernder empor.
Diese erziehende, fordernde, spornende Kraft der Analyse
nun mag niemand fördernder empfinden als der Künstler.
Denn ihm ist es ja nicht um die möglichst bequeme Anpas-
sung an die Welt und ihre Sitten zu tun, sondern um das
Einmalige, was er selbst bedeutet.
Unter den Dichtern der Vergangenheit standen einige
dem Wissen um die wesentlichen Sätze der analytischen
Seelenkunde sehr nahe, am nächsten Dostojewski, welcher
nicht nur intuitiv diese Wege lang vor Freud und seinen
Schülern ging, sondern der auch eine gewisse Praxis und
Technik dieser Art von Psychologie schon besaß. Unter den
großen deutschen Dichtern ist es Jean Paul, dessen Auffas-
sung von seelischen Vorgängen am nächsten bei dieser heu-
tigen steht. Daneben ist Jean Paul das glänzendste Beispiel
des Künstlers, dem aus tiefer, lebendiger Ahnung der ständige
37
vertrauliche Kontakt mit dem eigenen Unbewußten zur ewig
ergiebigen Quelle wird.
Zum Schlüsse zitiere ich einen Dichter, den wir zwar zu
den reinen Idealisten, nicht aber zu den Träumern und in
sich selbst versponnen Naturen, sondern im ganzen mehr zu
den stark intellektuellen Künstlern zu rechnen gewohnt sind.
Otto Rank hat zuerst die folgende Briefstelle als eine der
erstaunlichsten vormodernen Bestätigungen für die Psycho-
■ logie des Unbewußten entdeckt. Schiller schreibt an Körner,
I der sich über Störungen in seiner Produktivität beklagt: „Der
Grund deiner Klagen liegt, wie mir scheint, in dem Zwange,
den dein Verstand deiner Imagination auferlegt. Es scheint
nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachteilig
zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleich-
sam an den Toren schon, zu scharf mustert. Eine Idee kann,
isoliert betrachtet, sehr unbeträchtlich und sehr abenteuerlich
sein, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt,
wichtig, vielleicht kann sie in einer gewissen Verbindung
mit anderen, die vielleicht ebenso abgeschmackt scheinen, ein
sehr zweckmäßiges Glied abgeben: alles das kann der Ver-
stand nicht beurteilen, wenn er sie nicht so lange festhält,
bis er sie in Verbindung mit diesen anderen angeschaut hat.
Bei einem schöpferischen Kopf hingegen, däucht mir, hat
der Verstand seine Wache von den Toren zurückgezogen,
die Ideen stürzen pele-mele herein, und alsdann erst über-
sieht und mustert er den großen Haufen."
Hier ist das ideale Verhältnis der intellektuellen Kritik
zum Unbewußten klassisch ausgedrückt. Weder Verdrängung
des aus dem Unbewußten, aus dem unkontrollierten Einfall,
dem Traum, der spielenden Phantasie zuströmenden Gutes,
noch dauernde Hingabe an die ungestaltete Unendlichkeit
des Unbewußten, sondern liebevolles Lauschen auf die ver-
borgenen Quellen, und dann erst Kritik und Auswahl aus dem
Chaos — so haben alle großen Künstler gearbeitet. Wenn
irgend eine Technik diese Forderung erfüllen helfen kann,
so ist es die psychoanalytische.
(Geschrieben Ipi8).
58
Das Unbewußte im Drama
H.-R. Lenormand
Aus einer Ansprache im „Club du Fau-
bourg" inParis. (Autorisierte Übersetzung.)
Ist die Kenntnis des Unbewußten wünschenswert für den
Schöpfer menschlicher Typen? Wenn diese Kenntnis möglich
ist, wird sie den Dramatiker bereichern oder ihn hemmen? Ist
der wissende Künstler noch ein Künstler? Man muß
zugeben, daß der Mensch seit ungefähr zwanzig Jahren sich
selbst gegenüber eine ganz neue Stellung einnimmt. Seine
Neugierde, früher den Geheimnissen des Kosmos und denen
der physiologischen Erscheinungs-welt zugewendet, ist nun
heftig gereizt durch die Entdeckung unbekannter Gebiete
seiner Seele. Er hat sich jetzt dahin aufgemacht, so wie er
zu den Polen gewandert war, oder wie er sich in die höheren
Schichten der Atmosphäre geschwungen hatte. Er hat eine
Expedition dahin unternommen, eine Forschungsreise — und
er ist mit einer erstaunlichen Menge von Beobachtungen zurück-
gekehrt, mit neuen Systemen, Methoden, mit einer neuen thera-
peutischen Möglichkeit. Und aus all diesem Material erhob sich
eine neue Wissenschaft, die man die Wissenschaft des Unbe-
wußten nennen könnte und die den Namen Psychoanalyse
trägt. #
Freud, der nicht mehr beansprucht, als ein Verfahren
zur Heilung von Neurosen geschaffen zu haben, hat, ohne
es angestrebt zu haben, den Weg zum Verständnis aller un-
bewußten Phänorilene beim Normalen wie beim Kranken
erschlossen. Er reicht uns den Schlüssel zu den geheimen
Pforten der Seele. Er offenbart uns die verborgenen Wünsche,
die sich hinter unseren scheinbar unschuldigsten Träumen
verstecken, — Wünsche, die selbst im Schlaf durch den geheim-
nisvollen Wächter, den er Zensur nennt, verdrängt sind, —
Wünsche, die sich nur in Symbolen auszudrücken wagen,
Wünsche, hinter denen sich fast immer vergessene Impulse
39
unserer frühesten Kindheit verbergen, primitive Sexual-
regungen, erotische Gefühle, die sich gegen die Person der
Eltern richten.
Er erklärt uns die Bedeutung der unveränderlichen Sym-
bole, mit Hilfe derer das Bewußtsein der Menschen aller
Zeiten und aller Länder das ausgedrückt hat, was es nicht
unmittelbar darzustellen wagte. Er lehrt uns die Hieroglyphen
des Schlafes entziffern. Und wenn wir diese Entdeckungen
auf die Legenden, auf die Religionen, auf die Märchen an-
wenden, werden wir gewahr, daß die primitiven Menschen
spontan die Bildersprache erfunden haben, derer wir uns
noch heute in unseren Träumen bedienen. Daraus erkennen
wir dann, daß wir durch Jahrtausende der Entwicklung den
Zusammenhang mit unseren Urahnen bewahrt haben. In den
Äußerungen unseres klaren Bewußtseins, unseres Intellekts,
haben wir uns weit von ihnen entfernt, aber unser Unbe-
wußtes ist dasselbe geblieben. In dem Zustand der Entspan-
nung, in den der Schlaf uns versetzt, fließen uns Formen
und Gestalten zu, deren sich schon die älteste Menschheit
bedient hat.
*
Ich kann nur andeuten, was für ein wunderbares Instrument
zur Selbsteinsicht die Psychoanalyse ist. Diese unbekannten
Gebiete der Seele, in die Diderot, Rousseau, Stendhal,
Baudelaire von Zeit zu Zeit eindrangen, — ich nenne sie
nebeneinander, weil ihre prophetischen Vorausahnungen sich
Freuds Ergebnissen anschmiegen, — diese unterirdischen Ge-
wölbe des Bewußtseins sind jetzt nahezu erhellt. Es führen
Wege in sie; man geht dort in einem zwar noch trüben
Licht, das aber von Jahr zu Jahr heller c wird.
Daraus ergibt sich, daß unsere Vorstellung vom Menschen
eine gewaltige Änderung erfahren hat und daß die Literatur,
die diese Vorstellung widerspiegelt, von dieser Änderung be-
einflußt zu werden beginnt. Diese Rückwirkung einer neuen
Erkenntnis auf die Kunst des Epikers und des Dramatikers
erscheint mir unvermeidlich. Die Schriftsteller haben seit
jeher ihre Vorstellung vom Weltall zu erweitern versucht,
40
indem sie bei der "Wissenschaft Anregung ihrer Einbil-
dungskraft und ihrer Empfindungsweise suchten. Bei der
Lektüre des Naturforschers Geoffroy Saint-Hilaire fand Balzac
jene Form des modernen Bomans, die er auf die Beobach-
tung der sozialen Erscheinungstypen in Analogie mit der der
Naturphänomene gründete. Es waren die Entdeckungen von
Charcot und Pierre Janet, die Francois de Curel zu seiner
„Nouvelle Idole" inspiriert haben, so wie die Theorien der
Entwicklungslehre ihm später die Idee zu „L'Ame en folie"
gaben. Es ist sicher, daß die Erkenntnis der Menschen, die uns
Freud bringt, die Künstler in den Bereich ihres Einflusses
ziehen wird. Die Durchsichtung unserer psychologischen Er-
kenntnisse, die er uns nahelegt, ist so gründlich, seine Vor-
stellungen von der Seele so grundverschieden von der der
zeitgenössischen Psychologen, daß man sogar eine wirkliche
literarische Bevolution erwarten darf. An dem Tag, an
dem die Freudschen Ideen die Oberhand erlangt
haben werden, wird uns all das, was wir täglich im
Roman oder im Theater über uns ergehen lassen,
oberflächlich oder falsch erscheinen.
Die Frage, die ich von Ihnen gerne diskutiert hätte, ist
folgende: sollen wir dem Strom widerstehen, der uns in die
Gewölbe des Unbewußten treiben will? Oder sollen wir ihm
vielmehr nachgeben und das dichterische Werk mit uns in
jene Höhlen treiben lassen, die es dann gewiß völlig umgestaltet
verlassen wird? Ist es vorzuziehen, daß die Dramatiker in
die verschüttete Welt, die jeder in sich trägt, nur intuitiven
Einblick nehmen? Sollen sie sich mit blitzartigen Erhel-
lungen ihres Instinkts zufrieden geben? Oder soll man
wünschen, daß sie die menschlichen Geheimnisse methodisch
ausgraben ?
Soll man auf dem Wege der traditionellen Psychologie
verbleiben? Einzelheiten schildern, die menschlichen Leiden-
schaften in ihren unmittelbaren Reaktionen beschreiben? Man
kann es. Die heutige Menschheit, zutiefst durch die sozialen
Krisen zerwühlt, bietet ja noch reiches Beobachtungsmaterial
genug. Aber glauben Sie nicht, daß die Empfindungen von
Ermüdung und Ekel, die uns fast bei jedem zur Veröffent-
lichung oder Vorführung gelangenden Werk überkommen, nicht
von der Überfülle dieser Werke herrühren, sondern vielmehr
von ihrer Gleichheit? Gedicht, Tragödie, Roman, jedes
literarische Erzeugnis zeigt den Menschen nur in den Aus-
wirkungen seiner bewußten Persönlichkeit und mir scheint,
daß unsere Zeit nach anderen Dingen schreit. Es lebt in
uns, wenigstens bei einigen, der heimliche uneingestandene
Wunsch, nach einer Änderung des Gesichtspunktes, nach
einem Wechsel der Grundlagen. Wir stehen vor einer Ab-
reise und träumen voll Neugier, mit ein wenig Angst, von
der Reise ins Unbewußte.
Glauben Sie ja nicht, daß diese Reise gefahrlos ist. Wir
können dabei mehr als Illusionen verlieren. Wir können
unsere Fähigkeit zur Produktion einbüßen. Die Alten sagten,
wer Gott geschaut hat, muß sterben. Der Künstler, der die
letzte Wahrheit seiner Seele geschaut hat, muß vielleicht
schweigen.
Sie kennen alle den Ödipus und wissen, wie ihn die
Psychoanalyse auslegt. Für Freud ist Ödipus, der, ohne es zu
wissen, seine Mutter gefreit und seinen Vater erschlagen
hat, die Symbolisierung der Tendenzen der Kindheit, die
von unbewußten Impulsen zu Vatermord und Blutschande
überflutet war. Nehmen Sie an, daß Sophokles, statt diese
Dinge nur genial und oberflächlich erfaßt zu haben, in der
Traumanalyse eine Bestätigung gefunden hätte, nehmen Sie
an, daß er alle Mittel zur Kontrolle gehabt hätte, die ein
moderner Psychiater hat, daß er Kenntnis gehabt hätte vom
Unbewußten, — der „Ödipus", den er dann geschrieben
hätte, wäre weit entfernt gewesen von dem, der uns er-
halten ist. Vielleicht aber hätte er den Ödipus über-
haupt nicht geschrieben.
Ich will Ihre Diskussion nicht beeinflussen, ich will Ihnen,
abschließend, nur mein Empfinden mitteilen. Ich glaube,
wenn wir auch die Gefahren sehen, die uns bedrohen, —
wir sollen ihnen die Stirne bieten. Ich glaube, wir müssen
den Weg betreten der sich uns geöffnet hat, — es heißt
42
das Abenteuer wagen. Ich glaube, es werden nicht die
großen Künstler unter uns sein, die sich durch das Wissen
um das Unbewußte lähmen lassen werden. Ich glaube, es
gibt keine letzte Wahrheit, der nichts mehr folgen würde.
Ich glaube, daß die Seele immer wieder unter wechselnden
Verkleidungen vor jenem flieht, der sie durchschauen will.
Wie weit wir auch gehen mögen, ich glaube, wir werden
uns immer einem „Geheimnisvollen" gegenüber finden, das
an Ungewißheit und Rätseln reich genug ist, um die Möglich-
keit zum Träumen zu lassen, zum Zweifeln, zum Suchen,
zum Lieben, zum Fürchten, — also zum Schaffen.
Frederik van Eeden über Psychoanalyse
„Es kommt mir in der Tat so vor, als ob die Arbeit von Freud
in allgemein kultureller Hinsicht wichtiger ist als die der meisten
berühmten Gelehrten unserer Zeit, und daß nur die physikalisch-
mathematischen Forschungen der Einstein-Lorentzschen Schule
damit zu vergleichen sind."
„. . . Man kann sich denken, wie liebenswürdig eine Therapie,
die Triebverdrängung als Grund aller Neurosen annimmt, und
zum Zwecke der Psychoanalyse das Sexualleben in absolut rück-
sichtsloser Weise durchsucht und durchstöbert — von Moralisten
und Seelenhirten aufgenommen worden ist."
„. . . Von größter Wichtigkeit ist wohl Freuds Behauptung,
daß die Sexualität schon im zartesten Kindesalter ihren
Anfang nimmt und daß fast alle sexuellen Störungen zurückzu-
führen sind auf Eindrücke, Erregungen, physische Verletzungen
in der Kindeszeit. Jeder Nervenarzt wird das Hervortreten dieser
Tatsachen würdigen müssen, als von eminenter Bedeutung für
Hygiene und Therapie. Schon allein dadurch verdient Freud die
Dankbarkeit der Menschheit."
„. .. Wer dichterisch, — d. h. tief und ganz menschlich die
Freudschen Entdeckungen empfindet, wird von einem Schauder
ergriffen."
43
Gemeinsamer Tagtraum und Dichtung
von
Hanns Sachs
Als die Psychoanalyse auf die entscheidende Bedeutung
der Tagträume für den Lebensweg und die Liebeswahl des
Einzelnen hinwies, traf sie wenigstens an dieser einen Stelle
mit einer längst gangbaren Überzeugung zusammen, daß
nämlich die Tagträume die allgemein menschliche Vorstufe
seien, von der aus sich im begnadeten Sonderfalle der Auf-
stieg zum Kunstwerk, zur Dichtung vollziehe. Sachs weist
in seinen „Gemeinsamen Tagträumen" (Imago-Bücher Nr. V,
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien) die unbe-
wußten Quellen der Tagträume nach, und untersucht ein-
gehend die Frage, wie sich der Tagtraum zum Kunstwerk
verwandelt, wobei er besonders den Fall ins Auge faßt,
wenn zwei irgendwie Gleichgerichtete sich zusammentun,
um gemeinsam einen Tagtraum auszuführen, der dann eine
Zeitlang beiden den eigenen, allein geführten Tagtraum
völlig ersetzt. Die Analyse der „gemeinsamen Tagträume' 1
führt Sachs zu einer differentiellen Psychologie des dichte-
rischen Schaffens. (Im besonderen Teil des Buches analysiert
er in zwei breit angelegten Studien zwei Kunstwerke, die beide
Anzeichen einer Produktionshemmung im Leben ihrer Schöpfer
darstellen: Schillers „Geisterseher" und Shakespeares „Sturm".
Die Psychoanalyse entwickelt sich „nach dem Gesetz, nach
dem sie angetreten" ; aus der Erforschung seelischer Störungen
erwachsen, vermag sie sich den Problemen der künstlerischen
Schöpfung auch am besten von der Seite der Hemmungen her
zu nähern.) Dem einleitenden Essay sind die folgenden Aus-
führungen entnommen.
Mit der intensiven Verdichtung sowie mit der ausgiebigen
Verwendung der Symbolik geht der gemeinsame Tagtraum
über die Grenzen des gewöhnlichen Tagtraumes hinaus und
nähert sich dem Traum. Die Wunscherfüllung der bewußten
Persönlichkeit, die im Tagtraum sonst die erste Rolle spielt,
ist infolge eines erfolgreichen Durchbruches des Unbewußten
zurückgetreten. Dies kann nur beim gemeinsamen Tagtraum
in typischer Weise zustande kommen: Er beruht ja nicht
44
darauf, daß zwei Menschen erkennen, sie hätten dieselben
bewußtseinsfähigen Ziele, Pläne oder Absichten, sondern
darauf, daß sie die Gleichheit ihrer unbewußten Wünsche
erkennen und sich nun einen Teil dessen, was sonst von
der Verdrängung dem Bewußtsein ferngehalten wird, gönnen
können.
Was für die gemeinsamen Tagträume richtig ist, gilt eben-
so, doch in sehr erweitertem Maße, für die Dichtung. Der
Dichter ersinnt und vollendet sie zwar allein und in Abge-
schlossenheit von der Menge ; das war aber wohl kaum vom
Anfang an so, denn die älteste Dichtung war gewiß Im-
provisation. Auch jetzt noch dürfen dem Dichter wenigstens
in der Vorstellung die andern nicht fehlen, auf die er wirken,
die er unter den Bann seines Werkes bringen kann. Diese
anderen, die Zuhörer, Leser, Zuschauer, werden gezwungen,
der Illusion zu unterliegen, d. h. eine Zeitlang auf das, was
sie doch als erdichtet und erfunden kennen, mit ihrem Affekte
so zu reagieren, als wäre es wahr und wirklich, ja weit
mehr als irgendein beliebiges Stück Wirklichkeit, als wäre
es ihr eigenstes Erleben, das durch Zaubermacht vor sie hin-
gestellt würde. Die illusionäre Kraft, die von der Dichtung
ausgeht, beruht nicht etwa auf Nachahmung der Realität,
— die Dichtung geht vielmehr den umgekehrten Weg; sie
erregt die Affekte und deren als Wirklichkeit, als unmittel-
bare seelische Gewißheit empfundene Gegenwart läßt das
Vorgetragene als Miterlebtes erscheinen.
Der Dichter kann die Affekte, deren Hilfe er in Anspruch
nimmt, durch sein Werk nicht erst in die Brust der Hörer
einpflanzen, er kann nur schon vorhandene erregen und in
Schwingung bringen.
Wir wissen zur Genüge, daß das Kunstwerk wesentlich
im Unbewußten wurzelt, die verhüllte Durchsetzung ver-
drängter Wünsche bedeutet, die in letzter Linie stets vom
Odipus-Komplex abstammen. Durch ihre künstlerische Dar-
stellung befreit sich der Dichter, — aber wie kommt es,
daß er in der Form des Kunstwerkes Dinge lautwerden
lassen kann, die sonst ihm wie den anderen Menschen ver-
45
"
sagt und verboten sind? Die Antwort lautet: Durch die
Resonanz, die sein Werk in der Brust der Hörer findet,
durch die Illusion, in die es sie zu versetzen vermag, durch
die Affekte, die es hei ihnen auslöst, zwingt er sie zu dem
Eingeständnis: „Ja, deine verdrängten Wünsche, deine ver-
botenen Triebe sind auch die unsrigen, auch wir sind alle
mit deiner Schuld beladen." Dieses unwillkürlich und un-
bewußt gegebene Eingeständnis der Mitschuld wirkt
befreiend und entlastend, es gestattet die Herabsetzung der
Verdrängungsschranken und eine größere Annäherung an
das Unbewußte, das haben wir bei den gemeinsamen Tag-
träumen sehen können. Lag in dem durch seine Mitarbeit
bezeugten Eingeständnis eines Einzelnen schon so viel Er-
leichterung, um wieviel mehr muß es bedeuten, wenn eine
unübersehbare Menge von Aufnehmenden durch das bereit-
willige Mitgehen ihrer Affekte und die Mitarbeit ihrer Phan-
tasie dasselbe Zeugnis ablegen muß. Deshalb kann das Kunst-
werk ein so freies Spiel der schöpferischen Kräfte zeigen
und aus einer so tiefen, unerwarteten, dem Dichter selbst
überraschenden Inspiration stammen, deshalb einem von der
Enge des Ichs unbeschwerten Traum so ähnlich sein, weil
es zwar dem Unbewußten eines Einzelnen, aber doch auch
zugleich dem vieler, ja aller entstammt.
^ Das wird noch viel deutlicher und überzeugender, wenn
wir es statt mit dem individuellen psychologischen Forschungs-
resultate der Psychoanalyse mit ihrer entwicklungsgeschicht-
lichen Theorie in Zusammenhang bringen, die in Freuds
„Totem und Tabu" niedergelegt ist. Dieser zufolge ist das,
was der Einzelne als Ödipus-Komplex erlebt und als Kern
seines Unbewußten durchs Leben trägt, die ontogenetische
Wiederholung der menschlichen Urgeschichte. Am Eingang
der Kultur steht der Vatermord, deshalb ist das Schuld-
bewußtsein ihr unzertrennlicher Begleiter.
. . . Die Ermordung des Vaters, wenn sie in der Gemein-
schaft sämtlicher Brüder geschieht, ist eine von Schuld-
gefühlen verfolgte, schwere und unheimliche Tat, aber auch
eine heilige Kot, die jeder Kulturtat zugrunde liegt und sich
46
in jedem Kulturfortschritt wiederholt. Die Begehung der Tat
durch einen Einzelnen, der sein Strehen nach dem Allein-
besitz der Mutter verrät, ist das schwerste aller Verbrechen,
die eigentliche soziale Untat, die Lossagung von dem Bande,
das alle bindet und verbindet.
Sowie der Tagträumer seiner Phantasie die Zügel lockert,
führt sie ihn unweigerlich dem Unbewußten, als dem eigent-
lichen Gebieter alles Wünschens und Phantasierens zu. Das
heißt, die Tagträume haben stets die Tendenz, zu Darstellungen
der im Ödipus-Komplex enthaltenen Wünsche zu werden,
und so steht der Tagträumer stets in Gefahr, das UrVer-
brechen in seiner Phantasie zu wiederholen — als Einzelner
und Vereinzelter zu wiederholen. Von dieser Gefahr befreit
er sich, ohne auf die Phantasiebefriedigung zu verzichten,
wenn er sich vom Tagträumer zum Dichter verwandelt, denn
dann hat der Vereinzelte den Weg zu den andern, zur Ge-
meinschaft der Brüder zurückgefunden, er darf sich wieder
als Glied der Gesamtheit, als ihresgleichen empfinden, wenn
ihr von ihm erweckter Gefühlssturm, ihr Beifall ihm zuruft,
daß er nicht bloß seine, sondern ihre Wünsche gestaltet habe.
Die ältesten Dichtwerke, die religiösen Mythen, halfen so
die ersten sozialen Bande um eine Gemeinschaft fester zu
knüpfen und ihre Schöpfer, die Dichter, Seher, Besessenen
galten mit Recht als heilig und unheimlich zugleich. Der
Tagtraum hat bekanntlich stets die eigene Person des Träumers
zum Helden, wie verhält sich da der von zweien gemein-
schaftlich verfaßte Tagtraum? Er hat, so wie zwei Verfasser,
auch zwei gleichberechtigte Helden oder Heldinnen. Wir
wissen aber bereits, daß der gemeinsame Tagtraum die Keim-
zelle zur Dichtung in sich trägt, die an die Stelle einer be-
sonders aufeinander abgestimmten Zweiheit, zu deren Zu-
sammenfinden ein günstiger Zufall notwendig ist, eine un-
begrenzte Anzahl setzt, da sie aus dem Drang entspringt,
möglichst viele, wenn auch nur als Aufnehmende und passive
Teilnehmer ins Spiel zu ziehen. Auch diese sollen mitphan-
tasieren, d. h. Helden des Tagtraumes werden können, und
das ist unmöglich, sobald der Dichter in eigener Person als
47
Held des Tagtraumes auftritt. Um dieses Hindernis zu be-
seitigen, muß der Dichter einen unpersönlichen, oder besser
gesagt, einen überpersönlichen Helden erschaffen, mit dem
er sowohl wie alle Hörer sich identifizieren können, weil er
gleichzeitig jeder ist und keiner.
Eine der ältesten Menschennachbildungen ist die sogenannte
„Venus von Willendorf", eine kleine Statuette aus der älteren
Steinzeit. Sie stellt eine Frau mit starken Brüsten und Gesäß
vor, deren Gesichtszüge durch ein Geflecht vollständig ver-
hüllt sind So hatte wohl auch die Heldengestalt der ältesten
Dichtung ein verschleiertes Antlitz, das jeder für sein eigenes
halten durfte.
Mit dieser Verwischung der eigenen Persönlich-
keit, die er der Gewinnung des Interesses seiner Hörer
opfern mußte, hat der Dichter auf einen erheblichen, ja
vielleicht sogar den wichtigsten Teil der Lust verzichtet, die
ihm der Tagtraum geboten hätte, nämlich auf die Lust, seine
eigene Person im Spiegel des Tagtraumes groß und ruhm-
reich, schön, mächtig und geliebt zu sehen. Die Selbstver-
liebtheit, die dabei ihre Befriedigung suchte, nennen wir in
der Analyse Narzißmus; wir wissen, daß sie in der Ent-
wicklungsgeschichte der Persönlichkeit die größte und früheste
Rolle spielt, ehe noch irgendeine andere Person als Gegen-
stand der Liebe in Betracht kommen kann, und daß sie ihre
älteren Rechte der Objektliebe gegenüber immer wieder zur
Geltung zu bringen sucht. Auf die narzißtische Befriedigung
scheint der Dichter zu verzichten, um sich durch seine
Preisgabe die Möglichkeit zum volleren Ausleben des Odipus-
Komplexes zu schaffen, der die erste und entscheidende Form
der Objektliebe darstellt. Eine Aufopferung des Narzißmus
zugunsten der Objektliebe, so scheint es also: aber ist es
wirklich eine Aufopferung?
Damit allein, daß die Figur des Helden aufhört, den Namen
und die Züge ihres Schöpfers zu tragen, ist noch nicht alles
geschehen. Es braucht noch mehr, um den Tagtraum zur
Dichtung umzuwandeln. Die Hörer müssen veranlaßt werden,
sich in die Phantasie einzufühlen, sie mitzuerleben, obgleich
48
r
dasjenige, worauf ihr Miterleben eigentlich beruht — die
unbewußten Wünsche — nicht unverhüllt ausgesprochen und
geschildert werden darf; handelt es sich doch um Verdrängtes,
dem Bewußtsein des Dichters und seiner Hörer gleichmäßig
Entfremdetes, dessen Wiederkehr nicht mehr möglich ist und,
wenn sie doch gewaltsam erzwungen würde, Abscheu statt
Lust erregen müßte. Gerade das Wesentliche darf nur in-
direkt und andeutungsweise zugegen sein; es bleibt freilich
auch im Hintergrunde wirksam, der Vordergrund muß aber
durch andere Gestalten und Farben belebt werden.
. . . Unter dem Begriff der künstlerischen Form im
weitesten Sinne fassen wir den Aufbau und die Symmetrie,
die Steigerung oder beabsichtigte Wiederholung, die Moti-
vierung und Charakteristik, Wohllaut und Klarheit, Reim
und Rhythmus zusammen. Gemeinsam ist diesen Form-
elementen, wenn sie auch aus den verschiedensten seelischen
Schichten stammen mögen, das eine, daß sie die Fähigkeit
besitzen, beim Hörer Wohlgefallen zu erregen und seine Auf-
merksamkeit anzuziehen. Sie gewähren eine Lustprämie, die
an und für sich zwar recht klein sein mag, die aber doch
genügt, um die bewußte Aufmerksamkeit zu bestechen, sie
auf die Spannung oder die Schönheit, durch die das Vor-
getragene sich auszeichnet, hinzulenken; so bilden sie eine
Fassade, die zwar selbst eine vorläufige Lustprämie, wir
nennen sie „Vorlust" bietet, deren eigentlicher Zweck aber
darin besteht, daß unter ihrem Schutze die aus dem Un-
bewußten stammende Lust, die Endlust, unbemerkt und
straflos genossen werden kann. Deshalb beeinträchtigt es den
ästhetischen Genuß nicht im mindesten, wenn der Schönheit
des Kunstwerkes, d, h. also seiner Vorlust, die Affekte
der Trauer, des Mitleides und anderer, die wir sonst als
unangenehm kennen, in reichlichem Maße beigemischt sind.
Im Gegenteil, gerade die tragischen Affekte können, weil sie
unser Schuldbewußtsein decken und ihm zugleich ein Sühn-
opfer in Aussicht stellen, am schnellsten und unmittelbarsten
von der „Fassade" zur Endlust hinführen, und das ist die
einzige Bedingung, an die der ästhetische Genuß geknüpft
49
ist. Deshalb ist diese im höchsten Maße davon abhängte,
dau die „Fassade nicht willkürlich zusammengesetzt oder
nur durch äußerliche Motive, wie Nachahmung, Mode oder
Tradition zustande gekommen ist, denn je inniger und wesens-
hafter die Beziehung zwischen der Vorlust-Fassade und dem
unbewußtem Inhalt ist, je mehr sie sich das Unbewußte, wie
die Raupe ihre Chrysalis, selbst gebaut hat, desto stärker ist
die künstlerische Wirkung der Dichtung, denn um so viel un-
mittelbarer, müheloser und tiefer vermag der Hörer aus dem
unbewußten Inhalt zu schöpfen.
Will also der Tagträumer sich Mitträumer gewinnen und
seinen Phantasieknäuel nach Form und Regel abwickeln, so
genügt dazu die angeborene Begabung, d. h. die feinere
Empfindlichkeit für Schönheit und Wohlklang, obgleich sie
natürlich mit zu den Voraussetzungen gehört, allein noch
nicht. Handelt es sich doch um etwas, was nicht von außen
angeflogen sein darf, sondern sich aus der tiefsten Beziehung
des Dichters zu seinem Werke entwickeln muß. Während
seiner Schöpferarbeit muß er von einem übermächtigen Trieb
gedrängt werden, diesem Werke Schönheit zu verleihen, über
dem er alle vergangenen und zukünftigen Werke, ja sich
selbst vergißt.
Woher stammt dieser Trieb? Wir sind ihm bereits be-
gegnet, denn es kann kein anderer sein, als der scheinbar
aufgeopferte Narzißmus. Einen wirklichen und end-
gültigen Triebverzicht kann es im Seelenleben ebensowenig
geben, wie im Weltall einen wirklichen Kraftverlust; der
Narzißmus, der für die eigene Person unverwendbar geworden
war, ist von ihr aus auf das Werk verschoben worden, das
ja nur ein Stück dieses Ich ist. Der Wunsch, schön und
mächtig zu sein, wurde umgewandelt in den Wunsch, dem
Werke Schönheit und Macht über die Gemüter der Menschen
zu verleihen. Durch diese Verschiebung vom Ich aufs Werk
hat der Dichter neuerlich eine Rückkehr zur Realität ge-
funden, denn während der Traum des Tagträumers dazu
verurteilt ist, ewig Traum zu bleiben, erreicht der Dichter,
wenn er einer ist, sein Ziel wirklich und es gelingt seinem
Werke früher oder später, die Menschenseelen zu bezwingen
und zur Bewunderung hinzureißen.
Die erste Voraussetzung der Umwandlung des Tagträumers
ist also, daß sein Tagtraum stärker der Anziehungskraft des
Unbewußten — wesentlich des Ödipus-Komplexes — unter-
liegt, daß aber auch sein Schuldbewußtsein empfindlicher
darauf reagiert. Wenn er dann, um die Entlastung dieses
Schuldbewußtseins in der Wirkung auf Andere, h. h. in der
unbewußten Anerkennung ihrer Mitschuld zu finden, den
Narzißmus von seiner Person auf das Werk zu verschieben
imstande ist, — dann ist er zum Dichter geworden.
Es läßt sich vermuten, daß zwischen den beiden Faktoren,
dem nach Entlastung lechzenden Schuldbewußtsein
und dem zur Aufgabe des Ichs und zur Verschiebung
auf das Werk bereiten Narzißmus ein innerer, vielleicht
wechselseitiger Zusammenhang bestehe. Das vom Gewissen
schonungslos kritisierte und verurteilte Ich sucht für seine
Selbstliebe ein Asyl zu finden, wo ihm der Verfolger nichts
anhaben kann. Das ist ihm vortrefflich gelungen, wenn es
seine Phantasien, also einen Teil des Ich und sogar den-
jenigen, der dem Verdrängten und Verpönten am nächsten
steht, soweit veredelt, daß dieser Teil dem Ich-Ideal, also
dem Richter, in dessen Diensten der Büttel „Gewissen" steht,
annehmbar und sogar wohlgefällig wird. Dieser Ausweg hat
seinen Platz neben den sonstigen Kompromissen zwischen
Verdrängung und Verdrängtem, Ich-Ideal und Triebleben,
die wir auf anderen Gebieten kennen, z. B. dem Traum,
der Neurose und der Perversion. Ihnen allen ist das Be-
streben gemeinsam, der ökonomischen Verteilung der gegen-
einander wirkenden Kräfte Rechnung zu tragen. Allerdings
muß beim Traum das geschädigte Streben nach Einziehung
der Objektbesetzungen auf das Ich, bei der Neurose das ge-
hemmte Ich, bei der Perversion die vom Genitalprimat ab-
gehaltene Sexualität die Kosten des Kompromisses tragen,
während in unserem Falle das Ich zwar seines Narzißmus
beraubt wird, aber dafür eine neue soziale Leistungsfähigkeit
erwirbt.
51
. . . Die Verschiedenheit aller literarischen Schulen und
Stile läßt sich in letzter Linie auf das Vorwiegen des einen
oder des anderen der beiden das dichterische Schaffen regie-
renden seelischen Mechanismen — Schuldbewußtsein und
Narzißmus — zurückführen. Sturm und Drang, Romantik,
Naturalismus zeugen vor allem von dem Wunsch, sich durch
Mitteilung, ja durch lautes Hinausschreien dessen, was das
Herz des Dichters bedrückt und erregt, zu befreien. Nicht
die Form ist das Wesentliche, sondern die Leidenschaft, und
die Stoffwahl sucht nicht das Schöne und Ruhige, sondern
das Häßliche und Quälende, Aufregende und Spannende. Oft
gerät sie dabei in unmittelbare Nähe des Ödipus-Komplexes.
Nicht nur in ihrem Stil und ihrer Stoffwahl, auch als lite-
rarische Bewegung haben diese Schulen den Charakter des
Aggressiven und Revolutionären. Unter ihrer Fahne sammeln
sich die „Jungen", die Umstürzler, die Söhne, die das Joch
der Tradition der Väter abwerfen wollen. Die andere Rich-
tung, die nach Vorüberbrausen der ersten, „wenn sich der
Most noch so absurd gebärdet", immer wieder zu Ehren
kommt, ist die klassizistische, die ebenso typisch den Alters-
jahren, der „zweiten Periode" angehört, wie die erste der
Jugend. Bei ihr sind die scharfen Konflikte und das dazu-
gehörige Schuldgefühl bis auf einen leisen Nachklang ver-
hallt. Nicht der Stoff ist wichtig, sondern die Form, das
Werk entsteht nicht in leidenschaftlichem Überschäumen,
sondern wird in langsamer, geduldiger Arbeit von allen
Schlacken befreit, bis es makellos vor seinem Schöpfer steht.
Statt des „Was" ist das „Wie" die Hauptfrage geworden,
der Impuls, das Herz bloßzulegen, die stürmische Inspiration
treten zurück; „Dunkelarbeit, bei Licht zurechtgerückt"
nennt Fontane das dichterische Schaffen, aber der Ton fällt
bald auf die erste, bald auf die zweite Hälfte des Satzes.
. . . Der Künstler kann niemals dazu ausersehen sein,
Massenführer im Sinne von Freuds Massenpsychologie zu
sein, also die anderen nicht nur zu einer Handlung, etwa
einer politischen Tat zu begeistern, sondern sie auch bei der
Ausführung zu leiten. Zum Führer ist nur der ausersehen,
5 2
der, vom Schuldgefühl ungebeugt, seinen Narzißmus unein-
geschränkt beim eigenen Ich zu erhalten vermag, der sich
von der Masse bewundern und lieben läßt, ohne sich selbst
an sie hinzugeben. Der Dichter aber leidet nicht weniger,
sondern mehr als die übrigen unter dem Schuldgefühl, er
muß unter seinem Druck den Narzißmus von der eigenen
Person ablösen und auf das Werk verschieben; er muß den
Rückweg von der Vereinzelung zur Brüdergemeinschaft mit
diesem Opfer zu erkaufen bereit sein. Das bedeutet, daß er
sich zum Führer nicht eignet, — wie dies auch die Erfah-
rung jederzeit gezeigt hat, — sondern ein Massen-Individuum
ist, allerdings ein besonders differenziertes.
Wenn dem Dichter nach Beifall und Zustimmung ver-
wandter Seelen verlangt, so geschieht es, wie wir gesehen
haben, nicht aus gemeiner Eitelkeit, sondern weil ihn die
eigentliche Triebfeder seines Schaffens, das Schuldgefühl, dazu
treibt. Er will die Anerkennung auch gar nicht für sich,
sondern nur für sein Werk. Er zieht es gewöhnlich vor,
unbeachtet beiseite zu stehen, statt vom Jubel der Menge
gefeiert zu werden, und wenn sein Narzißmus schließlich
doch auf dem Umweg über das Werk und den Künstler-
ruhm direkte Befriedigung erhält und annimmt, so bleibt
für ihn das Werk doch immer der eigentliche Selbstzweck.
Sein Streben ist der Gegensatz zu dem Herostratischen: „Be-
rühmt werden, gleichviel wodurch!", für ihn gibt es nur
einen einzigen Weg zum Ruhm. Er stellt alles, was seiner
Alltagspersönlichkeit angehört, zurück, um sein Unbewußtes
aus dem Munde seines Ideal-Ich sprechen lassen zu dürfen:
„Ich dachte, mich triffts, ob ich leide,
Den Andern, dacht' ich, schuld' ich heitre Ohrenweide.
,Begriffen' sagte Moira, ,Größe stimmt dich schön.'
,Die Glocke' rief sie, .sollt ihr auf dem Turm erhöhn!'"
(Spitteler, Olympischer Frühling II/I.)
Die Glocke, die zu Beginn der „hohen Zeit" durch Moira
erwählt wird, den Weltenfrühling einzuläuten, ist — der
Dichter.
53
Carl Spitteler t
von
Hanns Sachs
Aus „Imago, Zeitschrift für Anwen-
dung der Psychoanalyse auf die Geistes-
wissenschaften", Bd. X (1924).
Künstler stehen jenseits der Nekrologe; ihr Sterben und
Auferstehen ist nicht an die Auflösung ihres Körpers gebunden,
sondern an den Rhythmus der Jahrhunderte, der sie auf-
und niederschaukelt, bis sie endgültig untersinken oder bei
den Unsterblichen landen. Darum ist es wohl nicht angebracht,
das Urteil über die Größe Spittelers und die Prophezeiung
seiner Unsterblichkeit, die bei seinen Lebzeiten in diesen,
nach einem seiner Meisterwerke benannten Blättern öfters
ausgesprochen wurden, 1 noch einmal zu wiederholen und
zu begründen. Auf den Glanz seiner schöpferischen Kraft
ist jetzt durch seinen Tod ebensowenig ein Schatten gefallen,
wie während des Schaffens durch die Bedrängnis innerer
und äußerer Nöte, unter denen er entstand.
Statt über den der Macht des Todes nicht unterworfenen
Künstler möchte ich ein paar Worte über den Eindruck
sagen, den ich von der menschlichen Persönlichkeit des Ab-
geschiedenen empfangen habe — Eindrücke, die selbst bei
strengster und kritischester Wertung durchaus danach angetan
sind, die Umrisse der Dichtergestalt hervorzuheben, nicht,
sie zu verzerren.
Der Greis mit den leuchtenden, tiefblauen Augen, dem
ich vor etwa fünfzehn Jahren zum erstenmal gegenüberstand,
sah dem Zeus ähnlicher als dem Apoll, den Spitteler sich
zum idealen Abbild gewählt hatte. Freilich, der ruhige Glanz,
der über seiner ganzen Existenz lag und bis auf Arbeitszimmer
und Garten ausstrahlte, die echte und fein abgestufte, nie
ins Biedermännische abbiegende Liebenswürdigkeit des Emp-
fanges, der in einem klippenreichen Gespräch stets sicher
1) Hanns Sachs: Carl Spitteler. Imago II (1913), S. 73 ff. - Hanns Sachs
Homers jüngster Enkel. Imago III (1914), S. 80 ff.
54
und unbefangen führende Takt — dies alles war und blieb
echt apollinisch.
Da er wußte, daß ich gekommen sei, um von ihm zu
hören, sprach er damals und auch später ziemlich ausschließ-
lich über sich selbst. Ich glaube nicht, daß ihm das sehr
schwer gefallen ist; so offen sein Blick, so weit sein Welt-
bild war, das eigentlich Interessante, Wissens- und Beachtens-
werte blieb ihm offensichtlich stets die eigene Persönlichkeit.
Daß diese Anbetung seiner „Seele" stets den nur unter
schwersten Mühen erkämpften Werten und der teuer er-
kauften Wahrheit galt, sich nie ins Enge, Kleinliche, Ego-
istische verlor oder zur leeren Phrase verflüchtigte, darin
lag der Wesenskern seine Größe. So ist auch in allen seinen
bedeutenderen Werken die Welt um das Ich des Dichters
herumgestellt, der unter verschiedenen Namen, aber in stets
leicht kenntlicher Verkleidung, als Prometheus, Victor, Konrad,
Gerold, Apoll den eigentlichen Inhalt darstellt. Das Bewunde-
rungswürdige ist, daß diese Selbstverliebtheit stets bereit blieb,
jede, auch die empfindlichste Rücksicht auf sich selbst der
künstlerischen Wirkung aufzuopfern. So idealisiert viele dieser
Gestalten sind, eine gelegentlich bis zur vollsten Schonungs-
losigkeit gesteigerte psychologische Wahrheit sorgt dafür, daß
sie niemals leblos und gipsern wirken.
Klar und bestimmt, fern von jeder Bescheidenheitspose,
■wie in seinen Werken und Gesprächen, handelte er auch in
seinen Briefen über sich selbst. Als Musterbeispiel gebe ich
ein Bruchstück aus dem weitaus interessantesten Briefe, den
ich von ihm erhalten habe, hier wieder:
„Dank. Das ist ein feiner und wahrer Aufsatz, für mich sogar
aufschlußreich. Überhaupt habe ich in meinem Leben öfters
das Gefühl gehabt, ich möchte, ein wissenschaftlich gebildeter
Psycholog und Arzt würde mich mir erklären.
Ich sehe mich selber folgendermaßen:
Ich war und bin zeitlebens klar, auch in der größten Leiden-
schaft geht mir nie das nüchterne Urteil verloren; keine Spur
einer Gefahr, daß ich jemals mein Phantasieleben mit dem
Wirklichkeitsleben verwechsle. Dagegen gewinnt für mein
Gemütsleben die Innenwelt eine unendlich überragende Be-
deutung gegenüber der Außenwelt. Jähe, wahnsinnige, unwider-
55
stehliche Gefühlsstürme, deren körperliche oder nervöse Grund-
lage mir ein Rätsel sind (aber sie kommen selten). Und ein
Geblendetwerden von leuchtenden Phantasiegestalten, deren
Leuchtkraft mein Herz versengt (nicht mein Urteil). Ich kann
deshalb wahnsinnig handeln, ohne wahnsinnig zu denken; weil
meine Handlungen vom Gefühl ertrotzt werden. Siehe Victor:
ein klarer Kopf und gebärdet sich wie ein Wahnsinniger. Er
ist irgendwo krank.
Die Kunst nun ist mir eine dritte Welt neben der Innen-
und Außenwelt, ein willkommenes Mittel, das, was mir herzlich
wahr und wichtig ist, wahrer und wichtiger als die Wirklich-
keitswahrheit, nun wirklich wahr werden zu lassen, hinzustellen.
Das kann ich ja alles nicht mit Worten sagen, aber als
Beobachtungsobjekt für einen sehr, sehr gescheiten Psycho-
oder Patho- oder Neurologen könnte ich schon dienen.
Meine Werke aber mögen dem Psychologen interessant
sein deshalb, weil ich immer auf Schritt und Tritt wahr bleibe,
alles den inneren Erlebnissen ablausche, nichts verschweige,
nichts umgehe, nichts vertusche."
Unsere Gespräche drehten sich natürlich meistens um die
Psychoanalyse, der er, wie ziemlich allen Dingen, als Künstler
gegenüberstand. Als ich ihm zeigte, daß die Fehlhandlung
Victors (gleich zu Anfang der „Imago"), der an der richtigen
Hausnummer „in Gedanken" vorübergeht, dann nach langem
Zögern das aus dem Hause hervorschallende Rindergeschrei
zur Kenntnis nimmt, darauf sofort wieder mit Zweifel reagiert
und sich zur Anerkennung erst entschließt, nachdem ihm der
Gedanke: „Nun, es können mehrere Familien in einem Hause
wohnen" zu Hilfe gekommen ist — daß diese Fehlhandlung
in jeder Einzelheit der von Freud in der „Psychopathologie
des Alltags" entwickelten Theorie entspreche, da war er von
dieser Übereinstimmung durchaus nicht tiefer berührt. Die un-
bewußte Motivierung der Fehlhandlung, gegen die sich die Fach-
psychologen („die schlechtesten aller Psychologen") erbittert
wehrten, war dem Dichter selbstverständlich, das wissenschaft-
liche Breittreten und die dabei verwendeten Fachausdrücke und
Wendungen schienen ihm überflüssig und häßlich. — An einer
anderen Stelle desselben Briefes macht er diesem Grolle Luft:
„Schade, daß Sie bei Ihnen in Ihrer Gemeinde so ein
fürchterlich wissenschaftliches Esperanto sprechen, daß man
56
mir's immer erst ins Deutsche übersetzen mußte, damit ichs
verstehe. Ich muß stets an Heilsarmeedeutsch denken, wenn
ich Schriften der Freud-Schule lese; es ist etwas fanatisch
Ketzerisches dabei, dieses sich Verbohren auf stereotype
Formeln. „Komplex" usw.
A propos „Komplex": den Ödipus-Komplex halte ich für
eine wesenlose Gehirnmarotte. Ich lebe nun schon siebenund-
sechzig Jahre auf dieser Erde, habe verschiedene Völker ge-
sehen und unzählige Menschen beobachtet und noch nicht ein
einzigesmal ein Beispiel dieser ebenso ungeheuerlichen wie
ekelhaften Regung gesehen.
Aber daß die Erotik im Kindesalter zu spielen beginnt,
erachte ich als einen wichtigen Fund. Und daß mein Kadetten-
general dahinein gehört, ist ja gar keine Frage. Natürlich hat
das aber keine perverse Grundlage; ich bin so wenig pervers,
daß ich einen psychischen Ekel empfinde, wenn ein Mann
auf der Szene auftritt usw. usw. — Verzeihung für das viele,
heftige dumme Geschwätz."
Nicht der Sache selbst, dem „Tatbestand" gilt die Anteil-
nahme des Dichters, sondern ihrer künstlerischen Gestaltung.
Daß das Gefühl, das den kleinen Gerold bei seinen Tag-
träumen von dem schönen, besiegten Kadettengeneral leitet,
regelrechte Verliebtheit sei, dafür besteht bei Spitteler nicht
der leiseste Zweifel. Aber daß man die Verliebtheit eines
Knaben in einen Knaben „pervers" nennen könnte, da-
gegen lehnt er sich auf. Er hat ja auch insoferne recht,
als dieses „pervers" nicht einen Gegensatz zur Normalität,
sondern ein wesentliches Stück der normalen Entwicklung
bezeichnen soll.
Den „Ödipus-Komplex", den Spitteler nie gesehen haben
will, hat er, wenigstens nach der Seite des Vaterhasses und
der Todeswünsche hin, auf das nachdrücklichste in „Konrad
der Leutnant" geschildert. Wie tief und richtig muß der
Dichter diesen „Komplex" mitempfunden haben, wenn er
im „Olympischen Frühling" Hera, die Muttermörderin, von
der Furcht vor dem Tode gepeinigt, gehetzt und von Haus
und Bett und Thron vertrieben, schildert. Wo wurde je eine
Neurose exakter wiedergegeben und tiefer in ihren Ur- und
Hintergründen erfaßt, als in diesen volltönend einherrollenden
Versen, deren Poesie einen allerschärfsten — freilich der
57
psychologischen und inneren Wahrheit geweihten — Realis-
mus mit einschließt.
Auch die andere Seite, die Fixierung des Sohnes an die
Mutter, fehlt nicht. Ihr ist am stärksten, freilich auch am
tiefsten verhüllt, „Imago" gewidmet, dieses Meisterwerk des
psychologischen Romans, das uns so vielerlei gelehrt und
gewiesen, unsere Wissenschaft durch ein unentbehrlich ge-
wordenes Kunstwort bereichert hat. Diesem einen Wort hat
der Dichter soviel Sinn und Hintergrund gegeben, daß es
kaum möglich gewesen wäre, ein anderes zu wählen, als
wir daran gingen, dieser Zeitschrift ihren Namen zu geben.
Wer „Imago" in Wahrheit ist, dafür läßt sich allerdings
ein wissenschaftlicher Nachweis nicht führen. Aber wer einmal
ins Reich des Unbewußten hinabgestiegen ist und sein Auge
an die Farbe und Form der dort hausenden Schattengestalten
gewöhnt hat, der zweifelt nicht daran, daß eine so über-
mächtige „Imago" sich nur da formen und die stärkste und
freieste Seele überwältigen kann, wo die Zaubermacht des
Unbewußten der Phantasie gebietet. Daß Victor den Gatten
seiner Theuda scherzhaft seinen Statthalter nennt, während
Spittelers Vater in dessen Knabenjahren diesen Titel wirklich
führte (ebenso wie der Vater des „Narrenstudenten" in den
„Mädchenfeinden"), daß die Frau, der die in „Imago" ver-
klärte Liebe des Dichters galt, in Wirklichkeit seine nahe
Verwandte war, — das sind nur kleine Nebenumstände, die
dasselbe aussagen, was das ganze Werk uns verkündet. Ein
Scheinbild, das stärker und lebendiger ist, als das Leben,
dem es entnommen zu sein scheint, kann nur aus den Ein-
drücken der frühesten Kindheit, von der ersten und stärksten
Liebe herstammen.
Je größer, tiefer und wahrer das Werk eines Dichters
ist, desto mehr schenkt er nicht bloß unmittelbar der Mensch-
heit, sondern auch in Einzelerkenntnissen unserer Wissen-
schaft. Darum läßt sich die Größe Spittelers auch aus dem,
was ihm die Psychoanalyse dankt, ermessen.
58
Der Seelensucher
Alfred Polgar
Ich möchte einem Buch Leser gewinnen, das kaum seines-
gleichen hat unter deutschen Büchern, einem nicht literari-
schen Buch, aber von eigentümlichster spiritueller Schärfe,
die ihre Zeichen ins Hirn des Lesers ätzt. Was sonst als
deutsche Prosa Humor übt, scheint Wasser neben dieser
Quintessenz.
Das Buch heißt: „Der Seelensucher", ein psychoanalyti-
scher Boman von Georg Groddeck.
So was Freches, Ungeniertes, raffiniert Gescheit- Verrücktes
ist von Erzählern unserer Sprache noch nicht gewagt worden.
Man muß zu den Großen satyrischer Dichtung, will man
die Patrone dieser Schrift nennen. Von Jonathan Swifts un-
sterblicher Galle kreist ein Tropfen in des Seelensuchers
Bitterkeit; an Cervantes erinnert der Bitus, nach dem hier
einer zugleich den Priester und das Lamm seiner Narrheit
abgibt, erinnert die Durchsetzung dieser Narrheit mit Idee
und Idealität; in der Babies ihrer Witzigkeit aber gespenstert
das Überdimensionierte der Gargantua-Komik.
Die Gestalterkraft der Meister fehlt dem Georg Groddeck.
Er schreibt wie ein gebildeter Dilettant, sein Buch ist kunst-
los ungebaut. Es stehen nur Wände für ein Flechtwerk von
Gedanke und Beflexion. (Immerhin schlägt manchmal auch
ein gemütliches Fabuliertalent deutschblaue Augen auf.) Die
Figuren haben beiläufige Kontur. Auch der Held, Thomas,
der als Don Quixote Sigmund Freudscher Weltanschauung
seiner fürsorglichen Schwester Agathe durchbrennt, streitbar
durch die deutschen Lande zieht, in die wunderlichsten
Händel und skurrilsten Abenteuer gerät, als Bitter seiner
Dulcinea Psychoanalyse die erbittertsten Bede- und andere
59
Schlachten schlägt, aller Orten — wie der de la Mancha
Burgen, Ritter, Burgfräuleins — aller Orten Symbole, ins-
besondere erotische Symbole sieht, erfüllt von der heil'gen
Gewißheit, daß die Menschen ihre Psyche zwischen den
Beinen tragen und ihre Genitalien an jeder Stelle Körpers
und Geistes.
Ich kann hier von der Art, in der der fahrende psycho-
analytische Bitter alle Erscheinungen in sein gefügiges System
hinüberlistet, von der besonderen Eloquenz dieses weisen
Toren leider nur die wenigst saftigen Proben geben. Aber
auch aus den folgenden zwei schwachen Beispielen ist der
eigenartige Ton herauszuhören, mit dem des Thomas Mühle
mahlt. Über die Weiber äußert er gelegentlich:
„Aber so sind die Weiber. Sie bilden sich immer ein, das
Denken sei wie Strümpfe stricken, das man beliebig unter-
brechen und wieder aufnehmen kann, und bei dem es auf ein
paar fallengelassene Maschen nicht ankommt. Übrigens ist es
ein Irrtum zu sagen: Ich stricke einen Strumpf, zum mindesten
ist es ungenau, man kann ebensogut sagen, der Strumpf strickt
mich, ja erst mit dieser Wendung zeigt man, daß man eine
Ahnung vom Verlauf der Weltgeschichte hat. Der Mensch
macht nicht, sondern er wird gemacht. Wenn Agathe mir einen
Strumpf strickt, so weiß ich, daß ich demnächst eine neue
Fußbekleidung haben werde, und kann mich darüber freuen.
Sage ich aber, der Strumpf strickt Agathen, so sehe ich auf
einmal die Geschichte des weiblichen Geschlechts vor mir,
wie es sich jahrtausendelang in der Beschäftigung mit dem
Kleinen verderben ließ und verdarb. Sieh dir einmal meine
Schwester an. Du denkst, sie ist dieselbe Agathe, wie vor
zwanzig Jahren, ein wenig älter geworden, aber im Grunde
dieselbe. Weit gefehlt. Weißt du, was sie ist? Agathe ist eine
Hutschleife . . . ja, sicher. Als sie damals ihren seligen Willen
geheiratet hatte und sehr bald dahinter kam, welche Dumm-
heit sie begangen hatte, wollte sie vernünftig werden. Und
um sich dazu zu zwingen, schaffte sie sich den würdigen
Kopfputz der Mütter, den Capothut mit langen Bändern an
und knüpfte jeden Tag gewissenhaft eine regelrechte Schleife.
Das ging so eine Zeitlang. Jetzt aber ist sie schon seit Jahren
60
anders. Agathe wird von der Schleife geknüpft. Die Bänder
zerren sie durchs Leben, wie das Seil des Metzgers ein Kalb."
Zur Erscheinung des Beamten hat er dieses anzumerken:
„Der Beamte betrachtet das Publikum als Wickelkind, muß
es so betrachten, er hält sich für verpflichtet, dieses hilflose
Wesen, das nur saugen und heulen kann, zu leiten, hat aber
neben und durch dieses Verantwortlichkeitsgefühl auch die
Größenidee, das Säuglingspublikum zu strafen. Dabei ist er
sich jedoch seiner Unvollkommenheit bewußt, da ihm das
wichtigste zur Amme, die Milch, fehlt, was sich in den beiden
weggelassenen Buchstaben m und e ausspricht. Und gerade
aus dem Mangel der Milch, aus diesen fehlenden zwei Buch-
staben, erklärt sich auch die Abneigung des Publikums. Es
befindet sich dem Beamten gegenüber im Zustand der Ent-
wöhnung, die Brüste schmecken bitter, weil sie mit Chinin
bestrichen sind, und es sucht sich durch versteckte Auflehnung
dafür zu rächen, daß diese verstümmelte Amme Gehorsam
verlangt, ohne dafür süße Milch zu geben. Dieser Ammen-
charakter hat sich in der Gewohnheit der unteren Beamten
erhalten, der Mutter der Kompagnie beispielsweise, ein Notiz-
buch vorn zwischen die Brustknöpfe zu stecken. Sie betonen
so die Milchwirtschaft und reizen damit das Säuglingspublikum
noch mehr, das solches Betonen eines Mangels ja als Hohn
auffassen muß. Bei der Polizei ist die Sache noch schlimmer.
Da liegt in der ersten Silbe das Wort Popo drin, mit den
fatalen Erinnerungen an die Haue, die man bekommen hat.
Die zweite Silbe li ist abgekürzt aus Liebe und weckt den
Gedanken an die geradezu ungeheuerliche Anmaßung der Er-
zieher, daß man sie auch noch dafür lieben soll, wenn sie
einem die Hosen stramm gezogen haben. Und das zei ist nun
gar die Tatsache, daß man nachher in die Ecke gestellt wurde,
bis man um Verzeihung gebeten hatte."
Eine Figur, wie dieser Thomas, so voll der kostbarsten Narr-
heit — die nicht Narrheit, sondern Ernst- Clownerie — ist noch
durch keinen deutschen Roman gewandelt. Hier lehrt einer, zum
Gaudium des Lesers, die Welt über den psychoanalytischen Stock
springen. Alles muß drüber, Mensch und Tier, Politik, Kunst,
Wissenschaft; und, mit etlicher Gewalt und Schlauheit, glückt
61
es bei allen. Eine drolligste demonstratio ad rem et hominem
von der Unfreiheit der Erscheinungen. Wie sich hier Sinn
zu Hanswurstiaden übersteigert, Geist in närrische Aktion
umsetzt, Dogma possenreißerisch sich behauptet, Erkenntnis,
ihrer Unverletzbarkeit hochmütig gewiß, ins dichteste Ge-
lächter stürzt — solche lustige Abenteuerfahrt des Gedankens
hat noch kein deutscher Mann gewagt.
Es ist eine tolle Persiflage der Psychoanalyse und, in den
Hohn hineinverschlungen, die bedingungsloseste Huldigung
vor der Souveränität der Lehre, gewissermaßen: „Wir dürfen
uns sogar erlauben, lächerlich zu sein." Aus der unbedingten
Anwendung der Methode erfließt die Komik, die Methode
selbst erleidet keinen Schaden.
Es stellt sich das Buch dar als eine Reihe von merkwürdigen
Erlebnissen der hohen Theorie in Bezirken der niederen Praxis.
Ungemein ergötzlich ist die dialektische Fechtkunst dieser
Theorie, der Schwung, mit dem sie anrennt gegen Menschen
und Dinge, die joviale Roheit ihrer Kampfführung, die treuen
Hundeaugen, die sie macht, wenn Unheil und Verwirrung
durch sie angestiftet worden sind. Ein Feuerwerk von Funken
gibt es, wo und wie immer der Querkopf des Thomas mit
dem Leben zusammenstößt. Wenn ihn schließlich der Eisen-
bahnzug zerquetscht, bedauern wir sehr, von diesem pracht-
vollen Narren, von diesem gescheitesten dummen August,
endgültig Abschied nehmen zu müssen. Im Gedächtnis bleibt,
wie er von der Wanze in seinem Bett innerlich gewandelt
wird, bleiben die grotesken Gesichte, die er hat, das Un-
gemach, das er, den schwerfälligen Leib opferfroh ausliefernd
an ein lebhaftestes geistiges Tempo, erleidet, der trockene
Glanz seiner Beredsamkeit, das beglückte Märtyrerlächeln,
mit dem er Schlag' und Stöße des Geschicks hinnimmt, die
halsbrecherische Sicherheit, mit der er auf dem geduldigen
Klepper seiner Logik phantastische Schule reitet. Die Konse-
quenz aber, mit der er im Gewebe der Erscheinungen seinen
62
roten psychoanalytischen Faden verfolgt, hat mehr als Komik,
hat fast Größe.
„Der Seelensucher" ist das zweite Buch deutscher Sprache,
das den Namen humoristischer Roman verdient (das erste
heißt: „Auch einer"). Seine besondere Schmackhaftigkeit ver-
dankt es einer Bindung, die der literarischen Küche selten
gelingt: Phlegma und Spiritus.
Warum ich Arzt wurde
und wie ich zur Abneigung gegen das
Wissen gekommen bin
von
Georg Groddeck
Aus dem „Buch vom Es. Psycho-
analytische Briefe an eine Freundin".
Liebe Freundin, Sie wünschen, daß ich Ihnen schreibe,
nichts Persönliches, keinen Klatsch, keine Redensarten, sondern
ernst, belehrend, womöglich wissenschaftlich. Das ist schlimm.
Was habe ich Armer mit Wissenschaft zu tun? Das Biß-
chen, was man als praktischer Arzt nötig hat, kann ich
Ihnen doch nicht vorführen, sonst sehen Sie, wie löchrig
das Hemd ist, das Unsereiner unter dem Staatsgewande der
Approbation als Arzt trägt. Aber vielleicht ist Ihnen mit der
Erzählung gedient, warum ich Arzt wurde und wie ich zu
der Abneigung gegen das Wissen gekommen bin.
Ich besinne mich nicht, daß ich als Knabe besondere
Neigung für das Arztsein gehabt hätte, vor allem weiß ich
bestimmt, daß ich nie, auch später nicht, mit diesem Beruf
menschenfreundliche Gefühle verbunden hätte; und wenn
ich mich, was wohl geschehen ist, mit solchen edlen Worten
zierte, so verzeihe mir ein mildes Gericht mein Lügen. Arzt
60
wurde ich, weil mein Vater es war. Er hatte all meinen
Brüdern verboten, diese Laufbahn einzuschlagen, vermutlich
weil er sich und andern gern einreden wollte, seine finan-
ziellen Schwierigkeiten seien durch die schlechte Bezahlung
des Arztes bedingt, was durchaus nicht der Fall war, da er
bei alt und jung als ein guter Arzt gerühmt und dement-
sprechend entlohnt wurde. Aber er liebte es, wie sein Sohn
auch und wie wohl ein Jeder, nach außen zu blicken, wenn
er wußte, daß in ihm selber etwas nicht stimmte. Eines
Tages fragte er mich, — ■ warum, weiß ich nicht — ■ ob
ich nicht Arzt werden wolle, und weil ich in dieser Frage
eine Auszeichnung meinen Brüdern gegenüber sah, sagte ich
ja. Damit war mein Schicksal entschieden, sowohl für meine
Berufswahl, als auch für die Art, wie ich diesen Beruf aus-
geübt habe. Denn von da an habe ich meinen Vater bewußt
nachgeahmt, so stark, daß eine alte Freundin von ihm, als
sie mich viele Jahre später kennen lernte, in die Worte
ausbrach: „Ganz der Vater, nur keine Spur von seinem
Genie.
Bei jener Gelegenheit erzählte mir mein Vater etwas,
was mich später, als die Zweifel an meinen ärztlichen Fähig-
keiten kamen, an meiner Arbeit festhielt. Vielleicht kannte
ich die Geschichte schon vorher, aber ich weiß, daß sie
mir in der gehobenen Stimmung des Joseph, der besser war
als seine Brüder, tiefen Eindruck machte. Er habe mich,
erzählte er mir, als dreijährigen Jungen mit meiner etwas
älteren Schwester, meiner ständigen Spielkameradin, beim
Puppenspielen beobachtet. Lina verlangte, daß der Puppe
noch ein Kleid angezogen werden solle, und ich gab es
nach langem Kampfe mit den Worten zu: „Gut, aber du
wirst sehen, sie erstickt." Daraus habe er den Schluß gezogen,
daß ich ärztliche Begabung hätte. Und ich selber habe diesen
so wenig begründeten Schluß auch gezogen.
Ich erwähne dieses kleine Ereignis, weil es mir Gelegen-
heit gibt, von einem Zug meines Wesens zu sprechen, von
einer seltsamen Ängstlichkeit geringfügigen Dingen gegenüber,
die mich plötzlich und scheinbar unmotiviert befällt. Angst
64
ist, wie Sie wissen, die Folge eines verdrängten Wunsches;
es muß in jenem Augenblick, als ich den Gedanken äußerte,
die Puppe werde ersticken, der Wunsch in mir lebendig
gewesen sein, irgendein Wesen, dessen Stelle die Puppe
vertrat, zu töten. Wer dieses Wesen war, weiß ich nicht,
vermute nur, daß es eben diese meine Schwester war; ihrer
Kränklichkeit halber wurde ihr von meiner Mutter manches
zugeteilt, was ich als Jüngster
für mich beanspruchte. Da haben
Sie nun, was das Wesentliche
des Arztes ist: ein Hang zur
Grausamkeit, der gerade so weit
verdrängt ist, daß er nützlich
wird, und dessen Zuchtmeister
die Angst ist, weh zu tun. Es
lohnte sich, diesem feingefügten
Widerspiel von Grausamkeit und
Angst im Menschen nachzu-
gehen, weil es gar wichtig im
Leben ist. Aber für den Zweck
eines Briefes genügt es wohl
festzustellen, daß das Verhältnis
zu meiner Schwester viel mit
der Entwicklung und Bändigung
meiner Lust am Wehtun zu tun
hat. Unser Lieblingsspiel war Mutter und Kind spielen, wobei
es darauf ankam, daß das Kind unartig war und Schläge
bekam. Daß alles milde verlief, war durch die Kränklichkeit
der Schwester bedingt und spiegelt sich in der Art wider,
wie ich meinen Beruf ausgeübt habe. Neben der Scheu vor
dem blutigen chirurgischen Handwerk habe ich die Abneigung
gegen das Giftmischen der Apotheke und bin so zur Massage
und zur psychischen Behandlung gekommen ; beide sind nicht
weniger grausam, aber sie lassen sich besser der individuellen
menschlichen Lust am Leiden anpassen. Aus den täglich wech-
selnden Anforderungen heraus, die Linas Herzleiden an mein
unbewußtes Taktgefühl stellten, wuchs dann die Neigung,
„Der Seelensucher"
65
mich mit chronisch Kranken zu beschäftigen, während mich
die akute Erkrankung ungeduldig machte.
Das ist so ungefähr, was ich vorläufig über die Wahl
meines Berufes mitteilen kann. Wenn Sie es nur ein wenig
in Ihrem Herzen bewegen, wird Ihnen schon allerlei über
meine Stellung zur Wissenschaft einfallen. Denn wer von
Kindheit an auf den einzelnen Kranken eingestellt ist, wird
schwerlich systematisch rubrizieren lernen. Aber auch da ist
wohl das Wichtigste die Nachahmung. Mein Vater war ein
Ketzer unter den Ärzten; war sich selbst Autorität, ging eigene
Wege und Irrwege und von Respekt vor der Wissenschaft
war weder in Worten noch in Taten viel bei ihm zu spüren.
Ich besinne mich noch, wie er über die Hoffnungen spottete,
die sich an die Entdeckung des Tuberkel- und Cholerabazillus
knüpften, und mit welchem Hochgenuß er erzählte, daß er
gegen alle physiologischen Lehrsätze ein Wickelkind ein Jahr
lang nur mit Bouillon gefüttert habe. Das erste medizinische
Buch, das er mir in die Hände gab, — ich war damals noch
Gymnasiast, — war die Erfahrungsheillehre Rademachers,
und da darin die Kampfstellen wider die Wissenschaft dick
angestrichen und reichlich mit Randbemerkungen versehen
waren, so ist es wohl kein Wunder, wenn ich schon vor
Beginn meines Studiums geneigt war zu zweifeln.
Diese Lust am Zweifel war noch anders bedingt. Als ich
sechs Jahre alt war, verlor ich zeitweise die ausschließliche
Freundschaft meiner Schwester. Sie wendete ihre Neigung
einer Schulkameradin zu, die den Namen Alma trug, und
was besonders schmerzlich war, sie übertrug unsre kleinen
sadistischen Spiele auf diese neue Freundin und schloß mich
von der Teilnahme daran aus. Es gelang mir ein einziges
Mal, die beiden Mädchen beim Geschichtenerzählen, was sie
besonders liebten, zu belauschen. Alma phantasierte von einer
bösen Mutter, die ihr unartiges Kind zur Strafe in eine
Abtrittsgrube steckte, — man muß sich dabei einen länd-
lichen primitiven Abtritt vorstellen. Noch heutigen Tages
geht es mir nach, daß ich diese Geschichte nicht zu Ende
gehört habe. Die Freundschaft der beiden Mädchen ging
66
vorüber und meine Schwester kehrte zu mir zurück. Aber
jene Zeit der Einsamkeit hat genügt, um mir eine tiefe
Abneigung gegen den Namen Alma einzuflößen.
Und nun darf ich Sie wohl daran erinnern, daß die
Universität sich Alma Mater nennt. Das hat mich stark gegen
die Wissenschaft eingenommen, noch mehr, weil das Wort alma
mater auch für das Gymnasium angewendet wurde, in dem
ich meine humanistische Bildung erhielt und in dem ich viel
gelitten habe, von dem ich viel erzählen müßte, wenn es darauf
ankäme, Ihnen meine menschliche Entwicklung begreiflich
zu machen. Aber darauf kommt es ja nicht an, sondern nur
auf die Tatsache, daß ich all den Haß und das Leid meiner
Schulzeit auf die Wissenschaft übertrug, weil es bequemer
ist, Trübungen der Seele aus dem äußeren Geschehen her-
zuleiten, statt sie in den Tiefen des Unbewußten zu suchen.
Später, erst sehr spät, ist mir klar geworden, daß das
Wort- alma mater, „nährende Mutter", an die ersten und
schwersten Konflikte meines Lebens erinnert. Meine Mutter
hat nur das älteste ihrer Kinder genährt; sie bekam damals
schwere Brustentzündungen, durch die die Milchdrüsen ver-
ödeten. Meine Geburt muß wohl ein paar Tage früher statt-
gefunden haben als berechnet war. Jedenfalls war die Amme,
die für mich bestimmt war, noch nicht im Hause und ich
bin drei Tage kümmerlich von einer Frau gestillt worden,
die zweimal am Tage kam, um mir die Brust zu geben. Es
hat mir nichts geschadet, sagte man mir, aber wer kann
die Gefühle eines Säuglings beurteilen? Hungernmüssen ist
kein freundlicher Willkommengruß für einen Neugeborenen.
Ich habe hie und da Leute kennen gelernt, denen es ähnlich
gegangen ist, und wenn ich auch nicht beweisen kann, daß
sie Schaden an ihrer Seele gelitten haben, so ist es mir doch
wahrscheinlich. Und im Vergleich zu ihnen glaube ich noch
gut weggekommen zu sein.
Da ist zum Beispiel eine Frau, — ich kenne sie viele,
viele Jahre, — deren Mutter sich von dem neugeborenen Kinde
abwandte, sie nährte es nicht, obwohl sie es bei den andern
Kindern tat, und überließ es dem Kindermädchen und der
6?
Flasche. Das Kind aber hungerte lieber, als daß es am Gummi-
pfropfen sog, es kränkelte dem Tode entgegen, bis ein Arzt
die Mutter aus ihrer Antipathie aufrüttelte. Da wurde aus
der fühllosen Mutter eine besorgte. Eine Amme kam ins
Haus und die Mutter ließ keine Stunde vergehen, ohne nach
dem kleinen Mädchen zu sehen. Das Kind gedieh nun und
ist zu einer kräftigen Frau herangewachsen. Sie wurde der
Verzug der Mutter, die bis zu ihrem Tode werbend hinter
der Tochter herlief. Aber in der Tochter blieb der Haß.
Ihr Leben ist eine stahlharte Kette der Feindschaft, deren
einzelne Glieder von der Rache geschmiedet sind. Sie hat
die Mutter gequält, so lange sie lebte, sie ist vom Sterbebett
der Mutter fortgereist, sie verfolgt, ohne daß sie es weiß,
jeden, der an die Mutter erinnert, und sie wird bis an ihr
Lebensende den Neid behalten, den ihr der Hunger einge-
flößt hatte. Sie ist kinderlos. Menschen, die ihre Mutter
hassen, sind kinderlos, und das ist so wahr, daß man bei
unfruchtbaren Ehen ohne weiteres annehmen kann, einer
von beiden Teilen ist Feind seiner Mutter. Wer seine Mutter
haßt, der fürchtet sich vor dem eigenen Kind; denn der
Mensch lebt nach dem Satz: Wie du mir, so ich dir. Dabei
wird sie verzehrt von dem Wunsche, ein Kind zu gebären.
Ihr Gang ist der einer Schwangeren, wenn sie einen Säugling
sieht, schwellen ihre Brüste, und wenn ihre Freundinnen
schwanger werden, bekommt sie einen dicken Bauch. Jahre-
lang ist sie, die vom Leben und Reichtum verwöhnte, täg-
lich als Hilfsschwester in eine Entbindungsanstalt gegangen,
hat die Kinder gereinigt, Windeln gewaschen und Wöchne-
rinnen versorgt und in wahnsinniger Begierde die Neuge-
borenen, verstohlen wie eine Verbrecherin, an ihre milchlosen
Brüste gelegt. Aber sie hat zweimal Männer geheiratet, von
denen sie vorher wußte, daß sie zeugungsunfähig waren. Sie
lebt vom Haß, der Angst, dem Neid und der lüsternen Qual
des Hungerns nach Unerreichbarem.
Da ist eine andere, die hungerte auch in den ersten Tagen
nach der Geburt. Sie hat sich nie entschließen können, sich den
Haß gegen die Mutter einzugestehen, aber das Gefühl, die
68
früh verstorbene Mutter gemordet zu haben, quält sie un-
ablässig, so irrsinnig dieser Gedanke ihr auch scheint. Denn
diese Mutter starb während einer Operation, von der das
Mädchen vorher nichts wußte. Seit vielen Jahren sitzt sie
einsam und krank in ihrem Zimmer, nährt sich von Haß
gegen alle Menschen, sieht niemanden, meidet und haßt.
Was mich selbst betrifft, so ist schließlich die Amme ge-
kommen und sie ist drei Jahre bei uns im Hause geblieben.
Haben Sie sich schon einmal mit den Erlebnissen eines kleinen
Kindes beschäftigt, das von der Amme genährt wird? Die
Sache ist etwas kompliziert, wenigstens wenn das Kind von
der Mutter geliebt wird. Da ist eine Mutter, in deren Leibe
hat man neun Monate gesessen, sorglos, warm und in allen
Freuden. Sollte man sie nicht lieben? Und dann ist da ein
zweites Wesen, an dessen Brust man täglich liegt, deren
Milch man trinkt, deren warme frische Haut man fühlt und
deren Geruch man einatmet. Sollte man sie nicht lieben?
Zu wem aber soll man halten? Der Säugling, der von der
Amme gestillt wird, ist in den Zweifel hineingestellt und
wird den Zweifel nie verlieren. Seine Glaubensfähigkeit ist
im Fundament erschüttert und das Wählen zwischen zwei
Möglichkeiten ist für ihn schwerer als für andere. Und was
kann einem solchen Menschen, dessen Gefühlsleben man von
Beginn an halbiert hat, den man um die volle Kraft der
Leidenschaft betrügt, das Wort alma mater anders sein als
ein Hohn und eine Lüge? Das Wissen aber wird ihm von
vornherein unfruchtbar erscheinen. Er weiß, die eine dort,
die dich nicht nährt, ist deine Mutter und sie beansprucht
dich als ihr Eigentum, die andere aber nährt dich und doch bist
du nicht ihr Kind. Man steht vor einem Problem, das sich
durch Wissen nicht lösen läßt, vor dem man fliehen muß,
gegen dessen aufdringliche Frage man am besten in das Reich
der Phantasie flüchtet. Und wer in diesem Reich heimisch
ist, erkennt irgendwann einmal, daß alle Wissenschaft nichts
anderes ist als eine Abart der Phantasie, ein Spezialfach so-
zusagen, mit allen Vorzügen und mit allen Gefahren der
Spezialität ausgestattet.
69
Es gibt auch Menschen, die sich im Reiche der Phantasie
nicht heimisch fühlen, und von einem solchen will ich Ihnen
kurz berichten. Er sollte nicht geboren werden, wurde aber
doch geboren, trotz Vater und Mutter. Da versiegte die Milch
der Frau und eine Amme kam ins Haus. Das Söhnchen
wuchs inmitten seiner glücklicheren Geschwister, die an der
Mutterbrust lagen, heran, aber er blieb zwischen ihnen ein
Fremdling, sowie er auch den Eltern fremd blieb. Und ohne
es zu wollen oder auch nur zu wissen, hat er allmählich
die Bande zwischen den Eltern gesprengt. Sie sind unter dem
Druck halbbewußter Schuld, die fremden Augen aus der
seltsamen Behandlung des Sohnes deutlich wurde, voreinander
geflohen und wissen nichts mehr voneinander. Der Sohn
aber wurde ein Zweifler, sein Leben wurde halb. Und weil
er nicht wagte, phantastisch zu sein, — denn er sollte ein
ehrbarer Mensch werden, und seine Träume waren die des
ausgestoßenen Abenteurers, — begann er zu trinken, ein
Schicksal, das manchem begegnet, der in den ersten Lebens-
wochen Liebe entbehren mußte. Aber, wie alles, ist auch
die Trunksucht bei ihm halb. Nur zeitweise, für einige
Wochen oder Monate kommt es über ihn, daß er trinken
muß. Und weil ich ein wenig seinen Irrgängen nachgespürt
habe, weiß ich, daß immer diese kindische Ammensache
auftaucht, ehe er zum Glase greift. Das gibt mir die Ge-
wißheit, daß er genesen wird. Und nun etwas Seltsames:
dieser Mann wählte ein Mädchen zum Weibe, das ebenso
tief im Haß gegen die Eltern steckt wie er, das ebenso wie
er kindernärrisch ist und doch das Kinderkriegen wie den
Tod fürchtet. Und weil das seiner zerissenen Seele noch
keine Sicherheit gab, ob ihm nicht doch ein Kind geboren
werden könnte, das ihn strafte, erwarb er sich eine An-
steckung und gab sie seinem Weibe weiter. Es steckt im
Menschenleben viel unbekannte Tragik!
Mein Brief ist zu Ende. Aber darf ich die Geschichte
meiner Amme weiter erzählen? Ich besinne mich nicht mehr,
wie sie aussah, weiß nichts mehr als ihren Namen: Berta,
die Glänzende. Aber ich habe eine deutliche Erinnerung an
70
den Tag, an dem sie 'wegging. Sie schenkte mir zum Abschied
einen kupfernen Dreier und ich weiß genau, daß ich, statt
wie sie wollte, Zuckerzeug dafür zu kaufen, mich auf die
steinerne Treppe der Küche setzte und das Dreierstück auf
den Stufen rieb, damit es glänzte. Seitdem hat mich die Zahl
drei verfolgt. Wörter wie Dreieinigkeit, Dreibund, Dreieck,
haben etwas Anrüchiges für mich und nicht nur die Wörter,
auch die Begriffe, die damit verbunden sind, ja ganze Ideen-
komplexe, die ein eigensinniges Knabenhirn darum herum
gebaut hat. So ist der heilige Geist als Dritter schon in
früher Kindheit von mir abgelehnt worden, die Lehre von
den Dreieckskonstruktionen ist mir in der Schule eine Plage
gewesen und die einst vielgepriesene Dreibundspolitik wurde
von mir von vornherein getadelt. Ja, die Drei ist eine Art
Schicksalszahl für mich geworden. Wenn ich mein Gefühls-
leben rückschauend betrachte, so sehe ich, daß ich, so oft
mein Herz sprach, als Dritter in ein bestehendes Neigungs-
verhältnis zweier Menschen eingedrungen bin, daß ich stets
den einen, dem meine Leidenschaft galt, von dem anderen
getrennt habe, und daß meine Neigung erkaltete, sobald mir
das gelungen war. Ja, ich kann verfolgen, wie ich, um diese
schwindende Neigung am Leben zu erhalten, von neuem
einen Dritten zugezogen habe, um ihn wieder zu verdrängen.
So sind in einer und gewiß keiner unwichtigen Richtung
die Affekte des Doppelverhältnisses zu Mutter und Amme
und der Kampf des Abschiedes ohne Absicht, ja ohne Wissen
von mir wiederholt worden; eine nachdenkliche Sache, die
zum mindestens zeigt, daß in der Seele eines dreijährigen
Kindes seltsam verworrene und doch einheitlich gerichtete
Dinge vor sich gehen.
Ich habe meine Amme später — etwa mit acht Jahren —
noch einmal für wenige Minuten wiedergesehen. Sie war
mir fremd und ich hatte ein schweres Gefühl des Bedrückt-
seins in ihrer Gegenwart.
Von dem Wort Dreier muß ich noch zwei kleine Ge-
schichten erzählen, die Bedeutung haben. Als mein älterer
Bruder anfing Latein zu lernen, fragte ihn mein Vater beim
7 1
Mittagessen, was die Träne heiße. Er wußte es nicht; aus
irgendeinem Grunde hatte ich mir das Wort lacrima vom
Abend vorher, als Wolf seine Vokabeln laut memorierte,
gemerkt und beantwortete nun an seiner statt die Frage. Ich
bekam zum Lohn ein Fünfgroschenstück. Nach Tisch aber
boten mir meine beiden Brüder an, dieses Fünfgroschenstück
gegen einen blankgeputzten Dreier einzutauschen, was ich
mit Freuden tat. Neben dem Wunsch, die überlegenen Knaben
ins Unrecht zu setzen, müssen dumpfe Gefühlserinnerungen
mitgesprochen haben. — Wenn Sie es wünschen, erzähle
ich Ihnen später einmal, was das Wort lacrima und Träne
für mich bedeutete.
Das zweite Ereignis bringt mich in heitere Stimmung,
so oft ich daran denke. Ein Menschenalter später habe ich
für meine Kinder ein kleines Stück geschrieben, in dem eine
vertrocknete, dürre, alte Jungfer vorkommt, ein gelehrtes
Wesen, das griechischen Unterricht gibt und weidlich ver-
lacht wird. Und diesem Kind meiner Phantasie, brüstelos
und kahl wie sie war, gab ich den Namen Dreier. So hat
die Flucht vor dem ersten unerinnerbaren Abschiedsschmerz
aus dem leben- und liebestrotzenden Mädchen, das mich stillte
und an dem ich hing, das Abbild dessen gemacht, was mir
die Wissenschaft ist.
