Almanach der
Psychoanalyse
19£7
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.
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ALMANACH
1927
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER
VERLAG / WIEN
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Almanach
für das Jahr
1927
Internationaler
Psychoanalytischer Verlag
Wien
-
wm
Dieser zweite Almanach des Internationalen
Psychoanalytischen Verlags in Wien für
das Jahr 1927, herausgegeben von A. J. Storfer,
wurde in einer Auflage von 90 00 Exemplaren
gedruckt in den Buchdruckereien Christoph
Reissers Söhne, Wien V (Textteil S. 1 — 256)
und Elbemühl-A. G., Wien in (Anzeigenteil)
*
180 numerierte Exemplare wurden breitrandig auf
Dokumentenpapier nach Japanart abgezogen und
in Ganzleder gebunden
Alle Rechte,
insbesondere die der Übersetzung, vorbehalten
Die Reproduktion
der Photographie von Karl Abraham (f) erfolgt mit
Genehmigung der Firma Becher & Maass, Berlin TV 9
*
Das diesem Almanach beigegebene Freud-Bildnis ist nach
einer Radierung von Prof. Ferdinand Schmutzer re-
produziert. (Die Radierung kann durch den Internatio-
nalen Psychoanalytischen Verlag bezogen werden. Preis
M.20-—, für die ersten fünfzig numerierten
Exemplare M. $o-—J
1
;
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
7
Kaien darhim
Lou Andreas-Salome: Zum 6. Mai 1926 9
Prof. E. Bleuler: Zum siebzigsten Geburtstag Sigm. Freuds 1 '
Stefan Zweig: Zum siebzigsten Geburtstag Sigm. Freuds. 22
Alfred Döblin: Zum siebzigsten Geburtstag Sigm. Freuds 28
Sigm. Freud: Vergänglichkeit '
Sigm. Freud: Zur Psychologie des Gymnasiasten , 45
Sigm. Freud: Psychoanalyse und Kurpfuscherei ....... 47
Pfarrer Dr. Oskar Pfister: Die menschlichen Einigungs-
bestrebungen im Lichte der Psychoanalyse ^
M. D. Eder: Kann das Unbewußte erzogen werden? .... 65
Theodor Reik: Gedenkrede über Karl Abraham 7 6
Karl Abraham: Die Geschichte eines Hochstaplers im
Lichte psychoanalytischer Erkenntnis 3
Karl Abraham: Über Coues Heilformel 99
Israel Levine: Psychoanalyse und Moral
Gustav Wyneken: Sisyphos, oder: Die Grenzen der Er-
110
ziehung
Ludwig Binswanger: Erfahren, Verstehen, Deuten m der
ö 119
Psychoanalyse
Prof. Hans Kelsen: Der Staatsbegriff in der Psychoanalyse ,55
Erwin Kohn: Das Liebesschicksal Ferdinand Lassalles . . . >£
Prof. Heinr. Gomper*: Sokrates und die Handwerksmeister tfg
Otto Rank: Don Juan und Leporello '''.'.'.'
Eckart von Sydow: Die Wiedererweckung der prunken ^
Kunst . .
L. Jekels: Zur Psychologie der Komödxe . . . . »
Theodor Reik: Zur Technik des Witzes ■ •
Franz Alexander : Einige unkritische Gedanken zu Ferenczxs _
Genitaltheorie
Seite
Karen Horney: Flucht aus der Weiblichkeit 220
Ernst Simmel: Doktorspiel, Kranksein und Arztberuf ... 236
Georg Groddeck: Nicht wahr, zwei Damen? Und der
Schlag aufs Paradiesäpflein 250
PSYCHOANALYTISCHES LESEBUCH
Vorläufer der Lehre von der Verdrängung: Schopenhauer, Nietzsche,
Flaubert 1 .
Zeitgenossen über die psychoanalytische Bewegung: H. G. Wells,
Thomas Mann -g
Aussprüche von G. Ch. Lichtenberg q
Lichtenberg über „Kopf" und „Unterleib" n g
Nietzsche über Geschlechtlichkeit 134
Psychopathologie des Alltagslebens im 18. Jahrhundert: Jean Jacques
Rousseau deutet sich eine Fehlleistung / Lawrence Sternes Tristram
Shandy weiß von Symptomhandlungen 170
Freud: „Fabrikation von Weltanschauungen" l8q
Pestalozzi: Der Schneidertraum iq8
Maurus Jökai über den Traum 108
Ödipuskomplex: Stendhal, Baudelaire, Nietzsche . 249
VERLAG SAN ZEIGEN
*
Der „ALMANACH 1926" hatte folgenden Inhalt: Freud: Die Widerstände
gegen die Psychoanalyse / „Die Ausnahmen" /Die okkulte Bedeutung des
Traumes — Thomas Mann: Mein Verhältnis zur Psychoanalyse — Hermann
Hesse: Künstler und Psychoanalyse — H. R. Lenormand: Das Unbewußte
im Drama — Frederik van Eeden über Psychoanalyse — Hanns Sachs:
Gemeinsamer Tagtraum und Dichtung / Carl Spitteler f — Alfred Polgar:
Der Seelensucher — Georg Groddeck: Wie ich Arzt wurde und wie ich zur
Abneigung gegen das Wissen gekommen bin — Th. Reik: Psychoanalytische
Strafrechtstheorie — August Stärcke: Geisteskrankheit und Gesellschaft —
Oskar P fister: Elternfehler in der Erziehung zur Sexualität und Liebe —
Vera Schmidt: Das psychoanalytische Kinderheim in Moskau — August
Aichhorn: Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung — Siegfried Bern-
feld: Bürger Machiavell ist Unterrichtsminister geworden und hält den Hof-
räten seines Ministeriums folgende Programmrede — Stefan Zweig: Das
Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens — Aus dem „Tagebuch eines halb-
wüchsigen Mädchens" — S. Ferenczi: Begattung und Befruchtung — Ernest
Jones: Kälte, Krankheit und Geburt — Karl Abraham: Über Charakter-
analyse — Otto Rank: Drei Stunden einer Analyse — Paul Schilder: Selbst-
beobachtung und Hypochondrie — August Kielholz: Über Erfinderwahn.
KALENDARIUM FÜR DAS JAHR
1927
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FEBRUAR
MÄRZ
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So
Ostersonntag iy. April
Pßngstsonntag f. Juni
Zuhi 6. Mai 1926
von
Lou Andreas-Salome
Im Rückerinnern will mir scheinen, als ob mein Leben
der Psychoanalyse entgegengewartet hätte, seitdem ich aus
den Kinderschuhen heraus war. Denn im darauffolgenden
Jahrzehnt ereignete sich ein Dreierlei nacheinander, was die
Zeitläufte dann entscheidend zusammengriffen. Erstlich das
Zurücktreten der gealterten metaphysischen Methodik unter
dem Vordrang des Darwinismus und kritischen Posi-
tivismus, sodann der Eintritt Nietzsches in das Mannes-
alter seines Schaffens, nach der vorangegangenen Schopen-
hauer-Wagner-Periode; endlich, allmählich, den Zeitgenossen
noch verborgen, die Geburtsstunde der Psychoanalyse in
Wien, der ich erst gegen mein fünfzigstes Lebensjahr nahetrat.
Die erste dieser drei Wendungen ist nicht als eine zu
betrachten, die bloß philosophisch Interessierte anging; die
großen metaphysischen Systeme — letztlich noch Hegel, nach
rechts wie nach links — umfaßten, nicht nur theoretisch,
alles ethische, soziale, ästhetische, religiöse Lebens verhalten,
sondern bestimmten es; ihren Abbruch mitmachen konnte
W^ ^ Jugend nicht ' ohne sich zu den neuen entgötternden
W ^ ltG « gleichsam heroisch einzustellen, weil es eben die
«Wahrheit galt; in einer Seelenhaltung, die überging vom
angenehm Begeisterten zum Opferbereiten. Diese, an sich
recht wertvolle, aber den empirischen Zweckwissenschaften
gegenüber etwas unproportionierte Anstrengung der Seele,
entspannte sich in dem Maße, als die Forschungsmethoden
mer noch an Anspruch und Strenge zunahmen; denn ge-
rade dadurch ergab sich ihnen auch zunehmend eine um so
reinlichere, sachlichere Zweckbegrenzung, — die Einsicht
nämlich, von der Wirklichkeit Fülle nur eine" flachgezeichnete
uhouette bieten zu können, die nach allen Seiten lebendiger
^rgan Zung bedürftig blieb. Bis durchgehends das befreiende
chlagwort geprägt war: „Auch der Denktrieb ein Lebens-
trieb.
9
Hiemit setzte Nietzsches mittlere Schaffensperiode ein:
er war es, der für „Menschliches, Allzumenschliches" so-
genannter „Wahrheit" in seinen Aphorismen jenen gewaltigen
Ausdruck fand, der über den resignierten Seelen der Opfer-
bereiten wie eine erste „Morgenröte" aufstieg, und alles
Denken, ungeachtet dessen erworbener Nüchternheit, wieder
zu einer „Fröhlichen Wissenschaft" werden ließ. Jedesmal
hat dies als die eigentliche Gewalt seines Genius sich er-
wiesen, dem jeweils Theoretischen zu dessen Erlebnis zu
verhelfen, es, an der inbrünstig durchlebten Formung zum
Wort, zu überwältigen. Diese lebenszugewendete Tendenz in
Nietzsche Heß sich nicht allzu lange von der sachlichen Zu-
rückhaltung der Theoreme, denen sie sich begleitend ange-
schlossen hatte, bändigen ; aus dem überbetonten individuellen
Lebensrecht überschlug sie sich in die grelle Grandiosität
eines Gedankenrausches, der sich ins Übermenschentum ver-
flog: wobei sich ihm als Basis die Evolutionstheorie unter-
schob, — sie, die allen Übersteigerungen stets so hilflos
willige.
Nietzsches ganze Wegstrecke und hinein in diese letzte
Aufgipfelung, führte ihn durch Gebiete psychischer Ent-
deckungen offenbarendster Art, — oft möchte man davon
sagen: psychoanalytischer Art. Die Sterilität der Schulpsycho-
logie wurde darin überstürzt vom Reichtum eines Materials
woran die menschliche Seele, aller Vorurteile entfesselt un-
erhört tief, unerhört kühn, sich auszuschöpfen begann. Wer
es miterlebte, konnte wohl spüren: hier — hier, an dieser
Stelle gilt es, sich geistig anzusiedeln: wagemutig und ge-
duldig; hier gilt es, statt eiligen Umldpps in erneute Theo-
retilt, langes Verweilen zu üben unter Anleitschaft inzwischen
errungener forscherischer Strenge. Wobei freilich sofort auch
das Problem sich auftun mußte: wie diesem lebendigsten
Material beikommen mit wissenschaftlich sichernden Hebeln
und Schrauben, ohne es eben an seiner Lebendigkeit zu ver-
letzen? Dieses Rätsel ist es, dessen Lösung Freud uns brachte.
Was sich keinem Philosophen gelöst hätte, verriet sich dem
Arzt, als die Durchforschung psychischer Krankheitsherde
10
ihm die Wünschelrute in die Hand gab, welche anzuzeigen
versteht, was sich im Unterirdischen des Menschen verdrängt
hält, oder was sein Widerstand nur in vieldeutigsten Ent-
stellungen an die Oberfläche kommen läßt. Indem am Patho-
logischen die ungreifbare Lebendigkeit gleichsam halb ent-
seelt erscheint, mechanisiert, typisiert, gestattet sie eine Exakt-
heit^ des Eingehens, Eindringens, in sich, die erstens thera-
peutisch wirksam wurde, zweitens aber Erfahrungen und
Rückschlüsse zuließ hinsichtlich der sogenannten Normalität,
d. h. desjenigen, worin die allgemein menschlichen Analogien
dazu sich ebenfalls eingegraben finden, nur nicht in Lapidar-
schrift, sondern in unentzifferbarem Lettern. Insofern darf
man sagen: Freuds Entdeckung glich dem Ei des Kolumbus
wörtlich darin, daß er es auf die zerbrochene Spitze stellte.
So ergab sich im Grunde von vornherein — - ob auch
noch so unbeabsichtigt vom Schöpfer der Psychoanalyse, ja
ihm zunächst unerwartet genug — an seiner Psychoanalyse
eine interne Doppelrichtung, die sonst in feindlichen Strö-
mungen gegeneinander zu verfließen pflegt: einmal die Weg-
richtung auf Exaktheit speziellster Untersuchungen, auf Zer-
legung noch des Zusammengehörigsten, auf Genese, Historie
Anekdote; sodann die Zielrichtung auf das dem Bewußtsein
nur indirekt Erfaßbare, Zugrundeliegende, Gleichartige, Wesen-
hafte im Smne der eigentlichen psychischen Wirklichkeit In
dieser unzerreißlichen Doppelung wurden Leben und Denken
- trotz Unterstreichung von beider Sonderart und gerade
durch diese — wieder geeint; weder reduziert aneinander,
noch auch sich gegenseitig zum Größenwahn der Alleingel-
tung steigernd. Mit anderen Worten: alles war damit auf
praktische Analyse gestellt ; auf den Kampf des Menschen
mit den ihm innewohnenden Verdrängtheiten und Wider-
ständen. Mit immer wiederholtem Staunen — als erlerne
und erführe man daran die Psychoanalyse jedesmal erstmalig
von neuem — sieht man von einem Fall zum andern, wie
unter dem Hochdruck der nüchternsten aller Methoden
dieser lebendige Springquell vom Wesensgrund her zum Auf-
trieb gelangt. Deshalb bedeutet es zweifellos eine der schwersten
11
Beeinträchtigungen psychoanalytischer Wirksamkeit, wenn
Halbgegner oder Halbanhänger für eine „Beigabe von Syn-
thetik zur Analyse glauben sorgen zu müssen durch Unter-
mischungen mit allerhand Ethik, Religion oder Philosophie;
sie entziehen eben damit die „synthetisch" wirksamsten Ele-
mente derjenigen Betätigung, die im natürlichen Genesungs-
vorgang sich neu organisiert. Gilt dieser Vorgang doch nicht,
wie irgendeine Wunderkur, nur für den sogenannten „Kran-
ken , d. h. den, dessen stockende oder aber hemmungslose
Funktionierung ihn an den Realitätsansprüchen scheitern ließ,
sondern für jeden, der sich, aus Berufs- oder anderen Gründen,
einer Analyse unterzog, und nicht zum wenigsten für den
Analytiker selbst, den Freud von jeher daran mahnte, daß
man mit niemandem weiter gelange, als man mit sich ge-
kommen sei.
Dieses gleiche Schicksal der Seele ergibt für die zwei,
an einer Analyse Beteiligten, eine Gemeinsamkeit einziger
Art, die weder mit individuellen Bezogenheiten zu verwechseln
ist, noch mit irgendwelcher Weichheit, wie sie etwa beim
Helfer der Teilnahme, beim Analysanden dem Hilfsverlangen
entspräche. Sie reicht also über jene „Übertragungsphänomene"
noch hinaus, die außeranalytisch sich ebenso ereignen können
oder aber an denen die Affektvergangenheit des Analysanden
sich am Analytiker zu wiederholen und zu lösen hat. Ich
meine hier die Gemeinsamkeit des Erlebnisses selber auf dem
sonst unbetretbaren Boden des Unbewußten; nicht die bloße
Tatsache der gleichen psychischen Wesenhaftigkeit, sondern
daß sie einem Menschen dort als gemeinschaftliches Erlebnis
aufgeht ( — etwa wie wenn einem Körper die chemische
Chiffre der Körpergleichheit zu einem erfühlten Ereignis
würde — ). Das beiderseitige Niedersteigen in vielfaches
Grauen, das beiderseitige Innewerden vom Einssein noch des
Entwertetsten mit dem Wertvollsten in uns, das Abfallen von
Kleinmut wie von Hochmut, vor einer letzten Unschuld und
Verbundenheit des Seins Aller: das ist hier und nur hier
erlebbar. Und wird zu etwas gleich einer Einkehr — nur
anders gewendeter und verwendeter — in die fernst ent-
12
sunkene Kindheitsregion: die therapeutisch ja zur Lösung
infantiler Fixierungen aufgespürt werden mußte. Nur daß
damit „Kindheit" neu kenntlich wird als der dauernde Ur-
grund auch des Auf baus unserer Vollendung. Ist das Kindes-
wesen durch seine Unreife noch von nichts klar abgehoben,
sich ein wenig noch für alles nehmend, und alles für sich,'
so kehren wir reif erst heim zu uns selbst, wo an den voll-
zogenen Erfahrungen eines Lebens, solche Ganzheit uns
wieder aufnimmt. Ich möchte davon beileibe nicht in Trak-
tätchenton reden und möchte doch an dieser Stelle den Mut
finden dürfen zu Goethes stammelnd umschreibendem Wort:
„Wir heißen's fromm sein."
Damit komme ich auf die Veranlassung zu diesen Aus-
führungen. Hier war jeder geladen, mitzuteilen, ob und worin
Freuds Psychoanalyse wichtig geworden sei seinem Lebens-
werk. Ich möchte hier ergänzend von dem Anonymen ge-
redet haben, was nicht bloß Spezialwerken wichtig wurde
Solche Werke, also vorwiegend künstlerischer oder wissen-
schaftlicher Produktion, stellen selber schon Spezialabfuhren
und Ermöglichungen der Lebensbewältigung dar, - trotz
aller sich gerade an ihnen ergebender Komplikationen, die
so zahlreiche Geistesarbeiter neurotisch erscheinen lassen; es
bleiben dennoch Daseinsentlastungen, Daseinsentzückungen
intensivster Art, die dem nicht so gerichteten Menschen ab-
gehen. Im Grunde hat nur er, der Mensch der Anonymität,
das Dasein m nacktester Tatsächlichkeit auszuhalten, nur er
hat ganz standzuhalten der Gefahr, sich zu verflachen, zu
banalisieren, um sich das zu erleichtern. Die Psychoanalyse -
und sollte nicht eben dies ihr Kostbarstes sein? - reicht
allem bis dorthin: bis in die Not und Wichtigkeit eines
jeden. Bis dorthin, wohin sonst nur wahnhaft religiöser oder
mystischer Hilfstraum sich erstreckte. Dem Schöpfer der
Psychoanalyse hat zwar wahrlich keine Konkurrenz damit
vorgeschwebt! Was er schuf, war das voraussetzungslose Er-
gebnis des Genius äußersten Mutes, letzter Ehrlichkeit • was
wir heute feiern, ist diese Großtat. Wir feiern damit 'diese
unbeeinflußbare Nüchternheit der Einstellung, die dafür
ts
keinerlei Kampf scheute. Und wünschen ihr und uns jeden
Kampf auch in Zukunft: Kampf mit Widersachern und Wider-
ständen, Kampf auch mit jedem Widersacher in uns selbst,
daß er nicht irgendeine vorbehaltliche Besonderheit dagegen
ausspiele! Aber im Wesen der Psychoanalyse Hegt es, daß
sie eines Zweierlei bedarf: tiefster, intimster Einfühlung, und
kältester Anwendung des Verstandes, — darin gleichsam
beiden Geschlechtern im Menschen gerecht werdend. So
betont sich vielleicht mir, als Frau, das Positive am mensch-
lichen Ergebnis (noch jenseits des rein Therapeutischen dran),
besonders dankesstark — . Sei immerhin Kampf die Losung;
Kampf für und für, — heißer noch macht es, sich zu
versenken, zu versetzen in das durch ihn Errungene von
Mensch zu Mensch. Und somit verteilt sich unser Verhalten
dazu ganz unwillkürlich nach den Geschlechtern. Denn Männer
raufen. Frauen danken.
PSYCHOANALYTISCHES LESEBUCH
Vorläufer der Lehre von der Verdrängung
Schopenhauer:
. . . Wenn man sich erinnert, wie ungern wir an Dinge denken, welche
unser Interesse, unsern Stolz oder unsere Wünsche stark verletzen, wie
schwer wir uns entschließen, dergleichen dem eigenen Intellekt zu genauer
und ernster Untersuchung vorzulegen, wie leicht wir dagegen unbewußt
davon wieder abspringen oder abschleichen . . . In jenem Widerstreben des
Willens, das ihm Widrige in die Beleuchtung der Intellektes kommen zu lassen,
liegt die Stelle, an welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann.
. . . Werden dem Intellekt gewisse Vorfälle oder Umschläge völlig
unterschlagen, weil der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann; wird
aldann, des notwendigen Zusammenhangs wegen, die dadurch entstandene
Lücke beliebig ausgefüllt; — so ist der Wahnsinn da.
. . . Dem Wahnsinnigen ist in seinem Leben etwas aufgestoßen, das
ihm unerträglich fallt und das vergessen werden muß, wenn er bestehen
soll. Etwas absolut aus dem Bewußtsein fortzuschaffen ist aber nur dadurch
14
möglich, daß etwas anderes an seine Stelle tritt und dies ist der Wahn,
sei er bleibend, sei er wechselnd. Die beobachtenden Ärzte scheinen aber
immer nur bei dem sich vorfindenden Wahn stehn geblieben zu sein und
nicht bemerkt zu haben, daß dieser Wahn nur da ist, um etwas anderes
zu verdrängen und nicht aufkommen zu lassen.
Nietzsche:
Vergeßlichkeit ist keine bloße vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben,
sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsver-
mögen, dem es zuzuschreiben ist, daß was nur von uns erlebt, erfahren,
in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte
ihn „Einverseelung" nennen) ebensowenig ins Bewußtsein tritt, als der
ganze tausendfältige Prozeß, mit dem sich unsere leibliche Ernährung,
die sogenannte „Einverleibung" abspielt. Die Türen und Fenster des Be-
wußtseins zeitweilig schließen; von dem Lärm und Kampf, mit dem unsre
Unterwelt von dienstbaren Organen für und gegen einander arbeitet, un-
behelligt bleiben; ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewußtseins,
damit wieder Platz wird für Neues, vor allem für die vornehmeren Funk-
tionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehen, Vorausbestimmen
(denn unser Organismus ist oligarchisch eingerichtet) — das ist der Nutzen,
der, wie gesagt, aktiven Vergeßlichkeit einer Türwärterin, gleichsam einer
Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung, der Ruhe, der Etikette; womit
sofort abzusehen ist, inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung,
keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne Vergeßlichkeit. Der Mensch,
in dem dieser Hemmungsapparat beschädigt wird und aussetzt, ist einem
Dyspeptiker zu vergleichen (und nicht nur zu vergleichen) — er wird mit
Nichts ,Jertig". (Aus der „Genealogie der Moral".)
*
Das habe ich getan, sagt mein „Gedächtnis". Das kann ich nicht
getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — gibt das
Gedächtnis nach. (Aus „Jenseits von Gut und Böse".)
Flaubert:
. . . Vergißt man übrigens etwas? Geht irgend etwas vorüber, was
es auch sei? Selbst die leichtesten Naturen wären, wenn sie einen Moment
nachdenken könnten, erstaunt, wieviel sie aus ihrer Vergangenheit bewahrt
haben; es gibt überall unterirdische Konstruktionen; es ist nur eine Frage
der Oberfläche und der Tiefe. Sondiere und du wirst finden.
(Aus einem Briefe vom Juli 1850.)
15
Zum siebzigsten Geburtstag
Sigmund Freuds
Von den Äußerungen zum jo. Geburtstage Sigmund Freuds geben wir
drei hier wieder, den Artikel von Prof. Dr. Ernst Bleuler (veröffentlicht
in der „Neuen Zürcher Zeitung" vom 6. Mai 1926), den von Stefan Zweig
(in der „Neuen Freien Presse", Wien, vom selben Tage) und die Rede von
Alfred Döblin in der am gleichen Tage stattgefundenen Feier der
„Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft" zu Berlin.
„Nach innen geht der geheimnisvolle Weg." Ein Jahr-
hundert ist's, seitdem die Romantiker zum erstenmal mit
diesen Worten verkündeten, was alle großen Dichter von je
erfühlt haben. Etwa ein Menschenalter später, am 6. Mai 1856,
kam der Mann zur Welt, der nicht als Dichter, sondern als
Wissenschaftler, aber doch mit Intuition und künstlerischer
Gestaltungskraft begabt, jenen Weg nicht bloß ahnend streifte,
sondern ihn stet und zäh, spähenden Blickes verfolgte und
endlich erschloß. Und zwar war er dazu auch mit wissen-
schaftlichen Hilfsmitteln ausgerüstet, die er sich, was vielleicht
zu wenig betont wird, zuerst in ernsten Forschungen langer
Jahre erarbeitet hatte. So tief war der mittellose junge Mann
in physiologische und anatomische Studien versunken, daß
sein Lehrer Brücke, wohl ungern genug, ihn erst zu der
Erkenntnis wecken mußte, daß dieser Weg ihn zwar zu
Einsichten, aber kaum je zu Aussichten auf Broterwerb führen
dürfte. Da verzichtete Freud darauf, die Opfer, die sein Vater
dem begabten Sohne bis dahin großherzig gewährt hatte,
noch weiter anzunehmen.
Der Name Sigmund Freud hei mir zum erstenmal auf
im Jahre^i8oi, als er eine Broschüre „Zur Auffassung der
Aphasien" (d. h. der durch Herderkrankungen im Gehirn ver-
ursachten Sprachstörungen) herausgab. Die Aphasielehre war
damals in einem Schema verknöchert, das den neuern Be-
obachtungen nicht entsprach. Die eigenartige Auffassung des
Autors schien mir ein genialer Wurf, und ich fand mich
16
w
veranlaßt, eine Ausrede zu benutzen, um in dem gelesensten
Referatenblatt auf diesen Fund hinweisen zu können — aller-
dings nicht mit großem Erfolg. Eilte doch Freud mit seinen
Ideen den Fachgenossen um zehn Jahre voraus; ungefähr
solange brauchten sie nämlich, um einzusehen, daß er recht
hatte. Dann sah ich Arbeiten über anatomische Erkrankungen
des Zentralnervensystems, die von einer seltenen Beherrschung
des Stoffes zeugten. Die Gelegenheit, gleich nach dem Staats-
examen schon berühmt zu werden, hatte Freud unbenutzt
gelassen: mit einer aussichtsreichen Arbeit über Kokain be-
schäftigt, zeigte sich ihm die Möglichkeit, seine weitentfernte
Braut zu besuchen, und da reiste er zu der Langentbehrten,
seinem Kollegen den Einfall überlassend, die Koka in der
Augenheilkunde zu benutzen, eine Idee, die bald zu der Ein-
führung der lokalen Schmerzlosigkeit bei chirurgischen Ope-
rationen überhaupt führte. Wir dürfen aber in diesem Fall
dem Eingreifen Gott Amors dankbar sein, wäre doch der
Entdecker einer so wichtigen Sache nachher kaum noch ins
Gebiet der Nervenkrankheiten hinübergeraten. Unter Nerven-
krankheiten aber verstand Freud damals die greifbaren Zer-
störungen im Zentralnervensystem, worin er sich so gut aus-
kannte, daß er eine Zeitlang besondere Kurse improvisieren
mußte für Ärzte, die aus Amerika extra nach Wien kamen,
um sich von ihm instruieren zu lassen. Da zeigte sich, daß
er nicht Phantast war, wie man ihm nachmals vorzuwerfen
beliebte, einer, der willkürlich ins Blaue hinein konstruiert,
sondern ein ganz exakter Wissenschaftler, der von bestimmten
äußeren Anzeichen unerbittlich zu den inneren Ursachen
vorzudringen und einen Krankheitsherd im verlängerten
Marke auf ein paar Millimeter genau zu lokalisieren wußte.
Erst beim Altmeister der Neurologie in Paris, Charcot, sah
er die Hysterie, die Hypnose und Suggestion, wenn auch in
einer etwas eigentümlichen Beleuchtung. Seine neuen Kenntnisse
wollte Freud nach der Rückkehr von Paris der Wiener
Gesellschaft der Ärzte übermitteln, stieß aber nur auf Ab-
weisung. Damals zum erstenmal sagte man ihm ins Gesicht,
e r schwatze Unsinn. Er erzählte nämlich davon, Hysterien
1 7
bei Männern gesehen zu haben, und weil das Wort Hysterie
im Griechischen mit der Gebärmutter zu tun hat, durfte es
für die Kollegen keine männliche Hysterie geben.
So wurde der junge Privatdozent gezwungen, seine eigenen
Wege zu gehen, und das tat er mit der Sicherheit des zu-
künftigen Bahnbrechers. Als Bernheim in Nancy endlich die
zwanzig Jahre früher von Liebault genauer erforschte Hypnose
in seiner Praxis benutzte und die Macht der Suggestion
demonstrierte, ging Freud die Sache an der Quelle studieren.
Und darauf begann er eine Praxis „für Nervöse". Da ver-
nahm er durch den angesehenen Arzt Breuer von einer
merkwürdigen Kur bei einer hysterisch schwer Kranken, die
in der Hypnose von Erlebnissen erzählen konnte, die mit
dem Ursprung ihrer schweren Leiden zusammenhingen, von
denen sie aber im Wachen nichts wußte, und die dann da-
durch nach und nach von den verschiedenen Krankheits-
erscheinungen befreit wurde. Nun versuchte Freud die nämliche
Methode mit unerwartetem Erfolg bei andern Kranken und
stieß dabei in allen Fällen auf einen Zusammenhang der
Krankheit mit sexuellen Schwierigkeiten der Patienten. Da
nicht jeder Patient gleich zu hypnotisieren war, ließ Freud
die Hypnose fallen und suchte andere Wege, dem Unbewußten
nahe zu kommen. So bildete er nach und nach seine bekannte
psychanalytische Technik aus.
Erst in letzter Stunde auf die Bedeutung des Tages auf-
merksam gemacht, kann ich hier der Größe der Freudschen
Leistung unmöglich gerecht werden; ich kann nur einiges
vom Wesentlichen hervorheben, so die Herausarbeitung der
unbewußten Mechanismen, aus denen die Nervenkrank-
heiten hervorgehen und die bei vielen Geisteskranken das
äußere Bild gestalten, Mechanismen, die aber auch im Geistes-
leben des Gesunden unendlich wirksamer und zielbestimmender
sind, als man geahnt hatte. In seiner „Psychopathologie des
Alltagslebens" bringt Freud dafür eine Fülle unterhaltender Bei-
spiele, in denen er beim Gesunden die tiefer liegenden Ursachen
des Versehens, Versprechens und anderer oft so geringfügig
scheinender Abweichungen vom Gewohnten aufzeigt. Wer
18
^
das Unbewußte verwirft oder nicht versteht, ist unfähig zum
Verständnis der Neurosen, es sei denn, daß er die unbewußten
Vorgänge doch in Rechnung zieht, aber als „bewußt" be-
zeichnet, wie es Einzelnen beliebt.
Am meisten griff man Freud an wegen seiner Stellung
zur Sexualität, denn diese fand er nicht nur an der Wurzel
seiner Nervenkrankheiten, sondern er wies sie in voller
Wirksamkeit nach schon beim kleinen Kinde, dessen erotische
Einstellung bestimmend sei für die Nervenkrankheiten und
das allgemeine Verhalten des späteren Erwachsenen. Die
heiligsten Gefühle, hieß es, ziehe er in den Kot, taste sogar
die beliebte „Reinheit und Unschuld" der Kinder an. Letztere
scheint mir eine der dümmsten Vorstellungen, die es in der
Psychologie gibt. Wissen denn diese Leute nicht, wie lebendig
einst ihre sexuelle Neugierde und viele andere sexuellen
Strebungen und Gefühle sich bemerkbar machten, wenigstens
zu der Zeit, die sie in die Elementarschule gingen? Und
blieben sie weiter so blind, da sie ihre eigenen Kinder er-
zogen? Und daß man hinter den gewöhnlichen Neurosen
regelmäßig Zusammenhänge mit der Sexualität findet, ist eben
eine Tatsache, gerade so gut, wie diese bei vielen Geistes-
krankheiten das äußere Krankheitsbild gestaltet, wenn auch
meines Erachtens nicht die Ursache derselben liefert. Und
was für entartete Nichtsnutze müßten dann die Dichter sein,
die uns immer wieder den Primat der Liebe, gerade auch
der schon im Kindesalter auftauchenden, über alle andern
Triebe vor Augen stellen? Und wie dumm wären erst noch
die Leser, die diese durch Jahrtausende wiederholte Fiktion
noch immer nicht ablehnen!
Besonderes Entsetzen hat Freuds Entdeckung einer unserer
bewußten Erkenntnis bisher gänzlich fremden Tatsache erregt :
des sogenannten „Ödipus- Komplexes", d. h. einer Art bereits
sexuell gefärbter Liebe des Kleinkindes zum andersgeschlech-
tigen Elter und entsprechender eifersüchtiger Regungen dem
gleichgeschlechtigen Elter gegenüber. Wer aber Augen hat
zu sehen und Ohren zu hören, kann diese Erscheinung in
Gesundheit und Krankheit an kleinen Kindern wie Er-
*9
wachsenen beliebig oft konstatieren, ganz abgesehen von den
sehr deutlichen Fingerzeigen in unzähligen Märchen und
Sagen. Wir haben uns nur vor den Tatsachen zu beugen.
Es kann ferner bei jedem Gesunden festgestellt werden,
wie leicht gerade Vorstellungen und Strebungen sexueUer
Natur in Konflikt geraten mit andern Tendenzen, z. B. denen
der Moral und Konvention. Häufig ist es dann das sexuelle
Streben, das zurücktreten muß. Es ist aber zu tief in der
Natur verwurzelt, als daß es ganz unterdrückt werden könnte.
So wird es nur „ins Unbewußte verdrängt", und setzt sich
von da aus oft in Krankheitssymptome um, ein Vorgang, den
wir nicht nur bei den Neurosen, sondern ganz besonders
klar auch bei vielen Formen von Geisteskrankheiten sehen.
Dadurch, daß er den so wichtigen Begriff der Verdrängung
herausarbeitete, hat Freud die Psychopathologie wesentlich
bereichert.
Die „Traumdeutung" ist zu bekannt, als daß hier viele
Worte darüber zu verlieren wären. Es sei nur bemerkt, daß
sie durchaus nicht das willkürlich phantastische Gebilde ist,
als das sie auch jetzt noch oft bezeichnet wird. Viele der
„Deutungen" lassen sich objektiv ganz sicher erhärten; man
kann höchstens fragen, ob alle Traumerscheinungen bloß auf
den Freudschen Mechanismen entstehen, oder ob noch andere
Wege zu unseren Schlafvorstellungen führen, wie ich zu
glauben geneigt bin, obschon ich es nicht beweisen kann,
während gerade das Vorkommen Freudscher Mechanismen
bewiesen ist. Immerhin habe ich erlebt, daß ein Psychanalytiker
(nicht aber Freud selbst) aus meinen Träumen seine eigenen
Komplexe statt der meinigen heraus las.
Freuds Bedeutung ist für den schwer zu ermessen der
es nicht vor Freud versucht hat, Psychologie, d. h. Wissen-
schaft von der ganzen Psyche zu treiben. Die 'Unmöglichkeit,
in die Tiefe der Seele zu dringen, war so groß, daß die
Meisten gar nicht bemerkten, wie unter der Oberfläche, die
sie studierten, erst die wichtigsten Triebkräfte verborgen lagen.
Die Erforschung des Unbewußten in seiner ganzen Bedeutung,
der Begriff der Verdrängung mit allen ihren Folgen in Gesundheit
20
und Krankheit, die Art des Denkens im Unbewußten und
im Traum mit seiner Symbolik, seiner Ersetzung logischer
Konsequenzen durch affektive Bedürfnisse, die Herausstellung
des elementaren "Wirkens der Sexualität auf die übrige Psyche :
all das sind Errungenschaften, welche die wissenschaftliche
Psychologie, soweit sie nicht psychologische Physiologie ist,
auf neue Grundlagen stellen. Wir verstehen nun auf einmal
eine Menge vorher dunkler Reaktionen des Gesunden in ihrem
Wechsel, wie in ihrem Beharren, in ihren scheinbaren Wider-
sprüchen, ihren kleinen und großen Verfehlungen; wir haben
einen tiefen Einblick in die Entstehung der Nervenkrankheiten,
in die Symptome der Geisteskrankheiten gewonnen, können
auf beiden Gebieten viel leichter heilend und bessernd ein-
greifen; auch die Pädagogik fängt an, psychanalytische Er-
kenntnisse in der Erziehung zu verwerten; auf einmal ver-
stehen wir ganz große Abschnitte der Mythologien, der Denkart
früherer Zeiten, des Aberglaubens und noch vieles andere.
Freud hat in sein Lehrgebäude eine Menge geistreicher
Konstruktionen eingeführt, die hier nicht erwähnt werden
können und mir auch nicht so wichtig erscheinen. Der
Meister selber aber legt auf alles Gewicht, ja er betrachtet
auch solche Einzelheiten als notwendige Bestandteile im Funda-
ment seines Gebäudes, und er kann diejenigen, die ihm, wie
ich, nicht überall hin folgen, gar nicht als seine Schüler
ansehen. So drückt sich das Künstlerische seiner Anlage nicht
bloß darin aus, daß eben die Psychanalyse eine wirkliche
Kunst ist, sondern auch darin, daß er den Wert seines Werkes
gefährdet sieht, wenn auch nur ein Steinchen davon heraus-
genommen wird, gerade wie einem Maler ein für uns un-
bedeutender Pinselstrich für den Gesamteindruck unerläßlich
erscheint. Aus all dem Angeführten, das ja nur das leichtest
Faßbare in Freuds Schöpfungen herausgriff, sollte doch sichtbar
werden, daß auch ich ihm so gut wie alle andern, denen
die Kenntnis des Menschen und seiner Seele am Herzen
Hegt, den höchsten Dank schulde.
Vor einem Vierteljahrhundert stand der Forscher noch
allein der ganzen gebildeten Welt gegenüber, und auch jetzt
21
noch gibt es Leute, die ihn bekämpfen, herabsetzen und
verhöhnen. Ihre Zahl wird aber von Jahr zu Jahr kleiner,
und nicht nur die schöne Literatur hat Freuds Ideen auf-
gegriffen, ihrem Einfluß kann sich kein Gebildeter mehr
entziehen. In jener Wissenschaft zumal, deren Literatur ich
überschaue, der Psychiatrie und Neurologie, macht sich sein
Wirken auf Schritt und Tritt bemerkbar. Es ist geradezu
amüsant zu sehen, wie auch jene, die immer noch sich den
Anschein geben, von Freud nichts wissen zu wollen, dennoch,
offenbar ohne sich dessen bewußt zu sein, auf seine Gedanken
bauen. Immer wieder müssen die Werke Freuds, auch die,
welche nach seinem eigenen Urteil überholt sind, neu auf-
gelegt werden. Ein Teil von ihnen ist in sieben Sprachen
übersetzt. Als ein besonders deutliches Zeichen der Festigkeit
des Freudschen Gebäudes betrachte ich es, daß ihm nicht
einmal die Scharen seiner Nachbeter etwas anzuhaben ver-
mochten, der allzuvielen, die kritiklos seine Worte nachsprechen,
aber gar nicht fähig sind, die Größe des Ganzen zu über-
sehen, und deren Eifer nur dazu dient, die Freudschen Ideen
ins Absurde zu führen — wenn das eben möglich wäre.
Eine Zeit wird kommen, da man von einer Psychologie
vor Freud und einer solchen nach Freud wird sprechen müssen.
Das Wort „Seele", abgeleitet von „See", erinnert uns immer
noch an das Spiel auf- und abgehenden Wassers. Vor Freud
segelten die Schiffe der Psychologen fröhlich darüber hinweg;
er aber, der „Tief seelforscher" tauchte hinab und begehrte
zu schauen, was sich da unten verhehle, dem Grauen trotzend,
womit es bisher zugedeckt worden war.
E. Bleuler
II
Der Mann, dessen festlichen Tag wir heute ehrfürchtig
begehen, er ist einer der seltenen unserer unzulänglichen Zeit,
dem die Gnade des schöpferischen Gedankens gegeben war.
Gedanken sind überall, doch fast immer ohne Fruchtbarkeit:
eine große Stadt, ein Land, schüttet es nicht millionenfach
in jeder Stunde Ideen, Meinungen, Ansichten wahllos aus
22
IT
seinen labyrinthisch gedrängten Gehirnen, die Bücher, die
Broschüren, reden sie nicht Myriaden Worte allstündlich zu
uns? Aber alles dies schwemmt die nächste Stunde, die
Sekunde meist schon, in die Gosse der Vergessenheit. Zwischen
diesen unzählbaren Atomen jedoch, diesen totgeborenen Worten
und Meinungen entstehen manchmal — selten freilich, so
selten wie das Geniale auf Erden erscheint — in einer ein-
zelnen geistigen Gehirnzelle ein paar Gedanken, die dauerhaft
sind, und durch diese Dauer keimkräftig geistige Gebilde, an
die sich andere unselbständigere Ideen anranken, wie Efeu
an den tiefgeschichteten Stamm, Ideen, die selbst wieder
Ideen zeugen, Ahnherren neuer, geistiger Geschlechter, die
hinausreichen über unseren eigenen Atemzug. Solche Ideen
und nur solche verändern heimlich (erst die nächste wird
es dankbar gewahr) die Mentalität einer Epoche, sie geben
ihr Stempel und Zeugnis aufsteigender Verwandlung. Und
dieser Stempel ist allemal in eines Einzigen oder in der
Wenigen Hand.
Solche schöpferische, keimwirkende Gedanken entgehen
dem Falsch und dem Richtig, die Diskussion kann sie nicht
erreichen, denn das Schöpferische ist immerdar richtig. Sie
wirken ebenso, indem sie Begeisterung, wie dadurch, daD
sie Widerspruch erzeugen. Sie hemmen den Stillstand des
Denkens, sie durchbrechen den erstickenden Kreis, in den
sonst jede Generation unweigerlich geriete, indem sie über
sich selbst hinausdeuten, Tangente zur Unendlichkeit. Nur
wer geistige Bewegung schafft, dient im Letzten der Mission
der Menschheit; weithin über Wahrheit und Irrtum, diesen
unsicheren, nie völlig faßbaren Phantomen, dient er ihrem
höchsten Sinn.
So sind auch die Gedanken, die kühnen und oftmals
genialen Deutungen, mit denen Sigmund Freud unsere Gegen-
wart beschenkt und herausgefordert hat, als Tat nicht mehr
^ bestreiten und zu widerlegen. Sie sind lebendig und
haben Leben gezeugt. Weit über Deutschland, über Europa,
über unseren Kontinent hinaus gibt es kein psychologisches
Denken mehr ohne oder gegen sie. Sie sind wie Bazillen
23
eingedrungen in alle Organismen der geistigen Welt: all-
überall, in Dichtung, in Philosophie, in der Ethik, ja selbst
in der Form gewöhnlichen Umganges und der Beziehung
der Geschlechter ist ihre Spur deutlich zu erkennen. Der
Sprache haben sie Jonen zeugenden Trieb eingesenkt, Worte,
wie „Hemmungen", „Verdrängungen", „Vorlust", von ihm
aus dem selbstgehobenen Metall der Begriffe herausgehämmert,
gehen heute lässig und selbstverständlich, ihres Schöpfers längst
unkund, von Mund zu Mund. Seine Analysen haben nicht
seine Wissenschaft, die Medizin, allein, sondern ebenso die
nachbarlichen, Psychologie, Pädagogik, Philosophie, also alle
Materien des Geistes, mächtig beeinflußt, Seelenkunde darum
im eigentlichsten Sinn, aber weit darüber hinaus haben sie
auch die Methoden der Forschung und Erziehung geheimnis-
voll mitverwandelt. Und sogar die ihn befeinden, stehen ihm
gegenüber auf einem von ihm selbst gerodeten Terrain, in
einem Reiche, das seine heroische Energie erst urbar und
geistig wohnbar gemacht; sie werden darum seinen Namen
tragen, diese Kämpfe, und nicht die seiner Gegner im Ge-
dächtnis der Menschheit. Nur der neue Gedanke, nicht seine
Widerlegung geht über die Zeit.
Diese neuartigen Ideen, die Sigmund Freud zu Begriffen
gestaltet, waren keine Zufallseinfälle, nicht plötzlich auf-
geblitzte Erhellungen ohne ursächliche Gebundenheit: organisch,
kristallinisch sind sie aneinander-, auseinandergewachsen und
bilden heute, kausal und logisch geordnet, eine eigene Lehre
eine Methode, ja eine Wissenschaft für sich, deren Wachs-
tum noch lange nicht erschöpft ist. In ihrem Zentrum steht
die beherrschende Erkenntnis des Unbewußten als einer tätigen
Kraft — der Königsgedanke Freuds, unverlierbar nun für
alle Psychologie. Vor ihm hatte sich die Seelenkunde auf
das Faßbare, das Sichtbare, das bewußt oder vom Experiment
(Hypnose) hevorgelockte Sinnenfällige beschränkt, den nicht
greifbaren Rückstand aber einfach schwarz, dunkel, rätselhaft
gelassen — das Nichts, das Unbekannte, Unerkennbare, die
Terra incognita der alten Landkarten. Was im Bewußtsein
nicht deutlich war, galt ihr einfach als nicht vorhanden. Freud
24
nun hat die wirkende Gegenwart der unbewußten Seelen-
kräfte auf unser Handeln und Denken zum erstenmal postuliert:
in uns wogen und drängen Begierden und Verlangen, Ideen
und Süchte, die wir aus sozialen, aus konventionellen Gründen
nicht ins wache Bewußtsein lassen wollen, die wir vorsichtig
abdrängen oder gewaltsam abreagieren. Aber mit diesem
Wegstoßen haben wir sie nicht abgetan, nicht erledigt, sie
drängt diese triebhafte, zügellose, diese dionysische Rotte
immer gegen unser zivilisiertes Dasein vor. Unfaßbar ver-
wandelt sie sich heimtückisch in fremde Formen, spielt von
hinterrücks vorgreifend verantwortungsloses Spiel, sie drückt
mit ihren gespenstischen Schatten auf unsere selbst uns über-
raschenden Entschließungen und ihre Enthüllung erst klärt
auf über unsere eigentlichste Wesenheit. Diese Enträtselung
hat Freud zunächst durch die Traumdeutung angestrebt —
der Traum, die „via regia' zum Unbewußten unterliegt nicht
dermaßen der sittlichen Zensur, er schwätzt verräterisch aus,
was die Lippen verbeißen, was selbst die Gedanken ver-
schreckt nicht zu denken wagen. Andere Deutsamkeiten geben
das Versprechen und Verschreiben, das durchaus nicht zu-
fällige, sondern wo plötzlich wie ein Blitz durch das Gewölk
der Triebwille die vorgeschobenen Worte durchstößt. Oder
die Urerlebnisse der Kindheit, ganz überwachsen von den
Jahren, rühren sich manchmal wie vulkanischer Grund; wer
sich erinnert, weiß sein eigenstes Sein — auf hundert Wegen
drängt die Freudsche Methode (ich wähle nur ein paar Bei-
spiele) durch Deutung des Verhüllten und Symbolischen an
das Unbewußte heran, scheinbar um es zu entgeheimnissen,
in Wahrheit aber, um unser Seelenleben erst in seiner ganzen
dämonischen Mystik uns zu offenbaren. Denn nun erst fühlen
wir, daß all das, was wir Kultur, Erziehung, Zivilisation
nennen und mit dem wir eins zu sein meinen, nur so dünn
um uns hängt wie unsere Kleider um unsere Nacktheit, daß
hinter diesem wachen bewußten Wollen aber ein tiefgewaltigeres
Wollen unseres Ur-Ichs, unseres instinkthaften wahrsten Wesens
waltet, vulkanisch manchmal ausbrechend in den kritischen
Entscheidungen unseres Lebens. Eben dadurch, daß Freu
25
den oberen Rand unseres seelischen Abgrundes erhellte, hat
er uns seine ganze Tiefe erst ahnen lassen, und der als
Mediziner ausging, die Gebreste der Seele zu heilen, die
Mechanik der Triebe zu zerlegen, er hat, ohne es zu wollen
eigentlich, als wahrer Mystagog die ungeheure schicksalshafte
Gebundenheit unseres Ichs an alle Mächte des Blutes und
des Schisksals gezeigt.
Wie neu diese uns heute selbstverständliche Erkenntnis
vom tätigen Unterbewußtsein, wie scharf dieser Scheidestrich
gegen alles Vergangene der Seelenkunde war, wir können
(ich sagte es schon) kaum mehr ausmessen, denn zuviel
dieser Lehre ist schon als selbstverständlich in die Adern
unserer Zeit eingeflossen. Aber man versuche doch einmal,
ein Lehrbuch der Psychologie von damals, ein zwanzig Jahre
altes, eines vor Freuds Entdeckungen, zu lesen — es wirkt
so lächerlich veraltet wie ein Physikbuch vor der Kenntnis der
Elektrizität. Und das beste Zeugnis, der tragischerweise noch
immer gültigste Beweis für die Neuheit eines Gedankens
ist ja der Widerstand, dem er zunächst in seiner Epoche
begegnet. Alle Mächte hat Freud mit seinen Lehren geg en
sich herausgefordert — die Medizin, indem er die Seelen-
heilung nicht auf das klinische Diplom beschränkte und in
die geheiligte Wissenschaft so dubiose Elemente wie den
Traum gleichsam aus dem Altweiberhaus brachte — die
Pädagogik, indem er kühn die Sexualität, die unbewußte
bis in das früheste Kindesalter zurückschob — die Künstler
indem er logisch unbarmherzig in ihre Sphäre griff
die Gesellschaft, indem er zeigte, daß selbst im gehüteten
Schoß der kultivierten Großstadtfamffie die Instinkte, die
blutmächtigen der Urmenschen, immer wieder hervor-
brechen aus der sorgsam ummauerten Hürde — die ganze
Sittlichkeit, indem er mit einer noch nie dagewesenen Freiheit
die Urmacht der Triebe bloßstellte. Zwanzig, dreißig Jahre
lang hat man diesen großen Mann (und am meisten in seiner
Heimat) verlacht, verhöhnt, verspottet, ja noch heute erkennt
die Universität seine Wissenschaft nicht an, noch heute ist
der Psychoanalyse ein Lehrstuhl, selbst eine Dozentur ver-
26
weigert. Tempora non mutantur, die Zeiten ändern sich
nicht und die Schulmeister sich nicht mit ihnen. So wie
vor fünfzig Jahren die Fachmännischen Schopenhauer, so wie
sie vor fünfundzwanzig Jahren Nietzsche nicht als Philosophen
anzuerkennen beliebten, so bestreiten sie jetzt auch diesem
Neuerer das Recht auf „Wissenschaftlichkeit". Noch heute
hat die Fakultät Sigmund Freud, dem weltberühmtesten Mann
der Stadt und des Reiches, nicht einmal den Rang des ordent-
lichen Professors bewilligt. Nun: habeant! Denn sie merken
ja nicht, welch einen fatalen Nebensinn an ihm der Titel
des „außerordentlichen" Professors gewonnen hat: denn wahr-
haft, neben all den ordentlichen, den fachtüchtigen und braven,
ehrt ihn die Menschheit als den einzig Außerordentlichen
den wahren Rektor des Geistes, als den Genius.
Nichts aber konnte diesen starken Geist, diesen unbeug-
samen, bis zur Orthodoxie fanatischen Forscher jemals von
dem selbstgebahnten Wege abdrängen. Gleichgültig gegen die
Gleichgültigkeit, ehern gegen das Unverständnis der Zeit,
hat er, Zug um Zug langsam fortschreitend, das Gebäude
der Gedanken aus sich erhoben, in kleinem Kreise sokratisch
wirkend und mitleidlos, ein anderer Robespierre, diesen selbst-
gewählten Konvent mit unbeugsamer Autorität beherrscht.
Dreißig, ja vierzig Jahre übt und vertieft Sigmund Freud seine
Methode und hätte er die tausend und aber tausend Beichten
der ihm anvertrauten Seelen in der Schrift festgehalten, es
gäbe kein Buch der Weltliteratur, das ihm dokumentarisch
gleichkäme. Nie ermüdend, neben seiner Wissenschaft in groß-
artiger Neugier alle Manifestationen des Geistes, der Kunst
und der Kunstgeschichte verfolgend, um in allen Beispiel
und Beziehung zu seinen Ideen zu finden, herrlich vielfältig
bei geradester Stoßkraft seiner zu Leben gewordenen Idee,
bietet er noch einmal unserer verarmten und verspielten
Zeit das Beispiel heroischer Aufopferung an die Idee und
der Hingabe des Lebens an die selbstgeschaffene Lehre —
verehrungswürdige Erscheinung für alle, die dem Geistigen
verschworen sind, höchster Ruhm dieser Stadt, dieses Landes
und der neuzeitlichen Wissenschaft. Denn nur an solchen Ge-
27
stalten gewinnt die Forschung wieder ihren majestätischen Sinn:
daß der Geist, was er dem Lebendigen entrungen, zurückgibt
an das lebendige Leben und der Gedanke, der einsam gc
staltete, Eigentum und Erbe werde eines ganzen Geschlechtes.
Salzburg, 4. Mai 1926. Stefan Zweig
III
In einem alten indischen Buch wird erzählt, wie ein
Königssohn zu einer unglückverheißenden Stunde geboren
wird und deshalb verstoßen und von Waldbewohnern auf-
gezogen wird. Er wächst heran in dem Wahn, Waldmensch
zu sein. Bis ihn eines Tages Minister des Königs, der ge-
storben ist, aufsuchen und über seine Herkunft belehren. In
diesem Augenblick hört die Wahnvorstellung auf, und er
weiß, daß er ein König ist.
In solchem Wald hatten jahrzehntelang, bis in unser Jahr-
hundert hinein, die Gedanken der europäischen Menschen
gehaust. Und ein Minister 7 der verkündete, daß der König
gestorben sei, heißt Freud.
Die Macht, die die Gedanken der Menschen solange ein-
seitig führte und auch drückte, waren der Naturalismus und
der Materialismus. Das war eine kraftvolle Bewegung, man
wird ihren Kern nicht verleumden. Es war mehr als eine
vorübergehende Bewegung. Sie ist jetzt zurückgedrängt, und
ihre Exzesse sind überwunden, aber sie wird wieder auf-
tauchen und ihre Fruchtbarkeit zeigen. Da war der Kopf
von Heimholte, ein Entdecker und Fortführer. Da war die
skeptische Klarheit und unerbittliche Nüchternheit von Rudolf
Virchow, da konzipierte Ehrlich seine mächtigen Ideen.
Wirklich Ungeheures hat die Naturwissenschaft dieser Periode
unter solcher geistigen Führung geleistet, und die Technik,
die jetzt die Wirtschaft beherrscht, fußt auf den Ergebnissen
und Leistungen dieser Periode. Es ist kein Grund, diese
Zeit zu verleumden.
Aber es gibt Dinge, an die diese Epoche nicht herankam.
Da gibt es in der Welt etwas, es ist kurios zu sagen, was
28
sich nicht wägen lassen will, nicht messen lassen will, dem
Seziermesser und dem Mikroskop entgleitet und doch die
fabelhaftesten Wirkungen übt. Die ganze Weltgeschichte ist
eine Leistung dieses nicht wägbaren, nicht meßbaren, unsicht-
baren und schlüpfrigen Dinges. Es ist eigentümlich und
geradezu herausfordernd, daß gerade die Sachen, auf die der
Mensch am stolzesten ist, die ihn charakterisieren, Leistungen
dieses unwägbaren, unmeßbaren Dinges sind. Es ist die
Seele.
Da hatte eine freche Behauptung gelautet: Man kann die
schärfsten astronomischen Fernrohre in den Raum richten,
und man wird keinen Gott entdecken. Und eine andere:
Man kann die Großhirnrinde und alle menschlichen Organe
mikroskopieren; man wird nur Zellen und Fasern entdecken.
Es war eine Lücke in diesem Denken. Welches Instrument
sollte man gebrauchen in dieser instrumentwütigen Zeit?
Keins. Nur den einfachen ruhigen und undogmatischen Blick.
Freud wuchs in der älteren Periode auf. Er trieb Gehirn-
anatomie, bediente sich des Mikroskops. Er war Neurologe
wie viele andere. Versuchte sich zu komplettieren, in Paris
und Nancy. Da lehrten Charcot und Bernheim. Was nun
dieser Charcot war, hat Freud selbst geschildert: ein voller
Mensch, kein Grübler, durchaus kein Denker, aber ein Seher.
Charcot sah, das war sein Instrument, und gegen die deutschen
Theoretiker hatte er unablässig die Rechte des Sehens zu
verteidigen. Sie vertraten die Young-Helmholtzsche Theorie;
er sagte: „Die Theorie ist gut, aber das hindert doch nicht,
zu existieren."
Und was nun Freud hier auf einem kleinen Spezialterrain
lernte, wurde entscheidend. Er gewöhnte sich zunächst ab,
über die Hysterie zu lachen. Ich möchte feststellen, es geht
die Fabel: In der Charite stand an einer großen Klinik
vor zwanzig Jahren bei gewissen Fällen das geheimnisvolle
Zeichen T. M. an der Tafel. T. M. hieß „total meschugge
und bezeichnete - den Hysterischen. Die Objektivität und
Echtheit der hysterischen Erscheinungen stand in Paris lest,
und allgemein, das war etwas Großartiges und weit Aus-
29
greifendes, stand fest: die Bedeutung seelischer Vorgänge auf
die Bildung, die Erzeugung hysterischer Symptome. Wenn
da noch irgend etwas unklar war, so mußte die Hypnose,
die man hei Charcot übte, allen Zweifel beheben: grobe
körperliche Erscheinungen, wie Lähmungen, ließen sich da
als Erfolge von Vorstellungen nachweisen.
Jetzt saß der Wurm in Freud. Er war in die große
Lücke der Zeit getreten. Er hat dann nicht mehr nach dem
Mikroskop gegriffen. Vielleicht hätte ein anderer nun philo-
sophiert und über die Zusammenhänge von Leib und Seele
gegrübelt. Bekanntlich hängen in diesem Stacheldraht schon
viele Denkerleichen. Es hätte sich dann nichts ergeben, und
daß da vieles dunkel ist, wissen wir auch nach Freud. Er
ist aber wie ein wackerer Mediziner seinen Weg fürbaß
gezogen. Er war damals, nach Wien zurückgekehrt, noch
kleiner Privatdozent. Später ist er Professor geworden, aber
Professor nicht der Philosophie oder Theologie, sondern
Professor der Medizin. Er hat es verdient.
Er hat es darum verdient, weil er Tausenden Kranken
zu ihrem Recht verhalf, als Kranke zu gelten. Es gab viele
genau beschriebene Krankheiten mit sogenanntem Organbefund.
Und wer das Glück hat, solche Krankheit zu besitzen, wurde
ernsthaft behandelt. Nichts hebt einen Kranken mehr in der
Achtung des Arztes, als wenn er einen gut greifbaren Ge-
schwulstknoten vorzeigt. Was tut man aber ohne Geschwulst-
knoten? Etwa bloß mit Kopfschmerzen? Oder wenn einer
weinen muß und er gesteht selbst, er hat gar keinen Grund
zu weinen, es geht ihm eigentlich ganz gut, auch zu Hause
tut ihm keiner was. Da blieb nichts weiter übrig, ich meine
früher, als ihm die Diagnose T. M. zu geben, ein Wort von
erblicher Belastung zu murmeln, ihn mit Bromkali auf einem
Zettel zu verjagen und sich im Geheimen zu denken: es ist
doch eigentlich ein starkes Stück, womit einen die Leute
belästigen; das sollte er eigentlich seiner Schwiegermutter
erzählen, nicht mir. Aber die Kranken sind weiter unablässig
zu den Ärzten gelaufen. Und schließlich haben die Ärzte
nachgegeben: Sie haben die Augen aufgemacht.
5°
Es muß festgestellt werden, daß Freud nicht Schüler
Charcots blieb. Charcot zimmerte sein abgeschlossenes Hysterie-
gebäude nach gutem alten Muster und dabei blieb er stehen.
Freud sah Fragen, sah Neuland, wuchs weg von Charcot
und stand in dem Moment auf seinem Boden, wo er mit
Breuer zusammen die Beobachtung machte: der Hysterische
leidet größtenteils an Erinnerungen. Das war eine saubere
und einfache psychologische Beobachtung. Jeder Menschen-
kenner hätte sie machen können. Aber die Menschenkenner
kamen nicht an die Hysterie heran, und die Ärzte waren
zu vornehm, um Menschenkenner zu sein. Denn es paßt
sich nicht für einen Mediziner, zu erkennen, ohne vorher
ein paar Karnickel zu schlachten. Das sind gewissermaßen
Opfer für den Gott der Erkenntnis. Aber der Gott hört nicht
immer. Es konnte nach dem Auftauchen Freuds ein großes
Aufatmen unter den Meerschweinchen und Karnickeln be-
ginnen. Ich habe gehört: es sind Deputationen dieser Tier-
geschlechter nach Wien gegangen, zu Freuds Geburtstag, um
ihrem großen Retter zu danken.
Der Hysterische leidet an Erinnerungen: damit geht es
mit voller Fahrt ins Psychische hinein. Was gab es denn
vorher für eine Psychologie, gab es keine? Oh, reichlich.
Schon lange vor Freud gab es sogar Lehrstühle für Psycho-
logie; ich glaube aber, er würde sich noch heute vergeb-
lich um solchen Lehrstuhl bewerben. Die Psychologie da
und seine würden sich nicht erkennen und voreinander er-
schrecken. Es werden da richtige und wichtige Dinge ab-
gehandelt, aber es ist im ganzen nur wenig und nicht das
Wesentliche von der Seele, was diese psychologischen Kollegs
beschäftigt.
Die menschliche Seele war schon vor Jahrhunderten, da
sie von den Psychologen und den Ärzten verstoßen war,
auf eine große Wanderschaft gegangen. Sie war zu den
Dichtern geflohen und auch zu den Pfarrern. Die waren
recht lieblich mit ihr umgegangen. Der Pfarrer hatte sie an
das Gebetbuch geführt. Der Dichter reichte ihr den Arm und
ging mit ihr im Grünen spazieren. Freud ließ sie in sein Sprech-
31
zimmer eintreten, machte die Tür hinter ihr zu und sagte:
„Legen Sie ab, gnädige Frau. Ja, bitte: ziehen Sie sich aus."
Ich möchte bemerken, daß die Seele bis zum heutigen Tag
über diesen Anruf erschrocken an der Tür stehengeblieben
ist und noch nicht mehr als den Hut abgelegt hat.
Von 1892 bis jetzt 1926, also vierunddreißig Jahre hat
Freud sich um die Seele bemüht, praktiziert und gelehrt. Es
hat sich um ihn ein wachsend großer Kreis von Schülern ge-
bildet. Das Ganze ist eine Seefahrt: sie fahren auf dem Meer
der menschlichen Seele; sie loten, prüfen Wind und Wellen
Eigenart des Wassers in seinen Tiefen. Das Meer ist groß,
größer als irgendein Ozean, und ich möchte nicht verhehlen,'
daß ich manchmal den Eindruck habe, nicht alle Schüler
wissen, welch beispiellos riesengroßes Wesen sie da befahren.
Es kommen sich manche schon sehr wissend vor. Man wird
leicht übermütig, wenn man dauernd ein und dieselbe Route
befährt. Von Freud selbst liegen zehn starke Bände vor die
noch nicht alles umfassen. Das ist eine vorläufige Rekognos-
zierung des neu betretenen Terrains, jener Lücke von der
ich sprach. Was er da vorträgt, ist für die Medizin etwas
ganz Ungewöhnliches; man hat sich aber jetzt schon daran
gewohnt. Seine Krankengeschichten, wie sehen sie aus? Er
sagt selbst: „Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen,
sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektrodiagnostik er-
zogen worden, und es berührt mich selbst eigentümlich daß
die Krankengeschichten, die ich schreibe, w\e tu zu
SSL * für dies Ergebnis die N > ; * ?Ä3
offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vor-
liebe. Lokaldiagnostik und elektrische Reaktion kommen bei
dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während
eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie
man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet,
doch eine Art von Einsicht in den Hergang des Leidens zu
gewinnen. Solche Krankengeschichten haben vor psychiatrischen
eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidens-
32
geschichte und Krankheitssymptom, nach welchen wir m den
Biographien der Psychosen noch vergebens suchen. Man
beachte den einfachen klaren Stil, es ist gar kein Stil; er
sagt ungekünstelt und phrasenlos, was er meint; so spricht
einer, der etwas weiß.
Freud in das Seelengebiet einrückend, stellte zunächst das
Allergröbste fest, und das war, daß es etwas Unbewußtes
gibt. Es ist ihm eigentümlich gegangen: links hat er an die
Dichter gestoßen, rechts die Philosophen verärgert, vorne den
Ärzten auf die Hacken getreten. Es waren gar kerne Worte da
für das, was Freud meinte und was er auch sah im Seelischen.
Sagen mußte er es. Woher nehmen und nicht stehlen? Da
stahl er. Von den Philosophen das Unbewußte. Die meinten
damit Mancherlei, Unsicheres, worüber sie disputierten treud
meinte nur einen ganz gewöhnlichen seelischen Tatbestand,
der täglich vor seine Augen trat. Die nähere Bestimmung
und Aufklärung des beobachteten Tatbestandes, sagte er, wird
sich schon beim Arbeiten mit dem Begriff ergeben. Das ist
so: erst nimmt man einem das Geld und gebraucht es; nach-
her wird sich schon herausstellendem es gehört. Aber die
Methode hat sich bewährt, ich meine in der Wissenschalt.
Es lichtete sich vieles von den Zwangsneurosen, Angst-
neurosen, paranoischen Zuständen. Es wurde vor allem deut-
lich, daß unterirdisch in uns eine Art Gedächtnis verlauft,
ein aktives Gedächtnis, das uns mit Instinkten belädt und
bis auf Urväterzeiten zurückgeht. Er findet: Ebenso wenig
wie der Körper von heute auf morgen gemacht ist, von jeder
Mutter selbständig neu geboren wird, sondern eine ungeheure
Tiergeschichte hinter ihm steht, so wird die Seele nicht in
jedem Fall neu aufgebaut. Die Seele hat ebenso eine ungeheure
Vergangenheit, sie hat ja schließlich diesen Körper beseelt,
undV in die Tierzeit hinein senkt sie ihre Wurzeln So
hat Freud ein Stück Historie der Seele bloßgelegt. Er ist
ins Traumreich vorgestoßen, hat da ^«^ t ^\ a ^£
Denken erkannt, das Denken in Symbolen, die H^g*»
Verdichtungen, die Zeitverschiebungem Freud als Histoi^ker
der Seele: hier vornehmlich hat er Dinge geleistet, - man
33
kann im einzelnen sagen, was man will, — die sich sehen
lassen können und die sich im Kern mit jeder Sicherheit
behaupten werden. Er hat da bei seinen Kranken, nur sich
der Augen und des ruhigen Nachdenkens bedienend, die
wunderbare Entdeckung gemacht, die später von anderer Seite
her gestützt wurde, von der Übereinstimmung zwischen dem
Seelenleben wilder Völker und mancher Neurotiker. Hier ist
überall von ihm der erste Spatenstoß getan; kleine Schür-
fungen, ja schneidige Kavallerieritte in dies Gebiet hinein
haben schon andere getan; der Name Nietzsches, des Genea-
logen der Moral, ist nicht zu vergessen.
Zuletzt ist Freud auf seine Weise auf Exkursionen gegangen,
ins Biologische hinein. Denn nun steht die Sache schon so,
daß nicht mehr wie vor dreißig Jahren die Anatomie und
Physiologie Seelenvorgänge „erklärt", sondern daß biologische
Daten, Lebensbewegungen elementarer Art begreifbar werden
durch Daten, die man aus unserem eigenen Seelenleben
her ausgeholt.
All diese Erkenntnisse hat Freud ständig aus der Praxis,
aus der Beobachtung lebender Menschen geschöpft. Er hat
die Erkenntnis ständig zurück in die Praxis fließen lassen.
Das ist die psychoanalytische Behandlung Freuds Es ist eine
ganz originelle Methode. Es soll da der Mensch, also der
Kranke, aus dem Nigger und Kannibalen in eine zivilisierte
Person umgewandelt werden. Man wird n u \ , , j „
eine ganz besondere Aufgabe ist und dlßl ^ h *\^ «
IT.,/. . , xigouc isi, und daü dazu ganz besondere
Hilfsmittel notwendig sind. Mit Beichte ist es nicht getan.
MeT,h \ T ^ 3Upt ^ Kannitale nicht zivilisierter
Mensch. Schwere Widerstände sind zu brechen; es kommt
zu starken Erschütterungen des Seelenlebens. Dabei wird nicht
hypnotisiert, nicht grob suggeriert, sondern nur geführt, auf-
gedeckt und unermüdlich gedrängt. Ich bin, nebenbei bemerkt,
der Meinung, daß es einer besonderen Analyse bedürfte, um
festzustellen, was eigentlich diese ausgeübte Analyse ist. Aber
dati sie, in dieser oder jener Form, orthodox oder liberal
geübt, starke und fördernde Wirkung hat in einem bestimmten
K.reis von Fällen, ist sicher.
34
Wie anders übrigens ist diese Methode als die der früheren
oder der übrigen Ärzte. Früher hatte ein Patient Husten,
das war aber gar kein Husten, das war eine Bronchitis acuta
oder chronica, oder gar ein Emphysem, und damit war der
Husten der Kenntnis des Mannes entzogen. Er war ihm
gewissermaßen geraubt. Der Mann war um seinen Husten
gekommen. Und dann die Zauberformeln der Rezepte und
die Untersuchungen: das sind ja beinah hierarchische und
liturgische Prozeduren. Ein Rezept, selbst wenn nur Brusttee
in lateinischer Sprache darauf steht, hat etwas Geheimnisvolles
und aristokratisch Abweisendes an sich. Das Vertrauen, das
der Patient dem Arzt schenken soll, kann nur Vertrauen in
die geheimnisvolle Macht des Arztes und der Wissenschaft hinter
dem Arzte sein. Also es Hegt eine Art Unterwerfung und
magischer Gläubigkeit vor. Bei jeder Seelenarbeit aber von
Arzt und Patient heißt es, mit offenen Karten spielen. Man
spricht deutsch, nicht einseitig lateinisch, und in jedem Sinne
hat man deutsch miteinander zu sprechen. Das ist etwas
Demokratisches. Ich finde, das hat etwas Wohltuendes, und
schon diese Art des Umgangs von Arzt und Patient ist be-
freiend und ein Gewinn.
Wie soll ich nun zum Schluß Freud loben. Er hat große
Anfeindungen Zeit seines Lebens erfahren, manche seiner
Schüler haben aus seinen Lehren eine Art Konfession gemacht,
er selbst aber hat sich durch kein Dogma binden lassen und
weiß, daß die geistigen Dinge im Fluß bleiben müssen.
Freud ist, wie man sagte, ein großer Beieber, Beweger, Her-
aufführer der neuen Zeit. Ich nannte ihn den Minister, der
dem Waldmenschen anzeigte, daß er ein Konig sei. J^r De
seitigte den Irrtum; der Waldmensch mußte aber schon seUrt
König sein. Es gibt, recht gesehen, überhaupt kerne Beieber
und Beweger. DaT Leben und was wahrhaft lebendig i t, ist
immer massenhaft da und bedarf nur eines Hervorrufes .So
sind alle guten und wahrhaft wichtigen Dinge : sie sind massen
haft verbreitet, das Neue muß immer in dieser We^
bereitet sein, einen Boden finden, sonst nutzt - es ist trafen
aber nicht zu bestreiten, - sonst nützt der genialste Gedanke
3*
35
nichts und das stärkste Führertalent zerbricht. Da hat Freud
ein großes Glück gehabt. Vor ihm und Zeit seines Lebens
um ihn herum sind ähnliche Gedanken gewachsen, sind
Bewegungen aufgetaucht, die man mit ihm in Zusammenhang
gebracht hat. Es sind Triebe aus derselben Wurzel. Er
war einer der frühsten und kräftigsten Triebe. Man wider-
strebe dieser Auffassung nicht. Man sehe sich die be-
rühmtesten Namen an, etwa Napoleon, oder von heute Lenin.
So gewaltig die Männer waren, so weit sie durchschlagend
wirkten, sind sie nur mächtige Anfacher gewesen. Erfüller
ihrer Zeit.
Es ist da der Unterschied zwischen dem Blasebalg und
dem Feuer. Das Feuer muß brennen, damit der Blasebalg
wirkt. Große Männer sind die, die ein wirkliches echtes
Feuer zu einem weiten und allgemeinen anfachen. Solch
.Blasebalg ist Freud.
Ich will da eine Meinung besonders erwähnen, die mir
am Plerzen liegt, die Meinung: Freud habe die Dichtung
beeinflußt oder werde sie beeinflussen. Man hat gesagt:
die Freudsche Tiefenpsychologie wird eine Tiefendichtung
zur Folge haben. Ein kompletter Unsinn. Noch immer
hat Dostojewski vor Freud gelebt, haben Ibsen und Strind-
berg vor Freud geschrieben. Und wir wissen ja, Freud
hat selbst an ihnen gelernt und an ihnen demonstriert. Die
Unterschiede sind nicht: Tiefendichter und Flächendichter,
sondern: gute Dichter und schlechte Dichter. Die guten haben
ihre Intuition, die macht alle Anleihen überflüssig: und den
schlechten ist so und so nicht zu helfen.
Wie aber sogar die Grundwahrheit Freuds selbst, die von
der Seele, den Dichtern, wenn auch nicht den Wissenschaftlern,
bekannt war, wie diese solide Wahrheit und Dinge darüber
hinaus sich sogar in der strengsten naturalistischen Zeit bei den
Dichtern lebendig erhielten, zeigt Walt Whitman. Einmal
singt er:
„Verlangte jemand die Seele zu sehen? / So sieh deine eigene
Gestalt und dein Antlitz, Menschen, Stoffe, Tiere, die Bäume, die
fließenden Strome, die Felsen, den Sand am Meer / Sie alle ent-
36
halten geistige Freuden und geben sie ****&"***. £J /j?!^
wahrer Leib und jeglichen Mannes und Weibes wahrer Le b. /
Sc * treu wie die Typen, die der Setzer setzt, ihren Abdruck prägen
die Bedeutung, der wesentliche Sinn / Genau so treu prägt eines
Manne. Weȣ nnd Leben oder eine, Weibes Wesen und Leben
sich in Leib und Seele aus / Einerlei, ob vor oder nach dem
Tode / Siehe, der Leib enthält und ist die Bedeutung, der wesent-
liche Sinn, und enthält und ist die Seele."
Das greift über die Wissenschaft hinaus und ist noch lange
nicht für eine heutige Wissenschaft erfaßbar. Die Dichtung
ist aber allgemein und überhaupt ein sehr mißachtetes, groß-
artiges Wissensreservoir der Menschen. Eine Quelle, kein
Nebenfluß. n * . „
Man hat Freud verargt, daß er, der im Seelischen die
enorme Wirksamkeit einer gesellschaftlichen Zensur fand, daß
er nicht den Schritt aus dem Sprechzimmer heraus machte
und auf den Plan trat, um im Sozialen, Pädagogischen oder
wie sonst die Gesellschaft zu verändern. Warum hat er dies
alles gesehen und hat nicht verändert und zerstört? Man
braucht nur die Bilder, die Photographien Freuds in ver-
schiedenen Lebensaltern zu sehen, um sich die Frage zu
beantworten. Immer erkennt man den Beobachter, einen
deutlich mißtrauischen und skeptischen Menschen, einen Pessi-
misten. Er teilt nicht den Aberglauben an den großen Wert
menschlicher Einrichtungen, an den Wert für die wirkliche
Veränderung der Seele. Er wäre kein Kenner der mensch-
lichen Seele, wenn er glaubte, mit irgendwelchen raschen
Änderungen im Sozialen ließe sich Entscheidendes an der
menschlichen Seele ändern. Er ist in dieser Skepsis und
Zurückhaltung völlig identisch etwa mit Tolstoi.
Glaube man nun aber nicht, daß nach Abklingen des
materialistischen Zeitalters auf die materialistische uae
Schätzung der Tatsachen und Einrichtungen ein U uie ?J m '
ein wonniges Planschen in Seele und Lyrik folge. %
Dunkelmänner nicht glauben, die angenehme Dam mer g
für sie sei gekommen Mögen diejenigen ^»W*
wittern, die in der vergangenen Periode niedergekämpft sind
und denken, sich jetzt wieder zu erheben- Im Gegented,
37
menschliche Kraft, Verantwortung und Entschlossenheit, auf
ihren Boden zurückgeführt, wird sich jetzt heftiger als je
fühlen. Jetzt heißt es wie nnr je: wir haben unsere Sache
auf uns gestellt. Wahrhaftig, die Zeit der Flauheit und des
Defaitismus ist gründlich vorbei.
In zwiefacher Hinsicht lobe ich Freud _ und ein Stück
ist da so gut wie das andere. AU einen Wohltäter der Mensch-
heit der breit die Türe zu dem Krankheitsherd vieler Leiden
geöffnet hat. Und dann als Geistesführer, als einen, der in
Luropa am frühesten wieder in der Wissenschaft das Köniss-
gebiet der Seele betrat. 8
Da muß es mir fern sein, einer kalten Bewunderung Aus-
druck zu geben, von großen Leistungen zu sprechen, Farben
zu beschnüffeln und Details zu bekritteln. Mit Zustimmung
Und He . rzUc , i hkei . t - mit Li <** trete, wir vor Sigmund Freud*
Glück ""* ZU SeÜ,era siebzi S st en Geburtstag
Alfred Dublin
"""" , """"'"""" 1 '«' mmmMmmmmmmmmm ....n..<>.....ir.i l r ll u.<...,m.i....„ J „„„„
PSYCHOANALYTISCHES LESEBUCH
Zeitgenossen über die psychoanalytische Bewegung
Hauptelement jener allgemeinen Revolution, die im rTZZ-',™ 1 em
NM und LelensgefM* des europäischen %%£ fff £ %"*■
**™ ■ ■ •" (Thomas Mann in einem Briefe an dt nT T
P^choanalytitsche Gesellschaft in terif„<"r Che
,,»;• - Di ' kommenden hundert Jahre werden in der Hauptsache das
äSSÄ ?y»r*«» ***«**, sein. Das größte y^pTchen tr
Choan^Tf/' "' d « ri Erf ° rSChun e der Glichen MotiVeX
dZpTrfcll "T ^*^f "%&> *>rch die Entdeckungen
der fsychoanalysc von Grund aus geändert.
(H. G. Wells in „The American Magacine«.)
38
Vergänglichkeit
von
Sigm. Freud
Aus dem im Druck befindlichen XL Band der -„Ge-
sammelten Schriften". (Diese Skizze wurde im November
I 9 I S geschrieben auf Aufforderung des Berliner Goethe-
bundes für das von ihm — mit Bestimmung des Rein-
ertrages für die Errichtung von Volksbüchereien in
Ostpreußen — herausgegebene Gedenkbuch „Das Land
Goethes", das 1916 bei der Deutschen Verlagsmistalt
in Stuttgart erschien.)
Vor einiger Zeit machte ich in Gesellschaft eines schweig-
samen Freundes und eines jungen, bereits rühmlich bekannten
Dichters einen Spaziergang durch eine blühende Sommer-
landschaft. Der Dichter bewunderte die Schönheit der Natur
um uns, aber ohne sich ihrer zu erfreuen. Ihn störte der
Gedanke, daß all diese Schönheit dem Vergehen geweiht
war, daß sie im Winter dahingeschwunden sein werde, aber
ebenso jede menschliche Schönheit und alles Schöne und Edle,
was Menschen geschaffen haben und schaffen könnten. Alles,
■was er sonst geliebt und bewundert hätte, schien ihm ent-
wertet durch das Schicksal der Vergänglichkeit, zu dem es
bestimmt war.
Wir wissen, daß von solcher Versenkung in die Hinfälligkeit
alles Schönen und Vollkommenen zwei verschiedene seelische
Regungen ausgehen können. Die eine führt zu dem schmerz-
lichen Weltüberdruß des jungen Dichters, die andere zur
Auflehnung gegen die behauptete Tatsächlichkeit. Nein, es ist
unmöglich, daß all diese Herrlichkeiten der Natur und der
Kunst, unserer Empfindungswelt und der Welt draußen, wirk-
lich in Nichts zergehen sollten. Es wäre zu unsinnig und zu
frevelhaft, daran zu glauben. Sie müssen in irgendeiner Weise
fortbestehen können, allen zerstörenden Einflüssen entrückt.
Allein diese Ewigkeitsforderung ist zu deutlich ein Erfolg
unseres Wunschlebens, als daß sie auf einen Realitäts-wert
59
Anspruch erheben könnte. Auch das Schmerzliche kann wahr
sein. Ich konnte mich weder entschließen, die allgemeine
Vergänglichkeit zu bestreiten, noch für das Schöne und Voll-
kommene eine Ausnahme zu erzwingen. Aber ich bestritt
dem pessimistischen Dichter, daß die Vergänglichkeit des
Schonen eine Entwertung desselben mit sich bringe.
Im Gegenteil, eine Wertsteigerung! Der Vergänglichkeits-
wert ist ein Seltenheitswert in der Zeit. Die Beschränkung
m der Möglichkeit des Genusses erhöht dessen Kostbarkeit
Ich erklärte es für unverständlich, wie der Gedanke an die
Vergänglichkeit des Schönen uns die Freude an demselben
trüben sollte. Was die Schönheit der Natur betrifft, so kommt
sie nach jeder Zerstörung durch den Winter im nächsten
Jahre wieder, und diese Wiederkehr darf im Verhältnis zu
unserer Lebensdauer als eine ewige bezeichnet werden. Die
Schönheit des menschlichen Körpers und Angesichts sehen
wir innerhalb unseres eigenen Lebens für immer schwinden
aber diese Kurzlebigkeit fügt zu ihren Reizen einen neuen
hinzu. Wenn es eine Blume gibt, welche nur eine einzige
Nacht blüht, so erscheint uns ihre Blüte darum nicht minder
prächtig. Wie die Schönheit und Vollkommenheit des Kunst-
werks und der intellektuellen Leistung durch deren zeitliche
Beschränkung entwertet werden sollte, vermochte ich eben-
sowenig einzusehen. Mag eine Zeit kommen, wenn die Bilder
und Statuen, die wir heute bewundern, zerfallen sind oder
ein Menschengeschlecht nach uns, welches die Werke unser
Dichter und Denker nicht mehr versteht, oder selbst eine
geologische Epoche, in der alles Lebende auf der Erde ver-
stummt ist, der Wert all dieses Schönen und Vollkommenen
wird nur durch seine Bedeutung für unser Emphndungsleben
bestimmt, braucht dieses selbst nicht zu überdauern und ist
darum von der absoluten Zeitdauer unabhängig.
Ich hielt diese Erwägungen für unanfechtbar, bemerkte
aber, daß ich dem Dichter und dem Freunde keinen Eindruck
gemacht hatte. Ich schloß aus diesem Mißerfolg auf die
Einmengung eines starken affektiven Moments, welches ihr
Urteil trübte, und glaubte dies auch später gefunden zu haben.
40
Es muß die seelische Auflehnung gegen die Trauer gewesen
sein, welche ihnen den Genuß des Schönen entwertete. Die
Vorstellung, daß dieses Schöne vergänglich sei, gab den beiden
Empfindsamen einen Vorgeschmack der Trauer um seinen
Untergang, und da die Seele von allem Schmerzlichen instinktiv
zurückweicht, fühlten sie ihren Genuß am Schönen durch
den Gedanken an dessen Vergänglichkeit beeinträchtigt.
Die Trauer über den Verlust von etwas, das wir geliebt
oder bewundert haben, erscheint dem Laien so natürlich,
daß er sie für selbstverständlich erklärt. Dem Psychologen
aber ist die Trauer ein großes Rätsel, eines jener Phänomene,
die man selbst nicht klärt, auf die man aber anderes Dunkle
zurückführt. Wir stellen uns vor, daß wir ein gewisses Maß
von Liebesfähigkeit, genannt Libido, besitzen, welches sich
in den Anfängen der Entwicklung dem eigenen Ich zugewendet
hatte. Später, aber eigentlich von sehr frühe an, wendet es
sich vom Ich ab und den Objekten zu, die wir solcher Art
gewissermaßen in unser Ich hineinnehmen. Werden die Objekte
zerstört oder gehen sie uns verloren, so wird unsere Liebes-
fähigkeit (Libido) wieder frei. Sie kann sich andere Objekte
zum Ersatz nehmen oder zeitweise zum Ich zurückkehren.
Warum aber diese Ablösung der Libido von ihren Objekten
ein so schmerzhafter Vorgang sein sollte, das verstehen wir
nicht und können es derzeit aus keiner Annahme ableiten. Wir
sehen nur, daß sich die Libido an ihre Objekte klammert
und die verlorenen auch dann nicht aufgeben will, wenn
der Ersatz bereit liegt. Das also ist die Trauer.
Die Unterhaltung mit dem Dichter fand im Sommer vor
dem Kriege statt. Ein Jahr später brach der Krieg herein
und raubte der Welt ihre Schönheiten. Er zerstörte nicht
nur die Schönheit der Landschaften, die er durchzog, und
die Kunstwerke, an die er auf seinem AVege streifte, er brach
auch unseren Stolz auf die Errungenschaften unserer Kultur,
unseren Respekt vor so vielen Denkern und Künstlern, unsere
Hoffnungen auf eine endliche Überwindung der Verschieden-
heiten unter Völkern und Rassen. Er beschmutzte die er-
habene Unparteilichkeit unserer Wissenschaft, stellte unser
41
Triebleben in seiner Nacktheit bloß, entfesselte die bösen
Geister in uns, die wir durch die Jahrhunderte währende
Erziehung von Seiten unserer Edelsten dauernd gebändigt
glaubten. Er machte unser Vaterland wieder klein und die
andere Erde wieder fern und weit. Er raubte uns so vieles,
was wir geliebt hatten, und zeigte uns die Hinfälligkeit von
manchem, was wir für beständig gehalten hatten.
Es ist nicht zu verwundern, daß unsere an Objekten so
verarmte Libido mit um so größerer Intensität besetzt hat,
was uns verblieben ist, daß die Liebe zum Vaterland, die
Zärtlichkeit für unsere Nächsten und der Stolz auf unsere
Gemeinsamkeiten jäh verstärkt worden sind. Aber jene anderen,
jetzt verlorenen Güter, sind sie uns wirklich entwertet worden,
weil sie sich als so hinfällig und widerstandsunfähig erwiesen
haben? Vielen unter uns scheint es so, aber ich meine
wiederum, mit Unrecht. Ich glaube, die so denken und zu
einem dauernden Verzicht bereit scheinen, weil das Kostbare
sich nicht als haltbar bewährt hat, befinden sich nur in der
Trauer über den Verlust. Wir wissen, die Trauer, so schmerz-
haft sie sein mag, läuft spontan ab. Wenn sie auf alles Ver-
lorene verzichtet hat, hat sie sich auch selbst aufgezehrt und
dann wird unsere Libido wiederum frei, um sich, insofern
wir noch jung und lebenskräftig sind, die verlorenen Objekte
durch möglichst gleich kostbare oder kostbarere neue zu er-
setzen. Es steht zu hoffen, daß es mit den Verlusten dieses
Krieges nicht anders gehen wird. Wenn erst die Trauer
überwunden ist, wird es sich zeigen, daß unsere Hochschätzung
der Kulturgüter unter der Erfahrung von ihrer Gebrechlich^
keit nicht gelitten hat. Wir werden alles wieder aufbauen
was der Krieg zerstört hat, vielleicht auf festerem Grund
und dauerhafter als vorher.
42
Zur Psychologie des Gymnasiasten
von
Sigm. Freud
Aus dem im Druck befindlichen XL Band der „Ge-
sammelten Schriften". (Diese Skizze erschien im Oktober
1914 in der Festschrift, die das „K. k. Erzherzog-
Rainer-Realgymnasiwn" in Wien — ehemals „Leopold-
städter Kommunalreal- und Obergymnasium 11 , heute
„Bundesrealgymnasium im IL Bezirk^ — anläßlich
der Vollendung des fünfzigsten Jahres seines Bestehens
veröffentlichte. Der Verfasser war Schüler der genannten
Anstalt gewesen.)
Man hat ein sonderbares Gefühl, wenn man in so vorgerückten
Jahren noch einmal den Auftrag erhält, einen „deutschen Aufsatz"
für das Gymnasium zu schreiben. Man gehorcht aber automatisch
wie jener ausgediente Soldat, der auf das Kommando „Habt Acht«
die Hände an die Hosennaht anlegen und seine Päckchen zu Boden
fallen lassen muß. Es ist merkwürdig, wie bereitwillig man zu-
gesagt hat, als ob sich in dem letzten Halbjahrhundert nichts
Besonderes geändert hätte. Man ist doch alt geworden seither,
steht knapp vor dem sechzigsten Lebensjahr, und Körpergefühl
wie Spiegel zeigen unzweideutig an, wieviel man von seinem
Lebenslicht bereits heruntergebrannt hat.
Noch vor zehn Jahren etwa konnte man Momente haben, in
denen man sich plötzlich wieder ganz jung fühlte. Wenn man,
bereits graubärtig und mit allen Lasten einer bürgerlichen Exi-
stenz beladen, durch die Straßen der Heimatstadt ging, begegnete
man unversehens dem einen oder anderen wohlerhaltenen älteren
Herrn, den man fast demütig begrüßte, weil man einen seiner
Gymnasiallehrer in ihm erkannt hatte. Dann aber blieb man
stehen und sah ihm versonnen nach: Ist er das wirklich oder
nur jemand, der ihm so täuschend ähnlich ist? Wie jugendlich
sieht er doch aus und du bist selbst so alt geworden! Wie alt
mag er heute wohl sein? Ist es möglich, daß diese Männer, die
uns damals die Erwachsenen repräsentierten, um so weniges älter
waren als wir?
Die Gegenwart war dann wie verdunkelt und die Lebensjahre
von zehn bis achtzehn stiegen aus den Winkeln des Gedächtnisses
43
empor mit ihren Ahnungen und Irrungen, ihren schmerzhaften
Umbildungen und beseligenden Erfolgen, die ersten Einblicke in
eine untergegangene Kulturwelt, die wenigstens mir später ein
unübertroffener Trost in den Kämpfen des Lebens werden sollte,
die ersten Berührungen mit den Wissenschaften, unter denen man
glaubte wählen zu können, welcher man seine — sicherlich un-
schätzbaren — Dienste weihen würde. Und ich glaubte mich zu
erinnern, daß die ganze Zeit von der Ahnung einer Aufgabe
durchzogen war, die sich zuerst nur leise andeutete, bis ich sie
in dem Maturitätsaufsatze in die lauten Worte kleiden konnte,
ich wollte in meinem Leben zu unserem menschlichen Wissen
einen Beitrag leisten.
Ich bin dann Arzt geworden, aber eigentlich doch eher Psycho-
loge, und konnte eine neue psychologische Disziplin schaffen, die
sogenannte „Psychoanalyse", welche gegenwärtig Ärzte und Forscher
in nahen wie in fernen fremdsprachigen Ländern in Atem hält und
zu Lob und Tadel aufregt, die des eigenen Vaterlandes natürlich
am geringsten.
Als Psychoanalytiker muß ich mich mehr für affektive als für
intellektuelle Vorgänge, mehr für das unbewußte als für das be-
wußte Seelenleben interessieren. Meine Ergriffenheit bei der Be-
gegnung mit meinem früheren Gymnasialprofessor mahnt mich
ein erstes Bekenntnis abzulegen: Ich weiß nicht, was uns stärke'
in Anspruch nahm und bedeutsamer für uns wurde, die Beschäfti-
gung mit den uns vorgetragenen Wissenschaften oder die mit den
Persönlichkeiten unserer Lehrer. Jedenfalls galt den letzteren be"
uns allen eine niemals aussetzende Unterströmung, und bei vielen
führte der Weg zu den Wissenschaften nur über die Personen der
Lehrer; manche blieben auf diesem Weg stecken und einigen
ward er auf solche Weise — warum sollen wir es nicht ein-
gestehen? — dauernd verlegt
Wir warben um sie oder wandten uns von ihnen ab, imagi-
nierten bei ihnen Sympathien oder Antipathien, die wahrscheinlich
nicht bestanden, studierten ihre Charaktere und bildeten oder
verbildeten an ihnen unsere eigenen. Sie riefen unsere stärksten
Auflehnungen hervor und zwangen uns zur vollständigen Unter-
werfung; wir spähten nach ihren kleinen Schwächen und waren
stolz auf ihre großen Vorzüge, ihr Wissen und ihre Gerechtigkeit.
Im Grunde liebten wir sie sehr, wenn sie uns irgendeine Be-
gründung dazu gaben; ich weiß nicht, ob alle unsere Lehrer dies
bemerkt haben. Aber es ist nicht zu leugnen, wir waren in einer
44
ganz besonderen Weise gegen sie eingestellt, in einer Weise, die
ihre Unbequemlichkeiten für die Betroffenen haben mochte. Wir
waren von vornherein gleich geneigt zur Liebe wie zum Haß, zur
Kritik wie zur Verehrung gegen sie. Die Psychoanalyse nennt eine
solche Bereitschaft zu gegensätzlichem Verhalten eine ambivalente;
sie ist auch nicht verlegen, die Quelle einer solchen Gefühls-
ambivalenz nachzuweisen.
Sie hat uns nämlich gelehrt, daß die für das spätere Verhalten
des Individuums so überaus wichtigen Affekteinstellungen gegen
andere Personen in ungeahnt früher Zeit fertig gemacht werden.
Schon in den ersten sechs Jahren der Kindheit hat der kleine
Mensch die Art und den Affektton seiner Beziehungen zu Personen
des nämlichen und des anderen Geschlechts festgelegt, er kann
sie von da an entwickeln und nach bestimmten Richtungen um-
wandeln, aber nicht mehr aufheben. Die Personen, an welche er
sich in solcher Weise fixiert, sind seine Eltern und Geschwister.
Alle Menschen, die er später kennen lernt, werden ihm zu Ersatz-
personen dieser ersten Gefühls ob jekte (etwa noch der Pflege-
personen neben den Eltern,) und ordnen sich für ihn in Reihen
an, die von den „Imagines", wie wir sagen, des Vaters, der
Mutter, der Geschwister usw. ausgehen. Diese späteren Bekannt-
schaften haben also eine Art von Gefühlserbschaft zu übernehmen,
sie stoßen auf Sympathien und Antipathien, zu deren Erwerbung
sie selbst nur wenig beigetragen haben; alle spätere Freundschafts-
und Liebeswahl erfolgt auf Grund von Erinnerungsspuren, welche
jene ersten Vorbilder hinterlassen haben.
Von den Imagines einer gewöhnlich nicht mehr im Gedächtnis
bewahrten Kindheit ist aber keine für den Jüngling und Mann
bedeutungsvoller als die seines Vaters. Organische Notwendigkeit
hat in dies Verhältnis eine Gefühlsambivalenz eingeführt, als deren
ergreifendsten Ausdruck wir den griechischen Mythus vom König
Ödipus erfassen können. Der kleine Knabe muß seinen Vater lieben
und bewundern, er scheint ihm das stärkste, gütigste und weiseste
aller Geschöpfe; ist doch Gott selbst nur eine Erhöhung dieses
Vaterbildes, wie es sich dem frühkindlichen Seelenleben darstellt.
Aber sehr bald tritt die andere Seite dieser Gefühlsrelation hervor.
Der Vater wird auch als der übermächtige Störer des eigenen
Trieblebens erkannt, er wird zum Vorbild, das man nicht nur
nachahmen, sondern auch beseitigen will, um seine Stelle selbst
einzunehmen. Die zärtliche und die feindselige Regung gegen den
Vater bestehen nun nebeneinander fort, oft durch das ganze Leben
45
hmdurch ohne daß die eine die andere aufheben könnte. In einem
solchen Nebeneinander der Gegensätze liegt der Charakter dessen
was wir eine Gefühls ambivalenz heißen. '
In der zweiten Hälfte der Kindheit bereitet sich eine Ver-
änderung dieses Verhältnisses zum Vater vor, deren Bedeuten*
man sich nicht großartig genug vorstellen kann. Der Knabe beginnt
aus seiner Kinderstube in die reale Welt draußen zu schauen und
nun muß er die Entdeckungen machen, welche seine ursprüngliche
Hochschatzung des Vaters untergraben und seine Ablösung von
mTV FEäl ^fördern. Er findet, daß der Vater nicht
^ntf 7 M r htlS l te > Weiseste ' *«* m er wird mit ihm
ihn d" Cn ' ^^ kritiSieren Und S ° 2ial ordnen und läßt
hn dann gewöhnlich schwer für die Enttäuschung büßen, die
euer mm bereitet hat. Alles Hoffnungsvolle, aber auch alles An-
stößige, was die neue Generation auszeichnet, hat diese Ablösung
vom Vater zur Bedingung. S
In diese Phase der Entwicklung des jungen Menschen fällt
sein ^Zusammentreffen mit den Lehrern. Wir verstehen jetzt unser
licht T „ UnS Tu n G y mnasia lprofessoren. Diese Männer, die
Darum k "**" ^ **** ™*™ ™ ™ m Vaterersatz
Darum kamen sie uns, auch wenn sie noch sehr jung waren So
gerexft, so unerreichbar erwachsen vor. Wir übertrug auf sie
den Respekt und die Erwartungen von dem allwissenden Vater
unserer Kindheitsjahre und dann begannen wir, sie zu behandeln
wie unsere Väter zu Hause. Wir brachten ihnen die Ambivalenz
entgegen, die wir in der Familie erworben hatten, und mit Hilf*
dxeser Emstellung rangen wir mit ihnen, wie wir mit unseren
leiblichen Vätern zu ringen gewohnt waren. Ohne Rücksicht a „f
die Kinderstube und das Familienhaus wäre unser Benehme
unsere Lehrer nicht zu verstehen, aber auch nicht zu entsch^l^n
JNoch andere und kaum weniger wichtige Erlebnisse hatten wir
als Gymnasiasten mit den Nachfahren unserer Geschwister mit
unseren Kameraden, aber diese sollen auf einem anderen Blatt
beschrieben werden. Das Jubiläum der Schule hält unsere Ge-
danken bei den Lehrern fest.
46
Psychoanalyse und Kurpfuscherei
von
Sigm. Freud
Die folgenden Bruchstücke sind der anfangs September 1926
im „Internationalen Psychoanalytischen Verlag" erscheinenden
neuesten Schrift Sigm.Freuds, „Die Frage der Laienanalyse,
Unterredungen mit einem Unparteiischen" , entnommen. Das Buch
enthält mehr, als der Titel verrät. Der Begründer der Psycho-
analyse nimmt nicht nur Stellung zu der jetzt aktuell gewordenen
Frage, ob die Handhabung der von ihm geschaffenen Therapie
den Medizinern vorbehalten bleiben soll, sondern gibt wieder
in knappen Zügen eine Darstellung seiner Lehre, sowohl der
tiefenpsychologischen Ergebnisse, als ihrer praktischen Anwen-
dung bei der analytischen Bekämpfung von Neurosen und
Charakterstörungen. Diesmal wendet sich die Darstellung der
Psychoanalyse nicht an ein gelehrtes Publikum, sondern — in
Dialogform, lehrend, Vorurteile auflösend und diskutierend —
gleichsam an einen als einflußreich angenommenen Mitbürger,
in dessen Gesichtskreis die Psychoanalyse jetzt als Objekt der
Gesetzgebung und der Gesetzesanwendung gerückt ist. Insbesondere
die konkreten Vorgänge während der analytischen Kur werden
eingehender verdeutlicht, als es in sonstigen gemeinverständlichen
Darstellungen bisher geschah. — Die hier wiedergegebenen
Bruchstücke sind dem letzten Teile des Buches entnommen, der
die im Titel angeführte „Laienfrage" selbst behandelt.
Ein historisches Anrecht auf den Alleinbesitz der Analyse
haben die Arzte nicht, vielmehr haben sie bis vor kurzem
alles aufgeboten, von der seichtesten Spötterei bis zur schwer-
wiegendsten Verleumdung, um ihr zu schaden. Sie werden
mit Recht antworten, das gehört der Vergangenheit an und
braucht die Zukunft nicht zu beeinflussen. Ich bin einver-
standen, aber ich fürchte, die Zukunft wird anders sein, als
Sie sie vorhergesagt haben.
Erlauben Sie, daß ich dem Wort „Kurpfuscher" den Sinn
gebe, auf den es Anspruch hat an Stelle der legalen Bedeutung.
Für das Gesetz ist der ein Kurpfuscher, der Kranke behandelt,
47
ohne sich durch den Besitz eines staatlichen Diploms als Arzt
ausweisen zu können. Ich würde eine andere Definition be-
vorzugen : Kurpfuscher ist, wer eine Behandlung unternimmt,
ohne die dazu erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten zu
besitzen. Auf dieser Definition fußend, wage ich die Behaup-
tung, daß — nicht nur in den europäischen Ländern — die
Arzte zu den Kurpfuschern in der Analyse ein überwiegendes
Kontingent stellen. Sie üben sehr häufig die analytische Be-
handlung aus, ohne sie gelernt zu haben und ohne sie zu
verstehen.
Es ist vergeblich, daß Sie mir einwenden wollen, das sei
gewissenlos, das möchten Sie den Ärzten nicht zutrauen. Ein
Arzt wisse doch, daß ein ärztliches Diplom kein Kaperbrief
ist und ein Kranker nicht vogelfrei. Dem Arzt dürfe man
immer zubilligen, daß er im guten Glauben handle, auch wenn
er sich dabei vielleicht im Irrtum befinde.
Die Tatsachen bestehen; wir wollen hoffen, daß sie sich
so aufklären lassen, wie Sie es meinen. Ich will versuchen
Ihnen auseinanderzusetzen, wie es möglich wird, daß ein Arzt
sich in den Dingen der Psychoanalyse so benimmt, wie er es
auf jedem anderen Gebiet sorgfältig vermeiden würde.
Hier kommt in erster Linie in Betracht, daß der Arzt in
der medizinischen Schule eine Ausbildung erfahren hat die
ungefähr das Gegenteil von dem ist, was er als Vorbereitung
zur Psychoanalyse brauchen würde. Seine Aufmerksamkeit ist
auf objektiv feststellbare anatomische, physikalische, chemische
Tatbestände hingelenkt worden, von deren richtiger Erfassung
und geeigneter Beeinflussung der Erfolg des ärztlichen Handelns
abhängt. In seinen Gesichtskreis wird das Problem des Lebens
gerückt, soweit es sich uns bisher aus dem Spiel der Kräfte
erklärt hat, die auch in der anorganischen Natur nachweisbar
sind. Für die seelischen Seiten der Lebensphänomene wird
das Interesse nicht geweckt, das Studium der höheren geistigen
Leistungen geht die Medizin nichts an, es ist das Bereich einer
anderen Fakultät. Die Psychiatrie allein sollte sich mit den
Störungen der seelischen Funktionen beschäftigen, aber man
weiß, in welcher Weise und mit welchen Absichten sie es tut.
4 8
Sie sucht die körperlichen Bedingungen der Seelenstörungen
auf und behandelt sie wie andere Krankheitsanlässe.
Die Psychiatrie hat darin recht und die medizinische Aus-
bildung ist offenbar ausgezeichnet. Wenn man von ihr aus-
sagt, sie sei einseitig, so muß man erst den Standpunkt aus-
findig machen, von dem aus diese Charakteristik zum Vorwurf
wird. An sich ist ja jede Wissenschaft einseitig, sie muß es
sein, indem sie sich auf bestimmte Inhalte, Gesichtspunkte,
Methoden einschränkt. Es ist ein Widersinn, an dem ich
keinen Anteil haben möchte, daß man eine Wissenschaft gegen
eine andere ausspielt. Die Physik entwertet doch nicht die
Chemie, sie kann sie nicht ersetzen, aber auch von ihr nicht
vertreten werden. Die Psychoanalyse ist gewiß ganz besonders
einseitig, als die Wissenschaft vom seelisch Unbewußten. Das
Recht auf Einseitigkeit soll also den medizinischen Wissen-
schaften nicht bestritten werden.
Der gesuchte Standpunkt findet sich erst, wenn man von
der wissenschaftlichen Medizin auf die praktische Heilkunde ab-
lenkt. Der kranke Mensch ist ein kompliziertes Wesen, er kann
uns daran mahnen, daß auch die so schwer faßbaren seeli-
schen Phänomene nicht aus dem Bild des Lebens gelöscht
werden dürfen. Der Neurotiker gar ist eine unerwünschte
Komplikation, eine Verlegenheit für die Heilkunde nicht minder
als für die Rechtspflege und den Armeedienst. Aber er existiert
und geht die Medizin besonders nahe an. Und für seine
Würdigung wie für seine Behandlung leistet die medizinische
Schulung nichts, aber auch gar nichts. Bei dem innigen Zu-
sammenhang zwischen den Dingen, die wir als körperlich
und als seelisch scheiden, darf man vorhersehen, daß der Tag
kommen wird, an dem sich Wege der Erkenntnis und hoffent-
lich auch der Beeinflussung von der Biologie der Organe und
von der Chemie zu dem Erscheinungsgebiet der Neurosen
eröffnen werden. Dieser Tag scheint noch ferne, gegenwärtig
sind uns diese Krankheitszustände von der medizinischen Seite
her unzugänglich.
Es wäre zu ertragen, wenn die medizinische Schulung den
Ärzten bloß die Orientierung auf dem Gebiete der Neurosen
49
versagte. Sie tut mehr; sie gibt ihnen eine falsche und schäd-
liche Einstellung mit. Die Ärzte, deren Interesse für die
psychischen Faktoren des Lebens nicht geweckt worden ist,
sind nun allzu bereit, dieselben gering zu schätzen und als
unwissenschaftlich zu bespötteln. Deshalb können sie nichts
recht ernst nehmen, was mit ihnen zu tun hat, und fühlen
die Verpflichtungen nicht, die sich von ihnen ableiten. Darum
verfallen sie der laienhaften Respektlosigkeit vor der psycho-
logischen Forschung und machen sich ihre Aufgabe leicht
Man muß ja die Neurotiker behandeln, weil sie Kranke sind
und sich an den Arzt wenden, muß auch immer Neues ver-
suchen. Aber wozu sich die Mühe einer langwierigen Vor-
bereitung auferlegen? Es wird auch so gehen; wer weiß, was
das wert ist, was in den analytischen Instituten gelehrt wird.
Je weniger sie vom Gegenstand verstehen, desto unternehmen-
der werden sie. Nur der wirklich Wissende wird bescheiden
denn er weiß, wie unzulänglich dies Wissen ist.
Der Vergleich der analytischen Spezialität mit anderen
medizinischen Fächern, den Sie zu meiner Beschwichtigung
herangezogen haben, ist also nicht anwendbar. Für Chirurgie
Augenheilkunde usw. bietet die Schule selbst die Möglichkeit
zur weiteren Ausbildung. Die analytischen Lehrinstitute sind
gering an Zahl, jung an Jahren und ohne Autorität. Die medi-
zinische Schule hat sie nicht anerkannt und kümmert sich
nicht um sie. Der junge Arzt, der seinen Lehrern so vieles
hat glauben müssen, daß ihm zur Erziehung seines Urteils
wenig Anlaß geworden ist, wird gerne die Gelegenheit er-
greifen, auf einem Gebiet, wo es noch keine anerkannte
Autorität gibt, endlich auch einmal den Kritiker zu spielen.
Es gibt noch andere Verhältnisse, die sein Auftreten als analyti-
scher Kurpfuscher begünstigen. Wenn er ohne ausreichende
Vorbereitung Augenoperationen unternehmen wollte, so würde
der Mißerfolg seiner Starextraktionen und Iridektomien und
das Wegbleiben der Patienten seinem Wagestück bald ein Ende
bereiten. Die Ausübung der Analyse ist für ihn vergleichs-
weise ungefährlich. Das Publikum ist durch die durchschnitt-
lich günstigen Ausgänge der Augenoperationen verwöhnt und
50
n^ssm
„
erwartet sich Heilung vom Operateur. Wenn aber der „Nerven-
arzt seine Kranken nicht herstellt, so verwundert sich niemand
darüber. Man ist durch die Erfolge der Therapie bei den Ner-
vösen nicht verwöhnt worden, der Nervenarzt hat sich wenigstens
„viel mit ihnen abgegeben . Da läßt sich eben nicht viel machen,
die Natur muß helfen oder die Zeit. Also beim Weib zuerst die
Menstruation, dann die Heirat, später die Menopause. Am Ende
hilft wirklich der Tod. Auch ist das, was der ärztliche Analytiker
mit dem Nervösen vorgenommen hat, so unauffällig, daß sich
daran kein Vorwurf klammern kann. Er hat ja keine Instru-
mente oder Medikamente verwendet, nur mit ihm geredet, ver-
sucht, ihm etwas ein- oder auszureden. Das kann doch nicht
schaden, besonders wenn dabei vermieden wurde, peinliche oder
aufregende Dinge zu berühren. Der ärztliche Analytiker, der sich
von der strengen Unterweisung frei gemacht hat, wird gewiß
den Versuch nicht unterlassen haben, die Analyse zu verbessern
ihr die Giftzähne auszubrechen und sie den Kranken ange-
nehm zu machen. Und wie gut, wenn er bei diesem Versuch
stehen geblieben, denn wenn er wirklich gewagt hat, Wider-
stände wachzurufen, und dann nicht wußte, wie ihnen zu
begegnen ist, ja, dann kann er sich wirklich unbeliebt ge-
macht haben.
Die Gerechtigkeit erfordert das Zugeständnis, daß die Tätig-
keit des ungeschulten Analytikers auch für den Kranken harm-
loser ist als die des ungeschickten Operateurs. Der mögliche
Schaden beschränkt sich darauf, daß der Kranke zu einem
nutzlosen Aufwand veranlaßt wurde und seine Heilungschancen
eingebüßt oder verschlechtert hat. Ferner, daß der Ruf der
analytischen Therapie herabgesetzt wird. Das ist ja alles recht
unerwünscht, aber es hält doch keinen Vergleich mit den
Gefahren aus, die vom Messer des chirurgischen Kurpfuschers
drohen. Schwere, dauernde Verschlimmerungen des Krank-
heitszustandes sind nach meinem Urteil auch bei ungeschickter
Anwendung der Analyse nicht zu befürchten. Die unerfreu-
lichen Reaktionen klingen nach einer Weile wieder ab. Neben
den Traumen des Lebens, welche die Krankheit hervorgerufen
haben, kommt das bißchen Mißhandlung durch den Arzt nicht
4* 51
in Betracht. Nur daß eben der ungeeignete therapeutische Ver-
such nichts Gutes für den Kranken geleistet hat.
*
... Ist die Ausübung der Psychoanalyse überhaupt ein Gegen-
stand, der behördlichem Eingreifen unterworfen werden soll,
oder ist es zweckmäßiger, ihn der natürlichen Entwicklung
zu überlassen? Ich werde gewiß hier keine Entscheidung
treffen, aber ich nehme mir die Freiheit, Ihnen dieses Problem
zur Überlegung vorzulegen. In unserem Vaterlande herrscht
von alters her ein wahrer furor prohibendi, eine Neigung
zum Bevormunden, Eingreifen und Verbieten, die, wie wir
alle wissen, nicht gerade gute Früchte getragen hat. Es scheint
daß es im neuen, republikanischen Österreich noch nicht viel
anders geworden ist. Ich vermute, daß Sie bei der Entscheidung
über den Fall der Psychoanalyse, der uns jetzt beschäftigt,
ein gewichtiges Wort mitzureden haben; ich weiß nicht, ob
Sie die Lust oder den Einfluß haben werden, sich den bureau-
kratischen Neigungen zu widersetzen. Meine unmaßgeblichen
Gedanken zu unserer Frage will ich Ihnen jedenfalls nicht
ersparen. Ich meine, daß ein Überfluß an Verordnungen und
Verboten der Autorität des Gesetzes schadet. Man kann be-
obachten: wo nur wenige Verbote bestehen, da werden sie
sorgfältig eingehalten, wo man auf Schritt und Tritt von Ver-
boten begleitet wird, da fühlt man förmlich die Versuchung
sich über sie hinwegzusetzen. Ferner, man ist noch kein
Anarchist, wenn man bereit ist, einzusehen, daß Gesetze und
Verordnungen nach ihrer Herkunft nicht auf den Charakter
der Heiligkeit und Unverletzlichkeit Anspruch haben können,
daß sie oft inhaltlich unzulänglich und für unser Rechts-
gefühl verletzend sind oder nach einiger Zeit so werden,
und daß es bei der Schwerfälligkeit der die Gesellschaft
leitenden Personen oft kein anderes Mittel zur Korrektur
solch unzweckmäßiger Gesetze gibt, als sie herzhaft zu über-
treten. Auch ist es ratsam, wenn man den Respekt vor Ge-
setzen und Verordnungen erhalten will, keine zu erlassen,
deren Einhaltung und Übertretung schwer zu überwachen
ist. Manches, •was wir über die Ausübung der Analyse durch
Ärzte gesagt haben, wäre hier für die eigentliche Laienanalyse,
die das Gesetz unterdrücken will, zu wiederholen. Der Her-
gang der Analyse ist ein recht unscheinbarer, sie wendet weder
Medikamente noch Instrumente an, besteht nur in Gesprächen
und Austausch von Mitteilungen; es wird nicht leicht sein,
einer Laienperson nachzuweisen, sie übe „Analyse" aus, wenn
sie behauptet, sie gebe nur Zuspruch, teile Aufklärungen aus
und suche einen heilsamen menschlichen Einfluß auf seelisch
Hilfsbedürftige zu gewinnen; das könne man ihr doch nicht
verbieten, bloß darum, weil auch der Arzt es manchmal
tue. In den englisch sprechenden Ländern haben die Prak-
tiken der Christian Science eine große Verbreitung, eine
Art von dialektischer Verleugnung der Übel im Leben durch
Berufung auf die Lehren der christlichen Religion. Ich stehe
nicht an zu behaupten, daß dies Verfahren eine bedauerliche
Verirrung des menschlichen Geistes darstellt, aber wer würde
in Amerika oder England daran denken, es zu verbieten und
unter Strafe zu setzen? Fühlt sich denn die hohe Obrigkeit
bei uns des rechten Weges zur Seligkeit so sicher, daß sie
es wagen darf zu verhindern, daß jeder versuche, „nach seiner
Facon selig zu werden?" Und zugegeben, daß viele sich selbst
überlassen in Gefahren geraten und zu Schaden kommen, tut
die Obrigkeit nicht besser daran, die Gebiete, die als un-
betretbar gelten sollen, sorgfältig abzugrenzen und im übrigen,
soweit es nur angeht, die Menschenkinder ihrer Erziehung
durch Erfahrung und gegenseitige Beeinflussung zu überlassen?
Die Psychoanalyse ist etwas so Neues in der Welt, die große
Menge ist so wenig über sie orientiert, die Stellung der offi-
ziellen Wissenschaft zu ihr noch so schwankend, daß es mir
voreilig erscheint, jetzt schon mit gesetzlichen Vorschriften in
die Entwicklung einzugreifen. Lassen wir die Kranken selbst
die Entdeckung machen, daß es schädlich für sie ist, seelische
Hilfe bei Personen zu suchen, die nicht gelernt haben, wie
man sie leistet. Klären wir sie darüber auf und warnen sie
davor, dann werden wir uns erspart haben, es ihnen zu ver-
bieten. Auf italienischen Landstraßen zeigen die Leitungsträger
53
die knappe und eindrucksvolle Aufschrift: Chi tocca, muore.
Das reicht vollkommen hin, um das Benehmen der Passanten
gegen herabhängende Drähte zu regeln. Die entsprechenden
deutschen Warnungen sind von einer überflüssigen und be-
leidigenden Weitschweifigkeit: Das Berühren der Leitungs-
drähte ist, weil lebensgefährlich, strengstens verboten. Wozu
das Verbot? Wem sein Leben lieb ist, der erteilt es sich
selbst, und wer sich auf diesem Wege umbringen will, der
fragt nicht nach Erlaubnis.
„Es gibt aber Fälle, die man als Präjudiz für die Frage
der Laienanalyse anführen kann. Ich meine das Verbot der
Versetzung in Hypnose durch Laien und das kürzlich erlassene
Verbot der Abhaltung okkultistischer Sitzungen und Gründung
solcher Gesellschaften."
Ich kann nicht sagen, daß ich ein Bewunderer dieser
Maßnahmen bin. Die letztere ist ein ganz unzweifelhafter
Übergriff der polizeilichen Bevormundung zum Schaden der
intellektuellen Freiheit. Ich bin außer dem Verdacht, den
sogenannt okkulten Phänomenen viel Glauben entgegenzu-
bringen oder gar Sehnsucht nach ihrer Anerkennung zu
verspüren; aber durch solche Verbote wird man das Interesse
der Menschen für diese angebliche Geheimwelt nicht ersticken.
Vielleicht hat man im Gegenteil etwas sehr Schädliches
getan, der unparteiischen Wißbegierde den Weg verschlossen
zu einem befreienden Urteil über diese bedrückenden Mög-
lichkeiten zu kommen. Aber dies auch nur wieder für
Osterreich. In anderen Ländern stößt auch die „parapsychische"
Forschung auf keine gesetzlichen Hindernisse. Der Fall der
Hypnose liegt etwas anders als der der Analyse. Die Hyp-
nose ist die Hervorrufung eines abnormen Seelen zustandes
und dient den Laien heute nur als Mittel zur Schaustellung.
Hätte sich die anfänglich so hoffnungsvolle hypnotische Therapie
gehalten, so wären ähnliche Verhältnisse wie die {ier Analyse
entstanden. Übrigens erbringt die Geschichte der Hypnose ein
Präzedens zum Schicksal der Analyse nach anderer Richtung.
Als ich ein junger Dozent der Neuropathologie war, eiferten
die Arzte in der leidenschaftlichsten Weise gegen die Hyp-
54
nose, erklärten sie für einen Schwindel, ein Blendwerk des
Teufels und einen höchst gefährlichen Eingriff. Heute haben
sie dieselbe Hypnose monopolisiert, bedienen sich ihrer un-
gescheut als Untersuchungsmethode und für manche Nerven-
ärzte ist sie noch immer das Hauptmittel ihrer Therapie.
Ich habe Ihnen bereits gesagt, ich denke nicht daran, Vor-
schläge zu machen, die auf der Entscheidung beruhen, ob
gesetzliche Regelung oder Gewährenlassen in Sachen der Analyse
das Richtigere ist. Ich weiß, das ist eine prinzipielle Frage,
auf deren Lösung die Neigungen der maßgebenden Personen
wahrscheinlich mehr Einfluß nehmen werden als Argumente.
Was mir für eine Politik des laissez faire zu sprechen scheint,
habe ich bereits zusammengestellt. Wenn man sich anders
entschließt, zu einer Politik des aktiven Eingreifens, dann
allerdings scheint mir die eine lahme und ungerechte Maß-
regel des rücksichtslosen Verbots der Analyse durch Nicht-
ärzte, keine genügende Leistung zu sein. Man muß sich dann
um mehr bekümmern, die Bedingungen, unter denen die
Ausübung der analytischen Praxis gestattet ist, für alle, die
sie ausüben wollen, feststellen, irgendeine Autorität aufrichten,
bei der man sich Auskunft holen kann, was Analyse ist und
was für Vorbereitung man für sie fordern darf, und die
Möglichkeiten der Unterweisung in der Analyse fördern.
Also entweder in Ruhe lassen oder Ordnung und Klarheit
schaffen, nicht aber in eine verwickelte Situation mit einem
vereinzelten Verbot dreinfahren, das mechanisch aus einer
inadäquat gewordenen Vorschrift abgeleitet wird.
. . . Die analytische Ausbildung überschneidet zwar den Kreis
der ärztlichen Vorbereitung, schließt diesen aber nicht ein
und wird nicht von ihm eingeschlossen. Wenn man, was
heute noch phantastisch klingen mag, eine psychoanalytische
Hochschule zu gründen hätte, so müßte an dieser vieles ge-
lehrt werden, was auch die medizinische Fakultät lehrt: neben
der Tiefenpsychologie, die immer das Hauptstück bleiben
würde, eine Einführung in die Biologie, in möglichst großem
55
Umfang die Kunde vom Sexualleben, eine Bekanntheit mit
den Krankheitsbildern der Psychiatrie. Anderseits würde der
analytische Unterricht auch Fächer umfassen, die dem Arzt
ferne hegen und mit denen er in seiner Tätigkeit nicht
zusammenkommt: Kulturgeschichte, Mythologie, Religions-
psychologie und Literaturwissenschaft. Ohne eine gute Orien-
tierung auf diesen Gebieten steht der Analytiker einem großen
leü seines Materials verständnislos gegenüber. Dafür kann
er die Hauptmasse dessen, was die medizinische Schule lehrt
für seine Zwecke nicht gebrauchen. Sowohl die Kenntnis der
Fußwurzelknochen, als auch die der Konstitution der Kohlen
Wasserstoffe, des Verlaufs der Hirnnervenfassem, alles, was
die Medizin über bazilläre Krankheitserreger und deren Be-
kämpfung, über Serumreaktionen und Gewebsneubildun ff en
an den Tag gebracht hat: alles gewiß an sich höchst schätzens-
wert ist für ihn doch völlig belanglos, geht ihn nichts an
hilft ihm weder direkt dazu, eine Neurose zu verstehen und
zuheilen, noch tragt dieses Wissen zur Schärfung jener intellek
tue len Fähigkeiten bei, an welche seine T ä t£d j2£
Anforderungen «teilt Man wende nicht ein, der Fall W
so ahnlich, wenn sich der Arzt einer anderen medizinisch™
Spezialität, z. B. der Zahnheilkunde, zuwendet 1"^
kann er manches nicht brauchen, worüber er Prüfung ab
legen mußte, und muß vieles dazulernen, worauf iZ dt
Schule nicht vorbereitet hatte. Die beiden Fäll • j j ,
nicht gleichzusetzen. Auch für die' Ä^"Ü 1 J£
die großen Gesxchtspunkte der Pathologie, die Lehren von"
der Entzündung, Eiterung, Nekrose, von der Wechselwirkung
der Korperorgane ihre Bedeutung; den Analytiker führt seine
Erfahrung aber in eine andere Welt mit anderen Phänomenen
und anderen Gesetzen. Wie immer sich die Philosophie über
die Kluft zwischen Leiblichem und Seelischem hinwegsetzen
mag, für unsere Erfahrung besteht sie zunächst und gar für
unsere praktischen Bemühungen.
Es ist ungerecht und unzweckmäßig, einen Menschen,
der den andern von der Pein einer Phobie oder einer Zwangs-
vorstellung befreien will, zum Umweg über das medizinische
56
Studium zu zwingen. Es wird auch keinen Erfolg haben,
wenn es nicht gelingt, die Analyse überhaupt zu unterdrücken.
Stellen Sie sich eine Landschaft vor, in der zu einem ge-
wissen Aussichtspunkt zwei Wege führen, der eine kurz und
geradlinig, der andere lang, gewunden und umwegig. Den
kurzen Weg versuchen Sie durch eine Verbottafel zu sperren,
vielleicht, weil er an einigen Blumenbeeten vorbeiführt, die
Sie geschont wissen wollen. Sie haben nur dann Aussicht,
daß Ihr Verbot respektiert wird, wenn der kurze Weg steil
und mühselig ist, während der längere sanft aufwärts führt.
Verhält es sich aber anders und ist im Gegenteil der Um-
weg der beschwerlichere, so können Sie leicht den Nutzen
Ihres Verbots und das Schicksal Ihrer Blumenbeete erraten.
Ich besorge, Sie werden die Laien ebensowenig zwingen
können Medizin zu studieren, wie es mir gelingen wird, die
Ärzte zu bewegen, daß sie Analyse lernen. Sie kennen ja
auch die menschliche Natur.
. . . Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, daß
die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde und
dann ihre endgiltige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie
finde, im Kapitel Therapie, neben Verfahren wie hypnotische
Suggestion, Autosuggestion, Persuasion, die aus unserer Un-
wissenheit geschöpft, ihre kurzlebigen Wirkungen der Träg-
heit und Feigheit der Menschenmassen danken. Sie verdient
ein besseres Schicksal und wird es hoffentlich haben. Als
„Tiefenpsychologie", Lehre vom seelisch Unbewußten, kann
sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich
mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und
ihrer großen Institutionen, wie Kunst, Religion und Gesell-
schaftsordnung beschäftigen. Ich meine, sie hat diesen Wissen-
schaften schon bis jetzt ansehnliche Hilfe zur Lösung ihrer
Probleme geleistet, aber dies sind nur kleine Beiträge im
Vergleich zu dem, was sich erreichen ließe, wenn Kultur-
historiker, Religionspsychologen, Sprachforscher usw. sich dazu
verstehen werden, das ihnen zur Verfügung gestellte neue
57
Forschungsmittel selbst zu handhaben. Der Gebrauch der
Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer An-
wendungen | vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht
die w.cht.gste ist Jedenfalls wäre es unbillig, der einen An-
wendung alle anderen zu opfern, bloß weil dies Anwendungs-
gebiet sich mit dem Kreis ärztlicher Interessen berührt
Denn hier entrollt sich ein zweiter Zusammenhang in
den man nicht ohne Schaden eingreifen kann. Wenn die
Vertreter der verschiedenen Geisteswissenschaften die Psycho-
analyse erlernen sollen, um deren Methoden und Gesichts-
punkte auf ihr Material anzuwenden, so reicht es nS tau S
daß sie sich an die Ergebnisse halten, die in der analytischen
Literatur niedergelegt sind. Sie werden die Analyse S
ernen müssen auf dem einzigen Weg, der dazl offen steh"
ndem sie sich selbst einer Analyse unterziehen. Zu den Neuro-
tikern, die der Analyse bedürfen, käme so eine zweite Klasse
von Personen hinzu, die die Analyse aus intellektuellen Mo-
tiven annehmen, die nebenbei erzielte Erhöhung ihrer Leistungs-
fähigkeit aber gewiß gerne begrüßen werden. Zur Durch
fuhrung dieser Analysen bedarf es einer Anzahl von Analytikern
für die etwaige Kenntnisse in der Medizin besonders gering
Bedeutung haben werden. Aber diese — T .1» geringe
wollen wir Reißen müssen t^ bes J^^Z
Ausbildung erfahren haben. Will ma „ ihnen diese nicht 35
kümmern, so muß man ihnen Gelegenheit geben, Erfahrungen
an lehrreiche» und beweisenden Fällen zu sammeln, und
da gesunde Menschen, denen auch das Motiv der Wiß-
begierde abgeht, sich nicht einer Analyse unterziehen, können
es wiederum nur Nenrotiker sein, an denen - unter sorg
sanier KontroUe - die Lehranalytiker für ihre spätere, nicht-
amtliche Tätigkeit erzogen werden. Das Ganze erfordert aber
ein gewisses Maß von Bewegungsfreiheit und verträgt keine
kleinlichen Beschränkungen.
Vielleicht glauben Sie nicht an diese rein theoretischen
Interessen der Psychoanalyse oder wollen ihnen keinen Ein-
fluß auf die praktische Frage der Laienanalyse einräumen.
Dann lassen Sie sich mahnen, daß es noch ein anderes An-
58
wendungsgebiet der Psychoanalyse gibt, das dem Bereich des
Kurpfuschergesetzes entzogen ist und auf das die Ärzte kaum
Anspruch erheben werden. Ich meine ihre Verwendung in
der Pädagogik. Wenn ein Kind anfängt, die Zeichen einer
unerwünschten Entwicklung zu äußern, verstimmt, störrisch
und unaufmerksam wird, so wird der Kinderarzt und selbst
der Schularzt nichts für dasselbe tun können, selbst dann nicht,
wenn das Kind deutliche nervöse Erscheinungen, wie Ängst-
lichkeiten, Eßunlust, Erbrechen, Schlafstörung produziert. Eine
Behandlung, die analytische Beeinflussung mit erzieherischen
Maßnahmen vereinigt, von Personen ausgeführt, die es nicht
verschmähen, sich um die Verhältnisse des kindlichen Milieus
zu bekümmern, und die es verstehen, sich den Zugang zum
Seelenleben des Kindes zu bahnen, bringt in einem beides
zustande, die nervösen Symptome aufzuheben und die be-
ginnende Charakterveränderung rückgängig zu machen. Unsere
Einsicht in die Bedeutung der oft unscheinbaren Kinderneurosen
als Disposition für schwere Erkrankungen des späteren Lebens
weist uns auf diese Kinderanalysen als einen ausgezeichneten
Weg der Prophylaxis hin. Es gibt unleugbar noch Feinde der
Analyse; ich weiß nicht, welche Mittel ihnen zu Gebote stehen,
um auch der Tätigkeit dieser pädagogischen Analytiker oder
analytischen Pädagogen in den Arm zu fallen, halte es auch
für nicht leicht möglich. Aber freilich, man soll sich nie zu
sicher fühlen.
Übrigens, um zu unserer Frage der analytischen Behandlung
erwachsener Nervöser zurückzukehren, auch hier haben wir
noch nicht alle Gesichtspunkte erschöpft. Unsere Kultur übt
einen fast unerträglichen Druck auf uns aus, sie verlangt nach
einem Korrektiv. Ist es zu phantastisch zu erwarten, daß die
Psychoanalyse trotz ihrer Schwierigkeiten zur Leistung be-
rufen sein könnte, die Menschen für ein solches Korrektiv
vorzubereiten? . . . Die inneren Entwicklungsmöglichkeiten
der Psychoanalyse sind doch durch Verordnungen und Ver-
bote nicht zu treffen.
59
Die menschlichen Einigungsbestrebungen
im Lichte der Psychoanalyse
Von
Pfarrer Dr. Oskar Pfister
Zürich
Die nachfolgenden Ausführungen
sind ein Tai des Aufsatzes „Die
menschlichen Einigungsbestrebungen
im Lichte der Psychoanalyse (Von Kant
zu FreudJ«, der in dem am 6. Mai
1926 zum yo. Geburtstage Freuds
erschienenen Sonderheft der „Imago,
Zeitschrift für Anwendung der Psyl
choanalyse auf die Natur- und Geistes-
wissenschaften 1 ' (Band XII, Heft 2h)
veröffentlicht wurde.
Freuds Beiträge zur Psychologie der Zerklüftung
: . F l eU ^ ****** Metaphysiker, noch Ethiker, noch Prophet
Sem Reich sind die gegebenen Tatsachen und ihre wissenschaftliche
Bearbeitung soweit sie zur Erfüllung seiner ärztlichen Aufgab!
5£j?E A ^ U !™? Semer em Pi™chen Begriffs weit erforderlich
ist. Mehr als Positivist will er als Psychoanalytiker und Gelehrter
nicht sein. Wer ihm menschlich nähertreten durfte, weiß, daß
ihm Kants Einigungsbestrebungen aus der Seele gesprochen' sind
Daß er während des ganzen Weltkrieges in der von ihm heraus-
gegebenen „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse« Ange-
hörige der Zentralmächte und ihrer politischen Feinde als Redak-
teure und ständige Mitarbeiter zeichnen ließ, läßt tief in seine
Denkweise schauen. Die von ihm vertretene wissenschaftliche Rich-
tung bewahrte dank seiner Führung jene über allen Chauvinismus
hoch erhabene Haltung, die allein dem Wesen wahrer Wissen-
schaft entspricht, und braucht sich nicht zu schämen, daß un-
wissenschaftliches Organ in dieser Hinsicht eine Ausnahmestellung
innerhalb der Weltliteratur einnahm. Ganz im Geiste Kants klagt
Freud über den Krieg: „Es will uns scheinen, als hätte noch nie-
mals em Ereignis soviel kostbares Gemeingut der Menschheit
zerstört, so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich
60
das Hohe erniedrigt." ' Der Sehnsucht nach Aufhören des Krieges
gibt er beredten Ausdruck. Er erinnert daran, daß in jeder füh-
renden Nation „hohe sittliche Normen für den Einzelnen aufge-
stellt worden waren, nach denen er seine Lebensführung einzu-
richten habe, wenn er an der Kulturgemeinschaft teilnehmen
wollte", daß aber die Kulturstaaten untereinander diese Normen
nicht respektierten. Er bespricht die Enttäuschung über die Miß-
achtung des Völkerrechtes im großen Kriege, über die gesteigerte
Verlogenheit und Machtgier, „die Lockerung aller sittlichen Be-
ziehungen zwischen den Großindividuen der Menschheit".
Allein nun tritt Freud durchaus nur als Psychologe an das
Problem des Krieges heran. Genauer könnte man sagen: Er legt
das Fundament zu einer Psychopathologie der S ozietät.
Ihm ist der Krieg Atavismus und Regression (Rückbildung).
Dem unzulänglichen Rationalismus Kants, der alles Heil von der
Aufklärung erwartet, stellt er den Voluntarismus entgegen, der
den Intellekt nur als Instrument des Willens gelten läßt, so daß
auch der Scharfsinnigste sich plötzlich einsichtslos wie ein Schwach-
sinniger benimmt, sobald die verlangte Einsicht bei ihm auf einen
Gefühls widerstand stoßt. Die Großindividuen (Staaten und Volker)
schieben Interessen vor, indem sie Krieg erklären; in Wirklich-
keit gehen sie darauf aus, ihre Leidenschaften auszuwirken. In
jedem Einzelnen steckt ebenso wie im Menschen der Urzeit ein
Stück Feindseligkeit oder sogar Mordlust, das selbst in den innig-
sten Liebesbeziehungen nachwirkt.
Die knappen Andeutungen enthalten Ideen, deren Tragweite
noch nicht abzusehen ist. Die Psychoanalyse dringt in den Bereich
des Großindividuums ein. Erst damit wird eine biologische Psy-
chologie der verschiedenen menschlichen Gemeinschaften (Völker,
Klassen, Kirchen, wissenschaftlichen Schulen usw.) möglich.
Freud als Hygieniker der menschlichen Einigungs-
bestrebungen
Die verdientesten Förderer der Menschheit wollen niemals
Ziel sein. Sie führen über sich selbst hinaus. Sie entdecken wie
Moses ein gelobtes Land und blicken leuchtenden Auges hinein;
aber wenn sie es auch nicht selbst betreten, so rechnen sie zu
i) Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Imago I V (1915), S. 1. (Ges
Schriften, Bd. X.)
6l
den preiswürdigsten Entschädigungen für ausgestandene Mühsal
die Gewißheit, daß andere jenes Kanaan einnehmen werden.
Auch für das erhabene Problem der Menschheitseinigung will
Freud nur einen Anfang psychoanalytischer Untersuchung dar-
"K i»n St6Ckt Cin Paar We ^P fähle auf ; s «nen Nachfolgern
überlaßt er es, den von ihm begonnenen Weg auszubauen. Dem
Einzelnen ist kaum vergönnt, mehr als ein Stück dieser Völker-
straße zu verwirklichen. Vollends in der vorliegenden Skizze sind
nur ein paar dürftige Andeutungen möglich.
Die Psychoanalyse, auf die Großindividuen angewandt ver-
mittelt uns in erster Linie eine tiefere Wesensschau in die
Tatsachen menschlicher Zerklüftung und Gemeinschaft. Wir haben
l7Jt OZ £° gi % S SfCh ^^ dGn materiellen Erscheinungen
befaßt aber allerdings auch die psychologischen Determinanten
mitberucksichtigt.« Was wir aber mindestens ebenso notwe^d "
hatten, wäre eine Biologie des Zusammenlebens, eine Sozial
biologie und Kulturbiologie, wobei der Nachdruck auf die *ei,ti
gen Ursächlichkeiten zu liegen kommen müßte. Ohne Tieft«"
Psychologie war ein solches Unternehmen undurchführbar Pr^Ä
hat freie Bahn gebrochen. «unröar. Freud
Die Analyse verschafft uns den erforderlichen Einblick iw *Li
Struktur der menschlichen Zerwürfnisse und sJaTtui
gen Sie lehrt uns im Gegensatz zur Oberflächenpsychologie das"
Irrationale und Alogische dieser Prozesse verstehen und
überwindet damit den seichten Rationalismus, an dem die hi«
herigen Versuche zerschellen mußten. Aber diese irraHn^i 1
alogischen Machtfakoren stellen sich nicht als e w as M tTsch
und Mirakulöses heraus, wie es naive theologische ÄSSS
so gerne haben möchten, um ihren WiinatL», • aLur diisten
Feld zu erschließen: vielmehr erkennt SÄT ""^^
scharf *u formulieren, das Rationale im £Ä™ «möglichst
len, das Irrationale im vermeintlich £Är , 5*""-
drangungs- und Manifestationstheorie Tost d Rat, *"'
wmimon Haren und durchsichtigen Weil * ^
in einer
m i m uiu v-iioi^iiiigcxi weise.
ELenso gewährt Freuds Forschung Einblicke in den Zwangs-
charakter so vieler menschlicher Spannungen, die sich der Eini-
gung widersetzen. Das Wort „Zwang" gilt dabei nicht im übli-
chen Sinne, nach welchem dem Subjekte eine unwiderstehliche
1) Siehe meine Schrift „Der seelische Aufbau des klassischen Kapitalismus
und des Geldgeistes." Bircher, Bern.
62
innere Macht gegenübersteht. Von solchen „Obsessionen" unter-
scheide ich die „Insessionen", die nach genau denselben Gesetzen
zustande kommen, nur daß der Widerstand des Subjektes gänzlich
überwunden ist, so daß der Schein der freien Willens entschei düng
entsteht. Solche Insessionen, die die Menschen auseinanderreißen,
wirken oft nach Art einer posthypnotischen Suggestion, in welcher
der Fremdursprung der abgenötigten Handlung vergessen ist.
Damit ist bereits der unterschwellige Regierungsbezirk
angedeutet, als dessen Vollzug die menschlichen Absperrungen
und Feindseligkeiten sich für die tiefenbiologische Betrachtung
ergeben. Um ihn wissenschaftlich erfassen zu können, muß eine
kausale Untersuchung einsetzen, die wiederum erst seit Freud
möglich ist.
Bei dieser entwicklungsgeschichtlichen Arbeit erkun-
digt sich der Analytiker nach den Wurzeln der menschlichen
Zersplitterung und gelangt dabei zu einem ungeheuer verwickelten
Netz. Als besonders wichtig findet er immer und immer wieder
die Ödipus-Bindüng, den Narzißmus, Sadismus und Masochismus,
ferner eine Unmasse von sekundären Determinanten, wie Kastra-
tionsdrohung und andere sexuelle Traumen, lieblose Behandlung,
Kränkungen des Selbstgefühls hinsichtlich des körperlichen, geisti-
gen oder sozialen Wertes, Beeinträchtigungen des Strebens nach
freien Entwicklungen usw.
Eine analytisch belehrte Biologie der Großindividuen hätte
sodann die genetischen Prozesse mit ihren Kausalver-
hältnissen ausfindig zu machen. Sie müßte zu diesem Zwecke
gleichzeitig geistes- und naturwissenschaftlich orientiert sein. Sie
hätte die Entwicklung der menschlichen Sozietätsformen aufzu-
decken, und da ihr an der Feststellung der Ursächlichkeiten be-
sonders viel hegt, müßte sie den Gesetzen des menschlichen
Zusammen- und Auseinandergehens sorgfältigste Aufmerksamkeit
schenken. Außer den spezifischen allgemeinen Formen, die bei
diesen Prozessen hervortreten, müßte sie den im gesamten übri-
gen Geistesleben zutage tretenden Gesetzen nachgehen, der Ver-
drängung, Fixation, Introversion, Regression (der ontogenetischen
und phylogenetischen) usw. Sie hätte s-ich zu befassen mit den
Gesetzen der Symbolisation, der Affektverpflanzung, der Reaktions-
bildung u. dgl. Sie hätte Umschau zu halten nach dem latenten
Sinn der Zerklüftung, nach der Bekämpfung des Vaters und der
Gleichsetzung mit ihm und unzähligen anderen konstanten For-
men, in denen die menschliche Dissoziation sich vollzieht.
63
Auf Grund dieser Wesensschau wird es erst möglich, die
Heilung von Haß, Feindseligkeit, kalter Ablehnung, verständnis-
loser Einstellung unter den verschiedensten politischen, sozialen,
religiösen und anderen Großindividuen planmäßig ins Auge zu fassen.
Eine Sozialhygiene betritt den Plan. Es ist im höchsten Maße
bemerkenswert, wie dilettantisch und naiv bis auf den heutigen
Tag die Völkerbeziehungen behandelt wurden. Mit unvernünftigen,
jabeinahe verbrecherischen Methoden betrieb man die Völkerlenkung
schleppte die Blüte der Männerwelt vor die Schlachtbank, vernichtete
die kräftigsten Stützen des Volkswohles, unterband die wichtigsten
Blutadern eines gesunden Menschheitslebens, also auch Gemein-
schaftslebens und beging Verrat an den zentralen Interessen, indem
man mit jämmerlichem Krämergeist die oberflächlichen Kleininter-
essen förderte. Im Leben der Einzelnen gewährt man dem Arzt ein ge-
wichtiges Wort : Der Sportsmann, der Fabriksdirektor, der Lohnarbei-
ter lassen sich von ihm beraten, wenn das Leben auf dem Spiele
steht. Für die Beurteilung der groß individuellen Lebensinteressen
aber fehlte der Arzt. Jeder Staatsmann ließ sich'von seinen Kal-
kulationen leiten, und die völkerhygienischen Rücksichten blieben
außer acht. Angesichts solchen Wahnsinns darf man sich über
die Greuel des Weltkrieges und die Torheiten des sogenannten
Weltfriedens nicht wundern.
Freud zeigt uns die hygienischen Grundsätze der Völkergemein-
schaft. Er lehrt Uns die allein wirksame Behandlung jener dissozia-
tiven Störungen des menschlichen Gemeinschaftslebens, die schon
Kant als krankhaft erkannte. Er lehrt uns, daß wir allen Ernstes
auch die groß individuellen Neurosen, als welche wir Krieg, fana-
tischen Haß, Unterdrückung u. dgl. sehr oft (nicht immer) betrach-
ten müssen, nach psychoanalytischen Prinzipien behandeln müssen.
Er hilft so zur Überwindung der pathogenen Tiefenmächte und
zur Reintegration der Liebe. Was Aufklärung und überlieferte
Diplomatenkunst aus leicht verständlichen Gründen nicht erzielen
konnten, das rückt nun dank der analytisch vertieften Sozial-
hygiene im weitesten Sinne in den Bereich des Ausführbaren.
Und so entfacht Freud die zündende Fackel, die den erhabenen
Geistern des Friedens und der Liebe ihren segensreichen Einzug
in die Großindividuen der Menschheit erleichtern wird.
64
Kann das Unbewußte erzogen werden?
Vortrag, gehalten in der „Montessori Society' in London
von
M. D. Eder
Aus dem am 6. Mai 1926 zum
JO. Geburtstage Sigm. Freuds er-
schienenen Sonderheft der „Imago,
Zeitschrift für Anwendung der Psycho-
analyse auf die Natur- und Geistes-
wissenschaften 11 (Bd. XII, Heft 2'ß).
An euch, ihr Lehrer, ergeht der Ruf, die Menschheit zu retten.
Der gegliederte Teil der Menschen fühlt sich gerade in der heu-
tigen Zeit besonders elend und traurig und wendet sich, nachdem
er sein Heil auf verschiedene Weise gesucht hat, an euch, in der
Hoffnung, daß ihr einen Weg aus dem Sumpf finden werdet. Das
erscheint auf den ersten Blick als eine vernünftige Hoffnung, denn
selbst wenn ihr mit Le Play darin übereinstimmt, daß mit jeder
neuen Generation eine Horde von kleinen Wilden in die Welt
einbricht, fällt ja euch Lehrern die Aufgabe zu, diese Wilden zu
zivilisieren; und da der Ruf nach mehr und immer mehr Erzie-
hung allgemein ist, muß man wohl annehmen, daß wir recht
zufrieden mit der Art sind, wie ihr eure Aufgabe erfüllt -
nur würden wir wünschen, daß ihr eine noch höhere Stufe
erreicht.
„Was taugt ein Mensch ohne Unterweisung?« fragt Mr Hiob
Huß in The Undying Fire« von H. G. Wells. „Er wird geboren
wie das Vieh, unersättliche Selbstsucht, Gier, die nicht locker
laßt, ein Etwas, bestehend aus Gelüst und Angst. Er sieht alles
nur in Beziehung zu sich selbst. Sogar seine Liebe ist ein Ge-
schäft; und seine äußerste Anstrengung ist nichtig, denn er muß
ja doch sterben. Und wir Lehrer allein sind es, die ihn aus dieser
Selbstbefangenheit emporheben können — wir Lehrer. Und so
entgeht er durch uns und nur durch uns dem Tode und der
Nichtigkeit. Em ungelehrter Mensch ist ein vereinsamtes Wesen,
so verlassen in seinem Zielen und seinem Schicksal wie nur irgend-
ein Tier. Der unterrichtete Mensch aber ist dem engen Gefängnis
seines Selbst entronnen zur Teilnahme an einem nichtsterblichen
Leben, das begann, wir wissen nicht wann, und das sich aus-
breitet bis über die Weite der Gestirne."
65
Aber da Erziehung doch nicht ausschließlich eine Errungen-
schaft des zwanzigsten Jahrhunderts ist, mag wohl die Frage am
Platze sein: Gibt es eine Rechtfertigung und welche dafür, daß
wir die Erfüllung so ausschweifender Hoffnungen von der Er-
ziehung erwarten. Dabei wollen wir für einen Augenblick an-
nehmen, daß das vollendetste System, das man sich nur wünschen
kann, sagen wir das der Montessori, allgemeine Anwendung fände.
Wenn der unterrichtete Mensch sich wirklich so unendlich
hoch über das ausschließliche Interesse am eigenen Selbst empor-
heben würde, wenn er wirklich ein um so viel edleres, so viel
lebendigeres Leben führt, dann brauchte ich keine Fragen zu
stellen, keiner Angst für die Zukunft Ausdruck zu geben. Denn
sicherlich besitzt auch die dümmste und unwissendste Person in
diesem Raum, ich selbst, mehr Wissen, als der Wissendste des
Altertums hatte, ebenso wie unsere Urenkel einen größeren Vorrat
an Wissen haben werden, als irgendeiner von uns hier bean-
spruchen kann. Aber so angenehm und erfreulich es auch sein
mag, über die wachsenden Quellen des Wissens nachzudenken,
die heute überall sprudeln, obgleich ich mich rühmen kann, mehr
zu wissen, als Piaton wußte, so lehren uns doch die Weltgeschichte
und Weltliteratur, daß größeres Wissen nicht gleichbedeutend ist
mit größerer Weisheit. Wir bleiben noch immer, wie Shaw sagt
die kecken, launenhaften Affen, die wir in der Dämmerzeit der
Geschichte waren; betroffen sehen wir, wie bei den Helden und
in den Heldenzeiten der Vergangenheit ebenso wie heute, Kämpfe
Zweifel, Streben nach einem besseren Zustand auf dieser Erde'
nach Frieden unter den Menschen, nach dem Ende des Hasses
und der Erhittertheit ebenso zwischen den Individuen wie zwischen
den Völkern hart neben Unterdrückung, Gier und Grausamkeit
erscheinen, und zwar nicht nur in ein und derselben Geschichts-
epoche, nicht nur in verschiedenen Lebensperioden desselben Indi-
viduums, sendern fast in ein und demselben Augenblick. Ja, noch
mehr, jene Anthropologen, die sich in den letzten Jahren der
Erforschung der Psyche solcher Völker widmeten, die eine Kultur
haben, aber eine von der unsern verschiedene, eine Erziehung,
aber kein solches System des Unterrichts, wie Hiob Huß es er-
träumt, finden die genauesten Parallelen zwischen den grund-
legenden Ideen und Affekten der Wilden und unseren eigenen.
Das Unbewußte ist überall gleich und ich glaube, wir können die
Hypothese aufstellen, daß es gleich geblieben ist, seitdem die
Menschen Menschen sind.
66
Nur als Stütze unseres Gedächtnisses will ich im Umriß Freuds
Ansicht üher die Eigenart des Unbewußten wiedergeben: Das Un-
bewußte besteht aus Triebvertretungen, die Wunschimpulse sind.
Im Unbewußten gibt es kein Nein, keine Unsicherheit; entgegen-
gesetzte Wünsche existieren nebeneinander, ohne einander auszu-
löschen; es herrscht die äußerste Beweglichkeit, so daß durch
Verschiebung und Verdichtung eine Vorstellung vollkommen ver-
deckt werden kann; das Unbewußte ist zeitlos, d. h. seine Prozesse
unterliegen keinerlei Veränderungen durch die Zeit; die Prozesse
des Unbewußten haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun, sie
sind dem Lustprinzip unterworfen, d. h. sie ersetzen äußere Wirk-
lichkeit durch psychische.
Ich habe bei meinem heutigen Vortrag diese Auffassung als
gebilligt angenommen, da ich weiß, daß Ihre Vereinigung schon
andere Vorträge über das Unbewußte angehört hat; es wäre zu
lästig, wenn "wir bei jeder Auseinandersetzung erst einen gemein-
samen Ausgangspunkt suchen müßten. Ich bemühe mich, von einem
streng wissenschaftlichen Standpunkt aus zu sprechen, d. h. in die
Kette von Geschehnissen kein äußeres Moment sich einschieben
zu lassen. Es ist der Standpunkt, den der gewöhnliche Mensch im
täglichen Leben einnimmt. Wenn Sie den Wasserhalm drehen und
kein Wasser herauskommt, so werden Sie nach dem Installateur
senden; Sie werden nicht bei Sekten Hilfe suchen und nicht so
handeln, als glaubten Sie an die Einwirkung eines bösen Geistes.
Nehmen wir als bewiesen an, daß das Unbewußte durch die
ganze Menschheitsgeschichte unverändert blieb, wie können wir
dann die Veränderungen in den menschlichen Verhältnissen er-
klären, Veränderungen, die ich gerne als Fortschritt ansehen will.
Wir müssen auch daran denken, daß die meisten dieser bedeut-
samen Wandlungen relativ jung sind; ist doch die wunderbarste
aller Kulturänderungen, der Ackerbau, keine siebentausend Jahre,
zählt also vielleicht weniger Generationen als dieser Raum
Menschen.
Vor allem ist die Annahme unrichtig, daß eine Moral — ich
spreche vom menschlichen Standpunkt aus — den Tieren unbe-
kannt ist. Sonderbarer erscheint es, daß gewisse menschliche
Charakterzüge, z. B. Grausamkeit ohne Nutzen als Zweck, nicht
zum Wesen der anderen Tiere gehören, während das, was uns
als ein Beispiel von Liebe und Güte erscheint, sich durch das
ganze Tierreich findet. Auf den großen Steppen von Südamerika
war ich oft Zeuge folgender Szene: Dutzende von Geiern schweben
5* 6 7
über einem sterbenden Kalb, das die Mutter, bereit zu einem
Verteidigungskampf, bewachte; sie verscheucht jeden Vogel, der
scheinbar herankommen will; keiner wagt es, ihrem sterbenden
Jungen zu nahe zu kommen. Damit Sie Ihre Sympathie bei diesem
Beispiel von Elterninstinkt nicht übermannt, will ich hinzufügen,
daß sich dte Geier in dem Moment, in dem das Kalb tot ist, auf
die Leiche stürzen, während die Mutter ruhig wieder zu grasen
beginnt. In Wahrheit ist das Verhalten der Kuh so vernünftig,
wie es das einer menschlichen Mutter unter ähnlichen Umständen
wäre; für die Betätigung des Mutterinstinktes besteht hier kein
Anlaß, da die Geier nichts Lebendes anrühren; sie fressen nur
Aas und töten ihre Beute nicht.
Die Kuh zeigt sich hier ebenso unvernünftig wie die Mutter
aus Steiermark, die ihr Kind vor den Gefahren des Zahnens da-
durch schützt, daß sie einer lebendigen Maus den Kopf abbeißt
und ihn an einem Seidenfaden um den Hals des Kindes hängt.
Wenn wir nun die Antwort auf die Frage finden können
warum die Mutter in London diesen Brauch nicht üben dann
dürften wir auf dem Wege sein, auch die Frage zu beantworten
die den Titel dieses Vortrages bildet.
Wir können ruhig annehmen, daß die steirischen Mütter mit
ihren Schutzmitteln dieselben Resultate erzielt haben, wie andere
ohne diese. Zweifellos hat sich das Zahnen des Kindes unter Be-
gleitung des Mauskopfes recht häufig ohne jede Schwierigkeit
vollzogen, während das Kind in anderen Fällen, ungeachtet der
Opferung der armen Maus, ziemlich viel zu leiden hatte Ich
erinnere mich noch aus der Zeit des Beginnes meiner medizini-
schen Laufbahn, daß der Arzt damals oft Einschnitte in das Zahn-
fleisch des Kindes machte. In Südamerika wieder wurde wie ich
erfuhr, das Zahnfleisch mit dem Manna eingerieben. Heute wissen
alle die beruflich mit zahnenden Kindern zu tun haben, daß keine
große Gefahr damit verbunden ist und daß weder eine Maus noch
das Zahnfleisch des Kindes dabei geopfert werden muß.
Der lächerliche und vielleicht auch abstoßende Brauch in
Steiermark hat aber doch eine Bedeutung. Eine vollständige Er-
klärung kann ich Ihnen nicht geben, weil ich keine weiß; ich
kenne die Geschichte dieses Ritus nicht und auf alle Fälle würde
uns das zu weit von unserem Thema abführen. Aber zugrunde
liegt, wie bei vielen ähnlichen Zeremonien, eine gewisse feindliche
Einstellung gegen das Kind. Die steirische Mutter empfindet wie
andere Mütter große Freude und großen Stolz darüber, ein Kind
68
zu haben, es ist der Gegenstand unendlicher Liebe, Hingebung,
Sorgfalt. Aber es ist auch eine Hemmung für die Befriedigung
der egoistischen mütterlichen Neigungen; das Kind stört die Nacht-
ruhe usw. In anderen Gemeinschaften fanden solche feindliche
Gefühle ihren Ausdruck in der Tötung des Kindes; in Steiermark
in der Opferung einer Maus und in unserem duldsamen London
vielleicht einfach in dem Ausruf der Bonne: „Hol' der Kuckuck
das Kind!"
Wir entdecken also, daß das unbewußte Feindschaftsgefühl
gegen das Kind geblieben ist; nur seine Äußerungen sind einer
unaufhörlichen Wandlung unterworfen — von der Tötung des
Kindes bis zu einem Ausruf der Ungeduld; — alles vollzieht sich
in den meisten Fällen unbewußt und findet unter Umständen keinen
direkteren Ausdruck als den der Unzufriedenheit der Mutter mit
der Art, wie die Bonne dem Kind das Häubchen aufgesetzt hat
— also in einer Verschiebung des ursprünglichen Affektes.
Man könnte die Frage aufwerfen, ob der Affekt in unserem
zivilisierten Gemeinschaftsleben eben so stark ist wie unter Wilden
oder wie er bei den Menschen der Urzeit war. Ich bin außer-
stande, diese Frage zu beantworten, denn wir haben unglücklicher-
weise keinen verläßlichen Maßstab für Gefühle. Aber meine Be-
obachtungen legen mir die Vermutung nahe, daß im ganzen die
mütterlichen Gefühle, zärtliche wie feindliche, unter den Wilden
ebenso ausgeprägt sind wie unter hochkultivierten Völkern. In
einem Kannibalenstamm in Südamerika, bei dem ich mich eine
Zeitlang aufhielt, entsprach die liebevolle Hingabe dieser menschen-
fressenden Mutter und Väter für ihre Kinder durchaus den Forde-
rungen irgendeines englischen belehrenden Buches über Mutter-
schaft.
Im übrigen können wir von der Frage der Stärke, die aller-
dings für das einzelne Individuum wie für jede besondere Rasse
ungeheuere Wichtigkeit besitzt, die nach der Art dieses Gefühls
trennen. Nachdem ich die ursprüngliche Einheit dieser primitiven
Impulse durch die ganze Geschichte vertreten habe, muß ich zu-
nächst ihr weiteres Schicksal skizzieren, soweit mit den Wand-
lungen, denen sie unterworfen waren, die Erziehung etwas zu
tun hat. Unter normalen Umständen besteht der erzieherisch
wichtigste Prozeß in dem Ersatz des ursprünglichen Objekts durch
ein anderes, das dem sozialen Leben des Individuums besser an-
gepaßt ist. In vielen Fällen ist die Umwandlung des Objekts be-
gleitet von einer Einschränkimg oder Aufhebung des Ursprung-
69
liehen Zieles. Ist die Umwandlung in zufriedenstellender Weise
durchgeführt, dann muß das ursprüngliche Ziel die Fähigkeit ver-
lieren, den Impuls in Tätigkeit zu setzen. Auf solchen erfolg-
reichen Umwandlungen beruht die Zivilisation; die Erziehung
kann unmittelbar verhältnismäßig wenig dazu tun, die Wandlun-
gen selbst hervorzubringen, aber sie kann sie auf verschiedenste
Art beeinflussen.
Die erste ist zwar negativ, aber von grundlegender Bedeutung
für das Wachstum des Individuums. Sie hat zur Voraussetzung
die Erkenntnis, daß die Erziehung zur Kultur bei der Geburt
beginnt und daß die ersten sechs Lebensjahre ausschlaggebend
sind; sie wird daher alle psychologischen Hemmungen für die
geistige Entwicklung beseitigen und Bedingungen für die freie
Entwicklung des Kindes zu sichern trachten. Solche Bedingungen
anerkennt ja auch die Montessori- Gesellschaft als wünschenswert
wenn auch erst in einem späteren Stadium.
Neue Erkenntnisse in der Psychologie des Unbewußten er-
möglichen uns ein besseres Verständnis der Rolle, die der Lehrer
bei diesem Prozeß spielen kann. Neben dem Ich, das aus trieb-
haften Wünschen besteht, wächst im Kinde ein anderes Ich, das
sich zunächst nach jenen Menschen formt, die in unmittelbare
gefühlsbetonte Berührung mit dem Kind kommen, im Normalfall
also nach den Eltern. In diesem Identifizierungsprozeß nimmt
das Kind die Eigenheiten des einen oder anderen Elternteiles an;
unter gewöhnlichen Verhältnissen identifiziert sich der Knabe mit
dem Vater, das Mädchen mit der Mutter. Es handelt sich dabei
nicht, daran müssen wir festhalten, um eine bewußte Nachahmimg,
sondern um ein Streben, die erwachsene Person zu sein, ein
Streben, von dem das Kind selbst nichts weiß. Diesem zweiten
Ich, diesem Über-Ich, wie Freud es genannt hat, verdanken wir
das Erwachen des Gewissens. Nun kann aber, wie ich es schon
gesagt habe, das Objekt eines instinktiven Impulses wechseln.
Wenn das Kind in das schulpflichtige Alter kommt, wird statt
der Eltern der Lehrer zum Objekt der Identifizierungsbestrebungen.
Solch eine Identifizierung kann vollständig oder nur teilweise
stattfinden, aber von diesem Prozeß hauptsächlich wird der Erfolg
des Lehrers abhängen, d. h. ob er seine Schüler instand setzen
kann, ihre primitiven Impulse in Einklang mit der Kultur ihrer
Generation zu bringen.
Wenn meine Skizzierung der Methoden zur Zähmung der
unbewußten Impulse richtig ist, so werden Sie wohl zu der An-
70
sieht kommen, daß die Erziehung zwar die ganze schwere Auf-
gabe auf sich nehmen muß, jede Generation aus „kleinen Wilden"
— vom Standpunkt des Erwachsenen aus, denn vom psychologi-
schen aus muß man sagen, daß das Kind amoralisch ist und nur
zu bald ein Gewissen und sogar eine Supermoralität entwickelt —
zu Menschen mit den hohen ethischen Forderungen meiner Zu-
hörer zu machen, daß aber ihre Aussichten recht ungünstig sind.
Tatsächlich gibt ein österreichischer Pädagoge (Dr. Bernfeld)
seinem letzten Buch über Erziehung den Titel „Sisyphos", weil
der Erziehungsprozeß für jede Generation von Anfang an wieder-
holt werden muß. Nun gut, wenn das der Fall ist, brauchen wir
darüber nicht mehr Tränen zu vergießen als über die Tatsache,
daß jedes Individuum sein Leben als Parasit beginnt, daß es erst
nach einer Reihe von mißglückten Versuchen aufrecht stehen
lernt, daß es seine Milchzähne nur bekommt, um sie wieder zu
verlieren, wenn die zweiten durchbrechen. Ohne den Satz vom
Sündenfall zu unterschreiben, kann man doch an der Voraus-
setzung festhalten, daß vom Standpunkte der Erwachsenen aus
die Natur des Menschen böse ist oder doch ihre engen Grenzen
hat und daß er seine bemerkenswerten Leistungen nur kraft hero-
ischer Zucht vollbringen konnte; und jede Erziehung trägt diesen
Charakter.
Bevor ich mich mit anderen Möglichkeiten befasse, muß ich
kurz die Verhältnisse ins Auge fassen, die die Möglichkeit einer
Erziehung in menschlichen Angelegenheiten gebracht haben mögen
Die Instrumente, durch welche der Mensch instand gesetzt wurde,
sein Wissen von Generation zu Generation zu erweitern, sind die
Sprache und ihre Tochter, die Schrift. Prof. Elliot Smith bemerkt:
„Im Augenblick, wo man es mit menschlichen Wesen zu tun
hatte, die dank der Erwerbung der Sprache einander Mitteilungen
zukommen lassen und die Früchte ihrer Erkenntnis kommenden
Generationen übermitteln können, hat sich ein neuer Zustand
der Dinge herausgebildet, für den wir nirgends anders eine genaue
Parallele finden." Die in mündlicher und schriftlicher Tradition
übermittelten Früchte der Erfahrung sind, wie Sie aus der Natur
der Sachlage erkennen, nur von einem gewissen Alter an für das
Kind verwertbar. Sie können keineswegs die Neigungen ändern,
die es bei der Geburt auf die Welt mitbringt.
Nun, da wir das Instrument kennen, gibt es irgendeine wissen-
schaftliche Erklärung dafür, wie es zur Kulturentwicklung kam?
Soweit ich die Dinge überblicke, läßt es sich nicht bestreiten,
71
daß die Menschheit insgesamt eine Tendenz zur Änderung zeigt
(nennen wir es Fortschritt); dieselbe Erscheinung sehen wir auch
täglich rings um uns im organischen Leben und die Physiker
haben uns gelehrt, sie auch in der anorganischen Welt zu finden.
Soweit es uns Menschen betrifft, können wir uns wohl vor-
stellen, daß unter dem Druck des Daseinskampfes das Gebäude
der Zivilisation durch Opfer in bezug auf die Art der Befriedi-
gung primitiver Impulse errichtet wurde und daß er immer von
neuem geschaffen werden muß, denn der Reihe nach wird jedes
einzelne Individuum, wenn es am Gemeinschaftsleben Anteil ge-
winnt, gezwungen, um des Gemeinwohles willen das Opfer seiner
instinktiven Wünsche zu wiederholen. Diese Auffassung macht
die Annahme von ererbten Dispositionen, und von der Übermitt-
lung von erworbenen Eigenschaften überflüssig. Das Ineinander-
wirken von Geistigem und Physischem, das hiehergehören würde,
ist ein zu weitläufiges Thema, um es hier zu berühren. Ich will
nur betonen, daß „geistig" und „physisch" nicht als Ausdrücke
für verschiedene Wirkungskreise gebraucht werden dürfen. Es
sind nur zwei verschiedene Arten, die „an sich" nicht bekannten
Vorgänge zu erfassen.
Meine bisherige Antwort auf die Frage, ob irgendein Erzie-
hungsprozeß eine Wandlung des innersten Wesens hervorbringen
kann, war also so weit negativ, wurde aber modifiziert durch
meinen Versuch, zu zeigen, daß Änderungen in den Objekten und
Zielen unserer primitiven Impulse erreicht werden können um
sie mit den Erfordernissen unserer Kultur besser in Einklang zu
bringen. Das ist keine wirkliche Änderung, zeigt aber die äußeren
Merkmale einer solchen. Der Unterschied ist nur, daß wir immer
wachsam sein müssen. Es besteht für uns immer die Möglichkeit
des Zurückgleitens - manche werden es wünschenswert nennen -
in eine leichtere und weniger anstrengende Art von Gemein-
schaftsleben.
Gibt es irgendwelche Verhältnisse, die die Erziehungsaufgabe
weniger schwierig machen könnten? Ein Resultat der Psycho-
analyse, das man wohl nicht voraussehen konnte, ist der Nachweis,
daß Neigungen, Charakterzüge, die bisher der Erbanlage zuge-
schrieben wurden, in Wirklichkeit auf die Einwirkungen des
Milieus zurückzuführen sind; genauer gesagt, daß die ersten
Lebensjahre den Charakter und das Schicksal des Individuums
bestimmen können; daß viele Züge, die man als ererbt ansah,
in Wirklichkeit durch den psychologischen Prozeß der Identifi-
r
kation erworben wurden. Damit soll natürlich die Erblichkeit
nicht bestritten werden, aber wir sehen, daß die Bedeutung der
Milieus stark unterschätzt wurde, sowohl von den Sozialreformern,
die alles Gewicht auf die Naturanlage legten, als auch von denen,
die die Ernährungsfunktionen als das einzig Wichtige erklärten.
Im ganzen und großen können wir sagen, daß jedes Kind in
Europa erzogen wird, um dem herrschenden religiösen, sozialen
und ökonomischen Regime angepaßt zu werden. Es macht sehr
wenig aus, ob man es mit den Kindern der Armen oder der
Reichen zu tun hat, ob mit dem Sohn der Rebellen oder der
Konservativen, des Prinzen, Aristokraten oder Bauern. Es ist ein
Freihandelssystem, wo man auf dem Markt für den letzten Preis
alle seine Güter verkaufen kann: Muskelkraft oder Frechheit, Bier
oder Gehirn. Ich will nicht andere Systeme in Betracht ziehen, ich will
nur versichern, daß sie möglich wären und daß die Wirkung einer
solchen Veränderung der Umwelt auf das Kind unermeßlich wäre.
Einige unserer Schriftsteller, z. B. Morris in „News from Nowhere"
und Hudson in „The Crystal Age" haben es gewagt, die möglichen
Veränderungen auszumalen. Keine dieser Utopien braucht wahr
zu sein; wahr aber ist, daß die psychologische Veränderung un-
geheuer und die Sisyphusarbeit des Lebens vielleicht wesentlich
leichter wäre.
Wandlungen dieser Art hängen mit größeren und geringeren
Veränderungen in der Umgebung des Individuums zusammen.
Vom sozialen Standpunkt aus beruht jede Verbesserung für Indi-
viduum und Gesellschaft auf der Erziehung, selbst wenn wir, als
Hypothese, annehmen wollten, daß mit dem Verschwinden der
Hindernisse, Verbote und Hemmungen, Wachstum und Anpassung
leichter vor sich gingen. Letztere ergibt sich im allgemeinen aus
der Möglichkeit, das Über-Ich und das Ich in besseren Einklang
miteinander zu bringen und so die intra-psychischen Konflikte
zu verringern.
Wir müssen nun noch die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß
das Unbewußte selbst sich ändert. Die Grenzen meines Themas
verbieten es mir glücklicherweise, mich lange bei Methoden auf-
zuhalten, die heute gleichsam in der Luft liegen, wie Zuchtwahl
oder angewandte Eugenik. Ich will mich auf das psychologische
Gebiet beschränken und untersuchen, ob die Änderungen, die
sich unter dem Druck der äußeren Verhältnisse vollziehen, jemals
eine so untrennbare Verbindung mit unserem geistigen Wesen
eingehen, daß sie zu einem festen Bestandteil unserer Psyche
75
werden; und ob die Schwierigkeiten der Anpassung; an einen vor-
geschrittenen sozialen Zustand von innen überwunden werden, so
wie der Säugling die Abhängigkeit von der ' Mutter dadurch über-
windet, daß er Zähne bekommt, oder wie Hand, Auge und Mund
des Kindes sich zu gegenseitiger Übereinstimmung entwickeln.
Wenn wir einen Rückblick auf die wirre Menschheitsgeschichte
werfen, so müssen wir, da uns nur dürftige Reste erhalten sind,
einen großen Teil der frühen Geschichte uns von unserer Phan-
tasie ausmalen lassen. Wir begreifen, daß gewisse Entdeckungen
— und über die größten haben wir keine Nachrichten — den
Gesichtskreis des Menschen von Grund aus verändert haben
müssen. Zu den wichtigsten dieser Errungenschaften müssen wir
den Ackerbau und die Zähmung der Tiere rechnen. Die Sprache,
aus der ich die ganze Beziehungsmöglichkeit als etwas dem
Menschen Eigentümliches herzuleiten wagte, stellt ein wesent-
liches Charakteristikum dar und eine Gattung von Lebewesen,
die diese Möglichkeit, sich untereinander zu verständigen, nicht
besitzt, wäre, auch wenn sie in jeder anderen Hinsicht den Men-
schen gliche, ihnen nicht zuzurechnen. Ackerbau bedeutet, daß
der Mensch, um sein Leben zu fristen, nicht länger auf das
Sammeln der zufällig wachsenden Früchte oder Beeren angewiesen
ist, sondern die Zauberkraft besitzt, aus einem vieles zu machen:
es kann also von nun ab mit ein paar Samen, die den Hunger
eines Menschen für ein paar Tage stillen würden, der Unterhalt
eines ganzen Stammes beschafft werden. Diese Tiere, die der
Mensch in einer Zeit zähmte, aus der keine Nachrichten stammen,
sind die einzigen, deren Zähmung ihm je gelungen ist.
Diese grundlegenden Errungenschaften müssen, sollte mau
glauben, die aggressiven Impulse des Ich verändert und die ersten
erfolgreichen Versuche zu einer höheren Organisation als der der
Horde begründet haben.
Wenn Sie mir nun gestatten wollen, meine Phantasie spielen
zu lassen, so möchte ich nur für einen Moment die Möglich-
keiten ausmalen, die sich infolge der Entdeckung des Unbewußten
eröffnen. Ich beschäftige mich hier nicht mit den metaphysischen
Spekulationen so vieler großer Philosophen von Spinoza bis
E. v. Hartmann, sondern mit der genauen Kenntnis der Wirkung
des Unbewußten in uns allen, die wir der Psychoanalyse ver-
danken. Ihr Resultat wird ganz verschieden sein von dem Wissen,
welches über die äußere Welt gesammelt wird, gleichgültig ob
von der Physik oder von der Physiologie; Wissenschaften, die
74
sich täglich leicht beherrschbare Vorstelhmgskreise unterwerfen.
Diese Art der Psychologie handelt von den treibenden Kräften
unseres geistigen Seins; sie entdeckt die geheimen Quellen un-
seres Strebens, unseres Tims und unseres Versagens. Sie erforscht
ein Geheimnis, dessen Enthüllung der Mensch tatsächlich mit all
seinen Kräften zu verhüten trachtete. Wir finden, nicht daß wir
alle Sünder sind, aber ganz genau, in welcher Art wir sündigen;
wir finden, daß wir Zeitgenossen der nackten Wilden vergangener
Jahrtausende sind. Wie bei so vielen schlimmen Nachrichten, die
wir uns mitzuteilen furchten, finden wir, daß wir diese Eröffnungen
leichter ertragen können als wir dachten. Nun ist es, denke ich,
offenbar, daß nur wenige Menschen — wenige der geistig kranken —
die Psychoanalyse brauchen werden, um ganz zu gesunden; daß
vielleicht nur wenige, die Wißbegierde und Mut in hohem Grad
besitzen, sich entschließen werden, diese Wissenschaft gründlich
zu studieren, auf die einzige Art, in der heute Wissenschaften
studiert werden müssen, nicht aus Büchern, sondern im Labora-
torium. Trotzdem bin ich so kühn zu glauben, daß das Verständnis
des Unbewußten sich verbreiten und einen Teil des geistigen
Rüstzeugs der Menschen überhaupt bilden wird. Das Unbewußte
ist zeitlos und ich will ihm folgen, indem ich für meine Prophe-
zeiung keine zeitliche Grenze angebe. Wenn einmal einige der
dynamischen Faktoren des Unbewußten, die der libidinösen Strö-
mungen, des unbewußten Egoismus, des unbewußten Schuldgefühls
— denn der Mensch, verbirgt sonderbarerweise auch vieles von
seiner Moral vor sich selbst — nicht mehr eine Sache des er-
lernten Wissens, sondern des Wirklichkeitserfassens sind, dann
wird, denke ich, das Unbewußte über die Erziehbarkeit hinaus-
gewachsen sein, wenigstens teilweise, aber es wird dann von
selbst in die Kanäle strömen, die die Männer und Frauen der
Zukunft für die wünschenswertesten halten. Durch Wissenschaft
Meister der Außenwelt, Meister ihrer selbst, wenn in ihnen für
die mächtigen Kräfte der Liebe das Verständnis erwacht ist, ge-
wachsen dem Hasse auf seinen uns verkrüppelnden Wegen und
seiner Schwester, der Angst, die bisher verkleidet sich einschleicht,
dann wird des Sehers Gesicht sich erfüllen, wir werden unsere
Schwerter in Pflugscharen verwandeln, ohne solch ein künstliches
Gebilde wie es z. B. der Völkerbund ist, aber nie, ohne die Hilfe
eines Werkes, wie es das Montessorische ist.
75
Gedenkrede über Karl Abraham
(In der Trauerfeier der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung«, 6. Januar 1926)
von
Theodor Reik
■
■
Aus dem Abraham-Gedenkheft (Bd. XII
Heft 2) der „Internationalen Zeitschrift
für Psychoanalyse", das außer einer nach-
gelassenen Arbeit von Abraham („Psycho-
analytische Bemerkungen zu Coues Ver-
fahren der Selbstbemeisterung u ) eine aus-
führliche Biographie und wissenschaftliche
Würdigung Abrahams aus der Feder von
Ernest Jones (London) einhält und auch
die in den Trauerfeiern in Berlin, Wien
und Moskau gehaltenen Reden wiedergibt.
Es sind kaum einige Tage, seit uns die Nachricht vom Tode
X. J . ™ *• ? mS erreichte ' ™ d es erscheint verfrüht, eine ein-
gehende Würdigung seiner einzelnen wissenschaftlichen Arbeiten
dW G T w geb V U 7 Uen - W " he *»**°* ™ vielmehr
damit, den Weg unseres Freundes in großen Zügen zu verfolgen,
und müssen es einer späteren Zeit vorbehalten, auf die Bedeutung
seiner einzelnen Leistungen einzugehen.
Abraham hatte als Assistent Bleulers bereits wissenschaft-
liche Belage zur klinischen Deskription der Geistes- und
Gehxmkrankheiten veröffentlicht, als er mit den Freudschen
Lehren bekannt wurde. Damals, ,004, waren erst einige der
grundlegenden Werke Freuds erschienen. Es galt, größtenteils
durch eigene Forschung, vieles, was im Dunkel geblieben war,
aulzuhellen, sich befremdende Widersprüche zu erklären, Verbin-
dungen zwischen einzelnen Tatsachengruppen herzustellen, ein
großes Stück des abnormen Seelenlebens unter den Gesichtspunkten
der Psychoanalyse verständlich zu machen. Das lebendige Interesse,
die Arbeitslust und der Forschungsdrang des siebenundzwanzig-
jahngen Arztes wandten sich der neuen Wissenschaft zu. Die noch
wenig untersuchte Psychologie geistiger Störungen zog ihn am
stärksten an; mit ihr beschäftigten sich seine ersten analytischen
Arbeiten. Nachdem er die Anstaltstätigkeit mit der freien psycho-
therapeutischen Praxis vertauscht hatte, erweiterte sich der Um-
kreis seiner Aufgaben und mit ihm der der Probleme, die seine
wissenschaftliche Neugierde erregten. Schon die ersten Beiträge,
76
die Abraham lieferte, zeigten, daß es ihm nicht genug war, die
analytischen Theorien zu überprüfen, sondern daß er die neuen
Einsichten selbständig verarbeitete und durch sorgfältige und
modifizierende Beobachtungen bereicherte. Bereits 1907 hatte er
eine wichtige Ergänzung der Neurosentheorie geliefert, indem
er das Erleiden sexueller Traumen als Form infantiler Sexual-
betätigung erkannte und die Richtigkeit dieser Anschauung durch
gute Beispiele nachwies. Jeder seiner folgenden kleinen Beiträge
bedeutete einen Zuwachs neuer Einsichten; schon in diesen frühen
Arbeiten trat einer seiner Vorzüge entschieden ans Licht, die
Gabe der Differenzierung, welche die eigentlich wichtigste Fähig-
keit des Forschers, der klinisch arbeitet, ausmacht. Der größte
Teil seiner Schriften ist klinischen Untersuchungen gewidmet.
Vertiefte Studien, die sich auf reiche Erfahrungen gründeten,
ließen ihn den geglückten Versuch machen, eine Entwicklungs-
geschichte der Libido auf Grund der Analyse seelischer Störungen
zu geben. Ich brauche Ihnen nicht in Erinnerung zu rufen, welche
Bedeutung dieser Arbeit zukommt. Sie knüpft an einen zehn
Jahre zurückliegenden Versuch an, die manisch-depressiven Krank-
heitszustände auf psychoanalytischem Wege zu erklären, und stellt
das Verhältnis der verschiedenen Formen psychoneurotischer Er-
krankung zu den Stufen der Libidoentwicklung dar. Hier werden
den Spuren Freuds folgend, die Krankheitszustände der Melan-
cnohe und der manisch-depressiven Erscheinungen auf ihre tief-
liegende psychosexuelle Wurzel zurückgeführt, ihre Entwicklung
aus analytischen Voraussetzungen verständlich gemacht. Die künf-
tige psychiatrische und neurologische Forschung wird an diese
Arbeiten Abrahams, welche uns die bisher besten analytischen
Einsichten m die Genese und Struktur dieser Krankheiten geben,
anknüpfen müssen. Immer auf dem Boden der induktiven For-
schung beharrend, hat er seine Studien den primitivsten Phasen
der Libidoentwicklung zugewendet und hier die beste Fortführung
und Ergänzung der Freudschen „Drei Abhandlungen zur Sexual-
theorie gegeben. Erst die Zukunft wird lehren, von welcher Be-
deutimg seine Untersuchungen der prägenitalen Libidoentwicklung
und deren Auswirkungen auf den Charakter sind. Daneben floß
ununterbrochen in bedächtiger Schnelle jener Strom kleinerer
Arbeiten, deren jede, ein Muster analytischer Beobachtungsgabe
und analytischen Scharfsinns, Erweiterungen unseres Wissens um
Genese und Sinn der Neurosensymptomatologie brachte, kompli-
zierte Erscheinungen aufklärte, auf bisher Unbeachtetes hinwies.
77
auf neue Quellen der Charakter- und Symptombildung aus Partial-
trieben und erogenen Zonen aufmerksam machte, die ersten Ein-
sichten in analytisch so schwer zu erfassende psychosexuelle Phä-
nomene, wie es die Ejaculatio praecox ist, lieferte und entschei-
dende technische Fragen aufwarf und der Losung näherführte.
Berücksichtigt man, daß er daneben wertvolle Arbeiten zur Kunst-
geschichte, Religionswissenschaft und Mythologie veröffentlicht
hat, daß er sich — wovon seine vorletzte schöne Arbeit zeugt —
anschickte, die analytischen Gesichtspunkte auch auf dem Gebiete
der Kriminalistik zu verwerten, so wird man eine Ahnung — und
kaum mehr als eine Ahnung — bekommen, wie weit er den Umkreis
seiner Forschungsinteressen ausdehnte, ohne der Schärfe des Blickes
und der Eindringlichkeit des Erkennens verlustig zu gehen.
Will man die Arbeitsweise Abrahams charakterisieren, so
muß man davon ausgehen, daß er in erster Linie Kliniker war
und blieb; ja, man muß sagen, daß mit ihm der beste klinische
Beobachter aus der Schülergruppe Freuds ausgeschieden ist. Als
er später seine Aufsätze sammelte, konnte er auch seine früheren
Arbeiten unverändert publizieren, obwohl in der Zwischenzeit
manche Korrekturen und Ergänzungen hinzuzufügen waren, wie
er selbst hervorhob. Die wesentlichen Ergebnisse seiner Unter-
suchungen konnten bestehen bleiben; keine war als prinzipiell
irrig zu verwerfen, weil sie sich auf lange dauernde, sorgfältige
Beobachtungen gründeten. Die rein empirische Gewinnung der
Resultate seiner Untersuchungen muß besonders betont werden*
es handelte sich immer um konsequente und geduldige analytische
Arbeit, die dazu gefuhrt hatte. „Ich glaube," schreibt er einmal,
„jeder spekulativen Überschreitung des empirischen Bodens ent-
sagt zu haben." Niemals hat er versucht, eine abgerundete Theorie
ZU geben, er hat im Gegenteil immer wieder auf Lücken und
Mängel des Gebotenen selbst aufmerksam gemacht. Mit seiner
Beobachtungsgabe aber verband sich Scharfsinn und eine seltene
Fähigkeit zur Einfühlung. Man sah seinen Arbeiten an, wie sorg-
fältig sie vorbereitet waren, wie sich ihre Resultate langsam aus
der Erfahrung destilliert hatten. Fast alle gehen auf eine größere
Anzahl durchgeführter Analysen zurück. Was er dort gefunden
hatte, brachte er in eine knappe, durchsichtige Form, die fast zu
nüchtern, fast zu wortarm anmutete. Man wird vergebens über-
raschende Schönheiten der Diktion, vergebens tiefsinnig Klingendes
in seinen Schriften suchen, aber es findet sich auch nichts Ver-
wirrendes und Verworrenes. Hier herrscht eine Klarheit, die ge-
78
«de d vielfältigen und komplizierten Sachverhalten des Seeli-
M.Si.W M *'™^>ff und Sprödigkeit des beobachteten
Materials gegenüber ,n hohem Maße erstaunlich ist. Es werden
Verbindungsfäden durch den vielgestaltigsten Stoff verfolgt £
m die feinsten Auswirkungen, bis in die verborgensten Palten
Die Art der Problemdarstellung, die Auseinandersetzung der
Schwierigkeiten, die ersten Ansätze znr Lösung, die Berücksich-
tigung der Vielartigkeit der Erscheinungen, das Fortschreiten von
ersten Eindrucken zu erneuter Erfahrung „nd schließlich zu
Iheorien, die dem Beobachtungsmaterial immer nahe bleiben und
Tbrlr Ve , rifi2ier ; t ™ dm - «* habe» diese Züge oft bei
Wt /"^ ^ GeWlß ' Sei " e a «alytische Begabung hatte
bestimmte Grenzen, aber er kannte sie, hat sie gelegentlich in
privatem Gespräch selbst hervorgehoben und ist nie über , Te
hinausgegangen. Er hat es nie vermocht, in einem gewaltigen
AbFresco-Entwurf, unbekümmert um einzelne Widersprüche der
W.rkhchkeit, ein großes Problem zu umfassen. Er Jm e immer
von einem engbegrenzten, speziellen Thema aus, aber es bleibt
unvergessen uud unvergeßbar, wie er dies ausführte und wie sich
SSäXESSä er *. Ton eüier ™ !
man von dort aus gl„gf„ k fnn Es "^ Vo ^run ge n
wenn die Wände eines el« "" "" Ende immer - wie
Immer hat er nns SS ?T allmählich zurücktreten.
und unser KÄ^^^ T ««*
was er sagte, nur ein B™ 1, ® eb ,° tene Tertleft "«««« »nd daß,
können und ' w ™ auszusle'he v" 6 "^ -s er hätte sagen
Zurückhaltung ihL noTve™ l\ i ' Und »»«««haftüd»
Tapferkeit besser« Tel waT^ ? X ^^ * ** te
Tei^T t' me hlnreiße »d, aber immer überzeugend
Seme Tapferkeit hatte den Charakter des Unbeirrbaren die
weh auf das Ganze des eigenen wissenschaftlichen Stehens bezol
und doch b«ch«d«n die Möglichkeit des einzelnen Irrtums ei^
räumte. Er horte aufmerksam, was ihm andere zu sagen taS
79
immer willig, fremdes Verdienst anzuerkennen; aber er fand die
strengsten Maße für die eigene Leistung in sich selbst.
Abraham war auch als Arzt von ungewöhnlicher Gleich-
mäßigkeit. Er gehörte nicht zu jenen Ärzten, welche über die
Unzulänglichkeit ihrer Wissenschaft durch allzu selbstsicheres
Auftreten hinwegtäuschen; zu sehr hatte er erkannt, wie weit die
Medizin noch von einer idealen Therapie entfernt ist. Aber das
Gefühl ruhiger Sicherheit, das er zeigte, teilte sich allmählich
seinen Kranken mit. Gleich weit von Überschätzung wie Unter-
schätzung der Wirksamkeit der analytischen Therapie entfernt,
konnte er in ihnen die Überzeugung erwecken, daß sie in bester
Obhut seien und daß sie seiner unbedingten Ehrlichkeit vertrauen
durften. Er sprach selten, aber sein Schweigen war beredt und
in besonderer Art drängend und aufmunternd; seine Stimme klang
in ihrem dunklen Timbre ruhig und beruhigend. Kühl und auf
Distanz bedacht, wenn es galt, doch menschlich nahe, war er des
Vertrauens seiner Schüler und Patienten sicher. Es war nicht
Zufall, daß er den Begriff der Postambivalenz geprägt hat; er
schien in der Analyse selbst wie eine Verkörperung postambiva-
lenten Interesses. Ein Patient, der bis spät in die Krankheitszeit
Abrahams in seiner Analyse blieb und ein oder das andere Mal
Zeuge der Hustenanfälle und der Atemnot seines Arztes war, gab
unlängst die treffendste Charakteristik: Dr. Abraham sei ihm
wie Horatio erschienen, als „ein Mann, der Stoß» und Gaben vom
Geschick mit gleichem Dank genommen".
In der Analyse sowie im privaten Gespräch brach bei ihm
gelegentlich ein Stück eigenartig trockenen Humors durch, das
seinen Schriften ferngeblieben war. Ein einziges Mal konnte ich
darin eine pessimistische Note hören: als ich ihn in diesem Sommer
nach der ersten schweren Erkrankung in der von ihm so geliebten
Schweiz besuchte, bemerkte er, daß er am Gehen bergauf noch
durch Atemnot gehindert sei. Lächelnd und mit seltsamer Selbst-
ironie fügte er hinzu: „Aber bergab geht's gut mit mir."
Beruf wie Neigung drängte ihn gleichermaßen dazu, auch Lehrer
der jungen Generation der Analytiker zu werden: auch in dieser
Eigenschaft war er ruhig, geduldig und gleichmäßig. Seine Er-
klärungen, sparsam und sachlich gegeben, klärten den Schüler wirk-
lich auf; sie waren von grauer Theorie möglichst entfernt und suchten
das Erklärungsbedürftige möglichst ans dem Leben des Schülers
selbst, aus gesammelten Beobachtungen von dessen Charakter-
zügen, Gewohnheiten und Eigenschaften verständlich zu machen-
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Warum es leugnen? Manche Analytiker meinten, ihre frühe
Unabhängigkeit von ihrem Lehrer sowie ihre Selbständigkeit zu
beweisen, indem sie sich rasch von seinen Einwirkungen eman-
zipierten und in betontem Gegensatz zu ihm traten. Man hat
sich gelegentlich auf das Wort Nietzsches berufen: „Man vergilt
seinem Lehrer schlecht, wenn man immer nur sein Schüler bleibt."
Allein, was in jenem Ausspruch berechtigt ist, hat nichts mit der
— wir können es nicht anders nennen — unanständigen Eile zu
tun, mit der heute die sogenannte „Überwindung" des Lehrers
vor sich geht. Wir hoffen, daß die Schüler Abrahams gerade
durch die analytische Einsicht, die sie durch ihn gewonnen haben,
davor geschützt sind, die seelischen Relationen zwischen Lehrer
und Schüler in ihrer tiefen und dauernden Wirksamkeit zu unter-
schätzen, daß sie, auch wenn sie längst eigene Wege zu gehen
gewohnt sind, sich dessen bewußt sind: was ihnen ihr Lehrer
war, bleibt er ihnen doch.
Unbeirrbarkeit und Verläßlichkeit, denen sich Züge nord-
deutscher Reserve und Nüchternheit beimengten, bewies er auch
in der Gründung und Führung der Berliner Psychoanalytischen
Vereinigung, sowie in der Arbeit für die Poliklinik, die er in
Gemeinschaft mit Dr. Eitingon leistete. Man muß sich gegen-
wartig halten, was es einmal bedeutete, auf dem spröden Boden
Berlin, im Deutschen Reiche Wilhelms IL für die Psychoanalyse
um die ernste Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kreise zu
werben was es m einer Zeit des flachsten gesunden Menschen-
verstandes, in dessen Namen die größten Dummheiten behauptet
wurden, bedeutete, für die Theorien des Unbewußten als geach-
teter Arzt einzutreten und die analytische Bewegung trotz dem
dumpfen Widerstand der Umwelt zu jener Bedeutung zu führen
die sie heute auf deutschem Boden besitzt. Als Führer einer sich
steigernden Anzahl mutiger Pioniere, nicht durch äußere Zeichen
aber durch alle inneren, eroberte er mühsam jeden Fußbreit
Boden, blieb gefestigt und gefaßt allen Wechselfällen draußen
und im eigenen Lager gegenüber, blieb bedachtsam, ohne im
kleinlichen Sinne Bedenken zu haben. Hilfsbereit jedem gegen-
über, der es ehrlich meinte, war er bei aller Liebenswürdigkeit
doch meistens zurückhaltend und beobachtend, als bliebe er des
Rates des Polonius „Give every man ihy ear, but few ihy voice« ein-
gedenk.