Es ist wohl ernst genug, was ich Ihnen schrieb, ernst
für mich. Aber ob es das ist, was Sie für unsern Briefwechsel
wünschen, wissen die Götter. Sei dem wie ihm sei, ich bin
wie immer Ihr ganz getreuer
Patrik Troll.
72
Psychoanalytische Strafrechtstheorie
von
Dr. Theodor Reik
Von den 10 Vorlesungen, die Reiks jüngstes
Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis"
(Internat. Psychoanalyt. Bibliothek, Bd. 18)
umfaßt, ist hier die sechste wiedergegeben.
Meine Damen und Herren! Wir haben bereits darauf hinge-
wiesen, daß die analytischen Resultate uns auch vor neue Pro-
bleme in der Strafrechtswissenschaft stellen. Es handelt sich
nicht um ein solches Problem, aber um einen wichtigen, neuen
Gesichtspunkt, wenn die Analyse in der Lage ist, zu beweisen,
daß es Urteil und Strafe auch außerhalb der Gerichte gibt,
daß es eine Bestrafung sozusagen in eigener Regie gibt.
Die Kriminalpsychologie hat freilich registriert, daß manche
Verbrecher sich selbst bestrafen, daß mancher Selbstmord
zur Sühnung eines Verbrechens verübt wurde. Aber darum
handelt es sich uns nicht; dies sind ja nur vereinzelte, äußere
Anzeichen psychischer Vorgänge, die nicht immer so lärm-
voll zum Ausdruck gelangen. Es müßte auch zu den Auf-
gaben der Kriminalpsychologie gehören, die Verbindung des
Seelenlebens des Verbrechers mit dem der nicht zu Ver-
brechern gewordenen Menschen zu erforschen. Die Analyse
der psychischen Vorgänge beim Neurotiker bietet dafür eine
der lohnendsten Gelegenheiten, vielleicht die beste und jetzt
auch die zugänglichste.
Die Krankheit selbst dient zu einem wichtigen Teile dem
Strafbedürfnisse und das Leiden an ihr hat auch deutlich
Strafcharakter. Aber es sind nicht nur Krankheitssymptome,
die auf solche psychische Selbstbestrafung hinweisen; wir
wissen, wie häufig kleinere Handlungen wie Fehlleistungen
des Alltagslebens, Übersehen — die Analoga zur „Fahrlässig-
keit" der Juristen — Ausdruck der Straftendenzen darstellen.
Auch nichtneurotische Personen strafen sich so unbewußt
durch zeitweilige Entbehrungen oder Entzug von Vergnü-
gungen, durch eine Beeinträchtigung der Genuß- und Leistungs-
73
fähigkeit. Diese Art von innerem Strafvollzug ist auch keines-
wegs auf Erwachsene beschränkt: bereits Kinder zeigen die
Erscheinungen von einem bestimmten Alter und einer be-
stimmten Entwicklungsstufe an. Um nur ein Beispiel zu
geben : eine englische Patientin berichtet aus ihrer Kinderzeit,
daß sie, nachdem sie zuerst im Erlernen der deutschen
Sprache ausgezeichnete Fortschritte gemacht hatte, sich von
einer bestimmten Zeit angefangen völlig unfähig fühlte, diese
Sprache weiter zu lernen. Es ist nun wichtig, zu erwähnen,
daß ihr Vater ihr Lehrer im Deutschen gewesen war und
sie mit ihm häufig zärtliche oder scherzhafte Gespräche in
dieser Sprache, welche die Mutter nicht verstand, geführt
hatte. Nach einem gewissen Ereignis der Kleinen war sie
„self-conscious" geworden, d. h., sie hatte vorbewußt erkannt,
auf welchen tieferliegenden Gefühlsregungen ihre zärtlichen
Beziehungen zum Vater ruhten, und von da an versiegte
ihre Fähigkeit zur deutschen Konversation. Es war in ihr
der Gedanke aufgetaucht, die deutschen Gespräche mit dem
Vater mit solchen in einer kindlichen Geheimsprache, in der
häufig sexuelle Themen zwischen Kindern erörtert werden,
zu vergleichen. Solches geheime Einverständnis mit dem Vater
aber schien ihr gegen die Mutter, die ja nicht Deutsch
konnte, gerichtet und deshalb verboten. Sie hatte sich mit
Unfähigkeit, Deutsch zu lernen, bestraft, und zwar gerade,
weil ihr die deutsche Unterhaltung mit dem Vater Vergnügen
gemacht hatte. Es war so, wie wenn das Sprechen eine weit
weniger harmlose gemeinsame Betätigung vertreten hätte.
Doch wenden wir uns zu den Selbstbestrafungen neu-
rotischer Erwachsener. Ich habe mir angewöhnt, mir in jeder
Analyse neurotisch Erkrankter die Frage vorzulegen, wie
und wodurch sich der Patient bestraft hat, und darf be-
kennen, daß mir die oft erst spät erfolgende Beantwortung
dieser Frage jedesmal ein wertvolles Stück Aufklärung und
Einsicht in die psychische Struktur und in die unbewußten
Begründungen der Neurose gewährt hat. Vergessen Sie nicht,
daß die Beantwortung dieser Frage uns zugleich einen der
wichtigsten Krankheitsgewinne erkennen läßt.
74
Ich will Ihnen einige herausgegriffene Beispiele solcher
unbewußten Selbstbestrafungen, die zugleich das Leben der
betreffenden Personen im Tiefsten bestimmten, erzählen: Ein
Patient verbringt sein Leben in leidvoller Isolierung, die den
Verkehr mit Menschen fast völlig unterbindet. Man möchte
sagen, er habe sich zu Einzelhaft verurteilt. Ein anderer
arbeitet mit höchster Intensität und Ausdauer an bestimmten
Arbeiten, die ihm nichts bedeuten und ihm keinen Nutzen
bringen können; sein interner Urteilsspruch war offenbar
Zwangsarbeit. Er trug gleichsam einen geheimen Stempel:
Travaux forces. Ein masochistischer Patient litt unter der
zwanghaften Vorstellung, daß sich ein Heer von Lanzen gegen
seine Augen richte. Die Analyse ergibt, daß diese Vor-
stellung von einer Züchtigung ausging, die der Patient als
kleiner Junge vom Vater mit einem Bergstock, auf dem sich
eine eiserne Spitze befand, wegen seiner Widerspenstigkeit
erhalten hatte. Das Symptom ließ im Zusammenhang mit
später eintretenden Phantasien keinen Zweifel darüber, daß
die gefürchtete und erwünschte Bestrafung die Blendung war,
die sich leicht als Ersatz der Kastration erkennen ließ. Der
Zusammenhang zwischen phantasierter Tat oder verbotenem
Wunsche und der Bestrafung, also der „Strafgrund", wie es
die Juristen nennen würden, ist fast immer unbewußt und
kann in ausgeführter Analyse regelmäßig aufgedeckt werden.
Eine Unterscheidung, die sich der analytischen Beobach-
tung der neurotischen Selbstbestrafung aufdrängt, verdient
gewiß hervorgehoben zu werden: ein gewisses Ausmaß eines
unbewußten Strafvollzuges läßt sich bei allen Kranken fest-
stellen, aber bei vielen nimmt die Angst vor der Strafe selbst
Strafcharakter an. Die Angst hat dann nicht nur die Natur
einer Schutzmaßregel vor der drohenden Selbstbestrafung,,
sie übernimmt vielmehr alle Funktionen derselben, wie wir
dies deutlich in der psychischen Dynamik der Phobien be-
merken, welche eine so erhebliche Einschränkung des Patienten
bedingen. Auch die ausgedehnten Zwangshandlungen, durch
die sich der Neurotiker vor dem verbotenen Tun schützt,
gewinnen Strafcharakter: sie zwingen ihn, Zeit und Energie
75
auf jene kleinen Aktionen zu verwenden und sich durch
Einbußen an psychischer Bewegungsfähigkeit zu strafen. Wir
werden den Anteil der Ersatzbefriedigung in den Symptomen
sicher nicht unterschätzen, aber mit dem Stärkerwerden der
Versuchung wächst auch die in Strafform umgesetzte Abwehr.
Dasselbe gilt für das Zwangsdenken.
Der Unterschied zwischen der latenten Selbstbestrafung,
die tief in das Leben und die Schicksalsgestaltung des Ein-
zelnen eingreift, und ihrer Variation in der Form der Angst
ist sicher bemerkenswert, aber es ist zu betonen, daß er auf
keine Differenz in der psychischen Intensität des Erlebens
zurückgeht, sondern die Einwirkung bestimmter äußerer und
innerer Determinanten widerspiegelt. Wenn ich einen Ver-
gleich gebrauchen darf: Auch Balzac hatte wie sein großer
Zeitgenosse Napoleon den brennenden Ehrgeiz, die Welt
zu bezwingen und zu beherrschen, wie die Konzeption der
„Comedie humaine" zeigt. Es war keine Differenz der Trieb-
stärke, sondern in anderen Umständen begründet, daß er dies
auf einem anderen Felde versuchte. Wirklich hat er einmal
unter ein Bild Napoleons das stolze Wort geschrieben: „Ce
qu'ü n'a pu achever par l'epee, je V accomplirai par la plume. "
Als gutes Beispiel des Strafcharakters der Angst darf ich
vielleicht folgendes aus der Analyse einer Zwangsneurose
anführen : Der Patient litt an der blasphemischen Idee, daß
er Gott eine Ohrfeige geben muß. Wenn die Idee auftauchte,
sah er gewöhnlich das Gesicht eines alten Mannes, das er
mit dem Gottes verglich, am Plafond und eine Hand, die
sich diesem schlagend näherte, visionär vor sich. Viel später
und in anderem Zusammenhange kam er wie beiläufig auf
ein Gefühl zu sprechen, das ihn seit langer Zeit peinige, eine
Art Zwangsbefürchtung, die sich schwer beruhigen ließ und
oft den Charakter panischer Angst mit allen körperlichen
Sensationen wie Herzklopfen, Zittern, Schweißausbruch an-
nahm. Es war die Angst, der Plafond könne einstürzen und
ihn unter sich begraben. Der Zusammenhang der Angst mit
der Zwangsidee war unbewußt geblieben. Ein anderer Patient
fühlte einen schweren Druck auf der Brust und beschrieb
7 6
diese peinliche Empfindung so, als wäre ihm ein schwerer
Stein auf die Brust gewälzt. Die Verbindung dieser Sensation
mit der Vorstellung vom Grabstein des Vaters war leicht
herzustellen. Hier hat also die Strafe die Form einer körper-
lichen Sensation angenommen wie in einem hysterischen
Konversionssymptom.
Eine Organempfindung als Strafausdruck läßt auch folgender
Fall erkennen: Ein Patient hatte merkwürdige, schwer zu
beschreibende Empfindungen am Hals und Nacken, als wenn
ihn etwas einschnüre. Einmal kam er auf ein Schauspiel
„The Beils" zu sprechen, dessen Aufführung mit Sir Henry-
Irving ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen hatte. Der
Inhalt des Stückes ist der, daß ein Wirt, der vor vielen
Jahren einen polnischen Juden ermordet und beraubt hatte,
sich beständig vom Läuten der Kirchenglocken, die in der
Stunde der Tat zufällig erklungen waren, verfolgt glaubt
und sich erhängt. Der Patient hatte ein andermal in höchst
unbestimmter Art von den unangenehmen Gefühlen gesprochen,
die das Hören der Töne von Kirchenglocken in ihm erweckten.
Die unbewußte Identifizierung mit jenem Mörder in „The
Beils war auf Grund der verdrängten Todeswünsche gegen
den eigenen Vater klar. Der Vater des Patienten war durch
seinen Beruf mit der Kirche verbunden und die Töne der
Kirchenglocke waren einmal von großer Bedeutung für den
Patienten gewesen, da sie ihn an Kirchengang und Gottesdienst
mahnten.
Es mag uns in Erstaunen setzen, daß die Strafe, die der
Neurotiker unbewußt über sich verhängt, meistens keine
einfache ist, sondern sich nach vielen Richtungen erstreckt.
So hatte sich der Patient, von dem ich eben sprach, nicht
nur mit einer ganzen Reihe von Symptomen bestraft, er
litt auch sehr unter seiner, von ihm unbewußt herbeigeführten
Lebensgestaltung, die ihn an ein fernes Land band und ihm
nicht erlaubte, seine Meinungen und sein Wesen frei erkennen
zu lassen. Er war so nicht nur verurteilt, seinen Lieben fern
zu bleiben, sondern sich auch immer wieder zu verstellen;
gegen Ende der Behandlung beschrieb er einmal sein Schicksal
77
spontan als „a lifelong imprisonment like ihe man iviih ihe
iron mask" .
Die komplizierten Strafen, die z. B. Zwangsneurotiker sich
auferlegen, sprechen laut genug von ihrem Sühnebedürfnis ;
sie sind den kombinierten Strafen zu vergleichen, welche
unsere Justiz über Übeltäter verhängt. Sie unterscheiden sich
von ihnen durch mehrere Momente: sie hängen ihrer Be-
schaffenheit und ihren Mechanismen nach aufs innigste mit
den verbotenen Regungen zusammen. Es wird aber — und
dies ist das zweite Moment — dieselbe Regung mit viel-
fachen Strafen belegt; es wäre etwa so, wie wenn ein Richter
einen Diebstahl mit Arrest, mit Ehrverlust, Fasten an ge-
wissen Tagen und anderen Straferschwerungen belegte. Ein
Neurotiker wird sich etwa für denselben verpönten Wunsch
mit Waschzwang, mit der Ausführung eines bestimmten, be-
schwerlichen Zeremoniells, mit Isolierung usw. bestrafen.
Sie werden nun sagen, das sei alles für das psychologische
Verständnis der Neurose sehr interessant, aber was kann die
Strafrechtswissenschaft daraus zur Förderung ihrer Disziplin
schöpfen ? Ich meine, es sei Verschiedenes. Vor allem müßte
sie die Tatsache eines solchen psychischen Gerichtshofes
selbst, der über eigene Gesetze verfügt und Strafen besonderer
Art verhängt, überraschen. Es ist vorauszusehen, daß dieses
Gericht einmal in ferner Zeit dem äußeren scharfe Konkurrenz
machen, ja es vielleicht ersetzen können wird.
Es mag ferner überraschend sein, zu hören, daß die Analyse
die Bestrafung in allen Fällen, die sie Gelegenheit hat zu
untersuchen, regelmäßig auf verdrängte Wünsche aus dem
Odipus-Komplex zurückzuführen gezwungen ist, als würde es
nur Verbrechen, die aus dieser Quelle stammen, geben. Es
müßte die Kriminalpsychologen reizen, nachzuforschen, wie-
weit dieser unbewußte Zusammenhang auch beim Verbrecher
nachzuweisen ist, ob auch hier eine unterirdische Verbindung
zwischen den Urverbrechen der Kinderzeit und der Tat des
erwachsenen Verbrechers besteht, welchen Einfluß die indi-
viduelle Verarbeitung des Odipus-Komplexes auf die Ent-
wicklung des später zum Verbrecher Gewordenen hatte.
78
Ich würde sogar meinen, die Rechtsgeschichte könne aus
den Erforschungen der unbewußten Vorgänge beim Neurotiker
manches Nützliche lernen. Denn im Seelenleben des Neurotikers
hat sich manches Archaische erhalten, hier sind Quellen für eine
jeder Erinnerung entzogenen Zeit, in die kein Blick des Rechts-
historikers zu dringen vermag. Die Analyse hat in Freuds
„Totem und Tabu" und in Storfers Untersuchung „Zur Sonder-
stellung des Vatermordes" selbst die ersten Schritte in dieser
Richtung getan.
Und sollten die Beschlüsse dieses inneren Gerichtshofes
bei Berücksichtigung aller einschneidenden Differenzen, nicht
besser Auskunft geben über die Anschauungen der Menschen,
welche Verbrechen und Vergehen sie strafbar finden und
auf welches Strafausmaß sie erkennen ? Sollte man aus diesen
Erkenntnissen nicht bestimmte Folgerungen ableiten können,
die freilich keinen Einfluß auf das Strafrecht selbst haben
mögen, aber für eine künftige Verhütung der Verbrechen,
also für die Kriminalpolitik, wie es die Strafrechtswissenschaft
nennt, wichtig werden könnten? Man wird freilich die wich-
tigen Unterschiede zwischen Verbrecher und Neurotiker bei
solcher Heranziehung der Neurosenpsychologie für kriminal-
psychologische Untersuchung sorgsam beachten müssen: die
Differenzen in den Hemmungseinrichtungen, das Überwiegen
der sexuellen Regungen in der Neurose und der eigensüch-
tigen und asozialen im Verbrechen und andere Momente.
Es scheint ja, als würde die Neurose einen weitgehenden
Schutz gegen das Verbrechen bedeuten. Die Resultate der
analytischen Forschung nötigen jedenfalls zu einer gründlichen
Revision der alten, ganz auf dem Boden der Bewußtseins-
psychologie stehenden Vorstellungs- und Willenstheorie, auf
der die heutige Strafrechtswissenschaft aufgebaut ist. Allge-
meiner gesprochen: der wissenschaftliche Fortschritt wie
menschliche Überlegungen fordern in gleichem Maße, daß
Strafrechtslehrer, Berufs- und Laienrichter, Verteidiger und
Staatsanwälte eine gründliche psychologische Vorbildung er-
halten, die ihnen in beschämendem Maße abgeht, wie dies
die einsichtigsten unter ihnen selbst beklagen.
79
Lassen Sie mich dieses Thema abbrechen und zu unseren
strafrechtlichen Erörterungen zurückkehren. Die Strafrechts-
geschichte belehrt Sie darüber, daß ursprünglich die Gesell-
schaft, die Gemeinschaft der Stammesgenossen über einen
Verbrecher zu urteilen hatte, der Einzelrichter fungiert später
als Vertreter der Gemeinschaft. Aber es läßt sich unschwer
ein Zustand in prähistorischer Zeit rekonstruieren, in dem
der Hordenhäuptling über alle Macht und das Strafrecht ver-
fügte wie später der Pater familias des römischen Rechtes
über die Herdgenossen. Der Übergang zum Strafrecht der
Gemeinschaft wird sich wohl in der Brüderhorde vollzogen
haben. In manchen Neurosen erkennt man sehr deutlich, wie
die soziale Angst das Schuldgefühl gegenüber der Gesellschaft
oder der „public opinion" auf die Angst vor dem Vater
zurückführt.
Die Übertragung in der Analyse erweist sich manchmal
als vorzügliches Mittel zum Verständnis anderer Probleme
des Strafrechtes. Einer meiner Analysanden war ein sehr
intelligenter Jurist, der an Zwangsneurose erkrankt war und
den Fragen seiner Wissenschaft starkes Interesse entgegen-
brachte. Die Analyse ging bis zu einem gewissen Zeitpunkte
ungestört; der Widerstand setzte in einer besonderen Art
ein: er drückte sich in der Analyse anscheinend fernliegenden
Zwangsgrübeleien aus. Es war nun erstaunlich, wie geschickt
der Patient unbewußt ihn beschäftigende Fragen aus dem
Übertragungsbereich in diesem Zwangsdenken in den juristi-
schen Jargon übersetzte. Es wurde z. B. bald klar, daß er
die Widerstände, die eine kurze Unterbrechung der Analyse
in ihm erregte, in der gedanklichen Bewältigung des Urlaubs-
problems in der Angestelltenversicherung ausdrückte usw. Das
uns hier Interessierende waren Zwangsgedanken, die sich um
Probleme des Strafrechtes drehten: wenn er mir etwas ver-
heimlichte, wurde die strafrechtliche Behandlung der Hehlerei
in seinen Grübeleien zum Mittelpunkte, der Dolus eventualis
mußte zur Darstellung der Zweifel, ob etwas bewußt oder
unbewußt sei, dienen und die Probleme der Fahrlässigkeit
waren unbewußt der Tummelplatz seiner Zweifel an der
80
psychischen Determiniertheit seiner Fehlleistungen. Das Aus-
maß seines Strafbedürfnisses brachte er zum Ausdruck in den
ausgedehnten, an den Paragraphen des bürgerlichen Gesetz-
buches orientierten Zwangsgedanken, welche Strafen die be-
treffenden Übeltäter in den phantasierten Fällen erhalten
sollten. Selbstanklage und Selbstverteidigung erschienen wech-
selnd in diesen zwanghaften Überlegungen. Erst als es mir
gelang, an einigen ausgezeichneten Fällen die Verbindung
aller, auch der geringfügigsten Einzelheiten seiner Strafgesetz-
probleme, die er seinem gegenwärtigen Studienmaterial schein-
bar wahllos entnahm, mit unbewußten Gefühlen und Ge-
danken aus der Übertragungssphäre herzustellen, ging er zu
unmittelbareren Widerstandsäußerungen über. Die strafrecht-
liche Widerstandsform, die Art, wie die Übertragungszene
hier zum Tribunal wurde, ermöglichte regressiv eine Art
Darstellung der Psychogenese des Strafrechtes, wobei die
„Masse zu zweit" die Gesellschaft ersetzen mußte.
Es kann für die Strafrechtstheorie nicht gleichgültig sein,
daß die unbewußten Selbstbestrafungen der Neurotiker durch-
aus auf dem Grundsatze der Talion aufgebaut sind. Das Stück
untergegangenen Seelenlebens, das in den psychischen Vor-
gängen der Neurotiker den Beobachter immer wieder in
Erstaunen setzt, wird auch im Strafbedürfnis nachweisbar.
Wenn wir einige der unbewußten Selbstbestrafungen der
Nervösen überblicken, gelangen wir zu befremdenden Straf-
arten, welche die moderne Strafgesetzgebung nicht kennt:
Kastration, Lebendigbegrabenwerden, Eingemauertwerden,
Ersticken, Fesselung und verschiedene qualvolle Todesstrafen
gehören hieher. Die körperlichen Sensationen dienen oft zur
Darstellung verschiedener Torturen; ein Patient verglich seinen
Zustand selbst mit der zur Kontinuität gewordenen Situation
des Königsmörders Ravaillac, der von Pferden zerrissen
wurde. Der Vater des Patienten hatte wirklich mit Pferde-
zucht zu tun. Wir sehen also, das Unbewußte, das seine
eigenen Gesetze hat, verfügt auch über Strafen, die aus der
Kindheit der Menschheit stammen. Wir erinnern uns da zur
rechten Zeit, daß die Strafe selbst keine primäre, soziale
fi 81
Institution ist und auf die ursprünglichere Rache zurück-
geführt wird. Es mag hier die Bemerkung am Platze sein,
daß auch die Rachephantasien der Neurotiker selbst deutlich
archaischen Charakter haben, der auch in der Lockerheit der
Objekte, gegen welche sich die Racheaktionen richten, deutlich
wird, wie dies Rank gezeigt hat.
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, nachzuweisen, wieviel
noch von diesen Anschauungen im Strafgesetz unserer Zeit
nachwirkt und wie viele Rechtsgrundsätze sich auf das Talions-
prinzip zurückführen lassen. Es bleibt dies eine lohnende
Aufgabe für die Juristen, die dabei am besten von der Unter-
suchung des Grundsatzes: fiat justitia, pereat mundus aus-
gehen könnten.
Wir sind zu bestimmten Gesichtspunkten gelangt, die uns
die Strafe selbst als psychologisches Problem erscheinen lassen;
es ergibt sich von hier die Möglichkeit für die Analyse, in
dem Streit der Strafrechtstheorien ihre Stimme abzugeben.
Unter einer Strafrechtstheorie versteht man die Beantwortung
der Frage nach dem Rechtsgrund und dem Zweck der Strafe.
Wir können wieder nicht in die Diskussion aller Strafrechts-
theorien eingehen und wollen nur betonen, daß die Strafe
dazu da ist, wichtige Lebensinteressen der Menschen zu
schützen und eine bestimmte seelische Wirkung auf den
Verbrecher auszuüben.
Daraus aber ergibt sich, daß jede Strafrechtstheorie unvoll-
ständig und unzulänglich ist, die nicht auf psychologischer
Grundlage ruht. Der Strafzweck ist vor allem ein psycho-
logischer, gleichgültig, ob die Strafe auf den Verbrecher oder
auf die Gemeinschaft wirken soll, gleichgültig, ob der Straf-
zweck in Schutz, Abschreckung, Vergeltung oder sonstwo
gesucht wird. Hier hat also die Psychologie mitzuentscheiden.
Glauben Sie nicht, daß eine solche Mahnung unzeitgemäß
ist! Soll ich Ihnen eine berühmte Strafrechtstheorie, die sich
noch immer bei manchen Gelehrten einer gewissen Beliebt-
heit erfreut, als abschreckendes Beispiel anführen? Nach Hegel
ist die Strafe die dialektische Verwirklichung des Rechts-
begriffes; das Verbrechen steht im Widerspruch mit sich selbst
82
und ist daher nichtig. Es ist Schein und das Wesen dieses
Scheines ist, daß er sich selbst aufhebt. Die Strafe ist die
Offenbarung der Nichtigkeit des Verbrechens, die Konsta-
tierung seiner Scheinexistenz. Die Quintessenz der Heg ei-
schen Strafrechtstheorie ist klar und anschaulich in dem
Satze zusammengefaßt: die Strafe ist Negation der Negation
des Rechtes, mithin Position, Wiederherstellung des Rechtes.
Wenn wir uns nun ernster zu nehmenden Theorien zu-
wenden, so wird die ältere, heute bereits überwundene
Theorie der rechtlichen Vergeltung noch immer die Auf-
merksamkeit des Psychologen auf sich ziehen. Die Vergeltung
ist ihr zufolge das oberste Prinzip des Strafrechtes. Das Straf-
gesetz ist nach der Ansicht von Kant, des berühmtesten
Anwaltes der Vergeltungstheorie, ein kategorischer Imperativ
Wer tötet, tötet sich selbst. Das Maßprinzip des Strafrechtes
ist also die Talion. Wir wissen schon, was diese Anschauung
psychologisch bedeutet: sie ist die in eine Straftheorie ver-
wandelte Darstellung der tiefwurzelnden Gesetzgebung des
Unbewußten. Hierher gehören auch alle Theorien, welche
die Strafe auf den Rachetrieb als eine Äußerung des Selbst-
erhaltungstriebes zurückführen. Auch die Vergütungs- und
Ersatztheorien, welche die Ausgleichswirkung der Strafe be-
tonen, sowie die Vertragstheorien kann man leicht als intel-
lektualisierte oder dem Kulturfortschritt angepaßte Abkömm-
linge der alten Vergeltungstheorie erkennen.
Wir haben gesehen, daß diese Theorien tief im Triebhaften,
Unbewußten der Menschen wurzeln. Wenn Strafe sein muß,
wenn sie wirklichen Strafcharakter haben soll, so kann sie
sich triebgemäß nur auf das Talionsprinzip stützen. Die Ver-
geltungstheorie hat also den Vorzug der Geschlossenheit und
der psychologischen Folgerichtigkeit, sie widerspricht aber
allen Fortschritten der Kultur und Humanität. Die Vergel-
tung als Strafzweck ist einfach eine Trieb darstellung als
Theorie.
Von diesen Theorien unterscheiden sich die Präventions-
theorien in wesentlicher Art. Die Generalpräventionstheorien
erklären, die Strafe strebe die Abschreckung aller durch die
6 » 83
Straf drohung an. Die berühmte Theorie des psychischen
Zwanges von Feuerbach, die Jahrzehnte hindurch die
Gesetzgebung beherrschte, gehört hierher: sie stellt die Straf-
drohung und den Strafvollzug als den psychischen Zwang
auf, der die Verbrecher abhalten solle. Die Spezialpräventions-
theorien werden im wesentlichen die Abschreckung des ein-
zelnen konkreten Verbrechens zum Ziele haben.
Lassen Sie uns bei diesen Theorien einige Augenblicke
verweilen. Es wird uns sofort klar, daß der Strafe hier ein
neuer psychologischer Zweck zuerkannt wird. Auch ein
zweites Moment fällt hier auf: die Rolle der Gesellschaft,
der Gemeinschaft, auf welche die Strafdrohung abschreckend
wirken soll. Wenden wir uns zuerst diesem Moment zu:
man hat aus ihm den Einwand abgeleitet, es sei absurd,
daß die Strafe nicht auf den Verbrecher, sondern auf einen
Dritten oder auf die Gesellschaft wirken solle. Der Einwand
ist natürlich berechtigt, solange man die Strafe nur als Prä-
vention in der Richtung gegen die Gesellschaft auffaßt. Aber
kommt hier nicht deutlich die Doppelfunktion, die man der
Strafe zugeschrieben hat, zutage? Hier wird das Janushaupt
der Strafe sichtbar; es ist sowohl dem Verbrecher als auch
der Gesellschaft zugewendet. Wenn wir es gut überlegen,
sieht es aus, als habe sich die Generalpräventionstheorie mit
der sozialen Aufgabe, die Spezialpräventionstheorie mit der
individuellen beschäftigt, aber erst beide zusammen bilden
ein Ganzes. In der Vergeltungstheorie war der Strafzweck
eindeutig; er galt dem Verbrecher allein und war eine Ver-
geltung für eine begangene Tat, für ein Verbrechen, das der
Vergangenheit angehörte. In den Präventionstheorien liegt
der Zweck der Strafe in der Zukunft: er soll in der künf-
tigen Abschreckung bestehen. Was soU es bedeuten, daß die
Gemeinschaft hier in der Begründung des Strafzweckes er-
scheint? Verliert damit die Strafe nicht ihren eigentlichen
Charakter und wird zu einer Präventivmaßregel?
Ich meine, der angeführte Strafzweck der Abschreckung
aller vom Verbrechen weist deutlich genug in die Richtung,
in der wir die Gründe für das Auftreten der Gesellschaft
84
im Strafzwecke zu suchen haben. Es kann nur so sein, daß
die Menschen vorbewußt erkannten, daß keine tiefe Kluft
sie vom Verbrechen trennt, daß wir latent alle Keime zum
Verbrecher in uns tragen. Das muß das eigentlich wirksame
Motiv für die Änderung des Strafzweckes bilden. Das heißt
aber mit anderen Worten, daß die Gemeinschaft ihren Teil
der Schuld am Verbrechen zu erkennen beginnt. Wenden
wir uns nun der Wirkung auf den Verbrecher zu, die in
den Spezialpräventionstheorien erscheint. Es ist klar, daß
hier die angeführten Momente in gleichem Maße gelten:
die Strafe ist aus einer Vergeltungsmaßregel eine Schutz-
maßregel geworden. Hat sie damit nicht aufgehört, Strafe
zu sein? Die Kriminalisten geben meistens die nur relative
Wirksamkeit dieser Maßregel zu, ja manche Fachleute ver-
sichern sogar, die Strafe verbessere die Verbrecher nicht und
schrecke sie nicht ab. Man hat einen anderen gewichtigen
Einwand gegen die Präventionstheorie formuliert: die Strafe
kann nicht abschrecken, denn die meisten Verbrechen werden
in der Hoffnung der Verheimlichung, also der Straflosigkeit
begangen. Das Argument ist sicher für das bewußte Seelen-
leben berechtigt, aber wir werden seine Schlagkraft nicht so
hoch einschätzen, wie es gewöhnlich geschieht, weil das Unbe-
wußte nach unseren Annahmen solche Vorsicht nicht kennt;
die Realitätsprüfung gehört ja zu den Aufgaben des Ichs.
Wenn Sie sich nun die Sachlage überlegen, so werden
Sie erkennen, daß wir uns in einer merkwürdigen Situation
befinden. Wir mußten der Vergeltuhgstheorie zugeben, daß
sie in Übereinstimmung mit den mächtigen unbewußten Vor-
stellungen der Menschen steht. Die Schutztheorie aber sagt
unseren bewußten Begriffen mehr zu. Sie verwischt freilich
den Charakter der Strafe und verwandelt sie in eine Schutz-
maßregel der gefährdeten Gesellschaftsordnung; vielleicht be-
zeichnet sie nur ein Übergangsstadium, das die Strafe durch
andere, bessere Schutzmaßregeln ersetzt. Es bleibt uns nur
übrig, eine neue Grundlage der Strafe zu suchen: ihre Vor-
aussetzung wird sein, daß sie aus lebendiger Menschen-
beobachtung und -kenntnis stammt und die neuen Ergebnisse
»5
der psychologischen Forschung benützt. Diese Theorie ist
durch die analytischen Resultate Freuds vorbereitet. Wir
können uns hier nur auf ihre Grundzüge beschränken. Die
neue psychologische Fundierung des Strafzweckes wird von
der analytischen Erforschung des präexistenten Schuldgefühles,
die wir Freud verdanken, ausgehen. Es besteht für uns
kein Zweifel mehr, daß bei den Verbrechern, für welche
die Stafgesetzgebung eigentlich bestimmt ist, ein mächtiges
unbewußtes Schuldgefühl bereits vor der Tat bestand. Dieses
Schuldgefühl ist also nicht Folge der Tat; es ist vielmehr
deren Motiv : seine Steigerung läßt den Menschen eigentlich
erst zum Verbrecher werden. Das Verbrechen wird als eine
psychische Erleichterung empfunden, weil es das unbewußte
Schuldgefühl an etwas Reales und Aktuelles knüpfen kann.
Die Tat dient der Unterbringung dieses übergroß gewordenen
Schuldgefühles. Anders ausgedrückt: das Verbrechen wird
begangen, um den verpönten Triebregungen eine Ersatz-
befriedigung zu gewähren und das unbewußte Schuldgefühl
zu begründen und zu entlasten.
Aus diesen Forschungsergebnissen Freuds ergibt sich eine
neue psychologische Fundierung der Strafe, eine psycho-
analytische Strafrechtstheorie: die Strafe dient der Be-
friedigung des unbewußten Strafbedürfnisses, das
zu einer verbotenen Tat trieb. Wir wissen, daß die
Wurzeln dieses präexistenten Schuldgefühles im Odipus-
Komplex zu suchen sind. Wir tragen dann der Doppelfunktion
der Strafe Rechnung, wenn wir hinzufügen, die Strafe
befriedige auch das Strafbedürfnis der Gesellschaft
durch deren unbewußte Identifizierung mit dem
Verbrecher. Diese kathartische Wirkung der Strafe sowie
der Identifizierungsprozeß lassen so wirklich die seelischen
Vorgänge im Strafprozeß in die Nähe der antiken Tragödie
rücken: die tragische Schuld des Helden und sein Untergang
lösen dieselben Gefühle aus. Es sei übrigens angemerkt, daß
die psychologische Theorie von Kohl er, die sich auf die
läuternde Macht des Schmerzes beruft, der hier vertretenen
Ansicht am nächsten steht, sich von ihr aber noch immer
86
sehr wesentlich unterscheidet. Wie immer die analytische
Theorie von der Strafrechtswissenschaft aufgenommen werden
wird, die bisher unbeachtete, von Freud entdeckte Tatsache,
daß das präexistente Schuldgefühl zur verbotenen Tat drängt,
wird in der künftigen Diskussion des Strafzweckes die zen-
trale Stellung einnehmen müssen. Wenn irgendwo, so ist hier
der Ort, vom Rechte, das mit uns geboren, zu reden.
Wir wollen es nicht verabsäumen, der analytischen Theorie
der Strafe einige Bemerkungen hinzuzufügen: vor allem
wollen wir betonen, daß mit ihr nichts über die dauernde
oder auch nur zeitweilige Notwendigkeit der Strafe, nichts
zu ihrer Rechtfertigung als Institution gesagt werden soll.
Die Existenz des Strafbedürfnisses ist unzweifelhaft, aber es
kann nicht bewiesen werden, daß die gerichtliche Strafe
das einzige oder auch nur das adäquate Mittel zu seiner Befrie-
digung darstellt. Es ließen sich prophylaktische Maßnahmen
denken, die das Überstarkwerden des Strafbedürfnisses hintan-
halten könnten, und es wären therapeutische Mittel möglich,
welche den Abbau dieses Bedürfnisses auf andere Art herbei-
führen. So gibt die analytische Strafrechtstheorie nur eine
psychologische Erklärung der Strafe, keine Norm. Sie ist
eigentlich in der Entwicklung des Strafrechtes selbst vor-
bereitet: dieses hat sich immer mehr und mehr von der
Beurteilung der Tat zur Beurteilung ihrer Motive gewendet.
Der Übergang zur Bestrafung der Motive macht aber eine
Veränderung in den Motiven der Bestrafung zur Notwendig-
keit.
Es ist sofort ersichtlich, welche psychologische Verbin-
dungen unsere dargestellte Anschauung mit der alten Ver-
geltungstheorie hat, indem sie nicht nur die bewußten Ten-
denzen als bestimmend für den Strafzweck anerkennt, son-
dern auch die unbewußten Vorgänge berücksichtigt. Sie
unterscheidet sich von ihr, die nichts als eine wissenschaft-
lich formulierte Darstellung der Tendenzen des Unbewußten
war, dadurch, daß sie nicht die Talion selbst, sondern das
ihr zugrunde liegende Straf bedürfnis in ihren Mittelpunkt
stellt. Sie gründet sich nicht wie die Vergeltungstheorie auf
8 7
ein moralisches oder rechtliches Prinzip, nicht auf eine ethische
Norm, sondern auf die psychischen Tatsachen, aus denen
sich diese ableiten. So berücksichtigt sie zwar die unbewußten
Vorgänge, aber zu psychologischen Zwecken, und gibt sich
ihnen nicht gefangen, wird nicht ihr gefügiger Ausdruck.
Wir erkennen in der alten Vergeltungstheorie in moderner
Einkleidung die alte Tabugesetzgebung der Wilden wieder,
die automatisch nach dem Talionsprinzip wirkt. Aber das
Tabugesetz ist selbst ein unbewußtes Geständnis der Gemein-
schaft. Sie zeigt darin, daß sie dieselben Regungen wie der
Verbrecher verspüre und sich deshalb von ihm befreie; sie
gibt, wie Freud in „Totem und Tabu" bemerkt, durch die
Strafe den Vollstreckern nicht selten Gelegenheit, unter der
Rechtfertigung der Sühne dieselbe frevle Tat nun ihrerseits
zu begehen. Dasselbe gilt von den Präventionstheorien: in
ihnen erscheint die Infektionsfähigkeit der Tabuübertretung
noch klarer und unzweideutiger, da sie der Abschreckung
dienen. In ihnen liegt das stärkste Bekenntnis dessen, daß die
Lust, das Tabuverbot, jetzt die Satzungen des bürgerlichen
Gesetzbuches, zu übertreten, in unserem Unbewußten fortlebt
und die Menschen, die dem Tabu oder dem Gesetz folgen,
eine ambivalente Einstellung gegen die vom Tabu Betroffenen,
wir würden sagen, zum Verbrechen haben. Die Strafrechts-
theorie greift so in der Abschreckungshypothese der Strafe
auf die uralte Annahme der Zauberkraft, die dem Tabu zu-
geschrieben wird, zurück. Sie gibt darin zu, daß das Ver-
brechen, der Ersatz für die Tabuübertretung, als Beispiel
ansteckend sei und sucht sich durch Drohungen dagegen zu
schützen. Sie sehen, der Unterschied zwischen Vergeltungs-
und Schutztheorie ist doch nicht so groß, als wir anfänglich
annahmen. Unsere analytische Strafrechtstheorie geht auf die
unbewußten Motive der Tabugesetzgebung selbst zurück.
Wir können auch leicht einsehen, wo die Schwächen der
Abschreckungstheorie Hegen. Sie können kaum durch den
Hinweis auf das bewußte Streben nach Straflosigkeit, das
beim Verbrechen hervortritt, aufgedeckt werden. Denn wenn
unsere Theorie richtig ist, wirkt diesem Streben das unbe-
88
wußte Strafbedürfnis energisch entgegen. Aber eine andere
Überlegung zeigt gerade bei Berücksichtigung der analyti-
schen Gesichtspunkte den tieferliegenden Fehler der Prä-
ventionstheorie: die Strafe, die nach der geltenden An-
schauung als wirksamstes Abschreckungsmittel des Verbrechens
angesehen wird, wird unter bestimmten Bedingungen, die
in unserer Kultur außerordentlich häufig sind, zum unbe-
wußten und gefährlichsten Beiz dazu. Die verbotene Tat
entlastet ja ein überstarkes Schuldgefühl. Wir sehen so, daß
die Abschreckungstheorie im Kern unaufrichtig ist: die Aus-
sicht auf Strafe schreckt den Verbrecher nicht ab, sondern
treibt ihn unbewußt gerade zur verbotenen Tat. Die ana-
lytische Theorie mag die Strafe noch immer nicht recht-
fertigen, aber sie gibt sich aufrichtig, wenn sie erklärt, der
Strafzweck sei die Befriedigung des Strafbedürfnisses des
Täters: ihm geschehe, was er unbewußt begehrt. Sie wird
freilich für Verbrecher, die keine moralischen Hemmungen
entwickelt haben, nicht in Betracht kommen, aber für diese
ist die Strafe überhaupt keine geeignete Maßregel, am wenig-
sten eine der Abschreckung.
Wir haben früher bemerkt, daß die Abschreckungs- sowie
die ihr verwandten Theorien den Strafcharakter in der Strafe
vermissen lassen. Sie streben alle, ohne es zu wissen, in die
Richtung einer Entwicklung, die zur Abschaffung der Strafe
überhaupt führt und an ihrer Stelle vorbeugende oder pro-
phylaktische Maßregeln setzen will. Wir haben schon betont,
daß die Bedeutung, welche die neueren Theorien der Gesell-
schaft im Strafzweck einräumen, eine Art Schuldbekenntnis,
ein unbewußtes Geständnis der Gemeinschaft darstellt. Die
Abschreckungshypothese hat ja deutlich die Gleichartigkeit
der verbotenen Impulse beim Verbrecher wie bei der stra-
fenden Gesellschaft zur Voraussetzung. Eine solche Erkenntnis
zeigt aber die Bichtung, in der sich das Strafrecht entwickeln
muß, nämlich die auf endliche Aufhebung der Strafe über-
haupt.
Wir konnten die Entwicklung der Strafgesetze studieren:
sie sind ursprünglich Tabuverbote, deren Übertretung sich
8 9
automatisch — meistens durch den Tod des Schuldigen — ■
bestraft. Nur wo diese automatische Strafe nicht eintritt, voll-
zieht der Stamm kollektiv die Bestrafung. Der Staat, der
später an die Stelle der Stammesgemeinschaft getreten ist,
bestraft den Verbrecher ursprünglich nach dem geheiligten
Prinzip der Talion. Die Abmilderung der Strafe im Straf-
gesetz sowie die Erweiterung der Grenzen des Zulässigen
legen ebenso deutlich wie die neuen Strafrechtstheorien für
eine stärker werdende Tendenz zur Abschaffung der Strafe
Zeugnis ab. Das will freilich nur bedeuten, der äußeren,
durch das Gesetz vorgeschriebenen Strafe; es liegt in dieser
Tendenz, die Hemmungen des Individuums zu verstärken
und ihn dem eigenen Gewissen zu überlassen. Dieses Ziel
wäre eine Rückkehr zur ursprünglichen Tabugesetzgebung,
freilich auf einer höheren Stufe: die äußeren Verbote der
Tabugesetzgebung, die sich gegen starke Impulse richteten,
sollen innerer Erwerb werden, der zur Verwerfung dieser
Regungen führt. Die Entwicklung verfolgt auch hier die
Richtung von außen nach innen.
Auch unsere analytische Strafrechtstheorie steht im Dienste
dieser psychischen Entwicklung. Sie verlegt ja das Schwer-
gewicht auf die unbewußten Triebkräfte, die den Verbrecher
zur Tat drängten. Damit wird der provisorische Charakter
unserer Theorie evident; sie kann nur solange gelten, als
das überstarke präexistente Strafbedürfnis gerade nur zur
verbotenen Tat führen muß. Die Menschheit wird nun
dieses Schuldgefühl lange noch nicht verlieren, aber es wäre
möglich, daß es andere Abfuhrmöglichkeiten erhält. Damit
wäre eine der stärksten Triebkräfte des Verbrechens zwar
noch immer nicht beseitigt, aber einer anderen Verwendung
zugeführt.
Es gibt einige Forscher, die schon jetzt behaupten, daß
mit dem strengen Determinismus der neuen Naturwissenschaft
auch die Grundlage des Strafrechtes zusammengebrochen sei.
Sie erklären, die Basis des ganzen Strafrechtssystems, die
Lehre von der Willensfreiheit, sei erschüttert und prophe-
zeien, daß die Begriffe von Schuld und Unschuld vom An-
90
gesicht der Erde verschwinden werden und die irdische
Strafe ihnen folgen müsse. Mutige und aufrichtige Gelehrte
wie Dimitrij Drill üben radikale Kritik an der sozialen
Institution der Strafe selbst und vergleichen den Staat, der
das heutige Strafsystem handhabt, mit einem Menschen, der
Beschädigungen an einer Maschine durch neue Beschädigun-
gen gutmachen will. In der Strafrechtswissenschaft ist eine
wachsende Tendenz bemerkbar, das Verbrechen nicht nur
nach seiner Bedeutung als mit Straffolge ausgestattete Tat-
sache, sondern auch als wichtige Erscheinung des sozialen
Lebens zu betrachten und zu studieren. Der Fortschritt der
Kriminalpolitik, die sich mit der Erforschung der individuellen
wie kollektiven Faktoren des Verbrechens beschäftigt, sowie die
von den Kriminalisten verlangte Verschiebung der Grenzen zwi-
schen Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik sind Zeichen
jener Entwicklungsrichtung.
Es werden gewiß außerordentlich einschneidende, soziale
Änderungen eintreten müssen, ehe eine solche Ersetzung der
Strafe durch eine andere Maßregel eintritt. Innerhalb dieser
Veränderungen wird der Geständniszwang der Gesellschaft
gewiß seine bedeutsame Bolle spielen; der wachsende Mut
zur Aufrichtigkeit über die eigenen psychischen Vorgänge,
zum Abwerfen der konventionellen Masken, die Bewußtseins-
erweiterung der Gemeinschaft kann nicht ohne Einfluß auf
die Beurteilung des Verbrechers und die Einschätzung der
Strafe bleiben.
Aber auch in dem Übergangsprozeß von der Strafe zu
einer anderen sozialen Institution wird das Geständnis eine
wichtige Funktion zu erfüllen haben. Das erkennen wir,
wenn wir seine steigende Bedeutung innerhalb der Straf-
prozeßordnung verfolgen. Die Ersetzung des Alten durch das
Neue geht meistens so vor sich, daß sich das Neue zuerst
an ein Stück Hergebrachtes anlehnt, mit ihm verlötet er-
scheint, um sich dann von ihm abzulösen, seine Existenz
selbständig weiter zu führen und schließlich das Alte zu er-
setzen. Wir können eine primitive Bechtsordnung rekon-
struieren, in der das Geständnis überhaupt keinen Platz hatte :
9i
die Strafe traf den Übeltäter, ehe er Gelegenheit zum Ge-
ständnis hatte, mit der Schärfe des Schwertes. Als das Ge-
ständnis Berücksichtigung fand, war es noch immer aufs
innigste mit der Strafe verbunden, wie wir das im äußeren
Geständniszwang, der Folter des Mittelalters, sehen. Die
Milderung des Urteils durch das Geständnis sowie dessen
besondere Stellung im Strafprozeß leiten zu einer Entwick-
lungsperiode über, in der sich das Geständnis vielleicht isoliert
erhält und schließlich selbst an die Stelle der Strafe treten
kann. Natürlich würde das Geständnis insbesondere als die
wirksamste Prophylaxe des Verbrechens Bedeutung gewinnen,
da es die mildeste Art der Befriedigung des Straf bedürfnisses
darstellt, die zugleich den unterdrückten Triebregungen eine
Ausdrucksmöglichkeit gewährt. Wir bemerken hier, daß der
unbewußte Geständniszwang auch auf kriminalistischem Gebiete
noch bedeutsame psychologische Verwertungen finden kann.
Alles das ist freilich Zukunftsmusik. Es ist lediglich eine
Frage des Optimismus oder Pessimismus, ob Sie sich dem
Glauben hingeben können, daß eine sehr ferne Zeit, die
milde auf dies Heute blicken wird, die Strafe abschaffen wird.
Vielleicht wird wirklich eine solche Zeit kommen, deren
Strafbedürfnis geringer ist als das unserer Gegenwart, und
die Mittel, die sie zur Verhütung des Verbrechens findet,
werden sich zur Strafe verhalten wie der Regenbogen zu
dem vorangehenden, verheerenden Gewitter. Aber vielleicht
gehört dies in das Reich der Utopie. Ich könnte Ihnen auch
nicht ernsthaft widersprechen, wenn Sie meinen, eine solche
Aussicht auf eine fernliegende Zukunft sei wenig geeignet,
die Menschen über die Unzulänglichkeit der gegenwärtigen
sozialen Einrichtungen zu trösten. Der berühmte englische
Naturforscher Thomas Henry Huxley schrieb einmal den
recht vernünftigen Satz: „Welche Kompensation für seine
Leiden hat das Eohippus (das Urpferd) in der Tatsache, daß
Millionen Jahre nach ihm einer seiner Nachkommen das
Derby gewinnen könnte?"
92
Geisteskrankheit und Gesellschaft
Dr. August Stärcke
In der Broschüre „Psychoanalyse und Psychiatrie" sind
zwei Arbeiten des holländischen Psychiaters vereinigt worden
Die erste („Der Forscher und sein Gerät") unterzieht die
Persönlichkeit des Psychiaters, beziehungsweise des Psycho-
analytikers selbst einer psychologischen Betrachtung und
gelangt zu praktisch wichtigen Konsequenzen: im Gegen-
satz zum Psychiater alten Stils, der ein Diener der
Zensur, ein Instrument der Gesellschaft gegen die Aus-
geschlossenen ist, wird der Psychoanalytiker nicht nur das
Individuum lehren, seine libidinösen Äußerungen auf das
sozial Erlaubte zu beschränken, sondern auch die Gesell-
schaft mit der Libido, mit dem Tode, kurz mit dem Un-
bewußten versöhnen. — Die zweite Studie ist den Bezie-
hungen zwischen Neurosen und Psychosen gewidmet und
ist nach des Verfassers Vortrag auf dem Internationalen
Psychoanalytischen Kongreß im Haag niedergeschrieben
worden. Dieser Studie — der übrigens der erste Preis für
ärztliche Psychoanalyse durch Prof. Freud zugesprochen
wurde — ist das hier folgende Bruchstück entnommen.
Im Grimmschen Märchen von der weißen Schlange kostet der
Diener ein Stückchen aus der geheimen Schüssel des Königs
welche eine weiße Schlange enthält, und kann dann plötzlich die'
Sprache der Vögel verstehen.
Mit diesem Gleichnis ist die Umwälzung zu charakterisieren,
die Freuds Lehre in das Leben des Psychiaters brachte, der
sich erkühnte, von dieser verbotenen Schüssel zu kosten. Die
Gebärdensprache der Kranken, ihre phantastischen Wahnideen
und ihr verwirrter Unsinn bekamen einen Sinn, und damit ward
der lebendige Kranke wieder Mensch unter Menschen, und nicht
mehr, wie zuvor, und wie jetzt noch bei einer Anzahl von wissen-
schaftlichen Anstaltsärzten, ein ziemlich wertloser Anhang zu
seinem Gehirn, dessen Verscheiden mit kaum verdrängter Unge-
duld abgewartet wurde, und der erst nachher, im Laboratorium lege
artis zerstückelt, zum Objekt eines ästhetischen Totenkultes ward.
Das heißt: es ward durch Freud eine brauchbare Gegen-
übertragung ermöglicht, deren Ermanglung oder Verdrängung
die verspätete Entwicklung der Psychiatrie verschuldet hat.
93
. . . Der Begriff der Psychose ist nur in einer Gesellschaft
denkbar; ein einzelnes Individuum, sagen wir Robinson Crusoe,
könnte wohl eine Neurose, niemals aber eine Psychose bekommen,
weil die Psychose nur im Verhältnis zu einer als normal
zu erkennenden Gesellschaft bestehen kann.
Ihre Kriterien sind viererlei:
1) Soziale Lästigkeit, Schädlichkeit, oder mangelnde Mit-
arbeit, insoweit ihre Motive der Gesellschaft nicht verständlich
sind. Sind sie ihr verständlich, dann gilt das abweichende Indi-
viduum als Missetäter, wenn es die Niederlage erleidet. Weiß es sich
durchzusetzen, dann gilt es als Held oder großer Mann (Freud).
2) Uneinfühlbarkeit. Die Relativität auch dieses Kriteriums
ist einleuchtend. Daher auch die immer sich wiederholenden
Streitigkeiten, ob dieses oder jenes Symptom einen zum Geistes-
kranken stempelt.
3) Mangelndes Verhältnis zur Realität. Ich brauche
nur auf die Verfolgungen hinzuweisen, welche die Wissenschaft
von Seiten der Religionen erlitten hat, um den subjektiven Cha-
rakter auch dieses Kriteriums darzulegen. Wer sich dadurch noch
nicht überzeugt fühlt, der möge erwägen, daß gerade den Psycho-
analytikern von gegnerischer Seite mangelndes Verhältnis zur
Realität vorgeworfen wird, und daß es schließlich nur von der
numerischen Überlegenheit der einen oder der anderen Partei
abhängt, ob von der Gesellschaft die Gegner als leider Zurück-
gebliebene, oder die Schüler Freuds als paranoische Sekte be-
trachtet werden.
4) Die Krankheitseinsicht fehlt, oder der Kranke erwehrt
sich ihrer mittels Projektion. Der Geisteskranke ist für logische
Entgegnung unzugänglich. Wir führen diese Eigenschaft auf den
verstärkten Narzißmus zurück. Die Zahl der „Normalen", denen
ebenfalls jede Einsicht in die krankhafte Natur ihrer Eigentüm-
lichkeiten fehlt — z. B. Alkoholiker — ist aber sehr groß; sie
werden darum noch nicht für geisteskrank gehalten. Ganz zu
schweigen von den religiösen und philosophischen Überzeugungen,
deren Anhänger sich gegenseitig denselben Vorwurf machen.
Da mangelnde Mitarbeit auch bei Neurotikern und vielen
normalen Parasitennaturen gefunden wird, ist das sub 1 genannte
Kriterium unvollständig. Offenbar kann ein gewisses Maß von
Fähigkeit zur positiven Übertragung und zu intellektuellen Lei-
stungen verursachen, daß die Gesellschaft sich über sonst genügend
erachteten Mangel 'hinwegsetzt. Das Beispiel des intelligenten
94
Paranoikers einerseits, des faulenzenden, abergläubischen, unehr-
lichen Kriegsgegners anderseits zeigen, wie wenig das Kriterium
das logische Gefühl befriedigt.
Wir dürfen wohl erwarten, daß neben den bewußten noch
ein oder mehrere unbewußte Kriterien vorhanden, und daß
diese entscheidend sein werden. Hinter den vorgeschobenen Ge-
fahren, welche der Gesellschaft vom Geisteskranken drohen sollen
liegt eine andere, ungenannte. Anzeigen dafür finden wir in der
Gefühlsemstellung, welche das Publikum den Irren entgegenbringt
und welche unter anderem ein gewisses Grauen und ein ebenso
schlecht begründetes Mitleid enthält. Der Geisteskranke gibt
dem Normalen das Gefühl des Unheimlichen. Seine Unzuläng-
lichkeit für den normalen Wortverkehr stört den Glauben an die
Macht des gesprochenen Wortes, die scheinbare Unbeeinflußbarkeit
und Unheilbarkeit des Irren stören den Glauben an die eigene
Allmacht. Beide _ der Glaube an die magische Kraft des ge-
sprochenen Wortes und der Glaube an die Macht über andere
Menschen und über die Natur im allgemeinen - beruhen auf
Narzißmus. Der Normale beschützt seinen Narzißmus, und wahr-
scheinlich m gewiss er Hinsicht mitRecht, da die körperliche Gesund-
heit zum Teil davon abhängt. Durch den Umgang mit Geisteskranken
wird dieser unbewußte Narzißmus des Normalen erschüttert.
Noch auf andere Weise kommen die Verdrängungen des Nor-
malen in Gefahr. In einer unruhigen Irrenabteilung ist man buch-
stäblich bei dem Unbewußten auf Besuch. Man kann die unheim-
lichen Kräfte der Tiefe dort nicht mehr verleugnen, sie zeigen
sich offen, wie die Feuerglut eines Vulkans, und damit erwecken
sie auch m dem Besucher ihr entferntes tiefes Getöse.
Als geisteskrank gilt der Gesellschaft, wer den
Menschen ihr Unbewußtes zu entschleiern droht, ohne
daß sie sich auf andere Weise, als durch Sequestrierung, dagegen
verteidigen können. s
Dieses fünfte Kriterium ist das wichtigste, ihm gegenüber
erscheinen die übrigen als Vorwände.
... Da also zwischen den Geisteskranken und der Gesellschaft
ein Konfliktzustand herrscht, erhebt sich für die Wissenschaft die
Forderung, das unparteiische Studium dadurch zu erleichtern, daß
auch diese letztere der Untersuchung unterworfen wird.
Was ist nun diese Gesellschaft, die wir als Koordinationsachse
vorhanden finden, wenn wir dem Begriffe der „Geisteskrankheit«
uns zu nähern versuchen? Es steht hier offenbar anders als bei
95
den Neurosen. Dort fanden wir das Bild des ideell-normalen
Menschen, aus den idealen Teilbildern der Wirklichkeit zusammen-
gesetzt, als Vergleichsobjekt vor. Eine ideale Gesellschaft ist aber
noch nicht geschaffen, vielmehr sind alle darüber einig, daß vieles
an ihr nicht taugt. Es haben sogar manche Denker — ich brauche
nur die Namen Carpenter und Ruskin zu nennen — sich,
nicht gescheut, die heutige Kultur geradezu mit einer Krankheit
zu vergleichen. Gerade heute fällt es leicht, sich dieser Meinung
anzuschließen. Die Kultur der weißen Rasse ist eine krankhafte.
Die von der Kultur errungenen Gewinne sind zwar recht
wichtig: eine verbesserte Verteidigung gegen die Feinde aus
anderen Naturreichen, eine intensivere Ausnützung der natürlichen
Lebenstniellen, zusammen zu einer beträchtlichen Verlängerung
der Lebensdauer führend. Den wichtigsten Gewinn werden aber
gewiß viele nicht in den materiellen Vorteilen erblicken, sondern
in dem Gefühle von Sicherheit und Überlegenheit, das dem
Kulturmenschen erlaubt, sich der Natur gegenüber so stolz und
unabhängig zu fühlen, wie es bei den primitiven Völkern nur die
Könige und die Zauberer sich gestatten können. Andere werden
im Gegenteil die Aufopferung des Individuellen für die Gesamt-
heit, das Gefühl der Bruderschaft, die Selbstbeherrschung, welche
die Kultur fordert, als das wertvollste empfinden, oder die er-
habene Überlegenheit der Kulturreligionen hervorheben.
Ich erkenne alle diese Gewinne an, möchte aber einige Schatten-
seiten doch hervorholen.
Gegenüber den materiellen Vorteilen der Kultur möchte ich
auf die ungleichmäßige Verteilung derselben hinweisen. Nicht
daß ein Individuum so und soviel hat, macht es glücklicher, son-
dern daß es wenig Wünsche hat, die nicht einmal befriedigt
werden können. Der moderne Verkehr schafft aber dadurch, daß
er den Armen alle Reichtümer vor Augen hält, noch mehr Be-
dürfnisse, als er befriedigen kann, und der Handelsmann macht es
sich sogar zur Pflicht, „Bedürfnisse zu schaffen". Das heißt, daß
er einen Beruf daraus macht, die Menschen unzufrieden zu machen.
Gegenüber der modernen Lebenssicherheit hebe ich die Kriege
und den Klassenstreit hervor, welche nicht etwa inzidentell, son-
dern mit derselben Regelmäßigkeit wiederkehren wie die mani-
schen Phasen einer periodischen Psychose oder die Zufälle eines
Epileptikers. Jene gehören zur Kultur wie diese zur Krankheit.
Bei den ethischen Vorteilen der Kulturgesellschaft wird zu
wenig berücksichtigt, daß keineswegs nur die „sublimiert" eroti-
96
sehen Triebe das Gesellschaftliehe zusammensetzen. Vielmehr
besteht die Kulturgemeinschaft aus einem für die Gesamtheit
arbeitenden Kern, welchen tatsächlich die Liebe zusammenhält,
daneben aber aus einer großen Zahl von Individuen, deren Interesse
für die Gesellschaft das Interesse des Raubtieres für seine Beute
ist. Die letztere Gruppe hängt von der Kulturgemeinschaft ab
und richtet sie zu ihren Zwecken ; ihre kulturelle Zunahme macht
die ethischen Kulturvorteile illusorisch. Und endlich glaube ich,
daß die Verluste, auch an Kulturgütern, welche diese
heutige Kultur mit sich bringt, nicht ihrem Werte nach geschätzt
werden. Es scheint nämlich, daß die Logik nicht neben, son-
dern nur auf Kosten von Ethik und Ästhetik emporwachsen kann.
Während bei primitiveren Völkern jede Frau ein zierliches Orna-
ment oder ein Gefäß selbst verfertigen kann, ist in Kulturländern
der Künstler nur mehr ein Naturmonument. In den Ländern, wo
die industrielle Kultur am weitesten vorgeschritten ist, fehlen die
Künstler überhaupt, und wenn ich das so platt und matt hier
niederschreibe, konstatiere ich einen so ungeheuren Verlust, daß
dieser allein genügte, um über die angeblichen Fortschritte durch
die Kultur nicht schwärmerisch gestimmt zu sein.
Es scheint mir, daß eine Verlängerung der Lebensdauer
wenig Wert hat, wenn man zugleich den Inhalt des Lebens
verkleinert.
Die ungleichmäßige Entwicklung der Geschlechter zwingt das
Weib, mehr zu sublimieren, als es im Durchschnitt aushalten
kann, weil der Mann, durch Habsucht verführt, seine Libido im
gesellschaftlichen Leben so sehr spaltet und zersplittert, oder sie
durch die Sorge um das tägliche Brot so infantil zu halten
gezwungen wird, daß er nicht mehr genügend liebesfähig ist. —
Die kulturelle Erziehung zwingt die beiden Geschlechter soviel
Libido in Phantasie und Gedankenleben abzuleiten, daß die
Fähigkeit zur reellen Befriedigimg zum guten Teile verloren geht,
und sie straft zu gleicher Zeit ihre allzu gehorsamen Opfer durch
erhöhte Neigung zu Psychoneurosen.
Während die geringere Befriedigung durch den Mann das
Weib zwingt, einen größeren Teil der Libido dem jungen Kinde
zuzuwenden, übernimmt anderseits die Gesellschaft die Erziehung
viel früher von den Eltern, und beraubt die Mutter dadurch ihres
Liebesobjektes, das sie gerade mehr bedürfte. Durch den stark
entwickelten Verkehr bleiben am Ende der Erziehung die Kinder
selten in der Nähe der Eltern. Sie werden durch ihre niedrigere
97
Zahl mehr verwöhnt, haben größeres Zärtlichkeitsbedürfhis und
werden dann von der Gesellschaft den Eltern in einem Alter
entrissen, wo sie das größere Bedürfnis nur hoch domestiziert
äußern dürfen. Die krankhafte Natur dieser Kultur geht auch
daraus hervor, daß ein Volk, oder ein Teil eines Volkes, das ihr
verfallen ist, regelmäßig numerisch zurückgeht.
Zwar ist der Begriff der „Krankheit" nur in Verbindung mit
dem Begriffe der „Gesundheit" denkbar; somit ergäbe sich daraus
für mich die Pflicht, anzudeuten, wie eine „gesunde" Kultur aus-
sehen solle. Ich halte es für zulässig, im Rahmen dieser Arbeit
mich vorläufig mit der These zu begnügen, daß sie so sein sollte,
daß das Glück der Individuen durch die Sorge um die Existenz
der Art nicht unter ein gewisses Minimum herabgedrückt werde.
Damit lasse ich die Möglichkeit offen, daß eine ideell „gesunde"
Kultur vielleicht durch die Existenz gewisser Triebe bei der
weißen Rasse überhaupt ausgeschlossen sei. Die Lösung des
Problems muß der Ökonomie überlassen werden, wobei aber die
Psychoanalyse ihr die Anweisung zu geben hat, daß in ihren
bisherigen Lösungen ein krankhafter Weg verfolgt wurde, der in
einer Psychoneurose der Individuen besser in seiner Fatalität zu
überblicken ist. Die bisherigen Lösungen sind durch Unter-
schätzung der Ansprüche des Unbewußten, der Libido,
mißlungen. Bei der gegenwärtigen „weißen" Kultur wird zwischen
den beiden Kulturforderungen ein Kompromiß getroffen. Das
individuelle Glück wird, wie oben gesagt, durch die Kulturgebote
erheblich eingeschränkt.
Die Existenz der Art wird nur dadurch gesichert, daß die
Kultur nicht für die ganze Gesellschaft gleichmäßig, sondern nur
in gewissen Gebieten und gesellschaftlichen Klassen, inselförmig,
hochgehalten wird, während der Bevölkerungszuwachs aus den
nicht oder weniger kultivierten Gebieten stammt (Dulosis).
Sobald ein Volk trachtet, sich in seiner Gesamtheit zu
einer gewissen Kulturstufe zu erheben, geht es numerisch zurück.
Die Kultur erscheint so als eine Krankheit, die
einem gewissen Teile der Gesellschaft auferlegt wird,
mit Rücksicht auf einen gewissen Nebengewinn, wovon
alle profitieren.
Ökonomisch fällt dieses Daseinsmotiv fort, sobald der Neben-
gewinn zu gering wird, wie es jetzt in vieler Augen der Fall wird.
Psychologisch interessiert uns das nicht, nur fällt uns die
Übereinstimmung mit den Psychoneurosen auf, deren Existenz
98
ebenfalls oft auf einem gewissen „sekundären Krankheitsgewinn"
fußt, weil eine Tendenz (oder mehrere, egoistische wie libidinöse,
Tendenzen) aus den vielen Augenblickspsychismen verschiedener
Stufen solche aussiebt, die diesen Gewinn aufliefern und ihnen
eine längere Dauer — als „Neurosen" usw. — verleiht, wenn
noch die Bedingung der Disposition erfüllt ist. Psychologisch
interessiert uns weiter die Detailuntersuchung der Kulturerschei-
nungen, welche zuläßt, sie in unserem jetzigen Vergleich der
„neurotischen" Erscheinungen einzuschalten. Wir halten den
Unterschied im Auge, nämlich den sozialen sekundären Krank-
heitsgewinn bei der Kultur, im Gegensatz zu dem individuellen
sekundären Krankheitsgewinn bei der Neurose, und betonen, daß
dies der einzige Unterschied ist, so daß die Kultur vollends in
Krankheit übergeht, sobald der Gewinn zu individuell wird.
Individuell betrachtet, gehört die Kultur zu den neurotischen
Erscheinungen.
Ich meine, man kann weitergehen, und mittels der auf psycho-
analytischem Wege gewonnenen Einsicht die nähere Diagnose
dieser Kulturkrankheit versuchen. Es soll aber knappste Passung
geboten bleiben.
Ich schließe mich dabei Freuds Auffassung aus dem Jahre
1908 an. 1 Wie Freud ausführt, sind es außer der Lebensnot die
aus der Erotik abgeleiteten Familiengefühle, welche das Individuum
zur Triebsunterdrückung zugunsten der Gesellschaft bewogen haben.
Man kann wahrscheinlich hinzufügen, daß die vom Vater aus-
gehenden Verbote daran Anteil haben, und daß es' diesen Ver-
boten leichter gelang, die Liebe zur Mutter von dieser abzulenken,
weil die primitive Arbeit, über welche man als Ersatzbetätigung
der Libido verfügen konnte, zur Aufnahme großer Libido cmanti-
täten fällig war. Es ist vielleicht in diesem Rahmen überflüssig,
darauf hinzuweisen, daß die jetzige industrielle Arbeit diese Eigen-
schaft nicht mehr hat. Aus der Arbeit sind die höheren Organi-
sationen der Libido größtenteils fortgenommen, und der Religion
und der Neurose zur Verfügung gestellt. Aus diesem Umstände
muß eine Libidostauung erfolgen, da die Libido, wie Freud
deutlich gemacht hat, aus dem kulturellen Liebesleben auch stets
mehr verscheucht wird und ihr somit nur die Phantasie und die
Vergnügung übrig bleiben.
1) Siehe Freud: Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität.
[Ges. Schriften Bd. V.]
99
Bei dieser sich entwickelnden Insuffizienz der Arbeit mußte
das väterliche Verbot (und Gebot) immer mehr für den sozialen
Zweck in Anspruch genommen werden, und die Gesellschaft wird
je länger je mehr nur durch Verbote instand gehalten.
Die damit korrelate übermäßige Furcht vor dem Tode (aus
der von Fr eud gemalten Situation beim Tode des Vaters stammend)
gibt das Motiv ab für die ebenso mäßige Entwicklung der Hygiene,
welche den Kulturmenschen wie ein unsichtbarer Glaskäfig ein-
gesperrt hält, und der Reinlichkeit, welche die Dimensionen
einer Phobie annimmt.
In der Gesellschaft wird eine weitgehende Hemmung der den
Familienmitgliedern feindlich zugewandten objekterotischen
Faktoren nötig, welche in Friedenszeiten schließlich in Arbeit und
Vergnügung abgeführt werden. Dadurch bekommen sowohl Arbeit
wie Vergnügen den Charakter aggressiver Aktivität. (Dieser
Charakter gehört sowohl der primitiven wie der Kulturgesell-
schaft an.) Die durch Hygiene und Reinlichkeit aus Liebe und
Arbeit zurückgedrängten analerotischen Quantitäten suchen
sich einen Ersatz im Streben nach Gewinnung von Produkten,
schließlich von Zeit und Geld, jenen beiden Fäkalsymbolen.
(Dieser Charakter ist für die Kulturgesellschaft eigentümlich.) Aus
diesem zwangsmäßigen Streben zusammen mit den aggressiven
Tendenzen ergibt sich der zwangsneurotische Charakter der Kultur.
Ich erspare ihnen die weiteren Analogien, welche auch bei
oberflächlicher Betrachtung zwischen der Kultur und einer Zwangs-
neurose bestehen, um nur noch zu erwähnen, daß auch die Rück-
kehr des Verdrängten nicht fehlt.
Für denjenigen, der diese Entwicklung ganz mitmachen konnte,
scheint das Ergebnis relativ befriedigende Synthesen zu liefern.
Dabei braucht die Vergnügung aber immer mehr Zeit, da die
aus der Arbeit verbannte Libido in die Liebe der Hygiene wegen
nicht zugelassen' wird und in der Erholungszeit ihre Befriedigung
finden muß. Außerdem wird die Lösung dadurch unbefriedigend,
daß sie nur für eine Minderzahl erreichbar ist, und auch für
diese sich nicht als eine stabile Basis herausstellt.
Das Zeit- und Geldstreben der dadurch befriedigten Klasse
entwertet die Arbeit für die übrigen, während die veränderten
gesellschaftlichen Verhältnisse einer Entwicklung des Familien-
lebens, welche dieses instandsetzen sollten, die aus der Arbeit
zurückfließenden Libidoquanten aufzufangen, feindlich im Wege
stehen. Daher Arbeitsverkürzung, Arbeitsmüdigkeit usw., welche
auf die Dauer das Leben ebenso gefährden wie die ursprüngliche
Situation von Lust, Ruhe und Lebensgefahr.
Freud hat uns davor gewarnt, das Leben der primitiven
Völker für uneingeschränkt und nur lusterfüllt zu halten, er hat
uns gezeigt, wie es vielmehr durch Tabuverbote in allen wich-
tigen Hinsichten beschränkt ist und fast bei jedem Schritte die
Überschreitung irgendeines Verbotes droht. Auch wissen wir, daß
die Wilden, wenn sie auch die offene, bewußte Todesgefahr weniger
scheuen als wir, doch meist keinen stabilen Mut besitzen, daß sie
leicht von Panik ergriffen werden, und daß die Angst vor dem
geheimnisvollen, von Geistern bewirkten Tode sie beherrscht. Die
Tabuinstitution ist nicht imstande, all diese Angst zu kompensieren,
es bleibt eine Menge als solche zurück.
Beim Zivilisierten, dessen Religion so viel komplizierter ist,
wird jedoch ein Teil der Furcht vor dem Tode wie bei dem
Wilden verarbeitet. Dieser Teil gilt dem irdischen Tode als solchen.
Ihm werden zur Kompensierung die hygienischen und Reinlich-
keitstabus errichtet und logisch begründet. Die Furcht vor dem
Tode wird durch die Sorge um das Beachten dieser Tabuvor-
schriften ersetzt.
Für einen anderen Teil wird der Todesfurcht damit abgeholfen,
daß der Tod zum unendlichen und eigentlichen Leben erhoben
wird. 1 Die Religionen, die das zustande brachten, entgehen aber
den hieraus zu ziehenden praktischen Konsequenzen dadurch, daß
sie eine Reihe von Vorschriften geben, von deren Befolgen das
ewige Heil abhängig gemacht wird. Die Todesfurcht, soweit sie
im religiösen Sinne umgestimmt ist, wird durch Furcht vor der
ewigen Strafe ersetzt und diese wieder durch die Sorge um das
Befolgen der Moralgebote. Auch diese Verarbeitung endet also
schließlich in einem, dem neurotischen Zwange ähnlichen Tabu.
Wenn man auch zugeben muß, daß der Wilde nicht so frei ist
wie er aussieht, so gilt dasselbe auch für den Kulturmenschen,
und zwar in noch höherem Grade.
Es ist üblich, auf die Fähigkeit des Normalen zur Unter-
drückung seines Narzißmus hinzuweisen. Der nomale Mensch soll
imstande sein, sein Ich für die Gesamtheit aufzuopfern. Ich möchte
die allgemeine Gültigkeit dieses Satzes, der für Ausnahmen oder
gar für eine größere Minderzahl zutreffen mag, bezweifeln. Viel-
mehr sehen wir den normalen Menschen nur dann sein Leben
1) Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. [Ges. Schriften, Bd. X.]
101
für die Gesamtheit geben, wenn damit das Freiwerden niedrig
organisierter aggressiver Tendenzen und sonstiger Partial triebe
verbunden ist. Es ist bekannt, daß eine Armee nur dann in guter
Disziplin erhalten werden kann, wenn wirklich gestritten wird,
und daß der Soldat in der Schlacht dazu neigt, Schüsse abzugeben,
auch wenn sie nicht treffen können, bloß um sich zu erleichtern.
Ich sehe in der Eigenschaft des Normalen, die Kriegsdisziplin zu
ertragen, bloß eine leichtere Abbaufähigkeit seiner auf Friedens-
tätigkeit eingestellten höheren psychischen Organisationen, ein sich
leichter wieder in die Situation des automatisch gehorsamen Kindes
zurechtfinden. Die sublimiert allo-erotischen Kräfte, welche zur
Disziplin befähigen, sind also von oben und nicht von unten —
aus dem Narzißmus — herkömmlich. Daß der Narzißmus im
Heere nicht wirklich aufgegeben, sondern bloß infantiler geworden
ist, zeigen auch die immer notwendig gewesenen infantilen Be-
lohnungen der Uniform, Orden usw.
Im Augenblicke des Gefechtes selbst ist, wie aus den Unter-
suchungen Wolozkois hervorgeht, eine bewußte Aufopferung
des Lebens für die Gesamtheit selten, die Mehrzahl ist der ein-
fachsten psychischen Leistungen nicht fähig, nur zu automatischen
Wiederholungen und ebensolchen Flucht-, Abwehr-, Angriff- und
prokursiven Versuchen.
Die Sublimierungen und Reaktionsbildungen des sozialen Men-
schen folgen den Mechanismen der Zwangsneurose. (Überein-
stimmung des sittlichen, logischen, ästhetischen Zwanges mit dem
der Neurose.) Auch sie neigen zur Rückkehr des Verdrängten.
Und im zyklischen Verlaufe sehen wir die Kultur eines Volkes
oder einer Rasse sich emportürmen, sich bis zur Unerträglichkeit
nach den zwangsneurotischen Mechanismen weiter entwickeln,
dann die Einschränkung des nützlichen Effektes durch die Rück-
kehr des Verdrängten in unverhüllter Form, dann den Durch-
bruch des Verbotenen in Krieg und Revolution, nach den Prin-
zipien der manischen Psychose. Auch die mit den paranoiden
Gebilden analogen „ismen" fehlen nicht.
Mit diesen Überlegungen ist unsere Koordinationsachse besser —
nach dem Relativitätsprinzip — orientiert. Der Kulturmensch leidet
an einer speziellen Form der Zwangsneurose. Die Kultur der
industriellen Produktionsperiode entspricht einer Regression auf
die zweite prägenitale Libidoorganisation.
102
Aus einem im Internationalen Psych oanalytisdien Verlag als Privatdruck erschienenen Karikaturen-
album: l) Dr. S. Ferenczi, Budapest, 2) Dr. E-rnest Jones, London, 3) Dr. Karl Abraham, Berlin,
4) Dr. Max Eitingon, Berlin, 5) Dr. Siegfried Bcrnfcld, Wien, ö) Prof. Dr. Paul Schilder, Wien.
(3 und 5 gez. von Olga Szekely-Kov£cs, die vier anderen von Robert Bereny);
io 3
P SYC H O AN ALYS E UND
ERZ I E H U N G
iNiNiiniiJiiiiiiiiiniiiniiiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiniiiininiiiininiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiHniiHiHiiiiiiiiiniiiiiiiHniiiiiiiiiiHiniiiiiiininii
Elternfehler in der Erziehung der
Sexualität und Liebe
von
Dr. Oskar Pfister
Pfarrer in Zürich
Bruchstück aus einer Arbeit über
„Elternf etiler" , die in einem voraussicht-
lich Frühjahr 1926 erscheinenden Sammel-
werk „Die Psychoanalyse in der Erzie-
hung' 1 enthalten sein wird. (Das von
Dr. Wilhelm Hqffer herausgegebene Werk
enthält Beiträge von Aichhorn, Bernfeld,
Chadwick, Anna Freud, Friedjung, Hug-
Hellmuth, Klein, Pfister, Beata Rank,
Sachs, Schneider, Vera Schmidt, Hedwig
Schaxel und Zulliger.)
Eine richtige Sexualentwicklung ist nur innerhalb einer
gediegenen Gesamterziehung möglich. Wer da glaubt, mit
ein bißchen Aufklärung und viel gouvernantenhaften War-
nungen auszukommen, begeht einen schweren Irrtum. Ernste
Schädigungen des Sexuallebens pflegen das ganze übrige
Leben aufs stärkste zu beeinflussen, und eine gesunde ethische
Allgemeinerziehung kommt meistens der Entwicklung der
Geschlechtlichkeit und Liebe in hohem Maße zugute. Allein
wenn arge Verstöße auf letzterem Gebiete eingetreten sind,
vermag die tüchtigste Erziehung aller übrigen Lebenstendenzen
den Schaden oft nicht gutzumachen. An der einen Klippe
zerschellt das ganze Lebensschiff.
Was für ein Unglück sexuelle Fehlentwicklung bedeuten
kann, machen sich viele Eltern nicht klar. Wenn sie aber
wüßten, wie schwer viele Homosexuelle, Sadisten, Masochisten,
105
Fetischisten und andere Perverse leiden, und wenn sie ahnten,
wie eng verkehrte Liebeswahl und Unfähigkeit zur Gatten-,
Menschen- und Gottesliebe, schwere Gemütskrankheiten und
sogenannte Nervenleiden mit der sexuellen Erziehung zu-
sammenhängen, sie würden erschrecken über die Gleich-
gültigkeit, mit der so oft das enorm wichtige Gebiet behan-
delt wird.
Ziel der richtigen Sexualerziehung ist diejenige Entwick-
lung der Geschlechtlichkeit, welche einerseits der höchst-
möglichen sittlichen Geistesausbildung, anderseits ihrer bio-
logischen Bestimmung entspricht. Zu diesem Zweck darf die
Sinnlichkeit sich nicht allzusehr in den Vordergrund drängen
und zu viele psychische Kräfte absorbieren. Sie darf aber
auch nicht zur Verkrüpplung gebracht werden, indem durch
Sexualverdrängungen schwere Triebhemmungen erfolgen.
Denn dabei droht nicht nur die Gefahr einer Abdrängung
in Krankheit (Hysterie, Angstneurose, Zwangsneurose, Intro-
versionsneurose), sondern auch Mißbildung des Denkens,
Fühlens und Wollens im weitesten Umfang. Insbesondere
ist zu betonen, daß die Sublimierungsfähigkeit durch die
ausgedehnteste und intensivste Sexualverdrängung mitnichten
gesteigert wird, sondern im Gegenteil von einem gewissen
Grade an und bei gewissen Kompensationschwierigkeiten die
betrübendste Verminderung erfährt. Daher hauptsächlich
mißraten so oft die Kinder vortrefflicher Eltern; die im
Bereiche der kindlichen Erotik begangenen Fehler rächen
sich mit grimmer Schadenfreude. Nur eine unter vielen
Tücken erblicken wir in der Tatsache, daß gerade bei der
heftigsten Unterdrückung der Sexualität des Zöglings die
wildesten sinnlichen Leidenschaften in ihm auflodern können.
Als Elternfehler stellen wir vor allem fest unvorsichtige
Reizungen der Sinnlichkeit. Allzuweit getriebenes Streicheln,
Tätscheln des Gesäßes, Reiben der Genitalien bei der kör-
perlichen Reinigung ist weit gefährlicher, als manche Mütter
meinen. Auch übermäßiges Küssen ist nicht vom Guten.
Ganz verwerflich ist das Kitzeln, das man so oft bei spie-
lenden Pflegerinnen beobachtet, z. B. das Pressen des Ge-
106
sichtes in die Bauchhöhle des Kindes. 1 Unvollständige Bekleidung
der Mutter, z. B. hei der Toilette, kann Schaden stiften.
Dringend zu warnen ist vor zu langem Aufenthalt der
Kinder im Schlafzimmer der Eltern. Unglaublich oft findet
man die erste und schlimmste Ursache von neurotischen
Störungen in der Beobachtung intimer Vorgänge durch das
Kind, und fast regelmäßig erklären die Eltern es für un-
möglich, daß ihr Kind dergleichen gesehen habe, es habe
doch immer fest geschlafen usw. Ich halte es für angezeigt,
das Kind schon vor Ablauf des ersten Lebensjahres aus dem
elterlichen Schlafzimmer zu entfernen. Auch das Nebenzimmer
ist unter Umständen ein sehr gefährlicher Aufenthaltsort. Die
sogenannte Nebenzimmererotik erweist sich bei Schlaflosen
und Angstneurotikern nicht selten als wichtigste Krankheits-
ursache.