Es kann schwer vermieden werden, daß uns jedes ernste und
wichtige Ereignis, das in unser Leben tritt, nach einiger Zeit
8l
langsam wieder zu analytischen Gedankenzügen zurückführt; Die
Psychoanalyse hat uns gezeigt, daß alle Trauer mit unbewußten
Selbstvorwurfen verbunden ist, die sich auf bestimmte Gefühls-
Einstellungen dem Verstorbenen gegenüber zurückführen lassen.
Diese Selbstvorwürfe, so typisch sie auch sind, erscheinen doch
je nach den Beziehungen des Einzelnen zu dem Verstorbenen
individuell verschieden; einer ist indessen, wie ich glaube all-
gemeiner Natur. Er wurde mir unlängst durch den Ausspruch
eines kleinen Jungen, den ich hörte, wieder zum Bewußtsein ge-
bracht. Der vierjährige Sohn einer Patientin sah auf der Straße
einen Leichenzug und fragte, was das sei. Die Mutter erklärte
ihm, was der Tod und das Begräbnis bedeuten; das Kind hörte
aufmerksam zu und fragte dann mit großen Augen: „Aber wozu
ist denn die Musik? Er ist ja tot und hört es nicht mehr.« Es
liegt ein ernster und tiefer Sinn in der Einfalt dieses kindlichen
Ausspruches. Er läßt uns beschämt die Unzulänglichkeit, ja Ohn-
macht unserer Worte gegenüber dem großen Schweigen erkennen;
er führt uns aber auch zu der beschämenderen Frage: Müssen
solche Ereignisse eintreten, daß wir sagen, ausdrücken können
wie wir unsere Freunde schätzen und lieben?
Dennoch heißt uns, bevor wir die uns allen vorgezeichnete
Straße weiterziehen, inneres Bedürfnis gebieterischer als Ziem-
lichkeit, Karl Abraham zum letzten Male grüßen als einen der
wertvollsten und erfolgreichsten Pioniere unserer jungen Wissen-
schaft. Seine Lebensarbeit, unvollkommen wie jede wissenschaft-
liche Bemühung, war doch vollkommen in ihrer Art; Stückwerk
wie jede Forschung, war sie doch ein Ganzes. In der Fruchtbar-
keit seiner wissenschaftlichen Leistung sowie in der Nachwirkung
im Leben und in der Arbeit seiner Schüler wird das Werk den
Meister loben, der allzufrüh unsere Reihen verlassen hat.
iiiuiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiuin,,,,,,,,,,,,! n Hniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii!iiiimiiiiiii,,iiiiiiiii,iiiiiiiiiniiiii!iiiiimimiiii!ii »
PSYCHOANALYTISCHES LESEBUCH
Aussprüche von G. Ch. Lichtenberg
Wenn Leute ihre Träume aufrichtig erzählen wollten, da ließe sich
der Charakter eher daraus erraten, als aus dem Gesicht.
Seitdem er eine Ohrfeige bekommen hatte, dachte er immer, wenn er
ein Wort mit einem sah, als Obrigkeit, es heiße Ohrfeige.
Ich kann nicht sagen, daß ich ihm feind gewesen wäre, aber auch
nicht gut, es hat mir nie von ihm geträumt.
82
Die Geschichte eines Hochstaplers
im Lichte psychoanalytischer Erkenntnis
von
Karl Abraham
Das an dem Tage, da Abraham starb,
zu Weihnachten ip2f erschienene Heft
der „Imago« (Bd. XI, Heft 4) enthielt
diese Arbeit, die letzte, die Abraham selbst
noch in den Druck gab. Das einige
Monate darauf erscheinende Abraham-
Gedenkheft der „Internationalen Zeit-
schrift für Psychoanalyse" konnte dann
noch aus dem Nachlasse die „Psycho-
analytischen Bemerkungen zu Coue's Ver-
fahren der Selbstmeisterung 11 veröffent-
lichen.
Die klinische Beobachtung, an welche der nachfolgende kriminal-
psychologische Versuch sich anlehnt, entstammt nicht der psycho-
analytwchen Praxis im strengen Sinne des Wortes. Es handelt sich
um die Schicksale eines Mannes, den ich im Jahre iq,8 als Militär-
arz psycWisch zu begutachten hatte, und den ich fünf Jahre
spater unter e.gentumhchen Umständen wiedersah. Die gemessene
Zeit einer gerichthch angeordneten Beobachtung, ebenso wie d"e
Arbeitsverhältnisse auf einer Untersuchungsstarton ließen efnc
regelrechte Psychoanalyse nicht zu
Nun bietet aber das Leben jenes Mannes - den ich fortan
,,N.« n nnen werde - i„ psychologischer Hinsicht ganz Außer"
gewöhnliches dar; ein in neuerer Zeit eingetretener Umschwung
semes sozialen Verhaltens steht in einem grellen Widerspruch zuf
psychiatrischen Erfahrung. Eben dieses Außergewöhnliche und mit
der Erfahrung Kontrastierende erfährt aber eine befriedigende
Aufklarung wenn wir ganz geläufige, empirisch fest begründete
Ergebmsse der Psychoanalyse zu Rate ziehen. Anderseits erscheinen
aber d,e Tatsachen des Falles N. wohl geeignet, die Psychoana-
lyse auf eines ihrer künftigen Anwendungsgebiete - die Krimi-
nalistik - m besonderer Weise hinzulenken. Ich hege darum die
Hoffnung, daß die Eigentümlichkeiten des Falles seine Publikation
m dieser psychoanalytischen Zeitschrift vor den Augen der Leser
rechtfertigen werden.
83
N. war 22 Jahre alt, als er in den Militärdienst eintrat. Er
hatte schon damals eine Reihe von Freiheitsstrafen durch bürger-
liche Gerichte in verschiedenen Ländern erlitten. Unmittelbar aus
der letzten Strafhaft wurde er der Truppe überwiesen, bei welcher
er seine soldatische Ausbildung empfing. Seine Vorgesetzten waren
über seine bisherige Lebensführung genau unterrichtet. Dennoch
wiederholte sich, was sich in N.'s Vorleben bereits viele Male
abgespielt hatte. In kürzester Zeit hatte er sich die allgemeinen
Sympathien erworben, genoß das besondere Vertrauen seiner
Kameraden und nahm beim Führer der Kompanie eine Vorzugs-
stellung ein. Zu gleicher Zeit aber begann er auch das Vertrauen
der anderen zu mißbrauchen. Doch in dem Augenblick, da seine
Betrügereien ans Licht zu kommen schienen, erhielt er, zugleich
mit einer Anzahl seiner Kameraden, einen Marschbefehl, der ihn
an die Balkanfront versetzte.
Da man beim Feldregiment über N.'s Vorleben nichts wußte,
so wurde es ihm hier noch leichter gemacht, durch gewandtes
Auftreten das Vertrauen der maßgebenden Personen zu gewinnen
Als Zeichner von Beruf fand er bald eine entsprechende Verwen-
dung. Sein Auftreten ließ ihn aber auch besonders geeignet er-
scheinen, geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen. Und so ver-
traute man ihm alsbald Gelder an und ließ ihn in den Städten
des Etappengebietes Einkäufe für die Truppe machen. In der
Stadt „X" lernte er ein paar Soldaten kennen, die dort auf großem
Fuße lebten. Da ergriff ihn sofort seine alte Neigung, von der
später die Rede sein wird. Er trat ebenfalls als großer Herr auf
und hatte in vier Tagen von dem ihm anvertrauten Gelde 160 Mark
verbraucht. Auf einer zweiten solchen Reise erfuhr er, daß man
seine Unterschlagungen bereits bemerkt hatte. Nun kehrte er nicht
mehr zum Regiment zurück, sondern fuhr nach einer größeren
Stadt. Hier versah er seine Uniform mit Tressen, um fortan als
Unteroffizier aufzutreten. Außerdem hatte er sich bei seiner Truppe
Eisenbahnfahrscheine angeeignet und sie mit Stempeln versehen,
so daß er nunmehr ganz nach Belieben nach allen Richtungen
der Windrose reisen konnte. So kam er auch wieder nach Deutsch-
land. Aber die scharfe Kontrolle und die Begegnung mit früheren
Bekannten machten ihm, besonders in Berlin, einen längeren Auf-
enthalt unmöglich. So wandte N. sich eines Tages nach Budapest,
nachdem er sich vorher noch die Abzeichen als Vizefeldwebe]
zugelegt hatte. Von dort zog er, stets die Ausweise fälschend,
nach Bukarest weiter. Hier war die militärische Kontrolle so
84
wachsam, daß N. nach Budapest zurückkehrte. Er wußte sich
dort Zutritt zu angesehenen Familien zu verschaffen, erbot sich
in gewinnender Form zur Besorgung von Lebensmitteln, erhielt
beträchtliche Vorschüsse von seinen Auftraggebern, verbrauchte
das Geld aber für seine eigenen Zwecke und lieferte die ver-
sprochenen Lebensmittel nicht. Als ihm in Budapest der Boden
unter den Füßen zu heiß wurde, wandte er sich nach Wien, wurde
hier aber bald ergriffen und dann in die heimatliche Garnison-
stadt überführt. Schon an dieser Stelle sei darauf aufmerksam
gemacht, daß N. mit größter Leichtigkeit Menschen jeden Alters,
Standes und Geschlechts für sich einzunehmen wußte, um sie
dann zu betrügen, daß er dagegen niemals besondere Geschick-
lichkeit zeigte, dem Arm der Gerechtigkeit zu entgehen. Erst
wenn er gefangen saß, erwachte seine Agilität wieder; es kam
dann vor, daß er in kurzer Zeit seine Wächter sorglos gemacht
hatte und den Weg zur Freiheit fand, ohne im geringsten Gewalt
anzuwenden.
Als N. sich zweieinhalb Monate in Untersuchungshaft befand,
war sein Einfluß auf die im übrigen gewissenhaften und erfahrenen
Aufseher soweit gediehen, daß die Tore sozusagen von selbst vor
ihm aufsprangen Einer der Aufseher wurde während eine, Ge-
spräches m lt N abgerufen und ließ, völlig sorglos geworden, seine
Schlüssel m der Zelle des Gefangenen zurück. Der nahm sie
öffnete , die verschlossenen Ausgänge und war in Freiheit. Er waL
derte b ls zu exner kleinen Eisenbahnstation, bestieg dort einen
Zug und verheß lhn bei der Ankunft in der nächste! Großstadt"
uberaU gelang es ihm, die kontrollierenden Beamten zu täuschen.
Drei Wochen arbeitete er als Dekorateur in einem Warenhaus.
Die Gefahr des Entdecktwerdens nötigte ihn dann, die Stadt zu
verlassen Mit gefälschten Ausweisen gelang es ihm, Deutschland
zu durchqueren. In einer Großstadt trat er wieder als großer
Herrauf führte sich als Kunsthistoriker ein, erhielt auf seine
schwindelhaften Angaben von seinen neu gewonnenen Gönnern
Geld und gab es mit vollen Händen aus . . . Nach einiger Zeit
solchen „Zivillebens« mußte er den Schauplatz seines Wirkens
verlegen. Nach kurzem Aufenthalt in Berlin fuhr er abermals
nach Budapest. Hier war es, wo er zum ersten Male die Uniform
eines Offiziers anlegte. Als „Leutnant« kehrte er nach Deutsch-
land zurück und lebte monatelang auf großem Fuße in einer
Reihe von Badeorten, doch nur in den elegantesten. Überall fand
er als junger Offizier Zutritt zur Badegesellschaft. Sein sicheres
«5
und liebenswürdiges Auftreten ließ ihn stets nach kürzester Zeit
zum Mittelpunkt eines großen Kreises werden. Wurde in einem
Seebad die Gefahr der Entdeckung seiner zahllosen Schwindeleien
zu groß, so verschwand er und suchte einen großen Kurort in
Oberbayern auf, um nach einiger Zeit wieder in einem Seebad
aufzutreten. Mittlerweile ließ er sich zum Oberleutnant avancieren,
a. n bis zu dem höchsten Rang, den er, seinen Jahren entspre-
chend, erreicht haben konnte. Niemand ahnte, welche Bewandtnis
es in Wirklichkeit mit dem jungen Offizier hatte, der mit Kriegs-
dekorationen geschmückt war und in ebenso interessanter wie
bescheidener Form von seinen Erlebnissen zu erzählen wußte.
Schließlich aber wurde er doch verhaftet und wiederum in seine
Cjarnisonstadt überfuhrt.
Das Strafverfahren gegen ihn nahm einen gewaltigen Umfang
an; hatte er sich doch der Fahnenflucht schuldig gemacht, sich
eigenmächtig einen militärischen Rang beigelegt und eine außer-
ordentliche Zahl von Unterschlagungen, Fälschungen und betrü-
gerischen Handlungen begangen.
Der mit der Untersuchung betraute Kriegsgerichtsrat zeigte
volles Verständnis und Interesse für N.s psychologische Eigenart,
und da er irgendeine Art krankhaften Zwanges als treibende Kraft
in N.s Verhalten vermutete, so wurde die psychiatrische Beob-
achtung des Beschuldigten angeordnet.
Ich besuchte N. zunächst ein einzelnes Mal in der Unter-
suchungshaft, mußte aber sofort erkennen, daß die Kompliziertheit
des Falles eine längere Beobachtung auf meiner Station erfordern
würde. Diese letztere aber besaß keine genügenden Einrichtungen
um das Entweichen eines Untersuchungsgefangenen — und eines
so gewandten - zu verhüten. Auf meinen entsprechenden Hinweis
Verfugte das Gericht, daß N. in einem Zimmer des Dachstocks
untergebracht werde. Um seine Flucht zu verhindern, wurde eine
besondere Bewachung eingerichtet. Es sollten ständig drei beson-
ders zuverlässige und intelligente „Gefreite" vor N.s Zimmer
Wache halten. Um eine Beeinflussung durch N. zu verhüten
wurden die Wachen streng angewiesen, sein Zimmer nicht zu
betreten und sich auf kein Gespräch mit ihm einzulassen.
So wurde N. eines Tages von seinen drei Wächtern in das
Lazarett überführt, und dieser Akt vollzog sich ohne Schwierig-
keit. Zehn Minuten nach der Aufnahme wollte ich mich davon
überzeugen, ob N. den Vorschriften gemäß untergebracht und
beaufsichtigt sei. Zu meinem Erstaunen fand ich vor dem Zimmer
86
keine Wache, sondern nur ein paar Stühle. Beim Eintritt in das
Zimmer aber bot sich mir ein unerwartetes Bild. N. saß zeichnend
an einem Tisch. Einer seiner Wächter saß ihm Modell zu einer
Zeichnung, und die beiden anderen schauten zu. Es ergab sich,
daß N. seine Wächter bereits auf dem Wege zum Lazarett für
sich gewonnen hatte, indem er von seiner Zeichenkunst erzählte
und sie zu porträtieren versprach. Übrigens verlief N.s mehr-
wöchiger Aufenthalt auf der Station ohne irgendwelche Flucht-
versuche oder sonstige Unregelmäßigkeiten.
Um zu einem Urteil über N.s geistigen Zustand zu gelangen,
mußte ich vor allem die Geschichte seiner Jugend kennen lernen.
Da er ein Virtuose auf dem Gebiet der phantastischen Erzähluugen
zu sein schien, so waren seine eigenen Berichte mit Vorsicht auf-
zunehmen und durch Erkundigungen an informierten Stellen nach-
zuprüfen. Ich kann aber sogleich hinzufügen, daß N.s Angaben
über seine gesamte Vergangenheit in keinem Widerspruch zu den
amtlichen Nachweisen standen. Ich konnte niemals feststellen,
daß er in den vielen Gesprächen mit mir jemals etwas unter-
drückt, fälschlich hinzugesetzt oder zu seinen Gunsten verändert
hätte. Im Gegenteil sprach er von allen seinen Verfehlungen mit
größter Offenheit, so wie sich das auch später bei der gericht-
lichen Verhandlung wiederholte; nur intimere Einblicke in sein
Seelenleben zu geben war er nicht geneigt.
Ich erfuhr bald, daß N.s unerlaubte Handlungen auf sehr frühe
Lebensjahre zurückgingen, und die Akten einer Besserungsanstalt,
in welcher sich N. während mehrerer Jahre als „FürsorgezögW"
aufgehalten hatte, bestätigten diese Angaben vollauf.
N. war das jüngste aus der langen Kinderreihe einer kärglich
lebenden Beamtenfamilie. Hinsichtlich erblicher Belastung durch
geistige Erkrankungen in der Familie war nichts von Bedeutung
festzustellen. Was bei dem Knaben aber — ganz im Gegensatz
zu seinen älteren Geschwistern — schon in frühester Zeit hervor-
trat, das war eine unbändige Großmannssucht. Als er in seinem
fünften Lebensjahr die Vormittage in einem Kindergarten zubrachte,
wandte er sich von den weniger gut gekleideten Kindern ab und
spielte nur mit denjenigen, die den wohlhabenderen Familien an-
gehörten. Kaum war er in die Schule eingetreten, so sah er mit
Neid, daß manche Knaben diesen und jenen Gegenstand in schö-
nerer Ausstattung besaßen als er; sie hatten etwa eine bunt lackierte
Federschachtel oder einen Bleistift von besonderer Farbe. Da ging
der Sechsjährige eines Tages in einen Schreib warenladen nahe
dem Schulhaus und gab sich als Sohn eines in der Nachbarschaft
wohnenden Generals aus. Sofort lieferte man ihm die Gegenstände
semer Sehnsucht auf Kredit. Nun konnte er sich stolz neben den
Söhnen der wohlhabenden Familien zeigen. Bald freilich wurde
sein erster Betrug entdeckt und bestraft, aber der Wunsch es
mit den glücklicheren Kameraden aufnehmen zu können, blieb
unbezähmbar und fand in weiteren unrechtmäßigen Handlungen
seinen Ausdruck. Einer der Schulkameraden besaß eine große
Armee von Bleisoldaten, während N. nur wenige sein eigen nannte
Die Sehnsucht, dem Mitschüler nicht nachzustehen, ließ ihn nicht
ruhen. Endlich entwendete er seiner Mutter einen Betrag von
6 bis 7 Mark, legte ihn sofort in Bleisoldaten an und zeigte dem
Kameraden, daß er ebensoviel und schöne Soldaten besaß wie
jener.
Von Anfang an trat in der Schule N.s gute Begabung hervor
Allem Anschein nach waren seine Leistungen aber nur dann seinen
Anlagen entsprechend, wenn er sich vom Lehrer irgendwie be-
sonders beachtet oder bevorzugt fühlte. Wiederholt trug er sich
mit abenteuerlichen Fluchtplänen. Einmal erlangte er von seinem
Lehrer durch schwindelhafte Angaben Geld. Andere Male lieh er
von Mitschülern Bücher und verkaufte sie. Der Versuch, ihn eine
höhere Schule durchmachen zu lassen, scheiterte an dem Mangel
an Ausdauer. Stets trat der phantastische Zug in N.s Wesen
hervor; einer seiner Lehrer äußerte von ihm, er scheine an Größen-
wahn zu leiden. So wurde der Schulbesuch unterbrochen, und N
trat eine kaufmännische Lehrstelle an.
Bis dahin hatten sich N.s unerlaubte Handlungen zumeist
innerhalb der Familie und Schule abgespielt. Als Lehrling V er
untreute er alsbald Geldbeträge aus der „Portokasse* und verlor
seine Stellung nach etlichen Monaten. Eine zweite Stellung sagte
ihm nicht zu, und er blieb nach wenigen Tagen eigenmächtig
lort. In einer Gärtnerei untergebracht, lief er auch dort bald
davon, geriet in schlechte Gesellschaft, trieb sich umher und
wurde schließlich der „Fürsorge-Erziehung« unterstellt.
1 E^fungsanstalt ^elte sich nun ab, was sich später
so oft wiederholen sollte. Der Direktor erkannte N.s künstlerische
Begabung, ebenso wie sein Begehren nach gesellschaftlichem Auf-
stieg, und versuchte N.s Leben in beiden Hinsichten in geordnete
Bahnen zu lenken. N. fühlte sich als Vorzugsschüler verhältnis-
maßjg wohl, und eine Zeitlang gab es anscheinend keine Klagen
über ihn. Durch Vermittlung des Direktors wurde N., obwohl
88
noch Fürsorgezögling, zum Besuch der Kunstgewerbeschule in
einer anderen Stadt zugelassen. Hier fehlte ihm der Halt an seinem
väterlichen Gönner, und nach kurzer Zeit bereits war N. in ein
gerichtliches Strafverfahren verwickelt und mußte die Schule ver-
lassen. In die Erziehungsanstalt zurückgekehrt, zeigte er ein ähn-
liches Verhalten wie so viele junge Menschen in gleicher Lage.
Irgendeine wirkliche oder vermeintliche Zurücksetzung gab ihm
den Anlaß zum Fortlaufen, und die kurze Zeit, welche er alsdann
in Freiheit zubrachte, war mit mancherlei unerlaubten Hand-
lungen ausgefüllt.
Mit neunzehn Jahren tauchte N. in Berlin auf, fand Stellung,
arbeitete aber kaum, spielte den großen Herrn und machte be-
trügerische Schulden. Es gelang ihm, zu den gesellschaftlichen
Kreisen Zutritt zu finden, die immer das Ziel seiner Sehnsucht
gewesen waren. Der Fürsorgezögling wurde ein beliebter Gast in
sehr exklusiven studentischen Verbindungen. In Kleidung, Lebens-
weise und Auftreten hatte er sich ganz den „oberen Zehntausend«
angeglichen. Nur die Mittel dazu stammten aus dunklen Quellen
und schließlich mußte N. sich der drohenden Verhaftung durch
die Flucht entziehen. Nun begann eine abenteuerliche Wanderung
durch Suddeutschland, Tirol und die Schweiz. Überall machte
N. sich .tra bar, indem er Zechprellereien und sonstige b^g-
rische Handlungen beging, und wurde von den verschiedenen
Gerichten verfolgt In der Schweiz verbüßte er eine Gefängn"
strafe von einem Monat, mußte dann das Land verlassen ^nd
das Wohlwollen des Gefängnis direktors und wurde mit der Füh-
rung der Bibliothek betraut. Als er alle Strafen verbüßt haUe
trat er, wie eingangs erwähnt, in den Kriegsdienst (1915).
Indem ich alle psychologischen Bemerkungen zum Fall N
auf einen späteren Zusammenhang verschiebe, will ich hier nur
den Tenor des Gutachtens im Auszug wiedergeben. Eine geistige
Störung im gewöhnlichen Sinne des Wortes war bei N. in keiner
Weise feststellbar. Von einem intellektuellen Defektzustand konnte
nicht die Rede sein; im Gegenteil hatte ich mit einem Mann zu
tun, dessen Intelligenz über dem Durchschnitt stand, und der
außerdem beträchtliche künstlerische Gaben aufwies Die Ab
weichung von der Norm lag ausschließlich im sozialen Verhalten
des Untersuchten. Ich nahm eine tiefgreifende Störung des Gefühls-
8«
lebens an, aus welcher sich gesellschaftsfeindliche Antriebe her-
leiteten. Derartige Impulse waren bei ihm selbst unter den gün-
stigsten Verhältnissen .jeweils nur für kurze Zeit ausgeblieben;
bald waren sie mit offenbar zwingender Gewalt wieder zum Durch-
bruch gelangt.
Die klinische Deskription spricht in derartigen Fällen von
ethischen Defekt zuständen. Das herrschende Strafgesetz aber er-
kennt einen Einfluß solcher Abweichungen des Gefühlslebens auf
die Zurechnungsfähigkeit des Menschen nicht an. Das Militär-
gericht, welches dem Angeklagten mit rühmenswertem mensch-
lichem Verständnis gegenübertrat, konnte die Zurechnungsfähig-
keit N.s nicht verneinen und mußte ihn nach dem Wortlaut des
Gesetzes zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilen.
Hervorzuheben bleibt noch, daß ich im Gutachten den Zu-
stand N.s auf Grund allgemeiner psychiatrischer Erfahrung als
bleibend und unbeeinflußbar bezeichnete.
Wenige Monate nach N.s Verurteilung (im August 1918) ging der
Krieg zu Ende, und weder vorher noch während der folgenden vier
bis fünf Jahre vernahm ich etwas von ihm. Eines Tages aber wurde
ich unter merkwürdigen Umständen von einem bürgerlichen Ge-
richt um ein neues Gutachten über N. angegangen. Er hatte bis
zum Frühjahr 1919 eine Reihe von Delikten begangen, die den
früheren durchaus ähnlich waren. In dem Strafverfahren, das sich
durch mancherlei Umstände jahrelang verzögert hatte, behauptete
nun N., die inkriminierten Handlungen bis zum Frühjahr igig unter
dem alten krankhaften Zwange begangen zu haben. Kurz danach
aber seien jene seit seiner Kindheit bestehenden kriminellen Nei-
gungen verschwunden. Er sei in den letzten vier Jahren seßhaft
und arbeitsam gewesen und habe sich nie mehr etwas zuschulden
kommen lassen.
Waren diese Angaben N.s richtig, so hatte ich mich in der
Beurteilung seines Zustandes erheblich geirrt, namentlich hinsicht-
lich der Prognose. Zunächst bedurfte es jedenfalls authentischer
Feststellungen über sein Verhalten seit der Verurteilung vor fünf
Jahren. Aus Angaben, welche N. mir persönlich machte, als er
sich mir zur erneuten Untersuchung vorstellte, imd aus den amt-
lichen Belegen ergab sich nun folgendes Bild.
N. war bei Kriegsschluß gemäß der weitgehenden Amnestie
in Freiheit gelangt. Rasch folgten nun neue Delikte, die in ihrer
Art den früheren ähnelten. Von den Umwälzungen, wie sie sich
zu jener Zeit auf allen Gebieten abspielten, konnte ein schnell
90
erfassender Kopf wie N. leicht profitieren. Er, der eine lange
Untersuchungs- und Strafhaft hinter sich hatte, gewann auch jetzt
überall das Vertrauen der maßgebenden Personen, um es freilich
bald zu mißbrauchen. So hebt mit der wiedergewonnenen Frei-
heit für N auch eine Kette neuer Delikte an. Zu jener Zeit
bildeten sich sogenannte Freikorps und andere militärische Organi-
sationen. N. gehörte im Laufe einiger Monate mehreren solchen
an. Überall war er gern gesehen; seine Beliebtheit fand ihren
Ausdruck darin, daß man ihm stets die Kasse anvertraute. N. be-
ging darauf Unterschlagungen, mußte fortgehen und begann
anderswo das Spiel von neuem. Bei einer Organisation glaubte
man ihm auf sein Wort, daß er während des Krieges Offizier
gewesen sei, und N. tat nun wirklich Offiziersdienst.
Doch die Gelegenheit zu solchem Spiel hörte bald auf, und
N. kehrte ins Zivilleben zurück. Vom März bis zum Juni io 1Q
beging er in alter Weise eine Reihe von Unterschlagungen, Zech-
prellereien usw und wurde von mehreren Gerichten gesucht.
Und dann folgt die große Veränderung. Daß N. sich seit dem
Juni i 91Q nichts mehr hat zuschulden kommen lassen, dafür liegen
Z l^Tl »TV"' Selt JCner Zeithat keine Poli-iliche oder
w^dt et' l l S Verfahren ^ en N ' e -ff-t. Vertrauens-
™tL ZTntl T en ' daß er seither seßhaft und ■**■«»
^ufleute, d eK ^ nThr^ BeT^H T^ "Ä* ^^
seine Pflichttreue und seit ^^^^ ,iaben ' bek ™ den
sondere in allen SL eilen T "^ Zu ™^^eit, insbe-
Jahre erprobt sei. S Z.! ^Ä ^ ^^ mehrere
unterrichtet und hattet daher ?" T ** ^ ^^^ *° W
aber niemals «in« JS^ 2ur KlaTe N™** "T-™* ^ ^^
j„„ t , . T™" lur Klage. N. ist verheiratet und führt
da Leben emes gutbürgerlichen Ehemanne,; im gesellschaftlichen
InZ 7"V W0l r rtes - eiDer ^ r0ßen Stad *. ! " - belieb und
geachtet, ohne jedoch in seiner ans früherer Zeit bekannten A«
die Menschen zu „blenden".
An der Tatsache dieses vollkommenen Umschwunges in N s
soz.alem Verhalten konnte kein Zweifel bestehen. Entsprachen die
Berichte aber der Wirklichkeit, so lief eine derartige Veränderung
aller psychiatrischen Erfahrung zuwider. Wenn sich bei einem
Individuum die dissoziale Einstellung so früh gezeigt, und wenn
d.eses Individuum bis zu sechsundzwanzig Jahref sich dem sozialen
^itr^.Tf **'• S ° nder " ei " geprägtes Hochstapler-
leben gefuhrt hat, so not.gt uns alle Erfahrung, die Aussicht auf
91
eine spontane Besserung zu verneinen. Wir wüßten auch keine
Einflüsse namhaft zu machen, denen wir solche außerhalb unserer
Erfahrung liegenden Wirkungen zutrauen könnten. Es müßten
schon außerordentliche Umstände sein, mit deren Eintreten man
eben praktisch nicht rechnen kann.
Die Lösung des Rätsels liegt auf psychologischem Gebiet. Wir
werden uns daher jetzt gewissen Tatsachen in N.s Leben und
seiner seelischen Reaktion auf solches Erleben zuwenden müssen.
Erwähnt sei an dieser Stelle, daß N. zur Zeit der Beobachtung
im Jahre 1918 weniger geneigt war, mit mir auf diese Fragen
einzugehen. Damals befand er sich, wie wir nun bald verstehen
werden, noch zu sehr in einer trotzig-aufrührerischen Einstellung
zu jedem Repräsentanten der väterlichen Gewalt, und damals war
ich sein militärischer Vorgesetzter. Im Jahre 1925 dagegen machte
er den Eindruck eines Menschen, der es sich in den gegebenen
Verhältnissen wohl sein läßt. Er fühlte sich mir bürgerlich gleich-
stehend und konnte sich mir ohne das frühere Mißtrauen offen-
baren. So ergab erst unsere weit kürzere zweite Begegnung
manche wichtige, ja grundlegende Erklärungen für das soziale
Verhalten N.s in früherer Zeit und erklärte den neuerdings er-
folgten Umschwung.
Wie erinnerlich, war N. das jüngste unter den vielen Kindern
einer in dürftigen Verhältnissen lebenden Familie. Es muß hinzu-
gefügt werden, daß ihn ein weiter Altersabstand von seinen Ge-
schwistern trennte, die zur Zeit seiner Geburt schon halb oder
ganz erwachsen waren. Als ganz kleiner Knabe, aber auch später,
hörte er seine Mutter wieder und wieder sagen, wie unwillkommen
er ihr als Spätling gewesen sei. Während die älteren Geschwister
schon selbst etwas verdienen konnten, war N. der unnütze Esser
in der Familie und erfuhr aus lieblosen Bemerkungen, daß er nur
als eine Belastung des Familienbudgets angesehen wurde. Jeden-
falls fühlte er sich von beiden Eltern und sämtlichen Geschwistern
ungeliebt, ja befeindet, ganz im Gegensatz zu der sonst häufigen
Verwöhnung spät- oder letztgeborener Kinder. Sein späteres
soziales Verhalten stellt in letzter Linie seine psychische Reaktion
auf diese Eindrücke seiner früheren Kindheit dar.
Es braucht hier nur an die gesicherte psychoanalytische Er-
fahrung erinnert zu werden, nach welcher ein Kind an den Per-
sonen seiner frühesten Umgebung die ersten Liebeserfahrungen
sammelt und selbst lieben lernt. Unter Umständen wie den soeben
geschilderten kann eine vollwertige Objektliebe sich nicht ent-
92
=~
wickeln. Die ersten Versuche des Kindes, die ihm nächsten mensch-
lichen Objekte mit seiner Libido zu besetzen, werden notwendig
scheitern, und eine rückläufige, narzißtische Besetzung des Ich
wird nicht ausbleiben, während sich den Objekten zu gleicher
Zeit eine große Haßbereitschaft zuwenden wird.
Unter diesen Gesichtspunkten wird N.s Verhalten in der Kinder-
garten- und Schulperiode verständlich. Er verschmäht seine Eltern,
so wie sie ihn verschmäht haben. Er wünscht sich reiche Eltern'
die ihn nicht als ökonomisch belastenden Faktor ansehen würden.'
Er zeigt sich schon früh jedem Menschen, der ihm Vater, Mutter^
Bruder oder Schwester bedeuten kann, von der gewinnendsten
Seite; jeder Lehrer, jeder Mitschüler muß ihn gern haben — eine
ständig fließende Quelle der Befriedigung für seinen Narzißmus.
Aber die Identifizierung der ihn jeweils umgebenden Personen mit
seinen Eltern und Geschwistern geht weiter: er muß die, welche
ihn lieb gewonnen haben, enttäuschen, um Rache an ihnen zu
nehmen. Daß alle, aber ausnahmslos alle, sich von ihm düpieren
lassen, gibt seinem Narzißmus weitere intensive Befriedigung
Unter ^Anlehnung an eine geläufige Wortbildung verschiedener
ÖTfrEt T sagen: N " der sich in seiner Kindhei * —
geliebt : fald e, mußte unter einer inneren Nötigung sich allen
Menschen liebenswürdig«,d.h. ihrer Liebe würdig zeigen
^fnwtrdfglt U ^- d - ^weisen, daß er ^Ä
^CTÜl an die ST 1 «"*
MiSS^Ä^ N.s brennender Wunsch, der
klärte mir selbst da ß " T Menschen 2U sei "- Er er-
sich alles um kn drehte«" 1 gfV** 1 »* ™, »-nn
Dasein in dor V a^ ' Em S ° lcher Zustand war »einem
rasches P„H. • . t IbSt alleS ' Um der Herrlichkeit ein
noSte £ ^ S reiten ' ^ Übermächti ^r Wiederholungszwang
notigte ihn, sich immer wieder zum Ausgestoßenen zu machen
wenn er gerade zum Liebling aller aufgestiegen Z _ S
Tng ZT ^ V ° n * "° Ch ^^ Ä«&. ^ße Änd^
Im Juni i 9 i 9 zog N. unstet und flüchtig von Stadt zu Stadt
fXten'd fT - !! HÜfe r Zech P relle - ien Wanderen Betrügereien
fristend In diesem Zeitpunkt trat ein glückliches Ereignis ein
dessen besondere Bedeutung für N. dem psychoanalytisch Ge-
schulten sich förmlich aufdrängen muß.
93
N. machte damals die Bekanntschaft einer Frau, die sich schon
im ersten Gespräch für ihn zu interessieren begann. Sie war nicht
unerheblich älter als er und war Teilhaberin eines industriellen
Unternehmens. Kaum hatte sie von N.s Stellenlosigkeit und Not-
lage gehört, als sie auch schon für ihn zu sorgen versprach. Er
fand in dem Unternehmen, an welchem sie beteiligt war, eine
seinen künstlerischen Gaben entsprechende Tätigkeit, hatte mit den
sozial angesehensten Personen umzugehen und wurde auskömm-
lich bezahlt. Zwischen ihm und seiner Gönnerin entwickelten sich
engere Beziehungen. Sie war Witwe und Mutter mehrerer bereits
halbwüchsiger Kinder. Es kam zur Eheschließung, während N.
gleichzeitig in dem geschäftlichen Betrieb zu einem Posten mit
voller Verantwortlichkeit aufstieg, der ihm überdies eine aus-
gezeichnete gesellschaftliche Stellung sicherte. Es gab in diesem
Tdealzustand bürgerlicher Zufriedenheit nur eine Beunruhigung;
diese ging von den noch unerledigten Strafverfahren aus.
Als ich N. im Jahre 1925 wiedersah, hatte sich dieser Zustand
des äußeren Glückes und — wie wir hinzufügen dürfen — der
inneren Ruhe bereits durch einige Jahre stabil gehalten. Früher
hatte N. jede ihm günstige Situation aus zwingenden, unbewußten
Antrieben zerstören müssen. Warum blieb jetzt ein solcher Zu-
sammenbruch aus, und warum konnte N. die günstige Wendung
seines Schicksals in voller Eintracht mit einem anderen Menschen
genießen?
Wir können die Antwort in eine kurze psychoanalytische Formel
bringen. Alle früheren Zustände einer vorübergehenden Prosperität
in N.s Leben stellten nichts anderes dar als eine augenblickliche
Befriedigung seines Narzißmus. Ein derartiger Zustand aber trug
den Keim raschen Verfalls in sich; die Ambivalenz der Antriebe
war in N. viel zu stark, als daß er irgendeine Art des seelischen
Gleichgewichts hätte erreichen können. Vermutungsweise dürfen
wir hinzufügen, daß sich an N.s vorübergehende „Erfolge" starke
unbewußte Schuldgefühle knüpften, die ein baldiges Ende des
Glücks als Akt der Selbstbestrafung herbeiführen mußten.
Wir haben bereits versucht, das Verharren der Libido im Zu-
stande des Narzißmus aus einem regressiven Vorgang zu erklären,
der sich an tief enttäuschende Eindrücke der frühen Kindheits-
jahre anschloß. Anders ausgedrückt: N. hatte als kleiner Knabe
aus der Ödipus-Einstellung zu seinen Eltern dasjenige Quantum
an Lust nicht entnehmen können, das anderen Kindern — wenn
auch in sehr verschiedenem Maße — gestattet wird. Es fehlte die
94
mütterliche Zärtlichkeit. Es fehlte die Möglichkeit, den Vater
zur Idealgestalt zu erheben ; im Gegenteil sehen wir von früh auf
den Wunsch nach einem anderen Vater dominieren. Es fehlte
auch die Möglichkeit, sich im Ödipus-Kampf gegen den Vater mit
Geschwistern zu identifizieren: diese bildeten ja in unserem Falle
zusammen mit den Eltern eine Welt von Feinden. So unter-
blieb die regelrechte Entwicklung des Ödipus-Kom-
plexes. Naturgemäß konnten sich dann auch jene Sublimierun^s-
vorgänge nicht vollziehen, die von einer geglückten Bewältigung
des Ödipus-Komplexes zeugen und die Vorbedingung für eine
erfolgreiche Einordnung des Individuums in den sozialen Orga-
nismus bilden. 1
Der Umschwung, der sich im Jahre 1919 in N.s Leben vollzog,
bedeutet nun nichts mehr und nichts weniger, als das vollkommene
Gegenteil der häuslichen Konstellation in seiner frühen Kindheit.
Eine Frau, an Jahren ihm überlegen, findet auf den ersten Blick
Gefallen an ihm und überhäuft ihn mit Beweisen mütterlicher
Fürsorge. Beweise der Liebe gesellen sich hinzu. Niemand
steht dieser Liebe zwischen Mutter und Sohn hindernd im Wege,
denn der Ehemann jener Frau ist längst verstorben. Da sind aber
ein paar Söhne, die doch schon lange vor N. ein Recht auf die
Liebe der Mutter hatten. Doch sie bevorzugt ihn, der so spät in ihr
Leben eintritt, vor den anderen Söhnen, heiratet ihn und bietet damit
^SÄ" ^f « Söhnen, den Platz des verstorbenen Gatten!
«*™J £ - Ä ♦ Ch diGSe *** U neben der Plötzlichen Ver-
e EffülhfnT if G S °" ale "^ finan " elle ™Lsse eine rest-
*LhJu * ? f mCr dGm Ödipus-Komplex entstammenden
Kindheitswunsche. Als ich ihm einen Hinweis auf die offenbare
Mut erbedeutung semer Frau gab, erwiderte N.: „Sie haben sicher
recht. Ich habe sehr bald nach dem Beginn unserer Bekanntschaft
zu meiner jetzigen Frau ,Mütterchen' gesagt und bringe es heute
«rf. J7 ♦ 5 übrigens nicht vergessen, daß die Ödipus-Einstellung, die
£S y l P1 ! m 5 6Cht alS Quelle ernSter und ^clxhaltiger Konflikte im
Seelenleben des Kindes und des Herangewachsenen betrachten, zunächst
eine Quelle wirklicher und phantasierter Lust darstellt. Das Kind lernt aber
aut den größten und wichtigsten Teil seiner bezüglichen Wünsche, d. h. auf
die sozial verpönten, allmählich verzichten, wenn ihm ein gewisses, ein-
g«chranktes Maß von Lust gegönnt wird. Dies scheint eine dem Kinde unent-
behrliche Hilfe zur erfolgreichen Überwindung der Ambivalenz gegenüber den
Eltern zu sein. Ist aber dem Kinde alle solche Lust gänzlich versagt, so wird
eine gunstige Verarbeitung des Ödipus-Komplexes ausbleiben, und alle Libido
wird wieder dem Ich zuströmen.
M
noch nicht fertig, sie anders zu nennen." Bei dieser Gelegenheit
zeigte sich besonders eine lebhafte Gefiihlsreaktion im Sinne von
Sympathie und Dankbarkeit. Sie ließ erkennen, daß bei N. jetzt
mehr vorlag als eine bloße Befriedigung des narzißtischen Be-
gehrens nach Liebesbeweisen. Ich gewann den Eindruck, daß N.
an einer Ersatzperson spät geglückt war, was in der Kindheit
nicht stattfinden konnte: Die Libido-Übertragung auf die Mutter.
Damit soll natürlich nicht eine voll ausgebildete Objektliebe, eine
volle Überwindung des Narzißmus behauptet werden, sondern
lediglich irgendein nicht näher zu bestimmender Grad der Pro-
gression seiner Libido von der narzißtischen Gebundenheit in
der Richtung zur Objektliebe. Genaueres ließe sich nur auf Grund
einer durchgeführten Psychoanalyse aussagen.
Weiter muß hervorgehoben werden, daß die Gesamtheit der
erwähnten Wunscherfüllungen nicht von Schuldgefühlen be-
gleitet ist. Da ist kein Vater zu beseitigen — er ist schon vor
langem gestorben. Da ist kein Angriff auf die Mutter nötig; sie
kommt ja dem Sohne sowohl im mütterlich-zärtlichen wie im
erotischen Sinne entgegen, und dies aus eigenem Antrieb. Da sind
keine Geschwister zu bekämpfen; seine besondere Stellung in der
neuen Familie wird in vollem Maße anerkannt. So genießt N.
zum ersten Male in seinem Leben eine Situation ausschließlicher
und — wie wir hinzusetzen müssen — vorwurfsfreier Lust.
Die vollkommene Gewährung aller mütterlich-fürsorglichen
wie erotischen Gefühle von Seiten einer Mutter- Vertreterin hat
den in der Kindheit unbefriedigt gebliebenen Ödipus-Wünschen
eine späte Erfüllung gebracht, hat aber zugleich N.s Libido aus
ihrer narzißtischen Gebundenheit hervorgelockt. Und so gelang
ihm zum ersten Male ein gewisses Maß von Übertragung seiner
Libido auf ein Objekt.
Die im psychologischen Sinne vollkommene Erfüllung einer
infantilen Wunschsituation, wie wir sie im vorliegenden Falle
geschehen sahen, dürfen wir als ein exzeptionelles Vorkommnis
bezeichnen. Niemand konnte mit dem Eintritt dessen rechnen, was
hier einmal, wie durch ein Wunder, zum Ereignis wurde. Die
pessimistische Voraussage des Gutachtens behält ihre allgemeine
Berechtigung, wenngleich sie sich in diesem Einzelfall als irrig
erwiesen hat. Und noch in einem anderen Sinne behält sie ihre
Berechtigung.
Als N. mich zum letzten Male besuchte, hob er selbst hervor,
wie gut es ihm in jeder Hinsicht ergehe. Aber gemäß seiner
96
scharfen Intelligenz sprach er ein Bedenken aus. Er fühla, und
er gestehe es sich und mir zu, daß die Dauer des gegenwärtigen
Zustandes abhängig sei von seinem (N.s) Verhältnis zu seiner
Frau. Würde dieses jemals erschüttert werden, so würden sicher
die alten Neigungen wieder aus ihm hervorbrechen, denn zutiefst
fühle er, daß die alte triebhafte Unruhe noch in ihm sei.*
Es läge nahe, mit Bezug auf den geschilderten Fall von einer
„Heilung durch Liebe" zu sprechen — wenn wir nur sicher
sein dürften, daß eine wirkliche Heilung, eine dauernde Ver-
änderung zum Guten vorliegt. Wie dem aber auch sei, der Um-
schwung im sozialen Verhalten eines Menschen mit einem Vor-
leben, wie es geschildert wurde, bleibt ein merkwürdiges Phä-
nomen, das nur von der psychoanalytischen Libido-Theorie zu
erfassen ist, das im übrigen aber auch aus praktischen Gründen
unsere volle Aufmerksamkeit verdient.
In eindrucksvollster Weise zeigt der vorliegende Fall, daß wir
die hereditäre Belastung, die „Degeneration" in ihrer Bedeutung
für das Entstehen dissozialer und krimineller Antriebe nicht über-
schätzen sollen. Was die Schulmeinung noch immer mit einseitiger
Vorliebe als mit dem Menschen geboren und daher unabänderlich
betrachtet, das müssen wir zu einem guten Teil als früh erworben
erkennen, d. h auf die Wirkung frühester psychosexueller Ein-
drucke zurückfuhren. Dies aber bedeutet nicht nur die Korrektur
SSSiSkS Mei H* SOndern S ibt ™ ^ue Handhaben, neue
M °fw " n .A-Äriff-punkte für die Behandlung der Dis-
TSStoSEu ^Vr^ 11 " 0116 " Alter ' Ich 3 -it Genug-
tuung feststellen, daß ,ch mich in dieser Hinsicht mit einem fo
vortrefflichen Kenner dieser TVT «c^„ • * . , ,
n in. • .- a, eser Menschengruppe wie Aichhorn in
voller Übereinstimmung befinde.
Aichhorns* Mitteilungen lassen uns erkennen, welche Be-
deutung der positiven Übertragung des Zöglings auf den Er-
zieher gerade m den Besserungsanstalten zukommt. Er hat mit
vollem Recht die Herstellung der Übertragung und ihre Erhaltung
zum Angelpunkt der Fürsorgeerziehung gemacht.
Erinnern wir uns der zauberhaften Wirkung der ersten ge-
glückten Übertragung im Falle N.. d. h. bei einem bereit s er-
i) Hier sei das Ergebnis des zweiten Gutachtens (1923) erwähnt. Die letzten
unerlaubten Handlungen fielen zeitlich unmittelbar vor den großen Umschwung
waren also in gleicher Weise wie alle früheren zu bewerten, d. h. als Äuße-
rungen eines aus unbewußten Quellen stammenden unwiderstehlichen Dranges
2) „Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung ■
Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XIX, 1925.
97
waehsenen Manne, so vermögen wir zu ahnen, welche Ergebnisse
eine erfolgreich hergestellte und in richtige Bahnen gelenkte Über-
tragung bei jugendlichen Individuen erzielen kann. N. hatte freilich
das Gluck, als Fürsorgezögling einen humanen und Verständnis-
vollen Erzieher zu finden. Was aber diesem Manne trotz ernster
Ante l]nahme an N s Schicksal nicht ffela ^ dag w ^ d . e ^^^
Stellung einer nachhaltigen Übertragung; das Felden einer festen
Bindung des Gefühls ließ N. immer wieder rückfällig werden und
dauerhafte Trieb-Sublimierungen nicht zustande kommen. Solche
vo zogen sich erst, als N.s Libido sich zum ersten Male nach-
naltig auf eine Person übertragen hatte
Gerade wir Praktiker der Psychoanalyse haben oft beklagt
daß unser therapeutisches Wirken sich stets nur auf einen ver-
hältnismäßig kleinen Kreis von Personen erstrecke, daß es wohl
« die Tiefe des Einzelfalles, aber nicht genügend in die Breit
der menschlichen Gesellschaft dringe. Wenn Aichhorns Auf!
fassung zutrifft, daß im allgemeinen durch die Herstellung der
IWagung eme ausreichende Grundlage für die BeeinfluLnl
der distalen Jugendlichen gegeben sei, während nur oM e mk
neurotischen Störungen komplizierten Fälle eine regelrechte psycho
analytische Behandlung erfordern, so läge hier ein Gebiet vo^ "uns'
auf welchem die an Neurotikern gewonnenen Ergebnisse "22
psychoanalytischen Forschung und Praxis zu umfaLnder Aus
Wirkung gelangen könnten. Was Aichhorn uns vorführt i st
vielversprechender pädagogischer Vorstoß, zu welchem FreuTu
Psychologie ihm das Rüstzeug geliefert hat. Der warmherzig
fucn r ; m V el + d ; em er / ies ; s E"iehungswerk auszugestalten v er .
sucht, verdient bewundernde Anerkennung
Werfen wir noch einen Rückblick auf' die Schicksale unseres
Hochstaplers! In den Psychoanalysen Neurotischer stoßen wir oft
auf die Folgen früher Verzärtelung, durch welche die Liebes-
ansprüche des Kindes in unzweckmäßiger Weise hochgezüchtet
wurden. Unter den „Dissozialen" wird uns vielleicht häufiger ein
anderes Schicksal der Libido im frühen Alter begegnen. Es ist
die Entbehrung an Liebe, welche, einer seelischen Unterernährung
vergleichbar, die erste Vorbedingung für die Entstehung dissozialer
Züge schafft. Es bildet sich ein Übermaß von Haß und Wut, das
ursprünglich gegen einen engen Personenkreis gerichtet, später
der sozialen Gesamtheit gilt. Wo solche Vorbedingungen gegeben
sind, da wird eine der sozialen Anpassung günstige Entwicklung
des Charakters spontan nicht zustande kommen können. Der nar-
98
zißtischen Regression der Libido, wie wir sie im Falle N. an-
nehmen mußten, wird auch eine Hemmung der Charakterbildung,
ein Stehenbleiben auf niederer Stufe entsprechen.
Es wird nicht aiisbleiben können, daß diesen Ergebnissen der
Psychoanalyse allmählich auch von kriminalistischer Seite die ihnen
gebührende Beachtung zuteil werden wird. In neuester Zeit hat
Reik in seinem Buch über „Geständniszwang und Strafbedürfnis"
umfassende Untersuchungen über das Schuldgefühl angestellt und
damit eine wichtige Verbindung zwischen der psychoanalytischen
Neurosenforschung und der Kriminalistik angebahnt. Nach zwei
Richtungen hin kann die Wissenschaft vom Verbrecher und Ver-
brechen aus den psychoanalytischen Lehren Nutzen ziehen. Die
Psychoanalyse liefert der Kriminalistik neue psychologische Ge-
sichtspunke für das Verständnis der sie beschäftigenden Personen.
Außerdem aber erscheint die Behandlung jugendlicher Dissozialer
mit Hilfe der Psychoanalyse oder im Geiste der Psychoanalyse al&
ein aussichtsvoller Weg zur Verhütung krimineller Handlungen.
Zur Herstellung dieser Brücke zwischen Psychoanalyse und
Kriminalistik möchte auch die vorliegende Mitteilung einen Bau-
stein beigetragen haben.
Über Cou6s Heilformel
von
Karl Abraham
Auf Grund eines Manuskriptes, das im Nachlaß von
Abraham vorgefunden wurde, konnte das Abraham-
Gedenkheft der „Internationalen Zeitschrift für Psycho-
analye" (Bd. XII, 1926, Heft 2) die „Psychoanalytischen
Bemerkungen zu Coue's Verfahren der Selbstbemeisterung u
veröffentlichen. Dieser Arbeit sind die folgenden Absätze
entnommen.
Die Formel lautet in deutscher Fassung bekanntlich: „Jeden
Tag geht es mir in jeder Beziehung immer besser und besser."
Sie ist so allgemein gehalten, daß jeder einzelne Mensch ihr den
seinen Leiden entsprechenden Sinn ohne weiters unterlegen
kann. Die Worte „in jeder Beziehung" entbinden den Leidenden
davon, beim Aussprechen der Formel an seine verschiedenen
99
Klagen zu denken. Die Formel ist dreimal am Tage je zwanzigmal
aufzusagen Coue rät, daß der Kranke sich zuvor gedanklich in
die Nahe des Meisters versetzen und dann die Formel sprechen
soll; daß der Leidende sich mit ihm identifiziert, wird hier noch
einmal besonders deutlich. Die Sprechweise und besonders das
lempo sollen nicht etwa feierlich, getragen, sondern rasch sein.
Hs kommt nicht auf eindringliche, sinnvolle Betonung an, sondern
es handelt sich um ein gleichförmiges Herunterbeten des ein-
fachen Textes. Unerläßlich ist ein Stück Bindfaden mit zwanzig
Knoten darin; während der autosuggestiven Verrichtung greift
dieHand von einem Knoten zum andern, bis die vorgeschriebene
Zahl abgebetet ist.
Wir werden uns allein an diese Formel halten, obwohl sie
nicht die einzige ist. Eine zweite, kurze, existiert für besondere
Vorkommnisse, wie z. B. anfallsweise auftretende Beschwerden
aller Art, besonders auch für Schmerzen. Hier lautet die Vorschrift,
der Leidende soll im schnellsten ihm möglichen Tempo und
ohne zu zählen die Worte sprechen: „Es geht vorüber, es geht
vorüber« usw. Er hat dies fortzusetzen, bis — angeblich nach
ein bis zwei Minuten — die Wirkung eintritt.
Die Hauptformel ähnelt vollkommen den magischen Wort-
folgen, wie wir sie bei primitiven wie bei zivilisierten Völkern
in Anwendung finden. Auch bei uns gehört das „Besprechen" von
Wunden und Krankheiten noch keineswegs ganz der Vergangen-
heit an. Die dreimal tägliche Ausübung der Autosuggestion er-
innert uns an die kultischen Einrichtungen vieler Völker, daneben
auch an den Gebrauch von Medikamenten. Daß in dem Bind-
faden der Rosenkranz der katholischen Kirche eine moderne
Neuauflage gefunden hat, ist leicht zu ersehen. Wir wissen, wie
sehr derartige Vorrichtungen dazu führen, daß das Gebet nur
noch einer automatisch gewordenen Formel gleicht. Einrich-
tungen ähnlicher Art sind bei den verschiedensten Völkern zu
finden; es sei nur an die „Gebetsmühlen" der Tibetaner erinnert.
Warum Coue gerade die Zahl 20 gewählt hat, vermag ich nicht
zu erklären. Ich vermute, daß er den Grund auch selbst nicht
würde angeben können. Derartige zahlenmäßige Festsetzungen
finden wir häufig bei Zwangsneurotikern, die aber in der Regel
die Motive zur Wahl einer Zwangszahl nicht spontan angeben
können; es bedarf hier der psychoanalytischen Untersuchung. Die
Vermutung aber, daß die ganze Methode das Werk eines Mannes
mit einer latent gewordenen Zwangsneurose sei, wird uns her-
100
nach beschäftigen. Hier sei erwähnt, daß Zwangskranke nicht
nur dazu neigen, vielerlei Dinge gemäß einer obsedierenden Zahl
zu wiederholen, sondern daß sie auch häufig Formeln bilden,
die oft den Charakter der Selbsthilfe gegenüber einer Obsession
tragen. Die von Coue vorgeschriebene Art, in welcher die Formel
in rascher Wiederholung auszusprechen ist, muß uns an die
„Verbigeration" der Geisteskranken erinnern.
Die übliche Kritik bemängelt dieses automatisierte Plappern
einer eingelernten Formel und findet es unbegreiflich, daß heut-
zutage jemand ein Heilverfahren auf ein so kümmerliches geistiges
Niveau stellen kann. Unsere Vermutung bewegt sich in gerade
entgegengesetzter Richtung.
Die allgemeine Wirkung des Coue sehen Verfahrens war uns
daraus verständlich geworden, daß das Individuum zum Massen-
bestandteil wird. Es geht seiner Kritik verlustig, der psychische
Überbau löst sich mehr oder weniger auf, und die unbewußten
seelischen Prozesse von impulsivem Charakter gewinnen die Ober-
hand. Auch die Neigung, sich die autosuggestive Formel zu eigen
zu machen, setzt eine Herabminderung der Kritik und eine ent-
sprechende Steigerung der Gläubigkeit voraus. Das Schwinden
der Kritik aber ist es, das den Zugang zum Unbewußten eröffnet.
Ich brauche nur daran zu erinnern, daß wir in der Psychoanalyse
dem Patienten zu Anfang erklären, er möge beim freien Asso-
ziieren, das uns doch den Zugang zu seinem Unbewußten er-
schließen soll, die Kritik ausschalten.
Die Formel ist ohne Zweifel dazu bestimmt, auf das Unbe-
wußte des Kranken zu wirken; Coue selbst sagt wörtlich so,
wenngleich seine Vorstellungen vom Unbewußten zu manchem
Bedenken Anlaß geben. Nach unserer Anschauung hat sich das
Unbewußte in der Krankheit — ich habe hier speziell die Neu-
rosen im Auge — ein Ausdrucksmittel für bestimmte verdrängte
Tendenzen gebildet. Es ist also am Fortbestand der Krankheit
interessiert; ihre Auflösung würde für das Unbewußte einen
Verlust bedeuten, und wir Analytiker kennen das Sträuben gegen
eine solche Veränderung gut genug. Soll nun auf suggestivem
Wege erreicht werden, daß das Unbewußte — sagen wir — sich
bereden läßt, so wird der Erfolg von der zweckmäßigen Wahl
der Mittel abhängen. Im Falle der Fremdsuggestion ist das wich-
tigste Agens eine libidinöse Bindung, die Übertragung auf den
Hypnotiseur. Dazu kommen die besonderen Mittel, welche einen
bestimmten suggestiven Effekt erzielen sollen. Im Falle der Auto-
lOl
Suggestion bedarf es, wie wir sahen, eines guten Einvernehmens
zwischen Über-Ich und Ich, und daneben eines bestimmten Ve-
hikels der Suggestion.
Wollen wir verstehen, warum Gou es Formel, beziehungsweise
überhaupt eine magische Formel, in dieser Hinsicht "anwendbar
und in gewissen Grenzen erfolgreich ist, so werden wir am
besten wieder an eine Feststellung Freuds anknüpfen und
weiterhin gewisse Parallelerscheinungen aus benachbarten Ge-
bieten ins Auge fassen.
In seiner kritischen Übersicht über Le Bons „Psychologie
der Massen« sagt Freud: „Wer auf sie (die Masse) wirken will,
bedarf keiner logischen Abmessung seiner Argumente, er muß in
den kräftigsten Bildern malen, übertreiben und immer das
gleiche wiederholen.« Die Wiederholung des Gleichen, zumal
m formelhaftem Ausdruck — so dürfen wir ergänzen — bahnt
sich offenbar in besonderer Weise den Weg ins Unbewußte. Es
muß sozusagen eine Sprache sein, auf die das Unbewußte reagiert.
Nun versteht man doch am besten die Sprache, welche man
selber spricht. Und da dürfen wir sogleich hinzufügen: Die
Wiederholung ist eine häufige und uns bekannte Aus drucksform
unbewußter Impulse. Auf das, was Freud unter dem Namen
des „Wiederholungszwanges« beschrieben hat, soll hier nicht ein-
gegangen werden. Von diesem mächtigen Zwang, der das In-
dividuum nötigt, in gewissen Zeitabständen die gleiche Handlung
wiederum zu begehen, führen fließende Übergänge zu den Er-
scheinungen, welche uns hier interessieren.
Die Völkerpsychologie bietet uns bemerkenswerte Erschei-
nungen, die wir zum Vergleich heranziehen dürfen. Ich las vor
langer Zeit eine Schilderung des Afrikaforschers Stanley wie
er mit seiner Expedition einen Kampf gegen feindselige Einge-
borene aufnehmen mußte. Er teilte nun seine Leute in ein paar
Trupps und gab jedem einen Anführer. Als es zum Kampfe ging,
produzierte jeder Trupp eine Art von Schlachtgesang oder Feld-
geschrei. Der Trupp, beispielsweise, welcher einem Manne namens
Uledi unterstellt war, sang in endloser Wiederholung: Uledi-ledi-
ledi . . . Der Sinn dieses Gebrauches ist klar. Er betont die
Bindung jedes Mannes an den Führer, die zugleich die Kampf-
genossen auch untereinander verbindet.
Bei einer Gruppe von Geistesstörungen, die mit tiefreichender
Regression der Libido zu ihren frühesten Entwicklungsstufen
einhergehen, den katatonischen Zuständen, gelegentlich aber auch
103
bei anderen Psychosen, finden wir das Symptom der Verbigera-
tion. Ein oder mehrere Worte werden in triebhafter Weise viele
Male nacheinander hervorgestoßen. Die Psychoanalyse erkennt in
diesen Wortfolgen den oft nur wenig entstellten Ersatz be-
stimmter, von Unbewußten angestrebter Handlungen. Frühere
Mordimpulse sind etwa zu einem stereotypen Abbeten einer
Formel geworden, in der Hinweise auf den Tod enthalten sind.
Sexuelle Antriebe fanden ihren abgeschwächten Ausdruck in
stereotyp wiederholten obszönen Reden. Die gleichen Personen
pflegen übrigens auch „Bewegungs-Stereotypen" darzubieten, in
welchen eine Intention von ursprünglich hohem Affektwert zu
einer bizarren Ausdrucksbewegung erstarrt ist. Unter den chro-
nisch Geisteskranken kann man derartiges vielfach beobachten.
Für diejenigen Leser, denen es an eigener psychiatrischer Er-
fahrung fehlt, will ich ein paar Beispiele anfügen.
Zu meiner Schulzeit begegnete man in den Straßen meiner
Heimatstadt einem Manne mit närrischem Benehmen, in welchem
jeder Irrenarzt ohneweiters die Residuen einer kataton-hebephre-
nischen Geistesstörung zu erkennen vermochte. Wenn er durch
die Straßen hinkte, war stets ein Schwärm von Schuljugend
hinter ihm. Er lief dann weiter, so schnell er konnte. In dieser
Situation, aber auch sonst, sprach er laut vor sich hin, immer
die gleichen Worte im gleichen Tonfall wiederholend. Eine dieser
Formeln lautete: „Zehntausend Särge, zehntausend Särge" usw.
Eine andere: „Der Tod ist nah, die Zeit ist um, die Zeit ist
um, der Tod ist nah." usw. in inßnitum. Die feindseligen Impulse
fanden in diesen Worten des hilflosen Narren einen letzten er-
starrten Ausdruck. Wir erkennen in ihnen eine Art von Bann-
formeln gegen die Verfolger. Zu erwähnen ist, daß nach dem
Ergebnis der Psychoanalysen derartige Formeln, auch unter der
Decke aggressiver Regungen, stets sexuelle Impulse zum Aus-
druck bringen, und daß dies nicht bloß durch ihren Wortlaut
und Inhalt, sondern wesentlich auch durch ihren Rhythmus
geschieht. Besonders leicht überzeugt man sich davon bei den
Bewegungsstereotypien, deren erotische Bedeutung oftmals ganz
unverkennbar ist.
Zur Bildung von Wortformeln kommt es sodann sehr oft in
der Zwangsneurose. Freilich sind sie von den Formeln der Kata-
toniker schon äußerlich recht verschieden. Sie dienen ganz be-
wußt zur Bannung eigener Antriebe des Kranken; ihre Form ist
zwar oft verschroben, jedoch immer leicht als sinnvoll zu er-
103
drPo n ; m ^ ne n.T i T t Pati , enten banme *•"*-«* In, puls e mit
set daT die's'e * F* "^ ™' Fußtritt ' "^«Bemerkt
sei, daß diese gegen einen gefürchteten Zwang angewandten
Formeln stets bald selbst obsedierend werden, wi uns Ter 1 2
2 fZZ 7 ea mUß> iSt "-Ambivalenter Triebregungen
f'l S ; ^ Cn kleinSten P^^he» Produktionen ^
h Z ,"f ™ ,k ™ ™ ta f ««. 1» dem, was ein Zwangskranker
tu toder sprich,, äußern sich zugleich Trieb und Verbot, eine
Lnsttendenz und eine Straftendenz. Ein sehr instruktives B ismel
fcho„ damaU d T "" **" Kindheit - Sei " T «Ht«n w«
etbs" da t„ dU1 ' ChSet2t c ! 0n fcindlich-qnalerischen Antrieben
selbst da, wo er von Schuldgefühl und Reue erfüllt ™ . •
Mal^batt G ^,^Ä msgehet^nders £ $ £
Masturbation, wahrend sie sich äußerlich meist an die sonstigen
kleinen Untaten der Kinderstube anschlössen. War derer igeTfe
Knete V° *"* *t hemach >° d °™* "as gleiche ,f£
Knabe klammerte sich an seine Mutter und sagte in unendlicher
Wiederholung: ^rgive m , „^ forgive J^ Diese V er
fahren brachte zwar reuige Zerknirschung weit stärk- u
zw« andere Tendenzen zum Ausdruck. Einmal setz e er L ft"
die Quaierei gegenüber seiner Mutter fort, während er lv
tat. Sodann aber erwies sich bei ihm damals, wie in r r
Jahren, daß er, anstatt sich zu bessern, es stets vorzog ,iT
Verfehlungen verzeihen zu lassen, was sich auch wahren! """
psychoanalytischen Behandlung störend äußerte Wir se J ner
aber noch weiter, daß das schnelle Herunterh»^„i f rmitte "en
formel dem Rhythmus der Onanie nach-b Idet P S"" Buß "
sich die verbotene sexuelle Tendenz auch „ l^ £l 7°*
hell durchzusetzen. Ich berichte W^« m heim "
wieder gut machen und brauchte sich keiner sonstigen Willens-
anstrengung zu unterziehen!
Wir beginnen zu verstehen, daß es für manche Personen eine
bequeme und billige Art der Selbstbestrafung bedeutet, der sie
sich unterziehen, wenn sie das C o u e - Verfahren einschlagen, weit
bequemer als wenn sie ihre bisherigen Fehler vermeiden würden.
Ja, das Verfahren kommt ihnen darin noch entgegen! Für alle
Menschen ist die Vorstellung der Strafe eng verknüpft mit Zahlen-
Vorstellungen. Man erhält fünfundzwanzig Stockschläge, sechs
104
Monate Gefängnis, hundert Mark Geldstrafe. Und erinnern wir
uns nun wieder der Verwandtschaft der Methode mit dem An-
beten des Rosenkranzes, so können wir hervorheben, daß dem
gläubigen Katholiken oftmals vom Geistlichen befohlen wird, eine
bestimmte Zahl von Rosenkränzen abzubeten, als Sühne für seine
Verfehlungen. Und gleich wie der Rosenkranz, so eignet sich auch
Coues Methode dazu, dem allgemein menschlichen Schuldgefühl
und Strafbedürfnis Ausdruck zu verleihen. Zwischen Sünde und
Krankheit bestehen uralte, feste Assoziationen. Die verbreitetste
menschliche „Verfehlung", die Onanie, zieht Schuldgefühle nach
sich, zugleich aber mit großer Häufigkeit die Furcht vor Erkran-
kungen. In dieser Furcht prägt sich die Erwartung der Strafe
aus, und diese bezieht sich auf alle „bösen", unerlaubten Wünsche
der Krankheit, die in der Onanie ihren kollektiven, handelnden
Ausdruck finden.
Wir vermögen nun zu präzisieren, in welcher Weise die Methode
Coues auf das Individuum wirkt, wenn sie erfolgreich ist. Indem
der Patient ein Gehaben annimmt, das uns an jenes der Zwangs-
kranken erinnert, vertauscht er seine bisherige Krankheit gegen
eine milde Form von Zwangsneurose, ohne sich dessen bewußt zu
werden. Das Gefühl der Allmacht, das mit der „Selbstbemeisterung"
verbunden ist, ist lustvoll genug, um seinen Blick für etwaige
Nachteile der Methode zu trüben. Man hat früher gesagt, die
Hypnose rufe eine künstliche Hysterie hervor. Neuerdings ist von
Rado eine ähnliche Anschauung bezüglich des kathartischen Ver-
t.- * , uemnacn an eine stärkere Regression gebunden
Diese Annahme steht in k^«, fn, • .. ö . 6 , en '
fetfkwn • er Uberei nstimmung mit dem, was
wir über Regressionserscheinungen in der Richtung zum Narzißmus
bereits festgestellt haben. Wir dürfen hinzufügen, daß die Vor!
Stellungen von der eigenen „Allmacht" am stärksten in der Zwangs-
neurose hervortreten; der erste Krankheitsfall, an welchem Freud
diese Erscheinung beschrieb, war eine Zwangsneurose. Wir kennen
auch gut den Kampf des Zwangskranken gegen sein Leiden, den
er zu einem Teil, wie erwähnt, mit Hilfe von Formeln führt.
Da sich nun ganz Entsprechendes in dem Vorgang der „Selbst-
bemeisterung" abspielt, so spricht Vieles für die Vermutung, daß
ihr Erfinder mit einer Zwangsneurose behaftet sei, die sich viel-
leicht nicht mehr im Stadium der Symptombildung befindet, ihn
aber offenbar nötigt, an der Menge der Hilfesuchenden immer
wieder die Allmacht der Gedanken zu erproben. Ganz auffällig
105
ist die Scheu vor jedem Wissen um den Ursprung einer Krankheit;
wir werden hier unmittelbar an die Verbote des Fragens und
Wissens erinnert, denen wir in den Analysen Zwangskranker be-
gegnen.
Die Ökonomische Bedeutung der Coue-Formel im Bewußtsein
und im Unbewußten des Patienten erweist sich uns somit als eben-
so vielfaltig wie die Bedeutung eines Zwangssymptoms für den
Neurotiker. Da ist zunächst die manifeste Bedeutung der Formel
als Trost und Selbstaufmunterung, die in der Wiederholung noch
besonders bekräftigt wird. Das Nachsprechen der vom Meister
empfangenen Formel ermöglicht es dem Jünger, sich in besonders
betonter Weise mit jenem gleichzusetzen. Des weiteren dient die
Formel der Selbstbestrafung: Litt das Individuum an einer Krankheit,
die seinem Unbewußten Strafe bedeutete, so würde hier eine Sühne
durch eine andere, dem Ich weit genehmere, ersetzt. Endlich kehrt
in der Formel das Verdrängte wieder, das Verbotene, dessen Genuß
die Strafe galt; Rhythmus und Tempo sind an dieser unbewußten
Darstellung des Verbotenen besonders beteiligt, die mit Zustimmung
des „Vaters" geschieht. B
In tiefster unbewußter Schicht bedeutet der Gebrauch der Formel
also einen larvierten, vom Vater approbierten Onanie-Ersatz. Die
vorgeschriebene Schnur gibt uns auch zu denken. Man konnte
ja auch an den Fingern abzählen, aber Goue macht den Gebrauch
der Schnur obligatorisch. Das Hantieren mit ihr ist wie das Wieder-
erscheinen der verpönten Manipulation der in Gestalt einer
Handlung, die dem Augenschein nach der Verdrängung dient. Und
so vereinigen sich unerlaubte sexuelle Tendenz, Strafe, Besserungs-
streben und Trost in dieser einen Formel
Im Laufe unserer Untersuchung ist uns verständlich geworden,
aus welchen psychologischen Ursachen sich ungezählte Menschen
in allen Ländern so bereitwillig dem Cou eschen Verfahren in
die Arme geworfen haben, und wie alle diese Menschen willig
und ohne Kritik zu Sprechmaschinen wurden, welche die Heils-
formel in der vorgeschriebenen Weise reproduzieren. Nebenbei
gelanges uns, das psy chologi sehe Verhältnis der „Selbstbemeisterung"
zu anderen Wegen der Psychotherapie zu erfassen. Wir dürfen
eine Stufung der therapeutischen Verfahren annehmen, ähnlich
wie sie sich uns für hauptsächlichsten Objekte dieser Heilmethoden,
die Neurosen, ergeben hat.
Bezeichnen wir Co lies Methode als ein Heilverfahren auf
der zwangsneurotischen Stufe, so bedeutet das nicht nur, daß es
106
sich der nämlichen archaischen Denkakte bedient, wie wir sie aus
der Psychologie der Zwangsneurose kennen. Es bedeutet auch,
daß Coues Methode im psychologischen Sinne die Antipodin der
Psychoanalyse darstellt. Zwar findet in Coues Schriften das Un-
bewußte Berücksichtigung, aber das psychologische Fundament
ist überaus schwach und an inneren Widersprüchen reich. Der
volle Gegensatz der beiden Richtungen wird deutlich, wenn wir
vergleichen, wie sie sich zu einer entscheidenden Frage stellen,
nämlich zum Wissen des Kranken um Herkunft und Aufbau des
Leidens. Für den Psychoanalytiker ist die Bewußtmachung des
Verdrängten, welche den eben erwähnten Vorgang zum guten Teile
in sich begreift, ein unentbehrliches Mittel zur Erreichung des
Heilzwecks.
iiiiifiiif iriiiiiiiiif iiiiiiiiiiiiiTiiiiriiiiiiiiiiiiiifiiriiiiiirtiiiiiiiiiiifif tiriirif iirEiiiiiiiiiifiiniiiiiiiiii iimiiiiiimiiiiiiiiiimiiiiiimi
PSYCHOANALYTISCHES LESEBUCH
G. Ch. Lichtenberg über „Kopf" und „Unterleib"
„Hätte die Natur nicht gewollt, daß der Kopf den Forderungen des
Unterleibes Gehör geben sollte, was hätte sie nötig gehabt, den Kopf an
den Unterleib anzuschließen. Dieser hätte sich, ohne eigentlich dasjenige
zu tun was man Sünde nennt, satt essen und sich satt paaren, und jener
ohne diese Systeme schmieden, abstrahieren und ohne Wein und Liebe von
platonischen Räuschen und platonischen Entzückungen reden und sinken
und schwatzen können. Küsse vergiften ist noch weit ärger von der Natur
gehandelt, als das Vergiften der Pfeile der Feinde im Krieg.
Die Scheidewand zwischen Vergnügen und Sünde ist dünne, daß sie
der Strom des langsamsten Blutes im siebzigsten in Stücke drückt. Was?
Will denn die Natur, was sie nicht will? oder denkt die Vernunft, was
sie nicht denken kann? Du Narr! Weg mit dieser verfluchten Demokratie,
wo alles das Wort führen will. Wenn ich will, soll eine uneinheimische,
eingeführte, nichtswürdige Sentenz aufsteigen und Fleisch und Blut Trotz
bieten? Eine Sentenz, Herr, von diesem festen steten Hang eines ganzen
Systems zur Wollust? Ja, werfe einem hungrigen Volk einen Zwieback zu
und befriedige es oder halte die Flut mit einem Fächer auf. Sünde, was
Sünde — dreitausend Stimmen gegen eine, es ist nichts. Eine Schuldinstink-
tion oder Priesterbetrug. So — hier stehe ich fest, und dieses bin ich.
Seid, was Ihr wollt, wohlan."
107
Psychoanalyse und Moral
von
Israel Levine M. A., D. Litt.
Aus der Monographie: „Das Unbewußte"
von Israel Levine (Internationale Psychoanalytische
Bibliothek, Nr. XX), autorisierte Übersetzung aus
dem Englischen von Anna Freud (Geheftet M. 8-
Ganzleinen M. 10' — ). Levines Werk behandelt im
ersten Teil die Geschichte des Begriffs des Unbe-
wußten vor Freud (besonders bei Leibniz, Schopen-
hauer, Maine de Biran, Hartmann, Fechner, Nietzsche
Samuel Butler), im zweiten Teil wird Freuds Lehre
dargestellt, der dritte setzt sich eingehend mit dm
Einwanden gegen die Lehre vom Unbewußt aus-
einander, im vierten Teil wird h, f W" 115
graphen die Theorie deTuTe^ulell^ ?
letzte vereinigt unter dem TiTl r? *"?'''&> d ' r
Unbewußten* Zleih, J'%\ " D . 1 ' ß'^^g des
Mter md ^Ä&Ä *r
Spaltung der Persönlichkeit« ' '£ airm e un B ™d
wußte,*, „ ae Vernunft Z Ä, - C ™<-
fSfchoaneürse und bL*J£d£%*V*«P',
Kttpttel sind dienenden M :iZ7enZ e „Z? m
Psychoanalyse und Hedonismu,
Der Hedonismus in der Moral bedeutPt , • i •
den Gesetzen der menschlichen Natur all W ■« ' Z) daß nach
eines Luststrebens sind; 2) daß die Herst U^ 11 Aus( Wk
Vermeidung von Unlust die einzig er^T^ V ° n LuSt Vmd *™
Nach der oben ausgeführten Auffassun^T* 611 Ziele si »*-
Ethik und Psychologie kann eine AnweL , lation tischen
nur auf die erste der beiden Bedeutun^^fii ^ cho ^^
Die Ansicht Freuds ist wi P «»•„ V± age kom ™en.
reu« ISt, Wie erinnerlich, daß der seelische
arbefct n 01 " aUf Lusterwer ^ wnd Unlustvermeidung hin-
beherr * A fP arat ™igt die Tendenz, sich vom „Lustprinzip«
errscnen zu lassen. Auch das „Realitätsprinzip" will im Grunde
„Lust erzielen, aber durch die Rücksicht auf die Realität ge-
sicherte . . . Lust«. (Vorlesungen, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 370.)
Ls ist also klar, daß Freud in seiner Beschreibung des Prinzips,
von welchem die menschliche, oder besser gesagt die seelische,
Tätigkeit beherrscht wird, die psychologischen Grundlagen des
108
Hedonismus bestätigt. Es ist aber wichtig, sich darüber klar zu
werden, wie viel oder wie wenig diese Bestätigung der Ethik
bedeutet. Meiner Ansicht nach ist sie auf keinen Fall eine Stütze
für die Folgerungen, die sich aus der oben angeführten zweiten
Bedeutung des Hedonismus ergeben.
Nach Freud dient der psychische Apparat der Reizbewältigung.
Wir haben Grund anzunehmen, daß die erfolgreiche Durchführung
dieser Aufgabe für die Erhaltung des Organismus unerläßlich ist.
Sie ist tatsächlich das wichtigste aller Probleme und die Entwick-
lung des Nervensystems der äußere Rahmen, innerhalb dessen
seine Lösung sich abspielt.
Die Reizbewältigung ist mit den Qualitäten verbunden, die
wir als Lust und Unlust bezeichnen. Welches die Bedingungen
der Entstehung von Lust und Unlust sind und worin diese Quali-
täten eigentlich bestehen, läßt sich nicht mit Sicherheit angeben.
Freud versucht die Behauptung, „daß die Lust irgendwie an
die Verringerung, Herabsetzung oder das Erlöschen der im Seelen-
apparat waltenden Reizmenge gebunden ist, die Unlust aber an
eine Erhöhung derselben". (Ges. Schriften, Bd. VII, S. 369). Alles,
was wir behaupten können, ist also nur, daß die geglückte Be-
wältigung der Reize (letzten Endes der Sinn aller Seelentätigkeit)
lustbringend ist, oder wie Aristoteles es ausdrückte: Lust ist
eine „Begleiterscheinung" erfolgreichen Funktionierens.
Eine sehr klare Darstellung irgendeiner derartigen biologischen
Bedeutung der Lust-Unlustgefühle findet sich bei Spencer in
den ersten Kapiteln seiner „Data of Ethics" und in seinen „Prin-
ciples of Psychology« (Sektion 124). Er schreibt: „Es besteht ein
ursprunglicher Zusammenhang zwischen lustbringenden Hand-
lungen und der Erhaltung oder Steigerung des Lebens und, in
logischer Folge, zwischen unlustbringenden Handlungen und dem
Abbau oder Verlust des Lebens . . . Jedes Individuum und jede
Spezies wird durch ihr Streben nach dem Angenehmen und die
Vermeidung des Unangenehmen von Tag zu Tag am Leben er-
halten. Mit Empfindung verbundenes Leben kann sich nur unter
der Bedingung entwickeln, daß die lustbringenden Handlungen
gleichzeitig lebenserhaltende Handlungen sind. („Data of Ethics«.)
Das Lustprinzip wird also durch allgemeine Überlegungen dieser
Art bestätigt. Es wird auch durch Beobachtungen bestätigt, die
aus einem anderen Gebiet, dem .der physiologischen Psychologie,
stammen. Das Individuum, das etwas durch Erfahrung lernt, scheint
einen bestimmten Zusammenhang oder eine Assoziation zwischen
109
einer sensorischen Bahn, z. B. einem Gesichtseindruck und einem
bestimmten motorischen Mechanismus, herzustellen. Die Fixierung
dieses Zusammenhanges unter Ausschluß anderer möglicher Asso-
ziationen ist es, die den wesentlichen Charakter dieses ganzen
Vorganges ausmacht. Was ist es aber, das diese Fixierung einer
bestimmten Assoziation hervorruft?
Das bestimmende Moment ist hier, wie Thorndike und
McDougall zeigen, einfach die aus ihr resultierende Lust. Die
Assoziation, die Lust bringt, prägt sich ein; die anderen werden
ausgelöscht. McDougall bezeichnet den Vorgang als das Gesetz
der subjektiven oder hedonistischen Auslese, als einen Spezialfall
des allgemeinen Gesetzes von St out, nach dem „Handlungsweisen
diskontinuierlich oder variabel bleiben, insoweit sie erfolglos sind,
erfolgreiche Handlungen aber beibehalten werden". (McDougall,
„Primer of Physiological Psychology", p. 148.)
Das scheinen mir wertvolle Illustrationen zur grundlegenden
Bedeutung des Lustprinzips für die Seelentätigkeit. Die psycho-
logische Wahrheit, die im Hedonismus steckt, wird so durch die
Psychoanalyse in helles Licht gerückt. Diese Bestätigung wirkt
auch nicht überraschend. Die lange Entwicklungsgeschichte des
Hedonismus, sein ständiges Wiederauftauchen in der ethischen und
philosophischen Literatur vieler Zeiten und Völker, ja gerade die
Heftigkeit des Widerstandes, dem seine Formulierungen jederzeit
begegnet sind, legen die Vermutung nahe, daß ein fundamentales
Element der menschlichen Natur in ihm zur Äußerung kommt.
Psychoanalyse und Verantwortlichkeit
Eine andere fast in die Augen springende Beziehung der Psycho-
analyse zur Ethik ergibt sich aus dem Anschein, daß sie den
Glauben an eine moralische Verantwortlichkeit erschüttern will.
Moralische Verantwortlichkeit besteht nach der üblichen Auf-
fassung für Handlungen, die sich nicht unserer Herrschaft ent-
ziehen, die also einer bewußten Willensentscheidung entspringen.
Die Psychoanalyse lehrt nun, daß unser Handeln häufig Trieb-
regungen entstammt, die „unbewußt" und daher unserer Herr-
schaft entzogen sind. Die bewußte Willensentscheidung spielt
nach ihrer Ansicht eine fast verschwindende Rolle in der Be-
stimmung unseres Verhaltens. Die wirklichen Triebcjuellen des
Handelns sind unbewußt. Und was noch schlimmer ist: die be-
wußte Vernunft scheint nicht viel mehr zu sein, als ein Werk-
zeug der unbewußten Kräfte. Sie „rationalisiert", d. h. sie er-
1 10
findet glaubhafte Vorvvande, hinter denen sich unsere irrationellen
Wunschregungen verbergen können. Wenn das aber so ist und
wenn die wirklichen Motive des Verhaltens unbewußt, sind, wie
kann dann dem Individuum eine Verantwortlichkeit zu-
geschrieben werden?
Ich glaube nicht, daß die Ergebnisse der Psychoanalyse die
Berechtigung des Begriffes der Verantwortlichkeit in irgendeiner
Weise antasten. Es ist nicht schwer, das in erster Linie für die
Verantwortlichkeit im Sinne des Gesetzes nachzuweisen. Die Ver-
antwortlichkeit im gesetzlichen Sinne betrifft Handlungen, inso-
weit sie praktische Folgen für das Leben der Gemeinschaft haben.
Freud selber verweist darauf, „daß für das praktische Bedürfnis
der Charakterbeurteilung des Menschen zumeist die Tat und die
bewußt sich äußernde Gesinnung genügt". (Ges. Schriften, II, S. 337.)
Man muß sich vor Augen halten, daß das Recht als soziale
Institution das Verhalten der Menschen untereinander zu regeln,
aber nicht den Verschlungenheiten ihrer unbewußten Motivierungen
zu folgen hat. Es können natürlich spezielle Fälle vorkommen,
in denen eine solche Scheidung schwer zu treffen ist. Aber die
Funktion und die soziale Absicht des Rechtes verlangt gebieterisch
daß die Verantwortlichkeit vor dem Gesetz an bestimmte äußere
Normen geknüpft und in den ihnen entsprechenden Termini, aus-
gedruckt werde, wenn nicht die Existenz der Gesellschaft un-
möglich werden soll. Die feinen Unterscheidungen der psycho-
logischen Forschung sind sicher für eine möglichst gerechte
Handhabung der Strafgesetze von Weit. Man hat aber nicht den
leisesten Grund anzunehmen, daß die Psychoanalyse, wenn sie
sich bewahrheitet die Abschaffung der Verantwortlichkeit vor dem
Gesetz zur Folge haben müßte.
Wie steht es aber mit der moralischen Verantwortlichkeit?
Hier scheint die erste Wirkung der psychoanalytischen Ergeb-
nisse nach einer Bemerkung in einer neueren Arbeit Lairds eine
„energische Einschränkung der Sphäre wirklicher Verantwortlich-
keit" zu sein. (Hibbert Journal, July 1922, p. 753.)
Die moralische Verantwortlichkeit betrifft aber letzten Endes
den Charakter als Ganzes und einzelne Handlungen nur, insofern
in ihnen festgefügte Dispositionen zur Äußerung kommen. Das
ethische Problem, das durch die psychoanalytischen Ergebnisse
aufgeworfen wird, scheint mir deshalb in einer Erweiterung der
klassischen Diskussion des Aristoteles über Verantwortlichkeit
und Gewohnheit zu bestehen.
111
Aristoteles schränkt bekanntlich die moralischen Kategorien
auf Handlungen ein, die „willkürlich" in seinem Sinn des Wortes
sind, d. h. auf Handlungen, welche der willkürlichen Wahl eines
Mittels zur Erreichung eines Zweckes entspringen. Die häufige
Wiederholung einer zu einem bestimmten Zweck geeigneten Hand-
lung führt aber, wie er zeigt, zur Bildung einer Gewohnheit oder
Disposition, die sich wiederum in einer Ausführung der Handlung
äußert. Von einem bestimmten Zeitpunkt an wird die Gewohnheit
zu einem so tief eingewurzelten wesentlichen Bestandteil des
Charakters der betreffenden Person, daß es nicht mehr möglich
ist, den Charakter zu verändern oder die Handlung, in welcher
sich die Gewohnheit äußert, zu unterlassen.
Heißt das also, daß solche Handlungen frei von moralischer
Schuld sind? Aristoteles' Antwort lautet, daß ja das Individuum
selber die Gewohnheit und den Charakter durch seine häufige
Wiederholung der Handlung erworben hat. Die einzelne Handlung
ist vielleicht nicht „willkürlich« im gleichen Sinne wie die Bildung
der Gewohnheit, die sich in ihr äußert. Das bedeutet aber nur,
daß die wirkliche Sphäre der moralischen Verantwortlichkeit der
Gesamtcharakter ist. Es bedeutet nicht, daß der Begriff einer morali-
schen Verantwortlichkeit nicht aufrecht erhalten werden kann.
Ich meine, die Leistung der Psychoanalyse besteht gerade in
der Aufhellung der komplizierten Verhältnisse, welche der Cha-
rakterbildung zugrunde liegen. Die Lehre von der moralischen
Verantwortlichkeit wird durch sie keineswegs angegriffen oder
widerlegt. Sie zeigt nur, daß die Charakterbildung in Feinheiten
und Verschlungenheiten des Seelenlebens wurzelt, die man bisher
nicht richtig eingeschätzt hat. Aber sie läßt das fundamentale
Prinzip der moralischen Verantwortlichkeit unberührt. Denn die
Basis, auf welcher dieses Prinzip beruht, liegt, meiner Ansicht
nach, überhaupt außerhalb des Bereiches der Psychologie.
Psychoanalyse und Willensfreiheit
Man könnte aber meinen, daß die Folgerungen, die sich aus
den psychoanalytischen Gesichtspunkten ergeben, in der vorstehen-
den Erörterung nicht herzhaft genug ins Auge gefaßt worden
sind, und daß die Freudsche Psychologie in Wirklichkeit der
Lehre von der Willensfreiheit direkt widerspricht. Die Psycho-
analyse postuliert ja, wie wir gehört haben, den strengen Deter-
minismus innerhalb des Seelenlebens. Alles Psychische soll sich
in einen kausalen Zusammenhang einordnen lassen. Nichts ist
1 12
rein „zufällig" oder spontan. Die einfachste seelische Äußerung
ist sinn- und zweckvoll.
Tatsächlich ist es eine der bedeutsamen Taten Freuds, diese
Forderung- auf das Gebiet des Seelenlebens ausgedehnt zu haben,
auf dem sie gewissermaßen als eine Neuheit erscheint und wirklich
zuerst eine Art Unbehagen in uns erweckt. In jedem von uns
steckt, wie Freud sagt, „ein tief wurzelnder Glaube an psychische
Freiheit und Willkürlichkeit", mit dem der Begriff einer das
ganze Seelenleben beherrschenden strengen Determinierung in
vollem Widerspruch zu stehen scheint.
Hier tritt aber der Unterschied zwischen Psychologie und Ethik
wieder in den Vordergrund. Als Postulat der wissenschaftlichen
Psychologie scheint mir der psychische Determinismus gerecht-
fertigt. Er ist, streng genommen, ebenso gerechtfertigt wie das
Postulat des physischen Determinismus, da beide auf einer ähnlich
empirischen Grundlage ruhen. Wenn jemand die Kausalverknüpfung
der Dinge an einer einzigen Stelle, gleichgültig an welcher, durch-
bricht, hat er nach Freud „die ganze wissenschaftliche Welt-
anschauung über den Haufen geworfen". (Vorlesungen, Ges.
Schriften, Bd. VII, S. 21.) Ohne das Postulat des psychischen
Determinismus kann man sich eine wissenschaftliche Auffassung
des Seelenlebens kaum vorstellen. Über die Berechtigung dieses
Postulats entscheidet einzig und allein das Maß seiner Unentbehr-
lichkeit für' das Verständnis des Seelenlebens. Die Tatsachen der
Psychoanalyse müssen letzten Endes, — was sie, wie ioh meine,
auch tun, — selber die Aufstellung dieser Forderung rechtfertigen!
Man kann das aber im Interesse jener Auffassung des Ver-
haltens, die wir Psychologie nennen, zugeben und trotzdem den
Begriff einer moralischen Freiheit sinnvoll finden. Vielleicht machen
die Tatsachen des moralischen Lebens und des moralischen Ge-
wissens es unerläßlich, im Interesse der Philosophie oder Meta-
physik die moralische Freiheit zu postulieren. Der Unterschied
zwischen Psychologie und Ethik, den wir hier betonen, ist durch-
wegs von einschneidender Bedeutung. Der äußere Rahmen, die
Verhältnisse des menschlichen Lebens, innerhalb dessen der mora-
lische Konflikt statthat, muß im Dienste eines endgültigen Ver-
ständnisses der Erfahrung von der Bedeutung dieses Konflikts
selbst unterschieden werden.
Ich meine, das Unbehagen, das die Aufstellung eines psychi-
schen Determinismus erweckt, wird leicht verständlich, wenn wir
das Gefühl der Willensfreiheit im Individuum nach seiner psycho-
«5
logischen Herkunft betrachten. Der menschliche Organismus ist
so gestaltet, daß er auf einen Reiz als Gesamtheit reagiert Alle
vergangenen Erfahrungen bleiben in ihm verkörpert, so daß seine
Reaktionsfähigkeit im Laufe der Zeit immer mannigfacher wird
Aber die Gesamtheit dieser vergangenen Erlebnisse ist als latente
oder potentielle Reaktion auch ein Element in der ständig wech-
selnden Situation, auf die der Organismus reagieren soll. Aus
neu en Reizkombinationen gebildete Situationen rufen auf diese
Weise immer neue und andersartige Reaktionen hervor. Auf diese
ESä* m TV^ ^ Slch der ürS P rUn £ des im ^dividuum
vorhandenen Gefühles von Willensfreiheit zurückführen.
Es geht so zu, daß der den künftigen Situationen angehörige
unbekannte objektive Paktor sozusagen introjiziert wird und dL
Gefühl des Unbestimmten, nicht Vorherzusehenden erzeugt, des
freien Willens also. Eine derartige Introjektion wurde vorhin in
ihrem Zusammenhang mit den frühen Entwicklungsstufen des
von Lu S t enS A ^r' ^ hab6n gCZei&t ' daß °^ ektive Q uel len
leilnn L ZI Chtg6fÜhlen SicK aUf GrUnd dieses *****
leicht in Ichanteile verwandeln. Die Behauptung, die ich aufstellen
mochte, lautet also, daß die Würdigung der Introjektion 2 ^ die
Anerkennung der Verwechslung zwischen psychischer und mate-
neüer Realität, wie sie der unmittelbare Glaube zeigt, den Ur
Sprung des Gefühles der Willensfreiheit im Individuum klarmachen"
*
Die Anwendung der Psychoanalyse auf die Ethik hat bisher
hauptsächlich negative Ergebnisse gebracht. Diese sind aber wie
ich meine deshalb nicht weniger wertvoll. Positive Resulu e
können ja b der Ethik nur durch gedankliche Analyse des SelLst-
Dewufltsems und der moralischen Werte, nicht durch die Erwä-
gung psychologischer Triebquellen erreicht werden. Es gibt aber
ein oder zwei andere Stellen, an denen die Psychoanalyse positive
Beitrage, Anhaltspunkte und Einsichten, geliefert hat.
4) Allgemein gesprochen kann man sagen, daß die Ethik sich
mit den Grundlagen der Gesellschaftsordnimg befaßt. Die Gesell-
schaftsordnung verlangt von den Individuen die Verdrängung be-
stimmter infantiler Triebregungen, z. B. der Grausamkeit und des
Machtstrebens. Es ist also das erste Erfordernis einer sozialen
Ethik, die Entwicklung dieser Triebregungen zu verfolgen und
den Vorgang zu begreifen, den McDougall treffend beschreibt
als „moralische Umwandlung des Individuums unter dem Einfluß
114
der Gemeinschaft, in die es als ein Geschöpf geboren wird, in
dem die moralischen und rein egoistischen Regungen so viel stärker
sind als alle altruistischen Strebungen". Gerade hier sind aber die
Ergebnisse der Psychoanalyse von besonderem Interesse gewesen.
Die Psychoanalyse verfolgt im Einzelindividuum den Weg, auf
dem infantile Triebregungen, wie die eben erwähnten, zur Grund-
lage von „Reaktionsbildungen" werden. Sie zeigt, mit anderen
Worten, wie Mitleid und Wohlwollen oft nichts anderes sind als
die bewußten Äquivalente der ihnen zugrunde liegenden verdrängten
grausamen und egoistischen Triebregungen, aus deren Umwand-
lung sie hervorgegangen sind, die sie verdecken und deren Re-
präsentanten sie unter dem Drucke der Gesellschaft geworden
sind. In den Systemen der großen Ethiker tritt uns die Bedeutung
dieser Verhältnisse entgegen. Rank und Sachs geben als Beispiel
die „von Zeit zu Zeit hervortretenden ethischen Revolutionäre,
welche die verweichlichende Mitleidsmoral verspotten . . ., wie
Stirner und Nietzsche", und verweisen auf Schopenhauer,
der sich nicht genug tun kann „in der detaillierten Schilderung
der boshaften, grausamen und eigensüchtigen Triebregungen"
(1. c. S. 101). Die subjektiven Vorstufen eines bestimmten ethischen
Systems werden so durch eine „Psychographie" dieser Art in lehr-
reicher Weise beleuchtet.
B) Freud selber erörtert in seinem bereits erwähnten Buche
„Totem und Tabu" die Beziehungen zwischen Tabu und „Ge-
wissen« und findet, daß die Unmittelbarkeit und Sicherheit des
Schuldbewußtseins in beiden Fällen die gleichen sind. Er schreibt:
„Das Tabu ist ein Gewissensgebot, seine Verletzung läßt ein ent-
setzliches Schuldgefühl entstehen, welches ebenso selbstverständlich
wie nach seiner Herkunft unbekannt ist." Und weiter: „Also ent-
steht wahrscheinlich auch das Gewissen auf dem Boden einer Ge-
fühlsambivalenz aus ganz bestimmten menschlichen Relationen, an
denen diese Ambivalenz haftet."
Die Relationen, die Freud meint, sind die des Ödipus-Kom-
plexes. Freud knüpft seine jTheorie an die neueren Forschungen
über die Urzustände der menschlichen Gesellschaft an. Von un-
serem Gesichtspunkt hier ist aber die Analogie zwischen der
Sicherheit, Unmittelbarkeit und Unfehlbarkeit des Tabuzwanges
und ähnlichen Zügen des Gewissens oder des „kategorischen Im-
perativs" von größtem Interesse.
8* 11 5
Sisyphos,
oder: Die Grenzen der Erziehung
von
Dr. Gustav Wyneken
Aus dem „Berliner Tageblatt" vom
28. Dezember IQ2J.
D / r « e! " treicl » te U "* er den Schami d « großen, genialen Sis-
ansät ^T' ° r - Sie ^iei Bernfeld ,seft kurze! in Ber in
ansass g) hat da den Pädagogen ein Büchlein gewidmet, das . e
t m t • T "o d t 0baW " icht Ver « eSSe " w « den (schienen
im Internationalen Psychoanalytischen Verlag in Wien). Ich meiner-
*£JL T V" 1 langem im fra ^ ür d>gen Bereich der Päd-
Scnrift üb* Ä*^^**""«« » verzeichnen war, als diese
Schrift, übr gens auch kerne bei allem bitteren Ernst witzigere
und vergnugl.chere. Ja, es handelt sich schon „m eine ernsTe Prfl»
naml.ch um die Vorfrage aller Erziehung Zh T r l 8 '
überhaupt möglich sei, und wie weftt^W^^Ä
ist die Frage um die sich die Pädagogik bekanntlich mÜ EWan
herumzudrücken pflegt. Aber schon die Biologie die v^ *
lehre, könnte einen recht bedenklichen B sd»» n • u Y > ererbun S»-
mus und also Pessimismus begründen W !nn 11 S? he, \ Dete ™™-
mit seinem Keimplasma geilen ^To ÖrS f 1 ? 8 *««"
zwischen seiner Beei„f,„ ßb a rk ei, „nd ^Ü^
(jrundstrilktur? Was an, von und in ihm kann man allenfalls ver-
ändern, und was nicht? Diese Frage ist noch gar nicht exakt ge-
stellt worden, geschweige denn beantwortet, und wer weiß ob sie
je beantwortet werden kann. Die biologische Einschränkung der
Erziehbarkeit ist es nun aber nicht, was Bernfeld untersucht, sondern
die psychologische und die soziologische. Er will eine Kritik der
Erziehung liefern etwa in dem Sinne, wie Kant eine Kritik des
Denkens geliefert hat. Er bestreitet, daß die Wissenschaft von der
Erziehung, die Pädagogik, bisher überhaupt eine Wissenschaft
gewesen ist. Er zeigt, wie alle die berühmten pädagogischen Systeme
nichts mit Wissenschaft zu tun haben, sondern im Grunde Dichtung
sind, und es braucht nicht gesagt zu werden, daß er, der Psycho-
analytiker, auch von der modernen, angeblich psychologischen
Grundlegung der Pädagogik nichts hält, da sie sich nur mit der
1 16
I
Seelenoberfläche beschäftigt, aber die tiefen und unbewußten Trieb-
federn, die letzten Endes die Gestalt und Bewegung der Ober-
fläche bestimmen, unaufgedeckt läßt.
Bernfelds zentrale These wird für manchen etwas Erschreckendes
haben. Er stellt fest, daß es in der Erziehung variable Elemente
gibt, aber auch konstante, d. h. solche, die mit der erzieherischen
Situation ein für allemal gegeben sind. Zu diesen gehört z. B. das
physische Übergewicht des Erwachsenen über das Kind, das trotz
aller Selbstkontrolle nie ganz von Macht- und Herrschaftsausübung,
von Aggression und Unterdrückung freizuhalten sein wird. Diese
Ursituation läßt sich aber noch konkreter fassen. Die erste Periode
im Leben des Kindes wird immer der mütterlichen Erziehung
anheim gegeben sein, während deren sich eine starke Liebesbindung
des Kindes an die Mutter herstellt. Dann aber, wenn der Knabe
der Pubertät entgegenreift, greift der Mann, oder vielmehr die
männliche Gesellschaft ein, und was dann erfolgt, das muß man
nun freilich, sei es auch nur einmal versuchsweise, zu verstehen
suchen unter den bekannten psychoanalytischen Voraussetzungen
vom sogenannten Ödipus-Komplex. Freud hat in seiner hiefür
grundlegenden Schrift „Totem und Tabu", die einen ganz neuen
Typ des wissenschaftlichen Gedankens repräsentiert, nämlich so-
zusagen den wissenschaftlichen Mythos, wahrscheinlich zu machen
gesucht, daß alle die unzähligen gesellschaftlichen Organisationen,
Formen, Riten, Vorschriften und Verbote primitiver Völker letzten
Endes auf das eine Bestreben zurückzuführen sind, den Inzest
zunächst zwischen Mutter und Sohn, dann auch zwischen Bruder
und Schwester zu verhüten ; woraus hervorgeht, wie stark im Ur-
menschen die Neigung zu diesem Inzest gewesen sein muß, die
bei uns tief ins Unbewußte zurückgedrängt wird. Und nun sagt
Bernfeld, daß alle Erziehung (die ja — bis auf den heutigen Tag —
zunächst stets als Knabenerziehung gedacht ist) ursprünglich nur
den einen Sinn hatte, den Knaben von der Mutter zu trennen.
Das geschah auf primitiven Stufen durch die Knabenweihe mit
den dazugehörigen Vorbereitungsgebräuchen, die immer wieder
eine Tötung der Knaben symbolisieren. (Wird doch sogar noch
die Taufe, die ja ursprünglich nicht Säuglingstaufe war, von der
Kirche erklärt als Ersäufung des alten und Auferweckung des neuen
Menschen!) Die Knabentötung entspricht der tief im Unbewußt-
sein verborgenen Abwehr- und Rachetendenz des Mannes gegen
seinen jugendlichen Nebenbuhler. Und so würde die systematische,
d.h. die gesellschaftliche Erziehung, insonderheit also die Institution
117
der Schule, der Abwehr und Haßeinstellung gegen den Knaben im
Unbewußten des Mannes entsprungen sein.
Aber ich will diese Gedankengänge, die ich hier nur andeute,
nicht weiter verfolgen, denn ich möchte Bernfelds ausgezeichnetem
Buch Leser zuführen, und nicht den Glauben erwecken, als konnte
man nach meinem Referat das Buch selbst schon ad acta psycho-
analytica legen. Ich will nur noch verraten, daß Bernfeld die
psychoanalytische Theorie, vielleicht ein bißchen gewagt, verbindet
mit einer soziologischen, und zwar der marxistischen, nämlich durch
die Frage, ob nicht vielleicht sogar die Wirtschaft in ihren Anfängen
gleichsam Sexualsymbol gewesen sei. Wer will das ohneweiters
von der Hand weisen? Glauben doch z.B. manche Forscher, daß
der Ackerbau ursprünglich eine religiöse Befruchtungszeremonie
gewesen sei; und wenn wir heute erleben, daß das russische Volk
Väterchen Zar erschlägt, um von Mütterchen Rußland, von der
Mutter Erde, wieder Besitz zu ergreifen — ist das nur eine zu-
fällige Ödipus-Situation oder eine tief begründete?
Bernfeld führt nun aus, daß die Erziehung nicht bloß im
primären Sexualsinne ursprünglich Machtmittel der herrschenden
Altersschicht war (und bleibt), sondern auch im sekundären Sinne
Machtmittel der herrschenden Gesellschaftsschicht, und daß dieses
auch eine der Konstanten der Erziehung ist, an der alle wohl-
gesinnte Reformerei nicht rütteln kann. Wie er dann aber im
dritten Teil seines Buches doch noch zu „Mitteln, Wegen, Mög-
lichkeiten" der Erziehung gelangt, das will ich nun schon gar
nicht verraten, so sehr ich Grund habe, mich über seine Lösung
des Problems zu freuen. Aber ob wir die Gedankengänge dieses
merkwürdigen Büchleins nun als unverhoffte Bestätigung eigener
Ansichten oder als unbequeme Störung des pädagogischen Burg-
friedens empfinden: wir werden nicht an ihm vorbei können, nicht
an ihm vorbei dürfen. So sei es denn, selbst als unerbetene Gabe,
für den Weihnachtstisch aller Erziehungsbeflissenen hiemit nach-
drücklichst empfohlen — allen, denen Erziehung nicht nur Reflex-
bewegung, sondern auch eine immer neue Angelegenheit ihres
Nachdenkens ist.
Il8
Erfahren, Verstehen, Deuten
in der Psychoanalyse
Von
Ludwig Binswanger
Kreuzungen
Jus der „Imago, Zeitschrift für
Anwendung der Psychoanalyse auf die
Natur- und Geisteswissenschaften",
Bd. XII, Heft 2/f (erschienen am
6. Mai 1926, zum 70. Geburtstage
Sigm. Freuds).
Goethe spricht einmal aus, daß dem Einzelnen zwar die Frei-
heit bleiben solle, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anzieht,
was ihm Freude macht, was ihm nützlich deucht, daß aber das
eigentliche Studium der Menschheit der Mensch sei. Suchen wir
nach einer näheren Bestimmung dieses Studiums, so bietet sich
uns dafür ein Ausdruck dar, der gerade seit Goethe, wenn auch
nicht durch ihn, in der deutschen Geistesgeschichte heimisch ge-
worden ist. Philosophen wie Schlei er m ac h e r, Dilthey, Simmel,
Rickert, Philologen wie Böckh, Historiker wieDroysen, Sozio-
logen wie Max Weber haben das mit diesem Ausdruck Gemeinte
von den verschiedensten Seiten, zu den verschiedensten Zwecken
und mit den verschiedensten Methoden untersucht. Sie alle sprechen
vom „Verstehen" als einem Grundproblem des Studiums des
Menschen und seiner Werke. Erst spät ist dieser Ausdruck und
sein Problemgehalt in diejenige Wissenschaft eingedrungen, die,
so sollte man meinen, sich seiner zuerst hätte bemächtigen müssen,
in die Psychologie. Auch heute noch untersuchen die Wenigsten
das Verstehen rein im Hinblick auf die empirische Psychologie;
jedoch haben nach dem ersten epochemachenden Anstoß von
Dilthey Forscher wie Spranger, Jaspers, Scheler, Edith
Stein, Häb erlin und ich selbst sich darum bemüht, die Rolle
des Verstehens in der Psychologie näher zu bestimmen, ohne
jedoch zu übereinstimmenden Meinungen und Resultaten zu ge-
langen.
Es ist nicht nur das „Medium" der Wissenschaft, in welchem
der Mensch" verstanden werden kann, ja es ist noch eine offene
119
Frage, ob sich auf dem Verstehen Wissenschaft, zumal Erfahnm«-
wissenschaft, überhaupt aufbauen kann oder ob das Verstehen
letztlich immer nur Sache des Einzelnen bleibt, der es jeweils
das M* Er "P ir r h . e . WiSSenSCKaft ^P*«» hätte dann nur
das „Material« herbeizuschaffen und zu bearbeiten (Heuristik,
i)roysen), das die psychologischen (wir reden nur noch von
diesen) Grundlagen des Verstehens zu erweitem, vertiefen und
2272IJ 2 \° rdnen erlaUbt Ps y ch ologie als Erfahrungs Wissen-
schaft hatte es dann nur mit den realen Bedingungen des Ver-
s ehens zu tun Jedenfalls war es bisher nicht die wissenschaft-
che Geisteshaltung, auf deren Boden das psychologische Ver-
stehen Triumphe gefeiert hat, sondern eine Reihe ganz anderer
geistiger „Medien«: Ich erinnere nur an Augusti/s und Kier-
kegaards leidenschaftlich-religiöses Pathos, an Shakespeares
geniale „dichterische Einbildungskraft«, an Nietzsches philo!
l7l 1S t eS ? Wp i eteBtam ' aber aUch an die Septische, nüchtern
beobachtende und erzählende „Seelenstimmung« eines Mo^taig n W
vieler seiner antiken Vorbilderund seiner Nachfolger. Kein Zweifel'
rehgioses Ringen mit Gott, philosophische Wertung und Um
wertung künstlerischer Gestaltungswille und einfache Beobachte^-
und Erzahlerfreude hatten die Menschheit in ihrem „eigentlichen
Studium« bis vor kurzem mehr gefördert als die WiLmcW?
Aber als vor- und außerwissenschaftlichen Geisteshaltungen fehlte
ihnen doch noch gerade das, was Wissenschaft allein zu leisten
vermag: die Ausarbeitung, Vermittlung und Verbreitung der wissen-
schaftlichen Methode, die Gliederung und Ordnung der gewon-
nenen Erkenntnisse in einem theoretischen Bedeutungszusam-
menhang und, damit verbunden, die Reflexion auf das Erkennt-
nisverfahren.
Bestimmte soziale, individuelle und geistesgeschichtliche Fak-
toren mußten zusammenwirken, um das Studium des Menschen
im Sinne des Verstehens in die Bahn der empirischen Wissen-
schaft zu leiten. Zu den ersten gehört das soziale Verhältnis
zwischen Arzt und Patient, wie es sich mit der Entstehung der
medizinischen Psychotherapie überhaupt herausgebildet hat, zu
den zweiten die Persönlichkeit Freuds, zu den dritten der n'ach-
hegelianische Naturalismus, Evolutionismus und Positivismus. Allen
drei so verschiedenartigen Faktoren zusammen ist es zu verdanken
daß jenes Studium des Menschen auf den Boden der wissen-
schaftlichen Erfahrung gestellt werden konnte. Demgemäß
haften ihm jetzt auch ganz spezifische soziale, individuelle und
120
geistesgeschichtliche Einschränkungen und Eigenarten an, die in
einer „allgemeinen" Lehre vom „Studium des Menschen" noch
zu überwinden wären; aber das ändert nichts an dem historischen
Faktum, daß die Psychoanalyse Freuds das „eigentliche Studium
der Menschheit" erstmals systematisch auf Erfahrung gegründet
hat.
Diese Tatsache wird auch von ernsten „Kritikern" der Psycho-
logie Freuds in der Regel übersehen oder nicht ins richtige Licht
gestellt. Entsprechend der Neuheit seines Verfahrens innerhalb
der medizinischen Wissenschaft blickte man vor allem auf das,
was Freud Deuten nannte, nicht ahnend oder vergessend, daß
sich dieses Deuten, eben als „Deuten", schon in den verschiedensten
Wissenschaften einen Namen verschafft und ein Heimatsrecht er-
worben hatte. Unter dem Namen der Hermeneutik oder des
hermeneutischen Verfahrens im Sinne einer „Kunst der Auslegung"
und der Auf Weisung der Regeln dieser Kunst finden wir das
Deuten in der Rhetorik und Philologie von den Griechen bis a\\i
die neueste Zeit, in der Theologie der Kirchenväter (Augustin,
Origines) und der Nachreformation (Flaccius), in der ganzen
neueren Geschichte, zum mindesten seit Schleiermacher
aber auch im Hinblick auf die Psychologie näher untersucht und
zum wissenschaftlichen Bewußtsein gebracht. Insofern als der
spezielle Inhalt und der spezielle Zweck eines wissenschaftlichen
Verfahrens nichts mit diesem Verfahren als solchem zu tun haben,
gelänge es leicht, Freuds Deutungsverfahren als einen Spezialfall
der Hermeneutik der Geisteswissenschaften (Philologie, Theologie;
Geschichte in allen ihren Zweigen) aufzuweisen, und zwar im
Sinne einer speziellen empirischen Ausgestaltung und Vertiefung
derselben nach ihrer psychologischen oder individuellen (Bö ckh)
Seite hin. Und so gilt auch hier wie beim Verstehen der Satz,
daß Freud die Hermeneutik erstmals auf Erfahrung (im Sinne
der Erfahrungs Wissenschaft) gegründet hat.
So drängt denn alles darauf hin, näher zu bestimmen, in
welchem Verhältnis bei Freud gerade die Erfahrung zum Ver-
stehen sowohl als zum Deuten steht.
Es handelt sich hier also um ein Stück „Reflexion auf das
Erkenntnisverfahren" der Psychoanalyse, das auf dem zu Gebote
stehenden Raum aber nur äußerst skizzenhaft umrissen werden
kann, da seine gründliche, viele Beispiele erfordernde Behandlung
ein ganzes Buch beanspruchen würde. Da ferner die in Betracht
kommenden Termini mit vielfachen und sehr gefährlichen Äcnii-
131
vokationen behaftet sind, die nur höchst unvollständig zur Sprache
gebracht werden können, mögen die folgenden Ausführungen mehr
als em Programm, denn als eine Abhandlung betrachtet werden.
I
Wie auf naturwissenschaftlichem Gebiet, so baut sich auch aut
psychologischem die Erfahrung zunächst auf auf Akten der Wahr-
nehmung Infolge einer verhängnisvollen theoretischen Über-
E tf«X g 1 T *",. Fremd ™"rnehmung (Analogieschluß,
Emfuhlungstheor.e) herrschte hier aber lange Zeit eine allzu
und nI 'remd em h t " de T ™ S -'-«en Akten der Selbst"
und Fremdwahrnehmung. Dank genauer phänomenologischer
Untersuchungen (Scheler u. a.) wissen wir heute, daß es zum
mmdesten eme der psychologischen Selbst- „nd FremdwahrnehunT
gememsame Aktrichtung gibt, die sich wesensmäßig von den
Akten äußerer Wahrnehmung unterscheidet und in der wir nicht
7 6 T f eneS ' S ° ndCTn ™* f«mdes Seelenleben (d. h. nicht aut
dem Umweg über die körperliche Wahrnehmung als soTc£) er
fassen- Und zwar erfassen wir das letztere am .fou«, an der Z
schauHchen psychophysisch-neutralen Einheit der fremden Person
an .hrem gesamten Verhalten oder Benehmen, sofern es sich
ras als !hre Ausdruckssphäre darbietet, an ihrer Gestalt und
M.m.k, an mren Gesten und Gebärden und an ihren sprachlichen
„Ausdrucken« Die letzteren führe» »vm aber m ^ ^
Art psycholog.scher Erfahrung hinüber. Zwar können wir auch
auf Grund des sprachhchen Gesamtausdrucks Seelisches unmittel
|| Gru „d des sprachlichen j£££ £$££ »2
vom Seelenleben der fremden Person, nämlich auf dem Umweg
über die (rationalen) Wort- und Satzbedeutungen, d. h. über das,
was die Person uns in ihren sprachlichen Äußerungen über sich
kundgibt. Auch hier sprechen wir von einem Verstehen, aber das
Verstehen der sprachlichen Ausdrücke als solches hat mit dem
psychologischen Verstehen noch nichts zu tun, da wir hier zu-
nächst nur verstehen, was gesprochen wird, aber keineswegs auch
i) Ob man von Stufen der Fremdwahrnehmung reden kann, von denen
die eine einer Art „Einfühlung" gleichkommt, wie Edith Stein es will, und
inwiefern es sich hier um „originär gebende" Akte im Sinne Huss er ls handeln
kann (vgl. auch Buitendijk und PI essner), bleibe hier offen.
122
den Sprecher als Person ins Auge fassen müssen, worauf schon
Simmel aufmerksam gemacht hat. Auf dem Umweg über das
Gesprochene können wir dann zwar auch sehr viel von der Person
erfahren, aber keineswegs handelt es sich hier noch um wahr-
nehmende, präsentierende oder unmittelbar erfassende Akte, viel-
mehr um ein aus der Kundnahme erwachsendes rationales Wissen.
Dieses Wissen steht hinter dem Wahrnehmen insofern zurück, als
es niemals ein direktes Erfassen von fremden Erlebnissen darstellt,
indem es entweder ein bloßes unanschauliches Wissen von ihrem
Vorhandensein bleibt oder sich zwar sekundär in Anschauung
umsetzt, dabei aber nur repräsentierende, vergegenwärtigende
oder imaginierende Akte ermöglicht. Hingegen ragt dieses Wissen
über die direkte Wahrnehmung insofern wiederum hinaus, als es
uns nicht nur von dem Vorhandensein von Erlebnissen, ihrem
Hier und Jetzt und eventuell der Art ihres Erlebtwerdens
Kunde gibt, sondern auch von ihrem Sinn oder Gehalt, der
prinzipiell nicht wahrnehmbar, sondern nur sprachlich ausdrückbar
oder sonstwie bekundbar ist. Daß beide Erfahrungs arten verschieden
sind, geht auch daraus hervor, daß auf dem Gebiet der psycho-
logischen Wahrnehmung, sowohl der Selbst- als der Fremdwahr-
nehmung, eigentliche Täuschungen vorkommen können, auf dem
der Feststellung vermittels der Kundgabe oder Mitteilung aber
Irrtümer.
Während nun sonst die wissenschaftliche Psychologie, ins-
besondere aber die experimentelle, sich auf die zweite Art der
psychologischen Erfahrung stützt, abzielend auf eine möglichst
genaue und eindeutige sprachliche Fixierung des Erlebten und
seines Gehalts vonseiten der Versuchsperson, zeigt die psycho-
analytische Verfahrungsweise schon hier sehr deutlich ihre Eigenart
insofern, als sie entschieden die erstere Art bevorzugt. Nicht als
ob sie die sprachliche Verständigung gering achtete, — man denke
nur an die sprachliche Wiedergabe der Träume und der Lebens-
geschichte, — jedoch nimmt die direkte Wahrnehmung in der
Rangordnung beider Erfahrungs arten insofern den ersten Platz
ein, als sie die sprachlich-rationale Verständigung stets begleitet
und, was das Wichtigste ist, bei einer Inkongruenz der beider-
seitigen Erfahrungsresultate den Ausschlag gibt.
Auch bei der Kenntnisnahme vom Inhalt eines Traumes oder
eines Stückes Lebensgeschichte achten wir in der Psychoanalyse
ja nicht nur auf den rationalen Bedeutungsgehalt des Gesprochenen,
sondern immer auch auf den psychologischen Ausdrucksgehalt des
123
Sprechenden Und wenn wir dann Traum- und Leidensgeschichte
hermeneutisch auslegen, leitet uns das, was wir au der Person
wahrend des Benchtes direkt wahrnehmen, in erster und letzter
L me; denn nur d,e direkte Wahrnehmung ermöglicht uns Z
erkennen, welche von den hermeneutisch mfglichen Aus Lgüngen
un vorl le?enden PaIIe wirH;ch iutreffen Sc ? on £*£*£
wir von emer, weiter unten näher auszuführenden hermeneutischen
Traulr U oZ T*? T ™ mdeut ™S ledigüch auf Grund etes
Traumprotokolles oder semes rein rationale» Bedeutungsgehaltes
bleibt immer nur Mutmaßung, so virtuosenhaft sie auch geüb
Schäften ^ ^"^l Iur Anlegung in den Geisteswissen-
schaften, d,e zwar ein ungeheures Wissen voraussetzt, aber nicht
Unter d PlriS fr- SlMe "^ ^'^ "»* >•****« kann -
Unter den Arbeiten Freuds gibt es eine, an der die Bedentun*
der du-ekten Wahrnehmung direkt demonstriert werden kaun da
Kunst V er r/t* AUÜeSang eineS i ederm -" -gän^chen
ss?„ ■ nämiich die Arbeit über den m ° l ""
ni^' 6 d f ir ? tC ^ ah ™ ehmun « seelischen Erlebens bleibt nun aber
v eilt r gle ' ChSam rUhend6n Erf^nisbestand beschränkt
vielmehr nehmen wir auch das Hinübergehen eines Erlebnisses i'
das andere auf Grund vielfacher Nuancen der Ausdruckst ten
wahr Und mdem Freud die Wahrnehmung der Erlebnis! üt
Wegstrecken hinaus methodisch geübt, in stundenlang annagend ™
op„schem oder akustischem „Hinstarren« auf die Z„ ™
den Ablauf und die Verflechtung der Ausdruckst?, Nu , anc ' e ""'g-
hat er die Erfahrungsgrundlage ^eThaffen f '" " PerS ° n '
theoretischer ÜberzeugL|en, das mas es »l\ " m S y stem
Erfahrung hinausgehen: niemals LlSSl* *£*
™*yP*fW verlebet. Wenn es JRKKS;
ist etwa von der Ausdrucksgestalt des „Stockeus der Rede« bis
zur Theorie des Widerstandes, so liegt doch dieser We C offen
vor uns, für jeden gangbar und prüfbar. g "
Auf Grund der „Ausdrucksgrammatik« (Scheler) gewinnen
wir so einen fefeu Einblick in das Seelenleben der fremden Person
hres Fri f mem<! t rt ' Ht Temp °' d6n ■***■■* *e Intensität'
ihres Erlebens, m ,hre Beherrschtheit oder Unbeherrschtheit, ihre
mehr zentral-geistige oder exzentrisch-triebhafte Stellung im und
Einstellung zum Leben (Häberlin), in ihre mehr naive oder .
mehr „bewußte«, in ihre echte oder unechte Erlebnisweise, dann
134
aber auch in ihre Gesinnungen, Gefühle, Leidenschaften usw. Man
hat auch diese Wahrnehmung von Seelischem Verstehen genannt,
verstehendes Wahrnehmen (H ab er 1 in), einfühlendes oder nach-
erlebendes Verstehen (Dilthey, Jaspers u. v. a.), Ausdrucksver-
stehen u. ä., jedoch darf man nicht deswegen, weil Wahrnehmung
und Nacherleben von Seelischem und Verstehen sehr häufig zu-
sammen vorkommen, beide Akte miteinander verquicken oder gar
verwechseln.
II
Man kann nämlich sehr viel an einer Person wahrgenommen
und auf Grund sprachlicher Kundgabe „nacherlebend" oder „ver-
gegenwärtigend" über sie festgestellt haben, man kann also mit
anderen Worten ein großes Erfahrungsmaterial von ihr besitzen
und braucht prinzipiell doch noch nichts an ihr psychologisch
verstanden zuhaben. Umgekehrt bereichert unser psychologisches
Verständnis keineswegs unsere Erfahrung von der Person, sie läßt
uns vielmehr das Erfahrungsmaterial in einem besonderen Licht
erscheinen, hebt es in eine besondere Sphäre, nämlich in die
geistige Sphäre der „psychologischen" Verständlichkeit. Oder an-
ders ausgedrückt: Der Akt des (psychologischen) Verstehens hat
zum Gegenstand nicht ein reales Sein, wenn er auch auf Erfassens-
akte von solchem fundiert sein kann (und, soweit empirische
Psychologie in Frage kommt, fundiert sein muß), sondern sein
Korrelat ist ein Sinn oder Sinnzusammenhang, und zwar in Gestalt
eines „verständlichen" Motivationszusammenhanges.
Denn nicht jeder Motivationszusammenhang ist, wenn auch prin-
zipiell verstehbar, so tatsächlich mit seiner Erfassung oder Fest-
stellung zugleich auch verstanden. Verstanden ist er erst dann,
wenn mir seine „Verständnisqualität" aufblitzt, seine a priori ein-
sichtige Evidenz oder Bündigkeit. Eine solche apriorische Evidenz
gibt es natürlich innerhalb der Erfahrung nicht, sie kann daher
auch nicht induktiv gewonnen werden; sie gibt es nur auf dem
Boden einer gewissen Sinn- oder Vernunftgesetzlichkeit. Auch die
Motivationszusammenhänge sind von einer solchen Sinngesetzlich-
keit „beherrscht", insofern, als der Gehalt der Erlebnisse von
sich aus apriori-gültige oder evidente Anweisung gibt auf ihr
Verbundensein mit anderen Erlebnisgehalten (Si mm el). Man sieht
also, daß es sich hier nicht um einen realen Zusammenhang
seelisch-realer Erlebnisse, also überhaupt nicht um das Erlebt-
werden oder die Verwirklichung von Erlebnissen handelt, son-
dern nur um den Sinnzusammenhang, in welchem die (inten-
125
onalen) Erlebnisse auf Grund ihres (intentionalen) Gehaltes
stehen Auf dieser Trennung baut sich die ganze moderne Person-
psycholog.e auf und sie ist auch grundlegend für die Darstellung
x" der a k W1 l SenSCiaftliChe Verständnis des Erkenntnisverfahren!
W P ^ ch °^ al y se - Jed °<* darf man, wie aus dem Gesagten
VeZl* ' T f ° rUnd der ST ° ßen ****** und intentionalen
AI tl ^ ^ Glt ' 1 WGlche 2wi8chen den kat ^orial-anschaulichen
Akte« des Verstehens und den „sinnlich«-anschaulichen des un-
mittelbaren Erfassens oder Vergegenwärtigen seelischer Erleb-
m..e besteht, nicht schließen, daß das psychologische Verstehen
nun nicht an die Erfahrung heranreiche, nur Typen (Spranger)
infl y r n (Ja fP er T ^ ZUm Gegenstand haben könne, und^aß
infolgedessen alles Verstehen wirklicher Vorgänge ein mehr oder
die Möglichkeit des Verstehens von Typen und dessen große theo-
retische und praktische Rolle zu bestreiten, muß doch°entsch'eden
betont werden, daß es ein Verstehen «-ifct ,1 • i l , eaen
wirklichen Erlebnissen wirkTich er ind' * n «™***
vollzieht, und dies ohne^S e^em 4^ A" 11 " Pe "° nen
und ohne ein solches «S^w;^
machen. (Ich beziehe mich hier auf ST^SSSSZ^
erscheinende, bedeutsame Arbeit über das Verstehen von Heinz
Graumann, dem ich auch für sonstige mündliche und schriftliche
Anregungen zu Dank verpflichtet bin.) ^uuicHe
Qt , HieraU ? f e ^ SCh ° n ^T' V* Über das Ve rhältnis von Ver-
logie; denn es handelt sich hie, ja ^^Z^^^
die, wo immer Verstehen und Erfahrung zueinander treten o^
wo das erstere sich auf das letztere „aufbaut«, in Erscheinung
tSL T Sen '- W Tr Wlr daHer die ««WW« hegen, daß
i-reud das „eigentliche Studium der Menschheit« im Sinne des
Verstehens des Menschen gewaltig gefördert hat, so heißt das
mcJit, daß er „eine neue Art des Verstehens« oder irgend etwas
Neues am Verstehen selbst eingeführt hätte, denn dieses bleibt
immer dasselbe, ob ein Shakespeare oder Montaigne oder
Freud versteht. Achten wir aber darauf, daß wir dort von einem
„genialen", „intuitiven" oder „dilatorischen" (Schleiermacher),
und von einem unsystematischen oder zufälligen Verstehen zu
sprechen gewohnt sind, dem wir Freuds wissenschaftlich-syste-
matisches oder -empirisches Verstehen gegenüberstellen, so brauchen
126
wir nur die Lässigkeit des Sprachgebrauches zu durchschauen,
um zu wissen, daß nicht das Verstehen als solches mehr oder
weniger genial oder intuitiv oder divinatorisch ist, — geniale Ver-
steher sind alle die Genannten, und was das heißt, das wäre noch
besonders zu untersuchen, — sondern daß die erfahrungsmäßi gen
Grundlagen des Verstehens mehr oder weniger systematisch
oder wissenschaftlich angelegt sind. Das kann also niemals heißen,
daß Freud das Verstehen auf Erfahrung „zurückgeführt" hätte,
was, wie wir sahen, unmöglich ist, da aus purer, noch so sehr
gehäufter Erfahrung nicht ein Verstehen wird; es kann nur heißen,
daß Freud die Erfahrungsgrundlagen des Verstehens statt durch
sporadische durch systematische Beobachtung in ungeahnter
Weise erweitert und geordnet hat, so daß uns heute ein Ver-
stehen des Menschen noch möglich ist „in Tiefen", in die früher
keine Erfahrung, zum mindesten keine wissenschaftliche Erfah-
rung, geleuchtet hat.
Inwieweit diese Erfahrung wieder gefördert worden ist durch
seine theoretischen Überzeugungen, die ihm gestattet haben, das
Erfahrungsmaterial zu ordnen, zu ergänzen und einem theoretischen
Bedeutungszusammenhang unterzuordnen, steht hier, wo es sich
nicht um die Sphäre des wissenschaftlich-theoretischen Erklärens
handelt, nicht zur Diskussion. Infolge der innigen Beziehungen
jedoch, die zwischen der sinnhaften Gegenstandswelt des psycho-
logischen Verstehens und der realen des psychologischen Erklärens
herrschen, hat Freud aber auch durch seine Theorienwelt indirekt
das Verstehen gefördert. Denn da seine Psychologie keinen zu-
fälligen Zusammenhang „geistreicher Apercus", keine zufällige
Häufung besonders interessanter oder abnormer Einzelheiten dar-
stellt, sondern einen theoretischen Bedeutungszusammenhang, der
die Totalität der Person in Vergangenheit und Gegenwart zu um-
fassen beansprucht, ist hier auch das Erfahrungsmaterial schon so
geformt und geordnet, daß das Verstehen nun bereits ein System
von Stützpunkten vorfindet, wie es vordem nicht bestand. — Wir
kommen darauf zurück.
III
Was man vonBuffon sagt, daß er nämlich aus den zerstreuten
Elementen einer bisher esoterischen Wissenschaft ein System der
Erde, eine Theorie der Natur, ein Kunstwerk der Epoche zu ge-
stalten vermochte, daß er den Wert und die Überlegenheit des
schöpferischen Genies auch in den Wissenschaften bewies, seine
große Beredsamkeit auf einen Gegenstand übertrug, dem sie bis-
127
her ganz fremd geblieben war, das Talent besaß, anderen seinen
Enthusiasmus einzuflößen, und daß er die Naturgeschichte zur
populärsten Wissenschaft von ganz Europa machte (Cuvier,
C o n d o r c e t, J u s t i), das kann man mutatis mulandis auch von P r e u d
und semer Lehre sagen. Das Instrument aber, mit dem er diese
Lehre schuf, und das er selbst erst erschaffen mußte, ist sein Deu-
tungsverfahren, dem wir uns nun zum Schlüsse zuwenden.
Während die Geschichtswissenschaft schon längst eine beson-
dere Methodik des historischen Forschens besitzt, die man etwa
mit Droysen in Heuristik, Kritik und Interpretation (Auslegin^
einteilen kann, und ebenso die Philologie ihre Methodik des philo-
logischen Forschens (vgl. etwa Böckhs Theorie der Hermeneutik
in semer Enzyklopädie und Methodologie), so wartet die Person-
psychologie noch auf eine derartige Besinnung auf ihre Methode
ja noch auf deren Ausarbeitung im einzelnen. Was wir davon
besitzen, verdanken wir größtenteils Freud. Und zwar ist es die
psychologische Heuristik und Interpretation oder Hermeneutik im
engeren Sinne die er, gerade mit seinem Deutungs verfahren, am
meisten gefordert hat, jedoch besitzen wir von ihm auch Ansätze
zur Kritik. Die Heuristik schafft die Materialien herbei sie ist
die „Arbeit unter der Erde« (Niebuhr), die „Bergmannskunst
zu Anden und ans Licht zu holen« (Droysen), die HerbeischaffunJ
des um Traum oder Krankheitssymptom gruppierten Erlebnis
matenals (Tagesreste, Lebensgeschichte, Phantasien, Traumen
Freud). Die Interpretation oder hermeneutische Auslegung ist
auch in der Psychologie nicht lediglich eine psychologische Aus
legung, ein Deuten der „Motive und Absichten«, vielmehr gibt
es auch hier eine sachliche und pragmatische (Droysen), gram-
matische und generische (Böckh) Seite der Hermeneutik; man
denke nur etwa an das Studium der Traumsprache als solcher
an das Aufzeigen der physiologischen und psychologisch-kausalen
normalen und pathologischen Bedingungen und Grundlagen des
Erlebens, an die Untersuchung der geistigen Strömungen der
Nation und Familie, in der die Person steht, um zu erkennen,
wieviel Nichtpersonpsychologisches auch hier zu berücksichtigen
ist, wenn die Deutung wissenschaftlichen Ansprüchen genügen soll.
Was Freud nun Deuten nennt, enthält Bestandteile sowohl aus
Erfahrungsakten, als aus Akten rationalen Schließens,
als auch endlich aus eigentlichen Akten des psycho-
logischen Verstehen s. Zu den ersteren gehört alles, was wir
durch Erfahrung im bisher geschilderten Sinn, also durch direkte
128
Wahrnehmung und sprachliche Kundnahme und deren Kritik Über
das Erleben der Person feststellen oder wissen. Hieran schließt
sich nun aber eine bisher noch nicht erwähnte Art der Erfahrung
an, die man als die psychoanalytische Heuristik bezeichnen kann,
und die zwar auch auf sprachlicher Kundgabe und Kundnahme
beruht, sich jedoch wesentlich von der sonstigen psychologischen
Erfahrung unterscheidet. Es handelt sich jetzt um die „Einfälle"
der Person, in denen dieselbe wohl etwas ausdrückt, nämlich den
(rationalen) Sinn oder die Bedeutung von Worten oder auch
Sätzen, mit deren Bedeutung sie aber nichts über sich selbst, über
ihr eigenes Erleben, kundgibt oder, wenn ja, so doch außer sinn-
vollem Zusammenhang mit dem Ausgangserlebnis, im Anschluß an
welches der Einfall erfolgt ist. Wir meinen die sogenannten „freien
Assoziationen", von deren praktischer Bedeutung jedoch der Nicht-
analytiker sich in der Regel eine übertriebene Vorstellung macht,
da sie fast immer von eigentlichen sprachlichen Kundgaben durch-
brochen und abgelöst werden.
So gehen also bei der psychoanalytischen Heuristik im weiteren
Sinn „gewöhnliche" psychologische Erfahrungsakte mit solchen
der spezifischen psychoanalytischen Heuristik Hand in Hand. Alle
zusammen aber liefern uns das noch „gleichsam unparteiische"
(Freud) Material, das zwar schon Hinweise für die Deutung
enthält, und in das sich schon Akte des Deutens eingeschlichen
haben mögen (weswegen es noch einer besonderen Kritik zu
unterwerfen ist), das aber doch erst die Grundlage für die
psychologisch-hermeneutische Deutung, Auslegung oder Inter-
pretation abgibt.
Selbstverständlich bauen sich nun auch bei dem psychoana-
lytischen Vorgehen schon auf den gewöhnlichen Erfahrungsakten
Akte des psychologischen Verstehens auf, und wird unter Um-
ständen auch auf Grund der spezifisch-psychoanalytischen Erfah-
rung und im Zusammenhang mit der gewöhnlichen einmal ein
neues Verstehen aufblitzen, die Regel aber ist, daß jenes gesamte
Erfahrungsmaterial erst gedeutet werden muß, um verstanden
werden zu können.
Damit gelangen wir zu den zweiten Bestandteilen (vgl. oben
S. 128) des Freudschen Deutungsverfahrens, nämlich zu den
„rationalen" oder „theoretischen" Akten des Deutens oder Aus-
legens.
Das Deuten oder Auslegen beginnt bereits mit der wissen-
schaftlich-systematischen Ordnung und Gruppierung des Erfah-
129
rungsmaterials nach rationalen Themen oder Sinnzusammen-
hangen (nach Traumthemen, Symptomgehalten, objektiven Bedeu-
tungsgehalten einer Handlung usw.), einer Ordnung, welche die
Person zum Teil schon selbst begonnen hat, zum Teil aber dem
Ausleger überlassen muß; das letztere gilt insbesondere hinsichtlich
a p ?*"? scll -P s y choanttl y tisc h-heuristi8chen Materials, nämlich
den Einfallen. Diese Vorstufe der Deutung ist noch keine eigentlich
psychologische Betätigung oder muß wenigstens keine sein, da sie
vorwiegend) mit rationalen Sinn- oder Bedeutungszusammenhängen
zu tun hat. Die psychologische Auslegung beginnt erst da, wo wir
m das so geordnete Material (seelisches) Leben hineinbringen
mÜHM / SChen (d h " Mer S ° Viel Wie »^erlebbln)'
Ä k ! leB ^ppieren. Zu dieser Gruppierung genügt
aber das Erfahrungsmaterial allein nicht, wir bedürfen jetzt einer
„Ergänzung der Erfahrung" (aber immer unter weiterer Port-
setzung der Erfahrung mittels direkter Beobachtung der Person)
durch Schlüsse, auf Grund von Analogien, Vergleichen, hypo-
thetischen Vermutungen und eigentlichen Theorien, auf Grund
also eines durch andere Erfahrungen gewonnenen Wissens und
von Theorien über dieses Wissen. So entsteht der Freud zu
Unrecht vorgeworfene, weil jeder Auslegung als solcher inne
wohnende „hermeneutische Zirkel", d.h. wir deuten
allgemein gesprochen, das einzelne auf Grund eines schon vorauT
gesetzten Ganzen, welch letzteres wir wieder aus einzeln
gewinnen. (Daher die Wechselbeziehungen zwischen AnalyTe und
Synthese und zwischen Induktion und Deduktion bei ieder 1W
oder Auslegung.) Doch hievon sei jetzt nicht die Rede "* £3
des vorliegenden Erfahnmgsmaterials und all jenes Wissens ver-
muten oder schließen wir nun, was etwa „zwischen« oder „hinter«
jenem Erfahrungsmaterial vorgegangen sein mag, wie es „zustande
kam , was alles noch einer näheren Darlegung bedürfte. Wir be-
finden uns hier in der Phase des „sekundären Deutens« im Sinne
Haberhns, d. h, der sekundären wissenschaftlichen Bearbeitung
psychologischen Forschungsmaterials. I An das festgestellte nach-
i) Den (früheren) Sprachgebrauch Häher lins von einer primären Deu-
tung (im Sinne der psychologischen Erfahrung) und desgleichen den Sprach-
gebrauch von Elsenhans und Spranger (Erkennung und Wiedergabe eines
Geistigen aus sinnlich gegebenen Zeichen), welche dabei an Dilthey an-
knüpfen (Erkennung eines Inneren aus Zeichen, die von außen gegeben sind),
diesen ganzen Sprachgebrauch lehnen wir aus sachlichen und terminologischen
Gründen ab.
130
erlebbare und zum Teil auch schon verstandene Erfahrungsmaterial
reihen wir so schließend oder deutend neues Wissensmaterial, das
wir in Akten imaginierender oder phantasierender Vergegenwärti-
gung wiederum in „konkretes" seelisches Erleben einer konkreten
Person „umsetzen". So tritt z. B. ein Stück des manifesten Traum-
inhalts in Relation zu Themen des wachen Erlebens, der Gehalt
einer Symptomgruppe zu Inhalten der Lebensgeschichte, und
zwischen beide Pole der Relation wird so ein Drittes eingeschoben,
ein möglicher „unbewußter" Gedankengang. So erschließen oder
deuten wir zwischen dem manifesten Inhalt von Freuds Traum
von Irmas Injektion einerseits, dem darum gruppierten Material
der Tagesreste anderseits einen „unbewußten Gedankengang",
etwa im Sinne eines „Plädoyers", erschließen oder deuten wir
zwischen den Personen des Traums, ihren Reden und Situationen
und denjenigen der sachlich „zugehörigen" Tagesreste seelische
Regungen im Sinne von Racheimpulsen, Selbstverteidigungen,
Sorgen und Wünschen, erschließen oder deuten wir zwischen der
Angst meiner Patientin Gerda (Jahrbuch III) vor dem Abreißen
des Absatzes einerseits und den zeitlich und sachlich damit zu-
sammenhängenden Stücken ihrer Lebensgeschichte anderseits auf
das Fortbestehen einer (unbewußten) Angst, von der Mutter los-
gerissen zu werden, auf eine Angst vor dem Geborenwerden,
Gebären usw. Nun mögen auch hier schon Akte des Verstehend
mitgespielt haben — es handelt sich für uns ja nicht um Fragen
des psychologischen Prius oder Posterius realer Erlebnisse des
Auslegers, sondern um Fragen des phänomenologischen
Wesenszusammenhanges intentionaler Akte, — das eigentliche
psychologische Verständnis aber, das dem ganzen hermeneutischen
Verfahren oder der hermeneutischen Operation (Schleiermacher)
die Krone aufsetzt, und um dessentwillen der ganze Apparat in
Bewegung gesetzt worden ist, tritt erst da auf, wo ein „sinn-
voller' Motivationszusammenhang« hergestellt ist, wo das
i) Was Freud sinnvoll („Sinn", „Bedeutung") nennt, bezieht sich zunächst
nur auf nacherlebbare Motivationszusammenhänge. Ein psychisches Erlebnis
ist für ihn eo ipso, d. h. ex deßnüwne, sinnvoll; sein Sinn ist erfaßt, wenn sein
Motivationszusammenhang nacherlebbar erfahren oder gedeutet ist. Den Unter-
schied zwischen Nacherleben und Verstehen und den damit zusammenhängenden
zwischen realem Erlebniszusammenhang und ideellem Sinnzusammenhang
kennt Freud nicht. Was wir hier Sinn nennen, muß streng geschieden werden
von jedem teleologischen oder finalen Sinn, d. h. von jedem, sei es von der
Person selbst, sei es von dem Ausleger „eingelegten" Zweck, und somit von
jeder „prospektiven Tendenz", „Leitlinie" usw.!
9* 1 3 1
eine Glied der Relation, der Gehalt des Traumstückes oder Symptoms
nach einer apriorischen Vernunftgesetzlichkeit, d. h.
eben sinnvoll, als hervorgehend aus dem Gehalt des anderen
Gliedes, also etwa eines Racheimpulses, Wunsches, angstvollen
Erlebens o. dgl. erfaßt wird. Dabei dürfen wir aber nie vergessen,
daß es sich hier keineswegs um gleichsam isolierte oder für sich
bestehende „verständliche Zusammenhänge" im Sinne von Jaspers
handelt, die ja nur Hilfskonstruktionen darstellen, sondern wesens-
mäßig immer auch um die Intention auf ein Ich, das, um mit
Pfänder zu reden, die von dem motivierenden Erlebnisgehalt aus-
gehende „Forderung" vernimmt oder „sich einverleibt", sich auf
diese Forderung stützt und den geforderten Akt in Übereinstimmung
mit der ideellen Forderung tatsächlich vollzieht. Wir sehen, das
Verstehen als Verstehen ist durchaus kein anderes, ob es sich' nur
auf reine Erfahrungsakte oder auf ein „Gemisch" von Erfahrungs-
und Deutungsakten oder eventuell auch auf reine Deutungsakte
(was^ praktisch aber kaum vorkommt) aufbaut oder von ihnen
fundiert ist. Graumann, der einzige, der das Verstehen phäno-
menologisch genau untersucht hat, hat meines Erachtens einwand-
frei nachgewiesen, was ja auch bei streng phänomenologischer
Einstellung a priori einsichtig ist, daß sich am Akt des Verstehens
nichts ändert, von welchen Akten es auch immer fundiert sein
mag. Das psychologische Verstehen kann sich also, muß sich aber
nicht an tatsächlich erfahrenem, „realem", seelischem Material
vollziehen, es sagt aber auch dann nichts aus über die Wirklich-
keit seelischen Geschehens oder Erlebens, sondern, wie wir sahen
über den ideellen Sinn, in welchem die Gehalte der von einer
Person vollzogenen seelischen Erlebnisse zueinander stehen. Ist
das Material, auf dem sich das Verstehen aufbaut, nicht erfahren,
sondern nur gedeutet, ja auch nur phantasiert, so bleibt auch hier
das Verstehen immer ein Verstehen in dem eben erwähnten streng
präzisierten Sinne.
Damit ist das Verhältnis zwischen Erfahren, Deuten und Ver-
stehen in der Psychoanalyse klargeworden. Es zeigt sich dabei,
daß es, streng genommen, nicht richtig ist, das ganze hermeneu-
tische Verfahren als Deutung zu bezeichnen, da es Akte des Er-
fahrens, Deutens und Verstehens enthält; aber noch weniger richtig
scheint es uns zu sein, das hermeneutische Verfahren als solches
ein Verstehen zu nennen, wie es Schleiermacher, Böckh,
Dilthey getan haben (die hier aber auch oft von einem Deuten
sprechen), und wie es heute noch Spranger tut, dessen „Ver-
132
stehen" einzelne Denkakte und Schlüsse „enthält"! 1 Wir sehen
ferner, daß es nach unserer Auffassung nicht richtig ist, das
Deuten als unvollständiges Verstehen zu bezeichnen (Jaspers")
und verstehen vollends nicht, wenn wir neuerdings hören, Deuten
heiße, „die im Akte des Verstehens erfaßten Zusammenhänge in
die Sprache des Begriffes kleiden" (All er s). Gerade dieses Bei-
spiel zeigt, wie wichtig, ja unerläßlich, es heute ist, bei solchen
Untersuchungen stets den phänomenologischen Tatbestand im Auge
zu behalten. 8
Zum Schlüsse müssen wir uns nur noch einige Beziehungen
klarmachen, wie sie zwischen den Gegenstandswelten des Er-
fahrens, Deutens und Verstehens bestehen. Die Krönung des ganzen
Verfahrens ist, so sahen wir, das Auftreten des psychologischen
Verstehens, also die Erfassung der ideellen Sinnbeziehungen zwi-
schen den Gehalten realer psychischer Erlebnisse einer diese Er-
lebnisse vollziehenden realen Person. Dieses Verstehen kann, ebenso-
wenig wie durch Erfahrung begründet, in Erfahrung umgesetzt
werden oder sich durch Erfahrung bestätigen; denn ideelle Sinn-
zusammenhänge „existieren" im Reiche des Geistes und sonst
nirgends. Hingegen kann das Resultat der Deutung in Erfahrung
umgesetzt werden und wird es in jeder praktischen psychoana-
lytischen Operation mehr oder weniger umgesetzt (vgl. auch jenes
„Das habe ich immer gewußt" unserer Kranken). Jedoch existieren
auch hier Grenzen. Während aber zwischen der Welt des Ver-
stehens und derjenigen der Erfahrung (im Sinne der Erfahrungs-
wissenschaft) prinzipielle, im Wesen der betreffenden Akte grün-
dende Grenzen herrschen, sind die Grenzen zwischen den Gegen-
ständen der Deutung und denjenigen der Erfahrung verschieblich.
Das „psychologische" Deuten, im Gegensatz zum naturmytholo-
gischen, religiösen usw., meint ja einen faktisch möglichen Er-
fahrungsinhalt, richtet sich ja auf etwas als Inhalt einer mög-
lichen Erfahrung, es hat also eine positive Beziehung zum mög-
1) Nur bei Droysen finde ich die Trennung zwischen einem Verstehen
als „logischem Mechanismus", womit er die hermeneutische Operation als
Ganzes meint, und einem Verstehen als Verständnisakt: „Dieser erfolgt unter
den dargelegten Bedingungen als unmittelbare Intuition, als tauche sich Seele
in Seele, schöpferisch wie das Empfängnis in der Begattung." (Historik, Para-
graph 11.)
2) Es ist aber zugegeben, daß dieser Tatbestand, gerade so weit er den Akt
des Deutens überhaupt und des Deutens der Personpsychologie im Speziellen
betrifft, noch wenig aufgehellt ist. Die besten Hinweise finden sich wiederum
bei Graumann.
133
liehen Erfahren. Die Grenzen liegen hier nicht im apriorischen
Gebiete der Aktgesetze, sondern in dem empirischen der realen
Sachwelt, die in den Akten aufgefaßt werden soll. Der reale
keitt 27 ^ Ch ; erha c lt ' " reale " Psychologische Gesetzmäßig-
ke^en sind es, die hier Schranken setzen. Diese Schranken sind
vom Den en zum Erfahren hin verschieblich und es hängt von
der jeweiligen wissenschaftlichen Persönlichkeit des Forschers ab
Z/v' ^ diC ? r T Cn der DeUtUn * ** die mögliche Erfah-
rung hinaus versieben will. „Aber gerade auf diesem Gebiete
gilt um mit Schieiermacher zureden, „das sonst ziemlich
paradoxe Wort . . ., daß Behaupten weit mehr ist als Beweisen«
womit gesagt sein soll, daß das „divinatorische« Verfahren hier
nicht zu sehr zugunsten des „demonstrativen« eingeschränkt werden
darf. Jedenfalls begreifen wir jetzt sehr gut, wie man das Deuten
m der Psychoanalyse als ein „Als-ob-Erfahren« (Graumann) be-
zeichnen kann, vielleicht auch als ein „Noch-zu-Erfahren", wir
nfc e htt er ftÄ daß ^ " aUf GrUnd UnSerer Auffassung
nicht bezeichnen kann als ein „Als-ob-Verstehen" (Jaspers).
*
Bedenken wir daß Erfahren, Deuten, Verstehen nur die person
psychologische Seite der Forschungen Freuds betreffen T
dasjenige Studium des Menschen* dessen Endziel Ä Z™
verstehen, und dessen Methode, die Wege zu diesem VerltT, ^
aufzuweisen, und bedenken wir, daß wir alles auSffeschWm, l t
was Sich auf das naturwissenschaftliche also SEEFi******
logisch-genetische, physiologische, fcSÄ^SKÄ '£?**
geschichtliche Erklären in seinem LeLnswer 1\Za^T'
wundern wir den Mut, der so Großes gewollt den r !' -.
gedacht, die Kraft des Willens, die es ausgeführt ^
IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIUIII
PSYCHOANALYTISCHES LESEBUCH
Nietzsche über Geschlechtlichkeit
Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den
letzten Gipfel seines Geistes hinauf. (Aus „Jenseits von Gut und Böse".)
134
Der Staatsbegriff und die Psychoanalyse
von
Prof. Dr. Hans Reisen (Wien)
Die folgenden Ausführungen bilden den
Abschluß der Studie „Der Begriff des
Staates und die Sozialp sycholo gie u , ver-
öffentlicht in „Imago, Zeitschrift für An-
wendung der Psychoanalyse auf die Natur-
und Geisteswissenschaften" , Bd. VIII.
Von den Ergebnissen der auf die psychischen Grundlagen
der sozialen, wie der religiösen Ideologie gerichteten Forschung
Freuds möchte ich hier noch das Folgende festhalten: Bei
seinem Versuche, die Anfänge der Gesellschafts- und Religions-
bildung aufzuhellen, knüpft Freud an die Untersuchungen
des englischen Forschers Robertson Smith (The religion of
the Semits, Second Edition, London 1907) an. Dieser nimmt
an, daß eine eigentümliche Zeremonie, die sogenannte Totem-
Mahlzeit, das Töten und gemeinsame Verzehren eines Tieres
von besonderer Bedeutung, des Totem-Tieres, von allem
Anfang an einen integrierenden Bestandteil des totemistischen
Systems gebildet habe. Später, als „Opfer" eine Darbringung
an die dadurch zu versöhnende Gottheit, bedeutet es ursprüng-
lich einen „Akt der Geselligkeit, eine Kommunion der Gläubigen
mit ihrem Gott" („an act of social fellowship betiveen the
deity and his worshippers"). Durch das Essen eines und
desselben Opfertieres wird die Stammesgemeinschaft, die soziale
Einheit — nach der Vorstellung der Primitiven — hergestellt.
Wer mitißt, der gilt als zugehörig. „Warum wird aber dem
gemeinsamen Essen und Trinken diese bindende Kraft zu-
geschrieben? In den primitivsten Gesellschaften gibt es nur
ein Band, welches unbedingt und ausnahmslos einigt, das
der Stammesgemeinschaft (kinskip). Die Mitglieder dieser
Gemeinschaft treten solidarisch füreinander ein, ein Kin ist
eine Gruppe von Personen, deren Leben solcherart zu einer
physischen Einheit verbunden sind, daß man sie wie
135
Stücke eines gemeinsamen Lebens betrachten kann
Kinship bedeutet also: einen Anteil haben an einer gemein-
samen Substanz . . ." „Wir haben gehört, daß in späteren
Zeiten jedes gemeinsame Essen die Teilnahme an der
nämlichen Substanz, welche in ihre Körper eindringt,
em heiliges Band zwischen den Kommensalen herstellt; in
ältesten Zeiten scheint diese Bedeutung nur der Teilnahme
an der Substanz eines heiligen Opfers zuzukommen. Das
heilige Mysterium des Opfertodes rechtfertigt sich, indem
nur auf diesem Wege das heilige Band hergestellt
werden kann, welches die Teilnehmer untereinander
und mit ihrem Gotte einigt." „Die durchaus realistische
Auffassung der Blutgemeinschaft als Identität der Substanz
läßt die Notwendigkeit verstehen, sie von Zeit zu Zeit durch
den physischen Prozeß der Opfermahlzeit zu erneuern."
Dieses Opfer hat eben „die heilige Substanz zu liefern,
durch deren Genuß die Clangenossen sich ihrer stofflichen
Identität untereinander und mit der Gottheit versichern". 1
Die hier angeführten Stellen sind in diesem Zusammenhange
für mich in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Erstlich
daß dem primitiven Denken die soziale Einheit, die Ver-
bindung einer Vielheit von Individuen zur Einheit in der
sieht- und greifbaren Substanz des gemeinsam verzehrten
Opfer- (Totem-) Tieres zum Ausdruck kommt. Dann aber
daß die soziale Einheit — wie auch Durkheim erkannt
hat — von vornherein religiösen Charakter hat, daß die
soziale Verbindung gleichsam vermittels der Verbindung mit
der Gottheit zustande kommt, ja daß beide Verbindungen -
als seelische Bindungen — im Grunde von allem Anfang
an identisch sind, was sich darin zeigt, daß das geopferte
Totem-Tier, dessen gemeinsame Verzehrung die soziale Ver-
bindung herstellt, die Gottheit selbst ist. Von einer ganz
anderen als der von Freud eingenommenen Position psycho-
logischer Erklärung, von dem von mir eingangs charakterisierten
Standpunkte einer der kausal-erklärenden, naturwissenschaftlich-
1) Totem und Tabu. (Ges. Schriften Bd. X, S. 163 ff.).
136
psychologischen Soziologie entgegengesetzten Rechtstheorie,
die den Staat als einen spezifischen Sinngehalt und nicht als
einen irgendwie regelhaften Ablauf tatsächlichen Verhaltens der
Menschen, als eine Ideologie in ihrer spezifischen Eigengesetz-
lichkeit, als ein System von Normen, und zwar von Rechts-
normen, als Rechtsordnung begreift, bin ich zu Ergebnissen
gekommen, die in auffallender Parallele zu diesen Resultaten
der sozialpsychologischen Forschung stehen und das Problem
gleichsam von einer anderen Seite zu beleuchten vermögen.
Das Kernproblem der auf den Staat gerichteten Rechts-
theorie, aber nicht nur dieser sogenannten Staats-Rechtsl ehre,
sondern der allgemeinen Staatslehre überhaupt, von der
die Staatsrechtslehre herkömmlicherweise nur einen, wenn
auch den bedeutsamsten und gehaltvollsten Bestandteil bildet,
ist das Problem des Verhältnisses von Staat und Recht.
Trotzdem nun gerade die Staatslehre eine der ältesten Dis-
ziplinen, vielleicht überhaupt die älteste Wissenschaft ist, —
muß doch schon der ersten mythologisch-religiösen Natur-
erkenntnis ein Nachdenken über den Staat vorangegangen
sein, da ja der die Menschen durch Gesetzesbefehl leitende
König (Vater) offenbar das Vorbild für die die Natur lenkende
Gottheit, das Rechtsgesetz das Vorbild für das Naturgesetz
war, — so ist doch der Stand ihres Grundproblems in der
wissenschaftlichen Literatur ein mehr als desolater. Nicht
nur, daß von den verschiedenen Autoren völlig widersprechende
und miteinander gänzlich unvereinbare Anschauungen über
das Verhältnis von Staat und Recht vorgetragen werden,
indem die einen das Recht als eine logische oder zeitliche
Voraussetzung des Staates, die andern den Staat als die
Voraussetzung, ja als den Schöpfer des Rechtes erklären,
auch bei ein und demselben Autor finden sich in der Regel
beide Anschauungen, zu den bedenklichsten Widersprüchen
verdichtet, nebeneinander. Dies ist um so merkwürdiger, als
es sich doch bei Staat und Recht um durchaus alltägliche,
jedermann geläufige Phänomene zu handeln scheint. Eine
kritische Analyse der bisherigen wissenschaftlichen Darstellungen
ergibt denn auch, daß in dem schier unlösbaren Problem
l 57
der Staats- und Rechtstheorie - wie dies in der Geschichte
der Wissenschaften ja so häufig der Fall ist - J*
Scheinproblem vorliegt. Wo die Theorie zwei voneinander
verschone Wesenheiten und deren Verhältnis zu bestimme»
Detst'a itt "l öl 1 " 11611 *** * *** «"W""* S
Der Staat ist als Ordnung menschlichen Verhaltens mit eben
Süüi Z T nSSOr t nmS , idenÜSch > die ™« <* Recht oder
Rechtsordnung begreift. Sofern man aber den Staat nicht
Sv tem T N g ° rie *" ^^ ** * ein ^straktes
K^w w ° rmen «"schlichen Verhaltens, sondern in
bUdh rfterW ls h delndej tät . ge Personl ' ichke ^ vo -
RÜlenT, »-.r :°1 " e d3S W ° rt " Staat " in den eisten
hohen 1P T c , bedeutet dieser Begriff nur die veranschau-
ütrenrf P Tl lflk ^° n d6r die S ° ZiaIe Gemeinschaft konsti-
tuierenden die Einheit einer Vielheit menschlicher Verhaltungen
begründenden Rechtsordnung. Durch die Hypostasierung dieser
Per omfikatum - einem typischen, speziell durch Vaihfnge"
Philosophie des Als-Ob jüngst aufgedeckten Denkfehler _
wird der einheitliche Gegenstand der Erkenntnis, die Zwan«-
ordnung menschlichen Verhaltens, verdoppelt nnd das un-
lösbare Scheinproblem eines Verhältnisses zweier Gegenstände
erzeugt, wo nur die Identität eines und desselben abstrakten
Objekts vorhegt, dem seine irrtümlich real gesetzte, lediglich
als Denkbehelf auftretende, dem Zweck der Veranschaulich^
und Vereinfachung (Ahbreviatur) dienende Personifikation
gegenübergestellt wird. Die Technik dieser Hypostasie™ T
mit ihrer Verdoppelung des Erkenntnis-Gegenstände T^
ihrem Gefolge von Scheinproblemen ist durchist 5*2
che schon in der mythologischen Naturanschauung sich
betätigte, die hinter jedem Baum eine Dryas, hinter jeder
Quelle einen Quellgott, hinter dem Mond Luna und hinter
der Sonne Apollo vorstellte. Vom Standpunkt der Erkenntnis-
kritik stellt sich diese mythologische Methode, die schon kraft
unserer substantivischen Sprache — wie sie Fritz Mauthner
erkannt und genannt hat — noch tief in alle Wissenschaften
insbesondere aber in die Geisteswissenschaften hineinragt als
die zu überwindende, weil fehlerhafte Tendenz dar, die' von
138
der Erkenntnis allein zu bestimmenden, durch Erkenntnis
allein bestimmbaren Relationen in feste Dinge, die Funktion
in Substanz umzudeuten. Wenn festgestellt werden kann,
daß der von der Staatstheorie dem Recht gegenüber unter-
schiedene, „hinter' dem Recht, als „Träger" des Rechts
gedachte Staat ebenso eine verdoppelnde, Scheinprobleme
erzeugende „Substanz" ist, wie die „Seele" in der Psychologie,
die „Kraft" in der Physik, dann wird es ebenso eine Staats-
lehre ohne Staat geben, wie es schon heute eine Psychologie
ohne eine „Seele" und ohne all die Scheinprobleme gibt,
mit denen sich die rationale Psychologie geplagt hat (Unsterb-
lichkeit z. B. ein spezifisches Substanzproblem) und schon
heute eine Physik ohne „Kräfte" gibt. Psychologisch
allerdings — und nur psychologisch — läßt sich dieser Hang
zur Personifikation und Hypostasierung, diese Tendenz zur
Substanzialisierung, begreifen. Und gerade von diesem Stand-
punkt erscheint es nur als eine graduelle Differenz, ob die
Naturwissenschaft hinter den Erscheinungen „Kräfte" ver-
mutet, wo sich die Primitiven noch Götter vorstellen. Und
darum ist es im Prinzipe dasselbe, wenn dem primitiv tote-
mistisch orientierten Denken die soziale Einheit, die Verbindung
einer Vielheit von Individuen zur Einheit nur in der sicht-
und greifbaren Substanz des gemeinsam verzehrten Opfer-
(Totem-) Tieres zum Ausdruck kommen kann, und wenn die
moderne Staats- und Rechtstheorie sich die abstrakte soziale
Ordnung, dieses System von Rechts- und Zwangsnormen d. h.
aber die Einheit der maßgebenden sozialen Gemeinschaft
(und nur in dieser Ordnung besteht die Gemeinschaft) nur
als ein substanzartiges Ding, als eine „reale" durchaus anthro-
pomorph gebildete „Person" veranschaulichen muß, ohne
sich des eigentlichen Charakters dieser Vorstellung als eines
bloßen Denkbehelfs bewußt zu werden; zumal wenn man
bemerkt, wie stark die Tendenz ist, diese „Person" zu einem
womöglich sieht- und greifbaren Etwas, zu einem überbiolo-
gischen Lebewesen zu fingieren. Ist in diesem Punkte die
moderne Staatstheorie primitiv, so ist eben das totemistische
System die Staatstheorie der Primitiven.
*39
Als ein Substanzbegriff wie „Kraft" und „Seele", als eine
personinkative Fiktion tritt der Staatsbegriff in eine Parallele
zum Begriff Gottes. Die Übereinstimmung in der logischen
Struktur beider Begriffe ist tatsächlich verblüffend, zumal
wenn man die weitgehende Analogie betrachtet, die zwischen
den Problemstellungen wie Problemlösungen der Theologie
und der Staatslehre besteht. Diese Analogie ist mir besonders
an den Vorstellungen aufgefallen, die in der neueren Literatur
von dem Verhältnis zwischen Staat und Recht gegeben werden.
Der dem Rechte transzendente, meta-rechtliche Staat, der
in Wahrheit nichts anderes ist als die hypostasierte Personi-
fikation, die realgesetzte Einheit des Rechts, entspricht haar-
genau dem der Natur transzendenten, supranaturalen Gott,
der nichts anderes ist als die grandios-anthropomorphe Per-
sonifikation der Einheit dieser Natur. Ebenso wie die Theologie
diesen von ihr selbst geschaffenen Dualismus schließlich zu
überwinden sucht, indem sie das — nach ihren eigenen Vor-
aussetzungen unlösbare — Problem der Einheitsbeziehung
des metaphysischen Gottes auf die Natur, der außergöttlichen
Natur auf Gott stellt, so ist auch die Staats- und Rechtstheorie
gezwungen, den meta-rechtlichen Staat auf das Recht und
das außerstaatliche Recht auf den Staat zu beziehen. Die
Theologie — nicht nur die christliche — versucht die
Lösung ihres Problems auf mystischem Wege: durch die
Menschwerdung Gottes wird der überweltliche Gott zur Welt,
beziehungsweise zu deren Repräsentanten zum Menschen.
Die Lösung, die die Staats- und Rechtslehre versucht, ist die
gleiche. Es ist die Lehre von der sogenannten Selbstverpflichtung
oder Selbstbeschränkung des Staates, derzufolge der über-
rechtliche Staat, zur Person geworden, sich selbst freiwillig
seiner eigenen, d. h. von ihm selbst geschaffenen Rechts-
ordnung unterwirft, und aus einer außerrechtlichen Macht
zu einem Rechtswesen, zum Recht schlechthin wird. Man
hat dieser Theorie, weil sie sich zu den selbst geschaffenen
Voraussetzungen der Staats- und Rechtslehre in Widerspruch
setzt und das Unbegreifliche, daß zwei verschiedene Wesen
eins sind, begreiflich machen will, von jeher vorgeworfen,
140
daß sie nicht eines gewissen „mystischen" Charakters ent-
behre. Aber man hat bisher noch nicht bemerkt, daß das
Mysterium der Menschwerdung Gottes von der Theologie
geradezu unter dem Gesichtspunkt der „Selbstbeschränkung"
Gottes vorgetragen wird. Indes geht die Übereinstimmung
zwischen Theologie und Staatslehre noch viel weiter: Dem
Problem der Theodizee entspricht genau das Problem des
sogenannten „Staats-Unrechts". Über das Verhältnis von
Gott und Individuum — Universalseele und Einzelseele —
hat die religiöse Spekulation speziell der Mystiker im Grunde
genommen nichts anderes beigebracht als die politische Theorie
des Universalismus und Individualismus über das Verhältnis
Staat (Gemeinschaft) und Individuum. Ja sogar die theologische
Lehre von den Wundern findet in der Staatsrechtslehre ihr
Analogon, wie ich im einzelnen nachgewiesen habe.
So findet die von der Sozialpsychologie aufgezeigte Be-
ziehung zwischen dem Religiösen und Sozialen von der er-
kenntniskritischen Seite her ihre Bestätigung. Von deren
Standpunkt aus gesehen, stellt sich der Staat darum als ein
Gottes-Begriff dar, weil er auf dem für die theologische
Methode charakteristischen System-Dualismus beruht, d. h.
weil er als Hypostasierung der Einheit der Rechtsordnung
als ein dieser gegenüber transzendentes Wesen ebenso erzeugt
wurde, wie Gott als eine Personifikation der Natur zu einem
dieser letzteren transzendenten Gebilde fingiert wurde. Von
einem erkenntniskritischen Standpunkte kommt es vor allem
darauf an, die theologische Methode in den Geisteswissen-
schaften und speziell in den Sozialwissenschaften zu über-
winden, den System-Dualismus zu beseitigen. Gerade in dieser
Richtung aber leistet eine unschätzbare Vorarbeit die psycho-
logische Analyse Freuds, indem sie aufs wirksamste die
mit der ganzen Magie jahrhundertalter Worte aus-
gerüsteten Hypostasierungen Gottes, der Gesellschaft
und des Staates in ihre individualpsychologischen
Elemente auflöst.
141
Das Liebesschicksal
Ferdinand Lassalles
Von
Dr. Erwin Kohn
Büch2« SeP T ber T 6 ***** ah Band IX *» ,Mago-
Kohn : Tr} ^ aSSalU r *f «*** von Dr. *E r Jin
l' l n J Ser P^otmafytischen Studie wird das bio-
Rückhalt gkett bietet, zur Herausarbeitung einer seiner
^Seiten, der stärksten und hervorragendsten, verwZZ
An diesen, in vieler Beziehung typischen und klaren BeZiel
71 fä ™ ch i ^t &, ", W ** * Wirkungsweise
de fuhrenschen Persönlichkeit aufgewiesen^. Das
Fuhrerproblem ist heule zur aktuellsten Frage der verseht
densten Gesellschaftsgruppen geworden und'die Frei uSSk
Forschungsergebnisse hohen den Verfasser in den Stand Zu-
setzt, Wesentliches zur Auf hellung dieser Probleme beizutrafen
sowohl zur Durchleuchtung der Beziehung „Führer-Gru^pfi
als a UC h zur Aufdeckung der psychologischen Struktur der
fuhrenschen Persönlichkeit selbst. Die objektlibidinösen Be
Ziehungen des Führers und sein Narzißmus werden unter-
sucht Organisierung und Bewegung der Masse psychologisch
gedeutet. Die Dynamik des Führerschicksals wird av ?T
Darstellung des Einzelfalles verständlich gemacht toL 1*
»Werbung um Gefolgschaft- bietet die frühfjZndln" n*
bereits Selbstzeugnisse. DU Beziehungen 53ffi 'f?
Büchner, Hervegh H eim und JW fÄÄ
?erf asser plastisch (besonders aus dem Gegensatz Führer™
Wissenschafter) herausgearbeitete Beziehung zu Marx sind
außerordentlich aufschlußreich. Der Einstellung des , Volks-
tnbuns« zu den Massen, insbesondere als Redner, wird be-
sondere Aufmerksamkeit gewidmet. Wir drucken hier ein
Kapitel ab, das die Liebesobjektwahl Lassalles entwickelt
(mit einigen Kürzungen insbesondere unter Weglassung der
Anmerkungen).
Unsere Aufgabe, die Eigenart der Beziehung Führer — Gefolg-
schaft an der Person Lassalles zu exemplifizieren, scheint, soweit es
sich um äußere Beschreibung handelt, mit der Wiedergabe und Deu-
tung dieser Dokumente (der Briefe und Äußerungen an Männer)
erschöpft. Das psychologische Interesse wendet sich aber über
solche Feststellungen hinaus der Frage zu, wie es genetisch zur
142
Entstehung eines Führers von der Art Lassalles kommt, in welcher
Weise die eigenartige Entwicklung und das tragische, wenn nicht
groteske Ende Lassalles aus seinem Libidoschicksale verständlich
wird und wie seine Persönlichkeit die von ihm gebildete Gruppe
beeinflußt. Damit ist zugleich Gelegenheit geboten, das Typische
und das Singulare an dem von uns gewählten Beispiel zu trennen.
Wenn es trotz der vielen wertvollen Aufschlüsse, die eine
psychoanalytische Durchleuchtung von Biographien schon gegeben
hat, noch eines Beweises dafür bedurft hätte, wie notwendig zum
Verständnis der Öffentlichen Wirksamkeit einer historischen Per-
sönlichkeit die Bekanntschaft mit ihrem „Privatleben" und im be-
sonderen mit ihrer Sexualentwicklung ist : das Beispiel Lassalle müßte
ihn erbringen. In Lassalles Leben haben Liebesbeziehungen eine
schon äußerlich höchst auffallende Rolle gespielt, und wenn die
einzelnen Erlebnisse auch einer rein chronologischen Betrachtung
zusammenhanglos und darum bizarr erscheinen mögen, so bedarf
es nur der Anwendung weniger gesicherter Ergebnisse der Psycho-
analyse, um sie als kausal verknüpft, folgerichtig und sein Führer-
tum determinierend erkennen zu lassen. Die auffallendste und
folgenschwerste Erscheinung in diesem Ensemble, nach dem Urteil
der Zeitgenossen wie der Biographen, ist das Zusammentreffen
des Einundzwanzigjährigen mit der damals eimmdvierzigjähri<ren
Gräfin Hatzfeldt; eine Begegnung, die ihn für volle zehn Jahre
seinen Studien und seinen gewohnten Tätigkeiten entzieht, durch
die er sich und seine Freunde vor Gericht und zum Teil ins Ge-
fängnis bringt; eine Begegnung, infolge der er sich in einen Wust
von Prozessen verwickelt, die seine ganze Energie in Anspruch
nehmen, ihn im nebenher Jurisprudenz praktisch erlernen lassen
und zum meisterhaften Advokaten bilden; eine Begegnung, durch
deren Folgen er mit seiner Familie in Streit gerät, wobei er es
entschlossen auf einen Bruch ankommen lassen will; eine Begeg-
nung, die nach zehn Kampf jähren mit der Befreiung der Gräfin
von ihrem Gatten, mit der vollkommenen Sicherung ihrer und
Lassalles wirtschaftlichen Existenz und mit einem weit über das
Grab Lassalles reichenden Freundschaftsbund endigt. Lassalle lernt
die durch ihren einflußreichen und gefürchteten Gatten grausam
gequälte Frau zufällig kennen, erwirbt nach kurzer Bekanntschaft
ihr Vertrauen, wird ihr und ihres unmündigen Sohnes „General-
bevollmächtigter" im Kampfe mit dem Grafen, führt den Prozeß
gegen diesen auf ebensowenig einwandfreie Weise wie die Gegen-
seite, aber mit erstaunlicher Energie und bringt ihn zu einem
H5
leidlichen Ende. Wir wollen schon an dieser Stelle bemerken
daß Lassalles Vorgehen an vielen, auch befreundeten Stellen An-
stoß erregte, und Marxens prägnantes Urteil über diesen in jeder
Beziehung wichtigen Lebensabschnitt ist nur der Ausdruck einer
sehr verbreiteten Meinung gewesen: „Er hält sich für weltbezwin-
gend, weil er rücksichtslos in einer Privatintrige, als ob ein
wirklich bedeutender Mensch zehn Jahre einer solchen Bagatelle
opfern würde."
Der Charakter von Lassalles Beziehung zur Gräfin Hatzfeldt
war lange Jahre hindurch ein Crux der Lassalleforscher. Und man
muß sagen, daß erst die vor kurzem erfolgte Veröffentlichung des
wesentlichsten Teiles des erhaltenen Briefwechsels zwischen den
beiden Lassalles Verhältnis zur Gräfin im richtigen Lichte sehen
laut und dem Psychoanalytiker die Beweismittel für Vermutungen
liefert, die sich ihm aus dem äußeren Ablauf der Ereignisse auch vor-
dem schon aufdrängten. Für die Auffassung, die Lassalle selbst
von seiner Beziehung zur Gräfin hatte, bleiben nach wie vor in
erster Linie die Darstellungen maßgeblich, die er in zwei Ver-
suchen, Frauen zu werben, gegeben hat; maßgeblich vor allem
auch darum, weil sie erkennen lassen, wie er diese Beziehung in
seinen Mannesjahren sah und zu gestalten wünschte.
Das eine, wichtigere, Dokument ist der „Manuskriptbrief«
den Lassalle im Jahre 1860 an eine junge Russin, Sofie Sontzeff'
richtete, die er während seines Aachener Kuraufenthaltes ken '
gelernt hatte und um die er mit diesem Brief anhielt In rl
drängten Autobiographie, als welche dieser Brief gedacht ist de^"
Aufrichtigkeit aber natürlich mit dem Maßstab eines um " T*
Preis unversehrt zu erhaltenden Narzißmus zu messen ist fi^ 6 "
sich unter anderem folgende, Lassalles Verhältnis m.' r^ ^
charakterisierende Stellen: w ^ rafln
Verkörperung aller Mißbräuche der Macht, der Gewalt und des Reichtums
gerichtet gegen den Schwachen, allen Druck unserer sozialen Ordnung . . \
Als wir [die Gräfin und Lassalle] in Düsseldorf ankamen, betäubten mich die
Einwohner der Stadt fast mit ihren Zurufen. Sie spannten die Pferde der
Equipage, in der ich mit der Gräfin saß, aus und zogen uns selbst Obzwar
der Prozeß kein eigentlich politischer war, hatte das Volk wohl begriffen, daß
es doch im tiefsten Sinne des Wortes ein solcher war, da er die Auflehnung
gegen die Unterdrückung war."
Ein zweitesmal sind Lassalles Ansichten über diesen Punkt in
den Memoiren der nächst der Gräfin für ihn bedeutungsvollsten
Frau, Helene v. Doenniges, wiedergegeben:
144
„Von der Gräfin sagte er selbst, sie sei so viel älter als er, daß sogar in
allererster Zeit er immer nur in ihr die über ihm stehende ältere Frau, die
,maitresse femme' gesehen habe. In seinen vielen anderen Verhältnissen und
Liebeleien waren die handelnden Damen entweder verheiratete Frauen
gewesen, dann fiel der feine, ungenierte, durch nichts gestörte Ton, den wir
einschlagen durften, ohnehin fort, oder es waren Wesen, die geistig wie
gesellschaftlich tief unter ihm standen und an die ihn nur seine Leiden-
schaft fesselte. 44 ... Weiter [angeblich wörtlich von Lassalle]: „Ich bin
durch ein heiliges Etwas an die Gräfin gefesselt, durch ein Band, welches
ich, ohne schwerste Veranlassung und selbst dann kaum, niemals zer-
brechen kann: durch Dankbarkeit! Ich war noch ein Knabe, als diese Frau in
härtester Bedrängnis mich mit ihrem Vertrauen beehrte, als sie ihr Schick-
sal voll und ganz in diese Knabenhand legte. Ich habe ihr bewiesen, dail es
die Hand eines Mannes war. Aber dieser Beweis brauchte Zeit, sie konnte
es zuerst nicht wissen, wie's enden würde, und hat mir doch vertraut, —
dafür muß ich ihr dankbar sein mein ganzes Leben! Wenn's auch manchmal
unbequem ist."
Der Briefwechsel zwischen Lassalle und der Gräfin bestätigt
im wesentlichen die Auffassung, die in Lassalles Mitteilungen an
Sofie Sontzeff und Helene von Doenniges zutage tritt, aber er ver-
tieft und erweitert sie bis zu einem Grade, der die Analyse der
Bindung Lassalles an die Gräfin und an die Frau überhaupt er-
möglicht. Daß Lassalle in der zwanzig Jahre älteren Gräfin zu-
nächst die Mutter erblickt, liegt auf der Hand. Die Brieftitel:
„Meine gnädigste Frau" auf der einen, „Mein liebes, gutes Kind"
auf der anderen Seite sind ein besonders drastischer Beweis dafür.
Wenn man bedenkt, daß Lassalle zwei Tage jünger als der älteste
Sohn der Gräfin war, wird die Einstellung der Gräfin ohneweiters
verständlich. Lassalle zeigt aber nicht nur eine ungewöhnliche
Fixierung an die Quasi-Mutter und einen ungewöhnlichen Haß
gegen ihren Gatten, sondern, zur Vervollständigung des Ensembles,
auch maßlose Eifersucht gegen den jüngsten Sohn der Gräfin',
Paul, der ihr während und nach der Scheidung verblieben war!
Zunächst, hei Beginn seines Eintretens für die Gräfin, spielt er
den Berater und väterlichen Freund des um wenige Jahre Jüngeren.
Den zum Mann gewordenen Aristokraten, der ihm die Mutter
entfremdet, haßt er und führt wiederholt Konflikte herbei, in
denen die Gräfin zwischen dem angenommenen und dem wirk-
lichen Sohne zu wählen hat:
„Schon als Sie voriges Jahr nach Berlin kommen sollten, ging es nicht,
Pauls wegen. Nach Wildbad zu Ihnen konnte ich nicht, Pauls wegen. Nach
Berlin wieder können Sie jetzt nicht, Pauls wegen. Es wird mir endlich zuviel
Paul. Ich quäle mich hier ab, üsiere und abüsiere fast Personen, die es nicht
verdienen, Ihretwegen, bin in allem, was ich tue, auf Sie bezogen. Und Sie
können nichts von dem, was mir lieb ist, und wiederum nur Ihretwegen lieb
10
H5
ist, tun, Pauls wegen Ich kann nicht einmal mehr etwas für Sie tun, Pauls
SSr^ST! i' 5 - fÜr Sle tU "' haben Sie fÜr mich keine Zeit mehr
übrig, Pauls wegen, so können wir uns auch nichts mehr sein.«
Wie die Gräfin darunter leidet, zeigt eine Briefstelle aus einem
früheren Jahr.
hu*iSbJ!Z tT ££ d - ä u 6en SiC mlCh " icht StetS to eine so fürchterliche
l.age drangen Sie mich nicht immer zu einer Wahl zwischen Ihnen und Paul-
wie diese auch ausfallen möchte, ich wäre rettungslos unglückhch mid ver-'
loren, und was hätten Sie von einem solchen Sieg?"
Man geht nicht fehl, unter den wichtigsten Gründen, die in
spateren Jahren eine gewisse Erkaltung der Beziehungen Lassalles
zu der Gräfin herbeiführten, die Tatsache, daß Lassalle sich gegen-
über dem Sohn der Gräfin zurückgesetzt und durch ihn aus der
Rolle der Hauptperson in ihrem Leben verdrängt sali, zu erwähnen
Daß es aber trotz wiederholter schärfster Zusammenstöße zu
keinem Bruch Lassalles mit der Gräfin kommt, daß die Ambi-
valenz seiner Gefühle unausgetragen, seine Bindung an sie bis zu
semer Todesstunde unlöslich blieb, das gerade kann als sicherster
Beweis dafür gelten, daß Lassalles Verhältnis zur Gräfin eine echte
^und übernormale!) Mutterfixierung war. Ein Brief Lassalles
an sie, ein Jahr vor seinem Tode geschrieben, weist mit beson
derer Schärfe darauf hin.
„Auch dies, mir ein Weib zu suchen, haben Sie mir sehr er-
schxvert, wenn nicht unmöglich gemacht. Denn freilich haben Sie
mich durch Ihre großen Vorzüge verdorben für andere Weiber
Wo soll ich ein Weib finden, das Sie mir ersetzt!"
Was befähigte die Gräfin, in Lassalles Leben diese Mutterrolle
ZU Spielen; was veranlaßte den Achtzehnjährigen, dessen Eltern
noch lebten, sich ihr mit solcher Leidenschaft anzuschließen und
seine Zukunft für sie aufs Spiel zu setzen; was hielt ihn bis an
sein Lebensende an diese Frau gebunden und „verdarb" ihn für
„andere Weiber«? Diese Frage rührt an den psychologischen
Grundzug von Lassalles Verhältnis zur Gräfin. Und ihre Beant-
wortung macht zugleich auch offenbar, aus welchen innersten
Quellen sein Lebenswerk, seine wissenschaftliche und politische
Tätigkeit schöpfte. Vom Standpunkt der psychoanalytischen Theorie
aus, den Freud in seinen „Beiträgen zur Psychologie des Liebes-
lebens" klassisch formuliert hat, läßt sich Lassalles ganzes Ver-
hältnis zur Gräfin, von der frühesten Zeit seiner Bekanntschaft
und seines Eintretens für sie an, unter den Begriff der „Rettungs-
phantasie" bringen. Es ist eine Rettungsphantasie grandiosen
146
Umfanges, es sind die im Gefolge der unvollkommen überwun-
denen infantilen Ödipus-Situation gesetzmäßig auftretenden Wün-
sche, deren Befriedigung der junge Lassalle erstrebt. Der eigen-
artigen Fügung der äußeren Umstände ist die weitgehende Re-
alisierung der allmännlichen Rettungsphantasie im Falle Lassalle-
Hatzfeldt zu danken, die günstige Wirkung, die sie auf die Ent-
wicklung und Sublimierung seiner narzißtischen Triebkomponenten
ausübt, aber auch sein jähes und tragisches Ende.
Mit solcher Intensität denkt sich der junge Lassalle in die
„Rettung" der Einund vierzig] ährigen, die sich ihm anvertraut,
hinein, so zentral scheint ihm diese Aufgabe, daß er, seit frühester
Jugend beflissen, sein Handeln nach großen Gesichtspunkten aus-
zurichten, das Geschick der Gräfin und die Rolle, die er zehn
Jahre darin zu spielen hat, als Manifestation des weltgeschicht-
lichen Wendepunktes in der Entwicklung der Frau ansieht. Darin
liegt keineswegs ein Rechtfertigungsversuch des aus der Bahn
Gestoßenen: Lassalle glaubte an die allgemeine Bedeutung
des Falles Hatzfeldt und an die Mission, die er durch seine voll-
ständige Identifizierung mit der Gräfin erfüllte. Wenn er ihr in
einem umfangreichen Lehrbrief, der einen Abriß der Geschichte
der Frau zu geben versucht, schreibt: „Sie übersehen manchmal
daß . ein welthistorischer Gedanke sich Ihren Leib geliehen hat'
ES ^ ^r™ erS ' enmal 2um Ausdruck und zur Darstellung in der
Wirklichkeit zu bringen, daß somit Ihre Geschicke, ob gut ob
schlimm, nichts anderes sind als die praktisch (als Ereignis)
gesetzten Konsequenzen jenes Gedankens und seines gegensätz-
lichen Verhaltens zu der bisherigen Welt«, wenn er glaubt, daß
durch diesen welthistorischen Gedanken alles, was bisher Frau
hieß, „den Todesstoß empfangen soll« und naiv darauf die Iso-
lierung der Gräfin in weiblicher Gesellschaft zurückführt, ist er
für seine Person ebenso ehrlich, wie in jener wahrhaft rührenden
Stelle seiner „Kassettenrede« vor den Kölner Geschworenen in
der er sein Eintreten für die Gräfin rechtfertigt und die mit den
Worten schließt:
„Auch mein Blick war seit je vorzugsweise auf allgemeine Fragen und
Angelegenheiten gerichtet und ich hätte vielleicht angestanden, zur Besserung
eines bloß individuellen Mißgeschickes meine ganze Fähigkeit zu verwenden
meine ganze Laufbahn wenigstens auf Jahre zu miterbrechen, obschon es herz-
zerreißend ist für einen Menschen von Herz, einen anderen Menschen, den
er für gut und edel hält, hilflos untergehen zu sehen, mitten in der Zivili-
sation der Gewalt gegenüber. Aber ich sah in dieser Angelegenheit auch all-
gemeine Standpunkte und Prinzipien verkörpert."
10*
H7
Auf den Psychologen, der gewöhnt ist, die Wesenszüge des
Mannes im Knaben angedeutet zu finden, und der daher im Falle
Lassalle solche Andeutungen in den Briefen und Tagebüchern
aus der Jugendzeit sucht, mußte die Tatsache, daß irgendwelche
W« !i en rr CineS frÜhen Auftretens der „Rettungseinstel-
n i t! 6 naC , m Zusammentr «ffen mit der Gräfin plötzlich zum
alles-beherrscheuden Faktor im Leben Lassalles wird, fehlen, zu-
nächst merkwürdig wirken. (Das folgende Exempel verdient zum
Beweis dessen angekreidet zu werden, in welch fataler Abhängig,
keit von den Sentiments diskreter Biographen der unabhängige
Forscher gehalten wird.} Durch den Einfall eines zufälligerweife
psychologisch etwas verständnisvolleren Historikers ist vor kurzer
Zeit eme Stellendes bereits oben zitierten Tagebuches bekannt
geworden, die in allen gedruckten Ausgaben dieses Buches ein-
lach fortgelassen worden war und die beweist, daß auch im
Knaben Lassalle die Rettungsphantasie schon übermächtig war
Mayer berichtet: s
„TJ widere ihn an (schreibt der Leipziger Handelsschüler) wie ein r„-
(sein Pensionsvater!) alle Mittel gemeiner plumper List gegen^ein^^ 6
anwende, die schwach genug sei, in die Falle zu gehen, wie er 2SÄ*?
raffiniertester Schlechtheit ihr eben daraus ein Verbrechen macH. ^ mit
Eüss^rsfr *■* auch n ° ch den «»ssÄ&sas
hL« r c g uf iC u Kinder VOF dem Be "ektabe schützen sollte. Ihn Sere Ä
bloß die Schlechtigkeit und ausgesuchte Heuchelei' des Mannes sondern k
sosehr die .Schwäche und übermäßig große Leichtgläubigkeit«' uer Su n**
machte auf den Fünfzehnjährigen einen so starken Eindruck daß ~ ^
wochenlange Krankheit, in die er verfiel wesentlirV, T^t a . daD _?* ei *e
zurückführte: ,Ich war von solchem iLl er^m d^ ln" S L QUe n le
wie mir zu helfen." 4 ^ dafl lch mcnt wuß te,
Diese Stelle spricht für sich selbst mit aller Deutlichkeit und
es verdient nur mit besonderem Interesse vermerkt zu werden,
daß der fünfzehnjährige Lassalle seine organische Erkrankung
völlig aus sich heraus als neurotisches Konversionssymptom auf-
faßt. Wir haben nach den Erfahrungen der Psychoanalyse Grund,
ihm hierin — wenigstens bis zu einem gewissen Grade — Glauben
zu schenken.
In den Tagebüchern findet sich aber auch bereits eine typische
Ausbildung und Sublimierung dieser Rettungsphantasie: einmal
in Breslau, nach der Lektüre von Bulwers „Leila", ein glühendes
Bekenntnis zur Rettung des Judentums und die Phantasie,
„an der Spitze der Juden, mit den Waffen in der Hand, sie selb-
ständig zu machen". Nach den Judenverfolgungen von Damaskus
schreibt der Leipziger Handelsschüler (fünfzehnjährig):
*4 8
* — '
„Gab es je eine Revolution, welche gerechter wäre als die,
wenn die Juden in jener Stadt aufständen, sie an allen Ecken an-
zündeten, den Pulverturm in die Luft sprengten und sich mit
ihren Peinigern töteten?"
In derselben Periode bereits der Übergang von der Juden- zur
Menschheitsrettung :
„Ich will den Völkern die Freiheit künden und sollt' ich im
Versuche untergehen. Ich schwöre es bei dem Gott unter den
Sternen und Fluch mir, wenn ich je meinem Schwur untreu werde...
Es ist mir jetzt klar geworden, daß ich Schriftsteller werden will;
ja, ich will hintreten vor das deutsche Volk und vor alle Völker
und mit glühenden Worten zum Kampf für die Freiheit auffordern."
Der Zusammenhang der ursprünglichen, infantilen Rettungs-
phantasie, an deren Unrealisierbarkeit der Knabe Lassalle in
Leipzig erkrankt, mit der abgeleiteten und universalen, die sich
Judenemanzipation, Völkerbefreiung und später soziale Revolution
zum Ziel setzt, leuchtet hier besonders ein und gestattet vielleicht
die allgemeine Annahme, daß in der Rettungseinstellung eine der
spezifischen Wurzeln des „Revolutionismus« zu erblicken ist.
Das Schicksal des Mannes Lassalle entscheidet sich im Augen-
™S * a . dlC übermäßi g e Rettungsphantasie eine Realisierumjs-
moglichkeit ungewöhnlichen Ausmaßes erhält. Was ist die Folge
des Zusammentreffens Lassalles mit der Gräfin Hatzfeldt? Er findet
in dieser Dame der „großen Gesellschaft" eine in jeder Beziehung
— sexuell, materiell, intellektuell — begehrenswerte mütterliche
Freundin, die seinen Schutz anfleht und sich und ihr Kind dem
Zwanzigjährigen als „Generalbevollmächtigten« anvertraut. Seiner
Energie gelingt es, den zu dieser — sozusagen verbesserten —
Neuauflage der Mutter gehörigen Vater: den Grafen, der ihr
offenbar feindselig gegenübersteht, zu verdrängen, die Mutter
von ihm zu befreien und seine Stelle einzunehmen: er lebt mit
der Gräfin erst in Düsseldorf, dann in Berlin, berät sie in allen
wichtigen Fragen, betreut den Sohn usw. Diese Realisierung der
aus der Ödipus-Situation hervorgehenden Wünsche würde allein
schon die große innere Abhängigkeit von der Gräfin erklären, in
die Lassalle gerät. Sie wird aber durch den Bezug einer regel-
mäßigen Jahresrevenue aus den Einkünften der Gräfin vollendet.