Ein gesundes Schamgefühl kann nur da zustande kommen,
wo die Sexualerziehung sich von Drohungen, furchterregenden
Anspielungen, die Gefahr der Verdrängung heraufbeschwö-
renden Erschütterungen frei hält. Eine auf Angst vor un-
heimlichen dunkeln Mächten aufgebaute Schamhaftigkeit ist
eine schlimme Mitgift fürs Leben. Sie treibt oft in Angst,
Zwangsneurose, Introversionen, in Liebesunfähigkeit, Lebens-
überdruß usw. Oft zeigen sich die schrecklichen Folgen
schon in der Kleinkinderzeit, oft in der Pubertätsentwicklung,
oft sogar erst in der Ehe (Impotenz, Frigidität usw.). Ehr-
furcht, nicht Furcht vor den sexuellen Ordnungen haben die
Eltern einzupflanzen. Sie müssen jeden Schein vermeiden,
als sei die natürliche Triebhaftigkeit insgesamt und unter
allen Umständen etwas Häßliches; sie sollen im Gegenteil
darauf hinwirken, daß eine würdige sittliche Einschätzung dieses
l) Auch manchen Ärzten ist größere Vorsicht zu empfehlen. Für gewisse
Kinder, natürlich längst nicht für alle, bedeutet die Temperaturmessung durch
den After eine schädliche Reizung, die eine Überbetonung der Darmendigung
und Verlangen nach ihrer fortgesetzten Erregung zur Folge hat. Aufgefallen
ist mir, wie oft man bei Neurotikern auf den schädigenden Einfluß von
Phimosenoperationen stößt; dabei darf man nicht übersehen, daß auch die
Verengerung der Vorhaut Reizungen hervorbringt, die der Sexualentwicklung
nachteilig sind. Jedenfalls aber sollte die Operation früh und mit möglichster
Vermeidung von Schmerzen und Aufsehen vollzogen werden.
Gebietes allmählich, je nach der fortschreitenden Fassungskraft
des Kindes angebahnt werde.
Dies ist nur möglich im Zusammenhang mit einer ge-
diegenen sexuellen Aufklärung. Daß diese zu den wich-
tigsten Elternpflichten gehört, wird heute nur noch selten
bestritten. Man ist durch Schaden klug geworden und glaubt
nicht mehr, daß die Gasse und der Zufall die beste Auf-
klärungsarbeit leisten. Vorenthaltung der Aufklärung ist
künstliche Verdunklung der Kindesseele. In der Nacht
strauchelt und fällt man leichter als in der Tageshelle. Für
die Darbietung der Aufklärung gelten folgende Grundsätze:
Sie soll nicht auf einen Schlag, sondern allmählich, je nach
dem Interesse und der Fassungskraft des Kindes vor sich
gehen (Freud). Die Lüge vom Storch ist eine gefährliche, das
Zutrauen zu den Eltern untergrabende, die Geschlechtlich-
keit diskreditierende und darum die Liebesentwicklung des
Kindes bedrohende Fälschung. Nicht die Schule, sondern das
Elternhaus soll aufklären. 1 Zur Aufklärung gehört nicht nur
die physiologische Belehrung über Geburt und Zeugung,
sondern auch und vor allem die sittliche Unterweisung,
ohne welche die naturwissenschaftlichen Kenntnisse leicht
einen unrichtigen Eindruck hervorrufen, unerwünschte Ver-
drängungen oder Erregungen provozieren und so ihr Ziel
verfehlen. Die Schönheit, sittliche Größe und der Segen
eines ethisch normierten Gebrauches der Sexualordnung sind
darzutun, jedoch frei von allen Übertreibungen. Es darf nicht der
Gedanke geweckt werden, daß ohne Eheschließung das Leben
in jedem Fall der höchsten Würde und des edelsten Reich-
tums verlustig ginge. Dagegen schließt eine harmonische Persön-
lichkeitsentwicklung die ethische Liebesfähigkeit in sich.
Da nur in der Atmosphäre der Freiheit die Liebe im
höchsten Sinne aufsprießen kann, muß der finstere Ton als
Elternfehler gebrandmarkt werden. Alles, was über die Strafe
im allgemeinen gesagt wurde, muß in der Sexualpädagogik
1) Wo eine Klasse durch gewisse Vorkommnisse bedroht oder gar ver-
seucht ist, kann eine beruhigende, die sittliche Erhabenheit der Fortpflanzungs-
ordnungen betonende Aufklärung zur Pflicht des Lehrers werden.
108
besonders sorgfältig berücksichtigt -werden. Dringend zu warnen
ist vor strenger Bestrafung irgendwelcher Sexualdelikte, wie
Onanie, unerlaubte Besichtigungen, Betätigungen der Zeige-
lust, der Freude am Kot oder Urin, hetero- oder homo-
sexuelle Akte, Sadismus oder Masochismus usw. Wir hörten
bereits, wie nahe die Gefahr liegt, daß die Strafe den Fehl-
tritt erst recht mit seelischen Energien belaste und mit
Zwangscharakter ausstatte. Onanie hart zu bestrafen, sei es
auch nur mit der Androhung gesundheitlicher Gefährdung,
ist besonders da recht verhängnisvoll, wo bereits ein un-
überwindlicher Zwang vorliegt. Weg alle Drohung! Liebe-
volles Abraten, Darbietung von wertvollen Kompensationen,
gütige Beruhigung und Belehrung bieten weit mehr Aussicht
auf Erfolg dar und vermeiden die Gefahr, die bei harten
Maßregeln so leicht eintritt, daß die Selbstachtung zu-
sammenbricht, Verzweiflung den Unglücklichen vollends
entkräftet, Flucht in die Neurose zerstörend wirkt. In
schweren Fällen kann auch elterliche Güte nicht erlösen;
einzig psychoanalytische Behandlung führt, wo starke Trieb-
verklemmungen, besonders Zwangsvorstellungen vorliegen,
den gewünschten Erfolg herbei. Sie auch kann einzig und
allein denjenigen die Genesung und innere Freiheit ver-
schaffen, die auch durch Elternstrenge gegenüber ihren Sexual-
delikten in einen Abgrund gestoßen wurden. Und solcher
sind viele! — Zu warnen ist auch vor schroffer Bekämpfung
kindlicher Liebesverhältnisse. Erreichen die Eltern, daß ihr
Kind aus Furcht vor der Strafe seine Liebe preisgibt, so
ist doch sehr oft der Erziehungs erfolg nur ein scheinbarer.
Wie bei allen anderen Erziehungsmaßregeln läßt sich leicht
feststellen, ob dem Elternwunsch äußerlich willfahrt wurde ;
was für Haßregungen jedoch auftauchten, wie viel Liebes-
verdrängungen stattfanden, das kann wegen der Verdrängung
nicht einmal das Kind angeben. Manchmal weist es sich
erst nach vielen Jahren, welche schwere Schädigung mit dem
jähen Verbot der Liebe und seiner harten Durchführung
angerichtet wurde.
109
Das psychoanalytische Kinderheim
in Moskau
Vera Schmidt
(Moskau)
In der Broschüre „Psychoanalytische
Erziehung in Sowjetrußland" (Internatio-
naler Psychoanalytischer Verlag, 1924)
berichtet Vera Schmidt über das Moskauer
Kinderheim-Laboratorium „Internationale
Solidarität", über die psychoanalytischen
Li it sätze für die Arbeit in dieser Anstalt,
über die pädagogischen Maßnahmen, ins-
besondere auch über die Arbeit des Er-
ziehers an sich selbst und über die dort
gemachten Beobachtungen. Die einleitenden
Ausführungen, in denen über die äußeren
Schicksale des Kinderheims berichtet wird,
werden hier wiedergegeben.
Das Interesse für Erziehungsfragen, insbesondere für die Gemein-
schaftserziehung im Khidesalter, hat sich in Rußland wahrend der
Ereignisse der letzten Jahre bedeutend gesteigert. So kam es, daß
in unserem kleinen, für die Psychoanalyse interessierten Kreise der
Gedanke auftauchte, ein Kinderheim zu gründen, das neben einer
Gelegenheit für wissenschaftliche Beobachtung die Möglichkeit
bieten sollte, auf Grund psychoanalytischer Erkenntnisse neue Wege
der Erziehung zu suchen. Zu diesem Zwecke wurde eine Villa zur
Verfügung gestellt, das Volkskommissariat für Aufklärung gab die
Geldmittel und wir konnten am ig. August 1921 das Kinderheim-
Laboratorium eröffnen, das sich offiziell dem Moskauer Psycho-
neurologischen Institut anschloß. An der Spitze des Heimes stand
Professor Ermakow, der Leiter der psychoanalytischen Bewegung
in Rußland. Es war damals in Moskau fast unmöglich, geschulte Mit-
arbeiter zu finden, die eine wenn auch nur theoretische Kenntnis
der Psychoanalyse besaßen. So mußten wir uns damit begnügen,
Pädagogen heranzuziehen, die sich für die spezielle Aufgabe des
Heimes interessierten und ihre weitere Ausbildung erst im Laufe
ihrer Mitarbeit erhalten sollten.
Wir nahmen dreißig Kinder auf, die wir in folgender Weise
auf drei Gruppen verteilten:
I.Gruppe. . . 6 Kinder im Alter von l—i'/a Jahren
^ " « M V ^ ^ „
3 ] 5 ., i. ■„ „ 4—5
Ihre Eltern gehörten den verschiedensten sozialen Schichten, dem
Arbeiter- und Bauernstand, wie auch intellektuellen Kreisen an.
Obwohl die wissenschaftliche Arbeit des Heimes in aller Stille
vor sich ging, verbreiteten sich schon nach drei Monaten allerlei
auf sie bezügliche Gerüchte in der Stadt. Es hieß, daß in unserer
Anstalt die schrecklichsten Dinge geschehen, daß wir die Kinder
zum Zwecke der Beobachtung vorzeitig sexuell erregten und ähn-
liches mehr. Die Behörde leitete daraufhin eine Untersuchung ein.
Die Untersuchungskommission, die aus einem Kinderarzt, einem
Pädagogen, einem Psychologen und einem Vertreter des Kom-
missariats für Aufklärung bestand, arbeitete mit Sitzungen, Be-
ratungen und dergleichen mehrere Monate. Schließlich teilten sich
ihre Stimmen. Der Arzt und der Pädagoge sprachen sich zugunsten
des Kinderheims aus und bezeichneten die von uns geleistete Arbeit
als nützlich und wertvoll. Der Psychologe dagegen kritisierte die
Tätigkeit des Heimes vom pädagogischen wie vom wissenschaft-
lichen Standpunkt aus aufs schärfste. Daraufhin erklärte das Volks-
kommissariat für Aufklärung durch seinen Vertreter, das Kinder-
heim nicht länger erhalten zu wollen, motivierte aber seinen Ent-
schluß nur mit den übergroßen Erhaltungskosten der Anstalt.
Bald darauf ordnete das Psychoneurologische Institut, an dessen
Spitze inzwischen bei einem Direktionswechsel ein überzeugter
Gegner der Psychoanalyse, Professor N., getreten war, seinerseits
eine Revision unserer Anstalt an. Das Urteil dieser Untersuchungs-
kommission war höchst affektiv gefärbt und geradezu vernichtend.
In einer öffentlichen Sitzung besehimpfte Professor N. den Direktor,
die Mitarbeiterund sogar die Kinder des Kinderheim-Laboratoriums.
Daraufhin stellte das Psychoneurologische Institut nicht nur jede
weitere Unterstützung des Kinderheim-Laboratoriums ein, sondern
beeilte sich auch, sich ideologisch von ihm loszusagen.
Angesichts dieser hoffnungslosen Lage standen wir vor der
Nötigung, das Kinderheim-Laboratorium aufzulösen. An dem Tage
aber, an dem dieser Entschluß veröffentlicht werden sollte, erschien
bei uns ein Vertreter der deutschen Bergarbeitervereinigung „Union",
der sich gerade zum Besuch eines Kongresses in Moskau aufhielt.
Er stellte uns im Namen des deutschen und russischen Bergarbeiter-
bundes das Anerbieten, unsere neue wissenschaftliche Organisation
materiell zu ermöglichen und ideologisch zu stützen. Tatsächlich
wird das Heim seit damals (April 1922) von der deutschen Ver-
einigung „Union" mit Lebensmitteln, von den russischen Berg-
arbeitern mit allem Heizmaterial versorgt. Das Kinderheim änderte
nun seinen Namen in Kinderheim-Laboratorium „Internationale
Solidarität". Die Mitarbeiter, die ihren Gehalt vom Akademischen
Zentrum des Volkskommissariates für Aufklärung erhalten, dem
alle wissenschaftlichen Institutionen der Republik unterstehen,
wurden unter den neuen Verhältnissen auf die Hälfte der Anzahl
vermindert. Die Zahl der Kinder ging auf zwölf zurück.
Im Herbst 1922 wurde das staatliche Institut für Psychoanalyse
gegründet, dem sich das Kinderheim-Laboratorium als eine Hilfs-
organisation anschloß. Das Heim wurde im Herbst und Winter 1922
zweimal revidiert. Beide Male war das Urteil über seine päd-
agogische und wissenschaftliche Tätigkeit ein äußerst günstiges.
Das hinderte nicht, daß im Frühjahr 1923, als es an Geld-
mitteln zur Erhaltung der notwendigsten Organisationen fehlte, von
Seiten der höheren Staatsorgane der Bestand des Kinderheim-
Laboratoriums neuerdings in Frage gestellt wurde. Gleichzeitig
erhob sich auch wieder eine Diskussion darüber, inwiefern die
Existenz einer solchen Anstalt, die ihr Erziehungssystem auf
psychoanalytische Erkenntnisse aufbaut, überhaupt wünschenswert
sei. Ein Teil der Pädagogen und Psychologen sprach sich dafür,
ein anderer dagegen aus. Es wurde wieder eine aus fünf Mit-
gliedern bestehende Kommission eingesetzt, welche die Tätigkeit
des Heimes während des laufenden Herbstes zu überwachen hat.
So ist also der Fortbestand der Anstalt auch heute noch unge-
sichert. Uns aber ist das lebendige Interesse, das die Pädagogen
und Psychologen für die Anwendung der Psychoanalyse auf Er-
ziehungsfragen äußern, die beste Gewähr dafür, daß es dem
Kinderheim-Laboratorium als einer der notwendigsten Organi-
sationen für die gegenwärtige Pädagogik auch weiterhin gelingen
wird, seine Existenz zu behaupten.
Die Psychoanalyse in der Fürsorge-
erziehung
von
August Aichhorn
Bruchstück aus „Verwahrloste Jugend. Die
Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung." Zehn Vor-
träge zur ersten Einführung von August Aichhorn.
Mit einem Geleitwort von Prof. Freud (Internatio-
nale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XIX; er-
scheint im Herbst 1925).
. . . Sehen wir, wie der Fürsorgeerzieher in der Praxis versucht,
die psychische Situation des Kindes oder Jugendlichen zu erfassen,
um dann die Übertragung herzustellen, beziehungsweise wie sie
sich schon von selbst während des Lüftens der Maske einstellt.
Ich bin zwar nicht in der Lage, Ihnen angeben zu können, wie
andere versuchen, die Übertragung herzustellen; das weiß ich nicht.
Ich werde versuchen, Ihnen zu zeigen, wie ich mich gewöhnlich
und nicht ganz erfolglos verhalte.
Versetzen Sie .sieh in die Erziehungsberatung, und nun tritt
ein Verwahrloster herein, dem auf dem ersten Blick der brutale
Gewaltmensch anzusehen ist. Wenn Sie dem mit der ihm bisher
gewohnten Strenge entgegentreten, so lehnt er sich sofort auf und
die Übertragung stellt sich nicht her. Sind Sie entgegenkommend,
freundlich, liebenswürdig, so wird er durch Ihr ihm ungewohntes
Benehmen mißtrauisch und lehnt Sie aus diesem Grunde ab, oder
er nimmt Sie für den Schwächeren und reagiert mit erhöhter
Brutalität.
Fassen Sie den intellektuell Hochwertigeren strenge an, so fühlt
er sich sofort als Herr der Situation, er steht auf ihm bekannten
Boden, so kommen ihm so und so viele draußen im Leben ent-
gegen. Bei wohlwollendem Entgegenkommen hält er Sie für den
besonders Schlauen und ist noch weit mehr auf der Hut als sonst.
Die Angstlichen, Verschüchterten sind bei schärferem Anpacken
leicht geneigt zu weinen oder in die Verfassung zu kommen, die
mit Trotz zu verwechseln ist.
Wie sollen wir uns nun benehmen, wenn das eine und das
andere nicht geeignet ist, den Verwahrlosten in die erforderlichen
Gefühlsbeziehungen zu bringen? Wenn der Verwahrloste gebracht
wird, erfolgt meinerseits ein erster Moment freundlicher Beachtung :
113
das eine Mal nur ein Blick, ein andermal ein Begrüßungswort
oder ein stummer Händedruck, dann wieder eine Bemerkung, daß
von mir nichts zu fürchten sei, daß er in mir weder einen Polizei -
agenten noch einen Untersuchungsrichter vor sich habe. Mitunter
leitet auch ein Scherzwort unser Bekanntwerden ein. Zuweilen
erfolgt auch ein prüfendes Messen. Immer aber lasse ich den
Dissozialen zu mir setzen und den Jugendlichen spreche ich mit
„Sie" an, bis sich die Übertragung hergestellt hat, um dann mit
„Du" fortzufahren. Was von dem Gesagten im konkreten Falle
zu machen ist, oder wie sonst noch dieses erste Umfassen und
Erfassen der Persönlichkeit zur Einleitung der Übertragung erfolgt,
überlasse ich dem Augenblicke, das muß ich fühlen, wenn der
Verwahrloste bei der Türe hereintritt.
Ich halte diesen ersten Augenblick der Begegnung für außer-
ordentlich wichtig, es ist mehr als ein orientierendes Abtasten und
muß mit einer gewissen Sicherheit erfolgen, auch raschestens
beendet sein, weil es in den meisten Fällen den Ausschlag für die
erste Gestaltung unserer Beziehimgen gibt. Sie dürfen nicht über-
sehen, daß der Verwahrloste bei seinem Hereintreten mit mir
dasselbe macht, wie ich mit ihm. Auch er versucht, sich möglichst
bald klar zu werden, wen er vor sich hat. Kinder sind in dem
Bemühen, sich rasch zu orientieren, zumeist recht ungeschickt.
Der Jugendliche entwickelt zuweilen ein unglaubliches Raffinement.
Man merkt oft ein Aufblitzen im Auge, das sofort wieder einem
gleichmäßigen Ausdruck Platz macht, ein kaum erkennbares Ver-
ziehen des Mundes, eine unwillkürliche Geste, dann zuwartende
Haltung, aber zweifellos in Kampfstellung, je älter er ist, desto
schwieriger zu erkennen, wenn er sich nicht sofort in die Situation
des Trotzes oder der offenen Auflehung begibt. Besondere Schwierig-
keiten sind gegeben, wenn einer mit der Maske liebenswürdiger
Aufrichtigkeit oder gleißender Unterwürfigkeit kommt. Auf diese
gehe ich sofort ein und nehme sie für wahr, wodurch sich der
Verwahrloste sofort über mir fühlt, trotzdem er aus der Art meines
Anfassens ein Stück Aktivität spürt.
Nach dem in Bruchteilen von Sekunden erledigten Sichgegen-
seitig-Erkennenwollen beginnt ein Kampf um die Vorherrschaft,
der oft nur kurz währt, manchmal aber sehr zähe fortgesetzt wird
und aus dem ich, wie ich Ihnen ganz offen eingestehe, nicht immer
als Sieger hervorgehe. Sie dürfen sich mein und des Verwahrlosten
Bemühen aber nicht als ein Aufeinanderprallen nur bewußter
Kraftäußerungen vorstellen; es sind viele unbewußte Anteile daran
114
beteiligt, man fühlt mehr was vorgeht, als man unter intellektuelle
Kontrolle stellt.
Mein Benehmen läßt dem Verwahrlosten im ersten Augenblick
unseres Zusammenseins in mir eine ihm überlegene Kraft fühlen.
Dadurch wird seine Erwartung, einer Gefahr entgegen zu gehen,
bestätigt. Er befindet sich nicht in einer ihm neuen Situation, er
hat diese so und so oft erlebt. Ich bin auch nicht anders als die
anderen: Vater, Mutter, Lehrherr, Lehrer. Ist er der neurotische
Grenzfall mit Verwahrlosungserscheinungen oder steht bei Misch-
formen diese Seite im Vordergrund, so bleibe ich in der elter-
lichen Situation, nur verhalte ich mich, wie ich Ihnen schon
gesagt habe,, im weiteren Verlaufe etwas anders als diese. Ist er
der Verwahrloste im offenen Konflikt und erwartet nun den Angriff,
so erfolgt dieser nicht. Ich frage ihn nicht, was er angestellt hat,
dringe nicht in ihn, mir zu sagen, warum das oder jenes vor-
gekommen sei, will von ihm nicht, so wie bei der Polizei oder
beim Jugendgericht, Dinge wissen, die preiszugeben er absolut nicht
geneigt ist. Ja, ich sage in Fällen, wo gerade diese Fragen von
ihm gewünscht werden, um in die richtige Oppositionsstellung
kommen zu können, daß er alles verschweigen dürfe, was er nicht
sagen wolle; daß ich seine Vorsicht einem Menschen gegenüber,
den er zum erstenmal sieht, begreife. Wenn ich dann noch hinzu-
füge, ich würde es auch nicht anders machen als er, geht er mir
gewöhnlich willig auf ein Gesprächsthema ein, das weitab von
seiner dissozialen Handlung liegt, aber aus seinem Interessenkreise
sich ergibt. Wenn ich Ihnen mein Verhalten nach dem Moment,
in dem der Junge ein Stück Aktivität in mir gespürt hat, mit
einem Worte erklären könnte, so würde ich sagen, ich werde
passiv und um so passiver, je mehr der Verwahrloste den Angriff von
mir erwartet. Dessen Ausbleiben läßt ihn erstaunen, dann unsicher
werden, er weiß sich auf einmal nicht mehr zurechtzufinden und
fühlt mehr als er erkennt, ich bin nicht der Erwachsene, nicht
die zu bekämpfende Autorität, sondern der verständnisvolle Ver-
bündete. Ich vermeide absichtlich das Wort Freund; denn diesen
hat er nicht, er geht mit dem anderen nur zusammen, wenn es
die Erreichung eines bestimmten Zweckes gilt.
Wenn ich mit Wiener verwahrlosten Jugendlichen zu tun habe,
dann fange ich natürlich auch von Dingen zu sprechen an, die
ihrem Interessenkreise angehören, aber weitab von ihren dissozialen
Handlungen liegen. Unter zehn solcher sind mindestens acht, bei
denen ein Zugang über das Fußballspiel zu finden ist. Man muß
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nur über die einzelnen Fußballvereine, deren erste Spieler, die
letzten Matches, den letzten Stand in den Meisterschaftsspielen usw.
gut orientiert sein. Über die Lektüre kommt man ihnen seltener
näher, im Mittelpunkte des Interesses stehen Percy Stuart, der kühne
Abenteurer, und Stuart Webbs, der Meisterdetektiv. Weit eher
gelingt es, über das Kino, und da vorwiegend über das Detektiv-
drama, die Vorsicht in der Rede zum Verschwinden zu bringen.
Bei kleinen Mädchen sind Märchen, die sie kennen und das
kindliche Spiel Anknüpfungsmöglichkeiten. Man braucht aber nicht
immer sehr weit auszuholen, vielfach leitet schon eine Bemerkung,
die ich über die bunte Kopfmasche, das Jäckchen, die Ohrringe
mache, das Gespräch ein, das dann fließend weitergeht.
Wenn ich mir von halbwüchsigen Mädchen die neueste Schuh-
form und die Preise von Toiletteartikeln angeben lasse, Interesse
für die gegenwärtig in Mode stehende Strumpffarbe und in neuester
Zeit auch für den „Bubikopf" zeige, geht es auch da weiter.
Komme ich bei den Kleinsten, die gar nicht reden wollen,
darauf zu fragen, was sie am liebsten essen, und von der Mehl-
speise, die sie besonders vorziehen, auf die Schokolade zu sprechen,
so entwickelt sich auch mit ihnen in der kürzesten Zeit eine
Unterhaltung, deren Kosten das Kind trägt, wie in den anderen
Fällen der oder die Jugendliche. Es findet sich dann einmal leichter,
ein andermal schwieriger, aber regelmäßig die Möglichkeit, ganz
unmerklich auf das zu kommen, was ich eigentlich wissen will.
Zumeist stellt sich schon beim ersten Zusammensein die Über-
tragung so weit her, daß ich Aufklärung erhalte und Einfluß ge-
winne.
Wir müssen uns in der Erziehungsberatung auch möglichst
rasch über die Stellung des Verwahrlosten zu den Personen seiner
nächsten Umgebung orientieren, müssen wissen, welche Beziehungen
er zu Vater, Mutter, den Geschwistern und sonst noch in Frage
kommenden Personen hat. Jugendliche geben uns auf direktes
Fragen in den meisten Fällen die richtige Antwort, nicht so Kinder,
um so weniger, je jünger sie sind. Sie beantworten solche Fragen
überhaupt nicht oder in einer für uns vollständig wertlosen Art.
Wir müssen es daher auf einem Umwege erfahren; die Lektüre
und das kindliche Spiel ermöglichen uns solchen.
Ein zehnjähriges Mädchen fragte ich, ob es gerne lese? Nach
Bejahung dieser Frage wollte ich wissen, wofür es besonders Vor-
liebe habe.
„Für Märchen."
116
„Sage mir nun rasch., ohne nachzudenken, ein Märchen, das
dir einfällt, ganz gleichgültig welches !"
„Schneewittchen."
„Welche Stelle von Schneewittchen?"
„Wie die alte Hexe dem Schneewittchen den vergifteten Apfel
verkauft."
„Waren in deinem Märchenbuche Bilder?"
„Ja."
„War auch ein Bild von der Hexe ?"
„Ja."
„Beschreibe mir nun einmal die Hexe, aber nicht so wie sie
auf dem Bilde war, sondern so, wie du sie dir vorstellst!"
Die Hexe wurde nun in allen ihren Einzelheiten besprochen,
Körpergröße, Haarfarbe, Aussehen des Gesichtes, Mund, Zähne,
Kleidung usw. Aus der Beschreibung und dem Abfragen, woher
sie die einzelnen Details der Hexe genommen habe, ergab sich,
daß diese eine Mischfigur von Personen war, die das Kind ablehnte.
Ich muß Sie aber aufmerksam machen, daß wir damit nicht eine
allgemein gültige Regel gefunden haben. Nicht immer stimmt eine aus
ähnlichen Märchen oder Geschichtensituationen gewonnene Misch-
figur mit der tatsächlichen Stellung des Kindes zu den Personen
seiner Umgebung überein. In einer großen Anzahl von Fällen habe
ich durch die Nachprüfung dasselbe Ergebnis wie in dem be-
sprochenen Falle gefunden, in anderen Fällen deckte sich die
Mischfigur nicht mit den abgelehnten Personen der Umgebung.
Wann die Übereinstimmung zu konstatieren ist und wann nicht
bedürfte einer besonderen Auseinandersetzung.
Ein anderes, etwas jüngeres Mädchen fragte ich, womit es sehr
gerne spiele, und erhielt zur Anwort, mit Puppen. Ich ließ mir
nun von ihm eine Puppe beschreiben, die ihm sehr gut gefallen
würde. Die Beschreibung mußte aber bis in die kleinsten Einzel-
heiten gehen. Das Abfragen dieser, der Vergleich mit Personen
aus der Umgebung ergab wieder eine Mischfigur, diesmal aber
nicht von solchen, die abgelehnt, sondern solchen, die geliebt wurden.
Ein zwölfjähriges Schulmädchen sitzt vor mir. Weder der
Gesichtsausdruck noch eine Bewegung oder ein Wort lassen die
Stimmung, überhaupt die Gefühlskonstellation, in der es sich
augenblicklich befindet, erkennen.
Ich frage das Kind, welche Farbe ihm sehr gut gefällt, und
erhalte zur Antwort: „Rot." Ich fahre fort: „Wenn ich mir eine
Farbe vorstelle, so sehe ich sie immer an einem Gegenstande,
117
an welchem siehst du die rote Farhe?" „An dem vordersten
Wagen der Grottenbahn im Prater", ist die Entgegnung-,
„Nun gut, aber sage mir jetzt, welche Farbe du gar nicht
magst!"
„Schwarz."
„Woran siehst du die schwarze Farbe?"
„An Ihren Schuhen und Ihrer Krawatte."
„Die schwarze Farbe kommt aber sicher auch noch anders
wo vor, wo denn?"
„Das Loch, in das die Grottenbahn im Prater hineinfährt, ist
auch so schwarz."
Was das alles bedeuten könnte, kommt in diesem Augenblick
nicht in Frage, sondern nur das eine, daß eine Verschiebimg der
ängstlichen Erwartung vor dem Antritte der Fahrt auf der Grotten-
bahn im Prater auf meine Person stattgefunden hat. Die Kleine
sitzt in derselben ängstlichen Spannung, wie damals im Wagen
der Grottenbahn vor mir. Sie mag sich die Frage vorlegen:
„Was wird jetzt kommen?" Woraus ist das zu erkennen? Meine
Krawatte, die in Wirklichkeit dunkelgrau war, und meine Schuhe
haben für das Kind die Farbe, die sie nicht mag, die auch das
Loch zeigt, in das die Grottenbahn fährt! Sie sehen, wie rasch
man hier auf einige Fragen Antworten erhielt, die mit absoluter
Sicherheit einen Schluß auf die vorhandene psychische Situation
des Kindes zuließen. Auf eine direkte Frage hätte ich sicherlich
eine unbefriedigende Antwort erhalten; denn es ist anzunehmen,
daß das Kind, selbst wenn es die Wahrheit zu sagen bereit
gewesen wäre, nichts über seine Gefühlssituation zu sagen ge-
wußt hätte.
Solange nun diese ängstliche Stimmung anhält, ist erzieherisch
nichts zu machen. Ich weiß nun nicht, wie sie damals verlief,
lasse mir daher die Fahrt auf der Grottenbahn erzählen. Es
waren im geheimnisvollen Dunkel grell beleuchtete Bilder auf-
getaucht, Teufel, die im höllischen Feuer die armen Seelen
brieten, Zwerge, die tief im Innern der Erde nach Schätzen
gruben und noch manch andere Dinge. Etwas Unheimliches hat
während der ganzen Fahrt angehalten und zu richtiger Lustigkeit
war es nicht gekommen. Wir wanderten daher in der Erinnerung
in den Wurstelprater, von einer Schaubude zur andern, fuhren
auf verschiedenen Ringelspielen und unter Lachen erzählte sie
vom komischen Bauchredner, der auch die Zukunft vorhersagen
kann. Als ich dann noch fragte, welches lustigste Erlebnis sie
erinnere, erzählte sie nochmals begeistert von einer Praterfahrt
anläßlich ihrer Firmung. Damit war ein vollständiger Stimmungs-
umschwung ins Positive erreicht, ah er auch schon das Stück
Übertragung da, das für eine erste Unterredung notwendig ist.
Jetzt war sie auch für Fragen zugänglich, die das betrafen, worauf
es eigentlich ankam. Ich brauche wohl nicht besonders aufmerk-
sam zu machen, daß das Kind selbst keine Ahnung von meiner
Absicht hatte.
Manchmal aber blitzt auch tiefes Mißtrauen auf. Vielleicht
habe ich da etwas nicht richtig gemacht, oder es ist wieder eine
besondere Art von Menschen. Da muß ich es dann wieder anders
machen. Ich teile Ihnen gleich einen solchen Fall mit, und wie
es mir gelang, nicht nur das Mißtrauen zum Schwinden zu
bringen, sondern in der kürzesten Zeit mitten in das hineinzu-
kommen, worauf es ankam.
Ein sechzehnjähriges Mädchen, das früher nach seinem Be-
nehmen, der Kleidung, Haartracht, den Eindruck erweckt hatte,
der geheimen Prostitution ergeben zu sein, zeigte sich plötzlich
vollständig verändert. Der freche Gesichtsausdruck war ver-
schwunden, Kleidung und Benehmen waren das eines gesitteten,
anständigen Mädchens geworden. Die Fürsorgerin wollte von mir
wissen, was da vorgegangen war. Das konnte ich natürlich nicht
ohneweiters wissen, sondern verlangte die Jugendliche zu sehen.
Wir setzten uns nach der Ihnen nun schon bekannten Einleitung,
die ganz deutlich zu erkennendes Mißtrauen ausgelöst hatte,
zusammen. Ich fragte sie, wie es ihr zu Hause gehe, und erhielt
keine Antwort. Ob sie gerne lese? Keine Antwort. Woran sie
jetzt denke? Keine Antwort. Ob sie mir nicht einen Traum er-
zählen wolle? Wieder Stillschweigen. Daraufhin lachte ich und
sagte: „Nicht wahr, es erscheint Ihnen gefährlich, nur irgend
etwas zu sagen, das begreife ich. Aber nicht wahr, es ist doch
gewiß ganz ungefährlich, wenn Sie mir ein Kinostück erzählen."
Sie ging mit Lachen auf den Scherz ein und begann ein Stück
von einem Kinodrama zu erzählen: Ein Zirkusakrobat, der auf
hochschwebendem Reck durch eine brennende Kugel fliegen muß,
wird von zwei Mädchen geliebt, von denen das eine aus Eifer-
sucht die Seile durchschneidet und so verursacht, daß der Mann,
statt durch die brennende Kugel zu fliegen, in diese hineinfällt.
Das zweite Mädchen rettet ihn vor dem Verbrennungstode, geht
aber dabei selbst zugrunde. Dies der kurze Inhalt ihrer Erzählung,
von der ich Ihnen nebenbei verrate, daß sie mit dem wirklichen
119
Inhalte des Kinodramas gar nicht übereinstimmte, sondern in
wesentlichen Einzelheiten eine höchst persönliche Verarbeitung
von Gesehenem darstellte. Ich fragte sie, was ihr in diesem Kino-
stück am besten gefallen habe, und erhielt die vermutete Antwort,
daß sich das Mädchen für den Geliebten opferte. Ich wollte nun
wissen, ob sie sich noch erinnere, wie der Akrobat auf dem Kinofilm
ausgesehen habe. Auf das Ja forderte ich sie auf, ihn mir so zu
beschreiben, wie er aussehen müsse, damit er ihr sehr gut gefalle.
Sie beschrieb ihn als einen jungen, schlanken, kräftigen, brünetten,
bartlosen Mann mit hellen Augen. Und nun forderte ich sie auf:
„Sage mir, wie sieht der Franzi aus!" Sie verstand mich sofort,
daß ich damit ihren Geliebten meine, wurde einen Augenblick
verlegen und beschrieb ihn dann so, wie eben den Helden im
Kino. Sie erzählte sofort, ohne weitere Aufforderung, daß er
Student der Chemie sei, die Mutter ihr aber den Verkehr mit
ihm verbiete. Es war ganz deutlich zu erkennen, daß die wesent-
liche Änderung des jungen Mädchens in der Richtung zum
Besseren, der Konzentrierung ihrer Zuneigung auf einen Mann
zugeschrieben werden muß. Es gelang hier, durch das Eingehen
auf das Mißtrauen verhältnismäßig rasch über den Widerstand
hinwegzukommen.
Daß mir die Übertragung auch dazu verhelfen kann, auf
tieferliegende Ursachen dissozialer Äußerungen aufmerksam zu
werden, möchte ich Ihnen an einem besonderen Falle zeigen.
Eine Bürgerschule zeigte an, daß einer ihrer dreizehnjährigen
Schüler seit einigen Monaten regelmäßig an Dienstagen und
Freitagen dem Schulunterrichte fernbleibt. Die Erhebungen er-
gaben, daß er, statt in die Schule zu gehen, den Pferdemarkt
besucht, dort aber kein materielles Interesse befriedigt, etwa
durch kleine Hilfeleistungen zu sogenannten Trinkgeldern kommt,
sondern sich nur unter den Pferdeverkäufern herumtreibt. Nach
der Schulanzeige lag also ein Schulschwänzen an bestimmten
Tagen vor. Ich sehe nun, wie ich Ihnen schon einmal angedeutet
habe, nicht jede der aus der Norm herausfallenden Äußerungen
als eine wer weiß wie tief begründete Sache an, sondern versuche
zuerst immer mit den einfachsten Hilfsmitteln auszukommen. Da
ich bei Schulschwänzern wiederholt recht gute Erfahrungen
machte, wenn ich nach hergestellter Übertragung ihnen zeigte,
daß mir ihr regelmäßiger Schulbesuch Freude macht, so ver-
suchte ich das auch bei diesem Jungen. Sie müssen wissen, daß
sich bei einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Kindern zu
Hause niemand um den Schulbesuch kümmert, daher sehr oft.
keine Motive vorliegen, Unlustsituationen der Schule zu ertragen
Weiß so ein Junge, daß er mir Freude macht, wenn er nicht
mehr die Schule meidet, kommt er die erste Zeit wöchentlich
einmal, dann nur jede zweite Woche und später in immer
größeren Zeitabständen; findet er bei mir ein williges Ohr für
die schönen und unangenehmen Erlebnisse der abgelaufenen
Schulwoche, so lebt er sich nach und nach wieder in der Schule
ein und die Schwänzerei ist erledigt. Auch bei unserem Pferde-
marktjungen war die Übertragung bereits beim ersten Zusammen-
sein hergestellt. Er kam die nächste Woche darauf und auch die
übernächste mit den Mitteilungen, wie sie mir von andern be-
kannt waren. Am Dienstag der dritten Woche erschien gleich
nach seinem Weggehen die Mutter und berichtete, daß er jetzt
zwar regelmäßig die Schule besuche, aber zweimal in der Woche
mittags gar nicht nach Hause komme, sondern erst abends. An
dem seinen Kleidern entströmenden Gerüche nehme sie wahr,
daß er sich in einem Pferdestalle herumgetrieben habe.
Wir sehen hier, daß die Übertragung einem Symptom den
Weg zur Äußerung versperrt hat, die es bedingende Kraft aber
fortwirkt und ein neues zustande bringt. Unser Junge kann infolge
der Gefühlsbeziehungen zu mir von der Schule nicht mehr weg-
bleiben. Und nun zeigt es sich ganz deutlich, daß nicht ein Schul-
schwänzen im gewöhnlichen Sinne des Wortes vorliegt. Irgend
etwas zieht ihn zu Pferden, Schulzeit und Pferdemarkt fallen nur
zufällig zusammen. Die Übertragung ist hier zum Hilfsmittel
geworden, um zu erkennen, daß doch eine tiefer liegende Ursache
vorhanden sein müsse. Diese wird auf psychoanalytischem Wege
zu beheben sein.
Ich kann Ihnen nicht mehr als diese kurzen Andeutungen
machen, weil ich die uns noch zur Verfügung stehende Zeit ver-
wenden möchte, Urnen doch auch einiges von der Herstellung
der Übertragung in der Fürsorgeerziehungsanstalt mitzuteilen.
Aus dem Ihnen bisher Gesagten dürfen Sie aber nicht den Schluß
ziehen, daß ich schon zu feststehenden Regeln gekommen sei,
deren Anwendung Ihnen in allen Fällen die Erschließung der
psychischen Situation und die Herstellung der Übertragung er-
möglicht. Ich will Sie mit meinen Andeutungen in Ihrer Praxis
nur von den allergrößten Fehlern bewahren.
Stehen wir dem Fürsorgeerziehungszögling in der Anstalt
gegenüber, so sind wir nicht gezwungen, uns auf eine rascheste
121
Herstellung der Übertragung einzustellen. Wir können zuwarten,
kümmern uns daher, wenn es sich, nicht um den neurotischen
Grenzfall mit Verwahrlosungserscheinungen handelt, bei seinem
Eintritte nicht sehr viel um ihn, sind zwar freundlich, zeigen
aber kein besonderes Interesse für ihn und sein Schicksal und
drängen uns ihm schon gar nicht auf. Es berührt uns weder sein
Mißtrauen, seine offene oder stille Opposition, seine vornehme
Überlegenheit noch die stille Verachtung, die er uns entgegen
bringt. Die Vorbereitungen zur Einleitung der Übertragung über-
nehmen die Zöglinge der Ein- und Auslaufgruppe. Mit den
Altersgenossen kommt er in der Regel sehr rasch in Kontakt.
Nicht, daß er sich diesen so gäbe, wie er wirklich ist, oder deren
Freundschaft suchte, Freunde braucht er nicht, wie wir schon
wissen. Auch diesen eröffnet er sein wahres Wesen nicht, spricht
von sich nicht, oder erzählt von den Vergehungen und Ver-
brechen mit viel Übertreibungen, erfindet gelegentlich ganz be-
sondere Sachen, wenn ihm nicht genug imponierende tatsächliche
zur Verfügung stehen. Aber erfahrungsgemäß erkundigt er sich
sofort näher um die Einzelheiten des Betriebes und um die Personen,
mit denen er in Berührung kommt. So ist beispielsweise die erste
Frage, ob der Erzieher ein „fescher Kerl" sei und ob und wie dieser
sich „pflanzen" läßt. Ich kann Ihnen diese Ausdrücke nicht ins Hoch-
deutsche übersetzen, sie verlieren dabei zu viel an Inhalt. Von den
zur Entlassung bereits reifen Zöglingen erfährt er nun vieles. Diesen
sind auch die Eigenheiten der Erzieher nicht fremd geblieben. Was
er zu hören bekommt, ist wirkliches Leben, geschildert so, wie es
die einzelnen sehen. Er erhält dadiirch nicht erste Eindrücke, die
ihn durch spätere Erfahrungen enttäuschen, lernt nicht eine Autorität
kennen, über die er sich, innerlich lachend, hinwegsetzt, oder die
er mit Zähneknirschen erträgt, weil er keine Wahl hat, um sich
dann später in der Freiheit wieder zu rächen.
Die Übertragung auf den Erzieher ergibt sich dann, wenn das
Milieu seine Schuldigkeit getan hat, im Zusammenleben mit
diesem, auf die eine oder andere Art, indem der Erzieher sich
nach und nach aus seiner Passivität herauslocken läßt, bei gleich-
mäßig freundlichem Ton den „Neuen" einmal mehr, ein andermal
etwas weniger beachtet. Dieser Wechsel zwischen deutlichem
Sehen und weniger deutlichem Erkennen läßt den Zögling nicht
gleichgültig. Wird er mißtrauisch, weil ihn der Erzieher heute
mehr beachtet hat, als seiner Meinung nach am Platze war, so
schwindet diese Auffassung, wenn er morgen nicht aus der Masse
herausgehoben wird, der Erzieher, ohne von ihm besonders Notiz
zu nehmen, vorübergeht. Er gerät aber in unschwer zu erkennen-
den Erregungszustand, wenn er am übernächsten Tag einen Blick
des Erziehers auffängt, aus dem er spürt, daß dieser seine un-
geputzten Stiefel wenig freudig bemerkt hat und doch darüber
nicht spricht. Sie glänzen dann mehr oder werden noch schmieri-
ger, je nach der Art der sich regenden Übertragung, oder bleiben
unverändert, wenn diese noch nicht unterwegs ist. Dann heißt
es eben zuwarten. Was ich von den Schuhen gesagt habe, läßt
sich an einer Menge anderer Kleinigkeiten des Alltags auch be-
merken. Der Erzieher muß nur scharf hinsehen. Er bedarf dann
allerdings eines feinen Gefühles, um die Ambivalenz, den Wechsel
zwischen Zuneigung und Ablehnung, in den Beziehungen des
Zöglings zu ihm zu erkennen. Es läßt sich dafür wieder keine
allgemein gültige Unterweisung geben, Man muß es miterleben,
wie der tüchtige Erzieher diese Wellenbewegung dirigiert, das
Wellental immer mehr zum verflachen bringt und zielbewußt
einem Wellenberge, einem Höhepunkt, zustrebt. Dessen Erreichung
ist dann so auffällig, daß er auch dem ungeschulten Auge nicht
entgehen kann. Die Gefühle der Zuneigung brechen mit einer
Vehemenz durch und haben für den Zögling derart zwingende
Kraft, daß er, ganz gleich, ob Kind oder Jugendlicher, den Er-
zieher hochgespannt erwartet, sich so benimmt, daß er diesem
auffällig werden muß, ihm ununterbrochen über den Weg läuft,
immer etwas zu tun hat, um in seiner Nähe zu bleiben. Der
ungeschickte Erzieher wird die Bedeutung dieses Momentes nun
nicht erkennen, den auf einmal so aufdringlich Gewordenen ab-
wehren und nicht bemerken, daß er durch sein Verhalten die
Zuneigung des Zöglings zu sich in Haß gegen sich verwandelt.
Im Gegenteil, wenn die Haßreaktionen eintreten, wird er hoch-
erfreut darauf hinweisen, daß er den Heuchler, der erst jetzt sein
wahres Gesicht zeigt, immer durchschaut hat. Wenn wir ihm
dann sein ungeschicktes Verhalten begreiflich machen wollen,
predigen wir tauben Ohren; denn es ist ihm nicht begreiflich zu
machen, daß das Wirkung ist, was er für die Ursache hält.
Wie schwierig manchmal die Übertragung bei stark narziß-
tischen, das heißt in sich selbst sehr verliebten Zöglingen her-
zustellen ist, möchte ich Ihnen an einem Zögling des Erziehungs-
heimes in Oberhollabrunn zeigen.
Es handelte sich um einen siebzehnjährigen Lebemann und
Spieler, der sich zuerst als Börsenspekulant und dann als Schleich-
123
händler sehr hohe Beträge verdiente. Seine Laufbahn begann er
als Kontorist, kam als Fünfzehnjähriger zu einem Winkelbankier,
der den intelligenten, sehr verwendbaren Jungen mit Börsen-
aufträgen betraute und ihm ermöglichte, Geschäfte auch auf
eigene Bechnung zu machen. So brachte er 55.000 Kronen zu-
sammen, mit denen er sich selbständig machte. Für das Jahr 1917
war das ein bedeutendes Betriebskapital. Er fuhr nach Galizien
und brachte von dort Lebensmittel mit, die er im Schleichhandel
weitergab. Das Geschäft warf reichen Gewinn ab. In Wien führte
er ein lockeres Leben, trieb sich in Nachtlokalen herum, hielt
zweifelhafte Damen aus und verbrachte viel Zeit mit Kartenspiel,
das er leidenschaftlich betrieb. Gewinn und Betriebskapital ver-
schwanden. Um sich dieses wieder zu verschaffen, räumte er
seiner Mutter den Wäschekasten aus. Diese, nach äußerst trauriger
Ehe verwitwet, hatte wiederholt versucht, den mittlerweile siebzehn
Jahre alt Gewordenen zu einem ordentlichen Lebenswandel zu
bringen. Da es ihr nicht gelang, nahm sie die Hilfe einer Jugend-
fürsorgeorganisation in Anspruch, die den Jungen zu uns brachte.
Er war einer von denen, die keine besonderen Schwierigkeiten
machen, solange man sich mit guter Aufführung in der Anstalt
begnügt. Solche Zöglinge sind höflich und zuvorkommend, recht
anstellig und zu leichteren Kanzleiarbeiten gut zu gebrauchen.
Bei ihren Mitzöglingen wissen sie sich ohne Beibungen einzuleben
und erlangen doch bald eine gewisse Führerrolle. Wenn man sich
aber näher mit ihnen beschäftigt, wird man die Schwierigkeiten
gewahr. Innerlich verkommen, äußerlich aalglatt, geben sie keine
Angriffsfläche zu erzieherischen Einwirkungen. Ihr Gehaben ist
Maske, zwar eine sehr gute, aber doch nur Maske. Dem Erzieher
schließen sie sich nicht an und verhindern auch jedenAnnäherungs-
versuch desselben. Die Übertragung, die gerade bei ihnen sehr
stark sein muß, ehe auch nur daran gedacht werden kann, er-
zieherisch auf sie einzuwirken, ist fast nicht herzustellen. Sie
gehören eben zu denen, die sich in der Anstalt nichts zuschulden
kommen lassen und sehr bald den Eindruck machen, geheilt zu
sein. Sobald sie aber wieder ins freie Leben zurückkommen, sind
sie die alten. Bei ihnen ist daher äußerste Vorsicht geboten.
Auch unser Lebemann wußte sich jeder Einflußnahme zu ent-
ziehen. Er war schon einige Monate bei uns, ohne daß sich eine
Übertragung im Sinne der Psychoanalyse hergestellt hatte. Man
konnte aber doch bemerken, daß das Oberhollabrunner Milieu
nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben war. Ich wollte ihn auf
124
ganz kurze Zeit von uns weghaben, damit ihn die negative Lust-
betonung eines anderen Milieus das wohltuende Milieu von Ober-
hollabrunn recht deutlich empfinden lasse und er vielleicht da-
durch behandlungsreif würde. Dazu durfte er aber nicht zwangs-
weise fortgebracht werden, sondern mußte selbsthandelnd bleiben.
Natürlich war zu vermeiden, daß er diese Absicht auch nur ahnte.
Als geeignetes Mittel, diese Voraussetzung zu erfüllen, war die
Stimmungsbeeinflussung sehr naheliegend. Das eigenmächtige Ver-
lassen der Anstalt, das „Durchgehen", erfolgt in vereinzelten Fällen
infolge eines plötzlichen Affektes oder eines Traumes und ist dann
gewöhnlich schwer zu verhindern. In den weitaus meisten Fällen
bereitet es sich tagelang vor und darf dem geschulten Auge des auf-
merksamen Erziehers nicht entgehen. Wir halten es — abgesehen von
unserer ablehnenden Stellungnahme gegen die Strafe in Besserungs-
anstalten überhaupt — für eine vollständige Verkennung der Zu-
sammenhänge, wenn in den Satzungen von Besserungsanstalten
Rutenstreiche für rückeingelieferte Durchgänger vorgesehen sind.
Das Durchgehen erfolgt, wenn das „Draußen" stärker lustbetont ist
als das „Drinnen". Gelingt es in dieser Konfliktstimmung, den
Zögling zu einer Aussprache zu bringen, so wird es unschwer
möglich sein, ohne seine Durchgehabsicht auch nur zu berühren,
ihm das „Drinnen" stärker lustbetont zu machen. Er bleibt dann.
Den anderen, der dableiben will, zieht es hinaus, wenn ihm das
„Draußen" von uns stärker lustbetont in Erinnerung gerufen wird.
Es genügte auch tatsächlich eine halbstündige Aussprache mit
entsprechender Stimmungsbeeinflussung und nach einer weiteren
halben Stunde kam vom Erzieher seiner Gruppe die Nachricht,
daß er durchgegangen sei. Der erste Teil der „Erziehungs-
handlung" war geglückt, den Zögling hatte es unwiderstehlich
hinausgezogen. Der Erzieher wußte nicht, daß das Durchgehen
von mir provoziert worden war. (Ich mache während eines Ver-
suches dem Erzieher nur dann davon Mitteilung, wenn ich seiner
Mithilfe bedarf, da es im ständigen Zusammenleben mit den
Zöglingen sehr schwierig ist, unbefangen zu bleiben. Ist der Ver-
such gelungen oder auch ergebnislos verlaufen, so gibt er Anlaß
zu lebhaftem Meinungsaustausch.) Bei unserem siebzehnjährigen
Lebemann und Spieler war das geglückte Provozieren zum Durch-
gehen der Auftakt zur Herstellung der Übertragung. Ich vermutete
seine Rückkehr schon am zweiten Tage. Als der achte Tag vorüber
war und er noch immer nicht erschien, fürchtete ich, mit meinem
Eingreifen einen Fehlgriff getan zu haben.
125
Am zehnten Tage um halb zehn Uhr abends klopfte es an
meiner Wohnungstüre. Franz (nennen wir ihn so) war da. Er
war körperlich ermattet und seelisch derart in Spannung, daß ich
vermutete, nun erzieherisch viel mehr leisten zu können, als ich
bei der Provokation seines Durchgehens beabsichtigt hatte. Ich
machte ihm keinerlei Vorwürfe wegen seines Durchgehens, die
er allem Anscheine nach erwartet hatte, sah ihn einen Augenblick
ernst an und fragte ihn dann sofort: „Wann hast du zum letztenmal
gegessen?" — „Gestern abends." Ich nahm ihn in meine Wohnung,
setzte ihn an meinen Tisch, wo die Familie gerade beim Abendessen
war und ließ auch ihm anrichten. Franz, der auf alles andere eher
gefaßt war, kam dadurch so aus dem Gleichgewicht, daß er nicht
essen konnte. Trotzdem ich das sah, fragte ich: „Warum ißt du
nicht?" — „Ich kann nicht, darf ich draußen essen?" — „Ja, geh' in
die Küche." Er bekam seinen Teller so lange nachgefüllt, bis er satt
war. Es war mittlerweile zehn Uhr geworden. Ich ging zu ihm in
die Küche und wandte mich an ihn mit den Worten: „Es ist schon
zu spät, du kannst heute nicht mehr in deine Gruppe gehen, du
wirst bei mir schlafen." Ich bereitete ihm im Vorzimmer ein Lager,
Franz legte sich schlafen, ich strich ihm über den Kopf und wünschte
ihm eine gute Nacht. Am nächsten Morgen war die Übertragung
da, so daß es erzieherisch recht gut mit ihm vorwärts ging. Wie
stark sie war, erkannte ich aus einem Fehler, den ich viel später
in St. Andrä machte. Ich gab ihm, ohne es zu wissen, Anlaß zu
begründeter Eifersucht dadurch, daß ich ihm einen seiner Mit-
zöglinge in gewissen Kanzleiarbeiten, tabellarische, rechnungs-
mäßige Zusammenstellungen, die er nicht fehlerlos erledigte, als
nachprüfendes Rechnungsorgan beiordnete. Aus einem Racheakte
mir gegenüber wurde mir die Unvorsichtigkeit klar. Es gelang
unserem Verwalter, dem er zugeteilt war, durch richtiges Ein-
gehen auf diese ganz besonders schwierige Individualität, die
Scharte auszuwetzen. Bald darauf wurde er betraut, Lebensmittel
und andere Waren, Millionenwerte, von Wien mit dem Lasten-
auto zu bringen. Er ließ sich nichts mehr zuschulden kommen,
wurde als Kaufmann freigesprochen und ist seit Jahren als Kommis
in einem großen Betriebe zur vollsten Zufriedenheit tätig.
Zur Herstellung der Übertragung bedarf es natürlich nur selten
so besonderer Kunstgriffe. In der Regel genügt der Ihnen an-
gegebene Vorgang. Ich habe Ihnen den vorliegenden Fall nur
deswegen mitgeteilt, weil Sie auch hier wieder erkennen sollen,
daß es ganz unmöglich ist, feststehende Regeln zu geben.
126
Sie hörten bereits, daß die Art und Stärke der libidinösen
Bindungen des Kindes an die Objekte seiner ersten Umgebung
richtunggebend für das ganze spätere Leben bleibt. Damit scheint
nun auch zu stimmen, daß wir unsere nicht unbeträchtlichen
Erfolge in der Behebung der Verwahrlosung einer Einflußnahme
auf das spätere Schicksal der Libido im Sinne der Sublimierung
und Kompensierung verdanken. Wie wir das auffassen, möchte
ich Ihnen an zwei Beispielen aus dem Jugendheime in St. Andrä
zeigen: an einem Sechzehnjährigen, der vom psychiatrischen Kon-
sulenten als leichte Form der Schizophrenie bezeichnet wurde,
und an einem siebzehnjährigen Homosexuellen.
Der Sechzehnjährige, ein Junge aus sehr gutem bürgerlichen
Milieu, wurde der Fürsorgeerziehung wegen fortgesetzter häus-
licher Diebstähle übergeben. Er kam zu uns, nachdem seine Unter-
bringung in mehreren anderen Anstalten erfolglos geblieben war.
Wie arg er es trieb, ist daraus zu ersehen, daß sein Vater, als er
ihn brachte, zu mir sagte: „Der Junge hätte uns ruiniert, wäre
er noch länger zu Hause geblieben." Er war sehr schwierig zu
führen, äußerst reizbar, bildete sich zeitweilig ein, daß die anderen
ihn ablehnen, ja, ihn körperlich bedrohen, und leistete sich dann
arge Aggressionen gegen seine Mitzöglinge, Erzieher und andere
Personen seiner Umgebung. So rächte er sich auch einmal an
dem Anstaltsverwalter, von dem er sich beleidigt glaubte, dadurch,
daß er in einer Nacht vor dessen Wohnungstür defäzierte. Sein
Größenwahn lebte sich in der Idee aus, Einbrecherkönig zu werden.
Er hatte sich in Wien eine „Platte" gebildet gehabt, die er zu
beherrschen wähnte, von der sein Vater aber gerade das Gegen-
teil berichtete. Sein Verhalten bei uns und die wiederholten Aus-
sprachen mit ihm bestätigten die oben erwähnte Diagnose.
Dem körperlich kräftigen, intellektuell unternormalen Jungen
war unter Ausnützung der so deutlich aggressiven und analen
Komponente eine Beschäftigung zuzuweisen, bei der er körper-
lich etwas leisten konnte, ohne dabei infolge der mangelnden
Intelligenz beschämenden Vergleichen ausgesetzt zu sein. Bei uns
war da nur die Gemüsegärtnerei mit ihrem Wühlen in Dung und
Erde in Frage gekommen. Die Zuweisung in die Gärtnerei erwies
sich auch tatsächlich als die beste Berufswahl.
Der Siebzehnjährige wurde in die Schneiderwerkstätte gegeben,
weil anzunehmen war, daß die Anfertigung von Männerkleidern
eine Sublimierung seiner homosexuellen Strebungen ermöglichen
werde. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, daß wir der
127
Meinung seien, jeder homosexuelle Dissoziale müsse, um sozial
zu werden, das Schneidergewerbe erlernen. Nur die besondere
Art im Wesen dieses Jungen veranlaßte mich, den Versuch zu
wagen. Er erlernte in fünf Monaten, was normalerweise erst in
drei Jahren erlernt wird. Der Werkmeister bezeichnete ihn als
Schneidergenie; in der ganzen Zeit kam nur ein Rückfall vor,
der Versuch, einen Mitzögling zu homosexuellen Handlungen zu
verleiten. Durch die Auflösung unserer Anstalt mußten wir ihn
früher als beabsichtigt entlassen. Er kam in ein größeres Schneider-
atelier, lernte dort aus und wurde bis jetzt nicht rückfällig.
Wir sind nun der Meinung, daß die Berufsberatung für diese
beiden Jungen aus unserer psychoanalytischen Einstellung heraus
richtig erfolgt war. Dem ökonomischen Gesichtspunkte der Psycho-
analyse war entsprochen worden, sie fanden in ihrer täglich acht-
stündigen gewerblichen Arbeit die besten Vorbedingungen für den
„automatisch" durch das Lustprinzip regulierten Ablauf ihrer seeli-
schen Vorgänge. Wie das zu verstehen ist, kann ich Ihnen heute
nicht näher ausführen, ich verweise Sie auf den neunten Vortrag,
in dem ich mehr über das Lustprinzip sagen werde. Wenn Sie
aber überlegen, daß wir erzieherisch nicht in der Lage sind, die
Kraftquellen, aus denen der Homosexuelle die Energien für sein
psychisches Leben bezieht, zu ändern, so werden Sie verstehen,
daß wir bemüht waren, die Kraftäußerung ins Soziale zu richten.
Wir rechneten damit, daß gerade durch die Arbeit in der Schneider-
werkstätte seine perverse Libido in nützlicher Verwendung ab-
reagiert werde, statt ihn mit der Polizei in Konflikt zu bringen.
Erwähnen möchte ich noch, daß der Junge gegen seinen Willen
und energischen Protest der Schneiderei zugewiesen worden war,
und daß er sich dort monatelang sehr unbehaglich fühlte. Als
unsere Anstalt aufgelöst wurde und er uns verließ, kam ich mit
ihm auf seine Leistungen in der Schneiderei zu sprechen. Er
war zu der Zeit schon mit großer Begeisterung Schneiderlehrling
und entgegnete mir: „Es ist doch gut, wenn einem nicht immer
sein Wille gelassen wird."
In beiden Fällen war die psychoanalytische Beurteilung der
dissozial verwendeten Libidokomponente und der normalen Libido-
verwertung bei den Handwerken in der Berufswahl zur Behebung
der Verwahrlosung benützt worden.
Eine eingehende Psychoanalyse hätte wahrscheinlich ein sicheres
Ergebnis gebracht. Das war damals nicht möglich und auch in
Zukunft wird in den Besserungsanstalten aus praktischen und
128
theoretischen Gründen nicht jeder Zögling einer Analyse zuge-
führt werden können. Sie muß grundsätzlich aber für alle
jene neurotisch Verwahrlosten verlangt werden, die
solche Führungsschwierigkeiten bieten, daß sie jede
Zöglingsgruppe ablehnt.
Wenn für den Jugendlichen auch die Berufsausbildung, die
täglich achtstündige Arbeit innerhalb der Anstalt von allergrößter
Bedeutung ist und eine psychoanalytisch orientierte Fürsorge-
erziehung der Berufswahl besondere Aufmerksamkeit zuwenden
wird, so macht sie doch zur Behebung der Verwahrlosung nicht
alles aus. Sie ist wieder nur ein Teil von Maßnahmen, von denen
wir einige schon besprochen haben, über die wir heute aber noch
mehr hören werden, und die erst in ihrer Gesamtheit die richtig
organisierte Fürsorgeerziehungsanstalt bilden. So wie in den beiden
angeführten Fällen die richtige Arbeitszuteilung für die Ausheilung
ausschlaggebend wurde, ist es uns manchmal gelungen, durch herz-
haftes Zugreifen bei akutem Konflikt oder durch Herbeiführung
eines solchen die Behebung der Dissozialität anzubahnen. Was
damit gemeint ist, wie sich solche Gelegenheiten herstellen lassen,
habe ich Ihnen an dem siebzehnjährigen Lebemann gezeigt, bei
dem es mir um die Herstellung der Übertragung zu tun war. Sie
haben dabei auch gesehen, wie mir der Zufall der Art seiner Rück-
kehr zu Hilfe kam, der mir weit mehr zu leisten ermöglichte, als
ich ursprünglich beabsichtigt hatte.
In einem Diebstahlsfall innerhalb der Anstalt verwertete ich
die gegebenen Umstände nicht gefühlsmäßig, sondern schuf mit
Überlegung die erforderliche Situation. Wie das zuging, werde
ich Ihnen, da es mir recht instruktiv erscheint, mitteilen. Sie
können daraus auch wieder ersehen, daß sich der Fürsorgeerzieher
von jeder Schablone freimachen muß.
Während einer Fahrt von Oberhollabrunn nach Wien las ich
Dr. Ranks Buch: „Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage." An einer
Stelle führt er die Aristotelische Lehre von der Katharsis an. Dabei
kam mir die Überlegung, ob nicht Konfliktssituationen, in denen sich
Fürsorgeerziehungszöglinge so oft befinden, zur Einleitung der Ka-
tharsis ausgenützt werden könnten, d. h. ob es in solchen Fällen
möglich wäre, den Zögling selbst zum Helden eines „Dramas" zu
machen. Als zum ersten Versuch geeignet erschienen mir Diebstahls-
konflikte. Die Gelegenheit dazu ergab sich sehr bald.
Wir hatten einen achtzehnjährigen Zögling, der wegen Kamerad-
schaftsdiebstählen aus der Kadettenschule ausgeschlossen worden
129
war und der sich auch Haus- sowie Fremddiebstähle hatte zu-
schulden kommen lassen. Ich übertrug ihm nach einigen Monaten
Aufenthaltes bei uns absichtlich die Verwaltung der Tabakkasse.
(In diese bezahlten die Angestellten die Beträge zur gemeinsamen
Behebung ihrer Tabakfassungen.) Der Gesamtbetrag, der allwöchent-
lich einlief, betrug 700 bis 800 Kronen, für die damalige Zeit ver-
hältnismäßig viel Geld. Den Kassier hatte ich ersucht, den Jungen
so zu beobachten, daß dieser davon nichts merke, und mir Mit-
teilung zu machen, wenn ein Abgang vorkommen sollte. Nach
ungefähr vier Wochen wurde mir das Fehlen von 450 Kronen
gemeldet. Mir schien nun die Gelegenheit gekommen, den Zög-
ling der Erschütterung und Rührung ausztisetzen, um so die
Katharsis zu versuchen, obwohl ich noch keine Ahnung hatte, wie
das anzufangen wäre. Ich wollte vorerst Zeit gewinnen, ersuchte
den Kassier, mir den Zögling erst nachmittags in die Kanzlei
zu schicken und ihm nicht zu sagen, daß der Abgang bemerkt
worden sei.
Der Junge kam, ich war mir noch immer nicht klar, was ich
tun sollte. Ich wollte ihn vorläufig eine Zeitlang um mich haben
und machte ihm den Vorschlag, mir beim Abstauben und Ordnen
meiner Bücher zu helfen. Was war zu tun?
Es mußte versucht werden, eine Handlung zu gestalten, in
deren Mittelpunkt er selbst steht und die sich so zu entwickeln
hat, daß sein ausgelöster Angstaffekt bis zur Unerträglichkeit
gesteigert wird; im Augenblick der unvermeidlich scheinenden
Katastrophe dieser eine so entgegengesetzte Wendung zu geben,
daß die Angst plötzlich in Bührung umschlagen muß. Die durch
diesen Affektkontrast hervorgerufene Erregung hat die Ausheilung
zu bringen oder einzuleiten.
Im vorliegenden Falle spielte sich das „Drama" folgender-
maßen ab: Wir beginnen zu arbeiten. Ich frage ihn um sein
Ergehen, um dies und jenes und komme nach und nach auch
auf die Tabakkasse zu sprechen. „Wieviel Geld nimmst du
wöchentlich ein?" — „700 bis 800 Kronen." Wir räumen weiter
Bücher ein. Nach einiger Zeit: „Stimmt dir deine Kasse auch
immer?" Ein zögerndes „Ja", von dem ich aber weiter nicht
Notiz nehme. Wieder nach einiger Zeit: „Wann hast du den
größten Parteienverkehr?" — „Vormittags." — Und etwas später:
„Ich muß mir doch einmal deine Kasse ansehen." Der Junge
wird merklich unruhiger, ich sehe es nicht, sondern arbeite mit
ihm weiter, lasse aber nicht locker, sondern komme immer wieder
130
auf die Tabakkasse zu sprechen. Als sich sein Unbehagen derart
gesteigert hat, daß ich den Zeitpunkt für gekommen erachte, stelle
ich ihn plötzlich vor die Entscheidung: „Du, wenn wir hier fertig
sind, werde ich mir deine Kasse ansehen." (Seit unserem Zu-
sammensein sind ungefähr fünf Viertelstunden vergangen.) Er steht
mit dem Rücken zu mir vor dem Bücherkasten, nimmt ein Buch
heraus, um es abzustauben und — läßt es fallen. Jetzt sehe ich
seine Erregung. „Was ist dir? — „Nichts!" — „ Was fehlt
dir in deiner Kasse?" — — — Ein angstverzerrtes Gesicht,
zögerndes Stammeln: „450 Kronen." Ohne ein Wort zu sprechen,
gebe ich ihm diesen Betrag. Er sieht mich mit einem unbeschreib-
lichen Blick an und will sprechen. Ich lasse ihn nicht reden, aus
dem Gefühl heraus, daß mein Tun auf ihn noch wirken müsse,
und schicke ihn mit einem freundlichen Kopfnicken und einer
entsprechenden Handbewegung weg. Nach ungefähr zehn Minuten
kommt er zurück, legt mir die 450 Kronen auf den Schreibtisch
mit den Worten: „Lassen Sie mich einsperren, ich verdiene nicht,
daß Sie mir helfen, ich werde ja doch wieder stehlen!" Diese in
höchster Erregung hervorgestoßenen Worte werden von heftigem
Schluchzen abgelöst. Ich lasse ihn niedersetzen und spreche mich
mit ihm aus, halte ihm keine Moralpredigt, sondern höre teil-
nahmsvoll an, was aus ihm herausquillt; seine Diebereien, seine
Stellung zur Familie, zum Leben überhaupt und vieles, das ihn
beschwert. Der anfänglich überaus starke Affekt wird unter Er-
zählen und Weinen allmählich schwächer. Schließlich gebe ich
ihm das Geld neuerdings, indem ich ihm sage, ich glaube nicht,
daß er nochmals stehlen werde, er sei mir die 450 Kronen wert.
Und im übrigen schenke ich sie ihm nicht, er möge weniger
rauchen und mir nach und nach den Betrag zurückzahlen. Damit
niemand etwas merke, solle er den Betrag in die Kasse zurück-
legen. Den Kassier mache ich aufmerksam, daß der Schaden
gutgemacht sei und daß er sich von der Sache nichts wissen
machen möge. Nach ungefähr zwei Monaten hatte ich tatsächlich
mein Geld zurückbekommen.
. . . Praktisch war der Erziehungsfall erledigt, da sich der
Junge die kurze Zeit, die er noch bei uns verblieb, sehr gut
aufführte. Er ist seit zweieinhalb Jahren als Zeichner in einer
großen Möbelfabrik angestellt und hält sich sehr brav.
Bürger Machiavell ist Unterrichtsminister
geworden und hält den Hofräten seines
Ministeriums folgende Programmrede:
(Aus „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung" von Dr. Siegfried Bernfeld)
„. . . Dieses, unser Ziel, zu erreichen, schlage ich Ihnen fol-
gende organisatorische Maßnahmen vor. Sie müssen nämlich
verstehen, daß die Organisation des Erziehungswesens das
entscheidende Problem ist, das wir konsequent und uner-
bittlich unserem Einfluß restlos vorbehalten müssen, während
wir die Lehrplan- und Unterrichts-, selbst Erziehungsfragen
beruhigt den Pädagogen, Ideologen, ja selbst den Sozialdemo-
kraten überlassen können. Doch werde ich auch in dieser
Zulassung taktisch vorgehen. Sie wird gefordert werden, wir
lassen lange um sie kämpfen, und gewähren sie in Form
von Konzessionen immer dann, wenn wir eine Ablenkung
der Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit für nötig halten.
Also die erste organisatorische Forderung ist: Trennung der
bürgerlichen Jugend von der proletarischen. Ich hoffe, Sie
vergessen keinen Augenblick, daß wir uns in geheimer Amts-
sitzung befinden, und werden sich hüten, der Presse diese
Formulierung mitzuteilen. Es ist dies auch nicht nötig, denn
die bürgerliche Jugend sind die Kinder jener Familien, die
vor jeder Proletarisierung in dieser Generation völlig gesichert
sind. Es sind nicht sehr viele. Aber es sind die, auf die es
ankommt. Wir haben sie keineswegs in getrennten Schulen
zu erziehen. Dies würde unnötiges Aufsehen erregen. Und
das Vermögen und soziale Ansehen ihrer Väter sichert ihnen
ohnedies eine ungestörte Schullaufbahn. Sie sind die erblichen
Herrscher unserer Gesellschaft und Wirtschaft, bestimmt, ihre
Macht ungekrönt und unbekannt sogar auszuüben. Es wird
ihnen nützlich sein, den Zauber solcher Inkognitoexistenz und
die Befähigung hiezu an Schule und Universität frühzeitig zu
erfahren und zu üben, scheinbar völlig gleich allen anderen,
in Wahrheit die Herrscher schon mit der Schiefertafel —
132
(die wir übrigens abschaffen sollten, da wir nicht genug Revo-
lutiönchen machen können, und Sie sollen sehen, wie unser
Staat ein Jahrzehnt lang von der wichtigen Frage, Schiefer
oder Papier für Schulanfänger widerhallt!) — Wenn ich sage,
wir wollen die bürgerliche Jugend von der übrigen trennen,
so meine ich die Kinder jener Familien, deren künftige
Klassenzugehörigkeit unsicher ist, die wir mit den Thron-
folgern zusammen erziehen, aufwachsen lassen wollen. Sie
werden sich, infolge der libidinösen Identifikation, wie Bern-
feld sagt, für ihr Leben unseren Kapitalfürsten anschließen
und ihnen treue Lehensritter sein. Natürlich bloß mit der
Treue, die Lehensrittern seit alters her spezifisch war. Die
provisorische Treue. Sie werden sich redlich bemühen, an
die Stelle des Fürsten zu gelangen, sein Land — ich meine
das bildlich, wie Sie wohl verstehen — zu erobern, den
Fürsten zu töten. Aber, und wenn ihr Gehalt kaum zum
Leben hinreichen sollte, sie werden zwar die persönlichen
Feinde aller Besitzer, aber nimmermehr des Besitztums sein,
mit dem sie identifiziert sind. Eine tüchtige Identifikation
zeugt Hoffnungen, denen lebenslängliche Enttäuschungen nichts
anhaben. Ich empfehle also einen Intellektuellenstand zu
schaffen, indem Sie die quasi bürgerliche Jugend durch eine
Bildungskluft von der proletarischen trennen, und sie durch
Identifikation für ewig im Wünschen und Denken mit der
besitzenden Klasse verknüpfen. Diese psychologische Basis erst
wird sie gegen die Einsicht ihrer ökonomischen Situation
sichern und ihre individuellen Chancen für den ökonomischen
Aufstieg, die, wenn auch klein, im Prinzip vorhanden sind,
im Sinne ihres Ideals erkämpfen lassen. Nur so erreichen wir
die paradoxen Existenzen, die ohne Besitz für ihn kämpfen,
denn der integre Bestand unserer Klassenherrschaft gibt ihnen
die Chance, ihr Ideal zu erreichen, ja es ist mit ihr eigent-
lich schon erfüllt. Unter zwanzig Jahren werden wir keinen
dieser Jünglinge, womöglich keinen unter fünfundzwanzig
Jahren, in die wirtschaftliche Realität eintreten lassen. Jeder
soll ad libitum die Glücksmöglichkeiten des Besitzes kosten,
sie sollen sich ihm mit der Lust der jungen Erotik, mit Freiheit
l 53
und Trubel unlöslich verknüpfen, er soll in diesen gefähr-
lichen Jahren, wo Querköpfe, und in der Pubertät wird
man sehr leicht querköpfig, bereit sind, die Gesellschaft auf
Gerechtigkeit und Recht zu prüfen, sie nicht kennen lernen in
ihrem wirklichen Bestand. Und wenn er sie mal kennen lernt,
soll er sie und ihre Vorteile, für sich und den Besitzenden
überhaupt, nicht mehr entbehren können; Sie sollen sehen,
wie er sie gründlich auf Grund seiner erlernten Philosophie
bejahen wird. Ich werde verbieten, daß man Studenten auf
den Universitäten duldet, deren Väter sich nicht zu einem
largen Taschengeld entschließen wollen und können. Solche
Kerle sind in höchstem Maße staatsgefährlich . . . Diese Jugend
bleibt also bis in die Zwanzigerjahre in der Schule. Das
heißt, meine Herren, ich warne Sie aufs Ernsteste, sich hier
in die pädagogischen Fragen einzumengen. Hierin haben Sie
keinerlei Meinung und Überzeugung zu haben. Vergessen
Sie nicht, Sie sind Beamte eines Unterrichtsministeriums. Als
solche haben Sie in Unterrichtsfragen strengste Neutralität
zu wahren; es kann allerdings opportum sein, gelegentlich
einen anderen Anschein zu erwecken. Was in diesen bür-
gerlichen Schulen mit der Jugend geschieht, ist völlig gleich-
gültig. Denken Sie diesen Gedanken durch! Wichtig ist bloß,
wer in sie aufgenommen wird, und ob die Anstalten der
quasi bürgerlichen Jugend die Möglichkeit geben, die An-
nehmlichkeiten eines kultivierten Lebens schätzen zu lernen,
verbunden mit der Erkenntnis, daß diese nur durch den
Bestand unserer vortrefflichen Ordnung gesichert, für sie
s'elbst, gesichert sind. Wir müssen durchaus das Vorbild der
englischen Colleges erreichen. Doch empfehle ich Ihnen den
Namen Landeserziehungheim, oder zur Verwirrung der revo^
lutionären Jugend den der Schulgemeinde. Schütteln Sie nicht
die Köpfe! Wir dürfen nicht kleinlich sein. Ich werde ver-
suchen, jeden Unterricht in diesen Schulen abzuschaffen,
doch sehe ich, daß wir eine Übergangszeit nötig haben. Für
sie gilt: Unter Berücksichtigung des Prinzips der Jugend-
gemäßheit aller Erziehung ist die Pubertät, die idealistische
Lebenszeit hat exochen, mit großen Worten zu füllen. Als
134
solche werde ich vorschreiben: Vaterland — Kultur —
Nation — Kultur — Wissenschaft — Kunst — Kultur —
Volk — Rasse — Kultur. Die Lehrer werden beauftragt
sein zu glauben, daß dies die Maßstäbe und Merkmale des
Fortschritts sind, und werden zu zeigen haben, daß die
letzten Jahrhunderte eine Kette von glücklichen Entwicklun-
gen sind, unterbrochen von kulturfeindlichen Revolutionen, die
ja Kulturwerte zerstört haben, während die Volksrestaurationen
sie vermehrt haben. Da doch unsere Klasse die kultiviertere,
wohlhabendere und glücklichere ist, repräsentiert sie das
Volk, und dieses soll allgemach zu ihr erhoben werden. Bis
dahin wird statt „unsere Klasse" natürlich Volk gesagt. Ich
wette, keiner der Lehrer wird hier eine Schwierigkeit finden.
Sie werden bei den klassischen Autoren und bei den Dichtern
des vorigen Jahrhunderts sehr brauchbaren diesbezüglichen
Lesestoff finden. Aber nur keine Pedanterie; glauben Sie ja
nicht, daß wir irgendein Interesse daran haben, daß diese
Jugend etwas lerne. Sie dürfen nicht altmodisch sein; es ist
hingegen sehr nützlich, wenn es die sozialistischen Parteien
sind. Wir haben die Aufgabe, unserer Jugend eine feste
Ideologie zu geben. Die lernt man nicht. Sie bildet sich von
selbst an den Annehmlichkeiten eines parasitären Lebens. Wir
brauchen nur ein paar Stichworte zu geben, um den von
selbst keimenden Gedanken die Autorität eines Kulturgutes
zu verleihen. Im übrigen muß die Jugend zu Selbstbewußt-
sein erzogen werden. Sie muß von ihrem Adel, ihrer Schön-
heit, ihrer Kulturmission überzeugt sein. Scheuen Sie sich
nicht, hier Wyneken zu verwenden. Es ist ganz ungefährlich.
Denn alle Gefahrenkeime heben Sie auf, wenn Sie dieses
Selbstbewußtsein der Jugend auf ihre Klasse übergehen lassen.
Wir sagen natürlich Volk, Deutschtum und nicht Bürgertum.
Gewiß, das deutsche Volk neigt sehr dazu, diesen Begriff Volk
nicht zu akzeptieren. Es ist dies eine ungeheuer gefährliche
Tatsache. Sie kann aber paralysiert werden durch eine ver-
hältnismäßig leichte Reform. Sie verlangt nur den Mut zu
einer völligen Dummheit. Man müßte die unbewußte Angst
des Deutschen, die einem tiefen Minderwertigkeitsgefühl ent-
135
springt, in Aggression wenden. Man müßte die Deutschen
glauben machen, sie hätten einen ungeheuer mächtigen, ge-
meinsamen Feind, der unsere, ich meine des Volkes, heiligsten
Kulturgüter gefährdet, den man durch gemeinsame, ungeheure
Tat zu vernichten hätte. Nur freilich darf das kein wirklich
gefährlicher Feind sein, etwa Franzosen, sonst entsteht ja
Realangst und wenn wir ihn etwa besiegen, so stehen wir,
wo wir vorher standen. Es müßte eine Fliege, ein Nichts
sein. Das hätte auch den Vorteil, daß wir romantische Ele-
mente, die dem Deutschen und seiner Jugend liegen, mit
verwenden könnten. Was meinen Sie zu einem Geheimbund
von Fremdländischen, der die Deutschheit verfolgt? Man kann
große Menschenmengen zu untereinander tiefen Indentifika-
tionen und mit irgendeinem Menschen bringen, wenn sie
vor einer gemeinsamen unheimlichen Gefahr stehen und
irgendeiner springt vor und rettet sie. Verstehen Sie allmäh-
lich, was ich vorhabe? Wir versetzen die Jugend — und
mit ihr die Gesamtheit — und zwar vorerst die quasi bür-
gerliche Jugend in panischen Schrecken vor einer unheim-
lichen Macht, die sie bedroht, und dann springen Wir als ihre
Retter vor und Führer. Lesen Sie von Professor Freud : Massen-
psychologie, — ein sehr brauchbarer Autor, sage ich Ihnen,
wenn das nur die Sozialisten nicht auch merken, aber zum
Glück scheinen sie ihn für einen Bourgeois zu halten,
also bei Freud holen Sie sich die Überzeugung, daß mein
Vorschlag gelingen muß. Der bürgerliche Typus, die bürger-
lichsten Individuen würden zu den Idealen der Jugend wer-
den, und sie würde in diesem Ideal sich zu einer selbstbe-
wußten, stolzen, exklusiven Gemeinschaft bilden, die zugleich
restlos führbar wäre. Wenn wir nur den Feind hätten. Es
ist schwer, ihn zu finden, denn er darf nicht da sein, und
muß doch glaubhaft sein. Ich empfehle, die Juden zu diesem
Feinde zu ernennen. Sie sind wirklich ungefährlich. In
Deutschland stehen ihrer 600.000 (mit Weib, Rind, Tuber-
kulose und Krebs) gegen 60,000.000. Das ist ein gutes
Verhältnis. Und sie sind wirklich ein in jeder Hinsicht
brauchbares Volk; sie werden uns selbst helfen, in dieser
156
oder in jener Weise. Sollten sie aber ja einmal geprügelt
oder totgeschlagen werden, so sind deren in anderen Städten
und Ländern genug übrig, um den Schrecken vor ihnen
permanent zu erhalten. Mit Hilfe des sorgfältig gepflegten
und angewandten Antisemitismus erhalten wir jene stolze und
selbstbewußte, nämlich von sich, ihrer Wertigkeit, ihrem
Volks- und Rassenadel durchdrungene bürgerliche Jugend,
die identifikatorische Bestrebungen bis in weite Schichten
des Proletariats erwecken wird. Und auf diese Haltung und
Einstellung des Proletariats kommt es uns an. Damit kommen
wir an jene Organisationen der Erziehung, die sich an die
proletarische Kindheit und Jugend wenden. Wir sind in
völliger Übereinstimmung mit den Interessen der Industrie,
wenn wir den Grundsatz strenge durchführen werden: die
proletarische Jugend gehört in die reale Wirtschaft, in die
Fabrik. Es dient auch dem wohlverstandenen Interesse des
Kapitals, wenn auch nicht immer dem Wunsche jedes ein-
zelnen Unternehmers, die Kinder bis zu einem gewissen
Grad der Arbeit zu entziehen und sie in den Schulen zu
sammeln. Als den für unsere Zwecke günstigsten Termin für
den Schulbeginn habe ich das sechste Lebensjahr erkannt.