Mochte diese ökonomische Existenzsicherung, die Lassalle zeit-
lebens unabhängig von Brotarbeit machte, der gerechte Preis für
die Riesenanstrengung sein, die mit der Gewinnung auch nur
eines Teiles des der Gräfin zustehenden Vermögens verbunden war:
»49
psychologisch wurde Lassalle dadurch notwendig in die Lage des
von der Mutter ernährten Kindes versetzt, das auf die wirtschaft-
liche Realitätsbewältigung verzichten darf. Die Gräfin war liebende
und nährende Mutter, die den Vater zugunsten des Sohnes auf-
gibt, in einem: der Ödipus -Wunsch war erfüllt.
Es ist von Interesse festzustellen, daß diese Verwirklichung des
Odipus-Wunsches gegenüber Quasi-Eltern eine entsprechend ver-
änderte Beziehung Lassalles zu den wirklichen Eltern zur Folge hat.
Sie bietet ein Beispiel für den „vollständigen" Ödipus -Komplex!
Die Gräfin bindet die infantile Mutterfixierung Lassalles, die nach
allem Gesagten ungewöhnlich heftig gewesen sein muß und in-
folge des Verdrängungsschubes der Pubertät damals bereits in das
Gegenteil: nörgelnde Kritik, umgeschlagen war, so vollkommen,
daß seither Gleichgültigkeit und Kühle das Verhältnis Lassalles
zu seiner Mutter charakterisieren. Anderseits reaktiviert der Graf
die infantile, gleichfalls unbewußt gewordene Haßeinstellung
gegen den Vater und führt diese im Verlaufe des zehnjährigen,
mit allen, oft unlauteren und gewaltsamen Mitteln geführten Pro-
zesses so vollständig ab, daß der wirkliche Vater dadurch gleich-
sam entladen wird, sich zwischen Sohn und Vater ein beinahe
Ungetrübt zärtliches Verhältnis herstellt, Lassalle sogar eine An-
näherung seines Vaters an die Gräfin — trotz des großen Milieu-
unterschiedes ■— herbeizuführen versucht und sie erreicht. Dem-
entsprechend verhält sich aber Lassalles Mutter feindselig 21 J
Gräfin und noch an seiner Bahre entsteht ein unerquicklicher
Kampf der beiden Mütter um die Leiche des Sohnes, der sich
dann in heftigen Nachlaßstreitigkeiten fortsetzt.
Aber auch Lassalles Verhältnis zur Gräfin blieb keineswegs un-
getrübt und die beiden haben einander viele bittere Worte gesagt
viele anklagende Briefe geschrieben, haben sich mehrmals vorüber-
gehend getrennt und waren dem endgültigen Bruche nahe. Was die
Schuld der Gräfin an diesen Vorfällen betrifft, so bot sie allerdings
m einem Falle, als sie in enge Beziehungen zu Lassalles Parteige-
nossen und Freund, dem Obersten Rüstow, trat, Anlaß zu Verstim-
mungen. Die Begegnung mit Rüstow fand 1861 in der Schweiz,
während einer Reise Lassalles und der Gräfin, statt. Kurze Zeit darauf
kehrte Lassalle, der sich von der Gräfin „unverantwortlich" behandelt
fühlte, „einsam in die Vereinsamung zurück, brechend mit einer
sechzehnjährigen Vergangenheit, mit einem Wesen, dem ich meinen
ganzen inneren Menschen hingegeben, mit dem ich mich in der
absolutesten und innigsten Weise total identifiziert hatte."
15°
Aber hat denn zwischen Lassalle und der Gräfin etwas von
einem „Treueverhältnis" im engsten sexuellen Sinne bestanden
und befand sich Lassalle jemals in monogamer Abhängigkeit von
der Gräfin? Und was bedeuteten überhaupt andere Frauen für
ihn? Mustert man unter diesem Gesichtspunkt Lassalles Beziehun-
gen zu Frauen, von der ersten Zeit, da sich Dokumente hierüber
finden, bis zu seinem Tode, dann ergibt sich sofort ein mit der
psychoanalytischen Theorie in vollem Einklang stehender gesetz-
mäßiger und gleichförmiger Verlauf aller dieser Begebenheiten.
Nach psychoanalytischer Auffassung trifft übermäßige Mutter-
fixierung regelmäßig mit heterosexueller Objekt wähl nach dem
„Dirnen typ" zusammen: von der Mutter, als der berührten Frau
katexochen, führt ein direkter Weg zum Dirnentyp, der entweder
durch verheiratete Frauen oder geradwegs durch Prostituierte
repräsentiert wird. Allen jungfräulichen Typen gegenüber besteht
Impotenz oder eingeschränkte Potenz. Lassalle bestätigt diese Er-
fahrung in vollem Umfang und ist sich über seine „Virginitäts-
scheu" auch selbst im klaren, versucht sie aber natürlich zu
rationalisieren. In seinem, umfangreichen, bereits oben erwähnten
Brautwerbungsbrief an Sofie Sontzeff schreibt er:
„Ich kenne kein Weib, -welches, auch nur einen Augenblick überzeugt, daß
der Gedanke an eine Verbindung mir erträglich sein könnte, nicht eiligst mich
zu fesseln bemuht sein würde. Ich sagte Ihnen, daß ich deshalb [sie!] junge
Madchen immer vermieden habe. Zweimal nur sprach ich von Liebe mit
jungen Madchen, die mich leidenschaftlich liebten, und die in mir den Wunsch
erweckt hatten, sie zu besitzen - und in beiden Fällen fing ich mit dem Geständ-
nis an, daß ich sie nie heiraten würde! Außer diesen zwei Ausnahmen hielt ich
mich nur an verheiratete Frauen, deren verzogenes Kind ich war
wie Sie es einmal nannten, und von denen mich einige wirklich liebten."
Von diesen Begegnungen mit verheirateten Frauen verdienen
zwei, die mit Agnes Denis-Street und Lina Duncker durch
die Typik ihres Verlaufes besondere Aufmerksamkeit. Beide Part-
nerinnen, die eine zur Düsseldorfer, die andere zur Berliner Zeit
Lassalles auftretend, sind ungewöhnliche, den Durchschnitt der
damaligen Bürgerinnen überragende Frauen; bei beiden ist ein
„geschädigter Dritter", ein Gatte da; bei Agnes Denis-Street
zwar hinter den Kulissen, bei Lina Duncker aber sehr im Vorder-
grunde stehend und mit Lassalle befreundet. Beide Beziehungen
sind intensiv und tiefgehend; der mit Agnes Denis-Street entstammt
ein Kind. Beide werden wesentlich durch die Gräfin, in deren
Schatten auf die Dauer keine andere Frau zu existieren vermochte,
gedrückt und zerrissen. Der mit ihrem Vater ein wenig abenteu-
1*1
emden Agnes werden von der Gräfin egoistische Motive unter-
geben Lina Duncker gegenüber, die denn doch zu sehr Ge-
sellschaftsdame war verhält sie sich so ablehnend und mißtrauisch
daß Lassalle sich schließlich selbst, nach vergeblichen Auseinander-'
Ä ££ T er Gr f\ vor die WaU zwiscW den beid » »-S
steUt und mit Lina bricht, einen sachlichen Konflikt mit ihrem
m nd"'^^ d r ^ »^r"^" war, zum Vorwand „eh
r»Ü t ™d manchen anderen (verheirateten) Prauen
Dafc istnlh !' "r^ 08 * 11 ""' 6 * I"«H.. Lab« eine Rolle.
Dafar ist neben der Andeutung in Helene v. Doenniges' Erinnerun-
und d eme f TT KrMkheit ". *» "« - schon 1*847 laborime
Daß Lassafl" ^ *"" ™ m V0U ~ AUsWhe ka ™ ™ "S2
°™ude„ haber g r s f a r- diesem g™*»«"« »^ ^o^
vermieden habe« darf keineswegs gefolgert werden. Mayer be-
merkt sehr richtig, daß die Krankheit im tertiären Stadium nicht
Td S V-r teCkend / alt ' die M ^«*^* ™» paralytischen Folgen
und Schädigungen der Nachkommenschaft „och unbekannt war
"£k He .'". ts P r °> ek ' e »«* einer Kur, wie sie Lassalle in Aachen
1860 mitmachte als durchaus zulässig galten. Anders wäre ja seine
Werbung um Sofie Sontzeff, die er während dieser Kur ke^en
lernte, auch ganz unerklärlich. Kennen
Lassalle ist also ein reiner Vertreter im»« I ;„1 .
Freud in seiner Abhandiung über die SSSSSSÄ
des Liebeslebens" geschildert hat. Aber _ un d darin 1' g
mit gelinder Übertreibung als Lassalles SchicksaWii^l T*
zeichnet werden könnte - er liegt im Kampfe mit sich selbst
er strebt nach endgültiger Ablösung von der Mutter, er wirbt um
die virgo die ihn von der übermäßig lang und übermäßig heftig
festgehaltenen Mutter-Imago befreien soll, er will den Infantilis-
mus, der im Verharren in der nahezu reinen Ödipus-Situation
hegt, überwinden — und scheitert. Und dieses Scheitern ist zu-
gleich die einzige Todesursache Lassalles, die ins Gewicht fällt
aus diesem Versagen allein folgt mit innerer Notwendigkeit sein
jähes und gewaltsames Ende.
Von seiner Studentenzeit bis zu seinem Tode zieht sich eine
Kette ernster Bemühungen um junge Mädchen, bis auf eine Aus-
nahme mit der ausdrücklichen Absicht, sie zu heiraten. Jedesmal
wird er abgewiesen. Das letzte Mal, als das Mädchen, um das
er wirbt, mit der Familie, die sich der Verbindung widersetzt
brechen und mit ihm fliehen will, versagt er und geht an den
Folgen dieser „größten Dummheit" seines Lebens zugrunde.
152
' —
Die Reihe beginnt mit seinem Berliner Studienaufenthalt:
Einige leidenschaftliche (aber dennoch vorher sorgfältig konzi-
pierte!) Liebesepisteln unterrichten über die vergeblichen An-
strengungen, seine damalige Freundin, die nota bene vordem in
engen Beziehungen zu seinem Freund und Werkzeug Arnold
Mendelsohn gestanden hatte (abermals Liebesbedingung des ge-
schädigten Dritten!), zur vollen Hingabe zu veranlassen. Die
zweite, weit ernstere Abweisung holt er sich bei der scheuen
und fremdartigen Russin Sofie Sontzeff, die er in Aachen in
Begleitung ihres Vaters kennen lernte und an die kurz darauf
der bereits mehrfach erwähnte „Manuskriptbrief" gerichtet wird.
Sofies Antwort ist das Angebot „schwesterlicher Freundschaft".
Die dritte Ablehnung erfährt er 1863/64 bei der siebzehnjährigen
Bankierstochter Minna Lilienthal. Die letzte dieser Begegnungen
ist die mit Helene v. Doenniges im Sommer 1864.
Lassalles Beziehungen zu Helene v. Doenniges weisen alle
Kennzeichen des „Romanhaften" auf und sind auch ZU eiller
ganzen Zahl von Romanen verwertet worden. Zur Klarlegung des
wirklichen psychologischen Tatbestandes haben die Bearbeiter
obwohl Romanciers vom Range George Meredith' darunter waren'
nichts beigetragen, sie haben im Gegenteil nur die widerspruchs-
vollen Urteile der Biographen über Lassalles Ende noch mehr
verwirrt. Und doch wird der scheinbare Widerspruch im Leben
Lassalles, das Versagen des Mannes, der nicht müde wurde, zu ver-
sichern: „ich hasse jede Niederlage wie den Tod", auf der Höhe
seines Lebens verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß
ähnliche Situationen ihm auch schon in früheren Jahren eine
Reihe von „Niederlagen« bereitet hatten. Was den Fall der Helene
v. Doenniges kompliziert, ist die Tatsache, daß Lassalle von dieser
virgo (die nach heutigen Begriffen allerdings durchaus als „demi-
vierge« zu bezeichnen wäre) nicht von vornherein abgewiesen wird,
daß sie sich ihm anfangs an den Hals wirft, mit ihm fliehen will.'
Aber wenn in dieser Situation in dem revolutionären Juden, der
in der „Gesellschaft" wegen der Kassettenangelegenheit als halber
Dieb gilt und durch den Hatzfeldt-Prozeß aufs schwerste kom-
promittiert ist, der sich daher ohne jede Denkanstrengung sagen
müßte, daß die erzreaktionäre, katholische Aristokratenfamilie
ihm die Tochter, die noch dazu aus eigener Wahl mit einem
rumänischen Bojaren verlobt ist, niemals freiwillig zur Frau geben
wird; wenn also anläßlich der Entscheidung, die Lassalle in diesem
Augenblick zu treffen hat, der Philister in ihm erwacht, wenn
l $5
er Helene, die das Schlimmste voraussagt und sein Verhalten un-
begreifhch findet, trotz heftigen Sträubens zu ihren Eltern zurück-
d^vZn T ^l 611 '' Sie » in Ehren " und mit Zustimmung
der Familie heimzuführen _ dann hat Lassalle eben die Funk!
° n des Abg«wiesenwerden8 selbst übernommen, er hat aus
semer unlöslichen Mutterfixierung heraus neurotisch versagt. Folge-
richtig ist dann auch der Ausgang : zunächst die Abwehr der Neurose,
der brennende Wunsch, die „Dummheit« ungeschehen zu machen,
sich vor sich selbst zu rehabilitieren. Die unglaublichsten und ge-
ZwTT Z AnStre « en wer *en gemacht: durch die Gräfin
r^ilo er w amZer / r ? iSCh ° f ' KeUeler ' ™bilisiert, durch Hans
rium (Z vT" ^T b - ynSChe KÖn ^ tmd daS **■«■*■ Ministe "
Sft Vate / H , 6 r lenenS war lyrischer Hofmann). Alles ver-
E*Ä T . e - ^^etzung: Helenens Bindung an Lassalle,
war inzwischen hinfällig geworden. Wunderbar hatte die Gräfin
noch zu Anfang der Verwicklungen und aus der Entfernung das
YZ™ \ ! et ;° ff r' ah SiC SChHeb: " Stehen Sie für Helene,
dann stehe ich für den Erfolg.«
lener^^r * eScheiteTt > nun ^hr unter Mitwirkung He-
lenens gescheitert ist, ergibt sich ebenso folgerichtig das Ende:
Hache oder Untergang. Lassalle fordert den Vater vor die Pistole
Es versteht sich nach der Lage der Dinge und mußte auch von
ihm erwartet werden, daß der Bräutigam einspringt. Der ge-
schädigte Dritte" meldet sich: zum ersten Male. Darf man sich
wirklich darüber wundern oder als „Zufall" deuten, daß im Duell
zwischen dem geübten Pistolenschützen Lassalle und Janko v. Raco-
witz, der nach Helenens Aussage am Tage vorher zum ersten
Male eine Pistole in die Hand bekam, Lassalle fällt? Hier ver-
wischen sich die Grenzen zwischen dem strengen psychischen
Determinismus, der in der Theorie der Fehlhandlungen eine er-
schöpfende Erklärung solcher Vorgänge gegeben hat, und den
äußeren Ereignissen, deren Einwirkungsgrad auf dem Wege histori-
scher Betrachtung nicht mehr gemessen werden kann. Aber gleich-
viel, ob Lassalles Duell als Zweikampf oder als unbewußter Selbst-
mord gewertet wird, fest steht, daß die Vorgeschichte des Duells eine
einzige große neurotische Versagung darstellt. Und damit ist bewiesen,
daß es die Unlösbarkeit der Ödipus-Formel, der psycho-
sexuelle Infantilismus war, der Lassalles Anpassung an
das reale Leben verhinderte, der ihn in den Tod trieb.
154
Sokrates und die Handwerksmeister
von
Prof. Dr. Heinrich Gomperz (Wien)
In seiner Schrift „Psychologische Beobachtungen an griechischen
Philosophen" (Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1924)
versucht Prof. Gomperz Fragen, die sich auf den eigentümlichen
philosophischen Lehrgehalt des Parmenides und des Sokrates beziehen,
im Wege der psychologischen Ausdeutung gewisser Beobachtungen über
die geistig-leibliche Veranlagung und Entwicklung der beiden Philo-
sophen zu beantworten. In der Studie über Parmenides wird besonders
die Theorie seines Lehrgedichtes über die Geschlechtsbestimmung ana-
lysiert. Die Liebe für das „weibliche Weib", die Schilderung kleiner
Hände und Füße, zarten Teints, niedergeschlagene Augen usw. als Kenn-
zeichen des wahren, also des begehrenswerten Weibes, die Darstellung
des weiblichen Geschlechtes als des geistig begabteren, und auf der
anderen Seite die Ablehnung dieser von der Geschlechtsliebe beherrschten
Welt als einer bloßen Ausgeburt menschlichen Wahns, fordern tatsäch-
lich zur näheren psychologischen Betrachtung des Philosophen heraus.
In der Studie über Sokrates wird zunächst seine Anlage, unbewußt Ge-
dachtes wie Fremdes von außen zu vernehmen, untersucht, dann die
Eigenarten seines Liebeslebens, die Beziehung zur Gattin, zu den
öffentlichen Dirnen und insbesondere zu mädchenhaften Knaben
(damit zusammenhängend auch zum Lehramte) und dann im be-
sonderen die für die Entwicklung des leidenschaftlichen Erkenntnis-
durstes, des Idealismus und des Unabhängigkeitsdranges bei Sokrates
entscheidende psychisclie Einstellung zu den athenischen Handwerks-
meistern, welche Einstellung - wie Gomperz darlegt - schließlich
zum Untergang Sokrates' führte. Wir geben hier aus dem Buche von
Gomperz die Stellen wieder, die die Analyse der Beziehung zu den
Handwerksmeistern enthalten.
Im Gedankenkreise des Sokrates nimmt der Begriff des Hand-
werksmeisters eine eigentümlich beherrschende Stellung ein: die
Erkenntnis des Handwerksmeisters gilt ihm als die vorbildliche
Erkenntnis; wie dieser die Fragen seines Fachs, so sollte jeder
Tüchtige die Fragen des Lebens, der wahre Herrscher die der
Staatskunst überblicken; ja selbst das Verhältnis Gottes zur Welt
weiß sich Sokrates nur an dem des Handwerksmeisters zu seinem
Erzeugnis zu erläutern. Nun war aber Sokrates der Sohn eines
Steinmetzen, war also selbst im Haus eines Handwerksmeisters
aufgewachsen: daraus dürfen wir schließen, daß sich in seinem
Erkenntnisbegriff seine Jugendeindrücke niedergeschlagen haben,
daß ihm das Fachwissen des Handwerksmeisters darum als das
Musterbild alles Wissens überhaupt galt, weil für die Menschen,
die ihn in seiner Jugend umgaben, tüchtige Handwerksmeister die
'55
maßgebenden Autoritäten waren und weil deshalb auch er selbst
als Kind zu solchen Handwerksmeistern voll Achtung und Ehr-
erbietung aufgeblickt hatte.
Allein Sokrates' Urteil über die Handwerksmeister erschöpft
sich nicht in jener Anerkennung ihres Fachwissens. Es schließt
auch die ebenso entschiedene Feststellung ein, daß die Handwerks-
meister, wie sie in Athen wirklich zu finden sind, zulängliches
Wissen nur in ihrem Fache besitzen, dagegen auf die wichtigsten
Fragen der Lebensführung, der Staatsleitung und natürlich erst
recht der Welteinrichtung die Antwort ebenso schuldig bleiben
wie die übrigen Bürger und Fremden.» Das Fachwissen des Hand-
werksmeisters ist demnach zwar für Sokrates seiner Art nach die
vorbildliche Erkenntnis, allein ihrem vollen Umfang nach be-
sitzen diese vorbildliche Erkenntnis seiner Meinung nach nicht
etwa irgendwelche wirkliche Handwerksmeister, vielmehr stellt
er diesen einen als vollkommen gedachten, kürzer: einen idealen
Handwerksmeister entgegen, und erst dieser gilt ihm als der einzig
wahrhaft Tüchtige, der einzig wahre Herrscher, ja in gewissem
Sinne sogar als die einzig wahre Gottheit. An die Annahme, Sokrates
habe als Kind zu den athenischen Handwerksmeistern ehrfürchtig
aufgeblickt, ist daher die weitere zu fügen, er habe sich gegen den
Druck ihrer Autorität irgendeinmal aufgebäumt, ja sich von deren
Anerkennung endlich völlig befreit. Sokrates verhielt sich demnach
gegen die Handwerksmeister so, wie wir alle uns oft gegen Typen
verhalten, zu denen wir einmal aufgeblickt haben, die aber dann
die Erwartungen, die wir auf sie gesetzt hatten, enttäuschten: wir
„spalten" nämlich diese Typen, setzen etwa den „wahren Richter"
den „wahren Gelehrten" den unzulänglich befundenen „wirklichen"
Richtern und Gelehrten entgegen; jener erweist sich nun als ein
durchaus geeigneter Gegenstand fortdauernder, von keinem Ein-
wand mehr angefochtener Verehrung, diese dagegen werden jetzt
durch unsere Wertschätzung des Typus gegen die Geringachtung,
die uns dessen wirkliche Vertreter eingeflößt haben, nicht mehr
geschützt. Und daß auch Sokrates von den wirklichen Handwerks-
meistern, sofern er sie als Vorbilder zulänglicher Erkenntnis be-
trachtet hatte, irgendeinmal schwer enttäuscht worden ist, darf
aus der Art, wie er ihnen einen „idealen Handwerksmeister" ent-
gegenstellte, mit Zuversicht geschlossen werden. Ja, da wir aus
seiner Lebensgeschichte wissen, daß Sokrates etwa im achtzehnten
1) PL Apol. 22 d.
156
Lebensjahr mit dem Naturphilosophen Archelaos umzugehen begann,
dessen Fragestellungen über den Wissenskreis der athenischen Hand-
werksmeister, mögen wir ihn noch so groß annehmen, ohne Zweifel
weit hinausführen mußten, so dürfen wir sogar hinzusetzen daß
jene Enttäuschung kaum später als eben damals eingetreten sein
kann.
Wir können einer Autorität entweder still und unvermerkt ent-
wachsen oder aber sie kann sich unseren Ansprüchen gegenüber
ein Mal über das andere als unzulänglich erweisen und so vor
unseren Augen Stück für Stück zerbröckeln. Eine Vermutung
darüber zu wagen, ob Sokrates in früher Jugend mit der Autorität
der Handwerksmeister diese oder jene Erfahrung gemacht habe,
scheint zunächst höchst vermessen : nur ein ganz besonders glück-
licher Umstand erlaubt es uns, diese Frage nicht bloß aufzuwerfen,
nein, sie sogar mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit
zu beantworten. Treffen wir nämlich bei einem Erwachsenen ein
sonst für Kinder bezeichnendes Verhalten an, so dürfen wir doch
mit großer Zuversicht annehmen, er werde dies Verhalten auch
schon als Kind beobachtet und es eben seit damals beibehalten
haben. Sokrates nun hat sein Leben damit zugebracht, mit immer
gleichem, nie ermattendem Eifer all denen, mit denen er umging,
Fragen vorzulegen: wer diese Fragen nicht — oder doch nicht
ohne sich in Widersprüche zu verwickeln — beantworten konnte,
der galt ihm als „widerlegt", seiner Unwissenheit überführt, seines'
Anspruchs auf Autorität beraubt. Die Erwachsenen mit Fragen zu
bestürmen, ist aber ausgesprochene Kinderart. Ich folgere, es werde
um so mehr auch die Art des Sokrates, als er noch ein Kind war
gewesen sein. Und da nun diesem auch noch in seinen reifen
Jahren eme Autorität dann als entwertet galt, wenn der, dem sie
beigelegt worden war, seine Fragen nicht zu seiner Zufriedenheit
zu beantworten wußte, so glaube ich weiter folgern zu dürfen,
auch schon dem jugendlichen Sokrates werde die Autorität der
Handwerksmeister auf dieselbe Art entwertet worden sein. Mit
anderen Worten, solange sich seine Fragen auf das Handwerk des
einzelnen Meisters, seine Gegenstände und. Verrichtungen bezogen,
werden dessen Antworten den jugendlichen Frager höchlich be-
friedigt haben: eben daher wird denn auch die hohe Achtung
rühren, die Sokrates sein Leben lang für das Fachwissen der
Handwerksmeister erfüllt hat. Allein dies mußte sich von Grund
aus ändern, sowie sich der Kreis der von Sokrates gestellten Fragen
erweiterte. Piaton läßt diesen einmal selbst davon reden, Fragen
157
welcher Art ihn in seiner Jugend beschäftigten: 1 Wie entstehen
die Tiere?« Mit welchem Bestandteil des Leibes denken wir? Ist
die Erde flach oder rund? Und, wenn flach oder rund, wozu ist
sie flach oder rund?. . . Solche Fragen konnten die Handwerks-
meister, die Sokrates in seiner Jugend umgaben — der Steinmetz
Sophroniskos, seine Verwandten und Freunde — unmöglich be-
antworten; noch weniger freilich die Fragen, die Sokrates später
mit Vorliebe aufwarf, vielleicht aber doch auch schon früh gestellt
hat: Was ist das gemeinsame Wesen alles Guten, Anständigen,
Gerechten . . .? Und eben ihr Unvermögen, diese Fragen zu lösen,
wird ihre Autorität in den Augen des jugendlichen Sokrates ent-
wertet und diesen veranlaßt haben, ihnen als den wirklichen,
jedoch unzulänglichen Handwerksmeistern einen als vollkommen
gedachten, idealen Handwerksmeister entgegenzusetzen.
Wirklich hat sich ja Sokrates mit siebzehn Jahren dem Natur-
philosophen Archelaos angeschlossen und ohne Zweifel zunächst
in diesem zulängliches Wissen verkörpert zu finden, den wahren
„Meister" zu sehen geglaubt. Vermochte ihn doch Archelaos nicht
nur über die Entstehung der Tiere, das Denkorgan, die Gestalt
der Erde und noch vieles andere dergleichen, vielmehr auch über
den Ursprung von Recht und Staat zu belehren. Beider Verhältnis
war denn auch ein langdauerndes und inniges.» Endlich aber scheint
Sokrates doch auch den Archelaos „überfragt" zu haben, und zwar
vermutlich um so unverkennbarer, je entschiedener die Fragen
nach dem gemeinsamen Wesen alles Guten, Anständigen, Gerechten
sein Denken beherrschten: hätte Archelaos diese Fragen selbst zu
beantworten gewußt, so wäre ja er der Begründer der wissenschaft-
lichen Sittenlehre geworden! Auch er also konnte dem Sokrates
nicht dauernd die wahre Autorität, den wahren „Meister" be-
deuten. Und die Erfahrung, die Sokrates an den Handwerksmeistern
1) Phaedo 96 äff.
2) Gemeint ist die Frage der Urzeugung. Piatons Worte lauten in Apelts
Übertragung: ... . . ob, wenn das Warme und Kalte in Fäulnis gerät, wirklich
Lebewesen entstehen, wie Einige behaupten . . . ? u .
3) Auf Seiten des älteren Freundes wird ihm eine gewisse leidenschaftliche
Färbung wohl nicht gemangelt haben. Wirkte indes wirklich, wie wir ver-
muten, in Sokrates eine anerzogene Mißachtung körperlicher Knabenliebe
dauernd nach, so wird er solcher Leidenschaft wohl von Anfang an gewisse
Schranken gesetzt haben: manche Eigentümlichkeit seiner Lebensweise, die
weder als Mittel zur Übung im Entbehren noch als solches der Willensstählung
unbedingt gefordert scheint, wie etwa das seltene Baden und Haar schneiden,
sieht ganz so aus, als stammte sie aus einer Zeit, da es Sokrates willkommen
war, reiferen Männern nicht allzu anziehend zu erscheinen.
158
und nun auch an Archelaos gemacht hatte, sie wiederholt sich
ihm nun noch unzählige Male im Umgang mit all den Männern,
die auf irgendeinem Gebiet für hervorragend galten; denn auch er
selbst wiederholte ihnen allen gegenüber das Verfahren, das ihm
seit seiner Kindheit geläufig war: er legte ihnen Fragen vor und
beurteilte ihr Wissen, ihren Geltungsanspruch, ihre „Meisterschalt"
nach den Antworten, die sie auf diese Frage erteilten; da aber fand
sich's regelmäßig, daß sie zwar auf einem Sondergebiet zulängliches
Wissen besaßen, andere Fragen dagegen, besonders die dem Sokrates
vor allem am Herzen liegenden nach dem Wesen des Guten, An-
ständigen und Rechten nicht widerspruchslos und befriedigend zu
beantworten vermochten. Alle blieben sie vielmehr dem Sokrates die
erbetene Belehrung schuldig: wie hätte er ihnen da wahre Autorität
zubilligen, sie als wahre „Meister" anerkennen können? 1
Als der einzig wahre Meister galt ihm vielmehr jetzt Gott;
die das All zweckgemäß einrichtende und leitende Vernunft. Die
Vorstellung solch einer göttlichen Vernunft mag ihm Archelaos
vermittelt haben; daß sie in seinem Bewußtsein etwa die Stelle
einnahm, die dereinst die Autoritäten seiner Jugend, die Männer,
die in seinem Elternhause für weise galten, innegehabt hatten, daß
also der Mann Sokrates der Gottheit innerlich etwa so gegen-
überstand, wie einst der Knabe Sokrates den weisen Handwerks-
meistern gegenübergestanden hatte — dies dürfen wir mit ziem-
licher Sicherheit aus zwei Umständen schließen. Er selbst ver-
gleicht diese Gottheit einem „weisen und liebevollen Handwerks-
meister" und die kurzen Verbote, die er von Zeit zu Zeit hörte
und auf Gott zurückfühlte, scheinen durchwegs von der Art ge-
wesen zu sein, wie sie ältere Leute einem kleinen Buben zuzurufen
pflegen; nach Piatons Andeutungen mögen sie etwa gelautet haben:
„Bleib' stehen! Sitzen bleiben! Halt's Maul!"; auch das einzige
göttliche Gebot, das Sokrates, soviel wir wissen, (im Traum) ver-
nahm, ist von ganz derselben Art: „Sokrates, mach' Musik und
sei fleißig!" Wo Sokrates seinem Gott gegenübersteht, fühlt er
sich durchaus als Kind. 2
1) Daß Sokrates ein solches Gespräch belehrungsdurstig wie ein Kind be-
ginnt, um in seinem Verlauf immer unverkennbarer den Meister des Wider-
spruchs, der Widerlegung hervorzukehren, ward seinen Zeitgenossen einer der
wichtigsten Anlässe, mit einem gewissen, freilich nur teilweisen Recht von
„sokratischer Ironie" zu sprechen.
2) Hier darf auch daran erinnert werden, daß Sokrates beim Lesen und
Schreiben wie ein Kind gestammelt haben soll.
159
Die entscheidende Bedeutung seines Gottesglaubens für Sokrates'
Lebensgestaltung ist indes erst darin zu erblicken, daß dieser
Glaube es ihm gestattete, sein Verlangen nach Unterordnung unter
eine Autorität mit seinem Unabhängigkeitsdrang zu versöhnen.
Der Widerstreit dieser beiden Bedürfnisse kehrt ja wohl in irgend-
einem Grad bei jedem Menschen wieder. Ein großer Teil des
Reizes, den die Erinnerung an die Kinderzeit auf die meisten von
uns ausübt, beruht darauf, daß dies eine Zeit war, da noch andere
für uns dachten, sorgten und handelten, auf die wir uns verlassen,
in deren Hut wir uns geborgen fühlen durften. So oft es in
unserem späteren Leben scheint, dieses Verhältnis könnte sich,
wenn auch in abgeänderten Formen, wiederherstellen, es biete sich
uns ein Erzieher oder Lehrer, ein Vorgesetzter, ein Parteiführer
oder ein Herrscher, ein Genius, ein Prophet oder eine Gottheit dar,
denen wir nur zu folgen brauchten, auf die wir uns bedingungslos
verlassen dürften, begrüßen wir, sofern sich keine Gegenwirkung
fühlbar macht, diese Aussicht mit inniger Befriedigung. Und daß
auch Sokrates so empfand, geht daraus hervor, daß sich ja sein
ganzes Leben als ein Suchen nach dem „wahrhaft Wissenden",
dem „wahren Meister" begreifen und darstellen läßt. Allein wenn
die Erwachsenen dem Kind Sorge und Verantwortung für seine
Entscheidungen abnehmen, so treten sie dafür doch auch der Er-
füllung seiner Wünsche, der Befriedigung seiner Neigungen vielfach
hemmend in den Weg. Daher es denn natürlich, ja notwendig ist,
daß in dem Kinde die Sehnsucht nach ungehemmter Selbstbetätigung,
völliger Selbständigkeit, schrankenloser Unabhängigkeit erwacht.
Und daß dies Streben nach voller, bedingungsloser Unabhängigkeit
auch in Sokrates, und zwar in ungemeinem Maße lebendig war,
erhellt unzweideutig aus seiner unermüdlich wiederholten Forderung,
die Jugend zu freien Herrennaturen zu erziehen, gewöhnt, lieber
alle Entbehrungen auf sich zu nehmen als sich in irgendwelche
Unfreiheit, irgendwelche Abhängigkeit von Menschen oder Ver-
hältnissen zu fügen, eher auf jeden Genuß zu verzichten als auch
nur ein Teilchen der eigenen Unabhängigkeit, der eigenen Selbst-
bestimmungpreiszugeben —und erhellt vielleicht noch entschiedener
daraus, daß auch Sokrates selbst dieser Forderung nachgelebt, sie
in Leben und Sterben beispielgebend erfüllt hat. Diese beiden Ur-
neigungen des menschlichen Herzens geraten nun aber, sobald sie
über einen gewissen Stärkegrad hinaus anwachsen, notwendig in
Streit: wer zu voller Unabhängigkeit durchdringen will, muß
darauf verzichten, sich einer höheren Autorität anzuvertrauen und
160
I
■ •
i
sich im Vertrauen auf sie vor jeder Fährlichkeit behütet zu fühlen ;
wer hierauf nicht verzichten kann, muß irgendeine Autorität über
sich stellen, gegen die gehalten er dann selbst als ein unselbständiges
Wesen von beschränkter Wirkungsmöglichkeit erscheint. Sokrates
nun gehörte zu jenen Menschen, die diesen Streit so schlichten,
daß sie eine übernatürliche Autorität unbedingt anerkennen,
sich ihr völlig unterwerfen, eben hiedurch aber in den Stand ge-
setzt werden, allen natürlichen Widerständen Trotz zu bieten,
im Vertrauen auf den Schutz der Gottheit sich von allen irdischen
Mächten unabhängig zu fühlen. Dies haben in den verschiedensten
Zeiten viele mit sehr ungleichem Ergebnis versucht; Sokrates ist
es mit ganz besonderem Erfolge gelungen; er war fest davon
überzeugt, daß Gott über ihm wache, ihn weise und fürsorglich
leite, und diese Überzeugung hat ihm jene furchtlose Ruhe ver-
liehen, die ihn allen äußeren Gefahren gegenüber beseelte, hat ihm
das Gefühl völliger Unabhängigkeit vom Schicksal geschenkt.
Voraussetzung war dabei für Sokrates freilich auch eine eigen-
tümliche Geisteshaltung, die ihm mit vielen anderen Größen
der Geistes- und besonders der Religionsgeschichte gemein ist.
Schwerlich hätte die Gottheit für ihn diese lebensbestimmende,
diese Wirklichkeitsbedeutung gewinnen und behaupten können,
wäre sie für ihn Gegenstand bloßen Glaubens geblieben, ihm
nicht in voller Sinnfälligkeit entgegengetreten: er war überzeugt,
ihre Stimme selbst zu hören, die Äußerungen ihrer Fürsorge für
ihn und seine Freunde unmittelbar zu vernehmen. Das heißt
aber: er trug das Idealbild des „wahren Meisters", einer höchsten
Weisheit, unbewußt in sich und da es nun in sein Bewußtsein
eindrang, erschien es ihm als ein wirklich außer ihm Befind-
liches, an das er sich halten konnte mit der vollen Kraft des
wirklichen Lebens. Daß nun mit dieser vollsten Lebendigkeit nur
solche Erzeugnisse unseres Geistes auf uns wirken, die wir nicht
als Erzeugnisse unseres eigenen Geistes erkennen, die wir viel-
mehr außer uns setzen als ein von uns unabhängiges Wirkliches,
um nicht zu sagen Leibhaftiges, dies ist eine Grunderscheinung der
Religionsgeschichte; diese so eigentümlich-folgenreiche Geistes-
haltung aber einigermaßen aufzuklären, vor allem ihr Verhältnis
zu den Wahngebilden zu bestimmen, die ja der Geisteskranke
nicht minder „außer sich" setzt, dies wäre wohl eine der drin-
gendsten Forderungen an eine nervenärztliche Seelenkunde.
Fassen wir das in einer zweiten Gruppe von Beobachtungen
bisher Festgestellte zusammen, so hat sich ergeben: Sokrates hat
" 161
in früher Jugend zu tüchtigen Handwerksmeistern als höchsten
Autoritäten aufgeblickt, ist aber dann, da sie seine über ihr
Fachgebiet hinausgreifenden Fragen nicht zu seiner Zufriedenheit
beantworten konnten, an ihrer Autorität irre geworden und hat
ihnen das Ideal eines wahren, d. h. wahrhaft weisen Handwerks-
meisters entgegengesetzt; dieses aber fand er nicht unter Men-
schen verwirklicht, vielmehr einzig in der die Welt weise ein-
richtenden und leitenden Gottheit verkörpert, und indem er diese
als höchste Autorität anerkannte, fand er in ihr zugleich den
Stützpunkt, der ihn in den Stand setzte, allem Irdischen gegen-
über seinen mächtigen Unabhängigkeitsdrang zur Geltung zu
bringen. Und blicken wir mm von hier aus auf das zurück, was
wir in einer ersten Gruppe von Beobachtungen über Sokrates'
Stellung zu seinem gleichgeschlechtlichen Triebe festgestellt
hatten, so werden wir einer engen Wechselbeziehung des dort
und des nun hier Beobachteten gewahr. Sokrates selbst hatte ja
als den Hauptgrund, aus dem er für sich wie seine Jünger die
sinnliche Knabenliebe grundsätzlich ablehnte, die Unfreiheit
bezeichnet, in die durch sie der Liebhaber dem Geliebten gegen-
über gerate. Da sich der Trieb nach Unabhängigkeit von allem
Äußeren als einer der Grundtriebe des Sokrates erwiesen hat, so
bestätigt sich nun, was wir schon damals mutmaßen konnten:
daß jene von Sokrates selbst gegebene Begründung durchaus ernst
zu nehmen ist und, können wir sie auch nicht als ausreichenden
psychologischen Erklärungsgrund für Sokrates' Herrwerden über
die sinnliche Knabenliebe gelten lassen, doch zu diesem Ergebnis
ohne Zweifel wesentlich beigetragen haben wird. Anderseits aber
ist auch innere Unabhängigkeit vom Schicksal dort undenkbar,
wo ein Mensch von einem Drange beherrscht wird, über dessen
Befriedigung oder Nichtbefriedigung eben dies Schicksal ent-
scheidet. Folglich hätte Sokrates seinem Drang nach Unabhängig-
keit von allem Äußeren überhaupt nicht zum Durchbruch ver-
helfen können, hätte er nicht die sinnliche Knabenliebe in sich
unterdrückt, sie zu einem rein seelischen Erziehungseif er empor-
geläutert. Er selbst hat es ausgesprochen: Freiheit ist unmöglich
ohne Selbstbeherrschung. 1 Sokrates war also durchaus folgerecht,
wenn er in seiner Lehre die Forderung nach Selbstbeherrschung
mit der nach innerer Freiheit verknüpfte, und auch in seinem
eigenen Leben vermochte er dieser zweiten Forderung nur darum
i) Xen. Erinn. IV 5, 2 bis 5.
162
*
Genüge zu tun, weil er auch jene erste erfüllte. War es, wie wir
vermuteten, zuletzt wirklich die Abhängigkeit von der Empfin-
dungsweise seines Elternhauses, die ihm die Bezwingung des
heftigsten seiner körperlichen Triebe ermöglichte, dann hat ihm
diese Abhängigkeit eben damit zugleich auch zur Erringung
eines Höchstmaßes innerer Unabhängigkeit verholfen!
Ich habe bisher Sokrates' Drang nach Unabhängigkeit und
seine Auflehnung gegen die Autorität der Handwerksmeister,
überhaupt der nicht wahrhaft Sachverständigen als zwei vonein-
ander unabhängige Erscheinungen besprochen. Und das sind sie
ja auch wirklich, sofern wir nämlich voraussetzen dürfen, Sokrates
habe seine Fragen zu allen Zeiten seines Lebens aus bloßer Wiß-
begierde gestellt; daß ihm die Autorität der Befragten, wenn sie,
wie gewöhnlich, die gestellten Fragen nicht zufriedenstellend be-
antworten konnten, in Nichts zusammenbrach, ist dann ein voll-
kommen unbeabsichtigter Nebenerfolg gewesen. Daneben wäre
indes doch auch eine andere Auffassung denkbar. Es könnte sein,
daß Sokrates' Unabhängigkeitsdrang von früh auf der dauernden
Anerkennung jeder menschlichen Autorität widerstrebt, und daß
er mit seinen beständigen Fragen auch die Absicht verfolgt
hätte, die Befragten in Verlegenheit zu bringen, in seinen eigenen
Augen wie auch in denen etwaiger Zuhörer ihre Autorität zu
untergraben, zu entwerten. Jedenfalls wäre eine derartige Ab-
sicht auch schon bei einem Kind durchaus nichts Unerhörtes
oder auch nur Ungewöhnliches. So wie die Erwachsenen vielfach
der Erfüllung der Wünsche des Kindes im Wege stehen, so vor
allem auch seinem angeborenen Streben nach Ansehen und Gel-
tung, seinem Verlangen, sich vor allen andern hervorzutun, neben
ihnen als der Überlegene, der Erste zu erscheinen; denn dieses
Verlangen ist wohl jedem vernünftigen, zum Leben unter Ge-
nossen bestimmten Wesen von Natur aus eigen. Ist nun anzu-
nehmen, daß diese Neigung zur Auflehnung gegen die Autorität
als solche auch in Sokrates besonders entwickelt war, daß er den
wirklichen Handwerksmeistern den idealen Handwerksmeister
nicht nur darum entgegenstellte, weil sie seinen Wissensdrang
enttäuschten, vielmehr auch darum, weil sie seinem Selbständig-
keitsdrang im Wege waren, ja hat er vielleicht bald auch die
Fragen, die er ihnen vorlegte, so gewählt, daß jene Enttäuschung
nicht wohl ausbleiben konnte? Auf die frühe Jugend des Sokrates
bezogen, überschreitet diese Frage natürlich den Umkreis dessen,
was wir noch heute durch Beobachtungen an überlieferten Nach-
163
richten mit einer gewissen Zuversicht feststellen dürfen. Allein
an den uns erhaltenen Fragestellungen des Sokrates in den Jahren
seiner Reife ist das Streben nach geistiger Niederringung des
Mitunterredners, nach Vernichtung seines Geltungsanspruchs un-
verkennbar, die Fassung und Aneinanderreihung der Fragen dient
noch mehr der Widerlegung des Befragten als der Belehrung des
Fragenden, die Fragekunst des Sokrates ist hier vorwiegend
Widerlegungskunst, ja sie nähert sich oft genug der Streitkunst.
Und hiezu tritt nun noch die Scharfe, mit der Sokrates jede an-
gemaßte Geltung kekämpft, zur Nichtachtung aller Väter, Lehrer,
Herrscher, Gesetzgeber, die sich nicht über zulängliches Wissen
ausweisen können, aufreizt. All das nun schließt sich mir zu
einer so einheitlichen und geschlossenen Eigenart zusammen und
stimmt so gut zu dem doch offenbar tief im Wesen des Sokrates
wurzelnden Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang, daß ich die
Vermutung nicht abweisen kann, die vorhin aufgeworfene Frage
sei zu bejahen: wenn Sokrates weder den Handwerksmeistern
noch irgendwelchen andern hervorragenden Männern eine wahr-
haft zulängliche Erkenntnis zubilligte, so wird das wahrscheinlich
nicht nur darum geschehen sein, weil sie seine Wißbegierde
nicht endgültig zu befriedigen vermochten, vielmehr vor allem
auch darum, weil sein Freiheits- und Unabhängigkeitsdurst sich
bei der Anerkennung einer höchsten menschlichen Autorität nicht
dauernd beruhigen konnte!
Endlich drängt sich mir hier noch eine letzte Frage auf. Be-
müht, dem halbwegs Sichern oder doch überwiegend Wahrschein-
lichen vor dem bloß Möglichen und nicht Unwahrscheinlichen
den Vortritt zu lassen, habe ich von jenen Handwerksmeistern,
deren Autorität Sokrates in früher Jugend irgendeinmal feststand,
gegen die er sich aber dann, wie wir vermuteten, später aufge-
lehnt hat, bisher nur ganz allgemein und unbestimmt gesprochen.
Es hegt aber außerordentlich nahe, bei diesen ganz vorzugs-
weise an einen bestimmten Handwerksmeister, den Steinmetzen
Sophroniskos, Sokrates' Vater, zu denken. Dürfte doch Sokrates
die entscheidenden Erfahrungen von dem Betrieb eines Hand-
werks, dem Wissen des Meisters um die Regeln und Bedin-
gungen seiner Kunst, seiner Eignung zur Beantwortung der ihm
hierüber gestellten Fragen, seiner geringeren Eignung zur Be-
antwortung anderer Fragen vermutlich früher und Öfter in der
väterlichen Werkstatt als in der irgendeines Verwandten oder
Freundes seines Vaters gemacht haben. Auch berichtet uns ein
164
•
nicht unglaubwürdiger Zeuge, 1 Sokrates habe „unablässig das
Steinmetzhandwerk seines Vaters und den Hebammenberuf seiner
Mutter im Mund geführt", woraus sich immerhin schließen ließe,
gerade sein Vater sei ihm als typischer Vertreter des Handwerker-
berufes erschienen. Wir dürften uns dann vorstellen, Sokrates
habe als Kind nicht zu irgendwelchen beliebigen Handwerkern
aufgeblickt, später aber ihre Autorität bestritten, vielmehr er
habe zuerst unbedingt an seinen eigenen Vater geglaubt, dann
aber sich gegen ihn aufgelehnt, 2 und er habe diesem wirklichen
Vater das Idealbild nicht nur des „wahren Handwerksmeisters",
vielmehr auch des „wahren Vaters" entgegengesetzt, dieses aber
auf die Dauer in keinem anderen Menschen, vielmehr einzig in
r) Menedcm aus Pyrrha bei Porphyr, Gesch. d. Philos. Frg. 71 Nauck.
Auch wenn dieser bei seiner Bemerkung nur die Gewohnheiten des Sokrates
in den (uns zum größten Teil verlorenen) Gesprächen der ältesten Sokratiker
im Auge hatte, kommt seinem Zeugnis für uns doch ein gewisser Wert zu.
2) Nehmen wir an, auch schon die Fragen, die Sokrates seinem Vater
stellte, seien ihm (wenigstens teilweise und von einem gewissen Zeitpunkt an)
von einer Neigung, sich gegen diesen aufzulehnen, eingegeben worden, so
kann gefragt werden: woher mag ein solcher Wille zur Auflehnung gegen
den Vater zuletzt entsprungen sein? Der Psychoanalytiker denkt in einem
Falle dieser Art zuerst an eine Nebenbuhlerschaft um die Gunst der Mutter.
Daß diese die notwendige Bedingung solchen Auflehnungswillens sei, kann
ich nicht glauben. Denn es scheint mir: wenn es natürlich ist, daß der Sohn
zum Vater aufblickt, der so viel größer und mächtiger ist als er, ihm Befehle
erteilt, ihn belohnt und bestraft, so ist es nicht minder natürlich, daß er sich
gegen diesen selben Vater doch auch wieder aufbäumt, der seine Wünsche so
vielfach durchkreuzt, seinem Ehrgeiz, als der Erste und Wichtigste zu gelten,
jeden Augenblick im "Weg steht. Oft mag es sich dann auch ganz besonders
um ein Gelten in den Augen der Mutter handeln. Und dafür, daß es sich so
auch bei Sokrates verhalten habe, läßt sich wirklich einiges wenige, jedoch
gewiß nichts Entscheidendes anführen. Sokrates bezeichnet bei Piaton seine
Mutter als „sehr tüchtige und ansehnliche" Geburtshelferin (n&Xa vewalag xe
xal ßXoa-UQäc,, Theaet. 149 a) — mit einem Ausdruck, den er anderswo auf
Krieger anwendet (Staat VII, 535b): es wäre denkbar, daß darin ein Hinweis
auf ihre etwas männliche Veranlagung läge, die wieder auf seine Vorliebe
für männlich veranlagte und erzogene Frauen von Einfluß gewesen .«ein
könnte. Er setzt sich ebendort mit Phainarete insofern eins, als er seine Ge-
wohnheit, durch Fragen die Gedanken junger Leute ans Licht zu bringen,
mit ihrer geburtshilflichen und seine Neigung, sie mit geeigneten Lehrern in
Verbindung zu setzen, mit ihrer ehestiftenden Tätigkeit vergleicht. Er gibt
endlich, wie wir hörten, für das Verbot der Blutschande zwischen Eltern und
Kindern eine Begründung, die allein auf die Beziehung von Mutter und Sohn,
dagegen gar nicht auf die von Vater und Tochter paßt — woraus man viel-
leicht immerhin schließen dürfte, der Gedanke an einen Inzest der ersteren
Art habe seinem Vorstellungskreis näher gelegen als der an einen solchen der
zweiten.
165
•
Gott verwirklicht gefunden. 1 Und so dürften wir weiterhin in
dem Streit zwischen dem Auf blick zum Vater und der Aufleh-
nung gegen ihn gleichsam den Urkeim zu all den seelischen
Kämpfen in Sokrates' Innerem erkennen, durch die er ein großer
Mensch und überdies ein großer Ethiker geworden ist: von hier
aus wäre sein lebenslanges Fahnden nach dem wahrhaft Wissen-
den wie seine schroffe Nichtachtung aller bloß überlieferten und
angemaßten Autorität zu verstehen (er hätte eben nie aufgehört, den
wahren Vater zu suchen, aber auch nie, sich gegen jede wirkliche
Verkörperung dieses Idealbildes aufzulehnen), sein unbedingtes Ver-
trauen auf die Stimme Gottes neben seinem schrankenlosen Freiheits-
drang, endlich die §elbstbezwingung, die ihn zum Herrn über die,
wie wir annehmen dürfen, vom Vater verpönte sinnliche Knaben-
liebe gemacht hat! Und für diese Auffassung läßt sich anführen,
daß ja solch eine gegensätzliche Einstellung zu den"„Vätern" sich
auch in seiner Lehre wirklich findet. Stellt es doch diese einer-
seits als ungeschriebenes, göttliches Gesetz hin, die Eltern zu ehren,
verpflichtet aber anderseits die jungen Leute zum Gehorsam gegen
ihre Väter nur dann, wenn diese auch durch richtige Einsicht zum
Befehlen befähigt sind, da andernfalls der Gehorsam nicht ihnen,
vielmehr ausschließlich dem Einsichtigen, dem „wahren" Erzieher
und Vater gebühre! . . . Alles das bietet nun aber dem Historiker
doch keinen vollen Ersatz dafür, daß uns über Sokrates' Ver-
hältnis zu seinem Vater keine einzige glaubwürdige Nachricht
unterrichtet, und so wird er den eben umrissenen Sachverhalt
doch wohl mehr nur als eine anziehende Möglichkeit, denn als
gesichertes Forschungsergebnis hinzustellen wagen.
Übrigens bleibt mit der Frage des persönlichen Verhältnisses
des Sokrates zu seinem Vater Sophroniskos doch nicht das zum
Verständnis seiner Lehre und Wirksamkeit eigentlich Wichtige
in der Schwebe. Denn unzweifelhaft ist, daß in Sokrates ein Ver-
langen nach Unterordnung unter eine Autorität mit dem Drang
zu völliger Unabhängigkeit zusammenbestand; daß er jene Unter-
ordnung dem als vollkommen gedachten „wahren Meister" gegen-
über zu vollziehen bereit war und sie dem göttlichen „Meister"
gegenüber wirklich vollzogen hat, diese Unabhängigkeit dagegen
allen nicht auf Einsicht beruhenden, bloß überlieferten, ange-
l) Die Vorstellung eines göttlichen Vaters hätte auch im Altertum durch-
aus nichts Erstaunliches; heißt doch Zeus schon bei Homer der „Vater der
Götter und Menschen".
166
maßten Autoritäten gegenüber schroff zur Geltung brachte, die
Jugend zu ihrer aller Nichtachtung aufrief. Unzweifelhaft ist aber
auch, daß zu diesen von Sokrates nur unter der Bedingung ihrer
Einsichtigkeit anerkannten Autoritäten wie die des Herrschers
und Gesetzgebers, so auch die des Vaters und Erziehers zählte,
und daß er die Jünglinge dazu ermunterte, in Fragen der Er-
ziehung statt ihren uneinsichtigen Vätern lieber ihm selbst als
dem „wahren" Erzieher zu gehorchen, 1 und seine Jünger bezeug-
ten's uns mit ihren eigenen Worten, daß sie den Sokrates geradezu
als ihren „Vater" empfanden! Unzweifelhaft ist aber endlich auch
dies, daß Sokrates' rücksichtslose Nichtachtung aller bloß über-
lieferten Autorität in Familie, Staat und Religion, insbesondere
aber der väterlichen, sich endlich gegen ihn gekehrt, ihm den
Untergang bereitet hat. Die athenischen Jünglinge, die sich dem
Sokrates wie seine Söhne anschlössen, wurden hiedurch zugleich
ihrem angestammten Vaterhaus entfremdet, und ihre Väter emp-
fanden's ganz mit Recht, daß der Angriff, der da gegen sie geschah,
ebensowohl jede andere Art überlieferten Geltungsanspruchs traf.
Der Rache dieser Väter aber, von denen sich so ihre Söhne ab-
wandten, ist Sokrates zum Opfer gefallen: 2 sie waren keineswegs
1) Vgl. H. v. Arnim, Xenophons Memorabilien und Apologie des Sokrates
(Kgl. dän. Ges. d. Wiss., Historisch-philolog. Mitteilungen VIII, i, 1923), S. 92.
2) Piaton beruft sich zur Verteidigung des Sokrates darauf, daß die Väter
und Brüder seiner hauptsächlichen Jünger vor Gericht nicht gegen ihn Zeugnis
abgelegt hätten (Apol. 33 d bis 34b); doch zeugten sie selbst nach seiner Dar-
stellung auch nicht für ihnf: er will damit den Eindruck erwecken, als hätten
die Verwandten der Sokrates-Jünger dessen Einfluß auf diese allesamt oder
doch in ihrer Mehrheit als einen günstigen beurteilt Daß auch eine solche
Beurteilung stattfand, sei nicht bezweifelt; wäre sie die Regel gewesen, so war'
es ein Wunder zu nennen, wenn anders Xenophon — und daran ist nicht zu
zweifeln — Sokrates» Äußerungen über das Verhältnis von Vätern und Söhnen
richtig wiedergibt (Erinn. I 2, 49 bis 55; Apol. 20 bis 21; vgl. oben Anm. i).
Übrigens kennen wir einen Fall, in dem sich ein Vater über des Sokrates
Verhalten höchlich entrüstete, und gerade dieser Fall soll seinen Untergang
mitverursacht haben. Xenophon nämlich erzählt (Apol. 29 bis 31 und auch
Piaton scheint Meno 95 a auf dieselben Vorgänge anzuspielen), Anytos sei gegen
Sokrates besonders dadurch aufgebracht worden, daß dieser sich in die Erzie-
hung zu mischen suchte, die Anytos seinem Sohne angedeihen ließ: Sokrates
habe den jungen Mann der väterlichen Gerberei abwendig machen und ihn
für Fragen höherer Art einnehmen wollen, der Alte aber sei dem entgegen-
getreten und habe auch seinen Willen durchgesetzt; hievon sei ihm indes eine
lebhafte Gereiztheit gegen Sokrates zurückgeblieben, und von dieser beherrscht,
habe er später die Anklage gegen den Philosophen angezettelt. — Der Sohn
des Anytos war übrigens besonderer Bemühungen kaum würdig: nach Xeno-
phons Bericht hat er bald nach dem Tode des Sokrates als Säufer geendet.
167
im Unrecht, wenn sie ihm schuld gaben, er lehre die jungen
Athener die überlieferten Götter mißachten und eine neue Gott-
heit verehren, er reize sie gegen die bestehende Staatsordnung
auf, indem er an Stelle der erlosten und erwählten Beamten allein
den „Meister der Politik" als „wahren Herrscher" gelten lasse,
und er untergrabe die Autorität aller Eltern, indem er die Jüng-
linge dazu bewege, in Fragen der Erziehung zuletzt nicht diesen
zu gehorchen, vielmehr ihm selbst als dem „wahren", weil allein
sachkundigen „Meister der Erziehung"!
Ich versuche nun, das hier über die seelischen Kräfte, die
Sokrates bewegten, Ermittelte, ergänzt durch einige Vermutungen
über denselben Gegenstand, zusammenzustellen. Eigentümlich zu-
nächst war ihm danach eine leiblich-geistige Anlage, die ihn
erstens von ihm selbst unbewußt Gedachtes wie Fremdes von
außen vernehmen und zweitens seine Liebesfähigkeit noch mehr
als knabenhaften Frauen mädchenhaften Knaben zuwenden ließ
(ob diese beiden Anlagen im strengen Sinne angeboren oder selbst
schon erworben, und ob sie voneinander durchaus unabhängig
waren, kann dabei unbestimmt bleiben). In früher Jugend müssen
ihm dann die athenischen Handwerksmeister, die Berufsgenossen
seines Vaters, vielleicht vor allem dieser Vater selbst, als hohe
Vorbilder zulänglichen Wissens vor Augen gestanden haben. Allein
da er sie nun mit immer weiter ausgreifenden Fragen bestürmte
— vermutlich sehr bald schon nicht mehr aus bloßer Wißbegierde,
vielmehr weil sich sein Selbständigkeitsdrang schon damals gegen
die vorbehaltslose Anerkennung ihrer Überlegenheit aufgelehnt
hat, - mußten sie ihm immer häufiger die Antwort schuldig
bleiben. Damit aber hörten sie nun auf, ihm die höchsten Auto-
ritäten zu sein, und er erkannte als solche an Stelle der wirk-
lichen Handwerksmeister ideale Handwerksmeister an, die er mit
wahrhaft zulänglichem Wissen begabt dachte; vielleicht galt ihm
dann auch sein Vater seines unzulänglichen Wissens wegen bald
nicht mehr als „wahrer" Vater, indem für ihn der ideale Hand-
werksmeister auch die Stelle eines idealen Vaters einzunehmen
begann. Als ein solcher wahrer, weil mit zulänglichem Wissen
ausgestatteter Meister und vielleicht auch Vater mag ihm eine
Zeitlang Archelaos gegolten haben. Im ganzen aber läßt sich das
Leben des Sokrates als ein vergebliches Suchen räch diesem
wahren Meister verstehen: jedem Manne, der irgendwie hervor-
ragte, mit einem gewissen Geltungsanspruch auftrat, legte er seine
Fragen vor und sobald dieser sie nicht zufriedenstellend beant-
168
5
wortete, war damit in den Augen des Sokrates sein Geltungs-
anspruch vernichtet, bewiesen, daß auch dieser Mitunterredner
kein wahrer Meister sei. Wir glaubten mutmaßen zu dürfen, daß
solche Erlebnisse für Sokrates nicht bloß eine Enttäuschung be-
deuteten, daß es seinem Unabhängigkeitsdrang schwer gefallen
wäre, einen anderen Menschen als wahren Meister anzuerkennen
und daß er daher — zumindest in seinen reiferen Jahren — seint
Fragen von vornherein darauf anlegte, mit ihnen den Geltungs-
anspruch des Befragten zu vernichten. Im Gegensatz zu dieser
allgemeinen Unzulänglichkeit aller menschlichen Meister erschien
Sokrates als der eine wahre Meister der Verfertiger der Welt:
die göttliche Vernunft; diesen Wellmeister empfand er als höchste
Autorität, als seinen höchsten Schutzherrn, vielleicht geradezu als
seinen wahren Vater, auf ihn führte er auch die kurz verbietenden
Stimmen zurück, die er von Zeit zu Zeit zu vernehmen glaubte
und denen er sich bedingungslos unterwarf; in der Hut dieses
höchsten Schutzherrn geborgen, war er sich jener vollen Unab-
hängigkeit von allen Menschen, Gefahren, Schicksalswendungen
bewußt, nach der seine freiheitsdurstige Seele seit jeher gestrebt
hatte (und wir vermuteten, dieser Unabhängigkeitsdrang werde
schon zu seiner ersten Auflehnung gegen die Vorbilder seiner
Kindheit sein Teil beigetragen haben). Dieser Unabhängigkeit vom
Schicksal aber konnte er sich sicher fühlen, weil er über den
leidenschaftlichsten seiner Triebe Herr geworden war, das Schick-
sal ihm also nichts mehr, was ihm lebenswichtig gewesen wäre,
schenken oder lauben konnte. Dieser Trieb war das gleichge-
schlechtliche Verlangen nach dem Besitz schöner Knaben. Dieses
Verlangen empfand er unmittelbar als Antastung seines selbst-
herrlichen Dranges nach unbedingter Unabhängigkeit, wir ver-
muteten aber, es möge ihm zu seiner Überwindung auch die
innere Nachwirkung der in seinem Elternhause über Verhältnisse
solcher Art aller Wahrscheinlichkeit nach gefällten Mißbilligungs-
urteile verholfen haben. Gewiß ist jedenfalls, daß Sokrates jenen
Trieb durch planmäßige Schulung seines Willens zur Beherrschung
seiner Bedürfnisregungen überwand, genauer, daß er ihn auf diese
Art zu leidenschaftlicher Fürsorge um die seelische Tüchtigkeit
der geliebten Knaben verklärte. So erzog er sich selbst zu einem
Leben der Selbstbeherrschung, und wir mutmaßten, die inneren
Kämpfe, die er hiebei durchlebte, möchten den wichtigsten Anstoß
dazu gegeben haben, daß seine Gedanken zeitlebens vor allem
um die Frage nach dem Wesen des Guten, Richtigen, Sittlichen
169
kreisten. Als das richtigste, weil glücklichste Leben beurteilte er
jedenfalls das der Selbstbeherrschung, seine verklärte Knabenliebe
aber äußerte sich nun vor allem darin, daß er sich unablässig
mit Knaben umgab, gerade ihnen das Leben der Selbstbeherrschung
als das richtige, weil beglückende, anpries. Dadurch nahm er nun
seinen Jüngern gegenüber selbst die Stellung eines Meisters, ja
eines Vaters ein und eben hierauf vor allem (darauf nämlich,
daß die Jünglinge in ihm neben dem väterlichen Erzieher auch
den Liebhaber empfanden) beruhte die einzigartige Macht seiner
Einwirkung auf sie. Damit setzte er sich aber freilich in den
Augen der jungen Leute an die Stelle, die natürlicherweise deren
Vätern zukam, und diese suchten seiner Wirksamkeit ein Ende
zu machen. Da sie aber ganz richtig fühlten, daß des Sokrates
Nichtachtung der bloß tatsächlichen (nicht durch Wissen geadelten)
Vaterschaft aus einer Quelle floß, aus der auch seine gleich rück-
sichtslose Nichtanerkennung aller bloß tatsächlichen Gesetzgebung
und Gottesverehrung strömte (wir vermuteten, daß als diese Quelle
nicht allein Sokrates' fanatischer Erkenntnisdurst, vielmehr ebenso-
sehr auch sein ebenso mächtiger Unabhängigkeits drang zu be-
trachten sei), so bereiteten sie ihm den Untergang durch eine
Klage, die ihm „Nichtanerkennung der Staatsgötter und unheil-
vollen Einfluß auf die Jugend" schuld gab.
PSYCHOANALYTISCHES LESEBUCH
Psychopathologie des Alltagslebens
im 18. Jahrhundert
Jean Jacques Rousseau deutet sich eine
Fehlleistung:
„Wir machen wohl niemals eine mechanische Bewegung, deren Ursache
wir nicht in unserm Innern auffinden könnten, wenn wir sie nur dort
aufzufinden verstünden.
Gestern ging ich die neue Straße am Ufer der Bierre entlang, um
zu botanisieren. Als ich mich der Barriere d'Enfer näherte, bog ich plötz-
lich rechts in die Felder ab und ging auf die Höhenzüge zu, welche das
170
Flüßchen einrahmen. Dies ist nun an und für sich nichts besonderes;
aber als ich mich erinnerte, daß ich schon mehreremals ganz mechanisch
diesen Umweg gemacht hatte, da suchte ich die Ursache in mir selber
und mußte lachen, als ich sie entdeckt hatte.
Hinter der Barriere d'Enfer postierte sich täglich eine Frau, welche
Erfrischungen, Früchte und Brötchen verkaufte. Diese Frau hat einen
armen kleinen Jungen, der an Krücken geht und die Vorübergehenden um
ein Almosen bittet, ohne aufdringlich zu sein. Ich unterhielt mit dem
Kleinen eine Art Bekanntschaft. Er versäumte nie, mich zu begrüßen und
bekam jedesmal von mir eine Kleinigkeit. Anfangs machte es mir Vergnügen,
ihn zu sehen; ich beschenkte ihn gern und fuhr eine Zeitlang so fort,
indem ich ihn gewöhnlich noch veranlqßte, mir etwas zu erzählen. Ich
hörte seinem Geplauder gern zu. Nach und nach war dieses Vergnügen
Gewohnheit geworden und hatte sich in eine Art Pflicht verwandelt, die
mir bald lästig ßßt, namentlich wegen des Geschwätzes, das ich nun
jedesmal anzuhören genötigt war und in welchem er mich immer bei
meinem Namen nannte, um zu zeigen, daß er mich wohl kenne. Von da
an ging ich ungern da vorbei und machte schließlich ganz mechanisch
den Umweg.
Das also förderte ich zutage, als ich darüber nachdachte; denn nichts
von alledem war mir bis dahin bewußt gewesen."
(Aus den „Reveries du promeneur solitaire".)
Lawrence Sternes Tristram Shandy weiß von
Symptomhandlungen:
„. . . und es wundert mich keineswegs, daß Gregorius von Nazianzum,
als er an Julian die schnellen und unstäten Gebärden wahrnahm, voraus
sagte, daß er eines Tages abtrünnig werden würde; — oder daß St. Ambrosius
seinen Amanuensem, wegen einer unanständigen Bewegung mit dem Kopfe,
der ihm wie ein Dreschflegel hin und her ging, wegjagte. — Oder daß
Demokritos gleich merkte, daß Protagoras ein Gelehrter wäre, weil er ihn
ein Bündel Reisholz binden und die dünnsten Reiser in die Mitte legen
sah. — Es gibt tausend unbemerkte Öffnungen, fuhr mein Vater fort,
durch welche ein scharfes Auge auf einmal die Seele entdecken kann; und
ich behaupte, fügte er hinzu, daß ein vernünftiger Mann nicht seinen Hut
niederlegen kann, wenn er in ein Zimmer kommt, — oder aufnehmen,
wenn er hinaus geht, oder es entwischt ihm etwas, das ihn verrät."
1 7 1
Don Juan und Leporello
von
Otto Rank
Die nachfolgenden Ausführungen sind
der kleinen Monographie Ranks „Die Don-
Juan-Gestalt" (Internationaler Psycho-
analytischer Perlag, Wien 1924, geheftet
M. 2'So, Pappband 3-40) entnommen. Die
hier abgedruckten Abschnitte der Don-
Juan-Studie berühren im besonderen auch
das Doppelgängermotiv, das Otto Rank
auch in einer besonderen Arbeit analysiert
(„Der Doppelgänger", Internationaler Psy-
choanalytischer Verlag, Wien ip2f, ge-
heftet M. 4' — , Ganzleinen 5'6o).
Indem wir, unserer Einstellung folgend, die Aufmerksamkeit
von der überragenden Figur des Don Juan ablenken, fällt uns an
seinem nicht minder berühmten Diener Leporello ein Zug auf,
der auf einem kleinen Umweg doch wieder zum Helden zurück-
führt. Dieser Diener ist einerseits viel mehr Freund und Ver-
trauter in allen Liebeshändeln und anderseits doch wieder kein
freiwilliger Kumpan und Helfer, sondern eine feige, ängstliche,
nur auf ihren Vorteil bedachte Bedientenseele. In seiner ersten
Eigenschaft erlaubt er sich kritische Bemerkungen, die durchaus
unangemessen sind („Das Leben, das Sie führen, ist das eines
Taugenichts!"), fordert — und erhält vielleicht auch — einen
Anteil an der Beute seines Herrn in natura; in seiner zweiten
Eigenschaft sucht er furchtsam jeder Gefahr auszuweichen, ver-
weigert alle Augenblicke den Dienst, ist nur mit Geld und
Drohungen festzuhalten und, um das Bild des Bedienten ganz zu
vervollständigen: er nascht sogar beim Servieren von den guten
Bissen der Festtafel.
Man könnte sagen: wie der Diener, so der Herr und darauf
hinweisen, daß Don Juan selbst ihm diese Freiheiten einräumt,
weil er ihn braucht. So vor der berühmten „Register"-Arie: als
Donna Elvira den Helden zur Rede stellt, entzieht er sich dieser
peinlichen Situation und schiebt Leporello vor. Noch ehe sie
sich's recht versieht, ist der geschickte Abenteurer verschwunden
und an seiner Stelle liest ihr Leporello das Register der Ver-
172
lassenen mit dem richtigen Bedientenstolz vor, der aus der Iden-
tifizierung mit der Herrschaft stammt.
Hier wird ein Motiv angeschlagen, das sich im Verlaufe der
Handlung immer deutlicher entwickelt, das aber schon in den
ersten Worten Leporellos am Anfang der Oper dieser wie ein
Motto vorausgeht:
„Ich will selbst den Herren machen,
Will nicht länger Diener sein."
Die Tragik Leporellos macht es aus, daß er seinen Herrn
immer nur in den peinlichen und kritischen Situationen vertreten
darf. So ein zweitesmal beim Versuch der Verführung Zerlines,
der mißglückt, wobei Don Juan seinen Diener als den Schuldigen
zum Schein strafen will.
Ein nächstesmal scheint ihm allerdings ein erfreulicheres Aben-
teuer zu winken, indem Don Juan Mantel und Hut mit ihm tauscht,
um das Kammermädchen Donna Elviras zu gewinnen, während
Leporello die verlassene Herrin auf sich nehmen soll. Aber auch
dieses anfangs amüsante Abenteuer schlägt nur zu seinem Unheil
um. Denn inzwischen hat die ständig anwachsende Rächerbande
(Donna Anna, Octavio, Masetto, Zerline) die Verfolgung Don
Juans im Hause der Donna Elvira aufgenommen und fällt über
den vermeintlichen Missetäter her, der sich schließlich als
Leporello entpuppt und — seine Unschuld beteuernd — um
Gnade fleht.
Die Geschicklichkeit, mit der er sich aus dieser gefährlichen
Situation befreit, indem er plötzlich verschwindet, kann uns auf
die Spur bringen, daß er mehr als ein gelehriger Schüler seines
Herrn, daß er vielleicht mit ihm identisch ist. Bevor wir uns
klar machen, was dies bedeuten soll, wollen wir auf zwei dieser
Szene vorangehende, beziehungsweise nachfolgende Szenen hin-
weisen, welche die Identität von Herr und Diener deutlich nahe-
legen. In ihnen zeigt sich, daß nicht nur Leporello gelegentlich
die Stelle seines Herrn vertritt, wo diesem das persönliche Auf-
treten peinlich wäre, sondern daß eben auch Don Juan die Rolle
des Leporello spielt, wie beim Kammermädchen der Donna Elvira
und in einer folgenden bloß erzählten Episode, die zum zweiten
Teil des Don- Juan-Dramas, zum Gastmahl, hinüberleitet. Als sich
nämlich Herr und Diener nach dem glücklich überstandenen Ver-
kleidungsabenteuer auf dem Kirchhof wieder treffen, erzählt Don
Juan ein inzwischen erlebtes Abenteuer, welches er eben der
73
Verwechslung mit seinem Diener zu verdanken hatte. Leporello
vermutet sogleich, daß es nur mit seiner Frau gewesen sein könne
und hält dies seinem Herrn vor, der die Situation um so amüsanter
findet. Ja, er macht sogar noch eine Bemerkung, welche ein
dunkles Rachemotiv seines Handelns verrät und die Wechselseitig-
keit von Herr und Diener grell beleuchtet: „Ich habe nur wett-
gemacht, was du an mir verübt." In diesem Moment ertönt die
Stimme aus dem Standbild des Komturs („Verweg'ner, gönne
Ruhe den Entschlaf 'nen!") und es beginnt eine zweite, an den
Don-Juan-Stoff scheinbar bloß angelötete Handlung vom Gast-
mahl des Toten, deren Besprechung wir noch aufschieben, um
uns zu fragen, was diese Identität der beiden Figuren, des Don
Juan und Leporello, bedeuten soll und was sie zum Verständnis
der Handlung, der Entwicklung der Gestalten und der Psychologie
des Dichters und Zuschauers beitragen kann.
Vor allem müssen wir uns darüber klar sein, daß mit dem
Aussprechen einer solchen Formulierung, wie sie die Identität
von Don Juan und Leporello beinhaltet, der Boden der üblichen
literarisch-ästhetischen Betrachtungsweise bereits verlassen ist, zu-
gunsten einer psychologischen Auffassung, welche von der Real-
bedeutung der Figuren völlig absieht. So können wir beispielsweise
auch in der treffenden Charakteristik des Leporello durch Heckel
weniger das Bild einer geschlossenen Persönlichkeit erblicken,
als vielmehr eine Ahnung von der engen psychologischen Zu-
sammengehörigkeit dieser beiden Gestalten: „Wie dieser negative
Held an den verwegenen Verführer gekettet ist, der sich vor Tod
und Teufel nicht fürchtet; wie er immer von ihm los möchte
und sich doch dem Banne der stärkeren Persönlichkeit nicht ent-
winden kann; wie er einmal Übers andere zum Prügelknaben für
die Streiche seines Herrn wird, an denen er doch so ganz schuldlos
ist; das wirkt im tiefsten Grunde fast tragisch."
Daß wir uns Don Juan nicht vorstellen können, ohne seinen
Diener und Helfer Leporello, ist also nicht bloß die Folge ihrer
rationellen Abhängigkeit voneinander, wie sie in der Handlung
zum Ausdruck kommt, sondern weit mehr ein gefühlsmäßiges
Ahnen ihrer psychologischen Zusammengehörigkeit als poetisches
Produkt. Wir meinen damit, daß der Dichter den „negativen
Helden" weder aus der Wirklichkeit genommen, noch etwa zur
Belebung oder Kontrastierung der Handlung „erfunden" habe;
174
vielmehr daß die Gestalt des Leporello ein notwendiges Stück
der künstlerischen Darstellung des Helden selbst bedeutet. Es
wäre eine reizvolle Aufgabe, an einer Reihe von Dichtungen die
Allgemeingültigkeit dieses Mechanismus der poetischen Produktion
zu zeigen, wobei sich übrigens herausstellen dürfte, daß die
schönsten Beispiele dafür gerade bei den größten Dichtern der
Weltliteratur zu finden sind. Es gereicht uns zur Genugtuung,
daß auf ein solches Beispiel bereits in der psychoanalytischen
Literatur hingewiesen ist, und zwar von Freud 1 selbst, der im
Anschluß an eine Bemerkung von L. Jekels" meint, daß Shake-
speare häufig einen Charakter in zwei Personen zerlege, von denen
dann jede begreiflich unvollständig erscheine, solange man sie
nicht mit der anderen wiederum zur Einheit zusammensetze. Die
gleiche psychologische Gestaltung einander ergänzender Charak-
tere finden wir in allen großen Dichtungen; von ihrem elementaren
Ausdruck bei einem Cervantes, Balzac, Goethe, Dostojewskij bis
in die moderne psychologisierende Literatur, die sich über dieses
künstlerische Formproblem mehr oder weniger bewußt Rechen-
schaft zu geben sucht. 3 Es handelt sich uns aber nicht um die
bereits zur psychologischen Banalität gewordene Auffassung, daß
der Dichter in seinen Phantasiengestalten Teile seines Ichs pro-
jiziert, was beispielsweise erst neuerdings wieder Leon Daudet
in seinem Buche „L'Heredo" (Essai sur le drame interieur, Paris
1916) mit der Hereditätslehre der französischen Psychiater zu be-
gründen sucht, sondern um eine ganz spezielle, sozusagen sekun-
däre Spaltung einer Gestalt in zwei Figuren, die zusammen einen
vollwertigen, verständlichen Charakter ergeben, wie beispielsweise
Tasso und Antonio bei Goethe oder der Shakespearsche Othello,
1) Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit, 1916. (Ges.
Schriften, Bd. X.)
2) Shakespeares Macbeth. Imago V, 1917-
3) Gelegentlich gelingt dies auch einem echten Dichter, wie beispielsweise
Alphonse Daudet, der seinen berühmtesten Helden ein köstliches Selbst-
gespräch zwischen Tartarin-Quijote und Tartarin-Sancho führen läßt. — Auch
in Balzacs dichterischen Gestalten liegt dieser seelische Mechanismus bloß
dessen sich der Dichter fast voll bewußt war. So schreibt schon der Drei-
undzwanzigjährige an seine Schwester: „Laure, Laure, mes deux seuls et
immenses disirs, itre celebre et itre aime, seront-üs jamais satisfaits r
In einem kürzlich (1921) erschienenen Künstlerroman „Ti und Tea" von
Alexander Arndt stellt der Dichter nicht nur bewußt sein Ich in zwei selb-
ständigen Persönlichkeiten dar, sondern weist selbst mehrfach auf den imma-
nenten Zusammenhang dieser beiden Kontrastfiguren hin. (Siehe die Besprechung
von Werner Ewald im Lit. Echo vom 15. März 1922. Sp. 727.)
*75
der so naiv und* vertrauensselig sein kann, weil seine eigene Eifer-
sucht in der Gestalt des Jago abgespalten ist.
In ähnlicher Weise wäre auch die Schöpfung der Don-Juan-
Figur, des frivolen, gewissenlosen Ritters, der Tod und Teufel
nicht fürchtet, unmöglich, wenn nicht in Leporello eben der Teil
des „Don Juan" abgespalten wäre, der die Kritik, die Angst und
das Gewissen des Helden repräsentiert. Mit diesem Schlüssel
verstehen wir zunächst, warum Leporello seinen Herrn gerade
in allen peinlichen Situationen vertreten muß, warum er sich er-
lauben darf, ihn zu kritisieren und sozusagen das dem Helden
fehlende Gewissen zu ersetzen. Auf der anderen Seite verstehen
wir aber auch die Größe von Don Juans Verruchtheit aus der
Abspaltung der hemmenden Elemente seiner Persönlichkeit.
Betrachten wir die Handlung unter diesem Gesichtspunkt, so
sehen wir, daß Leporello nicht bloß in den bereits erwähnten
Szenen seinen Herrn deutlich vertritt, sondern daß er überhaupt
das kritisch und ängstlich eingestellte Gewissen des Helden re-
präsentiert. Im ersten Teil des Dramas tritt er als kritisierende
Instanz auf. mißbilligt das Luderleben seines Herrn und fügt
sich nur widerwillig darein. Von der Szene im Hause der Donna
Elvira angefangen (II. Aufzug), wo eigentlich Herr und Diener
gleichzeitig am Leben bedroht werden, tritt das Schuldgefühl
stärker in den Vordergrund, um sich dann in der Kirchhof- und
weiterhin in der Gastmahlszene zu grausigster Gespensterangst
und unerträglichster Gewissensqual zu steigern, die schließlich
zum Untergang führt. Wir bedienen uns nicht bloß einer Formu-
lierung von Freud, 1 sondern werden damit auch dem tieferen
Verständnis des ganzen seelischen Mechanismus näher kommen,
wenn wir in Leporello eine — allerdings besonders geformte —
Darstellung von Don Juans „Ichideal" erblicken.
Unter dem Ichideal versteht Freud eine Zusammenfassung der-
jenigen kritisierenden und zensurierenden Instanzen im Menschen,
die normalerweise die Verdrängung gewisser Wunschregungen
besorgen und in einer Funktion, die wir Gewissen nennen, darüber
zu wachen haben, daß diese Schranken nicht durchbrochen werden.
Dieses Kontrollorgan im Seelenleben wird von zwei einander er-
x) Zur Einführung des Narzißmus, 1914, Massenpsychologie und Ichanalyse,
1921 (Beide Arbeiten in Bd. VI der Gesammelten Schriften.)
176
gänzenden und regulierenden Faktoren gebildet: einem äußeren,
der die Forderungen der Umwelt vertritt und einem inneren, der
die Ansprüche an sich selbst repräsentiert. Präziser gesagt, ist
das Ichideal eigentlich eine Repräsentanz der inneren Ansprüche,
welche jedoch die äußeren Forderungen der Sozietät bereits zu
den ihren gemacht hat. Den Kern des Ichideals bildet das Stück
primitiven Narzißmus, auf das das Kind zugunsten der Anpassung
verzichten muß, das aber in das Ichideal hinübergerettet wird.
Die Anregung zur Bildung des Ichideals geht von dem kritisch-
erzieherischen Einfluß der Eltern aus, „an welche sich im Laufe
der Zeiten die Erzieher, Lehrer, und als unübersehbarer, unbe-
stimmbarer Schwärm alle anderen Personen des Milieus ange-
schlossen hatten (die Mitmenschen, die öffentliche Meinung)".
Von diesem Punkt der Ichidealbildung führt ein bedeutsamer
Weg zum Verständnis der Massenpsychologie, den Freud in seinem
gleichnamigen Buch konsequent weiter verfolgt hat. Von ihren
Phänomenen aus gelang es ihm, die Wurzeln der Ichidealbildung
in der Entwicklung der Urhorde aufzuzeigen, in der der mächtige
Urvater den Wünschen der Söhne als hemmendes Prinzip gegen-
überstand, das nur durch reale Vernichtung zu überwinden war.
Ehe dies aber möglich wurde, beherrschte er die Urhorde auf
Grund der seelischen Einstellung ihrer Mitglieder zu ihm, die
Freud eben als primitive „Massenbildung" charakterisierte: „Eine
solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein
und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich
infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben." Diese
urgeschichtliche Verknüpfung des Ichideals mit der Vaterfigur
läßt sich auch in der individuellen Entwicklung aufzeigen, wo
der Vater zum ersten Ideal des Kindes wird und in einer be-
stimmten Phase mittels des Mechanismus der Identifizierung zu
einem inneren Anspruch erwächst, der mit dem aufzugebenden
Narzißmus zum Ichideal verschmilzt. Den Knoten- und Durch-
gangspunkt dieser ganzen Entwicklung kennen wir als den infan-
tilen Ödipus-Komplex, der ja die Identifizierung mit dem Vater
in seiner besonderen Rolle der Mutter gegenüber zum Inhalt hat.
An einer Stelle versucht Freud auch den Punkt in der seeli-
schen Entwicklung der Menschheit aufzuzeigen, wo sich für den
Einzelnen der Fortschritt von der Massen- zur Individualpsycho-
logie vollzog: dieser Fortschritt wurde nach der unbefriedigenden
Urtat — dem Vatermord — vollzogen, die statt Erfüllung Reue
und statt der ersehnten Freiheit neue kompliziertere innere Ein-
177
I
schränkungen brachte; er erfolgte in der Phantasie und wer ihn
machte, war der erste epische Dichter. Dieser Dichter log die
Wirklichkeit im Sinne seiner Sehnsucht um. Er erfand den heroi-
schen Mythus. Heros war, wer allein den Vater erschlagen hatte,
während sich gewiß nur die Horde als Ganzes (die „Brüderschar")
dieser Urtat getraut hatte. Wie der Vater das erste Ideal des
Knaben gewesen war, so schuf jetzt der Dichter im Heros, der
den Vater ersetzen will, das erste Ichideal. Dieser Held aber,
dessen erfundene Taten der Dichter mm der Masse erzählt, ist
im Grunde kein anderer als er selbst.
Wenn wir nun auf die männlichen Hauptgestalten der Don-
Juan - Dichtung zurückblicken, so erkennen wir in Leporellos
plumpen Mahnungen zur Besserung die kritisch- ironische Seite
des Ichideals, während in seiner ängstlichen Feigheit Gewissen
und Schuldgefühl des frivolen Helden abgespalten sind. Aber auf
dem entscheidenden tragischen Höhepunkt, in der Kirchhofszene,
die den Zusammenbruch Don Juans einleitet, wird die komische
Figur des Leporello, welche die Forderungen des Ichideals in
spöttischer Weise abtun soll, abgelöst von einem weit mächtigeren
Repräsentanten des Ichideals, nämlich dem Schuldbewußtsein, in
dessen Darstellung im Standbild des Komturs, wir unschwer eine
direkte Vater-Imago erkennen. Diese allmähliche Verschärfung
und Verstärkung der Ichidealforderung, bis zum letzten ent-
scheidenden Auftreten des „Steinernen Gastes", entspräche aber
gleichzeitig sozusagen einer Deutung der kritisierenden Gewissens-
stimme im Sinne der Idealbildung aus dem Vaterkomplex. Diese
in der Opernhandlung selbst nach Art eines Traumes dargestellte
psychologische Verdeutlichung läßt sich gleicherweise in der Ent-
wicklung des Stoffes verfolgen. Die Stimme des Warners und
Mahners fällt nämlich im Burlador und bei Moliere, ebenso wie
später bei Zorilla, direkt dem Vater zu, gegen den sich der Held
regelmäßig verletzend benimmt. Ja, bei den unmittelbaren Vor-
läufern Molieres, bei Dorimon und de Villiers kommt es zu ab-
stoßenden Tätlichkeiten Don Juans gegen seinen Vater, die auch
im Titel der Stücke ihren Ausdruck finden. 1 Bei Moliere selbst
handelt es sich, wie auch später bei seinem Landsmann Dumas
pere, um einen Testamentstreit, in dessen Verlauf der Held kein
Verbrechen, auch nicht das des Brudermordes scheut, um sich in
den Besitz des väterlichen Erbes zu setzen. Bei Holtei, einem
1) Dorimon: „Le festin de Pierre ou le Fils criminel." Lyon 1659.
I78
nachmozartischen Bearbeiter des Stoffes, kommt es gelegentlich
eines Wortwechsels zum Vatermord, indem Don Juan seinen un-
erkannt als Einsiedler lebenden Vater ersticht. „Die Erkenntnis,
Vatermörder geworden zu sein, bleibt auf ihn so völlig ohne Ein-
druck, daß er unmittelbar nach der Schreckenstat sich in der
Hütte des Ermordeten einen burlesken Spaß mit dem Feigling
Leporello macht. Am Ende prügelt er ihn durch." (Heckel, S. 42.)
Bemerkenswert ist, daß auch in einigen Puppenspielen der Held
seinen eigenen Vater ersticht, worauf dieser ihm als Geist er-
scheint und ihn zur Hölle befördert; so in dem Ulmer und dem
niederösterreichischen Spiele: „Don Juan der Wilde oder das
nächtliche Gericht oder Junker Hans vom Stein." 1
Es zeigt sich hier ein bedeutsamer Gesichtspunkt, der uns im
Laufe unserer Untersuchung noch beschäftigen und im Schluß-
abschnitt verständlich werden soll: Daß nämlich einzelne Dichter
im Laufe der Überlieferung und Ausgestaltung des Stoffes ein
Stück psychologischer Deutung dazugeben, die folgerichtig der
analytisch aufgeklärten Genese des Stoffes entspricht.
Neben dem Vater ist es nicht selten, wie beispielsweise bei
Lenau, der vom Vater abgesandte Bruder des Helden, der ihn
zur Abkehr von seinem lasterhaften Lebenswandel bringen soll.
Während Lenau aber, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, den
Helden beleidigende Ausfälle vermeiden läßt und den Konflikt
zur Höhe einer philosophischen Diskussion zweier Weltanschau-
ungen erhebt, kommt es in dem bereits erwähnten Don Juan von
A. Dumas pere zum Zweikampf zwischen den Brüdern, in dessen
Verlauf der Bruder fallt. Don Juan selbst stirbt, indem ihm der
Schatten des gleichfalls von ihm im Zweikampf erschlagenen
Sandoval — offenbar einer weiteren Bruderdoublette — das Leben
raubt. Dieser Sandoval ist aber anderseits ein unzweideutiger
Doppelgänger des Helden selbst, ein „geistesverwandter Kava-
lier . . . und die beiden bemühen sich, übereinander den Preis
der Verworfenheit davonzutragen". (Heckel, S. 55.) Die Doppel-
gängerschaft geht auch hier so weit, daß Sandoval seine Geliebte
an Don Juan verspielt; sie tötet sich aber, um nicht seine Beute
zu werden. Ein ähnlicher Doppelgänger findet sich bei Zorilla
in der Gestalt des Don Luis Mejia, mit dem Don Juan eine
Wette abgeschlossen hat, „sich in der Anzahl verführter Frauen
und im Zweikampf erschlagener Männer zu überbieten, wobei
1) Mitgeteilt bei Kralik und Winter, Deutsche Puppenspiele. Wien 1885.
12
♦
179
sie einander mit staunenerregenden Ziffern aufwarten können".
(Vgl. Leporellos „Tausendunddrei".)Dieses Motiv ist charakteristisch
für die sogenannten „Lügendichtungen", auf deren Beziehung zum
Don-Juan-Stoff später von anderer Seite ein Licht fallen wird.*
Die enge psychologische Beziehung des Doppelgängermotivs
zum Ichideal erklärt es, daß manchmal Leporello als ausgespro-
chener Doppelgänger seines Herrn auftritt, besonders wo sie
einander gegenseitig bei den Frauen vertreten (Amphytrionmotiv:
Vateridentifizierung). Doch entspricht das Doppelgängermotiv
scheinbar bereits einer psychologischen Fortspinnung des Don-
Juan-Problems und wir finden es daher nur in neueren Bear-
beitungen, am deutlichsten in einer ganz modernen von Stern-
heim (1909), wo sich dem Helden ein veritabler Doppelgänger
zugesellt, als Nachfolger des inzwischen verstorbenen treuen
Dieners, und seinen Herrn bis zum Tode geleitet. Er ist durch
seine hemmende Funktion im Wollen des Helden, dessen Taten-
drang er mit seiner unheimlichen Ironie immer wieder zurück-
hält, als kritisch-ironisierende Ichinstanz gekennzeichnet. Wie in
zahlreichen Doppelgängergeschichten erscheint diese auch hier
zur Verkörperung des Wahnsinns selbst gesteigert, was gleichfalls
m völliger Übereinstimmung mit unseren psychoanalytischen Auf-
fassungen steht Im Gegensatz zu dieser psychologisierenden Ver-
wendung des Doppelgängermotivs in der Dichtung steht die
Verwendung eines verwandten Motivs, welches die ursprüngliche
Bedeutung des Doppelgängers als Todesverkündiger bewahrt hat:
nämlich die Teilnahme des lebenden Helden an seinem eigenen
Leichenzug, ein Motiv, das zuerst Merimee an den Don Juan
heftete, indem er die ältere Sage von dem Ritter, der sein eigenes
Begräbnis sah und sich daraufhin bekehrte, aus der Volkstradition
übernahm. Dieses Motiv führt uns zu dem unheimlichen Ende
des Helden, das in der gesamten Don-Juan-Überlieferung von
überragender Bedeutung ist.
1) Es wäre der Mühe wert, dieses Kapitel analytisch zu behandeln. Die
Literatur findet man in „Die deutschen Lügendichtungen bis auf Münch-
hausen", dargestellt von Carl Müller-Fraureuth, Halle 1881.
l80
Aus einem im „Internationalen Psychoanalytischen Verlag" als Privatdruck
erschienenen Karikaturenalbum von Robert Bereny und Olga Siekely-Kovacs
über die Teilnehmer des Psychoanalytischen Kongresses in Salzburg
l8l
Abbildungen aus „Robitsek: Der Kotillon.
Ein Beitrag zur Sexualsymbolik"
18a,
Die Wiedererweckung
der primitiven Kunst
von
Eckart v. Sydow
Im Frühjahr I$2J erscheint im „Internationalen Psycho-
analytischen Verlag« unter dem Titel „Primitive Kunst und
Psychoanalyse« ein neues Werk des bekannten kunstwissen-
schaftlichen Forschers. Sydow versucht die Nutzanwendung der
Psychoanalyse auf die Erkenntnis des Formwillcns der bau-
lichen, plastischen und zeichnerisch-malerischen Kunstgebilde der
Naturvölker. Ausführlich behandelt er die Grundlage der Bau-
kunst, ihre Vorstufen (Höhle, Wetter schirm), verfolgt die Ent-
wicklungsrichtung der naturvölkischen Baukunst und gibt die
Deutung des räumlichen Urbildes. Die Plastik wird samt ihren
Forstufen (Stein, Baum, Pfahl), ebenso die Grundlage der zeich-
nerischen Künste von der Felsgravierung angefangen analysiert.
Die Bearbeitung des bisher ästhetisch völlig vernachlässigten
Materials der „Körper -Kunst« (Körpermaßevergrößerung, Um-
bildung der Gliedmaßen, Bemalung und Tätowierung) wird
wohl auch einer Erweiterung der kunstpsychologischen Problem-
stellungen zugute kommen. Die geistige Kunstform als selbstän-
dige Kulturmacht, die psychoanalytische Kunstphilosophie werden
in besonderen Exkursen erörtert. Ein Kapitel über den Grund
des Stillstandes der primitiven Kunst bildet den Abschluß des —
mit Kunstbeilagen reichlich illustrierten — Werkes. Wir geben
hier die einleitenden Ausführungen über die allgemeine Bedeu-
tung der primitiven Kunst für unsere Zeit wieder.