Das Kind hat eben eine überaus wichtige Katastrophe, psycho-
logisch, ja psychoanalytisch gesehen, hinter sich, oder be-
findet sich in ihr. Es hat vor der väterlichen Besitzmacht,
unter starker Angstentwicklung kapituliert und auf den Be-
sitz der geliebten Mutter verzichtet. Es sucht nun für seine
ungebundene Liebe neue Objekte. Sie sollen ihm in Gestalt
seiner Lehrer, noch besser wären prinzipiell unverheiratete
Lehrerinnen, unserer Agenten, entgegentreten. Es hat sich
aber zugleich eine sehr tiefe Einsicht in seine eigene Unzu-
länglichkeit geholt, damit die Bereitschaft, sich Autoritäten
zu unterwerfen, die noch unterstützt wird durch die in
diesen frühkindlichen Kämpfen und Ablösungen entstandenen
Instanz im eigenen Ich, das Schuldgefühl, die Strafbereit-
schaft. Erwacht nun irgendeine Regung der Auflehnung, so
wird sie sich in der Autorität der Schule die empfindlichste
Niederlage holen. Dabei sorgen wir dafür, daß die Schule
1 57
eine Staats- und Volkseinrichtung -wird, und erreichen so,
daß das Kind den Staat und das Volk als eine erweiterte
Familie auffassen lernt; -was zwar grundsätzlich falsch ist
und selbst für unseren Staat nur sehr teilweise gilt, aber
die günstigste psychologische Atmosphäre für seinen Bestand,
das sicherste Schutzmittel — soweit eben psychische Ange-
legenheiten hier mitwirken — gegen jede entschiedene Ge-
sellschaftsrevolution ist. Wie die Familie, sage ich: da ist
der Vater, der befiehlt und straft, der aber auch freundlich
ist, "wenn eins sehr brav war, aber auf alle Fälle fern und
übermächtig. Er trägt den schönen Titel: Direktor. Da ist
die Mutter: die Lehrerin, die freundlich, nah, liebevoll, aber
launisch ist, die man gleichfalls, aber deutlicher noch durch
Bravheit gewinnt; die ihrerseits vor dem Direktor zu zittern
hat. Da sind schließlich die Geschwister Schulkameraden,
nach Sitte und Recht alle einander völlig gleichgestellt, aber
freie Bahn ist dem Tüchtigen offen; der volle Betrieb der
freien Konkurrenz ist durchgeführt; man kann nach oben
gelangen auf den ersten Platz in der Klasse und in der
Liebe der Lehrerin, wenn man tüchtig ist, tüchtig im Wissen
oder im Schwindeln, im Schmeicheln, oder in der Energie. Die
inhaltliche Erfüllung dieses Betriebes geht dahin: Schul- und
Bücherwissen über alles hoch und jenseits jedes Zweifels zu
stellen. Und in diesem Rahmen werden die Geschichten, die
die Lehrer den Kindern von der bürgerlichen Gesellschaft
erzählen, ihren Zweck nicht verfehlen . . . Die Krönung
dieses Schulwesens ist aber in der Organisation der Puber-
tätserziehung gegeben, die ich besonders sorgfältig durchdacht
habe. In dieser Zeit entsteht eine neue Welle von Autoritäts-
ablehnung und die Neigung, das eigene Leben und das der
Gesamtheit einer Art sittlicher Revision zu unterziehen. Wir
müssen bemüht sein, die Früchte der Kindererziehung diesen
Gefahren zu entziehen. Daher werden die jungen Proletarier
ihrer ökonomischen Situation völlig überlassen. Ihre Eltern
werden sie zu wirtschaftlicher Selbständigkeit treiben, und
sie werden in Fabrik und Lehre, wenn wir nicht eingreifen,
ein ihren erwachsenen Klassengenossen völlig gleichartiges
138
Leben führen, ja da zu erwarten ist, daß ihre Gewerkschaften
schwächer sein und die Organisationen der Erwachsenen für
sie weniger stark eintreten werden, müssen sie unter einem
härteren Druck der Ausbeutung stehen. Sie werden, da ja
die Schule sie dahin vorbereitet hat, auch die Fabrik und
das ganze Wirtschaftsleben unter der affektiven Einstellung
der Familie — unbewußt, versteht sich — auffassen. Das
heißt, sie werden ihre Aggressionen und Liebeswerbungen
auf den persönlichen Vorgesetzten oder den Einzelunter-
nehmer richten. Die sozialistischen Parteien werden es sehr
schwer haben, ihnen dahinter die bürgerliche Klasse zu er-
weisen. Wenigstens wird die Aufklärung nicht in tiefere
seelische Schichten dringen. Die Pubertät, eine Zeit inten-
siver sexueller Anwandlungen, wird zu Sexualisierungen ihrer
wirtschaftlichen Tätigkeit drängen, da in dieser Fabriks- und
Familienenge zu höheren Sublimierungen kein Platz ist. Der
wirtschaftliche Bezirk wird sich ihrem unbewußten Denken
mit dem sexuellen vermengen, der ausschließend Besitzende,
der Unternehmer, oder auch sein Direktor oder Werkführer,
wird ihnen Vater sein. Und hiemit wird die überwiegende
Menge in ihrer Aggression und' Auflehnung, so lärmend sie auf-
treten mag, innerlichst gebrochen sein, denn sie ist paralysiert
durch die Erinnerung an die infantile Katastrophe, die derselben
Situation entsprang, und wird gebunden sein durch die ebenso
unbewußte Liebe zum und Identifikationstendenz mit dem Vater-
Unternehmer. Die wirtschaftliche Selbstständigkeit der Jugend-
lichen wird diese Identifikation stärken. Und sollten etwelche
trotzdem einen Ausweg aus ihrer Situation suchen, sollten sie
erkennen, was sie in ökonomischer Sklaverei hält, so werden
sie wahrscheinlich, durch die Schule und durch die öffentliche
Meinung, durch die klug vorbereitete Verwirrung der Begriffe
Kultur und Bildung, die auch die Arbeiterparteien nur schwer
durchschauen werden, das Leben der von ihnen getrennten
bürgerlichen Jugend anstreben, und Bildung suchen, und zwar
natürlich jene, die, wie sie meinen, den Wert und die Macht
der bürgerlichen Jugend und Gesellschaft ausmachen. Sie werden
sie nicht finden . . .
L 59
Das Tagebuch eines halbwüchsigen
Mädchens
von
Stefan Zweig
Als erste einer Reihe von „Quellenschriften zur seelischen
Entwicklung" veröffentlicht der Internationale Psychoanalyti-
sche Verlag — offenbar eine Gruppe von Schülern, die sich
dem umfassenden Gedankenkreise Professor Freuds verbunden
haben — ein ganz merkwürdiges Dokument: das unverstellte
Originaltagebuch eines halbwüchsigen Mädchens von seinem
elften bis zum vierzehnten Jahre. Das Seltsame in diesem
Buche, das Bedeutsame im psychologischen und pädagogischen
Sinne ist nun, daß dieses Tagebuch keineswegs das eines
Wunderkindes ist, einer zukünftigen Maria Bashkirtseff, sondern
im Gegenteil das eines ganz normalen, gar nicht sonderlich
begabten, gar nicht sonderlich sensitiven und gar nicht son-
derlich erlebnisreichen Kindes aus der sogenannten guten
Wiener Gesellschaft. Nur eben eines jener unzähligen, oft
belächelten und verspotteten Tagebücher, wie sie fast jedes
Mädchen unfehlbar irgendeinmal in den Schuljahren beginnt.
Aber schon die Regelmäßigkeit dieser Erscheinung mag Er-
kenntnis sein für die Bedeutsamkeit dieses Augenblicks, für
das fast Gesetzmäßige, daß Kinder und besonders Mädchen
gerade in jenen Entwicklungsjahren aus einem zwingenden
Gefühl beginnen, sich täglich schriftliche Rechenschaft von
sich abzulegen, um dann mit siebzehn oder achtzehn Jahren
dieses tägliche Einschreiben schon wieder als kindliche Spie-
lerei zu verachten und überlegen lächelnd zu verwerfen. In
jenen Jahren, wo der wirklich persönliche Mensch dem spiel-
haften Kindeswesen entwächst, wird ihm unbewußt das Leben
als Ganzes und insbesondere sein eigenes Leben irgendwie plötz-
lich wichtig und geheimnisvoll: unbelehrt fühlt das Kind in
seinem Wachstum, was dann erst später wieder der Psycho-
log weiß und was Freud als erster so meisterhaft klargelegt
hat, daß in jenen Jahren des gespannten Empfindens bei
140
dem Kinde jede Richtung zur Entscheidung, jeder Zufall zur
Bestimmung wird. Im Augenblicke, wo der Mensch — und
die meisten Erwachsenen gestehen damit die Armut ihres
Innenlebens ahnungslos ein — dann wieder das Leben als
etwas Automatisches, als etwas Funktionelles empfindet, läßt
die Intensität ihres eigenen Empfindens nach: nur erlesene
Menschen behalten jene wunderbar gesteigerte Fähigkeit über
die Kindheit hinaus für immer fort, das Leben unausgesetzt
als mystische Macht zu empfinden, ewig rätselhaft, ewig
unentwirrbar, voll von Überraschungen und Erkenntnissen,
und sich selbst als eine Beute unablässiger Abenteuer. Des-
halb führen die Erwachsenen nur ausnahmsweise mehr ein
Tagebuch, fast immer nur dann, wenn sie irgendwie in das
äußerlich Bewegte der Welt historisch eingemengt sind, wie
jetzt die Diplomaten und Heerführer; das Kind in den Pu-
bertätsjahren aber empfindet nicht seine Existenz innerhalb
besonderer Geschehnisse als wichtig, sondern die Tatsache
des Lebens überhaupt, und diese zwingende Betonung jeder
kleinen Zufälligkeit, ungeachtet, ob sie andere als banal emp-
finden mögen, erhöht zauberhaft ihre innere Spannung. In
den halbwüchsigen Menschen ist darum eine tiefere — und
wieviel richtigere! — Wertung jeder neuen Stunde bereit;
das Unscheinbarste belebt sich durch Gefühl, jede Begegnung
durch Erwartung. Nur im Kinde, in dieser Spanne von Jahren
zwischen der Unbewußtheit und dem schon allzu Bewußten
wirkt sich jene Intensität aus, die dann in den Dichtern
die Kindheits jähre überwächst und ihnen das Gefühl der
Welt als eines unberechenbaren Mysteriums rein und leiden-
schaftlich bewahrt.
Unbedeutsam im gewöhnlichen Sinne mag darum auch
dieses Tagebuch dem Unbedeutenden gelten, denn es ist
weder stilistisch schön geschrieben, noch geistig sonderlich
hochwertig, eben nur ein Dutzendtagebuch irgendeines Halb-
kindes. Aber eben das typische Kleinmädchengeschwätz darin,
die ahnungslose Aufrichtigkeit (die dem Dichter ja fehlt),
daß jemals ein fremder Blick in diese Blätter eindringe, ge-
schweige denn, daß sie jemals in Buchform vervielfältigt
141
■werden könnten, macht seine Lektüre so anregend für alle
jene, denen das bloße Verstehen von seelischen Dingen selbst
schon eine Art geistiger Lust geworden ist. Es ist voll von
zufälligem Geschwätz über Konditoreien, Ausflüge, Kamera-
dinnen, Eifersüchteleien, Schuldummheiten, Familienepisoden,
aber eben dadurch ist auch den wesentlichen Dingen der
richtige Rang im Seelenleben ausgewertet. Denn der Dichter,
die sonst einzige Quelle, der eine Kindheit schildert, die
eigene oder eine fremde, in Selbstbiographie oder im Roman,
verstellt aus dem innersten Gesetz der Kunst bewußt-unbe-
wußt das Gleichgewicht. Er gibt bloß Abbreviaturen, Ver-
kürzungen des kindlichen Seelenlebens, weil er nur das auf-
zeichnet, was die Erinnerung nach Jahren noch als wesent-
lich bewahrt hat, nicht aber das Gleichzeitig-Banale, dem
das Besondere entwächst. Er zeigt nur die Meilensteine, statt
des ganzen Weges, er schafft Auslese, betont nur das Wis-
sende im Kind, die frühe Weisheit, während hier im Tage-
buch noch die ganze breite Folie der Torheit und ahnungs-
losen Dummheit sich in den Aufzeichnungen naturhaft aufstuft.
Das Erlebnis dieser Jahre, das Wesentliche dieses Buches
ist selbstverständlich das Nicht-mehr-Kind-sein-Woüen. Der
Wille, als voll gewertet zu werden, um alle Geheimnisse zu
wissen, die alle Erwachsenen so krampfhaft vor ihm verbergen.
Mit Zorn und Erbitterung notiert die Elfjährige immer, wenn
Vater, Mutter oder Schwester sie eine „Kleine" oder „Kind'
nennen. Mit Ungeduld will sie schon hinauf in die andere Welt,
will sie die verschlossenen Türen zerbrechen, hinter denen
sie manchmal unverständliche Worte hört und hinter denen
für ihr Empfinden das „eigentliche", das wirkliche Leben liegt.
Jedes dieser aufgelauschten Worte hinter den verschlossenen
Türen des großen Geheimnisses wird zum Ereignis, zum
Geschehnis, denn ahnend spürt das noch ahnungslose Kind,
daß diese abgelösten Worte gleichsam Chiffren sind, mit
denen man, wenn einmal die Buchstaben ihres Sinnes aus-
einandergenommen sind, das ganze Zauberbuch im Fluge
durchlesen könne. Wie auf der Wiese hinter Schmetterlingen
ist darum dies gespannte Kindwesen mit seinen Freundinnen
142
hinter jedem solchen aufgeflatterten Wort her. Irgend jemand
hat „Verhältnis" gesagt und gelächelt dabei — was bedeutet
das? Von der Kusine erzählen sie, daß sie „bleichsüchtig"
sei, von einem Onkel, er sei „nicht normal". Mit der Spür-
kraft aufgereizten Empfindens wittert sie einen besonderen
Sinn hinter dem Gewöhnlichen. Und alle die unendlich
typischen Schleichwege des Rindes auf dieser Jagd tun sich
auf in diesem Tagebuch: Das Tuscheln mit den Freundinnen,
das Geschwätz mit den Dienstboten, der heimliche Blick
in das Konversationslexikon, bis sich allmählich nach vielen
vergeblichen Irrungen — die im einzelnen dem Erwachsenen
und besonders dem, der seine eigene Jugend vergessen hat,
ein mitleidiges Lächeln entlocken mögen — die richtige
Spur findet. Hier, wie vielleicht in jedem aufrichtigen Tage-
buche eines Halbwüchsigen ist natürlich der Brennpunkt des
Interesses die Sexualität.
Die Sexualität, nicht die Erotik. Denn hier kommt die
Neugier noch aus dem Intellektuellen, aus dem wachen Gehirn
eines noch unentwickelten Körpers, und die Unruhe quillt
aus dem Verstand, nicht aus den noch dumpfen Zonen körper-
lichen Gefühls. Nirgends reagiert hier wirkliche Befriedigung
auf Erkenntnis, im Gegenteil: der erste zufällige Einblick
wird für das scheue Kind zum seelischen Chok. Mit Ekel,
mit Abscheu, Furcht und Angst antwortet ihr noch unreifes
Gefühl auf alle Ahnungen des Körperlichen. Statt sie an das
feurige Geheimnis näher hinzudrängen, schreckt sie die
Mechanik des Liebesaktes vorläufig zurück. Nirgends ist in
diesem nervösen Kinde trotz aller geistigen Unruhe, trotz aller
funkelnden Neugierde ein Atem von Verderbtheit. Man spürt,
diese Unruhe ist (wie wahrscheinlich bei den meisten Kindern,
was aber Lehrer und Erzieher selten ahnen), absolut prä-
erotisch, sie ist nur Unruhe nach dem Leben, nach dem Zu-
sammenhange, das allzu erklärliche Gefühl nach Ebenmäßig-
keit des Wissens, das keine Lücken und leere Stellen dulden
will, dasselbe Gefühl, das die junge Menschheit als Gesamt-
heit von ihrem Anfang getrieben hat, ihre eigene Erde zu
durchforschen, unbekannte Kontinente sich bekannt zu machen,
145
alle Ströme, Berge, Seen und Wälder in eine Karte einzu-
zeichnen und über diese Erde hinaus noch mit Teleskopen
und Berechnungen nach den anderen Welten ins Unendliche
zu spähen. Gerade dies Nachbarliche der unbändigen Neugier
mit dem anderen Geschwätz von neuen Kleidern, verpatzten
Schulausflügen, Gouvernantenqual, hellt zauberisch das Wunder
des Welterwachens auf, das mit der Jugend jedes Menschen
wie der Menschheit mystisch verknüpft ist, und das ver-
hängnisvollerweise so früh in dem normalen Menschen wieder
erlischt. Vielleicht auch schon in dieser Frau erloschen wäre,
die heute vielleicht zweiundzwanzig Jahre zählte, wenn sie
der Tod nicht hinweggenommen hätte und deren Namen
die Herausgeber sorgfältig verschweigen (die auch in dem
Buche durchwegs Namenverstellungen vorgenommen haben,
um auch die Spur zu verwischen). Eben deshalb aber,
weil es so typisch ist, sollten kluge Eltern und kluge Er-
zieher dieses Buch zur Hand nehmen, freilich nicht, um
danach zu erziehen und vielleicht 'mit der jetzt so be-
liebten Aufklärung einzusetzen und zu versuchen, den ihnen
anvertrauten Kindern etwas von der Unruhe und der Qual
ihres Suchens wegzunehmen, die hier so erschütternd im
Bilde des namenlosen Kindes wirkt. Denn wer vermag zu
sagen, ob diese Unruhe, diese brennende Neugier nicht etwas
unendliches Kostbares und Schöpferisches in jedem Kinde
ist, ob nicht bei einzelnen gerade aus ihr die Möglichkeit
entwächst, sich das Mystische des Lebensgefühles über die
Kindheit hinaus zu bewahren. Ob vielleicht nicht Menschen,
die in ihrer Kindheit die ganze Not dieser Unsicherheit, die
Spannung des Geschlechtes so stark empfunden haben, sich
auch dann später im Erotischen reiner den heiligen Schauer
des kosmischen Gefühls und anderseits die starke Beizsamkeit
leidenschaftlicher bewahren. Es ist vielleicht nicht gut, zu
verbessern, wo man nicht weiß, was im einzelnen ungestaltete
Möglichkeit zum Guten oder zum Bösen ist, und das Schicksal,
das wunderbar eigenwillige, das mit Kindern wie mit Menschen
nach seinem Sinn spielt, bevormunden zu wollen. Aher es
ist immer gut, Menschliches zu verstehen, und zu diesem
144
Verständnis der Kinderseele scheint mir dieses Buch eines
der kostbarsten, das je die Wissenschaft Hand in Hand mit
dem Zufall dargeboten, und das nicht durch Kunst, sondern
einzig dank jener mystischen Schöpfungskraft der Jugend,
die immer dichterischer wirkt als die besten Nachdichtungen
von Kindheit.
Aus dem »Tagebuch eines halbwüchsigen
Mädchens«
Das „Tagebuch eines halbwüchsi-
gen Mädchens", herausgegeben und
eingeleitet von Dr. Hermine Hug-
Hellmuth (f) erschien als I. Band
der „Quellenschriften zur seelischen
Entwicklung" im Internationalen
Psychoanalytischen Verlag,
Aus dem zwölften Lebensjahr
12. August: . . . Gestern haben wir uns gekugelt vor Lachen, was er
(Robert) uns erzählt hat, wie sich die Buben über ihre Professoren
lustig machen. Das mit den Zigarettenstumpferln war zum Totlachen.
Und sie haben einen Verein, der heißt T. Au. M., d. h. nämlich auf
Lateinisch Schweig oder stirb, in den Anfangsbuchstaben. Keiner
darf etwas verraten und wenn einer neu aufgenommen wird, muß
er sich ganz ausziehen und er muß sich so hinlegen und jeder
spuckt ihm auf die Brust und verreibt es und sagt: So sei der
Unsere, aber alles auf Lateinisch. Und dann muß er zum Ältesten
und Größten gehen und bekommt von ihm mit einer Rute ein
paar auf den P . . . und muß schwören, daß er nie einen verrät.
Und dann raucht jeder eine Zigarre an und tupft ihn mit dem
brennenden Ende auf den Arm oder sonst wohin und sagt: Jeder
Verrat soll dich so brennen. Und dann ritzt ihm der Älteste, der
eine besonderen Namen hat, den ich mir aber nicht gemerkt habe,
das Wort Taum, d. h. eben Schweig oder stirb, ein und ein Herz
mit dem Namen von einem Mädchen. Der Robert sagt, wenn er
mich früher kennen gelernt hätte, so hätte er Gretchen gewählt.
L 45
Ich fragte ihn, was für einen Namen er eingeritzt habe, da sagte
er, das dürfe er nicht verraten. Aber ich werde dem Oswald sagen,
er soll im Bade schauen und es mir dann sagen. In diesem Verein
schimpfen sie furchtbar über die Professoren und wer die besten
Streiche ausdenkt, wird in die Rohon gewählt; ein Rohon sein ist eine
Auszeichnung und die anderen müssen ihm unbedingt folgen. Und
manches kann er mir nicht einmal erzählen, sagte er, weil es zu
arg ist. Und dann mußte ich ihm schwören, daß ich das alles
vom Verein niemandem sage und er wollte, ich soll mich zum
Schwören niederknien, aber das habe ich nicht tun wollen und
da hat er mich beinahe umgeworfen. Und schließlich mußte ich
ihm die Hand drauf geben und ein Bussel. Das habe ich ihm
schon eher gegeben, denn an einem Bussel ist nichts dabei, aber
niederknien, nein das tue ich absolut nicht. Aber ich habe mich
schrecklich gefürchtet, weil wir ganz allein im Garten waren und
weil er mich so beim Hals packte und niederdrückte. Das vom
Verein hat er mir nämlich ganz allein erzählt, weil er sagte:
Deinen Namen darf ich nicht mehr einritzen, denn zwei Namen
geht gegen unsere Gesetze, aber dafür sollst du gegen deinen
Schwur wissen, was ich im geheimen bin und denke.
Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, weil mir immer
von dem Verein träumte. Ob es im Lyzeum auch solche Vereine
gibt und ob die Dora auch bei einem ist und einen Namen ein-
geritzt hat. Aber ganz ausziehen ist doch gräßlich, noch dazu vor
seinen Mitschülerinnen. Vielleicht ist das bei den Vereinen der
Lyzealschülerinnen weggelassen. Aber ich würde auch nicht sagen,
daß ich mir den Namen Robert einritzen will.
15. August: Gestern erzählte mir der Robert, daß es auch
Vereine von Buben gibt, wo sehr unanständige Sachen geschehen,
aber bei ihnen darf das nicht sein. Aber er sagte nicht was. Ich
sagte, ich finde das Ganzausziehen schrecklich; aber er sagte, das
ist gar nichts, das muß sein, wenn einer dem anderen vertrauen
soll, wenn nur nichts Unanständiges geschieht. Ich möchte sehr
gerne wissen, was. Ob der Oswald es weiß, und ob er bei einem
solchen Vereine oder einem anständigen ist und ob der Papa dabei
war. Wenn ich nur draufkommen könnte. Aber fragen darf ich
nicht, weil ich sonst den Robert verrate. Wenn er mich sieht, preßt
er mir immer so das linke Handgelenk, ohne daß es wer sieht.
Er sagt, das ist die Mahnung, daß ich schweigen muß. Aber es
wäre wirklich nicht notwendig, denn ich verrate ihn auf keinen
Fall. Er sagte: Der Schmerz soll dich an mich binden. Wenn
146
er das sagt, so werden seine Augen ganz dunkel, förmlich schwarz,
obwohl er eigentlich graue Augen hat und riesig groß. Besonders
am Abend, wenn wir auseinander gehen, schaut das gräßlich aus.
Mir träumt immer von ihm.
18. August: Gestern abends war ein herrliches Kaiserfest mit
Illumination. . . . Dann kam der R. zu mir und erzählte mir riesig
viel. Er will unbedingt Offizier werden. Aber da braucht er eigent-
lich gar nicht so viel lernen, da lernt er alles jetzt umsonst. Er
sagt, das macht nichts, das gibt ein riesiges Übergewicht. Ich finde
nicht, daß er etwas blöd ausschaut, das sagt der Oswald nur, damit
ich mich recht ärgere. Auf einmal waren wir von den anderen
ganz getrennt und da setzten wir uns auf eine Bank und warteten
auf sie. Derweil fragte ich den R. nochmals wegen der anderen
Vereine, bei denen so unanständige Sachen eingeführt sind. Aber
er sagte es nicht, er sagte, er wolle mir nicht meine Unschuld
rauben. Das finde ich sehr blöd; vielleicht weiß er es selber nicht
und tut nur so. Nur das sagte er, daß jeder beim Eintritt in den
Verein solang gekitzelt wird, bis er es nicht mehr aushalten kann
Und einmal hat einer Veitstanz bekommen, das sind schreckliche
Krämpfe und da wäre bald alles aufgekommen. Und seither dürften
sie in ihrem Verein nicht mehr kitzeln. Soll ich dich auch ein
bissei kitzeln? Untersteh dich nicht, sag ich, und überhaupt du
traust dich auch gar nicht.
Er lacht riesig und auf einmal packt er mich am Arm und
kitzelt mich unter der Achsel. Ich habe schrecklich lachen müssen,
aber ich habe es verbissen, weil doch manchmal Leute vorbei-
gegangen sind. Drum ließ er mich auch aus und kitzelte mich
in der Hand. Das war zuerst ganz angenehm, aber später ärgerte
ich mich schon und riß ihm die Hand weg. Da kam gerade die
Inspee mit zwei anderen Mädchen und wie sie vorbei waren,
gingen wir schnell hinter ihnen, als ob wir immer so gegangen
wären. Dadurch habe ich mir einen Putzer von der Mama erspart,
die immer will, daß alle beisammen sind. Beim Weggehen sagt
der R. : Paß auf Gretel, einmal kitzel ich dich so, daß du schreist. —
Lächerlich, das lasse ich mir nicht gefallen, da gehören doch zwei
dazu.
Aus dem dreizehnten Lebensjahr
29. März: Heute ist der Doraund mir etwas Gräßliches passiert.
Ich kann es gar nicht niederschreiben. Sie war sehr nett und sagte :
Vor zwei Jahren ist ihr in der Stadtbahn dasselbe passiert, wie
147
sie mit der Mama einmal, es war am 15. Februar, das merkt sie
sich ewig-, zur Frau v. Martini nach Hietzing gefahren ist. Außer
ihr und der Mama war nur noch ein Herr im Waggon, die Mama
fährt nämlich immer II. Kl. Sie sitzen nebeneinander und der
Herr steht im zweiten Teil, so daß. Mama nicht hinsehen konnte.
Und wie die Dora hinschaut, macht er den Mantel auf und !
also dasselbe wie heute der Herr unter dem Haustor. Und wie sie
aussteigen, bleibt die Boa der Dora in der Tür stecken und sie
dreht sich noch einmal um, obwohl sie garnicht wollte, und da
sieht sie wieder ! Sie hat damals den ganzen Monat nicht
schlafen können. An das kann ich mich sehr gut erinnern, aber
nur wußte ich nicht warum. Sie hat es auch nie jemanden gesagt,
außer der Erika und der war das auch schon passiert. Die Dora
sagt, das passiert beinahe jedem Mädchen wenigstens einmal; und
solche Männer sind „nicht normal". Ich weiß nicht recht, was
das heißt, aber fragen wollt ich doch lieber nicht. Vielleicht weiß
es die Hella. Ich habe natürlich nicht genau hingeschaut, aber
die Dora hat sich geschüttelt und hat gesagt: Und das muß man
ertragen. Und dann sagte sie zu mir im Gespräch, daß die Mama
davon krank ist und weil sie fünf Kinder gehabt hat. Da war
ich sehr dumm und fragte: „Ja, wieso davon?" Davon kriegt
man doch nicht die Kinder? „Natürlich," sagte sie, „ich habe
geglaubt, du weißt das schon. Damals wie der Skandal mit der
Mali war wegen des Gürtels, meinte ich, . da hättet Ihr, du und
die Hella alles erfahren." Und jetzt war ich wieder sehr dumm
d. h. schon blöd; statt zu sagen, was ich wirklich weiß, sagte ich:
„Jawohl, ich weiß alles, nur das nicht." Da lachte sie sehr und
sagte: „Na, da ist es mit Euren Kenntnissen nicht weit her." Und
sie machte endlich ein paar Andeutungen. Wenn das wirk-
lich so ist, dann hat die Dora recht, wenn sie sagt, es ist besser,
man heiratet nicht. Verlieben kann und muß man sich, aber man
löst die Verlobung einfach wieder auf. Ja, das ist ein Ausweg, da
kann niemand sagen, die hat keinen Mann bekommen. Wir sind so
oft vor dem Lyzeum auf- und abgegangen, daß wir beinahe zu
spät kamen, gerade erst beim Läuten. Beim Nachhaus egehen er-
zählte ich der Hella die Gemeinheit von diesem Manne. Sie weiß
auch nicht, was das in dieser Hinsicht eigentlich bedeutet:
„Nicht normal." Wir nehmen es aber jetzt als Zeichen für etwas
Greuliches. Da versteht uns niemand. Und dann erzählte mir die
Hella von einem Betrunkenen, der in Nagy K . . . . so durch die
Straßen des Ortes ging und vom Gendarmen eingeführt wurde.
148
Sie sagt auch einen solchen Anblick vergißt man nie, nie mehr.
Vielleicht war der heute früh auch betrunken, aber eigentlich sah
er nicht so aus. Und wenn er das nicht getan hätte, hätte man
ihn überhaupt für einen feinen Herren gehalten. Die Hella weiß
das auch, daß man davon die Kinder bekommt. Sie hat mir alles
erklärt, und jetzt kann ich wohl begreifen, daß man davon krank
werden muß. Gestern war es schon nach 11 Uhr abends und so
schreibe ich das alles erst heute zu Ende. Die Hella sagt: Das
ist die Erbsünde und das haben auch Adam und Eva begangen,
diese Sünde. Ich habe bisher immer geglaubt, die Erbsünde ist
etwas ganz anderes. Aber das — das. Ich bin seit gestern furcht-
bar aufgeregt, ich sehe das immer vor mir; eigentlich hab ich
gar nicht hingeschaut, aber ich muß es doch gesehen haben.
Aus dem vierzehnten Lebensjahr
6. September: Etwas furchtbar Interessantes: Gestern war ein
Herr v. Kraics da aus Radufalva, der hat das Gut Radufalva von
seinem besten Freund geerbt zum Dank, weil er vor 8 Jahren auf
seine Braut verzichtete, die den Freund liebte. Der Oberst Brückner
sagt zwar, der K . . . ist ein widerwärtiger Waschlappen, aber ich
finde das durchaus nicht; er sieht so feurig aus, ein echter, edler
Ungar. Die Hella sagt, er hat früher wahnsinnig viel Schulden
gemacht, weil er jedes halbes Jahr ein anderes Verhältnis mit
einer Dame hatte; und die vielen Geschenke haben ihn fast
an den Bettelstab gebracht. Also, wir können das nicht
recht glauben, denn wenn eine Dame noch so für Blumen und
Bonbons schwärmt, so kann man dadurch doch nicht an den
Bettelstab kommen. Und gestern erzählte mir die Hella vor dem
Einschlafen, daß der Lajos schon etwas „angesteckt" ist; es
gibt keinen Offizier, der nicht geschlechtskrank ist und das macht
sie eben so furchtbar interessant. Da erzählte ich ihr dann das,
was mir die Ada vom Schauspieler in St. P. erzählt hat. Aber die
Hella sagte: Es fragt sich, ob alles wahr ist; bei einem Schau-
spieler kann es ja allerdings eher wahr sein, besonders da er
früher beim Militär war, aber im allgemeinen sind die Zivilisten
furchtbar solid!!! Und das wäre ihr an ihrem Mann gräßlich.
Jeder Offizier hat wahnsinnig gelebt; so sagt man nämlich in
der Umschreibung für geschlechtskrank, und sie würde nie einen
Mann heiraten, der nicht vorher gelebt hätte. Die meisten
Mädchen, besonders wenn sie schon älter sind, verlangen gerade
149
das Gegenteil! und da fiel mir plötzlich ein, daß das wahrschein-
lich der wahre Grund ist, warum die Dora dem Herrn Ohltnt.
R... abgeschrieben hat, und nicht die Freundschaft mit
der Mama; das ist ja auch wirklich lächerlich und niemand
wird ihr das glauben. Der Papa der Hella findet mich reizend;
er ist übrigens auch großartig nett. Der Onkel von der Hella
redet fast gar nichts und man versteht ihn beinahe nicht; der
Papa der Hella sagt immer, seine Schwägerin hat die Hosen an.
Das möchte ich nie haben; der Herr im Haus muß unbedingt
der Mann sein. „Aber nicht zu viel", sagt die Hella. Sie ärgert
sich übrigens immer so, wenn ihr Papa das sagt, von den Hosen
anhaben. Gestern bin ich schrecklich erschrocken, wie wir auf
die Veranda gehen wollen, weil wir die Burschen reden hörten,
steht ein Rollstuhl da und drauf liegt der Großonkel der Hella,
von dem sie mir einmal erzählte, daß er ganz verrückt ist; er
ist nicht wirklich gelähmt, sondern er tut nur so. Die Hella
fürchtet sich vor ihm entsetzlich, weil er sie einmal, wie sie
9 oder 10 Jahre alt war, durchhauen wollte. Aber ihr Onkel kam
dazu und da hat er sie gleich losgelassen. Sie sagt zwar immer:
Er soll sich nur unterstehen, aber sie hat doch gräßliche Angst.
Er ist immer in seinem Zimmer und hat einen Pfleger, weil keine
Pflegerin es aushalten kann hei ihm. Er sollte eigentlich in einer
Irrenanstalt sein, aber in Ungarn gibt es keine feineren.
9. September: Heute vormittag war ein furchtbarer Skandal;
der Großonkel, die Leute nennen ihn Kutya mog oder wie das
geschrieben wird und das heißt verrückter Hund, also der
Großonkel stellt uns nach. Er kann nämlich mit dem Stock
gehen, wenn er will und da stellte er sich vor unser Parterre-
fenster und schaute zu, wie die Hella sich wusch und ich gerade
aufstand. Da kam der Papa der Hella dazu und machte einen
wahnsinnigen Skandal und der Onkel schimpfte auch furchtbar
auf Ungarisch. Und vor dem Essen hörten wir gerade noch, wie
der Papa zur Tante Olga sagte : „Das wären gerade schöne Bissen
für diesen alten Schweinigl, solche unschuldige Kinder, die kämen
schön zum Handkuß!" Da mußten wir so furchtbar lachen, wir
und unschuldige Kinder!!! was die Papas eigentlich glauben
von uns; wir und unschuldig!!! Beim Essen durften wir einander
gar nicht anschauen, sonst wären wir direkt herausgeplatzt vor
Lachen. Und nachmittag sagte die Hella: „Du, weißt du, daß wir
am selben Tag Namenstag haben?" Und wie ich sage: „Wieso
denn, mir scheint, du bist von heute vormittag übergeschnappt",
150
da lacht sie furchtbar und sagt: „Ja natürlich, am 27. Dez., am
Tag der Unschuldigen Kinder!" Das ist zu köstlich. Sie weiß das
nämlich, obwohl sie protestantisch ist, weil die Marina, die falsche
Person, am 27. Dez. Geburtstag hat, und wir sie deshalb in dem
Brief damals „Unschuldiges Kind" anredeten und dabei hatte ich
unabsichtlich ein so schlechtes K gemacht, daß es wie ein R aus-
sah und also „Unschuldiges Rind" hieß, weswegen dann die Tante
Alma den Riesenkrach machte.
*
16. Februar: Wir haben eine neue Schülerin bekommen. Alle
Mädchen und Lehrkräfte sind entzückt von ihr. Sie ist so
klein wie zehn Jahre, aber reizend schön. Braune Locken (die
Hella sagt Fuchsrot, aber das ist nicht wahr) bis zu den Schultern,
große braune Augen und einen süßen Mund und einen Teint wie
Milch und Blut. Sie ist die Tochter eines Bankdirektors in Ham-
burg; er hat sich erschossen, warum, das wissen wir nicht. Sie
ist natürlich in Trauer und das steht ihr großartig. Sie spricht
ganz Norddeutsch. Die Frau Dr. Fuchs ist ganz vernarrt in sie
und die Frau Direktorin ist auch riesig lieb zu ihr.
19. Februar: Heute sind wir mit der Anneliese nach Hause ge-
gangen, die Hella und ich. Sie heißt Anneliese von Zerkwitz.
Ihre Mama kränkt sich so über den Tod ihres Papas, daß sie
wahrscheinlich in ein Sanatorium kommen muß; deshalb sind sie
nach Wien zu ihrem Onkel gekommen. Der ist ein Professor
und sie wohnen auf der Wiedner Hauptstraße. Die Dora findet
sie auch reizend, die ganze Schule ist verlieht in sie. Sie wird
auch mit uns in die Turnschule gehen; ich freue mich riesig.
Sie wird zwar nicht neben mir und der Hella stehen, weil sie so
klein ist; aber wir können sie doch immer anschauen, ihr alles
zeigen und ihr bei den Geräten helfen. Die Hella ist ein bißchen
eifersüchtig und sagte : „Die Anneliese hat mich, wie mir scheint,
ganz ausgestochen bei dir." Ich sagte ihr, das sei bestimmt nicht
wahr, aber ob die Anneliese nicht zum Verlieben sei? „Ja," sagte
die Hella, „aber seine alten Freunde darf man deswegen nicht
vernachläßigen." „Das tue ich auch gar nicht; aber die Anneliese
braucht doch jemanden, der ihr alles sagt und zeigt." Und die
Frau Direktorin und die Frau Dr. M. haben sie gerade vor mich
gesetzt und zu uns gesagt: „Nehmt Euch ihrer ein wenig an."
25. Februar: Bei Brückner war es himmlisch! Die Anneliese
kam erst um vier Uhr, weil sie erst um drei Uhr mittagessen. Sie
hatte ein weißes gesticktes Kleidchen mit schwarzen Seidenmaschen
. 151
an
Die Mama der Hella küßte sie auf die Wangen und hatte
Tränen in den Augen. Ihre Mama ist nämlich tatsächlich im
Sanatorium, weil sie nervenkrank ist. Jetzt ist die Anneliese bei
ihrem Onkel und ihrer Tante. Aber sie weint oft um ihren Papa
und um ihre Mama. Bei den Gesellschaftsspielen war sie aber
ganz lustig, sie gewann gerade die schönsten Sachen, eine Taschen-
toilette, eine gefüllte Bonboniere, einen Jux-Elephanten, einen
Neger mit einer Vase und noch anderes. Ich gewann einen Steh-
tintenwischer, eine Doppelvase, einen Goldkrayon, sehr viele
Bonbons und ein Notizbuch. Die Hella gewann auch eine Menge
und ihre zwei Cousinen und die Jenny ebenfalls. Dann wurde
musiziert und die Anneliese sang die Wacht am Rhein und viele
Volkslieder; sie hat eine so süße Stimme, wie sie selber ist. Sie
wurde schon um sieben Uhr abgeholt, ich ging um acht Uhr fort.
*
i6. Mai: Am 24. April, gerade am Sonntag nach Ostern ist die
Mama gestorben. Es ist schrecklich traurig bei uns. Bei Tisch
redet fast keines ein Wort, nur der Papa redet so lieb zu uns.
Die Tante Dora bleibt vielleicht für immer bei uns. Es ist nicht
einmal noch drei Wochen, seit die Mama begraben wurde, aber
uns ist es, als ob sie schon drei Jahre tot wäre, einerseits; und
andererseits will man immer schnell in ihr Zimmer gehen, um
sie um etwas zu fragen oder ihr etwas zu erzählen. Und abends,
wenn wir uns niederlegen, da reden wir immer so lang von ihr
und dann träume ich die ganze Nacht von ihr. Wozu die Menschen
sterben müssen? Oder wenigstens nur die ganz alten Leute, die
schon gar niemanden mehr haben. Aber eine Mama und ein Papa
sollte nie sterben. In der Nacht, nachdem die Mama gestorben
war, wollte die Hella, daß ich zu ihnen käme, aber ich blieb
doch lieber zu Hause; aber spät am Abend traute ich mich nicht
ins Vorzimmer, da ging die Dora mit mir. Der Papa hat die
Tür vom Salon, wo die Mama aufgebahrt war, abgesperrt, aber
trotzdem war es so unheimlich. Sie haben mich am 24. erst auf-
geweckt, als die Mama schon tot war; ich hätte sie so gern noch
vorher gesehen. O Gott, daß man sterben muß! Wenn ich nur
wenigstens nach ihr Berta hieße; aber das wollte sie nicht, daß
eine von uns nach ihr heiße und der Papa wollte es auch nicht
beim Oswald.
19. Mai: Etwas hat mich beim Begräbnis der Mama furchtbar
geärgert von der Dora, eigentlich nicht geärgert, sondern ge-
kränkt, nämlich daß sie mit dem Papa in und aus der Kirche
15 2
gegangen ist. Sonst gehe doch immer ich mit dem Papa und die
Dora ist immer mit der Mama gegangen. Und wie die arme
Mama im Sanatorium war, ist die Dora mit der Tante gegangen.
Aber beim Begräbnis ist der Papa mit ihr gegangen und ich mußte
mit der Tante Dora gehen. Nach ein paar Tagen habe ich es ihr
gesagt und da sagte sie, das sei ganz natürlich, weil sie die ältere
ist. Der Oswald hätte sollen mit mir gehen, das hätte sich gehört.
Aber der ging allein. Und das ärgert mich auch; wie die Tante
Dora im Herbst zu uns gekommen ist, haben wir, ich und die
Dora, uns beim Essen und beim Nachtmahl an eine Seite zu-
sammengesetzt und die Tante saß, vis-ä-vis der Mama und wenn
die Mama liegen mußte, blieb ihre Seite für die Teller frei.
Nach ihrem Tod saß der Oswald an der vierten Seite und jetzt
seit vielleicht 8 Tagen hat sich die Dora an den Platz der Mama
gesetzt. Ich begreife nicht, daß der Papa das erlaubt!
19. Mai: Heute zu Mittag hat niemand etwas gegessen. Wir
hatten nämlich Kalbsbrust und die haben wir auch am Begräbnis-
tage der armen Mama gehabt und wie der Braten auf den Tisch
kommt, schaue ich zufällig die Dora an und sehe, wie sie ganz
rot ist und furchtbar schluckt. Da konnte ich mich nicht mehr
zurückhalten und sagte: „Ich kann keine Kalbsbrust essen, denn
am Begräbnistag ", da konnte ich gar nicht weiterreden
und der Papa stand gleich auf und kam zu mir und die Dora
und die Tante Dora weinten auch furchtbar. Und nach dem Essen
versprach uns die Tante, daß wir nie wieder im Leben Kalbsbrust
haben werden. Die Tante hat dann zur Jause einen Ulmerkuchen
holen lassen, weil wir zu Mittag fast nichts gegessen hatten.
*
12. Juni: Gott, das ist gräßlich; jetzt wollte ich nie mehr an
solche Dinge denken und jetzt kommt eine solche Affäre! jetzt
sitz ich unschuldig drin in der Patsche. Heute gleich nach 9
kommt eine aus der II. in di£ Mathematikstunde und sagt: „Die
Frau Direktorin läßt bitten, die Lainer, die Brückner und die
Pranke sollen sofort in die Kanzlei kommen." Alle Mädchen
schauen uns an, aber wir wissen nicht, warum. Wie wir in die
Kanzlei kommen, ist die Tür von der Frau Dir. zu und das
Fräulein N. sagt, wir sollen warten. Dann kommt die Frau Dir.
hinaus und ruft mich hinein. Drin sitzt eine Dame, die schaut
mich mit dem Lorgnon an. „Gehst du öfters mit der Zerkwitz?"
fragt die Frau Direktorin. Ja, sag ich, und es ahnt mir gleich
nichts Gutes. „Diese Dame ist die Mama der Zerkwitz, sie be-
153
schwert sich darüber, daß du mit ihrer Tochter sehr unpassende
Sachen redest; ist dies so?" „Wir, die Hella und ich, haben ihr
nie etwas sagen wollen; aber sie hat uns sehr gebeten und dann
glaubten wir auch, sie wisse es ohnehin schon und stellt sich nur
so." „Was soll sie wissen und was habt ihr gesprochen?" fährt
die Mama von der Anneliese los. „Bitte", sagt die Direktorin,
„ich werde die Mädchen verhören; also die Brückner war auch
dabei?" „Nur ganz selten", sage ich. „Ja, die Hauptschuldige
ist die Lainer, deren Mama erst vor kurzem gestorben
ist." Da habe ich die Tränen verbissen und gesagt: „Wenn die
Anneliese nicht immer wieder angefangen hätte, hätten wir kein
Wort von diesen Sachen geredet." Und dann habe ich überhaupt
keine Antwort mehr gegeben. Jetzt mußte die Hella hereinkommen.
Sie hat mir dann gesagt, wie sie mich angeschaut hat, hat sie
gleich gewußt, wieviel es geschlagen hat. „Was habt ihr mit der
Zerkwitz geredet?" Zuerst wollte die Hella nichts sagen, aber
dann sagte sie ganz kurz: „Vom Kinderkriegen und von dem Ver-
heiratetsein!" „Gott im Himmel, solche Küken und sprechen von
solchen Dingen", sagte die Mama von der Anneliese. „Solche
verdorbene Geschöpfe." „Wir haben nicht geglaubt, daß die Anne-
liese wirklich nichts weiß, sonst hätten wir nichts mit ihr ge-
redet", sagte auch Hella; sie war großartig. „Was den Alfred
betrifft, so sind wir ganz unbeteiligt und wir haben ihr oft ab-
geraten, sich von der Schule abholen zu lassen; aber sie hörte
nicht auf unsern guten Rat." „Ich spreche jetzt von euren Ge-
sprächen, durch die ihr das arme unschuldige Kind verdorben
habt", sagte die Frau v. Zerkwitz. „Sie muß unbedingt schon
etwas gewußt haben, sonst wäre sie nicht mit dem Alfred ge-
gangen und auch nicht mit uns", sagte die Hella. „Ach, du himm-
lischer Vater, das ist ja die weit Ärgere; eine solche Verdorben-
heit!" Dann mußten wir hinausgehen. Draußen hat die Hella furcht-
bar geweint und ich auch, weil wij» uns fürchten wegen zuhause.
Wir konnten gar nicht in die Mathematikstunde gehen, weil wir
ganz verweint waren. In der Pause ging die Hella an der Anne-
liese vorbei und sagte ganz laut: „Verräterin" und spuckte vor
ihr aus. Deswegen mußte sie aus der Reihe treten. Ich trat auch
aus der Reihe und wie die Prau Professor Kreindl sagte: „Du
Lainer nicht, gehe nur weiter", sagte ich: „Bitte, ich habe auch aus-
gespuckt" und stellte mich neben die Hella. Alle Mädchen schauten
uns an. Die Prau Prof. Kreindl weiß offenbar schon alles, denn
sie sagte nichts weiter. In der Deutschstunde von 11 — 12 sagte
154
die Frau Dr. M.: „Kinder, könnt ihr denn keinen Frieden halten?
Diese ewigen Anstände sind entsetzlich und dabei kommt nichts
heraus als Aufregungen für euch und eure Eltern und uns."
Knapp vor 12 Uhr wurde ich nochmals mit der Hella zur Frau
Direktorin gerufen. „Mädchen", sagte sie, „was habt ihr für ab-
scheuliche Sachen? Was müßt ihr denn das, was eure Phantasie
vorzeitig vergiftet, andern auch noch sagen? Und du Lainer,
schämst du dich nicht, vor wenigen Wochen wurde deine Mama
begraben, und jetzt hört man solche Dinge von dir?" „Bitte",
sagt die Hella; „dies war alles schon im Frühling und noch im
Winter; denn da sind wir noch aufs Eis gegangen. Da war die
Mama der Rita noch ziemlich gesund. Und die Zerkwitz hat uns
schrecklich sekkiert, ihr alles zu sagen. Ich habe die Rita oft ge-
warnt und gesagt: ,Trau ihr nicht', aber sie war ganz vernarrt
in die Zerkwitz. Bitte Frau Direktorin, sagen Sie nichts davon
dem Papa der Rita; denn er würde sich sehr kränken."
Die Hella war einfach großartig, ich werde ihr das nie ver-
gessen. Sie will mich das nicht schreiben lassen; wir schreiben
nämlich zusammen. Die Hella meint, wir müssen alles wörtlich
niederschreiben, man kann nie wissen, wozu man es braucht. Die
Hella ist eine Freundin, wie es keine zweite gibt, und dabei so
mutig und gescheit. „Du bist geradeso gescheit", sagt sie zu mir,
„aber nur bist du gleich so eingeschüchtert und dann bist noch
von deiner Mama Ihrem Tod sehr nervös. Wenn nur dein Papa
nichts erfährt." Die dumme Gans hat auch die alte Sauce von
den zwei Studenten am Eis aufgewärmt, die längst vorüber ist.
„Nur niemanden sich anvertrauen", sagt die Hella und da hat sie
wirklich recht. Ich hätte das der Anneliese niemals zugetraut.
Was mit der Franke war, wissen wir noch nicht. Wie sie herauf-
kam, legte sie Finger an die Lippen, daß sollte natürlich heißen:
„Nichts verraten!"
15. Juni: . . . Herausgekommen ist es ja nur, weil die Mama der
Hella zu ihrer verheirateten Nichte, zu der Emmy fuhr, die ihr
erstes Kind bekam. Und da sagten wir eben dem „reinen
Kind" (so nennen wir jetzt die Falsche) alles. Die Hella ist noch
immer der Meinung, daß sich das „reine Kind" verstellt hat. Das
ist schon möglich, denn schließlich ist sie auch schon bald vier-
zehn Jahre; und mit 14 weiß man bestimmt schon sehr vieles;
das gibt es nicht, daß man da noch an den Storch glaubt, wie
die Anneliese es angeblich!!! getan hat. Die Hella meint, ich
werde jetzt auch bald „entwickelt" sein, weil ich immer so blaue
155
Ringe unter den Augen habe. Daß die Frau v. Zerkwitz gesagt
hat, „solche Fratzen", habe ich ganz überhört; aber die Hella
sagt, die Frau Direktorin habe es durch ein Räuspern zurück-
gewiesen. Über den Ausdruck „solche Küken" hat sich die Hella
gewunden vor Lachen, weil ihre Mama bei solchen Sachen
auch immer sagt: „Ihr Küken, das geht euch noch nichts an",
Gott, wann soll man denn alles erfahren, als wenn man bald 14
ist! Wir beide, die Hella und ich, haben eigentlich diese Sachen
sehr früh erfahren und geschadet hat es uns gar nicht. Die
Mama der Hella sagt immer, wenn man solche Sachen schon zu
früh weiß, bekommt man ein altes Gesicht; aber das ist natürlich
nicht wahr. Aber warum die Mütter nicht wollen, daß wir es
wissen? Sie müssen sich rein genieren.
Aus dem fünfzehnten Lebensjahr
4. November: Heute haben wir, nämlich etliche in der Klasse,
uns wütend geärgert in der Deutschstunde. Weil ein paar Mädchen
nicht wissen, wo ein Beistrich gesetzt wird und wo nicht, hat
der Professor nicht direkt, aber indirekt gesagt, wir haben in den
verflossenen Jahren nichts gelernt. Wir haben sehr gut verstanden,
daß das auf die Frau Dr. M. gegangen ist, bei der die Deutsch-
stunden 10, nein loomal schöner waren als beim Professor F. Und
gerade auf die Interpunktion hat die Frau Dr. M. riesig gehalten
und uns viele Beispiele gesagt. Aber ob man einen Beistrich setzt
oder nicht, davon hängt doch nicht der gute Stil ab! Und die
zwei Ehrenfeld, die zuletzt auch sehr für die Frau Dr. M.
schwärmten, sagten, wir, die Lieblinge der Frau Dr. M., sollten
einmal bei einem bestimmten Aufsatz nicht einen einzigen Bei-
strich machen, ihm zum Justament. Das ist eine ausgezeichnete
Idee, und wir, ich und die Hella, sind gleich dabei, wenn man
sich nur auf die andern verlassen kann.
3. Dezember: Gott, fast einen Monat habe ich nichts ge-
schrieben, aber dafür heute! Der Skandal in der Deutschstunde!!
Wir haben nämlich die Aufsätze zurückbekommen, in denen die
Hella und ich, die 2 Ehrenfeld, die Brauner, die Bergler Edith,
und die Kühnelt absolut keinen Beistrich gemacht haben. Und es
wäre auch nichts herausgekommen, wenn nicht die dumme Person
die Brauner, nachträglich alle Beistriche, die sie schon gemacht
hatte, wegradiert hätte. Wir hatten verabredet, falls der Prof.
etwas merkt, zu sagen, wir wollten vor dem Unterricht gemein-
156
sam besprechen, wo Beistriche zu setzen seien, und es sei aber
zu spät gewesen. Jetzt hat diese alberne Person alles verpatzt. Er
wird den Fall vor die Konferenz bringen! Aber schließlich können
nicht 6 Schülerinnen von 25 eine mindere Sittennote bekommen;
das darf überhaupt nicht einmal sein.
4. Dezember: Heute war die Frau Direktorin in der Deutsch-
stunde inspizieren. Nachher sagte sie, sie erwarte, daß wir die
schönen Kenntnisse, die uns die Frau Dr. M. drei Jahre lang ver-
mittelte, zum festen Unterbau unserer weiteren Ausbildung im
Oberlyzeum machen. Und in der Englischstunde sprach sie über
den beschränkteren Gebrauch der Satzzeichen im Englischen; und
schließlich wurden wir 6 Sünderinnen in die Kanzlei ge-
rufen. Die ganze Schule weiß schon davon und bewundert
unseren Mut, besonders die Unterklassen; die V. und VI. ärgern
sich, daß wir aus der IV. uns das trauten. Die Frau Direktorin
schimpfte uns fürchterlich zusammen, sie sagte, das ist eine un-
erhörte Frechheit und zugleich machen wir damit der Frau
Dr. M. eine schöne Schande. Da meldet sich die Hella und sagt
ganz bescheiden: „Ich bitte, Frau Direktorin, darf ich ein Wort
zu unserer Verteidigung sagen?" Und dann sagte sie, daß der Herr
Prof. Fritsch bei jeder Gelegenheit über die Frau Dr. M. eine
Bemerkung macht, natürlich nur indirekt, aber so, daß wir es
doch verstehen, und daß wir deshalb das getan haben. Da ant-
wortete die Frau Direktorin, das ist wohl nicht richtig, niemals
werde eine Lehrkraft gegen eine andere sprechen, da hätten wir
den Herrn Prof. einfach mißverstanden! Na also, das kennt man
schon; auch das Nüßchen hat wie oft in der Mathematik gesagt:
„Das wißt Ihr nicht! Das müßt Ihr doch gelernt haben." Aber
die Betonung ! ! ! ! ! Morgen ist Konferenz und wir sollen trachten,
noch vor der Konferenz alles gutzumachen. Die 2 Ehrenfeld
wollten, daß wir die Arbeiten nochmals schreiben, mit den Bei-
strichen natürlich, und morgen in der Deutschstunde auf den Tisch
legen, aber alle anderen stimmten dagegen; denn wir sahen sehr
gut, daß die Frau Direktorin ganz rot wurde, als die Hella das
alles sagte. Die Korrekturen werden wir machen, aber wir fangen
alle ein neues Heft an.
2. Jänner: Also der Mistbauer hat nicht gelogen. Heute schon
haben wir das Glück erlebt! In der großen Pause entsteht auf
einmal im Vorraum ein ganzer Knäuel von Mädchen und plötz-
lich glaube ich, mir zerspringt das Herz. Die Frau Dr. M. d. h.
die Frau Professor Theyer steht mitten unter den Mädchen und
*57
sieht uns gleich und gibt uns beiden die Hand, die wir sofort
küssen. Sie ist zum Besuch ihrer Eltern da mit ihrem Mann,
dem Herrn Professor; da sie nicht bestimmt wußte, ob sie dazu
komme, in die Schule zu kommen, so schrieb sie weder mir noch
der Hella etwas davon. Gott, sie ist so schön und so entzückend
lieb. Wie schon die Pause abgeläutet ist und die Frau Dr. Dunker
hereinkommt, sehe ich sie noch draußen stehen. Da halte ich mir
schnell mein Taschentuch vor, als ob ich Nasenbluten hätte, und
stürze hinaus zu ihr. Und weil ich ausrutschte und beinahe hin-
fiel, hielt sie mich mit beiden Armen auf. Kaum bin ich bei ihr,
kommt die Hella und sagt: „Ah, ich habe doch sofort verstanden;
ich habe gesagt, dir ist furchtbar schlecht, ich muß nach dir
sehen." Da lachte die Frau Professor sehr und sagte: „Ihr seid
ja ganz infame Komödiantinnen; ich werde Euch gleich hinein-
jagen." Aber natürlich tat sie es nicht, sondern war furchtbar
reizend und endlich sagte sie: Wir müssen jetzt in die Klasse
gehen. Da baten wir sie riesig, sie solle uns heraußen lassen bei
ihr, aber sie sagt: „Nein, dabei kann ich als Eure einstige Lehr-
kraft Euch nicht unterstützen. Aber ich sag Euch etwas besseres.
Besucht mich morgen auf ein Stündchen, wollt Ihr?" „Natürlich",
riefen wir beide. Und sie sagte, sie wohne eigentlich im Hotel,
aber damit wir nicht allein ins Hotel kommen müßten, so wird
sie bei ihren Eltern in der Schwindgasse sein und dorthin sollen
wir bis um vier oder halb fünf Uhr kommen. Da küßten wir ihr
beide Hände und waren so glücklich! Also morgen um vier Uhr!
Gott, noch eine ganze Nacht und fast einen ganzen Tag müssen
wir warten. „Wenn Eure Eltern es erlauben", sagte sie; mein
Gott, wenn der Papa oder sogar die Großmama der Hella das
nicht erlauben wollten! Der Papa sagte nur: „Ich bitt' dich, Gretel,
verlier nur nicht noch vorher deinen Verstand, sonst findest du
nicht einmal in die Schwindgasse. Ist die Hella auch so verrückt?"
Natürlich, wie kann man da anders sein
3. Jänner: Noch zwei Stunden, es ist gräßlich, um halb vier
Uhr holt mich die Hella ab. In der Schule schauten wir uns heute
fortwährend an und die anderen Mädchen glaubten, es sei etwas
mit einem Herrn. Gott, wo denken wir jetzt an einen Herrn!
Wir hatten eine wunderbare Idee, wir machen Ihr noch schnell
ein Andenken, da sie erst am fünften am Abend wegfährt. Ich
habe mir auf maisgelber Seide ein Buchzeichen Vordrucken lassen,
Edelweiß und ihr Monogramm E. T. natürlich, das neue. Und die
Hella malt in Intarsienimitation ein Papiermesser. Mir wäre so
15 8
etwas auch lieber gewesen, aber ich habe keine Geduld dabei
und da verpatze ich es sehr oft zum Schluß. Bei einer Stickerei
kann man nichts verpatzen. Aber leider bekomme ich es vom
Vordrucken erst um halb vier Uhr; also muß ich die ganze Nacht
und morgen den ganzen Tag arbeiten.
Abends : Gott sei Dank und leider Gott, wie mans nimmt, hat
die dumme Person von Vordruckerin vergessen auf das Lesezeichen
und ich bekomme es erst morgen in der Frühe. Also kann ich
jetzt schreiben: Es war himmlisch! Wir mußten mindestens eine
halbe Stunde spazieren gehen vor Ihrem Haus, bis es endlich fünf
Minuten nach vier war. Gott, Sie war süß! Sie wollte uns Sie
sagen, aber das duldeten wir absolut nicht, und so sagte sie
wieder Du. Ich weiß gar nicht, was wir alles geredet haben, nur
daß ich plötzlich schrecklich weinte; und da zog sie mich an ihre
B , nein, so etwas schreibe ich nicht von ihr; sie zog mich
an sich und da spürte ich Ihr Herz schlagen! und wurde fast
verrückt. Die Hella behauptet, ich habe sie mit beiden Armen
um den Hals genommen, aber das ist eine Einbildung von der
Hella, das hätte ich mich nie getraut. Sie hat so entzückende
Hände und der Ehering glänzte so an ihrem göttlichen Ring-
finger. Wir redeten natürlich von der Schule und da fragte sie
plötzlich: Was war denn das eigentlich mit diesen Aufsätzen, in
denen die halbe Klasse absichtlich keine Satzzeichen setzte? „Gott,"
sagen wir beide, „das ist eine gemeine Lüge, die halbe Klasse
hat das nicht getan, sondern bloß 6, die Sie, Frau Doktor,
immer besonders verehrten." Und dann erzählten wir ihr, wie alles
war. Da lachte sie ein kleines Bißchen und sagte: „Na, Kinder,
einen besonderen Liebesdienst habt Ihr mir damit nicht er-
wiesen. Das ganze war wirklich eine große Frechheit." Und da
sag ich: „Und die Bemerkungen des Herrn Prof. Fritsch sind noch
zehnmal frecher gewesen, denn sie bezogen sich auf eine Lehr-
kraft und noch dazu auf Sie." Da sagte sie: „Liebe Kinder, das
ist schon einmal so im Leben, daß den Abwesenden immer eine
üble Nachrede gehalten wird, berechtigt und unberechtigt; das
ist leider in jedem Beruf so." Und die Hella sagte dann noch,
daß die Frau Direktorin nicht so ist, denn sonst wäre ein Riesen-
skandal entstanden, da die Affäre in sämtlichen Lyzeen Wiens be-
kannt ist. Da sagte die Frau Dr. M. : „Ja, die Frau Direktorin ist
ein wirklich vornehmer Charakter." Also jetzt kommt noch etwas
Großartiges, eigentlich zwei großartige Dinge: erstens wartete
sie uns mit herrlichen Bonbons auf, wie ich sie noch nie gegessen
!59
habe. Das bestätigte auch die Hella und wir beide kennen uns
in Zuckerln wirklich gut aus. Und das zweite, noch herrlichere,
war folgendes: Nachdem wir schon einige Zeit dort waren, klopft
es und herein kommt Ihr Mann, der Herr Prof., und sagt: „Grüß
Gott, mein Schatz" und zu uns „Guten Tag, meine jungen Dame n."
Und dann stellt sie uns vor und sagt: „Zwei meiner liebsten
Schülerinnen und meine treuesten Anhängerinnen." Da lacht der
Herr Prof. sehr und sagt: „Das kann man nicht von allen Schülern
behaupten." Da sag ich schnell: „Oh bei der Frau Dr. schon, für
die ginge die ganze Klasse heute noch durchs Feuer." Dann ging
er wieder hinaus und sie sagte: Pardon, einen Augenblick und
man hörte deutlich, daß er sie im Nebenzimmer küßte, denn
sie sagte noch im Hereinkommen: „Aber geh, leb wohl, Karl."
Leider heißt er nur Karl, das ist ein so prosaischer Name und
er nennt sie Lise und wenn sie allein sind, wahrscheinlich Lies-
chen, da er ein Norddeutscher ist. Ich muß ins Bett gehen, es
ist gleich halb zwölf. Morgen Fortsetzung. Schlafe wohl, mein
süßer herrlicher wonniger goldener einziger Schatz! Gott, ich
bin so glücklich!
**'
«**"£■ _ N-
„Seele, wohin?"
Skizze eines jungen Analysanden; aus Pf ist er, Zum Kampf um die Psycho-
analyse (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. 8).
160
Begattung und Befruchtung
von
Dr. S. Ferenczi
Daß Freud, Erfahrungen psychischer Natur verwertend, ein
ganzes Stück Biologie, die Lehre von der Sexualentwicklung
zu rekonstruieren imstande war, gab Ferenczi den Anstoß, die
Freudschen Erklärungen über die Begattungsfunktion fortzu-
spinnen. Er gelangt dabei auch auf eigentliches Gebiet der Bio-
logie und zu faszinierenden Hypothesen. Die Ergebnisse der
Ferenczischen Bioanalyse sind in seinem „Versuch einer Genital-
theorie" niedergelegt. Dem abschließenden Teil ist das Folgende
entnommen.
Wenn nach unserer Hypothese der Begattungsakt nichts anderes
ist als Befreiung des Individuums von lästiger Spannung unter
gleichzeitiger Befriedigung des Triebes nach Regression in den
Mutterleib und in das Meer, das Vorbild aller Mütterlichkeit, so
ist zunächst nicht einzusehen, warum und auf welche Art diese
Befriedigungstendenz, die anscheinend von der Tendenz zur Art-
erhaltung und Befruchtung ganz unabhängig ist, mit letzteren zu
einer Einheit verschmilzt und in der Genitalität der höheren Tiere
gleichzeitig zur Äußerung gelangt. Das Einzige, was wir bisher
als Erklärung dieses Tatbestandes anführen konnten, war die Identi-
fizierung des ganzen Individuums mit dem Genitalsekret. Demnach
wäre der sorgfältige Schutz, den die Individuen ihrem Genital-
sekret angedeihen lassen, nicht merkwürdiger als ähnliche Schutz-
maßnahmen, die so viele Tiere auch auf ihre sonstigen Exkrete
verwenden. Diese Exkrete bilden nach der Empfindung der Indi-
viduen Bestandteile ihres eigenen Selbst und ihre Ausstoßung geht
mit einem Gefühle des Verlustes einher, wobei das Bedauern über
den Verlust fester Stoffe (Kot) stärker zu sein scheint, als das nach
der Ausscheidung von Exkreten dünnerer Konsistenz.
Diese Erklärung erscheint einem aber von vornherein recht
ärmlich und unbefriedigend, besonders wenn man bedenkt, daß
mit dem Genitalakte nicht nur die Unterbringung der Genital-
sekrete an einem gesicherten Ort, sondern auch der Befruchtungs-
prozeß, die Vereinigung der geschlechtsdifferenten Keimzellen zu
einer Einheit und der Beginn der Embryonalentwicklung zeitlich
und räumlich vereinigt ist. Wir müssen zugeben, daß uns der
Befruchtungsakt Rätsel ganz anderer Art aufgibt, als die, um deren
Lösung wir uns beim Begattungsakte bemühten. Ist doch die Be-
161
fruchtung ein viel archaischerer Vorgang als die temporäre Ver-
einigung des Männchens und Weibchens im Geschlechtsakt. Wir
sahen ja, daß die Entwicklung der Genitalität und ihrer Exekutiv-
organe erst bei den Amphibien beginnt, die Fortpflanzung durch
Befruchtung aber schon bei den niedersten einzelligen Wesen, bei den
Amöben. Dies mahnt uns daran, den bisher verfolgten Gedanken ein-
mal umzukehren und zu untersuchen, ob nicht doch die Zoologen
im Rechte sind, die behaupten, daß der ganze Begattungsakt ein
gleichsam nur von den Geschlechtszellen induzierter Zwang ist,
der die Individuen dazu drängt, die Keimzellen in möglichst ge-
sicherter Lage aneinander zu bringen. Die vielfachen Vorsichts-
maßregeln, die im Tierreiche auch vor der Entwicklung der Be-
gattungsfunktion zu diesem Zwecke getroffen werden, sprechen
entschieden für diese Annahme und es fragt sich, ob diese nicht
danach angetan ist, unsere ganze Hypothese von der Mutterleibs-
und Meeresregression über den Haufen zu werfen.
Die einzige Rettung aus dieser Schwierigkeit zeigt uns die
konsequente Portführung des Gedankens vom coenogenetischen
Parallelismus. Wenn die Lebensumstände der Lebewesen im Laufe
der Ontogenese wirklich die Reproduktion uralter Existenzformen
sind, wie wir dies für die Existenz des Embryos im Fruchtwasser
der Mutter annahmen, so muß auch dem Befruchtungs-
vorgang, ja auch der Keimzellenentwicklung (der Sper-
mato- und Oogenese) etwas in der Phylogenese ent-
sprechen. Dieses Etwas könnte nichts anderes sein, als die ein-
zellige Existenz in der Urzeit und ihre Störung durch eine urzeit-
liche Katastrophe, die diese einzelligen Wesen zur Verschmelzung
zu einer Einheit zwang. Dies ist auch die Hypothese, die uns
Freud in seiner Arbeit „Jenseits des Lustprinzips" in Anlehnung
an die poetische Phantasie in Piatos Symposion gegeben hat.
Eine große Katastrophe, heißt es bei ihm, zerriß die Materie in
zwei Hälften und hinterließ in ihr die Bestrebung nach Wieder-
vereinigung, womit erst das organische Leben begonnen hätte.
Es wäre nur eine nicht sehr wesentliche Modifikation, wenn wir
auch an die Möglichkeit dächten, . daß auch in der Zeitfolge der
Keimzellenentwicklung und der Befruchtung ein urgeschichtliches
Nacheinander sich wiederholt, daß also die Lebewesen sich zu-
nächst isoliert aus der unorganischen Materie entwickelt hätten
und erst durch eine neue Katastrophe zur Vereinigung gezwungen
worden seien. Es gibt auch unter den Einzelligen Übergangs-
wesen, die, wie die Amphibien zwischen den Wasser- und Land-
162
bewohnern, eine Stelle zwischen den konjugierenden und nicht-
konjugierenden Lebewesen einnehmen. So lesen wir in der Natur-
geschichte, daß bei gewissen dieser primitiven Wesen unter un-
günstigen Lebensbedingungen, z.B. bei Eintrocknungsgefahr,
eine Konjugationsepidemie auftritt und die Tierchen anfangen,
sich geschlechtlich zu vereinigen. Nun sagt uns aber schon der
phantasievolle Bölsche, daß eine solche Vereinigung eigentlich
nichts anderes ist, als eine verfeinerte Form des gegenseitigen
Auffressens. Am Ende kam also die erste Zellenkonjugation ganz
ähnlich zustande, wie wir uns die erste Begattung vorstellten. Bei
den ersten Begattungsversuchen der Fische nach der Eintrocknung
handelte es sich um einen Versuch, die verlorene feuchte Nahrungs-
stätte des Meeres in einem tierischen Leibe wiederzufinden. Eine
ähnliche, aber noch archaischere Katastrophe mochte aber auch
die einzelligen Lebewesen gezwungen haben, sich gegenseitig auf-
zufressen, wobei es keinem der Kämpfenden gelang, den Gegner zu
vernichten. So mag dann eine kompromissuelle Vereinigung,
eine Art Symbiose zustandegekommen sein, die nach einer
gewissen Dauer des Zusammenlebens immer wieder zur Urform
regredierte, indem aus der befruchteten Zelle wieder „Urzellen"
(die ersten Keimzellen) ausgeschieden wurden. Damit wäre das ewige
Wechselspiel der Keimzellenvereinigung (Befruchtung) und Keim-
zellenausscheidung (Spermato- und Oogenese) in Gang gesetzt. —
Der einzige Unterschied zwischen dieser und der von Freud bevor-
zugten Möglichkeit ist der, daß unsere die Entstehung des Lebens
aus dem Unorganischen und die Entstehung des Befruchtungs-
prozesses zeitlich auseinander hält, während sie nach Freud gleich-
zeitig infolge derselben Urkatastrophe entstanden sein konnten.
Ist aber so auch der Befruchtungsprozeß nichts anderes, als
die Wiederholung einer ähnlichen Urkatastrophe, wie jene, die
wir für die Entstehung der Begattungsfunktion im Tierreiche ver-
antwortlich machten, so brauchen wir vielleicht unsere Genital-
theorie doch nicht aufzugeben und können es versuchen, sie mit
den unleugbaren Tatsachen der „prägenitalen" Biologie in Ein-
klang zu bringen. Es genügt dazu, anzunehmen, daß im Begattungs-
akte und im gleichzeitigen Befruchtungsakte nicht nur die indi-
viduelle (Geburts-), und die letzte Artkatastrophe (Ein-
trocknung), sondern auch alle früheren Katastrophen seit
Entstehung des Lebens zu einer Einheit verschmolzen sind,
so daß im Gefühl des Orgasmus nicht nur die Ruhe im Mutter-
leibe, die ruhige Existenz in einem freundlicheren Milieu,
11* 163
sondern auch die Ruhe vor der Entstehung des Lehens,
d. h. auch die Todesruhe der anorganischen Existenz
dargestellt ist. Die Erledigungsart der früheren Katastrophe, die
Befruchtung, kann ja als Vorbild gedient und dazu beigetragen haben,
daß sich die zunächst unabhängigen Triebe der Befruchtung und
der Begattung in Eins verschmolzen haben. Dieses vorbildliche
Einwirken der Befruchtung auf die Reaktionsweise des
Individuums auf aktuelle Störungen schließt aber die Annahme
nicht aus, daß vom Standpunkte des Individuums die Spannungsreste
sowohl der aktuellen, als auch der ontogenen und der phylogenen
Katastrophen nur lästige Unlustprodukte sind, und als solche nach
den Gesetzen der Autotomie zur Ausscheidung gelangen. 1
Das Mystische an dem Zusammentreffen der Begattungs- und
Zeugungsfunktion in einem Akte schwindet also, wenn wir das Ent-
stehen der Begattungsfunktion bei den Amphibien als Regression
auf dieselbe Erledigungsart (Vereinigung mit einem
anderen Lebewesen) auffassen, die sich bei einer früheren
Katastrophe als nützlich erwiesen hatte. Bei der überall
im Psychischen, aber offenbar auch im Organischen herrschenden
Unifizierungstendenz, der Vereinigung gleichsinniger Prozesse
zu einem Akt, ist es aber auch nicht zu verwundern, daß es (nach
einigen ungeschickten Versuchen bei den niederen Wirbeltieren)
endlich zur Vereinigung der Ausscheidung der aktuellen Störungs-
stoffe (Urin, Kot), der am Genitale angesammelten erotischen
Spannung, und auch des säkularen Unlustmaterials kommt,
das wir uns im Keimplasma aufgespeichert denken.
Allerdings wird dieser letztere Stoff viel sorgfältiger behandelt
als irgendein anderes Ausscheidungsprodukt. Es ist aber auch
möglich, daß ein großer Teil der Brutschutzeinrichtungen nicht
einfach Vorsorgen seitens des mütterlichen Organismus sind, sondern,
wenigstens zum Teile, vielleicht Produkte der eigenen Vitalität der
Keimzellen selbst, gleichwie gewisse in den Tierkörper gelangende
Parasiten die zunächst gewiß nur abwehrenden Reaktionen im
Körper des Wirtes (entzündliche Demarkation mit Flüssigkeits-
ausscheidung) dazu benützen können, sich eine geschützte Wohn-
stätte, gewöhnlich eine mit Flüssigkeit gefüllte Blase, zu bauen. —
l) Ohne auf die hier versuchte genetische Verknüpfung näher einzugehen,
gibt Freud in seiner letzten Arbeit: „Das Ich und das Es" (1923) demselben
Gedanken folgende Fassung: „Die Abstoßung der Sexualstoffe im Sexualakt
entspricht gewissermaßen der Trennung von Soma und Keimplasma, daher die
Ähnlichkeit des Zustandes nach der vollen Sexualbefriedigung mit dem Sterben,
bei niederen Tieren das Zusammenfallen des Todes mit dem Zeugungsakt."
164
Anderseits brauchen wir auch die andere Möglichkeit nicht zu
leugnen, die nämlich, daß das Individuum diese Stoffe wirklich
mit mehr Sorgfalt als andere behandelt, nur muß diese Sorgfalt
nicht unbedingt ausschließlich eine Sorgfalt aus Liebe sein. Wenn
unsere Vermutungen richtig sind, so sind im Keimplasma die
gefährlichsten Triebenergien in höchster Konzentration enthalten,
die, solange sie im Organismus selbst enthalten sind, gewiß mit
Hilfe eigener Einrichtungen vom übrigen Organismus, vom Soma
getrennt, gleichsam abgekapselt sind, damit sich ihre gefährlichen
Kräfte nicht gegen den eigenen Körper wenden können. Die
Sorgfalt also, mit der sie geschützt sind, ist vielmehr eine Sorg-
falt aus Angst. Und gleichwie es nicht verwunderlich ist, wenn
jemand einen gefährlichen Explosivstoff, den er vorsichtig in der
Tasche getragen hat, auch dann noch vorsichtig behandelt, wenn
er ihn irgend anderswo weglegt, ebenso könnte die Angst vor den
Störungen des Keimplasmas dazu beitragen, die Keimstoffe auch
nach ihrer Entfernung aus dem Körper sorgfältig zu schützen.
Natürlich braucht darum die bisher einzig berücksichtigte Er-
klärung des Brutschutzes mit der Liebe, d. h. mit der Identi-
fizierung, nicht fallen gelassen werden und wir haben sie auch
bereits entsprechend gewürdigt. Jede Trennung, welchen Stoffes
immer, vom Körperganzen, ist immer auch ein Schmerz und wie
wir das an dem Ejakulationsakte exemplifizierten, muß die Unlust-
spannung hohe Grade erreichen, bis der Organismus sich dazu
entschließt, sich eines Stoffes zu begeben.
Stellt man sich einmal die Art vor, wie sich Männchen und
Weibchen begatten und wie gleichzeitig (oder nach geringem
Zeitintervall, worauf es nicht ankommt) der Spermafaden das Ei
befruchtet, so bekommt man in der Tat den Eindruck, als ahmten
die Somata der Gatten die Tätigkeit der Keimzellen bis
auf kleine Einzelheiten nach. Das Spermatozoon dringt in
die Mikropyle des Eichens ein, wie der Penis in die Vagina;
man wäre versucht (wenigstens im Momente der Begattung) den
Körper des Männchens einfach ein Megasperma, den des Weib-
chens ein Megaloon zu nennen. 1 Anderseits lernt man auch die
doch so abfällig beurteilte Auffassung der „Animalculisten" ver-
stehen, die Sperma und Ovulum als eigene Lebewesen, kleine Tierchen
_ l) Das Platzen des Graafschen Follikels wäre dem Geburtsakte zu ver-
gleichen, sozusagen das keimplasmatische Vorbild des Geborenwerdens. Es ist
übrigens bekannt, daß zwischen Corpus luteum und Gebärmutter zeitlebens
innige (hormonale?) Beziehungen nachweisbar sind.
165
betrachteten. Auch wir glauben, daß sie es in einem gewissen Sinne
sind: sie sind Revenants der ersten Urzellen, die sich begatteten.
Es hat also den Anschein, daß das Soma, das zunächst nur die
Aufgabe hatte, das Keimplasma zu schützen, nachdem es diese erste
Aufgabe gelöst hat und damit den Forderungen des Realitäts-
prinzips entsprach,' es sich schließlich nicht nehmen ließ, die Ver-
einigung der Keimzellen mitzugenießen und Begattungsorgane ent-
wickelte. Wir werden ja im biologischen Appendix zu dieser Arbeit
darauf hinweisen müssen, daß auch sonst jede Entwicklung
diesen Weg geht: zunächst Anpassung an eine aktuelle
Aufgabe, später möglichste Wiederherstellung der not-
gedrungen verlassenen Ausgangssituation.
Man muß sich also vielleicht mit der Idee befreunden, daß
gleichwie die unerledigten Störungsmomente des individuellen
Lebens im Genitale gesammelt und dort abgeführt werden, sich
die mnemischen Spuren aller phylogenen Entwicklungskatastrophen
im Keimplasma ansammeln. Von dort aus wirken sie in demselben
Sinne wie nach Freud die unerledigten Störungsreize der traumati-
schen Neurosen: sie zwingen zur fortwährenden Wiederholung der
peinlichen Situation, allerdings vorsichtigerweise in qualitativ wie
quantitativ außerordentlich gemilderter Form und erreichen bei
jeder einzelnen Wiederholung die Lösung eines kleinen Teilchens
der großen Unlustspannung. Was wir Vererbung nennen, ist also
vielleicht nur das Hinausschieben des größten Teiles der
traumatischen Unlusterledigungen auf die Nach-
kommenschaft, das Keimplasma aber, als Erbmasse, ist die
Summe der von den Ahnen überlieferten und von den Individuen
weitergeschobenen traumatischen Eindrücke; das wäre also die
Bedeutung der von den Biologen angenommenen „Engramme".
Halten wir uns an die von Freud präzisierte Ansicht von der
Tendenz zur Reizlosigkeit und schließlich zur anorganischen Ruhe,
die alle Lebewesen beherrscht (Todestrieb), so können wir hinzu-
fügen, daß im Laufe der unausgesetzten Abgabe der traumatischen
Störungsreizstoffe von einer Generation an die andere der Störungs-
reiz selbst in jedem Individualleben, eben durch das Erleben selbst,
abreagiert wird, um, wenn keine neuen Störungen oder gar Kata-
strophen hinzukommen, allmählich ganz abgebaut zu werden, was mit
dem Aussterben der betreffenden Gattung gleichbedeutend wäre. 1
l) Diesen Gedankengang erzählte ich einmal (191g) dem ob seiner geschlechts-
umstimmenden Tierexperimente bekannten Prof. Steinach in "Wien und über-
gab ihm ein kurzes Memorandum, in dem ich die Gründe anführte, die die
166
Die Unlustnatur der bei der Befruchtung- sich entladenden
Spannung wäre, wie gesagt, die letzte Ursache der Vereinigung
des Genitales mit den Ausscheidungsorganen; wir wiesen auch
bereits darauf hin, daß die so allgemein verbreitete Tendenz zur
Kastration, wie sie sich bei Psychosen mit großer Vehemenz
äußert, in letzter Linie durch die Unerträglichkeit dieser Unlust
verursacht ist. Als phylogenetischer Beitrag zu dieser Auffassung
könnte uns vielleicht das Auftreten des Descensus testiculorum
und des Descensus ovarii bei den höheren Säugetieren dienen.
Die Keimdrüsen befinden sich bei niederen Tieren zeitlebens, bei
höheren bis zum Ende der Fötalzeit tief im retroperitonalen
Gewebe versteckt und senken sich, bei letzteren erst später, das
Bauchfell vor sich herstülpend, in die Beckenhöhle, die Hoden
sogar unter die Haut des Hodensackes nach außen. Es gibt Tier-
arten (die Talpiden), bei denen dieser Abstieg nur zur Brunstzeit
erfolgt und dann rückgängig gemacht wird; es soll auch Tiere
geben, deren Keimdrüsen nur beim Begattungsakte selbst deszen-
dieren. Nebst der Tendenz zur räumlichen Annäherung an die
Ausscheidungsorgane, könnte sich im Deszensus auch die Neigung
ausdrücken, sich der Keimdrüsen en Moc zu entledigen, um sich
schließlich mit der Ausscheidung der Drüsensekrete zu begnügen,
gleichwie wir bei der Analyse des Koitusaktes die Erektion als An-
deutung einer Tendenz zum totalen Abstoßen des Genitales deuteten,
die sich am Ende auf die Ausstoßung des Ejakulates beschränkt.
Da wir die die Befruchtungsvorgänge anregenden Motive
nur nach Analogie der entsprechenden Motive der Begattung
erraten wollten, die für uns auch psychologisch zugänglich sind,
können wir kaum etwas darüber aussagen, ob auch hier nebst
den Unlustmomenten, die zur Befruchtung drängen, auch „lust-
volle" Wiederholungstendenzen solcher Natur mitwirken, wie wir
sie als erotische Triebe, als Triebe, die Spannung anhäufen, um
ihre Lösung zu genießen, von den übrigen Trieben gesondert
haben. Wir haben aber gar keinen Grund, diese Möglichkeit
außer acht zu lassen. Haben wir uns einmal getraut, anzunehmen,
Experimentatoren berechtigen würde, Verjüngungsversuche anzustellen. Ich
führte darin aus, daß wenn, wie ich meine, die Verödung des Keimplasmas
das Sterben des Soma beschleunigt, die Einpflanzung frischen Gonadenmaterials
die Lebensgeister des Soma zu neuer Arbeit anfachen, d. h. das Leben verlängern
müßte. Prof. Steinach teilte mir dann mit, daß er die Idee der Verjüngung
mittels Hoden- und Eierstockgewebes bereits realisierte und zeigte mir auch die
Photographien verjüngter Ratten. Aus den bald darauf erschienenen Veröffent-
lichungen Steinachs wurde aber klar, daß er nicht die Keimzellen selbst,
sondern das interzelluläre Gewebe als die zum Leben reizende Substanz ansieht.
167
daß im physiologischen Prozesse der Begattung rein traumatischer
Zwang und erotischer Drang sich kompromissuellen Ausdruck
verschaffen, und scheuten wir uns nicht, dem Keimplasma und
deren zelligen Elementen die Tendenz zur Verschmelzung (aus
Unlustmotiven) zuzuschreiben, so dürfen wir uns getrost vorstellen,
daß bei dieser Vereinigung in ähnlicher Weise auch Lusterwerbs-
motive mitwirken können, wie beim Prozesse der Begattung, die
nach der hier dargelegten Anschauung nicht nur unerledigte
traumatische Erschütterungen auszugleichen hilft, sondern auch
Feste der Errettung aus großer Not feiert.
Wir sprachen von einer gegenseitigen Beeinflussung zwischen
Soma und Keimplasma, sprachen aber noch nichts davon, wie wir
uns etwa die Beeinflussung des Keimplasmas durch das
Soma denken. Niemand wird wohl von uns erwarten, die viel-
umstrittenen Fragen der Vererbung erworbener Eigenschaften
hier aufzurollen. Was die Psychoanalyse darüber sagen kann, hat
Freud in seiner biologischen Synthese bereits mitgeteilt. Zu den
Argumenten, die er gegen die Weis mann sehe Behauptung von
der Unbeeinflußbarkeit der Nachkommen durch die Erlebnisse
der Vorfahren anführt, könnten wir höchstens noch die gerade
in Freuds Sexualtheorie hervorgehobene psychoanalytische Er-
fahrung anführen, wonach nichts im Organismus vorgeht, was nicht
auch die Sexualität in Miterregung brächte. Wenn nun diese sexuelle
Erregung immer auch auf das Keimplasma einwirkte und wenn wir
dieses Keimplasma für geeignet hielten, solche Spuren zu registrieren,
so könnten wir uns ein Bild davon formen, wie etwa solche Beein-
flussung entstehen kann und konnte. Zum Unterschied von der „p an-
genetischen" Entstehung der Keimsubstanz, die uns Darwin
lehrte, meinen wir allerdings, daß die Keimzellen nicht einfach als
die Abbilder des Somas aus dessen Abspaltungen sich zusammen-
setzen, sondern ihren Stammbaum auf viel ältere Zeiten zurück-
führen, als das Soma selbst. Allerdings werden sie aber dann, und
zwar wirklich pangenetisch, oder um das neugeprägte Wort anzu-
wenden: amphimiktisch, auch von den späteren Schicksalen des
Somas entscheidend beeinflußt, wie denn umgekehrt auch das Soma
nicht nur von den Reizen der Außenwelt und den eigenen Antrieben,
sondern auch von den Tendenzen des Keimplasmas Triebreize zu
bekommen scheint. Erinnern wir uns, daß wir uns all diese ver-
schlungenen Vorstellungen über das Verhältnis von Soma und Keim-
plasma nur darum bilden mußten, um die Analogie (und Homologie)
zwischen den Befruchtungs- und den Begattungsorganen und -vor-
168
gangen verständlicher zu machen. Vielleicht ist es uns bis zu einem
gewissen Grade auch gelungen.
Zur Erleichterung der Übersicht über das Gesagte möchten
wir zum Schluß die von uns befürwortete „coenogenetische
Parallele" in einer synoptischen Tabelle zusammenfassen:
Phylogenese
Ontogenese
I, Katastrophe
Entstehung organischen
Lebens
Reifung der Geschlechts-
zellen
II. Katastrophe
Entstehung individueller
einzelliger Wesen
„Geburt" der reifen Keim-
zellen aus der Keimdrüse
III. Katastrophe
Beginn der geschlecht-
lichen Fortpflanzung
Befruchtung
Artentwicklung im Meere
Embryonalentwicklung
im Mutterleibe
IV. Katastrophe
See-Eintrocknung,
Anpassung ans Landleben
Geburt
Entwicklung von Tierarten
mit Begattungsorganen
Entwicklung des Primats
der Genitalzone
V. Katastrophe
Eiszeiten,
Menschwerdung
Latenzzeit
Zwei Rubriken dieses Schemas bedürfen einer Erläuterung.
Indem wir die Entstehung organischen Lebens von dem indi-
vidueller einzelliger Wesen auseinander halten, postulieren wir
eigentlich eine Verdopplung der von Freud bei der Belebung
der Materie vorausgesetzten kosmischen Katastrophe. Die erste
hätte nur die Entstehung organischer, d. h. nach einem gewissen
Organisationsplane konstruierter Materie, die zweite die Los-
lösung isolierter, mit Autonomie und Autarkie begabter Indi-
viduen aus dieser Materie zur Folge gehabt. Wie schon der
Doppelsinn des Wortes „Materie" besagt, die ja wörtlich Mutter-
substanz heißt, möchten wir den zweiten Prozeß als die aller-
erste Geburt, das Vorbild aller späteren Geburten ansehen. In
diesem Sinne müßten wir also doch zur Annahme Freuds zurück-
kehren, wonach das Entstehen des Lebens (zumindest des Indi-
viduellen) in einer Zerreißung des Stoffes bestand. Am Ende war
dies ein erstes Beispiel für die Autotomie: äußere Veränderungen
mögen den Stoffelementen das Zusammengesetztsein zu einem
großen Komplex unerträglich gemacht und die Umgruppierung
zu kleineren Einheiten veranlaßt haben. Analoge Kräfte können
ja auch beim Entstehen des ersten Kristallindividuums aus einem
169
kristallinischen Stoffe, beziehungsweise aus der „Mutterlauge"
und zwar wieder durch „Eintrocknung" am Werke gewesen sein.
Die andere Rubrik, die einer Erläuterung bedarf, ist die Ein-
stellung der Eiszeiten als letzte Katastrophe, die die menschlichen
Vorfahren getroffen hat. In der Studie über „Die Entwicklungs-
stufen des Wirklichkeitssinnes" (1910) versuchte ich die Kultur-
entwicklung als Reaktion auf diese Katastrophe hinzustellen. Nun
müssen wir dem hinzufügen, daß durch die Eiszeiten auch die
bereits erreichte genitale Entwicklungsstufe des erotischen
Wirklichkeitssinnes eine nachträgliche Einschränkung erfuhr und die
als solche unverwendeten Genitaltriebe zur Verstärkung „höherer"
intellektueller, moralischer Leistungen verwendet wurden.
Wir hatten schon einigemale Gelegenheit, die Genitalbildung
selbst, wie auch die durch sie ermöglichte Entlastung des übrigen
Organismus von Sexualtrieben als einen wesentlichen Fortschritt
in der Arbeitsteilung und als Faktor bei der Entwicklung des
Realitätssinnes hinzustellen. Nachzutragen wäre, daß hiefür auch
phylogenetische Parallelen vorhanden sind. Bei den amnioten
Wirbeltieren, die, wie wir hörten, zum erstenmale Begattungs-
organe entwickeln, beginnt auch die Krümmung des bis dahin
geradgestreckten Gehirns; es steht auch geschrieben, daß bei den
plazentalen Tieren zum ersten Male das corpus callosum, und damit
die assoziative Verknüpfung beider Hirnhälften, wohl ein bedeutender
Fortschritt in der intellektuellen Leistungsfähigkeit, zur Entwick-
lung gelangt. Die menschliche Kulturentwicklung in der Latenz-
zeit wäre also nur eine allerdings wesentlich modifizierte Äußerung
der uralten, innigen Verknüpfung zwischen Genitaltrieb und
Intellektualität.
Ist aber einmal von Hirnentwicklung die Rede, so wollen wir
einen anderen Gedanken mitteilen, der auf die Beziehung zwischen
Genitalität und Intellektualität einiges Licht wirft, zugleich aber
auch auf ein organisches Vorbild der Funktionsart des
Denkorgans hinweist. Wir sprachen davon, welch eine bedeut-
same Rolle der Geruchssinn in der Sexualität spielt. Wir wissen
anderseits, daß in der Entwicklung des Gehirns die Bedeutsam-
keit des Riechhirns (und damit auch die Rolle des Geruchs bei
der Sexualität) immer mehr zurück — und die anatomische und
funktionelle Erstarkung der Großhirnhemisphären in den Vorder-
grund tritt. Für ein Wesen mit aufrechtem Gange wird schließlich
statt der Nase das Auge zur Leitzone, auch im erotischen Sinne;
Menschenaffe und Mensch sind eben „Augentiere" im Sinne des
170
Tierbeobachters Th. Zell. Wir meinen nun, daß zwischen der
Tätigkeit des Geruchsorgans und dem Denken eine so weit-
gehende Analogie besteht, daß das Riechen förmlich als bio-
logisches Vorbild des Denkens betrachtet werden kann.
Beim Riechen „kostet", „schmeckt" das Tier minimale Spuren
des Nahrungsstoffes, indem es an dessen gasförmigen Emanationen
schnüffelt, bevor es sich entschließt, ihn als Speise zu verzehren;
ebenso schnüffelt der Hund am Genitale des Weibchens, bevor
er ihm seinen Penis anvertraut. Was aber ist, nach Freud, die
Funktion des Denkorgans? Eine Probehandlung mit kleinsten
Energiequantitäten. Und die Aufmerksamkeit? Ein intentionelles
periodisches Absuchen der Umwelt mit Hilfe der Sinnesorgane,
wobei nur kleine Kostproben der Reize zur Wahrnehmung zu-
gelassen werden. — Denkorgan und Geruchssinn: beide stehen
im Dienste der Realitätsfunktion, und zwar sowohl der egoisti-
schen wie auch der erotischen.
Kälte, Krankheit und. Geburt
von
Ernest Jones
(Aus der „Festschrift zum 50. Geburtstag von Dr. S. FerenczV.)
Es ist nur am Platze, daß ein Artikel, der als Beitrag zu der
Festschrift zu Ehren Dr. Ferenczis geschrieben ist, an eine oder
die andere seiner charakteristischen Ansichten anknüpft; der vor-
liegende Artikel tut dies in mehr als einer Hinsicht. Wir danken
Ferenczi, mehr als irgend einem anderen, unsere dämmernde Er-
kenntnis, wie subtil die Zusammenhänge zwischen den psychischen
und physischen Störungen sind, ein wichtiges Gebiet, das wir
erst zu betreten beginnen. Er hat gezeigt, daß sowohl geistige
als auch körperliche Krankheit manchmal ihre Ursache in den
gleichen Faktoren haben können, nämlich in unbefriedigten Ge-
lüsten, ein Mechanismus, der von der bekannten hysterischen
Konversion ganz verschieden ist. Ich möchte nun auf eine noch
indirektere Art hinweisen, in welcher gewisse geistige Tendenzen
zu ernster körperlicher Krankheit fuhren können, durch falsche
Assoziationen von symbolischer Art, die sich auf die Vorstellung
von Krankheit beziehen, Assoziationen, die zu einem Benehmen
führen, welches die betreffende Person, unwissentlich, der Gefahr
aussetzt, sich diese Krankheit durch Ansteckung zuzuziehen.
171
Die hier besprochene Art von ansteckender Krankheit wird
durch die Respirationsorgane erworben; über ihren Umfang soll
später gesprochen werden. Diese Art Krankheit bekommt man
durch das einfache Einatmen infizierter Luft und die Gefahr der
Ansteckung wird ins Ungeheure vermehrt durch unzureichende
Ventilation, wo Infektion vorhanden ist. Nichts könnte daher die
Gefahr der Ansteckung mehr begünstigen als der vorherrschende
Glaube, respektive Aberglaube, daß diese Krankheiten eine Ätio-
logie haben, die der unseren direkt entgegengesetzt ist, das heißt,
daß sie dem bösen Einfluß kalter Luft zuzuschreiben sind oder
dem, was volkstümlich als „Zug" bezeichnet wird. Da dieser
Glaube auch in ärztlichen Kreisen noch fortlebt, mag etwas da-
rüber von einem rein pathologischen Gesichtspunkt aus gesagt
werden. Ohne die extreme Ansicht zu vertreten, daß der volks-
tümliche Glaube absolut abergläubisch und unrichtig ist (obzwar
ich persönlich dieser Meinung bin), will ich hier nur behaupten,
daß die pathologische Tragweite des Faktors kalter Luft un-
geheuerlich übertrieben ist.
Drei Gruppen von Erwägungen, so scheint mir, machen diese
Schlußfolgerung unvermeidlich: i. Experimentelle Forschungen an
Menschen und anderen Tieren, 2. ein skeptisches Nachdenken
über die Natur der Krankheit und 5. das Zurückrufen der Ge-
schichte des in Frage stehenden Glaubens. Ich will mit der letzten
dieser drei Gruppen beginnen. Wenn ein volkstümlicher Glaube
an einen gegebenen Gegenstand in direkter Proportion mit dem
Zunehmen der exakten wissenschaftlichen Daten verblaßt, kann
man den Verdacht nicht unterdrücken, daß der Zweck dieses
Glaubens einfach war, eine Lücke auszufüllen, wo bestimmte
Kenntnis noch nicht besteht; dies gilt besonders, wenn der Gegen-
stand von großer psychologischer Bedeutung für die Menschheit
ist. Man braucht nur als Beispiel die ungemein große Beschrän-
kung in der Anwendbarkeit religiöser Erklärungen natürlicher
Phänomene anzuführen, sobald diese Phänomene durch andere
Mittel erforscht werden. Die riesige Menge von Folklore auf
dem Gebiet der Gesundheit zeigt, wie wichtig dieser Gegenstand
immer für den Menschen war und auch wie unmöglich es ihm
erschien, auf diesem Gebiete jemals Unwissenheit zu ertragen.
Diesen Hiatus mußte er immer ausfüllen. Da er so gut wie nichts
über den Grund und die Behandlung von Krankheit wußte, er-
fand er mehr oder weniger phantastische Erklärungen, um seiner
Unwissenheit abzuhelfen. Die Art, in welcher diese falschen Er-
172
klärungen determiniert sind, soll später erläutert werden. Unter
diesen Erklärungen war eines der ätiologischen Momente, an das
man am festesten glaubte und das für eine lange Reihe von
Krankheiten verantwortlich gemacht wurde, kalte Luft. Es ist
erstaunlich, in der medizinischen Literatur des vorigen Jahr-
hunderts zu finden, was für eine außerordentlich große Zahl von
Krankheiten angeblich auf diese Art erworben wurden. Sogar in
den medizinischen Lehrbüchern der vorigen Generation findet
man diese Ätiologie für eine Reihe von bakteriologischen Zu-
ständen, wie Peritonitis, Tuberkulose, Leberabszeß, Herzbeutel-
entzündung, Pleuritis, Gastritis und einer Menge anderer, ange-
geben. Viele offensichtlich irrationelle Elemente in diesem Glauben
weisen auf ihre abergläubische Natur hin. So glaubte man, daß
Nachtluft besonders tödlich sei; Malaria, z. B. war die Folge
so dachte man — des Einatmens dieser schädlichen Substanz, bis
die Unmöglichkeit, diese Krankheit bei Abwesenheit der nötigen
Art von Moskitos zu erwerben, aufgezeigt wurde. Es ist inter-
essant zu bemerken, daß kalte Luft, die einen aus einer lokali-
sierten Richtung, gleich einem Feinde, trifft (d. h. „Zug") be-
sonders gefährlich ist, besonders wenn sie von rückwärts kommt.
Dasselbe gilt auch für kalte Luft, die bestimmte Körperteile er-
reicht, wie die Füße und den Nacken. Luft, die durch eine Öffnung
eindringt, besonders durch ein Schlüsselloch, ist gefährlicher als
andere Abarten. Wenn wir nun ein Beispiel der vor fünfzig Jahren
beschriebenen Ätiologie betrachten, sehen wir, in was für einem
Mißverhältnis dies mit unserer jetzigen Kenntnis der Pathologie
steht; ich wähle die Lehre, daß Eierstockentzündung die Folge
von unzureichender Unterkleidung während der Menstruation sein
soll. Wenn diese Unterkleider offen, anstatt geschlossen sind, so
kann die gefährliche Luft in die Vagina eindringen, den offenen
zervikalen Kanal emporsteigen, in der Gebärmutter zirkulieren
und ihren Weg zu den gewundenen Fallopi-Tuben finden, bis sie
die empfindlichen Eierstöcke selbst erreicht.
Die Bakteriologie mußte natürlich einen mächtigen Umschwung
in diesen Ansichten ausüben, aber sie waren im menschlichen
Geist so tief eingewurzelt, daß man zu einiger Rationalisierung
Zuflucht nehmen mußte. Also wurde behauptet, daß kalte Luft,
obzwar sie nicht die spezifische Ursache dieser Krankheiten war,
die Wirkung hatte, die Widerstandskraft des Organismus gegen
die überall vorhandenen Infektionen zu verringern und somit
bestimmte, ob eine Person an dieser Krankheit leiden sollte oder
'73
nicht. In praxi änderte also die neue Erkenntnis nur wenig; und
noch heute hütet man sich gegen diese angebliche Krankheits-
cpielle beinahe so sorgfältig wie in den Tagen vor Pasteur und
Koch. Experimentelle Forschung an Menschen und Tieren zeigt
jedoch, daß ein außerordentlicher Kältegrad vorhanden sein muß,
— ein Grad, der unter gewöhnlichen Bedingungen niemals er-
reicht wird, — um die Körpertemperatur herabzusetzen und daß
nichts weniger als dies die Widerstandskraft gegen pathogene
Infektion in beachtenswertem Maße beeinflußt.
Die Folgewirkungen falscher Glauben sind gewöhnlich sehr
verschiedenartig. Die Menschheit hat oftmals schwer unter ihnen
gelitten, aber auch oft kompensatorische Vorteile in der Form
von Trost und Glücksgefühl aus ihnen gezogen. In dem vor-
liegenden Beispiel hat sich die Wage entschieden in der erst-
erwähnten Richtung geneigt, denn dieser Glaube hatte unver-
gleichlich größeres Leiden im Gefolge als irgendein anderer,
möge er wahr oder falsch sein. Man hat ausgerechnet, daß, wenn
man alle unmittelbaren und ferneliegenden Komplikationen und
Nachwirkungen in Betracht zieht, drei Viertel aller körperlichen
Krankheiten und Todesfälle ihren Ursprung in Respirations-
infektionen nehmen — eine "der gigantischesten Tatsachen in der
Geschichte menschlichen Leidens.
Kann die Psychologie ein Licht auf den Ursprung und die
Bedeutung dieses schicksalsschweren Irrtums werfen? Die erste
mögliche Erklärung, die einem einfällt, mag zunächst erwähnt
werden, obgleich sie offenbar oberflächlich ist. Es handelt sich
hier um einen rein logischen Irrtum. Ein hervorstechendes Sym-
ptom der akuten Phase bei den meisten dieser Infektionen ist
Kälteschauer und Empfindlichkeit gegen Kälte (das wohlbekannte
Stadium des Schüttelfrostes). Diese Anfangsphase der Krankheit
wird irrtümlich gewöhnlich für die pathogene Erkältung gehalten,
die angeblich die Ursache der Krankheit ist. Weiterhin kann es
kein Zufall sein, daß der Glaube an die Gefahr kalter Luft sich
am längsten in bezug auf Krankheiten der Atmungsorgane er-
halten hat und am schärfsten in Beziehung mit der milden In-
fektion verfochten wird, die tatsächlich den Namen „Erkältung"
führt. Hier ist ein weiterer Grund zur Verwechslung ätiologischer
Momente. Kalte Luft (ebenso wie helles Sonnenlicht) können die
Atmungsschleimhäute und die Bindehaut in einem solchen Grade
erregen, daß sie viele der weniger wichtigen, obzwar auffallenden
Wirkungen dieses wohlbekannten Zustandes hervorrufen können;
174
so z. B. das Tränen der Augen, das Laufen der Nase, Kitzel in
der Nase, Niesen und sogar Husten. Obgleich es ziemlich leicht
ist, diesen kurzlebigen Zustand von dem echten toxischen, Er-
kältung genannt, zu unterscheiden, ist es doch wahrscheinlich,
daß die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen den beiden, die be-
sprochene ätiologische Verwechslung fördert und es leichter
macht, die zweite auch den physikalischen Momenten zuzu-
schreiben, die offensichtlich die erstere hervorrufen.
Kein moderner Psychologe wird jedoch auch nur einen
Augenblick mit dieser rein intellektualistischen Erklärung zufrieden
sein, ganz abgesehen von der Tatsache, daß sie nur auf eine
gewisse Klasse von Krankheiten anwendbar ist. Wir wissen heute,
daß formal logische Irrtümer nicht ihre Ursache in intellektuellem
Ungenügen haben, sondern in der Wirkung emotioneller Paktoren.
Wie Ferenczi richtig bemerkt: „Man war früher geneigt zu
glauben, daß man Dinge verwechselt, weil sie ähnlich sind; heute
wissen wir, daß man ein Ding mit einem anderen nur verwechselt,
weil gewisse Motive dazu vorhanden sind; die Ähnlichkeit schafft
nur die Gelegenheit zur Betätigung jener Motive."
Wir müssen daher weitere Erklärungen zu erforschen suchen, für
ein so starkes und tiefes menschliches Charakteristikum wie dieses,
das wir hier betrachten. Der einzige Autor, der meines Wissens das
Problem von der psychologischen Seite angegangen hat, ist Trotter.
Er schlägt als Erklärung vor, daß das Gefühl von Unbehagen und
Furcht, das kalte Luft im Menschen hervorruft, in Zusammenhang
stehen mag mit der Gefahr, von der warmen Herde getrennt zu
werden, so daß der hier besprochene Glaube eine direkte Kund-
gebung dessen sein würde, was er den Herdeninstinkt nennt. Wenn
wir Trotters „Herde" psychoanalytisch in termini der Familie,
letzten Endes der Mutter, übertragen, dann mag sein Vorschlag
mit dem hier auszuführenden in Zusammenhang stehen.
Die Hilfe, die wir von der Psychoanalyse erwarten, werden
wir natürlich darin suchen, indem wir bestimmen, was für Beiträge
von dem Unbewußten zu dem besprochenen Glauben geliefert
wurden. Wir haben daher zu betrachten, welche Vorstellungen im
Unbewußten den Elementen der Formel: „Kalte Luft ist der Grund
für Krankheit", entsprechen. Die unbewußten Äquivalente der
letzterwähnten Vorstellung sind uns von zahlreichen Psycho-
analysen bekannt. Obzwar der Wunscherfüllungsmechanismus des
Unbewußten gelegentlich gewisse Formen von Krankheiten mit
angenehmen Vorstellungen verbinden mag, — wie in der wohl-
175
bekannten Assoziation zwischen den Vorstellungen von Krebs und
Gravidität, — so bestellt kaum ein Zweifel, daß die häufigste und
grundlegendste unbewußte Konzeption von Krankheit, die einer
verkrüppelnden Verletzung ist. Diese Kränkung, so nimmt man
instinktiv an, ist einem von der Außenwelt zugefügt worden mit
einer sadistischen oder feindseligen Absicht. Die Überlieferungen
von primitivem Folklore und Aberglauben lehren uns, wie konstant
die Person, die uns diese Verletzung (Krankheit und auch Tod)
zufügt, figürlich personifiziert wird. Die Verletzung, wie jede
Verletzung, stellt letzten Endes die Kastration dar (Rank).
Aus den letzten Forschungen haben wir gelernt, daß die Vor-
stellung der Kastration im Unbewußten viel weitere Zusammen-
hänge umfaßt, als man früher dachte, besonders in genetischer
Beziehung. Außer den Vorstellungen, die sich direkt mit dem
Verlust des Penis befassen (Drohungen, Furcht vor wieder-
vergeltender Strafe), sind es drei andere wichtige Quellen, von
denen dieser Komplex gespeist wird. Sie sind: Das Wegnehmen
der mit dem Penis identifizierten Fäzes (Jones), das Entwöhnen
von der Brust (Staercke) und der Verlust des Körpers der
Mutter bei der Geburt (Alexander). Ferenczis Vorstellungs-
kraft („Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes", Internat.
Zeitschr. f. PsA, 1915) verdanken wir unsere erste richtige Ein-
schätzung der psychischen Bedeutung, die der Geburtsvorgang
für das Kind haben muß und er hat deren Konsequenzen in der
späteren Entwicklung des Individuums verfolgt. Aus seinen
Arbeiten, und natürlich aus denen Freuds, haben wir gelernt zu
verstehen, wie groß das Leid und der Groll sein müssen, die das
Kind empfindet, wenn es aus dem Paradies vertrieben wird, und
wie groß der ewige Wunsch, dorthin zurückzukehren, sein muß.
Nachdem der schmerzliche Akt der Geburt vorüber ist, ist sicher-
lich für das Kind das deutlichste Zeichen seiner eben erlittenen
„Kastration" — das Ausstoßen aus dem Nest, das früher sein
war wie ein Teil seiner selbst — die Empfindung von kalter
Luft. Der unbehagliche Reizzustand, den dieser Temperatur-
wechsel hervorbringt, bezeichnet die Revolution in seiner Existenz
und von seiner (widerwilligen) Reaktion darauf hängt sein ganzes
Leben ab. Kein Wunder, daß der herrschende Eindruck, den man
so an der Schwelle des Lebens empfängt, für immer mit den
Vorstellungen von Unbehagen, Unsicherheit, Gefahr oder selbst
körperlicher Verstümmelung verknüpft bleibt!
176
Über Charakteranalyse
von
Dr. Karl Abraham
Bruchstück aus der letzten der drei Ab-
handlungen des Verfassers, die unter dem
Titel „Psychoanalytische Studien zur Cha-
rakterbildung" als Band XVI der „Inter-
nationalen Psychoanalytischen Bibliothek" er-
schienen sind, und den Analcharakter, die
Beiträge der Oralerotik zur Charakterbildung
und die Prozesse der Charakterbildung auf
der „genitalen" Entwicklungsstufe behandeln.
Die geeignetsten Studienobjekte bilden in der psychoana-
lytischen Praxis diejenigen Patienten, welche zu gewissen
Zeiten unter den Augen des behandelnden Arztes bestimmte
Charakterzüge gegen andere vertauschen. Ich kann z. B. von
einem jüngeren Manne berichten, dessen anfängliches soziales
Verhalten sich unter der Wirkung der Behandlung allmählich
so weit änderte, daß bestimmte, ausgeprägt unsoziale Cha-
rakterzüge verschwanden. Vorher unfreundlich, mißgünstig,
überheblich, habgierig, kurzum mit einer ganzen Anzahl oraler
und analer Charakterzüge ausgestattet, wechselte er sein so-
ziales Verhalten im Laufe der Zeit mehr und mehr. In unregel-
mäßigen Abständen aber traten heftige Widerstände hervor,
welche jeweils einen Bückschlag zu der bereits teilweise auf-
gegebenen archaischen Bildungsstufe seines Charakters mit sich
brachten. Sein Verhalten wurde dann jedesmal gehässig, feind-
selig, seine Bedeweise überheblich und höhnisch; an Stelle
eines liebenswürdigen und höflichen Benehmens trat Miß-
trauen und Gereiztheit. Er gab alle freundlichen Gefühls-
beziehungen zu Menschen, den Arzt inbegriffen, für die Dauer
dieses Widerstandes auf und stellte eine völlig entgegengesetzte
Art von Beziehungen zwischen sich und der Außenwelt her.
Während er auf Personen in ablehnender und gehässiger
Form reagierte, wandte sich sein Begehren in schrankenloser
Weise den leblosen Objekten zu. Sein ganzes Interesse galt
177
dem Kaufen von Gegenständen. Er stellte somit zwischen
sich und der Objektw elt in möglichst vielen Einzelfällen ein
Verhältnis des Besitzes her. Zu gleicher Zeit war er von
einer Angst erfüllt, ihm könne irgendein Besitz verloren
gehen oder geraubt werden. Sein gesamtes Verhältnis zur
Objektwelt war also beherrscht von der Frage des Besitzes,
des Erwerbes und des möglichen Verlustes. Sobald der Wider-
stand des Patienten im Rückgang war, trat jeweils der orale
Zug der Habgier und der anale Zug des Festhaltens am Besitz
mehr und mehr zurück, und es stellten sich zunehmend
persönliche, mit normalen Gefühlen verknüpfte Beziehungen
zu anderen Personen her.
Beobachtungen dieser Art sind besonders instruktiv, weil
sie nicht nur den Zusammenhang bestimmter Charakterzüge
mit der einen oder anderen Organisationsstufe der Libido
zeigen, sondern auch die Wandelbarkeit des Charakters, d. h.
sein gelegentliches Aufsteigen zu einer höheren und sein Ab-
steigen zu einer niederen Entwicklungsstufe uns greifbar vor
Augen führen.
Die endgültige Stufe der Charakterbildung läßt überall
Beziehungen zu den voraufgegangenen Phasen erkennen. Sie
entnimmt 'aus ihnen dasjenige, was für eine günstige Ein-
stellung zu den Objekten notwendig ist. Von der frühen
oralen Stufe entlehnt sie die vorwärtsstrebende Energie, aus
der analen Quelle Ausdauer, Beharrlichkeit und andere Züge,
aus der Quelle des Sadismus die zum Lebenskampf nötigen
Energien. Im Falle einer günstigen Entwicklung gelingt es
dann dem Individuum, krankhafte Übertreibungen sowohl nach
der positiven als nach der negativen Seite zu vermeiden.
Es gelingt ihm, seine Impulse zu beherrschen, ohne in die
angstvolle Triebverneinung des Zwangsneurotikers zu ver-
fallen. Als Beispiel diene das Gerechtigkeitsgefühl, das bei
günstiger Charakterentwicklung nicht in Überkorrektheit aus-
artet und sich daher nicht in Demonstrationen bei unbe-
deutenden Anlässen zu äußern braucht. Man denke etwa an
die vielfachen Handlungen der Zwangsneurotiker im Sinne
des „gerechten Ausgleichs". Hat die rechte Hand eine Be-
178
wegung gemacht oder einen Gegenstand berührt, so muß
das gleiche mit der linken geschehen. Erwähnt wurde bereits,
daß menschenfreundliche Regungen sich von den Übertrei-
bungen der neurotischen Übergüte fernhalten. Ebenso wird
es gelingen, zwischen krankhaftem Zögern und Übereilung,
zwischen pathologischem Eigensinn und übergroßer Nach-
giebigkeit die Mitte zu halten. Das Verhältnis zum Besitz
regelt sich in dem Sinne, daß die Interessen anderer inner-
halb gewisser Grenzen Berücksichtigung erfahren, die Existenz
des Individuums selbst aber gewahrt bleibt. Die zur Erhaltung
des Lebens notwendigen aggressiven Antriebe werden in ge-
wissem Umfang konserviert. Ein erheblicher Teil der sadisti-
schen Triebenergien findet eine nicht mehr destruktive, sondern
aufbauende Verwendung.
In der gesamten Veränderung des Charakterbildes, wie sie
hier in einigen Andeutungen geschildert wurde, kommt die
fortschreitende Überwindung des Narzißmus zum Ausdruck.
Die früheren Stufen der Charakterbildung standen noch
großenteils unter der Herrschaft narzißtischer Antriebe. In
seiner definitiven Ausbildung trägt der menschliche Charakter
freilich auch noch derartige Bestandteile in sich. Die Er-
fahrung lehrt uns ja, daß keine Phase der Entwicklung auf
organischem Gebiet absolut überwunden wird oder spurlos
verschwindet. Im Gegenteil trägt jedes neue Produkt der
Entwicklung Zeichen an sich, welche seinen Vorstufen ent-
stammen. Wenn aber die primitiven Erscheinungen der Selbst-
Hebe auch zu einem Teil erhalten bleiben, so dürfen wir
doch von der definitiven Bildungsstufe des Charakters sagen,
sie sei relativ unnarzißtisch.
Von größter Bedeutung ist sodann die — wiederum nur
relative — Überwindung der Ambivalenz in der Charakter-
bildung. Es wurde bereits an verschiedenen Beispielen ge-
zeigt, in welchem Sinne der Charakter sich nach Erreichung
seiner endgültigen Entwicklungsstufe von den beiderseitigen
Extremen fernhält. Hier sei noch darauf verwiesen, daß der
Fortbestand eines starken Ambivalenzkonfliktes im Charakter
sowohl für das Individuum selbst als auch für seine Um-
»79
gebung die fortdauernde Gefahr eines Umschlages von einem
Extrem zum anderen in sich birgt.
Eine relativ vollkommene Entwicklung des Charakters bis
zu der von uns angenommenen höchsten Entwicklungsstufe
hat demnach zur Voraussetzung einen genügenden Grad
freundlich-zärtlicher Gefühlsregungen. Sie geht einher mit
relativer Überwindung des Narzißmus und der Ambivalenz.
Wir hatten gesehen, daß die herkömmliche Betrachtungs-
weise der Charakterbildung keinen genügenden Einblick in
die Quellen des gesamten Entwicklungsvorganges gibt. Zum
Unterschied von diesen Auffassungen erweist die Psycho-
analyse auf Grund empirischer Forschung die engen Bezie-
hungen der Charakterbildung zur psychosexuellen Entwick-
lung des Kindes, insbesondere zu den Organisationsstufen der
Libido und zur Entwicklung der libidinösen Objektbezie-
hungen. Überdies läßt die Psychoanalyse uns erkennen, daß
auch nach Ablauf der Kindheit sich Bildungs- und Rück-
bildungsvorgänge am menschlichen Charakter abspielen.
Die Betrachtung des Charakters in ständiger und engster
Verbindung mit allen übrigen Erscheinungen der Psycho-
sexualität sowie die Tatsache der Wandelbarkeit des Cha-
rakters auch jenseits des kindlichen Alters bilden die Grund-
lage, von der aus eine Regulierung abnormer Cha-
rakterbildungen auf psychoanalytischem Wege möglich
wird. Die Praxis stellt uns keineswegs bloß vor die Auf-
gabe, neurotische Krankheitserscheinungen im engeren Sinne
zu behandeln. Oft genug haben wir neben diesen oder sogar
in erster Linie krankhafte Spielarten der Charakterbildung
zu behandeln. Die bisherigen Erfahrungen auf diesem Gebiete
dürfen wir dahin zusammenfassen, daß die „Charakterana-
lyse" zu den schwierigsten Leistungen gehört, die vom Psycho-
analytiker gefordert werden, sicher aber auch in einem Teil
der Fälle zu den dankbarsten. Ein allgemeines Urteil über
die therapeutischen Wirkungen der Charakteranalyse steht
uns gegenwärtig noch nicht zu und mag daher späteren
Untersuchungen vorbehalten bleiben.
180
Drei Stunden einer Analyse
Dr. Otto Rank
Das neueste Buch von Rank („Eine Neurosenanalyse in Träumen",
Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, herausgegeben von Prof.
Dr. Sigm. Freud, Nr. III), dem das unten folgende Fragment ent-
nommen ist, stellt die ausführlichste psychoanalytische Kranken-
geschichte dar, die jemals veröffentlicht worden ist. Die Patientin —
ein junges Mädchen — suchte die Analyse wegen einer Arbeits-
hemmung auf, die im Anschluß an ein unglücklich ausgegangenes
Liebesverhältnis und zur Zeit der Verheiratung ihrer jüngeren
Schwester aufgetreten war, und ihr Berufs- wie Liebesleben schwer
beeinträchtigte. Die Analyse, die in sechs Monaten beendet wurde,
ergab als Grundlage des unlösbaren aktuellen Konfliktes eine voll
ausgebildete Neurose, und zwar vom Zwangstypus. Das üppige
Traumleben der Patientin gestattete, den Fortgang ihrer Analyse
und die Lösung ihrer Neurose an ihren fast täglichen Träumen
schrittweise zu verfolgen. Auf diese Weise ist ein überaus instruktives
Material zusammengebracht worden, das nicht nur gestattet, die
Aufeinanderfolge der analytischen Situationen sowohl nach ihrer
unbewußten Bedeutung wie nach der bewußten Seite hin in den
Traumbildern und den dazugehörigen Assoziationen und Deutungen
gleichwie in einem Tafelwerk ad oculos zu demonstrieren, sondern
gleichzeitig auch die Krankheits- und Heilungsgeschichte eines Falles
von Zwangsneurose im Sinne der Psychoanalyse vorzuführen. Man
kann diesen geradezu protokollartigen Bericht über den Verlauf der
Analyse schlechthin als Darstellung der Entwicklung eines Men-
schen unter Berücksichtigung des unbewußten Seelenanteiles lesen
und verstehen. Von prinzipieller Wichtigheit in dieser Neurosen-
analyse ist auch die Bedeutung unbewußter Leitmotive für das
Schicksal der Menschen, für ihre Leistungs- und Liebesfähigkeit.
§8. Stunde:
Kindheitserinnerungen an die Gehurt der Schwester
Unter dem Druck der aktuellen Libidoversagung (in der ana-
lytischen Übertragung) fluten die Erinnerungen der Patientin in
die gleichen infantilen Versagungssituationen zurück, an denen
sich ihre Neurose genährt hatte, und bringen gleichzeitig die
infantile Angst herauf. Sie erinnert eine bestimmte Zeit ihrer
frühesten Kindheit (etwa drei Jahre), wo sie mit der Mutter
allein war, ohne Vater, nur die Großmutter war mit. Ein Kinder-
bettchen mit einer davor sitzenden Ziege, die zur Mutter ge-
181
hörte. — Das soll die nährende Muttermilch symbolisieren, im
Gegensatz zum „untreuen" Vater, der immer abwesend war.
Schon vor Geburt der Patientin selbst hätten sie einen großen
Hund gehabt, der sie dann bewacht habe und neben dem Wagerl
herging. Schon damals habe die Mutter immer geweint. Ob es
sich nur um ein Zurückphantasieren des „untreuen" Vaters bis
in die Zeit vor der eigenen Geburt handelt oder um eine echte
Erinnerung, jedenfalls ist die Tendenz des Erinnerns unverkenn-
bar und führt in eine Phase der Identifizierung mit der Mutter
zurück, wo Patientin sich genau so wie die Mutter vom
Vater verlassen fühlte.
Dann folgen — in der nächsten Stunde — ganz spontan und
unverstanden bildhaft auftauchende Erinnerungen an die Geburt
der Schwester, welche in das zweite Lebensjahr der Patien-
tin fällt (ii/a Jahre). Auf diese Geburt reagierte Patientin, wie
nicht anders zu erwarten, mit Eifersucht und Beseitigungswünschen
(Patientin sieht die Schwester vor sich in den Windeln und mur-
melt mechanisch: Das kleine Wurm soll man vernichten). » Dann
beginnt sie- sich mit der (schwangeren) Mutter zu indentifizieren,
weil der Vater in der Zeit mit der Mutter zärtlich war wie sonst
nie. Aus der Enttäuschung am Vater folgt nun Wut gegen ihn,
Eifersucht auf die (bevorzugte) Mutter und Neid gegen das
Schwesterchen. Die Geburt des Schwesterchens bedingt also nicht
gleich die Abwendung vom Vater; zuerst wird der Versuch ge-
macht, es durch Identifizierung mit der Mutter als eigenes Kind
(vom Vater) zu akzeptieren. Erst das Mißlingen dieses Kompro-
misses führt zur schroffen Abwendung vom Vater, die das Motiv
zur Mutterrückkehr in der Identifizierung mit ihm und damit zu
ihrer Neurose legt. Das dürfte etwa im vierten Lebensjahre der
Patientin gewesen sein, die in diesem Alter aus dem Geburtshaus
übersiedelte. 2
Von da an war ihr der Vater unsympathisch geworden und
daher hält sie ihn in ihrer Erinnerung im alten Hause fest, ehe
sie übersiedelten und wo auch anfangs die Schwester noch nicht
da war. Eine visionäre Erinnerung zeigt ihr — beim Holen des
1) Dazu Erinnerung aus Ihrem zweiten Lebensjahr, wo sie in den Hühner-
stall ging, um Eier zu holen und dann in der Küche eines fallen ließ. Das
muß unmittelbar nach der Geburt der Schwester gewesen sein.
2) Zuerst irrt sie sich und behauptet: Wir sind gleich nach der Geburt der
Schwester aus dem Geburtshaus weggegangen. Das beweist den grollen Ein-
druck dieser Geburt (Vertreibung aus dem ersten Haus: der Mutter).
182
Eies — den Vater in Hemdärmeln unter einem blühenden Apfelbaum
mit einem Fabriksmädchen stehen. Vielleicht war es die, von der
sie später hörte, die Mutter verdächtige sie eines Verhältnisses
mit dem Vater. „Aber nein", wendet Patientin selbst ein, „sie
hat mich ja zu den Hühnern begleitet. Sie hatte einen Arm halb
abgeschnitten, den ihr die Maschine weggenommen hatte." Diese
tendenziöse ErinnerungsFälschung — Vater steht mit ihr — ver-
knüpft die weibliche Einstellung zum. Vater mit der Akzeptierung
der Kastration (Armabschneiden) und stellt zugleich die Strafe
für den Ödipus-Wunsch (Ehestörung) dar. Bis heute kann Patientin
alle Arten von Maschinen nicht ausstehen, von denen sie doch
so oft träumt (Lokomotive, Zahnradbahn, Flugzeug), 1 weil sie mit
dem Beruf des Vaters verknüpft sind, dem dieser allerdings, ihrer
Meinung nach, viel zu viel Interesse (Libido) widmete.
Der Familienroman
Dieser Konflikt fand eine schließliche Lösung in ihrem späteren
Phantasie-Ideal des „Amerikanismus", — wie sie es selbst nannte, —
in dem auch ihr Familienroman gipfelte. Sie beginnt darin
in Amerika als Abwaschmädel (siehe das Fabriksmädel des Vaters),
arbeitet sich allein empor, bringt es weit, um dann groß und reich
nach Hause zu kommen. In dieser späteren Form des Familien-
romans ist mehr die Identifizierung mit dem erfolgreichen Vater, also
die männliche Komponente betont, während sie auf näheres Be-
fragen angibt, die Phantasie habe eigentlich ursprünglich so ge-
lautet, daß sie als Kellnerin in einem kleinen schmutzigen Zimmer
anfange und dann komme ein reicher Amerikaner („der schon
reich ist, es nicht erst zu werden braucht" — wie der Vater,
also ein Vaterideal), der sie hinaufführe. — Wir haben es hier
mit einem scheinbar umgekehrten Familienroman eines Mädchens
aus wohlhabendem Hause zu tun, der aber in seiner neurotischen
Hypertrophie nur zeigt, welch geringe Bolle der soziale und welch
große der libidinöse Faktor im Familienroman spielt, dessen Wurzeln
in eine infantile Periode zurückreichen, wo es gar nicht anders
sein kann. Vom Familienroman her erhält auch ihre stark betonte
Vaterrettungsphantasie eine neue Bedeutung. Sie will ihn für sich
retten — nicht nur von der Mutter, sondern auch von seinem Beruf
weg, an den er gefesselt ist, in die alten, einfachen, aber libidi-
l) Einige von diesen technischen Dingen sind für sie wegen ihrer Be-
ziehungen zu Zahlen und Nummern (Zählzwang) später bedeutsam geworden
(Tramway, Telephon etc.).
183
nösen Verhältnisse, bevor der übertriebene „amerikanische" Zug
in sein Leben und also (durch Identifizierung:) auch in ihres ge-
treten war.
6l. Stunde:
Die „Kastration" als Hindernis der Rückkehr zur Mutter
Erst jetzt bringt Patientin wieder einen Traum, von dem sie
„nicht mehr viel weiß".
Traum: „Es war in einem großen Saal (Konzertsaal) und ich
„ging mit einem Herrn. Da kam uns ein anderer Herr entgegen,
„begrüßte mich sehr vertraulich (hat mir die Hand unten, wie
„verstohlen, gedrückt) und fragte mich, wie ich denn herkomme.
„Dann ging ich in den Saal (zurück), rufe aber, daß es
„alle hören können: Wir waren jetzt in der Vorlesung, wo wir
„Physik und Chemie, nein Chirurgie zusammen gehört haben.
„Ich habe mich aber gleich geschämt und gedacht, das ist doch
„ein Unsinn, Physik und Chirurgie gehören doch gar nicht zusammen.
„Soviel weiß ich vom Traum. Aber es gehört auf beiden Seiten
„noch viel dazu, das ist nur die Mitte.
„Eigentlich war es so : i Es war wie ein Konzerthaus hier (in
„Wien), zwei verschiedene Säle und in beiden zugleichKonzert.
„Dazwischen war ein langer Gang, in dem wir uns in der
„Pause getroffen haben. Rechts war der kleinere, aber prächtigere
„Saal (hell erleuchtet), aus dem wir kamen und in den wir zurück-
»g m g en - Gerufen habe ich, bevor wir wieder hineingingen. Aus
„dem anderen kam Herr B., den ich kaum kenne, mit dem ich
„nie etwas zu tun hatte. Der Gang war aber so Wirtshaus artig;
„es war Bier auf dem Boden (Steinfliesen; und am Ende führten
„Stufen (später: vier) zum Klosett hinauf. Der Gang mit den Stufen
„sieht jetzt wie ein (Kino-) Bild aus, in dem als Plakat links oben
„(über der Stiege) ,Chirurgie' und rechts unten ,Physik' stand. Es
„war wie eine Verlobungskarte, aber das ist's ja nicht, vielleicht
„Visitenkarte."
Assoziationen: Unmittelbar nach der Traumschilderung sagt Pa-
tientin, der Traum sei ihr am Morgen eingefallen, u. zw. als sie
in der Zeitung etwas gelesen habe, was sie an Juden erinnerte;
es war ein jüdisch klingender Name, den auch ein bekannter
Mediziner hatte. Dann seien ihr andere jüdische Kollegen dieses
Mediziners eingefallen, die vor ein paar Tagen durchgereist waren,
dann „Chirurgie" und dann der Traum.
l) Diese genaue Schilderung ist im Sinne einer „Assoziation" aufzufassen.
184
In der gestrigen Stunde waren Rassen- und soziale Gegen-
sätze zur Sprache gekommen. Ich bin der Rassenfremde, der
Jude; wir passen so wenig zusammen wie Physik und Chirurgie
(auf der Verlobungskarte: der eine links oben, der andere rechts
unten). Zu Physik fällt ihr ein: Maschinen — Technik — Vater;
sie repräsentiert also das männliche und (rassen-)verwandte Ele-
ment. Die Chirurgie, bei der sie sofort an ihre Nasenoperation
gedacht hat, entspricht der Kastration, repräsentiert also das weib-
liche und (rassen-)fremde (jüdische) Element (Medizin). Der Mann,
in dessen Begleitung sie sich als Weib geniert, bin ich (Über-
tragung). Dann sagt sie sich aber sofort: Unsinn, ich kann ja
doch nicht wirklich weiblich sein (in der Analyse), er kann mich
ja doch nicht heiraten, er ist Jude, kastriert (wie ich selbst).
Dann nehme ich also die Weiblichkeit nicht an.
Deutung: Der Traum beschäftigt sich oberflächlich wieder mit
dem Kastrationskomplex, was auch in der formalen Schilderung
(es fehlt noch viel auf beiden Seiten, das ist nur die Mitte) so-
wie in der Beschreibung zum Ausdruck kommt, wo sie sagt, es
sei „in der Mitte ein feuchter Gang". Es handelt sich aber letzten
Endes um den Versuch, von der Mutterbindung zur Übertragung
auf den Mann zu gelangen und die Widerstände dagegen.
Dies zeigt die folgende Assoziationsgruppe:
1. Zu Bier fällt ihr ein: Kutscher, Pissoir. Es gingen Herren
über die Stufen, die mit ihrer Toilette noch nicht ganz fertig
waren oder es nachlässig gemacht hatten. (In einem früheren
Traum hatte sie dasselbe direkt vom Vater geträumt, was auf
wirkliche Kindheitseindrücke des in dieser Beziehung sorglosen
Vaters zurückging.) Diese exhibitionistischen Erinnerungen zeigen
den Weg der Übertragung an. Die Traumsituation: zu beiden
Seiten Zimmer und in der Mitte ein länglicher Gang, hat mütter-
liche Symbolbedeutung (auch die Brüste), die jetzt analytisch auf
den Vater (Mann) übertragen wird.
2. Herr B., der gar keinen Einfluß auf sie hatte und mit dem
sie die Übertragung zu verleugnen sucht („mit dem ich nie zu
tun hatte").
5. Assoziiert die Schwester des Herrn B., die sie zwar auch
nur flüchtig gekannt hatte, die aber im Hause ihrer besten und
einzigen Freundin wohnte, die einen großen (suggestiven)
Einfluß auf Patientin hatte; sie möchte sagen, wie ein Mann.
Die hatte der Patientin sozialistische Ideen suggeriert (siehe
ihren Familienroman), aber als es ihr möglich wurde, selbst in
185
vornehmen Kreisen verkehrt. Diese Freundin hatte ihr auch Ab-
stinenz aufgetragen, wogegen sie im Traum zu protestieren sucht
(Biertrinken, Urinieren wie ein Mann).
Dieser Herr B. und die Freundin repräsentieren typische Li-
bidowiderstände in Form von Ablehnung der Übertragung und
Vorwürfen, daß der Analytiker Grundsätze predige, an die er
sich selbst nicht halte (Libidoversagung).
Lange Zeit ihrer Entwicklungsjahre habe sie urinieren wollen
wie ein Mann, Später sehen wollen, wie ein Mann uriniert und
in dieser unbewußten Identifizierung Lust empfunden. Als ich
ihr den Identifizierungsmechanismus in ihrem Wunsch nach dem
(Besitz des) Penis zeige, bekommt sie plötzlichen Harndrang. Ich
erkläre ihr diese Flucht der unbewußten Phantasie ins Organische
(Penis), worauf sie gesteht, daß sie tagsüber tausende Penes ge-
sehen habe, abgeschnitten; eigentlich aber nicht abgeschnitten,
sondern einen Mann, dessen Kopf und Füße abgeschnitten seien,
so daß nur das Mittelstück da ist (siehe ihre Bemerkung über
den Traum). „Auch muß ich jetzt wieder Ihre Bücher zählen,
bis drei (links eins, rechts eins und in der Mitte!), das ist un-
angenehm." Ich sage: „Das wird schon vergehen!" — Sie: „Ja,
aber jetzt vergeht immer nur das Unangenehme, z. B. daß
ich jetzt auch Medizin studieren will! (Identifizierung mit dem
jüdischen Mediziner.) Ach, ich wollte natürlich sagen, das An-
genehme!" Dieses Versprechen gibt, wie das bei der Traum-
erzählung (Chemie statt Chirurgie) ihrem durch die Analyse ent-
fachten Konflikt Ausdruck, der sich analytisch durch Aufgeben
der Vateridentifizierung (Peniswunsch) und Akzeptierung der
Mutteridentifizierung (Kastration) lösen soll.
Zur Deutung des Versprechens mit dem Medizinstudium fällt
ihr ein, daß kürzlich einer dieser Mediziner sie gefragt hatte, ob
sie auch studiere. Sie antwortete: „Später; vielleicht bis die Ana-
lyse fertig ist." Da erwiderte er: „Es schien mir, daß Sie
mehr ans Heiraten denken." — Diesen Gedanken stellt der
Traum eigentlich dar, mit der (analytischen) Begründung: Wenn
ich (männliche) Libido bekomme (Übertragung), akzeptiere ich
die feminine Rolle; da dies aber nicht der Fall ist, protestiere
ich dagegen. Hier zeigt sich wieder klar, daß der „männliche
Protest" eigentlich die Fiktion ist, als die Adler den Libido wünsch
hinstellen wollte, gegen den protestiert wird. Der Traum beschäf-
tigt sich in seiner oberflächlichen Schichte mit dem männlichen
Protest: Physik und Chirurgie, die so wenig zusammenpassen wie
186
Mann und Weib, Christ und Jude etc. — Aber das eine Ver-
sprechen, das an Stelle von Chirurgie, die „Chemie" setzt, nimmt
dem ganzen Traum den Protestcharakter und dementiert dessen
ganzen Sinn, indem darin der Wunsch durchbricht, die beiden
mögen so gut zusammenpassen wie Physik und Chemie, die na-
türlich vor allem die „Analyse" repräsentiert (Übertragung).
Der Traum balanciert so, mit der den Zwangsneurosen besonders
eigentümlichen Ambivalenz, auf .der Alternative: Übertragung
oder Widerstand, Akzeptierung oder Protest, weibliche oder männ-
liche Rolle: je nachdem ob Libidogewährung oder Libidover-
sagung. Aufgabe der Analyse ist es nun, die Wiederholung dieser
infantilen Reaktion zu provozieren, bewußt zu machen und ihre
Akzeptierung trotz Libidoversagung zu erreichen.
Im Traum geht Patientin in den Saal zurück, aus dem sie
gekommen war, und zwar nach dem Vorbild der Männer,
die am Ende des Ganges mit offenen Hosen ins Klosett hinein-
gehen. In dieser tiefsten Schichte des Traumes weist die Chirurgie
auf die Geburt und die Tendenz zur Rückgängigmachung hin.
Ohne daß der Patientin diese letzte Bedeutung des Traumes klar
gemacht worden wäre, bringt sie im nächsten Traum eine eindeutige
Mutterleibsregression, die auch deutlich verrät, daß sie vor
der Libido-Übertragung auf den Mann, die analytisch fortschreitet,
zurückflüchtet.
64. Stunde:
Analytische und Mutterleibssituation
Traum: „Die Mutter hat mir gesagt, wir machen einen Aus-
„flug ins X-tal. Ich sagte, da war ich doch schon zweimal
„(ich war aber nur einmal dort) und habe mich sehr geärgert
„darüber. Da hat mir die Mutter vorgeschlagen, ins Y-tal zu
„fahren; es war aber nur wie zur Probe, sie wollte mir zeigen,
„wie der Ausflug ausfallen wird.
„Wir sind also hingekommen und dort war ein Fluß mit
„nur wenig Wasser, so daß man die Fußspuren am Grunde
„sehen konnte. Wir sind da alle hinaufgewatet (die Schwester,
„der Schwager, die Mutter — der Vater nicht!), ich bin aber nicht
„weiter gekommen. Die anderen sind hinaufgegangen (dort war
„kein Wasser mehr) und von oben konnte man das Y-tal sehen."
Assoziationen: Im X-Tal war sie einmal heimlich mit Paul ge-
wesen und hatte es später der Mutter gestanden (eigentlich um
ihr ihre Schuld daran vorzuwerfen). Die Mutter hatte aber ver-
sucht, es gut aufzunehmen. — „Ausflug" erinnert sie an den letzten
187
Sonntag zu Hause vor ihrer Abreise nach Wien. Damals sagte sie
den Eltern, daß sie in die Analyse gehe, hätte es ihnen nicht
gesagt, wegen des Geldes, wollte sogar (der Mutter) Vorwürfe
machen, hatte aher dann gedacht, sie müßte ja eigentlich den
Eltern dankbar sein, daß sie ihr das Geld gaben.
Deutung: Hier wird zum erstenmal die Analyse (der Analytiker)
mit der Mutter eindeutig parallelisiert, allerdings in Widerstands-
form (Vorwürfe), aber mit der positiven Unterströmung, dem
Analytiker das (neue) Leben so verdanken zu wollen wie der
Mutter. Im tiefsten Sinne haben wir einen Mutterleibstraum
vor uns („Wo man schon einmal war" — Freud). Die Vorwürfe
gegen die Mutter haben neben der Ödipusbedeutung für die Pa-
tientin hier den besonderen Sinn, daß die Mutter sie hat als
Mädchen zur Welt kommen lassen, nicht als Knabe; das soll
durch die Wiedergeburt gut gemacht werden, wird es aber schon
durch die (nur als Mann mögliche) Rückkehr zur Mutter. Schließ-
lich scheint aber Patientin doch bereit, ihre weibliche Rolle zu
akzeptieren (muß ja schließlich für das Leben dankbar sein), und
zwar jetzt in der Analyse zum zweitenmal (daher die Verän-
derung der obigen Mutterleibsformel), genau so wie seinerzeit
von der Mutter das erstemal: d. h. so unabänderlich! Es taucht
hier hinter dem verdrängten Ödipus- respektive Männlichkeits-
komplex im Portschritt der Analyse die starke Bindung an die
Mutter auf, noch verborgen hinter dem Schuldbewußtsein
gegen sie, das den Kernpunkt ihrer Neurose bildet und dem wir
analytisch unser Hauptaugenmerk zuwenden müssen. — Nicht
mehr der Vater ist Schuld, sondern die Mutter — allerdings noch
in dem neurotischen Sinne, daß sie sie als Mädchen zur Welt
gebracht hat; die eigentliche „Schuld" der Mutter, daß sie
Patientin überhaupt geboren, dann entwöhnt und dann dem Vater
entzogen hat, ist noch nicht akzeptiert. Im Wiedergeburts-
wunsch aber kreuzt sich die neurotische Männlichkeitstendenz
(wieder in die Mutter eindringen) mit der analytischen Weiblich-
keitstendenz (ein Weib werden).
Der ganze Traum zeigt bereits, wie fast alle Wiedergeburtsträume
in der Behandlung, eine analytische Deutungsschichte, die
teilweise mit funktionaler Symbolik arbeitet (Darstellung der
bereits analysierten Komplexe in den alten primitiven Sym-
bolen). 1 In diesem Sinne stellt der manifeste Trauminhalt selbst
l) Diese Deutungsschicht „anagogische" zu nennen, setzt ein "Werturteil
voraus, das ich für unberechtigt halte. Auch die „analytische" Deutung und
188
ihr mühsames Vorwärtsschreiten in der Analyse und ihre Akzep-
tierung derselben dar: aber in der aus dem „Dankbarkeitskomplex"
folgenden Widerstandsform, daß sie die Weiblichkeit noch lieber
von der Mutter als vom Analytiker (Mann) annimmt. Das X-tal
(wo Patientin übrigens mit Paul heimlich war) stellt auch ihre
eigene Weiblichkeit (Mutteridentifizierung) dar und bei der
Deutung setzt Patientin hinzu, sie habe eigentlich im Traume
ärgerlich gesagt: „Immer und immmer wieder in dies es Tal!"
Daß ihr diese angebliche Traumrede erst bei meiner analytischen
Deutung — gleichsam als Antwort darauf — einfallt, beweist den
Widerstandscharakter und heißt übersetzt: Die Analyse hält mir
immer und immer wieder meine (verdrängte) Weiblichkeit vor;
das ärgert mich schon. Lieber wäre ich doch kein Mädchen ge-
worden. Indem sie dies aber in der Form der Wiedergeburts-
phantasie darstellt, hält sie selbst sich eigentlich ihre unabänder-
liche Weiblichkeit vor Augen, mit der sie jetzt weiter vorwärts
gehen muß. Das Unbewußte versucht aber zurückzuflüchten, es
gelingt jedoch nicht mehr, da sie die Regressionstendenz bereits
ablehnt 1 (folgt der mütterlichen Einladung nicht). Da versucht
sie es „zur Probe" mit einem anderen Tal (dem Y-tal), welches
sich auf Grund der Assoziationen 2 als die zweite sexuelle Be-
deutung des weiblichen Genitales (nach der natalen) erweist.
Hier liegt der durch die Analyse frisch entfachte infantile
Konflikt klar zutage. Denn das zweite Tal, mit dem sie es probe-
weise versucht, stellt die analytische Übertragung dar, die
also hier ganz direkt als Wiederholung der mütter-
lichen Ursituation erscheint. Nachdem die wirkliche Rück-
kehr in den Mutterleib unmöglich ist, will sie es mit der künst-
lichen Art der Wiedergeburt, der analytischen Genesung, versuchen.
Bedeutung eines Traumes ist keine „höhere" im Sinne der Anagogie, da sie
genau so wie die primitive auf libidinösen Tendenzen beruht: nur sind
es einmal die infantilen, das anderemal die aktuellen der Übertragung
(d. h. die wiederbelebten infantilen).
1) Auch infolge Akzeptierung der femininen Rolle, die sie zur Mutter-
riickkehr ungeeignet macht (zum flachen "Wasser fallen ihr Badeszenen am
Meeresstrand mit Arthur ein, der dort auch Aufnahmen von ihr machte:
Kastrationsscham; sexueller Narzißmus).
2) Zum Y-tal die Einladung eines jung verheirateten Ehepaares,
das sie durch Schwester und Schwager — auch ein junges Ehepaar, das im
Traume vorkommt — kennen gelernt und das sie dorthin eingeladen hatte.
Es kam aber nicht dazu; erst später war sie mit einer Freundin dort, „die
viel kleiner war als ich".
189
Selbstbeobachtung und Hypochondrie
von
Prof. Dr. Paul Schilder
Jus „Entwurf zu einer Psychiatrie
auf psychoanalytischer Grundlage", er-
schienen ip2f als Bd. XVII der „Inter-
nationalen Psychoanalyt. Bibliothek 1 '.
Aufsplitterungen des Ichs in seine verschiedenen Bestand-
teile ereignen sich im Alltagsleben häufig. Fast ist es so, als
sei das Ich in einem fortwährenden Zerfall und Wiederaufbau
begriffen. Auch in der Selbstbeobachtung wird das Ich in
verschiedene Teile zerfällt. Ein beobachtendes Ich steht einem
beobachteten gegenüber. Was kann solche Haltung bedingen?
Wenn wir von Selbstbeobachtung sprechen, kann zweierlei
damit gemeint sein: 1. Die Beobachtung des eigenen Körpers
und 2. die Beobachtung des eigenen Seelenlebens. Wenn wir
von Selbstbeobachtung des Körpers sprechen, meinen wir
damit im allgemeinen, daß wir die Empfindungen beachten,
welche vom Körper ausgehen. Man wird jedoch ein gewisses
inneres Widerstreben verspüren, von Selbstbeobachtung zu
sprechen, wenn etwa die große Zehe einer mehr oder minder
eindringlichen Inspektion unterzogen wird. Selbstbeobachtung
heißt also: seine Empfindungen belauschen. Man sieht aber
sofort, daß Selbstbeobachtung ein Wahrnehmungsvorgang mit
veränderter Bichtung ist. Es ist eine gegen innen gerichtete
Wahrnehmung. Es ist wohl keine eingehende Begründung
notwendig, daß Selbstbeobachtung nicht der natürliche und
zweckmäßige Vorgang ist. Vielmehr erfolgt Selbstbeobachtung
(wir sprechen zunächst von der Selbstbeobachtung des Körpers)
dann, wenn irgendwo am Körper eine Störung eingetreten
ist. So zieht etwa das schmerzende Organ Selbstbeobachtung
auf sich. Es ist auch ohne weiteres im Erleben gegeben, daß
das so beobachtete Organ gleichsam aus dem Bereich des
eigenen Erlebens hinaustritt in das Bereich der Wahrneh-
mung. Der beachtete Körper wirkt gegenständlicher, und es
ist nur eine verdeutlichende Darstellung dieses Vorganges,
190
wenn Menschen, die an einer schmerzhaften Erkrankung
leiden, sehr häufig angeben, sie hätten (besonders bei dem
Versuch einzuschlafen) das Bewußtsein, da sei ein schmerz-
empfindender Mensch, man sei das aber nicht selber. Das
bisher gewählte Beispiel des schmerzenden Gliedes weist aber
auf folgende Beziehung hin. Das schmerzende Glied zieht
libidinöse Besetzung an sich (Freud). Aber dieses narzißtisch
besetzte Organ ist dem Individuum nicht genehm. Es setzen
also diesem Organ gegenüber Verdrängungstendenzen ein.
Diese Verdrängungstendenzen versuchen, das Organ aus dem
eigenen Körper hinauszudrängen. Das hier Ermittelte gilt in
gleicher Weise von dem hypochondrisch beachteten Organ.
Hypochondrisch beachtet werden jene Organe, welche ein
Übermaß libidinöser Spannung in sich enthalten (Freud).
Diese libidinöse narzißtische Überbesetzung wird offenbar
von einer Verdrängungstendenz beantwortet. Man würde
demnach allgemein folgern können, daß Selbstbeobachtung
nur jene Organe treffe, welche überbeladen sind mit nar-
zißtischer Libido, und daß diese Organe gleichzeitig unter
Selbstbeobachtung der Außenwelt angenähert werden. Ein
Organ hypochondrisch beachten, heißt also, es teilweise zur
Außenwelt machen. Der Besitzstand zwischen Subjekt und
Objekt ist also bei hypochondrischer Selbstbeobachtung zwar
nicht verändert, aber Teile des Subjekts sind zur Ausstoßung
ins Objekt vorbereitet. Die Selbstbeobachtung geht hier
offenbar vom Ideal-Ich aus, und zwar von einem Ideal-Ich
einer hohen Entwicklungsstufe, welches derartig narzißtisches
Gehaben einzelner Organe nicht dulden will.
Die Selbstbeobachtung des eigenen Denkens objektiviert
dieses gleichfalls. Obwohl der Nachweis hier schwieriger ist,
gilt es auch vom selbstbeobachteten Gedanken, daß sich eine
höhere Instanz eines ' unbequemen Materials durch die Ob-
jektivierung entledigen will. So finden wir die Selbstbeob-
achtung in bezug auf das eigene Denken bei Zwangsvor-
gängen. Deren Zwangscharakter ist aber, wie wir sicher
wissen, darauf zurückzuführen, daß sich das Individuum
seiner Gedanken durch Ausstoßung entledigen will. Zweifellos
1 9 1
richtet sich auch dieser Ausstoßungsvorgang nur gegen solche
Gedanken, die eine libidinöse Überbesetzung erfahren haben.
Wir vertreten demnach allgemein den Satz, die Selbstbeob-
achtung ginge vom Ideal-Ich aus und sei auf das engste mit
verdrängenden Instanzen verbunden. Es taucht sofort die
bedeutsame Frage auf, weshalb die Selbstbeobachtung der
Schizophrenen in einzelnen Fällen eine so ungeheuer scharfe
und präzise sei. Offenbar hängt das auf das engste damit
zusammen, daß ja bei der Schizophrenie sehr vieles von dem,
was sonst innen ist, nicht mehr in der gleichen Weise den
Charakter des Innen trägt wie vorher. Das gesamte Seelen-
leben ist objektivierter, Subjektives ist zum Objekt geworden.
Die selbstbeobachtende Tendenz der Schizophrenie muß aber
in einem engen Zusammenhang mit dem Wahrnehmungs-
Ich und Ideal-Ich stehen. Es muß also in derartigen Fällen
das Ideal-Ich, und zwar wahrscheinlich dasjenige der höheren
Stufen, erhalten gebheben sein. Gleichzeitig haben aber eine
Reihe von verdrängenden Instanzen tieferer Stufen offenbar
ihre Verdrängungen aufgegeben. Damit wird primitives Ma-
terial frei, dessen sich das erhaltene Ich zum Teil mittels
der Selbstbeobachtung erwehrt. Wir stoßen hier zum ersten-
mal auf den wichtigen Grundsatz, daß eine Verdrängung
tieferer Stufe bereits aufgehoben sein kann, während eine
solche höherer Stufe noch funktioniert.
Wir haben uns nun zu fragen, ob es nicht Psychosen
gebe, bei welchen die Selbstbeobachtung eine besondere Rolle
spiele. Hier ist zunächst die Hypochondrie zu erwähnen, in
zweiter Linie die Depersonalisation. Hypochondrie und De-
personalisation sind klinisch auf das allerengste miteinander
verwandt, in beiden beherrscht die Selbstbeobachtung das
Bild. Wir wenden uns nun zunächst der Hypochondrie zu.
Wir meinen zunächst das hypchondrische Zustandsbild und
sind allerdings der Überzeugung, daß es Psychoseformen gibt,
welche als Krankheit Hypochondrie aufgefaßt werden können.
Ich habe diese Überzeugung an anderer Stelle vertreten. In
jeder Hypochondrie ist allzu vieles an Aufmerksamkeit, an
Libido, auf den eigenen Körper konzentriert. Die Wahr-
192
nehmung der Umwelt ist zwar ungestört, aber diese Umwelt
bietet kein Interesse, weder die belebten noch die unbelebten
Teile der Umwelt. Das hypochondrische Organ, wie das
Freud treffend ausgeführt hat, erhält so viel Beachtung wie
das normale Genitale. Von diesem strömen ja fortwährend
eine Reihe von Reizen zu, welche Beachtung fordern und
unter Umständen als lästig empfunden werden, wenn die
Gesamttendenz der Persönlichkeit in anderer Richtung geht.
Auch das hypochondrische Organ macht sich in ähnlich
lästiger Weise geltend. Es tritt Beachtung fordernd auf und
es läßt sich, wie Ferenczi betont hat und ich am eigenen
Material bestätigen kann, ohne weiteres nachweisen, daß
das hypochondrisch beachtete Organ nun unter Bildern be-
schrieben wird, deren grob sexuelle Symbolbedeutung ziem-
lich klar zutage tritt. Meist läßt sich unschwer zeigen, daß
Spannen und Ziehen, Hartwerden und Festwerden auf das
männliche Genitale hinweisen, das weibliche Genitale er-
scheint viel weniger häufig in den hypochondrisch beachteten
Organen. Es ist wohl notwendig, vom psychologischen Gesichts-
punkt aus die hypochondrischen Bilder in zwei Typen zu
sondern. Bei den hysterischen Hypochondrien ist die objekt-
libidinöse Beziehung hinter der hypochondrischen Beachtung
leicht festzustellen. Bei den echten Hypochondrien, bei den
hypochondrischen Zustandsbildern des manisch-depressiven
Irreseins und der Schizophrenie ist von dieser objektlibidi-
nösen Beziehung in der Hypochondrie nichts mehr zu spüren.
Offenbar sitzt die Störung bei der echten Hypochondrie aus-
schließlich in der narzißtischen Libido. Die Organe sind mit
narzißtischer Libido überladen und das Ich wehrt sich
gegen diese narzißtischen Überladungen. Deshalb die Selbst-
beobachtung, welche gleichzeitig das hypochondrisch be-
achtete Organ gegen die Außenwelt zu drängt. Es ist selbst-
verständlich, daß wir auch bezüglich der Genese hypochon-
drischer Erkrankungen an dem allgemeinen Schema der
Neurosen- und Psychosenlehre festhalten müssen, daß ein
aktueller Anlaß eine Libidostauung verursacht, welche an
einer Fixierungsstelle zum Durchbruch führt. Haben wir
•3 193
nun in den Einzelfällen Hin-weise darauf, wo solche Fixie-
rungssteüen liegen? Ich möchte hier auf ein Schwesternpaar
verweisen, über das ich an anderer Stelle ausführlicher be-
richtet habe. Die eine der Schwestern war im Anschluß an
eine leichte Verletzung an dem Daumen, die restlos unter
Zurücklassung nur ganz oberflächlicher Hautnarben ausgeheilt
war, an Hypochondrie erkrankt. Sie könne nichts mehr
arbeiten, ihre Hände seien unbrauchbar u. dgl. m. Es
ließ sich jedoch wahrscheinlich machen, daß der Unfall
von der Patientin aus inneren Motiven heraus gesucht worden
war, die Patientin schien sich gegenüber den Anforderungen
einer bevorstehenden Ehe insuffizient zu fühlen. Die Patientin
hatte sich, was den Gewohnheiten ihres Standes nicht ent-
sprach, früher stets ihre Hände sehr sorgfältig manikürt
und sie sagte auch, „die schönste Zierde einer Frau sind
ihre Hände". Hier hatte also das aktuelle Trauma den libi-
dinösen Konflikt ergeben, der zurückstauend Libido zu einem
narzißtisch besetzten Organ führt. Wir sind uns natürlich
bewußt, daß die narzißtische Überbetonung der Hand noch
tiefere Quellen haben muß, die wir nicht aufdecken konnten.
Aber immerhin erscheint uns der Weg durch den klinischen
Befund klar vorgezeichnet, wir dürfen jedenfalls eine Fixierungs-
stelle in der narzißtischen Phase annehmen, die sich in
der besonderen Wertschätzung der Hände manifestiert. Die
durchgebrochene Libido wird neuerdings abgelehnt. Bei
ihrer Schwester schließen hypochondrische Beschwerden an
eine unbefriedigende äußere Situation an, sie zentrieren sich
um den Kopf, „ das Gehirn tropft durch den Bachen hinunter
in den Leib, der Leib bläht sich auf". Nachfixierend wirkt
ein Schädeltrauma, das die Patientin in ihrem fünften Lebens-
jahre betroffen hat.
In der Hypochondrie wird also Empfindung zur Wahr-
nehmung gemacht. Ihre Fixierungsstelle liegt im narzißtischen
Bereiche. Wir gehen von der allgemeinen Voraussetzung aus,
daß jeder Trieb auch ein Objekt habe. Mit dem Ausdrucke
der Libido bezeichnen wir die Triebkraft, welche sich nicht
in dem Objekt, sondern vielleicht in der Art der Zuwen-
194
düng spiegelt. Welches ist nun die Repräsentanz des Nar-
zißmus? Für den primären Narzißmus muß man wohl sagen,
es sei der eigene Körper, und zwar wird man sich doch
wohl entschließen müssen, auch für den primären Narzißmus
anzunehmen, daß da ein Ich etwas empfinde und sich an
diesem Empfundenen freue, wobei dieses Empfundene, da
es ja nicht die Folie der Wahrnehmung hat, oder doch
nicht in ausreichendem Maße, wohl nicht ohne weiteres
mit dem gleichgesetzt werden kann, was dem Seelenleben
des Erwachsenen als Empfindung zugehört. Diese Empfin-
dung muß wohl etwas von den Qualitäten der Wahrnehmung
an sich haben, denn wir müssen den Empfindungsbegriff
nach wie vor zum Körper in die engste Beziehung setzen,
der Begriff Körper setzt aber den Korrelatbegriff Welt vor-
aus. Der Begriff Körper ist ohne den Begriff Welt geradezu
sinnlos. Bezüglich des sekundären Narzißmus müssen wir
aber sagen, daß er zum Objekt nicht nur den Körper selbst
hat, also die Wahrnehmung des Körpers, sondern daß er
auch Vorstellungsbilder des eigenen Körpers mit zum Gegen-
stand hat. Ja, ganz allgemein muß man sagen: um einen
bestimmten Körperteil libidinös besonders zu besetzen, muß
man eine Kenntnis von diesem Körperteil haben. Wie steht
es nun mit dieser Kenntnis vom eigenen Köper, wie erfassen
wir, wie stellen wir den eigenen Körper vor? Die Hirn-
pathologie gibt uns darüber Auskunft. Es zeigt sich, daß
unter Benützung von optischen und taktilen Elementen ein
Körperschema gebildet wird, und wir können bestimmte
Stellen an der Grenze des Scheitel- und Hinterhaupthirns
heranziehen, deren Läsion Störungen in der Bildung des
Körperschemas hervorruft. (He ad, Pick, eigene Unter-
suchungen.) Das Körperschema enthält die Einzelorgane und die
Lage der Einzelorgane zueinander. Es kann in primitiverer
Weise gestört werden durch Störungen im groben Material,
es kann aber auch Störungen unterliegen, welche ungefähr
den agnostischen und apraktischen Störungen entsprechen,
d. h. das vorhandene Körperschema kann im Erkennen
und Handeln nicht ohne weiteres verwertet werden. Das
'3* 195
Körperschema hat nicht nur zur Motilität enge Beziehungen,
sondern vom Körperschema aus können, wahrscheinlich auf
dem Wege über die vasovegetativen Apparate des Zwischen-
hirns, vegetative Funktionen dirigiert werden. Das Körper-
schema besteht offenbar aus einer Serie von zeitlich aufein-
ander folgenden Bildern. Amputierte haben ja so gut wie
regelmäßig im Anschluß an den Verlust der Extremität das
Bewußtsein, sie hätten ihre Organe noch. Sie spüren diese
und haben unter Umständen auch deren optisches Bild. Es
zeigt sich nun, daß längere Zeit nach der Amputation
oder nach dem Verlust einer Extremität das Phantomglied,
etwa die Hand, nicht nur näher an den Körper rückt, sondern
in den einzelnen Fällen auch den Charakter einer Kinder-
hand annimmt. Offenbar ist das die Wirkung eines körper-
schematischen Eindrucks, der aus früherer Zeit stammt. Das
Körperschema ist also ein sehr komplex gebautes psychisches
Gebilde, das aus mehreren historischen Schichten besteht.
Wir können dieses Gebilde hirnanatomisch fassen. Aller-
dings wissen wir derzeit nur etwas von der Vertretung der
äußeren Organe im Körperschema, während sowohl unsere
psychologische als auch hirnphysiologe Kenntnis von der
Vertretung der inneren Organe eine gänzlich ungenügende
ist. Hier hätten neue Untersuchungen einzusetzen. Erst vom
Körperschema aus kann die libidinöse Besetzung der ein-
zelnen Körperteile erfolgen. Ich habe bereits angedeutet,
daß vom Körperschema aus Verbindungen zu den vasovegeta-
tiven Apparaten des Zwischen- und Endhirns bestehen müssen.
Sicherlich wird von der Vertretung der inneren Organe im
Körperschema aus auch die Innervation der inneren Organe,
wahrscheinlich wiederum über das Zwischenhirn, innerviert.
Nun sind wir mit Freud der Anschauung, daß wir den
Hypochondrischen durchaus glauben müssen, daß sie Emp-
findungen an den Organen haben. Wir haben nicht das
Recht, die hypochondrischen Sensationen als Einbildungen
abzulehnen. Die Hirnphysiologie gibt uns bereits Hinweise
darauf, wie derartige Sensationen zustande kommen. Wir
müssen uns ja darüber klar sein, daß vom Zwischenhirn
196
alles Vegetative in entscheidender Weise beeinflußt wird.
Das ganze Heer der hypochondrischen Klagen und Sen-
sationen, welche sich ja weitgehend mit denen der Neur-
astheniker decken, wird so verständlich. Die Abänderungen
am Körperschema selbst, welche den Sensationen voraus-
gehen und deren Form bedingen, erfolgen sicherlich auf
psychischem Wege. Man kann es bei Neurasthenikern leicht
nachweisen, daß jene Teile des Körperschemas verändert
werden, deren Symbolbedeutung zu dem jeweiligen Konflikt
in Beziehung steht.
Zur Genese und Dynamik
des Erfinderwahns
Dr. Arthur Kielholz
Direktor der kantonalen Irrenanstalt in Königsfelden (Aargau)
Aus der „Internationalen
Zeitschrift für Psychoanalyse".
Im Mittelpunkt des paranoiden Systems des Görlitzer Schusters
Jakob Böhme steht das centrum naturae oder Naturrad, aus
sieben Quell- oder Saftgeistern sich zusammensetzend und im
ganzen Kosmos sich auswirkend, eine Projektion des psychischen
Prozesses des Autors in die Schöpfung mit unverkennbarer sexu-
eller Symbolik. Von dreien dieser Saftgeister, Mercurius, Sal und
Sulphur, die der Mystiker aus des Paracelsus Naturphilosophie
übernommen, haben wir seinerzeit 1 den ersten, den Mercurius
(gleich Quecksilber) als ein Bild der beweglichen, lebendigen
Natur gedeutet, die durch den harten Stachel erzeugt wird, den
zweiten, Sal, als die scharfe sexuelle Begierde und den dritten,
Sulphur, als die Angst des Weibes vor dem Wüten und Brechen
des Stachels.
Bei den Erklärungen eines in Königsfelden versorgten para-
noiden Erfinders, namens König, wurden wir neuerdings auf diese
l) Kielholz, Jakob Böhme: Ein pathographischer Beitrag zur Psycho-
logie der Mystik. Schriften zur angewandten Seelenkunde, XVII. H., S. 25.
197
Bedeutung des Quecksilbers aufmerksam. Alle seine Konstruktionen,
die er als selbsttätige Kraftentwicklungs- und Gewichtsregulierungs-
apparate, Perpetueno mobilletes, bezeichnete und die meist aus
zwei gleichartigen, mit einander verkuppelten Teilen bestanden,
zeichneten sich dadurch aus, daß die treibende Kraft durch kugel-
förmige, paarige Gewichte geliefert wurde. Diese Gewichte ent-
hielten Hohlräume oder standen mit solchen röhrenförmiger Art
in Verbindung. Darin fand sich das leichtflüssige Blei oder Queck-
silber. Die naheliegende Deutung, daß es sich dabei um eine
symbolische Darstellung der Testes und des daraus fließenden
Spermas, der Natur, wie er es bezeichnete, handelte, konnte
aber bei diesem Manne nicht genügen, um die Entstehung seiner
Maschinen völlig zu klären. Als seine erste und wichtigste Er-
findung bezeichnete er ein Velo, das lediglich durch das Gewicht
des Fahrers ohne Tretapparat bewegt werde. Nun hat der Kranke
von seiner Knabenzeit her ein durch Unfall verkürztes, atrophi-
sches Bein. Seine Verkrüpplung erweckte den Wunsch, die er-
schwerte Lokomotion durch wunderbare Apparate zu kompen-
sieren, sie verhinderte auch die natürliche Annäherung ans andere
Geschlecht und verstärkte so die homosexuelle Komponente seiner
Libido. Die Eindrücke einer Seefahrt nach Amerika, wohin er
als junger Mensch spediert wurde und während welcher offenbar
die erste stärkere Introversion statthatte, wahnhafte Erlebnisse in
langedauernder Strafhaft, wo die Wärter mit einem Lichtapparat
bei ihm Geblütsaufwallungen erzeugt haben sollten, damit ihm
die Natur auslaufe, kamen in einzelnen Teilen seiner Erfindungen
deutlich zum Ausdruck. Kurz, in diesen spiegelte sich seine ganze
Lebensgeschichte. Er wollte Maschinen machen, die seine Krüppel-
haftigkeit überwinden, in denen er sicher über Land und Wasser
und durch die Luft fahren konnte und durch welche seine ver-
kümmerte sexuelle Potenz vertausendfacht würde und ewig in
Tätigkeit bliebe. Bei einem zweiten Kranken, Birkler, wurden
wir auf eine weitere wichtige Komponente des Erfinderwahns, die
kaum jemals gänzlich fehlt, aufmerksam, die analerotische. Der
Mann war mit achtundvierzig Jahren wegen Diebstahls von Ge-
rüstbrettern, von denen er einen großen Haufen in seiner Stube
aufgespeichert hatte, um einen von ihm konstruierten Laufkran
zu errichten, inhaftiert worden. Das gleiche Delikt führte zwölf
Jahre später zu seiner dauernden Internierung. Er erwies sich
mit seinem Eigensinn, seiner Sammelwut, die sich auf Abfälle
und Gerumpel konzentrierte, und seinem Geiz, seiner pedantischen
i 9 8
Nörgelei und Hypochondrie als Musterbeispiel eines Analerotikers ,
der infolge starker Belastung von beiden Eltern Her und durch
ungünstige Einflüsse während der Kindheit stark introvertiert und
schließlich schizophren geworden war. Dem ersten Begutachter
fielen an seinen Erfindungen vorwiegend die Züge des Schwach-
sinns auf, die ihn an infantile Produktionen erinnerten, während
wir heute diese Betätigungen direkt als eine Begression zu solch
infantilen Spielereien auffassen. Alle seine Apparate, die er
patentieren und zum Wohle der Menschheit verwirklichen wollte,
gewinnen einen organischen Zusammenhang als Symbole und
Projektionen seiner Analerotik. So der Laufkran, mit dem er,
ohne sich von seinem Platze zu rühren, gefüllte Säcke voll Leder-
abfälle mit einem Zuge entleeren wollte. Es wird unnötig sein,
genauer auszuführen, warum er sein weiteres Interesse einem
Briefordner mit nicht durchlochtem Papier weihte, an welchem
Ort die Boden- und Wändeputzmaschine, welche die Größe eines
Stuhles haben sollte und der Schuhputzapparat, der mit einem
Hebel von der Hand bedient werden konnte, mit großer Wahrschein-
lichkeit die Stätte ihrer Entstehung hatten. Die Beobachtung
seiner Hausleute, daß er stets halbe Stunden lang auf dem Abort
zubrachte, sollte auch einem Skeptiker die Augen öffnen, und
ehenso ein Traum, an den er sich aus der Kindheit her lebhaft
erinnerte und in dem ihm der verstorbene Vater auf dem Wege
zum Klosett drohend entgegentrat. Und schließlich fügte sich
seine epochemachende Erfindung, ein Jahrzehnt vor dem Welt-
krieg entstanden, durch welche er das Vaterland vermittels
Bomben mit einem giftigen Gas vor seinen Feinden schützen
wollte, trefflich in die Kette seiner Produktionen.