Die Kunst der Naturvölker steht seit kurzer Zeit erst im
Blickpunkte der Kunstanschauungen Europas, — ihr Gebiet
ist die letzte Eroberung der Kunsthistorie. Jugendfrisch ist
die innere und äußere Anteilnahme, die ihr zuteil wird. Das
ist ihr Glück, — aber fast ebensosehr ihr Unheil. Die para-
doxe Lage, die jeder erlebt, der exotisch-primitive Dinge
studiert, kann man kurz so formulieren: gerade, weil es heute
leichter wurde, von diesen Dingen zu sprechen, eben darum
ist es auch um soviel schwieriger geworden.
183
Wie war es doch vor etwa zehn bis zwanzig Jahren?
Fabelhaft und berauschend schwül klang damals alles, was
mit „Exotik", abstoßend und grauenvoll, was mit „Primi-
tivität" zusammenhing. Romantischer Reiz umschwebte die
Fernen: Forschungsreisen — Überfälle — Urwälder ... all
das klang in jenen Worten fremdartig und anziehend und
abweisend mit. Auch der Besuch völkerkundlicher Museen
konnte an diesem starken, doppelseitigen Gefühl nicht viel
ändern. Ging man durch solch eine Sammlung, so hatte man
durchaus den Eindruck von etwas Chaotischem, durchaus
Urwaldhaftem. Denn über- und durcheinander gehäuft lagen
und liegen die Mitbringsel von gewiß sehr interessanten
Reisen da, vermengt mit allerhand rätselhaften Etiketten, die
zum näheren Verständnis der seltsamen und reizvollen Werke
meist nicht mehr beitrugen, als die Aufschriften auf den
weißen Apothekertöpfen. Überall spürte man vor diesen
merkwürdigen Häufungen afrikanischer, amerikanischer, oze-
anischer . . . Dinge, daß kein von innen her warm anteil-
nehmender Wille solche Aufstellungen durchdrang, sondern
daß ein gewiß ganz reger, aber irgendwie ganz kalter Intellekt
diese Sammlungen äußerlich beherrschte.
Es konnte ja auch nicht anders sein in einer Zeit, deren
verhältnismäßig kräftigste Kunstäußerung, der Impressio-
nismus, ganz anderen Tendenzen zugewandt war, als jener
Geisteshaltung, aus der das Primitive erwuchs. Die Fahrt
in exotische Landschaft fehlte nicht durchaus, aber sie trug
den Charakter einer Studienreise, auf der man fremdartige
Verhaltnisse der Beleuchtung und atmosphärischen Bewegung
m dauerndem Bilde festhalten wollte. Hochmütig trug der
Europäer überall die Widerspiegelungen seiner eigenen Ver-
äußerlichung hin.
Nicht ganz und gar war der europäische Sinn verblendet.
Sobald er sich kritisch gegen sich selbst und seine Werke
kehrte, entschwand ihm nur zu bald das eitle Selbstvertrauen,
— eine tiefe Niedergeschlagenheit kam mählich über ihn
und eine Sehnsucht trieb ihn hin zur Frühzeit der Kultur.
Seit der Epoche Jean Jacques Rousseaus verhauchte niemals
184
völlig der fremdländische Duft. Aber es blieb zumeist bei
Stimmungen, Wünschen, — der Lyriker trug ein sehn-
suchtsvoll erwünschtes Bild in sich, versetzte seine Verwirk-
lichung auf unbekannte Küsten entfernter Erdteile. Hin und
wieder trat hilfreich die gelegentliche Kenntnis ferner Men-
schen und Gebiete hinzu. Dann gelang es Charles Baude-
laire Verse und Strophen zu erbauen, in denen Sehnsucht
ins Weite und Abwehr der nahen Gegenwart gleichermaßen
stark zusammenklangen. Aber es bedurfte noch langer Er-
fahrungen und Leiden, bis endlich solche Sehnsüchte zur
kraftvolleren Tat drängten. Sie geschah zwei Generationen
später, als Paul Gauguin nach Martinique sich einschiffte,
— europasatt suchte er dann neue Frische in der Südsee. In
seinem „Noa-Noa"-Buch, das sein Leben auf Tahiti ein
wenig einseitig nur von der positiven Seite her abbildet und
die unzerreißbare Faszination durch Paris verschweigt, findet
er schließlich: „Im Umgang mit uns, in unserer Schule sind
die Tahitier erst wahrhafte , Wilde' in jenem Sinne gewor-
den, die der lateinische Okzident diesem Worte unterschiebt.
Sie sind schön geblieben, wie Kunstwerke, aber wir haben
sie moralisch und auch physisch unfruchtbar gemacht." So
innig Gauguin von der Natur und Menschheit Ozeaniens
ergriffen war, so sehr fehlt doch seinen Bildern das, was
das „Primitive den späteren Menschen wichtig machte und
was er selbst auf Tahiti nicht gefunden hatte, wie aus jenen
Sätzen hervorgeht. Seine großen Anspannungen führten zu
einem neuen Stil dekorativer Eigenart, errichteten innerhalb
dieses Bezirkes ein bedeutendes Werk: in schönen, vollen
Akkorden gesellen sich breite Farbflächen zueinander, in
deren sympathetischem Verhältnis Anmut und Heiterkeit
wohnen. Die Idylle waltet überall, — die „Ferien von
Europa" scheinen im Paradies verlebt zu sein.
Härtere Fühlung, als Gauguin, mit der ursprünglichen,
mit der wilden Natur nahm ein anderer: Arthur Rimbaud.
Bohrender von dem Bewußtsein der Entlaugtheit europäischer
Art durchdrungen, schrieb er im „Trunkenen Schiff" die
Strophen :
185
„Der ich nur leicht geschwankt, wenn von weitem
Ich Meerungetüme und Wirbel gespürt;
Der Wanderer in seinen Regungslosigkeiten —
Mir graut vor der Mauer, die Europa umschnürt.
Das Wasser Europas, zu dem es mich zieht, ist ein kalter,
Schwarzer Tümpel, wo traurig mit einem Boot,
Ganz kleinem Boot, wie ein Frühlingsfalter,
Ein Kind spielt in duftendem Abendrot."
Nur ihm, Ribaud, gelang es, Europa wahrhaft zu entfliehen, —
freilich um welchen Preis, da er — einer der Schöpferi-
schesten! — unproduktiv ward.
Immerhin war ein außerordentlicher Schritt geschehen:
aus der Sphäre des Bücherlesens, Bücherschreibens und traum-
haften Genießens hatten sich Gauguin und Rimbaud empor-
gerafft, die exotischen Wirklichkeiten wirklich berührt, mit
ihr und in ihr wie Eingeborene gelebt, — eine Tat war
geschehen. Der fremde Geist war nun nicht mehr völlig
fremd. Und was noch mehr gilt: er ward als seelisch Über-
legener gewußt. Der Gedanke der Entwicklung als einer
unablässigen Steigerung des Wertvollen, deren höchste Gipfe-
lung das jeweilige Europäertum darstelle, dieses ungeheure
Selbstbewußtsein, das die moderne Expansion nach allen
Erdteilen hin gestoßen und aus sich selbst heraus immer
wieder gestärkt hatte, — dieser gigantische Gedanke der
Selbstvergötterung erlitt seine erste Schwächung. Nicht fühlbar
noch in den breiten Schichten der Gebildeten, wohl aber
in jenen Kreisen der helläugigen Beobachter, auf die es ankam.
Diese Zeit fiel zusammen mit der Friedrich Nietzsches,
dessen Kulturkritik damals einsetzte. Von innen und außen
ward das Selbstbewußtsein des Europäertums bedroht.
Freilich: für die Erkenntnis, ja auch nur Kenntnis der
Kunst der Primitiven bedeutete jene Bewegung so gut
wie gar nichts zu ihrer Zeit. Keine Zeile in Gauguins Buch
berichtet von der Südsee-Kunst. Die Wendung, welche über
unser ästhetisches Verhältnis zur primitiven Schnitzerei, Ma-
lerei entschied, geschah an anderer Stelle. Geschah damals,
als nach dem irrlichternden Gebraue Rimbaudscher Visionen
186
der Blitz des Expressionismus in Europa einschlug. Die
Jugend schöpferischer Künstler spielte sich zum Teil in völker-
kundlichen Museen, in Berührung mit naturvölkischen Kunst-
werken ab: Pablo Picasso in Paris, die vielseitigeren Künstler
der „Brücke" in Dresden suchten frühzeitig nach dem
Geheimnis der Primitivität aus eigenem Antrieb. Nicht also
war es so, als ob diese Erneuerer des primitiven Wesens
am Ende einer langen, Versuchs- und mißerfolgreichen Lauf-
bahn bei den Primitiven, wie Schiffbrüchige in einem Schutz-
hafen, gelandet wären. Sondern, getrieben von innen her,
waren sie gedrängt von ihrem eigenen, ursprünglichen, lebens-
kräftigen Genius. Da sie nicht gebrochen waren von der
Krankheit der Großstädte, wie Gauguin, nicht zugleich ent-
täuscht und fasziniert, so fanden sie lebenskräftigere Kunst
als er. Sie suchten Ursprünglichkeit, Urwüchsigkeit, spontane
Kraft. Sie erfanden Gesichter voll zuckenden Lebens, die ur-
tümlich in die Wirklichkeit blickten. Spannungen und pathe-
tische Dramatik trat der idyllischen Lyrik Gauguins entgegen.
Die Feuersbrunst des schöpferischen Gefühls, die plötzlich
ganz Europa in Flammen aufgehen ließ, schmolz auch mit
einem Male die gläsernen Schränke, hinter deren Scheiben
die primitiven Kunstdinge Jahre und Jahrhunderte lang ge-
standen und gewartet hatten, wie wilde Tiere in zoologischen
Gärten hinter den Stäben ihrer Vergitterungen verrecken.
Dies ward ein Aufbruch erster Ordnung, vergleichbar nur
jener Zeit großartiger Auferstehung, als aus den paläontolo-
gischen Museen die uralte Vorwelt unserer Vergangenheit
zu neuem Leben sich erhob. Einmütiger ward freilich jenes
frühere Ereignis begrüßt, als die neuere Erweckung primitiver
Werke. Denn jenes bestätigte damals anscheinend den Wert
Europas und seine unvergleichliche Gipfelung, bewiesen schon
durch den Scharfsinn, dessen Zauberstab die zerstreuten Glieder
organisch aneinander fügte. Nun aber, da die Primitiven zu
Worte kamen, schwieg plötzlich der lobhymnende Chor der
Weltgeschichte, — Europa vernahm nun aus dem Munde
seiner eigenen Kinder das Lob der Verachtetsten und die
jähe Ablehnung mütterlicher Autoritätsansprüche.
187
Wie man sich in dieser Frage der Wertung auch immer
verhalten mag, — fest steht, daß seit Picasso und Schmidt-
Rottluff das Primitive für uns nichts eigentlich Fremdartiges
mehr ist. Es ward zu etwas, was zu uns gehört kraft der
Anverwandlung unseres Genius, — ward zu etwas, das
wenigstens dem kommenden Geschlecht eingeboren sein wird.
Ebenso eingeboren wie die impressionistische Weise des Le-
bens und Schauens dem Zeitgenossentum der Slevogt und
Liebermann, während sie doch früher von einem älteren und
begabteren Geschlecht erfunden wurde. Ist es nun nicht
wundervoll zu schauen, wie in der neuen kosmopolitischen
Kunst die verschiedenen Elemente zu einer neuen riesigen
Gemeinschaft zusammenschmelzen: Französisches und Russi-
sches, Deutsches und Spanisches, Südsee -Insulanisches und
Amerikanisches und Afrikanisches? In der ungeheuren Inten-
sität unserer Großstädte erarbeitet sich in zwangsläufiger
Sicherheit das Antlitz der neuen Kultur. So ist uns und
unseren Nachkommen das Primitive und die primi-
tive Kunst zu einer lebendigen Kraft unseres Daseins
geworden, ob wir dem nun in unserer kritischen Reflexion
beistimmen mögen oder nicht.
Von nun an gewinnt unser Verhältnis zu den Ahnenbildern,
Masken usw. der Naturvölker eine innerliche Tiefe. An die
Stelle der intellektuellen Interessiertheit tritt eine leidenschaft-
liche Anteilnahme des Gemütes.
Aber gerade dadurch, daß alles, was mit den Primitiven
zusammenhängt, einbezogen wurde in den neuen, wirbelhaft
kreisenden Bezirk dessen, was wir mit den Worten „Neuer
Geist , „Expressionismus" bezeichneten, — gerade dadurch
ist es heute um so viel schwieriger geworden, die Wesenheit
der primitiven Kunst zu bestimmen. Denn ihr Sinn wurde
sogleich aus der Gesinnung der Expressionistik gedeutet, so daß
also gerade dasjenige Leben, dem die Primitivität allererst
ihre Verlebendigung verdankte, sie nun wiederum vergewal-
tigte. Denn mit der eigenen Deutung unseres erregten Wesens
überdeckten wir so sehr das Wesen der in exotischen Ländern
und Werken gegebenen Primitivität, daß zwar ein starkes
188
Echo unserem eigenen Schrei zurückscholl, solcher Schrei
und Echo doch nur unser eigenes Produkt war. In den Sinn-
deutungen der Worringer, Einstein mit ihren jeweiligen
Interpretationen der naturvölkischen Kunst als Ausdruck der
Verängstigung, des Willens zum Unbedingten, hat sich in
erster Reihe der schöpferische Geist unserer Gegenwart aus-
gesprochen !
Die paradoxe Lage der Erkenntnis der naturvölkischen
Kunst liegt also hierin, daß die heiße Sehnsucht nach ihrer
Formel durch ein Versehen des Schicksals in eine falsche
Blickrichtung eingestellt worden ist. Um so dringender ist die
Aufgabe, zum wahrhaften Kern der Primitivität vorzudringen.
Abseits von jenen voreiligen weltanschaulichen Systemati-
sierungen ist schon viel Arbeit geleistet worden, auf die wir
zunächst einen Blick werfen.
PSYCHOANALYTISCHES LESEBUCH
Fabrikation von Weltanschauungen?
„. . . Ich bin überhaupt nicht für die Fabrikation von Weltanschauungen.
Die überlasse man den Philosophen, die eingestandenermaßen die Lebens-
reise ohne einen solchen Baedeker, der über alles Auskunft gibt, nicht aus-
führbar finden. Nehmen wir demütig die Verachtung auf uns, mit der die
Philosophen vom Standpunkt ihrer höheren Bedürftigkeit auf uns herab-
schauen. Da auch wir unseren narzißtischen Stolz nicht verleugnen können,
wollen wir unseren Trost in der Erwägung suchen, daß alle diese „Lebens-
führer" rasch veralten, daß es gerade unsere kurzsichtig beschränkte Klein-
arbeit ist, welche deren Neuauflagen notwendig macht, und daß selbst die
modernsten dieser Baedeker Versuche sind, den alten, so bequemen und so
vollständigen Katechismus zu ersetzen. Wir wissen genau, wie wenig Licht
die Wissenschaft bisher über die Rätsel dieser Welt verbreiten konnte; alles
Poltern der Philosophen kann daran nichts ändern, nur geduldige Fortsetzung
der Arbeit, die alles der einen Forderung nach Gewißheit unterordnet, kann
langsam Wandel schaffen. Wenn der Wanderer in der Dunkelheit singt,
verleugnet er seine Ängstlichkeit, aber er sieht darum um nichts heller . . ."
(Alis: Sigm. Freud, „Hemmung, Symptom und Angst")
189
Zur Psychologie der Komödie
i
von
Ludwig Jekels
Aus dem am 6. Mai 1926 zum
70. Geburtstage Sigm. Freuds er-
schienenen Doppelheft der „Imago,
Zeitschrift für Anwendung der Psycho-
analyse auf die Natur- und Geistes-
wissenschaften" (Bd. XII, Heft 2/)).
Wir verdanken der Psychoanalyse reiche Einsichten in die
Psychologie der Tragödie.
Nicht allein, daß wir durch sie erfahren haben, daß die von
der Ästhetik postulierte „tragische Schuld" des Helden eigentlich
von den verdrängten Ödipus- Wünschen des Dichters abzuleiten
sei, hat sie uns überdies auf die seelische Wechselbeziehung
zwischen Dichter und Zuhörer, d. h. auf die Gemeinsamkeit der
Schuld als auf das entscheidende psychologische Moment auf-
merksam gemacht, welches es dem Dichter überhaupt erst er-
möglicht, sein Werk zu schaffen und anderseits dem Zuhörer die
Aristotelische „Reinigung der Leidenschaften" bringt. Vor allem
hat ja Freud 1 in der antiken Tragödie die psychologischen An-
klänge an das Urverbrechen festgestellt; an dieser Spur festhaltend,
hat Winters tein* vor kurzem die Anfänge der Tragödie zum
Gegenstand eingehenden Studiums gemacht und dieselben gründ-
lichst durchleuchtet.
Und all dem gegenüber, wie wenig hat sich die Psychoanalyse
um die Komödie gekümmert! Ein Aschenbrödel neben ihrer so
pompös einherschreitenden Schwester war sie bis nun kaum Gegen-
stand eines nennenswerteren Interesses und wurde höchstens in
das Souterrain der Forschung, in die „Fußnoten" verwiesen, und
dort mit wenigen Worten abgetan.
Und dennoch erscheint mir das komische Drama durchaus einer
ernsten und eingehenderen Untersuchung würdig. Nicht etwa allein
deshalb, weil darin auch das Problem des Komischen gelegen ist,
bekanntlich eines der schwierigsten und verwickeltsten der Psycho-
1) Freud: Totem und Tabu. (Ges. Schriften, Bd. X.)
2) Alfred Winterstein: Der Ursprung der Tragödie. Imago-Bücher VIII
190
logie, an das sogar ein Freud* „nicht ohne Bangen" herangetreten
ist, allerdings um dann dasselbe weitestgehend zu beleuchten. Denn
auch sonst ergibt, wie die vorliegende flüchtige Skizze erweisen
mag, die psychoanalytische Untersuchung der Komödie mancherlei,
was unser volles Interesse beanspruchen darf.
Die von mir vorgenommene Analyse einiger sogenannter höheren
Komödien ergab nämlich das überraschende Resultat, daß in den-
selben ein Mechanismus der Umkehrung vorwaltet; d. h. das in
der Tragödie auf dem Sohn lastende Schuldgefühl er-
scheint in dem komischen Drama auf den Vater ver-
schoben, der Vater ist schuldig.
Dieser Sachverhalt dürfte ja schon Diderot aufgefallen sein,
zugleich aber, wie es den Anschein hat, auch seinen affektiven
Widerspruch erweckt haben, denn er meint in seinem „Discours
sur la poesie dramatique" : s „Terenz scheint mir einmal in diesen
Fehler gefallen zu sein. Sein Heautontimorwnenos (der Selbstquäler)
ist ein Vater, der sich über den gewaltsamen Entschluß grämt,
zu dem er seinen Sohn durch übermäßige Strenge gebracht hat
und der sich deswegen nun selbst bestraft, indem er sich in
Kleidung und Speise kümmerlich hält, allen Umgang flieht, sein
Gesinde abschafft und das Feld mit eigenen Händen baut. Man
kann gar wohl sagen, daß es so einen Vater nicht gibt. Die größte
Stadt würde kaum in einem Jahrhundert ein Beispiel einer so
seltsamen Betrübnis aufzuweisen haben."
Nun wollen wir es versuchen, die Richtigkeit unserer These
an anderen Beispielen, wenn auch nur skizzenhaft, nachzuweisen;
die bunte Durcheinandermischung von Werken ganz verschiedener
Kulturkreise und oft Jahrtausende auseinanderliegender Epochen
mag darin ihre Erklärung finden, daß wir, bloß von dem einen
Gesichtspunkt geleitet und um seinen Erweis bekümmert, alle
anderen geflissentlich zurückstellen.
Der „Kaufmann von Venedig" galt der Shakespeare-For-
schung vor noch nicht langer Zeit wohl als eines der umstrittensten
Werke des Dichters, nicht allein betreffs der Grundidee, sondern
auch in bezug auf seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Dramengattung. Auf Grund unserer Auffassung, daß in der Ko-
mödie die Vatergestalt als schuldbeladen zur Darstellung gelangt,
müssen auch wir indessen diese Schöpfung für ein komisches
1) Freud: Der Witz. (Ges. Schriften, Bd. IX.)
2) Zitiert nach Lessings „Hamburgischer Dramaturgie". 87. Stück.
!91
I
Drama erklären, wo doch hier nahezu expressis verbis auf die Schuld
des Vaters hingewiesen wird. Denn der von Shylock so arg be-
drohte Antonio ist zweifellos eine Vatergestalt; diese psycho-
analytische Annahme ist gut fundiert durch den Umstand, daß er
ja aus dem Messer Ansaldo der Vorlage (Fiorentinos Pecorone)
geformt wurde, welcher in dieser Novelle als „väterlicher Freund",
voll Liebe, unerschöpflicher Geduld und Opferwilligkeit für den
angenommenen Sohn, figuriert. Antonio läßt aber der Dichter
schon in der ersten Szene schuldig werden:
„Geh, sieh zu,
Was in Venedig mein Kredit vermag:
Den spann ich an bis auf das Äußerste"
und alsbald dem Shylock di« Schuldverschreibung geben.
Es dürfte wohl kaum Befremden erregen, daß wir hiebei die
Geldschuld als eine bloße Substitution der moralischen Schuld
auffassen. Die überaus enge Beziehung beider Begriffe, auf die
meines Wissens unter den Analytikern Müller-Braunschweigi
bereits hingewiesen hat, hat schon Nietzsche in seiner „Genea-
logie der Moral«» hervorgehoben. Die enge Zusammengehörigkeit
dieser beiden Vorstellungskreise, sowie ihr" Ersatzverhältnis, steht
ja ganz außer Zweifel. Die uralte Institution der Geldbuße im
Strafrecht ist hiefür ein ebenso beredter Beleg, wie der Umstand,
daß nicht allein die deutsche, sondern auch viele andere Sprachen
(z. B. französisch, polnisch usw.) sich des nämlichen Ausdruckes
für die materielle wie für die moralische Schuld bedienen. Und
zuletzt, wenn auch nicht an letzter Stelle: Für den Analytiker,
der dies Ersatz Verhältnis sowohl in den Träumen der Patienten
als auch im Widerstand recht häufig zu beobachten Gelegenheit
hat, birgt dies Eintreten der Geldschuldvorstellung für die der
moralischen kaum etwas Überraschendes in sich.
Dasselbe Ausdrucksmittel für das nämliche Motiv findet sich
aber auch im feinsten deutschen Lustspiel, Lessings „Minna
von Barnhelm" in Anwendung gebracht.
Der Ausgangspunkt der Verwicklungen des Stückes liegt ja,
wie erinnerlich, in seiner Vorgeschichte. Major von Teilheim, mit
Eintreibimg der Kontribution bei den feindlichen Ständen betraut,
1) Dr. Karl Müller-Braunschweig: Psychoanalytische Gesichtspunkte
zur Psychogenese der Moral, insbesondere des moralischen Aktes. Imago VII, 1921.
2) Kap. 4: Daß jener moralische Hauptbegriff „Schuld" seine Herkunft aus
dem sehr materiellen „Schulden" genommen hat?
192
hat, um äußerste Strenge zu vermeiden, den Betrag gegen einen
Wechsel der Stände dem König aus eigenem vorgeschossen. Seine
nach Friedensschluß erhobene Forderung nach Begleichung der
ihm zukommenden Summe wird abgelehnt, er überdies unter dem
Verdachte, vom Feinde ein Geldgeschenk empfangen zu haben,
in Untersuchung gezogen. Dies empfindet er nicht bloß als eine
schwere Ehrenkränkung, sondern auch als unüberwindliches Hinder-
nis für seine Ehe mit der ihn liebenden und von ihm geliebten
Minna.
Wir können kaum anders, als diesen mit so logischer und
reicher Fassade geschmückten Sachverhalt doch bloß wieder auf
die dürftige Formel: der Vater (König) ist schuld, zu reduzieren.
Und dafür spricht nicht nur, daß die Verwicklung durch ein Ein-
greifen des Königs selbst und Tilgung seiner Schuld gelöst wird,
auch in seinen episodischen Szenen, wie z. B. mit dem Diener
Just und mit Werner, ist ja das Lustspiel förmlich durchzogen
von der Weigerung Teilheims: „Ich will dein Schuldner nicht
sein." Bei all der vortrefflichen Rationalisierung hören wir in
dieser beständigen Weigerung doch kaum anderes heraus, als daß
der Sohn hier die Schuld völlig ablehnt, um sie um so nachdrück-
licher und ausschließlicher beim Vater zu betonen.
Wir sind aber bei der Deutung auch unvermittelt auf den
Inhalt der dem Vater vorgehaltenen Schuld gestoßen: Der König
hindert ja die Liebe und Ehe Tellheims!
Daß dies tatsächlich die latente Grundtendenz des Stückes ist,
erhellt aus nachstehendem Umstand: Ich habe bereits in meiner
Macbeth-Studie 1 hervorgehoben, daß in den dramatischen Schöp-
fungen das Grundmotiv derselben in einer doppelten Darstellung,
nämlich sowohl in einer dem Bewußtsein näheren als auch ferneren,
sohin in einer direkteren als auch verhüllten Form zum Ausdruck
gebracht erscheint. Und zwar ist dies Phänomen so regelmäßig
festzustellen, daß auch die umgekehrte Fassung: alles, was in
einem Drama doppelt dargestellt erscheint, ist sein Grundmotiv,
mir heute, nach reichlicher Nachprüfung, ganz verläßlich erscheint.
Nun ist aber in „Minna von Barnhelm" solch ein zweiter,
ungleich weniger verhüllter Hinweis auf den Vater als Hindernis
der Liebe tatsächlich vorhanden. Es ist dies die Stelle, wo Minna
dem sich ihr verweigernden Teilheim mystifizierend mitteilt, ihr
Oheim und Vormund Graf Bruchsall verfolge sie und habe sie
1) Dr. Ludwig Jekels: „Versuch über Macbeth." Imago, Bd. V, 1917/19.
15 193
enterbt, weil sie keinen Mann aus seiner Hand annehmen wolle.
Kaum aber, daß der Graf (V/3) Tellheim kennen gelernt hat,
wird er schon von diesem mit „mein Vater" angesprochen und
apostrophiert Tellheim als „Sohn" . . .
Der Vorwurf: „Vater — Störer der Liebe" als seine Schuld
statuiert — das ist der latente Inhalt der meisten Komödien der
erwähnten Gattung.
Überdeutlich, weil weder die Vater-Sohnes-Beziehung noch auch
die sexuelle Rivalität beider irgendwie verhüllend, bringt dieses
Motiv Moli eres „L'Avare" zum Ausdruck — wo Harpagon
zwischen seinen Sohn und dessen Braut tritt, da er sie selbst
ehelichen will.
Dasselbe Motiv aber auch im „Tartuffe", sofern man den
Scheinheiligen als bloße Abspaltung des Vaters Orgon auffaßt,
wodurch er zum Rivalen des Sohnes bei der Mutter wird.
Ähnlich wie hier wird aber auch im „Phormio" des Terenz
— einem der schönsten Lustspiele der Antike — der sich der
Liebeswahl des Sohnes widersetzende Vater durch die Entlarvung
seiner sexuellen Verfehlung dem Willen des Sohnes (Phädria) ge-
*"&*& gemacht. Mit den Worten des Vaters: „Allein wo ist de?
Phädria, mein Richter", schließt bezeichnenderweise die Handlung.
Die nachfolgenden Lustspiele verraten in ihrem manifesten In-
halt zwar nichts mehr von jenen „familiären" Beziehungen, die in
den zuletzt besprochenen so überdeutlich zutage traten; nichtsdesto-
weniger ist in ihnen die psychische Grundsituation die nämliche.
So in dem mit Recht so berühmten „Miles gloriosus" von
Plautus. Der bramarbasierende eitle Narr Pyrgopolinikes ist hier
in doppelte Relation gebracht: als Vater dem jungen Athener
Pleusikles gegenüber, dessen Geliebte er entführt, und als Sohn
gegenüber dem jovialen Epheser Periplekomenos, dem er, der
gesponnenen Intrige zufolge, die vermeintliche Gattin abwendig
machen will.
Die Reihe von Beispielen wollen wir nun mit dem Hinweis
auf den für unsere Behauptung nicht minder illustrativen „Zer-
brochenen Krug" von Kleist schließen, dessen Inhalt die
Untersuchung bildet, ob der Vater (Richter Adam) oder der Sohn
(Ruprecht) die Schuld am nächtlichen Einbruch und am „Zer-
brechen des Kruges bei Eva" (!) trage.
Ganz im Sinne unserer These fällt auch hier das „schuldig"
auf das Haupt des Vaters.
*
194
Die Bedeutsamkeit dieser Feststellung erhellt wohl aus den
hier folgenden Ausführungen von Bergson. 1 Seine Ansicht geht
ja dahin, daß das Wesen des Komischen in der Mechanisierung
des Lebens besteht, welcher Effekt außer durch zwei andere
(repe'tition, interferencee des series) auch durch den Vorgang der Um-
kehrung (Vinversion) erzielt werde. Und da meint er nun in wört-
licher Übersetzung (^S. 96 ff.): „Denken Sie sich gewisse Personen in
einer gewissen Situation; Sie erhalten eine komische Szene, wenn
Sie es bewirken, daß sich die Situation umkehrt und die Rollen
vertauscht werden . . . Aber es ist nicht einmal notwendig, daß die
beiden symmetrischen Szenen vor unseren Augen gespielt werden;
man braucht uns bloß eine derselben vorzuführen und mag dabei
sicher sein, daß wir an die andere denken. Der Verfolger als Opfer
seiner Verfolgung, der betrogene Betrüger — das ist das Zutiefst-
liegende bei vielen Lustspielen ebenso wie in den Schwänken aus
alten Zeiten . . . Die moderne Literatur hat noch viele Variationen
des Motivs vom bestohlenen Dieb (voleur voli). Letzten Endes
handelt es sich immer um eine Verkehrung der Rollen und um
eine Situation, die sich gegen denjenigen kehrt, der sie geschaffen
hat ... — Es dürfte sich hier ein Gesetz bestätigen, das wir bereits
öfters angewendet gefunden haben. Wenn eine Szene oft reprodu-
ziert worden ist, wird sie zur ,Kategorie' oder zum Vorbild. Sie
wird unterhaltend durch sich selbst, unabhängig von den Ursachen,
die es bewirken, daß sie uns belustigt. Und derart können neue
Szenen, die an sich nicht komisch sind, uns tatsächlich unter-
halten, wenn sie jener ähnlich sind. Sie werden in unserem Geiste
mehr oder weniger undeutlich ein Bild hervorrufen, welches wir
als drollig bereits kennen. Sie werden sich in eine Gattung ein-
ordnen, in der ein offiziell anerkannter komischer Typus figuriert.
Die Szene vom bestohlenen Dieb ist wohl von dieser Art. Das
Komische, das ihr innewohnt, strahlt sie aus auf eine Menge
anderer Szenen. Und dies soweit, daß sie jedes Mißgeschick, das
man sich durch eigenje Schuld zugezogen hat . . ., ja, was sage
ich, jede Anspielung auf dieses Mißgeschick, jedes Wort, das an
dasselbe gemahnt — komisch erscheinen läßt!"
Es erübrigt sich wohl hervorzuheben, daß wir diese zentrale
Stellung der Modellszene für das von uns hervorgehobene Element
in Anspruch nehmen.
1) Henri Bergson: „Le rire." Paris 1913.
>3* 195
Mit diesen seinen Ausführungen hat ja der scharfsinnige Philo-
soph sich zwar unserer Ansicht außerordentlich genähert, hat auch
das Geltungsgebiet des von uns aufgefundenen Elementes im
Reiche der Komödie und ihrer mannigfachen Spielarten über das
von uns angenommene Ausmaß erweitert; für die Klärung des
Rätsels, das die Komödie darstellt, ist jedoch dadurch kaum etwas
gewonnen worden.
Denn fürwahr, recht rätselhaft muß uns das komische Drama
erscheinen.
Es kann ja kaum anders sein, als daß der Komödiendichter
dieselben Schöpfungsantriebe besitzt und den nämlichen psycho-
logischen Gesetzen unterworfen ist, wie sie uns als für den
tragischen Dichter in Geltung stehend schon längst — besonders
durch die schöne Arbeit van Sachs 1 — bekannt sind; vor allem
der imperative Drang, seinen verdrängten Komplexen Abfuhr
zu verschaffen, dem der Dichter gleichsam durch die Verteilung
seines Schuldgefühles auf all die Vielen Folge zu geben ver-
mag.
Anderseits aber lassen die oben mitgeteilten, wenn auch noch
so flüchtigen Komödienanalysen uns kaum im Zweifel darüber,
daß das hier zur Verarbeitung gelangende Material gleichfalls
ganz das nämliche wie beim tragischen Dichter ist, d. h. hier wie
dort dem Ödipus-Komplex zugehört.
An dieser Identität des Materials bei den beiden Dramen-
gattungen mag es ja gelegen sein, daß bei so zahlreichen dra-
matischen Dichtungen der Charakter derselben recht weit in die
Verwicklung hinein ein ganz unentschiedener ist, so daß bis dahin
füglich ebenso eine Komödie wie eine Tragödie resultieren könnte,
und erst eine späte und jähe Wendung über die Zugehörigkeit
entscheidet.
Wieso kommt es aber und wie mag es da zugehen, daß sich
aus so identischen psychologischen Voraussetzungen so vollends
verschiedene, ja diametral entgegengesetzte Effekte ergeben, und
daß aus dem gleichen Boden wir in dem einen Falle die tragische
Schuld und die Sühne, im anderen aber schäumenden Übermut
und Triumph entsprossen sehen?
In dem unseren Analysen entnommenen Element der Schuld-
verschiebung vermeinen wir den Schlüssel zu besitzen, um das
Rätsel dieser Sphinx zu lösen.
i) Hanns Sachs: Gemeinsame Tagträume. Imago-Bücher, V.
1 9 '
Letzten Endes ist ja diese infantile Phantasie vorn Vater als
Störer der Liebe nichts anderes als eine Projektion des eigenen
schuldbeladenen Wunsches des Sohnes, die Liebe der Eltern zu
stören. Durch ihre Verschiebung auf den Vater, seine
Ausstattung mit einer so spezifischen Sohnesattitüde i
wird uns kund, daß hier der Vater seiner Vaterattribute
entkleidet, somit als Vater beseitigt und zum Sohne
erniedrigt wurde.
Dieser Verschiebung wohnt demnach die nämliche Psychologie
inne, wie der im Lustspiele überhaupt und auch unter unseren
Beispielen so häufig verwendeten Entlarvung (Tartuffe, Zerbrochener
Krug, Phormio"); diese Psychologie faßt Freud in die Formel:
„Du bist auch nur ein Mensch wie ich." Genau so wie die Ent-
larvung wird auch diese Phantasie in der Komödie dazu verwendet,
um den Vater herabzusetzen, und zwar herabzusetzen zum Sohne,
auf das dem Sohne sonst zukommende Niveau. — Und dies: Den-
Vater-zum-Sohne-Machen, diese verkehrte Welt, Je monde renversd",
wie B ergson meint, das ist der eigentlichste Kern seiner „Inversion",
die innerste Tendenz der Schuldverschiebung.
Und nur die Tatsache, daß der Vater bloß als Sohn dimen-
sioniert wird, macht es uns verständlich, warum im Lustspiel (von
der antiken bis zur modernen Ehebruchskomödie) meist der Vater
der im Wettkampfe unterliegende Teil ist Aus demselben Grunde
muß, um auf unsere Beispiele zurückzukommen, Harpagon die
Partie und damit das Liebesobjekt verlieren, und der König in
„Minna von Barnhelm« nicht nur die Hindernisse wegräumen,
sondern sogar weit über das beanspruchte Maß von Genugtuung
hinausgehen.
Lediglich diese Reduktion des Vaters zum Sohne läßt es uns
verstehen, daß es dem Komödiendichter möglich wird, ein so
reiches Ausmaß von Aggression (Hohn, Spott usw.) gegen den
Vater zu entfesseln, und beispielsweise einen Antonio im „Kauf-
mann" und noch deutlicher den bei seinen Liebeswerbungen über-
raschten Bramarbas in direkt ausgesprochener Entmannungsgefahr
schweben zu lassen. Bloß im Sinne dieser Reduktion verstehen
wir den Zuruf an den Pardonnierten : „Wird's wohl fertig sein
mit deiner Vaterschaft!"
Die Amovierung des Vaters, seine Auflösung im Sohne, die
Einziehung des Über-Ichs, sein Zusammenfließen mit dem Ich,
welch volle psychologische Übereinstimmung mit der Manie.
*97
Wie hier so auch dort das Ich, nachdem es sich vom Tyrannen
befreit, im Freiheitsrausche, in der Hemmungslosigkeit Humor.
Witz und allerlei Komik entbindend!
Wir widerstehen der Versuchimg, die nunmehr uns so nahe-
gelegte psychologische Verwandtschaft der Tragödie mit der
melancholischen Depression zu erörtern, welchen Zusammenhang
übrigens schon die Worte des Byzantiners Suidas verraten:
»*1 XQ'h TQavtüöeiv mSvcag r\ ufiXavxoXäv", und wollen uns mit
der Feststellung bescheiden, daß die Komödie ein ästhetisches
Korrelat der Manie ist.
1,111111111111 iiiiiiiifiiiiiiiiiiiiifiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiriififiiiiiiiciiJiiiirirriiifTiiiiiiiiiiiTiiiiiiiiiiiiiiiiiiiffiiutiinimni^nimg,,,
PSYCHOANALYTISCHES LESEBUCH
Pestalozzi: Der Schneidertraum
„Wollt Ihr mich heute nicht als Lehrling annehmen?" Also sagte Jakob
Tiüb zum Schneider Mellhorn.
Meister Mellhorn antwortete: „Jakob! Was hast du letzte Nacht ge-
träumt?" — „Mir hat geträumt« erwiderte Jakob, „ich habe in eine
Lotterie gesetzt und vieles gewonnen."
Der Meister versetzte: „Jakob, heute nehme ich dich nicht an«
r . j™ anderen Morgen fragte der Junge wieder das nämliche, und so
fünf Tage nacheinander. Aber allemal, wenn er seinen Traum erzählt
hatte, antwortete der Meister: „Ich nehme dich heute nicht an«
Am sechsten Tage erzählte Jakob: „Heute träumte mir, ich sitze auf
einem Schneiderstuhl und schwitze den ganzen Tag bei meiner Arbeit, daß
mir die Tropfen von Stirn und Wange auf meine Kleider herabfallen,
und am Abend, da ich endlich meine Nadel hingelegt hatte, fand ich sie
ganz golden."
„Gut!« sagte der Meister, „das ist der Schneidertraum, wie ihn ein
Junge träumen muß, ehe man ihn annimmt.«
Maurus J6kai über den Traum
„Und erst die Träume! Der Traum ist der Zauberspiegel, in welchem
der Mensch sich so sieht, wie er wäre, wenn seine Triebe und Wünsche
allein maßgebend wären. Der Kahle hat im Traum Haare. Die Angebetete,
die er im wachen Zustand nicht zu erreichen vermag, zwingt der Mensch,
ihn im Traume zu erscheinen, und so zu erscheinen, wie es ihm beliebt."
1 9 8
Zur Technik des Witzes
(Der latente Sinn der elliptischen Entstellung)
von
Theodor Reik
Eine der „Drei psychoanalytischen
Notizen", die der Verfasser in der am 6. Mai
1926 zum 7 O.Geburtstage Sigm.Freuds er-
schienenen Doppelnummer der „Imago,
Zeitschrift für Anwendung der Psycho-
analyse auf die Natur- und Geistes-
wissenschaften" veröffentlichte. Die beiden
anderen Notizen heißen „Grußverlegenheit"
und „Den Gesprächspartner verloren".
Die Auslassungstechnik der Zwangsgedanken sowie des Witzes
wurde von Freud zum ersten Male klargelegt und in ihren Zielen
verständlich gemacht. Die Auslassung will den wirklichen Wort-
laut der Zwangsidee entstellen und so gegen das Verständnis
schützen. Als Beispiel sei die Zwangsidee eines Patienten ange-
führt, der sich mit Aufwand großer psychischer Energie gegen
blasphemische Gedanken zur Wehr setzte: Wenn ich einen Schuh-
riemen einschnüre, verfluche ich Gott. Da sich dieser Gedanke
schließlich auf alle Schuhriemen verschob, sah er sich genötigt,
mit offenen Schuhriemen auf der Straße zu gehen. Die Einsetzung
der übersprungenen, in der Analyse erschlossenen gedanklichen
Zwischenglieder ist zum Verständnis der Zwangsidee notwendig.
Die Bedeutung des Einschnürens der Schuhriemen in die Ösen
als Sexualsymbol für den Geschlechtsverkehr sowie der Mechanis-
mus der Verschiebung auf ein Kleines liefern die erforderliche
Aufklärung. Der ergänzte Gedankengang lautet: wenn ich einen
Geschlechtsverkehr ausfuhren will, stört mich der Gedanke an
den Vater, so daß ich ihn verfluchen will und dieser Fluch konnte
in Erfüllung gehen. Diese Zwangsidee, auf Gott als den Störer
der Sexualität verschoben, gibt das Wesentliche der Losung. 1
Wir stellen dieser Zwangsidee einen Witz zur Seite, dessen
Technik ebenfalls die der Auslassung ist. Der Wiener Athlet und Ring-
1) Der Vater hatte zur Pubertätszeit des Sohnes die Onanie energisch und
unter starken Drohungen verboten. Gleichzeitig hatten andere Personen, die
ihm nahe standen, die Onanie als Sünde und Verbrechen gegen Gott hingestellt
*99
kämpfer Jagendorfer erzählt seinen Freunden beim abendlichen
Stammtisch folgendes Erlebnis des Tages: „Denkt's euch, wie ich
heut' in mein Kaffeehaus komm' und meine Billardpartie spielen will
ist mein Queue nicht da. Ich such' überall und find' es nicht. Da
seh' ich einen Herrn am anderen Billardtisch spielen und seh',
daß er mit meinem Queue spielt. Ich geh' also hin und sag' ihm:'
,Herr, das ist mein Queue.' Sagt er: ,Nein, das ist meines/ Sag
ich: ,Herr, geben S' das Queue her, wenn ich Ihnen schon sag,
es ist mein Queue'. Er aber gibt nicht nach und sagt immer
wieder, daß es seines ist. Wie's ihn dann mit Essig g'wasch'n
hab'n, seh' ich erst, daß es wirklich nicht mein Queue
war.« Es ist die Frage berechtigt, ob hier überhaupt ein
Witz vorliegt. Handelt es sich nicht vielmehr um eine komische
Geschichte? Sehen wir näher zu: der erste Eindruck könnte ein
komischer sein; wir lachen über den ungeschlachten Riesen, der
wegen einer solchen Bagatelle einen — noch dazu unschuldigen —
Nebenmenschen zu Boden schlägt. Wir würden sicher nicht so
handeln; es ergibt sich hier jener Fall des Komischen, der ent-
steht, wenn wir den Aufwand — in unserem Fall den körper-
lichen und affektiven — anderer Personen mit dem vergleichen,
den wir m gleicher Situation zeigen würden. Es wäre also der
allzugroße Aufwand, der uns lachen macht.« Es ist so, wie wenn
wir uns sagen würden: was für ein Tölpel! konnte er nicht sorg-
samer überprüfen, wessen Billardcrueue es war? Wir merken aber
bei dieser Erklärung, wie wenig komisch das eigentlich ist; wir
mußten eigentlich über diesen Mangel an seelischem Gleichmaß
und diese Brutalität entrüstet sein. Versuchen wir eine andere
Fassung der Erzählung etwa: „Wie ich ihm dann einen Faust-
schlag versetzt habe, so daß er ohnmächtig wurde, sehe ich erst. . .«,
S ° fff!** Wir ' daß ^elleicht noch immer ein Stück Komik
übrigbleibt, aber es ist nichts mehr da, was uns berechtigen
wurde, hier einen Witz zu finden. Wir sehen also: einer der Fälle
m denen das Komische dem Witz als Fassade dient. Das Witzige
hangt gerade an dem Moment der Auslassung dieses Satzes und
an der Ausdrucksweise des folgenden, der eine Anspielung auf
das Ausgelassene enthält. Diese Fortsetzung zeigt ebenso wie das
Überspringen, daß das Niederschlagen des Athleten so selbst-
verständlich erscheint, daß er es gar nicht zu erwähnen braucht;
1) Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Ges. Schriften
TV S iii f
Bd. IX, 8. 222 f.
200
sogar das „Mitessigwaschen" erwähnt er nur so nebenbei, als
Zeitbestimmung. Wir erkennen jetzt, daß es diese Technik war,
die auch für das Komische entscheidend war: gerade diese Un-
bekümmertheit und Selbstverständlichkeit der Aggression, sowie
ihr selbstverständlicher, in unseren Augen übertriebener Erfolg
wirken zusammen, um unsere Entrüstung über eine solche Bru-
talität ersparen zu helfen und uns lachen zu machen. Daß der
Athlet dann seinen Irrtum einsieht, hat die verstärkende Wirkung,
daß es uns das Übereilte und Unzweckmäßige seiner Aktion zeigt ;
wir lachen über ihn, wie wir über die unzweckmäßigen und über-
mäßigen Bewegungen von Kindern lachen. 1
Wir haben nicht vergessen, daß das Komische hier den Witz
verdeckt. Das Komische wirkt sich darin aus, daß wir über den
Athleten lachen; das Witzige in der Erzählung wird die Wirkung
haben, daß wir mit ihm lachen. Wir lachen nämlich über seinen
Bericht auch, weil er, durch die Vorlust verdeckt, tiefere unbe-
wußte Regungen in uns freigemacht hat. Wir fühlen: eigentlich
sind diese selben gewaltsamen und gewalttätigen Regungen in
uns allen; auch wir wären fähig, wenn uns nicht die Kultur-
hemmungen hinderten und wenn wir über die Körperkräfte eines
Athleten verfügten, einen niederzuschlagen, wenn wir überzeugt
sind, er wolle uns unser gutes Recht streitig machen. Unsere aggressi-
ven und sadistischen Impulse erfahren eine plötzliche Aufhebung
der Hemmung, wenn wir uns mit dem Athleten identifizieren.
Wir lachen also aus erspartem Hemmungsaufwand.
Doch wir wollten uns ja nicht mit der Psychogenese der Witz-
wirkung, sondern mit der speziellen Technik der Auslassung be-
schäftigen. Die latente Bedeutung der Auslassung oder der ellipti-
schen Technik scheint mir nun zu sein, daß mit diesem techni-
schen Mittel auch ein spezifischer Inhalt verbunden ist, der eben
auf das Wegschaffen, Aus-dem- Wege-Räumen eines Objektes hin-
zielt. Es ist also so, als ob durch die Auslassung unbewußt eine
Tendenz zum Ausdruck käme, welche die Person eliminiert, ver-
nichtet oder tötet. Die Auslassung als technisches Element ent-
spricht inhaltlich einer siegreichen seelischen Strebimg zur radi-
kalen Entfernung eines gehaßten Objektes (oder einer gehaßten
Institution, die durch eine Person verkörpert wird). Um diese Be-
ziehung zwischen einer typischen Technik und einein latenten
Inhalt klarzumachen, müssen wir wohl weiter ausgreifen. Es ist
1) Freud: Der Witz usw. Ges. Schriften, Bd. IX, S. 221.
201
in der analytischen Literatur noch keineswegs gebührend hervor-
gehoben worden, wie oft und wie erfolgreich die Form eines
seelischen Phänomens dazu verwendet wird, seinen geheimen
Inhalt darzustellen. Wie uns Freud gezeigt hat, bedient sich der
Träumer oft einer ähnlichen Technik, wenn er seinen Traum
erzählt und ein Stück von dessen latenter Bedeutung in einer
Glosse, einem Urteil, oder einer Bemerkung darüber unterbringt.
Oft ist in einem solchen beiläufig bemerkten Formelement gerade
das Wesentliche des Trauminhaltes enthalten. In derselben Art
dient die Vorstellungsmimik dazu, den Inhalt des Vorgestellten
darzustellen, wie es Freud in seinen Ausführungen über den
r Ausdruck des Vorstellungsinhaltes" geschildert hat. 1
Wir meinen also, eine unterirdische Beziehung zwischen der
elliptischen Entstellungstechnik in den Zwangsgedanken und im
Witz und dem spezifischen Inhalt des Ausgefallenen gefunden zu
haben: die Auslassung stellte sich als Ausdruck der unterdrückten
Tendenz zur völligen Vernichtung, Ausrottung des Objektes dar.
(„Nicht gedacht soll seiner werden.") Wir können nicht sagen,
ob diese Beziehung eine konstante oder nur in einigen Fällen
nachweisbare ist. Prüfen wir unsere Hypothese an den uns zu-
nächst zur Verfügung stehenden Beispielen: in der elliptischen
Zwangsidee meines Patienten ist diese Annullierungstendenz ohne-
weiters klar; das Ziel seiner Wünsche ist eben, den Vater völlig
auszuschalten. Ebensowenig ist die Vernichtungsabsicht in der
Geschichte von Jagendorfer zu verkennen. Man könnte diesen
Witz in eine Reihe stellen mit jenen komischen Übertreibungen
und Renommierereien, in denen die Gassenjungen unserer an-
geblich von alter Kultur erfüllten Stadt die gewaltige Wirkung
ihrer Affektäußerungen darstellen. Ich horte einmal, wie ein halb-
wüchsiger Fleischhauerjunge in einem Wortstreite einem anderen
zurief: „Wenn ich dich nur anrühr', paßt' ja in kein Sarg mehr
hinein!" Hier ist also nicht nur eine Beschädigung von der Kraft-
äußerung zu erwarten, sondern eine so weitgehende Deformation,
— noch dazu durch bloße Berührung — daß kein Sarg mehr den
formlos gewordenen Leichnam des Gegners aufnehmen könnte.
Auch hier ist eine Auslassung konstatierbar, aber entsprechend
dem ungehemmteren Charakter des Milieu ist der Inhalt des
Ausgelassenen als gewaltsame Tötung aus dem folgenden Satze
leicht erratbar. Wir werden durch die Kontrastierung dieses Bei-
l) Freud: Der Witz. Ges. Schriften, Bd. IX, S. 220.
202
Spieles mit anderen darauf aufmerksam, daß, was hier im Nach-
satz so unzweideutig: hervortritt, anderswo nur angedeutet er-
scheint, daß sich der Inhalt des Ausgelassenen in der folgenden
Satzfügung nur als Anspielung oder in abgeschwächter Form
findet. Wirklich können wir diese Spur in dem der Auslassung
folgenden Satz unserer Beispiele verfolgen; in der Zwangsidee
des Patienten lautet dieser: muß ich Gott verfluchen. In der Er-
zählung des Athleten tritt die Wirkung des Schlages, also der
aggressiven Tendenzen in dem Nebensatz „wie sie ihn dann mit
Essig g'wasch'n hab'n" hervor. Es ist so, als ob sich das Ausge-
fallene gleich im folgenden Satze eine abgemilderte und abge-
schwächte Vertretung, einen Ersatz gesichert hätte, der freilich
den ursprünglichen krassen Inhalt des Ausgefallenen nur ahnen
läßt. Wir sind uns der Unzulänglichkeit unserer Worte bewußt,
wenn wir die psychologische Sachlage folgendermaßen beschreiben:
der bewußtseinsfähige (vorbewußte) Inhalt der Auslassung geht
soweit, als der Vorstellungsumfang der Ersatzbildung (des fol-
genden Satzes, der folgenden Anspielung) reicht; der unbewußte
Inhalt wird durch das Ausmaß der Auslassung selbst bestimmt.
Die Ersatzbildung oder Anspielung dient so nur als Wegweiser,
nicht als zureichende Auskunft. Wir werden etwa durch den fol-
genden Satz darauf aufmerksam, daß das Ausgefallene von aggres-
sivem, feindlichem Charakter war, daß es sich um den Ausdruck
von Zorn oder Haß handelt, aber die Intensität dieses Hasses,
das Ausmaß dieser Wut bleibt unbewußt, ebenso das Triebziel,
eben die Vernichtung oder Tötung des Objektes. Gerade die ana-
lytische Erforschung der Zwangsneurose bringt hier die beste
Analogie : wir hören oft von Patienten, sie seien bei einem be-
stimmten Anlaß oder gegenüber einer bestimmten Person ärgerlich
oder böse geworden, aber die Tiefe ihrer Affekte, der Charakter sinn-
loser Wut, der zu stärksten Todeswünschen gegen gehaßte Personen
fuhrt, blieb ihrem Bewußtsein entzogen. Auch die Unbestimmtheit
des Nachsatzes der Zwangsidee (als Beispiel das bei Freud an-
geführte: 1 „Wenn ich die Dame heirate, geschieht dem Vater
i) Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (Ges. Schriften
Bd. VIII). Gerade die Analyse dieses Falles zeigt, daß der Inhalt der elliptischen
Entstellung unbewußte Todeswünsche gegen den Vater sind, die sich kraft der
Allmacht der Gedanken verwirklichen könnten. Der von Freud angeführte
Witz „Wenn der X. das hört, bekommt er wieder eine Ohrfeige" scheint nicht
auf solchen Inhalt des Ausgefallenen schließen zu lassen. Die Fortsetzung der
im Nachsatz angedeuteten Aggressionstendenz ins Unbewußte würde aber die-
205
ein Unglück"), die ihr Pendant manchmal in der Anspielung im
Witz findet („wie's ihn dann mit Essig g'wasch'n hab'n"), zeugt
von der Bemühung, den wirklichen Inhalt der Zwangsidee, des
Witzes — nämlich den Tod — der bewußten Vorstellung fern-
zuhalten. Die Ersatzbildung bringt also das Ausgelassene in außer-
ordentlich abgeschwächtem, bewußtseinsfähigem Ausmaße wieder.
In einzelnen Beispielen greift sie, wenn kein Zweifel mehr
am Inhalt des Ausgefallenen bestehen kann, sogar zu heuchle-
rischen oder ironischen Verteidigungen wie in jenem furchtbaren
Worte: „Die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß er nicht
existiert."
Es steht also so, daß die geheime Bedeutung der elliptischen
Technik der Ausdruck heftiger Vernichtungstendenzen, unbewußter
Todeswünsche ist, die man nicht laut sagen kann, ohne auf Ent-
rüstung und Ablehnung seitens der Umwelt zu stoßen. In jenen
Beispielen, in denen das sexuell Anstößige ausgelassen wird,
brauchen so intensive Destruktionstendenzen unbewußter Art
keineswegs zu fehlen; die Trieb strebungen sind dort konstitu-
tionell durch sadistische, gegen das Objekt gerichtete Tendenzen
verstärkt, wie dies manchmal in der Zote zum Ausdruck kommt.
Wir könnten die Auslassung im Witz und im Zwangsgedanken
jenen Aus drucks Vermeidungen gleichsetzen, die selbst zum Aus-
druck des unterdrückten Inhaltes werden. Die Abmilderungen oder
Anspielungen des folgenden Satzes, die den Charakter der Ersatz-
bildung haben, wären dann jenen Euphemismen zu vergleichen, die
wir manchmal anwenden („dahinscheiden", „uns verlassen" usw.
selben Vernichtungstendenzen gegen die verspottete Person zeigen. Freud
weist übrigens selbst darauf hin, daß neben den formellen auch inhaltliche
Übereinstimmungen zwischen der Zwangsidee und diesem Witz bestehen.
Wie Freud zeigt, ist auch die Auslassung, die er einer Verdichtung ohne
Ersatzbildung vergleicht, eine Art der A nspielung. „Eigentlich wird bei jeder
Anspielung etwas ausgelassen, nämlich die zur Anspielung hinführenden Ge-
dankenwege. Es kommt nur darauf an, ob die Lücke das Augenfälligere ist
oder der die Lücke teilweise ausfüllende Ersatz in dem Wortlaut der Anspie-
lung. So kämen wir über eine Reihe von Beispielen von der krassen Auslassung
zur eigentlichen Anspielung zurück." (Freud, Der Witz. Ges. Schriften,
Bd. IX, S. 85.)
Um hier der krassen Auslassung einen Witz mit Anspielung gegenüber-
zustellen, sei auf eine Szene in einem Lustspiele von Maurice Donna y ver-
wiesen. Dort flüchtet eine Dame vor den Nachstellungen eines Don Juan in
die Wohnung eines Freundes ihres Mannes. Der Herr beruhigt die Erschreckte
mit den Worten: B Si vons ites chez moi, vous n'avez rien ä craindre — des
autres.*
204
für sterben). Der Vergleich geht freilich nicht über eine gewisse
Grenze hinaus, denn der Ausfall in den Zwangsideen oder im
Witz drückt wirklich einen unbewußten Todeswunsch aus. Die
Auslassung ist nur eine verhülltere Form eines Optativs : oh, wäre
er weg, möge er sterben, verschwinden!
Vielleicht darf uns das erste Beispiel, das wir gewählt haben,
jene blasphemische Zwangsidee, den Mut geben, eine Vermutung
darüber zu äußern, wie es überhaupt zu solcher Auslassungstechnik
gekommen ist. In den Denkmälern des antiken Orients sowie im
Sprachgebrauch bestimmter semitischer Völker finden wir Aus-
drücke wie: X. Y. (Name) mit dem Zusatz: Tanit, Allah usw. ver-
nichte ihn, möge seinen Namen zerstören! Es sind also Namen,
die von einem Fluch gefolgt sind. Es wäre aus dem Verdrängungs-
fortschritt der Jahrhunderte zu verstehen, daß solche Flüche nach
Erwähnung von Personen unterdrückt worden wären, und sich an
deren Stelle eine Ersatzbildung eingestellt hätte.» Diese so unter-
drückte, schließlich verdrängte Regung hätte sich gerade des Aus-
falles bedient, um zum Ausdruck zu kommen. Es wäre so, wie
wenn ein Soldat der eigenen Armee zum Feinde überliefe, um
gegen die früheren Kameraden zu kämpfen. Die Auslassung als
Mittel der Unterdrückung wäre schließlich Ausdrucksmittel des
Unterdrückten geworden. Die Verdrängung jener gewalttätigen
Impulse, die auf Tötung und Vernichtung des gehaßten Objektes
abzielen, ist also die Vorbedingung der Auslassung, die so zu
einem psychischen Kompromißausdruck der verdrängten und der
verdrängenden Regungen würde. Sie ist aber auch dafür verant-
wortlich, daß es zum Kurzschluß des Witzes und zu dem an-
scheinenden Widersinn der Zwangsidee kam. Wie in der Psycho-
logie der Traumvorgänge wird hier die Absurdität zum Zeichen
des Spottes und Hohnes, des Protestes gegen die verdrängenden
IVIächte
Wir wollen nur noch ein Beispiel elliptischer Witztechnik an-
führen: der geniale Wiener Schauspieler Girardi antwortete ein-
mal einem Kollegen, der ihn um Geld bat, mit den anscheinend
ganz unsinnigen Worten: „Wissen S' was, lieber Freund
Sei'n wir lieber gleich bös'." Das scheint auf den ersten Blick
Unsinn, auf den zweiten verrät es die besondere Welterfahrung
des Schauspielers. Das heißt doch: Wenn ich Ihnen ]etzt Geld
i) Als Übergangsstadium wäre etwa an Formel wiei er, dessen Nam.-
nicht genannt werden soll, zu denken.
205
borge, werde ich es sehr widerwillig tun und Ihnen deshalb alles
Böse wünschen. Mein Arger wird sich „och steigern, wenn Sie
Sw7r «M r r" U t hen d " GeH ni€ht *-**** werden.
D.eses Gefühl kann aber unmöglich nach außenhin spurlos bleiben-
es wird sich .rgendwie ein Ventil verschaffen und wir werden
Femde werden. Man könnte diese psychologische Reihe „och nach
anderer R.chtung hi„ fortführe«: auch der Bittsteller ist durch
die Demütigung daß er um Geld bitte« muß, bereits unbewußt
femdich gegen den vom Geschick begünstigtem Kollegen ein-
gestellt und d.eses Gefühl wird durch das reaktive Schuldgefühl
wenn er da, Geld nicht zurückgeben kann, noch vertieft werden «'
tZL ^ Tw 'V?" SeitS "' der Aus ^g der Beziehungen
nicht zwe.felhaft. Der freundliche Rat, doch gleich böse zu sfin,
sehe nt so nicht nur die Geldausgabe, sondern aueh eine Reihe
zu' wöten 3 ZwlSChenbe ? ebenheiten ™* Zwischengefühle ersparen
Hier ist freilich der unbewußte Todeswunsch nicht zum Aus-
Eülf T' 7 T die elli P tische *«™ "„gt von seiner
Ex.stenz - aber der Rat des Schauspielers verrät uns, daß die
Zumutung, Geld zu borgen, auf dessen Rückzah.ung er nicht
BittsteTl k0nnte ;.'\ ihm "«*• feindselige Gefühle "gegen den
B.ttste ler ausgelost hat. Die unbewußte Fortsetzung diese? Affekte
frbttertn F a r T ^ * Sei "- SageD ** " icht ™ einera
erbitterten F„„de: „Er ex.stiert nicht mehr für mich« oder „Er
ist für mich gestorben«? "
der S 7 JI ird !, n der u , T echnik des Witzes und in der Formulierung
*e ,3f° klar ' ff 8 Wir UnS " 0ch durch die Auslassung^
Glda e .:ke T „ er bfk:„ e r SOlUe ' UnBeWUßt « — ^^erischen
&& Über . the n Me u cha " lsmen /« unbewußten, reaktiven Schuldgefühls ver-
gleiche mein Buch „Gestandniszwang und Strafbedürfnis" (Internationale
Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XVIII), ,925. internationale
2) Ein Witz desselben Schauspielers, der sich ebenfalls der Auslassung be-
dien um seinen verborgenen Sinn zu verraten: auf die Frage, welches seine
Lieblingsbeschäftigung sei, antwortete Girardi: „Zweitens: auf dem Meere
innren.
<2o6
Einige unkritische Gedanken zu Ferenczis
Genitaltheorie
Von
Franz Alexander
Aus dem Band XI (rp2j) der
„Internationalen Zeitschrift für
Psychoanalyse" .
Ferenczis wissenschaftliche Persönlichkeit findet in diesem
Werk ihren klarsten Ausdruck. Die „Genitaltheorie"! i st ein Werk
der schöpferischen Intuition, einer Intuition, die der jahrelange
Durchgang durch den Filter der Empirie, gewissenhafte Beob-
achtungen, die stummen, doch mühsamen therapeutischen Kämpfe
der täglichen Behandlungs stunden veredelt haben. Ferenczi ist
ein Romantiker unserer Wissenschaft und das Schicksal jedes
Romantikers wird ihm zuteil, er muß interpretiert werden. Was
in seinem Werk an klassischer Ausgeglichenheit der Gestaltung
fehlt, schenkt er uns in dem Reichtum seiner weitblickenden Ideen,
Anregungen und Funde, die er oft noch roh, ungeschliffen vor uns
wirft, die noch etwas vom mystischen Dunkel des Unbekannten
an sich haben, ihre Herkunft aus den kaum eroberten Gebieten
des Kosmos nicht verleugnen können. Man fühlt, daß der, der
dieses Buch geschrieben hat, kein Handwerker ist, sondern jemand,
für den Forschung Erl bnis bedeutet, innere Notwendigkeit ist.
Er ist kein Sohn unserer Separatabdrucke fabrizierenden Zeit er
hat kein „gelehrtes Buch" geschrieben und so darf diesmal endlich
auch die „gelehrte" Kritik schweigen. Wenn wir auch nicht mit
jeder Einzelheit seiner Ausführungen einverstanden sind, begrüßen
wir den Geist des Buches, der dem Geist der Psychoanalyse ent-
wachsen ist. Ferenczis kühne Husarenattacke bedeutet zwar noch
nicht den endgültigen Sieg, doch durch die Bresche die «ein
Wagnis geschlagen hat, eröffnet sich uns die Aussicht auf die
Eroberung des Körpers durch die Psyche.
Hier liegt der gedankliche Kern des Buches. Ferenczi ver-
sucht nicht nur den Trieb, sondern auch den morphologischen
Aufbau des Körpers nach seinem Sinn aufz uklären, jene psychischen
i) Dr S Ferenczi, Versuch einer Genital theorie. Internationale Psycho-
analytische Bibliothek, Bd. XV, 1Q2+. [Ein Kapitel daraus abgedruckt im vor-
jährigen Almanach.]
207
Tendenzen, Wünsche zu rekonstruieren, aus denen die Triebe als
Erstarrungsprodukte entstanden sind, die den Körper geformt
haben. Er beschreibt uns, wie die aus dem Wasser vertriebenen
Lebewesen in ihrer Beharrungstendenz sich selbst den Mutter-
boden, das Wasser, im Innern des weiblichen Körpers verschafft
haben, und enträtselt damit die Hieroglyphenschrift der Zeugung.
In dem Geschlechtstrieb, der die männlichen Samenzellen in den
Uterus zu bringen trachtet, kehrt die nie aufgegebene Sehnsucht
des ehemaligen Wasserbewohners nach seiner Urheimat wieder,
die im Uterus autoplastisch nachgebildet wurde. Dieser Gedanke
ist dem Psychoanalytiker sehr einleuchtend und vom Evidenzgefuhl
begleitet; kennt er doch die symbolische Bedeutung des Wassers
als Weib und, noch umschriebener, als Mutterleib aus der Traum-
deutung so gut und weiß, daß diese Symbolik nicht aus der indivi-
duellen Erfahrung stammen kann. Um so mehr, als in dem Traum-
leben der sexuelle Wunsch so häufig als eine Rückkehrtendenz in
den Mutterleib dargestellt wird. So gelingt es Ferenczi, den
psychischen Inhalt des Geschlechtstriebes aus seiner Urgeschichte
zu erklären. Diese Erklärung, die man nicht als „nur geistreich"
bezeichnen darf, hat eine prinzipielle Bedeutung nicht nur fur
die Biologie, sondern, ich möchte fast sagen, für unsere gesamte
wissenschaftliche Stellungnahme zur Umwelt. Und diese umfassende
Bedeutung hat mich zu dieser Mitteilung bewogen.
Ferenczis Versuch, die Geschichte des Sexualtriebes zu rekon-
struieren, enthält einen unausgesprochenen Grundsatz, und sein
Versuch ist mehr als eine bloße Theorie der Genitalität. Dieser
Grundsatz ist zwar für den Psychoanalytiker keinesfalls, für den
Biologen aber mehr als umwälzend und könnte etwa in folgender
Weise formuliert werden: Jede Körperfunktion wie auch der ganze
anatomische Aufbau des Körpers hat einen psychologischen Sinn
und ist das Resultat ehemaliger psychischer Tendenzen. Das ganze
Rätsel der Zweckmäßigkeit der Organismen ist mit dieser ein-
fachen Behauptung gelöst; es gehört nur darum Mut dazu, sie
auszusprechen, weil die exakten Wissenschaften des letzten Jahr-
hunderts es für ihre Pflicht erachtet haben, das Leben mechanistisch
zu erklären.. Die Zweckmäßigkeit der Körperfunktionen und Ein-
richtungen konnte nicht geleugnet werden, — wenn auch jede
entdeckte scheinbare Unzweckmäßigkeit von den Materialisten
mit besonderer Genugtuung begrüßt wurde — und man versuchte
sie durch die Ausschaltung der Psyche mit der Hilfe physikalischer
und chemischer Prinzipien zu lösen. Die nächstliegende Tatsache
208
der Selbstbeobachtung, wie sich ein Wunsch in Muskelaktion ver-
wandelt, wie ein großer Teil der Körperfunktionen, die Bewegungen
der quergestreiften Muskulatur dem bewußten Willen unterworfen
sind, wurde dadurch erledigt, daß ein Teil der Großhirnrinde als
„der Sitz" dieser seelischen Motive entdeckt wurde. Die Aus-
schaltung der Seele war mit diesen Entdeckungen auf dem besten
Wege und man hoffte von ihr nicht mehr gestört zu werden. Und
doch konnte die Medizin der heimtückischen Psyche nicht so leicht
ihre Türen verschließen. Das hysterische Phänomen zerstörte die
Seelenruhe der Materialisten, „der Sprung vom Seelischen ins
Körperliche" war eine unbequeme Tatsache: die Psyche verlangte
nach Heimatrecht in körperlichen Regionen, die man frei von dem
unliebsamen und unexakten Eindringling gedacht hat, in denen
nur die offiziell beglaubigten Gesetze der Physik geherrscht haben.
Der Hysteriker spielte ein böses Spiel mit dem Mediziner, er
bewies, daß er den physikalisch-chemischen Apparat in den Dienst
seiner Wünsche stellen, daß er den ganzen Körper als Ausdrucks-
mittel benützen kann. Und der Mediziner konnte sich nur derart
vor dem Problem der Hysterie retten, daß er die Augen schloß
und seine Existenz ableugnete. Nachdem die Hexenprozesse des
Mittelalters ihm nicht mehr zur Verfügung standen, mußte er
sich damit begnügen, den Hysteriker aus der Sprechstunde zu
jagen, ihm das Recht, sich krank zu nennen, abzusprechen. Es
ist ein unvergeßliches aktum der Geschichte der Medizin, wie
die Wiener Ärzte die ptiren Tatsachen der Hysterie abzuleugnen
versuchten, als der junge, aus Paris zurückkehrende Freud ihre
Aufmerksamkeit auf diese merkwürdigen Symptome zu lenken ver-
sucht hatte. Man hat mit Recht gefühlt, daß von dieser Seite der
tödliche Stoß gegen die materialistische Medizin und von da aus
gegen die ganze materialistische Weltauffassung des_ neunzehnten
Jahrhunderts erfolgen wird, man hat es gespürt, ohne im voraus
wissen zu können, welche Bedeutung dem Verständnis des hysteri-
schen Phänomens zukommen wird. Seitdem haben sich die Zeiten
geändert. Die Psychoanalyse erkämpfte zunächst die Zuständig-
keit der Psyche für die Neurosen und Psychosen und auf diesem
Gebiet gilt die Verteidigungslinie der Schulwissenschaft als ge-
brochen.
Doch das Studium der konversionshysterischen Symptome er-
laubte es nicht, auf diesem Punkte stehen zu bleiben, es zwang
den Psychoanalytiker zu Schlußfolgerungen, denen selbst er an-
fangs nur zögernd nachgeben konnte. Auch er war mit der mate-
i4 20 9
L
rialistischen Erziehung belastet und konnte sich nur schwer aus
ihrem Bann befreien. Es zeigte sich, daß der Hysteriker in seinen
Symptomen sich archaischer Mechanismen bedient, indem er solche
Körperfunktionen psychisch beeinflußt, die bei dem Normalen dem
Einfluß der Psyche verschlossen sind. Die zwingende Schluß-
folgerung war die, daß auch diese, heute scheinbar rein körperlich-
biologischen Funktionen einmal der Psyche unterworfen waren,
ebenso wie heute unsere bewußten willkürlichen Körperbewegungen.
Also auch die rein somatischen Vorgänge waren einmal beseelt
und wurden allmählich automatisch: entseelt. Jeder Lebensvorgang
hat demnach einen psychologischen Sinn. Er war einmal mit
psychischer Energie besetzt und bedeutete einen tastenden, mit
Lust und Unlust begleiteten Anpassungskampf des Organismus mit
der Außenwelt. Allmählich wurden die Mechanismen, die sich am
zweckmäßigsten erwiesen oder — besser gesagt — empfunden
wurden, durch Wiederholung automatisch, sie sind als reine Körper-
funktionen erstarrt, und so wurde eine Menge psychischer Be-
setzungsenergie frei, für neue, noch ungelöste Lebensprobleme
Anpassungskämpfe, verwendbar. Ein Vorgang, den man auch i m '
individuellen Leben immer wieder beobachten kann, wie z. B. die
zuerst willkürlichen Innervationen eines Violinkünstlers durch
Übung allmählich automatisch werden und es dem Künstler da-
durch ermöglichen, seine Kräfte für die höheren Aufgaben des
künstlerischen Ausdrucks zu verwenden. Der Verfasser dieser
Zeilen hat dieses Prinzip der Körperwerdung der Psyche als das
Wesentlichste der ganzen psychoanalytischen Lehre zu formulieren
versucht und nachgewiesen, daß diese Tatsache bereits in den
ersten Darstellungen von Breuer und Freud enthalten ist.»
Diese Auffassung der Lebens Vorgänge, welche in ihrem Wesen
mit der Lamarckschen identisch ist, eröffnet der Biologie neue
Bahnen. Der sinnvolle Aufbau des Körpers und seiner Funktionen
kann erst dann ganz verstanden werden, wenn es uns gelingt,
jene ursprünglichen, seelischen Inhalte anzugeben, welche den
damals noch beseelten Körpervorgängen in der Urgeschichte zu-
grunde lagen. Diese Aufgabe ist mit der Rekonstruktion der Ge-
schichte des Körpers gleichbedeutend. Sie ist das genetische Ver-
ständnis der Organismen. Die Psyche hat den Körper geformt,
ihren jeweiligen Bedürfnissen und den Widerständen entsprechend,
welche die Außenwelt den Befriedigungen dieser Bedürfnisse ent-
Alexander, Metapsychologische Darstellung des Heilungsvorganges.
Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. XI. ioa&
210
gegenstellte. Von der Psychogenese des Körpers hat der vorwissen-
schaftliche Mensch intuitiv immer gewußt, der sinnvolle und zweck-
mäßige Aufbau des Körpers mußte ihm diese Erkenntnis aufdrängen.
Es bedurfte der künstlichen psychologischen Blindheit des neun-
zehnten Jahrhunderts, um diese Wahrheit wieder zu vergessen.
Der symbolische Ausdruck der biblischen Schöpfungsgeschichte,
daß der Körper von einem verständigen Geist erschaffen wurde,
erhält so endlich seinen wissenschaftlichen Sinn, gar nicht uner-
wartet für den Psychoanalytiker, der schon lange gelernt hat, daß
das Unbewußte in seinen Äußerungen, in der Sage, im Traum,
in dem neurotischen Symptom nicht selten mehr weiß, wenn auch
auf eine andere Art, als das Bewußtsein. Die Rekonstruktion jener
psychischen Vorgänge in der biologischen Urgeschichte, die den
Körperfunktionen und Einrichtungen ihre heutige Gestalt gegeben
haben, ist die neue Wissenschaft, die Ferenczi mit der Bezeich-
nung „Bioanalyse" einführt. Als die erste Tat dieser Wissen-
schaft bietet er uns die Erklärung der Genitalfunktion und der
Einrichtungen der weiblichen Sexualorgane höherer Tierklassen.»
Bei jeder neuen Wissenschaft kommt es in erster Linie auf
die Prinzipien an, mit denen die neuen Erkenntnisse erworben
werden. Wir sind überzeugt, daß viele Einzelergebnisse von Fe-
renczi noch sehr der Revision und der Bestätigung der Biologen
bedürfen, wenn auch sein Grundgedanke des „thalassalen Regres-
sionszuges« ungemein einleuchtend ist. Wenn wir auch einige
seiner Ergebnisse, allerdings nur von der Seite der Psychoanalyse
weiter unten abweichend von unserem unkritischen Vorhaben doch
kritisch besprechen werden, die wes entliche Aufgabe für uns bleibt,
i) Eine gleichgerichtete Entwicklung, die man ebenfalls als die Abend-
dämmerung des mechanistischen Weltbildes bewerten kann vollzieht sich
gleichzeitig in der Physik. Den ersten Schlag gegen j^Sl^SÜ'mSSl
nistischen Erklärungsversuche, die alles der Anschaulichkext opfern J****£
führte die elektrodynamische Lichttheorie aus. Ihr gültiger Erfolg ersetzte
da, bis dahin materialistisch-mechanistische Weltbild der Physik durch ein
dynamisches. Die moderne Atomtheorie führte die dynamische Anschauung zu
ihrer konsequentesten Vollendung: als das letzte Urprinzip wird die körper-
lose pure dynamische Einheit eingeführt. Diese immaterielle dynamische Ein-
heit der Physik ist der beweglichen psychischen Besetzungsenergie Freuds
- die ein rein dynamischer Begriff ist - an die Seite zu stellen. So bildet die
rein dynamische Auffassung der Bioanalyse, die psychogenetische Auffassung
des lebenden Körpers eine interessante Parallele zu der dynamischen Atom-
lehre Als die letzten Hochburgen der verschwindenden materialistischen
Periode bleiben damit die zwischen der Psychologie und Physik eingeklemmte
Biologie und Medizin, die die grobe, ja sogar optische Anschaulichkeit noch
immer als das höchste wissenschatfliche Postulat anerkennen möchten.
211
die Prinzipien seiner Methode zu würdigen, die, wenn sie richtig
sind, auch zu richtigen Resultaten fuhren werden.
Wir erwähnten bereits die vornehme Rolle, die das hysterische
Phänomen in der psychologischen Erforschung der Körperfunk-
tionen gespielt hat. Auch Ferenczi - ein Altmeister auf dem
Gebiet der Hysterieforschung — bekam von hier aus seine ersten
Anregungen, deren letzte Frucht seine Genitaltheorie bildet. Er
gelangte schon frühzeitig zur Erkenntnis, daß auch normale Inner-
vationen, die vom Bewußtsein unabhängig sind, wie z. B die
Erektion, in ihrem Wesen dem hysterischen Konversionssymptom
ähnlich sind. Sie haben einen Sinn, sie drücken eine seelische
Tendenz aus. Er nannte sie Materialisationen eines Wunsches. Der
Unterschied zwischen dem hysterischen Symptom und solchen
normalen Innervationen besteht darin, daß das hysterische Symptom
einen aktuellen Wunsch körperlich ausdrückt, in den physiolo-
gischen Funktionen hingegen die urgeschichtlichen Tendenzen der
Ahnen verewigt sind. Auf dieselbe Weise also, wie man den Sinn
eines hysterischen Syptom. enträtseln kann, ist es auch möglich,
den Suinder automatischen körperlichen Vorgänge, wie etwa den
der Begattung, zu erraten.
h»Zn\r T A demErscheinen vonFerenczis Buch, doch sicherlich
beeinflußt durch seine Arbeiten über Hysterie, bin ich bei der
Untersuchung des Kastrationskomplexes zu einer Auffassung des
Koitus gelangt, die einen Teil der umfassenden Gedanken von
Ferenczi enthält.» Diese Teilerkenntnis machte mich für seine
Iheone besonders empfänglich. Ich kam damals zur Einsicht, daß
der Kastrationserwartung nicht nur, wie Stärcke es annahm, die
Abgewohnung von der Mutterbrust eine affektive Unterlage schafft,
sondern auch noch ein früheres unlustvolles Erlebnis: die Geburt,
die Trennung von dem Mutterleib. Ich schrieb damals, „das
früheste affektive Nacheinander von Lust und Unlust durch Ver-
lust eines Körperteiles ist fraglos das Geburtserlebnis und dadurch
KT das Unbewußte geeignet, in der Sprache der primitivsten
Organisationsstufe die Kastrationserwartung darzustellen".* Diese
Erkenntnis führte mich dann zu der Auffassung, daß in dem Koitus
diese traumatische Trennung vom Mutterleib rückgängig gemacht
v. -i i le T X 1 a ", der ' Kastrationskomplex und Charakter. Internationale Zeit-
schrift für Psychoanalyse, Bd. VIII, 1922, S. 150 und 151.
-Ji 2) Bei ** nk fand dann <Ueser Gedan ke eine geistreiche Entwicklung, doch
führte sie ihn zu theoretischen und praktischen Konklusionen, die ich nicht
mehr mitmachen konnte.
212
wird. Ich sagte: „Beim Koitus drängt ein Teil des Körpers, der,
wie wir wissen, im Traum so oft die gesamte Persönlichkeit ver-
tritt, gegen den Uterus, und durch Zellteilung abgesonderte Teile
des Körpers, die Keimzellen, die auch biologisch einen Extrakt
der Persönlichkeit darstellen, — man denke an die Tatsache der
Vererbung — gelangen auch dorthin. Die Libido ist ja in ihrer
genitalen Form, biologisch ausgedrückt, ein Drang, die Keimzellen
in den Uterus zu bringen. Das Vordringen des Penis gegen den
Uterus kann in dieser Beleuchtung als die symbolische Darstellung
des Wunsches nach dem Mutterleib aufgefaßt werden. Die Realität
erzwingt jedoch zwei Verzichte: die Mutter wird durch eine an-
dere Frau ersetzt und die Rückkehr wird nur einem Teil des
Organismus, den Keimzellen, gewährt."
Diese Auffassung hat jedoch nur eine ontogenetische Bedeu-
tung und ist sicherlich noch nicht geeignet, über die Phylogenese
des Sexualtriebes etwas auszusagen. Dieser ontogenetische Sinn
des Koitus beruht auf der Urgeschichte, wie ja die Ontogenese
überhaupt durch die Phylogenese bestimmt ist. Und hier gab
Ferenczis Gedanke eine unerwartet einfache Lösung. Der
Begattungstrieb als Rückkehrtendenz in den Mutterleib ist
selbst schon der Ausdruck eines noch früheren phylogenetischen
Traumas : der Eintrocknung, die die ursprünglichen Wasserbewohner
zum Landleben verurteilte. Diese phylogenetische Tragödie wird
in der Individualentwicklung mit der Tatsache der Geburt wieder-
holt, die das Wassertier — Fötus — zu einem neuartigen Dasein
außerhalb des mütterlichen Körpers zwingt. In dem Begattungs-
trieb, der im Traum so oft als Rückkehr in den Mutterleib dar-
gestellt wird, ist die uralte Sehnsucht nach dem Wasserdasein,
welches im Mutterleib tatsächlich wiederholt wird, enthalten. So
erhält auch die Erfahrung von der Mutterbedeutung des Wassers
und der Geburtssymbolik als Rettung aus dem Wasser, die jeder
Psychoanalytiker ungezähltemal gemacht hat, ihre wirkliche Er-
klärung. Gleichzeitig bringen diese Gedanken für die bisher nur
empirisch beobachteten, doch immer rätselhaft gebliebenen Tat-
sachen der konstanten überindividuellen Traumsymbole eine Lösung,
und die Annahme von Freud, daß es sich bei diesen Symbolen
um phylogenetische Reminiszenzen handle, erhält eine frappante
Bestätigung. Die auffallende und anscheinend zuerst von Ferenczi
hervorgehobene Tatsache, daß die Amnionbildung und die Ent-
wicklung der Frucht innerhalb des Mutterleibes erst bei den Land-
bewohnern vorkommt, wird damit ungezwungen verständlich. Wir
21 3
sehen so, daß die Beobachtungen der verschiedensten Wissens-
gebiete, die Erfahrungen der Biologie, der Traumlehre und der
Neurosenlehre in diese Theorie einmünden, und sie gibt eine ge-
meinsame Lösung für diese voneinander unabhängigen empirischen
Fakta. Diese Entdeckung des Romantikers Ferenczi darf eine
klass 1S che genannt werden und ist mit Recht dazu berufen die
Grundlage der neuen Wissenschaft, der Bioanalyse, zu werden.
Wir haben den Eindruck gewonnen, daß das Gefühl der weit-
reichenden Bedeutung seines Gedankens Ferenczi verleitet hat
die bioanalytische Rekonstruktion der Lebensvorgänge auch auf
physiologische Phänomene auszudehnen, bei denen das empirische
Material noch unzureichend ist. Wir haben ein prinzipielles Be-
denken gegen den Versuch, die elementare Tatsache der Fort-
pflanzung mit einer Theorie des speziellen Vorganges der Befruch-
tung zu erklären. Die fehlende empirische Grundlage würde noch
die Richtigkeit des Gedankens nicht ausschließen und nur der Vor-
wurf der verfrühten Mitteilung könnte erhoben werden. Da aber eine
empirische Diskussion ausgeschlossen ist, kann dieser intuitiven An-
nahme auch nur eine intuitive Kritik entgegengehalten werden, und
zwar daß eine so elementare Tatsache der Biologie, wie die Fort-
pflanzung, durch einen spezielleren Vorgang erklärt werden soll.
hiltlTn 1 ^ derAutot °™ietendenz eine allgemeine
b olog sehe Bedeutung zu. Sie ist nach ihm ein Versuch, eine un-
Wolle Spannung durch Abstoßen eines Körperteiles aufzuheben.
fnrth T? ^ ? 'l Art ^ eschichte eine Urkatastrophe ent-
sprechen welche die lebendige Substanz zerriß (Plato-Freud)
wllT':V U{ diCSe Urkatastr °P^ ^r Zerreißung wä^ 1
Wiederherstellungsversuch des früheren Zustandes vof der Zer-
und'so d w ^ e ef r h r &: die Vereini ^ d - beide « K "»'
primitivst^ , Tr 4 ennUDg V ° n S ° ma Und Keimsubstanz, die
K?^ der Autotomie, die Wiederholung der zerre ß en-
den Urkatastrophe, die mit der Befruchtung wieder gutgemacht
Zt<2 ^T T Weise ' wie die GeW die WiJSS
Eintrocknungskatastrophe ist und die Begattung der Wiederher-
steUungsversuch des Wasserdaseins. Damit verwendet Ferenczi
den Plato-Freudschen Gedanken der Urzerreißung der lebenden
Substanz nur für die Erklärung der Befruchtung und muß eine
noch frühere Katastrophe annehmen, welche die Entstehung des
Lebens aus der leblosen Substanz bedingt haben sollte.
Wir haben den Eindruck, daß die elementare biologische Tat-
sache der Zellteilung geeigneter wäre, dieselbe erklärende Rolle
214
für die Fortpflanzimg überhaupt zu übernehmen, die Ferenczi
der Autotomietendenz für die Befruchtung zuschreibt. Wir würden
dagegen nichts einzuwenden haben, in der Zellteilung die Äuße-
rung der allgemeinen Autotomietendenz zu erblicken, als Wieder-
holung der zerreißenden Urkatastrophe. Aber der Wiederherstel-
lungsversuch des früheren Zustandes vor der Zerreißung wäre
dann nicht nur die Befruchtung, sondern in erster Linie das
Wachstum der Zerreißungsprodukte. Das Wachstum, die indi-
viduelle Entwicklung der Teilungsprodukte, ist doch der Vorgang,
der den Zustand vor der Zerreißung — der Zellteilung — wieder-
herstellt. Zellteilung (Trennung von Soma und Keimplasma) = die
Wiederholung der Urkatastrophe, Wachstum = die Wiederherstel-
lung. Diese Erklärung umfaßt auch die Fortpflanzung ohne Be-
fruchtung und die Befruchtung wäre dann nur eine sekundäre,
mehr akzidentelle Erscheinung (siehe die akzidentelle Kopulation
der Protisten), sie würde die Verstärkung der Wachstumsenergie
bedeuten durch die Vereinigung zweier mit Wachstumstendenz
geladenen Teilungsprodukte, deren Wachstumstendenzen sich ad-
dieren. Diese Theorie entspricht der Auffassung, die in der Fort-
pflanzung ein Wachstum über die Individualgrenze hinaus erblickt.
Wir möchten mir noch daran erinnern, daß wir diesen Ge-
danken vor Jahren bereits geäußert haben. Wir nannten damals
die Zellteilung einen plötzlichen Durchbruch in der Richtung des
Todestriebes, als den Ausdruck der von Freud supponierten Ur-
zerreißung der lebenden Substanz und das Wachstum wollten wir
als den darauffolgenden Wiederherstellungsversuch auffassen.» Am
i) Dr. Franz Alexander, Metapsychologische Betrachtungen. Internatio-
nale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. VII, 1921, S. 28a „Scheinbar hat jedoch
das Wachstum eine Möglichkeitsgrenze, und wir sehen, wie bei den Protisten,
daß einer Zeit des Wachstums die Teilung, die Fortpflanzung folgt. Nach der
Teilung, welche den aufbauenden Vorgängen ein plötzliches Ende bereitet hat,
entsteht nach dem Freudschen Prinzip eine Spannung, ein Drang, den der
Teilung vorangehenden Zustand wiederherzustellen und die Teilung ruck-
gängig zu machen. So würde ich den Sexualtrieb und die Freudsche Zer-
reißung der lebenden Materie auffassen. Dieser Trieb nach Wiedervereinigung
drückt sich in der akzidentellen Kopulation der Protisten und in der sexuellen
Vereinigung der höheren Lebewesen aus. Durch die Teilung, welche einen
partiellen Tod oder wenigstens einen plötzlichen Ruck in der 1 odesrichtung
bedeutet, schnellt die organische Materie auf einen früheren Zustand zurück,
welcher dem leblosen nähersteht, und gibt dadurch den anabolischen Kräften
eine neue Möglichkeit des Wirkens, welche in dem vollentwickelten Zustand
▼or der Teilung schon erschöpft war . . . Die Vereinigung zweier mit dieser
Spannung hochgeladenen Teile verdoppelt die Intensität der Wirkung und es
entsteht der neue, rapide Aufbau."
215
i
klarsten ist diese Beziehung zwischen Fortpflanzung und Wachstum
bei den Protisten sichtbar, die durch einfache Teilung sich ver-
mehren. Der Effekt der Teilung besteht hier wahrscheinlich nur
m der Verminderung der Masse und des Volumens des Körpers
Durch das nach der Teilung einsetzende Wachstum der beiden
Teilungsprodukte wird dieser Effekt der Teilung wieder rück-
gangig gemacht und der Zustand vor der Teilung wiederhergestellt.
Die Portpflanzung ist hier also ein reiner Autotomievorgang — im
binne Ferenczis die Wiederholung der Urkatastrophe der Zer-
reißung _ und das Wachstum ist der reziproke Vorgang der
Wiedergutmachung. Teilung (Fortpflanzung) und Wachstum ver-
halten sich also ähnlich zueinander, wie Geburt und Koitus. Die
Befruchtung wäre dann eine sekundäre Verstärkung der Wachs-
tumstendenzen - wie Loebs Versuche es tatsächlich zeigen -
und man könnte ihre urgeschichtlichen Motive nach dem geist-
reichen Gedankengang von Ferenczi als ein gegenseitiges Sich-
Auffressenwollen der Teilungsprodukte auffassen, die in ihrem
unersättlichen Wachstumsdrang und durch die äußere Not dazu
getrieben werden. Aus diesen gegenseitigen Zerstörungstendenzen
entsteht dann das Kompromiß des Zusammenwachsens. In diesem
seinem letzten Gedanken führt Ferenczi selbst, ohne es zu
merken, die Befruchtung auf die mehr elementare Tatsache des
Wachstums zurück (gegenseitiges Auffressen). Wir glauben, daß
t erenczi diese Zurückführung der Befruchtung auf die der Tei-
lung folgende Wachstumstendenz - die als der eigentliche Wieder-
herstellungsversuch anzusehen ist— als eine brauchbare Ergänzung
seiner Theorie annehmen wird.
Einen anderen Einwand, aber einen auf die analytischen Er-
ahrungen gestützten, möchten wir gegen die Amphimixis-
theone geltend machen. Nicht die Vermischung von prägenitalen
Triebquahtäten in der Genitalität wollen wir bezweifeln, sondern
die spezielle Hervorhebung der urethralen und analen Qualitäten.
Es soll nicht geleugnet werden, daß in dem genitalen Trieb und
besonders im Ejakulationsakt sowohl anale wie urethrale Quali-
täten auffindbar sind. Doch diese selbst sind keine ursprünglichen
elementaren Triebqualitäten und bilden zwar eine Vorstufe der
Genitalität, aber sie selbst sind von noch elementareren Trieb-
qualitäten zusammengesetzt.
Es ist auch nicht verständlich, warum die Oralerotik, die so
wichtige, zum Teil von Ferenczi selbst beschriebene Beziehungen
zur Genitalität hat, in der Dynamik der Ejakulation aus der
2l6
Amphimixis ausgeschlossen werden soll. Auch Helene Deutsch
und Rank 1 haben kürzlich gerade hier auf wichtige Beziehungen
hingewiesen. Es scheint uns vielmehr, daß die Amphimixis-Idee in
ihrer anspruchsloseren und allgemeineren Form, in der sie von
Freud ausgesprochen wurde, daß nämlich in der Genitalität alle
Partialtriebe zusammengefaßt werden, der späteren Forschung
weniger vorwegnimmt und keiner Korrektur bedürfen wird. Unsere
psychoanalytische Erfahrung legt uns eine andere, auf die ursprüng-
liche Konzeption vonFr eu d über die biologische Polarität derSeelen-
vorgänge gegründete 2 Vermutung nahe, daß die beiden elemen-
taren Grundqualitäten, die in dem Genitaltrieb, aber auch bereits
in den oralen, analen und urethralen Trieben, und zwar in ver-
schiedenem Verhältnis enthalten sind, „Passiv" und „Aktiv" sind.
In der Analerotik scheint die passive Komponente zu überwiegen,
während die Urethralerotik einen mehr aktiven Charakter verrät.
Doch ist mit Sicherheit anzunehmen, daß diese beiden Erotismen
keine reinen Qualitäten darstellen, sondern selbst Mischungsergeb-
nisse von Passiv und Aktiv sind. Der doppelte Charakter der
oralen Erotik ist besonders deutlich. Die Säugesituation bedeutet
sowohl ein passives Ernährtwerden wie auch ein aktives Auffressen
und beide Bedeutungen sind dem Analytiker wohlbekannt. 8 Wenn
also Ferenczi in der genitalen Erotik anale Zurückhaltungs-
tendenzen und urethrales Hergeben erkennt, so findet er nur die
ursprünglichen passiven und aktiven Elementarqualitäten wieder,
die aber bereits sowohl in den analen wie in den urethralen Ero-
tismen enthalten sind, wenn auch in verschiedenen Verhältnissen
gemischt. Die Annahme, daß der Ejakulationsakt gerade einer
urethro-analen Amphimixis entstammt, erscheint uns als eine will-
kürliche Bevorzugung dieser beiden schon selbst nicht mehr
elementaren Qualitäten. Nachdem es Ferenczi gelungen ist, in
der Phylogenese des Genitaltriebes die letzten Wurzeln aufzudecken,
versucht er in seiner ontogenetischen Theorie Teilerklärungen,
1) Dr. Helene Deutsch, Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen.
(Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, Bd. V, 1925.) Dr. Otto Rank,
Zur Genese der Genitalität.
2) Freud, Triebe und Triebschicksale, Gesammelte Schriften, Bd. V.
3) Ähnlicherweise ist in der Analerotik neben dem passiven Zurückhalten
auch das aktive Herausdrücken als Lustquelle enthalten. Abraham hat in
seinen feinen psychologischen Studien über die Analerotik besonders eindrucks-
voll auf diese entgegengesetzten Lusttendenzen hingewiesen. (Abraham,
Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido. Internationaler Psycho-
analytischer Verlag, 1924.)