Eine dritte Kranke, die Modistin Luise B., eröffnete den
Reigen ihrer Erfindungen, die sie alle auf kleine, unscheinbare
Papierfetzchen zeichnete, ebenfalls mit Modellen, die sich auf die
Defäkation beziehen. So betraf ihre erste Erfindung, in schlaflosen
Nächten ersonnen, einen geruchlosen Nachtstuhl mit Klappe. Dann
konstruierte sie eine Reformhose für unreinliche Patienten mit
einer Klappe über den Damm. Im übrigen regredierte die Kranke,
die sich bis zur Zeit der Klimax die Erfüllung realer erotischer
Wünsche versagt gesehen hatte, in ihrer Psychose zu infantilen
Phantasien und Spielereien, die zuerst in Träumen, dann in Form
von scheinbar harmlosen Verbesserungen und Erfindungen von
Gebrauchsgegenständen Gestalt annahmen und die zum Hauptobjekt
in vielfachen Variationen das membrum virile hatten, das sehn-
199
süchtig vermißte Glied, an welches Erinnerungen aus frühester
Jugend mit Neid und Furcht beladen anknüpften. Ausgelöst wurde
diese Phallussymbolik durch den Tod eines geliebten älteren
Bruders, der während ihrer Internierung als verblödeter Katatoniker
in derselben Anstalt starb. Sie, die fromme Katholikin, verlangte
von den Ärzten, daß dessen Leiche exhumiert und nach besonderer
Methode konserviert werde durch Anstreichen vermittelst eines
Malerpinsels mit einer stark ätzenden Flüssigkeit, einer Art Chlor-
kalk, Eisenvitriol, Salzsäure, die ein Chemiker zusammensetzen
müßte. Diesen Prozeß, den sie Karbonisation benannte, beschrieb
sie mit eigentümlich lüsternem Lächeln. Daneben sollte auch dem
Leichnam mit der gleichen Flüssigkeit ein Klistier appliziert
werden, um die Verwesung von innen zu verhindern. Einmal
zeichnete sie einen vorn zugespitzten Sporn, der in Mannesgröße,
in der Mitte gewölbt, vorn zugespitzt, aus rötlich-rosa Zement in
einem Bachbett angebracht werden sollte, um bei Hochwasser
herunterkommende Baumstämme und ähnliche Gegenstände abzu-
leiten, um eine Zerstörung des Bachbettes zu verhüten. Sie hatte
davon geträumt, daß sie über einen solchen Sporn in gefährlicher
unangenehm-angenehmer Weise hinuntergerutscht sei, so daß sie
nachher zerzauste Haare hatte und sie ein Schauer überkam. Unten
sei eine artige, einfach gekleidete Frau in einer Schürze gestanden,
die sie mit den Worten empfing: „Wie kommen Sie da hinunter,
das ist nicht ein praktikabler Weg.« Wir versuchten nachträglich
von der Kranken Assoziationen zu besserer Deutung des Traumes
zu erhalten, die eintretenden schizophrenen Sperrungen ver-
hinderten aber jede Produktion weiteren Materials. Der im Traum
dargestellte Vorgang dürfte wohl außer dem Inzest mit dem Vater
eine Wiedergeburtsphantasie verhüllen, wobei die Schürzenträgerin
als Hebamme ihre kritischen Bemerkungen macht.
Bei einer vierten Erfinderin, Lina Maler, sind die hier nur
vermuteten Zusammenhänge zur drastischen Wirklichkeit geworden. >
Eine erblich belastete, in schwül-sektiererischem Milieu auf-
gewachsene Tochter war neurotisch erkrankt, als sie sich eine
lange dauernde Liebschaft plötzlich versagt hatte. Die Regression
zur Inzestliebe führte sie darauf zum sexuellen Verkehr mit einem
Bruder, dem ein Kind entsproß, und zum Bau eines religiösen
Wahnsystems, um sich im Konflikt mit der bestehenden Moral
i) Der Fall ist ausführlich dargestellt in der Publikation: Dr. A. Wede-
kmd, Kasuistik der psychischen Infektionen. Journal für Psychologie und
Neurologie, Bd. 22 und 23, 1917.
zu rechtfertigen. Ihre Erfindung, die sie später im Modell hatte
ausführen lassen, bestand in einem Gestell von der Form einer
Granate, aus Bambusrohren, mit Vorhängen bekleidet und be-
stimmt, Kinderwagen, Laufstuhl und Wiege zu ersetzen. Durch
Schnüre, die an der Spitze der Gestelle zusammenlaufen und dort
durch drei Ringe angezogen werden können, kann die Lagerstätte
des Kindes, die sich sonst in der Mitte befindet, in die Höhe
bewegt werden und dadurch wird der in der unteren Hälfte des
Korbes befindliche, aus Netzwerk geflochtene Laufstuhl frei, an
dessen Boden ein Gefäß zum Auffangen von Urin und Stuhl an-
gebracht ist. Der Laufstuhl soll die Kinder vor dem Herausfallen
schützen. Die Idee zu der Erfindung hatte sie bekommen, als sie
zur Erholung von ihrem Nervenleiden sich bei einer verheirateten
Schwester aufhielt und deren Kinder überwachen mußte. Die
einzelnen Teile seien ihr jeweilen im Traume offenbart worden,
also von Gott.
Ihre Erfindung war nun für sie vor allem der symbolische
Ausdruck ihres religiösen Wahnsystems und man würde sich deren
Deutung allzu einfach und zu leicht machen, wenn man das Ganze
lediglich als Phallus betrachten wollte. Unzweifelhaft lieferte ja
dieser mit seinen Funktionen das Grundschema. Aber wie sie bei
ihren Erklärungen vom männlichen Glied auf den Satan, den
Versucher, kam, dann auf ihren Bruder Jakob, der ihr gegenüber
den Versucher machte und damit auf ihre von den Menschen
verabscheute und doch gottgewollte Ehe, so bedeutete ihr auch
ihre Erfindung die Arche Noah, welche die ganze Schöpfung ent-
hält, oben den dritten Himmel und darunter die drei Weltreiche ;
sie bedeutet ferner die Ehe zwischen dem harten Männlichen (den
Bambusstäben) und dem weichen Weiblichen (der Lagerstätte des
Kindes). Die Spitze mit den drei Ringen erinnerte sie an den
Prokuristen, der an der Spitze des Geschäftes stand, in dem sie
früher arbeitete und der ihre Liebe zuerst hervorlockte, dann sie
verleugnete, wie König Juda die Thamar. Und weil der Apparat
für sie ihre Haupterlebnisse verdichtet enthielt, konzentrierte sich
darauf so viel Affekt, daß sie glaubte, damit imstande zu sein,
den Satan zu erlösen, so den Konflikt zwischen diesem und Gott
aus der Welt zu schaffen und den gänzlichen Frieden zu erzeugen.
An diesen Apparat, den die Erfinderin Kinderballon benannte,
erinnerte mich ein scherzhaftes Geschenk, das mir von einer
Patientin namens Bauer gemacht wurde, kurz, bevor sie unsere
Anstalt gebessert verließ, und das sie selbst aus einer defekten
Glühbirne angefertigt hatte. Sie wandelte dieselbe durch Strick-
arbeit in einen Ballon um, den sie mit Wimpeln und Wappen
schmückte und mit einem zierlichen, bebarteten Männchen be-
mannte, das unter jedem Arm ein Geldsäcklein trug. Am Boden
des Ballons befanden sich zudem mehrere Säcklein Sandballast.
Über die Bedeutung ihres Ballongeschenkes berichtete sie, es sei
das ihre Idee und Erfindung. Der Luftschiffer sollte ihren lieben
Mann selig darstellen, wie sie ihn seit ihrem letzten Zusammen-
leben in Erinnerung hatte mit seinen schwarzen Schnurr- und
Bockbärtchen, Welch letzteres er ihr zu zuliebe trug, weil sie es
an ihm so gern gesehen habe als Familienvater und wie es auch
ihr lieber Vater selig getragen habe. Bei der Luftschifferarbeit
habe sie einmal den Gedanken gehabt, wenn es nur in Wirklich-
keit ihr lieber Mann selig wäre, der sie in einem richtigen
Ballon in ein anderes Land führen würde und nicht mehr zu-
rück zu der verhaßten Schwiegermutter in deren verhexte Hütte.
Die beiden Geldsäcke habe sie ihm unter den Arm geschoben,
weil sie sich sagte, daß solche Luftschiffer wohl nicht ohne Geld
herumfliegen, damit sie, wenn sie landen, damit versehen seien.
Sie hat also die Bedeutung ihres Geschenkes klar und hübsch
ausgedrückt als symbolische Erfüllung des Wunsches, mit dem
Mann der rauhen Wirklichkeit zu entfliehen und ein neues,
schönes Leben zu beginnen. Wenn wir dabei der Bedeutung der
Plugträume gedenken, so brauchen wir die sexuelle Symbolik
des Spielzeuges nicht näher zu beleuchten. Die Hochzeitsreisen
im Plugzeug sind wohl nicht ohne Grund so rasch Mode ge-
worden !
Groddeck hat in seiner Abhandlung über den Symbolisierungs-
zwang (im „Imago", Bd. VII) die Glühbirne als Phallusgleichnis
erwähnt. Nun denkt sie sich selbst in dem aus der Glühbirne
hergestellten Ballon aufsteigend hinein. Die beiden Geldbeutel,
die ihr lieber Mann selig unter den Armen trägt und mit denen
sie beide in einem fremden Lande versehen sein müßten, sind
als symbolische Darstellung des männlichen Samens mit seinem
zweiteiligen Behälter zu deuten. Die Erinnerung an die im Turm
eingesperrte Danae, die vom Göttervater Zeus vermittels eines
Goldregens ergötzt wurde, ist naheliegend, besonders wenn man
sich vergegenwärtigt, daß das Männchen mit seinem Bärtchen
von seiner Schöpferin ausdrücklich als Reminiszenz an ihren
Vater bezeichnet wird. Wir haben erfahren, daß sie von ihrem
Mann die gleiche Barttracht forderte, die jener trug, und erkennen
203
daraus unschwer, daß sie eine Vater-Imago geheiratet hat und daß
bei ihr eine starke Bindung an ihren Erzeuger bestanden haben
muß. Frau Bauer hat ferner daraufhingewiesen, daß die übrigen
Säcke im Ballon als Sandballast aufzufassen seien. Kommt darin
vielleicht die analerotische Komponente zum Vorschein, die ja
auch sonst im Charakter der Hausfrau nicht fehlt? Sie wurde
als sehr exakt geschildert und ihre Psychose wurde erstmals aus-
gelöst durch die physische und moralische Unsauberkeit von be-
trunkenen Schornsteinfegern, die ihre Wohnung beschmutzten.
Während der Krankheit war sie gegen den Mann, der als Loko-
motivführer ebenfalls ein russiges Handwerk betrieb, beständig
sehr feindselig eingestellt, und erst unmittelbar nach seinem Tod
hatte ihr Leiden sich zu bessern angefangen.
Bei dem Erfinder Messer geht die Vorliebe für Maschinen
auf die ersten Kinder jähre zurück, wo er sich damit vergnügte,
das Räderwerk alter Schwarzwälder-Uhren auseinanderzunehmen.
Wir wissen aus der Analyse von ähnlichen Kinderspielen, daß
dahinter die sexuelle Neugier nach dem Bau des menschlichen
Körpers, besonders des Mutterleibes steckt. Seine früheste Er-
innerung ist die lustbetonte an warme Bäder, in die er von der
Mutter gesteckt wurde, wenn er sich mit seinen Exkrementen
beschmutzt hatte; seine erste und einzig patentierte Erfindung
ein hydraulischer Widder, dessen Prinzip ein im Wasser schräg
auf und ab bewegter Trichter, durch den die Flüssigkeit im
Strahl emporsteigt. Wahrscheinlich hat ihm seine Mutter im Bad
zum Zeitvertreib einen solchen Trichter zugesteckt. Dazu kommt
das Spiel mit dem eigenen, Strahlen erzeugenden Genitale. Daran
knüpfen später Projekte von gigantischen, das Meer überbrückenden
Schiffen und Eisenbahnen. Sicher ist auch die Pilgerfahrt übers
Meer zum heiligen Grab, die der Mann später unternommen hat,
von diesen Reminiszenzen mit determiniert. Seine Liebschaften,
die meist junge Mädchen betrafen, blieben auffallend platonisch.
Eine von ihrem Manne geschiedene Geliebte mit mehreren un-
ehelichen Knaben, bei der er den früheren Gatten durch seine
Potenz zu überbieten versprach, und an die er das sonderbare
Ansinnen stellte, an ihren Brüsten saugen zu dürfen, wie er das
bei seiner Mutter getan zu haben sich mit Vergnügen erinnerte,
ist sicher als Mutter-Imago anzusprechen. Sie sollte nach seiner
Behauptung das einzige Weib sein, mit dem er sexuell verkehrte.
Das Verhältnis erwies sich somit als Inzest und die eigenartige
Todesstrafe, mit der er sich selbst bedachte und seine Umgebung
203
in Schrecken versetzte, indem er eine Dynamitpatrone in seinem
Munde explodieren lassen wollte, könnte als Selbstbestrafung
dafür, d. h. als eine nach oben verlegte Kastration erklärt werden.
Aus dem Ödipus-Komplex läßt sich auch der von ihm begangene
Mordversuch an einem Pabriksnachtwächter, dem er den Schlüssel
zum Kassenschrank raubte, deuten. Während der zwölfjährigen
Haftstrafe, die ihm dies Verbrechen eingetragen hatte, war sein
Erfinderwahn ausgebrochen. Indem er sich durchs Zellenfenster
in ein in der Nähe beobachtetes Bauernmädchen verliebte, fühlte
er einen warmen Strom vom Herzen zum Kopfe fließen, eine
himmlische Stimme sprach ihm das weichste Herz der Welt zu,
weich wie ein Milchfluß, und er erfand darauf Apparate mit
feuerloser Dampfheizung, mit besonderen elektrischen Strömen,
die sowohl Licht als Wärme spendeten, bei denen durch den
elektrischen Strom das Quecksilber in den Röhren erwärmt und
ausgedehnt und durch den Luftstrom eines Ventilators wieder
abgekühlt und zum Fallen gebracht, also ein Perpetuum mobile in
Gang gesetzt wurde. Sie sehen auch hier, wie eng die Erfindungs-
phantasie mit dem ganzen Wahnsystem im Zusammenhang steht
und ihre Wurzel im Sexuellen hat. Eine Sonderstellung nimmt
bei Messer die Erfindung eines kugelförmigen Einradvelos mit
einem darin sitzenden Knaben oder Manne, der es durch seine
Rumpfbewegungen und sein Gewicht in Bewegung setzen kann,
insofern ein, als hier nicht das väterliche Genitale, sondern die
Gebärmutter mit ihrem beweglichen Inhalt wohl den Ausgangs-
punkt der Idee geliefert hat. Der Knabe, der die Herkunft seiner
ihm zahlreich nachfolgenden Geschwister und glücklichen Kon-
kurrenten an der beneideten mütterlichen Milchquelle sicher
erriet, wünscht sich als Häftling an diesen Ort wunschlosen
Glückes zurück.
Der letzte Erfinder endlich, Moor, zeichnete ein Perpetuum
mobile von Zylinderform, bestehend aus sechs zu zwei Paaren an-
geordneten Walzen, die durch Stahlfedern aneinandergepreßt und
in Rotation gesetzt werden sollten. Für große Kraft befinde sich
zudem an der Basis eine aus zwei kugelförmigen Bomben be-
stehende Luftpreßvorrichtung. Aus der recht konfusen Beschreibung
ist hervorzuheben, daß der Apparat an jedem Rad, auch an jedem
Velo angebracht werden könne, daß er in jeder Lage wirksam
sei, daß der Mechanismus aus sogenannten kreislaufend zusammen-
hängenden Kraftpolypen bestehe. Außer Rolle, Wellrad und
Schraube komme bei dem System auch endloser Keil, Hebelarm
204
und schiefe Ebene zur Anwendung-, was man bei den bisher kon-
struierten Maschinen unterlassen habe. Bei dem Hebelsystem sei
der Weg der Kraftübertragung eine Schlangenlinie. Jeder Kraft-
empfänger sei auch ein Kraftabgeber. Alle diese Linien verlaufen
auch in entgegengesetzter Richtung, weil selbstverständlich zwei
benachbarte, ineinander wirkende Bestandteile wie Ruder sich
drehen. Die Grundidee, den Überwindungspunkt für den Kreis-
lauf zu finden, liege in der von ihm gefundenen Quadratur des
Kreises, welches Problem man bisher vergeblich zu lösen versucht
habe usw. Er erklärte, er habe in Gedanken ein Wagenrad auf
dem steif ausgestreckten Arm hängen gesehen und dabei die Idee
bekommen, es müßte auf jeden Punkt des Rades ein solcher
Hebel wie ein steifer Arm wirken, damit es dauernd in Gang
bleibe. Es ist wohl kaum zweifelhaft, daß wir in dem steif aus-
gestreckten Arm, dem Grundgedanken der Erfindung, eine Ver-
legung nach oben vor uns haben.
Dem in Exzessen aller Art, nicht zum wenigsten in Venere,
vorzeitig gealterten und impotent gewordenen Manne sollte das
beständig kraftabgebende, aus sechs Walzen zusammengekuppelte
zylindrische Perpetuum mobile die geschwundene Potenz ersetzen.
Die beiden Bomben mit komprimierter Luft an der Basis des
Apparates erinnern uns einerseits an die kraftspendenden, kugel-
förmigen Gewichte des Erfinders König, anderseits an die Gift-
gasbomben Birklers. Es fehlt somit auch hier der analerotische
Zusatz nicht. Darauf, daß das Interesse für geometrische Probleme,
wie die Quadratur des Zirkels, aus sexuellen Quellen gespeist
wird, ist in der psychoanalytischen Literatur schon mehrfach hin-
gewiesen worden.
Wenn wir die kurz skizzierten sieben Fälle unserer Erfinder
vergleichend zusammenstellen, so nimmt der zweite, Birkler, mit
seinem stark ausgesprochenen analerotischen Charakter, der uns
auch die Erklärung für seine Erfindungen liefert, eine gewisse
Sonderstellung ein. Aber auch bei anderen fehlt ein starkes Inter-
esse für die Exkremente nicht: Luise B. beginnt den Reigen ihrer
Verbesserungsvorschläge mit einem geruchlosen Nachtstuhl und
einer Reformhose für unreinliche Kranke; Lina Maler erklärt
das Gefäß zum Aufsaugen für Urin und Stuhl für eine Hauptsache
und den wichtigsten Punkt an ihrem Kinderballon; Frau Bauer
sondert ihre Ballastsäcke in solche mit Geld und solche mit
Sand; Moor hat an der Basis seines Apparates Bomben mit kom-
primierter Luft.
205
Nur in einem Fall, beim Einradvelo Messers, führt uns die
Deutung auf den mütterlichen Uterus als Ausgangspunkt der Kon-
struktion zurück.
Sonst werden uns vorwiegend Maschinen vorgeführt, die in
erster Linie als Darstellungen des männlichen Genitales auf-
zufassen sind. Sind es bei König hauptsächlich die Testes, die in
den überall vertretenen Gewichten seinen Maschinen Kraft ver-
leihen, so haben wir es bei dem Quecksilberröhrenperpetuum
Messers und dem aus Walzen zusammengekuppelten Zylinder
Moors wohl ebenso sicher mit einer symbolischen Darstellung
des membrum virile zu tun wie bei dem Sporn im Bachbett der
Luise B., dem übermannsgroßen Kinderballon Lina Malers und
dem Glühbirnenballon Frau Bauers. Wenn wir aus der Größe
dieser Bildungen den Schluß ziehen, daß er der Penis des Vaters
ist, der die Phantasie erregt und beschäftigt hat, so sind wir
auch dazu durch die sicher nachgewiesenen inzestuösen Bindungen
der betreffenden Kranken vollauf berechtigt. Halten wir ferner
zusammen, daß sich Luise B. mit der Verbesserung von Aufzügen
beschäftigt hat, daß sich im Kinderballon der Lina Maler eine
Art Aufzug für die Kinder befindet, daß König von einem elek-
trischen Aufzug im Hohlraum der Strafanstaltsmauer fabuliert
und daß Frau Bauer sich selbst zu dem Männchen in dem Ballon
aufsteigend hineinphantasiert, so erinnert dieser gemeinsame
Mechanismus an die sogenannten Spermatozoenträume, über
welche Silberer (Jahrb. f. psa. Forschungen, Bd. IV, S. 141)
berichtet hat, die in Parallele zu setzen seien mit den Vor-
stellungen primitiver Zeitalter von der Beschaffenheit des Samens,
der aus kleinen Menschlein bestehen soll, die im erigierten Glied
emporsteigen. Er schreibt diesen Vaterleibsphantasien als Haupt-
bedeutung den Wunsch zu, das gegenwärtige Leben los zu sein,
d. h. noch in jener Zeit sich zu befinden, wo das Leben in dieser
Form noch nicht vorhanden war.
Alle Erfindertätigkeit, auch die sogenannte normale, tendiert nun
zur sei es auch noch so partiellen Verbesserung und Erneuerung
der bestehenden Lebensverhältnisse. Die an unseren Wahnkranken
festgestellten Mechanismen haben unzweifelhaft auch für die erfolg-
reichen, nicht paranoiden Erfinder Geltung. Wir erinnern beispiels-
weise an die Form von Zeppelins starrem und Parsevals halbstarrem
Lenkballon. Diese glücklicheren Genossen unserer Schizophrenen
unterscheiden sich von diesen vor allem dadurch, daß es ihnen
gelang, ihre Ideen mit rastloser Energie zu verwirklichen.
206
Wie beim ausgewachsenen Fötus der Zusammenhang mit der
Mutter nur noch durch die Nabelschnur besteht und auch dieser
schließlich überflüssig wird, wenn die völlige Reife erreicht ist,
so läßt sich bei diesen gelungenen Erfindungen die innige
Verbindung mit dem übrigen Ideenkomplex ihrer Schöpfer am
Ende nicht mehr nachweisen, während das bei den halb aus-
gereiften Früchten unserer kranken, paranoiden Gehirne noch
leicht möglich ist. In diesen Föten spiegelt sich oft die ganze
Vergangenheit mit ihren Haupterlebnissen deutlich wieder.
Es ist sicher kein Zufall, daß die zwei einzigen unserer Er-
finder, die ihre Phantasien zu verwirklichen vermochten, Lina
Maler und Rosa Bauer, auch den vollen Anschluß an die Realität
des Lebens wieder gewonnen haben. In anderer Weise versuchte
ihn Messer zu erlangen, indem er resolut alle seine Erfindungen
als „Bruch" erklärte, d. h. zu dem reduzierte, was sie ursprünglich
waren, zu Hirngespinsten.
Wir dürfen daraus unseres Erachtens auch für gesunde und
neurotische Projektenmacher einen therapeutischen Wink folgern,
nämlich den, daß es auch für diese zwei Wege zweckmäßiger
Erledigung gibt: den aktiven, stärkenden der Verwirklichung und
den passiven, aber oft einzig möglichen des Verzichts. Sache des
Psychagogen wird es sein, aus Veranlagung und Kräftezustand
die Chancen des einen oder anderen zu ermessen.
Sie haben gehört, daß die Mehrzahl unserer Erfinder mit dem
Strafgesetz in Konflikt gekommen ist und kürzere oder längere
Haftstrafen erlitten hat. Bei den einen ist während dieser der
Erfinderwahn ausgebrochen, bei den anderen hat der Drang, die
Erfindungen zu verwirklichen, zu betrügerischen oder diebischen
Delikten und damit zur Inhaftierung geführt. Jene hat die Ein-
samkeit und das Schweigegebot gezwungen, hinabzusteigen in die
Tiefen des eigenen Ichs und da scheinbar längst begrabene
Jugendträume zu neuem Leben zu erwecken, bei diesen haben
sich solchen Träumen soviele Erlebnisse von frühester Kindheit
an assimiliert und hat sich darauf soviel Affekt konzentriert, daß
überwertige Wahngebilde entstanden, neben denen die Realität
mit ihren Forderungen verblaßte und vernachlässigt wurde.
Und diese Ähnlichkeit unserer Erfinder mit anderen Verächtern
der Wirklichkeit, mit den Mystikern, führt uns wieder zum
Ausgangspunkt unseres Themas zurück, zum centrum naturae oder
Naturrad Jakob Böhmes, das sich in Ewigkeit dreht im be-
ständigen Inqualieren der sieben Saftgeister und so den ganzen
207
Kosmos in Bewegung hält. Ist das nicht auch ein Perpetuum mobile,
wie diejenigen unserer sieben Paranoiden auf sexueller Symbolik
basierend? Und wenn wir einen Unterschied zwischen den beiden
Typen statuieren wollen, so ist es der, daß der vorwiegend aktive
Erfinder das schaffen möchte, was der mehr passive Mystiker
nur zu schauen begehrt: Die Genitalien seiner Erzeuger in all-
mächtiger Tätigkeit begriffen!
Wir resümieren:
Die Produkte der schizophrenen Erfinder erweisen sich als
Teile ihres Wahnsystems, wie dieses auf unerledigten psycho-
sexuellen Konflikten basierend. Sie lassen sich als Regressionen
auf infantile Zeugungs- und Geburtstheorien analysieren, die nach
Freud zu einer Zeit gebildet werden, wo das Kernproblem noch
unverdrängt ist. (Über Psychoanalyse. Ges. Schriften, Bd. IV, S. 396.I
Dementsprechend sind inzestuöse Bindungen oft ausgesprochen.
Die Gestalt und Funktion des väterlichen Genitales sind bevor-
zugtes Objekt. Gewisse Einzelheiten verraten verstärkte anal-
erotische Interessen.
Die Erfindungen stehen in symbolischer Beziehung zu affekt-
betonten Erlebnissen aus dem ganzen Leben des Erfinders. Daher
rührt ihre überwertige Bedeutung für diesen und der starke Drang
zu ihrer Verwirklichung, der selbst vor kriminellen Handlungen
nicht zurückschreckt.
208
1
1
VERZEICHNIS
DER IM
INTERNATIONALEN
PSYCHOANALYTISCHEN
VERLAG IN WIEN
BIS HERBST 1925 ERSCHIENENEN
1
i.
BUECHER UND
ZEITSCHRIFTEN
Hermann Hesse
in der „Neuen Rundsdiau" über die Freud-Gesamtausgabe
Eine große, schöne Gesamtausgate, ein würdiges und verdienst-
volles Werk wird da unter Dach gebracht ... Es sei diese Ausgabe
des Gesamtwerkes herzlich begrüßt. In der deutschen Wissenschaft
der letzten Jahrzehnte finden sich sehr wenige Gestalten, die sich
an Umfang wie an Tiefe der Wirkung mit Freud vergleichen
könnten . . . Sein Werk überzeugt auch außerhalb der Gilde durch
ganz hohe menschliche sowohl wie literarische Qualitäten ... Das
Schöne und merkwürdig Reizvolle an den Schriften Freuds ist
dies Hingezogensein eines ungewöhnlich starken Intellekts zu
Fragen, die alle ins Überrationale führen, der immer erneute,
geduldige, dabei kühne Versuch eines disziplinierten Geistes, mit
dem doch stets zu groben Netz reiner Wissenschaftlichkeit das
Leben selbst einzufangen. Der sorgfältige Forscher und klare
Logiker Freud hat sich ein vorzügliches Instrument in seiner
ganz intellektualistischen, aber prachtvoll scharfen, genau defi-
nierenden, gelegentlich auch kämpf- und spottlustigen Sprache
geschaffen.
SIGM. FREUD
GESAMMELTE SCHRIFTEN
Elf Bände in Lexikonformat. Unter Mitwirkung des Verfassers
herausgegeben von Anna Freud u. A. J. Storfer. Bis Herbst I^2J
sind zehn Bände erschienen; Band XI in Vorbereitung. Preis des
Gesamtwerkes geh. M. l8o.-, in engl. Ganzleinen M.220.-, in Halb-
leder (Schweinsleder) M. 2 8 0.~, in Ganzleder (handgeb.JM. 680.-
I. BAND
(mit einer Kunstbeilage)
Studien über Hysterie
Frühe Arbeiten zur Neurosen lehre 1892-99
(Charcot — Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemer-
kungen über die Entstehung hysterischer Symptome durch den
Gegenwillen — Quelques considerations pourune Ätude compara-
tive des paralysies motrices organicmes et hystericpies — Die
Abwehr- Neuropsychosen — Über die Berechtigung, von der
Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als „Angst-
neurose" abzutrennen — Obsessions et phobies — - Zur Kritik
der Angstneurose — Weitere Bemerkungen über die Abwehr-
Neuropsychosen — L'her6dit6 et l'Stiologie des nevroses — Zur
Ätiologie der Hysterie — Die Sexualität in der Ätiologie der
Neurosen — ■ Über Deckerinnerungen)
III
II, BAND
(mit einer Kunstbeilage)
Die Traumdeutung
III, BAND
Ergänzungen und Zusatzkapitel zur Traumdeutung
Über den Traum
Beiträge zur Traumlehre (Märchenstoffe in Träumen
— Ein Traum als Beweismittel — Traum und Telepathie —
Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung)
IV. BAND
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
Das Interesse an der Psychoanalyse
Über Psychoanalyse (Fünf Vorlesungen an der Clark
University in Worcester Mass.)
Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung
V. BAND
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (I. Die
sexuellen Abirrungen — II. Die infantile Sexualität — III. Die
Umgestaltungen der Pubertät — Zusammenfassung)
Arbeiten zum Sexualleben und zur Neurosen-
lehre (Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der
Ätiologie der Neurosen — Zur sexuellen Aufklärung der Kinder
— Die „kulturelle" Sexualmoral und die Nervosität — Über infan-
tile Sexualtheorien — Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens:
Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne.
Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. Das Tabu
der Virginität — Die infantile Genitalorganisation — Zwei
Kinderlügen — Gedankenassoziation eines vierjährigen Kindes
— Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität
— Über den hysterischen Anfall — Charakter und Analerotik
— Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik —
Die Disposition zur Zwangsneurose — Mitteilung eines der
rv
psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Para-
noia — Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auf-
fassung — Eine Beziehung zwischen einem Symbol und einem
Symptom — Über die Psychogenese eines Falles von weib-
licher Homosexualität — „Ein Kind wird geschlagen" — Das
ökonomische Problem des Masochismus — Über einige neuro-
tische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität
— Über neurotische Erkrankungstypen — Formulierungen über
die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens — Neurose und
Psychose — Der Untergang des Ödipuskomplexes)
Metapsychologie (.Einige Bemerkungen über den Begriff
des Unbewußten in der Psychoanalyse — Triebe u. Triebschick-
sale — Die Verdrängung — Das Unbewußte — Metapsychologi-
sche Ergänzung zur Traumlehre — Trauer und Melancholie)
VI. BAND
Zur Technik (Die Freudsche psychoanalytische Methode —
Über Psychotherapie — Die zukünftigen Chancen der psycho-
analytischen Therapie — Über „wilde" Psychoanalyse — Die
Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse — Zur
Dynamik der Übertragung — Ratschläge für den Arzt bei der
psychoanalytischen Behandlung — Über fausse reconnaissance
[„dejä racontÄ"] während der psychoanalyt. Arbeit — Zur Ein-
leitung der Behandlung — Erinnern,Wiederholen u. Durcharbeiten
— Bemerkungen über die Übertragungsliebe — Wege der psycho-
analyt. Therapie — Zur Vorgeschichte der analytischen Technik)
Zur Einführung des Narzißmus
Jenseits des Lustprinzips
Massenpsychologie und Ich-Analyse
Das Ich und das Es
Anhang (Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose —
Notiz über den „Wunderblock")
VII. BAND
(mit zwei Kunsibeilagen)
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
VIII. BAND
Krankengeschichten (Bruchstück einer Hj sterieanalyse
— Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben — Über einen
Fall von Zwangsneurose — Psychoanalytische Bemerkungen
über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia
— Aus der Geschichte einer infantilen Neurose)
IX. BAND
(mit einer Kunstbeilage)
Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten
Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva"
Eine Kindheätserinnerung des Leonardo da Vinci
X. BAND
(mit zwei Kunstbeilagen)
Totem und Tabu
Arbeiten zur Anwendung der Psychoanalyse
(Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse — Zwangshand-
lungen und Religionsübungen — Über den Gegensinn der
Urworte — Der Dichter und das Phantasieren — Mythologische
Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung — Das Motiv
der Kästchenwahl — Der Moses des Michelangelo — Einige
Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit: Die Aus-
nahmen. Die am Erfolge scheitern. Die Verbrecher aus Schuld-
bewußtsein — Zeitgemäßes über Krieg und Tod — Eine
Schwierigkeit der Psychoanalyse — Eine Kindheitserinnerung
aus „Dichtung und Wahrheit" — Das Unheimliche — Eine
Teufelsneurose im XVII. Jahrhundert)
Der in Forbereitung befindliche XI. BAND wird
Nachträge, Bibliographie und Gesamtregister enthalten
VI
SIGM. FREUD
EINZELAUSGABEN
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
I. Teil (Fehlleistungen) geheftet M. 2.—, II. Teil (Traum) geheftet
M. f.—, III. Teil (Allg. Neurosenlehre) geheftet M. 7.—.
Die 3 Teile in einem Band: Große Ausgabe (mit einer Kunstbeilage
und einem Sachregister) Ganzleinen M. 16. — , Halbleder M. iy, — /
Taschenausgabe (auf dünnem Papier, biegsam gebunden, mit Sach-
register) Ganzleinen M. 12. — , Ganzleder M. J/. — .
Inhalt: Vorwort. - Erster Teil: I. Einleitung / IL-IV. Fehlleistungen.
- Zweiter Teil (Der Traum): V. Schwierigkeiten und ersteAnnähe-
rungen / VI. Voraussetzungen und Technik der Deutung / VII. Manifester
Trauminhalt und latente Traumgedanken / VIII. Kinderträume / IX. Die
Traumzensur / X. Die Symbolik im Traum / XI. Die Traumarbeit / Xu. Analysen
von Traumbelspielen / XIII. Archaische Züge und Infantilismus des Traumes
/ XTV. Die Wunscherfüllung / XV. Unsicherheiten und Kritiken. - Dritter
Teil (Allgemeine Neurosenlehre): XVI. Psychoanalyse und Psychia-
trie / XVII. Der Sinn der Symptome / XVHL Die Fixierung an das Trauma.
Das Unbewußte / XIX. Widerstand und Verdrängung / XX. Das mensch-
liche Sexualleben / XXI. Libidoentwicklung und Sexualorganisation /
XXII. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie / XXIII. Die
Wege der Symptombildung / XXIV. Die gemeine Nervosität / XXV. Die
Angst / XXVI. Die Libidotheorie und der Narzißmus / XXVn. Die Über-
tragung / XXVHI. Die analytische Therapie. - Register.
Diese getreue Wiedergabe von 28 Vorlegungen, die Prof. Freud in zwei
Semestern vor einer aus Ärzten und Laien und aus beiden Geschlechtern
gemischten Zuhörerschaft gehalten hat, bleibt die klassische Gesamt-
darstellung der psychoanalytischen Theorie und Praxis.
VII
Gepriesen, verachtet oder gehaßt, die Freudschen Grundgedanken werden
auf lange hinaus etwas Bleiben, woran jeder geistige Mensch irgendwie
vorüber muß. Neurosenlehre und Psychoanalyse sind integrierende
Bestandteile des modernen Denkens geworden, welches durch
diesen Zusatz seinen Finishing-Einschlag bekommen hat. Mag jeder seine
Distanz bewußt wählen, wie es ihm richtig und notwendig scheint, seine
Betrachtung aller Dinge ist irgendwie doch durchdrungen und durchtränkt
von Freud und irgendwie geschult. Der schuf eino neue Perspektive. Neue
geistige Reize, neue Beschäftigung. (Vossische Zeitung)
Voici un livre qui tient plus que la promesao de son titre. L'ouvrage du
professeur Freud est l'expose' succinct de la doctrine toute entiere plutöt
qu'une introduction proprement dite ä la psychanalyse. II est destine" aux
lecteurs cultive"s et re"fle"cliis, aux hommes de pensee, aux savants, aux
artistes, aux esprits d'analyse et d'intuition. II est sature' de reflexion et
regorge d'idäes. C'est le labeur de toute l'existence d'un homme de genie.
(La Gazette de Lausanne)
Livre tres interessant, merveilleux de clarte" et d'ordre, de eet ordre qui jaillit
progressivem ent des faits, livre qui passionnera tous les curieux de l'fune
humaine. (La Revue Francaise)
Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über
Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglauben und Irrtum.
Zehnte weiter vermehrte Auflage (18. — 21. Tausend) 1924. Geheftet
M. 10, — , Pappbd. 11, — , Halbleinen Il.fo, Ganzleinen M. i2.fo.
Inhalt: I. Vergessen von Eigennamen. - XL Vergessen von fremdsprachigen
Worten. — XXL Vergessen von Namen und Wortfolgen. — IV. Über Kindhelts-
und Deckerinnerungen. - V. Das Versprechen. - VI. Verlesen und Ver-
schreiben. — VII. Vergessen von Eindrücken und Vorsätzen. — VIII. Das
Vergreifen. - K. Symptom- und Zufallshandlungen. - X. Irrtümer. -
XI. Kombinierte Fehlleistungen. - XXL Determinismus. Zufalls- und Aber-
glauben. Gesichtspunkte.
Sie ist diejenige Arbeit Freuds, die am besten in die Grundprinzipien der
Psychoanalyse einführt, am leichtesten verstanden wird und die einzige,
die von jedem, der ein wenig auf das Verhalten seiner Mitmenschen und
sein eigenes aufmerksam ist, ohne weiteres nachgeprüft werden kann.
Auch ist kein Buch über Psychoanalyse so unterhaltend und zugleich so
belehrend. (Prof. Bleuler in der Münchner Med. Wochenschrift)
Zeigt uns Freud als scharfen Beobachter und tiefen Denker. Es gelingt
ihm, auch die Widerstrebenden in seinen Bann zu ziehen und so sei dieses
Buch allen, die gewillt sind, in neuen Geleisen des Denkens zu fahren,
wärmstens empfohlen. (Wiener Klin. Rundschau)
VIII
Auch für Uneingeweihte ungemein anregend, schult das psychologische
Denken und gibt Ausblicke auf weitere und höhere psychologische Probleme.
(Berliner Klin. Wochenschrift)
In anmutender Sprache, der jeder pseudowissenschaftliche Pomp fehlt,
erfährt der Leser, welch' wunderliche Ideen Verbindungen und Kombina-
tionen im Denken und Vorstellen des Menschen wirksam sind . . . Eine
Fülle des Interessanten und Bekehrenden. (Frankfurter Zeitung)
Das Werk gehört zu den kurzweiligsten, die man sich denken kann . .
Watire Blitze in der Erhellung der geheimnisvollen Motive, die im Dunkel
unseres Seelenlebens vorhanden und so überaus wirksam sind.
(Tägliche Rundschau)
Seit Erscheinen der ersten Auflage dieser ebenso kühn-genialen wie unter-
haltenden Schrift hat sich die Lehre von der psychologischen Determiniert-
heit kleiner, scheinbar belangloser und zufälliger Vorkommnisse in der
gelehrten "Welt ebenso durchgesetzt wie beim Laien, und wenn Freud
seinerzeit auf die erste Auflage seines Buches die Faustischen Zeilen
setzte: „Nun ist die Welt von solchem Spuk so voll, daß niemand weiß,
wie er ihn meiden soll", so kann man heute sagen, daß es die Freudsche
Psychoanalyse selbst ist, die — zumindest durch Erkenntnis seines Wesens
' — dieses Alltagsspukes Meister geworden ist. Die „Psychopathologie des
Alltagslebens" ist eine fesselnde Lektüre, hinter keinem Spannungsroman
zurückbleibend, und stellt dabei mit ihren tiefschürfenden Gedankengängen
wohl einen leichten Zugang zur Lehre vom Unbewußten dar.
(Neues Wiener Tagblatt)
Veritable manuel d'auto-psyehoanalyse, ä la portee de tous. (Le Rappel)
On y trouvera, expose"es avec cette minutie et cette inge'niosite' qui carac-
terisent Freud, de tres nombreuses applications de la doctrine.
(L'Independence Beige)
Les mcSdecins trouveront des vues nouvelles, 'originales et m6me audacieuses
exposees avec talent, et s'ils ne suivent pas toujours l'auteur dans ses
de"ductions et ses interpre"tationB, ils peuvent 6tre assures de ne pas
s'ennuyer. De combien de livres pourrait-on faire un tel flogt»
(Le Bulletin medical)
Those who wish to test Freuds theories and who have not the opportu-
nity of investigating the psychoneuroses will find by a study of this fas-
cinating book that an inexhaustible material is always at hand in the
analysis of the flaws in the functioning of the normal mind.
(Medical Record)
Professor Freud deserves the high praise and true gratitude of genuine
scientists. (The Hospital)
IX
Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung.
Geheftet M. 2.fo, Pappbd. 3. — .
Sigm. Freud gibt einen Rückblick auf sein Lebenswerk. Die Sonne seines
Ruhmes steht im Zenith und mit erhobenem Selbstgefühl darf er als Motto
vor die kleine Schrift den Wappenspruch der Stadt Paris setzen : Fluctuat
nee mergilur. Wahrlich, Freud hat sich mit seiner Lehre über Wasser
gehalten und lange Zeit schwamm er allein auf einem Meer von Unver-
ständnis. (Wissen und Leim, Zürich,)
Außer den individuellen Bekenntnissen der Traumdeutung das einzige.
was der Begründer der Psychoanalyse persönlich hat verlauten lassen und
als Geschichte des schweren Kampfes einer extremen Forschungsrichtung
interessant. (Deutsche Med. Woclienschrift)
Wer die Persönlichkeit Freuds nach dem Grundsatze „Le style c'est
l'homme" unmittelbar auf sich einwirken lassen will, greife nach dieser
kleinen Schrift. Abgesehen vom Inhalt — wer wüßte denn besser als
Freud selbst, was die Psychoanalyse eigentlich ist — fesselt die Abhand-
lung durch die Form, die den Sprachmeister Freud in Pathos und
Ironie auf der Höhe seiner Kunst zeigt. Die überlegene Polemik gegen
Adler und Jung sollte von jedem dreimal gelesen werden.
(Neue Freie Pi^esse)
Aus der Geschichte einer infantilen Neurose.
Geheftet M. }.fo, Pappbd. 4.20, Halbleinen /. — .
Freud hat es gewagt, aus der mehrjährigen Analyse eines ca. 30jährigen
Mannes die neurotische Kindheitsgeschichte herauszuarbeiten und diese
mit ihren Wurzeln darzustellen ... . Wir wissen, wie das Genie des Autors
vor mehr als zwei Jahrzehnten aus viel geringerem Material scheinbar
kühne Schlüsse zu ziehen vermochte, die sich nachher bewahrheiteten,
und werden uns deshalb hüten, einfach über seine Ansicht hinwegzugehen.
Es gibt wohl keine Arbeit Freuds, die so wie die vorliegende geeignet ist,
in die weniger gewöhnlichen Gedankengänge des Autors einzuführen.
(Prof. Bleuler in der Münchner Med. Woclienschr.)
Ein solch tiefer und wichtiger Beitrag zur Kenntnis vom Seelenleben des
Kindes ist in der gesamten Literatur kaum mehr zu finden.
(folksstimme, Frankfurt,)
Zwingender als allgemeine Erörterungen bringt uns so eine ausführliche
Krankengeschichte dem Wesen des Freudismus näher. Diese zum Teil nach-
trägliche Analyse einer Neurose, die beim vierjährigen Kinde als Angst-
hysterie (Phobie vor geträumten Wölfen) begann, sich dann beim Knaben
in krankhafte Frömmigkeit umsetzte und im jugendlichen Mannesalter
schließlich den Charakter eines schweren Zwanges aufwies, hat auf
ungeahnte Möglichkeiten der Psychoanalyse Licht geworfen und gehört
daher zu den klassischen Schriften der Freudschen Psychologie und
Sexualtheorie. Die vom ebenso kühn schürfenden wie skeptischen Verfasser
mit sich selbst geführte Diskussion, oh die in der Analyse rekonstruierte
Urszene (die Belauschung des eiterliehen Geschlechtsverkehres) wirklieh
erlebt worden ist, oder ob die Phantasie des Kindes eine Anleihe bei dem
Erinnerungsschatz der Gattung macht, wirkt als eine spirituelle Höchst-
leistung auf steilen Graten der Erkenntnis geradezu spannend und
atemraubend. (Nation)
Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Geheftet M. 1.60,
• Pappbd. 2. — .
Inhalt: I. Die Enttäuschung des Krieges. — II. Unser Verhältnis zum Tode.
Der Begründer der Psychoanalyse, der die Geheimnisse des Unbewußten
ans Tageslicht förderte, besaß glücklicherweise auch die fast übermensch-
liche Kraft, jahrzehntelang in verhöhnter Isolierung den Vorurteilen,
Widerständen und Verfolgungen einer Welt zu trotzen, an deren „Schlaf
er gerüttelt hat", sich nicht um Schimpf und Tadel amtlich bestellter
Schriftgelehrten zu kümmern, die ihm vor allem die vorurteilslose Betrach-
tung von Sexualfragen durchaus nicht verzeihen konnten. Wer so wie
Prof. Sigm. Freud auf ein Leben und ein Lebenswerk von geradezu heroischer
Selbständigkeit zurückblicken kann, hat begreiflicherweise auch im großen
Kriege, als der psychischen Seuche so manche Persönlichkeit von Format
erlag, seine überragende geistige Unabhängigkeit bewahrt. Noch in den
ersten Kriegsmonaten schrieb er seine — heute bereits klassisch gewordene —
Studie „Zeitgemäßes über Krieg und Tod". „Man braucht kein Mitleid-
schwärmer zu sein, man kann die biologische und psychologische Natur-
notwendigkeit des Leidens für die Ökonomie des Menschenlebens ein-
sehen und darf doch den Krieg in seinen Mitteln und Zielen verurteilen
und das Aufhören der Kriege herbeiwünschen." Was er über die schweren
Enttäuschungen durch den Krieg ausführt, bleibt nicht an der Oberfläche
der Probleme. Die Psychologie des Verborgenen wird herangezogen. Ins-
besondere untersucht Freud mit den Methoden der Psychoanalyse die
Einstellung des Primitiven als auch des Kulturmenschen zum Tode, zum
eigenen und zu dem des Mitmenschen. Der Krieg läßt den Urmenschen
in uns wieder zum Vorschein kommen. Allerdings hat der Kulturmensch
mit seiner Einstellung zum Tod psychologisch wieder einmal über seine
Verhältnisse gelebt und ein Rückschritt hat gelegentlich den Vorteil, der
Wahrhaftigkeit mehrRechnung zu tragen, das Leben erträglicher zu machen.
Das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die erste Pflicht der Lebenden. Die
Illusion wird wertlos, wenn sie uns darin stört. Der alte Spruch : Si vis
pacem, para bellum, willst du den Frieden erhalten, so rüste zum Kriege, —
wird von Freud abgewandelt : Si vis vitam, para morten. Wenn du das
Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein . . . Die Forderung nach
mehr Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit allerseits, in den Beziehungen der
Menschen zueinander und zwischen ihnen und den sie Regierenden hallt
uns aus dieser tiefsinnigen Studie mahnend entgegen.
XI
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Geheftet M, 2. — .
Inhalt: I. Die sexuellen Abirrungen. Abweichungen In Bezug auf
das Sexualobjekt. Die Inversion. Geschlechtsunreife und Tiere als Sexual-
objekte. Abweichungen in Bezug auf das Sexualziel. Anatomische Über-
schreitungen. Fixierung von vorläufigen Sexualzielen. Allgemeines über
alle Perversionen. Der Sexualtrieb bei den Neurotikern. Partialtriebe und
erogene Zonen. Erklärung des scheinbaren Überwiegens perverser Sexualität
bei den Psychoneurosen. Verweis auf den Infantilismus der Sexualität.
— II. Die infantile Sexualität. Die sexuelle Latenzperlode der Kind-
heit und ihre Durchbrechungen. Die Äußerungen der infantilen Sexualität.
Die masturbatorischen Sexualäußerungen. Die infantile Sexualforschung.
Entwicklungsphasen der sexuellen Organisation. Quellen der infantilen
Sexualität. — III. Die Umgestaltungen der Pubertät. Das Primat
der Genitalzonen und die Vorlust. Das Problem der Sexualerregung. Die
Libidotheorie. Differenzierung von Mann und Weib. Die Objektfindung.
— Zusammenfassung.
Was die „Ausdehnung" des Begriffes der Sexualität betrifft, die durch die
Analyse von Kindern und von sogenannten Perversen notwendig wird, so
mögen alle, die von ihrem hohem Standpunkt verächtlich auf die Psycho-
analyse herabschauen, sich erinnern lassen, wie nahe die erweiterte
Sexualität der Psychoanalyse mit dem Eros des göttlichen Plato zusammen-
trifft. (Aus dem Vorwort)
Die „Drei Abhandlungen" zeigen uns Freud, den Analytiker, zum ersten-
mal in synthetischer Arbeit. Das unermeßlich reiche Erfahrungsmaterial,
das sieh aus der zergliedernden Prüfung so vieler tausender Seelen ergab,
versucht der Verfasser hier zum erstenmal derart zusammenzufassen, daß
sieh daraus die Klärung eines großen Gebietes der Seelenlehre, der Psy-
chologie des Sexuallebens, ergebe . . . Die Psychiatrie vor Freud war ein
Raritätenkabinett sonderbarer und sinnloser Krankenbilder, die Wissen-
schaft der Sexualität bestand in der deskriptiven Gruppierung abstoßen-
der Abnormitäten. Die Psychoanalyse, stets treu dem Determinismus und
der Entwicklungsidee, scheute vor der Aufgabe nicht zurück, auch diese
die Logik, Ethik und Ästhetik verletzenden und darum vernachlässigten
psychischen Inhalte zu zergliedern und verständlich zu machen. Ihre
Selbstüberwindung wurde reichlich belohnt: in dem von den Geistes-
kranken produzierten Unsinn erkannte sie die onto- und phylogenetischen
Urkräfte der menschlichen Psyche, den nährenden Humus aller Kultur-
und Sublimierungsbestrebungen, und es gelang ihr — besonders in diesen
„Drei Abhandlungen" — nachzuweisen, daß von den sexuellen Perver-
sionen der einzige Weg zum Verständnis des normalen Seelenlebens
führt ...„Mein Ziel war, zu erkunden, wieviel zur Biologie des
menschlichen Sexuallebens mit den Mitteln der psycho-
analytischen Forschung zu erraten ist", erklärt der Verfasser im
Vorwort zu seinen Abhandlungen. Dieser bescheiden klingende Versuch
XII
bedeutet, genau betrachtet, den Umsturz alles Hergebrachten; noch nie
hat man bisher an die Möglichkeit gedacht, daß eine psychologische, und
zwar eine „introspektive" Methode ein biologisches Problem erklären
helfen könnte . . . Die Psychoanalyse zergliederte aber die menschliche
Seelentätigkeit, verfolgte sie bis zu der Grenze, wo Psychisches und
Physisches sich berühren: bis zu den Trieben, befreite so die Psychologie
vom Anthropozentrismus und erst dann getraute sie sich den so gereinigten
Animismus biologisch zu verwerten. Diesen Versuch zum erstenmal
gemacht zu haben ist, die wissenschaftsgeschichtliche Tat Freuds in diesen
Abhandlungen. (Ferenczi in der Int. Zschr. f. Psychoanalyse)
Die „drei Abhandlungen" müssen in ihrer gedrängten, programmatischen
Form nicht nur gelesen, sondern studiert werden ... Sie bilden den Unterbau,
auf dem die Freudsche Lehre und ihre praktische Verwertung, die Psycho-
analyse, ruhen. Wer die „Abhandlungen" nicht kennt, kennt Freud nicht.
(Strohmayer in der Monatschr. f. Psychiatrie
u. Neurologie)
Die drei Abhandlungen enthalten die Schlüssel für die meisten Anschau-
ungen Freuds. (Deutsche Med, Wochenschrift)
Der Verfasser hat es nicht so leicht gemacht, wie man aus der Lektüre
gegnerischer Schriften manchmal schließen möchte, indem „einfach alles
sexualisiert wird", sondern er hat seine Ideen bis ins Feinste differenziert
und entwickelt. So bilden diese „Drei Abhandlungen" nach wie vor eine
Art Katechismus für den Psychopathologen.
(Zentralbl. f. Psychologie)
Aus der Fülle psychoanalytischer Schriften haben die „Drei Abhand-
lungen" bisher die meiste Beachtung gefunden und dies mit Recht. Sie
tragen die Züge einer „klassischen" Darstellung ihrer Richtung an sich
und werden auch von Gegnern der Psychanalyse mit wissenschaftlichem
Genuß und mit Hochachtung gelesen werden . . . Während man in den
Schriften der Mediziner (gerade auch über Fragen des Geschlechtslehens) nicht
selten lediglich eine Zusammenstellung von kasuistischem und notizen-
haftem Material findet, das nach einem mehr oder weniger einheitlichem
System geordnet wird, ist man bei Freud angenehm überrascht, eine zügige,
konsequent auf erkenntnismäßige Erfassung des Gegenstandes gerichtete
Darstellung zu finden. Was aber Freud besonders auszeichnet, ist eine für
sexualtheoretische Schriften selten reine psychologische Einstellung,
ein ungemein feines und sicheres Gefühl für die spezifisch seelischen
Probleme und Fragestellungen auf dem Gebiete der Sexualität. Daß
daneben gleichzeitig eine biologische Durchdringung der Materie erfolgt,
ist für Freud als Arzt selbstverständlich. Darüber hinaus erfreut er aber
noch durch saubere logische Arbeit und durch das knappe, vornehme
sprachliche Gewand, in das er seine Ausführungen kleidet.
(Leipziger Lehrerzeitung)
XIII
Es erübrigt sich fast, auf die grundsätzliche Wichtigkeit dieser Schrift
hinzuweisen, die in gedrängter Form den Extrakt der sexualpsychologischen
Lehre Freuds enthält und sich daher neben den „Vorlesungen zur Ein-
führung in die Psychoanalyse" am besten zum Einblick in die Psycho-
analyse eignet ... In der neuen Auflage wird auch zu Steinach Stellung
genommen. (Schneider, Köln in der Monatschr. f. Kriminalpsych.)
Ich wüßte k.ein Werk anzuführen, das in solcher Kürze so geist- und
gedankenreich die wichtigen Sexualprobleme behandelt. Dem Leser und
sogar dem Sachverständigen erschließen sich ganz neue Horizonte.
(Näcke in Groß' Arch. f. Kriminalanthropologie)
Was die Freudsche Abhandlung auszeichnet, ist, daß Verf. völlig seine
eigenen Wege geht, eigene Anschauungen und Deduktionen uns bietet
und damit viel des Interessanten, Beachtenswerten und dadurch außer-
ordentlich zum Nachdenken anregt. (Reichs-Medizinal-Anzeiger)
Wer sich mit der Freudschen Lehre bekannt machen will, muß die
Broschüre, in der diese Lehre vielleicht am reinsten zum Vorschein
kommt, studieren. (Schweiz. Rundschau f. Medizin)
Einer großen Zahl unbedingter Bewunderer und Anhänger steht eine Zahl
von eigensinnigen Gegnern gegenüber, und was das interessante und
prognostisch Wichtige ist, aus manchem solchen Saulus ist im Luufe der
Jahre ein Paulus geworden. Schließlich geht es ja allen führenden Geistern
so, die stets ihrer Zeit um ein gutes Stück voraus sind, daß sie von ihren
Zeitgenossen angefeindet und mißverstanden werden und daß erst die
nächste Generation voll Verwunderung auf diese Mißverständnisse blickt.
Losgeschält von allem Persönlichen überlebt das Werk und befruchtet
die Geister und ihre Arbeit. Ein solch sicher überlebendes und überragendes
Werk sind die „Drei Abhandlungen". (Wiener Klin. Rundschau)
Zur Einführung des Narzißmus. Geheftet M. 1.60,
Pappbd. 2. — .
Sehr viel Geist, Feinheit, auch Tiefe ; überraschende Einblicke in die Trieb-
kräfte der Wahnbildung und in manches andere. (Archiv für Frauenkunde)
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. Gehef-
tet M, 2.—, Pappbd. 2.fo.
Inhalt: I. Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne. -
IL Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. - III. Das Tabu
der Vlrginität.
Es ist bisher den Dichtern überlassen worden, zu schildern, nach welchen
„Liebesbedingungen" die Menschen ihre Objektwahl treffen, und wie
sie die Anforderungen ihrer Phantasie mit der Wirklichkeit in Einklang
XIV
bringen. Die Dichter verfügen auch über manche Eigenschaften, welche
T, f.™ ^ Ö ! Ung einer soIcheM Aufgabe befähigen, vor allem über die Fein-
, ! „ ! L e Wahrnehmun B verborgener Seelenregungen bei anderen
und den Mut, ihr eigenes Unbewußtes laut werden zu lassen. Aber der
FreTe", "iTT 7 M i tteU " n P n wird «Ni die Vorrechte der „poetischen
Freiheit herabgesetzt. Somit wird es doch unvermeidlich, daß die W i s s e n-
schaft mit plumperen Händen und zu geringerem Lustgewinne sich mit
denselben Materien beschäftige, an deren dichterischer Bearbeitung S 7ch
tl^ IT7 f TaUSeDden ™ n Jahre » ^uen. In der ersten Itudie
beschreibt Freud einen besonderen Typus der Liebesobjektwahl beim
Manne. Er zeichnet sich durch eine Reihe merkwürdiger Liebesbedingungen
aus: die eine ist die des „geschädigten Dritten". Der Betreffende
wählt niemals ein Weib zum Liebesobjekt, das noch frei ist, sondern nur
ein solches Weib, auf das ein anderer Mann als Ehegatte, Verlobter
Freund Eigentumsrechte geltend machen kann. Die zweite Bedingung bei
diesem Typus besagt, daß das keusche und unverdächtige Weib niemals
den Reiz ausübt, der es zum Liebesobjekt erhebt, sondern nur das sexuell
irgendwie anrüchige, an dessen Treue und Verläßlichkeit ein Zweifel
gestattet ist Diese Bedingung, die man mit etwas Vergröberung die der
2 l-? en \ 6 heißen mag ' eibt begreiflicherweise reichlich Anlaß zur
Betätigung der Eifersucht. Als eine auffällige Abweichung vomNormalen
erscheint auch, daß von den Liebenden dieses Typus die mit dem anrüchigen
Charakter behafteten Frauen als höchstwertige Liebesobjekte behandelt
werden, überraschend wirkt auch die Tendenz, die Geliebte zu .retten"
Freud versucht die Entstehung dieser Eigenheiten der Objektwahl psycho-
analytisch zu erklären. Die zweite Studie ist besonders auch wegen der
allgemein kultur-philosophischen Ausblicke bemerkenswert. („So müßte
man sich denn vielleicht mit dem Gedanken befreunden, daß eine Aus-
gleichung der Ansprüche des Sexualtriebes mit den Anforderungen der
Kultur überhaupt nicht möglich ist, daß Verzicht und Leiden sowie in
weiester Ferne die Gefahr des Erlöschens des Menschengeschlechtes
infolge seiner Kultur^ntwicklung nicht abgewendet werden können/') -
Die dritte Studie geht von der Untersuchung der Einschätzung der weib-
lichen Unberührtheit bei primitiven Völkern aus und bringt die
Ergebnisse der psychologisierenden Ethnologie in Parallele mit den
psychoanalytischen Erfahrungen über das normale und neurotische Liebes
leben der Kulturvölker.
In der gedankenreichen zweiten Abhandlung werden in feinsinniger
Analyse die seelischen Determinanten für das Auseinanderfallen zärtlich-
werthaltiger und grobsexueller Triebströmungen beim Kulturmenschen
aufgedeckt und ihre Folgeerscheinungen beleuchtet: beim Manne Reiz-
erhohung durch ein erniedrigtes Liebesobjekt, bei der Frau Frigidität und
Reizwert des Verbotenen. Neben den individual-psychischen gelangen die
sozialen und kulturellen Beziehungen dieser Sexualphänomene zu vollem
Ausklang. (Archiv für Frauenkunde)
XV
Psychoanalytische Studien an Werken der Dich-
tung und Kunst. Geheftet M. SS», Pappbd. 6.fo, Halb-
leinen 7. — , Halbleder 9. — .
Inhalt: DerDiditer und das Phantasieren - Das Motiv der Kästdienwahl
- Der Moses des Michelangelo - Einige Charaktertypen aus der psycho-
analytischen Arbeit: Die Ausnahmen. Die am Erfolge scheitern. Die
Verbrecher aus Schuldbewußtsein - Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung
und Wahrheit" - Das Unheimliche.
Zur Problemstellung der Abhandlung über das Motiv der Kästchenwahl
gaben zwei Szenen aus Shakespeare, eine heitere und tragische, den
Anlaß: die Wahl der Freier zwischen drei Kästchen im „Kaufmann von
Venedig", und der Beschluß, den König Lear beschließt, noch bei
Lebzeiten sein Reich unter seine drei Töchter zu verteilende nach Maßgabe
der Liebe, die sie für ihn äußern. Die Analyse erstreckt sich auch auf
verwandte Motive in Mythus und Märchen (das Urteil des Paris, Aschenputtel
und Psyche, Brüdermärchen, die drei Schicksalparzen). — In den drei
kleinen Studien über„Charaktertypen"wird für deninder psychoanalytischen
Behandlung so häufig wiederkehrenden Charaktertypus des „Ausnahme-
menschen" ein literarischer Beleg in der Gestalt des Shakespeareschen
Richard III. gefunden, jener scheinbar zynischen, im Grunde verbitterten
Mißgestalt, „um das schöne Ebenmaß gekürzt", „roh geprägt, entblößt von
Liebesmajestät" und sich daher berechtigt fühlend, „ein Bösewicht zu
werden und Feind den eitlen Freuden dieser Tage". Den .Typus jener,
„die am Erfolg scheitern", nach erreichtem Erfolge, um den sie
unbeirrt gerungen haben, zusammenbrechen, illustriert Freud aus der
Literatur mit der Analyse der Lady Macbeth und der Rebekka West
aus Ibsens „Rosmersholm". Die kleine Studie über den „Verbrecher
aus Schuldgefühl" (der „bleiche Verbrecher" war bereits Nietzsche
bekannt) gibt Anlaß zu wichtigen psychologischen Andeutungen über die
Quelle des menschlichen Schuldgefühles überhaupt : das Schuldbewußtsein
ist in bestimmten Fällen früher da als das Vergehen, das Vergehen geht
aus dem Schuldbewußtsein hervor. — Aufschlußreich für die Kinder-
psychologie ist die Analyse der frühesten Kindheitserinnerung Goethes,
j ene Szene aus Dichtung und Wahrheit, in der der kleine Johann Wolfgang die
Nachbarschaft damit belustigt, daß er alles in der Wohnung und in der
Küche ihm erreichbare Geschirr zum Fenster hinauswirft. — In der
größeren Abhandlung über „das Unheimliche" werden besonders
Motive aus den Schriften von E. T.A.Hof fmann und Hauff zur Analyse
herangezogen. — Die Studie über den Moses des Michelangelo
gehört zu den anregendsten Schriften Freuds. „Ich habe von keinem Bild-
werk je eine stärkere Wirkung erfahren. Wie oft bin ich die steile Treppe
vom unschönen Corso Cavour hinaufgestiegen zu dem einsamen Platz,
auf dem die verlassene Kirche steht, habe immer versucht, dem verächtlich
zürnenden Blick des Heros standzuhalten, und manchmal habe ich mich
XVI
dann behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraumes geschlichen, als
gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist, das
keine Überzeugung festhalten kann, das nicht warten und nicht vertrauen
will und jubelt, wenn es die Illusion des Götzenbildes wieder bekommen
hat." Freuds Deutung der viel umstrittenen Körperhaltung des Moses ist:
Er wollte in einem Anfall von Zorn aufspringen, Rache nehmen, der
Tafeln nicht achten, aber er hat die Versuchung überwunden, er wird
jetzt sitzen bleiben in gebändigter Wut, in mit Verachtung gemischtem
Schmerz. — Die an die Spitze des Bandes gestellte Studie „Der Dichter
und das Phantasieren" bringt Grundlegendes zur Psychologie des
dichterischen Schaffens, insbesondere zu ihrerBeziehung zu den Tagträumen.
Ungemein reizvolle und anregende Aufsätze . . .
Wer sich von der Fruchtbarkeit psychoanalytischer Einstellung für die
Aufhellung von dunklen Motiven und seelischer Zusammenhängen in
dichterischen Werken ein Bild machen will, findet hier die überraschendsten
Aufklärungen. , . . Den Abschluß des Bandes bildet die glänzende Abhand-
lung über das Unheimliche mit der tiefgründigen Analyse des Sand-
mannmotivs bei E. T. A. Hoffmann.
(Storch, Tübingen im Zentralbl. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie)
Eine Teufel sneurose im XVII. Jahrhundert.
Geheftet M. 1.80, Pappbd. 2.40.
Die neurotischen Erkrankungen früherer Jahrhunderte traten in dem
dämonologischen Gewände des Bewußtseins usw. auf. Hinter der Fassade
kann man die gleichen Mechanismen der Neurose erkennen wie heute.
Die Dämonen sind böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge verdrängter
Triebregungen. Dies wird sehr reizvoll, etwas feuilletonistisch, an der
Geschichte eines um 1Y0O verstorbenen Malers [Christoph Haitzmann]
dargetan, dessen Teufelspakt, Befreiung durch ein Wunder der Mutter
Gottes von Maria-Zeil (1677) und weiteres Schicksal sind in einem an dem
Gnadenorte Maria-Zeil aufgefundenen geistlichen Berichte aus dem Jahre
1714, der von dem Maler selber illustriert wurde, ausführlieh erzählt.
Wie man ein religiöses Schicksal psychoanalytisch anfassen kann, ohne
platt, trivial, unehrfürchtig zu werden: dafür ist das Schriftchen ein fein-
sinniges Beispiel. Die Grazie der Darstellung bietet überdies einen
literarischen Genuß. (Archiv für Frauenbünde)
„Die dämonologische Theorie jener dunklen Zeiten hat gegen alle soma-
tischen Auffassungen der , exakten' Wissensehaftsperiode recht behalten.
Die Besessenheiten entsprechen unseren Neurosen, zu deren Erklärung
wir wieder psychische Mächte heranziehen. Die Dämonen sind uns böse,
verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, verdrängter Trieb-
regungen. Wir lehnen bloß die Projektion in die äußere Welt ab, welche
das Mittelalter mit diesen seelischen Wesen vornahm; wir lassen sie im
Innenleben der Kranken, wo sie hausen, entstanden sein."
XVII
Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelen-
leben der Wilden und der Neurotiker. Dritte Auflage. Geheftet
M. J. — , Halbleinen 6. — , Halbleier <?. — .
Inhalt: Vorwort. - I. Die Inzestscheu. - II. Das Tabu und die Ambivalenz
der Gefühlsregungen. - III. Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken.
- IV. Die infantile Wiederkehr des Totemismus.
Die beiden Hauptthemata, der Totem und das Tabu, werden nicht in gleich-
artiger Weise abgehandelt. Die Analyse des Tabu tritt als durchaus
gesicherter, das Problem erschöpfender Lösungsversuch auf. Die Unter-
suchung über den Totemismus bescheidet sich, zu erklären: Dies ist, was
die psychoanalytische Betrachtung zur Klärung der Totemprobleme der-
zeit beibringen kann. Dieser Unterschied hängt damit zusammen, daß das
Tabu eigentlich auch in unserer Mitte fortbesteht; obwohl negativ gefaßt
und auf andere Inhalte gerichtet, ist es seiner psychologischen Natur nach
doch nichts anderes als der „kategorische Imperativ" Kants, der zwangs-
artig wirken will und jede bewußte Motivierung ablehnt. Der Totemismus
hingegen ist eine unserem heutigen Fühlen entfremdete, in Wirklichkeit
längst aufgegebene und durch neuere Formen ersetzte religiös-soziale
Institution, welche nur geringfügige Spuren in Religion, Sitte und
Gebrauch des Lebens der gegenwärtigen Kulturvölker hinterlassen hat,
und selbst bei jenen Völkern große Verwandlungen erfahren mußte, welche
ihm heute noch anhängen. Der soziale und technische Fortschritt der
Menschheitsgeschichte hat dem Tabu weit weniger anhaben können als
dem Totem. In diesem Buche ist der Versuch gewagt worden, den ursprüng-
lichen Sinn des Totemismus aus seinen infantilen Spuren zu erraten, aus
den Andeutungen, in denen er in der Entwicklung unserer eigenen Kinder
wieder auftaucht. Die enge Verbindung zwischen Totem und Tabu weist
die weiteren Wege zu der hier versteckten Hypothese, und wenn diese am
Ende recht unwahrscheinlich ausgefallen ist, so ergibt dieser Charakter
nicht einmal einen Einwand gegen die Möglichkeit, daß sie mehr oder
weniger nahe an die schwierig zu rekonstruierende Wirklichkeit heran-
gerückt sein könnte. (Aus dem Vorwort)
This wonderfully penetrating inquiry into the origins of religious and
social restrictions. The conclusions, of course, turn the old psychology
upside down. (The New York Times)
Kleine Beiträge zur Traumlehre. (Erscheint im Novem-
ber 192/J Geheftet M. 2.fo, Ganzleinen 4. — .
Inhalt: Märohenstoffe in Träumen - Ein Traum als Beweismittel -Traum
und Telepathie - Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung
- Die Grenzen der Deutbarkeit - Die sittliche Verantwortlichkeit für den
Inhalt der Träume - Die okkulte Bedeutung des Traumes.
XVIII
Zur Technik der Psychoanalyse und zurMeta-
psychologie. Geheftet M. 9.—, Pappbd. 10.— , Halbleinen 10.50,
Ganzleinen M. II. — .
Inhalt: Zur Technik. (Die Freudsehe psychoanalytische Methode -
Über Psychotherapie - Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen
Therapie - Über „wilde" Psychoanalyse - Die Handhabung der Traum-
deutung in der Psychoanalyse - Zur Dynamik der Übertragung - Ratschläge
für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung - Über fausse
reconnaissance [,,d£jä raconte"] während der psychoanalytischen Arbeit -
Zur Einleitung der Behandlung - Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten
- Bemerkungen über die Übertragungsliebe - Wege der psychoanalytischen
Therapie - Zur Vorgeschichte der analytischen Technik) - Metapsycho-
logie. (Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der
Psychoanalyse - Triebe u. Triebschicksale - Die Verdrängung - Das Unbe-
wußte - Metapsycholog. Ergänzung zur Traumlehre - Trauer u. Melancholie)
Eine Reihe Freudscher Abhandlungen praktischer wie rein theoretischer
Art . . . Sie wirken nach wie vor durch den unvergänglichen Reiz Freud-
scher Darstellungsweise. (Deutsche Med. Wochenschrift)
Jenseits des Lustprinzips. Dritte, durchgesehene Auflage
(S- — 9- Tausend). Geheftet M.j. — , Pappbd. j.fo.
Eine geistvolle, feinsinnige Schrift, überaus weitgreifend und die ganze
Sexualproblematik umspannend, überraschend durch die Fülle der Gesichts-
punkte und Ausblicke, vorsichtig abwägend in der Gedankenführung,
fernab von starren Behauptungen . . . Das nicht zu unterschätzende Verdienst
der Schrift, das auch dem Gegner der Psychoanalyse einleuchten muß,
besteht vor allem darin, daß hier der großartige Versuch gemacht wird,
von fachwissenschaftlicher (psychoanalytischer) Beobachtung des Trieb-
lebens, insbesondere des Sexualtriebes aus und auf Grund des dabei
gefundenen „Wiederholungszwanges" in dem „Streben nach
Wiederherstellung eines früheren Zustandes" ein Prinzip aufzustellen,
das jenseits des rein psychologischen Lustprinzips dem gesamten Geschehen
in der Wirkliehkeit eine einheitliche Deutung gibt und insbesondere sogar
den sonst unversöhnlichen Gegensatz „Leben— Tod" kühn zu überbrücken
imstande ist. (Zeitschrift für Sexualwissenschaft)
Die Analyse macht dasjenige bewußt, wovon der Metaphysiker Schiller
erklärte : die Götter hatten es gnädig mit Nacht und Grauen bedeckt.
Dadurch entgöttert die Psychoanalyse das alte System. (Der Neue Merkur)
This represents Professor Freud's latest reflections on the most advanced
problem of psychology . . . Much of the book is avowedly speculative, but
it is an interesting attempt on the pari of a daring thinker to se how
far it is possible to penetrate into such problems with the knowledge at
our present disposal.
XK
Massenpsychologie und Ich-Analyse. 2. Auflage (6, —
10. Tausend). Geheftet M. }.fo, Pappbd. 4, — .
Inhalt: I. Einleitung. — II. Le Bon's Schilderung der Massenseele. —
III. Andere Würdigungen des kollektiven Seelenlebens. — IV. Suggestion und
Libido. — V. Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer. — VI. Weitere
Aufgaben und Arbeitsrithtungen. — VII. Die Identifizierung. — VIII. Verliebt-
heit und Hypnose. — LX. Der Herdentrieb. — X. Die Masse und die Urhorde.
- XI. Eine Stufe im Ich. - XII. Nachträge.
Reich an Ideen, fesselnd und anregend zugleich; hat die Massenpsychologie
als solche durch eine vertiefte Problemstellung bereichert und auf neue
Bahnen geführt. (Kölner Vierteljahrsschr. f. Sozialwiss.)
Die Vorzüge Freudscher Darstellungsweise durchdringen auch dieses
gedanklich bedeutsame Buch. (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft)
Anregend, mehr noch des Lobes: aufregend. (Vbssische "Leitung)
Die Bedeutung der psychoanalytischen Tiefenpsychologie, ihrer dynamischen
und entwicklungsgeschichtlichen Prinzipien und Methoden für die Massen-
psychologie als einen der maßgebenden Faktoren' des historischen Gesche-
hens geht aus dem vorliegenden Werk deutlich hervor, so daß auch der
Historiker und der Geisteswissenschaftler überhaupt viel Interessantes und
Anregendes finden werden. (Wissen und Leben, Zürich)
Psychologists and sociologists bave for some time wondered what light
psycho-analysis may have to throw on tbe great importance attached to
the coneeption of the herd or social instinets, with which the names of
Trotter and McDougall are especially associated. This work provides a
complete answer to tbe question. Professor Freud here subjeets the con-
cept of a unitary social instinet to a searching analysis, and shows that
it is capable of heing dissected into more primary elementsT-Among the
subjeets discussed are those of Suggestion, hypnosis, group Organization
(as exemplified hy the Church and the Army), and the State of being in
love. It is probable that the book will rank as one of the most important
contributions ever made to our knowledge of the relationship of the
individual to group or social psychology, and it will serve as the starting
point for a whole series of further researches into this important subjeet.
Das Ich und das Es. Geheftet M. ].—, Pappbd. }.fo.
Die vorgetragenen Anschauungen auszugsweise wiederzugeben, ist nicht
möglich; erscheint doch Freuds Darstellung in ihrer prägnanten Kürze
nahezu selbst wie ein Auszug, wie eine Sammlung, möchte man sagen,
von Thesen . . . Sich mit ihnen auseinandersetzen, heißt sie vorerst
Stück für Stück durcharbeiten. Dieser Aufgabe wird sich aber jeder —
Gegner oder Anhänger — unterziehen müssen, da Grundprobleme nicht
nur der Neurosenpathologie, sondern der Psychologie überhaupt auf-
XX
geworfen und entschieden werden, Ja eines Bereiches schon jenseits der
Psychologie, sofern sie nur Beschreibung bleiben will, Fragen nach der
Struktur, der Genese, dem Sinn des Bewußtseins, der Persönlichkeit, des
Ideals. Das Interesse des Gegenstandes und der glänzende Stil machen
das Studium des Büchleins zu einem wahren Genuß.
(R. Allers in der Wimer Med. Wochenschrift)
Freud geht jetzt „weise und bedächtig" und überblickt das Terrain. Ich
könnte auch sagen: er bringt sein Korn in die Scheuer. Das heißt: Freud
sieht zu, was bei seiner Erwerbung herausschaut.
(Alfred Döilin in der Fbssischen Zeitung)
Wer bisher der Entwicklung der Freudschen Lehre mit Aufmerksamkeit
gefolgt ist, wird erkennen, daß für Freud selbst eine neue Epoche beginnt.
Von neuem verblüfft die unerhörte Kühnheit, mit dem diese neuen Vor-
stellungen gebildet und in Beziehung gesetzt werden.
(Berliner Börsenzeitung)
Die Ausführungen Freuds machen dem ewigen Vorwurfe gegen die Psycho-
analyse ein Ende, daß sie allzu heroisch auf die Nachtseiten der mensch-
lichen Natur eingestellt sei. Das Buch stärkt die Stellung der Freudschen
Schule allen jenen gegenüber, die in dem ausschließlichen Betonen des
Sexuallebens eine Einseitigkeit erblicken, (Neue Freie Presse)
Jenseits des Lustprinzips. Massenpsychologie und
Ich-Analyse. Das Ich und das Es. Die drei Arbeiten
in einem Halbleinenband M. II. — , Halbleder 14. — .
Die drei letzten Bücher Freuds — Marksteine auf einem kühnen Vormarsch
in psychologisches Neuland — stehen in einem inneren Zusammenhang
und es wird daher gewiß willkommen geheißen werden, daß sie hier in
einem Bande vereint dargeboten werden.
XXI
Dß. KARL ABRAHAM
Klinische Beiträge zur Psychoanalyse aus den
Jahren I907-1920 (Internationale Psychoanalytische Bibliothek,
Bd. 10). Geheftet M. 8.—, Halbleinen 10.—.
Aus dem Inhalt: Ober die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die
Symptomatologie der Dementia praecox. r Die psychosexuellen Differenzen
der Hysterie und der Dementia praecox. - Die psychologischen Beziehungen
zwischen Sexualität und Alkoholismus. - Die Stellung der Verwandtenehe
in der Psychologie der Neurosen. - Über hysterische Traumzustande. -
Bemerkungen zur Psychoanalyse eines Falles von Fuß- und Korsettfetischis-
mus. - Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung und Behandlung des
manisch-depressiven Irreseins und verwandter Zustände. - Über die deter-
minierende Kraft des Namens. - Über ein kompliziertes Zeremoniell
neurotischer Frauen. - Ohrmuschel und Gehörgang als erogene Zone. -
Zur Psychogenese der Straßenangst im Kindesalter. - Sollen wir die Patienten
ihre Träume aufschreiben lassen? - Einige Bemerkungen über die Rolle der
Großeltern in der Psychologie der Neurosen. - Eine Deckerinnerung,
betreffend ein Kindheitserlebnis von scheinbar ätiologischer Bedeutung. -
Psychische Nachwirkungen der Beobachtung des elterlichen Geschlechts-
verkehrs bei einem neunjährigen Kinde. - Kritik zu C. G. Jung: Versudi
einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie. - Über Einschränkungen
und Umwandlungen der Schaulust bei den Psychoneurotikern. - Über
neurotische Exogamie. - Über ejaculatio praecox. - Einige Belege zur
Gefiihlseinstellung weiblicher Kinder gegenüber den Eltern. - Das Geld-
ausgeben im Angstzustand. - Über eine besondere Form des neurotischen
Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik. _ Bemerkungen zu
lerenczis Mitteilungen über Sonntagsneurosen. - Zur Prognose psycho-
analytischer Behandlung im vorgeschrittenen Lebensalter. - usw.
Ein Werk, das dieinteressanteEntwicklung der klinischen Psych o-
analyse gut widerspiegelt und die ansehnlichen Leistungen des um diese
üntwioklung sehr mitverdienten Autors eindrucksvoll vorführt. Unter den
XXII
28 Aufsätzen befindet sich nicht einer, der nicht irgendwie belangvoll
ist,' und die Vielfältigkeit der einzelnen Themen sowie die gedankliehe
und formale Klarheit der Darstellung machen das Buch zu einer aus-
gezeichneten Informations- und Anregungsquelle über die Gedankengänge
und Möglichkeiten der Psychoanalyse.
(Marcuse in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft)
Jeder, der in das psychoanalytische Denken schon eingeführt ist, wird
dieses Buch mit Dank und Vorteil zur Hand nehmen.
(Archiv für Frauenkunde)
Eine Art klinischer Einführung in Einzelbildern, die durch die oft
zwingenden kasuistischen B e i t r ä g e auch dem Fernerstehen-
den einen ausgezeichneten Einblick in die psychoanalytische Praxis ver-
schafft, (L. R. Grote im Zentralblatt für innere Medizin)
Reiches und vielseitiges Material. Jedem, der sich für psychoana-
lytische Fragen interessiert, kann das Buch sehr empfohlen -werden.
(Jahrbücher f. die gesamte Medizin)
Eine außerordentlich sorgfältige und eindringliche Bemühung um den
Ausbau der Freudschen Gedankengänge. Sympathisch berührt, wie er
nachhaltig und gründlich weiterforscht, klärt und sichtet, wo ihm jener
einen Weg gewiesen hat. Dabei hat man den Eindruck, daß hier wie selten
aus der Fülle der Erfahrung geschöpft ist.