217
l
die das analytische Beobachtungsmaterial nur einseitig berück-
sichtigen. Wenn eine persönliche Bemerkung erlaubt ist, ist
Ferenczi ein so ausgesprochen intuitiver Geist, daß er bei der
Theoriebildung dann am stärksten ist, wenn er nicht von einem
reichen Tatsachenmaterial, sondern aus einigen Grunderfahrungen
ausgehend, seine schöpferische Phantasie spielen lassen kann. Wir
verdanken dieser Phantasie eine der umfassendsten Entdeckungen
der psychoanalytischen Wissenschaft, die nicht nur nicht phan-
tastisch ist, sondern nach unseren Erwartungen die baldigste Be-
stätigung seitens der langsamer nachhinkenden Einzelforschung
erfahren wird. Wenn aus seinem Werk nichts anderes, als die
Zurückführung des Genitaltriebes auf den „thalassalen Regressions-
zug« gültig zurückbleiben wird, so hat er damit eine eminente
wissenschaftliche Leistung vollbracht und die Grundsteine einer
neuen wissenschaftlichen Methode, die Bioanalyse, gelegt.
Es wäre noch die unliebsame und neben der großen Bedeutung
des Grundgedankens unwichtige Pflicht einer kritischen Würdi-
gung, auf andere Unebenheiten der Theoriebildung in diesem
Werke hinzuweisen. Wir erklärten jedoch bereits, keine gelehrte
Kritik zu geben, und so darf uns diese Aufgabe erspart bleiben.
Wie weit die von Ferenczi versuchte Ausdehnung der Kata-
strophentheorie sich bestätigen wird, kann heute erfahrungsgemäß
nicht beurteilt werden. Wir haben schon früher unserer Empfindung
Ausdruck gegeben, daß die eminente Bedeutung der eigentlichen
Genitaltheorie Ferenczi dazu veranlaßt hat, derTiefe seiner Speku-
lationen eine proportionierte Breite an die Seite zu stellen und den
so fruchtbaren Gedanken der phylogenetischen Traumata auf die
Gesamtheit der Lebensersch einungen anzuwenden. Wir fassen diese
Bestrebung F er enczis eher als eine ästhetische auf und wollen die
inhaltliche Berechtigung der Annahme zweier der Eintrocknung
vorangehender geologischer Katastrophen nicht weiter erörtern.
Wie alle bedeutenden, aus den Tiefen der wissenschaftlichen
Intuition stammenden Ergebnisse, so hat auch Ferenczis Theorie
eine kulturgeschichtliche Bedeutung und kann als kulturgeschicht-
liches Symptom gedeutet werden. Wir versuchten bereits am An-
fang, sie als einen gewaltigen Vorstoß gegen die materialistische
Betrachtungsweise der modernen biologischen Wissenschaften dar-
zustellen. Dabei haben wir den Anschein der Ungerechtigkeit
gegenüber dieser hochverdienten Periode der Wissenschaften er-
wecken müssen. Es sei nun statt eines Werturteils eine kurze Analyse
dieses Abschnittes in der Geschichte der Forschung versucht.
2l8
Ferenczis Werk liegt in der Linie unserer letzten Kultur-
entwicklung, die man als die Wiederentdecknng der Psyche be-
zeichnen kann. Wir haben nicht nur an dieser Stelle, sondern in
einer anderen Abhandlung (loc. cit.) auf eine Gesetzmäßigkeit hin-
gewiesen und diese auch genauer zu formulieren versucht. Diese
Gesetzmäßigkeit, in der wir eine der Grundtatsachen des Lebens-
prozesses erblicken möchten, besteht in der Tendenz des Lebens,
Vorgänge mit seelischer Besetzung zu automatisieren, oder, wie
Breuer und Freud es ausgedrückt haben, bewegliche psychische
Energie in tonische zu überführen. Dies ist ein Ökonomisches
Gesetz und bedeutet für die Organismen eine Kräfteersparnis, er-
möglicht die durch die Entseelung gewisser Vorgänge gewonnene
psychische Energie zu neuem Lebenskampf zu verwenden. Die
Verdrängung ist eine Teilerscheinung dieses allgemeinen Prinzips:
das Verdrängte ist bereits ein Zwischending zwischen Körper und
Psyche, das Ziel der Verdrängung, die Entlastung des Bewußt-
seins. Dieses Prinzip, daß allen Körpervorgängen einmal seelische
Motive zugrunde lagen, ist auch die unausgesprochene Grundlage
von Ferenczis Bioanalyse. An einer anderen Stelle haben wir
auch die anatomische Differenzierung in Gehirn und Rückenmark
als den Ausdruck dieses Prinzips ausgesprochen. Diesem Prinzip
ist es auch zuzuschreiben, daß der Bewußtseinsapparat, von der
Arbeit der internen, automatisch ablaufenden, körperregulierenden
Funktionen befreit, sich nach außen wenden kann und zur Be-
herrschung der Realität geeignet wird. Die letzte Periode der
Kulturgeschichte steht ausgesprochen im Zeichen dieser „Nach-
außenwendung", die technische Beherrschung der Natur wird mit
der vollständigen Blindheit nach innen erkauft. Der Techniker
muß unpsychologisch sein und so war auch die Kulturperiode der
Technik unpsychologisch.
Wir wissen aus der psychoanalytischen Erfahrung, daß der
nach außen gewendete Sadismus sich wieder nach innen wenden
muß gegen das eigene Selbst, wenn die Realität ihm einen mäch-
tigeren Widerstand entgegensetzt. Wenn die Grenzen der expan-
siven, nach außen gerichteten Kultur erreicht sind, erwächst die
Aufgabe für den Menschen, an sein eigenes Werk sich anpassen
zu müssen. Die selbstgeschaffene Kultur bedroht wie ein seelen-
loser Golem seine eigene Existenz. Nach der übermäßigen allo-
plastischen Expansion folgt zwangsweise eine autoplastische Periode
der Anpassung: der Selbstveränderung der inneren Vervollkomm-
nung. Der biologische Apparat muß in dieser autoplastischen Rück-
219
wendung vollkommener werden, um den Kampf nach außen mit
besseren Waffen wieder aufnehmen zu können. Jede solche Wen-
dung nach innen kann vom Standpunkte des Lebenskampfes aus,
den das biologische System mit der Außenwelt kämpft, als eine
Niederlage betrachtet werden. Der Mensch wird erst dann Psycho-
loge, wenn es ihm schlecht ergeht. Doch durch die Niederlage,
durch das Leiden wird er tiefer und vollkommener, um aus dem
nächsten Kampf wieder siegreich hervorzugehen. In dieser Kultur-
periode, die ein moderner Denker den „Untergang des Abendlandes"
genannt hat, wurde die Psyche wieder entdeckt. Es ist die Kultur-
aufgabe dieser Periode, sie möglichst weitgehend zu erforschen,
bevor sie in der nächsten siegreichen Zeit einer kommenden dio-
nysischen Kultur wieder in Vergessenheit geraten darf. Für diese
Forschungsarbeit wird das Werk Ferenczis eine vornehme Rolle
spielen.
Flucht aus der Weiblichkeit
Der Männlichkeitskomplex der Frau im Spiegel männlicher
und weiblicher Betrachtung
Von
• Karen Horney
Aus der „Internationalen Zeitschrift
für Psychoanalyse", Bd. XII, Heft 5
(erschienen am 6. Mai 1926, zum
70. Geburtstage Sigm. Freuds).
Freud weist uns in einigen seiner letzten Arbeiten mit wach-
sender Dringlichkeit auf eine Einseitigkeit in der Richtung der
analytischen Forschung hin, die darin besteht, daß bis vor nicht
allzulanger Zeit nur die Psyche des Knaben und des Mannes zum
Objekt der Untersuchungen gemacht wurde.
Der Grund hiezu liegt ja auf der Hand: Die Psychoanalyse
ist die Schöpfung eines männlichen Genies, und auch fast alle,
die seine Ideen weiterbildeten, waren Männer. Es ist nur recht
und billig, daß ihnen eine männliche Psychologie näher lag, und
daß sie von der Entwicklung des Mannes mehr verstanden als
von der der Frau.
Einen grundlegenden Schritt zum Verständnis weiblicher Eigen-
art machte Freud selbst mit der Aufdeckung des Penisneides,
220
und bald zeigten die Arbeiten von vanOphuijsen und Abraham,
welche große Rolle diesem Faktor in der Entwicklung der Frau
und in der Bildung weiblicher Neurosen zukäme. Die Bedeutung
des Penisneides ist in jüngster Zeit erweitert worden durch die
Aufstellung der „phallischen Phase". Ihr Sinn besagt, daß in der
infantilen Genitalorganisation für beide Geschlechter nur ein
Genitale, nämlich das männliche, eine Rolle spiele, und daß eben
hierin der Unterschied von der endgültigen Genitalorganisation
der Erwachsenen liege. 1 Im Lichte dieser Anschauung wird die
Klitoris als Phallus aufgefaßt und wird angenommen, daß auch das
kleine Mädchen die Klitoris zunächst voll und ganz als Penis werte. 3
Diese Phase wirke sich dann auf die weitere Entwicklung teils
hemmend, teils fordernd aus. Helene Deutsch hat uns vorwiegend
die hemmenden Wirkungen gezeigt; sie meint, daß im Beginn
jeder neuen Sexualfunktion, also zu Beginn der Pubertät, des
Sexualverkehrs, der Schwangerschaft und des Wochenbettes, diese
Phase auflebe und jedesmal erst überwunden werden müsse, ehe
es zu einer weiblichen Einstellung kommen könne. Freud hat ihre
Auswirkung nach der positiven Seite hin erweitert, indem er meint,
daß der Penisneid und seine Überwindung erst den Wunsch nach
einem Kind und von da aus die Liebesbindung an den Vater
ermögliche. 3
Es fragt sich nun, ob durch diese Aufstellungen unsere Einsichten
in die weibliche Entwicklung, die Freud selbst als unbefriedigend
und lückenhaft bezeichnet, befriedigender und klarer geworden sind.
Es hat sich in der Wissenschaft oft als fruchtbar erwiesen,
wenn man altbekannte Tatsachen von einem neuen Gesichtspunkt
aus betrachtet. Denn es besteht sonst die Gefahr, daß man unwill-
kürlich alle neuen Beobachtungen immer wieder demselben fest-
umrissenen Vorstellungskreis einordnet.
Diesen neuen Gesichtspunkt entnahm ich der Philosophie, und
zwar einigen Essays von Georg Simmel. 4 Was Simmel dort
ausführt und was seither vielfach, besonders von weiblicher Seite 5
her, durchgearbeitet worden ist, ist folgendes: Unsere ganze Kultur
1) Freud: Die infantile Genitalorganisation. (Ges. Schriften, Bd. V.)
2) Helene Deutsch: Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen.
(Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1925.)
3) Freud: Einige psychische Folgen des anatomischen Gcschlechtsunter-
schieds. (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. XI, 1925.)
4) Georg Simmel: Philosophische Kultur.
5) Siehe besonders Vaerting: Männliche Eigenart im Frauenstaat und
weibliche Eigenart im Männerstaat.
221
ist eine männliche Kultur. Staat, Gesetze, Moral, Religion, Wissen-
schaften sind Schöpfungen des Mannes. Weit entfernt davon, aus
diesen Tatsachen — wie sonst üblich — auf eine Minderwertig-
keit der Frau zu schließen, erweitert und vertieft er zunächst
diesen Begriff der männlichen Kultur um ein Erhebliches: „Die
künstlerischen Forderungen und der Patriotismus, die allgemeine
Sittlichkeit und die besonderen sozialen Ideen, die Gerechtigkeit
des praktischen Urteils und die Objektivität des theoretischen
Erkennens, die Kraft und die Vertiefung des Lebens — alle diese
Kategorien sind zwar gleichsam ihrer Form und ihrem Anspruch
nach allgemein menschlich, aber in ihrer tatsächlichen historischen
Gestaltung durchaus männlich. Nennen wir solche als absolut
auftretenden Ideen einmal das Objektive schlechthin, so gilt im
geschichtlichen Leben unserer Gattung die Gleichung: objektiv =
männlich."
Simmel meint nun, daß die Erkenntnis dieser geschichtlichen
Tatsachen darum so schwierig sei, weil auch die Normen, an
denen die Werte männlichen und weiblichen Wesens gemessen
würden, nicht „neutral, dem Gegensatz der Geschlechter enthoben,
sondern selbst männlichen Wesens« seien. „Daß man an eine nicht
nach Mann und Weib fragende, rein ,menschliche' Kultur glaubt,
entstammt demselben Grunde, aus dem sie eben nicht besteht:
der sozusagen naiven Identifizierung von ,Mensch' und ,Mann 4 ,
die auch in vielen Sprachen für beide Begriffe dasselbe Wort
setzen läßt. Ich lasse für jetzt dahingestellt, ob dieser maskuline
Charakter der Sachelemente unserer Kultur aus dem inneren Wesen
der Geschlechter hervorgegangen ist oder nur einem, mit der
Kulturfrage eigentlich nicht verbundenen Kraftübergewicht der
Manner. Jedenfalls ist er die Veranlassung, weshalb unzulängliche
Leistungen der verschiedensten Gebiete als ,feminin' deklassiert
und hervorragende Leistungen von Frauen als .ganz männlich 4
gerühmt werden."
Wie alle Wissenschaften, wie alle Wertsetzungen, war auch
die Psychoanalyse der Frau bisher nur vom Manne aus gesehen.
Es liegt im Wesen dieser männlichen Vormachtstellung, daß die
subjektiven Gefühlsbeziehungen des Mannes zur Frau objektive
Gültigkeit erlangten. Tatsächlich war nach Delius 1 die Psycho-
logie der Frau ein Niederschlag von Wünschen und Enttäuschungen
des Mannes.
i) Delius: Vom Erwachen der Frau.
222
Hiezu kommt als weiteres sehr verhängnisvolles Moment, daß
die Frau sich den männlichen Wünschen anpaßte und ihre Anpassung
als eigenes Wesen empfand, d. h. sich selbst auch so sah oder sieht,
wie der männliche Wille es von ihr verlangte; also sich unbewußt
der Suggestion des männlichen Denkens fügte.
Wenn man sich den Umfang klar macht, in dem unser ganzes
Sein, Denken und Tun von diesen männlichen Normen durchsetzt
ist, so wird klar, wie schwer es dem Einzelnen, auch der einzelnen
Frau ist, sich von dieser Denkart wirklich frei zu machen.
Und die Frage ist die, inwieweit nicht auch die psychoanalytische
Psychologie, soweit sie die Frau zum Objekt ihrer Forschung
hat, unter ihrem Bann steht, und insofern das Stadium, in dem
man mit unbefangener Selbstverständlichkeit nur die männliche
Entwicklung sah, noch nicht ganz überwunden hätte. Anders gesagt:
wie weit nicht die weibliche Entwicklung, wie sie sich uns jetzt
analytisch darstellt, mit männlichem Maß gemessen ist und also
dem eigentlichen Wesen der Frau nicht ganz gerecht wird.
Von hier aus gesehen erhält man zunächst einmal einen über-
raschenden Eindruck: Unser jetziges analytisches Bild der
weiblichen Entwicklung — ob richtig oder falsch —
gleicht auf alle Fälle auf ein Haar den Vorstellungen,
die sich der Knabe aus seiner typischen Situation her-
aus vom Mädchen macht.
Diese Vorstellungen des Knaben sind uns gut bekannt. Ich will
sie daher nur in wenigen Schlagworten skizzieren und unsere
Vorstellungen von der weiblichen Entwickluug vergleichsweise
danebensetzen.
Vorstellungen des Knaben:
Naive Annahme, daß auch das Mad-
chen einen Penis besitze.
Beobachtung des Penismangels.
Vorstellung, das Mädchen sei ein
kastrierter, verstümmelter Knabe.
Glaubt, daß das Mädchen von einer
Strafe betroffen sei, die auch ihm
drohe.
Hält das Mädchen für minderwertig.
Kann sich nicht vorstellen, wie das
Mädchen jemals über diesen Verlust,
resp. Neid wegkommen könnte.
Fürchtet ihren Neid.
Unsere Vorstellungen der weiblichen
Entwicklung :
Für beide Geschlechter spielt nur das
männliche Genitale eine Bolle.
Traurige Entdeckung der Penislosig-
keit
Glaube des Mädchens, sie habe einen
Penis besessen und sei kastriert.
Kastration wird als vollzogene Strafe
aufgefaßt.
Hält sich für minderwertig. Penisneid.
Kommt nie über das Gefühl des
Mangels und der Minderwertigkeit
hinweg und muß ihre Männlich-
keitswünsche immer aufs neue
wieder überwinden.
Möchte sich dauernd am Mann für
seinen Mehrbesitz rächen.
225
Diese gar zu genaue Übereinstimmung besagt nun sicherlich
nichts über ihre objektive Richtigkeit: Die infantile Genital-
organisation des kleinen Mädchens könnte in Wirklichkeit eine so
frappante Ähnlichkeit mit der des Knaben haben, wie wir das ja
bisher angenommen haben.
Aber sie ist doch wohl geeignet, uns nachdenklich zu stimmen
und andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Einmal könnte
man, den Gedankengängen von Georg Simmel folgend, erwägen,
ob die weibliche Anpassung an die männliche Struktur vielleicht
schon in einem so frühen Zeitpunkt und in einem so hohen Grade
einsetze, daß die biologische Eigenheit des kleinen Mädchens
davon überwältigt würde. Ich komme an einer späteren Stelle
kurz darauf zurück, daß es mir tatsächlich wahrscheinlich ist, daß
eine solche Infizierung mit männlichem Denken schon in der
Kindheit vor sich geht; aber, daß sie so restlos alles von Natur
Gegebene in sich aufnehmen sollte, ist von vornherein nicht ein-
leuchtend. Und so müssen wir uns der schon aufgeworfenen Frage
zuwenden, ob diese merkwürdige Übereinstimmung vielleicht der
Ausdruck einer Einseitigkeit unserer männlich gerichteten Beob-
achtungen sein könnte.
Gegen eine solche Vermutung macht sich zwar sofort ein
innerer Protest geltend, der auf den sicheren Boden der Erfahrung
hinweist, auf dem die analytische Forschung sich von jeher auf-
gebaut hat. Aber gleichzeitig mahnt uns eine erkenntnistheoretische
Einsicht daran, daß dieser Boden nicht gar so zuverlässig ist,
sondern daß jede Erfahrung ihrer Natur nach einen subjektiven
Faktor enthält. So setzt sich auch unsere Erfahrung zusammen
aus den direkten Beobachtungen an dem Material, das uns die
Analysanden in Einfallen, Träumen und Symptomen in die Analyse
bringen und den Deutungen, die wir geben, resp. den Schlüssen,
die wir aus diesem Material ziehen. Daher ist auch bei gleich
korrekter Technik die prinzipielle Möglichkeit verschiedener Er-
fahrungen gegeben.
Wenn man nun versucht, sich von dieser männlichen Art der
Betrachtung frei zu machen, gewinnen fast alle Probleme der
weiblichen Psychologie ein anderes Aussehen.
Zunächst fällt auf, daß immer nur oder doch vorwiegend der
genitale Unterschied zwischen den Geschlechtern zum Angelpunkt
der Betrachtungen gemacht wird und nicht auch der andere große
biologische Unterschied, der in dem verschiedenen Anteil an der
Fortpflanzung liegt.
224
Der männliche Standpunkt in der Auffassung der Mutterschaft
tritt am reinsten in der äußerst geistreichen Genitaltheorie von
Ferenczi 1 zutage. Er meint, daß der wesentliche Antrieb zum
Koitus, sein eigentlicher letzter Sinn für beide Geschlechter in
dem Verlangen liege, wieder in den Mutterleib zurückzukehren.
Der Mann habe in einer Kampfphase sich das Vorrecht geschaffen,
in Gestalt seines Gliedes wirklich wieder in einen Mutterleib
einzudringen. Die Frau, als der früher einmal unterlegene Teil,
habe sich dieser organischen Situation in ihrer Organisation fügen
müssen und sei mit „Trosteinrichtungen" bedacht worden. Sie
müsse sich „begnügen", mit phantasiemäßigen Ersatzprodukten
und insbesondere mit dem Beherbergen des Kindes, dessen Glück
sie mitgenieße. Höchstens beim Gebärakt stünden ihr vielleicht
Lustmöglichkeiten offen, die der Mann nicht hätte. 3
Die psychische Situation für die Frau sähe demnach wirklich
nicht sehr erfreulich aus. Der eigentliche Urantrieb zum Koitus
fehlt ihr, resp. es ist ihr jede direkte — wenn auch nur partielle
— Erfüllung verschlossen. Der Antrieb und der Lustgewinn beim
Koitus müßte demnach für sie zweifellos geringer sein als für
den Mann. Denn sie kommt nur auf Umwegen, indirekt, zu einer
gewissen Erfüllung der Ursehnsucht, also teils auf dem Umwege
über eine masochistische Umwandlung, teils in der Identifizierung
mit dem ev. Kind. Es sind das aber nur „Trosteinrichtungen",
Das einzige, was sie schließlich vor dem Mann voraus hätte,
wären die doch sehr fraglichen Lustgewinne beim Gebärakt.
An dieser Stelle muß man als Frau erstaunt fragen: Und die
Mutterschaft? Und das selige Bewußtsein, ein neues Leben in
sich zu tragen? Und das unerhörte Glück in der sich steigernden
Erwartungsspannung auf das Erscheinen dieses neuen Wesens?
Und das Glück, wenn es endlich da ist? Und wenn man es zuerst
im Arm hat? Und die tiefe, lustvolle Befriedigung beim Stillen?
Und das Glück der ganzen Säuglingspflege?
Nach mündlichen Äußerungen von Ferenczi hätte in jener
Urkampfzeit, die für das Weibchen so betrüblich ausging, das
Männchen als Sieger ihm auch die Last der Mutterschaft und
was damit zusammenhängt, aufgebürdet.
Gewiß: vom sozialen Kampf aus gesehen, kann die Mutter-
schaft eine Beeinträchtigung bedeuten. Sicher tut sie das in heu-
i) Ferenczi, Versuch einer Genitaltheorie. (Intern. PsA. Verla», l9 24.)
2) S.a. Helene Deutsch: Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunklionen,
und Groddeck: Das Buch vom Es. (Internationaler Psychoanalytischer Verlag.)
225
tiger Zeit, viel weniger sicher in Zeiten, in denen die Menschen
naturnäher waren.
Aber wir erklären ja auch den Penisneid aus den biolo-
gischen Verhältnissen und nicht von den sozialen Momenten
her, sondern pflegen im Gegenteil das Gefühl der sozialen Be-
einträchtigung der Frau unbesehen nur als Rationalisierung ihres
Penisneides aufzufassen.
Biologisch betrachtet, verschafft aber die Mutterschaft, resp. die
Fähigkeit zu ihr, der Frau eine ganz unbestreitbare und nicht geringe
physiologische Überlegenheit. Das spiegelt sich auch aufs deut-
lichste im Unbewußten der männlichen Psyche wider, in dem
intensiven Mutterschaftsneid des Knaben. Er ist uns als solcher
allgemein bekannt, dürfte aber als dynamischer Faktor kaum ge-
nügend gewürdigt worden sein. Wenn man, wie ich, erst nach
einer schon ziemlich langen Erfahrung an weiblichen Analysen
begonnen hat, männliche Analysen zu machen, erhält man einen
völlig überraschenden Eindruck von der Intensität dieses Neides
auf Schwangerschaft, Gebären und Mutterschaft sowie auf die
Brüste und das Stillen.
v Angesichte dieses analytischen Eindruckes liegt die Frage nahe
ob nicht m der oben beschriebenen Bewertung der Mutterschaft
eine unbewußte männliche Entwertungstendenz ihren Weg über
das Intellektuelle genommen hat? Eine Entwertung, die besagen
Z" m ZT"?? • Wün , scht sich die Frau ja doch nur einen Ä
die Mutterschaft ist doch schließlich nur eine Bürde, die den
Kampf ums Dasein erschwert; und der Mann kann froh sein, daß
er sie nicht zu tragen braucht.
nlPv W ,T\ Helene DeUtsch schreibt > daß der Männlichkeitskom-
plex der Frau eine viel dominierendere Rolle spiele als der Weib-
hchkeitskomplex des Mannes, so scheint sie dabei zu übersehen,
daß der männliche Neid offenbar erfolgreicher sublimiert wird
als der Penisneid des Mädchens und sicher einen, wenn nicht
den wesentlichen Impuls zur Schaffung kultureller Werte abgibt
Schon sprachliche Bezeichnungen weisen auf diesen Ursprung
kultureller Produktivität hin. Sie ist beim Manne in der histori-
scher. Zeit, die uns bekannt ist, zweifellos ungleich größer als
be l I .. d f FraU ' S ° llte er nicht darum de " ^geheuren Antrieb zur
schöpferischen Gestaltung auf jedem Gebiet haben, weil die Empfin-
dung seiner relativ geringen Rolle bei der Schaffimg lebendigen
Lebens ihn beständig zu einer überkompensierenden Leistung
drängt? 6
22Ö
Wenn dieser Zusammenhang richtig ist, so drängt sich das
Problem auf, warum vom Penisneid der Frau kein entsprechen-
der Antrieb zu einer Ausgleichsleistung ausgeht? Hier ergeben
sich zwei Möglichkeiten: entweder ist er absolut geringer als
der männliche Neid oder er wird weniger glücklich verarbeitet.
Für beide Möglichkeiten ließen sich Begründungen anführen.
Für die größere Intensität des männlichen Neides könnte man
die Betrachtung anstellen, daß ja eine faktische anatomische Be-
nachteiligung der Frau doch nur vom Gesichtspunkt der präge-
nitalen Organisationsstufen gegeben ist, 1 während sie für die
Genitalorganisation der Erwachsenen nicht besteht, denn die Frau
ist doch offenbar nicht weniger, sondern nur anders zum Koitus
befähigt als der Mann. Wohingegen der Anteil des Mannes an
der Fortpflanzung endgültig geringer ist als der der Frau.
Ferner sehen wir, daß der Mann offenbar eine größere Nöti-
gung dazu empfindet, die Frau zu entwerten als umgekehrt. Daß
das Dogma der Minderwertigkeit der Frau von einer unbewußten
männlichen Tendenz geschaffen war, konnte uns als Erkenntnis
erst aufdämmern, nachdem man angefangen hatte, an der realen
Berechtigung dieser Anschauimg zu zweifeln. Stehen aber wirk-
lich hinter diesen Überzeugungen von der weiblichen Minder-
wertigkeit Entwertungstendenzen des Mannes, so müssen wir von
da aus auf einen sehr respektablen Antrieb zur Entwertung
schließen.
Aber es spricht auch manches für eine in kultureller Hinsicht
weniger glückliche Verarbeitung des Penisneides. Wir wissen ja,
daß er im besten Falle im Wunsch nach Mann und Kind auf-
geht und damit wahrscheinlich auch seinen Hauptantrieb zu einer
Sublimierungsleistung einbüßt. In ungünstigen Fällen aber ist er,
wie ich gleich näher ausführen werde, mit mehr Schuldgefühl
belastet, als einer fruchtbaren Gestaltung dienlich ist; während
die männliche Unfähigkeit zur Mutterschaft, wahrscheinlich als
einfache Minderwertigkeit empfunden, ungehemmt ihre antrei-
bende Kraft entfalten kann.
In diesen Ausführungen habe ich schon ein Problem gestreift,
das gerade neuerdings wieder von Freud in den Vordergrund des
Interesses geschoben worden ist:* die Entstehung und Auswirkung
x) Siehe Horney : Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes. (.Inter-
nationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. IX, 1923.)
2) Freud: Über einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechts-
unterschieds. (Ges. Schriften, Bd. XI.)
15* 22 7
des Kindwunsches. Unsere Stellung zu diesem Problem hat sich im
Laufe des letzten Jahrzehnts geändert. Es sei daher gestattet, kurz
den Ausgangs- und den Endpunkt dieser historischen Entwicklung
zu bezeichnen.
Die ursprüngliche Auffassung » ging daliin, daß der Penisneid
sowohl zum Kindwunsch als zum Wunsch nach dem Mann eine
narzißtische Verstärkung abgäbe, daß aber der Wunsch nach dem
Mann unabhängig vom Kindwunsch entstünde. In der weiteren
Entwicklung verschob sich der Akzent immer mehr auf den Penis-
neid, bis Freud in seiner jüngsten Arbeit über dieses Problem
die Vermutung aussprach, daß der Penisneid und die Enttäuschung
über den Penismangel beim Kinde überhaupt erst den Wunsch
nach dem Kinde schaffe, und daß die zärtliche Zuwendung zum
Vater erst auf diesem Umweg über Peniswunsch — Kindwunsch —
ermöglicht würde.
Die Entwicklung im Sinne dieser letzteren Hypothese entsprang
offenbar dem Bedürfnis, das biologische Prinzip der gegengeschlecht-
lichen Anziehung psychologisch zu erklären — entsprechend dem
schon von Groddeck aufgestellten Problem: daß der Knabe die
Mutter zum Liebesobjekt beibehält, ist verständlich; „aber wie
kommt das Mädchen zum Anschluß an das andere Geschlecht?"*
Um diesem Problem näher zu kommen, müssen wir uns zu-
nächst klar machen, daß unser Erfahrungsmaterial über den
Mannhchkeitskomplex der Frau aus zwei ganz verschiedenwertigen
Quellen stammt. Die erste wird gebildet von direkten Kindheits-
beobachtungen. Bei ihnen spielt der subjektive Erfahrungsfaktor
eine relativ geringe Bolle. Jedes nicht eingeschüchterte Mädchen
ze.gt ihren Penisneid offen und unbefangen. Wir sehen, daß sein
Vorkommen typisch ist und verstehen gut, warum er das ist; ver-
stehen, wie zu der narzißtischen Kränkung des scheinbar Weniger-
habens sich für das kleine Mädchen eine Reihe von Benachteili-
gungen aus den verschiedenen prägenitalen Besetzungen ergeben-
die augenscheinliche Bevorzugung des Knaben hinsichtlich der
Harnerotik, des Schautriebes, der Onanie. 8
Ich möchte vorschlagen, diesen Penisneid des kleinen Mäd-
chens, der sich offenbar rein auf den anatomischen Unterschied
gründet, den primären zu nennen.
1) Freud: Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik.
2) Groddeck: Buch vom Es. (Internationaler Psychoanalytischer Verlag.)
*) Genauer in meiner früheren Arbeit: Zur Genese des weiblichen Kastra-
tionskomplexes.
228
.
Die zweite Quelle, die unsere Erfahrungen speist, ist in dem
Analysenmaterial erwachsener Frauen zu finden. Es liegt in der
Natur der Sache, daß dieses schwieriger zu beurteilen ist und
daher dem subjektiven Erfahrungsfaktor großen Spielraum gewährt.
Wir sehen hier zunächst den Penisneid als einen Faktor von un-
geheurer dynamischer Stärke wirksam. Wir beobachten, wie
Patientinnen ihre weiblichen Funktionen ablehnen, mit der unbe-
wußten Begründung der Männlichkeitswünsche. Wir sehen Phan-
tasien, die besagen: „ich habe einen Penis besessen, ich bin ein
kastrierter, verstümmelter Mann" mit ihrem Gefolge von Minder-
wertigkeitsgefühlen und ihrer Auswirkung in allen möglichen
hartnäckigen hypochondrischen Vorstellungen. Wir sehen eine
intensive feindselige Einstellung gegen den Mann, teils im Sinne
der Entwertung, teils im Sinne des Kastrieren-, Lahmlegen-Wollens.
Wir sehen, wie ganze Schicksale von hier aus entscheidend beein-
flußt erscheinen.
Es lag sicher der Schluß nahe, — und er lag besonders unser
aller männlich orientiertem Denken nahe — von diesen Ein-
drücken her eine Brücke zu schlagen zu jenem primären Penis-
neid und rückläufig zu schließen, daß ihm also eine ungeheure
Intensität, eine ungeheure dynamische Kraft zu eigen sein müsse,
da er doch imstande sei, solche Wirkungen zu entfalten. Und man
übersah dabei, weniger im einzelnen als in der Gesamtbewertung,
daß diese Männlichkeitswünsche, die wir aus den Ana-
lysen Erwachsener kennen, nur mehr sehr wenig mit
jenem früh-infantilen primären Penisneid zu tun haben,
sondern daß sie eine sekundäre Bildung darstellen, in
der alles Platz gefunden hat, was in der weiblichen
Entwicklung mißglückt ist.
Meine Erfahrungen haben mir nach wie vor in gleichbleibender
Deutlichkeit gezeigt, daß es vom weiblichen Ödipus-Komplex aus
nicht nur in Fällen extremen Scheiterns, sondern regelmäßig
zu einer Regression auf den Penisneid kommt, natürlich in allen
möglichen Graden und Abstufungen. Der Unterschied zwischen
dem Ausgang des männlichen und des weiblichen Ödipus-Komplexes
stellt sich mir für eine durchschnittliche Entwicklung etwa folgender-
maßen dar: beim Knaben wird infolge der Kastrationsangst nur
das Sexualobjekt, die Mutter, aufgegeben, aber die männliche Rolle
als solche wird nicht nur weiter bejaht, sondern als Reaktion auf
die Kastrationsangst eher überbetont, wie wir das in der männ-
lichen Latenzzeit und Vorpubertät und meist auch im späteren
S2 9
Leben deutlich sehen. Beim Mädchen wird nicht nur der Vater
als Sexualobjekt aufgegeben, sondern es kommt gleichzeitig zu
einem Zurückweichen vor der weiblichen Rolle überhaupt.
Um diese Flucht aus der Weiblichkeit zu verstehen, muß man
die Verhältnisse der frühkindlichen Onanie berücksichtigen, in der
ja die Erregungen des Ödipus-Komplexes ihren körperlichen Aus-
druck finden.
Auch hier liegen die Verhältnisse für den Knaben viel klarer;
— oder vielleicht sind sie uns auch nur bekannter? Sind sie uns
beim Mädchen am Ende nur darum so unverständlich geworden,
weil wir sie immer nur mit männlichen Augen gesehen haben?
Es sieht ein wenig danach aus, wenn man dem kleinen Mädchen
nicht einmal eine eigene Onanie zubilligt, sondern ihre autoero-
tischen Betätigungen schlechtweg als männlich kennzeichnet! Und
wenn man den Unterschied, der doch nun einmal da sein muß,
einfach als den des Negativs zum Positiv ansieht, d. h. im Falle
der Onanieängste als den der angedrohten zur vollzogenen Kastration.
Meine analytischen Erfahrungen lassen durchaus Raum für die
Auffassung, daß das kleine Mädchen ihre eigene, weibliche, neben-
bei auch technisch von der männlichen verschiedene, Onanie hat,
selbst wenn diese, was mir nicht gesichert scheint, nur an der
Klitoris stattfinden sollte. Ich sehe auch nicht ein, warum man
der Klitoris, trotz ihrer entwicklungsgeschichtlichen Vergangenheit
i nicht ihre iegitime Zugehörigkeit zum weiblichen Genitalapparat
zubilligen soll.
Ob das Mädchen zur Zeit der Frühblüte ihrer genitalen Ent-
wicklung vaginale Organempfindungen hat, ist aus dem analytischen
Material Erwachsener ungeheuer schwer zu beurteilen. Ich bin in
einer ganzen Reihe von Fällen geneigt, darauf zu schließen und
werde das dazugehörige Material später vorlegen. Ihr Vorkommen
ist mir aus den folgenden Überlegungen theoretisch sehr wahr-
scheinlich. Sicher zeigen die bekannten Phantasien, daß ein allzu-
großer Penis gewaltsam eindringen, Schmerzen und Blutungen
hervorrufen und etwas zerstören könnte, daß das kleine Mädchen
ihren Ödipus-Phantasien das reale Mißverhältnis in der Größe
zwischen Vater und Kind höchst realistisch zugrunde legt, so wie
es dem plastisch-konkreten Denken des Kindes entspricht Ich
meine also, daß in diesem Sinne, sowohl der Ödipus-Phantasien,
als auch der sich konsequenterweise daran knüpfenden Angst vor
einer inneren — also vaginalen — Beschädigung, doch die Vagina
neben der Klitoris eine Rolle in der frühinfantilen weiblichen
230
Genitalorganisation spielt. 1 Man könnte sogar aus den späteren
Erscheinungen der Frigidität schließen, daß die Vaginalzone eher
stärker mit Angst- und Abwehreffekten besetzt ist als die Klitoris,
und zwar darum, weil die inzestuösen Wünsche mit der vollen
Treffsicherheit des Unbewußten auf sie bezogen wurden. Im Sinne
dieser Betrachtung müßte man die Frigidität als einen Ausdruck
der Abwehr jener für das Ich so bedrohlichen Phantasien auf-
fassen. Auch auf die von verschiedenen Autoren behaupteten un-
bewußten Lustgefühle bei der Entbindung, respektive die Angst
vor ihr, würde von hier aus ein neues Licht fallen. Die Entbin-
dung wäre nämlich in weit höherem Maße als der spätere Ge-
schlechtsverkehr geeignet, gerade durch das Mißverhältnis zwischen
Vagina und Kind und die dadurch entstehenden Schmerzen, für
das Unbewußte eine - und zwar schuldfreie - Realisierung
iener frühen Inzestphantasien darzustellen. Wie die Kastrations-
anffst des Knaben, steht auch die weibliche Genitalangst durchaus
unter dem Druck der Schuldgefühle und verdankt ihnen ihre nach-
haltige Wirkung. \
Hiezu kommt eine Folgeerscheinung des anatomischen t^e-
schlechtsunterschiedes, die in derselben Richtimg wirkt. Der Knabe
kann nämlich sein Genitale daraufhin beobachten, ob die geflüch-
teten Folgen der Onanie eintreten; das Mädchen tappt hier buch-
stäblich im Dunkeln und bleibt in völliger Unsicherheit. Diese
Möglichkeit einer Realitätsprüfung fällt natürlich bei schwererer
Kastrationsangst für den Knaben nicht ins Gewicht, aber für die
praktisch wegen ihrer Häufigkeit bedeutsameren Fälle leichterer
Befürchtungen halte ich diesen Unterschied für recht beachtlich.
Jedenfalls habe ich aus dem analytischen Material meiner weib-
lichen Analysen den Schluß gezogen, daß dieser Faktor eine be-
trächtliche Rolle im weiblichen Seelenleben spielt und zu der
eigentümlichen inneren Unsicherheit beiträgt, wie wir sie bei
Frauen so häufig finden.
Unter dem Druck dieser Angst flüchtet nun das Madchen in
eine fiktive männliche Rolle.
Was ist der ökonomische Gewinn dieser Flucht? Ich
muß hier auf eine Erfahrung hinweisen, die wohl alle gemacht
haben dürften; daß nämlich d ie Männlichkeitswünsche in der
i) Seitdem mir die Möglichkeit solcher Zusammenhänge klar wurde, habe
ich viele Äußerungen, bei denen ich mich früher mit der Deutung einer
Kastrationsphantasie im männlichen Sinne begnügt hätte, in diesem Sinne
einer Angst vor der vaginalen Beschädigung aufzufassen gelernt.
231
Regel relativ bereitwillig zugegeben werden, aber daß sie — ein-
mal akzeptiert — hartnäckig festgehalten werden, und zwar aus
dem Grunde, um nicht die libidinösen Wünsche und Phantasien
auf den Vater einsehen zu müssen. Sie stehen also im Dienste
der Verdrängung dieser weiblichen Wünsche respektive
des Widerstandes gegen ihre Aufdeckung. Diese immer
wiederkehrende typische Erfahrung zwingt nach analytischen
Grundsätzen zu dem Schluß, daß die Männlichkeitsphan-
tasien früher einmal zu eben diesem Zweck der Siche-
rung g e g en a * e libidinösen Wünsche auf den Vater auf-
gerichtet waren. Durch die Fiktion der Männlichkeit würde
also die jetzt schuld- und angstbeladene weibliche Rolle vermieden.
Zwar hat ein solches Ausweichen auf die männliche Linie not-
wendig Minderwertigkeitsgefühle im Gefolge, denn das Mädchen
fängt jetzt an, sich an Ansprüchen und Werten zu messen, die
ihrem eigenen biologischen Wesen fremd sind, und denen gegen-
über sie sich also unzulänglich fühlen muß.
Obgleich nun diese Minderwertigkeitsgefühle sehr quälend
sind, zeigen unsere analytischen Erfahrungen doch recht nach-
drücklich, daß sie vom Ich leichter ertragen werden als die Schuld-
gefühle, mit denen die weibliche Einstellung verknüpft ist, und
daß es also für das Ich doch zweifellos einen Gewinn bedeutet,
wenn das Mädchen aus der Scylla der Schuldgefühle in die
Charybdis der Minderwertigkeitsgefühle flüchtet.
Ein zweiter Ökonomischer Gewinn erwächst aus der Vater-
identifizierung, mit der die Regression auf den Penisbesitz-
wunsch ja in der Regel verknüpft ist: auch dieser Vorgang dient
offenbar einer Lockerung der Objektbeziehung zum Vater und
hilft gleichzeitig dazu, den schmerzlichen Objektverlust auf eine
dem Ich annehmbare Weise zu überwinden.
In eben diesem Vorgang der Vateridentifizierung liegt ja be-
kanntlich auch die eine Antwort auf die Frage, warum die Flucht
vor den weiblichen Wünschen auf den Vater gerade immer zu
einer Männlichkeitseinstellung führt. Aus einigen Überlegungen,
die sich an die obigen Betrachtungen anschließen, läßt sich diese
Frage noch von einem anderen Gesichtspunkte her beleuchten.
Wir wissen, daß immer, wenn die Libidoentwicklung an eine
Schranke stoßt, eine frühere Organisationsstufe regressiv belebt
wird. Nach der letzten Arbeit Freuds würde aber die Vorstufe
zur eigentlichen Objektliebe zum Vater eben durch den Penisneid
gebildet. Und so würde gerade dieser Gedankengang Freuds uns
252
ein Verständnis für die innere Notwendigkeit geben, daß die
Lidido gerade auf dieses Vorstadium zurückströmen muß, wenn
und soweit sie an der Inzestschranke zurückgeworfen wird.
Ich möchte der Auffassung Freuds, daß die Entwicklung zur
Objektliebe für das Mädchen über den Penisneid geht, prinzipiell
beistimmen, nur glaube ich, daß man sich von der Art dieses
Entwicklungsganges auch ein anderes Bild machen könnte.
Wenn man nämlich sieht, einen wie starken Anteil seiner Wirk-
samkeit der primäre Penisneid erst rückläufig vom Ödipus-Komplex
her empfängt, so muß man der Verlockung entsagen, die Äuße-
rungen eines so elementaren Naturprinzips, wie es die gegen-
geschlechtliche Anziehung ist, von diesem Gesichtspunkt zu er-
fassen.
Man würde also hinsichtlich der psychologischen Erfassung
dieses biologischen Urprinzips wieder vor einem Ignoramus stehen.
Ja, darüber hinaus drängt sich mir immer stärker die Vermutung
auf, ob nicht der Kausalzusammenhang gerade umgekehrt so sein
könnte, daß es gerade die schon von früh an wirksame gegen-
geschlechtliche Anziehung ist, die das libidinöse Interesse des
kleinen Mädchens auf den Penis hinzieht. Ein Interesse, das sich
der Entwicklungsstufe entsprechend zunächst in au to erotisch er
und narzißtischer Weise auswirkt, so wie ich es früher beschrieben
habe. Aus dieser Betrachtungsweise würden sich folgerichtig auch
neue Problemstellungen für die Entstehung des männlichen Odipus-
Komplexes ergeben, die ich jedoch auf eine spätere Arbeit ver-
schieben möchte. Wäre aber der Penisneid schon der erste Aus-
druck jener rätselhaften Anziehung, so dürften wir uns auch von
hier aus gesehen nicht wundern, ihn in Analysen in einer tieferen
Schicht als den Kindwunsch und die zärtliche Vaterbindung an-
zutreffen. Der Penisneid würde dann der zärtlichen Einstellung
zum Vater in einer anderen Weise als nur der der Enttäuschung
den Weg bereiten. Man müßte dann vielmehr das libidinöse
Interesse für den Penis im Sinne Abrahams als eine „Partial-
liebe" auffassen, 1 die, wie er meint, stets ein Vorstadium der
eigentlichen Objektliebe bildet. Man könnte sich den Vorgang
auch an einer Analogie aus dem späteren Leben verständlich
machen, und zwar an der Beobachtung, daß gerade ein bewun-
dernder Neid leicht zu einer Liebeseinstellung führt.
1) Abraham: Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido (Inter-
nationaler Psychoanalytischer Verlag, 1924.)
2 33
Was die überaus leichte Gangbarkeit dieser Regression betrifft,
so möchte ich auf die analytische Erfahrung hinweisen, 1 daß in
den Einfällen der Patientinnen der narzißtische Besitzwunsch nach
dem Penis und das objektlibidinöse Begehren desselben oft so
ineinander übergehen, daß man schwanken kann, in welchem Sinne
ein „Haben-Wollen" gemeint ist.
Nun noch ein Wort zu den eigentlichen Kastrationsphantasien,
die als auffallendster Bestandteil dem ganzen Komplex ihren Namen
gegeben haben. Entsprechend meiner Auffassung der weiblichen
Entwicklung muß ich auch sie als eine sekundäre Bildung be-
trachten. Ihre Entstehung denke ich mir so, daß bei der Flucht
in die fiktive männliche Rolle auch die weibliche Genitalangst
gewissermaßen in eine männliche Sprache übersetzt wird: aus
der Angst vor der vaginalen Beschädigung wird eine Kastrations-
phantasie. Diese Umwandlung bringt gleichzeitig den Gewinn mit
sich, daß das Mädchen die Unsicherheit ihrer Straferwartung, die
durch ihren anatomischen Bau bedingt ist, gegen eine konkrete
Vorstellung eintauscht Auch die Kastrationsphantasie steht unter
dem Druck der alten Schuldgefühle — und der Penis wird von
hier aus gewünscht als ein Beweis der Schuldlosigkeit.
Diese aus dem Ödipus-Komplex stammenden typischen Motive
in einer Flucht in die männliche Rolle werden nun verstärkt und
unterhalten durch die tatsächliche Benachteiligung der Frau im
sozialen Leben. Es ist natürlich gar nicht zu verkennen, daß die
aus dieser letzten Quelle stammenden Männlichkeitswünsche sehr
geeignet sind, jene- unbewußten Motive zu rationalisieren. Aber
wir dürfen nicht vergessen, daß diese Benachteiligung doch eben
ein Stück Realität ist, und daß sie sogar unendlich viel größer
ist, als den meisten Frauen bewußt ist.
Georg Simmel sagt hierüber: „Das kulturelle Übergewicht
des Mannes sei von seiner Machtstellung getragen" und man könne
das geschichtliche Verhältnis der Geschlechter kraß als das des
Herrn zum Sklaven ausdrücken. Wie immer gehöre es auch hier
„zu den Privilegien des Herrn, daß er nicht immer daran zu
denken braucht, daß er Herr ist, während die Position des Sklaven
dafür sorgt, daß er seine Position nie vergißt".
In diesen Erwägungen dürfte wohl auch die Erklärung dafür
liegen, warum dieser Faktor in der analytischen Literatur doch
gar zu gering bewertet ist. Tatsächlich steht das Mädchen von
i) Schon von Freud in „Tabu der Virdnltät" erwähnt.
234
seiner Geburt an unter einer — ob gröberen oder feineren, aber
unausweichlichen — Suggestion seiner Inferiorität, die den Männ-
lichkeitskomplex dauernd speisen muß.
Dazu kommt noch eines: Infolge des bisher rein männlichen
Charakters unserer Kultur war es für die Frau viel schwerer, zu
einer ihrem Wesen adäquaten Sublimierung zu gelangen, denn
alle gangbaren Berufe waren von männlichem Geist erfüllt. Von
hier aus mußte wieder eine Rückwirkung auf ihre Minderwertig-
keitsgefühle erfolgen. Denn natürlich konnte sie in diesen männ-
lichen Berufen nicht dasselbe leisten wie der Mann, und so schien
ihre Minderwertigkeit real begründet. Es scheint mir unmöglich,
zu beurteilen, in einem wie hohen Grade die unbewußten Motive
zu einer Flucht aus der Weiblichkeit von diesem Moment der
tatsächlichen sozialen Unterlegenheit der Frau eine Verstärkung
erfahren. Man könnte sich den Zusammenhang auch im Sinne
einer Wechselwirkung der psychischen und sozialen Faktoren
denken. Aber ich kann diese Probleme hier nur andeuten, denn
sie sind so ernst und wichtig, daß sie einer gesonderten Unter-
suchung bedürfen.
Dieselben Faktoren müssen auf die Entwicklung des Mannes
ganz anders einwirken. Sie führen einerseits dazu, daß er seine
Weiblichkeitswünsche als mit dem Makel der Inferiorität behaftet
viel intensiver verdrängt; und anderseits dazu, daß er es viel
leichter hat, sie erfolgreich zu sublimieren.
In den vorstehenden Betrachtungen bin ich zu einer Auffassung
über einige Probleme der Psychologie des Weibes gekommen,
welche in manchen Punkten von den bisherigen Anschauungen
abweicht. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß dieses Bild
nun von der anderen Seite her einseitig gesehen ist. In dieser
Arbeit sollte aber vor allem der Versuch gemacht werden, auf
eine mögliche Fehlerquelle hinzuweisen, die aus dem Geschlecht
des Beobachters entspringt, und damit einen Schritt dem Ziele
zu zu machen, das wir alle erstreben: jenseits von der Subjek-
tivität männlicher oder weiblicher Betrachtung ein Bild von der
psychischen Entwicklung der Frau zu gewinnen, das der Tatsache
ihrer Eigenart und ihrem Anderssein in höherem Grade als bisher
gerecht wird.
2 35
Doktorspiel, Kranksein und Arztberuf
von
Dr. Ernst Simmel
Aus dem am 6. Mai zum jo. Ge-
burtstage Sigm. Freuds erschienenen
Heft der „Internationalen Zeitschrift
für Psychoanalyse" (Bd. XII, Heft }).
Das Doktorspiel der Kinder, das uns aus direkter Beobachtung
oder eigener Erinnerung gut bekannt ist, gehört oft zu den wenigen
Erinnerungsresten, die die kindliche Amnesie überdauern. In ihm
sind nach Freuds Formulierung „die infantilen Meinungen über
das Wesen der Ehe aufbewahrt«, wodurch ihm neben dem „Papa-
und Mamaspiel« eine „besondere Bedeutung für die Symptoma-
tologie der späteren Neurosen" zukommt. 1 Die verpönten, früh-
mfantilen Koitus- und Schwängerungsphantasien erscheinen dabei
in. den spielerischen Veranstaltungen zwischen „Arzt« und „Patient«
wieder verwandelt in dem sittlich einwandfreien Wunsch
des Heilen-, beziehungsweise Gesundwerdenwollens. Das Instru-
mentarium des kleinen Arztes, das Penisäquivalente in Form von
fingierten Hörrohren, Thermometern, Klistierspritzen und Opera-
tionsmessern enthält, verrät dabei deutlich die sadistische Auf-
lassung des Aktes. Die zu behandelnde Krankheit selbst bedeutet
sehr häufig ,n mehr oder weniger verhüllter Form die Schwanger-
schaft der Mutter. Nicht selten ist das Doktorspiel mit dem
„rapa- und Mamaspiel« kombiniert, wobei das Leidenserlebnis
einer Puppe als Kollektivkind zugeschoben wird. Diese geht meist
m einer Art „negativer therapeutischer Reaktion" an der ihr
apphzierten „Behandlung" unter Verlust ihrer Gliedmaßen zu-
grunde. Sie wird ein Opfer des Kastrationskomplexes ihrer Schutz-
patrone, denen sie das Ausleben aggressiver Tendenzen gestattet,
die eigentlich den Konkurrenten um die elterliche Liebe, den
Geschwistern, zugedacht sind.
Das Doktorspiel bietet also als Symbolhandlung sämtlichen
im Odipus-Konflikt entstehenden Regungen eine Auswirkung. Es
ist eine Wiederholung der Urszene, wobei der Darsteller des Arztes
sich mit dem Vater, der Darsteller des Patienten sich mit der
Mutter identifiziert.
1) Freud, Über infantile Serualtheorien. Gesammelte Schriften, Bd. V.
236
Die zunächst rätselhaft anmutende Tatsache, daß ein Kind ein
so peinliches Erlebnis wie einen ärztlichen Eingriff als lustvoll
immer und immer wiederholt, hat, wie wir wissen, Freud zu
einem Ausgangspunkt seiner Betrachtungen über den Wieder-
holungszwang gewählt. 1 Einen Lustanteil des Spieles sieht er in
der Möglichkeit für das Kind, sich aus der peinlichen Rolle
infantiler Duldung zur Rolle des aktiven Erwachsenen, des
Arztes, aufzuschwingen. Die dabei offen gelassene Frage über das
Interesse des anderen mitspielenden Kindes an der Wiederholung
des leidvollen Patientenerlebnisses beantwortet sich von selbst,
wenn wir nach dem Gesagten den Begriff der Aktivität weiter
fassen. Das Doktorspiel gibt jedem mitspielenden Kinde die
Möglichkeit, die Urszene insgesamt aktiv zu inszenieren und zu
genießen, an der es gerade wegen der ihm dabei zufallenden
Rolle des nichtaktiven, unbeteiligten Dritten litt.
Vom Spiel ganz allgemein sagt Freud, daß sich bei ihm
„Wiederholungszwang und direkte Triebbefriedigung zu intimer
Gemeinsamkeit verschränken".' Der lustvolle, sehr erhebliche
Beitrag der letzteren ist beim Doktorspiel nach dem Gesagten
ohneweiters klar. Die Spielleistung erreicht hier, wie die Traum-
leistung und die neurotische Symptombildung, eine Erfüllung
bewußtseinsunfähiger Wünsche durch die symbolische Entstellung,
— nur daß es beim Traum und der Neurose aus der Ver-
drängung wiederkehrende Inzestwünsche sind, während das
Doktorspiel, vorfallend noch zu einer Zeit, da das Ödipus-Erlebnis
ein aktueller Konflikt ist, im Dienste des Versuches zu seiner
Bewältigung selber steht. Bevor er am Ende, wie wir wissen, unter
der Auswirkung des Kastrationskomplexes in die verschiedenen
Möglichkeiten der Identifizierung aufgelöst wird, 3 ist während
der ganzen Übergangszeit das Kind ständig in die Notwendig-
keit versetzt, sich der immer wiederkehrenden traumatischen Ein-
wirkung des Urszenenerlebnisses zu erwehren, beziehungsweise der
Tatsache, daß die Eltern unerreichbare Sexualobjekte bleiben,
zu verschließen. Diesem unerträglichen Wissen um die sexuellen
Beziehungen zwischen den Eltern, beziehungsweise dem Verständ-
nis dafür, entzieht sich das Kind durch „die Verdrängung", die
an die Möglichkeit gebunden ist, der unlustbetonten Vorstellung
einen quantitativ und qualitativ ausreichenden Libidobetrag zu
1) Freud, Jenseits des Lustprinzips. Gesammelte Schriften, Bd. VI.
2) 1. c.
3) Freud, Der Untergang des Ödipus-Komplexes. Gesammelte Schriften, Bd. V.
a 37
entziehen. 1 Die dabei vom Objekt ins Ich zurückflutende, hier
nach dem Dynamometer der infantilen Angst regulierte Libido
drängt in der Motorik des Spielens der Objektwelt wieder zu.»
Während also in der spielerischen Ausgestaltung des Symbol-
inhalts sich das „Lustprinzip" auswirken will, stellt der Hang
zum Spielen, „der Spieltrieb", das Phänomen des Wiederholungs-
zwanges dar, des Agierenmüssens, um verdrängen zu können.
Der mehr oder minder erreichte Effekt einer vollständigen
Verdrängung ist dabei meines Erachtens ebenso mit dem Vor-
gang der Introjektion verknüpft wie die Identifizierung
selbst. Je mehr von dem enttäuschenden Objekt einverleibt ist,
desto mehr ist von ihm aus der äußeren Wahrnehmung verdrängt,
desto vollkommener die Identifizierung. Desto höher steigt aber
auch das Niveau der Ichlibido, das zur Entladung drängt. Man
kann sagen: das Kind wird desto deutlicher und intensiver Mama
und Papa spielen, agieren, je weniger es noch von den ehelichen
Beziehungen seiner Eltern weiß, beziehungsweise versteht. Man
kann, was aus Raummangel an dieser Stelle nicht weiter belegt
werden kann, die Formulierung wagen: die Introjektion ist die"
Regressionsform des Verständnisses, die Aktion die Regressions-
form der Verständigung. Erinnern wir uns dabei des von Freud
erwähnten Beispieles des kleinen Jungen, der den Tod der ge-
liebten Katze in der Form betrauerte, daß er auf allen Vieren
kroch und miaute. 8 Die auf dieser Stufe noch aus Mangel an
Wortvorstellungen nicht mögliche Bewältigung der Lust-einbuße,
des Ver-lustes durch den Denkakt und die sprachliche Wieder-
gabe wird ermöglicht durch die Introjektion des Objektes unter
Einbeziehung der ihm zugewandten Libido, die dann als Stauung
der Ichlibido das Katzespiel in Gang setzt. Erwirbt doch auch
das Kind in der frühesten Epoche seines Lebens mit seinem
nur nach dem Primärvorgang arbeitenden Seelenapparat stufen-
weise seine ersten Fähigkeiten durch stückweise Introjektion der
liebenswerten Persönlichkeiten seiner Umgebung. Daraus ergibt
sich nicht nur seine Verständigungsmöglichkeit mit ihnen, sondern
auch in zunehmendem Maße seine Unabhängigkeit von ihnen,
wodurch es erst als Subjekt verselbständigt in die Objektwelt des
1) Freud, Die Verdrängung Gesammelte Schriften, Bd. V.
2) Diese Auffassung stimmt mit den Erfahrungen von Frau Melanie Klein
überein, die in ihren Vorträgen betont, daß die Kinder „im Spiel die Ein-
drücke der Urszene abzureagieren streben".
3) Freud, Massenpsychologie und Ich- Analyse. Gesammelte Schriften, Bd. VI.
238
Ödipus-Konfliktes hineingestellt wird. Bei der jetzt, in der „ersten
Pubertätszeit", aus genitaler Quelle sich steigernden Libido reicht
der Primärvorgang zu ihrer Bewältigung nicht mehr aus. Die
seelischen Bindungsvorgänge werden mobil gemacht, die zur Struk-
turierung des Ichs führen. Dabei kehren die wieder introjizierten
Elternobjektvorstellungen aus der Verdrängung, aus dem Es ins
Ich zurück und werden — analog der Traumzensur — in diesem
geduldet, soforn sie sich die Angleichung an ein Ichideal der
Realität, d.h. die Verhüllung durch ein solches gefallen lassen.
Es ist verständlich, daß zur Zeit, da diese Strukture erungs Vor-
gänge des infantilen Ich noch im Werden sind, der „Doktor",
der ja für das Kind auch die Es-Interessen noch ausgiebig ver-
tritt, ein ganz besonders brauchbares Ichideal abgibt. Der Arzt
darf ja scheinbar aktiv all die Lustmechanismen betätigen, die
dem Kinde versagt werden. Er erkennt keine Kleidung an, keine
Scham. Er darf alles sehen, alles hören, mit Urin und Kot sich
straflos beschäftigen. Er weiß alle Geheimnisse der Geschlechts-
unterschiede wie des Kinderkriegens und verfügt allmächtig —
wie der Vater über die Mutter — über den Körper des Kranken.
Je nach dem besonderen Anspruch seiner eigenen erogenen Zonen
und Partialtriebe wird das Kind dann ein anderes Moment des
Arztseins beim Spiel bevorzugen oder aber seiner aggressiven,
sadistischen Lust — der „Lust des Messers" — speziell als Opera-
teur frönen, um durch ein Agieren der Kastrationslust die eigene
Kastrationsangst zu ersparen. Das Spielen scheint uns speziell am
Doktorspiel ganz deutlich seine psychobiologische Funktion zu ver-
raten, die seelischen Mechanismen zu üben, die zur glücklichen
Erledigung des Ödipus-Konfliktes notwendig sind. Dadurch, daß das
Über-Ich die überschüssige Ichlibido gewissermaßen als eine sub-
jektivierte Objektlibido an sich zieht und hier über das reale Ich-
ideal nach außen leitet, wird auch im Agieren des Spiels bereits
ein Stück Außenwelt verändert und die Introversion des Konfliktes,
d. h. die Erkrankung, verhütet.
Die spielerische Aktion erweist sich somit als Vorstufe der
Berufsausübung; nur daß letztere sich nach dem Modell des auf-
gelösten Ödipus-Komplexes vollzieht, während das Spiel noch den
Spiegel des Auflösungsprozesses selber darstellt.
Es dürfte in diesem Zusammenhange von einigem Interesse sein,
das Doktorspiel einmal da zu betrachten, wo wir es gleichsam
in statu nascendi, nämlich in der psychoanalytischen Kur, beobachten
können. Das Agieren während derselben, das dem Übertragungs-
2 39
spiel zugrunde liegt, stellt ja oft seine Neuauflage, zum mindesten
eine Art Erstauflage dar. Der Patient steht vor der Konsequenz
der Wiederkehr des Verdrängten. Der im Symptom gebundene
Überschuß an Ichlibido, die ursprünglich einmal als Objektlibido
den Inzestobjekten angeheftet war, wendet sich dem Analytiker
zu. Dadurch wird die Basis für ein Verständnis der psychoanaly-
tischen Situation geschaffen, d. h. die Erkenntnis für die Liebes-
empiindung zum Arzt und die Vorwegnahme ihrer Versagung. Und
wie seinerzeit der Ödipus-Konflikt aus dem Bewußtsein gedrängt
wurde, so wird er jetzt auf dieselbe Weise der Rückkehr ins Be-
wußtsein entzogen.
Die ersten Angstanzeichen beim Patienten künden das Scheitern
des Übertragungsversuches, den unter der Wirkung des Intro-
jektionsvorganges einsetzenden Wiederholungsmechanismus an, d.h.
das Agieren zum Schutze gegen das bewußte Verständnis. Der
Patient sucht sich aus der Rolle des passiv Analysierten zur Rolle
des aktiv Analysierenden aufzuschwingen und zuerst den Analytiker
selber zu analysieren, indem er ihm alle Geheimnisse seiner Person
und seiner Familie zu entlocken sucht. Hiebei enttäuscht, sucht
der Analysand zum Ausgleich der unerträglichen Spannung zwischen
Ich und Über-Ich, zur Vermeidung des Schuldgfühls, beziehungs-
weise der Gewissensangst, sein Eltern-Über-Ich dem Analytiker-
Ichideal immer intensiver anzugleichen und so wie er immer
mehr Persönlichkeiten direkt und indirekt in den Kreis psycho-
analytischer Betrachtung und Behandlung zu ziehen. Der Patient
will „Doktor" spielen, um nicht Kranker sein zu brauchen.
Er will andere durch die Pychoanalyse retten, um sich selbst vor
dem Analysiertwerden zu retten. Es wird verständlich, daß die
Gewissensangst dabei als letzter Reizschutz manchen Analysanden
treibt, selbst („wilder") Analytiker zu werden, ihn zu agieren, zu
„spielen", um von der eigenen Psychoanalyse nichts verstehen zu
brauchen.
Wir ahnen so, wie im Doktorspiel der ehemalige kleine Patient
zur Rolle des Arztes kam.
Ein praktisches Beispiel aus der psychoanalytischen Behandlung
dürfte das noch anschaulicher machen und dabei das Verständnis
dafür anbahnen, daß auch ein Arztspieler wieder geneigt, ja ge-
nötigt sein kann, des Kranken Rolle zu agieren.
Eine Patientin mit einem Herzleiden (klinische Diagnose:
„Essentielle Extrasystole") litt an der scheinbar unerfüllbaren
Sehnsucht nach einem Kinde. Sie entzog sich der Konzeption —
240
vor der sie übrigens auch durch einen Vaginismus geschützt war — >-
aus Angst, infolge ihres Herzleidens bei der Geburt sterben zu
müssen. Nach einer Phase der Behandlung, in der sie sich ver-
ständnislos, „affektiv schwachsinnig" für alle Erklärungen erwies,
die sich auf die psychische Genese ihres Leidens bezogen,
forderte sie statt dessen ständig, — mich dabei schelmisch-infantil
als „Onkel Doktor" apostrophierend — ich solle sie körperlich
untersuchen. In ihrer therapeutischen Schau- und Exhibitionslust
an mir enttäuscht, versuchte sie nun mein Interesse von sich ab
und auf ihre ebenfalls herzkranke Mutter hinzulenken. Diese, die
ihr Leiden sich bei der Geburt der um wenige Jahre jüngeren
Schwester zugezogen, sei viel kränker als sie. Sie sollte ich
also behandeln oder wenigstens untersuchen. Auf meine mehrfache
Verweigerung brachte sie die halluzinatorische Erfüllung ihres
Doktorspielwunsches in einem Traum: Sie räumt ihrer Mutter eine
ihrer eigenen Behandlungs stunden bei mir ein. Die Mutter liegt mit ent-
blößtem Oberkörper auf dem Sofa zur Untersuchung bereit. Die Träumerin
schaut gespannt zu, in „Befürchtung 11 der eventuell unglücklichen Diagnose.
Der Analytiker setzt das Hörrohr auf die Brust der Mutter, wobei sich
herausstellt, daß dieses zwecks tiefgehender Untersuchung in einen
spitzen Dolch ausläuft, der der Mutter tief in die Herzgegend eindringt.
Die Träumerin erwacht mit einem Schreck.
Der Traum verrät deutlich, was die Patientin unbewußt be-
absichtigt hatte. Der Analytiker sollte an ihr „Doktor" spielen,
damit sie in der Rolle der Kranken die passive Hingabe an ihn
als Vater- Imago im Agieren, d. h. ohne intellektuelle Einsicht,
genießen kann. Da der Arzt sich ihr aber, wie seinerzeit der Vater
im Papa- und Mamaspiel, versagte, identifiziert sie sich mit ihm
und will jetzt durch Vermittlung des Analytikers an der Mutter
Doktor spielen. Indem sie dabei im Interesse ihrer Schaulust die
Urszene aktiv inszeniert, resigniert sie auf die Tätigkeit des Zu-
schauens unter der Bedingung, daß der Analytiker durch seine
Behandlung an ihrer Stelle das Verbrechen des Muttermordes voll-
zieht und sie dadurch entsühnt.
Die Mutter als gehaßtes Objekt des Ödipus-Konfliktes ist
vollständig introjiziert, verdrängt — die Mutter ist restlos im
Ich aufgegangen. — Der Vater als geliebtes Objekt ist nur un-
vollkommen verdrängt, d. h. im Über-Ich subjekti viert. — Im
passiv-femininen Masochismus erleidet das Ich so sein Über-Ich, 1
wie die Mutter den Vater. — Wir erkennen, die Patientin ist an
dem Leiden ihrer Mutter erkrankt, weil ihr Über-Ich lediglich
im Dienste der Es-Interessen stehend, den Ichlibidoüberschuß nicht
im Dienste der Bearbeitung der Außenwelt (Spiele oder Berufs-
l) Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus. Gesammelte Schriften,
Bd. V.
16
Hl
ausübung) verwandt nat, sondern dem Ich, „das ja wesentlich ein
Körper-Ich ist", zurückgegeben hat, zur Abwandlung in der
Innenwelt, in der inneren Motilität. — Jetzt versucht sie
mit ihm nach außen zu agieren, Doktor zu spielen, um nicht krank
sein zu brauchen, d. h. ihr Es-Über-Ich möglichst zu ersetzen durch
das Real-Ich-Ideal des Arztes als Vertreter des realen Gewissens, der
sie von der Introversion des Konfliktes erlösen soll. Durch Heilen
möchte sie gesund werden. — Das in der Krankheit sich repräsen-
tierende körperliche Agieren, das der Angstvermeidung, dem Span-
nungsausgleich zwischen Ich und Es dient, wird dabei in ein seelisches
Agieren überführt aus Flucht vor der Gewissensangst, der Spannungs-
differenz zwischen Ich und Über-Ich. Durch Verwandlung des
Schuldgefühls in Mitgefühl sucht sie sich vom Mit-Leiden zum
M i t-Leid zu erheben, von der Funktion des Kranken zur Funktion
des Arztes.
Dieser, wenn auch nur flüchtige, Einblick in die Rollenverteilung
beim Doktorspiel der Kinder wie beim Doktor-Übertragungsspi el
des Erwachsenen während der psychoanalytischen Kur berechtigt
zu der Auffassung, daß das Individuum auf Grund des gleichen
Triebanspruches Arzt werden kann oder Patient.
Damit erweist sich die Psychogenese des Arztberufes beim ein-
zelnen als eine Wiederholung seiner Phylogenese, wie sie uns
durch die Forschungen Röheims bekannt geworden ist.
Röheim wies nach, daß der Medizinmann der Primitiven einen
Kulturfortschritt auf dem Wege der Triebumwandlung gegen den
schwarzen Zauberer bedeutet. „Beim Zauberer finden wir die
sadistisch-unsublimierten, beim Medizinmann dieselben Triebe in
einer durch Identifikation mit dem Opfer gehemmten, d. h. subli-
mierten Form".i Als schwarzer Zauberer hatte er, wie unsere
Patientin in der Phantasie, das Urverbrechen, die Einverleibung, die
Introjektion des Elternsubstituts vollzogen. Von diesem, das sich
zu einem Exkrementalsymbol gewandelt hat, muß sich der Magier
zur eigenen Entsühnung wieder befreien oder, in Projektion seiner
Untat, es anderen einverleiben, um es dann ihnen wieder zu ent-
ziehen. Das introjizierte Eltern Substitut ist zum Krank-
heitsstoff geworden, dessen man sich zu Genesungszwecken ent-
äußern muß. — Die Möglichkeit, ihn als Gesundungsstoff einem
anderen wieder einzuverleiben, ergibt sich erst aus dem Fortschritt
vom oral-anal-sadistischen zum genitalen Libidoanspruch. Dadurch
erst wird das Exkrementalsymbol zu einem Sperma-, Penis- und
1) Röheim: „Nach dem Tode des Urvaters." Imago, Bd. IX, S. 83 ff.
242
Kindsymbol. Unsere Patientin ist imÖdipus-Konflikt an der Synthese
(Verschränkung) ihrer prägenitalen und genitalen Libidostrebungen
gescheitert und versucht dieses nachzuholen durch das Doktorspiel
der psychoanalytischen Kur, indem sie den ins Ich introjizierten
Krankheitsstoff, das Muttersubstitut, aus der Verdrängung entläßt
und ins Über-Ich aufnimmt. So wird sie nicht nur zum Vater,
sondern auch zur Mutter, und zwar auch zur Mutter ihrer Mutter,
der sie nun die Gesundheit, d. h. das Leben wieder schenken kann,
das sie von ihr empfangen hat. Sie sucht sich vom Zwang des
femininrmasochisti sehen Erleidens im Ich zu erlösen, indem sie
gleichsam die Bisexualität im Über-Ich etabliert. Wir verstehen
an dieser Stelle, daß ein tieferer, unbewußter Sinn dem aber-
gläubischen Mißtrauen des Laien gegen die Behandlung durch
kranke Ärzte zugrunde liegt, weil diese „sich nicht einmal
selbst gesund machen können". Ihnen gegenüber besteht ja
gewissermaßen immer noch der Verdacht, daß sie, um ihr masochi-
stisches Ich vom Leiden zu entlasten, die sadistischen Triebregungen
ihres Über-Ichs aus der inneren in die äußere Motilität umschalten
und dem Kranken zuwenden.
In der Abwehr dieses Vorganges liegt aber auch die Gefahr
begründet, daß der Arzt zum Kranken regredieren kann. Das wird
um so eher erfolgen, wenn, wie bereits erwähnt, seine Berufs wähl
nicht auf Grund einer endgültigen Identifizierung des beendeten
Ödipuskonfliktes erfolgte, sondern seine Berufsbetätigung immer
noch als ein Agieren, als ein Doktor-Spielen zur Bestreitung
des Verdrängungsaufwandes angesehen werden kann. Für solchen
Therapeuten kehrt ja im Patienten das Inzestobjekt wieder, das auf
Grund der gleichen Identifizierungsvorgänge Patient geworden ist,
wie er Arzt.
In meinen Vorlesungen über „Arztliche Kunst und Psycho-
analyse" am „Berliner Psychoanalytischen Institut" habe ich, seiner-
zeit noch unabhängig von den R6heimschen Forschungsergebnissen
am ethnologischen Material, aus meinen eigenen Analysen und
den Kenntnissen aus Freuds „Totem und Tabu" das nicht seltene
Vorkommnis beleuchtet, daß Spezialärzte an ihrem Spezialfach
erkranken. Ich nannte solche Ärzte Partialärzte, deren Berufs-
ausübung psychoanalytisch gesehen einer Perversion gleichkommt,
weil sie auf Grund ihres eigenen, an eine bestimmte erogene
Zone gebundenen, unbewußten inzestuösen Libidoanspruches das
betreffende Organ des Kranken oder eine bestimmte fachärztliche
Betätigung mit einem Maß von Libido überbesetzen, daß der
16* 243
ganze übrige Mensch infolge der relativen Libido Verschiebung
auf das eine Organ ganz dem Bewußtsein oder wenigstens dem
Verständnis des Therapeuten unzugänglich wird. Es liegt eine
Art von Organfetischismus vor, der als Gegenbesetzung den Ver-
drängungsauf wand selber bestreitet. Statt nämlich auf den Patienten
zu „übertragen", identifiziert sich der Spezialist mit ihm. Statt
des Kranken Organ neu zu beleben, sucht er, wie unsere Analy-
sandin dem kranken Herzen ihrer Mutter gegenüber, dieses intro-
jektiv zu erfassen, zu „verdrängen", und muß so infolge seiner
Ich- beziehungsweise Organlibidostauung selbst wieder erkranken.
Er introvertiert wieder die Beziehungen zu seinen Patienten und
regrediert wieder vom Verständnis zur Introjektion, von der mit-
teilenden „Äußerung" zur Aktion — vom Mit-Leid zum Mit-Leiden.
So sah ich Magenärzte magenkrank werden, Psychiater an
Psychosen, Psychoanalytiker (aus „Gegenidentifizierung" statt aus
Gegenübertragung) an Neurosen und Depressionen erkranken.
Von einem Lungenspezialisten weiß ich, daß er an Asthma er-
krankte, nachdem er während einer neurotischen Konfliktzeit
nachts häufig zu einem asthmatischen Greise gerufen worden
war. Dasselbe jedoch gilt nicht nur für den Therapeuten, sondern
im besonderen auch für den spezialistischen Forscher, dessen aus
inzestuöser Schaulust gespeister Wissenstrieb tabuiert wird und
ihn nach dem Gesetz des Talion zwingt, wieder zu introjizieren
und zu agieren, wo er die Vorgänge an einer bestimmten „ero-
genen Zone" nicht mehr verstehen und sich nicht mehr verständ-
lich machen darf. Das bedeutet, er muß an dem Organ erkranken,
an dem er forschen, alias „sündigen" wollte.
Mancherlei Schutzmaßnahmen bilden sich dabei häufig als
Reaktionen heraus, die namentlich der Abwehr der destruktiven
Triebregungen bei der Berufsbetätigung dienen. Hier seien nur
zwei Beispiele erwähnt, die zeigen, wie einmal der Arzt seinen
Patienten vor sich, das andere Mal sich vor sich selber
schützen kann. So kenne ich einen vielbeschäftigten Therapeuten,
der, um gut behandeln zu können, sich gestatten muß, seine
Patienten bewußt zu hassen. Damit ihn diese Affekteinstellung
aber im beruflichen Verkehr nicht stört, isoliert er sie zeitlich
von seinem Tagewerk. Morgens, vor Beginn der Sprechstunde,
pflegt er in seinem leeren Ordinationszimmer auf und ab zu
laufen und dabei die draußen seiner Hilfe Wartenden aufs haß-
erfüllteste zu verwünschen und ausgiebig koprolalisch zu be-
schimpfen. Zum anderen Mal gibt es nicht wenige Ärzte, die
244
I
unbewußt in ihrer beruflichen Einstellung auf das „Exkremental-
symbol" als introjizierten Krankheitsstoff, als Elternsubstitut, re-
gredieren. An Stelle dieses Exkrementalsymbols tritt für sie als
Kotäquivalent das Geld, auf das sich dann die gesamte Inzest-
bedeutung des Kranken verschiebt. Dadurch wird das Geld des
Patienten tabuiert, das der Arzt nicht berühren, nicht einnehmen
(introjizieren) darf, wenn er selbst gesund, beziehungsweise frei
von Schuldgefühl bleiben will. Er erspart sich eine Arbeitshem-
mung auf Kosten einer Erwerbshemmung.
So sehen wir noch in den modernsten Beziehungen zwischen
Doktor und Kranken — dem Eintausch von Gesundheit gegen Geld —
die ältesten Archaismen in ihrer prähistorischen gegenseitigen Be-
dingtheit sich störend bemerkbar machen. Denn jeder Arzt wieder-
holt in sich nicht nur die psychische Onto-, sondern auch die psy-
chische Phylogenese seines Berufes. Der Beweis hiefür ergibt
sich ja aus der Beobachtung der infantilen Doktorspiele, in denen
wir bereits den Grundriß des späteren Berufes erkannten.
Es war darum für mich auch nicht überraschend, einmal ein
solches Spiel in seiner Urform zu beobachten. Man kann es das
„Urdoktorspiel" nennen, weil es noch unverhüllt auf der Bedeu-
tung des Kranken als Feind und Vater basiert, und es sei bei
dieser Gelegenheit hier mitgeteilt.
Ein zwölfjähriger Patient, der an Zwangsonanie unter sadisti-
schen Phantasien litt, berichtete mir vom diesem Spiel, das er
als Sechsjähriger mit anderen gleichaltrigen Knaben zu spielen
pflegte. Für unsere Betrachtungen bleibt es dabei gleichgültig,
ob das Spiel sich wirklich in allen Einzelheiten so, wie berichtet,
zugetragen oder ob es durch nachträgliche Phantasien einige Er-
gänzungen erfahren hat.
Die Jungen spielten chirurgische Operation. Die Rollen-
verteilung war dabei folgende: Ein Knabe, der sich irgendwie
mißliebig gemacht hatte, war der Kranke, die anderen waren
Hauptoperateure und Assistenten. Zwei von ihnen war eine be-
sondere Rolle vorbehalten: als Krankenschwester, die „Narkose
machte", und als — „die Seele" des zu Operierenden.
Die Operation spielte sich immer in folgender Weise ab: „Die
„Chirurgen" und auch die spätere „Seele" stürzten sich auf den
Knaben und hieben mit Stöcken auf ihn ein, wobei sie nach
Möglichkeit den Penis zu treffen suchten. Dann suchten sie den
Patienten aufzufressen, und jeder „Arzt" mühte sich im Kampfe
gegen den „Kollegen", ein möglichst großes Stück, „am liebsten
den Popo", zu erwischen. Die Reste der Mahlzeit wurden in
einem fingierten Freudenfeuer verbrannt, „der noch übrige Rest
245
"
des Kranken", d, h, die Person des Operierten, in einem Erd-
loch vergraben, was durch Zudecken mit dem Zimmerteppich
markiert wurde. Hieran schloß sich ein orgastischer Tanz der
vom Blut des Opfers berauschten Ärzte, die den am Boden Lie-
genden noch mit Fußtritten traktierten. Die „Seele" aber hatte
sich inzwischen in der Zimmerecke versteckt, mußte von da aus
ab und zu in die tanzende Horde hineinspringen und — un-
sichtbar — den einen oder den anderen zwicken. Die „Kollegen",
in der Meinung, daß immer „der andere" solchen Schabernack
triebe, fielen schließlich in allgemeiner gegenseitiger Prügelei
übereinander her, bis am Ende eine universelle Versöhnung
durch allgemeines Bonbonlutschen erfolgte.
Bei diesem Urdoktorspiel sehen wir in der modernen Kinder-
stube, unter der Auswirkung eines Urwiederholungszwanges, in
allen Einzelheiten Vorgänge als Spiel zum Vorschein kommen, die
Freud, rückschließend aus den Übereinstimmungen der Zwangs-
erscheinungen der Neurotiker mit dem Zeremoniell der Natur-
völker, als in der Urhorde vorgefallen vermutet hat. 1 Ich muß
es mir ersparen, auf viele interessante Einzelheiten des Spieles
in der vorliegenden Form einzugehen — wie zum Beispiel auf
die Beleuchtung, die in ihr der Begriff „Kollegialität" und proji-
ziertes Schuldgefühl erfährt — und will nur einiges, für unser
Thema wesentliches, hervorheben.
Auf meinen Hinweis an den Jungen, daß Chirurgen ihre
Kranken nicht umzubringen, sondern gesund zu machen pflegen,
antwortete er mir, das habe er zurzeit des Spieles noch nicht
gewußt. Damals hatte er geglaubt, Chirurgen seien Menschen,
die alle anderen hassen und darum töten wollen. Zweimal hatte er
sie in ihrer Betätigung kennen gelernt. Das eine Mal wurde
seine Mutter operiert, ihr ein Gewächs aus dem Leibe entfernt,
was ihn sehr erschreckte. Das andere Mal wurde ihm von dem-
selben Chirurgen eine Wucherung aus der Nase herausgeschnitten.
Dabei hatte er sich aus Angst so gewehrt, daß ihm der Chirurg
„versehentlich" einen Zahn ausschlug. Es ist ohneweiters klar,
daß der Knabe den Chirurgen mit seinem äußerst strengen und
tyrannischen Vater identifizierte, dem er aus Kastration sangst zu
entweichen suchte. In der Nasenoperation realisiert sich dann
für ihn die Identifizierung mit der gleichfalls vom Vater-Chir-
urgen operierten, d. h. koitierten Mutter und damit gleichzeitig
die Gefahr der passiv-femininen Hingabe an den Vater, die Ka-
stration, das Zum-Weibe-gemacht- "Werden. Durch die symbolische
1) Freud: „Totem und Tabu", siehe auch Röheim: „Nach dem Tode
des Urvaters."
246
Auswirkung der operativen Vergewaltigung fühlt sich der Sohn
vom Vater entmannt und an der Möglichkeit, sich mit ihm zu
identifizieren, gehindert. Das Chirurgspielen gibt ihm die
aktive Vaterrolle zurück. Die Erfüllung dieses Wunsches stellt
das Spiel wie der Traum in derUmkehrung dar; denn eigent-
lich wird er erst durch das Operieren (Kastrieren) zum Chirurgen.
Durch die stückweise, kannibalische Einverleibung im allge-
meinen und die Kastration des Kranken (Operateur-Imago) im
besonderen erwirbt der Passive (Kranke) erst die Fälligkeiten,
wie sie der infantilen Phantasie nach der Aktive im siegreichen
Kampfe der Urszene betätigt. Er wird durch Introjektion des
Vaters zum Vater, wie der Vater selbst erst dadurch zum Manne
wird, daß er die Mutter zum Weibe macht, ihren Penis raubt
(introjiziert). Dieser wird auch als exkrementalsymbolisches
Elternsubstitut (Popo) einverleibt, wobei die Nates natürlich
gleichzeitig die Bedeutung der Mammae haben. Letztere dürfen
dann als ständige Lustquelle in der Außenwelt belassen werden»
(das „versöhnliche Bonbonlutschen") und ermöglichen die Resi-
gnation, ein Kind zu bleiben. Die Tatsache, daß unser Patient in
seinem Doktorspiel oft auch gerade die milde, durch Narkose
schmerzlindernde Krankenschwester spielte, verrät seinen regres-
siven Anspruch auf die Funktion der Urmutter, die durch Säugen
Schlaf und Schmerzlosigkeit verleiht.
So sehen wir gerade in diesem primitivsten aller Doktorspiele
das Ich des Kindes im Kampfe um die verschiedenen Identifizie-
rungen sich bereits abmühen, um aus ihnen sein Über-Ich zu
bauen. Es strebt dem Postulat zu, sich von der Rolle femininer
Passivität zu befreien und zur Rolle infantiler Passivität zurück-
zukehren, in welcher es sein Über-Ich nicht mehr zu erleiden
braucht, — wie die Mutter den Vater — sondern sich dessen
Förderung als sein Kind, als sein Werk, erfreuen darf. Der be-
rufene Arzt speziell muß, wie mir deutlich wurde, in seinem
Über-Ich die Synthese des in Vater und Mutter differenzierten
Urmutterbegriffes vollzogen haben, will er nicht unerträgliche
Spannungen zwischen seinem Über-Ich und seinem Ich (als
„Mitleid" maskiertes Schuldgefühl) auf seinen Patienten,
die Projektion seines Ichs, übertragen.
Die Betrachtungen eines Psychoanalytikers über den Beruf des
Arztes bleiben aber unvollkommen, wollten wir uns am Schluß
i) Vgl Karl Abraham: Zwei Stufen der oralen Entwicklungsphase der
Libido, in: „Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund der Psychoanalyse
seelischer Störungen". („Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse", Nr. II.
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1924.)
247
I
nicht daran erinnern, daß in ihm, in der gesellschaftlichen Öko-
nomie der Arbeitsteilung-, die personifizierte Repräsentanz einer
biologischen, psychophysischen Instanz erscheint, die Freud im
„Lustprinzip" als „den Wächter des Lebens" entdeckt hat. Die
destruktive Tendenz des Wiederholungszwanges als Todestrieb
die zum Abgleich aller Spannungen, besonders zur Beseitigung
aller objektiven Spannungs quellen drängt, wird durch den An-
spruch der narzißtischen Libido modifiziert. Diese vertritt den
Wunsch nach Leben durch Lieben, uranfänglich und später re-
gressiv sich immer und immer wiederholend, auf dem Wege
introjektiver Einverleibung (introjektiver Verdrängung). Die
Steigerung des Ichlibidoniveaus - der „Selbsterhaltungstrieb" » —
macht dann als psychischen Reizschutz die Angst, als phy-
sischen Reizschutz ihr Äquivalent, den Schmerz, mobil. In
beiden kündet sich gleichzeitig drohend der Destruktionstrieb an.
Denn jeder Krankheitsprozeß ist unter der Steigerung des
Ichhbidoanspruches ein gesteigerter Lebensvorgang, der
aus sich selbst heraus die Tendenz zu einer beschleunigten Ent-
spannung zeigt. Der „Umweg zum Tode«,» den das Leben dar-
stellt, wird durch die Krankheit in beschleunigtem Tempo zurück-
gelegt, und jedes kranke Organ ist dabei von den deletären Kon-
sequenzen des steilen Libidoabfalles, dem Orgasmus, bedroht.
Seelische Angst und körperlicher Schmerz sind die durchschnitt-
lichen Alarmsignale, die den Arzt zur Hilfe herbeirufen. Die
psychoanalytische Erkenntnis des Krankheitsproblems weist diesem
neue Wege für seinen Heilplan. Die Befreiung des Menschen
von der Angst und deren Symptomäquivalenten bedarf an dieser
Stelle keines Wortes. Die Befreiung vom Organschmerz aber,
der beispielsweise eine krankhafte Entzündung und die Bereit-
schaft zur bakteriellen Infektion ankündet, verlangt vom Körper-
arzt nicht in erster Linie ein operatives Eingreifen, sondern den
Mut zu einer neuen Technik, wie sie der Analytiker aus der
Freud sehen Methodik gewonnen hat. Der Arzt muß sich in
jedem Fall um die libidinöse Konstitution seiner Patienten
kümmern. Er muß die Ursachen des besonderen erogenen An-
spruches des kranken, d. h. schneller leben wollenden Organs
erkunden und der Ökonomie der narzißtischen Libido zum Aus-
gleich verhelfen. Der Arzt, der aus „Mitleid", d. h. zur Vermei-
j) Vgl. Freud: Zur Einführung des Narzißmus. Ges. Schriften, Bd. VI.
2) Freud: Jenseits des Lustprinzips. Ges. Schriften, Bd. VI.
248
\m
düng eigenen Schuldgefühls, seine Aufgabe nur darin sieht, den
Schmerz durch Narkotika zu beseitigen oder zu lindern, läuft
Gefahr, den „Wächter des Lebens" zu erschlagen und damit
selbst zum Vollstrecker des Todestriebes zu werden.
II iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiilillllllllllllllilllllllllllllllllllllillllllliliiii lllllllllllllililllllllllllllllllllllllllll
PSYCHOANALYTISCHES LESEBUCH
Ödipuskomplex
Aus Stendhals Selbstbiographie:
Meine Mutter war eine reizende Frau, und ich war in sie verliebt.
Ich setze schleunigst hinzu, daß ich sie mit sieben Jahren verlor. Als ich
sie mit etwa sechs Jahren (178p) liebte, hatte ich durchaus denselben Cha-
rakter wie 1828, als ich Alberthe de Rubempre leidenschaftlich liebte.
Meine Art, auf die Glücksjagd zu gehen, hat sich im Grunde genommen
gar niclvt geändert . . . Ich wollte meine Mutter mit Küssen bedecken und
wünschte, daß es keine Kleider gäbe. Sie liebte mich leidenschaftlich und
küßte mich oft; ich erwiderte ihre Küsse mit solcher Glut, daß sie oft
hinausgehen mußte. Ich verabscheute meinen Vater, wenn er unsre Lieb-
kosungen unterbrach. Ich wollte sie stets auf die Brust küssen . . . Sie starb
in der Blüte der Jugend und Schönheit. Damit begann mein Innenleben.
Aus einem Brief Baudelaires:
Was liebt das Kind so leidenschaftlich in seiner Mutter, in seiner
Wärterin, in seiner Lieblings Schwester? Ist es einfach nur das Wesen,
das es nährt, kämmt, wäscht und wiegt? Es ist auch die Zärtlichkeit und
die sinnliche Wollust. Dem Kinde wird diese Zärtlichkeit ohne Massen
der Frau durch ihre ganze weibliche Anmut offenbar. So liebt es seine
Mutter, seine Schwester, seine Amme wegen des angenehmen Kitzels der
Seide und des Pelzwerks, liebt den Duft ihres Halses und ihrer Haare,
das Klirren des Geschmeides, das Spiel der Bänder usw., . . . diesen ganzen
mundus muliebris, der beim Hemd anfängt und sich in den Möbeln aus-
drückt, denen die Frau das Gepräge ihres Geschlechtes verleiht.
Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches":
Jedermann trägt ein Bild des Weibes von der Mutter her in sich, davon
wird er bestimmt, die Weiber überhaupt zu verehren oder gering zu schätzen
oder gegen sie im allgemeinen gleichgültig zu sein.
2 49
Nicht wahr, zwei Damen? Und der
Schlag aufs Paradiesäpflein
Kapitel XXII aus „Der Seelensucher, Ein psychoanalytischer Roman" von
Georg Groddeck
Thomas war, sobald er annehmen konnte, daß Agathe den
Bahnhof geräumt hätte, dorthin geeilt und hatte sich, vereint mit
dem seiner harrenden Keller- Caprese, in dem Zug nach Berlin
niedergelassen. Er freute sich wie ein Schulknabe, seinen beiden
Aufpassern entronnen zu sein, und um dieser Freude Ausdruck
zu geben, setzte er sich dem Reisegefährten auf den Schoß, was
ihm eine Mahnung, sich anständig zu betragen, von seiten des
streng königlich preußisch gerichteten Schaffners eintrug. Er
wollte sich gerade mit der Behauptung zur Wehr setzen, daß er
lediglich Mutter und Kind mit seinem Freunde spiele, was bei
dem riesigen Knebelbart Keller-Capreses, seinen haarigen Händen
und der dicken Zigarre zwischen seinen Zähnen schwer zu
glauben war, als vom Gang her eine Dame in das Coupe hin-
einaugte und mit den Worten:
„Nein, wie ich mich freue, lieber Meister, Sie hier zu treffen",
beide Hände zum Gruß vorgestreckt, auf Keller- Caprese zueilte.'
Thomas sprang sofort auf, und während der Maler mit gut
gespieltem Erstaunen der Dame die Hand küßte und ihr dabei
zuflüsterte: „Ich fürchtete schon, Ihr würdet nicht kommen« —
half Weltlein einem jungen Ding in etwas kurzen Kleidern mit
einem kindlich rundbackigen Engelsgesicht, das Handgepäck im
Netz unterzubringen.
„Es ist reizend, Sie und Ihr Fräulein Tochter nach so langer
Zeit zu sehen, Frau von Lengsdorf. Hoffentlich führt uns der
gleiche Weg nach Berlin."
„Gewiß, gewiß.« Die Dame lächelte den Schaffner, als sie
ihm das Billett zur Kontrolle zeigte, ebenso bezaubernd an wie
den Künstler. „Ich will der Kleinen ein wenig die Hauptstadt
zeigen und sie in die Gesellschaft einführen. Die Fürstin Pleß
bat schon lange darum, ihr das Kind einmal mitzubringen, und
Prinz Victor hat uns Karten zum Subskriptionsball besorgt. Da
soll sie dann Majestät vorgestellt werden. Nicht wahr, Helene?"
250
Thomas, der gerade eine Ladung Schirme oben im Netz
unterzubringen suchte, guckte mit halb gewendetem Kopf an
seinen ausgestreckten Armen vorbei zu dem jungen Mädchen
hinab, pustete langsam durch die zugespitzten Lippen und sah
in seinem erkünstelten Respekt so drollig aus, daß das Fräulein
erst heftig errötete, ihn dann voll und offen anblickte und zu-
traulich zulächelte.
Frau von Lengsdorf, deren große Smaragdohrringe bei jeder
Bewegung die Menschen zur Bewunderung der reizenden Ohr-
muscheln aufzufordern schienen, warf einen fragenden Blick auf
Keller-Caprese und streckte dann nach glücklich verlaufener Vor-
stellung dem hilfsbereiten Weltlein ihre Hand entgegen, als ob
sie einen vertrauten Freund nach langer Trennung wiedersähe.
„Ihr Freund Lachmann hat mir von Ihnen erzählt, nicht
wahr, Helene? Und in Bauchungen sind Sie zu Hause. Solch ein
wunderhübsch gelegenes Städtchen, nicht? Du besinnst dich doch,
Kind. Bauchungen mit der schönen Aussicht oben auf dem Berg,
wie heißt er doch, nun, du weißt es doch, nicht, Liebling?
Burg — "
„Ah, Sie meinen die Lügenburg, nicht?" half Thomas aus
und begleitete diese Erfindung seiner Phantasie mit einem zu-
friedenen Lachen, das ihm den Bauch erschütterte.
„Richtig, richtig", mischte sich jetzt Helene in das Gespräch.
„Ich besinne mich jetzt ganz gut. Wir waren mit dem Grafen
Andor oben. Ich sehe ihn noch, wie er auf die Mauerbrüstung
kletterte, um dort ein Glockenblümchen zu pflücken." Sie sah
mit den Unschuldsaugen traumverloren in die Vergangenheit.
„Ich hatte schreckliche Angst, er könnte fallen, und der Abgrund
war — "
„Ach ja, der gute Andor," sagte Frau von Lengsdorf, „er
hätte gewiß sein Leben hingegeben, wenn er dir damit hätte
Freude machen können, nicht?", und dabei strich sie ihrem
Töchterchen über die Wange und ließ ein kostbares Armband
im Lichte spielen. „Sie sollten auch einmal nach Bauchungen
kommen, lieber Meister", wandte sie sich an Keller-Caprese.