(W. Mayer-Groß im Zenträlbl. f. d. ges. Neurologie
u. Psychiatrie)
Referent, seiner eigener ambivalenten Einstellung zur Psychoanalyse sich
bewußt, ist genötigt, von der Gründlichkeit und Klarheit dieser hier
gesammelten Aufsätze viel antipsychoanalytisches Vorurteil
und Mißtrauen fallen zu lassen... Am eindrucksvollsten war
mir die Kritik Jungs. Hier setzt sich Abraham mit den Züricher Schis-
matikern auseinander und weist einleuchtend nach, daß die Jungsche
Theorie der Psychoanalyse nicht durch Kritik gemäßigt, auch nicht einmal
bloß verwässert, sondern zum Teil sogar außerwissenschaftlichen
Tendenzen zuliebe für eine landläufige Moral schmackhaft, aber dadurch
widerspruchsvoll und haltlos gemacht worden ist.
(Paul Bernhardt in Medizin. -Techn. Mitteilungen)
Die meisten der von Abraham gemachten Anregungen haben sich bewährt,
sehr viele sind das Gemeingut aller Psychoanalytiker geworden. Manche
dieser Arbeiten sind geradezu glänzende Leistungen, zu denen den Autor
seine große Erfahrungen und Geistesschärfe befähigten. Es ist nicht
möglich, sich vom Reichtum neuer Erkenntnis, die diese Aufsätze bieten,
nach einem Referate auch nur entfernt einen Begriff zu bilden.
(Ferenczi in der Int. Zschr. f. Psychoanalyse)
XXIII
Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido
auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen. (Neue
Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, Nr. II.) Geheftet M. 5./0,
Pappbd. 4, — .
Inhalt: I. Die manisch-depressiven Zustände und die prägenitalen Organi-
sationsstufen der Libido (Melancholie und Zwangsneurose. Zwei Stufen der
sadistisch-analen Entwicklungsphase. Objektverlust und Introjektion in der
normalen Trauer und in abnormen psychischen Zuständen. Zwei Stufen der
oralen Phase. Das infantile Vorbild der melancholischen Depression. Die
Manie. Die psychoanalytische Therapie). - II. Anfänge und Entwicklung der
Objektliebe.
Der Autor gibt uns als Ziel seiner Abhandlung an, bestimmte, bei manisch-
depressiven Kranken erhobene Befunde für die Sexualtheorie nutzbar zu
machen. Wir meinen, daß sein Buch nicht nur diese Aufgäbe glänzend
gelöst, sondern weit mehr geleistet hat als dies. Er wirft zunächst neues
Licht auf die normalen und pathologischen Verhältnisse der psychosexuellen
Entwicklung . . . Die von Freud begründete psychologische Erkenntnis der
Melancholie und Manie findet hier eingehende Ergänzung . . . Jeder Satz
der in prägnantem Stil geschriebenen Abhandlung trägt die Zeichen lang-
jähriger und mühsamer praktischer Arbeit an sich; die eingestreuten
Bruchstücke aus Krankengeschichten überzeugen nicht nur völlig von der
empirisch-klinischen Natur aller Behauptungen, sondern sind in ihrer
Kürze und Prägnanz auch Meisterstücke psychoanalytischer Darstellungs-
kunst. (Internat. Zschr.f. Psychoanalyse)
This monograph is a very intriguing one, and at the same time a work of
much practical as well as of theoretical importance.
(The Psychoanalytic Review)
Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung.
Geheftet M. 2.fO, Pappbd. 3.20, Halbleinen 4. — .
Inhalt: Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter. Beiträge der Oralerotik
zur Charakterbildung. Die Charakterbildung auf der „genitalen" Entwick-
lungsstufe.
Dieses kleine Meisterwerk kann sowohl dem wertvollen Inhalte als der
klaren Darstellung nach als Vorbild für die psychoanalytische Literatur
gelten. (Jones in The Internat. Journ. of Psycho-Analysis)
Mit diesen Forschungen wird die Psychoanalyse zur Charakteranalyse, die
zu den schwierigsten, vielfach aber auch dankbarsten Leistungen des
Psychoanalytikers gehört. (Archiv für Frauenkunde)
XXIV
AUGUST AICHHORN
Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorge-
erziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung. Mit einem
Geleitwort von Prof. Dr. Sigm. Freud (Internationale Psycho-
analytische Bibliothek, Bd. 10). (Erscheint im Herist 192;. Geheftet
Mi 9. — , Ganzleinen IX. — .)
Inhalt: Einleitung. — Eine Symptomanalyse. — Ursachen der Verwahr-
losung. — Eine Ausheilung in der Übertragung. — Von der Fürsorgeerziehungs-
anstalt. - Die Aggressiven. -. Die Bedeutung des Idiideals für das soziale
Handeln. - Die Bedeutung des Realitätsprinzips für das soziale Handeln.
Aus dem Geleitwort von Prof. Freud: „Von allen Anwendungen der Psycho-
analyse hat keine so viel Interesse gewonnen, so viel Hoffnungen erweckt
und demzufolge so viele tüchtige Mitarbeiter herangezogen wie die auf die
Theorie und Praxis der Kindererziehung. Dies ist leicht zu verstehen. Das
Kind ist das hauptsächliche Objekt der psychoanalytischen Forschung
geworden; es hat in dieser Bedeutung den Neurotiker abgelöst, an dem
sie ihre Arbeit begann. Die Analyse hat im Kranken das wenig verändert
fortlebende Kind aufgezeigt wie im Träumer und im Künstler, sie hat die
Triebkräfte und Tendenzen beleuchtet, die dem kindlichen Wesen sein ihm
eigenes Gepräge geben, und die Entwicklungswege verfolgt, die von diesem
zur Reife des Erwachsenen führen. Kein Wunder also, wenn die Erwartung
entstand, die psychoanalytische Bemühung um das Kind werde der erziehe-
rischen Tätigkeit zugute kommen, die das Kind auf seinem Weg zur Reife
leiten, fördern und gegen Irrungen sichern will.
Mein persönlicher Anteil an dieser Anwendung der Psychoanalyse ist
sehr geringfügig gewesen. Ich hatte mir frühzeitig das Scherzwort von
den drei unmöglichen Berufen — als da sind: Erziehen, Kurieren, Regieren
— zu eigen gemacht, war auch von der mittleren dieser Aufgaben hin-
reichend in Anspruch genommen. Darum verkenne ich aber nicht den
hohen sozialen Wert, den die Arbeit meiner pädagogischen Freunde
beanspruchen darf.
Das vorliegende Buch des Vorstandes A. Aichhorn beschäftigt sich mit
einem Teilstück des großen Problems, mit der erzieherischen Beeinflussung
der jugendliehen Verwahrlosten. Der Verfasser hatte in amtlicher Stellung
als Leiter städtischer Fürsorgeanstalten lange Jahre gewirkt, ehe er mit
der Psychoanalyse bekannt wurde. Sein Verhalten gegen die Pflege-
befohlenen entsprang aus der Quelle einer warmen Anteilnahme an dem
Schicksal dieser Unglücklichen und wurde durch eine intuitive Einfühlung
in deren seelische Bedürfnisse richtig geleitet. Die Psychoanalyse konnte
ihn praktisch wenig Neues lehren, aber sie brachte ihm die klare theore-
tische Einsicht in die Berechtigung seines Handelns und setzte ihn in den
Stand, es vor anderen zu begründen."
xxv
Dr. SIEGFRIED BERN FELD
Vom Gemeinschaftsleben der Jugend. Beiträge zur
Jugendforschung (Quellensdiriften zur seelischen Entwicklung«
Bd. B). Geheftet M. 10. — , Halbleinen 12. — . f
Inhalt: Die Psychoanalyse in der Jugendforschung (Bernfeld). — Ein
Freundinnenkreis (Bernfeld). — Ein Schülerverein (Gerhard Fuchs). —
Ein Knabenbund in einer Schulgemeinde (Wilhelm Hoffer). — „Knurrland."
Versuch der Analyse eines Kinderspieles (Gerhard Fuchs). — Die Initia-
tionsriten der historischen Berufsstände (Erwin Kohn).
Die einleitende Studie über die „Psychoanalyse in der Jugendforschung"
ist eine sachliche und gedankenreiche Einordnung der Psychoanalyse unter
die Wissenschaften, deren Ergebnisse, soweit sie den unerwachsenen
Mensehen betreffen, wir als Jugendkunde bezeichnen. Es ist auch für den
der Psychoanalyse nicht nahestehenden Erzieher äußerst anregend, sich
hier auf neuerschlossenen und weiter zu erschließenden Pfaden der Jugend-
kunde führen zu lassen, die, hinausgehend über die gebundenen Maß-
methoden, dem Ideal absolut getreuer und restloser Erfassung psychischer
Phänomene zweifellos näher kommen. — Die Einzelarbeiten sind reich an
analytischen Deutungen der jugendlichen Verkehrsformen, als sexuell
resp. homosexuell bedingt, die z. T. auch für den Niehtanalytiker einer
gewissen Wahrscheinlichkeit nicht entbehren. (Schweiz. Päiag. Zeitschr.)
Den Lehrer dürften besonders die Abhandlungen interessieren, welche
direkt Schülerorganisationen, den „Klassen-Geist", die Freundschaften und
die geheimen Schülerorganisationen betreffen . . . Die letzte Abhandlung
wird ganz besonders auch die Freunde der Geschichte und der Folklore
anregen. (Berner Schulblatt)
Vom dichterischen Schaffen der Jugend. Neue
Beiträge zur Jugendforschung (Quellenschriften zur seelischen
Entwicklung, Bd. ÜI). Geheftet M. 12.—, Halbleinen 14 — ,
Ganzleinen If. — .
Inhalt: Die psychologische Literatur über das dichterische Schaffen
der Jugendlichen. — Das Dichten eines Jugendlichen, dargestellt nach dessen
Selbstzeugnissen. — Phantasie und Realität im Gedicht einer Siebzehn-
jährigen. — Über Novellen jugendlicher Dichter. — Über ein Motiv zur
Produktion einiger satirischer Gedichte. — Das Erstlingswerk nach Selbst-
zeugnissen. — Phantasiebeispiele der Kinder und ihre Beziehung zur dich-
terischen Produktivität (Dr. Wilhelm Ho ff er). - Ergebnis und Aufgaben.
Die vorliegende Arbeit ist ein wertvoller Beitrag zum Problem der Psycho-
logie der Pubertät, und zwar in erster Linie durch die Wiedergabe eines
XXVI
sehr interessanten Materials von Dichtungen Jugendlicher . . . Besonders
die Ausführungen über die Beziehungen seiner Fragestellungen zu dem
Problem des künstlerischen Schaffens überhaupt zeugen von einer unge-
wöhnlichen Klarheit des Denkens und Sorgfalt der Vertiefung in das
Grenzgebiet. (Zentralhl. f. d.ges. Neurologie u. Psychiatrie)
Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. (Erscheint
im Herbst ip2f.) Geheftet M. /.— , Ganzleinen 6.jo.
Dr. HELENE DEUTSCH
Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen.
(Neue Arbeiten zur ärztlidien Psychoanalyse, Nr. V.)
Geheftet M, J.fo, Ganzleinen f. — .
Inhalt: I. Einleitung. - II. Infantile Sexualität des Weibes. - in. Der
Männlichkeitskomplex des Weibes. - IV. Differenzierung von Mann und
Weib in der Fortpflanzungsperiode. - V. Psychologie der Pubertät. Die
erste Menstruation. Typische Menstruationsbeschwerden. Schwierigkeiten
der Pubertät. Typische Pubertätsphantasien. Triebschicksal in der Pubertät.
- VI. Der Deflorationsakt. - VII. Psychologie des Sexualaktes. - VIII. Frigidi-
tät und Sterilität. - IX. Schwangerschaft und Geburtsakt. - X. Psychologie
des Wochenbettes. - XI. Laktation. - XII. Das Klimakterium.
Aus der Einleitung: „. . . Dieses Beobachtungsmaterial soll eine
psychologische Orientierung und Ergänzung zu den Kenntnissen jener
Vorgänge schaffen, die man zusammenfassend ,Sexualleben des Weibes'
nennt . . . Was bisher zur psychologischen Erkenntnis des Weibes analytisch
beigetragen worden ist, wird hier berücksichtigt ... Es liegt im Zweck
dieser Arbeit, das aufzuklären, was der Bewußtseinspsychologie rätselhaft
bleiben mußte, weil es ihrer Arbeitsmethode unzugänglich war. Aber auch
die Tiefenpsychologie ist in der Erkenntnis der Seelenvorgänge beim
Weibe einen Schritt gegen die beim Manne zurückgeblieben. Besonders
sind es die generativen Vorgänge, denen — obzwar sie den Mittelpunkt im
psychischen Leben des gesehleehtsreifen Weibes bilden — auch analytisch
noch wenig Beachtung geschenkt worden ist. Das Kantsehe Wort: ,Die
Frau verrät ihr Geheimnis nicht', behielt auch hier seine Gültig-
keit. Sichtlich waren dem Manne die verborgenen Seeleninhalte des
Mannes zugänglicher, weil wesensverwandter .. .'Alles was hieran neuen
Einsichten über das Seelenleben des Weibes in seinen Beziehungen zur
Fortpflanzungsfunktion gebracht wird, wurde mit Hilfe der analytischen
Methode gewonnen. Wir beschränken uns hier auf die Mitteilung der
Erkenntnis, die mit den normalpsychischen Relationen zu den physio-
logischen Vorgängen des Sexuallebens im Zusammenhang stehen. Wie
xxvn
wir häufig in unserer Arbeitsmethode erst vom Pathologischen zum
Verständnis des Normalen gelangten, werden wir uns dort, wo sich das
Pathologische als Zerrbild gewisser Konstellationen im Gesunden präsentiert
zur Vereinfachung des Verständnisses auf jenes berufen. Auch gibt es in
den uns hier interessierenden Vorgängen psychische Begleiterscheinungen,
die zwar nicht, normal' im Sinne des Physiologischen zubezeichnen sind, aber
infolge ihres regelmäßigen und typischen Auftretens unter unseren Kultur-
bedingungen bereits nicht mehr dem ,Krankhaften' zugerechnet werden
dürfen."
Dk. MAX EITINGON
Bericht über die Berliner Psychoanalytische Poli-
klinik (März 1920 bis Juni 1922), erstattet auf dem
VII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Berlin
am 25. Sept. 1922. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Sigm.
Freud (Separatabdruck aus der „Internationalen Zeitschrift
für Psychoanalyse", VIII. Bd. 1922.) Geheftet M. —.60.
Zweiter Bericht über die Berliner Psychoanaly-
tische Poliklinik (Juni 1922 bis März 1924), erstattet auf
dem VIII. Internationalen Psychoanalyt. Kongreß in Salzburg
am 23. Apr. 1924. (Separatabdruck aus der „Internation.
Zeitschrift f. Psychoanalyse", X. Bd. 1924.) Geheftet M. —.40.
Dh. s. ferenczi
Hysterie und Pathoneurosen (Internationale Psydio-
analytische Bibliothek, Bd. 2). Geheftet M. 2.—.
Inhalt: Über Pathoneurosen. Hysterische Materialisationsphänomene.
Erklärungsversuch einiger hysterischer Stigmata. Technische Schwierigkeiten
einer Hysterieanaiyse. Die Psychoanalyse eines Falles von hysterischer
Hypochondrie. Über zwei Typen der Kriegshysterie.
Ferenczi, das Haupt der ungarischen psychoanalytischen Schule,istnichtnur
ein ausgezeichneter Lehrer, Propagator und Therapeut, sondern ein ebenso
origineller wie geistreicher Denker und Forscher. In dieser Sammlung
von sechs größeren Aufsätzen finden wir unter anderem seine inhaltsreichen
Arbeiten über Pathoneurosen und Kriegshysterie. Außerdem sind neue
XXVHI
Arbeiten über HyEterie veröffentlicht, welche die Aufstellungen Freuds
ergänzen und durch kühne Konstruktionen weiter bauen.
(Hitschmann in der Int. Zeitschr.f. Psychoanalyse)
Populäre Vorträge über Psychoanalyse (Internationale
Psychoanalytische Bibliothek, Bd. 13). Geheftet M. /.—, Halb-
leinen 6.fo.
Inhalt: Über Aktual- und Psychoneurosen Im Lichte der Freudschen
Forschungen und über Psychoanalyse. Zur analytischen Auffassung der
Psychoneurosen. Die Psychoanalyse der Träume. Träume der Ahnungslosen.
Suggestion und Psychoanalyse. Die wissenschaftliche Bedeutung von Freuds
„Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie". Die Psychoanalyse des Witzes
und des Komischen. Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte. Psycho-
analyse und Kriminologie. Philosophie und Psychoanalyse. Zur Psychogenese
der Mechanik. Nachtrag zur Psychogenese der Mechanik. Symbolische Dar-
stellung des Lust- und Realitätsprinzips im Ödipus-Mythus. Cornelia, die
Mutter der Gracchen. Anatole France als Analytiker. Zähmung eines
wilden Pferdes. Glaube, Unglaube und Oberzeugung.
Klar und formvollendet, mitunter fesselnd geschrieben, sind sie eigent-
lich die beste „Einführung in die Psychoanalyse" für den ihr ferner
Stehenden. (Prof. Freud in der Ferenczi-Festschrift)
Wer sich bequem orientieren will, sei auf die schönen „Populären Vor-
träge" von F. hingewiesen. (Alfred Döblin in der Vossischen Zeitung)
Versuch einer Genitaltheorie (Internationale Psychoanaly-
tische Bibliothek, Bd. 15). Geheftet [M. 4.^0, Halbleinen j.;o,
Halbleder 8. — .
Inhalt: Die Amphimixis der Erotismen im Ejakulationsakt. Der Begattungs-
akt als amphimiktischer Vorgang. Entwicklungsstufen des erotischen Realitäts-
sinnes. Deutung einzelner Vorgänge beim Geschlechtsakte. Die individuelle
Genitalfunktion. Phylogenet. Parallele. Zum „thalassalen Regressionszug".
Begattung u. Befruchtung. Koitus u. Schlaf. Bioanalytische Konsequenzen.
Wie immer man die Hypothesen Ferenczis betrachten mag, selbst wenn
man sie nur als phantastische Exzentrizitäten eines einseitig eingestellten
Psychoanalytikers würdigt, sie verdienen das Interesse des Lesers schon
durch das Streben, die rein biologische Auffassung der Genitalität durch
Vermischung mit psychoanalytischem Denken auszudeuten.
(Placzek im Archiv für Frauenkunde)
Im Mittelpunkt steht die ehemals so übel beleumundete „Mutterleibs-
regression", heute hineingestellt in eine Menge sinnvoll erfaßter Tatsachen,
Phantasien und Ausnahmen . . . Ferenczi verfolgt den „thalassalen
Regressionszug" hinein in vielerlei biologische und beschreibend-zoologische
XXLX
Fakta, diesen neue Deutung gebend; andererseits hinein in das nur intro-
spektiv erfaßbare psychische Gebiet. Überall ein intensives Streben nach
Vollständigkeit und weitesten Grenzen, gepaart mit subtilster Erfassung
von Einzelheiten. (Schultz-Hencke in der Zeitschrift f. Sexualwissenschaft)
Dr. Ferenczis bold and adventurous mind has produced a work füll of
ingenious Suggestion and speculation, and much of it may be of conside-
rable heuristic value. (Prof. Tansley in The Brit. Journ. of Med. Psych.)
A most fascinating and stimulating monograph. (Psychoandlytic Review)
Zur Psychoanalyse von Sexualgewohnheiten (mit Bei-
trägen zur therapeutischen Technik). (Separatabclruck aus der
„Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse", Bd. XI, 1925.)
Geheftet M. I.6o, Ganzleinen j. — .
Inhalt: Urethrale Gewohnheiten. Einzelne Genitalgewohnheiten. Unbe-
wußte Lustmordphantasien. Gewohnheit und Symptom. Metapsyohologle der
Gewohnheiten im allgemeinen. Technische Bemerkungen. Die Entwöhnung
von der Psychoanalyse.
Zur Psychoanalyse der paralytischen Geistesstörung
(von Ferenczi und Hollös), s. unter HOLLOS.
Ferenczi-Festschrift, s. (= „Internationale Zeitschrift für
Psychoanalyse", Bd. LX, Heft 3) unter ZEITSCHRIFTEN.
Ferenczi, Freud, Abraham u. a., Zur Psychoanalyse
der Kriegsneurosen, s. unter INTERNATIONALE
PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK.
Dr. S. FERENCZI und Dr. OTTO RANK
Entwicklungsziele der Psychoanalyse. Zur Wechsel-
beziehung von Theorie und Praxis. (Neue Arbeiten zur
ärztlichen Psydioanalyse, Nr. I.) Geheftet M. 2.80, Pappbd. 3.50.
Inhalt: Die analytische Situation. Der Libidoablauf und seine Phasen.
Die Lösung der Libidofixierung im Erlebnismoment. Historisch-kritischer
Rückblick. Theorie und Praxis. Ergebnisse. Ausblicke.
Aus dem Bilde, das beide Autoren in gemeinsamer Arbeit entwarfen, wird
sich nicht nur dem ausübenden Analytiker, sondern in hohem Maße auch
dem wissenschaftlich und allgemein an der Psychoanalyse Interessierten
:2 T XXX
eine Fülle von Hinweisen ergeben . . . Die eingehende kritische Darstellung
dessen, was unter einer Analyse verstanden wurde und wird, kann von
großem Interesse sein. (Zeitschrift für Sexualwissenschaft)
Der leitende Gedanke dieses stark programmatisch gehaltenen Buches
kommt am deutlichsten in der Feststellung der Autoren zum Ausdruck, daß
die Psychoanalyse heute in eine neue Phase, in die „Erlebnisphase", ein-
tritt, welche die „Erkenntnisphase" der letzten Jahre, die einerseits in der
Überwucherung des theoretischen Forschens, andererseits therapeutisch in
der Überschätzung des während der Kur dem Patienten übermittelten
Wissens bestand, ablöst. (Internat. Zeitschr.f. Psychoanalyse)
Dr. FRITZ GIESE
Privatdozent an der Technischen Hochschule Stuttgart
Psychoanalytische Psychotechnik (Sonderabdruck aus
„Imago", Bd. X). Geheftet M. 1.80, Pappbd. 2.}o.
Inhalt: I. Psychoanalyse und Wirtschaftspsychologie. Erotisierte Reklame.
— II. Psychologische Eignungsprüfling.
Giese unternimmt als erster den Versuch, die psychoanalytische Betrachtungs-
weise Problemen der praktischen Wirtschaftslehre angedeihen zu lassen. Eingangs
erörtert er in methodologischer Auseinandersetzung grundsätzliche Frage-
stellungen. Er setzt auch eine Wechselwirkung voraus: es trägt nicht nur die
analytische Psychopathologie zum Verständnis des Wirtschaftslebens bei, es
könnten auch die derart für das Soziologische gewonnenen Erkenntnisse auf
medizinische oder pädagogische Fragestellungen rückwirken. In einer ausführ-
lichen Analyse der erotisierten Reklame gibt Giese ein mit reicher
Reklamekasuistik aus unseren Tagen belegtes Beispiel dieser neuartigen Wirt-
schaftspsychologie. Er behandelt sowohl die heute geläufige Methode der
Erotisierung von Reklameinhalten, die an sich unmittelbar mit Sexualität gar
nichts zu tun haben, als auch die Störung der Sinnfälligkeit einer Reklame
durch Erotisierung (Verschlechterung der Wirkung durch libidinöse Ablenkung).
Die Studie über Eignungsprüfungen zeigt die Möglichkeiten der Psycho-
analyse im Rahmen der Berufskunde. Die mitgeteilten Experimente (besonders
Jene mit dem Spontan-Klappenapparat) erwecken besonderes Interesse. Giese
gelangt zur Forderung einer raschen praktischen Berufsauslese, wobei die neue
Aufgabe* entsteht, für psychoanalytische Schnelldiagnostik Verfahren
und für deren Ergebnisse eine typisierende Symptomlehre zu entwickeln. —
Beachtenswert sind auch die Ausführungen über analytische Durchprüfung
Hochbegabter, wobei die Notwendigkeit angedeutet wird, eine Art von Ver-
drängungsökonomie zu ermitteln.
XXXI
Dr. HEINRICH GOMPERZ
Professor an der Universität Wien
Psychologische Beobachtungen an griechischen
Philosophen (Sonderabdruck aus der „Imago", Bd. X). Geheftet
M. j.;o, Pappbd. 4. — .
Inhalt: I. Parmenides. — II. Sokrates.
Prof. Gomperz gehört nicht zn jenen Forsehern, die sich alle Schlüsse
aneignen, die die Psychoanalyse ans den von ihr zuerst aufgedeckten
Tatsachen ziehen zu dürfen glaubt, aber er erkennt Wert und Bedeutung
dieser von Freud und seinen unmittelbaren Schülern ermittelten Tatsachen
selbst und die Möglichkeit dessen, daß ihre Verknüpfung mit den sonst
bekannten Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten zur Erledigung vieler offener
Fragen führen kann. Die psychologischen Beobachtungen von Gomperz
über die geistig-leibliche Veranlagung und Entwicklung zweier repräsen-
tativer griechischer Philosophen tragen zweifellos nicht wenig dazu bei,
den eigentümlichen Lehrgehalt ihres Philosophierens besser verständlich
zu machen. In der Studie über Parmenides wird besonders die Theorie
des parmenideischen Lehrgedichtes über die Geschleehtsbestimmung
analysiert. Der Dichter-Philosoph selbst liebt das „weibliche Weib",
ihm erscheinen kleine Hände und Füße, mittelgroße Gestalt, zarter Teint,
eine helle Stimme, niedergeschlagene Augen und eine schüchterne Gemüts-
art als Kennzeichen des „wahren", also des begehrenswerten Weibes.
Andererseits dürfte er selbst ein „männlicher Mann" gewesen sein; die
Schwärmerei für zarte Knabenschönheit beim Manne ist ihm fremd; weib-
HcheEigenarten„zerrütten"die männliche Eigen art.Das weibliche Geschlecht
hat dem Parmenides als das geistig begabtere gegolten. In seinem Gedicht
kommen überhaupt nur weibliche Gottheiten vor. Die einzigeAusnahme
von dieser Regel, die einzige männliche Gottheit, dessen Namen wir in seinem
Gedichte lesen, ist: Eros. Die Welt des Parmenides erweist sich unverkennbar
als die Verkörperung einer wohl unbewußten, allein deswegen nicht weniger
kräftig entwickelten, ausschließlich dem anderen Geschlechte zugewandten
Erotik. Und doch lehnt Parmenides diese von der Geschlechtsliebe be-
herrschte Welt entschieden ab, erklärt sie für unwirklich, für eine bloße Aus-
geburt menschlichen Wahnes. In der wahren Welt gebe es kein Werden,
kein Entstehen und Vergehen, keine Paarung von Zweien zur Hervor-
bringung eines Dritten ; das „Seiende" in der wahren Welt sei unentstanden
und unvergänglich. Daß es nicht ausschließlich logische Gründe sind, die
einen in der Vollkraft der Jahre stehenden, anscheinend von gesunder
Erotik erfüllten Mann zwingen, das Zeugnis seiner eigenen Sinne zu
verwerfen, ist klar. — Eine ausführliche Analyse läßt Prof. Gomperz der
nach Jahrtausenden noch immer so fesselnden und problematischen
Persönlichkeit des Sokrates zuteil werden. Eigentümlich war dem
großen Philosophen zunächst eine leiblich-geistige Anlage, die ihn erstens
:{xxxn
von ihm selbst unbewußt Gedachte» wie Fremdes von außen vernehmen
und zweitens seine Liebesfahigkeit noch mehr als knabenhaften Frauen
mädchenhaften Knaben zuwenden ließ. Entscheidend für seine Entwick-
lung war der früh erwachte Unabhängigkeits drang, der ihn in unbewußte
psychische Konflikte mit der Verehrung für seinen Vater und dessen
Berufsgenossen, die athenischen Handwerksmeister, brachte. Er dürfte
seine hohen Vorbilder aus infantiler Wißbegierde mit Fragen bestürmt
haben, deren Beantwortung sie ihm schuldig bleiben mußten, so daß sie
ihre Autorität einbüßten. Vergeblich suchte er dann stets nach dem
wahren „Meister". Jedem Manne, der mit einem gewissen Geltungsanspruch
auftrat, legte er seine Fragen vor und sobald dieser sie nicht zufrieden-
stellend beantwortete, war damit in den Augen des Sokrates der Geltungs-
anspruch vernichtet. Auf diese Vernichtung waren dann die Fragen schon
direkt angelegt. Besonders eingehend wird die Erotik des Sokrates
untersucht, sein Liebesleben, Beziehung zur Gattin, zu den Dirnen und
vor allem seine Beziehung zum Lehramte.
Dr. GUSTAV HANS GRABER
Die Ambivalenz des Kindes (Imago-Bücher, Nr. VI).
Geheftet M. }.fo, Halbleinen /. — , Halbleder 7. — .
. Inhalt: L Der Begriff der Ambivalenz. A) Bei Bleuler. B) Bei Freud. - II. Das
Wesen der Ambivalenz des Kindes. A) Ambivalenzbildung. Hereditäres und
Akzidentelles. Zerstörung der Einheit. Der Urhaß und die Ambivalenz jeder
Bindungen. Bindungen ans Ich. Die Elternbindung. Der Geschlechtsunter-
Gchled. Das Lustverbot. Verdrängung und Widerstand. Symbolisierung.
Tierphobien. Träume. Das Über-Ich. B) Aufhebung der Ambivalenz und
Regression. — HL Ausblick.
Besonders fruchtbar. Bringt neues individuelles Material von Kindern
selbst. Lesenswerter systematischer Versuch. (Zeitschr. f. Sexualwiss.)
Wichtige Fingerzeige zur Kindererziehung. (Berner Woche)
Jeder, der mit Kindern zu tun hat, wird diese Arbeit mit Gewinn lesen.
(Prof. Schneider, Riga in der Schulreform)
This work is füll of suggestive material for the psychoanalytic worker
or for the psyehologist or psychiatrist at all up to date on the study of
uneonscious dynamics. (Journ. of Nerv, and Ment. Disease)
Die schwarze Spinne. Menschheitsentwicklung nach Jere-
mias Gotthelfs gleichnamiger Novelle, dargestellt unter
besonderer Berücksichtigung der Rolle der Frau (Sonderabdruck
aus der „Imago"). Erscheint im Herbst 1925.
XXXIII
GEORG GRODDECK
Der Seelensucher. Ein psychoanalytischer Roman. 2. Aufl.
(2. — 5. Tausend.) Pappid. M. 10. — , Ganzleinen II. — , Halbleder 13, — .
Inhalt: Agathe, der Herausgeber, August Müller und der Seelensudler.
- Die Wanzen kriechen hervor. - Ein Scharlachfall. Dr. Vorbeuger. Ein
Fluchtversuch. - August wird eingesperrt, Agathe besucht ihn. - Die Wanzen
werden angesteckt. Augusts Berufung. — Der Vikar wird durch ein junges
Mädchen in die Geschichte verwickelt und hat ein Stelldichein. — August Müller
stirbt. — Thomas Weltlein begegnet dem Sein, dem Werden und dem Fittich der
Tat. — Der Lumpenwilhelm und Agathes Uhr. — Der Weg der Schmerzen.
- Ein Weinbergskarl und noch einer. — Der Tunnel der Erniedrigung.
Kleider machen Leute. — Verrückt oder boshaft? — Strickt der Strumpf oder
wird er gestrickt? - Docendo discimus. - Eine Wanze, die mit Gedanken
und Goldwasser malt. - Wie Lachmann einen Stein rollen läßt. - Thomas
macht am Insekt Mensch Experimente über psychisch-physische Ansteckung.
- Vom Nutzen der Krankheit. - Wie sich Frauen und wie sich Thomas
die Hebung der Sittlichkeit denken. — Was eine Glocke ist. Agaihe reist
ab und Thomas spielt Eisenbahn. — Nicht wahr, zwei Damen? Und der
Sdilag aufs Paradiesäpflein. — Von der inneren Anstedcung, dem Artikel,
Held Onan und der Entrüstung des Lesers. - Großes und kleines Geschäft.
Der Kegelkönig. - Das vierte Gebot. - Apfelkraut und Hosenbein. Musik
und Liebe. — Eine Schlägerei. Was das Du eines Prinzen vermag. — Ein
langweiliges Kapitel, das aber nicht untersdilagen werden kann, da es vom
Waschen und dem Geheimnis der Sixtinischen Madonna handelt. — Nodi
ein Museumsbesuch, ebenso langweilig wie der vorige. — Die Idee des
Pferdes und der Wettkampf mit dem Löwen. — Der Narr als Held. Vom
Sozialismus. — Wie Thomas die Welt von unten ansieht und was es mit
Madchenfreundsdiaften auf sich hat. — Ein Verbrechen? Der Gruß des
Kaisers und die Resultate des Studiums. — Agathe ersdieint wieder. —
Mathematik als reine Wissenschaft. Kinderverse und das Rätsel der Brust-
warzen. — Der rote Prinz. Willkommen und Abschied. — Tod und Begräbnis.
Agathe beansprucht Thomas Weltleins Vermögen, Lachmann den Seelen-
sudier und Alwine seinen Unglauben.
Ein ungewöhnlich geistreicher Kerl, der sehr amüsant zu reden weiß. Der
Stil erinnert etwas an die Pickwiekier, wenn auch der Inhalt durchaus
nicht so harmlos ist. (Dr. Drill in der Frankfurter Zeitung)
Ein tüchtiger Mann, der* Spaß machen kann und sein Publikum in
36 Kapiteln trotz aller Wissenschaft harmlos und kurzweilig unterhält.
(Alfred Döblin in der Neuen Rundschau)
Es kann kein schlechtes Buch sein, dein es wie diesem gelingt, den Leser
vom Anfang bis zum Ende zu fesseln, schwere biologische und psycho-
logische Probleme in witziger, ja belustigender Form darzustellen, und
XXXIV
(las es zustande bringt, derbzynische, groteske und tieftragische Szenen,
die in ihrer Nacktheit abstoßend wirken mußten, mit seinem guten
Humor wie mit einem Kleide zu behängen.
Der erziehliche Wert des Buches liegt darin, daß Groddeck, wie einst
Swift, Rabelais und Balzac, dem pietistisch-hypokritischen Zeitgeist
die Maske vom Gesicht reißt und die dahinter versteckte Grausamkeit und
Lüsternheit, wenn auch mit dem Verständnis für deren Selbstverständlich-
keit, offen zur Schau stellt. Die Symbolik, die die Psychoanalyse zaghaft
als einen der gedankenbildenden Faktoren einstellt, ist für Weltlein tief
im Organischen, vielleicht im Kosmischen begründet und die Sexualität
ist das Zentrum, um das sich die ganze Symbolwelt bewegt.
(Dr. S. Ferenczi in der Imago)
Ein Buch, das kaum seinesgleichen hat unter deutschen Büchern, ein Buch
von eigentümlicher spiritueller Schärfe, die ihre Zeichen ins Hirn des
Lesers ätzt. Was sonst als erzählende deutsche Prosa Humor
übt, scheint Wasser neben dieser Quintessenz... So was
Freches, Ungeniertes, raffiniert Gescheit-Verrücktes ist von Erzählern
unserer Sprache noch nicht gewagt worden. Man muß zu den Großen
satirischer Dichtung, will man die Patrone dieser Schrift nennen. Von
Jonathan Swifts unsterblicher Galle kreist ein Tropfen in des Seelen-
suchers Bitterkeit; an Cervantes erinnert der Ritus, nach dem hiereiner
zugleich den Priester und das Lamm seiner Narrheit abgibt, erinnert die
Durchsetzung dieser Narrheit mit Idee und Idealität; in der Rabies ihrer
Witzigkeit aber gespenstert das Überdimensionierte der Gargantua-
Komik.
Die Figuren haben beiläufige Kontur. Auch der Held Thomas, der als Don
Quixote Sigmund Freudscher Weltanschauung seiner fürsorglichen
Schwester Agathe durchbrennt, streitbar durch die deutsehen Lande zieht,
in die wunderlichsten Händel und skurrilsten Abenteuer gerät als Ritter,
seiner Dulcinea Psychoanalyse die erbittertsten Reden und andere Schlachten
schlägt, aller Orten — wie der de la Mancha Burgen, Ritter, Burgfräulein
— ajler Orten Symbole, insbesonders erotische Symbole sieht, erfüllt von
der (heiligen Gewißheit, daß die Menschen ihre Psyche zwischen den
Beinen tragen und ihre Genitalien an jeder Stelle Körpers und Geistes.
Dieser Thomas ist ein urgemütliches Gespenst, daß seine Hirnschale in
Händen hält und aus dem muntren Qualm, der ihr entsteigt, die Welt
deutet . . . Eine Figur, so voll der kostbarsten Narrheit — die keine Narr-
heit, sondern Ernst-Clownerie — ist noch durch keinen deutschen Roman
gewandelt ... Sie hat ein Format und eine Funktion; der Rest ist Ulk.
Aber Ulk von der hellsten Sorte. Hier lehrt einer, zum Gaudium des Leser,
die Welt über den psycho analytischen Stock springen. Alles
muß drüber, Mensch und Tier, Politik, Kunst, Wissenschaft; und, mit
etlicher Gewalt und Schlauheit, glückt es bei allen. Eine drolligste demon-
stratio ad rem et hominem von der Unfreiheit der Erscheinungen. Wie
sieh hier Sinn zu Hanswurstiaden übersteigert, Geist in närrische Aktion
XXXV
umsetzt, Dogma possenreißerisch sich behauptet, Erkenntnis, ihrer Unver-
letzbarkeit hochmütig gewiß, ins dichteste Gelächter stürzt — solche lustige
Abenteuerfahrt des Gedankens hat noch kein deutscher Mann gewagt.
(Alfred. Polgar im Berliner Tageblatt)
Ein Schalk, der lustig, ausgelassen und frivol ist und doch zum Denken
reizt. . . Prüde Flachköpfe, Philister, laßt die Hände davon, aber Ihr, dio
Ihr lachen könnt, bis die Augen tränen, macht Euch in Eurer stillen
Ecke über dieses Buch. {Wiener Freimaurer-Zeitung)
Gespräche und Reden des Seelensuchers Thomas Weltlein, den der Verfasser
auf die schmale Grenze zwischen dem weisen Grübler und dem Narren
gestellt hat, um ihm recht ungestört alles zwischen Himmel und Erde
durcheinanderquirlen lassen zu können . . . Für öffentliche Büchereien ist
das Buch wegen seines Übermaßes an Zynismus in erotischen und reli-
giösen Dingen unbrauchbar. (Bächerei und Bildungspflege)
Weder die Vertiefung noch der soziale Ernst wird der Psychoanalyse hier
entnommen, sondern der Kehricht, den sie, das seelische Innere des
Menschen fegend, vor der Tür anhäuft. Diese unappetitliche Masse wird
hier zum Hauptthema, als ob das Absehen darauf gerichtet wäre, die
Psychoanalyse durch Ordinärheit zu diskreditieren, was indessen kaum
in den Intentionen des Verfassers, selbst Psychoanalytikers, liegen kann.
(Herbert Silberer in der Neuen Freien Presse)
Groddeck hat der Literatur einen modernen Don Quichotte geschenkt . . .
Wer Freude daran hat, die Dinge auch einmal durch eine andere Brille
als seine eigene zu sehen, lese das Buch. Er wird Stunden reinster Freude
habenl (Ostseezeitung)
Ein witziges Buch ! Ein kluges Buch ! Eine geschickte Fopperei, nichts
mehr! Ein köstliches Buch, ein abscheuliches Buch ! Ein fideler Roman
ein wissenschaftliches Werk!... Das Buch ist vor allem von einer
imponierenden Rücksichtslosigkeit. (jji e jfr aj , c \
Groddeck hat sich seine Aufgabe insofern erleichtert, als sein Held gleich-
zeitig Psychopath und Psychoanalytiker ist; dadurch kann er manche
bedeutsame Glossierung unauffällig einfügen. Groddeck nützt die Immuni-
tät reichlich aus, um die Phantasie des kranken Zynikers sich in Zwei-
deutigkeiten ergehen zu lassen; aber man behält den Eindruck der Echtheit.
(Badischer Zentralanzeiger)
Wer für Humor keinen Sinn hat, gehe dem Buch weit aus dem Wege . . •
Groddeck probiert mit einer tollen Donquichotterie die psychoanalytische
Methode an seinem Helden aus und mengt Witz und Unsinn, Weisheit und
Tollheit wild durcheinander. (Jörn Oven in der Schönen Literatur)
XXXVI
Das Buch vom Es, Psydioanalytisdie Briefe an eine Freundin.
Ganzleinen M. i}. — , Halbleder 17. .
Ein Breviarium des Freudianismus für alle Wissenschaftsverächter. Der
Briefschreiher nennt sieh Patrik Troll und macht diesem lustigen Namen
alle Ehre, pfeift auf die Wissenschaft, schreibt amüsant, geistreich, kritik-
los und mit der üblichen Entdeckerfreude. Es gelingt ihm mühelos, auf
alles den reinsexuellen Reim zu finden. Dieser Patrik Troll hat für die
Analyse ein so kurzweiliges Repetitorium geschrieben, wie es sonst
wohl noch kein Wissenszweig hat. Die Herren Kollegen werden sich
vielleicht darüber ärgern, die „Laien" aber werden verblüfft und bewundernd
staunen über die fröhliche Ungeniertheit und Offenheit in der Art des
sechzehnten Jahrhunderts. Und weil dieser derbe Stil damals doch viel-
leicht so eine Art geistiger Exhibitionismus war, so wird der Verfasser
sich über die Wirkung auf seine Leser königlich freuen.
(Neue Züricher Zeitimg)
Ein amüsanter Schriftsteller. Die Aufdröselung psychischer Karten, die
Bloßlegung verwickelter Seelensituationen ist nicht so sein Gebiet wie das
Erkennen des Sexuellen rechts und links im Seelenleben. Er spricht sich
freimütig mit /der boshaften Ruhe des erfahrenen Arztes über tausend
Alltagsdinge aus, plaudert, plaudert. Die Briefe sind an eine Freundin
geschrieben; das Unanständige verliert im Spaßhaften, Überlegenen seinen
Charakter. (Alfred Döblin in der rassischen Zeitung)
Ein vollständiger Skeptiker und mildert das nur dadurch, daß er sich selber
nicht schont. (Dr. Drill in der Frankfurter Zeitung)
Ein sehr merkwürdiges, durch seine temperamentvolle Offenheit unge-
wöhnlich fesselndes Buch, in dem viele zynische Ehrlichkeiten, manche
„goldene Rücksichtslosigkeiten" stehen. Er ist klug, daß er die einzelnen
Themen in die lockere Kapitelform der Briefe fügte. Doch wäre dem immer-
hin heiklen Inhalt die Form des intimen Gesprächs vielleicht noch zweck-
mäßiger angepaßt. Schwarz auf weiß pflegt man solche Gedanken einer
Frau kaum zu geben. Ich kann mir diese höchst persönlichen, aller Prüderie,
aber auch aller Scham entkleideten Briefe über Psychoanalyse eher als'
sehr wahrscheinliche Gespräche zwischen Ehegatten oder Liebenden denken.
Wie dem auch sei, dies Buch ist ein mutiges Aufklärungs- und zugleich
ein Bekennerwerk ... Die Fähigkeit ausschweifenden Phantasierens und
scheinbar ziellosen, im Grunde aber recht logischen Kombinierens ist das
Merkmal dieses fesselndes Buches. (Berliner Börsenzeitung)
Wenn du auch nur ein Zipfelchen vom Kleide der Moral zu deiner Moral
nötig hast, wirst du das Buch mit Entrüstung verdammen; oder du wirst
das Zipfelchen fahren lassen und mit dem Buche ins große Meer des
amoralischen Es schwimmen. ... Du sollst das Buch lesen 1 Du wirst
davon einen großen Lehensgewinn haben I (Schulreform, Bern;
xxxvn
De. IMRE HERMANN
Psychoanalyse und Logik. Individuell-logische Unter-
suchungen aus der psychoanalytischen Praxis. (Imago-
Bücher Nr. VII.) Geheftet M. J.fo, Halbleinen f.—, Halbleder 7.—.
Inhalt: Einleitung / Der Dualsdiritt / Das Manifeste in einer Kranken-
geschichte / Dualschritte aus der Entwickhmgspsychologie; in der Biologie;
in der schönen Literatur / Ihr Zusammenhang mit der seelischen Konstitu-
tion und dem Erlebnis des Schriftstellers / Umkehrschritte in einer Kranken-
geschichte / Ein Fall mit Dual- und Umkehrschritten / Der Abwendungs-
schritt / Der Schritt des Sinkens / Skizze zu einer Denkschrittpsychologie /
Denkschritte und Trieblehre / Die logischen Denkgesetze / Exkurs über
Sophismen / Zusammenfassung der Theorie der Evidenz.
Ein origineller und verdienstvoller Versuch, die Brücke von der Psycho-
analyse zur Schulpsychologie und Philosophie zu zimmern. (Imago)
Dr. EDUARD HITSCHMANN
Gottfried Keller. Psychoanalyse des Dichters, seiner Gestalten
und Motive. (Internationale Psychoanalytische Bibliothek,
Bd. VII.) Geheftet M. }.;<>.
Inhalt: I. Einleitung. - IL Die Bedeutung der Mutter. Unbewußte Liebe.
Die Mutter ernährt den Sohn. Das Zwiehahn-Motiv. Die Judith-Gestalt.
Angst vor Eifersucht der Mutter. Gehemmte Liebeswahl und gehemmte
Sexualität. — ID. Das Erbe des Vaters. Der erlebte und ersehnte Vater. —
Das Motiv der „halben Familie". Das Heimkehr-Motiv. - IV. Zum Liebes-
leben. Kinderliebschaften. Die Schwester Regula. Die überlegene Frau. -
V. Der Maler Keller und das Nacktheitsmotiv. Schaulust und weiblicher
Akt. Der Landschafter. Geträumte und verhüllte Entblößung. — VI. Künst-
lerisches Werden. — Anhang. — Literatur.
Sind die Künstler-Psychoanalysen besser (d. h. vorsichtiger in der Material-
bewertung) geworden, oder haben wir im Laufe der Zeit nähere Fühlung'
mit der Psychoanalyse gewonnen? Wohl beides . . . Das vorliegende Keller-
Buch hat mir auch als Literarhistoriker einige Lichter aufgesteckt . . . Das
Buch vertieft unseren Einblick in die erotischen Probleme bei dem Menschen
wie bei dem Künstler Keller. Es erklärt die Hemmungen in seiner persön-
lichen Liebeswahl und Sexualität und beleuchtet entsprechende Motive
seiner Dichtung. (Prof. Harry Maync, Bern, im Literarischen Echo)
Hitschmann hat einen großen deutschen Erzähler gewählt, um in der Dar-
stellung seines Lebens und Schaffens, von analytischen Gesichtspunkten
ausgehend, zu zeigen, wie tiefgehend Kindereindrücke bei Gottfried
Keller gewirkt haben und welche hervorragende Bedeutung bestimmten
Tendenzen und deren Hemmungen im Liebesleben für die künstlerische
Stoffwahl und Gestaltung zukommt. (Imago)
xxxvni
Dr. STEFAN HOLLOS und Dr. S. FERENCZI
Zur Psychoanalyse der paralytischen Geistesstörung.
(Beihefte der Internation. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Nr. V.)
Geheftet M. 2.—.
No more fascinating nor intriguing study has been attempted than in
this effort at obtaining a better insight into the phenomenology of the
mental picture of general paresis. TUe bizarre disarray which descriptive
psyehiatry bas given us ig most ingeniously rearranged and Order is seen
in the apparent chaos of/fEät most „organio" of tbe psyckoses.
(Journ. of Nerv, and Mental Disease)
Dr. HERMINE HUG-HELLMUTH (f)
Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens (von 11 bis
141/2 Jahren). Herausgegeben von Dr. H. Hug-Hellmuth.
(Quellenschriften zur seelischen Entwicklung, Bd. I.) Dritte
Auflage (6. — 10. Tausend). Ausgabe auf holzh. Papier, geheftet
M. 4. — , Pappbd. /. — , Ausgabe auf holzfreiem Papier, Ganzleinen 9. — ,
Halbleder 12. — .
Das Tagebuch ist ein Heines Juwel. Wirklieh, ich glaube, noch niemals
hat man in solcher Klarheit und Wahrhaftigkeit in die Seelenregungen
hineinblicken können, welche die Entwicklung des Mädchens unserer
Gesellschafts- und Kulturstufe in den Jahren der Vorpubertät kennzeichnen.
Wie die Gefühle aus dem Kindisch-Egoistischen hervorwachsen, bis sie
die soziale Reife erreichen, wie die Beziehungen zu Eltern und Geschwistern
zuerst aussehen und dann allmählich an Ernst und Innigkeit gewinnen,
-wie Freundschaften angesponnen und verlassen werden, die Zärtlichkeit
nach ihren ersten Objekten tastet, und vor allem wie das Geheimnis des
Geschlechtslebens erst verschwommen auftaucht, um dann von der kind-
lichen Seele ganz Besitz zu nehmen, wie dieses Kind unter dem Bewußt-
sein seines geheimen Wissens Schaden leidet und ihn allmählich über-
windet, das ist so reizend, natürlich und so ernsthaft in diesen kunstlosen
Aufzeichnungen zum Ausdruck gekommen, daß es Erziehern und Psycho-
logen das höchste Interesse einflößen muß.
(Prof. Freud, in einem Briefe an die Herausgeberin)
Weibliche Wesen der bürgerlichen Welt werden sich beim Tagebuch Seite
um Seite zurückversetzt fühlen in ihr Einst; männlichen Wesen wird es
statt dessen manche Kleinigkeit mitteilen, die sie noch nicht wußten.
Das Hauptthema des Tagebuches liegt nicht in dem, was von den Außen-
verhältnissen ausgeht, mögen sie dem Kinde falsch oder richtig seine
Geschlechtszukunft enthüllen oder verhüllen. Das Thema der elf bis vier-
XXXIX
zehn Jahre liegt in dieser Zukunft selber schon, der das weibliche Kind
— gleichsam über sein Vermögen ahnend — als einer gleichzeitig vorwärts-
drängenden und zurückdrängenden entgegengeht: denn die Reife des
Weibes bezahlt sich mit einer neuen Passivhaltung, der das zunehmende
Ichbewußtsein sich auf das lebhafteste widersetzt.
(Lou Andreas-Salome im „Literarischen Echo"}
Hier, wie vielleicht in jedem aufrichtigen Tagebuche einer Halbwüchsigen
ist natürlich der Brennpunkt des Interesses die Sexualität. — Die
Sexualität, nicht die Erotik. Denn hier kommt die Neugier noch
aus dem Intellektuellen, aus dem wachen Gehirn eines noch unent-
wickelten Körpers, und die Unruhe quillt aus dem Verstand, nicht aus den
noch dumpfen Zonen körperlichen Gefühls. Nirgends reagiert hier wirk-
liche Befriedigung auf Erkenntnis; im Gegenteil: der erste zufällige Einblick
wird für das Kind zum seelischen Schock. Mit Ekel, mit Abscheu, mit
Furcht und Angst antwortet ihr noch unreifes Gefühl auf alle Ahnungen
des Körperlichen. Statt sie an das feurige Geheimnis näher hinzudrängen,
schreckt sie die für ihr Empfinden unreine Glut zurück. Nirgends ist in
diesem nervösen Kinde trotz aller geistigen Unruhe, trotz aller funkelnden
Neugierde ein Atem von Verderbtheit. Man spürt, diese Unruhe ist (wie
wahrscheinlich bei den meisten Kindern, was aber Lehrer und Erzieher
selten ahnen) absolut präerotisch, sie ist nur Unruhe nach dem Leben,
nach dem Zusammenhange, das allzu erklärliche Gefühl nach Ebenmäßig-
keit des Wissens, das keine Lücken und leere Stellen will, dasselbe Gefühl,
das die junge Menschheit als Gesamtheit von ihrem Anfang getrieben hat,
ihre eigene Erde zu durchforschen, unbekannte Kontinente sieh bekannt
zu machen, alle Ströme, Berge, Seen und Wälder in eine Karte einzu-
zeichnen und über diese Erde hinaus noch mit Teleskopen und Berechnungen
nach den anderen Welten ins Unendliche zu spähen.
... Es ist immer gut, Menschliches zu verstehen und zu diesem Ver-
ständnis der Kinderseele scheint mir dieses Buch eines der kostbarsten,
das je die Wissenschaft Hand in Hand mit dem Zufall dargeboten und
nicht durch Kunst, sondern einzig allein dank jener mystischen
Schöpfungskraft der Jugend, dichterischer wirkt als die besten Nachdich-
tungen von Kindheit. (Stefan Zweig in der Neuen Freien Presse)
Denkt euch Wedekinds kleine Wendla, die an „Frühlings Er-
wachen" so tragisch zugrunde geht, habe ihre Erlebnisse aufgezeichnet,
denkt sie euch in Geheimratskreise und auf Wiener Boden versetzt — so
habt ihr das „Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens" . . .
Seitdem die Jugend „Frühlings Erwachen" liest, neigt sie dazu, sich zu
tragischen Erlebnissen verpflichtet zu fühlen. Das Tagebuch des unbe-
lauschten Mädels ist hingegen literarisch noch nicht angekränkelt, und so
kommt ihr Erlebnis ungeschminkt zum Vorschein.
(Monty Jacobs in der Vossischen Zeitung)
XL
Wir betrachten hier einmal wertvollerweise die seelischen Wirkungen des
Erwachens und Erkennens geschlechtlicher Dinge und Beziehungen vom
Gesichtskreise der Kinderseele aus. (Zeitschrift für Sexualwissenschaft)
Durch seinen sexualpsychologischen Gehalt einzigartig wertvoll und durch
seine Menschlichkeit erschütternd.
(Kurt Schneider, Köln, im Zentralbl. f. d. ges. Neural, u. Psychiatrie)
Wenn wir unserer Cousine und unserer älteren Schwester nur eimal jenes
braune Lederbuch hätten klauen können, mit dem sie immer so geheimnis-
voll tat. Was mochte da alles drin sein?... Es war furchtbar aufregend
— aber das Ding war gut verschlossen und wir kamen nie heran. Nun
kommen wir doch einmal heran. (Peter Panter in der Welibühne)
Mehr als aus hundert Abhandlungen reifer, allzu reifer Erwachsener kann
man aus diesen Aufzeichnungen sieh ein wirklich kongruentes Bild der
Kinderseele entwerfen. (Königsherger Allg. Zeitung)
Ich habe die Aufzeichnungen einer älteren Dame vorgelegt, und sie war
bewegt von den Gefühlen und Gedanken, die aus dem Dämmer der Erinne-
rung eigener Jugend wieder auftauchten. Darum sollte jede Mutter, jede
Erzieherin ihren Schützling in diesem Spiegel sehen, vor allem aber wird
dem Manne, dem die Erziehung junger Mädchen anvertraut ist, hier ein
ganz neues Verständnis für seine Aufgaben aufgehen.
(Prof. Eichhorn in der Konstanzer Zeitung)
Das Aufsehen, das „A Young Girls Diary" in England verursacht, hat eine
große Sittlichkeitskampagne zur Folge . . . Lord Alfred Douglas (derselbe,
der in seinen jüngeren Jahren wegen seiner gerichtsnotorisch gewordenen
Beziehungen zu Oskar Wilde viel genannt worden ist) hat öffentlich einen
großen Eid geschworen, die Psychoanalyse in England auszurotten. Als
erstes Objekt seiner Purifizierungswut ist das Tagebuch der kleinen GreU
Lainer auserkoren worden. Der Londoner Zensor ist sicher der Meinung,
es komme ausschließlich in Wien oder höchstens noch bei sonstigen Hunnen
vor, daß z. B. das Denken und Fühlen junger Mädchen durch bevorstehende
physiologische Erscheinungen, bzw. deren erstmaliges Auftreten lebhaft
beschäftigt wird. In der Kontinentalrasse liegt die Schweinerei.
(Frankfurter Zeitung)
„The New Statesman": Gretl Lainer (the name chosen by the Psycho-
Analytical Society) belongs to the Casanova type of autobiographer rather
than to that of Rousseau and Marie Baskirtscheff; she is singularly little
trouhled with her own personality. She writes from a breathless interest
in the world around rather than from any morbid taste for introspection
or self-explanation. (The New Statesman)
Twenty philosophers, each peeping trough keyholes for three-score years
and then, might have discovered more, but it is the charme of this diary
that counts, and that could never have been compiled. (The Diäl)
XL1
Prof. g. jelgersma
Unbewußtes Geistesleben. (Beihefte der Internationalen
Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse Nr. I.) Geheftet M. — .80.
Die Broschüre gibt in deutscher Übersetzung die Rede wieder, die G.
Jelgersma, Professor der Psychiatrie an der Universität Leiden, damals
Reetor Magniflcus, am 9. Februar 1914, am Jahrestag dieser nunmehr
dreieinhalb Jahrhunderte alten Hochschule gehalten hat und in der er
sich in der Hauptsache zur Freudsehen Traumpsychologie bekennt.
Festschrift zum 25jährigen Amtsjubiläum von Prof G.
Jelgersma (= Internationale Zeitschrift f. Psychoanalyse,
X. Band, Heft 3) s. unter ZEITSCHRIFTEN.
Dr. ERNEST JONES
Therapie der Neurosen. (Internationale Psychoanalytische
Bibliothek, Bd. XI.) Geheftet M. ;.—, Halbleinen 6.fo.
Inhalt: Allgemeines über die Neurosen. Hysterie. Angsthysterie, Neur-
asthenie. Zwangsneurosen. Hypochondrie und Fixationshysterle. Traumatische
Neurosen, einschließlich der Kriegsneurosen. Prophylaxe der Neurosen.
Psychische Behandlung anderer, den Neurosen nahestehender Zustände.
Jones hat das Verdienst, seine Anschauungen hier in so konziser Weise
zur Darstellung zu bringen, daß das vorliegende Buch vielleicht als das
beste Kompendium der Freudschen Neurosenlehre bezeichnet werden kann;
in diesem Sinne mochte ich es, auch als Gegner der darin verfochtenen
Anschauungen, empfehlen. (Sing, Basel, in der Schweiz. Med, Wochenschrift)
Baut die therapeutischen Einwirkungsmöglichlceiten vorurteilslos auf,
wird ihnen als lebenserfahrener Arzt gerecht und gibt damit dem Arzte
zielklare Direktiven. So ist die Behandlung der Hysterie vortrefflich
geworden, ein Beweis auch für die vielgestaltigen Beziehungen zwischen
Arzt und Hysteriker, die statt der Achtung Furcht, Haß oder zärtliche
Zuneigung schaffen können. Was hier Takt und Scharfsinn des Arztes zu
leisten hat in eigenartiger Kunstform, wird hier anschaulich geschildert,
namentlich die Überwindung des Widerstandes gegen das Gesundwerden.
Dem klaren Buche ist eine recht weite Verbreitung zu wünschen.
(Placzek im Archiv für Frauenkunde)
Diese Arbeit hat eine besondere Bedeutung, weil der Verfasser in langen
Jahren der Praxiü eigene Erfahrungen in vielen Behandlungsmethoden
der Neurosen erwarb und daher deren Ergebnisse zu vergleichen imstande
XLII
ist. Ergt als Professor der Psychiatrie an der Universität von Toronto in
Kanada, später als Nervenarzt in London behandelte er Nervenkranke mit
den verschiedensten psychischen Mitteln. Die Resultate seiner Erfahrung
sind in knapper Form in dieser Arbeit zusammengetragen . . . Die ganze
Arbeit bleibt auf dem Boden der Wirklichkeit; sie ist sachlich und klar
geschrieben. Dadurch ist sie besonders geeignet, dem praktizierenden
Arzt eine richtige Einsicht in die jetzt geschaffenen Möglichkeiten in der
Behandlung von Nervenkranken zu ermöglichen. Nur zu oft meint dieser,
die Behandlung dieser Kranken sei aussichtslos und man habe schon das
Mögliche erreicht, wenn ein besonders lästiges Symptom zum Verschwinden
gebracht ist. Die Arbeit Jones kann ihn eines Besseren belehren.
(H. F. Meyer, Haarlem, in der Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse)
Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen (von Jones u.
a.) s. unter INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE
BIBLIOTHEK.
Dr. JOHANN KINKEL
Dozent an der Universität Sofia
Zur Frage der psychologischen Grundlagen und des
Ursprungs der Religion. Beitrag zum System der psydio-
aualytisdien Soziologie. (Erweiterter Sonderabdruds aus
„Imago", VID. Bd.) Vergriffen.
AUREL KOLNAI
Psychoanalyse und Soziologie. Zur Psydiologie von Masse
und Gesellsdiaft. Geheftet M. ?.— .
Inhalt: Über die soziologischen Ergebnisse der Psychoanalyse. Psycho-
analyse und Soziologie. Die Analyse der Massenseele. Die Anfänge der
Kulturentwicklung. Das Individuum und die gesellschaftliche Organisation.
- Über die soziologischen Aufgaben der Psychoanalyse. Allgemeine Be-
merkungen. Versuch einer Psychoanalyse des Anarchokommunismus.
Kolnai weist darauf hin, daß der Marxismus, obgleich er gewiß nicht
als ein paranoischer Fall aufzufassen sei, dennoch Zeichen einer para-
noischen Konstruktion trage Dein gegenüber sieht Kolnai im Bol-
schewismus eine „regressive Erlösung von der paranoischen Starrheit".
Kolnai ist sozialliberal und weit davon entfernt, dem Bolschewismus
zuzuneigen. In dem Worte Erlösung liegt daher kein Werturteil, sondern
es ist nur die psychologische Tatsache gemeint, daß sich gewisse seelische
Stauungen, die der Marxismus bewirkte, im Bolschewismus Luft gemacht
xl in
haben, in denjenigen Kreisen, wo der Marxismus noch unvermindert war
und verschiedene andere umstände die Tendenz zu dieser Entladung
verstärkten. (Frankfurter Teilung)
Kolnai faßt die gewaltsame Befreiung aus der Vaterautorität nicht als
einen Fortschritt, sondern als einen Rückfall auf. Einen Rückfall in einen
noch früheren, mehr undifferenzierten Urzustand als jene Horde, in welche
die väterliche Führerschaft schon eine gewisse Ordnung und Gliederung,
also einen sozialen Fortschritt gebracht hatte. Der Revolutionsvorgang
läßt sich als eine „Regression" fassen, unter einem Begriff also, den die
Psychoanalyse für alles individual- wie völkerpsychologische Zurücksinken
in primitivere Formen des Deökens und Handelns vielfach bearbeitet hat.
(Berliner Tageblatt)
Scharfe Dialektik, höchst summarische Terminologie erzwingen ange-
strengtestes kritisches Lesen und dauernd scharfes Denken bei der Lek-
türe dieses Buches, das mehr für Fachleute als für Laien verfaßt, aber
auch dem sozialistischen Arbeiter eine Quelle neuer und bedeut-
samer Erkenntnisse ist . . . Wir empfehlen unseren denkenden Genossen
dieses Buch zum eifrigen Studium. (Westfal. Allg. Volkszeitung)
ISRAEL LEVINE
Das Unbewußte. Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen
von Anna Freud (Internationale Psychoanalytische Biblio-
thek, Bd. 20.) Erscheint im November Ip2f.
Inhalt: I. Das Unbewußte vor Freud. Leibniz. Schopenhauer. Hart-
mann.' Maine de Biron. Fechner. Nietzsche. Samuel Butler. - II. Freud
und das Unbewußte. Die Traume. Die Fehlleistungen. Der Witz.
Die Neurosen. - III. Die Rechtfertigung des Unbewußten. Zur
Kritik des Unbewußten. Die Mneme. Psychologie und Physiologie. Das
Wesen des Bewußtseins. - IV. Die Theorie des Unbewußten.
Leben und Konflikt. Das Lust- und das Realitätsprinzip. Der Reizbegriff.
Die seelischen Kategorien. Die Polaritäten. Die Ambivalenz. Zur Definition
der Mefapsychologie. Die Verdrängung und die Affekte. Der logische
Gesichtspunkt. Die besonderen Eigenschaften der unbewußten Vorgänge.
Der Verkehr der beiden Systeme. Die Natur der Triebe. r- V. Die Bede u-
tungdesUnbewußten. Psychoanalyse und Erziehung. Die Subllmierung.
Charakter und Unbewußtes. PsA. und Massenpsychologie. PsA. und die
Persönlichkeit. Verdrängung und Spaltung der Persönlichkeit. Das unter-
bewußte Ich. Jungs Auffassung der Persönlichkeit. PsA. und Ethik. PsA.
und Hedonismus. PsA. und Verantwortlichkeit. PsA. und Willensfreiheit.
PsA. und Ästhetik. Phantasie und Kunst. Kunst und Affektivität. Kunst und
Verdrängung. PsA. und Philosophie. Das Problem der Bedeutung. Die
Vernunft und das Realitätsprinzip.
XLIV
Dr. EMIL LORENZ
Der politische Mythus. Beiträge zur Mythologie der Kultur.
Geheftet M. }.—.
Inhalt: Vorwort. - Der politische Mythus. - Algernon Charles Swin-
burnes „Hertha". - Zur Psychologie des integralen Denkens.
Diese Schrift aus dem Freudschen Kreise enthält drei Aufsätze, von denen
der erste den Mythus vom Staat untersucht. Auf drei in letzter Linie
erotischen Tendenzen beruht, wie alle menschliche Gemeinschaft, so auch
der Staat; auf der väterlichen, der mütterlichen und der mann-männlichen.
Daher Vaterland, Mutterland. Aus jenen Grundtendenzen erklären sich
die großen politischen Geschehnisse: Tyrannenmord, Revolution, Freiheits-
kampf. Der zweite Aufsatz geht an Hand von Swinburnes „Hertha" dem
Gedanken des mütterlichen Staates tiefer auf den Grund. Den letzten
Sehritt in dieser Richtung tut der dritte und wohl auch bedeutsamste
Aufsatz über die Psychologie des integralen Denkens. Verfasser bildet
hier den Begriff des „psychischen Integrals" und versteht darunter das
seelische Ur- und Totalerlebnis noch vor der Differenzierung in Subjekt
und Objekt .. . Mit der Heranziehung und Auswertung der Mutter-Imago
geht Lorenz über Freud hinaus . . . Namentlich der dritte Aufsatz bleibt
auch für den Religionsforscher von Bedeutung, da er ihm alte Stoffe und
Fragen in neuer Beleuchtung zeigt. (Theologische Literaturzeitung)
Vorwiegend programmatische Arbeit. Hält sich an die Traumsprache des
Unbewußten, d. h. in der Völkerpsychologie an den Mythus und weist an
Beispielen hauptsächlich die Beziehung von Vater- und Muttersymbolik
zu politischen Vorgängen nach. (Berliner Tageblatt)
In seiner edlen Wissenschaftlichkeit die Wage des Für und Wider liebe-
voll austarierend, ein Apotheker magischer Destillate und wiederum —
wäre das Wort nicht so zerbeult: ein Barockmensch — dosiert er seine
Gedanken. In keiner Bibliothek eines politischen Menschen sollte das
Buch fehlen. Der „politische Mythos" ist ein endliches Loslösen vom
utilitaristischen Starrsinn. (Klagenfurter Zeitung)
Diese Darlegungen verdienen nicht nur das Interesse des Forschers, sie
sind auch ebenso beachtenswert für den Künstler wie den gebildeten
Laien. (Trierer Zeitung)
In der Durchleuchtung der Seele von Revolutionen spürt er mit unendlich
scharfsinnigem und feinfühligem Geiste, geschult an den modernsten
Methoden psychoanalytischer Forschung, den inneren Ursachen und
Antrieben von Massenbewegungen nach und findet in den Trägern dieser
Umstürze geheime unbewußte Motive wirksam, die er geistreich bis zu
den Keimzellen und Urformen zurückverfolgt . . . Eine besondere Veran-
kerung im Gegenwärtigen erfahren seine Ergebnisse durch die Gegen-
überstellung der beiden hauptsächlichsten Bestattungsarten: Begraben
und Verbrennen. (Freie Stimmen)
XLV
Dr. bronislaw malinowski
Professor der sozialen Anthropologie an der Universität London
Mutterrechtliche Familie und Ödipuskomplex. Eine
psydioanalytische Studie (Sonderdruck aus „Imago", X. Band,
1Q24). Geheftet M. 2.J0, Ganzleinen 4.—.
Inhalt: I. Die soziologische Problemstellung in der Psychoanalyse. — II. Die
Beschaffenheit der Familie in einer patriarchalischen und in einer mutter-
redillichen Gesellschaft. - HI. Die erste Phase des Familiendramas : die
glückliche Verbindung von Mutter und Kind in matrilinearen und patri-
Iinearen Gesellschaften. — IV. Der erste Konflikt in der patriarchalischen und
das Andauern der Harmonie in der matrilinearen Gesellschaft. — V. Die
infantile Sexualität bei den Kindern der Wilden und der Zivilisierten. -
VI. Vorbereitung fürs Leben und Reaktion gegen die Autorität. - VII. Die
Sexualität im späteren Kindesalter. - VHI. Pubertät. - IX. Der Ödipus-
komplex und der Kernkomplex der matrilinearen Familie — eine Zusammen-
stellung.
Die psychoanalytische Lehre — führt M. eingangs aus — ist im wesent-
lichen eine Theorie vom Einfluß des Familienlebens auf die menschliche
Seele. Der Kernfamilienkomplex ist das Ergebnis eines bestimmten Typus
von sozialer Gruppierung. Es taucht das Problem auf: ändern sich nicht
die Konflikte, die Affekte und Neigungen innerhalb der Familie mit der
Form der Familie. Denn der Ödipuskomplex entspricht doch im wesent-
lichen unserer indoeuropäischen Familie, die patrilinearistmit entwickelter
patria potestas, gestützt durch das römische Recht und die christliche
Moral und gefestigt durch den modernen europäischen Industrialismus der
wohlhabenden Bourgeoisie. M. stellt sich nun zur Aufgabe, die Abhängig-
keit des Kernkomplexes von der Beschaffenheit der Familie an Hand von
unmittelbaren Beobachtungen an Wilden zu untersuchen. Er selbst hat
jahrelang unter den Eingeborenen auf den Trobriand-Inseln
in Nordost-Guinea gelebt und kann die Psychologie ihres mutterrecht-
lichen Familienlebens mit den Erscheinungen der vaterrechtlichen Familie
der modernen Zivilisation vergleichen. Seine Ausführungen stützt er mit
reichem Beobachtungsmaterial. Die von ihm hervorgehobenen Unterschiede
zwischen den Komplexen in der patrilinearen und in der matrilinearen
Familie gehen darauf zurück, daß die sozialen Einrichtungen der matri-
linearen Gesellschaft der Trobriands fast vollständig in Übereinstimmung
mit der biologischen Entwicklung sind ; es werden nicht wie in der vater-
rechtlichen Gesellschaft natürliche Triebe durchkreuzt und unterdrückt.
Das Aneinanderprallen der sexuellen Interessen und die sozialen Reibungen
zwischen Vater und Kind sind nicht möglich. Dafür entspricht aller-
dings unserem Ödipuskomplex dort der unbewußt gewordene Wunsch, die
Schwester zu heiraten und den Bruder der Mutter zu töten.
XL VI
JOLAN NEUFELD
Dostojewski. Skizze zu seiner Psychoanalyse (Imago-Büchei
Nr. IV). Geh, M. 3 .—, Halbleinen 4.50, Ganzleinen f.—, Halbleder 7.—.
Wie ist es möglich, daß ein Mensch so loyal gesinnt ist und dabei an
eaner Verschworung gegen den Zaren teilnimmt? Wie kann jemand tief
rel, si0 s und zugleich absolut ungläubig sein? Woher kommt es, daß ein
Mensch, oer mit j eder Nervenfaser an seiner Heimatscholle Webt, Monate,
ja Jahre im Auslande verbringt? Dem Gelde ununterbrochen nachjagt
um es dann wie etwas vollkommen Wertloses zum Fenster hinauszu-
werfen? Rätsalhafte Charaktere, entgleiste Perverse sind seine Helden
und geben uns Rätsel auf, die mit der Bewußtseinspsychologie nicht lös-
bar sind. Der Zauberschlüssel der Psychoanalyse aber sprengt die
Schlösser. / > , „. . .. . .
(Aus der Einleitung)
Der ernste, etwas analytisch orientierte Leser wird die flüssige und
beredte Dostojewski-Skizze in einem Zuge durchlesen, und ohne Wider-
SprUch- (Neue Zürcher Zeitung)
Wer sich von der Behauptung beunruhigt fühlt, daß Dostojewski ein
Chaotiker gewesen sei, der alle Sympathien auf die Verbrecher gelegt
habe, dem sei dieses Buch empfohlen. Man kann einen Dichter, der so
subjektiv ist, nur dann ganz verstehen, wenn man seine Psychologie
begreift.
Diese ruhigen Untersuchungen, die dem Dichter und Menschen rein
analysierend nahezukommen, suchen, heben aus ihm allgemeine, typische
Zuge heraus und lehren ihn menschlich verstehen. Dieses Verstehen aber
birgt in sieh zugleich das Vorbeugemittel gegen die suggestive Einfluß-
gewalt, die von den Schöpfungen des russischen Dichters ausgeht. Die
kühle Luft zerlegende Wissenschaft nimmt den Gestalten das Bezwingende
. . .Wir wissen um den Mechanismus dieser Welt, und sie wird uns nicht
mehr zu willenlosen, blinden Verführten machen können.
(Deutsche Allg. Zeitung)
Klar gefaßt und bringt Wesentliches zum Verständnis des großen
russischen Ringers. (Schulreform)
Dr. N. OSSIPOW
Tolstois Kindheitserinnerungen. Ein Beitrag zu Freuds
Libidotheorie (Imago-Büdier Nr. II). Geheftet M. 6.-, Halb-
leinen J.SO, Halbleder 10. — .
Inhalt: I. Vorbemerkungen. - II. Die „Ersten Erinnerungen". - ffl. Zwei
allererste Erinnerungen (Das Individual-Ich und die Idi-Libido). -
XL VII
IV Über den Narzißmus. - V. Drei weitere Erinnerungen (Ob)ektlibido).
- VI. Der Seelenkonflikt. - VII. „Die Ameisenbrüder" (Das Supra-Ich). -
VIII. Über die infantile Amnesie.
Die Arbeit hält sich nicht streng" an die Freudsche Doktrin, sondern ver-
sucht in der Richtung Freudscher Gedankengänge zu neuen grundsätz-
lichen Aufstellungen zu gelangen ... Er beherrscht das Material und
wirft stellenweise Schlaglichter von überraschender Wirkung . . . Beson-
ders die Abschnitte über den Narzißmus und die kindliche Amnesie sind
wertvoll und anregend. (Zentralblatt f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie)
Auf der gigantischen Persönlichkeit des großen Russen, erschütternd entge-
genschimmernd aus seinem künstlerischen Schaffen, fast nacktgeschürft in
dem Autobiographischen, ruht hier zum erstenmal der geschärfte und
geläuterte Blick psychoanalytischer Erkenntnis. Der Mensch und Künstler,
selbst ein Zergliederer, selbst ein Träger genialischer Tiefenpsychologie,
tritt hier in den Leuchtkegel modernster wissenschaftlicher Seeleneinsicht.
In merkwürdiger Weise kreuzen sich dabei die Wege Tolstoischer Sexual-
grübelei mit denen der psychoanalytischen Eroslehre. Die Studie bean-
sprucht, sowohl von den Genießern Tolstoischer Kunst willkommen
geheißen zu werden, als auch bei dem wissenschaftlich orientierten Leser
ein brennendes Interesse vorzufinden.
Dr. OSKAR PFISTER
Pfarrer in Züridi
Zum Kampf um die Psychoanalyse (Mit einer Kunstbei-
lage und 15 Textabbildungen. Internationale psychoanalytische
Bibliothek, Bd. 8). Geheftet M. i}.—, Halbleinen 1/.— .
Inhalt: I. Die Psychoanalyse als psychologische Methode. — 1. Apolo-
getisches. Der erfahrungswissenschaftliche Charakter der Psychoanalyse.
Proben psychoanalytischer Arbelt. (Nachtwandeln. Unbezwingliche Abnei-
gung gegen eine Speise. Hypnopompischer Einfall. Ein Fall von kommuni-
zierender religiöser und irdischer Liebe usw.) Einige Ergebnisse und Aus-
blicke. — D. Die Entstehung der künstlerischen Inspiration. — HI. Zur Psy-
chologie des Krieges und des Friedens. Die Tiefeiunächte des Krieges. Die
psychologischen Voraussetzungen des Völkerfriedens. — IV. Zur Psychologie
des hysterischen Madonnenkultus. — V. Hysterie und Lebensgang bei Mar-
gareta Ebner. — VI. Psychoanalyse und Weltanschauung. (Positivismus,
Metaphysik, Ethik.) — VII. Gefährdete Kinder und ihre psychoanalytische
Behandlung. — VIII. Wahnvorstellung und Schülerselbsfmord. — LX. Das
xLvin
Kinderspiel als Frühsymptom krankhafter Entwicklung, zugleich ein Beitrag
zur Wissenschaftspsychologie,
Pfisters Werk über die Psychoanalyse gehört unzweifelhaft zum Bedeutend-
sten, was in letzter Zeit über dieses Gebiet erschienen ist. Man wird
zugeben müssen, daß es allen denen, die mit Fragen der praktischen
Psychologie zu tun haben, mit Problemen, die das tägliche Leben bietet,
treffliche Hinweise und oft auch den Schlüssel zur Lösung gibt, wo die
offizielle Psychologie versagt. (Schweizerische Pädagogische Zeitschrift)
Konzilianter in der Form, marschiert auch er stramm an der Seite Freuds,
handhabt sein starres Arbeitssystem mit den knarrenden Bewegungen
einer eisernen Faust und geht auch breiter Polemik (siehe den Fall
Häberlin) keineswegs aus dem Wege ... Im ersten Essay seines Buches
hat Pfister die bisher mit psychoanalytischer Methode behandelten Vor-
gänge, Gegenstände und Probleme sehr übersichtlich zusammengestellt.
(Neue Zürcher Zeitung)
His work is well illustrated with material Crom his own experience to lend
weight to his merely theoretical presentation. Here is a work all analyti-
cally interested students can read with Stimulus and profit.
(Journal of Nerv, and Mental Disease)
Dr. OTTO RANK
Der Künstler und andere Beiträge zur Psychoanalyse des
dichterischen Schaffens (Imago-Bücher I). Vierte vermehrte Auf-
lage. Geheftet M. 7.—, Halbleinen 8.f0, Ganzleinen 9.—, Halb-
leder ii.jo,
Inhalt: Der Künstler. Die sexuelle Grundlage. Die künstlerische Sublimie-
rung. - Der Sinn der Griselda-Fabel. Die Matrone von Ephesus. Das „Schau-
spiel" In „Hamlet". Belege zur Rettungsphantasie (Rettungsphantasie und
Familienroman, Der „Familienroman" in der Psychologie des Attentäters.
Die „Geburtsrettungsphantasie" in Traum und Mythus). „Um Städte werben."
Traum und Dichtung. Ein gedichteter Traum.
Wohl eines der interessantesten Probleme, denen die Psychoanalyse sich
zugewandt hat, ist das der Künstlerpsyehologie. Die Psychoanalytiker
tun gut daran, eine historische oder innere Gemeinschaft mit den Sans-
culottes des Materialismus, mit der Etikettenkleberei allzu „unbefangener"
Psychiater abzulehnen. (Frankfurter Zeitung)
Das Werk Ranks behandelt in komprimiertester und doeh lichtvoller Dar-
stellung entscheidende Fragen. Der Weg zur Lösung dieser Fragen ist
kühn — aber er ist kein Marsch auf der Straße. (Die Zeit)
Viele sehr verdienstvolle, wenn auch harte und beinahe rücksichtslose
Meinungen. Es gehört eine große Freiheit des Geistes und eine sehr schätz-
IL
bare Unbefangenheit dazu, das Sexuelle offen als den Anfang 1 und Aus-
gangspunkt dessen zu bezeichnen, womit abgerechnet werden muß. Otto
Rank hat den Vorwurf der zynischen Brutalität, der bei solchen Dingen
niemandem erspart bleibt, nicht gescheut. Zu philosophischer Propädeutik
auf Mädchen-Gymnasien ist die Schrift nicht zu verwenden . . . Übrigens
hat Otto Rank auf dem Wege zur Seelenschau des Künstlers eine ganze
Menge psychologischer Faktoren auf ihren sexuellen Gehalt hin geprüft
und mit schöner Prägnanz demonstriert. (Münchner Ätlg. Zeitung)
Auch unser Zeitalter hat seine Sophisten. Der in seiner verblüffenden
Dialektik an Otto Weininger gemahnende Wiener Psychologe Otto Rank
— ein Reinecke Fuchs der Philosophie an staunenden Ranken — leitet in
der Schrift „Der Künstler" überhaupt alles menschliche Leben mit seinen
Kulturbestrebungen, Religion, Wissenschaft, Philosophie, Poesie samt den
anderen Künsten aus dem geschlechtlichen Urzustand und dessen allmäh-
licher Entwicklung ab . . . Ganz in Ordnung jedoch ist es, daß Otto Rank
die Traumzustände neben den Sexualproblemen zur Erklärung des dich-
terischen und künstlerischen Phantasieschaffens heranzieht.
(J. V. Widmann im Bund)
Heute steht es wohl bei allen Psychoanalytikern fest, daß die Beschäfti-
gung mit den Fragen der Ästhetik und Künstlerpsychologie nur ein kleiner
Ausschnitt der Gesamtaufgabe ist; diese selbst umfaßt die ganze Entwick-
lung des Seelischen, also die menschliche Kulturgeschichte im weitesten
und vollständigsten Sinne . . . Die ersten Schritte in der neuen Bahn hat
Rank mit seinem „Künstler", allen anderen weit voraus, getan. Die Wen-
dung ins Allgemeine und Entwicklungsgeschichtliche ist nicht etwa durch
Andeutungen vorweggenommen, sondern schon in methodischer Form
ausgebaut. (H. Sachs im Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse)
Höchst interessant, wie die Vertiefung der Freudschen Lehre auf Teile
uralter religionspsychologischer Grundmauern stößt. Das Studium dieser
geistreichen Schrift kann sehr empfohlen werden.
(Zeitschrift für Religionspsychologie)
Einen Teil der neuen, Urhaftes helichtenden Seelenlehre, die wagniskräftig
über die schwanken Mauern der Träume steigt, in die fahlen Gärten kör-
perlicher Wallungen zwischen Kindern und Eltern tritt, — einen Teil
dieser neuen Lehre erhärtet Otto Rank . . . Das Wesen seiner Arbeit geht
den Wissenschaftler an wie den gliedernden (und zergliederten). Dichter.