„Das ist eine köstliche Idee," jubelte das Fräulein, „wir
wollen uns alle dort treffen und auf der Lügenburg Kaffee
trinken."
Frau von Lengsdorf war im Begriff, ihren Schleier hochzu-
heben, hinter dem sie ein paar Falten verbarg, mitten in der
Bewegung stutzte sie.
251
Thomas nickte ihr freundlich zu und sagte: „Ich muß Ihnen
mein Kompliment machen, gnädige Frau, das heißt, eigentlich
muß ich Ihnen eine ganze Menge machen. Sie besitzen ja alles
was man an Vollkommenheit am Weibe wünschen kann, nicht?
Schönheit, Grazie, Liebenswürdigkeit, und Ihr Fräulein Tochter
auch, nicht wahr? Aber vor allem, Sie haben ihr Kind gut er-
zogen. Haben ihr das mitgegeben, was Sie selbst in so hohem
Grade besitzen und was sich nun bei der Tochter zur Vollkom-
menheit entwickelt hat, nicht wahr, Keller-Caprese?"
Dem Maler war ungemütlich zu Mute, er nickte nur, während
Frau von Lengsdorf sich verbindlich ihrem Gegenüber zuneigte
und ihre schönen Zähne zeigend, sagte: „Ja, ich habe mir Mühe
gegeben mit dem Kinde, aber ich weiß nicht, was bei mir so
hervorragend und bei meiner Tochter zur Vollkommenheit ent-
wickelt ist."
„Die Wahrheitsliebe, gnädige Frau."
Frau von Lengsdorf streckte ihm die Hand entgegen — „Welch
ein schönes Wort." Helene errötete kindlich unschuldig und
Keller-Caprese hätte beinah die Zigarre verschluckt, so tief
steckte er sie in den Mund, um nicht laut zu lachen.
Thomas hielt die Hand der Dame, holte sich unbefangen die
Helenens dazu und sagte: „Sehen Sie, wenn andere Leute lügen,
dann suchen sie das zu verbergen, aber Sie, gnädige Frau, setzen,
wenn Sie lugen, Ihren Worten ein „nicht" oder „nicht wahr«
hinzu, das ist der Gipfel der Ehrlichkeit, nicht wahr?"
Frau von Lengsdorf wurde zum erstenmal in ihrem Leben
verlegen und versuchte, ihre Hand zurückzuziehen.
Thomas aber fuhr unbeirrt fort. „Der Gipfel? Den hat Fräu-
lein Helene erklommen. Wenn sie etwas sagt, sei es, was es sei,
selbst wenn sie das nicht wahr hinzufügt, glaubt man ihr. Solch
kindlich reine Züge können nicht lügen; aber sie errötet und
sie zwinkert mit den Augen, und man weiß dann, daß sie immer
lugt."
„Mein Herr, diese Beleidigung — «, Frau von Lengsdorf war
im Begriff, den ganzen Plan, den sie mit Keller-Caprese ausge-
heckt hatte, über den Haufen zu werfen, so wenig fühlte sie
sich der Situation gewachsen, aber Thomas kam ihr zu Hilfe.
„Verzeihung, ich wollte Sie nicht kränken, im Gegenteil, ich
bewundere Sie. Ich halte das Lügen nicht für ein Laster, sondern
für einen Grundpfeiler alles Schönen, Edlen und Herrlichen. Den
Menschen lügen zu lehren, sollte das Ziel aller Erziehung sein.
*5*
Es wäre viel vernünftiger, ein Kind zu strafen, wenn es einmal
zufällig die Wahrheit sagt, als es für das Lügen zu schlagen.
Dem Kinde würde dann der schreckliche, in seinen Folgen
geradezu verheerend wirkende Konflikt erspart, der daraus ent-
steht, daß die Eltern immer lügen dürfen und immer lügen,
während das Kind die Wahrheit sagen soll. Nehmen Sie die
Lüge aus der Welt und es bleibt nichts übrig. Der Staat, der
Handel, die Wissenschaft, die Religion — was ist es anderes als
Lüge? Und nun gar die Kunst. Keller-Caprese wird es mir be-
zeugen, er erzählt der Welt, daß er malt, aber er weiß, daß er
lügt."
Helene wollte sich ausschütten vor Lachen über die Gesichter
der beiden andern Zuhörer. Sie hatte den Hut abgenommen und
spielte damit, bis er vom Schoß rutschte und über den Boden
rollte. Als sie aufsprang und sich bückte, stieg in Thomas, bei
so gefährlicher Nähe beider Weltenhalbkugeln, eine tolle Idee
auf.
Warte du", rief er und klapste ihr munter eines hinten drauf.
Frau von Lengsdorf fuhr vom Sitz auf. „Was erlauben Sie
sich", keifte sie Weltlein an. Aber schon hatte der Maler, halb
erstickt vor Lachen über das dämliche Gesicht des Mädchens,
das vor Überraschung kein Wort hervorbringen konnte, sie am
Arm gepackt.
„Nimm dich doch in acht," rief er ihr ungeniert zu, „du ver-
dirbst ja alles."
Thomas hatte die Hand auf den Kopf der vor ihm stehenden
Helene gelegt. „Ich sehe doch, daß sie es gewöhnt ist, wenn
auch vielleicht von früheren Jahren her," sagte er, „so wie sie
legt nur jemand, der es gelernt hat, die Hand auf die bedrohte
Festung, und auch Sie, Gnädigste, begleiten zu oft Ihre Worte
mit Armbewegungen, die beweisen, wie gern und oft Ihre Hand
ausrutschte, wie es die meine tat. Es wäre übrigens eine Be-
leidigung gewesen, wenn ich dieser appetitlichen Herausforde-
rung beider Hemisphären nicht gefolgt wäre." Er zog das Mäd-
chen an sich heran, was sie benutzte, um sich dicht an ihn zu
drängen und mit der Engelsmiene des Töchterchens ihre linke
Brust in seine Hand zu schmiegen. Dabei zwinkerte sie dem
Maler zu der befriedigt erst die rechte, dann die linke Hälfte
seines Schnurrbarts strich, die Zigarre in den Mund und beide
Hände in die Hosentaschen steckte, sich zurücklehnte und ver-
gnügt paffte.
Ö53
„Sehen Sie, Lügenmaler, wie sie jetzt zwinkert. Sie brauchen
es nicht zu glauben, wenn sie sich an mich drückt, aber die Be-
rührung der Halbkugel, sei sie vorn oder hinten, hat sie doch gern."
Helene stieß seine Hand fort und setzte sich nieder. Thomas
fuhr unbeirrt fort. „Das ist die unsterbliche Evanatur. Mit solchem
Apfel verführte schon die Menschenmutter den Adam. Hoffen wir
daß ihre Brust so schön und prall war wie die dieses Kindes, für
das ich gewiß kein richtiger Adam bin. Mit meiner fünfundvierzig-
jährigen Schlange darf ich das Paradiesgärtlein nicht einmal be-
treten. Und beachten Sie doch," er wurde immer eifriger, „und
Sie, glückliche Mutter, die Sie dieses Wunder der Welt neun
Monate lang trugen, welch ein schönes Beispiel innerer Ansteckung
sie ist. Die Ohren sind unter der Frisur versteckt und sagen den
wahren Spruch: Wer nicht hören kann, muß fühlen. Und um
deutlich zu machen, wo das ersehnte Gefühl sitzt, ist das Haar
scharf in der Mitte gescheitelt, ich sehe" — er fuhr den Scheitel
mit dem Finger entlang — „die liebliche Kerbe im Geist und
fühle den Flaum des rundlichen Pfirsichs."
„Unverschämter," brauste Frau von Lengsdorf auf und wollte
seine Hand fortreißen. Aber Thomas holte aus seiner Hosentasche
eine Hand voll Goldstücke, steckte sie wieder ein und sah die
Mutter mit einem grausamen Blick an, so daß sich Helene wie
in Erwartung einer Züchtigung duckte.
„Umsonst ist der Tod, Gnädigste, und ich habe Narrenfreiheit."
Sie biß sich auf die Lippen, kniff sich in Keller-Capreses Arm
em und schwieg.
„Die Mutter dieses wundervollen Kindes ist schon der Anbetung
wuraig die reife Schönheit strotzt uns entgegen, aber welcher
Unterschied der Charaktere, welche Weiterbildung, wie in der
inneren Wahrhaftigkeit, so in der äußeren Form. Dort eine Brosche
mit leuchtenden Steinen, die denBlick zur Doppelcnielle der Lust und
Mütterlichkeit lenkt; hier keine Spur von Schmuck, dafür aber -
sehen Sie nur das Kinn, wie lieblich es gespalten ist, ein kleiner
lieber Popo, emladend zum Tätscheln. Glauben Sie mir, die Seele
bildet den Körper und alle die, die diese Kinnbildung haben, lieben
das Schlagen. Wollen wir Schule spielen, Helenchen? Unartiges
Kind spielen? In Wahrheit wieder einmal, wie wir es taten, als
wir klein waren? Überlege es dir, wie nett es war, vom Spiel-
genossen übergelegt zu werden."
Das Mädchen sah starr vor sich hin, sie hatte das Kinn in die
Hand gestützt, so daß der kleine Finger an den Lippen war, und
254
mit der anderen Hand öffnete und schloß sie abwechselnd die
Druckknöpfe ihrer Handschuhe, die vor ihr auf dem Schöße lagen,
während Keller- Caprese den Knebel seiner Uhrkette im Knopfloch
hin und her zog und Frau von Lengsdorf nervös mit dem Sonnen-
schirm gegen ihre Stiefelspitze klopfte. Thomas hatte die Arme
über der Brust gekreuzt und sah scharf von einem zum andern.
„Ansteckung," sagte er plötzlich, „Sie wissen nicht, was Sie
tun."
In diesem Augenblick eilte der Pikkolo des Speisewagens vorbei,
rief sein gewohntes: „Das Diner ist serviert" und stierte dabei
gierig nach der üppigen Brosche der üppigen Frau.
„Den unmündigen Adam lockt, was reichlich rund ist. Die
Säuglingsjahre liegen ihm näher als mir. Man sagt, ich sei lange
mit der Flasche genährt worden; so etwas bleibt, nur wandelt sich
mir Milch in Wem, Silber in Gold. Weiser Niedlich«, rief er in
Erinnerung versunken, „wie gut, daß ich dich auf dem Weg der
Schmerzen traf und von dir lernte, wie tief der Sinn des Geldes
ist. Vermögen, Geld und Jugend" — er sah ernsthaft der Frau von
Lengsdorf in das böse lächelnde Gesicht, „sind selten gepaart, und
hat das Mädchen die leere Tasche, ist's gut, den Mann zu finden,
der sie mit seinem Vermögen füllen kann. Nur hurtig muß man
sein, Gnädigste, die Beine auseinander reißen, um vorwärts zu
kommen. Auf die langen Beine kommt es an. Und" — er steckte
wieder die Hände in die Hosentaschen und klimperte mit dem
Gelde — „Helenchen weiß darauf zu laufen, in ihrer Unschuld
geschickter als die Läufischsten. Die schlagen, wenn sie zeigen
wollen, die Beine übereinander und wippen mit dem Fuß das
Kleid ein wenig hoch, dies Kind," er legte wieder die Hand auf
Helenens Kopf, die voll Wut danach mit den Zähnen schnappte,
„wird vom inneren Gott geleitet. Wenn es sich hinsetzt, wir sehen
es alle, streicht es die Röcke mit der Hand nach unten, d. i. sehn-
suchtweckend und verheißend, ist das Verlangen nach der Gegen-
bewegung. Tief ist das Leben, glaubt es nur. Zuerst das Stehen,"
er streckte den Zeigefinger aus, um ihn langsam zu krümmen,
dann das Zusammensinken beim Hinsetzen und danach ist's wohl
richtig, das Kleid zu ordnen. Auf Wiedersehen, meine Damen, in
Berlin, ich gehe speisen."
Er trat auf den Korridor hinaus und schritt in der Richtung
des Speisewagens vorwärts. Als er die Gangtür zum nächsten Halb-
wagen öffnete, stolperte er und fiel nach vorn. Nach einem Halt
suchend, faßte er eine Coupetür, sie gab nach, schloß sich rollend
255
und klemmte ihm, während er auf das eine Knie sank, empfindlich
die rechte Hand. Unwillkürlich steckte er die schmerzenden Finger
in den Mund, dann aber streckte er anbetend die Arme empor
und rief laut und deutlich die Worte : „Heil dir, göttlicher Lenker,
du läßt mich fallen, aber im Fall schaue ich Abgründe tiefsten
Geheimnisses." Nachdenklich betrat er den Speisewagen, blickte
sich einen Augenblick um und setzte sich dann an einen Tisch,
an dem schon zwei Herren Platz genommen hatten.
Während dessen hatten die beiden Damen eine heftige Aus-
einandersetzung mit dem Maler, bei der eine die andere im
Schimpfen auf Thomas und Keller- Caprese überbot. Dabei stand
dem jungen Mädchen die größere Fülle und Deutlichkeit der Kraft-
ausdiücke zu Gebot und, wenn sich die Mutter in Schaf, Esel,
Ochse erschöpft hatte, fing die Tochter damit an, dem Maler-
freund einen Wasserkopf anzudichten und schloß damit, ihn einen
Scheißkerl zu nennen. Und wenn die Mutter von Thomas als
einem Schmutzfink sprach, brachte Helenchen den Ausdruck:
dickes Schwein und wollte sich ausschütten vor Lachen über die
vergeblichen Anstrengungen, mit denen Keller-Caprese ihren lauten
Redeschwall einzudämmen versuchte. „Warum hast du uns mit
diesem Kerl zusammengebracht? fragte Mutter Lengsdorf schließlich
und die Tochter pflichtete ihr bei: „Mit diesem Biest, diesem Aas,
diesem — « Hier unterbrach das Vorübergehen des Schaffners ihre
Blutenlese von Schimpfworten und der Maler benützte die Pause,
um zu rufen: „Aber Kinder, er ist doch ein Narr und hat Geld!
und er wird es euch lassen, wenn ihr schlau seid. Auf Wieder-
sehen m Berlin, sagte er. Wartet bis dahin mit Schimpfen.«
Helene sprang ihm auf den Schoß, zupfte ihn am Schnurrbart
und wiederholte: „Geld hat er, reichlich viel Geld, wird er mich
ms Theater führen und mir ein Auto halten, ein richtiges niedliches
Auto mit frischen Blumen drin alle Tage?"
Keller-Caprese bejahte es mit tausend Schwüren, und das Ende
war daß alle drei einen neuen Kriegsplan ausdachten, um den
reichen Esel zu schröpfen.
256
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
Wien VII, Andreasgasse 5
VERLAGSVERZEICHNIS
(Herbst 1927)
Preise in Reichsmark
FREUD. Gesammelte Schriften. 11 Bände geh. 180' —
Bd. I) Studien über Hysterie / Frühe Ar- Ganzleinen 220'—
beiten zur Neurosenlehre 1892— 99 (Charcot — Ein Halbleder 280' —
Fall von hypnot. Heilung nebst Bemerkungen über die Ganzleder 68o"
Entstehung hyster. Symptome durch den Gegenwillen —
Quelques considerations pour une etude comparative des paralysies motrices
organiques et hysteriques - Die Abwehr-Neuropsychosen - Über die Berechtigimg,
von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als „Angstneurose"
abzutrennen — Obsessions et phobies — Zur Kritik der Angstneurose - Weitere
Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen — L'heredite et Tetiologie des
nevroses — Zur Ätiologie der Hysterie — Die Sexualität in der Ätiologie der
Neurosen — Über Deckerinnerungen)
Bd. II) Die Traumdeutung
Bd. III) Ergänzungen und Zusatzkapitel zur Traumdeutung /
Über den Traum / Beiträge zur Traumlehre (Märchenstoffe in
Träumen — Ein Traum als Beweismittel — Traum und Telepathie — Be-
merkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung) / Beitrage zu den
Wiener Diskussionen (Onaniediskussion — Selbstmorddiskussion)
Bd. IV) ZurPsychopathologie des Alltagslebens / üas Interesse
an der Psychoanalyse /Über Psychoanalyse /Zur Geschichte der
psychoanalytischen Bewegung
Bd. V) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie / Arbeiten zum
Sexualleben und zur Neurosenlehre (Meine Ansichten über die Rolle
der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen — Zur sexuellen Aufklarung der
Kinder — Die „kulturelle" Sexualmoral und die Nervosität — Über infantile
Sexualtheorien — Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens: Über einen be-
sonderen Typus der Objektwahl beim Manne. Über die allgemeinste Erniedri-
gung des Liebeslebens. Das Tabu der Virginität — Die infantile Genitalorgani-
sation — Zwei Kinderlügen — Gedankenassoziation eines vierjährigen Kindes —
Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität — Über den hysteri-
schen Anfall - Charakter und Analerotik — Über Triebumsetzungen, insbesondere
der Analerotik - Die Disposition zur Zwangsneurose — Mitteilung eines der
psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia - Die psycho-
gene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung - Eine Beziehung zwischen
einem Symbol und einem Symptom — Über die Psychogenese eines Falles von
weiblicher Homosexualität - „Ein Kind wird geschlagen" — Das ökonomische
Problem des Masochismus - Über einige neurotische Mechanismen bei Ver-
sucht, Paranoia und Homosexualität - Über neurotische Erkrankungstypen —
Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens — Neurose
und Psychose — Der Untergang des Ödipuskomplexes) / Metapsy chologie
(Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse —
Triebe und Triebschicksale - Die Verdrängung - Das Unbewußte — Meta-
psychologische Ergänzung zur Traumlehre — Trauer und Melancholie)
Bd. VI) Zur Technik (Die Freudsche psychoanalytische Methode — Über
Psychotherapie — Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie —
17
2 57
Über „wilde" Psychoanalyse — Die Handhabung der Traumdeutung in der
Psychoanalyse — Zur Dynamik der Übertragung — Ratschläge für den Arzt
bei der psychoanalytischen Behandlung — Über fausse reconnaissance [„deia
raconte"] während der psychoanalytischen Arbeit — Zur Einleitung der Be-
handlung — Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten — Bemerkungen über
die Übertragungsliebe — Wege der psychoanalytischen Therapie — Zur Vor-
geschichte der analytischen Technik) / Zur Einführung des Narzißmus /
Jenseits des Lustprinzips/ Massenpsychologie und Ich-Analyse/
Das Ich und das Es /Anhang (Der Realitätsverlust bei Neurose und
Psychose — Notiz über den „Wunderblock")
Bd. VII) Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Bd. VIII) Krankengeschichten (Bruchstück einer Hysterieanalyse —
Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben — Über einen Fall von Zwangs-
neurose — Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch be-
schriebenen Fall von Paranoia — Aus der Geschichte einer infantilen Neurose)
Bd. IX) Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten / Der
Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva" / Eine Kindheits-
erinnerung des Leonardo daVinci
Bd. X) Totem und Tabu / Arbeiten zur Anwendung der Psycho-
analyse (Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse — Zwangshandlungen und
Religionsubungen — Über den Gegensinn der Urworte — Der Dichter und das
Phantasieren -Mythologische Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung —
Das Motiv der Kästchenwahl — Der Moses des Michelangelo — Einige Charakter-
typen aus der psychoanalytischen Arbeit: Die Ausnahmen. Die am Erfolge
scheitern. Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein — Zeitgemäßes über Krieg und
™ ,T Euie Schwierigkeit der Psychoanalyse — Eine Kindheitserinnerung aus
-Dichtung und Wahrheit" - Das Unheimliche — Eine Teufelsneurose im
XVII. Jahrhundert)
/t^- B ^r' X1 .( be J lnde t sich im Druck) Schriften aus den Jahren 102«— 1026
««V l r " e i mm f I ~~ Einige Psychische Folgen des anatomischen Geschlechts-
unterschieds- Hemmung, Symptom und Angst — „Selbstdarstellung" — Kurzer
Apriü der Psychoanalyse — „Psychoanalyse" und „Libidotheorie" — Die Wider-
Stande gegen die Psychoanalyse) / Geleitworte zu Büchern anderer
£„ 1 r . en { Ge denkartikel (Ferenczi - An Romain Rolland - Putnam + -
/TW pL7v, i v \ F " un £ t - Breuer + - Abraham f) / Vermischte Schriften
dio tSt ol ,°^ des Gymnasiasten - Vergänglichkeit - Popper-Lynkeus und
Mut.?i?, w « £ \ U . mes ~ To the °P enin g of the Hebrew Univeisity — Kurze
Mitteilungen) / Bibliographie 1877-1926 / Register zu Band I-XI
FREUD. Einzelausgaben:
— Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Große
Ausgabe geh
(Taschenausgabe vergriffen) Ganzleinen 17- —
■ i , . , Halbleder 18-—
— Zur Lrescnicnte der psychoanalytischen Bewegung . geh.
. Pappbd.
— Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens .... geh.
Pappbd. 250
— Aus der Geschichte einer infantilen Neurose . . . geh. 3-50
Pappbd. 420
Halbleinen
— Zur Psychopathologie des Alltagslebens geh.
Pappbd.
Halbleinen 11*50
Ganzleinen 12* —
2*8
14-—
2 50
5'—
2"
5" -
lO"
11*-
FREUD. Zur Einführung des Narzißmus geh. i*6o
Pappbd. 2* —
— Zeitgemäßes über Krieg und Tod geh. 160
Pappbd. 2- —
— Zur Technik d. Psychoanalyse u. z. Metapsychologie geh. 9- —
(Enthält die oben im VI. Bd. der „Ges. Schriften" unter Pappbd. 10 —
„Technik" und im V. Bd. unter „Metapsychologie" an- Halbleinen 10*50
geführten Abhandlungen; Ganzleinen n*
— Psychoanalyt. Studien an Werken d. Dichtung u. Kunst geh. 5-50
(Der Dichter und das Phantasieren — Das Motiv der Pappbd. 6 50
Kästchenwahl — Der Moses des Michelangelo — Einige Halbleinen j* —
Charaktertypen aus der psa. Arbeit: Die Ausnahmen. Die Ganzleinen 7*^0
am Erfolge scheitern. Verbrecher aus Schuldbewußtsein t 9
— Eine Kindheitserinnerung aus „üiclitung und Wahrheit" — Das Unheimliche)
— Totem und Tabu geh. 5- —
Halbleinen 6* —
Halbleder 9/ —
— Eine Teufelsneurose im 17. Jahrhundert geh. i'8o
Pappbd. 2-40
— Jenseits des Lustprinzips g e h. 3' —
Pappbd. 3*50
— Massenpsychologie und Ich -Analyse g e h. 3'5o
Pappbd. 4" —
— Das Ich und das Es geh. 3" —
Pappbd. 3-50
— „Jenseits des Lustprinzips", „Massenpsychologie" und
„Ich und Es" in 1 Band Halbleinen n —
Halbleder 14* —
— Kleine Beiträge zur Traumlehre geh. 3 —
Ganzleinen 4-50
(Märchenstoffe in Träumen — Ein Traum als Beweismittel — Traum und
Telepathie — Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traumdeutung — Die
Grenzen der Deutbarkeit — Die sittliche Verantwortlichkeit für den Inhalt der
Träume — Die okkulte Bedeutung des Traumes)
— Studien zur Psychoanalyse der Neurosen 1915 — 1925 geh. 8- —
Ganzleinen io - —
(Die Disposition zur Zwangsneurose — Zwei Kinderlügen — Mitteilungeines
der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia — über
Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik — „Ein Kind wird geschlagen" —
Gedankenassoziation eines vierjährigen Kindes — Über die Psychogenese eines
Falles von weiblicher Homosexualität — Über einige neurotische Mechanismen
bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität — Die infantile Genitalorgani-
sation — Das ökonomische Problem des Masochismus — Neurose und Psychose —
Der Untergang des Ödipuskomplexes — Der Realitätsverlust bei Neurose und
Psychose — Die Widerstände gegen die Psychoanalyse — Die Verneinung —
Einige psychische Folgen des anatomischen Gcschlechtsunterschieds)
— Hemmung, Symptom und Angst geh. 5* —
Ganzleinen 6*50
— Die Frage der Laienanalyse J . geh. 3-20
Ganzleinen 4'8o
17* *59
Imago-Bücher :
I) RANK. Der Künstler u. a. Beiträge geh. j-~
Halbleinen 8-50
Ganzleinen 0/ —
Halbleder 11*50
II) OS SIPO W. Tolstois Kindheitserinnerungen . . geh. 6-
Halbleinen 7-50
• Halbleder io* —
III) REIK. Der eigene und der fremde Gott . . . geh. 8*50
Halbleinen 10- —
Ganzleinen 10*50
Halbleder ik" —
IV) NEUFELD. Dostojewski geh. 3*—
Halbleinen 4*50
Ganzleinen 5- —
Halbleder 7- —
V) SACHS. Gemeinsame Tagträume geh. 6'
Halbleinen 7-50
Halbleder io* —
VI) GRAB ER. Ambivalenz des Kindes geh. 3-50
Halbleinen 5* —
Halbleder 7*- —
Vn) HERMANN. Psychoanalyse und Logik .... geh. 3-50
Halbleinen 5* —
, rtrTV Halbleder 7* —
VIII) WINTERSTEIN. Ursprung der Tragödie . . geh. 8-50
Halbleinen 9*50
Ganzleinen 10* —
Halbleder 12*50
IX) KOHN. Lassalle — der Führer geh. 4-—
Ganzleinen 6* —
X) SYDOW. Primitive Kunst und Psychoanalyse
(erscheint im Frühjahr X92J)
Internationale Psychoanalytische Bibliothek:
1) Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen geh. 2* —
2) FERENGZI. Hysterie und Pathoneurosen . . . geh. 2* —
4) RANK. Psychoanalyt. Beiträge zur Mythenforschung geh. 6* —
Halbleinen 7*50
6) RÖHEIM. Spiegelzauber geh. 2*50
7) HITSCHMANN. Gottfried Keller geh. 3-50
8) PFIS T E R. Zum Kampf um die Psychoanalyse Halbleinen 15-—
260
9) KÖLN AI. Psychoanalyse und Soziologie .... geh. 3- —
10) ABRAHAM. Klinische Beiträge zur Psychoanalyse geh. 8- —
Halbleinen io' —
11) JONES. Therapie der Neurosen geh. 5-—
Halbleinen 6*50
12) VARENDONCK. Über das vorbewußte phantasierende
Denken geh. 5 —
Halbleinen 6*50
13) FERENC ZI. Populäre Vorträge über Psychoanalyse geh. 5-—
Halbleinen 6*50
14) RANK. Das Trauma der Geburt , . geh. 8-50
Halbleinen io* —
Halbleder 14- —
15) FERENCZI. Versuch einer Genitaltheorie . . . geh. 4*50
Halbleinen 5-50
Halbleder 8 —
16) AB R AH AM.Psychoanalyt.Stud. z. Charakterbildung geh. 2-50
Pappbd. 3'20
Halbleinen 4" —
17) SCHIL DER. Psychiatrie auf psychoanalyt. Grundlage geh. j'—
Ganzleinen 9* —
18) REIK. Geständniszwang und Strafbedürfnis . . . geh. 8 —
Ganzleinen io* —
19) AIGHHORN. Verwahrloste Jugend ...... geh. 9"—
Ganzleinen 11* —
20) LEVINE. Das Unbewußte gen- 8'—
Ganzleinen io' —
21) RANK. Sexualität und Schuldgefühl geh. 550
Ganzleinen 7 50
Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse:
I) FERENCZI-RANK. Entwicklungsziele der Psycho-
analyse g eb - 2 ' 8 °
Pappbd. 3*50
II) ABRAHAM. Entwicklungsgeschichte der Libido geh. 3-50
Pappbd. 4* —
IIT) RANK. Eine Neurosenanalyse in Träumen . . geh. 7-—
; Pappbd. 8'—
Halbleder w —
IV) REICH. Der triebhafte Charakter geh. 4-50
Ganzleinen 6* —
V) DEUTSCH. Psychoanalyse der weiblichen Sexual-
funktionen geh. 5-50
Ganzleinen 5' —
ß6i
Quellenschriften zur seelischen Entwicklung:
I) Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens
(Ausgabe auf holzhaltigem Papier) . . geh. 4'
Pappbd. 5-
(Ausgabe auf holzfreiem Papier) Ganzleinen q'
Halbleder 12*
II) BERNFELD. Vom Gemeinschaftslebend. Jugend geh. io-
Halbleinen 12*
III) BERNFELD. Vom dichterisch. Schaffend. Jugend geh. i 2 -
Halbleinen 14-
Ganzleinen k-
I M A G O. (Ztschr. f. Anwendung d. Psychoanalyse auf d. Geistes-
wissenschaften), Bd. III, IV, VIII— XI pro Bd. . in Heften 18-—
Halbleinen 21* —
Halbleder 24- —
Bd. XII (1926) in Heften 20-—
Halbleinen 25* —
_. _ - , Halbleder 26'—
Einzelhefte der Bände II— V (soweit vorrätig) .... x-ko
„ „ VI -VII „ „ .... 4 . 50
Soziologisches Heft (= VIII/2)
Religionspsychologisches Heft (= IX/ 1) ." .
Pädagogisch-jugendpsychologisches Heft f=IX/ 2 )
Philosophisches Heft (= IX/5)
Kunstpsychologisch- ästhetisches Heft'(= IX/4)
Ethnologisches Heft (= X, 2/z)
Bildende Kunst (=X/ 4 )
Psychologisches Heft (= XI, 1/2)
Sigm.-Freud-Heft (== XII, 2/3) .'...'.'..'.... 15 -_
Ganzieder 55* —
5'—
5*—
5'—
5*—
5 —
io* —
5—
io* —
INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHO-
ANALYSE, Bd.n_XI pro Bd in Heften 20--
Halbleinen 2ä* —
Halbleder 26 —
Bd. XII (1926) in Heften 24 —
Halbleinen 27 —
Halbleder 29* —
Einzelhefte der Bände I— IV (soweit vorrätig) . . . 350
» „ „ V— VI „ „ . . . 5 -_
n n 5j VII — XI „ „ ... 5-50
262
Ferenczi-Festschrift (= IX/5) geh. 7- —
Jelgersma-Festschrift (= X/3) geh. 5*50
In memoriam Karl Abraham (= XII/2) 5-50
Sigm.-Freud-Heft (= XII/5) 15-—
Ganzleder 35. —
EINBANDDECKEN zu „Imago" und „Internationale Zeit-
schrift für Psychoanalyse" Halbleinen 2*50
Halbleder 5- —
Beihefte der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse : ~
I) JELGERSMA. Unbewußtes Geistesleben . . . geh. — -8o
III) Bericht über die Fortschritte der Psychoanalyse 1914
bis 1919 Halbleinen 18*—
Halbleder 2 2 - —
IV) STÄRCKE. Psychoanalyse und Psychiatrie . . . geh. 2'—
V) HOLLOS-FERENCZI. Psychoanalyse der paralyti-
schen Geistesstörung geh. 2' —
Almanach 1926 Ganzleinen 3* —
Halbleder 7' —
Ganzleder 25* —
Almanach 1927 Ganzleinen 4* —
Halbleder 7* —
Ganzleder 25* —
BERNFELD. Sisyphos geh. 5 —
Ganzleinen 6 m $o
BRUN. Biologische Parallelen zu Freuds Trieblehre . geh. 170
Ganzleinen 3* —
EITINGON. Bericht über die Berliner Psychoanalytische
Poliklinik geh. — -6o
— Zweiter Bericht über die Berliner PsA. Poliklinik . geh. — -40
FERENCZI Zur Psychoanalyse d. Sexualgewohnheiten geh. i'6o
Ganzleinen 3- —
GIESE. Psychoanalytische Psychotechnik geh. r8o
Pappbd. 2-30
G OMPERZ. Psycholog. Beobacht. an griech. Philosophen geh. 3-50
Pappbd. 4- —
GRAB ER. Die schwarze Spinne geh. 3- —
Ganzleinen 4*60
263
GRODDECK. Der Seelensucher Pappbd. io--
Ganzleinen
264
li*-
— Das Buch vom Es Ganzleinen 15 —
HERMANN. Gustav Theodor Fechner geh. 3-—
Ganzleinen 4*60
HITSCHMANN. Ein Gespenst aus der Kindheit Knut
Hamsuns geh. 2.'
Ganzleinen 5*50
LORENZ. Der politische Mythus geh. 3«—
MALINOWSKI. Mutterrechtliche Familie und Ödipus-
komplex geh. 250
Ganzleinen 4* —
RANK. Die Don- Juan- Gestalt geh. 2*80
Pappbd. 3*40
— Der Doppelgänger geh. 4- —
Ganzleinen 5'6o
ROBITSEK. Der Kotillon geh. 170
Ganzleinen 3* —
SCHMIDT. Psychoanalyt. Erziehung in Sowjetrußland geh. r —
SPERBER. Seelische Ursachen des Alterns, der Jugendlich-
keit und der Schönheit geh. 1*40
Ganzleinen 2*60
Z ULLI GER. Zur Psychologie der Trauer- und Bestattungs-
gebräuche geh.
2'-
Ganzleinen 3'30
VERZEICHNIS
D £ U IM
INTERNATIONALEN
PSYCHOANALYTISCHEN
VERLAG IN WIEN
VON FRÜHJAHR 1925 BIS ZUM
HERBST 1926 ERSCHIENENEN
BU E C HER UND
ZEITSCHRIFTEN
*.
SIGM. FREUD
Kleine Beiträge zur Traumlehre. Geheftet M. 2.50, Ganz-
leinen 4. — .
Inhalt: M&rdicnstoffe in Träumen — Ein Traum als Beweismittel —
Traum und Telepathie — Bemerkungen zur Theorie und Praxis der Traum-
deutung — Die Grenzen der Deutbarkeit — Die slttlidic Verantwortlich-
keit für den Inhalt der Träume — Die okkulte Bedeutung des Traumes.
Studien zur Psychoanalyse der Neurosen aus den
Jahren 1013-1Q25. Geheftet M. 7.—, Ganzleinen <?.— .
Inhalt: Die Disposition zur Zwangsneurose — Zwei Kinderlügen —
Mitteilung eines der psydioanalyUschen Theorie widersprechenden Falles
von Paranoia — Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik —
„Ein Kind wird geschlagen" — Gedankenassoziation eines vierjährigen
Kindes — Über die Psychogcnese eines Falles von weiblicher Homo-
sexualität — Über einige neurotisdie Mechanismen bei Eifersucht,
Paranoia und Homosexualität — Die infantile GcnltalorganlsaUon —
Das ökonomische Problem des Masochismus — Neurose und Psychose —
Der Untergang des Ödipuskomplexes — Der Realität sverlusl bei Neurose
und Psychose. — Die Widerstände gegen die Psychoanalyse — Die Ver-
neinung - Einige psychische Folgen des anatomischen Gcschlechts-
unterschieds.
Hemmung, Symptom und Angst. Geheftet M. /.— , Ganz-
leinen 6.jo.
Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem
Unparteiischen. Geheftet M. 5.20, Ganzleinen 4.80.
III
AUGUST AICHHORN
Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorge-
erziehung. Zehn Vorträge zur ersten Einführung. Mit einem
Geleitwort von Prof. Dr. Sigin. Freud (Internationale Psycho-
analytische Bibliothek, Bd. 19). Geheftet M. <?.— , Ganzleinen II.—.
Aus dem Geleitwort von Prof. Freud: „Von allen Anwendungen der Psycho-
analyse hat keine so viel Interesse gewonnen, so viel Hoffnungen erweckt
und demzufolge so viele tüchtige Mitarbeiter herangezogen wie die auf die
Theorie und Praxis der Kindererziehung. Dies ist leicht zu verstehen. Das
Rind ist das hauptsächliche Objekt der psychoanalytischen Forschung
geworden; es hat in dieser Bedeutung den Neurotiker abgelöst, an dem sie
ihre Arbeit begann. Die Analyse hat im Kranken das wenig verändert
fortlebende Kind aufgezeigt wie im Traumer und im Künstler, sie hat die
Triebkräfte und Tendenzen beleuchtet, die dem kindlichen Wesen sein ihm
eigenes Gepräge geben, und die Entwicklungswege verfolgt, die von diesem
iur Reife des Erwachsenen führen. Kein Wunder also, wenn die Erwartung
entstand, die psychoanalytische Bemühung um das K 4 nd werde der erziehe-
rischen Tätigkeit zugute kommen, die das Kind auf seinem Weg zur Reife
leiten, fördern und gegen Irrungen sichern will.
Mein persönlicher Anteil an dieser Anwendung der Psychoanalyse ist sehr
geringfügig gewesen. Ich hatte mir frühzeitig das Scherzwort von den
drei unmöglichen Berufen — als da sind: Erziehen, Kurieren, Regieren —
xu eigen gemacht, war auch von der mittleren dieser Aufgaben hinreichend
in Anspruch genommen. Darum verkenne ich aber nicht den hohen
sozialen Wert, den die Arbeit meiner pädagogischen Freunde beanspruchen
darf.
Das vorliegende Buch des Vorstandes A. Aichhorn beschäftigt sich mit
einem Teilstück des großen Problems, mit der erzieherischen Beeinflussung
der jugendlichen Verwahrlosten. Der Verfasser hatte in amtlicher Stellung
als Leiter städtischer Fürsorgeanstalten lange Jahre gewirkt, ehe er mit der
Psychoanalyse bekannt wurde. Sein Verhalten gegen die Pflegebefohlenen
entsprang aus der Quelle einer warmen Anteilnahme an dem Schicksal
dieser Unglücklichen und wurde durch eine intuitive Einfühlung in deren
seelische Bedürfnisse richtig geleitet. Die Psychoanalyse konnte ihn praktisch
wenig Neues lehren, aber sie brachte ihm die klare theoretische Einsicht in
die Berechtigung seines Handelns und setzte ihn in den Stand, es vor anderen
zu begründen. 1 *
Was Aichhorn uns vorführt, ist ein vielversprechender pädagogischer Vorstoß,
zu welchem Freuds Psychologie ihm das Rüstzeug geliefert hat. Der warm-
herzige Eifer, mit welchem er dieses Erziehungswerk auszugestalten versucht,
verdient bewundernde Anerkennung. {Karl Abraham in der Tmago)
Aichhorns Buch trägt die Bestimmung in sich, an aufklärender Erziehungs-
arbeit viel beizusteuern. Durch die Bildhafügkeit seiner Ausdrucks weise,
durch eine geschickte Verbrämung der praktischen Fürsorgeergebnisse mit
den theoretischen Erklärungen hat er diesen zehn Vorträgen die Spannung
von der ersten bis zur letzten Seite erhalt™. Man hat wirklich das Gefühl
einen lebendigen Sprecher zu hören. (Soziale Arbeit)
Wer sich für die Probleme der Verwahrlosung interessiert, wird an dem
Buche von Aichhorn nicht vorübergehen können und die dort geschilderten
Fälle eingehend studieren müssen. (Preussische Lehrerzeitung)
Dieses Buch ist dazu angetan, alle, die in der Erziehungsarbeit stehen hell-
hörig und besinnlich zu machen. (Soziale Berufsarbeit)
Von besonderem Interesse ist die Schilderung der Erziehungsmethoden die
der Verf. anwendet und die zweifellos eine glückliche pädagogische Treff-
Sicherheit in der Erfassung des Im gegebenen Moment einer bestimmten
Individualität gegenüber Angebrachten verraten.
(Zeitschrift f. Sexualwissenschaft)
Solche Bücher, solche Männer möchten wir in reichlicher Anzahl unserer.
Massen zuführen und ihnen sagen können: „Seht Ihr'»? So gtht's auch!"
{Nipszava, Budapest)
Jeder, der jemals erzieherisch tätig war, wird Aichhorn für sein Werk
dankbar sein; und wer hat nicht wenigstens einmal In seinem Leben vor der
Aufgabe gestanden, erziehen zu müssen: und wäre es nur die eine lebens-
längliche erzieherische Tat, - sich selbst zu erziehen. (Pester Lloyd)
Wir begrüßen das Buch in doppelter Hinsicht: einerseits als Lehrbuch und
andererseits als Führerbuch für diese wichtige Fürsorgefrage . . . Dieses
Buch ist auch ein persönliches Dokument und zeigt, wie ein Praktiker in
unermüdlicher und selbstverleugnender Tätigkeit einer wissenschaftlichen
Theorie, deren Erkenntnisgebiet außerhalb des Greifbaren liegt, Leben geben
kann - („Blätter *. d. Wohlfahrtswesm <L Gemeinde fFien")
VI
Dr. SIEGFRIED BERNFELD
Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Geheftet
M. f. — , Ganzleinen 6,f0.
Hier rechnet einer flott und gründlich mit Praxis und Theorie der Erziehung
ab. Ein unvorhergesehener Überfall auf Verlogenheit, die sich in Sicherheit
wähnt, muß wohl auch diese aufwühlerisch „unzeitgemäße Betrachtung" eine»
anbequemen Zeitgenossen zunächst hauptsächlich nur auf Leser rechnen, die
lie als Pamphlet schmähen werden, allerdings ohne das Buch vor der letzten
Zeile aus der Hand geben zu können. Vor allem verblüfft hier die psycho-
analytische Herkunft dieser rhapsodischen Stellungnahme und fesselt das Wie
und Warum dieses hemmungslosen Bekenntnisses eines Freudianers zum
radikalen Sozialismus. In der an Jean Paul gemahnenden, anekdotisch
instrumentierten Melodie eines „enthusiastischen Pessimisten" tritt uns eine
Entschlossenheit des Gedankens und der Tat entgegen, die mehr als alles
Schulmeisterische den Erzieher, den Erzieher im nächsten und im fernsten
Sinne, ausweist. Manchem Leser wird es schwer fallen, den Respekt, den das
Buch Sisyphos gebietet, das Vergnügen, das sein Raffinement bereitet, mit
jener beklemmenden Verlegenheit zu versöhnen, in die es das aus her-
kömmlichen Bahnen gelockte Denken drängt.
Der geistreichste unter den Schülern des großen, genialen Sigmund Freud
hat da den Pädagogen ein Büchlein gewidmet, das sie hoffentlich lesen und
sobald nicht vergessen werden. Ich meinerseits glaube, daß seit langem im
fragwürdigen Bereich der Pädagogik keine wichtigere Erscheinung XU
verzeichnen war, als diese Schrift. Übrigens auch keine bei allem bitteren
Ernst witzigere und vergnüglichere . . . Bernfelds zentrale These wird für
manchen etwas Erschreckendes haben . . . Aber ob wir die Gedankengänge
dieses merkwürdigen Büchleins nun als unverhoffte Bestätigung eigener
Ansichten oder als unbequeme Störung des pädagogischen Burgfriedens
empfinden: wir werden nicht an ihm vorbei können, nicht an ihm vorbei
dürfen. {Gustav Wyneken im „Berliner Tageblatt")
Das ist Tubaton gegen das Treiben befugter und weniger befugter Erziehungs-
künstler, die sich erschreckend vermehren und auf die Kinder stürzen. Ehedem
versuchte man es mit strenger Erziehung: Knüppeldick und Hungergurt
feierten sadistische Orgien. Das ist nun ins Gegenteil umgeschlagen. Bände
pädagogischer Zeitschriften werden mit dem Schlagwort : lieben und ermutigen
angefüllt, so daß alle Tanten von Europa zu tun bekommen, um die Kinder-
chen zu ermutigen, während Mutter die Suppe kocht . . . Ein geistreicher
Beobachter der jungen Brut hat ein Buch herausgebracht, das er mit kühnem
Mute „Sisyphos" nennt . . . Bernfeld sieht die Welt von einer Brücke, deren
Köpfe auf Freud gestützt sind und auf Marx. Die bürgerliche Gesellschaft
sieht er als einen Ozean der Lüge, auf dem die angeblichen Ziele der Erziehung
treiben wie verfaulte Schiffstrümmer . . . Vernichtungstrieb und Liebe sind
Scylla und Charybdis aller Einzelerziehung. Diesen Gedanken führt Bernfeld
VII
im Hauptteil seines Buches in einem fast zu großartigen Bogen durch, der
ihn über Psychoanalyse und prähistorisch-anthropologische Spekulationen bis
in die Politik und ihren Macchiavellismus führt . . . Bernfeld wird wohl
recht haben, wenn er sich alles vom Gemeinschaftsleben der Jugend erhofft,
womöglich ganz ohne Erwachsene. Dahin geht der Zug der Zeit und das ist
Antipädagogik. Man soll das Kind unter seinesgleichen aufwachsen lassen.
Die rasende Pädagogik, die in die Herde der Kinder einbricht, um sich da
auszutoben — gleichgültig ob in Liebe oder in Haß — bleibt immer ver-
dächtig, auch im Schafspelz . . . Erst wenn wir unsere Kinder in Ruhe
lassen werden, erst dann ist das Jahrhundert des Kindes gekommen.
{Fritz Mittels im „Tag")
Besonders sei auf die glänzende Programmrede des Unterrichtsministers im
zweiten Kapitel hingewiesen, die an Anatole France heranreicht und in der
Insel der Pinguine stehen könnte . . . Durch all die Skepsis und den
pessimistischen Flor leuchten deutlich die Schwärmeraugen des jungen
Bernfeld. , r». ■.„
{„Die Mutter")
Geistreiche Sachlichkeit und anmutige Ironie . . . Gebildete werden es mit
Verständnis und Freude lesen. LOstseezeitung«)
Vielleicht der erste Versuch, mit biologischem Rüstzeug das Erziehungsproblem
zu klären Während bisher die Erziehung eigentlich als Kunst gewertet
wxrd, wird hier der Versuch gemacht, sie exakt wissenschaftlich zu begründen.
(.„Zeitschr. f. Kinderforschung")
Bernfelds Buch ist natürlich, wesentlich und notwendig . . Vollzieht in
eigenkräftiger Klarheit die Paarung oder besser: die Durchdringung Freud-
Marx . . . Sezierarbeit am didaktischen Größenwahn.
{Paul Oestreich in „Die neue Erziehung")
Selten sind die scheinbar so sicheren Grundlagen der Pädagogik so gründlich
unterwühlt worden, wie in dem vorliegenden geistvollen Buche das Er
ziehern von Beruf und Amt dringend zu empfehlen ist, selbst auf die Gefahr
hin, daß es energisch abgelehnt wird. ^Zeitschr. f. Sexualwissenschaft")
Überaus farbige und temperamentvolle Schrift, die auch den v "h
Argumenten nicht Überzeugten durch den hinter der Oberschicht
feinen ironischen Plauderei spürbaren sittlichen Ernst des Verf symo tl I h
berühren wird. {Prof. Storch im „ZW. /. d. ges. Neural U. Psychiarte")
Dr. R. BRUN
Biologische Parallelen zu Freuds Trieblehre (Sonder-
abdruck aus „Imago", Bd. XII). Geh. M. l. 7 o, Ganzleinen 3.—.
Bringt experimentelle Beiträge zur Dynamik und Ökonomie des Triebkonflikts.
vnr
Dr. HELENE DEUTSCH
Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen.
(Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, Nr. V.)
Geheftet M. }.fo, Ganzleinen /. — .
Inhalt: L Einleitung. - IL Infantile Sexualität des Weibes. - Hl. Der
Männlichkeitskomplex des Weibes. - IV. Differenzierung von Mann und
Weib in der Fortpflanzungsperiode. - V. Psychologie der Pubertät. Die
erste Menstruation. Typische Menstruationsbeschwerden. Schwierigkeiten
der Pubertät. Typische Pubertätsphantasien. Triebschicksal in der Pubertät.
- VI. Der Deflorationsakt. - \1I. Psychologie des Sexualaktes. - VIII. Frigidi-
tät und Sterilität. - IX. Schwangerschaft und Geburtsakt. - X. Psychologie
des Wochenbettes. - XL Laktation. - XU. Das Klimakterium.
Aus der Einleitung: Dieses Beobachtungsmaterial soll eine
psychologische Orientierung und Ergänzung zu den Kenntnissen jener
Vorgänge schaffen, die man zusammenfassend ,Sexualleben des Weibes'
nennt . . - Was bisher zur psychologischen Erkenntnis des Weibes analytisch
beigetragen worden ist, -wird hier berücksichtigt ... Es liegt im Zweck
dieser Arbeit, das aufzuklären, was der Bewußtseinspsychologie rätselhaft
bleiben mußte, weil es ihrer Arbeitsmethode unzugänglich war. Aber auch
die Tiefenpsychologie ist in der Erkenntnis der Seelenvorgänge beim
Weibe einen Schritt gegen die beim Manne zurückgeblieben. Besonders
sind es die generativen Vorgänge, denen — obzwar sie den Mittelpunkt im
psychischen Leben des geschlechtsreifen Weibes bilden — auch analytisch
noch wenig Beachtung geschenkt worden ist. Das Kantsche Wort: ,Die
Frau verrät ihr Geheimnis nicht', behielt auch hier seine Gültig-
keit. Sichtlich waren dem Manne die verborgenen Seeleninhalte des
Mannes zugänglicher, weil wesensverwandter ..."
Eine wertvolle Arbeit, die jeder Frauenarzt, der nicht nur Gynäkologie,
sondern Frauenkunde treibt, genau kennen müßte.
(Bericht über die ges. Gynäkologie)
It is of the greatest value, that an undertaking like the subjeetion of the
whole ränge of female sexual funetioning to psycho-analytic consideration
should be attempted at all. We approach this work with double interest:
first, because here again part of the domain of normal psychology is opened
up to psycho-analytic investigation, and that not only some one aspect of it,
but nothing less than the whole sexual life of woman; secondly, because
here the widely scattered items of knowledge on the subjeet are gathered
together and a whole is made of them, based on the newest theoretical
insight; and further this is enriched by new aspects and findings gleaned
from the clinical experiences of the writer.
(The International Journ. of Psycho Analysis)
IX
]
GUSTAV HANS GRABER
Die schwarze Spinne. Mensdiheitsentwicklung nach Jeremias
Gotthclfs gleichnamiger Novelle dargestellt unter besonderer
Berücksichtigung der Rolle der Frau. (Sonderabdruck aus
„Imago", Bd. XI.) Geheftet M. ?.— , Ganzleinen 4.60.
Inhal«: Das Matriarchat - Die Urvaterhorde - Die Herrschaft des
Mannweibes - Der Teufelspakt - Die schwarze Spinne - Die Spinne als
Traumsymbol - Mythe, Aberglaube, Sage, Dichtung - Verdrängung und
Periode der Vaterrcligion - Wiederkehr des Verdrängten, neue Weiber-
herrschaft - Periode der Sohncsreligion
1MRE HERMANN
Gustav Theodor Fechner. Eine psychoanalytisdie Studie
über individuelle Bedingtheiten wissenschaftlicher Ideen.
(Sonderabdruck aus „Imago", Bd. XI.) Geheftet M. 5 ._J
Ganzleinen 4.60.
Inhalt: Biographisches - Die schwere Krankheit - Die Idee der Psvcho-
pliysik - Die „Tagesansicht" - Das Formale Im Denken Fechners
Die Begabungsgrundlagen - Fechner als Vorläufer psychoanalytischeT
Erkenntnisse.
EDUARD HITSCHMANN
Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns. (Sonder-
abdruck aus „Imago", Bd. XII.) Geheftet M. 2.—, Ganzleinen 3 .; .
Inhalt: Eine Kindluilscrimicrung Hamsuns - Psychoanalytische De
des Gespenstes - Kastration und Kastrationssymbolik in Hamsuns W k ' '
- Die Entmannung der Väter (Altern und Verarmen) - Das Motiv' 7"
Eifeisuchr und des tfcsuViditfen Drimn - Cmusmkdi und LcIdcnschanliuV
keh, Belauschen und Zuschauen - Hamsuns Ideale.
ERWIN KOHN
Las s alle - der Führer. (Imago- Bücher Nr. IX.) Geheftet
M. 4. — , Ganzleinen 6. — .
Inhalt: I. Die psychologische Entstehung des Führers - II. Die psycho-
logische Technik der Führung bei Lassalle - III. Das Liebesschicksal
Lassaües. - IV. Die psychische Struktur des Führertums bei Lassalle -
V. Die Nachfolge Lassalles und das Ende der Organisalion.
X
'
ISRAEL LEVINE
Das Unbewußte. Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen
von Anna F reud (Internationale Psychoanalytische Biblio-
thek, Bd. 20). Geheftet M. 8.—, Ganzleinen 10.—.
Inhalt: I. Das Unbewußte vor Freud. Leibniz, Schopenhauer, Hart-
mann. Maine de Biron. Fechner. Nietzsche. Samuel Butler. - II. Freud
und das Unbewußte. Die Träume. Die Fehlleistungen. Der Witz.
Die Neurosen. - III. Die Rechtfertigung des Unbewußten. Zur
Kritik des Unbewußten. Die Mneme. Psychologie und Physiologie. Das
Wesen des Bewußtseins. - IV. Die Theorie des Unbewußten.
Leben und Konflikt. Das Lust- und das Realitätsprinzip. Der Reizbegriff.
Die seelischen Kategorien. Die Polaritäten. Die Ambivalenz. Zur Definition
der Metapsychologie. Die Verdrängung und die Affekte. Der logische
Gesichtspunkt. Die' besonderen Eigenschaften der unbewußten Vorgänge.
Der Verkehr der beiden Systeme. Die Natur der Triebe. — V. Die Bedeu-
tungdes Unbewußten. Psychoanalyse und Erziehung. Die Sublimierung.
Charakter und Unbewußtes. PsA. und Massenpsychologie. PsA. und die
Persönlichkeit. Verdrängung und Spaltung der Persönlichkeit. Das unter-
bewußte Ich. Jungs Auffassung der Persönlichkeit. PsA. und Ethik. PsA.
und Hedonismus. PsA und Verantwortlichkeit. PsA. und Willensfreiheit.
PsA. und Ästhetik. Phantasie und Kunst. Kunst und Affekt Ivltat. Kunst und
Verdrängung. PsA. und Philosophie. Das Problem der Bedeutung. Die
Vernunft und das Realitätsprinzip.
OTTO RANK
Sexualität und Schuldgefühl. Psychoanalytische Studien
(Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Nr. 21) (Er-
scheint im Oktober 1927.) Geheftet M. 5.50, Ganzleinen J.$o.
Inhalt: SexuaÜtät und Schuldgefühl — Masturbation und Charakter-
bildung — Ein Beitrag zum Narzißmus (Das Ich im Traume) — Per-
version und Neurose — Die psychische Potenz — Idealbildung und
Liebcswahl.
ALFRED ROB1TSEK
Der Kotillon. Ein Beitrag zur Sexualsymbolik. Mit 20 Ab-
bildungen. (Sonderabdruck aus „Imago", Bd. XI.) Geheftet
M. i.JOy Ganzleinen 5. — .
XI
Dr. WILHELM REICH
Der triebhafte Charakter. Eine psychoanalytische Studie
zur Pathologie des Ich (Neue Arbeiten z. ärztl. Psycho-
analyse, Nr. IV). Geheftet M. 4.fo, Ganzleinen 6.—.
Inhalt: Allgemeines über den neurot. u. den triebhaften Charakter.
Ambivalcnzkonfllkt u. Über-Ich-Bildung beim triebgehemmten Charakter.
Der Einflu ß der Partialtriebe auf die Gestaltung des Über-Ich. Geschlecht-
liche Fehlldentiflxlerung. Ambivalenzkonflikt und Ich-Bildung beim trieb-
haften Charakter. Einflüsse der Erziehung. Grenzfalle. Die Isolierung des
Über-Ich. Verdrängung des Ober-Ich. Über den schizophrenen Projektions-
vorgang und die hyster. Spaltung. Therapeutische Schwierigkeiten.
„. . . Eine psychoanalytische Charakterlehre setzt die genaue Kenntnis
der detailliertesten Mechanismen seelischer Entwicklung voraus, eine
Forderung, von deren Erfüllung wir noch weit entfernt sind. Wenn auch
die Theorie von der Sexualentwicklung in den wesentlichsten Stücken
festgefügt erscheint, so reicht sie dennoch iura charakterologischen
Erfassen einer Persönlichkeit nicht aus. . . . Die Dynamik des Ich ist
schwerer faßbar als die des Sexuellen. . . . Die Psychoanalyse hat es
wie Freud immer wieder betont, eifrigst vermieden, mit fertigen, kon-
struktiven Theorien an die Persönlichkeit des Kranken heranzutreten* im
Prinzip auf genetisches Begreifen eingestellt, «ozugen als Embryologie
der Psyche, mußte sie den mühevolleren und längeren Weg der Detail-
untersuchung gehen. Die ideale Voraussetzung der psychoanalytischen
Therapie wäre aber das vollkommene genetische Erfassen des
Charakters des Kranken. . . . Die Psychoanalyse entwickelt sich
konstant zur Therapie des Charakters. Die Schwierigkeiten sind sehr groß,
will man der Problematik der Charakterologie an milden Übertragung^
neurosen auch nur einigermaßen naher kommen. Dazu eignen sich am besten
solche Fälle, welche grobe Defekte der Ichstruktur aufweisen. Diese unter
einem typischen Wiederholungszwang stehenden Neurotiker, die Asozialen
die zeitweise Kriminellen, die systematisch ihr eigenes Dasein Erschwerenden
und Vernichtenden, die auch im Ich vollkommen infantil Gebliebenen,
sind für das Studium der Ichidealbildung in statu nascendi am besten
geeignet. . . . Daß sie sozusagen noch psychoanalytisches Neuland bilden,
kann wolü nur darauf zurückzuführen Sein, daß sie sich für ambulatorische
Behandlung gewöhnlich schlecht eignen, meist keine wirksame Krankheits-
einsicht haben und, wenn sie in den Analysen Fuß fassen, das feine Instru-
ment der Analyse schwer gebrauchen lernen. . . . Das mir zur Verfügung
stehende Krankenmaterial rekrutiert sich zum größten Teile aus schweren
Charakterneurosen, die ich im Wiener Psychoanalytischen Ambu-
latorium zur Behandlung vorsätzlich wählte. . . . Unser Versuch bewegt
sich gleichzeitig in zwei Richtungen, die schließlich konvergieren werden:
der speziellen Erörterung eines bisher psychoanalytisch wenig gewürdigten
XII
Krankheitsbildes, das wir den „triebhaften Charakter" nennen, werden
Untersuchungen über die Charakterbildung an Hand dieses Materials
parallel laufen ..." <** *~ Einleitung)
An Hand eines recht seltenen Materials von triebhaften Psychopathen gelang
es Reich, in die Entwicklung ihres Ichs, speziell in die genetischen Be-
ziehungen von Ich und Über-Ich, interessante Einblicke zu gewinnen, durch
die er in der „Isolierung des Über-Ichs" eine normale Durchgangsphase der
Ichentwicklung erkannt zu haben glaubt. Die Beschreibung dieser Beobach-
tungen und der Gedankengang der aus ihnen theoretische Schlußfolgerungen
zieht, wird durch zahlreiche erläuternde und interessante Exkurse auf
Nebenthemen unterbrochen, die, wie etwa die Beschreibung der geschlecht-
lichen „Fehlidentifizierungen-, an Bedeutung hinter dem Hauptinhalt des
Buches nicht zurückstehen. {Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse)
Dr. THEODOR REIK
Geständniszwang und Strafbedürfnis. Probleme der
Psychoanalyse und der Kriminologie (Internationale Psycho-
analytische Bibliothek, Bd. 18). Geheftet M.8.— , Ganzleinen 10.—.
Bestimmte Erfahrungen der psychoanalytischen Praxis haben Reik ver-
anlaßt, die Existenz einer besonderen psychischen Tendenz, die er als
unbewußten Geständniszwang bezeichnet, anzunehmen. Das Symptom der
Neurosen repräsentiert nicht nur die Kraft der verpönten Wünsche,
sondern wesentlich auch die Macht der verbietenden (moralischen,
ästhetischen) Instanzen. („Der Selbstverrat dringt dem Menschen aus
allen Poren", hat Freud gesagt.) Das unbewußte Geständnis bringt ein
Stück psychischer Entlastung, das von der partiellen Befriedigung
herrührt, die das Geständnis als eine Art abgeschwächte Wiederholung
der phantasierten Tat erscheinen läßt. Das Erfassen der unbewußt
gewünschten Tat sowie der Vergleich des Ichs mit dem Ichideal des
Menschen im Geständnis hat den Effekt, daß der Einzelne, der Bekennende
mit sich bekannt zu werden beginnt. Denn wir sind nicht nur weit böser,
sondern auch weit besser als wir annehmen. Die Befriedigung des
unbewußten Strafbedürfilisses gehört selbst zu den vornehmsten .Krank-
heitsgewinnen" der Neurose: dies Leid dient nicht nur zur Befriedigung
verdrängter Triebregungen, sondern auch zur Selbstbestrafung. An Hand
psychoanalytischer Krankenberichte zeigt Reik eingehend den Anteil des
Über-Ichs an der Entstehung und Entwicklung der Neurose, das Ansteigen
der Triebintensität durch das Strafbedürfnis. Über den Rahmen der
Heilkunde hinausgreifend, meint Reik in dem vom Über-Ich ausgehenden
unbewußten Strafbedürfnisse eine der gewaltigsten, schicksalsformenden
Mächte des Menschenlebens überhaupt zu erkennen. Besonders eingehend
XIIT
wird Tom Verfasser die Kriminologie berücksichtigt Die seelischen
Vorgänge, die zwischen der Tat und dem Geständnisse liegen und die
der Autor „psychische Geständnisarbeit" nennt, werden durch das Vor-
bewuDtwerden der Motive und der sozialen Bedeutung de« Verbrechens
charakterisiert. Die Strafrechtstheorie Reiks geht davon aus, daß das
Schuldgefühl gerade bei jenen Verbrechern, für welche die Strafgesetz-
gebung bestimmt ist, der Tat vorangeht. Die Strafe dient der Befriedigung
des unbewußten Strafbedürfnisses, das zu der verbotenen Tat trieb, und
befriedigt gleichzeitig auch das unbewußte Strafbedürfnis der Gesellschaft
durch deren unbewußte Identifizierung mit dem Verbrecher. Relk zeigt des
ferneren die mannigfaltigen Äußerungen des unbewußten Gestindnis-
zwanges auf den Gebieten der Religion (Beichte, Sündenbekenntnis!), des
Mythus, der Sprache und der Kunst. Die Bedeutung dieser Tendenz für
die Kinderpsychologie und Pädagogik demonstriert er an vielen ausführ-
lichen Beispielen. W as er uns ober die Enstehung des Gewissem, über
frühes Schuldgefühl des Kindes, über dessen Liebesbedürftigkeit äuOert
weist durchaus nach neuen Zielen. Das Schlußkapitel ist dem sozialen
Geständniszwang gewidmet: Psychoanalyse ist — geistesgeschichtlich
betrachtet — das erste bewußte Geständnis der Gesellschaft, das die
triebhaften Grundlagen, auf denen die Gemeinschaft ruht, einer psycho-
logischen Untersuchung unterwirft. Sie bereitet den Abbau der rohen
Triebgewalt und des unbewußten Schul dgefühl es vor. Begreiflich Ist der
Widerstand, den die Psychoanalyse in der Welt gefunden hat: hat sie
doch an das unbewußte Schuldgefühl (Ödipuskomplex:) gerührt, das sich
die Entlastung durch das Geständnis noch nicht erlauben will. Im bedeutsamen
Stück Menschheitsarbeit, das die Psychoanafyse leistet, ist Reiks Werk ein
Beitrag, dessen Tragweite heute noch nicht abzuschätzen ist.
Im ganzen muß das vorliegende Werk Reiks als die hochinteressante Arbeit
eines tiefgründigen Denkers und scharfen Beobachters gewertet werd
deren große Bedeutung für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse dT'
Zukunft zeigen wird. (.Österreichische Richter zeitung")
Kein Leser wird sich dem Ernst entziehen können, mit dem R V
seltsamen Kontrast zwischen äußerer Selbstgerechtigkeit des Mensche (
Einzelnen wie als Kollektivum) und dem inneren Selbstgericht aufd W
der den Leitfaden der sittlichen Entwicklung bildet. LBüchtm Ah
Vermittelt über die letzten Wurzeln des Geständnis- und Bestrafu «tri
bei Neurotikern viele überraschende und originelle sicher n h
fruchtbar werdende Einsichten. („Zentralbl f. d. ges, Neurol. u, PsychiatrU")
versteht es in glänzender Weise, seine Hypothesen vorzutragen. Ein
bewundernswerter Glaube an die Bedeutung der Psychoanalyse läßt ihn
zur höchsten Höhe einer optimistischen Zukunftshoffnung aufsteigen.
{Prof. Friedländer in der „Umschau")
XIV
Pnor. Dr. MS. et Phil. PAUL SCHILDER
Entwurf zu einer Psychiatrie auf psychoanalytischer
Grundlage (Internationale Psychoanalytische Bibliothek,
ttd. 17). Geheftet M. 7.—, Ganzleinen <?.— .
Inhalt: L Das Ideal-Ich. - II. Die Ichtriebe, - Hl. Die feinere Struktur
des Ideal-Ichs und das Wahrnehumngs-Ich. - IV. Phänomenologie des Ich-
erlebens. - V. Die Selbstbeobachtung und die Hypochondrie. - VI. Die
Depersonalisation. - VII. Verdrängung und Zensur, Symbol und Sphäre,
Sprachverwirrtheit. - VIII. Narzißmus and Außenwelt. - K. Identifizierung
in der Schizophrenie. Die Genese der Schizophrenie. - X. Die Symptoma-
tologie der Schizophrenie. Die Schizophrenie als Krankheit und der
Krankheitsbegrifl in der Psychiatrie. - XL Schizophrenie. - Paranoia. -
XII. Amcntla, Aphasie und Agnosie. - XIII. Die Epilepsie, - XIV. Manisch-
depressives Irresein. - XV. Die Demenz. Die progressive Paralyse -
XVI. Korsakoff. - XVIL Intoxikationen. - XVÜL Therapie. - Literatur-
verzeichnis. - Sachregister.
Die knapper Fassungen sich bedienende bescheidene Form des Entwurfes
darf darüber nicht hinwegtäuschen, daß hier neben zusammenfassenden Er-
örterungen vielfach auch aufschlußreiche und nngemein fruchtbare, späteren
Forschern viel Entscheidendes vorzeichnende Monographieskizzen vorliegen.
Die Freuasche Lehre von den Ichtrieben und den Sexualtrieben erfährt
ihre konsequente Anwendung auf das bisher unzugänglichste Gebiet der
Psychopathologie.
Verf. gehört zu den (wenigen) wissenschaftlichen Vertretern der klinischen
Psychiatrie, die weitestgehend auf dem Boden psychoanalytischer Anschau-
ungen stehen. Er ist daher der gegebene „Verbindungsmann" zwischen den
vorläufig noch sehr auseinanderstrebenden Forschungswegen (1er Schni-
ps vchiatrie and der psychoanalytischen Psychiatrie und ist wie kaum ein
anderer geeignet, der wissenschaftlichen Überführung psychoanalytische!
Auffassungen in die bisher üblichen Anschauungen von dem Wesen, det
Entstehung und der Gestaltung der geistigen Störungen zu dienen.
Zeitschrift f. Sexualwissenschaft)
Das Buch will eine Übersicht über das geben, was die Psychoanalytiker
bisher Über das Wesen der Psychose gesagt haben, es soll vor allem auf die
unerledigten Probleme hinweisen. Daß Schilder in vielen Punkten hier
Bichtung gewiesen hat, ist ein Hauptverdienst des BuChM. Auch der, dem
die Grundgedanken der Psychoanalyse nicht Dogma sind, wird das Buch
mit großem Interesse lesen, weil es zum Nachdenken und Forschen anregt.
(Klinische Pl'ochcnschrift)
XV
ALICE SPERBER
Über die seelischen Ursachen des AIterns,der Jugend-
lichkeit und der Schönheit. (Sonderabdruck aus
„Imago", Bd. XI.) Geheftet M. 1.40, Ganzleinen 2.60.
Die gedankenreiche kleine Schrift ist sehr lesenswert.
v . . „ . (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft)
Eine wunderliche Untersuchung, aus der ein neue« it.* a d , .
Em Sc.mft.hen, da. „ach arte» Seite« aaregen muß . ,i^*
ALFRED WINTERSTEIN
Der Ursprung der Tragödie. Ein psychoanalytischer
Beitrag zur Geschichte des griechischen Theaters, (hnago-
Bücher, Nr. VIII.) Geheftet M 8 n HM,- ^ ma S°
„ ,, , , J • Ä - / °' HnIbl "nen 9 . S o, Ganzleinen
IO. — , Halbleder I2.J0.
Inhalt: Einleitung. - Der Karneval von Vlza » n A a, t?.
der Wilden. - Dithyrambus und Totenklaee. Sa Einweihu ngsrlten
Wiedergeburt als sittliches Werden. " ° CJtSßesan »- " Tod un d
Im ersten Kapitel wird der Versuch unternommen einen I
wart von Davvkins im Gebiete des alten Thrakiens be h h Gegen-
brauch aus einer antiken ländlichen Dionysosfeier 6 h m ^uf* Karnevals -
Keimzelle des attischen Dionysosdramas gebildet hab a- eite n, die die
wird das moderne Maskenspiel in die weit verbrat * ,? Urfte - anderseits
lingsfeste des „Vegetationsdämons" eingereiht und "^ *** FrÜh "
deren Verwandtschaft mit den Knabenweihen der Vtm*** M «eriale
Die Untersuchung gelangt zu dem Ergebnisse daß a nacheew iesen.
brauchen und Südenbockzeremonien die nämlich™ ? Ve e eta «on S -
wußten Mechanismen wirksam sind wie bei den M. F******** ««be-
Pubertätsweihen stthT auch ^ r^" 1 Z-mmenhan* mit den
der Entlehn a T m ** ^^ deS Toten - mi Heroenkultes an
^Äw^ 8 ^ gCWÜrdigt U " d -in Niederschlag im
BedLung L Wortes TrJl " »T*^ *»"*»**«* ^ ^
scheinlich der oh « ^ ragoäle " Bocksgesang erläutert. Es ist wahr-
langen R [ " . ^^ *» die nach ihrer Kulturfunktion be-
nannten „Bocke" über den getöteten Gott anstimmten. Den dramatischen
XVI
Vorgang in dieser ländlichen Frühlingsfeier, aus der die attische Tragödie
hervorgegangen ist, müssen wir uns so ähnlich wie den thrakischen Kar-
nevalsbrauch vorstellen. Dieser zeigt wieder Übereinstimmung mit dem
liturgischen Drama von Tod und Wiedergeburt des Jahresdämons Dionysos.
Auch der Einfluß des Kultes der eleusinischen Muttergöttin Demeter und
der orphischen Lehre auf das werdende Drama wird dargetan. Die hi-
storische Entwicklung der attischen Tragödie und die Entstehung des
mittelalterlichen Dramas aus der kirchlichen Liturgie bilden den Gegen-
stand der späteren durch Betrachtungen über den tragischen Helden, den
Chor, den Schauspieler und den Zuschauer ergänzten Ausführungen. An
einem Beispiel aus einem völlig entlegenen Kulturkreise — an einem
Tanzschauspiel der Indianer in Guatemala in vorkolumbischer Zeit —
wird schließlich gezeigt, daß auch hier der ewige Konflikt zwischen Vater
und Sohn das tiefste Motiv für die Schöpfung des Dramas darstellt. Im
letzten Kapitel werden die Vorstellungen sittlicher Entwicklung, die fortan
das Drama beherrschen, auf die uralte kultische Bilderreihe von Tod und
Wiedergeburt aus dem Dionysosspiel zurückgeführt.
Dieses Buch, das aus gründlichen Studien hervorgegangen ist, stellt sich die
Aufgabe, eine der höchsten Schöpfungen der Menschenseele in ihren frühesten
Keimlingen zu finden und den Weg zu verfolgen, wie alles gedeiht und
späte Frucht bringt ... Das Neue und Eigentümliche an der Darstellung
Wintersteins besteht darin, daß überall nicht nur die primitiven Kulte,
sondern auch die Bräuche und Mythen, die endlich zur griechischen Tragödie
gefuhrt haben, in eine innige Verquickung mit den Theorien der Psycho-
analyse gebracht werden. (Emü Lucka in der „Neuen Freien Presse«)
ALMANACH 1926
Ganzleinen M. 5.—, Halbleder 7.-, numerierte Vorzugsausgabe auf
Japan-Dokumentenpapier, in Ganzleder 2j\ .
ALMANACH 1927
Ganzleinen M. ,.-, Halbleder 7 .-, numerierte Vorzugsausgabe auf
Japan-Dokumentenpapier, in Ganzleder 2/.—.
XVII
INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT
FÜR PSYCHOANALYSE
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Ver-
einigung. Herausgegeben von Sigm. Freud. — Unter Mitwirkung
von Girindrashekhar Boaa (Kalkutta), A. A. Rrill (New York),
Jan van Emden (Haag), Paul Federn (Wien), Ernest Jones (London)i
Emil Oberholzer ( Zürich), Ernst Simmel (Berlin), M. Wulff
(Moskau) redigiert von M. Eitingon (Berlin), S. Ferenczi
(Budapest), Sandor Rad6 (Berlin).
Band XI, I925 (in Heften M. 20.—, Halbleinen 27.—, Halbleder 26.—)
Heft 1 'einzeln M. 5 50)
Inhalt: Freud. Über den „Wunderblock" - Ferenczi, Zur Psychoanalvse
von Sexnalgewohnheiten - Deutsch, Psychologie des Weibes in den Funk-
tlonen der Fortpflanzung — Chadwick, Die Wurzel der Wißbegierde —
Kempner, Beitrag zur Oralerotik — Simmel, Rine Deckerinnerung in
sta'u nascendi — Alexander, Über Traumpaare und Traumreihen —
Abraham, Eine unbeachtete kindliche Sexualtheorie — Strachey, Eine
Zengungstheorie — Benedek, Ein Fall von Erythrophoble — Fenichel,
Infantile Vorstufe eines . affektlosen * Trotzes — Referate — Bewegung
(.Schule der Weisheit" — Psa, Gutachren vor Gericht — Eine rassen-
biologisch-sexualethlsche Stellungnahme usw.) — Korrespondenzblatt.
Heft 2 (einzeln M. s-S<>)
Jones, Theorie und Praxis in der Psychoanalyse — Sachs, Metapsycho-
logische Gesichtspunkte zur Wechs. lbezifhung zwischen Theorie und Technik
tn der Psychoanalyse — Alexander, Met-'psychologische Darstellung des
Heilungsvorganges — Nunberg, Über den Genesungswunsch — Landauer,
xvnr
Äquivalente der Trauer — Hnppel, Aus der Analyse eines Falles von
Päderastie — Reich, Eine hysterische Psychose in itntu nascendl —
Abraham, Koinzidierende Phantasien bei Mutter und Sohn — Deutsch,
Beitrag zur Psychologie des Sportes — Feniche], Bewußtseinfremdes
Erinnerungsmaterial im Traume — Wulff, Eine Symptom h and lung —
Referate — Bewegung (Religion psych ologie — Pädagogische Zeitschriften
— Thomas Mann usw.) — Korrespondenzblntt — Freud: Josif Breuer f.
Heft 3 'einzeln M. 5.50)
Ferenczi, Charcot — Fenichel, Tntrojektlon und Kastrationskomplex —
Reich, Weitere Bemerkungen über die therapeutische Bedeutung der
Genitallibido — Koväcs, Analyse eines Falles von „tic convulsif —
Deutsch, Zur Psychogenese eines Ticfalles — Klein, Zur Genese des
Tics — Bychowski, Psychoanalytisches aus der psychiatrischen Ab-
teilung — Landauer, Gedanken bei der Analyse einer folie du doute —
Referate — Bewegung (Die Psychoanalyse in Rußland) — Korre<pondenz-
blatt — Mitteilungen des Ver'ages.
Heft 4 (einzeln M. SS<>)
Freud, Einige psychi sehe Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds —
Rank, Zur Genese der Genitalitat — Weiß, Über eine noch nicht be-
schriebene Phase der Entwicklung zur heterosexuellen Liebe — Alexander,
Einige unkritische Gr danken zu Ferenczis Genitaltheorie — Lampl,
Ein Fall von entlehntem Schuldgefühl — Fenichel, Zur Klinik des Straft
bedürfnisses — Müller, Früher Atheismus und Charalcterfehlentwicklun K —
Referate — Bewegung (Die PsA. auf dem XVII. it allen. Psychiaterkongreß —
Ein katholisches Urteil — u«w.) — Korrespondenzblatt.
Bd. XII, 1926 (ftl Heften M. 24.—, Halbleinen 2J.—, Halbleder 29.—)
Heft 1 (einzeln M. 6.50)
Freud, Karl Abraham f — Ferenczi, Kontraindikationen der aktiven
psychoanalytischen Technik — Rad6, Das ökonomische Primsip der
Technik — Reich, Über die chronische hypochondrische Neurasthenie mit
genitaler Asthenie — Luria, Die moderne russische Physiologie und die
Psychoanalyse — Laforgue, Verdrängung und Skotomisation — Boehm
Homosexualität und Ödipuskomplex — Pickworth Farrow, Eine Kindheits-
erinnerung aus dem 6. Lebensmonat — Fenichel, Zur unbewußten Ver-
ständigung — Sugar, Die Rolle des „Zahnreiz"-Motiv» bei Psychosen —
Bornsztajn, Schizophrene Symptome im Lichte der Psychoanalyse —
Referate — Bewegung — Korrespondenzblatt.
Heft 2 (einzeln M. s-S<»
IN MEMORIAM KAHL ABRAHAM f
Abraham, Psychoanalytische Bemerkungen zu Coues Verfahren der
Selbstbemeisterung — Jones, Karl Abraham — Verzeichnis der wissen-
schaftlichen Arbeiten von Karl Abraham — • Eitingon, Sachs, Radd
Reik, Wulff, Gedenkreden über Karl Abraham — Korrespondenzblatt —
Kunstbeilage (Abraham-Bildnis).
XIX
Heft 3 {einzeln M. i$s— , in GanzUder JS-~")
SIGM. FREUD ZUM 7a GEBURTSTAG
L e r r r e jnh,Vt^T "• Geburtsta « Si S m - F"ud, - Ferenczi, Das Problem
der Unlustbejahung - Jone», Der Ursprung und Aufbau de, Über-Ichs -
federn. Einige Variationen des Ichgefühls - Odier, Vom Über-Ich -
W?id7r er < ;>, Der ». Begriff t* ICh ' ~ J«U«r.m^ Die Projektion -
walder, Schizophrenes und schöpferisches Denken — Fenichel Identifi-
zierung — E. Glover, Probleme der Charakterologie — Alexander
b!drfn e i, Und T5 e5amtPe "^ ll u hkeIt 7 Nunb "* Schuldgefühl und Stra^
bedurfms - Horney, Flucht aus der Weiblichkeit - Müller-Braun
schweig, Genese des weiblichen Über-Ichs - Landauer kS.
Bewegungsunruhe Hoffer, Die »anriic*. i-Ä^flä *Ä*e
Erkrankung - Blum, Zur Paychologie von Studium und ExTmcrf -
Sadger Zum Verständnis des Sadomasochismus - Reich Sn dar
neurotischen Angst - Coriat, Ein Typus von analerotischem Wider^nd-
MohllM Wide " tan l *• J f -«cals und Realanpassung - JoiT Die
Mobilisierung des Schuldgefühls - Laforgue, Skotomisation in der
Schizophrenie - Clark, Die Phantasiemethode bei der Analyse narzlflöJ!
Neuroaen .. Weiß, Der Vergiftungswahn - Kielhol^ An^SSS
GrJd^ T ? emenS ~ P - Dcut "*. ^r gesunde und der 'krankeVörp^
man £ f ' ^T^^ U " d S ^Pt°marbeit des Organischen - R k .
ssuSl TOä ™;:& t -r ***** - p**- «ä
Störung, Myopie als Paradi™ c ' f*^ 08 ™ 1 *« und organische
Ai-bA A7dö?ü£Ä«hifte Slmi,,e1 ' Dokt °^ iel . Kranksein und
Heft 4
(im Druck, erscheint im Herbst 1926)
XX
IM A G O
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE
AUF DIE NATUR- UND GEISTESWISSENSCHAFTEN
Herausgegeben von Sigm. Freud,
redigiert von O. Rank, H. Sachs, A. J. S t o r f e r.
Bd. XI, 1925 (in Heften M. 18.—, in Halbleinen 21.—, Halbleder 24.—).
Heft 1/2 (einzeln M. 10.—)
PSYCHOLOGISCHES HEFT
Inhalt: Müller-Braunschweig, Verhältnis der Psychoanalyse zur
Philosophie — Weiß, Psychologische Ergebnisse der Psychoanalyse —
Harnik, Die triebhaft-affektiven Momente im Zeitgefühl — Furrer,
Die Bedeutung der „B" im Rorschachschen Versuch — Sperber, Die
seelischen Ursachen des Alterns, der Jugendlichkeit und der Schönheit —
Wulff, Die Koketterie in psychoanalytischer Betrachtung — Kolnai,
Max Schelers Kritik und Würdigung der Freudschen Libidolehre —
Hermann, Der Mensch und seine Welt, (Karl Böhm) — Fortschritte der
PsA. 1920 — 1923: Normalpsychologische Grenzfragen — Kritiken und Referate
Heft 3 (einzeln M. 5.—)
Inhalt: Freud, Die Verneinung — Freud, Die Widerstände gegen die
Psychoanalyse — Freud, Die okkulte Bedeutung des Traumes — Newton,
Die Anwendung der Psychoanalyse auf die soziale Fürsorge — Graber,
Die schwarze Spinne — Teller, Libidotheorie und Artumwandlung —
Hermann, Zwei Überlieferungen aus Pascals Kinderjahren — Robitsek,
Bemerkungen zu einem Gedicht Liliencrons.
XXI
Heft 4 (einzeln M. $ — ;
Inhalt: A brah am Die Geschichte eines Hochstaplers im Lichte psycho-
analytischer Retrachumg - Hermann, Gustav Theodor Fechner -
Robitsek, D,r Kotillon, Beitrag zur Sexualsymbolik- Kritiken u. Referate.
Bd. XII, I926, (in Heften M. 20.—, Halbleinen 23.—, Halbleder 26.-).
Heft 1 (einzeln M. 5.50)
Inhalt: Müller- Braunschweig, Beiträge zur Metapsychologie: Desexuali-
sierung und Identifizierung; Verliebtheit, Hypnose und Schlaf: Begriff
der Richtung - Van der Chijs, Über das Unisono in der Komposition -
J u er und Mar b ach, Eine südslawische Märchenparallele zum Urtvpus der
Rolandsage -Hermann, Modelle zu den Ödipus- und Kastrationskomplexen
Wntff? 7 V tZ o y * ?? 6 okk " ltistisch " Bestätigung der Psychoanalyse -
Wolffheim, Zur Psychologie des modernen Erziehers — Friediune
Der Ödipuskomplex im Fieberdelirium eines neunjährigen Mädchen -
Heft 2/3 (einzeln M. i S .~, in Ganzleder 35.—)
SIGM. FREUD ZUM 70. GEBURTSTAG
Inhalt: Sachs Zum 70. Geburtstage Sigm. Freuds - Schilder, Zur Natur-
philosophie - Pfister, Die menschlichen Eini g un g ,bestr,bungen im LchtV
der Psychoanaiyse (Von Kant zu Freud) - Eder, Kann das UnSewuS e
erzo,en werden? - Brun, Experimentelle Beiträge zur Dynamik w
Ökonomie des Triebkonflikts (Biologische Parallele/ zu Freud^Tnebiehret
- Pfeifer, Umr.fJ einer Bioanalyse der organischen Pathologe -
sJeT.nann m p" £*"«*■*•* der Energielehre in der Psychologie -
MM 1? Dle P ^hogenese organischer Erkrankungen u, d da, Welt-
hJ T nn,Da c SyStenißW ' - Burrow ' Die Gruppenmethode in
P ychoan'w "" l a n i r Waa *J r ' "tT« V ««*«. Deute» in dS
i-sjcoanalyse - Saussure Zur psychoanalytischen Auffassung der
Intelligenz - Schneider, Über Identifikation - Mulle 7 Gefühls
Schien K" aUf ^' C ^> -her Grundlage - gtSrCke üte^
Völker - Rün«t n w ' •!■ Volke n)sychologie und die Psychologie der
Kovaes \t V^V^^^ ~ Ch "^offel, Farbensymbolik -
FriediuiiP 1 ' ]" Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns -
und des VmZrlnUrU f- ~ ,?chmidi, Die Bedeutung des Brustsaugens
Pötzl 7,,r mT u , S fUr dle P s >' chis che Entwicklung des Kinde, -
Heft 4
(im Druck, erscheint im Herbst 1926)
XXII
s
C H R I F T E
VON
KARL
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PS
B R A H A
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IM
INTERNAT10NALE^
M
f
;ychoanalytischen
VERLAG / WIEN
D«. KARL ABRAHAM
Klinische Beiträge zur Psychoanalyse aus den
Jahren 1007-1920 (Internationale Psychoanalytische Bibliothek,
Bd. 10). Geheftet M. 8.—, Halbleinen 10.—.
Aus dem Inhalt: Über die Bedeutung sexueller Jugend« räumen für die
Symptomatologie der Dementia praecox. — Die psychosexueUen Differenzen
der Hysterie und der Dementia praecox. — Die psychologischen Beziehungen
zwischen Sexualität und Alkoholismus. - Die Stellung der Verwandtenehe
in der Psychologie der Neurosen. — Über hysterische Traumzustande. —
Bemerkungen zur Psychoanalyse eines Falles von Fuß- und Korscttfetlsdils-
mus. — Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung und Behandlung des
manisch-depressiven Irreseins und verwandter Zustande. — Über die deter-
minierende Kraft des Namens. — Über ein kompliziertes Zeremoniell
neurotischer Frauen. — Ohrmuschel und Gehörgang als erogene Zone. —
Zur Psychogencse der Straßenangst im Kindesalter. - Sollen wir die Patienten
Ihre Träume aufschreiben lassen? — Einige Bemerkungen über die Rolle der
Großeltern In der Psychologie der Neurosen. — Eine Dedterlnnerung,
betreffend ein Kindheitserlebnis von scheinbar äUologischer Bedeutung. —
Psychische Nachwirkungen der Beobaditung des elterlichen Geschledits-
verkehrs bei einem neunjährigen Kinde. — Kritik zu G. G. Jung: Versuch
einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie. — Ober Elnsdiränkungen
und Umwandlungen der Schaulust bei den Psychoneurotikern. — über
neurotische Exogamie. — Über elaculatio praecox. — Einige Belege zur
GefühlseinsteUung weiblicher Khider gegenüber den Eltern. — Das Geld-
ausgeben Im Angstzustund. — Über eine besondere Form des neuroUschen
Widerstandes gegen die psychoanalytische Methodik. — Bemerkungen zu
Ferenczls Mitteilungen über Sonntagsneurosen. — Zur Prognose psydio-
analytischer Behandlung im vorgeschrittenen Lebensalter. — usw.
Ein Werk, das die interessante Entwicklung der klinischen Psych o-
analyse gut widerspiegelt und die ansehnlichen Leistungen des um diese
Entwicklung sehr mitverdienten Autors eindrucksvoll vorführt. Unter den
XXV
rJWarcr«. in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft)
Jeder, der in das psychoanalytische Denken schon eingeführt ist wird
dieses Buch mit Dank und Vorteil zur Hand nehmen. '
(Archiv für Frauenkunde)
Eine Art klinischer Einführung in Einzelbildern, die durch die oft
.«ringenden ke.ni.ti.eh.n B ei träge auch dem Fem erstehen-
den erneu ausgezeichneten Einblick in die psychoanalytische Pra" Ver-
schafft. (L . a . Grote im ^ ntralblau f l ^ -- ™
Reiches und vielseitiges Material. Jedem, der sich für psychoana-
lytische Fragen interessiert, kann das Buch sehr empfohlen werden!
(Jahrbücher f. die gesamte Medizin)
A!r fi L aill !r r0 1 ent !! Ch , B0Temü S* «»* eindringliche Bemühung um den
Ausbau der Freudschen Gedankengänge. Sympathisch berührt wie er
nachhalte und gründlich weiterforscht, klärt und sichtet wo iL
einen Weg gewiesen ha, Dabei hat man'den Eindruck, diu hier wieVe^
aus der Fülle der Erfahrung geschöpft ist. f?*"
(W. Mayer-Groß im Zentralbl. f. d.ges. Neurologie
u. Psychiatrie) 6
Theorie der Psychoanalyse nichi „nrrh R ^ « ' " ** JUneSCh °
bloß verwässert, -JSS^Ä^^I^^*^^ ein, " al
Tendenzen zuliebe für eine landlauf Z °t *" ü Y W18 / 6n8ChafUiChen
Widerspruchsvoll und XÄ2 5"^ £ **"*
rÄ"Z Ä77*W* in Midizin^Tsehn. Miaeüung^
3ÄÄiT hab - «-Gewährt,
dLer Arbe ten 8 , 7^' *"" ^»analytiker geworden. Manche
^SfSÄT^Ä"* Leistungen, zu denen den Autor
mögLh sich vom R T ^ Gei8te8Schär "> befähigten. Es ist nicht
Tch eilm R 7 f C1 Um DeUer Erkennt ™> die diese Aufsätze bieten,
nach einem Referate auch nur entfernt einen Begriff zu bilden.
(Ferenczi in der Int, Zschr. f. Psychoanalyse)
XXVI
Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido
auf Grund der Psydioanalyse seelischer Störungen. (Neue
Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, Nr. II.) Geheftet M. 5./0,
Pappbd. 4, — .
Inhalt: 1. Die manisdi-deprcssiven Zustande und die prägenitalcn Organi-
sationsstufen der Libido (Melancholie und Zwangsneurose. Zwei Stufen der
sadistisch-analen Entwicklungsphase. Objektverlust und Introjektlon in der
normalen Trauer und in abnormen psychischen Zuständen. Zwei Stufen der
oralen Phase. Das infantile Vorbild der melancholischen Depression. Die
Manie. Die psychoanalytische Therapie). - H. Anfänge und Entwicklung der
Objektliebe.
Der Autor gibt uns als Ziel seiner Abhandlung an, bestimmte, bei manisch-
depressiven Kranken erhobene Befunde für die Sexualtheorie nutzbar zu
machen. Wir meinen, daß sein Buch nicht nur diese Aufgabe glänzend
gelöst, sondern weit mehr geleistet hat als dies. Er wirft zunächst neues
Licht auf die normalen und pathologischen Verhältnisse der psychosexuellen
Entwicklung . . . Die von Freud begründete psychologische Erkenntnis der
Melancholie und Manie findet hier eingehende Ergänzung . . . Jeder Satz
der in prägnantem Stil geschriebenen Abhandlung trägt die Zeichen lang-
jähriger und mühsamer praktischer Arbeit an sich; die eingestreuten
Bruchstücke aus Krankengeschichten überzeugen nicht nur völlig von der
empirisch-klinischen Natur aller Behauptungen, sondern sind in ihrer
Kürze und Prägnanz auch Meisterstücke psychoanalytischer Darstellungs-
kunst. (Internat. T.schr.J. Psychoanalyse)
Tbis monograph is a very intriguing one, and at the same time a work of
much practica! as well as of theoretical iinportance.
(The Psychoanalytic Review)
Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung.
Geheftet M. 2.fo, Pappbd. $.20, Halbleinen 4. — .
Inhalt: Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter. Beiträge der Oralcrotlk
zur Charakterbildung. Die Charakterbildung auf der „genitalen" Entwick-
lungsstufe.
Dieses kleine Meisterwerk kann sowohl dem wertvollen Inhalte als der
klaren Darstellung nach als Vorbild für die psychoanalytische Literatur
gelten. (Jones in The Internat. Journ. of Psycho- Analysis)
Mit diesen Forschungen wird die Psychoanalyse zur Charakteranalyse, die
zu den schwierigsten, vielfach aber auch dankbarsten Leistungen des
Psychoanalytikers gehört. (Archiv für Frauenkunde)
XXVII
SIGM. FREUD
GESAMMELTE SCHRIFTEN
11 Bände in Lexikonformat
unter Mitwirkung des Verfassers herausgegeben
von Anna Freud und A. J. Stoi fer
In Ganzleinen M. 220.—, Halbleder M. 280.—
Ganzleder (handgebunden in Saffian) M. 6 So.
Hermann Hesse in der „Neuen Rundschau":
Eine große, schöne Gesamtausgabe, ein würdiges und verdienstvolles
Werk wird da unter Dach gebracht. Es sei diese Ausgabe des
Gesamtwerkes herzlich begrüßt.
Prof. Raymund Schmidt in den „ Annalen der Philosophie" :
Druck und Ausstattung sind geradezu aufregend schön.
Dr. Max Marcuse in der „Zeitschrift für Sexual-
wissenschaft" :
Nur mit tiefer Bewegung wird man sich klar, daß es hier galt, das
Lebenswerk Fi euds, das fortan nicht nur der Geschichte der Medizin,
sondern schlechthin der Wissenschaftsgeschichte angehört, abzuschließen
und in der endgültigen Fassung der Nachwelt zu vermachen.
Prof. Isserlin im „Zentralblatt für die gesamte Neurologie
und Psychiatrie":
Es ist ein ungewöhnlicher und außerordentlicher Eindruck, den man
erhält ... Die Ausstattung der Bände ist vorzüglich.
Verlangeii Sie ausführliche Prospekte von:
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien, VII., Andreasgasse 3
XXIX
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SIGM. FREUD
VORLESUNGEN
ZUR EINFÜHRUNG IN DIE
PSYCHOANALYSE
Taschenausgabe auf dünnem Papier (]. Aufl. 8 bis
if. Tausend, jot Seiten) in biegsamem
Ganzleder einband M. y.fo
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
Wien, VII, Andreasgassc 3
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ALMANACH
1926
Ganzleinen M. 3. — , Halbleder M. 7. —
Numerierte Vorzug saus gäbe auf Japan-Dokumentenpapier, in
Ganzleder M. 2f. —
Fünfundzwanzig Beiträge, darunter:
Sigm. Freud:
Die okkulte Bedeutung des Traumes
Thomas Mann:
Mein Verhältnis zur Psychoanalyse
Hermann Hesse:
Künstler und Psychoanalyse
H. R. Lenormand:
Das Unbewußte im Drama
Theodor Reik:
Ps5'choanalytische Strafrechtstheorie
Vera Schmidt:
Das psychoanalytische Kinderheim in Moskau
Siegfried Bernfeld:
Bürger Machiavell ist Unterrichts minister geworden
Stefan Zweig:
Das Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens
Paul Schilder:
Selbstbeobachtung und Hypochondrie
S. Ferenczi:
Begattung und Befruchtung
August Kielholz:
Genese des Erfinde rwaluis
Alfred Polgar:
Der Seelensucher
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien, VII., Andreasgasse 5
XXXI
4L:
-■* u:.****
f. I7>
Lil
ALMA.
NACH
Almanacn der
FsycKoanalyse
192;
19Z1
IP-AV