(Alfred Kerr im Pah)
As dimly glimpsed by Nietzsche, Hinton and other earlier thinkers, — the
main explanation of the dynamic process by which the arts, in thewidest
sense, have come into being, is now chiefly being explored. One thinks
of Freud and especially of Dr. Rank, perhaps the most brilliant and clair-
voyant of the younger investigators who still stand by the master's side,
(Havelock Ellis in The dance of the life)
Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung.
(Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. 4.) 2. Aufl.»
Geheftet M. 6.—, Halbleinen J.SO, Halbleder 10. — .
Inhalt: Vorwort. Mythologie und Psychoanalyse. Die Symbolik. Völker-
psychologische Parallelen zu den Infantilen Sexualtheorien. Zur Deutung
der Sintflutsage. Männeken-Plß und Dukaten-Scheißer. Das Brüdermärchen.
Mythus und Märchen.
Neben und nach Freud, dessen Traumdeutung Quelle und Ausgangspunkt
aller einschlägigen Forschungen ist, ist es besonders Rank, dessen Arbeiten
ein neues Licht in die bis dabin dunkle Entstehungsgeschichte mytholo-
gischer Schöpfungen brachten ... Daß Rank es verstanden hat, sein
Thema klar, übersichtlich und fesselnd zu gestalten, ist für den Kenner
seiner Arbeiten keine Überraschung. (Zeitschrift für Sexualwissenschaft)
Kritische Leser werden viel Anregung und interessantes Material in diesen
Aufsätzen finden. (Literarisches Echo)
Die analytische Erforschung des Traumes, die sich als die wertvollste
Quelle von Aufschlüssen über das psychische Geschehen erwies, hatte
bald den Versuch gerechtfertigt erscheinen lassen, das in der Struktur
und den seelischen Mechanismen ähnliehe Phänomen des Mythus analytisch
zu untersuchen. Das Hauptverdienst auf diesem Gebiete gebührt unstreitig
Rank . . . Die analytische Mythenforschung auf einem Höhenpunkte!
(Th. Reik in Imago)
Anerkennung gebührt der Gründlichkeit, mit der der Verfasser die Sagen
und Dichtungen aller Zeiten durchforscht hat, und dem analytischen
Scharfsinn, der ihn in den verschiedenartigsten Verkleidungen stets die
ewigen Menschheitskonflikte erkennnen läßt. (Die Neue Generation)
Libro ... de una presentaeiön elegante es una de las magnificas contri-
buciones a la interpretaeiön psicoanalitica de mitos y legendas.
(Revista di Psiquiatria, Lima,)
Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie. Ge-
heftet M. 4. — , Ganzleinen 5.60.
Die Phänomene des Unheimlichen sind für die Tiefenpsychologie besonders
aufschlußreich. Wenn Rank bei der Analyse des Doppelgängermotives,
das phantasievolle und grüblerische Dichter wiederholt zur Darstellung
reizte, von einem bekannten Filmdrama ausgeht, so darf das nicht
weiter stören, hat doch die Psychoanalyse, die auf Grund ihrer Methodik
gewohnt ist, jeweils von der aktuellen psychischen Oberfläche ausgehend,
LI
tieferliegendes und bedeutsames seelisches Erleben aufzudecken, am
wenigsten Anlaß, einen zufälligen und banalen Ausgangspunkt zur Auf-
rollung w r eiterreichender psychologischer Probleme zu scheuen. Nach der
Analyse des „Studenten von Prag" verfolgt Rank das Doppelgängermotiv
in der Weltliteratur und beschäftigt sich besonders mit den in Betracht
kommenden Dichtungen von E. T. A. Hoffmann, Chamisso, An-
dersen, Stevenson, Jean Paul, Raimund, Lenau, Heine,
Poe, Oscar Wilde, Maupassant, Dostojewski, Dehmelu. a.
und nimmt dabei auch auf all die Verästelungen des Motives (der ver-
lorene Schatten, der doppelte Schatten, das lebende Spiegelbild usw.)
Rücksicht. Ein besonders Kapitel beschäftigt sich mit der Persönlichkeit
jener Dichter, die sich vom Doppelgängermotiv besonders angezogen
fühlten. Die Disposition zu seelischen Störungen bedingt ein hohes Maß
von Spaltung der Persönlichkeit, mit besonderer Betonung des Ichkom-
plexes, dem ein abnorm starkes Interesse an der eigenen Person entspricht.
Diese Einstellung führt in einer charakteristischen Beziehung zur Außen-
welt, insbesondere zum Liebesobjekt, zu dem kein harmonisches Verhältnis
gefunden wird: direkte Unfähigkeit zur Liebe oder eine — zum gleichen
Effekt führende — übermäßig hochgespannte Liebessehnsucht kennzeichnen
die beiden Pole dieser krassen Einstellung zum eigenen Ich. Es schwingt
aber beim Dichter wie heim Leser auch ein überindividuelles Moment
unbewußt mit und verleiht diesen Motiven eine geheimnisvolle seelische
Resonanz. Diesen völkerpsychologischen Anteil aus den ethnographischen,
folkloristischen und mythologischen Überlieferungen zeigt Rank in einem
besonderen Kapitel auf. Zwei Bedeutungen treffen sich im Doppelgänger-
motiv, die Todesbedeutung und die der Selbstverliebtheit. Die erotische
Einstellung zum eigenen Ich ist z. B. bei Wildes Dorian Gray nur möglich,
weil daneben die abwehrenden Gefühle sich an dem gehaßten und ge-.
fürchteten Doppelgänger, an das alt und häßlich werdende Ebenbild, ent-
laden können. Übrigens ist der primitive Seelenglaube überhaupt ursprüng-
lich nichts anders als eine Art des Unsterblichkeitsglaubens, der die Macht
des Todes energisch dementiert. Der primitive Narzißmus sträubt sich
gegen die gänzliche Vernichtung ebenso wie gegen das Aufgehen in der
, Geschlechtsliebe. So kommt es, daß der die narzißtische Selbstliebe ver-
körpernde Doppelgänger gerade zum Rivalen in der Geschlechtsliebe werden
muß, oder daß er, ursprünglich als Wunschabwehr des gefürchteten
Unterganges geschaffen, im Aberglauben als Todesbote wiederkehrt.
Die Don Juan-Gestalt. Geheftet M. 2.80, Pappbd. 3.40.
„Der unsterblich gewordene Name des spanischen Liebeshelden entfesselt
mit seinem zauberischen Klang unwillkürlich eine Reihe von Vorstellungen
und Erwartungen erotischer Natur, die unlösbar mit ihm verbunden
scheinen ... Ist man aber gerade in der Stimmung, der Mozartschen Oper
mit einer psychoanalytischen Einstellung gegenüberzutreten, d. h. die
LH
bewußte Zielvorstellung des erotischen Helden teilweise auszuschalten,
so bemerkt man unschwer und doch nicht ohne Überraschung, daß die
Handlung eigentlich nichts weniger als einen erfolgreichen Sexual-
abenteurer, vielmehr einen von Mißgeschick verfolgten armen Sünder dar-
stellt, den schließlich das seinem Milieu entsprechende Los der christlichen
Höllenstrafe erreicht . . . Wir folgen nur den vorgezeichneten Spuren von
Tradition und Dichtung, wenn wir dieser dem menschlichen Denken offen-
bar peinlichen Seite des ,Don Juan' unsere analytische Aufmerksamkeit
zuwenden."
Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die
Psychoanalyse. (Internationale Psychoanalytische Bibliothek,
Bd. 14.) Geheftet M. 8.fo, Halbleinen 10. — , Halbleder 14. — .
Inhalt: Analytische Situation. Infantile Angst. Sexuelle Befriedigung.
Neurotische Reproduktion. Symbolische Anpassung. Heroische Kompensation.
Religiöse Sublimierung. Künstlerische Idealisierung. Philosophische Spe-
kulation. Psychoanalytische Erkenntnis. Therapeutische Wirkung.
Aus dem Nirwana des Lebens im mütterlichen Schoß wird das Kind durch
ein erstes gewaltsames und erschütterndes Erlebnis, durch die Geburt in
eine Welt hinausgetrieben, die von ihm mit zunehmendem Alter immer
größere Anpassungsleistungen fordert. Für den Neurotiker und seine
Behandlung- hat das „Trauma" der Geburt fundamentale Bedeutung. Wir
sehen aber seine Wiederkehr nicht nur in der neurotischen Reproduktion,
hei tieferer Untersuchung finden wir sie auch in der Entwicklung der
Normalen, in der Kunst, Religion, Philosophie, überall in der ganzen
Kultur. Dies weist Rank in seinem prächtigen Buch nach . . . Das in
jeder Hinsicht tief und reich angelegte Buch ist Freud gewidmet. Wir
legen es mit dem Eindruck axis der Hand, daß seine Bedeutung für den
Fortschritt der Psychologie und der Psychoanalyse im speziellen heute
noch gar nicht abgeschätzt werden kann . . . Wir Lehrer sind in unserer
Arbeit an das Kleine und oft Kleinliche des menschlichen Lebens gefesselt.
Es bedeutet für uns eine Erquickung, durch Ranks Buch in ungeheuer
große Zusammenhänge der menschlichen Natur hineinzublicken, welche
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in einer Einheit fassen und das
Seelische gleichsam dreidimensional erleben lassen. (Berner Schulblatt)
Imponierend durch die Weite der Konzeption und die Geschlossenheit der
Theorie, die keine Tatsache unberücksichtigt läßt, überrascht das Buch
zugleich durch seine grandiose Einseitigkeit und den Sprung, den es von
der Biologie zur Psychologie macht. Die Ausführungen Ranks bedeuten
einen ersten Versuch, die psychoanalytische Denkweise als solche für das
Verständnis der gesamten Menschheitsentwickluug, ja sogar Mensch-
werdung fruchtbar zu machen. (Neue Freie Presse)
LUI
Man sieht eine kühn geschwungene Riesentreppe, die uns zu den Wolken
emporzuführen verspricht, deren Fundament jedoch leider nicht auf festem
Boden steht . . . Das Urteil über die Grundfesten der These Ranks muß
verschoben werden, bis die Nachprüfung möglich ist . . . Die sprachliche
Darstellung ist treffend und das riesige Gedankenmaterial mit sicherem
Griff zusammenfassend, durch glücklich gewählte und geschickt vorge-
brachte Formulierungen ebenso ausgezeichnet, wie durch die verblüffende
und doch nie in leere Sophisterei ausartende Dialektik . . . Trotz der
Einseitigkeiten und Übertreibungen bietet der Hinweis auf die bisher
übersehene oder unterschätzte Bedeutung des Geburtserlebnisses der
Psychoanalyse eine wertvolle Bereicherung und Ranks psychologischer
Scharfblick mag sich auch hier wieder erprobt haben.
(H. Sachs in der Int. Zschr. f. Psychoanalyse)
Eine Neurosenanalyse in Träumen. (Neue Arbeiten
zur ärztlichen Psychoanalyse, Nr. IE.) Geheftet M. 7.—,
Pappbd. 8. — , Halbleder II. — .
Inhalt: Die Widerstandsphasen (Kastrationswiderstand. Zählzwang.
Phantasiebildungen. Abendmahlsymbolik. Das leidende Heldenideal. Multer-
regression. Libidoübertragung. Das sexuelle Kunststadt:. Geldwiderstand.
Masturbation und Männlichkeitskomplex. Schuldgefühl. Wandlung der
Sexualsymbolik). Die Heilungsfaktoren (Ungeduld und Resignation. Identi-
fizierung mit dem Analytiker. Akzeptierung der Schwester. Entwöhnungs-
phase. Lösung von der Analyse. Die letzte Stunde).
Diese „Heilungsgeschichte" einer Zwangsneurose ist wohl die detaillierteste
Psychoanalyse, die publiziert worden ist, und als solche ein wichtiges
Dokument. (Prof. Bleuler in der Münchner Med. Wochenschrift)
Die expeditivere psychoanalytische Therapie, wie sie Ferenczi und Rank
in ihrer Arbeit „Entwicklungsziele der Psychoanalyse" vertreten, wird hier
in Bezug auf die Technik der Traumdeutung an einem in sechs Monaten
dauernd geheilten Fall einer weiblichen Zwangsneurose exemplifiziert.
Einen so ausgezeichneten Traumforscher und Symbolik-Kenner wie Rank
sieht man hier in virtuoser Weise der Kranken in 150 Stunden ihre
Träume nur hinsichtlich ihrer Symbolik und der „psychoanalytischen
Situation" deuten. (Hitschmann in der Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse)
Die Patientin — ein junges Mädchen — suchte die Analyse wegen einer
Arbeitshemmung auf, die im Anschluß an ein unglücklich ausgegangenes
Liebesverhältnis und zur Zeit der Verheiratung ihrer jüngeren Schwester
aufgetreten war und ihr Berufsleben schwer beeinträchtigte. Die Analyse
ergab als Grundlage des unlösbaren aktuellen Konfliktes eine voll aus-
gebildete Neurose, u. zw. vom Zwangstypus . . . Das üppige Traumleben
der Patientin gestattete, den Fortgang ihrer Analyse und die Lösung ihrer
UV
Neurose an ihren fast täglichen Träumen schrittweise zu verfolgen . . .
Man versteht diese Geschichte am besten als Darstellung der Entwicklung
eines Menschen unter Berücksichtigung des unbewußten Seelenanteiles.
Von prinzipieller Bedeutung in dieser Analyse ist die Bedeutung unbe-
wußter Leitmotive für das Schicksal des Menschen, ihre Leistungs- und
Liebesfähigkeit, für ihre Erkrankungen und die Heilungsmöglichkeiten.
Entwicklungsziele der Psychoanalyse (von Ferenczi
und Rank), s. unter FERENCZI.
Dk. WILHELM REICH
Der triebhafte Charakter. Eine psychoanalytische
Studie zur Pathologie des Ich (Neue Arbeiten z. ärztl. Psycho-
analyse, Nr. IV). Geheftet M. 4. SO, Ganzleinen 6. — .
Inhalt: Allgemeines über den neurot. u. den triebhaften Charakter.
Ambivalenzkonflikt u. Über-Ich-Bildung beim triebgehemmten Charakter.
Der Einfluß der PartiaKrlebe auf die Gestaltung des Über-Ich. Geschlecht-
liche Fehiidentifizierung. Ambivalenzkonflikt und Ich-Bildung beim trieb-
haften Charakter. Einflüsse der Erziehung. Grenzfälle. Die Isolierung des
Über-Ich. Verdrängung des Über-Ich. Über den schizophrenen Projektions-
vorgang und die hyster, Spaltung, Therapeutische Schwierigkeiten.
„. . . Eine psychoanalytische Charakterlehre setzt die genaue Kenntnis
der detailliertesten Mechanismen seelischer Entwicklung voraus, eine
F'orderung, von deren Erfüllung wir noch weit entfernt sind. Wenn auch
die Theorie von der Sexualentwicklung in den wesentlichsten Stücken
festgefügt erscheint, so reicht sie dennoch zum charakterologischen
Erfassen einer Persönlichkeit nicht aus. . . . Die Dynamik des Ich ist
schwerer faßbar als die des Sexuellen. . . . Die Psychoanalyse hat es,
wie Freud immer wieder betont, eifrigst vermieden, mit fertigen, kon-
struktiven Theorien an die Persönlichkeit des Kranken heranzutreten; im
Prinzip auf genetisches Begreifen eingestellt, sozusagen als Embryologie
der Psyche, mußte sie den mühevolleren und längeren Weg der Detail-
untersuchung gehen. Die ideale Voraussetzung der psychoanalytischen
Therapie wäre aber das vollkommene genetische Erfassen des
Charakters des Kranken. . . . Die Psychoanalyse entwickelt sich
konstant zur Therapie des Charakters. Die Schwierigkeiten sind sehr groß,
will man der Problematik der Charakterologie an milden Übertragungs-
neurosen auch nur einigermaßen näher kommen. Dazu eignen sich am besten
solche Fälle, welche grobe Defekte der Ichstruktur aufweisen. Diese unter
einem typischen Wiederholungszwang stehenden Neurotiker, die Asozialen,
die zeitweiseKriminellen, die systematisch ihr eigenesDasein Erschwerenden
und Vernichtenden, die auch im Ich vollkommen infantil Gebliebenen,
sind für das Studium der Ichidcalbildung in statu nascendi am besten
LV
geeignet. . . . Diese ungehemmten Triebmenschen bilden eine eigene
Kategorie. . . . Daß sie sozusagen noch psychoanalytisches Neuland bilden,
kann wohl nur darauf zurückzuführen sein, daß sio sich für ambulatorische
Behandlung gewöhnlich schlecht eignen, meist keine wirksame Krankheits-
einsicht haben und, wenn sie in den Analysen Fuß fassen, das feine Instru-
ment der Analyse schwer gebrauchen lernen. . . . Das mir zur Verfügung
stehende Krankenmaterial rekrutiert sich zum größten Teile aus schweren
Charakterneurosen, die ich im Wiener Psychoanalytischen Ambu-
latorium zur Behandlung vorsätzlich wählte. . . . Unser Versuch bewegt
sich gleichzeitig in zwei Richtungen, die schließlich konvergieren werden:
der speziellen Erörterung eines bisher psychoanalytisch wenig gewürdigten
Krankheitsbildes, das wir den „triebhaften Charakter" nennen, werden
Untersuchungen über die Charakterbildung an Hand dieses Pvlaterials
parallel laufen. . . ." i^ m der Einleitung)
De. THEODOR REIK
Probleme der Religionspsychologie. I. Teil: Das Ritual.
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Sigm. Freud (Inter-
nationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. 5). Vergriffen.
Der eigene und der fremde Gott. Zur Psychoanalyse
der religiösen Entwicklung (Imago-Bücher, Nr. III). Geheftet
M. 8.J0, Halbleinen 10. — , Ganzleinen io.fo, Halbleder 15. .
Inhalt: Über kollektives Vergessen. / Jesus und Maria im Talmud. / Der
heilige Epiphanius versdireibt sich. / Die wiederauferstandenen Götter. /
Das Evangelium des Judas Ischarioih. / Die psychoanalytische Deutun»
des Judas-Problems. / Gott und Teufel. / Die Unheimlidikeit fremder Götter
und Kulte. / Das Unheimliche aus infantilen Komplexen. / Die Äquivalenz
der Triebgegensatzpaare. / über die Differenzierung.
Reik darf mit Recht als der tiefblickendste und scharfsinnigste Religions-
psychologe unserer Zeit genannt werden. (Schulreform, BernJ
Ein geistreiches Buch. Ein Versuch, die Erscheinungen der religiösen
Feindseligkeit und Intoleranz zu erklären und den Ursachen der religiösen
Verschiedenheiten nachzuforschen. Reik ist einer der hellsten Köpfe unter
den Psychoanalytikern. (Alfred Döblin in der Vossischen Zeitung)
Gut, wenn auch wohl zu fein durchgeführt, ist die Analyse des Fanatismus, ■
der auf innere Geteiltheit, eine „Äquivalenz von Triebgegensatzpaaren"
zurückgeführt wird . . . Man wird eine Methode, die so tiefe Sachverhalte
aufdecken kann, nicht a limine ablehnen.
(Prof. Titius in der Theolog. Literaturzeitung)
LV1
Zwei Jahrtausende haben über das Judas-Problem gegrübelt und es fast
zergrübelt . . . Nur tritt Reik psychoanalytisch an diese tiefsten Fragen
heran ... Im Mittelpunkt steht die Deutung des Judas-Problems. Jesus
und Judas in ihren Wurzeln verschmolzen und einwesenhaft. Man muß
Reiks wuchtigen Vorstoß anerkennen . . . Rücksichtslos geht der Weg,
zwar oft durch Dunkel und Schrecken und kaltes Grauen. Aber wer den
Mut dazu hat, kann sich getrost der sachkundigen Führung Reiks anver-
trauen. (Bremer Nachrichten)
Manches darin wird starken Anstoß erregen und doch . . . findet man
immer wieder etwas in ein neues Licht gerückt, und zwar so, daß es
einleuchtet. Wieviel Bücher gibt es denn, von denen man das sagen
kann? 'Dr. Drill in der Frankfurter Zeitung)
Die Bedeutung des Buches liegt darin, daß es — auch dem nicht auf dem
Boden der psychoanalytischen Theorie Stehenden — zeigt, wie die Psycho-
analyse der Religionspsychologie und Religionsgeschichte, ja der allge-
meinen Religionswissenschaft überhaupt, mannigfach bisher unbetretene
Wege zu weisen imstande ist.
(Dr. theol. et phil. F. K. Schumann in der Zeitschr. f. Sexualwissenschaft)
Das Buch ist unmittelbar erschütternd. Es versäume niemand, dem psycho-
logischen Zusammenhang zwischen Christus und Judas Ischarioth unter
Reiks sachkundiger Führung nachzusinnen. Der erste Eindruck mag leicht
ähnlich erschreckend wirken, wie die Begegnung mit dem Hüter der
Schwelle; allein auch hier wird sich der Schreck, vom Richtigen richtig
erlebt, als heilsam erweisen.
(Graf Hermann Keyserling im Weg zur Vollendung)
Geständniszwang und Strafbedürfnis. Probleme der
Psychoanalyse und der Kriminologie (Internationale Psycho-
analytische Bibliothek, Bd. 18). Geheftet M. 8. — , Ganzleinen 10. — .
Inhalt: Der unbewußte Geständniszwang. Zur Wiederkehr des Ver-
drängten. Zur Tiefendimension der Neurose. Der Geständniszwang in der
Kriminalistik. Die psychoanalytische Strafrechtstheorie. Der Geständnis-
zwang In Religion, Mythus, Kunst u. Sprache. Zur Entstehung des Ge-
wissens. Zur Kinderpsychologie u. Pädagogik. Der soziale Geständniszwang.
Bestimmte Erfahrungen der psychoanalytischen Praxis haben Reik ver-
anlaßt, die Existenz einer besonderen psychischen Tendenz, die er als
unbewußten Geständniszwang bezeichnet, anzunehmen. Das Symptom der
Neurosen repräsentiert nicht nur die Kraft der verpönten Wünsche,
sondern wesentlich auch die Macht der verbietenden (moralischen,
ästhetischen) Instanzen. („Der Selbstverrat dringt dem Menschen aus
LVII
allen Poren", hat Freud gesagt.) Das unbewußte Geständnis bringt ein
Stück psychischer Entlastung, das von der partiellen Befriedigung
herrührt, die das Geständnis als eine Art abgeschwächte Wiederh olung
der phantasierten Tat erscheinen läßt. Das Erfassen der unbewußt
gewünschten Tat, sowie der Vergleich des Ichs mit dem Ichideal des
Menschen im Geständnis hat den Effekt, daß der Einzelne, der Bekennende
mit sich bekannt zu werden beginnt. Denn wir sind nicht nur weit böser,
sondern auch weit besser als wir annehmen. Die Befriedigung des
unbewußten Strafbedürfnisses gehört selbst zu den vornehmsten „Krank-
heitsgewinnen" der Neurose: dies Leid dient nicht nur zur Befriedigung
verdrängter Triebregungen, sondern auch zur Selbsbestrafung. An Hand
psychoanalytischer Krankenberichte zeigt Reik eingehend den Anteil des
Über-Ichs an der Entstehung und Entwicklung der Neurose, das Ansteigen
der Triebintensität durch das Strafbedürfnis.
Über den Rahmen der Neurosenpsychologie und der psychoanalytischen
Heilkunde hinausgreifend, meint Reik in dem vom Über-Ich ausgehenden
unbewußten Strafbedürfnisse eine der gewaltigsten, schicksalsformenden
Machte des Menschenlebens überhaupt zu erkennen. Besonders eingehend
wird vom Verfasser die Kriminologie berücksichtigt. Die seelischen
Vorgänge, die zwischen der Tat und dem Geständnisse liegen und die
der Autor „psychische Geständnisarbeit" nennt, werden durch das Vor-
bewußtwerden der Motive und der sozialen Bedeutung des Verbrechens
charakterisiert. Die Strafrechtstheorie Reiks geht davon aus, daß das
Schuldgefühl gerade bei jenen Verbrechern, für welche die Strafgesetage-
bung bestimmt ist, der Tat vorangeht. Die Strafe dient der Befriedigung
des unbewußten Strafbedürfnisses, das zu der verbotenen Tat trieb, und
befriedigt gleichzeitig auch das unbewußte Strafbedürfnis der Gesellschaft
durch deren unbewußte Identifizierung mit dem Verbrecher.
Reik zeigt des ferneren die Äußerungen des unbewußten Geständnis-
zwanges auf den Gebieten der Religion (Beichte, Sündenbekenntnis!), des
Mythus, der Sprache und der Kunst. Die Bedeutung dieser Tendenz für
die Kinderpsychologie und Pädagogik demonstriert er an vielen ausführ-
lichen Beispielen. Was er uns über die Entstehung des Gewissens, über
frühes Schuldgefühl des Kindes, über dessen Liebesbedürftigkeit äußert,
weist durchaus nach neuen Zielen. Das Schlußkapitel ist dem sozialen
Geständniszwang gewidmet: Psychoanalyse ist — geistesgeschichtlich
betrachtet — das erste bewußte Geständnis der Gesellschaft, das die
triebhaften Grundlagen, auf denen die Gemeinschaft ruht, einer psycho-
logischen Untersuchung unterwirft, Sie bereitet den Abbau der rohen
Triebgewalt und des unbewußten Schuldgefühles vor. Begreiflich ist der
Widerstand, den die Psychoanalyse izi der Welt gefunden hat, hat sie
doch an das unbewußte Schuldgefühl (Ödipuskomplex) gerührt, das sich
die Entlastung durch das Geständnis noch nicht erlauben will.
In dem bedeutsamen Stück Menschh ei ts arbeit, das die Psychoanalyse
leistet, bildet Reiks Werk einen Beitrag, dessen Tragweite heute noch
nicht abzuschätzen ist.
LVIII
Dr. GEZA ROHEIM
Spiegelzauber (Internationale Psychoanalytische Bibliothek,
Bd. 6). Geheftet M. 2.;o.
Inhalt: I. Spiegel und Kind. - IL Der Spiegel des Sehers. - III. Spiegel
und Herrscher. — IV. Liebeszauber, a) Hochzeitsbräuche, b) Reinkarnation,
c) Liebesorakel, d) Aggregationsriten. — V. Spiegelschauverbote. — VI. Der
zerbrochene Spiegel. - VII. Der verhängte Spiegel. - VIII. Der Himmels-
körper und der Spiegel.
Röheim hat gesammelt, was sieh an Vorstellungen über das Selbstbildnis
im Spiegel in allerhand Zeiten und Völkern findet; er gelangt zum
Ergebnis, daß darin diejenige Phase unserer Entwicklung Ausdruck sucht,
die Freud als die zweite bezeichnete; worin nämlich, nach der ursprüng-
lichen Verwechslung von uns mit der Welt, unsere Liebe sich um die
eigene Person als um ein unterschiedenes Objekt zusammenzieht . . . Die
positiven Spiegelriten dienen der Lust solcher Selbstbespiegelung, die
negativen dem Verbot, sich dadurch vom Anschluß an die Gemeinsamkeit
zu lösen, oder entsprechen dem Grauen vor der Selbsterkenntnis; — so
entspricht das Zerbrechen des Spiegels auch dem Überwinden der Eigen-
liebe oder aber dem eigenen Tod. Braut und Katze läßt man in den
Spiegel sehen, um sie so ans Haus zu fesseln; aus gleichen Gründen
verdeckt man den Spiegel vor Toten, um sie an ihr Grab zu. binden, damit
sie nicht zurückgeistern. Der Sonne, gedacht als des verstorbenen Vaters
am Himmel, kann nur der Empörer oder der Zauberer ins Auge blicken,
in dem er sich ja ihres Ranges dünkt; bei Sonnenuntergang deckt man
den Brunnen zu, damit sie sich nicht darein verfange.
(Lou Andreas-Salome im Literarischen Echo)
Gründlich und klar geschrieben . . . Für den Sexualforscher von beson-
derem Interesse ist das Kapitel, das von der Bedeutung des Spiegels im
Liebesleben der Mensehen handelt. (Zeitschrift f. Sexualwissenschaft)
The writer's style is compelling. He arrays his facts with those rapid
strokes which denote a mastery of the material.
(Journ. of Nerv, and Mental Disease)
This book is an important study of a group of folk superstitions occu-
pying an important place in human society. It is also an exceptionally
elear presentation of the value of the individual psychology of psycho-
analysis as a starting point of the understanding of such a group of
superstitious beliefs and customs . . . The book is well worth close study
for the applying of the illuminating principlos of individualistic psychology
to these questions of folklore and mythology . . . The detail of material
as well as the writer's suggestive interpretations throw nuich light upon
the psychic development. (New Medical Journal)
LEX
HANNS SACHS
Gemeinsame Tagträume (Imago-Bücher, Nr. V). Geheftet
M. 6. — , Halbleinen y.fo, Halbleder 10. — .
Als die Psychoanalyse auf die entscheidende Bedeutung der Tagträume
für den Lebensweg und die Liebeswahl des Einzelnen hinwies, traf sie
mit einer längst gangbaren Überzeugung zusammen, daß nämlich die
Tagträume die Vorstufe seien, von der aus sich in begnadetem Sonderfalle
der Aufstieg zum Kunstwerk vollziehe. Sachs untersucht nun, wie sich der
Tagtraum zum Kunstwerk verwandelt, wodurch sich der Dichter vom Neu-
rotiker, vom Verbrecher, vom Führer der Masse unterscheidet. Er weist
auf den Zusammenhang zwischen dem nach Entlastung lechzenden Schuld-
bewußtsein und dem zur Verschiebung auf das Werk bereiten Narzißmus
hin. Besonders analysiert er dann zwei Kunstwerke, die Anzeichen einer
Produktionshemmung im Leben ihrer Schöpfer darstellen: Schillers
„Geisterseher" und Shakespeares „Sturm". Die Psychoanalyse
entwickelt sich „nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten"; aus der
Erforschung der Störungen erwachsen, die der unvollkommenen Bewäl-
tigung unbewußter Wünsche ihr Dasein verdanken, vermag sie sich den
Problemen der künstlerischen Schöpfung auch am besten von der Seite
der Hemmungen her zu nähern.
Prof. Dr. Med. et Phil. PAUL SCHILDEPi
Entwurf zu einer Psychiatrie auf psychoanalytischer
Grundlage (Internationale Psychoanalytische Bibliothek,
Bd. 17). Geheftet M. 7.—, Ganzleinen 9.—.
Inhalt: I. Das Ideal-Ich. - II. Die Ichtriebe. - ID. Die feinere Struktur
des Ideal-Ichs und das "Wahrnehmungs-Ich. - IV. Phänomenologie des Ich-
erlebens. - V. Die Selbstbeobaditung und die Hypochondrie. - VI. Die
Depersonalisation. - VII. Verdrängung und Zensur, Symbol und Sphäre,
Spradiverwlrrtheit. - Vm. Narzißmus und Außenwelt - IX. Identifizierung
In der Schizophrenie. Die Genese der Schizophrenie. - X. Die Symptoma-
tologie der Schizophrenie. Die Schizophrenie als Krankheit und der
Krankheitsbegrifl in der Psychiatric. - XI. Schizophrenie - Paranoia. -
Xu. Amenlla, Aphasie und Agnosie. - XIII. Die Epilepsie. - XIV. Manisch-
depressives Irresein. - XV. Die Demenz. Die progressive Paralyse. -
XVI. Korsakoff. - XVH. Intoxikationen. - XVIII. Therapie. - Literatur-
verzeichnis. — Sachregister.
Das vor kurzem erschienene neueste Buch des j ungen Wiener Psychiaters, der
eich durch eine Reihe medizinischer Monographien und psychologischer Stu-
dien einen auch außerhalb der Grenzen seines engeren Forsehungsgsgebietes
wohlklingenden Namen gemacht hat, legt nicht nur dar, was die bisherige
LX
psychoanalytische Forschung auf dem Gebiete der Psychiatrie ergeben
hat, sondern schält auch jene Probleme heraus, die noch unerledigt sind,
setzt bei vielen von diesen die Lösungsmöglichkeit auseinander. Die sich
knapper Fassungen bedienende bescheidene Form des Entwurfes darf
darüber nicht hinwegtäuschen, daß hier neben zusammenfassenden Er-
örterungen vielfach auch aufschlußreiche und ungemein fruchtbare, späteren
Forschern viel Entscheidendes vorzeichnende Monographieskizzen vorliegen.
Die Freudsche Lehre von den Ichtrieben und den Sexualtrieben erfährt
ihre konsequente Anwendung auf das bisher unzugänglichste Gebiet der
Psychopathologie. Schilders Werk bedeutet nicht nur den Beginn einer
neuen vielverheißenden Etappe auf dem Wege der Grenzerweiterung der
psychoanalytischen Theorie und Therapie, sondern wird aller "Voraussicht
nach auch merklich beitragen zur weiteren „friedlichen Durchdringung"
jener klinischen Kreise, die sich bisher der umstürzlerischen Freudschen
Ideenflut verschließen zu können geglaubt haben.
VERA SCHMIDT
Psychoanalytische Erziehung in Sowjetrußland.
Bericht über das Kinderheim-Laboratorium in Moskau.
Geheftet M. i. — .
Inhalt: I. Die äußeren Schicksale des Kinderhelm-Laboratoriums. —
IL Die innere Einrichtung des Kinderheim-Laboratoriums. — III. Psycho-
analytische Leitsätze für die Arbeit im Kinderheim-Laboratorium. —
IV. Allgemeine pädagogische Grundsätze für die Arbeit im Kinderheim-
Laboratorium. — V. Pädagogische Maßnahmen zur Erfüllung der vorstehenden
Forderungen. — VI. Die Arbeit des Erziehers an sich selbst. — VII. Beobach-
tungen aus dem Leben des Kinderheim-Laboratoriums. — Anhang (Aus
dem Tagehuch der jüngeren Gruppe. Zur Entwicklung des Sozialgefühles.
Zur intellektuellen Entwicklung der Kinder).
Dr. ERNST SIMMEL
Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen s. unter
INTERNATIONALE PSYCHOANALYT. BIBLIOTHEK.
Dr. ALICE SPERBER
Über die seelischen Ursachen des Alterns, der Jugend-
lichkeit und der Schönheit (Sonderabdrutk aus „Imago",
Bd. XI). Erscheint im Herbst 192/. Geheftet M. 1.40, Ganzleinen 2.60.
Dr. AUGUST STÄRCKE
Psychoanalyse und Psychiatrie (Beihefte der Internatio-
nalen Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. IV). Geheftet M, 2.—.
Inhalt: Der Forscher und sein Gerat. - Die Beziehungen zwischen Neu-
rosen und Psychosen. I. Das unbewußte Kriterium. II. Der Normale und
der Kranke. III. Die Metaphrenle. IV; Regression. Fixierung (Disposition).
V. Die klinischen Taisachen. VI. Zerlegung der klinischen Einheiten durch
Freud. VII. Die Libido-Regression. VIII. Die Ich-Trieb-Regression. K. Zu-
sammenfassung. Die Rolle der infantilen Wunscherfüllung.
Zwei Arbeiten des holländischen Psychiaters sind hier vereinigt worden.
Die erste unterzieht die Persönlichkeit des Psychiaters, beziehungsweise
des Psychoanalytikers selbst einer psychologischen Betrachtung und
gelangt zu praktisch wichtigen Konsequenzen: im Gegensatz zum
Psychiater alten Stils, der ein Diener der Zensur, ein Instrument der
Gesellschaft gegen die Ausgeschlossenen ist, wird der Psychoanalytiker
nicht nur das Individuum lehren, seine libidinösen Äußerungen auf das
sozial Erlaubte zu beschränken, sondern auch die Gesellschaft mit der
Libido, mit dem Tode, kurz mit dem Unbewußten versöhnen. — Die
zweite Studie ist den Beziehungen zwischen Neurosen und Psychosen
gewidmet und ist nach des Verfassers Vortrag auf dem Internationalen
Psychoanalytischen Kongreß in Haag niedergeschrieben worden. Sie hat
als erste den „Preis für ärztliche Psychoanalyse" von Prof. Freud zuge-
sprochen bekommen.
Dr. J. VARENDONCK (f)
Über das vorbewußte phantasierende Denken. Aus
dem Englischen übersetzt von Anna Freud. Mit einem
Geleitwort von Prof. Dr. Sigm. Freud (Internationale
Psychoanalytische Bibliothek, Bd. 12.) Gelüftet M. 5.— Halb-
leinen 6.jo,
Inhalt: Einleitung: Die zwei Arten des Denkens. — Analytischer Teil:
Die Entstehung der Gedankenketten. Der Inhalt der Gedankenketten.
(Das Denken In Bildern und das Denken in Worten. Fragen und Antworten.
Die Strömung der Erinnerungstätigkeit. Irrtümer und Absurditäten. Die
Sprunghaftlgkeit. Die Unmöglichkeit eines Rückblickes Im vorbewußten
Denken. Das Vergessen.) Der Abschluß der Gedankcnkctten. (Da* Er-
wachen. Zensur und Verdrängung.) — Schlußwort Cber die Bedeutung
der Tagträume.
lxh
Das Buch des Dr. Varendonck enthält eine bedeutsame Neuheit und wird
mit Recht das Interesse aller Philosophen und Psychoanalytiker erwecken.
Es ist dem Autor in jahrelangen Bemühungen gelungen, jener Art von
phantasierender Denktätigkeit habhaft zu werden, welcher man sich
während der Zustände von Zerstreutheit hingibt und in die man leicht
vor dem Einschlafen oder bei unvollkommenem Erwachen verfällt . . .
Er hat dabei eine Reihe von wichtigen Entdeckungen gemacht.
(Aus dem Geleitwort von Prof. Freud)
Die Fruchtbarkeit der Anregungen, die von den Werken Freuds für die
Psychologie noch ständig ausgehen, zeigt die vorliegende Arbeit eines
vlämischen Gelehrten mit besonderer Eindringlichkeit. V. hat die Muße
eines zweijährigen Kriegsdienstes als Dolmetscher hinter der englischen
Front dazu verwandt, das richtungslose Denken zu fassen und zu be-
schreiben, das in der Zerstreutheit beim sogenannten Abschweifen der
Gedanken, bei Tagträumereien, vor dem Einschlafen vor sich geht. Das
Material ist außerordentlich wertvoll und aufschlußreich . . .
(Zentralbl. f. d. ges. Neurologie u. Psychiatrie)
Eine wertvolle Bereicherung der psychoanalytischen Literatur.
(Monatsschrift f. Kriminalpsychologie)
Ein überaus wertvoller Beitrag zur Denkpsychologie. Für die Pädagogik
sehr bedeutungsvoll. (Zeitschr. f. pädag. Psychologie)
Man wirft der Psychoanalyse oft vor, sie neige mit ihren Methoden zu
allzu einseitiger Beurteilung der Dinge (neigt hiezu nicht jede Wissen-
schaft ein wenig?) und gehe mit ihren Schlußfolgerungen viel zu weit.
Das Urteil darüber, ob diese und noch andere Vorwürfe berechtigt sind,
wird man der Nachwelt überlassen müssen. So viel aber darf man heute
schon behaupten, daß die jüngste Varendoncksche Arbeit in ihrer ernsten
und maßvollen Art zu den Leistungen gehört, die die Eigenschaft be-
sitzen, ihrer Sache neue Anhänger zu werben. (Frankfurter Nachrichten)
Ohne Zweifel, eine wertvolle Arbeit! Besonders für die Erforschung der
Phantasietätigkeit des Dichters ist hier eine bedeutsame Unterlage aus
dem normalen Seelenleben geschaffen. (Literarisches Echo)
Glänzend ist die Selbstbeobachtung und Selbstanalyse durchgeführt; sie
allein schon verdient, das Buch dem psychologisch interessierten Leser
zu empfehlen. (Der Schulwart)
Die überaus reiche, aufs sorgfältigste überdachte und gegliederte Fülle
des Stoffes ist durchwegs durch eine eingehende Selbstbeobachtung und
Selbstzergliederung gewonnen. (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft.)
Lxm
ALFRED WINTERSTEIN
Der Ursprung der Tragödie. Ein psychoanalytischer
Beitrag zur Geschichte des griechischen Theaters. (Imago-
Bücher, Nr. VDI). Geheftet M. 8.;o, Halbleinen p.fo, Ganzleinen
io. — , Halbleder 12./0.
Inhalt: Einleitung. - Der Karneval von Vlza und die Einweihungsriien
der Wilden. - Dithyrambus und Totenklage. - Bodcsgesang. - Tod und
Wiedergeburt als slttlidies Werden.
Im ersten Kapitel wird der Versuch unternommen, einen in der Gegen-
wart von Dawkins im Gebiete des alten Thrakiens beobachteten Karnevals-
brauch aus einer antiken ländlichen Dionysosfeier herzuleiten, die die
Keimzelle des attischen Dionysosdramas gebildet haben dürfte. Anderseits
wird das moderne Maskenspiel in die weit verbreitete Gattung der Früh-
lingsfeste des „Vegetationsdämons" eingereiht und an reichem Materiale
deren Verwandtschaft mit den Knabenweihen der Wilden nachgewiesen.
Die Untersuchung gelangt zu dem Ergebnisse, daß in den Vegetations-
bräuchen und Sündenboekzeremonien die nämlichen psychischen unbe-
wußten Mechanismen wirksam sind wie bei den Mannbarkeitszeremonien
der Primitiven. Dann werden als wichtigste Quellen der antiken Tragödie
der Dithyrambus und die Totenklage aufgezeigt. Eine Betrachtung des
Dithyrambus erbringt den Wahrscheinliehkeitsbeweis für die Behaup-
tung, daß die Tragödie in genetischem Zusammenhang mit den
Pubertätsweihen steht; auch der Anteil des Toten- und Heroenkultes an
der Entstehung der Tragödie wird gewürdigt und sein Niederschlag im
ausgebildeten Drama des näheren festgestellt. Anschließend wird die
Bedeutung des Wortes Tragödie — Bocksgesang erläutert: Es ist wahr-
scheinlich der rituelle Gesang, den die nach ihrer Kulturfunktion be-
nannten „Böcke" über den getöteten Gott anstimmten. Den dramatischen
Vorgang in dieser ländlichen Frühlingsfeier, aus der die attische Tragödie
hervorgegangen ist, müssen wir uns so ähnlich wie den thrakischen Kar-
nevalsbrauch vorstellen. Dieser zeigt wieder Übereinstimmung mit dem
liturgischen Drama von Tod und Wiedergeburt des Jahresdämons Dionysos.
Auch der Einfluß des Kultes der eleusinischen Muttergöttin Demeter und
der orphischen Lehre auf das werdende Drama wird dargetan. Die his-
torische Entwicklung der attischen Tragödie und die Entstehung des
mittelalterlichen Dramas aus der kirchlichen Liturgie bilden den Gegen-
stand der späteren durch Betrachtungen über den tragischen Helden, den
Chor, den Schauspieler und den Zuschauer ergänzten Ausführungen. An
einem Beispiel aus einem völlig entlegenen Kulturkreise — an einem
Tanzsehauspiel der Indianer in Guatemala in vorkolumbischer Zeit
wird schließlich gezeigt, daß auch hier der ewige Konflikt zwischen Vater
und Sohn das tiefste Motiv für die Schöpfung des Dramas darstellt. Im
LXIV
letzten Kapitel werden die Vorstellungen sittlicher Entwicklung, die
fortan das Drama beherrschen, auf die uralte kultische Bilderreihe von
Tod und Wiedergeburt aus dem Dionysosspiel zurückgeführt.
HANS ZULLIGER
Zur Psychologie der Trauer- und Best'attungs-
gebfäuche (Sonderabdruds aus „Imago", Bd. X). Geheftet
M. 2. — , Ganzleinen 3.J0.
Inhalt: I. Eine Schulkameradin ist gestorben. - II. Über Spelse-verbote
und Fastengebräuche. - in. Begräbnisgebräuche.
LXV
INTERNATIONALE
PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK
Nr.I.
Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Mit Beiträgen
von FREUD, FERENCZI, ABRAHAM, SIMMEL,
JONES. Geheftet M. 2.—.
Inhalt: I. Einleitung von Prof. Dr. Slgm. Freud. - ü. Diskussion, ge-
halten auf dem V. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Budapest
28. u. 29. Sept. 1018. Dr. S. Ferenczl (s. Z. Honved-Reglmentsarzt, Chef-
arzt der Nervenabt. des Maria Valerle-Barackenspitals in Budapest): Die
Psychoanalyse der Kriegsneurosen; Dr. Karl Abraham (s. Z. leitender
Arzt der psychlatr. Station des XX. Armeekorps in Alienstein): Erstes
Korreferat; Dr. Ernst Simmel (s. Z. kgl. preuß. Oberarzt u. Vorsteher
des Festungslazarettes 19 für Kriegsneuroüker In Posen): Zweites Korreferat.
- ffl. Vortrag von Dr. Ernest Jones (London) In der Royal Society of
Medlcine: Die Kriegsneurosen und die Freudsche Theorie (übersetzt von
Anna Freud).
Sämtliche Artikel sind reiz- und belangvolle Beiträge zur Kenntnis der
Beziehungen zwischen Kriegsneurosen und Psychoanalyse.
(Marcuse in der Zeüschr.f. Sexualwissenschaft)
Die Psychoanalyse erscheint in der Tat berufen, die Lücke, die in der
kausalen Therapie der Psychoneurosen von jeher klaffte, auszufüllen, wie
denn auch das Verschwinden der meisten neurotischen Erkrankungen
nach Kriegsende sehr im Sinne Freuds, für das Verschwinden des allge-
meinen Bedürfnisses, „in die Krankheit zu fliehen" spricht.
(Grote im Zentralbl. f. innere Medizin)
Die Publikationen zeigen die gewaltige Bedeutung der Psychoanalyse für
die Therapie der Kriegsneurosen und verdienen zahlreiche Leser.
(Moderne Medizin)
LXV1
Über die übrigen Bände der I. PsA. Bibliothek
(II, Ferenczi, Hysterie und Pathoneurosen. - IV. Rank,
Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforsdiung. - VI. Rohe im,
Spiegelzauber. - VII. Hitschmann, Gottfried Keller. -
VHI. Pfister, Zum Kampf um die Psychoanalyse. - IX. Kolnai,
Psychoanalyse und Soziologie. - X. Abraham, Klinische
Beiträge zur Psychoanalyse. - XI. Jones, Therapie der Neu-
rosen. - XII. Varendonck, Über das vorbewußte phanta-
sierende Denken. - XIII. Ferenczi, Populäre Vorträge über
Psychoanalyse. - XIV. Rank, Das Trauma der Geburt. -
XV. Ferenczi, Versuch einer Genitaltheorie. - XVI. Abra-
ham, Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung. -
XVII. Schilder, Entwurf zu einer Piydiiatrie auf psychoana-
lytischer Grundlage. - XVIII. Reik, Geständniszwang und
Straf bedürfnis. - XIX. Aichhorn, Verwahrloste Jugend. -
XX. Levine, Das Unbewußte.)
Näheres s. unter den betreffenden Autoren (alphabetisch
geordnet).
NEUE ARBEITEN ZUR
ÄRZTLICHEN PSYCHOANALYSE
Herausgegeben Ton Prof. SIGM. FREUD
(I. Ferenczi u. Rank, Entwicklungsziele der Psychoanalyse.
-II.Abraham, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido.
- 111. Rank, Eine Neurosenanalyse in Träumen. - IV. Reich,
Der triebhafte Charakter. - V. Deutsch, Psychoanalyse der
weiblichen Sexualfunktionen.) Näheres über die einzelnen Werke
s. unter den betreffenden Autoren (alphabetisch geordnet).
LXVH
BEIHEFTE DER INTERNATIONALEN
ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYSE
Herausgegeben von Prof. SIGM. FKEUD
Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse
in den Jahren I914-I919. Auf holzh. Papier, geh. M. 5?.—, auf
holzfreiem Papier, Halbleinen 18. — , Halbleder 22. — .
Inhalt: Normalpsychologische Grenzfragen (Dr. I. Hermann). — Das
Unbewußte (Dr. Th. Reik). — Traumdeutung (Dr. O. Rank). — Trieblehre
(Dr. E. HitBchmann). — Sexuelle Perverelonen (Dr. F. Boehm). — All-
gemeine Neurosenlehre (Dr. S. Ferenczi). — Psychoanalytische Therapie
(Dr. van Ophuijsen). — Spezielle Pathologie und Therapie der Neurosen
und Psychosen (Dr. K. Abraham und Dr.J. Härnik). — Ethnologie und
Völkerpsychologie (Dr. G. R 6 h e i m). - Soziologie (A. K o I n a i). - Mythologie
und Märchenkunde (Dr. Th. Reik). — ReBgionswissenschaft (Dr. Th. Reik).
Anhang: Mystik und Okkultismus. — Künstlerpsychologie und Ästhetik
(Dr. H. Sachs). — Kinderpsychologie und Pädagogik (Dr. H. Hug-Hell-
muth). — Literatur in englischer Sprache (Dr. Stanford Read). — Fran-
zösische Literatur (A. Stärcke). — Italienische Literatur (Dr. Edoardo
Weiss). — Russische Literatur (Dr. S. Spielrein). — Literatur in
spanischer Sprache (Dr. K. Abraham). — Ungarische Literatur (Dr. G&a
Szilägyi). — Bibliographischer Nachtrag.
Näheres über die übrigen Beihefte
(I. Jelgersma, Unbewußtes Geistesleben. - IV. Stärcke,
Psychoanalyse und Psydiiatrie. - V. Ho II 6 s u. Ferenczi,
Zur Psydioanalyse der paralytisdien Geistesstörung)
«. unter den betreffenden Autoren (alphabetisch geordnet).
IMAGO-BÜCHER
(I. Rank, Der Künstler. - II. Ossipow, Tolstois Kindheits-
erinnerungen. - Dl. Reik, Der eigene und der fremde Gott.
- IV. Neufeld, Dostojewski. - V. Sachs, Gemeinsame Tag-
träume. - VI. Grab er, Ambivalenz des Kindes. - VII. Her-
mann, Psydioanalyse und Logik. - VIII. Winterstein, Der
Ursprung der Tragödie.) Näheres über die einzelnen Bände s.
unter den betreffenden Autoren (alphabetisch geordnet).
lxvhi
ZEITSCHRIFTEN
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse.
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung. Herausgegehen von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Unter Mitwirkung von Dr. Karl Abraham (Berlin), Dr. Girin-
drashekhar Bosc (Kalkutta), Dr. A. A. Brill (New York),
Dr. Jan van Emden (Hang), Dr. Paul Federn (Wien),
Dr. Ernest Jones (London), Dr. Emil Oberholzer (Zürich)
und Dr. M. Wulff (Moskau) redigiert von Dr. M. Eitingon
(Berlin), Dr. S. Ferenczi (Budapest) und Dr. Sandor
Rad 6 (Berlin).
Ständige Rubriken: Kasuistische Beiträge. Diskussionen. Referate (Aus
den Grenzgebieten. Psychiatrisch-neurologische Literatur. Psychoanalytische
Literatur). Psychoanalytische Bewegung. Korrespondenzblatt der Inter-
nationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Verlagsbericht.
192/ erscheint Band XI (Vier Hefte Großoktav im Gesamtumfang
über foo Seilen.) Abonnement pro 1926 [Band XII] M. 24. — .
Bd. XI (lp2f) einhält u. a. folgende Beiträge:
Abraham: Ein Beispiel koinzidieronder Phantasien bei Mutter und Kind
— Alexander: Metapsychologische Darstellung des Heilungsvorganges —
Benedek: Ein Fall von Erythrophobie — Bychowski: Psychoanalytisches
aus der psychiatrischen Abteilung — Chadwick: Die Wurzel der Wiß-
begierde — Deutsch Helene: Zur Psychologie des Sportes — Fenichel:
Kastrationskomplex und Introjektion — Ferenczi: Charcot — Freud:
Josef Breuer t — Freud: Einige psychischen Folgen des anatomischen
Geschlechtsunterschiedes. — Jones: Theorie und Praxis in der Psychoana-
lyse — Kempner: Zur Oralerotik — Klein: Beitrag zur Genese des Tics —
LXIX
r°
Happel: Ein Fall von Päderastie — Koväcs: Ein Fall von „tic convulsiv"
— Landauer: Äquivalente der Trauer — Nunberg: Über den Genesungs-
wunsch — Radö: Die Herrschaft des Nirvanaprinzips — Reich: Eine
hysterische Psychose in statu nascendi — Sachs: Metapsychologische
Gesichtspunkte zur Wechselbeziehung zwischen Theorie und Technik in der
PsA. — Siminel; Eine Deckerinnerung in statu nascendi. — Wanke:
Psychoanalytische Anstaltsbehandlung.
Die zehn vorigen Bände enthielten u. a. folgende Beitraget
I (rgi}, 6 Hefte): Beaurain: Über das Symbol und die psychischen
Bedingungen für seine Entstehung beim Kinde. — Deutsch: Symptom-
handlungen auf der Bühne. — Eder: Das Stottern eine Psychoneurose. —
Federn: Beiträge zur Analyse des Sadismus und Masochismus. —
Ferenczi: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. — Friedjung:
Über verschiedene Quellen kindlicher Schamhaftigkeit. — Freud: Die
Disposition zur Zwangsneurose. — Hitschmann: Paranoia, Homosexuali-
tät und Analerotik. — Hug-Hellmuth: Kindervergehen und Unarten. —
Jekels: Einige Bemerkungen zur Trieblehre. — Jones: Haß und Anal-
erotik in der Zwangsneurose. — Lauer: Das Wesen des Traumes in der
Beurteilung der talmudischen und rabbinischen Literatur. — Marci-
nowski: Die moralischen Wertschätzungsurteile als Hindernis in der
psychischen Behandlung. — Putnam: Bemerkungen über einen Krank-
heitsfall mit Griseldaphantasie. — Rank: Eine noch nicht beschriebene
Form des Ödipustraumes. — Sachs: Ein Traum Bismarcks. — Sadger:
Freudsche Mechanismen bei Hebbel. — Seif: Zur Psychopathologie der
Angst. — Stegmann: Darstellung epileptischer Anfälle im Traum. —
Tausk: Entwertung des Verdrängungsmotives durch Recompense — usw
JI(z9i4, 6 Hefte): Bernfeld: Psychoanalyse und Psychologie. — Blüher:
Zur Theorie der Inversion. — Eitingon: Über das Unbewußte bei Jung
und seine Wendung ins Ethische. — Federn: Lust-Unlustprinzip und
Realitätsprinzip. — Ferenczi: Zur Nosologie der männlichen Homo-
sexualität. — Freud: Über fausse reconaissance während der psycho-
analytischen Arbeit. — Häberlein: Psychoanalyse und Erziehung. —
Hattingberg: Analerotik, Angstlust und Eigensinn. — - Hitschmann:
Über Nerven- und Geisteskrankheiten bei katholischen Geistlichen und
Nonnen. — Hollös: Psychoanalytische Beleuchtung eines Falles von
Dementia praecox. — Jones: Die Stellungnahme des Psychoanalytikers
zu den aktuellen Konflikten. — Karpinska: Über die psychologischen
Grundlagen des Freudismus. — Pfister: Professor Dürr und seine
Stellung zur Psychoanalyse. — Rank: Die „Geburts-Rettungsphantasie"
in Traum und Dichtung. — Reik: Symbolisierungen des Frauenleibes. —
Sadger: Ein Beitrag zum Verständnis des Tic. — Spielrein: Zwei
Mensesträume. — Stärcke: Rechts und Links in der Wahnidee. — Weiß-
feld: Über die Umwandlungen des Affektlebens — usw.
LXX
III (191s, 6 Hefte): Bernfeldi Zur Psychologie der Lektüre. — Blüher:
Über die Psychopathologie des Alltagslehens. — Dukes: Ein Fall von
Kryptomnesie. — Ferenczi: Psychogene Anomalien der Stimmlage. —
Friedjung! Schamhaftigkeit als Maske der Homosexualität. — Frei-
mark: Die erotische Bedeutung der spiritistischen Personifikationen. —
Freud: Die Verdrängung. — Hitschmann: Franz Schuberts Schmerz
und Liebe. — Hug-Hellmuth: Ein Fall von weiblichem Fuß-, richtiger
Stiefelfetischismus. — Jekels: Eine tendenziöse Geruchshalluzination. —
Nachmansohn: Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre
Piatos. — Pfister: Ist die Brandstiftung ein archaischer Suhlimierungs-
versuch? — Reik: Über Vaterschaft und Narzißmus. — Sadger: Zum
Verständnis infantiler Angstzustände. — Tausk: Zur Psychologie des
alkoholischen Beschäftigungsdelirs — usw.
,, IF (1916—1918, 6 Hefte): Abraham: Das Geldausgeben im Angstzustand.
— Ferenczi: Mischgebilde von erotischen und Charakterzügen. — Freud:
Metapsychologische Ergänzungen zur Traumlehre. — Jones: Professor
Janet über Psychoanalyse. — Meyer: Jungs Psychologie der unbewußten
Prozesse. — Ophuij sen: Beiträge zum Männlichkeitskomplex der Frau. —
Putnam: Allgemeine Gesichtspunkte zur psychoanalytischen Bewegung.
— Reik: Zur psychoanalytischen Affektlehre. — Spielrein: Die Äuße-
rungen des Ödipuskomplexes im Kindesalter. — Stärcke: Aus dem
Alltagsleben. — Tausk: Zur Psychologie des Deserteurs — usw.
y {*9 J 9> 4-Hefte): Abraham: Über eine besondere Form des neurotischen
Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik. — Van der Chijs:
Über Halluzinationen und Psychoanalyse. — Deutsch: Ein kasuistischer
Beitrag zur Kenntnis des Mechanismus der Regression bei Schizophrenie.
— Eisler: Ein Fall von krankhafter „Sehamsucht". — Ferenczi: Tech-
nische Schwierigkeiten einer Hysterieanalyse. — Freud: Ein Kind wird
geschlagen. — Hollös: Die Phasen des Selbstbewußtseinsaktes. — Jones:
Die Theorie der Symbolik. — Pfister: Über die verschiedenartige Psycho-
genität der Kriegsneurosen. — Raalte: Äußerungen der Sexualität bei
Kindern. — Rad 6: Eine besondere Äußerungsform der Kastrationsangst.
— Stärcke: Ein einfacher Lach- und Weinkrampf. — Tausk: Über die
Entstehung des Beeinflussungsapparates in der Schizophrenie — usw.
VI (1920, 4 Hefte): Boehm: Beiträge zur Psychologie der Homosexualität.
— Blumenthal: Das Entwertungsprinzip in den menschlichen Liebes-
beziehungen. — Eisler: Eine unbewußte Schwangerschaftsphantasie bei
einem Manne. — Flournoy: Quelques rßves, au sujet de la signification
symbolique de l'eau. — Freud: Über die Psychogenese eines Falles von
weiblicher Homosexualität. — Friedjung: Weckträume. — Goja: Hallu-
zinationen eines Sterbenden. — Groddeck: Wunscherfüllungen der
irdischen und göttlichen Strafen. — Grüninger: Psychotechnik und
Psychoanalyse. — Hermann: Intelligenz und tiefer Gedanke. — Klein:
;LXXI
Der Familienroman in statu naseendi. — Markuszewicz: Beitrag zum
autischen Denken bei Kindern. — Nunberg: Über den katatonischen
Anfall. — Ophuijsen: Die Quelle der Empfindung des Verfolgtwerdens.
— Röheim: Die Bedeutung des Überschreitens. — Sa dg er: Prüfungsangst
und Prüfungsträume.— Saussure: Le complexe de Jocaste. — Schnei-
der: Zur Freuds analytischer Untersuchungsmethode des Zahloneinfalles.
VII (1921, 4 Hefte): Abraham: Über den weiblichen Kastrationskomplex.
— Alexander: Metapsychologische Betrachtungen. — Binswanger:
Psychoanalyse und klinische Psychiatrie.— Boehm: Homosexualität und
Bordell.— Eisler: Über Schlaflust und gestörte Schlaffähigkeit.— Feld-
mann: Über Erkrankungsanlässe bei Psychosen. — Ferenezi: Psycho-
analytische Betrachtungen über den Tic. — Foerster: Ein Traum mit
kannibalischer Tendenz. — Goja: Nacktheit und Aberglaube. — Hatting-
berg: Übertragung und Objektliebe.— Hug-Hellmuth: Zur Technik der
Kinderanalyse. — Jelgersma: Psychoanalytischer Beitrag zu einer
Theorie des Gefühls. — Nunberg: Der Verlauf des Libidokonfliktes in
einem Fall von Schizophrenie. — P fister: Plato als Vorläufer der Psycho-
analyse. — Stärcke: Der Kastrationskomplex. — Westerman-Hol-
stijn: Aus der Analyse eines Patienten mit Akzessoriuskrampf.
VIII (1922, 4 Hefte) : Abraham: Über Fehlleistungen mit überkompensie-
render Tendenz. — Alexander: Kastrationskomplex und Charakter. —
Boehm: Zur Psychologie der Homosexualität. — F.Deutsch: Psycho
analyse und Organkrankheiten. — H. Deutsch: Über die pathologische
Lüge. — Ferenezi: Die Psyche ein Hemmungsorgan. — Freud: Über
einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homo-
sexualität. — Hermann: Randbemerkungen zum Wiederholungszwang. —
Holl6s: Über das Zeitgefühl. — Jokl: Zur Psychogenese des Schreib-
krampfes.— Jones: Funktionale Symbolik.— Kunkel: Eine hypnopause
Vorstellung. — Ossipow: Psychoanalyse und Aberglaube. — Peine: Von.
den neurotischen Wurzeln des gesteigerten Variationsbedürfnisses, ins-
besondere der vita sexualis. — Rank: Perversion und Neurose. — Reich:
Über Spezifität der Onanieformen. — Saussure: Ein Fall von Selbst-
verstümmlung. — Schilder: Über eine Psychose nach Staroperation. —
Weiß: Ein Fall von nervösem Asthma — usw.
IX (1923,4 Hefte): Boehm: Bemerkungen über Transvestismus. — Brun:
Selektionstheorie und Lustprinzip. — F. Deutsch: Experimentelle Studien
zur Psychoanalyse. — Eisler: Über hysterische Erscheinungen am Uterus-
Federn: Geschichte einer Melancholie. — Freud: Bemerkungen zur
Theorie und Praxis der Traumdeutung. — Happel: Onanieersatzbildungen.
— Harnik: Schicksale des Narzißmus bei Mann und Weib. — Hermann:
Organlibido und Begabung. — Hollös: Psychoanalytische Spuren in der
Vor-Freudschen Psychiatrie. — Jones: Kälte, Krankheit und Geburt. —
Kielholz: Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns. — Kolnah Die
LXXII
geistesgeschichtliche Bedeutung der Psychoanalyse. — Radö: Eine
Traumanalyse. — Rank: Zum Verständnis der Libidoentwicklung im
Heilungsvorgang. — Röheim: Heiliges Geld in Melanesien. — Sachs:
Zur Genese der Perversionen. — Schilder: Zur Lehre vom Persönlich-
keitsbewußtsein. — Simouson: Schleichs Psychophysik und Freuds
Metapsychologie. — Szilägyi: Der junge Spiritist — usw.
X {1924, 4 Hefte): Bry an-Flügel: Die engl. psa. Literatur" 1920— 1923. —
Carp: Die Rolle der prägenitalen Libidofixierung in der Perversion. —
Deutsch: Zur Bildung des Konversionssymptoms. — Endtz: Über Träume
von Schizophrenen. — Ferenczi: Über forcierte Phantasien. — Freud:
Das ökonomische Problem des Masochismus. — Frink: Die amerikanische
psa. Literatur 1920—1922. — Garley: Über den Schock des Geborenwerdens.
— Hollös: Die Psychoneurose eines Frühgeborenen. — Van der Hoop:
Über die Projektion und ihre Inhalte. — H. C. Jelgersma: Eine eigen-
artige Sitte auf der Insel Marken. — ■ Landauer: „Passive" Technik. —
L^vy: Zur Psychologie der Morphiumwirkung. — Muller: Über die zwei
Arten des Narzißmus. — Nunberg: Über Depersonalisationszustände im
Lichte der Libidotheorie. — Reich: Über Genitalität vom Standpunkt der
psa. Prognose und Therapie. — Rombouts: Über Askese und Macht. —
Saussure: Die französische psa. Literatur 1920 — 1922. — Sauvage-
Nolting: Verfolgungswahn beim Weibe. - Storfer: Aus einem „Wörter-
buch der Psychoanalyse". — Wälder: Mechanismen und Beeinflussungs-
möglichkeiten der Psychosen. — Weiss: Zum psychologischen Verständnis
des arc de cercle. — Westerman-Holstijn: Prof. G. Jelgersma und die
Leidener psychiatrische Schule — usw.
Preis der Bände I— XI pro Bd. in Heften M. 20. — , in Halbleinen 2).—,
Halbleder 26. — .
Einzelhefte (soweit vorrätig) aus den Bänden I — IV pro Heft M. j.fo,
aus den Bänden V — VI M. /, — , aus den Bänden VII — XI M. f.fo.
Ferenczi-Festschrift (—IX\i) geh, M. 7. — , Halbleinen 9.—, Halb-
leder 11. — . Jelgersma-Festschrift (=X/j) M. J.SO,
l
:-. -
Vom vergriffenen „Zentralblatt für Psychoanalyse" (Bd. I-1V,
1910-1914) sind einzelne Bände, bzw. Hefte durch den „Internatio-
nalen Psychoanalytischen Verlag" antiquarisch zu beziehen.
Zur Komplettierung von Bänden suchen wir zu kaufen:
vom „Zentralblatt für Psychoanalyse", Bd. I (1910/11) die Hefte
5/6, 9 u. lO'll, - von Bd. II (1911/12) alle Hefte (außer 12), - von
Bd. III (1912/13) Heft 12;
von der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse",
Bd. I (1913), die Hefte 2, 3 u. 4;
von der „Imago", Bd. I (1912), alle Hefte - von Bd. II (1913), Heft 2
- von Bd. VI (1920), Heft 1
LXX1II
Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die
Geisteswissenschaften. Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm.
Freud. Redigiert von Dr. Otto Rank, Dr. Hanns Sachs
und A. J. Storfer.
Bd. I (I 9 i2, S Hefte), II (191J, 6 Hefte), III {I914, 6 Hefte),
IV (ipif—16, 6 Hefte), V (i 9 iy—i 9 , 6 Hefte), VI {1920, 4 Hefte),
VII (1921, 4 Hefte), VIII (1922, 4 Hefte), IX (1923, 4 Hefte),
X {1924, 4 Hefte), XI 192s, (4 Hefte). — Abonnement pro 1926
(Bd. XII, 4 Hefte im Gesamtumfang von etwa ;oo Seiten) M. 20. — .
Die neue Wissenschaft der Psychoanalyse hat sich aus einer psyehopatho-
logischen SpezialWissenschaft immer mehr in eine Wissenschaft weiter
entwickelt, die den Anspruch macht, in die unbewußten Grundlagen des
Geisteslebens einzudringen undso eine Propädeutik für alle Geistes-
wissenschaften von umfassendster Bedeutung zu werden. Nunmehr
haben diese Bestrebungen sich ein eigenes Organ geschaffen: Imago .. .
Die bereits gemachten Resultate lassen erwarten, daß von hier aus in
der Tat neue Einblicke in die menschliche Psyche sich erreichen lassen,
die keine Geisteswissenschaft, am wenigsten die Theologie und die
kirchliehe Praxis übersehen darf. {Evangelische Freiheit)
So möchte ich denn jedem Kulturpsychologen dringend raten, die Welt
einmal gründlich von der neuen Seite her, von der sie Freud uns zeigt,
zu betrachten. Die beste Einführung in sein und seiner Schüler Werk
bietet die Zeitschrift Imago. {August Hornejfer in der Tat)
Volle Anerkennung verdient die Druekausstattung der Zeitschrift.
(Zeitschrift für Bücherfreunde)
Die bisher erschienenen Bände der „Imago" brachten u. a. folgende
Beiträge aus dem Gebiete der
Philosophie und der Psychologie:
Alexander: Der biologische Sinn Deutch, H.: Zur Psychologie des
psychologischer Vorgänge (Bud- Mißtrauens,
dhas Versenkungslehre). Dukes: Psychoanalytische Ge-
Andreas-Salome 1 : Narzißmus als Sichtspunkte in der juristischen
Doppelrichtung. Auffassung der „Schuld".
Berger: Zur Theorie der mensch- Eisler: Zur Analyse der Land-
lichen Feindseligkeit. schaftsempflndung.
Bernfeld: Bemerkungen über Fenichel: Psychoanalyse und
„Sublimierung". Metaphysik.
LXXIV
Ferenczi: PhilosophieundPsycho-
analyse.
— Aus der „Psychologie" von Her-
mann Lotze.
— Zur Psychogenese der Mechanik.
Freud: Traum und Telepathie.
— Die okkulte Bedeutung des Trau-
mes.
— Die Verneinung.
Furrer: Die Bedeutung des „B"
im Rorschaehschen Versuch.
Goinperz: Psychologische Beob-
achtungen an griechischen ^Philo-
sophen.
Groddeck: Der Symholisierungs-
zwang.
Harnik: Die triebhaft-affektiven
Momente im Zeitgefühl.
H ermann: Wie die Evidenz wissen-
schaftlicher Thesen entsteht.
Hitschmann: Schopenhauer.
— Telepathie und Psychoanalyse.
Hug-Hellmuth:ÜberFarbenhören
— Einige Beziehungen zwischen
Erotik und Mathematik.
— Vom frühen Liehen und Hassen.
Kolnai: Über das Mystische.
— Die geistesgeschichtliche Bedeu-
tung der Psychoanalyse.
— Max Schelers Kritik und Würdi-
gung derFreudschen Libidolehre.
Marcinowsky: Zum Kapitel
Liebeswahl und Charakterbil-
dung.
Müller -Braunschweig: Zur
Psychogenese der Moral, insbe-
sondere des moralischen Aktes.
— Über das Verhältnis der Psycho-
analyse zur Philosophie.
Pfister: Die primären Gefühle als
Bedingungen der höchsten Gei-
stesfunktionen.
Putnam: Die Bedeutung philoso-
phischer Anschauungen und Aus-
bildung für die weitere Entwick-
lung der psychoanalyt. Bewegung.
Rad 6: Die Wege der Naturfor-
schung im Lichte der Psycho-
analyse.
Rank: Intuitive Psychoanalyse.
Reik: Über den zynischen Witz.
Robitsek: Symbolisches Denken
in der chemischen Forschung.
Roeder: Das Ding an sich.
Sachs: Über Naturgefühl.
Sperber: Die seelischen Ursachen
des Altern, der Jugendlichkeit
und der Schönheit.
Spielrein: Die Zeit im unter-
schwelligen Bewußtsein.
Weiss: Die psychologischen Er-
gebnisse der Psychoanalyse.
Winterstein: Zur Psychoanalyse
des Reisens.
— Psychoanalytische Anmerkungen
zur Geschichte der Philosophie.
Wulff: Die Koketterie in psycho-
analytischer Beleuchtung.
X
ferner u. a. folgende Beiträge aus dem Gebiete der
Pädagogik und Jugendpsychologie:
Aichhorn: Über die Erziehung in
Besserungsanstalten.
Bernfeld: Zur Psychoanalyse der
Jugendbewegung.
— Über eine typische Form der
männlichen Pubertät.
Freud, Anna: Schlagephantasie
und Tagtraum.
— Ein hysterisches Symptom bei
einem 2 '/Jährigen Kinde.
Furrer: Tagphantasien eines sechs-
einhalbjährigen Mädchens.
Harnik: Anatole France über die
Seele des Kindes.
Hug-Hellmuth: Über erste Kind-
heitserinnerungen.
— Das Kind und seine Vorstellung
vom Tode.
— Vom frühen Lieben und Hassen.
— Vom mittleren Kinde.
— Kinderträume.
J o n e s : Einige Probleme des jugend-
lichen Alters.
Klein: Der Familienroman in statu
nascendi.
— Zur Frühanalyse.
— Die Rolle der Schule in der libi-
dinösen Entwioklung des Kindes.
LXXV
P f i s t e r: Anwendungen der Psycho-
analyse in der Pädagogik und in
der Seelsorge.
Pfeifer: Äußerungen infantil-ero-
tischer Triebe im Spiel.
Spielrein-Scheftel: Die Ent-
stehung der kindlichen Worte
Papa und Mama.
ferner u. a, folgende Beiträge aus dem Gebiete der
Völkerpsychologie, Religionswissenschaft,
Ethnologie:
Abraham: Der Versöhnungstag.
Andreas-Salome': Vom frühen
Gottesdienst.
Arndt: Üher Tabu und Mystik.
Bälint: Die mexikanische Kriegs-
hieroglyphe atl-tlachinolli.
Berny: Zur Hypothese des sexuel-
len Ursprungs der Sprache.
Eisler: Der Fisch als Sexual-
symbol.
Felszeghy: Panik u. Pankomplex.
Giese: Sexualvorhilder bei ein-
fachen Verrichtungen.
Goja: Das Zersingen der Volks-
lieder.
Heise: Der Kuckuck und die Meise.
Jones: Bedeutung des Salzes in
Sitte und Brauch.
— Über den Heiligen Geist.
— Psychoanalyse u. Anthropologie.
Kinkel: Zur Frage der psycholo-
gischen Grundlagen und des Ur-
sprungs der Religion.
Kraus: Die Frauensprache bei pri-
mitiven Völkern.
Levi: Die Kastration in der Bibel.
— Sexualsymbolik in der biblischen
Paradiesgeschichte.
— Istdas Kainszeichen dieBeschnei-
dung?
Lorenz: Der Mythus der Erde.
— Das Titanenmotiv in der allg.
Mythologie.
M al i n o w s ki : Mutterrechtliche Fa-
milie und Ödipuskomplex.
Pfister: Entwicklung des Apostels
Paulus.
Protze: Der Baum als totemisti-
sches Symbol.
Rank, Beata: Zur Rolle der Frau
in der Entwicklung der mensch-
lichen Gesellschaft.
Rank, Otto: Die Nacktheit in Sage
und Dichtung.
Reik: Das Kainszeichen.
— Die Couvade und die Psychoge-
nese der Vergeltungsfurcht.
— Ödipus und die Sphinx.
R 6 h e i m : Zur Psychologie der Bun-
desriten.
— Nach dem Tode des Urvaters.
— Die Sedna-Sage.
Schröder: Der sexuelle Anteil an
der Theologie der Mormonen.
Silberer: Über Märchensymbolik.
— Das Zerstückelungsmotiv im My-
thos.'
Sperber: Über den Einfluß sexu-
eller Momente auf Entstehung
und Entwicklung der Sprache.
Spiez: Die Dreizahl. Genesis der
magischen und der transzenden-
ten Kulte.
Wölk: DasTri-theon der alten Inder.
— Der Tanz des Ciwa.
— Zur Psychologie des Rauchopfers.
ferner u. a. folgende Beiträge aus dem Gebiete der
Literatlirforschung, Kunstwissenschaft, Ästhetik:
Bar das: Problematik der Musik. Freud: Eine Kindheitserinnerung
lirill: Psychopathologie der neuen aus „Dichtung und Wahrheit".
„. „ z ? - „ — Das Unheimliche.
Ohijs:Infantil IS musinder Malerei. - Der Moses des Michelangelo.
LXXVI
Harnik: Anatole Franee über die
Seele des Kindes.
Hermann: Psychogenese der zeich-
nerischen Begabung.
— Die Regression zum zeichneri-
schen Ausdruck bei Goethe.
— Benvenuto Cellinis dichterische
Periode.
Hermann-Cziner: Die Grund-
lagen der zeichnerischen -Bega-
bung bei Marie Bashkirtseff.
Hitschmann: Ein Dichter und
sein Vater.
— Zum Werden des Romandichters.
— Schopenhauer.
— Vom Tagträumen der Dichter.
Jekels: Shakespeares Macbeth.
Jones: Andrea del Sartos Kunst
und der Einfluß seiner Gattin.
Kaplan: Zur Psychologie des Tra-
gischen.
— Der tragische Held und der Ver-
brecher.
Landquist: Das künstlerische
Symbol.
Lorenz: Der Bergmann von Falun.
— Ödipus auf Kolonos.
— Das Titanenmotiv in der Mytho-
logie.
— Die Kindheitserinnerungen des
Baron de la Motte-Fouque'.
Sonderhefte der „Imago":
Soziologisches Heft (== Villi 2) M. $,—.
Religionspsychologisches Heft {= IXl i) M. /. — .
Pädagogisch-jugendpsychologisches Heft (= IXl '2) M. /. — .
Philosophisches Heft {=IXl)) M.j. — .
Kunstpsychologisch-ästhetisches Heft (= IX/4) M. J. — .
Ethnologisches Heft (= Xh, f) M. 10. — .
Bildende Kunst (== X/4) M. j. — .
Psychologisches Heft (= Xl/l, 2) M. 10.
Von den früheren Jahrgängen der „Imago 11 sind noch komplett erhältlich
die BdeUI, IV, VIII— XI (pro Bd. in Heften M. 18.—, Halbleinen 21.—,
Halbleder 24. — ). — ■ Einzelhefte (soweit vorrätig) aus den Bden II — V
M. 3.50, aus den Bden VI — VII 4.50, VIII — XI ;.—. — Abonnement pro
1926 (XII, 4 Hefte) M. 20.— (Einzelhefte des Bdes 102; M. S.So).
Mac Curdy: Allmacht der Gedan-
ken und Mutterleibsphantasie in
den Hephaistos- Mythen und
einem Roman von Bulwer.
Pf ist er: Entstehung der künst-
lerischen Inspiration.
Rank: Homer.
— Dichterische Phantasiebildung.
— Das „Schauspiel" in „Hamlet".
Reik: Aus dem Leben Guy de
Maupassants.
Sachs: Carl Spitteler.
— Motivgestaltung bei Schnitzler.
— Der „Sturm".
— Schillers Geisterseher.
— Homers jüngster Enkel.
Sadger: Über das Unbewußte und
die Träume bei Hebbel.
— Von der Pathographie zur Psy-
chographie.
Silberer: Der Homunkulus.
A.Sperber: Von Dantes unbewuß-
tem Seelenleben.
Sterba: Zur Analyse der Gotik.
Teller: Psychischer Konflikt und
körperliche Leiden bei Schiller.
— Musikgenuß und Phantasie.
Weiss: Von Reim und Refrain.
Westerman-Holstijn: Die psy-
cholog. Entwicklung van Goghs.
Winterstein: Der Sammler.
LXXVI1
Jahrbuch für psychoanalytische und
psychopathologische Forschungen
Bd. I — VI (ipo<? — I9T4) 9 mehr nicht erschienen. (Bd. I — V
herausg. von Prof. Bleuler und Prof. Freud; Bd. FI,
heraus geg. von Prof Freud, führt den Titel; Jahrbuch
der Psychoanalyse.).
Komplett geheftet M. 94. — , Ganzleinen iop* — .
Die 6 Bände enthalten u. a» folgende Arbeiten:
Aptekman: Experiment. Beiträge Z.Psychologie dos psycho-galvan.
Phänomens.
Bertschinger: Illustrierte Halluzinationen.
Binswanger: Analyse einer hysterischen Phobie.
Bleuler: Die Psychoanalyse Freuds.
— Das autistische Denken.
— Der Sexualwiderstand.
Federn: Zwei typische Traumsensationen.
Ferenczi: Introjektion und Übertragung.
— Die Rolle der Homosexualität in der Pathogenese d. Paranoia.
— Alkohol und Neurosen.
Itten: Zur Psychologie der Dementia praecox.
Jones: Fälle von Zwangsneurose.
— Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr.
Jung: Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen.
— Wandlungen u. Symbole der Libido.
Marcinowski: Ein schwerer Fall von Asthma.
Maeder: Sexualität und Epilepsie.
— Die Funktion des Traumes.
Nelken: Phantasien eines Schizophrenen.
Pfister: Über die Psychologie des Hasses und der Versöhnung.
— Die psycholog. Enträtselung d. religiösen Glossolalie u. der
automat. Kryptographie.
Rank: Ein Traum, der sich selbst deutet.
— Die Symbolschichtung im Wecktraum.
Riklin: Analyse einer Zwangsneurose.
Robitsek: Egmonts Traum.
Sachs: Traumdeutung und Menschenkenntnis.
Sadger: Der sado-masochistische Komplex.
— Psychoanalyse eines Autoerotikers.
— Haut-, Schleimhaut- u. Muskelerotik.
Silberer: Phantasie und Mythos.
— Symbolik des Erwachens.
— Spermatozoenträume.
Stärcke: Neue Traum experimente.
Lxxvni
Durch den „Internationalen Psychoanalytischen Verlag",
Wien, VII., Andreasgase 3 können (außer seinen eigenen
Verlags werken) bezogen werden:
Abraham: Giovanni Segantini. M. 2.30.
Bernfeld: Psychologie des Säuglings. M. 12. — , Ganzleinen 13.50.
Diskussionen der Wiener Psychoanalytischen Vereini-
gung: I. Über den Selbstmord, insbes. den Schülerselbstmord.
(Beitr. von Prof. Freud, Friedjung, Sadger u. a.) M. 1.33. —
II. Die Onanie. (Beitr. von Prof. Freud, Federn, Ferenczi,
Hitsehmann, Rank, Sachs, Tausk u. a.) M. 4. — .
Federn: Die vaterlose Gesellschaft. M. 0.80.
Friedjung: Erlebte Kinderheilkunde. M. j.50.
— Die kindliche Sexualität. M. 2.—.
Hug-Hellmuth: Aus dem Seelenleben des Kindes. M. 3.40,
— Neue Wege zum Verständnis der Jugend. M. 4.80, geb. y. — .
Jones: Der Alptraum. M. 4. — .
Kielholz: Jakob Boehme. M. 1.80.
P fister: Die psychoanalytische Methode. M. 18.—, geb. 20.—.
— ~ Die Liebe des Kindes u. ihre Fehlentwicklungen. M. 6. — , Halb-
leinen 7.20.
— Die Liebe vor der Ehe u. ihre Fehlentwicklungen. M. 6.—, Halb-
leinen 1.20.
Rank: Der Mythus von der Geburt des Helden. M. 2.50, Vorzugs-
ausgabe in Halbleder 14. — .
— Die Lohengrinsage. M. 4. — .
Rank u. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geistes-
wissenschaften. M. 3.60.
Reik: Flaubert und seine Versuchung des hl. Antonius. M. 4.50.
— Arthur Schnitzler als Psycholog. M. 4.50, Ganzleinen 6.—.
Sachs: Elemente der Psychoanalyse. M. 1.20.
Sadger: Nachtwandeln u. Mondsucht. Jlf. 4. — .
— Friedrich Hebbel. M. j.— .
— Die Lehre v. den Geschlechtsverirrungen. M. 6.60, Halbleinen 8.80.
Schilder: Medizinische Psychologie. Geb. M. 13.20.
Storfer: Zur Sonderstellung des Vatermordes. M. 1.40.
— Marias jungfräuliche Mutterschaft.. M. 4. — .
Zulliger: Unbewußtes Geistesleben. M. 1.20, geb. 2.—.
— Psychoanalytische Erfahrungen aus der Volksschulpraxis. U. 3.20.
LXXIX
PH ; Tjnfnfl Vit.-- I : 1
Psychoanalyse
1926
{